MORITZ
HARTMANN’S
GESAMMELTE
WERKE: BD.
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Bamberqer, Wilhelm vollwer
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Moritz Bartmanıs
Geſammelte Werte.
Hedister Band.
Stuttgart.
Verlag der 3. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1873.
Buchdruckerei ber J. ©. Cotta'ſchen Buchhandlung in Stuttgart.
1180223
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Novellen.
Morig Hartmann, Werke. VI.
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Der Zweck heiligt die Mittel,
Eine Gefhihte aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Als der Oberlandjägermeifter Anjelm v. Büren ftarb, hinter:
ließ er feinen Kindern eine Anzahl von Ordenskreuzen, welche
von den reſpektiven Höfen, die fie ihm ertbeilt hatten, nicht zus
rüdgefordert wurden; jeinen Namen, der zu den älteften in dem
82 Quadratmeilen großen Fürftenthbume gehörte und das Be:
wußtjein, einen Vater gehabt zu haben, der feinem Fürften und
Hofe durd volle fünfundfünfzig Jahre gedient und dabei noch
den Heinen Reit jeines angeftammten Vermögens zugejegt hatte.
Die beiden Waifen, Elife und Clarifje v. Büren wären voll:
fommen verlaflen gewejen, hätte fich ihrer nicht eine alte Tante
angenommen, die in der Einjamleit eines Heinen Städtchen des
Fürſtenthums lebte. Dieje, eine eben jo würdige al3 gebildete
alte Dame, die fi in Folge einiger Schriften über weibliche Er:
ziehung eine3 geadhteten Namens erfreute, erzog die beiden
Mädchen, die, als fie fie zu fih nahm, erft zehn und zwölf Jahre
alt waren, zu Einfachheit und Anfpruchlofigfeit, was eine reiche
Bildung des Geiltes und des Herzens, eine umfaflende Pflege
aller ihnen angeborenen Talente nicht ausfchloß. Die Natur that
für die beiden Mädchen beinahe eben fo viel, wie die gute und
vernünftige Tante, indem fie fie zu anmuthigen und ſchönen Er:
ſcheinungen entwidelte, und jo wunderte fih im ganzen Fürften-
thume Niemand darüber, ja man fand es natürlih, daß die
4 Novellen.
beiven Edelfräulein jehr frühzeitig ihr Glüd machten, Glück ift
überall etwas Relatives. In diefem Falle verftanden die
365,000 Einwohner des Fürſtenthums eine Berufung zu Hofe
und eine Anftellung darunter. Der alten Fürftin, welche vie
vormundſchaftliche Regierung für ihren minderjährigen, in Italien
vermeilenden Sohn führte, ſchien es unnatürlih, daß der Name
Büren, der feit dem dreißigjährigen Kriege immer auf der Lijte
der Hofleute glänzte, unter ihrer Regierung fehlen follte, und
faum batten vie beiden Fräulein unter der Pflege der guten
Tante das Alter von achtzehn und fechzehn Jahren erreicht, als
ihnen die Diplome als Hoffräulein und die damit verbundene
Schleife in Gold und Silber, melde fie an der rechten Schulter
tragen follten, zugeftellt wurden. Alle Melt prophezeite ven jungen
Damen eine glänzende Laufbahn, und diefe Prophezeiung ftüßte
fih nicht allein auf ihre Vorzüge, fondern auch auf die Ber:
gangenheit und die im Lande lebenden Erinnerungen, welche er:
zählten, daß die alte Fürftin in ihrer Jugend, ja ihr Leben lang
für den Oberlandjägermeifter v. Büren ein „Faible“ gehabt. Den
Kindern, meinte man, würde, wie einmal die weibliche Natur
beichaffen ift, dieſes alte, nie verroftende Faible zu Statten
fommen. Bei Hof ſchien das allgemein angenommen zu fein,
und man empfing die Fräulein Büren, die beiden neuen Hof-
damen, mit der größten Zuvorkommenheit.
Bon allen 365,000 Einwohnern des Fürftenthbums waren
die beiden Schmweitern vielleicht die Einzigen, die dieſes Glüd
nicht zu jhäßen mußten. Sie waren bei ihrer Tante glüdlich
gewejen und wünjchten feine Veränderung. Ihre Jugend mar
in den angenehmften und anregendften Beihäftigungen dahin:
gefloffen, unter dem Schuge einer lieben und liebenden Anver:
wandten, in einem einen, aber auserwählten Kreife von
Freunden — und nun befanden fie ſich in einer ihnen ganz
fremden Welt, die andere Anfihten, andere Gefühle, andere
Zwecke hatte. Aber das Hofleben erſchien ihnen, nad der ganzen
Geſchichte ihrer Familie, das ihnen angeborene Schidfal, und fie
Der Zwed heiligt die Mittel. 5
ergaben ſich um fo leichter darein, als es neu war und jeinen
ganzen Reiz der Neuheit um fo anziehender wirken ließ, als ji
der Hof bemühte, ven Neuangelommenen jo angenehm al3 mög:
lich zu fein. Aber kaum war diefer Reiz der Neuheit dahin, als
e3 die ältere Schweiter Elife zum Entfegen des ganzen Hofes be:
wies, daß fie entweder aus der Art gejchlagen, oder dab ihre
Erziehung trog alles Wiſſens, vielleicht eben diefes Wiſſens wegen,
eine volllommen verfehlte gemwefen.
Sie war kaum ein halbes Jahr bei Hofe, als fie die Bes
kanntſchaft eines jehr liebenswürdigen, jehr unterrichteten jungen
Mannes machte. Sie fand in feiner Geſellſchaft, was ſie bei
Hofe jo fehr vermißte, geiftige Anregung, Gemüth, herzliches
Entgegentommen; fie liebte ihn, fie heirathete ihn. Aber diejer
Mann war ein einfadher Dr. Mar Neuberg, ein Bürgerlicher,
ein Theologe, der bei Seiner Erzellenz, dem Herrn Geheimen
Rath v. E. ala Hofmeifter feiner Kinder diente. Die Entrüftung
bei Hofe war allgemein; felbjt die Stadt war empört, da Kleine
Refidenzen eine Ehre darin fuchen, die Gefühle des Hofes zu
theilen, ſelbſt wenn viefe Gefühle ihre eigene Beleidigung ent:
halten. Die Entrüftung äußerte ſich auf die verfchiedenfte Weile,
ale Staunen, als mitleiviges® oder höhnifches Lächeln, als
Schimpfen, ald Zorn, al3 Lüge und Klatſcherei. Die einzige
Perſon, die Eliſens Handlungsweiſe natürlich, gerechtfertigt,
ja ſchön und muthig fand, war ihre Schweiter Clariffe, die mit
ihr über das Entjegen des Hof3 und der Stadt lachte, und die
erjte Perſon, die fih von diefem Entjegen erholte und zur Be
finnung fam, war die alte Fürſtin. Da die Sade nicht zu
aͤndern ift, meinte fie, muß man etwa3 für die Unglüdliche thun.
Sie gab dem Theologen Neuberg eine gute und einträgliche
Pfründe in einem der angenehmften Städtchen des Ländchens.
Und fo verließ Elife ven Hof als die glüdlichfte junge Frau der
Welt. Clariſſe begleitete fie und half ihr bei ver Einrichtung
des gemüthlihen Pfarrhaufes und des dazu gehörigen großen
und jhönen Gartens, Mit Wehmuth fchied fie nad Monaten
6 Novellen.
aus dem idylliſchen Leben mit der geliebten Schweiter und dem
liebenswürdigen Schwager, und aus der Stille zu Hof zurüd-
fehrend, war es ihr, als ginge fie aus menjchlich bewohnten und
gefitteten Stätten in die Wüſte.
Aber bei Hofe war es indeflen jehr lebendig geworden. Der
junge Fürft Amadeus J. war indefjen von feinen Reifen zurüds
gekehrt, war mündig geſprochen und follte demnächſt verheirathet
werden. Diejer Akt war ohne das geringite Zuthun des jungen
Fürften oder der alten Fürftin negociirt und abgeſchloſſen worden.
Das Ländchen nämlih war ein Enflave eines Großftaates und
jollte im Falle des Ausſterbens der fürjtlihen Familie an diefen
Großjtaat heimfallen. Dieſes Verhältniß, fo wie die Kleinbeit
des Ländchens machten es von dem Großjtaate ganz und gar ab:
bängig. Seit Generationen verfügte der Großjtaat über einen
Theil ver Politif des Fürftenthbums und über die Perſonen ver
Fürften, denen man militäriſche Würden und Titel gab, um fie
an ihre Abhängigkeit zu erinnern und um dieſe zugleich zu ver:
füßen. Ganz in demſelben Verhältniß zu dem Großſtaat jtand
ein anderes kleines Fürftentbum, das in diefem Momente von
einem greifen Fürften regiert wurde, welcher als Feldmarſchall
in dem großen Staate diente. Deflen Tochter, die Brinzejlin
Malmine, follte Amadeus heirathen. So war ed von dem um:
ſchließenden Großftaate beſchloſſen; jo war es alſo eine Noth:
mwendigfeit. Der alte Fürft feufzte, wenn er feine blühende, lieb:
reizende Tochter anfah, die mit allen Eigenfchaften ausgeftattet
ſchien, die fie zur Zierde eined großen Hofed, zur würdigen Ges
fährtin eines großen Monarchen hätte machen können, und die
nun an einen jungen Prinzen ohne Geift, ohne Erziehung, ohne
irgend melden Vorzug follte hingegeben werben. Aber die
Staatsraifon wollte es fo, und der alte Fürft war zu jehr Mann
de3 vorigen Jahrhunderts, als daß er nicht die Staatsraiſon
über jede andere Rüdficht hätte ftellen follen, und zu fehr guter
Unterthban feines Königs, dem er als General diente, um fi
ihm irgendwie zu widerſetzen. Amadeus war in der That nicht
Der Zived heiligt die Mittel. 7
geſchaffen, um eine junge phantaſievolle Prinzeſſin zu beglücken.
Schon von Natur kärglich bedacht, war er unter der Leitung des
Oberhofmeifters, den ihm der Großftaat beigegeben, wenn auch
gutmüthig, doch roh und ungebilvet geblieben. Bon den Reifen,
die dr in Gefellihaft deſſelben Führers durch Franfreih und
Stalien gemacht, kehrte er, an Geift und Körper zu Grunde ges
richtet, ‚in fein Fürftenthbum zurüd. Er war ein junger Greis,
in dem längſt jede Kraft, jede Leidenschaft, jeve Willensſtärke
erloſchen ſchien. Seine Unterthbanen murrten bei feinem Anblid,
aber ihr Murren galt mehr dem Großjtaat al3 der traurigen Er:
ſcheinung ihres Fürften, denn der Politik jenes Staates, der
das Fürftentbum erben follte, im Falle diefes Haus ausftürbe,
ſchrieben fie den berabgefommenen Zuftand des jungen Mannes
zu. Sie meinten, feine geijtige, wie körperliche Verkommenheit
fei dem erbluftigen Nachbar zu nüglih, als daß man nicht an«
nehmen jollte, daß fie planmäßig herbeigeführt worden. Das
war vielleicht bloß politiſche Kannegiekerei; fo viel aber ift ge
wiß, dab Amadeus I. genug zu Grunde gerichtet war, um jede
Heirath, befonders eine Heirath mit einer jungen Prinzeſſin voll
Gluth und Leidenschaft, lächerlich ericheinen zu laſſen.
Bei Hofe beſprach und behandelte man die Angelegenheit
mit dem unerfchütterlichften Ernft. Man wäre fich ehr Klein, ſehr
gemein vorgelommen, hätte man ein Wort, einen Gedanken über
das Ungehörige einer ſolchen Ehe auflommen, hätte man eine
Rüdfiht gelten laſſen, wie fie bei folchen Gelegenheiten in ver
bürgerliben Welt in Betracht gezogen werden. Alles bereitete
fih aufs Würdigfte auf das große Creigniß vor. Mit unver:
bältnigmäßigen Koften, mit außerordentlihem Pompe wurde bie
Braut an der Gränze des Landes eingeholt, in die Nefivenz ge:
bracht und dem Fürften angetraut. Sie war traurig, nieder:
geihagen; die Hofleute nannten das Ernft, Würde, Majeftät ;
die Bürgerlichen nannten die Sache bei ihrem Namen. Gie
fagten, das Leben fei hier mit dem Tode vermählt worden, die
Geſundheit mit dem Siechthum.
8 Novellen.
Bei den Felten, die der Vermählung folgten, konnte man
bemerfen, wie fie oft traurig, manchmal bitter lächelnd auf ihren
Gemahl niederſah, der jhweigend neben ihr ſaß und nicht zu ihr
aufzubliden wagte. Jeder Beobachter mußte e3 erkennen, daß
er. eine gewiſſe Angſt vor feiner jugendlichen Gemahlin hatte,
daß er oft, wenn fein erlojhenes Auge auf ihr glühendes,
ſchwarzes traf, zufammenfuhr, daß er dann um ſich blidte, mie
Hülfe juhend, daß es ihm, mit einem Worte, in ihrer Nähe
unbeimlih war. Er benugte jeve Gelegenheit, die Sitte und
Gtifette gejtatten, fi von ihr zu entfernen, und fiel zwifchen
ihm und ihr eine Thür zu, athmete er auf, als fühlte er ſich von
einem Drude befreit. Er machte einen erbarmungswürbigen
Eindruck; fie aber ſchien bemitleidenswertb, um fo bemitleideng-
werther, als fie offenbar glei am erſten Tage das ganze Wejen
ihre Mannes, das Dede des ihr bereiteten Lebens, das unend-
lic Leere ihres ganzen, ihr aufgedrängten Schidjald erkannte.
Und fie war fo jung, jo befähigt, glüdlic zu fein und glücklich
zu machen. Welche Duellen des Glüdes wurden da mit Schutt
und Ruinen bevedt!
Vielleicht war e3 dieſes Schidjal, das die Fürftin Malwine
fo raſch in der Stadt beliebt madte. Niemand ift e3 fo leicht,
Liebe einzuflößen, wie dem Opfer. Bei Hof aber war ed un—⸗
beimlih. Amadeus verbrachte feine Zeit auf Jagden und mit
Mufterungen feiner Heinen Truppe, die er beinahe täglich fo weit
al3 möglich, bis an die Gränzen feines Reiches marſchiren ließ.
Ging das nicht an, verbradte er feine Tage in den entlegeniten
Winkeln feines Schlofjes. Es machte ſich mit der Zeit von felbft,
daß er die Tage und Abende mit feinen Offizieren und Jägern
in dem einen Flügel zubrachte, während Malwine mit ihren Hof
fräulein in dem andern vermweilte. So gab es bald zwei jtreng-
geihiedene Höfe, den männlichen und den weiblichen, die nur
bei befondern feftlihen oder offiziellen Gelegenheiten zujammen: ‘
trafen. Ein Theil des legtern zog bald mit der alten Fürftin ab,
welche ſich auf ein Schloß, das fie am Rheine befaß, zurüdzog.
Der Zwed heiligt die Mittel. 9
Fürctend, dab Malwine fi für ein leeres, reizlojes Leben durch
Einfluß auf die Regierungsgeſchäfte ſchadlos halten könnte, und
erfennend, daß ihr das bei ihrem Geiſte und bei der Unter:
thänigkeit ihres Gatten leicht wäre, wollte fie diefem Falle zuvor»
fommen und lieber von ihrer Höhe freiwillig herabfteigen als
berabgeftürzt werden. Sie war übrigens gutmüthig genug, ihrer
unglüdlihen Schwiegertodhter einigen Erjag für ein verlorenes
Leben zu gönnen.
Malwine aber dachte nicht daran, irgend welche Macht für
fih in Anjpruh zu nehmen. Mit Glüd bemerkte fie, melde
Freiheit ihr die Scheu, die Furcht, die jie ihrem Gatten ein:
flößte, gewähre, und fie benugte diefe Freiheit, um fich eine
eigene Welt und in dieſer Welt wenigſtens ein erträgliches Leben,
einen Schein von Glüd zu ſchaffen. Ihr weibliches Gefühl, wie
ihr Urtheil hatten bald unter den Hofdamen diejenigen ausgeleſen,
deren näherer Umgang ihr etwas bieten konnte, und nach we:
nigen Wochen mar ein Krei3 geichloffen, der dem Fürften und
feinem nächſten Anhange unnahbar, unzugänglüh war, denn e3
war ein Krei3 gebilveter Frauen, wor dem der männliche Hof
eine inftinktive Scheu hatte. Daß in diefer Frauenwelt Clarifle
v. Büren, mit welcher, wie jich die alte Fürjtin ausprüdte, diefe
ihrer Schwiegertochter das ſchönſte Geſchenk machte, indem fie fie
am Bermählungstage der Fürftin Malwine als Hoffräulein über:
ließ, eine der erften Rollen fpielte, bedarf faum einer Erwähnung.
Malmwine hatte fie mit Kennerauge und nad wenigen gewech—
felten Worten aus der Schaar der Hoffräulein herausgefunden
und fie vom erjten Augenblide an ausgezeihnet. Aus ihren
Reden ſprach freie, anſpruchsloſe Bildung, ihre Urtheile ver:
riethen Gejchmad, ihr bloßer Blid Haren Verſtand, offenen Sinn,
und näherer Umgang offenbarte ein theilnehmenvdes, wohl:
wollendes Herz. Malwine bedurfte eines ſolchen Geiftes, der fie
auch ohne Worte verjtand, und in ihrem öden Leben eines ſolchen
Herzend, auf das fie fich verlafien, das fih an fie, daran fie
ſich ſchmiegen konnte, und endlich eines ſolchen offenen Charalters,
10 Novellen.
der, jern vom Hofe entwidelt, ven Muth batte, ein wahres
Wort, eine Klage auszuiprehen und anzubören. Clarifje war
bald mehr als ihr Günftling ; fie war ihre Vertraute, ihre
Freundin. Bei dem großen Bedürfniß Malwinens nad Liebe
bing ſie an diefem jungen Mädchen mit wahrhaftem Enthufiasmus.
Wäre Clarifje ein berechnender Charakter geweſen, wie fie es
bei allem Verſtande nicht war, fie hätte in kürzeſter Zeit für alle
Zukunft forgen, fie hätte, da die Fürftin reich war, ein Ver:
mögen jammeln, ihre Stellung ausbeuten und, von der Fürjtin
protegirt, die glänzendjte Partie im Lande machen können. Aber
fie begnügte fih, die Tröfterin ihrer unglüdlichen fürftlichen
Freundin zu fein, und wenn dieje ſich mit ihr in ihr Kabinet
einſchloß, um ſich vor ihr auszumweinen und fie dann ruhiger und
gefaßter einige Tage zubrachte, war ihr dieß Lohn und Erfolg
genug. Im gewöhnlichen Leben, da Muſik und Lektüre die Haupt:
bejhäftigung des weiblichen Hofes ausmachten, trug fie mit ihren
Talenten und ihrer Belejenheit das Ihrige dazu bei, der Fürftin
die Tage zu kürzen. Ging ſie manchmal auf einige Tage aufs
Land, um ihre Schweiter, die Paftorin, zu befuchen, fo war eg,
al3 ob die Geele des Hofes fortgezogen wäre; Malwine fühlte
fih dann doppelt einfam und es fam nicht felten vor, daß fie ſich
ſelbſt aufmachte, um die Freundin, die ihr zu lange vermeilte,
in Perſon zu holen.
Die Herren waren, wie gejagt, vom engern Kreiſe der
Fürftin ausgefchloffen. Nur felten wurden einzelne und des An-
ftandes wegen der Fürft zu den Eleinen Konzerten oder Lejes
abenden gezogen. Erſt nad) Jahr und Tag wurde eine Ausnahme
gemacht und zwar zu Gunften eine? Mannes, der zur Zeit der
Bermählung nicht anwefend war. E3 war dieß Herr v. Holland,
ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, Geheimer Rath und
einer der gelehrtejten Männer des Fürftenthyums. Cr war mit
dem Prinzen Amadeus nad Stalien gereist und daſelbſt zurüd-
geblieben, als viejer in fein Vaterland zurüdkehrte. In Italien
batte er die nähere Bekanntſchaft einer Coufine ver Fürſtin
Der Zwed heiligt die Mittel. 11
gemacht, die an einen italienischen Prinzen verheirathet war, und
brachte jegt von dieſer ein Empfehlungsichreiben mit den herz—
lihjten Grüßen an Malwine. Er wurde ihr als ein lieben
würbiger Gejellichafter, als ein ausgezeichneter, tiefer Geilt, als
ein Mann, der den Deutfchen bei den höchſten Sozietäten Italiens
Ehre machte, geſchildert und als folder au in der That von
der Fürſtin befunden. Zwar gingen allerlei Gerüchte, daß er in
Rom, wo er mit Monfignoren und Kardinälen verkehrte, zur
römischen Kirche übergetreten ſei, aber in jener Zeit behauptete
man das von den ausgezeichnetiten in Italien reifenden Protes
ftanten; man hatte ſich, da ſich diefe Gerüchte fehr oft ala falſch
erwiefen, daran gewöhnt, fie zu belädeln und die „‚Sefuiten-
riecherei” komiſch zu finden. Da diefe Gerüchte fich meiſt an be
rühmte und große Namen hefteten, war eine folche Verdächtigung
bald mie ein Kompliment; es ftellte den Verleumdeten in die
Reihe vorzüglicher Männer, die die Proteftanten nicht gern ver:
loren hätten und deren Erwerb dem römischen Stuhle wünſchens—
werth ſchien. Der geheime Rath v. Holland hatte fich übrigens
Öffentlich nie zur fatholifhen Kirche bekannt, und das ſchien eine
genug laute Widerlegung des Gerüchtes, da er ein Mann war,
der Niemand zu fürdten hatte. Freilich ftand er an der Spitze
des Unterrichtsweſens feines proteftantifchen Landes.
Mie e3 fih immer mit dem Gerüchte verhalten mochte; es
war nicht die Aufgabe der Fürftin, das zu unterfuchen. Er war
ihr empfohlen und fie fand an ihm einen Mann, wie er ihr bis
jest am .... chen Hofe gefehlt hatte, Obwohl Fürftin, war fie
doch bejcheiden genug, um fich zu fagen, daß ein Mann, ven fie
in allen Fächern des Wiſſens, wie in allen Fragen des prakt:
tiihen wie ideellen Lebens als eine Autorität ſchätzen lernte,
wiſſen müſſe, was er zu thun und zu laffen, zu glauben und zu
denken habe. Allerdings fiel es ihr auf, wie er in feinen geilt-
reihen und belebten Schilderungen Italien mit Nachdruck here
vorzuheben wußte, wie viel de3 Großen und Unvergleichlichen
die Fatholifhe Kunft in dieſer Heimat des Glaubens hervor:
12 Novellen.
gebracht, wie da in fchöniter, fejtlichjter und zugleich erhabenfter
Form ausgevrüdt fei, was anderswo nur in abjtrafter, Kalter,
unfaßlicher, dem menſchlichen Gemüthe nichtsſagender Weife aus:
gebrüdt wurde; wie dort die höchſten göttlichen und menschlichen
Gedanken in Wort und Bild lebendig und verkörpert, fo zu
jagen, Menſch geworden und mie auf dieje Art der höchſte und
tiefite Gedanke des Chriftenthbums ſich immer wieder aufs Neue,
ald ewiger Beweis feiner ewigen Wahrheit, mwiedergebäre und
wie dieſes auffallender Weife nur in dem Lande gefchehe, in dem
der Apoftelfürft feinen Thron aufgefehlagen — aber konnte fie
ihn mwiderlegen? Hatte er nicht Net? E3 ftand ihr Niemand
zur Seite, der ihr Argumente zur Widerlegung des geiftreichen
Geheimen Rathes hätte liefern können.
Herr von Holland mußte Wochen lang zu erzählen. Nach
Wochen erft zeigte es fih, daß Alles, was er bisher erzählt und
geſagt hatte, eigentlih nur Vorderſätze geweſen: wieder ganze
Moden eben fo belebter und geiftreicher Unterhaltung brachten
die zu jenen Vorderſätzen nothwendigen Nachſätze und endlich die
Schlußfolgerungen. Der Geheime Rath war bei diefem Vorgang
dur die in diefem Kreije eingeführte und beliebte Leſegewohn⸗
beit unterjtügt. Natürlich fonnte der vielbelefene Mann manden
Rath ertheilen; er ſelbſt wurde envlich der ausschließliche Vorlejer
der Fürftin und es war vorzugsweiſe die deutfche romantijche
Schule und die Romantik aller Länder, die jegt zu Ehren kamen.
Clariſſe, bisher Vorleſerin und Bibliothelarin, trat mit
ihrem Rath mehr und mehr in den Hintergrund, wenn aud) die
Fürftin, die von Tag zu Tag weicher wurde, fih als Freundin
immer inniger an fie anjchloß.
* *
*
Seit der Rückkehr des Herrn von Holland war ein Winter
vergangen. In den Dftertagen wurden Stadt und Land durch
die Nachricht, die fie zuerft durch ein ausländifches Blatt er-
fuhren, daß die Fürftin Malwine zur römischen Kirche über-
Der Zwed heiligt die Mittel, 13
getreten, in Schreden verjegt. Dab Herr von Holland demſelben
Glauben angehöre, war nun auch fein Geheimniß mehr; aber er
trat von feinem Amte an der Spite des Unterrichtsweſens zurüd,
und das beruhigte wieder die aufgeregten Geilter. Die Fürftin
hatte ſich in diefen drei Jahren ihrer Regierung jo beliebt ge:
macht, daß die Entrüftung des durch und durch proteftantifchen
Landes bald abnahm und fih nach und nah in Mitleid ver:
wandelte. Man kannte den Fürften, man fannte fie und ihre
Lage und man feufzte: Arme Prinzeſſin! fie durfte ihr Herz nicht
beſchäftigen, fie fucht e3 zu zerftreuen, indem fie ihre Phantafie
beihäftigt. — Da man mußte, daß der Fürſt nie Nachlommen
erzielen werde, auf welche die Mutter einen gefährlichen Einfluß
ausüben könnte, und von dem ibioten Fürften nicht? zu be
fürdten war, felbjt wenn. ihn feine Gattin in ihre Kirche nad
fih 309g — da endlich das Land nad dem Tode des finderlofen
Fürften an den mächtigen proteſtantiſchen Staat fallen follte,
von dem man wußte, daß er jeden überwiegenden katholiſchen
Einfluß, troß der Belehrung ver Fürftin, von dem Fürftenthum
abzuhalten wiffen werde, betrachtete man den Uebertritt Malwis
nens al3 eine Brivatangelegenbeit, ja gewiſſermaßen als ein pers
ſönliches Unglüd und jeve Sorge verfhmwand. Als endlich einige
Zeit dahinging und man bemerken konnte, daß von der Fürftin
in Stadt und Land nicht jene Projelytenmacerei zu befürdten
fei, durch die ſich ſonſt Neophyten auszuzeichnen pflegen, nahm
man die ganze Sache, die man noch ein Jahr vorher als eine
Gefahr und als ein Unglüd des Landes betrachtet haben würde,
mit Gleihgültigkeit hin, ja man gab fih Mühe, mo immer die
Fürftin fich zeigte, ihr zu beweijen, daß der Vorgang im Ber:
bältniß zwifchen ihr und ihren Unterthanen teinerlei Veränderung
hervorgebracht habe, daß man fie nach wie vor liebe, daß man
ihrem guten Herzen nad wie vor vertraue. Einzelne Prediger,
die bie und da auf der Kanzel jhon ein Wort über die Gefahr,
die dem reinen Glauben des Landes drohe, hatten fallen laſſen,
die ſchon hundert Predigten des jechzehnten Jahrhunderts durch
14 Novellen.
gelejen, um ſich zu einem gewaltigen Kampfe zu mwaffnen und
die Rolle eines John Knox dieſer Maria Stuart gegenüber zu
ipielen, jhidten die alten Bücher wieder in die Bibliothek zurüd
und verjtummten.
Bei Hof freilih ging Manches vor, aber es war im Lande
wie verabredet, Alles, was zwifchen den vier Mauern der Fürftin
geihah, ald Privatangelegenheit anzujehen und fie gewähren zu
lafien. Man hätte e3 ja auch nicht hindern künnen. Die Ver:
faſſung des Landes war der Art, dab man auf die Handlungs:
weile der höchſten und maßgebenven Perſonen jede direkte Ein-
wirfung aufgeben mußte. Die Fürſtin ließ ſich eine Kapelle ein:
richten und hatte, wie man fich in der Stadt erzählte, in diejer
Kapelle jhon einige Belehrungen zu Stande gebradt. Man
nannte eine alte Hofvame, welche eine verwidelte Lebensgeſchichte
hatte, und je verwidelter dieſe geweſen, deſto weniger ernjt war
der Eindruck, den dieſe Belehrung hervorbrachte; dann nannte
man zwei junge Hoffräulein, Töchter eines armen Beamten,
denen der Vater gejchrieben, e3 jei ſchicklich, daß treue Hof:
_ damen den Glauben ihrer Herrfchaft haben, und endlich einen
jungen, mittelmäßigen Maler, der die Kapelle der Fürjtin mit
Bildern verjorgte und Jedermann verficherte, dab ihm der Ein:
drud, ven jeine eigenen Schöpfungen auf ihn gemacht, befehrt
babe und daß man, wie er jegt erit deutlich fühle, nur in der
katholiſchen Religion ein großer Maler, ein Fra Beato Angeliko,
ein Leonardo, ein Rafael werden könne. — Dieje Bekehrungen
trugen ihrer Natur und der betreffenden Perſönlichkeiten nad
mehr zur allgemeinen Beruhigung als zur Erwedung von Bes
jorgnifjen bei. Wer konnte fih an dieſe Vorläufer anjchließen
wollen? und an dem, der es that, jchien wenig verloren, und
von der anderen Seite noch weniger gewonnen.
* *
*
Ungefähr drei Jahre nach dem Uebertritt der Fürftin Mal:
wine, von dem im Lande kaum mehr gejprochen wurde, an einem
Der Zwed heiligt die Mittel. 15
fonnigen Frühlingstage bielt vor vem Pfarrhaufe des Dr. Neu:
berg ein mit Koffern und Schachteln fo jehr überladener Reife:
wagen, daß man jeinen fojtbaren Inhalt jogleich al3 einen weib—
lihen vermuthen konnte. Im oberen Stockwerk des Pfarrhaufes
öffnete fih, al3 der Wagen till hielt, ein Fenſter und Pfarrer
Neuberg jah heraus, um ven Ankömmling in Augenfchein zu
nehmen.
„Beim Himmel!“ rief er, „e3 ift wieder Glarifje!”
In der That jprang Clarifje aus dem Wagen, während ihr
Schwager und Schweiter mit ausgebreiteten Armen und freudig
aufgeregten Gefichtern die Treppe hinunter entgegeneilten. Man
umarmte, man füßte fie und zog fie in die Speijejtube, wo eben
das Mittagseſſen bereit ftand. Die zwei Kinder Eliſens wurden
berbeigebraht und Clarifje erfreute fih als liebende Tafkte am
Anblide ver blühenden Geſchöpfe, denen fie mancherlei Spielzeug
mitbrachte.
Nach der eriten Freude des Wiederſehens fragte Elife, was
die Schwefter jet wieder dem Hofe abtrünnig machte.
Clarifje zauderte mit der Antwort. Der Pfarrer aber lachte:
„Welche Frage, Elife? Wie kannt du fo fragen? Ich habe
prophezeit, daß fie uns mwiederfommt und habe fie von Woche
zu Woche erwartet. Arme Glariffe,” fuhr er lächelnd zu diefer
gewendet fort — „Mohamed hat nur zwei Mal die Flucht er:
greifen müjlen; du hältft jetzt jchon deine vritte Hegira. Bon
welcher werden wir die neue Zeitrechnung beginnen ?"
Clariſſe ſchwieg.
„Es iſt nicht möglich,“ rief die Schweſter, „daß du wieder
vor Bekehrungsverſuchen auf der Flucht fein ſollteſt. Die Fürftin
bat das legte Mal aufs Feierlichfte verfprohen —“
Clariſſe feufzte, Dr. Neuberg aber jagte: „Erinnere dic,
wa3 ich dir damals gejagt habe. ch weiß, mas von foldhen
Veriprehungen zu halten. Lerne du mich Neubetehrte kennen
und ſolche, die einmal ins Proſelytenmachen hineingerathen,
Das wird eine Leivenfchaft, eine fire Idee! Die Fürftin wird
16 Novellen.
wohl ihr Wort gehalten haben, was man jo Wort halten nennt.
Sie hat ihr nicht mehr gepredigt und hat ihr nicht mehr predigen
laffen — aber fie hat Clarifjen beſchworen, ſich zu retten, fie
bat vor ihr geweint, gejammert, fie zeigte ihr ihre ganze Ber:
zweiflung.“
„So iſt es,“ unterbrach ihn bier Clariſſe. „Seit Wochen
bat fie nicht mehr anders als mit thränenden Augen zu mir ge:
ſprochen; fie flehte mich an, meine Seele zu retten; der Gedanke,
mid verdammt zu willen, machte fie unglüdlih. Nachdem fie
ftundenlang im Gebete gelegen, fagte fie zu mir: „Weißt du,
Clarifje, um was ich gebetet habe, um deine Belehrung!” Sie
ließ Meflen für mich lefen, fie fafteiete ſich, fie faftete für mich;
fie verweinte die Nächte, meil ich mich jo verjtodt zeigte. Sie
fieht aus wie ein Schatten, und das Allee um mich.“
Bei diefen Worten rollten Clarifje die Thränen von den
Mangen; auch Elife war gerührt und feufzte: „Arme Fürftin !“
„Arme Fürftin !“ wiederholte Dr. Neuberg etwas ärgerlich,
„allerding3 arme Fürftin, denn folder Fanatismus iſt Geijtes:
krankheit, aber man kann doch nicht, Andern zu gefallen —“
„Wenn nur,” unterbrach ihn bier Clariſſe, „dieſer Fana—
tismus nicht ein jo zärtlicher, liebevoller Fanatismus wäre!
Wenn ich nur nicht von ihrer innigen Liebe zu mir fo jehr über:
zeugt wäre! und wenn ich fie nur nicht felbjt jo herzlich lieb
hätte! So aber madht mich ihr Leiden um meinethalben wahr:
baft unglüdlih. Ich kann es nicht ausprüden, wie viel ich in
diefen legten Monaten, ſeit ich euch verlaflen, gelitten babe,
wie oft ich in innerfter Seele erſchüttert war, ohne im Geringften
betehrt zu fein, wie ih fortwährend herüber und hinüber ſchwankte,
welche Gemüthszweifel mich folterten und wie ich oft nahe daran
war, aus Liebe und Mitleid zu thun, was mein Verſtand, mein
ganzes Weſen als verwerflich verdammte. ch werde die Szene
von geftern Abend nie vergejien. Bei den größten Verbrechen
bätte ich eine folde Qual, eine folche Folter nicht verdient.
MWeinend lag fie vor mir auf den Knieen und umllammerte mich
Der Zwed beiligt die Mittel. 17
wie eine Verzweifelte. Ich felbit war wie eine Verzweifelte, mein
Kopf ſchwindelte, ih war feines Gedankens mehr fähig, Ich
wollte fliehen, fie Hammerte fih an mein Kleid; ich glaubte mich
losgemacht zu haben und eilte aus der Stube, aber ich jchleppte
fie nach und fie fiel mit der Stirn auf die Schwelle. Entiegt fiel
ih zu ihr hinab und da lagen wir Beide und meinten. Wäre fie
in diefem Augenblide nicht zu erfchöpft gewefen, um noch länger
in mich zu dringen, ich hätte zu Allem Ja gejagt. Das fühlte
ich deutlih, und ich fühlte, daß mich diefes Leben aufrieb. So
faßte ich denn einen Entihluß. Ich eilte auf mein Zimmer,
padte die ganze Nacht, ichrieb dann einen Abſchiedsbrief an die
Fürſtin und verließ mit Tagesanbrub den Hof für immer.”
„Für immer!“ jagte Dr. Neuberg achfelzudend, „ſchon zwei:
mal haft vu ihn im Laufe dreier Jahre aus denſelben Gründen
"für immer verlafien, und zweimal bift du wieder zurückgekehrt,
auf eine bloße Bitte der Fürftin, auf ein bloßes Verſprechen hin.“
„Bergik nicht, lieber Mar,“ ermwiderte Glariffe, „dab die
Fürftin meine theuerjte Freundin ift, daß ich fie liebe und daß
ih mich noch herzlicher von ihr geliebt weiß und daß fie, ad,
jo einfam iſt, jo unglüdlih! Die Schwäche war wohl verwerflich,
und ich gab ihr mit Bewußtſein nad. Wahrhaftig,” fügte fie
lächeln hinzu, „die Freuden dieſes Hofes find es nicht, die mich
zurüdzuloden vermöchten! Es ift ein trauriger Hof! Anjtatt mir
Vorwürfe zu machen, erfennt vielmehr meine Charakterſtärke an,
für eine liebe Freundin euch, diefer Wohnung des Glüdes,
diefer Heimat ftiller und inniger Freuden fo lange fern geblieben
zu fein. Denn bier allein, bei euch, bei euern Kindern bin ich
rubig und glücklich.“
Das Ehepaar ſchlug in die beiden — Hände und
drüdte fie herzlich.
„Jetzt aber bleibt vu? und für immer fragte Elife.
„Ich verſpreche, daß ich nicht mehr zu Hofe zurückkehre —
ob ich bier bleibe, it eine andere frage. Ich habe jo meine
Gedanken.”
Morik Hartmann, Werke. VL 2
18 Novellen.
„Laſſen wir uns die erjten Stunden des Wiederſehens nicht
duch Trennungsgedanken ftören,“ fiel der Paſtor ein; „jeden-
fall3 bleibjt du eine geraume Zeit. Wir wollen uns fo gemüthlich
al3 möglich einrichten, und du follft dich nad) den überftandenen
Stürmen wie im Hafen fühlen.“
Es wurde, wie ed der Baftor verſprach, und er trug das
Geinige dazu bei, daß es fo wurde. Wie wohl that Clarifjen
das jtile Familienleben und die ruhige Liebe und Freundſchaft
der Anverwandten, nad) den harten Proben, die fie jene aufge-
regte Liebe der Fürftin hatte beſtehen laſſen. In Haus und
Garten verflofien die angenehmen Tage aufs Bürgerlichite; die
Geſellſchaft Dr. Neubergs beftand aus mehreren gebildeten Män-
nern der Umgegend, die von Zeit zu Zeit vorſprachen, und mit
denen man bei Tiſche, oder Nachmittags im Garten beim Kaffee,
einige angeregte Stunden verplauderte. Clariſſe ſchien es, als -
wäre fie in die Welt gefommen, erjt nachdem fie den Hof ver:
lafien, und fie fah ein, wie Alles, was das Leben des Lebens
werth mache, in einen kleinen Kreis geſchloſſen werden könne.
Nahdem fie Jahre mit monotonen ftandesmäßigen Beichäfti-
gungen und leeren Formen zugebracht, ſchien ihr die kleinſte
bäuslihe Beihäftigung, die unbedeutenpfte Pflege oder Sorge
für die Kinder ihrer Schwefter unendlich inhaltsreih. Dazu kam,
daß ihrem Haren, ruhigen Verjtande nicht? zugemuthet wurde,
was ihm wiberjtrebte, daß ihr jedes Wort, jede Anficht ihrer
jeßigen Umgebung verwandt, oder wenigſtens begreiflih war,
daß Herz und Geift ſich hier gleihmäßig heimiih fühlten, wäh:
rend fie durch jo lange Zeit, im Widerftreit mit ſich jelber, ihr
Herz zu Hülfe.rufen mußte, um fi nicht mit Herz und Verſtand
empören zu müflen. Eine höchſt mohlthätige Ruhe erfüllte ihr
ganzes Wejen und verbrängte allgemach eine gewiſſe Verdrieß—
lichkeit, die ſich während des beftändigen Kampfes gegen die Bes
kehrungsverſuche in ihr wie Schladen feſtgeſetzt und ſie manchmal
an ſich irre gemacht hatte. Die alte Heiterkeit kehrte wieder und
e3 wurde ihrer Seele wohl, wie dem Leibe wohl it, wenn er
Der Zwed heiligt die Mittel. 19
einen fremden Körper, der feinen Organismus jtört, ausge:
ſchieden; die Fürftin trug durch ihr Schweigen viel zu diefer
fchnellen Genefung bei. Während der früheren zwei Aufenthalte
Clariſſens bei ihrer Schweiter kamen Klagebriefe voll Vorwürfe
und Sehnſucht beinahe jeglihen Tag, und dann die Fürftin
jelbit, um den geliebten Flüchtling zur Rückkehr in die Stadt
zu bewegen, was ihr aud zweimal gelungen war. Dießmal
blieben die Briefe aus, ebenjo die Gejchenke, die ihr ehemals
zulamen, um fie zu überzeugen, daß ihr die Liebe ihrer fürft:
lihen Freundin trog ihrer treulofen Flucht in ganzer Wärme
verblieben fei. That das auch der Eigenliebe Clarifjeng etwas
wehe, jo war ihr das Benehmen Malwinens dod im Ganzen
willlommen, da fie jehr wohl wußte, daß fie ein neuer Beweis
von Liebe aufs Neue aufregen würde. Sie aber bedurfte ihrer
Gemüthsruhe, um ganz dem Entſchluſſe, den fie einmal gefaßt
batte, treu bleiben zu können.
Arm wie fie war und bereit3 dreiundzwanzig Jahre alt, feit
entſchloſſen, nicht mehr zu Hofe zurüdzulehren und eben fo fern
von dem Gedanken, ſich von ihrem Schwager, deſſen Familie
wuchs, und deſſen mäßiges Einkommen dafjelbe blieb, troß aller
Liebe und Treue, die ihr im Haufe bewiejen wurden, ernähren zu
lafien, hatte fie alle Urſache, an ihre Zukunft zu denken. Mit
ihrem entſchiedenen Charafter war es in volllommenjter Ueberein⸗
ftimmung, daß fie ſelbſt für ſich ſorgen wollte. Sie hatte genug
gelernt, um den Platz einer Gejellichafterin bei einer großen
Dame oder einer Erzieherin mit Ehre einzunehmen; und fie war
vorurtheilslos und von faljher Scham unabhängig genug, um
mit größter Heiterkeit einen ſolchen Entſchluß zu fallen und von
dem eingebilveten Piedeſtale der Hofvame eines Heinen deutſchen
Hofes herabzufteigen und fi in einer untergeorbneten Stellung,
in der fie eine pofitive Pflicht zu erfüllen hatte, in der fie ſich
nüglih maden konnte, noch wohl zu fühlen. Es wiberftrebte
ihr, in Frankreich eine ſolche Stelle zu ſuchen; fie hatte ſchon
Manches von den Belehrungsverfuhen gehört, die in diejem
20 Novellen.
Lande an deutſchen proteftantifchen Gouvernanten unternommen
worden, und fie wollte ſich nicht in der fremde einer Unannehm:
lipleit ausfegen, unter der fie in der Heimath fo viel gelitten
hatte. So richtete fie ihr Augenmerf auf England und hatte
Ihon zu ihrem Zmwede in London Korrefpondenzen angetnüpft.
Mit Anbruch des Winter wollte fie dahin abgehen ; ver Sommer
follte no im Behagen des Familienlebens verbradht werden;
zugleih wollte fie dieje Zeit noch benugen, um fich in der eng:
liſchen Sprache zu vervollfommnen, die fie bei Hofe, wo nur
franzöfifch gefprochen wurde, vernadläfligt hatte. Dr. Neuberg,
der diefer Sprahe mächtig war, da er ſich lange in England
aufgehalten hatte, leiftete ihr bei dieſem Studium die trefflichite
Hülfe. Engliihe Dichter wurden gemeinjchaftlich gelefen, dabei
unter Leitung ded Schwager mande andere Studien gemadht,
weldhe bie und da eine Rüde in Clariſſens Wiſſen ausfüllen
jollten, und fo verfloß eine Zeit, die ihr als die glüdlichfte ihres
ganzen Lebens erjchien.
* *
*
Die ganze Familie ſaß eines Nachmittags im Garten, der
Paſtor nach deutſcher Art ſeine Pfeife rauchend, als das Dienſt—
mädchen einen Papierſtreifen brachte, auf dem der Name „Mar:
quis von Beaupre* in friiher Schrift gefchrieben ftand. „Diejer
Herr," fagte das Mädchen, „wartet im Haufe und wünjcht den
Herrn Paftor zu ſprechen.“
„Bitte ihn,” fagte der Baftor, „in den Garten zu fommen.“
Er ftellte feine Pfeife hin und machte fich bereit, dem Fremden
entgegen zu gehen, als dieſer ſchon mit ſchnellen Schritten auf
dem Sandmwege herbeitam.
„Sch bitte,“ rief er von fern und bejchleunigte feinen Gang,
„ich bitte, ſich gar nicht zu ſtören.“
Er verneigte ſich mit der ehrerbietigiten Ungezwungenbeit
und Anmuth vor den beiven Damen, die, als er ſich dann zum
Doktor wandte, raſch einen jener flücdhtigiten Frauenblide wech—
Der Zwed heiligt die Mittel. 21
felten, die ein fertiges Urtheil über einen Unbekannten enthalten.
Der Marquis war ein Mann von ungefähr achtundzwanzig
Jahren, mit blaffem Gefihte, feinem Munde, dunklen Augen
und fohwarzen, langen Haaren. Wie fanft jeine Lippen auch
über Heinen, beinahe weiblichen Zähnen läcelten, jo gab ihm
doch eine energiſch hervorjpringende Nafe ein ganz männliches
Aussehen. Das blafie Gefiht wurde durch die ganz ſchwarze
Kleidung auffallend hervorgehoben und feine Bewegungen, ob»
mohl etwas gemejjen und bewußt, waren doch frei und leicht,
voll männliher Anmuth.
Mit ariftofratifcher Befcheidenbeit bat er um Vergebung,
ein fo intimes Zufammenfein geſtört zu haben, und dabei ließ
er ein treffliches Deutſch hören, das durch einen leifen Anflug
fremdartiger Ausfprahe den Damen, wie e3 wieder ein Blid
herüber und hinüber verfündigte, ganz beſonders reizend erſchien.
Nachdem er fih auf den angebotenen Gartenituhl geſetzt hatte,
begann er mit einer leifen Berneigung: „Herr Doktor! Ich bin
der Marquis von Beaupre, ein Franzoſe. Ein mir befreundeter
Künftler, ein ausgezeichneter Architelt in Paris, veröffentlicht
ein großes Werf über ven romanischen Baujtyl. Unſer Vater:
land befigt viele jehr ſchöne Monumente diefes Styles, bejonders
im ſüdlichen Frankreich, 3. B. die Kirche von St. Gilles, oder
den Kreuzgang von St. Trophime in Arles, und nad diejen
bat ſich mein Freund bei Abfafjung feines Werkes vorzugsweiſe
gerichtet. Aber dieſer Styl hat fi dem Einfluffe verjchiedener
Länder nicht entzogen; er ift in Deutſchland in mancher Be:
ziehung, in manden Theilen anders als in Frankreich und ta:
lien. Die Verſchiedenheiten wären für meinen Freund jehr be
lehrend; aber er ift dur jeine Stellung an Paris gebunden.
Sp bat er mich, der ich beinahe immer auf Reifen und ein
mittelmäßiger Zeichner bin, ihn zu unterjtügen und ihm Zeich:
nungen nach romaniſchen Bauwerken einzufenden, wo ich ſolchen
begegne. Nun börte ich von Ihrer Kirche hier — in der That
ein bijou — und ich babe auf meiner Reife durch Deutfhland
22 Novellen.
den Ummeg hierher um fo lieber gemacht, als ich, feit ich mid
für den Freund in diefer Weife befhäftige, ein Enthufiaft diefer
arditektonifhen Formen geworden bin. Sie zu bitten, Herr
Paftor, daß Sie mir den freien Zutritt in die Kirche geftatten,
damit ich die vielen ſchönen Einzelheiten des Innern mit Muße
aufnehmen fönne, ift der Zweck meines Befuches.”
„Herr Marquis,” erwiderte Dr. Neuberg aufs Verbinvlichite,
„die Kirche fteht ganz zu Yhrer Verfügung und zu jeder Stunde
de3 Tages. Wenn Sie vielleiht einige alte Ornamentif inter:
eflirt, die bei einer neuerlichen Neftauration entfernt murbe,
die ich aber im Thurme aufbewahren ließ, fo werde ich Befehl
geben, daß fie hervorgefucht und aufgeftellt werde, wo Eie fie
bequemer beſehen und mwenn fie Ihnen gefällt, auch zeichnen
fönnen.”
„Sie find fehr gütig, Herr Doktor, und ich bin Ihnen für
jo viel Güte doppelt dankbar, ala ih — entihuldigen Sie, daß
ich e3 ausſpreche,“ fügte er mit einem Lächeln huch zu den Damen
gewandt hinzu — „ala ich dieſes gütige Entgegenfommen von
protejtantifcher Seite nicht überall erfahren habe.“
„O, Herr Marquis,” rief der Paftor, „ih kann Sie ver:
ſichern, und zur Ehre Deutfhlands fei es gefagt —“
„Beber Herr Doktor,” fiel ihm der Marquis in die Rede,
„ih kenne Deutichland, ich weiß, was ich von vergleichen zu
halten habe. Welcher gebildete Menſch mird Seftenvorurtheile
oder fonfeflionelle Eingenommenheiten auf das neutrale Gebiet
der Kunft ‚übertragen! Am Ende,” fügte er weniger ernjt und
lächelnd hinzu, „am Ende ift es nur billig, daß man uns, id
. meine den Katholiten, wenigſtens den Scattenriß der Kirchen
gönne, die ung einft als Eigenthum angehört haben.”
Der Paſtor erwiderte, auf den Scherz eingehend, in dem
felben Lächeln: „Da wir Proteftanten zur erften Einfachheit des
Glaubens zurüdtehrten, fo haben wir ein natürliches Recht auf
jene Kirchen einfacherer Formen, die jenfeit3 der Gothik ent:
ftanden find, welche vielmehr den Katholizismus repräfentirt.”
Der Zwed heiligt die Mittel. 23
„Aber fie haben uns ja auch gothiſche Kirchen, prächtige
Kathedralen weggenommen, die gottlofen Ketzer!“ rief der Mar:
qui mit fchmerzhaftem Pathos und zu den Damen gewendet:
„Iſt es nicht traurig, daß es gleich Streit geben muß, mo zwei
Männer verjchiedener Konfeflionen zufammentommen ?"
„Wollte Gott!” fagte der Paſtor, „es gäbe feinen ernftlicher
gemeinten Streit.”
„Sin Wunſch, in den ich mit ganzer Seele einftimme,” fagte
der Marquis plöglih ernithaft; „ich bin aus dem fühlichen
Frankreich, ich habe gefehen, welche Zerwürfniffe, welches Un:
glüd vergleichen hervorbringt.“
Dann, als ob er fi befänne, daß joldhe Geſpräche den
Damen nur langweilig fein fönnen, und daß er fein Recht habe,
al3 Fremder ſolche Themata auf Tapet zu bringen, ging er
mit der gewandteſten Wendung, an das ebengenannte jüdliche
Frankreich anknüpfend, auf feine Reifen über und wußte die
Damen jo zu intereffiren und in das Geſpräch zu ziehen, daß
bald eine allgemeine und lebhafte Unterhaltung im Gange war.
Nach einer Stunde, die den Damen wie fünf Minuten ver:
flofjen war, erhob er ſich plöglich von feinem Sige und ent:
ſchuldigte fih, fo lange geftört zu haben. Da er aber, mie er
in fein Gefpräc hatte einfließen laffen, feine Beihäftigung und
feine Belanntfchaft in dem Städtchen hatte, lud man ihn ein,
länger zu bleiben und fih auf einem Spaziergange die Gegend
zeigen zu lafjen. An ver Leichtigkeit, mit der er fich überreden
ließ, erfannte man, wie gern er blieb und man fühlte fich ges
ſchmeichelt.
Auf dem Spaziergange gab der Marquis Eliſen den Arm,
während Dr. Neuberg Clariſſen führte, aber kaum vor dem
Städtchen angelommen, ordnete man fich in eine Reihe, um die
Unterhaltung allgemeiner zu machen, oder vielmehr, weil ever
ven Marquis hören wollte, Man führte ihn auf die ſchönſten
Ausfihtöpunfte, man zeigte ihm in ver Ferne den breiten Strom,
man fuhr mit ihm über einen Heinen See und vertiefte fich in
24 Novellen.
einen alten, verwilverten Park, voll Stille und Vogelſang zu:
gleih. Auf einer Höhe angefommen, erfreute man fih an einem
ſchönen Sonnenuntergange. Der Marquis ſah der Sonne mit
ſehnſüchtigem Blicke nach, der ſeinem Geſichte, auf dem das
Abendlicht glänzte, einen unendlich milden, melancholiſchen Aus—
druck gab. Clariſſe ſah ihn in dieſem Momente mit ſo viel
Theilnahme und ſo lange und ungezwungen an, daß ſie darüber
erſchrak. — „Dort liegt Frankreich!“ ſagte er vor ſich hin, und
er erſchien ihr wie ein Verbannter, mit dem man inniges Mit⸗
leid fühlen dürfe. — Der Himmel weiß, dachte ſie, welche
Schickſale ihn zwingen, fortwährend die Welt zu durchziehen —
und gewiß, er ſieht aus, als wäre irgend ein bedeutendes
Schickſal über ſein Haupt dahingegangen.
Es klang ihr wie eine Antwort auf ihre Gedanken, als der
Marquis gleich nach ſeinen Worten: „Dort liegt Frankreich!“
zu Dr. Neuberg fagte: „Erinnern Sie ih an den Ausſpruch
Diverot3? C'est une belle chose, mon ami, que les
voyages, mais il faut avoir perdu son pere, sa. mere,
ses enfants, ses amis, ou n’en avoir jamais eu, pour
errer, par Etat, sur la surface du globe. — Nun,” fügte
er lächelnd hinzu, indem er mit der feinen weißen Hand eine
Bewegung vor der Stirn machte, als wollte er allerlei Gedanken
veriheucden, „nun, man muß fi tröften, und ich thue e3 mit
den Worten deſſelben gottlofen Diverot: Crois, que tu vas,
parceque tu ne peux pas rester. — Dann jagte er zu den
Damen: „Es ift fonderbar, und ich babe ſchon oft die Bemer:
fung gemadt, dab man auf Reifen gerade in der liebenswür⸗
digſten Geſellſchaft, gerade da, wo man die meiſte Freundlichkeit
und Güte erfährt, am Melancholiſchſten wird, das größte Heim:
weh fühlt, mehr als in der ödeiten Einſamkeit. Aber das ift nur
natürlich. Dan fühlt ich heimisch und denkt in Folge der natür⸗
lichſten Ideenverbindung an die Heimat; dann denkt man, wie
ſchön es wäre, das Glüd folder Freundlichkeit mit dem Glüd
der Heimat zu verbinden. Meine Damen, wie undankbar es
Der Zwed heiligt die Mittel. 95
ſcheint, ſich aus ſolcher Gefellihaft von feinen Gedanten in die
Ferne tragen zu laſſen — es ift viel Dankbarkeit darin.“
Es war in den Reden des Marquis Beaupre immer etwas,
was auf rührende Weife jchmeichelte.
In der Dämmerung fehrte man in die Stadt zurüd, und
zu Haufe angeflommen, veritand es ſich von jelbit, daß ber
Marquis zum Nachteſſen blieb. Als er ging, mußten e3 fich die
drei Zurüdgebliebenen nicht erjt jagen, dab fie einen unerwartet
jhönen Tag verledt hatten, daß fie fich jämmtlich auf das Tiefite
angeregt fühlten, daß eine jolche Bekanntſchaft eine Bereicherung
des Lebens fei. Sie geſtanden es alle drei, daß fie noch keinen
Mann kennen gelernt, der männliche Liebensmwürbigfeit, edle
Sitte und Wiffen und Bildung in jo hohem Grade gleichmäßig
in ſich vereinige.
„Mich,“ jagte ver Paſtor, „freut diefe Belanntfchaft vor:
zugsweiſe um beinetwillen, Clarifje. Deine Erfahrungen bei
Hofe haben dich mit Vorurtheilen gegen die fatholifhe Welt
angefüllt, vie, ic muß e3 dir geftehen, mir an dir jo unbehaglich
waren, wie mir jedes Vorurtheil, jever Fanatismus widermärtig
it. Unter Katholiten verſtandeſt du einen Schleier & la Ge
beimrath Holland oder eine fanatifhe Schwärmerin und Proſe—
lytenmacherin wie die Fürſtin.“
„sh babe,” erwiderte Clariſſe, um fich zu entſchuldigen, „ich
babe nie andere Katholiken gekannt.“
„Darum ift e3 gut, daß du nun Andere kennen lernit. Du
darfit den gewaltigen Unterſchied zwifchen geborenen Katholiten
und Neubelehrten nie vergeſſen, beſonders in der gebildeten
Welt. In unferer modernen Zeit gleihen Bildung und Willen
den Unterſchied aus, an dem nur der Zufall der Geburt ſchuld
it. Eine Nation entlehnt von der andern Ideen und Anſchauungs⸗
weijen, ohne zu fragen, ob die andere katholiſch oder proteſtantiſch
ift. Glaubft du, daß ein gebilveter Menſch, bevor er ein hiſto—
riſches oder philojophifches Buch aufjchlägt, fich erſt erkundigt,
ob der Verfaſſer fo viele Sakramente anerkennt, wie er? Er
26 Novellen.
liest und prüft und behält, was er für wahr hält. Ob dieſe
Wahrheit mit feinem Protejtantismus oder Katholizismus im
Einklang oder im Widerſpruch fei, ift ihm gleichgültig. So iſt
mancher Katholik proteitantifcher al3 mancher Superintendent,
fo wie e8 Superintendenten gibt, die fatholifcher find ala mancher
Kardinal. Sieh nur diefen Marquis an. Diderot ijt offenbar
jein Lieblingsfchriftfteller, der geiftreiche, liebensmürdige Diderot,
und diefer hat doch einen Standpunft, auf den viele höchft pro=
tejtantifhe Köpfe mit aller Anstrengung ihres Geijtes nie ge:
“langen werden. Haft du jchon viele Proteftanten gefunden,
welche die dee der Toleranz jo groß und in fo weitem menſch—
lihen Sinne aufzufafien vermögen, wie Diderot ?“
„Gewiß,“ ſagte Clariffe, „ich ſehe feit heute Nachmittag die
Dinge mit ganz andern Augen an, al3 vorher.”
Der Paſtor fuhr fort: „Nicht die gebildeten geborenen Ka:
tholifen find zu fcheuen, nur die Neophyten. Ich ſpreche nicht
von Denen, die aus Eigennuß oder Ehrgeiz übergehen ; die find
zu allen Zeiten diefelben ; fie werden befehrungsfüchtig fein oder
nicht, je nachdem es Eigennuß oder Ehrgeiz verlangen. Die heut:
zutage aus Schwärmerei oder fogenannter Meberzeugung über:
gehen, kommen dadurch ſelbſt in Widerſpruch mit dem Geiſte
der Zeit; das reizt oder verbittert, macht kampf- und eroberungs⸗
fühtig und endlich fanatifh. Mit wahrfter und vollfter Weber:
zeugung iſt der moderne Menſch doch nicht bei einem joldhen
Schritte betheiligt; die Luft, die er von Jugend auf geathmet,
verhindert das. Sein Leben lang ftrebt er ſich und Andere zu
überführen, daß er aus Ueberzeugung gehandelt, und das kann
er nur, indem er fo viele Beifpiele feines eigenen Falles ald nur
möglih zu Stande bringt. Andere follen für ihn bemweiien.
Daher jeine Belehrungsmwuth. Dazu fommt noch jener Hochmuth,
ver allen mit Bewußtfein Frommen gemein ift, und bemußt
fromm müſſen Diejenigen jein, die mit Bewußtſein einen joldhen
Schritt thaten. Die Ausnahme, die fie machen, läßt fie ſich
jelbft als Auserwählte erſcheinen. Auf diefer Höhe glauben fie
Der Zwed heiligt die Mittel. 97
fih zu Manchem berufen und berechtigt, was mehr nad Stolz
als nah riftliher Demuth ausſieht. — Ich geftehe dir, daß
ib, obwohl Baitor, erfchreden würde, träte heute ein Katholik
vor mid und erflärte, er wolle zum Proteftantismus übertreten.
Ich begreife, daß ganze Städte und Länder, zum Theil aus
politiihen Gründen und um ſich vor römiſchen Lebergriffen zu
fhügen, zu einer der protejtantifchen Konfeflionen übertreten oder
etwas dem Proteftantismus Aehnliches neu fchaffen. Aber der
Einzelne würde mich erfchreden. Was will er bei uns? Iſt er
ein Schwärmer — und ich begreife nicht, wie Schwärmerei,
Phantafterei ihn aus Katholizismus in Proteftantismus führen
folte? — dann bringt er nur Unruhe und Fanatiemus in die
Gemeinde ; iſt er ein denkender Menſch, der mit feinen Gedanken
über die Dogmen der römischen Kirhe hinausgelommen, wie
follte er nicht auch über Vieles, beſonders über fo viel Halbes
in unferer Kirche hinausgelommen fein? Und warum follte er
ih vor einem Dogma retten, das ihm als Kind auferlegt worden,
und für das ihn Niemand verantwortlid macht, um al3 be
mußter Mann ein Glaubensbetenntniß abzulegen, für das er
nun einftehen muß, -und das er in feiner Ganzheit doch nicht
annehmen kann?“
„zieber Mar!” ſagte Clariffe, „verliere dich nicht fo weit;
du predigit einer Bekehrten.“
Der Paſtor late mit: „Du haft Recht; ich bin einmal ein
Prediger. Ich wußte wohl, daß du nur einer Heinen Erfahrung
beburftejt, um von einem Vorurtheil zurüdzutommen, das für
Millionen Menſchen beleidigend ift. Nichts ift eines anftändigen
Menſchen unwürdiger als Vorurtheil. Ich freue mich doppelt,
daß du gleich eine fo überzeugende, jo fiegreihe Erfahrung
machtejt, die mehr Wirkung machen muß, als hundert andere.
Welch ein Menfh, dieſer Marquis, welch ein Menſch! Wir
müfjen ihn jo lange al3 möglich zurüdzuhalten juchen.”
Der Marquis fhien eben fo gern zu bleiben, al3 man ihn
gern zurüdhielt. Gleich am Tage nad feiner Ankunft ging er
28 Novellen.
an die nähere Befihtigung der Kirche und aller ihrer Theile,
und da zeigte e3 jich, daß er viel, ſehr viel zu thun haben werbe.
