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Full text of "Moritz Hartmann's gesammelte Werke"

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MORITZ 
HARTMANN’S 
GESAMMELTE 


WERKE: BD. 
_NOVELLEN 


folge ur=TauaarialamaRBTel ve 
Bamberqer, Wilhelm vollwer 





PRESENT ATS 
ICHS ER: f 


—— — 
JAN ATI 
Wr aniker a Da 








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Moritz Bartmanıs 


Geſammelte Werte. 


Hedister Band. 


Stuttgart. 
Verlag der 3. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung. 
1873. 


Buchdruckerei ber J. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung in Stuttgart. 


1180223 





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Novellen. 


Morig Hartmann, Werke. VI. 


———rt 


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Der Zweck heiligt die Mittel, 


Eine Gefhihte aus dem neunzehnten Jahrhundert. 


Als der Oberlandjägermeifter Anjelm v. Büren ftarb, hinter: 
ließ er feinen Kindern eine Anzahl von Ordenskreuzen, welche 
von den reſpektiven Höfen, die fie ihm ertbeilt hatten, nicht zus 
rüdgefordert wurden; jeinen Namen, der zu den älteften in dem 
82 Quadratmeilen großen Fürftenthbume gehörte und das Be: 
wußtjein, einen Vater gehabt zu haben, der feinem Fürften und 
Hofe durd volle fünfundfünfzig Jahre gedient und dabei noch 
den Heinen Reit jeines angeftammten Vermögens zugejegt hatte. 
Die beiden Waifen, Elife und Clarifje v. Büren wären voll: 
fommen verlaflen gewejen, hätte fich ihrer nicht eine alte Tante 
angenommen, die in der Einjamleit eines Heinen Städtchen des 
Fürſtenthums lebte. Dieje, eine eben jo würdige al3 gebildete 
alte Dame, die fi in Folge einiger Schriften über weibliche Er: 
ziehung eine3 geadhteten Namens erfreute, erzog die beiden 
Mädchen, die, als fie fie zu fih nahm, erft zehn und zwölf Jahre 
alt waren, zu Einfachheit und Anfpruchlofigfeit, was eine reiche 
Bildung des Geiltes und des Herzens, eine umfaflende Pflege 
aller ihnen angeborenen Talente nicht ausfchloß. Die Natur that 
für die beiden Mädchen beinahe eben fo viel, wie die gute und 
vernünftige Tante, indem fie fie zu anmuthigen und ſchönen Er: 
ſcheinungen entwidelte, und jo wunderte fih im ganzen Fürften- 
thume Niemand darüber, ja man fand es natürlih, daß die 


4 Novellen. 


beiven Edelfräulein jehr frühzeitig ihr Glüd machten, Glück ift 
überall etwas Relatives. In diefem Falle verftanden die 
365,000 Einwohner des Fürſtenthums eine Berufung zu Hofe 
und eine Anftellung darunter. Der alten Fürftin, welche vie 
vormundſchaftliche Regierung für ihren minderjährigen, in Italien 
vermeilenden Sohn führte, ſchien es unnatürlih, daß der Name 
Büren, der feit dem dreißigjährigen Kriege immer auf der Lijte 
der Hofleute glänzte, unter ihrer Regierung fehlen follte, und 
faum batten vie beiden Fräulein unter der Pflege der guten 
Tante das Alter von achtzehn und fechzehn Jahren erreicht, als 
ihnen die Diplome als Hoffräulein und die damit verbundene 
Schleife in Gold und Silber, melde fie an der rechten Schulter 
tragen follten, zugeftellt wurden. Alle Melt prophezeite ven jungen 
Damen eine glänzende Laufbahn, und diefe Prophezeiung ftüßte 
fih nicht allein auf ihre Vorzüge, fondern auch auf die Ber: 
gangenheit und die im Lande lebenden Erinnerungen, welche er: 
zählten, daß die alte Fürftin in ihrer Jugend, ja ihr Leben lang 
für den Oberlandjägermeifter v. Büren ein „Faible“ gehabt. Den 
Kindern, meinte man, würde, wie einmal die weibliche Natur 
beichaffen ift, dieſes alte, nie verroftende Faible zu Statten 
fommen. Bei Hof ſchien das allgemein angenommen zu fein, 
und man empfing die Fräulein Büren, die beiden neuen Hof- 
damen, mit der größten Zuvorkommenheit. 

Bon allen 365,000 Einwohnern des Fürftenthbums waren 
die beiden Schmweitern vielleicht die Einzigen, die dieſes Glüd 
nicht zu jhäßen mußten. Sie waren bei ihrer Tante glüdlich 
gewejen und wünjchten feine Veränderung. Ihre Jugend mar 
in den angenehmften und anregendften Beihäftigungen dahin: 
gefloffen, unter dem Schuge einer lieben und liebenden Anver: 
wandten, in einem einen, aber auserwählten Kreife von 
Freunden — und nun befanden fie ſich in einer ihnen ganz 
fremden Welt, die andere Anfihten, andere Gefühle, andere 
Zwecke hatte. Aber das Hofleben erſchien ihnen, nad der ganzen 
Geſchichte ihrer Familie, das ihnen angeborene Schidfal, und fie 


Der Zwed heiligt die Mittel. 5 


ergaben ſich um fo leichter darein, als es neu war und jeinen 
ganzen Reiz der Neuheit um fo anziehender wirken ließ, als ji 
der Hof bemühte, ven Neuangelommenen jo angenehm al3 mög: 
lich zu fein. Aber kaum war diefer Reiz der Neuheit dahin, als 
e3 die ältere Schweiter Elife zum Entfegen des ganzen Hofes be: 
wies, daß fie entweder aus der Art gejchlagen, oder dab ihre 
Erziehung trog alles Wiſſens, vielleicht eben diefes Wiſſens wegen, 
eine volllommen verfehlte gemwefen. 

Sie war kaum ein halbes Jahr bei Hofe, als fie die Bes 
kanntſchaft eines jehr liebenswürdigen, jehr unterrichteten jungen 
Mannes machte. Sie fand in feiner Geſellſchaft, was ſie bei 
Hofe jo fehr vermißte, geiftige Anregung, Gemüth, herzliches 
Entgegentommen; fie liebte ihn, fie heirathete ihn. Aber diejer 
Mann war ein einfadher Dr. Mar Neuberg, ein Bürgerlicher, 
ein Theologe, der bei Seiner Erzellenz, dem Herrn Geheimen 
Rath v. E. ala Hofmeifter feiner Kinder diente. Die Entrüftung 
bei Hofe war allgemein; felbjt die Stadt war empört, da Kleine 
Refidenzen eine Ehre darin fuchen, die Gefühle des Hofes zu 
theilen, ſelbſt wenn viefe Gefühle ihre eigene Beleidigung ent: 
halten. Die Entrüftung äußerte ſich auf die verfchiedenfte Weile, 
ale Staunen, als mitleiviges® oder höhnifches Lächeln, als 
Schimpfen, ald Zorn, al3 Lüge und Klatſcherei. Die einzige 
Perſon, die Eliſens Handlungsweiſe natürlich, gerechtfertigt, 
ja ſchön und muthig fand, war ihre Schweiter Clariffe, die mit 
ihr über das Entjegen des Hof3 und der Stadt lachte, und die 
erjte Perſon, die fih von diefem Entjegen erholte und zur Be 
finnung fam, war die alte Fürſtin. Da die Sade nicht zu 
aͤndern ift, meinte fie, muß man etwa3 für die Unglüdliche thun. 
Sie gab dem Theologen Neuberg eine gute und einträgliche 
Pfründe in einem der angenehmften Städtchen des Ländchens. 
Und fo verließ Elife ven Hof als die glüdlichfte junge Frau der 
Welt. Clariſſe begleitete fie und half ihr bei ver Einrichtung 
des gemüthlihen Pfarrhaufes und des dazu gehörigen großen 
und jhönen Gartens, Mit Wehmuth fchied fie nad Monaten 


6 Novellen. 


aus dem idylliſchen Leben mit der geliebten Schweiter und dem 
liebenswürdigen Schwager, und aus der Stille zu Hof zurüd- 
fehrend, war es ihr, als ginge fie aus menjchlich bewohnten und 
gefitteten Stätten in die Wüſte. 

Aber bei Hofe war es indeflen jehr lebendig geworden. Der 
junge Fürft Amadeus J. war indefjen von feinen Reifen zurüds 
gekehrt, war mündig geſprochen und follte demnächſt verheirathet 
werden. Diejer Akt war ohne das geringite Zuthun des jungen 
Fürften oder der alten Fürftin negociirt und abgeſchloſſen worden. 
Das Ländchen nämlih war ein Enflave eines Großftaates und 
jollte im Falle des Ausſterbens der fürjtlihen Familie an diefen 
Großjtaat heimfallen. Dieſes Verhältniß, fo wie die Kleinbeit 
des Ländchens machten es von dem Großjtaate ganz und gar ab: 
bängig. Seit Generationen verfügte der Großjtaat über einen 
Theil ver Politif des Fürftenthbums und über die Perſonen ver 
Fürften, denen man militäriſche Würden und Titel gab, um fie 
an ihre Abhängigkeit zu erinnern und um dieſe zugleich zu ver: 
füßen. Ganz in demſelben Verhältniß zu dem Großſtaat jtand 
ein anderes kleines Fürftentbum, das in diefem Momente von 
einem greifen Fürften regiert wurde, welcher als Feldmarſchall 
in dem großen Staate diente. Deflen Tochter, die Brinzejlin 
Malmine, follte Amadeus heirathen. So war ed von dem um: 
ſchließenden Großftaate beſchloſſen; jo war es alſo eine Noth: 
mwendigfeit. Der alte Fürft feufzte, wenn er feine blühende, lieb: 
reizende Tochter anfah, die mit allen Eigenfchaften ausgeftattet 
ſchien, die fie zur Zierde eined großen Hofed, zur würdigen Ges 
fährtin eines großen Monarchen hätte machen können, und die 
nun an einen jungen Prinzen ohne Geift, ohne Erziehung, ohne 
irgend melden Vorzug follte hingegeben werben. Aber die 
Staatsraifon wollte es fo, und der alte Fürft war zu jehr Mann 
de3 vorigen Jahrhunderts, als daß er nicht die Staatsraiſon 
über jede andere Rüdficht hätte ftellen follen, und zu fehr guter 
Unterthban feines Königs, dem er als General diente, um fi 
ihm irgendwie zu widerſetzen. Amadeus war in der That nicht 


Der Zived heiligt die Mittel. 7 


geſchaffen, um eine junge phantaſievolle Prinzeſſin zu beglücken. 
Schon von Natur kärglich bedacht, war er unter der Leitung des 
Oberhofmeifters, den ihm der Großftaat beigegeben, wenn auch 
gutmüthig, doch roh und ungebilvet geblieben. Bon den Reifen, 
die dr in Gefellihaft deſſelben Führers durch Franfreih und 
Stalien gemacht, kehrte er, an Geift und Körper zu Grunde ges 
richtet, ‚in fein Fürftenthbum zurüd. Er war ein junger Greis, 
in dem längſt jede Kraft, jede Leidenschaft, jeve Willensſtärke 
erloſchen ſchien. Seine Unterthbanen murrten bei feinem Anblid, 
aber ihr Murren galt mehr dem Großjtaat al3 der traurigen Er: 
ſcheinung ihres Fürften, denn der Politik jenes Staates, der 
das Fürftentbum erben follte, im Falle diefes Haus ausftürbe, 
ſchrieben fie den berabgefommenen Zuftand des jungen Mannes 
zu. Sie meinten, feine geijtige, wie körperliche Verkommenheit 
fei dem erbluftigen Nachbar zu nüglih, als daß man nicht an« 
nehmen jollte, daß fie planmäßig herbeigeführt worden. Das 
war vielleicht bloß politiſche Kannegiekerei; fo viel aber ift ge 
wiß, dab Amadeus I. genug zu Grunde gerichtet war, um jede 
Heirath, befonders eine Heirath mit einer jungen Prinzeſſin voll 
Gluth und Leidenschaft, lächerlich ericheinen zu laſſen. 

Bei Hofe beſprach und behandelte man die Angelegenheit 
mit dem unerfchütterlichften Ernft. Man wäre fich ehr Klein, ſehr 
gemein vorgelommen, hätte man ein Wort, einen Gedanken über 
das Ungehörige einer ſolchen Ehe auflommen, hätte man eine 
Rüdfiht gelten laſſen, wie fie bei folchen Gelegenheiten in ver 
bürgerliben Welt in Betracht gezogen werden. Alles bereitete 
fih aufs Würdigfte auf das große Creigniß vor. Mit unver: 
bältnigmäßigen Koften, mit außerordentlihem Pompe wurde bie 
Braut an der Gränze des Landes eingeholt, in die Nefivenz ge: 
bracht und dem Fürften angetraut. Sie war traurig, nieder: 
geihagen; die Hofleute nannten das Ernft, Würde, Majeftät ; 
die Bürgerlichen nannten die Sache bei ihrem Namen. Gie 
fagten, das Leben fei hier mit dem Tode vermählt worden, die 
Geſundheit mit dem Siechthum. 


8 Novellen. 


Bei den Felten, die der Vermählung folgten, konnte man 
bemerfen, wie fie oft traurig, manchmal bitter lächelnd auf ihren 
Gemahl niederſah, der jhweigend neben ihr ſaß und nicht zu ihr 
aufzubliden wagte. Jeder Beobachter mußte e3 erkennen, daß 
er. eine gewiſſe Angſt vor feiner jugendlichen Gemahlin hatte, 
daß er oft, wenn fein erlojhenes Auge auf ihr glühendes, 
ſchwarzes traf, zufammenfuhr, daß er dann um ſich blidte, mie 
Hülfe juhend, daß es ihm, mit einem Worte, in ihrer Nähe 
unbeimlih war. Er benugte jeve Gelegenheit, die Sitte und 
Gtifette gejtatten, fi von ihr zu entfernen, und fiel zwifchen 
ihm und ihr eine Thür zu, athmete er auf, als fühlte er ſich von 
einem Drude befreit. Er machte einen erbarmungswürbigen 
Eindruck; fie aber ſchien bemitleidenswertb, um fo bemitleideng- 
werther, als fie offenbar glei am erſten Tage das ganze Wejen 
ihre Mannes, das Dede des ihr bereiteten Lebens, das unend- 
lic Leere ihres ganzen, ihr aufgedrängten Schidjald erkannte. 
Und fie war fo jung, jo befähigt, glüdlic zu fein und glücklich 
zu machen. Welche Duellen des Glüdes wurden da mit Schutt 
und Ruinen bevedt! 

Vielleicht war e3 dieſes Schidjal, das die Fürftin Malwine 
fo raſch in der Stadt beliebt madte. Niemand ift e3 fo leicht, 
Liebe einzuflößen, wie dem Opfer. Bei Hof aber war ed un—⸗ 
beimlih. Amadeus verbrachte feine Zeit auf Jagden und mit 
Mufterungen feiner Heinen Truppe, die er beinahe täglich fo weit 
al3 möglich, bis an die Gränzen feines Reiches marſchiren ließ. 
Ging das nicht an, verbradte er feine Tage in den entlegeniten 
Winkeln feines Schlofjes. Es machte ſich mit der Zeit von felbft, 
daß er die Tage und Abende mit feinen Offizieren und Jägern 
in dem einen Flügel zubrachte, während Malwine mit ihren Hof 
fräulein in dem andern vermweilte. So gab es bald zwei jtreng- 
geihiedene Höfe, den männlichen und den weiblichen, die nur 
bei befondern feftlihen oder offiziellen Gelegenheiten zujammen: ‘ 
trafen. Ein Theil des legtern zog bald mit der alten Fürftin ab, 
welche ſich auf ein Schloß, das fie am Rheine befaß, zurüdzog. 


Der Zwed heiligt die Mittel. 9 


Fürctend, dab Malwine fi für ein leeres, reizlojes Leben durch 
Einfluß auf die Regierungsgeſchäfte ſchadlos halten könnte, und 
erfennend, daß ihr das bei ihrem Geiſte und bei der Unter: 
thänigkeit ihres Gatten leicht wäre, wollte fie diefem Falle zuvor» 
fommen und lieber von ihrer Höhe freiwillig herabfteigen als 
berabgeftürzt werden. Sie war übrigens gutmüthig genug, ihrer 
unglüdlihen Schwiegertodhter einigen Erjag für ein verlorenes 
Leben zu gönnen. 

Malwine aber dachte nicht daran, irgend welche Macht für 
fih in Anjpruh zu nehmen. Mit Glüd bemerkte fie, melde 
Freiheit ihr die Scheu, die Furcht, die jie ihrem Gatten ein: 
flößte, gewähre, und fie benugte diefe Freiheit, um fich eine 
eigene Welt und in dieſer Welt wenigſtens ein erträgliches Leben, 
einen Schein von Glüd zu ſchaffen. Ihr weibliches Gefühl, wie 
ihr Urtheil hatten bald unter den Hofdamen diejenigen ausgeleſen, 
deren näherer Umgang ihr etwas bieten konnte, und nach we: 
nigen Wochen mar ein Krei3 geichloffen, der dem Fürften und 
feinem nächſten Anhange unnahbar, unzugänglüh war, denn e3 
war ein Krei3 gebilveter Frauen, wor dem der männliche Hof 
eine inftinktive Scheu hatte. Daß in diefer Frauenwelt Clarifle 
v. Büren, mit welcher, wie jich die alte Fürjtin ausprüdte, diefe 
ihrer Schwiegertochter das ſchönſte Geſchenk machte, indem fie fie 
am Bermählungstage der Fürftin Malwine als Hoffräulein über: 
ließ, eine der erften Rollen fpielte, bedarf faum einer Erwähnung. 
Malmwine hatte fie mit Kennerauge und nad wenigen gewech— 
felten Worten aus der Schaar der Hoffräulein herausgefunden 
und fie vom erjten Augenblide an ausgezeihnet. Aus ihren 
Reden ſprach freie, anſpruchsloſe Bildung, ihre Urtheile ver: 
riethen Gejchmad, ihr bloßer Blid Haren Verſtand, offenen Sinn, 
und näherer Umgang offenbarte ein theilnehmenvdes, wohl: 
wollendes Herz. Malwine bedurfte eines ſolchen Geiftes, der fie 
auch ohne Worte verjtand, und in ihrem öden Leben eines ſolchen 
Herzend, auf das fie fich verlafien, das fih an fie, daran fie 
ſich ſchmiegen konnte, und endlich eines ſolchen offenen Charalters, 


10 Novellen. 


der, jern vom Hofe entwidelt, ven Muth batte, ein wahres 
Wort, eine Klage auszuiprehen und anzubören. Clarifje war 
bald mehr als ihr Günftling ; fie war ihre Vertraute, ihre 
Freundin. Bei dem großen Bedürfniß Malwinens nad Liebe 
bing ſie an diefem jungen Mädchen mit wahrhaftem Enthufiasmus. 
Wäre Clarifje ein berechnender Charakter geweſen, wie fie es 
bei allem Verſtande nicht war, fie hätte in kürzeſter Zeit für alle 
Zukunft forgen, fie hätte, da die Fürftin reich war, ein Ver: 
mögen jammeln, ihre Stellung ausbeuten und, von der Fürjtin 
protegirt, die glänzendjte Partie im Lande machen können. Aber 
fie begnügte fih, die Tröfterin ihrer unglüdlichen fürftlichen 
Freundin zu fein, und wenn dieje ſich mit ihr in ihr Kabinet 
einſchloß, um ſich vor ihr auszumweinen und fie dann ruhiger und 
gefaßter einige Tage zubrachte, war ihr dieß Lohn und Erfolg 
genug. Im gewöhnlichen Leben, da Muſik und Lektüre die Haupt: 
bejhäftigung des weiblichen Hofes ausmachten, trug fie mit ihren 
Talenten und ihrer Belejenheit das Ihrige dazu bei, der Fürftin 
die Tage zu kürzen. Ging ſie manchmal auf einige Tage aufs 
Land, um ihre Schweiter, die Paftorin, zu befuchen, fo war eg, 
al3 ob die Geele des Hofes fortgezogen wäre; Malwine fühlte 
fih dann doppelt einfam und es fam nicht felten vor, daß fie ſich 
ſelbſt aufmachte, um die Freundin, die ihr zu lange vermeilte, 
in Perſon zu holen. 

Die Herren waren, wie gejagt, vom engern Kreiſe der 
Fürftin ausgefchloffen. Nur felten wurden einzelne und des An- 
ftandes wegen der Fürft zu den Eleinen Konzerten oder Lejes 
abenden gezogen. Erſt nad) Jahr und Tag wurde eine Ausnahme 
gemacht und zwar zu Gunften eine? Mannes, der zur Zeit der 
Bermählung nicht anwefend war. E3 war dieß Herr v. Holland, 
ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, Geheimer Rath und 
einer der gelehrtejten Männer des Fürftenthyums. Cr war mit 
dem Prinzen Amadeus nad Stalien gereist und daſelbſt zurüd- 
geblieben, als viejer in fein Vaterland zurüdkehrte. In Italien 
batte er die nähere Bekanntſchaft einer Coufine ver Fürſtin 


Der Zwed heiligt die Mittel. 11 


gemacht, die an einen italienischen Prinzen verheirathet war, und 
brachte jegt von dieſer ein Empfehlungsichreiben mit den herz— 
lihjten Grüßen an Malwine. Er wurde ihr als ein lieben 
würbiger Gejellichafter, als ein ausgezeichneter, tiefer Geilt, als 
ein Mann, der den Deutfchen bei den höchſten Sozietäten Italiens 
Ehre machte, geſchildert und als folder au in der That von 
der Fürſtin befunden. Zwar gingen allerlei Gerüchte, daß er in 
Rom, wo er mit Monfignoren und Kardinälen verkehrte, zur 
römischen Kirche übergetreten ſei, aber in jener Zeit behauptete 
man das von den ausgezeichnetiten in Italien reifenden Protes 
ftanten; man hatte ſich, da ſich diefe Gerüchte fehr oft ala falſch 
erwiefen, daran gewöhnt, fie zu belädeln und die „‚Sefuiten- 
riecherei” komiſch zu finden. Da diefe Gerüchte fich meiſt an be 
rühmte und große Namen hefteten, war eine folche Verdächtigung 
bald mie ein Kompliment; es ftellte den Verleumdeten in die 
Reihe vorzüglicher Männer, die die Proteftanten nicht gern ver: 
loren hätten und deren Erwerb dem römischen Stuhle wünſchens— 
werth ſchien. Der geheime Rath v. Holland hatte fich übrigens 
Öffentlich nie zur fatholifhen Kirche bekannt, und das ſchien eine 
genug laute Widerlegung des Gerüchtes, da er ein Mann war, 
der Niemand zu fürdten hatte. Freilich ftand er an der Spitze 
des Unterrichtsweſens feines proteftantifchen Landes. 

Mie e3 fih immer mit dem Gerüchte verhalten mochte; es 
war nicht die Aufgabe der Fürftin, das zu unterfuchen. Er war 
ihr empfohlen und fie fand an ihm einen Mann, wie er ihr bis 
jest am .... chen Hofe gefehlt hatte, Obwohl Fürftin, war fie 
doch bejcheiden genug, um fich zu fagen, daß ein Mann, ven fie 
in allen Fächern des Wiſſens, wie in allen Fragen des prakt: 
tiihen wie ideellen Lebens als eine Autorität ſchätzen lernte, 
wiſſen müſſe, was er zu thun und zu laffen, zu glauben und zu 
denken habe. Allerdings fiel es ihr auf, wie er in feinen geilt- 
reihen und belebten Schilderungen Italien mit Nachdruck here 
vorzuheben wußte, wie viel de3 Großen und Unvergleichlichen 
die Fatholifhe Kunft in dieſer Heimat des Glaubens hervor: 


12 Novellen. 


gebracht, wie da in fchöniter, fejtlichjter und zugleich erhabenfter 
Form ausgevrüdt fei, was anderswo nur in abjtrafter, Kalter, 
unfaßlicher, dem menſchlichen Gemüthe nichtsſagender Weife aus: 
gebrüdt wurde; wie dort die höchſten göttlichen und menschlichen 
Gedanken in Wort und Bild lebendig und verkörpert, fo zu 
jagen, Menſch geworden und mie auf dieje Art der höchſte und 
tiefite Gedanke des Chriftenthbums ſich immer wieder aufs Neue, 
ald ewiger Beweis feiner ewigen Wahrheit, mwiedergebäre und 
wie dieſes auffallender Weife nur in dem Lande gefchehe, in dem 
der Apoftelfürft feinen Thron aufgefehlagen — aber konnte fie 
ihn mwiderlegen? Hatte er nicht Net? E3 ftand ihr Niemand 
zur Seite, der ihr Argumente zur Widerlegung des geiftreichen 
Geheimen Rathes hätte liefern können. 

Herr von Holland mußte Wochen lang zu erzählen. Nach 
Wochen erft zeigte es fih, daß Alles, was er bisher erzählt und 
geſagt hatte, eigentlih nur Vorderſätze geweſen: wieder ganze 
Moden eben fo belebter und geiftreicher Unterhaltung brachten 
die zu jenen Vorderſätzen nothwendigen Nachſätze und endlich die 
Schlußfolgerungen. Der Geheime Rath war bei diefem Vorgang 
dur die in diefem Kreije eingeführte und beliebte Leſegewohn⸗ 
beit unterjtügt. Natürlich fonnte der vielbelefene Mann manden 
Rath ertheilen; er ſelbſt wurde envlich der ausschließliche Vorlejer 
der Fürftin und es war vorzugsweiſe die deutfche romantijche 
Schule und die Romantik aller Länder, die jegt zu Ehren kamen. 

Clariſſe, bisher Vorleſerin und Bibliothelarin, trat mit 
ihrem Rath mehr und mehr in den Hintergrund, wenn aud) die 
Fürftin, die von Tag zu Tag weicher wurde, fih als Freundin 
immer inniger an fie anjchloß. 


* * 
* 


Seit der Rückkehr des Herrn von Holland war ein Winter 
vergangen. In den Dftertagen wurden Stadt und Land durch 
die Nachricht, die fie zuerft durch ein ausländifches Blatt er- 
fuhren, daß die Fürftin Malwine zur römischen Kirche über- 


Der Zwed heiligt die Mittel, 13 


getreten, in Schreden verjegt. Dab Herr von Holland demſelben 
Glauben angehöre, war nun auch fein Geheimniß mehr; aber er 
trat von feinem Amte an der Spite des Unterrichtsweſens zurüd, 
und das beruhigte wieder die aufgeregten Geilter. Die Fürftin 
hatte ſich in diefen drei Jahren ihrer Regierung jo beliebt ge: 
macht, daß die Entrüftung des durch und durch proteftantifchen 
Landes bald abnahm und fih nach und nah in Mitleid ver: 
wandelte. Man kannte den Fürften, man fannte fie und ihre 
Lage und man feufzte: Arme Prinzeſſin! fie durfte ihr Herz nicht 
beſchäftigen, fie fucht e3 zu zerftreuen, indem fie ihre Phantafie 
beihäftigt. — Da man mußte, daß der Fürſt nie Nachlommen 
erzielen werde, auf welche die Mutter einen gefährlichen Einfluß 
ausüben könnte, und von dem ibioten Fürften nicht? zu be 
fürdten war, felbjt wenn. ihn feine Gattin in ihre Kirche nad 
fih 309g — da endlich das Land nad dem Tode des finderlofen 
Fürften an den mächtigen proteſtantiſchen Staat fallen follte, 
von dem man wußte, daß er jeden überwiegenden katholiſchen 
Einfluß, troß der Belehrung ver Fürftin, von dem Fürftenthum 
abzuhalten wiffen werde, betrachtete man den Uebertritt Malwis 
nens al3 eine Brivatangelegenbeit, ja gewiſſermaßen als ein pers 
ſönliches Unglüd und jeve Sorge verfhmwand. Als endlich einige 
Zeit dahinging und man bemerken konnte, daß von der Fürftin 
in Stadt und Land nicht jene Projelytenmacerei zu befürdten 
fei, durch die ſich ſonſt Neophyten auszuzeichnen pflegen, nahm 
man die ganze Sache, die man noch ein Jahr vorher als eine 
Gefahr und als ein Unglüd des Landes betrachtet haben würde, 
mit Gleihgültigkeit hin, ja man gab fih Mühe, mo immer die 
Fürftin fich zeigte, ihr zu beweijen, daß der Vorgang im Ber: 
bältniß zwifchen ihr und ihren Unterthanen teinerlei Veränderung 
hervorgebracht habe, daß man fie nach wie vor liebe, daß man 
ihrem guten Herzen nad wie vor vertraue. Einzelne Prediger, 
die bie und da auf der Kanzel jhon ein Wort über die Gefahr, 
die dem reinen Glauben des Landes drohe, hatten fallen laſſen, 
die ſchon hundert Predigten des jechzehnten Jahrhunderts durch 


14 Novellen. 


gelejen, um ſich zu einem gewaltigen Kampfe zu mwaffnen und 
die Rolle eines John Knox dieſer Maria Stuart gegenüber zu 
ipielen, jhidten die alten Bücher wieder in die Bibliothek zurüd 
und verjtummten. 

Bei Hof freilih ging Manches vor, aber es war im Lande 
wie verabredet, Alles, was zwifchen den vier Mauern der Fürftin 
geihah, ald Privatangelegenheit anzujehen und fie gewähren zu 
lafien. Man hätte e3 ja auch nicht hindern künnen. Die Ver: 
faſſung des Landes war der Art, dab man auf die Handlungs: 
weile der höchſten und maßgebenven Perſonen jede direkte Ein- 
wirfung aufgeben mußte. Die Fürſtin ließ ſich eine Kapelle ein: 
richten und hatte, wie man fich in der Stadt erzählte, in diejer 
Kapelle jhon einige Belehrungen zu Stande gebradt. Man 
nannte eine alte Hofvame, welche eine verwidelte Lebensgeſchichte 
hatte, und je verwidelter dieſe geweſen, deſto weniger ernjt war 
der Eindruck, den dieſe Belehrung hervorbrachte; dann nannte 
man zwei junge Hoffräulein, Töchter eines armen Beamten, 
denen der Vater gejchrieben, e3 jei ſchicklich, daß treue Hof: 
_ damen den Glauben ihrer Herrfchaft haben, und endlich einen 
jungen, mittelmäßigen Maler, der die Kapelle der Fürjtin mit 
Bildern verjorgte und Jedermann verficherte, dab ihm der Ein: 
drud, ven jeine eigenen Schöpfungen auf ihn gemacht, befehrt 
babe und daß man, wie er jegt erit deutlich fühle, nur in der 
katholiſchen Religion ein großer Maler, ein Fra Beato Angeliko, 
ein Leonardo, ein Rafael werden könne. — Dieje Bekehrungen 
trugen ihrer Natur und der betreffenden Perſönlichkeiten nad 
mehr zur allgemeinen Beruhigung als zur Erwedung von Bes 
jorgnifjen bei. Wer konnte fih an dieſe Vorläufer anjchließen 
wollen? und an dem, der es that, jchien wenig verloren, und 
von der anderen Seite noch weniger gewonnen. 


* * 
* 


Ungefähr drei Jahre nach dem Uebertritt der Fürftin Mal: 
wine, von dem im Lande kaum mehr gejprochen wurde, an einem 


Der Zwed heiligt die Mittel. 15 


fonnigen Frühlingstage bielt vor vem Pfarrhaufe des Dr. Neu: 
berg ein mit Koffern und Schachteln fo jehr überladener Reife: 
wagen, daß man jeinen fojtbaren Inhalt jogleich al3 einen weib— 
lihen vermuthen konnte. Im oberen Stockwerk des Pfarrhaufes 
öffnete fih, al3 der Wagen till hielt, ein Fenſter und Pfarrer 
Neuberg jah heraus, um ven Ankömmling in Augenfchein zu 
nehmen. 

„Beim Himmel!“ rief er, „e3 ift wieder Glarifje!” 

In der That jprang Clarifje aus dem Wagen, während ihr 
Schwager und Schweiter mit ausgebreiteten Armen und freudig 
aufgeregten Gefichtern die Treppe hinunter entgegeneilten. Man 
umarmte, man füßte fie und zog fie in die Speijejtube, wo eben 
das Mittagseſſen bereit ftand. Die zwei Kinder Eliſens wurden 
berbeigebraht und Clarifje erfreute fih als liebende Tafkte am 
Anblide ver blühenden Geſchöpfe, denen fie mancherlei Spielzeug 
mitbrachte. 

Nach der eriten Freude des Wiederſehens fragte Elife, was 
die Schwefter jet wieder dem Hofe abtrünnig machte. 

Clarifje zauderte mit der Antwort. Der Pfarrer aber lachte: 
„Welche Frage, Elife? Wie kannt du fo fragen? Ich habe 
prophezeit, daß fie uns mwiederfommt und habe fie von Woche 
zu Woche erwartet. Arme Glariffe,” fuhr er lächelnd zu diefer 
gewendet fort — „Mohamed hat nur zwei Mal die Flucht er: 
greifen müjlen; du hältft jetzt jchon deine vritte Hegira. Bon 
welcher werden wir die neue Zeitrechnung beginnen ?" 

Clariſſe ſchwieg. 

„Es iſt nicht möglich,“ rief die Schweſter, „daß du wieder 
vor Bekehrungsverſuchen auf der Flucht fein ſollteſt. Die Fürftin 
bat das legte Mal aufs Feierlichfte verfprohen —“ 

Clariſſe feufzte, Dr. Neuberg aber jagte: „Erinnere dic, 
wa3 ich dir damals gejagt habe. ch weiß, mas von foldhen 
Veriprehungen zu halten. Lerne du mich Neubetehrte kennen 
und ſolche, die einmal ins Proſelytenmachen hineingerathen, 
Das wird eine Leivenfchaft, eine fire Idee! Die Fürftin wird 


16 Novellen. 


wohl ihr Wort gehalten haben, was man jo Wort halten nennt. 
Sie hat ihr nicht mehr gepredigt und hat ihr nicht mehr predigen 
laffen — aber fie hat Clarifjen beſchworen, ſich zu retten, fie 
bat vor ihr geweint, gejammert, fie zeigte ihr ihre ganze Ber: 
zweiflung.“ 

„So iſt es,“ unterbrach ihn bier Clariſſe. „Seit Wochen 
bat fie nicht mehr anders als mit thränenden Augen zu mir ge: 
ſprochen; fie flehte mich an, meine Seele zu retten; der Gedanke, 
mid verdammt zu willen, machte fie unglüdlih. Nachdem fie 
ftundenlang im Gebete gelegen, fagte fie zu mir: „Weißt du, 
Clarifje, um was ich gebetet habe, um deine Belehrung!” Sie 
ließ Meflen für mich lefen, fie fafteiete ſich, fie faftete für mich; 
fie verweinte die Nächte, meil ich mich jo verjtodt zeigte. Sie 
fieht aus wie ein Schatten, und das Allee um mich.“ 

Bei diefen Worten rollten Clarifje die Thränen von den 
Mangen; auch Elife war gerührt und feufzte: „Arme Fürftin !“ 

„Arme Fürftin !“ wiederholte Dr. Neuberg etwas ärgerlich, 
„allerding3 arme Fürftin, denn folder Fanatismus iſt Geijtes: 
krankheit, aber man kann doch nicht, Andern zu gefallen —“ 

„Wenn nur,” unterbrach ihn bier Clariſſe, „dieſer Fana— 
tismus nicht ein jo zärtlicher, liebevoller Fanatismus wäre! 
Wenn ich nur nicht von ihrer innigen Liebe zu mir fo jehr über: 
zeugt wäre! und wenn ich fie nur nicht felbjt jo herzlich lieb 
hätte! So aber madht mich ihr Leiden um meinethalben wahr: 
baft unglüdlih. Ich kann es nicht ausprüden, wie viel ich in 
diefen legten Monaten, ſeit ich euch verlaflen, gelitten babe, 
wie oft ich in innerfter Seele erſchüttert war, ohne im Geringften 
betehrt zu fein, wie ih fortwährend herüber und hinüber ſchwankte, 
welche Gemüthszweifel mich folterten und wie ich oft nahe daran 
war, aus Liebe und Mitleid zu thun, was mein Verſtand, mein 
ganzes Weſen als verwerflich verdammte. ch werde die Szene 
von geftern Abend nie vergejien. Bei den größten Verbrechen 
bätte ich eine folde Qual, eine folche Folter nicht verdient. 
MWeinend lag fie vor mir auf den Knieen und umllammerte mich 


Der Zwed beiligt die Mittel. 17 


wie eine Verzweifelte. Ich felbit war wie eine Verzweifelte, mein 
Kopf ſchwindelte, ih war feines Gedankens mehr fähig, Ich 
wollte fliehen, fie Hammerte fih an mein Kleid; ich glaubte mich 
losgemacht zu haben und eilte aus der Stube, aber ich jchleppte 
fie nach und fie fiel mit der Stirn auf die Schwelle. Entiegt fiel 
ih zu ihr hinab und da lagen wir Beide und meinten. Wäre fie 
in diefem Augenblide nicht zu erfchöpft gewefen, um noch länger 
in mich zu dringen, ich hätte zu Allem Ja gejagt. Das fühlte 
ich deutlih, und ich fühlte, daß mich diefes Leben aufrieb. So 
faßte ich denn einen Entihluß. Ich eilte auf mein Zimmer, 
padte die ganze Nacht, ichrieb dann einen Abſchiedsbrief an die 
Fürſtin und verließ mit Tagesanbrub den Hof für immer.” 

„Für immer!“ jagte Dr. Neuberg achfelzudend, „ſchon zwei: 
mal haft vu ihn im Laufe dreier Jahre aus denſelben Gründen 
"für immer verlafien, und zweimal bift du wieder zurückgekehrt, 
auf eine bloße Bitte der Fürftin, auf ein bloßes Verſprechen hin.“ 

„Bergik nicht, lieber Mar,“ ermwiderte Glariffe, „dab die 
Fürftin meine theuerjte Freundin ift, daß ich fie liebe und daß 
ih mich noch herzlicher von ihr geliebt weiß und daß fie, ad, 
jo einfam iſt, jo unglüdlih! Die Schwäche war wohl verwerflich, 
und ich gab ihr mit Bewußtſein nad. Wahrhaftig,” fügte fie 
lächeln hinzu, „die Freuden dieſes Hofes find es nicht, die mich 
zurüdzuloden vermöchten! Es ift ein trauriger Hof! Anjtatt mir 
Vorwürfe zu machen, erfennt vielmehr meine Charakterſtärke an, 
für eine liebe Freundin euch, diefer Wohnung des Glüdes, 
diefer Heimat ftiller und inniger Freuden fo lange fern geblieben 
zu fein. Denn bier allein, bei euch, bei euern Kindern bin ich 
rubig und glücklich.“ 

Das Ehepaar ſchlug in die beiden — Hände und 
drüdte fie herzlich. 

„Jetzt aber bleibt vu? und für immer fragte Elife. 

„Ich verſpreche, daß ich nicht mehr zu Hofe zurückkehre — 
ob ich bier bleibe, it eine andere frage. Ich habe jo meine 
Gedanken.” 

Morik Hartmann, Werke. VL 2 


18 Novellen. 


„Laſſen wir uns die erjten Stunden des Wiederſehens nicht 
duch Trennungsgedanken ftören,“ fiel der Paſtor ein; „jeden- 
fall3 bleibjt du eine geraume Zeit. Wir wollen uns fo gemüthlich 
al3 möglich einrichten, und du follft dich nad) den überftandenen 
Stürmen wie im Hafen fühlen.“ 

Es wurde, wie ed der Baftor verſprach, und er trug das 
Geinige dazu bei, daß es fo wurde. Wie wohl that Clarifjen 
das jtile Familienleben und die ruhige Liebe und Freundſchaft 
der Anverwandten, nad) den harten Proben, die fie jene aufge- 
regte Liebe der Fürftin hatte beſtehen laſſen. In Haus und 
Garten verflofien die angenehmen Tage aufs Bürgerlichite; die 
Geſellſchaft Dr. Neubergs beftand aus mehreren gebildeten Män- 
nern der Umgegend, die von Zeit zu Zeit vorſprachen, und mit 
denen man bei Tiſche, oder Nachmittags im Garten beim Kaffee, 
einige angeregte Stunden verplauderte. Clariſſe ſchien es, als - 
wäre fie in die Welt gefommen, erjt nachdem fie den Hof ver: 
lafien, und fie fah ein, wie Alles, was das Leben des Lebens 
werth mache, in einen kleinen Kreis geſchloſſen werden könne. 
Nahdem fie Jahre mit monotonen ftandesmäßigen Beichäfti- 
gungen und leeren Formen zugebracht, ſchien ihr die kleinſte 
bäuslihe Beihäftigung, die unbedeutenpfte Pflege oder Sorge 
für die Kinder ihrer Schwefter unendlich inhaltsreih. Dazu kam, 
daß ihrem Haren, ruhigen Verjtande nicht? zugemuthet wurde, 
was ihm wiberjtrebte, daß ihr jedes Wort, jede Anficht ihrer 
jeßigen Umgebung verwandt, oder wenigſtens begreiflih war, 
daß Herz und Geift ſich hier gleihmäßig heimiih fühlten, wäh: 
rend fie durch jo lange Zeit, im Widerftreit mit ſich jelber, ihr 
Herz zu Hülfe.rufen mußte, um fi nicht mit Herz und Verſtand 
empören zu müflen. Eine höchſt mohlthätige Ruhe erfüllte ihr 
ganzes Wejen und verbrängte allgemach eine gewiſſe Verdrieß— 
lichkeit, die ſich während des beftändigen Kampfes gegen die Bes 
kehrungsverſuche in ihr wie Schladen feſtgeſetzt und ſie manchmal 
an ſich irre gemacht hatte. Die alte Heiterkeit kehrte wieder und 
e3 wurde ihrer Seele wohl, wie dem Leibe wohl it, wenn er 


Der Zwed heiligt die Mittel. 19 


einen fremden Körper, der feinen Organismus jtört, ausge: 
ſchieden; die Fürftin trug durch ihr Schweigen viel zu diefer 
fchnellen Genefung bei. Während der früheren zwei Aufenthalte 
Clariſſens bei ihrer Schweiter kamen Klagebriefe voll Vorwürfe 
und Sehnſucht beinahe jeglihen Tag, und dann die Fürftin 
jelbit, um den geliebten Flüchtling zur Rückkehr in die Stadt 
zu bewegen, was ihr aud zweimal gelungen war. Dießmal 
blieben die Briefe aus, ebenjo die Gejchenke, die ihr ehemals 
zulamen, um fie zu überzeugen, daß ihr die Liebe ihrer fürft: 
lihen Freundin trog ihrer treulofen Flucht in ganzer Wärme 
verblieben fei. That das auch der Eigenliebe Clarifjeng etwas 
wehe, jo war ihr das Benehmen Malwinens dod im Ganzen 
willlommen, da fie jehr wohl wußte, daß fie ein neuer Beweis 
von Liebe aufs Neue aufregen würde. Sie aber bedurfte ihrer 
Gemüthsruhe, um ganz dem Entſchluſſe, den fie einmal gefaßt 
batte, treu bleiben zu können. 

Arm wie fie war und bereit3 dreiundzwanzig Jahre alt, feit 
entſchloſſen, nicht mehr zu Hofe zurüdzulehren und eben fo fern 
von dem Gedanken, ſich von ihrem Schwager, deſſen Familie 
wuchs, und deſſen mäßiges Einkommen dafjelbe blieb, troß aller 
Liebe und Treue, die ihr im Haufe bewiejen wurden, ernähren zu 
lafien, hatte fie alle Urſache, an ihre Zukunft zu denken. Mit 
ihrem entſchiedenen Charafter war es in volllommenjter Ueberein⸗ 
ftimmung, daß fie ſelbſt für ſich ſorgen wollte. Sie hatte genug 
gelernt, um den Platz einer Gejellichafterin bei einer großen 
Dame oder einer Erzieherin mit Ehre einzunehmen; und fie war 
vorurtheilslos und von faljher Scham unabhängig genug, um 
mit größter Heiterkeit einen ſolchen Entſchluß zu fallen und von 
dem eingebilveten Piedeſtale der Hofvame eines Heinen deutſchen 
Hofes herabzufteigen und fi in einer untergeorbneten Stellung, 
in der fie eine pofitive Pflicht zu erfüllen hatte, in der fie ſich 
nüglih maden konnte, noch wohl zu fühlen. Es wiberftrebte 
ihr, in Frankreich eine ſolche Stelle zu ſuchen; fie hatte ſchon 
Manches von den Belehrungsverfuhen gehört, die in diejem 


20 Novellen. 


Lande an deutſchen proteftantifchen Gouvernanten unternommen 
worden, und fie wollte ſich nicht in der fremde einer Unannehm: 
lipleit ausfegen, unter der fie in der Heimath fo viel gelitten 
hatte. So richtete fie ihr Augenmerf auf England und hatte 
Ihon zu ihrem Zmwede in London Korrefpondenzen angetnüpft. 
Mit Anbruch des Winter wollte fie dahin abgehen ; ver Sommer 
follte no im Behagen des Familienlebens verbradht werden; 
zugleih wollte fie dieje Zeit noch benugen, um fich in der eng: 
liſchen Sprache zu vervollfommnen, die fie bei Hofe, wo nur 
franzöfifch gefprochen wurde, vernadläfligt hatte. Dr. Neuberg, 
der diefer Sprahe mächtig war, da er ſich lange in England 
aufgehalten hatte, leiftete ihr bei dieſem Studium die trefflichite 
Hülfe. Engliihe Dichter wurden gemeinjchaftlich gelefen, dabei 
unter Leitung ded Schwager mande andere Studien gemadht, 
weldhe bie und da eine Rüde in Clariſſens Wiſſen ausfüllen 
jollten, und fo verfloß eine Zeit, die ihr als die glüdlichfte ihres 
ganzen Lebens erjchien. 


* * 
* 


Die ganze Familie ſaß eines Nachmittags im Garten, der 
Paſtor nach deutſcher Art ſeine Pfeife rauchend, als das Dienſt— 
mädchen einen Papierſtreifen brachte, auf dem der Name „Mar: 
quis von Beaupre* in friiher Schrift gefchrieben ftand. „Diejer 
Herr," fagte das Mädchen, „wartet im Haufe und wünjcht den 
Herrn Paftor zu ſprechen.“ 

„Bitte ihn,” fagte der Baftor, „in den Garten zu fommen.“ 

Er ftellte feine Pfeife hin und machte fich bereit, dem Fremden 
entgegen zu gehen, als dieſer ſchon mit ſchnellen Schritten auf 
dem Sandmwege herbeitam. 

„Sch bitte,“ rief er von fern und bejchleunigte feinen Gang, 
„ich bitte, ſich gar nicht zu ſtören.“ 

Er verneigte ſich mit der ehrerbietigiten Ungezwungenbeit 
und Anmuth vor den beiven Damen, die, als er ſich dann zum 
Doktor wandte, raſch einen jener flücdhtigiten Frauenblide wech— 


Der Zwed heiligt die Mittel. 21 


felten, die ein fertiges Urtheil über einen Unbekannten enthalten. 
Der Marquis war ein Mann von ungefähr achtundzwanzig 
Jahren, mit blaffem Gefihte, feinem Munde, dunklen Augen 
und fohwarzen, langen Haaren. Wie fanft jeine Lippen auch 
über Heinen, beinahe weiblichen Zähnen läcelten, jo gab ihm 
doch eine energiſch hervorjpringende Nafe ein ganz männliches 
Aussehen. Das blafie Gefiht wurde durch die ganz ſchwarze 
Kleidung auffallend hervorgehoben und feine Bewegungen, ob» 
mohl etwas gemejjen und bewußt, waren doch frei und leicht, 
voll männliher Anmuth. 

Mit ariftofratifcher Befcheidenbeit bat er um Vergebung, 
ein fo intimes Zufammenfein geſtört zu haben, und dabei ließ 
er ein treffliches Deutſch hören, das durch einen leifen Anflug 
fremdartiger Ausfprahe den Damen, wie e3 wieder ein Blid 
herüber und hinüber verfündigte, ganz beſonders reizend erſchien. 
Nachdem er fih auf den angebotenen Gartenituhl geſetzt hatte, 
begann er mit einer leifen Berneigung: „Herr Doktor! Ich bin 
der Marquis von Beaupre, ein Franzoſe. Ein mir befreundeter 
Künftler, ein ausgezeichneter Architelt in Paris, veröffentlicht 
ein großes Werf über ven romanischen Baujtyl. Unſer Vater: 
land befigt viele jehr ſchöne Monumente diefes Styles, bejonders 
im ſüdlichen Frankreich, 3. B. die Kirche von St. Gilles, oder 
den Kreuzgang von St. Trophime in Arles, und nad diejen 
bat ſich mein Freund bei Abfafjung feines Werkes vorzugsweiſe 
gerichtet. Aber dieſer Styl hat fi dem Einfluffe verjchiedener 
Länder nicht entzogen; er ift in Deutſchland in mancher Be: 
ziehung, in manden Theilen anders als in Frankreich und ta: 
lien. Die Verſchiedenheiten wären für meinen Freund jehr be 
lehrend; aber er ift dur jeine Stellung an Paris gebunden. 
Sp bat er mich, der ich beinahe immer auf Reifen und ein 
mittelmäßiger Zeichner bin, ihn zu unterjtügen und ihm Zeich: 
nungen nach romaniſchen Bauwerken einzufenden, wo ich ſolchen 
begegne. Nun börte ich von Ihrer Kirche hier — in der That 
ein bijou — und ich babe auf meiner Reife durch Deutfhland 


22 Novellen. 


den Ummeg hierher um fo lieber gemacht, als ich, feit ich mid 
für den Freund in diefer Weife befhäftige, ein Enthufiaft diefer 
arditektonifhen Formen geworden bin. Sie zu bitten, Herr 
Paftor, daß Sie mir den freien Zutritt in die Kirche geftatten, 
damit ich die vielen ſchönen Einzelheiten des Innern mit Muße 
aufnehmen fönne, ift der Zweck meines Befuches.” 

„Herr Marquis,” erwiderte Dr. Neuberg aufs Verbinvlichite, 
„die Kirche fteht ganz zu Yhrer Verfügung und zu jeder Stunde 
de3 Tages. Wenn Sie vielleiht einige alte Ornamentif inter: 
eflirt, die bei einer neuerlichen Neftauration entfernt murbe, 
die ich aber im Thurme aufbewahren ließ, fo werde ich Befehl 
geben, daß fie hervorgefucht und aufgeftellt werde, wo Eie fie 
bequemer beſehen und mwenn fie Ihnen gefällt, auch zeichnen 
fönnen.” 

„Sie find fehr gütig, Herr Doktor, und ich bin Ihnen für 
jo viel Güte doppelt dankbar, ala ih — entihuldigen Sie, daß 
ich e3 ausſpreche,“ fügte er mit einem Lächeln huch zu den Damen 
gewandt hinzu — „ala ich dieſes gütige Entgegenfommen von 
protejtantifcher Seite nicht überall erfahren habe.“ 

„O, Herr Marquis,” rief der Paftor, „ih kann Sie ver: 
ſichern, und zur Ehre Deutfhlands fei es gefagt —“ 

„Beber Herr Doktor,” fiel ihm der Marquis in die Rede, 
„ih kenne Deutichland, ich weiß, was ich von vergleichen zu 
halten habe. Welcher gebildete Menſch mird Seftenvorurtheile 
oder fonfeflionelle Eingenommenheiten auf das neutrale Gebiet 
der Kunft ‚übertragen! Am Ende,” fügte er weniger ernjt und 
lächelnd hinzu, „am Ende ift es nur billig, daß man uns, id 
. meine den Katholiten, wenigſtens den Scattenriß der Kirchen 
gönne, die ung einft als Eigenthum angehört haben.” 

Der Paſtor erwiderte, auf den Scherz eingehend, in dem 
felben Lächeln: „Da wir Proteftanten zur erften Einfachheit des 
Glaubens zurüdtehrten, fo haben wir ein natürliches Recht auf 
jene Kirchen einfacherer Formen, die jenfeit3 der Gothik ent: 
ftanden find, welche vielmehr den Katholizismus repräfentirt.” 


Der Zwed heiligt die Mittel. 23 


„Aber fie haben uns ja auch gothiſche Kirchen, prächtige 
Kathedralen weggenommen, die gottlofen Ketzer!“ rief der Mar: 
qui mit fchmerzhaftem Pathos und zu den Damen gewendet: 
„Iſt es nicht traurig, daß es gleich Streit geben muß, mo zwei 
Männer verjchiedener Konfeflionen zufammentommen ?" 

„Wollte Gott!” fagte der Paſtor, „es gäbe feinen ernftlicher 
gemeinten Streit.” 

„Sin Wunſch, in den ich mit ganzer Seele einftimme,” fagte 
der Marquis plöglih ernithaft; „ich bin aus dem fühlichen 
Frankreich, ich habe gefehen, welche Zerwürfniffe, welches Un: 
glüd vergleichen hervorbringt.“ 

Dann, als ob er fi befänne, daß joldhe Geſpräche den 
Damen nur langweilig fein fönnen, und daß er fein Recht habe, 
al3 Fremder ſolche Themata auf Tapet zu bringen, ging er 
mit der gewandteſten Wendung, an das ebengenannte jüdliche 
Frankreich anknüpfend, auf feine Reifen über und wußte die 
Damen jo zu intereffiren und in das Geſpräch zu ziehen, daß 
bald eine allgemeine und lebhafte Unterhaltung im Gange war. 

Nach einer Stunde, die den Damen wie fünf Minuten ver: 
flofjen war, erhob er ſich plöglich von feinem Sige und ent: 
ſchuldigte fih, fo lange geftört zu haben. Da er aber, mie er 
in fein Gefpräc hatte einfließen laffen, feine Beihäftigung und 
feine Belanntfchaft in dem Städtchen hatte, lud man ihn ein, 
länger zu bleiben und fih auf einem Spaziergange die Gegend 
zeigen zu lafjen. An ver Leichtigkeit, mit der er fich überreden 
ließ, erfannte man, wie gern er blieb und man fühlte fich ges 
ſchmeichelt. 

Auf dem Spaziergange gab der Marquis Eliſen den Arm, 
während Dr. Neuberg Clariſſen führte, aber kaum vor dem 
Städtchen angelommen, ordnete man fich in eine Reihe, um die 
Unterhaltung allgemeiner zu machen, oder vielmehr, weil ever 
ven Marquis hören wollte, Man führte ihn auf die ſchönſten 
Ausfihtöpunfte, man zeigte ihm in ver Ferne den breiten Strom, 
man fuhr mit ihm über einen Heinen See und vertiefte fich in 


24 Novellen. 


einen alten, verwilverten Park, voll Stille und Vogelſang zu: 
gleih. Auf einer Höhe angefommen, erfreute man fih an einem 
ſchönen Sonnenuntergange. Der Marquis ſah der Sonne mit 
ſehnſüchtigem Blicke nach, der ſeinem Geſichte, auf dem das 
Abendlicht glänzte, einen unendlich milden, melancholiſchen Aus— 
druck gab. Clariſſe ſah ihn in dieſem Momente mit ſo viel 
Theilnahme und ſo lange und ungezwungen an, daß ſie darüber 
erſchrak. — „Dort liegt Frankreich!“ ſagte er vor ſich hin, und 
er erſchien ihr wie ein Verbannter, mit dem man inniges Mit⸗ 
leid fühlen dürfe. — Der Himmel weiß, dachte ſie, welche 
Schickſale ihn zwingen, fortwährend die Welt zu durchziehen — 
und gewiß, er ſieht aus, als wäre irgend ein bedeutendes 
Schickſal über ſein Haupt dahingegangen. 

Es klang ihr wie eine Antwort auf ihre Gedanken, als der 
Marquis gleich nach ſeinen Worten: „Dort liegt Frankreich!“ 
zu Dr. Neuberg fagte: „Erinnern Sie ih an den Ausſpruch 
Diverot3? C'est une belle chose, mon ami, que les 
voyages, mais il faut avoir perdu son pere, sa. mere, 
ses enfants, ses amis, ou n’en avoir jamais eu, pour 
errer, par Etat, sur la surface du globe. — Nun,” fügte 
er lächelnd hinzu, indem er mit der feinen weißen Hand eine 
Bewegung vor der Stirn machte, als wollte er allerlei Gedanken 
veriheucden, „nun, man muß fi tröften, und ich thue e3 mit 
den Worten deſſelben gottlofen Diverot: Crois, que tu vas, 
parceque tu ne peux pas rester. — Dann jagte er zu den 
Damen: „Es ift fonderbar, und ich babe ſchon oft die Bemer: 
fung gemadt, dab man auf Reifen gerade in der liebenswür⸗ 
digſten Geſellſchaft, gerade da, wo man die meiſte Freundlichkeit 
und Güte erfährt, am Melancholiſchſten wird, das größte Heim: 
weh fühlt, mehr als in der ödeiten Einſamkeit. Aber das ift nur 
natürlich. Dan fühlt ich heimisch und denkt in Folge der natür⸗ 
lichſten Ideenverbindung an die Heimat; dann denkt man, wie 
ſchön es wäre, das Glüd folder Freundlichkeit mit dem Glüd 
der Heimat zu verbinden. Meine Damen, wie undankbar es 


Der Zwed heiligt die Mittel. 95 


ſcheint, ſich aus ſolcher Gefellihaft von feinen Gedanten in die 
Ferne tragen zu laſſen — es ift viel Dankbarkeit darin.“ 

Es war in den Reden des Marquis Beaupre immer etwas, 
was auf rührende Weife jchmeichelte. 

In der Dämmerung fehrte man in die Stadt zurüd, und 
zu Haufe angeflommen, veritand es ſich von jelbit, daß ber 
Marquis zum Nachteſſen blieb. Als er ging, mußten e3 fich die 
drei Zurüdgebliebenen nicht erjt jagen, dab fie einen unerwartet 
jhönen Tag verledt hatten, daß fie fich jämmtlich auf das Tiefite 
angeregt fühlten, daß eine jolche Bekanntſchaft eine Bereicherung 
des Lebens fei. Sie geſtanden es alle drei, daß fie noch keinen 
Mann kennen gelernt, der männliche Liebensmwürbigfeit, edle 
Sitte und Wiffen und Bildung in jo hohem Grade gleichmäßig 
in ſich vereinige. 

„Mich,“ jagte ver Paſtor, „freut diefe Belanntfchaft vor: 
zugsweiſe um beinetwillen, Clarifje. Deine Erfahrungen bei 
Hofe haben dich mit Vorurtheilen gegen die fatholifhe Welt 
angefüllt, vie, ic muß e3 dir geftehen, mir an dir jo unbehaglich 
waren, wie mir jedes Vorurtheil, jever Fanatismus widermärtig 
it. Unter Katholiten verſtandeſt du einen Schleier & la Ge 
beimrath Holland oder eine fanatifhe Schwärmerin und Proſe— 
lytenmacherin wie die Fürſtin.“ 

„sh babe,” erwiderte Clariſſe, um fich zu entſchuldigen, „ich 
babe nie andere Katholiken gekannt.“ 

„Darum ift e3 gut, daß du nun Andere kennen lernit. Du 
darfit den gewaltigen Unterſchied zwifchen geborenen Katholiten 
und Neubelehrten nie vergeſſen, beſonders in der gebildeten 
Welt. In unferer modernen Zeit gleihen Bildung und Willen 
den Unterſchied aus, an dem nur der Zufall der Geburt ſchuld 
it. Eine Nation entlehnt von der andern Ideen und Anſchauungs⸗ 
weijen, ohne zu fragen, ob die andere katholiſch oder proteſtantiſch 
ift. Glaubft du, daß ein gebilveter Menſch, bevor er ein hiſto— 
riſches oder philojophifches Buch aufjchlägt, fich erſt erkundigt, 
ob der Verfaſſer fo viele Sakramente anerkennt, wie er? Er 


26 Novellen. 


liest und prüft und behält, was er für wahr hält. Ob dieſe 
Wahrheit mit feinem Protejtantismus oder Katholizismus im 
Einklang oder im Widerſpruch fei, ift ihm gleichgültig. So iſt 
mancher Katholik proteitantifcher al3 mancher Superintendent, 
fo wie e8 Superintendenten gibt, die fatholifcher find ala mancher 
Kardinal. Sieh nur diefen Marquis an. Diderot ijt offenbar 
jein Lieblingsfchriftfteller, der geiftreiche, liebensmürdige Diderot, 
und diefer hat doch einen Standpunft, auf den viele höchft pro= 
tejtantifhe Köpfe mit aller Anstrengung ihres Geijtes nie ge: 
“langen werden. Haft du jchon viele Proteftanten gefunden, 
welche die dee der Toleranz jo groß und in fo weitem menſch— 
lihen Sinne aufzufafien vermögen, wie Diderot ?“ 

„Gewiß,“ ſagte Clariffe, „ich ſehe feit heute Nachmittag die 
Dinge mit ganz andern Augen an, al3 vorher.” 

Der Paſtor fuhr fort: „Nicht die gebildeten geborenen Ka: 
tholifen find zu fcheuen, nur die Neophyten. Ich ſpreche nicht 
von Denen, die aus Eigennuß oder Ehrgeiz übergehen ; die find 
zu allen Zeiten diefelben ; fie werden befehrungsfüchtig fein oder 
nicht, je nachdem es Eigennuß oder Ehrgeiz verlangen. Die heut: 
zutage aus Schwärmerei oder fogenannter Meberzeugung über: 
gehen, kommen dadurch ſelbſt in Widerſpruch mit dem Geiſte 
der Zeit; das reizt oder verbittert, macht kampf- und eroberungs⸗ 
fühtig und endlich fanatifh. Mit wahrfter und vollfter Weber: 
zeugung iſt der moderne Menſch doch nicht bei einem joldhen 
Schritte betheiligt; die Luft, die er von Jugend auf geathmet, 
verhindert das. Sein Leben lang ftrebt er ſich und Andere zu 
überführen, daß er aus Ueberzeugung gehandelt, und das kann 
er nur, indem er fo viele Beifpiele feines eigenen Falles ald nur 
möglih zu Stande bringt. Andere follen für ihn bemweiien. 
Daher jeine Belehrungsmwuth. Dazu fommt noch jener Hochmuth, 
ver allen mit Bewußtfein Frommen gemein ift, und bemußt 
fromm müſſen Diejenigen jein, die mit Bewußtſein einen joldhen 
Schritt thaten. Die Ausnahme, die fie machen, läßt fie ſich 
jelbft als Auserwählte erſcheinen. Auf diefer Höhe glauben fie 


Der Zwed heiligt die Mittel. 97 


fih zu Manchem berufen und berechtigt, was mehr nad Stolz 
als nah riftliher Demuth ausſieht. — Ich geftehe dir, daß 
ib, obwohl Baitor, erfchreden würde, träte heute ein Katholik 
vor mid und erflärte, er wolle zum Proteftantismus übertreten. 
Ich begreife, daß ganze Städte und Länder, zum Theil aus 
politiihen Gründen und um ſich vor römiſchen Lebergriffen zu 
fhügen, zu einer der protejtantifchen Konfeflionen übertreten oder 
etwas dem Proteftantismus Aehnliches neu fchaffen. Aber der 
Einzelne würde mich erfchreden. Was will er bei uns? Iſt er 
ein Schwärmer — und ich begreife nicht, wie Schwärmerei, 
Phantafterei ihn aus Katholizismus in Proteftantismus führen 
folte? — dann bringt er nur Unruhe und Fanatiemus in die 
Gemeinde ; iſt er ein denkender Menſch, der mit feinen Gedanken 
über die Dogmen der römischen Kirhe hinausgelommen, wie 
follte er nicht auch über Vieles, beſonders über fo viel Halbes 
in unferer Kirche hinausgelommen fein? Und warum follte er 
ih vor einem Dogma retten, das ihm als Kind auferlegt worden, 
und für das ihn Niemand verantwortlid macht, um al3 be 
mußter Mann ein Glaubensbetenntniß abzulegen, für das er 
nun einftehen muß, -und das er in feiner Ganzheit doch nicht 
annehmen kann?“ 

„zieber Mar!” ſagte Clariffe, „verliere dich nicht fo weit; 
du predigit einer Bekehrten.“ 

Der Paſtor late mit: „Du haft Recht; ich bin einmal ein 
Prediger. Ich wußte wohl, daß du nur einer Heinen Erfahrung 
beburftejt, um von einem Vorurtheil zurüdzutommen, das für 
Millionen Menſchen beleidigend ift. Nichts ift eines anftändigen 
Menſchen unwürdiger als Vorurtheil. Ich freue mich doppelt, 
daß du gleich eine fo überzeugende, jo fiegreihe Erfahrung 
machtejt, die mehr Wirkung machen muß, als hundert andere. 
Welch ein Menfh, dieſer Marquis, welch ein Menſch! Wir 
müfjen ihn jo lange al3 möglich zurüdzuhalten juchen.” 

Der Marquis fhien eben fo gern zu bleiben, al3 man ihn 
gern zurüdhielt. Gleich am Tage nad feiner Ankunft ging er 


28 Novellen. 


an die nähere Befihtigung der Kirche und aller ihrer Theile, 
und da zeigte e3 jich, daß er viel, ſehr viel zu thun haben werbe. 
Mit liebenswürdiger Offenherzigleit ſprach er feine Freude dar: 
über aus, einen Vorwand zu mochenlangem Aufenthalte ges 
funden zu haben. Er zeichnete jehr fleißig und um ihm feine 
Arbeit zu erleichtern, räumte man ihm im Pfarrhaufe eine 
Stube ein, wo er Mandes ausführen konnte, ohne erjt in fein 
entferntes Gajthaus zurüdfehren zu müflen. Er war der tägliche 
und beinahe beftändige Gait der Pfarrerfamilie. Während er in 
der Kirche ſelbſt zeichnete, leitete man ihm oft Gejellichaft, und 
wenn Regen eintrat und die Arbeit in der Dunkelheit der Gänge 
unmöglich wurde, verbradhte er ganze Tage bei den Freunden. 
Und e3 regnete oft. Aber er wußte ſich nicht nur angenehm, er 
wußte ſich auch nüglich zu machen. Bon Clarifjens Plänen unter: 
richtet, befprach er fich oft mit ihr über ihre Studien und es 
machte jich wie von jelbjt, daß er ihr Lehrer wurde, beſonders 
in der Gejhichte, und da Clariſſe nicht mehr die frühere Scheu 
vor Frankreich hatte — und möglicherweife auch eine Stelle in 
Frankreih befommen konnte — wurde auch die franzöftiche 
Literatur nicht vernachläſſigt. Bei einem franzöſiſchen Geſchichts⸗ 
lehrer war es nun natürlich, daß er die Weltgefchichte des Bi- 
ſchofs Bofjuet mit ihr lad. Der Marquis war zwar nicht in 
Allem der Meinung dieſes Hiſtorikers, aber es fam ihm darauf 
an, feine verehrte Schülerin die Welt auch einmal von katho— 
liſchem Standpunkte aus betrachten zu laſſen. Sie fei ja über 
vie fonfejlionellen Unterfchieve hinaus; in der Geſchichte komme 
e3 ja nur auf die Wahrheit an, und um diefe zu erfahren, müſſe 
man beide Parteien hören. Clariſſe fand das nur gerecht, wie 
Alles, was ihr der Marquis fagte, und fie war ihm dankbar, 
als fie nah Kurzem bemerkte, daß fie die Welt mit ganz andern 
Augen, mit mehr Gerechtigkeit, anjehe. Chateaubriands „Geift 
des Chriſtenthums“ war damals in Mode; wie ſchön wußte ber 
Marquis diefes melodiſch gefchriebene Buch zu lefen; fein Aus: 
drud gab den oft fo fehr inhaltslofen Sägen reiche Bedeutung, 


Der Zwed heiligt die Mittel. 29 


und feine Lefekunft, verbunden mit den volltönenden Perioden, 
brachte eine mufikalifch» beraufchende Wirkung hervor. Man 
träumte, man wiegte fi auf dieſen ſchimmernden, bald mur« 
melnden, bald ftürmenden Wogen, man glaubte zu denken und 
man wurde nur fortgetragen, bingerifjen. Dann kamen Lamars 
tine's Harmonien und Meditationen an die Reihe, die der Mar: 
qui auswendig wußte, und die er meift auf einfamen Spazier: 
gängen, im Kahn auf dem See, oder im Duntel des Waldes zitirte, 

D die feligen Stunden, die Clarifje in Gefellihaft vieles 
Mannes verlebte! Sie waren fo felig, daß fie darüber vergaß, 
wie belehrend fie waren, daß der Marquis ihr Lehrer war, ihr 
einen andern Geift einhauchte, fie nah und nad zu einer ganz 
andern Berjönlichleit ummanbelte. 

Die Abende gingen meiſtens in Diskuffionen zwiſchen den 
beiden Herren hin. Dr. Neuberg nannte einmal Thomas a Kem: 
pis. Der Marquis griff diefen Schriftfteller an, während ver 
Paſtor jeine Tiefe und feine welthiftorifche Bedeutung vertheibigte. 
Der Marquis konnte nicht zugeben, daß mir das Recht haben, 
jo, wie e3 dieſer Schriftfteller that, auf diejes irdiſche Leben 
herabzuſehen. Auch viefe Leben habe feine Rechte, ja feine 
Heiligkeit, wie das Leben im Himmel. Und um jeine Worte zu 
belegen, las er aus der „Nachfolge Chriſti“ einige Stellen, die 
er mit Energie al3 Beleidigung der Menſchheit und der Menſch⸗ 
lichkeit verwarf. Doch wollte er nicht ungerecht fein umd las 
gleih darauf einige andere der rührenpiten Stellen aus dieſem 
merkwürdigen Buche. Clariſſe horchte mit ganzer Seele. Sie 
war dieſe ganze Zeit fo überſchwenglich glüdlih, daß es ihr 
wohl that, in dieſer poetifchen Zerfnirfhung und Demuth von 
ihrem Glüde auszuruhen, und zugleich diefer unendlichen Hin: 
gebung an das, wa3 ung erfüllt, zu folgen, ſich aufzulöien, ſich 
zu demüthigen und zu vernichten in Liebe. Die weibliche Hin: 
gebung im Chriftenthume, da3 Einswerden mit dem Gegen: 
ftande der Liebe war ihr noch nie jo lebendig vor die Seele ge 
treten, wie in diefem Buche. 


30 Novellen. 


Sie bat den Marquis darum, da jie eine gewiſſe Scheu 
hatte, es von ihrem Schwager zu verlangen, obwohl e3 diefer 
vertheidigt, jener angegriffen hatte. Er übergab e3 ihr am nächften 
Tage, da er mit ihr allein war, nach einigem Zaudern und mit 
der Warnung, ſich durch dieſes gefährliche Buch nicht zu ſehr 
von der Welt und ihren jhönen Freuden abziehen zu lafjen. 

„Sie gehören der Welt und ihrem Glüde,” fagte er mit 
einem jo innigen Ton in der Stimme, daß ihr beinahe die 
Thränen in die Augen traten. — „Wer jo viel Glüd zu ver: 
geben hat, wie Sie,“ fügte er bei und lächelte dazu, als ob er 
die Bedeutung feiner Worte abſchwächen wollte, „ver darf ſich 
von der Erde nicht entführen laffen, der muß im Leben ver: 
weilen und feine Gaben austheilen ; das ift Pfliht! Gewiß, ich 
bin fein Ungläubiger, aber fein Thomas a Kempis foll mid 
überzeugen, daß wir und das Leben nicht jo ſchön machen follen, 
al3 wir können. Es ift fo ſchön!“ 

Er ging raſch von dannen und ließ fie allein mit Thomas 
a Kempis und ihren Gedanlen. 

Bei aller Intimität, die ſich fo überrafhend jchnell zwischen 
ihnen ausgebildet hatte, bei aller Freundſchaft und Theilnahme, 
die er ihr bei jeder Gelegenheit zeigte, hatte er ihr doch noch nie 
jo, mit ſolchem Ausdrude geſprochen. Die Wirkung war um jo 
größer, und das Buch, das fie mit diefen Worten erhielt, wurde 
ihr deſto theurer. Sie behielt e& in’ der Hand und drüdte es 
manchmal unmwillfürlih, während fie an den Marquis dachte. 

Clarifje war bald vierundzmanzig Jahre alt; fie mußte ſich 
von ihren Gefühlen Rechenſchaft zu geben, fie wußte, daß fie 
den Marquis liebte. Hätte fie e3 nicht an jo vielen andern Ans 
zeihen erkannt, die fich bei ihr eben fo einjtellten, wie bei einem 
jechzehnjährigen Mädchen, fie hätte es daran erkennen müflen, 
daß diefer Mann eine unmiderftehliche Gewalt über fie ausübte, 
daß er fie, die ſich von jeher ihrer eigenen Willenskraft ftolz 
bewußt gewejen, modeln konnte wie er wollte, daß er fie, ihrer 
eigenen, bisherigen Perſönlichkeit volllommen entäußerte und fie, 


Der Zwed heiligt die Mittel, 31 


fie wußte nicht wie, ganz anders zu denken und zu fühlen lehrte, 
ala fie bisher gedacht und gefühlt hatte. In ihren kühlſten Stuns 
den, wenn fie fich mit Ruhe über fich aufzuflären fuchte, kam fie 
fih im beiten Falle wie eine Spieluhr vor, in die er nach Be: 
lieben eine neue Walze einlegte, um fie nah Wunſche dieſe 
oder jene Weife jpielen zu laſſen. Und fie empfand dieje Ent: 
äußerung ihrer ſelbſt, viefe geiftige Sklaverei mit einer Art von 
Freude, und im Namen deſſen, den fie liebte, triumpbhirte fie 
über fich jelbit. 

Ob der Marquis fie wieder liebte? Die Schweiter, die ihn 
beobachtete, und der Clariſſens Gefühl fein Geheimniß war, 
hoffte es. Aber wie offen auch der Fremde in feinem Benehmen 
war, wie ſehr auch jedes feiner Worte ein treuer Spiegel eines 
ganzen Charakters ſchien, war und blieb er dem Kleinen Kreife 
doc ein Geheimniß. Er ſprach viel über jeine Verhältnifje, er 
erzählte vielfache Erlebnifje, aber troß der Aufmerkſamkeit, mit 
welher Frauen Unbelannten zuhören, um dann mit großer 
Kunft aus Bruchſtücken fich jelbit eine Lebensgeſchichte zuſammen⸗ 
zufegen, war e3 den beiden Schweitern doch nicht gelungen, ſich 
von der Stellung und der eigentlichen Lebensweiſe ihres neuen 
Freundes ein klares Bild zu machen. Selbſt wenn fi Elife aus 
ſchweſterlicher Liebe zu einer Unzartheit aufraffte, um ihn gradezu 
nah Diejem oder Jenem zu fragen, was in jeiner Lebens: 
geihichte eine Rüde ausfüllen follte, bekam fie eine bejtimmte Ant: 
wort, die zu größeger Grfenntniß nicht3 beitrug, manchmal jelbjt 
ein ganzes Gebäude von Vermuthungen und Zujammenftellungen 
über den Haufen warf. Eine Erzählung warf mandmal ein 
aufflärendes Licht über einen ganzen Lebensabjchnitt des Mar: 
quis, aber bald folgte eine andere Erzählung, oft nur eine Kleine 
Bemerkung, die wieder einen verhüllenden Schatten über den- 
jelben Abjchnitt warf, ohne daß fi der Marquis im Geringiten 
widerfprochen hätte. So viel ſchien gewiß, daß er nicht zwecklos 
und als bloßer Vergnügling reiste. Daß er Verbindungen in 
‚allen Ländern, ja in allen Welttheilen hatte, daß er täglich 


32 Novellen. 


Briefe aus allen Weltgegenden erhielt, wußte man, und das 
Alles trug nicht dazu bei, ihn in der Meinung feiner neuen 
Freunde herabzudrüden. Das Geheimnißvolle, das ihn umgab, 
und in das er fih mandmal mit offener Abficht hüllte, wenn 
er plöglich in gemifien Punkten feine Mittheilungen abbrach over 
mit einem Seufzer ſchloß, wo man feine Urſache zur Trauer er: 
fannte — das Geheimnißvolle war für die Damen ein Reiz mehr, 
eben jo die Ueberzeugung, daß er in irgend welchen ausnahms: 
weiſen Verhältniſſen lebe. Letzteres gab er, auf eine jener unzarten 
ſchweſterlichen Fragen, jelbit zu. Noch ein anderer Umjtand, um 
den e3 Elifen mit Rüdficht auf ihre liebende Schwefter beſonders zu 
thun war, wurde aufgeflärt; der Marquis war nicht verheirathet. 

Elife hoffte für ihre Schweſter. 

Dieje Hoffnung verlor plöglih an Kraft, als der Marquis 
de Beaupre, nachdem man bereit feit mehreren Tagen eine 
fanfte Traurigkeit an ihm bemerkt hatte, erklärte, daß ihn Be: 
ruf und Pflichten von dannen riefen und al3 er unmittelbar an 
diefe Erklärung fein Lebewohl anknüpfte. 

Man war wie von einem Donnerſchlage betäubt. Der Mar: 
quis war abgereist, bevor man zur Befinnung kam. Man er: 
innerte ſich dann, daß er feite Zuverficht baldigen Wiederſehens 
ausgeſprochen. Aber er war fort; was fein Leben und jeine 
Verhältniffe betraf, beinahe fo unbefannt, al3 da er gelommen 
war, dem Ehepaar zum Bedürfniß geworden und von Clariſſen 
mit ganzer Geele geliebt. Sie erwachten Alle’ wie aus einem 
jhönen Traume. Clariſſe beftrebte fih, meiter zu träumen, in: 
dem fie fich in ihr Zimmer ſchloß, und jedes feiner Worte und 
Alles, was fie mit ihm erlebt, neu heraufbeſchwor in Geift und 
Herzen, und indem fie Alles wieder lad, was fie mit ihm ge: 
lefen, und zwar mit noch größerer Innigkeit, mit mehr Hin: 
gebung, und im Ganzen mit mehr Liebe als Urtheil. Außerhalb 
diefer Stube war es öde; in der Wohnung fowohl, wie im 
Städtchen. 


* * 


Der Zwed heiligt die Mittel. 33 


Er war fort und kehrte nicht wieder. Kein Brief jagte, wo: 
hin er den flüchtigen Schritt gewendet. Man Hagte ihn darum 
nicht an; man wußte, er war nichf der Mann, um, ohne ge 
wichtige Urſache, gegen die Sitte zu verftoßen. Diefe Urſache 
bing vielleiht mit feinem Schidjale zufammen, da3 man nicht 
fannte, und das man als ein zwingende3, trauriges vorausſetzte. 
Mie eine Erfheinung war er gelommen und gegangen; wie vom 
Himmel gefallen und wieder wie durch eine höhere Macht ent: 
rüdt. Herr und Frau Neuberg gewöhnten ſich ſchwer wieder an 
das einfame Leben, das durch jeine Gegenwart jo bereichert ge 
wejen, und mußten fich bezwingen, um in das alte Geleife von 
FJamilienpflihten und Beruf zurüdzufehren und mit der ehe: 
maligen Gleihförmigfeit fih zu begnügen._ Es war, als läge ein 
Jahrhundert zwiſchen dem erften Bejuche des Marquis und jebt; 
man fühlte, was Gejellihaft geben könne, und die Gefellichaft, 
vie blieb, war fo ärmlich, fo unfruchtbar. 

Glarifje war die Erfie, die fih in die Stille ergab. Sie 
jagte fih, fie habe das Beſte erlebt, alles Folgende fei nur 
Ballaft des Lebens; fie fei geboren worden, um diefe legten 
Wochen zu erleben. Nur wenige vom Glüde jo begünftigte 
Menſchen gebe es, deren ganzes Dafein fih aus bedeutenden 
Epoden, aus Höhepunlten, zuſammenſetze; glüdlih, wer au 
nur eine jolche Erfahrung gemacht, die ihm den Glauben an das 
Schöne befeftige; er hat daran einen Vorrath, davon er zehren 
könne bis an fein Ende, 

Was folgen follte und alle äußerlichen Verhältniſſe des 
Lebens waren ihr im höchſten Grade gleichgültig. Vielleicht hatte 
an diejer Ergebung, an diefer merkwürdigen Beruhigung ſchon 
ihr Thomas a Kempis Theil, das geliebte Buch, das fie aus 
feiner Hand empfangen, und da3 er nie zurüdverlangt hatte. 
63 war das einzige Andenken, das fie_ von ihm erhielt; es er: 
innerte fie täglich an ihn. 

Der Herbjt kam heran; gleichgültig ging fie durch die fallenden 
Blätter des Gartens, ungewiß, ob fie abreifen- werde over nicht. 

Weritz Hartmann, Werke VL 3 


34 Novellen. 


In England war eine Stelle für fie bereit, aber die Anver- 
wandten drangen in jie, noch den Winter mit ihnen zu ver: 
bringen. Sie fonnte ſich hicht entfchließen und ließ die Dinge 
gehen, abmwartend, ob etwas eintrete, was fie zum Gehen oder 
Bleiben bejtimme. Hier fprah man jeden Tag vom Marquis 
Beaupre, das war Grund genug, die Abreife nicht zu beſchleu— 
nigen und nicht unter Menjchen zu eilen, die nichts von ihm 
mußten. Man trennt fich fo oft kleiner, äußerer Urſachen wegen, 
warum joll man nicht da bleiben, wo das Gemüth, wenn auch 
nur Heiner Wohlthaten wegen, gern vermweilt? So rüdte der 
Winter heran und Elife hoffte ſchon, die Schmweiter bis zum 
Frühling erobert zu haben. 

Schon lag tiefer Schnee und nun war e3 ausgemadt, daß 
Glariffe ihre neue Laufbahn erft im April oder Mai antreten 
folle; und ihr lächelte der Gedanke, den Winter allein mit den 
nächſten Verwandten und einfam in ihrer warmen Stube, ohne 
Bälle, ohne Soirée, ohne Toilette zuzubringen, fich ganz eins 
zufpinnen in die Gedanken, die fie fortwährend beichäftigten. 

Aber ihr Schidjal hatte anders über fie verfügt. 

Die erite Hälfte des Winters war bereit worbeigezogen, als 
eines Tages ein von vier Pferden gezogener Schlitten pfeiljchnell 
über die jhimmernde Fläche herbeiflog und vor dem Pfarrhaufe 
hielt. Es war Fürſtin Malmine, die nur ein Kammerdiener be: 
gleitete. Noch bevor man aus dem Fenfter jehen konnte, jprang 
fie aus den umhüllenden Belzen, eilte die Treppen des ihr wohl: 
befannten Haufe hinauf und in die Wohnſtube. Ein allge 
meiner Schrei der Ueberrafhung empfing fie; trog Allem, was 
vorgefallen, war es doch ein Schrei freudiger Ueberrafchung. 
Man konnte diefe anmuthige Geftalt, dieſes ſchöne Geficht, diefen 
fanften Ausdruck der Züge nicht ohne Freude wiederjehen. Clarifie 
lag in ihren Armen, die fie auf3 Zärtlichjte umjhlangen, und 
hatte Mühe, Thränen der Rührung und der Freude zurüdzus 
halten. Die Fürftin berzte und liebkoste fie, ohne ein Wörtchen 
des Vorwurfs auszuſprechen, und nachdem fie auch Elifen um: 

® 


Der Zwed heiligt die Mittel. 35 


armt und dem Doktor die Hand gebrüdt, warf fie den Mantel 
ab und jegte ſich „in ihre Sophaede,” in der fie fi, mie fie 
verficherte, fo heimisch und wohl fühlte, wie an wenigen Punkten 
der Welt. 

Sie plauderte und erzählte mit der größten Unbefangenheit 
und war fo heiter und klar, wie man fie feit ihrem Webertritte 
nicht gejehen hatte. Dr. Neuberg konnte nicht umbin, diefe Be 
merkung gegen feine rau auszudrüden, als fie hinausgegangen, 
um dem hoben durch frorenen Gajte eine erwärmende Weinfuppe 
zu bereiten und er ibr gefolgt war. 

„Der erite Sturm de3 Fanatismus ſcheint vorüber zu fein,” 
jagte er; „jegt wäre fie vielleicht minder gefährlich. Vielleicht 
fühlt fie das ſelbſt, wielleicht ſchämt fie fich ihres früheren Ge: 
bahrens gegen Glariffe und fommt, um fie die Veränderung 
ſehen zu lafjen, die mit ihr ftattgefunden.“ 

Troß diejer Veränderung, die er jelbjt bemerkte, lispelte er 
Clariſſen, als ſich diefe mit der Fürftin auf ihr Zimmer begab, 
mit Nachdruck ins Ohr: „Widerftand, Clarifje, Muth! Lab dich 
nicht wieder entführen.” 

Clariſſe nidte mit den Augen, als ob fie die Verficherung 
geben wollte, daß fie ganz feiner Meinung, und zum äußeriten 
Widerſtande entſchloſſen fei. 

Mit Clariſſen allein wiederholte die Fürſtin ihre früheren 
Liebkoſungen, um dann, eben ſo unbefangen wie vorher und 
ohne auf frühere Vorgänge zurüchzukommen, ihre Plauderei aus 
der Wohnſtube fortzuſetzen. Sie erzählte vom Hofe und von den 
großen Veränderungen, die in den letzten Wochen daſelbſt vor: 
gegangen. Man lebe nicht mehr jo einförmig und traurig vor 
fih bin, einen Tag wie den andern; im Gegentheil, nicht ein 
Tag gleiche dem folgenden oder dem vorhergehenden; jeder bringe 
was Neues, Anregendes, Geiftreiches oder Schönes. Selbit die 
Dummen feien Hug geworden und das Alles danke man Einem 
Manne, freilich einem Manne, der über alle Männer in jeder 
Beziehung bervorrage. 


36 Novellen. 


„Aber du kennſt ihn ja,“ rief die Fürftin, ſich befinnend ; 
„tie oft hat er mir mit der größten Liebe, oder wenn du millft, 
mit der größten Freundſchaft von dir gefproden: in ver That, 
mit der tiefften Innigkeit, mit der freudigiten Anerkennung deiner 
Vorzüge hat er von dir gejprochen und herzlich bedauert, erjt 
nad deinem Abzuge an den Hof gekommen zu fein. Er hielt ſich 
eine Zeit lang bier im Städtchen bei euh auf — du erinnert 
dich _u 

„Ber iſt es?“ fragte Clarifje mit hochklopfendem Herzen. 

„Marquis de Beaupre,” ermwiderte die Yürftin aufs Un: 
befangenite. 

„Der Marquis!“ rief Clariffe und ergriff die Hand der fürjts 
lihen Freundin, der fie aus alter Zeit Alles anzuvertrauen ge 
wohnt war. Aber fie faßte ſich wieder und fragte weiter: 

„Wie fommt der Marquis an den Hof?" 

„St hatte irgend ein Kleines Gejchäft, etwas Politiſches — 
du weißt, ich fümmere mich um dergleichen nicht. Aber er wurde 
mir vorgeſtellt — auch war er mir empfohlen — er gefiel mir 
fogleih, ih erfannte im erften Augenblide, wie ſehr er ſich vor 
allen Männern auszeichnet — nun da3 war nicht ſchwer — 
ih bewog ihn zu bleiben — er ijt jegt mein Sefretär, mein Bor: 
lefer und Bibliothefar und des ganzen Hofes belebende Seele.“ 

Glariffe hatte Mühe, fich zu bezwingen. Am Liebften wäre 
fie der Fürftin zu Füßen gefallen und hätte die alte Freundin 
angefleht, fie wieder mit fort zu nehmen, fie ihrem Slüde ent: 
gegenzuführen. Aber ein gewiſſes Etwas bielt fie zurüd. Es 

‚war ihr, fie wußte nicht warum, als ob Malwine nicht ganz 
aufrichtig wäre, als ob fie noch gemwille Gedanken im Hinter: 
grunde ihres Herzens verborgen bielte. Vielleiht war es nur 
der Gedanke, fie wieder an den Hof zu entführen. Aber fait 
zitterte Clariffe ſchon, daß dieß nicht der Fall fein Fönnte, daß 
die Fürftin den Abjagebrief, ven fie ihr gefchrieben und in dem 
fie den feſten Entſchluß, nie mehr zurüdzufehren, ausſprach, zu 
lebendig im Gedächtniß hatte, Ach, diefer Entihluß war in fo 


Der Zwed heiligt die Mittel. 37 


kräftigen Worten, fo entſchieden ausgeſprochen, daß die Fürftin 
bei aller Freundſchaft, aller Selbftverläugnung, nur bei einigem 
Stolze nicht mehr daran denken konnte, an Clariſſen nod ein 
auf diefen Gegenftand bezügliches Wort zu richten. In der That 
ging Malmine mit ihren Gefprähen auf andere Perſonen und 
Dinge über und Glarifje bemerkte mit Trauer, daß fie nichts zu 
hoffen hatte. Während die Fürftin plauderte, überdachte fie, ob 
fie fich ihr nicht felbft anbieten jole? Wie fie jegt war, ruhig, 
heiter und offenbar von aller Bekehrungswuth fern, war es ihr 
Clariſſe beinahe ſchuldig, fie werkthätig um Verzeihung zu bitten, 
indem fie ihr den Wunſch, wieder in ihrer Gefellfhaft zu leben, 
ausdrüdte. So ſchien e3 ihr, aber fie konnte das Wort nicht 
über die Lippen bringen und ängſtlich folgte fie ven Wendungen 
des Geſprächs, ob fie nicht zu ihr, zum Marquis, zu ihrer Rüd: 
fehr an den Hof zurüdführten. 

Die Stube war fhon in Zwieliht getaudt; die Fürftin 
rückte Clarifjen näher und ſchlang den Arm um ihren Hals. 

„Clariſſe,“ jagte fie halblaut. 

„Durchlaucht?“ fragte Clarifje mit zitternder Stimme. 

Willſt du mich fo fehr demüthigen? Soll ich dich wieder an- 
flehen? Ahnſt du nicht, warum ich gelommen bin?“ 

Clariſſe athmete tief auf, fie fühlte ſich erlöst; fie faßte die 
Hand der Fürftin. 

„Halt,“ rief diefe, „Tage nichts; verfprich nicht und ver: 
meigere nicht3, bevor ich noch etwas gejagt habe. Clariffe, du 
hatteft Recht; ich habe dich gequält, unbarmberzig, unverzeihlich 
— ic ſehe es ein — ich lebte damals im Fieber. Das ift vor: 
bei, glaube mir; ich ſchäme mich meines damaligen Zuftandes, 
Seit der Marquis da ift, ſehe ich Alles ander3, bin ich ganz 
verändert.” 

Sie jhwieg, Clariffe drüdte ihr unmillfürlich die Hand. 
Sept glaubte und vertraute fie ihr mit ganzer Seele. Das legte 
Wort war überzeugend ; fie wußte es ja, wie er den Menfchen 
aus dem Grunde verändern könne, wie man durch ihn lerne, 


38 Novellen. 


Alles anders anzuſehen. Schon war ſie bereit, die Fürſtin zu 
bitten, fie wieder mitzunehmen, als ihr dieſe ins Wort fiel: 
„Sage nichts! Höre no, was ich dir verfpredhe. Nie mehr will 
ih dir ein Wort von Religion ſprechen, ich ſchwöre es dir — 
höre — auf was foll ich dir es ſchwören? — Welches Buch iſt 
das, das hier liegt? Siehe da, es ift die Nachfolge Chrijti — 
du liest Thomas a Kempis? — das hat ein guter Geift hier: 
bergelegt, es ift mein Buch, ich lefe es des Abends und des 
Morgens — fieh, ich lege die Finger auf den geheiligten Namen 
und ſchwöre dir, bei meiner Seele Heil, ich quäle dich nicht mehr 
mit Religion, ich ſpreche dir nicht mehr von Religion, ich fuche 
dich nicht mehr zu befehren — fomm wieter zu mir, Clariſſe!“ 

Glarifje lag an ihrem Hals und meinte, 

Es war ſchon fpät am Abend, als fie aus dem dunklen 
Zimmer in die hellerleuchtete Wohnftube traten. Die Fürftin be 
fahl dem wartenden Kammerdiener, den Schlitten ſogleich vor: 
fahren zu laſſen, und Glarifje erflärte, daß fie mit der Fürftin 
abreijen werde. Herr und Frau Neuberg machten erjtaunte 
Augen, aber Clarifje flüfterte der Schmweiter ins Ohr: „Der 
Marquis ift am Hofe,“ und Elife benußte die erfte Gelegenheit, 
diefe Neuigfeit ihrem Manne zuzuraunen. Er hatte nicht lange 
Zeit, darüber nachzudenken, denn der Schlitten fuhr vor und 
die Fürftin begann Abjchied zu nehmen. Der Kammerdiener 
brachte zwei Pelze ins Zimmer. „Diefer,” jagte die Fürftin, auf 
den einen deutend, ift für dich, Clariffe; ich habe ihn für dich 
mitgebracht !” Glarifje hüllte fich drein, umarmte Schwager und 
Schweſter und eilte ſtrahlenden Gefichtes die Treppe hinab. Der - 
Schlitten fegte fi in Bewegung, die Schellen erflangen und die 
Fürftin mit ihrer Hofdame fuhren in die ſchimmernde Nacht 
hinaus. 

„Wenn der Marquis bei Hofe ift,” fagte Dr. Neuberg, „läßt 
fih gegen die Sache nichts fagen; er wird fie zu bejhügen und 
die Fürftin im Zaume zu halten wifjen, abgefehen davon, daß 
er gewiß ſchon ven ganzen Hof fammt der Fürftin reformirt hat. 


Der Zwech heiligt die Mittel. 39 


Giehft du, Elife,” fügte er felbitgefällig hinzu, „mie ich recht 
batte, wie ich e3 gleich bemerkte, daß mit Ihrer Durchlaucht eine 
Beränderung, eine radikale Veränderung vor ſich gegangen ?! 
63 ift eine ganz andere Perſon. Das hat gewiß der Marquis 
zu Wege gebracht. — Und,“ fuhr er nad einiger Zeit im Ges 
fühle, das Haupt der Familie zu fein, fort, „und für Clariſſe 
tann unter fo bewandten Umjtänden die Rückkehr zu Hofe zu ihrem 
Glücke ausfhlagen. Der Marquis ijt ihr gewogen; fie iſt es 
werth, die Frau eines jolhen Mannes zu werden. Weißt du, 
Elife,” rief er plöglih, als ob ihm ein einleuchtender Gedante 
einfiele, „e3 wäre nicht unmöglih, daß der Marquis felbit vie 
Fürftin zu diefer Neife und zu dem Verſuche, unjere Clarifje 
wiederzugewinnen, bewogen und aufgemuntert hätte. ch möchte 
wetten, daß dem fo ift. Aber fei es wie immer, glüdliche Reife 
unjerer guten Clariſſe. Vergik nicht, ihr morgen ihre Koffer 
nachzuſchicken.“ 


* * 
zu 


Clariſſe fand den Hof in der That, wie es die Fürftin ge: 
fagt-hatte, in einem erftaunlichen Grade verändert. Fürſt Ama: 
deus, beinahe ganz in Stumpffinn und Gefühllofigfeit verjunfen, 
batte ſich mit einer kleinen Zahl von Dienern auf ein einfames 
Jagdhaus zurüdgezogen, das er nur äußerſt jelten verließ. Die 
Fürſtin bewohnte jegt das ganze Schloß; Gemächer und Säle, 
die man feit Jahren nicht betreten hatte, waren geöffnet und 
zum Empfang eingerichtet; des Abends glänzte die ganze Fronte 
in berrlihfter Beleuchtung. Beinahe jeden Abend war Theater 
und Konzert oder wenigſtens Tanz. Das Crftaunlichite war, 
daß ſich jo viele unvermuthete und brauchbare Talente am Hofe 
und in der Stadt gefunden hatten, die jo verfchiedenartige Rollen 
zu übernehmen fähig waren und die zu all den Beluftigungen 
das Ihrige beitragen konnten. Das Alles dankte man dem 
Kennerauge des Marquis, der jedes Talent hervorzufuchen, jede 
Begabung auszubilden, Jedem Bewußtfein und Muth zu geben, 


40 Novellen. 


und vor Allem auf feinen Platz zu ftellen wußte. Der Marquis 
mar es au, der den männlichen mit dem weiblichen Hofe zu 
verfchmelzen verftand; auch unter diefen von den Damen ver: 
ſchmähten Herren fand er eine gute Zahl heraus, die fich bald 
in die Beitrebungen, in den Geiſt und Ton der Damen zu fügen 
mußten, 

Die asketiſch düftere Atmoiphäre von ehemals war ver: 
ſchwunden; Luft und Heiterkeit, fröhliche Weltlichleit herrſchte 
überall, Die Fürftin ergab fih ihren Religionsübungen nad 
wie vor mit ftrengfter Gemiljenhaftigfeit; fie ſchloß ſich ganze 
Stunden des Morgend und des Abends in ihre Kapelle, fie 
machte im fchlechteften Wetter ihre Wallfahrten nach der andern 
Kapelle im entferntejten Theile des weiten Parkes; aber im Um: 
gange fühlte man nicht3 mehr von ihrem ehemaligen Eifer. Eie 
ergab fich mit ihrer ganzen Umgebung dem eben fo heitern als 
mit Gejhmad und Kunft eingerichteten Leben, das jetzt Ton 
und Mode geworden, ohne fih, wenigſtens fo viel man merfen 
fonnte, über ihre Weltlichkeit Gewiſſensſtrupel zu maden. 

Den Marquis de Beaupre fah Clarifje gleich am Tage nad 
ihrer Ankunft. Sie begegnete ihm im Korridor vor den Ge: 
mächern der Fürltin, die eben ihre Andahtsübungen vollendet 
hatte. Er fam aus diefen Gemädern. Er küßte Clariſſe die 
Hand, drüdte fie und ſchwieg. Er war offenbar jehr bewegt. 
Erſt nah Minuten fragte er nach dem Befinden des Dr. Neus 
berg, feiner Frau und Kinder. Dann feufzte er. 

„Ich habe Ihnen nicht geſchrieben,“ fagte er endlih, „das 
fcheint undankbar, ungezogen, nadhdem ich fo viel Gutes und 
Liebes von Ahnen Allen erfahren, nachdem — aber Sie haben 
mich gewiß entjhuldigt — nit wahr, Clariſſe, Sie haben mid; 
entſchuldigt? Sie haben fi gejagt, daß ich wohl gewichtige Ur— 
ſachen hatte —“ 

Er ſeufzte wieder. Clariſſe beruhigte ihn. 

„Eines Tages,“ fuhr der Marquis fort, „werden Sie es 
vielleicht errathen, warum ich geſchwiegen habe — warum ich 


Der Zwed heiligt die Mittel. 41 


gerade Ihnen nicht geſchrieben habe — ich bin nicht immer mein 
eigener Herr.“ 

Es kamen Leute herbei, er drückte ihr die Hand, lispelte 
„auf Wiederſehen“ und ging. 

Wie ſehr ſie Worte und Ausdruck des Marquis betrübten, 
freute es ſie doch, daß ſie ihm gleich beim erſten Gange aus 
ihrem Zimmer begegnet war. Es war ihr das wie eine gute 
Vorbedeutung und ein Anzeichen, daß ſie ihn hier oft wieder— 
ſehen, daß ſie immer in ſeiner Geſellſchaft ſein werde. Aber 
dieſes Anzeichen täuſchte. Tage vergingen, ohne daß ſie ihn 
allein hätte ſprechen können. Sie ſah ihn zwar jeglichen Tag 
und oft durch viele Stunden bei der Fürſtin, wo er vorlas oder 
die Zeit mit Geſpräch verbrachte, Abends im Salon, im Theater; 
aber zu einem Zwiegeſpräche zwiſchen vier Augen kam es nie. 
63 war jegt ein jo lebhaftes Treiben bei Hofe, daß an eine ein= 
fame Stunde nicht zu denken war; der Marquis mar vorzugs— 
weife umgeben und, da er Alles leitete, fortwährend befchäftigt. 
Die Fürftin war die Einzige, die ſich feines Umganges aud in 
der Einjamfeit erfreuen konnte, denn das hatte Clariffe bald 
bemerkt, daß er auch die Stunden, in denen fie fich zurüdges 
zogen hielt, alſo ihre Andachtsſtunden, in ihren Gemächern ver: 
brachte. Diefem Umftande vorzugsweiſe fehrieb es Clariſſe zu, 
daß die Fürftin milder und toleranter, daß ihr Glaube menſch— 
liher und weniger düjter geworden war; und im Namen der 
Freundin war fie dem Marquis dankbar, daß er feinen Einfluß 
auch in diefen Stunden übte. Indeſſen fehnte fie ſich oft nad 
jenen intimen Zeiten im Pfarrhaufe zurüd und diefe Sehnſucht, 
verbunden mit der Erinnerung an die erften Morte, die der 
Marquis beim Wiederfehen zu ihr geſprochen und mit der Ent: 
täufhung, die fie hier erlebte, indem fie fein einziges Wort mit 
ihm taufchen konnte, verſenkte fie fih in eine Melancholie, die 
ihr oft unverſehens die Thränen in die Augen trieb und ihre 
Stimme zittern machte, felbft wenn fie das Gleichgültigfte ſprach. 
Dazu fam noch die Bemerkung, daß der Marquis erniter, ja in 


42 Novellen, 


einem gewillen Sinne feierlich und traurig geworden war. Gr 
leitete wohl alle Beluftigungen, er war die Seele aller Freuden 
— aber er veranftaltete Alles für Andere, er felbft nahm wenig 
Theil und mitten unter Tanzenden und Scherzenden war er ge 
mejjen, manchmal bis zur Unnahbarkeit würbevoll. Das be: 
fejtigte Clarifje nur no in dem Gedanken, daß er nicht glüdlich 
war, und manchmal bradte fie fein Unglüd mit fich felbit in 
Verbindung. Wie viel trachtete und dichtete fie, um fich eine 
Geſchichte des Marquis zufammenzufegen, um fich diefes Räthſel 
zu enträthieln. 

Erjt nad mehreren Wochen gelang es ihren fortwährenden 
Beobachtungen, ein Mittel zu finden, wenn auch nicht mit dem 
Marquis, doch wenigſtens mit dem Marquis und der Fürftin 
öfter allein zu fein. Sie bemerkte, daß diefe ſich auf ihren Wall: 
fahrten nach der entfernten Kapelle nur vom Marquis begleiten 
ließ; fie bat die Freundin, doch auch fie mitzunehmen. 

„Eine Ketzerin auf eine Wallfahrt!“ lächelte die Fürftin, 
„wie haft du dich geändert, Clariffe! wor einigen Monaten hätte 
ih dir das nicht zumuthen dürfen, heute bitteft vu mich darum. 
Ich nehme dich gern mit.“ 

Die Kapelle lag im entfernteften Winkel des Parkes, mehr 
als eine halbe Stunde weit vom Schloß. Der Park, obwohl 
geradlinig, im franzöfifhen Gefhmad des vorigen Jahrhunderts. 
angelegt, war von der vorigen Fürftin in englifher Weile, fo 
viel als möglih, umgeftaltet worben. Zu dieſem Behufe ließ 
man die gerabgejchnittenen, alten Bäume frei und mild aus 
Ihlagen und hier und da Geftrüpp und Geſträuch auffommen, 
um die fteifen Linien zu verdeden oder zu unterbrechen. Der 
Park glich jegt mehr einem Walde. An der einen Seite war ber 
Wald plögli von einer künftlichen, aber hohen Felswand abge- 
ſchnitten, welche Epheu und allerlei Schlingpflanzen bevedten, 
die au da und dort eine junge Tanne trug, die fih nur mit 
Mühe an die Felsblöde anklammerte. Man konnte mit Hülfe 
eines ſchmalen Pfades, ver fich hinauf fchlängelte, über die Fels— 


Der Zwed heiligt die Mittel. 43 


wand, oder vermitteljt eines langen, dunklen und feuchten Ganges 
auf ebenem Boden mitten hindurch gelangen. Jenſeits ver 
Felswand befand man fich in einer neuen Welt, in einer wahr: 
haften Wüſte. Auf einer öden und dürren Thaljohle lagen Fels: 
blöde zerjtreut, einzeln oder übereinander gethürmt, als ob hier 
in Folge einer Ummälzung ein Granitberg zertrümmert worden 
wäre, Bon einer Feldwand rechts floß ein dünner Wafferfaden 
berab, deſſen ärmlihe Gewäſſer fih in einer Art von Weiber 
oder See jammelten, um vafelbft zu verfumpfen. Der Weiher 
lag hart am Ausgange der Feljengallerie, durch die man in diefe 
troſtloſe Welt gelangte, und war da von einigen rohbehauenen 
Bäumen überbrüdt. Diefelbe Feldwand, die dem Parfe eine 
grüne Seite zeigte, war der Wüſte zu kahl und unmirthbar; jo 
waren auch die andern Feldwände, welche dieſes ganze Thal in 
verſchiedenen Windungen umgaben. Nur im äußerten Hinter: 
grunde, zu dem man auf Umwegen, über Blöde auf: und nieder: 
fteigend, Durch enge Felfengänge und über allerlei Steintrümmer 
gelangte, öffnete fih auf einiger Höhe eine Bucht, die von Kie— 
fern. und anderem Navelholze angefüllt war. Dort, von den 
Bäumen halb bevedt, ftand von jeher die Gremitage, die in 
feiner Anlage de3 vorigen Jahrhunderts fehlen durfte, und neben 
der Eremitage ſtand jept eine Heine, aus Baumfjtämmen, die noch 
die Rinde trugen, gezimmerte Kapelle. Die Eremitage hieß jegt 
die Klaufe, und die Wüfte, welche man früher nur „le desert‘‘ 
genannt hatte, nannte jegt die Fürftin ihre Thebaibe. 

Die Klaufe oder Einfiedelei, die unter den frühern Regie: 
rungen nur zu nächtlichen Felten und ftillen Soupers gedient 
hatte, war jett bewohnt; fie hatte ihren Einjievler. Malmine 
hatte fih an den Pater Guardian eines Kapuzinerkloſters im 
nächſten katholiſchen Lande gewandt, und dieſer ſchickte ihr ven 
guten Bruder Adam, der in die Eremitage geſetzt wurde, wo 
man ihm vom Schloſſe aus mit allem Nothwendigen verjorgte, 
Seine Pfliht war, in der neugebauten Kapelle die Meſſe zu 
lejen und das Glödlein zu läuten, deſſen Schall ſich bis in die 


44 Novellen, 


Zimmer des Schlofjes hören ließ. Dorthin pilgerte die Fürftin 
beinahe jeden Morgen, oft auch des Nachmittags, gewiß aber 
immer, wenn es ftürmte und die Elemente den frommen Gang 
genug erichwerten, um ihn zu einem Bußgange zu maden. Sie 
trug dann nur leichte8 Gewand, um fich der Unbill des Wetters 
augzufegen, an manchen Tagen unternahm fie diefen Gang mit 
nadten Füßen; dann wählte fie den längern und härtern Meg 
über die Felswand. | 

Auf diefem Wege war e3 jegt Clarijfe, wie ſchon früher dem 
Marquis, erlaubt, die Fürftin zu begleiten. 

Wie eigenthbümlih war ihr zu Muthe, als fie mit diejen 
beiden geliebten Perſonen das erfte Mal vor der Kapelle ankam, 
diefe eintraten, die Thür hinter ihnen zufiel und fie draußen 
allein ftehen blieb. Es war ihr plötzlich, ald wäre fie von ihnen 
dur unendliche Fernen getrennt, und wie fie die öde Welt vor 
ihr betrachtete, als ftände fie in der That allein, verlaſſen in 
einer gränzenlofen Wüſte. Unmwillfürlih jah fie fih nad den 
Freunden um; ihr Bli fiel durch ein ſchmales Fenfter in das 
innere der Kapelle. Drinnen webte heimlihe Dämmerung in 
den verfchiedenften gedämpften Farben, wie fie von den gemalten 
Heinen Scheiben der Fenſter in Streifen ausgingen, bier und 
da von einem Strahle der Altarlichter und der ewigen Lampe 
durchwirkt. Der Mönch ftand am Altar und las eine ftille Meſſe; 
ihm nabe fniete ver Marquis und die Fürftin; Beide hielten das 
Gefiht in die Hände gedrüdt. So brüderlich knieten fie neben 
einander, Beide in denjelben Gedanken verfenkt, darum fo innig 
vereinigt. Sie waren in fo tiefen Frieden getaucht; die Atmo- 
ſphäre der Kapelle fhien fie fo warm zu umhüllen. Und jie 
ftand draußen, fröftelnd, allein, verlaffen in ver Wüfte, wie 
ausgeftoßen, getrennt von ihren geliebteften Menjchen. Nur ein 
leifes, geheimnißvolles Murmeln kam vom Altare in ihr Obr, 
aber der Duft des Weihrauchs ergriff fie mit Macht. Sie war 
wie berauſcht. Sie lehnte den Kopf an das Drabtgitter, das fie 
von den Sceiben trennte; da bemerfte fie an einem andern 


Der Zwed heiligt die Mittel. 45 


Fenjter in der Kapelle, daß die Scheiben, die von außen fo un: 
förmlich bemalt ausfahen, nad) innen himmliſche Gefichter, ver: 
flärte Geftalten in glühenden rothen und in fanften blauen Ge: 
wanden zeigten. Auch die Mauern der Kapelle, die außen Rinden 
bededten, waren im Innern mit herrlichen Delbilvdern alter ita= 
lienifcher Meifter gef hmüdt und in Nifchen ſtanden Kleine weiße 
Marmorftatuen, die geilterhaft in die Dämmerung vortraten. 
Nie hatte eine gewaltige Kathedrale auf Clariffens Seele den 
Eindrud gemacht, wie dieje Keine Kapelle. Es ſchien ihr, als 
würde e3 fie beglüden, als müßte ſich all’ dieſe Unruhe, die feit 
Wochen ihr Herz zerrüttete, in Frieden verwandeln, wenn jie 
drinnen mit den Beiden zufammen beten könnte. Wie oft hatte 
fie in früherer Zeit von dem Glücke jprechen hören, mit geliebten 
Verfonen „zum Tische des Herrn“ gehen zu dürfen; fie begriff 
Menſchen, die fo jpraden, nur halb; jegt glaubte fie fie ganz 
zu verftehen, eben jo das Glüd des Glaubens, das ihr fo oft 
die Fürftin und Andere gepriefen hatten. Glaube aber war ihr 
nicht mehr, was fie bisher geglaubt hatte; drinnen, in dieſer 
Kapelle war er heimiſch, dieſer Glaube, ver beglüdte. Ihr 
Thomas a Kempis, ihr „Geiſt des Chriſtenthums,“ Alles, was 
fie mit dem Marquis gelejen, was er zu ihr gejagt, trat ihr leb: 
baft vor die Seele, als ob fie e3 jegt wieder von feiner leben: 
digen Zunge hörte. Wie fehr mußte fie bis jegt Welt und Men: 
chen mißverftanden haben! Dieſer Marquis, dieſer gebilvetite 
aller Männer, ven auch Dr. Neuberg für den Harften Geift hielt, 
diefer felbe Marquis betete drinnen jo inbrünftig, fo fromm! 
Diefe Frömmigkeit muß alſo mit Harfter Einfiht, mit hoher 
Bildung und Eveljinn, kurz mit all’ den herrlihen Eigenfchaften 
diefes Mannes, den fie fo jehr liebte, in Harmonie fein können. 
. Sie könne nur, dachte fie, die Möglichkeit diefer Harmonie nicht 
faflen; dazu müſſe ihr Verftand zu beſchränkt jein. Sie müfle 
an diefe Möglichkeit glauben, und da ihr der Marquis dieſes 
Beilpiel gab, müſſe diefe Harmonie unendlih jchön, ja ein 
Biel fein, das man aufs Innigfte wünſchen müſſe. So dachte 


46 Novellen. 


fie und erfchraf vor diefen Gedanken und verftand fich jelbit 
nicht mehr. 

Die Freunde traten endlich aus der Kapelle. Noch lag ein 
Ausdrud der innern Sammlung auf ihren Zügen; ihre ganze 
Erſcheinung war noch wie in einen Schleier der Andacht gehüllt. 
Glarifje trat unmilltürlih einen Schritt zurüd, um fie nicht zu 
jtören und fie gingen, wohl lächelnd, aber fchweigend an ihr 
vorüber. Schweigend gingen fie weiter und ſchweigend folgte jie 
ihnen. Endlich ſah fich die Fürftin nach ihr um und unterdrüdte 
einen Seufzer. Clariſſe ſchlug die Augen nieder. Ein Gefühl 
der Scham überkam fie; fie erfchien fi) fo arm, fo öde neben 
diefen beiden Pilgern. 

Erjt im Gewühl der Hofleute fiel die ganze Stimmung wie 
ein Traum von ihr; fie fagte fih mit Ruhe, daß die Stunde an 
der Kapelle einen tiefen Eindruck auf fie gemacht und daß fie die 
Fürftin nicht wieder begleiten wolle. Aber am nädjten Tage 
ſchloß fie fich ihr doc wieder an. Es lag eine jo tiefe Luft in 
dem Gefühle, das fie vor der Thür der Kapelle empfunden hatte, 
und fie empfand e3 wohl, eine ſolche Gefahr, daß es fie mit 
jenem der Gefahr eigenen Magnetismus dahinzog. So aud) den 
dritten und alle folgenden Tage, bis e3 fich von ſelbſt veritand 
und e3 wie zu ihrem Amte gehörte, daß fie die Fürftin auf 
diefem Gange begleitete. 

Mas fie von diefen Gängen gehofft hatte, eine neue Ans 
näherung des Marquis, hatte fich freilich nicht erfüllt, aber fie 
war ihm doch nahe in den Stunden, die ihm offenbar von Bes 
deutung waren. Aber vor der Thür der Kapelle fühlte fie es jo 
Har, mie jehr fie von ihm getrennt war, und die menjchliche 
Geele ſucht diefe Momente mit befonderer Vorliebe auf, die ihr 
Unglüd ihr in ganzer Tiefe vergegenmwärtigen. Und je jchweig: - 
famer, je zurüdhaltender fi der Marquis gegen fie benahm, 
defto lieber wurden ihr die Stunden, in denen fie ſich, wie bei 
jener erjten Wallfahrt, jagen konnte, daß fie einfam war, ver: 
lafjen, allein. 


Der Zwed heiligt die Mittel. 47 


Diejes Gefühl wurde noch dadurd erhöht, daß die Fürftin, 
ihrem Verſprechen gemäß, ihr nicht mehr von Religion ſprach. 
Wie gern hätte ihr Clarifje einmal gejagt, wie fehr jich ihre An— 
fichten geändert und was fie empfinde, wenn fie fie und den 
Marquis am Altare jehe. Daß der Marquis, den fie jegt als 
gläubig und fromm kannte, ihr nicht einmal wie einft im Pfarr: 
baufe von religiöfen Dingen ſprach, ſchien ihr eine abjichtliche 
Ausſchließung; daß es nicht Kälte oder Gleihgültigkeit war, das 
fagte ihr die tiefe Traurigkeit, mit der er mandmal ein Wort 
mit ihr wechjelte und die ihn plößlich überfiel, ſelbſt bei der hei— 
terjten Stimmung, wenn fie ihre Rede an ihn richtete. 

Mit Neid bemerkte fie, wie jene beiden Fräulein v. Zellwig, 
die Töchter des Beamten, die zur römischen Kirche übergetreten 
waren, weil, mie ihr Vater jagte, es ſich ſchicke, die Religion 
der Herrichaft zu haben; wie jene Fräulein fich des Umgangs 
und ber Gejellihaft des Marquis öfter und auf eine innigere 
Meife erfreuten als fie. Mit ihm und mit der Fürftin verbrachten 
fie ganze Stunden allein, und jeden Abend, felbit in großer Ge: 
jellihaft, bei Konzert und Ball, fanden fich die Biere zufammen, 
abgetrennt vom ganzen Hofe und im vertraulichiten Geſpräche 
vereinigt. Wie innig, dachte Clarifje, muß das Band fein, dag 
fie an einander fchließt. Sie bilden eine Heine abgefchlofjene Ge: 
meinde, und umgeben von Andersgläubigen, gemiflermaßen 
ausgeftoßen, wie warm muß das Gefühl jein, das.in ihrem 
Kreiſe waltet. Sie erfhienen ihr fait wie Märtyrer; und bei 
allem Neide fühlte fie fih gerührt und war es ihr, ala müßte 
fie diefes Märtyrergefühl mit den Freunden tragen. Daß ver 
Marquis mit fo unbedeutenden Gefchöpfen, wie die beiden Fräu— 
lein v. Zellwig waren, jo vertraut werden konnte, war ihr nur 
ein Beweis mehr, weld ein ſtarkes, über alle andere Rüdjichten 
erhabenes Band jener Glaube, und meld ein mächtiges An- 
näherungsmittel ihre ausnahmsweiſe Stellung jein müfje. Ge— 
hörte fie mit zu dem Kreife, wie nahe ftände fie dem Marquis, 
dem fie Schon alte Freundfhaft jo nahe brachte! Aber fie jtand 


48 Novellen. 


außerhalb dieſes Kreifes, und da Niemand etwas that, um fie 
bineinzuziehen, mußte fie ſich jagen, daß fie von aller Liebe aus: 
gejchlojjen fei. Niemand nahm mehr Theil an ihr. Ad, wohin 
find die Zeiten, da ihr Eeelenheil der Fürftin noch fchlaflofe 
Nächte verurjachte! Auch äußerlich vereinfamt, mie fie es innerlich 
war, irrte fie oft allein im Parke umher, dur die Wüſte bis 
zum Einſiedler. Es hatte fich zwifchen ihr und dem guten Pater 
Adam eine Art Freundfchaft gebildet, die ihr in ihrer jegigen 
Lage von einigem Werth war. Er empfing fie immer mit großer 
Freude, bewirthete fie in ſeiner Klauſe und nahm die Gejchente, 
die fie ihm bradte, eine Flajche guten Weins, eine Paſtete und 
vergleichen immer mit naivem Vergnügen hin. Er nannte dieje 
Geſchenke fromme Opfer, oder jhüchterne Verfuche der Keperin, 
ihre Seele zu retten. E3 wäre Clariſſen faft willlommen gewejen, 
wenn er an foldhe Worte Gejpräche über Religion oder Bekeh— 
rungsverſuche angefnüpft hätte; vielleicht hätte ihr diefe einfältige 
Seele etwas gejagt, was fie überzeugt haben würde, oder wäre 
ihr dadurd Gelegenheit geboten worden, einen Bekehrer zu 
widerlegen und ſich in ihrem Widerftande zu befräftigen, denn 
Beides war ihr, je nad ihrer Stimmung, abmwecjelndes Be: 
dürfniß. Aber es fiel dem Mönche nicht einen Augenblid ein, 
folde Thema's anzuſchlagen. Er las jeine Meſſe, er zog feine 
Glocke, er nährte fih von den Vorräthen, die aus dem Schloſſe 
geliefert wurden, und damit glaubte er jeine chriſtlichen Pflichten 
volllommen zu erfüllen. Wenn ihn Clariſſe auf religiöje Ge: 
ſpräche brachte, begnügte er fih damit, fie über den ihm ge: 
heimnißvollen protejtantiihen Glauben auszufragen. Er war 
fehr erjtaunt, als ihn Clariſſe verficherte, daß auch die Prote: 
ftanten getauft werden, daß fich überhaupt fo viel Chriftliches in 
diefem Glauben finde. Er war bisher der Meinung gemejen, 
daß die Proteftanten gar nicht3 glaubten. Allerdings jchüttelte 
er den Kopf und jah Clarifjen mit großen Augen an, wenn fie 
ihm ſagte, daß die Proteftanten von den Heiligen und von ber 
Unfehlbarfeit des Papſtes nichts wiffen wollen — aber er blieb 


Der Zwed heiligt die Mittel. 49 


bei der Verwunderung ftehen, ohne fih weiter über die Urſachen 
aufklären zu wollen, wie er es überhaupt mehr liebte, fich zu 
verwundern, al3 irgend ein Ding oder einen Gedanken zu be— 
urtheilen oder zu prüfen. Bei ſolchen Gelegenheiten ſchlug er 
die dicken Hände zufammen und ſagte ohne alle Aufregung: Es 
ift fonderbar, oder: Das ift kurios! Nun meinetwegen! Halt e8 
Jeder, wie e8 ihm Spaß macht! Wenn fich der Menſch dabei 
nur wohl befindet! Für die Seele forgt die Allerbarmung 
Gottes, 

Diefe Reden, diejes Benehmen des Kapuziner3 verwirrten 
und berubigten fie zugleih. Hatte fie fih ehemals vom Katholi- 
zismus nicht eben jo falfche und übertriebene Vorſtellungen ges 
madt, wie der Pater vom Proteftantismus? — Und dieſe Gut- 
mütbigfeit, diefe Naivetät des Mönches! 

Das alfo it ein Mönch! Ein Mönch! Sie verglich ihn mit 
ver hagern, fanatijchen, wilden Geftalt, die in ihrer Bhantafie 
lebte, vie geifernd eifert, die immer bereit ift, den Holzitoß zu 
ſchichten und anzufteden und dazu Palmen zu fingen. Sie 
ſchämte ſich, fie bat die Fürftin in ihrem Herzen um Vergebung 
für all das Unrecht, das fie ihr und ihrem Glauben gethan, 
und wünſchte jehnlichit, fie die Nenderung ihrer Anfichten fennen 
zu lafien, ihr zu jagen, daß fie theilweife befehrt jei. 

Eines Tages freilich machte fie der Mönch mit einigen Worten 
ftugig. Sie hatte ihm eben wieder „eine Opfergabe” gebracht 
und jaß bei ihm, in den wenigen Erbauungsbüchern blätternd, 
die vor ihr auf dem Tifche lagen, als er plöglih an fie heran- 
trat, die Hand auf ihre Schulter legte und mit halblauter 
Stimme fagte: „Mein gutes Fräulein, es wäre freilich jehr 
wünfcenswerth, wenn Sie in den Schooß der allein felig ma— 
chenden Kirche zurüdtehren wollten; aber ich weiß nicht, ob Sie 
es wollen. Wenn Sie e3 nicht wollen, fo will ich Ihnen nur 
zugeflüftert haben, daß e3 Andere wollen.” 

Clarifje jah ihn fragend an; fein Geficht blidte, al3 wollte 
e3 eine ernftlihe Warnung ausſprechen. — Dann fügte er hinzu: 

Morig Hartmann, Werke. VI. 4 


50 Novellen. 


„Denn Sie ſich wirklih und freimillig befehren wollen, kommen 
Sie nur zu mir; ich werde Sie nicht mit einem allzulangen und 
ausführlichen Glaubensbekenntniß plagen.“ 

„sh danke Ihnen,“ lächelte Clariffe, „zur Zeit glaube ich 
noch nicht, von Ihrer Güte Gebrauch machen zu müſſen.“ 

„Iſt auch gut,” antwortete der Kapuziner. 

Die Worte des Mönches gaben ihr Manches zu denken; zu: 
let jagte jie jih, daß er wohl etwas von den ehemaligen Be: 
kehrungsverſuchen der Fürftin gehört hatte, und daß er, die 
Veränderung der Dinge nicht fennend, feine Worte auf Jene 
beziehe. Sie vergab die Warnung, wohl aber erinnerte fie ji 
der Verfiherung, daß er fie mit ausführlichen Glaubensbefennt: 
niſſen nicht plagen wolle, 

Wären doh Alle jo offen und aufrichtig mit ihr geweſen, 
wie diefer Mönch, wie diefer neue Freund. Die alten Freunde 
flohen fie immer mehr; der Marquis und die Fürftin wurden 
immer zurüdhaltender; die Entfernung zwijchen ihr und diefen 
Freunden wurde immer größer und weiter, Wie oft träumte jie 
in unruhvollen Nächten, daß fie auf jchönen Wiefen, in den 
berrlichften Gegenden mit den Freunden luftwanvelte; plöglich 
thut fich ein Abgrund auf, der jie von einander riß. Drüben 
ftand der Marquis mit Malwine, innig vereinigt; Hand in Hand 
jegten fie ihren Gang fort, al3 ob nichts gejchehen wäre, wäh— 
rend fie diesfeit3 des Abgrundes jtand und jehnlichjt die Arme 
nach ihnen ausbreitete. Plötzlich wendete ſich die Fürſtin nad 
ihr um und nidte lächelnd, während der Marquis fein Geficht 
verhüllte. Ungeheure Angſt und Sehnſucht erfaßte fie; fie wollte 
den Abgrund überspringen, fie fprang und ſank und fan in tiefe 
Naht. — Oder fie ftand auf einer fteilen Felfenwand; der Mar: 
quis ſaß, in einem Buche lefend, tief unter ihr. Sie ſah hinab 
und wollte mit ihm leſen, da fiel eine Thräne aus ihrem Auge 
auf da3 Bud; der Marquis blidte auf und wie er Clariſſe ſah, 
verfinfterte fich fein Gefiht und er eilte in eine Grotte der Fel3- 
wand, die ihn verfchlang. Clariffe erwachte mit verweinten Augen. 


Der Zweck Heiligt die Mittel. 51 


Dieſe Träume lagen die Tage über mwie jchwere Schatten 
auf ihrer Seele und fie famen ihr plöglich wie verwirklicht vor, 
als fie eined Tages — es war ſchon ein jonniger Märztag — 
eben über die Felswand ftieg, um in die Müfte zu gelangen, 
und fie unten im Parfe den Marquis erblidte, der einfam und 
gedanfenvoll in einer Allee auf und ab ging. Sie blieb ftehen 
und betrachtete ihn traurig., Wie fremd fühlte fie ſich ihm gegen— 
über, dem fie einjt jo befreundet geweſen.“ Er bemerkte fie und 
grüßte, Sie feßte ihren Weg fort, und als fie am Fuße der Fels: 
wand anfam, ftand er vor ihr. Er war durch die Gallerie ge: 
gangen und erwartete fie unten an der Brüde. — Jetzt, dachte 
Clariſſe, muß ich erfahren, was uns trennt. — Sie war ent: 
ſchloſſen, ihn gerade zu fragen, aber er jchien ihr entgegenfommen 
zu wollen, 

„Clariſſe,“ fagte er traurig und faßte ihre Hand, „mie ich 
Sie da oben auf dem Felfen fteben ſah, war e3 mir, als ftänden 
Sie in einer fernen Welt. Doc iſt e3 nur eine fünftliche Fels— 
wand. Der Frühling erwacht; ſehen Sie, wie ſchön e3 ringsum 
geworden; die Vögel fangen zu fingen an. Clariffe, wir haben 
nod feinen Frühling zufammen erlebt. Nichts ald Winter, trau- 
tigen Winter! Ich muß mit Jhnen ſprechen, ih muß! Das Ges 
fühl, das mich zu Ihnen zieht — verzeihen Sie, ih mill jagen 
das Gefühl, das mich bei Ihrem Anblide übermannte, zwingt 
mid. Clarifje, wie fremd find wir und geworden !“ 

„Sie find fehr gütig, das bemerken zu wollen,“ fagte Glarifje 
bitter lachend. 

„Seien Sie nicht bitter, Clarifje. Vergrößern Sie nicht das 
Unglüd, das ſchon mein Schidfal mit ſich bringt. Wäre ich un: 
abhängig — wäre ich frei — könnte ih handeln, wie ich will — 
aber ich lebe in Verhältnifjen, die —“ 

Er ſchwieg wieder. 

„Fahren Sie fort,” bat Glarifje, „Iprechen Sie mir offen — 
auf welches Schidjal deuten Sie immer —“ 

„Gott bewahre,“ rief der Marquis, „Schweigen iſt mir 


52 Novellen. 


Pflicht, befonders Ihnen gegenüber. Soll ih Ihre Güte für 
mih auf nichtswürdige Weife benugen, um ®Profelyten zu 
machen? Nimmermehr! — Allerdings,” fügte er nad einiger 
Zeit fanfter hinzu, „allerdings wäre e3 unendlich ſchön, wäre ich 
unſäglich glüdlih, wenn ſich diefe Schranke nicht zwijchen uns 
erhöbe. Für mid) wäre es feine Schranke... Doch, doch ... 
wenn ich ganz wahr fein foll... man fieht geliebte Berfonen 
immer mit einem gewifjen Schmerze außerhalb der Gedanten- 
welt, in ber wir von Jugend auf leben, außerhalb jenes Ge: 
fühlsfreifeg, mit dem unjere ganze Seele verwachſen ift, und 
von dem wir und troß allen Wiſſens, tro aller Philoſophie 
nicht trennen können. Es ift traurig, aber es ift fo, daß eine 
gewiſſe Entfremdung, eine kalte Entfernung bleibt zwiſchen zwei 
Herzen, deren tiefjte und wichtigfte Jugendeindrücke fo verfchie- 
ven find. Clariſſe, wenn ich Sie fo vor der Kapelle ftehen ehe, 
ergreift mi ein unendliches Mitleid mit mir und mit Ihnen; 
ih möchte hinausftürzen, Sie auf meine Arme nehmen und Sie 
bineintragen vor den Altar, vor meinen Altar, vor den Altar 
jener herrlihen Fürftin, die Sie fo innig liebt... . Verzeihen 
Sie, ih habe mich hinreißen laſſen .. ſprechen mir nicht meiter 
über diefen Gegenftand; Sie fünnten mich verfennen, Sie fönn- 
ten mich mißverjtehen.” 

Clariſſe hätte ihn im Gegentheile gern gebeten fortzufahren, 
wenn fie nicht duch eine zitternde Stimme ihre Aufregung zu 
verrathen gefürchtet hätte. Alſo er dachte an fie, wenn er drinnen 
in der Kapelle war, mit derſelben Sehnſucht, die fie zu ihm 
hineinzog. Eine jo gute Botichaft hatte fie feit lange nicht ge 
hört; welche3 weitere Geſtändniß Eonnte fie noch erlangen? Wie 
hätte fie in dieſem Augenblide Anderes denken können? Nun: 
mehr mußte fie ja auch, was ihn von ihr trennte. Wie verädht- 
lich fhien ihr dieſe Schranke, die ihn unglüdlih machte. Sie 
war ja frei; er war es nicht; follte fie ihm nicht ein Opfer brin- 
gen? Solche Gedanken jagten ſich mit Blitzesſchnelle durch ihren 
Kopf, aber fie hatte nicht Zeit, fie zu fichten und fie näher zu 


Der Zwed heiligt die Mittel. 553 


prüfen; der Marquis leitete jchnell das Gefpräh auf andere 
Gegenftände, der edle Marquis, der fie nicht überreden wollte, 
und als hätte er doch nach dieſen mangelhaften Geſtändniſſen 
eine Laſt vom Herzen, ging er froher neben ihr einher, wie in 
den guten alten Zeiten im Garten des Pfarrhauſes, und ſprach 
ſo innig, ſo warm, ſo unbefangen wie damals. Es war der alte 
gute Freund und manche böſe Grille, die Clariſſe in dieſen 
Wochen geplagt, ja recht ſehr unglücklich gemacht hatte, wie zum 
Beiſpiel eine ſtille Eiferſucht auf die Fürſtin, verflog, als wäre 
ſie nie dageweſen. Sie war wieder glücklich und bevor man ins 
Schloß zurückkehrte, war es verabredet, daß die gemeinſchaft⸗ 
lichen Arbeitsſtunden, die im Pfarrhaufe ſo ſchön waren, wieder 
aufgenommen werden ſollten. 


* * 
* 


Sie ſaßen wieder an einem Tiſche, vor demſelben Buche wie 
ehemals. Der Marquis war ein eifriger Lehrer, er wußte jedes 
Buch zu ergänzen, er hatte überall etwas Belehrendes hinzu— 
zufügen — aber er war wieder in die Zurüdhaltung, die vor 
dem Gefpräch im Parke Clariſſe von ihm entfernte, zurüdge: 
fallen. Er war gejprädig, er war freundlih — aber über das, 
was fie bewegte, beobachtete er ein ausdauerndes Schweigen. 
Sie mußte fih gewaltfam an jene Geftänpnifje erinnern, um 
nicht wieder den frühern Trübfinn auflommen zu laſſen. Der 
Frühling erwachte mit ganzer Macht, alle jene Ahnungen 
wedend, die daS Herz bewegen, wie das Schwellen der Erbe 
die Schollen des frifchen Ackerfeldes. Es war ihr, als müßte, 
ihr jeder Tag ein Glüd bringen und dieſes Glüd geftaltete ſich 
in ihren Gedanken zu einer Bitte des Marquis, ihm ein Opfer 
zu bringen, Je trauriger, zurüdhaltender er neben ihr jaß, 
deſto fefter wurde der Entſchluß in ihr, das Opfer zu bringen. 
Aber er fprach die Bitte nicht aus und e3 kam eine Zeit momen- 
taner Trennung herbei, ohne daß er fie ausgejprodhen hatte 

E3 war wenige Tage vor Oftern. Der Marquis nahm 


54 Novellen. 


Abſchied von Glarifjen. „Ich werde Sie,” jagte er, „vor und 
während der Feiertage felten jehen können. Die Fürftin zieht 
jih in die Einſamkeit zurüd, um fih für die Feſttage vorzube: 
reiten. Nur die Fräulein v. Zellwig und ich follen bei ihr fein. 
Wir find eine fo Heine Gemeinde. Wenn ich auch für mich allein 
jolde Andahtsübungen nicht vornehmen würde, fo leijte ich ver 
Fürſtin doch gern Gefellihaft; ja es ift mir eine hohe Freude, 
an ihrer Andacht Theil zu nehmen. Gibt e3 ein ſchöneres 
Schaujpiel, al3 den Anblid einer meiblihen, einer ſolchen 
Ceele, die fih ganz in ihren Glauben verfentt? Ein folder An: 
blid bejtärkt mich immer in der Meinung, daß die katholiſche 
Religion die Religion des Weibes ſei! Ich begreife einen Mann 
als Proteftanten, eine Frau — verzeihen Sie — id kann es 
mir nicht recht denken; muß ſich die weibliche Seele da nicht wie 
in einem fremden Glemente fühlen 2“ 

Clariſſe ſchwieg. 

„Aber,“ fuhr der Marquis fort. „Sie haben noch meinen 
Thomas a Kempis, das Buch kann für Sie keinen Werth 
haben; ich brauche es dieſer Tage. Geben Sie es mir zurück; 
ich taufche es für ein recht ſchönes Buch aus — ich gebe Ihnen 
Moliere oder Shakeſpeare dafür.“ 

Clarifjen ſchnitten all diefe Worte durchs Herz; die legten 
Hangen faft wie Hohn und thaten ihr beſonders wehe. Sie 
jollte fi von dem Buche trennen, das fo lange das liebite An: 
denen von dem Marquis geweſen, mit welchem fie die jhönften 
Stunden der Erinnerung feierte? das ihr Vertrauter war? das 
in ihrem Leben eine fo entfcheidende Rolle fpielte? Aber ge: 
fränkt, wie fie war, wollte fie dieſes auch nicht nur andeuten 
und fagte: „Sie irren fih, Marquis; ich nehme weder Moliere 
noch Chafefpeare für dieſes Buch; ich liebe es, es erbaut 
mich.“ 

„DO,“ rief der Marquis, „theure Freundin, weld ein Wort! 
Behalten Sie das Buch für ewig, wenn Gie e3 lieben, wenn 
es Sie erbaut. Wie hätte ich das ahnen können! Aber willen 


Der Zwed heiligt die Mittel. 55 


Sie Eins, das Sie fi vielleicht noch nicht gejagt haben: Wer 
Thomas a Kempis liebt, iſt katholiſch.“ 

So fprehend hatte er ihre Hand gefaßt und ehe fie ſich 
deſſen verſah, einen Kuß auf ihre Stirn gedrüdt und das 
Zimmer verlafjen. Sie fühlte nur diefen Ruß; es war ihr wie 
ein Traum. Als fie erwachte, eilte fie an den Echranf, 309 
raſch dad Buch hervor, dem fie den Kuß verdankte und gab ihn 
ihm zehnfach zurüd. 

Auf diefe glüdlihe Stunde folgten Tage, die öde gemefen 
wären, wenn fie nicht die Erinnerung an diefe3 Ueberjprudeln 
des Gefühls im Herzen des Marquis belebt hätten. Sie mußte 
nun Har, was er wollte. O, warum gebot er ihr nit! Sie 
wollte ja nur gehorhen — und jelbjt wenn fie fich Faltblütig 
prüfte und fich fagte, daß fie mit ihrem Webertritt einen Verrath 
an fich felber beginge — er verlange, er gebiete Alles! — für 
ihn wollte fie auch einen Verrath an fich ſelber begehen. 

Aber der erjte Dftertag kam heran; die Fürftin wallfabrtete 
mit dem Marquis und den Fräulein Zellwitz zur Einſiedelei; 
Glarifje wurde zu dem Gange nit eingeladen wie fonjt. Sie 
Stand im Korrivor, al3 vie Pilger an ihr vorüberzogen; große 
Seierlichfeit lag auf dem Gefichte der Fürftin Malwine. Gie 
bemerkte die Freundin faum und ging vorüber. An dem hoben 
Feſttage wollte fie die Wallfahrt wohl nicht in Geſellſchaft einer 
Kegerin machen. Glarilje ging traurig auf ihre Stube. So 
war e3 auch am andern Oftermorgen. Ein lächelnder Früblings- 
tag, holder Vogelgejang, Alles lud fie in den Park, auf den 
Meg, aber die Fürftin ging theilnahmlos an ihr vorüber. Wie 
war fie gevemüthigt; das ganze Gefühl der Verlafienbeit über: 
fam fie wieder. Aber fie lächelte freudig, als fie des Nachmittags 
allein im Parke fpazierte und die Fürftin, auf dem Wege zur 
Kapelle, fie zwar jchweigend, aber mit einer freundlichen Kopf: 
bewegung ihr zu folgen einlud. Sie ſchloß fih an den Zug an 
und folgte ſchweigend, da auch die Andern fchriegen. 

Un der Kapelle angelommen, war es ihr, als müßte fie der 


56 Novellen. 


Marquis auffordern, mit einzutreten. Aber er folgte ven Da: 
men, ohne ein Wort zu fagen. Die Thüre fiel zu und fie blieb 
draußen, wie fonft. Alle die Gedanken und Gefühle, die in 
ihrem Herzen mit diefem Orte jo zu jagen verwachjen waren, 
und die ihr hier fhon, wie eine Gewohnheit des Herzens, von 
jelber famen, beftürmten fie heute mit befonderer Lebhaftigfeit. 
Die ſtille, andächtige ofterlihe Frühlingsluft trug zu deren 
größerer Lebhaftigkeit vielleicht eben fo viel bei, als die Ber: 
änderung, die feit dem Kuffe des Marquis mit ihr vorgegangen. 
Ein leiſes Summen und Murmeln ließ fi in der Kapelle hören 
und e3 traten ihr die Thränen in die Augen. Plöglich erhoben 
fih zwei junge Stimmen in der Kapelle und jangen: 


Und fie jahen hinein 

Und wurden gewahr, 

Daß der gewaltige Stein 

Abgemwälzet war. 

Und fie gingen hinab 

In Jeſu Grab 

Und ſahen einen Jüngling zur rechten Hand. 
Der trug ein langes weißes Gewand. 
Der ſprach, als ſie Jeſum nicht fanden: 
Jeſum von Nazareth ſuchet Ihr? 

Der iſt nicht hier, 

Er iſt auferſtanden. 


Sie kannte die Stimmen. Es waren die Fräulein v. Zell⸗ 
witz, aber ſo glaubte ſie ſie noch nicht gehört zu haben. Es lag 
eine ſolche unendliche Innigkeit, eine ſolche Gläubigkeit und An— 
dacht in dieſen Tönen! Plötzlich fielen ihr die Worte des Mar— 
quis ein: est, fagte fie fih, denkt er an mich, jegt hat er 
Mitleid mit mir; er möchte herausftürzen, mich auf feine Arme 
nehmen, mid hineintragen vor den Altar, vor feinen Altar! — 
Die Thränen, die ihre Augen füllten, ftürzten unaufhaltiam 
hervor und ergoflen fich über ihre Wangen. Das Lied, fo ein- 
fach es war, zog fie immer mächtiger an — fie ftand an der 


E 


Der Zwed heiligt die Mittel. 57 


Thür, fie lag auf der Schwelle, ehe fie e8 dachte, und drückte 
den heißen Kopf an den Pfolten. Da fprang die Thür auf, der 
Marquis umfaßte fie und trug fie hinein, wie er e3 gejagt und 
mie fie es geträumt hatte. 

ALS fie wieder herauskam, fah fie um ſich, al3 wäre fie in 
einer fremden Welt; fie legte die Hand an die Stirn, wie um 
ch zu befinnen, So ging fie ſchwankend weiter; die beiden 
Fräulein v. Zellwig faßten fie unter den Armen, um fie auf: 
recht zu halten, denn fie ftrauchelte bei jedem Schritt auf dem 
fteinigen Boden. Die Fürftin ging voraus, ohne ſich umzu— 
jehen. Mit großen Schritten ging fie dem Schloſſe zu; die feier: 
lihe Miene von heute Morgen, die milde von heute Nachmittag 
war einem etwas harten Ausprude des Triumphes gewichen. 
Der Marquis war nicht bei den Heimkehrenden; er mar in der 
Kapelle geblieben. 

Den Abend verbrachte Clarifje mit der Fürftin allein; jie 
ſaß ihr zu Füßen auf einem Tabouret und juchte ſich noch zu 
faflen, während ihr Malwine Scheitel und Wangen ftreichelte, 
fie mit Lieblofungen überhäufte und fie ihre liebe Bekehrte, ihre 
junge Chriftin, ihre gerettete Seele nannte. Sonjt war Nie: 
mand fichtbar; die Fürftin wollte es jo; fie wollte fih ganz und 
ungeftört über das fchöne Ofterfeft freuen, das ihr Clariſſe jo 
ſehr, jo würdig verfchönt hatte. 

Uber der Marquis blieb unfihtbar; auch am nächſten Mor: 
gen war er nirgends zu fehen. Glarifje hatte wie ganze Nacht 
fein Auge geſchloſſen und durdirrte mit einem müften Kopfe 
Schloß und Park nah allen Richtungen. Sie empfand ein Ge: 
fühl, das fie noch nie empfunden hatte; es war ihr, als jagte 
fie ein böfes Gemifjen fo hin und her. Ein Blid in das Geficht 
des Mannes, den fie liebte, ein Wort von ihm, daß er zufrie- 
den jei, daß er ihr Opfer anerfenne, daß er ſich ihr jegt um 
einen Schritt näher fühlte, würde fie wieder beruhigen. Gie 
juchte ihn wie eine Erlöfung; fie fand ihn nit. Dort an der 
Brüde, die über den Heinen See in die Wüfte führte, an der 


58 Novellen, 


Stelle, die ihr theuer geworden war, hielt jie nad) einer wieder: 
holten, vergeblihen Streiferei dur den Park müde und nieder: 
gefhlagen. Wenn der Marquis fie juchte, mußte e3 ihm jein 
Herz fagen, daß er fie dort finden werde. Aber Minute auf 
Minute verfloß langjam und träge, wie das dünne, ärmliche 
Waſſer, das in Tropfen vom Feljen in den traurigen Gee fiel. 
An das Geländer gelehnt, blidte fie in das Wafler, das trüb 
ihr trübes Bildniß wiederftrahlte. 

So fand fie Fräulein Zellwitz. „Wo jtedjt du, Clariſſe? 
Ich juche dich überall. Die Fürſtin ſchickt mich dir nad, ich fol 
dich nicht allein laſſen.“ 

Ohne meiter darüber nachzudenken, warum fie die Fürftin 
nicht allein lafjen wollte, fragte fie haftig: „Weißt du nicht, 
wo der Marquis it? Du mußt e3 wiſſen.“ 

„Der Marquis,” antwortete Fräulein Zellwig gleichgültig, 
„der Marquis iſt in diefer Nacht abgereist.“ 

„Abgereist!“ rief Clariſſe erjchroden, „und wohin?“ 

„Ich weiß e3 nicht.“ 

„Und wann fommt er wieder?“ 

„Ich weiß es nicht; vielleicht fommt er gar nicht wieder.“ 

„Gar nicht wieder ?!“ rief Clarifje entſetzt. 

„Wer kann bei diefen Herren wiſſen?“ fuhr die Zellmig eben 
fo rubig fort, „mer kennt ihre Gejchäfte und ihre Wege? Wer 
weiß, welder Befehl ihm plöglich zufam. Der Marquis kann ja 
nicht jelbft über fich verfügen, er muß gehorfam fein, er hängt 
von Andern ab.“ 

„Smilie, ich fehe, du weißt etwas von den Verhältnifien des 
Marquis,” fagte Clarifje haftig, „was ift es mit ihm? Bon wem 
hängt er ab? 

„Richtig,“ fagte die Zellwig, „ich habe vergefien — du biſt 
nicht eingeweiht. Nun, jegt gehörft du ja zu ung, und ich darf 
es dir wohl fagen. Siehſt du, das mußte ein ftrenges Geheim: 
ni fein; hätte man bier gewußt, wer der Marquis eigentlich 
ift, das hätte bei dieſen Proteftanten einen fchredlihen Lärm 


Der Zwed heiligt die Mittel. 59 


abgegeben, fie hätten ſich ſammt und jonders für verrathen und 
verkauft geglaubt. Darum konnte der Marquis nicht in feiner 
wahren Geſtalt auftreten und darum bat fich die Fürſtin aud 
einen Dann ausgebeten, dem man feinen Stand jo wenig an- 
fieht. Du kennſt ja die ſchändlichen Vorurtheile gegen ven 
Orden.” 

„Orden ?" fragte Clarifja mit aufgeriflenen Augen, „gehört 
der Marquis einem Orden an ?“ 

„Run freilich, verſtehſt du denn nicht 2“ 

„Welhem Orden, um de3 Himmelswillen? Du folterft 
mid.“ 

„Run, dem Orden der Gefellichaft Jeſu,“ ermwiderte die Zell: 
wig ungedulpig. 

„Sr ift ein Jeſuit?“ fchrie Clariſſe. 

„Nun freilih! Was haft du, Clarifje? Du ſiehſt ja fchred: 
lich aus!“ 

Und jchredlich fah fie in ver That aus. Die Augen traten 
aus ihren Höhlen, ihre Hände zudten frampfhaft, während ihr 
ganzer Leib unbeweglih, wie eritarrt daſtand. Die Zellwig 
wollte nah Hülfe fchreien, als ſich plöglih Clariſſe, wie es 
ſchien, beruhigter, felber nah allen Seiten wie Hülfe fuchend 
umſah; dann faßte fie den Kopf mit beiden Händen und jchloß 
die Augen. So, gejchlofjenen Auges, fragte fie mit tonlofer 
Stimme: „Die Fürftin, ſagſt du, hat ihn kommen laſſen?“ 

Die Zellwig, froh, wieder ihre Stimme zu hören, antwortete 
raſch und eifrig: „Allerdings — Herr von Holland ſprach ihr 
vom Marquis — er kannte ihn, er ſchrieb im Namen ver 
Fürftin nad) Freiburg in der Schweiz — wenige Tage, nachdem 
du entflohen warft — der Marquis konnte aber nicht glei 
kommen — er war damals in Rußland, wo er eine Fürftin 
bekehrte.“ 

Da lachte Clariſſe fo laut, daß die Zellwitz noch tiefer ers 
ſchrak al3 vorhin. Sie faßte ihre Scheitel und riß daran, dann 
rief fie immer lachend: „Belehrt, betrogen, befehrt!“ 


60 Novellen. 


So lachend und rufend bog fie fich tief über das Geländer 
der Brüde und ftürzte in den See. Auf das Gefchrei der Zell 
wig eilte Bater Adam herbei, der in der Nähe auf einem einzel: 
nen Felsblocke geitanden und in den jchönen Frühlingsabend 
bineingeblidt hatte. 

„Bas ift? was iſt?“ fragte der gute Pater. 

„Retten Sie, retten Sie,” rief Fräulein Zellmig am Ufer 
binlaufend, „hier, hier, Clariſſe!“ 

„Da haben wir's,“ murmelte der Kapuziner,: indem er jo: 
fort ins Wafjer fprang. Er tauchte unter und fam gleich darauf 
mit Clarifjen unter dem rechten Arme hervor. Auf feinen ſtarken 
Armen trug er fie wie ein Kind in die Einfiedelei, immer mur: 
melnd: „Da haben wir's. Gutes Fräulein; armes Fräulein! 
Das iſt die Folge der gejtrigen heiligen Handlung. Schöne hei: 
lige Handlung. Schöne Art die Seele zu retten. Nun fie ift noch 
ganz; warm — wir werden fie befjer retten, als der Jeſuit.“ 

Die Zellwit folgte ihm, und den Bemühungen der Beiden 
gelang es bald, wieder Lebenszeihen hervorzurufen. Clariſſe 
Ihlug endlich die Augen auf und lachte, mwie fie vorhin gelacht 
batte, als fie von der Brüde ftürzte; fie lachte noch, al3 man 
fie bei fpäter Dunkelheit in aller Stille ins Schloß bradte, und 
fie lachte noch nach mehrtägiger Pflege. Sie war mwahnfinnig. 
So erklärte ver Hofarzt und verfprady darüber zu ſchweigen. 

Da fie katholiſch war, übergab man Clariffen der Pflege 
eines im nächſten katholiſchen Lande gelegenen Nonnentlofters. 
Dort ift fie ung verſchwunden. 


Gräfin Sajjari. 
Auszug und Bearbeitung einer Handſchrift aus dem adhtzehnten Jahrhundert. 


Die Begebenheit, die ich hier in meinen alten Tagen aufs 
zeichne, weil fie mir jehr merkwürdig erjcheint, habe ih von An: 
fang bis zu Ende zum größten Theil als Augenzeuge mit erlebt, 
und fonnte ic auch nicht überall einen Einblid haben und alle 
Geheimnifie erfahren, jo habe ich doch genug mit angejehen, um 
das Ganze in einem gewiſſen Zufammenhange erzählen zu können. 
Vielerlei Papiere und Briefe find noch in meinem Beſitz, die 
mein Gedächtniß unterftügen und zugleich ald Zeugniſſe meiner 
Wahrhaftigkeit dienen mögen, wenn man etwa vie Treue dieſer 
Erzählung bezweifeln wollte. Die Herren bedenken nicht immer, 
welche aufmerkſamen Beobachter fie an ihren Dienern befigen. 
Ich aber habe dieje ganze Begebenheit, gemwillermaßen mie ‚ver 
Chorus in der griechiſchen Tragödie, bei Seite ftehend und als 
Diener und Zufchauer zugleih, beobachtet, nämlich al3 Maitre 
d’Hötel oder Haushofmeijter des Herrn von Chatelarb im 
Waadtlande. Mein Name ift Jean Samuel Baud und ic) ftamme 
aus einer alten und guten Familie, welche in der Gefchichte der 
Republif Genf viel genannt wird, durch viele Geſchlechter fehr 
angejehen war, aber nad ver Reformation und nachdem fo viele 
Fremde nach Genf gefommen und die alten Geſchlechter ver: 
drängten, in Armuth verſank. In meiner Jugend widmete ich 


62 Novellen. 


mich der Gotteögelahrtheit, und ich hatte meine Studien beinahe 
vollendet, al3 ich mit einem Jugendfehler die ehrwürdige Ge: 
jellihaft, la Vengrable Compagnie der Genfer Geiftlichkeit 
gegen mich erzürnte und jede Ausficht auf eine Anjtellung in 
Genf verlor, da die ehrwürdige Kompagnie dafelbit alle Stellen 
vergab und allmädtigen Einfluß hatte. Ich mußte mich ent: 
ſchließen, eine weltliche Laufbahn zu beginnen, und da die Zeit 
drängte, weil jonft die Perſon, mit der ich mich verfündigt hatte, 
in Schande und Elend verfunfen wäre, nahm ich eine ganz 
niedrige Bedienjtung im Haufe des Herrn von Chatelard an. 
Mein Brodherr erkannte bald, daß ich mehr Wiſſen befaß, als 
einem Lalaien nothwendig war, und als frommer Herr berüd: 
fihtigend, daß ich doch einmal dem geijtlichen Stande bejtimmt 
gewejen, ftellte er mich ſchon nad zwei Jahren an die Spitze 
jeiner zahlreichen Dienerfchaft als Oberhofmeifter und verwendete 
mich von Zeit zu Zeit auch al3 Sekretarius, indem er mir Briefe 
diktirte, allerlei Schriftitüde aufzufegen und mande alte Doku: 
mente zu fopiren oder aus dem Lateinifchen in das Franzöſiſche 
zu überfegen befahl. Wir bewohnten ein meitläufiges Landhaus, 
da3 auf einem Hügel in der Nähe von Nyon lag und das bis 
auf meinen Herrn den Namen Bellevue trug, nachdem e3 aber 
mein Herr bezogen, Mont:Tabor genannt wurde; diejen biblischen 
Namen erhielt es, weil e3 der geijtlihe Sammelplag aller der 
megen der Religion von König Ludwig XIV. verfolgten, in dieſe 
Gegend flüchtenden Franzoſen wurde. Sie waren e3, dieje Flücht— 
linge, welche vem Hügel und dem Landhauſe diefen Titel erfan- 
den, um meinem Herm und feiner Frömmigleit damit zu 
ſchmeicheln, denn fie dankten ihm viel, da er mande dieſer 
Flüchtlinge, die hülflos in die Fremde gejtoßen waren, dur 
Jahre beherbergte und ernährte. Monfieur de Chatelard war 
nicht nur ein fehr reicher, fondern auch ein fehr mächtiger und 
einflußreiher Herr. Er war nicht nur mit den abeligen Ge: 
ſchlechtern und mit der Geiftlichleit von Genf auf3 Innigſte ver- 
bunden, er ftand auch bei den mächtigen Herren von Bern im 


Gräfin Saffari, 63 


größten Anſehen. Sie fhästen ihn ala Ihresgleichen, weil er 
aus einem der wenigen Geichlehter ftammte, die fich in dieſen 
Gegenden glei nach der Eroberung des MWaadtlandes durch die 
Berner an ihre Herrichaft und an die Reformation anſchloſſen, 
und meil er viel dazu beigetragen, daß die Verſammlung der 
Abgeordneten der guten Städte, welche ſonſt in Nyon jtattge 
funden und welche man wieder beritellen wollte, nicht zu Stande 
fam und fo die unbeſchränkte Herrfhaft der Berner über das 
Land forterhalten wurde. Sie hatten den Herrn von Chatelard 
in feiner Jugend fogar zum Bailly von Nyon maden mollen, 
obwohl fie die einheimifhen Waadtländer fonjt von diefen ein: 
träglichen und wichtigen Stellen fern bielten und diefelben nur 
mit ihren Söhnen befegten. Der Bailly, der im Schlofje von 
Nyon refidirte und das Land im Namen der Berner Herren 
regierte, bewies ihm immer die größte Aufmerkjamfeit und zog 
ihn in wichtigen Angelegenheiten, die das Land betrafen, oft zu 
Rathe. Herr von Chatelard benuste feinen Einfluß niemals zu 
jenem eigenen Nuten, wohl aber zum Beſten ver Religion und 
der wegen der Religion Berfolgten und Flüchtigen, melde da— 
mal3 das Land erfüllten. Es wird behauptet, daß er an jener 
trogigen und muthigen Antwort, welche die Herren von Bern 
betreff3 der franzöfifhen Flüchtlinge dem Könige Ludwig XIV. 
gegeben und melde damals das Erſtaunen und die Bewunderung 
der Welt erregte, großen Theil hatte, daß er ed war, der ihnen 
die Zuverficht einflößte, mit welcher fie dem mächtigen Könige zu 
Gunſten der Hugenotten, nad der Aufhebung des Edictes von 
Nante3 und nachdem der Religionskrieg im Süden erbrüdt 
morden, entgegentraten. 

Zu Anfang diefes Jahrhunderts mochte Herr von Chatelard 
jechzig Jahre alt fein und in dieſer Zeit beginnt die Geſchichte, 
die ich hier erzählen will. Ach erinnere mich genau. Es war 
am 11. Juli 1702, als mir Herr von Chatelard befahl, gegen 
zwei Uhr Nachmittags mit mehreren Dienern und einer Sänfte 
an den See hinabzufteigen. Als ich mich, mie e3 befohlen war, 


64 Novellen. 


um zwei Uhr auf den Weg machte, ſchloß fich zu meinem Er: 
ftaunen Herr von Chatelard jelbjt mit feinem Sohne Elia und 
Herren Beſſon, einem franzöfiihen Prediger, und mehreren 
anderen in unferem Haufe verweilenden franzöfifhen Flüchtlingen 
von edler Geburt unferem Zuge an. Herr von Ehatelard jaß zu 
Pferde, hatte jeinen vreiedigen Hut, feine Allongeperüde aufge: 
jest, feinen jhwarzfammetnen mit Silbertrefjen und Spiten be- 
jegten Rocquelor angezogen und feinen filbernen Degen umge: 
ichnallt ; auch fein Sohn Elia3 war in Galatradt, und jo hatten 
au die anderen Herren ihre befleren Kleider angethban. Ich 
fagte mir, daß wir irgend einen hohen Gaft empfangen follen, 
da fich der Herr mit folhem Aufzuge und mit den geachtetjten 
jeiner Gäſte felber fo weit bemühte und diejenigen, die wir er: 
warteten, in Berfon empfangen wollte. In Nyon am Landungs- 
plate lagen nur einige ärmliche Barken, und ſoweit ich hinaus 
jah über ven See, ich konnte fein Fahrzeug erbliden, das mir 
eines jo pomphaften Empfanges würdig ſchien. Doc war es 
gerade ein ganz unfceinbarer Kahn, der die Ermwarteten und 
zwar vom javoyiichen Ufer herüberbrachte. Schon von ferne jah 
ich einen Heinen Mann mit grauen Haaren, ver fih im Kahn 
erhob, und mit einer gewiſſen Spannung dem Ufer entgegenjah. 
Als er Heren von Chatelard mit defjen Gefolge erblidte, verneigte 
er ji tief, fagte etwas zu den Schiffern, melde darauf die 
Ruder rafcher bewegten. Da wurde hinter einem Koffer und 
mehreren Nachtjäden auch eine junge Dame fichtbar, welde, ven 
Kopf in die Hand geftügt, in der Mitte des Kahnes ſaß; Herr 
von Chatelard jtieg vom Pferde und ging dem Kahne entgegen, 
als diejer ans Ufer ftieß. Der alte eine Herr trat mit gemeflenem 
und feierlibem Schritte aus dem Kahn, ftredte dann, ohne die 
dargebotene Hand des Herrn von Chatelard zu ergreifen, beide 
Arme zum Himmel empor und rief andächtig: „Gelobt fei Gott, 
der Gott Yirael3, der mich aus Aegypten, dem Lande der Skla— 
verei, geführt hat.” Dann erft ergriff er die Hand bes Herrn 
von Chatelard, mwährend er mit der Linken feinen breiedigen 


Gräfin Saffari. 65 


Hut vom Kopfe nahm. „Seien Sie mir willlommen, mein Herr 
Graf,” fagte Herr von Chatelard und verneigte fich mit großer 
Ehrfurdt. Eben jo that fein Sohn Elie und alle die anderen 
Herren, deren Gefichter die höchſte Ehrfurht und die andäch— 
tigfte Stimmung ausdrüdten. Herr Elie de Chatelard ging dann 
etwas fehüchtern dem Kahne entgegen, um der jungen Dame 
beim Ausfteigen behülflih zu fein. Dieſe aber, ein Fräulein 
von neunzehn oder zwanzig Jahren, obwohl fie ſich erhoben hatte, 
ſchien zu zögern. Ihr Gefiht, ihr wunderjchönes und blühendes 
Geſicht, erblaßte mit einem Male, fie ſchwankte und ſtützte fich 
auf den Arm eines Dieners, eines treuen, rüftigen Gefellen, der 
neben ihr ftand, bald das Fräulein mit bejorgtem, bald vie 
Berfammlung am Ufer mit verbrießlichem Gelichte betrachtend. 
Dann wandte fih das Fräulein, ſah ſehnſüchtigen Blides hin- 
über aufs jenfeitige Ufer des See's und ſchien in diejen Anblid 
fo verfunfen, daß fie der Gefellichaft, die ihrer wartete, und 
des Landens vergaß. Der junge Baron, Herr Elie de Chatelard, 
der leicht in Verlegenheit gerieth, ließ den Arm finten, den er 
ihr entgegengeftredt hatte, blieb aber vorgebeugt ftehen, während 
er, wie hülfefuchend, feinen Vater und den Neuangelommenen 
anblidte. Diefer, ver Graf von Saſſari, wandte fich endlich um 
und rief dem Fräulein zu: „Komm, meine Tochter, tritt ans 
Land, berühre viefen gejegneten Boden, denn es ift der Boden 
Kanaans, des gelobten Landes, e3 ift die Heimat des wahren 
und reinen Glaubens, der Boden, den der Herr vom Götzen— 
bienjt gereinigt.” Das Fräulein rafite fih auf und trat mit 
einem entjchiedenen Schritte auf das Brett. Ahr Blic fiel auf 
die Shüchternen Augen Elie'3, fie zögerte wieder einen Augen: 
blid, ftüßte jih dann auf feinen Arm und ging der Geſellſchaft 
entgegen, die fie mit einer ftummen Verneigung grüßte und von 
der fie mit derfelben Ehrfurcht wie ihr Vater begrüßt wurde, 
Graf Saflari trat dann wieder zurüd an den Kahn und rief 
dem Diener zu: Giorgio! Auf diefer freien Erde darf ich es 
laut befennen, daß ich meine Seele aus ven Schlingen des 
Mori Hartmann, Werke, VI. 5 


66 er Novellen. 


römischen Götzendienſtes gerettet habe. Ach flüchte mich hierher, 
um die reine Lehre zu befennen und den Heiland anzubeten im 
Geifte und in der Wahrheit des Evangeliums. Dir fteht es nun 
frei, zurüdzufehren, wo deine faljhen Götter verehrt werden, 
oder mir fürder zu folgen al3 ein treuer Diener, wie du bisher 
gethban haft.“ Der jo angeredete Diener zudte mit der Achſel 
und rief: „Per bacco, ih weiß nicht von falihen Göttern 
und bleibe bei dem, was mic meine Mutter gelehrt hat. Sie 
werden bier vom lieben Gott und von dem Treiben der Heiligen 
ebenfo wenig wiſſen, wie wir in Stalin. Queste sono 
pazzie!“ So fpredend, warf er das Gepäd aufs Land und 
fette jich wieder auf die Bank des Kahns, offenbar entfchlofien, 
mit den Schiffern,, die jich fchon zur Abfahrt bereit machten, ans 
jenfeitige Ufer zurüdzufehren. Graf Saflari wollte ebenfo ent: 
ichlofjen jeinem verjtodten Diener den Rüden kehren, als feine 
Tochter mit einem Male und in größter Aufregung dem Kahne 
wieder zueilte und dem Diener die Hand entgegenitredend mit 
zitternder Stimme fagte: „Lebe wohl! Giorgio! Grüße mir 
Stalien! Ich werde es nicht wiederſehen.“ Auf diefe Worte 
wandte fih Giorgio wieder um, jein mürriſches Gefiht nahm 
‘den Ausdrud der höchſten Zärtlichkeit an, und mit dem Rufe: 
„Nein, Signora Maria, Sie fann ich nicht verlajjen!” war er 
mit einem Sprunge auf dem Lande und mit dem zweiten Rufe: 
„Addio Italia! Cara Italia! Benedetta Italia !* ſchwang 
er einen der Mantelfäde auf feine Schulter und wieder den Dienern 
des Herrn von Chatelard ein Fräftiges „Vorwärts!“ zurufend, 
ging er mit breiten Schritten der ganzen Verſammlung voraus. 
Die Comtefje Maria Saflari wurde von Elie zu der Sänfte ge: 
führt, ihr Vater beftieg ein bereit gehaltenes Pferd und feierlich 
ſchweigend bewegten wir und Mont:Tabor entgegen. Dort ange: 
fommen, ging man geraden Weges in den Betjaal, wo ſich be: 
reit3 die anderen Bewohner des Landhaufes und der Neben: 
gebäude verjammelt hatten; einige Pfalmen wurden abgefungen 
und dann predigte Herr Beſſon, der franzöſiſche Prediger aus 


Gräfin Safjari. | 67 


Nimes, über den Tert: „Einen Stein verwarfen die Bauleute 
und fiehe, er ward zum Hauptedjteine.” Dann erjt wurden Graf 
Sajjari und feine Tochter auf ihre Zimmer geführt. 

Mir mußten bald, daß Graf Saflari, aus einer modene: 
fiihen Familie, aber in piemontefiihen Dienſten, aus der fatho: 
lifchen zur reformirten Kirche übergegangen. Man erzählte fich, 
daß er von König Victor Amadäus II. von Sardinien als Com: 
mifjär und Verfolger in die Thäler der Waldenſer geſchickt, das 
jelbit von einem Prediger der Berfolgten zum Lejen der Bibel 
bewogen worden, daß er fi dann heimlich die Schriften Calvins 
angeſchafft, mit hervorragenden Perjönlichkeiten Genf3 und des 
Maadtlandes in Verbindung getreten und endlich einem an ihn 
heimlich abgejhidten Genfer Prediger das Glaubensbefenntnik 
der reformirten Kirche abgelegt habe; darauf bezog ſich aud die 
Predigt des nächſten Sonntages, welche die Belehrung des Ver: 
folgers Saulus zum Terte nahm, wie ſich überhaupt die Pre 
digten der erften Wochen nad der Ankunft des Grafen meiftens 
auf ihn und feine Befehrung bezogen. Bei feiner Stellung unv 
den Berhältniffen Piemonts mußte der Graf feinen neuen 
Glauben verbergen, bis er jeine Angelegenheiten jo weit geordnet 
hatte, daß er die Flucht ergreifen konnte, Seine gejhmwächte 
Geſundheit diente ihm zum Vorwand; erſt begab er fih in das 
Bad Evian auf dem favoyifchen Ufer des Genfer: See’3 und 
dort, eine weitere Quftreife in der Schweiz vorſchützend, fchifite 
er jich mit feiner einzigen Tochter ein und fam, wie befchrieben, 
zu und nah Monts-Tabor, nachdem er mit Herrn von Chatelard 
ſchon feit längerer Zeit im Briefwechfel geitanden hatte. Mir 
erfuhren bald noch mehr, nämlih, das Fräulein Maria fich ge: 
mweigert hatte, jenem Prediger, den man ihrem Vater na Turin 
geihidt, das reformirte Glaubensbefenntnig abzulegen und daß 
fie noch der römischen Kirche angehörte, oder, wie man jich im 
Haufe ausdrüdte, daß fie noch dem Baal diente. 

Diefer Umstand gab dem armen Fräulein in der Welt, in 
der fie jet lebte, eine eigenthümlihe und traurige Stellung. 


68 Novellen. 


Man muß nur wiffen, wie es in unferem Haufe ausſah. Das 
Hauptgebäude war bis unter dad Dach von Männern bewohnt, 
welche fi als Glaubenshelden augzeichneten, von Predigern, 
die in Frankreich nah Aufhebung des Ediktes von Nantes zu 
predigen fortgefahren, unter beftändigen Lebensgefahren ihre 
Pflicht erfüllten und Frankreich erft verließen, nachdem ber legte 
und verzweifelte Kampf in den Cevennen ausgelämpft war. 
Neben diefen waren es Adelige oder gelehrte Herren, die eben: 
falla vielfahe BVerfolgungen erlitten hatten und fich nicht mie 
Andere vom Adel und wie andere Gelehrte durch die Maintenon 
und ihren Anhang zum Verrath an ihrer Sache verleiten ließen. 
Alle diefe waren natürlicher Weife eifrige Anhänger ihres Glau: 
bens, ebenjo mußten alle Diejenigen fein, mit denen Herr von 
Chatelard irgend welche Verbindung aufrechthielt und die im Haufe 
empfangen wurden. Aber damit ift noch nicht die ganze Gefell: 
ihaft von Mont-Tabor genannt. In den Nebengebäuden der 
weitläufigen Villa, wie in vielen größeren und Hleineren Bauern: 
bäufern ringsherum, wohnte ein ganzes, Heines Völkchen, das 
nicht darnach ausjah, als ob es zu jener adeligen und gelehrten 
Geſellſchaft gehörte und das mit diejer doch aufs Innigſte zu: 
fammenbing. Es waren dieß die zahlreichen Flüchtlinge aus den 
Gevennen, die fogenannten Kamifarden, welche Herr von Chate: 
lard bei fih aufgenommen und zu einer Art. von Kolonie ver: 
fammelt hatte, meilt Feld: und Weinbauern aus den Thälern 
de3 genannten Gebirge und aus den Ebenen von Languedoc, 
die er nach ihrer Art befhäftigte und die feine Felder, Wieſen 
und Weingärten pflegten. Diefe waren noch voll des Feuer: 
eifer3, mit dem fie fih, eine Hand voll Letite, gegen große 
Armeen und gegen die berühmteften Marfchälle des großen Königs 
durch Jahre vertheidigt hatten und der durch ihre männlichen 
und meiblihen Propheten, ja jelbjt durch gottbegeifterte Kinder 
in ihnen mehr und mehr entflammt wurde. Piele von diefen 
waren nicht mehr zur Rüdfehr zur Feldarbeit zu bewegen, und 
Herr von Chatelard ließ fie gewähren, um fie nicht in ihren 


Gräfin Safari. 69 


heiligen Beijhäftigungen oder in ihrer Vertiefung zu ftören. 
Sie lajen fortwährend die Bibel oder fhlihen ftumm und in fi 
getehrt über den Hof, dur den Park, oft Tage lang durd) die 
Gebirge. Alle diefe Kamifarden hielten fi) von dem Gottes: 
dienfte im allgemeinen Betjaale fern. Treu den Gewohnheiten, 
die fie während der Verfolgungen und während des Krieges an- 
genommen, verfammelten fie ſich am liebjten im Freien, irgendwo 
binter dunklen ſchattigen Gebüfchen oder in einem trodenen Bett 
eines Wildbachs oder in irgend einer wilden Felſenſchlucht des 
nahen Gebirges, wo fie dann ihre Pjalmen fangen, einem Pre: 
diger aus den Zweigen eined Baumes horchten, oder aud einem 
ihrer Propheten, über den der Geift fam. Unter diefen Pro: 
pheten zeichnete jich worzugsweije ein junges Weib, Namens 
Iſabeau, aus, von der man erzählte, daß fie in einer Schladt 
im Vaunages die Kinder der Wüſte, wie fi die Kamijarden 
jelber nannten, mit gottbegeijtertem Muthe und Palmen fingenp, 
zum Siege geführt; Iſabeau war ewig ſtumm und ſchweigſam; 
in fi) gelehrt, ſchlichſie in zerriffenen Kleidern und mit jtruppigem 
Haare durch Haus und Hof, ohne je den Mund zu öffnen, außer 
um Palmen zu fingen, oder wenn der Geiſt über fie fam, zu 
Weiffagungen. Obwohl noch jung, da jie ſchwerlich viel über 
zwanzig Jahre hatte, war ihre Seele doch ganz von aller Welt: 
lichleit abgefehrt und war ihr Gefiht von Falten bevedt, wie 
bei einer Alten. Auch kümmerte fie fi nicht darum, daß ihre 
zerfegten Kleider überall Blößen zeigten. Ihr flammenves Auge 
allein hätte ihre Jugend verrathen, wenn jie nicht immer mit 
beinahe ganz gejchlofjenen Wimpern umher gegangen wäre, was 
die Kamifarden jagen ließ, daß fie mit innerem Auge ſehe. 

Es war natürlich, daß die Comtefje Maria Saffari in einer 
jolhen Welt eine eigenthümliche und traurige Stellung einnahm. 
Allen diefen Menjhen war ein Römiſchkatholiſcher ein Göhen- 
biener, ein Gräuel vor dem Herrn, und unter die Kamijarden 
bejonder3 fam eine gewijje unruhige Bewegung, als jie erfuhren, 
daß ihre Gemeinde durd die Anmefenheit einer Gögendienerin 


70 Novellen. 


verunreinigt wurde. Die Herren im Hauje begegneten ihr zmar 
mit jener Rüdficht, die fie als Cavaliere einer Dame ihres Ranges 
und ihrer Erziehung ſchuldig waren, und dann als einer zu: 
künftigen Schweiter, welche nah der Verfiherung ihres Vaters 
früher oder fpäter zu ihnen gehören und fich zum reinen Glauben 
befehren werde; die Kamifarden aber betrachteten fie mit miß: 
trauifhem Auge, ja mit Abjcheu ; fie wichen ihr aus und hüteten 
jih, wenn fie ihr begegneten, vor einer Berührung ihres Kleides. 
Zu all vem fam, daß es dem armen Fräulein ganz und gar an 
mweibliher Gejellihaft fehlte, va Madame de Chatelard längſt 
verjtorben und die Töchter des Haufes in die Ferne verheirathet 
waren, 

Ich batte das größte Mitleid mit dem armen Fräulein. Nicht 
ihr Vater war der Verbannte; er fand Freunde und Männer, 
mit denen er fih beſprach, von denen er fich mehr und mehr in 
jeinen neuen Ölauben einweihen ließ: fie aber war flüchtig für 
eine Sache, die nicht die ihrige war, und lebte in einer Welt, 
mit der fie nicht3 gemein hatte. Neben diejer traurigen Stellung, 
die jchon für fie einnehmen konnte, fprach noch ihr ganzes Aus: 
jeben und ihr beſcheidenes Auftreten zu ihren Gunjten. Gie 
hatte wenig von einer Stalienerin und glih mit ihrem blonden 
Haar, trog der dunkeln Augen, mehr einer Deutſchen. Ihre 
Beicheidenheit war um fo mehr zu rühmen, als fie neben ihrem 
Range und ihrer Schönheit noch ein fehr großes Wiflen bejaß, 
wie es in diefer Zeit viele Damen ihres Landes auszeichnete. 
Ich konnte das wohl an den Büchern erkennen, vie ich ihr aus 
der Bibliothek herbeifchaffen oder zwifhen ihr und Herrn Elie, 
einem ſehr gelehrten jungen Manne, bins» und hertragen mußte. 
Sch erkannte aus diefen Büchern, daß Fräulein Maria Saflari 
die meiften neuen Sprachen und felbft Griechiſch und Lateiniſch 
fultivirte, und daß fie vorzugsmeife die großen Dichter, Ge: 
ſchichtſchreiber und Philoſophen der gebildeten Völker Tas. 

Diefe Neigungen waren es vor Allem, welche zwiichen ihr 
und Herrn Elie bald eine innige Verbindung, ja eine vertraute 


Gräfin Safari. 71 


Freundſchaft berftellten. Da ich nicht eine Liebesgefchichte er: 
zählen mwill, jo jage ich e3 nur in kurzen Worten, wie ich vom 
eriten Augenblide an bemerkte, daß die Erſcheinung des Fräu- 
leins auf unfern jungen Herrn einen tiefen Eindrud machte und 
daß jein ganzes Weſen fich feit ihrer Ankunft verändert hatte. 
Man muß nämlich willen, daß Herr Elie de Ehatelard, obwohl 
bereit3 ſechsundzwanzig Jahre alt, der fchüchternite und unbe: 
bolfenfte aller jungen Männer war. Das fam daher, daß fein 
Vater in der Familie eine unumſchränkte Autorität ausübte, und 
daß er, der Bibel folgend, wie ein Patriarch von jeiner Familie, 
von feinem ganzen Haufe die unbedingtefte Unterwerfung ver: 
langte. Seine Kinder durften fih nie den geringften Wider: 
ſpruch, niemals eine eigene Meinung erlauben, und Herr v. Chate: 
lard glaubte jolde Unterwerfung von ihnen um jo mehr ver: 
langen zu dürfen, als die Fremden, feine Schüglinge, ihm die- 
felbe beinahe im gleihen Maße zeigten, und Alles, was er that, 
gut fanden. Elie, nachdem er eine foldhe gehorfame Kinpheit 
verlebt, wurde einem ftrenggläubigen Prediger zur weiteren Er: 
ziehung übergeben, ver ihn womöglich nod in ftrengerer Zucht 
hielt, al3 fein Vater. Es darf bier nicht vergefjen werden, daß 
Elie einen älteren Bruder hatte, der, dieſes Lebens müde, in 
feinem zwanzigften Jahre aus dem väterlichen Haufe entflob, bei 
ven Generalftaaten unter falihem Namen Kriegspienite nahm 
und ſeitdem verſchollen war. Elie fuchte fih aus der Tyrannei, 
die feine Jugend niederhielt, auf andere Weiſe zu retten, indem 
er fich in die Bücher flüchtete, was ihm, ald man ihn in feinem 
zwanzigiten Sabre auf die Univerfität von Heidelberg fchidte, 
erleichtert wurde. Seit zwei Jahren lebte er wieder in Gefell: 
ichaft feines Vaters, der Theologen und Glaubenshelven, die 
ihn umgaben, fuhr aber deßhalb nicht weniger fort, die Bücher 
als feine beften Freunde zu betrachten. Der Water hatte nicht zu 
fürdten, daß auch Elie vor der langen Weile und der theolo: 
giſchen Zucht des väterlihen Haufes entfliehen werde; Elie war 
nicht jo geartet, daß man vergleichen von ihm erwarten konnte. 


72 Novellen. 


Er war in fein Schidjal ergeben, fürdtete die Berührung mit 
der Welt, hatte das Bemußtjein feiner Unbeholfenheit und war 
felbft mit einem fremden Kinde ſchüchtern. Dieſe Schüchternheit 
verließ ihn auch der Gräfin Saſſari gegenüber nicht, aber ſei es 
das Mitleid, das er mit ihrer Einfamleit fühlte, fei e3 die Kraft 
der Liebe, die den Furchtſamſten zum Helden madt, es ift gewiß, 
daß er fich diefem Fräulein gegenüber fo benahm, wie er ji 
nod nie einer Dame gegenüber benommen batte. Anfangs frei: 
lich begnügte er fih damit, ihr, wenn ich Bücher bei ihm holte, 
dieß und jenes über den Autor jagen zu lafjen, oder hier und 
da eine Etelle anzuftreichen, oder ji einen Rath in Bezug auf 
ihre Lektüre zu gejtatten. Wenn ich ihm dann ihren Dank be 
ftellte, oder gar eine Frage im Namen des Fräulein an ihn zu 
richten hatte, war er big zur Verwirrung glücklich, und von Zeit 
zu Zeit fonnte er nicht umhin, feine Bewunderung des Fräu— 
leins gegen mich auszusprechen. „ft es nicht erftaunlich, mas 
fie Alles liest und verfteht! — Mein lieber Baud, was jagen 
Sie nur zu einer folhen jungen Dame! — Iſt Ihnen ſchon etwas 
derart vorgefommen! — Ein fo junges und fo ſchönes Mädchen 
und dabei jo unterrichtet! — So viel Sinn für das Ernte und 
Schöne!” Derart waren die Ausrufe, die ich oft zu hören be 
fam, und an diefe fnüpften fih manchmal Erkundigungen, was 
das Fräulein made u. f. w. Bald aber hatte er den Muth, 
immer an die Bücher anfnüpfend, fi dem Fräulein im Parke 
anzufchließen und endlich mit ihr lange Spaziergänge am See 
und in den Bergen zu unternehmen. Im Grunde war der arme 
Herr Elie in Mont:Tabor ebenfo einfam, wie Fräulein Maria, 
und es war fein Wunder, daß fih Beide innig an einander 
ſchloſſen. 

Während dieſer Zeit aber beſchäftigten ſich die anderen 
Herren in Mont-Tabor, wenn auch auf andere Weiſe, doch nicht 
mit geringerem Eifer mit Fräulein Maria. Wenn ihre Anwe— 
ſenheit den Kamiſarden ein Gräuel war, ſo war ſie den gelehrten 
Theologen des Hauſes ein Vorwurf, eine Beſchämung. Ihr 


Gräfin Saffari. v3 


Vater hatte dieje aufgefordert, die Belehrung der Tochter zu 
Stande zu bringen, und er zweifelte nicht, daß ihnen gelingen 
werde, moran er in Italien vergebens gearbeitet hatte. In 
Stalien war fie von ihren katholiſchen Jugenderinnerungen um» 
geben, bier von diejen getrennt und jogar, auf den Wunſch des 
Vaters, am Gottesdienjte theilnehmend, mußte fie dem beredten 
Munde berühmter Prediger und Theologen leichter weichen und 
ihren Starrfinn aufgeben. Dieß war bei ihrer Ankunft die Hoff: 
nung Aller, und Alle wurden verftimmt, als fie diefe Hoffnung 
getäufcht ſahen. Fräulein Maria ertlärte mit Beharrlichkeit, daß 
gewifje Säge der calviniihen Lehre, z. B. der Sag von der Ver: 
worfenbeit und Rettungslofigfeit des größten Theiles des Men: 
jchengeihleht3, der Sag von der Gnade, ihrem ganzen Gefühle 
widerſpreche, ja fie abjtoße, mit Widerwillen erfülle, und daß fie 
nur eine Züge ausfpräde, wenn fie ſich zu diefer Lehre bekennen 
würde. Der Eifer, wie der Stolz ver Theologen, wurden durd 
dieje Widerfpänftigfeit eines jungen Mädchens herausgefordert 
und beleidigt, und unbeſchäftigte Flüchtlinge, wie fie meifteng 
waren, wurde die Belehrung des Fräuleins bald die Hauptjache 
und der Gegenftand, um den jich Alles drehte. Man hielt Kon: 
ferenzen, um die Verfahrungsweiſe in diejer wichtigen Sache felt- 
zuftellen, man veranjtaltete Kolloquien, denen Maria beimohnen 
mußte, und in denen ein Theologe die Sache der katholiſchen 
Kirche vertheidigte, ein anderer fie angriff; jämmtliche Predigten, 
die nun in Mont: Tabor gehalten wurden, waren jo abgefaßt, 
das Maria erkennen konnte, wie fie nur auf fie abzielten. Die 
Stunden, in welchen Herr Beſſon ihr die reformirte Lehre bei: 
bringen follte, wurden bedeutend vermehrt, und Maria mußte 
mehr als die Hälfte des Tages theologiihe Augeinanderfegungen 
anhören und außerdem versprechen, die Bücher zu lefen, die ihr 
Herr Befjon brachte, und die fie nicht im Geringiten intereflirten. 
Herr Beſſon fand bald, daß die unabhängige Lektüre des Fräu— 
leins fie nur zerjtreue, daß die mweltlihen Dichter, Geſchicht— 
fchreiber und Philoſophen mit eine Urſache ihrer BVerjtodtheit 


74 Novellen 


feien, und ihr Vater nahm ihr alle Bücher, die Herr Beſſon 
entfernt willen wollte. Das Leben de3 armen Fräuleins wurde 
immer befchränfter, immer ärmer und unfreier, Zum Glüde ſah 
Herr Befjon in dem Umgange mit Elie ein gutes Mittel der Be: 
fehrung. Mit Vergnügen bemerkte er, daß die beiden jungen 
Leute einander gern auffuchten, und er meinte, man dürfe es 
nicht verſchmähen, wenn ein verirrtes Schaf dur die irbifche 
Liebe auf die Pfade der himmliſchen geleitet werden kann. Dan 
legte dem Umgange der beiden jungen Herzen nicht3 in den Weg, 
und Fräulein Maria fand im Geſpräch mit Elie, was man ihr 
durh Entziehung der Bücher geraubt hatte, da diefer die Ver: 
baltungsregeln, die ihm Herr Beſſon gegeben, wohl mit Lächeln 
binnahm, aber fie wenig befolgte. Nach Herrn Befjons Meinung 
jollte Herr Elie nur fein Sprachrohr werden und follten die 
Lehren Calvins im Munde eines jehsundzmwanzigjährigen jungen 
Mannes die Wirkung haben, die fie bis jegt, aus dem Munde 
eines alten Prediger kommend, verfehlten. Herr Bellon ver: 
ſprach fi viel von diefer frommen Lift, und zufrieden folgte 
fein Blid dem Paare, wenn e3 fih auf feinen Spaziergängen 
im Barte oder in dem Gebirge verlor. Maria aber erfuhr auf 
diefen Spaziergängen, daß der religiöfe Gewohnbeitseifer jeiner 
Umgebung ihrem Freunde ebenfo unerquidlich war, wie ihr die 
Studien, zu denen man fiezwang, daß er diefen Fanatismus ebenfo 
verwarf, wie jeden anderen, und daß er fich von früher Jugend 
an, beſonders aber feitvem ihm vie Wiffenfchaft weitere Blide 
eröffnete, in diefer Welt ebenfo fremd fühlte wie fie. Sie glaubte 
ihm noch mehr Mitleid ſchuldig zu fein, als er ihr bezeigte. Was 
fie feit Wochen litt, litt er es nicht fchon feit Jahren? Seit er 
denken gelernt? Doc ſchien er nur ihrer Leiden zu gedenken und 
nur Troft für fie zu fuchen. Sollte fie ihm dafür nicht mit ebenjo 
viel Liebe danken, als er ihr entgegen brachte? 

Ich weiß e3 allerdings nicht, wie und warın die Beiden ein: 
ander ihre Liebe geftanden, aber ich merkte bald, daß fich Beide 
auf Innigſte verbunden, ganz und gar an einander gewieſen 


Gräfin Saffari. 75 


und einig fühlten. Herr Clie war bei aller Melandolie, bei 
allem Kummer, den ihm die Lage Maria’ verurfachte, heiterer, 
als er es je vorher geweſen. Früher in feiner Abgeſchloſſenheit 
immer etwa3 abitoßend, ja reizbar, war er jegt fanft und freund: 
lich gegen alle Welt. Und felbft die Gefellfhaft fuchte er jegt 
gern auf, wenn Maria in diejer Gefellfchaft erfchien. In diefer 
Beziehung war allerdings die Auswahl nicht groß. Man ver: 
fammelte fih ein Mal in der Woche beim Bailly von Nyon, 
einem Herrn von Wattenwyl aus dem Berner Geichlechte, deſſen 
Frau ſich eines gewiſſen Rufes als geiftreihe und gebildete Dame 
erfreute. lie wich fonft diefen Abendgefellfchaften gern aus; 
jegt aber, da man aud die Gräfin Saſſari geladen, begleitete er 
fie mit Vergnügen dahin, um fid an den Triumphen zu erfreuen, 
die fie mit ihrer Schönheit, ihrem Geifte, ihrem reichen Willen 
über alle viefe Damen davontrug, welche zwar ihrem Range ſich 
gern beugten, aber doch nicht umhin fonnten, der in einem ver: 
finfterten Glauben verftodten Katholikin eine verlegende Ber: 
wunderung zu zeigen. 

Aber die Liebe Elie's, die mir, der ich Alles ruhig beob- 
achten fonnte, längft fein Geheimniß war, follte bald auf eine 
auffallende, ja lärmende Weife aller Welt fund werden. Giorgio, 
der. italienifche Diener des Grafen Saflari, der nur aus An: 
hänglichkeit an Maria in Nyon geblieben war und dajelbit aus: 
harrte, troß des Abſcheus, der ihm von den Kamifarden gezeigt 
wurde, fehrte im Auftrage feines Herrn wieder nah Stalien 
zurüd, um allerlei Habjeligfeiten, die man in Turin hatte zurüd: 
laffen müffen, berbeizufchaffen. Er bejorgte Alles, was ihm der 
Graf aufgetragen, und er that mehr ald das, indem er Alles 
einpadte, wovon er glaubte, daß es der Gräfin Maria angenehm 
fein würde und was ihr die verlorene Heimat auf das Leb: 
baftefte vergegenmwärtigen fönnte. In der That war Comtefle 
Maria glüdlih, als er gleih am Tage feiner Ankunft mehrere 
Kiften in ihre Wohnung ſchaffen ließ und fie beim Auspaden die 
ganze Einrichtung ihrer Turiner Stube erfannte. Sie meinte 


— 


6 Novellen. 


vor Freude und küßte manches Möbel und mandes Bild in der 
Rührung des Wiederſehens. Unter den mitgebradhten Gegens 
jtänden befanden fich auch manche alte Originalbilder und manche 
Kopien nad) den Werfen alter Meijter. Giorgio ftellte und hängte 
Alles fo auf, daß es fo weit ald möglih an die Turiner Stube 
Maria’3 erinnerte, und in der That war es ihr von diefem 
Augenblide an, wenigjtens für einige Zeit, als ob fie einen Theil 
de3 verlorenen Glüdes und der verlorenen Heimat wieder ge: 
wonnen hätte, Ihre Wohnung, die ihr bis jegt als ein Gefängnik 
erjhien, wurde ihr lieb, und durch viele Tage fonnte fie ſich 
faum bezwingen, fie zu verlaffen. So ſaß fie eines Nachmittags 
träumend, in fich verfunfen, das Herz von Heimmeh erfüllt, als 
fie mit Einem Male durch einen Schrei des Zornes gewedt wurde. 
Gie jah fih um und hinter ihr, auf der breiten Terrafje, von 
der au8 man in ihr Zimmer fehen fonnte, hart am Fenſter, 
ſtand Iſabeau, jene Prophetin der Kamifarden, blidte ihr mit 
Hammenden Augen entgegen und ftredte die Hand im höchſten 
Borne gegen eine Madonna von Andrea del Sarto aus. Iſabeau, 
jeit fie von der Verftodtheit Maria's erfahren, pflegte ihr, ob: 
wohl immer fchweigend, aber lauernd und beobadtend nachzu—⸗ 
ihleihen, al3 ob fie von der Bapiftin irgend welchen Gräuel 
erwartete, den fie abwenden wollte. Maria war ſchon daran 
gewöhnt, ſich von ihr umfchlihen zu fehen, und welches Grauen 
e3 ihr auch einflößte, fich immer von Iſabeau, die fie für wahn: 
finnig bielt, gefolgt und beobachtet zu wiſſen, fo hatte fie fi) 
body vorgenommen, fie nicht zu beachten, fie gewähren und fi 
jelbft nicht von ihr erfchreden zu laffen. Trotzdem fuhr fie jegt 
entfegt auf, als fie die Prophetin in diefer Stellung, mit dieſem 
Ausdrud hinter ſich erblidte. Sie hätte fliehen mögen, wenn 
nicht ihr Charakter fo geartet geweſen wäre, daß zugleich mit 
der Furt und dem Schreden in ihr der Muth und die Luft an 
der ruhigen Beobachtung erwachte. Wie entjeglih, wie drohend 
auch Iſabeau blidte, Maria betrachtete fie nach dem eriten Mo: 
mente der Ueberrafhung doch wie ein belehrendes Schaufpiel, 


Gräfin Saffari. 77 


und der Gedanke, wie ver Fanatismus bis zur mwahnfinnigen 
Muth in jeder Religion gedeihen kann, flog durch ihren Kopf. 
Aber fo ftark war fie nicht, um auch während des Schaufpieles, 
das folgte, ihre ruhigen Betrachtungen fortjegen zu können. 
Iſabeau, die fie nie fprechen gehört hatte, entleerte mit Cinem 
Male und mit einer furchtbar fchrill tönenden Stimme eine 
Molke von Flüchen über das Haupt der Gößendienerin, und ehe 
Maria ſich deſſen verfah, hatte die Prophetin das Fenfterfreuz 
eingedrüdt und ftand im Fenfter felbft, aber fo, daß fie Marien 
ven Rüden und dem Hofe das Geficht zufehrte. Ganz außer fich, 
riß fie die Feten ihrer Kleivung vom Leibe, warf fie in die Luft und 
fhrie, daß man herbeikomme und die Gräuel entferne, die das 
Haus verunreinigen. Es war jhon Winter, und die Ramifarden 
waren zum größten Theile in den anjtoßenden Gebäuden ver: 
fammelt. Auf den Ruf ihrer Prophetin ftürzten fie in Schaaren 
berbei. Diefe Stimme, die fie lange nicht gehört hatten, vie fie 
in den Zeiten des Kampfes und der blutigen Verfolgung zu hören 
gewohnt waren, mwedte in ihnen alle dieſe Gefühle, mit denen 
fie fich jonft den Henfern des Königs voll Todesmuth entgegen: 
ftürzten. Da fie diefe Stimme wieder hörten, prüften fie nicht 
länger, wurden fie von demſelben Raufche der Begeifterung, de3 
Glaubenskampfes ergriffen, und folgten fie ihr, als hörten fie 
die Stimme Gotted. „Herbei! Herbei!“ rief Jfabeau, „herbei 
ihr Kinder Iſraels, Jeſabel hat ihre Gräuel aufgeftellt, ihre 
Götzen prangen! Die Zelte Jeſchuruns find entweiht und Altäre 
Baals rauhen auf Karmel! Herbeil Vernichtet die Hure Ba- 
bylons, zerfcehmettert ihre Bilvfäulen, reißet ihre Haine nieder, 
jo fpriht der Herr, der Herr Zebaoth!” — Die Kinder der Wüſte 
begriffen fchnell, was die Prophetin meinte, da fie auf Maria 
deutete und fie, ihrem zeigenden Finger folgend, im Innern der 
Stube mehrere Heiligenbilvder erfannten. Diejer Anblid erfüllte 
fie mit demjelben Abjcheu, mit demfelben Ingrimm, wie die 
Prophetin, und ihr folgend, ftürmten fie, Berwünfchungen gegen 
den Götendienft ausftoßend, durch das Fenfter in das Zimmer. 


8 Novellen, 


Maria ftand zitternd da, ſah ihre geliebten Bilder, darunter 
manches herrliche Meifterftüd, beproht und wußte nicht, was zu 
beginnen, Mit ausgejtredten Armen jtellte fie ſich vor eines der: 
jelben, einen Domenidhino, der ihr al3 Erbſchaft ihrer Mutter 
bejonders theuer war, entfchloflen, wenigſtens dieſes vor ben 
Bilderftürmern zu retten. Aber gerade dieſe Stellung zog die 
Auimerkjamkfeit der Stürmer auf das Bild, das fie bejhügen 
wollte, und da fie fie zurüdvrängte, deutete Iſabeau befehlend 
dahin, und mehrere Kamijarden erfaßten fie zugleib an den 
Armen, um fie fortzuziehen und den Meg zu dem Bilde zu 
öffnen. In dem Augenblid flog die Thüre auf und Elie jtürzte 
herbei. „Fanatiſches Gefindel!” rief er mit blafjen Lippen, ſchlug 
mit der Fauſt einen der Männer nieder, die ih an Maria ver: 
griffen hatten und faßte dann die Prophetin, als fie eben zum 
Kampfe gegen ihn auffordern wollte, am Arme und warf fie zur 
Thüre hinaus. Dieß Alles war das Werk einer halben Sekunde. 
Die Kinder der Wüſte waren überrajcht, den Sohn ihres Er: 
nährer3 und Bejchügers fich gegenüber zu jehen ; mehr noch über: 
raſcht waren fie, daß er fo leicht die Prophetin Gottes bemältigt 
hatte, und ehe fie wieder zur Befinnung kamen, hatte er fie zum 
Zimmer theil3 hinausgetrieben, theils hinausgeftoßen. Wie er, 
waren auf den Lärm auch andere Bewohner des Hauſes und war 
auch Herr v. Chatelard felbit herbeigeeilt, Die Herren jchüttelten 
beventlich den Kopf zu den Titeln und Ausdrüden, mit denen 
Elie die Kinder Gottes und der Wüfte zur Thüre binausftieß. 
Herr Beſſon war entrüftet, daß er von fanatifchem Geſindel 
ſprach, mehr als Alles empörte es die Herren, daß Giorgio, als 
Bundesgenojje Elie'3, er, der unreine römijche Gögendiener, am 
Kampfe den thätigften Antheil nahm und die Kinder Gottes mit 
Fauftihlägen niederwarf. Indeſſen war man es im Allgemeinen 
doch zufrieden, daß Fräulein Maria vor der Begeifterung der 
Prophetin und ihres Anhanges geſchützt worden. Diefe, als fie 
fich plöglih aus der Gefahr gerettet ſah, fiel Eraftlos zujammen. 
Elie bob fie auf, und fie, unbefümmert darum, daß indeſſen ihr 


Gräfin Safari. 79 


Bater, Herr v. Chatelard, Herr Beilon und andere Herren in 
das Zimmer getreten waren, jchlang ihre Arme um den Hals 
ihres Retter3 und brach in Weinen aus; Elie ſah wohl, melde 
Zeugen diefe Szene hatte, aber er ſchien feine bisherige Natur 
gänzli geändert, feine Schüchternheit vollkommen abgelegt zu 
haben ; noch vom Kampfe ganz erhigt und um einen Kopf größer 
al3 ſonſt, drüdte er Maria ans Herz und verficherte fie mit 
lauter Stimme, daß fie an ihm ftets einen Vertheidiger gegen 
alle Angriffe des Fanatismus finden werde, Mir, der ich bei 
Seite ſtand und Alles betrachten konnte, ſchien es, al3 ob Graf 
Safjari, obwohl er die Augen niederjhlug, dieſe legte Szene 
nit ungern gejehen. Herr Beſſon lächelte, Herr v. Chatelard 
wandte ſich mit Geräufh und ging auf feine Stube zurüd. Clie 
ſah ihm einen Augenblid lang nah, machte ſich dann aus den 
Armen Maria’3 los und folgte mit entjchlofjenen Schritten 
jeinem Vater. | 

Herr v. Chatelard, als er feinen Sohn mit jo entſchiedenem 
Schritte bei fich eintreten fah und überhaupt bemerkte, daß diejer 
ihm muthiger und entichlofjener, als er es an ihm gewohnt war, 
entgegenblidte, empfing ihn mit größerer Förmlichkeit, als er 
fonft zu thun pflegte und zeigte auf einen Stuhl, Vater und 
Sohn jegten fih. „Mein Herr Vater,” begann Elie, „was Sie 
jegt gejehen, hat Sie gewiß nicht erft in ein Geheimniß einge: 
weiht. Ich habe es jeit lange nicht verborgen, wie jehr ich ein 
Fräulein achte und liebe, das jeder Achtung und Liebe fo jehr 
würdig ift. Der rohe Einbruch dieſes Volkes, das Sie beſchützen, 
in das Heiligthum einer jungfräulihen Wohnung führte zu einer 
Szene, die es mir zur Pflicht macht, früher als ich gejonnen 
war, mich öffentlich zu erklären. Mein Herr Vater, ich wünſche 
mich mit Fräulein Saffari zu vermählen und bitte Sie um Ihre 
Einwilligung und um Ihren Gegen.“ 

„Gräfin Maria Saflari,” ermwiderte der Vater, „ijt eine auge 
gezeichnete junge Dame; eine Verbindung mit, vem edlen Grafen: 
geſchlechte kann unferer Familie nur zur Ehre gereihen, aber, 


80 Novellen. 


mein Herr Sohn, Fräulein Maria Safjari ift Fatholifh, und 
Niemand würde es begreifen und ih am Allerwenigften, wenn 
fih ein Chatelard, der Sohn einer Familie, die zu allen Zeiten 
in den erften Reihen der Vorkämpfer für die reine Lehre geftan- 
den, fi mit einer römifch»Fatholifchen Dame verbände. Mein 
Sohn, ih darf mit Ihnen aufrichtig ſprechen. Es ift nicht der 
Adel und es ijt nicht der Beſitz, die eine Stellung machen; dieſe 
danken wir immer irgend einer dee, irgend einer Partei, der 
wir uns anfchließen. Ich wäre nichts, ich wäre ein einfacher 
Herr von Chatelard mit fo und jo viel Renten, ein Junker, wie 
es ihrer hier im Waabdtlande, in Ger, in Savoyen und überall 
fo viele gibt, die nicht3 haben, al3 ihren unbedeutenden Namen, 
der nicht den geringjten Werth hätte, wenn fie fih nicht unter 
einander einige Ehrerbietung erzeigten und eine Komödie fort: 
fegten, die Jedem, der außerhalb fteht, lächerlich erfcheinen muß; 
— ich jage, ich wäre wie einer von denen, wenn ich nicht mein 
Leben lang Opfer gebracht, mich felbft zu einem Mittelpunfte 
einer großen Partei, mein Haus zum Sammelplage der Märtyrer 
dieſer Partei gemacht und fo der Schale meines Namens einen 
Anhalt gegeben hätte. Mein Name ift bekannt, auf mich fieht 
man, nicht nur in den Alpen, fondern auch in Deutjchland, in 
Holland, in Schottland, überall, mo Calvins Lehre Anhänger 
bat. Nach den Verfolgungen in Frankreich wandten fi) die meiſten 
Häupter der Hugenotten fofort an mid, und da ein italienifcher 
Graf Verfolgungen zu fürdten hat, wird ihm mein Haus jofort 
als Afyl bezeichnet. Dieß, mein Sohn, ift ein Ruhm, den ich 
mit Ausdauer und mit großen Opfern erworben habe, und ber 
mir theurer ijt als mein Name. Diefer Ruhm wäre zum großen 
Theile dahin, dürfte mit Recht angezweifelt werden, die Früchte 
lebenglanger Arbeit wären verloren in dem Augenblide, da ein 
Chatelard, mein Sohn, eine Ratholikin heirathete. Erfahren Sie 
e3, Herr von Chatelard, daß ich nicht fanatifch bin, daß ich mic 
mit meinem Nachdenken und meinen Zweifeln an mande Lehre 
unferer Religion wage, daß ich Vieles verachte, was in meiner 


Gräfin Saffari. 81 


eigenen Partei vorkommt, gejchieht, gewollt und geſprochen wird; 
ih weiß auch, daß ein Protejtant mit einer Katholitin von ver 
Bildung der Gräfin Maria Safjari jehr wohl in Harmonie und 
in Glüd leben kann, aber ich weiß ferner, daß ein Mann, ver 
eine einflußreiche Stellung in der Welt einnehmen will, feinem 
Namen, feinem Ruhme perjönlihe Anfichten, wie perfünliche Ge: 
fühle, jelbit Glüd und Liebe aufopfern muß. Ich verlange das 
von Shnen, wenn Fräulein Maria nicht zu unferm Glauben 
übertritt; ich gebe Ihnen meinen Segen an dem Tage, an dem 
fie jich zu diefem Schritte bereit erklärt.” 

„Maria,“ antwortete Elie, „it ebenfo unfähig, ein Wort 
gegen ihre Weberzeugung auszuſprechen, als Sie, mein Herr 
Vater, fih für unfähig erklären, einen Theil der Früchte Ihrer 
Bemühungen aufzugeben.“ 

Herr von Chatelard erhob ſich und antwortete auf dieje Er: 
klärung mit der Frage: „Können Sie ſich einen Chatelard mit 
einer Katholikin verheirathet denken ?“ Ä 

„Ja,“ antwortete Elie kurz, indem er fich ebenfalls erhob. 

„Sch nimmermehr !“ rief Herr von Chatelard, „und nun,” fügte 
er hinzu, „da ich Ihnen meine Meinung jo rüdhaltslos gejagt, 
daß Sie fie für unumftößlich halten müflen, will ih Sie noch 
bitten, künftig, und mas immer vorlommen möge, ſich folder 
Ausprüde wie „janatifhes Gefinvdel” zu enthalten. Es jteht 
den Führern ſchlecht, ihre Schaar nicht zu achten, und fie wären 
nicht3 ohne den Fanatismus diejer Schaar.” 

Elie verneigte fich kurz und mit einem Ausdrucke, der fagen 
wollte: Dieß ift Ihre Meinung, nicht die meinige; ich will nicht 
diskutiren, aber ich werde handeln, wie ich e3 für gut halte. Der 
Vater mochte wenigitens diefe Rede auf dem Gejichte jeines 
Sohnes gelejen haben, denn er ging ihm noch einige Schritte 
nad und fagte mit warnender Stimme: „Erinnern Sie jih, daß 
ih ohne Bedauern bereit3 einen Sohn aufgegeben habe, weil 
diejer die Traditionen der Familie aufzugeben drohte.“ 

Elie erwiderte nichts und ging. 

Morig Hartmann, Werke. VI. 6 


82 Novellen, 


Zur felben Zeit.fand in der Stube der Gräfin Maria zwifchen 
Pater und Tochter ein Geſpräch ftatt, welches mit dem fo eben 
mitgetheilten einige Nehnlichkeit hatte Graf Safjari war bei 
feiner Tochter zurüdigeblieben, ala ſich Elie und die Anderen 
zurüdgezogen hatten. Er fegte fich zu ihr aufs Sopha, ergriff 
ihre Hand und jagte, nachdem er vie Wildheit der Kamijarden 
mit ihrer tiefen Ueberzeugung zu entjchuldigen und feine Tochter 
über den Vorgang zu beruhigen gejuht: „Maria, ic habe did) 
mit vielen anderen Zeugen fo eben in den Armen eines jungen 
Mannes gejehen und habe Worte gehört, die zmifchen euch Beiden 
ein feſtes Einverftändniß errathen laſſen. Fürchte keine Vorwürfe. 
Ich kenne did. Ich würde dich mit Glüd als die Gattin des 
jungen Chatelard jehen, aber ich habe die feſte Ueberzeugung, 
daß fich diefe Hoffnung nicht verwirklicht, fo lange du in deiner 
Meigerung, zu uns überzutreten, beharrſt.“ 

Maria jchmwieg. 

Der Graf, nachdem er eine Zeitlang vergebens auf Antwort 
gewartet, fuhr fort: „Willft du mir auch nicht die geringite Hoff: 
nung geben ?* 

„Mein Vater,” antwortete Maria, „ſchon ſchäme ich mid, 
daſſelbe Wort zu wiederholen, das ich nun hundert Male wieder: 
holt habe. Ich komme mir fehon wie eine Schaufpielerin vor, 
die diefelbe Rolle unzählige Male recitiren muß. Zwingen Sie 
mic nit fo aufzutreten, daß ich mir jelber wie eine Tugend: 
heldin erjcheinen muß; laſſen Sie mich nicht immer wieder die 
Verfiherung geben, daß ich nicht lügen kann.“ 

Sie fprang auf, nahm ein Buch vom Tiſche und las: „Gott 
machte vor der Erfhaffung der Welt das Geſetz der Jahrhunderte 
in Chrifto Jeſu, unferem Herrn. Er madte dieſes Geſetz aus 
dem reinen Vergnügen jeines Willens, ohne irgend eine Voraus: 
fiht des Verdienftes der Werke oder des Glaubens. Er wählte 
zur Verherrlichung feiner Gnade eine feite und beftimmte Anzahl 
Menſchen aus, die zwar das Unglüd haben follten, mit dem 
Refte der Menſchen aus verdorbenem Blute geboren und aus 


Gräfin Saffari. 83 


unreiner Subjtanz gebildet zu werden und dadurch Sklaven der 
Sünde jein würden; aber er bejchloß, fie zum Heile zu führen 
durch den einzigen Mittler Jefum Chriſtum. Er beſchloß fie zu 
ih zu rufen, fie wiedergeboren werden zu lajjen und ihnen den 
Glauben und die Reue zu verleihen in Anbetracht der Verdienſte 
Jeſu Chrifti und durch die allmächtigen Tugenden des heiligen 
Geiftes, des Urhebers der Wiedergeburt. Er bejchloß den Men: 
ſchen zuerjt unſchuldig zu erjchaffen, dann feinen Fall zu geftatten 
und endlid mit.einigen wenigen der jündigen Menden 
Mitleid zu haben und fie eben deßhalb auszuerwählen, die anderen 
aber in der Verderbtheit zu laffen und fie endlich ewiger Ver: 
dammniß preiszugeben.“ 

Maria warf das Buch mit Entrüſtung von ſich. „Dieſer 
Gott,“ rief ſie, „iſt ſchlimmer als der Baal, von dem hier ſo 
viel geſprochen wird. Dieſer Gott, der zu ſeinem Vergnügen 
ſchafft, auserwählt und ungeheure Mengen Unſchuldiger verdammt; 
zu einem ſolchen Gotte, mein Vater, werde ich mich nie bekennen, 
und lieber bin ich mit der ungeheuren Menge der unſchuldig Ver— 
worfenen verdammt, als mit den wenigen Auserwählten be— 
gnadet.“ 

„Aber, * Kind,“ ſtammelte Graf Saſſari, „der heilige 
Auguſtin —“ 

„Sagt — “Fiel ihm Maria ins Wort, — „er gilt mir 
auch jo viel wie Calvin.“ 

„Maria,“ nahm der Graf ruhiger das Won, „es iſt nicht 
meine Sache, dich über die Myſterien zu belehren, du haſt deine 
Lehrer. Ich habe dir nur als Vater und als erfahrener Mann 
zu ſprechen, und dir einige Erwägungen vorzulegen. Du weißt, 
mein Kind, daß wir fein Vermögen haben. Meine Armuth trieb 
mid aus Modena in piemontefifche Dienfte. Meine Stelle reichte 
bin, ung mit Anftand und beinahe unjerm Range gemäß leben 
zu lafien. Nun find wir in die Welt hinausgeftoßen und wir 
leben von der Gnade und Milde meiner Glaubensbrüder. Wenn 
ich fterbe, mag wird aus dir? Ya, was wird ſelbſt aus mir bei 


84 Novellen. 


längerem Leben, wenn du in deiner Weigerung bebarrft? Glaube 
mir, man wird die Verjtodtheit ver Tochter dem Vater nicht ver: 
zeihen. Bedenke meine fhiefe Stellung in diefer mir neuen Welt, 
bevenfe, wie wenige Mädchen fo glüdlic find, in vem Manne 
ihrer Liebe zugleich einen Mann zu finden, der alle Glüdsgüter 
mit jeiner Liebe bietet. Herr von Chatelard, der Adelige kleinen 
Namens, wird feinen Sohn gern mit der Gräfin Saflari ver: 
binden und.der Gräfin und Neubefehrten, ver gewonnenen Seele, 
wird man alle Liebe, alle Ehrerbietung, alle Freude des Lebens 
gern entgegenbringen.“ 

„Sie meinen aljo,” ſagte Maria mit einiger Bitterfeit, „daß 
ih mich denn doc befehren ſoll, um eine gute Heirath zu 
machen?“ 

„Mein Fräulein,“ rief der Graf Saſſari mit Strenge, „eine 
Tochter hat ihrem Vater zu gehorchen; ein einfältiges junges 
Mädchen hat kein Recht, ſo ſehr auf ihre Grundſätze zu pochen 
und ihre ſogenannten Ueberzeugungen der Erkenntniß weiſer und 
gelehrter Männer, dem Willen ihres Vaters, dem Wunſche ihrer 
Wohlthäter entgegenzuſetzen. Mein Fräulein, dieſes Verfahren 
iſt unweiblich und kann bei einem jungen Mädchen nicht ohne 
einige Frechheit vorkommen. Hätte ich Sie ohne alles Wiſſen 
aufwachſen laſſen, ſo hätten Sie jetzt weder Muth noch Waffen, 
ſich mir zu widerſetzen, und Sie hätten ſich bekehrt, weil ich es 
befohlen hätte. Sie haben die Herzloſigkeit, perſönliche Ueber— 
zeugungen vorzuſchützen, wo Sie an nichts Anderes denken ſollten, 
als wie Sie eine Ihrem Glücke und dem würdigen Auftreten 
Ihres Vaters entſprechende Stellung einnehmen. Sie aber thun 
Alles, um meine Stellung zu verderben und mir vielleicht ein 
unglückliches und hülfloſes Alter zu bereiten. Man hat Sie bis 
jetzt mit einer Rückſicht behandelt, deren Sie ſich unwürdig zeigen; 
man wird von nun an auf eine Weiſe gegen Sie auftreten, wie 
es Ihre Verſtocktheit gegen göttliche und menſchliche Geſetze ver: 
dient.“ 

Trotz dieſer Drohung kam jetzt für Gräfin Maria eine etwas 


Gräfin Safjari. 85 


rubigere Zeit. Die Kamiſarden hielten fich jeit dem abgefchlagenen 
Sturme von ihr fern und die Theologen waren etwas müde und 
bofiten, daß die Verbindung mit Clie die Belehrung Maria’s 
trog Allem zur Folge haben werde, da ſonſt an eine enbliche 
Vermählung nicht zu denken war. Da trat, obwohl außer aller 
Verbindung mit Mont: Tabor, ein Greigniß ein, welches den 
Eifer der Bekehrungsſüchtigen aufs Neue anfahen und auf das 
Leben der jungen Gräfin den größten Einfluß haben jollte. Eine 
junge Genferin aus patrizifchem Gefchlechte, ein Fräulein Saraflin, 
war, von einem Jeſuiten aus Garouge befehrt, zum Katholizis: 
mus übergegangen. Sie war unendlich reich und trat mit allen 
ihren Reihthümern in ein Klofter. Die Sahe machte um jo 
größeres Aufjehen, als das Fräulein aus einer jtreng reformirten 
Familie ftammte, al3 die Belehrung von dem Jeſuiten in jehr 
kurzer Zeit zu Stande gebracht und als diefe nach den Verhält: 
niffen der Gegend als ein großer Gieg der Katholifen betrachtet 
wurde, Man hörte gewifjermaßen ven Jubel von Carouge ber: 
über nach Genf ertönen. Die calviniſtiſche Geijtlichfeit war ges 
demütbigt, beihämt, noch mehr waren es die theologijchen Ein: 
wohner von Mont:Tabor, melde jeit Monaten vergebens an der 
Bekehrung eines in ihrer Mitte lebenden, ihnen ganz überlajjenen 
Mädchens arbeiteten, unterjtügt vom Water diefes Mädchens 
und unterftügt dur alle Umſtände, während der Jeſuit troß 
aller Hindernifje, aus der Entfernung mit wenigen Briefen und, 
wie e3 hieß, nach nur zwei furzen Zufammenfünften, jein Ziel 
erreichte. Ueberall in den reformirten wie fatholifhen Gegenden 
tingsumber wußte man, daß in Mont:Tabor ein junges Mädchen 
lebte, das man von allen Seiten beftürmte, und das trogdem 
den ausdauernditen Widerftand leiftete. Man wußte in Mont: 
Tabor, daß die Katholiken frohlodten und daß felbjt die Refor— 
mirten über die Belehrer zu jpotten anfingen. Dem mußte ein 
Ende gemadt werden und man mußte Genugthuung haben jenem 
Jeſuiten gegenüber, man mußte den Berluft der Genfer Patriziers: 
tochter durch die Eroberung einer italienifchen Gräfin decken. Es 


86 Novellen. 


fam eine ganz neue Thätigkeit in die Bewohner von Mont:Taber; 
es wurden neue Konferenzen gehalten, deren ausſchließlicher 
Gegenftand Maria war, und endlich beſchloß man, fie nad) Genf 
zu bringen, da auch Herr Beſſon, der dort al3 Prediger angeftellt 
wurde, in dieſe Stadt überſiedelte. Herr von Chatelard hatte 
in Genf eine alte Freundin, eine Wittwe, Madame de Plante— 
amour, die in der frommen Welt eine große Rolle jpielte, an 
der Spitze mehrerer religiöfen Geſellſchaften ftand und die bereits, 
wenn aud noch nicht eine Katholifin zum Calvinismus, doch 
mehrere verlorene Frauenzimmer zu gottesfürdtigem Leben? 
wandel befebrt hatte. Diefer Dame follte Gräfin Maria Saflari 
anvertraut werden, während Herr Beljon feine Unterrichtäftunden 
bei ihr fortfegte. Madame Planteamour erflärte fih gern bereit, 
das gottgefällige Werk zu unternehmen und ſprach ihre Zuverficht 
aus, daß es ihr damit ebenjo gelingen werde, wie e3 ihr mit 
Gottes Hilfe jhon bei den verjtodteften Gemüthern gelungen jei. 
Sie mwollte, wie fie verficherte, der jungen Gräfin eine Mutter 
erjegen und nur auf ihr Wohl und Heil finnen. Auf dieje Ant: 
wort wurde der definitive Entſchluß gefaßt und vom Grafen 
Saflari feiner Tochter angelündigt. 

„Mein Bater ‚“ fagte Maria, als ihr die Mittheilung gemacht 
wurde, „Sie willen, daß das einzige Glüd meines jegigen Lebens 
mein Umgang mit Elie ift, daß ich aus feiner Nähe viel des 
Troftes jchöpfe, deſſen ich in meiner Lage bedarf. Sie berauben 
mid um Biele3, indem Sie mich jegt in die Ferne jhiden, und 
mir ahnt, daß ich feinem glüdlihen Leben entgegengehe. Aber 
Sie find mein Pater; ich verjage Ihnen den Gehorfam nicht 
meiter, als es unbedingt nothwendig ift. Mein innigjter Wunſch 
ift e3, Ihre unterthänigfte Tochter zu bleiben und zwiſchen uns 
ein Verhältniß aufrecht zu erhalten, das Ihnen wenigſtens ein 
Theilhen Familienleben rettet, nahdem Sie Jhr Vaterland ver: 
loren. ch weiß e3, daß Eie ſich in einer Beziehung beunrubigen, 
Sie fürdten, daß ich in meiner Empörung gegen Sie weiter gehen 
werde, daß ich, mwie ich es könnte, vielleicht die Hülfe meines 


Gräfin Saffari. 87 


Königs anrufe, — fürchten Sie nichts! ch werde nichts derart 
thbun. Sie verfügen über mih nad Gutdünken, aber ich flehe 
Sie an, mic nicht einer unnöthigen Sklaverei zu überliefern und 
niemals zu vergefien, daß ih Ihre Tochter bin, wenn auch leider 
durch Meberzeugungen von Ihnen getrennt.” 

Graf Safari ermwiderte in kurzen Worten, daß Madame de 
Planteamour als eine ausgezeichnete Frau befannt fei und daß 
er ihr feine Tochter ohne die geringfte Bejorgniß anvertraue. 
Clie, ald er von dem Plane hörte, ftürzte herbei und bot Marien 
jede Hülfe an. „lieben wir,“ jagte er, „ich fühle Kraft genug, 
Sie überall in der Welt zu bejhügen, für Sie zu forgen und 
den unverjöhnlichen Zorn meines Vaters zu ertragen.” 

„Noch fühle ich mich,” ermwiderte Maria, „zu einem jolchen 
Schritte nicht berechtigt; noch ift e8 meine Pflicht, abzumarten, 
ob mein Vater mit der Zeit in diefer Angelegenheit mit geringerem 
Eifer handeln wird. Auch darf ih Madame de Planteamour, 
die ich nicht kenne, nicht ala ein Uebel betradhten, das mir das 
Recht zu einem Schritte gäbe, welcher mich vielleicht für immer 
von meinem Vater trennt. Er ift allein, alt und in der fremde; 
er kann noch in die Lage kommen, in der er meiner bedarf, und 
ich muß jeder Kataftrophe ausweichen, die möglicherweife zwiſchen 
ihm und mir eine ewig trennende Kluft eröffnet. Laſſen Sie mid 
ziehen, lieber Freund. Madame de Planteamour ift eine Frau, 
und wie ich hier trog allem Glaubengeifer bei allen diefen Herren 
doch noch ritterliche Nüdjihten erfahre, jo werde ich bei ihr viels 
leicht ein weibliche Herz finden, deſſen ih nad fo langem aus— 
ſchließlichen Umgange mit Männern bedarf.” 

Nachdem die Liebenden ſich beſprochen, wie fie einen Brief: 
wechſel aufrecht erhalten möchten, trennten fie fih mit dem Ver: 
fprehen, nicht von einander lafjen zu wollen, und am felben 
Tage beitiegen Herr von Chatelard, Graf Saflari und feine 
Tochter die Karrofle, um ſich nach Genf zu begeben. Die beiden 
Herren famen am folgenden Tage wieder zurüd. 

Bon dem Leben, das jegt für die Gräfin Maria Safari 


88 Novellen. 


begann, fann ih, Samuel Baud, nicht weiter ald Augenzeuge 
erzäblen, aber es find Briefe vorhanden, welche fie während ihres 
Aufenthaltes in Genf an ihren Geliebten ſchrieb, welche Giorgio 
abholte und die er an Denjenigen abzugeben wußte, für den fie 
beftimmt waren, obwohl fie die Adreſſe des Grafen Sajjari trugen. 
Bon diefen an Herrn Elie de Chatelard gejchriebenen Briefen 
tbeile ich bier einige ganz oder theilmeife mit. 


Genf, den 16. Januar 1704. 

ae Madame de Planteamour fieht ganz anders aus, als 
ich mir fie vorgeitellt habe. Sie ift weder dürr, noch lang, jon: 
dern im Gegentbeilziemlich Hein und von einer nicht unangenehmen 
Fülle. Auch trägt fie fich nicht ſchwarz und übertrieben einfach, 
wie ib mir eine Genfer Puritanerin vorgeftellt habe. Sie ift 
ziemlich bunt und ich glaube nit, daß ihre Toilette in allen 
Theilen den Lurusgefegen Calvins entſpricht. Ihre ſchon halb 
ergrauten Haare trägt fie no immer & la Henriette in un: 
zähligen Zoden und Lödhen. Was Küche und Tifch ihres Haufes 
betrifft, jucht fie allerdingS wieder gut zu machen, was fie mit 
ihrer Toilette gegen die Luxusgeſetze verbridt. Ich glaube, daß 
fie drei oder vier Schüfleln auf dem Tiſche haben dürfte; wir 
betommen aber, neben einer ſehr dünnen Waſſerſuppe, gewöhns 
lich nur eine einzige zu fehen.... Bis jegt hat fie fih nur ſehr 
wenig um mich befümmert, da fie überaus bejchäftigt ift, vielen 
Wohlthätigkeitsgeſellſchaften angehört und einen jehr ausgedehnten 
Briefwechlel unterhält. Sie läßt mich halbe Tage lang allein in 
meiner Hinterftube, die auf einen engen und düfteren Hof geht 
und von der aus ich nicht3 jehen kann, als eben diefen Hof, ein 
feines Stüd Himmel und die Spige des einen Thurmes von 
St. Pierre, welcher mir mit feinem Glodenfpiele jede Stunde 
eine arg entjtellte Melodie eines Pjalmes von Goudimel vorfingt. 
Damit ih mir in diefer Wohnung, in welcher eine Bibel, die 
Palmen Clement Marots und einige Andachtsbücher meine, 
einzige Gejelfchaft find, nicht wie eine Gefangene vorfomme 


Gräfin Saffari. 89 


hatte Madame de Blanteamour einige Tage nach meiner Ankunft 
die Aufmerkſamkeit, mich zu einem Spaziergange einzuladen. 
Sie führte mich dur die Straßen der Stadt und erzählte mir 
bei diefer Gelegenheit die Gefchichte Genf3, und jo kamen wir 
auch vors Thor, an eine gemille Stelle vor den Befeftigunger, 
von der aus man die Ebene vom Plainpalais überjehen kann. 
Hier nahm fie plöglich eine feierliche, ja beinahe drohende Miene 
an, und mit auögeftredtem Finger auf den Boden deutend, jagte 
fie: „Hier hat Calvin den Gottesleugner Michael Servet ver: 
brennen lafjen.” Vielleicht erwartete fie von mir irgend eine Be: 
merkung über diefe Schandthat und wollte fie daran irgend welche 
Lehren antnüpfen — ich aber ſchwieg und nahm ihre Worte wie 
eine einfache hiftorifche Mittheilung eines Führers bin. Dann 
führte fie mich wieder durch die Straßen und erzählte mir an 
verſchiedenen Punkten, dur verſchiedene Häufer daran erinnert, 
von ungläubigen oder unfittliben Frauen, melde Calvin und 
nad feinem Beifpiele auch die fpäteren Regierungen, im Hemde 
mit der Kerze in der Hand, durd die Straßen führen lieben, 
oder denen man andere derartige mehr oder weniger ſchimpfliche 
Penitenzen auferlegt hatte. Was war der Zwed dieſer Mitthei- 
lungen? Wollte fie mich erfchreden? Wollte fie mir jagen,‘ mit 
welcher Strenge man in Genf verfahren fünne? Ich geitehe, daß 
ih nad diefem Spaziergange etwas von der Sicherheit verlor, 
die mir das Benehmen der Madame Planteamour in den erſten 
Zagen eingeflößt hatte. Ich Fonnte mir nicht wegleugnen, daß 
ihre Mittheilungen wie Drohungen klangen und daß an der Stelle, 
wo Servet verbrannt wurde, aus ihren Worten und Bliden der 
Yanatismus eines Dominikaner hervorbrad. Indeſſen bat fie 
mich feitdem wieder mir felbft überlafjen und ich habe mich über 
nichts zu beflagen, als über die Einfamfeit, über ven Mangel 
einer mir zufagenden Beihäftigung, über meine dunkle Stube 
und vor Allem, mein lieber Freund, über meine Trennung von 
Ihnen. Indeſſen dient mir meine Einſamkeit dazu, mich auf das 
Lebhafteſte zu erinnern, was Sie mir während meines Aufenthaltes 


90 Novellen. 


in Mont: Tabor waren, und es mich auf das Dankbarfte fühlen 
zu laflen, was Sie mir find, ‘da ich ohne Sie in diefer Welt ganz 
verödet wäre, ohne Halt, ohne Stütze, ohne Liebe. Wahrlich, 
nad Allem, was ich in den legten Monaten erfahren, müßte ich 
ohne Sie zu der jchredlichen Ueberzeugung gelangt fein, daß ich 
Niemand mehr, daß ich überhaupt nicht mehr lieben könnte, 
Denken Sie fih, daß Herr von Chatelard nicht einen Sohn be 
jäße wie Sie, oder, daß Sie während meines Aufenthaltes in 
Mont:Tabor abweiend gewefen und ih Sie nicht kennen gelernt 
hätte, oder daß hr freier Geift den Einflüffen Ihrer Umgebung 
erlegen und Sie geworben wären wie die Anderen. Wen hätte 
ich jegt auf diefer weiten Welt? Wen könnte ich noch lieben? 
Wem jonjt al3 Ihnen, mein theurer Freund, danfe ich die 
Heiterkeit, die mir trog Allem bleibt? Ich glaube wohl, daß ich 
in jedem Falle ven Muth bewahrt hätte, mich gegen eine Rüge 
bis and Ende zu fträuben, aber dieſer Muth allein hätte mic 
nicht aufrecht erhalten, wie mich jegt Ihre Liebe aufrecht erhält. 
Mit allem Muthe hätte ih nicht das Bewußtſein eines Kämpfers 
in der Schlacht gehabt, jondern nur die troftlofe Vereinfamung 
und die Verzweiflung des einzelnen Wanderer, der in der Wüſte 
von Thieren oder von Verſchmachtung überfallen wird. Soll ich 
diefem Belenntniffe no einen Dank binzufügen? Oder irgend 
melde andere Berjiherung ?.... 
Genf, den 30. Januar 1704. 

ae Die Szene hat fi bedeutend verändert, Die Ge: 
fohäftigkeit der Madame Planteamour in den erften Tagen hatte 
nur den Zwed, die Hände frei zu machen, damit fie fi ganz 
und gar mir widmen könne. Seit ungefähr acht Tagen verläßt 
fie mich, die Schlafitunden ausgenommen, beinahe feinen Augen: 
blid. Des Morgens werde ich durch ihre Magd gewedt und muß 
mich augenblidlic erheben, dann mich jo ankleiden, wie e3 mir 
die Magd nad den Vorfhriften der Madame PBlanteamour be— 
fiehlt. Komme ich dann in die Wohnftube diefer Dame, werde 
ich wieder zurüdgejchidt, um das oder jenes an meiner Toilette 


Gräfin Saffari. 9] 


zu ändern. Gie findet an mir jehr Vieles kokett und meltlich, 
was fie ji in einem weit höheren Grade erlaubt. Ich darf 
nicht den geringften Schmud tragen, während fie Finger, Arme 
und Bruft bevedt hat; freilih mit Andenken von frommen 
Männern oder Zeugniſſen von guten Werfen. Jeder Ring, jede 
Bufennadel hat irgend eine fromme Gefhichte, ift das Monu: 
ment einer Belehrung oder einer Stiftung. Des Morgenz frühe 
verjammeln fih die Hausgenofjen zu frommen Gejängen, und 
während gefungen wird, muß ich bei Geite ftehen und zuhören. 
Dann nah dem Frübftüd liest mir Madame Planteamour einige 
Kapitel aus der Bibel vor. Sie begann mit der Schöpfung, 
und nad ihrem foftematifchen Fortjchreiten zu ſchließen, gedenft 
fie mir fo daS ganze alte und neue Teftament vorzulefen. Nach 
diefer Lektüre fommt eine andere an die Reihe: Kommentare der 
Kapitel, die wir eben gelefen, und nach diefen Kommentaren 
beginnt Madame Planteamour ein Geſpräch über das Gelefene, 
und ih muß gegen meinen Willen Einwürfe erheben, um wider: 
legt werden zu können. Da ich nicht die geringfte Luft zu diſpu— 
tiren habe, fage ich das erfte Beite, was mir einfällt, und Ma— 
dame Planteamour ift empört über die Albernheiten, die ich den 
ewigen Wahrheiten entgegenfete. Sie ift erftaunt, daß man 
mich ihr als eine Perſon von einigem Geiſte geſchildert, und 
bat bereitö begonnen, mich als ein dummes Mädchen zu bes 
handeln. Manchmal, wenn fie in diefer Beziehung zweifelhaft 
wird, fchreibt fie mein Widerjtreben nur dem böjeften Willen, 
der Verftodibeit gemeinfter Art zu, und in diefem Sinne gibt 
fie Herrn Beffon Anweifungen zu meiner Behandlung. Ich 
werde alfo, dieß ift meine Zukunft, entweder als ein böjes oder 
al ein dummes Mädchen behandelt werden. Herr Beflon, der 
gegen Mittag fommt, unmittelbar nachdem die Diskuflionen mit 
Madame Blanteamour geſchloſſen find, ſcheint in der That dieſes 
Spftem bereit3 angenommen zu haben. Wie ganz anders tritt 
er bier gegen mich auf, al3 in Mont: Tabor; fo falbungsvoll, 
milde und einfchmeichelnd, al3 er dort gewefen, fo heftig, un: 


92 Novellen. 


geduldig ift er hier. Madame Planteamour macht mir die heftig: 
ften Vorwürfe darüber, daß ich einen folhen Mann fo fränfen 
fönne, und oft unterbricht fie ihn während feiner -Zeftionen, um 
mir eine Predigt zu halten, und er läßt fich gerne unterbrechen. 
Mein lieber Freund, ich habe bier nicht3 zu thun, als Eine 
Tugend zu üben, die Geduld, und ich glaube, ich habe es 
darin ſchon weit gebradt. Wenn einft in glüdlicheren Zeiten 
unferer Beider Wünfche gekrönt werden, dann, mein lieber 
Freund, beflommen Sie eine gebuldige Frau, wie fie fih der 
größte Haustyrann nur wünfchen fann. Ach, ich fcherze! aber 
ih fann ed nur, wenn ic an Sie ſchreibe, an Sie denke. Dann 
fommt mir ein Schatten jener Heiterkeit zurüd, mit der eine 
gütige Natur mein Weſen ausftattete und die, ich gebe die Hoff: 
nung nicht auf, einit ebenjo fräftig und heil mein inneres er: 
füllen wird, wie damals, als ich noch im Thale von Aoſta lebte 
und nicht wußte, daß es in der Welt Kummer und Sorgen gibt, 
daß der Tod die Mutter, der Glaube den Vater vom Kinde 
trennen könne. Leben Sie wohl! 


Genf, den 10. Februar 1704. 

— Seien Sie gut gegen Giorgio, erzeigen Sie ihm 
Wohlthaten, wo Sie können. Der treue Diener entwickelt aus 
purer Treue und in ſeinem Eifer, mir zu dienen, das Talent 
und die Liſt eines ächten Komödienbedienten. Die Bücher, die 
Sie mir ſchicken, weiß er mir auf das Klügſte zuzuſtecken oder 
fie, ſelbſt vor vielen Zeugen, irgend wie in ber Stube unter: 
zubringen, wo id) fie dann, wenn ich allein bin, auffinde. Auch 
läuft er die halbe Naht durch, um-früh genug bei mir einzu: 
treffen und mid ſprechen zu können, bevor Mavame Blante- 
amour erwacht ift. Und wäre das Alles nicht, ich liebte ihn ſchon 
al3 meinen Landsmann und als Einen, der mich in einer beſſe— 
ren Zeit kannte. Wie verderben und doch die Verhältniffe? In 
meiner Jugend war ich über die Komödien empört, in denen 
Eltern und VBormünder von Kindern und Mündeln, meiſt mit 


Gräfin Saffari. 93 


Hülfe von Dienern, betrogen werben. Ich fand das höchſt un: 
moralifh, und wie jehr ich die Liebe liebte, jo konnte fie mir 
doch nit als Entjhuldigung diejer Lügen und Betrügereien 
dienen. So puritanifch war ich und fo unpuritanifch maden 
mich die Buritaner, daß ich jept felber die Mittel anwende, bie 
mich einft mit Entrüftung erfüllten, daß ich eine geheime Korre: 
fpondenz habe, mic eines Bedienten dazu bediene, meinen 
Bater betrüge und Diejenige, die er zu meiner VBormünderin 
gemacht. Aber glauben Sie nicht, daß ich mir darüber Ge: 
wiſſensſtrupel made; auch halte ih mich nicht für jo jchlecht, 
als mih Madame PBlanteamour glauben machen will. Madame 
Planteamour bat nämlich entvedt, daß meine Verftodtheit in 
ven niedrigften Anlagen und Neigungen begründet fei, daß mich. 
nur die Liebe zum Lafter im Schooße der katholifchen Kirche zu: 
rüdhalte. Nur weil man mit Hülfe der Beichte und ver Ab: 
jolution alle möglihen Schandthaten begehen könne, ohne der 
ewigen Verdammniß zu verfallen, nur deßhalb halte ih an der 
Religion der Beichtftühle feft. Ich fage Ihnen das auf die ver: 
blümtefte Weife; Madame Planteamour vrüdte fih und zwar 
in Gegenwart Herrn Beſſons etwas ftärfer aus und zählte mir 
alle die Laſter auf, alle meine niedrigen Neigungen, welche mic 
zu einer treuen Katholikin machten. Ich mar erftaunt über vie 
Phantafie einer jo frommen Frau, ich war noch mehr erftaunt, 
über die Verwirrung der Begriffe, welche Beichränftheit, Vor— 
urtheil und Haß hervorbringen fünnen. Werden Sie e3 glauben? 
Die größten und erhabenjten Meifter ver Kunft mußten die Be- 
mweije liefern, daß die fatholifche Religion nichts anderes fei, als 
ver Kultus der Sinnenluft. Die Freude am Schönen, die ſich 
in den Kunſtwerken der italienifhen Meifter ausprüdt, ift eine 
Freude am Irdiſchen, alfo am Sinnlihen, aljo am Niedrigen, 
alfo am Lafter. Die Kirche ließ ſich durch diefe Künfte verherr⸗ 
lihen, aljo iſt fie eine Befchügerin des Lafterd, und alle Die: 
jenigen, die fi) von diefer Kirche nicht losſagen wollten, bes 
meijen nur ihre Anhänglichleit am Lafter, an der Sinnlichkeit, 


94 Novellen. 


an der Vermorfenheit. Sie werben begreifen, daß ich ſolchen 
Argumenten gegenüber zu ftolz bin, meine geringe Katholizität 
hervorzuheben, ja daß ich mich berausgefordert fühle, mid 
gegen ſolche Anfichten aufzulehnen und mir felber einzureden, 
daß ich katholifcher bin, als e3 in der That der Fall ift. Ich 
bin alfo in den Augen der Madame Blanteamour und jegt auch 
jhon in den Augen des Herrn Beilon, der ihr in Allem bei: 
pflichtet, nicht mehr eine bloße Verblenvete oder Verftodte, die 
man zum Lichte befehren will, nein, ich bin einfach eine Ver: 
worfene, in der alle Uebel bereit3 entwidelt oder wenigſtens im 
Keime vorhanden find. Madame Planteamour verwirft alle 
Moral und alle Tugend außerhalb des Glaubens, obwohl fie 
zugeben muß, daß e3 unter Heiden und jelbjt Katholiten mora= 
liiche Menfhen gegeben. Trotzdem kommt fie zu dem Schluffe, 
daß man außerhalb ihrer Lehre auch nicht tugenphaft fein könne. 
Mit einem Worte, lieber Freund, und um e3 fo zart al3 möglich 
zu fagen: Ich bin, weil ich feine Calvinijtin bin, eine Magdalene 
vor der Belehrung. E3 liegt mir im Grunde ſehr wenig an der 
Meinung des Herrn Beſſon — aber er ijt do ein Mann, und 
Sie werden begreifen, wie e3 mich berühren muß, foldhe Dinge 
vor ihm anhören zu müſſen, und melde Stunden des Zorneg, 
der Entrüftung mir das bereitet. In der That fam ich nicht 
fpäter als heute fo fehr in Harniſch, daß ich mich mit einem 
Male an ihn wandte und ihn aufforderte, mich gegen joche An 
griffe zu vertheidigen. Aber dieſe Frommen haben ven lekten 
Reit jener Eigenfchaft verloren, die man Ritterlichleit nennt, 
und Herr Beſſon antwortete mir auf die falbungsvolljte Weife, 
daß er mir aus der Schrift beweifen könne, wie ſehr Madame 
Planteamour Recht habe. Ich muß mich darauf vorbereiten, 
Frauen wie Bathfeba und Abigail, weil es bibliſche Frauen 
find und weil fie ihre Ehemänner an den Pijalmenjänger ver: 
rathen, zu verehren und mich ſelbſt als eine Verworfene zu be: 
traten. So lange ich es nicht zu diefer Kraft des Glaubens 
gebracht, kann ih auf Ruhe nicht rechnen. Sie können fi nicht 


Gräfin Safari. 95 


vorstellen, was mir Alles al3 Sünde oder vielmehr ala katholisch 
vorgeworfen wird. Da ift z. B. eine Kate im Haufe, eine noth— 
wendige Mitbemwohnerin wegen der unzähligen Mäufe, die Tag 
und Nacht in den alten Mauern umbertoben. Dieje Katze ift ein 
jehr anmuthiges Thier; vielleicht ift fie e8 auch nicht, aber fie 
ift das einzige Geſchöpf, das mir nicht predigt und das mich 
nicht als eine Verworfene betrachtet. Ich habe fie lieb gewonnen, 
weil ich ihr Liebe zeigen fann, weil fie fich von mir ftreicheln 
läßt und dazu ebenfo freunplich knurrt, al3 ob fie eine reformirte 
Hand ftreicelte. Sie ift mir, was jo vielen Gefangenen eine 
Spinne oder eine Maus war. Nun wohl! der Umgang mit 
diejer Hape ift mir verboten worden. Meine Liebe zu dem Thiere 
ift katholiſch! Es ift die Liebe zu den unvernünftigen Thieren 
ohne Seele, der Anfang des Gögendienftes; jo hat der Thier: 
dienjt bei den Heiden begonnen, und die katholiſche Bilderver: 
ehrung, als Folge der Liebe zum Sinnlichen, iſt nichts al3 eine 
Fortfegung und ein Abglanz jenes Götzendienſtes. Meine Liebe 
zur Rage war alfo fatholifh. Es ift unglaublid, mit aller Phan: 
tafie würde man e3 nicht errathen, in welchen Dingen allen 
Madame Planteamour Katholizismus wittert .... 

P. 8. So eben ift mir Miltons „verlorenes Paradies”, das 
Sie mir vor einigen Tagen fchidten, fonfiszirt worden; Miltons, 
de3 frommen puritanifhen Dichters frommes Gedicht. Es iſt 
Poeſie, es ift weltlich — vielleicht ſogar katholiſch? 


Genf, den 21. Februar 1704. 

Ich beſchwöre Sie, mein lieber Freund, beunruhigen Sie 
meinen Vater nicht meinetwegen, bedrängen Sie ihn nicht, 
machen Sie ihm keine Vorwürfe! Er kann nichts für mich thun, 
er hat ſeine ganze Gewalt über mich in die Hände der bewußten 
Herren und der Madame Planteamour niedergelegt; er hat ſich 
ſchriftlich verpflichtet, ſie in Allem, was meine Bekehrung be— 
trifft, volllommen frei gewähren zu laſſen, feinen Widerſpruch 
zu erheben und alle Mittel gut zu heißen, die man al3 an: 


96 Novellen. 


gemefjen erachtet. Berurtheilen Sie ihn nit. Ich habe Ihnen, 
mein theurer Freund, ein Geſtändniß abzulegen, Sie in ein Ge: 
beimniß einzumweihen. Ich bin es Ihnen ſchuldig, einmal meines 
Vaters wegen, daß Sie feine Handlungsweiſe nicht zu hart be: 
urtbeilen, dann meil ich Ihnen überhaupt. alle8 Vertrauen 
ihuldig bin. Ich muß mich kurz fallen, ich muß mich beeilen, 
bevor die Nacht in mein immer dämmeriges Zimmer bereinbricht 
und bevor Madame Blanteamour von ihrem nacdhmittägigen 
Beſuche zurüdkehrt. Da mir fo wenig Zeit übrig bleibt, müſſen 
Sie fih zu dem, was ich Ihnen zu jagen habe, Vieles hinzu: 
denken, und Sie thun mir damit einen Gefallen, da Sie mir 
das Ausſprechen jehr peinlicher Dinge erjparen. 

Bor Allem: mein Vater ift nicht immer zurechnungsfähig ; 
man würde ihm Unrecht thbun, wollte man ihn für Alles, was 
er thut oder unterläßt, verantwortlih machen. Sein Geift ift 
dur eine Reihe Außerer und innerer Erlebnifje bis zu einem 
gewiflen Grade zerrüttet. Seine Bekehrungsgeſchichte ijt nicht 
fo, wie man fich diefelbe in Mont:Tabor erzählte; nein, fte ift 
leider anders. 

Mein Vater gehört einer in Vermögensverhältniſſen herab: 
gelommenen Familie an; um diejer neuen Glanz zu geben und 
von Ehrgeiz getrieben, verließ er Modena, um in Piemont, das 
fich feit einer Reihe von Jahren bedeutend zu erheben begann, 
Dienfte zu nehmen. Obwohl ziemlich gleichgültig in Glaubens: 
ſachen, ſchloß er jih, um deſto rafcher zu feinem Ziele zu ges 
langen, der mächtigen Partei der Geiftlichfeit an. Er befam in 
ber That auch bald eine gute Stellung, als eine Art von Statt: 
halter des Thales von Aoſta. Wir, meine Mutter und ich, wir 
waren glüdlic in diefem reizenden Thale und hätten gewünſcht, 
e3 nie verlaffen zu müſſen. Nicht fo mein Vater, Er blieb mit 
Regierung und Geiftlichkeit in Turin in bejtändiger und inniger 
Verbindung, nur den Moment abwartend, wo er Unterpfänder 
jeiner Treue und Fähigkeit liefern fönnte, um dann deſto rafcher 
emporzulommen. Der Moment lieb leider nicht lange auf fich 


Gräfin Safjari. 97 


warten. Es brad eine jener unruhigen Bewegungen in den 
Thälern der Waldenfer aus, melde manchmal die Folge uner- 
träglihen Drudes, manchmal von der fatholifchen Geiftlichkeit 
fünftlih bervorgebraht waren, um Vorwände zu neuer Ber: 
folgung der Keger zu haben. Bei meinem Vater wurde unter 
der Hand angefragt, ob er an der Spitze mehrerer Kompagnien 
al3 Kommiffär der Regierung fih in die Thäler der Waldenfer 
begeben und dafelbft jo walten wolle, wie man ihm vorjchreiben 
werde? Schon auf die Anfrage hin eilte mein Vater nad) Turin 
und dort vor Allem zum Erzbifhof, um Verhaltungsbefehle ein: 
zubolen. Jh muß eilen mit meinem Berichte. Mein Vater 
wurde in die Thäler der Walvenfer gefhicdt. Die Unruhen wur: 
den unterbrüdt. Laſſen Sie mich nicht fagen, wie? Mein Vater 
war ein Verfolger, wie ihn die Inquiſition wünſchen fonnte, 
Nah Turin kehrte er mit einem traurigen Gefolge zurüd: mit 
vier ehrwürdigen Priejtern der unglüdlichen Sekte, mit vier 
Duldern in Feſſeln. Man ftempelte fie zu Rebellen und Hoc: 
verräthern und alle vier wurden in Zurin gehängt. Mein theu: 
rer Freund, das hat der Vater Ihrer Geliebten gethban, ein 
Mann, der nicht an die Sagungen der Fatholifhen Kirche und 
vielleicht noch weniger an die Schuld der vier Märtyrer glaubte. 
Gr bielt fi für ſtark genug, um ein Staatdmann zu fein, mie 
unzählige Andere, und ſich mit unzerftörbarer Ruhe des Ver: 
ftandes einem Syſteme anfcließen zu können, wie viele An: 
dere, Alles zu vermögen, was das Syftem und was die Carriere 
verlangt. Das Syſtem erfeßt bei den meijten Staat3männern 
und Beamten Italiens da3 Gemiffen und die Vernunft: er 
glaubte ein folder Staatsmann zu fein. Er war ed nit. Une 
glüdjeliger Weife mußte er in einer Sendung an demſelben 
Morgen, an welchem die vier Märtyrer hingerichtet wurden, die 
Stadt verlaffen und an dem Richtplage im entfcheidenden Mo: 
mente vorüberfommen. Seine Carriere war gemadt; er hatte 
dem Klerus die verlangten Opfer geliefert und er erhielt eine 
Stellung in Turin, die ihn dem Throne nahe brachte und meite 
Morig Hartmann, Werke VI. T 


98 Novellen. 


ftolze Ausfichten eröffnete. Ach, e3 war ihm damit nicht ge 
bolfen. Er vergaß die Verfolgungen, die er über die Thäler der 
Waldenſer hatte ergehen lafjen, und den Tod der vier Märtyrer 
nicht wieder. Wozu Ihnen einen grauenvollen Seelenzujtand 
ihildern und Ihnen erzählen, wie meine Mutter an den Thaten 
ihres Gatten, den fie geliebt hatte, und an feinem Anblid zu 
Grunde ging. Sie jtarb nod) jung, und ermägend, daß Der: 
jenige oder vielmehr Diejenige, die nunmehr beftimmt war, ihn 
zu tröften, fein Arzt zu fein, daß ich das Uebel fennen mußte, 
an dem er frankte, weihte fie mich in das Geheimniß ein, in 
das Geheimniß feiner Gewifjensbiffe und feiner ſchauderhaft ver: 
brachten Tage und Nächte. Er verſank immer mehr in fich jel- 
ber, in ein Brüten, welches nichtS anderes war, als ein Suchen 
des Heiles oder vielmehr jeiner Heilung. Dieſe fonnte er un: 
möglih in einer Kirche finden, die ihn zu feinem Verbrechen 
bewogen hatte, und er floh aus einer Religion, in deren Schooß 
ih font Sünder und Verbrecher zu flüchten pflegen. Die 
Logik jolher Gemüthskranken ift ſehr eigenthümlih. Gerade 
was in der calviniftiihen Religion am meiften abftoßen muß, 
z0g ihn am Stärfiten an. Die Verdammniß, die er, nach ver 
calviniftiihen Lehre, mit der ungeheuren Mehrheit des Menjcen: 
geſchlechtes zu theilen hatte, verlor für ihn einen großen Theil 
ihrer Schreden; er fonnte aber auch, nad eben viejer Lehre, 
einer der wenigen Auserwählten und troß feines ungeheuren 
Verbrechens gerettet jein. Dieß machte ihn zum Calviniſten. — 
Ich muß eilen, die Dunkelheit nimmt immer mehr zu. — Er 
fühlte jich vernichtet und gedemüthigt, als er merkte, daß ich, 
von meiner Mutter unterrichtet, um feinen Seelenzuftand und 
jeine Verbrechen wußte. Er fürdtete dadurch fein Kind zu ver: 
lieren und ich mußte ihn beruhigen, indem ich ihm ſchwor, ihm 
immer eine gehorjame Tochter zu fein. Leider habe ich feinen - 
Seelenzuftand für einen Augenblid vergeſſen, an jenem Tage, 
als Sie mich und meine Bilder vor den Kamiſarden erretteten. 
Sie werden aber, nad diefen Mittheilungen, künftig Manches 


Gräfin Safari. 99 


an mir und meinem Vater bejler verftehen. Sie werden nun 
begreifen, warum er ſich jelbit, gewiſſermaßen mit gebundenen 
Händen, den caloiniftischen Fanatikern, die übrigens feine Ge: 
Ihichte Fennen, bingibt und warum er, abgejehen von feinem 
Eifer, auch mich jo dringend zu befehren ſucht. Er möchte, fo 
weit es ihm möglich, den der römiſchen Kirche feindlichen Reli: 
gionen gewiſſermaßen Erſatz liefern für Das, was er an ven 
Waldenſern gethan. Religion und Gewiſſen find bei diefer Illu— 
fion gleich betheiligt. Darum aber glauben Sie ja nicht, daß ver 
mweltlihe, Kluge Mann, als welcher mein Vater feine Laufbahn 
begonnen, in ihm gänzlich erftorben jei; er fommt noch manch— 
mal zum Vorſchein, und dieß rechtfertigt mein etwas hartes Be: 
nehmen, das ich mir damals zu Schulden fommen ließ, als er 
mich an die Nüglichkeit einer Belehrung erinnerte. Sie werden 
nun auch verftehen, mein Freund, warum ich in meinem Ge: 
horſam vielleicht weiter gehe und in meiner Fügſamkeit, al3 es 
fonft die Pflicht geböte; warum ich Vieles ertrage, das ich ſonſt 
nicht ertragen würde. Aber glauben Sie nicht, daß ich mit all: 
dem vergefjen werde, was ich mir felbjt ſchuldig bin. 

Alſo, mein lieber Freund — ich wiederhole die Bitte, mit 
der ich begonnen — beunruhigen Sie meinen Vater niht — 
er kann nichts thun — ich bin feiner Gewalt entzogen — es iſt 
dunkle Nacht. Gute Nacht. 

. ... Mär; 

.... Frau Planteamour glaubt jet, meine Verftodtheit habe 
ihre Urſache im Fleiſche; ich müßte mich fafteien, um zur Erkennt: 
niß durchdringen zu können. Sie läßt mich förmlich falten. Mein 
Leib foll von aller Weltlichkeit gefäubert und damit auch in meiner 
Seele aufgeräumt werben; wenn ſich dann das Bedürfniß nad 
dem Himmel einftellt, ift fie da, um mir die Wege dahin zu zeigen. 
Sie würden gut thun, mein lieber Freund, mir künftig durch 
Giorgio anftatt der Bücher einiges Brod oder irgend melde 
Nahrungsmittel zufteden zu laffen. Der gute Giorgio, glauben 
Sie ihm nicht, daß ich fo ſchlecht ausfehe, er fieht mich mit den 


100 Novellen. 


Augen der Beſorgniß. Ich bin allerdings etwas blaß geworden, 
aber das fommt nur von den lichtleeren Räumen, in denen ich 
meine Tage verbringe. Madame PBlanteamour führt mich jegt 
nur äußerft felten in die Luft und überhaupt aus dem Haufe, 
Des Abends muß ich fie manchmal in Konventifel begleiten, in 
denen ich mic auf das Graufamfte langweile. Ich höre da ewig 
dafielbe und ich begreife in der That diefe Menfchen nicht, wie 
fie bei diefer Einförmigkeit ihrer Gedanken beftehen und darauf 
noch Stolz fein können ..... 


Ende März .... 

Alfo Sie, mein Freund, find vor mir ſchwach geworden ? 
Sie rathen mir, nachzugeben? Ich ſoll eine Förmlichkeit erfüllen, 
die mich nicht hindert, in meinem Innern zu bleiben, was ich 
will? Seien Sie ruhig, mein theurer Freund, ich made Ihnen 
feine Vorwürfe. Wären Sie im Gefängniß, wüßte ich Sie von 
Inquifitoren umgeben, von der ungeheuerften Langeweile belagert, 
fo vielen Quälereien und Demüthigungen ausgefegt, dann wäre 
ich wohl eben jo ſchwach, Ihnen Aehnliches zu rathen. Ich brauche 
Shnen wohl nicht zu jagen, daß man nicht mehr ift, mas man 
fein will, nachdem man ſelbſt nur eine Förmlichkeit erfüllt hat, 
die mit unferm Weſen im Widerſpruch ift. Jedes Greigniß, jede 
That, der wir und mit dem legten Rejte des freien Willens fügen, 
wird ein Tyrann unferer ganzen Zukunft, den wir nicht zu ftürzen 
im Stande find. Man kann Vieles fühnen, man fann ein ge 
ftörtes Gleihgewicht wieder herjtellen, aber man kann Nichts ver: 
wifchen. Und feien wir froh damit; welche finnlofe Mofaif wäre 
unfer ganzes Leben, wenn mir vergeflen könnten. Gie fagen: 
Form! Allerdings, es gibt abgeftorbene Formen, die man vers 
achten muß, aber andere haben noch einen lebendigen Inhalt 
und man fann fich über fie nicht hinwegfegen, ohne fi an fich 
jelbft und an der Welt zu verfündigen. Indeſſen ift es das nicht 
allein, was mich abhält, mich gefälliger zu zeigen; es ift Etwas, 
was viel ftärker ift al3 al’ mein Nachdenken, als meine Ueber: 


Gräfin Safari. 101 


zeugungen, als mein Stolz und mein Charakter. Ich bin eine 
Stalienerin, und als folhe habe ich der Religion gegenüber das 
Gefühl, dag, wie ich glaube, die orientalifhen Völker beherrſcht, 
bei denen Religion und Nation eins und daffelbe find, in einander 
verſchwimmen und nicht getrennt werden können. Wie ungläubig 
ih auch bin, fo fann ich mir doch diefes Stalien ohne feine Kirchen, 
ohne feine Giotto, Fra Beato, Brunelleshi, Leonardo, Raphael, 
Michel Angelo, Andrea del Sarto nicht denfen und ohne die 
ganze Gefchichte, die mit Italiens Paläſten, mit feinen Kirchen, 
Dichtern und Künftlern zufammenhängt. Wenn ich mich mir 
jelber fromm vorftelle, fo denke ih mir auch, daß ich mich in 
meinem Kummer fo recht nur in einer italienischen Kirche aus—⸗ 
weinen und nur beim Anblid diefer Bilder, die von den Wänden 
auf mich niederfehen, aus Herzensgrund ausbeten und tröften 
fönnte. Es ift das Alles mit einem italienischen Herzen als ein 
Theil des Nationalgefühles, als ein Familiengefühl verwachſen, 
und eine Trennung von dem Allen wäre mir wie Felonie und 
ein Uebergang aus dem Dom von Pifa oder aus der Kathedrale 
von Parma in einen leeren, weiß angeftrichenen Tempel, märe 
mir wie ein Losfagen von aller Schönheit und wie eine Ver: 
böhnung meiner ganzen Jugend. Glauben Sie mir, wenn der 
Staliener von Sinn und Gefühl nicht in eine der weiter vorge: 
ſchrittenen Kirchen übergeht, fo ift das bei ihm nicht ein Zeichen 
mangelhafter Erfenntniß. Ich will nicht fagen, daß das Land, 
welches die Campanella und die Galilei hervorgebracht hat, ewig 
in dem Glauben verharren werde, der ihm vor taufend Jahren 
zurecht gemacht worden, aber ich glaube allerdings, daß, fo lange 
jene Zeiten, die fo Großes und Schönes gefchaffen, unfere ſchön— 
ften Beiten find, fich ein italienifches Herz von Allem, was mit 
ihnen verwachjen ift, alfo auch von der katholiſchen Kirche ſchwer 
trennen wird. Ein ungläubiger Katholif Italiens, dem die Un: 
fehlbarkeit des Papftes, überhaupt die Dogmen der römifchen 
Kirche nichts find, verläßt trogdem, wenn er die römische Kirche 
verläßt und in eine der proteftantifchen eintritt, fehr viel, ohne 


102 Novellen. 


etwas dafür zu gewinnen. Wer über die katholiſchen Dogmen 
durch eigenes Nachdenken hinausgefommen ift, der ijt auch über 
die protejtantifchen hinausgegangen. Der Einzelne, der ji refor: 
mirt, bleibt nicht auf halbem Wege ftehen, wo die Maſſen, von 
Predigern geführt, ftehen bleiben. Er begeht eine größere Lüge, 
indem er fich für eine andere Kirche erklärt, als wenn er in der 
angeborenen bleibt, für die er nicht verantwortlich ift. Die refor: 
mirten Kirchen werden darum immer weniger Bekehrungen machen, 
al3 die fatholifhe, wenn nicht wieder politifche Gründe die Maſſen 
in Bewegung fegen und fie ihnen entgegentreiben. Die katholiſche 
bingegen wird immer neue Bekehrte aufnehmen, weil Derjenige, 
der Glaubensbedürfniſſe hat, dahin geht, wo fie am ſtärkſten be: 
friedigt werden, 

Lachen Sie nicht, daß ich Ahnen wie ein Doktor ſpreche und 
gewiß Altbefanntes wiederhole. Mein Geift wie mein Herz find 
jeit einem Jahre durch meine Lage zu fehr aufgeforbert, ſich mit 
diefen Dingen zu beſchäftigen, und e3 ift natürlich, daß ih Ihnen 
bei diejer Gelegenheit meine ungefähre Meinung fage, daß ich 
Ihnen andeute, aus wie vielen Gründen es mir unmöglich ift, 
ein Wort auszuſprechen, das mich von vielen Quälereien befreien 
und mich zu Ihrer Gattin machen würde. Ich weiß es, wie un: 
dankbar meine Verftodtheit ift, wie geringe Früchte fie ſelbſt 
meiner Citelfeit tragen kann, da ich dem einen Olauben wider: 
ftehe, ohne die Märtyrerin des andern zu fein. Niemand dankt 
mir mein Benehmen, bei Vielen erwedt es Haß, mich ſelbſt kann 
e3 zu Grunde richten und bringt e8 um mein Glück; aber mas 
ift zu tun? Sagen Sie mir wenigſtens, daß ich Recht habe. 

Ihre treue Maria. 


+ April .... 
Ich habe Sie auf der Treppe gehört, ich habe Ihre Stimme 
erkannt, mein lieber Freund; ich konnte nicht zu Ihnen eilen, da 
man in dem Augenblicke, als Sie im Hauſe erſchienen, einen 
Riegel vor meine Thür ſchob und ich gefangen war. Ich weinte 


Gräfin Safari. 103 


vor Sehnſucht nah Ihnen und vor Ingrimm während des ganzen 
Lärmens auf der Treppe. Ich erfuhr dann von einer Dienftmagd, 
die mir einige Freundichaft zeigt, daß Sie gefommen find, um 
mich zu befreien. Laſſen Sie ab, mein Freund, von diefen Bei: 
ſuchen, fie tragen nur dazu bei, mein Loos zu verichlimmern. 
Dit finde ich jegt den Niegel vor meine Thüre gefchoben ; meine 
Diät wird immer ftrenger, Herr Beflon fommt nicht mehr, um 
mich zu unterrichten; nicht mehr die Ueberredung — die Gewalt, 
die Ermüdung foll mich befebren. Der arme Giorgio, der mit 
Ihnen auf der Treppe war, iſt, mie id) von der Dienftmagd höre, 
im Gefängniß. Sie wird dafür jorgen, daß dieje Zeilen, die ich 
in Haft fehreibe, an Sie gelangen. Thun Sie um Gottes Willen 
Alles, um Giorgio zu befreien ; leider ift er Unterthan des Kai: 
ſers, und diejer hat feinen Agenten bier. Zu mir wird man 
ihn auf feinen Fall mehr lafjen, und ich weiß nicht, wie lange 
unfer Briefwechfel noch dauern wird, — Noch Eins: Der Syndik 
bat der Madame Planteamour einen Mann vors Haus geltellt, 
der e8 überwachen und die Schaarwache benachrichtigen fol, jo: 
bald ein Verſuch zu meiner Befreiung gemacht wird. Madame 
Planteamour ift die Schwägerin des Syndik. — Nod Etwas: 
Sie ſagte mir, daß ich jeden Gedanken an Flucht aufgeben jolle; 
man fenne mich an allen Thoren, und bei diefer Gelegenheit er: 
fuhr ih, daß fie mich zu wiederholten Malen dur ſämmtliche 
Stabtthore geführt, nur um mich den Thorwächtern zu zeigen, 
damit mich diefe im Falle einer Flucht erkennen und aufhalten. 
Sie jagte e3 mir übrigens rund heraus, daf jeder derartige Ver: 
ſuch von meiner oder von anderer Seite meinem Schidjale nur 
eine traurige Wendung geben könne, 


.... Ende April .... 
Jetzt, mein Freund, iſt es Zeit. Ich gebe Ihnen Vollmacht, 
thun Sie Alles, was Sie können, um mich zu befreien. Haben 
Sie keine Rückſicht mehr, auch nicht für meinen Vater. In dieſen 
Wochen, in denen unſer Briefwechſel unterbrochen war, habe ich 


104 Novellen. 


das Schlimmfte erfahren, und ich befinde mich in einer ſchmach—⸗ 
vollen Lage. Madame Planteamour hat mehrere verlorene Ge: 
Ihöpfe in der Straße aufgegriffen, und dieſe bilden jet meine 
einzige Geſellſchaft. Ich werde von ihnen als ihreögleichen be 
bandelt, aber von Madame Planteamour al3 tief unter ihnen 
ftehend, denn fie geben alle möglichen Veriprehungen, die man 
von ihnen verlangt, und lafjen fie neue Triumphe hoffen. Sie 
genießen innerhalb des Haufes die größte Freiheit, während ich 
fortwährend mie eine Gefangene gehalten und von ihnen und 
ber Dame des Haufes zu Dienftleiftungen gezwungen werde. Es 
ift mir ein widerwärtiger Anblid, wie dieſe Mädchen eine jämmer: 
lihe Komödie fpielen, und wie fi die fromme Dame gerne 
täufchen läßt.... Ich höre und jehe Dinge, die mich vor mir 
jelbjt entwürdigen. Und doch muß ich mich auf die Barmbherzig- 
feit einer diefer Perſonen ftügen, um Ihnen dieſe Zeilen zu— 
fommen zu laſſen. Sie ijt wahrlich befler al3 Madame Plante: 
amour und bat e3 zum Theil aus Güte, zum Theil aus Luft, 
ihre Befehrerin zu betrügen, übernommen, einen Boten und eine 
Gelegenheit ausfindig zu machen. Leben Sie wohl. Ich ſchäme 
mich, Ihnen ausführlicher zu jagen, was mich beftimmt, Eie 
zum Neußerften, jelbit zur Gewalt und zur offenen Empörung 
gegen Ihren Vater aufzufordern. 


Diefer legte Brief kam Herrn Elie de Chatelard erſt jpät zur, 
denn e3 waren viele Tage vergangen, bis jenes liederliche Frauen: 
zimmer durch einen ihrer Freunde, einen Schiffer aus dem Hafen 
Genfs, den Brief nah Nyon fchiden fonnte. Dort, nah der 
Verabredung, die ich mit Herrn Elie de Chatelard getroffen hatte, 
fing ich ihn auf, und darauf verging wieder eine geraume Zeit, 
bis ih den Aufenthalt des jungen Herrn in Genf ausfindig 
machen konnte. Herr Elie de Chatelard hatte nämlich das Haus 
feines Vaters, mit dem er ſich gänzlich überworfen hatte, feit 
einigen Wochen verlaffen und fich in Genf angefiebelt, um feiner 


Gräfin Safari. 105 


Geliebten nahe zu fein. Er wohnte in dieſer Stadt mit Giorgio, 
den er aus dem Gefängniß befreit hatte, der ſich aber verbergen 
mußte, weil ihm der Aufenthalt auf dem Gebiete Genfs verboten 
war. Manchmal, wenn er Entdedung befürchtete, begab ſich 
Giorgio nah Carouge auf ſavoyiſches Gebiet. Herr Clie de, 
Chatelard, als ich ihm die Zeilen der Gräfin Saflari überbradhte, 
gerieth außer ſich und brach bald in Wuth, bald in Thränen aus. 
In der jetigen Lage feiner Geliebten hätte er vielleicht auf die 
Hülfe des alten Grafen hoffen und ihn bewegen fünnen, fein 
väterliches Anjehen wieder zu ergreifen, um feine Tochter aus 
der jhmählichen Umgebung, aus den Demüthigungen, mit denen 
man fie erbrüdte, zu befreien; aber er war ferne. Man hatte 
ihn in einer Sendung religiöjen Charafters an die Freunde in den 
Niederlanden und in Schottland auf Reifen geſchickt. Was mich 
betrifft, ih glaube nicht, daß der Graf Saflari von einigem 
Nuten geweſen wäre, denn feit der Abweſenheit feiner Tochter 
hatte er jeden Willen und jede Selbitändigfeit verloren, ja ich 
glaube, daß fein Geiſt jede Fähigkeit zu irgend welchem Entſchluſſe 
eingebüßt hatte. Wenn ihn die Herren ouc immer mit einer ges 
mwiffen Nüdficht behandelten, jo gaben fi doch die Diener auf 
Mont: Tabor mit Acfelzuden und halben Worten zu verftehen, 
daß Herr Graf Saflari feines DVerftandes nicht immer mächtig 
fei; und fein Umberirren während der Nacht, fein Tage lang 
andauernder tiefer Trübfinn, in dem er fein Wort hervorbrachte, 
ſchienen das zu beftätigen. Aber das gehört nicht hieber. 

Herr Elie de Chatelard eilte fogleich in das Haus der Ma- 
dame Planteamour, entſchloſſen, um jeden Preis bis zu jeiner 
Geliebten vorzudringen und fie wo möglich fogleich aus dem Ge: 
fängnifje zu befreien. Zu feinem Erftaunen fand er jeßt die 
Thüren offen und das Haus in allen Theilen zugänglih. Madame 
de Planteamour war ausgegangen und er traf nur jene Perjonen, 
die ihm Fräulein Saflari befhrieben hatte. Diefe fagten ihm fos 
gleih, daß Fräulein Saffari vor mehreren Tagen aus dem Haufe 
fortgebraht worden, aber fie fonnten nicht fagen, wohin, mie 


106 Novellen. 


jehr fie es auch offenbar gewünfcht hätten, Madame Planteamour 
zu verrathen. Indeſſen erinnerte fich eine derfelben und zwar 
diefelbe, weldhe den Brief beforgt hatte, daß Fräulein Safari 
höchſt wahrfcheinlih über den Sce gebracht worden, venn fie 
- hatte Tags vorher denfelben Schiffer am Haufe gefehen, dem fie 
den Brief übergeben. Darauf bin holte mich Herr Elie an der 
Kathedrale ab, wo ich ihn erwartete, und mir gingen zufammen 
binab an den Hafen. Ich erfannte fogleich den Schiffer, und für 
ein gutes Geſchenk erzählte er bereitwillig, daß er in feinem 
Kahne vor ungefähr acht Tagen, und während der Nacht, ein 
Fräulein, das von mehreren Männern begleitet war, über ven 
See nah Nyon gebradht habe. Ich aber wußte, daß Gräfin 
Sajlari nit auf Mont: Tabor und nicht im Schloffe des Bailly 
fi befand, und Herr Elie gerieth aufs Neue außer fih, als ihn 
der Gedanke überfiel, daß fie jich nirgends anderswo, als in 
jenem Haufe ver Büßerinnen befinden fonnte, welches die From— 
men ganz in der Nähe von Nyon erbaut hatten. Er gab mir den 
Abſchied und begab fich fogleih nad Carouge, um Giorgio, der 
fih eben dort befand, aufzuſuchen, da e3 möglich war, daß er 
feiner Hülfe bedurfte, und da er fih auf ihn in Allem verlafien 
fonnte, wenn e3 fih um die Befreiung der Gräfin handelte, 
Diefer Gang nad Carouge war für den armen jungen Herrn 
verhängnißvoll. Bevor ich aber dieß erzähle, muß ich hier ein: 
ichalten, was ich fpäter erfahren habe. Madame Planteamour, 
jowie die frommen Herren und die Syndiks von Genf waren wegen 
der Angelegenheit ver Gräfin Saſſari bejorgt geworden. Giorgio 
hatte in Carouge erzählt, was vorging ; außerdem hatte die Geiſt— 
lichkeit dafelbft bereits erfahren, daß man in Genf eine katholiſche 
junge Dame conficirte und zum Uebertritt zwingen wolle. Die 
Regierung von Savoyen hatte ſchon mehrere Male angefragt und 
jogar gedroht. Genf ift ein Kleiner Staat und von Katholiken 
umgeben, die Syndiks befürchteten große Berlegenheiten und 
tbeilten ihre Befürchtungen der Madame Planteamour mit, und 
in Folge deſſen beſchloß man, Fräulein Safari auf Berner Land 


Gräfin Safari. 107 


zu bringen, weil Savoyen nicht den Muth hatte, ſich mit den 
Berner allmächtigen Herren zu entzweien. Dieb ift die Urfache, 
warum Fräulein Saſſari in das Haus der Büßerinnen nah Nyon 
gebracht wurde. 

Herr Elie de Chatelard fand Georgio zu Carouge in einer 
Weinſchenke, aber er fand dort in feiner Gefellichaft noch einen 
Anderen, einen merkwürdigen Mann, vor dem damals die ganze 
Gegend zitterte, und deſſen ſich die Herren von Genf, die er zu 
Tode Ärgerte, gerne bemädhtigt hätten. Es war dieß der Seigneur 
von Copponer, ein ſavoyiſcher Edelmann, der zwar nur geringes, 
jehr geringes Vermögen, aber ein altes Schloß mit wenigen Län- 
dereien hatte, und welder fih aus alten Zeiten beinahe ganz 
unabhängige Souveränitätsrechte bewahrt hatte. Es gab damals 
nody mehrere jolde Herren an den Gränzen zwijchen Savoyen 
und Frankreich. Seigneur de Copponer hielt treu zum Haufe 
Savoyen, jeine Familie zeichnete fib immer im Kriegsdienſte 
aus; dag Haus Savoyen beſchränkte darum jeine Rechte nicht 
und ließ ihn gerne gewähren, weil er vorzugsweije die Republik 
Genf beläftigte. Seit vielen Jahren führte er gegen Genf einen 
Krieg, wie ihn ehemals die Löffelritter gegen Genf geführt hatten. 
Gr beläftigte fortwährend die Gränzwachen, griff das Genfer Ge: 
biet auf den verſchiedenſten Punkten an, plünderte die Lanphäufer 
und Güter der Syndiks und der Adeligen und zog ſich dann auf 
jein Schloß zurüd, wo er fiber war, da ihn die Genfer dafelbit 
nicht angreifen fonnten, ohne javoyifches Gebiet zu verlegen. 
Am Furchtbarſten war er und die fühnften Thaten führte er aus, 
wenn die Genfer Herren einen Preis auf feinen Kopf jegten. 
Dann erſchien er plöglich in der Stadt jelbit, ſtahl irgend etwas, 
3. B. irgend ein Wappen oder eine Fahne vom Haufe eines 
Syndik, malträtirte irgend einen Beamten, dem er begegnete, 
und war wieder verfchwunden, bevor die Schaarwache gerufen 
werden fonnte. Der Seigneur de Copponer war übrigens in der 
Umgegend ſehr beliebt, da er felten einem feiner Landsleute etwas 
zu Leide that, im Gegentheil immer mit feiner Hülfe bereit war, 


108 Novellen. 


wenn Jemand Unrecht geſchah. Er mwollte ein Ritter aus alter 
Zeit fein, der überall das Unrecht befämpft und den Berfolgten 
zu Hülfe kommt. Nur in Genf war er verrufen, aber jelbit da 
beim nievern Volke beliebt, und man behauptete, daß er bei 
feinen Streichen gegen die Syndiks von Genfern unterjtüßt werde, 
freilich nur von den Habitant3, nicht von den Bourgeois, denn 
damals begannen ſchon die Bewegungen der Habitant3 gegen die 
Regierung von Genf. Man fagte auch vom Geigneur de Cop- 
poner, daß er einen unvergleihlihen Muth befite und vor feiner 
Unternehmung erfchrede. Er war zwar zu arm, um ſich ein Ge 
folge, eine Heine Armee zu bezahlen, aber jo oft er etwas unter: 
nehmen wollte, fand er an den Gränzen und in Genf jelbft immer 
unbefchäftigte Leute genug, die fih ihm anſchloſſen und die zu 
Allem bereit waren. Diefen Seigneur de Copponer fand Herr 
Glie de Chatelard zu Carouge, wie er eben dem Giorgio zu trins 
fen gab und ſich von ihm die Gefhichte der Gräfin Saſſari er 
zählen ließ. Elie hatte ihn nie gefehen, er hatte von ihm immer 
nur wie von einem NRaufbold, einem rohen Gefellen, wie von 
einer Art Räuber fprechen hören, und er machte ihm beim erjten 
Anblid, wie er an dem Tiſch der Schenke vor dem Weine dafaß, 
auch einen Eindrud, der mit dem Gehörten übereinfti 
Gefiht und Stirn waren von mehreren Narben entjtellt, 
einer diden Haut überzogen und wettergebräunt; feine Kleide 
bie und da geflidt und im Ganzen vernadhläfligt. Ein großer, 
breiter Degen mit eifernem Griff hing an feiner Seite und im 
Gürtel trug er zwei gewaltige deutſche Reiterpiftolen. Aber fo: 
bald ihm der Name Elie's von Giorgio genannt wurde, und er 
fich erhob, um ihm zu begrüßen, verwandelte ſich fein ganzes 
Weſen. Er war mit einem Male ein anmuthiger Edelmann von 
den feinjten Manieren, und wie er Elie einlud, mit ihm ein 
Glad Wein zu nehmen, vergaß diefer, daß er fih in einer 
Ihmugigen Schenke befand, und glaubte der Gaft eines großen 
Herrn zu fein. Ich weiß es nicht, welcher von Beiden das Ge: 
ſpräch auf das Schidjal der Gräfin Maria brachte; wahrjchein: 







Gräfin Safari. 109 


lih war e3 der Herr de Copponer, da Herr Elie de Chatelard 
nicht mittheilfjamer Natur war. Vielleicht aber hatte doch dieſer 
von einer Sahe zu ſprechen begonnen, von der ihm eben das 
Herz jo voll war. Auf welche Weije die beiden einander jo un: 
ähnlichen Edelleute Bundesgenofjen geworden, bin ich außer 
Stande zu erzählen. Der arme Elie war in fo trauriger Lage 
und fo verzweifelt, daß er gerne jede Hülfe annahm, die fi ihm 
bot, und der Geigneyr de Gopponer machte ihm den Antrag, 
feine Geliebte auf jeden FZal und mit Gewalt aus den Händen 
der Feinde befreien zu wollen. Er war ganz Feuer und Flamme, 
al3 er von Elie genauer unterrichtet wurde, und feine Begeijterung 
gewann ihm deſſen ganzes Vertrauen. Copponer hatte eben feine 
Leute zur Verfügung; aber er verſprach, in wenigen Tagen mit 
einer entſchloſſenen Schaar in Nyon zu erjcheinen ; Elie folle ihn 
dann nur dort erwarten, und fie wollten den Streich gemein: 
Ichaftlich ausführen. Ich weiß nicht, welches die Abfichten Herrn 
Elie's waren und was er nad der Befreiung feiner Geliebten 
beginnen wollte. Er fam allein nad Nyon zurüd, Tieß Giorgio 
in Gejellihaft des Seigneur de Copponer und miethete fich im 
Drte ein, ohne nah Mont-Tabor zurüdzufehren, da er mit feinem 
Vater gänzlich entzweit war. Nur einmal im Geheimen fam er 
in das Landhaus, um auf feiner Stube Waffen zu holen. Ich 
weiß auch nicht, ob es zufällig oder ob eine Abficht dahinter ver: 
borgen mar, daß man in diefen Tagen eine Anzahl von Kami- 
farben in das Haus der Büßerinnen ſchickte und ihnen die Weber: 
wachung defjelben übergab. Sie zogen von unſerem Hofe nicht ab, 
ohne ihre Waffen mitzunehmen, und als Iſabeau fie in Waffen 
ſah, ftellte fie fih an ihre Spige und z0g, Pſalmen jingend, vor 
ihnen einher. Ich unterließ es nicht, Herrn Elie von all dem in 
Kenntniß zu fegen; er aber fagte, daß das Haus gejtürmt werden 
müfje, und wenn es von ganzen Armeen befegt wäre. 

In der Naht vom 1. auf den 2. Juni fam der Seigneur de 
GCopponer vom Jura ber in einem Thale hinter Nyon an. 
Giorgio holte Herrn Elie ab, und die beiden Evelleute, gefolgt 


110 Novellen. 


von Giorgio und ungefähr zwölf bis fünfzehn Männern, be: 
wegten ji dem Haufe der Büßerinnen entgegen. Diejes jtand 
in der Mitte eines Gartens, der von einer hohen Mauer einge- 
faßt war. Man war nicht darauf vorbereitet, hohe Mauern zu 
erflimmen, und rücdte daher geraden Weges auf das Thor log, 
um dieſes zu erbrehen, und dann in? Haus einzubringen. Der 
Seigneur de Copponer trat zuerft an das Gitterthor, rüttelte und 
zog die Glode, um den Pförtner auf ritterliche Weife zur Ergebung 
und Uebergabe des Haufes aufjufordern. Gleich darauf erjcholl 
eine andere Glode und in demjelben Augenblide erfchienen auf 
der Mauer mehrere Männer, die auf die Heine Schaar feuerten, 

„Das wird ernit,” rief der Seigneur de Copponer, drang 
jelbjt zuerjt in die Wohnung des Pförtners, deren Thür er ein- 
jtieß, und von da in den Hof. Ihm folgten feine Gefährten. 
Herr Elie de Chatelard hatte fich über die Mauer geſchwungen 
und eilte, ohne ſich um alle anderen Vorgänge zu fümmern, 
geraden Weges in das Haus. Während er über ven Hof lief, 
entjpann ſich daſelbſt ein heftiger Kampf zwifchen ven Leuten des 
Geigneur de Copponer und den Kamifarden, die, in großer 
Menge von allen Seiten herbeiftrömend, mit Hellebarben, Piken 
und Schwertern das kleine Häuflein der Abenteurer im Augen: 
blide zu erjtiden drohten. Seigneur de Copponer erkannte die 
Gefahr, erkannte, daß die ganze Unternehmung verrathen war, 
und da jchon zwei feiner Leute blutend am Boden lagen, gab er 
das Zeihen zum Rüdzug und führte fein Häuflein dur das 
Gitterthor, das er indefjen von innen geöffnet hatte, wieder ins 
Sreie. „Ma foi,“ fagte er, „fünfundadhtzig Sous wären für 
diefe armen Leute” — er meinte feine Angemworbenen — „ein 
viel zu geringer Preis bei einer verrathenen Unternehmung.“ 
Bor dem Haufe angelommen, zerftob die Schaar zwiſchen Heden 
und Feldern, und den Kamifarden, die ihnen, immer von Jia: 
beau geführt, nadhjagten, blieb nicht3 zu verfolgen übrig. Einen 
Pſalm anftimmend, als hätten fie ein heibnifches Heer vertilgt 
und die Ehre Gottes neu erhöht, kehrten fie auf ven Hof und 


Gräfin Safari. 111 


in das Haus zurüd. Sie glaubten Alles beendet, al3 ihnen aus 
dem Innern Geihrei und Lärm entgegentönte. Herr Clie de 
Chatelard, der ſich wohl früher nach Mancherlei erfundigt haben 
mochte, eilte geraden Weges auf eine große Stube im Haufe der 
Büßerinnen zu und erbrad) die Thüre. Er ftand in einem Saale, 
welcher von mehreren Betten eingenommen war, in denen ein« 
zelne Mädchen aufrecht ſaßen und ängjtli dem Lärme horchten, 
der aus dem Hofe herausprang. Er rief: „Maria!“ und feine 
Geliebte jprang ihm in demſelben Augenblide entgegen. Er hob 
fie auf feine Arme und eilte jogleich mit ihr zurücd über ven 
Gang und die Treppe hinab, als fih ihm ein ganzer Knäuel 
von Weibern und Männern entgegenwarf. Er konnte Marien 
nur noch mit einem Arme umjchlingen, während er fich mit dem 
Degen einen Weg zu bahnen juchte. Der Haufe ftob wohl aus: 
einander, wo er ihm feinen Degen entgegenftredte; aber vie 
Weiber Eammerten fih an Marien und zerrten an ihr, um fie 
von Elie loszureißen. Trotzdem fonnte Elie bis an die Thüre 
de3 Haufes vordringen. Aber er hatte dazu viel Zeit gebraucht, 
und noch bevor er die Schwelle überfchreiten fonnte, famen vie 
Kamifarden triumphirend und Pſalmen fingend zurüd. Iſabeau, 
die, mit einer Fadel in der Hand, an ihrer Spige ftand, er: 
fannte zuerjt Elie und Maria, und mit dem Rufe: „Hier find 
die Sünder!“ ftürzte fie fih auf Marien mit folder Gewalt, daß 
jie diefe und Elie zugleich nievderriß. Aber Elie gab darum ven 
Kampf noh nicht auf. Er erhob ſich rajch, und mit der einen 
Hand rüdwärt greifend, erfaßte er den ftruppigen Kopf ber 
Prophetin, die er jo von Marien losriß, und drang er mit der 
Rechten, die immer noch den Degen hielt, auf die Kamiſarden ein. 
Der Vorderſte taumelte, am Halfe verwundet, zu Boden, aber in 
demfelben Momente fielen die langen Hellebarden der Kamifarden 
auf Elie'3 Kopf nieder, und er ſank unter der Menge ver Hiebe. 

Der Angriff auf das Haus der Büßerinnen, das Gloden: 
läuten dafelbit, der ganze Lärm des Kampfes, das Gefchrei und 
die Gejänge der Kamifarden hatten den Flecken gemwedt. Alles 


112 Novellen. 


ftrömte dem Haufe der Büßerinnen zu, und unter der Menge auch 
einige Diener von Mont: Tabor und endlich auch die Wache des 
Schloſſes, die der Bailly abgefhidt hatte. Die Diener erkannten 
ihren jungen Herrn und hoben ihn auf, um ihn in das väterliche 
Haus zu fragen; aber dem mwiberfegten fich die Trabanten des 
Bailly, und erlaubten ihnen nur, bei ihm zu bleiben, bis fie ihn 
ins Gefängniß des Schlofjes gebraht. Denn fie hatten Befehl, 
Alles zu verhaften, was an dem nächtlichen Angriff Theil genommen. 

Am folgenden Morgen kam Herr von Wattewyl, der Bailly 
von Nyon, nad) Mont:Tabor, um Herrn de Chatelard perfönlich 
Bericht zu erjtatten und ihm zu fagen, daß ſich fein Sohn ſchwer 
verwundet im Gefängniſſe des Schlofles befinde. Er habe Be: 
mwaffnete und Fremde zu einem räuberijhen Angriffe auf Berner 
Gebiet geführt, und fünne, wenn er mit dem Leben davon 
fomme, ſowohl als gemeiner Räuber, wie als Rebell, Hoc: und 
Landesverräther behandelt werden, je nad dem weiſen Ermefjen 
der großmächtigen Herren von Bern. Herr de Chatelarb er: 
mwiderte mit großer Ruhe: der Herr habe ihn ſchon einmal in 
feinen Kindern heimgeſucht; er ergebe fih zum zweiten Male 
ebenjo demüthig in den Willen des Herrn wie das erſte Mal. 
Gr jei nicht fo verwegen, der Weisheit der großmächtigen Herren 
von Bern irgend etwas vorzujchreiben over zu rathen. 

Ungefähr drei Wochen nad jener Naht glaubte man Herrn 
Glie de Chatelard ohne bejondere Gefahr für fein Leben nad 
Bern bringen zu können, um ihm daſelbſt jeinen Prozeß zu 
machen. Während des Prozefies, der auf Landesverrath und 
Aufruhr mit bewaffneter Hand lautete, erhielt Herr de Chatelard 
von den großmächtigen Herren von Bern eine Zufchrift, in welcher 
gejagt war, daß das Gericht gern bereit fei, feine Verdienſte und 
ven Adel feines Haufes zu berüdjichtigen und nad Vollendung 
des Prozeſſes dem Verbrecher jede Gnade angebeihen zu laſſen, 
die Herr de Chatelard ſelbſt verlangen werde. Herr de Chate: 
lard antwortete und zwar durch meine Hand, jo daß ich dieſe 
Antwort genau kenne und fie verbürgen kann: Herr Elie de 


Gräfin Saffari. 113 


Chatelard jei ein Nebell gegen die Herren des Landes und gegen 
die väterliche Autorität, und es fei leider anzunehmen, daß er, 
angeftedt von jener verftodten Papiſtin, Gräfin Maria Saſſari, 
fich auch gegen die reine Lehre Gottes empöre. Dieſe drei mon: 
ftröjen Verbrechen an göttlichen und menfchlichen Gejegen müßten 
gejtraft werden. Indeſſen bitte er die großmächtigen Herren als 
liebender Vater, feinem verirrten Sohne Zeit zur Neue und zur 
Umkehr zu geftatten und ihm demgemäß das Leben zu frijten. 
Er, Herr de Chatelard, werde die Anerbietung der Gnade wie 
ein foftbares Geſchenk für jene zufünftige Zeit aufbewahren und 
davon Gebraud machen, wenm fein Sohn, durch Leiden geläu: 
tert, folder Gnade würdig befunden werde. Auf diefe Antwort 
de3 Herrn de Chatelard wurde Elie zum Tode verurtheilt, dann 
begnadigt und in die Feſte Aarburg auf unbejtimmte Zeit in 
Haft gebracht. Die Haft dauerte nur drei Jahre, Herr Elie de 
Chatelard, der, frank und immer an feinen Wunden leidend, in 
ein ſchlechtes, feuchtes, ungefundes Gefängniß gebracht wurde, 
fonnte troß feiner Jugend nicht lange widerftehen. Er ftarb, 
nicht volle dreißig Jahre alt im Gefängnif. 

Der Seigneur de Copponer vergaß e3 nicht, daß er die Be: 
freiung der Gräfin Maria Safjari verſprochen hatte; aber wohl 
einjehend, daß die Befreiung nicht mit den Waffen in der Hand, 
wie in jener Nacht, bewerfitelligt werben könne, und wiſſend, 
daß er jept der einzige Vertheidiger der Gräfin war, begab er 
ſich mit Giorgio, der damals mit ihm entwifcht war, nad) Turin, 
und von dieſem treuen Diener geleitet, juchte er alle Freunde 
der Gräfin Safari auf, um ihr Schidjal zu erzählen und zu 
ihrer Befreiung aufzuſtacheln. Auch an den König gelangte fo 
in Folge der unermübdlichen Beitrebungen des Seigneur de Cop: 
poner die Grzählung von den Leiden Maria’, und er ſchwor, 
Alles zu thun, um die Unglüdliche zu befreien. Aber der Krieg, 
ver damals zwiſchen Haus Defterreih und Frankreich wüthete 
und den König von Sardinien felbft den bejtändigen Wechſel des 
Glückes erfahren ließ, brachte die Gefhichte der Gräfin Maria 

Morig Hartmann, Werke. IV, 8 


114 Novellen. 


Saſſari wieder in Vergeſſenheit. Der Seigneur ve Copponer, 
verzweifelnd, auf diefem Wege feinen Zwed zu erreichen, mar 
aber daran, mit Anjtrengung feiner legten Mittel eine neue be: 
mwaffnete Unternehmung vorzubereiten, al3 er durch feine Späher, 
die er zu diefem Zmede ausgefhidt hatte, erfuhr, daß Gräfin 
Maria weiter hinein ins Berner Land gebracht wurde. Ich darf 
e3 jet nach vielen Jahren hier niederjchreiben, daß ich e3 war, 
der ihm diefe Nachricht zufommen ließ, und daß er über das 
Scdidjal der Gräfin überhaupt Vieles durch mich erfuhr. 

In Folge jener Veränderung mußte er feine bewaffnete 
Unternehmung wieder aufgeben, da es nicht möglich war, jo 
weit in das Land vorzubringen. Er ging wieder nad Turin, 
um auf alle Weife in diefer Sache zu wirken. Aber erft als in 
Utrecht Friede gejhlofjen wurde, gelang e3 ihm, den König das 
bin zu bringen, daß er feine Unterthbanin mit Kraft von Bern 
zurüdverlangte. Es murben eigens zwei abelige Herren vom 
Hofe al3 Kommifläre nach Bern geſchickt und diefen endlich die 
Gräfin Maria Saſſari übergeben, volle neun Jahre, nachdem fie 
der Madame Planteamour ausgeliefert wurde. Als fie in Turin 
ankam, hielt jie Jedermann für eine Dame von wenigſtens fünfzig 
Jahren; jo jehr war jie in dieſer Zeit gealtert. Ihre Haare 
waren grau und ihr Gefiht hatte jo viele Falten, wie das Geſicht 
einer Matrone. Die Königin wollte fie zu ihrer Hofdame maden, 
und die Priefter fie als eine Märtyrerin des Glaubens feiern; fie 
aber wies alle dieſe Ehren von ſich und zog ſich mit einer Benfion 
von zweitaufend Liren, die ihr der König auszahlen ließ, in das 
Thal von Aoſta zurüd, wohin ihr ihr treuer Diener Giorgio folgte, 
um fie nicht zu verlafjen bis zu ihrem Tode. Diefer erfolgte ſchon 
im Jahre 1720, wie ich vom Geigneur de Copponer erfahren 
habe. Der alte Graf von Safjari ift nie wieder aus Schottland 
zurüdgelehrt, und ich habe nie erfahren, wie es mit ihm endete. 

Die ift eine der merkwürdigen Geſchichten, die ih als 
Diener hoher Herrſchaften mit erlebt habe. 


— — — —— 


Bei Kunftreitern, 


Man kann auch in einer holländiihen Stadt glüdlich fein, 
jelbjt wenn diefe Stadt ihre hiſtoriſche Größe und Bedeutung 
längjt eingebüßt bat; jelbit wenn zwiſchen dem ordentlichen 
Pflafter diefer Stadt das Gras wächst, und felbft wenn fie nur 
von Holländern bewohnt ift. Ich war um fo glüdlicher in einer 
jolden Stadt, die ich nicht nennen will, al3 ich daſelbſt eine 
liebenswürbige deutſche Familie kannte, welche ſich hier an« 
jiebelte, um die vor Kurzem angeerbten Güter und deren Ber: 
waltung in der Nähe überwachen zu können. ch hatte fie auf 
einer Zuftreife kennen gelernt, war von ihr eingeladen und, al3 
ich der Einladung ein Jahr fpäter folgte, mit einer Herzlichteit 
empfangen worden, mit der man nur einen lieben Anverwandten 
empfängt. In folder Fremde, in der man mit Sitten und Cha- 
ralter der Einheimifchen nicht8 gemein hat, ift jeder Landsmann 
ein Anverwandter, abgejehen von dem Intereſſe, das man für 
Reifebelanntfchaften empfindet, deren Andenken fi jehr vor: 
theilhaft mit den Erinnerungen einer ſchönen Luſtreiſe verknüpft 
und mit diefen identisch wird. Was mich betrifft, ich bedurfte 
diefer Erinnerungen nicht, um mich zu der deutichen Familie hin- 
gezogen zu fühlen und um der Einladung, ungeachtet eines 
großen Ummeges, fobald als thunlich zu folgen. Fräulein Elje, 
die Tochter des Haufes, wäre ſtark genug geweſen, mich in viel 
unmirthbarere Gegenden zu loden. Sie hatte während der kurzen 


116 Novellen. 


Reife mit ihrer lebhaften Anmuth, mit ihrem lieblihen Wefen 
mein ganzed Herz gewonnen, und die Briefe, die ich während 
unjerer Trennung von ihr erhielt, waren nicht geeignet, ihr An: 
denken in mir erjterben zu lafjen. Auf den verjchievenften Wegen, 
in den verſchiedenſten Gegenden, in den fernen Pyrenäen, wie 
in dem traurigen Irland erheiterten fie mich und gaben mir das 
Bewußtfein, deſſen der Wanderer jo ehr bedarf, daß e3 irgendwo 
auf Erden einen Punkt gibt, da man gerne gefehen ift, da man 
gemüthlic ausruhen könnte. Je größer die Anzahl dieſer Briefe 
wurde, deſto größer wurde in mir die Sehnfucht nach diefer ge: 
müthlihen Raft, und von Irland kommend, vernadhläfligte ich 
die Schönheiten Schottlandd, um mich fo raſch ala möglich in 
Leith nach Holland einzuſchiffen. 

Seit vierzehn Tagen weilte ich bereits bei meinen Reiſe— 
bekannten, und ſie waren mir ſchon mehr als Gaſtfreunde. Der 
Vater gehörte ſeinen landwirthſchaftlichen Sommerbeſchäftigungen 
an, da er als neuer Gutsbeſitzer in einem fremden Lande die 
hieſige Art der Dekonomie mit deutſcher Gründlichkeit ſtudiren 
wollte. Er verbrachte den größten Theil ſeiner Zeit auf den Fel— 
dern und überließ mich ſeiner Tochter, die, da die Mutter längſt 
geſtorben war, dem Hausweſen vorſtand. Noch mehr als für 
dieſes Vertrauen war ich ihm für die Freuden, für die tiefen 
Herzensergüſſe dankbar, die mir dieſer ungeſtörte Umgang mit 
dem ebenſo ſchönen als liebenswürdigen Mädchen verſchaffte. 
Wir ritten zuſammen aus, wir laſen, wir plauderten, wir 
glaubten einander bis in die geheimſten Winkel unſeres Herzens 
zu kennen und empfanden Beide die ſchöne Genugthuung, durch 
dieſe nähere Bekanntſchaft Eines in des Andern Auge nichts ver: 
loren zu haben. Die Heiterkeit unfere® Umgange® war uns 
deſſen jichere Bürgſchaft. 

An einem ſchönen September-Nachmittage folgten wir, trotz 
einigem MWiderftreben, der Einladung mehrerer junger Männer, 
die in der Stadt den Ton angaben und uns ſchon mehrere Male 
aufgefordert hatten, mit ihnen einen Ritt nach einem ver [hönen 


Bei Kunftreitern. 117 


Punkte der Umgegend zu machen. Wir ritten wohl an zwei 
Stunden ftarten Trabes ins Land hinein, ohne eine Veränderung 
der Szenerie zu bemerken. Man fann in Holland eine Stunde 
lang felbft auf der Eijenbahn die Augen im Schlafe jchließen, 
ohne beim Erwachen zu bemerken, daß man nur wenige Schritte 
weiter gekommen. Ein Kanal, auf dem fich eine Tredichuite lang: 
ſam fortbewegt, ein Garten mit ölbeftrichenem Stadet, eine Wieje 
mit wenigen Kühen, am Horizont eine unendliche Reihe von 
Windmühlen, die langweilig ihre Flügel bewegen — das ift die 
Landichaft, der man noch häufiger in der Natur als auf der 
Leinwand der holländischen Maler ins Geſicht blidt. Auf un: 
jerem Spazierritt war e3 nicht anders. Die Pferde bewegten 
ih, die Sträucher rechts und links flogen an uns vorbei — die 
Landſchaft blieb dieſelbe. Wir hielten vor einem Weghaufe, das, 
etwas höher gelegen, die Ausficht über eine größere Anzahl von 
Kanälen und Windmühlen gewährte, außerdem feines guten 
Käfes, feines trefflichen Thees und feines guten Weines wegen 
berühmt war; vor feiner Thür kreuzten fich mehrere Land» und 
Waſſerſtraßen, und e3 war hier etwas lebhafter, als ſonſt im 
offenen Lande diejes dem Meere abgerungenen Sumpfbodens. 
Die Jugend der ...... r guten Gefjelljhaft fand an dem 
Champagner fo großes und dauerndes Gefallen, daß es ziemlich 
ſpät wurde, ehe man fich auf ven Weg machte und mehrere un: 
jerer Begleiter nur mit großer Schwierigkeit im Sattel die rechte 
Stellung fanden. Es ging beim Auffigen, troß der Gegenwart 
mehrerer Damen, fo lärmend ber, daß demnächſt Rohheit zu be: 
fürdten war. Elſe entfchloß ſich kurz, gab ihrem Pferbe die 
Sporen und galoppirte vorwärts, Ich folgte ihr und bald hatten 
wir die ganze Gefellfehaft weit hinter und. Wir verloren nicht 
viel dabei, denn feit Stunden drehte fich das Gefpräd um nichts 
Anderes, als um Pferde und Pferdezucht, und daran ans 
fnüpfend, um eine Runftreiter: Gefellfchaft, die man in diejen 
Tagen in Amſterdam erwartete und um die Heldin des Cirkus, 
die Laurabella. Es that uns fo wohl, nad) mehreren geräufc: 


118 Novellen. 


vollen Stunden wieder allein zu fein, daß Elfe einen Nebenweg 
einihlug, der und, wenn aud mit einigem Zeitverluft, doch 
fiher nad Haufe bringen und vor der MWiedervereinigung mit 
der Gefellihaft hüten follte. 

Aber Elje mußte ſich geirrt haben, denn wir ritten und 
ritten, freilich in behaglihem Schritt, der ein ebenjo behagliches 
Geſpräch erlaubte, ohne in befannte Negionen zu fommen. Die 
Tage waren fhon kurz und die Nacht war da, ehe wir uns ihrer 
verjahen. Mit der Naht waren plöglic ſchwarze Gewittermwolfen 
beraufgezogen, und bald ſahen wir den Weg nur vermittelft des 
Bliges. Schon tröpfelte der Regen herab, wir gaben den Pferden 
die Sporen, ſchon jtrömte e8 vom Himmel, und Donnerfchlag 
folgte auf Donnerſchlag. Wir befanden uns in einer Lage wie 
Dido und Aeneas und hatten uns außerdem verirrt. Elſe hatte 
fih zu fichere Kenntniß des Landes zugetraut, und jelbit bei der 
beiten Kenntniß wäre e3 in dunkler Nacht und bei ftrömendem 
Regen ſchwer gewefen, fich zurecht zu finden. Die Straße lief 
in vielfahen Mündungen zwifhen Kanälen und Gräben hin; 
wir mußten ihr folgen, da es in feinem Lande fo ſchwer ift, wie 
in Holland, querfelvein ven Weg abzufürzen oder eine Zuflucht 
zu ſuchen. Erſt nad einem Ritt, der uns bei den vielen Unan— 
nehmlichkeiten fehr lang erſchien, entvedten wir recht3 von unſerem 
Mege, etwa zweihundert Schritte weit von uns, ein Licht, das 
unregelmäßig aus Fenſtern und Spalten eines Gebäudes zu 
dringen jhien. Glüdlicherweife führte an diefer Stelle eine Brüde 
über den Kanal und vom Kanal aus ein Weg dem Lichte ent: 
gegen. Wir folgten diefem Wege und famen an ein Thor, das 
eine Stadetenwand ſchloß, und wir vermutheten, daß das Ge: 
bäude, aus dem das Licht fam, eine Scheune fei, wie fie ji 
auf den großen eingezäunten Wiefen Hollands zu finden pflegt. 
Auch eine Scheune war und bei dem immer heftiger ſtrömenden 
Regen als Zufluchtsſtätte höchſt willlommen. Ich itieg ab, öffnete 
das Stadetenthbor und führte mein und Elſe's Pferd der Scheune 
entgegen. Der Weg führte gerade an das Scheunenthor, dennoch 


Bei Kunftreitern. 119 


mußte ich lange klopfen, bi3 e3 geöffnet wurde, denn der Lärm 
de3 Donners, der noh immer grollte, de3 ftrömenden Regen, 
verbunden mit Pferdewiebern und Gejtampf, welches zugleich 
mit einem höchſt eigenthümlihen Geſummſe und vielftimmigen 
Gejang aus dem Innern der Scheune fam, machte, daß mein 
Klopfen und Rufen nicht gehört wurde. Endlich wurde geöffnet. 
Ein Heiner brauner Junge jah ung mit großen ſchwarzen Augen 
an, verjtand uns bald und lud ung ein, jo raſch als möglich 
einzutreten, indem er Fräulein Elfe mit vielem Gefchid vom 
Pferde half, während er zugleich den Zaum meines Thieres er: 
griff. Diefes ſchien erfchroden über ven Anblid, den das Innere 
der Scheune bot; aber der Junge behandelte e3 als ein Mann, 
der fih auf wilde Pferde veriteht, und bradte e3 rafch wieder 
zur Ruhe. Er führte die Thiere in die Scheune und wir 
folgten ihm. 

Ein wunderbares Schaufpiel erwartete uns, ein Schaufpiel, 
das und Beiden ein erftauntes Ach! ebenfo fchnell bervorrief ala 
unterdrückte. Die ganze Scheune bildete einen einzigen, großen, 
weiten, ungetheilten Raum; auf diefem mweiten Raume boten fich 
die verſchiedenſten Gruppen in verſchiedener Beleuchtung. Bei: 
nahe die ganze Hälfte der Scheune recht vom Thor, durch das 
wir eintraten, war von Pferden der verfchiedeniten Größen und 
Racen eingenommen, von denen einige aus Trögen fraßen, 
andere neugierig und Flug den Neuangelommenen entgegenfahen, 
noch andere bereit3 auf dem Stroh lagen, um, wie e3 fchien, 
nad langem, ermüdenden Marjche auszuruben. inzelne Stall: 
laternen an den Wänden und Holjpfeilern beleuchteten fie und 
einzelne Männer, die zmwijchen ihnen und hinter ihnen auf dem 
Stroh lagen, mit dämmerigem Lichte. Die Männer erfreuten 
ji eines tiefen Schlafes, trog dem Lärm des Ungewitters und 
der mannigfahen Töne, die fih in der Scheune jelbjt hören 
ließen. Cigenthümlicher aber war der Anblid, den der Winkel 
links am andern Ende der Scheune gewährte, Diefer war in 
volles Licht getaucht, und dieſes Licht fam von den vielen Stall: 


120 Novellen. 


laternen, die dort an den Holzwänden angebraht waren, von 
zwei großen Kerzen, die vor einer Art improvifirten Betpultes 
brannten, und von zehn bis zwölf großen, gelben, aus rohem 
Wachs gefneteten Machskerzen, die alle zufammen in einem mit 
Sand angefüllten Futtertroge rechts vom Betpulte ftafen. In 
diefer hellerleuchteten Abtheilung der Echeune ftand eine höchſt 
auffallende VBerfammlung von Männern. Gie alle hatten weiße 
wollene oder damaftene, von ſchwarzen oder blauen Bändern 
eingefaßte Mäntel umgeworfen, von deren Eden vier gleihmäßig . 
gebundene, länglihe Wollfadenbüſchel herabfielen und die oben, 
an dem Theile, der den Naden bevedte, mit filbernen oder 
goldenen Treffen befegt waren. Mehrere diefer Männer trugen 
unter dem Mantel lange, weiße, leinene Kittel, vie faltig bis 
über die Anöchel herabfielen, geſchloſſen und in der Mitte ver: 
mittelft einer Schnur am Leibe fejtgehalten waren. Der Mann, 
der in einem foldhen Kittel an dem Betpulte, in der Nähe ver 
Wachskerzen jtand, hatte die Bruft mit einem aus Silbertrefjen 
zufammengejegten vieredigen Schilde geziert. Die Männer in 
den Hitteln trugen auf dem Kopfe weiße Hauben, die zum Theil 
mit Stidereien bededt waren; die andern hatten Hüte oder ge 
wöhnlihe Müten auf. Sämmtliche Männer ftanden in einer 
Richtung dem Betpulte zugefehrt. So ftille als fie daſtanden, 
fo ftille faßen hinter ihnen auf ausgebreitetem Stroh mehrere 
Meiber und Mädchen, deren mande ein jchlafendes oder wachen: 
des Kind auf dem Schooße oder in den Armen bielt. Der weib: 
liche Theil der Verfammlung hatte, das andächtige Schweigen 
abgerechnet, nichts Feierliches oder Feltlihes. Die Frauen und 
Mädchen waren im äußerften Neglige ; fie lagen oder ſaßen höchft 
ungezwungen auf dem Stroh, die Haare ordnungslos zurüdges 
ftrihen, oder über Bruft und Schulter herabfallend, die gemöhn- 
lichſten Werktagskleiver nach Bequemlichkeit loſe gemacht oder ver: 
fchoben. Hinter diefer Gruppe, ganz nahe dem Thore, ſtand 
eine lange Reihe von Kajten und Kiften, welche theilweife ge: 
öffnet waren und einen Blid in ihr Inneres geftatteten. Da 


Bei Kunftreitern. 121 


waren die phantajtifchjten männlichen und weiblihen Trachten 
aufgehäuft, melde alle Farben fpielten und meift mit Gold— 
treſſen, Schleifen und allerlei Shimmerndem Geflimmer geſchmückt 
waren. Zwiſchen den Kijten orbnungslos zerftreut lagen und 
ragten hervor allerlei buntbemalte Reifen, Stangen, Fahnen 
und anderer ähnlicher Hausrath wandernder Kunftreiter: Gefell: 
Ichaften. 

Es war fein Zweifel: wir befanden ung bei einer Kunftreiter: 
Gefellihaft und zwar höchſt wahrjcheinlich bei der im Lande be- 
rühmten Truppe Wullenwebers, deren Ankunft feit mehreren Tagen 
in Amfterdam erwartet wurde. Das erkannten wir fogleich bei 
unjerem Eintritt; aber die in dem beleuchteten Winkel ftehenden, 
in Zodtenhemden gehüllten Männer, ihr ſtilles Gebahren und 
die jonderbare Beleuchtung blieben Elfen noch immer ein Räthſel. 
Sie wandte ſich mit erftaunt fragendem Gefichte zu mir. „Merten 
Gie es nicht?” flüfterte ich, der größte Theil der Gefellichaft be— 
ſteht aus Juden; fie feiern den Vorabend des Verjöhnungstages. 
Der Vorfänger verrichtet jegt fein ftilles Gebet, daß ihn Gott 
würdig mache, der Gemeinde vworzubeten, und feiner Qunge 
Kraft ‚gebe. Wenn dieß vollendet ift, wird er zu fingen an— 
fangen; achten Sie auf die Melodie, Elfe, fie iſt höchſt originell 
und rührend.” 

„So!“ Tispelte Elfe ängftlih und neugierig zugleih und 
näherte fih der Gruppe der Weiber. Eine verjelben, die auf 
einem Strohbunde jaß und einen Säugling an der Bruft hielt, 
rüdte etwas bei Seite und lud fie ein, ſich zu fegen, ſprach aber 
nur leife, wie um die Andacht der Andern und ihre eigene nicht 
zu ftören. Ihr ganzes Weſen war das einer guten und beforgten 
Mutter aus dem Volke. Ihre Aufmerkfamkeit war jehr getheilt 
zwiſchen ver religiöfen Andacht und der Sorgfalt für das Kind, 
das fie verhüllt und mit Tüchern bevedt am Buſen hielt. Von 
Zeit zu Zeit hob fie eines der Tücher und blidte mit jchmerz- 
lichem Ausdrud auf das bleiche, offenbar kranke Geficht des 
Kindes. Bei jeder Bewegung deſſelben zitterte fie am ganzen 


122 Novellen, 


Körper und ließ das hebräiſche Buch, das aufgejhlagen auf 
ihren Rnieen lag, auf den Boden fallen, ohne es zu beachten, 
mit wie großer Frömmigkeit fie es auch jedes Mal aufbob, fo 
oft das Kind ruhig wurde. Sie führte dann das Bud an die 
Lippen und küßte die hebräijchen Zettern. Sie war auch ge 
Heivet wie eine Frau aus vem Volke. Ein großes Tu, defjen 
einer Zipfel über den Nüden berabfiel und das unter dem Kinn 
zufammengebunden war, bededte Kopf und Haare, welche legtere 
trogdem ſchwarz und in biden, aufgelösten Scheiteln auf bie 
blafien Wangen hervorquollen. Ein gemwöhnliches, fehr ſchlichtes, 
braunes Kattunfleid, das in der Mitte von einem dünnen Tuche 
zufammengehalten war, bedeckte die Geftalt, die die Fülle einer 
Frau in den beiten Jahren verrieth. Nur die ſchwarzen, glühen: 
den Augen hatten etwas, was mit der hausmütterlihen und zu- 
gleih frommen Situation der Frau nicht zufammengeftimmt 
baben würde, wenn fie nicht der Ausdruck fanfter Trauer. ges 
mildert hätte, 

Elſe ſah das fchöne, werblühte Geficht der ebenjo zärtlichen 
al3 frommen Mutter anfangs mit mitleidigen Bliden an, nad 
und nad) jchien ſich das Mitleid in ein gewiſſes Intereſſe, jelbit 
in Erftaunen zu verwandeln. Endlich, nahdem fie die Frau 
wiederholt beobachtet, jhien fie ihrer Sache gewiß zu fein, und 
raunte mir ind Ohr: „Wiſſen Sie, wer die Frau iſt?“ 

Ich ſchüttelte ven Kopf. 

„Zaurabella !” flüfterte Elfe weiter. „Weiß der Himmel, e3 
ift die Laurabella, die große Laurabella, das erfte Sujet der 
Geſellſchaft, die berühmte Neiterin, der Liebling des Publikums 
und das Ziel aller Stuger, die Rivalin der Cuzent und heute 
fo berühmt, wie vor einigen Jahren Landrinette und Adelheid 
Hinne. Cine Heroin de3 Circus; — feit vierzehn Tagen ſchlagen 
ihr in Amfterdam taufend Herzen voll Sehnfucht entgegen. Die 
fennen Gie nicht? Sie find ſehr zurüd.“ 

Mährend mir Elfo fo ins Ohr flüßerte, fing das Kind zu 
meinen an. Laurabella erhob fih und ging an das Thor, jo 


Bei Kunftreitern. 123 


fern ald möglich von der betenden Gemeinde, und lief dort tän- 
zelnd auf und ab, indem fie das Kind auf den Armen wiegte. 
Elje folgte ihr voll Neugierde und wie unmwillfürlih. Als das 
Kind wieder ruhiger wurde und Laurabella am Scheunenthor in 
einem Winkel jtehen blieb, näherte fie ſich mit jener Neugierde, 
welche die Frau der guten Gefellihaft der Frau gegenüber, die 
einer abenteuerlichen Welt angehört, immer empfindet und der 
fie gerne den Zügel hießen läßt, wenn es die Umftände erlauben. 

„Ihr armes Kind ift Fran?“ fragte fie theilnehmend. 

„Seit mehr als acht Tagen,” jeufzte die Angeredete; „das 
arme Würmlein, wie foll es geneſen? Seit fünf Tagen find wir 
auf der Reife — feine Ruhe, keine Pflege möglid — kaum daß 
ib mit einem Arzte ſprechen konnte.” 

Sie jagte das Alles jo traurig und in kurzen, abgebrodenen 
Morten, dab Elſe's Theilnahme fih in wahrhaftiges Mitleid 
verwandelte. 

„Nun,“ ſagte fie tröftend, „Sie gehen ja nach Amſterdam, 
jo viel ich weiß; dort finden Sie Aerzte und werden das Kind 
in Rube pflegen können.“ 

„Wenn wir nur erjt dort wären! Wir bewegen ung mit 
unjeren Pferden und dem ungeheuern Gepäd jo langjam fort, 
und morgen müflen wir des Feiertages wegen bier rajten.“ 

„Könnten Sie nit voraus reifen?“ 

„Bir dürfen nicht reifen an einem jo hoben Feiertag, mein 
Fräulein; es ift der Verföhnungstag, der höchſte und. ftrengite 
Feiertag der Juden.” 

„Ich glaubte immer, Sie wären eine Spanierin?” fagte 
Elje in fragendem Tone. 

Zaurabella lächelte. — „Cine Spanierin bin ih nur auf der 
Affiche und nur auf der Affiche heiße ich Laurabella. Im Leben 
. heiße ich Setthen Mannheimer und bin aus Paderborn. Das 
thut man jo. Für Jettchen Mannheimer hätte fich fein Stußer 
der Melt intereflirt, aber Sennora Laurabella aus Valencia ift 
ſchnell berühmt geworden.“ 


124 Novellen. 


Laurabella ſchien bereit, noch Manches in ironifhem Tone 
ihrer Rede hinzufügen zu wollen, aber fie unterbrach fich plöglich 
und ging raſch auf ihren vorigen Pla zurüd, denn das Gebet 
begann. 

„Jetzt horchen Sie!“ fagte ich zu Elfe. 