Mit liebenswürdiger Offenherzigleit ſprach er feine Freude dar:
über aus, einen Vorwand zu mochenlangem Aufenthalte ges
funden zu haben. Er zeichnete jehr fleißig und um ihm feine
Arbeit zu erleichtern, räumte man ihm im Pfarrhaufe eine
Stube ein, wo er Mandes ausführen konnte, ohne erjt in fein
entferntes Gajthaus zurüdfehren zu müflen. Er war der tägliche
und beinahe beftändige Gait der Pfarrerfamilie. Während er in
der Kirche ſelbſt zeichnete, leitete man ihm oft Gejellichaft, und
wenn Regen eintrat und die Arbeit in der Dunkelheit der Gänge
unmöglich wurde, verbradhte er ganze Tage bei den Freunden.
Und e3 regnete oft. Aber er wußte ſich nicht nur angenehm, er
wußte ſich auch nüglich zu machen. Bon Clarifjens Plänen unter:
richtet, befprach er fich oft mit ihr über ihre Studien und es
machte jich wie von jelbjt, daß er ihr Lehrer wurde, beſonders
in der Gejhichte, und da Clariſſe nicht mehr die frühere Scheu
vor Frankreich hatte — und möglicherweife auch eine Stelle in
Frankreih befommen konnte — wurde auch die franzöftiche
Literatur nicht vernachläſſigt. Bei einem franzöſiſchen Geſchichts⸗
lehrer war es nun natürlich, daß er die Weltgefchichte des Bi-
ſchofs Bofjuet mit ihr lad. Der Marquis war zwar nicht in
Allem der Meinung dieſes Hiſtorikers, aber es fam ihm darauf
an, feine verehrte Schülerin die Welt auch einmal von katho—
liſchem Standpunkte aus betrachten zu laſſen. Sie fei ja über
vie fonfejlionellen Unterfchieve hinaus; in der Geſchichte komme
e3 ja nur auf die Wahrheit an, und um diefe zu erfahren, müſſe
man beide Parteien hören. Clariſſe fand das nur gerecht, wie
Alles, was ihr der Marquis fagte, und fie war ihm dankbar,
als fie nah Kurzem bemerkte, daß fie die Welt mit ganz andern
Augen, mit mehr Gerechtigkeit, anjehe. Chateaubriands „Geift
des Chriſtenthums“ war damals in Mode; wie ſchön wußte ber
Marquis diefes melodiſch gefchriebene Buch zu lefen; fein Aus:
drud gab den oft fo fehr inhaltslofen Sägen reiche Bedeutung,
Der Zwed heiligt die Mittel. 29
und feine Lefekunft, verbunden mit den volltönenden Perioden,
brachte eine mufikalifch» beraufchende Wirkung hervor. Man
träumte, man wiegte fi auf dieſen ſchimmernden, bald mur«
melnden, bald ftürmenden Wogen, man glaubte zu denken und
man wurde nur fortgetragen, bingerifjen. Dann kamen Lamars
tine's Harmonien und Meditationen an die Reihe, die der Mar:
qui auswendig wußte, und die er meift auf einfamen Spazier:
gängen, im Kahn auf dem See, oder im Duntel des Waldes zitirte,
D die feligen Stunden, die Clarifje in Gefellihaft vieles
Mannes verlebte! Sie waren fo felig, daß fie darüber vergaß,
wie belehrend fie waren, daß der Marquis ihr Lehrer war, ihr
einen andern Geift einhauchte, fie nah und nad zu einer ganz
andern Berjönlichleit ummanbelte.
Die Abende gingen meiſtens in Diskuffionen zwiſchen den
beiden Herren hin. Dr. Neuberg nannte einmal Thomas a Kem:
pis. Der Marquis griff diefen Schriftfteller an, während ver
Paſtor jeine Tiefe und feine welthiftorifche Bedeutung vertheibigte.
Der Marquis konnte nicht zugeben, daß mir das Recht haben,
jo, wie e3 dieſer Schriftfteller that, auf diejes irdiſche Leben
herabzuſehen. Auch viefe Leben habe feine Rechte, ja feine
Heiligkeit, wie das Leben im Himmel. Und um jeine Worte zu
belegen, las er aus der „Nachfolge Chriſti“ einige Stellen, die
er mit Energie al3 Beleidigung der Menſchheit und der Menſch⸗
lichkeit verwarf. Doch wollte er nicht ungerecht fein umd las
gleih darauf einige andere der rührenpiten Stellen aus dieſem
merkwürdigen Buche. Clariſſe horchte mit ganzer Seele. Sie
war dieſe ganze Zeit fo überſchwenglich glüdlih, daß es ihr
wohl that, in dieſer poetifchen Zerfnirfhung und Demuth von
ihrem Glüde auszuruhen, und zugleich diefer unendlichen Hin:
gebung an das, wa3 ung erfüllt, zu folgen, ſich aufzulöien, ſich
zu demüthigen und zu vernichten in Liebe. Die weibliche Hin:
gebung im Chriftenthume, da3 Einswerden mit dem Gegen:
ftande der Liebe war ihr noch nie jo lebendig vor die Seele ge
treten, wie in diefem Buche.
30 Novellen.
Sie bat den Marquis darum, da jie eine gewiſſe Scheu
hatte, es von ihrem Schwager zu verlangen, obwohl e3 diefer
vertheidigt, jener angegriffen hatte. Er übergab e3 ihr am nächften
Tage, da er mit ihr allein war, nach einigem Zaudern und mit
der Warnung, ſich durch dieſes gefährliche Buch nicht zu ſehr
von der Welt und ihren jhönen Freuden abziehen zu lafjen.
„Sie gehören der Welt und ihrem Glüde,” fagte er mit
einem jo innigen Ton in der Stimme, daß ihr beinahe die
Thränen in die Augen traten. — „Wer jo viel Glüd zu ver:
geben hat, wie Sie,“ fügte er bei und lächelte dazu, als ob er
die Bedeutung feiner Worte abſchwächen wollte, „ver darf ſich
von der Erde nicht entführen laffen, der muß im Leben ver:
weilen und feine Gaben austheilen ; das ift Pfliht! Gewiß, ich
bin fein Ungläubiger, aber fein Thomas a Kempis foll mid
überzeugen, daß wir und das Leben nicht jo ſchön machen follen,
al3 wir können. Es ift fo ſchön!“
Er ging raſch von dannen und ließ fie allein mit Thomas
a Kempis und ihren Gedanlen.
Bei aller Intimität, die ſich fo überrafhend jchnell zwischen
ihnen ausgebildet hatte, bei aller Freundſchaft und Theilnahme,
die er ihr bei jeder Gelegenheit zeigte, hatte er ihr doch noch nie
jo, mit ſolchem Ausdrude geſprochen. Die Wirkung war um jo
größer, und das Buch, das fie mit diefen Worten erhielt, wurde
ihr deſto theurer. Sie behielt e& in’ der Hand und drüdte es
manchmal unmwillfürlih, während fie an den Marquis dachte.
Clarifje war bald vierundzmanzig Jahre alt; fie mußte ſich
von ihren Gefühlen Rechenſchaft zu geben, fie wußte, daß fie
den Marquis liebte. Hätte fie e3 nicht an jo vielen andern Ans
zeihen erkannt, die fich bei ihr eben fo einjtellten, wie bei einem
jechzehnjährigen Mädchen, fie hätte es daran erkennen müflen,
daß diefer Mann eine unmiderftehliche Gewalt über fie ausübte,
daß er fie, die ſich von jeher ihrer eigenen Willenskraft ftolz
bewußt gewejen, modeln konnte wie er wollte, daß er fie, ihrer
eigenen, bisherigen Perſönlichkeit volllommen entäußerte und fie,
Der Zwed heiligt die Mittel, 31
fie wußte nicht wie, ganz anders zu denken und zu fühlen lehrte,
ala fie bisher gedacht und gefühlt hatte. In ihren kühlſten Stuns
den, wenn fie fich mit Ruhe über fich aufzuflären fuchte, kam fie
fih im beiten Falle wie eine Spieluhr vor, in die er nach Be:
lieben eine neue Walze einlegte, um fie nah Wunſche dieſe
oder jene Weife jpielen zu laſſen. Und fie empfand dieje Ent:
äußerung ihrer ſelbſt, viefe geiftige Sklaverei mit einer Art von
Freude, und im Namen deſſen, den fie liebte, triumpbhirte fie
über fich jelbit.
Ob der Marquis fie wieder liebte? Die Schweiter, die ihn
beobachtete, und der Clariſſens Gefühl fein Geheimniß war,
hoffte es. Aber wie offen auch der Fremde in feinem Benehmen
war, wie ſehr auch jedes feiner Worte ein treuer Spiegel eines
ganzen Charakters ſchien, war und blieb er dem Kleinen Kreife
doc ein Geheimniß. Er ſprach viel über jeine Verhältnifje, er
erzählte vielfache Erlebnifje, aber troß der Aufmerkſamkeit, mit
welher Frauen Unbelannten zuhören, um dann mit großer
Kunft aus Bruchſtücken fich jelbit eine Lebensgeſchichte zuſammen⸗
zufegen, war e3 den beiden Schweitern doch nicht gelungen, ſich
von der Stellung und der eigentlichen Lebensweiſe ihres neuen
Freundes ein klares Bild zu machen. Selbſt wenn fi Elife aus
ſchweſterlicher Liebe zu einer Unzartheit aufraffte, um ihn gradezu
nah Diejem oder Jenem zu fragen, was in jeiner Lebens:
geihichte eine Rüde ausfüllen follte, bekam fie eine bejtimmte Ant:
wort, die zu größeger Grfenntniß nicht3 beitrug, manchmal jelbjt
ein ganzes Gebäude von Vermuthungen und Zujammenftellungen
über den Haufen warf. Eine Erzählung warf mandmal ein
aufflärendes Licht über einen ganzen Lebensabjchnitt des Mar:
quis, aber bald folgte eine andere Erzählung, oft nur eine Kleine
Bemerkung, die wieder einen verhüllenden Schatten über den-
jelben Abjchnitt warf, ohne daß fi der Marquis im Geringiten
widerfprochen hätte. So viel ſchien gewiß, daß er nicht zwecklos
und als bloßer Vergnügling reiste. Daß er Verbindungen in
‚allen Ländern, ja in allen Welttheilen hatte, daß er täglich
32 Novellen.
Briefe aus allen Weltgegenden erhielt, wußte man, und das
Alles trug nicht dazu bei, ihn in der Meinung feiner neuen
Freunde herabzudrüden. Das Geheimnißvolle, das ihn umgab,
und in das er fih mandmal mit offener Abficht hüllte, wenn
er plöglich in gemifien Punkten feine Mittheilungen abbrach over
mit einem Seufzer ſchloß, wo man feine Urſache zur Trauer er:
fannte — das Geheimnißvolle war für die Damen ein Reiz mehr,
eben jo die Ueberzeugung, daß er in irgend welchen ausnahms:
weiſen Verhältniſſen lebe. Letzteres gab er, auf eine jener unzarten
ſchweſterlichen Fragen, jelbit zu. Noch ein anderer Umjtand, um
den e3 Elifen mit Rüdficht auf ihre liebende Schwefter beſonders zu
thun war, wurde aufgeflärt; der Marquis war nicht verheirathet.
Elife hoffte für ihre Schweſter.
Dieje Hoffnung verlor plöglih an Kraft, als der Marquis
de Beaupre, nachdem man bereit feit mehreren Tagen eine
fanfte Traurigkeit an ihm bemerkt hatte, erklärte, daß ihn Be:
ruf und Pflichten von dannen riefen und al3 er unmittelbar an
diefe Erklärung fein Lebewohl anknüpfte.
Man war wie von einem Donnerſchlage betäubt. Der Mar:
quis war abgereist, bevor man zur Befinnung kam. Man er:
innerte ſich dann, daß er feite Zuverficht baldigen Wiederſehens
ausgeſprochen. Aber er war fort; was fein Leben und jeine
Verhältniffe betraf, beinahe fo unbefannt, al3 da er gelommen
war, dem Ehepaar zum Bedürfniß geworden und von Clariſſen
mit ganzer Geele geliebt. Sie erwachten Alle’ wie aus einem
jhönen Traume. Clariſſe beftrebte fih, meiter zu träumen, in:
dem fie fich in ihr Zimmer ſchloß, und jedes feiner Worte und
Alles, was fie mit ihm erlebt, neu heraufbeſchwor in Geift und
Herzen, und indem fie Alles wieder lad, was fie mit ihm ge:
lefen, und zwar mit noch größerer Innigkeit, mit mehr Hin:
gebung, und im Ganzen mit mehr Liebe als Urtheil. Außerhalb
diefer Stube war es öde; in der Wohnung fowohl, wie im
Städtchen.
* *
Der Zwed heiligt die Mittel. 33
Er war fort und kehrte nicht wieder. Kein Brief jagte, wo:
hin er den flüchtigen Schritt gewendet. Man Hagte ihn darum
nicht an; man wußte, er war nichf der Mann, um, ohne ge
wichtige Urſache, gegen die Sitte zu verftoßen. Diefe Urſache
bing vielleiht mit feinem Schidjale zufammen, da3 man nicht
fannte, und das man als ein zwingende3, trauriges vorausſetzte.
Mie eine Erfheinung war er gelommen und gegangen; wie vom
Himmel gefallen und wieder wie durch eine höhere Macht ent:
rüdt. Herr und Frau Neuberg gewöhnten ſich ſchwer wieder an
das einfame Leben, das durch jeine Gegenwart jo bereichert ge
wejen, und mußten fich bezwingen, um in das alte Geleife von
FJamilienpflihten und Beruf zurüdzufehren und mit der ehe:
maligen Gleihförmigfeit fih zu begnügen._ Es war, als läge ein
Jahrhundert zwiſchen dem erften Bejuche des Marquis und jebt;
man fühlte, was Gejellihaft geben könne, und die Gefellichaft,
vie blieb, war fo ärmlich, fo unfruchtbar.
Glarifje war die Erfie, die fih in die Stille ergab. Sie
jagte fih, fie habe das Beſte erlebt, alles Folgende fei nur
Ballaft des Lebens; fie fei geboren worden, um diefe legten
Wochen zu erleben. Nur wenige vom Glüde jo begünftigte
Menſchen gebe es, deren ganzes Dafein fih aus bedeutenden
Epoden, aus Höhepunlten, zuſammenſetze; glüdlih, wer au
nur eine jolche Erfahrung gemacht, die ihm den Glauben an das
Schöne befeftige; er hat daran einen Vorrath, davon er zehren
könne bis an fein Ende,
Was folgen follte und alle äußerlichen Verhältniſſe des
Lebens waren ihr im höchſten Grade gleichgültig. Vielleicht hatte
an diejer Ergebung, an diefer merkwürdigen Beruhigung ſchon
ihr Thomas a Kempis Theil, das geliebte Buch, das fie aus
feiner Hand empfangen, und da3 er nie zurüdverlangt hatte.
63 war das einzige Andenken, das fie_ von ihm erhielt; es er:
innerte fie täglich an ihn.
Der Herbjt kam heran; gleichgültig ging fie durch die fallenden
Blätter des Gartens, ungewiß, ob fie abreifen- werde over nicht.
Weritz Hartmann, Werke VL 3
34 Novellen.
In England war eine Stelle für fie bereit, aber die Anver-
wandten drangen in jie, noch den Winter mit ihnen zu ver:
bringen. Sie fonnte ſich hicht entfchließen und ließ die Dinge
gehen, abmwartend, ob etwas eintrete, was fie zum Gehen oder
Bleiben bejtimme. Hier fprah man jeden Tag vom Marquis
Beaupre, das war Grund genug, die Abreife nicht zu beſchleu—
nigen und nicht unter Menjchen zu eilen, die nichts von ihm
mußten. Man trennt fich fo oft kleiner, äußerer Urſachen wegen,
warum joll man nicht da bleiben, wo das Gemüth, wenn auch
nur Heiner Wohlthaten wegen, gern vermweilt? So rüdte der
Winter heran und Elife hoffte ſchon, die Schmweiter bis zum
Frühling erobert zu haben.
Schon lag tiefer Schnee und nun war e3 ausgemadt, daß
Glariffe ihre neue Laufbahn erft im April oder Mai antreten
folle; und ihr lächelte der Gedanke, den Winter allein mit den
nächſten Verwandten und einfam in ihrer warmen Stube, ohne
Bälle, ohne Soirée, ohne Toilette zuzubringen, fich ganz eins
zufpinnen in die Gedanken, die fie fortwährend beichäftigten.
Aber ihr Schidjal hatte anders über fie verfügt.
Die erite Hälfte des Winters war bereit worbeigezogen, als
eines Tages ein von vier Pferden gezogener Schlitten pfeiljchnell
über die jhimmernde Fläche herbeiflog und vor dem Pfarrhaufe
hielt. Es war Fürſtin Malmine, die nur ein Kammerdiener be:
gleitete. Noch bevor man aus dem Fenfter jehen konnte, jprang
fie aus den umhüllenden Belzen, eilte die Treppen des ihr wohl:
befannten Haufe hinauf und in die Wohnſtube. Ein allge
meiner Schrei der Ueberrafhung empfing fie; trog Allem, was
vorgefallen, war es doch ein Schrei freudiger Ueberrafchung.
Man konnte diefe anmuthige Geftalt, dieſes ſchöne Geficht, diefen
fanften Ausdruck der Züge nicht ohne Freude wiederjehen. Clarifie
lag in ihren Armen, die fie auf3 Zärtlichjte umjhlangen, und
hatte Mühe, Thränen der Rührung und der Freude zurüdzus
halten. Die Fürftin berzte und liebkoste fie, ohne ein Wörtchen
des Vorwurfs auszuſprechen, und nachdem fie auch Elifen um:
®
Der Zwed heiligt die Mittel. 35
armt und dem Doktor die Hand gebrüdt, warf fie den Mantel
ab und jegte ſich „in ihre Sophaede,” in der fie fi, mie fie
verficherte, fo heimisch und wohl fühlte, wie an wenigen Punkten
der Welt.
Sie plauderte und erzählte mit der größten Unbefangenheit
und war fo heiter und klar, wie man fie feit ihrem Webertritte
nicht gejehen hatte. Dr. Neuberg konnte nicht umbin, diefe Be
merkung gegen feine rau auszudrüden, als fie hinausgegangen,
um dem hoben durch frorenen Gajte eine erwärmende Weinfuppe
zu bereiten und er ibr gefolgt war.
„Der erite Sturm de3 Fanatismus ſcheint vorüber zu fein,”
jagte er; „jegt wäre fie vielleicht minder gefährlich. Vielleicht
fühlt fie das ſelbſt, wielleicht ſchämt fie fich ihres früheren Ge:
bahrens gegen Glariffe und fommt, um fie die Veränderung
ſehen zu lafjen, die mit ihr ftattgefunden.“
Troß diejer Veränderung, die er jelbjt bemerkte, lispelte er
Clariſſen, als ſich diefe mit der Fürftin auf ihr Zimmer begab,
mit Nachdruck ins Ohr: „Widerftand, Clarifje, Muth! Lab dich
nicht wieder entführen.”
Clariſſe nidte mit den Augen, als ob fie die Verficherung
geben wollte, daß fie ganz feiner Meinung, und zum äußeriten
Widerſtande entſchloſſen fei.
Mit Clariſſen allein wiederholte die Fürſtin ihre früheren
Liebkoſungen, um dann, eben ſo unbefangen wie vorher und
ohne auf frühere Vorgänge zurüchzukommen, ihre Plauderei aus
der Wohnſtube fortzuſetzen. Sie erzählte vom Hofe und von den
großen Veränderungen, die in den letzten Wochen daſelbſt vor:
gegangen. Man lebe nicht mehr jo einförmig und traurig vor
fih bin, einen Tag wie den andern; im Gegentheil, nicht ein
Tag gleiche dem folgenden oder dem vorhergehenden; jeder bringe
was Neues, Anregendes, Geiftreiches oder Schönes. Selbit die
Dummen feien Hug geworden und das Alles danke man Einem
Manne, freilich einem Manne, der über alle Männer in jeder
Beziehung bervorrage.
36 Novellen.
„Aber du kennſt ihn ja,“ rief die Fürftin, ſich befinnend ;
„tie oft hat er mir mit der größten Liebe, oder wenn du millft,
mit der größten Freundſchaft von dir gefproden: in ver That,
mit der tiefften Innigkeit, mit der freudigiten Anerkennung deiner
Vorzüge hat er von dir gejprochen und herzlich bedauert, erjt
nad deinem Abzuge an den Hof gekommen zu fein. Er hielt ſich
eine Zeit lang bier im Städtchen bei euh auf — du erinnert
dich _u
„Ber iſt es?“ fragte Clarifje mit hochklopfendem Herzen.
„Marquis de Beaupre,” ermwiderte die Yürftin aufs Un:
befangenite.
„Der Marquis!“ rief Clariffe und ergriff die Hand der fürjts
lihen Freundin, der fie aus alter Zeit Alles anzuvertrauen ge
wohnt war. Aber fie faßte ſich wieder und fragte weiter:
„Wie fommt der Marquis an den Hof?"
„St hatte irgend ein Kleines Gejchäft, etwas Politiſches —
du weißt, ich fümmere mich um dergleichen nicht. Aber er wurde
mir vorgeſtellt — auch war er mir empfohlen — er gefiel mir
fogleih, ih erfannte im erften Augenblide, wie ſehr er ſich vor
allen Männern auszeichnet — nun da3 war nicht ſchwer —
ih bewog ihn zu bleiben — er ijt jegt mein Sefretär, mein Bor:
lefer und Bibliothefar und des ganzen Hofes belebende Seele.“
Glariffe hatte Mühe, fich zu bezwingen. Am Liebften wäre
fie der Fürftin zu Füßen gefallen und hätte die alte Freundin
angefleht, fie wieder mit fort zu nehmen, fie ihrem Slüde ent:
gegenzuführen. Aber ein gewiſſes Etwas bielt fie zurüd. Es
‚war ihr, fie wußte nicht warum, als ob Malwine nicht ganz
aufrichtig wäre, als ob fie noch gemwille Gedanken im Hinter:
grunde ihres Herzens verborgen bielte. Vielleiht war es nur
der Gedanke, fie wieder an den Hof zu entführen. Aber fait
zitterte Clariffe ſchon, daß dieß nicht der Fall fein Fönnte, daß
die Fürftin den Abjagebrief, ven fie ihr gefchrieben und in dem
fie den feſten Entſchluß, nie mehr zurüdzufehren, ausſprach, zu
lebendig im Gedächtniß hatte, Ach, diefer Entihluß war in fo
Der Zwed heiligt die Mittel. 37
kräftigen Worten, fo entſchieden ausgeſprochen, daß die Fürftin
bei aller Freundſchaft, aller Selbftverläugnung, nur bei einigem
Stolze nicht mehr daran denken konnte, an Clariſſen nod ein
auf diefen Gegenftand bezügliches Wort zu richten. In der That
ging Malmine mit ihren Gefprähen auf andere Perſonen und
Dinge über und Glarifje bemerkte mit Trauer, daß fie nichts zu
hoffen hatte. Während die Fürftin plauderte, überdachte fie, ob
fie fich ihr nicht felbft anbieten jole? Wie fie jegt war, ruhig,
heiter und offenbar von aller Bekehrungswuth fern, war es ihr
Clariſſe beinahe ſchuldig, fie werkthätig um Verzeihung zu bitten,
indem fie ihr den Wunſch, wieder in ihrer Gefellfhaft zu leben,
ausdrüdte. So ſchien e3 ihr, aber fie konnte das Wort nicht
über die Lippen bringen und ängſtlich folgte fie ven Wendungen
des Geſprächs, ob fie nicht zu ihr, zum Marquis, zu ihrer Rüd:
fehr an den Hof zurüdführten.
Die Stube war fhon in Zwieliht getaudt; die Fürftin
rückte Clarifjen näher und ſchlang den Arm um ihren Hals.
„Clariſſe,“ jagte fie halblaut.
„Durchlaucht?“ fragte Clarifje mit zitternder Stimme.
Willſt du mich fo fehr demüthigen? Soll ich dich wieder an-
flehen? Ahnſt du nicht, warum ich gelommen bin?“
Clariſſe athmete tief auf, fie fühlte ſich erlöst; fie faßte die
Hand der Fürftin.
„Halt,“ rief diefe, „Tage nichts; verfprich nicht und ver:
meigere nicht3, bevor ich noch etwas gejagt habe. Clariffe, du
hatteft Recht; ich habe dich gequält, unbarmberzig, unverzeihlich
— ic ſehe es ein — ich lebte damals im Fieber. Das ift vor:
bei, glaube mir; ich ſchäme mich meines damaligen Zuftandes,
Seit der Marquis da ift, ſehe ich Alles ander3, bin ich ganz
verändert.”
Sie jhwieg, Clariffe drüdte ihr unmillfürlich die Hand.
Sept glaubte und vertraute fie ihr mit ganzer Seele. Das legte
Wort war überzeugend ; fie wußte es ja, wie er den Menfchen
aus dem Grunde verändern könne, wie man durch ihn lerne,
38 Novellen.
Alles anders anzuſehen. Schon war ſie bereit, die Fürſtin zu
bitten, fie wieder mitzunehmen, als ihr dieſe ins Wort fiel:
„Sage nichts! Höre no, was ich dir verfpredhe. Nie mehr will
ih dir ein Wort von Religion ſprechen, ich ſchwöre es dir —
höre — auf was foll ich dir es ſchwören? — Welches Buch iſt
das, das hier liegt? Siehe da, es ift die Nachfolge Chrijti —
du liest Thomas a Kempis? — das hat ein guter Geift hier:
bergelegt, es ift mein Buch, ich lefe es des Abends und des
Morgens — fieh, ich lege die Finger auf den geheiligten Namen
und ſchwöre dir, bei meiner Seele Heil, ich quäle dich nicht mehr
mit Religion, ich ſpreche dir nicht mehr von Religion, ich fuche
dich nicht mehr zu befehren — fomm wieter zu mir, Clariſſe!“
Glarifje lag an ihrem Hals und meinte,
Es war ſchon fpät am Abend, als fie aus dem dunklen
Zimmer in die hellerleuchtete Wohnftube traten. Die Fürftin be
fahl dem wartenden Kammerdiener, den Schlitten ſogleich vor:
fahren zu laſſen, und Glarifje erflärte, daß fie mit der Fürftin
abreijen werde. Herr und Frau Neuberg machten erjtaunte
Augen, aber Clarifje flüfterte der Schmweiter ins Ohr: „Der
Marquis ift am Hofe,“ und Elife benußte die erfte Gelegenheit,
diefe Neuigfeit ihrem Manne zuzuraunen. Er hatte nicht lange
Zeit, darüber nachzudenken, denn der Schlitten fuhr vor und
die Fürftin begann Abjchied zu nehmen. Der Kammerdiener
brachte zwei Pelze ins Zimmer. „Diefer,” jagte die Fürftin, auf
den einen deutend, ift für dich, Clariffe; ich habe ihn für dich
mitgebracht !” Glarifje hüllte fich drein, umarmte Schwager und
Schweſter und eilte ſtrahlenden Gefichtes die Treppe hinab. Der -
Schlitten fegte fi in Bewegung, die Schellen erflangen und die
Fürftin mit ihrer Hofdame fuhren in die ſchimmernde Nacht
hinaus.
„Wenn der Marquis bei Hofe ift,” fagte Dr. Neuberg, „läßt
fih gegen die Sache nichts fagen; er wird fie zu bejhügen und
die Fürftin im Zaume zu halten wifjen, abgefehen davon, daß
er gewiß ſchon ven ganzen Hof fammt der Fürftin reformirt hat.
Der Zwech heiligt die Mittel. 39
Giehft du, Elife,” fügte er felbitgefällig hinzu, „mie ich recht
batte, wie ich e3 gleich bemerkte, daß mit Ihrer Durchlaucht eine
Beränderung, eine radikale Veränderung vor ſich gegangen ?!
63 ift eine ganz andere Perſon. Das hat gewiß der Marquis
zu Wege gebracht. — Und,“ fuhr er nad einiger Zeit im Ges
fühle, das Haupt der Familie zu fein, fort, „und für Clariſſe
tann unter fo bewandten Umjtänden die Rückkehr zu Hofe zu ihrem
Glücke ausfhlagen. Der Marquis ijt ihr gewogen; fie iſt es
werth, die Frau eines jolhen Mannes zu werden. Weißt du,
Elife,” rief er plöglih, als ob ihm ein einleuchtender Gedante
einfiele, „e3 wäre nicht unmöglih, daß der Marquis felbit vie
Fürftin zu diefer Neife und zu dem Verſuche, unjere Clarifje
wiederzugewinnen, bewogen und aufgemuntert hätte. ch möchte
wetten, daß dem fo ift. Aber fei es wie immer, glüdliche Reife
unjerer guten Clariſſe. Vergik nicht, ihr morgen ihre Koffer
nachzuſchicken.“
* *
zu
Clariſſe fand den Hof in der That, wie es die Fürftin ge:
fagt-hatte, in einem erftaunlichen Grade verändert. Fürſt Ama:
deus, beinahe ganz in Stumpffinn und Gefühllofigfeit verjunfen,
batte ſich mit einer kleinen Zahl von Dienern auf ein einfames
Jagdhaus zurüdgezogen, das er nur äußerſt jelten verließ. Die
Fürſtin bewohnte jegt das ganze Schloß; Gemächer und Säle,
die man feit Jahren nicht betreten hatte, waren geöffnet und
zum Empfang eingerichtet; des Abends glänzte die ganze Fronte
in berrlihfter Beleuchtung. Beinahe jeden Abend war Theater
und Konzert oder wenigſtens Tanz. Das Crftaunlichite war,
daß ſich jo viele unvermuthete und brauchbare Talente am Hofe
und in der Stadt gefunden hatten, die jo verfchiedenartige Rollen
zu übernehmen fähig waren und die zu all den Beluftigungen
das Ihrige beitragen konnten. Das Alles dankte man dem
Kennerauge des Marquis, der jedes Talent hervorzufuchen, jede
Begabung auszubilden, Jedem Bewußtfein und Muth zu geben,
40 Novellen.
und vor Allem auf feinen Platz zu ftellen wußte. Der Marquis
mar es au, der den männlichen mit dem weiblichen Hofe zu
verfchmelzen verftand; auch unter diefen von den Damen ver:
ſchmähten Herren fand er eine gute Zahl heraus, die fich bald
in die Beitrebungen, in den Geiſt und Ton der Damen zu fügen
mußten,
Die asketiſch düftere Atmoiphäre von ehemals war ver:
ſchwunden; Luft und Heiterkeit, fröhliche Weltlichleit herrſchte
überall, Die Fürftin ergab fih ihren Religionsübungen nad
wie vor mit ftrengfter Gemiljenhaftigfeit; fie ſchloß ſich ganze
Stunden des Morgend und des Abends in ihre Kapelle, fie
machte im fchlechteften Wetter ihre Wallfahrten nach der andern
Kapelle im entferntejten Theile des weiten Parkes; aber im Um:
gange fühlte man nicht3 mehr von ihrem ehemaligen Eifer. Eie
ergab fich mit ihrer ganzen Umgebung dem eben fo heitern als
mit Gejhmad und Kunft eingerichteten Leben, das jetzt Ton
und Mode geworden, ohne fih, wenigſtens fo viel man merfen
fonnte, über ihre Weltlichkeit Gewiſſensſtrupel zu maden.
Den Marquis de Beaupre fah Clarifje gleich am Tage nad
ihrer Ankunft. Sie begegnete ihm im Korridor vor den Ge:
mächern der Fürltin, die eben ihre Andahtsübungen vollendet
hatte. Er fam aus diefen Gemädern. Er küßte Clariſſe die
Hand, drüdte fie und ſchwieg. Er war offenbar jehr bewegt.
Erſt nah Minuten fragte er nach dem Befinden des Dr. Neus
berg, feiner Frau und Kinder. Dann feufzte er.
„Ich habe Ihnen nicht geſchrieben,“ fagte er endlih, „das
fcheint undankbar, ungezogen, nadhdem ich fo viel Gutes und
Liebes von Ahnen Allen erfahren, nachdem — aber Sie haben
mich gewiß entjhuldigt — nit wahr, Clariſſe, Sie haben mid;
entſchuldigt? Sie haben fi gejagt, daß ich wohl gewichtige Ur—
ſachen hatte —“
Er ſeufzte wieder. Clariſſe beruhigte ihn.
„Eines Tages,“ fuhr der Marquis fort, „werden Sie es
vielleicht errathen, warum ich geſchwiegen habe — warum ich
Der Zwed heiligt die Mittel. 41
gerade Ihnen nicht geſchrieben habe — ich bin nicht immer mein
eigener Herr.“
Es kamen Leute herbei, er drückte ihr die Hand, lispelte
„auf Wiederſehen“ und ging.
Wie ſehr ſie Worte und Ausdruck des Marquis betrübten,
freute es ſie doch, daß ſie ihm gleich beim erſten Gange aus
ihrem Zimmer begegnet war. Es war ihr das wie eine gute
Vorbedeutung und ein Anzeichen, daß ſie ihn hier oft wieder—
ſehen, daß ſie immer in ſeiner Geſellſchaft ſein werde. Aber
dieſes Anzeichen täuſchte. Tage vergingen, ohne daß ſie ihn
allein hätte ſprechen können. Sie ſah ihn zwar jeglichen Tag
und oft durch viele Stunden bei der Fürſtin, wo er vorlas oder
die Zeit mit Geſpräch verbrachte, Abends im Salon, im Theater;
aber zu einem Zwiegeſpräche zwiſchen vier Augen kam es nie.
63 war jegt ein jo lebhaftes Treiben bei Hofe, daß an eine ein=
fame Stunde nicht zu denken war; der Marquis mar vorzugs—
weife umgeben und, da er Alles leitete, fortwährend befchäftigt.
Die Fürftin war die Einzige, die ſich feines Umganges aud in
der Einjamfeit erfreuen konnte, denn das hatte Clariffe bald
bemerkt, daß er auch die Stunden, in denen fie fich zurüdges
zogen hielt, alſo ihre Andachtsſtunden, in ihren Gemächern ver:
brachte. Diefem Umftande vorzugsweiſe fehrieb es Clariſſe zu,
daß die Fürftin milder und toleranter, daß ihr Glaube menſch—
liher und weniger düjter geworden war; und im Namen der
Freundin war fie dem Marquis dankbar, daß er feinen Einfluß
auch in diefen Stunden übte. Indeſſen fehnte fie ſich oft nad
jenen intimen Zeiten im Pfarrhaufe zurüd und diefe Sehnſucht,
verbunden mit der Erinnerung an die erften Morte, die der
Marquis beim Wiederfehen zu ihr geſprochen und mit der Ent:
täufhung, die fie hier erlebte, indem fie fein einziges Wort mit
ihm taufchen konnte, verſenkte fie fih in eine Melancholie, die
ihr oft unverſehens die Thränen in die Augen trieb und ihre
Stimme zittern machte, felbft wenn fie das Gleichgültigfte ſprach.
Dazu fam noch die Bemerkung, daß der Marquis erniter, ja in
42 Novellen,
einem gewillen Sinne feierlich und traurig geworden war. Gr
leitete wohl alle Beluftigungen, er war die Seele aller Freuden
— aber er veranftaltete Alles für Andere, er felbft nahm wenig
Theil und mitten unter Tanzenden und Scherzenden war er ge
mejjen, manchmal bis zur Unnahbarkeit würbevoll. Das be:
fejtigte Clarifje nur no in dem Gedanken, daß er nicht glüdlich
war, und manchmal bradte fie fein Unglüd mit fich felbit in
Verbindung. Wie viel trachtete und dichtete fie, um fich eine
Geſchichte des Marquis zufammenzufegen, um fich diefes Räthſel
zu enträthieln.
Erjt nad mehreren Wochen gelang es ihren fortwährenden
Beobachtungen, ein Mittel zu finden, wenn auch nicht mit dem
Marquis, doch wenigſtens mit dem Marquis und der Fürftin
öfter allein zu fein. Sie bemerkte, daß diefe ſich auf ihren Wall:
fahrten nach der entfernten Kapelle nur vom Marquis begleiten
ließ; fie bat die Freundin, doch auch fie mitzunehmen.
„Eine Ketzerin auf eine Wallfahrt!“ lächelte die Fürftin,
„wie haft du dich geändert, Clariffe! wor einigen Monaten hätte
ih dir das nicht zumuthen dürfen, heute bitteft vu mich darum.
Ich nehme dich gern mit.“
Die Kapelle lag im entfernteften Winkel des Parkes, mehr
als eine halbe Stunde weit vom Schloß. Der Park, obwohl
geradlinig, im franzöfifhen Gefhmad des vorigen Jahrhunderts.
angelegt, war von der vorigen Fürftin in englifher Weile, fo
viel als möglih, umgeftaltet worben. Zu dieſem Behufe ließ
man die gerabgejchnittenen, alten Bäume frei und mild aus
Ihlagen und hier und da Geftrüpp und Geſträuch auffommen,
um die fteifen Linien zu verdeden oder zu unterbrechen. Der
Park glich jegt mehr einem Walde. An der einen Seite war ber
Wald plögli von einer künftlichen, aber hohen Felswand abge-
ſchnitten, welche Epheu und allerlei Schlingpflanzen bevedten,
die au da und dort eine junge Tanne trug, die fih nur mit
Mühe an die Felsblöde anklammerte. Man konnte mit Hülfe
eines ſchmalen Pfades, ver fich hinauf fchlängelte, über die Fels—
Der Zwed heiligt die Mittel. 43
wand, oder vermitteljt eines langen, dunklen und feuchten Ganges
auf ebenem Boden mitten hindurch gelangen. Jenſeits ver
Felswand befand man fich in einer neuen Welt, in einer wahr:
haften Wüſte. Auf einer öden und dürren Thaljohle lagen Fels:
blöde zerjtreut, einzeln oder übereinander gethürmt, als ob hier
in Folge einer Ummälzung ein Granitberg zertrümmert worden
wäre, Bon einer Feldwand rechts floß ein dünner Wafferfaden
berab, deſſen ärmlihe Gewäſſer fih in einer Art von Weiber
oder See jammelten, um vafelbft zu verfumpfen. Der Weiher
lag hart am Ausgange der Feljengallerie, durch die man in diefe
troſtloſe Welt gelangte, und war da von einigen rohbehauenen
Bäumen überbrüdt. Diefelbe Feldwand, die dem Parfe eine
grüne Seite zeigte, war der Wüſte zu kahl und unmirthbar; jo
waren auch die andern Feldwände, welche dieſes ganze Thal in
verſchiedenen Windungen umgaben. Nur im äußerten Hinter:
grunde, zu dem man auf Umwegen, über Blöde auf: und nieder:
fteigend, Durch enge Felfengänge und über allerlei Steintrümmer
gelangte, öffnete fih auf einiger Höhe eine Bucht, die von Kie—
fern. und anderem Navelholze angefüllt war. Dort, von den
Bäumen halb bevedt, ftand von jeher die Gremitage, die in
feiner Anlage de3 vorigen Jahrhunderts fehlen durfte, und neben
der Eremitage ſtand jept eine Heine, aus Baumfjtämmen, die noch
die Rinde trugen, gezimmerte Kapelle. Die Eremitage hieß jegt
die Klaufe, und die Wüfte, welche man früher nur „le desert‘‘
genannt hatte, nannte jegt die Fürftin ihre Thebaibe.
Die Klaufe oder Einfiedelei, die unter den frühern Regie:
rungen nur zu nächtlichen Felten und ftillen Soupers gedient
hatte, war jett bewohnt; fie hatte ihren Einjievler. Malmine
hatte fih an den Pater Guardian eines Kapuzinerkloſters im
nächſten katholiſchen Lande gewandt, und dieſer ſchickte ihr ven
guten Bruder Adam, der in die Eremitage geſetzt wurde, wo
man ihm vom Schloſſe aus mit allem Nothwendigen verjorgte,
Seine Pfliht war, in der neugebauten Kapelle die Meſſe zu
lejen und das Glödlein zu läuten, deſſen Schall ſich bis in die
44 Novellen,
Zimmer des Schlofjes hören ließ. Dorthin pilgerte die Fürftin
beinahe jeden Morgen, oft auch des Nachmittags, gewiß aber
immer, wenn es ftürmte und die Elemente den frommen Gang
genug erichwerten, um ihn zu einem Bußgange zu maden. Sie
trug dann nur leichte8 Gewand, um fich der Unbill des Wetters
augzufegen, an manchen Tagen unternahm fie diefen Gang mit
nadten Füßen; dann wählte fie den längern und härtern Meg
über die Felswand. |
Auf diefem Wege war e3 jegt Clarijfe, wie ſchon früher dem
Marquis, erlaubt, die Fürftin zu begleiten.
Wie eigenthbümlih war ihr zu Muthe, als fie mit diejen
beiden geliebten Perſonen das erfte Mal vor der Kapelle ankam,
diefe eintraten, die Thür hinter ihnen zufiel und fie draußen
allein ftehen blieb. Es war ihr plötzlich, ald wäre fie von ihnen
dur unendliche Fernen getrennt, und wie fie die öde Welt vor
ihr betrachtete, als ftände fie in der That allein, verlaſſen in
einer gränzenlofen Wüſte. Unmwillfürlih jah fie fih nad den
Freunden um; ihr Bli fiel durch ein ſchmales Fenfter in das
innere der Kapelle. Drinnen webte heimlihe Dämmerung in
den verfchiedenften gedämpften Farben, wie fie von den gemalten
Heinen Scheiben der Fenſter in Streifen ausgingen, bier und
da von einem Strahle der Altarlichter und der ewigen Lampe
durchwirkt. Der Mönch ftand am Altar und las eine ftille Meſſe;
ihm nabe fniete ver Marquis und die Fürftin; Beide hielten das
Gefiht in die Hände gedrüdt. So brüderlich knieten fie neben
einander, Beide in denjelben Gedanken verfenkt, darum fo innig
vereinigt. Sie waren in fo tiefen Frieden getaucht; die Atmo-
ſphäre der Kapelle fhien fie fo warm zu umhüllen. Und jie
ftand draußen, fröftelnd, allein, verlaffen in ver Wüfte, wie
ausgeftoßen, getrennt von ihren geliebteften Menjchen. Nur ein
leifes, geheimnißvolles Murmeln kam vom Altare in ihr Obr,
aber der Duft des Weihrauchs ergriff fie mit Macht. Sie war
wie berauſcht. Sie lehnte den Kopf an das Drabtgitter, das fie
von den Sceiben trennte; da bemerfte fie an einem andern
Der Zwed heiligt die Mittel. 45
Fenjter in der Kapelle, daß die Scheiben, die von außen fo un:
förmlich bemalt ausfahen, nad) innen himmliſche Gefichter, ver:
flärte Geftalten in glühenden rothen und in fanften blauen Ge:
wanden zeigten. Auch die Mauern der Kapelle, die außen Rinden
bededten, waren im Innern mit herrlichen Delbilvdern alter ita=
lienifcher Meifter gef hmüdt und in Nifchen ſtanden Kleine weiße
Marmorftatuen, die geilterhaft in die Dämmerung vortraten.
Nie hatte eine gewaltige Kathedrale auf Clariffens Seele den
Eindrud gemacht, wie dieje Keine Kapelle. Es ſchien ihr, als
würde e3 fie beglüden, als müßte ſich all’ dieſe Unruhe, die feit
Wochen ihr Herz zerrüttete, in Frieden verwandeln, wenn jie
drinnen mit den Beiden zufammen beten könnte. Wie oft hatte
fie in früherer Zeit von dem Glücke jprechen hören, mit geliebten
Verfonen „zum Tische des Herrn“ gehen zu dürfen; fie begriff
Menſchen, die fo jpraden, nur halb; jegt glaubte fie fie ganz
zu verftehen, eben jo das Glüd des Glaubens, das ihr fo oft
die Fürftin und Andere gepriefen hatten. Glaube aber war ihr
nicht mehr, was fie bisher geglaubt hatte; drinnen, in dieſer
Kapelle war er heimiſch, dieſer Glaube, ver beglüdte. Ihr
Thomas a Kempis, ihr „Geiſt des Chriſtenthums,“ Alles, was
fie mit dem Marquis gelejen, was er zu ihr gejagt, trat ihr leb:
baft vor die Seele, als ob fie e3 jegt wieder von feiner leben:
digen Zunge hörte. Wie fehr mußte fie bis jegt Welt und Men:
chen mißverftanden haben! Dieſer Marquis, dieſer gebilvetite
aller Männer, ven auch Dr. Neuberg für den Harften Geift hielt,
diefer felbe Marquis betete drinnen jo inbrünftig, fo fromm!
Diefe Frömmigkeit muß alſo mit Harfter Einfiht, mit hoher
Bildung und Eveljinn, kurz mit all’ den herrlihen Eigenfchaften
diefes Mannes, den fie fo jehr liebte, in Harmonie fein können.
. Sie könne nur, dachte fie, die Möglichkeit diefer Harmonie nicht
faflen; dazu müſſe ihr Verftand zu beſchränkt jein. Sie müfle
an diefe Möglichkeit glauben, und da ihr der Marquis dieſes
Beilpiel gab, müſſe diefe Harmonie unendlih jchön, ja ein
Biel fein, das man aufs Innigfte wünſchen müſſe. So dachte
46 Novellen.
fie und erfchraf vor diefen Gedanken und verftand fich jelbit
nicht mehr.
Die Freunde traten endlich aus der Kapelle. Noch lag ein
Ausdrud der innern Sammlung auf ihren Zügen; ihre ganze
Erſcheinung war noch wie in einen Schleier der Andacht gehüllt.
Glarifje trat unmilltürlih einen Schritt zurüd, um fie nicht zu
jtören und fie gingen, wohl lächelnd, aber fchweigend an ihr
vorüber. Schweigend gingen fie weiter und ſchweigend folgte jie
ihnen. Endlich ſah fich die Fürftin nach ihr um und unterdrüdte
einen Seufzer. Clariſſe ſchlug die Augen nieder. Ein Gefühl
der Scham überkam fie; fie erfchien fi) fo arm, fo öde neben
diefen beiden Pilgern.
Erjt im Gewühl der Hofleute fiel die ganze Stimmung wie
ein Traum von ihr; fie fagte fih mit Ruhe, daß die Stunde an
der Kapelle einen tiefen Eindruck auf fie gemacht und daß fie die
Fürftin nicht wieder begleiten wolle. Aber am nädjten Tage
ſchloß fie fich ihr doc wieder an. Es lag eine jo tiefe Luft in
dem Gefühle, das fie vor der Thür der Kapelle empfunden hatte,
und fie empfand e3 wohl, eine ſolche Gefahr, daß es fie mit
jenem der Gefahr eigenen Magnetismus dahinzog. So aud) den
dritten und alle folgenden Tage, bis e3 fich von ſelbſt veritand
und e3 wie zu ihrem Amte gehörte, daß fie die Fürftin auf
diefem Gange begleitete.
Mas fie von diefen Gängen gehofft hatte, eine neue Ans
näherung des Marquis, hatte fich freilich nicht erfüllt, aber fie
war ihm doch nahe in den Stunden, die ihm offenbar von Bes
deutung waren. Aber vor der Thür der Kapelle fühlte fie es jo
Har, mie jehr fie von ihm getrennt war, und die menjchliche
Geele ſucht diefe Momente mit befonderer Vorliebe auf, die ihr
Unglüd ihr in ganzer Tiefe vergegenmwärtigen. Und je jchweig: -
famer, je zurüdhaltender fi der Marquis gegen fie benahm,
defto lieber wurden ihr die Stunden, in denen fie ſich, wie bei
jener erjten Wallfahrt, jagen konnte, daß fie einfam war, ver:
lafjen, allein.
Der Zwed heiligt die Mittel. 47
Diejes Gefühl wurde noch dadurd erhöht, daß die Fürftin,
ihrem Verſprechen gemäß, ihr nicht mehr von Religion ſprach.
Wie gern hätte ihr Clarifje einmal gejagt, wie fehr jich ihre An—
fichten geändert und was fie empfinde, wenn fie fie und den
Marquis am Altare jehe. Daß der Marquis, den fie jegt als
gläubig und fromm kannte, ihr nicht einmal wie einft im Pfarr:
baufe von religiöfen Dingen ſprach, ſchien ihr eine abjichtliche
Ausſchließung; daß es nicht Kälte oder Gleihgültigkeit war, das
fagte ihr die tiefe Traurigkeit, mit der er mandmal ein Wort
mit ihr wechjelte und die ihn plößlich überfiel, ſelbſt bei der hei—
terjten Stimmung, wenn fie ihre Rede an ihn richtete.
Mit Neid bemerkte fie, wie jene beiden Fräulein v. Zellwig,
die Töchter des Beamten, die zur römischen Kirche übergetreten
waren, weil, mie ihr Vater jagte, es ſich ſchicke, die Religion
der Herrichaft zu haben; wie jene Fräulein fich des Umgangs
und ber Gejellihaft des Marquis öfter und auf eine innigere
Meife erfreuten als fie. Mit ihm und mit der Fürftin verbrachten
fie ganze Stunden allein, und jeden Abend, felbit in großer Ge:
jellihaft, bei Konzert und Ball, fanden fich die Biere zufammen,
abgetrennt vom ganzen Hofe und im vertraulichiten Geſpräche
vereinigt. Wie innig, dachte Clarifje, muß das Band fein, dag
fie an einander fchließt. Sie bilden eine Heine abgefchlofjene Ge:
meinde, und umgeben von Andersgläubigen, gemiflermaßen
ausgeftoßen, wie warm muß das Gefühl jein, das.in ihrem
Kreiſe waltet. Sie erfhienen ihr fait wie Märtyrer; und bei
allem Neide fühlte fie fih gerührt und war es ihr, ala müßte
fie diefes Märtyrergefühl mit den Freunden tragen. Daß ver
Marquis mit fo unbedeutenden Gefchöpfen, wie die beiden Fräu—
lein v. Zellwig waren, jo vertraut werden konnte, war ihr nur
ein Beweis mehr, weld ein ſtarkes, über alle andere Rüdjichten
erhabenes Band jener Glaube, und meld ein mächtiges An-
näherungsmittel ihre ausnahmsweiſe Stellung jein müfje. Ge—
hörte fie mit zu dem Kreife, wie nahe ftände fie dem Marquis,
dem fie Schon alte Freundfhaft jo nahe brachte! Aber fie jtand
48 Novellen.
außerhalb dieſes Kreifes, und da Niemand etwas that, um fie
bineinzuziehen, mußte fie ſich jagen, daß fie von aller Liebe aus:
gejchlojjen fei. Niemand nahm mehr Theil an ihr. Ad, wohin
find die Zeiten, da ihr Eeelenheil der Fürftin noch fchlaflofe
Nächte verurjachte! Auch äußerlich vereinfamt, mie fie es innerlich
war, irrte fie oft allein im Parke umher, dur die Wüſte bis
zum Einſiedler. Es hatte fich zwifchen ihr und dem guten Pater
Adam eine Art Freundfchaft gebildet, die ihr in ihrer jegigen
Lage von einigem Werth war. Er empfing fie immer mit großer
Freude, bewirthete fie in ſeiner Klauſe und nahm die Gejchente,
die fie ihm bradte, eine Flajche guten Weins, eine Paſtete und
vergleichen immer mit naivem Vergnügen hin. Er nannte dieje
Geſchenke fromme Opfer, oder jhüchterne Verfuche der Keperin,
ihre Seele zu retten. E3 wäre Clariſſen faft willlommen gewejen,
wenn er an foldhe Worte Gejpräche über Religion oder Bekeh—
rungsverſuche angefnüpft hätte; vielleicht hätte ihr diefe einfältige
Seele etwas gejagt, was fie überzeugt haben würde, oder wäre
ihr dadurd Gelegenheit geboten worden, einen Bekehrer zu
widerlegen und ſich in ihrem Widerftande zu befräftigen, denn
Beides war ihr, je nad ihrer Stimmung, abmwecjelndes Be:
dürfniß. Aber es fiel dem Mönche nicht einen Augenblid ein,
folde Thema's anzuſchlagen. Er las jeine Meſſe, er zog feine
Glocke, er nährte fih von den Vorräthen, die aus dem Schloſſe
geliefert wurden, und damit glaubte er jeine chriſtlichen Pflichten
volllommen zu erfüllen. Wenn ihn Clariſſe auf religiöje Ge:
ſpräche brachte, begnügte er fih damit, fie über den ihm ge:
heimnißvollen protejtantiihen Glauben auszufragen. Er war
fehr erjtaunt, als ihn Clariſſe verficherte, daß auch die Prote:
ftanten getauft werden, daß fich überhaupt fo viel Chriftliches in
diefem Glauben finde. Er war bisher der Meinung gemejen,
daß die Proteftanten gar nicht3 glaubten. Allerdings jchüttelte
er den Kopf und jah Clarifjen mit großen Augen an, wenn fie
ihm ſagte, daß die Proteftanten von den Heiligen und von ber
Unfehlbarfeit des Papſtes nichts wiffen wollen — aber er blieb
Der Zwed heiligt die Mittel. 49
bei der Verwunderung ftehen, ohne fih weiter über die Urſachen
aufklären zu wollen, wie er es überhaupt mehr liebte, fich zu
verwundern, al3 irgend ein Ding oder einen Gedanken zu be—
urtheilen oder zu prüfen. Bei ſolchen Gelegenheiten ſchlug er
die dicken Hände zufammen und ſagte ohne alle Aufregung: Es
ift fonderbar, oder: Das ift kurios! Nun meinetwegen! Halt e8
Jeder, wie e8 ihm Spaß macht! Wenn fich der Menſch dabei
nur wohl befindet! Für die Seele forgt die Allerbarmung
Gottes,
Diefe Reden, diejes Benehmen des Kapuziner3 verwirrten
und berubigten fie zugleih. Hatte fie fih ehemals vom Katholi-
zismus nicht eben jo falfche und übertriebene Vorſtellungen ges
madt, wie der Pater vom Proteftantismus? — Und dieſe Gut-
mütbigfeit, diefe Naivetät des Mönches!
Das alfo it ein Mönch! Ein Mönch! Sie verglich ihn mit
ver hagern, fanatijchen, wilden Geftalt, die in ihrer Bhantafie
lebte, vie geifernd eifert, die immer bereit ift, den Holzitoß zu
ſchichten und anzufteden und dazu Palmen zu fingen. Sie
ſchämte ſich, fie bat die Fürftin in ihrem Herzen um Vergebung
für all das Unrecht, das fie ihr und ihrem Glauben gethan,
und wünſchte jehnlichit, fie die Nenderung ihrer Anfichten fennen
zu lafien, ihr zu jagen, daß fie theilweife befehrt jei.
Eines Tages freilich machte fie der Mönch mit einigen Worten
ftugig. Sie hatte ihm eben wieder „eine Opfergabe” gebracht
und jaß bei ihm, in den wenigen Erbauungsbüchern blätternd,
die vor ihr auf dem Tifche lagen, als er plöglih an fie heran-
trat, die Hand auf ihre Schulter legte und mit halblauter
Stimme fagte: „Mein gutes Fräulein, es wäre freilich jehr
wünfcenswerth, wenn Sie in den Schooß der allein felig ma—
chenden Kirche zurüdtehren wollten; aber ich weiß nicht, ob Sie
es wollen. Wenn Sie e3 nicht wollen, fo will ich Ihnen nur
zugeflüftert haben, daß e3 Andere wollen.”
Clarifje jah ihn fragend an; fein Geficht blidte, al3 wollte
e3 eine ernftlihe Warnung ausſprechen. — Dann fügte er hinzu:
Morig Hartmann, Werke. VI. 4
50 Novellen.
„Denn Sie ſich wirklih und freimillig befehren wollen, kommen
Sie nur zu mir; ich werde Sie nicht mit einem allzulangen und
ausführlichen Glaubensbekenntniß plagen.“
„sh danke Ihnen,“ lächelte Clariffe, „zur Zeit glaube ich
noch nicht, von Ihrer Güte Gebrauch machen zu müſſen.“
„Iſt auch gut,” antwortete der Kapuziner.
Die Worte des Mönches gaben ihr Manches zu denken; zu:
let jagte jie jih, daß er wohl etwas von den ehemaligen Be:
kehrungsverſuchen der Fürftin gehört hatte, und daß er, die
Veränderung der Dinge nicht fennend, feine Worte auf Jene
beziehe. Sie vergab die Warnung, wohl aber erinnerte fie ji
der Verfiherung, daß er fie mit ausführlichen Glaubensbefennt:
niſſen nicht plagen wolle,
Wären doh Alle jo offen und aufrichtig mit ihr geweſen,
wie diefer Mönch, wie diefer neue Freund. Die alten Freunde
flohen fie immer mehr; der Marquis und die Fürftin wurden
immer zurüdhaltender; die Entfernung zwijchen ihr und diefen
Freunden wurde immer größer und weiter, Wie oft träumte jie
in unruhvollen Nächten, daß fie auf jchönen Wiefen, in den
berrlichften Gegenden mit den Freunden luftwanvelte; plöglich
thut fich ein Abgrund auf, der jie von einander riß. Drüben
ftand der Marquis mit Malwine, innig vereinigt; Hand in Hand
jegten fie ihren Gang fort, al3 ob nichts gejchehen wäre, wäh—
rend fie diesfeit3 des Abgrundes jtand und jehnlichjt die Arme
nach ihnen ausbreitete. Plötzlich wendete ſich die Fürſtin nad
ihr um und nidte lächelnd, während der Marquis fein Geficht
verhüllte. Ungeheure Angſt und Sehnſucht erfaßte fie; fie wollte
den Abgrund überspringen, fie fprang und ſank und fan in tiefe
Naht. — Oder fie ftand auf einer fteilen Felfenwand; der Mar:
quis ſaß, in einem Buche lefend, tief unter ihr. Sie ſah hinab
und wollte mit ihm leſen, da fiel eine Thräne aus ihrem Auge
auf da3 Bud; der Marquis blidte auf und wie er Clariſſe ſah,
verfinfterte fich fein Gefiht und er eilte in eine Grotte der Fel3-
wand, die ihn verfchlang. Clariffe erwachte mit verweinten Augen.
Der Zweck Heiligt die Mittel. 51
Dieſe Träume lagen die Tage über mwie jchwere Schatten
auf ihrer Seele und fie famen ihr plöglich wie verwirklicht vor,
als fie eined Tages — es war ſchon ein jonniger Märztag —
eben über die Felswand ftieg, um in die Müfte zu gelangen,
und fie unten im Parfe den Marquis erblidte, der einfam und
gedanfenvoll in einer Allee auf und ab ging. Sie blieb ftehen
und betrachtete ihn traurig., Wie fremd fühlte fie ſich ihm gegen—
über, dem fie einjt jo befreundet geweſen.“ Er bemerkte fie und
grüßte, Sie feßte ihren Weg fort, und als fie am Fuße der Fels:
wand anfam, ftand er vor ihr. Er war durch die Gallerie ge:
gangen und erwartete fie unten an der Brüde. — Jetzt, dachte
Clariſſe, muß ich erfahren, was uns trennt. — Sie war ent:
ſchloſſen, ihn gerade zu fragen, aber er jchien ihr entgegenfommen
zu wollen,
„Clariſſe,“ fagte er traurig und faßte ihre Hand, „mie ich
Sie da oben auf dem Felfen fteben ſah, war e3 mir, als ftänden
Sie in einer fernen Welt. Doc iſt e3 nur eine fünftliche Fels—
wand. Der Frühling erwacht; ſehen Sie, wie ſchön e3 ringsum
geworden; die Vögel fangen zu fingen an. Clariffe, wir haben
nod feinen Frühling zufammen erlebt. Nichts ald Winter, trau-
tigen Winter! Ich muß mit Jhnen ſprechen, ih muß! Das Ges
fühl, das mich zu Ihnen zieht — verzeihen Sie, ih mill jagen
das Gefühl, das mich bei Ihrem Anblide übermannte, zwingt
mid. Clarifje, wie fremd find wir und geworden !“
„Sie find fehr gütig, das bemerken zu wollen,“ fagte Glarifje
bitter lachend.
„Seien Sie nicht bitter, Clarifje. Vergrößern Sie nicht das
Unglüd, das ſchon mein Schidfal mit ſich bringt. Wäre ich un:
abhängig — wäre ich frei — könnte ih handeln, wie ich will —
aber ich lebe in Verhältnifjen, die —“
Er ſchwieg wieder.
„Fahren Sie fort,” bat Glarifje, „Iprechen Sie mir offen —
auf welches Schidjal deuten Sie immer —“
„Gott bewahre,“ rief der Marquis, „Schweigen iſt mir
52 Novellen.
Pflicht, befonders Ihnen gegenüber. Soll ih Ihre Güte für
mih auf nichtswürdige Weife benugen, um ®Profelyten zu
machen? Nimmermehr! — Allerdings,” fügte er nad einiger
Zeit fanfter hinzu, „allerdings wäre e3 unendlich ſchön, wäre ich
unſäglich glüdlih, wenn ſich diefe Schranke nicht zwijchen uns
erhöbe. Für mid) wäre es feine Schranke... Doch, doch ...
wenn ich ganz wahr fein foll... man fieht geliebte Berfonen
immer mit einem gewifjen Schmerze außerhalb der Gedanten-
welt, in ber wir von Jugend auf leben, außerhalb jenes Ge:
fühlsfreifeg, mit dem unjere ganze Seele verwachſen ift, und
von dem wir und troß allen Wiſſens, tro aller Philoſophie
nicht trennen können. Es ift traurig, aber es ift fo, daß eine
gewiſſe Entfremdung, eine kalte Entfernung bleibt zwiſchen zwei
Herzen, deren tiefjte und wichtigfte Jugendeindrücke fo verfchie-
ven find. Clariſſe, wenn ich Sie fo vor der Kapelle ftehen ehe,
ergreift mi ein unendliches Mitleid mit mir und mit Ihnen;
ih möchte hinausftürzen, Sie auf meine Arme nehmen und Sie
bineintragen vor den Altar, vor meinen Altar, vor den Altar
jener herrlihen Fürftin, die Sie fo innig liebt... . Verzeihen
Sie, ih habe mich hinreißen laſſen .. ſprechen mir nicht meiter
über diefen Gegenftand; Sie fünnten mich verfennen, Sie fönn-
ten mich mißverjtehen.”
Clariſſe hätte ihn im Gegentheile gern gebeten fortzufahren,
wenn fie nicht duch eine zitternde Stimme ihre Aufregung zu
verrathen gefürchtet hätte. Alſo er dachte an fie, wenn er drinnen
in der Kapelle war, mit derſelben Sehnſucht, die fie zu ihm
hineinzog. Eine jo gute Botichaft hatte fie feit lange nicht ge
hört; welche3 weitere Geſtändniß Eonnte fie noch erlangen? Wie
hätte fie in dieſem Augenblide Anderes denken können? Nun:
mehr mußte fie ja auch, was ihn von ihr trennte. Wie verädht-
lich fhien ihr dieſe Schranke, die ihn unglüdlih machte. Sie
war ja frei; er war es nicht; follte fie ihm nicht ein Opfer brin-
gen? Solche Gedanken jagten ſich mit Blitzesſchnelle durch ihren
Kopf, aber fie hatte nicht Zeit, fie zu fichten und fie näher zu
Der Zwed heiligt die Mittel. 553
prüfen; der Marquis leitete jchnell das Gefpräh auf andere
Gegenftände, der edle Marquis, der fie nicht überreden wollte,
und als hätte er doch nach dieſen mangelhaften Geſtändniſſen
eine Laſt vom Herzen, ging er froher neben ihr einher, wie in
den guten alten Zeiten im Garten des Pfarrhauſes, und ſprach
ſo innig, ſo warm, ſo unbefangen wie damals. Es war der alte
gute Freund und manche böſe Grille, die Clariſſe in dieſen
Wochen geplagt, ja recht ſehr unglücklich gemacht hatte, wie zum
Beiſpiel eine ſtille Eiferſucht auf die Fürſtin, verflog, als wäre
ſie nie dageweſen. Sie war wieder glücklich und bevor man ins
Schloß zurückkehrte, war es verabredet, daß die gemeinſchaft⸗
lichen Arbeitsſtunden, die im Pfarrhaufe ſo ſchön waren, wieder
aufgenommen werden ſollten.
* *
*
Sie ſaßen wieder an einem Tiſche, vor demſelben Buche wie
ehemals. Der Marquis war ein eifriger Lehrer, er wußte jedes
Buch zu ergänzen, er hatte überall etwas Belehrendes hinzu—
zufügen — aber er war wieder in die Zurüdhaltung, die vor
dem Gefpräch im Parke Clariſſe von ihm entfernte, zurüdge:
fallen. Er war gejprädig, er war freundlih — aber über das,
was fie bewegte, beobachtete er ein ausdauerndes Schweigen.
Sie mußte fih gewaltfam an jene Geftänpnifje erinnern, um
nicht wieder den frühern Trübfinn auflommen zu laſſen. Der
Frühling erwachte mit ganzer Macht, alle jene Ahnungen
wedend, die daS Herz bewegen, wie das Schwellen der Erbe
die Schollen des frifchen Ackerfeldes. Es war ihr, als müßte,
ihr jeder Tag ein Glüd bringen und dieſes Glüd geftaltete ſich
in ihren Gedanken zu einer Bitte des Marquis, ihm ein Opfer
zu bringen, Je trauriger, zurüdhaltender er neben ihr jaß,
deſto fefter wurde der Entſchluß in ihr, das Opfer zu bringen.
Aber er fprach die Bitte nicht aus und e3 kam eine Zeit momen-
taner Trennung herbei, ohne daß er fie ausgejprodhen hatte
E3 war wenige Tage vor Oftern. Der Marquis nahm
54 Novellen.
Abſchied von Glarifjen. „Ich werde Sie,” jagte er, „vor und
während der Feiertage felten jehen können. Die Fürftin zieht
jih in die Einſamkeit zurüd, um fih für die Feſttage vorzube:
reiten. Nur die Fräulein v. Zellwig und ich follen bei ihr fein.
Wir find eine fo Heine Gemeinde. Wenn ich auch für mich allein
jolde Andahtsübungen nicht vornehmen würde, fo leijte ich ver
Fürſtin doch gern Gefellihaft; ja es ift mir eine hohe Freude,
an ihrer Andacht Theil zu nehmen. Gibt e3 ein ſchöneres
Schaujpiel, al3 den Anblid einer meiblihen, einer ſolchen
Ceele, die fih ganz in ihren Glauben verfentt? Ein folder An:
blid bejtärkt mich immer in der Meinung, daß die katholiſche
Religion die Religion des Weibes ſei! Ich begreife einen Mann
als Proteftanten, eine Frau — verzeihen Sie — id kann es
mir nicht recht denken; muß ſich die weibliche Seele da nicht wie
in einem fremden Glemente fühlen 2“
Clariſſe ſchwieg.
„Aber,“ fuhr der Marquis fort. „Sie haben noch meinen
Thomas a Kempis, das Buch kann für Sie keinen Werth
haben; ich brauche es dieſer Tage. Geben Sie es mir zurück;
ich taufche es für ein recht ſchönes Buch aus — ich gebe Ihnen
Moliere oder Shakeſpeare dafür.“
Clarifjen ſchnitten all diefe Worte durchs Herz; die legten
Hangen faft wie Hohn und thaten ihr beſonders wehe. Sie
jollte fi von dem Buche trennen, das fo lange das liebite An:
denen von dem Marquis geweſen, mit welchem fie die jhönften
Stunden der Erinnerung feierte? das ihr Vertrauter war? das
in ihrem Leben eine fo entfcheidende Rolle fpielte? Aber ge:
fränkt, wie fie war, wollte fie dieſes auch nicht nur andeuten
und fagte: „Sie irren fih, Marquis; ich nehme weder Moliere
noch Chafefpeare für dieſes Buch; ich liebe es, es erbaut
mich.“
„DO,“ rief der Marquis, „theure Freundin, weld ein Wort!
Behalten Sie das Buch für ewig, wenn Gie e3 lieben, wenn
es Sie erbaut. Wie hätte ich das ahnen können! Aber willen
Der Zwed heiligt die Mittel. 55
Sie Eins, das Sie fi vielleicht noch nicht gejagt haben: Wer
Thomas a Kempis liebt, iſt katholiſch.“
So fprehend hatte er ihre Hand gefaßt und ehe fie ſich
deſſen verſah, einen Kuß auf ihre Stirn gedrüdt und das
Zimmer verlafjen. Sie fühlte nur diefen Ruß; es war ihr wie
ein Traum. Als fie erwachte, eilte fie an den Echranf, 309
raſch dad Buch hervor, dem fie den Kuß verdankte und gab ihn
ihm zehnfach zurüd.
Auf diefe glüdlihe Stunde folgten Tage, die öde gemefen
wären, wenn fie nicht die Erinnerung an diefe3 Ueberjprudeln
des Gefühls im Herzen des Marquis belebt hätten. Sie mußte
nun Har, was er wollte. O, warum gebot er ihr nit! Sie
wollte ja nur gehorhen — und jelbjt wenn fie fich Faltblütig
prüfte und fich fagte, daß fie mit ihrem Webertritt einen Verrath
an fich felber beginge — er verlange, er gebiete Alles! — für
ihn wollte fie auch einen Verrath an fich ſelber begehen.
Aber der erjte Dftertag kam heran; die Fürftin wallfabrtete
mit dem Marquis und den Fräulein Zellwitz zur Einſiedelei;
Glarifje wurde zu dem Gange nit eingeladen wie fonjt. Sie
Stand im Korrivor, al3 vie Pilger an ihr vorüberzogen; große
Seierlichfeit lag auf dem Gefichte der Fürftin Malwine. Gie
bemerkte die Freundin faum und ging vorüber. An dem hoben
Feſttage wollte fie die Wallfahrt wohl nicht in Geſellſchaft einer
Kegerin machen. Glarilje ging traurig auf ihre Stube. So
war e3 auch am andern Oftermorgen. Ein lächelnder Früblings-
tag, holder Vogelgejang, Alles lud fie in den Park, auf den
Meg, aber die Fürftin ging theilnahmlos an ihr vorüber. Wie
war fie gevemüthigt; das ganze Gefühl der Verlafienbeit über:
fam fie wieder. Aber fie lächelte freudig, als fie des Nachmittags
allein im Parke fpazierte und die Fürftin, auf dem Wege zur
Kapelle, fie zwar jchweigend, aber mit einer freundlichen Kopf:
bewegung ihr zu folgen einlud. Sie ſchloß fih an den Zug an
und folgte ſchweigend, da auch die Andern fchriegen.
Un der Kapelle angelommen, war es ihr, als müßte fie der
56 Novellen.
Marquis auffordern, mit einzutreten. Aber er folgte ven Da:
men, ohne ein Wort zu fagen. Die Thüre fiel zu und fie blieb
draußen, wie fonft. Alle die Gedanken und Gefühle, die in
ihrem Herzen mit diefem Orte jo zu jagen verwachjen waren,
und die ihr hier fhon, wie eine Gewohnheit des Herzens, von
jelber famen, beftürmten fie heute mit befonderer Lebhaftigfeit.
Die ſtille, andächtige ofterlihe Frühlingsluft trug zu deren
größerer Lebhaftigkeit vielleicht eben fo viel bei, als die Ber:
änderung, die feit dem Kuffe des Marquis mit ihr vorgegangen.
Ein leiſes Summen und Murmeln ließ fi in der Kapelle hören
und e3 traten ihr die Thränen in die Augen. Plöglich erhoben
fih zwei junge Stimmen in der Kapelle und jangen:
Und fie jahen hinein
Und wurden gewahr,
Daß der gewaltige Stein
Abgemwälzet war.
Und fie gingen hinab
In Jeſu Grab
Und ſahen einen Jüngling zur rechten Hand.
Der trug ein langes weißes Gewand.
Der ſprach, als ſie Jeſum nicht fanden:
Jeſum von Nazareth ſuchet Ihr?
Der iſt nicht hier,
Er iſt auferſtanden.
Sie kannte die Stimmen. Es waren die Fräulein v. Zell⸗
witz, aber ſo glaubte ſie ſie noch nicht gehört zu haben. Es lag
eine ſolche unendliche Innigkeit, eine ſolche Gläubigkeit und An—
dacht in dieſen Tönen! Plötzlich fielen ihr die Worte des Mar—
quis ein: est, fagte fie fih, denkt er an mich, jegt hat er
Mitleid mit mir; er möchte herausftürzen, mich auf feine Arme
nehmen, mid hineintragen vor den Altar, vor feinen Altar! —
Die Thränen, die ihre Augen füllten, ftürzten unaufhaltiam
hervor und ergoflen fich über ihre Wangen. Das Lied, fo ein-
fach es war, zog fie immer mächtiger an — fie ftand an der
E
Der Zwed heiligt die Mittel. 57
Thür, fie lag auf der Schwelle, ehe fie e8 dachte, und drückte
den heißen Kopf an den Pfolten. Da fprang die Thür auf, der
Marquis umfaßte fie und trug fie hinein, wie er e3 gejagt und
mie fie es geträumt hatte.
ALS fie wieder herauskam, fah fie um ſich, al3 wäre fie in
einer fremden Welt; fie legte die Hand an die Stirn, wie um
ch zu befinnen, So ging fie ſchwankend weiter; die beiden
Fräulein v. Zellwig faßten fie unter den Armen, um fie auf:
recht zu halten, denn fie ftrauchelte bei jedem Schritt auf dem
fteinigen Boden. Die Fürftin ging voraus, ohne ſich umzu—
jehen. Mit großen Schritten ging fie dem Schloſſe zu; die feier:
lihe Miene von heute Morgen, die milde von heute Nachmittag
war einem etwas harten Ausprude des Triumphes gewichen.
Der Marquis war nicht bei den Heimkehrenden; er mar in der
Kapelle geblieben.
Den Abend verbrachte Clarifje mit der Fürftin allein; jie
ſaß ihr zu Füßen auf einem Tabouret und juchte ſich noch zu
faflen, während ihr Malwine Scheitel und Wangen ftreichelte,
fie mit Lieblofungen überhäufte und fie ihre liebe Bekehrte, ihre
junge Chriftin, ihre gerettete Seele nannte. Sonjt war Nie:
mand fichtbar; die Fürftin wollte es jo; fie wollte fih ganz und
ungeftört über das fchöne Ofterfeft freuen, das ihr Clariſſe jo
ſehr, jo würdig verfchönt hatte.
Uber der Marquis blieb unfihtbar; auch am nächſten Mor:
gen war er nirgends zu fehen. Glarifje hatte wie ganze Nacht
fein Auge geſchloſſen und durdirrte mit einem müften Kopfe
Schloß und Park nah allen Richtungen. Sie empfand ein Ge:
fühl, das fie noch nie empfunden hatte; es war ihr, als jagte
fie ein böfes Gemifjen fo hin und her. Ein Blid in das Geficht
des Mannes, den fie liebte, ein Wort von ihm, daß er zufrie-
den jei, daß er ihr Opfer anerfenne, daß er ſich ihr jegt um
einen Schritt näher fühlte, würde fie wieder beruhigen. Gie
juchte ihn wie eine Erlöfung; fie fand ihn nit. Dort an der
Brüde, die über den Heinen See in die Wüfte führte, an der
58 Novellen,
Stelle, die ihr theuer geworden war, hielt jie nad) einer wieder:
holten, vergeblihen Streiferei dur den Park müde und nieder:
gefhlagen. Wenn der Marquis fie juchte, mußte e3 ihm jein
Herz fagen, daß er fie dort finden werde. Aber Minute auf
Minute verfloß langjam und träge, wie das dünne, ärmliche
Waſſer, das in Tropfen vom Feljen in den traurigen Gee fiel.
An das Geländer gelehnt, blidte fie in das Wafler, das trüb
ihr trübes Bildniß wiederftrahlte.
So fand fie Fräulein Zellwitz. „Wo jtedjt du, Clariſſe?
Ich juche dich überall. Die Fürſtin ſchickt mich dir nad, ich fol
dich nicht allein laſſen.“
Ohne meiter darüber nachzudenken, warum fie die Fürftin
nicht allein lafjen wollte, fragte fie haftig: „Weißt du nicht,
wo der Marquis it? Du mußt e3 wiſſen.“
„Der Marquis,” antwortete Fräulein Zellwig gleichgültig,
„der Marquis iſt in diefer Nacht abgereist.“
„Abgereist!“ rief Clariſſe erjchroden, „und wohin?“
„Ich weiß e3 nicht.“
„Und wann fommt er wieder?“
„Ich weiß es nicht; vielleicht fommt er gar nicht wieder.“
„Gar nicht wieder ?!“ rief Clarifje entſetzt.
„Wer kann bei diefen Herren wiſſen?“ fuhr die Zellmig eben
fo rubig fort, „mer kennt ihre Gejchäfte und ihre Wege? Wer
weiß, welder Befehl ihm plöglich zufam. Der Marquis kann ja
nicht jelbft über fich verfügen, er muß gehorfam fein, er hängt
von Andern ab.“
„Smilie, ich fehe, du weißt etwas von den Verhältnifien des
Marquis,” fagte Clarifje haftig, „was ift es mit ihm? Bon wem
hängt er ab?
„Richtig,“ fagte die Zellwig, „ich habe vergefien — du biſt
nicht eingeweiht. Nun, jegt gehörft du ja zu ung, und ich darf
es dir wohl fagen. Siehſt du, das mußte ein ftrenges Geheim:
ni fein; hätte man bier gewußt, wer der Marquis eigentlich
ift, das hätte bei dieſen Proteftanten einen fchredlihen Lärm
Der Zwed heiligt die Mittel. 59
abgegeben, fie hätten ſich ſammt und jonders für verrathen und
verkauft geglaubt. Darum konnte der Marquis nicht in feiner
wahren Geſtalt auftreten und darum bat fich die Fürſtin aud
einen Dann ausgebeten, dem man feinen Stand jo wenig an-
fieht. Du kennſt ja die ſchändlichen Vorurtheile gegen ven
Orden.”
„Orden ?" fragte Clarifja mit aufgeriflenen Augen, „gehört
der Marquis einem Orden an ?“
„Run freilich, verſtehſt du denn nicht 2“
„Welhem Orden, um de3 Himmelswillen? Du folterft
mid.“
„Run, dem Orden der Gefellichaft Jeſu,“ ermwiderte die Zell:
wig ungedulpig.
„Sr ift ein Jeſuit?“ fchrie Clariſſe.
„Nun freilih! Was haft du, Clarifje? Du ſiehſt ja fchred:
lich aus!“
Und jchredlich fah fie in ver That aus. Die Augen traten
aus ihren Höhlen, ihre Hände zudten frampfhaft, während ihr
ganzer Leib unbeweglih, wie eritarrt daſtand. Die Zellwig
wollte nah Hülfe fchreien, als ſich plöglih Clariſſe, wie es
ſchien, beruhigter, felber nah allen Seiten wie Hülfe fuchend
umſah; dann faßte fie den Kopf mit beiden Händen und jchloß
die Augen. So, gejchlofjenen Auges, fragte fie mit tonlofer
Stimme: „Die Fürftin, ſagſt du, hat ihn kommen laſſen?“
Die Zellwig, froh, wieder ihre Stimme zu hören, antwortete
raſch und eifrig: „Allerdings — Herr von Holland ſprach ihr
vom Marquis — er kannte ihn, er ſchrieb im Namen ver
Fürftin nad) Freiburg in der Schweiz — wenige Tage, nachdem
du entflohen warft — der Marquis konnte aber nicht glei
kommen — er war damals in Rußland, wo er eine Fürftin
bekehrte.“
Da lachte Clariſſe fo laut, daß die Zellwitz noch tiefer ers
ſchrak al3 vorhin. Sie faßte ihre Scheitel und riß daran, dann
rief fie immer lachend: „Belehrt, betrogen, befehrt!“
60 Novellen.
So lachend und rufend bog fie fich tief über das Geländer
der Brüde und ftürzte in den See. Auf das Gefchrei der Zell
wig eilte Bater Adam herbei, der in der Nähe auf einem einzel:
nen Felsblocke geitanden und in den jchönen Frühlingsabend
bineingeblidt hatte.
„Bas ift? was iſt?“ fragte der gute Pater.
„Retten Sie, retten Sie,” rief Fräulein Zellmig am Ufer
binlaufend, „hier, hier, Clariſſe!“
„Da haben wir's,“ murmelte der Kapuziner,: indem er jo:
fort ins Wafjer fprang. Er tauchte unter und fam gleich darauf
mit Clarifjen unter dem rechten Arme hervor. Auf feinen ſtarken
Armen trug er fie wie ein Kind in die Einfiedelei, immer mur:
melnd: „Da haben wir's. Gutes Fräulein; armes Fräulein!
Das iſt die Folge der gejtrigen heiligen Handlung. Schöne hei:
lige Handlung. Schöne Art die Seele zu retten. Nun fie ift noch
ganz; warm — wir werden fie befjer retten, als der Jeſuit.“
Die Zellwit folgte ihm, und den Bemühungen der Beiden
gelang es bald, wieder Lebenszeihen hervorzurufen. Clariſſe
Ihlug endlich die Augen auf und lachte, mwie fie vorhin gelacht
batte, als fie von der Brüde ftürzte; fie lachte noch, al3 man
fie bei fpäter Dunkelheit in aller Stille ins Schloß bradte, und
fie lachte noch nach mehrtägiger Pflege. Sie war mwahnfinnig.
So erklärte ver Hofarzt und verfprady darüber zu ſchweigen.
Da fie katholiſch war, übergab man Clariffen der Pflege
eines im nächſten katholiſchen Lande gelegenen Nonnentlofters.
Dort ift fie ung verſchwunden.
Gräfin Sajjari.
Auszug und Bearbeitung einer Handſchrift aus dem adhtzehnten Jahrhundert.
Die Begebenheit, die ich hier in meinen alten Tagen aufs
zeichne, weil fie mir jehr merkwürdig erjcheint, habe ih von An:
fang bis zu Ende zum größten Theil als Augenzeuge mit erlebt,
und fonnte ic auch nicht überall einen Einblid haben und alle
Geheimnifie erfahren, jo habe ich doch genug mit angejehen, um
das Ganze in einem gewiſſen Zufammenhange erzählen zu können.
Vielerlei Papiere und Briefe find noch in meinem Beſitz, die
mein Gedächtniß unterftügen und zugleich ald Zeugniſſe meiner
Wahrhaftigkeit dienen mögen, wenn man etwa vie Treue dieſer
Erzählung bezweifeln wollte. Die Herren bedenken nicht immer,
welche aufmerkſamen Beobachter fie an ihren Dienern befigen.
Ich aber habe dieje ganze Begebenheit, gemwillermaßen mie ‚ver
Chorus in der griechiſchen Tragödie, bei Seite ftehend und als
Diener und Zufchauer zugleih, beobachtet, nämlich al3 Maitre
d’Hötel oder Haushofmeijter des Herrn von Chatelarb im
Waadtlande. Mein Name ift Jean Samuel Baud und ic) ftamme
aus einer alten und guten Familie, welche in der Gefchichte der
Republif Genf viel genannt wird, durch viele Geſchlechter fehr
angejehen war, aber nad ver Reformation und nachdem fo viele
Fremde nach Genf gefommen und die alten Geſchlechter ver:
drängten, in Armuth verſank. In meiner Jugend widmete ich
62 Novellen.
mich der Gotteögelahrtheit, und ich hatte meine Studien beinahe
vollendet, al3 ich mit einem Jugendfehler die ehrwürdige Ge:
jellihaft, la Vengrable Compagnie der Genfer Geiftlichkeit
gegen mich erzürnte und jede Ausficht auf eine Anjtellung in
Genf verlor, da die ehrwürdige Kompagnie dafelbit alle Stellen
vergab und allmädtigen Einfluß hatte. Ich mußte mich ent:
ſchließen, eine weltliche Laufbahn zu beginnen, und da die Zeit
drängte, weil jonft die Perſon, mit der ich mich verfündigt hatte,
in Schande und Elend verfunfen wäre, nahm ich eine ganz
niedrige Bedienjtung im Haufe des Herrn von Chatelard an.
Mein Brodherr erkannte bald, daß ich mehr Wiſſen befaß, als
einem Lalaien nothwendig war, und als frommer Herr berüd:
fihtigend, daß ich doch einmal dem geijtlichen Stande bejtimmt
gewejen, ftellte er mich ſchon nad zwei Jahren an die Spitze
jeiner zahlreichen Dienerfchaft als Oberhofmeifter und verwendete
mich von Zeit zu Zeit auch al3 Sekretarius, indem er mir Briefe
diktirte, allerlei Schriftitüde aufzufegen und mande alte Doku:
mente zu fopiren oder aus dem Lateinifchen in das Franzöſiſche
zu überfegen befahl. Wir bewohnten ein meitläufiges Landhaus,
da3 auf einem Hügel in der Nähe von Nyon lag und das bis
auf meinen Herrn den Namen Bellevue trug, nachdem e3 aber
mein Herr bezogen, Mont:Tabor genannt wurde; diejen biblischen
Namen erhielt es, weil e3 der geijtlihe Sammelplag aller der
megen der Religion von König Ludwig XIV. verfolgten, in dieſe
Gegend flüchtenden Franzoſen wurde. Sie waren e3, dieje Flücht—
linge, welche vem Hügel und dem Landhauſe diefen Titel erfan-
den, um meinem Herm und feiner Frömmigleit damit zu
ſchmeicheln, denn fie dankten ihm viel, da er mande dieſer
Flüchtlinge, die hülflos in die Fremde gejtoßen waren, dur
Jahre beherbergte und ernährte. Monfieur de Chatelard war
nicht nur ein fehr reicher, fondern auch ein fehr mächtiger und
einflußreiher Herr. Er war nicht nur mit den abeligen Ge:
ſchlechtern und mit der Geiftlichleit von Genf auf3 Innigſte ver-
bunden, er ftand auch bei den mächtigen Herren von Bern im
Gräfin Saffari, 63
größten Anſehen. Sie fhästen ihn ala Ihresgleichen, weil er
aus einem der wenigen Geichlehter ftammte, die fich in dieſen
Gegenden glei nach der Eroberung des MWaadtlandes durch die
Berner an ihre Herrichaft und an die Reformation anſchloſſen,
und meil er viel dazu beigetragen, daß die Verſammlung der
Abgeordneten der guten Städte, welche ſonſt in Nyon jtattge
funden und welche man wieder beritellen wollte, nicht zu Stande
fam und fo die unbeſchränkte Herrfhaft der Berner über das
Land forterhalten wurde. Sie hatten den Herrn von Chatelard
in feiner Jugend fogar zum Bailly von Nyon maden mollen,
obwohl fie die einheimifhen Waadtländer fonjt von diefen ein:
träglichen und wichtigen Stellen fern bielten und diefelben nur
mit ihren Söhnen befegten. Der Bailly, der im Schlofje von
Nyon refidirte und das Land im Namen der Berner Herren
regierte, bewies ihm immer die größte Aufmerkjamfeit und zog
ihn in wichtigen Angelegenheiten, die das Land betrafen, oft zu
Rathe. Herr von Chatelard benuste feinen Einfluß niemals zu
jenem eigenen Nuten, wohl aber zum Beſten ver Religion und
der wegen der Religion Berfolgten und Flüchtigen, melde da—
mal3 das Land erfüllten. Es wird behauptet, daß er an jener
trogigen und muthigen Antwort, welche die Herren von Bern
betreff3 der franzöfifhen Flüchtlinge dem Könige Ludwig XIV.
gegeben und melde damals das Erſtaunen und die Bewunderung
der Welt erregte, großen Theil hatte, daß er ed war, der ihnen
die Zuverficht einflößte, mit welcher fie dem mächtigen Könige zu
Gunſten der Hugenotten, nad der Aufhebung des Edictes von
Nante3 und nachdem der Religionskrieg im Süden erbrüdt
morden, entgegentraten.
Zu Anfang diefes Jahrhunderts mochte Herr von Chatelard
jechzig Jahre alt fein und in dieſer Zeit beginnt die Geſchichte,
die ich hier erzählen will. Ach erinnere mich genau. Es war
am 11. Juli 1702, als mir Herr von Chatelard befahl, gegen
zwei Uhr Nachmittags mit mehreren Dienern und einer Sänfte
an den See hinabzufteigen. Als ich mich, mie e3 befohlen war,
64 Novellen.
um zwei Uhr auf den Weg machte, ſchloß fich zu meinem Er:
ftaunen Herr von Chatelard jelbjt mit feinem Sohne Elia und
Herren Beſſon, einem franzöfiihen Prediger, und mehreren
anderen in unferem Haufe verweilenden franzöfifhen Flüchtlingen
von edler Geburt unferem Zuge an. Herr von Ehatelard jaß zu
Pferde, hatte jeinen vreiedigen Hut, feine Allongeperüde aufge:
jest, feinen jhwarzfammetnen mit Silbertrefjen und Spiten be-
jegten Rocquelor angezogen und feinen filbernen Degen umge:
ichnallt ; auch fein Sohn Elia3 war in Galatradt, und jo hatten
au die anderen Herren ihre befleren Kleider angethban. Ich
fagte mir, daß wir irgend einen hohen Gaft empfangen follen,
da fich der Herr mit folhem Aufzuge und mit den geachtetjten
jeiner Gäſte felber fo weit bemühte und diejenigen, die wir er:
warteten, in Berfon empfangen wollte. In Nyon am Landungs-
plate lagen nur einige ärmliche Barken, und ſoweit ich hinaus
jah über ven See, ich konnte fein Fahrzeug erbliden, das mir
eines jo pomphaften Empfanges würdig ſchien. Doc war es
gerade ein ganz unfceinbarer Kahn, der die Ermwarteten und
zwar vom javoyiichen Ufer herüberbrachte. Schon von ferne jah
ich einen Heinen Mann mit grauen Haaren, ver fih im Kahn
erhob, und mit einer gewiſſen Spannung dem Ufer entgegenjah.
Als er Heren von Chatelard mit defjen Gefolge erblidte, verneigte
er ji tief, fagte etwas zu den Schiffern, melde darauf die
Ruder rafcher bewegten. Da wurde hinter einem Koffer und
mehreren Nachtjäden auch eine junge Dame fichtbar, welde, ven
Kopf in die Hand geftügt, in der Mitte des Kahnes ſaß; Herr
von Chatelard jtieg vom Pferde und ging dem Kahne entgegen,
als diejer ans Ufer ftieß. Der alte eine Herr trat mit gemeflenem
und feierlibem Schritte aus dem Kahn, ftredte dann, ohne die
dargebotene Hand des Herrn von Chatelard zu ergreifen, beide
Arme zum Himmel empor und rief andächtig: „Gelobt fei Gott,
der Gott Yirael3, der mich aus Aegypten, dem Lande der Skla—
verei, geführt hat.” Dann erft ergriff er die Hand bes Herrn
von Chatelard, mwährend er mit der Linken feinen breiedigen
Gräfin Saffari. 65
Hut vom Kopfe nahm. „Seien Sie mir willlommen, mein Herr
Graf,” fagte Herr von Chatelard und verneigte fich mit großer
Ehrfurdt. Eben jo that fein Sohn Elie und alle die anderen
Herren, deren Gefichter die höchſte Ehrfurht und die andäch—
tigfte Stimmung ausdrüdten. Herr Elie de Chatelard ging dann
etwas fehüchtern dem Kahne entgegen, um der jungen Dame
beim Ausfteigen behülflih zu fein. Dieſe aber, ein Fräulein
von neunzehn oder zwanzig Jahren, obwohl fie ſich erhoben hatte,
ſchien zu zögern. Ihr Gefiht, ihr wunderjchönes und blühendes
Geſicht, erblaßte mit einem Male, fie ſchwankte und ſtützte fich
auf den Arm eines Dieners, eines treuen, rüftigen Gefellen, der
neben ihr ftand, bald das Fräulein mit bejorgtem, bald vie
Berfammlung am Ufer mit verbrießlichem Gelichte betrachtend.
Dann wandte fih das Fräulein, ſah ſehnſüchtigen Blides hin-
über aufs jenfeitige Ufer des See's und ſchien in diejen Anblid
fo verfunfen, daß fie der Gefellichaft, die ihrer wartete, und
des Landens vergaß. Der junge Baron, Herr Elie de Chatelard,
der leicht in Verlegenheit gerieth, ließ den Arm finten, den er
ihr entgegengeftredt hatte, blieb aber vorgebeugt ftehen, während
er, wie hülfefuchend, feinen Vater und den Neuangelommenen
anblidte. Diefer, ver Graf von Saſſari, wandte fich endlich um
und rief dem Fräulein zu: „Komm, meine Tochter, tritt ans
Land, berühre viefen gejegneten Boden, denn es ift der Boden
Kanaans, des gelobten Landes, e3 ift die Heimat des wahren
und reinen Glaubens, der Boden, den der Herr vom Götzen—
bienjt gereinigt.” Das Fräulein rafite fih auf und trat mit
einem entjchiedenen Schritte auf das Brett. Ahr Blic fiel auf
die Shüchternen Augen Elie'3, fie zögerte wieder einen Augen:
blid, ftüßte jih dann auf feinen Arm und ging der Geſellſchaft
entgegen, die fie mit einer ftummen Verneigung grüßte und von
der fie mit derfelben Ehrfurcht wie ihr Vater begrüßt wurde,
Graf Saflari trat dann wieder zurüd an den Kahn und rief
dem Diener zu: Giorgio! Auf diefer freien Erde darf ich es
laut befennen, daß ich meine Seele aus ven Schlingen des
Mori Hartmann, Werke, VI. 5
66 er Novellen.
römischen Götzendienſtes gerettet habe. Ach flüchte mich hierher,
um die reine Lehre zu befennen und den Heiland anzubeten im
Geifte und in der Wahrheit des Evangeliums. Dir fteht es nun
frei, zurüdzufehren, wo deine faljhen Götter verehrt werden,
oder mir fürder zu folgen al3 ein treuer Diener, wie du bisher
gethban haft.“ Der jo angeredete Diener zudte mit der Achſel
und rief: „Per bacco, ih weiß nicht von falihen Göttern
und bleibe bei dem, was mic meine Mutter gelehrt hat. Sie
werden bier vom lieben Gott und von dem Treiben der Heiligen
ebenfo wenig wiſſen, wie wir in Stalin. Queste sono
pazzie!“ So fpredend, warf er das Gepäd aufs Land und
fette jich wieder auf die Bank des Kahns, offenbar entfchlofien,
mit den Schiffern,, die jich fchon zur Abfahrt bereit machten, ans
jenfeitige Ufer zurüdzufehren. Graf Saflari wollte ebenfo ent:
ichlofjen jeinem verjtodten Diener den Rüden kehren, als feine
Tochter mit einem Male und in größter Aufregung dem Kahne
wieder zueilte und dem Diener die Hand entgegenitredend mit
zitternder Stimme fagte: „Lebe wohl! Giorgio! Grüße mir
Stalien! Ich werde es nicht wiederſehen.“ Auf diefe Worte
wandte fih Giorgio wieder um, jein mürriſches Gefiht nahm
‘den Ausdrud der höchſten Zärtlichkeit an, und mit dem Rufe:
„Nein, Signora Maria, Sie fann ich nicht verlajjen!” war er
mit einem Sprunge auf dem Lande und mit dem zweiten Rufe:
„Addio Italia! Cara Italia! Benedetta Italia !* ſchwang
er einen der Mantelfäde auf feine Schulter und wieder den Dienern
des Herrn von Chatelard ein Fräftiges „Vorwärts!“ zurufend,
ging er mit breiten Schritten der ganzen Verſammlung voraus.
Die Comtefje Maria Saflari wurde von Elie zu der Sänfte ge:
führt, ihr Vater beftieg ein bereit gehaltenes Pferd und feierlich
ſchweigend bewegten wir und Mont:Tabor entgegen. Dort ange:
fommen, ging man geraden Weges in den Betjaal, wo ſich be:
reit3 die anderen Bewohner des Landhaufes und der Neben:
gebäude verjammelt hatten; einige Pfalmen wurden abgefungen
und dann predigte Herr Beſſon, der franzöſiſche Prediger aus
Gräfin Safjari. | 67
Nimes, über den Tert: „Einen Stein verwarfen die Bauleute
und fiehe, er ward zum Hauptedjteine.” Dann erjt wurden Graf
Sajjari und feine Tochter auf ihre Zimmer geführt.
Mir mußten bald, daß Graf Saflari, aus einer modene:
fiihen Familie, aber in piemontefiihen Dienſten, aus der fatho:
lifchen zur reformirten Kirche übergegangen. Man erzählte fich,
daß er von König Victor Amadäus II. von Sardinien als Com:
mifjär und Verfolger in die Thäler der Waldenſer geſchickt, das
jelbit von einem Prediger der Berfolgten zum Lejen der Bibel
bewogen worden, daß er fi dann heimlich die Schriften Calvins
angeſchafft, mit hervorragenden Perjönlichkeiten Genf3 und des
Maadtlandes in Verbindung getreten und endlich einem an ihn
heimlich abgejhidten Genfer Prediger das Glaubensbefenntnik
der reformirten Kirche abgelegt habe; darauf bezog ſich aud die
Predigt des nächſten Sonntages, welche die Belehrung des Ver:
folgers Saulus zum Terte nahm, wie ſich überhaupt die Pre
digten der erften Wochen nad der Ankunft des Grafen meiftens
auf ihn und feine Befehrung bezogen. Bei feiner Stellung unv
den Berhältniffen Piemonts mußte der Graf feinen neuen
Glauben verbergen, bis er jeine Angelegenheiten jo weit geordnet
hatte, daß er die Flucht ergreifen konnte, Seine gejhmwächte
Geſundheit diente ihm zum Vorwand; erſt begab er fih in das
Bad Evian auf dem favoyifchen Ufer des Genfer: See’3 und
dort, eine weitere Quftreife in der Schweiz vorſchützend, fchifite
er jich mit feiner einzigen Tochter ein und fam, wie befchrieben,
zu und nah Monts-Tabor, nachdem er mit Herrn von Chatelard
ſchon feit längerer Zeit im Briefwechfel geitanden hatte. Mir
erfuhren bald noch mehr, nämlih, das Fräulein Maria fich ge:
mweigert hatte, jenem Prediger, den man ihrem Vater na Turin
geihidt, das reformirte Glaubensbefenntnig abzulegen und daß
fie noch der römischen Kirche angehörte, oder, wie man jich im
Haufe ausdrüdte, daß fie noch dem Baal diente.
Diefer Umstand gab dem armen Fräulein in der Welt, in
der fie jet lebte, eine eigenthümlihe und traurige Stellung.
68 Novellen.
Man muß nur wiffen, wie es in unferem Haufe ausſah. Das
Hauptgebäude war bis unter dad Dach von Männern bewohnt,
welche fi als Glaubenshelden augzeichneten, von Predigern,
die in Frankreich nah Aufhebung des Ediktes von Nantes zu
predigen fortgefahren, unter beftändigen Lebensgefahren ihre
Pflicht erfüllten und Frankreich erft verließen, nachdem ber legte
und verzweifelte Kampf in den Cevennen ausgelämpft war.
Neben diefen waren es Adelige oder gelehrte Herren, die eben:
falla vielfahe BVerfolgungen erlitten hatten und fich nicht mie
Andere vom Adel und wie andere Gelehrte durch die Maintenon
und ihren Anhang zum Verrath an ihrer Sache verleiten ließen.
Alle diefe waren natürlicher Weife eifrige Anhänger ihres Glau:
bens, ebenjo mußten alle Diejenigen fein, mit denen Herr von
Chatelard irgend welche Verbindung aufrechthielt und die im Haufe
empfangen wurden. Aber damit ift noch nicht die ganze Gefell:
ihaft von Mont-Tabor genannt. In den Nebengebäuden der
weitläufigen Villa, wie in vielen größeren und Hleineren Bauern:
bäufern ringsherum, wohnte ein ganzes, Heines Völkchen, das
nicht darnach ausjah, als ob es zu jener adeligen und gelehrten
Geſellſchaft gehörte und das mit diejer doch aufs Innigſte zu:
fammenbing. Es waren dieß die zahlreichen Flüchtlinge aus den
Gevennen, die fogenannten Kamifarden, welche Herr von Chate:
lard bei fih aufgenommen und zu einer Art. von Kolonie ver:
fammelt hatte, meilt Feld: und Weinbauern aus den Thälern
de3 genannten Gebirge und aus den Ebenen von Languedoc,
die er nach ihrer Art befhäftigte und die feine Felder, Wieſen
und Weingärten pflegten. Diefe waren noch voll des Feuer:
eifer3, mit dem fie fih, eine Hand voll Letite, gegen große
Armeen und gegen die berühmteften Marfchälle des großen Königs
durch Jahre vertheidigt hatten und der durch ihre männlichen
und meiblihen Propheten, ja jelbjt durch gottbegeifterte Kinder
in ihnen mehr und mehr entflammt wurde. Piele von diefen
waren nicht mehr zur Rüdfehr zur Feldarbeit zu bewegen, und
Herr von Chatelard ließ fie gewähren, um fie nicht in ihren
Gräfin Safari. 69
heiligen Beijhäftigungen oder in ihrer Vertiefung zu ftören.
Sie lajen fortwährend die Bibel oder fhlihen ftumm und in fi
getehrt über den Hof, dur den Park, oft Tage lang durd) die
Gebirge. Alle diefe Kamifarden hielten fi) von dem Gottes:
dienfte im allgemeinen Betjaale fern. Treu den Gewohnheiten,
die fie während der Verfolgungen und während des Krieges an-
genommen, verfammelten fie ſich am liebjten im Freien, irgendwo
binter dunklen ſchattigen Gebüfchen oder in einem trodenen Bett
eines Wildbachs oder in irgend einer wilden Felſenſchlucht des
nahen Gebirges, wo fie dann ihre Pjalmen fangen, einem Pre:
diger aus den Zweigen eined Baumes horchten, oder aud einem
ihrer Propheten, über den der Geift fam. Unter diefen Pro:
pheten zeichnete jich worzugsweije ein junges Weib, Namens
Iſabeau, aus, von der man erzählte, daß fie in einer Schladt
im Vaunages die Kinder der Wüſte, wie fi die Kamijarden
jelber nannten, mit gottbegeijtertem Muthe und Palmen fingenp,
zum Siege geführt; Iſabeau war ewig ſtumm und ſchweigſam;
in fi) gelehrt, ſchlichſie in zerriffenen Kleidern und mit jtruppigem
Haare durch Haus und Hof, ohne je den Mund zu öffnen, außer
um Palmen zu fingen, oder wenn der Geiſt über fie fam, zu
Weiffagungen. Obwohl noch jung, da jie ſchwerlich viel über
zwanzig Jahre hatte, war ihre Seele doch ganz von aller Welt:
lichleit abgefehrt und war ihr Gefiht von Falten bevedt, wie
bei einer Alten. Auch kümmerte fie fi nicht darum, daß ihre
zerfegten Kleider überall Blößen zeigten. Ihr flammenves Auge
allein hätte ihre Jugend verrathen, wenn jie nicht immer mit
beinahe ganz gejchlofjenen Wimpern umher gegangen wäre, was
die Kamifarden jagen ließ, daß fie mit innerem Auge ſehe.
Es war natürlich, daß die Comtefje Maria Saffari in einer
jolhen Welt eine eigenthümliche und traurige Stellung einnahm.
Allen diefen Menjhen war ein Römiſchkatholiſcher ein Göhen-
biener, ein Gräuel vor dem Herrn, und unter die Kamijarden
bejonder3 fam eine gewijje unruhige Bewegung, als jie erfuhren,
daß ihre Gemeinde durd die Anmefenheit einer Gögendienerin
70 Novellen.
verunreinigt wurde. Die Herren im Hauje begegneten ihr zmar
mit jener Rüdficht, die fie als Cavaliere einer Dame ihres Ranges
und ihrer Erziehung ſchuldig waren, und dann als einer zu:
künftigen Schweiter, welche nah der Verfiherung ihres Vaters
früher oder fpäter zu ihnen gehören und fich zum reinen Glauben
befehren werde; die Kamifarden aber betrachteten fie mit miß:
trauifhem Auge, ja mit Abjcheu ; fie wichen ihr aus und hüteten
jih, wenn fie ihr begegneten, vor einer Berührung ihres Kleides.
Zu all vem fam, daß es dem armen Fräulein ganz und gar an
mweibliher Gejellihaft fehlte, va Madame de Chatelard längſt
verjtorben und die Töchter des Haufes in die Ferne verheirathet
waren,
Ich batte das größte Mitleid mit dem armen Fräulein. Nicht
ihr Vater war der Verbannte; er fand Freunde und Männer,
mit denen er fih beſprach, von denen er fich mehr und mehr in
jeinen neuen Ölauben einweihen ließ: fie aber war flüchtig für
eine Sache, die nicht die ihrige war, und lebte in einer Welt,
mit der fie nicht3 gemein hatte. Neben diejer traurigen Stellung,
die jchon für fie einnehmen konnte, fprach noch ihr ganzes Aus:
jeben und ihr beſcheidenes Auftreten zu ihren Gunjten. Gie
hatte wenig von einer Stalienerin und glih mit ihrem blonden
Haar, trog der dunkeln Augen, mehr einer Deutſchen. Ihre
Beicheidenheit war um fo mehr zu rühmen, als fie neben ihrem
Range und ihrer Schönheit noch ein fehr großes Wiflen bejaß,
wie es in diefer Zeit viele Damen ihres Landes auszeichnete.
Ich konnte das wohl an den Büchern erkennen, vie ich ihr aus
der Bibliothek herbeifchaffen oder zwifhen ihr und Herrn Elie,
einem ſehr gelehrten jungen Manne, bins» und hertragen mußte.
Sch erkannte aus diefen Büchern, daß Fräulein Maria Saflari
die meiften neuen Sprachen und felbft Griechiſch und Lateiniſch
fultivirte, und daß fie vorzugsmeife die großen Dichter, Ge:
ſchichtſchreiber und Philoſophen der gebildeten Völker Tas.
Diefe Neigungen waren es vor Allem, welche zwiichen ihr
und Herrn Elie bald eine innige Verbindung, ja eine vertraute
Gräfin Safari. 71
Freundſchaft berftellten. Da ich nicht eine Liebesgefchichte er:
zählen mwill, jo jage ich e3 nur in kurzen Worten, wie ich vom
eriten Augenblide an bemerkte, daß die Erſcheinung des Fräu-
leins auf unfern jungen Herrn einen tiefen Eindrud machte und
daß jein ganzes Weſen fich feit ihrer Ankunft verändert hatte.
Man muß nämlich willen, daß Herr Elie de Ehatelard, obwohl
bereit3 ſechsundzwanzig Jahre alt, der fchüchternite und unbe:
bolfenfte aller jungen Männer war. Das fam daher, daß fein
Vater in der Familie eine unumſchränkte Autorität ausübte, und
daß er, der Bibel folgend, wie ein Patriarch von jeiner Familie,
von feinem ganzen Haufe die unbedingtefte Unterwerfung ver:
langte. Seine Kinder durften fih nie den geringften Wider:
ſpruch, niemals eine eigene Meinung erlauben, und Herr v. Chate:
lard glaubte jolde Unterwerfung von ihnen um jo mehr ver:
langen zu dürfen, als die Fremden, feine Schüglinge, ihm die-
felbe beinahe im gleihen Maße zeigten, und Alles, was er that,
gut fanden. Elie, nachdem er eine foldhe gehorfame Kinpheit
verlebt, wurde einem ftrenggläubigen Prediger zur weiteren Er:
ziehung übergeben, ver ihn womöglich nod in ftrengerer Zucht
hielt, al3 fein Vater. Es darf bier nicht vergefjen werden, daß
Elie einen älteren Bruder hatte, der, dieſes Lebens müde, in
feinem zwanzigften Jahre aus dem väterlichen Haufe entflob, bei
ven Generalftaaten unter falihem Namen Kriegspienite nahm
und ſeitdem verſchollen war. Elie fuchte fih aus der Tyrannei,
die feine Jugend niederhielt, auf andere Weiſe zu retten, indem
er fich in die Bücher flüchtete, was ihm, ald man ihn in feinem
zwanzigiten Sabre auf die Univerfität von Heidelberg fchidte,
erleichtert wurde. Seit zwei Jahren lebte er wieder in Gefell:
ichaft feines Vaters, der Theologen und Glaubenshelven, die
ihn umgaben, fuhr aber deßhalb nicht weniger fort, die Bücher
als feine beften Freunde zu betrachten. Der Water hatte nicht zu
fürdten, daß auch Elie vor der langen Weile und der theolo:
giſchen Zucht des väterlihen Haufes entfliehen werde; Elie war
nicht jo geartet, daß man vergleichen von ihm erwarten konnte.
72 Novellen.
Er war in fein Schidjal ergeben, fürdtete die Berührung mit
der Welt, hatte das Bemußtjein feiner Unbeholfenheit und war
felbft mit einem fremden Kinde ſchüchtern. Dieſe Schüchternheit
verließ ihn auch der Gräfin Saſſari gegenüber nicht, aber ſei es
das Mitleid, das er mit ihrer Einfamleit fühlte, fei e3 die Kraft
der Liebe, die den Furchtſamſten zum Helden madt, es ift gewiß,
daß er fich diefem Fräulein gegenüber fo benahm, wie er ji
nod nie einer Dame gegenüber benommen batte. Anfangs frei:
lich begnügte er fih damit, ihr, wenn ich Bücher bei ihm holte,
dieß und jenes über den Autor jagen zu lafjen, oder hier und
da eine Etelle anzuftreichen, oder ji einen Rath in Bezug auf
ihre Lektüre zu gejtatten. Wenn ich ihm dann ihren Dank be
ftellte, oder gar eine Frage im Namen des Fräulein an ihn zu
richten hatte, war er big zur Verwirrung glücklich, und von Zeit
zu Zeit fonnte er nicht umhin, feine Bewunderung des Fräu—
leins gegen mich auszusprechen. „ft es nicht erftaunlich, mas
fie Alles liest und verfteht! — Mein lieber Baud, was jagen
Sie nur zu einer folhen jungen Dame! — Iſt Ihnen ſchon etwas
derart vorgefommen! — Ein fo junges und fo ſchönes Mädchen
und dabei jo unterrichtet! — So viel Sinn für das Ernte und
Schöne!” Derart waren die Ausrufe, die ich oft zu hören be
fam, und an diefe fnüpften fih manchmal Erkundigungen, was
das Fräulein made u. f. w. Bald aber hatte er den Muth,
immer an die Bücher anfnüpfend, fi dem Fräulein im Parke
anzufchließen und endlich mit ihr lange Spaziergänge am See
und in den Bergen zu unternehmen. Im Grunde war der arme
Herr Elie in Mont:Tabor ebenfo einfam, wie Fräulein Maria,
und es war fein Wunder, daß fih Beide innig an einander
ſchloſſen.
Während dieſer Zeit aber beſchäftigten ſich die anderen
Herren in Mont-Tabor, wenn auch auf andere Weiſe, doch nicht
mit geringerem Eifer mit Fräulein Maria. Wenn ihre Anwe—
ſenheit den Kamiſarden ein Gräuel war, ſo war ſie den gelehrten
Theologen des Hauſes ein Vorwurf, eine Beſchämung. Ihr
Gräfin Saffari. v3
Vater hatte dieje aufgefordert, die Belehrung der Tochter zu
Stande zu bringen, und er zweifelte nicht, daß ihnen gelingen
werde, moran er in Italien vergebens gearbeitet hatte. In
Stalien war fie von ihren katholiſchen Jugenderinnerungen um»
geben, bier von diejen getrennt und jogar, auf den Wunſch des
Vaters, am Gottesdienjte theilnehmend, mußte fie dem beredten
Munde berühmter Prediger und Theologen leichter weichen und
ihren Starrfinn aufgeben. Dieß war bei ihrer Ankunft die Hoff:
nung Aller, und Alle wurden verftimmt, als fie diefe Hoffnung
getäufcht ſahen. Fräulein Maria ertlärte mit Beharrlichkeit, daß
gewifje Säge der calviniihen Lehre, z. B. der Sag von der Ver:
worfenbeit und Rettungslofigfeit des größten Theiles des Men:
jchengeihleht3, der Sag von der Gnade, ihrem ganzen Gefühle
widerſpreche, ja fie abjtoße, mit Widerwillen erfülle, und daß fie
nur eine Züge ausfpräde, wenn fie ſich zu diefer Lehre bekennen
würde. Der Eifer, wie der Stolz ver Theologen, wurden durd
dieje Widerfpänftigfeit eines jungen Mädchens herausgefordert
und beleidigt, und unbeſchäftigte Flüchtlinge, wie fie meifteng
waren, wurde die Belehrung des Fräuleins bald die Hauptjache
und der Gegenftand, um den jich Alles drehte. Man hielt Kon:
ferenzen, um die Verfahrungsweiſe in diejer wichtigen Sache felt-
zuftellen, man veranjtaltete Kolloquien, denen Maria beimohnen
mußte, und in denen ein Theologe die Sache der katholiſchen
Kirche vertheidigte, ein anderer fie angriff; jämmtliche Predigten,
die nun in Mont: Tabor gehalten wurden, waren jo abgefaßt,
das Maria erkennen konnte, wie fie nur auf fie abzielten. Die
Stunden, in welchen Herr Beſſon ihr die reformirte Lehre bei:
bringen follte, wurden bedeutend vermehrt, und Maria mußte
mehr als die Hälfte des Tages theologiihe Augeinanderfegungen
anhören und außerdem versprechen, die Bücher zu lefen, die ihr
Herr Befjon brachte, und die fie nicht im Geringiten intereflirten.
Herr Beſſon fand bald, daß die unabhängige Lektüre des Fräu—
leins fie nur zerjtreue, daß die mweltlihen Dichter, Geſchicht—
fchreiber und Philoſophen mit eine Urſache ihrer BVerjtodtheit
74 Novellen
feien, und ihr Vater nahm ihr alle Bücher, die Herr Beſſon
entfernt willen wollte. Das Leben de3 armen Fräuleins wurde
immer befchränfter, immer ärmer und unfreier, Zum Glüde ſah
Herr Befjon in dem Umgange mit Elie ein gutes Mittel der Be:
fehrung. Mit Vergnügen bemerkte er, daß die beiden jungen
Leute einander gern auffuchten, und er meinte, man dürfe es
nicht verſchmähen, wenn ein verirrtes Schaf dur die irbifche
Liebe auf die Pfade der himmliſchen geleitet werden kann. Dan
legte dem Umgange der beiden jungen Herzen nicht3 in den Weg,
und Fräulein Maria fand im Geſpräch mit Elie, was man ihr
durh Entziehung der Bücher geraubt hatte, da diefer die Ver:
baltungsregeln, die ihm Herr Beſſon gegeben, wohl mit Lächeln
binnahm, aber fie wenig befolgte. Nach Herrn Befjons Meinung
jollte Herr Elie nur fein Sprachrohr werden und follten die
Lehren Calvins im Munde eines jehsundzmwanzigjährigen jungen
Mannes die Wirkung haben, die fie bis jegt, aus dem Munde
eines alten Prediger kommend, verfehlten. Herr Bellon ver:
ſprach fi viel von diefer frommen Lift, und zufrieden folgte
fein Blid dem Paare, wenn e3 fih auf feinen Spaziergängen
im Barte oder in dem Gebirge verlor. Maria aber erfuhr auf
diefen Spaziergängen, daß der religiöfe Gewohnbeitseifer jeiner
Umgebung ihrem Freunde ebenfo unerquidlich war, wie ihr die
Studien, zu denen man fiezwang, daß er diefen Fanatismus ebenfo
verwarf, wie jeden anderen, und daß er fich von früher Jugend
an, beſonders aber feitvem ihm vie Wiffenfchaft weitere Blide
eröffnete, in diefer Welt ebenfo fremd fühlte wie fie. Sie glaubte
ihm noch mehr Mitleid ſchuldig zu fein, als er ihr bezeigte. Was
fie feit Wochen litt, litt er es nicht fchon feit Jahren? Seit er
denken gelernt? Doc ſchien er nur ihrer Leiden zu gedenken und
nur Troft für fie zu fuchen. Sollte fie ihm dafür nicht mit ebenjo
viel Liebe danken, als er ihr entgegen brachte?
Ich weiß e3 allerdings nicht, wie und warın die Beiden ein:
ander ihre Liebe geftanden, aber ich merkte bald, daß fich Beide
auf Innigſte verbunden, ganz und gar an einander gewieſen
Gräfin Saffari. 75
und einig fühlten. Herr Clie war bei aller Melandolie, bei
allem Kummer, den ihm die Lage Maria’ verurfachte, heiterer,
als er es je vorher geweſen. Früher in feiner Abgeſchloſſenheit
immer etwa3 abitoßend, ja reizbar, war er jegt fanft und freund:
lich gegen alle Welt. Und felbft die Gefellfhaft fuchte er jegt
gern auf, wenn Maria in diejer Gefellfchaft erfchien. In diefer
Beziehung war allerdings die Auswahl nicht groß. Man ver:
fammelte fih ein Mal in der Woche beim Bailly von Nyon,
einem Herrn von Wattenwyl aus dem Berner Geichlechte, deſſen
Frau ſich eines gewiſſen Rufes als geiftreihe und gebildete Dame
erfreute. lie wich fonft diefen Abendgefellfchaften gern aus;
jegt aber, da man aud die Gräfin Saſſari geladen, begleitete er
fie mit Vergnügen dahin, um fid an den Triumphen zu erfreuen,
die fie mit ihrer Schönheit, ihrem Geifte, ihrem reichen Willen
über alle viefe Damen davontrug, welche zwar ihrem Range ſich
gern beugten, aber doch nicht umhin fonnten, der in einem ver:
finfterten Glauben verftodten Katholikin eine verlegende Ber:
wunderung zu zeigen.
Aber die Liebe Elie's, die mir, der ich Alles ruhig beob-
achten fonnte, längft fein Geheimniß war, follte bald auf eine
auffallende, ja lärmende Weife aller Welt fund werden. Giorgio,
der. italienifche Diener des Grafen Saflari, der nur aus An:
hänglichkeit an Maria in Nyon geblieben war und dajelbit aus:
harrte, troß des Abſcheus, der ihm von den Kamifarden gezeigt
wurde, fehrte im Auftrage feines Herrn wieder nah Stalien
zurüd, um allerlei Habjeligfeiten, die man in Turin hatte zurüd:
laffen müffen, berbeizufchaffen. Er bejorgte Alles, was ihm der
Graf aufgetragen, und er that mehr ald das, indem er Alles
einpadte, wovon er glaubte, daß es der Gräfin Maria angenehm
fein würde und was ihr die verlorene Heimat auf das Leb:
baftefte vergegenmwärtigen fönnte. In der That war Comtefle
Maria glüdlih, als er gleih am Tage feiner Ankunft mehrere
Kiften in ihre Wohnung ſchaffen ließ und fie beim Auspaden die
ganze Einrichtung ihrer Turiner Stube erfannte. Sie meinte
—
6 Novellen.
vor Freude und küßte manches Möbel und mandes Bild in der
Rührung des Wiederſehens. Unter den mitgebradhten Gegens
jtänden befanden fich auch manche alte Originalbilder und manche
Kopien nad) den Werfen alter Meijter. Giorgio ftellte und hängte
Alles fo auf, daß es fo weit ald möglih an die Turiner Stube
Maria’3 erinnerte, und in der That war es ihr von diefem
Augenblide an, wenigjtens für einige Zeit, als ob fie einen Theil
de3 verlorenen Glüdes und der verlorenen Heimat wieder ge:
wonnen hätte, Ihre Wohnung, die ihr bis jegt als ein Gefängnik
erjhien, wurde ihr lieb, und durch viele Tage fonnte fie ſich
faum bezwingen, fie zu verlaffen. So ſaß fie eines Nachmittags
träumend, in fich verfunfen, das Herz von Heimmeh erfüllt, als
fie mit Einem Male durch einen Schrei des Zornes gewedt wurde.
Gie jah fih um und hinter ihr, auf der breiten Terrafje, von
der au8 man in ihr Zimmer fehen fonnte, hart am Fenſter,
ſtand Iſabeau, jene Prophetin der Kamifarden, blidte ihr mit
Hammenden Augen entgegen und ftredte die Hand im höchſten
Borne gegen eine Madonna von Andrea del Sarto aus. Iſabeau,
jeit fie von der Verftodtheit Maria's erfahren, pflegte ihr, ob:
wohl immer fchweigend, aber lauernd und beobadtend nachzu—⸗
ihleihen, al3 ob fie von der Bapiftin irgend welchen Gräuel
erwartete, den fie abwenden wollte. Maria war ſchon daran
gewöhnt, ſich von ihr umfchlihen zu fehen, und welches Grauen
e3 ihr auch einflößte, fich immer von Iſabeau, die fie für wahn:
finnig bielt, gefolgt und beobachtet zu wiſſen, fo hatte fie fi)
body vorgenommen, fie nicht zu beachten, fie gewähren und fi
jelbft nicht von ihr erfchreden zu laffen. Trotzdem fuhr fie jegt
entfegt auf, als fie die Prophetin in diefer Stellung, mit dieſem
Ausdrud hinter ſich erblidte. Sie hätte fliehen mögen, wenn
nicht ihr Charakter fo geartet geweſen wäre, daß zugleich mit
der Furt und dem Schreden in ihr der Muth und die Luft an
der ruhigen Beobachtung erwachte. Wie entjeglih, wie drohend
auch Iſabeau blidte, Maria betrachtete fie nach dem eriten Mo:
mente der Ueberrafhung doch wie ein belehrendes Schaufpiel,
Gräfin Saffari. 77
und der Gedanke, wie ver Fanatismus bis zur mwahnfinnigen
Muth in jeder Religion gedeihen kann, flog durch ihren Kopf.
Aber fo ftark war fie nicht, um auch während des Schaufpieles,
das folgte, ihre ruhigen Betrachtungen fortjegen zu können.
Iſabeau, die fie nie fprechen gehört hatte, entleerte mit Cinem
Male und mit einer furchtbar fchrill tönenden Stimme eine
Molke von Flüchen über das Haupt der Gößendienerin, und ehe
Maria ſich deſſen verfah, hatte die Prophetin das Fenfterfreuz
eingedrüdt und ftand im Fenfter felbft, aber fo, daß fie Marien
ven Rüden und dem Hofe das Geficht zufehrte. Ganz außer fich,
riß fie die Feten ihrer Kleivung vom Leibe, warf fie in die Luft und
fhrie, daß man herbeikomme und die Gräuel entferne, die das
Haus verunreinigen. Es war jhon Winter, und die Ramifarden
waren zum größten Theile in den anjtoßenden Gebäuden ver:
fammelt. Auf den Ruf ihrer Prophetin ftürzten fie in Schaaren
berbei. Diefe Stimme, die fie lange nicht gehört hatten, vie fie
in den Zeiten des Kampfes und der blutigen Verfolgung zu hören
gewohnt waren, mwedte in ihnen alle dieſe Gefühle, mit denen
fie fich jonft den Henfern des Königs voll Todesmuth entgegen:
ftürzten. Da fie diefe Stimme wieder hörten, prüften fie nicht
länger, wurden fie von demſelben Raufche der Begeifterung, de3
Glaubenskampfes ergriffen, und folgten fie ihr, als hörten fie
die Stimme Gotted. „Herbei! Herbei!“ rief Jfabeau, „herbei
ihr Kinder Iſraels, Jeſabel hat ihre Gräuel aufgeftellt, ihre
Götzen prangen! Die Zelte Jeſchuruns find entweiht und Altäre
Baals rauhen auf Karmel! Herbeil Vernichtet die Hure Ba-
bylons, zerfcehmettert ihre Bilvfäulen, reißet ihre Haine nieder,
jo fpriht der Herr, der Herr Zebaoth!” — Die Kinder der Wüſte
begriffen fchnell, was die Prophetin meinte, da fie auf Maria
deutete und fie, ihrem zeigenden Finger folgend, im Innern der
Stube mehrere Heiligenbilvder erfannten. Diejer Anblid erfüllte
fie mit demjelben Abjcheu, mit demfelben Ingrimm, wie die
Prophetin, und ihr folgend, ftürmten fie, Berwünfchungen gegen
den Götendienft ausftoßend, durch das Fenfter in das Zimmer.
8 Novellen,
Maria ftand zitternd da, ſah ihre geliebten Bilder, darunter
manches herrliche Meifterftüd, beproht und wußte nicht, was zu
beginnen, Mit ausgejtredten Armen jtellte fie ſich vor eines der:
jelben, einen Domenidhino, der ihr al3 Erbſchaft ihrer Mutter
bejonders theuer war, entfchloflen, wenigſtens dieſes vor ben
Bilderftürmern zu retten. Aber gerade dieſe Stellung zog die
Auimerkjamkfeit der Stürmer auf das Bild, das fie bejhügen
wollte, und da fie fie zurüdvrängte, deutete Iſabeau befehlend
dahin, und mehrere Kamijarden erfaßten fie zugleib an den
Armen, um fie fortzuziehen und den Meg zu dem Bilde zu
öffnen. In dem Augenblid flog die Thüre auf und Elie jtürzte
herbei. „Fanatiſches Gefindel!” rief er mit blafjen Lippen, ſchlug
mit der Fauſt einen der Männer nieder, die ih an Maria ver:
griffen hatten und faßte dann die Prophetin, als fie eben zum
Kampfe gegen ihn auffordern wollte, am Arme und warf fie zur
Thüre hinaus. Dieß Alles war das Werk einer halben Sekunde.
Die Kinder der Wüſte waren überrajcht, den Sohn ihres Er:
nährer3 und Bejchügers fich gegenüber zu jehen ; mehr noch über:
raſcht waren fie, daß er fo leicht die Prophetin Gottes bemältigt
hatte, und ehe fie wieder zur Befinnung kamen, hatte er fie zum
Zimmer theil3 hinausgetrieben, theils hinausgeftoßen. Wie er,
waren auf den Lärm auch andere Bewohner des Hauſes und war
auch Herr v. Chatelard felbit herbeigeeilt, Die Herren jchüttelten
beventlich den Kopf zu den Titeln und Ausdrüden, mit denen
Elie die Kinder Gottes und der Wüfte zur Thüre binausftieß.