Der Vorfänger hatte fein ftilles Gebet vollendet und begann 
das laute, das mit den Morten anfängt: „Alle Gelübve, alle 
Schwüre.“ 

Die traditionelle Melodie dieſes Liedes, die vielleicht Jahr: 
hunderte alt, iſt überaus melandoliih, janft und herzergreifend, 
wenn fie von einem geſchickten Sänger vorgetragen wird. Herr 
MWullenweber, der Direktor der Kunftreitergefellichaft, der ven 
Vorbeter machte, ſchien mufilalifhen Sinn zu haben, denn er 
machte fie in ihrer ganzen tiefen Melancholie geltend. Kaum 
hatte er einige Takte gefungen, als bereit3 die Weiber zu ſchluch— 
zen anfingen und jelbjt einige der betenden Männer, die vor 
ihnen ftanden, tiefe Seufzer ausftießen. Bald erjcholl lautes 
Meinen und mit folder Heftigkeit, al3 wäre es den Betenven 
nicht möglih, das überwallende Gefühl zurüdzubrängen. Die 
hriftlihen Mitglieder der Truppe, die da und dort in der 
Scheune auf dem Stroh lagen, erhoben die Köpfe und blidten 
die zerfnirfchten und weinenden Beter mit eben jo viel Erftaunen 
an, wie meine Begleiterin. 

„Was mögen nur die hebräifchen Worte jagen, die der Vor: 
beter fingt ?” fragte Elfe. 

„Diefe Worte,“ antwortete ich ihr, „haben eigentlich nichts, 
was die Beter jo jehr rühren könnte, auch verftehen fie fie nicht.” 

„Barum meinen fie denn fo fehr? Die Melodie ift zwar 
jehr originell und rührend, aber doch nicht fo fehr aufregend.” 

„Mein Fräulein,” fagte ich, indem ich mich zu ihr feßte, 
„die große Feier beginnt. Morgen it der große Gerichtstag, da 
tritt der Böfe vor den Herrn und Elagt an, gerabe jo, wie Sie 
ed aus dem Fauftprolog im Himmel fennen. Morgen werden 
die Schidjale der Menſchen für diefes ganze Jahr feftgeftellt, in 


Bei Kunfireitern. 125 


ein Buch gejchrieben und bejiegelt. Morgen werden die Sünden 
vergeben oder die Strafen für die umverzeihlichen bejtimmt von 
Gott, dem Allmächtigen. Da wird beftimmt, wer durch euer, 
wer durch Waller, wer durch Peſt zc. zu Grunde gehen joll — 
ba wird jegliches Glüd und Unglüd verhängt. Alles Elend, das 
diefe Elenden in diefem vergangenen Jahre getragen, ift ihnen 
jo am letten Verföhnungsdtage verhängt worden. Nun, mit dem 
Beginn der Feier, erinnern fie ſich plöglih aller Drangfale, 
aller Mühjfeligkeit, aller Verluſte, aller Schmerzen und, ad, 
aller Verachtung, die fie in diefem Jahre getragen. Sie weinen 
vor Gram über Vergangenes und vor Angjt vor dem Zufünfti- 
gen. D, ihre Herzen find in diefem Augenblide vom gefättigtiten 
Kummer erfüllt; alle Leiden des Menſchen, alle Leiden ihres 
Standes, und vorzugsweife alle Leiden des Juden ftehen jegt in 
Schaaren vor den Augen ihrer Geele.“ 

„Sie find ein Poet,“ fagte Elje lächelnd, „glauben Sie, daß 
Zaurabella, die als Sylphe durch ſechs Reifen jpringt und vier 
Pferde zugleich reitet, dafjelbe fühlt” 

„Sehen Sie die Laurabella jegt an,” antwortete ich. 

Zaurabella hielt mit beiven Armen da3 Kiffen umklammert, 
in welches ihr Kind gehüllt war, und hielt ſich fo vorgebeugt, 
daß ihre Wange auf dem Kiffen ruhte. Das Tuch war ihr halb 
Som Kopfe gefunfen und ihre viden, ſchwarzen Haare fielen wie 
ein ſchwarzer Schleier über das helle Gefiht. Ihr ganzer Körper 
zudte krampfhaft unter dem Schluchzen, das aus tiefſtem Herzen 
zu fommen ſchien, während das Kiffen, auf dem ihr Kopf lag, 
von Thränen naß mar. | 

„Sonderbar,” ſagte Elje Eopfichüttelnd, „wer hätte ſich 
Zaurabella jemals fo vorgeftellt? Und Sie, lieber Freund, was 
iſt Ihnen? Sie jehen ja eigenthümlich aus.” 

„Bielleicht etwas ergriffen,” ſagte ih und legte mein Geficht 
in beide Hände. 

Indeſſen war jene3 Lied zu Ende gefungen; es folgten 
andere, dann wieder Gebete, die entweder ftill oder etwas lauter 


126 Novellen. 


monoton hingemurmelt wurden. Das Ungemitter hatte fi auch 
beruhigt und der Regen fiel Flopfend auf die Holzdeden ver 
Scheune. Der Regen, dad Murmeln der Beter, die Athemzüge 
der Schläfer woben, da auch das heftige Weinen aufgehört 
hatte, durd das ganze Gebäude ein traumhaftes Gewebe von 
Tönen. Ich brütete, vertiefte mich in alte Erinnerungen und 
empfand endlich ein fo ſchmerzliches Behagen, daß ich jelbit un: 
geduldig wurde, wenn mich Elfe mit Fragen nad diejem und 
jenem im jüdifhen Kultus oder au den Urſachen meiner Ber: 
tiefung ftörte. Al3 dann der Vorſänger das Lied begann: „Wie 
der Thon in der Hand des Töpfers, wie das Silber in der Hand 
des Goldſchmieds, jo find wir in der Hand des Schöpfers,“ fiel 
ih mit halber Stimme ein und jang zum größten Erftaunen 
Elſe's die Melodie mit, wie eine altbefannte. 

„Woher kennen Sie das Alles jo genau?” fragte fie, „und 
überhaupt was ift Ihnen? Sie find, wie ich Sie nie gefehen 
babe, aufgeregt, vertieft, gerührt, al3 ob Ihnen plöglih ein 
Unglüd gejchehen wäre, erklären Gie mir —“ 

„Kommen Sie,” erwiderte ih, indem ich auffitand, „ber 
Regen hat aufgehört; find wir in freier Luft, will ih Ihnen 
erklären.“ 

Wir jagten noch Zaurabella Adieu, ſchwangen ung auf die 
Pferde, die derjelbe Junge ung vorführte, der fie und abgenome 
men hatte, gaben diejem ein Trinkgeld und trabten davon. Die 
Naht war nad dem Gewitter Kar und heiter geworden; ber 
Mond trat aus den Wolken, die ih am Himmel verfpätet hatten 
und nun mit Eile den verſchwundenen Gemwitterwolfen nachzu⸗ 
fliegen ſchienen. Wir fahen weit ins Land hinaus; vie breiten 
Straßen lagen weiß und deutlich vor uns. 

„Nun,“ fagte Elfe, indem fie plöglic ihr Pferd langſamen 
Schrittes gehen ließ, „nun erklären Sie mir, wie Sie zu der 
Kenntniß diefer jüdifchen Gebräuche gefommen find, woher Sie 
ſelbſt diefe Melodien kennen. Sonft find uns alle diefe Dinge 
doch fo unbekannt, trogdem die Juden in unferer Mitte leben.” 


Bei Kunftreitern. 127 


„Ich will Ihnen eine Geſchichte erzählen.“ 

„Ah, e3 ſteckt eine Geſchichte dahinter, das ift prächtig, er— 
zählen Sie. Gewiß haben Sie einmal einer jhönen Jüdin den 
Hof gemacht und fih, wie der Tenor in der Halevy'ſchen Oper, 
al3 Jude unter den Juden herumgetrieben.” 

„Nein, es ift anders.” 

„Bor ungefähr zwanzig Jahren lebte in der Hauptitadt 
unferer Provinz ein Judenmädchen, das als ein Wunder der 
Schönheit gerühmt wurde. Nehmen Sie an, daß diefer Ruhm 
volllommen und in allen Theilen gerechtfertigt war, und erlafjen 
Sie mir die Beichreibung. Ich kann nur jagen, daß ich bis auf 
ven heutigen Tag troß aller meiner Reifen feine Frau, fein 
Mädchen gefehen, das fih mit dem Bilde, da3 in meiner Er- 
innerung lebt, hätte mefjen können. Dieſe ſchöne Jüdin, obwohl 
fie wohlhabende nahe Anverwandte hatte, war ſehr arm, die 
Tochter jehr bevürftiger Eltern. Um dieſe zu ernähren, ſaß fie 
in einer elenden hölzernen Bude, melde in einem der vielen 
äußern Winkel eines alten fürftlihen Palaftes ftand, und ver: 
faufte Watte und allerlei Baummollenwaaren. Bor diefer Bude 
ftanden oft die Reifenden, um die größte Merkwürdigkeit der 
Stadt anzuftaunen. Unter dem Vorwande, die Architektur des 
Palaftes, feine Säulen, Bogen und Karyatiden zu betrachten — 
denn einer Sage nad follten Plan und Zeihnung von Michel 
Angelo herrühren — gingen fie halbe Stunden lang um bie 
Bude im Halbkreife herum und vergaßen Michel Angelo über 
der fhönen Yüdin. Trogdem der Neid den guten Ruf ungern 
bei der Schönheit wohnen läßt, erfreute fih Lea — fo hieß fie 
— doch des allerbeften Leumundes; ihren Augen fah man es an, 
daß ihre Heiterkeit troß aller Armuth eben fo groß war, al3 ihre 
Schönheit, und die fie näher fannten, verficherten, daß ihre Güte 
hinter ihrer Schönheit nicht zurüdftehe. Eines Tages kam der 
Fürft, dem der alte Palaft gehörte, ein Mann von ungefähr 
dreißig Jahren, der den größten Theil ſeines Lebens bei Hofe 
zugebradt hatte, in die Provinzialftadt zurüd, Er bewohnte eine 


128 Novellen, 


Villa in der nächſten Nähe der Stadt, aber er wollte doch den 
alten verlafienen Balajt feiner Väter in Augenschein nehmen und 
er ſah, wie alle andern Reifenden, nur Lea. Sofort ſchämte er 
fi) der zwanzig Gulden, die ihm, dem Befiger des Winkels, den 
Lea al3 Mietherin mit ihrer Holzbude einnahm, feine Renten 
vermehrten. Er redete fie al3 ihr Miethherr an, er wollte ihr 
die Miethe für einige Zeit ſchenken; Lea mies das Gejchent 
zurüd. Bald darauf verließ der Fürft die Villa und richtete ſich 
in dem Balafte ein, und zwar in einem Flügel, aus deſſen 
Fenftern er Lea den ganzen Tag betrachten konnte. Der Skandal 
war bald fehr groß in der ganzen Stadt; Lea ſchloß ihre Bude 
und fie war brodlos, während es hieß, daß nun ein glänzendes, 
wenn auch nicht ehrenfejtes Leben für fie beginne. Man irrte 
fih. Der Fürft hatte nicht den geringften Verſuch gemacht, fie 
herabzumwürbigen; er liebte fie und — er heirathete fie. Nun erjt 
war der Skandal in den zwei entgegengejegten Klafien der Gefell« 
fchaft, bei ven Ariftofraten und bei den Paria's der Juden, jehr 
groß. Die Ariftofraten ärgerten fich über die Mesalliance, die 
Juden über die Taufe der jchönen Jüdin. Aber auch viefer 
Skandal verraudte. Der Fürft war mächtig, unabhängig und 
bei Hofe ſehr einflußreih. Er hatte die Kaiferin, die jehr fromm 
war, beinahe von Anfang an auf feiner Seite, weil er durch die 
Taufe eine Seele gerettet hatte, und fie wünſchte die ſchöne Fürftin 
in ihrer Nähe zu haben, um das gottgefällige Werk zu Ende zu 
führen und fie in den Glauben und feine Geheimnifje felbft ein- 
weihen zu können. Sie empfing fie, fie machte fie zu ihrer Hof: 
dame, und faum drei Jahre nach der Taufe war diefelbe Lea, 
die aber jetzt Therefe hieß, welche in ver Holzbude Watte ver: 
fauft hatte, Sternfreuzordensdame. Das ſcheint Ihnen unglaub- 
lich, aber was ich Ihnen hier erzähle, ift hiſt oriſch. Der Fürft 
war eben ein Mann voll Energie, der feine Frau wirklich liebte, 
und den der Miderfpruch der Ariftofratie gereizt hatte. Er hatte 
von jeber durchgeſetzt, was er wollte. 

„Richt fo raſch wie die Ariftofratie beruhigte fi das Juden⸗ 


Bei Kunftreitern 129 


thbum. Die Fürftin Thereſe gehörte einer Rabbinerfamilie an, 
und die ganze Gemeinde betrachtete e3 als ein ganz bejonderes 
Unglüd und al eine noch größere Schande, daß ein Sprößling 
gerade diefes Stammes abgefallen war. Ein Theil ihrer Familie 
legte Trauer an, wie um einen Hingejchiedenen (doc nicht ihre 
Eltern, die-fih in das Unvermeidlihe fügten und die Tochter 
nah wie vor liebten), ein anderer Theil aber jah mit der Er: 
bebung der Anverwandten eine glänzendere Zukunft heraufziehen. 
Und als e3 endlich fiher war, daß die Fürftin bei Hofe empfan- 
gen, die Freundin der Kaiferin und in Folge ihrer bezaubernden 
Schönheit und der Macht ihres Gatten eine hödhjft einflußreiche 
Perfönlichkeit wurde, machte fich diefer Theil der Yamilie mit 
dem Gedanken, zum Chrijtenthbum überzugehen, vertraut und e3 
famen ſchon da oder dort einzelne Ueberläufer vor, die es nicht 
erwarten fonnten, unter dem Schuße der hohen Anverwandten 
und als Ehriften ihr Glüd zu machen. 

„Bu der Familie gehörte auch ein ziemlich wohlhabenvder 
Mann, der Anfangs über den Abfall Lea’s fehr entrüftet war 
und mit feinem zehnjährigen Knaben eifriger und fleißiger als je 
die Synagoge bejuchte. Um jein Kind vor einem ähnlichen Ab: 
fall zu bewahren, ließ er es die fünf Bücher und die Propheten 
in der Urfprache ftudiren und hielt e8 mit der größten Strenge 
zur Ausübung aller religiöfen Formen und Geremonien an, Aber 
denjelben Knaben, der fih gewöhnt hatte, in der Frömmigkeit 
zu jchwelgen, führte er ungefähr drei Jahre jpäter in die Kirche, 
und als fie wieder heraustraten, jagte er ihm, daß fie Beide 
nunmehr Chriften jeien. Der Knabe brach in Weinen aus, aber 
der Vater verficherte ihn, es fei jo bejler, und er habe nur als 
guter Vater für feine Zukunft geſorgt. Wir verließen die Stadt 
und zogen in die Reſidenz, wo mein Bater in der That eine 
glänzende Garriere machte, denn er war eben fo Hug als unter: 
richtet —“ 

„Wie!“ rief Elje und hielt ihr Pferd an, „Ihr Vater? Sie 
ipreben von Ihrem Bater? Sie fprechen von ſich?“ 

Morik Hartmann, Werke VI. 9 


130 Novellen. 


„Allerdings! der Knabe, von dem ich ſpreche, war ich.“ 

„Unmöglich!“ 

„Doch! Ich erzähle Ihnen keine Märchen. Aber warum ſind 
Sie fo blaß? Ich ſehe es ſelbſt beim Mondſchein, daß Sie er: 
blaſſen.“ 

„Sie ſind ein Jude? Sie ſcherzen; ich kann es nicht glauben.“ 

„Fräulein Elfe, id ſcherze nicht.“ 

„Barum haben Sie mir das nicht früher gefagt?“ fragte Elje 
mit einem Tone, der den bitterften Vorwurf verhüllen follte, 

„Wäre e3 mir je eingefallen, dab die Mittheilung Sie in 
ſolche Aufregung verfegen könnte, ich hätte es längft gethan, oder 
ich hätte Ihre nähere Bekanntſchaft nicht gefucht.“ 

Elje ritt weiter, ich folgte ihr und fuhr fort: „Ich könnte 
Ahnen fagen, daß ich bei Ihrer Freundschaft für mich, bei Ihrer 
Bildung, eine ſolche Mittheilung für überflüflig hielt, aber das 
wäre nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ift, daß ich 
nicht daran gedacht habe, daß ich es längft vergefien habe, jemals 
ein Jude gemwefen zu jein. Bon jenem Momente der Taufe an 
kebten wir nur unter Chriſten. Ich dachte nie an mein einjtiges 
Judenthum, jelbft nicht, wenn ich mit Juden zufammentraf. Nur 
wenn ich die alten Melodien meiner Jugend wieder fingen höre, 
wie diefen Abend, wenn ich dieſe religiöfen Bräuche wieder ſehe, 
an denen ich einft mit ganzer kindlicher Seele hing, erwacht die 
Erinnerung jo mädtig und wühlt mein ganzes Herz auf, daß ich 
weinen möchte — und wenn ich fehe, wie der Name noch immer 
Schreden und Verzweiflung einflößt — mie vielleicht jetzt, fo 
möchte ich gleich wieder abfallen, ein neuer Apoftat, nur hinüber 
laufen in das Lager der Schwächern.” 

„Was wird mein Bater fagen !” rief Elſe. 

„Darauf kommt es nicht an, mein Fräulein. Was Sie jagen, 
Sie, das iſt das Richtigſte, oder vielmehr was Sie verſchweigen 
und nit zu fagen brauchen,“ erwiderte ich mit einer Bitterkeit, 
deren ich mich Elfen gegenüber einige Stunden früher nicht für 
fähig gehalten hätte. 


Bei Kunftreitern. 131 


Elfe ſchwieg und ritt ſchweigend weiter; ich eben fo ſchweigend 
neben ihr. Nach ungefähr einer Stunde hielten wir vor ihrem 
Haufe. Ich ſprang ab und half ihr vom Pferde, dann ſchwang 
ich mich wieder in den Sattel. 

„Was thun Sie?" fragte Elfe. „Wohin wollen Sie?" 

„Nah Amfterdam !” rief ich, „vielleiht zur Kunftreitergejell: 
ſchaft, vielleicht in die Synagoge!” 

Und id ritt in die Nacht hinein. Ich habe Elfe nie wieder 
gejeben. 


Selvaggia. 


Auszug und Bearbeitung einer italienifhen Chronik des fiebenzehnten 
Jahrhunderts. 


Troß des lebhaften Verfehres, der zmwifchen dem Hofe des 
ſpaniſchen Vizekönigs von Neapel und dem Hofe Sr. Heiligkeit 
des Papites zu Rom, befonders al3 Innocenz X. Bampbili auf 
Petri Stuhl ſaß, ſtattfand; trogdem diejer Verkehr auf der Straße 
zwijchen den zwei großen Hauptitädten, ſeitdem die Unruhen ver 
neapolitanifchen Filcher unter ihrem Häuptlinge, Thomas Agnelo, 
zablreihe Flüchtlinge ind Ausland jagten, noch zugenommen 
hatte, war die Heine Stadt Piperno an einem gewiſſen Herbit: 
tage des Jahres 1647 von einer ungemwöhnlih großen Anzahl 
von Neifenden erfüllt, und waren ihre wenigen Gafjen dicht ge: 
drängt von den glänzend gefleideten Fremden und von den armen 
Einwohnern, welche jämmtlich ihre Häufer verlaflen hatten, um 
die Reifenden in Sammet und Seide zu betrachten. Vor der 
Herberge ftanden ganze Heerden von Maulthieren und Pferden, 
zwiſchen ihnen, von Stallfnehten und andern Dienern bewacht, 
lagen und ftanden Nachtſäcke, Felleifen, Koffer und mehrere ein: 
fabe und einige prächtige Tragjefjel, deren einer von einem Bal— 
dacin mit einer fürftlichen Krone überdadht war. Pagen, Kammer: 
frauen und Diener jeder Art ſahen mit Verachtung das ftaunende 
Volk an, während mehrere in fpanifhe Tracht gekleivete Herren 
bejcheiden vor dem Hauſe auf: und niedergingen und dem Volke, 


Selvaggia. 133 


das ſich heran drängte, gefällig Platz machten. Dieſe Edelleute, 
wie die zahlreichen Diener gehörten ſämmtlich zum Gefolge der 
Fürſtin Della Rocca, welche gegen Abend aus Neapel angekommen 
war, wie ſo viele Andere, in der Abſicht, den Unruhen zu ent— 
fliehen, und die Wiederherſtellung der ſpaniſchen Herrſchaft in 
Rom abzuwarten. Die Fürſtin ſelbſt war nicht zu ſehen. Kaum 
angekommen, hatte ſie ſich, ſo zu ſagen aus der Sänfte, auf ein 
Pferd geſchwungen, um in Geſellſchaft einer Kammerfrau und 
eines einzigen Cameriere aus dem Städtchen hinauszureiten und 
ſich in der Umgegend umzuſehen. Auf einem Hügel angekommen, 
hatte ſie die Ausſicht in eine Bodenvertiefung, die wie ein Ge— 
birgsthal ausſah und von der der Fremde, von der Seite des 
Städtchens her, keine Ahnung hatte. In dem Thale lag ein 
gewaltiges Kloſter, von einem kleinen Dorfe und von prächtigen 
Hainen und Gärten umgeben. Die Fürſtin, die der ſchöne An— 
blick anlockte, glaubte das Kloſter in wenigen Minuten erreichen 
zu können, merkte aber bald, daß ſie nur auf einem vielfach ge— 
wundenen Pfade erſt hinab in das Thal und dann auf einem 
ebenſo gewundenen Pfade hinauf in das Kloſter gelangen konnte, 
das auf halber Höhe des jenſeitigen Abhanges lag. So geſchah 
es, daß es in dieſem tiefen Thal bereits dunkel war, als ſie vor 
dem Portale des Kloſters anlangte. Es war ein Kloſter der Kar: 
meliter. Eine hohe Mauer, wie eine Feftung, umgab es ring 
herum, denn die Karmeliter waren zu Zeiten gezwungen, ſich 
gegen die Räuber und marodirende fpanifche Soldaten zu ver: 
theidigen. Nur die Kirche, eine große prächtige Kirche, die ihnen 
weiland Kaiſer Karolus Quintus hatte bauen lafien, ſtand jo, 
daß fie mit ihrem Periftyle aus der umgebenden Mauer hervor: 
ragte und der Andächtige eintreten fonnte, ohne in das Kloſter 
zu gelangen. Die Fürftin della Rocca, eine fromme katholiſche 
Dame, jprang fogleih aus dem Sattel und trat in die Kirche, 
aus der ihr Geſänge und Gebete entgegenjhallten. Der ganze 
große Raum war von einer Dunkelheit erfüllt, welche die wenigen 
Lampen nicht zu durchbrechen vermochten, und traurig fangen 


134 Novellen. 


die Gejänge und Litaneien der Mönde durch da3 dunkle Schiff. 
Die Fürftin trat bis an das Gitter, welche den hohen Chor ab: 
ihloß. Hier hörte fie wohl die Geſänge deutlicher, aber die Ge 
ftalten der zahlreichen Mönche, es mochten ihrer über fechzig fein, 
verihwanden in dem noch dunflern Raume; nicht3 war von ihnen 
zu ſehen, als manchmal eine Falte ihre weißen Gewandes. Die 
Fürftin, die anfangs gleihgültig zugehört hatte, wurde immer 
aufmerfjamer, lehnte ſich fo feit an das Gitter, als ob fie e8 
durchbrechen wollte und hielt endlich die hohle Hand hinter3 Obr, 
wie man zu thun pflegt, um einen fernen Zon beſſer unterſcheiden 
zu fönnen. In der Dunkelheit fonnte e3 jelbit die neben ihr 
jtehende Kammerfrau nicht bemerken, daß fie erſt überrafcht, dann 
geſpannt und endlich jehr aufgeregt war. Diefe Aufregung fteigerte 
ſich noch mehr, als die Mönche jchwiegen und nur einer von ihnen 
mit tiefer, aber überaus klangvoller Stimme ein Todtenlied ab: 
fang. „Erkennſt du diefe Stimme, Luiſa?“ fragte fie ihre Kammer: 
frau. — „Nein, Fürftin,“ fagte diefe, „ich habe fie nie gehört.” 
— „Freilich, wie jolltejt du auch?” murmelte die Fürjtin, wandte 
fih um und eilte rafhen Schrittes aus der Kirche, ſchwang ſich 
in den Sattel und ritt, ohne auf die Gefährlichkeit des Weges zu 
achten, im ſchnellſten Trabe in die Herberge zurüd. Dort an« 
gefommen, rief fie fogleih einen Pagen und fagte zu diejem: 
„Morgen mit dem Früheften eilft vu in das Klofter der Karme- 
liter und beftelljt dem Prior meinen Gruß. Du ſagſt ihm, der 
Gruß komme von der Fürftin Selvaggia della Rocca, geborene 
Salviati, Nichte des Kardinal Montalto. Vergiß den Carbinal 
Montalto nicht! Ferner fage dem Prior, daß ich Se. Hochwürden 
bitte, mich zu befuchen und daß ich hier warten werde, bis er 
die Güte gehabt zu kommen. Ich habe einen Auftrag meines 
Oheims, des Kardinal Montalto, an ihn.“ 

Die FZürftin fonnte die halbe Nacht nicht fchlafen, denn wie 
die. Weiber find, fo regte es fie auf, nach jahrelanger Trennung 
einen Geliebten ihrer Jugend entvedt zu haben, obwohl dieſer 
Geliebte niedrigem Stande angehörte. Die Liebe wird in weib— 


Selvaggia. 135 


lihen Herzen fo verderblich, daß fie alle göttlihen und menſch— 
lihen Geſetze mißachten, vorzugsweiſe aber jene Sitten und 
Geſetze, welche in Uebereinftimmung mit dem Willen Gottes und 
ber weiſeſten Menjchen einen Unterſchied zwiſchen Hoc und Niedrig 
wollen. Die Fürftin Selvaggia della Rocca ftammte aus dem 
edlen florentinifhen Haufe der Salviato und wurde in ihrem 
neunzehnten Jahre mit dem neapolitanischen Fürften vermählt, 
welcher Grand von Spanien, Großadmiral der Flotten Philipps IV, 
Comthur des Ordens von Galatrava war und ihren jetigen Titel 
und unermeßliche Reichthümer gab, Man erzählte, daß er feiner 
katholiſchen Majeftät einmal eine Silberflotte aus den Händen 
der Engländer gerettet und die Hälfte dieſer Flotte zum Geſchenk 
erhalten, Dieſes vermehrte feine angeerbten Reichthümer um ein 
Bedeutendes und alle diefe Schäße hinterließ er bei feinem Tode, 
ber jchon zwei Jahre nad) feiner Vermählung erfolgte, ver Sel- 
vaggia. Als ob es nod nit genug wäre, daß eine zweiunds 
zwanzigjährige Dame zur Befriedigung ihrer irdifchen Gelüfte fo 
große Güter aufhäufe, forgte der Kardinal Montalto, der über 
Se. Heiligkeit Alles vermochte, daß feine Lieblingsnichte, mit 
allen in Benevent gelegenen, dem Stuhle Petri angehörigen Be: 
igungen belehnt würde, ja er befchenkte fie fogar mit mehreren 
im Bisthume Otranto und in den Sändern von Forli und Urbino 
gelegenen geiftlihen Benefizien, obwohl dieſe nad kanoniſchem 
Rechte nur auf ein männliches, mit den priefterlihen Weihen 
verjehenes Haupt übertragen werden durften. Diefe Sclvaggia 
hatte aber ihr Leben in frühefter Jugend mit Sünde begonnen 
und ihren Leidenichaften auf eine unadelige Art die Herrichaft 
eingeräumt. Schon im fünfzehnten Jahre hatte fie eine Liebjchaft 
mit dem jungen Sohne des Verwalters ihrer väterlichen Güter 
in der Nähe von Siena und diejen felben Geliebten, Namens 
Baccio Bettore, glaubte fie in jenem Karmeliterllofter an der 
Stimme zu erfennen, Es wird nämlich gejagt, dab jener Baccio 
fie zuerft mit feiner Schönen Stimme verführte und gewiß ift, daß 
ver Vater Selvaggia’s, als er hinter die geheime Liebjchaft feiner 


136 Novellen. 


Tochter gefommen, den Baccio habe außer Landes bringen und 
in ein Klojter fteden lajlen. Zu jener Zeit, nämlich acht Jahre 
vor diefem Tage, von dem wir erzählen, hieß es, der alte Signor 
Salviati habe den Baccio auf dem Wege von Siena nah San 
Geminiano ermorden laſſen. Es ift wahr, daß er die Abficht 
hatte, als er die Echande feiner Tochter erfuhr, aber er gab die 
Abficht auf, weil der Vater Baccio's, der alte Vettore, fein Kriegs: 
gefährte geweſen und ihm in verfchievenen Kriegen große Dienfte 
erwiefen. Zange wurde Baccio für todt gehalten. Nur Vettore 
wußte, daß er lebte, weil e3 ihm fein Herr zum Trofte gefagt 
hatte, und Selvaggia wußte es ebenfall3, nachdem fie e8 vom 
Vater ihres Geliebten erfahren. In welchem Klofter aber Baccio 
als Mönch lebte, wußte weder Selvaggia noch Vettore und erfuhr 
es diefer Letztere auch nicht, al3 er den fterbenden Signor Sal: 
viati auf den Knieen anflehte, es ihm zu verrathen. Die Sel- 
vaggia wurde ein Jahr fpäter an jenen Fürften verheirathet und 
e3 war ihr mohl felber damit gedient, daß der Geliebte ihrer 
Jugend verfhmunden blieb. Nun aber, da fie wieder frei und 
Mittwe war, fühlte fie fich vielleicht glüdlih, ihren erften Ge: 
liebten durch Zufall wieder gefunden zu haben. Sie machte mehr 
als die Hälfte der Nacht, bald war fie beforgt, daß fie fich viel: 
leicht doch getäufcht habe und daß die Stimme, die fie gehört, 
nur der Stimme ihres Geliebten ähnlich fei und einem Andern 
gehöre; bald erinnerte fie fi nad Weiberart in der Stille der 
Nacht auf das Lebhaftefte an die Zeit, die fie mit Baccio in glüd- 
lihben Sünden zugebrabt, und fonnte den Wunfch nicht unter: 
drüden, jene Sünden zu erneuen. Selbſt als fie entjchlief, träumte 
fie voll Angſt und Hoffnung. Ihre erite Frage, als fie am andern 
Morgen erwachte, war, ob der Page ſchon nad dem Klofter ab: 
gegangen, und als man ihr fagte, daß er bald zurüd fein müfle, 
fegte fie fih voll Vergnügen ans Frühftüd und fagte zu ihrer 
Kammerfrau, fie hoffe, daß an diefem Tage ihre Jugend neu 
beginne. „Em. Erzellenz,” erwiderte die Kammerfrau, „it noch 
jung und Eure erfte Jugend hat noch nicht aufgehört.“ 


Selvaggia. 137 


„Du irrft, Luiſa,“ antwortete die Selvaggia, „meine erfte 
Jugend bat, Gott fei es gellagt, ſchon in meinem fechzehnten 
Jahre aufgehört und zwei Jahre Yang lebte ich wie eine alte Frau 
neben einem alten Gemahl, aber jo Gott will, werde ich wieder 
einholen, was ich verfäumte, und wenn es mir gelingt, gelobe 
ib dem heiligen Januarius die Einkünfte eines ganzen Jahres 
von meinem Gute Ponte rotto.* 

Der Page, der eben zurüdfam, erzählte, daß der Prior der 
Karmeliter fogleich bereit war, fi auf den Weg zu machen, als 
er erfuhr, daß es die Nichte des Kardinals Montalto war, die 
ihn einlud. In der That fam er kaum eine halbe Stunde nad 
dem Pagen in PBiperno an. Es war ein uralter Mann, der ſich 
faum in der Sänfte aufrecht erhielt. Wie mich ein Bruder jenes 
Kloſters verficherte, zählte er damals fchon ſechsundachtzig Jahre, 
wenn nicht mehr und war er außerdem ein Mann, den Gott 
zur Reinigung feiner Seele mit allen Krankheiten des Alters 
beimfuchte, und die Selvaggia hätte ſich ſchämen follen, einen 
ſolchen ſchwachen und heiligen Greis bemüht zu haben, nur um 
einen ſchändlichen Zwed zu erreihen, und ihn außerdem noch 
zu belügen. Denn es mar nicht der Wahrheit gemäß, daß fie 
vom Kardinal Montalto einen Auftrag an ihn hatte; fie wagte 
nur das vorzufhüten, weil fie wußte, daß fie jih mit ihrem 
Oheime Alles erlauben durfte. Doch ih muß fagen, daß fie 
Ehrfurdt genug befaß, um dem Prior, als fie in ihm einen jo 
ehrwürdigen Greis erkannte, die Hand zu küſſen und ihn um 
feinen Segen zu bitten. 

„Was wollt Ihr von mir, was befehlt Ihr, hohe Frau 
fragte der Prior, 

„Shrwürdiger Herr,” antwortete fie, „Ihr habt in Eurer 
Brüderfchaft einen Bruder Namens Baccio Bettore ?“ 

„Ich weiß es nicht,“ jagte der Prior, „denn ich fenne meine 
Brüder nur nad ihrem Klofternamen. Wir find vierundjechzig ; 
e3 wäre meinem alten Kopfe zu viel, follte ich mir alle weltlichen 
und geiftlihen Namen meiner Brüder merken.“ 


138 Novellen, 


Die Fürftin della Rocca war in BVerlegenheit und fagte nad) 
einigem Nachdenken: „Diejer Bruder ift jegt höchſtens ſechsund— 
zwanzig Jahre alt und hat eine jehr ſchöne Stimme. Er ftammt 
aus dem Toskanifchen und ift bei Siena zu Haufe.“ 

„Seiner der Brüder,” jagte nad einiger Zeit der Prior, 
„Singt fo ſchön wie der Bruder Giovanbatifta; auch ift er wohl 
nicht älter, als ſechs- oder fiebenundzwanzig Jahre, und wenn 
ih nicht irre, Spricht er auch die ſchöne Sprade von Siena — 
biefer mag wohl einmal Baccio Vettore geheißen haben.“ 

„Dieler iſt es gewiß,“ verficherte die Fürftin. 

„Und was ift es mit dieſem?“ fragte der Prior. 

„Mein Obeim, der Kardinal Montalto,” erwiderte die Fürſtin 
mit freer Lüge, „wünſcht, dab Ihr mir diefen Giovanbatifta 
ala meinen Reije: Kaplan mitgebet.“ 

Der Prier erhob bei diefen Worten den Kopf, der bisher 
müde auf der Brujt gelegen hatte und jah die Fürftin verwundert 
und fragend an. „Dieſen Giovanbatifta 9" fragte er fopfjchüttelnd; 
„diefer Giovanbatijta bat ſeit ſechs Jahren das Kloſter nicht ver: 
lafjen. Se. Eminenz Euer Obeim, der Kardinal Montalto kann 
ihn nicht kennen... .... Sch bin fehr verwundert... ... dieſer 
Giovanbatiita ift ein Weltkind, das nur die ftrengfte Zucht 
auf dem Wege der Frömmigkeit erhalten wird — er iſt ber 


mindelt Gelehrte meiner Brüder ..... Er paßt am wenigiten 
dazu, als Kaplan einer hohen Dame beigegeben zu werben .....- 
Ich bin fehr verwundert ...... u 


„Aber mein Obeim, der Kardinal,” fiel ihm die Fürftin uns 
geduldig und mit etwas gebieterifhem Tone ind Wort. 

„So ſei es,” fagte der Prior mit einer leifen Verbeugung, 
„der Kardinal will es, ich habe nichts zu fagen, ich habe nichts 
zu prüfen. Und warın fol id Em, Hoheit den Bruder Giovan: 
batijta zufchiden 

„Sogleih! noch diefen Morgen, denn ih denke um Mittag 
meine Reife fortzufegen, da mich mein Oheim ſchon mprgen 
Abend in Rom erwartet.” 


Selvaggia. 139 


Der Prior erhob fih und ging. 

Es war noch nicht Mittag, ald ein einzelner Karmeliter: 
mönd vor der Herberge ſtand und nad) der Fürftin della Rocca 
fragte. Ein Page führte ihn in das obere Stockwerk, öffnete eine 
Thüre und bedeutete ihm, allein weiter zu geben. Er werde bort 
in dem legten Gemache erwartet. Er trat ein, und als er auf 
den erften Blid die Selvaggia erkannte, blieb er wie aus Stein 
gehauen an der Thüre ftehen. Er bewegte ſich erit, als fie ihn 
bei feinem alten Namen Baccio anrief, und Niemand als Gott 
bat e3 gejehen wie die Selvaggia, ohne ein anderes Wort zu 
fagen, den geweihten Priefter umarmte, Als fie weiter reiste, 
ritt ee neben ihrer Sänfte, und weil es hieß, daß der Weg bis 
Rom nicht ficher fei, hatte er, gleich den Dienern und Gavalieren, 
einen Degen umgegürtet. Da Jedermann feine Waffe brauchte 
und nicht eine mehr da war, als Männer da waren, hatte die 
Selvaggia eine ihrer Kiften öffnen und daraus einen der Degen 
ihres verftorbenen Gatten nehmen lafjen, und fo hatte der Gio— 
vanbatifta die fhönfte Waffe der ganzen Gefellihaft, eben fo wie 
ihm die Fürftin das jhönfte Pferd hatte geben laffen und ritt 
neben ihr, nicht wie ein Mönch oder Kaplan, fondern wie ein 
ftolger Cavalier. Der Kardinal Montalto lachte fehr, als er feine 
Nichte in feinem Palafte zu Rom empfing und fie in folcher Ber 
gleitung ſah. Er war ein alter Herr und gewöhnt, zu Allem zu 
laden, was die Selvaggia that oder fagte. 

Die Selvaggia war fehr zufrieden, ihren Geliebten wieder 
gefunden und ihn jegt in ihrer Nähe zu haben. Der Baccio von 
Siena, der fie mit ſechzehn Jahren verführt hatte, war ein 
Ihöner Jüngling mit einer fhönen Stimme gewejen; der Bruder 
Giovanbatifta war jegt ein ſchöner Mann und feine Stimme 
war auch fräftiger und Elangvoller geworden. Die Gemandtheit, 
welche Selvaggia ehemals an ibm bemwunderte, wenn er an ge: 
rader Mauer zu ihr hinauf Eetterte, mit der er wilde Pferde 
tummelte, oder allerlei Waffenübungen trieb, hatte im Kloſter 
niht abgenommen, oder vielmehr ftellte fich gleich wieder ein, 


| 140 Novellen. 


fobald er in Freiheit lebte, wieder ein Pferd beiteigen, eine 
Waffe Schwingen fonnte. Die Kutte war ihm dabei allerdings 
beſchwerlich, und er legte fie darum kurz nach feiner Ankunft in 
Rom ab, um fie gegen ſpaniſche Rittertradht zu vertaufhen. Der 
Kardinal Montalto wollte ihn gar nicht wieder erkennen und 
lachte über die Verkleidung. Nur fanft verwies er es ihm, mit 
der Verkleidung nicht gewartet zu haben, bis feine Tonſur vers 
wachſen war, Die Selvaggia war glüdlih, fie verficherte ihren 
Dbeim, der e3 mit Vergnügen hörte, daß ihr Glück, da fie es 
nah fo langen Unterbrehungen wieder gewonnen und e3 jeßt 
in Freiheit genießen fünne, volltommen fei, und daß fie der Vor: 
jehung danke, es ihr in früherer Zeit entzogen zu haben, um es 
ihr für jegt aufzufparen. Wie groß die Vergnügungen waren, 
welche ihr die Hauptſtadt der Chriftenheit, al3 der Lieblings: 
nichte des allmäctigen Kardinal, darbrachte, fie verſchmähte 
fie alle; fie blieb allein in ihrem Palaſte, zufrieden mit der Ge— 
ſellſchaft Baccio’3, und fie beabfichtigte, ſich nach Beilegung der 
Unruhen in Neapel mit ihm auf eines ihrer Schlöfler in den 
Apenninen zurüdzuziehen. Auch Baccio war glüdlih; unbe: 
kümmert darum, daß er alle Gelübde des Priefters brach, freute 
er ih, des Klofterzwanges ledig zu fein, und die Selvaggia 
hatte ihn zum reihen Manne gemacht, indem fie ihn mit großen 
Geſchenken überhäufte und außerdem die geiftlihen Benefizien, 
die fie befaß, auf ihn übertragen ließ. Sie nahm es ihm aud 
nicht übel, wenn er fie oft allein ließ, um dag neue Leben in 
der Freiheit und die Vergnügungen der Stadt Nom zu genieben. 
Sie jagte ih, daß ihn das immer mehr zum Cavaliere ausbilde, 
und daß er jo ablegen werbe, mas an ihm von feinem niedrigen 
Stande und vom Leben im Klofter noch übrig war. Wie fündig 
eine Liebe ſei, fo ift e8 doch hergebracht, daß man die Treue 
einer jolhen Liebe rühme, obwohl man damit nur die Ausdauer 
der Sünde rühmt. Vielleicht haben Diejenigen, die fo thun, doch 
Recht, denn die Treue iſt immer eine fhöne Tugend, und wenn 
dieje Leute Recht haben und wenn ich mich bezwinge, jo zu denfen 


Selvaggia. 141 


wie fie, dann muß auch ich die Selvaggia rühmen, daß fie jeßt 
nach fieben Jahren und als eine der mädhtigiten Damen ver 
Chriftenheit, dem Geliebten ihrer Jugend und dem niedrigen 
Manne diejelbe Liebe bewies wie ehemals. Ya die Liebe muß 
noch größer gemwefen fein ala ehemals, da damals die Selvaggia 
in der Einſamkeit feinen andern Mann fannte, und da fie jetzt 
al3 eine fehr fchöne und jo mächtige Dame unter allen Cava— 
lieren der Stadt und des ganzen Italiens die Wahl hatte. So 
wollen wir fie denn loben. 

In ihrer Liebe und Treue forgte Selvaggia weiter als den 
laufenden Tag und beſchloß fie, fein Wohlergehen für alle Zu: 
Eunft zu jihern. Sie hatte ihm die Dispens ausgewirkt, daß er 
die weltlichen Kleider ohne Verfündigung tragen dürfte und mit 
den Kleidern den Titel eines Cavaliere Baccio. Sie hoffte nod) 
weiter mit Hülfe ihres Oheims ihn dem Säculo wiedergeben zu 
fönnen, was nicht unmöglich war, da e3 fich fand, daß er in 
Folge des Drängens des verftorbenen Signor Salviati, ihres 
Vaters, ſämmtliche Weihen, oder wenigſtens die erjte vor dem 
kanoniſchen Alter erhalten. Se. Heiligkeit der Papit konnte Baccio, 
ohne dem kanoniſchen Rechte irgend welchen Zwang anzuthun, 
mit Leichtigkeit dispenfiren, Dieß wäre vielleicht jchon einige 
Monate nah der Ankunft Selvaggia’3 und ihres Geliebten ge: 
ſchehen, wenn nicht der Kardinal Montalto die Angelegenheit 
abjichtlich verzögerte. Er vermuthete, daß Selvaggia fähig war, 
oder vielleicht fhon die geheime Abjicht hegte, den Baccio zu 
heirathen, jobald ihm die Dispenfation die Ehe geftattete, und 
damit war dem Kardinal nicht gedient, einen Neffen aus nie: 
driger Volksklaſſe zu erhalten. Selvaggia für alle Fälle beforgt, 
arbeitete dahin, daß der Gavaliere Baccıo, wenn ihr Hauptplan 
mißlänge, wenigitend aus dem Karmeliterorben in den ritter: 
lihen der Sohanniter von Malta treten dürfte, als in einen 
Orden, defien Regel und Lebensweile feinem Temperamente 
befier zufagte, Die Selvaggia war eine kluge und vorausfichtige 
Frau. Sie wußte fehr wohl, daß ihr Oheim, der ein bejahrter 


142 Novellen. 


Mann mar, nicht viele Yahre mehr leben könne; nad feinem 
Tode könnte man ihrer Verbindung mit Baccio Hindernifje in 
den Weg legen. Darum wünſchte fie, daß er auf jeden Fall in 
den Zohanniterorden aufgenommen werde, weil die Mitglieder 
dieſes Ordens ſämmtlich wie Herren lebten und e3 auch dem 
ftrengften Bontififate nicht beikam, fie in ihrer Freiheit und in 
ihren Sitten zu beichränfen. Man fagt, daß SKaifer Carolus 
Quintus vom PBapite fich diefe Freiheit der Nitter ausbedungen, 
al3 er ihnen die Inſel Malta einräumte, nachdem fie die Inſel 
Rhodus verloren hatten, und aus Dankbarkeit für diefe Bedingung, 
jo jagt man ferner, hätten befagte Ritter befagten Kaifer in 
feinen afrikaniſchen Kriegen fo tapfer unterjtügt. Das laffen wir 
dahingejtellt, denn wir glauben nicht, daß fich jemals ein Papſt 
eine folhe Bedingung hätte aufdringen lafjen, welche einem geijt: 
lihen Orden freie Sitten und mandherlei after für ewige Zeiten 
geftattet. Dieſes fümmert uns nicht; ich erzähle nur von der 
vorforglihen Liebe der Selvaggia. 

Um dieſe Zeit lebte in Rom ein ehrlicher Hutmacher Namens 
Francesco Somigli, der ſich mit ehrlicher Arbeit ein ſchönes Ver: 
mögen erworben und einen ehrbaren Hausſtand aufrecht erhielt 
und feine Kinder, deren er drei hatte, eine erwachſene Tochter, 
von der wir noch ſprechen werden und zwei Heine Knaben, Zwil: 
linge, riftlich erziehen ließ. Da hörte diefer Hutmacher So: 
migli, der jenfeit3 der Tiber wohnte, von den Thaten der Räuber 
in Sonnino und in den Gebirgen, und er empfand einen un: 
mwideritehlihen Drang, an diefen Thaten theilzunehmen. In 
einem Alter von fünfundfünfzig Jahren verließ er Haus, 
Meib und Kinder und ging in das Gebirge zu den Räubern, 
welche damals der tapfere Gatone kommandirte. Er hatte fein 
Glüd, denn gerade damals hatte Se. Heiligkeit der Bapft dem 
Kardinal Montalto Vorwürfe über das Räuberweſen gemadt, 
und der Kardinal ſchwor die Räuber zu vernichten und alle, die 
nit in den Gebirgen erſchoſſen, aber gefangen werben, hängen 
zu laffen. An einem und demfelben Tage ließ er zahlreiche 


Selvaggia. 143 


Rotten von Reiter und Fußvolk, darunter auch die Epanier, die 
an der neapolitanifchen Gränze jtanden, an fünf verichiedenen 
Punkten in das Gebirge brechen, und viele Räuber wurden an 
diefem Tage erfhoflen und niedergebauen, viele andere ald Ge: 
fangene nach Rom gebracht, jo daß das alte Theater, in welchem fie 
überwadht wurden, ganz vollgefüllt war. Unter diefen Gefan— 
genen befand ſich au der Hutmacher Francesco Somigli, der 
erft zwei Tage vorher in das Gebirge gelommen war. In der 
ehrlihen Familie des Hutmacers war große Klage darüber, daß 
der Vater gehängt werben folltee Man wußte, was der Kar: 
dinal geſchworen hatte und gab alle Hoffnung auf, auch nur 
einen der Räuber begnadigt zu fehen. Auch war in der Familie 
Somigli Niemand da, der fich für den Vater hätte verwenden 
fönnen; die Frau des Hutmachers befam bei der traurigen Nach— 
richt eine Lähmung in das linke Bein und in die Zunge, fo daß 
fie weder gehen noch fprechen konnte; die Knaben waren nod 
viel zu jung, und da war Niemand übrig als die Toter Emilia, 
ein Mädchen von fiebenzehn Jahren und das fchönfte Mädchen 
von jenſeits der Ziber. Emilia lief klagend durch die ganze 
Stadt, bat, flehte, jammerte, meinte bei Jedermann, aber Nie: 
mand mußte ihr zu belfen. Doch erfuhr fie, daß die Fürftin 
Della Rocca bei ihrem Obeime in größtem Anfehen ſtehe, und 
daß dieſe allein ihren Vater retten könnte. Man rieth aber ver 
Emilia, fih nit an die Fürftin, fondern an den Gavaliere 
Baccio zu wenden, weldem wieder die Fürftin nicht3 verjagen 
konnte. Ihr, der Tochter des Hutmachers, hätte die Fürftin leicht 
Nein jagen können und dann war der Vater verloren; veriprad) 
aber ver Cavaliere bei der Fürjtin ein Wort für fie einzulegen, 
fo konnte man ficher fein, daß die Fürftin mit dem Kardinal 
iprehen und die Angelegenheit jo zu einem guten Ende gebeihen 
werde. Die Emilia ging alfo zu dem Gavaliere Baccio, und 
diefer hatte fie faum erblidt, als er auärief: „Jeſus Maria, 
dieß ift das ſchönſte Mädchen, das ich jemals geſehen!“ Er faßte 
fogleih eine Leidenſchaft für diefes Mädchen und er verfchwor 


144 Novellen. 


fih hoch und theuer, ihren Vater zu retten, wenn fie dafür feine 
Geliebte werden wollte Das Mäpchen fügte fi feiner Forde— 
rung und er ſprach mit der Gelvaggia zu Gunſten des Hut: 
machers, indem er ihr vorjtellte, daß fie eine gute That thue, 
wenn fie einen ehrlihen Mann, der bi dahin ein mafellojes 
Leben führte, feiner Familie vom Galgen losredete. Die Sel- 
vaggia ftellte ihrem Obeim vor, daß fein Schwur fich nicht auf 
den Hutmacer beziehe, da er den Schwur gethan hatte, noch 
bevor der Hutmader im Gebirge angelommen war, und ber 
Kardinal ließ den Hutmacher in dem Augenblide entwijchen, als 
man die andern Gefangenen aus dem alten Theater an den 
Galgen führte, 

Der Cavaliere Baccio führte die Emilia in jenes Haus, 
welches mit dem rechten Angel auf den Monte Pincio fieht und 
richtete ihr daſelbſt im Hofe eine ſchöne Wohnung ein, in welcher 
er oft die Nächte verbrachte. Die Selvaggia beſchränkte ihn fo 
wenig in jeinem Thun, daß er viele Nächte ausbleiben konnte, 
ohne daß fie ihn zur Rede ſtellte. Wenn fie ihn manchmal fragte, 
wo er die Nächte verbringe, jo antwortete er ihr, das gejchehe 
im Balaite ver Maltejer, wo man jehr luftig zeche, und der Gel: 
vaggia war e3 jehr angenehm, ihn in diejer ritterlichen Geſell— 
ſchaft zu wiffen, um fo mehr al3 damals meijt Maltefer von ver 
provenzalijhen Zunge in Rom anweſend waren, welde man 
vorzugsweije wegen ihren edlen Manieren und feinem Wejen 
unter allen Zungen der Religion rühmte. Baccio lebte jo uns 
geftört durch viele Monate mit, der Emilia, bis es ihm einfiel, 
oder vielmehr, bis man ihm eingab, ihr Bildniß machen zu 
lajjen. Das war zu feinem Unglüd. 

Der Maler des Bildnifjes war Fra Domenico, den man in 
Rom wegen feiner Heinen Geſtalt Picciotto nannte, Fra Do: 
menico fam aus demjelben Klojter ver Karmeliter, aus welchem 
die Selvaggia den Baccio entführt hatte. Er war ein jehr be: 
gabter Meifter und hatte in Neapel eine Zeitlang unter dem 
berühmten Heiligenmaler Nibera gearbeitet. Von dort in fein 


Selvaggia. 145 


Klofter zurüdgefehrt, ſchmückte er das Refeltorium und die Kirche 
mit vielen Heiligenbildern, was ihm unter den Mönchen großes 
Anjehen verſchaffte. Sie waren ſtolz auf feinen Befi und 
meinten, daß ihr Haus durch ihn eben fo berühmt werden folle, 
wie andere Klöfter, z. B. San Marco in Florenz, durch die 
Malereien ihrer Brüder berühmt werden. Fra Domenico aber 
erfannte, daß er zur Vervolllommnung feiner Kunjt noch die 
Gemälde Rafaeld, Michael Angelo's und anderer Meifter ftu: 
diren müfje; denn, fagte er, in Rom hätten vor hundertfünfzig 
Fahren viele Meifter gelebt, welche ven Ribera weit übertrafen, 
obwohl diejer heute der berühmtefte unter allen Malern ift. Man 
glaubte dem Fra Domenico, weil er der Kunftverjtändigfte im 
Klofter war und weil es heute wiele Leute gibt, die das glauben, 
nachdem ein junger Neapolitaner, Namens Salvator Roja, viele 
Anhänger findet, die dafjelbe behaupten. Auch ſagte man fidh, 
daß der Bruder Giovanbatifta, der jegt in Rom lebte und fo 
große Macht hatte, den Bruder Domenico unterftügen und in 
Allem helfen werde. So fam Fra Domenico nah Rom, und 
Baccio nahm fich in der That feiner an, jo weit er e3 vermochte. 
Er führte ihn auch feiner Herrin, der Selvaggia und dem Kar: 
dinal Montalto vor, und Fra Domenico hatte bald eine gute 
und forgenlofe Stellung. Er malte die Bilonifje vieler Kar: 
dinäle und felbft das des heiligen Vaters, und hatte fo viele 
mächtige Belanntichaften, daß er auf Benefizien rechnen durfte. 
Dieb Alles dankte er dem Baccio, als deſſen vertrautefter Freund 
er lebte und der Selvaggia, die ihn oft zum Nachteflen einlud. 
Aber Picciotto konnte es nicht vergeflen, daß Baccio ihn be 
fhügen folltee Während er im NKlofter der Karmeliter immer 
hoch angefehen war und den Andern faum eines Wortes würdigte, 
wurde diefer nie anders denn ein niedriger Laienbruder betrachtet. 
Picciotto war der Ruhm des Klojterd, während Giovanbatijta 
wegen feiner Unwiſſenheit für Nicht3 geachtet wurde. Und jept 
in der Hauptftabt der Chriftenheit ſelbſt, in der großen Welt ver 
Kardinäle war Giovanbatifta der Mächtige, und er, Domenico, 
Morig Hartmann, Werke, VI. 10 


146 Novellen. 


fein Klient und ihm zu Danfe verpflichtet. Dabei mußte er als 
Künjtler ein bejcheidenes Leben führen, während der unmwifjende 
Baccio über größere Schäge verfügte, als ein Kardinal und zu: 
glei; eine der ſchönſten Frauen Staliens und gewiß das fchönfte 
Mädchen Roms zu Geliebten hatte. Um Gmilia beneidete er den 
Baccio nicht, obwohl fie Schöner war als die Fürftin, wohl aber 
beneibete er ihn um die Gelvaggia, durch melde er über unge: 
beure Reichthümer und über die ganze Macht des Kardinals 
Montalto verfügte. Er verachtete ven Baccio, daß er Alles das 
nur benüßte, um ein adeliges Schlemmerleben zu führen und 
die Gavaliere nadzuahmen. Er jagte fih, wie anders er ſolche 
Mittel verwenden würde, um fich zu den höchſten Ehrenftellen, 
vielleicht biS auf den Stuhl Petri emporzuſchwingen. Und in 
feinem Neide und Ehrgeize bejchloß er, den Baccio in den Augen 
der Fürftin zu verderben und feine Stelle einzunehmen. Wie 
bei der Selvaggia, fo pflegte er mit dem Baccio das Nachteſſen 
bei der Emilia einzunehmen, und eines Abends beklagte er, daß 
die höchſte Schönheit nicht unverwelklich fei und forderte den 
Baccio auf, die Emilia von ihm malen zu lafjen, jo lange ihre 
Schönheit in folher Blüthe prange. Der verliebte Thor war 
nicht ſchwer zu überreden und Fra Domenico nahm feine ganze 
Kunft zufammen, um aus diefem Bilpniffe ein Wunder der 
Malerei zu machen. Es war ein überaus jchönes Bildniß, und 
viele Fremde und Einbeimifche befuchten die Wertjtätte Fra Do: 
menico's nur um bajlelbe zu jeben. Als die Selvaggia von dem 
ſchönen Bilde hörte, fragte fie ra Domenico, was es damit für 
Bewandtniß habe und ob das Bild wirklich fo fchön fei, wem es 
angehöre und ob fie es nicht auch fehen könne? Der Maler ant: 
mortete, das fei ein leerer Lärm mit dem Bilde und es jei gar 
nicht der Mühe werth, über die Perſon, die es darftelle und über 
die Malerei zu reden; aber er habe andere Bilder in feiner Wert: 
ftatt, die weit mehr Werth haben, und er würde ſehr glücklich 
fein, wenn Ihre Hoheit die Fürftin die Werkſtätte einmal be: 
juchen wollte. Die Selvaggia war es zufrieden und bejtimmte 


Selvaggia. 147 


den Tag und die Stunde. Der Picciotto beſprach Alles mit 
feinem Farbenreiber und unterrichtete ihn, wie er die Selvaggia 
empfangen und was er ihr jagen ſolle. Als nun die Stunde des 
Befuches fam, verbarg er fich hinter dem Haufe, und als’ vie 
Gignora eintrat, jagte ihr der Farbenreiber, dab Fra Domenico 
in einem dringenden Auftrage jeines PBriord jo eben habe aus: 
gehen müjjen. Die Selvaggia, als fie das Bild der Emilia ſah, 
war jehr erjtaunt und jagte, das jei gewiß das jchönfte Mädchen 
Staliend, Dann fragte fie den Farbenreiber, wer denn dag 
Mädchen eigentlich fei, welchem Stande fie angehöre und ob man 
ihr nicht Wohlthaten erzeigen fünne; jo jehr wurde fie von der 
Schönheit des Bildes eingenommen. Der Farbenreiber lachte 
mit verftellter Einfalt und fagte: „O, die bedarf feiner Wohl: 
thaten, für die forgt fhon der Cavaliere Baccio.“ 

„Wie jo 2* fragte die Fürftin. 

„Weil fie die Geliebte des Baccio ijt,“ antwortete der 
Mann. 

Die Selvaggia aber lachte und ſagte: die Geliebte des 
Baccio wäre es mohl zufrieden, jo jhön zu fein wie dieſes 
Bild. — 

„Nun feht,“ rief wieder der Andere, „wie ſchwer Liebende 
zu befriedigen find, erſt gejtern war er mit ihr bier in der Wert: 
ftätte, und wie er fie neben dem Bilde ſah, ſchwur er bei allen 
Heiligen, daß jie doc viel jchöner ſei, als fie Fra Domenico 
malen könnte.“ 

Die Selvaggia wußte nicht, was fie aus dieſen Reden machen 
jollte und fragte ven Mann: „Kannjt du mir auc jagen, wer 
fie iſt?“ 

„Allerdings kann ich das,“ ermwiderte der Gefelle, „fie ift 
die Tochter eines Hutmacherd von jenfeit3 der Tiber, den der 
Baccio vom Galgen erlöst hatte.” 

Jetzt gerieth die Selvaggia in einen großen Zorn, fie erhob 
das Bein und trat ein Loch in das Bildniß der Emilia. In 
diefem Augenblide trat der Bicciotto in feine Werkſtatt und beim 


148 Novellen. 


Anblid des Loches in der Leinwand ſchlug er die Hände zu: 
fammen und rief: „Wehe mir, ich fehe, daß Ihr ſchon Alles 
mißt, und daß ich zur unglüdlihen Stunde ausgegangen bin!” 

Die Selvaggia fragte, ob das wahr fei, was ihr der Ge: 
jelle gejagt, und der Picciotto erwiverte, daß er e3 nicht läugnen 
fünne, was der Gejelle in feiner Einfältigteit verrathen habe. 
Die Selvaggia ließ ihren Bagen, den Kavalier und die Kammer: 
frau, die mit ihr waren, auf das Kreuz ihres Gürtels ſchwören, 
dem Gavaliere nichts verrathen zu wollen, daß fie von feiner 
Liebe mit der Emilia ſchon etwas wiſſe. Auch der Picciotto 
mußte ihr ſchwören und dann mit ihr in ihren Balaft heimgehen, 
um ihr nähern Beicheid zu geben, damit fie wijje, wie und wo: 
mit fie fih an Baccio rächen jollte. 

Sie verftellte ih jo gut, daß der Baccio gar feine Ahnung 
davon hatte, daß ihn der Picciotto verrathen, daß die Selvaggia 
um feine Treulofigfeit wußte, und daß fie ſchon Alles vorbereitet 
hatte, um fih an ihm zu rächen. Zwei ihrer neapolitanifchen 
Diener waren von ihr beitellt, ihn vor ihren Augen zu ermorden, 
Sie hatte nur das eine Bedenken und noch fo viel Liebe für ihn, 
daß fie ihn nicht in der Fülle feiner Sünden, ohne Beichte, 
wollte fterben lafjen. Darüber berubigte fie ver Fra Domenico, 
welcher ihr verſprach, dabei zu fein, wenn der Baccio ermordet 
würde und ihm in feinem legten Augenblide vie Abjolution zu 
geben. Da e3 aber nicht fiber war, daß Fra Domenico noch 
Zeit genug haben würde, um dem Sterbenden die Beichte abzu: 
nehmen und ihm die Abjolution zu geben und die Selvaggia um 
jeine Seele beforgt war, beichloß fie es jo zu maden, wie es 
kurz vorher die Marcheſa von Valencia gemacht hatte, melde 
ihrem Geliebten, den fie ermorden ließ, in der legten Stunde, 
und während er ermordet wurde, eine Todtenmefle lejen ließ. 

Sie war mit dem Baccio bei einem großen Feite in dem 
Garten des Kardinal Gonzaga, welcher eben die franzöfifchen 
Abgefandten bei jih empfing. Gegen Mitternacht jagte fie zu 
dem Baccio: „Ich habe Nachricht erhalten, daß in dieſer Nacht 


Selvaggia. 149 


um die zwölfte Stunde in Neapel ein mir lieber Freund von den 
Aufftändifchen hingerichtet wird, und ich habe ihm in der Kirche 
von Santa Maria ein Todtenamt beftell. Dahin will ich jest 
gehen, um am Katafalk zu beten und jeine Seele mit ©ebeten 
zum Himmel zu begleiten. Du Baccio fomme mit mir und ſinge 
mit im Chor, damit ich in diefer traurigen Stunde deine liebe 
Stimme böre, die ich fo lange nicht gehört habe.” Der Baccio 
ging gerne mit ihr in die Kirche Santa Maria. Diefe war ganz 
dunfel und ſchwarz ausgefchlagen. Schwarze Tücher bevedten 
die Säulen und die Wände. In der Mitte war ein Katafalf 
aufgefchlagen und nur wenige Lichter brannten rings umber. 
Die Selvaggia fniete in der Nähe des Katafalkes nieder und der 
Baccio ftellte jih unter die Sänger, die am Fuße des Katafalfes 
jtanden. Der Safriftan gab ihm die Rolle in die Hand, aus 
welcher er fingen jollte. Als er mit feiner wunderfchönen Stimme 
zu fingen anfing, ſah er zur Selvaggia hinüber, wohl wifjend, 
wie ſehr fie ihn liebte, fo oft er zu fingen begann und beim 
Scheine der Kerze, an deren Fuße fie fniete und die ihr Geficht 
beleuchtete, während das Uebrige ihrer Geſtalt von Finſterniß 
bevdedt war, jah er, wie fie ihn mit liebendem Auge betrachtete 
und wie über ihre Wangen zwei große Ströme von Thränen 
berabflofien. Er nahm fih um fo mehr zufammen, um nod 
jhöner zu fingen, und er fang mit großer Andacht fort, bis er 
auf einmal ftodte und verftummte, denn er fam in dem Todten: 
liede an die Stelle, wo er für fein eigenes Heil, al3 eines Ster: 
benden, betete. Er las in der Rolle, die er in Händen hielt, 
ausführlih jeinen eigenen Namen. Erſchrocken ſah er zur Sel- 
vaggia hinüber, die er aber jegt nicht fehen konnte, da fie ihr 
Gefiht aus der Beleuchtung der Kerze in die Dunkelheit zurück— 
gezogen hatte, Er faßte ſich wieder und dachte, daß diefes nur 
ein Irrthum ſei. Man werde dem Sakriſtan gejagt haben, wem 
er die Rolle zu übergeben habe, und dieſer werde den Namen 
verwechjelt haben mit dem Namen Desjenigen, der in dieſer 
Stunde in Neapel enthauptet werben foll, und für ven die Todten: 


150 Novellen, 


meſſe gefeiert wurde, meil ihm beide Namen gleih unbekannt 
waren. Der Baccio jang ruhig wieder weiter. Er fang jo fort, 
bi3 die Chorfnaben mit dem Weihrauch und dem Meihmedel um 
den Katafalk herumzogen. Der Safriltan trug ihnen eine bren: 
nende Kerze vor, und beim Scheine diefer Kerze ſah Baccio aber: 
mals feinen Namen, der in großen Buchſtaben auf einem weißen 
Streifen gefchrieben, über dem Katafalfe lag. Wieder bradı 
jeine Stimme ab und er fah zur Selvaggia hinüber, die er jeht 
‚beim Scheine der Kerze, die der Safriftan trug, ſehen konnte, 
und es fam ihm vor, al3 wäre jegt ihr Geficht, das ihm ent: 
gegen blidte, von Mitleid und Grimm zugleich bededt. Eine un: 
geheure Angft überfiel ihn, er dachte an Alles, was er an ber 
Selvaggia verbrochen hatte, warf die Rolle auf den Boden und 
floh au3 der Kirhe. Eben al3 er aus der Thüre ftürzen wollte, 
warf fi ihm Fra Domenico in den Weg, faßte ihn am Mantel 
und ſchrie mit lauter Stimme: „Er entwifcht uns! Laßt ihn nicht 
entwiſchen!“ Auf diefen Ruf kamen rechts und links die zwei nea- 
politaniichen Diener der Selvaggia hinter den Säulen des Bor: 
tal3 von Santa Maria mit nadten Dolchen hervor. Aber bevor 
fie fi) dem Baccio nähern konnten, hatte diefer feinen eigenen 
Dold aus dem Gürtel gezogen und ihn dem Fra Domenico, der 
ihn aufhalten wollte, in die Kehle geftoßen, daß er augenblidlich 
zuſammenfiel. Der Baccio jprang dann mit einem Satze die 
Treppe von Santa Maria hinunter, mitten zwifchen ven Dolchen 
der beiden Neapolitaner. Der Eine hatte ſchon mit foldher Hef: 
tigkeit nad ihm geſtoßen, daß er feinen eigenen Arm nicht mehr 
zurüdhalten konnte und fich felbjt in den Schenkel fo fehr ver: 
wundete, daß er den Baccio nicht zu verfolgen vermochte. Der 
andere Neapolitaner hatte nicht ven Muth, den Baccio allein zu 
verfolgen. So fam diefer unverfolgt davon; aber er glaubte doc) 
immer Schritte hinter fih zu hören und, mit dem Degen in der 
Hand, hörte er nicht auf zu laufen, lief er über die Brüde, bis 
er am Haufe de3 Hutmachers Francesco Somigli anlam. 

Diejer war fehr verwundert, als er hörte, was vorgegangen 


Selvaggia. 151 


war. „Diejes Alles," fagte er, „hat die Selvaggia wegen ver 
Emilia unternommen. Nunmehr bift du, o Baccio, in Rom 
deines Lebens nicht mehr fiher; auch Emilia iſt es nicht, und 
auch mich kann die Selvaggia jegt noch hängen lafjen.“ 

„Was follen wir beginnen ?“ fragte Baccio. 

„Wir find im ganzen Ztalien nicht fiher. Die Macht des 
Papftes reicht überall hin, und fobald dich die Selvaggia ver: 
folgt, bift du eine fo machtloſe Perjon wie ih, der Hutmacher, 
und meine Tochter Emilia, Ueberall, fei es in Florenz, in 
Mantua oder in Venedig, werden die Shirren dem Karbinal 
Montalto gerne zu Willen fein und uns nieberjtehen oder ge: 
bunden nah Rom liefern. Nur in die Gebirge zu den Räubern 
reicht die Macht des Papſtes und des Kardinald nicht. Dorthin 
müffen wir ung flüchten und wir werben gut aufgenommen fein, 
da ich dort viele Freunde zähle. Dem Baccio leuchtete das ein, 
daß er nirgends mehr vor den Dolchen der Selvaggia ficher jei, 
und ſogleich holte er mit dem Hutmacher die Emilia, und noch 
in derſelben Nacht ſtiegen ſie über eine alte Breſche der Mauer 
aus der Stadt Rom und begaben ſich nach Sonnino in das Ge— 
birge. 

Die Selvaggia war Anfangs ſehr ergrimmt über das Miß— 
lingen des Streiches; aber ſchon am andern Morgen freute ſie 
ſich, daß der Baccio am Leben war und lobte den guten Stoß, 
mit dem er den Fra Domenico für ſeinen Verrath beſtraft hatte. 
Sie ging auch nach Santa Maria, um bei Tageslicht zu ſehen, 
welchen gefhidten und gewaltigen Sprung der Baccio gemacht 
hatte. Dann aber verfiel fie in große Traurigkeit, und die Luiſa 
tieth ihr, den Baccio überall aufſuchen zu laffen, meil jie ohne 
ihn doch nicht wieder froh werde, und ihm zu verzeihen. Davon 
wollte fie nichts wiſſen. Nur im Geheimen jandte fie Späher 
aus, um zu erfahren, was der Baccio jetzt treibe und wo die 
Emilia fei. Aber fie konnte nichts erfahren. Der Baccio und 
die Emilia blieben verſchwunden, und erft, al3 fich die Späher 
beim Hutmacher erfundigen wollten und auch diejer fort war, 


152 Novellen, 


vermuthete fie, daß fie Alle zu den Räubern in die Gebirge ge: 
gangen. Sie fandte ihre Späher auch dorthin und hatte bald 
die Gemwißheit, daß dem wirklich fo mar. 

Man hat e3 oft gejagt, daß Niemand errathen könne, was 
im Herzen eined Meibes vorgeht, entfteht oder aufhört. Es ge: 
jchieht meift das Gegentheil von dem, was man erwartet. Es 
ift ein tiefer, dunkler Brunnen. Wenn man aud mit gutem 
Auge bineinblidt, man fieht nicht, ob unten lebendes Waſſer ift, 
oder ob unten Schlangen und Kröten find. Man läßt den Eimer 
hinab, um Wafler zu ſchöpfen und man holt eine Kröte heraus; 
man läßt ben Eimer hinab, um eine Kröte oder Schlange zur 
Giftbereitung zu holen und man jchöpft Hares Wafler heraus. 
Dieſes jchreibe ih aus einem Buche ab. Die Selvaggia, als fie 
für den Baccio die Todtenmefle leſen ließ und glaubte, daß er 
noch in dieler Nacht fterben werde, verliebte ſich in ihrem Mit: 
leid aufs Neue in ihn, fo, daß fie ihn wie mit der Stärke einer 
neuen Liebe liebte. Dieb war zum Unglüd des ganzen Landes. 
Denn jhon zwei Wochen, nachdem der Baccio zu den Räubern 
gegangen, fingen dieje aufs Neue an, Campanien, das Ga: 
biners und lateinifche Land zu plündern und entführten viele 
Einwohner jelbit aus dem Innern der Stadt dieß- und jenfeits 
des Fluſſes. Sie führten jehr kühne Thaten aus, nicht mehr 
unter dem Catone, welcher nad Spanien gegangen und dort 
Soldat geworden war, fondern unter einem neuen Führer, der 
ih Piattore nannte, im Gebirge großes Anjehen genoß, und 
der fein Anderer war als der Baccio oder Karmelitermönd Gio— 
vanbatifta. Auch von dem Muthe feines Lieutenants fprah man 
viel und auch diejer war fein Anderer als der alte Hutmacher 
Francesco Somigli, der ſich ebenfalls einen andern Namen bei: 
legte, welchen ich aber jegt, nady mehr als zwanzig Jahren, ver: 
gefien habe. Die Emilia wohnte in jenem Haufe in Sonnino, 
welches über alle andern Häufer emporragt und wie bie Spitze 
einer Pyramide ausfieht, denn der ganze alte Fleden hat dieſe 
Form, wie er mit feinen Häufern einen hoben, von einer Spitze 


Selvaggia. 153 


nad allen Seiten gleihmäßig abfallenden, Hügel bevedt. Run 
führten, wie ich jagte, die Räuber jet allerlei Fühne Thaten 
aus, daß man in der Stadt felbjt nicht mehr ficher war, und 
der Kardinal Montalto fandte dieß Mal weder Shirren, noch 
Truppen aus gegen fie, obwohl e3 der Bapit wollte, weil es die 
Gelvaggia nit wollte. Sie brachte ihn immer davon ab, wenn 
er Schon Befehl gegeben hatte, daß die Truppen gegen die Räuber 
aufbrechen, um mwenigitens das Land bi an die Gebirge zu rei: 
nigen. Sie beforgte, daß der Baccio bei einem Kampfe mit den 
Truppen oder Shirren umfommen könnte, und darum verhinderte 
fie jede Unternehmung und hatten die Gebirgsbewohner unter 
dem PViattore freies Spiel. Der Kardinal beflagte dieß, denn er 
war ein Neffe des Papftes Sirti V. Montalto, feligen Ange: 
denkens, welcher die Campagna und das ganze Patrimonium 
von Räubern gefäubert und fih damit unvergänglichen Ruhm 
erworben, und der Kardinal meinte, daß es feine Pflicht fei, den 
Fußtapfen feines großen Oheims zu folgen. So verbrachte die 
Selvaggia ihre Zeit damit, um von Baccio Unheil abzumenden. 

Da begab e3 fih, wenige Monate nah der Flucht des 
Baccio, daß ein Edelmann, Namens La Tremoglia, aus dem 
Gefolge des franzöfiihen Gefandten, mit dem feiner Nation ei: 
nenen Leichtſinn, ſich einige Miglien weit von der Stadt allein 
binauswagte. Die Räuber umringten ihn und führten ihn in die 
Gebirge. Hätten fie gewußt, daß er aus einem herzoglichen Haufe 
Frankreichs und aus dem Gefolge des franzöſiſchen Gefandten 
jei, fie hätten jich wohl nie an ihm vergriffen und ihn auch fo: 
gleich freigegeben, nachdem er ihnen fagte, wer er jei. Sie 
glaubten ihm aber nicht. Sie hielten ihn für Einen von der 
Rotte des franzöſiſchen Herzogs von Guife, der fih nad dem 
Tode de3 Majaniello in Neapel hatte zum Könige machen wollen, 
Viele jeiner Anhänger aus franzöſiſchem Blute verweilten ala 
Flüchtlinge in Nom, und da Einer derfelben die Räuber erit 
wenige Wochen vorher täufchte, indem er fih für einen Edel: 
mann des franzöfifchen Gejandten ausgab, fo glaubten jie jeßt 


154 Novellen. 


La Tremoglia nicht und hielten ihn zurüd, daß er ihnen taufend 
Seudi bezahle. Erft nah acht Tagen, als fie durch ihre Späher 
in Erfahrung gebracht, daß der La Tremoglia die Wahrheit ge: 
jagt, gab ihn der Baccio frei und ließ ihn mit allen Ehren bis 
vor das Thor von Nom begleiten. Damit waren aber der La 
Tremoglia und der franzöfijhe Gefandte nicht zufriedengeftellt, 
und diejer Legtere verlangte von Seiner Heiligkeit in einer Aus 
dienz, daß die Räuber gezüchtiget und dem Unweſen ein Ende 
gemacht werde. Se. Heiligkeit der Papſt befahl, daß viele Rotten 
audgerüftet und in die Gebirge und nach dem Walde Faggiola 
gejhidt würden, um die Räuber bis auf die Wurzel zu ver: 
nichten, denn der Papſt wollte ſich den Franzoſen gefällig er: 
mweifen. Nun konnte die Selvaggia nichts mehr thun. Sie fah 
die Gefahr, melde vem Baccio drohte und wollte ihn davon be: 
nachrichtigen. Nach reiflicher Lleberlegung und von dem Wunſche 
verführt, den Baccio jelber wieder zu ſehen, beichloß fie, ihm 
die Nachricht in eigener Perſon zu bringen. Sie bat ihren Oheim, 
den Kardinal, den Zug gegen die Räuber nur um einige Tage 
zu verzögern und begab fi in einfacher Tracht, verjchleiert und 
verlarvt, nur von einer Kammerfrau und einem Pagen begleitet, 
fogleich auf den Weg in das Gebirge; dem Obeim fagte fie, daß 
fie fih auf einige Tage in das Klojter der Klariſſinnen zurüd: 
ziehe, um dajelbjt eine neuntägige Andacht zu verrichten, da er 
fie fonjt nicht hätte ziehen lajjen. 

Sie war faum vier Miglien weit geritten, als fie ſchon von 
den Wegelagerern umgeben war. Sie thaten ihr nichts zu Leibe, 
da fie ihnen fogleich erklärte, fie fomme nur, um den Biattore 
zu befuchen und ihm eine wichtige Nachricht zu bringen. Da be: 
gleiteten fie fie bi$ nah Sonnino. Aber dort angeflommen, er: 
fuhr fie zu ihrem Leidweſen, daß ſich der Baccio fern von da 
nad dem Walde Faggiola begeben habe, und fie mußte warten, 
bi3 man ihn dur Eilboten fommen ließ. Während fie da war: 
tete, traf fie mit einem Diener des Baccio zufammen, welder fie 
troß dem Schleier und der Maske erfannte. Er warf fi ihr zu 


Selvaggia. 155 


Füßen und fagte, er wiſſe wohl, welches Unrecht ihr fein Herr 
angethan, und er verficherte fie, daß wohl auch jein Herr gerne 
zu ihr zurüdfehren möchte, wenn er nicht den Hutmacher und 
die andern Räuber fürchtete. So lange aber die Emilia lebe, 
fönne daran nicht gedacht werden ; und es wäre wohl das Beite, 
wenn man die Emilia ermordete. Darauf fragte ihn die Sel— 
vaggia, ob fie die Emilia nicht jehen könnte? Und der Diener 
ging fogleih in das Haus hinauf, um die Emilia zu holen, 
während die Fürftin unten am Brunnen wartete. Als der Diener 
mit der Emilia herankam und die Fürftin fie erblidte, rief fie 
aus: „Sch verftehe wohl, vaß mich der Baccio für diefes niedrige 
Mädchen verlaffen konnte, denn es gibt fein ſchöneres Geſchöpf 
auf Erden, und ich würde es für meine größte Sünde halten, 
ein ſolches Meifterftüd Gottes zu zerftören !" Nachdem fie dieſes 
gejagt, und die Emilia bei ihr angelommen war, umarmte und 
füßte fie das Mädchen und fegte fi) dann wieder an den Brunnen 
und meinte bitterlib. Als dieſes die Emilia ſah, errieth fie, daß 
die Frau unter dem Schleier und der Larve die Fürftin Sel: 
vaggia della Rocca war; fie empfand Neue und fagte: „Em. Ho: 
heit würden gut und weiſe handeln, wenn Ihr den Baccio wieder 
in die Stadt zurüdführen wolltet, denn er ift nicht glüdlich bier 
im Gebirge und meine Schönheit fann ihn auch nicht aufbeitern. 
Er verweilt bier nur aus Furcht vor Euern Bravi und aus 
Angſt vor meinem Vater, der ihn nicht von mir laffen will. 
Er hat e3 mir jelbjt ſchon oft gejagt, daß er des Lebens über: 
prüflig fei und gerne in fein Klofter zurückkehren möchte.“ 

„Dieb Alles,“ ermwiderte die Selvaggia, „werben wir be: 
Ipreden, wenn ber Baccio zurüdgelehrt ift.“ 

ALS nun der Baccio am nächſten Tage zurüdtam, war er 
ſehr erftaunt, die Selvaggia zu ſehen, und als er ihr Allerlei 
jagen wollte, verhinderte fie ihn zu ſprechen und jagte mit lauter 
Stimme, daß e3 alle feine Leute hören konnten, es fei jegt nicht 
Zeit, über Anderes zu ſprechen, fondern fo weit al3 möglich in 
die Gebirge zu fliehen und ſich zu zerſtreuen, meil vielleicht vie 


156 Novellen, 


Truppen und Sbirren des Papſtes ſchon auf dem Wege jeien. 
Da viele von den Räubern jogleih Anftalt zur Flucht macien, 
fragte der Hutmacher die Selvaggia, was jie mit dem Baccio 
anzufangen gevenfe? Sie erwieberte, das ſei die Sache des 
Baccio, fie aber glaube, es fei für ihn das Beite, feine Mönchs— 
futte wieder anzulegen und in die Stadt zurüdzufehren. Nie: 
mand werde daran erinnert werden, daß der PViattore und der 
Baccio eine und diejelbe Perſon feien. Dafür werde fie ſchon zu 
forgen willen. Dann könne der Baccio beginnen, was ihm be: 
liebe. 

Da lachte der Hutmacher und fagte, er erkenne ganz wohl, 
worauf es abgefehen fei, und daß die Selvaggia ihnen nur ihren 
Geliebten entführen wolle, und daß er und feine Partei das 
nicht dulden werben. 

Es that fih unter den Räubern ein großer Zwieipalt auf. 
Die Einen glaubten der Selvaggia, die Andern dem Hutmacher, 
und der Zank dauerte die ganze Nacht, während welcher mehrere 
der Räuber getödtet wurden. Mittlerweile rüdte aber der Feind 
heran. Nicht die Truppen des Papſtes waren ed, denn dieſe 
bielt der Kardinal Montalto noch in Rom zurüd; es waren die 
Franzofen, welche der La Tremoglia gefammelt hatte. Die Fran 
zojen glaubten nit mehr, daß der Papſt ihren Schimpf rächen 
werde und ſie thaten ſich Alle zufammen, um den Zug gegen die 
Räuber jelbft zu unternehmen. Es waren ihrer eine große An: 
zahl, denn e3 hielten ſich damals fehr viele Franzofen in Nom 
auf, die Einen, welche mit dem Gefandten und feinen Evelleuten 
gelommen waren, die Andern, von der Partei des Guife, von 
der wir ſchon geſprochen haben und die Dritten, welche jeit lange 
in Rom anjäfjig waren. Ihnen ſchloß ſich noch eine ganze 
Schaar von Niederländern und von Engländern, welche wegen 
der Unruhen zur Zeit des Todes ihres Königs nah Rom ge: 
flohen waren. Sie waren in der Naht aus der Stadt aufge: 
broden und erjchienen mit Tagesanbruch vor Sonnino. Gie 
Iprangen von ihren Pferden und ftürmten fogleich in die Straßen. 


Selvaggia. 157 


Der La Tremoglia führte fie, da er während feiner Gefangen: 
ichaft den Ort fennen gelernt hatte und die Wege fannte. Mit 
einer Schaar feiner Freunde eilte er trog aller Kugeln, die ihm 
aus den Fenftern entgegenflogen, bis in das höchſte Haus, in 
weldhem die Emilia wohnte, und man bat alle Urſache zu glau: 
ben, daß er diefen ganzen Zug unternommen hatte, nur um ſich 
des ſchönen Mädchens zu bemädtigen. Er hatte fie während 
feiner Gefangenschaft oft geliehen und ſich in fie verliebt. Er 
kümmerte jih um den Kampf nicht im Geringften und ftürmte 
geraden Weges bei der Emilia ein. Dieje aber wurde von ihrem 
Vater, dem Hutmacher, tapfer vertheidigt, und al3 die Fran: 
zojen dennoch in die Stube eindrangen, aus welder der Hut: 
macher mit vielen andern Räubern gejchoflen hatte, fanden fie 
den Hutmacher todt, aber auch die Emilia lag fterbend an feiner 
Seite, da fie ihr eigener Vater, als er fich tödtlic verwundet 
wußte, mit feinem Meſſer erftochen hatte. Der La Tremoglia 
gab nun den Kampf auf und fagte, das Uebrige jollten vie 
Sbirren des Papſtes thun. Er jammelte feine Freunde und ver: 
ließ wieder den Flecken. 

Die Selvaggia jaß während der ganzen Zeit am Brunnen 
und betete für den Baccio, welcher fie verlaſſen und ſich in ein 
feftes Haus zurüdgezogen hatte. Als es wieder jtile war, ging 
fie ibm nad in dieſes Haus und fand ihn, wie er aus einer 
Wunde in der Seite blutete. Nun ſagte fie zu den Räubern, 
welche wegen des Todes des Hutmacherd, der Verwundung 
Baccio's und wegen ihrer großen Berlufte überhaupt fehr be: 
trübt waren, daß fie jept nichts Klügeres thun könnten, ala fi 
weiter in die Gebirge zurüdzuziehen, da nun aud bald bie 
Truppen des PBapftes fommen würden und fie ohne Führer und 
nunmehr auch zu ſchwach jeien, um fich gegen fie zu vertheidi— 
gen, Die Räuber jahen das ein und machten fich jogleich bereit, 
um mit Weibern und Kindern tiefer hinein in die Berge zu 
ziehen. Die Selvaggia verband dem Baccio feine Wunde und 
tröftete ihn, da er den Tod der Emilia erfuhr und in Weinen 


158 Novellen. 


ausbrach. Gegen Abend jegte fie ihn auf ihr Maulthier und 
fehrte mit ihm nach Rom zurüd. So wohnte ver Baccio wieder 
bei jeiner Selvaggia, aber er war durch viele Wochen an feiner 
Wunde frank und beflagte den Tod der Emilia. Die Selvaggia 
pflegte und tröftete ihn mit ausnehmender Treue. Er wurde 
wieder gejund, aber jein Frohlinn Fehrte nicht wieder, und er 
jagte, daß er des weltlichen Lebens müde ſei. Auch wollte er 
die Kleider nicht mehr anlegen, die er als Cavaliere getragen, 
jondern verlangte nach feiner Mönchskutte, welche die Selvaggia 
auch bervorjuchen ließ und ihn darein kleidete. Nunmehr hieß 
er wieder der Bruder Giovanbatifta und nicht mehr der Cava: 
liere Baccio. 

Um dieje Zeit fam in Rom die Nachricht an, daß der Prior 
im SKlofter zu Piperno gejtorben jei, und bei diefer Nachricht 
weinte der Giovanbatifta vor Neue, daß er das fromme Leben 
jemals verlafjen habe. Die Selvaggia jprad darüber mit ihrem 
Oheim, dem Kardinal, welcher jogleih einen Eilboten nah Bi: 
perno jchidte und ven Mönchen rieth, den Bruder Giovanbatijta 
zu ihrem Prior zu erwählen. Diejes thaten die Mönche, weil e3 
der Kardinal jo wollte, weil der Giovanbatiita große Benefizien 
befaß und nunmehr aud jo viele mächtige Verbindungen in 
Rom, melde dem Klofter von großem Nugen jein konnten, 
Giovanbatifta freute fich ſehr, al3 er erfuhr, daß er wieder in 
das Klojter Piperno zurüdkehren folle, und da indefjen die Un: 
ruben in Neapel beigelegt und die jpanifche Herrichaft wieder 
bergeitellt war, wollte auch die Selvaggia nad Neapel zurüd: 
fehren. So geſchah es, daß fie zufammen von Rom abreisten, 
wie fie zufammen in Rom angelommen waren. Die Selvaggia 
führte ihren Geliebten al3 Prior in das Klofter ein, aus dem 
fie ihn entführt hatte. Aber es war ihr ſchwer, ſich von ihm zu 
trennen und fie blieb in Piperno, wo fie ſich einen Palaſt baute 
und ihre Tage in frommer Einjamfeit verlebte. 


Ein italienijcher Prieſter. 


General U... erzählt: 

In meiner Jugend einmal, aljo jhon vor geraumer Zeit, 
machte ich in Begleitung mehrerer Freunde und Diener von 
Neapel, meiner VBaterftadt, aus eine Reife nach Salerno. Ob: 
wohl wir al3 Neapolitaner an die fehauderhafteften Mord: und 
Räubergeſchichten aus den Provinzftädten und Gebirgspörfern 
gewöhnt waren, hatte dad, was wir von dem damals hödjit 
verfallenen Nefte Salerno zu hören befamen, unjere Neugierde 
jo jehr gereizt, daß wir ung trog aller Gefahren zu diefem Aus: 
flug entſchloſſen. Salerno hatte für uns die Anziehungskraft des 
Schauderhaften, Unbeimliben; die Reife den Reiz eines Aus: 
fluges in längjt vergefiene Zeiten, in denen ſich zugetragen, was 
beute unglaublich und romantijch erfcheint. Es hieß, daß jämmt: 
libe Einwohner Salerno’3 fih in Räuber und Mörder umge: 
wandelt baben, und ed war gewiß, daß dort eine geſchloſſene 
Geſellſchaft beftehe, die für Geld in ihrer Gejammtbeit oder in 
einzelnen Mitgliedern zu jeder That, zu Mord, Ueberfall, Raub, 
Entführung bereit war. Das Leben des Menjhen war da jo 
jehr im Preife gefunten, die Gewiſſen fo verhärtet, daß man auf 
einen Vorübergehenden ſchoß, nur um Pulver zu probiren. 

Wir begaben uns in diefes Neft ohne Sorgen. Nicht weil 
wir zahlreih und bewaffnet waren, jondern weil die Salerni: 
taner bei Ankunft ſolcher Galantuomini, wie wir, vorausjepten, 


160 Novellen. 


man komme, mit ihnen ein Geſchäft zu machen, oder mit ande: 
ren Worten, Individuen zur Ausführung irgend einer blutigen 
Rache oder einer andern Ähnlichen Unternehmung zu miethen. 
In folhem Falle war man ganz fiher; ja man wurde mit Zu: 
vorfommenheiten, mit Gaftlichleit, mit allen möglichen Rück— 
fihten aufgenommen. 

In der That gefellten fich in der Nähe von Salerno einzelne 
Individuen zu uns, die aufs Höflichjte ihre Dienfte anboten, 
ung die Wege zeigten, auf mancherlei Intereſſantes aufmerkjam 
machten und von den Heiligenbilvern, an denen wir vorüber: 
titten, mit Andacht und Glauben Legenden erzählten. Mit 
einem Heinen Gefolge famen wir auf dem Marftplage an. Dort 
waren wir bald von einer ebenjo zuvorkommenden Bevölkerung 
umgeben, die und aber troß ihrer Zuvorkommenheit nicht zum 
Beiten gefiel. E3 waren meift die Weiber, die ſprachen und ung 
offenbar zum Spreden bringen wollten. Sie Hopften auf den 
Straud, fie verfiherten, daß die Salernitaner tapfere Leute 
feien und zu jeder That bereit. Das Lächeln und die lauernden 
Blide, mit denen fie ihre Worte begleiteten, machten ihre großen 
ihmwarzen Augen und die breiten jchwellenden Lippen, die von 
Natur Schön gebildet waren, nicht fehöner. inzelne Männer 
ftanden in unferer Nähe, malerifsh an den Brunnen gelehnt 
oder auch ferner an den Häujern, und beobachteten uns ſchwei— 
gend, nur daß fie manchmal mit einer Bewegung oder mit einem 
lauten Auflahen die deutlichſten Anfpielungen der Weiber be: 
gleiteten. Sie näherten ſich mit einem Male von allen Seiten, 
als einer unferer Reijegefährten, ein leichtfinniger Marinelieutes 
nant, auf die Anfpielungen der Weiber einging und verrieth, 
daß er fie verftehe. Ich glaube, wir hätten in diefem Momente 
auf offenem Markte und vor hundert Zeugen ein Gejhäft von 
bundert blutigen Rencontres abmadhen fünnen. ch fürdhtete, 
die Zmedlofigkeit unferer Reife zu verrathen, und benußte die 
fpäte Stunde, um zur Ruhe aufjufordern und ein Gajthaus 
aufzufuchen, 


Ein italienifher Priefter. 161 


„Bravo,“ rief eine Alte mit Beifall, „ver Herr, Se. Er: 
zellenz wollen wichtige Gejchäfte mit ausgeruhtem Geifte, in der 
Friſche des Morgens abmahen! Man lafje die Herren in Ruhe; 
Niemand folge ihnen in die Herberge!” — Ich nidte ihr zuftim- 
mend und jo einverjtändig al3 ich vermochte, 

Im Gaſthauſe, einem alten, verfallenen, weitläufigen Ge— 
bäude, das ehemals ein Kloſter geweſen ſein mag, wollte man 
uns mehrere Zimmer anweiſen, wir aber zogen es vor, zuſam— 
men zu bleiben und bereiteten unſer Lager gemeinſchaftlich in 
einem großen Saale, durch deſſen Decke hie und da der blaue 
Himmel mit lächelnden Sternen blickte. Als Alles im Hauſe 
ſtille war, verſäumten wir nicht, die Thüre zu verriegeln, ſogar 
ein wenig zu verrammeln. Auch wachten die Diener abwechſelnd 
an der Thür ſitzend. Doch verging die Nacht vollkommen ruhig, 
ohne die geringſte Störung, ohne das kleinſte Abenteuer. 

Andern Morgens durchzogen wir die Stadt — immer von 
einigen einheimiſchen Individuen gefolgt — beſahen mehrere 
alte Gebäude, die an die wiſſenſchaftliche Größe des mittelalter— 
lichen Salerno erinnerten, und traten endlich in eine Kirche. 
Hier beginnt die Geſchichte, die ich eigentlich erzählen wollte und 
die viele Neapolitaner beſtätigen können, denn ſie machte damals 
viel Aufſehen und war in Neapel Stadtgeſpräch. 

Die Kirche war ziemlich beſucht. Die Gläubigen, Männer 
und Weiber, knieten auf dem Steinpflaſter und beteten mit jener 
Heftigkeit, mit der man anderswo zankt und die man nur im 
tiefiten fatholifhen Süden an Betenden beobadten fann. Ihre 
Lippen bewegten fich fo raſch und ausprudsvoll, als ob fie er 
mand Vorwürfe machten over ald ob fie Drohungen ausiprächen ; 
die Hände hielten den Roſenkranz, als ob fie einen Dolch hielten, 
mit dem fie erzwingen wollten, was man ihren Bitten oder 
Drohungen nicht gewähren würde. Der Geiltlihe jtand am 
Altar und las die Meſſe. Er mahte das heilige Gefhäft wie 
viele andere Geiſtliche handwerksmäßig ab und ſah aud aus 
wie hundert andere neapolitanifche Geiftliche; gut genährtes, 

Morig Hartmann, Werke. Vl. 24 


162 Novellen. 


doch nicht dickes Geſicht, braune Farbe, magere Hände mit lan: 
gen Fingern und eine unverhältnikmäßig große Tonjur auf 
jpigigem, edigem Kopfe. Er wäre uns weiter nicht aufgefallen, 
wenn nicht der Miniftrant, ein hübfcher Junge 'von ungefähr 
zwölf Jahren, unjere Aufmerkfamfeit auf den Altar und die 
Mefle gelenkt hätte. Wir ftanden in der Nähe und konnten be: 
merken, daß der Fleine Junge fehr zerjtreut war. Er ließ oft 
lange auf die fatramentalen Antworten warten, fuhr jich dann, 
wenn ihn der zelebrirende Priefter zornig anſah, mit der Hand 
über die Stirn, ftotterte dann die lateinischen Worte, um einen 
Augenblid darauf eben fo zerftreut zu fein, wie vorher. Er 
vergab das Meßbuch zu nehmen, dann es an die rechte Stelle 
zu legen, dann den Weihrauchkeſſel zur rechten Zeit zu hand: 
haben. Einige der Gläubigen bemerkten die Zerjtreutheit des 
Knaben und murrten. Mein Marinelieutenant lächelte. Wir 
glaubten anfangs, daß das fromme Gejhäft das Kind lang: 
weile und daß e3 an ein Spiel oder irgend melde Allotria vente. 
Als wir aber aufmerkjamer hinſahen, bemerften wir, daß der 
arme Junge am ganzen Leibe zitterte, daß fein Auge manchmal 
ftarr und voll Entjegen auf einer und der anderen Stelle vor 
dem Altare haftete, daß er mit unfagbarer Angſt auf dem blei- 
hen Gefichte den Bewegungen de3 Geiftlichen folgte, der, nad 
dem Ritus, am Altare bald nad der einen, bald nach der an- 
dern Seite ging. Endlich fchüttelte fi der Knabe wie im Fieber, 
blidte- um fi und ſah aus, als mwollte er die Flucht ergreifen, 
oder als wüßte er nicht, was zu beginnen. 

„Der arme Junge ift offenbar frank!” liſpelte einer meiner 
Reifegefährten, und e3 jchien wirklich, al3 wollte er den Priefter 
um Entlaffung bitten, denn er ftredte mehrere Male die Hand 
aus, zupfte ihn am Meßgewande und wollte etwas jagen. Der 
Priefter aber bemerkte es anfangs nicht. Doc mußte er endlich) 
in dem Momente, da er das Allerheiligfte erhebt und den Gläu: 
bigen zeigt, fih mit dem Gefihte dem Knaben zuwenden; das 
benugte dieſer und faßte, wie es ſchien mit ver letzten Kraft, 


Ein italienischer Priefter, 163 


das Meßgewand, rik daran mit der einen Hand, während die 
andere jtarr ausgejtredt, von den gläjernen Bliden de3 Knaben 
gefolgt, auf den Boden der Altarjtufe zu Füßen des Prieſters 
zeigte. Der Priefter jah hinab, fuhr erſchrocken zuſammen, warf 
die Monftranz auf den Altar und ftürzte voll Entfegen in die 
Safriftei. 

Die Aufregung in der Kirche war ungeheuer. Die Gläubi- 
gen jchrien auf und warfen fich in einem Anäuel fchreiend dem 
Altar entgegen, an deſſen Fuße der Anabe ausgeftredt lag, noch 
immer mit der einen Hand auf eine Stelle deutend. Diefe Stelle 
war ein Blutfleden und gleich daneben ein zweiter, dann ein 
dritter, vierter; der ganze Pla vor dem Altar war blutig be 
träufelt. Bei diefem Anblid verftummten die Einen, während 
die Anderen noch heftiger zu fchreien, zu fluchen oder die Heili: 
gen anzurufen begannen. Ein Theil der Gläubigen ftürzte dem 
Priefter in die Safriftei nah, ein anderer blieb bemegungslos 
vor den Blutötropfen ftehen. Man hob den Knaben auf, ver 
wie aus einer Ohnmacht erwadhte und in abgebrodenen Worten 
erzählte, wie während der ganzen Meſſe unter dem Prieſter— 
gewande hervor Blut und immer Blut träufeltee Das Volk 
drängte fih nun voll Angft vom Altare fort und zur Thür hins 
aus. Draußen fing eine Matrone fofort zu predigen an, daß es 
die Hoftie geweſen, die geblutet habe, und das jei die Strafe 
für die ungeheuern Verbrechen der Salernitaner, und bei ver 
Gelegenheit nannte fie den und jenen der Umftehenden und warf 
ihm die Zahl ver Morde ins Gejiht, die er begangen, und er: 
zählte foldhe Gräuel von Saleıno, daß wir erlannten, wie wenig 
das Gerücht übertrieben habe. 

Das Bluten der Hoftien, ſagte die Predigerin, komme nur 
in den außerordentlichiten Fällen vor und nur wenn die furct: 
barften Strafgerichte Gottes drohen. Sie prophezeite den Saler: 
nitanern den Untergang; der Veſuv werde fein Feuer bis hier: 
ber wälzen und fie in Flammen begraben, wie ehemals Pompeji 


und Herkulanum, als dieje Städte nicht vom Heidenthume lafjen 


164 Novellen. 


wollten, oder dad Meer werde austreten und fie allefammt ver: 
ſchlingen. Sie riß das Tud vom Kopfe und fuhr fid mit beiden 
Händen in die grauen Haare, die in Wellen über Gejiht und 
Schulter herabfielen, dann fchlug fie fih in die Bruft, daß es 
ballte, und erhob ein Klagegefhrei, in das die Weiber und 
Kinder mit einftimmten. Plötzlich zu und gewendet rief fie, die 
Hand augftredend: „Und ihr Fremdlinge, die ihr bierber ge: 
fommen ſeid, um neue Sünden zu bezahlen, ziehet fort und 
bäufet nicht neue Schuld auf diefe verfluchte Stadt. Kehret zu: 
rüd und verföhnt euch mit euren Feinden, ebe es zu ſpät ift, 
damit ihr nicht mit uns zu Grunde gehet.“ 

Bei diefer an uns gerichteten Erhorte wurde die Prophetin 
unterbroben. Die Menge, die dem Prieſter in die Safriftei nad: 
gedrungen war, fam jegt von dort zurüd und aus der Kirche 
heraus auf den Plag. Aus ihrem Benehmen war fchwer zu er: 
rathen, wa3 in der Safrijtei vorgegangen, denn dieſer Vorgang 
hatte augenjcheinlich die verſchiedenſten Wirkungen auf die Ge: 
müther bervorgebradht. Die Einen waren ernſt und fpraden 
demgemäß unter einander, die Anderen jchrieen, die Dritten 
lachten. Auch unjer Marinelieutenant, ein Mann, ver bei Allem 
und immer in erfter Reihe jein mußte, lachte ganz gewaltig. Er 
war einer der Erſten gemwefen, die fi dem Briejter in die Sa- 
triftei nachgeftürzt hatten, und fing nun an, immer mit Zachen, 
zu erzählen, was er dort gejehen und erlebt, während vie Sa— 
lernitaner ihren Landsleuten Bericht erftatteten. 

„Der Prieſter,“ erzählte der Marinelieutenant, „machte mit 
dem eriten Schritte in die Sakriſtei Anftalten, fich feiner Kleider 
zu entledigen und, wie es ſchien, etwas zu verbergen. Als er 
fih verfolgt jab, wollte er aus der Gaftiftei entfliehen, aber 
einige Männer verftellten ihm den Weg und erklärten ihm, daß 
fie erfahren müßten, was e3 mit dem Blute zu bedeuten habe, 
während andere auf feine Strümpfe aufmerkſam wurden, die 
von oben nad unten mit Blut beträufelt waren. Er wollte feine 
weiteren Erflärungen geben und zog einen Dolch hervor, mit 


Ein italienifher Priefter. 165 


dem er Diejenigen bedrohte, die ihm den Weg aus der Sakriſtei 
ins Freie abichnitten; aber im Augenblid war er von hinten 
entwafjnet und man ſah mit einiger Ueberrafhung, daß der 
Dolch von friſchem Blute roth war. Darauf ging e3 an eine 
Unterfuhung; injtinttmäßig oder aus Gewohnheit griff ihm 
eines jeiner Beichtlinder in die Tajche und” — hier lachte ver 
Marinelieutenant wieder — „und 309g — es war fehr über: 
raſchend — ein Baar ganz frijcher, erjt abgefhnittener Menjchen: 
ohren bervor.” 

„Menſchenohren?“ riefen wir entjeßt. 

„Sin ganz wohl conditionirtes, frifches Baar Menihenohren, 
die noch bluteten und von denen die Blutötropfen famen, welche 
den armen Knaben am Altar mit jolhem Entjegen erfüllten.“ 

„Waren e3 feine eigenen Ohren?” fragten wir weiter. 

Seine eigenen Ohren faßen ihm ganz feit am Kopfe. Ihr 
jeid jehr begriffsjtügig,” fuhr der Marinelieutenant fort; „vie 
Salernitaner haben die Sache raſcher begriffen. Iſt es fo? 
riefen fie und jchienen fich Vorwürfe zu machen, nicht gleich er: 
rathen zu haben. Manche von ihnen lachten laut auf, und Alle 
waren ſofort beruhigt, als fie einjahen, daß bier von feinem 
blutigen, drohenden Mirakel, fondern von- einer gewöhnlichen 
Geihichte, von einem Morde auf Beitellung, die Nede war. 
Der Prieſter nämlich gehört mit zu der enggeſchloſſenen Gefell: 
ſchaft der hiefigen Bravi; das ift Alles. Heute Morgen hat er 
einen Auftrag vollzogen, und um feinem Auftraggeber die be: 
weijende Probe ver Leiftung zu überbringen, hat er feinem 
Dpfer die Ohren abgejchnitten und in die Tafche geltedt. Dann 
kehrte er eilend in die Stadt zurüd, um nicht die Meſſe zu ver: 
jfäumen, die ihm bezahlt wird. Er fam etwas fpät und hatte 
faum Zeit, das Meßgewand über dad Banditengewand zu wer: 
fen; die Obren blieben in der Tafche und fie tropften während 
der Meile. Das ift die ganze Geichichte.” 

Mährend der Lieutenant uns, hatten die Andern der Menge 
Bericht erftattet. Als fie geendet, jubelte das Volk auf. Es war 


166 Novellen. 


aljo fein Mirafel! Ein Alp, eine große Angft war ihnen vom 
Herzen gefallen, und fie wandten- ji lachend zu der Prophetin, 
die ihnen die Hölle heiß gemacht hatte, und verhöhnten fie auf 
alle mögliche Weife. Der und Jener ballte fogar die Fauft gegen 
fie, nannte fie einen Unglüdsraben, eine Here, ein Mal-occhio, 
kurz ein ſchädliches Weſen, das noch Unglüd herbeikrächzen könne 
und das man eigentlich beſeitigen müſſe. Die Prophetin war 
beſchämt und endlich beſtürzt. Sie ſchlich ſich ſchweigend davon, 
während die ganze Verſammlung ſehr heiter wurde, daß es nichts 
geweſen ſei als dieſe Dummheit. 

Wir benutzten die kleine Aufregung, um uns unbemerkt 
davon zu machen, unſere Pferde und Maulthiere zu ſatteln und 
den Staub von Salerno von unſern Füßen zu ſchütteln. 

Und was iſt mit dem Prieſter geſchehen? 

Mit dem Prieſter? Nichts! 

Er iſt nicht beſtraft worden? 

Ich glaube nicht. Er hat keine Kläger gefunden und er hätte 
keine Richter gefunden. 

Er iſt wenigſtens verſetzt worden? 

Ich glaube nicht. Doch weiß ich über Alles, was auf jenen 
Tag folgte, nichts Gewiſſes. Gewiß iſt nur die Thatſache, die 
ich erzählt habe, und die unzählige Neapolitaner und Salerni— 
taner erzählen können. 


Doktor Schwan, 


Mehr noch der pfufcherifchen, von der kaijerlich ottomanifchen 
Regierung und von Dmer Paſcha angeftellten Aerzte müde, als 
des Donaufieberd und all’ der vielnamigen Krankheiten, die im 
Kriegsjahr 1854 mi und Taufende von Fremden und Soldaten 
in Ruſtſchuk feit Wochen belagerten, fing ic an, mich nad) einem 
ordentlichen europäiſchen Arzte umzufehen, um endlich das troft 
loſe, verpeftete, mir in tiefiter Seele verhaßt gewordene Ruſtſchuk 
verlafjen zu können. Aber die wenigen europäiſchen Aerztg, denen 
man fich hätte anvertrauen können, waren in Schumla oder in 
der Nähe des fommandirenden Generald, der zur Zeit in ent— 
fernten Gegenden jein Hauptquartier aufgefchlagen hatte. Zwar 
börte ich won einem trefflihen Hefim oder Arzt, der in dem 
gegenüberliegenden Giurgemo von der waladhijchen Regierung an 
der Quarantaine angeftellt war und fich in der ganzen Gegend 
eines ausgezeichneten Aufes erfreute; aber Giurgemo und Ruſt— 
ſchuk waren zwei verſchiedene, durch unendliche Entfernungen 
getrennte Welten; das eine war von Rufen, das andere von 
Türken befegt. Endlich bewerkftelligte Haflan Paſcha den Ueber: 
gang Über die Donau; die Ruſſen zogen fi erſt nad Fratejchti, 
dann nah Buchareft und zulegt, die Defterreicher in ihrem Rüden 
fürdtend, gänzlih über die moldau-walachiſche Gränze zurüd. 
Die Verbindung zwijchen den beiden Donauufern und den zwei 
- einander gegenüberliegenden Städten war wieder hergeitellt. 


168 Novellen. 


Einige Tage darauf erfuhr ich, daß der Hefim aus Giurgemo — 
er war nur unter diejem Namen oder als der „Brillenträger” bei 
den Türken befannt — in Ruſtſchuk anweſend fei, um nad der 
langen Trennung jeine alten Klienten, meijt Familien der euro: 
päiſchen Konjuln, zu beſuchen. Ich ſchickte meinen Wirth, einen 
einfältigen Türken, der meinen Namen eben jo wenig ausfprechen 
fonnte wie den des Arztes, auf Kundichaft aus und mit dem 
Befehle, mir den Helim um jeden Preis herbeizufchaffen. 

Ich lag ungeduldig auf meinem Divan in meinen Pelz ge: 
hüllt und horchte auf jeden Lärm von der Straße und der Veranda. 
Nah wochenlangem Umgang mit dummen Türken und rohen 
Bulgaren ſehnte ich mich eben fo ſehr nad dem civiliſirten Men— 
ſchen, wie nach dem Arzte, ver mir helfen und mich zur Weiter: 
reife fähig maden folltee Nach mehreren Stunden Harreng, 
gegen Abend, trat endlich der Vielerjehnte in meine Stube. Ein 
ſonderbares Männlein, eine höchſt auffallende, beinahe komiſche 
Erſcheinung. Der Doktor war Hein, überaus mager an Geſicht, 
Händen und Beinen, und doch um die Mitte des Leibe mit 
einem ſehr in die Augen fallenden Embonpoint gefegnet. Das 
zarte, Keine Geficht fehien vorzeitig gealtert und war von unzäh: 
ligen feinen Fältchen bededt. Auf der Heinen aber fpigigen Naje 
jaß eine große blaue Brille, welche die Wangen zur Hälfte und 
die ganzen Augenbrauen bevedte. Von der Stirne war nicht viel 
zu jehen, da fie beinahe ganz unter dem Fez tal, den der Doktor, 
nad orientalifher Sitte, au in der Stube auf dem Kopf figen 
ließ. Diefer Fez, ein genegter Gürtel, der die Kleider um die 
Mitte des Leibes feſt hielt und an der Seite in Quaften herabfiel, 
eine länge türkiſche Pfeife mit blaugläfernem Mundftüd war das 
einzig Orientalifche an dem ganzen Manne; fonft war er europäijch 
gekleidet, oder deutſch, denn fein ganzer Anzug erinnerte an ges 
wife arme oder vernachläſſigte Gelehrte, Theologen ohne Pfarre, 
Philologen, die zu Correktoren in Buchdruckereien herabgejunfen 
und an ähnliche Erfeheinungen, wie .man deren in deutſchen 
Univerfitätsftädten zu finden pflegt. Auf feinen Heinen Füßchen 


Doktor Schwan. 169 


ging er wie ein Vogel daher, indem er immer zuerjt mit den 
Zehen auftrat und dann langjam die Ferfe ſinken ließ. Diefe 
Art des Ganges vollendete erſt das Komifche der Erjcheinung, 
und ich hätte bei jeinem Eintreten glei, wenn auch nicht lachen, 
fo doch lächeln mögen, menn ich ihn nicht fofort nad) den erſten 
zwei Schritten ins Zimmer erkannt und zwar als einen lieben, 
alten Belannten und Freund erkannt hätte, in deflen Leben ich 
vor mehr als zwanzig Jahren eine jehr traurige Rolle gejpielt 
batte. Ich lächelte nicht — ih war überrafcht, erftaunt und noch 
mehr erjchroden. Aber ich faßte mich fchnell und unterbrüdte 
den Ausruf der Ueberrafhung und die Nennung feines Namens, 
die fich bei feinem Anblid auf meine Lippen drängten. Ich ſah 
ihn nur jtarr an und zitterte vor dem Gedanken, daß er auch 
mich erkennen möchte. Mein Plan war rafch gefaßt. „Wenn er 
mich nicht erkennt,” dachte ich, „Itelle ich mich ihm unter einem 
falſchen Namen vor.” 

Er näherte fi meinem Lager und fagte mit jener mir jo 
wohl befannten Stimme und eben fo wohl befannten Schüdhtern: 
beit: „Ich bin der Doktor, den Sie haben fuchen laffen.” 

Ich hatte nicht den Muth, ihm ins Geficht zu jehen; ich 
blidte ihn nur von der Seite an, und fürdhtend, daß er meine 
Stimme eben jo ertennen könnte, wie ich die feinige, blieb ich 
fill. Der Doktor glaubte, daß ich ihn nicht verftanden und 
wiederholte: „Ich bin der Doktor, der Doktor Schwan von 
Giurgewo.“ 

„Seien Sie mir willkommen, Herr Doktor!“ ſagte ich halb— 
laut und ſpähte nach dem Ausdruckee feines Geſichtes. Aber er 
blieb ruhig und ich fuhr muthiger fort: „Verzeihen Sie, daß ich 
Sie bemüht habe.” 

„O,“ fiel mir der Doktor ins Wort — „ich freue mich, einen 
Landsmann zu fehen; ver Türke fagte mir, daß mic) ein deut: 
ſcher Tſchelebi (Gentleman) zu fehen wünſche. Gie find ein 
Deutjcher *” , 

„5a, Herr Doktor !” 


170 Novellen. 


„Bielleicht ein naher Landsmann von mir? ein Defterreicher ? 
fragte er freundlich mweiter. 

Seht war der Moment gefommen, da ich meinem Entſchluſſe 
gemäß zu lügen anfangen und mid in mein Inkognito leiden 
mußte. 

„Nein, Herr Doktor,” fagte ih, „ih bin aus Norddeutſch— 
land und heiße Arnold.“ 

„Deutſcher ift Deutſcher,“ lächelte der Doktor — in der 
Fremde verwiſchen fich die dreißig deutſchen Gränzen. Ich bin 
ein Dejterreiher und al3 ſolcher nannte ich ehemals alle Deut: 
ſchen Ausländer; das hat aufgehört, feit ich hier in der barba- 
riſchen Fremde lebe.“ 

„Das hat,” ſagte ich, „heutzutage bei vielen Defterreihern 
aufgehört.” 

„Defto befler, deito beſſer,“ rief der Doktor freudig, und zog 
zur Vervolljtändigung feines Bildes eine Tabalsdoſe aus der 
Taſche und nahm eine Prije. 

„Sie find wohl ſchon lange fort aus der Heimat?“ fragte 
ih, um meine Heuchelei zu vollenden, da id) den Zeitpunkt feines 
Verſchwindens aus dem Vaterlande genau Fannte. 

„Weber zwanzig Jahre, Herr Arnold, über zwanzig Jahre!" 
— ermiderte er fopfihüttelnd und wie mir ſchien mit einem 
Anflug von Trauer. — „In folhem Zeitraum kann fih Manches 
ändern.” 

Er hatte offenbar Luft, fih nach Mancherlei zu erkundigen, 
aber er erinnerte fich feiner Pflicht ald Arzt und begann, nach— 
dem er meinen Puls gefühlt, micy auszufragen. Dabei nahm er 
die große blaue Brille von der Nafe und ich jah die grauen, er: 
lofhenen Augen, die ich jo gut kannte, die von Kindheit an mit 
arger Kurzfichtigleit gefehlagen waren, und die es mir jeßt er- 
leichterten, mein Inkognito aufrecht zu erhalten und durchzu— 
führen. 

Freilih war ich in diefer Beziehung noch durch viele andere 
Umſtände begünftigt. Als uns das Schidjal vor mehr als zwanzig 


Doktor Schwan. 171 


Jahren trennte, war Yalob Schwan ein fertiger Mann, an dem 
ſich nicht viel ändern konnte; er hatte damals ſchon alle vie Eigen: 
thümlichkeiten, die ihn jegt noch auszeichneten, den fonderbaren 
Hühnerſchritt, die blaue Brille, die Blatternarben, die magere, 
in der Mitte aufgedunfene Geftalt und — neben dem gutmüthigen 
und edlen Ausdrud des Geſichtes — jagen wir es nur mit einem 
Worte — die ganze Häßlichkeit, welche die Jahre nicht verringert 
batten. Er war ganz Derjelbe, nur etwas gealtert. Neu an ihm 
waren bloß der Fez und ver Tſchibuk. Ich hingegen war, als 
er mich verließ, ein Junge von zwanzig Jahren, deſſen Bart, 
der im Orient die vollfte Entwidelung erlangte, jegt das halbe 
Gejiht bevedte und weit auf die Bruft herabfiel, damals faum 
die erjten flaumigen Keime getrieben hatte. Der Bart war es, 
der den ägyptiſchen Joſeph feinen älteren Brüdern verbarg, wäh: 
rend er fie daran erkannte. 

Doktor Schwan gab mir die beruhigende Verfiherung, daß 
meine Krankheit nicht gefährlich fei. „Diefe vielfachen Anflüge 
der verjchiedenen Krankheiten, die in diefer Gegend wüthen,“ 
jagte er, „werden wir mit leichter Mühe entfernen ; dann kommt 
e3 nur darauf an, Sie gut zu nähren, damit Sie geftärft die 
Meiterreife durch die unwirthbaren Gegenden ver innern Türkei 
wieder aufnehmen können; mit der Quftveränderung wird dann 
das Donaufieber von felbft verſchwinden.“ 

Dieſes abgethan, knüpfte der Doktor ein Geſpräch über 
Deutihland an, nach deſſen gegenwärtigen Zuftänden er fich mit 
großem Batriotismug und, wie es fchien, mit janfter Sehnfudht 
erfundigte. Da ich vorausfegte, daß er auch gern etwas über 
feine alten Freunde erfahren hätte, ließ ich es im Geſpräche jo 
mit einfließen, daß ich in feiner jpeciellen Heimat gut befannt 
wäre. Sofort fragte er, ob ich nicht zufällig Den und Jenen 
fenne? und feine Freude war groß, als ich „zufällig“ mit ven 
meiften Perſonen, für die er ſich intereflirte, mehr oder weniger 
genaue Belanntihaft gemacht und über ihre gegenwärtigen Ber: 
bältnifje Auskunft geben konnte. Er hörte mir mit der größten 


172 Novellen. 


Theilnahme zu, und unterbrah mich nur mandmal mit einer 
neuen Frage oder mit einem tiefen Seufzer. Jh mar gerührt 
und wäre ihm am liebjten um den Hals gefallen, und doch zit: 
terte ich wieder vor dem Gedanken, daß er mich auch nach mir 
jelbft fragen könnte. Aber er that es nicht, und auch dieſes er: 
füllte mich wieder mit Trauer, denn es bewies mir, daß gewiſſe 
alte Wunden no nicht geheilt waren, und daß in diefem ehe— 
mal3 mir fo lieben Freundesherzen noch einige Bitterkeit gegen 
mich übrig fein müſſe. 

Meine Mittheilungen und das Geſpräch über des Doktors 
Freunde, welches ſich bis ſpät in die Nacht hinein verlängerte, 
trugen, abgejehen von der Landsmannſchaft, viel zur jchnellen 
Reife und Entwidelung unferer Belanntichaft bei. Schon am 
nächſten Tage trabte er auf feinem Eleinen anatolifchen Pferde 
wieder über die neue Sciffbrüde herüber nah Ruſtſchuk, und 
wieder faßen wir, dießmal in der Veranda, rauchend und Kaffee 
trinfend, bis jpät in die Naht plaudernd und erzählend. So 
auch die folgenden Tage, da der Doktor drüben in Giurgemo, 
aus dem alle Einwohner geflohen waren und wo die Quarantaine 
aufgehoben worden, nicht? zu thun hatte. Mein alter freund 
wurde mir jo lieb, wie er mir ehemals geweien. Er war ja aud 
in der That ganz Derfelbe, ganz derjelbe Geilt, der fib, felbit 
bier in der barbarijchen Einjamleit, für jeden Sieg und ort: 
jchritt der Menſchheit begeifterte, daſſelbe zu jeder Hilfe bereit: 
mwillige, gute Herz, das an Alles dachte, nur nicht an Danf und 
Anerkennung ; diejelbe reine Seele, die immer noch nicht begriff, 
daß der Welt au Aeußerlichkeiten wichtig find, und daß man 
fich nad) dem Kern und Inhalt der Dinge nur felten und nur in 
zweiter Reihe umſehe. 

Nachdem meine Erzählungen erſchöpft waren, fam das Ge: 
ſpräch natürlich auch auf das Hauptthema de3 damaligen Tages, 
worüber fi) der Fremde mit Europäern, die den Orient jeit 
länger fannten, am Liebjten bejprah. Ich meine „ven kranken 
Mann, den Ver: und Zerfall der Türkei.” Der Doktor war eben: 


Doktor Schwan. 173 


fal3 der Meinung, daß die Dinge nicht länger mehr jo geben 
fönnten, und als Arzt zählte er die vielen Urfachen der Krankheit 
und die eben fo zahlreihen Symptome baldiger Auflöfung des 
kranken Mannes auf. Aber ich war erſtaunt, als e3 mir der eben 
fo gebilvete als zarte Doktor beftritt, daß auch die Bolygamie zu 
den Krankheitsurſachen der Türkei gehöre. 

„Mißverftehen Sie mid nicht,” fagte er, als ich mein Er: 
ftaunen laut äußerte — „ich vertheidige nicht eigentlich die Poly: 
gamie, nein, mit meiner Vertheivigung meine ich im Grunde 
die Behandlung, melde die Türken ihren Frauen angedeihen 
laflen und das ganze Verhältniß, die Stellung des Weibes im 
Oriente; dieſe vertheidige ich, dieje kann ich nicht ala eine der 
Urfahen des Berfalles gelten lafjen.” 

„Wie?“ rief ih — „Sie vertheidigen die Sklaverei des 
Meibes, die Herabwürdigung derjenigen Perfon im Haufe, in 
der Familie, welche die eriten Keime des Guten in die kindlichen 
Gemüther pflanzen ſoll? Jenes ſchönſte Clement, auf dem die 
Familie und darum die ganze fittliche Gejellichaft beruht, wollen 
Sie erniedrigt jehen? Die Mutter, die Geliebte, die Braut, die 
Gattin, die ſchönſten und poefievolliten Geftalten auf der Bühne 
des Lebens follen mit Recht entjeelt, zu Dingen, zu todten, geilt: 
ofen Sachen herabgemwürbigt werden dürfen? zu Gegenftänden, 
die man kauft, verkauft, einfchließt und jeder eigenen freiwilligen 
Aeußerung und Bewegung beraubt? Ich begreife Sie nicht!“ 

„sh habe,” erwiderte der Doktor ruhig, „ich habe ehemals 
jo gedacht, die Dinge jo betrachtet wie Sie, wie jeder gebilvete 
Europäer. Aber urtheilen heißt vergleichen. In Europa fehlt 
ung die Gelegenheit zur Vergleihung, darum können wir über 
diefe Dinge nicht urtheilen. Gehen Sie, ich fiße feit zwanzig 
Jahren hier auf einem Poften, der mir alle Gelegenheit zur Ber: 
gleihung, aljo zum Urtheil bietet. Hier in Ruſtſchuk fehen Sie 
nur Minarete und Harems; gerade gegenüber erhebt ſich ein 
Kirchthurm und walten fogenannte europäifhe Hausfrauen. 
Drüben in der Walachei kann man alle legten Konfequenzen der 


174 Novellen. 


europäifchen Anſchauung, die äußerfte Entwidlung des europäischen 
Syſtems beobachten. Da genießt das Weib der volllommenjten 
Freiheit und die Heirath ift nicht3 anderes als Kauf und Ber: 
fauf. Bon Heirath aus Neigung ift nur in den allerfeltenften 
Fällen die Rede. Manchmal fieht e8 wohl darnad aus, aber 
wenn man näher zufieht, ilt es Kaprice, Grille, momentane 
Leidenſchaft, die der materielle Befit fofort in das Nichts auflöst. 
63 gibt äußerſt wenige Ehen, melde als ſolche im wahrhaftigen 
Sinne des MWorted Monate oder mehrere Jahre über dauern. 
Ihr Außerlicher Fortbeitand ift eine baare Lüge, die Niemand 
täufcht. Bei folhen Zuftänden ift e8 dem Weibe leicht, fich in 
Alles und Jedes zu miihen, und da fie zum Theil ihrer Natur 
nah, zum Theil in Folge ihrer Entwidlung inmitten folder 
Zuftände frivol ift und nur an Aeußerlichkeiten hängt, wird dem 
ganzen Weſen dieſer Gefellihaft der Stempel ver Frivolität auf: 
gebrüdt, wird das ganze Leben dieſer fo organifirten Geſellſchaft 
bei jolhen obmwaltenden Elementen unfäglich platt, unbedeutend, 
verflaht. Die Männer werden Stuger, Kurmacher, Geden, In— 
triguanten. — Sehen Sie dagegen, wie e3 ſich hier in der Türkei 
verhält. Das ſchädliche, meiblihe, frivole Clement wird von 
vornherein aus der Gejellfchaft entfernt. Der Mann verliert feine 
Zeit nicht mit Kurmachen und braubt, wenn er den Charalfter 
darnach hat, feine Mühe, feine Arbeit nicht zu verſchwenden, um 
jeinem Weibe ven Luxus, diefoftbaren Vergnügungen und Alles das 
zu verfchaffen, was den europäischen Ehemann in Arbeit und Sorgen 
aufreibt. Er feßt feine Frau in den Harem und damit iſt's gut. 
Als junger Mann verfchwendet er fein Beftes in Geift und Ge- 
müth nicht mit leeren Leidenfchaftlichkeiten, Sehnfüchteleien, Aben- 
teuern, Romanen ꝛc. Gr macht fich feine überfpannten Boritel- 
(ungen vom Weibe, er bafırt nicht fein ganzes Glüd auf ein 
mweiblihes Ideal, und fo ift er auch jenen ſchmerzlichen Ent: 
täufhungen nicht ausgejegt, die oft fürs ganze Leben unglücklich 
machen, Byron’sche Helden ſchaffen und Geift und Herz in öde 
Brandftätten verwandeln. Wie viele Hinderniffe werden dem 


Doktor Schwan. 175 


Europäer in feiner Laufbahn, in feiner Entwidlung von weib: 
licher Seite her gewedt; die Sucht zu glänzen, Andere zu über: 
ftrahlen, Neid, Mißgunſt und alle die Gefühle, die eine Nach— 
barin der andern gegenüber heat, werfen den Mann, der fein 
2003 mit dem eines Weibes fo innig verbunden hat, hundert Mal 
aus der Bahn, die er al3 die feinen Talenten, feinem Charakter 
und feinen Neigungen angemeflene erfannt und mit Vorbedacht 
gewählt hat. Der Mohammedaner kann auf diefe Weife nicht 
geftört werden. Ob er nun ruhig fein Feld bebauen, oder feinen 
Ehrgeiz in kriegeriſchen, politiichen oder gelehrten Ruhm fegen 
will — fein Weib weiß faum etwas von der Lebensweiſe und 
den Abfichten ihres Gatten, und iſt ſchon darum nicht fähig, ihn 
zu behindern. In ihrem Harem bedarf die Türkin der Näfchereien, 
Spielzeugs und einigen Schmucks; das wird ihr mäßig geliefert, 
und das Leben ihres Mannes wie die ganze Weltgeſchichte können 
draußen ihren natürlichen Verlauf nehmen. Am Ende ift e3 doch 
die Hauptfahe, daß der Mann feine Kräfte übe, fie zur höchſt— 
möglichen Entwidlung bringe, und fie nit an Plattheiten und 
an die Befriedigung kleinlicher Eitelfeiten und Xeerheiten ver: 
ſchwende.“ 

Ich unternahm es nicht, den Doktor zu bekehren und ihm zu 
beweiſen, wie zur vollkommenen Ausbildung des Mannes auch 
die Erkenntniß des Weibes, und zur vollkommenen Entwicklung 
der Weltgeſchichte und der Geſellſchaft auch die Entwicklung des 
weiblichen Elementes gehöre. Auch war ich nur zu Anfang über 
feine Anſichten, die fo ſehr mit feinem ganzen Weſen in Wider⸗ 
ſpruch ftanden, erftaunt; im Verlaufe feiner Nede, die ich hier 
nur auszugsweife gebe, erinnerte ich mich feiner Gefhichte, und 
die erften Urſachen feiner Anfichten wurden mir auf traurige 
Weife Har und offenbar. Mögen mir noch fo jehr mit fertigen 
Anlagen geboren werden, erft unfere Gefchichte macht ung fertig, 
und jeder Menſch bat feine Gefhichte, und fei fie noch fo kurz, 
fie wirkt entſcheidend, und was auf fie folgt, ift nur ihre Wirkung 
und ihr Anhängfel. Auch der Doktor hatte vie feinige und ic) 


176 Novellen. 


feufzte innerlich, da ich mich ihrer während feiner Rede über das 
weibliche Geſchlecht erinnerte, 


* * 
* 


Ungefähr einundzwanzig Jahre vor meinem Aufenthalte in 
Ruſtſchuk erhielt ich von meinen Eltern die langerſehnte Erlaub— 
niß, unſere Provinzialhochſchule mit der Univerſität der Reſidenz— 
ſtadt zu vertauſchen, aber ich erhielt dieſe Erlaubniß nur unter 
der Bedingung, daß ich in der Reſidenz mit meinem Landsmanne 
Jakob Schwan, Stud. med., dieſelbe Wohnung, wo möglich 
dieſelbe Stube beziehe. Es war dieß eine weiſe Vorſicht meiner 
Eltern. Ich war ein junger Springinsfeld von neunzehn Jahren, 
der von den Freuden des Lebens gern ſo viel mitnahm, als er 
erhaſchen konnte, und dem man nicht ſo ohne Weiteres und ohne 
beſondere Vorſichtsmaßregel auf das hohe Meer des Reſidenz— 
lebens hinauszuſteuern geſtatten durfte. Man war mit Recht be— 
ſorgt, daß ich meine Zeit zwiſchen Tanz- und Fechtboden und 
Kaffeehaus einerſeits und den Kollegien und Büchern andererſeits 
ungleich theilen könnte. Jakob Schwan hingegen, ver Sohn eines 
armen Pächters in unjerer Nachbarſchaft, war ein Mufterftudent, 
der in unjerer Gegend in höchſter Achtung ftand und von dem 
man wußte, daß er von feiner Zeit auch nicht eine Stunde un: 
nüß vergeude. Beugniß dafür legte feine große Bildung ab, fein 
reiches, für fein Alter erjftaunlihes Wiſſen ſowohl in feinem 
Fade, der Medizin, als in vielen andern Fächern. Wie zu feinem 
Willen hatte man zu feinem Charakter, der ſich ſchon vielfach be: 
währt hatte, alles Zutrauen. Er war außerdem um wenigſtens 
ſechs Jahre älter als ich, ein ziemlich alter Student, da er zwi— 
jhen Gymnafium und Univerfität drei Jahre hofmeifterte, um 
die Studienkoften zu erwerben, und ferner war ich, dem man den 
guten Jakob immer als Muſter hinjtellte, varan gewöhnt, zu ihm - 
al3 einem ausgezeichneten Menſchen hinaufzufehen: er war aljo 
wie gemacht, um mich zu bevormunden, und ich war jehr auf: 
gelegt, mich diefer Bevormundung gerne zu fügen. Daher die 


Doltor Schwan. 177 


Bedingung meiner Eltern. Bei der Seelengüte Jakobs zweifelte 
man nicht einen Augenblid daran, daß er mid) bereitwillig als 
Stubengenofien aufnehmen werde. So war e8 auch. Safob 
empfing mich mit offenen Armen und forgte für mich, mie für 
einen jüngeren Bruder. Seine Güte und fein Beifpiel wirkten 
jehr günftig auf mich und ich ſaß in der anftoßenden Stube, die 
mit der feinigen durch eine ftet3 offene Thüre verbunden war, 
faſt eben fo fleißig wie er an den Büchern. Obwohl meine philo— 
logifhen Studien mit den feinigen nichts gemein hatten, unter: 
ftügte er mich dod mit Rath und Aushülfe, da er während der 
drei Jahre feiner Hofmeifterei das bereit3 auf dem Gymnafium 
gründlich gewonnene philologiſche Wiſſen bedeutend erweitert hatte 
und es, behufs einer Gejchichte ver Medizin, die er einft zu ſchrei— 
ben beabfichtigte, bei Gelegenheit gerne wieder aufnahm. Obwohl 
ich ihm förmlich als Mündel übergeben worden war und ich mic 
bereit zeigte, mich feinen Anordnungen gänzlich zu fügen, und 
troßdem er jo lange den Pädagogen gefpielt hatte, nahm er mir 
gegenüber doch nie die Miene eines Vormundes oder Hofmeiſters 
an und war fein Benehmen fern von aller Pedanterie. Seine 
Milde, feine Güte, feine Toleranz für Jugendlichkeit und tollen 
Uebermuth trieben ihn, mich vielmehr al3 feinen Freund zu be: 
handeln, und ich fühlte mich glüdli, in der großen, mir frem: 
den Reſidenz einen foldhen Freund zu bejigen. Obwohl ich über 
reichere Mittel verfügte und größere Ausgaben wagen konnte als 
er, folgte ich ihm doch gerne an den ärmlichen Tiſch feines Gaſt— 
baufes, nur um immer in jeiner Gejellichaft zu fein, und be: 
ſchränkte ich meine ganze Lebensweife auf das beſcheidene Maß, 
das er ſich aus Nothwendigkeit ſowohl wie aus Neigung vorge— 
ſchrieben hatte. Dafür ließ er ſich manchmal verleiten, mir auf 
den Tanzboden zu folgen, wo ich mit ſchönen Nähmädchen und 
Blumenmacherinnen halbe Nächte verjubelte. Er tanzte nicht — 
er hatte dieſe Kunſt nie gelernt — aber er freute ſich am Anblick 
dieſer ihm neuen Welt und dem jugendlichen Treiben; mich, den 
Jüngeren, aber Erfahreneren, unterhielt es, wie er hinter all’ 
Morig Hartmann, Werke. VI. 12 


178 Novellen. 


dem feine eigene Unſchuld vorausfegte, und binter Anmuth und 
Quftigfeit von Putzmacherinnen mit feinem Idealismus und feiner 
fünftlerifchen Logik auch nur Schönheit der Seele und Tugend zu 
fehen vermochte. Suchte ich ihm in diefer Beziehung mandmal 
die Augen zu öffnen, wehrte er die Wirklichkeit, die mit feinem 
unſchuldigen Idealismus nicht übereinftimmte, mit einem jtereo- 
topen, halb ungläubigen, halb toleranten „Aber Nein!“ von 
fih ab. 

Indeſſen bemerkte ich im Laufe der Wochen, daß bei all’ ver 
Freundichaft, die von Tag zu Tag auf beiden Seiten inniger 
wurde, Jakob doc ein Geheimniß vor mir hatte. Manche Abende 
verbradhte er ohne mich außer dem Haufe, ohne mir zu fagen, 
wo und mit wem er gewejen. Nach jolchen geheimnißvollen Aus: 
flügen war er jedesmal in etwas verändert, entweder berebter 
oder ſchweigſamer, heiterer oder erniter al3 gewöhnlich. Bei jedem 
Andern hätte ich Liebes:Stellvichein vermuthet; bei Jakob ſchien 
vergleichen unmöglich. Ich fragte nicht, denn ich war bei feinem 
fonftigen Vertrauen überzeugt, daß fein Geheimniß nicht jein 
eigenes fein könne, daß er mich fonft einweihen würde, und ich 
achtete, ſelbſt ſchweigend, feine Schweigfamteit. Bon Zeit zu 
Zeit aber, vorzugsweiſe nad) ſolchen myfteriöfen Ausflügen, ſchien 
e3 mir, als ob ihn etwas drückte, ala ob er mir etwas mittheilen 
wollte. Er blieb dann vor mir ftehen und jah mich lange an; 
gab ich ihm darauf einen fragenden und erwartungsvollen Blid 
zurüd, erröthete er, lächelte, wandte ſich ab, fing in einem Buche 
zu blättern an und ſchwieg nach wie vor. 

Eines Abends — e3 war fehon fpät und ich lag im Bette — 
fehrte er von feinem geheimnifvollen Gange heim. Ganz gegen 
feine Gewohnheit trat er ziemlich lärmend und ohne alle Rüdficht 
auf den Schlaf feines Zimmernachbarn in die Stube und öffnete 
gleih darauf meine Thüre, 

„Schläfſt du, Viktor?” rief er laut genug, um mich zu weden, 
wenn ich gejchlafen hätte, 

„Nein! was ift 2“ 


Doltor Schwan. 179 


„Sb komme gleich zu dir,“ erwiderte er, „ich zünde nur das 
Licht an.” 

Menige Augenblide darauf trat er mit dem Hut auf dem 
Kopfe, im Ueberrod und eine Kerze in der Hand, an mein Bette, 
Er adhtete nicht auf den Schnee, der noch auf Hut und Kleidern 
lag, und zeigte mir ein Geſicht, das glüdjelig vor ſich hinlächelte. 

„Was haft du, Jakob? Was ift mit dir vorgegangen? Haft 
du Ausfiht auf eine Anftelung ? Bift du Ordinarius geworden ? 
Haft du eine neue Duelle zur Geſchichte der Medizin entdedt? 
Oder gar ſchon einen Verleger für das ungefchriebene Werk ge: 
funden? Du ſiehſt aus, als hätte fich ein großes Glüd geraden: 
wegs vom Himmel auf dein bemoostes Haupt herabgeſenkt!“ 

Jakob lächelte und antwortete nicht; er rieb fi) die Hände 
und ging bald fchneller, bald langſamer in der Stube auf und 
ob. Endlich blieb er vor meinem Bette jtehen und ſagte lächelnd 
und ſchamerröthend: „Sie hat ein Vielliebchen mit mir gegefien !“ 

„Sie? Wer ilt Sie?” fragte id, 

Aber anftatt zu antworten, fragte er weiter: „Was thut 
man, wenn man ein Bielliebhen gegeſſen hat?” 

„Bor Allem,” fagte ich, „verliert man; das ift Pflicht, wenn 
man ein Vielliebehen mit einer Sie ißt.“ 

„Sch habe verloren, es iſt verloren!” rief er, als ob er einen 
Sieg verkündete. 

„Wie? gleich verloren ?” 

„Augenblidlich! faum hatte ich es gegefien, als fie mid) ſchon 
überliftete ‚” rief er wieder voll Freude. 

„Run, jeßt mußt du ihr ein Gefchent machen.” 

„Aber was fchentt man einer Dame?” fragte er weiter. 

„Das hängt von Perſonen und Umftänden ab. Sit fie ſchön? 
iſt fie jung? ift fie liebenswürdig?“ 

„O Gott!“ feufzte Jakob, indem er die Augen himmelwärts 
wendete. 

„Genug,“ rief ich, „ich weiß genug. Der mußt du etwas 
ſehr Schönes ſchenken.“ 


180 Novellen. 


„Nicht wahr ?” fagte Jakob, „das habe ich auch ſchon gedacht.“ 

„Gewiß,“ fuhr ich im Tone des erfahreneren Rathgebers fort 
— „aber balt! Nod Eins: ſeid ihr intim?“ 

„Wer?“ fragte mein Freund. 

„Du und Sie?“ 

Jakob wurde verlegen. „Das,“ ſtammelte er, „das weiß ich 
wirklich nit. Vielleicht, jo gemifjermaßen — aber du mußt 
nichts Böſes denken.” 

„Gott bewahre, du Don Yuan, du BVerführer!” fagte ich 
jcherzend. „Jakob, Jakob, das hätte ich von dir nicht gedacht.“ 

Der Scherz that ihm offenbar wohl, obgleid er fein ab: 
mwehrendes: Aber nein! entgegenfegte und hinzufügte: „Du mußt 
nicht denfen, daß —“ 

„Sch denke gar Nichts,” fiel ich ein; „ich weiß genug. Du 
mußt ibr ein ſehr fchönes Geſchenk machen.” 

„Aber was fol ich ihr fchenten ?” fragte er aufs Ange 
legentlichite. 

„3. B. ein ſchönes Buch.” 

„Das habe ich auch ſchon gedacht,“ fiel er raſch ein. „Wie 
wäre e3, wenn ich ihr meinen Shafefpeare ſchenkte?“ 

„Jakob!“ rief ich eritaunt und vorwurfsvoll — „veinen 
fchönen, deinen herrlichen Shakeſpeare, deinen Stolz, deine Freude, 
deinen ſchönſten Beſitz! Ich hätte gedaht, daß du dich von dem 
nie würdeſt trennen können.” 

„Es kann Umijtände geben —“ fagte er verlegen. 

„Allerdings! allerdings !” fiel ich ein, „gib ihr deinen Shate: 
fpeare und ſei glüdlich.“ 

„sh kann mir ja einen andern, einen billigern kaufen,“ 
jagte er nachdenklich — „die Kupferftiche in meiner Ausgabe find 
mir gleibgültig — für fünf Gulden faufe ich eine einfache 
Ausgabe,” 

„Kaufe dir einen billigern Shafefpeare, mein Sohn, und fei 
zweimal glüdlich,“ rief ich wieder und lachte. 

Er jah mid erjhroden an und fagte in vorwurfsvollem 


Doktor Schwan, 181 


Tone: „Siehſt du, Viktor, du lacht. Ich habe das immer ge: 
fürchtet — ich hätte dir fonit ſchon lange erzählt —“ 

Er unterbrach fih und mwollte in jeine Stube zurüd; aber 
ich ftredte den Arm aus und zog ihn ans Bett, daß er lich ſetzen 
mußte, Es wurde mir nicht ſchwer, ihn zu beſchwichtigen und 
mittheilfam zu maden, da ihm Mittheilung Bedürfniß war. Da 
jah ih denn in ein bis an den Rand von Liebe erfülltes Herz; 
in ein Gehirn, das nur von gemüthvollen und jhönen Träumen 
bewohnt war, ja nicht nur von Träumen, au von fertigen, 
pofitiven Planen der Zufunft, von Heirath, von glüdieliger 
Häuslichkeit, von Familienglüd. Die Wiſſenſchaft, die lite: 
rariſchen Projekte, die Gejhichte der Medizin, das hohe Intereſſe 
für alle Entvedungen und neuen Forjhungen waren tief in den 
Hintergrund gedrängt, oder traten nur ala Mittel zum Zwed, 
zu dem einen und einzigen geliebten Zwede in den Vordergrund, 
Jakob lächelte, al3 ih ihn auf dieſe wiſſenſchaftliche Apoſtaſie 
aufmerkſam machte, und fagte achſelzuckend: „Was willit du ? 
ih bin auch ein Menſch!“ 

Die Geſchichte feiner Liebe war, wie ich vorausfeßte, eine 
höchſt einfache Geſchichte. Er war, als er in die Rejivenz kam, 
durch den Edelmann, bei dem er Hofmeifter geweien, an den 
Notar Heideloff empfohlen, und wurde von diefem, der die Ge: 
Ihäfte des Edelmanns bejorgte, fehr freundlih aufgenommen 
und feiner Familie vorgeitellt. Die Familie beftand aus einer 
Frau und einer einzigen Tochter, welche Adele hieß. Adele trug 
ihr aſchblondes Haar in Loden, die auf Bruft, Schulter und 
Naden in üppigfter Fülle herabftrömten; fie hatte blaue Augen, 
runde, ſanft geröthete Wangen und einen Mund, der bezaubernd 
zu lächeln verftand, fo wie fidh ihre ganze, man wußte nicht ob 
zarte, ob üppige Gejtalt aufs Anmuthigſte und gar nicht anders 
zu bewegen verftand. Nach Jakobs Ausfage war ihre Seele noch 
ihöner als ihre äußere Erfcheinung; ihr Sinn war edel und ge: 
bildet und für alles Schönfte und Höchſte empfänglib. Das 
mußte er befler als jeder Andere, da er mit ihr Goethe und 


182 Novellen. 


Shakeſpeare las und ihr die alten Tragiker erklärte, Er jagte, 
man brauche fie nur tanzen, ja nur durch die Stube jchreiten zu 
ſehen, um von der Schönheit ihrer Seele für immer überzeugt 
zu fein. Alles an ihr jei wie lieblichfte Mufik; gegen Jedermann 
jei fie voll Wohlwollen, auch gefalle fie Allen und habe fie das 
ſchöne Beftreben, Jedermann Sympathie einzuflößen. Er babe 
dieſes Alles gleich bei feinem erften Beſuche vorempfunden ; nie 
babe eine Ahnung fo deutlich, jo beftimmt und jo wahr in ihm 
gejprochen, wie damals. Es war an einem Herbitnachmittage; 
die Sonne fiel durch rojige Gazevorhänge in die Stube. Die 
Mutter faß auf einem Fauteuil, ihr zu Füßen, auf einem Schemel, 
das lodige Köpfchen auf das Anie der Mutter gelehnt und mit 
deren Hand tändelnd, ſaß die Tochter. Die Mutter jaß im 
Schatten, der rofige Sonnenschein fiel auf die Wangen Adelens. 
Es war ein Bild, das er nie vergeſſen werde, und er glaubte 
damals, er werde Adele nie fchöner fehen. Aber er hat fie feit 
damals hundert verſchiedene Male ſchöner geliehen. So jeden 
Donnerftag Abends, wenn da getanzt wird, dann, wenn er mit 
ihr an einem Heinen Tiſchchen fite und fie mit kindlicher Auf 
merkſamkeit und Theilnahme feinen Vorleſungen laufe, oder 
wenn jie einer eintretenden Freundin entgegeneile, um fie zu 
umarmen, 

„Das Alles ift jchön, mein Freund,“ fagte ih, nachdem 
Jakob länger al3 eine Stunde die Vorzüge feiner Geliebten ges 
ſchildert hatte — „aber die Hauptſache! die Hauptſache!“ 

„Was iſt die Hauptſache?“ fragte Jakob. 

„Hat fie dich wieder lieb?“ 

„Ja,“ fagte Jakob, indem er die Hände in einander legte — 
ih wage es nicht zu glauben — ich weiß e3 nicht.“ 

„Sind denn Symptome da?“ fragte ich weiter. 

„Sie iſt fehr gut, jehr liebenswürdig; fie feherzt mit mir, fie 
bat heute ein Vielliebchen mit mir gegeflen.“ 

„Das beweist nichts; fie ift auch mit Andern liebenswürdig, 
fie ißt auch mit Andern Vielliebchen.“ 


Doltor Schwan. | 183 


„Das ift richtig. Aber wie foll man das erfahren? Ich 
kann fie ja nicht fragen. Sieh Viktor,” fuhr er fort, indem er 
fih mit jhüchterner und flehentlicher Miene zu mir wandte — 
„ich babe ſchon daran gedacht — du biſt in diefen Dingen er: 
fahrener — du folltejt fie beobahten und mir dann fagen, ob 
fie mich lieb hat oder nicht.” 

„Das will ih mit Vergnügen,“ fagte ich, „aber zu dieſem 
Zwecke muß ich ind Haus fommen.“ 

„Freilich! — aber wie fängt man das an?“ 

„Ganz einfach; du ftellft mich dort vor.“ 

„Aber wie? unter welchem Vorwand?“ 

„Es wird jede Woche im Haufe getanzt; du rühmſt mich 
al3 deinen Freund, aber mehr noch als vortrefflihen Tänzer, 
und du wirft dich überzeugen, daß man dir auf halbem Wege 
entgegenfommt. Du madjt in zwei oder drei Tagen deinen Bes 
fub, und nächſten Donnerjtag kannſt du mich dort fehon ein: 
führen.” 

Mie gejagt jo gethan. Seit jener Naht der Bekenntniſſe 
war Jakob nur mit meiner Vorjtellung im Haufe Heideloff be 
ihäftigt. Triumphirend brachte er von feinem Befuche die Ein: 
ladung mit heim, und mit noch größerem Triumphe machte er 
fih Donnerftag zu dem Gange bereit. Ich bemerkte, als wir 
unfere Stube verlafjen wollten, daß er für die Soirden nichts 
an feiner gewöhnlichen Kleivung geändert, und daß Haar, Kra: 
vatte, Hemdkragen, kurz feine ganze Toilette fi in der ge 
wohnten Gelehrtenunorbnung befand, ja daß an feiner Wäfche, 
auf der Bruft wie an den Manjcetten, noh Spuren von 
chemiſchen Experimenten, gelbe, blaue und braune Flecken zu 
fehen waren. ch ftellte ihm vor, daß. man fo zu feiner Ge: 
liebten nicht gehen könne; er aber antwortete: „Ach, fie ilt nicht 
fo! Sie fümmert fih nicht um dergleichen Aeußerlichkeiten.“ 
Diefe Worte gaben mir einige Hoffnung für Jakob, denn, offen 
jei es gejagt, ich zweifelte ftarf, daß ein fo elegantes Mädchen, 
wie Adele, einen Mann wie Jakob lieben könnte. Ich hatte ihn 


184 Novellen. 


oft während diefer legten Woche von diefem Standpunkte aus 
prüfend betrachtet, und ih mußte mir immer jagen, daß er 
nichts an fih habe, was weiblihen Sinn beſtechen fönne und 
Vieles, das zurüdjtoßen müſſe. Von Geftalt war er bäßlich, in 
feinen Bewegungen für Alle, die ihn nicht näher kannten. komiſch, 
beinahe lächerlih, in feinem Anzug bis zur Aermlichkeit einfach) 
und meiſt ſehr vernadhläfligt. Aber Adele kannte ihn ja jchon 
feit Monaten, hatte vielleicht feine großen und edlen Eigen: 
ſchaften würdigen gelernt und fie „kümmerte fich nicht um der: 
leihen Yeußerlichkeiten.” Endlich ijt e8 nicht fo jelten, daß ſich 
junge Mädchen in häßliche Männer verlieben. Haben fie in 
ſolchen ſchöne Eigenſchaften entvedt, die fie rühren, find fie ſtolz 
auf dieje Entdedung, und zeigen fie gewöhnlich mehr Muth als 
die Männer, um den Spöttereien der Welt entgegen zu treten. 
Troß alledem ließ ich Jakob in feinem vernadläfjigten Zuftande 
dießmal nicht auf die Soirée gehen. Ich fuchte feine befte Mäfche 
und feine beiten Kleider hervor, erfegte das Mangelnde aus meiner 
Garderobe, putzte ihm jelbjt die Stiefel und ftellte ihn fo ftatt- 
lich ber, wie er es vielleicht nie gewefen. Er ließ mich gewähren 
_ und betrachtete ſich lächelnd und felbitgefällig im Spiegel — in 

meinem Spiegel; denn er ſelbſt bejaß feinen, da er von dem 
feinen das Quedfilber, behuf3 eines Erperimentes, abgefragt 
hatte. Darauf nahm ich einen Fiafer, um ung vor dem Gaflen: 
ſchmutz zu behüten, und wir langten in ungetrübter Stattlichkeit 
im Heibelofffhen Haufe an. 

Aber der erfte Schritt in die Gefellfhaft war durch ein Un: 
glüd bezeichnet. Jakob, deſſen Brille beim Eintritt in den war: 
men, von Menſchen erfüllten Salon, darin ſchon feit zwei Stun: 
den getanzt wurde, angelaufen war, fo daß er noch weniger ſah 
als jonit, ftieß gleih an der Thüre an ein Stubenmädchen, das 
Thee und Eis umber trug, warf ihr Taffen und Gläfer aus der 
Hand und begoß und befprigte die ganze Umgebung mit dem 
falten und warmen Inhalt. Zwei junge Mädchen, deren Kleider 
arg zugerichtet wurden, ftießen Schreie des Entſetzens aus; ein 


Doktor Schwan. 185 


Student wagte fogar einen leifen lub, und der ganze Winkel 
an der Thüre fam in folhe Verwirrung und Bewegung, daß 
der Kreis der Tänzer durchbrochen wurde und der Tanz aufhörte. 
Ich erröthete bis über die Ohren und fühlte mich einen Augen: 
blid zu einer jener Heinen Nieverträchtigkeiten aufgelegt, die wir 
alltäglich begehen, indem ich mich einige Schritte entfernen und 
meinen Freund verleugnen wollte, Jakob ermaß das ganze durch 
ihn angerichtete Unheil erſt, nachdem er die Brille abgewiſcht 
hatte. Aber er fam troß dem Gelächter, dad nah dem erſten 
Schreden entftand und trogdem fich die ganze Geſellſchaft mit dem 
Rufe: „nun das ijt ganz feiner würdig!” oder: „das ijt gewiß 
wieder der Schwan gemwejen!” um ihn drängte, nicht aus ber 
Faſſung. Er lächelte gutmütbig, betrachtete die befledten Kleider 
und verjicerte deren Eigenthümerinnen, daß die Fleden mit 
leichter Mühe wieder zu befeitigen fein würden. Auf den Lärm 
drängte ſich auch eine fehr jugendliche, reizende Erſcheinung her: 
bei, die ih, nad der Schilderung Jakobs, an den aſchblonden 
Locken, die wie ein reicher Wafjerfall auf weiße, volle Schultern 
und Naden herabfielen, jogleih als Adele erfannte. Sie trug 
ein roſa Mouffelinkleid, das an Bruft und Mieder von einer 
ſchmalen, gezadten Silbertrefje eingefaßt und um den Leib von 
einem gleichen Gürtel zufammengehalten war. 

„Natürlich! Natürlic) !” late Adele, und zeigte eine Doppel: 
reihe von Zähnen, die man noch für Mildzähne hätte halten 
können, „jo und nicht ander muß Herr Schwan feinen Einzug 
balten! Ich fage es ja immer, man fol, wo er naht, Alles 
entfernen, was fallen, brechen, zerreißen kann. Er ift ein wahrer 
Orkan, diefer Herr Schwan !” 

Alles lachte. Jakob lächelte felig, ald ihm dieſe Stimme 
erfholl und bemerkte nicht, was ich zu bemerken glaubte, daß 
Adele, mährend fie ihm auf die vertraulichite Weife die Hand 
reichte, mit ihrer Umgebung einen eben fo ſpöttiſchen als flüch: 
tigen Blid wechſelte. 

Ich wurde ihr vorgeftellt und ich fühlte, wie fie, während 


186 Novellen. 


fie rafch eine anftandsvolle Miene annahm, den Moment einer 
kurzen Verneigung benügte, um mich vom Wirbel bis zur Zehe 
zu prüfen und zu mujtern. Sie führte mich dann zur Mutter, 
einer Heinen, ziemlich Eorpulenten Frau mit unbedeutendem, 
gutmüthigem Gefihte, die mich mit vorgejchriebener Güte auf: 
nahm und ein fleines Geſpräch über meinen Aufenthalt in ver 
Refivenz, über „ven guten Schwan, dem immer etwas pajlire,” 
und über ihre Eleinen Soirees dansantes, die ſich jo nah und 
nah aus einer gewöhnlichen Tanzitunde herausgebilvet hätten 
und faum irgend welche Anfprüche machen dürften, und über 
dergleichen mehr antnüpfte. Der Tanz ging wieder an; Frau 
Heideloff ftellte mich einem jungen, unbedeutenden Mädchen in 
ihrer Nähe vor, und id) tanzte, um mich werfthätig in der Ge: 
jellichaft einzubürgern. 

Sie bejtand zum größten Theil aus Sprößlingen derjelben 
bürgerlichen Klaffe, der unfere Wirthe angehörten, aus Söhnen 
und Töchtern von Advokaten, Notaren, Yerzten, höheren Be: 
amten, Banquierd. Cinige Mütter und Tanten ſaßen an den 
Wänden und fahen vem Tanze zu. In einem anftoßenden Zim— 
mer ſpielten einige ältere Herren Whift und Bofton, unter ihnen 
auch Herr Heideloff. Er war ein Mann von ungefähr fünfzig 
Jahren, trug einen ſchwarzen Frad, weiße Kravatte und eine 
feine Uhrkette mit einer einzigen aber koſtbaren Breloque, und 
batte das ftereotype Geficht feines Standes, jenes Geſicht, in 
welchem die ernite Würde des Weiſen die praftiihe, auf das 
Weltlihe gerichtete Klugheit, wohl auch Verfchmigtheit bevedt 
und bieje wieder jene in den Hintergrund drängt. Die beiten, 
ehrenhaftejten, von der Wichtigkeit und Würde ihrer Stellung 
durhdrungenften Advokaten und Notare glauben doch liftig und 
verjchmigt fein zu müffen; wieder die gemwifjenlofejten, nur auf 
ihren Vortheil bevachten und durdtriebenften erkennen die Noth: 
wendigfeit, Ehrfurcht einzuflößen und richten demgemäß ihr 
ganzes Weſen ein: fo begegnen fich die Beiden auf demjelben 
Wege und gelangen zu einer Aehnlichkeit des Ausprudes, die 


Doktor Schwan. 187 


im Bereiche ihre3 Standes jede Individualität verwifcht. Darum 
unterfcheiden ſich Advokaten und Notare jo weſentlich von den 
Richtern, die franchement eine milde oder harte Bhyfiognomie 
zeigen. In Herrn Heideloffs Erſcheinung faß ein Notar vor mir, 
nichts al3 ein Notar, ein ausgejprochener Stand, ein unbe 
jtimmbarer Menſch. Jakob, der mir in die andere Stube folgte 
und mich in Betrachtung des Herrn Heideloff verjunfen fand, 
raunte mir ins Ohr: „Ein ausgezeichneter Mann, ein höchſt 
praktiſcher Mann!” Ich nahın diefe Verficherung aufs Gläubigite 
bin, obwohl ich in Jakobs Menſchenkenntniß nur jehr geringes 
Vertrauen fegte und wohl mußte, dab er überall nur höchſt 
ausgezeichnete, gute, mohlmollende, Keiner Falſchheit fähige 
Menſchen fah. 