Herr Beſſon war entrüftet, daß er von fanatifchem Geſindel
ſprach, mehr als Alles empörte es die Herren, daß Giorgio, als
Bundesgenojje Elie'3, er, der unreine römijche Gögendiener, am
Kampfe den thätigften Antheil nahm und die Kinder Gottes mit
Fauftihlägen niederwarf. Indeſſen war man es im Allgemeinen
doch zufrieden, daß Fräulein Maria vor der Begeifterung der
Prophetin und ihres Anhanges geſchützt worden. Diefe, als fie
fich plöglih aus der Gefahr gerettet ſah, fiel Eraftlos zujammen.
Elie bob fie auf, und fie, unbefümmert darum, daß indeſſen ihr
Gräfin Safari. 79
Bater, Herr v. Chatelard, Herr Beilon und andere Herren in
das Zimmer getreten waren, jchlang ihre Arme um den Hals
ihres Retter3 und brach in Weinen aus; Elie ſah wohl, melde
Zeugen diefe Szene hatte, aber er ſchien feine bisherige Natur
gänzli geändert, feine Schüchternheit vollkommen abgelegt zu
haben ; noch vom Kampfe ganz erhigt und um einen Kopf größer
al3 ſonſt, drüdte er Maria ans Herz und verficherte fie mit
lauter Stimme, daß fie an ihm ftets einen Vertheidiger gegen
alle Angriffe des Fanatismus finden werde, Mir, der ich bei
Seite ſtand und Alles betrachten konnte, ſchien es, al3 ob Graf
Safjari, obwohl er die Augen niederjhlug, dieſe legte Szene
nit ungern gejehen. Herr Beſſon lächelte, Herr v. Chatelard
wandte ſich mit Geräufh und ging auf feine Stube zurüd. Clie
ſah ihm einen Augenblid lang nah, machte ſich dann aus den
Armen Maria’3 los und folgte mit entjchlofjenen Schritten
jeinem Vater. |
Herr v. Chatelard, als er feinen Sohn mit jo entſchiedenem
Schritte bei fich eintreten fah und überhaupt bemerkte, daß diejer
ihm muthiger und entichlofjener, als er es an ihm gewohnt war,
entgegenblidte, empfing ihn mit größerer Förmlichkeit, als er
fonft zu thun pflegte und zeigte auf einen Stuhl, Vater und
Sohn jegten fih. „Mein Herr Vater,” begann Elie, „was Sie
jegt gejehen, hat Sie gewiß nicht erft in ein Geheimniß einge:
weiht. Ich habe es jeit lange nicht verborgen, wie jehr ich ein
Fräulein achte und liebe, das jeder Achtung und Liebe fo jehr
würdig ift. Der rohe Einbruch dieſes Volkes, das Sie beſchützen,
in das Heiligthum einer jungfräulihen Wohnung führte zu einer
Szene, die es mir zur Pflicht macht, früher als ich gejonnen
war, mich öffentlich zu erklären. Mein Herr Vater, ich wünſche
mich mit Fräulein Saffari zu vermählen und bitte Sie um Ihre
Einwilligung und um Ihren Gegen.“
„Gräfin Maria Saflari,” ermwiderte der Vater, „ijt eine auge
gezeichnete junge Dame; eine Verbindung mit, vem edlen Grafen:
geſchlechte kann unferer Familie nur zur Ehre gereihen, aber,
80 Novellen.
mein Herr Sohn, Fräulein Maria Safjari ift Fatholifh, und
Niemand würde es begreifen und ih am Allerwenigften, wenn
fih ein Chatelard, der Sohn einer Familie, die zu allen Zeiten
in den erften Reihen der Vorkämpfer für die reine Lehre geftan-
den, fi mit einer römifch»Fatholifchen Dame verbände. Mein
Sohn, ih darf mit Ihnen aufrichtig ſprechen. Es ift nicht der
Adel und es ijt nicht der Beſitz, die eine Stellung machen; dieſe
danken wir immer irgend einer dee, irgend einer Partei, der
wir uns anfchließen. Ich wäre nichts, ich wäre ein einfacher
Herr von Chatelard mit fo und jo viel Renten, ein Junker, wie
es ihrer hier im Waabdtlande, in Ger, in Savoyen und überall
fo viele gibt, die nicht3 haben, al3 ihren unbedeutenden Namen,
der nicht den geringjten Werth hätte, wenn fie fih nicht unter
einander einige Ehrerbietung erzeigten und eine Komödie fort:
fegten, die Jedem, der außerhalb fteht, lächerlich erfcheinen muß;
— ich jage, ich wäre wie einer von denen, wenn ich nicht mein
Leben lang Opfer gebracht, mich felbft zu einem Mittelpunfte
einer großen Partei, mein Haus zum Sammelplage der Märtyrer
dieſer Partei gemacht und fo der Schale meines Namens einen
Anhalt gegeben hätte. Mein Name ift bekannt, auf mich fieht
man, nicht nur in den Alpen, fondern auch in Deutjchland, in
Holland, in Schottland, überall, mo Calvins Lehre Anhänger
bat. Nach den Verfolgungen in Frankreich wandten fi) die meiſten
Häupter der Hugenotten fofort an mid, und da ein italienifcher
Graf Verfolgungen zu fürdten hat, wird ihm mein Haus jofort
als Afyl bezeichnet. Dieß, mein Sohn, ift ein Ruhm, den ich
mit Ausdauer und mit großen Opfern erworben habe, und ber
mir theurer ijt als mein Name. Diefer Ruhm wäre zum großen
Theile dahin, dürfte mit Recht angezweifelt werden, die Früchte
lebenglanger Arbeit wären verloren in dem Augenblide, da ein
Chatelard, mein Sohn, eine Ratholikin heirathete. Erfahren Sie
e3, Herr von Chatelard, daß ich nicht fanatifch bin, daß ich mic
mit meinem Nachdenken und meinen Zweifeln an mande Lehre
unferer Religion wage, daß ich Vieles verachte, was in meiner
Gräfin Saffari. 81
eigenen Partei vorkommt, gejchieht, gewollt und geſprochen wird;
ih weiß auch, daß ein Protejtant mit einer Katholitin von ver
Bildung der Gräfin Maria Safjari jehr wohl in Harmonie und
in Glüd leben kann, aber ich weiß ferner, daß ein Mann, ver
eine einflußreiche Stellung in der Welt einnehmen will, feinem
Namen, feinem Ruhme perjönlihe Anfichten, wie perfünliche Ge:
fühle, jelbit Glüd und Liebe aufopfern muß. Ich verlange das
von Shnen, wenn Fräulein Maria nicht zu unferm Glauben
übertritt; ich gebe Ihnen meinen Segen an dem Tage, an dem
fie jich zu diefem Schritte bereit erklärt.”
„Maria,“ antwortete Elie, „it ebenfo unfähig, ein Wort
gegen ihre Weberzeugung auszuſprechen, als Sie, mein Herr
Vater, fih für unfähig erklären, einen Theil der Früchte Ihrer
Bemühungen aufzugeben.“
Herr von Chatelard erhob ſich und antwortete auf dieje Er:
klärung mit der Frage: „Können Sie ſich einen Chatelard mit
einer Katholikin verheirathet denken ?“ Ä
„Ja,“ antwortete Elie kurz, indem er fich ebenfalls erhob.
„Sch nimmermehr !“ rief Herr von Chatelard, „und nun,” fügte
er hinzu, „da ich Ihnen meine Meinung jo rüdhaltslos gejagt,
daß Sie fie für unumftößlich halten müflen, will ih Sie noch
bitten, künftig, und mas immer vorlommen möge, ſich folder
Ausprüde wie „janatifhes Gefinvdel” zu enthalten. Es jteht
den Führern ſchlecht, ihre Schaar nicht zu achten, und fie wären
nicht3 ohne den Fanatismus diejer Schaar.”
Elie verneigte fich kurz und mit einem Ausdrucke, der fagen
wollte: Dieß ift Ihre Meinung, nicht die meinige; ich will nicht
diskutiren, aber ich werde handeln, wie ich e3 für gut halte. Der
Vater mochte wenigitens diefe Rede auf dem Gejichte jeines
Sohnes gelejen haben, denn er ging ihm noch einige Schritte
nad und fagte mit warnender Stimme: „Erinnern Sie jih, daß
ih ohne Bedauern bereit3 einen Sohn aufgegeben habe, weil
diejer die Traditionen der Familie aufzugeben drohte.“
Elie erwiderte nichts und ging.
Morig Hartmann, Werke. VI. 6
82 Novellen,
Zur felben Zeit.fand in der Stube der Gräfin Maria zwifchen
Pater und Tochter ein Geſpräch ftatt, welches mit dem fo eben
mitgetheilten einige Nehnlichkeit hatte Graf Safjari war bei
feiner Tochter zurüdigeblieben, ala ſich Elie und die Anderen
zurüdgezogen hatten. Er fegte fich zu ihr aufs Sopha, ergriff
ihre Hand und jagte, nachdem er vie Wildheit der Kamijarden
mit ihrer tiefen Ueberzeugung zu entjchuldigen und feine Tochter
über den Vorgang zu beruhigen gejuht: „Maria, ic habe did)
mit vielen anderen Zeugen fo eben in den Armen eines jungen
Mannes gejehen und habe Worte gehört, die zmifchen euch Beiden
ein feſtes Einverftändniß errathen laſſen. Fürchte keine Vorwürfe.
Ich kenne did. Ich würde dich mit Glüd als die Gattin des
jungen Chatelard jehen, aber ich habe die feſte Ueberzeugung,
daß fich diefe Hoffnung nicht verwirklicht, fo lange du in deiner
Meigerung, zu uns überzutreten, beharrſt.“
Maria jchmwieg.
Der Graf, nachdem er eine Zeitlang vergebens auf Antwort
gewartet, fuhr fort: „Willft du mir auch nicht die geringite Hoff:
nung geben ?*
„Mein Vater,” antwortete Maria, „ſchon ſchäme ich mid,
daſſelbe Wort zu wiederholen, das ich nun hundert Male wieder:
holt habe. Ich komme mir fehon wie eine Schaufpielerin vor,
die diefelbe Rolle unzählige Male recitiren muß. Zwingen Sie
mic nit fo aufzutreten, daß ich mir jelber wie eine Tugend:
heldin erjcheinen muß; laſſen Sie mich nicht immer wieder die
Verfiherung geben, daß ich nicht lügen kann.“
Sie fprang auf, nahm ein Buch vom Tiſche und las: „Gott
machte vor der Erfhaffung der Welt das Geſetz der Jahrhunderte
in Chrifto Jeſu, unferem Herrn. Er madte dieſes Geſetz aus
dem reinen Vergnügen jeines Willens, ohne irgend eine Voraus:
fiht des Verdienftes der Werke oder des Glaubens. Er wählte
zur Verherrlichung feiner Gnade eine feite und beftimmte Anzahl
Menſchen aus, die zwar das Unglüd haben follten, mit dem
Refte der Menſchen aus verdorbenem Blute geboren und aus
Gräfin Saffari. 83
unreiner Subjtanz gebildet zu werden und dadurch Sklaven der
Sünde jein würden; aber er bejchloß, fie zum Heile zu führen
durch den einzigen Mittler Jefum Chriſtum. Er beſchloß fie zu
ih zu rufen, fie wiedergeboren werden zu lajjen und ihnen den
Glauben und die Reue zu verleihen in Anbetracht der Verdienſte
Jeſu Chrifti und durch die allmächtigen Tugenden des heiligen
Geiftes, des Urhebers der Wiedergeburt. Er bejchloß den Men:
ſchen zuerjt unſchuldig zu erjchaffen, dann feinen Fall zu geftatten
und endlid mit.einigen wenigen der jündigen Menden
Mitleid zu haben und fie eben deßhalb auszuerwählen, die anderen
aber in der Verderbtheit zu laffen und fie endlich ewiger Ver:
dammniß preiszugeben.“
Maria warf das Buch mit Entrüſtung von ſich. „Dieſer
Gott,“ rief ſie, „iſt ſchlimmer als der Baal, von dem hier ſo
viel geſprochen wird. Dieſer Gott, der zu ſeinem Vergnügen
ſchafft, auserwählt und ungeheure Mengen Unſchuldiger verdammt;
zu einem ſolchen Gotte, mein Vater, werde ich mich nie bekennen,
und lieber bin ich mit der ungeheuren Menge der unſchuldig Ver—
worfenen verdammt, als mit den wenigen Auserwählten be—
gnadet.“
„Aber, * Kind,“ ſtammelte Graf Saſſari, „der heilige
Auguſtin —“
„Sagt — “Fiel ihm Maria ins Wort, — „er gilt mir
auch jo viel wie Calvin.“
„Maria,“ nahm der Graf ruhiger das Won, „es iſt nicht
meine Sache, dich über die Myſterien zu belehren, du haſt deine
Lehrer. Ich habe dir nur als Vater und als erfahrener Mann
zu ſprechen, und dir einige Erwägungen vorzulegen. Du weißt,
mein Kind, daß wir fein Vermögen haben. Meine Armuth trieb
mid aus Modena in piemontefifche Dienfte. Meine Stelle reichte
bin, ung mit Anftand und beinahe unjerm Range gemäß leben
zu lafien. Nun find wir in die Welt hinausgeftoßen und wir
leben von der Gnade und Milde meiner Glaubensbrüder. Wenn
ich fterbe, mag wird aus dir? Ya, was wird ſelbſt aus mir bei
84 Novellen.
längerem Leben, wenn du in deiner Weigerung bebarrft? Glaube
mir, man wird die Verjtodtheit ver Tochter dem Vater nicht ver:
zeihen. Bedenke meine fhiefe Stellung in diefer mir neuen Welt,
bevenfe, wie wenige Mädchen fo glüdlic find, in vem Manne
ihrer Liebe zugleich einen Mann zu finden, der alle Glüdsgüter
mit jeiner Liebe bietet. Herr von Chatelard, der Adelige kleinen
Namens, wird feinen Sohn gern mit der Gräfin Saflari ver:
binden und.der Gräfin und Neubefehrten, ver gewonnenen Seele,
wird man alle Liebe, alle Ehrerbietung, alle Freude des Lebens
gern entgegenbringen.“
„Sie meinen aljo,” ſagte Maria mit einiger Bitterfeit, „daß
ih mich denn doc befehren ſoll, um eine gute Heirath zu
machen?“
„Mein Fräulein,“ rief der Graf Saſſari mit Strenge, „eine
Tochter hat ihrem Vater zu gehorchen; ein einfältiges junges
Mädchen hat kein Recht, ſo ſehr auf ihre Grundſätze zu pochen
und ihre ſogenannten Ueberzeugungen der Erkenntniß weiſer und
gelehrter Männer, dem Willen ihres Vaters, dem Wunſche ihrer
Wohlthäter entgegenzuſetzen. Mein Fräulein, dieſes Verfahren
iſt unweiblich und kann bei einem jungen Mädchen nicht ohne
einige Frechheit vorkommen. Hätte ich Sie ohne alles Wiſſen
aufwachſen laſſen, ſo hätten Sie jetzt weder Muth noch Waffen,
ſich mir zu widerſetzen, und Sie hätten ſich bekehrt, weil ich es
befohlen hätte. Sie haben die Herzloſigkeit, perſönliche Ueber—
zeugungen vorzuſchützen, wo Sie an nichts Anderes denken ſollten,
als wie Sie eine Ihrem Glücke und dem würdigen Auftreten
Ihres Vaters entſprechende Stellung einnehmen. Sie aber thun
Alles, um meine Stellung zu verderben und mir vielleicht ein
unglückliches und hülfloſes Alter zu bereiten. Man hat Sie bis
jetzt mit einer Rückſicht behandelt, deren Sie ſich unwürdig zeigen;
man wird von nun an auf eine Weiſe gegen Sie auftreten, wie
es Ihre Verſtocktheit gegen göttliche und menſchliche Geſetze ver:
dient.“
Trotz dieſer Drohung kam jetzt für Gräfin Maria eine etwas
Gräfin Safjari. 85
rubigere Zeit. Die Kamiſarden hielten fich jeit dem abgefchlagenen
Sturme von ihr fern und die Theologen waren etwas müde und
bofiten, daß die Verbindung mit Clie die Belehrung Maria’s
trog Allem zur Folge haben werde, da ſonſt an eine enbliche
Vermählung nicht zu denken war. Da trat, obwohl außer aller
Verbindung mit Mont: Tabor, ein Greigniß ein, welches den
Eifer der Bekehrungsſüchtigen aufs Neue anfahen und auf das
Leben der jungen Gräfin den größten Einfluß haben jollte. Eine
junge Genferin aus patrizifchem Gefchlechte, ein Fräulein Saraflin,
war, von einem Jeſuiten aus Garouge befehrt, zum Katholizis:
mus übergegangen. Sie war unendlich reich und trat mit allen
ihren Reihthümern in ein Klofter. Die Sahe machte um jo
größeres Aufjehen, als das Fräulein aus einer jtreng reformirten
Familie ftammte, al3 die Belehrung von dem Jeſuiten in jehr
kurzer Zeit zu Stande gebracht und als diefe nach den Verhält:
niffen der Gegend als ein großer Gieg der Katholifen betrachtet
wurde, Man hörte gewifjermaßen ven Jubel von Carouge ber:
über nach Genf ertönen. Die calviniſtiſche Geijtlichfeit war ges
demütbigt, beihämt, noch mehr waren es die theologijchen Ein:
wohner von Mont:Tabor, melde jeit Monaten vergebens an der
Bekehrung eines in ihrer Mitte lebenden, ihnen ganz überlajjenen
Mädchens arbeiteten, unterjtügt vom Water diefes Mädchens
und unterftügt dur alle Umſtände, während der Jeſuit troß
aller Hindernifje, aus der Entfernung mit wenigen Briefen und,
wie e3 hieß, nach nur zwei furzen Zufammenfünften, jein Ziel
erreichte. Ueberall in den reformirten wie fatholifhen Gegenden
tingsumber wußte man, daß in Mont:Tabor ein junges Mädchen
lebte, das man von allen Seiten beftürmte, und das trogdem
den ausdauernditen Widerftand leiftete. Man wußte in Mont:
Tabor, daß die Katholiken frohlodten und daß felbjt die Refor—
mirten über die Belehrer zu jpotten anfingen. Dem mußte ein
Ende gemadt werden und man mußte Genugthuung haben jenem
Jeſuiten gegenüber, man mußte den Berluft der Genfer Patriziers:
tochter durch die Eroberung einer italienifchen Gräfin decken. Es
86 Novellen.
fam eine ganz neue Thätigkeit in die Bewohner von Mont:Taber;
es wurden neue Konferenzen gehalten, deren ausſchließlicher
Gegenftand Maria war, und endlich beſchloß man, fie nad) Genf
zu bringen, da auch Herr Beſſon, der dort al3 Prediger angeftellt
wurde, in dieſe Stadt überſiedelte. Herr von Chatelard hatte
in Genf eine alte Freundin, eine Wittwe, Madame de Plante—
amour, die in der frommen Welt eine große Rolle jpielte, an
der Spitze mehrerer religiöfen Geſellſchaften ftand und die bereits,
wenn aud noch nicht eine Katholifin zum Calvinismus, doch
mehrere verlorene Frauenzimmer zu gottesfürdtigem Leben?
wandel befebrt hatte. Diefer Dame follte Gräfin Maria Saflari
anvertraut werden, während Herr Beljon feine Unterrichtäftunden
bei ihr fortfegte. Madame Planteamour erflärte fih gern bereit,
das gottgefällige Werk zu unternehmen und ſprach ihre Zuverficht
aus, daß es ihr damit ebenjo gelingen werde, wie e3 ihr mit
Gottes Hilfe jhon bei den verjtodteften Gemüthern gelungen jei.
Sie mwollte, wie fie verficherte, der jungen Gräfin eine Mutter
erjegen und nur auf ihr Wohl und Heil finnen. Auf dieje Ant:
wort wurde der definitive Entſchluß gefaßt und vom Grafen
Saflari feiner Tochter angelündigt.
„Mein Bater ‚“ fagte Maria, als ihr die Mittheilung gemacht
wurde, „Sie willen, daß das einzige Glüd meines jegigen Lebens
mein Umgang mit Elie ift, daß ich aus feiner Nähe viel des
Troftes jchöpfe, deſſen ich in meiner Lage bedarf. Sie berauben
mid um Biele3, indem Sie mich jegt in die Ferne jhiden, und
mir ahnt, daß ich feinem glüdlihen Leben entgegengehe. Aber
Sie find mein Pater; ich verjage Ihnen den Gehorfam nicht
meiter, als es unbedingt nothwendig ift. Mein innigjter Wunſch
ift e3, Ihre unterthänigfte Tochter zu bleiben und zwiſchen uns
ein Verhältniß aufrecht zu erhalten, das Ihnen wenigſtens ein
Theilhen Familienleben rettet, nahdem Sie Jhr Vaterland ver:
loren. ch weiß e3, daß Eie ſich in einer Beziehung beunrubigen,
Sie fürdten, daß ich in meiner Empörung gegen Sie weiter gehen
werde, daß ich, mwie ich es könnte, vielleicht die Hülfe meines
Gräfin Saffari. 87
Königs anrufe, — fürchten Sie nichts! ch werde nichts derart
thbun. Sie verfügen über mih nad Gutdünken, aber ich flehe
Sie an, mic nicht einer unnöthigen Sklaverei zu überliefern und
niemals zu vergefien, daß ih Ihre Tochter bin, wenn auch leider
durch Meberzeugungen von Ihnen getrennt.”
Graf Safari ermwiderte in kurzen Worten, daß Madame de
Planteamour als eine ausgezeichnete Frau befannt fei und daß
er ihr feine Tochter ohne die geringfte Bejorgniß anvertraue.
Clie, ald er von dem Plane hörte, ftürzte herbei und bot Marien
jede Hülfe an. „lieben wir,“ jagte er, „ich fühle Kraft genug,
Sie überall in der Welt zu bejhügen, für Sie zu forgen und
den unverjöhnlichen Zorn meines Vaters zu ertragen.”
„Noch fühle ich mich,” ermwiderte Maria, „zu einem jolchen
Schritte nicht berechtigt; noch ift e8 meine Pflicht, abzumarten,
ob mein Vater mit der Zeit in diefer Angelegenheit mit geringerem
Eifer handeln wird. Auch darf ih Madame de Planteamour,
die ich nicht kenne, nicht ala ein Uebel betradhten, das mir das
Recht zu einem Schritte gäbe, welcher mich vielleicht für immer
von meinem Vater trennt. Er ift allein, alt und in der fremde;
er kann noch in die Lage kommen, in der er meiner bedarf, und
ich muß jeder Kataftrophe ausweichen, die möglicherweife zwiſchen
ihm und mir eine ewig trennende Kluft eröffnet. Laſſen Sie mid
ziehen, lieber Freund. Madame de Planteamour ift eine Frau,
und wie ich hier trog allem Glaubengeifer bei allen diefen Herren
doch noch ritterliche Nüdjihten erfahre, jo werde ich bei ihr viels
leicht ein weibliche Herz finden, deſſen ih nad fo langem aus—
ſchließlichen Umgange mit Männern bedarf.”
Nachdem die Liebenden ſich beſprochen, wie fie einen Brief:
wechſel aufrecht erhalten möchten, trennten fie fih mit dem Ver:
fprehen, nicht von einander lafjen zu wollen, und am felben
Tage beitiegen Herr von Chatelard, Graf Saflari und feine
Tochter die Karrofle, um ſich nach Genf zu begeben. Die beiden
Herren famen am folgenden Tage wieder zurüd.
Bon dem Leben, das jegt für die Gräfin Maria Safari
88 Novellen.
begann, fann ih, Samuel Baud, nicht weiter ald Augenzeuge
erzäblen, aber es find Briefe vorhanden, welche fie während ihres
Aufenthaltes in Genf an ihren Geliebten ſchrieb, welche Giorgio
abholte und die er an Denjenigen abzugeben wußte, für den fie
beftimmt waren, obwohl fie die Adreſſe des Grafen Sajjari trugen.
Bon diefen an Herrn Elie de Chatelard gejchriebenen Briefen
tbeile ich bier einige ganz oder theilmeife mit.
Genf, den 16. Januar 1704.
ae Madame de Planteamour fieht ganz anders aus, als
ich mir fie vorgeitellt habe. Sie ift weder dürr, noch lang, jon:
dern im Gegentbeilziemlich Hein und von einer nicht unangenehmen
Fülle. Auch trägt fie fich nicht ſchwarz und übertrieben einfach,
wie ib mir eine Genfer Puritanerin vorgeftellt habe. Sie ift
ziemlich bunt und ich glaube nit, daß ihre Toilette in allen
Theilen den Lurusgefegen Calvins entſpricht. Ihre ſchon halb
ergrauten Haare trägt fie no immer & la Henriette in un:
zähligen Zoden und Lödhen. Was Küche und Tifch ihres Haufes
betrifft, jucht fie allerdingS wieder gut zu machen, was fie mit
ihrer Toilette gegen die Luxusgeſetze verbridt. Ich glaube, daß
fie drei oder vier Schüfleln auf dem Tiſche haben dürfte; wir
betommen aber, neben einer ſehr dünnen Waſſerſuppe, gewöhns
lich nur eine einzige zu fehen.... Bis jegt hat fie fih nur ſehr
wenig um mich befümmert, da fie überaus bejchäftigt ift, vielen
Wohlthätigkeitsgeſellſchaften angehört und einen jehr ausgedehnten
Briefwechlel unterhält. Sie läßt mich halbe Tage lang allein in
meiner Hinterftube, die auf einen engen und düfteren Hof geht
und von der aus ich nicht3 jehen kann, als eben diefen Hof, ein
feines Stüd Himmel und die Spige des einen Thurmes von
St. Pierre, welcher mir mit feinem Glodenfpiele jede Stunde
eine arg entjtellte Melodie eines Pjalmes von Goudimel vorfingt.
Damit ih mir in diefer Wohnung, in welcher eine Bibel, die
Palmen Clement Marots und einige Andachtsbücher meine,
einzige Gejelfchaft find, nicht wie eine Gefangene vorfomme
Gräfin Saffari. 89
hatte Madame de Blanteamour einige Tage nach meiner Ankunft
die Aufmerkſamkeit, mich zu einem Spaziergange einzuladen.
Sie führte mich dur die Straßen der Stadt und erzählte mir
bei diefer Gelegenheit die Gefchichte Genf3, und jo kamen wir
auch vors Thor, an eine gemille Stelle vor den Befeftigunger,
von der aus man die Ebene vom Plainpalais überjehen kann.
Hier nahm fie plöglich eine feierliche, ja beinahe drohende Miene
an, und mit auögeftredtem Finger auf den Boden deutend, jagte
fie: „Hier hat Calvin den Gottesleugner Michael Servet ver:
brennen lafjen.” Vielleicht erwartete fie von mir irgend eine Be:
merkung über diefe Schandthat und wollte fie daran irgend welche
Lehren antnüpfen — ich aber ſchwieg und nahm ihre Worte wie
eine einfache hiftorifche Mittheilung eines Führers bin. Dann
führte fie mich wieder durch die Straßen und erzählte mir an
verſchiedenen Punkten, dur verſchiedene Häufer daran erinnert,
von ungläubigen oder unfittliben Frauen, melde Calvin und
nad feinem Beifpiele auch die fpäteren Regierungen, im Hemde
mit der Kerze in der Hand, durd die Straßen führen lieben,
oder denen man andere derartige mehr oder weniger ſchimpfliche
Penitenzen auferlegt hatte. Was war der Zwed dieſer Mitthei-
lungen? Wollte fie mich erfchreden? Wollte fie mir jagen,‘ mit
welcher Strenge man in Genf verfahren fünne? Ich geitehe, daß
ih nad diefem Spaziergange etwas von der Sicherheit verlor,
die mir das Benehmen der Madame Planteamour in den erſten
Zagen eingeflößt hatte. Ich Fonnte mir nicht wegleugnen, daß
ihre Mittheilungen wie Drohungen klangen und daß an der Stelle,
wo Servet verbrannt wurde, aus ihren Worten und Bliden der
Yanatismus eines Dominikaner hervorbrad. Indeſſen bat fie
mich feitdem wieder mir felbft überlafjen und ich habe mich über
nichts zu beflagen, als über die Einfamfeit, über ven Mangel
einer mir zufagenden Beihäftigung, über meine dunkle Stube
und vor Allem, mein lieber Freund, über meine Trennung von
Ihnen. Indeſſen dient mir meine Einſamkeit dazu, mich auf das
Lebhafteſte zu erinnern, was Sie mir während meines Aufenthaltes
90 Novellen.
in Mont: Tabor waren, und es mich auf das Dankbarfte fühlen
zu laflen, was Sie mir find, ‘da ich ohne Sie in diefer Welt ganz
verödet wäre, ohne Halt, ohne Stütze, ohne Liebe. Wahrlich,
nad Allem, was ich in den legten Monaten erfahren, müßte ich
ohne Sie zu der jchredlichen Ueberzeugung gelangt fein, daß ich
Niemand mehr, daß ich überhaupt nicht mehr lieben könnte,
Denken Sie fih, daß Herr von Chatelard nicht einen Sohn be
jäße wie Sie, oder, daß Sie während meines Aufenthaltes in
Mont:Tabor abweiend gewefen und ih Sie nicht kennen gelernt
hätte, oder daß hr freier Geift den Einflüffen Ihrer Umgebung
erlegen und Sie geworben wären wie die Anderen. Wen hätte
ich jegt auf diefer weiten Welt? Wen könnte ich noch lieben?
Wem jonjt al3 Ihnen, mein theurer Freund, danfe ich die
Heiterkeit, die mir trog Allem bleibt? Ich glaube wohl, daß ich
in jedem Falle ven Muth bewahrt hätte, mich gegen eine Rüge
bis and Ende zu fträuben, aber dieſer Muth allein hätte mic
nicht aufrecht erhalten, wie mich jegt Ihre Liebe aufrecht erhält.
Mit allem Muthe hätte ih nicht das Bewußtſein eines Kämpfers
in der Schlacht gehabt, jondern nur die troftlofe Vereinfamung
und die Verzweiflung des einzelnen Wanderer, der in der Wüſte
von Thieren oder von Verſchmachtung überfallen wird. Soll ich
diefem Belenntniffe no einen Dank binzufügen? Oder irgend
melde andere Berjiherung ?....
Genf, den 30. Januar 1704.
ae Die Szene hat fi bedeutend verändert, Die Ge:
fohäftigkeit der Madame Planteamour in den erften Tagen hatte
nur den Zwed, die Hände frei zu machen, damit fie fi ganz
und gar mir widmen könne. Seit ungefähr acht Tagen verläßt
fie mich, die Schlafitunden ausgenommen, beinahe feinen Augen:
blid. Des Morgens werde ich durch ihre Magd gewedt und muß
mich augenblidlic erheben, dann mich jo ankleiden, wie e3 mir
die Magd nad den Vorfhriften der Madame PBlanteamour be—
fiehlt. Komme ich dann in die Wohnftube diefer Dame, werde
ich wieder zurüdgejchidt, um das oder jenes an meiner Toilette
Gräfin Saffari. 9]
zu ändern. Gie findet an mir jehr Vieles kokett und meltlich,
was fie ji in einem weit höheren Grade erlaubt. Ich darf
nicht den geringften Schmud tragen, während fie Finger, Arme
und Bruft bevedt hat; freilih mit Andenken von frommen
Männern oder Zeugniſſen von guten Werfen. Jeder Ring, jede
Bufennadel hat irgend eine fromme Gefhichte, ift das Monu:
ment einer Belehrung oder einer Stiftung. Des Morgenz frühe
verjammeln fih die Hausgenofjen zu frommen Gejängen, und
während gefungen wird, muß ich bei Geite ftehen und zuhören.
Dann nah dem Frübftüd liest mir Madame Planteamour einige
Kapitel aus der Bibel vor. Sie begann mit der Schöpfung,
und nad ihrem foftematifchen Fortjchreiten zu ſchließen, gedenft
fie mir fo daS ganze alte und neue Teftament vorzulefen. Nach
diefer Lektüre fommt eine andere an die Reihe: Kommentare der
Kapitel, die wir eben gelefen, und nach diefen Kommentaren
beginnt Madame Planteamour ein Geſpräch über das Gelefene,
und ih muß gegen meinen Willen Einwürfe erheben, um wider:
legt werden zu können. Da ich nicht die geringfte Luft zu diſpu—
tiren habe, fage ich das erfte Beite, was mir einfällt, und Ma—
dame Planteamour ift empört über die Albernheiten, die ich den
ewigen Wahrheiten entgegenfete. Sie ift erftaunt, daß man
mich ihr als eine Perſon von einigem Geiſte geſchildert, und
bat bereitö begonnen, mich als ein dummes Mädchen zu bes
handeln. Manchmal, wenn fie in diefer Beziehung zweifelhaft
wird, fchreibt fie mein Widerjtreben nur dem böjeften Willen,
der Verftodibeit gemeinfter Art zu, und in diefem Sinne gibt
fie Herrn Beffon Anweifungen zu meiner Behandlung. Ich
werde alfo, dieß ift meine Zukunft, entweder als ein böjes oder
al ein dummes Mädchen behandelt werden. Herr Beflon, der
gegen Mittag fommt, unmittelbar nachdem die Diskuflionen mit
Madame Blanteamour geſchloſſen find, ſcheint in der That dieſes
Spftem bereit3 angenommen zu haben. Wie ganz anders tritt
er bier gegen mich auf, al3 in Mont: Tabor; fo falbungsvoll,
milde und einfchmeichelnd, al3 er dort gewefen, fo heftig, un:
92 Novellen.
geduldig ift er hier. Madame Planteamour macht mir die heftig:
ften Vorwürfe darüber, daß ich einen folhen Mann fo fränfen
fönne, und oft unterbricht fie ihn während feiner -Zeftionen, um
mir eine Predigt zu halten, und er läßt fich gerne unterbrechen.
Mein lieber Freund, ich habe bier nicht3 zu thun, als Eine
Tugend zu üben, die Geduld, und ich glaube, ich habe es
darin ſchon weit gebradt. Wenn einft in glüdlicheren Zeiten
unferer Beider Wünfche gekrönt werden, dann, mein lieber
Freund, beflommen Sie eine gebuldige Frau, wie fie fih der
größte Haustyrann nur wünfchen fann. Ach, ich fcherze! aber
ih fann ed nur, wenn ic an Sie ſchreibe, an Sie denke. Dann
fommt mir ein Schatten jener Heiterkeit zurüd, mit der eine
gütige Natur mein Weſen ausftattete und die, ich gebe die Hoff:
nung nicht auf, einit ebenjo fräftig und heil mein inneres er:
füllen wird, wie damals, als ich noch im Thale von Aoſta lebte
und nicht wußte, daß es in der Welt Kummer und Sorgen gibt,
daß der Tod die Mutter, der Glaube den Vater vom Kinde
trennen könne. Leben Sie wohl!
Genf, den 10. Februar 1704.
— Seien Sie gut gegen Giorgio, erzeigen Sie ihm
Wohlthaten, wo Sie können. Der treue Diener entwickelt aus
purer Treue und in ſeinem Eifer, mir zu dienen, das Talent
und die Liſt eines ächten Komödienbedienten. Die Bücher, die
Sie mir ſchicken, weiß er mir auf das Klügſte zuzuſtecken oder
fie, ſelbſt vor vielen Zeugen, irgend wie in ber Stube unter:
zubringen, wo id) fie dann, wenn ich allein bin, auffinde. Auch
läuft er die halbe Naht durch, um-früh genug bei mir einzu:
treffen und mid ſprechen zu können, bevor Mavame Blante-
amour erwacht ift. Und wäre das Alles nicht, ich liebte ihn ſchon
al3 meinen Landsmann und als Einen, der mich in einer beſſe—
ren Zeit kannte. Wie verderben und doch die Verhältniffe? In
meiner Jugend war ich über die Komödien empört, in denen
Eltern und VBormünder von Kindern und Mündeln, meiſt mit
Gräfin Saffari. 93
Hülfe von Dienern, betrogen werben. Ich fand das höchſt un:
moralifh, und wie jehr ich die Liebe liebte, jo konnte fie mir
doch nit als Entjhuldigung diejer Lügen und Betrügereien
dienen. So puritanifch war ich und fo unpuritanifch maden
mich die Buritaner, daß ich jept felber die Mittel anwende, bie
mich einft mit Entrüftung erfüllten, daß ich eine geheime Korre:
fpondenz habe, mic eines Bedienten dazu bediene, meinen
Bater betrüge und Diejenige, die er zu meiner VBormünderin
gemacht. Aber glauben Sie nicht, daß ich mir darüber Ge:
wiſſensſtrupel made; auch halte ih mich nicht für jo jchlecht,
als mih Madame PBlanteamour glauben machen will. Madame
Planteamour bat nämlich entvedt, daß meine Verftodtheit in
ven niedrigften Anlagen und Neigungen begründet fei, daß mich.
nur die Liebe zum Lafter im Schooße der katholifchen Kirche zu:
rüdhalte. Nur weil man mit Hülfe der Beichte und ver Ab:
jolution alle möglihen Schandthaten begehen könne, ohne der
ewigen Verdammniß zu verfallen, nur deßhalb halte ih an der
Religion der Beichtftühle feft. Ich fage Ihnen das auf die ver:
blümtefte Weife; Madame Planteamour vrüdte fih und zwar
in Gegenwart Herrn Beſſons etwas ftärfer aus und zählte mir
alle die Laſter auf, alle meine niedrigen Neigungen, welche mic
zu einer treuen Katholikin machten. Ich mar erftaunt über vie
Phantafie einer jo frommen Frau, ich war noch mehr erftaunt,
über die Verwirrung der Begriffe, welche Beichränftheit, Vor—
urtheil und Haß hervorbringen fünnen. Werden Sie e3 glauben?
Die größten und erhabenjten Meifter ver Kunft mußten die Be-
mweije liefern, daß die fatholifche Religion nichts anderes fei, als
ver Kultus der Sinnenluft. Die Freude am Schönen, die ſich
in den Kunſtwerken der italienifhen Meifter ausprüdt, ift eine
Freude am Irdiſchen, alfo am Sinnlihen, aljo am Niedrigen,
alfo am Lafter. Die Kirche ließ ſich durch diefe Künfte verherr⸗
lihen, aljo iſt fie eine Befchügerin des Lafterd, und alle Die:
jenigen, die fi) von diefer Kirche nicht losſagen wollten, bes
meijen nur ihre Anhänglichleit am Lafter, an der Sinnlichkeit,
94 Novellen.
an der Vermorfenheit. Sie werben begreifen, daß ich ſolchen
Argumenten gegenüber zu ftolz bin, meine geringe Katholizität
hervorzuheben, ja daß ich mich berausgefordert fühle, mid
gegen ſolche Anfichten aufzulehnen und mir felber einzureden,
daß ich katholifcher bin, als e3 in der That der Fall ift. Ich
bin alfo in den Augen der Madame Blanteamour und jegt auch
jhon in den Augen des Herrn Beilon, der ihr in Allem bei:
pflichtet, nicht mehr eine bloße Verblenvete oder Verftodte, die
man zum Lichte befehren will, nein, ich bin einfach eine Ver:
worfene, in der alle Uebel bereit3 entwidelt oder wenigſtens im
Keime vorhanden find. Madame Planteamour verwirft alle
Moral und alle Tugend außerhalb des Glaubens, obwohl fie
zugeben muß, daß e3 unter Heiden und jelbjt Katholiten mora=
liiche Menfhen gegeben. Trotzdem kommt fie zu dem Schluffe,
daß man außerhalb ihrer Lehre auch nicht tugenphaft fein könne.
Mit einem Worte, lieber Freund, und um e3 fo zart al3 möglich
zu fagen: Ich bin, weil ich feine Calvinijtin bin, eine Magdalene
vor der Belehrung. E3 liegt mir im Grunde ſehr wenig an der
Meinung des Herrn Beſſon — aber er ijt do ein Mann, und
Sie werden begreifen, wie e3 mich berühren muß, foldhe Dinge
vor ihm anhören zu müſſen, und melde Stunden des Zorneg,
der Entrüftung mir das bereitet. In der That fam ich nicht
fpäter als heute fo fehr in Harniſch, daß ich mich mit einem
Male an ihn wandte und ihn aufforderte, mich gegen joche An
griffe zu vertheidigen. Aber dieſe Frommen haben ven lekten
Reit jener Eigenfchaft verloren, die man Ritterlichleit nennt,
und Herr Beſſon antwortete mir auf die falbungsvolljte Weife,
daß er mir aus der Schrift beweifen könne, wie ſehr Madame
Planteamour Recht habe. Ich muß mich darauf vorbereiten,
Frauen wie Bathfeba und Abigail, weil es bibliſche Frauen
find und weil fie ihre Ehemänner an den Pijalmenjänger ver:
rathen, zu verehren und mich ſelbſt als eine Verworfene zu be:
traten. So lange ich es nicht zu diefer Kraft des Glaubens
gebracht, kann ih auf Ruhe nicht rechnen. Sie können fi nicht
Gräfin Safari. 95
vorstellen, was mir Alles al3 Sünde oder vielmehr ala katholisch
vorgeworfen wird. Da ift z. B. eine Kate im Haufe, eine noth—
wendige Mitbemwohnerin wegen der unzähligen Mäufe, die Tag
und Nacht in den alten Mauern umbertoben. Dieje Katze ift ein
jehr anmuthiges Thier; vielleicht ift fie e8 auch nicht, aber fie
ift das einzige Geſchöpf, das mir nicht predigt und das mich
nicht als eine Verworfene betrachtet. Ich habe fie lieb gewonnen,
weil ich ihr Liebe zeigen fann, weil fie fich von mir ftreicheln
läßt und dazu ebenfo freunplich knurrt, al3 ob fie eine reformirte
Hand ftreicelte. Sie ift mir, was jo vielen Gefangenen eine
Spinne oder eine Maus war. Nun wohl! der Umgang mit
diejer Hape ift mir verboten worden. Meine Liebe zu dem Thiere
ift katholiſch! Es ift die Liebe zu den unvernünftigen Thieren
ohne Seele, der Anfang des Gögendienftes; jo hat der Thier:
dienjt bei den Heiden begonnen, und die katholiſche Bilderver:
ehrung, als Folge der Liebe zum Sinnlichen, iſt nichts al3 eine
Fortfegung und ein Abglanz jenes Götzendienſtes. Meine Liebe
zur Rage war alfo fatholifh. Es ift unglaublid, mit aller Phan:
tafie würde man e3 nicht errathen, in welchen Dingen allen
Madame Planteamour Katholizismus wittert ....
P. 8. So eben ift mir Miltons „verlorenes Paradies”, das
Sie mir vor einigen Tagen fchidten, fonfiszirt worden; Miltons,
de3 frommen puritanifhen Dichters frommes Gedicht. Es iſt
Poeſie, es ift weltlich — vielleicht ſogar katholiſch?
Genf, den 21. Februar 1704.
Ich beſchwöre Sie, mein lieber Freund, beunruhigen Sie
meinen Vater nicht meinetwegen, bedrängen Sie ihn nicht,
machen Sie ihm keine Vorwürfe! Er kann nichts für mich thun,
er hat ſeine ganze Gewalt über mich in die Hände der bewußten
Herren und der Madame Planteamour niedergelegt; er hat ſich
ſchriftlich verpflichtet, ſie in Allem, was meine Bekehrung be—
trifft, volllommen frei gewähren zu laſſen, feinen Widerſpruch
zu erheben und alle Mittel gut zu heißen, die man al3 an:
96 Novellen.
gemefjen erachtet. Berurtheilen Sie ihn nit. Ich habe Ihnen,
mein theurer Freund, ein Geſtändniß abzulegen, Sie in ein Ge:
beimniß einzumweihen. Ich bin es Ihnen ſchuldig, einmal meines
Vaters wegen, daß Sie feine Handlungsweiſe nicht zu hart be:
urtbeilen, dann meil ich Ihnen überhaupt. alle8 Vertrauen
ihuldig bin. Ich muß mich kurz fallen, ich muß mich beeilen,
bevor die Nacht in mein immer dämmeriges Zimmer bereinbricht
und bevor Madame Blanteamour von ihrem nacdhmittägigen
Beſuche zurüdkehrt. Da mir fo wenig Zeit übrig bleibt, müſſen
Sie fih zu dem, was ich Ihnen zu jagen habe, Vieles hinzu:
denken, und Sie thun mir damit einen Gefallen, da Sie mir
das Ausſprechen jehr peinlicher Dinge erjparen.
Bor Allem: mein Vater ift nicht immer zurechnungsfähig ;
man würde ihm Unrecht thbun, wollte man ihn für Alles, was
er thut oder unterläßt, verantwortlih machen. Sein Geift ift
dur eine Reihe Außerer und innerer Erlebnifje bis zu einem
gewiflen Grade zerrüttet. Seine Bekehrungsgeſchichte ijt nicht
fo, wie man fich diefelbe in Mont:Tabor erzählte; nein, fte ift
leider anders.
Mein Vater gehört einer in Vermögensverhältniſſen herab:
gelommenen Familie an; um diejer neuen Glanz zu geben und
von Ehrgeiz getrieben, verließ er Modena, um in Piemont, das
fich feit einer Reihe von Jahren bedeutend zu erheben begann,
Dienfte zu nehmen. Obwohl ziemlich gleichgültig in Glaubens:
ſachen, ſchloß er jih, um deſto rafcher zu feinem Ziele zu ges
langen, der mächtigen Partei der Geiftlichfeit an. Er befam in
ber That auch bald eine gute Stellung, als eine Art von Statt:
halter des Thales von Aoſta. Wir, meine Mutter und ich, wir
waren glüdlic in diefem reizenden Thale und hätten gewünſcht,
e3 nie verlaffen zu müſſen. Nicht fo mein Vater, Er blieb mit
Regierung und Geiftlichkeit in Turin in bejtändiger und inniger
Verbindung, nur den Moment abwartend, wo er Unterpfänder
jeiner Treue und Fähigkeit liefern fönnte, um dann deſto rafcher
emporzulommen. Der Moment lieb leider nicht lange auf fich
Gräfin Safjari. 97
warten. Es brad eine jener unruhigen Bewegungen in den
Thälern der Waldenfer aus, melde manchmal die Folge uner-
träglihen Drudes, manchmal von der fatholifchen Geiftlichkeit
fünftlih bervorgebraht waren, um Vorwände zu neuer Ber:
folgung der Keger zu haben. Bei meinem Vater wurde unter
der Hand angefragt, ob er an der Spitze mehrerer Kompagnien
al3 Kommiffär der Regierung fih in die Thäler der Waldenfer
begeben und dafelbft jo walten wolle, wie man ihm vorjchreiben
werde? Schon auf die Anfrage hin eilte mein Vater nad) Turin
und dort vor Allem zum Erzbifhof, um Verhaltungsbefehle ein:
zubolen. Jh muß eilen mit meinem Berichte. Mein Vater
wurde in die Thäler der Walvenfer gefhicdt. Die Unruhen wur:
den unterbrüdt. Laſſen Sie mich nicht fagen, wie? Mein Vater
war ein Verfolger, wie ihn die Inquiſition wünſchen fonnte,
Nah Turin kehrte er mit einem traurigen Gefolge zurüd: mit
vier ehrwürdigen Priejtern der unglüdlichen Sekte, mit vier
Duldern in Feſſeln. Man ftempelte fie zu Rebellen und Hoc:
verräthern und alle vier wurden in Zurin gehängt. Mein theu:
rer Freund, das hat der Vater Ihrer Geliebten gethban, ein
Mann, der nicht an die Sagungen der Fatholifhen Kirche und
vielleicht noch weniger an die Schuld der vier Märtyrer glaubte.
Gr bielt fi für ſtark genug, um ein Staatdmann zu fein, mie
unzählige Andere, und ſich mit unzerftörbarer Ruhe des Ver:
ftandes einem Syſteme anfcließen zu können, wie viele An:
dere, Alles zu vermögen, was das Syftem und was die Carriere
verlangt. Das Syſtem erfeßt bei den meijten Staat3männern
und Beamten Italiens da3 Gemiffen und die Vernunft: er
glaubte ein folder Staatsmann zu fein. Er war ed nit. Une
glüdjeliger Weife mußte er in einer Sendung an demſelben
Morgen, an welchem die vier Märtyrer hingerichtet wurden, die
Stadt verlaffen und an dem Richtplage im entfcheidenden Mo:
mente vorüberfommen. Seine Carriere war gemadt; er hatte
dem Klerus die verlangten Opfer geliefert und er erhielt eine
Stellung in Turin, die ihn dem Throne nahe brachte und meite
Morig Hartmann, Werke VI. T
98 Novellen.
ftolze Ausfichten eröffnete. Ach, e3 war ihm damit nicht ge
bolfen. Er vergaß die Verfolgungen, die er über die Thäler der
Waldenſer hatte ergehen lafjen, und den Tod der vier Märtyrer
nicht wieder. Wozu Ihnen einen grauenvollen Seelenzujtand
ihildern und Ihnen erzählen, wie meine Mutter an den Thaten
ihres Gatten, den fie geliebt hatte, und an feinem Anblid zu
Grunde ging. Sie jtarb nod) jung, und ermägend, daß Der:
jenige oder vielmehr Diejenige, die nunmehr beftimmt war, ihn
zu tröften, fein Arzt zu fein, daß ich das Uebel fennen mußte,
an dem er frankte, weihte fie mich in das Geheimniß ein, in
das Geheimniß feiner Gewifjensbiffe und feiner ſchauderhaft ver:
brachten Tage und Nächte. Er verſank immer mehr in fich jel-
ber, in ein Brüten, welches nichtS anderes war, als ein Suchen
des Heiles oder vielmehr jeiner Heilung. Dieſe fonnte er un:
möglih in einer Kirche finden, die ihn zu feinem Verbrechen
bewogen hatte, und er floh aus einer Religion, in deren Schooß
ih font Sünder und Verbrecher zu flüchten pflegen. Die
Logik jolher Gemüthskranken ift ſehr eigenthümlih. Gerade
was in der calviniftiihen Religion am meiften abftoßen muß,
z0g ihn am Stärfiten an. Die Verdammniß, die er, nach ver
calviniftiihen Lehre, mit der ungeheuren Mehrheit des Menjcen:
geſchlechtes zu theilen hatte, verlor für ihn einen großen Theil
ihrer Schreden; er fonnte aber auch, nad eben viejer Lehre,
einer der wenigen Auserwählten und troß feines ungeheuren
Verbrechens gerettet jein. Dieß machte ihn zum Calviniſten. —
Ich muß eilen, die Dunkelheit nimmt immer mehr zu. — Er
fühlte jich vernichtet und gedemüthigt, als er merkte, daß ich,
von meiner Mutter unterrichtet, um feinen Seelenzuftand und
jeine Verbrechen wußte. Er fürdtete dadurch fein Kind zu ver:
lieren und ich mußte ihn beruhigen, indem ich ihm ſchwor, ihm
immer eine gehorjame Tochter zu fein. Leider habe ich feinen -
Seelenzuftand für einen Augenblid vergeſſen, an jenem Tage,
als Sie mich und meine Bilder vor den Kamiſarden erretteten.
Sie werden aber, nad diefen Mittheilungen, künftig Manches
Gräfin Safari. 99
an mir und meinem Vater bejler verftehen. Sie werden nun
begreifen, warum er ſich jelbit, gewiſſermaßen mit gebundenen
Händen, den caloiniftischen Fanatikern, die übrigens feine Ge:
Ihichte Fennen, bingibt und warum er, abgejehen von feinem
Eifer, auch mich jo dringend zu befehren ſucht. Er möchte, fo
weit es ihm möglich, den der römiſchen Kirche feindlichen Reli:
gionen gewiſſermaßen Erſatz liefern für Das, was er an ven
Waldenſern gethan. Religion und Gewiſſen find bei diefer Illu—
fion gleich betheiligt. Darum aber glauben Sie ja nicht, daß ver
mweltlihe, Kluge Mann, als welcher mein Vater feine Laufbahn
begonnen, in ihm gänzlich erftorben jei; er fommt noch manch—
mal zum Vorſchein, und dieß rechtfertigt mein etwas hartes Be:
nehmen, das ich mir damals zu Schulden fommen ließ, als er
mich an die Nüglichkeit einer Belehrung erinnerte. Sie werden
nun auch verftehen, mein Freund, warum ich in meinem Ge:
horſam vielleicht weiter gehe und in meiner Fügſamkeit, al3 es
fonft die Pflicht geböte; warum ich Vieles ertrage, das ich ſonſt
nicht ertragen würde. Aber glauben Sie nicht, daß ich mit all:
dem vergefjen werde, was ich mir felbjt ſchuldig bin.
Alſo, mein lieber Freund — ich wiederhole die Bitte, mit
der ich begonnen — beunruhigen Sie meinen Vater niht —
er kann nichts thun — ich bin feiner Gewalt entzogen — es iſt
dunkle Nacht. Gute Nacht.
. ... Mär;
.... Frau Planteamour glaubt jet, meine Verftodtheit habe
ihre Urſache im Fleiſche; ich müßte mich fafteien, um zur Erkennt:
niß durchdringen zu können. Sie läßt mich förmlich falten. Mein
Leib foll von aller Weltlichkeit gefäubert und damit auch in meiner
Seele aufgeräumt werben; wenn ſich dann das Bedürfniß nad
dem Himmel einftellt, ift fie da, um mir die Wege dahin zu zeigen.
Sie würden gut thun, mein lieber Freund, mir künftig durch
Giorgio anftatt der Bücher einiges Brod oder irgend melde
Nahrungsmittel zufteden zu laffen. Der gute Giorgio, glauben
Sie ihm nicht, daß ich fo ſchlecht ausfehe, er fieht mich mit den
100 Novellen.
Augen der Beſorgniß. Ich bin allerdings etwas blaß geworden,
aber das fommt nur von den lichtleeren Räumen, in denen ich
meine Tage verbringe. Madame PBlanteamour führt mich jegt
nur äußerft felten in die Luft und überhaupt aus dem Haufe,
Des Abends muß ich fie manchmal in Konventifel begleiten, in
denen ich mic auf das Graufamfte langweile. Ich höre da ewig
dafielbe und ich begreife in der That diefe Menfchen nicht, wie
fie bei diefer Einförmigkeit ihrer Gedanken beftehen und darauf
noch Stolz fein können .....
Ende März ....
Alfo Sie, mein Freund, find vor mir ſchwach geworden ?
Sie rathen mir, nachzugeben? Ich ſoll eine Förmlichkeit erfüllen,
die mich nicht hindert, in meinem Innern zu bleiben, was ich
will? Seien Sie ruhig, mein theurer Freund, ich made Ihnen
feine Vorwürfe. Wären Sie im Gefängniß, wüßte ich Sie von
Inquifitoren umgeben, von der ungeheuerften Langeweile belagert,
fo vielen Quälereien und Demüthigungen ausgefegt, dann wäre
ich wohl eben jo ſchwach, Ihnen Aehnliches zu rathen. Ich brauche
Shnen wohl nicht zu jagen, daß man nicht mehr ift, mas man
fein will, nachdem man ſelbſt nur eine Förmlichkeit erfüllt hat,
die mit unferm Weſen im Widerſpruch ift. Jedes Greigniß, jede
That, der wir und mit dem legten Rejte des freien Willens fügen,
wird ein Tyrann unferer ganzen Zukunft, den wir nicht zu ftürzen
im Stande find. Man kann Vieles fühnen, man fann ein ge
ftörtes Gleihgewicht wieder herjtellen, aber man kann Nichts ver:
wifchen. Und feien wir froh damit; welche finnlofe Mofaif wäre
unfer ganzes Leben, wenn mir vergeflen könnten. Gie fagen:
Form! Allerdings, es gibt abgeftorbene Formen, die man vers
achten muß, aber andere haben noch einen lebendigen Inhalt
und man fann fich über fie nicht hinwegfegen, ohne fi an fich
jelbft und an der Welt zu verfündigen. Indeſſen ift es das nicht
allein, was mich abhält, mich gefälliger zu zeigen; es ift Etwas,
was viel ftärker ift al3 al’ mein Nachdenken, als meine Ueber:
Gräfin Safari. 101
zeugungen, als mein Stolz und mein Charakter. Ich bin eine
Stalienerin, und als folhe habe ich der Religion gegenüber das
Gefühl, dag, wie ich glaube, die orientalifhen Völker beherrſcht,
bei denen Religion und Nation eins und daffelbe find, in einander
verſchwimmen und nicht getrennt werden können. Wie ungläubig
ih auch bin, fo fann ich mir doch diefes Stalien ohne feine Kirchen,
ohne feine Giotto, Fra Beato, Brunelleshi, Leonardo, Raphael,
Michel Angelo, Andrea del Sarto nicht denfen und ohne die
ganze Gefchichte, die mit Italiens Paläſten, mit feinen Kirchen,
Dichtern und Künftlern zufammenhängt. Wenn ich mich mir
jelber fromm vorftelle, fo denke ih mir auch, daß ich mich in
meinem Kummer fo recht nur in einer italienischen Kirche aus—⸗
weinen und nur beim Anblid diefer Bilder, die von den Wänden
auf mich niederfehen, aus Herzensgrund ausbeten und tröften
fönnte. Es ift das Alles mit einem italienischen Herzen als ein
Theil des Nationalgefühles, als ein Familiengefühl verwachſen,
und eine Trennung von dem Allen wäre mir wie Felonie und
ein Uebergang aus dem Dom von Pifa oder aus der Kathedrale
von Parma in einen leeren, weiß angeftrichenen Tempel, märe
mir wie ein Losfagen von aller Schönheit und wie eine Ver:
böhnung meiner ganzen Jugend. Glauben Sie mir, wenn der
Staliener von Sinn und Gefühl nicht in eine der weiter vorge:
ſchrittenen Kirchen übergeht, fo ift das bei ihm nicht ein Zeichen
mangelhafter Erfenntniß. Ich will nicht fagen, daß das Land,
welches die Campanella und die Galilei hervorgebracht hat, ewig
in dem Glauben verharren werde, der ihm vor taufend Jahren
zurecht gemacht worden, aber ich glaube allerdings, daß, fo lange
jene Zeiten, die fo Großes und Schönes gefchaffen, unfere ſchön—
ften Beiten find, fich ein italienifches Herz von Allem, was mit
ihnen verwachjen ift, alfo auch von der katholiſchen Kirche ſchwer
trennen wird. Ein ungläubiger Katholif Italiens, dem die Un:
fehlbarkeit des Papftes, überhaupt die Dogmen der römifchen
Kirche nichts find, verläßt trogdem, wenn er die römische Kirche
verläßt und in eine der proteftantifchen eintritt, fehr viel, ohne
102 Novellen.
etwas dafür zu gewinnen. Wer über die katholiſchen Dogmen
durch eigenes Nachdenken hinausgefommen ift, der ijt auch über
die protejtantifchen hinausgegangen. Der Einzelne, der ji refor:
mirt, bleibt nicht auf halbem Wege ftehen, wo die Maſſen, von
Predigern geführt, ftehen bleiben. Er begeht eine größere Lüge,
indem er fich für eine andere Kirche erklärt, als wenn er in der
angeborenen bleibt, für die er nicht verantwortlich ift. Die refor:
mirten Kirchen werden darum immer weniger Bekehrungen machen,
al3 die fatholifhe, wenn nicht wieder politifche Gründe die Maſſen
in Bewegung fegen und fie ihnen entgegentreiben. Die katholiſche
bingegen wird immer neue Bekehrte aufnehmen, weil Derjenige,
der Glaubensbedürfniſſe hat, dahin geht, wo fie am ſtärkſten be:
friedigt werden,
Lachen Sie nicht, daß ich Ahnen wie ein Doktor ſpreche und
gewiß Altbefanntes wiederhole. Mein Geift wie mein Herz find
jeit einem Jahre durch meine Lage zu fehr aufgeforbert, ſich mit
diefen Dingen zu beſchäftigen, und e3 ift natürlich, daß ih Ihnen
bei diejer Gelegenheit meine ungefähre Meinung fage, daß ich
Ihnen andeute, aus wie vielen Gründen es mir unmöglich ift,
ein Wort auszuſprechen, das mich von vielen Quälereien befreien
und mich zu Ihrer Gattin machen würde. Ich weiß es, wie un:
dankbar meine Verftodtheit ift, wie geringe Früchte fie ſelbſt
meiner Citelfeit tragen kann, da ich dem einen Olauben wider:
ftehe, ohne die Märtyrerin des andern zu fein. Niemand dankt
mir mein Benehmen, bei Vielen erwedt es Haß, mich ſelbſt kann
e3 zu Grunde richten und bringt e8 um mein Glück; aber mas
ift zu tun? Sagen Sie mir wenigſtens, daß ich Recht habe.
Ihre treue Maria.
+ April ....
Ich habe Sie auf der Treppe gehört, ich habe Ihre Stimme
erkannt, mein lieber Freund; ich konnte nicht zu Ihnen eilen, da
man in dem Augenblicke, als Sie im Hauſe erſchienen, einen
Riegel vor meine Thür ſchob und ich gefangen war. Ich weinte
Gräfin Safari. 103
vor Sehnſucht nah Ihnen und vor Ingrimm während des ganzen
Lärmens auf der Treppe. Ich erfuhr dann von einer Dienftmagd,
die mir einige Freundichaft zeigt, daß Sie gefommen find, um
mich zu befreien. Laſſen Sie ab, mein Freund, von diefen Bei:
ſuchen, fie tragen nur dazu bei, mein Loos zu verichlimmern.
Dit finde ich jegt den Niegel vor meine Thüre gefchoben ; meine
Diät wird immer ftrenger, Herr Beflon fommt nicht mehr, um
mich zu unterrichten; nicht mehr die Ueberredung — die Gewalt,
die Ermüdung foll mich befebren. Der arme Giorgio, der mit
Ihnen auf der Treppe war, iſt, mie id) von der Dienftmagd höre,
im Gefängniß. Sie wird dafür jorgen, daß dieje Zeilen, die ich
in Haft fehreibe, an Sie gelangen. Thun Sie um Gottes Willen
Alles, um Giorgio zu befreien ; leider ift er Unterthan des Kai:
ſers, und diejer hat feinen Agenten bier. Zu mir wird man
ihn auf feinen Fall mehr lafjen, und ich weiß nicht, wie lange
unfer Briefwechfel noch dauern wird, — Noch Eins: Der Syndik
bat der Madame Planteamour einen Mann vors Haus geltellt,
der e8 überwachen und die Schaarwache benachrichtigen fol, jo:
bald ein Verſuch zu meiner Befreiung gemacht wird. Madame
Planteamour ift die Schwägerin des Syndik. — Nod Etwas:
Sie ſagte mir, daß ich jeden Gedanken an Flucht aufgeben jolle;
man fenne mich an allen Thoren, und bei diefer Gelegenheit er:
fuhr ih, daß fie mich zu wiederholten Malen dur ſämmtliche
Stabtthore geführt, nur um mich den Thorwächtern zu zeigen,
damit mich diefe im Falle einer Flucht erkennen und aufhalten.
Sie jagte e3 mir übrigens rund heraus, daf jeder derartige Ver:
ſuch von meiner oder von anderer Seite meinem Schidjale nur
eine traurige Wendung geben könne,
.... Ende April ....
Jetzt, mein Freund, iſt es Zeit. Ich gebe Ihnen Vollmacht,
thun Sie Alles, was Sie können, um mich zu befreien. Haben
Sie keine Rückſicht mehr, auch nicht für meinen Vater. In dieſen
Wochen, in denen unſer Briefwechſel unterbrochen war, habe ich
104 Novellen.
das Schlimmfte erfahren, und ich befinde mich in einer ſchmach—⸗
vollen Lage. Madame Planteamour hat mehrere verlorene Ge:
Ihöpfe in der Straße aufgegriffen, und dieſe bilden jet meine
einzige Geſellſchaft. Ich werde von ihnen als ihreögleichen be
bandelt, aber von Madame Planteamour al3 tief unter ihnen
ftehend, denn fie geben alle möglichen Veriprehungen, die man
von ihnen verlangt, und lafjen fie neue Triumphe hoffen. Sie
genießen innerhalb des Haufes die größte Freiheit, während ich
fortwährend mie eine Gefangene gehalten und von ihnen und
ber Dame des Haufes zu Dienftleiftungen gezwungen werde. Es
ift mir ein widerwärtiger Anblid, wie dieſe Mädchen eine jämmer:
lihe Komödie fpielen, und wie fi die fromme Dame gerne
täufchen läßt.... Ich höre und jehe Dinge, die mich vor mir
jelbjt entwürdigen. Und doch muß ich mich auf die Barmbherzig-
feit einer diefer Perſonen ftügen, um Ihnen dieſe Zeilen zu—
fommen zu laſſen. Sie ijt wahrlich befler al3 Madame Plante:
amour und bat e3 zum Theil aus Güte, zum Theil aus Luft,
ihre Befehrerin zu betrügen, übernommen, einen Boten und eine
Gelegenheit ausfindig zu machen. Leben Sie wohl. Ich ſchäme
mich, Ihnen ausführlicher zu jagen, was mich beftimmt, Eie
zum Neußerften, jelbit zur Gewalt und zur offenen Empörung
gegen Ihren Vater aufzufordern.
Diefer legte Brief kam Herrn Elie de Chatelard erſt jpät zur,
denn e3 waren viele Tage vergangen, bis jenes liederliche Frauen:
zimmer durch einen ihrer Freunde, einen Schiffer aus dem Hafen
Genfs, den Brief nah Nyon fchiden fonnte. Dort, nah der
Verabredung, die ich mit Herrn Elie de Chatelard getroffen hatte,
fing ich ihn auf, und darauf verging wieder eine geraume Zeit,
bis ih den Aufenthalt des jungen Herrn in Genf ausfindig
machen konnte. Herr Elie de Chatelard hatte nämlich das Haus
feines Vaters, mit dem er ſich gänzlich überworfen hatte, feit
einigen Wochen verlaffen und fich in Genf angefiebelt, um feiner
Gräfin Safari. 105
Geliebten nahe zu fein. Er wohnte in dieſer Stadt mit Giorgio,
den er aus dem Gefängniß befreit hatte, der ſich aber verbergen
mußte, weil ihm der Aufenthalt auf dem Gebiete Genfs verboten
war. Manchmal, wenn er Entdedung befürchtete, begab ſich
Giorgio nah Carouge auf ſavoyiſches Gebiet. Herr Clie de,
Chatelard, als ich ihm die Zeilen der Gräfin Saflari überbradhte,
gerieth außer ſich und brach bald in Wuth, bald in Thränen aus.
In der jetigen Lage feiner Geliebten hätte er vielleicht auf die
Hülfe des alten Grafen hoffen und ihn bewegen fünnen, fein
väterliches Anjehen wieder zu ergreifen, um feine Tochter aus
der jhmählichen Umgebung, aus den Demüthigungen, mit denen
man fie erbrüdte, zu befreien; aber er war ferne. Man hatte
ihn in einer Sendung religiöjen Charafters an die Freunde in den
Niederlanden und in Schottland auf Reifen geſchickt. Was mich
betrifft, ih glaube nicht, daß der Graf Saflari von einigem
Nuten geweſen wäre, denn feit der Abweſenheit feiner Tochter
hatte er jeden Willen und jede Selbitändigfeit verloren, ja ich
glaube, daß fein Geiſt jede Fähigkeit zu irgend welchem Entſchluſſe
eingebüßt hatte. Wenn ihn die Herren ouc immer mit einer ges
mwiffen Nüdficht behandelten, jo gaben fi doch die Diener auf
Mont: Tabor mit Acfelzuden und halben Worten zu verftehen,
daß Herr Graf Saflari feines DVerftandes nicht immer mächtig
fei; und fein Umberirren während der Nacht, fein Tage lang
andauernder tiefer Trübfinn, in dem er fein Wort hervorbrachte,
ſchienen das zu beftätigen. Aber das gehört nicht hieber.
Herr Elie de Chatelard eilte fogleich in das Haus der Ma-
dame Planteamour, entſchloſſen, um jeden Preis bis zu jeiner
Geliebten vorzudringen und fie wo möglich fogleich aus dem Ge:
fängnifje zu befreien. Zu feinem Erftaunen fand er jeßt die
Thüren offen und das Haus in allen Theilen zugänglih. Madame
de Planteamour war ausgegangen und er traf nur jene Perjonen,
die ihm Fräulein Saflari befhrieben hatte. Diefe fagten ihm fos
gleih, daß Fräulein Saffari vor mehreren Tagen aus dem Haufe
fortgebraht worden, aber fie fonnten nicht fagen, wohin, mie
106 Novellen.
jehr fie es auch offenbar gewünfcht hätten, Madame Planteamour
zu verrathen. Indeſſen erinnerte fich eine derfelben und zwar
diefelbe, weldhe den Brief beforgt hatte, daß Fräulein Safari
höchſt wahrfcheinlih über den Sce gebracht worden, venn fie
- hatte Tags vorher denfelben Schiffer am Haufe gefehen, dem fie
den Brief übergeben. Darauf bin holte mich Herr Elie an der
Kathedrale ab, wo ich ihn erwartete, und mir gingen zufammen
binab an den Hafen. Ich erfannte fogleich den Schiffer, und für
ein gutes Geſchenk erzählte er bereitwillig, daß er in feinem
Kahne vor ungefähr acht Tagen, und während der Nacht, ein
Fräulein, das von mehreren Männern begleitet war, über ven
See nah Nyon gebradht habe. Ich aber wußte, daß Gräfin
Sajlari nit auf Mont: Tabor und nicht im Schloffe des Bailly
fi befand, und Herr Elie gerieth aufs Neue außer fih, als ihn
der Gedanke überfiel, daß fie jich nirgends anderswo, als in
jenem Haufe ver Büßerinnen befinden fonnte, welches die From—
men ganz in der Nähe von Nyon erbaut hatten. Er gab mir den
Abſchied und begab fich fogleih nad Carouge, um Giorgio, der
fih eben dort befand, aufzuſuchen, da e3 möglich war, daß er
feiner Hülfe bedurfte, und da er fih auf ihn in Allem verlafien
fonnte, wenn e3 fih um die Befreiung der Gräfin handelte,
Diefer Gang nad Carouge war für den armen jungen Herrn
verhängnißvoll. Bevor ich aber dieß erzähle, muß ich hier ein:
ichalten, was ich fpäter erfahren habe. Madame Planteamour,
jowie die frommen Herren und die Syndiks von Genf waren wegen
der Angelegenheit ver Gräfin Saſſari bejorgt geworden. Giorgio
hatte in Carouge erzählt, was vorging ; außerdem hatte die Geiſt—
lichkeit dafelbft bereits erfahren, daß man in Genf eine katholiſche
junge Dame conficirte und zum Uebertritt zwingen wolle. Die
Regierung von Savoyen hatte ſchon mehrere Male angefragt und
jogar gedroht. Genf ift ein Kleiner Staat und von Katholiken
umgeben, die Syndiks befürchteten große Berlegenheiten und
tbeilten ihre Befürchtungen der Madame Planteamour mit, und
in Folge deſſen beſchloß man, Fräulein Safari auf Berner Land
Gräfin Safari. 107
zu bringen, weil Savoyen nicht den Muth hatte, ſich mit den
Berner allmächtigen Herren zu entzweien. Dieb ift die Urfache,
warum Fräulein Saſſari in das Haus der Büßerinnen nah Nyon
gebracht wurde.
Herr Elie de Chatelard fand Georgio zu Carouge in einer
Weinſchenke, aber er fand dort in feiner Gefellichaft noch einen
Anderen, einen merkwürdigen Mann, vor dem damals die ganze
Gegend zitterte, und deſſen ſich die Herren von Genf, die er zu
Tode Ärgerte, gerne bemädhtigt hätten. Es war dieß der Seigneur
von Copponer, ein ſavoyiſcher Edelmann, der zwar nur geringes,
jehr geringes Vermögen, aber ein altes Schloß mit wenigen Län-
dereien hatte, und welder fih aus alten Zeiten beinahe ganz
unabhängige Souveränitätsrechte bewahrt hatte. Es gab damals
nody mehrere jolde Herren an den Gränzen zwijchen Savoyen
und Frankreich. Seigneur de Copponer hielt treu zum Haufe
Savoyen, jeine Familie zeichnete fib immer im Kriegsdienſte
aus; dag Haus Savoyen beſchränkte darum jeine Rechte nicht
und ließ ihn gerne gewähren, weil er vorzugsweije die Republik
Genf beläftigte. Seit vielen Jahren führte er gegen Genf einen
Krieg, wie ihn ehemals die Löffelritter gegen Genf geführt hatten.
Gr beläftigte fortwährend die Gränzwachen, griff das Genfer Ge:
biet auf den verſchiedenſten Punkten an, plünderte die Lanphäufer
und Güter der Syndiks und der Adeligen und zog ſich dann auf
jein Schloß zurüd, wo er fiber war, da ihn die Genfer dafelbit
nicht angreifen fonnten, ohne javoyifches Gebiet zu verlegen.
Am Furchtbarſten war er und die fühnften Thaten führte er aus,
wenn die Genfer Herren einen Preis auf feinen Kopf jegten.
Dann erſchien er plöglich in der Stadt jelbit, ſtahl irgend etwas,
3. B. irgend ein Wappen oder eine Fahne vom Haufe eines
Syndik, malträtirte irgend einen Beamten, dem er begegnete,
und war wieder verfchwunden, bevor die Schaarwache gerufen
werden fonnte. Der Seigneur de Copponer war übrigens in der
Umgegend ſehr beliebt, da er felten einem feiner Landsleute etwas
zu Leide that, im Gegentheil immer mit feiner Hülfe bereit war,
108 Novellen.
wenn Jemand Unrecht geſchah. Er mwollte ein Ritter aus alter
Zeit fein, der überall das Unrecht befämpft und den Berfolgten
zu Hülfe kommt. Nur in Genf war er verrufen, aber jelbit da
beim nievern Volke beliebt, und man behauptete, daß er bei
feinen Streichen gegen die Syndiks von Genfern unterjtüßt werde,
freilich nur von den Habitant3, nicht von den Bourgeois, denn
damals begannen ſchon die Bewegungen der Habitant3 gegen die
Regierung von Genf. Man fagte auch vom Geigneur de Cop-
poner, daß er einen unvergleihlihen Muth befite und vor feiner
Unternehmung erfchrede. Er war zwar zu arm, um ſich ein Ge
folge, eine Heine Armee zu bezahlen, aber jo oft er etwas unter:
nehmen wollte, fand er an den Gränzen und in Genf jelbft immer
unbefchäftigte Leute genug, die fih ihm anſchloſſen und die zu
Allem bereit waren. Diefen Seigneur de Copponer fand Herr
Glie de Chatelard zu Carouge, wie er eben dem Giorgio zu trins
fen gab und ſich von ihm die Gefhichte der Gräfin Saſſari er
zählen ließ. Elie hatte ihn nie gefehen, er hatte von ihm immer
nur wie von einem NRaufbold, einem rohen Gefellen, wie von
einer Art Räuber fprechen hören, und er machte ihm beim erjten
Anblid, wie er an dem Tiſch der Schenke vor dem Weine dafaß,
auch einen Eindrud, der mit dem Gehörten übereinfti
Gefiht und Stirn waren von mehreren Narben entjtellt,
einer diden Haut überzogen und wettergebräunt; feine Kleide
bie und da geflidt und im Ganzen vernadhläfligt. Ein großer,
breiter Degen mit eifernem Griff hing an feiner Seite und im
Gürtel trug er zwei gewaltige deutſche Reiterpiftolen. Aber fo:
bald ihm der Name Elie's von Giorgio genannt wurde, und er
fich erhob, um ihm zu begrüßen, verwandelte ſich fein ganzes
Weſen. Er war mit einem Male ein anmuthiger Edelmann von
den feinjten Manieren, und wie er Elie einlud, mit ihm ein
Glad Wein zu nehmen, vergaß diefer, daß er fih in einer
Ihmugigen Schenke befand, und glaubte der Gaft eines großen
Herrn zu fein. Ich weiß es nicht, welcher von Beiden das Ge:
ſpräch auf das Schidjal der Gräfin Maria brachte; wahrjchein:
Gräfin Safari. 109
lih war e3 der Herr de Copponer, da Herr Elie de Chatelard
nicht mittheilfjamer Natur war. Vielleicht aber hatte doch dieſer
von einer Sahe zu ſprechen begonnen, von der ihm eben das
Herz jo voll war. Auf welche Weije die beiden einander jo un:
ähnlichen Edelleute Bundesgenofjen geworden, bin ich außer
Stande zu erzählen. Der arme Elie war in fo trauriger Lage
und fo verzweifelt, daß er gerne jede Hülfe annahm, die fi ihm
bot, und der Geigneyr de Gopponer machte ihm den Antrag,
feine Geliebte auf jeden FZal und mit Gewalt aus den Händen
der Feinde befreien zu wollen. Er war ganz Feuer und Flamme,
al3 er von Elie genauer unterrichtet wurde, und feine Begeijterung
gewann ihm deſſen ganzes Vertrauen. Copponer hatte eben feine
Leute zur Verfügung; aber er verſprach, in wenigen Tagen mit
einer entſchloſſenen Schaar in Nyon zu erjcheinen ; Elie folle ihn
dann nur dort erwarten, und fie wollten den Streich gemein:
Ichaftlich ausführen. Ich weiß nicht, welches die Abfichten Herrn
Elie's waren und was er nad der Befreiung feiner Geliebten
beginnen wollte. Er fam allein nad Nyon zurüd, Tieß Giorgio
in Gejellihaft des Seigneur de Copponer und miethete fich im
Drte ein, ohne nah Mont-Tabor zurüdzufehren, da er mit feinem
Vater gänzlich entzweit war. Nur einmal im Geheimen fam er
in das Landhaus, um auf feiner Stube Waffen zu holen. Ich
weiß auch nicht, ob es zufällig oder ob eine Abficht dahinter ver:
borgen mar, daß man in diefen Tagen eine Anzahl von Kami-
farben in das Haus der Büßerinnen ſchickte und ihnen die Weber:
wachung defjelben übergab. Sie zogen von unſerem Hofe nicht ab,
ohne ihre Waffen mitzunehmen, und als Iſabeau fie in Waffen
ſah, ftellte fie fih an ihre Spige und z0g, Pſalmen jingend, vor
ihnen einher. Ich unterließ es nicht, Herrn Elie von all dem in
Kenntniß zu fegen; er aber fagte, daß das Haus gejtürmt werden
müfje, und wenn es von ganzen Armeen befegt wäre.
In der Naht vom 1. auf den 2. Juni fam der Seigneur de
GCopponer vom Jura ber in einem Thale hinter Nyon an.
Giorgio holte Herrn Elie ab, und die beiden Evelleute, gefolgt
110 Novellen.
von Giorgio und ungefähr zwölf bis fünfzehn Männern, be:
wegten ji dem Haufe der Büßerinnen entgegen. Diejes jtand
in der Mitte eines Gartens, der von einer hohen Mauer einge-
faßt war. Man war nicht darauf vorbereitet, hohe Mauern zu
erflimmen, und rücdte daher geraden Weges auf das Thor log,
um dieſes zu erbrehen, und dann in? Haus einzubringen. Der
Seigneur de Copponer trat zuerft an das Gitterthor, rüttelte und
zog die Glode, um den Pförtner auf ritterliche Weife zur Ergebung
und Uebergabe des Haufes aufjufordern. Gleich darauf erjcholl
eine andere Glode und in demjelben Augenblide erfchienen auf
der Mauer mehrere Männer, die auf die Heine Schaar feuerten,
„Das wird ernit,” rief der Seigneur de Copponer, drang
jelbjt zuerjt in die Wohnung des Pförtners, deren Thür er ein-
jtieß, und von da in den Hof. Ihm folgten feine Gefährten.
Herr Elie de Chatelard hatte fich über die Mauer geſchwungen
und eilte, ohne ſich um alle anderen Vorgänge zu fümmern,
geraden Weges in das Haus. Während er über ven Hof lief,
entjpann ſich daſelbſt ein heftiger Kampf zwifchen ven Leuten des
Geigneur de Copponer und den Kamifarden, die, in großer
Menge von allen Seiten herbeiftrömend, mit Hellebarben, Piken
und Schwertern das kleine Häuflein der Abenteurer im Augen:
blide zu erjtiden drohten. Seigneur de Copponer erkannte die
Gefahr, erkannte, daß die ganze Unternehmung verrathen war,
und da jchon zwei feiner Leute blutend am Boden lagen, gab er
das Zeihen zum Rüdzug und führte fein Häuflein dur das
Gitterthor, das er indefjen von innen geöffnet hatte, wieder ins
Sreie. „Ma foi,“ fagte er, „fünfundadhtzig Sous wären für
diefe armen Leute” — er meinte feine Angemworbenen — „ein
viel zu geringer Preis bei einer verrathenen Unternehmung.“
Bor dem Haufe angelommen, zerftob die Schaar zwiſchen Heden
und Feldern, und den Kamifarden, die ihnen, immer von Jia:
beau geführt, nadhjagten, blieb nicht3 zu verfolgen übrig. Einen
Pſalm anftimmend, als hätten fie ein heibnifches Heer vertilgt
und die Ehre Gottes neu erhöht, kehrten fie auf ven Hof und
Gräfin Safari. 111
in das Haus zurüd. Sie glaubten Alles beendet, al3 ihnen aus
dem Innern Geihrei und Lärm entgegentönte. Herr Clie de
Chatelard, der ſich wohl früher nach Mancherlei erfundigt haben
mochte, eilte geraden Weges auf eine große Stube im Haufe der
Büßerinnen zu und erbrad) die Thüre. Er ftand in einem Saale,
welcher von mehreren Betten eingenommen war, in denen ein«
zelne Mädchen aufrecht ſaßen und ängjtli dem Lärme horchten,
der aus dem Hofe herausprang. Er rief: „Maria!“ und feine
Geliebte jprang ihm in demſelben Augenblide entgegen. Er hob
fie auf feine Arme und eilte jogleich mit ihr zurücd über ven
Gang und die Treppe hinab, als fih ihm ein ganzer Knäuel
von Weibern und Männern entgegenwarf. Er konnte Marien
nur noch mit einem Arme umjchlingen, während er fich mit dem
Degen einen Weg zu bahnen juchte. Der Haufe ftob wohl aus:
einander, wo er ihm feinen Degen entgegenftredte; aber vie
Weiber Eammerten fih an Marien und zerrten an ihr, um fie
von Elie loszureißen. Trotzdem fonnte Elie bis an die Thüre
de3 Haufes vordringen. Aber er hatte dazu viel Zeit gebraucht,
und noch bevor er die Schwelle überfchreiten fonnte, famen vie
Kamifarden triumphirend und Pſalmen fingend zurüd. Iſabeau,
die, mit einer Fadel in der Hand, an ihrer Spige ftand, er:
fannte zuerjt Elie und Maria, und mit dem Rufe: „Hier find
die Sünder!“ ftürzte fie fih auf Marien mit folder Gewalt, daß
jie diefe und Elie zugleich nievderriß. Aber Elie gab darum ven
Kampf noh nicht auf. Er erhob ſich rajch, und mit der einen
Hand rüdwärt greifend, erfaßte er den ftruppigen Kopf ber
Prophetin, die er jo von Marien losriß, und drang er mit der
Rechten, die immer noch den Degen hielt, auf die Kamiſarden ein.
Der Vorderſte taumelte, am Halfe verwundet, zu Boden, aber in
demfelben Momente fielen die langen Hellebarden der Kamifarden
auf Elie'3 Kopf nieder, und er ſank unter der Menge ver Hiebe.
Der Angriff auf das Haus der Büßerinnen, das Gloden:
läuten dafelbit, der ganze Lärm des Kampfes, das Gefchrei und
die Gejänge der Kamifarden hatten den Flecken gemwedt. Alles
112 Novellen.
ftrömte dem Haufe der Büßerinnen zu, und unter der Menge auch
einige Diener von Mont: Tabor und endlich auch die Wache des
Schloſſes, die der Bailly abgefhidt hatte. Die Diener erkannten
ihren jungen Herrn und hoben ihn auf, um ihn in das väterliche
Haus zu fragen; aber dem mwiberfegten fich die Trabanten des
Bailly, und erlaubten ihnen nur, bei ihm zu bleiben, bis fie ihn
ins Gefängniß des Schlofjes gebraht. Denn fie hatten Befehl,
Alles zu verhaften, was an dem nächtlichen Angriff Theil genommen.
Am folgenden Morgen kam Herr von Wattewyl, der Bailly
von Nyon, nad) Mont:Tabor, um Herrn de Chatelard perfönlich
Bericht zu erjtatten und ihm zu fagen, daß ſich fein Sohn ſchwer
verwundet im Gefängniſſe des Schlofles befinde. Er habe Be:
mwaffnete und Fremde zu einem räuberijhen Angriffe auf Berner
Gebiet geführt, und fünne, wenn er mit dem Leben davon
fomme, ſowohl als gemeiner Räuber, wie als Rebell, Hoc: und
Landesverräther behandelt werden, je nad dem weiſen Ermefjen
der großmächtigen Herren von Bern. Herr de Chatelarb er:
mwiderte mit großer Ruhe: der Herr habe ihn ſchon einmal in
feinen Kindern heimgeſucht; er ergebe fih zum zweiten Male
ebenjo demüthig in den Willen des Herrn wie das erſte Mal.
Gr jei nicht fo verwegen, der Weisheit der großmächtigen Herren
von Bern irgend etwas vorzujchreiben over zu rathen.
Ungefähr drei Wochen nad jener Naht glaubte man Herrn
Glie de Chatelard ohne bejondere Gefahr für fein Leben nad
Bern bringen zu können, um ihm daſelbſt jeinen Prozeß zu
machen. Während des Prozefies, der auf Landesverrath und
Aufruhr mit bewaffneter Hand lautete, erhielt Herr de Chatelard
von den großmächtigen Herren von Bern eine Zufchrift, in welcher
gejagt war, daß das Gericht gern bereit fei, feine Verdienſte und
ven Adel feines Haufes zu berüdjichtigen und nad Vollendung
des Prozeſſes dem Verbrecher jede Gnade angebeihen zu laſſen,
die Herr de Chatelard ſelbſt verlangen werde. Herr de Chate:
lard antwortete und zwar durch meine Hand, jo daß ich dieſe
Antwort genau kenne und fie verbürgen kann: Herr Elie de
Gräfin Saffari. 113
Chatelard jei ein Nebell gegen die Herren des Landes und gegen
die väterliche Autorität, und es fei leider anzunehmen, daß er,
angeftedt von jener verftodten Papiſtin, Gräfin Maria Saſſari,
fich auch gegen die reine Lehre Gottes empöre. Dieſe drei mon:
ftröjen Verbrechen an göttlichen und menfchlichen Gejegen müßten
gejtraft werden. Indeſſen bitte er die großmächtigen Herren als
liebender Vater, feinem verirrten Sohne Zeit zur Neue und zur
Umkehr zu geftatten und ihm demgemäß das Leben zu frijten.
Er, Herr de Chatelard, werde die Anerbietung der Gnade wie
ein foftbares Geſchenk für jene zufünftige Zeit aufbewahren und
davon Gebraud machen, wenm fein Sohn, durch Leiden geläu:
tert, folder Gnade würdig befunden werde. Auf diefe Antwort
de3 Herrn de Chatelard wurde Elie zum Tode verurtheilt, dann
begnadigt und in die Feſte Aarburg auf unbejtimmte Zeit in
Haft gebracht. Die Haft dauerte nur drei Jahre, Herr Elie de
Chatelard, der, frank und immer an feinen Wunden leidend, in
ein ſchlechtes, feuchtes, ungefundes Gefängniß gebracht wurde,
fonnte troß feiner Jugend nicht lange widerftehen. Er ftarb,
nicht volle dreißig Jahre alt im Gefängnif.
Der Seigneur de Copponer vergaß e3 nicht, daß er die Be:
freiung der Gräfin Maria Safjari verſprochen hatte; aber wohl
einjehend, daß die Befreiung nicht mit den Waffen in der Hand,
wie in jener Nacht, bewerfitelligt werben könne, und wiſſend,
daß er jept der einzige Vertheidiger der Gräfin war, begab er
ſich mit Giorgio, der damals mit ihm entwifcht war, nad) Turin,
und von dieſem treuen Diener geleitet, juchte er alle Freunde
der Gräfin Safari auf, um ihr Schidjal zu erzählen und zu
ihrer Befreiung aufzuſtacheln. Auch an den König gelangte fo
in Folge der unermübdlichen Beitrebungen des Seigneur de Cop:
poner die Grzählung von den Leiden Maria’, und er ſchwor,
Alles zu thun, um die Unglüdliche zu befreien. Aber der Krieg,
ver damals zwiſchen Haus Defterreih und Frankreich wüthete
und den König von Sardinien felbft den bejtändigen Wechſel des
Glückes erfahren ließ, brachte die Gefhichte der Gräfin Maria
Morig Hartmann, Werke. IV, 8
114 Novellen.
Saſſari wieder in Vergeſſenheit. Der Seigneur ve Copponer,
verzweifelnd, auf diefem Wege feinen Zwed zu erreichen, mar
aber daran, mit Anjtrengung feiner legten Mittel eine neue be:
mwaffnete Unternehmung vorzubereiten, al3 er durch feine Späher,
die er zu diefem Zmede ausgefhidt hatte, erfuhr, daß Gräfin
Maria weiter hinein ins Berner Land gebracht wurde. Ich darf
e3 jet nach vielen Jahren hier niederjchreiben, daß ich e3 war,
der ihm diefe Nachricht zufommen ließ, und daß er über das
Scdidjal der Gräfin überhaupt Vieles durch mich erfuhr.
In Folge jener Veränderung mußte er feine bewaffnete
Unternehmung wieder aufgeben, da es nicht möglich war, jo
weit in das Land vorzubringen. Er ging wieder nad Turin,
um auf alle Weife in diefer Sache zu wirken. Aber erft als in
Utrecht Friede gejhlofjen wurde, gelang e3 ihm, den König das
bin zu bringen, daß er feine Unterthbanin mit Kraft von Bern
zurüdverlangte. Es murben eigens zwei abelige Herren vom
Hofe al3 Kommifläre nach Bern geſchickt und diefen endlich die
Gräfin Maria Saſſari übergeben, volle neun Jahre, nachdem fie
der Madame Planteamour ausgeliefert wurde. Als fie in Turin
ankam, hielt jie Jedermann für eine Dame von wenigſtens fünfzig
Jahren; jo jehr war jie in dieſer Zeit gealtert. Ihre Haare
waren grau und ihr Gefiht hatte jo viele Falten, wie das Geſicht
einer Matrone. Die Königin wollte fie zu ihrer Hofdame maden,
und die Priefter fie als eine Märtyrerin des Glaubens feiern; fie
aber wies alle dieſe Ehren von ſich und zog ſich mit einer Benfion
von zweitaufend Liren, die ihr der König auszahlen ließ, in das
Thal von Aoſta zurüd, wohin ihr ihr treuer Diener Giorgio folgte,
um fie nicht zu verlafjen bis zu ihrem Tode. Diefer erfolgte ſchon
im Jahre 1720, wie ich vom Geigneur de Copponer erfahren
habe. Der alte Graf von Safjari ift nie wieder aus Schottland
zurüdgelehrt, und ich habe nie erfahren, wie es mit ihm endete.
Die ift eine der merkwürdigen Geſchichten, die ih als
Diener hoher Herrſchaften mit erlebt habe.
— — — ——
Bei Kunftreitern,
Man kann auch in einer holländiihen Stadt glüdlich fein,
jelbjt wenn diefe Stadt ihre hiſtoriſche Größe und Bedeutung
längjt eingebüßt bat; jelbit wenn zwiſchen dem ordentlichen
Pflafter diefer Stadt das Gras wächst, und felbft wenn fie nur
von Holländern bewohnt ift. Ich war um fo glüdlicher in einer
jolden Stadt, die ich nicht nennen will, al3 ich daſelbſt eine
liebenswürbige deutſche Familie kannte, welche ſich hier an«
jiebelte, um die vor Kurzem angeerbten Güter und deren Ber:
waltung in der Nähe überwachen zu können. ch hatte fie auf
einer Zuftreife kennen gelernt, war von ihr eingeladen und, al3
ich der Einladung ein Jahr fpäter folgte, mit einer Herzlichteit
empfangen worden, mit der man nur einen lieben Anverwandten
empfängt. In folder Fremde, in der man mit Sitten und Cha-
ralter der Einheimifchen nicht8 gemein hat, ift jeder Landsmann
ein Anverwandter, abgejehen von dem Intereſſe, das man für
Reifebelanntfchaften empfindet, deren Andenken fi jehr vor:
theilhaft mit den Erinnerungen einer ſchönen Luſtreiſe verknüpft
und mit diefen identisch wird. Was mich betrifft, ich bedurfte
diefer Erinnerungen nicht, um mich zu der deutichen Familie hin-
gezogen zu fühlen und um der Einladung, ungeachtet eines
großen Ummeges, fobald als thunlich zu folgen. Fräulein Elje,
die Tochter des Haufes, wäre ſtark genug geweſen, mich in viel
unmirthbarere Gegenden zu loden. Sie hatte während der kurzen
116 Novellen.
Reife mit ihrer lebhaften Anmuth, mit ihrem lieblihen Wefen
mein ganzed Herz gewonnen, und die Briefe, die ich während
unjerer Trennung von ihr erhielt, waren nicht geeignet, ihr An:
denken in mir erjterben zu lafjen. Auf den verjchievenften Wegen,
in den verſchiedenſten Gegenden, in den fernen Pyrenäen, wie
in dem traurigen Irland erheiterten fie mich und gaben mir das
Bewußtfein, deſſen der Wanderer jo ehr bedarf, daß e3 irgendwo
auf Erden einen Punkt gibt, da man gerne gefehen ift, da man
gemüthlic ausruhen könnte. Je größer die Anzahl dieſer Briefe
wurde, deſto größer wurde in mir die Sehnfucht nach diefer ge:
müthlihen Raft, und von Irland kommend, vernadhläfligte ich
die Schönheiten Schottlandd, um mich fo raſch ala möglich in
Leith nach Holland einzuſchiffen.
Seit vierzehn Tagen weilte ich bereits bei meinen Reiſe—
bekannten, und ſie waren mir ſchon mehr als Gaſtfreunde. Der
Vater gehörte ſeinen landwirthſchaftlichen Sommerbeſchäftigungen
an, da er als neuer Gutsbeſitzer in einem fremden Lande die
hieſige Art der Dekonomie mit deutſcher Gründlichkeit ſtudiren
wollte. Er verbrachte den größten Theil ſeiner Zeit auf den Fel—
dern und überließ mich ſeiner Tochter, die, da die Mutter längſt
geſtorben war, dem Hausweſen vorſtand. Noch mehr als für
dieſes Vertrauen war ich ihm für die Freuden, für die tiefen
Herzensergüſſe dankbar, die mir dieſer ungeſtörte Umgang mit
dem ebenſo ſchönen als liebenswürdigen Mädchen verſchaffte.
Wir ritten zuſammen aus, wir laſen, wir plauderten, wir
glaubten einander bis in die geheimſten Winkel unſeres Herzens
zu kennen und empfanden Beide die ſchöne Genugthuung, durch
dieſe nähere Bekanntſchaft Eines in des Andern Auge nichts ver:
loren zu haben. Die Heiterkeit unfere® Umgange® war uns
deſſen jichere Bürgſchaft.
An einem ſchönen September-Nachmittage folgten wir, trotz
einigem MWiderftreben, der Einladung mehrerer junger Männer,
die in der Stadt den Ton angaben und uns ſchon mehrere Male
aufgefordert hatten, mit ihnen einen Ritt nach einem ver [hönen
Bei Kunftreitern. 117
Punkte der Umgegend zu machen. Wir ritten wohl an zwei
Stunden ftarten Trabes ins Land hinein, ohne eine Veränderung
der Szenerie zu bemerken. Man fann in Holland eine Stunde
lang felbft auf der Eijenbahn die Augen im Schlafe jchließen,
ohne beim Erwachen zu bemerken, daß man nur wenige Schritte
weiter gekommen. Ein Kanal, auf dem fich eine Tredichuite lang:
ſam fortbewegt, ein Garten mit ölbeftrichenem Stadet, eine Wieje
mit wenigen Kühen, am Horizont eine unendliche Reihe von
Windmühlen, die langweilig ihre Flügel bewegen — das ift die
Landichaft, der man noch häufiger in der Natur als auf der
Leinwand der holländischen Maler ins Geſicht blidt. Auf un:
jerem Spazierritt war e3 nicht anders. Die Pferde bewegten
ih, die Sträucher rechts und links flogen an uns vorbei — die
Landſchaft blieb dieſelbe. Wir hielten vor einem Weghaufe, das,
etwas höher gelegen, die Ausficht über eine größere Anzahl von
Kanälen und Windmühlen gewährte, außerdem feines guten
Käfes, feines trefflichen Thees und feines guten Weines wegen
berühmt war; vor feiner Thür kreuzten fich mehrere Land» und
Waſſerſtraßen, und e3 war hier etwas lebhafter, als ſonſt im
offenen Lande diejes dem Meere abgerungenen Sumpfbodens.
Die Jugend der ...... r guten Gefjelljhaft fand an dem
Champagner fo großes und dauerndes Gefallen, daß es ziemlich
ſpät wurde, ehe man fich auf ven Weg machte und mehrere un:
jerer Begleiter nur mit großer Schwierigkeit im Sattel die rechte
Stellung fanden. Es ging beim Auffigen, troß der Gegenwart
mehrerer Damen, fo lärmend ber, daß demnächſt Rohheit zu be:
fürdten war. Elſe entfchloß ſich kurz, gab ihrem Pferbe die
Sporen und galoppirte vorwärts, Ich folgte ihr und bald hatten
wir die ganze Gefellfehaft weit hinter und. Wir verloren nicht
viel dabei, denn feit Stunden drehte fich das Gefpräd um nichts
Anderes, als um Pferde und Pferdezucht, und daran ans
fnüpfend, um eine Runftreiter: Gefellfchaft, die man in diejen
Tagen in Amſterdam erwartete und um die Heldin des Cirkus,
die Laurabella. Es that uns fo wohl, nad) mehreren geräufc:
118 Novellen.
vollen Stunden wieder allein zu fein, daß Elfe einen Nebenweg
einihlug, der und, wenn aud mit einigem Zeitverluft, doch
fiher nad Haufe bringen und vor der MWiedervereinigung mit
der Gefellihaft hüten follte.
Aber Elje mußte ſich geirrt haben, denn wir ritten und
ritten, freilich in behaglihem Schritt, der ein ebenjo behagliches
Geſpräch erlaubte, ohne in befannte Negionen zu fommen. Die
Tage waren fhon kurz und die Nacht war da, ehe wir uns ihrer
verjahen. Mit der Naht waren plöglic ſchwarze Gewittermwolfen
beraufgezogen, und bald ſahen wir den Weg nur vermittelft des
Bliges. Schon tröpfelte der Regen herab, wir gaben den Pferden
die Sporen, ſchon jtrömte e8 vom Himmel, und Donnerfchlag
folgte auf Donnerſchlag. Wir befanden uns in einer Lage wie
Dido und Aeneas und hatten uns außerdem verirrt. Elſe hatte
fih zu fichere Kenntniß des Landes zugetraut, und jelbit bei der
beiten Kenntniß wäre e3 in dunkler Nacht und bei ftrömendem
Regen ſchwer gewefen, fich zurecht zu finden. Die Straße lief
in vielfahen Mündungen zwifhen Kanälen und Gräben hin;
wir mußten ihr folgen, da es in feinem Lande fo ſchwer ift, wie
in Holland, querfelvein ven Weg abzufürzen oder eine Zuflucht
zu ſuchen. Erſt nad einem Ritt, der uns bei den vielen Unan—
nehmlichkeiten fehr lang erſchien, entvedten wir recht3 von unſerem
Mege, etwa zweihundert Schritte weit von uns, ein Licht, das
unregelmäßig aus Fenſtern und Spalten eines Gebäudes zu
dringen jhien. Glüdlicherweife führte an diefer Stelle eine Brüde
über den Kanal und vom Kanal aus ein Weg dem Lichte ent:
gegen. Wir folgten diefem Wege und famen an ein Thor, das
eine Stadetenwand ſchloß, und wir vermutheten, daß das Ge:
bäude, aus dem das Licht fam, eine Scheune fei, wie fie ji
auf den großen eingezäunten Wiefen Hollands zu finden pflegt.
Auch eine Scheune war und bei dem immer heftiger ſtrömenden
Regen als Zufluchtsſtätte höchſt willlommen. Ich itieg ab, öffnete
das Stadetenthbor und führte mein und Elſe's Pferd der Scheune
entgegen. Der Weg führte gerade an das Scheunenthor, dennoch
Bei Kunftreitern. 119
mußte ich lange klopfen, bi3 e3 geöffnet wurde, denn der Lärm
de3 Donners, der noh immer grollte, de3 ftrömenden Regen,
verbunden mit Pferdewiebern und Gejtampf, welches zugleich
mit einem höchſt eigenthümlihen Geſummſe und vielftimmigen
Gejang aus dem Innern der Scheune fam, machte, daß mein
Klopfen und Rufen nicht gehört wurde. Endlich wurde geöffnet.
Ein Heiner brauner Junge jah ung mit großen ſchwarzen Augen
an, verjtand uns bald und lud ung ein, jo raſch als möglich
einzutreten, indem er Fräulein Elfe mit vielem Gefchid vom
Pferde half, während er zugleich den Zaum meines Thieres er:
griff. Diefes ſchien erfchroden über ven Anblid, den das Innere
der Scheune bot; aber der Junge behandelte e3 als ein Mann,
der fih auf wilde Pferde veriteht, und bradte e3 rafch wieder
zur Ruhe. Er führte die Thiere in die Scheune und wir
folgten ihm.
Ein wunderbares Schaufpiel erwartete uns, ein Schaufpiel,
das und Beiden ein erftauntes Ach! ebenfo fchnell bervorrief ala
unterdrückte. Die ganze Scheune bildete einen einzigen, großen,
weiten, ungetheilten Raum; auf diefem mweiten Raume boten fich
die verſchiedenſten Gruppen in verſchiedener Beleuchtung. Bei:
nahe die ganze Hälfte der Scheune recht vom Thor, durch das
wir eintraten, war von Pferden der verfchiedeniten Größen und
Racen eingenommen, von denen einige aus Trögen fraßen,
andere neugierig und Flug den Neuangelommenen entgegenfahen,
noch andere bereit3 auf dem Stroh lagen, um, wie e3 fchien,
nad langem, ermüdenden Marjche auszuruben. inzelne Stall:
laternen an den Wänden und Holjpfeilern beleuchteten fie und
einzelne Männer, die zmwijchen ihnen und hinter ihnen auf dem
Stroh lagen, mit dämmerigem Lichte. Die Männer erfreuten
ji eines tiefen Schlafes, trog dem Lärm des Ungewitters und
der mannigfahen Töne, die fih in der Scheune jelbjt hören
ließen. Cigenthümlicher aber war der Anblid, den der Winkel
links am andern Ende der Scheune gewährte, Diefer war in
volles Licht getaucht, und dieſes Licht fam von den vielen Stall:
120 Novellen.
laternen, die dort an den Holzwänden angebraht waren, von
zwei großen Kerzen, die vor einer Art improvifirten Betpultes
brannten, und von zehn bis zwölf großen, gelben, aus rohem
Wachs gefneteten Machskerzen, die alle zufammen in einem mit
Sand angefüllten Futtertroge rechts vom Betpulte ftafen. In
diefer hellerleuchteten Abtheilung der Echeune ftand eine höchſt
auffallende VBerfammlung von Männern. Gie alle hatten weiße
wollene oder damaftene, von ſchwarzen oder blauen Bändern
eingefaßte Mäntel umgeworfen, von deren Eden vier gleihmäßig .
gebundene, länglihe Wollfadenbüſchel herabfielen und die oben,
an dem Theile, der den Naden bevedte, mit filbernen oder
goldenen Treffen befegt waren. Mehrere diefer Männer trugen
unter dem Mantel lange, weiße, leinene Kittel, vie faltig bis
über die Anöchel herabfielen, geſchloſſen und in der Mitte ver:
mittelft einer Schnur am Leibe fejtgehalten waren. Der Mann,
der in einem foldhen Kittel an dem Betpulte, in der Nähe ver
Wachskerzen jtand, hatte die Bruft mit einem aus Silbertrefjen
zufammengejegten vieredigen Schilde geziert. Die Männer in
den Hitteln trugen auf dem Kopfe weiße Hauben, die zum Theil
mit Stidereien bededt waren; die andern hatten Hüte oder ge
wöhnlihe Müten auf. Sämmtliche Männer ftanden in einer
Richtung dem Betpulte zugefehrt. So ftille als fie daſtanden,
fo ftille faßen hinter ihnen auf ausgebreitetem Stroh mehrere
Meiber und Mädchen, deren mande ein jchlafendes oder wachen:
des Kind auf dem Schooße oder in den Armen bielt. Der weib:
liche Theil der Verfammlung hatte, das andächtige Schweigen
abgerechnet, nichts Feierliches oder Feltlihes. Die Frauen und
Mädchen waren im äußerften Neglige ; fie lagen oder ſaßen höchft
ungezwungen auf dem Stroh, die Haare ordnungslos zurüdges
ftrihen, oder über Bruft und Schulter herabfallend, die gemöhn-
lichſten Werktagskleiver nach Bequemlichkeit loſe gemacht oder ver:
fchoben. Hinter diefer Gruppe, ganz nahe dem Thore, ſtand
eine lange Reihe von Kajten und Kiften, welche theilweife ge:
öffnet waren und einen Blid in ihr Inneres geftatteten. Da
Bei Kunftreitern. 121
waren die phantajtifchjten männlichen und weiblihen Trachten
aufgehäuft, melde alle Farben fpielten und meift mit Gold—
treſſen, Schleifen und allerlei Shimmerndem Geflimmer geſchmückt
waren. Zwiſchen den Kijten orbnungslos zerftreut lagen und
ragten hervor allerlei buntbemalte Reifen, Stangen, Fahnen
und anderer ähnlicher Hausrath wandernder Kunftreiter: Gefell:
Ichaften.
Es war fein Zweifel: wir befanden ung bei einer Kunftreiter:
Gefellihaft und zwar höchſt wahrjcheinlich bei der im Lande be-
rühmten Truppe Wullenwebers, deren Ankunft feit mehreren Tagen
in Amfterdam erwartet wurde. Das erkannten wir fogleich bei
unjerem Eintritt; aber die in dem beleuchteten Winkel ftehenden,
in Zodtenhemden gehüllten Männer, ihr ſtilles Gebahren und
die jonderbare Beleuchtung blieben Elfen noch immer ein Räthſel.
Sie wandte ſich mit erftaunt fragendem Gefichte zu mir. „Merten
Gie es nicht?” flüfterte ich, der größte Theil der Gefellichaft be—
ſteht aus Juden; fie feiern den Vorabend des Verjöhnungstages.
Der Vorfänger verrichtet jegt fein ftilles Gebet, daß ihn Gott
würdig mache, der Gemeinde vworzubeten, und feiner Qunge
Kraft ‚gebe. Wenn dieß vollendet ift, wird er zu fingen an—
fangen; achten Sie auf die Melodie, Elfe, fie iſt höchſt originell
und rührend.”
„So!“ Tispelte Elfe ängftlih und neugierig zugleih und
näherte fih der Gruppe der Weiber. Eine verjelben, die auf
einem Strohbunde jaß und einen Säugling an der Bruft hielt,
rüdte etwas bei Seite und lud fie ein, ſich zu fegen, ſprach aber
nur leife, wie um die Andacht der Andern und ihre eigene nicht
zu ftören. Ihr ganzes Weſen war das einer guten und beforgten
Mutter aus dem Volke. Ihre Aufmerkfamkeit war jehr getheilt
zwiſchen ver religiöfen Andacht und der Sorgfalt für das Kind,
das fie verhüllt und mit Tüchern bevedt am Buſen hielt. Von
Zeit zu Zeit hob fie eines der Tücher und blidte mit jchmerz-
lichem Ausdrud auf das bleiche, offenbar kranke Geficht des
Kindes. Bei jeder Bewegung deſſelben zitterte fie am ganzen
122 Novellen,
Körper und ließ das hebräiſche Buch, das aufgejhlagen auf
ihren Rnieen lag, auf den Boden fallen, ohne es zu beachten,
mit wie großer Frömmigkeit fie es auch jedes Mal aufbob, fo
oft das Kind ruhig wurde. Sie führte dann das Bud an die
Lippen und küßte die hebräijchen Zettern. Sie war auch ge
Heivet wie eine Frau aus vem Volke. Ein großes Tu, defjen
einer Zipfel über den Nüden berabfiel und das unter dem Kinn
zufammengebunden war, bededte Kopf und Haare, welche legtere
trogdem ſchwarz und in biden, aufgelösten Scheiteln auf bie
blafien Wangen hervorquollen. Ein gemwöhnliches, fehr ſchlichtes,
braunes Kattunfleid, das in der Mitte von einem dünnen Tuche
zufammengehalten war, bedeckte die Geftalt, die die Fülle einer
Frau in den beiten Jahren verrieth. Nur die ſchwarzen, glühen:
den Augen hatten etwas, was mit der hausmütterlihen und zu-
gleih frommen Situation der Frau nicht zufammengeftimmt
baben würde, wenn fie nicht der Ausdruck fanfter Trauer. ges
mildert hätte,
Elſe ſah das fchöne, werblühte Geficht der ebenjo zärtlichen
al3 frommen Mutter anfangs mit mitleidigen Bliden an, nad
und nad) jchien ſich das Mitleid in ein gewiſſes Intereſſe, jelbit
in Erftaunen zu verwandeln. Endlich, nahdem fie die Frau
wiederholt beobachtet, jhien fie ihrer Sache gewiß zu fein, und
raunte mir ind Ohr: „Wiſſen Sie, wer die Frau iſt?“
Ich ſchüttelte ven Kopf.
„Zaurabella !” flüfterte Elfe weiter. „Weiß der Himmel, e3
ift die Laurabella, die große Laurabella, das erfte Sujet der
Geſellſchaft, die berühmte Neiterin, der Liebling des Publikums
und das Ziel aller Stuger, die Rivalin der Cuzent und heute
fo berühmt, wie vor einigen Jahren Landrinette und Adelheid
Hinne. Cine Heroin de3 Circus; — feit vierzehn Tagen ſchlagen
ihr in Amfterdam taufend Herzen voll Sehnfucht entgegen. Die
fennen Gie nicht? Sie find ſehr zurüd.“
Mährend mir Elfo fo ins Ohr flüßerte, fing das Kind zu
meinen an. Laurabella erhob fih und ging an das Thor, jo
Bei Kunftreitern. 123
fern ald möglich von der betenden Gemeinde, und lief dort tän-
zelnd auf und ab, indem fie das Kind auf den Armen wiegte.
Elje folgte ihr voll Neugierde und wie unmwillfürlih. Als das
Kind wieder ruhiger wurde und Laurabella am Scheunenthor in
einem Winkel jtehen blieb, näherte fie ſich mit jener Neugierde,
welche die Frau der guten Gefellihaft der Frau gegenüber, die
einer abenteuerlichen Welt angehört, immer empfindet und der
fie gerne den Zügel hießen läßt, wenn es die Umftände erlauben.
„Ihr armes Kind ift Fran?“ fragte fie theilnehmend.
„Seit mehr als acht Tagen,” jeufzte die Angeredete; „das
arme Würmlein, wie foll es geneſen? Seit fünf Tagen find wir
auf der Reife — feine Ruhe, keine Pflege möglid — kaum daß
ib mit einem Arzte ſprechen konnte.”
Sie jagte das Alles jo traurig und in kurzen, abgebrodenen
Morten, dab Elſe's Theilnahme fih in wahrhaftiges Mitleid
verwandelte.
„Nun,“ ſagte fie tröftend, „Sie gehen ja nach Amſterdam,
jo viel ich weiß; dort finden Sie Aerzte und werden das Kind
in Rube pflegen können.“
„Wenn wir nur erjt dort wären! Wir bewegen ung mit
unjeren Pferden und dem ungeheuern Gepäd jo langjam fort,
und morgen müflen wir des Feiertages wegen bier rajten.“
„Könnten Sie nit voraus reifen?“
„Bir dürfen nicht reifen an einem jo hoben Feiertag, mein
Fräulein; es ift der Verföhnungstag, der höchſte und. ftrengite
Feiertag der Juden.”
„Ich glaubte immer, Sie wären eine Spanierin?” fagte
Elje in fragendem Tone.
Zaurabella lächelte. — „Cine Spanierin bin ih nur auf der
Affiche und nur auf der Affiche heiße ich Laurabella. Im Leben
. heiße ich Setthen Mannheimer und bin aus Paderborn. Das
thut man jo. Für Jettchen Mannheimer hätte fich fein Stußer
der Melt intereflirt, aber Sennora Laurabella aus Valencia ift
ſchnell berühmt geworden.“
124 Novellen.
Laurabella ſchien bereit, noch Manches in ironifhem Tone
ihrer Rede hinzufügen zu wollen, aber fie unterbrach fich plöglich
und ging raſch auf ihren vorigen Pla zurüd, denn das Gebet
begann.
„Jetzt horchen Sie!“ fagte ich zu Elfe.
Der Vorfänger hatte fein ftilles Gebet vollendet und begann
das laute, das mit den Morten anfängt: „Alle Gelübve, alle
Schwüre.“
Die traditionelle Melodie dieſes Liedes, die vielleicht Jahr:
hunderte alt, iſt überaus melandoliih, janft und herzergreifend,
wenn fie von einem geſchickten Sänger vorgetragen wird. Herr
MWullenweber, der Direktor der Kunftreitergefellichaft, der ven
Vorbeter machte, ſchien mufilalifhen Sinn zu haben, denn er
machte fie in ihrer ganzen tiefen Melancholie geltend. Kaum
hatte er einige Takte gefungen, als bereit3 die Weiber zu ſchluch—
zen anfingen und jelbjt einige der betenden Männer, die vor
ihnen ftanden, tiefe Seufzer ausftießen. Bald erjcholl lautes
Meinen und mit folder Heftigkeit, al3 wäre es den Betenven
nicht möglih, das überwallende Gefühl zurüdzubrängen. Die
hriftlihen Mitglieder der Truppe, die da und dort in der
Scheune auf dem Stroh lagen, erhoben die Köpfe und blidten
die zerfnirfchten und weinenden Beter mit eben jo viel Erftaunen
an, wie meine Begleiterin.
„Was mögen nur die hebräifchen Worte jagen, die der Vor:
beter fingt ?” fragte Elfe.
„Diefe Worte,“ antwortete ich ihr, „haben eigentlich nichts,
was die Beter jo jehr rühren könnte, auch verftehen fie fie nicht.”
„Barum meinen fie denn fo fehr? Die Melodie ift zwar
jehr originell und rührend, aber doch nicht fo fehr aufregend.”
„Mein Fräulein,” fagte ich, indem ich mich zu ihr feßte,
„die große Feier beginnt. Morgen it der große Gerichtstag, da
tritt der Böfe vor den Herrn und Elagt an, gerabe jo, wie Sie
ed aus dem Fauftprolog im Himmel fennen. Morgen werden
die Schidjale der Menſchen für diefes ganze Jahr feftgeftellt, in
Bei Kunfireitern. 125
ein Buch gejchrieben und bejiegelt. Morgen werden die Sünden
vergeben oder die Strafen für die umverzeihlichen bejtimmt von
Gott, dem Allmächtigen. Da wird beftimmt, wer durch euer,
wer durch Waller, wer durch Peſt zc. zu Grunde gehen joll —
ba wird jegliches Glüd und Unglüd verhängt. Alles Elend, das
diefe Elenden in diefem vergangenen Jahre getragen, ift ihnen
jo am letten Verföhnungsdtage verhängt worden. Nun, mit dem
Beginn der Feier, erinnern fie ſich plöglih aller Drangfale,
aller Mühjfeligkeit, aller Verluſte, aller Schmerzen und, ad,
aller Verachtung, die fie in diefem Jahre getragen. Sie weinen
vor Gram über Vergangenes und vor Angjt vor dem Zufünfti-
gen. D, ihre Herzen find in diefem Augenblide vom gefättigtiten
Kummer erfüllt; alle Leiden des Menſchen, alle Leiden ihres
Standes, und vorzugsweife alle Leiden des Juden ftehen jegt in
Schaaren vor den Augen ihrer Geele.“
„Sie find ein Poet,“ fagte Elje lächelnd, „glauben Sie, daß
Zaurabella, die als Sylphe durch ſechs Reifen jpringt und vier
Pferde zugleich reitet, dafjelbe fühlt”
„Sehen Sie die Laurabella jegt an,” antwortete ich.
Zaurabella hielt mit beiven Armen da3 Kiffen umklammert,
in welches ihr Kind gehüllt war, und hielt ſich fo vorgebeugt,
daß ihre Wange auf dem Kiffen ruhte. Das Tuch war ihr halb
Som Kopfe gefunfen und ihre viden, ſchwarzen Haare fielen wie
ein ſchwarzer Schleier über das helle Gefiht. Ihr ganzer Körper
zudte krampfhaft unter dem Schluchzen, das aus tiefſtem Herzen
zu fommen ſchien, während das Kiffen, auf dem ihr Kopf lag,
von Thränen naß mar. |
„Sonderbar,” ſagte Elje Eopfichüttelnd, „wer hätte ſich
Zaurabella jemals fo vorgeftellt? Und Sie, lieber Freund, was
iſt Ihnen? Sie jehen ja eigenthümlich aus.”
„Bielleicht etwas ergriffen,” ſagte ih und legte mein Geficht
in beide Hände.
Indeſſen war jene3 Lied zu Ende gefungen; es folgten
andere, dann wieder Gebete, die entweder ftill oder etwas lauter
126 Novellen.
monoton hingemurmelt wurden. Das Ungemitter hatte fi auch
beruhigt und der Regen fiel Flopfend auf die Holzdeden ver
Scheune. Der Regen, dad Murmeln der Beter, die Athemzüge
der Schläfer woben, da auch das heftige Weinen aufgehört
hatte, durd das ganze Gebäude ein traumhaftes Gewebe von
Tönen. Ich brütete, vertiefte mich in alte Erinnerungen und
empfand endlich ein fo ſchmerzliches Behagen, daß ich jelbit un:
geduldig wurde, wenn mich Elfe mit Fragen nad diejem und
jenem im jüdifhen Kultus oder au den Urſachen meiner Ber:
tiefung ftörte. Al3 dann der Vorſänger das Lied begann: „Wie
der Thon in der Hand des Töpfers, wie das Silber in der Hand
des Goldſchmieds, jo find wir in der Hand des Schöpfers,“ fiel
ih mit halber Stimme ein und jang zum größten Erftaunen
Elſe's die Melodie mit, wie eine altbefannte.
„Woher kennen Sie das Alles jo genau?” fragte fie, „und
überhaupt was ift Ihnen? Sie find, wie ich Sie nie gefehen
babe, aufgeregt, vertieft, gerührt, al3 ob Ihnen plöglih ein
Unglüd gejchehen wäre, erklären Gie mir —“
„Kommen Sie,” erwiderte ih, indem ich auffitand, „ber
Regen hat aufgehört; find wir in freier Luft, will ih Ihnen
erklären.“
Wir jagten noch Zaurabella Adieu, ſchwangen ung auf die
Pferde, die derjelbe Junge ung vorführte, der fie und abgenome
men hatte, gaben diejem ein Trinkgeld und trabten davon. Die
Naht war nad dem Gewitter Kar und heiter geworden; ber
Mond trat aus den Wolken, die ih am Himmel verfpätet hatten
und nun mit Eile den verſchwundenen Gemwitterwolfen nachzu⸗
fliegen ſchienen. Wir fahen weit ins Land hinaus; vie breiten
Straßen lagen weiß und deutlich vor uns.
„Nun,“ fagte Elfe, indem fie plöglic ihr Pferd langſamen
Schrittes gehen ließ, „nun erklären Sie mir, wie Sie zu der
Kenntniß diefer jüdifchen Gebräuche gefommen find, woher Sie
ſelbſt diefe Melodien kennen. Sonft find uns alle diefe Dinge
doch fo unbekannt, trogdem die Juden in unferer Mitte leben.”
Bei Kunftreitern. 127
„Ich will Ihnen eine Geſchichte erzählen.“
„Ah, e3 ſteckt eine Geſchichte dahinter, das ift prächtig, er—
zählen Sie. Gewiß haben Sie einmal einer jhönen Jüdin den
Hof gemacht und fih, wie der Tenor in der Halevy'ſchen Oper,
al3 Jude unter den Juden herumgetrieben.”
„Nein, es ift anders.”
„Bor ungefähr zwanzig Jahren lebte in der Hauptitadt
unferer Provinz ein Judenmädchen, das als ein Wunder der
Schönheit gerühmt wurde. Nehmen Sie an, daß diefer Ruhm
volllommen und in allen Theilen gerechtfertigt war, und erlafjen
Sie mir die Beichreibung. Ich kann nur jagen, daß ich bis auf
ven heutigen Tag troß aller meiner Reifen feine Frau, fein
Mädchen gefehen, das fih mit dem Bilde, da3 in meiner Er-
innerung lebt, hätte mefjen können. Dieſe ſchöne Jüdin, obwohl
fie wohlhabende nahe Anverwandte hatte, war ſehr arm, die
Tochter jehr bevürftiger Eltern. Um dieſe zu ernähren, ſaß fie
in einer elenden hölzernen Bude, melde in einem der vielen
äußern Winkel eines alten fürftlihen Palaftes ftand, und ver:
faufte Watte und allerlei Baummollenwaaren. Bor diefer Bude
ftanden oft die Reifenden, um die größte Merkwürdigkeit der
Stadt anzuftaunen. Unter dem Vorwande, die Architektur des
Palaftes, feine Säulen, Bogen und Karyatiden zu betrachten —
denn einer Sage nad follten Plan und Zeihnung von Michel
Angelo herrühren — gingen fie halbe Stunden lang um bie
Bude im Halbkreife herum und vergaßen Michel Angelo über
der fhönen Yüdin. Trogdem der Neid den guten Ruf ungern
bei der Schönheit wohnen läßt, erfreute fih Lea — fo hieß fie
— doch des allerbeften Leumundes; ihren Augen fah man es an,
daß ihre Heiterkeit troß aller Armuth eben fo groß war, al3 ihre
Schönheit, und die fie näher fannten, verficherten, daß ihre Güte
hinter ihrer Schönheit nicht zurüdftehe. Eines Tages kam der
Fürft, dem der alte Palaft gehörte, ein Mann von ungefähr
dreißig Jahren, der den größten Theil ſeines Lebens bei Hofe
zugebradt hatte, in die Provinzialftadt zurüd, Er bewohnte eine
128 Novellen,
Villa in der nächſten Nähe der Stadt, aber er wollte doch den
alten verlafienen Balajt feiner Väter in Augenschein nehmen und
er ſah, wie alle andern Reifenden, nur Lea. Sofort ſchämte er
fi) der zwanzig Gulden, die ihm, dem Befiger des Winkels, den
Lea al3 Mietherin mit ihrer Holzbude einnahm, feine Renten
vermehrten. Er redete fie al3 ihr Miethherr an, er wollte ihr
die Miethe für einige Zeit ſchenken; Lea mies das Gejchent
zurüd. Bald darauf verließ der Fürft die Villa und richtete ſich
in dem Balafte ein, und zwar in einem Flügel, aus deſſen
Fenftern er Lea den ganzen Tag betrachten konnte. Der Skandal
war bald fehr groß in der ganzen Stadt; Lea ſchloß ihre Bude
und fie war brodlos, während es hieß, daß nun ein glänzendes,
wenn auch nicht ehrenfejtes Leben für fie beginne. Man irrte
fih. Der Fürft hatte nicht den geringften Verſuch gemacht, fie
herabzumwürbigen; er liebte fie und — er heirathete fie. Nun erjt
war der Skandal in den zwei entgegengejegten Klafien der Gefell«
fchaft, bei ven Ariftofraten und bei den Paria's der Juden, jehr
groß. Die Ariftofraten ärgerten fich über die Mesalliance, die
Juden über die Taufe der jchönen Jüdin. Aber auch viefer
Skandal verraudte. Der Fürft war mächtig, unabhängig und
bei Hofe ſehr einflußreih. Er hatte die Kaiferin, die jehr fromm
war, beinahe von Anfang an auf feiner Seite, weil er durch die
Taufe eine Seele gerettet hatte, und fie wünſchte die ſchöne Fürftin
in ihrer Nähe zu haben, um das gottgefällige Werk zu Ende zu
führen und fie in den Glauben und feine Geheimnifje felbft ein-
weihen zu können. Sie empfing fie, fie machte fie zu ihrer Hof:
dame, und faum drei Jahre nach der Taufe war diefelbe Lea,
die aber jetzt Therefe hieß, welche in ver Holzbude Watte ver:
fauft hatte, Sternfreuzordensdame. Das ſcheint Ihnen unglaub-
lich, aber was ich Ihnen hier erzähle, ift hiſt oriſch. Der Fürft
war eben ein Mann voll Energie, der feine Frau wirklich liebte,
und den der Miderfpruch der Ariftofratie gereizt hatte. Er hatte
von jeber durchgeſetzt, was er wollte.
„Richt fo raſch wie die Ariftofratie beruhigte fi das Juden⸗
Bei Kunftreitern 129
thbum. Die Fürftin Thereſe gehörte einer Rabbinerfamilie an,
und die ganze Gemeinde betrachtete e3 als ein ganz bejonderes
Unglüd und al eine noch größere Schande, daß ein Sprößling
gerade diefes Stammes abgefallen war. Ein Theil ihrer Familie
legte Trauer an, wie um einen Hingejchiedenen (doc nicht ihre
Eltern, die-fih in das Unvermeidlihe fügten und die Tochter
nah wie vor liebten), ein anderer Theil aber jah mit der Er:
bebung der Anverwandten eine glänzendere Zukunft heraufziehen.