Was nun die Hauptperfon betrifft, um derermillen ich 
eigentlich gekommen war und um die fi offenbar Alles im 
Haufe drehte, jo muß ich geitehen, daß der erſte Eindiud fein 
günftiger war. Adele war ſchön, anmuthig, reizend und das 
Alles in einem hohen Grade, aber e3 jchien mir, daß fie das 
vollite Bewußtfein aller diefer Vorzüge hatte und daß hinter 
allen ihren Worten und Bewegungen, jelbjt hinter ihrem offen: 
jten und lauteften Lachen eine gewiſſe Abjichtlichfeit und Berech— 
nung verborgen lag. Sie ſchien mir, mit einem Worte, eine mit 
allen Waffen ausgerüjtete Kokette. Vor Allem aber mißfiel mir 
die Art und Weife, wie fie meinen Freund aufgenommen hatte. 
63 erwachte der Verdacht in mir, al3 wäre e3 ihre Gewohnheit, 
ſich über ihn Luftig zu machen. ch war in Folge dejien jehr kalt 
und zurüdhaltend gegen fie, lud fie auf eine Weife zum Tanze 
ein, die verriethb, daß ich es mehr aus ſchuldiger Höflichkeit 
gegen die Tochter vom Haufe, ald aus innerem Drange that 
und fagte ihr nicht eines der ſchönen Dinge, die fie zu erwarten 
berechtigt und gewohnt war. Das machte fie jtußig und etwas 
verlegen, aber zugleich ſehr zuvorlommend und liebenswürdig. 
Im Laufe des Abends ftand fie oft plöglich neben mir, hatte die 
verschiedensten Aufmerkſamkeiten, die fie mit ihrer Pflicht gegen 


188 Novellen. 


den Fremden motivirte, und verftridte mich zu wiederholten 
Malen, ehe ich mich deſſen verſah, in Gefpräche, in denen fie 
immer etwas Schönes oder Geiftreiches zu jagen hatte. Am 
Beiten gefiel mir, mas fie über Jakob fagte; fie lobte ihn mit 
folder Wärme und in fo fchönen bezeichnenden Worten, daß ich 
bei ihr ein Verſtändniß diefes trefflichen Charakter vorausſetzen 
mußte und daß ich — allmälig den Zauber, den diefes Mädchen 
auf alle Welt ausübte, ebenfall3 als wirkſam zu fühlen begann. 
Aber wieder fühlte ich mich im innerften Herzen erfältet, als 
Jakob jpät in der Nacht auf mich zutrat und mich mit vers 
jhämter Miene bat, ihn ja nicht auszulachen, er werde jekt 
tanzen. 

„Du tanzen 2” rief ich erjtaunt. 

„Ja,“ fagte er, „ich habe bier jhon mehrere Male getanzt; 
Fräulein Adele hat mir Lektionen gegeben und jegt will fie, daß 
ich wieder mit ihr tanze; ich kann es ihr nicht abjchlagen.“ 

In dem Augenblide fing das Klavier zu klingen an; Jakob 
verließ mich und ich ſah ihn gleich darauf, wie er ſich mit Adele 
im Kreije drehte. Er tanzte, wie ich es erwartet hatte, unge: 
ſchickt, edig, lächerlih. Er konnte nicht Takt halten und machte 
die fonderbarften Sprünge, um feiner Dame nachzukommen; 
jein Gefiht nahm ven Ausdruck einer aufs Höchſte geipannten 
Aufmerkſamkeit an, und doch ſuchte er zu lächeln, um biefen 
Ausdrud zu verbergen, mas eine fortwährende Veränderung in 
jeiner Miene und durch den Kontraft des wechjelnden Ausdruckes 
eine komiſche Wirkung hervorbrachte. Nur wenige Baare tanz 
ten; die Meiften ſtanden, um fih an dem Scaufpiele zu er: 
gögen ; jelbjt die Matronen hatten fich dem Kreife genäbert, um 
bejjer zu jehen. Je einfamer er auf dem Tanzplane war und je 
größer die Zahl der Zufchauer, defto höher ftieg die Verlegenheit 
des guten Jakob, deſto mehr nahm er fich zufammen und deſto 
lächerlihere Sprünge famen zum Vorfchein. Das Publikum aber 
unterbielt jih; ein mehr oder weniger boshaftes oder fpöttifches 
Lächeln lag auf allen Lippen. Es that mir leid um den lieben 


Doltor Schwan. 189 


Freund; es fhien mir unendlih graufam, ihn zum Tanze zu 
zwingen und ich war vor Allem gegen Adele empört. 

Sie mußte das bald gefühlt haben, denn fie wurde nod 
liebenswürdiger al3 vorher; und da ich auch während des 
Soupers neben ibr faß, verließ ih — nad dem Souper — das 
Haus, als ein von Adele bezauberter Menic. 

Jakob war ganz glüdlih, mich fo berauſcht zu fehen. 
Lachend ging er neben mir einher und rief fortwährend: „Ya, 
ja! fo it es! jo muß es fein! Kein Menſch von einigem Ge: 
fhmade vermag ihr zu widerſtehen! Giehit du nun, daß ich 
nicht übertrieben habe!?“ Und an ſolche Ausrufungen fnüpfte er 
dann neue Analyfen ihrer Tugenden und Vorzüge, und nur um 
das Geſpräch jo lange als möglich fortzufegen, bat er mich, da 
ver Morgen hübſch zu werben verſprach, über die gefrorenen 
Promenaden rings um die Stadt mit ihm einen Spaziergang zu 
machen. Bielleiht zum erjten Male in jeinem Leben jtedte er 
eine Cigarre an, hob ven Kopf in die Luft und fchritt, vide 
Dampfmwolten vor ſich hinblaſend, heiter, lachend, manchmal 
ausgelaflen luftig, wie ein ſanft beraufchter Vergnügling in 
einer Sonntagsnadht, dur die Welt, die ihm von Glüd und 
Schönheit angefüllt erſchien. Den Zmwed meiner Einführung ins 
Heideloff'ſche Haus hatte er ganz vergeflen; e3 fiel ihm nicht ein, 
ſich nach meinen Beobachtungen betreffs der Liebe Adelens zu er: 
fundigen; er war zufrieden, nunmehr mit einem Menjchen, der 
ihre Anmuth anerkannte, von ihr ſprechen zu können. 

So war und jo blieb e3 auch in den fommenden Tagen und 
Moden. Schon zwei Tage nad jener Soirde forderte mid 
Jakob auf, im Heideloff'ſchen Haufe einen Befuh zu machen, 
was ich gerne that, und nächſten Donnerftag wurde dort wieder 
getanzt. So oft ic Adele wieder ſah, fo oft famen meine frühe: 
ten Bedenken wieder zurüd und erfehien fie mir als Kokette; aber 
eben jo oft berauſchte mich ihre anmuthsvolle und fchöne Er: 
Iheinung, jo daß mein Urtheil über fie fortwährend ſchwankte 
und Berjtand und Phantafie zu feinem übereinftimmenden 


190 Novellen. 


Schlufie gelangen konnten. Außerdem war ich durch die über: 
aus freundliche Art, mit der ich in dem Haufe empfangen und 
behandelt wurde, beftochen ; in meinem von Natur mißtrauiſchen 
Gemüthe, das ich mit jugendlihem Beredlunggeifer zu betämpfen 
juchte, ließ ich den Verdacht, daß ich diefe Behandlung im Haufe 
des Notar nur dem großen Grundbefig meines Vaters verdante, 
nit auflommen. Mit größerer Energie aber drängte ji mir 
die Ueberzeugung auf, daß Jakob jeine Einbürgerung dajelbit 
vorzugsmweife dem Gmpfehlung&briefe ſeines Brodherrn fchulde 
und den Rüdjichten, die man dem einflußreihen und groß be: 
güterten Evelmanne gegenüber hatte, deſſen ausgedehnte Ge: 
jchäfte in der Stadt und deflen Gelder Herr Heideloff verwaltete. 
Davon abgefehen machte ji Jakob au nüglid. Adele war ein 
glänzend gebildetes Mädchen und wollte ſich noch mehr bilden; 
Jakob war ein eifriger, vortreffliher und dabei unentgeldlicher 
Lehrer. Sonft war er, ich mußte mich mit Kummer davon über: 
zeugen, die komiſche Perfon des Haujes und des ganzen Kreijes. 
Man lachte oft über ihn; man lächelte faft immer. Seine Liebe 
zu Adelen war dem kleinſten Mädchen des Kreifes Fein Geheim— 
niß, und da er zu der höchſt eleganten Erjcheinung einen jo 
jonderbaren Kontraft bildete, war diefe Liebe der Hauptgegen: 
ftand, mit dem man fich erluſtigte. Man beobachtete ihn in 
jeinen Aufmerkſamkeiten, man behorchte jeine Gefpräcdhe mit 
Adelen — und man fand Alles komiſch. Sprachen Fremde, die 
mein intimes Verhältnik zu Jakob nicht fannten, vor mir zu 
Frau und Fräulein Heideloff in diefem Sinne, wurde er von 
diefen mit einem: „Der gute Schwan!” oder: „Der treffliche 
Schwan !” in Schug genommen. 

Jakob ging durch die Reihen dieſer Menſchen und durch 
dieje Verhältniſſe wie ein glüdlic Träumender mit einem Lächeln 
auf den Lippen und in der Seele, ohne Ahnung von dem wahren 
Stande der Dinge. Ich hatte nicht den Muth, ihn zu weden 
und — um eine Anklage gegen Adele zu formuliren, und fie in 
meinem Innerften endgültig ala eine kalte, berechnende Kotette 


Doktor Schwan. 191 


anzuerfennen, war ich felbjt viel zu jung, zu jehr den Wir— 
tungen der Schönheit offen und viel zu viel beraufcht, vielleicht 
verliebt. 


* * 
* 


Im Heideloff'ſchen Hauſe war ich bald eben ſo heimiſch, 
wenn nicht heimiſcher als Jakob. — Adele, die es fühlte, daß 
zwei Seelen in meiner Bruſt ſprachen, eine für, eine gegen ſie, 
und deren Aufmerkſamkeit durch beſtändigen Wechſel von Wärme 
und Kälte, von Vertraulichkeit und Zurückhaltung in meinem 
Benehmen auf mich gelenkt wurde, behandelte mich mit einer 
Zuvorfommenbheit, die an Auszeichnung gränzte. Bald bemerkte 
ih bei den jungen Männern einige Eiferfucht; hier und da 
wurde mir zu meiner Eroberung Glüd gewünfcht. Ehe ich mich 
deſſen verſah, zwang mich Adele mit vielfachen Aufträgen, die 
fie mir gab, und die von Andern ebenfall3 als ein Zeichen der 
Bevorzugung betrachtet wurden, mich äußerlich und innerlich 
mit ihr zu bejchäftigen. Bald hatte ich ihr ein feltenes oder ein 
neue? Buch, bald Konzertbillete, bald Auskunft über das und 
jenes zu verfchaffen. So fam ich jede Woche einige Mal ins 
Haus, und da id) von der Mutter befreundeten Familien vor: 
geftellt und won diefen wieder zu Tanzunterhaltungen eingeladen 
wurde, beinahe jeven Tag mit ihr zufammen. Nalob betrachtete 
das Heranwachſen unferer Intimität mit Freude; e3 fiel ihm 
nicht ein, etwas Anderes in mir zu fehen, als einen Vertrauten 
und einen Boten, der ihm täglich über Worte, Ausfehen, Leben 
feiner Geliebten Bericht erjtattete. Er war zufrieden, daß er jegt 
Jemand hatte, mit dem er täglich, beinahe ſtündlich won ihr 
ſprechen konnte, und ſelbſt feine pofitiven Abfichten in Beziehung 
auf Adele, ſammt der ungelösten Frage, ob fie einige Liebe für 
ihn fühle, traten bei dem genügjamen und immer nur das Gute 
boffenden Weſen des armen Freundes volllommen in den Hinter: 
grund. 

Da brad eine Kataftrophe herein, die in dem ganzen Kreiſe 


192 Novellen. 


eine gewaltige und fchredliche Veränderung hervorbrachte, und 
alle Gedanken an Glüd, Liebe und Liebelei verwiſchten, alle die 
Fragen, die uns feither beſchäftigten, als unendlich Hein er: 
ſcheinen ließen. 

Jakob war Doktor geworden und hatte eben vom Rektor 
Magnifitus, von mir begleitet, fein Diplom geholt. Um dieſes 
Greigniß zu feiern, lud ic ihn in eines der erjten Speijehäujer 
der Reſidenz zu einem ausgeſuchten Gaſtmahle und einer Flajche 
Ungarwein. Nah Tiſche traten wir in ein Kaffeehaus — Yalob 
mit der großen Blechrolle unter dem Arme — um dann zu 
Adelen zu eilen und ihr das Diplom zu zeigen. Sie hatte ein 
ſolches Inftrument nie gefehen; Jakob hatte ihr vor Monaten 
verſprochen, ihr fein Diplom zu zeigen und erinnerte fich jegt 
diejes Verſprechens, wie er ſich überhaupt jedes Wortes, das fie 
je an ihn gerichtet, mit diplomatifcher Genauigfeit erinnerte, 

Mir fanden das Kaffeehaus in einiger Aufregung; Gruppen 
ftanden dort und da und unterbielten fich über einen, wie e3 
ſchien, höchſt interefjanten Gegenitand; man hörte die verjchie: 
denſten Ausrufungen der Verwunderung, der Entrüftung, des 
Mitleids. Eine große Neuigkeit jchien die Reſidenz zu bewegen. 
Aber wir, in unferer erhöhten, von Privatgefühlen und Ungar: 
wein herrührenden Stimmung acdteten auf die .vielen Erzähler 
und ihre Zuhörer nicht, tranfen unfern Kaffee und machten 
Pläne, bis unfere Aufmerfjamfeit zu wiederholten Malen dur 
den Namen Heideloff, den man immer wieder in den Gruppen 
ausſprach, angezogen wurde. Wir wurden mehr ald aufmerk: 
ſam, als wir hörten, daß jene Ausrufe der Entrüftung, ja daß 
Verwünſchungen immer nur in Verbindung mit diefem Namen 
außgeftoßen wurden. Nun näherten wir und. Wir fanden aud 
Belannte unter den Kaffeehausgäften, die wir fragten und die 
erjtaunt waren, daß wir won ber großen Neuigfeit, von ber 
ſchauderhaften Geihichte, die würdig wäre, al3 cause c&l&bre 
in einem neuen Pitaval zu prangen, und die feit heute Morgen 
Stadt und Hof mit Entjegen erfülle, noch nicht? gehört haben 


Doktor Schwan. 193 


follten! — Man erzählte ung; die Geſchichte war in der That 
gräßlih. Jakob hörte fie bleih, zitternd mit an und lehnte fich 
endlih an die Wand, um nicht zufammenzubrechen. 

Einige Monate vor diefem Tage trat eine Dame von unge 
fähr dreißig Jahren in das Bureau des Notars Heideloff. Sie 
bat ihn um eine geheime Unterredung; er führte fie in ein an— 
ftoßendes Zimmer und ſchloß die Thüre. Die Dame übergab 
ihm ein Empfehlungsjchreiben, das die Unterfchrift eines Pro: 
vinzadvolaten und ehemaligen Studienfreundes Herrn Heideloff3 
trug. Nachdem er e3 gelefen, verneigte ſich Herr Heibeloff aufs 
Ehrerbietigfte und fragte: „Frau Gräfin... ., was fteht Ihnen 
zu Dienften? Verfügen Sie über mich wie über Ihren unter: 
thänigjten und treueften Diener.” Gräfin B... mar jehr erfreut 
über diefe Aufnahme und fagte: „Herr Heibeloff, Sie find mir 
als der ehrenwertheite und zuverläfligfte aller Notare und Ge: 
Ihäftsmänner der Refidenz gerühmt worden. Jh will mit Ihnen 
offen ſprechen, wie mit einem Beichtvater. Ich bin nicht mehr 
die Gräfin B...; ich babe nicht mehr das Recht Titel und 
Namen meines vor vier Jahren verftorbenen Mannes zu tragen, 
denn ich bin zum zweiten Male verheirathet, und eigentlich jet 
nur die einfahe Madame &.... Meine ganze adelige Familie 
mar gegen dieje Heirath, theild weil fie eine Mesalliance war, 
theilö wegen des Charakter meines jegigen Mannes. Wir find 
heimlich verheirathet und mein jegiger Mann will felbit, daß 
unfere Ehe ein Geheimniß bleibe, weil zu befürchten ift, daß 
mein Onkel, ver Landmarſchall, mich enterbe, wenn unfere Ehe 
vor feinem Tode befannt würde. Aber ich bin am Vorabend 
meiner Nieverfunft. Much diefe muß verheimlicht werden, wenn 
nicht meine zweite Che bekannt werden foll, oder wenn ich nicht 
für einige Jahre Unehre und den Zorn meiner Familie auf 
mein Haupt laden will. Legteres will ich vorzugsmeife aus Rück⸗ 
ht für meine drei Kinder aus erfter Ehe und wegen meiner 
Abhängigkeit von meiner Familie vermeiden. Um meine Nieder: 
kunft zu verheimlichen, komme ich in die große Reſidenz, und begebe 

Morig Hartmann, Werke VI. 13 


194 Novellen. 


mich morgen unter falſchem Namen und mit falſchem Paſſe in 
die allgemeine Gebäranſtalt. Aber während meiner zweiten Ehe 
habe ich einſehen gelernt, wie berechtigt und weiſe die Einreden 
meiner Familie gegen die Verbindung mit &..., und wie 
wenig begründet meine Liebe zu ihm, meine Illuſionen, und 
meine Hoffnungen, ihn zu beſſern, geweſen. ©... iſt ein 
Spieler und Verſchwender; er hat mich nur meine3 Namens 
wegen aus Eitelfeit, und meines Vermögens wegen aus Eigen: 
nuß beftridt und geheirathet. Wenn ih nun im Mochenbette 
fterbe, kann er als mein legitimer Gatte auftreten und die Ver: 
waltung meines binterlafjenen Vermögens beanfprudhen. Ich 
babe die feite Ueberzeugung, daß das ganze Vermögen verjpielt 
und verſchwendet wäre, ehe meine Kinder mündig werden. Ich 
bringe darum die Refte, die mir noch geblieben, zu Ihnen, Herr 
Heideloff, um die Zukunft meiner armen Kinver zu fihern. Mich 
plagen Todesahnungen, aber nad Allem, was ich über Sie ge: 
hört, werde ich, mwenigftens in diefer Beziehung, ruhig aus der 
Melt jcheiden. Sie werden das Vermögen treu bewahren, und 
im Falle meine Todes meinen Bruder, den Grafen S..g, 
der dann der todten Schmweiter verzeihen wird, ind Geheimniß 
ziehen. und das Geld mit ihm gemeinfchaftlich verwalten. Bei 
meiner fchredlichen Sage, bei all’ den Heimlichfeiten, an die ich 
nicht gewöhnt bin, und in denen ich mir felbft wie eine Ber: 
brecherin erjheine, bei den traurigen Erfahrungen mit meinem 
jegigen Manne, bei der Kataftrophe, der ich entgegengehe, und 
den bejtändigen Zodesahnungen ift es mein einziger Troft, fo 
für meine Kinder forgen zu können und einen Mann gefunden 
zu haben, dem ich mich und das 2008 der Kinder mit folder 
Sicherheit anvertrauen darf. Sie werden fih auch, als Ehren: 
mann, durch das Vertrauen, das ich in Sie fee, mit mir und 
meinen Kindern bi3 zu einem gewiflen Grade verbunden fühlen 
und den armen Waijen, wenn auch aus der Ferne, mit Rath 
und That beiftehen.“ 

Herr Heideloff antwortete nichts. Er wollte antworten, aber 


Doktor Schwan. 195 


er fonnte nicht. Er wandte fein Gefiht ab und ftredte der Dame 
jeine Hand entgegen. Sie ergriff fie und drüdte fie dankbar. 
Hierauf öffnete fie einen Beutel, den fie am Arme trug, und 
zog daraus einige Rollen Goldes, dann ein Padet Banknoten 
und endlich eine Anzahl von Aktien, Obligationen und andern 
Werthpapieren hervor und legte fie auf den Tiſch vor Herrn 
Heideloff, „Das Ganze,” fagte fie, „Itellt einen Werth von fünf: 
malhunderttaufend Gulden vor.“ 

Bei Nennung der Summe verſchwand der mitleidvige Aus: 
drud aus dem Gefichte Herrn Heibeloff3; wieder ganz Notar ge: 
worden, ſetzte er fich mit ruhiger Gejhäftsmiene hin, ergriff 
Feder und Papier und jagte: „Wir müflen fpezifiziren; mir 
müſſen genau auffchreiben, was Sie mir in baarem Gelvde, mas 
in Werthpapieren übergeben. Letztere können leicht in ihrem 
Werthe variiren. Erft unter diefer Lifte kann ich den Empfangs: 
ſchein ausfertigen.“ 

Die Gräfin ſchwieg. Herr Heideloff ſchrieb. Nach einiger 
Zeit ſagte er im Schreiben: „Es wäre, der Ordnung wegen, 
gut, wenn wir die Unterſchrift zweier Zeugen hätten.“ 

„Müßte ich dieſe in meine Geſchichte und in das Geſchäft 
einweihen?“ fragte die Gräfin. 

„Allerdings, gnädige Frau.“ 

„Das hieße zwei Vertraute mehr haben,“ ſagte die Gräfin. 
„Das ſcheint mir bedenklich und wäre mir ſehr unangenehm.“ 

„Gnädige Frau,“ lächelte der Notar, „Sie können ſich dieſe 
Unannehmlichkeit erſparen, es iſt eine Form, es hängt vom 
Grade Ihres Vertrauens ab, wie weit Sie die Formen erfüllen 
wollen. Wir Notare ſind wie die Beichtväter. Sie können ſich 
nicht vorſtellen, gnädige Frau, in wie viele Geheimniſſe wir ein— 
geweiht werben und wie oft uns die bedeutendften Summen an- 
vertraut werden. Sehen Sie diefe Kifte an; fie iſt mit dem Ber: 
mögen geheimnißvoller Klienten angefüllt und enthält viele Mil: 
lionen. Dergleihen ift nicht nur bei mir der Fall — nein, bei 
den meiften meiner Kollegen, und wir haben feine Urſachen ſtolz 


196 Novellen. 


darauf zu fein. Verſchwiegenheit, Nedlichkeit find Mittel unjeres 
Standes, wenn fie nicht Eigenſchaften unferes Charakters find. 
Wehe dem Notar, der plaudern, der einen Pfennig zu verun: 
treuen im Stande wäre; er märe zu Grunde gerichtet. Er hat 
fih für alle Zukunft unmöglid gemadt und fih um mehr ge: 
bracht, als ihm eine mit beitem Erfolge gefrönte Unehrenhaftig: 
feit einbringen könnte.“ 

Herr Heibeloff ſchwieg wieder. „So,” fagte er, „das Ver: 
zeichniß wäre fertig; jegt den Empfangfchein !” 

Und fchreibend ſagte er laut, wie ſich felbft diktirend, vor 
fich hin: „Sch Endesgefertigter befheinige hiemit, daß mir Frau 
B...,96.6..g" 

Hier unterbrach fih Herr Heibeloff, legte die Feder bei Seite 
und ftügte die Stirne nachdenklich in die Hand. Er fchüttelte den 
Kopf und murmelte, mit beforgter Stirne, Allerlei vor fich hin. 

„S3 kommt mir ein Bedenken, gnädige Frau,” fagte er 
endlich laut, „ein ſehr ernftliches Bedenken. Wenn Ihnen wirklich 
— ih bin gewiß, daß Ihre Todesahnungen mit Gottes Hülfe 
nicht3 zu bedeuten haben — aber wenn Ihnen wirklich etwas 
Menſchliches begegnet, dann wird der Empfangſchein bei Jhren 
Sachen gefunden und von Rechtswegen Ihrem Herrn Gemahl 
ausgeliefert. Was Sie vermeiden wollten, tritt dann doch ein, 
Gr weiß, mo dad Vermögen geborgen ijt; er wird es reflamiren 
und ich werde es ihm nicht vorenthalten können. Ja, ich könnte 
fogar unerlaubten Verheimlihens angellagt und in arge Ver: 
widelungen, Verdächtigungen und Prozefje — doch da3 märe 
feine Rüdfiht, aber Ihr ganzer ſchöner Plan, Ihren Kindern 
das Wenige zu retten, wäre zu nichte.” 

Die Gräfin hörte ihm ängftlih zu. „Mein Gott,” rief fie, 
„ich möchte Ihnen nicht gerne Unannehmlichleiten verurfachen, 
aber ich möchte doch auch meinen Plan durchführen. Ich bin in 
Geſchäften volllommen unerfahren; ich bitte, rathen Sie mir. 
Muß ich denn den Empfangſchein nothiwendigerweife haben oder 
mit mir nehmen 


Doltor Schwan, 197 


„Ja!“ fagte ver Notar beftimmt, „ven Empfangſchein müfjen 
Sie nothwendigerweife haben. Beim größeften Vertrauen zu mir 
müſſen Sie den Empfangjhein haben. Es ift um Lebens- und 
Sterbenswillen. Ich kann indefjen fterben; das Geld findet ſich 
bier und Sie oder Ihre Erben haben nicht das geringite Recht, 
e3 zu veflamiren, wenn nicht ein Empfangſchein vorhanden ift.“ 

„Bas ift da zu thun?“ fragte die Dame ängftlic. 

Herr Heideloff dachte wieder eine Zeitlang nad, dann jagte 
er: „Ich mache es, wie ich es in folhen Fällen ſchon oft gemacht 
habe. Ihr Vermögen wird bier in diefe Kite gelegt, won der 
mein ganzes Bureau weiß, daß fie mir anvertraute Gelder ent: 
hält; Sie befommen ein eigenes Zah, das Ihren Namen trägt, 
und der Empfangfchein wird zu Ihrem Gelvde und zu Ihren Pa: 
pieren gelegt. Zugleih wird e3 in das geftempelte und unter 
Aufiht der Regierung ftehende Hauptbuch eingetragen. So it 
e3 Ihnen für alle möglichen Fälle gefihert. Sind Gie jo zu: 
frieden ?“ 

Die Gräfin athmete auf. Herr Heibeloff fchrieb den Empfang: 
jhein zu Ende, las ihn der Dame vor, legte ihn zu dem Golde 
und den Papieren, nahm dann Alles zufammen und trug e3 an 
den eifernen Schrank, wo er es in ein Fach legte, das er eigens 
zu diefem Zmede ausräumte. „Sehen Sie, gnädige Frau, dieſes 
Fach, rechts, das dritte von oben: hier liegt es wie in Abra- 
hams Schooß.“ 

Herr Heideloff lächelte, auch die Gräfin lächelte. Sie nahm 
herzlichen Abſchied und ging. 

Einige Wochen nach dieſer geheimen Unterredung ſahen die 
Beamten Herrn Heideloffs dieſelbe Dame aus demſelben Kabi— 
nette treten, aber dießmal mit ganz anderem Geſichte. Sie war 
blaß, ſie zitterte am ganzen Leibe, ſie rang die Hände, ſtam— 
melte unverſtändliche Worte und ſchien außer ſich. Herr Heide— 
loff, der ihr bis über die Schwelle des Vorzimmers folgte, und 
zwar ſo nahe, daß er ihr beinahe auf die Ferſe trat, hatte ganz 
das Ausſehen, als ob er ſie gewiſſermaßen mit Gewalt an die 


198 Novellen. 


Thüre führte. Dem Bedienten im Vorzimmer machte er ein Zei: 
chen, indem er auf die Stirn deutete, als ob die Dame verrüdt 
fei und befahl ihm, fie bis hinab, auf die Straße zu begleiten. 
Da die Dame auf der Treppe zufammenbrad, hob fie der Be: 
diente auf und, halb tragen, halb führend, brachte er fie vor 
das Hausthor. Die Dame fam noch einige Male. Im Haufe 
wußte man bald, um was es fich handelte, denn Herr Heideloff 
hatte es feinem eriten Schreiber und diefer den andern erzählt, 
daß diefe Dame, offenbar feine Betrügerin, ſondern eine Ver: 
rüdte, ſich einbilde, bei Herrn Heideloff eine halbe Million de: 
ponirt zu haben, die jie num rellamire. Herr Heiveloff wußte 
nicht von ihr, von ihrem Namen, ihrer Herkunft, aber fein 
eriter Schreiber hatte es herausgebradt, daß dieſe Dame erit 
vor Kurzem in dem öffentlihen Krankenhaus niedergelommen 
und das Wochenbett, wahrjcheinlic in Folge eines Milchfiebers, 
wahnfinnig verlaſſen habe. In den Kreifen der Notarsjchreiber 
und Amanuenjes ſprach man damal3 viel von dem Abenteuer 
Herrn Heideloff3 und von den Unannehmlichkeiten, denen ein 
Notar ausgefept fei. Man fand es natürlih, daß der treffliche 
Mann, defien Zeit jo koſtbar ift, die Verrüdte nicht mehr vor: 
laſſe, und daß man ihr jegt, fo oft fie fomme, die Thüre vor 
der Naſe zufchließe, oder wenn es ihr doch einzubringen gelinge, 
fie mit Gewalt hinausführe. Die Verrüdte, fo erzählte man, 
liege dann Stunden lang vor dem Hausthore, in Wind und 
Wetter, und das fei doch höchft unangenehm für einen Mann 
wie Herr Heideloff. Enplic wurde es ftille von dem Abenteuer, 
denn die Verrüdte war verſchwunden; die Polizei war aufmerkjam 
gemacht worden; fie war im Irrenhaus. 

An dem Tage, da Jakob fein Diplom dem Fräulein Hei- 
deloff zeigen wollte, kam die Gefchichte aufs Neue aufd Tapet 
und zwar in ganz anderer Geſtalt. 

Herr G.., der zweite Gatte der Dame, mußte jehr wohl, 
daß fie in die Reſidenz gegangen, um daſelbſt heimlich zu ent: 
binden. Er vernadläfligte fie bis zu dem Momente, da er das 


Doktor Schwan. 199 


Verſchwinden des Vermögens bemerkte. Dann erjt eilte er ihr 
nad in die Reſidenz. Das Krankenhaus hatte fie längit verlafien 
und war mwie aus der Welt verfhmwunden. Er fuchte vergebens 
nad ihr, bis er in den SKaffeehäujern von dem Abenteuer Herrn 
Heideloffs fprechen hörte. Die jogenannte Verrüdte hatte Jedem, 
der ed hören wollte, in ihrem aufgeregten Zuftande die Summe 
genannt, die fie dem Notar anvertraute; e8 war die Summe 
ihres Vermögen? ; das brachte Herrn G.. auf die Idee, feine 
Frau im Srrenhaufe zu juchen, wo er fie aud) fand. Der Irren— 
arzt, dem die Gräfin nicht recht al3 verrüdt erfcheinen wollte, 
hörte, auf die Eröffnungen des Herrn G.. hin, nun auch feine 
Gefangene aufmerfjam an und ließ fie von nun an frei gewäh— 
ren. Die Enormität des an ihr begangenen Verbrechens und die 
Sorge um ihre Kinder bewogen die Gräfin, ibren hochſtehenden 
und einflußreihen Verwandten Geftändnifje zu machen, die bei 
der fchauderhaften Lage der Unglüdlichen mit mehr Nachſicht 
hingenommen wurden, als es fonjt der Fall gewejen wäre. Die 
Polizei wurde benadrichtigt; fie zog geheime Erfundigungen ein 
und beobachtete Herren Heideloff. Der Arzt des Kranfenhaufes 
fagte aus, daß Herr Heiveloff, der jegt vorgab, die Gräfin nie 
gejehen zu haben, dieſe, auf ihr Anſuchen, allerdings einige 
Tage nad ihrer Entbindung, beſucht habe. Es fiel dem Arzte 
damals auf, daß ihn der Notar, als er das Haus verließ, bes 
fragte, ob jene Dame im Gehirne richtig jei, da man bis dahin 
nicht die geringfte Spur von Irrſinn an ihr entdedt hatte. Die 
Gräfin hatte ihn damals rufen laffen, um ihn, da fie fih wohl 
fühlte, um den Empfangichein zu bitten, den er verſprach, aber 
niemal3 brachte. — Ein Wechſelagent, mit dem Herr Heideloff 
befanntermaßen in Verbindung ftand, mußte auf Anfragen der 
Polizei zugeben, daß er allerdings von diefen Staat3papieren 
zum Verlauf erhalten, welche die Gräfin als einen Theil ihrer 
deponirten Werthe bezeichnet hatte. Sole und mande andere 
eben jo laut ſprechende Anzeichen bewogen das Gericht, eines 
Morgens ins Haus zu dringen, Herrn Heibeloff zu verhaften, 


200 Novellen. 


jeine jämmtlihen Beamten zu verhören und feine Papiere theils 
mit Bejchlag, theild unter Siegel zu legen. 

Die Nachricht von diefem Creigniß durchlief die Stadt mit 
einer reißenden Schnelligkeit. Zugleih erfuhr man alle Einzeln: 
beiten, die bisher nur der Polizei befannt waren und an dem 
Verbrechen Heideloffs nicht zweifeln ließen. Die Aufregung war 
um jo größer, al3 die Nachricht fo plöglih fam, und die Ent— 
rüftung um fo heftiger, al3 fi}, bei der Achtung, deren ſich der 
Notar bei jedem Einzelnen erfreute, gewiſſermaßen jeder Einzelne 
betrogen fühlte. Die Bedrängniß einer armen Frau, einer be: 
forgten Mutter, eines Weibes in gefegneten Umftänden, das mit 
Todezahnungen kämpft, einerjeit®, und den Charalter eines 
Notard und den eigenen guten Ruf andererfeit3 zu benüßen, 
um ein unbegränztes Vertrauen zu täufhen, dann die ungeheure 
Grauſamkeit, eine Unglüdlihe, die ihr Eigenthum zurüdver: 
langt, für wahnfinnig auszugeben und fie in ein Irrenhaus 
fperren zu lafjen, dieſe That ſchien Jedermann mit Recht ärger, 
al3 ein Raub auf offener Straße, al3 ein Mord; fie fchien wahr: 
haft teufliih. Man fprah von nicht? Anderem, man fonnte 
von nichts Anderem fprechen; immer neue Einzelnheiten, die ins 
Publikum drangen, vermehrten nur die Aufregung und die Em— 
pörung, und mit Freude erfuhr man, daß vom Landesfürjten 
an das Kriminalgericht der Befehl herabgelangt, dieſe Ange: 
legenheit mit aller Strenge und ohne jede Rückſicht zu verfolgen. 

Mas und zwei, Jakob und mich, betrifft, fo betäubte uns 
die Neuigfeit, wie ein auf das Gehirn erhaltener Keulenjchlag. 
Jakob Stand mie verjteinert da, feiner Bewegung und feines 
Mortes fähig, Manchmal bewegten fich jeine Lippen, aber er 
brachte feinen Ton hervor, feine Augen ftarrten in die Luft oder 
in mein Gefiht, ohne etwas zu fehen, mie die Augen eines 
Menfhen, ver alle Befinnung, alles Bewußtfein verloren; mie 
die Augen eines Blödfinnigen. Ich entfegte mich, als ich mich 
jelbit genugfam faßte, um den Ausdruck feines Gefichtes beur- 
theilen zu können. Um ihn aus der Gefellfhaft zu bringen, wo 


Doktor Schwan. 2901 


immer der Name Heibeloff an fein Ohr tönte, faßte ih ihn am 
Arme, bob die Blechlapfel mit dem Diplom, die ihm entjunten 
war, vom Boden auf und führte ihn aus dem Kaffeehaufe. Er 
folgte mir wie ein Nachtwandler, bi3 wir an eine Straße famen, 
die geradenmweg3 zu Heibeloff führte. Da z0g er unwillfürlich 
nach diefer Richtung, aber ich zerrte ihn nach der entgegenge: 
jegten Seite unferer Wohnung zu, deutlich fühlend, wie er jedes— 
mal zufammenzudte, wenn in den Gruppen, die überall in den 
Straßen und auf der Promenade zujammenftanden, der ver: 
bängnißvolle Name genannt wurde. Zu Haufe angelommen, 
war er jtumpf, gefühllos, gedankenlos, unendlich gleichgültig 
gegen Alles. Er ſaß da wie eine Sache. Eo vergingen Stunden 
um Stunden. E3 war ein jchredlicher Nachmittag, ein fchred- 
licher Abend. Ich fühlte mich wie erlöst und athmete auf, ja 
ih fühlte mi glüdlih, al3 er gegen Mitternacht plöglih in 
Schluchzen ausbrah, das fih nah und nad in ftille8 Meinen 
verwandelte. 

Das erfte Wort, das ich nah Stunden von ihm hörte, war: 
„Komm!” Damit ftand er auf und ging zum Haufe hinaus, 
Ich folgte ihm über die Promenade in die Stadt, durch die 
Straßen, bis er vor dem Heideloff'ſchen Haufe Halt machte. 
Da Stand er und ftarrte zu den mwohlbefannten Fenftern hinauf, 
die in tiefes Dunkel gehüllt waren. Ich ſaß neben ihm auf dem 
Edftein eines Thormeges. Erſt al3 mit der erjten Dämmerung 
die Karren der Landleute, die zum anftoßenden Gemüfemarfte 
fuhren, die Straße zu beleben anfingen, gingen wir, ebenjo 
ftille, al3 wir gefommen waren, in unfere Wohnung zurüd. Ich 
werde den Tag nie vergeilen. 

Am folgenden Tage wollte Jakob zu Adele und ich follte ihn 
begleiten, aber ich überzeugte ihn, daß er ihr erſt Zeit laſſen 
müſſe, fich zu faflen, und daß ihr in den erften Tagen der An: 
blik alter Bekannten nur peinlich fein könne. Er fügte fi 
meinen Borftellungen ; aber ich konnte ihn nicht abhalten, in der 
Nähe des Heideloffihen Hauſes umherzuftreifen und zu fchleichen, 


902 Novellen. 


wie unangenehm ihn da aud Manches berühren mußte. Noch 
immer jammelten fih von Zeit zu Zeit Gruppen in der Nähe, 
die zu den geſchloſſenen und verhüllten Fenſtern hinaufmwiefen. 
Immer wieder wurde hier die Gejchichte des Verbrechens erzählt, 
ſah man Leute die gegen die Feniter geballten Fäufte erheben, 
und hörte man Aeußerungen, daß auf ſolche Verbrechen ver 
Galgen jtehen jollte. Der arme Jakob hätte ſich übrigens nir: 
gends in der Stadt foldhen Eindrüden entziehen können, denn 
überall, in den Salon3 wie auf den Märkten, wurde in allen 
folgenden Tagen das Creigniß verhandelt, und das Geſpräch be 
fam dur das, was von den Verhören des Notars verlautete, 
immer neue Nahrung. Der Notar Heideloff war ein Schimpf: 
wort geworden, das fich zanfende Fuhrleute oder balgende Schul: 
buben zuriefen. 

Nah wenigen Tagen glaubte ich Jakob gefaßt genug, um 
feinem Drängen nachzugeben und mit ihm den Beſuch maden 
zu fönnen. Allein hinzugeben hatte er nicht ven Muth. Aber 
wir fanden die Heideloffjhe Wohnung geſchloſſen; an der Thüre 
im erften Stode, die zu dem Bureau führte, lag das Siegel des 
Gerihtes. Man konnte oder wollte und nicht fagen, wohin 
Mutter und Tochter gegangen waren, man mußte nur, daß fie 
ji irgendwo in der Nähe der Stadt aufhielten. Jakob entfaltete 
nun eine fieberhafte Thätigkeit in Auffindung ihrer jegigen 
Adreſſe. So vergingen wieder mehrere Tage. Endlich wußten 
wir, dab fih Frau und Fräulein Heideloff in ein Gartenhaus 
eines nahe gelegenen Dorfes, das man aud) eine Vorſtadt nennen 
fonnte, zurüdgezogen hatten, und jchon waren wir auf dem 
Wege zu ihnen. Es war ein lächelnver Frühlingstag; die Bäume 
im Stabtgraben waren zum Theil ſchon mit Blüthen bevedt, 
das einzige Aderfeld zwijchen Stadt und Dorf war goldengrün, 
die Lerchen darüber jangen. Es wäre ein Tag für den glüdlic: 
ften Liebenden gewejen; ein jehr unglüdlicher ging ſchweigend 
neben mir. 

Draußen, am Eingange des Dorfes, traten wir in einen 


Doktor Schwan. 203 


bejheidenen Garten, der mehr Küchen: als Ziergarten war, und 
dur eine Heine Allee von Aepfelbäumen gelangten wir in ein, 
dem Garten entſprechendes, eben jo bejcheidenes Landhaus. 
Man kann fich die Befangenheit, mit der wir den erſten Schritt 
in3 Zimmer thaten, leicht vorftellen. Auch verneigten wir uns 
jftumm und konnten wir felbit die gewöhnlichen Begrüßungs— 
formeln nicht hervorbringen. Die Mutter faß auf einem Sopha 
und war um mehrere Jahre gealtert; der lange Nachſommer, 
deſſen fie fich bisher erfreute, und der ſich vorzugsweiſe in runden 
und roſigen Wangen offenbarte, war dahin, und ihm auf dem 
Fuß war der Winter gefolgt. Sie ſchien ftumpf und empfin« 
dungslos; ihre Bewegungen waren mehanijh, ihr Anzug ver: 
nadläffigt. Adele hingegen jehien beweglicher als ſonſt, obwohl 
fie erniter, in Wort und Bewegung beinahe tragijch war. Gie 
war jo einfach, beinahe ärmlich gekleidet, wie Töchter und Frauen 
fraudulöfer Bankerottirer gekleidet zu fein pflegen. Doch iſt das 
ein Vergleich, den ich erit jegt nach vielen Jahren und rückwärts 
blifend made; damals rührte mich diejer ärmliche Anzug eben 
fo fehr wie meinen Freund, und fand ich Alles, was ich jegt für 
eine Rolle halte, jehr natürlich, jehr traurig, ja groß und ſchön. 
So ſehr hatte Adele mein Urtheil über fie zu geftalten gewußt, 
daß ich mich des erſten Eindruckes, der Abfichtlichkeit, Berech— 
nung und Kofetterie, die ih damals in ihr fand, gar nicht mehr 
erinnerte. Sie fam uns mit großen Schritten entgegen und 
reichte ung, indem fie den Lockenkopf etwas feit: und rückwärts 
fallen ließ, beide Hände. „Meine Freunde! meine theuren 
Freunde!” rief fie, blidte mich zärtlich an und drückte Jakob die 
Hand. „Sie finden uns in der Einſamkeit!“ fuhr fie mit zit 
ternder Stimme und bitter lächelnd fort. „Sie finden uns, wo 
wahre Freunde die Freunde im Unglüd fuchen und finden, in 
der Einfamteit. 
Berftoben ift das freundliche Gedränge! 
Dir find allein! 
Allein! allein! und jo willft du genejen!“ 


204 Novellen. 


Sie liebte e8 von jeher, Stellen aus Dichtern zu zitiren, fie 
behielt diefe Gewohnheit, und wie es fhien, in einem erhöhten 
Grade auch im Unglüd. 

„Haben Sie von der ungeheuren Verleumdung meines edlen 
Vaters gehört ?” rief fie dann meiter, indem fie und zum Sitzen 
. zwang. „Gewiß haben Sie, die Verleumdung ift die ſchnellſte 
aller Furien. Ye edler mein Vater ift, deſto mehr Feinde hat er; 
je höher er in der Achtung der Menfchen jtand, deſto mehr heftet 
fih der Neid an feinen guten Auf. Aber ich fürchte nichts; er 
wird fiegreih aus der niederträchtigen Kabale hervorgehen. 
Seien Sie nicht fo traurig, meine Freunde! Gehen Sie, ih bin 
heiter, ich bin getroft, ich bin vie ftolze Tochter des edlen Ge- 
fangenen! Adversitys sweet milk philosophy, des Mifge- 
ſchickes ſüße Milh, Philofophie, hat mich geftärkt und wird mich 
jtärfen, jo lange die Prüfung dauert.” 

In diefem Sinne, in dieſem Tone fprad) fie noch lange fort 
und erfparte und fo den peinlihen Troftzufprud. Jakobs tief 
betrübtes Geficht heiterte ſich während diefer Reden fichtli auf. 
Er freute fih an dem Muthe, oder wie er e3 auf dem Heimmege 
nannte, an der Größe und Charalterftärfe des jungen Mädchens. 
Gie ſprach aud den Entſchluß aus, nicht mehr in die verberbte 
Melt, die foldher Verleumdung und de3 Glaubens an folde 
Verbrechen fähig fei, zurüdzufehren, ſondern ſich mit dem Pater, 
jobald er das Gefängniß verlaſſe, in die Einfamfeit zurüdzus 
ziehen und die Seelenwunden de3 edlen Märtyrer3 durch find: 
liche Liebe zu heilen. 

ALS wir fpät Abends in die Stadt zurüdkehrten, war Jakob 
in einer gehobenen Stimmung, die an Heiterkeit, ja an Glüd 
gränzte. „Mein Entſchluß,“ fagte er, „Iteht feft; der Weg, den 
ich zu gehen habe, ift mir vorgefchrieben, ja e3 ift mir, als wüßte 
ich genau, was von nun an bis in alle Zukunft die Bejtimmung 
meines Lebens ift. Das arme Kind wird nun von den Menfchen 
gemieden werden wie eine Verpeftete; ich werde nicht von ihr 
laflen, ich werde fie beſchützen, vertheidigen, ich werde für fie 


Doktor Schwan. 905 


forgen und für fie leben, jo weit fie mein Leben, das ihr gewidmet 
ift, ald ihr Eigenthbum annehmen will.“ 

Diefem Entfehluffe gemäß wanderten wir denn aud jo oft 
al3 möglich, beinahe täglih, hinaus und in das einfame Land: 
haus. Jakob war mir dankbar, daß ic mein Benehmen nad 
dem feinigen einrichtete und feine Freundſchaft für mich wuchs, 
wie ich deutlich fühlen fonnte, von Tag zu Tage. Wir thaten 
Alles, um Adelen zu zerftreuen und fie jo viel al3 möglich auf: 
zubeitern. Im Laufe der Tage wurde es mir denn doch mehr 
oder weniger klar, daß Adele von der Unſchuld ihres Vaters nicht 
jo fehr überzeugt war, als aus ihren Reden während unjeres 
erſten Befuches im Landhauſe hervorging. Ihre Stirne war 
manchmal ſehr ſchwarz ummwölft und fie ließ dann, wenn fie mit 
mir allein war, einzelne Wörtchen fallen, die auf ganz andere 
Anfihten und andere Pläne als auf einfames Leben mit dem 
verbannten Vater deuteten. Sch merkte auch bald, daß ihre 
Sorgen ehr pofitiver Natur waren und eine praktiſche Seite 
hatten. Der Prozeß und die Gerichtsbarkeit des Landes, in dem 
wir lebten, waren jo bejhaffen, daß fie das größte Vermögen 
eined Angellagten abjorbiren mußten. Das Bureau mar ges 
ſchloſſen; der Advokat, dem die Sache Heideloffs übergeben wor: 
ven, hatte ſchon erheblihe Summen ausgegeben, um dem Ge: 
fangenen Erleihterungen und Bergünftigungen zu verjchaffen, 
bie und da Allerlei zu vertufhen, Zeugen zum Schweigen zu 
bringen, bin und wieder zu beſtechen. Soldyer Ausgaben fah 
man fein Ende; das Vermögen war, allem Anſcheine nad, 
ruinirt; Adele ein armes Mädchen. Sie bat mich, über dieſe 
Dinge mit Jakob nicht zu ſprechen; es würde jeine Theilnahme 
zu fehr aufregen, und dann fei er ein jo unpraftifher Menſch. 
In der That ſchwieg ich darüber, und jo war zwijchen mir und 
Adelen ein Geheimniß und ftand ich ihr, ohne e3 zu wollen, in 
mancher Beziehung näher und vertrauter, als der ältere Freund. 
Jakob benahm ſich indefjen nicht als unpraftifcher Menſch; im 
Gegentheil hatte er in feinen Gedanken längſt die rein willen: 


206 Novellen. 


ihaftlihe Laufbahn aufgegeben und den Entſchluß gefaßt, fich jo 
raſch ala möglih, und wo e3 immer fei, als praftiiher Arzt 
nieberzulaffen, um eine folive Grundlage für einen Hausſtand 
zu gewinnen. Nur von dem Gedanken, für Adelen zu forgen, 
beherrſcht, und in feinem Eifer ala ihr berechtigter Beichüger 
gegen die Welt, die fie verftieß, aufzutreten, ſah er fein Hinderniß, 
das fich einer Verbindung mit ihr entgegenjtellen könnte. Trotz 
feiner Bejcheidenheit hatte er doch nie daran gedacht, daß ihn 
Adele vielleicht verfehmähen könnte und daß er nicht gemacht war, 
um von ihr geliebt zu werden. Aber hätte er jelbjt ähnliche Ge- 
danken gehabt, in jeiner Aufopferunggluft wäre er fähig gemejen, 
fih der demüthigenden Lage zu fügen und ihre Hand als ein 
durch ihre Erniedrigung auf fein Niveau im Werthe herabgedrüdtes 
Geſchenk anzunehmen. 

Ich darf hier nicht zu bemerken vergeflen, daß ich um jene 
Zeit Jakob feltener zu fehen befam. Wir bewohnten nicht mehr 
dafjelbe Haus. ALS fertiger Doktor konnte er einem Freunde den 
Gefallen erweifen und ihn, der eine nothwendige Reife zu machen 
hatte, im Hofpitale, wo dieſer Freund angeftellt war, erjegen. 
Aber er mußte im Hofpitale wohnen. So waren wir getrennt 
und mir fanden und meijt nur draußen bei Adele. Als jener 
Freund in die Nefidenz zurückkehrte, ging Jakob ſelbſt in vie 
Provinz, um fi daſelbſt um eine gewiſſe Stelle, von der er 
gehört hatte, mit Empfehlungen ausgerüftet, zu bewerben. 

"Nun war ich mit der Verlaffenen fortwährend allein. Die 
Mutter war faum ala anmefend zu betradten. Sie faß den 
ganzen Tag in einer Sophaede und jah vor fi hin. Draußen 
im Garten war e3 ſchön, der Frühling war ſchön, die Einfamteit 
war ſchön, und wir waren beinahe glücklich. Leider! Leider! Wie 
unglüdlich hat mich dieſes Glück gemacht! Adele war bezaubernd 
ihön, ih war ihr Vertrauter und, mie fie mich oft verficherte, 
ihr Tiebfter, theuerfter Freund — und id war zwanzig Jahre 
alt. Aber eben weil ich zwanzig Jahre alt war, ſprach auch ver 
fategorifche Imperativ mit frifcher und vernehmlicher Stimme in 


Doktor Schwan, 207 


mir und diefer befahl, Adelen fo oft ala möglich an den befjeren 
und treueren, an den vertrauensvollen fernen Freund zu erinnern, 
Das that ih denn auch mit Freuden, denn mein Herz hing an 
Jakob mit aufrichtigfter Liebe. Adele durchſchaute meine Abficht, 
lächelte und ftimmte mit in das Rob des Freundes und in die 
beiten Wünfche für feine Zulunft ein. Aber ein Gerücht, das 
bis zu ihren Ohren drang, ließ fie eines Tages in einem andern 
Sinne ſprechen. Das Gerücht durdlief die Stadt und erzählte, 
daß Doktor Schwan mit Adele, der Tochter des infamen Heide: 
loff, verlobt fei; e8 war in Folge unferer Befuche in dem Land— 
baufe, unferes treuen Ausharrens bei den Verlaſſenen und des 
Gifers, mit dem ſich Jakob zu wiederholten Malen der ſchuld— 
Iofen Glieder der Familie annahm, entjtanden. An dem Tage, 
da das Gerücht zu ihr drang, ſchwieg fie zu dem Lobe, das ich 
zufällig in Bezug auf Jakob ausſprach. Ich ſah fie fragend an 
und fie antwortete ärgerlich und aufgeregt: „Er ift ein unprak— 
tiſcher Menſch, er hat feinen Takt, er bringt mich mit feinem 
Eifer, mit feiner Freundfchaft jegt eben jo in Berlegenheit, wie 
er und oft in unfern Gejellihaften durch feine Ungeſchicklichkeit, 
durch fein kindiſches Weſen und durch unverzeihliche Einfachheit 
und Formlofigkeit in Verlegenheit gebracht hat.” 

Ich war überrafht. „Sit es ein jo großes Unglüd,” fragte 
ih, „für feine Verlobte zu gelten?” Und ich fügte auf die zartejte 
Weiſe die Bemerkung hinzu, daß es in ihrer Lage ein Glüd jei, 
eine fo treue, edle, hingebende Seele fich für immer verbunden 
zu wiſſen. 

Uber ich hatte noch nicht ausgeredet, als fie mir ſchon mit 
ftrömenden Augen an der Bruft lag, ſich mit beiden Armen an 
meine Schulter klammerte und ſchluchzend ausrief: „Daß Gie, 
gerade Sie mir zureden müſſen!“ 

Ich wollte diefen Ausruf nicht verjtehen und jagte, während 
ih fie unwilllürli ans Herz drüdte: „Gerade ich! das ift natür: 
li, denn ich kenne ihn, ich weiß ihn zu würdigen !“ 

Ihre Thränen floffen heftiger; fie lehnte den ſchönen Kopf 


208 | Novellen. 


an meine Schulter, verbarg ihre Augen und ftotterte: „Sie haben 
Reht! — und doch — Sie willen e3 ja. — Retten Sie mid! 
— laſſen Sie mich e8 nicht ausſprechen — er ift fein Mann — 
er ijt lächerlich !“ 

Ich verjtummte, machte ihre beiden Hände von meiner 
Schulter los und ſchob fie einen Schritt weit zurüd, Sie erhob 
ihren Kopf, ſah mir gerade in die Augen und fagte laut und 
kräftig, und mit einem Ausdruck der Aufrichtigfeit, den ich noch 
nicht an ihr Fannte: „Sch bin erniedrigt und gedemüthigt genug; 
ic werde mich für noch erniedrigter halten, wenn ich einen Mann 
heirathe, über den ich mich feit zwei Jahren mit allen meinen 
Belannten luftig machte!” 

Ih war entrüftet und griff unmillfürlich nach meinem Hute, 
der auf der Rafenbanf neben mir lag; doch imponirte mir die 
mutbige und wirklich natürliche Aufrichtigfeit und rührte mich der 
Ausdrud tiefften Rummers, mit dem fie fich bei meiner abweh— 
renden Bewegung auf die Bank fallen ließ. Bald war ich wieder 
balb beſchwichtigt, al3 fie, wie zur Selbſtanklage, vie ſchönen 
und edlen Eigenfchaften Jakobs mit einer Wärme und Berebt: 
famfeit augeinanderzujegen anfing, daß mir die Thränen in bie 
Augen traten. 

„Bei folder Erkenntniß,“ ſagte ih, indem ich den Hut wieder 
binwarf, „kann bei einigem guten Willen ein anderes Gefühl, 
wenigftens eine innige Freundfchaft, die ver Liebe gleihfommt, 
nicht lange ausbleiben.“ 

„Ach,“ jeufzte Adele, „vergeilen Sie nicht, daß ich ein Mäd— 
hen bin — vielleicht liebe ih auch einen Andern.“ 

Mir fhwiegen Beide, bis ich einen Vorwand fand, dem Ge: 
fprädhe eine andere Wendung zu geben und endlich mic zu 
empfeblen. 

Sonderbarer Weife hatte dieſe Szene dazu beigetragen, unfer 
Verhältniß intimer zu machen; fie hatte mir ja den höchſten Grad 
des Vertrauens gezeigt. Andererfeit3 war durch das, mas in 
diefem Gefprädhe angedeutet und verſchwiegen worden, zwifchen 


Doktor Schwan. 209 


uns ein gewifler Reiz der Gefahr ausgegofjen, der uns Beide in 
einer nicht unangenehmen Spannung erhielt, al3 ftänden wir 
am Vorabend, an ver Schwelle eines entjcheidenden Geftändnifles. 
Manchmal beantwortete ih mir die Frage, ob ich Adele liebe, 
mit einem entfcheidenden „Ja!“ Dann mwälzte ich die verſchieden— 
ften Gedanken in meinem Kopf berüber, hinüber; unter andern 
auch den, daß mit Jakob ein Kompromiß zu jchließen wäre. Er 
liebte Adele fo innig, al3 man nur lieben kann; aber vor Allem 
wollte er ihr und nicht fein Glüd; eine Heine Andeutung würde 
bei feiner Aufopferungsfähigfeit wielleiht hinreihen, ihn felbit 
ihre Hand in die meinige legen zu lafjen. Dann dachte ich wieder, 
mid, al3 das Hinderniß zu Jakobs Glüde, zu entfernen und 
Adele Zeit zu laſſen, bis fie die Meinung der Menjchen verachte 
und über ven guten Eigenſchaften Jakobs das, was fie feine 
Lächerlichkeit nannte, vergefjen lernte. Wäre er nur erft zurück— 
gekehrt! Während feiner Abwefenheit wurde das Band, das Adele 
um mic ſchlang, immer enger und es fah bald aus, als * 


es ein dauerndes ſein. 


* * 
BB 


Obgleich e3 jpät Abends war, eilte ich doch fofort zu Jakob 
ins Hofpital, wo er noch immer wohnte, fobald ich die erfehnte 
und zugleich gefürdhtete Nachricht von feiner Rückkehr erhielt. Er 
erzählte mir mit Lächeln, daß aus feiner Anftellung nichts ge: 
worden. Im Momente, al3 die Angelegenheit ſchon fo weit war, 
daß er den bejten Erfolg hoffen durfte, kam in der Provinz ein 
Uriasbrief an, der ihn dem Grafen, der ihn anjtellen follte, als 
den Verlobten Adelens bezeichnete. Der Graf wollte mit einem 
Menſchen nicht? zu thun haben, der mit Heideloff in irgend welcher 
Verbindung ftehe. — „Diefer Ausgang,“ fagte Jakob, „bat mich 
bis zu einem gewiflen Grabe, ic) geſtehe es, gefreut, als die erfte 
Unannehmlichkeit, die ich für Adele zu tragen habe. Ich bin ein 
jhredlich leichtſinniger Menſch!“ fügte er lächelnd hinzu. „Auch 
bat e3 mich gefreut, daß man mich den Verlobten Adelens nannte; 

Morig Hartmann, Werke. VI, 14 


210 Novellen. 


das Hang mir wie eine Prophezeiung. Auch bin ich entſchloſſen, 
ihr jo bald als möglich, vielleicht ſchon in den nächſten Tagen, 
meinen Antrag zu mahen. Dem armen Kinde wird es wohl 
thun, wieder, jo zu fagen, eine legitime Stütze zu haben.” 

Ich feufzte unwillkürlich, und ich mochte fehr ſchmerzlich ge: 
jeufzt haben, denn Jakob ließ die Pflanzen, die er auf dem Lande 
gejammelt hatte und mit deren Ordnung er eben beſchäftigt war, 
aus der Hand fallen und wandte fich raſch und mit einem er: 
Ihrodenen Gefihte zu mir, und ſah mir groß und fragend ins 
Auge. Es war, als bligte e8 in feinem Kopfe. 

„Du wirft doch nicht —,“ rief er rafch und fuhr dann jtodend 
fort: „in Adele verliebt fein!” 

Ich fuchte zu lächeln und frug zurüd: „Wie kommſt du auf 
die jonderbare Idee?“ 

„Du haft Net zu fragen,” jagte er dann ruhig. „Aber 
während meiner Abmejenheit, in einfamen Stunden auf dem 
Lande, auf dem Felde, meift während ich botanifirte, kamen mir 
mande jonderbare Ideen. Du warſt während dieſer Zeit immer 
und allein mit Adelen. Wer kann ihrem Zauber miderjtehen ! 
Und dann — du — du haft eine befjere Erziehung erhalten als 
ih — du biſt ſchöner, du bift liebenswürdiger, bu haft befiere 
Formen. Adele ift ein Mädchen und iſt in der Refidenz aufgewachſen. 
Ich — ih bin ſcheußlich häßlich, ungeſchickt, edig — ja — ja 
— ich weiß das ganz gut. Der Graf, der mich anftellen jollte, 
bat mir das ganz offen gejagt. Er fagte, e3 fei ſchade, daß ich 
nicht zugleich der Leibarzt feiner Frau fein fünne. Aber fie liebe 
e3, von jhönen und gemandten Menjchen umgeben zu fein, und 
ich fei — mie ich eben fagte.” 

Er kehrte wieder zu feinen Pflanzen zurüd, Aber feine Auf: 
merkſamkeit war nicht mehr mit ihnen. Er verfuchte von Allerlei 
zu ſprechen, aber er fprach ohne Zufammenhang. Nach einem 
längeren Schweigen, während defjen ich nachdenklich daſaß, Tagte 
er plöglich vor fi hin, al3 ob er einen Monolog bielte: „Wenn 
ich Adele verliere — werde ich mich nicht erſchießen und nicht vergiften. 


Doktor Schwan. 211 


Sch habe etwas zu thun in der Welt; ich habe eine arme Mutter 
zu ernähren. Aber ich würde ewig unglüdlich fein, fehr unglüdlich.” 

Ich mußte, mas ich zu thun hatte. Ych erhob mich, reichte 
ihm die Hand und fagte gute Nacht. 

„Gebt du morgen zu Adelen?“ fragte er mich noch auf der 
Treppe. 

„Nein!“ rief ich zurüd und lief fort. Aber ich war allerdings 
entſchloſſen, morgen hinzugeben; Jakob follte um den Gang nicht 
wiffen und nie erfahren, was ich mit ihr ſprechen wollte. Ich 
hatte meinen Entſchluß gefaßt; ich empfand jenes in zwanzig: 
jährigen Gemüthern gerne heimiſche Gemiſch von Selbftgefühl 
und Edelmuth; ich war zufrieden mit mir, ich war ftolz; ich 
hatte mich zu einem Opfer, zu Entjagung emporgerafft. Ich 
wollte von nun an Adele meiden; ih mwollte morgen für immer 
Abſchied von ihr nehmen und ihr bei der Gelegenheit jagen, daß 
fie die edeljte Seele, das liebevollfte Herz nicht von ſich ftoßen 
folle. Bor Allem wollte ih, daß Jakob nicht ewig unglüdlich 
ſei, und wollte ih den Freund nicht betrügen. Auf diefen Ent: 
ſchlüſſen entjchlief ih, wie auf einem weichen Kiffen. 

Sch machte mich fehr früh auf den Weg, und zwar nicht 
nad der Wohnung Adelens, jondern nad) einem verlafjenen, vers 
wilderten Parke in deren Nähe. Dort, in einer langen, gewun—⸗ 
denen Allee, mit verwilderten Heden am Rande, ging Adele jeden 
Morgen fpazieren. Sie hatte e8 ung Beiden zwar aufs Aus: 
drüdlichfte unterfagt, fie daſelbſt aufzufuchen, aber ich hoffte, daß 
mich das Ungewöhnliche meiner Lage bei ihr entfchuldigen werde. 

Schon der Anblid des Parkes erfüllte mich mit Traurigkeit, 
zugleih mit jener höheren Stimmung, die zum Abſchied von 
einem Ölüde jo nothwendig ift, wenn er nicht zaghaft und weibiſch 
ausfallen ſoll. Die Jahrhunderte alten Bäume waren von didem 
Epheu bevedt, die Heden wucherten überall wild, und zwifchen 
ihnen jtredten ji Zweige und Ranken über die Wege, die mit 
Gras bewachjen waren. Nur bier und da war ein Durchblick in 
dunkle, wirr verwachfene Winkel offen; heiter waren bier nur die 





212 Novellen. 


Thautropfen, die, in der Sonne glänzend, auf den Blättern 
hingen ; jelbft ver Gefang der Vögel war traurig gedämpft. Adele, 
die mit einem Buche in der Hand, in der Allee auf- und abging, 
lächelte, da fie mich erblidte, als ob fie mich erwartet hätte, fam 
mir mit ausgeftredter Hand entgegen und machte über meine 
Uebertretung ihres Berbotes nur eine ſcherzhafte Bemerkung. 
„Sie fompromittiren fih und mich,“ fagte fie vorwurfsvoll aber 
fanft. Ich legte meine Hand ſchweigend in die ihrige, und auch 
fie ſchwieg, al3 fie meine peinliche Stimmung bemerkte, und 
beobachtete mih. So gingen wir lange ftumm und Hand in 
Hand neben einander einher. Ich wußte nicht, wie zu beginnen, 
bis mich ein leifer Drud ihrer Hand aus meinem Nachdenken wedte. 

„Adele,“ jagte ich mit zitternder Stimme und hob ihre Hand 
an meine Lippen, „ich fomme, um Ihnen zu erflären, warum 
ih Sie nit mehr, oder nur fehr felten ſehen werde — ich will 
Abſchied von Ihnen nehmen.“ 

„Abſchied!“ rief fie erjchroden. 

„Jakob ift feit geftern zurüd,” jtammelte ih, „er vertraute 
mir — er liebt Sie —“ 

„Adele fiel mir ins Wort: „Sch errathe Alles,“ rief fie, 
„ſchweigen Sie, machen Sie mi nicht unglüdlich !” 

Bei diefen Worten traten ihr die Thränen aus den Augen, 
und wie um dieſe zu verbergen warf fie fi an meine Bruft und 
drückte ihre Stirne an meine Schulter, indem mich ihre Arme 
umklammerten. Ich zitterte vor Aufregung ; ich hatte nicht die 
Kraft, mich loszuminden ; der Ton ihrer Stimme, ihr Schluchgen 
fagte es, daß ich fie in der That in ein Unglüd zurüdftoße; den« 
noch ſtand der Entſchluß unerfehüttert in mir, mich von ihr für 
immer zu trennen. Nie fühlte ich, wie in diefem Augenblide, 
melches Opfer ich bringe, aber eben dieſes Gefühl ftärkte mich. 
Ich faßte mich, ich wurde ruhig und wollte nur abwarten, bis 
auch fie fi ein wenig berubigte, um ihr dann zuzuſprechen. 

So ftanden wir Bruft an Bruft da, als Adele plöglich auf: 
fuhr und ausrief: „Allmächtiger Gott! der Doktor Schwan!” 


Doktor Schwan. 9213 


Jakob war eben um eine Ede gebogen und ftand ungefähr 
fünf Schritte von und wie eingewurzelt; feine Augen, die die 
Gruppe vor ihm anftarrten, ſchienen mir durch die blaue Brille 
wie verjteinert. Plötzlich hub er die Arme, ſchlug die Hände über 
dem Kopfe zufammen und lief mit einer furchtbaren Schnelligkeit 
auf und davon. Bei feinem Anblide flog mir die Erinnerung 
an feinen geftrigen mißtrauifchen Ausruf: „Du wirft doch nicht 
in Adele verliebt fein,” und hundert andere Gedanken mit Bliges- 
jhnelle dur den Kopf. Was mußte er denken! was fühlen! 
welche furchtbaren Qualen müjlen ihn in diefer Stunde zerreißen ! 
Ich wollte mich von Adelen los machen, aber fie, die nach dem 
überrajhten Ausruf einen halben Augenblid lang ihre Arme 
ſinken ließ, hatte mich aufs Neue und ftärker gefaßt und um: 
Hammerte mich mit Heftigfeit. Mit der Hand auf ihrer Stirne 
drüdte ih ihren Kopf von meiner Bruft zurüd, mein Blid fiel 
auf ihr Geficht ; mit einem Male glaubte ich in diefen Zügen eine 
gewiſſe Kälte, eine gewiſſe Berechnung und Abficht zu entdeden. 
Die ungeheure Aufregung, meine jchredliche Lage machten mid 
bellfehend. Dieſes berechnende, elende Geſchöpf will meine Ab: 
ficht zu Nichte machen, will mich für immer von meinem Freunde 
trennen, will, daß er und Arm in Arm ſehe. Plöglich fühlte 
ih, um wie viel theurer mir Jakob war, als diefe Tochter ihres 
Vaters — mit einem Rude entwand ich mich ihren Armen und 
ftürzte dem Freunde nad. Obwohl diefe ganze Szene und der 
Flug all’ diefer Gedanken durch mein Gehirn nur durd Sekunden 
dauerte, war Jakob doch ſchon fern; ich lief, als hätte ich Flügel, 
ich wollte ihn um jeden Preis erreihen, um ihm zu erklären, um 
das Mißverftändniß zu löfen, um ihm zu fagen, daß ich ihn 
nicht verrathen, — ich durchlief den ganzen Park, ich lief wieder 
an Adelen vorüber, ohne fie mit einem Blide anzufehen, er war 
verfhmunden. Athemlos fant ich ind Gras. Sobald ich mid 
erholt hatte, fuhr ich in die Stadt zurüd und ins Hofpital. Jakob 
war nicht da. Sch wartete, er kam nicht. 

Und fo wartete ich viele, viele Tage — er kam nit. Nach 


214 Novellen. 


Moden erfuhr ih, daß ihm feine Habjeligfeiten aus dem Ho: 
fpital auf der Donau nad Ungarn nachgeſchickt worden, und daß 
er irgendwo im Orient verſchwunden fei. 

An demjelben Tage, da ich Adelen im verwilderten Parke 
zum legten Male fah, erſchien in ihrem Haufe ein Herr v. L.. g, 
ein Emporfömmling, der al3 Wucherer und Staatälieferant ein 
ungeheures Vermögen, Orden und den Adel gewann. Er hatte 
ih im verflofjenen Winter in der ganzen Refidenz lächerlich ges 
madt, indem er, obwohl bereit3 an fünfundfünfzig Jahre alt, 
auf jein Geld bauend, um Adelens Hand angehalten hatte und 
einen Korb befam. Er zog fih damals, um ſich vor den Epi: 
grammen der vielen Verehrer Adelens zu retten, auf feine Güter 
in die Provinz zurüd. Nun, da er von Adelens tiefem Falle 
hörte, fam er wieder und mit neuer Hofinung. Er hatte fi 
dießmal nicht getäufcht. Wenige Tage nach feiner Ankunft hoben 
Adele und ihr Bräutigam die Mutter in den bereit jtehenden 
vierfpännigen Wagen, und die Drei brausten dem Schlofje ent: 
gegen, wo ein Dorfgeiftlicher die heilige Handlung der Vermäh— 
lung volljog. Der Vater wurde um dieſelbe Zeit zu fünfzehn: 
jähriger Zuchthausſtrafe in Ketten verurtbeilt. 


* * 
* 


Die lebhafte Erinnerung an diefe mit meinem eigenen Leben 
jo eng verflochtene Gejchichte de3 Studiofus und jungen Doktors 
Jakob Schwan machte, dab ich die Anfichten des Ruſtſchuker 
Helim über die Frauen und deren erften Urfprung begriff, aber 
auch, daß ich ihn von nun an mit größerer Trauer fommen und 
gehen jah, und daß die Sehnjucht, mich ihm zu entdeden und 
ihm Aufflärungen zu geben, immer mächtiger wurde. Dieb ge: 
Ihah furz nachdem ich feiner Einladung, bei ihm in Giurgewo 
zu wohnen, gefolgt war, als er mich eines Tages, während einer 
Dämmerftunde, plöglih nad mir felber fragte. Ich fiel ihm um 
den Hals, ich erzählte raſch, und er glaubte Alles, was ich ihm 
jagte. Mir waren die alten Freunde. Aber meine Mühe, ihn. 


Doktor Schwan. 215 


zur Nüdfehr nad) Europa zu bringen, war vergebend. „Mit 
meinen orientaliihen Gewohnheiten und den Eigenthümlichkeiten 
eine3 alten Junggeſellen,“ fagte er, „wäre ich heute noch Fächer: 
licher als vor zwanzig Jahren. Hier bin ich begraben; feine 
Geele ſteht mir nabe; aljo fann mir Niemand weh thun. Lächelt 
man über mich,” fügte er felbjt lächeln hinzu, „jo möge man 
lächeln!” 


An der Spielbanf, 


Ich bin kein Spieler und vorzugsweiſe deßhalb nicht, meil 
ih fürdte, daß, wenn ich einmal anfange, ich zu leidenſchaftlich 
fpiele und dabei nicht viel einzujeßen habe; aber fo oft ich in 
eine3 jener deutſchen Bäder fomme, die troß aller moralifchen 
Entrüftung des Vaterlandes und troß der Verachtung des Aus: 
lande3 mit einem Muthe, der einer bejjern Sache würdig wäre, 
fortfahren, Spielbanken zu halten, ich fage, jo oft ih an einen 
jener Orte fomme, die Deutjchland das Recht benehmen, über 
Frankreichs Mabil und Quartier Breda die Nafe zu rümpfen 
und moralijch entrüftet zu fein, jo oft verbringe ich ganze Stun= 
den am grünen Tifhe. ch ſpiele nicht, aber ich betrachte die 
Gefichter der Spielenden, die mir ganze Gefchichten erzählen von 
dem, was während des Spieles in ihnen vorgeht, und lange 
ſcheußliche Geſchichten aus ihrer Vergangenheit. So jtand ich 
eines Tages in Homburg. Nachdem ich bereitö mehrere bi3 zur 
Grftarrung unbemwegliche oder in allen Faſern leife zitternde Ge- 
fihter männlichen und weiblihen Geſchlechts durchgemuſtert, blieb 
mein Auge am Gefichte einer Frau haften, das offenbar bereit3 
der Zielpunft vieler beobadhtenden Blide geworden war. Nicht 
nur ruhige Beobachter meines Schlages, felbjt mehrere ruhige 
Spieler fanden ihr Vergnügen darin, die eigenthümliche Frau 
in ihren Bewegungen und Worten zu beobadten, die der Art 
waren, dab das Lächeln des Publikums in der That gerechtfertigt 


An der Spielbanl. 217 


eribien. Vor ihr, auf dem Tiſche, lag ein großer Beutel, aus 
deſſen klaffender Oeffnung da3 Geld wie aus einer Quelle ber: 
vorfloß; auf diefem Beutel lag, während die Kugel im Kaſten 
lief, ihre linfe Hand, die krampfhaft eine Schnupftabalsdofe hielt, 
während die rechte den Reden zum Herbeifcharren des Goldes 
faßte und wie einen Scepter an der Schulter ruhen ließ. Geficht 
und Geftalt waren während dieſes Momentes unbeweglih, fie 
borchte dem Rollen ver Kugel, al3 wollte fie daraus die gewin— 
nende Nummer erkennen. Dann hing fie am Munde de3 Grous 
pierd, der da3 Refultat verfündigte, um gleich darauf, in rafcheiter 
Beweglichkeit, die mit der bisherigen Starrheit unheimlich fon: 
traftirte, mit beiven Händen entweder den Gewinn einzufcharren, 
oder in ihr Gold zu fallen, um auf Neue Nummern, Serien 
und Farben zu befegen. Sie that Letzteres mit unbejchreiblicher 
Geſchwindigkeit, als ob fie feit lange gewußt hätte, wohin fie 
jeßt ihr Gold jegen follte, ohne Ueberlegung, ohne Zaubern und 
doch, wie e3 ſchien, nad einem gewiſſen Syitem. Mar fie im 
Augenblide, da der Eroupier fein „Le jeu est fait* jagen wollte, 
noch nicht fertig, ftredte fie ihre linfe Hand aus, mie um ihm 
den Mund zu fchließen, und fuhr mit der rechten jo rafch von 
Nummer zu Nummer, daß man ihren Bewegungen faum folgen 
fonnte. Während diefer Zeit ftieß fie ununterbrochen einzelne 
Morte hervor; bald nannte fie die Nummer, die fie eben bejette, 
bald machte fie eine Bemerkung über den Verluft, den fie eben 
erlitten, dann war e3 wieder ein Verweis für den Croupier über 
jeine Eilfertigfeit, dann eine Bemerkung über die Chance des 
Rouge und eine Prophezeiung, daß fih das jogleich ändern 
müffe, und fo fort, ohne daß fie fich eigentlich Zeit ließ, einen 
einzigen Sag zu Ende zu ſprechen. Sobald der Dedel auf das 
Roulette gefallen war, nahm fie eine Prife und die vorige hor— 
chende, laufchende, gefpannte Ruhe kehrte wieder. Aber fie fpielte 
nit nur für fi, fie fpielte für alle Anweſenden und verfolgte 
deren Glüd oder Unglüd mit demfelben Interefje, wie das ihrige. 
Sie wußte immer, mwohin und was Jeder geſetzt hatte, mer 


218 Novellen. 


gewann oder verlor, und mancher Ungeübte, der nicht raſch genug 
jeinen Gewinn zurüdzog, wurde von ihr darauf aufmerkſam ge: 
macht, meilt in Verbindung mit einer Bemerkung über fein Spiel. 
Bei all! diefen Beihäftigungen hatte fie wenig Zeit, auf ihre 
eigene Perſon zu achten, bemerkte fie z. B. nicht, daß ihre große 
Spigenhaube jchief auf der Seite ſaß, daß ihr dider, ſchwarzer, 
mit etwas Grau gemijchter Scheitel ſich aufgelöst hatte und wild 
und wirr vorn berabhing, vergaß fie auch manche Vorficht, die 
bei ihren häufigen Priſen nothwendig gewejen wäre. 

Die fpielende Dame, vie jo alle Blide auf fi zog, die 
Einen ftaunen, die Andern lächeln machte, war eine Frau von 
ungefähr fünfzig Jahren. Ihr Geficht, obwohl voll und beim 
Spiele ſtark, beinahe jugendlich geröthet, war voller tiefer Ein: 
ſchnitte und ftarfer Erhöhungen und fah wie eine Gegend „voll 
Zufälligleiten“ aus, „un terrain accidente,* wie es die Fran: 
zofen nennen. Das Auge, obwohl es immer auf einen Gegen: 
ftand firirt fchien, hatte doch etwas Irres. Bei alle dem aber 
fonnte man Spuren großer Schönheit entdeden; die Naſe war 
ftol; und imponirend, die Lippen nod immer angenehm ge: 
jhwellt, und den Augen jah man es an, daß fie einft fanft und 
voll Güte bliden konnten. Freilich waren die Refte ver Schönheit 
zur Zeit dur Haltung und Kleidung bedeutend beeinträchtigt, 
denn, um e3 kurz zu fagen und ohne ung in weitere Bejchreibung 
einzulafien, Alles an ihr war unordentlih und ſchmutzig. Kein 
Theil ihrer Bekleidung jaß orventlih und vorn waren alle von 
berabfallendem Tabak bevedt, deſſen Spuren aud auf den Fin: 
gern und dem Rüden ver ſchöngeformten Hand fichtbar waren. 

Der Anblid diefer Frau konnte den Beobachter eigentlich nur 
fo lange in Anfprudy nehmen, als er neu war; nad) einiger Beit 
hatte er etwas Abftoßendes und zugleih Schmerzlihes. Wie gern 
bereit man auch) fein mag, nad modern humanen Grundjägen, 
fich Verbrechen und Laſter jo viel ald möglich zu objektiviren, 
fie al3 nothwendige Produkte gewiſſer Entwidelungen zu betrachten 
und in Folge deſſen ven Verbrecher over Lafterhaften vielmehr zu 


An der Spielbant. 219 


bemitleiven al3 zu verurtbeilen, jo bleibt der Anblid des Laſters, 
in der Ausübung wie in den Wirkungen, doch immer der Art, 
daß man fih, troß aller Reflerionen, am Ende doch mit mehr 
Abſcheu als Mitleid abwendet. Ich war des Schaufpield müde 
und ſah unwillfürlih im Saale umher, um Blid und Seele bei 
einem anderen, erquidlichern Gegenſtande ausruhen zu laſſen. 
Da erblidte ich zu meiner größten Ueberrafhung, der jpielenden 
Frau ſchräg gegenüber, einen alten, lieben, guten Belannten. 
Es war der ruflifhe Graf S..., derſelbe, mit dem ich dur 
beinahe fünf Jahre als fein Leibarzt, und ich darf wohl, troß 
der großen Verfchiedenheit des Alters jagen, als fein Freund 
den Orient und Occident bereist hatte. Seit drei Jahren hatte 
mid mein Schidjal von ihm getrennt und war er mir in ente 
fernten Weltgegenden, in Inneraſien und Indien volllommen 
aus meinem Geſichtskreis verfhwunden. Wie freute ich mid, 
dem vortrefflihen Manne, dem ich Freundichaft, Erfahrungen, 
Wiſſen dankte, wieder einmal die Hand drüden zu können. Kaum 
hatte ich ihn erblidt, als auch fhon mein Schritt meinem Blide 
folgen wollte, aber eben fo rafch hielt mich der Ausprud feines 
Geſichts und feines ganzen Weſens an der Stelle feſt. 

Er Stand an die Pfoften der Eingangsthür gelehnt, hatte 
den Hut tief ind Gefiht gedrüdt und ließ beide Arme jo ſchlaff 
hängen, al3 ob er ihrem Falle folgen und bald in ſich zuſammen— 
brechen wollte. Auf jeinem edlen, von weißem Haar eingefaßten 
Geſicht lag der Ausprud tiefiten Grames; nur die zufammen- 
gefnifjenen Lippen bewegten fih manchmal, um die Mundwinkel 
immer tiefer und ſchmerzlicher herabzuziehen. Seine Augen hingen 
unabwendbar und ftarr an der fpielenden Dame, Wenn fie eine 
leidenſchaftliche, manchmal an gemeine Heftigfeit gränzende Be: 
wegung machte, oder ein diefer entſprechendes Wort hervorftieß, 
zudte er am ganzen Körper zufammen. Nur einmal jehien er ven 
Blid von ihr abwenden zu wollen. Zwei Fremde, die neben ihm 
ftanden, fpotteten über die Art und Weife, wie die Dame ge 
wonnenes Geld mit beiden Händen und laut aufladhend zufammen: 


220 Novellen. 


Iharrte, und ſchienen eine höhnifhe Bemerkung zu machen. Da 
wandte fich der Graf rafch zu ihnen, blidte fie mit zornigen Augen 
an und ſchien etwas fagen zu wollen. Aber rafch fahte er ſich 
wieder, nahm feine vorige Stellung ein und betrachtete die Dame 
mit derfelben Aufmerkſamkeit wie vorhin. Wie er die Spielerin, 
jo betrachtete ih ihn. Sein Gefiht verfteinerte fich zuſehends, 
und ich wähnte e3 ſchon volllommen gleichgültig und theilnahmlos 
und that eben einige Schritte, um mich ihm zu nähern, als über 
das kalte fteinerne Gefiht, das immer der Spielerin zugefehrt 
war, zwei große Ihränen langſam dem weißen Schnurrbart ente 
gegenrollten. 

Armer Graf, dahte ih — die Dame fteht ihm gewiß fehr 
nahe; ihr Anblid maht ihm Kummer — foll ich aber ftören, 
um ihn zu zerftreuen ? Oder wird es ihm unangenehm fein, wenn 
er ſich in diefem Augenblide beobachtet weiß? — Und ſoll ic 
mid fern halten ? 

Nach einem Heinen Zwiſchenfall, der jet eintrat, ſchien es 
mir beſſer, ihn für den Augenblid noch allein zu laffen. 

Ein junges, jehr anmuthiges Mädchen trat an der Seite 
ihrer Mutter, einer eben fo anmuthigen al3 würdigen Dame, 
an den Spieltiih, um diejes, den beiden Neuangelommenen 
offenbar noch ganz unbekannte Schaufpiel zu beobadten. Nah 
einiger Zeit jagte die Tochter: „Mutter, ich will auch fpielen.” 
Die ältere Dame fehüttelte lächelnd und abmwehrend den Kopf; 
aber die junge ließ fih nicht abſchrecken und bat: „Gib mir einen 
Louis, ih will zum Beten des Kinderhofpitals fpielen.” Kaum 
hatte fie diefe Worte ausgefprochen, als jene alte Spielerin, an 
der das Auge des Grafen mit fo großer Theilnahme haftete, und 
die troß ihrer leidenfchaftlichen Vertiefung Alles, was aufs Spiel 
Bezug hatte, zu fehen und zu hören ſchien, fich plöglich ummwanbte 
und dem Fräulein in einem Tone ernfthaftefter Belehrung zurief: 
„Fürſtin, man fpiele nie für wohlthätige Zwecke, man verliert 
immer! Außerdem ift das Spiel des Teufel3 und nicht des lieben 
Gottes. Wer mit frommen Zweden an diefen Tifch tritt, den 


An der Spielbant. 221 


umgibt der Teufel, der hier erfter Croupier ift; das ganze Spiel 
nimmt eine faljhe Wendung und es ift nicht mehr möglich, die 
Chance zu beredhnen. Ich bitte Sie aljo, liebe Fürftin, mit 
Ihren wohlthätigen Zweden zum Herrn Pfarrer und nicht in die 
Spielbank zu kommen.“ 

Die Worte klangen um fo komiſcher, als fie von der alten 
Spielerin im ernfthafteften Tone, beinahe predigend ausgeſprochen 
wurden, und das ganze verfammelte Publikum brach in ein 
ſchallendes Gelächter aus. Bei diefem Gelächter flog glühende 
Nöthe über das Geficht des Grafen und fein ganzer Körper zudte, 
während die Rednerin fi wieder ruhig und unbeirrt durch die 
von ihr verurfachte Heiterkeit dem Spiele zumandte, Aber da 
fie wieder mechanisch nad der Stelle griff, wo der Beutel lag, 
war alles Geld verjchwunden; ihr Auge folgt der Hand, und als 
fie ſah, daß Alles verfpielt war, ſprang fie in höchſter Aufregung 
auf, indem fie Worte augftieß, die beinahe Flüchen gleich kamen. 
Bon ſchlechter Chance fprehend und allerlei Nummern nennen, 
eilte fie davon. Die Hälfte des Publitums folgte ihr abermals 
lahend, und in der That war fie in dem Augenblide höchſt 
komiſch anzufehen. In der linken Hand Tabaksdoſe und Beutel 
baltend, trug fie in der rechten den Geldrechen, den fie in der 
Aufregung anftatt des Sonnenjhirms ergriffen hatte, und fo, 
immer gewinnend und über das Spiel fprechend, lief fie aus 
dem Saal in den Garten und juchte ſich mit vem Rechen gegen 
die Sonne zu jhüßen, ohne zu bemerken, daß das Volk, das fie 
begleitete, über fie und ihren Aufzug lachte. Auch der Graf folgte 
ihr in einiger Entfernung, aber auf feinem Geſichte fand ſich auch 
nit die geringfte Spur der Heiterkeit, melde die Dame rings 
umber erregte; im Gegentheil war e3 von einem rührenden Ge: 
miſch von Empörung und tieffter Nievergefchlagenheit bevedt. 
Ich verlor ihn nicht aus den Augen und bald ſchien e3 mir, ala 
wäre er feines Schritte mehr fähig, denn überwältigt lehnte er 
ſich an einen Baum und ſchloß die Augen. 

Jetzt näherte ich mich und faßte feinen Arm. 


222 Novellen. 


„Herr Graf,“ jagte ih, „ind Sie es wirklih? Wie freue ich 
mich, Sie wieder zu ſehen.“ 

Er jhlug die Augen auf, und nachdem er mich eine Sefunde 
lang angejtarrt, rief er plöglich, wie aus einem Traume erwacht: 
„Doltor, find Sie es? Willlommen! Das ift ein Freundesgeficht 
zur rechten Zeit.” 

Dann machte er eine Bewegung, al3 wollte er etwas ab: 
ſchütteln, ftügte fich auf meinen Arm und 30g mic) in die Tiefe 
des Parkes. 

„— Wie geht e3 Ihnen?“ fragte er nad einiger Zeit — 
„wie haben Sie die legten Jahre verbradht? Erzählen Sie.“ 

Ich erzählte, merkte aber wohl, daß er nicht hörte. Endlich 
fagte er: „Verzeihen Sie, ich bin zerftreut und habe Urſache, es 
zu fein. Ich habe eben Schauerliches erlebt. D ihr Ideale der 
Jugend!” rief er und lächelte fchmerzlih. — „Kommen Sie, 
Doktor, wir wollen zufammen zu Nacht fpeifen und uns ein- 
bilven, daß wir wieder im Zelte liegen am Ufer des Tigris oder 
de3 Indus. Ich wollt’, wir wären noch immer dort. ch will 
Ihnen etwas erzählen — e3 iſt ein Bebürfniß zu erzählen — 
und ich will e3 fo thun, als wären wir noch taufend Meilen weit 
von bier.” 

So ſprechend, führte er mich in fein Hotel, auf feine Stube 
und beftellte daS Eſſen. Er gab fih Mühe, heiter zu fein, fragte 
mich während des Mahles nad meinen feitherigen Schidjalen 
und borchte fo aufmerkſam, als es ihm möglich war. Erſt fehr 
jpät in der Naht, nachdem mir einige Flaſchen geleert, gewann 
er jene Ruhe wieder, die ich beinahe al3 unzerftörbar an ihm 
gefannt hatte, und erinnerte er fich des Verfprechend, mir etwas 
erzählen zu mollen. 

„Lieber Doktor,” begann er, „ich will Ihnen von Dingen 
ſprechen, die ich fonft, bei allem Vertrauen, das Sie mir immer 
einflößten, nie berührt habe. Gewöhnlich ift man in weiter Ferne, 
in kalter Fremde eher bereit, auf Angelegenheiten zurüdzufommen, 
die man daheim am Liebften mit Schweigen übergeht oder in ein 


An der Spielbant. 223 


Geheimniß gebüllt fieht. Es iſt Einem da zu Muthe, al3 wäre 
man in einer anderen Welt und al3 ſpräche man von Abgefchie: 
denheiten. ch aber habe in aller Ferne über meine Gejchichte 
geſchwiegen; vielleiht nur, um die Ruhe, die ich auf Reifen in 
Betrachtung der Natur gefunden, nicht dur alte Diffonanzen 
zu ftören. Heute, da ich wieder in die Nähe von Perfonen kam, 
die mich jene Ruhe anftreben ließen, habe ich das Bedürfniß von 
alten Geſchichten zu ſprechen; vielleicht, um in meinem Gemüthe 
für immer mit ihnen abzufchließen. Uebrigens waren Sie mir 
immer ein lieber Freund und erfchienen Sie mir heute, in einem 
fehr bittern Nugenblide, auf fo providentielle Weife, daß ich mir 
Vorwürfe made, jo lange und jo intim mit Ihnen gelebt zu 
haben, ohne Ihnen jemals über die mwichtigite Epoche meines 
Daſeins zu fprecen. 

Ich war jchon mit dreißig Jahren General und Adjutant 
des Kaiſers. Ych brauche Ihnen nicht zu jagen, daß ich die 
rafhe Beförderung mehr den Verdienſten meines Vaters als 
meinen eigenen, ferner meinem Namen und meinem Stande ver: 
dankte. ch ftand hoch oben auf den Höhen menfchlicher Gejell: 
ſchaft, bevor ih dur Erfahrung und Nachdenken über das Bes 
ſchämende einer folhen Laufbahn belehrt wurde. Ich bekam das 
Kommando einer Provinz und ich bewohnte deren Hauptitadt, 
da die Regierung wünfchte, daß diefer armen Stadt in den Ein: 
famteiten der Steppen einiges Einfommen zufließe und ich war 
einer der reichiten Erben de3 ganzen meiten Kaiſerthums. Aus 
demfelben Grunde hatte man die Civilgouverneurftelle dem über: 
aus reihen Grafen Nikolajeff übertragen. Diefer hatte feine 
Stelle feit beinahe fünfzehn Jahren inne, und war auf feinen 
einfamen jtillen Boften mit größerer Bereitwilligleit abgegangen, 
al3 ic auf den meinigen. Er war ein Gelehrter, der die Ein: 
ſamkeit und das einfache Leben liebte, ver ſich außerdem nad) 
dem Tode einer geliebten Frau aus der Reſidenz und ihren Ber: 
ftreuungen zurüdzuziehen wünſchte. Mit jener Stelle war ihm 
Gelegenheit gegeben, feine Neigungen mit der Erfüllung feiner 


224 Novellen. 


Pflihten gegen den Staat in Harmonie zu bringen. Er mußte, 
was man von ihm erwartete: daß er einen großen Theil jeines 
großen Einkommens der Gegend, die er verwaltete, zu Gute 
fommen lafje, und da es nicht in feinem Weſen war, dieß auf 
bergebradhte Weife zu thun und Feſte zu veranftalten, benußte 
er jeine beiden Töchter von früheiter Jugend an, um durch fie 
jein Geld unter die Armen der Stadt und bei Gelegenheit von 
Inſpektionsreiſen, auf denen ihn beide Kinder immer begleiteten, 
unter die Bebürftigen der ganzen Provinz zu bringen. In der 
der That wäre es ſchwer geweſen, liebenswürdigere Trojts und 
Hülfsboten aufzufinden. In der Einfachheit des Landlebens, den 
Neigungen und Grundjägen des Vaters gemäß, anſpruchslos 
aufgewachſen, war an diefen beiden in voller Schönheit er: 
blühten Geſchöpfen nichts von den Schladen zu bemerken, weldye 
bodariftofratiiher Rahmen und großer Reichthum in den Ge 
müthern, bejonders in weiblihen, abzufegen pflegen. Unter 
Anleitung des gelehrten aber nichts weniger als pedantiſchen 
Vaters hatten die beiden Mädchen einen Schag von Willen ge: 
jammelt, wie e3 bei der oberflädlihen modernen Erziehung, die 
in meinem Baterlande gang und gäbe ift, in ariftofratijchen 
Kreifen zu den höchſten Seltenheiten gehört, und hatte fich eine 
Empfänglichkeit für alle ſchönen Produkte aller Künfte geoffen- 
bart, von der man vorausſetzen durfte, daß fie Leben und Er: 
fahrung, Sehen und Hören ver beiten Werke zu einem hoben 
Grade, vielleicht bis zur felbjtändigen Schöpferfraft entwideln 
könnten. Die glänzendere der beiden Erſcheinungen war die 
ältere Tochter, Naftinka; in ihr vereinigte fih, was fo felten 
vereint vorfommt, Sinnigkeit mit ſchlagfertigem Geifte und Poeſie 
mit komiſchem Wige. Sie jchrieb Verfe, die in der That reizend 
waren und einen großen Fonds von Liebe und Leidenſchaft ver: 
einten. Bei all den Eigenſchaften dachten die beiden Mädchen 
nicht daran, glänzen zu wollen; in ihrem etwa3 farblofen Leben 
verging ein Tag nad dem andern in größter Anfpruchslofigkeit, 
als ob es immer jo jein müßte, al3 ob Rang und Reihthum 


Un der Epielbant, 225 


nit auf ein anderes Leben hinwieſen; und diefe Harmlofigkeit 
fügte zu all ven Vorzügen der beiden Mädchen noch einen neuen _ 
Neiz, einen befonderen Duft hinzu, 

Ich war fein Jüngling mehr, aber der beinahe tägliche Um: 
gang mit jo ausgeftatteten jungen Mädchen konnte nicht ohne 
Folgen für mein Herz bleiben. Ich entſchied mich für die glän- 
zende Naftinfa und noch den erften Winter, den ich in der Pro— 
vinzſtadt zubrachte, war ich ein verheiratheter Dann. Ich liebte 
meine Frau und ic gewann fie von Tag zu Tag lieber, je mehr 
ic den großen Reichthum ihrer guten Eigenſchaften kennen lernte, 
und ich fühlte das Bebürfniß, meinen alten Freunden in ver 
Refidenz mein Glüd zu zeigen. Die Kaiferin hatte ihr am Hoch— 
zeitstage ihre Chiffre in Diamanten gejhidt, oder mit anderen 
Morten, hatte fie zu ihrer Hofdame ernannt und e3 war Pflicht, 
zu Hofe zu gehen und für diefe Ehre zu danken. Naftinka zitterte 
vor der dee, in der großen Welt zu erfcheinen; ich freute mich 
fie fehen zu lafjen. Ich werde, dachte ih, all diefen Weibern 
des Hofes zeigen, wie ein Weib fein fol. Die Ueberzeugung 
von der Solidität der guten, felbjt der blendend glänzenden 
Eigenfhaften meiner Frau jtand fo feft in mir, daß ich nur daran 
dachte, wie fie als Mufter dienen, und nicht einen Augenblid, 
daß fie irgend wie durch Schlechtes Beifpiel oder durch große Er: 
folge erfchüttert werden könnte. Mit Stolz und voller Zuverficht 
erfbien ich mit meinem jungen Weibe in der Reſidenz und warf 
mich in den ganzen Strudel der fogenannten großen Welt. Von 
wie vielen jungen Männern fie auch fofort umringt war: ver 
Gedanke, daß fie jetzt Vergleiche anjtellen könnte, daß fie zu der« 
gleihen in der provinziellen Einſamkeit feine Gelegenheit gehabt, 
und daß ich vielleicht nur diefem Umftande mein Glüd verdanfte, 
ftellte fih mir nicht einmal auf die flüchtigfte Weije dar. Mit 
Monne ſah ich mich beneidet und fah ich in dem Neide nur eine 
Anerkennung ihres Werthes. Daß fie mitten unter ihren Trium: 
phen an weiterer Ausbildung ihrer fünftlerifchen Anlagen, ihrer 
Maler: und Gefangstalente arbeitete, war mir nur ein Beweis 

Morit Hartmann, Werke VI. 15 


2236 Novellen. 


mehr, daß ihre Liebe zum Schönen durch die Frivolitäten der 
Melt niht erbrüdt werden fünne und meine Sicherheit, meine 
Ueberzeugung von der Unerjhütterlichkeit dieſer ſchön begrün— 
deten Natur ftand feſt, ja war am fefteften, al3 man Raftinfa 
ſchon allgemein als eine Löwin im gewöhnlichjten Sinne des 
Wortes betrachtete, al jeder Stuger ſchon wußte, daß ihr Wiffen 
und Künfte Toilettgegenjtände und Mittel des Erfolges waren, 
wie Kleider und Coiffuren aus Paris. Zwei Jahre vergingen io, 
und ich glaubte noch im Befige meiner Frau zu fein, ala fie ſchon 
mit allen Gedanken, mit ihrem ganzen Wefen der frivolen Welt 
gehörte, die fie umgab, und als fie längft Vergleiche angeftellt 
hatte, die nicht zu meinen Gunften ausfielen. Ich wollte wirk- 
ih etwas thun, was nachträglich die fo früh und unverbdient 
erworbene Stellung rechtfertige; ich machte militärifche und po= 
litiſche Studien, ich arbeitete und gab fo den unzähligen Müflig- 
gängern Raum und Zeit, meine Frau zu bejchäftigen. 

Mein Benehmen fiel feinem Menfhen auf. Mein Gott! ich 
that ja nur, was jo Viele thaten: ich beichäftigte mich mit meinen 
ehrgeizigen Plänen und war froh, daß es Andere, daß e3 hundert 
Anbeter übernahmen, meiner Frau die Zeit zu vertreiben, und 
ih mußte mich noch beſonders glücklich jhägen, daß fih unter 
diefen Anbetern ein Prinz befand, ein Brinz, der dem Throne 
fehr nahe ftand, und jehr großen Einfluß hatte. 

Lieber Doktor, erlaflen Sie mir die Erzählung Alles deſſen, 
was ich eines Tages erfuhr, als ich einem Freunde meinen 
Wunſch nah einem gewiſſen Kommando in Ajien zu erfennen 
gab und er mir antwortete, der Prinz werde meiner Frau nichts 
abjhlagen. Am jelben Tage wurde der Prinz von mir geohr: 
feigt, und da ein Prinz ſich nit ſchlägt, fuhr ich noch jelben 
Tags in demſelben Schlitten mit meiner Frau aus der Rejivenz 
den Steppen zu. Ich war allein mit ihr und ich kutſchirte felbit; 
ih konnte mir die Genugthuung nicht verfagen, fie perſönlich 
ihrem Erile und der Hölle, die ich ihr ausdachte, zuzuführen. 
Ich mußte noch nicht, was ich thun mollte, aber jo etwas wie 


An der Spielbant. 227 


die Gefhichte, auf die Dante anfpielt, ſchwebte meinen Gedanken 
vor. Sie erinnern fi der Pia dei Tolomei, die ihr beleidigter 
Gatte in die Sümpfe der Maremmen führt, um fie dort an den 
Fieberlüften zu Grunde gehen zu lafjen. Ich war um fo grau— 
ſamer geftimmt, al3 die Ueberzeugung von meinem Unglüd fo 
plögli, jo ohne alle Vorbereitung kam. 

Wir fuhren volle zwölf Tage dur ſchauerliche, minterliche 
Ginfamtleiten dahin, dur Schneeftürme, die und zu begraben 
drohten, über gefrorene Flüffe und Seen, dur Gegenden, die 
felbjt der Wolf nicht bevölferte und durch andere, die nur er 
aufſucht. Wir faßen in dem Eleinen Schlitten eng aneinander ; 
unfere Ellenbogen berührten fi, aber nicht ein einziges Wort 
wurde während der ganzen Reife gewechjelt, vielleicht nicht ein 
einziger Blid. Am breizehnten Tage traten wir in ein altes, 
großes Holjgebäude, das man Schloß nannte und das ich feit 
meiner frübeften Jugend nicht wieder gejehen hatte. Es war 
mein Eigentum, aber außer aller Welt, in vergeflener Gegend 
liegend und zu einem Gute gehörend, das man als uneinträg- 
lich vernachläſſigte, war ich nie verſucht, hierher zurüdzufehren. 
In meiner Erinnerung war mit dem Schlofje ein Dorf verbunden, 
aber als ich mit meiner Frau dafelbit anfam, war von dem Dorf 
faum eine Spur vorhanden. Die Leibeigenen hatten den undant: 
baren Boden verlaffen und waren mit Erlaubnißfcheinen in vie 
Städte gezogen, um als Handwerker zu leben. Das Schloß ragte 
als ein halbvermitterter und verfaulter Würfel ſchwarz und einfam 
aus der unendlichen jchneebevedten Ebene hervor und war nur 
von dem alten Intendanten, der bier noch den Reſt jeiner Tage 
verleben wollte und einigen leibeigenen Dienern und einer Unzahl 
von Wolfshunden bemohnt. Dort ſchlug ich meine Refidenz auf. 

Was ich dajelbft wollte? Auf dieſe Frage wüßte ich noch 
beute feine genaue Antwort zu geben. Wollte ich meine Frau 
an Langeweile jterben lafjen ? wollte ich fie nur einer Buße unter- 
werfen, um fie, die ich noch immer liebte, eines Tages gereinigt 
und nad gefühnter Schuld wieder an mein Herz zu drüden? 


2283 Novellen. 


Sch weiß es nicht. Bald war die eine, bald die andere Abficht 
in mir vorherrſchend, je nachdem ich an die glüdlichen mit ihr 
verlebten Tage oder an ihren Berrath dachte. Und Tage, Wochen, 
Monate vergingen und ich wußte noch immer nit, warum ich 
mich mit ihr in dieſe Einfamfeit vergraben hatte. Ich ließ die 
Zeit tonlos dahinſchwinden und gedankenlos die Zulunft heran: 
fommen. Die einzige Abwechslung, die ich mir geftattete, war 
ein Ritt auf wildem Steppenpferbe; doch entfernte ich mich nie 
vom Schlofje, fondern zog in weiten und engen Streifen rings 
umber, wie ein Wächter, der einen Schag bewacht oder ein wildes 
Thier, das feine Beute niederreißt. 

Die Gräfin verließ nie die ihr angewiefenen Gemächer. Sie 
batte ſich dieſe Lebensweiſe ſelbſt vorgefchrieben, ohne daß ich ihr 
oder der Dienerſchaft eine dahingehende Anmweifung gegeben hatte, 
Sie fpeiäte auf ihrer Stube, während ich unten im alten Speifes 
ſaal meine kurzen Mahlzeiten hielt. Die einzige Gefellfchaft, die 
fie während dieſer Zeit juchte, war die des Drtögeiftlichen eines 
benachbarten Dorfes, den fie einladen ließ, und der zwei: bis 
dreimal in der Woche kam. Ich glaubte damals, fie wollte fromm 
werden, aber das Ganze jchien nur eine vorübergehende Grille, 
denn die Bejuche hörten bald wieder auf. Wir fahen uns, wir 
ſprachen und nie. Nur eine Tages, nad einem beinahe zwei— 
jährigen Aufenthalte im Schlofje, der mir bald wie eine furze 
Moche, bald wie eine Ewigkeit erfchien, an einem Herbitnachmittage 
ftand fie plöglid im Hofe vor mir, ſah auf den Boden und 
fragte mit zitternder Stimme: „Wird das noch lange dauern?” 

Sch war erfhüttert und unfähig, ein Wort hervorzubringen, 
wohl aber fühlte ih, daß mit dem erften Blid aus meinen 
Augen ein Strom von Thränen hervorbrechen würde. Ich 
mandte mich um und floh ins Schloß zurüd, konnte aber nicht 
umbin, ih mußte fie durchs Fenfter, hinter der Jalouſie ver: 
ftedt, betrachten. Sie ftand lange auf derſelben Stelle, bi3 fie 
eine Bewegung machte, al3 ob fie nad) reiflihem Nachdenken zu 
einem Entſchluß gelommen wäre und rafchen Schritte in die 


An der Spielbant. 2929 


Wohnung zurüd ging. E3 flog mir der Gedanke durch den Kopf, 
daß fie ihrem elenden Dafein ein Ende machen konnte, und in 
höchſter Aufregung ftürzte ich ihr nah, um fie an mein Herz zu 
drücken, um mich mit ihr zu verfühnen und ein neues, vielleicht 
noch glüdliches Leben zu beginnen. Aber im Korridor vor ihrer 
Stube angefommen, hörte ih ihre Stimme: fie fang, fie 
trillerte! — Die Stubenthür war offen; mein Auge durchflog 
den Raum und ich fah mit Staunen alle Wände mit neuen 
Landſchaften bevedt und in ver Mitte des Zimmers eine Staffelei 
mit einer neuen Arbeit. 

Das Alles machte mir den Eindrud der Herausforderung, 
der Verhöhnung. Sie hatte ſich alfo nicht einmal gelangweilt 
und fie war nicht beftraft, ich war nicht gerächt. Sie hatte die 
Ruhe des Schaffens und die Freuden des Vollendens, während 
ih, ihr Richter, in ihrer nächften Nähe ein leeres, ruhe» und 
freudenlofes Leben binfiechte. Ich fühlte mich gebrochen und jede 
Möglichkeit fünftigen Glüdes untergraben — und fie fang, fie 
trillerte, und während ich erftarrt vor der Thüre hielt, jtand 
fie mit dem Pinfel in der Hand, immer noch fingend, wieder 
vor ihrer Arbeit, vor ihrer Freude. Nur noch einen Grad höherer 
Aufregung und ic wäre hingeftürzt und hätte roh und barbariſch 
gegen all’ diefe Bilder gemwüthet. Aber ich war ein gebildeter 
Menſch und Hamletiſch eilte ich in die Steppe hinaus, um über 
das neue Erlebniß nachzudenken. 

Woher und wie hatte fie ſich die Mittel verfchafft, um diefe 
neue Welt um ſich herum aufzuführen? Woher Pinfel, Farben, 
Staffelei, Leinwand? Es war unter meiner Würde, bei ber 
Dienerſchaft Erfundigungen einzuziehen, deſto lebhafter bejchäf: 
tigten mich dieſe Hleinlihen Fragen ſowohl wie das MWichtigere, 
das mit diefen zufammenhing. Bor Allem erfehien mir Naſtinka 
als eine höchſt durchtriebene Betrügerin, da fie jo Vielerlei 
binter meinem Rüden zu Stande bringen konnte, nad und nad) 
‚aber erſchien mir die ganze Sache in einem ganz andern und 
verjchiedenen Lichte. Nur wenige Tage vergingen und ich konnte 


230 Novellen. 


an da3 mit Bildern bededte Zimmer nicht ohne Rührung denken. 
In ihrem Unglüd hatte fie ſich zur Kunjt geflüchtet und das 
Schöne gerettet. Durch beinahe zwei Jahre war fie in voller 
Einſamkeit nur mit künſtleriſchem Schaffen beſchäftigt, führte fie 
ein Zeben, das von dem Refidenzleben jo unendlich verſchieden 
war. Es muß ihr fein, als läge ein Jahrhundert zwiſchen jet 
und der Zeit, da fie mich und fich felbit vergaß; es muß ihr 
feinen, al3 wäre fie nicht diefelbe Perſon, vie fih an meiner 
Liebe fo ſchwer vergangen; fie begreift jegt jelber nicht, wie fie 
fih den Frivolitäten des Lebens hat fo hingeben können, va fie 
deſſen tiefere Freuden kennen lernte, denn was gibt tiefere Freu: 
den und mehr veredelnde, ald Schaffen und Hervorbringen des 
Schönen? Hat fie dur die lange Haft nicht ihre Schuld ge- 
fühnt? Iſt fie durch ein folches Leben nicht geläutert und ge: 
reinigt? Gewiß, fie fühlt, daß fie es ift und daß nad Gere: 
tigkeit ihre Strafe ein Ende haben müfje und das hat ihr ven 
Muth gegeben, jene Frage, ob dieß Leben noch lange dauern 
folle? an mich zu richten. Mag die Welt fih ewig eines be- 
gangenen Fehlers erinnern, der Einzelne joll nicht nur verzeihen, 
er joll auch vergefien. Ya, ich mollte jtarf genug werden, um 
einer auf volllommenes Bergefien ruhenden Vergebung fähig zu 
fein. Der Entſchluß that mir wohl, ftimmte mich milder und 
erfüllte mich mit einer Art glüdlichen Gefühles, wie ich es lange 
nicht gefannt hatte. Einzelne Erinnerungen, einzelne Ueberreite 
bitterer Empfindung, die ich von Zeit zu Zeit noch in mir ver: 
jpürte, wollte ich erft ganz verwifcht haben, dann zu ihr eilen 
und mic aufs Neue mit ihr vermählen. Ich fühlte, daß ich es 
mit der ganzen Innigkeit eines liebenden Bräutigams thun 
werde, mit eben folder Innigkeit und Aufrichtigfeit wie jener ' 
gekränkte Ehemann in der altengliihen Tragödie von Thomas 
Heymwood fi auf3 Neue mit feinem Weibe auf dem Todtenbette 
vermählt, auf das fie, von feiner Güte zu Tode gevemüthigt, 
gejunfen war. Der Geburtstag meiner Frau war nahe; an diefem 
Tage wollteich fie und mich dem Leben und dem Glüde wiedergeben. 


Un der Spielbanf. 931 


Der Tag brad an, Mit ver erften Frühe ftand ich an ihrer 
Thüre und — mein Gott! — mit welhem Gefühle, in welcher 
feligen Aufregung. Ich glaube, daß ich nie fo glüdli war, fo 
tief durchdrungen glüdlih, wie in jenem Momente, weldhem 
fofort die furchtbarſte Enttäufhung folgen ſollte. Ich trat ein, 
fie war fort. Sie war nicht in der Stube, nicht im Haufe, nicht 
im Garten, fie war entflohen. 

Ich habe fie nicht verfolgt. 

Kurz darauf begannen meine Wanderungen über die Erbe, 
auf denen ich Sie kennen lernte, und die Sie zum Theil mit mir 
machten. Was die Gräfin betrifft, fo erfuhr ich denn von Lands: 
leuten, die mich nicht fannten und die mit mir von ihren Aben- 
teuern ſprachen, daß fie allein zu Pferde die unendlichen Steppen 
und Wüfteneien durcheilte unter allerlei Drangjalen und Ent: 
behrungen, bis fie nad beinahe einem Monat und unzähligen 
Grlebnifjen in Petersburg anfam. Sie befchrieb fpäter dieſe 
Flut, die meinen Landsleuten um fo intereflanter erſchien, ala 
die Beihreibung in franzöfiicher Sprache und in einer Barifer 
Nevue erfhien. Dieß mar genug, um fie zu einer Heldin zu 
machen und ihr, wenn auch außerhalb der Gefellichaft, eine ge: 
wifle Stellung zu verſchaffen. Sie war das Ziel der Neugierde 
geworden und bald der Mittelpunkt eines großen Männerfreifes, 
in dem ſich Viele fanden, die ſich gerne zu ihren Rittern auf: 
warfen. Unter dieſen begünftigte fie einen Franzofen, der unter 
dem Vorwande legitimiftifcher Treue nach der Yulirevolution an 
den Hof Rußlands kam, um fein Glüd zu maden. Er erwartete 
vom Kaiſer Nikolaus irgend eine glänzende Stellung; bis dieſe 
fam, bejhäftigte er fi mit Plänen zur Eroberung und gänz— 
lihen Unterwerfung des Kaukaſus, faßte dahingehende Memoiren 
ab und überreichte diefe dem Kaifer und den Miniftern. Zu 
gleiher Zeit trieb er fih durch alle Geſellſchaften und fpielte 
jehr hoch, ohne daß man hätte beftimmen können, woher er bie 
Fonds zu diefem Leben auftrieb, da er nicht immer gewann und 
jein Vermögen, wie er fagte, durch die Julirevolution zu Grunde 


232 Novellen. 


gegangen war. Aber er war eine glänzende und ſchöne Erſchei— 
nung, geijtreih, was man in der Geſellſchaft fo nennt, und ein 
vollendeter Weltmann. Da er der begünftigte Ritter der Gräfin 
war, hatte er bei ihrer zweideutigen Stellung bald Gelegenheit, 
für fie einzutreten und fich für fie zu fchlagen. Dieß benupte 
man bei Hofe, wo er längit läftig geworden war, um fich feiner 
zu entledigen und ihn aus dem Lande zu fchiden. Er duldete 
für die Gräfin und es fohien ihr nur natürlib, ihm ins Aus- 
land zu folgen. 

Mit viefem Manne durchreiste die Gräfin Deutfchland, 
Frankreih, Stalien. Weber da3 Leben, das fie während dieſer 
Zeit führte, weiß ich nur wenig; ich habe mid) felten danach er— 
fundigt; ich weiß nur, daß fie fih nah Jahren, nachdem er fie 
um ihr halbes Vermögen gebracht, von ihm trennte und daß fie 
jeitdem allein von einer Spielbank Deutſchlands zur andern 
reiste. Am grünen Tiihe fand fie ihren ehemaligen Begleiter 
manchmal wieder, denn jeit er nicht mehr über ihr Vermögen 
verfügen fonnte, hatte er ji ganz auf da3 Spiel, al3 auf einen 
Erwerb geworfen und ift endlich Croupier geworden. Der Mann 
mit grauem, feinem Badenbart, den Sie heute die Bank halten 
fahen und ver e3 mit fo großer Würde thut, ift fein Anderer 
al3 der ehemalige Ritter meiner Frau, der Vicomte de S..., 
der in Petersburg eine Rolle fpielte und hunderte von Damen 
herzen gewann. Wohin es mit meiner Frau gelommen, was 
aus ihr geworden, darf ich Ihnen nicht erjt jagen. Sie haben 
fie heute am Spieltifch gefehen. ch fah fie feit mehr als fünf- 
undzwanzig Jahren zum erften Male wieder — und mie! in 
welchem Zujtande! nad welcher Veränderung! Sept begreifen 
Sie die Aufregung, in der Sie mich gefunden haben. 

Nun aber will ih den Kellner rufen und ihm fagen, daß 
er meinen Namen nicht in die Kurliſte fee. Mit dem früheften 
Morgen reife ich wieder ab. Ich gehe nad) Aegypten und Nubien. 
Wollen Sie mich wieder begleiten, follen Eie willkommen fein. 


Zwanzig Millionen, 


Erftes Kapitel. 


In den Runftausitellungen gibt e3 immer ein hintere Ge— 
mach, gewöhnlich das jehlechtefte und mindeft gut beleuchtete des 
ganzen Gebäudes, in welchem Aquarelle, Baftelle, Delbilver, 
Beihnungen, ordnungslos und offenbar mit geringer Rüdficht 
auf die Verfertiger derfelben aufgehängt find. Die mit der Topos 
graphie der Ausftellung vertrauten Bejucher gehen gewöhnlich 
an dieſem Gemache vorbei, nachdem fie es einmal beſucht, oder 
fehren nur dahin zurüd, um ſchlechte Wiße zu machen, oder um 
einem Bekannten etwas Lächerliches zu zeigen; am liebjten aber 
fchleihen an diefem Gemache die Künſtler ſelbſt vorbei, deren 
Werke dort ausgeftellt find; das Gemach ift gewiſſermaßen ein 
Pranger. Wer dort prangt, ift, wenigſtens für dieſes Jahr der 
Ausstellung, verurtheilt, denn dorthin werden eben nur die 
ſchlechteſten Bilder gehängt. Diefes Zimmer heißt in der Kunit- 
fpradhe, oder wenigſtens in der Atelierfprahe mander Städte, 
die Spedfammer. Cine ſolche Speckkammer befigen wir, — 
mögen mir die Anatomen verzeihen und die Pſychologen e3 mir 
bezeugen — eine ſolche Spedfammer befigen wir alle in unjern 
Herzen, Alle — ich, der ich diefe Gefchichte ſchreibe, du, Leſer, 
der fie liest und alle Diejenigen, die fie nicht lefen. In den 
vorderften Kammern, die wir Jedermann zur Schau jtellen, und 
durch die wir in den glücklichſten Stunden am Liebften luftwandeln, 
hängen die ſchönſten Bilder der Erinnerung, Portraits, biftorijche 


234 Novellen. 


Bilder, Stillleben, Joyllen, Bilder jeder Art — aber in jener 
verborgenen Kammer hängen die häflichen Bilder, bei deren An- 
blid, wenn wir nothwendig durch müſſen, wir und mit der Hand 
über die Stirn fahren, als ob wir von einer Leinwand, von 
einer Gedenktafel oder vergleihen, etwas wegwiſchen wollten. 
Glüdlih, wer nur eine Heine Speckkammer befigt. Wenn er klug 
ift, zeigt er fie, und er kann ficher fein, daß er fie Einem zeigt, 
der ebenfall3 eine befigt. Welcher Menſch hatte nicht ſchwache 
Momente! ja gemeine, ja niederträhtige Momente! 

Ich bin ein Menſch, ver heute eine ſehr geadhtete Stellung 
einnimmt, ich erfreue mich eines fehr guten Rufes, ich habe viele 
Freunde und Jedermann wird behaupten, daß ich ein langes, 
fledenlojes Leben hinter mir habe, und man wird Iegteren Um— 
jtand befonders hervorheben, da man weiß, daß ich in der Yu: 
gend und im männlihen Alter mit Hinderniffen zu kämpfen 
hatte, mit Noth, Elend und Neid, an denen, wie Kleiderfegen 
an Dornen, oft die beiten Stüde des Charakters hängen bleiben. 
Niemand ahnt, daß ich meine Spedfammer habe, ganz wie ein 
Anderer — und fonderbarer Weife danke ich das häßliche Bild 
in dieſer Spedlammer meiner vortrefflihen Mutter. Sie ift die 
erfte Urſache, daß ich mich lange, lange mit einem Gedanken, 
mit einem Plane getragen, dem alle meine Grundfäge wider: 
ſprachen, daß ic an mir felbjt einen Verrath beging, mit einem 
Worte, daß ich gemein war. 

Nah der Anficht der guten Frau befaß ich ſchon mit meinem 
zwanzigiten Jahre Alles, was einen trefflihen und glüdlichen 
Menſchen machen kann, eine einnehmende Erſcheinung, ein em: 
pfängliches Herz, einen gebildeten Geift, ein heitered Gemüth, 
kurz alle Eigenſchaften, die eine Mutter an einem erträglichen 
Sohne entdedt — nur Eines fehlte mir: Reichthum! Sie glaubte 
zwar nicht, daß hunderttaufend Thaler Nenten eine nothwendige 
Bedingung des Glüdes feien, fie mußte es, daß es auch ein fehr 
idyllifches, darum nicht minder tiefbegründetes Glück geben fünne, 
da fie felbft ein foldhes an der Geite meines PVaterd dur 


Zwanzig Millionen. 235 


ungefähr zwanzig Jahre genoſſen und fi noch ala Wittwe mit 
dreihundert Thaler Gehalt glüdlih fühlte; aber welche Mutter 
wünſcht ihrem Kinde nicht noch mehr Glüd, als fie ſelbſt fennen 
gelernt? und fie dachte, befjer ift befjer und ficherer iſt ficherer. 
Am Ende könne man ja, wenn man die Neigung habe, felbft mit 
großer Rente ein ivyllifches Leben führen, ohne große Rente aber 
fönne man Vieles nicht thun, was man vielleicht ja gerne thun 
möchte. Und das Geld ift eine fo gewaltige Mat! Wie viel des 
Guten kann e3 bewirken, wenn e3 in die rechten Hände gelangt! 
Sie zmweifelte übrigens nie daran, daß ſich eine ungeheure Erbin 
eined Tages in meine ausgezeichneten Eigenſchaften verlieben 
werde. Als ich vierundzwanzig Jahre zählte, und zu meinen 
ausgezeichneten Eigenfchaften noch die erjten Keime eines künftigen 
Nufes, vielleiht Ruhmes al3 eines Gelehrten famen, war fie 
erftaunt, daß ihre Hoffnungen ſich nicht ſchon verwirklichten. In 
dem Heinen Landſtädtchen, in welchem fie ihren Wittwengehalt 
verzehrte, erwartete fie jeden Pofttag einen Brief, der den Poit: 
ftempel der Univerfitätzftadt trüge und ihr die endliche Erfüllung 
ihrer Wünſche verfündigte. 

Sonverbarerweife follten die Dinge eine Wendung nehmen, 
wie fie die gute Mutter in der Einſamkeit ihres Städtchens aus: 
geträumt hatte, 

Ich bewohnte die Univerfitätsftadt, welche zugleich ein großer 
literariiher Mittelpunkt war, und arbeitete fleißig an einem 
biftorifhen Werke, das den Ruf, den ich mir mit einem erften 
Buche bereit3 erworben, befeftigen, wo möglich vergrößern, und 
mir endlich ein gutes Stüd ſoliden Brodes, ich meine eine Pro: 
feflur, einbringen follte. Eines Tages, da ich eben über meinen 
Büchern und Notizen faß, bringt mir mein Dienftmäbchen ein 
kleines Briefchen, das fo lautete: Dr. Edmund Born. 


Lieber Freund! 


Kommen Sie heute, ohne Umftände, auf einen Löffel Suppe. 
Mir haben einen lieben Gaft, eine Freundin meiner Tante, 


236 Novellen. 


Fräulein Zelinde Heil, eine ſehr liebensmwürdige, alte Jungfer, 
die viel gejehen, viel zu erzählen weiß und Ihre Bekanntſchaft 
zu machen wünſcht. Seien Sie liebenswürdig mit ihr. Hören 
Sie? — fehr liebenswürdig. Mündlich werde ich Ihnen jagen, 
warum ich Ihnen das empfehle und zwar auf die dringendite 
Weiſe. Wir eflen heute um zwei Uhr. Alfo auf baldiges Wieder: 
fehen 
6. September. 
Clara Micheljen. 


ALS ich das Briefhen erhielt, war Mittag bereit3 vorüber; 
das Landhaus der Hofräthin Michelfen lag wohl eine halbe 
Stunde vor der Stadt; ich hatte alfo nicht viel Zeit, mich in 
Staat zu werfen. Das beunruhigte mich nicht; die gute Freundin 
meiner Mutter und meine vortrefflihe Gönnerin nahm e3 mit 
mir nicht genau. Ich Eonnte bei ihr erfcheinen wie ich wollte; 
außerdem handelte es ſich ja um eineimprovifirte Einladung aufs 
Land, und die Fremde war eine alte Jungfer. Auch gehörte ich 
zu der Klafje der eleganten jungen Gelehrten und brauchte mic, 
um unter Menjchen zu geben, nicht erjt von Monate altem Bücher: 
ftaub zu reinigen und Kleider bervorzufuchen, die nur für Be 
ſuche bei Regierungsgräthen und Miniftern beftimmt find. 

Im Landhauſe der Hofräthin Michelfen, die mich mit ge: 
wohnter Freundlichkeit und einem ungewohnten, räthjelhaften 
Lächeln, zugleich mit einem, meine ganze Berfon prüfenden Blicke 
empfing, fand ich, nebft der zahlreihen Familie, nur noch einige 
alte Belannte und jenes befagte Fräulein Zelinde verfammelt. 
Dieje gehörte zu den abgerundeten, lächelnden alten Jungfern 
mit vollen, immer noch jugenvlich gerötheten Wangen; ihr Ge: 
iht war voll Wohlwollen für alle Welt, beſonders, , wie es jchien, 
für die Jugend, die fie nicht haßte, weil fie nicht mehr zu ihr 
gehörte; fie war eine jener umverheiratheten Matronen, die bei 
erfter Bekanntſchaft immer überrafhen, weil fie alle Vorftellungen, 
die man einer alten Jungfer entgegen beweist, auf das An- 


Zwanzig Millionen. 237 


genehmite Lügen trafen und denen man, dankbar für die erlebte 
Enttäufhung, deſto rafcher und deſto lieber mit Freundſchaft 
entgegenfommt. Als ich eintrat, war fie eben in ein Gefpräd 
verwidelt, aber fie brach e3 fofort ab, al3 mein Name genannt 
wurde, um mich mit Neugierde zu betrachten; ſpäter bemerkte ich, 
daß fie, immer mich beobachtend, während ich mit Andern ſprach, 
unmillfürlih eine billigende, ja beifällige Bewegung mit dem 
Kopfe machte. Bevor man zu Tiſche ging, ftreifte die Hofräthin 
an mir vorbei und flüfterte mir zu: „Geben Sie der Fremden 
den Arm!" — Ich that es ohne jene Verdrießlichkeit, mit der 
man derartigen Anmeifungen ver Frauen vom Haufe nadhzus 
kommen pflegt, welche bei ſolchen Gelegenheiten den Freunden 
gewöhnlich die unangenehmiten Pflichten ver Höflichkeit zumuthen. 

Fräulein Zelinde, meine Tiſchnachbarin, war jehr geſprächig; 
aber ich fühlte jehr wohl, daß fie es nicht mit altjüngferlicher 
Geſchwätzigkeit war, oder um Willen und Geiſt auszukramen; 
e3 mar ihre offenbare Abfiht, nur mich mittheilfam zu machen, 
um mic weiter fennen zu lernen. Zu diefem Zmede ſchlug fie 
die verfhhiedenften Saiten an, und ſprach fie unter Anderem auch 
von meinem Buche, das fie fannte und fragte fie nach den Ar: 
beiten, die mich eben befchäftigten. Ich ließ mich mit Vergnügen 
verhören und gab gerne ausführliche Antworten; denn die ganze 
Art und Weife der guten Dame, wie das Intereſſe, mit dem 
meine liebe $reundin, die Hofräthin, manchmal zu uns herüber: 
jhielte, fagte mir, daß hinter all’ dem etwas mir Günftiges 
ſtecken müfle. 

„Ihr Name,” fagte Fräulein Zelinde, an das Gefpräch über 
meine Arbeiten anfnüpfend, „wäre mir auch ohne Ihr Buch nicht 
unbefannt geweſen. Die Baronefjen von Friedendborg haben mir 
mehr als einmal von den fhönen Stunden erzählt, die fie mit 
Ihnen verbradten. Sie denken mit Vergnügen daran, wie —“ 

„Die Baronejjen Friedensborg ?” fragte ich erftaunt. 

„Gewiß,“ bejtätigte Fräulein Belinde, „fie haben Sie nicht 
vergeflen.” 


238 | Novellen. 


„Dich — nicht vergefien?” fragte ich wie vorher. „Das muß 
ein Irrthum fein. Mein Fräulein, Sie verwechleln mich wohl 
mit Jemand anderm ?“ 

„Sind Sie nit Dr. Edmund Born 

„Ganz richtig.” 

„Haben Sie nicht vor zwei Jahren eine Rheinreife gemacht 
und zwar an Bord des Rubenz ?“ 

„Sben fo richtig.” 

„gaben Sie niht an Bord des Rubens die Bekanntſchaft 
dreier liebenswürbiger junger Mädchen gemacht ?" 

„Rein! — ich erinnere mich nicht !" 

Fräulein Zelinde ließ Mefler und Gabel fallen und machte 
ein Geſicht wie ein Menſch, der eben eine große Täufchung er= 
lebt, oder einen ganzen liebgemonnenen Plan in Scherben gehen 
fieht. Sie flößte mir wahrhaftes Mitleid ein, und ich hätte mas 
darum gegeben, wenn ich mich befagter Baronefjen hätte erinnern 
fünnen, und dieß um fo mehr, als die gute Dame nit nur 
chmerzlich getäufcht, fondern fogar.beleidigt ſchien. Darum fragte 
ich weiter: „Woher waren diefe Baronefjen von Friedensborg?“ 

„Aus Kopenhagen !” fagte Fräulein Zelinde und ſah mid 
faum mehr an dabei. 

„Aus Kopenhagen!” rief id, „& la bonne heure!“ 

Auf diefen Ausruf wandte fih die gute Dame wieder mit 
einem Blide frifcher Hoffnung zu mir: „Alſo Sie erinnern fi? 
Sie hatten nur den Namen vergeflen?“ fragte fie haſtig. 

„Ich erinnere mich eines alten Herrn aus Kopenhagen — 
ein Heiner Mann mit grauem Badenbart und dichten, fehr feinen 
weißen Haaren.” 

„Das ift der Vater, Baron von Friedensborg!“ 

„Ja,“ jagte ih, indem ich mir die Stirn rieb und mein 
Gedächtniß aufmühlte — und ohne laut ſprechen zu wollen, fügte 
ich hinzu: „ein Emporlömmling ?” 

„Sin jehr ehrenwerther Mann! ein ausgezeihneter Mann!“ 
fiel mir Fräulein Zelinde ins Wort, fehr gebrüdt und fehr raſch, 


Zwanzig Millionen. 239 


wie um mich zurecht zu weiſen und die beleidigende Bezeichnung 
mit lebenden Ausdrücken zu deden. 

„O mein Fräulein, mißverftehen Sie mich nicht; ich wollte 
mit dem Wort nichts Beleidigendes jagen. Herr von Friedens: 
borg bat den Ausdrud ſelbſt von ſich gebraucht; das fiel mir 
damals auf als ein intereffanter Charakterzug, und fam mir das 
ber zuerft ind Gedächtniß und auf die Zunge. Auch will ich dar 
mit nicht3 Böſes bezeichnen. Ich kenne ſehr gut die Fehler und 
Lächerlichleiten der Parvenus, aber ich finde fie meift nur in der 
zweiten Generation, in den Kindern der Parvenus; dieſe felbit 
flößen mir meiſtens einen gewiflen Refpelt ein. Man kann ficher 
jein, daß ein Mann, der aus dem Nichts ein Vermögen fchafft, 
ein Mann von Geift, von Charakter und Ausdauer und von 
unendlichen Hülfsmitteln fein muß, und wenn unter diefen Hülfs⸗ 
mitteln feine niedrigen find, verdient ein folher Mann alle Ad: 
tung, unter Umjtänven felbft unfere Bewunderung.” 

„Sin folder Mann ift der Baron Friedensborg,” verficherte 
Fräulein Zelinde. 

„Als ein folher erfchien er auch mir; ich bemunderte feinen 
Beritand, feinen gefunden und geraden Sinn; ich war erftaunt 
über die Maſſe von Erfahrungen, die ſich in diefem Kopfe ge 
jammelt, und die merkwürdige Einfachheit des ganzen Weſens, 
das er fich bei einem in den verfjchiedenften Berhältniffen bewegten 
Leben zu bewahren wußte. Wa3 mir aber an dem Manne am 
meiften gefiel, war feine Freude an jedem Fortjchritte, eine Freude, 
die wenige Menjchen in feinem Alter zu empfinden vermögen, 
und endlich feine Achtung für Bildung und Wiſſen.“ 

Das Gefiht der ältlihen Dame heiterte fi während dieſer 
meiner Rede wieder auf. 

„Sie haben den alten Herrn verſtanden,“ ſagte fie befriedigt; 
„wie Sie ihn hier ſchildern, fo ift er in der That, und gerne fieht 
man bei ihm über mande Eigenjchaft des Parvenus hinweg, ja 
man vergißt fie endlich gänzlich feiner wahrhaft großen Tugenden 
wegen; ja, was mehr ift, man vergißt bei ihm, daß er vielleicht 


240 Novellen. 


bundertmal Millionär ijt. Ich Iobe ihn gerne, aber noch lieber 
höre ich ihn loben. Er ift mein edler Freund, und feine Familie 
trachtet mich als zu ihr gehörig. ch habe die jungen Baroneflen 
alle erzogen, ich war wie ihre Gouvernante, und Sie werden 
zugeben, daß ich Urſache habe, auf fie ſtolz zu fein.“ 

Da3 war eine neue Verlegenheit. Ich konnte der alten Gous 
vernante fein Kompliment machen, denn ich erinnerte mich nur 
dunkel, daß der alte Herr auf dem Dampfſchiffe von einer zahl- 
reihen Dienerfhaft und einigen jungen Mädchen in Sommer: 
hüten und grünen Schleiern umgeben geweſen. Sie fchüttelte 
den Kopf und ſagte: „E3 ijt verbrießlih, daß ich Ihnen ver: 
rathen, in meld’ gutem Andenken Sie bei den jungen Damen 
ftehen, während Sie ſich ihrer gar nicht erinnern. Sch habe die 
guten Kinder fompromittirt. Vielleicht hätten fie Ihre Aufmerk: 
ſamkeit wenigſtens als eine Seltenheit auf fich gezogen, wenn 
Sie, Herr Doktor, gewußt hätten, daß jedes diefer Mädchen 
wenigſtens zwanzig Millionen mitbelommt, denn ſolche Mädchen 
befommt ein Mann Ihres Alters nicht alle Tage zu Geſichte.“ 

Ich lachte auf: „Sie irren, mein Fräulein, Ich bereiste da= 
mal3 den Rhein, um römische Alterthümer aufzufuchen, und 
diefe nahmen mein ganzes Intereſſe in Anſpruch, den Net des 
Intereſſes, deſſen ich noch fähig war, nahm der alte Herr hin: 
weg, von dem ich wußte, daß er Kaufmann und Rheder gemwejen, 
und der fich do jo warm und förmlich nad Belehrung lechzend, 
nah den Monumenten von Trier und Igel erkundigte.“ 

Fräulein Zelinde ſchien von diefer Antwort fehr befriedigt. 
Am Ausdrude ihres Gefichtes nahm ih wahr, daß ich etwas 
gejagt hatte, was ihr wichtig war. Sie verfank in Nachdenten, 
aus dem fie erjt erwachte, als die Stühle zurüdgejchoben worden 
und man fih vom Tifche erhob. Nachdem ich fie in das Wohn: 
zimmer zurüdgeführt, wo fich ihr einige Verwandte des Haufes 
näherten und mid von ihr trennten, winkte mir die Hofräthin, 
die fih in die Ede an den Kaffeetifch geftellt hatte, und fragte 
mich mit leifer Stimme: „Hat fie Ihnen etwas gefagt” 


Zwanzig Millionen. 241 


„Ber ?“ fragte ich zurück. 

„Run, Shre Tiſchnachbarin.“ 

„Worüber? Sie mahen ein bedeutungsvolles Geſicht — 
ich verſtehe Sie nicht.” 

„Sie hat Ihnen alfo nicht3 gejagt,“ murmelte die Hofräthin. 
„Sie haben ihr vielleicht nicht gefallen.” | 

„Sehr möglich,“ fagte ih, gleichgültig die Achjel zudend, 

Die Hofräthin verwies mir, den Kaffee einſchenkend, meinen 
Leichtſinn. „Es handelt fih um nichts Kleines — es handelt ſich 
um eine Heirath, und was für eine Heirath!” 

„Dit wen? mit Fräulein Zelinde?“ rief ich mit komiſchem 
Entjegen, daß die Hofräthin mit Kaffeejchenken einhalten mußte, 
um ihren Tifch nicht zu beiprengen, da fie vor Lachen zitterte, 

„Seien Sie fein Narr, Edmund, und jcherzen Sie nicht, wo 
es fih um ein außerordentliches Glüd handelt, in der That, um 
ein ganz außerordentliches Glück, um eine Partie, wie es deren 
wenige in Europa zu machen gibt.” 

„Ab, ich merke,” antwortete ih, „ih bin fünfundzwanzig 
Jahre alt, da muß ich darauf gefaßt fein, daß mich alle Damen 
meiner Belanntihaft unter die Haube bringen wollen. Das 
würde mich nicht wundern, man fennt ja die Leidenſchaft, den 
Verheirathungsfanatismus der Frauen, aber daß Sie, verehrte 
Freundin, daran denken können, daß Sie mich jo wenig fennen, 
um zu glauben, daß eine folde Art ver Verheitathung, dieſes 
Partiemachen bei mir angebracht jei, das, ich geftehe es —“ 

„Schon gut,” unterbrad mich die Hofräthin, „wir fprechen 
noch davon.” 

Sie nahm eine Taſſe Kaffee und brachte fie ſelbſt vem alten 
Fräulein, mit dem fie rafch einige Worte wechſelte. Als fie fi 
ihr ab und mir zumwandte, ſah fie mich mit einem vorwurfövollen 
Blide an, ven ich nicht verſtand. Ich war do, ihrem Wunfche 
gemäß, gegen das Fräulein fo liebenswürdig gewejen, als es 
mir möglid war. Aber ich veritand fie halb und halb, als fie 
mir im Borbeigehen fagte: „Sie find ein ungefdhidter Menſch. 

Morig Hartmann, Werke VI. 16 


242 Novellen, 


Eich nad) zwei Jahren eines alten Vaters und nicht dreier Töchter 
zu erinnern, deren Eine man jogar erobert hat! Sit das je vor: 
gefommen ?” 

Nah einer Stunde war mir Alles um mich her räthjelbaft; 
jegt fing e3 an, in meinem Kopfe zu tagen, oder wenigitens zu 
dämmern. E3 war zwifchen ven beiden Damen wohl ausgemadt, 
daß ich eine der zwanzigfahen Millionärinnen, deren ich mid 
ganz und gar nicht erinnerte, heirathen jollte. Eine verjelben 
hatte ich, der Himmel weiß wie? erobert. Der Gedanke jchmei- 
helte mir außerordentlih, zum Theil wegen der Eroberung an 
und für fih und zum Theil wegen der zwanzig Millionen. Zus 
gleich mit dem Gedanken an dieje ſchöne runde Summe flog mir 
der Gedanke an meine gute Mutter dur den Kopf; ich ſah fie 
vor mir, wie jie bei der Mittheilung, bei der Nachricht von einer 
ſolchen Heirath felig, überjelig lächelte und viejes Lächeln trat 
auf meine eigenen Lippen. Ihr Traum verwirflichte ſich auf eine 
mehr al3 glänzende Weiſe! ch hatte in der That einen von 
Glück gejättigten Moment; aber die Wolfe, die ihn verbüftern 
follte, ließ nicht lange auf fih warten, denn jenem glüdlichen 
Gedanken folgte bald der beleivigende, empörende: die mir Zu: 
gedachte ift wohl ein Scheujal, irgend ein Ausbund von Häß— 
lichkeit! Dieje alte Jungfer reist, um irgend einen armen Teufel 
auszuſpähen, der ein joldhes mit zwanzig Millionen gerne in den 
Kauf nimmt. Wenn dem nicht jo wäre, wozu braudte man die 
alte Gouvernante zur Aufjuhung eines Bräutigam reijen zu 
laſſen? Zwanzig Millionen haben faft genug Anziehungskraft, 
um mehr freier herbeizuloden, als Venelope je bevrängten. Ich 
war entrüftet und am tiefften empört gegen die Hofräthin, die 
mich doch fennen und wiſſen follte, daß ich mich nicht jo ver: 
faufe. Ich eiferte mit ihr und fagte höhniſch: „Die mir Zuges 
dachte ſchielt, ift blatternarbig, kahl und hat zwei Budel!?“ 

Die Hofräthin verftand mich jchnell, ftand vom Stuhle auf, 
faßte mih am Rockknopfe und fagte leife, aber mit Nachdruck: 
„Sie ift Feine große Schönheit, aber fie ift hübſch, wohlgebilvet, 


Zwanzig Millionen. 243 


ſehr unterrichtet, fehr liebenswürdig, und hat das vortreffliche 
Herz, das die ganze Familie auszeichnet !” 

Dann feste fie ſich mwieder, ſprach mit Einem ihrer Gäite 
und überließ mich meinem Nachdenken, da3 immer wirrer wurde 
und grübelnder. Um ungejtört zu fein, zog ich mich in eine 
Fenfternifche zurüd, wo ich durch einen Vorhang von der Ges 
jellihaft getrennt war. In diejer Einſamkeit jah ich mich nad 
wenigen Minuten, vielleiht Sekunden, in einem prächtigen 
Landhauſe — ein Landhaus ſchien mir von jeher der wünſchens— 
wertheſte Befig — in einem gewaltigen Bibliotheljimmer — in 
der Mitte dieſes Bibliothekzimmers ein bequemer Bult mit Seiten 
klappen recht? und links, auf dieſen große Bücherhaufen, und 
vor dem Bulte jaß ich ſelbſt, angeblidt von marmornen Büften, 
die auf den Bücherfchränfen jtanden. Hart an der Bibliothek — 
ih ſah durch die offene Thüre hinein — mein Antiquitäten: 
fabinet, ein wahres Mufeum, voll von griehifchen, römifchen, 
etruskiſchen, ägyptifchen, ja aſſyriſchen Alterthümern. In einem 
gemüthlihen Winkel des Landhaufes wohnte meine Mutter in 
einer bequem eingerichteten Reihe von Zimmern. Gie trat in 
meine Bibliothet und brachte mir mein Zehnuhrbrod, ganz wie 
zu Haufe, wenn ich einige Wochen bei ihr zubrachte. Wie blü- 
bend und wie glüdlich ſah die gute Frau aus; um zwanzig Jahre 
verjüngt. Die gute Luft meines Landhauſes, am Ufer des Sees 
oder großen Stromes und der Anbli meines Wohlftandes thaten 
ihr fichtlih wohl. Dann war ich wieder fern von meinem Land: 
hauſe; ich war auf Reifen, in Stalien, in Griechenland, in Rlein- 
afien und Syrien, überall, wohin ich mich bis jegt vergebens 
gefehnt hatte, auf allen Punkten, die mich hiftorifch intereflirten 
oder deren Autopfie mich in meinen Arbeiten fördern konnte, 
indem fie mir Volkscharaktere, Thaten und Ereignifje lebendiger 
vergegenmärtigte. Aber Derjenigen, ver ich all’ das Glüd, all’ 
diefe Erfüllung meiner Wünjche verdankte, war in diefen ſchönen 
Träumen nicht die geringfte Rolle zugedacht. Ich ſah fie nicht 
im Landhauſe, fie faß nicht neben mir im Reifemagen, fie ritt 


244 Novellen. 


niht an meiner Geite. über das Schlachtfeld von Marathon. 
Mie follte fie auh? Ich kannte fie ja nit; ich wußte nicht, ob 
meine Freuden ihre Freuden, ob mein Glüd ihr Glüd fei. Ich 
verglich dieſes mein vereinfamtes Leben, das ich fo eben im 
Traume durchgemacht, gerade fo, als ob ich noch Junggeſelle 
wäre, mit dem Ideale, das ich mir ſonſt von der Che gemacht, 
diefe mir gleihgültige Perfon, deren Namen ich noch nicht einmal 
wußte, mit jener geliebten Freundin, der ich Alles anvertraute, 
mit der ich Alles genoß,- die fich in mich hineinlebte, meinen 
Sekretär machte, fih an den jehönen Formen der Berge und 
Buchten des Archipels, an den Säulen des Kap Kolonne-Sunium 
mit mir freute, und — ich empfand den frühen Verluft einer fo 
foftbaren Frau aufs Schmerzlichfte und — ih fam mir felbft 
höchſt erbärmlic vor. An Alles hatte ich gedacht bei diefer pro- 
jeftirten Heirath, nur nicht an meine Frau! Ich entvedte einen 
ſchlechten Menſchen in mir, und war eben im Begriffe, mir diefen 
ſchlechten Menſchen aufs Lebhafteite auszumalen, al3 die Hof: 
räthin kam, fich über meine Zurüdgezogenheit und Verſenkung 
in mich ſelbſt Iuftig machte und mich bat, mich meinen holden 
Gedanken auf einige Zeit zu entreißen, um bie Gefellichaft 
in den Garten zu begleiten. 


weites Kapitel. 


Als ich jpät am Abend das Haus der Hofräthin verlieh und 
Fräulein Zelinde an ihr Gaſthaus begleitet hatte, fühlte ich mich 
jo aufgeregt und von mir fo neuen Gedanken bewegt, daß e3 
mir unmögli war, an die Arbeit oder zu Bette zu gehen. Ich 
trat gegen meine Gewohnheit in eine Bierfneipe, in ver fi 
meine Belannten, meift Dozenten, zu verfammeln pflegten. 
Unter diefen fand ich dort einen Freund, einen Dozenten der 
Chemie, der, nebenbei gejagt, feit Jahren fich mit einer Gefchichte 


Zwanzig Millionen. 245 


ver Alchymie befchäftigte, fih im Laufe der Zeit in feinen 
Gegenftand fo vertiefte, daß er ſelbſt Alchymift wurde, an bie 
Kunft glaubte, den Stein der Weifen fuchte, fih zu diefem 
Zwecke auf Reifen begab, auf Reifen und in Erperimenten fein 
Bermögen verpuffte, und dann eben zu Grunde ging. Diejer 
Freund, der, wie man fieht, ſich ala Phantaft enthüllte und ſich 
ind Verderben ftürzte, galt damals in unferm ganzen Kreife und 
bei Allen, vie ihn fannten, für einen jehr praftifhen Mann, 
und vor Allem für einen höchft vortrefflihen Rathgeber. Wie 
alle Bhantaften und Theoretiker, hielt er fich felbit vafür, glaubte, 
mit allen Freunden, daß er vor jeder Täuſchung und Träumerei 
fiher fei, und daß er immer die wahrhaft nügliche Seite an 
einer Sache, Gejhäft, Angelegenheit herausfinde, daß er das 
„Poſitive,“ „Reale” aus jeder Schaale herauszufhälen wiſſe. 
Mit diefem Freunde zog ich mid) in einen ftillen Winkel ver räu— 
cherigen Stube zurüd und fegte ihm nach kurzer Einleitung bie 
Pläne auseinander, die man mit mir hatte und bat ihn um 
feinen praftifchen Rath. 

„Greif zu,“ rief er mit Kraft, indem er das Bierglas er: 
griff, „du märejt ein Narr, ein Phantaft, wenn du es nicht 
thäteft und irgend welche theoretifche Bedenklichleiten in dir auf: 
fommen Tießeft. Zum Teufel alle diefe Theorieen, melde die 
modernen jchönen Seelen ausbrüteten!” 

Dann, ala ob er fih der Leidenfchaftlichkeit ſchämte, mit der 
er diefe Worte ausſtieß, ftellte er da3 Glas wieder hin, nahm 
die Brille von der Nafe und fagte im ruhigften Tone: „Sieh, 
mein Freund, du treibt Archäologie und Geſchichte. Noch 
ſchwankſt du zwifchen Beiden, aber ich prophezeie dir, daß du, 
wenn du erjt etwas älter und praftifcher geworden, dich für bie 
pofitivere Geſchichte entjcheiden wirft. Nun kann man heute 
unmöglich Gefchichte jchreiben, ohne Renten, ohne bedeutende 
Renten; man faugt ſich heute nicht mehr die Gefchichte aus den 
Fingern. Man muß reifen können, man muß fich in den ver: 
ſchiedenſten Hauptſtädten ver Bibliothelen und Archive megen 





246 Novellen. 


aufhalten, man muß die Schaupläße ſehen und Sefretäre und 
Kopiften bezahlen können. Man muß Jahre und Jahre ohne 
Sorgen und Mangel vor fih haben, um zu fammeln und das 
Gejammelte zu verarbeiten. Kannjt du das Alles ohne Renten? 
Nichts Fannft du ohne Geld, nicht einmal [hör ſchreiben, denn 
man fchreibt nur jhön, wenn man mit Ruhe jchreibt, wenn man 
Beit hat, jein Manuffript vreißigmal über den Haufen zu werfen. 
Man jagt, daß man dem Style ven Charakter des Schriftſtellers 
anfieht: ich fage, daß man dem Style die Renten anfieht. Ren: 
ten, mein Freund, Nenten! du haft offenbar Talent, aber nichts 
wirft du leilten ohne Renten. Es iſt deine Pflicht, dein Talent 
fruchtbar zu machen und etwas zu leiften, aljo ift es beine 
Pfliht, Renten zu haben, oder, wenn du fie nicht haft, dir 
ſolche zu verſchaffen.“ 

So ſprach mir der Chemiker noch lange. Er hielt es für 
Pflicht, mir meine ſentimentalen Skrupel auszutreiben und er 
brachte es wenigſtens dahin, daß ich mir ſagte, alle praktiſchen 
Menſchen müßten eine Heirath, mie die projeftirte, gut heißen. 
Freilih war mir noch nicht bewiefen, ob die praftiichen Menſchen 
immer Recht hatten. 

Fräulein Belinde blieb noch zwei Tage in der Univerſitäts— 
ftadt und ih machte ihren Cicerone, da fie die Hofräthin in 
meiner Gegenwart verficherte, daß ich e3 mit befonderem Ber: 
gnügen thäte. Anfangs war ich etwas verbrießlic über das mir 
aufgebürdete Amt, aber während unferer Wanderungen von 
Merkwürdigkeit zu Merkwürbigkeit, gewann ich die alte Dame 
mehr und mehr lieb. Sie war fo jung von Herzen, fo theilneb: 
mend und empfänglic für alles Schöne, voll Wohlwollen für 
Jedermann, und dabei, troß einer gewiſſen Würde, die ihr Aus: 
drud und graue Haare gaben, ein guter Kamerad, der auch 
einen Scherz verjtand und nicht im Geringſten prüde. Eine Ent: 
deckung aber machte fie mir befonders lieb und erklärte mir zu— 
gleih — abgefehen von dem Heirathsplan — die ungewöhnliche, 
die auffallende Wärme, mit der fie mir von Anfang an entgegen kam. 


Zwanzig Millionen. 247 


Nahdem mir fhon Stadt und Vorftädte durchlaufen hatten 
— am zweiten Tage unferer Wanderungen — an Gallerieen, 
Monumenten und Sonderbarfeiten nicht3 mehr zu fehen mar, 
jpazierten wir behaglihen Schritte durch die Anlagen, melde 
die Stadt umgeben, und vertieften uns in eine Geitenallee, bie 
in ein Wäldchen führt und in ihrer Fortfegung durch die Ein: 
famfeit der alten Lindenbäume der Philoſophenweg heißt. Fräu— 
lein Zelinde fegte fich auf eine der Raſenbänke, und faum hatte 
ich neben ihr Plat genommen, al3 fie, und zwar vielleicht zum 
jehsten Male feit zwei Tagen, wieder von meiner Wehnlichkeit 
mit meinem feligen Vater zu ſprechen und mich zu vwerfichern be— 
gann, daß fie ihn fehr wohl gekannt habe. Ich fah fie etwas er: 
ftaunt an, denn die Hartnädigkeit, mit der fie ftet3 auf diefelben 
Worte zurüdtam, ohne etwas hinzuzufügen, fiel mir auf und 
brachte mich fogar in Berlegenheit, da ih am Ende auf diefe 
Bemerkungen nur mit einem ftereotypen Lächeln zu antworten 
wußte. Fräulein Zelinde aber war dießmal ausführlicher, und 
al3 ob fie fühlte, was ich über diefe Art denken müſſe, ſagte fie: 
„Ja, ich habe ihn gefannt und er fpielte eine große Rolle in 
meiner Jugend!” dann ſchwieg fie einen Nugenblid und fügte 
binzu: „Nicht nur in meiner Jugend, ich kann wohl fagen in 
meinem Leben!” 

Ich ahnte, was fommen follte, ob fie es nun ausſprach oder 
verſchwieg. Aber fie verſchwieg es nicht: „Lieber Doktor,” fagte 
fie, „ein halbes Jahrhundert ift über mich dahingegangen, und 
mehr als ein ganzes Jahrhundert fcheint es mir, daß ich mit 
Ihrem Vater getanzt, geplaudert und geſchwärmt habe — warum 
ſoll ich e8 heute und dem Fa nicht fagen dürfen, daß ich ihn 
geliebt habe 4" 

Bei diefen Worten lächelte fie fich eine Jugend ins Geficht, 
deren Abglanz aud die grauen Locken vergolvete. 

„Es war ein herrlicher Mann,” fagte fie dann etwas leifer und 
mit einer Verfchämtheit, die für die Jugend und Reinheit dieſes 
alten Herzens zeugte, „und man darf ftolz darauf fein, ihn 


248 Novellen. 


geliebt zu haben. Ich habe feines Gleichen nicht wieder ger 
jehen !“ 

Sie jah in diefem Augenblide fo rührend aus, eine fo milde 
Sehnſucht lag in ihrem Blide, und in ihrer zitternden Stimme 
noch fo viele treue Liebe, daß ich fie hätte umarmen können. Ich 
ergriff ihre Hand und drüdte einen Kuß darauf. Sie lächelte 
und jtand auf, um den Spaziergang fortzufegen und um mir 
weiter von meinem DBater zu erzählen. Sie erinnerte fich jedes 
Wortes, das er zu ihr oder in ihrer Gegenwart gejproden, fie 
befchrieb ihn, mie er gekleidet war, mie er fich bewegte, welche 
Gewohnheiten er hatte; fie hatte die Heinfte Einzelheit nicht ver= 
geffen, und das Bild des theuern Mannes, den ich in meinem 
zwölften Jahre verloren hatte, ftand lebendig vor mir und ih 
beflagte in meinem Innern, wie ich fo oft bei den Erzählungen 
meiner Mutter gethan hatte, des Rathes, der Stübe, des Bei- 
ipiel3 eines folden Vaters entbehrt zu haben. Dieſes Gefühl, 
jowie da3 Geſtändniß des alten Fräulein, ftellte im Laufe einer 
Stunde zwiſchen uns eine größere Innigkeit her, als der Um: 
gang der legten drei Tage; wir Sprachen bald mwie zwei Anvers 
wandte zufammen, und waren fähig, einander Alles zu fagen 
und ohne jede Zurüdhaltung. 

Den Abend nahm ich den Thee mit ihr auf ihrem Zimmer. 
Es war ſchon ſpät und ic machte Anftalten zum Aufbrud, als 
fie mich an der Hand nahm und noch einmal auf3 Sopha zurück⸗ 
zwang. 