Und als e3 endlich fiher war, daß die Fürftin bei Hofe empfan-
gen, die Freundin der Kaiferin und in Folge ihrer bezaubernden
Schönheit und der Macht ihres Gatten eine hödhjft einflußreiche
Perfönlichkeit wurde, machte fich diefer Theil der Yamilie mit
dem Gedanken, zum Chrijtenthbum überzugehen, vertraut und e3
famen ſchon da oder dort einzelne Ueberläufer vor, die es nicht
erwarten fonnten, unter dem Schuße der hohen Anverwandten
und als Ehriften ihr Glüd zu machen.
„Bu der Familie gehörte auch ein ziemlich wohlhabenvder
Mann, der Anfangs über den Abfall Lea’s fehr entrüftet war
und mit feinem zehnjährigen Knaben eifriger und fleißiger als je
die Synagoge bejuchte. Um jein Kind vor einem ähnlichen Ab:
fall zu bewahren, ließ er es die fünf Bücher und die Propheten
in der Urfprache ftudiren und hielt e8 mit der größten Strenge
zur Ausübung aller religiöfen Formen und Geremonien an, Aber
denjelben Knaben, der fih gewöhnt hatte, in der Frömmigkeit
zu jchwelgen, führte er ungefähr drei Jahre jpäter in die Kirche,
und als fie wieder heraustraten, jagte er ihm, daß fie Beide
nunmehr Chriften jeien. Der Knabe brach in Weinen aus, aber
der Vater verficherte ihn, es fei jo bejler, und er habe nur als
guter Vater für feine Zukunft geſorgt. Wir verließen die Stadt
und zogen in die Reſidenz, wo mein Bater in der That eine
glänzende Garriere machte, denn er war eben fo Hug als unter:
richtet —“
„Wie!“ rief Elje und hielt ihr Pferd an, „Ihr Vater? Sie
ipreben von Ihrem Bater? Sie fprechen von ſich?“
Morik Hartmann, Werke VI. 9
130 Novellen.
„Allerdings! der Knabe, von dem ich ſpreche, war ich.“
„Unmöglich!“
„Doch! Ich erzähle Ihnen keine Märchen. Aber warum ſind
Sie fo blaß? Ich ſehe es ſelbſt beim Mondſchein, daß Sie er:
blaſſen.“
„Sie ſind ein Jude? Sie ſcherzen; ich kann es nicht glauben.“
„Fräulein Elfe, id ſcherze nicht.“
„Barum haben Sie mir das nicht früher gefagt?“ fragte Elje
mit einem Tone, der den bitterften Vorwurf verhüllen follte,
„Wäre e3 mir je eingefallen, dab die Mittheilung Sie in
ſolche Aufregung verfegen könnte, ich hätte es längft gethan, oder
ich hätte Ihre nähere Bekanntſchaft nicht gefucht.“
Elje ritt weiter, ich folgte ihr und fuhr fort: „Ich könnte
Ahnen fagen, daß ich bei Ihrer Freundschaft für mich, bei Ihrer
Bildung, eine ſolche Mittheilung für überflüflig hielt, aber das
wäre nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ift, daß ich
nicht daran gedacht habe, daß ich es längft vergefien habe, jemals
ein Jude gemwefen zu jein. Bon jenem Momente der Taufe an
kebten wir nur unter Chriſten. Ich dachte nie an mein einjtiges
Judenthum, jelbft nicht, wenn ich mit Juden zufammentraf. Nur
wenn ich die alten Melodien meiner Jugend wieder fingen höre,
wie diefen Abend, wenn ich dieſe religiöfen Bräuche wieder ſehe,
an denen ich einft mit ganzer kindlicher Seele hing, erwacht die
Erinnerung jo mädtig und wühlt mein ganzes Herz auf, daß ich
weinen möchte — und wenn ich fehe, wie der Name noch immer
Schreden und Verzweiflung einflößt — mie vielleicht jetzt, fo
möchte ich gleich wieder abfallen, ein neuer Apoftat, nur hinüber
laufen in das Lager der Schwächern.”
„Was wird mein Bater fagen !” rief Elſe.
„Darauf kommt es nicht an, mein Fräulein. Was Sie jagen,
Sie, das iſt das Richtigſte, oder vielmehr was Sie verſchweigen
und nit zu fagen brauchen,“ erwiderte ich mit einer Bitterkeit,
deren ich mich Elfen gegenüber einige Stunden früher nicht für
fähig gehalten hätte.
Bei Kunftreitern. 131
Elfe ſchwieg und ritt ſchweigend weiter; ich eben fo ſchweigend
neben ihr. Nach ungefähr einer Stunde hielten wir vor ihrem
Haufe. Ich ſprang ab und half ihr vom Pferde, dann ſchwang
ich mich wieder in den Sattel.
„Was thun Sie?" fragte Elfe. „Wohin wollen Sie?"
„Nah Amfterdam !” rief ich, „vielleiht zur Kunftreitergejell:
ſchaft, vielleicht in die Synagoge!”
Und id ritt in die Nacht hinein. Ich habe Elfe nie wieder
gejeben.
Selvaggia.
Auszug und Bearbeitung einer italienifhen Chronik des fiebenzehnten
Jahrhunderts.
Troß des lebhaften Verfehres, der zmwifchen dem Hofe des
ſpaniſchen Vizekönigs von Neapel und dem Hofe Sr. Heiligkeit
des Papites zu Rom, befonders al3 Innocenz X. Bampbili auf
Petri Stuhl ſaß, ſtattfand; trogdem diejer Verkehr auf der Straße
zwijchen den zwei großen Hauptitädten, ſeitdem die Unruhen ver
neapolitanifchen Filcher unter ihrem Häuptlinge, Thomas Agnelo,
zablreihe Flüchtlinge ind Ausland jagten, noch zugenommen
hatte, war die Heine Stadt Piperno an einem gewiſſen Herbit:
tage des Jahres 1647 von einer ungemwöhnlih großen Anzahl
von Neifenden erfüllt, und waren ihre wenigen Gafjen dicht ge:
drängt von den glänzend gefleideten Fremden und von den armen
Einwohnern, welche jämmtlich ihre Häufer verlaflen hatten, um
die Reifenden in Sammet und Seide zu betrachten. Vor der
Herberge ftanden ganze Heerden von Maulthieren und Pferden,
zwiſchen ihnen, von Stallfnehten und andern Dienern bewacht,
lagen und ftanden Nachtſäcke, Felleifen, Koffer und mehrere ein:
fabe und einige prächtige Tragjefjel, deren einer von einem Bal—
dacin mit einer fürftlichen Krone überdadht war. Pagen, Kammer:
frauen und Diener jeder Art ſahen mit Verachtung das ftaunende
Volk an, während mehrere in fpanifhe Tracht gekleivete Herren
bejcheiden vor dem Hauſe auf: und niedergingen und dem Volke,
Selvaggia. 133
das ſich heran drängte, gefällig Platz machten. Dieſe Edelleute,
wie die zahlreichen Diener gehörten ſämmtlich zum Gefolge der
Fürſtin Della Rocca, welche gegen Abend aus Neapel angekommen
war, wie ſo viele Andere, in der Abſicht, den Unruhen zu ent—
fliehen, und die Wiederherſtellung der ſpaniſchen Herrſchaft in
Rom abzuwarten. Die Fürſtin ſelbſt war nicht zu ſehen. Kaum
angekommen, hatte ſie ſich, ſo zu ſagen aus der Sänfte, auf ein
Pferd geſchwungen, um in Geſellſchaft einer Kammerfrau und
eines einzigen Cameriere aus dem Städtchen hinauszureiten und
ſich in der Umgegend umzuſehen. Auf einem Hügel angekommen,
hatte ſie die Ausſicht in eine Bodenvertiefung, die wie ein Ge—
birgsthal ausſah und von der der Fremde, von der Seite des
Städtchens her, keine Ahnung hatte. In dem Thale lag ein
gewaltiges Kloſter, von einem kleinen Dorfe und von prächtigen
Hainen und Gärten umgeben. Die Fürſtin, die der ſchöne An—
blick anlockte, glaubte das Kloſter in wenigen Minuten erreichen
zu können, merkte aber bald, daß ſie nur auf einem vielfach ge—
wundenen Pfade erſt hinab in das Thal und dann auf einem
ebenſo gewundenen Pfade hinauf in das Kloſter gelangen konnte,
das auf halber Höhe des jenſeitigen Abhanges lag. So geſchah
es, daß es in dieſem tiefen Thal bereits dunkel war, als ſie vor
dem Portale des Kloſters anlangte. Es war ein Kloſter der Kar:
meliter. Eine hohe Mauer, wie eine Feftung, umgab es ring
herum, denn die Karmeliter waren zu Zeiten gezwungen, ſich
gegen die Räuber und marodirende fpanifche Soldaten zu ver:
theidigen. Nur die Kirche, eine große prächtige Kirche, die ihnen
weiland Kaiſer Karolus Quintus hatte bauen lafien, ſtand jo,
daß fie mit ihrem Periftyle aus der umgebenden Mauer hervor:
ragte und der Andächtige eintreten fonnte, ohne in das Kloſter
zu gelangen. Die Fürftin della Rocca, eine fromme katholiſche
Dame, jprang fogleih aus dem Sattel und trat in die Kirche,
aus der ihr Geſänge und Gebete entgegenjhallten. Der ganze
große Raum war von einer Dunkelheit erfüllt, welche die wenigen
Lampen nicht zu durchbrechen vermochten, und traurig fangen
134 Novellen.
die Gejänge und Litaneien der Mönde durch da3 dunkle Schiff.
Die Fürftin trat bis an das Gitter, welche den hohen Chor ab:
ihloß. Hier hörte fie wohl die Geſänge deutlicher, aber die Ge
ftalten der zahlreichen Mönche, es mochten ihrer über fechzig fein,
verihwanden in dem noch dunflern Raume; nicht3 war von ihnen
zu ſehen, als manchmal eine Falte ihre weißen Gewandes. Die
Fürftin, die anfangs gleihgültig zugehört hatte, wurde immer
aufmerfjamer, lehnte ſich fo feit an das Gitter, als ob fie e8
durchbrechen wollte und hielt endlich die hohle Hand hinter3 Obr,
wie man zu thun pflegt, um einen fernen Zon beſſer unterſcheiden
zu fönnen. In der Dunkelheit fonnte e3 jelbit die neben ihr
jtehende Kammerfrau nicht bemerken, daß fie erſt überrafcht, dann
geſpannt und endlich jehr aufgeregt war. Diefe Aufregung fteigerte
ſich noch mehr, als die Mönche jchwiegen und nur einer von ihnen
mit tiefer, aber überaus klangvoller Stimme ein Todtenlied ab:
fang. „Erkennſt du diefe Stimme, Luiſa?“ fragte fie ihre Kammer:
frau. — „Nein, Fürftin,“ fagte diefe, „ich habe fie nie gehört.”
— „Freilich, wie jolltejt du auch?” murmelte die Fürjtin, wandte
fih um und eilte rafhen Schrittes aus der Kirche, ſchwang ſich
in den Sattel und ritt, ohne auf die Gefährlichkeit des Weges zu
achten, im ſchnellſten Trabe in die Herberge zurüd. Dort an«
gefommen, rief fie fogleih einen Pagen und fagte zu diejem:
„Morgen mit dem Früheften eilft vu in das Klofter der Karme-
liter und beftelljt dem Prior meinen Gruß. Du ſagſt ihm, der
Gruß komme von der Fürftin Selvaggia della Rocca, geborene
Salviati, Nichte des Kardinal Montalto. Vergiß den Carbinal
Montalto nicht! Ferner fage dem Prior, daß ich Se. Hochwürden
bitte, mich zu befuchen und daß ich hier warten werde, bis er
die Güte gehabt zu kommen. Ich habe einen Auftrag meines
Oheims, des Kardinal Montalto, an ihn.“
Die FZürftin fonnte die halbe Nacht nicht fchlafen, denn wie
die. Weiber find, fo regte es fie auf, nach jahrelanger Trennung
einen Geliebten ihrer Jugend entvedt zu haben, obwohl dieſer
Geliebte niedrigem Stande angehörte. Die Liebe wird in weib—
Selvaggia. 135
lihen Herzen fo verderblich, daß fie alle göttlihen und menſch—
lihen Geſetze mißachten, vorzugsweiſe aber jene Sitten und
Geſetze, welche in Uebereinftimmung mit dem Willen Gottes und
ber weiſeſten Menjchen einen Unterſchied zwiſchen Hoc und Niedrig
wollen. Die Fürftin Selvaggia della Rocca ftammte aus dem
edlen florentinifhen Haufe der Salviato und wurde in ihrem
neunzehnten Jahre mit dem neapolitanischen Fürften vermählt,
welcher Grand von Spanien, Großadmiral der Flotten Philipps IV,
Comthur des Ordens von Galatrava war und ihren jetigen Titel
und unermeßliche Reichthümer gab, Man erzählte, daß er feiner
katholiſchen Majeftät einmal eine Silberflotte aus den Händen
der Engländer gerettet und die Hälfte dieſer Flotte zum Geſchenk
erhalten, Dieſes vermehrte feine angeerbten Reichthümer um ein
Bedeutendes und alle diefe Schäße hinterließ er bei feinem Tode,
ber jchon zwei Jahre nad) feiner Vermählung erfolgte, ver Sel-
vaggia. Als ob es nod nit genug wäre, daß eine zweiunds
zwanzigjährige Dame zur Befriedigung ihrer irdifchen Gelüfte fo
große Güter aufhäufe, forgte der Kardinal Montalto, der über
Se. Heiligkeit Alles vermochte, daß feine Lieblingsnichte, mit
allen in Benevent gelegenen, dem Stuhle Petri angehörigen Be:
igungen belehnt würde, ja er befchenkte fie fogar mit mehreren
im Bisthume Otranto und in den Sändern von Forli und Urbino
gelegenen geiftlihen Benefizien, obwohl dieſe nad kanoniſchem
Rechte nur auf ein männliches, mit den priefterlihen Weihen
verjehenes Haupt übertragen werden durften. Diefe Sclvaggia
hatte aber ihr Leben in frühefter Jugend mit Sünde begonnen
und ihren Leidenichaften auf eine unadelige Art die Herrichaft
eingeräumt. Schon im fünfzehnten Jahre hatte fie eine Liebjchaft
mit dem jungen Sohne des Verwalters ihrer väterlichen Güter
in der Nähe von Siena und diejen felben Geliebten, Namens
Baccio Bettore, glaubte fie in jenem Karmeliterllofter an der
Stimme zu erfennen, Es wird nämlich gejagt, dab jener Baccio
fie zuerft mit feiner Schönen Stimme verführte und gewiß ift, daß
ver Vater Selvaggia’s, als er hinter die geheime Liebjchaft feiner
136 Novellen.
Tochter gefommen, den Baccio habe außer Landes bringen und
in ein Klojter fteden lajlen. Zu jener Zeit, nämlich acht Jahre
vor diefem Tage, von dem wir erzählen, hieß es, der alte Signor
Salviati habe den Baccio auf dem Wege von Siena nah San
Geminiano ermorden laſſen. Es ift wahr, daß er die Abficht
hatte, als er die Echande feiner Tochter erfuhr, aber er gab die
Abficht auf, weil der Vater Baccio's, der alte Vettore, fein Kriegs:
gefährte geweſen und ihm in verfchievenen Kriegen große Dienfte
erwiefen. Zange wurde Baccio für todt gehalten. Nur Vettore
wußte, daß er lebte, weil e3 ihm fein Herr zum Trofte gefagt
hatte, und Selvaggia wußte es ebenfall3, nachdem fie e8 vom
Vater ihres Geliebten erfahren. In welchem Klofter aber Baccio
als Mönch lebte, wußte weder Selvaggia noch Vettore und erfuhr
es diefer Letztere auch nicht, al3 er den fterbenden Signor Sal:
viati auf den Knieen anflehte, es ihm zu verrathen. Die Sel-
vaggia wurde ein Jahr fpäter an jenen Fürften verheirathet und
e3 war ihr mohl felber damit gedient, daß der Geliebte ihrer
Jugend verfhmunden blieb. Nun aber, da fie wieder frei und
Mittwe war, fühlte fie fich vielleicht glüdlih, ihren erften Ge:
liebten durch Zufall wieder gefunden zu haben. Sie machte mehr
als die Hälfte der Nacht, bald war fie beforgt, daß fie fich viel:
leicht doch getäufcht habe und daß die Stimme, die fie gehört,
nur der Stimme ihres Geliebten ähnlich fei und einem Andern
gehöre; bald erinnerte fie fi nad Weiberart in der Stille der
Nacht auf das Lebhaftefte an die Zeit, die fie mit Baccio in glüd-
lihben Sünden zugebrabt, und fonnte den Wunfch nicht unter:
drüden, jene Sünden zu erneuen. Selbſt als fie entjchlief, träumte
fie voll Angſt und Hoffnung. Ihre erite Frage, als fie am andern
Morgen erwachte, war, ob der Page ſchon nad dem Klofter ab:
gegangen, und als man ihr fagte, daß er bald zurüd fein müfle,
fegte fie fih voll Vergnügen ans Frühftüd und fagte zu ihrer
Kammerfrau, fie hoffe, daß an diefem Tage ihre Jugend neu
beginne. „Em. Erzellenz,” erwiderte die Kammerfrau, „it noch
jung und Eure erfte Jugend hat noch nicht aufgehört.“
Selvaggia. 137
„Du irrft, Luiſa,“ antwortete die Selvaggia, „meine erfte
Jugend bat, Gott fei es gellagt, ſchon in meinem fechzehnten
Jahre aufgehört und zwei Jahre Yang lebte ich wie eine alte Frau
neben einem alten Gemahl, aber jo Gott will, werde ich wieder
einholen, was ich verfäumte, und wenn es mir gelingt, gelobe
ib dem heiligen Januarius die Einkünfte eines ganzen Jahres
von meinem Gute Ponte rotto.*
Der Page, der eben zurüdfam, erzählte, daß der Prior der
Karmeliter fogleich bereit war, fi auf den Weg zu machen, als
er erfuhr, daß es die Nichte des Kardinals Montalto war, die
ihn einlud. In der That fam er kaum eine halbe Stunde nad
dem Pagen in PBiperno an. Es war ein uralter Mann, der ſich
faum in der Sänfte aufrecht erhielt. Wie mich ein Bruder jenes
Kloſters verficherte, zählte er damals fchon ſechsundachtzig Jahre,
wenn nicht mehr und war er außerdem ein Mann, den Gott
zur Reinigung feiner Seele mit allen Krankheiten des Alters
beimfuchte, und die Selvaggia hätte ſich ſchämen follen, einen
ſolchen ſchwachen und heiligen Greis bemüht zu haben, nur um
einen ſchändlichen Zwed zu erreihen, und ihn außerdem noch
zu belügen. Denn es mar nicht der Wahrheit gemäß, daß fie
vom Kardinal Montalto einen Auftrag an ihn hatte; fie wagte
nur das vorzufhüten, weil fie wußte, daß fie jih mit ihrem
Oheime Alles erlauben durfte. Doch ih muß fagen, daß fie
Ehrfurdt genug befaß, um dem Prior, als fie in ihm einen jo
ehrwürdigen Greis erkannte, die Hand zu küſſen und ihn um
feinen Segen zu bitten.
„Was wollt Ihr von mir, was befehlt Ihr, hohe Frau
fragte der Prior,
„Shrwürdiger Herr,” antwortete fie, „Ihr habt in Eurer
Brüderfchaft einen Bruder Namens Baccio Bettore ?“
„Ich weiß es nicht,“ jagte der Prior, „denn ich fenne meine
Brüder nur nad ihrem Klofternamen. Wir find vierundjechzig ;
e3 wäre meinem alten Kopfe zu viel, follte ich mir alle weltlichen
und geiftlihen Namen meiner Brüder merken.“
138 Novellen,
Die Fürftin della Rocca war in BVerlegenheit und fagte nad)
einigem Nachdenken: „Diejer Bruder ift jegt höchſtens ſechsund—
zwanzig Jahre alt und hat eine jehr ſchöne Stimme. Er ftammt
aus dem Toskanifchen und ift bei Siena zu Haufe.“
„Seiner der Brüder,” jagte nad einiger Zeit der Prior,
„Singt fo ſchön wie der Bruder Giovanbatifta; auch ift er wohl
nicht älter, als ſechs- oder fiebenundzwanzig Jahre, und wenn
ih nicht irre, Spricht er auch die ſchöne Sprade von Siena —
biefer mag wohl einmal Baccio Vettore geheißen haben.“
„Dieler iſt es gewiß,“ verficherte die Fürftin.
„Und was ift es mit dieſem?“ fragte der Prior.
„Mein Obeim, der Kardinal Montalto,” erwiderte die Fürſtin
mit freer Lüge, „wünſcht, dab Ihr mir diefen Giovanbatifta
ala meinen Reije: Kaplan mitgebet.“
Der Prier erhob bei diefen Worten den Kopf, der bisher
müde auf der Brujt gelegen hatte und jah die Fürftin verwundert
und fragend an. „Dieſen Giovanbatifta 9" fragte er fopfjchüttelnd;
„diefer Giovanbatijta bat ſeit ſechs Jahren das Kloſter nicht ver:
lafjen. Se. Eminenz Euer Obeim, der Kardinal Montalto kann
ihn nicht kennen... .... Sch bin fehr verwundert... ... dieſer
Giovanbatiita ift ein Weltkind, das nur die ftrengfte Zucht
auf dem Wege der Frömmigkeit erhalten wird — er iſt ber
mindelt Gelehrte meiner Brüder ..... Er paßt am wenigiten
dazu, als Kaplan einer hohen Dame beigegeben zu werben .....-
Ich bin fehr verwundert ...... u
„Aber mein Obeim, der Kardinal,” fiel ihm die Fürftin uns
geduldig und mit etwas gebieterifhem Tone ind Wort.
„So ſei es,” fagte der Prior mit einer leifen Verbeugung,
„der Kardinal will es, ich habe nichts zu fagen, ich habe nichts
zu prüfen. Und warın fol id Em, Hoheit den Bruder Giovan:
batijta zufchiden
„Sogleih! noch diefen Morgen, denn ih denke um Mittag
meine Reife fortzufegen, da mich mein Oheim ſchon mprgen
Abend in Rom erwartet.”
Selvaggia. 139
Der Prior erhob fih und ging.
Es war noch nicht Mittag, ald ein einzelner Karmeliter:
mönd vor der Herberge ſtand und nad) der Fürftin della Rocca
fragte. Ein Page führte ihn in das obere Stockwerk, öffnete eine
Thüre und bedeutete ihm, allein weiter zu geben. Er werde bort
in dem legten Gemache erwartet. Er trat ein, und als er auf
den erften Blid die Selvaggia erkannte, blieb er wie aus Stein
gehauen an der Thüre ftehen. Er bewegte ſich erit, als fie ihn
bei feinem alten Namen Baccio anrief, und Niemand als Gott
bat e3 gejehen wie die Selvaggia, ohne ein anderes Wort zu
fagen, den geweihten Priefter umarmte, Als fie weiter reiste,
ritt ee neben ihrer Sänfte, und weil es hieß, daß der Weg bis
Rom nicht ficher fei, hatte er, gleich den Dienern und Gavalieren,
einen Degen umgegürtet. Da Jedermann feine Waffe brauchte
und nicht eine mehr da war, als Männer da waren, hatte die
Selvaggia eine ihrer Kiften öffnen und daraus einen der Degen
ihres verftorbenen Gatten nehmen lafjen, und fo hatte der Gio—
vanbatifta die fhönfte Waffe der ganzen Gefellihaft, eben fo wie
ihm die Fürftin das jhönfte Pferd hatte geben laffen und ritt
neben ihr, nicht wie ein Mönch oder Kaplan, fondern wie ein
ftolger Cavalier. Der Kardinal Montalto lachte fehr, als er feine
Nichte in feinem Palafte zu Rom empfing und fie in folcher Ber
gleitung ſah. Er war ein alter Herr und gewöhnt, zu Allem zu
laden, was die Selvaggia that oder fagte.
Die Selvaggia war fehr zufrieden, ihren Geliebten wieder
gefunden und ihn jegt in ihrer Nähe zu haben. Der Baccio von
Siena, der fie mit ſechzehn Jahren verführt hatte, war ein
Ihöner Jüngling mit einer fhönen Stimme gewejen; der Bruder
Giovanbatifta war jegt ein ſchöner Mann und feine Stimme
war auch fräftiger und Elangvoller geworden. Die Gemandtheit,
welche Selvaggia ehemals an ibm bemwunderte, wenn er an ge:
rader Mauer zu ihr hinauf Eetterte, mit der er wilde Pferde
tummelte, oder allerlei Waffenübungen trieb, hatte im Kloſter
niht abgenommen, oder vielmehr ftellte fich gleich wieder ein,
| 140 Novellen.
fobald er in Freiheit lebte, wieder ein Pferd beiteigen, eine
Waffe Schwingen fonnte. Die Kutte war ihm dabei allerdings
beſchwerlich, und er legte fie darum kurz nach feiner Ankunft in
Rom ab, um fie gegen ſpaniſche Rittertradht zu vertaufhen. Der
Kardinal Montalto wollte ihn gar nicht wieder erkennen und
lachte über die Verkleidung. Nur fanft verwies er es ihm, mit
der Verkleidung nicht gewartet zu haben, bis feine Tonſur vers
wachſen war, Die Selvaggia war glüdlih, fie verficherte ihren
Dbeim, der e3 mit Vergnügen hörte, daß ihr Glück, da fie es
nah fo langen Unterbrehungen wieder gewonnen und e3 jeßt
in Freiheit genießen fünne, volltommen fei, und daß fie der Vor:
jehung danke, es ihr in früherer Zeit entzogen zu haben, um es
ihr für jegt aufzufparen. Wie groß die Vergnügungen waren,
welche ihr die Hauptſtadt der Chriftenheit, al3 der Lieblings:
nichte des allmäctigen Kardinal, darbrachte, fie verſchmähte
fie alle; fie blieb allein in ihrem Palaſte, zufrieden mit der Ge—
ſellſchaft Baccio’3, und fie beabfichtigte, ſich nach Beilegung der
Unruhen in Neapel mit ihm auf eines ihrer Schlöfler in den
Apenninen zurüdzuziehen. Auch Baccio war glüdlih; unbe:
kümmert darum, daß er alle Gelübde des Priefters brach, freute
er ih, des Klofterzwanges ledig zu fein, und die Selvaggia
hatte ihn zum reihen Manne gemacht, indem fie ihn mit großen
Geſchenken überhäufte und außerdem die geiftlihen Benefizien,
die fie befaß, auf ihn übertragen ließ. Sie nahm es ihm aud
nicht übel, wenn er fie oft allein ließ, um dag neue Leben in
der Freiheit und die Vergnügungen der Stadt Nom zu genieben.
Sie jagte ih, daß ihn das immer mehr zum Cavaliere ausbilde,
und daß er jo ablegen werbe, mas an ihm von feinem niedrigen
Stande und vom Leben im Klofter noch übrig war. Wie fündig
eine Liebe ſei, fo ift e8 doch hergebracht, daß man die Treue
einer jolhen Liebe rühme, obwohl man damit nur die Ausdauer
der Sünde rühmt. Vielleicht haben Diejenigen, die fo thun, doch
Recht, denn die Treue iſt immer eine fhöne Tugend, und wenn
dieje Leute Recht haben und wenn ich mich bezwinge, jo zu denfen
Selvaggia. 141
wie fie, dann muß auch ich die Selvaggia rühmen, daß fie jeßt
nach fieben Jahren und als eine der mädhtigiten Damen ver
Chriftenheit, dem Geliebten ihrer Jugend und dem niedrigen
Manne diejelbe Liebe bewies wie ehemals. Ya die Liebe muß
noch größer gemwefen fein ala ehemals, da damals die Selvaggia
in der Einſamkeit feinen andern Mann fannte, und da fie jetzt
al3 eine fehr fchöne und jo mächtige Dame unter allen Cava—
lieren der Stadt und des ganzen Italiens die Wahl hatte. So
wollen wir fie denn loben.
In ihrer Liebe und Treue forgte Selvaggia weiter als den
laufenden Tag und beſchloß fie, fein Wohlergehen für alle Zu:
Eunft zu jihern. Sie hatte ihm die Dispens ausgewirkt, daß er
die weltlichen Kleider ohne Verfündigung tragen dürfte und mit
den Kleidern den Titel eines Cavaliere Baccio. Sie hoffte nod)
weiter mit Hülfe ihres Oheims ihn dem Säculo wiedergeben zu
fönnen, was nicht unmöglich war, da e3 fich fand, daß er in
Folge des Drängens des verftorbenen Signor Salviati, ihres
Vaters, ſämmtliche Weihen, oder wenigſtens die erjte vor dem
kanoniſchen Alter erhalten. Se. Heiligkeit der Papit konnte Baccio,
ohne dem kanoniſchen Rechte irgend welchen Zwang anzuthun,
mit Leichtigkeit dispenfiren, Dieß wäre vielleicht jchon einige
Monate nah der Ankunft Selvaggia’3 und ihres Geliebten ge:
ſchehen, wenn nicht der Kardinal Montalto die Angelegenheit
abjichtlich verzögerte. Er vermuthete, daß Selvaggia fähig war,
oder vielleicht fhon die geheime Abjicht hegte, den Baccio zu
heirathen, jobald ihm die Dispenfation die Ehe geftattete, und
damit war dem Kardinal nicht gedient, einen Neffen aus nie:
driger Volksklaſſe zu erhalten. Selvaggia für alle Fälle beforgt,
arbeitete dahin, daß der Gavaliere Baccıo, wenn ihr Hauptplan
mißlänge, wenigitend aus dem Karmeliterorben in den ritter:
lihen der Sohanniter von Malta treten dürfte, als in einen
Orden, defien Regel und Lebensweile feinem Temperamente
befier zufagte, Die Selvaggia war eine kluge und vorausfichtige
Frau. Sie wußte fehr wohl, daß ihr Oheim, der ein bejahrter
142 Novellen.
Mann mar, nicht viele Yahre mehr leben könne; nad feinem
Tode könnte man ihrer Verbindung mit Baccio Hindernifje in
den Weg legen. Darum wünſchte fie, daß er auf jeden Fall in
den Zohanniterorden aufgenommen werde, weil die Mitglieder
dieſes Ordens ſämmtlich wie Herren lebten und e3 auch dem
ftrengften Bontififate nicht beikam, fie in ihrer Freiheit und in
ihren Sitten zu beichränfen. Man fagt, daß SKaifer Carolus
Quintus vom PBapite fich diefe Freiheit der Nitter ausbedungen,
al3 er ihnen die Inſel Malta einräumte, nachdem fie die Inſel
Rhodus verloren hatten, und aus Dankbarkeit für diefe Bedingung,
jo jagt man ferner, hätten befagte Ritter befagten Kaifer in
feinen afrikaniſchen Kriegen fo tapfer unterjtügt. Das laffen wir
dahingejtellt, denn wir glauben nicht, daß fich jemals ein Papſt
eine folhe Bedingung hätte aufdringen lafjen, welche einem geijt:
lihen Orden freie Sitten und mandherlei after für ewige Zeiten
geftattet. Dieſes fümmert uns nicht; ich erzähle nur von der
vorforglihen Liebe der Selvaggia.
Um dieſe Zeit lebte in Rom ein ehrlicher Hutmacher Namens
Francesco Somigli, der ſich mit ehrlicher Arbeit ein ſchönes Ver:
mögen erworben und einen ehrbaren Hausſtand aufrecht erhielt
und feine Kinder, deren er drei hatte, eine erwachſene Tochter,
von der wir noch ſprechen werden und zwei Heine Knaben, Zwil:
linge, riftlich erziehen ließ. Da hörte diefer Hutmacher So:
migli, der jenfeit3 der Tiber wohnte, von den Thaten der Räuber
in Sonnino und in den Gebirgen, und er empfand einen un:
mwideritehlihen Drang, an diefen Thaten theilzunehmen. In
einem Alter von fünfundfünfzig Jahren verließ er Haus,
Meib und Kinder und ging in das Gebirge zu den Räubern,
welche damals der tapfere Gatone kommandirte. Er hatte fein
Glüd, denn gerade damals hatte Se. Heiligkeit der Bapft dem
Kardinal Montalto Vorwürfe über das Räuberweſen gemadt,
und der Kardinal ſchwor die Räuber zu vernichten und alle, die
nit in den Gebirgen erſchoſſen, aber gefangen werben, hängen
zu laffen. An einem und demfelben Tage ließ er zahlreiche
Selvaggia. 143
Rotten von Reiter und Fußvolk, darunter auch die Epanier, die
an der neapolitanifchen Gränze jtanden, an fünf verichiedenen
Punkten in das Gebirge brechen, und viele Räuber wurden an
diefem Tage erfhoflen und niedergebauen, viele andere ald Ge:
fangene nach Rom gebracht, jo daß das alte Theater, in welchem fie
überwadht wurden, ganz vollgefüllt war. Unter diefen Gefan—
genen befand ſich au der Hutmacher Francesco Somigli, der
erft zwei Tage vorher in das Gebirge gelommen war. In der
ehrlihen Familie des Hutmacers war große Klage darüber, daß
der Vater gehängt werben folltee Man wußte, was der Kar:
dinal geſchworen hatte und gab alle Hoffnung auf, auch nur
einen der Räuber begnadigt zu fehen. Auch war in der Familie
Somigli Niemand da, der fich für den Vater hätte verwenden
fönnen; die Frau des Hutmachers befam bei der traurigen Nach—
richt eine Lähmung in das linke Bein und in die Zunge, fo daß
fie weder gehen noch fprechen konnte; die Knaben waren nod
viel zu jung, und da war Niemand übrig als die Toter Emilia,
ein Mädchen von fiebenzehn Jahren und das fchönfte Mädchen
von jenſeits der Ziber. Emilia lief klagend durch die ganze
Stadt, bat, flehte, jammerte, meinte bei Jedermann, aber Nie:
mand mußte ihr zu belfen. Doch erfuhr fie, daß die Fürftin
Della Rocca bei ihrem Obeime in größtem Anfehen ſtehe, und
daß dieſe allein ihren Vater retten könnte. Man rieth aber ver
Emilia, fih nit an die Fürftin, fondern an den Gavaliere
Baccio zu wenden, weldem wieder die Fürftin nicht3 verjagen
konnte. Ihr, der Tochter des Hutmachers, hätte die Fürftin leicht
Nein jagen können und dann war der Vater verloren; veriprad)
aber ver Cavaliere bei der Fürjtin ein Wort für fie einzulegen,
fo konnte man ficher fein, daß die Fürftin mit dem Kardinal
iprehen und die Angelegenheit jo zu einem guten Ende gebeihen
werde. Die Emilia ging alfo zu dem Gavaliere Baccio, und
diefer hatte fie faum erblidt, als er auärief: „Jeſus Maria,
dieß ift das ſchönſte Mädchen, das ich jemals geſehen!“ Er faßte
fogleih eine Leidenſchaft für diefes Mädchen und er verfchwor
144 Novellen.
fih hoch und theuer, ihren Vater zu retten, wenn fie dafür feine
Geliebte werden wollte Das Mäpchen fügte fi feiner Forde—
rung und er ſprach mit der Gelvaggia zu Gunſten des Hut:
machers, indem er ihr vorjtellte, daß fie eine gute That thue,
wenn fie einen ehrlihen Mann, der bi dahin ein mafellojes
Leben führte, feiner Familie vom Galgen losredete. Die Sel-
vaggia ftellte ihrem Obeim vor, daß fein Schwur fich nicht auf
den Hutmacer beziehe, da er den Schwur gethan hatte, noch
bevor der Hutmader im Gebirge angelommen war, und ber
Kardinal ließ den Hutmacher in dem Augenblide entwijchen, als
man die andern Gefangenen aus dem alten Theater an den
Galgen führte,
Der Cavaliere Baccio führte die Emilia in jenes Haus,
welches mit dem rechten Angel auf den Monte Pincio fieht und
richtete ihr daſelbſt im Hofe eine ſchöne Wohnung ein, in welcher
er oft die Nächte verbrachte. Die Selvaggia beſchränkte ihn fo
wenig in jeinem Thun, daß er viele Nächte ausbleiben konnte,
ohne daß fie ihn zur Rede ſtellte. Wenn fie ihn manchmal fragte,
wo er die Nächte verbringe, jo antwortete er ihr, das gejchehe
im Balaite ver Maltejer, wo man jehr luftig zeche, und der Gel:
vaggia war e3 jehr angenehm, ihn in diejer ritterlichen Geſell—
ſchaft zu wiffen, um fo mehr al3 damals meijt Maltefer von ver
provenzalijhen Zunge in Rom anweſend waren, welde man
vorzugsweije wegen ihren edlen Manieren und feinem Wejen
unter allen Zungen der Religion rühmte. Baccio lebte jo uns
geftört durch viele Monate mit, der Emilia, bis es ihm einfiel,
oder vielmehr, bis man ihm eingab, ihr Bildniß machen zu
lajjen. Das war zu feinem Unglüd.
Der Maler des Bildnifjes war Fra Domenico, den man in
Rom wegen feiner Heinen Geſtalt Picciotto nannte, Fra Do:
menico fam aus demjelben Klojter ver Karmeliter, aus welchem
die Selvaggia den Baccio entführt hatte. Er war ein jehr be:
gabter Meifter und hatte in Neapel eine Zeitlang unter dem
berühmten Heiligenmaler Nibera gearbeitet. Von dort in fein
Selvaggia. 145
Klofter zurüdgefehrt, ſchmückte er das Refeltorium und die Kirche
mit vielen Heiligenbildern, was ihm unter den Mönchen großes
Anjehen verſchaffte. Sie waren ſtolz auf feinen Befi und
meinten, daß ihr Haus durch ihn eben fo berühmt werden folle,
wie andere Klöfter, z. B. San Marco in Florenz, durch die
Malereien ihrer Brüder berühmt werden. Fra Domenico aber
erfannte, daß er zur Vervolllommnung feiner Kunjt noch die
Gemälde Rafaeld, Michael Angelo's und anderer Meifter ftu:
diren müfje; denn, fagte er, in Rom hätten vor hundertfünfzig
Fahren viele Meifter gelebt, welche ven Ribera weit übertrafen,
obwohl diejer heute der berühmtefte unter allen Malern ift. Man
glaubte dem Fra Domenico, weil er der Kunftverjtändigfte im
Klofter war und weil es heute wiele Leute gibt, die das glauben,
nachdem ein junger Neapolitaner, Namens Salvator Roja, viele
Anhänger findet, die dafjelbe behaupten. Auch ſagte man fidh,
daß der Bruder Giovanbatifta, der jegt in Rom lebte und fo
große Macht hatte, den Bruder Domenico unterftügen und in
Allem helfen werde. So fam Fra Domenico nah Rom, und
Baccio nahm fich in der That feiner an, jo weit er e3 vermochte.
Er führte ihn auch feiner Herrin, der Selvaggia und dem Kar:
dinal Montalto vor, und Fra Domenico hatte bald eine gute
und forgenlofe Stellung. Er malte die Bilonifje vieler Kar:
dinäle und felbft das des heiligen Vaters, und hatte fo viele
mächtige Belanntichaften, daß er auf Benefizien rechnen durfte.
Dieb Alles dankte er dem Baccio, als deſſen vertrautefter Freund
er lebte und der Selvaggia, die ihn oft zum Nachteflen einlud.
Aber Picciotto konnte es nicht vergeflen, daß Baccio ihn be
fhügen folltee Während er im NKlofter der Karmeliter immer
hoch angefehen war und den Andern faum eines Wortes würdigte,
wurde diefer nie anders denn ein niedriger Laienbruder betrachtet.
Picciotto war der Ruhm des Klojterd, während Giovanbatijta
wegen feiner Unwiſſenheit für Nicht3 geachtet wurde. Und jept
in der Hauptftabt der Chriftenheit ſelbſt, in der großen Welt ver
Kardinäle war Giovanbatifta der Mächtige, und er, Domenico,
Morig Hartmann, Werke, VI. 10
146 Novellen.
fein Klient und ihm zu Danfe verpflichtet. Dabei mußte er als
Künjtler ein bejcheidenes Leben führen, während der unmwifjende
Baccio über größere Schäge verfügte, als ein Kardinal und zu:
glei; eine der ſchönſten Frauen Staliens und gewiß das fchönfte
Mädchen Roms zu Geliebten hatte. Um Gmilia beneidete er den
Baccio nicht, obwohl fie Schöner war als die Fürftin, wohl aber
beneibete er ihn um die Gelvaggia, durch melde er über unge:
beure Reichthümer und über die ganze Macht des Kardinals
Montalto verfügte. Er verachtete ven Baccio, daß er Alles das
nur benüßte, um ein adeliges Schlemmerleben zu führen und
die Gavaliere nadzuahmen. Er jagte fih, wie anders er ſolche
Mittel verwenden würde, um fich zu den höchſten Ehrenftellen,
vielleicht biS auf den Stuhl Petri emporzuſchwingen. Und in
feinem Neide und Ehrgeize bejchloß er, den Baccio in den Augen
der Fürftin zu verderben und feine Stelle einzunehmen. Wie
bei der Selvaggia, fo pflegte er mit dem Baccio das Nachteſſen
bei der Emilia einzunehmen, und eines Abends beklagte er, daß
die höchſte Schönheit nicht unverwelklich fei und forderte den
Baccio auf, die Emilia von ihm malen zu lafjen, jo lange ihre
Schönheit in folher Blüthe prange. Der verliebte Thor war
nicht ſchwer zu überreden und Fra Domenico nahm feine ganze
Kunft zufammen, um aus diefem Bilpniffe ein Wunder der
Malerei zu machen. Es war ein überaus jchönes Bildniß, und
viele Fremde und Einbeimifche befuchten die Wertjtätte Fra Do:
menico's nur um bajlelbe zu jeben. Als die Selvaggia von dem
ſchönen Bilde hörte, fragte fie ra Domenico, was es damit für
Bewandtniß habe und ob das Bild wirklich fo fchön fei, wem es
angehöre und ob fie es nicht auch fehen könne? Der Maler ant:
mortete, das fei ein leerer Lärm mit dem Bilde und es jei gar
nicht der Mühe werth, über die Perſon, die es darftelle und über
die Malerei zu reden; aber er habe andere Bilder in feiner Wert:
ftatt, die weit mehr Werth haben, und er würde ſehr glücklich
fein, wenn Ihre Hoheit die Fürftin die Werkſtätte einmal be:
juchen wollte. Die Selvaggia war es zufrieden und bejtimmte
Selvaggia. 147
den Tag und die Stunde. Der Picciotto beſprach Alles mit
feinem Farbenreiber und unterrichtete ihn, wie er die Selvaggia
empfangen und was er ihr jagen ſolle. Als nun die Stunde des
Befuches fam, verbarg er fich hinter dem Haufe, und als’ vie
Gignora eintrat, jagte ihr der Farbenreiber, dab Fra Domenico
in einem dringenden Auftrage jeines PBriord jo eben habe aus:
gehen müjjen. Die Selvaggia, als fie das Bild der Emilia ſah,
war jehr erjtaunt und jagte, das jei gewiß das jchönfte Mädchen
Staliend, Dann fragte fie den Farbenreiber, wer denn dag
Mädchen eigentlich fei, welchem Stande fie angehöre und ob man
ihr nicht Wohlthaten erzeigen fünne; jo jehr wurde fie von der
Schönheit des Bildes eingenommen. Der Farbenreiber lachte
mit verftellter Einfalt und fagte: „O, die bedarf feiner Wohl:
thaten, für die forgt fhon der Cavaliere Baccio.“
„Wie jo 2* fragte die Fürftin.
„Weil fie die Geliebte des Baccio ijt,“ antwortete der
Mann.
Die Selvaggia aber lachte und ſagte: die Geliebte des
Baccio wäre es mohl zufrieden, jo jhön zu fein wie dieſes
Bild. —
„Nun feht,“ rief wieder der Andere, „wie ſchwer Liebende
zu befriedigen find, erſt gejtern war er mit ihr bier in der Wert:
ftätte, und wie er fie neben dem Bilde ſah, ſchwur er bei allen
Heiligen, daß jie doc viel jchöner ſei, als fie Fra Domenico
malen könnte.“
Die Selvaggia wußte nicht, was fie aus dieſen Reden machen
jollte und fragte ven Mann: „Kannjt du mir auc jagen, wer
fie iſt?“
„Allerdings kann ich das,“ ermwiderte der Gefelle, „fie ift
die Tochter eines Hutmacherd von jenfeit3 der Tiber, den der
Baccio vom Galgen erlöst hatte.”
Jetzt gerieth die Selvaggia in einen großen Zorn, fie erhob
das Bein und trat ein Loch in das Bildniß der Emilia. In
diefem Augenblide trat der Bicciotto in feine Werkſtatt und beim
148 Novellen.
Anblid des Loches in der Leinwand ſchlug er die Hände zu:
fammen und rief: „Wehe mir, ich fehe, daß Ihr ſchon Alles
mißt, und daß ich zur unglüdlihen Stunde ausgegangen bin!”
Die Selvaggia fragte, ob das wahr fei, was ihr der Ge:
jelle gejagt, und der Picciotto erwiverte, daß er e3 nicht läugnen
fünne, was der Gejelle in feiner Einfältigteit verrathen habe.
Die Selvaggia ließ ihren Bagen, den Kavalier und die Kammer:
frau, die mit ihr waren, auf das Kreuz ihres Gürtels ſchwören,
dem Gavaliere nichts verrathen zu wollen, daß fie von feiner
Liebe mit der Emilia ſchon etwas wiſſe. Auch der Picciotto
mußte ihr ſchwören und dann mit ihr in ihren Balaft heimgehen,
um ihr nähern Beicheid zu geben, damit fie wijje, wie und wo:
mit fie fih an Baccio rächen jollte.
Sie verftellte ih jo gut, daß der Baccio gar feine Ahnung
davon hatte, daß ihn der Picciotto verrathen, daß die Selvaggia
um feine Treulofigfeit wußte, und daß fie ſchon Alles vorbereitet
hatte, um fih an ihm zu rächen. Zwei ihrer neapolitanifchen
Diener waren von ihr beitellt, ihn vor ihren Augen zu ermorden,
Sie hatte nur das eine Bedenken und noch fo viel Liebe für ihn,
daß fie ihn nicht in der Fülle feiner Sünden, ohne Beichte,
wollte fterben lafjen. Darüber berubigte fie ver Fra Domenico,
welcher ihr verſprach, dabei zu fein, wenn der Baccio ermordet
würde und ihm in feinem legten Augenblide vie Abjolution zu
geben. Da e3 aber nicht fiber war, daß Fra Domenico noch
Zeit genug haben würde, um dem Sterbenden die Beichte abzu:
nehmen und ihm die Abjolution zu geben und die Selvaggia um
jeine Seele beforgt war, beichloß fie es jo zu maden, wie es
kurz vorher die Marcheſa von Valencia gemacht hatte, melde
ihrem Geliebten, den fie ermorden ließ, in der legten Stunde,
und während er ermordet wurde, eine Todtenmefle lejen ließ.
Sie war mit dem Baccio bei einem großen Feite in dem
Garten des Kardinal Gonzaga, welcher eben die franzöfifchen
Abgefandten bei jih empfing. Gegen Mitternacht jagte fie zu
dem Baccio: „Ich habe Nachricht erhalten, daß in dieſer Nacht
Selvaggia. 149
um die zwölfte Stunde in Neapel ein mir lieber Freund von den
Aufftändifchen hingerichtet wird, und ich habe ihm in der Kirche
von Santa Maria ein Todtenamt beftell. Dahin will ich jest
gehen, um am Katafalk zu beten und jeine Seele mit ©ebeten
zum Himmel zu begleiten. Du Baccio fomme mit mir und ſinge
mit im Chor, damit ich in diefer traurigen Stunde deine liebe
Stimme böre, die ich fo lange nicht gehört habe.” Der Baccio
ging gerne mit ihr in die Kirche Santa Maria. Diefe war ganz
dunfel und ſchwarz ausgefchlagen. Schwarze Tücher bevedten
die Säulen und die Wände. In der Mitte war ein Katafalf
aufgefchlagen und nur wenige Lichter brannten rings umber.
Die Selvaggia fniete in der Nähe des Katafalkes nieder und der
Baccio ftellte jih unter die Sänger, die am Fuße des Katafalfes
jtanden. Der Safriftan gab ihm die Rolle in die Hand, aus
welcher er fingen jollte. Als er mit feiner wunderfchönen Stimme
zu fingen anfing, ſah er zur Selvaggia hinüber, wohl wifjend,
wie ſehr fie ihn liebte, fo oft er zu fingen begann und beim
Scheine der Kerze, an deren Fuße fie fniete und die ihr Geficht
beleuchtete, während das Uebrige ihrer Geſtalt von Finſterniß
bevdedt war, jah er, wie fie ihn mit liebendem Auge betrachtete
und wie über ihre Wangen zwei große Ströme von Thränen
berabflofien. Er nahm fih um fo mehr zufammen, um nod
jhöner zu fingen, und er fang mit großer Andacht fort, bis er
auf einmal ftodte und verftummte, denn er fam in dem Todten:
liede an die Stelle, wo er für fein eigenes Heil, al3 eines Ster:
benden, betete. Er las in der Rolle, die er in Händen hielt,
ausführlih jeinen eigenen Namen. Erſchrocken ſah er zur Sel-
vaggia hinüber, die er aber jegt nicht fehen konnte, da fie ihr
Gefiht aus der Beleuchtung der Kerze in die Dunkelheit zurück—
gezogen hatte, Er faßte ſich wieder und dachte, daß diefes nur
ein Irrthum ſei. Man werde dem Sakriſtan gejagt haben, wem
er die Rolle zu übergeben habe, und dieſer werde den Namen
verwechjelt haben mit dem Namen Desjenigen, der in dieſer
Stunde in Neapel enthauptet werben foll, und für ven die Todten:
150 Novellen,
meſſe gefeiert wurde, meil ihm beide Namen gleih unbekannt
waren. Der Baccio jang ruhig wieder weiter. Er fang jo fort,
bi3 die Chorfnaben mit dem Weihrauch und dem Meihmedel um
den Katafalk herumzogen. Der Safriltan trug ihnen eine bren:
nende Kerze vor, und beim Scheine diefer Kerze ſah Baccio aber:
mals feinen Namen, der in großen Buchſtaben auf einem weißen
Streifen gefchrieben, über dem Katafalfe lag. Wieder bradı
jeine Stimme ab und er fah zur Selvaggia hinüber, die er jeht
‚beim Scheine der Kerze, die der Safriftan trug, ſehen konnte,
und es fam ihm vor, al3 wäre jegt ihr Geficht, das ihm ent:
gegen blidte, von Mitleid und Grimm zugleich bededt. Eine un:
geheure Angft überfiel ihn, er dachte an Alles, was er an ber
Selvaggia verbrochen hatte, warf die Rolle auf den Boden und
floh au3 der Kirhe. Eben al3 er aus der Thüre ftürzen wollte,
warf fi ihm Fra Domenico in den Weg, faßte ihn am Mantel
und ſchrie mit lauter Stimme: „Er entwifcht uns! Laßt ihn nicht
entwiſchen!“ Auf diefen Ruf kamen rechts und links die zwei nea-
politaniichen Diener der Selvaggia hinter den Säulen des Bor:
tal3 von Santa Maria mit nadten Dolchen hervor. Aber bevor
fie fi) dem Baccio nähern konnten, hatte diefer feinen eigenen
Dold aus dem Gürtel gezogen und ihn dem Fra Domenico, der
ihn aufhalten wollte, in die Kehle geftoßen, daß er augenblidlich
zuſammenfiel. Der Baccio jprang dann mit einem Satze die
Treppe von Santa Maria hinunter, mitten zwifchen ven Dolchen
der beiden Neapolitaner. Der Eine hatte ſchon mit foldher Hef:
tigkeit nad ihm geſtoßen, daß er feinen eigenen Arm nicht mehr
zurüdhalten konnte und fich felbjt in den Schenkel fo fehr ver:
wundete, daß er den Baccio nicht zu verfolgen vermochte. Der
andere Neapolitaner hatte nicht ven Muth, den Baccio allein zu
verfolgen. So fam diefer unverfolgt davon; aber er glaubte doc)
immer Schritte hinter fih zu hören und, mit dem Degen in der
Hand, hörte er nicht auf zu laufen, lief er über die Brüde, bis
er am Haufe de3 Hutmachers Francesco Somigli anlam.
Diejer war fehr verwundert, als er hörte, was vorgegangen
Selvaggia. 151
war. „Diejes Alles," fagte er, „hat die Selvaggia wegen ver
Emilia unternommen. Nunmehr bift du, o Baccio, in Rom
deines Lebens nicht mehr fiher; auch Emilia iſt es nicht, und
auch mich kann die Selvaggia jegt noch hängen lafjen.“
„Was follen wir beginnen ?“ fragte Baccio.
„Wir find im ganzen Ztalien nicht fiher. Die Macht des
Papftes reicht überall hin, und fobald dich die Selvaggia ver:
folgt, bift du eine fo machtloſe Perjon wie ih, der Hutmacher,
und meine Tochter Emilia, Ueberall, fei es in Florenz, in
Mantua oder in Venedig, werden die Shirren dem Karbinal
Montalto gerne zu Willen fein und uns nieberjtehen oder ge:
bunden nah Rom liefern. Nur in die Gebirge zu den Räubern
reicht die Macht des Papſtes und des Kardinald nicht. Dorthin
müffen wir ung flüchten und wir werben gut aufgenommen fein,
da ich dort viele Freunde zähle. Dem Baccio leuchtete das ein,
daß er nirgends mehr vor den Dolchen der Selvaggia ficher jei,
und ſogleich holte er mit dem Hutmacher die Emilia, und noch
in derſelben Nacht ſtiegen ſie über eine alte Breſche der Mauer
aus der Stadt Rom und begaben ſich nach Sonnino in das Ge—
birge.
Die Selvaggia war Anfangs ſehr ergrimmt über das Miß—
lingen des Streiches; aber ſchon am andern Morgen freute ſie
ſich, daß der Baccio am Leben war und lobte den guten Stoß,
mit dem er den Fra Domenico für ſeinen Verrath beſtraft hatte.
Sie ging auch nach Santa Maria, um bei Tageslicht zu ſehen,
welchen gefhidten und gewaltigen Sprung der Baccio gemacht
hatte. Dann aber verfiel fie in große Traurigkeit, und die Luiſa
tieth ihr, den Baccio überall aufſuchen zu laffen, meil jie ohne
ihn doch nicht wieder froh werde, und ihm zu verzeihen. Davon
wollte fie nichts wiſſen. Nur im Geheimen jandte fie Späher
aus, um zu erfahren, was der Baccio jetzt treibe und wo die
Emilia fei. Aber fie konnte nichts erfahren. Der Baccio und
die Emilia blieben verſchwunden, und erft, al3 fich die Späher
beim Hutmacher erfundigen wollten und auch diejer fort war,
152 Novellen,
vermuthete fie, daß fie Alle zu den Räubern in die Gebirge ge:
gangen. Sie fandte ihre Späher auch dorthin und hatte bald
die Gemwißheit, daß dem wirklich fo mar.
Man hat e3 oft gejagt, daß Niemand errathen könne, was
im Herzen eined Meibes vorgeht, entfteht oder aufhört. Es ge:
jchieht meift das Gegentheil von dem, was man erwartet. Es
ift ein tiefer, dunkler Brunnen. Wenn man aud mit gutem
Auge bineinblidt, man fieht nicht, ob unten lebendes Waſſer ift,
oder ob unten Schlangen und Kröten find. Man läßt den Eimer
hinab, um Wafler zu ſchöpfen und man holt eine Kröte heraus;
man läßt ben Eimer hinab, um eine Kröte oder Schlange zur
Giftbereitung zu holen und man jchöpft Hares Wafler heraus.
Dieſes jchreibe ih aus einem Buche ab. Die Selvaggia, als fie
für den Baccio die Todtenmefle leſen ließ und glaubte, daß er
noch in dieler Nacht fterben werde, verliebte ſich in ihrem Mit:
leid aufs Neue in ihn, fo, daß fie ihn wie mit der Stärke einer
neuen Liebe liebte. Dieb war zum Unglüd des ganzen Landes.
Denn jhon zwei Wochen, nachdem der Baccio zu den Räubern
gegangen, fingen dieje aufs Neue an, Campanien, das Ga:
biners und lateinifche Land zu plündern und entführten viele
Einwohner jelbit aus dem Innern der Stadt dieß- und jenfeits
des Fluſſes. Sie führten jehr kühne Thaten aus, nicht mehr
unter dem Catone, welcher nad Spanien gegangen und dort
Soldat geworden war, fondern unter einem neuen Führer, der
ih Piattore nannte, im Gebirge großes Anjehen genoß, und
der fein Anderer war als der Baccio oder Karmelitermönd Gio—
vanbatifta. Auch von dem Muthe feines Lieutenants fprah man
viel und auch diejer war fein Anderer als der alte Hutmacher
Francesco Somigli, der ſich ebenfalls einen andern Namen bei:
legte, welchen ich aber jegt, nady mehr als zwanzig Jahren, ver:
gefien habe. Die Emilia wohnte in jenem Haufe in Sonnino,
welches über alle andern Häufer emporragt und wie bie Spitze
einer Pyramide ausfieht, denn der ganze alte Fleden hat dieſe
Form, wie er mit feinen Häufern einen hoben, von einer Spitze
Selvaggia. 153
nad allen Seiten gleihmäßig abfallenden, Hügel bevedt. Run
führten, wie ich jagte, die Räuber jet allerlei Fühne Thaten
aus, daß man in der Stadt felbjt nicht mehr ficher war, und
der Kardinal Montalto fandte dieß Mal weder Shirren, noch
Truppen aus gegen fie, obwohl e3 der Bapit wollte, weil es die
Gelvaggia nit wollte. Sie brachte ihn immer davon ab, wenn
er Schon Befehl gegeben hatte, daß die Truppen gegen die Räuber
aufbrechen, um mwenigitens das Land bi an die Gebirge zu rei:
nigen. Sie beforgte, daß der Baccio bei einem Kampfe mit den
Truppen oder Shirren umfommen könnte, und darum verhinderte
fie jede Unternehmung und hatten die Gebirgsbewohner unter
dem PViattore freies Spiel. Der Kardinal beflagte dieß, denn er
war ein Neffe des Papftes Sirti V. Montalto, feligen Ange:
denkens, welcher die Campagna und das ganze Patrimonium
von Räubern gefäubert und fih damit unvergänglichen Ruhm
erworben, und der Kardinal meinte, daß es feine Pflicht fei, den
Fußtapfen feines großen Oheims zu folgen. So verbrachte die
Selvaggia ihre Zeit damit, um von Baccio Unheil abzumenden.
Da begab e3 fih, wenige Monate nah der Flucht des
Baccio, daß ein Edelmann, Namens La Tremoglia, aus dem
Gefolge des franzöfiihen Gefandten, mit dem feiner Nation ei:
nenen Leichtſinn, ſich einige Miglien weit von der Stadt allein
binauswagte. Die Räuber umringten ihn und führten ihn in die
Gebirge. Hätten fie gewußt, daß er aus einem herzoglichen Haufe
Frankreichs und aus dem Gefolge des franzöſiſchen Gefandten
jei, fie hätten jich wohl nie an ihm vergriffen und ihn auch fo:
gleich freigegeben, nachdem er ihnen fagte, wer er jei. Sie
glaubten ihm aber nicht. Sie hielten ihn für Einen von der
Rotte des franzöſiſchen Herzogs von Guife, der fih nad dem
Tode de3 Majaniello in Neapel hatte zum Könige machen wollen,
Viele jeiner Anhänger aus franzöſiſchem Blute verweilten ala
Flüchtlinge in Nom, und da Einer derfelben die Räuber erit
wenige Wochen vorher täufchte, indem er fih für einen Edel:
mann des franzöfifchen Gejandten ausgab, fo glaubten jie jeßt
154 Novellen.
La Tremoglia nicht und hielten ihn zurüd, daß er ihnen taufend
Seudi bezahle. Erft nah acht Tagen, als fie durch ihre Späher
in Erfahrung gebracht, daß der La Tremoglia die Wahrheit ge:
jagt, gab ihn der Baccio frei und ließ ihn mit allen Ehren bis
vor das Thor von Nom begleiten. Damit waren aber der La
Tremoglia und der franzöfijhe Gefandte nicht zufriedengeftellt,
und diejer Legtere verlangte von Seiner Heiligkeit in einer Aus
dienz, daß die Räuber gezüchtiget und dem Unweſen ein Ende
gemacht werde. Se. Heiligkeit der Papſt befahl, daß viele Rotten
audgerüftet und in die Gebirge und nach dem Walde Faggiola
gejhidt würden, um die Räuber bis auf die Wurzel zu ver:
nichten, denn der Papſt wollte ſich den Franzoſen gefällig er:
mweifen. Nun konnte die Selvaggia nichts mehr thun. Sie fah
die Gefahr, melde vem Baccio drohte und wollte ihn davon be:
nachrichtigen. Nach reiflicher Lleberlegung und von dem Wunſche
verführt, den Baccio jelber wieder zu ſehen, beichloß fie, ihm
die Nachricht in eigener Perſon zu bringen. Sie bat ihren Oheim,
den Kardinal, den Zug gegen die Räuber nur um einige Tage
zu verzögern und begab fi in einfacher Tracht, verjchleiert und
verlarvt, nur von einer Kammerfrau und einem Pagen begleitet,
fogleich auf den Weg in das Gebirge; dem Obeim fagte fie, daß
fie fih auf einige Tage in das Klojter der Klariſſinnen zurüd:
ziehe, um dajelbjt eine neuntägige Andacht zu verrichten, da er
fie fonjt nicht hätte ziehen lajjen.