„Ih kann Sie nicht gehen laſſen, lieber Freund,” ſagte fie, 
ohne über ein Etwas, da3 zwifchen uns Beiden, und das mir 
Beide noch nicht berührten, gefprochen zu haben. Ich weiß, daß 
Ihnen die Hofräthin von dem theilweifen Zwecke meiner Reife 
mehr verrathen, als ich Anfangs gewünſcht hätte; fie glaubte 
Ihnen al3 Freundin hinter meinem Rüden einen Wink geben zu 
müffen, damit Sie nur Ihre guten Eigenfchaften vor mir glän: 
zen laſſen. Indeſſen bin ich über diefen Verrath nicht böje, da 
ih damit die Erfahrung machte, daß Sie fich trogdem zu feiner 


Zwanzig Millionen. 249 


Heuchelei verleiten ließen, und ich den Muth gewonnen habe, 
mit Ihnen vollflommen aufrichtig zu fein, ohne die geringite 
Angit, eine mir fehr liebe Perſon vor Ihnen bloßzuftellen.“ 

Es murde mir etmas unbehaglih zu Muthe, da Fräulein 
Belinde eine Zeitlang ſchwieg, als ob fie ſich eine Rede zurecht 
legen wollte; ich fühlte, wie fi die Aufregung, die ich vom 
Tage de3 Diners bei der Hofräthin empfand, wieder in mir vor: 
bereitete; es war mir, als rüdte eine Entſcheidung, oder menig- 
ſtens das Vorſpiel zu einer Entfheidung, an mich heran. Die 
alte Dame fuhr nad wenigen Minuten fort und ih war ganz 
Ohr als fie fo begann: „Ich muß Ihnen vor Allem jagen, daß 
meine Stellung im Haufe des Barons Friedensborg die intimfte, 
die vertrautefte it. ch war nie, wie man meint, die Gouvers: 
nante der Kinder; ich war ſtets und von frühefter Jugend an 
die innigfte Freundin der Frau von Friedensborg, die aus ders 
jelben Stadt ftammt wie ih. Als ihres Mannes Verhältniffe 
einen jo glänzenden Auffhwung nahmen und ihre Familie fich 
vermehrte, lud fie mich ein, zu ihr nad Dänemark zu fommen 
und ihr bei Erziehung ihrer Kinder behülflich zu fein. Ich folgte 
diefer Einladung mit größter Freude; entſchloſſen, mich nie zu 
verheirathen, fand ich dort die Geſellſchaft der liebſten Freundin, 
ein Familienleben, nachdem ich mich trog meinem Entſchluſſe 
immer fehnte, und Pflichten, die mir ein Altjungfernleben zu 
einem nicht verfehlten Leben machten. Ich war in der Familie 
glücklich; ich erzog die vier Töchter, ald wären e3 meine eigenen 
Kinder, im Verein mit der Freundin, welche diefe Gemeinjchaft: 
lichkeit nur no inniger mit mir verband, Bon dem großen 
Leben, das Herr von Friedendborg, von feinen Verhältniſſen 
gezwungen, führen mußte, blieben wir in der Familie beinahe 
unberührt; die Kälte der äußeren Welt drang nicht dur die 
Thüren, hinter denen wir ung liebten, arbeiteten, erzogen und 
erzogen wurden. Das Vermögen des Herrn von Friedengborg 
wuchs in wunderbarer Weife; wir aber wären bei einem Kleinen 
Bruchtheil diefes Vermögens eben fo glüdlich gemwejen. Ein 


250 Novellen. 


Opfer aber hat uns der Reichthum doc gefoftet, und zwar ein 
nambaftes Barvenuopfer, wie e3 beinahe jede Cnmporfömmlings: . 
familie zu bringen bat. Die ältejte der vier Töchter, ein liebens— 
würdiges und geiftvolle8 Geſchöpf, konnte fih, troß allem Geift 
und einem vortrefflihen Herzen, den Schwächen der Empor: 
fümmlinge nicht entziehen; fie wollte in der ariftofratifchen Welt, 
zu der ihr Vater den goldenen Schlüffel befigt, einheimiſch wer: 
den; fie wollte wirklih jein, was ihr Vater dem Namen nah 
war, eine Arijtofratin; fie wollte glänzen und beirathete zu 
diefem Zwecke einen glänzenden Namen, den Grafen Kerfiteen. 
Sie mußte bald die Erfahrungen maden, die ſolchen Ehen immer 
bevorjtehen. Ein Theil ihres Vermögens bezahlte die Schulden, 
ein anderer Theil die Vergnügungen, die der Graf außer dem 
Haufe ſuchte. Zum Glüde tröftete fi die Gräfin über ihre 
Täuſchungen mit zwei reizenden Kindern, mit denen fie zu ihrem 
Vater zurüdkehrte, und mit der Liebe ihrer Familie, während 
ver Graf, von einer Benjion feines Schwiegervater lebend, 
feine Zeit in Baris und in den deutjchen Bädern verbringt. Sie 
werden ſolche Verhältniffe ſchon kennen gelernt haben und er: 
lafien mir die nähere Schilverung. Die Erfahrung ift für die 
Familie nicht verloren und nicht3 ſteht ihr heute ferner al3 ver 
Gedanke, wieder irgend einem ruinirten Adeligen voll nobler 
Paflionen ein trefflihes Weib zur Vernahläfligung und ein 
tolofjales Vermögen zur Verſchwendung hinzugeben. Die drei 
unverbeiratheten Töchter find feſt entichloffen, nur ſolche Männer 
zu wählen, welche die Bürgſchaft des Glüdes nur in Bildung 
und Charalter bieten. Sie haben jelbit etwas Rechtes gelernt, 
fie willen vor Allem Geift und Talent zu jchäßen; ver Name, 
den ſich der Mann jelbjt mit Talent in Kunft oder Wiſſenſchaft 
erworben oder erwerben fann, it ihnen mehr werth, ala ver 
glänzendfte angeborne Titel. Der Vater läßt ihnen volllommen 
freie Wahl; feine ächt bürgerliche Natur war von jeher gegen vie 
adeligen Heirathen ; fein offener Einn jchägt das Willen, das 
er ſich jelbit in feiner Jugend nicht hatte erwerben fünnen, und 


Zwanzig Millionen, 251 


27 


Neihthümer braucht er bei feinem Schmwiegerfohne nicht zu 
ſuchen, da ſchon der Theil feines Vermögens, den er jeder feiner 
Töchter mitgibt, an jich ein großes Vermögen ausmacht. Preis 
lich,“ fügte Fräulein Zelinde diefer Auseinanderjegung lächelnd 
binzu, „freilich wollen meine Fräulein Friedensborg auch etwas 
geliebt fein.” 

Gerade diejes legten Sapes wegen wußte ich nicht, was zu 
jagen und ſchwieg, bis Fräulein Zelinde wieder begann: „Sch 
will ſehr kurz fein, und ich glaube Ihnen nur ein Kompliment 
zu machen, wenn ich ohne Umfchweife mit ver Thüre ind Haus 
falle: Sie wären ein Mann, wie ihn meine Zöglinge träumen.” 

„Ich?“ rief ich, in der That überrafcht, obwohl ich voraus 
mußte, was meine Freundin jagen würde. 

„5a! Sie! und zwar für Helene, die ältejte von den Dreien. 
Sie hat Sie auf dem Rheindampfſchiffe kennen gelernt, Sie 
haben ihr gefallen, fie hat oft mit Intereſſe von Ihnen ge: 
ſprochen und fie empfand einen gewiſſen Stolz, al3 fie von 
Ihnen in den Zeitungen lad, Sie überall rühmlihft erwähnt 
ſah, und ala fie Ihr Buch kennen lernte. Ich faßte die Sache 
mit Wärme und Ernit auf, weil — nun meil Sie der Sohn 
Ihres Vaters find; ich fagte mir, daß, wern Sie Ihrem Vater 
nur entfernt ähnlih find, meine Helene gut gewählt hat, und 
ih fehe nicht ein, warum man mit Vernunft nicht fortjegen 
follte, was ſchon der Zufall fo vernünftig angefangen. Ich 
reiste und fo reiste ich hierher, um Sie fennen zu lernen, und 
da ih Sie nun fenne und die Hofräthin mir meine Aufgabe er: 
leihtert hat, will id Sie veranlaffen, uns in Kopenhagen zu , 
beſuchen. Es ift zwar nicht jchmeichelhaft, daß Sie ſich Ihrer 
Neifegefährtinnen ganz und gar nicht erinnern, und hat mic 
diefe Entdedung anfangs etwas ftugig gemacht, aber bei näherer 
Ueberlegung gefiel es mir, daß Sie fih um folde Erbinnen jo 
wenig fümmerten. Lernen Sie aber meine Helene kennen und 
ich bin überzeugt, daß Sie an ihr ein treffliches Geſchöpf finden, 
und daß ich dann für das Glüd zweier Menſchen geforgt habe,” 


259 Novellen, 


Jetzt, da mir die Angelegenheit näher rüdte, da die Ver: 
wirklichung fich fo zu geftalten begann und klare Worte darüber 
gewechſelt werden jollten, war ich ganz wieder der Menſch, der 
ih vor Ankunft des alten Fräulein geweſen. Ich hörte aus 
ihrer Rede nur eine Art geſchäftlichen Antrags heraus, Wie 
Ihön aud ihre Auseinanderfegungen Hangen, wie jhmeichelhaft 
jelbit bis zu einem gewiflen Grade, ich jagte mir, daß felbit 
zwei Kornwucherer, wenn fie eine Heirath arrangiren, das Ge: 
Ihäft zu vergolden und jo zu jagen zu idealifiren ftreben. Man 
jagt ich bei foldhen Gelegenheiten nie: machen wir ein Gejchäft, 
einen Kauf und Verlauf, einen Handel; man fucht immer eblere 
Motive geltend zu machen, um fich vor fich felbit zu entſchuldi— 
gen. Etwas jchroff, aber entſchieden, antwortete ih, ohne auf 
Einzelnheiten in der Rede der alten Dame einzugehen: „Ich 
werde nie eine Geldheirath machen !” 

„Das weiß ich,” jagte Fräulein Zelinde mit einer Rafchheit, 
die mir mwohlthat, „aber,” fügte fie hinzu, „aber Sie werben 
aud ein liebenswürdiges Mädchen nicht verfchmähen, nur weil 
fie reich ift, oder weil Leute, die Sie nicht kennen, jagen könn: 
ten, daß Sie eine Geldheirath gemacht haben. Sie werden die 
Leute reden lafjen. Oder glauben Sie nidht, daß ein rechter 
Mann fo viel mwerth it, wie das größte Heirathsgut feiner 
Frau 

„3a — das ift Alles recht und gut,” erwiderte ich, „aber 
e3 ift etwas Anderes, ein reiches Mädchen heirathen, weil man 
e3 liebt, und etwas ganz Anderes, ſich zu einer Heirath mit 
einem Mädchen zu entjchließen, oder fih nur dafür auszuſpre— 
hen, oder dad Mädchen aufzufuhen, von dem man das Eine 
gewiß weiß, daß es reich ift, aber ganz und gar nicht, ob es je 
lieben werde.” 

„Ganz richtig,” lächelte Fräulein Zelinde, „aber man ver: 
langt ja auch nichtS anderes von Ihnen, als daß Sie den Ver: 
ſuch und die Erfahrung machen. Sie follen nichts Anderes thun, 
als was ich von der andern Seite gethan habe: zufehen, ob dem 


Zwanzig Millionen. 253 


Zufall einiger Verftand abzugewinnen iſt. Was mich betrifit,* 
fagte fie mit einer. etwas fomifhen, doc überaus jchmeichel- 
haften Berbeugung, „jo habe ich diefen Zufall außerorventlich 
vernünftig befunden. Sie haben nur eine Reife nad Kopen- 
hagen zu machen. Damit ift allerdings nicht jedes Biel erreicht; 
Sie müfjen ſich nicht einbilden, daß dann Alles abgemadt ift; 
meine Helene will, wie gejagt, auch ſehr herzlich geliebt fein, 
und e3 wird Zeit und einer wahrhaftigen Liebe bevürfen, um 
Sie daran glauben zu mahen. Dann haben Sie fie erft recht 
zu erobern, denn da3 Gefallen, das fie auf dem Dampfſchiff an 
Ahnen gefunden, reicht nicht aus, um dem vernünftigen Mädchen 
einen genügenden Grund zur Verheirathung abzugeben. Sie 
baben alfo in Kopenhagen zu thun, viel zu thun. Wenn Sie zu 
den Menſchen gehören, denen nur da3 einen hohen Werth hat, 
was fie mit großer Mühe erringen, fo prophezeie ic Ihnen, daß 
Ihnen Helene jehr werth wird. Ober wollen Sie,” fragte die 
alte Dame ironisch lächelnd, „daß Helene hierher komme und fich 
von Shnen betrachten laſſe?“ . 

Ich late und wir fpraben von nun an, bis fpät nad 
Mitternacht, gemüthlicher über die Sache; dennoch konnte ich 
mich nicht entjchließen, fie die Reife nad Kopenhagen als eine 
ausgemachte Sache betrachten zu lafjen. Selbjt als fie am an: 
dern Morgen ſchon im Poſtwagen ſaß und mir im legten Mo: 
mente noch die Hand entgegenftredte, mit den Worten: „Alfo 
Sie kommen?“ ſchlug ich zwar ein, fonnte aber ein Ja nit 
über meine Lippen bringen. 

So eigentbümlih ift das Leben geftaltet, daß ver beite 
Menſch unfer böfer Dämon werden kann. Der breitägige Ums 
gang mit der guten alten Jungfer ließ in meinem Herzen eine 
ganz gewaltige Unruhe zurüd; ja, ich war nach ihrer Abreife 
fogar unglüdlih, mie ich e3 niemals vorher gewejen. Es war 
mir unmöglih, mit demſelben Behagen, wie ehemals, an bie 
Arbeit zu gehen und mit berjelben Ausdauer bei ihr zu ver: 
barren. Oft mitten in der Arbeit überfielen mich meine Träume 


254 Novellen, 


von den zwanzig Millionen und nahmen mir, ohne daß ich es 
gewahr wurde, ganze Stunden hinweg, wohl aber gemahrte ich, 
daß mir Tage und Wochen vergingen, ohne daß mich ein Forte 
jchritt erfreut hätte, wie er mich fonft oft nad wenigen Tagen 
beglüdt hatte. 

Bor Jahren einmal, als dreizehnjähriger Gymnafiaft, hatte 
ic von meinem Pathen das Loos einer Güterlotterie zu meinem 
Geburtstage geihenkt erhalten und mit dem Loofe die Abbildung 
des prächtigen Schlofjes, welches der glüdlihe Gewinner fammt 
zmweimalhunderttaufend Gulden erhalten follte. Bon meinem Ge: 
burt3tage bis zur Ziehung vergingen einige Monate, und ich 
war während diejer ganzen Zeit der jchlechtefte Schüler meiner 
Klaſſe. Ich lernte nicht? mehr, ich dachte nur an mein Schloß, 
deſſen Bild ich über mein Bett gelebt hatte, und hielt mich für 
einen gemachten Mann, der nichtS mehr zu lernen brauchte. Erft 
die Ziehung befreite mich von diefem Alp, der mich um mehrere 
Monate Arbeit gebradht und beinahe zu einem trägen Jungen 
gemacht hatte. Mit Scham date ih nun oft an jenen Knaben, 
da ich mir eingeftehen mußte, daß der Mann die größte Aehn— 
lichfeit mit ihm hatte. Raffte ich mich endlich auf, fam ein Brief 
des alten Fräuleins, der mich aufs Neue in die träumerifche Un: 
ruhe und Trägheit zurüdwarf, denn ich war in beftändiger 
Korrejpondenz mit Fräulein Zelinde, und ihre Briefe ſchilderten 
fo lebhaft, daß ich bald die ganze Familie Friedensborg fo genau 
fannte, al3 ob ich in ihrer Geſellſchaft aufgewachſen wäre, und 
daß mir der Ueberfluß de3 Dajeind, aus dem heraus fie ihre 
Briefe jchrieb, überaus gegenwärtig wurde und fich aller meiner 
Sinne bemädtigte. Ich fehnte mich in diefes Leben hinein, mie 
nad den glüdjeligen Inſeln. Ych fühlte, daß ich der Zerftreuung 
bedurfte, wenn ich nicht in unfruchtbare, für den Geift fo ver: 
derbliche Phantafiejchmwelgerei verfinfen wollte, und ich ging viel 
in Gejellihaften, auf Bälle und Soireen. Zu meinem größten 
Gritaunen und halb und halb zu meinem Schreden machte ich 
die Bemerkung, daß ich gegen die Reize der ſchönſten Tänzerinnen, 


Zwanzig Millionen. 255 


der verführerifchjten Frauen beinahe unempfindlid war, ic, 
der ich fonft feinen Ball ohne eine Heine PVerliebtheit ver: 
laflen. Meiner Theilnahme bemächtigten ſich vorzugsweiſe die 
Gejprähe über Heirath, und da ich diefem Gegenftande zum 
erjten Male meine Aufmerkſamkeit widmete, machte ih die Er: 
fabrung, daß fich vorzugsweiſe die fogenannten Bartieen des 
Beifall3 der Welt zu erfreuen haben, und daß man von Hei— 
rathen aus Liebe zwar wie von etwas Antereffantem, aber uns 
gefähr wie won einer Novelle fpreche, ald von etwas, was nicht 
ganz der Wirklichkeit angehöre und das man nicht als „in der 
Regel” betrachte. Bei mehreren Gelegenheiten lobte man jogar 
die neue Mode der reihen Heirathen, die um dieſe Zeit in ber 
literarifchen Welt einriß, als höchſt nüglich und praktiſch, da die 
Literatur Geld braude und nie unabhängig, werden fünne, wenn 
fie nicht auf eigenem Kapital beruhe. Ein berühmter deutjcher 
Romandichter fagte mir einmal mit dem Ernſt, den er feinen 
edlen Vätern und gewiegteften Figuren zu geben pflegt: „Es 
jind mehrere reiche äfthetifche Jüdinnen bier, die nur Gelehrte 
oder Dichter heirathen wollen ; Sie follten fi eine ſolche nicht ent= 
gehen lafjen!” Vielleicht nahm man mich in Folge meines welts 
lichen Lebens überhaupt für einen Heirathslandidaten, denn im 
Laufe des Winters famen mir mehrere wohlmeinende Freunde 
und ältere Freundinnen mit mehr oder weniger Haren Andeu— 
tungen und Anträgen; aber wie fleinlich erfhien mir Alles, was 
mir in diefer Stadt ald „gute Partie” gerühmt wurde. Alle 
glänzenden Schilderungen und Anpreifungen fonnten mir nur 
ein mitleidiges Lächeln abloden. 

Meiner Mutter ſchrieb ich nicht3 über die Vorgänge und be 
ſchwor die Hofräthin, ihr die Kopenhagener Projekte gänzlich zu 
verheimlihen. Ich wußte, mit welchem Eifer fie die Sache auf: 
faffen würde, mit um fo größerem Eifer, als fie in ihrer mütter: 
lihen Einbildung fofort überzeugt wäre, daß nur eine fo außer: 
ordentlich glänzende Heirath meiner würdig fei, und ich wußte, 
welchen Kummer ihr eine endliche Täuſchung verurjachen würde. 


256 Novellen, 


Doch war ich es, der ihr das ganze Geheimniß verrieth. ch 
befuchte fie, wie aljährlih, zu Weihnachten; es erwartete mich, 
wie immer, auch dießmal ein Weihnahtsbaum, und an biefem 
Weihnachtsbaum hingen Geſchenke, deren Erwerb bei ihrem 
Heinen Einkommen monatelange Erfparniß und Entbehrung vor: 
ausfegte. Ich mar gerührt und beihämt, venn ich war mit 
leeren Händen gefommen; meine Zerftreuung ver legten Wochen 
hatte mich nicht3 erwerben lafjen. Ich wollte ihr aber doch eine 
Freunde mahen, und am Fuße des Meihnahtsbaumes erzählte 
ih ihr von Fräulein Zelinde, von Kopenhagen, von der Familie 
Friedensborg und von den Ausfichten, und belegte meine Ere 
zählung mit einzelnen Stellen aus den Briefen meiner alten 
Freundin. Die gute, alte Mutter! Ihre fanften blauen Augen 
überftrablten die Weihnachtskerzen; diefe ftrahlenden Augen fahen 
bereit3 das Fernfte ganz in naher Wirklichkeit; fie ließ feinen 
Zweifel, feinen Widerſpruch, feine Bedenklichkeit mehr auf: 
fommen, fie konnte während der Zeit meines Aufenthaltes von 
niht3 Anderem mehr fpredhen, al3 von meiner demnächftigen 
Heirath mit der Baronefje von Friedensborg. 

In die-Univerfitätzftabt zurüdgefehrt, Tebte ich nun zwiſchen 
zwei Frauen: den Briefen Zelindens und den Briefen meiner 
Mutter, die mich nicht mehr zur Ruhe und zur Vergeſſenheit des 
Gegenftandes kommen ließen. Gezwungen, mid fortwährend 
mit dem Gedanken zu beſchäftigen, ja mich freiwillig immer mehr 
in denjelben bineinlebend, wurde er mir unerträglich, wie ein 
überreifer Plan, der nah Ausführung fchreit. 

Ich war bereit, mich lächerlich zu machen, und mitten im 
Minter die Reife nach dem falten Norden anzutreten — aber es 
fehlte mir glüdlicherweife an Geld! Die Reife koſtet Geld, der 
Aufenthalt in einer Hauptftadt koſtet Geld, und endlich follte ich 
bort in einer reichen und eleganten Welt leben, mußte alfo jelbft 
wenigſtens als ein eleganter junger Gelehrter auftreten und vor 
den Heinen Demüthigungen fiher fein, denen der philofophifchfte 
arme Teufel in Gefellihaft von Millionen ausgefegt ift, da er 


Zwanzig Millionen. 257 


oft gezwungen ift, Ausgaben zu maden, die die Anderen für 
nicht? achten, ihn aber in die größten Verlegenheiten bringen, 
die er dann noch verbergen muß. Meine Arbeit, von der ich ein 
hübſches Einfommen hoffte, war vernadhläfligt und menig vor: 
gerüdt; aber nunmehr ging ich mit frifchem Eifer daran, oder 
befier gejagt, mit Haft. Sie mußte um jeden Preis fertig 
werden. Zum erften Male in meinem Leben arbeitete ic um 
Geld, und im April zahlte mir mein Buchhändler eine ſchöne 
Summe aus, n 


Drittes Kapitel. 


Aber obwohl ich für Geld arbeitete, fiel mein Werk, Dant 
der Vorarbeiten, die noch meiner befjeren Zeit angehörten, zu 
meiner Zufriedenheit aus; auch hatte ich mich im Laufe der Arbeit 
in meinen Gegenjtand jo vertieft, daß alles Andere darüber in 
. den Hintergrund trat, und diejer Umjtand, verbunden mit der 
Genugthuung, die eine vollendete Arbeit immer gewährt, machte, 
vaß ih, als ich mich vom Pulte erhob, wieder den alten Men: 
ſchen in mir fand. Ich dachte wieder nur an meine Wiffenfchaft ; 
ich empfand wieder, daß die höchften Genüffe für mich nur in 
ihr und in der Arbeit beruhen, und ohne große Selbftüberwin: 
vung hätte ich die Reife nah Kopenhagen gänzlich aufgeben 
fünnen. Mittlerweile aber war meine Mutter, die an feinem 
hiſtoriſchen Werke arbeitete und die ſich nur, nach ihrer Art, mit 
dem Glüde ihres Sohnes bejhäftigte, mit dem Gedanken an 
meine glänzende Heirath fo verwahfen, daß fie mir von nichts 
Anderem mehr ſprechen konnte, Ihre Briefe wurden immer 
dringender, je mehr ſich der Frühling und meine Arbeit der 
Vollendung näherte. Zuletzt, da fie meine Kaltblütigfeit ſah, 
war fie nahe daran, mich für frivol, oder wahnfinnig, oder für 
eine Aft von Selbftmörber zu halten, der freiwillig fein ſchönes 
Leben zerftört, ohne Rückſicht auf ven Kummer feiner Angehörigen. 

Morig Hartmann, Werke. VI. 17 


258 Novellen. 


63 ift aber ſehr gefährlih, alten Leuten eine Lieblingsidee zu 
entziehen, wenn fie fo fehr mit ihr eins geworden; es kann da 
leicht gehen, wie mit dem Stüßbalten eines alten Haufe, Man 
entferne ihn und das alte Haus bricht zufammen. Ich fing an, 
ernitlich für meine Mutter bejorgt zu werden, und da fie felbit 
eines Tages in meine Stube trat, hatte ich ihr eine halbe Stunde 
nad ihrer Ankunft das Wort gegeben, die Reife nächſtens anzu= 
treten. Es ging nun an ein Einkaufen und Ausftaffiren meiner 
Perjon, was meiner Mutter jo große Freude machte, ala ob e3 
ſich um meine Ausſtattung handelte, und fie hätte ihren armen 
Schmud, das legte Andenken meines Vaters, verkauft oder ins 
Leihhaus getragen, als die Hälfte meines Honorars erfhöpft 
war, wenn ich ihr nicht Ausfichten auf neue Einkünfte vorges 
jpiegelt und verſprochen hätte, mich im Nothfalle an fie und den 
Reit ihres Vermögens zu wenden, um die Sache ja auf würdige 
Weiſe zu Ende zu führen, und nicht am Mangel einiger hundert 
Thaler ſcheitern zu lafjen. 

Und jo ſahen mich denn die legten Tage des Wonnemonats 
auf der Reife nad) Norden, und endlich zwifchen ven Inſeln des 
dänischen Archipels an Bord des Dampfers Prinzeß glüdlich da: 
bin jteuern. An Bord befanden fich mehrere Familienväter, da= 
von einige mich freundlich anredeten; ich ermwiderte ihre Freund» 
lichkeit in erhöhtem Grade, und ſah mid unwillfürlid um, ob 
fie nicht Töchter mit fich führten. Aber e3 wiederholt ſich nichts 
im Leben ganz auf diefelbe Weife, und fo fam ich auf der Höhe 
von Kopenhagen ohne neue Bekanntſchaft und ohne Abenteuer 
an. Das baltijche Meer ift in diefer Jahreszeit zwijchen diejen 
Inſeln jo blau wie die füblihe See, und Kopenhagen in feinem 
Kranze üppigfter und frifchefter Vegetation fpiegelt fich in diejen 
Mäflern und bietet fih dem Anblide des Seefahrer auf eine 
wahrhaft zauberifche Weife. Mit meinen archäologiſchen Studien 
war mein Gedanke immer dem Süden zugewendet, und mit der 
Einfeitigleit des Fachmenſchen glaubte ih, daß die Schönheit erſt 
an den Gränzen jener Länder beginne, die die Heimat ber 


Zwanzig Millionen, 259 


antifen Kunft find. Ich bat dem Norden meine Ungerechtigkeit ab 
und fagte mir, daß man bier auf jhöne Weije leben und glüds 
lich fein könne, und ich fühlte mic in dem Augenblide fo heiter, 
als ob ih, ahnungsvoll, einem Glüde entgegen ginge. 

Wie ein Eroberer und voll Gemwißheit, daß Alles gut gehen 
müſſe, ſprang id ans Land und ſchlenderte dem Hotel d'Angle— 
terre, dem erften Gajthofe der Stadt, entgegen. Doch erwartete 
mich bei meiner großen Unternehmung bereit eine Unannehm: 
lichkeit oder ein Hinderniß. Fräulein Belinde, die mir rathen, 
mi führen und fteuern follte, war abmwefend; fie hatte eine 
franke Anverwandte nach Nizza begleitet, wo fie mehrere Monate, 
vielleicht über ein Jahr, bleiben ſollte. Ich mußte mi, anftatt 
von ihr vorgeftellt zu werden, in das Haus Friedensborg, mit 
einem Briefe von ihr an den Baron, jelbjt einführen, Aber 
früher wollte ih mich ein wenig in der Stadt orientiren und 
über die Friedensborg etwas aus anderem als befreundetem 
Munde hören. Ich befuchte mehrere Gelehrte und unter dieſen 
einen gewiflen Dr. Bille, mit dem ich in 2eipzig ftudirt und 
ziemlich befreundet gewejen, und ich brauchte, während er mit 
mir die Stadt durchwanderte, nicht viel Diplomatie anzuwenden, 
um das Geſpräch über Handel, Reihthum und die einflußreichen 
Männer des Staates auf die Friedensborg zu bringen. Der 
Name kam immer wieder maßgebend vor, fo bald von irgend 
welcher fommerziellen oder fozialen Seite de3 Lebens die Rede 
war. Bon den Töchtern des Haufes wußte man nur Gutes zu 
fagen, man lobte fie al3 gebilvet und wohlthätig, man gejtand 
ihnen alle Tugenden zu, die man gewöhnlich deutſchen Mädchen 
zuzufchreiben pflegt, nur wollen fie, ſagte Dr. Bille, hoch hinaus 
und haben fie, wie alle Kinder großer Parvenus, ariftofratifche 
Muden. Die ältefte hat einen Grafen geheirathet; da der Vater 
feitvem noch reiher geworden — man fagt, er befie jet über 
hundert Millionen — werden die jüngeren nur noch Fürften 
heirathen wollen. — Ich lächelte in mir und dachte: das, lieber 
Freund, meiß ich beffer, und wird man in einiger Zeit den 


x 


® 


260 Novellen, 


Fräulein Friedensborg vieleicht auch diefen legten Vorwurf nicht 
machen. Ich fühlte mich fogar gebrungen, fie ſchon jegt in Schub 
zu nehmen, wa3 mein Freund als ein Zeichen allgemeinen Wohl: 
wollens hinnahm. 

Am nächſten Morgen mußte endlich ver ſchickſalsvolle Weg 
angetreten werden, der Weg, auf den ich mich den ganzen vor: 
hergehenden Tag vorbereitete, indem ich fortwährend in Gedanken: 
iras ingens iterabimus aequor jitirte. Herr v. Friedensborg 
empfing männlihe Befudhe von zehn Uhr Morgens an, aber 
ichon vor ſechs Uhr war ich aus dem Bette, und ſchon um acht 
Uhr fir und fertig. Die Familie wohnte auf dem Lande, zwi— 
hen der Stadt und dem reizenden Bade Klampenborg, in einem 
Sandhaufe, deflen Gärten vorn bis and Meer liefen, rüdwärts 
ſich als Park in den berrlihen Buchenwäldern des Thiergartens 
und Klampenborg3 verloren. Man hatte es mir gleih nad 
meiner Ankunft al3 eine Merktwürdigfeit, weil es dem Baron 
gehörte, und als eine der jchönften Villen des Landes gezeigt. 
Ich überlegte, ob ich einen Wagen miethen oder einfach zu Fuße 
hinauswandern follte; die Einfachheit ſchien mir zweckmäßiger 
und ſchöner, und ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Mit 
Herztlopfen trat ih aus dem Hotel, und, am nördlichen Stadt: 
tbor angelommen, fühlte ic jchon das Bedürfniß, meinen Weg 
zu verlängern, um Beit zur Beruhigung meiner aufgeregten 
Geijter zu gewinnen, und ich ſchlug mic) recht3 durch die Gärten 
von Kaſtell-Vejen nad) der fogenannten „langen Linie,” die von 
Kaitell aus hart am Ufer des Meeres, als einer der fchönften 
Spaziergänge der weiten Welt, vahinläuft. 

Das Meer war jo blau und ftille; eine unfichtbare und un: 
fühlbare Macht kräujelte es; die Luft war fanft durchfeuchtet und 
durchſichtig, daß man Malmöe und die ſchwediſchen Küften wie 
eine Fata Morgana auf den Wellen ſchimmern jah ; weiße Segel 
träumten dem Norden und dem Ausgang aus dem Sunde ent: 
gegen, um in alle Welt zu ziehen; in meiner Nähe zogen Fiſcher 
die Nepe in den Kahn. In der ſchattigen Allee war ich in diefer 


Zwanzig Millionen. 261 


frühen Morgenftunde allein. Es überfam mid; jene Sehnjudt, 
die ich immer empfand, wenn ich allein einer fehönen Natur: 
fjene gegenüberftand, und in dem Alter, in dem ich war, iſt 
eigentlich jede rege Sehnſucht nichts Anderes als ein Wunſch 
nach Liebe, und da meine Gedanten fo fehr gemöhnt waren, die 
Richtung nach der Villa Friedendborg zu nehmen, zogen fie auch 
jegt dahin, in der feſten Ueberzeugung, dort Liebe zu finden und 
Liebe geben zu können. Wie alt ich mich in ven legten Monaten 
mit meinen praftiihen Plänen fühlte, jegt war ich mit einem 
Male wieder jung. Ich erhob mich und ging rafchen Schrittes 
weiter, ich fühlte mich berechtigt, meinen Eroberungszug anzu: 
treten und nicht3 von der inneren Beihämung, die ich immer 
für diefen Weg befürchtet hatte. Das Badhaus hatte ein weißes 
Thürmchen und diefes führte mich wie ein Leuchthurm. 

Das Gartenthor ftand offen und ich trat ein. Als mein 
Schritt auf dem gemwundenen Sandwege, der zwifchen Blumen 
und Gebüfchen dem Haufe zuführt, erfholl, hielten zwei liebliche 
Kinder von ſechs und acht Jahren auf einem Rafenplage, rechts 
von mir, im Spiele inne, um mich neugierig zu betrachten; da 
ich mich ihnen zumandte, fiel mein Auge auf einen Mädchenkopf, 
der fih aus einer Laube in ihrer Nähe hervorftredte, aber, von 
mir bemerkt, ſogleich wieder hinter den Schlingpflanzen ver: 
ſchwand. Es war ein überaus liebliher Kopf gewefen: blond: 
lodig, braunäugig und von den feinften, durchſichtigſten norbi: 
fhen Farben. Nur einen Augenblid hatte ich ihn gefehen, aber 
ih hätte ihn malen können; es war mir nicht ein Zug dieſes 
milden, doc verfländigen und charaltervollen Gefichtes entgangen. 
Unanftändig lange ftarrte ih nach der Laube, immer hoffend, 
daß ich ihrer noch einmal anfichtig werde, und während ich jo 
binftarrte, ſagte ih mir: die könnteſt du gleich heirathen, dieſes 
Geſicht, diefer Blid, diefer Mund bieten alle Bürgfchaften. Es 
war mir das im Leben ſchon oft vorgefommen, daß ich mir beim 
Anblid eines Vertrauen einflößenden Gefichtes dergleichen fagte, 
daß ich hätte hingehen und fprehen mögen: Mein Fräulein, 


262 Novellen. 


beirathen Sie mih! Ich bin bereit! Eine foldhe auf den erjten 
Eindrud bafırte Heirath hatte immer einen großen Reiz für mid. 
Mein Stehenbleiben und Huften mochte die Kinder ängftlich ge: 
macht haben, denn wie auf ein gegebenes Zeichen liefen fie zu: 
gleih und wie Schuß fuchend in die Laube, deren Wände ich 
noch immer betrachtete, vergebens betrachtete. Der lieblihe Kopf 
fam nicht wieder zum Vorſchein, und ich hatte beinahe Luft, den 
Kindern nadhzulaufen, um, unter dem Vorwande fie beruhigen 
zu wollen, hinter die grüne Laube zu fehen und wo möglich mit 
der Unbefannten ein Geſpräch anzufnüpfen. Aber, dachte ich, 
fie gehört offenbar zum Haufe und du wirſt fie noch zu fehen 
befommen. Wenn die Baronefjen fo find, mie dieſe, bift vu ges 
borgen und wirft du dich zur Liebe nicht zu zwingen brauchen. 
Glüdlih, wenn es die mir zugedachte Helene ift! Und jegt feine 
Voreiligkeit, die Alles verderben könnte, 

Gefegten und gemeſſenen Schritted ging ich meiter, ja fogar 
etwas fteif, da ich vorausfegte, daß mir von der Laube aus nad): 
gejehen werde. Im Vorſaal trieben ſich mehrere Bebiente noch 
in ihren Morgenanzügen herum, die offenbar über die frühe 
Störung verdrießlich waren; der Eine, der den Maitre d’Hötel 
anwies, mich zu melden, und meinen Brief dem Baron zu über: 
geben, der aljo gezwungen war, feine Livrée anzuziehen, jah 
mid mit feindfeligen, und da er meine etwas bejtaubten Schuhe 
bemerkte, mit etwas verächtlichen Augen an. Ich war nahe daran, 
dieje Baletaille anzulächeln, um fie für mich zu gewinnen, aber 
da fam ich mir felbft wie ein Parvenu auf der unterften Stufe 
vor, und ich verfiel in das andere Ertrem, indem ich die Hände 
auf den Rüden legte, im Vorfaal auf und ab fpazierte und zu 
thun ſuchte, als ob ih an den ſchon im Vorzimmer beginnenden, 
in der That großen und erftaunlichen Luxus von Jugend auf 
gewöhnt wäre. Schon bier ftanden ſehr interefjante alte Möbel 
und hingen fehr hübſche Landſchafts- und Seebilder an den 
Mänden; ich ließ meine Blicke über das Alles nur fo binfliegen, 
ich bemerkte es kaum. Als der Bediente zurüdlam, um mir zu 


Zwanzig Millionen. 263 


Tagen, daß der Herr Baron ſehr erfreut fein werden, war er 
ſchon viel unterthäniger, und darauf hin, mie auf einen elektri- 
fhen Schlag, veränderten ſich aud die Gefichter der andern Be: 
dienten, und mehrere fprangen zugleich herbei, um mir die Thüre, 
die durch einen zweiten Borfaal zum Barone führte, zu öffnen 
und fi vor mir zu verbeugen. 

Der Baron empfing mich mit großer Freundlichkeit und drückte 
mir feine Freude aus, daß ich feiner Einladung, ihn einmal in 
Kopenhagen zu befuchen — deren ich mich gar nicht erinnerte — 
endlich gefolgt ſei. Er bedauerte, daß ich nicht bei ihm abge: 
ftiegen, geſtand mir aber zu, daß ich jo zweckmäßiger gehandelt ; 
ich fei jo freier und der Aufenthalt in der Stadt felbft werde mir 
angenehmer jein, da ich doch wahrscheinlich wifjenfchaftliche Zwecke 
mit dem Ausfluge hierher verbinde. Indeſſen bot er mir feine 
Dienfte im ausgedehnteſten Sinne an und bat er mich, über ihn 
zu verfügen. „Sch habe Einfluß genug,” fagte er lächelnd und 
mit einiger Selbitgefälligkeit, „um Ihnen in vielfaher Art nütz— 
lich fein zu können! — Wen wollen Sie kennen lernen? Ich fann 
Sie Jedermann vorftellen, ich kann Sie überall einführen! Sie 
werden überall gut aufgenommen fein, wenn Gie vom alten 
Baron kommen.“ 

Mir befanden uns im Bibliothelfaal des Barons, einem 
Saale, der fo groß war, wie das Lejezimmer irgend einer großen 
Öffentlichen Bibliothek. Die Bücherfchränfe, mafliv und doch 
zierlich gearbeitet, liefen rings um alte Wände, ziemlich hoch 
hinauf. Von ihrer Höhe hinab und hie und da aus Nifchen 
blidten marmorne Büften berühmter Menfchen und mythologifche 
Statuen, mie fie in eine Bibliothek pafjen. Vor den Schränken 
ftanden, ordnungslos über den Saal zerjtreut, mehrere auf Rollen 
bewegliche Treppen, deren Gelände mit fhönen Holzfhnigereien 
bededt waren und auf denen man mit größter Bequemlichkeit zu 
den höchſten Fächern gelangen konnte. Das Licht kam von oben 
berab durch die durchbrochene Dede; der Plafondraum, den das 
Fenſter übrig ließ, war mit Bildern bevedt, zwar nicht mit Fresten, 


264 Novellen. 


aber ſchönen Delmalereien auf Leinwand, melde das Wieder— 
erwachen der Künſte und Willenfchaften darftellten:: auf der einen 
Seite ſymboliſch als Sonnenaufgang, auf der andern hiſtoriſch, 
als Landung der flüchtigen Griechen, die mit Statuen und Büchern 
ans italienifche Ufer fteigen, wo fie die Mediceer empfangen. In 
der Mitte diefes idealen Bibliothekzimmers, an einem breiten 
Tiſche, ſaß Herr von Friedensborg wie ein Gelehrter, der in feinen 
Schätzen ſchwelgt. Lächeln bemerkte er, mit welchem Intereſſe 
ih um mid blidte. 

„Auch diefe Bibliothek ftelle ich zu Yhrer Verfügung. Sehen 
Gie fih ein wenig um, während Sie mir erlauben, bier einen 
Gejhäftsbrief zu Ende zu ſchreiben.“ 

Die Bibliothek mochte fünfzehn: bis zwanzigtauſend Bände 
enthalten, und dieſe, meiſt jo prächtig gebunden, daß fie eine 
glänzende und bunte Tapete ausmachten, enthielten die koſtbarſten 
und gefuchteften Werke aller Zeiten und aller Sprachen. „Aber ‚” 
fragte ih mich, „was fängt mein Schwiegervater mit all den 
Büchern an, die er doch nicht leſen kann, die er zum größten 
Theil nicht verftehen würde, felbjt wenn er fie lejen könnte.” Ich 
wußte, daß er nur feine Mutterfprache, die deutfche, und dann 
noch dänifch verftand, und die erjtere fprach er noch dazu, fei eg, 
daß er fie in der Fremde vergefien oder nie recht gelernt hatte, 
mit unzähligen und fehr auffallenden grammatikaliſchen Fehlern. 
Ich hatte das auf dem Nheine nicht gemerkt oder vielleicht jeit- 
dem vergeflen ; jet aber fiel e8 mir mit manchem Anvern auf. 
So 3. B. war er offenbar froh, wenn man feine Beligthümer 
bewunderte, und ſprach er jehr gerne von feiner Macht und feinem 
Einfluß. Freilih that er es mit einer Naivetät, die wieder mit 
dieſem Emporkömmlingsthum verföhnte und ohne durd Macht 
und Reichthum irgend welche Anmaßung und Ueberhebung ge: 
rechtfertigt zu mwähnen. Die Ironie, die beim Anblid ver herr- 
lihen Werke, die für ihn unfruchtbar und ftumm waren, in mir 
auffommen wollte, ſchlug er zu meiner Beſchämung nieder, in: 
dem er, nachdem er den Brief gefiegelt, fih mir näherte und 


Zwanzig Millionen, 265 


fagte: „Nicht wahr, e3 find treffliche Bücher? Ich habe da einen 
gelehrten Mann unter meinen Bekannten, dem ich den Auftrag 
gegeben, alles Gute für mich einzulaufen. Wenn ich aud nichts 
oder wenig davon verftehe, fo macht e8 mir doc) Freude, es zu 
haben, und halte es für Pflicht, es zu kaufen. Früher over fpäter 
fommt eine folde Bücherfammlung doch Jemandem oder Vielen 
zu ftatten, und ich habe oft ſchon die Freude erlebt, daß man ſich 
um ein Buch an mich wandte, das ſchwer aufzutreiben war und 
das irgend ein Gelehrter zu feiner Arbeit bedurfte.” 

Dann ftügte fi der alte Mann auf meinen Arm und führte 
mih in den Garten und in feine Pflanzenhäufer, wo fich eben 
fo viele feltene Blumen und Bäume fanden, als jeltene Bücher 
in feiner Bibliothef. Cr hatte bier diefelbe Freude an meinem 
Staunen, wie in der Bibliothef, und mittheilfam, wie er war, 
erfuhr ich, auf welchen Wegen, mit welchen Mühen er fi das 
Alles verfhaffte, und bei diefer Gelegenheit, daß er Mitglied, 
felbjt Präfident vieler nüglicher, mwohlthätiger, felbft gelehrter 
Geſellſchaften ſei. Wohl über zwei Stunden wanderten wir jo 
umber. Als ih Abſchied nahm, bevauerte er, mich um biefe 
Stunde den Damen noch nicht vorftellen zu können, bat mid) 
aber, um ſechs Uhr wieder zu kommen und mit ihm zu Mittag 
zu ejlen, wo ich dann die ganze Familie fennen lernen folle. 

Al ih aus dem Haufe ging, neigten fi alle Bedienten 
bi3 zur Erde. Mir ſchwirrte e3 im Kopfe von all den Wunder—⸗ 
dingen, die ich geſehn; dennoch blidte ih um mi, ob nicht 
wieder der Lockenkopf zum Vorſchein fomme. Er fam nicht, und 
ich vertröftete mich auf den Abend. Dr. Bille, dem ich erzählte, 
daß ich heute Abend bei Friedensborg fpeife, ftieß ein erftauntes 
Bah! aus und ſah mich verwundert von Kopf bis zu Fuß an. 
„Wenn du heute bei Friedensborg fpeifeit,” fagte er, „kannſt du 
morgen beim König frühftüden und uns Alle protegiren. Du 
gehſt ſchnell. — Aber ſchön und recht elegant mußt du dich 
machen, oder vielmehr recht vornehm, denn man ift an ben 
gewöhnlichiten Tagen da draußen vor einem halben Dugend 


266 | Novellen. 


Gefandter und Minifter nicht ficher, abgejehen davon, daß die 
Damen des Haufes etwas verwöhnt find.” 

Ein ſchwarzer Frad, friſche Wäſche, das dünnſte meiner 
Taſchentücher, gelbe Glacehandſchuhe, dazu ein Fiaker — das 
war Alles, was ich der VBornehmbeit zu Gefallen leiften konnte 
und mochte. Ich paflirte dießmal einen andern Borfaal, eine 
lange Reihe von Bedienten, und trat in den großen Salon. 

Un einem marmornen Kamin, ber aber bei ver Jahreszeit 
auf das Gejhmadvollite mit Blumen angefüllt war, faß bie 
Baronin, eine Heine überaus feine und zarte Frau, mit grauen 
Haaren, die ſich in Scheiteln an janftgeröthete Wangen anfchlofien, 
und mit den kaum fichtbaren aber doch zahlreichen Fältchen des 
Gefichtes in Ichönem Einklang ftanden. Sie empfing mich mit 
rüdhalt3voller Anmuth, doch freier Freundlichkeit und ftredte 
mir eine magere, überaus weiße Hand entgegen. Diefe Frau 
des Parvenus, in einem Eleinen Städtchen Deutſchlands geboren 
und erzogen, war durch und durch große Dame, flößte Ehrfurcht 
und zugleih, mit einem frankhaften, auf körperliche Leiden 
beutenden Zuge, Mitleiven ein, das ſich aber nicht zu zeigen 
wagt. Gleich beim erjten Anblid fagte ih mir, daß ich zufrieden 
fein könne, daß e3 wünfchenswerth wäre, wenn die Töchter dieſer 
Mutter entiprächen. 

Ich mar der erite Gaft, und die Baronin knüpfte fogleich 
ein ungezwungened Geſpräch an. Aber ich ſaß faum zwei Mi: 
nuten, als fich hinter ihr eine Thüre öffnete und die Gräfin 
Kirkfteen eintrat, Ich wußte, daß fie e8 war, bevor mir von 
der Mutter der Name genannt worden. Gie ging nicht, fie 
raufchte herbei; es war, als ob nicht allein ihr blaufeidenes 
Kleid, ald ob Alles an ihr, ihre braunen Augen, ihre dunklen 
Haare, ja ihr ganzes Gefiht und Wefen einen gewiſſen Lärm 
machte. Aber es war fein unangenehmer Lärm und er hatte etwas 
Imponirendes. Sie war eher klein al3 groß, aber ihr ganzes 
Auftreten ließ fie groß ericheinen. Man hätte troß ihrer Schön: 
beit ein wenig vor ihr erfchreden können, allein ſobald fie zu 


Zwanzig Millionen. 267 


ſprechen anfing, verwandelte fih das ganze Impoſante ihres 
Auftreten in die zuvorfommendfte Liebenswürdigkeit. Man er: 
fannte eine heitere, lebenäluftige Natur, einen frifchen Geift, die 
jelbft durch traurige Erfahrungen nur ſchwer getrübt werden 
fönnen. „Sie gleiht zwar nicht ihrer Mutter,” dachte ich, „aber 
ih fehe doch wenigſtens, daß diefe Mutter ſchöne und liebens— 
würdige Töchter haben kann; vielleicht gleichen fich die Töchter 
unter einander, und ich fann zufrieden fein.“ 

Sie übernahm fogleih das Geſpräch mit der größten Leb— 
baftigkeit, und nad) einigen Minuten, da eben wieder die Mutter 
etwas jagen wollte, wandte fie ſich vertraulich zu mir und fagte: 
„Lieber Herr Doktor, wir hoffen Sie oft in unferem Haufe zu 
ſehen, darum will ic Ihnen gleich von Anfang ein unverbrüch— 
liches Hausgeſetz auferlegen und das befteht darin, unfere gute 
Mama fo wenig ald möglih ſprechen zu laffen. Sie ift nicht 
wohl und das Sprechen ift ihr auf Strengfte verboten; es regt 
fie auf, erfchöpft fie und macht ihr Herzklopfen. Sie werben hie: 
mit bevollmädtigt, fie nicht zu Worte fommen zu lajjen, alle 
Regeln der Schidlichleit bei Seite zu fegen und in dieſer Hinficht 
fo unartig als möglich zu fein, auf die Gefahr hin, geſchwätzig 
zu werben, wobei wir,” fügte fie verbindlich hinzu, „nur gewinnen 
fönnen.” 

Die Baronin wollte etwas zur Erflärung oder Entſchuldigung 
jagen, aber ich fiel ihr fogleich ins Wort und rief was mir auf 
die Zunge fam: „Kopenhagen ijt eine fchöne Stadt |” 

Die Baronin fuhr erfhroden zurüd, die Gräfin Hatfchte in 
die Hände und rief: „Bravo! Bravo! Wenn Sie fo fortfahren, 
verdienen Sie fich unfern Dank.“ 

Die Heine Szene ftellte raſch eine gewifje Vertraulichkeit her 
und mir plauberten, die Gräfin und ich, mit jenem gemillen 
unterdrüdten Lächeln, das dem Beobachter und den Sprechenden 
verräth, daß man aneinander Gefallen findet. Wir ladhten ſchon 
ziemlich befannt und ungezwungen, al3 mehrere Gäfte anfamen 
und zugleih durch die Thüre hinter der Baronin ein junges 


268 Novellen. 


Mädchen von etwa einundzwanzig Jahren eintrat. Diefe hatte 
wieder einen von der Gräfin volllommen verjchiedenen Charalter; 
fie war Hein, ſchmächtig, blaß und braun; hatte ſchwarzes Haar 
und ein überaus lebhaftes, kluges braunes Auge, das eimas 
verjhmigt hinter langen Wimpern bervorblidte. Das weiße 
Sommerkleid, der Spigenkragen, Bänder, Schleifen und Haare, 
Alles hing etwas nadläflig an ihr, aber diefe Nachläſſigkeit war 
nicht ohne Anmuth. Sie hatte etwas von einer Fleinen Gelehrten, 
von einem Mädchen, das viel liest und fpigige Bemerkungen und 
Witze macht. Was mir aber vor Allem auffiel, war eine erftaun: 
lihe Aehnlichkeit mit einem vierzehnjährigen Mäpchen, das ich 
als zwanzigjähriger Student mit zwanzigjähriger Schmwärmerei 
geliebt hatte. Ich ſetzte jogleich alle Eigenjchaften meiner Jugend⸗ 
geliebten bei ihr voraus und mein Herz flog ihr entgegen wie 
einer alten Belannten, und wie eine alte Belannte redete ich fie 
an. „O,“ date ich, „wenn du Helene bift, jo habe ich dich ſchon 
vor Jahren geliebt!” Db fie aber Helene war oder nicht, konnte 
ih nicht jogleich erfahren, da die gleichzeitige Ankunft der Gäfte 
eine förmliche Vorftellung verhindert hatte; die Gräfin hatte mic) 
ihr entgegengeführt, ohne mir in der Eile ihren Namen zu nennen. 
Sch ſprach ihr fogleih, ohne e3 zu wollen, mit einer großen 
Märme, und da mir das Herz davon überfloß, von einer Aehn— 
lichfeit mit einem mir lieben Kinde. Sie war über dieje Raſch— 
beit meines Benehmens offenbar etwas erftaunt und verlegen, 
und mit einer geſchickten Wendung des Gefpräches drüdte fie mir 
ihre Freude aus, mich noch heute ihrem Verlobten, der ebenfalls 
zu Tiſche komme, vorftellen zu können. 

Diefe Worte trafen mich wie ein doppelter Donnerfchlag, fie 
war alfo nicht Helene! und warum ſprach fie mir fo raſch von 
ihrem Verlobten? Weil fie merkte, daß fie mir gefiel, daß ich 
ihr den Hof machen wollte. Das mußte fofort verhindert werden, 
weil ic wegen einer Anderen, ihrer Schwefter wegen, gelommen 
war. Ich ftand alfo höchſt wahrſcheinlich als abfichtsvoller Freier 
im Haufe da, man wußte, warum id fam! Ich hatte immer noch 


Zwanzig Millionen. 269 


gehofit, daß man meinen Beſuch als Zufälligkeit betrachte, und 
daß ſich die Sache auf natürliche Weife werde fo geftalten können, 
daß es den Anjchein habe, al3 hätte meine Heirath mit der Bes 
kanntſchaft Helenens ihren erften Anfang. Nun war ich in den 
Augen aller diefer Menſchen ein ganz gemeiner Heirathsſpekulant. 
Ich ſchämte mich, ic war befangen. 

ALS ich aus meinen Reflerionen erwadhte, war Bertha, denn 
nur Bertha konnte die ſchwarzäugige Braut fein, ihrem Bräutis 
gam, der eben Fam, entgegengeeilt. Ich ftand einen Moment 
allein und betrachtete die Schwefter, die mit ihr eingetreten war 
und jegt auf einem Schemel zu Füßen ihrer Mutter faß, ein 
fleines, in Wahsthum und Entwidlung zurüdgebliebenes Ge: 
ſchöpf, das, troß feiner achtzehn Jahre, noch fehr kindiſch aus: 
ſah, und das man im Haufe auch als Kleines Kind behanbelte, 
Nach dem Briefe Zelindens wußte ich, daß dieß die Heine Mathilde 
war, an deren Berheirathung man, zur Zeit wenigftend, nicht 
dachte. Alfo waren bereits alle Schweitern im Salon verfammelt, 
mit Ausnahme der Einen, die mich beſonders interefjiren mußte. 
Aber ih war ärgerlich, ja ich war etwas voreingenommen gegen 
fie, weil fie nicht Bertha oder die Gräfin war, und dieß um fo 
mehr, als ich auch ärgerlich gegen mich felber war, weil ich als 
Heirathskandidat daftand, in einer Stellung, die mir in dieſem 
Augenblide als die lächerlichfte und trivialfte ver Welt erfchien. 
Plöglih aber fuhr mir ein leuchtender Gedanke durch Kopf und 
Herz, der mich Alles vergefien ließ: Bertha, die Gräfin, meine 
Läcerlichkeit, und der mich wahrhaft beglüdte. Ich hätte vor 
Freude aufjchreien mögen. Der lieblihe Lockenkopf von heute 
Morgen ift ja nicht erfhienen. Vielleicht war es Helene! 

Ich fehte mich wieder an meinen vorigen Play zur Baronin 
und, aufgeregt von dem Gedanken, daß nun jene liebreizende, 
mir beftimmte Helene kommen müfje, plauberte ich ihr mit ner: 
vöſer Lebhaftigkeit und mit dem unmillfürlihen Wunſche, ver 
Mutter zu gefallen, hundert verfchiedene Dinge vor. Sie glaubte, 
daß ih nur der Anmweifung der Gräfin folgte, um fie nicht 


270 Novellen. 


zu Worte fommen zu laſſen, und lächelte, dankbar für den 
guten Willen, felbit zu jeder Plattheit, vielleicht auch zu man: 
hem Unfinn. Auch die Gräfin, die mit Andern ſprach, meine 
laute Beredtfamkeit bemerfend, nidte mir freundlih und eins 
verftändig zu. 

Trogdem bemerkte ih, daß ſich dieſelbe Thüre, aus der vie 
andern Töchter gelommen waren, leife, beinahe furchtſam öffnete. 
Schüctern und im höchſten Grade befangen trat ein Mädchen in 
den Salon, ala ob es in eine fremde Gefellihaft und in fremde 
Räume träte, ftolperte gleich beim Eintritt über ein Blumen: 
geſtell, erröthete und legte die wenigen Schritte zu ihrer Mutter, 
während fie ſich den rechten Scheitel verlegen mit der Hand 
ftreichelte, mit offenbarer Anftrengung zurüd. Sie hätte ſchon 
mit dieſer höchſt mäpchenhaften Schüdhternheit Mitleivden und 
Gefallen einflößen können; mich aber überlief es kalt bei ihrem 
Anblid, denn die Mutter ftellte fie mir als Fräulein Helene vor, 
und fie war nicht der Blondkopf, der fich heute Morgen vor mir 
in der Laube verborgen hatte. Es war eine etwas runde und 
volle Gejtalt, ein Gefiht voll Güte und Unfchuld, aber von 
Formen, denen man eine Abmagerung wünjchte, weil fie nur 
unter diefer Bedingung vortheilhafter und plaftifcher hervor: 
getreten wären. Auch die Augen, die von mildem Glanze waren, 
würden dann gewonnen haben, während fie ihn bei den gegen: 
wärtigen Verhältnifjen jehr verkleinerten und bei einigem Lächeln 
beinahe ganz verjchwanden. Bei ruhigem Blute und bei näherer 
Belanntihaft bat fie mir fpäter beſſer gefallen, aber in zwei 
Stunden war fie mir nad) der Gräfin und nad Bertha und vor 
Allem neben dem Bilde der Unbekannten, die ich in ihr erwartete, 
eine höchſt ſchmerzliche Enttäufhung. Auch beftätigte mir ihr 
jpätes und fo jehr fchüchternes Auftreten im eigenen Haufe, daß 
ih ihr wie der ganzen Familie ein Heirathskandidat war, und 
der Gedanke erfüllte mich mit höchftem Unbehagen. „Man wird 
mich beobachten ‚“ dachte ich, „jedes Wort, das ich an fie richten 
werde, wird für Kurmacherei gelten, in all’ meinem Thun wird 


Zwanzig Millionen. 271 


man Abficht und Spekulation vermuthen, Alles wird fie Alle an 
die zwanzig Millionen erinnern und ihnen, während fie mich ala 
Anverwandten acceptiren, eine ftilfehweigende Verachtung ein: 
flößen.“ 

Ich ſaß meiner Zukünftigen gegenüber auf mehr Dornen 
als Roſen. Auch ſie wagte es nicht, mich anzublicken. Flüſternd 
übergab fie der Mutter eine Zeitung, die fie mitgebracht hatte, 
und deutete auf eine gemwifle Stelle. Die Mutter las, lächelte 
und übergab mir dann das Blatt, daß ich die Stelle auch lefen 
möge.: E3 war ein eben erjchienenes Abendblatt, das meine An: 
funft in Kopenhagen meldete und meinen Namen mit einigen 
rühmenden Prädikaten begleitete. Helene betrachtete mich, wäh: 
rend ich mein Lob las, mit einer gewiflen Genugthuung, nahm 
dann das Blatt, das ich auf den Kamin gelegt hatte, und gab 
e3 der Gräfin, aus deren Hand es dann die ganze Geſellſchaft, 
die indefjen zahlreich geworden war, durchwanderte. 

Endlich kam der Baron und man ging zu Tiſche. Es war 
ein gemwöhnliche8 Mittagefien, doch mar eine lange Tafel von 
wohl zwanzig Perſonen bejegt, und ſchien mir das Eſſen könig— 
lid. Unter den Gäften, die & la fortune du pot famen, waren 
zwei Gejandte, ein deutfcher Attahe, Graf Tannen, und mehrere, 
dem Hofe und der Regierung nahe jtehende Perjönlichkeiten. 
Hinter je zwei Speifenden ftand ein Bedienter; andere trugen die 
Speifen auf und ein Maitre d’Hötel im ſchwarzen Frad und 
weißer Kravatte jtand am Buffet und dirigirte die Schaar ber 
Diener mit feinem Blide. Unfere Pläge waren durch Karten 
bezeichnet, die auf der Serviette lagen. Ich kam der Gräfin 
gegenüber und neben Helene zu figen, die ich zu Tiſche geführt 
hatte. Die Gräfin machte dem jüngern Theile der Tiſchgeſellſchaft 
die Honneurs und fie that e3 mit folcher Anmuth, und bei der 
Lebhaftigleit, mit der fie Jedermann in das Geſpräch, das fie 
fortwährend neu belebte, zu ziehen verftand, leuchteten ihre Augen 
jo fehr voll Geift, daß ich die meinen nicht von ihr abwenden 
tonnte, Helene bildete einen ſchreienden Kontraft mit ihrer 


272 Novellen, 


Schweſter. Sie ſchwieg ausdauernd und fchien fi mit der 
Bewunderung ihrer Schwefter zu begnügen, ver fie oft zulächelte, 
Bon Zeit zu Zeit entriß ich mich dem Zauber der Gräfin, um mic 
meiner Nachbarin zu erinnern, die ih ſchon mehrere Male felbft 
hatte Waſſer einſchenken lafien. Aber welhe Mühe ich mir auch 
gab, ich Eonnte ihr nur fehr kurze und fehr unbedeutende Ant: 
worten entreißen; mandmal antwortete fie ſelbſt mit Schweigen. 
Es iſt freilich wahr, daß ich diefe Pflichtgefpräche immer wieder 
jo bald als möglich unterbrah, um der Gräfin zu laufchen und 
zuzufehen, manchmal auch um nad) Bertha hinüberzufchielen und 
ihren Verlobten zu beneiden, der, unbefümmert um ven Reft der 
Geſellſchaft, gemüthlih mit ihr plauderte. Der junge Attaché, 
Graf Tannen, ein fehr gebilveter und liebenswürdiger Mann, 
der mir außerdem viel Achtung bezeugte, und Andere, trugen 
viel zur Belebung des Gefpräches bei, das ziemlih laut und 
ungeziwungen wurde, und ich hätte mich bei dieſem Diner treff- 
lich unterhalten, wenn nicht der moralifhe Zwang, meine Nach— 
barin zu befhäftigen, auf mir gelaftet hätte. Das ging fo er: 
ſtaunlich ſchwer, und ich war nicht gerecht genug, um mir zu 
jagen, daß ich das fertige Weſen der Weltdame, das ich an der 
Gräfin bewunvderte, und das heitere, glüdlihe Sichgehenlafjen 
der Braut Bertha von ihr nicht verlangen und erwarten dürfe, 
daß fie ihre Stellung mir gegenüber, wenn fie mich wirklich als 
Heirathskandidaten betrachtete, mochte fie mich nun lieben oder 
nicht, befangen maden mußte. Um es kurz zu fagen: ich lang: 
weilte mich mit ihr, und mwir maren noch nicht bei der vierten 
Schüſſel, als ich mich ſchon fragte, ob ein ſolches ganzes Leben 
voll Langweile mit zwanzig Millionen nicht außerordentlich ſchlecht 
bezahlt ſei? ja, ob es einen Preis gebe, der ein ſolches Leben 
aufwiegen könne? Einmal dieſe Frage geſtellt, gab ich mich der 
Unterhaltung mit der Gräfin ohne Rückhalt hin, und Helene, die 
nun immer öfter das Waſſerglas an den Mund führte, mußte 
es ſich mehr als einmal ſelber füllen. 

Nach Tiſche miſchte ich mich in die Geſellſchaft und in die 


Zwanzig Millionen. 273 


allgemeine Unterhaltung; manchmal ſchlich ich allein die Wände 
entlang, um die Bilder und allerlei Kunftwerfe, wie Statuen 
und Mofaiktifche, die ven Salon jhmüdten, zu betrachten. Ich 
dankte ven Gäften, die mir Pläße in ihren Wagen zur Rüdfahrt 
nach Kopenhagen anboten, und wanderte gegen Mitternacht zu 
Fuß zurüd, allein mit meinen Gedanken. Dieje waren eine fort 
währende Variation über jene Frage, die ich mir an der Geite 
Helenens geftellt: ob ein langmeiliges Leben mit zwanzig Millionen 
nicht zu fchlecht bezahlt jei? 

Verdrießlich fam ih in meinem Gafthaufe an; mein Argos 
nautenzug ſchien mir verfehlt. 

Auf meinem Zimmer fand ich einen Brief meiner Mutter. 
Die gute beforgte Frau ſchrieb, als ob fie divinatorifch fühlte, 
was in mir und mit mir vorging. „Sch beſchwöre dich,“ hieß es 
unter Anderem, „urtheile nicht nach dem erſten Eindrud, wenn 
diefer ein ungünftiger fein follte; höre und prüfe Wie oft tritt 
ein Mädchen, das aller Welt gefällt, gerade dem, der fie hei: 
rathen foll, ins ungünftigfte Licht, weil fie ihm gegenüber ver: 
legen und in Folge deſſen unbeholfen, oft ungraziös und lang: 
mweilig erſcheint. Hinter dieſen ſcheinbaren Fehlern liegen gerade 
die meijten weiblihen Tugenden verborgen: fie find die Hülle 
der Bejcheidenheit und Anſpruchsloſigkeit. — Aber laſſe dich auch 
von den günftigften Eindrüden, wenn fie von anderer Seite 
fommen, nicht von deinem Ziele abwenden, Es ift fo natürlich, 
daß man in folhem Momente vergleicht, und da findet man 
Manche jehöner, liebenswürdiger, geiftreiher. Aber dieſe ift dir 
ja nicht beftimmt — aljo laß di um eines vorübergehenden 
Eindrud3 willen nicht um das ganze Glüd deines Lebens 
bringen.” 

Es war in der That, al3 müßte meine Mutter von Bertha 
und der Gräfin und vor Allem von der Unbelannten, ala wüßte 
fie, wie mir Helene erfchienen, aber auch welche geheimen Eigen: 
ſchaften fie befige. Der Brief rührte mich, denn er zeigte, wie 
die gute Mutter grübelte, für mich forgte und wie fie aus purer 

Morig Hartmann, Werke. VI. 18 








” 


274 Novellen. 


Sorge eine wahre Welt: und Menfchenfennerin wurde. Ich be 
Ihloß, mir ihren Rath zu Herzen zu nehmen, den Argonauten- 
zug nicht als verfehlt zu betrachten und meiter zu fteuern. 


Viertes Kapitel. 


Am folgenden Tage machte mir der Baron von Friedens: 
borg jeinen Befuh, und ich konnte bemerken, daß das ganze 
Hotel darüber in Aufregung fam, und wie fi in den Gängen 
Gäſte und Kellner aufftellten, um den berühmten Mann zu fehen. 
Mit dem Studenten, der noch in mir ſtak, fagte ich mir, daß 
ih nunmehr ungemefjenen Kredit im Hotel haben könnte. Als 
der Baron ging, fagte er: „Ich bleibe in ver Stadt; ich habe 
beim Finanzminifterium zu thun und gehe zu Fuß dahin. Mein 
Magen jteht zu Ihrer Verfügung, wenn Sie ihn zu Bejuchen 
oder Spazierfahrten brauchen. Meiner Familie wäre es am lieb: 
ften, wenn Sie ihn zu einer Fahrt nach meiner Villa benugen 
wollten.” 

Ih nahm dankbar an, doch begleitete ich den Baron erit 
durch einige Straßen. An. der Art und Weiſe, wie man ihn 
überall grüßte, konnte ich erkennen, daß er nicht nur feines 
Reichthums wegen der hochgeachtete Mann, fondern daß er auch 
eine beliebte und populäre Perſönlichkeit war. 

Die Familie fand ich im Garten verfammelt, und der ganze 
Nachmittag verfloß mir mit Geſprächen und Eleinen Spazier: 
gängen viel unbefangener, al3 ich es nad den gejtrigen Vor: 
gängen in mir erwartet hatte. Und als die Tiſchſtunde kam, ver: 
ſtand e3 fi von ſelbſt, daß ich wieder da bleiben ſollte. Es 
gab heute etwas weniger Gäſte und der Abend war familienhaft 
gemüthlih, gemüthlicher als ich mir ihn bei folhem Reichthum 
vorftellen konnte, und jo war er, neben andern Urſachen au 
darum, weil man fih nah Tifhe nicht in den großen Prunf: 


Zwanzig Millionen. 275 


faal, fondern in ein kleines, einfach eingerichtetes Zimmer begab. 
Als ich daſelbſt eintrat, überfam mid auf3 Neue die Hoffnung, 
daß ich die lieblihe Unbekannte zu ſehen befomme, denn dahin 
bien fie mir zu gehören. Es war in mir ausgemadt, daß es 
irgend eine arme Anverwandte fei, die man aus Barmherzigkeit 
im Haufe habe, die aber bei Tiſche und in größeren Gefellichaften 
nicht erfcheine. Der Eintritt in die ſtille Stube, dachte ich, wird 
ihr nicht verwehrt fein. Sie fam aber nicht, und ich fegte vor: 
aus, dab man die arme Anverwandte planmäßig fern balte, 
um die Töchter des Haufes nicht von ihrer Schönheit überftrahlen 
zu laſſen. Vielleicht aber auch ijt fie die Gouvernante der gräf: 
lihen Kinder? Vielleicht ift fie fremd im Haufe, war jie geftern 
nur zufällig anmwejend und du wirft fie nie wieder zu ſehen be: 
fommen. Keine der drei Möglichkeiten eröffnete die Ausſicht auf 
eine nähere Bekanntſchaft und näheren Umgang mit der Unbe: 
kannten, und ich gab mir Mühe, fie mir aus dem Sinne zu 
ihlagen, was mir im Laufe der nächſten Tage auch gelang. 

63 gelang mir, weil diefe Tage eine Zeit voll Bewegung 
und Herjtreuung waren. 

Die jungen Damen wollten ſelbſt meine Führerinnen durch 
die Merkwürdigkeiten der Hauptitadt machen, und bei diefer Ge: 
legenheit, wie jie ſich ausdrückten, ihre heimiſchen Schätze unter 
meiner Anleitung erjt recht fennen und beurtheilen lernen. So 
zogen wir denn durch das an Mufeen und Gallerieen jo reiche 
Kopenhagen, und von Kirche zu Kirche, von Monument zu Mo: 
nument, von Atelier zu Atelier. Ueberall fprangen vor meinen 
Führerinnen Thüre und Thore auf; überall beeiferten ſich Di: 
reftoren, Kuftoden und Künftler, ſich zuvorkommend zu erweifen; 
wir drangen überall in das Verborgenfte; für uns gab es feine 
Verbote und feine feitgejegten Stunden, und eriftirte feines der 
Hindernilje, die oft den Fremden ftören. Zum erften Male fühlte 
ih, in dem MWiederjcheine, der von den Damen auf mich zurüd: 
fiel, die Süßigfeit des Reichthums — und damit zugleich fühlte 
fich meine Eitelkeit gejchmeichelt, denn fie folgten und horchten 


276 Novellen. 


mir wie Schülerinnen überall, wo wir hiftorifhe, archäologifche 
oder artijtifche Gegenjtände zu ſehen befamen. Es hatte fich rafch 
das Verhältnik gebildet, das immer entiteht, wo gebildete Frauen 
mit einem Manne zufammentreffen, dem jie höheres Willen, als 
das ihrige ift, zufchreiben. Sie lernen jo gerne und ordnen fich 
lieber unter. 

Aber diefe Wanderungen, die jo große Reize hatten, waren 
denn doch nicht ganz ohne Unbehagen. Wie fehr ich mir vorge: 
nommen hatte und in der That mir Mühe gab, gegen die gute 
Helene aufmerffam zu fein, id war doch aufmerkſamer gegen die 
Gräfin und gegen Bertha. Mit meinem Worte richtete ich mich 
meift an die Gräfin; während des Sprechen erinnerte ich mich 
meines Entſchluſſes und drehte mich gegen Helene, um gegen 
meinen Willen vor Ende des Satzes mein Geficht wieder der 
ihönen Gräfin zuzufehren. E3 war ein fortwährenvder Kampf 
zwifchen Neigung und entgegengefegter Abfiht. Die Damen 
merften vielleiht nicht3 davon, aber ich fürchtete, daß ihrem 
weiblichen Gefühle doch auffallen müſſe, daß die kluge Gräfin 
die Abfiht und die gute Helena das Beleidigende meines Weſens 
empfinde, und es ſchmerzte mich, die Eine zu kränfen, und in 
den Augen der Anderen verächtlich zu erfcheinen. Trogdem fiel 
ich fortwährend aus meiner Rolle, und troß dem fortwährenden 
Ausderrollefallen fam ich mir jelbjt wie ein ausgemachter Ko: 
mödiant vor, und dieſes Bewußtſein fchnitt mir manchmal mitten 
in der Rede das Wort ab. Während wir 3. B. die Loggien des 
Thorwaldſen-Muſeums durchwanderten und ich die reizenden 
Basrelief3 nad) der Anthologie erklärte, war es mir, al3 ob mir 
der beleidigte Genius des Schönen, zornig mie der böfe Geijt 
binter Gretchen, zuflüfterte: Wer erlaubt dir, über deal und 
Schönheit zu fprehen? Haft du nicht mit Beiden gebrochen ? 
Haft du did und fie nicht verrathen? Bift du hier, um Ideale 
zu fuchen oder um Millionen zu erhaſchen? Wo ift die Har: 
monie, in der du bisher mit dir felber gelebt? Wo ift vie Wahr: 
beit? Was du fprichft ift Lüge! Wer die Götter der Wahrheit 


Zwanzig Millionen. 277 


© und Liebe in feinem Innern umgeſtürzt, der ſucht fie vergebens 
in der Kunft und was er fpricht ift Wind, Wähnſt du, daß dir 
Jene glauben können, die wiſſen, daß du nicht dieſer Götter 
wegen, fondern des Mammonz halber hierher gemwallfahrtet biſt? 

Ich verftummte plöglih und wäre am liebften wie ein von 
den Eumeniden verfolgter Verbrecher aus diefem Tempel hinaus: 
geftürzt. 

„So fahren Sie dod fort,” fagte die Gräfin, „jagen Eie 
und doch etwas über diefen Eros und die unzähligen Heinen 
Amoretten! Wir wollen doch auch fehen, wie ſchön Sie über 
die Liebe fprechen können.“ 

Enthielten diefe Worte eine abſichtliche oder zufällige Jronie? 
Wollte fie damit jagen, daß es fih nit um die Sache, jondern 
bloß um das Talent handle, über die Sache fprehen zu können ? 
Auf diefe Aufforderung hin wurde ich erft recht einfylbig. 

Zu der Art Momenten und Empfindungen fam noch Ans 
deres hinzu, um den Zwieſpalt in mir Hlaffender zu machen. 
Weiß der Himmel, wie in großen Häufern die intimften Fami— 
liengeheimnifje den Leuten verrathen werben; fo viel iſt gewiß, 
daß fie, auf denen immer fo viele Augen ruhen, ſtets mehr Vers 
traute haben, als obfture bürgerlihe Familien. Jedes Schlüffel- 
(och ift ein Beobahtungspunkt, ein Ohr des Dionyſius für jeden 
Bedienten, und mo viele Bediente find, fchnappt jeder etwas 
auf, einen Sat, ein Wort, eine Sylbe, die dann im Vorzimmer 
und in der Küche zu ganzen zufammenhängenden Gejhichten zu: 
fammengefegt werden, und dieß um fo leichter, al3 die Diener 
die Charaktere ihrer Herren fo gut kennen und wiſſen, weſſen fie 
fähig find, weſſen nicht. Dazu kommt, daß in folden Häufern 
ein Menſch in Livrde faum mehr als Menfch betrachtet wird; 
man fpricht vor ihm, wa3 man feinem Gentleman feiner Bes 
fanntichaft anvertrauen möchte, und er wird zum unbeadhteten 
Vertrauten. Nun hat die ganze Welt der Dienerjchaft fein Ge: 
beimniß vor einander; in den langweiligen Stunden, die das 
Gefinde verfchiedener Häufer, die Herrfchaft erwartend, in den 


278 Novellen. 


Vorzimmern verbringt, taufchen fie ihre Beobadhtungen aus, und 
die eine Herrfchaft wird die nie gefuchte Vertraute der andern. 
Bon Kammerdiener zu Kammerdiener, von Stubenmäbdhen zu 
Stubenmädchen läuft eine Nachricht wie von einer Telegraphen- 
ftange zur andern, bis fie an der Hauptitation, bei der Herr: 
ihaft, anlangt, Wie viele Weltmänner und Damen danken ihre 
Allwiffenheit diefem Telegraphen, der beim Rafiren oder Frifiren 
fungirt! Man mochte Helene vor meiner Ankunft mit ihrer Reife: 
befanntichaft genedt haben ; man mag bie und da meinen Namen 
genannt haben; nun fam ich an, wurde mit der größten Freund» 
lichfeit aufgenommen, in der Zeitung, die alle Bedienten vor der 
Herrſchaft lefen, wurde ich angekündigt und zwar als berühmter 
Mann, wie fonft Diplomaten und StaatSmänner, die ins Haus 
famen; bei Tifhe faß ich neben Helene und war nun immer mit 
der Familie. Meine Lage war dem Gefinde Har und den Freunden 
des Haujes bald fein Geheimniß. Das Gefinde fam mir mit un: 
geheurer Unterthänigfeit entgegen, die Geſellſchaft des Haufes 
forſchend, fpähend, unficher, zmweifelnd, vielleicht war ic Man: 
chem ein Stein des Anftoßes, ein Nival, ein Hinderniß in 
feinen Plänen für einen Anverwandten. E3 wurde mir manche 
ironische Bemerkung gemacht, die ich oft erft nachträglich verftand. 

Sie mochten e3 halten wie fie wollten; fie waren mir gleich: 
gültig und ich fing an mich etwas abzuhärten. Aber Graf Tan 
nen, jener junge deutfhe Attaché, der mir Anfangs fo viel 
Achtung erwiefen, fih mir bei jeder Gelegenheit näherte, meine 
Gefjellihaft und mein Geſpräch auffuchte, mied mich jet fichtlich, 
und wenn er mit mir ſprach, wandte er da3 Gefpräc immer auf 
meine Wiſſenſchaft, in der er etwas dilettirte, vermied aber jedes 
Geſpräch über perfönlihe Gegenftände oder Gegenjtände des 
Herzens und des Charakterd. Kam ich felber auf ſolche, ſchwieg 
er und ich glaubte einige Ironie, wenn nicht felbft Entrüftung 
an ihm zu bemerken. Er hielt mic offenbar nicht für berechtigt, 
bei dergleihen meine Stimme abzugeben. Bon allen Freunden 
und Bekannten des Haufes war er derjenige, der mir die meilte 


Zwanzig Millionen. 2379 


Sympathie einflößte, Er war ein höchſt gebilveter junger Mann, 
ohne Standesvorurtbeile, aber von feiten, unerfchütterlichen 
Grundfägen, mit denen er jo wenig prahlte wie mit feiner Vor: 
urtheilslofigkeit. Sein Titel, wie die angeborene, nicht ermor: 
bene Stellung, und die Leerheit diefer legteren, ſchienen auf ihm 
zu laften, und er fuchte vor feinem eigenen Gewiſſen, jo zu 
fagen, von der Pike auf zu dienen und zu verdienen, was ihm 
durh Zufall zugefallen. Solche Menſchen nehmen es immer 
ernfthafter und ftrenger mit fich al$ e3 irgend ein Avancements- 
oder Anciennetätsgejeß, oder irgend ein Vorgeſetzter thun würde, 
Das gab feinem ganzen Wefen, troß jeiner Jugend, er mochte 
vierundzwanzig Jahre alt fein, etwas Gefegte und Ruhiges, 
und wie alle Menſchen, die einem Ziele entgegenleben, das fie 
der Welt, der fie angehören, nicht ohne Gefahr befennen dürfen, 
und die fih außerdem in diejer Welt fremd fühlen und einen 
Kampf mit ihr voraugfehen, hatte er etwas Melancholiſches, das 
feinem feiten, gerade vor ſich hinblidenven, dunkelblauen Auge 
einen gewinnenden Ausprud voll Milde gab. Bor Allem fchien 
er mir auch der Familie Friedensborg am Innigſten zugethan, und 
mit einem antizipirenden Samiliengefühl war ich ihm dafür dank: 
bar, und ich fagte mir gleich in den erjten Tagen, daß, wenn ich 
einen Bertrauten bedürfte, ich diefen jungen Mann wählen würde. 
Er mußte, wo e3 Rath galt, immer das Richtige und Gerade zu 
finden. Nun aber wandte er fich offenbar von mir ab, und ih 
meinerfeit3 fonnte feinen Rath nicht brauhen. Was konnte er 
mir jagen, wenn er das Richtige und Gerade jagen follte? Wenn 
Sie Helene lieben, heirathen Sie fie! Wenn nicht, reifen Sie ab! 

Für mein Berhältniß zum Grafen Tannen war ich nod 
nicht genug abgehärtet. Er war jung, und es gibt feinen un: 
barmberzigeren Richter al3 die Jugend; fie ift abfolut in An: 
fihten und Gefühlen; milvernde Umftände läßt fie nicht gelten. 

Und ich follte noch vor einen anderen jugendlichen Richter 
gejtellt werden. 

Eines Nachmittags, da han fich eben zu einem gemeinschaft: 


2830 Novellen. 


lihen Ritte bereit machte, die Pferde vor die Veranda geführt 
wurden, wo fi die Gejellichaft verfammelte, und ich indefjen 
mit der Gräfin im Garten am Haufe plaudernd auf: und ab: 
ging und mid an dem Anblid der ftolzen Amazone in Reitkleid 
und Eleinem Männerhut mit weißer Feder erquidte, erſcholl aus 
dem feinen Pavillon hinter dem Haufe das anmutbhigfte Kinder: 
gelächter. „Apropos!” ſagte die Gräfin, „ih mwollte Jhnen ja 
meine Kinder vorjtellen! Kommen Sie!” 

Mährend wir hinter das Haus und dem Pavillon entgegen 
gingen, fuhr fie fort: „Es iſt Ihnen vielleicht aufgefallen, daß 
meine Kinder fo jelten zu jehen jind? Es beruht das auf meinem 
Erziehungsplane; fie wohnen mit mir abgefondert in diejem 
Pavillon und fommen fo felten als möglich in die Billa, wenig. 
ftens nicht am Nachmittage. Wir werden von fo vielen Menſchen 
beſucht, und da gibt e3 immer Ungeſchickte, die, um der Mutter 
oder dem Großvater zu ſchmeicheln, den Kindern Dinge fagen, 
melde eine fonjequente Erziehung von Monaten und Jahren in 
einem Augenblide zu nichte machen.“ 

Am Pavillon angefommen, rief fie zu einem offenen Feniter 
hinauf: „Fräulein Agnes, fommen Sie gefälligjt mit ven Kindern 
herunter!” — Dann zu mir gewendet, jagte fie mit leiferer 
Stimme: „Sch habe da eine Berfon bei ven Kindern, eine Deutiche, 
auf die ih mich volllommen verlafien fann, troß ihrer Jugend. 
Sie ift unterrichtet und zu einem erftaunlichen Grade pflicht- 
getreu, und dabei von einer Wahrhaftigkeit des Charalterd, die 
in der That außerorventlih, ich möchte fagen phänomenal ift, 
und fie beinahe zu einem Sonderling macht. Das ift vortrefflic, 
wenn die Kinder nur Wahrheit vor ſich ſehen, aber es ift beis 
nahe gefährlih, diefe Gouvernante in Gefellihaft erfcheinen zu 
lafjen; fie könnte manchmal mit einer Wahrheit herausplagen, 
die die ganze Gefellihaft in Verlegenheit brächte, Aber bei aller 
ernten Grundlage ihres Charakters und ihrer Grundſätze ift fie 
doc fo findlih und jugendlih, daß fie die Kinder volllommen 
verfteht und ich einen wahren Schag an ihr habe.“ 


Zwanzig Millionen. 281 


Die Gräfin unterbrah fih, denn in dem Augenblide trat 
die Oouvernante mit den beiden Kindern aus der Thüre. Es 
war, wie ich es geahnt hatte, jener blonde Lockenkopf, den ich 
am eriten Morgen in der Laube gefehen hatte: die einfachſte und 
zugleih auffallendfte Erſcheinung. Sie hatte jene Schönheit, die, 
jo zu jagen, von ihren Befigerinnen abhängt; man kann an 
ihnen vorübergehen, ohne fie zu bemerken, fie glänzen und leuchten, 
fobald fie ſich gehen lafjen, wenn fie fich in ihrer Befcheidenheit vers 
gejlen oder glänzen wollen. Sie ſchob die Kinder fanft voraus 
und blieb an ver Thüre ftehen; in ihrem dunklen Kleide, das 
bis an den Hals geſchloſſen war, mit den eng anliegenden Aer— 
meln, aus denen zwei längliche, weiße Hände hervorfamen, um 
ih, wie fie befcheiven herabfielen, von dem dunkeln Kleide noch 
marmorner abzuheben, jah fie wie ein Bild im Rahmen aus, 
wie der Wirklichkeit entrüdt und doch fo nahe, fo lebend, fo mit: 
denkend und fühlend. Erft als mich ihr die Gräfin vorftellte, 
trat fie aus dem Rahmen heraus und einige Schritte näher. 

„Fräulein Agnes Gillmer, die Erzieherin meiner Kinder!“ 
jagte die Gräfin. 

Sie verneigte ſich mit der Zurüdhaltung einer Dienenden, 
ohne daß ſich eine Muskel ihres Geſichts bewegte, und trat dann 
wieder einen Schritt zurüd. Gegen alle Gefege der Artigkeit, die 
man einer Mutter ſchuldig ift, befhäftigte ich mich mit den 
Kindern der Gräfin nur auf die fürzefte und oberflächlichſte Weiſe. 
Ich war verlegen, ich glaube, daß ich erröthete. Wie gerne ich 
einige Worte an Agnes Gillmer gerichtet hätte, und obwohl 
ih ganz wohl wußte, was ich ihr fagen fonnte, da der Name 
Gillmer ein fehr hübfches Bild der Erinnerung in mir ermedte, 
— ib war unfähig, einen Laut hervorzubringen. Ich war nur 
Eines Gedankens fähig: auch fie kennt mich als Heirathgfan: 
didaten bei den zwanzig Millionen ! 

Ich war wie von einem Alpdrüden befreit, ald man ung 
zurief, daß Alles zum Auffigen bereit fei. 

Mein armes Pferd befam heute die Sporen zu fühlen, wie 


282 Novellen, 


niemals; es jtedie mit feiner Lebhaftigfeit die andern an, und 
die Geſellſchaft kam nicht aus dem Galoppiren. Das war mir 
recht, denn ich fürchtete nichts fo fehr wie ein Geſpräch, e3 war 
mir immer, als fäße Agnes hinter mir und verfolgte mich mit 
veradhtungsvollen Bliden. Aber der wilde Huffchlag der zahl: 
reihen Pferde, der Anblid des unvergleihlih ſchönen Buchen: 
waldes, der ſich nördlich von Kopenhagen bhinzieht und des 
blauen Meeres, das bie und da dur eine Lichtung fihtbar 
wird, beraufchte mich um jo jchneller, als ich dem Allen ſchon 
aufgeregt entgegenfam; und da nah halbjtündigem Ritt die 
Pferde langjamer gingen, mar ich der Gefprädigite in der Ge- 
fellihaft. Um das natürlichfte Gegengewicht gegen die Gefühle 
zu fihern, die, wie der alte Dichter fingt, hinter mir auf der 
Groupe jaßen, ließ ich mein Pferd neben Helene einhertraben. 
In der Amazone ſah die etwas volle Geſtalt nicht am vortheil: 
haftejten aus; aber es war mir, als hätte ich ihr etwas abzu: 
bitten, und vor mich hinſehend auf den Kopf meines Pferdes, 
unterhielt ich mich fortwährend und ſprach mich endlich in eine 
Märme und Lebhaftigkeit hinein, die ich ihr bisher noch nicht 
gezeigt hatte. Sie hörte fo dankbar zu, und ich empfand ein 
ſolches Mitleid mit ihr, daß ich gerührt war und ihr gerne die 
Hand hinüber gereicht hätte. Erſt auf dem Rückwege wurde ich 
von ihr getrennt, indem fich Graf Tannen zu uns gejellte und 
mid, wie er es ſchon feit mehreren Tagen nicht gethan hatte, 
in ein freundfchaftlihes Geſpräch vermwideltee Dabei hielt er 
manchmal für Momente das Pferd an, dann ließ er es immer 
langjamer vorwärts jchreiten, jo daß wir am Ende von der Ge: 
jellihaft getrennt waren. 

Da brad er mit Einem Male das bisherige Gefpräd ab 
und fagte plöglih und ohne Uebergang: „Sie find nahe an zwei 
Stunden mit Fräulein Helene allein geweſen; wie finden Sie 
das Mädchen 9“ 

Ich war von diefer Frage überraiht und fühlte, was Alles 
hinter derjelben ftedte. Die Komödie, zu der ich mich verdammte, 


Zwanzig Millionen. 283 


jollte jegt- beginnen; Graf Tannen war ein intimer Freund des 
Hauſes; es war am Plage, ihm zu verftehen zu geben, daß ich 
Helene liebe; aber er ſah mich bei feiner Frage fo offen und 
durhdringend an, daß id) nur fagte, was ich in jeder anderen 
Lage mit beftem Gewiſſen hätte fagen fünnen: „Sie ift fo gut!” 

„Sp gut!” wiederholte Graf Tannen mit einiger Parodie. 
„But fein! es ift das Befte und Schönfte, was man von einem 
Menſchen jagen kann, aber man braudt das Wort gemöhnlich 
al3 einen Mantel chriſtlicher Liebe; man fagt es, wenn man 
nichts Anderes zu jagen weiß. Herr Born, ich fage Ihnen, ich, 
der ich die Familie länger und näher kenne, ich fage Ihnen, es 
ift ein ganz vortrefflihes Geſchöpf.“ 

„Ich bin davon überzeugt,“ verficherte ich. 

„Ich wollte aber mehr jagen,” fuhr Graf Tannen mit zit: 
ternder Stimme fort, „ich wollte jagen, daß Helene werth ift, 
wirklich und wahrhaftig geliebt zu werden, um ihrer felbft willen, 
und daß fie verdient, glüdlich zu fein.” 

Durfte ih es zu einer weiteren Erklärung fommen lafien? 
Durfte ich den Grafen fragen, warum er mir das Alles fage? 
Ich mußte mit Ruhe antworten und ich that es unabfihtlic auch 
mit Wärme, daß ich in diefer Beziehung ganz und gar feiner 
Meinung fei. 

Er ſah mich forſchend an und ritt langfam der Geſellſchaft 
nah, die fi nad uns umgejehen hatte. 

Ich geftehe, daß ih mir ganz jämmerlih vorkam. Wäre 
mir fonjt ein Mann fo entgegengetreten, um mich auszufragen, 
um mir Andeutungen zu machen, die eine Zurechtiveifung ent- 
hielten, und hätte er mich dann, nad einem folchen forjchenden 
Blide fo entlafjen, ich würde mich empört haben, ich wäre im 
Stande gewefen, jede ftudentifche Thorheit zu begehen. Jetzt 
war ich Hug und berechnend. Auch meine Freundlichkeit gegen 
Helene erſchien mir jegt als eine Heuchelei, und dieß um fo mehr, 
als mir das Bild Agnefens ohne Unterbrehung vorſchwebte. 
Aber, troß der Kühle, mit der ich meinen Plan ins Werk zu 


284 Novellen. 


jegen begann, lebte ich in einem fortwährenden Raufche, in dem 
Raufche des Reichthums. Diejes gefättigte, üppige Reben hatte 
mich ganz gefangen genommen, und ich fonnte den Gedanken an 
eine Trennung von demjelben nicht mehr faſſen. Diefe Leich 
tigkeit, fih alle Genüſſe zu verſchaffen, dieſe Freiheit aller 
Wünſche, diefer wahre Zauber, den der Reichthum übt, ver 
Alles berbeifchafft, Alles beherrſcht, — ih hatte mir vorher 
feine Borftelung davon machen können. Jeder Tag bradte 
andere Genüffe, andere Freuden, laute und ftille, aber immer 
gejättigte. Die Menſchen, die in Armuth und Entbehrung leben, 
erihienen mir wie zu einer anderen Gattung zu gehören. Und 
ich lernte nicht nur das Verführerifche des Reichthums fennen, 
aud feine Größe und Macht trat oft genug an mich heran. 

Un einem Nahmittage ftanden wir Alle auf einer erhöhten 
Terraſſe des Gartens verfammelt, um ein herrliches Schaufpiel 
zu genießen. Seit dem Morgen wehte ein günftiger Norowind, 
und mit ihm war am Nachmittag eine ganze Flotte von Kauf 
fahrern, die den günftigen Wind zur Einfahrt in den Sund jen- 
jeit3 Helfingör erwarteten, auf der Höhe von Klampenborg ans 
gekommen. Segel an Segel fuhr an uns worbei, dem Hafen 
von Kopenhagen zujteuernd oder meiter in andere Häfen des 
baltifhen Meeres. 

„Papa!“ rief Bertha, auf einen gewaltigen Dreimajter 
zeigend, „ilt das nicht dein Edhiff, der Thomas ?“ 

„Ja wohl, mein Kind,“ antwortete der Baron, „er fommt 
aus Rio Janeiro,” 

„And jenes iſt die Henriette, mit der Büfte ver Mama vorn !* 
rief Helene in die Hände Hatfchend. 

„Ja mein Kind,” fagte der Baron, „die Henriette kommt 
vom Gap und hat eine gute Fahrt gemacht !” 

So zog eine ganze, dem Baron gehörige Flottille an ung 
vorbei, aus allen Weltgegenden fommend und NReichthümer ber: 
beibringend, während er ruhig daftand und faum lächelnd zuſah. 
Er erfhien mir in dem Moment wie ein mächtiger Herrſcher, 


Zwanzig Millionen, 285 


ber die Fäden feiner Macht über den Erdball ausbreitet. — Und 
ein andermal, da wir bei Tiſche faßen, trat eilig ein Beamter ein, 
der ihm einige Worte zuflüfterte. Der Baron fprang auf und rief: 
„Der Figkönig ift geitrandet! — und die Mannſchaft?“ fragte er. 

„Sie ift gerettet,” antwortete der Beamte, 

„Gottlob,“ rief ver Baron beruhigt, „Ichreiben Sie ſogleich 
nah Glasgow, wohin fie fih mwahrjcheinlich begeben wird, an 
unfern Korrefpondenten und an den Konful, daß für die Leute 
aufs Beſte geforgt werde.” — Dann ſetzte er fich wieder ruhig 
bin und nahm das Geſpräch auf, wo es der Beamte unterbrochen 
hatte, ala ob nicht3 geſchehen wäre. 

Er mahnte mid an Sidon und Tyrus, deren Kaufleute, wie 
Jeſaias jagt, Fürften waren, und deren Händler die Geehrten 
der Erde. Hätte mir mein Schwiegervater angeboten, mich zu 
feinem Compagnon zu machen, e3 hätte mir gejhienen, als 
würde ich zu einem Mitregenten ernannt. So weit entfernt war 
ih Schon von dem, was mir früher Glüd gemefen. 


Fünftes Kapitel. 


Mit beftem Willen könnte ich heute nicht mehr jagen, ob ich 
von nun an Agnes Gillmer, feit dem Tage, da ich ihr durch die 
Gräfin vorgeftellt worden, mit Abfiht oder dur Zufall öfter 
gefehen habe. Ich mußte nun, wo fie zu finden war, und 
wollend oder nicht wollend, trugen mich meine Füße in die Nähe 
de3 Pavillons, Der Baron war in Jägers-Prijs, einem der 
zahlreichen Luſtſchlöſſer des Königs, und feine Bibliothek ftand 
mir während diefer Zeit als Arbeitszimmer zur Verfügung. Ich 
follte die Morgenftunden , während welcher die Damen meilt un: 
fihtbar waren, daſelbſt verbringen, und zu diefem Zwecke begab 
ich mich fehr früh in die Villa; aber die Morgen waren fo ſchön 
in diefen feenhaften Gärten, daß ich fie den Studien, denen ich 


286 Novellen. 


ſchon fo entfremdet war, nur mit Widerwillen opferte — be: 
fonders feit ih wußte, daß um diefe Stunden Agnes im Garten 
zu finden war. Ich juchte fie nicht auf, aber ich fand fie immer, 
obwohl fie mir auswich. Wenn fie auch in Geitengänge ihre 
Schritte lenkte, jobald ich in ihrer Näbe erſchien, fo jaben mid 
doc die Kinder, liefen auf mich zu und zogen mich oft an der 
Hand zu ihrer Erzieherin. Ich fam mir da manchmal mie jener 
- oft gemalte Mann vor, den Amoretten der holden Braut ent: 
gegenführen. Aber die Amoretten bemübten fich vergebens; 
Agnes empfing mich ftet3 mit einem zugleich freundlichen und 
eisfalten Geſichte, das jelbjt abſchreckend ftreng wurde, wenn ich, 
fieberifch aufgeregt in ihrer Gegenwart, etwas wärmer und 
inniger mit ihr zu jpreden begann. Meine Märme beleidigte 
fie. Ich erjchien ihr al3 ein Menſch, der ins Haus fommt, um 
eine reihe Partie zu machen, nebenbei aber der Gouvernante 
den Hof macht. Ich ahnte jo was und fürdtete, daß fie mich 
mit der von der Gräfin angekündigten Geradbeit eine Tages 
derb zurücdweijen werde; id mar voll Angjt, während ich mit 
ihr ſprach und zitterte wor einer Beſchämung. Doc konnte ich 
von dem Spiel mit der Gefahr nicht ablafjen, ebenfo wie ich 
bald ihre Gejellfchaft, ihren Anblid nicht entbehren konnte. Es 
war mir bald, als käme ich nur ihrethalben ins Haus — und 
mandmal hoffte ich auf jene Beſchämung mie auf eine Rettung, 
denn, bätte fie mir gejagt, daß ich ein unwürdiges Spiel treibe, 
was hätte ih, um mich bei ihr zu entſchuldigen, Anderes ante 
worten fünnen als: ch liebe Sie, Agnes!? — Aber Agnes 
ſchwieg; fie befhämte mich nicht; fie ſah mich manchmal felbit 
mit einem unendlich mitleidigen Blide an, als ob fie den ganzen 
Yammer, der mich bei mir jelbjt herabjegte, erfannt hätte. Es 
fam mir fogar vor, al3 wollte fie manchmal Anderes ald Be: 
ſchämendes zu mir ſprechen, al3 wollte fie mich tröften und auf: 
richten, und in diefem Gefühle konnte ich nicht anders, als ihr 
Hagen und die Gelegenheit vom Zaune brechen, um ihr zu fagen, 
daß e3 wenige glückliche Menſchen gibt. | 


Zwanzig Millionen. 287 


Man erzählt von einem Menfchen, ver dur Jahre ein 
merkwürdiges Doppelleben lebte. Die Tage verlebte er in Elend 
und Mangel, im Traume der Nacht aber lebte er al3 fpanijcher 
Grande, in einem herrlichen Schloſſe in Balencia, ein Dafein 
voll Glück und Genüſſe. Jede nächſte Nacht brachte die Fort: 
jeßung des Traumes der vorhergehenden Nacht, fo daß der 
Träumer nicht mehr wußte, was Traum, was Wirklichkeit war, 
und am Ende den Traum für Wahrheit, vie Wahrheit für Traum 
bielt. Ich führte ein ähnliches Doppelleben. Der Menſch, der 
des Morgen? neben der Gouvernante durch den Garten ging, 
war mit feinem ganzen Weſen ein anderer, al3 der Menfch, der 
Nachmittags in Gefellihaft der Herrinnen des Haufes den 
Freuden nahjagte, und mehr und mehr ſich in die Genüfle und 
Gewohnheiten des Reichthums hineinlebte. Manchmal verflofien 
dieje beiden Menfchen in Einen. 

Die Baronin, immer kränflih, wurde unmohl und ver: 
brachte ihre Nachmittage, auf einem Sopha liegend, unter ver 
Deranda, wo fi nunmehr die Familie verfammelte, um ihr Ge: 
jellfchaft zu leiften. Sie wollte aber auch ihre Enfelinnen um fich 
haben, und jo war auch Agnes immer anmwefend. Eines Nach— 
mittags fam man ans Erzählen von Erlebniffen, und die Gräfin 
forderte mich auf, meine Lebensgeſchichte zu erzählen; Helene 
unterjtüßte diefe Forderung mit einem bittenden Blide, während 
fie abſichtslos näher rüdte und die Handarbeit ruhen ließ. ch 
mußte lächeln, denn von meinem Leben war wenig zu erzählen, 
und in dieſer Weberzeugung begann ih auch auf nadläflige 
Weife mit einzelnen bingemorfenen Sätzen. Aber wie ih von 
der Einfachheit meiner Jugend, von unferer Heinen Wohnung, 
von den Sorgen und Mühen meiner Mutter ſprach, überkam 
mich diefen Millionärinnen gegenüber plöglih der Stolz; des 
Armen, und wie ih an meine Mutter und die ftille Jugend 
dachte, zugleich eine Wehmuth und Wärme der Erinnerung, daß 
ich mit Liebe auf das Einzelnſte unſeres armen Haushaltes ein: 
ging. Meine Erzählung wurde zu einer Elegie über den früh 


288 Novellen. 


verftorbenen Vater, zu einer Hymne über die gute, forgenvolle, 
nie ermüdende Mutter, und im Ganzen zu einer Idylle, die das 
Leben einer. Wittwe und eines Waiſenknaben ſchilderte. Ich 
malte mich mit meiner Mutter an dem armbejegten Tijche, dann 
des Abends mich, den Knaben, an meinen Büchern, und fie, 
mit dem Stridjtrumpf in der Hand, vor berjelben Talgferze; 
dann wie fie mit mir lateinifch lernte, indem fie mich meine 
Lektionen überhörte. Dann unfere Trennung und unfer jähr: 
liches Wiederfehen zu Weihnachten; mich al3 Studenten und 
Stundengeber in der Univerfitätsftadt, fie in ihrem Landſtädt— 
hen, fparend und arbeitend und immer von Ferien zu Ferien 
wartend, harrend, Glüdsträume für den Sohn ausſpinnend. 
Erzählend vergaß ich meine Zuhörer, und malte diefe Bilder für 
mic) felber au, und ohne es zu wollen, ſchloß ich mit einem 
Ausruf über unſer Glüd. 

Sch bemerkte, erjt nachdem ich geendet, daß ich die aufmerf- 
famjten Zuhörer hatte. Die Gräfin fand meine Schilderung rei- 
zend und meinte, ich folle das doch aufichreiben; Helene be: 
neidete das Glüd der Armen. Dann wurde man jchweigjam. 
Der Himmel weiß, welche Reflexionen durch die verjchiedenen 
Köpfe gingen. Die Kinder lehnten jih an meine Kniee und jahen 
mid groß an; fie wollten, daß ich nod etwas erzähle Die 
Baronin drüdte mir die Hand und zog mic ind Haus zurüd; 
ihre Töchter begleiteten fie, und Helene grüßte mich bejonders 
freundlich, al3 ob fie mir fagen wollte: „ch bin überzeugt, daß 
du mich nicht meines Geldes wegen heirathen willft. Agnes blieb 
mit den Kindern, die nicht fort wollten, und da ich das Auge 
zu ihr erhob, begegnete ich einem Blide, der mir wie ein Licht: 
ftrahl ins Herz drang. Ich fühlte, daß fie fih mir nach meiner 
Apologie der Armuth näher fühlte, daß fie mir gut war. Ich 
ftredte unverjehens die Hand aus, wie um ein unverhofftes 
Glüd zu erhaſchen, und ich ergriff ihre Hand, die ich drüdte 
und die ich fo gerne gefüßt hätte. Die Heine Gitta, ihre Schü: 
lerin, ſah uns Beide erftaunt an und fragte dann plöglic: 


Zwanzig Millionen, 289 


„Onkel Born, ift es wahr, daß du die Zante Helene. heirathen 
wirft ?“ 

Ich war ftarr und blidte das Kind blöpfinnig an, ohne ein 
Mort erwidern oder die Hand zurüdziehen zu können, was id 
doch fo gerne gethan hätte; aber Agnes 309 vie ihrige leife fort 
und ging mit den lindern aus der Veranda. 

Bernichtet fank ich auf meinen Stuhl zurüd; das glüdfelige 
Gefühl war dahin; es hatte nicht eine Minute gevauert. Ich 
fonnte aufftehen , ich konnte der Heinen Gitta nachlaufen und ihr 
fagen, daß e3 nicht wahr fei, daß ich Tante Helene nicht hei— 
rathen werde! Da war fie ja, die Gelegenheit, die ih manchmal 
und dunkel gewünſcht hatte! Aber follte ich mich jo mit Einem 
Worte aus meiner geträumten Zukunft verbannen? — alle 
meine Pläne vernichten? Nein, ich konnte aus den Armida= 
gärten, in denen ich lebte, nicht heraus und mieder zurüd in 
da3 arme, unfcheinbare Leben. D meld ein Lügner war ih, ala 
ih vorhin das Glüd der Armuth jo Schön fchilderte, und meld 
ein Betrüger! Und doc ein ſchlechter, ein ungeſchickter Betrü- 
ger, denn ich habe Agnes nicht betrogen. Ich ſchlich mich fort 
aus der Billa und machte einen Ummeg, um nicht an eine Stelle 
zu fommen, wo ich vom Pavillon aus von Agnes gejfehen wer: 
den konnte. Meinem gebeugten Naden hätte fie die Laft ans 
fehen müfjen, die ich mit mir forttrug; meine Stirne brannte 
von Schande, 

Bald jollte ich Agnes noch öfter und ungeftörter fehen. Die 
Baronin wurde ihres Unmwohljeins wegen nad Marienlyft, jen« 
ſeits Helſingör, gefhidt, in jenes reizende Schlößchen, das jept 
in eine Art Kurplak verwandelt ift, und hart am Ufer des 
Sundes der ſchwediſchen Küfte gegenüber liegt. Die Krane 
follte port Seebäder nehmen und vor Allem der Ruhe pflegen. 
Sie fuhr mit der ganzen Familie auf dem eigenen Dampfichiffe 
des Barons, auf der Ophelia, dahin ab, während Wagen und 
Pferde den vier bis fünf Meilen langen Weg zu Lande zurüds 
legten. Nur die Gräfin mit ihren Kindern blieb zurüd, da in 

Morig Hartmann, Werke. VI 19 


290 Novellen. 


diefen Tagen einige Mitglieder ver Familie Kirkjteen nach Kopen- 
bagen fommen follten, die fie empfangen mußte, und mit denen 
mandherlei Familienangelegenheiten abzumahen waren. Ich 
mußte verſprechen, demnächſt naczufommen, um die an fi 
teizenden und durch die Poeſie Shafejpeare’s verflärten Gegenden 
und endlich deren wundervolle Architefturen, von meinen bis: 
berigen Führerinnen geleitet, kennen zu lernen. 

Die Anverwandten der Gräfin famen bald nad) der Abreife 
der Familie Friedensborg, und ich war mit Agne3 und den 
Kindern Stunden und Tage lang allein, da mich die Gräfin ges 
beten hatte, nunmehr den Bejchüger des Haufes zu machen. Es 
war jetzt ftille in Haus, Garten und Park. Ich führte die Kinder 
auf die Spaziergänge, als wäre ich ihr Hofmeijter; ich erzählte 
ihnen Märchen, al3 wäre ich ihr Onkel, und ich faß mit ihnen 
und Agnes um einen Tiſch, al3 wären wir zufammen eine ganze 
Familie. Welche ſchönen und fonderbaren Gedanken kamen mir 
oft, wenn wir fo da faßen. Ich ſagte mir, daß diefer Garten 
nur ein eines Gärtchen, und dieſe Billa nur ein Feines Dorf: 
oder Vorftadthäuschen zu fein brauchte, und daß Alles nicht um 
ein Yota weniger ſchön wäre, Aber ich verwies mir ſolche Ge 
danken al3 ivealiftiiche Träume, denen man nicht entgegenjtreben 
dürfe. Agnes wurde von Tag zu Tage fchöner, auch jünger, da 
fie den ftrengen Ernſt gegen mich ablegte, aber trotzdem ehr: 
würbiger; es war mir, al3 beurtheile fie mic von der Höhe 
herab und als wäre fie meine Gouvernante mehr al3 die der 
Kinder, ohne daß mich das gevemüthigt hätte. Ach fie war 
immer fo rubevoll, und id) fragte mich, ob, wenn fie die zwanzig 
Millionen befäße, ich den Muth hätte, ihr zu fagen: „Agnes, 
ich liebe Sie!“ 

Nur einmal fah ich fie in glüdlichjter Aufregung. 

Wir faßen nah dem Eſſen noch am Tiſche, als fie mid 
fragte: „Welches ift die ſchöne Erinnerung, die ſich bei Ihnen 
mit meinem Namen Gillmer verbindet? Sie erinnern fih? Sie 
fagten mir da3 einmal.” 


Zwanzig Millionen, 291 


„Ja,“ fagte ih, „eine liebliche Erinnerung, beinahe fo lieb: 
ih, als die fein wird, wenn ich nach Jahren an diefe Tage 
zurüdvenfen werde. Ich war noh Gymnaſiaſt und mochte acht: 
sehn Jahre zählen, als ich eine Ferienreiſe durch den Harz 
machte. An einem klaren Morgen kam ich durch ein Dorf und 
an einer Kirche vorbei, aus der eben die Schuljugend trat. An 
der Thüre ftand der Pfarrer und blidte mit Liebe und Wohl: 
wollen auf die Kleinen Blondköpfe herab; mandem griff er in 
die Loden, um ihm etwas Freundliches zu fagen, manchen bielt 
er auf, um ihm eine fanfte Ermahnung zulommen zu lafjen. 
Alle die Kinder, die er liebfoste, wie die er ermahnte, fahen 
mit einer unendlichen Liebe zu ihm hinauf. Er mollte eben in 
fein Pfarrhaus zurüdtreten, al3 er mich erblidte und offenbar 
auf den erften Blid meinen Stand erkannte. Er lächelte wie bei 
der Erinnerung an glüdlihe Jugendtage, da er fo geweſen war 
wie ib, und wie gute Greife beim Anblide frifcher, in die Welt 
binausftürmender Jugend zu bliden pflegen. Er grüßte mid 
lateinifh und ich antwortete, Dann ftredte er mir die Hand ent: 
gegen und fragte mich in derſelben Sprache nad Heimat und 
Reiſezweck; dann lud er mich ein, bei ihm einzufprehen. Bor 
dem Haufe war ein von milden Reben bevedter Gang, in wel: 
chem Tiſch und Stühle ftanden, und wo der gute Pfarrer zu ar: 
beiten pflegte, denn auf dem Tiſche und auf den Stühlen lagen 
Papiere und Hafliihe Bücher. Er freute fih, wie ich in den 
Büchern herumftöberte und mich in Manchem bewandert zeigte. 
Ehe eine halbe Stunde unferer Belanntfchaft verlaufen war, lafen 
wir ſophokleiſche Chöre mit einander, Wie herrlich las der Alte 
den Chor aus der Antigone: Vieles Gewaltige lebt! und wie ver: 
ftand er jede Schönheit mit einem Worte zu charakterifiren! Neben 
dem mohlthuenden Eindrud, den mir da3 vwäterliche und mweife 
Weſen viefes Mannes machte, erhob mich noch der Gedanke und 
erfüllte mich mit Stolz, daß ſolche Männer in Deutfchland auf 
dem Dorfe zu finden find. Auch fagte ih mir, jo wäre mein 
Vater, wenn er noch lebte, und fo follten wir uns bejtreben, 


292 Novellen. 


Alle zu fein; fo ruhevoll in fih, jo im Eleinen Kreiſe große 
Pflichten erfüllend, und fih am Schönen nährend und ewige 
Jugend bewahrend. Es war eine jener Stunden, in denen ich 
die beiten Vorſätze faßte; es war eines jener Beifpiele, die am 
mächtigsten auf mich wirkten.” 

Ich ſchwieg, denn ich fagte mir, was Agnes denken müfje; 
daß das Beifpiel nicht nachhaltig gewirkt, daß die Vorfäge längft 
verflogen find. Wie durfte der Mann, der nah Millionen jagte, 
die holde Beſchränkung jenes Dorfweifen rühmen ? 

„Fahren Sie fort,” bat Agnes, indem fie die Worte mehr 
hauchte als ſprach. 

„Es iſt nicht viel zu erzählen,“ ſagte ich; „er ließ mir ein 
kleines Frühſtück vorſetzen, und es war mir, als wäre ich bei 
irgend einer ſchönen Geſtalt der Dichtung, bei einem Bilar of 
Wakefield zu Gaſte. Dann zeigte er mir feine Kleine Bibliothek 
und den Garten, den er jelber pflegte. Gegen Mittag verlieh ich 
ihn. Er drüdte mir die Hand und fagte: Mein Sohn, vergiß 
nie, was du in der Jugend dachteſt. Das Belte, das wir leijten 
können, ift die Erfüllung unferer jugendlichen Pläne.” 

Ich ſchwieg wieder, erbrüdt von dem Gedanken, wie wenig 
ich diefem Rathe nachgekommen. 

„Und viefer Mann hieß?” fragte Agnes mit zitternder Stimme. 

„Baftor Gillmer !“ 

„Dein Bater,” fagte Agnes glüdlich Tächelnd. 

„Ihr Vater!“ rief ich, „lebt er noch?“ 

„Er lebt, heiter und glüdlich, wie immer; jung und liebend, 
wie immer.” 

„Könnte ich ihn wieder jehen,” fagte ich gerührt; „fein An- 
blif würde mir recht wohl thun. Es ift fonderbar! In verſchie— 
denen fchwierigen Lagen meines Lebens mußte ich feiner gedenken, 
den ich kaum durch Stunden gekannt habe. E3 war mir immer, 
als könnte ich bei ihm den beften Rath finden. Und jegt ift mir 
auch fo.” 

Es machte mir den Eindruck, als wollte fie die Nolle über: 


Zwanzig Millionen. 293 


nehmen, die ich ihrem Vater zudachte, und ihn bei mir erfegen. 
Mehrere Male ließ fie fich an diefem und den folgenden Tagen 
die Morte wiederholen, die er beim Abſchiede an mich gerichtet, 
und offenbar hatte fie die Abſicht, mir fie fo oft ala möglich ins 
Gedächtniß zu rufen. Sie fnüpfte allerlei Reflerionen daran, 
und einmal auch die Frage, wie es fomme, daß ich, der ich mic) 
des Stillleben3 mit meiner Mutter und des idyllifchen Lebens 
ihres Vaters mit ſolcher Liebe erinnere, offenbar darnach ftrebe, 
mich diefer Art des Dafeins fo ſehr als möglich zu entfremden? 
Ich wich ſolchen Fragen mit allgemeinen Antworten aus. Eine 
gerade Antwort hätte ein Bruch mit meinen Plänen oder ein 
Riß durch die Verbindung mit Agnes werden können. Zu beiden 
fehlte mir die Kraft; der Umgang mit diefem anmuthsvollen 
Weſen war mir eine Nothwendigkeit geworden, wie der Bejig der 
Millionen. Aber diefe ausmweichenden und charalterlofen Ant: 
worten entfernten jie nicht mehr, ftießen fie nicht mehr jo ab, 
wie e3 früher ojt ein Wort, ja meine bloße Erſcheinung gethan 
hatte. Sie hatte Geduld mit mir, fie gab mich nicht auf, fie 
wollte mir offenbar beiftehen; fie ſagte fih, daß fie eine Pflicht 
an mir zu erfüllen hatte. Aber da kam ein Brief der Baronin, 
welche ihre Enkelinnen zu fich berief, nad denen fie Sehnjudt 
hatte. In diefem Briefe wurde ich wiederholt zu einem Beſuche 
in Marienlyft eingeladen und zugleich gebeten, Fräulein Agnes 
mit den Kindern zu begleiten und ihren Befhüger zu machen, 
da die Gräfin noch nicht ablommen fonnte, Die Dampfyacht des 
Barons, die Ophelia, follte und nach Helfingör bringen und dann 
dort bleiben, um Ausflüge zu erleichtern. 

Die Ophelia erwartete und nur einige hundert Schritte vom 
Haufe. An einem berrlihen Auguftmorgen gingen wir an Bord 
und dampften hinaus in den blauen, ſchimmernden Sund. Keine 
Wolfe und fein Lüftchen regte fi, das Meer war durchſichtig 
wie die Atmofphäre, und der Blick konnte eben fo ungehindert 
in die geheimnißvolle Tiefe dringen, wie in die Wälder Däne— 
marks und in die Buchten und Berge Schwedens. Vorbei ging's 


294 Novellen. 


an lieblihen Fifherdörfern und an reizenden Landhäuſern, die 
alle von ſchattigen Buchenwäldern umjäumt find. Wenige Küjten 
der Welt find jo jhön mie diefe; an wenigen Punkten der Erbe 
vermäbhlt ſich die Ueppigfeit ver Pflanzenwelt jo wahr und innig 
mit der Größe und Anmuth des Meered. Was Land und Meer 
des Schönen bieten fönnen, vereinigt fih hier; Norden und 
Süden geben fich hier einen Kuß, jener durch die jchattigen Buchen, 
diejer durch das fommerlihe Meer vertreten, das jo jehr vem 
Hellefponte gleiht. Schweden mit feinen in Duft getauchten Ber: 
gen liegt da wie ein Märchenland, das eben nicht ſchöner ijt ala 
die Wirklichkeit; Helfingborg, auf dem die Sonne liegt und das 
ih im Meere fpiegelt, gleicht einer Fata Morgana. Die Inſel 
Hveen, mit den Ruinen von Schloß und Sternwarte Tycho Brahes, 
wo er in den Sternen las und Weisheit und Thorheit trieb, 
Wahrheiten ergrürdete und phantaftiihe Träume aushedte, 
ſchwärmt auf den Wellen, wie die Inſel eines Zauberers, eines 
Prosper, der da mit einer Miranda wohnt und von einem Ariel 
bedient wird. Wir gehen ein in die Traum: und Zauberjphäre; 
der Geiſt Shakeſpeares, der dieſe Gegenden verflärte, wie fie die 
Natur mit Schönheit ausjtattete, fängt zu wirken an. Es war 
eine felige Fahrt! Die Kinder tummelten ſich auf dem Berdede 
umber und jauchzten auf, wenn unten ein Geeftern am Schiffe 
vorüberflog; Agnes ftand neben mir und blidte ſchweigend wie 
ih in die fchöne Welt. E3 war mir, als führe ich mit ihr dem 
Glüde entgegen. Wir waren allein; auf eigenem Schiffe. Da 
war fein Getümmel, kein Stoßen der Paflagiere, kein Aus: und 
Einfteigen; Kapitän und Matrofen umgaben uns wie dienende 
Geifter. Nichts ftörte in Traum und Genuß. So hätte ich mit 
Agnes hinausfteuern mögen ins unendliche Meer, in die unend- 
liche Welt, um irgend an einer einfamen Küfte zu landen. Schers 
zend fagte ich zum Kapitän: „Fahren Sie hinaus aus dem Sund 
und landen Gie ung an den azoriſchen Inſeln!“ Und zu Agnes 
gewendet fuhr ich fort: „Die Infeln find ein Reft der glüdjeligen 
Atlantis.” 


Zwanzig Millionen. 295 


Sie lächelte und fagte: „Die glilckſelige Atlantis ift überall; 
am Fuße des Weihnachtsbaumes bei Ihrer Mutter und im Garten 
meines Vaters, in feiner Laube, wo Sie den Sophofles mit ihm 
gelefen haben.“ 

Ich bejahte es, aber ich dachte auch zugleich, daß der Dampfer, 
auf dem ich die glücjelige Fahrt machte und auf dem ich in alle 
Melt fteuern wollte, nicht mir gehörte, und dab es ſchön fei, 
einen ſolchen Dampfer zu befißen. ft es nicht ein Zaubermantel, 
wie fi ihn Fauſt wünfchte? 

ALS das getbürmte Kronborg, das den Sund beherrſcht, und 
gleih darauf Helfingör auftaudhte, fing ih an, von fchönen 
Lebenzftunden Abjchied zu nehmen. Wie romantiſch und phan— 
taftifch au das alte Schloß und die ältere Stadt Helfings, des 
alten Normannenreden, grüßen und loden, mir war e3, als zöge 
ich dorthin wieder platter Alltäglichkeit entgegen — und als wir 
in den Heinen Hafen einbogen, und und vom Damme her die 
Taſchentücher der Damen Friedensborg entgegen wehten, war e3 
mir, al3 erwachte ic aus einem ſchönen Traume, um wieder die 
Arbeiten und Mühen des beichränften Dafeins zu übernehmen. 
ALS ich Agnes an der Hand faßte, um ihr übers Brett auf das 
Land zu helfen, drückte ich fie, wie zum Abjchied. 


Sechstes Kapitel. 


Man weiß es, daß die Hamlet:Sage urfprünglid in Jütland 
zu Haufe ift, und eigentlich mit diefen Gegenden nichts zu thun 
bat; aber Shalefpeare hat fie hierher verleyt; fein Trauerfpiel 
fpielt in Helfingör, und er war ſtärker als Sage und Gedichte. 
Mer glaubt nun nicht an Hamlet3 Grab, an Ophelia's Quelle 
und an die ‚Terraſſe“, auf der der Geift erſchienen? In der Mitte 
diefer heiligen Stätte der Dichtung liegt das Feine Schlößchen 
Marienlyft, das wir bewohnten; die Terrafje erhebt ſich unmittel- 


296 Novellen. 


bar hinter dem Haufe, und von diefer Terraffe aus blidt man 
über den Sund nah Schweden hinüber; zu Füßen der Terraſſe 
ziehen die Schiffe dahin. Alte Bäume, heimlihe Gebüfche faujen 
und flüjtern dem Schloſſe in ihrem Schooße Geheimniſſe zu; ger 
wundene Pfade verlieren fi in verftedten Lauben und Winkeln; 
die vor dem Haufe auf der Wiefe und in den Arkaden wandeln, 
ſehen aus wie Glüdlihe. Die Natur, die Kunft und die Erin- 
nerung an einen großen Genius, der diefen Boden zu geweihtem 
Boden machte, vereinigen fich hier, um Herz und Kopf mit einem 
heiligen Raujche zu erfüllen. 

Spät am Abend ſaßen wir auf der Terraffe, und ich las den 
Damen Hamlet vor. Die Lampe hatte ich ausgelöſcht und las 
beim hellen Zmwielicht der nordifchen Sommernadt. Ich las mit 
Andaht und man hörte mir mit Schauer zu. Der Hain unter 
una — der Mond über der See, deren Stille Seufzen zu ung 
herüberdrang — die einzelnen Lichter aus den Häufern Helfing: 
borg3, da drüben in Schweden, die auf dem Sunde zu ſchimmern 
ſchienen — die ſchwediſchen Berge, deren Fuß in Nebel, deren Haupt 
in Mondlicht getaucht war — manchmal ein Auf der Wache auf den 
Mauern von Kronborg, oder ein Geſangsbruchſtück, das von einem 
vorbeijegelnden Sıhiffe kam — Alles das bildete eine vervollitän: 
digende Beigabe und Ecenerie unferer Vorlefung. Aber mein Auge 
und mein Wort wandte fich vorzugsmeife einem Heinen Lichte zu, 
das aus einem Hinterftübchen von Marienluft fam. Dort wohnte 
Agnes, und fie la3, wie man am Schatten erkennen konnte, in 
einem Buche. Sie war allein; wieder ausgejchloffen von unferer 
Gefellihaft. Und während ich da draußen deflamirte und mand: 
mal die Stimme erhob in der Hoffnung, von ihr gehört zu wer⸗ 
den, kam ich mir ſelbſt wie ein Heiner, parodirter Hamlet vor, 
der zu feinem Entſchluſſe kommen kann. 

Die Damen gingen, tief erfchüttert von der Vorlefung, ins 
Haus zurüd; ich irrte noch lange in den Gebüjchen umher und 
bielt endlich auf ver Anhöhe, auf welcher die Fernröhren aufge: 
ftellt find, vermitteljt welcher man von hier aus die Schiffe in 


‚Zwanzig Millionen. 297 


die weite See verfolgt und in die Thäler Schwedens blidt. Ich 
richtete eine3 nad dem Fenfter Agneſens — ih fah nur ihren 
Schatten auf den weißen Vorhängen, und auch diefer verſchwand 
plöglih, da das Licht erlofh. Es war mir das wie eine andeu- 
tende ſymboliſche Handlung, daß fie mir wieder entrüdt fei; und 
fie war es aud. Seit unferer Anfunft wandelte fie wieder allein 
mit den Kindern umber, oder faß fie auf ihrer Stube. Schon 
am erjten Abend wurden Pläne zu Ausflügen entworfen, an 
denen fie natürlich nicht Theil nehmen follte, da fie mit den 
Kindern bei der Baronin bleibedt mußte. Ich werde fie nicht eine 
Viertelftunde jo wiederſehen, wie ich fie in den legten Tagen 
gejehen hatte — und doch glaubte ich, ohne fie nicht leben zu 
fönnen, 

Unwillfürlih trug mich mein Schritt am Morgen nad) der 
Borlefung auf die Höhe zurüd, wo ich in ihr Fenfter jehen konnte, 
Aber ich ſah fie kaum; die Entfernung war zu groß — ich jah 
nur wie einen Schatten. Da fiel mein Blid wieder auf das 
Fernrohr, das noch ihren Fenſtern entgegengerichtet war; ich 
löste es vom Geſtelle los, verftedte mich in das Gebüſch und 
legte es zmwijchen zwei Zweige. Ich ſuchte nur einen Augenblid 
lang die Richtung und fie jaß jo nahe bei mir, daß ich fie glaubte 
athmen zu hören; ich ſah of feinen, blauen Aederchen auf ihrer 
Schläfe, die langen Wimpern, das feidene Haar. — „Agnes, ich 
liebe dich!” flüfterte ich vor mich hin, als ob ich e8 ihr ing Ohr 
flüfterte. Es ſchien mir, als ob fie darauf tief auffeufzte, al3 ob 
fie in großer Aufregung wäre. Jetzt erjt bemerkte ich, daß fie da 
faß und ſchrieb; die Buchftaben lagen groß vor mir — das erfie 
Wort, das ich lad, war mein Name. Ych konnte nicht weiter 
lefen, e3 flimmerte mir vor den Augen und ich erhob den Kopf. 
Da war ich wieder fo fern von ihr. Soll ich lefen, was fie 
ſchreibt? Iſt es nicht eine Heiligthumsentweihung, wenn ich einen 
Blid in da3 unbewachte, jungfräulihe Gemüth werfe? Vielleicht 
fchreibt fie ihr Tagebuch? Vielleicht fchreibt fie, daß fie mid 
liebt? Die Verfuhung mar ungeheuer, ich erlag, Das Fern: 


298 Novellen. 


rohr war nicht mehr auf das holde Gefiht, e8 war auf das 
Blatt gerichtet und ich las: 

„— mit welcher Liebe er deiner'gedenkt! Ein Herz, das dich, 
mein theurer Vater, jo zu würdigen verfteht, muß troß Allem 
ein edles Herz fein. O wäreſt du da, um ihn an fich felbft zu 
erinnern, um ihm in feinem Ringen beizuftehen und ihn zu 
retten, denn er wird elend, unglüdlich jein fein Lebenlang, wenn 
er fih verleugnet und dieſen Verrath an fich felbit begeht. — 
Könnteft du nicht kommen? Sit eine ſolche Rettung nicht der 
Reife wertb? Ich weiß es, mein guter Papa, du haft nichts und 
die Reife würde die Hälfte deiner Einkünfte verfchlingen ; aber 
ib habe etwa3 erfpart. Eieh, mein guter Bapa, ein Fleden auf 
diefer Seele würde mir einen ewigen Summer bereiten, eine 
Enttäufhung, die ich nie verfchmerzen würde, denn — dir fage 
ih ja Alles — ich liebe ihn! und mit weldhen Schmerzen !” 

Das Rohr entfiel meiner Hand ind Gras, und ich ftürzte 
aus dem Gebüfche. Vielleicht wäre ich ind Haus geeilt und hin: 
auf in Agnefens Stube; aber ich hörte plöglich überall meinen 
Namen rufen, und nicht wiſſend, ob es Täufhung, ob Wirklich: 
feit war, folgte ich betäubt dem Nufe und faß, ehe ich zur Be: 
finnung fam, im Wagen, um, wie e3 verabrebet war, nad) 
Friedrichsborg zu fahren. ch war betäubt, ich ließ mich hin: 
fahren, ich glaubte, ich werde entführt. Der Weg geht fortwährend 
durch Buchenmwälder, ohne daß man darum den Anblid des Meeres 
nur durch Minuten verlöre; bald blidt es durch Hellen und Hals 
den, bald, wenn man nur über Eleine Hügel fährt, breitet e3 fi) 
in feiner ganzen Größe aus; wie oft glaubt man, durch die enge 
Nachbarſchaft von Wald und See getäufcht, daß ein Segel mitten 
durch die Buchenfäulengänge vahingleite. Es ift wie ein Zauber, 
ein Traum, ein Märchen; die elfenhafte Phantafie kann nichts 
Schöneres erfinnen. Und doch erwartet den Wanderer am Ende 
diefes Weges noch etwas Schöneres, oder vielmehr e3 erwartete 
ihn einft, denn jet ift e3 dahin, das Wunder Dänemarks, des 
ganzen Nordens, die Schöpfung Chriftiang IV., das herrliche 


Zwanzig Millionen. 299 


Schloß Frievrihsborg. Da jtand es plöglih, aus einem Gee 
mitten im Walde hervorragend, mit Zinnen, Thürmen und 
Zinken, mit Bildern und Säulen, in allen Farben glänzend, 
al3 ob ein Waflernir feine Nefivenz für einige Zeit aus ber 
frpftallenen Tiefe and Licht der Sonne emporgehoben hätte, um 
während der lieblihen Sommerzeit bier Hof zu halten, wie vom 
Elfenkönig O’Donoghue in Irland erzählt wird. Inmitten all 
dieſer Schönheit hatte ich Entſchuldigung genug für meine Schweig: 
ſamkeit; ſchwiegen doch auch die Anderen, die nicht heute, fo wie 
ih, durch ein Wunder erfuhren, daß fie vom jchönften Herzen 
geliebt werden. Wer hat den Muth des Wortes in Gegenwart 
unendliher Schönheit? Nur der fie nicht fühlt. E3 war einmal 
ein Knabe im Morgenlande, der follte zum Hüter der Schäge des 
Sultans und darum ftumm gemacht werden, „O,“ fprad er, 
„Sultan, mache mich anjtatt zum Hüter deiner Echäße, zum 
Hüter deiner ſchönen Tochter, der ſchönſten aller Brinzeflinnen, 
und ich werde fie anfehen und von felbit verftummen, ohne daß 
mir die Zunge herausgejchnitten zu werden braucht.“ 

An den folgenden Tagen ging e3 zu den Hünengräbern, 
über den Fjord nad Röskilde zu den Königsgrüften, dann in die 
Wälder von Jägers: Prijs,, dann nad der Inſel Hveen, dann 
nah Schweden: überall hin, wo Schönes war, wo Rauſch und 
Genuß war, und überall war Agnes nidht mit, wohl aber ver 
Dämon, der mir immer wieder ind Ohr flüfterte: „Nur jo zu 
leben iſt des Lebens werth! Und du kannſt nicht mehr anders 
leben !“ 

Agnes war ſchon feit zwei Tagen abmwejend und mit den 
Kindern nah Kopenhagen zurüdgelehrt — und ich hatte es nicht 
gemerkt — und al3 ich mit der ganzen Familie auf der Opbelia 
felbft vahin zurückkehrte, dachte ich an die einfame und ftille Fahrt 
und an die Träume, die mit ung an Bord waren, wie an einen 
längftvergangenen Traum, defjen Beitimmung e3 war, beim Ers 
wachen zu verſchwinden und fich in Nicht zu verflüchtigen. 

Graf Tannen erwartete und am Landungsplage. Als er 


300 Novellen. 


Helene an meinem Arme jah, lächelte er ganz eigenthümlich 
bitter, und es fam mir zum erften Male der Gedanke, daß er jie 
möglicherweife liebe. Sein Benehmen gegen mich erjchien mir 
nun in anderem Lichte; e3 war Eiferfucht, es war nicht Miß: 
achtung; er wollte jene nur verbergen, indem er dieſe errathen 
ließ — und ih fah ihn kühner und herausfordernder an als 
vorher. Er jchüttelte den Kopf, al3 ob ihn mein Auftreten in 
irgend einem Gedanken, irgend einer Vermuthung beftärfe. Ich 
mar unangenehm überrafcht, al3 er ſich Abends, da ich die Villa 
verließ, an mich anſchloß, um mid in die Stadt zurüd zu be 
gleiten, und etwas betroffen, als er mich, in der Stadt ange: 
fommen, dringend einlud, ihm in feine Wohnung zu folgen. 

Als der Diener die Lampe brachte, bat mich Graf Tannen 
um die Erlaubniß, fie zurüdichiden zu dürfen; e3 plaudere ſich 
beſſer in diefer lichten Dämmerung. Ich willigte gerne ein; tro: 
dem rief er bald darauf dem Diener zu, die Lampe herein zu 
bringen. Er war aufgeregt, ging mit großen Schritten in der 
Stube auf und ab und bereitete ſich offenbar zu einem Gejpräche 
vor, über deſſen Inhalt und Zweck er mit fich noch nicht einig 
war. Er gejtand mir das auch offen, und bat mich zu wieder: 
holten Malen um Entfchuldigung. Dann rief er wieder dem 
Diener und bejtellte zwei Rheinweinflaſchen. „Zwei Deutjche,” 
fagte er mit erzwungenem Scherze, „können ſich feit Tacitus’ 
Zeiten nur beim Trunfe recht ausfprechen, beſonders wenn e3 
ih um Wichtiges handelt.” 

Er ſchenkte ein und wir faßen da und tranfen köſtlichen 
Johannisberger und plauderten, aber das Wichtige, das er mir 
angelündigt, fam nicht zum Vorſchein; er fuchte im Gegentheil 
die unmichtigften und gleihgültigften Gegenftände aufs Tapet zu 
bringen, und erzählte mir unter Anderem, daß der Wein, den 
wir da tranfen, ein Gejchent des Fürften Metternich an feinen 
Vater fei. Er fam mir ſonderbar vor, diefer fo ernfthafte, junge 
Mann, der fonft nur Gefpräche über beveutendere Fragen liebte. 
Er trank mehrere Gläfer und fchien fih im Meine und mit vielen 


Zwanzig Millionen. 301 


Morten den Rauſch bejchleunigen zu wollen. Endlich hatte er 
Muth und zugleich Kaltblütigkeit genug, um gleichgültig hinzu: 
werfen, was ihm gerade das angekündigte Wichtige war. 

„Run,“ fragte er lächelnd, „kommen Sie ala glüdlicher Ver: 
lobter zurück?“ Ä 

„Verlobter?“ rief ih achjelzudend, eben fo gezwungen, mie 
er auf feinen ſcherzhaften Ton eingehend. 

Richt?” fragte er etwas erjtaunt, doch offenbar erfreut, „es 
wäre doch Zeit, endlich Ernft zu machen; ſchon fpriht man in 

® der Stadt davon, wie von einer ausgemachten Sache.“ 

„Wovon fpriht man nicht? Fräulein Helene kann e3 er: 
tragen; fie iſt nicht zu fompromittiren.” 

„Allerdings,“ lachte Tannen, „mit zwanzig Millionen ift 
man unlompromittirbar.” 

„Und mit Helenen3 und der Familie Charakter,” fügte ich 
ernster hinzu. 

„Sie haben Recht ‚“ fagte Tannen plögli in einem anderen 
Tone. „Alſo Sie haben nit um fie angehalten? Ich war über: 
zeugt, daß der Aufenthalt in Marienlyft Alles zum Abſchluſſe 
bringen müfle. Oder fehlt e3 Jhnen an Muth? So will id 
Ihnen fagen, daß Sie dem Alten fehr wohl gefallen; er hat, wie 
er fih ausdrückt, an Ihnen „herumgeförjchelt”“ und Sie gut ber 
funden; die Baronin wünſcht fich feinen. liebenswürdigeren 
Schwiegerſohn, die Gräfin feinen lebhafteren Geſellſchafter.“ 

„Und die Hauptperjon? von der ſchweigen Sie?" 

„Die Hauptperfon ift Ihnen geneigt, und Sie brauchen ſich 
nur durch wenige Tage anzuftrengen — ich feße voraus, daß 
Gie das in Marienlyft gethan haben, um ihr ganzes Herz zu 
gewinnen. Die gute, befcheidene Helene ift jo dankbar.” 

„Aber, lieber Graf, fagte ich etwas ftugig, ja gereizt, „wie 
fommen Sie dazu, von Anftrengung zu ſprechen?“ 

„Es bedarf alfo der Anftrengung nicht? Defto befjer!” 

„Ich verftehe Sie nicht I“ 

„Sie lieben aljo Helene? fragte der Graf, indem er bie 





302 Novellen. 


Lampe etwas zur Seite ftellte, um mir befjer ind Auge jehen 
zu fönnen. 

Ich erhob mi, und indem ich die eine Hand nad) dem Hute 
ausſtreckte, ſagte ih, „Herr Graf, ich habe nicht die Ehre, Sie 
lange genug zu fennen, um Gie zu meinem Bertrauten zu 
machen.” 

Der junge Mann ftrich fi mit der Hand über die Stirne, 
auf der einige Schweißtropfen erjchienen, jeufzte tief auf und 
jagte: 

„Ich gebe Ihnen gern zu, Herr Born, daß ich zudringlich 
bin, daß ich fein Recht auf Ihr Vertrauen habe, und daß ich 
Ihnen Urſache gebe, mich gehörig zurüdzumeifen. Aber hören 
Sie mich — ich bitte Sie.” 

Er fette fich wieder auf denjelben Pla, von dem er bei 
meinen Worten aufgeltanden war, beugte ſich vor über den 
jhmalen Tifh und fagte langſam und eindringlich: „Sch Liebe 
die Familie Friedensborg; fie bejteht aus lauter vortrefflicen 
Herzen, und ich habe ein gewiſſes Mitleid mit ihr, da ich fie 
meilt von Menſchen umgeben jehe, die etwas von ihr wollen, 
die fie ausbeuten, die durch fie emporzufommen wünichen. In 
ihrem Tumulte leben die Friedensborg in der größten Einfamteit, 
bei dem innigften Wunfche, wahre Freunde zu haben. D die 
Schatten des Reichthums find eben fo fühl, als fie dunkel find, 
Bor Allem aber liebe ih Helene!“ 

Der Graf ſchwieg wieder einen Augenblid, dann fuhr er 
leife lähelnd fort: „Sie fehen, daß ich ein gewiſſes Recht habe, 
mich in Ihr Vertrauen zu drängen, da ich Sie zubringlichermeife 
zu meinem Vertrauten made. Ich habe Ihnen hier ein Wort 
ausgeſprochen, das noch niemals über meine Lippen fam, aus 
genommen meinem Bater gegenüber. Ja, ich liebe Helene, das 
beite unter diefen guten Herzen. Aber glauben Sie nit, daß 
ih Sie alle diefe legten Wochen aus Eiferſucht gerne von ihr 
entfernt hätte, oder daß es Eiferfucht ift, die mich jegt mit Auf: 
regung, die ich nicht verbergen fann, von ihr und von Ihrer 


Zwanzig Millionen, 303 


möglichen Verlobung mit Helenen ſprechen läßt. Sie wird jeden: 
falls jemand Andern heirathen, nicht mich. Ich denke nicht daran, 
jemal3 um ihre Hand anzuhalten. Mein Bater ift ein Legitimift 
aus der alten Schule; die Heirath feines Sohnes mit einer Tochter 
der roture würde ihm den empfindlichſten und wahrhaftigſten 
Kummer verurfahen, noch mehr der Gedanke, daß man mic 
für einen jener Adeligen halten könnte, die nad bürgerlichem 
Parvenugeld jagen. Ich will meinem Vater diefen Kummer um 
jo lieber erjparen, al3 ich überhaupt nicht zu heirathen gedenke, 
und als es Helenen während der langen Zeit unſeres Umganges 
nie eingefallen ift, daß fie mich heirathen könnte. Freilich habe 
ich mich ihr niemals hofmachend genähert; aber bei meinen Grund: 
jägen und Anſichten von der Liebe foll diefe ohne Hofmacherei 
fommen. Außerdem balte ich mich für frank, Vielleicht täufche 
ih mich, aber bei mir ift es ausgemadt, daß ich endlich nad) 
Madeira oder Egypten werde gehen müffen, um ein ſchwächliches 
Dafein zu frijten. Wäre Helene nicht in Kopenhagen, ich wäre 
vielleiht fchon in Kairo. Ich will das junge Leben eines lieben 
Geſchöpfes nicht an eine zweifelhafte Eriftenz fnüpfen. Sie jehen, 
es ift nicht Eiferfucht, nicht Selbftfuht —" — 

Er unterbrach, ftand auf und ging einige Male im Zimmer 
auf und ab — dann fuhr er mit zitternder Stimme fort: „Sch 
möchte Helene nur an einen Mann verheirathet ſehen, der fie 
liebt. Sie braucht da3, fie fann anders nicht glüdlich fein. Aber 
ih bin um ihr Glüd beforgt, denn fie hat eine Eeele voll Ber: 
trauen und wird Dem glauben, der ihr jagt: „Ich liebe dich!“ 

Er jegte feinen Spaziergang durch die Stube fort, aber lang» 
famen, befümmerten Schritte. „Wenn ich wüßte, daß Sie He 
Ienen lieben, Herr Born, ich wäre glüdlih, fie an Ihrer Seite 
zu ſehen.“ 

Ich ſchwieg. Ich war keines Wortes fähig. Ich ſaß da wie 
der Verbrecher vor feinem Richter fit und nachdenkt, ob er be: 
fennen foll oder nicht? Aber ich fagte mir, daß, wenn ber junge 
Mann no länger fo fortfahre, ich wohl befennen werde, und 


304 Novellen. 


ih fuchte nah Mitteln, das Geſpräch abzubrehen, um einem 
äußerften und entjcheidenden Entihluß zu entgehen. Ich hätte 
ihn wohl mit feinem Vertrauen eben fo zurüdweijen fönnen, wie 
ich zu Anfang gethban hatte; er war weder Vater noch Bruder 
Helenens, noch trat er als Bevollmädhtigter der Familie auf; 
aber in der Wahrheit feines Gefühles, mit dem Ausdrud tiefiten 
Kummers auf dem Geficht ſchien er mir zu Allem berechtigt. Auch 
fagte er mir, daß das Entjcheidende, was er mir mitzutheilen 
babe, no kommen müfle; es madte mir den Eindrud, als ob 
alles Bisherige nur Vorbereitung gemwefen. 

„O müßte ich, ob Sie Helene lieben oder nicht!” rief der 
Graf plögli, indem er mitten in der Stube ftehen blieb. 

Ich erhob mi, um zu antworten, er aber fiel mir rafch ins 
Dort: „Entjhuldigen Sie, es war ein Monolog; ich habe un: 
willtürlic meine Gedanken ausgefproden ; Sie follen mir darauf 
nicht antworten.” 

Dann ſtellte er fich wieder vor mich hin, und beide Hände 
auf den Tiſch ftügend, fagte er: „Ich muß Ihnen noch Manches 
anvertrauen. Bitte, hören Sie mid. Ich bin rei, fehr reich. 
Meine Mutter hinterließ mir Güter im Werthe von zwei bis drei 
Millionen, deren unbeſchränkter Herr ih bin — von einer uralten 
Tante erbe ich einft, vielleicht bald, ein ungeheures Vermögen. 
Mein Vater iſt auch reih —“ 

„Aber, Herr Graf, wozu dieſe Auseinanderfegung — ih 
fange an, Sie nicht zu verftehen ‚” rief ich etwas ungebulbig. 

Anftatt aller Antwort ging der Graf an einen andern Tiſch, 
ergriff eine Feder und ſchrieb rafch einige Zeilen auf ein Papier, 
darauf er dann ein Siegel drüdte. Dann nahm er das beſchrie— 
bene Papier und ſchwenkte es ftehend in der Luft, wie um die 
friſche Schrift trodnen zu laſſen. So blieb er felbitvergefien 
ftehen, regungslos; nur manchmal bewegte ſich der Arm und da3 
Papier. Ohne dieſe Heine Bewegung hätte er wie eine Statue 
oder wie ein Kataleptifcher ausgefehen. Seine Augen ftarrten 
glanzlos vor fih bin. Ich fragte mi, ob er unmohl fei, 


Zwanzig Millionen. 305 


befinnung3los oder verrüdt. Ich bewegte mich, um ihm entgegen 
zu gehen, aber dieſe Bewegung mwedte ihn; er feufzte tief auf 
und ging wieder auf den Tiſch los. Sein Geficht war blaß, mie 
das Geſicht eines Todten, als er fi) wieder zu mir herüberneigte. 
Er wollte ſprechen, unterbrach fi aber, und indem er that, ala 
ob er da3 Licht der Lampe regeln wollte, drehte er daran und 
verfleinerte die Flamme, daß e3 im Zimmer beinahe ganz dunkel 
wurde. Dann ftieß er rafch folgende Worte hervor: „Sie lieben 
Helene nit! Sie wollen reich werden! Laffen Sie von ihr, reifen 
Sie ab; bier ift die Verfchreibung meines ganzen Vermögens.“ 

So ſprechend warf er dad Papier vor mich hin. 

IH jprang auf, und in meinem Eifer, an ihn zu gelangen, 
vergaß id, daß der Tifch zwifchen ung war. Ich ftürzte ihn um, 
und mit ihm die Lampe. Wir waren im Dunkeln. Unfähig, ein 
Mort hervorzubringen, tappte ih, unartikulirte Laute ausftoßend, 
nad ihm, um ihn für feine furdhtbare Beleidigung zu züchtigen. 
Da ftieß ich mit beiden Füßen an ihn. Er lag auf dem Boden 
und über ihm der Tifh. Er war ohnmächtig. Ich ftürzte hinaus 
und ſchickte ihm feine Bedienten. 

Die ich auf meinem Zimmer im Gafthof angelommen bin? 
— ih fönnte e3 nicht jagen. Ich weiß nur, daß ich die halbe 
Naht bald wüthend wie ein Tiger im Käfig umher gerannt, 
bald vernichtet und beſchämt mich aufs Sopha warf und das 
Gefiht mit den Händen bevedte, um gleich wieder aufzufpringen 
und den mwüthenden Rundgang aufs Neue zu beginnen. Meine 
BZimmernahbarn wurden ungeduldig, Elopften da an die Wand, 
dort an die Thüre; aber e3 gelang ihnen nur, mich auf Momente 
zur Ruhe zu bringen. Geſchimpf und Gefluche, das ich endlich 
zu hören befam, berührte mich eben fo wenig, als vorher die 
leifen Mahnungen. Es wäre mir ganz recht geweſen, wenn fie 
über mich bereingeftürzt und e3 zu einem Handgemenge gelommen 
wäre. Alſo fo tief war ich gefallen, fo weit war es mit mir ge 
fommen, daß man es wagte, mir Geld anzubieten, um mir eine 
Braut abzulaufen? Ein ehrenhafter Mann glaubte mit mir einen 

Morig Hartmann, Werke. VI. 20 


306 Novellen. 


jolhen Handel maden zu fünnen? D wie elend, wie tief ge- 
demüthigt fühlte ih mid; mie jehr jehnte ih mich nad der Zeit 
zurüd, da ich eine foldhe Beleidigung, eine folhe Zumuthung 
für unmöglih hielt. E3 war die goldene Zeit meines Lebens. 
Aber Tannen hatte fi durch eine Ohnmacht meiner Züchtigung 
entzogen; hätte ich ihn ohrfeigen, hätte ich ihn erbrofjeln können, 
ih mwäre jegt ruhiger. Was blieb mir zu thun übrig? Philo— 
ſophiſch hatte ih das Duell zu allen Zeiten al3 höchſt barbarifch 
und unvernünftig verachtet, jetzt ſchwebte mir nicht? vor als der 
Gedanke, wie ih. dem Manne, der mir folches bieten konnte, 
gegenüberftehe und ihm eine Kugel direkt ins Herz ſchieße, oder 
ruhig jelbjt die Kugel erwarte. Ich wollte unbarmherzig fein, 
ich wollte ihn auf dem Plate tödten; er durfte nicht leben. Ich 
jegte mich hin und jchrieb eine Herausforderung, die ihm Dr. Bille 
mit erftem Morgengrauen bringen ſollte. Mit diefer Heraus: 
forderung in der Taſche verließ ich das Hotel und ftreifte um das 
Haus meines künftigen Sefundanten umber. 

Die Morgenluft fühlte ein wenig meine fieberifche Stirne. 
„Wie recht hat der Mann,” dachte ih, „ven ich erſchießen will; 
er gibt fein Vermögen her, um das Glüd eines jungen Mädchens 
zu retten; ich will ein Vermögen erwerben auf Koften dieſes 
felben Glüdes.” Und ein anderer Gedanke fuhr mir durch den 
Kopf und erfüllte mich mit Entfegen: Muß nicht Agnes eben jo 
von mir denken, wie Tannen? Wie ein Verrüdter lief ich der 
Bila zu, mit dem feften Vorſatz, fie zu meden und zu fragen, 
ob fie mic) in der That für fo jämmerlich halte, daß ich mir eine 
Braut ablaufen ließe. Das Gitter vor der Villa war glüdlicher: 
mweife geſchloſſen; ich hing daran und — ich weiß nicht, wie e3 
fam — ih meinte. E3 war mir, al3 trennte mich diefes Gitter 
für ewig von Agnes. Die Villa, der Garten, al’ die Pracht, 
die mich fo mächtig angezogen hatten, erjchienen mir jegt in ges 
fpenftigem Lichte; ich hätte nur noch hineindringen mögen, um 
Agnes daraus zu entführen, und mit ihr in die ftille Stube 
meiner Mutter oder in das grüne Pfarrhaus ihres Vaters zu 


Zwanzig Millionen. 307 


flüchten. Ich mwollte nicht3 mehr ala ihre Liebe und mieder ein 
wenig Achtung der Menfchen. Agnes war, wie immer, wieder 
die erjte im Garten. Al fie mich erblidte, ftürzte fie mir ers 
ſchrocken entgegen und rief: „Um Gotteswillen, was ijt Ihnen ? 
Sie jehen fürchterlich zerftört aus.“ 

Ich ergriff aber beide Hände, die fie mir entgegenitredte, 
und zog fie in die Laube, in der ich fie zum erſten Male gefehen, 
und indem ich diefe Hände mit Küffen bevedte, bat ih: „Agnes, 
verlaflen Sie mich nit; helfen Sie mir mich wieder aufrichten; 
ich liebe ja nur Sie!“ 

Im Gefühl meiner Sünphaftigkeit ſank ich ihr zu Füßen und 
drüdte mein Gefiht in die Falten ihres Kleides. Sie veritand 
jhnell, was in mir vorging, und lächelte auf mich herab, wie 
Engel auf reuige Sünder herabbliden follen. Dennoch zauderte 
fie noch mit einem tröftlichen Worte, 

„Keine Buße, Agnes," flehte ich, „Leine Verzögerung meines 
Glüdes! Ich weiß es, du liebft mich !" 

Sie beugte fi zu mir herab, und alle Millionen der Erbe 
wiegen das Glüd nicht auf, das mit dem läuternden Kuß, den 
fie mir auf die Stirn vrüdte, mein ganzes Weſen durchdrang. 

Ich dachte nicht mehr an Tannen und Genugthuung. Als 
er gegen Mittag in die Villa fam, trat ich ihm mit Agnes an 
der Hand entgegen und fagte: „Herr Graf, Sie haben mich geftern 
nad einer Verlobung gefragt; nunmehr hat eine ftattgefunden, 
und bier ftelle ich Ihnen die Braut vor.” 

Tannen fuhr erjhroden zurüd. „Um Gott,” rief er bla 
und zitternd, „vergeben Sie mir! Ich habe an Ihnen ein fhänd» 
liches Verbrechen begangen.” 

„Ich habe Ihnen nicht? zu vergeben,” fagte ich, „ich habe 
Ihnen nur zu danken.” 


* * 
* 


Pfarrer Gillmer traute uns; meine Mutter tröſtet ſich beim 
Anblick ihrer Schwiegertochter über den Verluſt der Millionen. 


308 Novellen. 


Zannen verjhaffte mir durd eine Empfehlung an feinen Bater 
die Stelle eine Kuftoden an einem numismatifchen Kabinet, die 
mir achthundert Thaler einbringt; Agnes hatte fi ala Gou— 
vernante etwas erjpart und meine Mutter verzehrt ihren Wittwen- 
gehalt mit ung. Meine Bücher bringen aud) etwas ein, und fo 
geht e3, trotzdem die Erziehung meiner Kleinen ein Erfledliches 
koftet, ganz gut von Statten; fo gut, daß ich die zwanzig Mil: 
lionen nie bedauert habe, und daß ih ein Zmanzigmillionftel 
meines Glüdes um diefe Summe nicht verfaufen würde. 


Berredhnet. 


Erftes Kapitel. 


An einem ziemlich Fühlen April:Nachmittage fuhr ein ele 
gantes, von zwei ſchönen engliſchen Pferden gezogenes, offenes 
Kabriolet, von den Eaux-vives kommend, über den großen 
Quai von Genf. Die Pferde trabten langfam dahin; denn die 
beiden in dem Kabriolet figenden Perfonen erfreuten fih an ber 
ſchönen Ausfiht, die diefer Punkt über ven See und bis an den 
Jura gewährt. E3 waren zwei den Genfern belannte Perfönlich- 
feiten; aber jelbjt wenn fte das nicht gewejen wären, man hätte 
doch auf den erſten Blid ihre Abſtammung und ihr gegenfeitiges 
Berhältniß zu einander kennen müflen. Sie waren Engländer, 
und Vater und Tochter. Den Genfern waren fie befannter, als 
es ſonſt an diefen Ufern verweilende Fremde zu fein pflegen, 
und dieſes Belanntfein verbanften fie ihrem Reichthum, für den 
die Eingebornen diefer Stadt immer ein aufmerffames Auge 
haben, ihrem längeren, ſchon Jahre dauernden Aufenthalt in 
einer am See gelegenen Billa und endlich ihrer auffallenden 
Schönheit. Der Vater war einer jener ſchönen Greife, wie man 
fie im Norden nur in England findet und vie Tochter, fein 
Ebenbild, eine jener merkwürdigen Blondinen mit griedifchem 
Profil und blauen Augen, wie fie ebenfall3 nur in England an- 
zutreffen find. Als fie am Caf& du Nord vorbeitrabten, Tiefen 


310 Novellen. 


bie Gäjte ans Fenfter, um „Sir William Spencer und Miß Lucy“ 
zu fehen ; vaffelbe geſchah im zweiten und dritten Kaffeehaufe des 
Quais. Solche Aufmerkſamkeit erregten die Zwei ſchon feit 
Jahren, ſchon ſeit Sir William mit feiner damals vierzehn: 
jährigen Tochter zum erjten Male in Genf erſchien und das war 
nur natürlih. Denn der Anblid dieſer ſchönen Jugend und 
dieſes beinahe eben jo ſchönen Greiſenthums war ein in der That 
höchſt erquidlicher und er wurde immer bedeutender und an- 
ziebender, je mehr Lucy fih zu einem vollendeten Weibe ent: 
mwidelte. Sie war jegt an zwanzig Jahre alt und ftand in ihrer 
ſchönſten Blütbe. 

Sie hielt, wie immer, auch heute die Zügel. An der Bergues: 
Brüde angelommen, lenkte fie plöglich nach links und der Rhone⸗ 
jtraße entgegen. 

„Wollten wir nicht nah Haufe und zu Tifche?” fragte ver 
Vater. 

„Wir haben noch Zeit,” antwortete die Tochter — „noch Zeit 
genug, um über die Corraterie zu traben.” 

„Du bift nicht aufrichtig, Lucy!“ fagte der Vater mit vor 
wurfsvollem Lächeln. 

„Rein,“ fagte Lucy, ebenfalls lächelnd, „ich bin es nicht.“ 

„Alſo babe ich errathen“ — fuhr der Vater fort — „du 
lenkteſt hier ein, weil du auf der Brüde Mr. Starling kommen 
ſiehſt.“ 

„Ganz richtig!“ lächelte Lucy. 

„Siehſt du, Lucy, es iſt dir doch, als hätteſt du ihm Un— 
recht gethan, ſonſt würdeſt du ſeinem Gruße nicht ausweichen.“ 

„Nicht fo, Papa, von Unrecht iſt feine Rede. Thut man 
allen Denen Unrecht, die man nicht heirathen will? Ich bin mir 
deſſen bewußt, daß ich alle die guten Eigenfchaften Starling3 
anerfenne — aber man begegnet einem Manne nicht gerne, von 
dem man weiß, daß man ihm nächſtens einen Korb wird geben 
müfjen. Ich bin ihm gut, er iſt ein vortreffliher Menſch, und 
ich behandle ihn darnach; aber das täufht ihn, darauf baut er 


Verrechnel. 311 


Hoffnungen, und trotz aller Winke, die ich ihm gebe, fährt er 
fort, mir den Hof zu machen und demnächſt wird er bei mir mit 
einem Antrage herausrücken, wie er es ſchon bei dir gethan hat. 
Er weiß, daß ich ihn nicht liebe, aber er iſt überzeugt, daß ich 
ihn lieben werde; das iſt bei ihm zur fixen Idee geworden.“ 

„Aber warum ſollſt du ihn nicht lieben können?“ fragte Sir 
William. 

Lucy peitſchte ungeduldig die Pferde, daß fie ausgriffen und 
in raſcheſtem Trabe die Gorraterie hinauffprengten. 

„Peitſche mir den guten Hektor nicht jo unbarmberzig,” 
lächelte ver Vater. 

„Das iſt deine Schuld, Papa. Wie fannjt du nur folde 
Fragen ftellen? Biſt du ſchon fo alt, um folder Fragen fähig zu 
jein? Du fagft immer, daß du mit mir wieder jung geworben 
bift — ich glaube e3 manchmal, aber ſolche Fragen machen mic 
wieder irre.” 

„Wohl! Du haft Net!” fagte der Vater begütigend, — 
„aber ſelbſt für unbeftimmte Gefühle ſucht man wenigſtens nad 
allgemeinen Urfahen; man will ſich doc Rechenſchaft geben — 
und du befonders, du Tiebft es font, dir deine Gefühle und 
Empfindungen Har zu machen. Ich bin überzeugt, du kannſt 
mir auch bier, wenn du mwillft, mwenigftens einen allgemeinen 
Grund deines Widerftrebend gegen diefe Heirath angeben.” 

Lucy ſchwieg eine Zeit lang, dann fragte fie: „Nicht wahr, 
Papa, auf dem Namen deines Onkels, des alten Lord Macdouald, 
ruht ein gewifler Schandfleck?“ 

„Ja! Leider!“ feufzte Sir William. _— „Leider hat er ein 
Leben, das ein ruhmvolles hätte fein fönnen, durch eine gemeine 
Gelvfpefulation befledt. Leider hat er feine hohe Stellung be: 
nugen wollen, um ſich fchnell zu bereichern. Ohne diefe Schwäche 
würde unfere Familie einen Mann aufzählen, der ſich neben 
Nelfon ftellen könnte. Aber wie kommſt du jet auf Lord Mac- 
douald?“ 

„So!“ antwortete Lucy, „ich wollte dir ſagen, daß ich ganz 


312 Novellen. 


wohl einen Lord Macdouald mit feinem Schandfled heirathen 
könnte, weil er trog Allem ein Mann ift, weil er etwas gethan 
bat, weil er mit einer Eleinen elenden Brigg große feindliche 
Schiffe genommen, weil er Europa und Amerifa mit feinen 
fühnen Thaten in Erftaunen geſetzt hat.“ 

„Du liebjt die Soldaten, wie alle Mädchen,” jagte Sir William 
und fügte lächelnd hinzu: „ich jhäte mich glücklich, bei Trafalgar 
gewejen zu jein, ſonſt hätte ich das Herz meiner Tochter vielleicht 
nie gewonnen.” 

„Papa !” rief Lucy und fah ihn mit einem zärtlich vorwurfs⸗ 
vollen Blide an, „du wäreſt ein Mann und mein dear Pa 
aud ohne Trafalgar. Du irrt übrigens; ich liebe die Soldaten 
nit. Zum größten Theile find fie roh, ungebildet und einge: 
bildet; fie meinen, die Welt fünnte ohne fie nicht beftehen und 
gewiß wäre fie glüdlicher, wenn e3 nicht einen einzigen Soldaten 
auf Erden gäbe. Ihre ſchönſten Thaten find oft, in der Nähe 
betrachtet, nur Früchte der Gewohnheit, der Disziplin, des Ges 
borfams oder höchſtens de3 QTemperamentes, felten der Ueber: 
[egung, der Ueberzeugung, der Begeifterung. Ihre auffallenditen 
Thaten zerftören in ihnen oft das Beſte, was der Menſch in 
Herz und Seele befigt. Nein, Papa, ich liebe die Soldaten nicht, 
aber ich liebe die Männer, die etwas thun, die etwas zu Stande 
bringen, und ich werde nie einen andern heirathen und lieben, 
als einen foldhen, der ſchon etwas gethan hat, oder dem ich es 
anjehe, daß er etwas Rechtes zu thun fähig ift.“ 

„Well! Well!“ murmelte der Alte, „vu bift mein altes 
britiihes Mädchen — aber,” fügte er lächelnd hinzu, „ich glaube, 
daß wir der Gefahr, Herren Starling zu begegnen, nicht mehr 
ausgejegt find und daß wir anjtatt nach Carouge nah Haufe 
fahren könnten.” 

Lucy wandte den Wagen, als Künftlerin, wie man ſich au: 
zudrüden pflegt, auf dem Raume eines Teller8 und jagte in bie 
Stadt zurüd und über die Inſel auf ven Quai des Bergues. 
Dort ließ fie die Pferde wieder langfamer geben, um den Zög- 


Verrechnet. 313 


lingen eines der zahlreichen Knaben-Inſtitute Genfs, die eben 
den Quai kreuzten, Raum zu laſſen und ſie mit Muße betrachten 
zu können. 

„Sieb, vie hübſchen Knaben, Papa,” ſagte fie. 

„Es find viele Engländer darunter,” bemerkte Sir William. 

In demjelben Augenblide erſcholl ein heftiges Angitgejchrei. 
Ein Mädchen von ungefähr dreizehn Jahren hatte ein Kleines 
Kind, das fie unvorſichtiger Weife aufs Parapet gejegt, um e3 
fih auf den Rüden zu heben, in vie Rhone fallen laſſen. „Tas 
Kind! das Kind!” ſchrie fie und lief mit der Schnelligkeit der 
Ahonewellen um die Wette dem Quai entlang. Die fürhterlichite 
Todesangit blidte aus ihrem blafjen, von Entfegen entitelltem 
Gefihte. Lucy ſah, ſelbſt vor Schreden erftarrt, bald das 
Mädchen an, bald nad dem Kinde, da3 von den fürchterlich 
reißenden und fchäumenden Nhonewellen, dort, wo fie mit ges 
mwaltigem Falle aus dem See ftürzen, herauf» und herunter: 
geworfen wurde, bald auf der Oberfläche erfchien, bald unter 
dem Schaume verjhwand. Trotz dem Feflelnden des jchredlichen 
Schauſpiels wurde ihre Aufmerkſamkeit plöglih doch auf ein 
anderes in ihrer nächſten Nähe abgelenkt. Einer der Knaben des 
vorüberziehenvden Inſtituts befand fih auf dem Trottoir, un: 
mittelbar am Wagen Lucy’3, der ftille hielt, mit einem älteren 
Manne, offenbar einem Lehrer oder dem Vorſteher der Anftalt, 
in einem heftigen Kampfe. Der Knabe, ein Junge von ungefähr 
fünfzehn Jahren, blond, ſchlank und einer von denen, die Lucy's 
Aufmerkfamkeit ihrer jugendlichen Echönheit wegen angezogen, 
ftieß den Lehrer, der ihn krampfhaft feftzuhalten ftrebte, mit Ge: 
walt von fih; der Lehrer aber faßte ihn mit beiden Armen um 
den Leib; da ballte ver Schüler die Fauft und ftieß ihn vor den 
Kopf, daß er rückwärts taumelte. Der Knabe jtand im felben 
Augenblide auf dem Steingelände und ftürzte fi, unter dem 
Auffchrei feiner Mitfehüler und des verfammelten Volkes, in das 
fhäumende Maffer, das ihn mit feiner reißenden Schnelligkeit 
fofort entführte und für lange Sekunden unfihtbar machte. Der 


314 Novellen. 


Lehrer, der ſich mit offenbarer, moralifher Anftrengung von 
dem betäubenden Schlage raſch erholte, rang die Hände und 
rief, indem er den Quai hinablief, nah Hülfe. Ihm nad) eilten, 
rufend, fchreiend, zum Theil weinend, die andern Zöglinge und 
an dieſe ſchloß fi das Volk, das fi bei dem allgemeinen Ge— 
fchrei verfammelt hatte. Auch Lucy jagte die Pferde, den Blid 
immer den ſchäumenden Wellen zugewandt, der Menge nad). 

„Der brave Junge! der brave Junge!” rief fie, indem jie 
dahintrabte, als ob fie ihn erreichen wollte. 

„Der arme Lehrer!” fagte Sir William, „welche Verant— 
mwortlichkeit, welch ein Unglüd für ihn, wenn der Junge zu 
Grunde geht. Aber er hat das Geinige gethan, ihn von dem 
tolfühnen Sprunge abzuhalten. Es ift Herr Röder, ein Deut: 
fcher, der Vorſteher der Anftalt.” j 

Qucy hörte nicht; fie hatte fich im Wagen aufgerichtet und 
fah, indem fie die Pferde dvahinlaufen ließ, unverwandten Blides 
nad der Rhone. Indeſſen hatte Herr Röder den Rod abgemworfen, 
um ſich feinem Schüler nachzuftürzen; aber da entwickelte fich 
zwifchen ihm und den anderen Zöglingen ein ähnlicher Kampf, 
wie der, den er joeben durchgemacht hatte. Er ftand am Stein: 
gelände und ftrebte hinauf zu gelangen, während fich die inaben 
an feinen Leib, an Arme und Beine hängten, um ibn vom 
Sprunge abzuhalten. Sein Gefiht war blaß, feine großen 
Ihmwarzen Augen traten aus den Höhlen und ftarrten während 
des Ringens fortwährend in die ſchäumende, fürdhterliche Fluth, 
wo fie weiß und heulend durch die Schleußen unter der neuen 
Brüde der hydrauliſchen Mafchine entgegenſchnellt. Plöglich Härte 
fih fein Gefiht auf; ein glüdliches Lächeln beleuchtete e3; ein 
tiefer Seufzer hob feine Bruft und das ganze verfammelte Volt, 
das nach dem erjten Lärm ſprachlos und ftumm geworden war, 
ftieß ein Geſchrei des Jubels hervor. Der heldenmüthige Knabe, 
der eben im Schwalle verſchwunden gemwejen, hing an einer der 
Schleußenpfoften, indem er mit dem einen Arme den Balken um: 
Hammerte, mit dem andern das gerettete Kind über die Fluthen 


Verrechnet. 315 


hielt. Die ſchottiſche Mütze war verſchwunden; aus ſeinem röth— 
lich blonden Haar, wie aus den Kleidern, floß das Waſſer in 
Strömen. Er achtete nicht darauf; er ſah nur auf das Kind 
hinab, daS bewegungslos unter feinem linfen Arme lag. Die 
Zöglinge ftürzten auf die Brüde, um ihm nahe zu fein und riefen 
jubelnd und gerührt: „Odo! Odo!“ Er nidte ihnen zu und ant- 
wortete dem Zuruf mit einem kurzen Läheln; dann aber fuchte 
er fih mit größter Kaltblütigfeit auf feinem gefährlihen Stand— 
punkte feſter zu ftellen und, nachdem ihm diejes gelungen, faßte 
er da3 Kind mit beiden Händen und neigte es leife und langjam, 
um das Wafler aus Mund und Nafe ftrömen zu laſſen. Er 
führte diefe Operation fo befonnen au3, wie ein alter Schwimm: 
meijter, und mit dem beiten Erfolge; denn das Kind, das bis: 
ber bewegungslos in jeinem Arm gelegen hatte, begann zu zappeln 
und fing endlich zu weinen an. 

Mittlerweile flog auf der Stromfchnelle, von der Bergues: 
Brüde her, mit der Rajchheit eines Pfeiles, einer der ftet3 be- 
reitftehenden Rettungskähne herbei. Zwei kräftige Fifcher lenkten 
ihn kunſtvoll dem Knaben entgegen, der ihnen in dem Augen: 
blide, da ihn der Kahn berührte, das Kind entgegenftredte. 
Uber bei diefer Bewegung verlor er feinen Halt und jtürzte aufs 
Neue in die Fluth, während die Fiicher das Kind in den Händen 
hielten. Wieder erſcholl ein Schrei des Entſetzens, wieder ver: 
wandelte er fih in einen Ausruf der Freude, denn Odo arbeitete 
fih fogleih wieder empor und ſchwang ſich mit einer kräftigen 
Bewegung in den Kahn. An diefem war ein Seil befeftigt, 
daran er an das Ufer, an die Treppe des daſelbſt an Ketten lie: 
genden Waſch-Schiffes gezogen wurde. Nun liefen Herr Röder 
und die Zöglinge wieder von der Brüde auf den Quai zurüd, 
Herr Röder fprang die Treppe hinab und empfing feinen Zög- 
ling in feinen Armen, während die Schweſter des geretteten 
Kindes daflelbe in Empfang nahm und noch ganz außer Faflung, 
blaß und verwirrt dur die Menge und ihrer in der Nähe lie: 
genden Wohnung, in der Vorftadt St. Gervais, entgegeneilte. 


316 Novellen. 


Alles drängte fih um den Retter, der jetzt oben auf dem 
Quai ftand. Das Volk ertheilte ihm Lobeserhebungen, feine 
Mitſchüler juchten ihm die nafje Jade abzuziehen, indem fie ihn 
bald mit feinem Namen Odo, bald mit Man, bald mit Mary 
anredeten. Cr hörte das Alles nicht, er betrachtete nur die auf: 
geſchwollenen Schläfe feines Lehrers. 

Ich erinnere mich,“ fagte er fanft, „das habe ich gethan; 
ih habe Ihnen einen Fauftichlag verſetzt. Verzeihen Sie mir, 
Herr Röder.” 

„Sei nicht fo dumm, mein Junge,” ermwiderte diefer; „das 
ift dir für alle Ewigkeit vergeben. Berlieren mir nicht die Zeit; 
du mußt aus den nafjen Kleidern heraus, daß du dich nicht er: 
kälteſt.“ 

Herr Röder ſah ſich um, wie nach einem befreundeten Hauſe 
ſuchend, in das er mit Odo treten fonnte. Da ſtand Lucy neben 
ihm und fagte in deutjcher Sprache: „Herr Röder, vertrauen Sie 
mir diefen Gentleman; wir bringen ihn in unferem Wagen raſch 
in unfer Landhaus, das nicht fern von bier ift.” 

„sh nehme mit Dank an, Miß; meine Penfion liegt eine 
balbe Stunde weit von der Stadt.” 

Schon hatte Lucy den Mantel, ver eben ihre und ihres 
Vaters Füße bededt hatte, um die Schultern Odo’3 geworfen; 
Sir William machte eine einladende Bewegung und Odo, der 
Lucy verfhämt und lächelnd gewähren ließ, ftieg in den Wagen. 
Herr Röder jhidte die andern Zöglinge nad Haufe mit dem 
Auftrage, friſche Wäſche und Kleider in die Villa Sir Williams 
zu fenden und ftieg, ebenfalls eingeladen, in den Wagen. Miß 
Lucy ſchwang ſich auf den Bod und der Wagen rollte mit Blißess 
fhnelle über ven Quai du Montblane ihrem Landhauſe zu. 
Bon Zeit zu Zeit wandte fie den Kopf, und wenn fie Odo zittern 
ſah, ſchlug fie mit dem Eifer eines mwettrennenden Grooms auf 
die Pferde los. Auch dauerte die Fahrt nicht fünf Minuten. 

Sir William führte Lehrer und Schüler fogleih in fein 
Schlafzimmer, das er ihnen zur Verfügung ftellte, und verließ 


Verrechnet. 317 


ſie, um ihnen volle Freiheit zu laſſen. Ein Bedienter brachte 
gleich darauf Wäſche und Schlafrock, und ein anderer heißen 
Thee, den Miß Lucy bereitet hatte. Odo wollte den herrlichen 
Kaſchmirſchlafrock genießen und noch einigemal darin im Zimmer 
auf- und abſtolziren; aber Herr Röder zwang ihn ins Bett, 
hüllte ihn ein und gab ihm zwei Taſſen Thee zu ſchlürfen. Er 
ſaß dann noch einige Zeit bei ihm, und nachdem er ſich über— 
zeugt, daß ſein Puls nicht um einen Schlag ſchneller ging, als 
es bei ſeinen fünfzehn Jahren natürlich war, empfahl er ihm, 
daß er ein wenig zu ſchlafen verſuche und ging dann in den 
Salon, um Sir William und ſeiner Tochter für ſo viel Güte zu 
danken. 

Miß Lucy kam ihm ſogleich entgegen. „Wie geht es Ihrem 
Schüler?“ fragte ſie eifrig. 

„Ganz vortrefflich,“ lächelte Herr Röder, „ich danke. Ich 
hoffe, er wird ein wenig ſchlafen und nach einer Stunde wird 
von dem Abenteuer keine Spur vorhanden ſein.“ 

Sir William lud ihn ein, ſich zu ſetzen; dann EN er: 
„Ber ift der Knabe ?” 

„Sr ift Ihr Landsmann, Sir,” antwortete Herr Röder. 
„Sr kommt aus Devonfhire und ftammt aus einer guten Familie; 
. fein Name ift Odo Worthington.” 

„Es ſcheint ein braver unge,” fagte Sir William. 

„D Sir,” rief Herr Röder mit Innigkeit, „ein vortrefflicher 
unge, ein ausgezeichneter Junge; ja, ich kann fagen, ein aus: 
gezeichneter Menſch.“ 

„Ich habe,” fuhr Eir William fort, „während der Junge 
in der Rhone war, auch Sie bevauert; ich habe Ihrer beinahe 
eben jo ſehr gedacht, wie des Knaben und feiner Gefahr. Welch 
ein Unglüd für Sie, wenn dem Jungen etwas geſchah — melde 
Berantwortlichkeit den Eltern gegenüber, die ihn Ihnen anver: 
trauen. Es ift eigentlich fchredlih. Ich dachte ſchon daran, daß 
ih Ihnen bezeugen wollte, daß Sie Ihr Möglichſtes gethan, 
um ihn von dem Sprunge ind Wafler abzuhalten. Nun Gie 


318 Novellen. 


tragen das Zeugniß im Geſichte,“ lachte der alte Herr. „Hat 
der unge gerungen und gejtoßen wie der beite Borer Alt: 
englands. Man jchlägt fich felten jo gut, um fich zu einer guten 
That den Weg zu bahnen.“ 

Herr Röder lächelte mit und jagte, indem er das gejchwol: 
lene Gefiht im Spiegel betradhtete: „Diejer Stoß ijt mir lieber, 
als jede Lieblofung, die ich je von meinen Zöglingen erfahren; 
ih möchte eine Spur davon zum ewigen Andenken bewahren, 
wenn das ginge. Was aber meine Lage während der Gefahr be 
trifft, fo verfichere ih Sie, Sir, daß ich nicht einen Augenblid 
an meine Verantwortlichkeit gedacht habe, fondern nur an die 
ſchreckliche Möglichkeit. Der Tod diejes Jungen wäre mir jo 
nahe gegangen, wie der Tod meines eigenen Kindes. Niemand 
weiß es befjer ala ih, daß die Welt an ihm einen trefflichen 
Bürger verloren hätte. Solche Knaben wachſen nicht alle Tage.” 

„Indeed? Wirklich %* fragte Lucy, die in einem Fauteuil 
Herrn Röder gegenüber faß, halb in Gedanken verjentt, halb 
zerjtreut. 

„Wirklich !” beftätigte Herr Röder, zu der jungen Dame ges 
wendet. „In einer fiebenzehnjährigen pädagogifhen Laufbahn 
batte ich Gelegenheit, über taufend jugendlihe Gemüther kennen 
zu lernen und zu ergründen, wie e3 fonft nicht möglich ift; aber. 
ich verfichere Sie, Miß, ich kenne vielleicht nicht drei Menjchen, 
die fih an männlidem Muth, an Güte des Herzens, an Gerade 
beit des Geifted und Gemüthes und an Wahrhaftigkeit des ganzen 
Weſens mit ihm mefjen könnten. 

Der alte Pädagog hatte diefe Worte mit folder Innigleit 
ausgeſprochen, daß ihm die Stimme zitterte, und daß ſich Miß 
Lucy gerührt fühlte. 

„In der That? in der That?” wiederholte fie fortwährend, 
während der Vater verficherte, daß der Junge ganz diefen Ein: 
drud made. 

Es trat ein Augenblid des Stillihweigend ein, und viel: 
leiht nur um etwas zu jagen, vielleiht auch weil ihr Alles, 


Verrechnet. 319 


was Odo betraf, Theilnahme einzuflößen anfing, fragte Lucy: 
„Was bedeuten die Namen, die ihm Ihre Zöglinge gegeben ha— 
ben? Die Einen nannten ihn Mary, die Andern Man?“ 

Herr Röder lächelte: „Das ſind Spitznamen. Jeder der 
Zöglinge hat ſeinen Spitznamen und je beliebter einer iſt, einer 
deſto größeren Anzahl von Spitznamen erfreut er ſich. Odo war 
kaum drei Tage in meinem Haufe, als er ſchon Mary hieß. 
Seine weiblihen Tugenden, feine Sanftmuth, feine Bereitwillig— 
feit zu jeder Hülfe brachten ihm diefen Mädchennamen zu Wege. 
Bald aber erkannte man, daß fich mit diefen ächt weiblichen 
Eigenſchaften eben fo viele, ja mehr, männliche verbanden, 
Muth, Ausdauer, Offenheit u. |. w., und um die Gerechtigkeit 
und das Gleichgewicht herzuftellen, hieß er plöglich neben Mary 
auch Man, der Mann, der normale Menſch.“ 

Sir William und Miß Lucy lächelten. Herr Röder lächelte 
mit. „Olauben Sie mir,” fagte er, „der Inftinft ver Kinder und 
Mitſchüler erräth das innerfte Wefen eines neuen Zöglings eben 
jo ſchnell und Mar, wenn nicht ſchneller und Harer, als die alte 
Erfahrung des Erzieherd. Sehr oft hat mir der Spignamen den 
Meg angedeutet, den ich mit einem neuen Zögling einzufchlagen 
hatte.” 

Solde und ähnliche Bemerkungen des berühmten Pädagogen 
intereflirten Sir William, indem fie ihm belehrende Blide in 
eine ihm ganz unbelannte Welt gewährten und erwedten feine 
Zheilnahme um fo mehr, als Alles, was Herr Röder fagte, den 
Stempel der Wahrheit trug, leicht und raſch einleuchtete und 
dabei deſſen große Liebe zu feinem Berufe und ein allgemeines 
menschliches Wohlwollen athmete. Sir William hatte viel zu 
fragen und Miß Lucy borchte mit ihm und ließ ſich gerne bes 
lehren. Erziehung hat für alle weiblichen Seelen einen großen 
Reiz; diefer Beruf, fo ſchön vertreten wie er hier war, fchien 
ihr mit Einem Male der ſchönſte und beiligfte. Doch hörte fie 
am liebften zu, wenn Herr Röder, aus der Theorie auf die 
Praris übergehend, fih auf DBeifpiele berief und bei dieſer 


320 Novellen. 


Gelegenheit manchmal Odo, ala das nahe liegende Erempel, er: 
mähnte. Cine ſolche Erinnerung mahnte fie daran, fi nad 
feinem Befinden zu erfundigen und fie ftand auf, um einen Be: 
dienten ins Schlafzimmer zu fehiden und wollte ven Salon ver: 
laſſen, als fie erftaunt am Fenfter ftehen blieb und, in ven Hof 
binabblidend, auärief: 

„Papa, da tummelt ein englijcher Midſhipman dein Reit⸗ 
pferd.“ 

Sir William eilte ans Fenſter, auch Herr Röder erhob ſich 
und rief, nachdem er einen Blick in den Hof geworfen: „Iſt der 
Junge ſchon auf dem Rücken eines Pferdes!“ Jetzt erſt erkannten 
Sir William und Miß Lucy in dem reitenden Midſhipman ihren 
Gaft, den fie noch im Bette wähnten. E3 war in der That Odo, 
der, von Reitknechten, Bedienten und dem ganzen Hausgefinde 
bewundert, die engliihe Stute des Hausherren, die eben vom 
Hufihmied heimgefehrt war, in dem nicht fehr ausgedehnten 
Hofe der Villa, mit wilder Kunft die ganze Schule und allerlei 
Kunftftüde durchmachen ließ. 

„Sr figt gut zu Pferde,” fagte Lucy. 

„Beſſer, al3 man es an uns Geeleuten gewohnt iſt,“ ver: 
fiherte Sir William. 

Herr Röder wollte ihn rufen; aber Lucy bat, ihn nicht zu 
ftören; offenbar freute e8 fie, den Jungen zu Pferde zu jehen, 
wie er fich in jugendlicher Kraft und Anmuth tummelte. 

„Er trägt in der That eine engliihe Seemannsduniform, 
ganz orbonnanzmäßig,” fagte Lucy; „wie kommt er in dieſe 
Tracht ?“ 

„Odo ift mwirklih Midfhipman in der englifhen Marine,” 
erwiberte Herr Röder; „er ijt bei mir nur auf Urlaub, um bie 
deutiche und franzöſiſche Sprache zu erlernen. Man hat ihm aus 
der Penſion zum Kleiverwechfeln die Uniform gejhidt, vie er 
jonft nur an Sonntagen trägt.” 

„Alfo mein richtiger Kamerad,“ lachte Sir William. 

Seht bemerkte Odo, daß er vom Fenfter aus beobachtet war; 


Verrechnet. 321 


er erröthete, ſchwang ſich mit einem Sprunge aus dem Sattel, 
übergab das Pferd einem Reitknecht und ging, einem Winke 
Herrn Röders folgend, ins Haus. Eine Minute darauf trat er 
in den Salon. 

„Anftatt ſofort Sir William und Miß Spencer aufzuſuchen,“ 
fagte Herr Röder, „um für jo viel Güte zu danken, tummelit 
du dich im Hofe zu Pferde herum. Odo lachte: „Sie haben 
Recht, Herr Röder; aber eben, da ich mic hier anmelden lafjen 
wollte, ſah ich das prächtige Pferd, und ich fonnte nicht wider: 
jtehen. Sie willen ja, meine Leidenjchaft.” 

„a, ja,“ lachte Sir William, „das Pferd ift die unglüd: 
liche Leidenschaft aller Seeleute; ich kenne dag. Wo wir immer 
landeten, wir ſahen uns überall gleich nad Pferden um, und 
eine halbe Stunde nad der Landung trabten und jagten wir, 
zur Beluftigung der Straßenjungen, oft auf den erbärmlichjten 
Rofinanten durch die erfchrodene Bevölkerung. 

„Da Sie das kennen, Sir William, jo werden Sie mic 
entſchuldigen,“ lachte Odo wieder, „ich bitte Sie um Verzeihung.” 

Sir William ergriff die dargebotene Hand und jchüttelte fie; 
eben jo that feine Tochter, die Odo ebenfalld um Verzeihung bat. 

„Ja,“ ſagte Odo dann, „id foll au danken; ich danke 
berzlich für fo viel Gaftlichkeit, für das gute Bett, für den guten 
Thee und für — ja für mas noch?“ ſetzte er verlegen mit einem 
gegen Herrn Röder gewandten fragenven Blide hinzu. 

„Run, für fonft nichts; das ift Alles,” lachte Sir William. 

Herr Röder wollte ih nun mit feinem Zöglinge empfehlen ; 
aber fie wurden zum Eſſen, mit dem man ihrethalben fo lange 
gewartet hatte, zurüdgehalten. Gegen Abend brachte fie Sir 
William, der verficherte, daß er fih nur ungern von Odo trenne, 
in feinem Wagen nad der jhönen La Chätelaine, der Anftalt 
Herrn Röders, zurüd, Lucy hielt wieder die Zügel. Als fie in 
den, das meitläufige Gebäude umgebenden Park einfuhren, ftan: 
den jämmtliche Zöglinge verſammelt da und empfingen den Helden 
de3 Tages mit hundertfahem: Hoc Odo! Hurrah Mary! Vive 

Morig Hartmann, Werke. VI. 21 


3232 Novellen. 


Man! und fo rufend, Tiefen fie neben dem Wagen bis an die 
TIhüre des Haufes. Lucy machte ed den Eindrud, al3 wäre fie 
der Wagenlenter eines einziehenden Triumphators ; die Rufe der 
Kinder erjchütterten fie im Innerſten, und als Odo aus dem 
Wagen geiprungen und, von ihnen umgeben, geberzt, umarmt, 
gefüßt wurde, traten ihr die Thränen in die Augen. Sie erin- 
nerte ſich plöglich de3 Geſpräches über Heirath von heute Morgen 
und dachte: MWeld ein Glüd, einen jolhen Sohn zu haben — 
oder einen Geliebten, einen Mann, der nach vollbrachten Helden: 
thaten von feinem Volke jo empfangen wird! 


Bweites Kapitel. 


Odo, von Sir William eingeladen, fo oft als möglich zu 
fommen, war in der englifchen Billa bald heimifh. Herr Röder, 
der treffliche Erzieher, wohl wijjend, daß der Umgang mit ſolchen 
Menſchen das beite Erziehungsmittel fei, erlaubte ihm, fo oft e3 
jeine Stunden geftatteten, die neuen Freunde zu befuchen. Nach 
folhen Bejuchen pflegte Sir William auszurufen: Lucy, Lucy, 
warum bijt du nicht ein Junge geworden! und Lucy fühlte fi 
durd diefen Vorwurf, der ein mittelbare8 Compliment für Odo 
war, nicht gekränkt. Diefem that die Liebe, die man ihm im 
Haufe zeigte, fehr wohl; fie madte ihn heiter und gefprädig, 
ohne daß er fih von Urſachen und Wirkungen Rechenfchaft abges 
legt und feine Unbefangenheit verloren hätte. Meiſt war er mit 
Bater und Tochter allein. Mr. Starling, der Heirathsfandidat, 
dem Lucy damals auf der Bergues:Brüde ausgewichen war — 
welchem Umſtande fie das Schaufpiel in der Rhone und die Bes 
kanntſchaft Odo's verdankte — kam einige Male und traf auch 
Odo. Er machte den erwarteten Heirathsantrag nit und nahm 
endlich Abſchied, da er Genf verlaffen und eine größere Reife 
machen wollte. Bei der Gelegenheit konnte er nicht umbin, Odo 


Verrechnet. 323 


das größte Lob zu ertheilen, und lächelnd auf die mütterliche 
Zärtlichkeit Luch's für den Knaben anzuſpielen. „Werden Sie ja 
ein großer Mann, Odo,“ fagte er zu dem Knaben, „wenn Sie 
fi die Liebe Ihrer Mama erhalten wollen, wenigitens ein Nel— 
fon, Wellington oder Shalejpeare; Ihre Mama kann nur die 
höchſten Spiten ver Menjchheit lieben; gewöhnliche Menſchen find 
ihr ein Greuel.“ 

So fpredhend, verneigte er fih und verließ das Zimmer. 

„Mama! Tachte Odo, „Miß Lucy, er nennt Sie meine 
Mama.” 

Lucy lächelte und legte ihm die Hand auf den Kopf. Doc 
ſchien es ihr, als hätte fih Starling damit, daß er ihr diefen 
Titel gab, an ihr rächen wollen. 

„Iſt es wahr, Mama, daß Sie nur einen großen Mann 
lieben können ?” fragte Odo naiv: 

„Rein, mein Freund,“ erwiderte fie ernſt, „es ift nicht u 
Ich kann nur einen Mann, einen rechten Mann lieben, aber ein 
großer Mann braucht es nicht zu fein.” 

Es ijt mir, dachte fie bei ſich, al3 ob ich felbft einen Knaben 
lieben könnte. Aber um diefen Gedanken zu zerftreuen, ſchlug fie 
Odo ein Federballſpiel vor und verbradhte fie ven ganzen Nach— 
mittag mit ihm in kindiſchen Spielen, obmohl es beſprochen ge- 
weſen, heute ein Shaleſpeare'ſches Stüd, und zwar Julius Cäfar 
zu lefen. Sie hatte es ſich nämlich bei Herrn Röder ausgewirkt, 
mit Odo den englifchen Dichter lefen zu dürfen. Mit jener weib⸗ 
lihen Vorliebe für Erziehung, die jetzt zum erſten Male in ihr 
erwachte, wünſchte fie Etwas zur Ausbildung ihres Lieblings bei« 
zutragen. Sein männlicher Charakter ſchien ihr jo gut angelegt, 
daß fie glaubte, man müßte ihn ganz feiner felbftändigen Ent: 
widelung überlafjen, ja er ftand in ihren Augen fo hoch, daß fie 
e3 für Anmaßung angejehen hätte, da eingreifen zu wollen. 
Auch feinen Umgangsformen glaubte fie ihre ganze Natürlichkeit 
belafjen zu müffen, um der Gerabheit und Wahrhaftigkeit diejes 
Weſens, das ihr jo wohl gefiel, nicht den geringjten Abbruch zu 


324 Novellen. 


thun. Aber Odo hatte noch Vieles zu lernen; fein Gejhmad 
fonnte noch an Kunſtwerken gebildet, da3 viele Gute in ihm 
fonnte an großen Beijpielen geſtärkt werden; darum liebte fie 
e3, mit ihm zu lejen. 

Bald waren ihr die Tage, an denen Odo kam, die liebiten 
in der Woche; an ſolchen Tagen machte fie feine Befuche und 
nahm fie feine an. Ueberhaupt beſchränkte fie den fonft ſchon 
geringen Umgang mit wenigen engliſchen Familien immer mehr; 
am liebjten war fie im Garten mit Odo allein, oder mit ihrem 
Bater und Odo im Wagen, den See entlang fahrend, oder auf 
dem See felbjt im Kahne, deſſen Segel und Steuer der Mivfhip- 
man leitete. Der Frühling hatte fih in aller Pracht entfaltet, 
die er, freilih etwas jpät, am Genfer See zur Schau trägt. 
Der Garten der Billa war von Blüthen bevedt und von Nachti— 
gallen bevölkert; der See warf feinen blauen Schimmer durch 
die Fenſter des Haufes. Die Dampfihiffe brausten immer zahl: 
reicher und von Quftreifenden überfüllt, hin und ber. Das war 
die Zeit, bald plaudernd, bald nur in dem Anblid verfenkt, bald 
mit dem Buche im Garten umherzuwandeln. 

Einmal, in fchattiger Allee auf» und abgehend und ven 
ſchönen Berjen John Keats horchend, fiel ihr plöglich Francesca 
da Rimini ein und ihr Paolo und der berühmte Vers: 


„Und jenes Tages lajen wir nicht weiter.“ 


Sie erſchrak; fie war empört über fich felber und legte, um Odo 
zum Schweigen zu bringen und ſich zu fammeln, die Hand in 
das Bud. 

„Leſen wir nicht weiter?” fragte er. 

Diefe Worte erfchredten fie aufs Neue. Sie fuhr zufammen, 
ließ die Arme finfen und ſah vor jih bin auf den Sand des 
Meges. 

„Was haben Sie, Mama?” fragte Odo beforgt. 

Diejer Titel, der Odo jeit Starlingd Abſchied geläufig ge: 
worden, brachte fie wieder zu fich. 


Verrechnet. 325 


„Nichts, nichts, mein Sohn,” ſagte fie lächelnd — „etwas 
Schwindel. Leſen Sie weiter, leſen Sie ja weiter.“ 

Aber als er wieder beginnen wollte, fragte ſie: „Wie alt 
war Sohn Keats, als er dieſen Endymion ſchrieb?“ 

„Ich glaube,“ ſagte Odo, „er war achtzehn Jahre alt.“ 

„Iſt ein ſolcher achtzehnjähriger Knabe“ — ſagte Lucy vor 
ſich hin und weiter gehend — „nicht mehr werth und nicht mehr 
Mann, als Hunderttaufende von fünfzigjährigen Männern?“ 

„Gewiß! gewiß!” rief Odo, „mir ift er lieber, als die hun— 
dert achtzigjährigen Lords des Oberhauſes.“ 

„Wie alt find Sie, Odo 9 

„Aber Mama |” rief diefer lachend — „welch' ein Gedächtniß! 
Gerade um drei Tage älter, al3 da Sie mid vor drei Tagen 
fragten, und um vierzehn Tage älter al3 vor zwei Wochen, und 
gerade um einen Monat älter, als da Sie fi vor einem Monat 
nad meinem Alter erkundigten: alfo fünfzehn Jahre, acht Monate, 
neun Tage. Nie habe ich mein Alter fo genau gewußt, wie jet, 
da Gie die Güte haben, mich fo oft zu fragen.“ 

„Sie find unartig,” fagte Lucy verbrießlih, indem fie that, 
als ob fie ihm feinen Scherz übel nähme, während fie fich eigent- 
lich nur über ſich felbft ärgerte, da fie fich erinnerte, in der That 
jo oft nad feinem Alter gefragt zu haben. 

„Sein Sie nicht böfe,” bat Odo, ergriff ihre Hand und füßte 
fie zu wiederholten Malen. 

Da mußte fie wieder an Francesca da Rimini denken und 
unwillkürlich blidte fie zurüd, ob nicht die ftrafende Gerechtigkeit 
hinter ihr ftebe. 

„Ben ſuchen Sie, gute Mama % fragte Odo. 

Diefer Name brachte fie wieder zu ſich; fie lächelte und fagte: 
„Niemand, liebet Sohn.“ 

Doch verabjchiedete fie den Knaben heute früher ala fonft 
und ging nod lange und allein im Garten auf und nieder. Sie 
litt dag Schmerzlichfte; denn fie wußte ihr Herz von einem tiefen 
und innigen Gefühle erfüllt und kam ſich dabei lächerlich vor. 


526 Novellen. 


Eie fagte jih, die Liebe eines jungen Mädchens zu einem ehr- 
würdigen, edlen Greije, wie 3. B. ihrem Vater, fünne etwas 
Heldenmüthiges, Rührendes haben, aber die Liebe eine Mäd— 
chens ihres Alters, um das ſich ſchon fo viele Bewerber drängten, 
da3 feit Jahren vermäbhlt fein könnte, zu einem Knaben fei lädher: 
lich, ja müffe, in ven Augen jedes Verftändigen, abitoßend, häß— 
lih, beinahe verbrecheriſch jein. Sie dachte weiter, in die Zukunft. 
Noch in ſechs Jahren, nad einer langen Zeit, wird Odo ein 
zweiundzmanzigjähriger Junge, noch immer ein Anabe, beinahe 
ein Kind fein und fie, ein Weib, ein fertiges Weib, das ſchon 
Kinder auf feinem Schoofe wiegen könnte. Sie verfolgte diefen 
Gedanken weiter, immer weiter in die Zukunft: das Mißverhält- 
niß wurde immer fchreiender, immer auffallender. Mit vierzig 
Jahren ſah fie jich als früh gealterte, in Mißmuth und Entjfagung 
verblühte Frau, während Odo in feiner unverwüſtlichen Friſche 
al3 junger Mann neben ihr ftand, beinahe wie ein Sohn. Ich 
bin eine Närrin, fagte fie ſich und zudte die Achſeln. Bis jet 
glaubte alle Welt und glaubte ich felbit, daß ich einen geraden 
und gejunden Menjchenverjtand habe; nun fommt die Närrin 
zum Vorſchein. Man ſcheint auf dem Kontinent Recht zu haben, 
baß jede Engländerin einen verrüdten Winkel in Herz oder Hirn 
haben müfje. Wir wollen aber fehen, wer ſtärker ift, dieſer ver- 
rüdte Winkel oder der gefunde Reft. 

Sie ging in ihre Stube und fohrieb an eine Freundin in 
England einen langen Brief, in dem fie zuerft viel von den 
Schönheiten des Frühlings am Genfer See erzählte, dann von 
der neuen Belanntfhaft mit einem herrlichen Knaben, den der 
Vater jehr liebe und aus dem gewiß mit der Zeit etwas Rechtes 
werde. Dann fügte fie hinzu, daß fie fih alle Mühe gebe, auf 
den Knaben einen guten Einfluß auszuüben und welche Freude 
es gewähre, zur Entwidelung einer jo ſchönen männlichen Natur 
da3 Geinige beizutragen. Indeſſen, meinte fie, nad einer läns 
geren Ausführung dieſes Sages, indeffen fann man bei einem 
mit jo vielen fertigen Geiſtes- und Herzens : Eigenjhaften ge: 


Verrechnet. 327 


borenen Charakter wenig thun. Anſtatt ihn erziehen zu wollen, 
müßte man irgend ein liebliches, von der Natur eben ſo reich 
ausgeſtattetes junges Mädchen, das jetzt acht oder zehn Jahre 
alt ſein dürfte, für ihn ſo erziehen, daß es einſt würdig wäre, 
ſeine Lebensgefährtin zu werden. 

In einem P. S. fügte fie hinzu: „Du wirſt über meinen 
Brief und deſſen gouvernantenhaften Charakter lächeln. Du haft 
mid eben feit vier Jahren nicht gejehen und fennjt nur den 
Wildfang, den du in Fräulein Meyers Penſion in Bonn ver: 
laffen; ich bin feitvem, bejonders in den legten Monaten, viel 
ernfter geworden und — ich freue mich defjen — viel älter al3 
meine Sabre.“ 

Nicht nur große Schriftfteller wie Goethe beruhigen und be: 
freien fih aus der Befangenheit eines Gefühles durch Nieder: 
fohreiben und durch die fogenannte Objektivirung derfelben ; auch 
junge Mädchen befigen diefe Kunft und den Drang, fie auszu— 
üben — daher in gewiffen Jahren ihre Schreibeluft, ihr Hang 
zu Tagebücern und Korrefpondenzen. Freilih, das Genie befreit 
fih aus folder Befangenheit für immer, das junge Mädchen nur 
für Momente. 

Als Lucy ihren Brief geendet hatte, war fie von ihrer 
ſchweſterlichen oder mütterlihen Liebe zu Odo volllommen über: 
zeugt, ruhiger als feit vielen Tagen und über mande Thorheit 
lächelnd, vie ihr während ver legten Zeit durch Herz und Kopf 
gegangen, begab fie fich zu Bette. 

Lucy hatte das Bedürfniß, fich jelbft in diefer Ueberzeugung 
zu befejtigen, und zu dieſem Zwecke nahm fie gegen Odo einen 
ganz andern, wie fie jagte, einen mütterlihen Ton an, der nicht 
immer ohne Strenge war. Sie unterbrüdte mit Bewußtfein eine 
gewifle Befangenheit, die fie in feiner Geſellſchaft immer fühlte, 
behandelte ihn mit der größten Vertraulichkeit und hatte oft 
Manches an ihm auszujegen. Odo war anfangs betroffen, fügte 
fih aber bald, ja bat fie, doch recht viel an ihm zu hofmeiftern. 
Dieß geſchah manchmal mit einer Herbheit, daß ein Dritter hätte 


328 Novellen. 


glauben können, der Umgang mit diefem jungen Menjchen jet 
ihr zur Laſt, oder daß jie mindeſtens in jeiner Geſellſchaft große 
Geduldproben zu beftehen habe. 

Sie fuhren wieder auf dem See, Odo und Lucy allein. Die 
Sonne war jhon untergegangen. Sie famen von der Billa 
Diodati, dem Landhauje, das Byron jo lange bewohnt und in 
dem er feinen Freund Shelley jo oft empfangen hatte. Sie hatten 
einige Tage vorher Child Harald gelejen und dieje Fahrt, um 
die Odo feine Freundin gebeten hatte, war ihm wie eine fromme 
Pilgerfahrt. In der That fühlte er fi noch auf dem Rüdmwege 
von jener unſäglich ſchönen Andacht erfüllt, welche jugendliche, 
empfänglihe Gemüther an folhen Stätten überlommt, die durch 
ihre Ideale geweiht worden find. Er war mit dem erften Schritte 
in die Billa Diodati ſchweigſam geworden und ſchweigſam ſaß 
er noh am Steuer. Lucy hatte ihn beobachtet und wußte, was 
in ihm vorging. Sie jaß ihm gegenüber am andern Ende des 
Kahns und ſah ihn mit gerührtem Blide an. Diefe ftrebende, 
frifche, ahnungsvolle Seele erfüllte fie mit einer heiligen Ehre 
furcht und das war ihr fo rührend, daß fie diefe Ehrfurdt 
vor einem Kinde empfand. Sie felbit kam fich ihm gegenüber 
fo alt, fo fertig vor; dort drüben war alle Zukunft und Alles, 
was uns aufregt, wenn wir an Zukunft denken. Die Thränen 
ftiegen ihr ins Auge, eben als er ausrief: „Miß Lucy, ein 
folder Child Haralo 

Eie mußte antworten, aber fie durfte nicht fo antworten, 
mie fie es gewünjcht hätte, und fo rief fie mit jener Heuchelei, 
mit der wir oft unjere fanfteften Gefühle und Gedanken verjteden, 
und mit einer Heftigleit, die ihre Rührung übertäuben follte, 
zurüd: „Schämen Sie fih, Odo! Solche zerriffene, zerfahrene, 
mit der ganzen Welt unzufrievene Männer, vie feine Männer 
jind, kann die Welt nicht brauchen. Der ruhige Mann, der feine 
Pflicht kennt und in feinem Berufe das Seinige thut, ift mehr 
werth, als alle Byron’schen Helden zufammen genommen !“ 

Diefen Mann, den fie höher ftellte, als alle Byron'ſchen 


Verrechnet. 329 


Helden, ſah ſie keimen in demſelben Knaben, den ſie ausſchalt; ſie 
vertheidigte ihn gegen ſeine eigenen Worte. Aber das ahnte er 
nicht, auch dachte er nicht lange über ihre Meinung nach; er 
hörte nur ihr Schelten und war nur von ihrer Heftigkeit erſchreckt. 
Er zog raſch das Segel ein, ließ das Steuer fallen und eilte zu 
ihr hinüber, daß der Kahn ſchwankte. 

„Seien Sie nicht böſe, Miß Lucy,“ bat er, indem er ſich zu 
ihren Füßen ſetzte und ihre Hand ergriff. 

Die andere Hand legte ſie auf ſeine Haare und ſagte mit 
zitternder Stimme: „Ich bin es nicht. Verzeihen Sie, Odo!“ 

„Verzeihen?“ lächelte der Knabe. „Ich bemerke ſeit einiger 
Zeit, daß Sie ſehr ſtrenge mit mir find. Aber es thut mir un—⸗ 
endlich wohl.” 

„Wie?“ fragte Lucy überraſcht. 

„Sch will Ihnen ein Geſtändniß machen, Miß Lucy.” 

„Sin Geftändniß?” fragte Lucy, vor Angjt zittern. 

„Sie willen, id habe Sie lieb. Ich habe Sie lieb, weil Sie 
jo find, wie Sie find. Aber ich habe Sie noch aus einem andern 
Grunde lieb.” 

„Run?“ 

„Meine Mutter ſtarb, als ich ein Kind von fünf Jahren 
war. Gie felbjt hatte noch nicht fünfundzwanzig Jahre; fie war 
jo jung, fo ſchön. Ich erinnere mich ihrer, als hätte ich fie heute 
gejeben, beſonders eines Augenblides. Sie mußte in eine Ges 
jellihaft und war dazu ſchon angelleivet. Da kam fie noch herein 
in die Kinderftube, um mir gute Nacht zu jagen. Als fie herein: 
trat, fagte ih mir: mie fehön ift meine Mutter! Gie trug ein 
weißes Kleid mit Heinen blauen Streifchen; das war ganz luftig 
wie Nebel; in ihren blonden Haaren hatte fie eine Kleine Roſe 
mit einigen grünen Blättern. Sie war fo ſchön und ich fagte ihr 
es auch. Da lächelte fie fo lieblih, ach jo unendlich lieblich und 
füßte mich. Ich werde das nie vergeſſen. Miß Lucy, geben Sie 
mir einen Ruß!” 

Lucy büdte fich herab und blidte ihm ind Geſicht. Ein 


330 Novellen. 


trauriger, aber unbefangener, offener Blid kam ihr entgegen, 
der jih nad der unſchuldigſten Liebe jehnte und fie büdte fi 
tiefer und küßte ihn auf die Stirne. Sogleich fuhr er fort: 
„Aber ich erinnere mich nicht diefes Momentes allein; ich erinnere 
mid auch, wie fie einmal einer Unart wegen mit mir zanfte und 
diejer Moment ift mir eben fo theuer, wie der andere. Ad, eine 
Mutter, die ſchilt, ift wohl ebenfo lieblih, wie eine Mutter, die 
füßt. Miß Lucy, ich habe diefes Glüd nur fo kurz genoſſen! 
Denn Sie mit mir zanfen, Miß Lucy, möchte ih Ihnen beide 
Hände füffen. Ach, wie erinnern Sie mich an meine Mutter!“ 

So ſprechend drüdte er jein Gefiht in ihre Hände und fie 
fühlte jie von Thränen benegt. Sie ſaß aufrecht und blidte vor 
ih hin. Ein Dampfſchiff näherte fich; fie wedte Odo nicht, daß 
er den Kahn aus deſſen Bereiche bringe. Es brauste vorbei und 
das Heine Fahrzeug tanzte auf den aufgeregten Wellen. Lucy 
drüdte das Gefiht, das in ihren Händen lag, und dachte der 
Lehre, die fie eben empfangen hatte. — Nun, fagte fie fich, dieſe 
Lehre jtimmt ja ganz mit meinen Vorjägen überein! — 

Der Kahn trieb auf der blauen, dunklen Fläche des Sees; 
wie zufällig und jpät jtieß er ans Ufer. 


Drittes Kapitel. 


Trotz der Uebereinjtimmung ihrer Vorfäge mit ven Gefühlen 
Odo's war es vielleiht gerade fein Geſtändniß, welches die 
Mütterlihkeit verhinderte, im Herzen Lucy's Wurzel zu fallen. 
Bon dem Augenblide an, da fie wußte, daß fie Odo an feine 
Mutter erinnerte, erhob ihr Herz Widerſpruch. Sie erkannte, 
daß fie einen falſchen Weg eingeihlagen, um jene Ruhe zu ge 
winnen, die fie auf jo unbegreifliche oder wenigſtens vermwerf: 
liche Weife verloren hatte und fie wäre glücklich gemwejen, hätte 
fie irgend einen neuen Gegenitand der Beichäftigung gefunden. 


Verrechnet. 331 


Wäre in dieſer Stimmung Herr Starling zurückgekehrt, er hätte 
vielleicht eine zuſagende Antwort erhalten. Dieſe Sehnſucht nach 
einem neuen Gegenſtande war es, die fie durch einen natür— 
lihen Gedankengang eines. Tages nad dem Kinde, das Odo ge: 
rettet, und nach deilen Familie fragen ließ. 

„Haben Sie,” fragte fie Odo, „nie etwas von dem Kinde 
gehört? Hat ſich die Familie niemals um den Retter gekümmert?“ 

„Do, doch!” antwortete Odo. „Gleich ven Tag nad meinem 
Rhonefprung erſchien der Vater des Kindes in der Benfion, um 
mir die Hand zu drüden und zu danken. Er that es jo jhön 
und einfach, daß er Herrn Röder ganz für fi einnahm. Auch 
mir gefiel ver Mann jehr und ich habe ihn darauf wieder beſucht.“ 

„Und wer ijt er?” 

„Das ift ſchwer zu jagen; denn er ift gewiß nicht, wofür er 
fih ausgibt. Ih fand ihn im fünften Stod eines Haufe der 
Contance, wo er mit feinen zwei Kindern, den beiden Mädchen, 
eine einzige Stube bewohnt. Da fieht es ärmlich genug aus. 
Am Fenfter fteht ein Werktifch, und an dem fit der Mann und 
gravirt Uhrgehäufe. Als er mir entgegenfam und mic empfing, 
that er e3 mit einer Feierlichleit und auf eine Weife, als wäre 
er gewohnt, in großen Sälen zu empfangen.” 

„Wie heißt er?” fragte Lucy. 

„Sr nennt fih Durand und diefen Namen findet man au 
mit dem Prädikat, Graveur‘ an feiner Thüre. Aber er fagte mir 
bei meinem Bejuche fofort, daß dieß nicht fein Name fei und er 
nannte mir einen italienijchen, den ich nicht recht gehört und den 
ich vergejlen habe — denn, fehen Sie, Miß Lucy, e3 war noch 
eine Berfon im Zimmer, die mich mehr intereflirte, als Herr 
Durand, und die meine ganze Aufmerkjamleit in Aniprud nahm.” 

„Das Kind, das Sie aus der Nhone gerettet haben 2” 
fragte Lucy. 

„Das war aud da, aber das meine ich nicht, fondern das 
andere Mädchen, welches das Kind in die Rhone fallen ließ. Miß 
Lucy, wel ein Gefiht und welche Augen! Ein kleines mageres 


332 Novellen. 


Gefihtchen, blaß wie Lilien ; und Augen, die größer jchienen als 
das ganze Gefiht und fo ſchwarz und leuchtend wie ſchwarze 
Diamanten! Ein ſolches Gefiht kann nur aus Stalien kommen. 
Und wie mich das Gefihthen anſah, jo voll Milde und Dank: 
barkeit ; ich verfichere Sie, ich hätte für diefen Blid mitten im 
Winter noch zehn Mal in die Rhone jpringen können !” 

„So!“ fagte Lucy, „wie alt ift dag Kind?“ 

„Sie wird wohl dreizehn Jahre alt fein.“ 

„Und feitvem haben Sie fih um diefe Leute nicht weiter ge 
fümmert? Haben Sie die Bekanntſchaft nicht fortgeſetzt?“ 

„Nein,“ fagte Odo, „jeitvem habe ich jede freie Stunde, die 
mir die Penfion gelaffen hat, bei Ihnen zugebradt.“ 

Lucy athmete tief auf und fah einen Augenblid ſchweigend 
auf die Arbeit hinab, die fie in Händen bielt. 

Nach einiger Zeit fragte fie wieder: Kann man für die Fa— 
milie nichts thun, da fie fo arm ſcheint?“ 

„Ih glaube nicht,“ fagte Odo. „Herr Durand, oder wie 
er font beißen mag, fieht in feiner Armuth fo ftol; aus und 
jcheint von ihr umgeben wie von einer Feftung, die jede ſolche 
Annäherung abmweist. Herr Röder meint, er habe gewiß viel 
befjere Tage gejeben, und er hält ihn für einen italienifchen 
Flüchtling. Auch ſprach er mit feinen Kindern italienisch. 

Lucy nahm fih vor, die Belanntfhaft diefer italienifchen 
Familie zu mahen; auch ſprach fie Odo davon, fi von ihm 
einführen lafjen zu wollen; aber Tag um Tag verging, ohne daß 
fie ihn zu dem Gange aufgeforbert hätte, Ein gewiſſes Etwas, 
das jie fih nicht eingeftehen wollte, hielt fie davon ab. Odo 
hatte von dem Mädchen mit folder Wärme gefproden, daß fie 
eine gemwille Eiferfuht fühlte, und daß fie nicht ſelbſt die Ge 
legenheit des Wiederſehens herbeiführen wollte. Um fich diejes 
Gefühles wegen vor ſich ſelbſt zu entichuldigen, fagte fie ſich, daß 
ja auch Mütter auf ihre Söhne, Schweitern auf ihre Brüder 
eiferfüchtig find, und fie fand das natürlich. Iſt es nicht Schmerz: 
lich, ein Weſen, das uns bis zu einem gewiſſen Momente durch 


Verrechnet. 333 


ſo innige Bande verbunden war, plötzlich durch innigere und 
ſtaärkere Feſſeln an eine Frau geknüpft und ſich entführt zu ſehen? 
Sie empfand, wie weh eine ſolche Erfahrung thun mußte und 
beſchloß, dieſe Erfahrung ihrem Vater fo lange als möglich, viel- 
leicht immer, zu erfparen. 

So vergingen die Wochen. Der Herbſt war ſchon da, als 
Odo eine? Nachmittags mit eigenthümlich aufgeregtem Gefichte 
vor Lucy trat, die gedankenvoll am Fenſter des Gartenhäuscheng 
ſaß und ihre Blide über den See ftreifen ließ. Der Ausprud 
feine® Gefihts war ein Gemifh von Freude und Niederges 
fchlagenbeit. 

„Bas haben Sie?" fragte Lucy und fühlte, daß ihr Herz 
jehneller zu pochen anfing. 

„Eine große Neuigfeit,” fagte Odo, „von der ich nicht weiß, 
ob fie mich freuen, ob traurig maden fol. Sie werben ed mir 
fagen und Sie werden mir rathen, Mama.“ 

„Was ift e8? was iſt es?“ 

Odo zog einen Brief aus der Taſche. „Es ift ein Brief 
meined Vormundes. Cr fündigt mir an, daß mein Schiff, die 
Penelope, beitimmt ift, eine Erdumfeglung vorzunehmen und an 
den wichtigſten Punkten des ftillen Ozeans, der Südſee, der in: 
difhen und chineſiſchen Gemäfjer zu landen. Es jteht mir frei, 
ob ich diefe wundervolle Reife, die wenigſtens drei Jahre dauern 
fol, mitmachen will oder nicht?“ 

„So?“ fragte Lucy gedehnt, „drei Jahre?“ 

„Was fol ich thun 2” fragte Odo. 

Zucy.ließ die Arme ſinken und lächelte: „Sie fragen, mas 
Sie thun follen? Als ob Sie nicht fhon müßten, was Sie thun 
werben !” 

„Es ift wahr,” rief er, „ich weiß, was ich wünfce. Die 
berrliche Reife! wie viel kann ich ſehen, erfahren, erleben! Wie 
anders werde ich zurüdlommen! Sole drei Jahre zählen mehr 
als fonft ein ganzes Leben; ich denke, ich werde bei meiner Rüd: 
fehr ein fertiger Mann fein. Und doch, Mi Lucy,” fügte er 


334 Novellen. 


nad einigen Minuten mit weniger Feuer und mehr Wärme bin- 
zu, „ih will Ihren Rath haben, ih will Ihnen gehorden. 
Wenn Sie Nein fagen, jo bleibe ich.” 

Lucy ſah ihn betroffen, beinahe erfchroden an. Sie mußte, 
wie jehr die Theilnahme an einer jo großen Unternehmung feinem 
Charakter, feinen innigjten Wünſchen entſprach; fie wußte, daß 
eine ſolche Weltfahrt die Vermwirklihung feiner fhönften Träume 
war, daß ihn einer folchen feine ganze Yünglingsphantafie ent 
gegen drängte — und doch wollte er Reifen oder Bleiben von 
ihrem Rathe abhängig machen, wollte er ihr vielleicht, wenn er 
eine Ahnung davon hatte, mit welcher Wärme fie an ihm bing, 
ein ſolches Glüd opfern. Es war graufam von ihm, daß er in 
dem Augenblide, da er ihr einen joldhen Beweis feiner Anhäng- 
lichkeit gab, fie zwang, ihn jelbjt aus ihrer Nähe zu verbannen, 
einen Rath auszufprehen, der nur auf Entfernung, auf Trens 
nung lauten konnte. 

Nur um einer längeren Rede auszuweichen, die ihre Auf: 
regung hätte verrathen können, fagte fie furz und mit Entfchies 
denheit: „Sie werben reijen !” 

„Rein, nicht ſo!“ bat Odo. — „Sie follen für mid nad: 
denken und überlegen, Sie jollen reiflih erwägen, wa3 mir gut 
ift, was nicht. Das wird mir gut thun und ih möchte Ihnen 
fo gerne gehorhen. Und,“ fügte er zaudernd hinzu, „wenn Sie 
nur den leifeften Wunſch haben, daß ich hier bleibe; ach wenn 
Ihnen, meine gute Yreundin, mein Bleiben nur einen Augen: 
blid Freude madt, fo fagen Sie es.“ 

Ahnt der Knabe, was er mir ift? fragte ſich Lucy und zog 
die Augenbrauen zufammen. „Sie haben Recht,” fagte fie laut, 
al3 ob fie den letten Theil feiner Rede nicht gehört hätte, „vie 
Sache muß überlegt fein. Ich werde Ihnen morgen meine Meis 
nung jagen.“ 

Sir William fam dazu, Als er hörte, um was es ſich han: 
velte, begriff er nicht, wie ein junger Menſch da zögern könne. 
Er malte ven Reihthum, die Mannigfaltigkeit, ven Nugen einer 


Verrechnet, 335 


folhen Reife mit jugendlicher Begeifterung aus und rief einmal 
über andere: „Fort mußt du, old fellow, du mußt fort!“ 

Trotzdem verficherte Odo, als er Abends Abſchied nahm, daß 
in ihm über feine Reife nicht3 feftitehe, und daß er Alles von dem 
Rathe der Freundin, den er morgen einholen wolle, abhängen laſſe. 

„Deine Freundfchaft für den Jungen,” fagte Sir William, 
al3 er mit feiner Tochter allein war, „wird dich doch nicht ver: 
leiten, Lucy, ihm einen Rath zu geben, der —“ 

„Seien Sie ruhig, Papa,” fiel ihm Lucy ein, „ich bin feine 
fo arge Egoiſtin.“ 

Der Bater fuchte ihr noch Allerlei betreffs des Nutzens einer 
ſolchen Reife für einen jungen Seemann auseinander zu ſetzen, 
aber fie entſchuldigte fih mit Kopfſchmerzen und ging früh auf 
ihr Zimmer. 

Als Odo am folgenden Tage wieder fam und fie um das 
Ergebniß ihrer Ueberlegung fragen wollte, fiel fie ihm ſelbſt mit 
der Frage: „Wann reifen Sie?” ins Wort. 

„Morgen!“ antwortete Odo und ſchlug die Augen nieder. 

„Morgen !” lifpelte fie und fügte hinzu: „Dann müfjen Sie 
nod viel mit Bapa fein.“ 

So ſprechend, führte fie ihn zu Sir William, der ihm nod) 
Berhaltungsregeln gab, bis Lucy zum Aufbruch mahnte. Der 
Wagen ftand bereit, und Vater und Tochter brachten Odo bis 
an das Parkthor der Penfion. Sir William drüdte ihm die 
Hand, Lucy fhloß ihn in ihre Arme, ſchob ihn rajch von fid 
und fprang in den Wagen, wandte die Pferde und jagte in Ga- 
lopp der Stadt zu. Sir William wiederholte und murmelte 
immer vor fi hin: „Schade! Schade! Ich hatte den Jungen fo 
lieb wie meinen eigenen Sohn!” Zucy erwiderte nichts; fie ſchlug 
auf die Pferde ein. Sie war zufrieden mit ſich; fie hatte es 
diefen ganzen Tag durchgefegt: fie war nicht einen Augenblid 
mit Odo allein geblieben. 

Wieder am nächſtfolgenden Tage gegen Mittag ftieg Odo in 
den Poftwagen. Herr Röder und eine Anzahl feiner Zöglinge 


336 Novellen. 


hatten ihn bis an das Pofthaus begleitet. Als fih der Wagen 
in Bewegung fegte, gingen Lehrer und Zöglinge gleich traurig 
davon. In einer Buchhandlung in der Nähe ftand Lucy und ſah 
mitten zwiſchen den Büchern des Auslegelaftens hindurch ver 
traurigen Abfchiedsfzene zu. Eine ſchwere Thräne rollte auf die 
Bücher herab. j 


viertes Kapitel. 


In dem Landhaufe am Genfer See hat fih Manches ver: 
ändert. Sir William ift nur felten zu fehen. Nur an fehr ſchönen 
Sommertagen fährt fein Rollſtuhl vom Haufe, durch die breite 
Platanenallee bi an die Terraffe, an deren Fuße die Wellen 
lifpeln. Lucy ſchiebt ven Rollftuhl, ftellt dem Vater einen Schemel 
unter die Füße, die fie forgfam mit einem Shaw! umhüllt, fegt 
fi ihm dann gegenüber, nimmt ein Buch zur Hand und martet 
ab, ob ver Bater lieber ſchweigend oder plaudernd über ver 
ſchimmernden Fläche hinſehe, oder ob er es vorziehe, daß fie 
ihm etwas vorlefe. Die leidige Gicht, die ihn jo früh gezwungen 
hatte, den Seedienſt, dann jein Vaterland zu verlaffen, hat ſich 
bei dem fiebenzigjährigen Manne mit erneuerter Gewalt einge: 
ftellt. Nun find e8 mehr als drei Jahre, daß fie gegen den fonft 
fo kräftigen Greis einen Krieg führt, indem fie ihm nur wäh— 
rend der jhönften Sommertage einen kurzen Waffenftillftand ge 
währt. Die Winter find ein fortwährender Kampf. Er behaup: 
tet, daß er in diefem Kampfe längjt erlegen wäre, wenn ihm 
nicht die Hülfe, die unausgejegte Pflege feiner Tochter zur Seite 
jtände. Wie glüdlich fühlt er ih, wenn er manchmal am Ufer 
des Sees jo dafigen und gedankenvoll hinausſehen kann, bis ver 
Montblanc, fein Haupt mit Abendrojen befränzt, ihn mahnt, 
fih vor den ſonſt jo unſchuldigen Zephyren des Genfer Sees 
flüchtend zurüdzuziehen. Die Heiterkeit der Gegend fpiegelt ich 
dann in feinem Gefichte noch glänzenver ala im See, und bie 


. 


Verrechnet. 337 


von Schmerz und Leiden zerarbeiteten Züge lächeln ſanft vor ſich 
hin. Seine Tochter iſt in ſolchen Momenten trauriger anzuſehen, 
als der gequälte alte Mann. Ihr Geſicht mit den durchſichtigen, 
feinen Farben, mit dem blonden Haare, iſt ſo jung wie vor drei 
Jahren und ſieht überhaupt aus, als ob es nie altern könnte; 
aber der Ausdruck dieſes ewig jungen Geſichtes iſt gealtert. Bei 
näherer Betrachtung erkennt man doch einige Fältchen, die ſich 
von oben nach unten zwiſchen die Augenbrauen eingedrängt und 
dieſe etwas näher an einander gezogen haben. Drei Jahre der 
Krankenwärterſchaft gehen nicht vorüber, ohne Spuren zurückzu— 
laſſen. Vielleicht fam bier noch Anderes hinzu. Sir William in 
jeinen jehmerzensfreien Momenten glaubte mandhmal, der zu: 
nehmende Ernjt fomme bei Lucy daher, daß fie ihre Jahre fo 
hinſchwinden ſehe, ohne Liebe, ohne Ausfiht auf häusliches 
Glüd. Doc ſprach er ihr nicht mehr von Heirath; fie hatte dieſe 
Geipräde, die Sir William nah der Wiederkehr feiner Krank: 
beit oft aufs Tapet brachte, ein für alle Male mit ver Erklärung 
befeitigt, daß fie fich nie zu vermählen gedenke. Sie that dieß, 
al3 Mr. Starling einige Monate nad Odo's Abreiſe wieder er: 
ſchienen und dießmal einen fürmlihen Heirathsantrag machte. 
Sir William fah außerdem ein, daß feine Gefpräcde eitel fein 
und leere Theorien enthalten könnten, da Qucy außer aller Ver: 
bindung mit der Welt lebte und ſich in ihrem Bereiche fein Mann 
befand, auf den ihre Gefühle gelenkt werden konnten. Außerdem 
erſchrickt man in engliſchen Familien nicht fo fehr vor dem Ger 
danken, eine Tochter bis tief in die zwanziger Jahre, ja immer 
unvermählt zu ſehen, und bei Sir William kam vielleicht noch 
der Egoismus des Alters und der Krankheit hinzu, der fich bei 
dem Gedanken, ſich eine jo treue und liebende Pflegerin zu ers 
halten, leicht beruhigt. 

Aber trogdem man außer aller Verbindung mit der Welt 
lebte, war es doch nicht fo fehr einfam und ftille in Sir Williams 
Landhauſe. Odo mar bald nad feiner Abreife durch mehrere 
Perfonen erfegt; und das kam fo. 

Mori Hartmann, Werke. VI. 22. 


| 338 Novellen. 


Kaum drei Tage, nachdem fie von ihm Abjchied genommen, 
madte fih Miß Lucy auf, um das Haus des ſ. g. Herrn Du: 
rand, de3 Graveurs, aufzuſuchen, das ihr Odo genau hatte be- 
fohreiben müfjen. Sie fand es bald, aber die Wohnung war leer. 
Andere Arbeiter, die auf demjelben Flur wohnten und bei denen 
fie fih erfundigte, jagten ihr, es müſſe mit ihrem ehemaligen 
Nachbar, von dem fie übrigens wenig zu berichten wußten, ein 
großer Glückswechſel vor ſich gegangen fein; er habe mit feinen 
beiden Kindern plöglid die Wohnung verlajlen und fei ver: 
ſchwunden. Ob e3 ein Glüdswechjel zum Böſen oder zum Guten 
geweſen, konnten fie nicht jagen. Er ſei wenig mit ihnen umge: 
gangen und wenn er aud gegen Jedermann freundlich gemejen, 
fo babe er doch feine Vertraulichkeit aufkommen laffen. Lucy 
ging verbrieglih nah Haufe; fie hätte weinen mögen. Es war 
ihr Bedürfniß, fich der Geretteten Odo's anzunehmen, etwas für 
jie zu thun; fie wenigftens zu kennen und durd die Familie, die 
ihn nothwendig lieben mußte, mit ihm gewifjermaßen in einer 
gemüthlichen Verbindung zu bleiben. Das follte ihr auch nicht 
gegönnt fein. Nach der Ausſage der Arbeiter fonnte der Sta: 
liener aub in Noth und Elend verfunfen fein; fie wäre im 
Stande, ihm und jeinen Kindern zu helfen und ſich fo, als Hel— 
ferin der Familie, unmittelbar an Odo's Thaten zu fchließen 
und dieje fortzufegen. Das zu thun ſchien ihr Pflicht, und nun 
jollte ihr au das nicht werden. Und wie gerne hätte fie das 
Mädchen mit dem bleihen Gefichte und den großen Augen, von 
denen Odo mit jolher Wärme gejprochen, fennen gelernt! Aus 
al’ Dem follte nun Nicht3 werben und fie jah eine öde, öde Zeit 
vor fih, nachdem fie nod eine Stunde vorher geträumt hatte, 
die MWohlthäterin, die Freundin der Familie, vielleicht die Leh— 
rerin der Slinder zu werden. Es war ihr, ala müßte fie fih an 
das Miplingen ihrer liebjten Pläne gewöhnen. 

Zu Haufe angelommen, hörte fie faum, al3 ihr der Bediente 
anfündigte, daß fie ein fremder Herr im Salon erwarte. Als 
fie eintrat, fah fie einen Mann von ungefähr fünf: oder ſechs— 


Verrechnet. 339 


unddreißig Jahren, der ihr mit dem vollkommenſten und würde: 
vollften Anftande eines Weltmannes entgegenlam. Gin edles, 
von ſchwarzem Barte und ebenjo ſchwarzem, diden Haupthaar 
eingefaßtes Gefiht, das im Blide und auf einer hohen Stirne 
den gedankenvolliten Ernit jehen ließ, verneigte fich vor ihr mit 
dem mildeften Lächeln. Faſt bedurfte fie, zerftreut wie fie war, 
einiger Faſſung, um ihre Ueberrafhung und das MWohlgefallen 
an der eben jo ſchönen als imponirenden Erſcheinung nicht zu 
verratben. 

„Mein Fräulein," fagte der Fremde in gebrochenem Eng: 
liſch, „entſchuldigen Sie, daß ih mic Ihnen fo ohne jede 
Empfehlung vorzuftellen wage. Herr Röder, von dem ich fo eben 
fomme, hat mich dazu ermutbigt.“ 

„Sie fonımen von einem Manne, den wir fehr. fhäßen,“ 
erwiberte Lucy; „jegen Sie ſich gefällig. Mit wen babe ich 
die Ehre? Womit kann ic Ihnen dienen 2” 

„Ich bin der Marcheſe Brofferio aus Genua,” fagte ver 
Fremde, indem er fih Lucy gegenüberjegte, „ich bin Flüchtling 
und lebe jeit einigen Jahren bier in Genf in der Verbannung.” 

Qucy verneigte ſich; der Marcheſe fuhr fort: „Bor einigen 
Monaten erzeigte mir ein helvenmüthiger, junger Engländer eine 
unſchätzbare Wohlthat: er rettete meine Kleine Emilia au3 den 
Fluthen der Rhone.“ 

„Herr Durand!” rief Lucy aufs Freudigfte überrafcht. 

„Derjelbe,” lächelte der Marcheſe, „unter diefem Namen 
babe ich einige Jahre bier als Arbeiter gelebt, um mic den Ber: 
folgungen der heimifchen Polizei zu entziehen. est bedarf ich 
diefer Verkleidung nicht mehr, da ſich die Politik meiner Regies 
rung geändert zu haben jcheint. Seit einigen Tagen bin ich 
balb amnejtirt; zwar bleibt mir das Vaterland noch immer ver: 
ſchloſſen, aber meine konfiszirten Güter find mir zurüdgegeben 
worden. Dieje Veränderung meiner Lage ift es, die mich bewog, 
fofort den Herrn Odo Worthington aufzufuchen; ich weiß nichts 
von feinen Verhältniſſen, ich weiß nur, daß ich wie ein Bettler 


340 Novellen. 


vor ihm jtand, daß ich ihm mit Nichts feine ungeheure Wohl: 
that vergelten konnte. Nun dachte ih — ich bin nun ein reicher 
Mann, vielleicht, wie die Dinge jegt jtehen, bin ich bald auch 
ein einflußreiher Mann. Mr. Worthington ift eine Waiſe — 
vielleicht dachte ih — und wenn ih auch nichts für ihn thun 
kann, ich kann ihn jetzt doch einladen, zu uns zu fommen, jich 
an dem jungen Leben zu freuen, das er gerettet hat. Oft in die 
ärmliche Stube zu kommen, die ih mit meinen beiden Rindern 
bewohnt habe, wollte ich ihm nicht zumuthen. Aber da erfuhr 
ih in der PBenfion des Herrn Röder, daß der junge Mann vor 
einigen Tagen Genf verlaffen habe. Herr Nöder ſah meinen 
Schmerz und wies mid an Sie, mein Fräulein. Sie würden, 
meinte der brave Mann, mir wenigſtens Oelegenheit geben, daß 
ich ihn nicht aus den Augen verlieren und daß ich die Hoffnung 
bewahren kann, mich ihm einjt wieder nähern zu können.” 

„Sie werden mir glauben, Herr Marcheſe,“ ſagte Lucy, 
„daß ich Herrn Röder ſehr dankbar bin, wenn ich Ihnen fage, 
daß ich jo eben aus Ihrer ehemaligen Wohnung komme und daß 
ich es fehr bedauert habe, Sie nicht mehr dort gefunden zu ha— 
ben. Ich wollte die Kinder kennen lernen, denen ich mid durch 
meine Freundſchaft für Odo verwandt fühle,” 

Der Marcheſe ergriff ihre Hand und küßte fie. — „Diefe‘ 
Bekanntſchaft,“ ſagte er lächelnd, „wird leicht zu machen fein. 
Das Schidjal hat mich bei der Wahl meiner Wohnung gut ge: 
leitet; wir find Ihre nächſten Nachbarn: ich wohne in dem an- 
jtoßenden Landhauſe.“ 

Cr ftand auf und trat ans Fenſter. „Mein Fräulein, Sie 
fönnen meine Kinder jenjeit3 der Mauer, die unfere Gärten 
trennt, jpielen ſehen.“ 

Lucy eilte ans Fenfter und jah das kleine Kind, das ſich 
in einem Haufen zujammengefegter welfer Blätter mwäljte, wäh— 
rend die größere Schweiter, an einen Baum gelehnt, Tächelnd 
zuſah. Es war das blajje Geſichtchen mit den großen ſchwarzen 
Augen, von dem Doo mit jo großer Wärme geſprochen. Der 


Verrechnet. 341 


kleine Kopf bog ſich etwas nach der Seite, als ob er nur der 
großen Laſt der ſchwarzen Haare nachgäbe, die theils in dicken 
Flechten einen Kranz bildeten, theils aufgelöst auf die bräunlich 
weiße Schulter herabfielen. Sie ſah wie träumend vor fich hin, 
oder vielmehr mie finnend, als ob ihr der Anblid des Kindes 
mitten unter den welfen Abfällen des Sommers melandoliiche 
Gedanken einflößte; dabei beobachtete fie doch das Kind mit einer 
mütterlihen Zärtlichkeit, immer bereit zu Hülfe zu fommen, e3 
aufzuheben, wenn es fiele und ihm zu reihen, was es verlangte. 
. „Sie fteht da, wie des Kindes Schußgengel!“ Tifpelte Lucy. 

„Das ift meine Zanetta!” fagte der Marchefe. 

Aber ald ob ihr ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf 
fuhr, fagte Lucy: „Unbegreiflih! Diefes Mädchen hat das Kind 
ins Wafjer fallen laſſen!“ 

Der Marcheſe zog feine Augenbrauen etwas zufammen und 
jagte raſch, wie um Banetta fo fchnell als möglich gegen eine 
Anklage in Schug zu nehmen: „Mein Fräulein, fie ließ das 
Kind aus Schwäche fallen. Sie hatte damals beinahe zwei Tage 
lang nicht8 gegefjen.“ 

Lucy erfchraf und ſah den Marcheſe mit einem Blide an, 
der ihn um Vergebung anflehte. „Kommen Sie,” bat jie, „ma: 
hen Sie mid mit dem Kinde befannt, geben Sie mir Gelegen: 
heit, e3 zu küſſen.“ 

In dem Augenblide fiel Zanetta’3 Auge auf das Fenfter ; 
fie ſah ihren Vater und lächelte ihm zu, dann erröthete fie eben 
jo raſch, als fie die fremde Dame neben ihm ſah. Lucy winkte 
ihr; fie ſah ihren Vater fragend an und da er eine bejahende 
Bewegung machte, nahm fie das Kind und verſchwand hinter 
dem Haufe. 

„Miß Spencer," fagte der Marchefe mit zitternder Stimme, 
„Sie werden mein Alles kennen lernen, die Erbſchaft eines ge: 
liebten Weibes, da3 mir in der Blüthe des Lebens und unferer 
Liebe entriffen wurde. Seien Sie gütig gegen die guten Kinder 
und vor Allem nachſichtig. Beide haben bis jegt nur Elend 


342 Novellen. 


gekannt; fie find nicht erzogen, fie find nicht gelehrt; ich hatte 
bisher nur Zeit, Brod für fie zu fchaffen und wie oft fonnte ic 
jelbjt das nicht! Wie oft haben fie gehungert! Rechnen Sie ihnen 
das an, daß fie für ihr Vaterland gehungert und gelitten haben. 
Es joll jegt anders werden; nur ihrer Erziehung will ich leben, 
bi3 mich vielleicht wieder mein Vaterland ruft.“ 

Wie gerne hätte ihm Lucy fogleih ihre Hülfe angeboten ; 
aber fie hoffte, daß fich die Dinge von felbit fo fügen würden, 
wie fie e3 ſchon gewünſcht hatte, als fie die Familie heute Morgen 
aufſuchte und mie fie es jet noch inniger wünſchte. Gerührt 
eilte jie den Kindern auf die Treppe entgegen und empfing fie, 
al3 empfinge fie Schußbefohlene. 

Nach wenigen Tagen der Bekanntſchaft mit Zanetta, vielleicht 
nah wenigen Stunden fiel ihr ein, was fie vor mehreren Mo: 
naten an ihre Freundin in Beziehung auf Odo gefchrieben: „An— 
ftatt ihn erziehen zu wollen, müßte man irgend ein lieblicheg, 
von der Natur eben fo rei ausgeftatteted junges Mädchen für 
ihn fo erziehen, daß es einft würdig wäre, feine Lebensgefährtin 
zu werden.” In Zanetta ftellte fich ihr ein folhes Mädchen be 
jtimmter und noch reicher ausgeftattet vor, als fie e3 geträumt 
hatte. Eine ſchöne Erfheinung ift in der Wirklichkeit mit den 
beftimmten Zügen einer Perſönlichkeit immer ſchöner, als vie 
Ihönften Gebilde unferer vagen Phantafie. Alle Ideale kommen 
una hohl vor, wo wir in der Welt mit einem ſchönen Menſchen 
zufammentreffen. Jede perfönlihe Phyfiognomie ift bedeutender 
und mächtiger, als die Phyfiognomie des Ideals, das immer nur 
fonventionelle Züge trägt, wie eine Zeichnung ohne Modell. Lucy 
fühlte das der Heinen Zanetta gegenüber. Das Schidjal ihres 
Vaters, frühe Verwaifung, anderes frühes Leiden, die jchon in 
der erften Kindheit auferlegte Pflicht, für ein Kind zu forgen, 
das Alles, verbunden mit einer angeborenen Energie des Cha: 
rakters, welche die weibliche Sinnigteit nicht ausſchloß, machten 
Zanetta, abgejehen von ihrer räthjelhaften Schönheit, zu einer 
Erſcheinung, die Lucy in Erftaunen fegte, ja ihr infofern dieſelbe 


— 343 


“ 

BVerlegenheit bereitete, die fie Odo gegenüber empfunden hatte, 
als fie ſich auch bier jagen mußte, daß eigentlich auch an dieſem 
Gefhöpfe nichts zu erziehen fei. Aber lernen fonnte Zanetta 
Manches und da fie ſah, daß es ihrer neuen, mütterlihen Freun— 
din Freude machte, wenn fie lernte, ergriff fie Alles mit einem 
Eifer, der bei ihrer Leichtigkeit der Auffaflung, bei ihrem rathen- 
den Verftändniß in kurzer Zeit Wunder that. In ihrer Beſchäf— 
tigung mit der Heinen Emilia, ‚die fie, trogdem ihr jegt ber 
Vater eine Kinderfrau beigegeben hatte, doch ftet3 mit der zärt- 
lichften Sorgfalt umgab, erinnerte fie Lucy an jene jugendlichen, 
faum der Kindheit entwachſenen Madonnen Andrea del Sarto’3, 
die fie in Florenz geſehen hatte. Troß ihrer Heiterkeit, oft kindi— 
ſchen Ausgelafienheit bei ernfteftem inneren Wefen flößte fie Lucy 
eine gewifle Achtung mie vor einer weit älteren Perfon ein und 
. doch erfchien fie ihr andererfeit3, wenn fie fie mit fich felbft ver: 
gli, jo unendlid jung. Die geheime Urſache war, daß ihr im 
Grunde nur jung ſchien, was fo jung oder jünger war ala Odo, 
und alt, was fo alt oder älter war als fie ſelbſt. 

Bei den Erziehungsplänen Lucy's war natürlich oft die Rede 
von dem abweſenden Odo; aber Lucy ſah bald ein, daß es nicht 
nothwendig war, die Gedanken Zanetta's auf den Abweſenden 
zu leiten; fie erfannte bald, daß er dem Kinde in einem eigen: 
thümlic magischen Lichte, als eine Art verflärter Erfcheinung 
vorjchwebte. Ye älter Zanetta wurde, je befler fie es unter der 
bildenden Anleitung ihrer Lehrerin lernte, ihren Gedanken Form 
zu geben, deſto deutlicher mußte fie es auszudrücken und defto 
Harer wurde e3 ihr felbit, was fie Odo zu danken hatte. Er 
hatte, wie fie ſich ausprüdte, nicht der Heinen Emilia, ſondern 
ihr das Leben gerettet und mehr als das Leben. Sie gewöhnte 
ih, fi den Zuftand auszumalen, in dem fie ihr ganzes Leben 
bingejchleppt hätte, wenn ihr Schweſterchen in den Fluthen ver 
Rhone zu Grunde gegangen wäre. Nah folder Borftellung 
athmete fie tief auf, wie wenn fie von einem Alpdrude befreit 
wäre und jedes Mal ftand Odo vor ihr, als der Befreier von 


344 Novellen. 


unbeimlihem, grauenvollem Drude. So war es ihr, alö habe 
fie ihm jeden Tag zu danken. | 

„Sehen Sie, Miß Lucy,“ fagte Zanetta oft, „ich fehe ihn 
ftetö, wie er mit ausgebreiteten Armen von dem Steingelänvde 
in die Rhone jprang, mie ein Schußgeift, der plöglib aus der 
Höhe herabeilt. In dem Augenblid, da ich ihn fo ſah, fühlte ich 
mich gerettet. ch wurde ganz ruhig und wartete nur, daß er 
mir das Kind zurüdbringe. Als ihn dann die Knaben umring: 
ten, war es mir, al3 ob ihn eine Wolfe eingefchloffen hätte, die 
ihn wieder entführen follte. Als er dann zu ung fam, hatte ich 
nicht den Muth, ihn anzufprehen — ich konnte ihn nur anfehen. 
Und hätte er Emilia auf den Arm genommen und wäre mit ihr 
fortgegangen, ich hätte fie rubig, vielleicht glüdlich gehen laſſen. 
Es wäre mir zu Muthe geweſen, al3 führte er fie geraden Meges 
in die Seligkeit. Und wenn er mir nur gewinkt hätte, ich wäre 
ihm gefolgt, wohin es ihm gefiel, ohne zu fragen, ohne mid 
umzufehen. Und heute ift mir noch gerade fo.” 

So ſprach Zanetta in der erjten Zeit ihres Aufenthalts in 
der Villa; fo ſprach fie nah Monaten und nachdem ſchon ein 
und zwei Jahre dahin gegangen waren. Lucy hörte ihr dann zu, 
als ob fie fhöne Kindermärchen hörte und doch Wieder mit einem 
Gefühle tiefer Wehmuth. Sie legte ihr die Hand auf die ſchwar— 
zen Scheitel, fah ihr lächelnd in das große offene Auge und 
date: Glüdliches Kind, fo früh ſchon erfüllt dich ein deal und 
du brauchſt dich dieſes Ideals nicht zu fchämen ! 

Von der Intimität, die zwifchen den beiden Familien herrfchte, 
gab das jprechendfte Zeugniß jene Thüre, die man glei im 
ersten Winter des Zufammenlebend in die Mauer zwiſchen den 
beiden Gärten hatte brechen laffen und die nun die beiden Land: 
häuſer gemwiflermaßen zu einem machte. Der alte Sir William 
fegnete Odo's Andenken dafür, daß er ihm diefe Gefelljchaft ver 
dankte. Am Marcheſe hatte er einen männlichen Freund, mit 
dem er Ernſtes und vor Allem die politifche Lage Europa's, die 
viefer fehr genau kannte, befprechen fonnte; an den Kindern eine 


Verrechnet. 345 


anmuthige, jugendliche Welt, die ihm über manche Stunde des 
Leidens hinweghalf. Zanetta war eine eben jo gute Kranken: 
märterin im Momente des Schmerzes, al3 fie in Stunden der 
Ruhe unterhaltend war, mochte fie ihm nun von den Crinne: 
rungen aus Stalien vorplaudern oder vor feinem Lehnftuhle 
italienische Nationaltänze ausführen. Er hatte innige Zuneigung 
für das Kind gefaßt und freute fih, wenn fie ihn Großvater 
nannte, Der Marchefe war freilihb nur im eriten Winter ein 
fteter Geſellſchafter des alten Herrn und feiner Tochter; jobald 
er aber feine Kinder unter deren Schuße jo mohl geborgen fah, 
begann er die verſchiedenſten Reifen in politifchen Aufträgen feiner 
Partei. Die Kinder überfievelten dann gänzlih unter Sir Wil: 
liam3 Dach, ja fie blieben fpäter im Haufe, jelbjt wenn ver 
Marcheſe auf Tage und Wochen zurüdfehrte. So wurde ihnen 
Lucy Alles und es ijt fein Wunder, daß fie fie, mie ehemals 
Odo, ebenfall3 Mama nannten. Lucy lächelte dazu. Sie, die 
ehemals im Bemwußtfein, ihrer Schönheit und in ihrem weiblichen 
Stolze der Männermwelt gegenüber nicht den geringften Zmeifel 
in ihre Macht fegte, fagte fich jegt: „Es ſcheint, daß ich beftimmt 
bin, nur die kindliche Liebe zu einer Mutter einzuflößen.” 
Vielleicht hätte fie mit der Zeit Anderes glauben gelernt, 
menn der Marchefe im Landhaufe fo heimifch geworden wäre, 
mie feine Kinder und wenn er, der begeifterte Sohn feines Vater: 
landes, den perfönlihen Gefühlen geftattet hätte, den Raum in 
feinem Herzen einzunehmen, den fie einzunehmen drängten, Aber 
er hatte Pflichten, er ftand mitten in den vorbereitenden und 
geheimen Bewegungen, welche die Wiedergeburt Italiens bezwed: 
ten. Er konnte feine thätige Vaterlandsliebe eine Zeit lang zum 
Schweigen bringen, al3 er gezwungen war, feine Kinder vor 
Mangel und Hunger durd) feiner Hände Arbeit zu ſchützen; jetzt, 
da diefe nächfte Pflicht won ihm genommen war, glaubte er fi 
mit allen Kräften und Gefühlen der weiteren, bürgerlichen Pflicht: 
hingeben zu müfjen. Seine Kinder waren unter Qucy’3 Schuß 
fo gut geborgen; e3 wäre Verbrechen gemefen, dem Baterlande 


346 Novellen. 


einen Augenblid feiner Zeit, eine ſchwächſte Kraft feines Geiſtes 
abzufparen. Es lebte jene Jntenfivität der Vaterlandsliebe in 
ihm, die in unferer Zeit und in italieniſchen Gemüthern zu finden 
ilt. Kein Sohn einer andern Nation veriteht es mie fie, feine 
perſönlichen Gefühle, ja ſelbſt feine perſönlichen Anfihten und 
Ueberzeugungen dem Ganzen unterzuordnen und aufjuopfern. 
Diefe größte aller Opferfähigkeiten ift ihnen eigen und mar im 
Marchefe aufs Ausgefprocdenfte vorhanden. Wie dankbar war 
er Lucy für die Freiheit, fih ganz feinem Weſen bingeben zu 
fönnen, und diefe Dankbarkeit erhöhte noch das Gefühl, das er 
vom erjten Augenblide an ihr gegenüber empfand. Jede Be: 
friedigung,, die er aus feinem Thun und Wirken ſchöpfte, glaubte 
er ihr fchuldig zu fein, und wenn fein Streben dem Baterlande 
einigen Nuten brachte, war fie es, der er ihn gerne zufchrieb. 
Sie fühlte das und er fagte es ihr oft genug in feiner aufrichti- 
gen und männlichen Weile. Ihrem ganzen Charakter und den 
Anforderungen nah, die fie an einen Mann ftellte, freute fie 
fih auch darüber; aber au hier fagte fie ſich mit demfelben 
Lächeln: Ich bin nüglich! 

Aber das Gefühl des Nützlichſeins breitet über ein Mädchen: 
gemüth nicht jene ganze Heiterkeit, deren e3 fähig ift. Bei all 
dem Bemwußtfein, einem kranken Vater, zwei lieblihen, mutter: 
loſen Kindern, einem braven, zu den edelſten Zwecken thätigen 
Manne und vielleiht auch vorforgend dem Glüde eines fernen, 
theuern Freundes förderlich zu fein, lag auf Lucy ein dunkler 
Schleier janfter Trauer, der ſich in der legten Zeit, immer dichter 
und immer dichter jchattend, zufammenzog. 

Diefe Trauer ijt gemach zur allgemeinen, drückenden Atmo— 
iphäre des ganzen Hauſes geworden. Sie drüdt auf Sir Wil: 
liam beinahe eben fo jehr, wie auf feine Tochter. Beide figen 
dort auf der Terrafle und Lucy fällt es nicht ein, das Buch, das 
auf ihrem Schooße liegt, aufzufchlagen. Sie fehen über den See 
bin und jedes Segel, das vorüberzieht, erwedt traurige Gedanken. 
Nur Sir William jeufzt manchmal; Lucy blidt ftarr vor ji hin. 


Verrechnet. 347 


Seit Odo's Abreiſe wird im Hauſe nichts ſo eifrig geleſen, 
wie das engliſche Flottenjournal; dieſes Blatt brachte, nebſt den 
wenigen Briefen, die man von ihm ſelbſt erhalten hatte, einige 
Nachrichten über ihn oder vielmehr über ſein Schiff Penelope. 
Man wußte wenigſtens, unter welchen Himmelsſtrichen ſich dieſes 
Schiff befand, und man folgte ihm auf den alten Seekarten, die 
Sir William wieder hervorgeſucht hatte. Aber ſeit Wochen hatte 
ſich jede Spur der Penelope verloren, und das Flottenjournal 
drückte zu wiederholten Malen ſeine Beſorgniß um Schiff und 
Mannſchaft aus. An der Nordküſte Neuhollands war es ver— 
ſchwunden. Jede Wochennummer des Journals wurde mit beben— 
der Spannung erwartet und der Tag, an dem es kommen ſollte, 

bis zum Momente der Ankunft ſchweigend zugebracht. Während 
Vater und Tochter auf der Terraſſe ſaßen, ſtanden die italieni— 
ſchen Schweſtern am Gartenthore und warteten des Bedienten, 
der aus der Stadt kommen ſollte. Da Hang das Thor; Lucy 
wandte fih um; Zanetta hatte ihr Schwefterchen verlafjen, um, 
mit der Zeitung in der Hand, fehneller, quer durch den Garten 
zu Lucy zu gelangen. Im Laufen riß fie den Umfchlag ab, um 
das Blatt gleich entfaltet übergeben zu können. Lucy faßte es 
mit zitternden Händen und las, während Zanetta und der Vater 
ihren Bliden, die über die Kolonnen hineilten, voll Erwartung 
folgten. Sie ließ das Blatt fallen und fagte faum hörbar: „Nichts !" 

BZanetta trat einige Schritte zurüd und lehnte fi an einen 
Baum. Ihr ſchlanker, zarter Leib zitterte, aus ihrem großen 
Auge fiel eine Thräne, die fie zu verbergen fuchte, indem fie fich 
abmwandte. Aber Emilie, die indeflen bereingefommen war und 
fih an das Kleid der Schwefter Hammerte, bemerkte dieſe Thräne 
und fing laut zu meinen an. Sir William wurde unruhig. 
„Kinder,” fagte er, „keine Thorheiten! Man ertrinkt nicht fo 
leiht! Ich babe aud einmal durch acht Wochen für ertrunfen 
gegolten und fiße jegt hier in meinem breiundfiebenzigften Jahre. 
Englifhe Seeleute lafjen ſich nit jo leiht von der See ver: 
Ihlingen und englifhe Schiffe haben einen harten Kiel.” 


348 Novellen. 


Sir Williams Tröſtungen frommten wenig; ſie konnten die 
ſorgenvolle Stimmung des Hauſes nicht zerſtreuen. Man verließ 
die hergebrachte Tagesordnung, die gewöhnlichen Beſchäftigungen 
wurden vernachläſſigt; man ging ſchweigend, wie durch ein 
Sterbehaus, durch Stuben und Garten. Erſt als ſich wieder der 
Tag näherte, der eine neue Nummer der Flottenzeitung bringen 
ſollte, erwachte man unmerklich aus der trüben Stimmung und 
äußerte ſich die erneute Hoffnung bie und da durch ein lauter 
gefprochenes Wort, durch einen Troft, den jegt Zanetta, jetzt der 
alte Herr auszufprechen wagte. 

Uber diefe halberwachte Hoffnung follte zu ſchnell, noch vor 
Anfunft der Zeitung, niedergefchlagen werden. 

Plöglich kam der Marchefe aus London an, mo er fich eben 
aufgehalten hatte. Nach der erften Freude des Wiederſehens be- 
merkten Zanetta und Lucy, daß feine Stimmung nicht heiterer 
war, als die ihrige. Er war den Nachrichten über die Penelope 
mit derjelben Epannung und Beforgniß gefolgt, wie die Freunde 
und die Kinder in Genf; er befaß die neueften Nachrichten, die 
er ſich bei der Admiralität in London geholt hatte und eilte, 
ihnen zuvorzukommen, ehe fie die Zeitung nad Genf bradte. 
Lucy ahnte das und hätte ihn gerne allein befragt, aber Zanetta 
wich nicht von feiner Seite. Eo vergingen peinvolle Stunden, 
ehe Jemand ven Namen Odo over Penelope ausſprach. Der Mar: 
cheſe fürchtete jeden Augenblid die Ankunft ver Zeitung und mußte 
ſich entjchließen, den traurigen Gegenftand felbft zu berühren. 

„Sie find wohl,” fagte er, als die ganze Geſellſchaft im 
Salon Sir Williams verfammelt faß, „mit Beforgniß dem Flotten: 
journal gefolgt?“ | 

Niemand antwortete. Er fuhr fort: „Auch in England ift 
man ſehr beforgt — durd mehrere Wochen fehlten die Nach: 
richten gänzlich — feit einigen Tagen glaubt man, über das 
Schickſal der Penelope etwas zu wiſſen.“ 

Er ſchlug, während er dieje legten Worte hervorbrachte, die 
Augen nieder und fchmieg. 


Verrechnet. 349 


„Das Schiff iſt untergegangen!“ ſagte Lucy mit tonloſer 
Stimme und ließ die Arme ſinken. Der Marcheſe ſchwieg, und 
Zanetta ließ ihren Kopf auf ſeine Schulter fallen. Er ſchlang 
den Arm um ihren Leib und drückte ſie an ſein Herz. Das war 
Allen wie eine Fortſetzung ſeiner Rede und wie eine Beſtätigung 
deſſen, was Lucy wie aus dem Traume geſprochen hatte. 

„Aber,“ fuhr er raſch fort, „wenn man aud an der nördlichen 
Küfte Neuhollands Trümmer der Penelope gefunden, jo hat man 
doch Feine Leiche gefunden. Das Schiff iſt geftrandet; aber es 
ift nicht gewiß, daß die Mannſchaft zu Grunde gegangen. 

Das war noch ein Strobhalm, an dem jich die Hoffnung 
feftllammern konnte; aber die jeit Wochen fo tief herabgevrüdten 
und gequälten Gemüther hatten nicht mehr die Kraft, auf fo 
geringe Urjachen hin zu hoffen. Selbſt Sir William, ver bisher 
der Hoffnungsreichite gewefen, ſah man es an, daß ihn alle 
Zuverficht verlaffen hatte, 


Fünftes Kapitel. 


Es war im Haufe, wie es .in der erjten, öden Stunde zu 
jein pflegt, nachdem man einen Sarg hinaus getragen. Es 
berrfeht eine große, dumpfe Leere, Wie in den Stuben, ift e8 
in den Gemüthern. Alles ſchweigt, wie in Angft; jeder Laut 
fönnte einen unerträglihen Schmerz erweden. Der Marcheje 
war offenbar berbeigeeilt, um das Unglüd ertragen zu helfen 
und um zu tröjten; aber diejer ſtumme Schmerz verdammte ihn 
zur Unthätigkeit. Er konnte nur die kleine Emilia tröften und 
beruhigen, da fie, geängftigt von der Stille und dem Ausprude 
auf allen Gefichtern, zu weinen anfing. Sie fhlief in feinen 
Armen ein, und er trug fie in ihr Bett. Das war das Zeichen 
zum Aufbruch; man trennte ſich mit ftillen Händedrüden. 

Lucy hatte fich fo gewöhnt, das wahre Gefühl, das fie mit 


350 Novellen. 


dem Andenken an Odo verband, fo zu verbergen, daß es ihr, 
erit auf ihrem Zimmer angelommen, ſo ſchien, al3 ob fie jegt 
erit ihren Thränen freien Lauf lafjen dürfte. Aber fie war nicht 
allein. Bald öffnete fih die Thüre und Zanetta ſank vor ihre 
Füße, drüdte die Stirne auf ihre Kniee und begann zu ſchluchzen. 

„Lucy,“ rief fie, „meine geliebte Lucy, was foll ich beginnen? 
wie joll ich länger leben? Ich babe ihn geliebt, fo unendlich 
geliebt !” 

Lucy bob ihren Kopf auf und ſah ihr in die thränenvollen 
Augen. Der Ausdrud diefer Augen fagte es ihr klar, daß feine 
tindifche Einbildung aus diefen Worten fprach, fondern die über: 
zeugtefte Liebe einer Jungfrau. 

„Armes Kind!” jeufzte Lucy und zog fie an ihr Herz. Wie 
gerne hätte fie ihr jeßt gefagt: auch ich habe ihn geliebt! aber 
die Scheu, diefe Liebe zu geftehen, die ſich im Laufe fo langer 
Zeit in ihr eingeniftet hatte, verhinderte fie auch jekt, das Ge 
ftändniß über die Lippen zu bringen, obwohl ihr in diefem Augen: 
blide Zanetta nicht mehr wie ein Kind erfhien, fondern wie eine 
Jungfrau, die der gleiche Schmerz zu ihrer ebenbürtigen Freundin 
machte. 

In der That war von diefer mitternädhtlihen Stunde an ihr 
Verhältniß ein anderes. Ein Kind, das fo liebt wie Zanetta, 
und das e3 fo gejteht, und dem das Geftändniß durch ſolches 
Unglüd entriffen wird, ift fein Kind mehr. Zanetta fühlte das 
ſowohl wie Lucy, und wie fi beim Weibe innigfte Empfindungen 
gerne durch Aeußerlichfeiten offenbaren, oder vielmehr fymbolis 
firen — fo wollte fie, die ihr Herz durd; VBermittwung zur Meib: 
lichkeit gereift fühlte, die kurzen Mädchenkleiver nicht mehr an— 
legen, die ihr, dem zarten, kaum fechzehnjährigen Kinde, biöher 
fo natürlich ſchienen. Plötzlich erfchien fie vor Lucy in langen 
Kleidern, die ihr, mit dem Ausdrucke tiefen Kummers im Ge: 
fihte, das Anfehen eines fertigen, frühgeprüften Weibes gaben. 
Lucy erfchraf, als fie fie fo erblidte. Sie fühlte ſich ihr freilic 
näher, aber fie fonnte fich nicht mehr überreden, daß der Schmerz 


Verrechnet. 351 


und die Liebe Zanetta's Gefühle eines Kindes ſeien, die verwiſcht 
werden können, und ſie kam ſich wie eine Verbrecherin vor, die 
Ruhe dieſes Kindes ihren phantaſtiſchen Erziehungsplänen für 
Odo geopfert zu haben, indem ſie den Keim einer kindlichen 
Neigung abſichtlich und halb und halb in der Freude eiferſüchtiger 
Selbſtquälerei bis zu einer Leidenſchaft pflegte und erzog, die 
offenbar mit der ganzen Seele Zanetta's verwachſen war. Je 
ſchuldiger ſie ſich fühlte, deſto hingebender und zärtlicher wurde 
ſie für Zanetta; ſie vergaß zu Zeiten ihren eigenen Schmerz über 
den Kummer ihrer Freundin, und für dieſe fand ſie Troſtesworte 
und ſelbſt Troſtgründe, die ſie für ſich ſelbſt vergebens geſucht 
haben würde. 

Dieſe Theilnahme ſteigerte ſich, je tiefer und je ſichtbarer 
von Tag zu Tag Zanetta in ihrem Kummer und endlich in eine 
Art krankhaften Trübſinns verſank, aus dem ſie nichts zu reißen 
vermochte, wie ſehr ſie ſich auch ſelber zwang, ihre Umgebung 
manchmal durch ein Lächeln oder durch einen Scherz zu beruhigen. 
Allgemach ſchwand auch dieſe Rückſicht für ihre Umgebung. 
Stundenlang ſaß ſie in einem Winkel ihres Zimmers oder des 
Salons und ſah mit ſtarren Augen vor ſich hin, die ſie ſchloß, 
ſobald man ſich ihr näherte, um fie anzuſprechen und fie zu zer—⸗ 
ftreuen. Cine ungebuldige Bewegung oder ein tief ſchmerzlicher 
Ausdrud wies Jeden zurüd, der es verfuchte, fie aus ihrem 
Hinbrüten zu reißen. So ging fie auch ftundenlang und allein 
in den winterlihen Gängen des Gartens auf und nieder, ſchwei— 
gend, träumerifh, nur manchmal in ein krampfhaftes Schluchzen 
ausbredhend, wenn über den dunfeln See ein Segel dahin trieb. 
Nur ein Mittel gab es, das fie auf Stunden, wenn aud nicht 
erheitern, fo do au ihrem dumpftraumartigen Zuftande reißen 
fonnte, und diefes Mittel hatte Lucy mit jenem, dem wahren 
Meibe angeborenen, ärztlihen Inſtinkte aufgefunden. Es war 
ein Befuch im Parke der Röder'ſchen Penſion, im Haufe und an 
den Stätten,. wo Odo zwei Jahre feines Lebens verbradt hatte. 
Dort, unter den Tannen und RKaftanienbäumen, luſtwandelte fie 


359 Novellen. 


heiter mitten im Winter, als wäre ihr Herz von Frühlingslüften 
belebt, und borchte fie den Worten des guten Herrn Röder und 
feiner liebevollen Stimme, der doch auch Odo fo gerne gehorcht 
hatte. 

Auf Lucy mit ihrem britifchen, der Selbftbeherrfhung jo 
fehr fähigen Charakter wirkte der leidenſchaftliche Kummer des 
italienischen Kindes wie ein Räthfel und wie ein geheimnikvoller 
Zauber. Sie fam fich felber Kalt und gefühllos vor. „Das ift 
Liebe,” ſagte fie zu fich jelber; „was du für Odo fühlteft, war 
berzliche Neigung zu einem Rinde, das eine fhöne Zukunft ver- 
iprab, und halb und halb Phantajterei.” — Und doch wieder 
fagte fie ih, daß Zanetta’s Liebe nur auf Bifionen ihres eigenen 
Gemüthes, auf jenen verklärten Bildern beruhe, die fie ſich von 
Odo machte, und die fie ehemals zu jhildern liebte, mie fi 
Kinder gerne Märchen vorerzählen. Aber je räthſelhafter ihr das 
Weſen Zanetta’3 war, deſto mehr zog es fie an; und je beun: 
tubigender ihr Zuftand, deſto mehr Liebe und Sorgfalt glaubte 
fie ihr ſchuldig zu fein. Bei ihr, wie bei allen anderen Haus: 
genoffen, war das traurige Loos des Entfernten vor dem An- 
blide der gegenwärtigen Leiden Zanetta's in den Hintergrund 
getreten. Selbſt Sir Willian vergaß feine Krankheit. 

Der Marcheje, der fih nicht entfchließen konnte, fein Kind 
in diefem Gemüthszuftande zu verlafien und feine Reifen aufge: 
geben hatte, ſah die Sorgfalt Lucy’3 mit unendlicher Rührung. 
Dft wenn er mit ihr am Bette Zanetta's jaß — denn fon war 
e3 fo weit gelommen, daß der trefflihe Dr. Peliſſier anrieth, 
fie Tage lang im Bette zu halten — fahte er plöglic ihre Hand 
und zog fie an feine Lippen. Lucy ließ es gejchehen. Die Einen 
liebten mich wie eine Mutter, er liebt mich aus väterlicher Liebe 
als Krankenpflegerin feines Kindes, dachte fie bei ſich mit jener 
Ironie gegen fich jelbit, die ihr in diefen Jahren zur Gewohnheit 
geworden. — Banetta aber, wenn fie ſprach, ſprach ihr in einem 
anderen Sinne. Mit der Rube einer älteren Perſon und mit der 
Ueberlegenheit eine Weſens, das in Beziehung auf fich jelbft 


Verrechnet. 353 


mit Allem abgeſchloſſen und mit der Welt abgerechnet hat, ver: 
fiherte fie Lucy, daß fie ihr Vater liebe, und daß er würdig jei, 
von ihr geliebt zu werden. „Er liebt mich,” fügte fie hinzu, „er 
wird unglüdlich fein, wenn ich fterbe. Eines könnte ihn tröften : 
deine Liebe, Lucy !” 

Lucy glaubte auf die Phantafieen des Franken Kindes ein- 
geben zu müfjen und gab ihr die Gegenverficherung, daß fie ihre 
Morte nicht vergeſſen werde. 

Dr. Beliffier aber durfte auf die Todesahnungen Zanetta’3 
nicht eingehen und auf ihre Verfiherungen hin, daß fie bald 
fterben werde, nicht aufhören, nach Mitteln zu ihrer Rettung zu 
fuchen. Eine neue Welt, neue Umgebung, neue Eindrüde, meinte 
er, könnten die Gemüthskranke zerjtreuen und ſie von den Ge: 
danfen abwenden, an die fie fih jegt mit Hartnädigkeit feit: 
klammerte. Er hoffte viel von der heimatlihen Luft und von der 
Schönheit der genuefiihen Heimat. Zanetta hatte außerdem in 
früheren Zeiten immer mit großer Sehnjuht von Genua ge 
proben, das fie in früher Kindheit verlafjen hatte, und das 
ihrer Phantafie mit allem Zauber einer Fata Morgana vor: 
ſchwebte. Noch jest flog ein melancholiſches Lächeln über ihre 
Lippen, wenn Genua, wenn Stalien vor ihr genannt wurden. 
Er rieth dringend, dieſes ſchöne Mittel zu verfuhen. Die polis 
tiichen Angelegenheiten und im Bejonderen die Stellung de3 
Marchefe waren in diefem Momente fo befhaffen, daß man die 
Rückkehr in die Heimat leicht und ohne Demüthigung bewerf: 
ftelligen konnte. So ging denn Auch der Marchefe gleich daran, 
die nothwendigen Schritte bei feiner heimifchen Regierung zu 
thun und die Reife vorzubereiten. 

Uber welche Hoffnungen für Zanetta man auch an dieſe 
Ueberſiedlung fnüpfte und wie jehr diefe Hoffnungen die durch 
innige Liebe und gemeinfchaftlihe Schidjale fo eng verbundenen 
Hausgenofien aufbeiterten, jo war die Ausfiht auf die nahe 
Trennung andrerſeits doch eine neue Urſache zu neuer Betrübniß. 
Aud behauptete Zanetta, daß ihr Genua und das Meer die Liebe 

Morig Hartmann, Werke VI. 23 


354 Novellen. 


und die Gejellihaft Lucyh's nicht erfegen fünnten. Sie fträubte 
ſich mit krankhafter Leidenfchaftlichkeit gegen die Reife und brachte 
jo zu Betrübniß noch Zweifel und Unentſchiedenheit in die Ges 
müther. Es war, als jollte es in dieſer Heinen Welt nicht mehr 
zur Ruhe und Klarheit fommen. 

An einem jener fchönen Februartage, die an ven Ufern des 
Genfer See’3 jo frühen und vollen Frühling heucheln, um dann 
wieder in de3 Märzen Sturm und Schnee wie ein ſchöner Jugend» 
traum zu verfehwinden, ging Lucy allein und in Gedanken ver: 
tieft im Garten auf und nieder, in dem es bereit3 zu fingen und 
zu ſproſſen begann. Sie hatte das Bedürfniß, fich zu fallen und 
zu ſammeln. Obwohl eben erft ein Schidjal über fie dahin ge- 
gangen und die Folgen in Geſtalt der kranken Zanetta fie no 
immer verkörpert und mit immer neuen Sorgen und Leiden ume 
gaben, war es ihr doch, als ftände ihr eine neue Entſcheidung 
bevor. Die Geſpräche Zanetta’3 über die Liebe ihres Vaters 
machten ihr einen um fo tieferen Eindrud, al3 das Mädchen ſich 
nur zum Sprechen aufraffte, um von diefem Gegenftande zu 
ſprechen; als e3 ſchien, als jei dieß das Einzige, was fie nod) 
auf diejer Erde intereflirte, und al3 fie diefe ihre Reden mit 
Ihwader Stimme, wie aus dem Traume, wie ein Drafel, eine 
Warnung und eine Bitte hervorbrachte. Das Wejen des Marchefe 
war mit den Morten feines Kindes in vollfter Harmonie. Lucy 
konnte fi darüber nicht täufchen, daß ihn ein mächtiges Gefühl 
in feinem Innerſten bewegte und fie war gerührt, wie diejer ernite, 
vom Schidjal und durd Charakter gefeitete Mann, zu dem mit 
Achtung emporzubliden fie fo viel Urſache hatte, ihr gegenüber 
eine faft jünglinghafte Schüchternbeit zeigte, als ob er fich, der bei- 
nahe vierzigjährige Mann, jo jugendlicher Empfindungen ſchämte. 
Sie wußte, daß er fie liebte, wenn fie es auch ohne Zanetta's 
Reden vielleicht nicht errathen haben würde. Was follte fie ihm 
antworten, wenn er ihr feine Liebe geſtand? Sie hatte fich dieſe 
Frage, im Garten auf: und abgehend, kaum geftellt, als er 
neben ihr jtand und fich ſchweigend ihrem Spaziergange beigefellte. 


Verrechnet. 355 


„Miß Lucy,” ſagte er endlich, „ich komme eben von Zanetta; 
ſie iſt feſt entſchloſſen zu bleiben, um ſich nicht von Ihnen zu 
trennen.“ 

„Haben Sie ihr,“ fragte Lucy, „die Grille nicht auszureden 
gejucht ?“ 

„Nein, Miß Lucy. Dieſer Liebe wegen zu Ihnen iſt mir das 
Kind nur theuerer. Kann ich gegen eine Anhänglichkeit ſprechen, 
die mir ſo begreiflich iſt?“ 

Lucy ſchwieg. Der Marcheſe fuhr nach einiger Zeit mit 
bebender Stimme fort: „Das Kind ſtirbt, wenn es bleibt; es 
ſtirbt, wenn wir es zwingen, Sie zu verlaſſen. Miß Lucy, kom— 
men Sie mit uns!“ 

Der Marcheſe ſchwieg wieder, aber Lucy ſagte: „Fahren Sie 
fort, Sie haben mir noch etwas zu ſagen.“ 

Sie wußte, daß ihr der Marcheſe jetzt ſeine Liebe geſtehen 
würde; aber nicht um dieſes Geſtändniſſes wegen forderte ſie ihn 
auf, fortzufahren. Sie hoffte, daß in ſeinen Worten etwas ſein 
werde, was fie über ſich ſelbſt, über ihre Lage, über ihr Ver: 
bältniß zu ihm und den Kindern auflläre; fie wünfchte, daß in 
diefen Worten etwas wie ein Gebot der Pflicht fein werde, das 
fie zwinge, auf feinen Antrag einzugehen, und daß dieß aus: 
gefprochen fei. E3 war ihr, die fich jo tief gealtert fühlte, als 
dürfte fie nicht mehr bloßen Empfindungen des Herzens folgen, 
als müßten Pflichten und Verftand bei ihrer Handlungsweiſe mit 
betheiligt jein. 

Der Marchefe fuhr fort: Meine Kinder lieben Sie wie eine 
Mutter; feien Sie e3! Sie retten vielleiht Zanettal“ 

Wie glüdlih war Lucy, daß er nicht fagte: Ach liebe Sie! 
Sie empfand die große Bejcheidenheit, die dieſes Schweigen ver: 
rieth und wahrlich, jo fagte fie fi, er durfte noch Liebe geftehen 
und fordern. Mit Thränen in ven Augen wandte fie fich zu ihm, 
gebemüthigt von der Demuth, mit der er vor ihr jtand und wie 
fie rafch die Hand augftredte und fie ihm reichte, und er diefe 
Hand faßte und fie an feine Lippen zog, war es ihr, als würde 


356 Novellen. 


fie aus einem Traume in die Wirklichfeit gezogen, al3 käme fie 
plöglih zu Halt und Ruhe. Sie fühlte feiten Boden unter ihren 
Füßen und auf dem eben erjt betretenen Lebenswege empfand die 
Neuverlobte, was Neuverlobte jo jelten empfinden: Abgejchlofjen: 
beit, Befriedigung! Sie lächelte, und der Marcheje ſchloß fie in 
jeine Arme. 

Diefe eigenthümliche Verlobungsjcene hatte ihren Zeugen. 
Die Heine Emilia war ihrem Vater nachgeſchlichen und umklam— 
merte Lucy's Aniee, während fie der Marcheje umarmte, Das 
Kind meinte vor Freude, ohne eigentlich zu wiſſen, warum e3 
mweinte. Lucy fühlte fich wie in Liebesbanden gefangen; fie hob 
das Kind an ihre Bruft und Füßte es herzlih. Sie glaubte glüd- 
ih zu fein und jtrahlenden Gefichtes ging fie an der Seite des 
Marceje mit dem Kinde auf dem Arme ins Haus. 

ALS fie Zanetta jo eintreten ſah, fagte fie mit einem Lächeln 
des Errathens: „So iſt es gut. Jetzt dürfen wir reifen.“ 

Erft gegen Abend traten der Marchefe und Lucy vor Gir 
William, der ven Tag hindurch von Schmerzen geplagt gewefen 
war, ſich jegt aber einer ruhigen Stunde und mit diefer wie 
immer einer beitern Laune erfreute, um ihm die neue Wendung 
der Dinge mitzutheilen. Sir William, der ven Marcheje fo jehr 
ihägte und liebte, legte hocherfreut ihre beiden Hände in ein- 
ander und wünjchte fih und ihnen Glüd. Lucy fah alle Welt, 
Alle die fie liebte, glücklich; follte fie es nicht fein? 

Boll ver froheiten Zuverficht in die Zukunft ſaßen die Drei 
da und beſprachen die gemeinfchaftliche Reife und Anfievelung 
in der Villa des Marcheſe, auf einem der fhönften Hügel zwi: 
ſchen Genua und La Spezzia, und andere Pläne der Zukunft, 
als fih plöglih die Thüre aufthat und zu aller Ueberrafchung, 
ja zu ihrem Schreden Zanetta hereintrat. Sie fam, wie fie eben 
das Bett verlafjen haben mußte, Das Haar hing lang und un- 
geordnet über Gejiht und Schultern; das dünne, weiße Nacht: 
Heid ſchmiegte fi in Falten um die zarten, ſchmächtigen Glieder; 
die Füße waren nadt; fo waren auch die Arme, von denen die 


“ 


Verrechnet. 357 


Aermel zurückfielen, indem ſie beide Hände ausſtreckte, deren eine 
ein Licht, die andere ein entfaltetes Papier hielt. So ſtand ſie 
da, wie eine Geiſtererſcheinung und wie ein Geiſt blickte ſie aus 
den großen, ſchwarzen Augen. Aber ihre Wangen waren von 
einer Röthe, von einer Gluth überflogen, die man ſeit Monaten 
nicht an ihr geſehen hatte. Sie wollte ſprechen, aber konnte nicht. 
Der Marcheſe und Luch eilten ihr entſetzt entgegen und wollten 
ſie an einen Stuhl führen; aber ſie ſträubte ſich; ſie ſtreckte ihnen 
nur das Papier entgegen, das ſie krampfhaft in der Rechten hielt. 
Es war das engliſche Flottenjournal. 

„Die Zeitung! Die Zeitung! Nachrichten von Odo!“ rief Lucy. 

Zanetta nickte und lächelte ſelig; aber ſie ließ das Blatt nicht 
los, das nun auch Lucy gefaßt hatte. Sie that einen Schritt 
weiter, ſeufzte tief auf und nachdem ſie alle Anweſenden nach— 
einander lächelnd angeſehen, ſtieß ſie aus tiefſter Bruſt die Worte 
hervor: „Es iſt ein glücklicher Tag!“ 

Mit dieſen Worten war der Bann, der auf Zanetta wie ein 
Starrkrampf lag, gebrochen. Raſchen Schrittes näherte ſie ſich 
der Lampe, die vor Sir William ſtand, entfaltete das Blatt und 
las: „Wir haben von Port Adelaide aus Nachrichten über die 
Penelope. Das Schiff ift nörblich von Neuholland geftrandet, 
aber die Mannjhaft ift zum größten Theile gerettet. England 
dankt diefes dem Muthe, der Umficht, der Ausdauer eines Mid: 
ſhipman, Odo Worthington.“ 

Zanetta ſtieß bei Leſung dieſes Namens einen zitternden 
Ton aus, der ebenſowohl einem Lachen, als einem Schluchzen 
glich; raſch aber fuhr ſie fort: „Auf einer halbzertrümmerten 
Schaluppe ſammelte er unter beſtändigen Gefahren den größten 
Theil der Mannſchaft, die von den hochgehenden ſturmbewegten 
Wellen hin- und hergetrieben mit dem Tode rang. An ihrer 
Spitze ſetzte er dann zu Lande die Reiſe fort. Schon am nächſten 
Tage ſtieß er auf einen Haufen Wilder, die ſich eben bereit mach— 
ten, den Kapitän der Penelope, der an einem anderen Punkte 
gelandet und in ihre Hände gefallen war, zu tödten, um ihn zu 


358 Novellen. 


verzehren. Mr. Worthington befreite den Kapitän nad einem 
heißen Kampfe. Da biefer in Folge der erfahrenen Mißhand— 
lungen frank und unfähig war, das Kommando zu übernehmen, 
behielt e3 der faum neunzehnjährige Mr. Worthington und er 
zeigte fich feiner jchwierigen Aufgabe gewachſen. Durch undurd- 
dringlihe Wälder, dur Wüſteneien und durd Gegenden, die 
nie eines Europäer Fuß betreten, im beftändigen Kampfe mit 
wilden Stämmen, mit Hunger und Durft und Krankheiten, jelbit 
mit der Muthlofigfeit und Verzweiflung feiner Untergebenen, 
führte er die Schaar Wochen: ja Monate lang, bis er fie zu 
europäiſchen Anfievelungen bradte. Der bei der Admiralität 
eingelaufene Bericht de3 kranken Kapitän, der nur Zufchauer 
der Thaten des jungen Mannes fein konnte, findet nicht Worte 
genug, feinen Helvdenmuth zu rühmen. Wir begnügen uns heute 
mit diejer furzen Notiz, die wir zu druden eilen, um viele be 
jorgte Seelen zu beruhigen. Wir hoffen, die Odyſſee des jungen 
Helden bald ausführlicher mittheilen zu können.“ 

Nachdem Zanetta viefes gelefen, flog ihr Blid triumphirend 
von Geficht zu Gefiht. Sir William war der Erfte, der Worte 
fand: „Lucy,“ fagte er, „ver wurde, wie bu prophezeit haft !" 

Der Abend war fehr belebt. Man konnte das Thema von 
Odo's Leiden und Heldenmuth nicht erfchöpfen. Am berebteiten 
war Zanetta, am ſchweigſamſten war Lucy. 


Sechstes Kapitel. 


Nur wenige Wochen nach jenem Abende war in dem Land— 
baufe fehr Vieles verändert. Zanetta blühte wie eine junge Rofe. 
Ihr Siehthum, ihr Trübfinn war an jenem Abende von ihr 
gefallen, wie eine Hülle, die man abwirft; fie war blühender als 
je vorher, felbft ihre Wangen, die von Natur zu ewiger Bläſſe 
verurtheilt fhienen, waren jegt von einer unverwifchbaren fanften 


Verrechnet. 359 


Röthe gefärbt; ihr Mund lachte im Widerſpruch mit ihren tiefen, 
immer ernſten Augen und brachte nur Scherz und Witzworte 
hervor. Sie war die Verkörperung jungen Glückes und wie die 
menſchliche Fortſetzung des ſchönen Frühlings, der nunmehr in 
lachendſter Fülle die Ufer des Genfer Sees bedeckte. Die Haupt: 
motive der Reife waren fomit weggefallen; nicht3 drängte mehr 
zum Abfchied von den altgewohnten, liebgewordenen Stätten. 
Doh war der Marcheſe nad) Genua gereist, um fein Haus zu 
beitellen, daß e3 würdig fei, feine junge Gattin zu empfangen. 
Seit drei Wochen war er der glüdliche Gatte Lucy’. Wenige 
Tage nachdem die Nachricht von Odo's Rettung angefommen mar, 
begann fie zur Vermählung zu drängen. Niemand ſah in die 
Borgänge ihres Innern, aber man kann fie errathen: fie wollte 
vie Schiffe hinter fi verbrennen ; fie wollte fih den Nüdweg 
abſchneiden. In ihrer Stärke hatte fie Angſt vor ihrer Schwäche. 
Sie wußte, Odo werde, faum nad Europa zurückgekehrt, herbei: 
eilen, um die alten Freunde zu ſehen. Er wird ihr jo entgegen: 
treten, wie fie ihn geträumt hatte, als ein heroijcher, früh er: 
probter junger Mann. Die große Reife, die großen Erfahrungen, 
die überftandenen Leiden müſſen ihn früh gereift haben; er wird 
fich ihr, fie wird fich ihm näher fühlen. Alle Urſache, fich ihrer 
Liebe zu ſchämen, ift vielleicht weggefallen und mit ihr bie 
Schranke, die fie von Odo trennte, Wird fie ſtark genug fein, 
dem braven Marcheſe, den fie in ihrem Befige fo glüdlich ſah, 
ihr Wort zu halten, und Zanetta, deren Mutter fie jchon ge: 
worden, dem Manne entgegen zu führen, ohne den das junge, 
zarte Geſchöpf nicht mehr leben zu können jhien? Sie mußte 
fich vor fich felber ſchützen, fie wollte ſich nicht auf ſich allein ver: 
laflen, wo e3 das Glüd Anderer betraf; fie ſuchte nach einem 
Zwang, nad einem pofitiven, feiten Halt; Beides bot ihr, das 
wußte fie, eine definitive übernommene Pflicht und fo jpradh fie, 
wie gejagt, ſchon einige Tage nad Ankunft jener Nachricht den 
Wunſch nad baldiger Vermählung aus. 
Sie fand in aller Stille in ver katholiſchen Kapelle ftatt. 


360 Novellen. 


Und jest war fie ſchon jeit drei Wochen Mardeja Brofferio. 
Sie jaß auf ihrem Lieblingsplägchen unter den Platanen auf der 
Terrafje und nahm Abſchied von ihren Kindern, die mit Sir 
William, den fie Großvater nannten, eine Epazierfahrt auf die 
ferne Plotte am andern Ufer des Sees machen follten. Sir Wil: 
liam ſaß fhon im Wagen und ließ die Peitiche ungeduldig fnals 
(en. „Adieu, Mama,“ jagte Emilia und fühte Lucy die Hand; 
„Ihreibe vem Papa ſchöne Sachen.“ — „Adieu, Mama ‚“ wieder: 
holte Zanetta und ſchloß fie in ihre Arme. Lucy küßte Beide auf 
die Stirne und fie liefen durch den Garten in den Hof; jprangen 
in den Wagen, der gleich darauf dahinrollte. 

In dem Augenblide, da der Wagen aus dem Hofgitter fuhr, 
raujchte e3 hinter Lucy in dem Gebüjche, das die Gartenmauer 
verhüllte und fie überwucderte. Ehe fie fih nad dem Geräufche 
umjehen konnte, jprang ein junger Mann aus der dichten Ber: 
büllung und ehe fie einen Schrei der Ueberrafhung ausſtoßen 
fonnte, lag Odo zu ihren Füßen. Gie erkannte ihn augenblidlic, 
obmohl er fich bedeutend verändert hatte. Er war höher gewach— 
jen und ftärfer geworben; fein Gefiht war braun und verbrannt 
und von einem kleinen Badenbarte eingefaßt, wie ihn englijche 
Seeleute lieben. „Endlich,“ rief er lachend, „endlich bin ich da! 
Die Meinen Kreaturen, die Sie da lieblosten, haben mih um 
einige koſtbare Minuten gebracht, die mir eine Ewigkeit jhienen. 
Denn ich liege jchon lange hier auf der Mauer verftedt und 
wartete, bis id Sie allein haben konnte.“ 

„do!“ feufzte die Marcheja, indem fie fih an die Platanen 
lehnte und beide Arme fallen ließ. 

Der Zon ihrer Stimme verfcheuchte plötzlich die Luftigkeit, 
mit der er berbeigejprungen war; mit einem Ausdrude höchſter 
Innigkeit faßte er ihre beiden Hände, fah ihr in die Augen und 
jagte mit zitternder Stimme: „Bin ich endlich da! bei Ihnen, 
Lucy! indem Augenblide, nad dem ich mich feit Jahren gefehnt 
babe, jeit Jahren und immer, immer, in guten und böfen Stuns 
den und überall, unter allen Himmel3ftrichen.” 


Verrechnet. 361 


In dieſen Worten, in der Innigkeit, ja Leidenſchaft, mit der 
fie hervorſprudelte, im Tone der Stimme lag etwas, was Lucy 
mit Schrecken erfüllte. Sie entzog ihm die eine Hand und fuhr 
fih über vie Stirne Es war ihr, als follte ihr jegt erit ein 
Unglüd fund werden. Sie fuchte fich zu fallen und ließ die 
Blide, wie fuchend, durchs Weite fchweifen, während Odo die 
Hand, die ſie ihm ließ, mit Küſſen bedeckte. 

„Odo,“ ſagte ſie, „haben Sie die Kinder geſehen, die mich 
eben verließen? Haben Sie ſie nicht erkannt?“ 

„Nein,“ ſagte er, „was kümmern mich die Kinder? Ich habe 
von meinem Verſtecke nur Sie angeſehen, nur das liebe, be— 
kannte Geſicht, das ſo viel ſchöner geworden iſt.“ 

„Ahnen Sie nicht, wer die Kinder ſind?“ fragte ſie weiter. 
„Sie ſtehen Ihnen nahe.“ 

„Wie?“ fragte er erſtaunt. 

„Es ſind die Kinder des Marcheſe Brofferio.“ 

„Brofferio?“ fragte er wieder. „Wer iſt Marcheſe Brofferio 

„Jener Herr Durand |!" — 

„Ach fo!” lachte Odo, „die Kleine ift meine Gerettete. Ad, 
die alte Geſchichte! Ich hätte fie längjt vergeflen, wenn ich ihr 
nicht Ihre Belanntjchaft verdankte. Gefegnet fei die Kleine, die 
ins Wafler fiel und die Große, die fie hineinfallen ließ. Wie 
fommen die Beiden hierher 2” 

„Es find meine Kinder!” lispelte Lucy. 

„Ach,“ lachte Odo wieder, „daran erkenne ich Sie! Sie 
müfjen immer Mama jein, immer für Jemand forgen, Jemand 
Gutes thun.” 

Plöglih ging er wieder vom Lachen zum innigften Ernft 
über: „Nein, Lucy,“ rief er, „es gibt auf Erven kein Weib wie 
Sie. Sehen Sie, das fteht hier in diefem Herzen feit und von 
Tag zu Tage, feit ih Sie kenne, ift diefe Heberzeugung in mir 
mächtiger geworden. ch habe Ihres Gleichen nicht gefunden, 
ih werde Ihres Gleichen nicht finden. Verzeihen Sie, Lucy, 
daß ich Ihnen fo ſpreche; ih muß, ich kann nicht anders. Im 


362 Novellen. 


Glücke des Wiederſehens fprudelt mein Herz über und doch kann 
ih Ihnen den millionften Theil deffen nicht jagen, was ich Ihnen 
auf der Dede der See, in der Wildniß der Urwälder, in Glüd 
und Unglüd gefagt habe. Laſſen Sie mich fpredhen, fo lange ich 
im Raufche diefer Stunde den Muth dazu habe. Es fpricht nicht 
mehr ein Anabe zu Ihnen; glauben Sie mir, ich bin ein Mann, 
ih bin alt geworden und ich fann jet beurtheilen, was ich ſchon 
als Knabe gefühlt habe. Und ich habe e3 mir geſchworen, e3 
Ahnen gleich zu jagen.” — 

Lucy machte eine abwehrende Bewegung. Sie empfand eine 
wahre Todesangſt vor dem Worte, das er ausſprechen wollte, 
Odo erfhraf vor dem ftarren Ausdrucke ihres Gefichtes und 
verftummte. 

Lucy richtete fih auf und fagte mit einem gezwungenen 
Lächeln, zu dem fie die ganze Kraft ihres Weſens zufammen- 
nehmen mußte: „So lafjen Sie mich doch ausreden. Verweilen 
Gie doch einen Augenblid bei diefen beiden Kindern; fie ver: 
dienen dad. Die Kleine dankt Ihnen das Leben und die Große 
mebr als da3 Leben, und fie empfindet das mit der mwunderbarften 
Innigkeit. Erinnern Gie fih doch an das Heine blaſſe Geſicht 
mit den großen, ſchwarzen Augen, das Ihnen einen jo tiefen 
Eindrud machte. Das ift Zanetta, das liebenswürbigfte Geſchöpf 
diefer Welt; Sie müfjen fie kennen lernen.” — 

„Lucy, ich begreife Sie nicht!“ rief Odo ungeduldig und ges 
kränkt, „ich bin jo glüdlich, bei Ihnen zu fein, ih will nur mit 
Ihnen allein fein und Sie fprehen mir immer von Andern, von 
Fremden,“ 

„Es find nicht Fremde, es find meine Kinder!” ſagte Lucy 
mit Nachdruck. 

„Run ja, aber —” 

„Meine Kinder !” wiederholte Lucy und indem fie fich an die 
Platane zurüdlehnte und ſich unbewußt, inftinktmäßig feiter auf 
ihre Füße ftellte, fügte fie hinzu: „Ich bin die Frau ihres 
Vaters.“ 


Verrechnet. 363 


Odo ſah ſie mit weit offenen Augen an, dann ſank er auf 
einen Stuhl und ſagte vor ſich hin: „Alſo kam ich doch zu ſpät. 
O mein Glück und meine Träume!“ 

Lucy hätte ſich ihm fo gerne genähert; fie fühlte eine un— 
endlihe Sehnſucht, ihre Hand auf feinen herabfallenvden Kopf zu 
legen, ihn an ihre Bruft zu drüden; aber fie fonnte feinen Fuß 
bemwegen. Sie war wie eingemwurzelt. Unbeweglich ftand fie va 
und fagte: „Odo! geben Sie klindiſche Gedanken auf — Sie 
haben mich Ihre Mama genannt — ich bin fo viel älter al3 Sie 
— ib bin und bleibe Ihre Mama — ich habe für Sie gejorgt. 
Lernen Sie Zanetta kennen; fie liebt Sie; ihre ganze Seele ift 
von Ihnen erfüllt. Ab, wüßten Sie, was das Kind um Sie 
gelitten hat. Sie war dem Tode nahe, ald man Sie verloren 
glaubte und fie blühte wieder auf, fie lebt und ift glüdlich, feit 
wir wiflen, daß Gie gerettet find. — Es ift ihr Tod, wenn Sie 
fie verfchmäben. Nehmen Sie fie aus meiner Hand — ich fann 
Ihnen nicht® Beſſeres geben. Ich habe fie für Sie erzogen, ich 
babe die Liebe zu Ihnen in ihrem Herzen gepflegt.” — 

Bei diefem Worte fprang Odo von feinem Sitze auf und 
ftellte jich drohend vor Lucy. „Wer gab Ihnen das Recht,“ rief 
er zornig, „über mein und ihr Herz zu verfügen? Hier dieſes,“ 
fuhr er fort, indem er mit geballter Fauſt auf die Bruft jchlug, 
„At feines, das man fo vergibt. Es liebt und bleibt ſich treu.” 

Eben fo rafh, als er aus dem Gebüfche gefprungen mar, 
fprang er jegt wieder hinein. Es ſchlug hinter ihm zuſammen. 
Lucy börte feine Schritte, die wie fliehend auf der Landſtraße 
forteilten. Jetzt erſt gewann fie wieder die Kraft, fich zu be 
wegen. Sie ſank auf venfelben Stuhl, von dem Odo eben auf: 
gejprungen war, ihre Stirne fiel hart auf ven Tiſch vor ihr und 
ein Strom von Thränen benegte den Sand, der fie aufiog, als 
wäre e3 Regen, 


Feigheit. 
Eine Geſchichte aus dem neunzehnten Jahrhundert. 


Erſtes Kapitel. 


Deutſchland, das muß man leider zugeben, iſt vor Allem 
das Land des Unfertigen, und ſo hat es ganz richtig einen un— 
vollendeten Dom zu ſeinem Symbol gewählt. Es gab eine Zeit, 
da alle Staaten Europa's gleich ſehr in Folge der Art ihrer 
Gründung durch große Vaſallen und andere Umſtände in viele 
kleine Staaten getheilt waren; ſie arbeiteten an ihrer innern 
Einigung, und gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ſind 
die bedeutendſten mit dieſer Arbeit fertig und in ſich geeinigt; 
andere vollendeten dieſe Einigung im ſiebzehnten Jahrhundert 
und unſere Zeit ſah noch die Aufnahme einer ſolchen Arbeit in 
einem der zerriſſenſten Länder und wird bald die Vollendung 
ſehen: nur Deutſchland iſt auch mit dieſer Arbeit nicht fertig ge— 
worden. So auch auf andern Gebieten. Es begann die Refor: 
mation, fein größtes Werk; es kam mit diefem Werke nicht halb 
zu Ende. Im Kleinen wie im Großen: fein Land der Welt zählt 
jo viele unvollendete Bauwerke wie Deutfchland; nicht nur die 
Dome de3 dreizehnten Jahrhundert? blieben auf halbem Wege 
fteden. Im achtzehnten Jahrhundert bemächtigte ſich der’ Fürften 
und Großen eine große Baumuth und die Eitelfeit, es Ludwig XIV. 
nachzuthun; großartige Echlöffer wurden angelegt, die Verjailles 


Feigheit. 365 


gleichkommen oder gar es übertreffen ſollten. Man ſehe nur das 
Schloß von Mannheim; mit hohlen Augen, unfertig, todt, bevor 
geboren, blickt es in die lebende Welt, und dieſes Schloß, wie 
der Kölner Dom zählen viele und unbekannte Brüder in ganz 
Deutſchland, denn mancher Graf, manches Fürſtlein, deſſen Ge— 
biet nicht viel größer war als das Weichbild der Stadt Verſailles, 
wollte doch ein Schloß haben wie das Schloß zu Verſailles. Zum 
Theil ſind dieſe ſtolzen Anfänge, die man nicht einmal erhalten 
konnte, verfallen und von der Erde verſchwunden; zum Theil 
bat man fie maskirt und das Unvollendete mit einem heuchle— 
riihen Abſchluſſe verdeckt, während nicht ein Drittel der Abficht 
ausgeführt worden; zum Theil find fie in der Einfamteit ver: 
ſchwunden, da fi) das Leben aus diefen Gegenden, die einjt 
Mittelpunfte eines Hofjtaates geweſen, zurüdgezogen. 

Ein ſolches gewaltiges, unfertiges, in ber Einſamkeit ver: 
ſchwundenes Schloß findet fih in einem deutjchen Fürftenthum, 
durch das feine große Heerjtraße und feine Eijenbahn führt und 
das deßhalb heute eine noch Kleinere Rolle in der Weltgefchichte 
jpielt ald ehemals und noch weniger bejucht wird als zu Anfang 
diejes Jahrhunderts, da gewifje, früher berühmte, jegt beinahe 
vergeflene Heilquellen Befuher aus Nah und fern herbeizogen. 
Das Heine Fürftenthum mit feinen grünen Wäldern ruht auf 
vulkaniſchem Grunde und ijt eine Heine deutſche Auvergne; der 
Zuftreifende, der nur malerifhe Landſchaften fucht, wie ver 
Geologe finden ihre Rechnung, wenn fie e8 beſuchen, aber es iſt 
leichter in andere Gegenden zu dringen, in denen für beide noch 
größere Ausbeute zu finden und die ausgevehntere Kommu: 
nifationgmittel befigen, und fo bleibt es weltvergefien. Die Heil: 
quellen werden nur nod von den Nachbarn aufgefuht und ge: 
ſchätzt, die wilden und doch lieblichen Thäler nur noch von den 
Studenten einer nahegelegenen Univerfität beſucht, wenn fie ver 
Profeſſor der Geologie dahin führt. Die wenigen Reiſenden be: 
fommen dann aud jenes gewaltige, unausgebaute Schloß zu 
jehen, da3 gerade an der Gränze des Ländchens liegt und feine 


366 Novellen. 


weiten Parks über das Gebiet zweier Staaten ausdehnt, denn 
dieſes Schloß ift vielleicht die einzige architektoniſche Merkwür— 
digkeit des Landes und hat für findifche Neugierde noch mande 
jener Kunftanlagen und Ueberrajchungen, wie Flüftergrotten, Ein: 
ſiedler, Aeolsharfen, Fallthüren, Waflerfälle, künſtliche Ruinen, 
fopfwadelnde Chinefen, kurz all die holvden Thorheiten, vie unjere 
reifrodtragenden Großmütter ergögten und erfchredten. Doch fteht 
das Schloß felbit nicht in Harmonie mit diefen Rococothorbeiten ; 
der Erbauer hatte mehr Gejhmad als feine Zeit, und anftatt 
Verſailles nachzuahmen, 30g er ed vor, das Schloß Franz’ I. von 
Frankreich, die herrliche Phantafie Primaticcio's, des Schülers 
Rafaels, Chambord bei Blois, fih zum Mufter zu nehmen. Wie 
Chambord erhebt jih Schloß Holfen breit und gewaltig mit einem 
Hauptgebäude und zwei Heinen Seitenflügeln im phantafievolliten 
Renaifjanceityle mit gewaltigen Thoren, breiten Fenftern, un 
zähligen großen und Heinen Baltonen und Erfern, lebend, viel: 
bewegt, bis zu einem platten Dache, aus dem dann, wie aus 
einer Ebene, eine ganze Stadt Hleinerer Gebäude und breiter, 
vielfach gezadter Schorniteine hervorwächst. Dieje breiten Schorn: 
jteine find mit Binnen gekrönt und mit weißen, rothen und 
ihwarzen Marmorplättchen mannigfaltig ausgeſchmückt; die Heinen 
Gebäude find eine Art von Dachſtuben in Geftalt von Pavillons 
oder Heinen Thürmen, die bronzirte Wetterfahnen tragen. Aus 
ihnen führen Thüren auf die Plattform, welche fi), durch dieſe 
Ueberbaue und Eſſen getheilt, in ein wahres Labyrinth von 
Gängen und Plägen verwandelt. Das Ganze ift von einer 
Baluftrade eingeſchloſſen, die hier und da unbeſchädigte und ver: 
ftümmelte Statuen, biftorifche und allegorifche, trägt und dieſe 
luftige Welt abſchließt. Dort oben ift Alles fertig und vollendet, 
nur die Seitenflügel des Schlofjes find niemals zur Vollendung 
gelangt, und der große Eingangsjaal des Hauptgebäudes, der 
eine Nahahmung der Salle des Gardes von Chambord werden 
follte, hat niemals jeine gewaltige Wölbung erhalten. Auch die 
Doppeltreppe & la Chambord ijt unvollenvet geblieben; nur eine 


Feigheit. 367 


zieht und windet ſich die drei Stodwerfe hinan und mündet mit 
drei Thüren auf die drei über einander hinlaufenden Galerien; 
die andere, die fich fpiralförmig neben diefer hinaufwinden ſollte, 
ift in der Mitte abgebrodhen und erreicht nicht einmal die erjte 
Galerie. Natürlich fehlen in fo unvollendeter Vorhalle auch die 
Fresken, die fie zu ſchmücken beftimmt waren, und werden dieſe 
heute durch große, won Staub verdichtete Spinngewebe erjegt, 
die fih, eind am andern hängend, von Winkel zu Winkel ziehen 
und faum den Schwalben Plag laſſen, die bier Nejter anzu: 
leben juchen. Doch ift ein ganzer Fried won bewohnten und 
halb zerjtörten Schwalbenneftern eingenommen, die oft in dreis 
und vierfadhen Reihen übereinander fißen. 
| Das Alles wurde ehemals von den Reifenden beſucht, be— 
wundert und von deren Phantafie, mo es nöthig war, ausgebaut. 
Das legte und höchſte Ziel war die labyrinthifche Plattform, die 
in der That hier wie in Chambord den ſchönſten, eigenthüms 
lichften Theil des Schloſſes ausmachte. Aber feit einer langen 
Reihe von Jahren war die Plattform unzugänglid, und der Bes 
fchließer, der einzige Beamte, der das Schloß bewohnte, gab auf 
die dringenden Fragen der Reifenden, warum fie nicht dahinauf 
gelangen dürften, ausweichende oder gar feine Antworten und 
blieb auch jeder Beſtechung ebenfo verfchloffen, wie die Kleine 
eiferne Thür, die durch ein Seitenthürmchen auf die Plattform 
führte, E3 war diefer Beſchließer ein alter, graubärtiger Soldat, 
den man nicht lange fragen, in den man noch weniger dringen 
durfte, wenn man nicht mit überrafchender Kraft zurüdgefchlagen 
fein wollte. Die Fremden blieben gewöhnlich zu kurze Zeit in 
der Gegend, um nähere Erfundigungen einzuziehen über einen 
Gegenitand, der übrigens fein großes Intereſſe einzuflößen ge: 
eignet war. Man konnte eben die Plattform. nicht fehen, der 
Befiger geftattete e8 nicht; bei jo vielen Merkwürdigkeiten, die 
man bejucht, blieb man von einem Theile derfelben ausge 
ſchloſſen; man berubigte fich bei der Weigerung des alten Sol: 
daten und damit war die Sache gut. Einzelne Fremde über: 


368 Novellen. 


nadteten wohl in dem nahegelegenen Dorfe Holken und dieſe 
fonnten, wenn fie bei Mondichein noch einmal ausgingen, um 
das Schloß in romantijcher Beleuchtung zu betradhten, wohl be: 
merfen, daß aus einem der Feniter auf der Plattform ein ſchwaches 
Licht hervorbrach, aber auch diefe, wenn fie fi dann nad dem 
Bewohner diejer einjamen Höhen erkundigten, fonnten jelbjt im 
Dorfe jchwer irgendwelchen ausführlichen Beſcheid erlangen. Faft 
alle Bewohner antworteten jo abwehrend wie der alte Soldat, 
jelbft ver Wirth der Herberge, zu deſſen Pflichten es doch gehörte, 
jever Frage zu ftehen und mögliche Auskunft zu geben. Es war 
al3 hätte die ganze Gegend ein auf das Schloß bezüglidhes, ge 
meinfchaftliches Geheimniß, ein Familiengeheimniß, von dem zu 
iprechen jchmerzlih war. Trogdem war e3 feit mehreren Jahren 
auf viele Dleilen im Umkreiſe und endlich auch in der Fremden: 
welt de3 Badeortes fein Geheimniß mehr, daß der einzige und 
einfame Bewohner des Schlofjes, oder vielmehr der Manfarde 
auf der Plattform, fein anderer war, al3 der Stammbalter de3 
Haufes und der Befiger des Schloſſes jelbit, ver ehemals reich: 
unmittelbare Graf von Holken — und diejenigen Fremden, die 
den Theil feiner Gefchichte fannten, welcher in die Deffentlichkeit 
gedrungen, bejuchten das Schloß und übernadhteten im Dorfe, 
nur um fagen zu fünnen, daß fie das Licht in ver Nacht gefehen, 
das aus der Einfievelei des Mannes drang, der einft jo viel von 
jih reden gemadht. 

Ich follte glüdlicher fein al3 alle andern Fremden und über 
den Bewohner des Sclofjes und fein Geheimniß mehr erfahren 
al3, einen einzigen Mann ausgenommen, irgend Jemand in der 
Umgegend und in der Welt überhaupt. Im Jahre 1845 kam ich 
auf die jhon erwähnte, von Holten nicht jehr entfernte Univer: 
fität, um mich dajelbjt als Dozent zu habilitiren; der Pfarrer 
von Hollen war mein Better, aber mir eben fo unbelannt als 
dem Reft der Familie, da er frühe feine und unfere Heimat in 
Süddeutſchland verlaflen hatte. Man drang von Haufe aus in 
mid, ihn zu befuchen, und ich that es gern, da ich nie Anderes 


Feigheit. 369 


al Gutes von ihm hörte; er feinerfeit3 nahm mich mit großer 
Herzlichkeit auf. Mein Better, ein Mann von ungefähr fünf: 
undvierzig Jahren, gefiel mir. Wir hatten gleichen wiſſenſchaft— 
lichen Geſchmack, er bewohnte ein idylliſch-ſchönes Pfarrhaus, 
befaß eine reiche Bibliothef, die Gegend ift überaus lieblih und 
malerifeh, der Vetter fühlte fi außerdem einfam, da er im 
Sabre vorher eine jehr liebe Frau verloren hatte, und jo machte 
e3 fih, daß ich ihn bald zum zweiten Male bejuchte, um mehrere 
Moden, vielleiht Monate mit ihm zu haufen. 

Das pradtvolle Schloß zog natürlich gleich während meines 
ersten Befuhes meine ganze Aufmerkſamkeit auf fih und der 
Paſtor machte ſelbſt meinen Führer dur die innern Räume, 
zu denen ihm ber Soldat die Schlüfjel gegeben, wie durch den 
Park. Auf die Plattform gelangte ich eben jo wenig al3 jeder 
andere Fremde. 

„Barum darf ich nicht dort hinauf?” fragte ih den Paſtor, 
mit dem ich in dem weiten, grasbewachjenen Hofe ftand, „vie 
Plattform fcheint ja gerade der ſchönſte Theil des Schlofjes zu 
fein und muß eine prächtige Ausſicht haben 

„Die Plattform ift bewohnt,” antwortete mein Better kurz. 

„Die ganze Plattform ? Da können zwanzig Familien wohnen 
und ich ſehe feine Seele.” 

„Ich fage zu viel,“ werbeflerte fich der Paftor, „wenn ich 
fage, daß die Plattform bewohnt iſt — eine der Stuben da oben 
ift bewohnt.” 

„Warum follten wir denn nicht dahinauffteigen dürfen 9 

„Der Bewohner will e3 nicht.” 

„Das ift jehr ungaftlih! Die Plattform ift jo groß, eine 
ganze Welt — er brauchte una ja gar nicht zu fehen.“ 

„Sr will es einmal nicht,“ wiederholte der Paftor und offen: 
bar in der Abficht, das Gefpräc über diefen Gegenftand abzu: 
ſchneiden. 

Wer iſt denn dieſer ungaſtliche Einſiedler ?“ fragte ich trotz⸗ 
dem weiter. 

Moritz Hartmann, Werke. VI. 24 


370 Novellen. 


„Es ift der Befiter des Schloſſes.“ 

„Wie heißt er 9” 

„Die das Schloß, Hollen — Graf Holten.“ 

„Das iſt doch erjtaunlich,” rief ih, in der That verwundert, 
„der Graf felbjt? In diefer Wüſte? In dieſem verfallenden 
Schloſſe? Und nirgends fehe ich eine Spur von Familie oder 
Dienerihaft — und gerade da oben in einer Manfarbe, in einer 
einzigen Manjarde muß er wohnen, während im Sclofje jo 
prachtvolle Säle leer jtehen ?“ 

Mein Better ſchwieg und ich fuhr mit meinen Fragen fort: 
„Sr ilt wohl ruinirt? Er hat wohl fein la durchgebracht, 
daß er ſich fo einſchränkt ?“ 

„Sr iſt der reichſte Grundbeſitzer des ganzen Landes,” ant- 
wortete der Paſtor. 

Die Sache wurde mir immer räthſelhafter, eben fo räthſel— 
haft al das Benehmen meines Vetters, den meine Fragen mit 
ſichtlichem Unbehagen erfüllten, und der mir durch feine kurzen 
Antworten deutlich zu verftehen gab, daß er nicht weiter gefragt 
werben wollte. Auch nahm er mich am Arm, um mich weiter 
zu führen, vielleiht um mich durch den Anblid anderer Gegen: 
ftände auf andere Gedanken zu bringen. Aber Alles das hatte 
mich zum Nachdenken gebracht; das ganze Geheimnißvolle diejer 
halben Mittheilungen wie des Schloffes in Verbindung mit dem 
Namen Holken hatte in meinem Gedäctniffe unbeitimmte Ers 
innerungen gewedt, die ich noch nicht recht fallen fonnte, und 
e3 begann jene Qual des Gehirns, die man zu empfinden pflegt, 
wenn einjt Gewußtes, längſt Vergeſſenes wieder aufzuerjtehen 
und über die Schwelle des Bewußtſeins zu treten ftrebt. Es 
war mir, al3 müßte fih an den Namen Holfen eine Gefchichte 
fnüpfen, eine Geſchichte, die ich einft gehört oder gelejen hatte. 
In wirren Tönen umfummte fie mein Ohr; fie ftand gebrudt 
vor meinen Augen auf einem Blatte — aber noch jo verwiſcht, 
daß ich fie nicht lefen konnte. Ich legte die Hand auf die Stirne 
und dachte nah, mährend mich mein Better am Arm padte, 


” 


Feigheit. 371 


um mich in meiner Anſtrengung zu ſtören und fortzuziehen. Ich 
ließ mich nicht ſtören, ich grübelte — und plötzlich, wie ein Blitz 
fuhr es mir durch den Kopf und ich rief: „Graf Holken, General 
Graf Holken, der bei Waterloo wegen ſeiner Feigheit infam —“ 

„Nein! — Ja!“ rief der Paſtor haſtig nacheinander, indem 
er ſich in dem öden Hofe umſah, ob Niemand meine Worte ge— 
hört, und gleich darauf eben fo ängſtlich hinauf nad der Platte 
form blidte, obgleih meiner Stimme Schall unmöglih dahin 
hatte dringen können. Dann faßte er mih am Arm und 309 
mic aus dem Hofe. — „Sprich mit Ehrfurdt von dem Manne,” 
fagte er dann mit einem Gemifh von Rührung und ärgerlicher 
Aufregung — „mer er auch immer fei oder geweſen fei, er ijt 
der MWohlthäter diefer ganzen Gegend, der Helfer in jeder Noth 
— da3 weiß Niemand beffer als ih — und dabei ift er, ad, 
fo unglücklich.“ 

Mein Vetter gab mir während meiner erften Bejuche im 
Pfarrhaufe oft zu verftehen, daß er über jenen einfamen Mann 
im Schloſſe und über deſſen Geſchichte nicht zu fprechen liebe, 
und ih ſchwieg, troß aller Neugierde, mwie/e3 die Pflicht des 
Gajtes und des mohlerzogenen Menfchen gebot. Aber meine 
Neugierde wurde darum nicht vermindert und verwandelte ſich 
mit der Zeit in herzliche Theilnahme für den Einfamen. Unter 
Tages hätte fein Menſch geahnt, daß die Plattform bewohnt ſei, 
aber in der Nacht, beim hellen Mondſchein, fah man manchmal 
einen Schatten an den breiten Eſſen hingleiten oder aus einem 
gewiſſen Fenſter einer den äußerften Rand der Plattform ein: 
nehmenden Manfarde einen gedämpften Lichtjtrahl durch die 
Jalouſie bervorbredhen. Aus dem Fenfter meiner Stube im 
Pfarrhaufe konnte ich diefes Licht beobachten, und ich ftand oft 
ftundenlang da, immer hinauffehend nad der Höhe, in der das 
Licht wie ein kranker, erlöfchender Stern, der fich in Nebel auf: 
zulöfen droht, in der Luft ſchwebte. Der Anblid erfüllte mit 
Traurigkeit und das um fo mehr, wenn man, was ich endlich 
bei meinem britten oder vierten Befuhe im Pfarrhaufe erfuhr, 


372 Novellen. 


wußte, daß der Einfame da oben ſeit mehr ala vreißig Jahren 
hauſe, daß e3 ein Greis mit ehrwürbigem Angeficht fei, und daß 
er dort oben fich mit einer unverwifchbaren Schande vor den 
Augen der Welt verberge, feſt entjchloffen, fo lange feine eigenen 
Augen noch offen ftehen, fich diefen nicht mehr zu zeigen. Ob: 
wohl ich felbft, theilnehmend und traurig, oft zu dieſem Lichte 
hinaufblidte, war id doch bald beinahe eben fo unangenehm be: 
rührt wie mein Vetter, wenn ich jah, wie manchmal Fremde bei 
Tag und bei Nacht um das Schloß herumſchlichen und mit plumper 
Neugierde das Licht, wo nicht den Einfiedler ſelbſt, zu erfpähen 
fuchten. Erft als ich jo weit war, und es mein Better bemerkte, 
und erit nachdem ſich im Laufe mehrerer Monate ein fehr inni- 
ges, freundſchaftliches Verhältniß zwiſchen ung gebilvet hatte, 
war e3 ihm möglich, ruhig über ven Grafen Holfen mit mir zu 
ſprechen. 