Sie war faum vier Miglien weit geritten, als fie ſchon von
den Wegelagerern umgeben war. Sie thaten ihr nichts zu Leibe,
da fie ihnen fogleich erklärte, fie fomme nur, um den Biattore
zu befuchen und ihm eine wichtige Nachricht zu bringen. Da be:
gleiteten fie fie bi$ nah Sonnino. Aber dort angeflommen, er:
fuhr fie zu ihrem Leidweſen, daß ſich der Baccio fern von da
nad dem Walde Faggiola begeben habe, und fie mußte warten,
bi3 man ihn dur Eilboten fommen ließ. Während fie da war:
tete, traf fie mit einem Diener des Baccio zufammen, welder fie
troß dem Schleier und der Maske erfannte. Er warf fi ihr zu
Selvaggia. 155
Füßen und fagte, er wiſſe wohl, welches Unrecht ihr fein Herr
angethan, und er verficherte fie, daß wohl auch jein Herr gerne
zu ihr zurüdfehren möchte, wenn er nicht den Hutmacher und
die andern Räuber fürchtete. So lange aber die Emilia lebe,
fönne daran nicht gedacht werden ; und es wäre wohl das Beite,
wenn man die Emilia ermordete. Darauf fragte ihn die Sel—
vaggia, ob fie die Emilia nicht jehen könnte? Und der Diener
ging fogleih in das Haus hinauf, um die Emilia zu holen,
während die Fürftin unten am Brunnen wartete. Als der Diener
mit der Emilia herankam und die Fürftin fie erblidte, rief fie
aus: „Sch verftehe wohl, vaß mich der Baccio für diefes niedrige
Mädchen verlaffen konnte, denn es gibt fein ſchöneres Geſchöpf
auf Erden, und ich würde es für meine größte Sünde halten,
ein ſolches Meifterftüd Gottes zu zerftören !" Nachdem fie dieſes
gejagt, und die Emilia bei ihr angelommen war, umarmte und
füßte fie das Mädchen und fegte fi) dann wieder an den Brunnen
und meinte bitterlib. Als dieſes die Emilia ſah, errieth fie, daß
die Frau unter dem Schleier und der Larve die Fürftin Sel:
vaggia della Rocca war; fie empfand Neue und fagte: „Em. Ho:
heit würden gut und weiſe handeln, wenn Ihr den Baccio wieder
in die Stadt zurüdführen wolltet, denn er ift nicht glüdlich bier
im Gebirge und meine Schönheit fann ihn auch nicht aufbeitern.
Er verweilt bier nur aus Furcht vor Euern Bravi und aus
Angſt vor meinem Vater, der ihn nicht von mir laffen will.
Er hat e3 mir jelbjt ſchon oft gejagt, daß er des Lebens über:
prüflig fei und gerne in fein Klofter zurückkehren möchte.“
„Dieb Alles,“ ermwiderte die Selvaggia, „werben wir be:
Ipreden, wenn ber Baccio zurüdgelehrt ift.“
ALS nun der Baccio am nächſten Tage zurüdtam, war er
ſehr erftaunt, die Selvaggia zu ſehen, und als er ihr Allerlei
jagen wollte, verhinderte fie ihn zu ſprechen und jagte mit lauter
Stimme, daß e3 alle feine Leute hören konnten, es fei jegt nicht
Zeit, über Anderes zu ſprechen, fondern fo weit al3 möglich in
die Gebirge zu fliehen und ſich zu zerſtreuen, meil vielleicht vie
156 Novellen,
Truppen und Sbirren des Papſtes ſchon auf dem Wege jeien.
Da viele von den Räubern jogleih Anftalt zur Flucht macien,
fragte der Hutmacher die Selvaggia, was jie mit dem Baccio
anzufangen gevenfe? Sie erwieberte, das ſei die Sache des
Baccio, fie aber glaube, es fei für ihn das Beite, feine Mönchs—
futte wieder anzulegen und in die Stadt zurüdzufehren. Nie:
mand werde daran erinnert werden, daß der PViattore und der
Baccio eine und diejelbe Perſon feien. Dafür werde fie ſchon zu
forgen willen. Dann könne der Baccio beginnen, was ihm be:
liebe.
Da lachte der Hutmacher und fagte, er erkenne ganz wohl,
worauf es abgefehen fei, und daß die Selvaggia ihnen nur ihren
Geliebten entführen wolle, und daß er und feine Partei das
nicht dulden werben.
Es that fih unter den Räubern ein großer Zwieipalt auf.
Die Einen glaubten der Selvaggia, die Andern dem Hutmacher,
und der Zank dauerte die ganze Nacht, während welcher mehrere
der Räuber getödtet wurden. Mittlerweile rüdte aber der Feind
heran. Nicht die Truppen des Papſtes waren ed, denn dieſe
bielt der Kardinal Montalto noch in Rom zurüd; es waren die
Franzofen, welche der La Tremoglia gefammelt hatte. Die Fran
zojen glaubten nit mehr, daß der Papſt ihren Schimpf rächen
werde und ſie thaten ſich Alle zufammen, um den Zug gegen die
Räuber jelbft zu unternehmen. Es waren ihrer eine große An:
zahl, denn e3 hielten ſich damals fehr viele Franzofen in Nom
auf, die Einen, welche mit dem Gefandten und feinen Evelleuten
gelommen waren, die Andern, von der Partei des Guife, von
der wir ſchon geſprochen haben und die Dritten, welche jeit lange
in Rom anjäfjig waren. Ihnen ſchloß ſich noch eine ganze
Schaar von Niederländern und von Engländern, welche wegen
der Unruhen zur Zeit des Todes ihres Königs nah Rom ge:
flohen waren. Sie waren in der Naht aus der Stadt aufge:
broden und erjchienen mit Tagesanbruch vor Sonnino. Gie
Iprangen von ihren Pferden und ftürmten fogleich in die Straßen.
Selvaggia. 157
Der La Tremoglia führte fie, da er während feiner Gefangen:
ichaft den Ort fennen gelernt hatte und die Wege fannte. Mit
einer Schaar feiner Freunde eilte er trog aller Kugeln, die ihm
aus den Fenftern entgegenflogen, bis in das höchſte Haus, in
weldhem die Emilia wohnte, und man bat alle Urſache zu glau:
ben, daß er diefen ganzen Zug unternommen hatte, nur um ſich
des ſchönen Mädchens zu bemädtigen. Er hatte fie während
feiner Gefangenschaft oft geliehen und ſich in fie verliebt. Er
kümmerte jih um den Kampf nicht im Geringften und ftürmte
geraden Weges bei der Emilia ein. Dieje aber wurde von ihrem
Vater, dem Hutmacher, tapfer vertheidigt, und al3 die Fran:
zojen dennoch in die Stube eindrangen, aus welder der Hut:
macher mit vielen andern Räubern gejchoflen hatte, fanden fie
den Hutmacher todt, aber auch die Emilia lag fterbend an feiner
Seite, da fie ihr eigener Vater, als er fich tödtlic verwundet
wußte, mit feinem Meſſer erftochen hatte. Der La Tremoglia
gab nun den Kampf auf und fagte, das Uebrige jollten vie
Sbirren des Papſtes thun. Er jammelte feine Freunde und ver:
ließ wieder den Flecken.
Die Selvaggia jaß während der ganzen Zeit am Brunnen
und betete für den Baccio, welcher fie verlaſſen und ſich in ein
feftes Haus zurüdgezogen hatte. Als es wieder jtile war, ging
fie ibm nad in dieſes Haus und fand ihn, wie er aus einer
Wunde in der Seite blutete. Nun ſagte fie zu den Räubern,
welche wegen des Todes des Hutmacherd, der Verwundung
Baccio's und wegen ihrer großen Berlufte überhaupt fehr be:
trübt waren, daß fie jept nichts Klügeres thun könnten, ala fi
weiter in die Gebirge zurüdzuziehen, da nun aud bald bie
Truppen des PBapftes fommen würden und fie ohne Führer und
nunmehr auch zu ſchwach jeien, um fich gegen fie zu vertheidi—
gen, Die Räuber jahen das ein und machten fich jogleich bereit,
um mit Weibern und Kindern tiefer hinein in die Berge zu
ziehen. Die Selvaggia verband dem Baccio feine Wunde und
tröftete ihn, da er den Tod der Emilia erfuhr und in Weinen
158 Novellen.
ausbrach. Gegen Abend jegte fie ihn auf ihr Maulthier und
fehrte mit ihm nach Rom zurüd. So wohnte ver Baccio wieder
bei jeiner Selvaggia, aber er war durch viele Wochen an feiner
Wunde frank und beflagte den Tod der Emilia. Die Selvaggia
pflegte und tröftete ihn mit ausnehmender Treue. Er wurde
wieder gejund, aber jein Frohlinn Fehrte nicht wieder, und er
jagte, daß er des weltlichen Lebens müde ſei. Auch wollte er
die Kleider nicht mehr anlegen, die er als Cavaliere getragen,
jondern verlangte nach feiner Mönchskutte, welche die Selvaggia
auch bervorjuchen ließ und ihn darein kleidete. Nunmehr hieß
er wieder der Bruder Giovanbatifta und nicht mehr der Cava:
liere Baccio.
Um dieje Zeit fam in Rom die Nachricht an, daß der Prior
im SKlofter zu Piperno gejtorben jei, und bei diefer Nachricht
weinte der Giovanbatifta vor Neue, daß er das fromme Leben
jemals verlafjen habe. Die Selvaggia jprad darüber mit ihrem
Oheim, dem Kardinal, welcher jogleih einen Eilboten nah Bi:
perno jchidte und ven Mönchen rieth, den Bruder Giovanbatijta
zu ihrem Prior zu erwählen. Diejes thaten die Mönche, weil e3
der Kardinal jo wollte, weil der Giovanbatiita große Benefizien
befaß und nunmehr aud jo viele mächtige Verbindungen in
Rom, melde dem Klofter von großem Nugen jein konnten,
Giovanbatifta freute fich ſehr, al3 er erfuhr, daß er wieder in
das Klojter Piperno zurüdkehren folle, und da indefjen die Un:
ruben in Neapel beigelegt und die jpanifche Herrichaft wieder
bergeitellt war, wollte auch die Selvaggia nad Neapel zurüd:
fehren. So geſchah es, daß fie zufammen von Rom abreisten,
wie fie zufammen in Rom angelommen waren. Die Selvaggia
führte ihren Geliebten al3 Prior in das Klofter ein, aus dem
fie ihn entführt hatte. Aber es war ihr ſchwer, ſich von ihm zu
trennen und fie blieb in Piperno, wo fie ſich einen Palaſt baute
und ihre Tage in frommer Einjamfeit verlebte.
Ein italienijcher Prieſter.
General U... erzählt:
In meiner Jugend einmal, aljo jhon vor geraumer Zeit,
machte ich in Begleitung mehrerer Freunde und Diener von
Neapel, meiner VBaterftadt, aus eine Reife nach Salerno. Ob:
wohl wir al3 Neapolitaner an die fehauderhafteften Mord: und
Räubergeſchichten aus den Provinzftädten und Gebirgspörfern
gewöhnt waren, hatte dad, was wir von dem damals hödjit
verfallenen Nefte Salerno zu hören befamen, unjere Neugierde
jo jehr gereizt, daß wir ung trog aller Gefahren zu diefem Aus:
flug entſchloſſen. Salerno hatte für uns die Anziehungskraft des
Schauderhaften, Unbeimliben; die Reife den Reiz eines Aus:
fluges in längjt vergefiene Zeiten, in denen ſich zugetragen, was
beute unglaublich und romantijch erfcheint. Es hieß, daß jämmt:
libe Einwohner Salerno’3 fih in Räuber und Mörder umge:
wandelt baben, und ed war gewiß, daß dort eine geſchloſſene
Geſellſchaft beftehe, die für Geld in ihrer Gejammtbeit oder in
einzelnen Mitgliedern zu jeder That, zu Mord, Ueberfall, Raub,
Entführung bereit war. Das Leben des Menjhen war da jo
jehr im Preife gefunten, die Gewiſſen fo verhärtet, daß man auf
einen Vorübergehenden ſchoß, nur um Pulver zu probiren.
Wir begaben uns in diefes Neft ohne Sorgen. Nicht weil
wir zahlreih und bewaffnet waren, jondern weil die Salerni:
taner bei Ankunft ſolcher Galantuomini, wie wir, vorausjepten,
160 Novellen.
man komme, mit ihnen ein Geſchäft zu machen, oder mit ande:
ren Worten, Individuen zur Ausführung irgend einer blutigen
Rache oder einer andern Ähnlichen Unternehmung zu miethen.
In folhem Falle war man ganz fiher; ja man wurde mit Zu:
vorfommenheiten, mit Gaftlichleit, mit allen möglichen Rück—
fihten aufgenommen.
In der That gefellten fich in der Nähe von Salerno einzelne
Individuen zu uns, die aufs Höflichjte ihre Dienfte anboten,
ung die Wege zeigten, auf mancherlei Intereſſantes aufmerkjam
machten und von den Heiligenbilvern, an denen wir vorüber:
titten, mit Andacht und Glauben Legenden erzählten. Mit
einem Heinen Gefolge famen wir auf dem Marftplage an. Dort
waren wir bald von einer ebenjo zuvorkommenden Bevölkerung
umgeben, die und aber troß ihrer Zuvorkommenheit nicht zum
Beiten gefiel. E3 waren meift die Weiber, die ſprachen und ung
offenbar zum Spreden bringen wollten. Sie Hopften auf den
Straud, fie verfiherten, daß die Salernitaner tapfere Leute
feien und zu jeder That bereit. Das Lächeln und die lauernden
Blide, mit denen fie ihre Worte begleiteten, machten ihre großen
ihmwarzen Augen und die breiten jchwellenden Lippen, die von
Natur Schön gebildet waren, nicht fehöner. inzelne Männer
ftanden in unferer Nähe, malerifsh an den Brunnen gelehnt
oder auch ferner an den Häujern, und beobachteten uns ſchwei—
gend, nur daß fie manchmal mit einer Bewegung oder mit einem
lauten Auflahen die deutlichſten Anfpielungen der Weiber be:
gleiteten. Sie näherten ſich mit einem Male von allen Seiten,
als einer unferer Reijegefährten, ein leichtfinniger Marinelieutes
nant, auf die Anfpielungen der Weiber einging und verrieth,
daß er fie verftehe. Ich glaube, wir hätten in diefem Momente
auf offenem Markte und vor hundert Zeugen ein Gejhäft von
bundert blutigen Rencontres abmadhen fünnen. ch fürdhtete,
die Zmedlofigkeit unferer Reife zu verrathen, und benußte die
fpäte Stunde, um zur Ruhe aufjufordern und ein Gajthaus
aufzufuchen,
Ein italienifher Priefter. 161
„Bravo,“ rief eine Alte mit Beifall, „ver Herr, Se. Er:
zellenz wollen wichtige Gejchäfte mit ausgeruhtem Geifte, in der
Friſche des Morgens abmahen! Man lafje die Herren in Ruhe;
Niemand folge ihnen in die Herberge!” — Ich nidte ihr zuftim-
mend und jo einverjtändig al3 ich vermochte,
Im Gaſthauſe, einem alten, verfallenen, weitläufigen Ge—
bäude, das ehemals ein Kloſter geweſen ſein mag, wollte man
uns mehrere Zimmer anweiſen, wir aber zogen es vor, zuſam—
men zu bleiben und bereiteten unſer Lager gemeinſchaftlich in
einem großen Saale, durch deſſen Decke hie und da der blaue
Himmel mit lächelnden Sternen blickte. Als Alles im Hauſe
ſtille war, verſäumten wir nicht, die Thüre zu verriegeln, ſogar
ein wenig zu verrammeln. Auch wachten die Diener abwechſelnd
an der Thür ſitzend. Doch verging die Nacht vollkommen ruhig,
ohne die geringſte Störung, ohne das kleinſte Abenteuer.
Andern Morgens durchzogen wir die Stadt — immer von
einigen einheimiſchen Individuen gefolgt — beſahen mehrere
alte Gebäude, die an die wiſſenſchaftliche Größe des mittelalter—
lichen Salerno erinnerten, und traten endlich in eine Kirche.
Hier beginnt die Geſchichte, die ich eigentlich erzählen wollte und
die viele Neapolitaner beſtätigen können, denn ſie machte damals
viel Aufſehen und war in Neapel Stadtgeſpräch.
Die Kirche war ziemlich beſucht. Die Gläubigen, Männer
und Weiber, knieten auf dem Steinpflaſter und beteten mit jener
Heftigkeit, mit der man anderswo zankt und die man nur im
tiefiten fatholifhen Süden an Betenden beobadten fann. Ihre
Lippen bewegten fich fo raſch und ausprudsvoll, als ob fie er
mand Vorwürfe machten over ald ob fie Drohungen ausiprächen ;
die Hände hielten den Roſenkranz, als ob fie einen Dolch hielten,
mit dem fie erzwingen wollten, was man ihren Bitten oder
Drohungen nicht gewähren würde. Der Geiltlihe jtand am
Altar und las die Meſſe. Er mahte das heilige Gefhäft wie
viele andere Geiſtliche handwerksmäßig ab und ſah aud aus
wie hundert andere neapolitanifche Geiftliche; gut genährtes,
Morig Hartmann, Werke. Vl. 24
162 Novellen.
doch nicht dickes Geſicht, braune Farbe, magere Hände mit lan:
gen Fingern und eine unverhältnikmäßig große Tonjur auf
jpigigem, edigem Kopfe. Er wäre uns weiter nicht aufgefallen,
wenn nicht der Miniftrant, ein hübfcher Junge 'von ungefähr
zwölf Jahren, unjere Aufmerkfamfeit auf den Altar und die
Mefle gelenkt hätte. Wir ftanden in der Nähe und konnten be:
merken, daß der Fleine Junge fehr zerjtreut war. Er ließ oft
lange auf die fatramentalen Antworten warten, fuhr jich dann,
wenn ihn der zelebrirende Priefter zornig anſah, mit der Hand
über die Stirn, ftotterte dann die lateinischen Worte, um einen
Augenblid darauf eben fo zerftreut zu fein, wie vorher. Er
vergab das Meßbuch zu nehmen, dann es an die rechte Stelle
zu legen, dann den Weihrauchkeſſel zur rechten Zeit zu hand:
haben. Einige der Gläubigen bemerkten die Zerjtreutheit des
Knaben und murrten. Mein Marinelieutenant lächelte. Wir
glaubten anfangs, daß das fromme Gejhäft das Kind lang:
weile und daß e3 an ein Spiel oder irgend melde Allotria vente.
Als wir aber aufmerkjamer hinſahen, bemerften wir, daß der
arme Junge am ganzen Leibe zitterte, daß fein Auge manchmal
ftarr und voll Entjegen auf einer und der anderen Stelle vor
dem Altare haftete, daß er mit unfagbarer Angſt auf dem blei-
hen Gefichte den Bewegungen de3 Geiftlichen folgte, der, nad
dem Ritus, am Altare bald nad der einen, bald nach der an-
dern Seite ging. Endlich fchüttelte fi der Knabe wie im Fieber,
blidte- um fi und ſah aus, als mwollte er die Flucht ergreifen,
oder als wüßte er nicht, was zu beginnen.
„Der arme Junge ift offenbar frank!” liſpelte einer meiner
Reifegefährten, und e3 jchien wirklich, al3 wollte er den Priefter
um Entlaffung bitten, denn er ftredte mehrere Male die Hand
aus, zupfte ihn am Meßgewande und wollte etwas jagen. Der
Priefter aber bemerkte es anfangs nicht. Doc mußte er endlich)
in dem Momente, da er das Allerheiligfte erhebt und den Gläu:
bigen zeigt, fih mit dem Gefihte dem Knaben zuwenden; das
benugte dieſer und faßte, wie es ſchien mit ver letzten Kraft,
Ein italienischer Priefter, 163
das Meßgewand, rik daran mit der einen Hand, während die
andere jtarr ausgejtredt, von den gläjernen Bliden de3 Knaben
gefolgt, auf den Boden der Altarjtufe zu Füßen des Prieſters
zeigte. Der Priefter jah hinab, fuhr erſchrocken zuſammen, warf
die Monftranz auf den Altar und ftürzte voll Entfegen in die
Safriftei.
Die Aufregung in der Kirche war ungeheuer. Die Gläubi-
gen jchrien auf und warfen fich in einem Anäuel fchreiend dem
Altar entgegen, an deſſen Fuße der Anabe ausgeftredt lag, noch
immer mit der einen Hand auf eine Stelle deutend. Diefe Stelle
war ein Blutfleden und gleich daneben ein zweiter, dann ein
dritter, vierter; der ganze Pla vor dem Altar war blutig be
träufelt. Bei diefem Anblid verftummten die Einen, während
die Anderen noch heftiger zu fchreien, zu fluchen oder die Heili:
gen anzurufen begannen. Ein Theil der Gläubigen ftürzte dem
Priefter in die Safriftei nah, ein anderer blieb bemegungslos
vor den Blutötropfen ftehen. Man hob den Knaben auf, ver
wie aus einer Ohnmacht erwadhte und in abgebrodenen Worten
erzählte, wie während der ganzen Meſſe unter dem Prieſter—
gewande hervor Blut und immer Blut träufeltee Das Volk
drängte fih nun voll Angft vom Altare fort und zur Thür hins
aus. Draußen fing eine Matrone fofort zu predigen an, daß es
die Hoftie geweſen, die geblutet habe, und das jei die Strafe
für die ungeheuern Verbrechen der Salernitaner, und bei ver
Gelegenheit nannte fie den und jenen der Umftehenden und warf
ihm die Zahl ver Morde ins Gejiht, die er begangen, und er:
zählte foldhe Gräuel von Saleıno, daß wir erlannten, wie wenig
das Gerücht übertrieben habe.
Das Bluten der Hoftien, ſagte die Predigerin, komme nur
in den außerordentlichiten Fällen vor und nur wenn die furct:
barften Strafgerichte Gottes drohen. Sie prophezeite den Saler:
nitanern den Untergang; der Veſuv werde fein Feuer bis hier:
ber wälzen und fie in Flammen begraben, wie ehemals Pompeji
und Herkulanum, als dieje Städte nicht vom Heidenthume lafjen
164 Novellen.
wollten, oder dad Meer werde austreten und fie allefammt ver:
ſchlingen. Sie riß das Tud vom Kopfe und fuhr fid mit beiden
Händen in die grauen Haare, die in Wellen über Gejiht und
Schulter herabfielen, dann fchlug fie fih in die Bruft, daß es
ballte, und erhob ein Klagegefhrei, in das die Weiber und
Kinder mit einftimmten. Plötzlich zu und gewendet rief fie, die
Hand augftredend: „Und ihr Fremdlinge, die ihr bierber ge:
fommen ſeid, um neue Sünden zu bezahlen, ziehet fort und
bäufet nicht neue Schuld auf diefe verfluchte Stadt. Kehret zu:
rüd und verföhnt euch mit euren Feinden, ebe es zu ſpät ift,
damit ihr nicht mit uns zu Grunde gehet.“
Bei diefer an uns gerichteten Erhorte wurde die Prophetin
unterbroben. Die Menge, die dem Prieſter in die Safriftei nad:
gedrungen war, fam jegt von dort zurüd und aus der Kirche
heraus auf den Plag. Aus ihrem Benehmen war fchwer zu er:
rathen, wa3 in der Safrijtei vorgegangen, denn dieſer Vorgang
hatte augenjcheinlich die verſchiedenſten Wirkungen auf die Ge:
müther bervorgebradht. Die Einen waren ernſt und fpraden
demgemäß unter einander, die Anderen jchrieen, die Dritten
lachten. Auch unjer Marinelieutenant, ein Mann, ver bei Allem
und immer in erfter Reihe jein mußte, lachte ganz gewaltig. Er
war einer der Erſten gemwefen, die fi dem Briejter in die Sa-
triftei nachgeftürzt hatten, und fing nun an, immer mit Zachen,
zu erzählen, was er dort gejehen und erlebt, während vie Sa—
lernitaner ihren Landsleuten Bericht erftatteten.
„Der Prieſter,“ erzählte der Marinelieutenant, „machte mit
dem eriten Schritte in die Sakriſtei Anftalten, fich feiner Kleider
zu entledigen und, wie es ſchien, etwas zu verbergen. Als er
fih verfolgt jab, wollte er aus der Gaftiftei entfliehen, aber
einige Männer verftellten ihm den Weg und erklärten ihm, daß
fie erfahren müßten, was e3 mit dem Blute zu bedeuten habe,
während andere auf feine Strümpfe aufmerkſam wurden, die
von oben nad unten mit Blut beträufelt waren. Er wollte feine
weiteren Erflärungen geben und zog einen Dolch hervor, mit
Ein italienifher Priefter. 165
dem er Diejenigen bedrohte, die ihm den Weg aus der Sakriſtei
ins Freie abichnitten; aber im Augenblid war er von hinten
entwafjnet und man ſah mit einiger Ueberrafhung, daß der
Dolch von friſchem Blute roth war. Darauf ging e3 an eine
Unterfuhung; injtinttmäßig oder aus Gewohnheit griff ihm
eines jeiner Beichtlinder in die Tajche und” — hier lachte ver
Marinelieutenant wieder — „und 309g — es war fehr über:
raſchend — ein Baar ganz frijcher, erjt abgefhnittener Menjchen:
ohren bervor.”
„Menſchenohren?“ riefen wir entjeßt.
„Sin ganz wohl conditionirtes, frifches Baar Menihenohren,
die noch bluteten und von denen die Blutötropfen famen, welche
den armen Knaben am Altar mit jolhem Entjegen erfüllten.“
„Waren e3 feine eigenen Ohren?” fragten wir weiter.
Seine eigenen Ohren faßen ihm ganz feit am Kopfe. Ihr
jeid jehr begriffsjtügig,” fuhr der Marinelieutenant fort; „vie
Salernitaner haben die Sache raſcher begriffen. Iſt es fo?
riefen fie und jchienen fich Vorwürfe zu machen, nicht gleich er:
rathen zu haben. Manche von ihnen lachten laut auf, und Alle
waren ſofort beruhigt, als fie einjahen, daß bier von feinem
blutigen, drohenden Mirakel, fondern von- einer gewöhnlichen
Geihichte, von einem Morde auf Beitellung, die Nede war.
Der Prieſter nämlich gehört mit zu der enggeſchloſſenen Gefell:
ſchaft der hiefigen Bravi; das ift Alles. Heute Morgen hat er
einen Auftrag vollzogen, und um feinem Auftraggeber die be:
weijende Probe ver Leiftung zu überbringen, hat er feinem
Dpfer die Ohren abgejchnitten und in die Tafche geltedt. Dann
kehrte er eilend in die Stadt zurüd, um nicht die Meſſe zu ver:
jfäumen, die ihm bezahlt wird. Er fam etwas fpät und hatte
faum Zeit, das Meßgewand über dad Banditengewand zu wer:
fen; die Obren blieben in der Tafche und fie tropften während
der Meile. Das ift die ganze Geichichte.”
Mährend der Lieutenant uns, hatten die Andern der Menge
Bericht erftattet. Als fie geendet, jubelte das Volk auf. Es war
166 Novellen.
aljo fein Mirafel! Ein Alp, eine große Angft war ihnen vom
Herzen gefallen, und fie wandten- ji lachend zu der Prophetin,
die ihnen die Hölle heiß gemacht hatte, und verhöhnten fie auf
alle mögliche Weife. Der und Jener ballte fogar die Fauft gegen
fie, nannte fie einen Unglüdsraben, eine Here, ein Mal-occhio,
kurz ein ſchädliches Weſen, das noch Unglüd herbeikrächzen könne
und das man eigentlich beſeitigen müſſe. Die Prophetin war
beſchämt und endlich beſtürzt. Sie ſchlich ſich ſchweigend davon,
während die ganze Verſammlung ſehr heiter wurde, daß es nichts
geweſen ſei als dieſe Dummheit.
Wir benutzten die kleine Aufregung, um uns unbemerkt
davon zu machen, unſere Pferde und Maulthiere zu ſatteln und
den Staub von Salerno von unſern Füßen zu ſchütteln.
Und was iſt mit dem Prieſter geſchehen?
Mit dem Prieſter? Nichts!
Er iſt nicht beſtraft worden?
Ich glaube nicht. Er hat keine Kläger gefunden und er hätte
keine Richter gefunden.
Er iſt wenigſtens verſetzt worden?
Ich glaube nicht. Doch weiß ich über Alles, was auf jenen
Tag folgte, nichts Gewiſſes. Gewiß iſt nur die Thatſache, die
ich erzählt habe, und die unzählige Neapolitaner und Salerni—
taner erzählen können.
Doktor Schwan,
Mehr noch der pfufcherifchen, von der kaijerlich ottomanifchen
Regierung und von Dmer Paſcha angeftellten Aerzte müde, als
des Donaufieberd und all’ der vielnamigen Krankheiten, die im
Kriegsjahr 1854 mi und Taufende von Fremden und Soldaten
in Ruſtſchuk feit Wochen belagerten, fing ic an, mich nad) einem
ordentlichen europäiſchen Arzte umzufehen, um endlich das troft
loſe, verpeftete, mir in tiefiter Seele verhaßt gewordene Ruſtſchuk
verlafjen zu können. Aber die wenigen europäiſchen Aerztg, denen
man fich hätte anvertrauen können, waren in Schumla oder in
der Nähe des fommandirenden Generald, der zur Zeit in ent—
fernten Gegenden jein Hauptquartier aufgefchlagen hatte. Zwar
börte ich won einem trefflihen Hefim oder Arzt, der in dem
gegenüberliegenden Giurgemo von der waladhijchen Regierung an
der Quarantaine angeftellt war und fich in der ganzen Gegend
eines ausgezeichneten Aufes erfreute; aber Giurgemo und Ruſt—
ſchuk waren zwei verſchiedene, durch unendliche Entfernungen
getrennte Welten; das eine war von Rufen, das andere von
Türken befegt. Endlich bewerkftelligte Haflan Paſcha den Ueber:
gang Über die Donau; die Ruſſen zogen fi erſt nad Fratejchti,
dann nah Buchareft und zulegt, die Defterreicher in ihrem Rüden
fürdtend, gänzlih über die moldau-walachiſche Gränze zurüd.
Die Verbindung zwijchen den beiden Donauufern und den zwei
- einander gegenüberliegenden Städten war wieder hergeitellt.
168 Novellen.
Einige Tage darauf erfuhr ich, daß der Hefim aus Giurgemo —
er war nur unter diejem Namen oder als der „Brillenträger” bei
den Türken befannt — in Ruſtſchuk anweſend fei, um nad der
langen Trennung jeine alten Klienten, meijt Familien der euro:
päiſchen Konjuln, zu beſuchen. Ich ſchickte meinen Wirth, einen
einfältigen Türken, der meinen Namen eben jo wenig ausfprechen
fonnte wie den des Arztes, auf Kundichaft aus und mit dem
Befehle, mir den Helim um jeden Preis herbeizufchaffen.
Ich lag ungeduldig auf meinem Divan in meinen Pelz ge:
hüllt und horchte auf jeden Lärm von der Straße und der Veranda.
Nah wochenlangem Umgang mit dummen Türken und rohen
Bulgaren ſehnte ich mich eben fo ſehr nad dem civiliſirten Men—
ſchen, wie nach dem Arzte, ver mir helfen und mich zur Weiter:
reife fähig maden folltee Nach mehreren Stunden Harreng,
gegen Abend, trat endlich der Vielerjehnte in meine Stube. Ein
ſonderbares Männlein, eine höchſt auffallende, beinahe komiſche
Erſcheinung. Der Doktor war Hein, überaus mager an Geſicht,
Händen und Beinen, und doch um die Mitte des Leibe mit
einem ſehr in die Augen fallenden Embonpoint gefegnet. Das
zarte, Keine Geficht fehien vorzeitig gealtert und war von unzäh:
ligen feinen Fältchen bededt. Auf der Heinen aber fpigigen Naje
jaß eine große blaue Brille, welche die Wangen zur Hälfte und
die ganzen Augenbrauen bevedte. Von der Stirne war nicht viel
zu jehen, da fie beinahe ganz unter dem Fez tal, den der Doktor,
nad orientalifher Sitte, au in der Stube auf dem Kopf figen
ließ. Diefer Fez, ein genegter Gürtel, der die Kleider um die
Mitte des Leibes feſt hielt und an der Seite in Quaften herabfiel,
eine länge türkiſche Pfeife mit blaugläfernem Mundftüd war das
einzig Orientalifche an dem ganzen Manne; fonft war er europäijch
gekleidet, oder deutſch, denn fein ganzer Anzug erinnerte an ges
wife arme oder vernachläſſigte Gelehrte, Theologen ohne Pfarre,
Philologen, die zu Correktoren in Buchdruckereien herabgejunfen
und an ähnliche Erfeheinungen, wie .man deren in deutſchen
Univerfitätsftädten zu finden pflegt. Auf feinen Heinen Füßchen
Doktor Schwan. 169
ging er wie ein Vogel daher, indem er immer zuerjt mit den
Zehen auftrat und dann langjam die Ferfe ſinken ließ. Diefe
Art des Ganges vollendete erſt das Komifche der Erjcheinung,
und ich hätte bei jeinem Eintreten glei, wenn auch nicht lachen,
fo doch lächeln mögen, menn ich ihn nicht fofort nad) den erſten
zwei Schritten ins Zimmer erkannt und zwar als einen lieben,
alten Belannten und Freund erkannt hätte, in deflen Leben ich
vor mehr als zwanzig Jahren eine jehr traurige Rolle gejpielt
batte. Ich lächelte nicht — ih war überrafcht, erftaunt und noch
mehr erjchroden. Aber ich faßte mich fchnell und unterbrüdte
den Ausruf der Ueberrafhung und die Nennung feines Namens,
die fich bei feinem Anblid auf meine Lippen drängten. Ich ſah
ihn nur jtarr an und zitterte vor dem Gedanken, daß er auch
mich erkennen möchte. Mein Plan war rafch gefaßt. „Wenn er
mich nicht erkennt,” dachte ich, „Itelle ich mich ihm unter einem
falſchen Namen vor.”
Er näherte fi meinem Lager und fagte mit jener mir jo
wohl befannten Stimme und eben fo wohl befannten Schüdhtern:
beit: „Ich bin der Doktor, den Sie haben fuchen laffen.”
Ich hatte nicht den Muth, ihm ins Geficht zu jehen; ich
blidte ihn nur von der Seite an, und fürdhtend, daß er meine
Stimme eben jo ertennen könnte, wie ich die feinige, blieb ich
fill. Der Doktor glaubte, daß ich ihn nicht verftanden und
wiederholte: „Ich bin der Doktor, der Doktor Schwan von
Giurgewo.“
„Seien Sie mir willkommen, Herr Doktor!“ ſagte ich halb—
laut und ſpähte nach dem Ausdruckee feines Geſichtes. Aber er
blieb ruhig und ich fuhr muthiger fort: „Verzeihen Sie, daß ich
Sie bemüht habe.”
„O,“ fiel mir der Doktor ins Wort — „ich freue mich, einen
Landsmann zu fehen; ver Türke fagte mir, daß mic) ein deut:
ſcher Tſchelebi (Gentleman) zu fehen wünſche. Gie find ein
Deutjcher *” ,
„5a, Herr Doktor !”
170 Novellen.
„Bielleicht ein naher Landsmann von mir? ein Defterreicher ?
fragte er freundlich mweiter.
Seht war der Moment gefommen, da ich meinem Entſchluſſe
gemäß zu lügen anfangen und mid in mein Inkognito leiden
mußte.
„Nein, Herr Doktor,” fagte ih, „ih bin aus Norddeutſch—
land und heiße Arnold.“
„Deutſcher ift Deutſcher,“ lächelte der Doktor — in der
Fremde verwiſchen fich die dreißig deutſchen Gränzen. Ich bin
ein Dejterreiher und al3 ſolcher nannte ich ehemals alle Deut:
ſchen Ausländer; das hat aufgehört, feit ich hier in der barba-
riſchen Fremde lebe.“
„Das hat,” ſagte ich, „heutzutage bei vielen Defterreihern
aufgehört.”
„Defto befler, deito beſſer,“ rief der Doktor freudig, und zog
zur Vervolljtändigung feines Bildes eine Tabalsdoſe aus der
Taſche und nahm eine Prije.
„Sie find wohl ſchon lange fort aus der Heimat?“ fragte
ih, um meine Heuchelei zu vollenden, da id) den Zeitpunkt feines
Verſchwindens aus dem Vaterlande genau Fannte.
„Weber zwanzig Jahre, Herr Arnold, über zwanzig Jahre!"
— ermiderte er fopfihüttelnd und wie mir ſchien mit einem
Anflug von Trauer. — „In folhem Zeitraum kann fih Manches
ändern.”
Er hatte offenbar Luft, fih nach Mancherlei zu erkundigen,
aber er erinnerte fich feiner Pflicht ald Arzt und begann, nach—
dem er meinen Puls gefühlt, micy auszufragen. Dabei nahm er
die große blaue Brille von der Nafe und ich jah die grauen, er:
lofhenen Augen, die ich jo gut kannte, die von Kindheit an mit
arger Kurzfichtigleit gefehlagen waren, und die es mir jeßt er-
leichterten, mein Inkognito aufrecht zu erhalten und durchzu—
führen.
Freilih war ich in diefer Beziehung noch durch viele andere
Umſtände begünftigt. Als uns das Schidjal vor mehr als zwanzig
Doktor Schwan. 171
Jahren trennte, war Yalob Schwan ein fertiger Mann, an dem
ſich nicht viel ändern konnte; er hatte damals ſchon alle vie Eigen:
thümlichkeiten, die ihn jegt noch auszeichneten, den fonderbaren
Hühnerſchritt, die blaue Brille, die Blatternarben, die magere,
in der Mitte aufgedunfene Geftalt und — neben dem gutmüthigen
und edlen Ausdrud des Geſichtes — jagen wir es nur mit einem
Worte — die ganze Häßlichkeit, welche die Jahre nicht verringert
batten. Er war ganz Derjelbe, nur etwas gealtert. Neu an ihm
waren bloß der Fez und ver Tſchibuk. Ich hingegen war, als
er mich verließ, ein Junge von zwanzig Jahren, deſſen Bart,
der im Orient die vollfte Entwidelung erlangte, jegt das halbe
Gejiht bevedte und weit auf die Bruft herabfiel, damals faum
die erjten flaumigen Keime getrieben hatte. Der Bart war es,
der den ägyptiſchen Joſeph feinen älteren Brüdern verbarg, wäh:
rend er fie daran erkannte.
Doktor Schwan gab mir die beruhigende Verfiherung, daß
meine Krankheit nicht gefährlich fei. „Diefe vielfachen Anflüge
der verjchiedenen Krankheiten, die in diefer Gegend wüthen,“
jagte er, „werden wir mit leichter Mühe entfernen ; dann kommt
e3 nur darauf an, Sie gut zu nähren, damit Sie geftärft die
Meiterreife durch die unwirthbaren Gegenden ver innern Türkei
wieder aufnehmen können; mit der Quftveränderung wird dann
das Donaufieber von felbft verſchwinden.“
Dieſes abgethan, knüpfte der Doktor ein Geſpräch über
Deutihland an, nach deſſen gegenwärtigen Zuftänden er fich mit
großem Batriotismug und, wie es fchien, mit janfter Sehnfudht
erfundigte. Da ich vorausfegte, daß er auch gern etwas über
feine alten Freunde erfahren hätte, ließ ich es im Geſpräche jo
mit einfließen, daß ich in feiner jpeciellen Heimat gut befannt
wäre. Sofort fragte er, ob ich nicht zufällig Den und Jenen
fenne? und feine Freude war groß, als ich „zufällig“ mit ven
meiften Perſonen, für die er ſich intereflirte, mehr oder weniger
genaue Belanntihaft gemacht und über ihre gegenwärtigen Ber:
bältnifje Auskunft geben konnte. Er hörte mir mit der größten
172 Novellen.
Theilnahme zu, und unterbrah mich nur mandmal mit einer
neuen Frage oder mit einem tiefen Seufzer. Jh mar gerührt
und wäre ihm am liebjten um den Hals gefallen, und doch zit:
terte ich wieder vor dem Gedanken, daß er mich auch nach mir
jelbft fragen könnte. Aber er that es nicht, und auch dieſes er:
füllte mich wieder mit Trauer, denn es bewies mir, daß gewiſſe
alte Wunden no nicht geheilt waren, und daß in diefem ehe—
mal3 mir fo lieben Freundesherzen noch einige Bitterkeit gegen
mich übrig fein müſſe.
Meine Mittheilungen und das Geſpräch über des Doktors
Freunde, welches ſich bis ſpät in die Nacht hinein verlängerte,
trugen, abgejehen von der Landsmannſchaft, viel zur jchnellen
Reife und Entwidelung unferer Belanntichaft bei. Schon am
nächſten Tage trabte er auf feinem Eleinen anatolifchen Pferde
wieder über die neue Sciffbrüde herüber nah Ruſtſchuk, und
wieder faßen wir, dießmal in der Veranda, rauchend und Kaffee
trinfend, bis jpät in die Naht plaudernd und erzählend. So
auch die folgenden Tage, da der Doktor drüben in Giurgemo,
aus dem alle Einwohner geflohen waren und wo die Quarantaine
aufgehoben worden, nicht? zu thun hatte. Mein alter freund
wurde mir jo lieb, wie er mir ehemals geweien. Er war ja aud
in der That ganz Derfelbe, ganz derjelbe Geilt, der fib, felbit
bier in der barbarijchen Einjamleit, für jeden Sieg und ort:
jchritt der Menſchheit begeifterte, daſſelbe zu jeder Hilfe bereit:
mwillige, gute Herz, das an Alles dachte, nur nicht an Danf und
Anerkennung ; diejelbe reine Seele, die immer noch nicht begriff,
daß der Welt au Aeußerlichkeiten wichtig find, und daß man
fich nad) dem Kern und Inhalt der Dinge nur felten und nur in
zweiter Reihe umſehe.
Nachdem meine Erzählungen erſchöpft waren, fam das Ge:
ſpräch natürlich auch auf das Hauptthema de3 damaligen Tages,
worüber fi) der Fremde mit Europäern, die den Orient jeit
länger fannten, am Liebjten bejprah. Ich meine „ven kranken
Mann, den Ver: und Zerfall der Türkei.” Der Doktor war eben:
Doktor Schwan. 173
fal3 der Meinung, daß die Dinge nicht länger mehr jo geben
fönnten, und als Arzt zählte er die vielen Urfachen der Krankheit
und die eben fo zahlreihen Symptome baldiger Auflöfung des
kranken Mannes auf. Aber ich war erſtaunt, als e3 mir der eben
fo gebilvete als zarte Doktor beftritt, daß auch die Bolygamie zu
den Krankheitsurſachen der Türkei gehöre.
„Mißverftehen Sie mid nicht,” fagte er, als ich mein Er:
ftaunen laut äußerte — „ich vertheidige nicht eigentlich die Poly:
gamie, nein, mit meiner Vertheivigung meine ich im Grunde
die Behandlung, melde die Türken ihren Frauen angedeihen
laflen und das ganze Verhältniß, die Stellung des Weibes im
Oriente; dieſe vertheidige ich, dieje kann ich nicht ala eine der
Urfahen des Berfalles gelten lafjen.”
„Wie?“ rief ih — „Sie vertheidigen die Sklaverei des
Meibes, die Herabwürdigung derjenigen Perfon im Haufe, in
der Familie, welche die eriten Keime des Guten in die kindlichen
Gemüther pflanzen ſoll? Jenes ſchönſte Clement, auf dem die
Familie und darum die ganze fittliche Gejellichaft beruht, wollen
Sie erniedrigt jehen? Die Mutter, die Geliebte, die Braut, die
Gattin, die ſchönſten und poefievolliten Geftalten auf der Bühne
des Lebens follen mit Recht entjeelt, zu Dingen, zu todten, geilt:
ofen Sachen herabgemwürbigt werden dürfen? zu Gegenftänden,
die man kauft, verkauft, einfchließt und jeder eigenen freiwilligen
Aeußerung und Bewegung beraubt? Ich begreife Sie nicht!“
„sh habe,” erwiderte der Doktor ruhig, „ich habe ehemals
jo gedacht, die Dinge jo betrachtet wie Sie, wie jeder gebilvete
Europäer. Aber urtheilen heißt vergleichen. In Europa fehlt
ung die Gelegenheit zur Vergleihung, darum können wir über
diefe Dinge nicht urtheilen. Gehen Sie, ich fiße feit zwanzig
Jahren hier auf einem Poften, der mir alle Gelegenheit zur Ber:
gleihung, aljo zum Urtheil bietet. Hier in Ruſtſchuk fehen Sie
nur Minarete und Harems; gerade gegenüber erhebt ſich ein
Kirchthurm und walten fogenannte europäifhe Hausfrauen.
Drüben in der Walachei kann man alle legten Konfequenzen der
174 Novellen.
europäifchen Anſchauung, die äußerfte Entwidlung des europäischen
Syſtems beobachten. Da genießt das Weib der volllommenjten
Freiheit und die Heirath ift nicht3 anderes als Kauf und Ber:
fauf. Bon Heirath aus Neigung ift nur in den allerfeltenften
Fällen die Rede. Manchmal fieht e8 wohl darnad aus, aber
wenn man näher zufieht, ilt es Kaprice, Grille, momentane
Leidenſchaft, die der materielle Befit fofort in das Nichts auflöst.
63 gibt äußerſt wenige Ehen, melde als ſolche im wahrhaftigen
Sinne des MWorted Monate oder mehrere Jahre über dauern.
Ihr Außerlicher Fortbeitand ift eine baare Lüge, die Niemand
täufcht. Bei folhen Zuftänden ift e8 dem Weibe leicht, fich in
Alles und Jedes zu miihen, und da fie zum Theil ihrer Natur
nah, zum Theil in Folge ihrer Entwidlung inmitten folder
Zuftände frivol ift und nur an Aeußerlichkeiten hängt, wird dem
ganzen Weſen dieſer Gefellihaft der Stempel ver Frivolität auf:
gebrüdt, wird das ganze Leben dieſer fo organifirten Geſellſchaft
bei jolhen obmwaltenden Elementen unfäglich platt, unbedeutend,
verflaht. Die Männer werden Stuger, Kurmacher, Geden, In—
triguanten. — Sehen Sie dagegen, wie e3 ſich hier in der Türkei
verhält. Das ſchädliche, meiblihe, frivole Clement wird von
vornherein aus der Gejellfchaft entfernt. Der Mann verliert feine
Zeit nicht mit Kurmachen und braubt, wenn er den Charalfter
darnach hat, feine Mühe, feine Arbeit nicht zu verſchwenden, um
jeinem Weibe ven Luxus, diefoftbaren Vergnügungen und Alles das
zu verfchaffen, was den europäischen Ehemann in Arbeit und Sorgen
aufreibt. Er feßt feine Frau in den Harem und damit iſt's gut.
Als junger Mann verfchwendet er fein Beftes in Geift und Ge-
müth nicht mit leeren Leidenfchaftlichkeiten, Sehnfüchteleien, Aben-
teuern, Romanen ꝛc. Gr macht fich feine überfpannten Boritel-
(ungen vom Weibe, er bafırt nicht fein ganzes Glüd auf ein
mweiblihes Ideal, und fo ift er auch jenen ſchmerzlichen Ent:
täufhungen nicht ausgejegt, die oft fürs ganze Leben unglücklich
machen, Byron’sche Helden ſchaffen und Geift und Herz in öde
Brandftätten verwandeln. Wie viele Hinderniffe werden dem
Doktor Schwan. 175
Europäer in feiner Laufbahn, in feiner Entwidlung von weib:
licher Seite her gewedt; die Sucht zu glänzen, Andere zu über:
ftrahlen, Neid, Mißgunſt und alle die Gefühle, die eine Nach—
barin der andern gegenüber heat, werfen den Mann, der fein
2003 mit dem eines Weibes fo innig verbunden hat, hundert Mal
aus der Bahn, die er al3 die feinen Talenten, feinem Charakter
und feinen Neigungen angemeflene erfannt und mit Vorbedacht
gewählt hat. Der Mohammedaner kann auf diefe Weife nicht
geftört werden. Ob er nun ruhig fein Feld bebauen, oder feinen
Ehrgeiz in kriegeriſchen, politiichen oder gelehrten Ruhm fegen
will — fein Weib weiß faum etwas von der Lebensweiſe und
den Abfichten ihres Gatten, und iſt ſchon darum nicht fähig, ihn
zu behindern. In ihrem Harem bedarf die Türkin der Näfchereien,
Spielzeugs und einigen Schmucks; das wird ihr mäßig geliefert,
und das Leben ihres Mannes wie die ganze Weltgeſchichte können
draußen ihren natürlichen Verlauf nehmen. Am Ende ift e3 doch
die Hauptfahe, daß der Mann feine Kräfte übe, fie zur höchſt—
möglichen Entwidlung bringe, und fie nit an Plattheiten und
an die Befriedigung kleinlicher Eitelfeiten und Xeerheiten ver:
ſchwende.“
Ich unternahm es nicht, den Doktor zu bekehren und ihm zu
beweiſen, wie zur vollkommenen Ausbildung des Mannes auch
die Erkenntniß des Weibes, und zur vollkommenen Entwicklung
der Weltgeſchichte und der Geſellſchaft auch die Entwicklung des
weiblichen Elementes gehöre. Auch war ich nur zu Anfang über
feine Anſichten, die fo ſehr mit feinem ganzen Weſen in Wider⸗
ſpruch ftanden, erftaunt; im Verlaufe feiner Nede, die ich hier
nur auszugsweife gebe, erinnerte ich mich feiner Gefhichte, und
die erften Urſachen feiner Anfichten wurden mir auf traurige
Weife Har und offenbar. Mögen mir noch fo jehr mit fertigen
Anlagen geboren werden, erft unfere Gefchichte macht ung fertig,
und jeder Menſch bat feine Gefhichte, und fei fie noch fo kurz,
fie wirkt entſcheidend, und was auf fie folgt, ift nur ihre Wirkung
und ihr Anhängfel. Auch der Doktor hatte vie feinige und ic)
176 Novellen.
feufzte innerlich, da ich mich ihrer während feiner Rede über das
weibliche Geſchlecht erinnerte,
* *
*
Ungefähr einundzwanzig Jahre vor meinem Aufenthalte in
Ruſtſchuk erhielt ich von meinen Eltern die langerſehnte Erlaub—
niß, unſere Provinzialhochſchule mit der Univerſität der Reſidenz—
ſtadt zu vertauſchen, aber ich erhielt dieſe Erlaubniß nur unter
der Bedingung, daß ich in der Reſidenz mit meinem Landsmanne
Jakob Schwan, Stud. med., dieſelbe Wohnung, wo möglich
dieſelbe Stube beziehe. Es war dieß eine weiſe Vorſicht meiner
Eltern. Ich war ein junger Springinsfeld von neunzehn Jahren,
der von den Freuden des Lebens gern ſo viel mitnahm, als er
erhaſchen konnte, und dem man nicht ſo ohne Weiteres und ohne
beſondere Vorſichtsmaßregel auf das hohe Meer des Reſidenz—
lebens hinauszuſteuern geſtatten durfte. Man war mit Recht be—
ſorgt, daß ich meine Zeit zwiſchen Tanz- und Fechtboden und
Kaffeehaus einerſeits und den Kollegien und Büchern andererſeits
ungleich theilen könnte. Jakob Schwan hingegen, ver Sohn eines
armen Pächters in unjerer Nachbarſchaft, war ein Mufterftudent,
der in unjerer Gegend in höchſter Achtung ftand und von dem
man wußte, daß er von feiner Zeit auch nicht eine Stunde un:
nüß vergeude. Beugniß dafür legte feine große Bildung ab, fein
reiches, für fein Alter erjftaunlihes Wiſſen ſowohl in feinem
Fade, der Medizin, als in vielen andern Fächern. Wie zu feinem
Willen hatte man zu feinem Charakter, der ſich ſchon vielfach be:
währt hatte, alles Zutrauen. Er war außerdem um wenigſtens
ſechs Jahre älter als ich, ein ziemlich alter Student, da er zwi—
jhen Gymnafium und Univerfität drei Jahre hofmeifterte, um
die Studienkoften zu erwerben, und ferner war ich, dem man den
guten Jakob immer als Muſter hinjtellte, varan gewöhnt, zu ihm -
al3 einem ausgezeichneten Menſchen hinaufzufehen: er war aljo
wie gemacht, um mich zu bevormunden, und ich war jehr auf:
gelegt, mich diefer Bevormundung gerne zu fügen. Daher die
Doltor Schwan. 177
Bedingung meiner Eltern. Bei der Seelengüte Jakobs zweifelte
man nicht einen Augenblid daran, daß er mid) bereitwillig als
Stubengenofien aufnehmen werde. So war e8 auch. Safob
empfing mich mit offenen Armen und forgte für mich, mie für
einen jüngeren Bruder. Seine Güte und fein Beifpiel wirkten
jehr günftig auf mich und ich ſaß in der anftoßenden Stube, die
mit der feinigen durch eine ftet3 offene Thüre verbunden war,
faſt eben fo fleißig wie er an den Büchern. Obwohl meine philo—
logifhen Studien mit den feinigen nichts gemein hatten, unter:
ftügte er mich dod mit Rath und Aushülfe, da er während der
drei Jahre feiner Hofmeifterei das bereit3 auf dem Gymnafium
gründlich gewonnene philologiſche Wiſſen bedeutend erweitert hatte
und es, behufs einer Gejchichte ver Medizin, die er einft zu ſchrei—
ben beabfichtigte, bei Gelegenheit gerne wieder aufnahm. Obwohl
ich ihm förmlich als Mündel übergeben worden war und ich mic
bereit zeigte, mich feinen Anordnungen gänzlich zu fügen, und
troßdem er jo lange den Pädagogen gefpielt hatte, nahm er mir
gegenüber doch nie die Miene eines Vormundes oder Hofmeiſters
an und war fein Benehmen fern von aller Pedanterie. Seine
Milde, feine Güte, feine Toleranz für Jugendlichkeit und tollen
Uebermuth trieben ihn, mich vielmehr al3 feinen Freund zu be:
handeln, und ich fühlte mich glüdli, in der großen, mir frem:
den Reſidenz einen foldhen Freund zu bejigen. Obwohl ich über
reichere Mittel verfügte und größere Ausgaben wagen konnte als
er, folgte ich ihm doch gerne an den ärmlichen Tiſch feines Gaſt—
baufes, nur um immer in jeiner Gejellichaft zu fein, und be:
ſchränkte ich meine ganze Lebensweife auf das beſcheidene Maß,
das er ſich aus Nothwendigkeit ſowohl wie aus Neigung vorge—
ſchrieben hatte. Dafür ließ er ſich manchmal verleiten, mir auf
den Tanzboden zu folgen, wo ich mit ſchönen Nähmädchen und
Blumenmacherinnen halbe Nächte verjubelte. Er tanzte nicht —
er hatte dieſe Kunſt nie gelernt — aber er freute ſich am Anblick
dieſer ihm neuen Welt und dem jugendlichen Treiben; mich, den
Jüngeren, aber Erfahreneren, unterhielt es, wie er hinter all’
Morig Hartmann, Werke. VI. 12
178 Novellen.
dem feine eigene Unſchuld vorausfegte, und binter Anmuth und
Quftigfeit von Putzmacherinnen mit feinem Idealismus und feiner
fünftlerifchen Logik auch nur Schönheit der Seele und Tugend zu
fehen vermochte. Suchte ich ihm in diefer Beziehung mandmal
die Augen zu öffnen, wehrte er die Wirklichkeit, die mit feinem
unſchuldigen Idealismus nicht übereinftimmte, mit einem jtereo-
topen, halb ungläubigen, halb toleranten „Aber Nein!“ von
fih ab.
Indeſſen bemerkte ich im Laufe der Wochen, daß bei all’ ver
Freundichaft, die von Tag zu Tag auf beiden Seiten inniger
wurde, Jakob doc ein Geheimniß vor mir hatte. Manche Abende
verbradhte er ohne mich außer dem Haufe, ohne mir zu fagen,
wo und mit wem er gewejen. Nach jolchen geheimnißvollen Aus:
flügen war er jedesmal in etwas verändert, entweder berebter
oder ſchweigſamer, heiterer oder erniter al3 gewöhnlich. Bei jedem
Andern hätte ich Liebes:Stellvichein vermuthet; bei Jakob ſchien
vergleichen unmöglich. Ich fragte nicht, denn ich war bei feinem
fonftigen Vertrauen überzeugt, daß fein Geheimniß nicht jein
eigenes fein könne, daß er mich fonft einweihen würde, und ich
achtete, ſelbſt ſchweigend, feine Schweigfamteit. Bon Zeit zu
Zeit aber, vorzugsweiſe nad) ſolchen myfteriöfen Ausflügen, ſchien
e3 mir, als ob ihn etwas drückte, ala ob er mir etwas mittheilen
wollte. Er blieb dann vor mir ftehen und jah mich lange an;
gab ich ihm darauf einen fragenden und erwartungsvollen Blid
zurüd, erröthete er, lächelte, wandte ſich ab, fing in einem Buche
zu blättern an und ſchwieg nach wie vor.
Eines Abends — e3 war fehon fpät und ich lag im Bette —
fehrte er von feinem geheimnifvollen Gange heim. Ganz gegen
feine Gewohnheit trat er ziemlich lärmend und ohne alle Rüdficht
auf den Schlaf feines Zimmernachbarn in die Stube und öffnete
gleih darauf meine Thüre,
„Schläfſt du, Viktor?” rief er laut genug, um mich zu weden,
wenn ich gejchlafen hätte,
„Nein! was ift 2“
Doltor Schwan. 179
„Sb komme gleich zu dir,“ erwiderte er, „ich zünde nur das
Licht an.”
Menige Augenblide darauf trat er mit dem Hut auf dem
Kopfe, im Ueberrod und eine Kerze in der Hand, an mein Bette,
Er adhtete nicht auf den Schnee, der noch auf Hut und Kleidern
lag, und zeigte mir ein Geſicht, das glüdjelig vor ſich hinlächelte.
„Was haft du, Jakob? Was ift mit dir vorgegangen? Haft
du Ausfiht auf eine Anftelung ? Bift du Ordinarius geworden ?
Haft du eine neue Duelle zur Geſchichte der Medizin entdedt?
Oder gar ſchon einen Verleger für das ungefchriebene Werk ge:
funden? Du ſiehſt aus, als hätte fich ein großes Glüd geraden:
wegs vom Himmel auf dein bemoostes Haupt herabgeſenkt!“
Jakob lächelte und antwortete nicht; er rieb fi) die Hände
und ging bald fchneller, bald langſamer in der Stube auf und
ob. Endlich blieb er vor meinem Bette jtehen und ſagte lächelnd
und ſchamerröthend: „Sie hat ein Vielliebchen mit mir gegefien !“
„Sie? Wer ilt Sie?” fragte id,
Aber anftatt zu antworten, fragte er weiter: „Was thut
man, wenn man ein Bielliebhen gegeſſen hat?”
„Bor Allem,” fagte ich, „verliert man; das ift Pflicht, wenn
man ein Vielliebehen mit einer Sie ißt.“
„Sch habe verloren, es iſt verloren!” rief er, als ob er einen
Sieg verkündete.
„Wie? gleich verloren ?”
„Augenblidlich! faum hatte ich es gegefien, als fie mid) ſchon
überliftete ‚” rief er wieder voll Freude.
„Run, jeßt mußt du ihr ein Gefchent machen.”
„Aber was fchentt man einer Dame?” fragte er weiter.
„Das hängt von Perſonen und Umftänden ab. Sit fie ſchön?
iſt fie jung? ift fie liebenswürdig?“
„O Gott!“ feufzte Jakob, indem er die Augen himmelwärts
wendete.
„Genug,“ rief ich, „ich weiß genug. Der mußt du etwas
ſehr Schönes ſchenken.“
180 Novellen.
„Nicht wahr ?” fagte Jakob, „das habe ich auch ſchon gedacht.“
„Gewiß,“ fuhr ich im Tone des erfahreneren Rathgebers fort
— „aber balt! Nod Eins: ſeid ihr intim?“
„Wer?“ fragte mein Freund.
„Du und Sie?“
Jakob wurde verlegen. „Das,“ ſtammelte er, „das weiß ich
wirklich nit. Vielleicht, jo gemifjermaßen — aber du mußt
nichts Böſes denken.”
„Gott bewahre, du Don Yuan, du BVerführer!” fagte ich
jcherzend. „Jakob, Jakob, das hätte ich von dir nicht gedacht.“
Der Scherz that ihm offenbar wohl, obgleid er fein ab:
mwehrendes: Aber nein! entgegenfegte und hinzufügte: „Du mußt
nicht denfen, daß —“
„Sch denke gar Nichts,” fiel ich ein; „ich weiß genug. Du
mußt ibr ein ſehr fchönes Geſchenk machen.”
„Aber was fol ich ihr fchenten ?” fragte er aufs Ange
legentlichite.
„3. B. ein ſchönes Buch.”
„Das habe ich auch ſchon gedacht,“ fiel er raſch ein. „Wie
wäre e3, wenn ich ihr meinen Shafefpeare ſchenkte?“
„Jakob!“ rief ich eritaunt und vorwurfsvoll — „veinen
fchönen, deinen herrlichen Shakeſpeare, deinen Stolz, deine Freude,
deinen ſchönſten Beſitz! Ich hätte gedaht, daß du dich von dem
nie würdeſt trennen können.”
„Es kann Umijtände geben —“ fagte er verlegen.
„Allerdings! allerdings !” fiel ich ein, „gib ihr deinen Shate:
fpeare und ſei glüdlich.“
„sh kann mir ja einen andern, einen billigern kaufen,“
jagte er nachdenklich — „die Kupferftiche in meiner Ausgabe find
mir gleibgültig — für fünf Gulden faufe ich eine einfache
Ausgabe,”
„Kaufe dir einen billigern Shafefpeare, mein Sohn, und fei
zweimal glüdlich,“ rief ich wieder und lachte.
Er jah mid erjhroden an und fagte in vorwurfsvollem
Doktor Schwan, 181
Tone: „Siehſt du, Viktor, du lacht. Ich habe das immer ge:
fürchtet — ich hätte dir fonit ſchon lange erzählt —“
Er unterbrach fih und mwollte in jeine Stube zurüd; aber
ich ftredte den Arm aus und zog ihn ans Bett, daß er lich ſetzen
mußte, Es wurde mir nicht ſchwer, ihn zu beſchwichtigen und
mittheilfam zu maden, da ihm Mittheilung Bedürfniß war. Da
jah ih denn in ein bis an den Rand von Liebe erfülltes Herz;
in ein Gehirn, das nur von gemüthvollen und jhönen Träumen
bewohnt war, ja nicht nur von Träumen, au von fertigen,
pofitiven Planen der Zufunft, von Heirath, von glüdieliger
Häuslichkeit, von Familienglüd. Die Wiſſenſchaft, die lite:
rariſchen Projekte, die Gejhichte der Medizin, das hohe Intereſſe
für alle Entvedungen und neuen Forjhungen waren tief in den
Hintergrund gedrängt, oder traten nur ala Mittel zum Zwed,
zu dem einen und einzigen geliebten Zwede in den Vordergrund,
Jakob lächelte, al3 ih ihn auf dieſe wiſſenſchaftliche Apoſtaſie
aufmerkſam machte, und fagte achſelzuckend: „Was willit du ?
ih bin auch ein Menſch!“
Die Geſchichte feiner Liebe war, wie ich vorausfeßte, eine
höchſt einfache Geſchichte. Er war, als er in die Rejivenz kam,
durch den Edelmann, bei dem er Hofmeifter geweien, an den
Notar Heideloff empfohlen, und wurde von diefem, der die Ge:
Ihäfte des Edelmanns bejorgte, fehr freundlih aufgenommen
und feiner Familie vorgeitellt. Die Familie beftand aus einer
Frau und einer einzigen Tochter, welche Adele hieß. Adele trug
ihr aſchblondes Haar in Loden, die auf Bruft, Schulter und
Naden in üppigfter Fülle herabftrömten; fie hatte blaue Augen,
runde, ſanft geröthete Wangen und einen Mund, der bezaubernd
zu lächeln verftand, fo wie fidh ihre ganze, man wußte nicht ob
zarte, ob üppige Gejtalt aufs Anmuthigſte und gar nicht anders
zu bewegen verftand. Nach Jakobs Ausfage war ihre Seele noch
ihöner als ihre äußere Erfcheinung; ihr Sinn war edel und ge:
bildet und für alles Schönfte und Höchſte empfänglib. Das
mußte er befler als jeder Andere, da er mit ihr Goethe und
182 Novellen.
Shakeſpeare las und ihr die alten Tragiker erklärte, Er jagte,
man brauche fie nur tanzen, ja nur durch die Stube jchreiten zu
ſehen, um von der Schönheit ihrer Seele für immer überzeugt
zu fein. Alles an ihr jei wie lieblichfte Mufik; gegen Jedermann
jei fie voll Wohlwollen, auch gefalle fie Allen und habe fie das
ſchöne Beftreben, Jedermann Sympathie einzuflößen. Er babe
dieſes Alles gleich bei feinem erften Beſuche vorempfunden ; nie
babe eine Ahnung fo deutlich, jo beftimmt und jo wahr in ihm
gejprochen, wie damals. Es war an einem Herbitnachmittage;
die Sonne fiel durch rojige Gazevorhänge in die Stube. Die
Mutter faß auf einem Fauteuil, ihr zu Füßen, auf einem Schemel,
das lodige Köpfchen auf das Anie der Mutter gelehnt und mit
deren Hand tändelnd, ſaß die Tochter. Die Mutter jaß im
Schatten, der rofige Sonnenschein fiel auf die Wangen Adelens.