„Ja,“ ſagte er mir eines Tages, „Du haft es damals er: 
rathen, es ift der General Graf Holfen, verfelbe, der bei Water: 
[oo feiner Feigheit wegen infam kaſſirt wurde.“ 

„Iſt es nicht jo?“ fragte ich, „er jollte mit feiner Kavallerie 
einen Angriff ausführen, und in dem Augenblid, da ihm vie 
feinplihe Abtheilung entgegen fam, wandte er fein Pferd und 
ergriff die Flucht *" 

„Ja, jo ift es!“ betätigte ver Bajtor, und fuhr fort: „Seine 
Schwadronen folgten ihm, brachten mehrere Infanterieregimenter 
in Unorbnung, riſſen einen Theil mit in die Flucht, und dieſe 
Epifode hätte der Entſcheidung des entſcheidenden Tages leicht 
eine andere Wendung geben fünnen, eine Wendung, die vielleicht 
der ganzen europäifchen Welt unheilvoll geworden wäre.“ 

„Ich habe,” fagte ich, „jeit meinem erſten Bejuche bier 
Manches über den Grafen und diefe merkwürdige Epifode ge: 
lefen, auch Manches durch mündliche Erkundigungen erfahren — 
aber je mehr ich erfahren, deſto unflarer fehe ich in der Sache. 
Die Laufbahn des Grafen endet mit einer ungeheuern Schmach 
— aber die Laufbahn felbft, bis zu diefem unglüdfeligen Ende, 


Feigheit. 373 


iſt eine durch und durch ehrenhafte, ja ruhmvolle. Graf Holken 
galt für einen der ausgezeichnetſten deutſchen Offiziere und als 
ſolchen betrachtete ihn auch Napoleon, als er, nach den damaligen 
Zeitverhältniſſen, unter ſeinem Kommando focht. Dem großen 
Kenner und Entdecker des Talentes und des Muthes verdankte 
er es, daß er noch verhältnißmäßig ſehr jung als General kom— 
mandirte. Wie ſeine militäriſchen Talente und ſein Muth, hatte 
ſich auch ſein Privatcharakter, ſeine Ehrenhaftigkeit, ſeine edle 
Männlichkeit bei vielen und allen Gelegenheiten bewährt. Er 
war von Freund und Feind gleich ſehr hochgeachtet, von ſeinen 
Kameraden geliebt, von ſeinen Soldaten wahrhaft vergöttert — 
und dieſer Mann wird an einem Tage wie der bei Waterloo 
mit einem Male feige, er vergißt Vaterland, Pflicht, Ehre, ſeine 
eigene ganze Vergangenheit und wendet ſich zur ſchimpflichen 
Flucht! Iſt das begreiflich ?“ 

Der Paftor zuckte die Achfeln und fagte: „Du kennſt die 
Geihichte des Generald Mad. Auf wenigen Deutjchen laftet ein 
jo gewaltiger Schandfled al® auf dem Mann der Kapitulation 
von Ulm. Nun wohl! Erkundige du dich bei Allen, vie fein 
Leben und fein ganzes Weſen aufs Genauefte gefannt haben, 
vor und nad der Schandthat, und fie werden dir fagen: General 
Mad war nicht nur der vortrefflichfte und erprobtefte Offizier, 
eine Autorität in feinem Face, eine Berühmtheit in der militä: 
riſchen Welt, e3 war auch ein trefflicher Menſch, ein durch und 
durch ehrenhafter Charakter, an dem feine alten Freunde bis an 
jein Lebensende mit unveränderter Liebe und Achtung hingen. 
Selbſt Denen, die ihn nad feinem Falle, nach der Schande von 
Ulm, kennen lernten, blieb es ewig ein Räthjel, wie ein folder 
Mann fo hatte handeln können; fie fagten von diefer That: fie 
müßten fie, aber fie glaubten fie nicht.” 

„Solche Erſcheinungen,“ fagte ih, „Sind und bleiben aud 
in der That unbegreiflih. Wer kann da beftimmen, welch eine 
förperlich begründete Stimmung gerade im entſcheidenden Augen: 
blick ſtärker iſt al3 alle moralifchen Einwirkungen, als alle 


374 Novellen. 


Gefühle von Pliht und Ehre, als alle Erinnerungen und Rüd— 
fihten —” 

„ein!“ fiel mir der Paftor ind Wort, „an Dergleichen 
glaube ih nicht, will ich aus Nüdficht auf die Würde der Menſch— 
beit nicht glauben. Mein fefter Glaube ijt, daß ſolche Erjchei- 
nungen rein tragifher Natur find, und daß hinter ihnen eine 
tragiſche Schuld ftedt, die gefühnt werden muß, und die Er: 
fahrungen, die ich felbit gemacht, die innere Geſchichte eines 
folhen tragifhen Opfers, die mir befannt ift, befeftigen mich 
nur in dem Glauben.“ 

Damit hatte der Paſtor ſchon zu viel gejagt, um leugnen 
zu fönnen, daß er mit der innern Gefchichte und mit den Ur: 
ſachen des Unglüds jenes Einfamen vertraut war. In der That 
erfuhr ich bald, daß er der einzige Menſch war, den der Graf 
mandmal in feiner Manfarde empfing, dab durch ihn die Wohl: 
thaten ausgeübt wurden, duf die der Graf jein ungeheures Ver: 
mögen verwendete, und endlih, daß ſich zwijchen den beiden 
Männern ein beinahe inniges Freundfhaftsverhältniß gebildet 
hatte. Daß der gute Paſtor bei diefem Verhältnifje mit feinem 
ganzen Herzen betheiligt war, erkannte ih an der Aufregung, 
die ſich feiner bemädhtigte, fo oft gegen den infam fajlirten Ge: 
neral irgend ein Wort der Anklage oder Mißachtung fiel, ja jo 
oft nur jein Name genannt wurde und Gefahr da war, dab fi 
an diefen Namen irgend eine verlegende oder frivol verurtheis 
[ende Bemerkung knüpfen fünnte. Sprad er, ohne diefe Gefahr 
befürchten zu müflen, von ihm, that er e8 immer mit einer auf: 
richtigen Traurigfeit und mußte er jich bezwingen, um nicht 
weich zu werden. Die Theilnahme, die ich dem Einjamen zeigte, 
trug offenbar viel dazu bei, daß ſich zu dem verwandtjchaftlichen 
Gefühle bei dem Paſtor auch bald das freundſchaftlichſte gejellte, 
und daß diefem das größte Vertrauen folgte. Er gejtand mir 
bald zu, daß er in der That die Gefchichte des Grafen genau 
fenne, und nicht lange darauf verfpradh er mir, daß ich fie der: 
maleinſt auch fennen folle, nur follte ich ihm dagegen ver: 


Teigheit. 375 


ſprechen, den Unglüdlichen bis dahin nicht für einen Verräfßder 
oder für einen gemeinen Mann zu halten. 

Darüber gingen Jahre dahin, ehe er Wort gehalten — aber 
er hielt Wort, als der Graf in dem verwilderten Barfe von 
Holken beftattet war, dort, wo er jegt noch liegt, ohne Denkmal, 
obne Grabftein, wie er es verorbnet. Mit den Wünſchen ver 
Agnaten jtimmte es zu fehr überein, daß Geftrüpp jein Grab 
überwucherte, und daß fein Name jelbit nicht durch eine Grab: 
fchrift erhalten werde, als daß fie gegen diefe jeine Anordnung 
etwas gethan haben würden, 


Bweites Kapitel. 


Viktor Graf von Holten ftammte aus einem alten, reich) 
begüterten Gefchlechte des mittleren Deutſchlands. Die kriegeriſche 
Beit, die in feine Jugend fiel, jowie eigene Neigung und Fami— 
lienüberlieferungen beftimmten ihn, die militäriihe Laufbahn zu 
betreten, nachdem er in der Familie und auf der Univerfität eine 
forgjame Erziehung genofjen hatte. Garnifon= und Lagerleben 
verhinderten ihn nicht, ſich fortwährend geiftig weiter zu bilven ; 
von den neuen Ideen, welche die Vhilofophen des achtzehnten 
Sahrhundert3 und die Neufranken in die Welt gebracht, nahm 
er jo viel in fih auf, als ein offener, wohlwollender, aber in 
einer vorurtheilsvollen und bejchränkten Zeit erwachſener Geift 
in jih aufnehmen fonnte; die große Epoche der deutichen Litera— 
tur, in die feine empfängliche Jugendzeit fiel, ging nicht ſpurlos 
an ihm vorüber; er ſah die Welt ſchöner und won einem höhern 
Standpunft an als feine unmittelbaren Vorfahren und viele feiner 
zeitgenöflifhen Standesgenofjen. Er erkannte jehr wohl, melde 
großen Beränderungen im Ganzen wie in allen einzelnen Zweigen 
des Lebens in kurzer Zeit vor fih gegangen, und wie ſehr noth: 
wendig und geboten e3 fei, wenn man fich als nügliches Mit: 


376 Novellen. 


glfed der Gefellihaft erweifen wolle, fich diejen Veränderungen 
zu fügen und des Belehrenvden, das fie enthielten, fo viel ala 
möglich in fich aufzunehmen. Das militärische Wejen lag ihm 
nun am nächſten, und er verſchmähte nicht, von den fiegreichen, 
aber von feinen Standesgenojjen noch immer verachteten Feinden 
zu lernen, was er von Cäjar, Vauban, Friedrich dem Großen, 
überhaupt aus der Vergangenheit und aus Büchern nicht lernen 
konnte. In der Armee des Mittelftaates, der er angehörte, war 
er bald nicht nur als tapferer, bereit3 in zwei Feldzügen bewähr— 
ter, jondern au in feinem Fache höchſt unterrichteter Offizier 
befannt. Als man durch Napoleon gelernt hatte, auf Talente zu 
achten, das Willen zu benugen und die Zukunft zu bevenfen, 
wurde Viktor von Holken oft vem Garniſonsleben entriffen, um 
in die Nähe des Kriegsminifter® und des Hofes gezogen, bei 
Reformen und Ausarbeitungen von Plänen verwendet zu werben. 
Sp madte es fih von jelbjt, daß er außerhalb der Reihe und 
ohne Neid zu ermeden, jchnell im Range aufrüdte, und da er 
„das Glüd” hatte, bei verſchiedenen Gelegenheiten von dem nun— 
mehrigen Alliirtten oder vielmehr Schußherrn feines Staates, 
Kaiſer Napoleon, gelobt zu werden, war er ſchon in feinem fünf: 
undzwanzigften Jahre zum Major aufgerüdt. Als folder und 
al3 ein Mann, der vom Freunde, dejlen Feind man einft werden 
konnte, zu lernen im Stande war, wurde er als Militärbevoll- 
mächtigter der Gejandtichaft feines Fürften beigegeben und kam 
er im Jahre 1809, zur Zeit des höchſten Glanzes des Kaijer: 
reihes, nah Paris. 

Das Leben der franzöfiihen Hauptjtadt, ihrer Natur und 
der kaiſerlichen Politit gemäß beftimmt, die Augen der ganzen 
Melt auf fih zu ziehen und zu blenvden, hatte für den jungen 
Mann jo viel des Neuen und Beraufchenden, daß er anfangs 
nicht zur Befinnung fam und von Schaufpiel zu Schaufpiel, von 
Freude zu Freude, von Feſt zu Feit taumelte, Aber die Müdig— 
feit mußte fich bei einem an ernitere3 Streben gewöhnten Cha: 
rafter bald einftellen und diefer mußte folgerichtig die Sehnſucht 


Feigheit. | 377 


nah einen ftilern, innerlich reihern Leben folgen. Der junge 
Mann, der ehemal3 die Muße der Friedenszeiten auf feiner 
Stupdirjtube oder in Geſellſchaft inniger Freunde verbracht hatte, 
hätte auch jegt gerne alle die Zerjtreuungen um wenige Stunden 
innigen Umgangs bingegeben. Ein erniter Freund, mit dem er 
vertraut feine Meinung über die Intereffen, die damals die Welt 
bewegten, hätte austaufchen können, ein Heiner Familienkreis, 
in dem er ſich gemüthlich gefühlt hätte, ſchien ihm bei Weiten 
wünjchenswerther, als der ganze Glanz der Tuilerien, als die 
ganze Gejelljhaft von Fürften und Königen, did er dort wie 
Trabanten um die Sonne von Aufterlig fich bewegen jah. 

Sein Wunſch follte ihm erfüllt werden. Oberſt Jules Ma: 
rigny, der in Frankreich ungefähr dieſelbe Stellung einnahm 
wie Viktor in jeinem Waterlande, der feine Grade auf dem 
Schlachtfelde gewonnen, aber in den kurzen Friedenspauſen, die 
Napoleon feiner Nation gönnte, bei der theoretifchen Ausarbei- 
tung neuer Pläne im Kriegsminifterium verwendet wurde, erhielt 
gleich bei Ankunft des jungen deutſchen Offiziers vom Kriegs: 
minijter den Befehl, fich deflelben bejonder8 anzunehmen, und 
er war es, mit dem Viktor den Theil der gefandtichaftlichen Ge 
ihäfte, der ihm zufiel, abzumadhen hatte. Oberſt Marigny 
ſtammte noch aus dem Geſchlecht der begeijterten Freiwilligen, 
die auf den Ruf bes Baterlandes, nicht in Folge Eaijerlicher 
Konjkriptionen, an die Gränzen eilten, aus jenem Geſchlechte, 
das nur zum Theil jih von dem folvatifchen Wefen des Kaijer: 
thums abjorbiren ließ, zum Theil aber jene eriten, evlern Ge: 
fühle aus der Zeit der Republik als Grundlage ihres Charakters 
beibehielten, als fich viele Franzofen aufricktig einbilveten, daß 
fie nur als Apoftel der Freiheit und Civilifation zu Felde zögen. 
Er hatte die Univerfität al3 zwanzigjähriger Jüngling verlaſſen, 
als er zum erften Male im Jahre 1793 unter die vreifarbige 
Sahne eilte. Immer wähnend, daß er noch einft zur Wiſſenſchaft 
zurückkehren werde, zog er von Schlachtfeld zu Schlachtfeld, wäh: 
rend jich hinter ihm in Paris fortwährend die Szene änderte, 


378 Novellen. 


und ehe er fich deſſen verſah, war er aus einem PVertheidiger ver 
Freiheit und des Vaterlandes ein Soldat des Kaijerd geworden, 
hatte er einen bedeutenden Offizierdrang gewonnen, waren Jahre 
bingegangen und war nicht mehr daran zu denken, feinen Vater, 
den geachtetjten Arzt Dijons, zu erjegen. Dieſes Schidjal hatte 
er mit vier Fünftheilen der franzöfifchen Offiziere gemein; mas 
ihn von diefen unterfhied, war die Stärfe, mit der er jich vor 
folvatifher Vermilderung bewahrte und vor dem Vergeſſen aller 
der beflern Jugendneigungen, die ihn fo mie viele Andere ins 
Lager geführt hatten, die aber bei viejen vielen Anvern aus: 
gewifcht waren aus dem Gedächtniſſe oder von ihnen wie von 
ihrem Chef als kindiſche Ausgeburten unprakt'ſcher „Soeologie“ 
verachtet wurden. Oberſt Marigny war nun ein Mann in den 
dreißiger Jahren, ruhig, in ſich abgejchloffen, duch Bücher und 
Erfahrungen gebildet. Mit dem Leben hatte er abgerechnet; was 
ihm die Welt im Großen und Ganzen verfagt, durch Vereitelung 
feiner jchönften Träume, die er uneigennügig für fie geträumt 
hatte, ſuchte er fi im Kleinen zu erjegen, dur Erfüllung ver 
nächſten Pflihten und dadurch, daß er die Welt in Denen fuchte, 
die er liebte. Ein warmes Herz, wie er war, Elammerte er ſich 
mit dejto innigerem Glauben an einzelne Berjonen, als fein Ber: 
trauen in die Welt erfhüttert war. Solche Menſchen, die an 
ihre Landsleute nicht glauben, da fie an ihnen ihre Erfahrungen 
gemacht, und die doch ihren Glauben an die Menjchheit nicht 
aufgeben fünnen, fommen den Fremden mit bejonderer Vorliebe 
entgegen, und fo fand Biltor beim Oberften Marigny eine um 
fo herzlihere Aufnahme, als in ihren Charakteren, ihrem Beruf, 
ihren Neigungen, ihrem Streben jo viele Berührungspunfte vor- 
handen waren. Beide waren unter dem Solvdatenrode mild und 
gebildet, Beide im frivolen militärischen Leben ernſt geblieben; 
Beide juchten ihrem Berufe die geiftigfte Seite abzugewinnen; 
aber fie waren aus verfchiedenen Verhältniſſen, verfchiedenen 
Nationen und Schulen hervorgegangen; die Grundlagen ihrer 
Bildung waren in vielfacher Beziehung verfchieden, und fo hatten 


Feigheit. 379 


fie auch, Einer vom Andern, etwas zu lernen, und jo waren alle 
Bedingungen der Gleichheit und Ungleichheit —— die 
innigen Verbindungen förderlich ſind. 

Nachdem Oberſt Marigny ſeinen Schutzbefohlenen kennen 
gelernt, führte er ihn, den er bisher nur in den Tuilerien, in 
großen Geſellſchaften und in ven Bureaur geſehen hatte, in fein 
Hausweſen ein, und damit hatte Viktor den heimlichen Ruhepunkt 
gefunden, der ihm in dem betäubenden Lärm der Welthauptitabt 
fo wünjchenswerth ſchien. 

Oberjt Marigny war verheirathet und zwar glüdlich verhei- 
rathet, obwohl jeine Heirath halb und halb auf franzöfiiche Weile 
geſchloſſen worden, das iſt durch Einmiſchung dritter Berfonen, 
die mehr die äußern Bortheile als die Bedürfniſſe des Herzens 
in Betracht zogen. Seine Freunde und Anverwandten juchten 
für ihn, während er ven Feldzug von 1805 gegen Oeſterreich 
mitmachte, eine gute Partie, und fie fanden dieſe in der Perſon 
des Fräuleins Helene von Perouſſet. Mademoifelle de PBeroufjet 
war der legte Sprößling eines altadeligen Haufes, aus dem unter 
den Bourbonen gewöhnlich die Kapitäne der Garden in Berfailles 
gewählt wurden und das in der Schredengzeit des Jahres 1793 
auf dem Schaffote erlojh. Helenen rettete ihre Jugend; fie war, 
al3 fie ihre jämmtlihen Anverwandten unter der Guillotine ver: 
bluten ſah, erſt acht Jahre alt. Ein Emigrant, Freund ihres 
Baters, nahm fie für einige Zeit zu ſich nad Deutſchland, ſchickte 
fie aber nad) wenigen Jahren wieder nach Frankreich zurüd, wo 
fie in einem Mädcheninftitut erzogen wurde. Sie war zwar, ala 
fie um ihre Familie fam, auch um ihre Güter gekommen, die als 
Nationaleigentbum eingezogen wurden, und fie war eigentlich 
nicht3 Anderes als ein armes Fräulein; trogbem hatten die 
Freunde Marigny’3 Recht, fie al3 eine gute und wünjchenswerthe 
Partie zu bezeichnen. Abgejehen von ihrer guten Erziehung und 
ihrer auffallenden Schönheit, war noch gegründete Hoffnung vor: 
handen, ja man fonnte mit Sicherheit darauf rechnen, daß der 
Kaiſer, wenn fie Marigny heirathete, ihr vie jämmtlichen ein: 


380 Novellen. 


gezogenen Güter oder einen bedeutenden Theil derjelben zurüd: 
eritatten, oder, wenn dieß ganz und gar unthunlic, ihr jeden: 
falls eine binreihende Mitgift und Ausftattung geben werde. 
Der Kaifer fab es gern, wenn jeine Offiziere oder jonjtigen 
Mürdenträger Töchter alter Häufer heiratheten und fich die alte 
Legitimität fo mit feinem neuen Adel vermifchte. Bei jolchen 
Gelegenheiten war er überaus freigebig, und er liebte es, Männer, 
die ſolche Heirathen eingegangen, raſch emporzubeben, um mit 
ihnen ihre Frauen, die Töchter der Legitimiften, an feinem Hofe 
zu ſehen. Dieje Lächerlichkeit des Emporlömmlings machte Helene 
zu einer guten Partie. Aber Marigny ſah das jchöne und ver: 
lafjene Fräulein, und er adelte dieſe arrangirte Heirath, indem 
er vom Kaiſer weder Rückgabe der eingezogenen Güter noch eine 
Mitgift verlangte, indem er ſich überhaupt bei dieſer feiner 
Privatangelegenheit um die Einwilligung feines Kriegsherrn ganz 
und gar nicht fümmerte: ein Verfahren, das ihm von Anfang an 
die Achtung feiner Frau fiherte und vielleiht den feſteſten Grund: 
jtein jeines Glückes bildete. Die Hinterlaffenihaft feines Vaters, 
der der erite Arzt Dijons geweſen, fein Oberftengehalt und die 
Zulage, die er als Arbeiter im Minifterium des Krieges bezog, 
waren übrigens mehr al3 hinreichend, um einen beinahe luxuriö— 
jen, jedenfalls forgenlojen Haushalt zu begründen. Das junge 
Ehepaar hätte fogar nad) den damaligen Anfprüchen ein offenes 
Haus machen können, wenn e3 fich nicht ſelbſt genügt hätte. Die 
offiziellen Fefte, an denen fie theilnehmen mußten, waren ihnen 
Abwechslung genug; fonft liebte man es, daheim zu bleiben und 
ih an einander zu erfreuen, Morgen, übermorgen konnte ja die 
Kriegstrompete wieder erfchallen und die Glüdlichen trennen. Man 
mußte die gegönnte Frijt benugen. Doc war die Trennung, bei der 
Schnelligkeit, mit der Napoleon feine Kriege zu beenden pflegte, 
meijtens nur von kurzer Dauer, bei Marigny von um fo kürzerer 
Dauer, als er jedesmal bei beendetem Feldzuge den aktiven Dienit 
jofort verlafien fonnte, um in das Kriegsminifterium nad Paris 
zurüdzufehren, wo er mit feinen Renntnifjen ftet3 willfommen war. 


Feigheit. 381 


Die Liebe, die Marigny durch ſein uneigennütziges Verfahren 
der Braut gezeigt hatte, wurde von der Frau durch die rüdhalt: 
Iojefte Hingebung heimgezahlt. Das arme, verlaflene Gejchöpf 
fühlte zum erften Male, daß fie Jemand gehörte, dab Jemand 
zu ihr gehörte, daß fie nicht mehr allein und ſchutzlos in ver 
Melt daftand. E3 war eben das Gefühl der Sicherheit, das fie 
fogleich zu ihm hinzog, al3 fie den wettergebräunten, in Schlach— 
ten gehärteten Mann, der noch viel Älter ausſah als jeine Jahre, 
zum eriten Mal anblidte; jein Alter, das eigentlih nicht im 
rechten Verhältniß jtand zu ihren neunzehn Jahren, war in diefer 
Beziehung in ihren Augen ein Vorzug mehr. Sie empfand ihm 
gegenüber alle die Gefühle, die zu empfinden ihr bisher nicht 
gegönnt war; er war nicht nur ihr Gatte, er war ihr älterer 
Bruder, ihr Vater, er war ihr Alles, was Liebe, Schug und 
Halt gewährt. In ihrer Sehnſucht nad) dieſen Gütern, die ihre 
ganze Jugend ausfüllte, hätte fie fih einem jüngern Manne 
gegenüber vielleicht länger befonnen, als fie es Marigny gegen: 
über gethan hatte, dem fie gewiljermaßen mit au&gebreiteten 
Armen entgegeneilte, und je näher fie ihn fennen lernte, deſto 
tiefer wurde fie überzeugt, daß unmöglid eine rau an ihren 
Mann mit mehr Banden gelnüpft jein könne, als fie e3 war. 

Trotzdem fie kinderlos war, fand fie Graf Viktor Holfen nad 
fünfjähriger Ehe noch in derſelben Leberzeugung, als er fie, von 
ihrem Manne vorgeftellt, fennen lernte, 

Viktor hatte von Madame Marigny, die jehr zurückgezogen 
lebte, nie jprechen hören. Hätte er gewußt, daß fie für eine 
Schönheit galt, würde er wahrjcheinlic den Ruf bejtätigt haben; 
jo aber trat er ihre ohne vorgefaßte Meinung entgegen, und das 
Erjte, was ihm im Haufe gefiel, war das ruhig:innige Zufammen: 
leben des Ehepaares, das ihm um jo mwohler that, als ihm ein 
ſolches Schaufpiel in dem damaligen Paris und in feinem offi 
ziellen Hofleben feit lange nicht geworden. Er fühlte fich behag- 
ih an dieſem häuslichen Herde und bald vollkommen heimiſch. 
Dazu trug auch die zufällige Entvedung bei, dab er und Helene 


382 Novellen. 


eigentlih alte Bekannte und Yugendgefpielen waren. Während 
ihres Aufenthaltes in Deutihland hatte fie mit der Emigranten- 
familie, die fie dahin hatte fommen laffen, einige Zeit auf dem 
Schloſſe des alten Grafen Hollen, des Vaters Viktor verbracht, 
der, ein jtarrer Legitimift, es fich zur Ehre rechnete, alle feine 
aus Frankreich vertriebenen, durch feine Gegend kommenden Ge— 
finnungägenofjen bei fih zu beherbergen und la fidelit& mal- 
heureuse fürftlich zu bewirthen. Helene erinnerte ſich genau der 
ihönen Wochen in dem gemwaltigen Schloſſe und dem herrliden 
Parke; fie waren ja ein Lichtblid in dem Leben der Berlaffenen ; 
fie erinnerte fich jeder Einzelheit in ihren damaligen Erlebnifien, 
jeder Perfönlichkeit und vor Allem des kleinen Viktor, der jo gut 
für fie war, fie auf fein Pferd nahm und ihr ven erften Unter: 
richt in der deutfhen Sprache gab. Der jungen Frau und mehr 
nod dem Oberften war es nun, als müßte man Viktor, der fich 
in Paris in feiner Art einfam und verlaflen fühlte, die Gaftlich- 
feit, die Helene einjt von ihm und feinem Vater genofjen, mit 
Binfen in Freundſchaft und Freundlichkeit wieder vergelten, und 
das Miederfinden trug jehr viel zu einer rafhen Entwidlung 
gegenfeitiger Vertraulichkeit bei, abgejehen won der Achtung, 
welche beide Männer fchon aus ihrem Welt: und Geſchäftsleben 
ber in den ftillen Kreis mitbradten. 

Viktor fühlte fih in diefem Zufammenleben glüdlicher als 
je zuvor. Sein patriotiſches Gefühl, das er fih bewahrt hatte, 
obwohl fein Fürft ein Alliirter, oder beſſer gefagt, ein Bafall 
des Kaiſers war, und das er fonft in Paris ſchon aus politi- 
ihen Rüdjichten verbergen mußte, tonnte fich bier frei ausfprechen. 
Der Oberft war ein zu gebildeter Mann und felbft ein zu guter 
Patriot, um nicht zu verſtehen, was ein Deutjcher bei der da= 
maligen Lage der Dinge fühlen mußte; er hätte Viktor vielleicht, 
ja gewiß weniger geachtet, wenn er, wie viele deutſche Fürſten 
und Offiziere, die ihr Glück von Frankreih erwarteten, dem 
franzöſiſchen Gögen geräuchert hätte. Seine Frau hatte Deutic: 
land zu lieb gewonnen und ftand ihrer Abitammung nad dem 


Feigheit. 383 


gegenwärtigen franzöfiihen Treiben und dem Kaijer zu fern, um 
nicht laut und aufrichtig beizuftimmen, wo ihr Mann nur durd 
jein Schweigen beiftimmte. Außerdem konnte er mit ihr von 
Perfonen und Dertlichleiten ſprechen, die ihm theuer waren und 
von denen fie mit Begeijterung ſprach, da fie fich in ihrer Er- 
innerung aus der ſchönſten Zeit der Jugend zu wahrhaften Idea— 
len verflärt hatten. 

Als fie fo zum erften Male ſprach, erfuhr er, mie ſchön fie 
mar. Ihre blafjen Wangen rötheten fih, ihre Augen jprübten, 
die deutiche Sprache, die fie bei ſolchen Gelegenheiten brauchte, 
obwohl fie fie unvollflommen ſprach, erfchien ihm in ihrem Munde 
unendlich melodijch und wurde ihm noch theurer. Er pries feinen 
Freund glüdlich wegen des Befiges eines ſolchen Weibes, und je 
länger er mit ihnen lebte, deſto inniger freute er fih an dem 
Glüd diejer geliebten Menfhen. Doch mußte er fih manchmal 
jagen, daß das Glück Helenens oder vielleicht nur ihre Heiterkeit 
von Zeit zu Zeit dur irgend etwas getrübt, unterbrochen ſei. 
Don Natur mit dem heiterften Temperament begabt, das nur 
durh Anmuth mwohlthätig gemilvdert war, verbreitete fie ring 
um ſich ber die Harte Atmoſphäre, aber manchmal verſank jie 
in einen Trübfinn, der um fo rührender war, al3 ihre Anmuth 
dadurch nicht vermindert wurde und ihre Trauer mit der ge— 
wohnten Heiterkeit um jo auffallender Eontraftirte. Helene hatte 
bald feine Geheimniffe vor Viktor, und er glaubte die Urſache 
dieſes Trübfinns zu errothen. War es nicht natürlich, daß das 
Schidjal ihrer ganzen Familie manchmal durch ihr helles Leben 
einen düftern Wolkenfchatten warf? Und nun wußte Viktor aud, 
daß Helene als adhtjähriges Mädchen ſämmtlichen Hinrihtungen 
ihrer Eltern, ihrer Brüder und einer Schwefter beigemohnt, daß 
fie die gräulihen Schaufpiele mit eigenen Augen geſehen hatte. 
ALS ihre Anverwandten in die Conciergerie gebracht wurden, um 
vor das Nevolutionstribunal Fouquier Thinville's geftellt zu 
werden, blieb fie im öden väterlichen Haufe allein, unter dem 
Schuß einer Wärterin. Diefe war eine heimliche, nunmehr offen: 


384 Novellen. 


kundige Zakobinerin, und glaubte vem Kinde das Schaufpiel nicht 
erfparen zu dürfen; fie ließ fie die Hinrichtung der theueriten 
Perfonen auf dem Greveplate jelbjt mitanfehen, um ihm, wie 
fie jagte, die im Blute ſteckenden ariſtokratiſchen Ideen durch den 
Anblid des Blutes ein: für allemal und gründlich auszutreiben. 
So lebhaft fie fih der Tage auf Schloß Holfen erinnerte, eben 
fo lebhaft, wo nicht Tebhafter, ftanden diefe Blutfpuren vor ihren 
Augen. Kein Wunder, daß fie über ihre Seele einzelne Schatten 
warfen, und daß fie das Bedürfniß hatte, manchmal über die 
furchtbare Art, wie fie vereinfamt, wie ihre Jugend verdüſtert 
worden, zu Hagen. Ihr Mann hörte die Klagen mit Theilnahme, 
aber ungern, denn es waren Anllagen der Republik, für die er 
fih geichlagen ; fie hoben die Schattenfeiten eines Zuſtandes her: 
vor, der ihm in anderer Beziehung, befonders in Erinnerung an 
die damalige Begeifterung und an die Unmiderftehlichfeit der 
franzöfifhen freiwilligen Krieger al3 ein Ideal erſchien. Auch 
geitand Helene, daß die Wärterin mit jener Kur ihren Zweck 
verfehlte, und daß, wenn fie eine Ariſtokratin fei, jene blutigen 
Schaufpiele daran die vorzüglidite Schuld trugen. Auch diejes 
Geſtändniß konnte dem ganz bürgerlichen Wejen des Oberjten 
nicht angenehm fein. Helene wandte fich darum, feit der Bekannt: 
ihaft mit dem Grafen Holken, mit ihren trüben Erinnerungen 
und den daran gefnüpften Klagen an diefen, ver auf foldhe Weiſe 
gemwillermaßen ihr DBertrauter wurde und fo auch erfuhr, daß 
zwifchen diejen zwei fo innig verbundenen Menfchen doch etwas 
jei, was fie bis zu einem gewiflen, wenn auch, fo zu fagen, 
unmeßbaren Grade und wenn aud nur für Momente, trenne. 
Für Viktor, der bisher im Lager, auf feiner Studierftube 
ober in der großen Welt gelebt hatte, war, wie für viele Männer 
feines Standes, der vertrauliche Verkehr mit einer Frau etwas 
ganz Neues und wirkte auf ihn mit unendlihem Zauber. Er 
machte, wie das immer bei Srauenumgang der Fall ift, fo viele 
Entdeckungen an ſich felber, Entdedungen von Eigenschaften, die 
ihn freuten, und von Fehlern, die er abzulegen ftrebte, und die 


Feigheit. 385 


er leicht ablegte. Für Beides war er Helenen dankbar. Daß ein 
folhes Zufammenleben mit einer ungewöhnlich ſchönen und be 
gabten Frau, deren Geift und Anmuth fo viele Freuden gibt, 
deren traurige Momente mit jo viel gerechtfertigtem Mitleid er: 
füllten, daß ein foldes warmes Hingeben von beiden Seiten auch 
feine Gefahren haben fünne, fam ihm, bei jeinem Mangel an 
vergleichen Erfahrungen, nit in den Sinn. Und wenn ihm 
auch manchmal ein ähnlicher Gedanke, unbejtimmt, faum faßbar, 
durch den Kopf fuhr, oder vielmehr nur als verihmommenes 
Gefühl auf Augenblide fein Herz erfhredte, wenn er zum Bei: 
fpiel unmwillfürlih ihre Hand ergriff und fie wärmer füßte, als 
er je eine Hand gefüßt hatte, fühlte er fih in dem andern Ge: 
danken, der fofort auftaudhte, daß Helene feines Freundes, des 
edeln Marigny, Frau fei, jo fiher wie in einer uneinnehmbaren 
Seftung. Und wäre er der ſchwächſte Menſch, der treulofete ge: 
wejen, fähig, feinen theuerften und geachtetſten Freund zu ver: 
rathen, fand er in Helenens Treue, in ihrer Wahrhaftigkeit nicht 
die ficherfte Bürgſchaft für fich jelbjt? Sie war eine Frau, von 
ver ihr Mann mit Recht jagte: „Cette femme est un honnäte 
homme* (Diefe Frau ift ein Ehrenmann!). Fühlte jih Viktor 
nicht auch als folder? Konnten aus dem Umgang zweier Ehren: 
männer moralifhe Gefahren entftehen? 

Nah einigen Monaten fragte ſich Viktor, ob die Liebe eine 
ſolche moralifhe Gefahr ſei? Daß er Helenen liebte, war ihm 
nah wocenlangen Kämpfen fein Geheimniß mehr. Er mußte, 
daß er nur dann ohne fie leben könne, wenn die Pflicht ihm fie 
zu meiden gebiete, daß er aber ohne fie nicht glüdlich fein könne, 
Jene Frage aber beantwortete er ſich noch mit einem entjchiedenen 
Nein;“ er fühlte zu Har, wie fehr diefe Liebe und die mit ihr 
verbundenen Kämpfe ihn in feinen beiten Grundſätzen beftärkten 
— freilih auf Koſten feiner Ruhe und mit der Ausfiht auf voll: 
tommenfte Entfagung. Wie alle jungen Herzen, die ſich auf Ent: 
jagung vorbereiten, die mehr oder weniger Täuſchung ift, fuchte 
er ih zum Erſatz ein künſtliches Glüd aufzubauen, und die 

Morig Hartmann, Werke. VI. 25 


386 Novellen, 


Phantafie unterftügte das Herz. Er bildete fi ein, fchon jenes 
fleine Mädchen, das vor dreizehn Jahren durch Holen fam, geliebt 
zu haben; er fand in ihren Zügen ſchon die ganze Helene, die jet 
jo oft mit ihm allein am Kamine faß; diejes Kleine Mädchen war 
noch frei; er herzte und füßte es mit der unſchuldigſten Leiden: 
ihaft. Ad, daß er ed damals nicht gethan hatte! — daß fi 
nicht eine Art jener kindlichen Liebe herausgebilvet, die dauernd 
und aus der dann ernite, ewige Verbindung werden konnte! Sein 
Bater, der fo jehr für die Emigranten eingenommen war, wäre 
glüdlich geweien, feinen Sohn mit einer verbannten Royaliftin, 
mit einem Opfer der Revolution verbunden zu fehen. Was er 
wünfchte, jah er bald wirklich, und in dem Augenblid, da er jo 
träumte, lag Helene als das herrliche Weib, das fie eben war, 
als feine Frau in feinen Armen. 

Wir müffen und hier mit diefen kurzen Andeutungen über 
den damaligen Gemüthszuftand des Grafen Viktor von Holfen 
begnügen; fie find ein bloßer Auszug aus feinen Tagebüchern 
und fpätern Briefen, die vor uns licgen und die alle Einzelheiten 
des unglüdjeligen, aufreibenden Kampfes zwiſchen Pflicht und 
Leidenſchaft in ſelbſtquäleriſcher Ausführlichfeit enthalten. Eine 
joldhe traurige Gejhichte innerer Vorgänge ijt nur von dem Ger 
quälten jelbjt gejchrieben wahr; von einem Dritten bearbeitet, 
mit biftoriographifcher Berüdfichtigung und Zurathejiehung der 
Quellen wird fie, bei dem Streben nad) objeftiver Wahrheit, zu 
befonnen, falt, oder, wenn man fih mit Ruhe bemüht, der 
Leidenſchaft nachzukommen, bombaftifb und unwahr. Wo, wie 
in Werthers Leiden, die Briefe und Tagebücher nicht ſelbſt ge: 
geben werden dürfen, ift die kürzeſte Andeutung der Seelen: 
zuftände, ein bloßes Anfchlagen der Saiten das Beſte. 

Bon Helenen befigen wir aus jener Zeit weder Briefe noch 
Tagebücher; wir müffen bei ihr, wie Geſchichtſchreiber bei Quellen: 
mangel, von Einem auf das Andere, von fpätern Zeiträumen 
und Vorkommniſſen auf frühere ſchließen und das Wahrjcheinlihe 
al3 wahr annehmen. 


Feigheit. 387 


Im Grund befand ſie ſich in derſelben Lage wie Viktor, der 
vor ihr noch kein Weib geliebt hatte. Aus dem Mädcheninſtitut 
tretend, in eine Welt, in der ſie nur Verfolgungen, Verbannung, 
Blutgerüſte kannte, warf ſie ſich einem Manne in die Arme, deſſen 
erſter Anblick Sicherheit, Schutz gegen alle Feinde verſprach. Sie 
fühlte ſich unter ſeinem Fittig ſo warm, ſo ſicher, um ſo ſicherer, 
je älter er ihr erſchien. Sie hatte die vollſte Sicherheit und in 
dem glänzenden Paris eine ganz andere Anſicht vom Leben ge— 
wonnen, als die war, die mit den Blutſzenen in ihrer Erinnerung 
zuſammenhing, als ſie Viktor kennen lernte. In ihm lernte ſie 
die Jugend kennen und ſie war ſelber jung. Wie ihre Wahl 
Marigny's mit der ſchrecklichen Erinnerung zuſammenhing, ſo 
hing die Erſcheinung Viktors mit den freudigſten Bildern ihrer 
Jugend zuſammen. Viktor war außerdem ein Freund, wie ſie 
noch keinen beſeſſen hatte, mit dem ſie ſprach wie nie vorher mit 
einem Andern, und ihn konnte ſie ohne Angſt einen Winkel ihres 
Herzens ſehen laſſen, den ſie ſelbſt vor ihrem Mann verſchleierte. 
Als ſie zu empfinden anfing, wie unentbehrlich er ihr geworden, 
fühlte ſie ſich wie Viktor ſicher in dem Gedanken, daß dieſer 
Marigny's Freund ſei, und in der Unmöglichkeit, daß man einen 
Mann wie Marigny hintergehe. Hätte ſie doch lieber alle höchſten 
Glückſeligkeiten hingegeben, als daß ſie ſich in die Lage verſetzt 
hätte, dieſem vortrefflichen Mann einen Moment lang nicht offen 
ins Auge ſehen zu können. 

Als ſie Beide erriethen, was in dem Herzen des Andern 
vorging, ſchwuren ſie ſich es mit einem Blick, daß ſie es ein— 
ander nie geſtehen und daß ſie ſtärker ſein wollten als alle Liebe. 


Drittes Kapitel. 


Der Winter, der das glüdlihe Zuſammenleben eines Heinen 
Kreifes zu fördern pflegt, verfloß in gebrüdter Stimmung. 


3833 Novellen, 


Marigny, der immer an die alten Urſachen von Helenens Trau— 
rigfeit glaubte, bat Viktor, fie in diefer Stimmung, die unge 
wöhnlich lange dauerte und die ihn daher beunrubigte, nicht zu 
verlafjen. Ex vermied fie jo viel als möglih, um fie mit dem 
Freund allein zu laffen, mit dem, wie er wußte, fie über jene 
Dinge aufrichtiger und lieber ſprach al3 mit ihm. Die äußere, 
politifhe Welt begann auch in den Heinen Kreis hineinzugreifen. 
Napoleon, nah gänzlicher Niederwerfung Defterreih3, dem er 
mehrere Provinzen und eine Prinzefjin alten Blutes abgewann, 
warf feine durch dieſe Erfolge verfügbar gewordenen Streits 
fräfte nach Spanien, das, in Verbindung mit den Engländern, 
feinem Bruder Joſeph jo viel zu fchaffen und die Kunſt feiner 
trefflichiten Feloherren, GSoult, Augereau, Soucdet, Gouvion 
St. Cyr, Maſſena zc., zu Schanden machte. Die beften Regi: 
menter und bie beten Offiziere follten dieſer fchlimmen Lage ein 
Ende machen und ein Beifpiel befeitigen, das dem Neft Europa’s 
Muth zum Widerjtand gegen den Welteroberer einflößen fonnte. 
Marigny’3 Regiment hatte die Pyrenäen bereit3 überfchritten, 
und eö war wahrjcheinlih, daß er ihm demnächſt werde folgen 
müſſen. Seitdem zum erjten Male davon die Rede gewejen, 
hörte Helene nicht auf, ihn mit Bitten zu beftürmen, daß er fie 
dießmal ing Feld mitnehme. Marigny lächelte über viefen Ge: 
danken, wie über eine Unmöglichkeit. In jeden andern Krieg, 
in jedes andere Land hätte er fie leichter mit ſich führen können, 
al3 in diefes Land ver Guerillad, wo die Armee fortwährend 
über Fallthüren marſchirte und fie wie jever Einzelne immer von 
Hinterhalten und unjihtbaren Feinden umgeben war; wo jelbft 
Weiber, von Mönchen angeführt, mit dem Kreuz in der Hand 
in den Kampf zogen, darum von ritterlihen Nüdfichten für 
Frauen nichts zu hoffen war. Den Franzofen erfchien das da— 
malige Spanien als eine einzige große Mörbergrube, und die 
war e3 ihnen au in ver That; wie follte fih Marigny ent: 
Ihließen, feine geliebte Frau dahin zu bringen? Aber Helenens 
Bitten wurden von Tag zu Tag dringender; jie jhien am Ende 


Feigheit. 389 


von dem Gedanfen nicht mehr laſſen zu können, ſprach mit einer 
bebenden Angſt von der Trennung und wie mit unerjchütter: 
ficher Meberzeugung von unbeftimmten Gefahren, die fie, fern 
von ihm, bedrohten. Bei der frankhaften Art und Weiſe, wie 
fie ihre Bitten vorbrachte, wie fie immer darauf zurüdtam, und 
bei der immer mehr überhandnehmenven Bläffe ihres Geſichtes 
und Traurigkeit ihres ganzen Ausdruckes erfchien ihm ihr Wunſch 
bald wie eine fixe Idee, von der er zu Viktor mit Staunen und 
Beſorgniß ſprach. Aber er war noch mehr erſtaunt, als Viktor 
dieſem Wunſche das Wort redete, oder wenigſtens ſchwieg, wenn 
Helene ihren Mann in ſeiner Gegenwart beſchwor, fie nach Spa⸗ 
nien mitzunehmen. So kam es, ohne daß irgend ein poſitives 
Wort darüber gefallen wäre, dahin, daß die Reiſe Helenens 
nach Spanien halb und halb für ausgemacht und bevorſtehend 
betrachtet wurde. 

Auf unzähligen Familien drückten damals Sorgen und Bes 
ängftigungen, die mit dem furchtbaren Lande jenjeit3 ber Pyre⸗ 
näen in Verbindung ſtanden, denn welche Familie hatte nicht 
einen Sohn, Vater, Bruder, Gatten in der gewaltigen Armee, 
die Napoleon dahin geworfen und von der nur traurige Nach⸗ 
richten einliefen. Aber das kaiſerliche Paris durfte von ſeinen 
Beängſtigungen nichts merken laſſen; es mußte ſich mit ſeinem 
kaiſerlichen Herrn, der eben ſeine habsburgiſche Braut und mit 
ihr eine ſeiner Parzen heimgeführt hatte, laut freuen und ſich 
an Feſten berauſchen. Mit dieſen Feſten kam ver Frühling heran, 
und jener vom öſterreichiſchen Geſandten Fürſten Schwarzenberg 
zu Ehren der Vermählung gegebene Ball, der durch ſeinen trau— 
rigen Ausgang, durch den Tod der liebenswürdigen Frau und 
guten Mutter, Fürftin Pauline Schwarzenberg, eine traurige 
Berühmtheit erlangte und fpäter als ein Vorſpiel de3 Brandes 
von Moskau und als eine Warnung für Napoleon betrachtet wurde, 

Bon diefem Zeitpuntte an fnüpft ſich unfere Geſchichte bis 
an ihr Ende mit ihren Hauptbegebenheiten nur an die bedeu— 
tendften biftorifchen Epochen und Greignifje, die wir zu einem 


390 Novellen. 


großen Hintergrunde benugen könnten, wenn wir eine von den 
beliebten hiſtoriſchen Novellen fchreiben wollten; aber wir erzählen 
nur die Geſchichte eines einzelnen Unglüdlichen. 

In dem Ballhaufe, das Fürft Schwarzenberg im Garten 
des Gejandtihaftshotel3 mit eben fo zauberhafter Schnelligkeit 
al3 zauberifher Pracht hatte aufführen Iaffen, mag e3 in jener 
verhängnißvollen Nacht manches traurige Herz inmitten des un: 
erbörten Glanzes gegeben haben, aber gewiß gab e3 Wenige, 
die für den Glanz der Ausfhmüdung, der ganzen unvergleich: 
lihen Verfammlung, der unzähligen anmwejenden großen Namen 
jo wenig Auge und Sinn hatten, wie das eine Baar, das Arm 
in Arm, jchweigend fi von der wogenden Menge langfam und 
willenlos fortbewegen ließ. Es war Viktor mit Helene. Viktor 
trug feine Uniform, und in der kriegeriſchen Tracht ſchien ihr 
fein Gefiht noch milder und in der glänzenden Umgebung nod 
trauriger als fonft. Wie fie die Menge forttrug und die Muſik 
in Träume wiegte, vergaß fie Menge, Mufit und die ganze 
Melt und fühlte nur, daß fie an feinem Arme hing, daß fie fich, 
von der Maſſe gedrängt, ohne es zu wollen, an ihn drücken 
durfte. Viktor, der fie um eine ftarke Kopfhöhe überragte, ſah 
fehnfüchtig zu ihr nieder. Von ihrer Toilette war in dem Ge: 
bränge wenig zu ſehen; er fah nur das blaſſe, von ſchwarzen 
Scheiteln eingerahmte Geſicht, die langen ſchwarzen Wimpern, 
die es noch bläffer erfcheinen ließen, und die feine weiße Büſte — 
daß fie ihm vorkam wie eine Schwimmende, die fih an ihn 
Hammert und die er rettend ans Land trägt. Der Oberjt war 
bei einer Gruppe von Offizieren ftehen geblieben, die eben ver 
Feſte halber aus Spanien zurüdgelehrt waren und ihm, der 
demnächſt dahin abgehen follte, über die dortige Lage der Dinge 
Auskunft ertheilten. Helene, die mit ihm abzureifen gedachte, 
fagte fi, daß fie heute vielleicht zum legten Male mit Viktor fo 
allein fei — denn wo ift man mehr allein als in folhem Ge: 
dränge — und da fie von ihrem Glück Abſchied nahm, glaubte 
fie ſich dieſem Glück ohne Verbrechen hingeben zu dürfen. Sie 


Feigheit. 391 


wußte es ja, was ſie die Trennung koſtete und was ſie geleiſtet, 
indem fie diefelbe gewiffermaßen erzwungen, um ſich dieſe kurze 
und unſchuldige Belohnung als Preis ihrer Kämpfe geſtatten zu 
dürfen. Aehnliche Gefühle bewegten Viktor, und ſo ließen ſich 
Beide vom Strome des Gedränges und von dem ſanften, glei— 
tenden Strome ihrer Träume forttragen, nur wünſchend, daß 
dieſe ſelbige Stunde ewig dauern, daß ſie nichts aus dieſen 
Träumen wecke. 

Aber ſie ſollten auf ſchreckliche Weiſe geweckt werden. 

Der Brand brach aus. Eine hochhängende Gardine, von 
der erhitzten Atmoſphäre hin und her bewegt, kam mit einer 
Lampe in Berührung, fing Feuer und theilte im Momente die 
Flamme dem ganzen obern Theile des Saales mit, ſo daß er 
augenblicklich von einer großen Lohe überwölbt war. Die 
Maſſen, die ſich bis jetzt in einer gewiſſen Ordnung durch den 
Saal bewegt hatten, wurden nach dem erſten Schreckensſchrei 
ein wildes und lärmendes Chaos. Alles ſchrie, Alles drängte 
den Thüren zu; auf Niemand wirkte die Anweſenheit oder das 
Beiſpiel des Mannes des Verhängniſſes, der ruhig einen Blick 
auf die Flammen warf und dann ſeine habsburgiſche Gattin 
eben ſo ruhig durch das Gedränge zu ihrem Wagen führte. 
Schon geſellten ſich zu dem Schreckensgeſchrei Ausrufe und 
Schreie des Schmerzes, da dort und da die Flammen von der 
Höhe auf die Häupter der Verſammelten herabzuregnen begannen 
und das Gedränge ſo wild wurde, daß Viele zu erſticken oder in | 
das Feuer gedrängt zu werben fürchteten. 

Victor fah und hörte von Allem, was um ihn ber vorging, 
Nichts. Bevor er einen Blid auf das drohende Unheil werfen 
fonnte, lag Helene Hülfe fuchend in feinen Armen; er fühlte fie 
an feiner Bruft und er ftand bejeligt da, ohne die Flammen, 
die ihn umzüngelten, zu beachten. Er hob fie nur höher an fi 
binauf, er drüdte fie nur inniger an ſich — aber er hat es nie 
gewußt, wie er mit diefer theuern Laſt auf den Armen die 
Menge theilte und plöglich mit ihr im Freien ftand. Die frijche 


392 Novellen, 


Frühlingsnachtluft im Garten bradte ihn ein wenig zur Be: 
finnung; aber er hatte nicht die Kraft, die Bürde niederzufegen, 
mohl aber vie Kraft, fie weiter fortzutragen bis ans Ende ver 
Melt. 

Im Garten war die Verwirrung beinahe eben jo groß wie 
im brennenden Tanzjaale. Die Gäſte ftürzten in Strömen her- 
aus und obwohl nunmehr der Gefahr entronnen, glaubten ſich 
Viele doch noch nicht gerettet; Frauen und Männer rannten be 
ſinnungslos umber, Einzelne jtanden vor dem brennenden Ges 
bäude und ftaırten e3 jehreiend an, erwartend, ob irgend eine 
geliebte Perjon, die fie darin zurücgelaffen, nicht herworfomme; 
Andere, wie jene unglüdlihe Fürftin Schwarzenberg, ftürzten 
jih vom Garten aus wieder zurüd in die Flammen, um nad 
den Vermißten zu ſuchen und um, wie eben diefe gute Mutter, 
die nach ihrer Tochter fuchte, nicht wieder das Flammengrab zu 
verlafien. Bei all dem flogen brennende Splitter oder Stoffe 
der Saaldekorationen im Bogen mitten in die haotifche, jchreiende, 
drängende, jammernde Verwirrung. Im ganzen Parke war fein 
Plägchen, dem Viktor feine Laft hätte anvertrauen mögen; für 
fie ſah er überall Gefahr, und ohne zu überlegen, trug er fie 
weiter durch den Hof, dur das Hotel, durch zwei Gaflen bis 
an den Quai Voltaire, mo er am Ufer der Seine ein in einem 
Garten liegendes Haus bewohnte. Helene hing bemußtlos an 
jeinem Halje, oder vielmehr, fie hatte von jenem erſten Momente 
des Schredend an nur das träumerifche, halbe Bewußtfein, an 
feinem Herzen zu liegen. Sie erwachte erft, als fie in Viktors 
Zimmer, auf feinem Sopha lag und er, der bisher nur die Ges 
fahr gefehen, in der dieſes geliebte Leben gefchwebt hatte, vor 
ihr fniete und zum erſten Male aufathmend und in ein Schluchzen 
ausbrechend, ihre Hände mit Küſſen bevedte. 

Oberſt Marigny, der fogleih beim Ausbruch der Feuers: 
brunft nad) feiner Frau gefucht hatte, jah fie über das Gedränge 
der Köpfe hinaus in den Armen Viktors und gleich darauf im 
Garten. Er war beruhigt und gefellte fich fofort zu den Offizieren, 


Feigheit. 393 


die Anftalten trafen, um dem Feuer Halt zu gebieten, neue Aus: 
gänge in den Saal zu brechen, um dem Gedränge leichteren Ab— 
fluß zu geftatten und um, wo es Noth that, Menjchenleben zu 
retten. Cr war überrajht, als er fpät in feine Wohnung trat 
und Helenen noch nicht daheim fand; aber fie war ja gerettet. 

Sie kam erſt gegen Morgen in einem Miethswagen und 
Marigny war entjegt über ihr Ausjehen. Ihre Wangen waren 
eingefallen, ſchwarze Ränder umjäumten ihre Augen, die im 
Fieber glühten, wie aud) ihre Bulfe fieberiich flopften. Vor der 
Schwelle ihrer Stube ſank fie nieder und fträubte fih, als fie 
Marigny erhob, um fie auf ihr Bett zu tragen. Sie jagte 
Allerlei, was ihm unverftändlich blieb, und er glaubte, fie rede 
irre, der Schred‘, das gräßliche Echaufpiel habe ihre Sinne ver— 
wirrt und er lieb den Arzt holen. 

Sie blieb jo durch mehrere Tage. Das Fieber hatte ſich 
zwar gelegt, fie ftarrte wie theilnahmlos vor fich hin, aber fie 
gerieth in die heftigfte Aufregung, wenn ihr Marigny von Viktor 
ſprach, der immer fam, um fich nach dem Befinden Helenens zu 
erfundigen und Stunden und halbe Tage lang ſchweigend im 
Salon ſaß. Unter dieſen Umftänden fam Marigny der Befehl 
zu, fchleunigit nad Spanien aufzubrechen; Helene ſprach nicht 
mehr von Mitreifen. Der Oberjt empfahl die Kranke dem Schuße 
jeine3 Freundes, der ihn dabei mit glafigen Augen anſah. 


Viertes Kapitel. 


Wir willen zwar aus dem Tagebuche des Grafen Holfen und 
aus Briefen Helenens, die ebenfalls vor uns liegen, wie ich die 
Geſchichte der beiden Unglüdlihen in allen Einzelheiten weiter 
entwidelte, aber diefen Theil der Geſchichte ausführlicher zu er: 
zählen, ift nicht der Zweck diejer Blätter. Das Verbrehen an 
dem trauteften und vertrauenvollften Freunde mar begangen; 


394 Novellen. 


Viktor und Helene erlagen der Wucht und e3 war ihnen Beiden, 
als follte ihnen fein froher Tag mehr fcheinen. Aber folches 
gemeinjchaftliches Bewußtſein und gemeinſchaftlich begangenes 
Derbrehen verbinden jchon Verbundene noch inniger. Jedes 
war dem Andern ein lebender Vorwurf, aber fie hatten nur ein: 
ander zu Vertrauten und fie waren allein. Das Leben war ihnen 
eine Hölle, aber wie Francesca da Rimini und Paolo konnten 
fie in diefer Hölle nicht von einander laſſen; die Leidenſchaft 
trug fie in ihrem Wirbel fort und fie Hammerten fi mehr und 
mehr aneinander. Wie follten fie die Stunden der wahnfinnigiten 
Leidenschaft fliehen, da fie ih nur in ſolchen Stunden felbft ver: 
gaßen? Die Zeit fam bald, da fie den Rauſch fuchten, um nicht 
tlar denken zu müflen, und es folgte feine Zeit der Ueberfättigung 
und des Widerwillens, weil Jedes das Andere elend mußte. 
Menn fie allein waren, konnten fie ſich nur lieben, nur bemit: 
leiden und beraufhen — aber getrennt ſchrieben fie einander 
Briefe über die Straße, um fih anzullagen, um fich zu einer 
Trennung zu ermuthigen. Beiden that Buße Noth und die 
höchſte Buße lag in der Trennung, da fie fih in ihrem Falle 
immer inniger lieben gelernt, und jo wurde Trennung bejchloflen. 

Viktor war es leicht, fih von feinem Posten abberufen zu 
lafjen und er verließ Paris einige Monate nad der Abreiie Ma— 
rigny’s, um nad) Deutſchland zurüdzufehren. Seine Pflicht war 
Schweigen gegen Marigny, aber Helenen hatte er bejchmoren, 
Alles zu thbun, was ihr für die Ruhe, oder theilweife Beruhigung 
ihres Gewifjens rathiam fchiene, ohne Rüdfiht auf ihn: fie folle 
Marigny, wenn fie deſſen bevürfe, Alles befennen und ihn, 
Viktor, dem Shmählichiten Elend, das e8 auf Erden für ihn gebe, 
ausſetzen: ihn in den Augen des Freundes als PVerräther er: 
fcheinen laſſen. 

Nur wenige Wochen nad feiner Ankunft in der deutjchen 
Heimat erfuhr er von Helenen, daß auch fie Paris verlaflen hatte. 
Sie war auf dem Wege nah Spanien. Sie reidte dahin, aber 
fie wußte felbft nicht warum? zu welchem Zwecke? mit welchem 


Feigheit. | 395 


Gefichte fie vor Marigny treten werde ? ob fie als niederträchtiges 
Meib hingehe, um ihm Liebe zu heucheln? ob fie fih ihm zu 
Süßen werfen werde und ihm Alles geftehen, um fich dann ſelbſt 
den Tod zu geben oder von ihm geben zu lafjen? Wieder einige 
Zeit jpäter fchrieb fie Viktor, daß fie no immer die Pyrenäen 
nit überjchritten habe, daß fie längs dieſes Gebirges bin- und 
berirre, wie vor einer Thür, die man aus Angjt vor den Schreden 
jenfeit3 derfelben nicht zu durchſchreiten wagt. Was follte fie in 
Spanien? Viktor anllagen? es zu einer Entfheidung bringen, 
die Einem von Beiden, dem theuren Freunde oder dem Geliebten, 
ven Tod brächte? Und wieder einige Zeit fpäter waren Helenens 
Briefe aus den verſchiedenſten Gegenden des mittleren und nörd— 
lihen Frankreich datirt; jeder Brief aus einem anderen Otte, 
bis fie ſich wieder der jpanifchen Gränze näherte, um fie aufs 
Neue zu verlaffen. Auf allen dieſen ruhelojen Zrrfahrten trug 
fie die Briefe mit fi, die ihr Viktor in Bari von feinem Haufe 
in das ihrige gejchrieben : fie waren ihr Schat und ihre Anklage, 
die Verkörperung ihrer Liebe und ihres Verbrechens; fie konnte 
fih von ihnen nicht trennen und jedenfall3 jollten fie für fie an 
ihrer Statt ſprechen, wenn fie einft den Muth hatte, Marigny 
das grauenvolle Geſtändniß abzulegen. 

Viktor ſah dieſen Irrfahrten in der Ferne wie im halben 
Schlafe zu, ohne fih zu gänzlichem Stumpffinn berabjtimmen 
oder zu irgend einer That aufraffen zu können. Wie Helene fo 
vor feinen Augen hin: und herzog und dabei aus ihren Briefen 
die ewige Klage, der ewige Schrei des Gewiſſens heraustönte, 
als die paſſende Gejangsbegleitung zu folder Wanderung, mar 
e3 ihm, als wäre diefes Alles nur unheimliche Vorbereitung eines 
Verhängniſſes, das über ihn und fie hereinbrechen müfje, und 
das er nur ruhig abzuwarten habe. Endlich verſchwand ihm 
Helene gänzlich; er hörte nichts von ihr, nichts von Marigny; 
fie mußte in Spanien jein; jeglichen Tag erwartete er den letzten 
Schlag feines Schidjald. Manchmal war ihm, al3 müßte er 
fliehen, lebte er doch geehrt mit dem Bewußtſein feiner Ehrlofig: 


396 Noverfen. 


feit, und das alte Schloß Holken, das feit dem Tode feines Vaters 
verlaflen jtand, fchmebte ihm als wünſchenswerthe Einjamteit 
vor — wenn fich nur nicht die Erinnerungen an die mit Helene 
dafelbft verlebten Tage, die ihm in Paris fo theuer gemejen, 
darangelnüpft hätten! 

Aus diefem Zuftande riffen ihn die kriegeriſchen Vorbereis 
tungen, die im Jahre 1812 den ganzen Continent in Bewegung 
jegten. Napoleon jammelte feine große Armee, die Rußland de: 
müthigen, vielleicht erobern follte, und die Truppen des deutſchen 
Fürften, dem Viktor diente, jollten einen Theil diefer großen 
Armee bilden. Das war eine Rettung. Als Oberſt trat er wieder 
in die aftiven Dienfte und entfaltete eine außerortentliche Thätig- 
feit. Nicht mehr wie fonft bei joldhen Gelegenheiten wurde jeine 
Kriegsfreude und Thatenluft dur den Gedanken getrübt, daß 
er eigentlich als Knecht eines Knechtes im Dienjte des fremden 
Untervrüders ins Feld ziehe, gegen den Vortheil des eigenen 
Vaterlandes. Solche Gedanken lagen ihm jetzt fern; er fah nur 
betäubenden SKriegslärm vor fib, und das war ihm genug. Er 
fonnte ja auch fallen! Das unbefannte kalte Steppenland, dem 
man entgegenzog, ſchien ihm ein wünſchenswerthes Grab; vie 
trüben Ahnungen, die überall in Beziehung auf diefe Unter: 
nehmung Napoleons laut und in den Heeren feiner Verbündeten 
am ausführlihiten ausgefponnen wurden, erhöhten nur feine 
Hoffnung. 

Es ift befannt und geht jelbft aus den offiziellen Berichten 
franzöfifcher Generäle und aus den nationaleitlen Memoiren 
franzöfiicher Augenzeugen hervor, wie viel deutfche Truppen im 
Allgemeinen zur Erhöhung der franzöfifchen Gloire bei Smolenst. 
und Borodino beigetragen, und in franzöfifhen mie deutfchen 
Lagern mußte man, mas der Oberft Graf v. Holken im Befon- 
deren während dieſes Feldzuges geleifte. Sein Name, ſchon 
früher mit Ruhm genannt, gewann an Glanz, und deutſche 
Patrioten, die auf eine Erhebung des Vaterlandes vorbereiteten 
und ſich nah Führern der zufünftigen Befreiungsarmee felbit 


Feigheit. 397 


unter den gezwungenen Verbündeten Napoleons umſahen, ließen 
ihr Auge mit Hoffnung auf dem Manne ruhen, der ſich während 
des Feldzuges als tapferer, Alles unternehmender Offizier aus: 
zeichnete, wie er ſich ſchon früher als Theoretiker und im Rathe 
ausgezeichnet hatte. Der Krieg voll Gefahren und voll unheim— 
licher Schreckniſſe, wie er der großen Armee ſeit ihrem Weber: 
fohreiten der polnifchen Gränze entgegentrat, der Krieg mit einem 
unfichtbaren, geifterhaften Feinde, der fich chon vor der Mos— 
fauer Kataftrophe jo gejtaltete, daß er nicht feines Gleichen in 
der Weltgejhichte hatte, war ganz der Art, daß er mit ver Ger 
müthsverfaſſung Viktors, ter in feinem Innern einen ähnlichen 
unfaßbaren Feind zu befämpfen hatte, zufammenftimmte. Sa, 
da diefe innern Kämpfe graufamer waren als alle die ihn um: 
gebenden Vorgänge, fand er in diefen nur eine Erleichterung 
und in der ruhelofen Bewegung, die der Krieg erfordert, einen 
Rauſch, der ihn manchmal feiner ſelbſt vergeſſen ließ. Wie oft 
er mit franzöfiihen Truppentheilen oder einzelnen Offizieren zu: 
fammentraf, er wich forgfältig jeder Erfundigung nah Marigny 
aus, obmohl er ihn bei der großen Armee vermuthete, da Na: 
poleon den größten Theil des ſpaniſchen Heeres zu diejer herbei: 
gezogen hatte. Doch erfuhr er es endlich mit Beitimmtheit, daß 
der Oberft in der That mit ihm in derjelben Armee viente; ein 
Schauer überlief ihn bei dem Gedanken, wie er mit ihm zufammen: 
treffen werde? — Dieß Zufammentreffen war auf dem raftlofen 
Marie gegen Moskau beinahe unmöglich, da jeder Offizier auf 
feinem Poſten bleiben mußte, um die raſch um ſich greifende 
Demoralijation der Truppen fo viel als möglich zu mildern; erit 
dort, wo die ganze Armee in einem unglüdjeligen Knäuel, in 
ihrer Falle zufammen war, erjt in Moskau jollte er ihn wiederjehen. 

Es war an dem tritten Tage des Brandes, da aud Na: 
poleon entjegt mitten durch ftürzende Trümmer und züngelnde 
Flammen aus dem Kremlin floh, um fih nad dem Luſtſchloſſe 
Petrowsky zu retten. Die Stadt war bereits ein einziger un— 
geheurer, zum Himmel aufraudender Schutthaufen; die unglüd» 


398 Novellen, 


jeligen Soldaten hatten innerhalb der Stadtmauern fein Obdach 
mehr und in die einzelnen noch aufrecht ftehenden Häufer wagte 
man nicht zu dringen, um dafelbft auszuruhen, da man überall 
fürdhtete, der Flamme, die allerorten aus dem Boden, aus den 
Mauern hervorjprang oder wie vom Himmel fiel, gewiß nod da 
zu begegnen, wo fie noch nicht emporgefprungen war. In den 
Straßen war man bei den überall zufammenftürzenden Trümmern 
eben jo menig ficher ala in den Häufern ſelbſt, und bereits 
drängten ſich ungeheure Schaaren zu den Thoren hinaus, um 
ih auf freiem Felde unter fortgefchleppten Balken und Brettern 
unterzubringen oder auch unter offenem Himmel zu lagern. Viktor 
batte fein Regiment, oder vielmehr die Trümmer feines Re: 
gimentes bereit3 hinausmarſchiren laflen und irrte nun allein 
über die gewaltige Brandftätte, zu helfen bereit, wo Hülfe Noth 
that, oder auch mit dumpfer Gleichgültigfeit durch das große 
Elend binfchlendernd, je nachdem der alte, wohlwollende, milde 
Viktor oder der-Unfelige, deſſen Herz ſelbſt eine Brandftätte war, 
in ihm ftärfer wurde. Schon an das Gräßlichfte gewöhnt, fiel 
es ihm faum auf, wie plöglich ein bisher von den Flammen 
unberührt gebliebener, kleiner Stabttheil aufloderte und wie ihm 
aus den Gaffen und Straßen vefjelben unzählige Flüchtlinge ent: 
gegenftürzten und zwar in fo entjelicher Angſt, als ob ihnen 
die Flamme, die Verheerung auf den Fuße folgen fünnte. So 
war es gewijlermaßen auch in der That; denn in diefen bisher 
verſchonten Stadttheil hatte man beinahe alle PBulverwagen ges 
rettet, auch die Bulvervorräthe, über denen Napoleon eine Nacht 
lang mit feiner alten Garde im Kremlin gefchlafen hatte. Wenn 
nur ein Funke des eben neu ausgebrodhenen Brandes einen der 
Wagen erreichte, war das Unheil unfäglih; nit nur diefer 
Stadttheil — halb Moskau und die halbe Armee war von un: 
vermeidlihem Untergange bedroht. Der Strom der Flüchtenden 
war eben im Begriffe, Viktor zu erfaflen und ihn auf demſelben 
Mege fortzureißen, auf dem er eben herangefommen war, als 
er fih am Arme feit ergriffen fühlte und eine wohlbefannte 


Feigheit. 399 


Stimme ihm ins Ohr rief: „Viltor, dort in dem letzten Hauſe 
dieſer Straße, das eben jetzt von den Flammen ergriffen wird, 
liegt Helene allein, hülflos — retten Sie ſie! Ich darf von den 
Pulverwagen nicht fort !”. 

War es Traum? war es Wirklichkeit? Die Stimme war 
ganz die Stimme des alten Freundes; in dieſen Worten: allein, 
hülflos, retten Sie ſie! zitterte die alte Liebe. Und Viktor ſollte 
ſie wieder aus den Flammen retten, wie damals in Paris, als 
ſein elendes Glück begann — er ſollte ſie wieder auf ſeinem 
Arme forttragen! Und Helene hier in Moskau in dieſer flam— 
menden Hölle — oder waren ſie wirklich ſchon Beide in der 
Hölle? — war es feine ewige Strafe, fie ewig fo aus den Flam— 
men tragen zu müjjen, ewig an jene Nacht erinnert zu werden? 
— und Marigny follte zu ihm immer, ewig mit dem Tone des 
Freundes ſprechen? — Er lachte laut auf wie ein MWahnfinniger 
und ſah fi um, ob er wirklich lebte oder ein abgeſchiedener Ver: 
dammter war. ein erfter Blid fiel auf Marigny, der unab: 
läjlig bemüht war, das Chaos zu orbnen, die Pulverwagen an: 
einanderzureihen und fie anzutreiben, daß fie der immer näher: 
fommenden Flamme entflöhen. — Sonderbar! — beim Anblide 
Marigny’3 ſah Viktor nichts mehr von dem ihn umgebenden 
Elend und fühlte er nicht3 mehr von den Qualen der legten zwei 
Jahre — er fah fih nur mit dem Freunde und mit Helenen wie 
ehemals in dem glüdlihen Winkel am Kamin in Paris — und 
unmittelbar an dieſe Vorftellung reihte ſich ſchnell der andere 
Gedanke: du follft fie wiederfehen! Helene ift in deiner Nähe ! 
du follit fie retten. 

Aber er hatte Marigny kaum gehört — wo? in welchem 
diefer brennenden Häufer lag Helene — allein, hülflos! Wie 
durch eine Hallucination aber, oder als ob die gefprochenen 
Morte vor feinem Ohre körperlich ſchwebend geblieben wären, 
börte er fie vermitteljt einer gewaltigen Anjtrengung der Erinnes 
rung noch einmal: Dort in dem legten Haufe diefer Straße, das 
eben jegt von den Flammen ergriffen wird ! 


400 Novellen. 


Er ſchwang ſich über die Reihe ver Pulverwagen, die ihm 
den Weg abjchnitten, er jtürzte in das Haus, deſſen oberes 
Stockwerk bereit3 von Flammen eingehüllt war und in ein Zim— 
mer, in das der Qualm einzubringen begann. Der Zufall hatte 
ihn richtig geleitet. Da lag fie auf einem Soldatenmantel, ven 
Kopf an ein Bündel gelehnt, mit gefchlofjenen Augen, als ob 
fie jchliefe, oder als wollte fie die Schreden nicht fehen, die fie 
vernichten jollten. Der erſte Anblid jagte es, daß fie Schwer franf 
war; fie ſah aus wie eine Sterbende — und doch wie jchön! 
ſchöner als jemals. Viktor glaubte fie bewußtlos, büdte fich zu 
ihr nieder und umfaßte fie mit beiden Armen. Sie öffnete vie 
Augen und ein glüdliches Lächeln verklärte ihr Geficht. 

„Sind Sie es wieder, Viktor ?” fragte fie mit leifer Stimme, 
aber plöglih, als hätten fie diejelben Gefühle übermannt, die 
er bei dem Gedanken, daß er fie wieder aus den Flammen retten 
follte, empfand, ftieß fie ihn von ſich und rief: „Sort! fort! 
Ich will nicht gerettet fein !“ 

Die Sinne vergingen ihr; ihr Kopf ſank zurüd und er 
glaubte eine Leihe aus dem Haufe zu tragen. Er hatte nicht 
den Muth, irgendwo mit ihr auszuruhen und fich der Gefahr 
auszujegen, mit ihr allein zu fein, wenn fie wieder die Augen 
aufihlüge. Die Reihe der Pulverwagen leitete ihn; ihr folgte 
er nach vor die Stadt aufs offene Feld, wo er Marigny fand. 
Diejer ſank ihm weinend an den Hals, als er ihn mit der Kranken 
beranfommen ſah. „O mein Freund,” rief er aus, „welch ein 
Miederjehen, welch ein unerhörtes Elend und dabei Helene krank, 
vielleiht — !” Er wagte e3 nicht, weiter zu ſprechen. 


Fünftes Kapitel. 


Der grauenvolle Rüdzug von Moskau war mit allem Grauen 
nicht ſtark genug, die drei Vereinigten wieder zu trennen, Durch 


Feigheit. 401 


die Schneewirbel, die nad dem verhängnißvollen 5. November, 
mit dem der vernichtungsreihe Winter begann, die Welt mit 
einem Leichentuche überzogen, durch die ununterbrodenen Reihen 
von Leichen und Sterbenden, durch den erftarrenvden Froft, durch 
die ftreifenden Koſakenbanden, die wie Gefpenjter, immer tobt: 
bringend und das mörberifche Werk der Natur vollendend, und 
wie vom Sturme hergemweht, überall aus dem Schleier des 
Schnee3 hervorbrachen, zogen die drei bald als vereinzelte 
Gruppe, ohne Gefühl für das Elend Anderer, wie ſich Andere, 
ohne Gefühl für ihr Elend, an ihnen vorübertrieben. 

Mer wird es unternehmen, das Grauen jener Tage zu be: 
ſchreiben; ift doch Gejchichtichreibern und Augenzeugen, nachdem 
fie hundert der graufamften Epijoden aus diefem Trauerfpiel 
aufgezählt, die Feder aus der Hand gefallen, mit dem Geftänd: 
niß, daß fie Unbejchreibliches zu jchildern unternommen. Was 
batte der Einzelne zu dulden, der nur fein nadtes Leben retten 
wollte! Wie viel mehr hatten die beiden Männer zu erbulven, 
die eine Sterbende auf ihren Schultern durch das Elend zu tragen 
batten. Ihre Pferde waren bald nah Einbruch des Froftes er: 
legen. Es ift befannt und in den Memoiren des Generals Sir 
Robert Wilſon zu lefen, wie ſich die Koſaken auf das erjte ge: 
fallene Pferd der franzöfiihen Armee, dem fie begegneten, ber: 
jtürzten, eifrig feine Hufe befühlten und jubelnd ausriefen: „Der 
Herr bat fie in unfere Hände gegeben, fie fönnen uns nicht ent: 
rinnen!” Die Pferde der großen Armee waren nicht für ven eifi: 
gen Boden Rußlands bejhlagen und die nicht gleich in den erften 
Tagen de3 Rüdzuges vor Hunger zu Grunde gingen, fielen mit 
gebrochenen Schenkeln zujammen, um fi nicht wieder zu er: 
heben. So waren Holfen und Marigny um ihre Pferde gekom— 
men, und jo wanderten fie jegt dahin, Helenen auf einer aus 
Zweigen, Brettern und Mänteln beftehenden Bahre auf ven 
Schultern tragend, den Degen in der Hand, um fi und die 
Kranke gegen die Streifpartien der Koſaken zu vertheidigen, 

Manche Franzöfinnen waren damals ihren Männern in ver 

Morig Hartmann, Verle VI. 26 


402 Novellen. 


großen Armee, übermüthig und wie zu einer Zujtpartie, big nach 
Moskau gefolgt. Daß e3 mit Helenen anders war, wußte Viktor. 
In menigen Worten hatte jie ihm eines Tages ihre Geſchichte 
ver legten zwei Jahre erzählt, während Marigny ein verlafjenes 
Dorf durhmühlte, um nad Lebensmitteln zu juhen, und Viktor 
bei der Kranken blieb, um etwaige Ueberfälle abzufchlagen. Sie 
war endlih doch nad Spanien und zu ihrem Mann gelangt, 
ohne je den Muth zu einem Gejtändniffe zu finden; wie eine 
ewige Anklage führte fie die Briefe Viktors immer mit fi, mie 
eine Berförperung ihres Gemiljend. Mit Marigny kam fie wieder 
nad Frankreich zurüd; er hielt fie immer nur für körperlich franf 
und zwang fie, in Paris zurüdzubleiben, als er mit der großen 
Armee abzog; an dem Tage, da der große Brand ausbrad, fam 
jie in Moskau an. Es hatte fie in Paris nicht geduldet; fie 
mußte ihr Urtheil von ihm empfangen. Aber wie fie ihn jo 
liebevoll jah und in der Erinnerung an Biltor, in dem Gedan— 
fen, durch ihr Geſtändniß aus Marigny den elenveiten Menſchen 
zu machen, hielt fie e3 wieder zurüd. „Das,“ fagte fie, „iſt es 
allein, was mid noch am Leben erhält; es ift mir, al3 müßte 
ih ihm befennen, als dürfte ich nicht früher aus dem Leben 
gehen. Nur mein böſes Gewiſſen lebt noch, ſonſt bin ich todt.” 

Und in der That war e3 ein Wunder, wie das Weib, das 
immer an der Thür des Todes zu ftehen ſchien, fortlebte, wäh: 
rend Zehntaujende der kräftigſten Männer dem Elend des Rüd: 
zuges unterlagen. 

In Dorogobufh am Dnieper war e3 den Franzoſen ge: 
stattet, einen Augenblid aufzuathmen. Es galt hier den Ueber: 
gang zu fihern, jo lange als möglih; der Herzog von Treviſo 
bejegte die Stadt und einen auf der Höhe gelegenen Kirchhof 
und machte den Truppen des Generald Miloradowitſch, Jermo— 
lows und des Herzogd Eugen von Württemberg ven Befit diejes 
Punktes lange ftreitig, Der Kampf mwüthete vorzugsmeije wäh: 
rend der Nacht, und erft fpät konnten die erften ruflifchen Truppen 
in die jenfeitS des Fluſſes gelegene Vorſtadt gelangen, mit deren 


Feigheit. 403 


Beſitz ſie erſt eigentlich in den Beſitz der Stadt kamen. Dort, in 
dieſer Vorſtadt, in der großen Stube einer Herberge ſaßen wäh— 
rend des Kampfes Marigny und Viktor am Lager Helenens. 
Sie dachten nicht daran, am Kampfe theilzunehmen, ſie dachten 
auch nicht weiter zu fliehen, obwohl es wahrſcheinlich war, daß 
die Ruſſen jeden Augenblick in die Vorſtadt eindrängen. Sie 
hörten auch den Kanonendonner nicht, der vom Kirchhofe her— 
ſchallte, und achteten nicht der Kugeln, die überall in die Straßen, 
auf die Dächer fielen, ſelbſt in die Stube drangen, in der 
ſie ſich befanden. Ein Bombenſplitter hatte ein Stück des Kachel— 
ofens abgeriſſen, in deſſen Nähe das Lager Helenens bereitet 
war, und die Flamme, die aus dem Riſſe hervorleuchtete, gab 
der weiten Stube ihre einzige Beleuchtung, nur daß hier und 
da ein aufflammendes Gebäude ſeinen Gluthſchein manchmal 
auch in einen entfernten Winkel der Stube warf. Viele der Fran—⸗ 
zoſen in Dorogobuſch blieben da figen oder liegen, wo fie zum 
Tod ermattet oder ftumpffinnig faßen und lagen, ſelbſt als vie 
Ruſſen jchon hereinbrahen — wie follten jene beiden Männer 
fliehen, da fie am Sterbelager Helenens ſaßen. Sie lag in ven 
legten Zügen. Es war fein Zweifel; ihr Geficht bevedte bereits 
Todesbläfje; ihre Augen waren erlofchen und jchlofjen ſich endlich 
von felbjt; fein Puls war mehr fühlbar. Die Männer faßen 
rechts und linf3 am Lager und ftarrten vor ſich hin, ohne etwas 
zu ſehen. Sie glaubten fie Beide todt, aber feiner ſprach es aus. 
Mar es ftummer Schmerz? Oder waren auch ihre Sinne und 
Gefühle in dem durchgemachten Elend jo ftumpf geworden mie 
die der andern Hunderttaufende ihrer Leidensgefährten? 

Helene lag ſchon lange wie eine Leiche da, als Marigny zu 
ſchluchzen begann, aufitand und in eine dunkle Ede der Stube 
ging, um verborgen zu weinen. Viltor jchnellte empor, als ob 
ihn plöglich eine unfichtbare Geißel aufgetrieben hätte, und eilte 
zur Thür hinaus. Doc konnte er von dem Anblid der Leiche 
nicht laſſen, und er ftellte fih draußen an eines der Fenſter, 
durch welches er, won einem dichten Schatten bevedt, auf das 


404 Novellen. 


von der fladernden Ofenflamme beleuchtete blaſſe Geſicht ſehen 
konnte. 

Aber wie ſonderbar ift ver Menſch beihaffen! Wer hat es 
nicht ſchon erfahren, daß ihn in Momenten oder bei Szenen des 
größten Schmerzes, der grimmigften Verzweiflung plöglich eine 
ſchauderhaft kalte Ruhe, eine fürchterlihe Gleichgültigkeit über: 
tommt, als ob Schmerz oder Verzweiflung müde wären, aus: 
rubten und neue Kräfte zu neuen Angriffen fammelten. Man 
jteht an. einem Grabe, das eben das Iheuerfte auf Erden ver: 
ſchlingen fol, klanglos, beveutungslos verhallen die Worte ver 
Klage und des Lobes am Ohre, wie irgend ein anderes Ge: 
räuſch; man blidt auf die Schollen hernieder und betrachtet die 
fonderbaren Formen eines Steines oder die Zeichnung des Erz: 
beihlages am Sarge. Selbſt das Gewiſſen hat ſolche Augen: 
blide der Ermüdung und blidt mit Gleihgültigfeit auf ein be: 
gangenes Verbrechen wie auf das ganze Leben zurüd. 

Diefer öde, leere Seelenzuftand überkam Viktor, al3 er 
durch das Fenjter das blaſſe Gejicht Helenens ſah, das ihm fo 
tbeuer war. Er hörte feit Stunden zum erften Male ven Kano: 
nendonner, er ſah die fliehenden Franzoſen, die brennenden 
Häufer, die Lichter und Schatten, die wie zwei fich befämpfende 
Heere in den Straßen und in der Luft miteinander ftritten — 
er fah Alles, nur nicht das bleihe, von unfägliden alten Qua« 
len durchfurchte, noch immer jhöne Geliht. Mit der größten 
Ruhe ſah er einen ruſſiſchen Offizier (wir wiſſen jegt aus den 
„Demoiren eines Liefländers,“ daß es der fpätere General, da: 
malige Major und Adjutant Miloradowitih3, von Lömenftern, 
gewejen), den erjten Rufen viefjeits der Dnieper, in den Hof 
treten, und ſah er eine ganz eigenthümliche Szene, die fich jetzt 
vor ihm abjpielte, und hörte er alle Worte, vie gefprochen 
wurden. 

Kaum war der ruſſiſche Offizier in den Hausflur getreten 
und kaum ward er als ſolcher erkannt, als ihm der Wirth des 
Hauſes, ein ausgedienter Soldat, der ſeine franzöſiſchen Gäſte 


Feigheit. 405 


den Tag hindurch mit Augen voll Haß umfchlichen hatte, ohne 
ein Wort über die Lippen zu bringen, mit ausgebreiteten Armen 
entgegeneilte, jich ihm zu Füßen ftürzte, feine Knie umflammerte 
und mit fanatifch aufgeregter Stimme ausrief: „Väterchen! Du 
bit der Erfte der jiegreihen Armee unferes allergnädigften 
Kaiſers, den diefe Augen erbliden. Gelobt fei der Allmächtige, 
der Erlöfer und alle Heiligen! Ruhe hier aus unter meinem 
Dache; jegt ift e8 an uns, unfere Arbeit zu thun!“ — 

Darauf erhob er ſich, zog ein Meſſer aus der Bruft, ver: 
neigte ji vor einem Heiligenbilvde im Hausflur, ſchlug dreimal 
das Kreuz und fagte, das Mefjer ſchwingend, zu dem ruflifchen 
Offizier gewandt: „Wie oft habe ich nicht zu Gott gefleht, mich 
diefes Mefjer gebrauchen zu laffen gegen die Ungläubigen, die 
unjer Land bejhmugen und unfere Kirchen entweihen. Mein 
Gebet ift erfüllt. Die Hoffnung, die ich immer hegte, fo oft ich 
dieſes Meſſer betrachtete, während dieſe Ungläubigen bier die 
Herren jpielten, fie erfüllt fich endlich. Gelobt fei Gott der All: 
mächtige, der Heiland und alle Heiligen !“ 

Sein Auge bligte, feine Glieder zitterten und fo mit auf- 
gehobenem Mefjer ftürzte er jchreiend in die Straße, feine Lands: 
leute aufrufend, ein Gleiches zu thun, und während er rief, 
ftieß er vier Franzofen, die fliehend an ihm vorüberkamen, mit 
ſchrecklicher Schnelligkeit nieder. Es war dieß das Eignal zu den 
Blutfzenen, melde die Nacht von Dorogobuſch zu einer ber 
ſchrecklichſten des ganzen Rüdzuges machten. 

Trotz alledem wandte ſich Viltors Auge doch wieder durchs 
Fenſter dem todten Geſichte zu, und er ſollte da eine Szene er: 
leben, hinter deren Schreden die Vorgänge in feinem Rüden 
weit zurüdblieben, Er glaubte anfangs, daß er fich täufche und 
daß die Bewegung in Helenens Zügen nur von dem Fladerlichte, 
das darauffiel, herkomme; aber fie öffnete die Augen, den Be: 
wegungen ihrer Lippen folgten jchwere Bewegungen des Kopfes. 
Sie lebte. — Mühſam erhob fie den Kopf und den einen Arm, 
um ihn zu ftügen. Sie befann ſich und fuchte fich zu ſammeln. 


406 Novellen. 


Mit einem Male fhien ein Gedanke fie zu erſchrecken; fie fuhr 
zufammen und griff mit der Hand nad der Bruft, als ob fie 
nad etwas Verborgenem fühlte. Dann erhob fie den Oberleib 
mit unendlicher Anftrengung und wandte fpähend den Kopf nad 
allen Seiten. Da Marigny ſchweigend, unfihtbar in einer tief- 
dunfeln Ede, nod) verdedt von einem gewaltigen Schranke, ſtand 
und fie Niemand erblidte, athmete fie tief auf und griff in die 
Bruft. Aber noh einmal und mit unendlicher Anjtrengung 
blidte fie um fi; erft als fie fih wieder überzeugte, daß Nie: 
mand zugegen fei, 309 fie mit zitternder Hand eine Anzahl von 
Briefen hervor — Viktor erkannte fie — e3 waren feine Briefe. 
Zu ſchwach, um ſich zu erheben, begann fie nun, am Boden 
binzufriehen, um fi der Flamme im Dfen zu nähern. Die 
Bewegung hatte Marigny gewedt; er ftredte den Kopf aus der 
Dunkelheit hervor, daß ihn Viktor fehen konnte. Glüd und Ent: 
jegen malte fi in feinen Zügen, ald er Helenen lebend jab; 
nber er konnte nicht von der Stelle und der Ausdruck des 
Glückes verſchwand und regungslos und mit glafigen Augen 
ftarrte er hin, als er fah, wie Helene den Arm erhob und die 
Briefe in die Flamme zu werfen ſuchte. Ihre ſchwachen Hände 
warfen zu kurz; die Briefe fielen vor dem Dfen nieder. Helene 
feufzte auf und froh ihnen nad. Marigny ftredte die Arme 
aus; fein Geficht verzerrte fi; es verrieth, daß ein furchtbarer 
Verdacht in ihm aufgetaucht war. Er wollte vorwärts, aber er 
war verfteinert, er konnte nicht von der Stelle, die Arme er: 
boben, die Augen ftarrend, den Oberleib vorwärts gebeugt. 
Erſt als Helene bei den Briefen angelangt war und eben bie 
Hand auöftredte, fie zu faflen, fiel der Bann von ihm. Wie 
von einer unfihtbaren Macht gejchleudert, flog er durch die weite 
Stube, um fi auf Helenens Hand zu werfen; in dieſem Augen: 
blid flogen die Briefe ing Feuer. Aber Marigny hatte fie nicht 
aus den Augen verloren; mit der einen Hand Helenens Hand 
faflend, griff er mit der andern ind Feuer und zog das Padet 
hervor, bevor e3 die Flamme ergriffen hatte. Helene, al fie 


Feigheit. 407 


Marigny gefaßt hatte, jchrie auf, wand ſich wie im Krampfe 
noch einmal in die Höhe und ſank dann todt auf den Boden. 
Marigny ließ fie fallen, ohne nach ihr zu jehen; feine Augen 
waren nur auf das Padet Briefe gerichtet, das er in der Hand 
bielt, und das er zitternd zu Öffnen ſuchte. Endlich hatte er 
einen Brief entfaltet und ftarrte hinein, während die andern vor 
ihm auf den Boden fielen. 

Viktor fah ihn lefen; er jah feine gläfernen Augen und hörte 
ihn laden, al3 er and Ende fam. Dann ſah jih Marigny um. 
„Du ſuchſt mi!“ fagte Viktor und eilte in die Stube zurüd. 
Stumm jtellte er ih vor Marigny hin. Diejer jah ihn an und 
lachte. Viktor Schloß die Augen, um nicht in die gläfernen ſehen 
zu müſſen, die ihn anjtarrten; aber er mußte ihn laden hören. 
Auch breitete er unmillfürlih die Arme aus, um den Stoß zu 
empfangen, den er von Marigny erwartete; aber es dauerte eine 
ſchauerliche Emwigfeit, bis fich dieſer ſo weit gefaßt hatte, um 
feinen Degen zu ziehen. Endlich ftürzte er mit vorgejtredter 
Maffe auf den verrätheriihen Freund los — in demſelben 
Augenblid jchlüpfte der Hausmirth mit bluttriefendem Meiler 
unter dem aufgehobenen Arme Viktors dur und tauchte es mit 
einem Stoß in Marigny's Bruft. Er ſank lautlos zu Viktors 
Füßen. 

Major von Löwenftern war dem wüthenden Manne gefolgt, 
um ihn vom Mord feiner Gälte abzuhalten. Er fam zu jpät für 
- Marigny, aber er ftellte fich rafch vor Viktor, um wenigſtens 
diefen vor dem unfoldatiichen Tode zu retten. Aber das jchien 
nicht nothwendig, denn der Hausmwirth, der Marigny’3 Degen 
gegen Viktor gezüdt, auch deſſen verfchiedene Uniform und Abs 
zeihen ſah, nahm dieſen für einen rufliihen oder wenigſtens 
einer befreundeten Macht angehörenvden Offizier und wandte ſich 
triumphirend zu ihm, indem er ausrief: „War der Stoß gut? 
Kam ih Euch zur rechten Zeit zu Hülfe?“ 

Doch Viktor riß ihn aus feinem Irrthum. „Auch ich bin ein 
Feind I” murmelte er — „warum fehonft du mich?“ 


408 Novellen, 


In der That erhob der Ruſſe jofort fein Meſſer, um ihn 
niederzuftoßen; aber Herr von Löwenſtern fiel ihm in ven Arm: 
„Wahnſinniger,“ rief er ihm zu, „mwillft du nicht aufhören mit 
Morden und gegen Freund und Feind gleich jehr müthen? 
Diejer bier ift ein Deutfcher und ung mehr zugethan als Napo— 
leon; in wenigen Wochen fiht er mit und, an unjerer Seite 
gegen die Fremden !“ 

Diefe Worte brachten ven Wüthenden menigitens zum Zau— 
dern, das Herr von Löwenſtern benutte, um Biftor, ehe der 
Hauswirth zur Belinnung fam, aus dem Haufe zu ziehen. 
Viktor folgte bewußtlos; er jah nicht3, er wußte nicht, was mit 
ihm vorging; er fah nur die gläfernen Augen Marigny’3, die 
ihn noch todt, vom Boden auf, immer anftarrten, mit derjelben 
Muth, mit demſelben Hab wie in dem Augenblid, da er mit 
gezogenem Degen auf ihn losjtürzte. 

Mit einem Male fand er fih mitten im Haufen flüchtender 
Sranzofen, außerhalb Dorogobufjh, ver unglüdjeligen Stadt, 
in der Marigny und Helene todt nebeneinander lagen, wo er 
einen Augenblid lang gehofft hatte, jo neben ihnen liegen zu 
können — wo er vergebens gehofit hatte, gerichtet zu werden. 
Von dem Schmwarme fortgerijjen, mußte er die Erinnerung an 
diefe Stunden mit fortnehmen und meitertragen durchs Leben 
zugleih mit feinem ungefühnten Verbrechen — wohl wiſſend, 
dab e3 nicht ungefühnt bleiben werde. 


Sechstes Kapitel. 


Mas Viktors Bekannten bei feiner Rückkehr ins deutjche 
Vaterland an ihm zuerit auffiel, ohne weiter in Verwunderung 
zu jegen, war das viele graue Haar, das fi in fein braunes 
miſchte. Man nannte e3 den natürlichen Abglanz des ruſſiſchen 
Minterd. So fand man auch feine Verfchloffenheit natürlich. 


Feigheit. 409 


Erinnerungen wie die, welche die Soldaten der großen Armee 
aus Rußland mitbrachten, waren wohl geeignet, ſelbſt heiterere 
Gemüther als das Viktors zu verdüſtern. Indeſſen fand man 
doch bald, daß dieſe Verdüſterung bei ihm länger währte als 
bei Andern; den Leuten ſeines Umgangs, den patriotiſchen Sol: 
daten ſeiner Umgebung, die nun bald ihre Waffen gegen Napo— 
leon zu wenden hofften, zu lange. Sie beobachteten ihn und 
entdeckten allerlei Sonderbarkeiten. So zum Beiſpiel hatte er die 
Gewohnheit angenommen, während des Sprechens, ſelbſt wenn 
er allein über die Straße ging, oder ſaß, in kurzen Zwiſchen— 
räumen immer den Kopf mit einer gewiſſen eckigen, maſchinen— 
baften Bewegung der Erde zuzubeugen und, wenn auch kurz, 
einen Punkt ftarr zu firiren, als ob er da etwas Schredliches 
vor ſich ſehe. Sie mußten nicht, daß ihn in der That Marigny 
immer fo anſah, mie er ihn, todt vor ihm auf dem Boden lie: 
gend, mit offenen Augen anjtarrte, oder vielmehr, daß jene 
gläfernen Augen Marigny's allein, ohne deſſen Antlig und Kör: 
per, fortwährend vor feinen Füßen aus dem Boden hervorblidten. 
Eben jo auffallend war es, daß Viktor die Gefellihaft mit dem: 
jelben Eifer auffuchte, als er fie flob; daß er ſich bald in die 
Einjamfeit begrub, bald wieder Tage und Nächte lang von 
Kameraden umgeben zu fein wünſchte — jegt durch Tage von 
Cafe zu Cafe, von Bejuh zu Befuh, von Soiree zu Spiree 
eilte und jegt wieder verjcehwand, um auf Schloß Holken einfam 
zu haufen. 

Auffallender ala Alles das wäre e3 feinen Kameraden ge: 
wejen, wenn fie gewußt hätten, welche Bücher ihm, ven fie 
immer für einen Gelehrten gehalten, in der Einſamkeit Gejell: 
ichaft feifteten. Es waren die romantiſch-myſtiſchen Dichter, die 
damals in Blüthe ftanden, mehr noch die hyper: romantischen 
jogenannten Bhilofophen, die jich mit den „Nachtfeiten der Natur,“ 
zugleich andere, die fi mit der Yortvauer nad dem Tode, mit 
der Geſchichte der Seele und dergleihen Fragen beſchäftigten. Er 
erlebte fo manche Hallucinationen, daß er fich gern Gewißheit 


410 | Novellen. 


verſchafft hätte, ob es wirklich Hallucinationen feien, befonders 
jene fortdauernde Erjheinung der beiden Augen. Hier und da, 
wenn aud läcelnd, erfundigte er fih, wohin denn alle Die 
Geiſterbeſchwörer verfhmwunden feien, von denen man fo viel 
geſprochen, als er jhon ein erwachſener Knabe gemwejen, und die 
am Hofe Wilhelms des Dicken ihr Weſen getrieben. 

Man fing an, den Kopf über ihn zu jchütteln, als glüd- 
licherweife für feinen Nuf jeine Armee an den Feldzügen von 
1813 und zwar auf deutjcher Seite theilnehmen durfte und feine 
Thaten die Bedenklichkeiten, die rege geworden, gänzlich in Ver: 
geſſenheit bradten. Sich endlich für fein Vaterland ſchlagen zu 
dürfen, drängte bei ihm Vieles in den Hintergrund; er durfte 
mithelfen bei ver Sühne jener Schuld, die ein großer Theil 
Deutihlands auf ſich geladen hatte; es war ihm dabei, al ars 
beitete er zugleich mit an der Löjung des Problems von Schuld 
und Sühne — eines Problems, das ihn jchon feit Jahren be— 
ihäftigte und das immer unheimlicher verworren wurde. Schlach— 
ten und Bewegung drängten ſich im Jahre 1813 und ließen ihn 
nicht zur Befinnung fommen, und fo fam er mit den fiegreichen 
Heeren in demjelben Paris an, das er bei Befinnung nie bes 
treten haben würde. Er fam daſelbſt al ein Mann an, von 
dem es bieß, daß er vie Begriffe Gefahr und Schreden nicht 
fenne; er hatte an feiner Schladt, an feinem Gefechte Theil ge: 
nommen, ohne ſich durd eine jtaunenswerthe Todesverahtung 
ausgezeichnet zu haben. 

Aber diefer Unerfchrodene ſchlich zitternd jede Naht um das 
Haus, das Marigny und Helene bewohnt hatten. Die Bewoh— 
ner, die jetzt dafelbft aus- und eingingen, die Erben und Ber: 
wandten Marigny’s, trugen Trauerkleider, Trauer um Marigny. 
Viktor wagte es nicht, Jemand anzufprechen; nur einmal trat er 
in die Loge des Portiers, der ihn nah einigem Beſinnen er: 
fannte und al alten Freund de3 Haufes gut aufnahm. Diejer 
erzählte Viktor, daß der Oberft, wie ein kaiferliches Bulletin zur 
Zeit erzählt hatte, tapfer fämpfend an ver Berezina gefallen ſei, 


Feigheit. 411 


und daß Madame Marigny wahrſcheinlich in det Berezina um: 
gelommen. Man erzähle zwar, daß der Oberft, von einer 
ſchweren Wunde genejen, irgendwo in Rußland noch lebe, aber 
das jei jo eine der vielen Sagen, wie fie jegt in Frankreich um: 
gingen und die Familien tröfteten. Uebrigens fei dem Oberft 
das Leben gar nicht zu wünſchen, wenn feine Frau todt fei. Er 
babe fie zu ſehr geliebt. „Aber das wiſſen Sie ja beſſer als ich!“ 
fügte der Portier jeufzend hinzu. 

Viktor fam nicht wieder in die Roge des Portiers, 

Er kehrte einer der Erſten, und zwar als General, mit feinen 
Truppen nad Deutjchland zurüd. Der Friede war längit ge: 
Ichloffen, Deutſchland war befreit, der Wiener Kongreß ſchien die 
MWeltangelegenheiten auf Geſchlechter hinaus ordnen zu follen und 
General Graf Holten hatte Urlaub genommen und die Einſamkeit 
feines Schloſſes aufgeſucht. Aber die Rückkehr Napoleons von 
Elba rüttelte die Welt no einmal auf, und Viktor Graf von 
Holken ftand an der Spige feiner Brigade bei Waterloo. 

Dem Unerfchrodenen hatte man einen Poften gegeben, ver 
feiner würdig war. Er ſchützte die Flanke feines Korps, die in 
der Ebene jtand und offen war. Er konnte von drei Eeiten an: 
gegriffen, er konnte umgangen werden und er hatte außerdem 
eine dreifache feindliche Batterie jich gegenüber, die von einer 
beberrjchenden, wenn auch nicht beträchtlichen Höhe herab Tod 
und Berberben jchleuderte, um die Flanke der Verbündeten zu 
entblößen. Die Brigade Holken hatte nichts zu thun als das 
Schrecklichſte, was in einer Schlaht einer Truppe zugemuthet 
werden kann, fie hatte nur zu ftehen. So vergingen ihr Stunden, 
und fie ftand, während ihr Führer, heiterer als feit Jahren, auf 
feinem Pferde vor feinen Truppen auf» und niederritt. Gein 
Lächeln, fein Mares Gefiht war ein Anblid, der feine Soldaten 
mit Zuverfiht und Ausdauer erfüllte und um fo tiefer auf fie 
wirkte, als fie bei ihrem büftern General an vergleichen nicht 
gewöhnt waren. In der That war ihm fo heiter und dabei fo 
ruhig zu Muthe, wie er nicht glaubte, daß ihm noch werden 


412 Novellen. 


könnte. Gin einfacher, ein überaus einfacher Traum, den er 
während der legten Nacht, auf offenem Felde jchlafend, geträumt 
batte, war die Urfache diejer Heiterkeit. Er jah ih auf Schloß 
Holfen, oben auf der Plattform, in Geſellſchaft Marigny’3 und 
Helenen3. Sie faßen zufammen, plaudernd, glüdlich, vertrauen?: 
voll, wie ehemals um den Kamin in Paris. Helene lachte und 
ſcherzte, Marigny hielt feine Hand wie verjöhnt und ruhig vor 
fich hinlächelnd. Nichts als diejes eine Bild machte den ganzen 
Iraum aus und dauerte, wie ed Biltor jchien, während des 
ganzen Schlafes, ohne fich zu verändern. Manche feiner Träume 
hatten fchon fo begonnen, aber fie endeten dann immer in Schred» 
niſſen: Helene, die eben gelächelt hatte, wand fi dann plößlich 
im Todesfampfe, mie damals in Dorogobufh, und Marigny’3 
Augen, die ihn eben freundlich angeblidt, verwandelten ſich in 
jene gläfernen, mit denen er ihm dort entgegengeftürzt, die noch 
aus der Leiche vom Boden auf ihn angejtarrt und die ihn feit- 
dem nicht verlaifen hatten. Aber in dem Traume ver legten 
Naht war von Anfang bis zu Ende Alles klar, glüdlich, ver: 
jöhnt geblieben. In feinem militärischen Leben hatte er fo viel 
von bedeutungsvollen Träumen gehört, die viele feiner Kamera- 
den und manche berühmte Krieger die Nacht vor der Schlacht 
geträumt hatten, daß er feinem Traum eine Bedeutung zugeſchrie— 
ben haben würde, jelbjt wenn er nicht in Folge feines Grübelns 
und jeiner myſtiſchen Studien zu dergleichen geneigt geweſen 
wäre. Gr hatte die Ueberzeugung, daß ihm diefe Schlacht eine 
Verſöhnung mit ſich ſelbſt und mit den Freunden, daf fie ihm 
die Ruhe, oder mit andern Worten, den Tod bringen werde. 
Und war nun nit der Poſten, den er einnahm, der Ort, um 
eine jolhe Vermirklihung feines Traumes höchſt wahrfcheinlich 
zu machen? Aus den Batterien dort gegenüber, die Tod und 
Verderben fpieen und die fortwährend von Pulverdampf wie von 
einem geheimnißvollen Schleier verhüllt waren, mußte das Cr: 
wartete fommen. Der entjcheidende Moment mußte herannahen, 
da ihm die Ordre zufommt, vorzurüden und jene Batterien zu 


Feigheit. 413 


nehmen: dann wird es wohl geſchehen, das Endliche! wenn ihn 
nicht ſchon eine der Kugeln wegreißt, die ſie unthätig hier ab— 
warten mußten. Von Zeit zu Zeit näherte er ſich dem Offiziere, 
der ihm der nächſte im Range war, um Manches mit ihm zu 
beſprechen, was zu thun ſei, wenn er, dieſer andere Offizier, zu— 
fällig das Kommando übernehmen mußte. Dann ritt er vor der 
Fronte auf und ab, oder hielt ſein Pferd an, um mit Theilnahme 
den weißen Pulverdampf, den beweglichen Vorhang zu betrachten, 
hinter dem ſein Schickſal ſchlummerte. 

Endlich kam der Befehl vorzurücken und die Batterien zu 
nehmen. 

Die Batterien ſtanden, wie geſagt, auf einer unbeträchtlichen 
Höhe, die ſich leiſe abſenkte und als Ebene auf der Hälfte des 
Weges zwiſchen den Batterien und der Brigade Holken verlief. 
Leicht konnte man mit Kavallerie da hinanſprengen. Holken ließ 
ſeine Artillerie und Infanterie zurücktreten und ſammelte ſeine 
Reiterei. Er ſelbſt ſtellte ſich an ihre Spitze, winkte den zurück— 
bleibenden Truppen ein bedeutungsvolles Ade, befahl, daß 
ſämmtliche Trompeter ins Horn ſtießen, ſchwenkte anſtatt allen 
Kommandos den Säbel, gab ſeinem Pferde die Sporen und 
ſprengte voran. 

Nach den erſten Schritten empfing die Heranſprengenden 
eine gewaltige Artillerieſalbe; von dem Momente aber ſchwiegen 
die Batterien, ein Anzeichen, daß Holken ebenfalls Reiterei oder 
Fußvolk entgegengeſchickt wurde. Noch konnte er nichts ſehen, 
denn der Rauch der letzten Salve lag noch dicht auf dem Feinde. 

Jetzt ſprengte aus dem Rauch ein Reiter hervor; er ſtreckte 
ſeinen Säbel vor ſich hin, als wollte er ſeinen Folgern, die noch 
unſichtbar waren, den Weg zeigen. Der vorgeftredte Säbel war 
gerade gegen Viktor gerichtet, der bei diefem Anblid feinem Pferd 
aufs Neue die Sporen gab. Im Augenblide ftanden die beiden 
Reiter einander gegenüber und hoben beide ihre Waffen, um 
beide verfteinert jtehen zu bleiben, wie zwei Bildjäulen. Viktor 
blidte in die gläfernen Augen Marigny’3, in die Augen, die 


414 Novellen. 


gerade fo blidten, wie damals in Dorogobufh; die Waffe war 
ihm gerade jo entgegengejtredt, wie damals; aber das Geficht 
Marigny’3 war noch mehr verzerrt; ed war abgemagert, vie 
Knochen ragten hervor, jchauerliche Todesbläſſe bevedte es. Der 
Todte fehrte wieder, um fich zu rädhen. Er fah ihn an wie ein 
Gerippe, und jegt lachte er laut auf, gerade wie damals, da er 
ven Brief gelefen. Vor diefem Lachen wandte Viktor jein Pferd 
und floh; Marigny lachte fort, bob feinen Eäbel und ſchlug ihm 
mit der flachen Klinge auf den Rüden. General Graf von Holfen 
bückte fih unter dem Schlage und floh weiter, die Reihen der 
Reiter durchbrechend, die ihn eben erreicht hatten. Paniſcher 
Schrecken ergriff fie, als fie das Schauſpiel und den fliehenven 
General ſahen — und die Flucht wurde allgemein. 

Der Reſt der Gefchichte ift dem Lefer befannt. 

Einige Tage nach der Echladht bei Waterloo wurde General 
Graf von Holken infam kaſſirt — megen Feigheit und feiger 
Flucht auf dem Schlachtfelde. 

Nicht mit dem Leben hatte er feine Schuld gefühnt, jondern 
mit der Ehre. 


Der Hetman. 
Eine Gefhihte aus der Zeit des ruſſiſchen Durchmarſches durd Böhmen. 


Menn wir Kinder das Wort „die ruſſiſche Zeit,” mit welchem 
die furze Zeit des ruſſiſchen Durchmarſches dur Böhmen und 
der rufliihen Einquartierung gemeint war, nur ausſprechen 
hörten, überlief uns das angenehmite Grufeln von der Welt, und 
wir rücten der Perfon, die es ausſprach — und das war meift 
die Großmutter — näher, um wo möglich zu den vielen Ges 
ihichten aus der „rufliichen Zeit” noch eine neue zu hören und 
unſer Grufeln zu vermehren. Es ging übrigens den Erwachjenen 
eben jo wie uns Kindern. Die Vorgänge in jener Zeit ſchienen 
den Bewohnern des bis dahin ftillen und weltvergefjenen böhmi— 
ihen Dorfes ganz auferordentlihe, unerhörte und große Ereig: 
niſſe. Man erzählte von Koſaken, die das fußdide Eis des Teiches 
aufhadten, um ſich zu baden, al3 wäre e8 Mitte Juli ; von andern, 
die jo viel Branntwein tranfen, daß man fie in Düngerhaufen 
vergraben mußte, damit ja die Flamme nicht aus ihrem Munde 
berausichlage und fie verzehre, — und endlich von täglichen Exe— 
futionen, bei denen hundert und zweihundert Anutenhiebe ertheilt 
wurden, und nach melden ſich die Patienten abfchüttelten, als 
wäre gar nicht3 geſchehen. O wie fehr bedauerten wir, für dieſe 
rufliihe Zeit zu fpät auf die Welt gekommen zu fein und fo 
außerordentlihe Menfchen, die fo viel vertragen konnten, nicht 
gejehen zu haben. Dieſes Bedauern wurde jehr oft in uns 


416 Novellen. 


gewedt, da jeit der ruſſiſchen Zeit, d. i. jeit mehr al3 dreißig 
Jahren, in unferm Dorfe nicht viel oder gar nicht3 vorgegangen, 
die Erinnerung und Phantafie der Bewohner alfo immer wieder 
und bei jeder Gelegenheit in diefe merkwürdige Periode zurüd: 
ſchweifte, und endlih, da in unjerm Dorfe lebende Monumente 
beitanden, die immer an die Ruſſen erinnerten. Da war z. B. 
ein alte Weib, oder vielmehr eine alte Jungfer, die man nur 
„die Ruſſin“ nannte, aus dem fonderbaren Grunde, weil fie fi 
damals, da fie noch ein jchönes junges Mädchen geweien, ven 
Derfolgungen eines Ruſſen entzog, indem fie fich mitten im Win- 
ter ind Waſſer ftürzte. Wäre fie damals umgelommen, bätte fie 
gewiß das Volkslied ald eine neue Lucretia traurig befungen; 
da fie aber davonkam, war und blieb fie mit ihrem Ruffen und 
mit ihrem Waflerfprung eine lächerlihe, mit einem Spignamen 
behaftete Perſon. In Folge deſſen blieb fie auch alte Jungfer 
und wurde fie von Jahr zu Jahr wilder und häßlicher. Sie fah 
am Ende wie eine böfe alte Here aus, die alle Welt ſcheute — 
und das mar der Lohn ihrer Tugend. Meiner leiblihen Tante, 
die, wie ihre Mutter, meine Großmutter, verficherte, fo fchön 
war mie die Faunus (jpric Venus), hätte es leicht eben jo er: 
gehen können, wie der „Ruflin.“ Aehnlichen Verfolgungen, wie 
diefe, von Seiten eines rufliihen Offiziers ausgeſetzt, verftedte 
fie fich eines Tages in einen Aſchenhaufen, wo ihre Kleider Feuer 
fingen. Die Flamme verrieth fie ihrem Verfolger ; er eilte herbei, 
rettete fie und ließ fie feitdvem in Ruhe. Aber ihre Tugend hatte 
feine Zeugen, und fo entging fie jeder Nachrede und jevem Spig: 
namen. Der Sprung in den Aſchenhaufen und der drohende 
Feuertod wurde ald Familiengeheimniß behandelt. — Dann war 
noch ein Kutſcher da, der im Dorfe auch nur „ver Ruſſe“ hieß, 
ein ftiller guter Mann, der nur manchmal in Wuth gerieth, die 
Pferde ausgezeichnet zu behandeln, beſonders den Schlitten gut 
zu führen wußte, und der — aber eben die Gejchichte dieſes 
Kutſchers wollen wir ausführlicher erzählen. 


Der Hetman. | 417 


Erftes Kapitel. 


Es war im Winter des Yahres 1799 bis 1800. Die ganze 
traurige Gegend, melde deren Mittelpunft, der berühmte Wall: 
fahrtsort des „Heiligenberges,“ mit feinen acht Kuppeln beherricht, 
mar von gefrorenem Schnee bevedt. Der Schnee gligerte nicht 
heiter und erfriſchend, troß dem Froft, da die Sonne von fahlen 
Wolken umhüllt war, fondern breitete fih grau und unerquidlich 
über die Hügel und Föhrenwälder. Ebenjo traurige. Eisdeden 
blendeten die vielen Teiche des Landes, die fonft, in den Sommer: 
monaten, mit ihrem Schimmer einiges Leben und Abwechſelung 
in die troftlofe Gegend bringen. Gelbit die vergolvete, ſlaviſch— 
byzantiniſche Mitteltuppel des Heiligenberges, unter ver die 
wunberthätige ſchwarze Madonna wohnt, hatte ihren Glanz ver: 
loren; die Stadt Pızibram lag fröftelnd zu Füßen des Berges. 
Wo die Schneedede einen Riß hatte, blidte fteiniger Boden her: 
vor, wie ein abgemagerter Leib aus zerfegtem Bettlerrod. 

Aus dem Dorfe Dubna bewegte ſich ein feltfamer Zug be: 
jagter Stadt Pızibram entgegen, die heute eine berühmte Silber: 
bergitabt mit Bergafademie ift, damals aber von dem Metall: 
reihthum der Berge vor ihren Thoren feine Ahnung hatte, ein 
elenvdes Leben friftete und fich beinahe nur vom Abfall deſſen 
nährte, was die hunderttaufend Pilger jährlich ala fromme Gaben 
der Jungfrau und dem Probft vom Heiligenberge darbrachten. 

Der Zug beftand aus einer Anzahl Bauern, an deren Spige 
ver Dubnaer Schulze in fonntägliher Tracht — einem meißen, 
mit unzähligen Meſſingknöpfen befegten, langen, über vie Füße 
berabfallenden Schafpelze, mit einer Pelzmüge auf dem Kopfe 
und einem breitfrämpigen ſchwarzen Filzhut über der Pelzmütze 
— langfam einherſchritt. In der Hand trug er ein hohes fpani- 
ſches Rohr, während feine Begleiter mit gewöhnlihen rohen 
Prügeln oder ftangenähnlichen Stöden bewaffnet waren, melde 
die Einen wie Stäbe, die Anderen wie Waffen, Spieße oder 

Morik Hartmann, Werke VI. 27 


418 Novellen. 


Gewehre auf den Schultern trugen. In ihrer Mitte ging oder 
ichleppte fi ein altes Meib, deſſen Naden ſich unter der Laft der 
Jahre zu beugen jchien und deſſen Hände hinten über dem Rüden 
mit Striden zujammengebunden waren. Die Kleider der Ge: 
fangenen, obwohl für die rauhe Jahreszeit offenbar zu leicht, 
waren doch in einem guten Zuftande; ein grauer, mit bunten 
Flicken bejegter Manchefterrod und eine Art langen, unten aus: 
gezadten ſchwarzen Mieders, das eine rothe Schnur loſe zufammen: 
hielt, Eleiveten die Alte etwas phantaftiich und ftanden in einem 
ichreienden Gegenja zu den jtruppigen grauen Haaren, welche 
wirr und wild den alten Kopf bevedten. Der Ausdruck ihres 
ganzen Gelichtes war unter unzähligen großen und Kleinen Falten, 
wie unter einem Vorhang, verſchwunden; nur wenn fie, mas 
jelten geihah, die Augenlider erhob, kam ein überaus lebendiger, 
ja brennender Strahl aus grünlich-ſchwarzen Augen, an denen 
die Macht eines hohen Alters ſpurlos vorbeigegangen war, Sie 
ſchwieg und ſah unverwandten Blides auf den Weg, ven fie zu 
gehen hatte, während die Bauern, ihre Begleiter, fortwährend 
plauderten, ih mit lauter Stimme vom Verbrechen der Ge 
fangenen unterhielten, fie mit Schimpfreden überhäuften, oder 
ihr mit den graufamjten Strafen drohten, die fie in der Stadt 
erwarteten. 

Auf der Höhe angefommen, von der aus man die Stadt 
ichon fehen fonnte, machte der Schulze Halt und fagte zu feinen 
Begleitern: „Bei den erften Käufern werdet ihr mich verlaflen 
und nach Dubna zurückkehren; nur drei von euch bleiben bei mir, 
um die Zigeunerin aufs Amt zu bringen.“ | 

„Barum nicht Alle?” fragte einer der Bauern. 

„Weil es eine wahre Schande ilt, daß ein fo großer Haufe 
ein einziges altes Weib bewachen joll.“ 

„hr irrt Euch, Schulze,” ermwiderte derſelbe Bauer, „es ilt 
das nicht die geringfte Schande, weil e3 fih um eine Bigeunerin 
handelt, um eine Here, gegen die man nie eine genug große 
Macht aufbieten fann. Wenn e3 fih um unfer Einen handelte, 


Der Hetman. 419 


wenn 3. B. hier der Straß oder der Wlach meinen Hahn ge: 
ftohlen hätte, dann wären unfer Zwei genug, ihn durchzuprügeln 
oder vor’3 Amt zu fchleppen, — aber bei einer Here! Wir find 
unfer elf, das ift in diefem Falle lange nicht genug, oder zu 
viel; wir follten jieben jein, oder dreizehn, oder einundzwanzig, 
oder fiebzig, denn da3 find Bahlen, gegen die die Zauberin 
Nichts vermag.” 

„Iſt's wahr?” fragte ver Schulze. 

„Wie ih Euch ſage. Ich verftehe mich auf dergleichen, 
Darum meiß ih auch, warum fie mir meinen Hahn geftohlen. 
Warum hat fie nicht des Ribnit oder des Strom feinen Hahn 
geitohlen, und gerade meinen? Weil meiner ſchwarz war und 
gerade zu Johannis aus dem Ei gekrochen iſt. Solcher Hähne 
braucht dieſes Volk zu feinem Teufelswerk. Glaubt Ihr, daß 
ih meines Hahnes auf menſchenmögliche Weife noch habhaft 
werden könnte? Unmöglich! ch habe lachen müſſen, als Ihr fie 
darauf hin werhörtet und willen wolltet, wo fie den Hahn ver: 
jtedt? Den kann fie ſelbſt nicht mehr herbeilchaffen, wenn fie es 
taufendmal wollte. Der ift heute Morgen, gerade in dem Augen 
blide, da er ven erften Hahnenſchrei thun und Gott im Himmel 
(oben wollte, dem Teufel geopfert worden. Iſt's nicht fo? 
Sprich, du verfluhte Here!” rief der Bauer, indem er ihr die 
Fauft unter die Nafe hielt. 

Die Zigeunerin regte fih nicht und gab auch feine Antwort. 
Der Zug feßte fich wieder in Bewegung. 

„Wenn nur,” fuhr derfelbe Renner im Gehen fort, „wenn 
nur die junge Here, die mit ihr war, nicht entlommen wäre! 
Ich fürchte, die macht unfere ganze Unternehmung durch irgend 
einen Zauber zu nidhte, und die Alte entwiſcht ung oder fommt 
ohne Strafe davon. Aber in dem Augenblide, da ich die Alte 
ergriff, Ichlüpfte die Junge wie eine Eidechſe davon, und ver— 
ſchwunden war fie im Walde, als hätte fie ein Baum ver: 
ihlungen. 

Die Gefangene hörte das Alles mit an, ohne ven Mund zu 


420 Novellen, 


verziehen, ohne einen Zug ihres Gefichtes zu verändern. Gie 
wanderte fort, gebeugten Kopfes, immer den Weg vor ihren 
Füßen mit Aufmerkjamkeit beobachtend. Plöglich lachte fie laut 
auf. Die Bauern fuhren zufammen und fahen dann einander er— 
ihroden an. „Warum bat fie gelacht?“ „Was hat fie” „Sie 
bat jih einen hölliihen Plan ausgefonnen!” „Sie entgeht ung!“ 
riefen fie Alle zugleih und drängten ſich enger um fie, als ob fie 
fürdhteten, daß fie jeden Augenblid auffliegen und ihnen ent: 
wifchen könnte. Dann erhoben fie ihre Stöde und drohten ihr, 
fie in Stüde zu ſchlagen, wenn fie nicht fage, warum fie gelacht 
habe. Aber die Alte lachte ihnen aufs Neue ins Geficht, ohne 
fih um ihre Drohungen zu befümmern. Die Bauern wurden 
fehr betroffen und führten jie ſchweigend meiter. Sie dachten 
über die möglihen Urjachen diefer plöglichen Heiterkeit der Zi— 
geunerin nad. Aber in der Nähe der Stadt angefommen, wo 
die Scheunen eine Art von unbewohnter Vorftadt bildeten, ſchlug 
fich der Bauer Straß vor die Stirne und rief: „Sch hab's! ich 
weiß, warum fie gelacht hat.“ Der Zug hielt wieder inne, um 
Straßen Anfiht mit größerer Ruhe fennen zu lernen. Diejer 
fuhr fort: „Seht ihr da die alte elende Scheune, die fich faum 
mehr auf den Füßen hält? Warum ift fie fo elend? Weil fie die 
ältefte von allen Scheunen ift. Warum ift fie die ältefte? Weil 
fie niemal3 abgebrannt iſt, während alle Scheunen ringsumher 
ihon zehnmal vom Feuer aufgefrefien wurden. Warum ift dieje 
Scheune bei den größten Bränden vom euer verfchont geblie- 
ben? Darum! Einmal, vor vielen Jahren, fam eine Bande Zi: 
geuner in die Stadt. Kein Menſch, wie recht ift, hat fie in feinem 
Haufe oder auch nur in feiner Scheune beherbergen wollen, ob: 
wohl e3 regnete und jtürmte. Da öffnete ihnen ein Bürger feine 
Scheune, dieſe alte Scheune. Sie fochten und brieten darin bei 
großen Feuern, während fie voll von Stroh und Getreide war, 
Da liefen die Bürger und der Beliger der Scheune herbei und 
ſchrieen: Was thut ihr, verfluchte Zigeuner! ihr ftedt uns ja die 
Stadt in Brand! — Die Zigeuner aber antworteten: Seid ruhig, 


Der Hetman. 421 


fein Funke fol bier auf das Stroh fallen und wenn wir hier 
noch jo viele Feuer anzünden, und noch hundertmal wird der 
rothe Hahn über diefe Scheunen und diefe Stadt fliegen, auf 
diefe Scheune, die uns beherbergt, wird er fich nie niederlaſſen. 
— Und mahr iſt's. Alle Scheunen und Scheuern ringsherum 
find ſeitdem jchon zehnmal abgebrannt, und dieſe alte Scheune 
jteht noch. Nie hat fie auch nur ein Fünkchen verfehrt. Aber 
wen gehört dieſe Scheune? Dem Bürgermeifter gehört fie, und 
darum hat die Here gelacht. Sie weiß, er wird einer Zigeunerin 
Nichts anthun, weil ihm die Zigeumer fo viel Gutes gethan. 
Vielleicht iſt es Diefe felbft, die den Zauber über die Scheune 
ausgeſprochen. Das wird fie ihm fagen, und er wird fie laufen 
laſſen. Darum hat fie gelacht.” 

Die ganze Geſchichte, fo wie die daraus gezogenen Schlüffe 
däuchten den Bauern fehr einleuchtend. Sie wußten nicht, was 
zu beginnen, und ſtanden wieder ftill, um aufs Neue zu be- 
rathen. Der Schulze fragte fich hinter dem Ohr und meinte, daß 
jelbjt ohne die Gefhichte von der Scheune wenig Hoffnung da 
jei, die Zigeunerin orventlich beftraft zu fehen. „Wann hat man 
gehört,” fragte er, „dab der Bürgermeifter Haug einen Menfchen 
orbentlic hätte durchprügeln laſſen? Niemals! Er läßt Niemand 
prügeln, er läßt die Leute höchftens auf zwei, drei Tage ins 
Loc fteden. Was kümmert fih fo ein Bigeunerweib darum, ob 
e3 zwei Tage eingeftedt wird oder nicht? Und was haben wir 
davon, wenn wir ihr nicht wenigftens Fünfundzwanzig zu Wege 
bringen ?“ 

„Freilich, freilich,” fagte der beftohlene Bauer, „mein Hahn 
war doch wenigſtens fünfundzwanzig Stodprügel werth.“ 

„Aber warum läßt er denn die Leute nicht prügeln?” fragte 
ein Anderer erftaunt. 

„Das verftehft du nicht,” antwortete der Schulze mit einigem 
Stolze, doch will id dir's fagen: „Weil er noch aus der Zeit 
Kaifer Joſephs ftammt; der hatte es nicht gerne, wenn man bie 
Menſchen prügelte, er fagte, das fei gegen — ich weiß nicht 


422 Novellen. 


was — Gefühl oder Menjclichkeit. Und damals hat ſich's ver 
Bürgermeifter Haug abgewöhnt.“ 

Die Bauern murrten und fanden da3 dumm. Der Beitoh: 
lene ſchlug envlih vor, man ſolle die Zigeunerin ſelbſt durch— 
prügeln und fie dann laufen laſſen; dem aber wiberjegte ſich der 
Schulze, als einer Anmaßung von Rechten, die nur den Be 
amten und Evelleuten gehörten. 

Mährend fie fo beriethen und ſprachen, ſchwebte bejtändig 
ein ruhiges Lächeln auf den dünnen Lippen der Zigeunermutter 
und machte fie mit dem rechten Fuße gewiſſe Bewegungen, welde 
die Bauern mit fcheelen Augen betrachteten, da fie fie für ma: 
giſche Prozeduren hielten. Sie aber that nicht? Anderes, als daß 
fie gewifje Spuren von Schuhnägeln, die zufammen ein Dreied 
bildeten, im Schnee verwifchte. Diefe Dreiede im Schnee waren 
es, die fie zum Lachen braten. Es waren die Spuren ihrer 
Enkeltochter Verunka, die dem Bauern, der fie eingefangen, ent: 
wicht war, und nach diefen Spuren hatte fie auf dem ganzen 
Wege fo aufmerkſam gefuht. So balo fie fie entdedt, war jie 
unbeforgt und lachte fie laut auf. Sie wußte, Verunka war ihr 
und den Bauern ſchon nad der Stadt vorausgeeilt, und jie 
zweifelte nicht mehr an ihrer Rettung. Verunka, die Prinzeflin 
des Stammes, konnte ja, was fie wollte, und mo fie war, ba 
hatten Zigeuner feine Gefahr zu befürdten. 

Darum aber erfchraf die Alte auch doppelt und verſchwand 
das fpöttifche Lächeln von ihren Lippen, ald Straß im Laufe der 
Berathung mit dem Antrag hervortrat, fie nicht nad) Przibram 
und vor den Bürgermeiſter, ſondern nach Duſchnik und vor den 
Hetman der Koſaken zu führen. „Dort in Duſchnik,“ ſagte er, 
‚im Branntweinhauſe beim Juden, hat ver Hetman fein Haupt: 
quartier; dort wird jeven Tag geprügelt, und jo geprügelt, wie 
man e3 bier zu Lande noch nicht gefehen. Die Koſaken überlegen 
e3 ſich nicht fo lange wie der Bürgermeifter; fie ſchlagen gleich 
los, man braudt fie nur darum zu bitten.“ 

Der Antrag fand großen Beifall. Sofort brad der Zug 


Der Hetman. 423 


wieder auf und betrat, mit Umgehung der Stadt, den Weg, der 
nad dem Dorfe Duſchnik führte. Die Nievergefchlagenheit ihrer 
Gefangenen war ihnen ein Beweis, daß fie das Rechte gefunden, 
um zu ihrem Ziele zu gelangen. Darum aber erjchrafen fie dop: 
pelt, als nad kaum halbjtündiger Wanderung, da das Dorf 
Duſchnik fchon vor ihnen lag, die alte Zigeunermutter eben fo 
laut aufladhte und fich ihr Geficht eben fo fchnell aufbeiterte wie 
vorhin. Gie folgten ihrem Blide, der an dem Kiefernwalde 
rechts vom Wege hing, konnten aber Nichts entdeden. 

„Was ſiehſt du dort, verfluchte Here?“ fchrie fie Straß an, 
indem er ihr einen unfanften Stoß verfegte. 

„Deinen Schußgeift habe ich geſehen,“ lachte die Zigeunerin 
vol Hohn und Freude, „meinen Schuggeijt, der mir überall 
voraugeilt, um meine Wege zu bahnen und Unheil von meinem 
Haupte abzuwenden. Ihr müßt eilen, wenn ihr ihm zuvor: 
fommen wollt, denn er fliegt rafch wie eine wilde Taube.“ 

So fprechend erhob fie ven Kopf und fchritt vorwärts, als 
wäre fie die Führerin der Schaar. 


weites Kapitel. 


Im Hof der Duſchniker Branntweinbrennerei ſah es wüſt 
aus. Trotz Schnee und Kälte lagen gemeine Koſaken, fowie 
Offiziere, ohne Unterfhied des Nanges auf der Erde und auf 
Bänken in allen Winkeln des weitläufigen Raumes und tranfen 
aus großen Flajchen das ſchlechte Getränk, das ihnen der Jude 
verkaufte, fchlehten, elenden Kartoffelbranntwein. Die in der 
Stube ſchienen die Kälte eben jo wenig zu fürdten, wie ihre 
Kameraden im Hofe, denn die meiften Fenfterfcheiben waren zer: 
brochen oder fprangen eben in Stüde, wenn fich die Zecher in 
ihrer Zuftigfeit gegenfeitig durch das Fenjter leere Flaſchen zu: 
warfen. Selbft auf der Eisdecke des nahen Teiches lagen einzelne 


424 Novellen. 


Gruppen. Nicht Alle zechten; Manche lagen jehon im tiefen 
Schlafe ver Trunfenheit. Der Lärm war groß, doch wurden nur 
wenige Lieder gehört, wohl aber viele Flüche und hie und da 
berzzerreißendes Weinen, denn der Rufje wird im Trunfe jehr 
meinerlich geftimmt. Der jüdiſche Schenkwirth lief geſchäftig hin 
und ber und bediente die Unmäßigfeit, die er jo ſehr verachtete. 
Er war der einzige Nüchterne in der ganzen Menge. Doc war 
diefes Haus die Kommandantur vieler Kofalenpulfe, melde 
mehrere Dörfer der Umgegend erfüllten, denn hier wohnte ver 
Hetman. Man konnte das auch an den vielen Drbonnanzen er: 
fennen, die den ganzen Morgen hindurch in den Hof einritten; 
jchwer aber hätte Jemand den Hetman jelbit in dem Jünglinge 
erfannt, der mit aufgeriffener, unordentlicher Uniform, waffenlos 
und beinahe jo betrunfen wie die Anderen, auf einer Bank vor 
der Thüre lag. Die Ordonnanzen, die fih ihm mit ihren 
Napporten näherten, empfing er mit Flüchen oder mit Bewe— 
gungen, die verfehlten Fußſtößen glihen. Sie erkannten raſch 
jeinen Zuftand und gejellten fich zu den Andern, um die Nüch— 
ternbeit ihre Kommandanten abzuwarten, mittlerweile ein Glas 
zur Erwärmung zu trinken, und fich bald in demſelben Zuſtande 
zu befinden, wie Kommandant und Untergebene. 

Plöglic aber erfchien eine von Ordonnanzen und fonftigen 
Kofalen jehr verſchiedene Geftalt am Thore des Hofes. Obwohl 
fie einen weitfaltigen Rod über ven Kopf gezogen und ihn mit 
einer Hand vor dem Geficht zufammenbhielt, daß man nur zwei 
dunkle Augen hervorleuchten fah, konnte man an der Art, mie 
fie ih an die Thürpfofte lehnte und wie die Falten über ihrer 
Bruft auf: und niederwogten, erfennen, daß fie im höchſten Grade 
ermüdet war und daß fie nur ausruhte, um zu Athem zu fommen, 
Der Jude mußte jogleih, daß der Gaſt eine Zigeunerin mar, 
denn nur die Zigeunerinnen tragen die Röde jo über den Kopf 
geichlagen, daß fie eine große Kapuze und rückwärts einen weiten 
Schnappjad bilden. Er winkte ihr von Weitem, um ihr zu ver: 
ftehen zu geben, daß fie hier Nichts zu fuchen und fich davon zu 


Der Hetman. 425 


machen habe. Auf dieß Zeichen aber jchlug fie ihren Nod etwas 
zurüd, und ein kleines braunes Geficht mit wunderbar großen 
Augen und einem großen Munde, der überaus freundlich lächelte 
und eine unvergleichlich glänzende Reihe von Zähnen fehen ließ, 
fam zum Vorſchein. 

„Biſt du es, Verunka?“ rief der Jude, angenehm überrafcht, 
indem er fich ihr näherte. „Biſt lange ausgeblieben — warit 
wohl nicht im Lande? He? Was zu handeln?" 

„Rein, Nichts zu handeln heute — ein andermal, lieber 
Schime!“ antwortete die junge Zigeunerin — „lage mir fchnell, 
wo ich den Hetman finden kann?“ 

„Den Herrn Hetman mwilljt du finden? Bei Gott, das ift 
nicht jchwer, den Herrn Hetman zu finden. Dort auf der Bank 
vor meiner Thür liegt der Herr Hetman.” 

„Diejes Sind ift der Hetman?“ 

„Sa, dieſes betrunfene Kind ift der Herr Hetman. Wer 
fol e8 denn fein? Irgend Etwas, ein Graf oder ein Fürft, 
darum Herr Hetman. Er foll übrigens ein ſtarker Gibbor 
jein oder Held, mie fi die Koſaken erzählen, wenn fie nicht 
ganz betrunfen find. Sie haben einen fchredlihen Reſpekt 
vor ihm.” 

Die Becher riefen nach einem neuen Trunk, und der Jude 
eilte davon, Verunka blieb an ihrem Poften. Sie betrachtete 
den jchlafenden Hetman mit prüfendem Auge und lächelte. In 
der That hätte der Anblick, abgejehen von der Trunfenheit, Jedem 
gefallen müflen. Es war eine überaus einnehmenve Geftalt, die 
des jungen Hetmans. Obwohl etwas mädchenhaft von wegen der 
lihten Geſichts- und Haarfarbe, der fleinen Füße und der eben 
jo Heinen Hände, von megen der ſchlanken und beinahe zarten 
Glieder, gaben ihm die dunklen Augenbrauen und ebenjo dunklen 
und langen Wimpern, die fih auf den lichten Wangen um jo 
dunkler abhoben, der etwas breite, finnlich ſchwellende Mund 
einen Ausdrud der Entichiedenheit, der durch eine gewiſſe, über 
alle Züge au2gegofjene Melancholie nicht gemindert wurde. Selbit 


426 Novellen. 


aus dem ruhenden, fchlafenden, in der Trunfenheit erfchlafften 
Geſichte konnte man die Möglichkeit tiefer Leidenſchaft und Cr: 
regbarfeit herausleſen. Verunka betrachtete ihn mit zufammen: 
gezogenen Augenbrauen. Offenbar hatte ihre Betrachtung ernitere 
Zwecke al3 die Freude an einem fchönen Gefihte, und gewiß 
mar fie mit dem Ergebniß ihrer Prüfung fehr zufrieden, denn 
ihre ernſt gefaltete Stirne glättete fih bald und fie lächelte, als 
ob fie fih dabei fagte: Ich bin unbejorgt! E3 wird gehen! — 
ALS hätte ihn der geſammelte, fejte Blid der Zigeunerin magne: 
tiſch geweckt, ftredte und dehnte fi der Hetman, wandte ſich ihr 
zu und flug die Augen auf. In dieſem Furzen Momente eilte 
Verunfa auf ihn zu, geſchickt den Echläfern und Zechern auf 
ihrem Wege ausmweichend, wie ſchwebend, al3 ob fie ven Eiertanz 
tanzte. Aber bevor fie bei ihm angefommen, hatte er vie Augen 
wieder geſchloſſen. Sie dachte einen Moment lang nah, dann 
fegte fie fih zu ihm auf die Bank, hob fanft feinen Kopf auf und 
legte ji ihn, näher rüdend, auf ihren Schooß. Dann ftredte 
fie die Hand nad) dem Schnee aus, der auf dem Holzftoß neben 
ihr lag, fühlte fie und legte fie dann leife auf die Stirn des 
jungen Mannes, der im Schlafe vor MWohlbehagen aufathmete. 
Sie wiederholte das mehrere Male, indem fie die Hand immer 
länger auf dem Schnee liegen ließ, biß er endlich die großen 
blauen Augen öffnete. Sie begegneten den dunkelgrünen, von 
langen kohlſchwarzen Wimpern überjchatteten Augen und dem 
lächelnden Munde Verunka's, die fich tief zu ihm hinabbeugte. 
Nah einem lauten Athemzuge blieb er wie gebannt und be 
wegungslos liegen, immer in das wunderbare Geſicht jtarrend, 
das ihm wie ein Traumgeficht erſchien. Ein entſchiedenes Lächeln 
dieſes Gefichtes wedte ihn endlich jo weit, daß er fhüchtern, ala 
ob er feinen Augen noch nicht traue, fragte: „Wer bijt du?“ 
Anftatt aller Antwort legte Verunfa nody einmal ihre küh— 
lende Hand auf feine Stirne. Er faßte und vrüdte fie fefter auf. 
„Das thut wohl!“ feufzte er und fügte dann hinzu: „Sch habe 
dich eben im Traume gejehen, wie du auf dem Schlachtfelde von 


Der Hetman. 427 


Schwyz zwifchen den Leihen bintanzteft. Warft du bei Schwyz 
mit Suwarow? Biſt du der Engel de3 Todes ?“ 

„Rein,“ antwortete ihm Verunka in feiner Sprade, „nein, 
mein gnädiger Herr, ich bin eine arme Zigeunerin.“ 

„Kein,“ fagte der Hetman wieder, „du bijt ein Engel, aber 
ich weiß nicht, ob du ein guter oder böſer Engel bijt.“ 

„Dein gnädiger Herr, ich bin eine Zigeunerin.” 

„Schweig!” rief der Hetman zornig, „und mwiderfprich nicht !“ 

Er erhob fih halb und betrachtete figend die Zigeunerin, 
die bei feinem Zornesausbrud die Augen nievergeihlagen hatte, 
von Kopf zu Fuß. Die Zorneswolfe verſchwand mieder von 
feiner Stirne und er fagte mit Lächeln: „Fürchte dich nicht! du 
bift jo ſchön, wie ich die Tage meines Lebens Nicht gefehen 
habe! So ſchön wie heute bin ich noch nicht erwacht! Und meine 
Sprade ſprichſt du auch! Bift du eine Botin meiner Heimat? 
Mo haft du meine Sprache gelernt?” 

„Am Don, gnädiger Herr, wo ich geboren bin. Ich bin die 
Prinzeflin vom Don.” 

„Die Prinzeflin vom Don!“ lachte der Hetman, fügte aber 
gleich wieder fanfter hinzu: „Du fennft ven Don und die Steppen, 
meine Heimat kennſt du? Ach, ich werde fie nie wiederſehen!“ 

„Nein, du wirft fie nie wiederſehen!“ bejtätigte Verunka in 
feierlihem Tone. 

Der Hetman ſprang erſchrocken auf und blidte ihr entjegt 
in die Augen. „St es wahr?“ rief er, „prophezeift du? Sit es 
wahr, was ich ahne, feit ich die Steppen verlajlen habe ?“ 

„Es ift wahr!“ ſagte Verunfa traurig. 

Der Hetman verbarg jeine Augen in beide Hände und 
meinte. 

„Ich werde auf dem Schladhtfelve fallen?” fragte er dann. 

„Rein, du wirjt leben; aber die Liebe wird dich der Heimat 
vergefien lafjen.” 

„Niemals!“ rief der Hetman, ich weiß Nichts won Liebe.” 

Er jprang von der Bank auf und ging einige Male im Hofe 


428 Novellen. 


auf und nieder. Nach wenigen Sekunden hielt er wieder vor der 
Bigeunerin und fragte: „Rannft du wirklich prophezeien ?” 

„So weit id es von meiner Großmutter gelernt habe.“ 

„So jage mir mehr,” flehte der Hetman. 

„Ih kann nicht,” verficherte die Zigeunerin; „warte, bis 
meine Großmutter fommt, die ſieht jo Har in die Zukunft wie in 
den gejtrigen Tag.“ 

„Bo ift fie, deine Großmutter?” fragte der Hetman ungebulovig. 

„Sleih wird fie da vor dir um das Haus biegen, von 
dummen Bauern umgeben, die fie al3 Gefangene berbeijchleppen, 
damit du ihren Büttel macheit, du, der Hetman der Koſaken, — 
daß du meine arme alte Großmutter prügeln lafjeit, du, ver 
Edelmann. — Wie heißt du, Hetman ?“ 

„Merei Petrowitſch,“ antwortete der Hetman. 

„Alerei Petrowitſch, mein Väterchen,” fuhr die Zigeunerin 
mit zartjchmeichelnder und unterthäniger Stimme fort, „wirft du 
meine Großmutter prügeln lafjen, weil fie ven dummen Bauern 
ein Huhn geftohlen? Meine Großmutter ift am Don geboren, 
wo du zu Haufe bift, Alerei Petrowitſch.“ 

„Ich werde fie nicht prügeln laſſen, du Here, weil du e3 
willjt und weil du mich bezauberft mit deinen Augen und mit 
deiner Stimme — aber, willſt vu mich dafür belohnen, fo gebe 
ih dir noh mas dazu und laſſe die Bauern, die fie herbei: 
ſchleppen, durchprügeln, fo lange e3 dir Freude macht. Bleibe 
bei mir, Here; wie ift dein Name“ 

„Verunka nennen fie mich, aber mein eigentliher Name ift 
Prinzeſſin vom Don.“ 

„Bleibe bei mir, Verunka,“ flehte der Hetman, indem er 
feinen Arm um ihren Naden fchlang, „ic langweile mich jchred: 
(ih mit meinen Koſaken — und du bift fo ſchön — ich will dich 
lieben — ic will di niemals prügeln — die fhönjten Kleider 
will ich den Weibern diefer ganzen Gegend wegnehmen laffen und 
dir ſchenken — meine Kofafen jollen dich behandeln wie eine 
Prinzefiin — Sei gut —“ 


Der Hetman. 429 


„Hier kommen die Bauern,“ fiel ihm Verunfa ins Wort, 
„zeige mir deinen guten Willen.” 

Der Hetman fprang wirklich raſch vom Site auf, jtieß einige 
Koſaken, die ihm zunächſt lagen, mit dem Fuße an, daß fie auf: 
jprangen und fih umſahen, als ob fie vom Feinde überfallen 
würden. Andern, die wachend bei ihren Gläfern jaßen, rief er 
einige Kommandoworte zu, und ſogleich ftürzte ſich ein ganzer 
Haufe auf die Bauern, die eben in den Hof traten und entjeßt, 
fih fo empfangen zu fehen, auseinanderftoben, Aber jchon 
tegnete es Hiebe auf ihre Köpfe und Schultern. Die alte Zigeu: 
nerin, um ſich den dichtfallenden Schlägen zu entziehen, Fauerte 
auf dem jchneeigen Boden; Berunfa war herbeigefprungen, um 
die Großmutter zu ſchützen und beugte ſich über fie, während der 
Hetman in ähnlicher Stellung neben ihr ftand, um fie ebenfalls 
zu ſchützen. Verunka drehte den Kopf nah ihm zurüd und ſah 
ihn mit dankbarem Blide an, und mwährend Gefchrei und Ver: 
wirrung rings um die Gruppe herrſchten, drüdte der Hetman 
einen Kuß auf ihre Lippen und e3 war, als ob ihn dieſe magnetifch 
anzögen, denn er ſchlang beide Arme um ihren Hals und drückte 
fie immer feſter an fi, bis er am ganzen Leibe zu zittern be: 
gann und plöglich, als ob ihn die vorige Trunkenheit wieder er: 
griffen hätte, bewegungslos zu ihren und der alten Zigeunerin 
Füßen niederſank. Diefe murmelte ihrer Enkelin, welche ſich zu 
dem Hetman niedergebeugt hatte, ins Ohr: „Das ift ein Kind — 
mit dem fannjt du machen, was du willſt.“ 

Die fliehenden Bauern hatten indefjen die Koſaken nad) fi 
gezogen, und die Gruppe blieb allein auf dem Hofe. Verunka 
bemerkte das, blidte um fi, beugte fih dann zu dem halbbes 
täubten Jünglinge nieder und flüfterte ihm ins Ohr: „Auf 
Wiederſehen, Alerei Petrowitſch!“ Einen Augenblid darauf lief 
fie fliegenden Schritte den Hügel hinan; ihr folgte die Groß: 
mutter beinahe eben fo rafh, und nad einer halben Minute 
waren Beide hinter den Häufern des Dorfes verſchwunden. 

Der Hetman erwachte erft, als die Koſaken mit Lärmen auf 


430 Novellen, 


den Hof zurüdfebrten. Ein jeliges Lächeln ſchwebte auf jeinen 
Lippen, wie im Traume ftredte er beide Arme aus; da er aber 
nur kalte Luft umarmte, jprang er zornig auf und fah fragend 
nach allen Seiten. „Verunka!“ rief er laut ind Haus und dem 
Dorfe entgegen. Plötzlich wurde er milder und juchte fich zu er= 
innern. „Auf Wiederjeben, Alerei Petrowitſch!“ Hang es noch 
in jeinen Ohren und lächelnd ging er wieder zu feinem vorigen 
Site zurüd, ftredte fih aus und ſchloß die Augen, um zu 
träumen. Der glüdlihe Ausdruck verſchwand bald von feinem 
Geſichte und wich einem überaus melandolifhen. „Soll ich den 
Don und meine Heimat nie wiederfehen 2” feufzte er vor fich hin 
und verjanf in traurige Hinbrüten. Nach einiger Zeit aber 
erhob er jich wieder, machte eine Handbewegung vor der Stirne, 
als ob er verächtliche, feiner unwürdige Gedanken verjagen wollte 
und fagte laut: „Bin ich nicht Alerei Petrowitſch, der zivilifirte 
Menih? Habe ih nicht Voltaire und Roufjeau gelefen? Welcher 
gebildete Menſch glaubt heute noch an Prophezeiungen und an 
Bigeuner? Aber,“ fügte er nach einiger Zeit bedenklich hinzu, 
„es ijt heute Freitag, meine Liebe für Verunka beginnt an einem 
Freitag — das fann nur fhlimm enden. Ich will dem Teufel 
einen Streich fpielen und fie vergeflen.“ 

Er befahl einem Koſaken, fein Pferd zu fatteln, einem andern, 
jeine Baradeuniform zu bereiten und ging entſchloſſenen Schrittes 
ins Haus, 


Drittes Kapitel. 


In dem eine Stunde von Duſchnik gelegenen Schloſſe Hlu: 
boſch mar große Geſellſchaft; Graf Schönborn hielt es für feine 
Pfliht, Felt auf Feit folgen zu laſſen, um die Bundesgenofjen 
jeines Kaiſers, welche feit Wochen in der Gegend lagerten, jo 
oft wie möglich bei ſich zu bewirthen. Sein Schloß, aus den 
Zeiten Ludwigs XIV. ftammend, mar zu großen eitlichfeiten 


Der Heiman. 431 


ganz geeignet. Die Empfangsiäle jchloffen ſich unmittelbar an 
große Treibhäufer an, die im Winter von den herrlichiten Pflanzen 
aller Zonen erfüllt waren, und an dieſe wieder fügte fich ein ges 
waltiger gejchlofjener Raum, deſſen Wände aus Felsblöden be: 
ftanden, daß man fih da in einer wilden Felſenſchlucht zu be: 
finden glaubte. Die Felſen bildeten vielfache verftedte Winkel 
und Grotten, die, mit Schlingpflanzen übervedt, hie und da 
von einem murmelnden Waſſerfaden, wie von einer Quelle mit 
angenehmem Geräufch, erfüllt waren. ‚Die Treibhäufer und der 
Felfenfaal waren der Lieblingsaufenthalt der Gefellihaft. Sie 
waren jo mweitläufig, daß fich dafelbjt Hunderte von Gäſten zer: 
jtreuen und in einzelne Gruppen vertheilen konnten, ohne von 
den Andern gejtört oder belaujcht zu werden. Dieß war bei dem 
Zuftande, in welchem fich die gewohnte Gejellichaft des Grafen 
Schönborn feit einigen Wochen befand, jehr wünjchenswerth, 
denn die fremden Offiziere ftanden zu den Damen diejer, an 
Schlöffern und Eveljigen jo reichen Gegend bereits "in folchen 
Beziehungen, denen ftille Winkel, in die man fich zurüdziehen 
und Liebesworte austaufchen konnte, ſehr willlommen maren. 
Es jtörte nicht, wad man in der ganzen Umgegend von den 
Wildheiten und Ausfchweifungen der Bundesgenofjen erzählte; 
e3 war ein großer Unterjchied zwiſchen Gemeinen und Offizieren, 
oder e3 war wenigitens ein großer Unterfchied zwijchen den Offi— 
zieren in ihrem Benehmen gegen die armen Einwohner de3 Lan: 
des und zwilchen den Offizieren und ihrem Benehmen, wenn fie 
al3 Gäjte in den Schlöſſern erjchienen. Die Meijten von ihnen 
ſprachen etwas Deutfch und vortrefflih Franzöſiſch; fie waren 
überaus fein in ihren Manieren und höchſt zuvorlommend gegen 
die Damen — und endlich waren fie Alle adelig, und Viele von 
ihnen trugen ftolze Fürftentitel. Der Beliebtefte unter ihnen war 
unftreitig Alerei Petrowitſch, Fürſt von Nafumoff, den jelbit 
jeine Borgefegten, Oberfte und Generäle, mit großer Rüdjicht 
behandelten. Er mar anerlannt der ſchönſte Offizier des ganzen 
Armeekorps; Keiner nahm fich zu Pferde fo elegant aus wie er. 


432 Novellen. 


Schon fo frühe Hetman, prophezeite man ihm eine rajche und 
glänzende Garriere um fo lieber, als er feinen im Verhältniß zu 
feinem Alter hohen Rang, wie es mwenigftens den Anjchein hatte, 
nicht blos feinem Fürftentitel, fondern auch verſchiedenen Be 
weiſen der Tapferkeit verdankte, die er in den Schlachten Suwa— 
row3 auf dem Gotthard und bei Schwyz ablegte. Außerdem 
war er, was man unter den Adeligen Böhmens „höchſt gebildet“ 
und unter feinen Landsleuten „eivilifirt” nannte Cr mar 
von einer deutfhen Amme und einem franzöfifhen Hofmeifter 
erzogen, und man bewunderte an ihm eine große Belejenheit und 
eine Konverfation, von der man fagte, daß fie eines PBarijer 
Salons würdig wäre. Im Schloſſe des Grafen Schönborn war 
er befonder3 beliebt, denn der Graf Schönborn hatte eine arme 
Nichte, Gräfin Emilie Ginetz, die aus ihrer Liebe zu Alerei nad 
der damals herrſchenden Sitte fein Hehl machte, und der Graf 
wäre jehr froh gewejen, wenn der Hetman, der für ziemlich 
leihtjinnig galt, die Nichte ohne Mitgift auf die Croupe feines 
Pferdes genommen hätte und mit ihr in den Steppen am Dor 
verſchwunden wäre. Man behauptete darum auch, daß die Felte, 
die er den rufjiichen Offizieren gab, vielmehr eine Schlinge für 
Alerei al3 ein Beweis für den Patriotismus de3 Grafen und 
jeine Liebe zu den Bundesgenojien fei. 

Gräfin Emilie ſah übrigens gar nicht darnach aus, als ob 
man viele Schlingen zu legen braudte, um einen Mann für fie 
einzufangen. Ihre jhönen, aus diden Wimpern ſehnſüchtig und 
lächelnd zugleich hervorblidenden Augen warfen der Nee genug, 
denen ſchwer zu entgehen war. Diefe Augen wurden außerdem 
durd ein Geſpräch unterftüßt, durch eine Redekunſt, die ein holdes 
Gemisch von Verftand und romantischer Schwärmerei war, und 
jelbjt wenn fie ſchweigend auf einer der fteinernen Bänke in einer 
der Grotten des Felſenſaales hingegoſſen lag, madte fie den 
Eindruck einer unwiderſtehlich lodenden Nymphe. Wenn fie dem 
Hetman von feinen Steppen am Don ſprach, glaubte er jelbft, 
daß dieje ſchöner feien, als die herrlichften Gegenden der Schweiz, 


Der Hetman. 433 


die er in Suwarows Heere kennen gelernt, und wenn fie ihn 
jelber reden ließ und immer nur aus ihm hervorlodte, wovon 
fie wußte, daß er es gelernt oder gelejen hatte, hielt er ich für 
einen der gebilvetiten Menſchen des Jahrhunderts. Er war ihr 
für dergleichen überaus dankbar, in ihrer Geſellſchaft fühlte er 
fih am mohlften, und e3 mwar beinahe feinem Zweifel mehr 
unterworfen, daß Graf Schönborn mit ihm feine Zmwede erreicht 
haben were. 

Die Sahe ſchien abgemadht, und Niemand nahm es der 
Gräfin Emilie übel, daß fie, die Einſamkeit ſuchend, in einem 
Mintel des Felfenfaales lag und die ganze Gejellihaft vernach— 
läfligte, fo lange Alerei Petrowitjch fehlte Der Verdruß, der 
fih über fein langes Ausbleiben auf ihrem ſchönen Gefichte deut: 
lich genug ausdrückte, war nur ein Zeichen ihrer Liebe, und vie 
“ jüngjten Offiziere waren nicht beleidigt, fich mit Eurzen Worten 
abgejpeist und Gräfin Emilie erjt lächeln zu ſehen, als der Be 
diente den Fürften Nafumoff ankündigte. 

Alerei trug feine glänzende PBaradeuniform, auf der Bruft 
die großen Sterne des Annen: und Wladimir-Ordens, aber auf 
dem Gejichte nicht die lächelnde Heiterfeit, die man in Gejellichaft 
an ihm gewohnt war. Auch dankte er kurz den Gäften, die ihn 
rechts und links empfingen, und ging wie ein Träumer durch 
die Säle und Gewächshäuſer. Man fand das natürlih, denn 
er ſuchte augenscheinlich das ftile Vläschen auf, wo er mit Emi— 
lien zu plaudern pflegte und wo fie in der That auch ſchon wartete. 
Aber Alerei ging auch bier worüber und geraden Weges immer 
weiter, bis wo die Felswand feinen Weg abſchnitt. Gedankenlos 
fehrte er um und wanderte den ganzen langen Weg wieder zurüd, 
ohne Emilien nur bemerkt zu haben. Die Damen fragten ſich, 
was das bedeuten möge, feine Kameraden meinten, er werde 
beute zu viel getrunfen haben. Gräfin Emilie erhob fi ärger: 
ih und fnüpfte mit dem erften, beften Gafte ein Gefpräd an 
und erhigte jih bald fo jehr, daß man fie höchſt erzürnt glaubte, 
Ale Welt blidte fie mit Staunen an, nur Alerei nicht, der ſich 

Morig Hartmann, Werke. VI. 28 


434 Novellen. 


nad langem Hin» und Herwandern endlich hingefegt, das Kinn 
in die Hand geftügt hatte und mit weit offenen Augen, ohne zu 
jehen, vor fih hinftarrte. Emilie, wie ſehr fie bei ihrem Gegen- 
jtande zu fein ſchien, beobachtete ihn doch fortwährend, und jo 
bemerkte fie auch, daß er die Lippen bewegte und von Zeit zu Zeit 
bald leife, bald lauter Etwas vor ſich hinmurmelte. Sie näherte 
ſich unmerklich, und da er wieder zu Sprechen anfing, ſchwieg fie 
plöglih, und fie und die nächjte Umgebung hörten deutlich, wie er 
kopfſchüttelnd und mit einer gewiſſen Zärtlichkeit in der Stimme 
vor fich hinlispelte: „Auf Wiederfehen, Alerei Betromitich !“ 

Emilie und die Geſellſchaft lachten fo laut auf, daß Alerei 
aus feinem Hinbrüten erwachte und fich erftaunt umſah. Emilie 
ließ fich diefe Gelegenheit nicht entgehen, ihn anzureden, da es 
auch den Anſchein haben konnte, als ob fie ihm nur einen Ge, 
fallen erweifen und ihn aus feiner Verlegenheit reißen wolle. — 
„Fürſt Naſumoff,“ rief fie, „Sie haben geträumt und au3 dem 
Traume geſprochen.“ 

„Ja,“ antwortete er, ſtand auf und verneigte ſich vor der 
Geſellſchaft, wie zur Entſchuldigung für ſein bisheriges Benehmen, 
ſchüttelte den Kopf, als wollte er in der That einen Traum ab: 
ſchütteln, und fügte lächelnd hinzu: „Sch habe einen Traum ge: 
habt, ich weiß nicht, ob gut oder bös, aber es fcheint mir, als 
wär’ e3 ein prophetijcher Traum gemefen.” 

„Sie find alfo doch abergläubifcher, als Sie zugeben wollen,” 
lachte Emilie. „Da3 vorige Mal, als ich Ihnen einen Traum 
erzählte und ihn von Ihnen gedeutet haben wollte, haben Sie 
mich ausgelaht und mir ſehr gelehrt bewiejen, wie die meilten 
Träume vom Nachteſſen abhängen, oder vom Buche, das mir 
im Bette lejen.” 

„Allerdings ,” erwiederte Alerei, „allerdings ift es jo, aber 
man träumt manchmal fo lebhaft, daß der Traum die Bedeutung 
eines Erlebnifje3 erhält, und wieder erlebt man mandmal jo 
fonderbare Dinge, daß man fie einen Augenblid fpäter für Traum: 
erſcheinungen halten möchte.” 


Der Hetman. 435 


Das Gefpräh, einmal begonnen, floß fo lebhaft fort, wurde 
von Alerei in fo gebilveter und feiner Weife fortgeführt, und 
dabei benahm er fich fo rückſichts- und formvoll gegen Alle, vie 
jih in das Geſpräch mifchten, daß es ſchwer geweſen wäre, in 
ihm denfelben jungen Menſchen zu erkennen, der heute Morgen, 
vom Branntwein beraufcht, inmitten berauſchter Koſaken von 
der Zigeunerin gefunden und gewedt worden. Wer ihn in beiden 
Lagen geſehen hätte, würde fich gejagt haben müſſen, daß in 
diefer zarten und ſchönen Geftalt zwei von einander verfchiedene 
Menfhen, zwei einander ganz unähnlihe Seelen wohnten; ja, 
er follte diefe Vorausſetzung noch in derjelben Stunde beftätigen, 
denn mit einem Male brad er das Geſpräch ab, wandte ver 
Gräfin Emilie und den Gäſten, die fih um fie gruppirt hatten, 
den Rüden, und ftarrte plöglic ftumm und regungslos in das 
anftoßende Glashaus, aus dem ihm der Schall eines Tambouring 
entgegentönte. „Da ift fie!” rief er jubelnd aus und eilte hinein, 
wo fich bereit3 ein großer Theil der Geſellſchaft verfammelt hatte, 
um die Zigeunerin Verunka tanzen zu jehen. 

Graf Schönborn, immer darauf bedacht, feine Gäfte aufs 
Angenehmfte zu unterhalten, hatte die Zigeunerin, von deren 
Schönheit und Anmuth im Tanze in der Gegend viel geſprochen 
wurde, für diefen Abend engagirt. Sie erſchien in einem phan- 
taftifchen Anzuge von rothem und ſchwarzem Sammet, der mit 
Golpflittern bevedt war. Zarte Bruft und Schultern, beide tief 
gebräunt, aber von einem feinen Goldglanze bevedt, blidten aus 
dem Mieder hervor, während ein kurzes Röckchen andere an: 
muthsvolle Formen, eine überaus feine Fefjel über zartem Füß— 
hen, jehen ließ. Sie jtand in der Nähe von Palmen und Mor: 
then, ſchlug ihr TZambourin über dem Kopfe und bewegte nur 
ihren Oberkörper janft hin und ber. Die ganze Geſellſchaft blidte 
fie mit außerordentlicher Theilnahme an und fchien es nicht ers 
warten zu können, daß die Zigeunerin den eigentlichen Tanz bes 
ginne. Die Männer lächelten unmwillkürlich, und offenbar ermwedte 
e3 in ihnen ein angenehmes Gefühl, wenn Berunfa, von Einem 


436 Novellen, 


zum Andern blidend, ihr Auge auf ihnen ruhen ließ. Aber es 
fiel ihnen au auf, daß von dem Momente an, da fie Alerei 
anſah, ihre Blide die Wanderung einjtellten und auf feinem 
Gefichte haften blieben. Ein Läheln, wenn au bei Manchem 
fih der Neid dahinter verjtedte, verbreitete fih über alle Ge 
fichter, und man bewunderte das geübte Auge der Zigeunerin, 
das fo rafch den ſchönſten Mann der Gefellfchaft herausgefunden 
hatte. Emilie allein ahnte, daß fich Alerei und die Tänzerin bier 
nicht zum erften Male jahen, denn, neben ihm ftehend und ihn 
aufmerfjam betrachtend, hörte fie, wie er, al3 ihn das Auge 
Verunka's traf, abermal3 wie vorhin: „Auf Wiederſehen, Alerei 
Petrowitſch!“ lispelte. Raſch flog ihr Blid zur Zigeunerin bin: 
über, und e3 war ihr, als ob der Name Alerei Petrowitſch aud 
auf ihren Lippen ſchwebte. Es dauerte feine Minute und ver 
Hetman nahm die Aufmerkjamleit der Gefellihaft weit mehr in 
Anspruch als die Tänzerin, troß ihrer Anmuth. Dieſe bewegte 
fich jegt, das Tambourin ſchlagend, in beinahe wilden Kreifen 
durch den offen gelaffenen Raum; jeder ihrer Bewegungen folgte 
der junge Mann mit Bliden, die verjteinert jchienen, während 
feine Bruft fich tief athmend auf» und niederhob und jeine 
Nüftern wie bei einem Pferde edler Race fich weit öffneten. Ein 
Lächeln überflog fein Gefiht, als fi ihr Tanz plögli in einen 
Kofalentanz verwandelte Die andern anmejenden ruflifchen 
Dffiziere Hatjchten in die Hände und freuten fich diefer Erinne— 
rung an ihre Heimat. Manche zogen Dulaten aus der Taſche 
und warfen fie auf den Boden vor Verunfa hin. Alexei aber 
ftand regungslos, nur daß ſich fein Oberkörper unmerflih nad 
und nad) vorwärts beugte, bis er weit vorgebüdt und aus der 
Reihe ver Zufchauer hervorragend daſtand. Hie und da börte 
man ein bald lautes, bald unterbrüdtes Lachen, welches viejer 
in der That komiſchen Geberde galt. Alexei aber hörte nichts. 
Er lachte wohl aud einmal auf, al3 Verunka mit großer Ge: 
ihidlichkeit, und mit noch größerer Beratung in ihrem Mienens 
jpiele, mit den Spigen ihrer Füße die hingeworfenen Gold: 


Der Heiman. | 437 


ftüde von fich fchleuderte, daß fie zwifchen den Füßen ver Bu: 
Schauer und den aufgeftellten Gartentöpfen verſchwanden. Es 
ſah aus, al3 müßte er das Gleichgewicht verlieren und vorn hin: 
fallen, wenn man ihn nur leife berübrte; vielleicht dachte und 
beabfichtigte das auch die Gräfin Emilie, al3 fie mit verhaltenem 
Herger und grimmig lächelnd zu ihm fagte: „Wenn Sie mit 
der Zigeunerin tanzen wollen, fo thun Sie e8 doch — geniren 
Sie fih nit,” und al3 fie bei diefen Worten ihn am Arme 
faßte und leife vorwärts ftieß. Alexei fiel nicht, aber er folgte 
der Aufforderung der jungen Dame, fprang mit einem Satze 
vorwärts und tanzte plößlich, zur größten Ueberraſchung der Ges 
jellichaft, feinen heimatlichen Tanz mit der Zigeunerin. 

Die ruffiihen Offiziere lachten, mande applaudirten; die 
einheimifchen Säfte murmelten. Gräfin Emilie wandte Jid) ent- 
rüftet um und verließ den Saal; das Alles kümmerte den Het: 
man nicht, für ihn war nur die Zigeunerin da; auf feinem Ge: 
fihte malte ſich die höchſte Leidenschaft; er verjchlang fie mit 
feinen Augen, und es war offenbar, daß außer ihr nichts, 
weder die Gefellfhaft noch die Welt, für ihn vorhanden war. 
Die Gäſte hatten diefen Ausdrud kaum bemerkt und unter ein: 
ander zu ziiheln angefangen, al3 ihnen ſchon eine neue Ueber: 
rajhung bereitet war. In dem Augenblide, da Alerei ih, den 
Touren des Koſakentanzes folgend, der Zigeunerin näherte, faßte 
er jie um den Leib, und einen Augenblid fpäter war er mit ihr 
aus der Gejellihaft verſchwunden. Mit erjtaunlicher Kraft und 
Glafticität hatte er fie an feine Bruft gehoben und mit einer 
Schnelligkeit, die keine Befinnung auffommen ließ, die Reihen 
der Zufchauer durchbrochen. Bald waren feine Schritte und das 
Geflirre feiner Sporen im entfernteften Vorfaale verklungen, und 
als ſich einige feiner Kameraden faßten und ihm lachend nad: 
eilten, ſchwang er fi ſchon im Hofe mit der Zigeunerin auf ein 
Pferd und fort galoppirte er mit ihr durch die Nacht, wie Emilie 
wünjchte, daß er fie entführen folle. 

Emilie fam in dieſer Nacht nicht wieder zum Vorfchein. 


438 Novellen. 


Graf Schönborn, der feine Pläne vereitelt ſah, war entrüftet 
und fonnte feinen Aerger nicht verhehlen, als er jah, wie bie 
Kameraden Alerei’3 die Sache fo leicht nahmen und als einen 
berrlihen Koſakenſtreich rühmten und belachten. 

Nur einer der rufliihen Offiziere, und zwar ein Oberft und 
Vorgefegter Alerei’3, jhien die Sache erniter zu nehmen, und 
alle feine Kameraden mußten, was den Oberften Nicolajeff be: 
wog, ein jo ernftes Gefiht zu machen. Er war, feit die rufli- 
ihen Offiziere in das Schloß Hluboſch kamen, bei Emilien ver 
Nebenbuhler Alexei's. Seit einiger Zeit hatte er e8 aufgegeben, 
mit ihm zu rivalifiren, denn wenn er fi auch nicht jagte, was 
Jedermann dachte, daß feine lange Don Quixote-Geſtalt mit 
dem magern braunen Gefichte, deſſen Haut ji von oben nad) 
unten in lange, unzählige Falten legte, nicht gemadt fei, den 
ihönjten Offizier des ganzen Armeekorps auszuftehen, jo ſah er 
doch ein, daß er hinter dem jüngern Alexei, hinter feinem 
Fürftentitel, hinter feinen Orden und hinter der prophezeiten 
großen Carrière zurüditehen müſſe. Jetzt, da fein Nebenbubler 
das Haus auf eine Weife verließ, die an feine Rückkehr zu denken 
erlaubte, und da er Emilien die Geſellſchaft im höchſten Zorne 
verlafjien ſah, glaubte er die Zeit gefommen, um jeine Ber 
werbung wieder aufzunehmen. Während die andern Offiziere 
noch lachten und die übrige Geſellſchaft ſich über den erlebten 
Skandal unterhielt, trat er leife au dem Gewächshauſe in ven 
Felſenſaal, wandte fich fogleich der verborgenften Grotte zu und 
fand dort, was er ſuchte- Emilie faß da und meinte Thränen 
des Zornes. 

„Gräfin,“ fagte Oberft Nicolajeff, indem er vor ihr ftehen 
blieb und die linfe Hand an den Degengriff legte, „Gräfin, Sie 
haben einen Affront erlebt. E3 reicht für mich hin, Sie eine 
Minute lang geliebt zu haben, um jet die Pflicht der Züchti- 
gung, der Rache an jenem Knaben zu übernehmen. Sie haben 
meine Liebe verfhmäht, verſchmähen Sie die Dienfte meines 
Degen nicht.“ 


Der Hetman, 439 


Oberſt Nicolajeff war nicht3 weniger al8 ein Don Quirote, 
aber e3 war ihm Recht, daß ihn feine Geftalt dazu jtempelte und 
daß ihn Jeder für den Typus eines irrenden Ritters hielt. Das 
gab ihm ein gewiſſes Anfehen und feste Muth und Tapferkeit 
voraus. Seiner Rolle gemäß feste er auch feine Worte und er 
liebte es, ritterliche Gefühle auszudrücken, bütete ſich aber dabei 
vor Uebertreibung, welche die Wahrhaftigkeit feines Weſens in 
zweifelhaften Lichte hätte erfcheinen laffen. Gräfin Emilie war 
aus hoher Familie, er felbjt der Sohn eines geadelten Armee: 
lieferanten, was ihm in der rufjifhen Armee eine unangenehme 
Stellung bereitete. Eine Frau von altem Adel, wie Emilie, war 
das höchſte Ziel feines Ehrgeizes; ihre Armuth fehredte ihn nicht 
ab, da er von Haufe aus ein großes Vermögen bejaß, und 
Graf Schönborn, ihr Onkel, konnte ihm den Uebertritt in die 
öfterreichifche Armee, wo man feine Vergangenheit nicht kannte, 
wo aber der Name feiner Frau in hoben Ehren ftand, erleich: 
tern. Diefe Berechnung führte ihn bald nad) feiner Ankunft in 
diefer Gegend zu den Füßen Cmiliend, und führte ihn jeßt 
wieder al3 ihren Ritter und Rächer zurüd. Cmilie, die ihre 
Pläne auf den Hetman und Fürften gejcheitert und ſich außer: 
dem bloßgeftellt ſah, fagte fih raſch, daß fie den eriten beiten 
Erſatz ergreifen müfje, und ungefähr eben jo berechnend, mie 
ihr Ritter, ließ fie ihre Thränen noch reichlicher fließen, blidte 
ihn mit gerührter Dankbarkeit an, und die Hand nad) der feini: 
gen ausſtreckend, lispelte fie: „Meine Liebe für eine blutige 
Rache!” 

Nicolajeff verneigte ſich mit ehrerbietigem Gefichte und that, 
als wollte er fi, ihr unterthäniger Diener, wieder entfernen, 
nachdem er ihre Meinung entgegengenommen, als wollte er ſich 
viefer Liebe erft freuen, wenn er den Preis der Rache dafür ge: 
liefert; aber Emilie faßte feine Hand aufs Neue und zog ihn zu 
fih auf ihren Sig herab. 


440 Novellen. 


Viertes Kapitel. 


Nicht Alerei lenkte die Zügel des Pferdes, auf das er fi 
mit Verunka geſchwungen hatte. Er warf fie ihm auf den Naden 
und ließ e3 dahinlaufen, gewiß, daß e3, wie immer, ind Quar: 
tier zurüdfehren werde. Bedurfte er doch der Freiheit beider 
Arme, um die Zigeunerin zu umſchließen und an feine Bruft zu 
vrüden. Diefe aber, während jie in feinen Armen lachte, ergriff 
die Zügel und leitete das Pferd nad ihrem Willen. Alerei, im 
Raujche feines Glüdes, bemerkte nicht, daß fie, anftatt dur 
die Allee dem Dorfe Duſchnik entgegenzureiten, ſich immer tiefer 
in jene Gegenden. des Waldes verloren, die man die neue Welt 
nennt, weil man erjt vor nicht langer Zeit durd dicht verwach— 
jene3 Urgeftrüpp dahin vorgedrungen war. Der rhythmiſche 
Hufſchlag feines Pferdes, die Lieblojungen der Geliebten bes 
rauſchten ihn jo fehr, daß er es nicht fühlte, wie fie endlich in 
ein Didicht drangen, wo die Zweige an fein Geficht ſchlugen und 
Geſtrüpp jeine Kleider in Fetzen riß. Erſt al3 das Pferd plöglich 
inne hielt, erwachte er aus jeinem Traume und glaubte wirklich 
in einer neuen Welt angefommen zu fein. Er befand fi in einer 
Maldlihtung, die ringsumber von einer uralten Vegetation, wie 
von einer undurhdringlichen Dauer, umgeben war. Er jah jich 
um und konnte bei dem hellen Scheine de3 Mondes, des Schnees 
und der vielen Feuer, die auf dem Plage brannten, nicht die 
Stelle erfennen, an der er aus dem Didicht hervorgebroden. 
Baumzmweige und Geftrüpp hatten fich wie eine Thür hinter ihm 
geichloffen. Nicht weniger überrafchte ihn das Schaufpiel, das 
jih ihm auf dem meiten fchneebededten Bühel darbot. Wir 
Heine Hügel erhoben fich unmittelbar aus der Erde an fünfzehn 
bis zwanzig Dächer, welche über breite Gräben gededt waren 
Bor dem Eingang einer jeden ſolchen Kellerwohnung, in di 
man von außen bliden konnte und die alle gegen Süden gekehrt 
waren, brannte ein großes Feuer, welches das Innere der 


Der Hetman. 441 


Bigeunerwohnungen erhellt. Drinnen, bunt durcheinander ges 
miſcht, lagen Männer, Weiber, Kinder und allerlei Vieh. Nur 
eine der halb unterirviichen Hütten, die größer war als die an— 
dern, ſchien leer, und in viele führte die Zigeunerin ihren Gaft. 
Als er eintrat, erhob fich in einem Winkel die Alte, die er dieſen 
Morgen aus den Händen der Bauern befreit hatte. 

Das Abenteuerliche feines Nittes, und der romantische An: 
blif des Zigeunerlagers hatten Alerei’3 aufgeregte Lebensgeiſter 
noch mit einer Art poetiſcher Heiterkeit erfüllt; e3 war ihm, als 
wäre er in ein Mährchenland eingeritten, wo ihn nur Glüd er: 
wartete. Von Verunfa über die Schwelle ihrer Hütte geführt, 
fühlte er fih, in der Vorahnung unendlicher Freuden, von 
Wonneſchauern durchriefelt. Aber der Anblid der alten Zigeuner: 
mutter, und wie fie fih in ihrem Winkel aus den Deden und 
Hüllen berausmidelte, erfüllte ihn plöglich wieder mit Trauer. 
Er dachte an die Prophezeiung Verunfa’s, daß er feine Heimat 
nicht wiederfehen folle und daran, daß die Alte noch beſſer in 
die Zufunft bliden und fein trauriges Loos noch bejtimmter er: 
fennen könne. Es flog ihm durch den Sinn, fie fogleich zu be: 
fragen ; er legte die Hand auf beide Augen und dachte nad. 
ALS er wieder aufblidte, entjchloffen, feine Frage zu thun, um 
ich das gehoffte Glück nicht zu ftören, war die Zigeunermutter 
aus der Hütte verſchwunden. 

Ungefähr um dieſelbe Stunde ritt die lange Geftalt Oberft 
Nicolajeffs dem Dorfe Duſchnik zu. Neben ihm trabte auf klei— 
nem Pferdchen jein dider Kapitän Veragin, den man jchon 
darum, meil er immer in Gejellichaft des langen Oberjten zu 
finden war, feinen Sancho Panſa nannte. Diefer fchien mit dem 
nächtlichen Ritte nicht ganz zufrieden und ſah mit verbrieklichem 
Gefichte über die fchneebededte Landfchaft hin. Anfangs wollte 
er feine Meinung über diefen unangenehmen nächtlichen Ritt nur 
durch lautes Gähnen fund thun, das er überaus oft wiederholte; 
da ſich aber fein Oberft nicht darum kümmerte, drüdte er feine 
Meinung in Worten aus. „Michael Iwanowitſch,“ fing er 


442 Novellen, 


demüthig und etwas zurüdhaltend an, „Michael Iwanowitſch, 
meinjt du nit auch, daß e3 nah dem guten Trunfe beim 
Grafen Schönborn bejjer wäre, daheim auszufchlafen, oder 
mwenigftens in Ruhe die Wirkungen des Weines, daran Unjer: 
eins nicht gewöhnt ijt, mit einem guten Trunk Wotfa unſchäd— 
lich zu machen?“ 

„Pavel Sergewitſch,“ erwiderte der Oberft verweiſend und 
mit hohler Stimme, „die Ehre fteht höher als alle Ruhe und 
ala der beſte Trunk. Michael Iwanowitſch, dein Oberft, iſt ges 
wohnt, Alles der Ehre zu opfern, als ver Sohn eines altapligen 
Haufes, deſſen Ahnen ſchon unter dem heiligen Alerander Newski 
gefämpft haben.” 

Beragin fragte fih hinter den Ohren und war um eine Ant: 
wort verlegen. Er wußte, daß es fich nicht jchide, etwas gegen 
die Ehre zu fagen, doch jchien ihm fein Oberft dieſes Gefühl 
etwas zu übertreiben; daran hielt er fih auch und erlaubte fi 
die unterthänigfte Bemerkung: „Sch diene jet jeit zweiund— 
zwanzig Jahren, aber bei ung Koſaken ift in diefer ganzen Zeit 
fein Duell vorgefommen. Ych habe wohl gehört, daß fie in den 
Gouvernement3, die an das Ausland ftoßen, diefe Dummheit der 
Franzofen und Deutſchen nahahmen und einander nieberjtechen 
oder niederfhießen, aber bei ung Koſaken hat von jeher die gute 
Eitte geherrfcht, und herrſcht noch heute, daß man feine Streis 
tigfeiten mit der Fauſt abmacht und daß man an einem blauen 
Auge genug bat. Seine Majeftät ver Zaar bezahlt uns nidt, 
daß wir uns für fein Geld unter einander todtichlagen, er be: 
zahlt ung, daß wir unter Suwarow die ungläubigen Franzojen 
zur Chre Gottes und des heiligen Nikolaus ausrotten.” 

„Pavel Sergewitfh,” entgegnete wieder der Oberſt, „das 
find Dinge, die du nicht verſtehſt.“ 

„Sehr möglich, ja wahrſcheinlich,“ gab der Kapitän zu, „id 
bin fein Studirter, und fpreche auch nicht Franzöfifh, ich weiß 
e3, ich bin leider Gottes nicht zivilifirt und bin auch niemals in 
Petersburg geweſen, aber das verftehe ih, Michael Iwanowitſch, 


Der Hetman. 443 


daß e3 dir nicht fo glatt abläuft, wenn du den Fürjten Najumoff 
zuſammenſchießeſt. Es mag fein, daß deine Ahnen unter dem 
heiligen Alerander Newski gefämpft haben, aber ich glaube, daß 
man das in Rußland vergeflen hat, und fo viel ih weiß, bat 
Alerei auch größere Proteltionen als du.” 

„hut nichts,” brummte der Oberjt, „er muß mir doch vor 
die Klinge — ich habe meine Urſachen.“ 

„Deine Urfachen in Ehren, deine Tapferkeit in noch höhern 
Ehren,” fagte der Kapitän, indem er fich auf feinem Pferde ver: 
neigte — „aber —“ 

„Run, aber ?” herrjchte ihm der Andere entgegen; „heraus 
mit dem Aber!“ 

„Alexei Petrowitſch, der läßt jih auch nicht fo leicht ab: 
ſchlachten wie ein gutmüthiges Schaf.“ 

Der Oberjt ſchwang feine Hand in die Luft und rief laut in 
die Nacht hinaus, ala ob er wünſchte, daß die ganze Welt feine 
Worte höre: „Dergleihen hat Oberft Nikolajeff nie bedacht.” 
Dann wandte er fich feinem Begleiter zu und ſagte im gemefjenen 
Tone de3 Vorgefegten: „Und jegt bift du ftumm und ſprichſt 
fein Wort mehr, bis ich es dir erlaube.” Der Kapitän jchlug 
ein Kreuz über Stirn und Bruft als Zeichen feiner Unterwerfung, 
verneigte fih abermals, und ſchweigend ritten die Beiden durch 
die Nacht und bei Morgendämmerung in das Dorf ein. 

Sie fanden das Neft leer, was dem Oberften eine große 
Enttäufhung war, da er der Gräfin gerne fo fchnell wie möglich 
Beweiſe feiner Ritterlichleit gegeben hätte; vor Allem aber, weil 
er die Möglichkeit einer Verſöhnung fürchtete, der er durch eine 
entjcheidende That zwoorzulommen wünſchte. Zum Glüde war 
das Quartier Alerei’3 eine Branntweinſchenke, in der man feine 
Heimkehr ohne Langeweile abwarten fonnte. Der Oberjt löste 
wieder die Zunge feines Begleiter3, der aber vor der Brannt: 
weinflaſche in freiwilliger Stummbeit beharrte. Der Tag rüdte 
vor, und Alerei fehrte nicht zurüd. Dem Oberften ſchien es un: 
würdig, ihn fo lange zu erwarten, auch hielt er es für Hug, im 


444 Novellen. 


Schloſſe Hlubofh über deſſen Ausbleiben zu beridhten, und er 
befahl dem Kapitän Veragin, auf feinem Poften zu verharren 
und nicht von der Stelle zu weichen, bis Alerei zurüdgefommen. 
Dann follte er al3 fein Kartellträger auftreten und den Hetman 
im Namen des Oberften zu einem Zmeifampfe herausfordern. 
Veragin war mit einem ſolchen Poften wohl zufrieden. Bereits 
mit dem ganzen Kopfe in allerlei Dünften und Nebeln ſteckend, 
börte er aus den Worten feines Vorgejegten nur den angenehmen 
Befehl heraus, vor der Flaſche figen zu bleiben. Wohlgefällig 
und lächelnd nidte er zu Allem Ja und verlicherte lallend, daß 
fih der Oberft auf ihn verlaſſen könne und daß er Alles zu feiner 
Zufriedenheit beitellen werde. 

Beragin hielt infofern fein Wort, als er ji in der That 
von der Stelle, an die ihn jein Oberjt geſetzt hatte, nicht ent— 
fernte. Dort jchlief und machte er abwechjelnd, und wenn er von 
Duntelheit umgeben war, glaubte er, es fei noch die Nacht, in 
welcher er hier angelommen, und wenn e3 hell um ihn mar, 
hielt er das für den eriten Tag, den er in der Schenke verbrachte. 
Aber e3 waren in Wirklichkeit feit feiner Ankunft in Duſchnik 
bereit3 zwei Tage und zwei Nächte verflofien, ohne daß Alerei 
zurüdgelommen wäre, ohne daß er feinen Auftrag hätte beitellen 
fönnen. Endlich am dritten Tage, da er nah langem Schlafe, 
unmittelbar am Fuße feines ehemaligen Sitzes liegend, die Augen 
aufihlug, glaubte er, in einem Winkel derjelben Stube Alerei 
mit jeinem Lieutenant Yegor figen zu fehen. Doch war er nicht 
gewiß, ob er wirklich den Hetman Alerei Petrowitjch vor fich 
babe; daran waren ebenjowohl die Nebel ſchuld, die noch auf 
jeiner Stirne lagen, mie da3 etwas veränderte Ausfehen des 
Hetmans. Alexei's Kleider hingen in Fetzen von feinem Leibe, 
fein Haar, ganz verwildert, fträubte fich zum Theil in die Höhe 
und dedte anderntheils berabfallend jein überaus blafjes Gelicht. 
Seine Augen glübten fieberijh und hatten trogdem einen über: 
aus melandolifchen Ausdrud. Er jaß gebüdt da, hielt die Hand 
feines Lieutenant3, der eben jo jung war mie er felbjt, und 


Der Hetman, 445 


ſprach zu diefem mit einer Stimme, die erzitterte, al3 ob er jeden 
Augenblid in Weinen ausbrechen wollte, 

„Die mir jeßt zu Muthe ift,“ ſagte der Hetman, „weiß ich 
wirflih nicht, ob ich geträumt habe, oder ob ich wirklich das 
Alles erlebte. Ich glaube an Zauberei. Die ganze Gejhichte ift 
wie ein Märchen, und die Zigeunerin ift nur eine Fee, die mich 
liebt. Wo ijt das Land, in dem ich diefe Zeit zubradhte? Nir- 
gends. Frag’ alle Leute der Umgegend. Es wird dir Niemand 
Etwas von der glüdjeligen Stelle im Walde jagen fünnen. Ich 
weiß nicht, wie ich wieder hierher gekommen, und weiß aud 
nicht, wie ich wieder den Weg dahin finden werde.” 

Bei diefen Worten fprang der Hetman auf. Der Gedante, 
den er eben ausgeſprochen, erjchredte ihn. Er war bereit, fo: 
gleih abermals fortzureiten und zu verfudhen, ob er den Meg 
in die Waldlichtung nicht wieder auffinden könne. Aber jein 
Lieutenant zog ihn auf den Sig zurüd und beruhigte ihn mit der 
Derfiherung, daß jene vwerzauberte Stelle auf Erden und nicht 
fern vom Dorfe liege, und daß Verunfa, wenn jie ihn wirklich 
jo liebe wie er ſagte, im ärgiten Falle dafür forgen werde, daß 
er den Weg zu ihr wieder auffinde. Der Hetman, ber das Be: 
dürfniß hatte, von feinem Glüde zu ſprechen, ſetzte ſich wieder 
bin und begann lächelnd: „Alſo drei Nächte und drei Tage ſagſt 
du, daß ich ausgeblieben 2“ 

„So iſt es,“ bejtätigte Yegor, „drei Nächte und beinahe drei 
Tage.” 

„Richt drei Minuten in meinem Leben find mir fo raſch ver: 
gangen,” verficherte Alerei, und fügte fragend hinzu: „Sit das 
nicht ganz jo, wie es in den Märchen erzählt wird? Und gerade 
die Zahl drei, das ift ja immer die Zahl, die in den Märchen 
vorkommt.“ 

„Ja, ja,“ beſtätigte der Kapitän, der ſich indeſſen erhoben 
und dem Geſpräch mit halbem Bewußtſein zugehört hatte, „ir— 
gend ein Zauber muß dieſe Zeit hindurch gewirthſchaftet haben; 
denn wenn du, Alexei Petrowitſch, drei Tage ausgeblieben biſt, 


446 Novellen. 


fo muß ih, Pavel Sergewiih, eben fo lange bier getrunfen 
haben, und doch glaube auch ich, jo eben erft hier angefommen 
zu fein.“ 

Er rieb ſich die Augen und fuchte ſich zu befinnen. „Ich 
glaube,“ fagte er endlich, „daß ich an dich eine Botjchaft zu be: 
jtellen habe. — Könnteft du mir nicht fagen, um was es fid 
eigentlich handelt, Alerei Petrowitſch?“ 

„Die willft du, daß ich dir fage, wa3 du mir zu bejtellen 
haſt?“ fragte Alerei lächelnd zurüd. 

„E3 ift eine dumme Geſchichte,“ murmelte der Kapitän und 
fragte fih hinter den Ohren — „wenn ich den Auftrag nicht be 
jtelle, habe ih vom Oberften allerlei Fußtritte zu erwarten. Er 
it fo kitzlich im Punkte der Ehre.” 

Dieſes legte Wort ſchien ihn plöglih, wenn auch nur ver: 
ſchwommen, an feinen Auftrag zu erinnern. „Ganz richtig,” 
rief er aus, „das ift es. Michael Iwanowitſch will wiffen, wann 
du dich mit ihm ſchlagen willjt, weil er dich beleidigt hat.” 

„Michael Iwanowitſch?“ fragte Alerei. „Das ift ein Irr— 
tbum; Michael Iwanowitſch hat mich nie gefränft, und ich habe 
ihm feine Herausforderung gejchidt.” 

„Nicht?“ fragte der Kapitän erjtaunt. 

„Niemals,“ beftätigte der Hetman, „er hat meine Ehre nicht 
gefränkt, und fo viel ich weiß, ich auch die feinige nicht. Wenn 
da3 geſchah, jo mar ed ohne mein Willen. Unjer Beider Ehre 
ift hoffentlich nicht fo leicht gekränkt.“ 

„Gott ſegne di, Alexei Petrowitſch,“ rief der Kapitän voll 
Freude, „du haft diefelben Anfichten von der Ehre, wie ich; ich 
babe dem Oberften gejagt, das find nur Dummbeiten. Wer 
wird fih denn ſchlagen? Zwei Ruſſen, das find zwei Brüder, 
und der Zaar iſt unfer Aller Vater. Friede! ich predige immer 
Friede, und dem Öberjten werde ich jagen, daß du ganz meiner 
Meinung bit und daß du das Alles für dummes Zeug hältit. 
Was kannſt du auch gegen ihn haben? Er ift ein Ruffe, du bift 
ein Rufe, ich bin ein Ruſſe, Yegor Georgewitfh da iſt ein 


“ Der Hetman. 447 


Ruſſe, wir find Alle Rufen und, fo Gott will, wird Alles aus: 
gerottet, was nicht Ruſſe ift, und dann werden wir Alle in 
Frieden leben, wie Brüder ſollen. Und dazu fage ih Amen — 
und das will ih auch dem Oberften jagen.” 

„Ganz gut,” lächelte der Hetman, „aber mit deinem Auftrag 
ſcheint e& doch nicht die volle Richtigkeit zu haben. Du hätteft 
ihn wohl anderswo beftellen follen, befinne dich.“ 

Der Kapitän, der feinem Gedächtniſſe nicht traute, rieb fich 
die Stirne, und während er fich befann, wurde es ihm immer 
zmweifelbafter, ob er wirklich einen Auftrag an den Hetman hatte. 
Das Kopfzerbrechen ftrengte ihn augenscheinlich an, daß er endlich 
ungeduldig wurde und ausrief: „Es ift gut, es iſt Alles gut, 
ich werde die Sache ſchon aufs Frieplichite abmachen, daß der 
Oberſt zufrieden fein wird. Er wird ſich auch nicht gerne jo für 
Nichts und wieder Nichts Schlagen wollen !” 

So ſprechend beftellte der Kapitän noch ein Glas, leerte es, 
ließ feine Zeche auf Rechnung des Oberſten ſetzen, grüßte den 
Hetman und deſſen Lieutenant, und trabte davon. 

Alerei freute fih, mit feinem Lieutenant wieder allein zu 
fein und wieder von dem erlebten märchenhaften Glüd der legten 
Tage fprechen zu können; aber er that es nicht mehr mit ber 
glüdlichen Beredtſamkeit wie vorhin, bevor ihn der Kapitän ges 
hört hatte, Nicht deſſen Auftrag war e3, der ihn zerftreut machte, 
fondern der ängftlihe Gedanke, in der That den Weg ins Bis 
geunerlager nicht wieder finden zu fönnen. „Am Ende,” rief er 
aus, „jehe ih gar nicht ein, warum ich es nicht gleich verfuchen 
fol; noch weniger fehe ih ein, warum ich Verunfa und mein 
Glück fo ſchnell verlaffen habe. Wer weiß, wie lange e3 dauert! 
Mir jagt mein Herz, dab ich es raſch genießen joll, bevor es 
dahingeht. Yegor Georgewitſch, mein Freund, fieh zu, daß mein 
Pferd gut gefüttert wird, während ich die Kleider wechsle. Ich 
muß nachſehen, ob mein Paradies nicht von der Erde ver: 
ſchwunden ift.“ 

Nicht ganz eine Stunde fpäter ritt der junge Hetman wieder 


448 Novellen. 


dem Walde entgegen, und jein Lieutenant Yegor ſah ihm nach, 
jhüttelte den Kopf und fagte: „Der ift verliebt, und wird in 
feiner Liebe Dummbeiten machen, wie eö nur einem Fürjten er: 
laubt ijt.” 


Fünftes Kapitel. 


In der Freitags: Soirde beim Grafen Schönborn hieß es, 
das der Hetman Alerei fich gemweigert habe, die Herausforderung 
anzunehmen, welche ihm Nikolajeff durch den Kapitän Veragin 
babe zufommen lafjen. Oberjt Nikolajeff affeftirte, nicht viel über 
diefen traurigen Gegenjtand ſprechen zu wollen, und Veragin, 
der ebenfall3 zugegen war und weder Deutſch noch Franzöſiſch 
verjtand, antwortete auf alle in Bezug auf dieſen Gegenjtand 
an ihn gerichteten Fragen mit „Ja“ und „Oui*. Man erzählte 
ferner, daß Hetman Alerei, um der Gefahr zu entgehen, ſich 
gleih, nahdem ihm die Herausforderung zugelommen, in bie 
Wälder geflüchtet habe, aus denen er bis zur Stunde noch nicht 
zurüdgelehrt fei. Einige ruſſiſche Offiziere, die den Hetman befier 
fennen wollten, zogen dieſe Gerüchte in Zweifel und behaupteten, 
e3 müſſe hinter Allevdem ein Mißverſtändniß fteden, das ſich mit 
dem Miedererfcheinen Alerei’3 aufllären werde. Aber Nikolajeffe 
lächelndes Schweigen und Emiliens Beredjamkeit trugen viel dazu 
bei, daß die Gejhichten allgemein geglaubt und die Feigheit und 
Flucht Alexei's als Thatfahen angenommen murden. Man 
erzählte ferner, daß es in dem Dorfe Duſchnik greulich hergehe. 
Die Koſaken, fich jelbft überlaffen, mißhandelten die Einwohner, 
plünderten die Häufer und verfauften die geraubten Gegenjtände 
entweder haufirenden HandelSleuten oder den Eigenthümern jelbit 
zurüd. Damals geſchah es, daß das junge Bauernmädcen ſich 
in da3 aufgehadte Eis eines Teiches ftürzte, um den Verfolgun: 
gen eines Kojafen zu entgehen, und das andere jchöne Mädchen 
aus gleichen Urfachen in einen Ajchenhaufen jprang, der unglüd: 


Der Hetman. j 449 


licher Weife noch glühend war und aus dem fie halb verbrannt 
bervorgezogen wurde. Es war nicht zu leugnen, daß die ſich 
jelbft überlaffenen Koſaken, ihres Führers beraubt, in dem Dorfe 
ärger hausten, al3 es der Feind hätte thun können. Nikolajeff, 
der diefe Erzählungen fammelte, hielt es für feine Pflicht, nad 
Prag an das Kommando zu berichten, und zwei Tage nachher 
befam er den Befehl, auch die Koſaken des Dorfes Dufchnif unter 
fein Kommando zu nehmen. Da Alerei verſchwunden blieb, be: 
richtete Nikolajeff aufs Neue, und in der Antwort, die er erhielt, 
wurde der Hetman bereit3 als Deferteur betrachtet. 

Alerei ahnte von alledem nichts. Sonſt konnte ein KRofalen: 
offizier, wenn man nicht gerade dem Feinde gegenüber ftand, von 
feinem Boften fortbleiben und feinen Freuden nachgehen, jo lange 
er wollte. Es fragte fein Menſch darnach, meil e3 feinem Offi— 
zier einfiel, ihn anzugeben. Alerei, in feiner glüdlichen Zurüd- 
gezogenheit voll Liebe und Freuden, wünſchte mandmal, daß 
während feiner Abmefenheit der Befehl zum Aufbruch fomme und 
er in den Armen der Liebe zurückgelaſſen und vergefjen werde. 
Er follte ja feine Heimat am Don nicht wiederfehen, auch auf 
dem Schlachtfelde nicht ehrenvoll fallen — da ſchien es ihm noch 
die beſte Verwirklihung der Prophezeiung, wenn er bei Ve— 
runla blieb, Manchmal allerding3 dachte er auch als Golvat an 
die Möglichkeit, im Falle eines Aufbruches feines Korps als 
Dejerteur zu erfheinen; dann aber beruhigte ihn Verunka mit 
der Verfiherung, daß er e3 dur ihre Kundſchafter, die Zi— 
geuner, jedenfalls erfahren werde, wenn fi in der Gegend 
irgend eine Bewegung, die auf Aufbruch der Koſaken deute, bes 
merfen ließe. 

Sein Lieutenant Yegor fing bereit3 zu glauben an, daß mit 
dem Hetman wirklich irgend ein Zauber fein Spiel treibe. Wenige 
Tage nach deſſen abermaligem Verſchwinden, al3 die fchredliche 
Koſakenwirthſchaft im Dorfe begann, fing er nad ihm zu fuchen 
an, ohne die glüdliche Dafe, die ihm Alerei jo märchenhaft 
geihildert hatte, auffinden zu fönnen. Er erneuerte feine An: 

Morig Hartmann, Werke VI. 29 


450 Novellen, 


jtrengungen, als Nifolajeff da3 Kommando in Dufchnik übernahm, 
und von dem Augenblide an, da man von Alerei redete, jtellte 
er an dem Punkte, wo fein Hetman in den Wald hineingeritten 
war, hinter dem Nüden des Oberjten Wachen auf, die ihn be 
nachrichtigen jollten, jobald der Hetman an diejer Stelle wieder 
bervorfomme. Dieb geſchah auch wirklich eines Abends bei hellem 
Mondicheine, da Yegor vor dem Dorfe auf und nieder wanderte. 
Alerei ritt jo langjam aus dem Walde heraus, daß es den auf: 
geitellten Koſaken leiht war, ihm zuvorzufommen und daß ihm 
Yegor beinahe bis an den Rand des Waldes entgegeneilen fonnte. 
In wenigen Worten theilte ihm diejer mit, welche Gerüchte um: 
liefen, und was indejlen vorgegangen. 

Alerei erhob den Kopf, ſah Negor ftarr ind Geſicht und 
ihien das Mitgetheilte nicht zu verjtehen. „Dumme Welt,” jagte 
er endlich achjelzudend, „nichts als Schmerzen und Schlechtig: 
feit, während dort drin im Walde nicht3 al3 Glüd und Liebe. 
Ich thue am beiten, wenn ich gleich wieder umfehre.” 

Mirklih machte er eine Bewegung mit dem Zügel, als ob 
er Augenblid3 fein Pferd wieder wenden wollte, aber Yegor er: 
griff den andern Zügel und rief: „Träumer, es iſt endlich Zeit, 
daß du aus deinem Traum erwachſt! Willſt du deine Thorheit 
fo weit treiben, bis du nie wieder nach Nußland zurüdfehren 
fannjt 2!“ 

„Rah Rußland,” wiederholte Alerei ahjelzudend — „weißt 
du denn nicht, daß ich die Ebenen des Don nie wiederjehen joll ?“ 

„Thorheit!“ rief Yegor wieder, „Ichlage dir dieſe Thorheiten 
aus dem Sinne und werde wieder ein Mann. Denke auch ein 
wenig an deine Ehre! Vergiß nicht, daß du jeit vielen Tagen für 
eine Memme giltjt, die vor Nilolajeff weggelaufen ift.“ 

„Ja fol” ſagte der Hetman fi bejinnend, „das ijt richtig, 
ich begreife jegt die ganze Geſchichte. An Alledem iſt Nikolajeif 
ſchuld, der mich haßt, weil ich ihn bei der Gräfin Emilie aus: 
geftohen habe. Närrijcher Kerl, eine Welt voll folder Gräfinnen 
überlafje ih ihm für eine Zigeunerin wie Verunka. Aber das 


Der Hetman. 451 


mit dem Duell, dad muß gleich abgemacht werden. Wenn du 
mein Freund biit, Yegor, jo ſchwingſt du dich gleich auf das 
Pferd dieſes Mannes” — er deutete dabei auf einen der Koſaken, 
die ihn am Walde erwartet hatten — „und reitejt mit mir als 
mein Sefundant.” 

NYegor wollte wideriprechen, aber Alerei befland auf feinem 
Verlangen, und anjtatt in das Dorf zu reiten, ritten die beiden 
Offiziere den Weg bin, der den Wald entlang in das Dorf 
führte, in welchem Nicolajeff fein Quartier hatte. Yegor meinte, 
daß man eben jo gut in Dujchnif hätte bleiben können, da Nico: 
lajeif regelmäßig dort übernachte, um vecht zu zeigen, daß er 
den Hetman im Kommando erfege — vielleiht auch, um diejen 
port anzutreffen, wenn er endlich heimfehrte. 

„Deſto nothwendiger ift es,“ ermwiderte Alerei, „daß ich ihn 
aufjuhe und mid nicht von ihm in meinem Lager überrafchen 
lafje.” 

Sie ritten nicht zehn Minuten lang, al3 ihnen ſchon zmei 
andere Reiter entgegen famen, die jelbit ein Kurzſichtiger aus der 
Ferne erfannt haben würde: die lange Don Quirote-Geftalt des 
Oberſten und die kurze, dide des Kapitäns, deilen afthmatijchen 
Athem man aus weiter Ferne durch die ftille Nacht hörte, 

„Er fommt wie gerufen,” ſagte Alerei zu feinem Begleiter ; 
„und zur böfen Stunde,” fügte er düſter hinzu, „venn er hat e3 
mit einem verzweifelten Gegner zu thun. ch weiß nicht, ob ich 
Verunfa jemald wiederſehen werde. Die Zigeuner find meiner 
müde, weil ich Verunka am Herumftreifen hindere. Vielleicht in 
diejer Nacht jchon verſchwinden fie mit ihr, und e3 verwijchen 
fih ihre Spuren in aller Ferne. Der Zigeunerfönig will fie mir 
auch entreißen und die Prinzeflin vom Don zur Königin von 
Aegypten machen. Das Alles habe ich vor faum einer Stunde 
erfahren, und ih fürchte, daß es vor Allem Oberft Nicolajeff 
empfinden wird.” 

So ſprechend, gab er jeinem Pferde die Sporen, riß feinen 
Säbel aus der Scheide und jprengte den Kommenden entgegen. 


452 Novellen, 


„Hurrah! Michael Iwanowitſch!“ rief er, den Säbel über 
dem Kopfe ſchwingend, „Hurrah! da ift die Memme, die fich vor 
dir verjtedte. Heraus mit deinem tapfern Degen und fieh, wie 
du mit der Memme fertig wirft!“ 

Oberſt Nicolajeff, jo plötzlich angegriffen, ftußte einen Augen: 
blick und riß fein Pferd rüdwärts. Der Kapitän, ver beim An- 
iprengen Alexei's eine ungejhidte Bewegung gemadt, aber nicht 
fo weit rückwärts prallte wie der Oberft, kam zwifchen die beiden 
Gegner, und da auch Oberft Nicolajeff feinen Degen zog und er 
ſich zwifchen zwei blanken Waffen befand, die über ihn hinweg 
auf einander loszufchlagen drohten, erſchrak er ſichtlich und ließ 
feine Zügel fallen, was ihn binderte, fi aus der gefährlichen 
Lage zu ziehen. Er hob beide Arme in die Höhe und ſprach 
ftotternd und mit flehender Stimme: „Alexei Petrowitſch, haft 
du mir nicht verfprohen — iſt es nicht eine Dummheit — ftede 
deinen Säbel ein — Michael Iwanowitſch, und du — tapferfter 
aller Koſaken, haft du mir nicht erft geftern gefagt, daß es aus 
ift mit dem Duell — du ſchlägſt dich ja nicht mit einem Dejer- 
teur — mer wird Chriftenblut vergießen — ftedt eure Säbel 
ein, ihr tapferiten aller Ruſſen!“ 

Während er jo durch einander und immer weiter jammerte, 
hatte Alerei fein Pferd herumgeworfen, und fein Säbel Hang 
bereit3 auf den Säbel Nicolajeff3. Diefer parirte gejhidt und 
führte einen Hieb gegen Alexei's Kopf, bewirkte aber nur, daß 
deſſen Koſakenmütze herabfiel. Yegor, wohl wiſſend, meld einen 
guten Schuß die Pelzmütze gegen Säbelhiebe gewährt, jprang, 
da er felbft nur ein leichtes Käppchen aufhatte, raſch vom Pferde, 
um die Mütze aufzuheben und fie Alerei wieder aufzujegen. Wie 
er den Kopf wieder erhob, fehien das unnöthig, denn dem Ober: 
ften Nicolajeff fprang ein dider Blutjtrahl aus ver linfen Seite 
des Haljes. Er bäumte ſich und redte fi in den Bügeln hoc 
empor, während ihn Alerei anjtarrte, wohl ahnend, daß er 
feinem Feinde, indem er ihm die große Ader durchhieb, eine 
tödtlihe Wunde beigebracht. Aber der Oberft redte fich immer 


Der Hetman. 453 


höher, beugte fich weit vor über den Hals feines Pferdes, und 
während Yegor berbeifprang, um ihn in feinen Armen aufzus 
fangen, da e3 den Anjchein hatte, daß er vornüberftürzen jollte, 
bob der Sterbende mit der legten Anftrengung noch einmal‘ 
feinen Arm, und während er in ver That vorwärts ftürzte, fiel 
auch jein Arm, unterftügt von der fallenden Wucht des Körpers, 
nad vorwärts, und der Säbel, den er frampfhaft feithielt, traf 
auf das unbededte Haupt Alexei's. Yegor hörte deutlich, wie 
das Eifen in den Knochen einhadte. Im felben Augenblide 
fanfen beide Gegner von den Pferden, — der Eine, deſſen 
Blut in Strömen aus der geöffneten Ader ſchoß, offenbar in 
demjelben Momente todt, der Andere noch mit einem Ausrufe 
des Schmerzed auf den Lippen. 

Dem Kapitän, hinter deſſen Rüden das Alles im Laufe 
einer kurzen Minute vor ſich gegangen, und der Nicht3 von dem 
Kampfe gejehen hatte, gelang es endlich, die Zügel feines Pfer: 
de3 wieder zu ergreifen und fich zu wenden, Spradlos und bes 
megungslos blidte er auf die beiden vor ihm liegenden Kämpfer, 
bis er ſich foweit faßte, um über Stirn und Bruft ein Kreuz 
nad dem andern zu ſchlagen. Yegor warf fih in den Schnee, 
faßte den Kopf Alerei’3 und rief um Hülfe. 

Es war, al3 ob troß der Dede, in meldher der Zweikampf 
ftattgefunden, der Hülferuf an hundert Ohren gedrungen wäre, 
denn aus dem Walde heraus auf die Landſtraße bewegte ſich mit 
einem Male ein langer bunter und fonderbarer Zug von Män— 
nern, MWeibern und Kindern, und zwifchen diefen Heine Pferde, 
die Reiter oder Gepäd trugen, grunzende Schweine, Hunde und 
Gethier von allerlei Art. Der Zug ſchien nicht im geringiten 
Willens, auf ven Hülferuf Yegors zu horchen, und zog über die 
Landſtraße hinweg, ohne fih dur den Anblid ver blutigen 
Gruppe, jelbjt nicht durch die Flüche des Kapitäns, der fich in: 
deſſen gefaßt hatte, aufhalten zu laffen. Erſt als die Mitte des 
Zuges auf der Landftraße ankam, ſtockte er, und plöglich ſprang 
eine verhüllte Geftalt von einem der Pferde und kniete im felben 


454 Novellen. 


Augenblid neben Yegor und drüdte ihre Wange an die blafle 
Wange Alexei's. Die Kapuze war ihr bei der heftigen Bewegung 
vom Kopfe gefallen, und Negor erfannte beim Lichte de Mondes 
ein ſchönes Zigeunergefiht, won dem er bald errieth, wen e3 ge: 
börte, Nur einen kurzen Moment gab Verunka ihrem Schmerze. 
Schnell gefaßt, mifchte fie mit ihrem Kleide das Blut von 
Alexei's Haaren und prüfte mit Kaltblütigfter Nube die Wunde, 
„Der Säbel,“ Lifpelte fie, „ift nicht ganz durchgedrungen — er 
ift nicht todt, er ift nur betäubt — ich werde ihn heilen.“ 
Dann erhob fie fi, rief dem Zuge, der indefjen in feiner 
ganzen Länge Halt gemacht hatte, während ein Haufe von Bis 
geunerfnaben den beiden freigewordenen, im Felde herumirren: 
den Pferden nahjagte, einige Negor und dem Kapitän unver: 
jtändlihe, aber wie ein Befehl Elingende Worte zu. Ein Ge 
murmel, bie und da ein Gefchrei, erhob ſich aus dem Haufen 
der Zigeuner. Verunka trat ihnen um einige Schritte näher, er: 
bob den rechten Arm und ſchrie ihnen ein einziges Wort zu, auf 
welches das Gemurmel fofort leiler wurde und endlich ganz ver: 
ftummte, als fih im Zuge ſelbſt die alte Zigennermutter ver: 
nehmen ließ und, wie e3 fchien, der Enkelin beiftimmte. Yegor 
ſah diefer Szene mit Nengftlichkeit zu, und da fih der Zug 
wieder in Bewegung ſetzte und weiter wanderte, glaubte er ſchon 
Derunka’3 Bemühungen gefcheitert, als er zu feiner Freude be 
merkte, daß die Zigeunermutter mit vier Fräftigen Männern aus 
ber Schaar zurüdblieb. Diefe traten vor, breiteten ein großes 
wollenes Tuch auf den Schnee und legten Alerei darauf. Dann 
ergriff jeder der vier Männer einen Zipfel des Tuches, zog ihn 
über die Schulter, und von Verunka und der Figeunermutter 
geführt, gingen fie gleichen und fanften Schritte, der auf dem 
gefrorenen Schnee faum zu hören war, verfelben Stelle zu, mo 
der Zug aus dem Walde gebroden war. Yegor folgte ihnen, um 
den Freund nicht zu verlaflen, aber plötzlich fühlte er fich von 
einem Arme zurüdgehalten. „Heilige Mutter von Kaſan!“ rief 
der Kapitän, „willft du mih um Mitternacht mit einem Todten 


Der Hetman. 455 


allein laſſen!“ — Negor bedachte, daß der Kapitän die Leiche 
des Oberſten allerdings nicht allein in das ferne Dorf bringen 
fonnte, daß Alerei wohl aufgehoben und guter Pflege ficher ſei — 
der Oberjt war vielleicht auch nicht todt und konnte bei fchneller 
Hülfe ind Leben zurüdgebradt werden, obwohl es dazu nicht 
den geringften Anschein hatte, denn der unglüdliche Körper lag 
neben einer Lache von Blut, das aus der geöffneten Hauptader 
bervorgeftrömt war, fo bleich da, ala ob nicht ein Tropfen des 
Lebensfaftes in ihm zurüdgeblieben wäre. Auch hatte Verunka 
bei jeinem Anblid eine Bewegung mit der Hand gemacht, die 
veutlih befagte, daß fie ihn für verloren halte. Trotz Allem 
wußte Yegor nicht, was anzufangen. Obwohl im erften Augen: 
blide entjchloffen, mit dem Kapitän die Leiche des Oberften ins 
Dorf zu bringen, lief. er doc dem verwundeten Alerei nach ; aber 
am Rande des Waldes angefommen, hörte und fah er, troß an: 
geitrengtem Ohr und Auge, nicht3 mehr von den Zigeunern, bie 
ihn fortgetragen, ja er erkannte felbjt im Schnee nicht die ges 
ringſten Spuren. Sie waren verfhwunden, und er kehrte zum 
Kapitän zurüd, | 


Sechstes Rapitel. 


Der Oberjt wurde auf dem Kirchhofe zu Przibram beftattet. 
Das Kommando über die in Dufchnik einquartierten Koſaken be: 
fam an feiner und an Alexei's Statt der Kapitän Veragin. Der 
Zweikampf und der Tod des Obersten machten im ruflifchen Ar— 
meelorp3 großes Aufjehen. Man war an Dergleihen nicht ge: 
wöhnt und wollte aud nicht zugeben, daß fo was vorkommen 
fönne. Negor und der Kapitän, die nicht als Sefundanten gelten 
durften, jtellten die Sache wie eine zufällige dar, und das Kom 
mando in Prag wollte den Tod des Oberften wie eine einfache 
Ermordung deflelben betrachtet mwiffen. Aber, wenn es ſchon 
feiner Familie und feiner Verbindungen wegen ſchwer mar, 


456 Novellen, 


Alerei für einen Dejerteur zu erklären, jo war e3 noch ſchwerer, 
ihn der Ermordung eined Vorgejegten anzuflagen und dieſes 
Verbrechens wegen vor ein Gericht zu ftellen. Dieje jchwierige 
Angelegenheit verurfacdhte dem Generallommando großes Kopf: 
zerbrehen ; man fonnte zu feinem Entſchluſſe gelangen, und wie 
vie Tage bingingen, hielt man es für dag Gerathenſte, das 
Ganze nah und nah in fanfte Vergeſſenheit finken zu laſſen. 
Diefem Eugen Auskunftsmittel ftand nur die Furcht entgegen, 
daß Alerei eined Tages wieder erjcheine, aber Kapitän Veragin 
ſchwur hoch und theuer, daß der Hetman längft felig entſchlafen 
jein müſſe, da man von einer fo fürdterlihen Wunde unmöglid 
genejen könne, und der Entſchluß ftand feſt, Alerei Petrowitich 
al3 einen Todten zu betrachten. Man verfolgte die Sache nit 
weiter, und in der That war es nach einiger Zeit, ald ob Der- 
gleihen nie gejchehen wäre. Das Schloß Hluboſch, wo die Er: 
innerung an das Greigniß hätte genährt werden fünnen, war 
verjhloflen, denn Graf Schönborn wie feine Nidhte glaubten 
einzufehen, daß fie mit den ruſſiſchen Offizieren fein Glüd hätten, 
und reisten nach Prag, dann zu Hofe nah Wien ab. 

Es mochten ungefähr jeh3 Wochen jeit jener Nacht des Zwei: 
fampfes verflojjen gemejen fein, und Alles ſchien nach dem ver: 
abredeten Plane der rufjiihen Offiziere glüdli von Statten zu 
gehen, da Wlerei nicht wieder auf dem Schauplage erſchien und 
die Annahme, daß er todt fei, rechtfertigte, als Veragin zu 
feinem Schreden wieder an alles das, mas ihm fo viel Angit 
und Sorge eingeflößt hatte, gemahnt wurde. Mit einem Male, 
al3 er von einem Dorfe zum andern ritt, fah er zwei ſchwarze 
Kerle aus dem Gehege bervortreten und fich ihm in den Weg 
ftellen. Er glaubte im erjten Augenblide an einen Raubanfall, 
und war ſchon im Begriffe, fein Pferd zur Flucht zu wenden, 
als ihn die unterthänige Stellung der beiden Geftalten und ihre 
flehentliche Geberve beruhigte. Sofort herrſchte er fie mit der 
Frage an, was fie auf feinem Wege zu thun hätten. 

„Bäterhen,” fagte der Eine der Beiden mit dem fanfteften 


Der Hetman. 457 


Tone in der Stimme, „Väterhen, wir find arme Zigeuner und 
fommen nur, um von deiner Gnade Hülfe zu verlangen. Bes 
freie und von einem läftigen Gafte, der uns an Allem hindert, 
und von dem unfere Prinzeflin nicht laffen will. Es wäre und 
ja ganz recht, ihn mit uns fortzunehmen nad Ungarn und ihn 
al3 unfern Bruder anzuerfennen, wenn er und nur zu Etwas 
nüß wäre. Aber jest, da er durch die Kunft unferer Prinzeflin 
wieder geheilt ift, zeigt jich3, daß wir ihn zu Nichts brauchen 
fönnen. Er ift zu Nichts mehr geſchickt, zu feiner der Künfte und 
Wiſſenſchaften, die und arme Zigeuner ernähren, denn ſieh,“ — 
und den Finger auf die Stirn legend jeßte der Spreder hinzu: 
„nenn fieh, das Vögeldhen, das darin jaß, iſt ihm wahrfcheinlich 
durch die Spalte im Schädel vavongeflogen, ehe Verunka die 
Hand darauf legen konnte.” 

„Was ſchwatzet ihr mir da von Verunfa und Vögelchen und 
läjtigem Gafte vor?” brummte der Kapitän. „Was und Wen 
meint ihr? Sprecht doch wie vernünftige Chriften, daß man euch 
verſtehe und nicht wie gottwerfluchte Heiden, die ihr feid, in Bil 
dern und Räthjeln.” 

„Wir ſprechen vom Hetman Alerei Petrowitſch,“ nahm ver 
Andere das Wort, „Er ift noch immer bei uns verftedt, und 
gegen die Prinzeflin, die in ihn vernarrt ift, dürfen wir Nichts 
thun, es würde ung ſonſt fchlecht ergehen, denn wenn fie ung böfe 
wird, jind wir verloren. Es kann Niemand auf der Erde tanzen, 
fingen und die Zukunft deuten wie fie, und Niemand mie fie 
lennt jo viele geheime Künfte. Darum wollten wir dir fagen, 
wenn ihr ven Alerei Petrowitſch wieder haben wollt, zeigen wir 
euch den Weg in den Berfted, wo ihr ihn holen könnt.“ 

Pavel Sergewitſch, der mit einem Male alle feine und des 
ganzen Offizierkorps Verlegenheiten wieder auftauchen fah, der 
nicht3 dabei gewinnen konnte, wenn man Alerei’3 habhaft wurde, 
wohl aber verlieren, wenn diefer mit heiler Haut davonfam und 
wieder in feine Stelle, die er felbft jeßt inne hatte, eingefeßt 
wurde; nicht verjtehend, was die Zigeuner Betreff3 der Vernunft 


458 Novellen. 


Alexei's angedeutet hatten, — geriet in Zorn, machte die 
Geißel vom Sattel los und fprengte auf die beiden Zigeuner ein. 
Dieſe ſprangen erfchroden über die Hede, wohin ihnen ver er= 
grimmte Kapitän nicht folgen fonnte, und hörten nur noch von 
ferne, wie er fie mit hundert Ainutenbieben bedrohte, wenn fie 
ih noch einmal vor ihm fehen ließen, oder irgend ein Wort über 
Alerei Petrowitfch mittheilten. 

Der Kapitän wußte, daß alle Verlegenheiten ein Ende hätten, 
wenn nur noch zwei Tage über die Geſchichte, wie fie jetzt ſtand, 
bingingen. Der Hetman war als todt ind Buch eingetragen, und 
mit diefem Buche follte — der Befehl war ſchon da — über: 
morgen das ganze Armeeforps aufbreben, um ſchleunigſt nad 
Rußland zurüdzufehren. 

Dieb geſchah aud in der That, und als ſich des Frühlings 
erite Sonnenſtrahlen zeigten, als der Schnee zu ſchmelzen begann, 
war, noch vor dem Winter, der mwinterlihe Gaft, das rufjische 
Armeelorp3, aus der Gegend verfhmwunden. An einem und dem: 
jelben Tage brachen fie in allen Quartieren des Beraunerfreijes 
auf und zogen auf ihren leichtfüßigen Pferden raſch dem Norden 
entgegen. 

Man war im Dorfe Duſchnik, wo man fich fo fehr gefreut 
hatte, die läftigen Gäfte los zu fein, ſehr erſtaunt und erfchroden, 
als man eines Morgens wieder eine Koſakenuniform erblidte. 
Alles Tief zufammen, um den einfamen Kofafen, der wor der 
Mühle wie ein Träumer auf und ab ging und ohne Unterlaf 
vor ſich binlächelte, zu betrachten, und erjt nach langer Prüfung 
erfannte man in dem lächelnden Gelichte, das ſich gewaltig ges 
ändert hatte, den Hetman, der chemals bier kommandirte. 
Man hatte ihn diefen Morgen auf der Schwelle der Mühle 
ichlafend gefunden. Die Müllerfnechte erzählten, daß fie in der 
Nacht ein Geräufch gehört und dur das Fenſter gejehen, mie 
zwei Männer einen dritten vor dem Haufe vom Pferde hoben 
und wie fie dann ein Mädchen, das fih an ihn klammerte, fort: 
riſſen, e3 auf das leer gewordene Pferd banden und gleich darauf 


Der Hetman. 559 


mit dem Mädchen im Galopp fortritten. Das ganze Schaufpiel 
habe etwas jo Geſpenſtiſches gehabt, daß fie, die Müllergefellen, 
während der Nacht nicht nachzufehen wagten und daß fie erſt am 
Morgen erkannten, daß e3 ein wirklicher und leibhaftiger Menſch 
war, den man vor die Thüre des Müllers gefegt hatte. Die 
Duſchniker hatten beim Anblid des. Hetmans rafcher als der 
Kapitän verftanden, was die Zigeuner mit dem ausgeflogenen 
Vögelchen meinten. Ob e3 in der That, wie Jene fagten, durch 
die Spalte der Hirnfchale entflogen, oder ob feine Liebe und alle 
die Vorgänge der legten Wochen das Heine Vöglein, den Ver: 
Stand des Hetmans, erbrüdten, wir willen e2 nit; wir fennen 
eben fo wenig die Vorgänge und Creignifje im Bigeunerlager. 
Auch gelang es gleih an jenem Tage und in aller künftigen Zeit 
den Fragen der Duſchniker nicht, etwas Näheres zu erfahren. 
Alerei Petrowitſch hatte feine ganze Vergangenheit, felbit feinen 
Namen, vergeflen. Seine gewöhnlichen Antworten beftanden in 
einem gleihmäßigen Lächeln. 

Der Müller, der ein guter Mann war, bielt es für feine 
Pfliht, den Gaft, der ihm auf fo jonverbare Weiſe beſchert 
. worden, bei ſich aufzunehmen, und da es derjelbe veritand, mit 
Pferden umzugehen und fich bei dieſen im Stalle lieber und beſſer 
befand, als in Gefellihaft von Menſchen, machte er ihn zu feinem 
Kuticher, und der Berfafler diefer Gejchichte erinnert fih, von 
dem alten grauhaarigen Ruſſen oft nad Prag kutſchirt worden 
zu fein, wenn der Vater vom Nachbar Müller die Pferde miethete. 

Im Laufe der Jahre vergaß der ruffifche Kutſcher die fran: 
zöſiſche, deutfche und felbft feine Mutterfpradhe, ohne, da er immer 
in der Einfamleit lebte, die Sprache des Landes erlernt zu haben, 
So erſchien er, wenn er nothgedrungen auf eine Frage antworten 
mußte, noch findifcher al3 er war, und die Bauern hatten, jo 
lange er lebte, viel über ihn zu lachen. 


Tante Helene, 
Eine Familiengeſchichte. 


Erftes Kapitel. 


Es ift mir, al3 wäre es gejtern gejchehen. Und doch liegt 
eine ganze Weltgefchichte zwijchen damals und heute. Damals 
ſprach man noch von dem Tode Napoleons als von etwas Neuem; 
freilich dauerte in einem böhmischen Dorfe das Neue mebrere 
Jahre; damals faßen noch die Bourbonen auf dem Throne und 
galt unfer Kaifer Franz noch für einen ganz guten Kaijer Franz. 
Es iſt aljo ſchon lange her. Trogdem erinnere ich mich genau. 
Die Mutter ftand auf einem Stuhle und räumte die Schalen 
und Tafjen, die fie eben gefpült hatte, beim Scheine eines Talgs 
lihtes, in den Glasfchranf; ich Stand auf ebenem Boden und 
reichte ihr die Taſſen und Schalen vom Tiſche und war ftol; 
darauf, mich nüglih machen zu fönnen, denn ich war ſchon 
fieben Jahre alt. Die Tafjen wurden in zwei Reihen aufgeftellt; 
vor jie hin aber, in die vorderfte Reihe, ftellte die Mutter acht 
ihöne, gleich ſchlanke, beinahe alle mit Goldrändern eingefaßte 
Porzellanbecher mit Henfeln, welche fämmtlih vorn auf dem 
Baude, im Innern eines goldenen Zirkels oder eines Eichen: 
kranzes die Inſchrift: „Andenken an Karlsbad“ trugen. Trotz 
ihrer Einförmigfeit waren fie der Stolz des Glasfchranfes, und 
jo oft ih der Mutter einen reichte, la3 ich, um mich in der faum 


Tante Helene. | 461 


erworbenen Kunjt des Leſens zu üben, mit lauter Stimme: 
„Andenken an Karlsbad.” Diefe Andenken an Karlsbad kamen 
alle vom Großvater, der feiner Gicht zu Gefallen jedes Jahr das 
genannte Bad befuchte und jedes Jahr einen ſolchen Becher heim: 
brachte und meiner Mutter ſchenkte. Ahr Wunſch war, endlich 
ein volles Dutzend zu befigen, Was mich betrifft, fo machte ſchon 
die achtfache Infchrift den Eindrud auf mi, als ob alle Ans 
denken aus Karl3bad fämen, und wenn ich irgendwo von einem 
Andenken ſprechen hörte, pflegte ich zu fragen: „Ein Andenten 
von Karlsbad?” — Meine Mutter war ftolz auf ihren Glas 
ſchrank, obwohl von feinem Inhalte felten Gebrauch gemacht 
wurde; aber auch ich wurde ftolz, wenn ihn die Mutter jo ſchön 
ordnete und alles Vergoldete vornhin ftellte. „So einen Glas— 
ſchrank,“ fagte ich mir, „haben doch nur wir in ganz Littanig.” 
Das war aber auch wahr, denn „Wir“ waren die reichiten Leute 
des ganzen Dorfes. „Wir,“ d. i. Melchior Brant und Sohn, 
d. i. mein Großvater und mein Vater, wurden menigftens auf 
zwanzig bis fünfundzwanzig Taufend Gulden Gonventionsmünze 
geichäßt, und das war viel in damaliger Zeit und bortiger Gegend. 
Dabei wurde noch das alte, Heine Haus des Großvaters und das 
etwas größere und neuere, das er hinter dem feinigen für den 
Sohn gebaut hatte, die Stallung vor dem Haufe mit zwei Pfer- 
den und brei Kühen darin und endlich ein gutes Stüd Feld nicht 
mitgerechnet. Fragte ich meinen Vater: „Was bift du eigentlich, 
Vater?” antwortete er mir mit ftolgem Bewußtſein lächelnd: 
„Bir find Unternehmer, Wir, Melhior Brant u. Sohn. Da 
der Vater immer „Wir“ fagte, hielt ich mich ebenfalls für einen 
Unternehmer und war ebenfalls ftolz darauf, ein Unternehmer 
zu fein. Mit diefem Titel aber, der mir früh ein großes Be: 
wußtſein gab, verhielt es fi fo. Weder der Staat noch irgend 
eine Patrimonialherrſchaft konnte damals den geringſten Bau 
eine Dammes, eines Vicinalweges, einer Brücke und dergleichen 
unternehmen, ohne von den Beamten aufs Schrecklichſte betrogen 
zu werden, Man zog es vor, ſolche Unternehmungen dem Wenigft: 


462 Novellen. 


nehmenven zu überlaffen und diefem einen fleinen Gewinn zu 
gönnen. Dabei fam man am beiten weg. Solde wenigitnehmende 
Unternehmer waren Bater und Großvater, Meldhior Brant und 
Sohn. Mein Großvater hatte das Geſchäft begründet und jtand 
im Rufe eines in feiner Sache ausgezeichneten Mannes und dieß 
bejonders jeit einer Unternehmung, die ihn beinahe zu runde 
gerichtet hätte. Er hat die Gejchichte oft genug erzählt. 

Da war nämlih einmal — mein Vater war damals noch 
ein Kind — einige Stunden weit von unjerem Dorfe eine Brüde 
zu bauen; e3 verjtand jich wie von jelbit, daß jie Melchior Brant 
bauen werde. Aber da fand er bei der Ausbietung einen Mann, 
der ihm ſchon mehrere Male entgegengetreten war und offenbar 
ven beiten Willen hatte, Melchior zu verdrängen. Diejen Kon: 
furrenten durfte man nicht auffommen laflen. Mein Großvater 
ärgerte ih und in jeinem Aerger nahm er immer weniger und 
weniger, bis ihm der Bau der Brüde zugejchlagen wurde. Nun 
erit, beim Lächeln feines Gegners und bei fühlerem Blute, merfte 
er, daß er und nicht fein Konkurrent der ruinirte Mann war. 
Auf drei Stunden in der Umgegend war fein Steinbruch, den 
er beim Baue bätte benugen fönnen; er wird gezwungen jein, 
den Stein aus fo weiter Ferne herbeilommen zu lafjen, und bie 
Iransportlojten werden eine größere Summe ausmachen, als 
ihm der Staat für die ganze Brüde zahlte. Traurig betrachtete 
er die Stelle, wo die Brüde jtehen und wo er jein ganzes Ber: 
mögen ind Waller verjenfen jollte; traurig umkreiste er dieſe 
Stelle ſeines Ruines. Nur manchmal bilieb er jtehen, um fein 
ganzes Unglüd zu überdenken, und bohrte er mit jeinem Stode 
in die Erde, gerade jo, wie ſich der traurige Gedanke an Verfall 
und Armuth immer tiefer in fein Herz bohrte. So bohrte er, 
auf einem Hügel stehend und nochmal3 auf feine Unglüdsjtelle 
zurüdblidend — aber da wollte der Stod nicht weiter in den 
Boden; etwas Steinhartes hielt ihn auf. Ein leuchtender Ge 
danke fuhr meinem Großvater durch den Kopf; er grub mit Stod 
und Taſchenmeſſer, er grub eifrig wie ein Maulwurf — er nahm 


Tante Helene. 463 


endlih Hände und Nägel zu Hülfe — und o Glück! — er hatte 
einen Stein gefunden, einen Felſen, wie er ihn für jeine Brücke 
nicht beſſer hätte bejtellen fünnen — nit hundert Schritte vom 
Bauplage. Er war gerettet — er ftedte die Hälfte der Summe, 
die ihm der Staat zahlte, al3 reinen Gewinn in die Tafche. Seit 
jener Zeit galt er für einen Mann, mit dem Niemand konfurriren 
fönne, und baute er allein, jpäter in Kompagnie mit meinem 
Vater, alle Vicinalmege, Brüden, Dämme, Schulhäujer, auf 
wenigitens acht Stunden in der Runde, 

Das Alles wußte ich jehr früh, nämlich daß wir Unter: 
nehmer und reiche Leute und endlich auch, daß wir „nobel“ 
waren, denn wir fprachen deutſch im Haufe und nur noble Leute 
iprachen damal3 deutſch in Böhmen; czechiich ſprach nur das ges 
meine Voll, Ich wunderte mich darum nicht, daß ung fo viele 
noble Leute, Beamte und viele Fremde, die alle deutſch Sprachen, 
bejuchten — und ih war gar nicht erftaunt, al3 es an jenem 
Abend, da ich der Mutter die Tajjen und die Andenken an Karla: 
bad reichte, an die Thüre Flopfte und zwei Fremde eintraten, die 
jehr vornehm ausfahen, bejonver3 der Eine, der Größere und 
Jüngere. 

Er trug eine große ungariſche Bunda, oder Mantel mit 
Aermeln, der vorn viele Fangſchnüre hatte, deren eine did und 
in vielfachen Anoten über tie Schulter geworfen war und rüd: 
wärts eine große mit Gold gemijchte Quaſte herabfallen ließ, 
Während er mit der einen Hand in den Schnüren fpielte, bielt 
die andere eine ebenfall3 fremdländiſch ausfehende Filchotter: 
müße, wie denn die ganze Erſcheinung mit dem damals noch 
feltenen Schnurrbarte etwas Fremdartiges hatte. Schnurrbart 
und Molernafe gaben dem ſchönen Gejichte etwas jehr Männ— 
liches, während doch Mund und Augen immer fehr milde, weich 
und beinahe weiblich lächelten. Man mußte den jungen Mann, 
der übrigens jünger ſchien al3 er war, gleich lieb haben, und 
troß feinem vornehmen, cavaliermäßigen Ausjehen fühlte man 
fih doch gleich vertraut mit ihm. Auch ſah er mir ſehr auf: 


464 Novellen. 


munternd zu, als ich mich näherte, um feine Bunda zu betrachten, 
fo aufmunternd, daß ich an der großen Quafte bald wie an einer 
Klingelfhnur 309. Er bielt fih jtile und ſchweigſam nahe ver 
Thüre, während der andere fremde, ein Feiner, fehr beweg— 
liher Mann von ungefähr fünfzig Jahren, auf meine Mutter 
zutrat, einen Brief aus der Taſche zog und mit einer Zunge, die 
eben fo beweglich ſchien wie feine ganze Geftalt, rafch eine Menge 
Komplimente hbervorbradte, fi al Herrn Gregor Altmann, den 
andern als feinen Schwager Wilhelm Gerhard vorftellte und, 
den Brief überreihend, ihn al3 ein Empfehlungsichreiben an: 
fündigte, da3 vom Bruder meiner Mutter fomme, und fofort 
im rafcheften Zuge. Er war nicht zehn Minuten in der Stube, 
al3 wir ſchon feine Abkunft Fannten, einen Blid in feine Ber: 
bältnifje werfen konnten und als er ſchon die Schönheit unferer 
Gegend, die Lage unſeres Haufes, ja felbft den Reichthum des 
Glasſchrankes gelobt, mich einen jchönen Jungen genannt, die 
Beichwerlichkeiten ver Reife beflagt und bedauert hatte, den Vater 
nicht zu Haufe zu finden, Meine Mutter hatte faum Zeit, ihre 
Freude darüber augzudrüden, daß fie Empfohlene ihres Bruders 
empfangen und fich über die Unordnung auf dem Tifche zu ent 
ſchuldigen. Sie war überzeugt, daß fie hier zwei ausgezeichnete 
Männer begrüße. Ihr Bruder, Lehrer an der Hauptſchule einer 
großen Stadt, d. i. einer Stadt von fiebentaufend Einwohnern, 
der Gelehrte der Familie, auf deſſen Wort meine Mutter viel 
gab, hatte fie ja empfohlen! 

Es that mir fehr leid, als meine Mutter die beiden Fremden 
zum Großvater hinüber führte und mir nicht erlaubte mitzugeben. 
Ich hätte den jhönen Mann in der ungarifhen Bunda gerne 
noch lange betrachtet und beinahe eben fo gerne feinen Heinen 
diden Begleiter plaudern hören. Und wahrhaft wehe that es mir, 
von der Gejelihaft ausgeichloffen zu fein, als glei darauf in 
der Küche der Großmutter ein arges Baden und Kochen losging. 
Ich hatte den einen Troft, wenigſtens nicht aus der Küche ge: 
wieſen zu werden, und ich fonnte fehr wohl bemerken, wie Mutter 


Tante Helene. 465 


und Großmutter, die ab» und zugingen, bedeutungsvolle Blide 
tauſchten. Ich ahnte, daß etwas Großes und Außerordentliche 
vorging. Tante Helene war fehr ſchweigſam, was mich jehr 
wunderte, da fie fonjt Haus und Hof mit Geplauder und Ge: 
fang erfüllte. Mehr noch wunderte es mich, daß die Großmutter 
ihre Tochter, bejagte Tante Helene, die immer ſehr propre ge: 
fleidet war und die, nach dem Ausdrude des Großvaters, immer 
ausfah, als hätte man fie eben aus einem Bühschen genommen, 
beute nicht ſchön genug gekleidet fand. Sonft fand fie, daß ihr 
Töchterhen für ein Dorfmädchen fich viel zu Schön anziehe und 
viel zu viel Zeit darauf verwende. Heute fand fie das Gegen— 
theil, und Tante Helene fträubte fich ganz gegen ihre Natur, ein 
fchöneres Kleid oder wenigſtens eine hübſchere Schürze anzulegen. 
Die Welt fchien mir auf den Kopf geftellt und ich fah Großmutter, 
Mutter und Tante mit großen Augen an. Mit der Tante hatte 
ich einiges Mitleid, denn die Großmutter fagte ihr, fie ftelle fich 
dumm an und wiſſe mit den Fremden fein Wort zu ſprechen; 
darüber verwunderte ich mich noch mehr als über alle Andere, 
denn nicht einmal, fondern hundert Male hatte ich e8 aus dem 
Munde meines Großvater3 gehört, mie fchade e3 fei, daß aus 
dem Mädchen kein unge geworden; da3 hätte einen Advokaten 
gegeben, der alle Andern auf zwanzig Meilen im Umtreife in 
ven Sad geftedt hätte. Ich mußte ja außerdem, daß fie der 
Großvater bei den ſchwierigſten Geſchäften, bei ven vermwidelteften 
Aufträgen verwendete, daß er fie mit den höchſten kak. Beamten, 
mit denen er in Berührung fam, verhandeln ließ. Und die follte 
mit Einem Male dumm geworden fein. E3 ftand an jenem Abende 
nicht3 auf diefer Erde feſt für mich; ich verftand die Welt nicht 
mehr. Aber es ging mir doc ein Licht auf, als die Großmutter 
einen Augenblid, da die Tante die Küche verlaſſen hatte, be: 
nußte, um meiner Mutter rafch zuzuflüftern: „Du wirft dich 
überzeugen, Sophie'hen, e3 ift ein Freier. Mas der Dide da 
von MWollgefhäften fpricht, das ift Alles Geflunker. Wann ift 
noch ein Gefhäftsmann wegen der Wolle in diefe waldige Gegend 
Mori Hartmann, Werke VI. 30 


466 Novellen, 


gefommen? Ich wette hundert gegen eins: es ift ein Freier, der 
wegen meiner Helene fommt, und der Gelbjchnabel von Mädel 
hat's zuerjt gemerkt. Hab’ ich fie doch mein Lebtag nicht jo 
ſchüchtern und einfältig gejehen.“ 

„Run, und wenn e3 wäre?” fragte meine Mutter und fügte 
jtolz hinzu: „Ein Mann, den mein Bruder empfiehlt, ift gewiß 
empfehlenswerth.“ 

„Ich ſage nicht Nein,“ gab die Großmutter zu, „und ſo 
viel man ſehen und hören kann, iſt es ein recht netter junger 
Mann, der ſich auch in der Welt umgeſehen hat. Er hat ganz 
Ungarn durchreisſt und kam, Gott weiß wie weit, bis an die 
türkiſche Gränze, wo alle Leute Soldaten find, und er erzählt 
ganz ſchön davon.” 

„Wenn ihn mein Bruder empfiehlt,” jagte wieder meine 
Mutter, „jo ilt er gewiß ein recht gebilveter Mann, denn mein 
Bruder geht nur mit gebildeten Männern um.“ 

„Davon bin ich überzeugt,“ bejtätigte wieder die Großmutter, 
aber jie fügte etwas bedenklich hinzu: „Dein Bruder iſt ein Ges 
lehrter — nun mir willen ja, wie Gelehrte find — auf weltliche 
Angelegenheiten verjtehen fie fich Schlecht. Dein Bruder, ich will 
dich nicht beleidigen, Sophie'hen, hat's auch nicht jo weit gebradit, 
als es ein gejchidter Mann bringen könnte. Nun mag diejer 
Herr Gerhard ein ganz gejhidter Mann fein und ein jchöner 
Mann ift er gewiß, ob er aber darum eine gute Partie ift, wie 
wir fie Gottlob für unfere Helene mit Recht beanspruchen dürfen, 
ob jeine Umftände derart find, daß zehntaufend Gulden Mitgift 
— aber,” unterbrach fich bier die Grogmutter und wandte ſich 
mir zu, „da fteht der Heine Lump und horcht auf jedes Wort, 
da3 wir fprehen — man kann gar nicht mehr reden, ohne von 
diefem Heinen Volke belaufcht zu werden.” 

Bei diefen Worten faßte fie mih an beiden Schultern und 
ihob mich zur Küche hinaus, Ich war jehr unglüdlih, jo plög: 
(ih au3 dem Familiengeheimniffe ausgeſchloſſen zu fein und brad) 
in Weinen aus, Tante Helene, die eben aus der Stube trat, 


Tante Helene. 467 


hob mich zu fih empor und füßte mich mit noch größerer Zärt: 
lichkeit al3 jonjt und machte mir, mährend fie mic in unfere 
Wohnung zurüdtrug, alle möglihen Verfprehungen, um mid 
zum Echweigen zu bringen. Auch mifchte ih mir fogleich vie 
Thränen ab und fühlte das Bedürfniß, ihr für ihre Zärtlichkeit 
und für ihre Verfprehungen meine Dankbarkeit zu beweifen, in: 
dem ich ihr den Inhalt des Geſpräches von Mutter und Groß: 
mutter verrieth. „Zante Helene,“ fagte ich, „ver ſchöne junge 
Mann ijt ein Freier und hat das Land gejehen, wo alle Leute 
Soldaten find, und dann ift noch etwas von zehntaufend Gulden 
dabei, aber ob er eine gute Partie ift und von den weltlichen 
Angelegenheiten weiß der Onkel Schulmeifter und weiß die Groß: 
mutter auch nichts, aber der Onkel Schulmeifter kennt lauter ges 
Ihidte Leute.“ 

Nachdem mich die Tante hatte ausfprechen lafjen, befahl fie 
mir zu ſchweigen und fagte mir, wenn ich recht brav fein und 
feinen Lärm machen wollte, jo lange die Fremden im Haufe find, 
jo werde fie mir ein Stüd Pfannkuchen herunterbringen. 

Über fie brachte keinen Pfannkuchen. Ich und mein kleines 
Brüderhen blieben den ganzen Abend in größter Cinfamteit. 
ALS der Vater fpät heimkam, holte ihn jogleid die Mutter hin: 
über zum Nachtefjen. Sie felbit fam bald darauf zurüd, um 
uns ind Bett zu legen. Allein die aufregenden Vorgänge dieſes 
Abends ließen mich nicht ſchlafen und von unſerer Kinderſtube 
aus, die mit der großen Wohnſtube durch eine große Oeffnung, 
in welcher der Ofen ſtand, der beide Zimmer heizt, in Verbin— 
dung war, konnte ich Alles hören, was drinnen vorging und 
ſogar ſehen, wenn ich mich in meinem Bette nur ein wenig auf— 
richtete. Nach dem Nachteſſen kam mein Vater mit der Mutter 
in die Wohnſtube zurück. Die Mutter reichte ihm Kleider zum 
Wechſeln, er aber ſagte, indem er einen andern Rock anzog: 
„Es war nur eine Ausrede, daß ich den Rock wechſeln wollte, 
weil ich mit dir allein zu ſprechen wünſchte. Weißt du, Sophie, 
daß mir die zwei Leutchen gar nicht gefallen!“ 


468 Novellen. 


„Die ,” rief meine Mutter erftaunt, „zwei Männer, die mein 
Bruder empfiehlt *“ 

„Die Empfehlung deines Bruders in Ehren, fieht mir diefer 
Herr Altmann jo recht wie ein Spigbube aus. Er fpricht jo 
ichredlich viel, ald brauchte er die vielen Reden, um fich dahinter 
zu veriteden; das weiß ich aus dem Geſchäfte, dab die Leute, 
die fo viel reden, nicht viel taugen und daß die Leute, die viel 
von Geld reden, nicht viel Geld haben.“ | 

„Und der Andere?” fragte meine Mutter. 

„Sin ſchöner Mann, o ja, ein fehr ſchöner Mann — jehr 
ein ſchöner Mann, gewiß auch ein guter Menfd und wenn er 
fpricht, thut er’3 ohne Prahlerei und wie ich vermuthe auch nur 
darum, weil ihm der Andere gejagt hat, daß er jprechen muß. 
Aber er ift mir verdächtig, meil er mit dem Andern ift. Er ilt 
nicht fein eigener Herr, der Andere lenkt und leitet ihn und weil 
er ein fo jhöner Mann ift, fo glaube ih, daß der Andere mit 
ihm ſpekulirt.“ 

„Dazu ift er denn doch ſchon zu alt,” erwiderte meine Mutter, 
„auch muß er ſchon zu erfahren fein, um fi wie ein Mädchen 
gängeln zu lafien, ein Mann, der jo große Reifen machte.” 

„Ja diefe Reifen,” fagte mein Vater fopfichüttelnd — „von hun: 
dert Reiſenden find neunundneunzig Abenteurer, bleibe im Lande 
und nähre dich reblich, und wo ift er gewejen? In Ungarn, wohin 
alle Bankerottirer laufen, weil es dort feine Geſetze gibt; wäre 
er in Sachſen oder in Preußen geweſen, ich hätte nichts dagegen, 
Ungarn ijt mir verdächtig. Indeſſen,“ fügte mein Vater hinzu, 
„ih will nit vorſchnell urtheilen und will vem jungen Manne 
nicht Unrecht thun, denn er fieht ganz ordentlich und einnehmend 
aus. Uebrigens wird man ſich ja erfundigen und wird der Mann, 
bevor es zum Klappen fommt, mit der Sprade berausrüden 
müfjen. Dazu bin ich ja da, der Bruder, und ift der Vater da. 
Wir werben fehen.“ 

So ſprechend, verließ der Vater wieder das Zimmer, um zu 
den Gäften hinüberzugehen; die Mutter hängte feinen Rod in 


Tante Helene. 469 


den Schrank und wollte eben zu ung herüberfommen, um nad) 
den Kindern zu jehen, als die Thüre aufflog und meine ſchöne 
Tante Helene hereinftürzte. Zwar einmal im Bimmer wußte man 
nicht, was fie fo eilig da zu thun hatte, denn fie blieb ruhig an 
der Thüre ftehen und fagte nichts. Meine Mutter jah fie an 
und fragte, was fie wollte, da wurde fie wieder lebendig und 
rief: „Sophie, weiß Gott, jo ein Mann: ift mir mit einem balben 
Kopf lieber, als ein Neuberg mit zwei Köpfen.” 

„Man follte wirklich glauben, daß du ſchon verliebt bift,“ 
fagte meine Mutter mit einigem Vorwurf in der Stimme. 

„Ja,“ erwiderte die Tante mit Entfchievenheit, „ich bin es,“ 
und dabei hob fie den Kopf in die Höhe und fah meine Mutter 
fo herausfordernd an, daß ich glaubte, fie wollte zu zanken an- 
fangen. 

„Aber Helene,” fagte meine Mutter befhwichtigend, „du bift 
ja ein geſcheidtes Mädchen. So ein Schritt will überlegt fein — 
du bift ja jonft nicht fo. Man weiß ja noch gar nicht? von dieſem 
Manne, und ob er zu dir paßt, und feine Vermögensverhält— 
nifje —” 

„Das ift mir Alles gleichgültig! Diefen oder Keinen,” rief 
die ſchöne Tante, und al3 ob fie nirgends Ruhe hätte, oder noch 
einen Widerspruch von meiner Mutter befürchtete, lief fie wieder 
zum Zimmer hinaus und meine Mutter folgte ihr. 

Da war wieder fehr Vieles, was mir Kopfbrecdhen verur- 
fachte und Vieles, was mir neue Lichter aufftedte. Daß der 
Neuberg mit zwei Köpfen neben diefem Fremden mit einem 
halben Kopfe genannt wurde, das erflärte mir zum erjten Male, 
warum denn diefer gute Neuberg fo oft zu ung ins Haus fam 
und warum er mir erſt vor Kurzem einen Kanarienvogel geichentt 
hatte. Offenbar wollte er ebenfo wie diefer Fremde mein Onkel 
werben. Es fchmeichelte mir, daß er mich mit dem Kanarienvogel 
bejtehen mwollte und ich bevauerte ihn, in Erinnerung an bie 
vielen häßlichen Sachen, melde Tante Helene hinter jeinem 
Rüden gejagt hatte. Sie fand ihn nämlich überaus dumm und 


470 Movellen. 


plump. Ich fonnte ihr, wenn ich ihn mit dem Fremden verglich, 
nicht Unredht geben, aber die Gefchichte von dem halben Kopf 
und von den zwei Köpfen verſtand ich doch nicht recht; ich wußte 
am Ende nicht mehr, welchem von Beiden fie einen halben und 
welchem fie zwei gegeben hatte und ich glaube, ih träumte ſchon 
al3 ich die beiden Freier meiner fhönen Tante Helene abwech— 
jelnd mit einem halben, mit einem ganzen und mit zwei Köpfen 
geipenftiih vor mir herumtanzen ſah. Ich fchlief jehr unruhig, 
und als mich die Mutter am andern Morgen nach der Urſache 
fragte, fagte ih, ich hätte deßhalb ſchlecht geſchlafen, weil vie 
Tante Helene eine ſchlechte Partie machen jolle. 


weites Anpitel. | 


Die beiden Fremden reisten am Tage nad ihrer Ankunft 
wieder ab. Es hatte fih im Haufe nicht verändert und doch 
war alles anders und ganz anders, als nach der Abreije anderer 
Beſuche. Alle Welt ſprach von Herrn Wilhelm Gerhard, nur 
Tante Helene nit. Sie war nicht ſchweigſamer als ſonſt; fie 
war lebhaft wie immer, aber fie fah aus wie Jemand, der im 
Geheimen zu etwas entſchloſſen ift, und wenn die Andern von 
dem Fremden fprachen, fagte fie fein Wort, aber gerade das 
fchien zu bedeuten: fagt ihr, was ihr wollt, ich weiß doch, mas 
ich thun werde. So viel ich mich erinnere, war das ganze Haus 
in zwei Parteien getheilt, die Einen für, die Andern gegen den 
Freier und beide Parteien mußten nicht reht, warum fie für 
oder gegen waren. Der Großvater ftand damals auf Seiten de3 
Fremden, nur weil ihm die Großmutter gejagt hatte, daß Helene 
gewaltig verliebt fei und daß fie fich die ganze Nacht ſchlaflos im 
Dette hin: und herwälze. E3 war mit dem Großvater eine eigene 
Sache. Sein Lebenlang im höchſten Grade praftiih und auf 
Erwerb ausgehend, wurde er in feinen alten Tagen romantifd. 


Tante Helene, 471 


Seit ihn die Gicht den größten Theil des Jahres an das Haus 
bannte und ihn zwang, die Gejhäfte feinem Sohne zu über: 
laflen, wurde er jung und etwas phantaftiih. Er ließ fih von 
aller Welt Geſchichten erzählen und er felbit erzählte uns Kindern 
Geſchichten aus alten Zeiten und allerlei Märchen, die er kannte 
oder jelber erfand. Am Lebhafteiten aber äußerte fich feine zweite 
Jugend im Verhältniß zu feiner jüngften Tochter Helene. Nach— 
dem er ſchon vier feiner Kinder gut verforgt und verheirathet 
hatte, hing fein ganzes Herz an diefem feinem jüngften Kine, 
und er holte bei dieſem Töchterlein alle Zärtlichkeit nad, die er 
bei jeinem früheren Gejhäftsleben den andern Kindern gegenüber 
verfäumt hatte. Helene konnte er nicht nur Nichts verfagen, 
jeder ihrer Wünfche wurde fein eigener Wunfh und in ihm viel 
lebhafter al3 in dem Mädchen. Es reichte hin, daß ihr etwas 
gefalle, und der Großvater faufte es ihr fofort, felbjt wenn fie 
fih gegen die Ausgabe fträubte und mit dem Gefallen bei ihr 
aud nicht der geringste Wunſch nach Befit verbunden war. Es 
war übrigens natürlih, daß der alte Mann diefen Troft feines 
Alters liebte. Helene, wenn auch nicht fo jchön, mie fich ihr 
Vater einbildete, der fie für die größte Schönheit de3 Landes 
bielt, war in der That ein überaus reizendes Mädchen und dabei 
eined von jenen glüdliben Geſchöpfen, denen Alles gut ſteht, 
was fie immer an» und umthun mögen. Sie vereinigte bie 
mwiderjprechenditen Schönen Eigenschaften in ihrer Erſcheinung; fie 
war fräftig und zart, derb und anmuthig, ruhevoll und beweg— 
lich, ftolz und überaus freundlich und einnebmend. Mein Groß: 
vater fannte faum eine größere Freude, als fie anzufehen, wenn 
fie zu Beſuche ging, beſonders am Sonntage jchleppte er fich mit 
Mühe auf die Bank vor der Hausthüre, won welchem Stand: 
punfte aus er ihr am längften nachſehen konnte, wie fie über bie 
Teihdämme, über die MWiefe, dem etwas entfernten Dorfe ent: 
gegenfchritt und man konnte fiher fein, daß er feinen Sig nicht 
eher verlaffe, als bis er, und zwar immer mit der Brille auf 
der Nafe, fie defjelbigen Weges zurüdfommen gejehen. Ebenjo 


472 Rovellen. 


gerne hörte er jie jprehen und aus jedem ihrer Worte jog er die 
Ueberzeugung ein, „daß fie wie das ſchönſte auch das geſcheidteſte 
Mädchen im Lande jei.” Cr hatte nur einen Kummer. Er war 
nicht jo reich al3 die Welt glaubte. Jedem feiner vier verforgten 
Kinder hatte er zehntaufend Gulden W. W. mitgegeben; Aus: 
ftattung und Hochzeiten, die jeinem Stolze entſprechend ausfallen 
mußten, hatten auch an zwanzigtauſend Gulden gefoftet, Summa: 
jechzigtaufend Gulven, ein großes Vermögen für einen damaligen 
reihen Mann des offenen Landes. Es war ihm noch fo viel 
übrig geblieben, um Helenen ebenjo reich auszuftatten wie die 
andern Kinder, Nicht das grämte ihn, daß er, wie er allein 
wußte, nachher als ein alter armer Mann zurüdbleibe, jondern, 
daß er einem ſolchen Mädchen nicht einen Mann in höheren 
Kreifen juchen könne. Inſoferne war ihm der vom Himmel ge: 
fallene Freier, Herr Wilhelm Gerhard, von dem er ſonſt nicht3 
wußte, jehr lieb, ala diefer mit Ausfehen, Auftreten, Erfahrung 
und Bildung diefen hohen Kreijen bis zu einem gewiſſen Grade 
angehörte. Alles das zufammengenommen machte, daß er ent: 
jhieden auf Seiten Helenens ftand und entſchloſſen war, dem 
jungen Manne, der in einiger Zeit wiederfommen follte, im 
Falle er um die Hand feiner Tochter anhielte, eine hoffnungs— 
volle Antwort zu geben. Mein Vater hingegen, der no ganz 
in der praftiihen Periode ſtak, aus welcher der Großvater in 
jeiner zweiten Jugend herausgewachſen war, empörte ſich über 
die Liebe de3 Mädchens und über die Voreingenommenbeit des 
alten Mannes einem Fremden gegenüber, von dem man jo wenig 
wußte, der offenbar weder Stand noch Geſchäft hatte, ihm eben 
wegen feiner Schönheit und Liebenswürdigfeit al3 ein unpraftis 
ſcher Gejelle und in der Gejellfchaft feines Schwagers noch dazu 
als verdächtig erfhien. Die Großmutter ſchwankte; mein Vater 
hatte fie mit feinem Mißtrauen angejtedt und ihre mütterlice 
Liebe war auf der einen Seite beforgt, auf der andern gab fie 
gerne der Neigung ihres Kindes nad, und diefes Legtere hielt 
fie für unbedingt nothwendig, überzeugt wie fie war, daß jeder 


» 


Tante Helene. 473 


Widerſpruch Helenen in ihrem Entſchluſſe nur befeftigen könne. 
Helene, die fich bisher allen Bewerbern gegenüber überaus ſpröde 
benommen hatte, galt bei Jedermann für ſtolz und alt, bei 
Jedermann, nur nicht bei der Mutter; dieſe behauptete immer, 
daß wenn diefes Kind fich einmal irgend etwas oder irgend Je— 
mand in Kopf oder Herz fegen werde, es feine Macht der Erbe 
wieder werde austilgen fünnen und daß, wenn Helene ftolz jei, 
fih diefer Stolz gegen Diejenigen kehren werde, die fich ihrem 
Entſchluſſe mwiderjegen. Ebenſo hatte jie immer behauptet, daß 
das Alles über Nacht fommen werde, und als e3 fam, mar fie 
weniger überrajcht als erjchroden. Auch meine Mutter war 
ihwanfend. Als junge Frau nahm fie Partei für die Liebe und 
als Schmweiter für den Empfohlenen ihres gelehrten Bruders, 
aber mein Vater, auf deſſen Urtheil fie jo viel gab, war am 
Ende doch ftärker al3 der abmwejende Bruder und bradte fie da: 
bin, daß jie zur Zeit mehr gegen als für die Heirath war. Doc 
jpielt meine Mutter in diefer Gefchichte eine zu Eleine Rolle, als 
daß mir ihre Gefühle, mit denen fie dabei betheiligt war, näher 
auszuführen brauchen. 

Außerdem fenne ich das Alles nur aus fpätern Mitteilungen. 
AS Augenzeuge fann ih nur erzählen, was ich wirklich mit 
Augen gefehen. 

Ungefähr vierzehn Tage nad dem erſten Bejuche fehrte Herr 
Wilhelm Gerhard wieder und zwar allein, ohne feinen Schwa— 
ger, was ihm im Allgemeinen fehr zum Vortheile gereichte. In 
Folge deſſen lud man ihn ein, dießmal länger zu bleiben und er 
blieb auch drei Tage. Sein etwas furchtſames und ſchüchternes 
Weſen gab ihm einen Anſtrich größerer Jugend als er wirklich 
beſaß, und dieſes wieder flößte mehr Vertrauen ein. Man glaubte 
ihm gerne und mein Vater übernahm es, ihn über ſeine Ver— 
mögensverhältniſſe auszuforſchen. Es war bald unzweifelhaft, 
daß er in feiner Stadt S.. ein zweiſtockiges Haus beſaß und 
ein zmweiftodige® Haus in diefer wohlhabenden Kreisjtadt war 
ein Befig, der zu einer Mitgift von zehntaufend Gulden W. W. 


474 Novellen. 


im böchjften Grade beredhtigte. Freilich konnte man vom Befite 
diefes Haufes nicht leben und hatte Wilhelm Gerhard, mie er 
offen eingeftand, auch fein eingerichtete Gefchäft; aber er mar 
erſt vor Kurzem von Reifen heimgekehrt, hatte noch feine Zeit 
fih einzurichten, und gejtand außerdem mit Offenheit ein, daß 
er fich verheirathen und die etwaige Mitgift zur Errichtung eines 
Geſchäftes benugen wolle. Praktiſchen Männern, wie Vater und 
Großvater waren, konnte es nicht mißfallen, daß ein junger 
Mann nah einem beträchtlichen Heirathsgut ausblide und daß 
er ein Geſchäft erjt mit Fonds in Händen beginnen wolle. Die 
Stellung de3 jungen Mannes wurde im Haufe eine viel befjere; 
man machte Spaziergänge mit ihm, man erlaubte ihm, dem 
jungen Mädchen den Arm zu geben, auch dem Reſt der Gejell- 
ſchaft manchmal einen Vorfprung abzugewinnen und Worte aus: 
zutaufhen, die die Andern nicht hören konnten. ch erinnere 
mich genau, wie oft ich auf diefen Spaziergängen von meiner 
Mutter zurüdgerufen wurde, wenn ic mid, alter Gewohnheit 
folgend, an Tante Helene angehängt hatte. Wilhelm Gerhard 
reiste nicht ab, ohne dem Großvater feine Abfichten fund gethan 
zu haben. 

Ungefähr zehn Tage ſpäter wurde aus der Scheune die alte 
Kalefhe hervorgezogen und vom Knechte in allen ihren Theilen 
auf das Sorgfältigite gepugt und hie und da jogar friſch ange: 
ftrichen; fie hieß in der Familie nur die Arhe Noäh und ftammte 
aus der Verlaffenfchaft eines Dekans, nah deffen Tode ſie mein 
Großvater um volle fünfundfünfzig Gulden erſteigert hatte. 
Neben dieſen fünfundfünfzig Gulden hatte ſie noch allerlei Koſten 
verurſacht, da ſie roth angeſtrichen war, wie ſämmtliche Kale— 
ſchen der reichen Pfarrer, Dekane und Pröbſte der Umgegend 
und mein Großvater nicht für einen Geiſtlichen gehalten werden 
wollte. Die rothe Farbe wurde demgemäß mit einer blauen über— 
zogen. Da aber das Blau nicht dick genug aufgetragen war, 
außerdem der Zeit und dem Wetter wich, ſchlug das geiſtliche 
Roth durch die dünne Hülle immer wieder durch und es gab eine 


Tante Helene, 475 


höchſt niederſchlagende Farbenmiſchung. Trotzdem war die Arche 
Noäh der Stolz des Großvaters und der ganzen Familie, denn 
wir waren die einzigen Bürgerlichen der ganzen Umgegend, .die 
eine Kalefhe bejaßen; dennob, da mein Großvater es nicht 
liebte, übertriebenen Qurus zu treiben und vor Allem den Neid 
feiner Mitbürger nicht weden mollte, fam die Arche Noäh nur 
bei feltenen und höchſt feierlichen Gelegenheiten zum Vorſchein. 
Es ging gewiß immer etwas Großes vor, wenn fie ſelbſt aus 
der Scheune hervorgezogen und wenn die Kiffen und das Spritz— 
leder aus der Kammer, wo man fie beſonders verwahrte, hervor: 
geholt wurden. Heutzutage würde eine verweichlichte und ver: 
derbte Melt mit Spott auf eine Kalefche nieverfehen, die vorn 
unmittelbar auf der Achfe lag und in diefen Theilen ebenfo er: 
fchüttert wurde wie jeder gewöhnliche Bauernmwagen, damals aber 
war man ftolz auf die zwei weit ausgebogenen Federn, auf denen 
fie fich mit dem hintern Theile zu wiegen begnügte. Es ift wahr, 
daß man in der Arche Noäh niemals eine Reife ohne irgend einen 
Heinen Unfall zurüdlegte, da fie bereitö ein bedeutendes Alter 
binter fih hatte und daß die Großmutter den Großvater immer 
mit größerer Bejorgniß in der Kaleſche als in einem gemöhn- 
lihen Bauernwagen abreifen ſah — aber e3 war doch eine Ka— 
lefhe, und da man fie befaß, war man es fi und feiner Würde 
ihuldig, fie bei großen Gelegenheiten zu benugen. Das Cr: 
ſcheinen ver Kalefhe auf dem Hofe war immer ein Creigniß, er: 
füllte mein Gemüth immer mit großer Feierlichfeit und prägte 
fih darum meinem Gedädtniffe ein. Und fo erinnere ich mic) 
ganz wohl, wie der Großvater hineingehoben wurde, wie ihm 
mein Vater nadhjftieg, wie Beide ihre Sonntags-Kleider anhatten 
und wie die Großmutter Beiden anempfahl, fih das Haus Ger: 
hards doch recht anzufeben und ſich überhaupt genau zu erfun: 
digen; ferner wie Mutter und Großmutter der Kalefhe lange 
nachſahen, fo lange fie fihtbar war und wie fie dann noch ge 
dankenvoll im Hofe ftehen blieben. „Mein armer Meldior,“ 
jagte endlih meine Großmutter, „ich hätte nicht gedacht, daß 


476 Novellen. 


er in feinen alten Tagen und mit jeinem Podagra noch jo eine 
lange Reife von zwanzig Meilen maden werde. Was thut man 
nicht für feine Kinder! Wenn's nur zum Guten ausjhlägt. Gott 
gebe es!“ 

Vater und Großvater blieben viele Tage aus, denn ein 
Meg von zwanzig Meilen mit eigenen Pferden und einer Ka- 
leſche wie die unfrige, auf fchlehten Wegen, wie man fie damals 
in unferem Lande nicht anders fannte, nahm wenigſtens drei 
Tage in Anſpruch und jo mochten wohl an zehn Tage vergangen 
jein, al3 die Kaleſche wieder in den Hof einfuhr, Großmutter 
und Mutter ihr entgegen, während Tante Helene in der Stube 
blieb und unmwilltürlich nach der Rampe des Kachelofen3 griff um 
fih daran zu halten. Sie trat erft auf den Hof, als der Vater 
ausrief: „Wo ift denn das Mädel?” Er drüdte fie in jeine 
Arme, küßte fie und fagte mit bebenvder Stimme: „Nun gebe dir 
Gott alles Glüd und mögeft du's nie bereuen! Du bift Braut.” 
Auf diefes Wort brad Alles in Weinen aus; ich meinte mit und 
alle Mägve, die auf den Schwellen der beiden Hausthüren er 
jhienen waren, um die Kalefche zu fehen, meinten ebenfalls mit 
und Alle wußten jogleih wer der Bräutigam war, obwohl e3 
ihnen Niemand gejagt hatte und obmohl fie gethan hatten, als 
ob fie gar nicht merkten. Sie fanden au Alle, daß Fräulein 
Helene ganz recht gethban habe und daß fie einen jehr jchönen 
Dann befomme, der fehr vornehm ausfehe. Helene gab Allen 
die Hand und lief dann in ihr Zimmer um ſich auszumeinen. 
Ich lief ihr nad, denn ich hielt es für meine Pflicht ihr eben: 
falls zu jagen, daß fie Recht habe, wie's die Andern gethan 
hatten. „Weine nicht, Tante Helene,” rief ich ihr ſchon won ber 
Schwelle zu, „ou haft ja ganz recht gethan.” Sie nahm mich auf 
ihren Schooß, küßte mich und fagte: „Gott gebe, daß du wahr 
ſageſt.“ Dann fing fie noch heftiger zu weinen an und ich wußte 
nicht mehr, was ich fagen follte. 


Tante Helene. 477 


Drittes Kapitel. 


Der Bräutigam kam bald, und da er zu Haufe nichts zu 
thun hatte, blieb er mehrere Tage, und das war für ung Kinder 
eine luftige Zeit; er bradte und Hanswürſte und Steckenpferde 
mit und zu den Befuchen, die er mit feiner Braut in der Nach— 
barſchaft machte, wurden wir und zwar immer in der Arche Noäh 
mitgenommen. Im Haufe viel bejjer gekocht als ſonſt; Gänſe 
und Truthühner, unfere guten Belannten verſchwanden vom 
Hofe und ich durfte bei den großen Mahlzeiten immer mit dabei 
fein. Da faß Onkel Gerhard immer neben der Tante Helene und 
ich fah e3 ganz deutlich, wie fie manchmal unter dem Tifch ein- 
ander die Hände drückten. Ich ſah auch, wie der neue Ontel die 
Tante manchmal, wenn fie allein waren, da ich nicht zählte, fehr 
berzlih und oft umarmte und küßte. ch glaubte nun den deut: 
lichſten Begriff vom Zuftande der Brautichaft zu haben. Diefer 
ſetzte fi für mich aus Befuchen in ver Kaleſche, aus gebratenen 
Gänſen und Truthühnern, Sonntagslleidern, Händedrüden und 
Küffen zufammen. Es ſchien mir der ſchönſte Zuftand der Welt 
und ich begeiff fehr wohl, daß Neuberg, der zu diefem Zuftand 
nicht fommen fonnte, der einzige Traurige in der Gejellichaft 
war; der Lejer weiß e3 ſchon, daß dieſer ebengenannte junge 
Mann zu den unglüdlichen Bewerbern der Tante Helene gehörte. 
Cr war der Sohn des Dorfarztes, der, jo lange er lebte, ver 
gute Freund des Haufes gewefen, und deſſen Freundfchaft fich 
auf den einzigen Sohn vererbte. Auch er hatte Arzt werben 
follen, fiel aber zu wiederholten Malen durchs Cramen, ergab 
fi in fein Schidjal und lebte auf dem Dorfe von der Rente 
des kleinen Vermögens, das ihm fein Vater hinterlaffen. Er 
hatte feine andere Bejchäftigung al3 die, der Tante Helene alle 
möglihen Aufmerkſamkeiten zu erweijen, immer für fie bejorgt 
zu fein und ihr troß wiederholter Zurüdweifungen den Hof zu 
machen. Er gab es felber zu, daß er gar nicht der Mann jei, 


478 Novellen. 


der auf ein Mädchen wie Helene Brant Anſprüche erheben dürfe. 
Er nannte fich jelbit eine Vogelſcheuche, eher gemacht abzuſtoßen 
als anzuziehen und einen Menſchen, ver offenbar zu Nicht3 nüße 
ſei, da er nicht einmal das leichte chirurgifhe Eramen habe 
machen fünnen. Aber wer fonnte ihm verbieten die Reize He— 
lenens und alle ihre Vorzüge anzuerkennen und jie zu lieben. 
Mas wäre es, wenn er das nicht thäte, was ihm allein einen 
Werth in feinen eigenen Augen gab, Es war gewiß ein Zeichen 
feiner Aufrichtigfeit, daß er nad) der Verlobung wie vorher all 
täglich ing Haus fam, freilich noch etwas ſchweigſamer als ſonſt 
und nad einigen Tagen au etwas trauriger. E3 fragte ihn 
Niemand nad der Urjache und das gerade bewog ihn fich darüber 
auszusprechen und zwar gegen meine Mutter. 

„Ihr meinet Alle,” jagte er eines Tages nad der Abreije 
Gerhards, „daß ih aus Eiferſucht traurig bin, oder weil Helene 
einen Andern gewählt hat. Nicht im Geringjten, ich finde das 
natürlich, aber ich weiß, daß ihr über die Verhältnifje des Ber: 
lobten nicht im Alaren ſeid und daß man Helenen verlobte, weil 
fie verliebt ift. Wenn fie nun ihre Liebe ind Unglüd ſtürzt?“ 

„Run,“ fragte meine Mutter zurüd, „hätten Sie an unjerer 
Stelle anders gehandelt? Sie behaupten ja immer, daß die 
Liebe bei einer Heirath die Hauptjache fei, hätten Eie Helenen 
einen Mann verjagt, den jie liebt, nur weil er arm ijt?“ 

„Bott bewahre,” rief Neuberg, „einmal weil e3 gegen meine 
Grundſätze wäre, dann weil fi Helene Nichts verſagen läßt. 
Hättet ihr euch dieſer Heirath widerſetzt, fie hätte ihn erjt recht 
und troß euch genommen,“ 

„Run alſo?“ fragte meine Mutter wieder. 

„Sch wünſchte nur,“ fuhr Neuberg fort, „daß ihr Perfonen 
und Berhältnife befjer kennen gelernt hättet. Dann wenn etwas 
nicht richtig ift, ließ fih doch vorbauen.” 

Meine Mutter tröftete ihn damit, daß die Brautreife dem— 
nächſt unternommen werden ſolle. Es war nämlih Sitte in 
bürgerlichen Kreifen unferes Landes, daß die Braut, wenn fie 


Zante Helene. 479 


fih auf eine gewilje Entfernung verheirathete, vorher in Ber 
gleitung von Anverwandten das Haus des Bräutigams bejuchte, 
um Haus und Familie fennen zu lernen. Meine Mutter follte 
die Brautreije mitmachen und fie verficherte dem bejorgten Neu: 
berg, daß fie ſich recht umjehen wolle. Eie war dazu um fo 
mehr entichloffen als es der ganzen Familie gleich nad) der Ber: 
lobung wie Schuppen von den Augen fiel und fi Jedermann 
jagte, daß man ſich von dem Wunjche, Helenen zu gefallen, zu 
jehr hinreißen laſſen und die ganze Angelegenheit überftürzt habe, 

Die Reife wurde gemacht, da ich aber nicht mit von der 
Bartie war, fo fann ih nur beridten, was ich mit Staunen 
nad der Heimfehr durch mehrere Tage immer wieder und wieder 
erzählen hörte. Zwar die Tante Helene felbit erzählte Nichts, 
dafür aber Mutter und Großmutter defto mehr; jie waren von 
Allem, was fie erlebt hatten, fo entzüdt, daß fie fih, wenn fie 
Bater und Großvater nicht zu Zuhörern hatten, die ganze Ge: 
ſchichte ſelber rekapitulirten. Nach diefen Berichten ſtand e8 in 
den Gerhard'ſchen Familien aufs Schönfte und Beſte. Des Bräu— 
tigam3 Mutter war eine vorzügliche Frau, feine Schweitern gan; 
vortrefflihe Perſonen; Helene konnte jih unmöglich eine beflere 
Schwiegermutter und beſſere Echwägerinnen wünſchen, jelbit 
Herrn Altmann, dem Schwager, hatte man unrecht gethban. Es 
war allerdings wahr, daß er zu hoch hinaus wollte, daß er zu 
ſehr wie ein großer Herr lebte, dafür aber hatte er auch die 
Manieren eined großen Herrn, wie man überhaupt von der 
ganzen Familie Lebensart und Sitte lernen konnte, Es war er: 
ftaunlich, wie fie fih in dem Gerhard'ſchen Haufe auf das Bor: 
nehmjein verftanden. Bei Tifche z. B. hatte Jedermann bis auf 
das Hleinjte Kind eine Serviette, ein Qurus, der damals in unferer 
Gegend noch jehr felten war. Der Braut und ihren Beglei: 
terinnen bradte man de3 Morgens Orangen ins Bett. Solcher 
Kleinigkeiten wußten die Heimfehrenden unzählige zu berichten 
und priefen Helenen glüdlih, in folher Umgebung und in einer 
jo aroßen Stadt fünftig leben zu können. Nur Eines fiel ftörend 


480 Novellen. 


auf. Der Bräutigam bat der Braut die von der Sitte unum: 
ftößlich gebotene Perlenſchnur nicht geichenkt. Mein Vater fragte 
gleich darnach und war jehr unangenehm berührt, als man fie ihm 
nicht zeigen fonnte. Man berubigte ihn damit, daß die Perlen: 
ſchnur ganz gewiß nachkommen werde, daß fie der Bräutigam 
während des Befuches, wie es die Sitte gebot, ung darum nicht 
geſchenkt, weil in diefer Stadt feine zu haben war, die er für 
Ihön und Helenens würdig genug gehalten hätte. 

Troß diefer Berfiherung blieb mein Vater, der nun einmal 
argwöhnifch war, verftimmt, und bald follte die Verftimmung 
bei ihm und bei allen Andern noch größer werden, 

An al dem Rumor und in all den Aufregungen nad ber 
Heimkehr hatte man nicht bemerkt, daß Neuberg verihmwunden 
war, und man war jehr erftaunt, ihn nad einigen Zagen vom 
Walde herab auf der Landſtraße daherfommen zu fehen, mit 
einem elleifen auf dem Nüden und einem Stod in der Hand, 
bejtaubt und etwas vernadhläfligt und müde, ganz wie ein Mann, 
der eine größere Fußreiſe hinter fich hatte Man ließ ihn am 
Haufe nicht vorübergehen, man rief ihn auf den Hof und er 
follte erzählen, woher er fomme, welche wichtigen Angelegenheiten 
ihn, der feit Jahren das Dorf nicht verlaffen, in die Ferne ge: 
trieben baben. Er feßte fih hin an die Seite des Großvaters, 
räufperte fih und war offenbar in Verlegenbeit. „Nun,“ jagte 
er endlih, „eben weil ich feit Jahren das Dorf nicht verlaflen, 
it es natürlih, daß ih aud einmal eine Neife machte. Die 
wichtigen Gejchäfte, die ich hier verfäumte! nicht wahr, iſt es 
nicht gleihgültig, ob ich meine faule Haut hier oder anders wo 
berum ſchleppe. Reist doch heut zu Tage alle Welt.“ 

Darauf brachte er das Geſpräch auf einen andern Gegen: 
ftand, erzählte etwas von einem Better und fragte die Groß: 
mutter, wie fie mit ihrer Reife zufrieden fei? Die Großmutter 
fing, jchnell bereit, da8 befannte Lied von der Vornehmbheit und 
von ber Lebensart des Gerhard'ſchen Haufes zu fingen an und 
merkte in ihrem Eifer nicht, wie ihr Neuberg mit einem bedenk— 


Tante Helen“ 481 


tihen Kopffchütteln zuhörte und manchmal ein „hm, hm“ oder 
„jo, jo“ dreinbrummte und dabei das Kinn auf den Knopf des 
Stodes fügte. Sie war fehr überrafcht, als Neuberg in einem 
Augenblide, da Helene, vielleiht müde, die Erzählungen von 
ver Vornehmbheit ihrer neuen Anverwandten anzuhören, ing 
Haus gegangen war, fich plöglich vorwärts neigte und halblaut 
in den Kreis hineinfagte: „Sch war aud in S.. und id) kenne 
jest die ganze Familie jo gut wie ihr und vielleicht beſſer.“ 

„Was? wie” fragte Alles wie aus einem Munde. 

„Was follte ich hier, wenn Helene fort war,” ſagte Neuberg 
mit großer Einfalt. „Da dachte ih: du gehſt auch nad ©... und 
erkundigft di dort; auf die Weiber fann man fi ja doch nicht 
verlaffen, die laffen fih Sand in die Augen ftreuen, und daß 
ih Recht hatte, habt ihr mir eben bewieſen, Frau Brant.“ 

Die Großmutter wollte auffahren, er aber machte eine be: 
rubigende Bewegung mit der Hand und fagte mit zitternder 
Stimme: „Ich habe euch nicht beleidigen wollen und es handelt 
fih da gar nicht darum, ob wir miteinander empfindlich fein 
"wollen, fondern es handelt fih um das Glück Helenens.“ u 

„Er bat Recht,” fagte der Großvater und zu Neuberg ge: 
wendet, fragte er: „Und was haft du erjehen ?“ 

Neuberg ftand auf, büdte ſich vor und fagte mit einer hef: 
tigen Armbewegung und mit eindringlicher Betonung, obwohl 
halb leife: „Ruinirt, verfchuldet, die Haare auf dem Kopfe find 
jie ſchuldig, fein Stein ihres Haufes gehört mehr ihnen — die 
Mitgift wird nit hinreihen, ale Schulden zu bezahlen. — Und 
die Orangen, die ihr gegellen habt,” fagte er zur Großmutter 
und zu meiner Mutter, „find auch noch nicht bezahlt, und die 
Perlen, die fommen werden, find auf Borg bei einem Wucherer 
genommen, dem fie nach der Hochzeit zu dreifachen Preiſe be: 
zahlt werden follen,” 

Nah dieſer Mittheilung drehte fich Neuberg raſch um und 
ging, wie empört, daß man dieſe — ſo leichtſinnig 
betrieben, dem Dorfe zu. 

Morig Hartmann, Werke, VL al 


482 Novellen. 


Die ganze Geſellſchaft blieb wie in Erftarrung figen; Eins 
ſah das Andere an, ob man nicht das Schweigen brechen wolle, 
aber Keine hatte den Muth dazu. Wie vorauszuſehen war, 
fand die Großmutter zuerft das Wort wieder: „Bah,“ rief fie, 
„Narrenspoſſen, al® ob man nicht wüßte, daß man dem Narren 
aufbinden kann, was man will. Und ein guter Junge, wie er 
immer jein mag, darf man doc nicht vergeſſen, daß er von 
Helenen einen Korb befommen hat, ven er nicht verwinden fann. 
Mas erfindet nicht Alles die gekränkte Eitelkeit und die Eiferfucht.” 

„Kein, nein,” fchüttelte der Großvater den Kopf, „ver 
Neuberg erfindet nicht, und was er jagt, hat jedenfalls —“ 

Er unterbrab jih, denn Helene trat wieder in den Hof. 
Alles ſchwieg und Niemand wußte was draus zu machen, als 
fie ihren Blick raſch prüfend über die Gefichter Streifen ließ, und 
den Kopf an die Pfofte der Hausthüre lehnend und die Arme 
ineinander verfchränfend, traurig vor ſich hinlächelte. Der Groß: 
vater lud fie ein fich zu ihm auf die Bank zu fegen, und legte 
den Arm um ihren Naden. Er wollte fprechen, aber er fonnte 
nicht. Mein Vater, ald er Thränen in den alten Augen ſah? 
ſprang verbrießlih auf, legte die Arme über den Rüden zufam: 
men und ging von dannen; die Großmutter und meine Mutter 
fingen bei demjelben Anblid zu ſchluchzen an. Nur Helene blieb 
rubig und fagte: „Vater, gib dir feine Mühe, ich weiß was bu 
mir fagen willft. Was joll id tbun? Was befiehlit du? Ich bin 
zu Allem bereit. Nur abjchreiben will ih ihm nicht, denn id 
fiebe ihn und lafje nit von ihm, was immer daraus folgen 
möge.” 

„So weit, mein Kind, find wir noch nicht,” ermiderte der 
Großvater mit fichtliher Anftrengung, „wir wollen nur genau 
wiffen, was von der Sade zu halten, Gehe hinein und fchreibe 
ihm in zwei Morten, daß er hierher fommen und uns Reden: 
ichaft geben folle,” 

„Das will ih thun, Vater, um deinetwillen,* fagte Helene, 
und ging jofert ind Haus. 


Tante Helene. 483 


Mein Vater, Helenens Bruder, war unglüdjeliger Weiſe 
nicht jo fanftmüthig wie jein Alter. Als er hörte, daß Helene 
an ihren Bräutigam jchreibe, eilte er hinein zu ihr und beſchwor 
fie, die Sache fogleich und ein: für allemal abzumachen. Einen 
jolhen Menſchen, der feinen Stand, fein Gejchäft, fein Ver: 
mögen, nichts al3 Schulden habe und nichts könne als etwas 
Biolinfpielen, könne fie ja doch nicht heirathen. Da ihm Helene 
nur mit ruhigem Lächeln antwortete, erzürnte er ſich immer 
mehr und befahl ihr, ihm jogleich zu jehreiben, daß fie ihn ala 
einen Betrüger anfehe und drohte ihr, wenn jie das nicht thue, 
fie nicht mehr al3 feine Schweiter betrachten zu wollen. 

„Ich werde es nicht thun,“ antwortete Helene ruhig, und 
mein Bater verließ fie im höchſten Zorn und verficherte draußen 
im Hofe, daß er fich in die dumme Geſchichte nicht mehr miſchen 
wolle, und daß er die eigenfinnige Schweſter ihrem Schidjale 
überlaffe. 

Am jelben Abend fam ein kleines Padetchen an, das, wie 
Alles an Melchior Brant und Sohn Noreflirte, bei meinem Vater 
abgegeben wurde, er öfinete es: es waren die Perlen. Unmillig 
warf er fie auf den Tiſch, dann in der Aufregung, da ich allein 
mit ihm im Zimmer war, legte er fie mir in die Hände und 
jagte: „Bringe fie hinüber ver Tante Helene und fage ihr, das 
find Thränen und daß fie von dort aus nichts Anderes er: 
warten jolle,” 

Ich hatte von jeher einen Stolz dareingejegt, meine Kom: 
mifjionen gut zu bejtellen und mit den Perlen in der Hand 
wiederholte ih mir meinen Auftrag während des ganzen Weges 
hinüber in das Haus des Großvaterd. Helene jaß in einem 
Mintel am Ofen, alö ich vor fie hintrat. Ich hielt ihr die Perlen 
vor die Augen und fagte: „Papa läßt dir jagen: das find 
Thränen und daß du von dort aus nichts Anderes erwarten ſollſt.“ 

Tante Helene ergriff die Perlen, drüdte ihr Geſicht darein 
und im felben Augenblide war die Schnur in cbenfoviele Thränen 
getaucht, als fie Perlen enthielt. 


484 Novellen. 


Viertes Kapitel. 


Onkel Gerhard ließ nicht lange auf fi warten; er kam 
auf die Vorladung der Tante in der möglichft kurzen Zeit. Von 
allen Mitgliedern der Familie, Tante Helene ausgenommen, 
war ich vielleicht der Einzige, der ihn mit ver alten Herzlichkeit 
empfing. Sch wußte wohl ſchon, daß er fein Geld hatte und 
wußte auch, daß id in einem Geſchäftshauſe erzogen war, daß 
man dem Gelde viel Achtung ſchuldig jei, aber in mir übermog 
die alte Liebe zum Onkel Gerhard und das Mitleid, daß er fein 
Geld haben follte. Als ob er das gefühlt hätte, fehrte er von 
ven falten Händedrüden und Begrüßungen immer wieder zu 
mir zurüd, um mic aufs Neue zu küſſen. Ich bemerkte auch, daß 
es mit dem Kochen und Baden vießmal nicht fo eifrig herging 
wie früher, und bei Tiſche machte ich die laute Bemerkung, daß 
wir fonjt, wenn Onfel Gerhard da war, befjer zu eſſen betamen. 
Bon dem Augenblide an wurde das Gejpräh noch ärmer als 
e3 bis dahin gemwejen, und der Abend wäre in der größten 
Schweigjamleit und allgemeiner Beengung hingegangen, wenn 
ich nicht gleich bei der Ankunft des Onkels bemerkt gehabt hätte, 
daß er diejesmal feine Violine mitbradte. Mutter und Groß: 
mutter hatten von feinem BViolinfpiel fo viel erzählt, daß ich 
wirklich außerordentlich begierig war ihn zu hören. Ich forderte 
ihn zum Spielen auf und leijtete der Gejellihaft, die nicht 
wußte, was mit fi und ihm anzufangen, einen ebenjo großen 
Dienft, als ich ihr vorhin eine Verlegenheit bereitet hatte. Alle 
Melt ftimmte mit ein und Onkel Gerhard holte feine Violine, 
die er, wie er fagte, mitgebracht, weil er es meiner Mutter ver: 
ſprochen hatte. Er jpielte mehrere ungarische und Zigeunerweiſen. 
Sch hätte nicht den Muth, mein jiebenjähriges Urtheil bier für 
ihn abzugeben und zu fagen, daß er vortrefflich fpielte, wenn es 
nicht auch mein Großvater gejagt hätte, ver als Böhme in feiner 
Jugend ebenfalls gefpielt hatte, und wenn ich mich nicht erinnerte, 


Tante Helene. 485 


welhe Wirkung Onkel Gerhard mit feiner Violine hervor: 
brachte. Vergaß doch ſelbſt mein Vater darüber, daß es ein 
über den Kopf verfchuldeter Menſch war, der fo ſpielte. Schon 
nah dem erjten Stüde war der böfe Geiſt gebannt, der den 
ganzen Abend über dem Kreife gewaltet hatte. Alles war auf: 
geregt, Alles war gerührt und man ſprach mit dem Onkel Ger: 
hard, wie man immer mit ihm gefprochen, und al3 ob er feinen 
Kreuzer Schulden hätte. Meine Großmutter ließ fi zu dem 
Ausruf hinreißen: der Befig einer folhen Kunft ſei allein fünf: 
taufend Gulden werth, und mein Vater flüfterte meiner Mutter, 
auf deren Schooß ich faß, ins Ohr, man follte glauben, daß 
man nicht3 befigen dürfe, um ein folcher Künftler zu fein. Meine 
Mutter hingegen antwortete ihm, daß man viel Kummer haben 
müſſe, um jo traurig Spielen zu können. Am Ruhigſten war wieder 
Tante Helene, die in ihrem Winkel am Ofen faß, im dunteljten 
Winkel der Stube, in dem man Nichts ſah, al3 ihre Augen, die 
aus dem Dunfel herporleuchteten. 

Der Großvater war nad diefem Epiele nicht in der Stimmung, 
die Hauptangelegenheit, wie er fich vorgenommen hatte, noch 
heute mit dem Onkel Gerhard zu behandeln und ihn betreiis 
feiner traurigen Verhältnifje zu verbören. Er verfchob dieſes 
ſchmerzliche Gefhäft auf morgen. Als aber der Morgen anbrad, 
mar der Onfel Gerhard über alle Berge. 

Die Ueberraſchung war fehr groß und Niemand wußte, wie 
er fich diefes Verſchwinden deuten ſolle; mein Vater war ſchon 
geneigt, die Sache als abgemacht und zwar als glüdlich abgemacht 
zu betradten, als Tante Helene hervortrat und erflärte, fie 
babe ihren Bräutigam zu diefer ſchnellen Abreife bewogen. 

„Du haft mit ihm gebroden, du haft ihm ven Abſchied 
gegeben?” fragte mein Vater rafch. 

„Nein,” antwortete Helene troden, „ih mollte ihm euere 
Verhöre erfparen und die Geftänpniffe, die er euch zu machen 
hatte. Es war ihm leichter, in dunkler Kammer die Geftänpniffe 
mir zu machen und ich werde fie euch nicht vorenthalten.” 


456 Novellen. 


Sie nahm einen Stuhl, fette fi meinen und ihren Eltern 
gegenüber und begann im rubigiten Erzählertone: Gerhard ging 
in feinem neunzehnten Jahre auf Reifen, kurz nad dem Tode 
feines Vaters. Diejer hatte ihn zum Kaufmann beftimmt, Ger: 
bard fühlte aber feinen Beruf zum Kaufmannzjtande und ging 
in die Welt, um ſich umzufehen, wie und wo er feinen Neigungen 
gemäß fein Glüd machen könne Er war nicht dazu geſchaffen, 
binter dem Ofen feines väterlihen Haufes figen zu bleiben. Sein 
Vormund, Herr Altmann, gab ihm eine Heine Summe mit, die 
bald dahin war. Glüdlicherweife machte er die Bekanntſchaft 
eines jungen ungarifhen Magnaten, der ihn fehr lieb gewann 
und ihn an feine Perjon, als Sekretär, ala fo etwas, mehr 
noch al3 Freund attadhirte. Mit diefem ungarischen Edelmann 
durchzog er die verfchiedenften Länder, vorzugsmeije die un: 
gariſchen. Er war glüdlih, er ritt, er jagte, er verbrachte feine 
Zeit auf den Steppen Ungarns, er lernte die Violine fpielen 
von den Zigeunern und einige glüdlihe Jahre vergingen ihm 
in einem luftigen und wilden Leben. Er war indeſſen großjährig 
geworden, und er fchickte feinem Schwager und Bormund Gregor 
Altmann, auf deſſen Verlangen, eine Vollmacht, fein Vermögen 
nad Belieben zu verwalten. Was lag ihm an diejem Heinen 
Vermögen, deſſen er nicht bedurfte! Es beunruhigte ihn aud 
fehr wenig, als er erfuhr, daß Herr Altmann fih in allerlei 
Spekulationen einlafje und höchst wahrfcheinlich fein Vermögen 
verthue. Er hatte eine gute und angenehme Stellung und freute 
fih nur, daß fein väterliches Erbe feiner Familie zu Gute 
fomme. Da ftürzte der ungarifhe Magnat, fein Freund, von 
einem wilden Pferde und jtarb in Folge des Sturzes. Gerhard 
ftand plöglih hülf» und brodlos da. Der Magnat hatte ihm 
verfprohen, dauernd für ihm zu forgen, aber feinen Erben, 
entfernten Anverwandten war Gerhard unbefannt. Zur jelben 
Zeit erhielt er einen Brief, der ihn um rafche Hülfe für feine 
Familie anging und ihn bat, im geeigneten Yalle jelber nad) 
Haufe zu kommen. Gerhard hatte in Ungarn Nichts mehr zu 


Tante Helene. 487 


ſuchen, da3 Land war ihm durch den Tod feines lieben Freundes 
verleidet und er eilte auf diefe Aufforderung in die Heimat 
zurüd. Hieß e3 do in dem Briefe, daß es fih um Ehre und 
Mohlergehen der ganzen Familie handle. Dem war auch fo. 
Märe Gerhard nicht zurüdgelehrt, hätte der Schwager wegen 
Schulden, vielleiht wegen Aergerem, ins Gefängnik wandern 
müflen und wäre das Haus, die einzige Zufluchtsſtätte feiner 
alten Mutter, verkauft worden. Gerhards Erfcheinung flößte ven 
Gläubigern, welche zum Theil feine Gläubiger waren, da Alt: 
mann, die Vollmacht benügend, auf feinen Namen Schulven 
gemadt hatte, wieder Vertrauen ein. E3 leuchtete ihnen ein, 
daß fie mit Strenge verfahrend nur eine bis dahin ehrenwerthe 
und geachtete Familie zu Grunde richten würden, ohne fich ſelbſt 
zu nüßen und daß fie nur gewinnen fönnten, wenn fie Gerhard 
eine Friſt gellatteten. Altmann ftellte ihnen vor, daß e3 Gerhard 
nicht fehlen könne, daß er in Kurzem eine gute Partie machen 
müfle, und daß fie mit Hülfe der Mitgift befriedigt werden 
jollten. Gerhard erfannte, daß auf ihm allein die Rettung der 
Familienehre berube. Diefe auf eine andere als die vom Schwager 
eingeleitete Weiſe herbeizuführen — dazu fehlte es ihm an Zeit, 
da die Gläubiger eine genau begränzte Frift beftimmten. Wollte 
er auf Alles das nicht eingehen, fo wurde feine Mutter mit 
beiden unverbeiratheten Schweitern obdachlos und mußte er 
jelbft mit feinem Schwager ins Gefängniß wandern und bie 
Mutter fammt der ganzen Familie dem Elende preisgeben. Un: 
erfahren in den Gejhäften und in dergleichen Angelegenheiten 
und entjegt über die Verwirrung, über das Gewebe von Ber: 
gehen und Leichtfinn, in das er blidte, war e3 dem Schwager 
leicht, fich feiner ganz zu bemächtigen und ihm das Verſprechen 
abzuringen, ſich von ihm leiten zu laffen, bis fie Beide aus den 
drohenden Gefahren gerettet find. Das Alles erzählte er mir 
heute ausführlih, aber ich wußte e3 von Anfang an aus ein: 
zelnen Mittheilungen. Mich hat er nicht betrogen; ich mußte 
was ich that. Ja es ift wahr, er Fam von feinem Schwager 


488 Novellen. 


geführt hierher, um mich zu betrügen, nur um meiner Mitgift 
halber, aber er fam das zweite Mal allein zurüf, um mir die 
Wahrheit und Lebewohl zu fagen. 

„seht aber,“ rief mein Vater, „wirft du dich doch nicht länger 
befinnen — jegt, da du weißt, wohin deine Mitgift wandern ſoll.“ 

„Bird ihm damit geholfen,“ fragte Helene lächelnd, „wenn 
ihm meine Mitgift entgeht? Habe ich dir nicht gefagt, daß ich 
ihn liebe? Welchen bejjern Dienft fann mir die Mitgift leiften, 
ala den, daß ich ihn damit vor Gefängniß und Schande be: 
mahre? Cr braudt meine Mitgift und er braucht mid. Er iſt 
nicht ein praktiſcher Menfh wie wir bier alle find, er ift em 
Künftler von Natur und es ift nicht feine Schuld, va er um 
feine Jugend gelommen, ohne fich, wie er e3 verdiente, ausbilden 
zu können.” 

Sie jtand auf wie Einer, der in einer Verhandlung fein 
legtes Wort gejagt. 

Die Zeit, die jegt folgte, jhwebt mir in meiner Erinnerung 
als eine überaus büftere vor. Man ging durchs Haus, als be 
fände ſich ein gefährlicher Kranker darinnen. Der Großvater ſaß 
gedanfenvoll in feinem Lehnjtuhle; die Großmutter fam von Zeit 
zu Zeit herüber und erzählte, wie unruhig Helene ihre Nächte 
verbringe. Bei meinem Vater äußerte fich die Trauer als Ver— 
prießlichfeit und ich fann jener Zeiten nicht gedenken, ohne mich 
zugleich der verſchiedenſten Puffe zu erinnern, vie ich damals in 
bedeutender Anzahl erhielt. Troß dem entfchiedenen Auftreten 
der Tante Helene, das zum Zmwede hatte, alle Berhandlungen ab: 
zubrechen, ließ man doch nicht ab, man ftellte ihr fortwährend 
vor, welchem Unglüd fie entgegengehe und daß es ihr Klugheit 
und Pflicht gebieten, Gerhard den Abfhied zu geben. Man 
fonnte beinahe nicht anders mehr im Haufe ſprechen, und mie 
jehr mich die Angelegenheit zu Anfang intereflirte, fo hörte ich 
am Ende gar nicht mehr zu, wenn von diefen Dingen geſprochen 
wurde. Doch bleibt mir eine Szene ewig gegenwärtig, der Worte 
wegen, die dabei gefallen find und die einen Eindruck auf mich 


Tante Helene. 489 


madte, wie ſpäter felten irgend eine pathetiihe Szene eines 
Trauerſpiels. 

Es war an einem Morgen. Der Großvater ſaß wieder in 
feinem Lehnſtuhle; Tante Helene ftand am Ofen, vor einem 
Spiegel, den jie auf die mittlere Rampe gejtellt hatte, und 
fämmte ihr langes jchwarzes Haar. Der Großvater fprach wieder 
über das Thema, über das nun fchon feit Wochen gefprocden 
wurde. Tante Helene antwortete beinahe gar nichts mehr, und 
da3 begriff ich vollfommen. Jch fügte mir, daß diefe beftändigen 
Reden die arme Tante fürchterlich langweilen müffen und ich be: 
wunderte fie, daß jie nicht längft die Geduld verloren. Doc 
fonnte ich bemerken, daß ihre Hand, während fie den Kamm 
durch die langen Haare führte, mehr und mehr erzitterte, als der 
Großvater von der Spigbubenfamilie des Gerhard ſprach. Sie 
bielt einen Augenblid lang im Kämmen inne, fuhr aber bald 
wieder fort. Auch der Großvater hatte, eine Antwort erwartend, 
geſchwiegen. Da diefe Antwort nicht fam, erhob er fich auf feine 
gichtkranten Füße, ftredte den rechten Arm aus, während er fich 
mit dem linfen am Lehnſtuhle hielt, und rief mit gewaltiger 
Stimme: „Helenchen, wenn du dich auf alle Berge ftellit, kannſt 
du dein Unglüd nicht überfehen !” Darauf wandte fich Helene 
zu ihm und, ohne die Hand vom Kamme zu thun, aber mit 
blafjen Lippen und glühenden Augen rief fie zurüd: „Sch werde 
betteln gehen, aber vor Eure Thüre werde ich nicht fommen.” 

Ich meiß nicht, was darauf erfolgte; dieſe Szene fteht in 
meinem Gedächtniſſe für fich abgejondert wie ein Bild in einem 
Rahmen da. Ich weiß nur, daß endlich Hochzeit gehalten wurde 
und daß ic mic an dem Tage wiederholt zu meiner Mutter und 
zu Tante Helene beflagte, daß die Hochzeit nicht luftig jei. Ich 
wußte jhon, wie eine Hochzeit jein jollte, denn vor etwas mehr 
al3 einem Jahre hatte fih die Tante Roſalie verheirathet und 
jener Tag ſchwebte mir als ein Mufter eines Hochzeitätages vor. 
Der Bräutigam, ein luftiger Gutsbefiger, hatte alle feine Brübder 
und Schwäger, fämmtlich dicke und rothbadige Landwirthe, mit: 


490 Novellen. 


gebradt, der Großvater hatte die ganze Gegend geladen, man 
tanzte, man fang, Haus und Hof mwiederhallten von Gelächter 
und die Derfjugend fnallte einen Böller nad dem andern lo2. 
Das war heute ganz anders. Unſererſeits hatte man nur die 
Familie geladen, Schweitern und Schwäger meines Vaters, melde 
die Heirath natürlich eben fo ungern fahen, wie wir. Der Bräu: 
tigam hatte nur eine junge Schweiter mitgebracht, die ſchüchtern 
durhs Haus fhlih, als ob fie Vorwürfen ausweichen wollte. 
Für einen Tanz war nicht gejorgt und fein Menſch kümmerte ſich 
um die Dorfjugend, melde ihre Böller aufgeftellt hatte. Co 
wenig ging an diefem Tage vor, daß er mir in der Erinnerung 
zu einem armen kurzen verbrießlihen Momente zufammens 
Ihrumpft. 

Am nächſten Morgen reiste Helene mit ihrem Manne und 
ihrer Schwägerin in der Kaleſche ab. Unter den Abſchiednehmen— 
ven Stand auch Neuberg. Als fie ihm die Hand reichte, zog er 
fie ein wenig aus dem Kreiſe der Umſtehenden und fagte mit 
niedergefchlagenen Augen und ftotternd: „Helene — du weißt — 
ich habe etwas Vermögen — wenn du einmal etwas braudit —“ 

Zum Erſtaunen Aller, die diefe Worte nicht gehört hatten, 
ſchlang Helene die Arme um Neubergs Hals, küßte ihn auf beide 
Mangen und fprang dann in den Wagen, der fi ſchwerfällig 
in Bewegung fegte. Wir faben nah, fo lange wir nachjehen 
konnten, dann gingen wir ſchweigend ins Haus zurüd, wie man 
von einem Begräbniß zurüdlehrt. 


._— — — — — 


Fünftes Kapitel. 


Als Helene am erſten Sonntag an der Seite ihres Mannes 
in die Kirche von S.. ging, ſtand an der Thüre ein kleiner alter 
Mann in fadenſcheinigem Rocke, mit einem alten haarloſen Hute 
in der Hand. Helene hielt ihn für einen Bettler, als er ſich bei 


Tante Helene. 491 


ihrer Ankunft in Bewegung feßte und ihr mit dem Hut in der 
Hand und in unterthäniger Stellung entgegenging. Er gab dieje 
Stellung nicht auf, trat ihr aber auf unfhidliche Weife jo nahe, 
daß er ihr Sonntagskleid mit dem ſchmutzigen Aermel feines 
Rockes berührte und fagte laut genug, daß es andere Kirchen: 
gänger hören konnten: „Wenn diefe Perlen bis zum nächiten 
Sonntag nicht bezahlt find, reiße ich Ihr fie vom Halfe.“ Helene 
fuhr zufammen. Ihr Blick fiel auf ihren Mann, der auffuhr 
und den Arm nad jenem Fremden ausftredte. Sie faßte diefen 
Arm und drüdte ihn nieder. Dann löste fie die Perlenſchnur 
vom Halſe und reichte fie dem Manne hin. „Nicht die Perlen 
will ich,“ kicherte ſpöttiſch der Alte, „die find verfauft, mein Geld 
will ich.“ Helene band die Perlen wieder um und ging in bie 
Kirche. 5 

Am nächſten Sonntag waren die Perlen bezahlt und waren 
die Berlen auch fchon verkauft. Auch die Möbel des Haufes 
waren bereit3 bezahlt; auch mehrere Wechſel waren bereit3 ein: 
gelöst, und Helene in ihrer Thätigkeit war auch ſchon daran, 
die eben bezahlten Möbel des Haufes zu verkaufen, um nod 
fernere Schulden zu bezahlen. Bald darauf übernahm das Ge: 
richt die Fortfegung diefer Thätigfeit und verkaufte das Haus. 
Dieß in wenigen Worten die Schilderung der Flitterwochen der 
Tante Helene. Sie felber befchrieb fie auf dringendes Fragen 
ungefähr fo in ihren nah Haufe gerichteten Briefen. Seine 
Klage begleitete diefe Schilderung, wohl aber die Verficherung, 
daß fie nad einem lange vor ihrer Hochzeit feftgeftellten Plane 
handle. Aber betteln ging Tante Helene nit. Mit einer Kleinen 
Summe, die vom Verlauf des Haufes übrig geblieben mar, 
pachtete fie in der Nähe der Stadt ©. eine fogenannte Häusler: 
wohnung mit einigen Strich Feldes; mit dem Werthe ihrer Feſt— 
kleider, die fie verkaufte, fchaffte fie die erfte Ausjaat an. Nie: 
mand von uns fah fie in diefen neuen Verhältniſſen, fah fie auf 
dem Felde arbeiten. Ihr Vater war zu frank geworden, um die 
Reife zu mahen, und fie hatte fih ganz beſonders ausbedungen, 


492 Novellen. 


daß jie mein Vater nicht früher beſuchen folle, als bis fie ihn 
einlade. Ein Jahr nach der Hochzeit fchrieb fie und, daß fie 
einen Knaben geboren und daß ihre wenigen Felder genug ge: 
tragen, um ihre Familie fammt der alten Mutter ihre Mannes, 
die fie bei fich hatte, zu ernähren. In einem ihrer Briefe hieß 
e3: „O wie herzlich würdet ihr meinen Mann um Verzeibung 
bitten, wenn ihr ihn bei Regen und Sonnenhige auf dem Felde 
arbeiten oder die Frucht auf feinem Rüden zu Marfte tragen 
ſähet. Mein Kind, das Ebenbild feines Vaters, blüht und gedeiht. 
Abends, wenn er nicht zu müde ift, jpielt und der Vater auf 
der Violine vor. Wir find glüdlich.” 

Als der Großvater von diefem Glücke hörte, verfaufte er 
feine Kalefche, feine Pferde, und verfügte, daß künftig für feinen 
Haushalt nur die Hälfte der bisherigen Summe aus der Kajle 
der Kompagnie genommen werde, jchidte den Erlös für Kalejche 
und Pferde und die halbe Summe: feines Haushaltungsgeldes 
für mehrere Monate an Helene. Das Geld kam nad) einer Woche 
mit Dank zurüd, Helene verficherte, daß fie es nicht brauche. 

Es vergingen drei und vier Jahre; der Großvater wurde 
immer unbeweglidier, die Großmutter alterte rafch und was im 
legten diefer Jahre vorging, kann ich im Einzelnen nicht mehr 
mittheilen, da ich mich um dieſe Zeit bereit3 in der Hauptſtadt 
auf der Schule befand. Ach weiß nur, dab man damals zu 
Haufe um Tante Helene mehr al3 früher bejorgt wurde. Es war 
ein jchlechtes Jahr. Im Frühling hatten ſtarke Wolfenbrüce 
beinahe im ganzen Lande die Ausfaat zerftört; was die Wolfen: 
brüde des Frühlings übrig gelaffen, vernichtete eine furchtbare 
Sommerdürre. Man ſah mit Schreden dem Winter entgegen 
und es begann im Herbite eine allgemeine Flucht vor den er: 
warteten Schreden der Hungersnotb dieſes Winters. Die Re: 
gierung und einige große Magnaten benugten das Unglüd Böh: 
mens, um Ungarn zu bevölfern und in unangebauten Gegenden 
diejes Landes Kolonien anzulegen. Man erließ Proklamationen, 
die zur Auswanderung nad) Ungarn aufforderten, und Geiftlihe 


Tante Helene. 493 


und Memter, welche in der Auswanderung die einzige Rettung 
vor der Hungersnoth ſahen, unterjtügten dieſe Broflamationen 
und munterten das arme Volk auf, indem fie ihm auch Anwei— 
fungen über Wege und Ziele gaben. Es war damals, als ob vie 
halbe Bevölkerung Böhmens auswandern wollte. Bon Aug: 
wanderungen nad Amerifa wußte man noch nichts in diefem 
Lande, und fo wandten alle vom Elend Bedrohten ihre Blicke 
dem üppigen, fruchtbaren Ungarn zu, das ihnen-als ein gelobtes 
Land gepriefen wurde. Auf allen Wegen ſah man Schaaren 
zu Fuß und zu Wagen ſich dem Oſten entgegenbewegen. 

Der Schreden in unferm Haufe war groß, als das Gerücht 
dahin drang, daß auch Tante Helene mit Mann und Kind aus: 
wandern mwolle Der Großvater war unfähig, zu ihr zu eilen, 
um jie zurüdzuhalten, und jo war mein Vater gezwungen, jein 
Wort zu breden und fih ihr aud ohne Einladung wieder zu 
nähern. Er kam durch Prag, mo er mich abholte, da ich eben 
Ferien hatte, und wir fegten die Reife nah ©. in Eile fort. 

Wir fanden das Haus, das Tante Helene gepachtet hatte, 
bereit3 von einem anderen Miethsmanne bewohnt, von diejem 
aber erfuhren wir, daß die Familie Gerhard in einem Kleinen mit 
Leinwand bevedten Leitermagen, der von einem Pferde gezogen 
wurde, erft geftern die Reife angetreten habe. Es fonnte uns 
nicht ſchwer werden, den mit allerlei Hausrath beladenen Ein: 
jpänner mit unfern zwei guten Pferden zu erreichen. Mein Vater 
befann ſich auch nicht lange, und wir legten noch am jelben Tage 
eine Strede auf der mährifhen Straße zurüd. Nachdem wir in 
einem Heinen Städten übernachtet und die Pferde hatten ge: 
hörig ausruhen laffen, festen wir am nächften Morgen die Reije 
im rafhen Trabe fort. Die Flüchtlinge konnten nicht mehr ferne 
fein und wir fahen fortwährend und mit angeftrengten Augen 
der Straße nad, ob wir fie nicht bald entvedten. Wir famen 
an mandhem Ausmandererwagen vorüber, aber es war immer 
nicht der, den mir fuchten. Gegen Mittag ſahen wir abjeits 
vom Wege im Schatten eines Waldſaumes eine Gruppe, die wir 


494 Rovellen. 


jedenfalls in der Nähe jehen mußten, um nicht möglichermeije 
an Denen, die wir fuchten, vorüberzufahren. Wir liegen Wagen 
und Pferde unter der Hut des Kutſchers auf der Straße und 
gingen durh den Wald jener Gruppe entgegen. Unjer Weg 
führte uns dur ein Didicht, das und die Gruppe bald verbarg, 
und wir wußten nicht, ob wir die dahin führende Richtung eins 
ſchlugen, als mit Einem Male, als wollte er uns auf den rechten 
Meg führen, der Ton einer Violine erflang. Wir hielten Beide 
inne. Mein Nater lehnte fih an einen Baumjtamm und ich 
glaube, daß er geweint haben würde, wenn ich nicht zugegen ge: 
weſen wäre. Leiſern Schrittes und vorjichtig ging er endlich vor: 
wärts und juchte alles Geräujc der Zweige und der Schritte 
durch das Laub zu vermeiden. Ich folgte ihm und wir famen 
an eine Stelle, faum zwanzig Schritte von der Gruppe, die 
wir hier genau und mit Muße betrachten konnten. Ein Kleiner, 
mit einer weißen Plaue gededter Bauernwagen jtand am 
Saume des Waldes auf ebenem Boden und daneben ein 
ausgefpanntes Pferd, das feine Mittagsmahlzeit hielt. Etwas 
tiefer in den Wald hinein, unter dem Schatten der Buchen, 
jaß die ung fo nahe Familie. Onfel Gerhard hatte einen ge 
fallenen Stamm zu feinem Site erlefen und ſtrich die Violine 
mit großer Lebhaftigkeit. Ein breitfrämpiger Hut faß auf feinem 
Kopfe und bejcdattete. das von Sonne und Wind gebräunte Ge 
fiht, das noch jo ſchön war wie ehemals, und infoferne fchöner, 
als e3 einen fräftigern und männlichern Ausdrud hatte. Neben 
ihm auf dem Baumjtamme lag ein brauner Rod, den er abge: 
worfen hatte, um in Hemdärmeln bequemer geigen zu fönnen. 
Starte meitfaltige leinwandene Beinkleiver wurden durch einen 
breiten Ledergürtel um den Leib feftgebalten. Er hatte ein Bein 
über das andere gejchlagen und ſah, während er fpielte, auf fein 
Kind hernieder, welches, den Kopf in den Schooß der Mutter 
gelegt, trog dem lauten Spiel vortrefflich jehlummerte. Tante 
Helene hatte die eine Hand auf den blonden Lockenkopf gelegt, 
während fie das Kinn in die andere jtügte; fie ſah mit Lächeln 


Tante Helene. 495 


zu ihrem Manne hinauf und bewegte den Kopf janft nad den 
Bewegungen der Melodie. Sie hatte ſich erftaunlich wenig ver: 
ändert. Treo dem braunen Baumwolltub, das fie wie einen 
Turban um den Kopf gefchlungen hatte, und dem ganzen aus 
blauer Leinwand bejtehenven, bäuerlichen Anzuge hatte ich jie, 
wie immer, im erften Mugenblide als meine ehemalige jhöne 
Tante Helene erfannt. Es ift wahr, daß fie etwas magerer ge: 
worden, daß die Friſche ihrer Wangen dahin war, aber die 
ſchöne Form des Gefichtes war noch ganz und gar diefelbe, die 
Augen dunkel und glühend wie ehemals, nur blidten fie fanfter 
und milder. Zwifchen ihr, die im Moofe faß, und ihrem Manne 
lagen noch die Refte einer einfahen Mahlzeit und ftand ein großer 
irdener Krug. Das ganze Bild, das wir mit Rührung betrad): 
teten, machte den Eindrud leichten und jorglofen Glüdes. Es 
war, als ob mein Vater nicht den Muth hätte, diefes Stillleben 
zu ftören, denn er bielt immer wieder inne, wenn er eine Be— 
wegung gemacht hatte, um fich der Gruppe zu nähern. Mic) 
aber, jobald ich in das Geficht der Tante Helene gejehen und e3 
jo unverändert gefunden hatte, zog es unmiberftehlih zu ihr 
und, ohne meinen Vater zu erwarten, fprang ich aus dem Ge: 
büſche und küßte einen Nugenblid darauf fonderbarer Weife weder 
Zante noch Onfel, fondern das ſchöne Kindergeficht meines Kleinen 
Vetters. 

Was foll ih noch lange erzählen und bejchreiben. Tante 
Helene nahm ihren Bruder wie eine zärtlihe Schweiter auf; fie 
war glüdlih, bevor fie in die Fremde ging, noch in zwei Ge: 
fihter aus ihrer Familie bliden zu können; aber von dem Ent: 
Ihluffe, in die Ferne zu gehen und fih mit ihrem Manne ein 
jelbjtändiges Loos zu gründen, war fie nicht abzubringen. Eben 
jo wenig war fie zur Annahme verfhiedenfter Anträge, die ihr 
mein Vater machte, zu bewegen, und er hatte am Ende nicht 
mehr den Muth, felbjt vem Kinde etwas anzubieten. Er benußte 
die Freude, die das Kind an den Brelod3 jeiner Uhr hatte, um 
ihm dieſe fammt der goldenen Kette umzuhängen. Die Tante 


496 Novellen. 


bemerfte das und lächelte, und ihr Bruder drüdte ihr dankbar 
die Hand dafür, daß fie dem Kinde die Annahme des Gefchenfes 
erlaubte. 

Die wenigen Stunden, die wir mit den Auswanderern am 
Saume des Waldes verbrachten, leben in meinem Gedächtniſſe 
als eine der jhönften Idyllen, die ich jemals erlebt oder gelefen. 
ALS fih die Sonne zu neigen begann, jpannte der Onfel das 
Pferd vor den Wagen und führte diefen wieder auf die Land— 
ftraße. Mein Vater nahm das Kind auf den Arm und wir 
folgten. Auf der Landſtraße trennten wir ung wieder — ich will 
nicht fagen wie traurig. 

So lange die Großeltern lebten, befamen wir aus Ungarn 
manchen mwohllautenden Brief; ſeitdem die beiden Alten begraben, 
ift und Tante Helene ganz aus dem Gefichte verfchwunden. 


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