Es war ein Bild, das er nie vergeſſen werde, und er glaubte
damals, er werde Adele nie fchöner fehen. Aber er hat fie feit
damals hundert verſchiedene Male ſchöner geliehen. So jeden
Donnerftag Abends, wenn da getanzt wird, dann, wenn er mit
ihr an einem Heinen Tiſchchen fite und fie mit kindlicher Auf
merkſamkeit und Theilnahme feinen Vorleſungen laufe, oder
wenn jie einer eintretenden Freundin entgegeneile, um fie zu
umarmen,
„Das Alles ift jchön, mein Freund,“ fagte ih, nachdem
Jakob länger al3 eine Stunde die Vorzüge feiner Geliebten ges
ſchildert hatte — „aber die Hauptſache! die Hauptſache!“
„Was iſt die Hauptſache?“ fragte Jakob.
„Hat fie dich wieder lieb?“
„Ja,“ fagte Jakob, indem er die Hände in einander legte —
ih wage es nicht zu glauben — ich weiß e3 nicht.“
„Sind denn Symptome da?“ fragte ich weiter.
„Sie iſt fehr gut, jehr liebenswürdig; fie feherzt mit mir, fie
bat heute ein Vielliebchen mit mir gegeflen.“
„Das beweist nichts; fie ift auch mit Andern liebenswürdig,
fie ißt auch mit Andern Vielliebchen.“
Doltor Schwan. | 183
„Das ift richtig. Aber wie foll man das erfahren? Ich
kann fie ja nicht fragen. Sieh Viktor,” fuhr er fort, indem er
fih mit jhüchterner und flehentlicher Miene zu mir wandte —
„ich babe ſchon daran gedacht — du biſt in diefen Dingen er:
fahrener — du folltejt fie beobahten und mir dann fagen, ob
fie mich lieb hat oder nicht.”
„Das will ih mit Vergnügen,“ fagte ich, „aber zu dieſem
Zwecke muß ich ind Haus fommen.“
„Freilich! — aber wie fängt man das an?“
„Ganz einfach; du ftellft mich dort vor.“
„Aber wie? unter welchem Vorwand?“
„Es wird jede Woche im Haufe getanzt; du rühmſt mich
al3 deinen Freund, aber mehr noch als vortrefflihen Tänzer,
und du wirft dich überzeugen, daß man dir auf halbem Wege
entgegenfommt. Du madjt in zwei oder drei Tagen deinen Bes
fub, und nächſten Donnerjtag kannſt du mich dort fehon ein:
führen.”
Mie gejagt jo gethan. Seit jener Naht der Bekenntniſſe
war Jakob nur mit meiner Vorjtellung im Haufe Heideloff be
ihäftigt. Triumphirend brachte er von feinem Befuche die Ein:
ladung mit heim, und mit noch größerem Triumphe machte er
fih Donnerftag zu dem Gange bereit. Ich bemerkte, als wir
unfere Stube verlafjen wollten, daß er für die Soirden nichts
an feiner gewöhnlichen Kleivung geändert, und daß Haar, Kra:
vatte, Hemdkragen, kurz feine ganze Toilette fi in der ge
wohnten Gelehrtenunorbnung befand, ja daß an feiner Wäfche,
auf der Bruft wie an den Manjcetten, noh Spuren von
chemiſchen Experimenten, gelbe, blaue und braune Flecken zu
fehen waren. ch ftellte ihm vor, daß. man fo zu feiner Ge:
liebten nicht gehen könne; er aber antwortete: „Ach, fie ilt nicht
fo! Sie fümmert fih nicht um dergleichen Aeußerlichkeiten.“
Diefe Worte gaben mir einige Hoffnung für Jakob, denn, offen
jei es gejagt, ich zweifelte ftarf, daß ein fo elegantes Mädchen,
wie Adele, einen Mann wie Jakob lieben könnte. Ich hatte ihn
184 Novellen.
oft während diefer legten Woche von diefem Standpunkte aus
prüfend betrachtet, und ih mußte mir immer jagen, daß er
nichts an fih habe, was weiblihen Sinn beſtechen fönne und
Vieles, das zurüdjtoßen müſſe. Von Geftalt war er bäßlich, in
feinen Bewegungen für Alle, die ihn nicht näher kannten. komiſch,
beinahe lächerlih, in feinem Anzug bis zur Aermlichkeit einfach)
und meiſt ſehr vernadhläfligt. Aber Adele kannte ihn ja jchon
feit Monaten, hatte vielleicht feine großen und edlen Eigen:
ſchaften würdigen gelernt und fie „kümmerte fich nicht um der:
leihen Yeußerlichkeiten.” Endlich ijt e8 nicht fo jelten, daß ſich
junge Mädchen in häßliche Männer verlieben. Haben fie in
ſolchen ſchöne Eigenſchaften entvedt, die fie rühren, find fie ſtolz
auf dieje Entdedung, und zeigen fie gewöhnlich mehr Muth als
die Männer, um den Spöttereien der Welt entgegen zu treten.
Troß alledem ließ ich Jakob in feinem vernadläfjigten Zuftande
dießmal nicht auf die Soirée gehen. Ich fuchte feine befte Mäfche
und feine beiten Kleider hervor, erfegte das Mangelnde aus meiner
Garderobe, putzte ihm jelbjt die Stiefel und ftellte ihn fo ftatt-
lich ber, wie er es vielleicht nie gewefen. Er ließ mich gewähren
_ und betrachtete ſich lächelnd und felbitgefällig im Spiegel — in
meinem Spiegel; denn er ſelbſt bejaß feinen, da er von dem
feinen das Quedfilber, behuf3 eines Erperimentes, abgefragt
hatte. Darauf nahm ich einen Fiafer, um ung vor dem Gaflen:
ſchmutz zu behüten, und wir langten in ungetrübter Stattlichkeit
im Heibelofffhen Haufe an.
Aber der erfte Schritt in die Gefellfhaft war durch ein Un:
glüd bezeichnet. Jakob, deſſen Brille beim Eintritt in den war:
men, von Menſchen erfüllten Salon, darin ſchon feit zwei Stun:
den getanzt wurde, angelaufen war, fo daß er noch weniger ſah
als jonit, ftieß gleih an der Thüre an ein Stubenmädchen, das
Thee und Eis umber trug, warf ihr Taffen und Gläfer aus der
Hand und begoß und befprigte die ganze Umgebung mit dem
falten und warmen Inhalt. Zwei junge Mädchen, deren Kleider
arg zugerichtet wurden, ftießen Schreie des Entſetzens aus; ein
Doktor Schwan. 185
Student wagte fogar einen leifen lub, und der ganze Winkel
an der Thüre fam in folhe Verwirrung und Bewegung, daß
der Kreis der Tänzer durchbrochen wurde und der Tanz aufhörte.
Ich erröthete bis über die Ohren und fühlte mich einen Augen:
blid zu einer jener Heinen Nieverträchtigkeiten aufgelegt, die wir
alltäglich begehen, indem ich mich einige Schritte entfernen und
meinen Freund verleugnen wollte, Jakob ermaß das ganze durch
ihn angerichtete Unheil erſt, nachdem er die Brille abgewiſcht
hatte. Aber er fam troß dem Gelächter, dad nah dem erſten
Schreden entftand und trogdem fich die ganze Geſellſchaft mit dem
Rufe: „nun das ijt ganz feiner würdig!” oder: „das ijt gewiß
wieder der Schwan gemwejen!” um ihn drängte, nicht aus ber
Faſſung. Er lächelte gutmütbig, betrachtete die befledten Kleider
und verjicerte deren Eigenthümerinnen, daß die Fleden mit
leichter Mühe wieder zu befeitigen fein würden. Auf den Lärm
drängte ſich auch eine fehr jugendliche, reizende Erſcheinung her:
bei, die ih, nad der Schilderung Jakobs, an den aſchblonden
Locken, die wie ein reicher Wafjerfall auf weiße, volle Schultern
und Naden herabfielen, jogleih als Adele erfannte. Sie trug
ein roſa Mouffelinkleid, das an Bruft und Mieder von einer
ſchmalen, gezadten Silbertrefje eingefaßt und um den Leib von
einem gleichen Gürtel zufammengehalten war.
„Natürlich! Natürlic) !” late Adele, und zeigte eine Doppel:
reihe von Zähnen, die man noch für Mildzähne hätte halten
können, „jo und nicht ander muß Herr Schwan feinen Einzug
balten! Ich fage es ja immer, man fol, wo er naht, Alles
entfernen, was fallen, brechen, zerreißen kann. Er ift ein wahrer
Orkan, diefer Herr Schwan !”
Alles lachte. Jakob lächelte felig, ald ihm dieſe Stimme
erfholl und bemerkte nicht, was ich zu bemerken glaubte, daß
Adele, mährend fie ihm auf die vertraulichite Weife die Hand
reichte, mit ihrer Umgebung einen eben fo ſpöttiſchen als flüch:
tigen Blid wechſelte.
Ich wurde ihr vorgeftellt und ich fühlte, wie fie, während
186 Novellen.
fie rafch eine anftandsvolle Miene annahm, den Moment einer
kurzen Verneigung benügte, um mich vom Wirbel bis zur Zehe
zu prüfen und zu mujtern. Sie führte mich dann zur Mutter,
einer Heinen, ziemlich Eorpulenten Frau mit unbedeutendem,
gutmüthigem Gefihte, die mich mit vorgejchriebener Güte auf:
nahm und ein fleines Geſpräch über meinen Aufenthalt in ver
Refivenz, über „ven guten Schwan, dem immer etwas pajlire,”
und über ihre Eleinen Soirees dansantes, die ſich jo nah und
nah aus einer gewöhnlichen Tanzitunde herausgebilvet hätten
und faum irgend welche Anfprüche machen dürften, und über
dergleichen mehr antnüpfte. Der Tanz ging wieder an; Frau
Heideloff ftellte mich einem jungen, unbedeutenden Mädchen in
ihrer Nähe vor, und id) tanzte, um mich werfthätig in der Ge:
jellichaft einzubürgern.
Sie bejtand zum größten Theil aus Sprößlingen derjelben
bürgerlichen Klaffe, der unfere Wirthe angehörten, aus Söhnen
und Töchtern von Advokaten, Notaren, Yerzten, höheren Be:
amten, Banquierd. Cinige Mütter und Tanten ſaßen an den
Wänden und fahen vem Tanze zu. In einem anftoßenden Zim—
mer ſpielten einige ältere Herren Whift und Bofton, unter ihnen
auch Herr Heideloff. Er war ein Mann von ungefähr fünfzig
Jahren, trug einen ſchwarzen Frad, weiße Kravatte und eine
feine Uhrkette mit einer einzigen aber koſtbaren Breloque, und
batte das ftereotype Geficht feines Standes, jenes Geſicht, in
welchem die ernite Würde des Weiſen die praftiihe, auf das
Weltlihe gerichtete Klugheit, wohl auch Verfchmigtheit bevedt
und bieje wieder jene in den Hintergrund drängt. Die beiten,
ehrenhaftejten, von der Wichtigkeit und Würde ihrer Stellung
durhdrungenften Advokaten und Notare glauben doch liftig und
verjchmigt fein zu müffen; wieder die gemwifjenlofejten, nur auf
ihren Vortheil bevachten und durdtriebenften erkennen die Noth:
wendigfeit, Ehrfurcht einzuflößen und richten demgemäß ihr
ganzes Weſen ein: fo begegnen fich die Beiden auf demjelben
Wege und gelangen zu einer Aehnlichkeit des Ausprudes, die
Doktor Schwan. 187
im Bereiche ihre3 Standes jede Individualität verwifcht. Darum
unterfcheiden ſich Advokaten und Notare jo weſentlich von den
Richtern, die franchement eine milde oder harte Bhyfiognomie
zeigen. In Herrn Heideloffs Erſcheinung faß ein Notar vor mir,
nichts al3 ein Notar, ein ausgejprochener Stand, ein unbe
jtimmbarer Menſch. Jakob, der mir in die andere Stube folgte
und mich in Betrachtung des Herrn Heideloff verjunfen fand,
raunte mir ins Ohr: „Ein ausgezeichneter Mann, ein höchſt
praktiſcher Mann!” Ich nahın diefe Verficherung aufs Gläubigite
bin, obwohl ich in Jakobs Menſchenkenntniß nur jehr geringes
Vertrauen fegte und wohl mußte, dab er überall nur höchſt
ausgezeichnete, gute, mohlmollende, Keiner Falſchheit fähige
Menſchen fah.
Was nun die Hauptperfon betrifft, um derermillen ich
eigentlich gekommen war und um die fi offenbar Alles im
Haufe drehte, jo muß ich geitehen, daß der erſte Eindiud fein
günftiger war. Adele war ſchön, anmuthig, reizend und das
Alles in einem hohen Grade, aber e3 jchien mir, daß fie das
vollite Bewußtfein aller diefer Vorzüge hatte und daß hinter
allen ihren Worten und Bewegungen, jelbjt hinter ihrem offen:
jten und lauteften Lachen eine gewiſſe Abjichtlichfeit und Berech—
nung verborgen lag. Sie ſchien mir, mit einem Worte, eine mit
allen Waffen ausgerüjtete Kokette. Vor Allem aber mißfiel mir
die Art und Weife, wie fie meinen Freund aufgenommen hatte.
63 erwachte der Verdacht in mir, al3 wäre e3 ihre Gewohnheit,
ſich über ihn Luftig zu machen. ch war in Folge dejien jehr kalt
und zurüdhaltend gegen fie, lud fie auf eine Weife zum Tanze
ein, die verriethb, daß ich es mehr aus ſchuldiger Höflichkeit
gegen die Tochter vom Haufe, ald aus innerem Drange that
und fagte ihr nicht eines der ſchönen Dinge, die fie zu erwarten
berechtigt und gewohnt war. Das machte fie jtußig und etwas
verlegen, aber zugleich ſehr zuvorlommend und liebenswürdig.
Im Laufe des Abends ftand fie oft plöglich neben mir, hatte die
verschiedensten Aufmerkſamkeiten, die fie mit ihrer Pflicht gegen
188 Novellen.
den Fremden motivirte, und verftridte mich zu wiederholten
Malen, ehe ich mich deſſen verſah, in Gefpräche, in denen fie
immer etwas Schönes oder Geiftreiches zu jagen hatte. Am
Beiten gefiel mir, mas fie über Jakob fagte; fie lobte ihn mit
folder Wärme und in fo fchönen bezeichnenden Worten, daß ich
bei ihr ein Verſtändniß diefes trefflichen Charakter vorausſetzen
mußte und daß ich — allmälig den Zauber, den diefes Mädchen
auf alle Welt ausübte, ebenfall3 als wirkſam zu fühlen begann.
Aber wieder fühlte ich mich im innerften Herzen erfältet, als
Jakob jpät in der Nacht auf mich zutrat und mich mit vers
jhämter Miene bat, ihn ja nicht auszulachen, er werde jekt
tanzen.
„Du tanzen 2” rief ich erjtaunt.
„Ja,“ fagte er, „ich habe bier jhon mehrere Male getanzt;
Fräulein Adele hat mir Lektionen gegeben und jegt will fie, daß
ich wieder mit ihr tanze; ich kann es ihr nicht abjchlagen.“
In dem Augenblide fing das Klavier zu klingen an; Jakob
verließ mich und ich ſah ihn gleich darauf, wie er ſich mit Adele
im Kreije drehte. Er tanzte, wie ich es erwartet hatte, unge:
ſchickt, edig, lächerlih. Er konnte nicht Takt halten und machte
die fonderbarften Sprünge, um feiner Dame nachzukommen;
jein Gefiht nahm ven Ausdruck einer aufs Höchſte geipannten
Aufmerkſamkeit an, und doch ſuchte er zu lächeln, um biefen
Ausdrud zu verbergen, mas eine fortwährende Veränderung in
jeiner Miene und durch den Kontraft des wechjelnden Ausdruckes
eine komiſche Wirkung hervorbrachte. Nur wenige Baare tanz
ten; die Meiften ſtanden, um fih an dem Scaufpiele zu er:
gögen ; jelbjt die Matronen hatten fich dem Kreife genäbert, um
bejjer zu jehen. Je einfamer er auf dem Tanzplane war und je
größer die Zahl der Zufchauer, defto höher ftieg die Verlegenheit
des guten Jakob, deſto mehr nahm er fich zufammen und deſto
lächerlihere Sprünge famen zum Vorfchein. Das Publikum aber
unterbielt jih; ein mehr oder weniger boshaftes oder fpöttifches
Lächeln lag auf allen Lippen. Es that mir leid um den lieben
Doltor Schwan. 189
Freund; es fhien mir unendlih graufam, ihn zum Tanze zu
zwingen und ich war vor Allem gegen Adele empört.
Sie mußte das bald gefühlt haben, denn fie wurde nod
liebenswürdiger al3 vorher; und da ich auch während des
Soupers neben ibr faß, verließ ih — nad dem Souper — das
Haus, als ein von Adele bezauberter Menic.
Jakob war ganz glüdlih, mich fo berauſcht zu fehen.
Lachend ging er neben mir einher und rief fortwährend: „Ya,
ja! fo it es! jo muß es fein! Kein Menſch von einigem Ge:
fhmade vermag ihr zu widerſtehen! Giehit du nun, daß ich
nicht übertrieben habe!?“ Und an ſolche Ausrufungen fnüpfte er
dann neue Analyfen ihrer Tugenden und Vorzüge, und nur um
das Geſpräch jo lange als möglich fortzufegen, bat er mich, da
ver Morgen hübſch zu werben verſprach, über die gefrorenen
Promenaden rings um die Stadt mit ihm einen Spaziergang zu
machen. Bielleiht zum erjten Male in jeinem Leben jtedte er
eine Cigarre an, hob ven Kopf in die Luft und fchritt, vide
Dampfmwolten vor ſich hinblaſend, heiter, lachend, manchmal
ausgelaflen luftig, wie ein ſanft beraufchter Vergnügling in
einer Sonntagsnadht, dur die Welt, die ihm von Glüd und
Schönheit angefüllt erſchien. Den Zmwed meiner Einführung ins
Heideloff'ſche Haus hatte er ganz vergeflen; e3 fiel ihm nicht ein,
ſich nach meinen Beobachtungen betreffs der Liebe Adelens zu er:
fundigen; er war zufrieden, nunmehr mit einem Menjchen, der
ihre Anmuth anerkannte, von ihr ſprechen zu können.
So war und jo blieb e3 auch in den fommenden Tagen und
Moden. Schon zwei Tage nad jener Soirde forderte mid
Jakob auf, im Heideloff'ſchen Haufe einen Befuh zu machen,
was ich gerne that, und nächſten Donnerftag wurde dort wieder
getanzt. So oft ic Adele wieder ſah, fo oft famen meine frühe:
ten Bedenken wieder zurüd und erfehien fie mir als Kokette; aber
eben jo oft berauſchte mich ihre anmuthsvolle und fchöne Er:
Iheinung, jo daß mein Urtheil über fie fortwährend ſchwankte
und Berjtand und Phantafie zu feinem übereinftimmenden
190 Novellen.
Schlufie gelangen konnten. Außerdem war ich durch die über:
aus freundliche Art, mit der ich in dem Haufe empfangen und
behandelt wurde, beftochen ; in meinem von Natur mißtrauiſchen
Gemüthe, das ich mit jugendlihem Beredlunggeifer zu betämpfen
juchte, ließ ich den Verdacht, daß ich diefe Behandlung im Haufe
des Notar nur dem großen Grundbefig meines Vaters verdante,
nit auflommen. Mit größerer Energie aber drängte ji mir
die Ueberzeugung auf, daß Jakob jeine Einbürgerung dajelbit
vorzugsmweife dem Gmpfehlung&briefe ſeines Brodherrn fchulde
und den Rüdjichten, die man dem einflußreihen und groß be:
güterten Evelmanne gegenüber hatte, deſſen ausgedehnte Ge:
jchäfte in der Stadt und deflen Gelder Herr Heideloff verwaltete.
Davon abgefehen machte ji Jakob au nüglid. Adele war ein
glänzend gebildetes Mädchen und wollte ſich noch mehr bilden;
Jakob war ein eifriger, vortreffliher und dabei unentgeldlicher
Lehrer. Sonft war er, ich mußte mich mit Kummer davon über:
zeugen, die komiſche Perfon des Haujes und des ganzen Kreijes.
Man lachte oft über ihn; man lächelte faft immer. Seine Liebe
zu Adelen war dem kleinſten Mädchen des Kreifes Fein Geheim—
niß, und da er zu der höchſt eleganten Erjcheinung einen jo
jonderbaren Kontraft bildete, war diefe Liebe der Hauptgegen:
ftand, mit dem man fich erluſtigte. Man beobachtete ihn in
jeinen Aufmerkſamkeiten, man behorchte jeine Gefpräcdhe mit
Adelen — und man fand Alles komiſch. Sprachen Fremde, die
mein intimes Verhältnik zu Jakob nicht fannten, vor mir zu
Frau und Fräulein Heideloff in diefem Sinne, wurde er von
diefen mit einem: „Der gute Schwan!” oder: „Der treffliche
Schwan !” in Schug genommen.
Jakob ging durch die Reihen dieſer Menſchen und durch
dieje Verhältniſſe wie ein glüdlic Träumender mit einem Lächeln
auf den Lippen und in der Seele, ohne Ahnung von dem wahren
Stande der Dinge. Ich hatte nicht den Muth, ihn zu weden
und — um eine Anklage gegen Adele zu formuliren, und fie in
meinem Innerften endgültig ala eine kalte, berechnende Kotette
Doktor Schwan. 191
anzuerfennen, war ich felbjt viel zu jung, zu jehr den Wir—
tungen der Schönheit offen und viel zu viel beraufcht, vielleicht
verliebt.
* *
*
Im Heideloff'ſchen Hauſe war ich bald eben ſo heimiſch,
wenn nicht heimiſcher als Jakob. — Adele, die es fühlte, daß
zwei Seelen in meiner Bruſt ſprachen, eine für, eine gegen ſie,
und deren Aufmerkſamkeit durch beſtändigen Wechſel von Wärme
und Kälte, von Vertraulichkeit und Zurückhaltung in meinem
Benehmen auf mich gelenkt wurde, behandelte mich mit einer
Zuvorfommenbheit, die an Auszeichnung gränzte. Bald bemerkte
ih bei den jungen Männern einige Eiferfucht; hier und da
wurde mir zu meiner Eroberung Glüd gewünfcht. Ehe ich mich
deſſen verſah, zwang mich Adele mit vielfachen Aufträgen, die
fie mir gab, und die von Andern ebenfall3 als ein Zeichen der
Bevorzugung betrachtet wurden, mich äußerlich und innerlich
mit ihr zu bejchäftigen. Bald hatte ich ihr ein feltenes oder ein
neue? Buch, bald Konzertbillete, bald Auskunft über das und
jenes zu verfchaffen. So fam ich jede Woche einige Mal ins
Haus, und da id) von der Mutter befreundeten Familien vor:
geftellt und won diefen wieder zu Tanzunterhaltungen eingeladen
wurde, beinahe jeven Tag mit ihr zufammen. Nalob betrachtete
das Heranwachſen unferer Intimität mit Freude; e3 fiel ihm
nicht ein, etwas Anderes in mir zu fehen, als einen Vertrauten
und einen Boten, der ihm täglich über Worte, Ausfehen, Leben
feiner Geliebten Bericht erjtattete. Er war zufrieden, daß er jegt
Jemand hatte, mit dem er täglich, beinahe ſtündlich won ihr
ſprechen konnte, und ſelbſt feine pofitiven Abfichten in Beziehung
auf Adele, ſammt der ungelösten Frage, ob fie einige Liebe für
ihn fühle, traten bei dem genügjamen und immer nur das Gute
boffenden Weſen des armen Freundes volllommen in den Hinter:
grund.
Da brad eine Kataftrophe herein, die in dem ganzen Kreiſe
192 Novellen.
eine gewaltige und fchredliche Veränderung hervorbrachte, und
alle Gedanken an Glüd, Liebe und Liebelei verwiſchten, alle die
Fragen, die uns feither beſchäftigten, als unendlich Hein er:
ſcheinen ließen.
Jakob war Doktor geworden und hatte eben vom Rektor
Magnifitus, von mir begleitet, fein Diplom geholt. Um dieſes
Greigniß zu feiern, lud ic ihn in eines der erjten Speijehäujer
der Reſidenz zu einem ausgeſuchten Gaſtmahle und einer Flajche
Ungarwein. Nah Tiſche traten wir in ein Kaffeehaus — Yalob
mit der großen Blechrolle unter dem Arme — um dann zu
Adelen zu eilen und ihr das Diplom zu zeigen. Sie hatte ein
ſolches Inftrument nie gefehen; Jakob hatte ihr vor Monaten
verſprochen, ihr fein Diplom zu zeigen und erinnerte fich jegt
diejes Verſprechens, wie er ſich überhaupt jedes Wortes, das fie
je an ihn gerichtet, mit diplomatifcher Genauigfeit erinnerte,
Mir fanden das Kaffeehaus in einiger Aufregung; Gruppen
ftanden dort und da und unterbielten fich über einen, wie e3
ſchien, höchſt interefjanten Gegenitand; man hörte die verjchie:
denſten Ausrufungen der Verwunderung, der Entrüftung, des
Mitleids. Eine große Neuigkeit jchien die Reſidenz zu bewegen.
Aber wir, in unferer erhöhten, von Privatgefühlen und Ungar:
wein herrührenden Stimmung acdteten auf die .vielen Erzähler
und ihre Zuhörer nicht, tranfen unfern Kaffee und machten
Pläne, bis unfere Aufmerfjamfeit zu wiederholten Malen dur
den Namen Heideloff, den man immer wieder in den Gruppen
ausſprach, angezogen wurde. Wir wurden mehr ald aufmerk:
ſam, als wir hörten, daß jene Ausrufe der Entrüftung, ja daß
Verwünſchungen immer nur in Verbindung mit diefem Namen
außgeftoßen wurden. Nun näherten wir und. Wir fanden aud
Belannte unter den Kaffeehausgäften, die wir fragten und die
erjtaunt waren, daß wir won ber großen Neuigfeit, von ber
ſchauderhaften Geihichte, die würdig wäre, al3 cause c&l&bre
in einem neuen Pitaval zu prangen, und die feit heute Morgen
Stadt und Hof mit Entjegen erfülle, noch nicht? gehört haben
Doktor Schwan. 193
follten! — Man erzählte ung; die Geſchichte war in der That
gräßlih. Jakob hörte fie bleih, zitternd mit an und lehnte fich
endlih an die Wand, um nicht zufammenzubrechen.
Einige Monate vor diefem Tage trat eine Dame von unge
fähr dreißig Jahren in das Bureau des Notars Heideloff. Sie
bat ihn um eine geheime Unterredung; er führte fie in ein an—
ftoßendes Zimmer und ſchloß die Thüre. Die Dame übergab
ihm ein Empfehlungsjchreiben, das die Unterfchrift eines Pro:
vinzadvolaten und ehemaligen Studienfreundes Herrn Heideloff3
trug. Nachdem er e3 gelefen, verneigte ſich Herr Heibeloff aufs
Ehrerbietigfte und fragte: „Frau Gräfin... ., was fteht Ihnen
zu Dienften? Verfügen Sie über mich wie über Ihren unter:
thänigjten und treueften Diener.” Gräfin B... mar jehr erfreut
über diefe Aufnahme und fagte: „Herr Heibeloff, Sie find mir
als der ehrenwertheite und zuverläfligfte aller Notare und Ge:
Ihäftsmänner der Refidenz gerühmt worden. Jh will mit Ihnen
offen ſprechen, wie mit einem Beichtvater. Ich bin nicht mehr
die Gräfin B...; ich babe nicht mehr das Recht Titel und
Namen meines vor vier Jahren verftorbenen Mannes zu tragen,
denn ich bin zum zweiten Male verheirathet, und eigentlich jet
nur die einfahe Madame &.... Meine ganze adelige Familie
mar gegen dieje Heirath, theild weil fie eine Mesalliance war,
theilö wegen des Charakter meines jegigen Mannes. Wir find
heimlich verheirathet und mein jegiger Mann will felbit, daß
unfere Ehe ein Geheimniß bleibe, weil zu befürchten ift, daß
mein Onkel, ver Landmarſchall, mich enterbe, wenn unfere Ehe
vor feinem Tode befannt würde. Aber ich bin am Vorabend
meiner Nieverfunft. Much diefe muß verheimlicht werden, wenn
nicht meine zweite Che bekannt werden foll, oder wenn ich nicht
für einige Jahre Unehre und den Zorn meiner Familie auf
mein Haupt laden will. Legteres will ich vorzugsmeife aus Rück⸗
ht für meine drei Kinder aus erfter Ehe und wegen meiner
Abhängigkeit von meiner Familie vermeiden. Um meine Nieder:
kunft zu verheimlichen, komme ich in die große Reſidenz, und begebe
Morig Hartmann, Werke VI. 13
194 Novellen.
mich morgen unter falſchem Namen und mit falſchem Paſſe in
die allgemeine Gebäranſtalt. Aber während meiner zweiten Ehe
habe ich einſehen gelernt, wie berechtigt und weiſe die Einreden
meiner Familie gegen die Verbindung mit &..., und wie
wenig begründet meine Liebe zu ihm, meine Illuſionen, und
meine Hoffnungen, ihn zu beſſern, geweſen. ©... iſt ein
Spieler und Verſchwender; er hat mich nur meine3 Namens
wegen aus Eitelfeit, und meines Vermögens wegen aus Eigen:
nuß beftridt und geheirathet. Wenn ih nun im Mochenbette
fterbe, kann er als mein legitimer Gatte auftreten und die Ver:
waltung meines binterlafjenen Vermögens beanfprudhen. Ich
babe die feite Ueberzeugung, daß das ganze Vermögen verjpielt
und verſchwendet wäre, ehe meine Kinder mündig werden. Ich
bringe darum die Refte, die mir noch geblieben, zu Ihnen, Herr
Heideloff, um die Zukunft meiner armen Kinver zu fihern. Mich
plagen Todesahnungen, aber nad Allem, was ich über Sie ge:
hört, werde ich, mwenigftens in diefer Beziehung, ruhig aus der
Melt jcheiden. Sie werden das Vermögen treu bewahren, und
im Falle meine Todes meinen Bruder, den Grafen S..g,
der dann der todten Schmweiter verzeihen wird, ind Geheimniß
ziehen. und das Geld mit ihm gemeinfchaftlich verwalten. Bei
meiner fchredlichen Sage, bei all’ den Heimlichfeiten, an die ich
nicht gewöhnt bin, und in denen ich mir felbft wie eine Ber:
brecherin erjheine, bei den traurigen Erfahrungen mit meinem
jegigen Manne, bei der Kataftrophe, der ich entgegengehe, und
den bejtändigen Zodesahnungen ift es mein einziger Troft, fo
für meine Kinder forgen zu können und einen Mann gefunden
zu haben, dem ich mich und das 2008 der Kinder mit folder
Sicherheit anvertrauen darf. Sie werden fih auch, als Ehren:
mann, durch das Vertrauen, das ich in Sie fee, mit mir und
meinen Kindern bi3 zu einem gewiflen Grade verbunden fühlen
und den armen Waijen, wenn auch aus der Ferne, mit Rath
und That beiftehen.“
Herr Heideloff antwortete nichts. Er wollte antworten, aber
Doktor Schwan. 195
er fonnte nicht. Er wandte fein Gefiht ab und ftredte der Dame
jeine Hand entgegen. Sie ergriff fie und drüdte fie dankbar.
Hierauf öffnete fie einen Beutel, den fie am Arme trug, und
zog daraus einige Rollen Goldes, dann ein Padet Banknoten
und endlich eine Anzahl von Aktien, Obligationen und andern
Werthpapieren hervor und legte fie auf den Tiſch vor Herrn
Heideloff, „Das Ganze,” fagte fie, „Itellt einen Werth von fünf:
malhunderttaufend Gulden vor.“
Bei Nennung der Summe verſchwand der mitleidvige Aus:
drud aus dem Gefichte Herrn Heibeloff3; wieder ganz Notar ge:
worden, ſetzte er fich mit ruhiger Gejhäftsmiene hin, ergriff
Feder und Papier und jagte: „Wir müflen fpezifiziren; mir
müſſen genau auffchreiben, was Sie mir in baarem Gelvde, mas
in Werthpapieren übergeben. Letztere können leicht in ihrem
Werthe variiren. Erft unter diefer Lifte kann ich den Empfangs:
ſchein ausfertigen.“
Die Gräfin ſchwieg. Herr Heideloff ſchrieb. Nach einiger
Zeit ſagte er im Schreiben: „Es wäre, der Ordnung wegen,
gut, wenn wir die Unterſchrift zweier Zeugen hätten.“
„Müßte ich dieſe in meine Geſchichte und in das Geſchäft
einweihen?“ fragte die Gräfin.
„Allerdings, gnädige Frau.“
„Das hieße zwei Vertraute mehr haben,“ ſagte die Gräfin.
„Das ſcheint mir bedenklich und wäre mir ſehr unangenehm.“
„Gnädige Frau,“ lächelte der Notar, „Sie können ſich dieſe
Unannehmlichkeit erſparen, es iſt eine Form, es hängt vom
Grade Ihres Vertrauens ab, wie weit Sie die Formen erfüllen
wollen. Wir Notare ſind wie die Beichtväter. Sie können ſich
nicht vorſtellen, gnädige Frau, in wie viele Geheimniſſe wir ein—
geweiht werben und wie oft uns die bedeutendften Summen an-
vertraut werden. Sehen Sie diefe Kifte an; fie iſt mit dem Ber:
mögen geheimnißvoller Klienten angefüllt und enthält viele Mil:
lionen. Dergleihen ift nicht nur bei mir der Fall — nein, bei
den meiften meiner Kollegen, und wir haben feine Urſachen ſtolz
196 Novellen.
darauf zu fein. Verſchwiegenheit, Nedlichkeit find Mittel unjeres
Standes, wenn fie nicht Eigenſchaften unferes Charakters find.
Wehe dem Notar, der plaudern, der einen Pfennig zu verun:
treuen im Stande wäre; er märe zu Grunde gerichtet. Er hat
fih für alle Zukunft unmöglid gemadt und fih um mehr ge:
bracht, als ihm eine mit beitem Erfolge gefrönte Unehrenhaftig:
feit einbringen könnte.“
Herr Heibeloff ſchwieg wieder. „So,” fagte er, „das Ver:
zeichniß wäre fertig; jegt den Empfangfchein !”
Und fchreibend ſagte er laut, wie ſich felbft diktirend, vor
fich hin: „Sch Endesgefertigter befheinige hiemit, daß mir Frau
B...,96.6..g"
Hier unterbrach fih Herr Heibeloff, legte die Feder bei Seite
und ftügte die Stirne nachdenklich in die Hand. Er fchüttelte den
Kopf und murmelte, mit beforgter Stirne, Allerlei vor fich hin.
„S3 kommt mir ein Bedenken, gnädige Frau,” fagte er
endlich laut, „ein ſehr ernftliches Bedenken. Wenn Ihnen wirklich
— ih bin gewiß, daß Ihre Todesahnungen mit Gottes Hülfe
nicht3 zu bedeuten haben — aber wenn Ihnen wirklich etwas
Menſchliches begegnet, dann wird der Empfangſchein bei Jhren
Sachen gefunden und von Rechtswegen Ihrem Herrn Gemahl
ausgeliefert. Was Sie vermeiden wollten, tritt dann doch ein,
Gr weiß, mo dad Vermögen geborgen ijt; er wird es reflamiren
und ich werde es ihm nicht vorenthalten können. Ja, ich könnte
fogar unerlaubten Verheimlihens angellagt und in arge Ver:
widelungen, Verdächtigungen und Prozefje — doch da3 märe
feine Rüdfiht, aber Ihr ganzer ſchöner Plan, Ihren Kindern
das Wenige zu retten, wäre zu nichte.”
Die Gräfin hörte ihm ängftlih zu. „Mein Gott,” rief fie,
„ich möchte Ihnen nicht gerne Unannehmlichleiten verurfachen,
aber ich möchte doch auch meinen Plan durchführen. Ich bin in
Geſchäften volllommen unerfahren; ich bitte, rathen Sie mir.
Muß ich denn den Empfangſchein nothiwendigerweife haben oder
mit mir nehmen
Doltor Schwan, 197
„Ja!“ fagte ver Notar beftimmt, „ven Empfangſchein müfjen
Sie nothwendigerweife haben. Beim größeften Vertrauen zu mir
müſſen Sie den Empfangjhein haben. Es ift um Lebens- und
Sterbenswillen. Ich kann indefjen fterben; das Geld findet ſich
bier und Sie oder Ihre Erben haben nicht das geringite Recht,
e3 zu veflamiren, wenn nicht ein Empfangſchein vorhanden ift.“
„Bas ift da zu thun?“ fragte die Dame ängftlic.
Herr Heideloff dachte wieder eine Zeitlang nad, dann jagte
er: „Ich mache es, wie ich es in folhen Fällen ſchon oft gemacht
habe. Ihr Vermögen wird bier in diefe Kite gelegt, won der
mein ganzes Bureau weiß, daß fie mir anvertraute Gelder ent:
hält; Sie befommen ein eigenes Zah, das Ihren Namen trägt,
und der Empfangfchein wird zu Ihrem Gelvde und zu Ihren Pa:
pieren gelegt. Zugleih wird e3 in das geftempelte und unter
Aufiht der Regierung ftehende Hauptbuch eingetragen. So it
e3 Ihnen für alle möglichen Fälle gefihert. Sind Gie jo zu:
frieden ?“
Die Gräfin athmete auf. Herr Heibeloff fchrieb den Empfang:
jhein zu Ende, las ihn der Dame vor, legte ihn zu dem Golde
und den Papieren, nahm dann Alles zufammen und trug e3 an
den eifernen Schrank, wo er es in ein Fach legte, das er eigens
zu diefem Zmede ausräumte. „Sehen Sie, gnädige Frau, dieſes
Fach, rechts, das dritte von oben: hier liegt es wie in Abra-
hams Schooß.“
Herr Heideloff lächelte, auch die Gräfin lächelte. Sie nahm
herzlichen Abſchied und ging.
Einige Wochen nach dieſer geheimen Unterredung ſahen die
Beamten Herrn Heideloffs dieſelbe Dame aus demſelben Kabi—
nette treten, aber dießmal mit ganz anderem Geſichte. Sie war
blaß, ſie zitterte am ganzen Leibe, ſie rang die Hände, ſtam—
melte unverſtändliche Worte und ſchien außer ſich. Herr Heide—
loff, der ihr bis über die Schwelle des Vorzimmers folgte, und
zwar ſo nahe, daß er ihr beinahe auf die Ferſe trat, hatte ganz
das Ausſehen, als ob er ſie gewiſſermaßen mit Gewalt an die
198 Novellen.
Thüre führte. Dem Bedienten im Vorzimmer machte er ein Zei:
chen, indem er auf die Stirn deutete, als ob die Dame verrüdt
fei und befahl ihm, fie bis hinab, auf die Straße zu begleiten.
Da die Dame auf der Treppe zufammenbrad, hob fie der Be:
diente auf und, halb tragen, halb führend, brachte er fie vor
das Hausthor. Die Dame fam noch einige Male. Im Haufe
wußte man bald, um was es fich handelte, denn Herr Heideloff
hatte es feinem eriten Schreiber und diefer den andern erzählt,
daß diefe Dame, offenbar feine Betrügerin, ſondern eine Ver:
rüdte, ſich einbilde, bei Herrn Heideloff eine halbe Million de:
ponirt zu haben, die jie num rellamire. Herr Heiveloff wußte
nicht von ihr, von ihrem Namen, ihrer Herkunft, aber fein
eriter Schreiber hatte es herausgebradt, daß dieſe Dame erit
vor Kurzem in dem öffentlihen Krankenhaus niedergelommen
und das Wochenbett, wahrjcheinlic in Folge eines Milchfiebers,
wahnfinnig verlaſſen habe. In den Kreifen der Notarsjchreiber
und Amanuenjes ſprach man damal3 viel von dem Abenteuer
Herrn Heideloff3 und von den Unannehmlichkeiten, denen ein
Notar ausgefept fei. Man fand es natürlih, daß der treffliche
Mann, defien Zeit jo koſtbar ift, die Verrüdte nicht mehr vor:
laſſe, und daß man ihr jegt, fo oft fie fomme, die Thüre vor
der Naſe zufchließe, oder wenn es ihr doch einzubringen gelinge,
fie mit Gewalt hinausführe. Die Verrüdte, fo erzählte man,
liege dann Stunden lang vor dem Hausthore, in Wind und
Wetter, und das fei doch höchft unangenehm für einen Mann
wie Herr Heideloff. Enplic wurde es ftille von dem Abenteuer,
denn die Verrüdte war verſchwunden; die Polizei war aufmerkjam
gemacht worden; fie war im Irrenhaus.
An dem Tage, da Jakob fein Diplom dem Fräulein Hei-
deloff zeigen wollte, kam die Gefchichte aufs Neue aufd Tapet
und zwar in ganz anderer Geſtalt.
Herr G.., der zweite Gatte der Dame, mußte jehr wohl,
daß fie in die Reſidenz gegangen, um daſelbſt heimlich zu ent:
binden. Er vernadläfligte fie bis zu dem Momente, da er das
Doktor Schwan. 199
Verſchwinden des Vermögens bemerkte. Dann erjt eilte er ihr
nad in die Reſidenz. Das Krankenhaus hatte fie längit verlafien
und war mwie aus der Welt verfhmwunden. Er fuchte vergebens
nad ihr, bis er in den SKaffeehäujern von dem Abenteuer Herrn
Heideloffs fprechen hörte. Die jogenannte Verrüdte hatte Jedem,
der ed hören wollte, in ihrem aufgeregten Zuftande die Summe
genannt, die fie dem Notar anvertraute; e8 war die Summe
ihres Vermögen? ; das brachte Herrn G.. auf die Idee, feine
Frau im Srrenhaufe zu juchen, wo er fie aud) fand. Der Irren—
arzt, dem die Gräfin nicht recht al3 verrüdt erfcheinen wollte,
hörte, auf die Eröffnungen des Herrn G.. hin, nun auch feine
Gefangene aufmerfjam an und ließ fie von nun an frei gewäh—
ren. Die Enormität des an ihr begangenen Verbrechens und die
Sorge um ihre Kinder bewogen die Gräfin, ibren hochſtehenden
und einflußreihen Verwandten Geftändnifje zu machen, die bei
der fchauderhaften Lage der Unglüdlichen mit mehr Nachſicht
hingenommen wurden, als es fonjt der Fall gewejen wäre. Die
Polizei wurde benadrichtigt; fie zog geheime Erfundigungen ein
und beobachtete Herren Heideloff. Der Arzt des Kranfenhaufes
fagte aus, daß Herr Heiveloff, der jegt vorgab, die Gräfin nie
gejehen zu haben, dieſe, auf ihr Anſuchen, allerdings einige
Tage nad ihrer Entbindung, beſucht habe. Es fiel dem Arzte
damals auf, daß ihn der Notar, als er das Haus verließ, bes
fragte, ob jene Dame im Gehirne richtig jei, da man bis dahin
nicht die geringfte Spur von Irrſinn an ihr entdedt hatte. Die
Gräfin hatte ihn damals rufen laffen, um ihn, da fie fih wohl
fühlte, um den Empfangichein zu bitten, den er verſprach, aber
niemal3 brachte. — Ein Wechſelagent, mit dem Herr Heideloff
befanntermaßen in Verbindung ftand, mußte auf Anfragen der
Polizei zugeben, daß er allerdings von diefen Staat3papieren
zum Verlauf erhalten, welche die Gräfin als einen Theil ihrer
deponirten Werthe bezeichnet hatte. Sole und mande andere
eben jo laut ſprechende Anzeichen bewogen das Gericht, eines
Morgens ins Haus zu dringen, Herrn Heibeloff zu verhaften,
200 Novellen.
jeine jämmtlihen Beamten zu verhören und feine Papiere theils
mit Bejchlag, theild unter Siegel zu legen.
Die Nachricht von diefem Creigniß durchlief die Stadt mit
einer reißenden Schnelligkeit. Zugleih erfuhr man alle Einzeln:
beiten, die bisher nur der Polizei befannt waren und an dem
Verbrechen Heideloffs nicht zweifeln ließen. Die Aufregung war
um jo größer, al3 die Nachricht fo plöglih fam, und die Ent—
rüftung um fo heftiger, al3 fi}, bei der Achtung, deren ſich der
Notar bei jedem Einzelnen erfreute, gewiſſermaßen jeder Einzelne
betrogen fühlte. Die Bedrängniß einer armen Frau, einer be:
forgten Mutter, eines Weibes in gefegneten Umftänden, das mit
Todezahnungen kämpft, einerjeit®, und den Charalter eines
Notard und den eigenen guten Ruf andererfeit3 zu benüßen,
um ein unbegränztes Vertrauen zu täufhen, dann die ungeheure
Grauſamkeit, eine Unglüdlihe, die ihr Eigenthum zurüdver:
langt, für wahnfinnig auszugeben und fie in ein Irrenhaus
fperren zu lafjen, dieſe That ſchien Jedermann mit Recht ärger,
al3 ein Raub auf offener Straße, al3 ein Mord; fie fchien wahr:
haft teufliih. Man fprah von nicht? Anderem, man fonnte
von nichts Anderem fprechen; immer neue Einzelnheiten, die ins
Publikum drangen, vermehrten nur die Aufregung und die Em—
pörung, und mit Freude erfuhr man, daß vom Landesfürjten
an das Kriminalgericht der Befehl herabgelangt, dieſe Ange:
legenheit mit aller Strenge und ohne jede Rückſicht zu verfolgen.
Mas und zwei, Jakob und mich, betrifft, fo betäubte uns
die Neuigfeit, wie ein auf das Gehirn erhaltener Keulenjchlag.
Jakob Stand mie verjteinert da, feiner Bewegung und feines
Mortes fähig, Manchmal bewegten fich jeine Lippen, aber er
brachte feinen Ton hervor, feine Augen ftarrten in die Luft oder
in mein Gefiht, ohne etwas zu fehen, mie die Augen eines
Menfhen, ver alle Befinnung, alles Bewußtfein verloren; mie
die Augen eines Blödfinnigen. Ich entfegte mich, als ich mich
jelbit genugfam faßte, um den Ausdruck feines Gefichtes beur-
theilen zu können. Um ihn aus der Gefellfhaft zu bringen, wo
Doktor Schwan. 2901
immer der Name Heibeloff an fein Ohr tönte, faßte ih ihn am
Arme, bob die Blechlapfel mit dem Diplom, die ihm entjunten
war, vom Boden auf und führte ihn aus dem Kaffeehaufe. Er
folgte mir wie ein Nachtwandler, bi3 wir an eine Straße famen,
die geradenmweg3 zu Heibeloff führte. Da z0g er unwillfürlich
nach diefer Richtung, aber ich zerrte ihn nach der entgegenge:
jegten Seite unferer Wohnung zu, deutlich fühlend, wie er jedes—
mal zufammenzudte, wenn in den Gruppen, die überall in den
Straßen und auf der Promenade zujammenftanden, der ver:
bängnißvolle Name genannt wurde. Zu Haufe angelommen,
war er jtumpf, gefühllos, gedankenlos, unendlich gleichgültig
gegen Alles. Er ſaß da wie eine Sache. Eo vergingen Stunden
um Stunden. E3 war ein jchredlicher Nachmittag, ein fchred-
licher Abend. Ich fühlte mich wie erlöst und athmete auf, ja
ih fühlte mi glüdlih, al3 er gegen Mitternacht plöglih in
Schluchzen ausbrah, das fih nah und nad in ftille8 Meinen
verwandelte.
Das erfte Wort, das ich nah Stunden von ihm hörte, war:
„Komm!” Damit ftand er auf und ging zum Haufe hinaus,
Ich folgte ihm über die Promenade in die Stadt, durch die
Straßen, bis er vor dem Heideloff'ſchen Haufe Halt machte.
Da Stand er und ftarrte zu den mwohlbefannten Fenftern hinauf,
die in tiefes Dunkel gehüllt waren. Ich ſaß neben ihm auf dem
Edftein eines Thormeges. Erſt al3 mit der erjten Dämmerung
die Karren der Landleute, die zum anftoßenden Gemüfemarfte
fuhren, die Straße zu beleben anfingen, gingen wir, ebenjo
ftille, al3 wir gefommen waren, in unfere Wohnung zurüd. Ich
werde den Tag nie vergeilen.
Am folgenden Tage wollte Jakob zu Adele und ich follte ihn
begleiten, aber ich überzeugte ihn, daß er ihr erſt Zeit laſſen
müſſe, fich zu faflen, und daß ihr in den erften Tagen der An:
blik alter Bekannten nur peinlich fein könne. Er fügte fi
meinen Borftellungen ; aber ich konnte ihn nicht abhalten, in der
Nähe des Heideloffihen Hauſes umherzuftreifen und zu fchleichen,
902 Novellen.
wie unangenehm ihn da aud Manches berühren mußte. Noch
immer jammelten fih von Zeit zu Zeit Gruppen in der Nähe,
die zu den geſchloſſenen und verhüllten Fenſtern hinaufmwiefen.
Immer wieder wurde hier die Gejchichte des Verbrechens erzählt,
ſah man Leute die gegen die Feniter geballten Fäufte erheben,
und hörte man Aeußerungen, daß auf ſolche Verbrechen ver
Galgen jtehen jollte. Der arme Jakob hätte ſich übrigens nir:
gends in der Stadt foldhen Eindrüden entziehen können, denn
überall, in den Salon3 wie auf den Märkten, wurde in allen
folgenden Tagen das Creigniß verhandelt, und das Geſpräch be
fam dur das, was von den Verhören des Notars verlautete,
immer neue Nahrung. Der Notar Heideloff war ein Schimpf:
wort geworden, das fich zanfende Fuhrleute oder balgende Schul:
buben zuriefen.
Nah wenigen Tagen glaubte ich Jakob gefaßt genug, um
feinem Drängen nachzugeben und mit ihm den Beſuch maden
zu fönnen. Allein hinzugeben hatte er nicht ven Muth. Aber
wir fanden die Heideloffjhe Wohnung geſchloſſen; an der Thüre
im erften Stode, die zu dem Bureau führte, lag das Siegel des
Gerihtes. Man konnte oder wollte und nicht fagen, wohin
Mutter und Tochter gegangen waren, man mußte nur, daß fie
ji irgendwo in der Nähe der Stadt aufhielten. Jakob entfaltete
nun eine fieberhafte Thätigkeit in Auffindung ihrer jegigen
Adreſſe. So vergingen wieder mehrere Tage. Endlich wußten
wir, dab fih Frau und Fräulein Heideloff in ein Gartenhaus
eines nahe gelegenen Dorfes, das man aud) eine Vorſtadt nennen
fonnte, zurüdgezogen hatten, und jchon waren wir auf dem
Wege zu ihnen. Es war ein lächelnver Frühlingstag; die Bäume
im Stabtgraben waren zum Theil ſchon mit Blüthen bevedt,
das einzige Aderfeld zwijchen Stadt und Dorf war goldengrün,
die Lerchen darüber jangen. Es wäre ein Tag für den glüdlic:
ften Liebenden gewejen; ein jehr unglüdlicher ging ſchweigend
neben mir.
Draußen, am Eingange des Dorfes, traten wir in einen
Doktor Schwan. 203
bejheidenen Garten, der mehr Küchen: als Ziergarten war, und
dur eine Heine Allee von Aepfelbäumen gelangten wir in ein,
dem Garten entſprechendes, eben jo bejcheidenes Landhaus.
Man kann fich die Befangenheit, mit der wir den erſten Schritt
in3 Zimmer thaten, leicht vorftellen. Auch verneigten wir uns
jftumm und konnten wir felbit die gewöhnlichen Begrüßungs—
formeln nicht hervorbringen. Die Mutter faß auf einem Sopha
und war um mehrere Jahre gealtert; der lange Nachſommer,
deſſen fie fich bisher erfreute, und der ſich vorzugsweiſe in runden
und roſigen Wangen offenbarte, war dahin, und ihm auf dem
Fuß war der Winter gefolgt. Sie ſchien ftumpf und empfin«
dungslos; ihre Bewegungen waren mehanijh, ihr Anzug ver:
nadläffigt. Adele hingegen jehien beweglicher als ſonſt, obwohl
fie erniter, in Wort und Bewegung beinahe tragijch war. Gie
war jo einfach, beinahe ärmlich gekleidet, wie Töchter und Frauen
fraudulöfer Bankerottirer gekleidet zu fein pflegen. Doch iſt das
ein Vergleich, den ich erit jegt nach vielen Jahren und rückwärts
blifend made; damals rührte mich diejer ärmliche Anzug eben
fo fehr wie meinen Freund, und fand ich Alles, was ich jegt für
eine Rolle halte, jehr natürlich, jehr traurig, ja groß und ſchön.
So ſehr hatte Adele mein Urtheil über fie zu geftalten gewußt,
daß ich mich des erſten Eindruckes, der Abfichtlichkeit, Berech—
nung und Kofetterie, die ih damals in ihr fand, gar nicht mehr
erinnerte. Sie fam uns mit großen Schritten entgegen und
reichte ung, indem fie den Lockenkopf etwas feit: und rückwärts
fallen ließ, beide Hände. „Meine Freunde! meine theuren
Freunde!” rief fie, blidte mich zärtlich an und drückte Jakob die
Hand. „Sie finden uns in der Einſamkeit!“ fuhr fie mit zit
ternder Stimme und bitter lächelnd fort. „Sie finden uns, wo
wahre Freunde die Freunde im Unglüd fuchen und finden, in
der Einfamteit.
Berftoben ift das freundliche Gedränge!
Dir find allein!
Allein! allein! und jo willft du genejen!“
204 Novellen.
Sie liebte e8 von jeher, Stellen aus Dichtern zu zitiren, fie
behielt diefe Gewohnheit, und wie es fhien, in einem erhöhten
Grade auch im Unglüd.
„Haben Sie von der ungeheuren Verleumdung meines edlen
Vaters gehört ?” rief fie dann meiter, indem fie und zum Sitzen
. zwang. „Gewiß haben Sie, die Verleumdung ift die ſchnellſte
aller Furien. Ye edler mein Vater ift, deſto mehr Feinde hat er;
je höher er in der Achtung der Menfchen jtand, deſto mehr heftet
fih der Neid an feinen guten Auf. Aber ich fürchte nichts; er
wird fiegreih aus der niederträchtigen Kabale hervorgehen.
Seien Sie nicht fo traurig, meine Freunde! Gehen Sie, ih bin
heiter, ich bin getroft, ich bin vie ftolze Tochter des edlen Ge-
fangenen! Adversitys sweet milk philosophy, des Mifge-
ſchickes ſüße Milh, Philofophie, hat mich geftärkt und wird mich
jtärfen, jo lange die Prüfung dauert.”
In diefem Sinne, in dieſem Tone fprad) fie noch lange fort
und erfparte und fo den peinlihen Troftzufprud. Jakobs tief
betrübtes Geficht heiterte ſich während diefer Reden fichtli auf.
Er freute fih an dem Muthe, oder wie er e3 auf dem Heimmege
nannte, an der Größe und Charalterftärfe des jungen Mädchens.
Gie ſprach aud den Entſchluß aus, nicht mehr in die verberbte
Melt, die foldher Verleumdung und de3 Glaubens an folde
Verbrechen fähig fei, zurüdzufehren, ſondern ſich mit dem Pater,
jobald er das Gefängniß verlaſſe, in die Einfamfeit zurüdzus
ziehen und die Seelenwunden de3 edlen Märtyrer3 durch find:
liche Liebe zu heilen.
ALS wir fpät Abends in die Stadt zurüdkehrten, war Jakob
in einer gehobenen Stimmung, die an Heiterkeit, ja an Glüd
gränzte. „Mein Entſchluß,“ fagte er, „Iteht feft; der Weg, den
ich zu gehen habe, ift mir vorgefchrieben, ja e3 ift mir, als wüßte
ich genau, was von nun an bis in alle Zukunft die Bejtimmung
meines Lebens ift. Das arme Kind wird nun von den Menfchen
gemieden werden wie eine Verpeftete; ich werde nicht von ihr
laflen, ich werde fie beſchützen, vertheidigen, ich werde für fie
Doktor Schwan. 905
forgen und für fie leben, jo weit fie mein Leben, das ihr gewidmet
ift, ald ihr Eigenthbum annehmen will.“
Diefem Entfehluffe gemäß wanderten wir denn aud jo oft
al3 möglich, beinahe täglih, hinaus und in das einfame Land:
haus. Jakob war mir dankbar, daß ic mein Benehmen nad
dem feinigen einrichtete und feine Freundſchaft für mich wuchs,
wie ich deutlich fühlen fonnte, von Tag zu Tage. Wir thaten
Alles, um Adelen zu zerftreuen und fie jo viel al3 möglich auf:
zubeitern. Im Laufe der Tage wurde es mir denn doch mehr
oder weniger klar, daß Adele von der Unſchuld ihres Vaters nicht
jo fehr überzeugt war, als aus ihren Reden während unjeres
erſten Befuches im Landhauſe hervorging. Ihre Stirne war
manchmal ſehr ſchwarz ummwölft und fie ließ dann, wenn fie mit
mir allein war, einzelne Wörtchen fallen, die auf ganz andere
Anfihten und andere Pläne als auf einfames Leben mit dem
verbannten Vater deuteten. Sch merkte auch bald, daß ihre
Sorgen ehr pofitiver Natur waren und eine praktiſche Seite
hatten. Der Prozeß und die Gerichtsbarkeit des Landes, in dem
wir lebten, waren jo bejhaffen, daß fie das größte Vermögen
eined Angellagten abjorbiren mußten. Das Bureau mar ges
ſchloſſen; der Advokat, dem die Sache Heideloffs übergeben wor:
ven, hatte ſchon erheblihe Summen ausgegeben, um dem Ge:
fangenen Erleihterungen und Bergünftigungen zu verjchaffen,
bie und da Allerlei zu vertufhen, Zeugen zum Schweigen zu
bringen, bin und wieder zu beſtechen. Soldyer Ausgaben fah
man fein Ende; das Vermögen war, allem Anſcheine nad,
ruinirt; Adele ein armes Mädchen. Sie bat mich, über dieſe
Dinge mit Jakob nicht zu ſprechen; es würde jeine Theilnahme
zu fehr aufregen, und dann fei er ein jo unpraftifher Menſch.
In der That ſchwieg ich darüber, und jo war zwijchen mir und
Adelen ein Geheimniß und ftand ich ihr, ohne e3 zu wollen, in
mancher Beziehung näher und vertrauter, als der ältere Freund.
Jakob benahm ſich indefjen nicht als unpraftifcher Menſch; im
Gegentheil hatte er in feinen Gedanken längſt die rein willen:
206 Novellen.
ihaftlihe Laufbahn aufgegeben und den Entſchluß gefaßt, fich jo
raſch ala möglih, und wo e3 immer fei, als praftiiher Arzt
nieberzulaffen, um eine folive Grundlage für einen Hausſtand
zu gewinnen. Nur von dem Gedanken, für Adelen zu forgen,
beherrſcht, und in feinem Eifer ala ihr berechtigter Beichüger
gegen die Welt, die fie verftieß, aufzutreten, ſah er fein Hinderniß,
das fich einer Verbindung mit ihr entgegenjtellen könnte. Trotz
feiner Bejcheidenheit hatte er doch nie daran gedacht, daß ihn
Adele vielleicht verfehmähen könnte und daß er nicht gemacht war,
um von ihr geliebt zu werden. Aber hätte er jelbjt ähnliche Ge-
danken gehabt, in jeiner Aufopferunggluft wäre er fähig gemejen,
fih der demüthigenden Lage zu fügen und ihre Hand als ein
durch ihre Erniedrigung auf fein Niveau im Werthe herabgedrüdtes
Geſchenk anzunehmen.
Ich darf hier nicht zu bemerken vergeflen, daß ich um jene
Zeit Jakob feltener zu fehen befam. Wir bewohnten nicht mehr
dafjelbe Haus. ALS fertiger Doktor konnte er einem Freunde den
Gefallen erweifen und ihn, der eine nothwendige Reife zu machen
hatte, im Hofpitale, wo dieſer Freund angeftellt war, erjegen.
Aber er mußte im Hofpitale wohnen. So waren wir getrennt
und mir fanden und meijt nur draußen bei Adele. Als jener
Freund in die Nefidenz zurückkehrte, ging Jakob ſelbſt in vie
Provinz, um fi daſelbſt um eine gewiſſe Stelle, von der er
gehört hatte, mit Empfehlungen ausgerüftet, zu bewerben.
"Nun war ich mit der Verlaffenen fortwährend allein. Die
Mutter war faum ala anmefend zu betradten. Sie faß den
ganzen Tag in einer Sophaede und jah vor fi hin. Draußen
im Garten war e3 ſchön, der Frühling war ſchön, die Einfamteit
war ſchön, und wir waren beinahe glücklich. Leider! Leider! Wie
unglüdlich hat mich dieſes Glück gemacht! Adele war bezaubernd
ihön, ih war ihr Vertrauter und, mie fie mich oft verficherte,
ihr Tiebfter, theuerfter Freund — und id war zwanzig Jahre
alt. Aber eben weil ich zwanzig Jahre alt war, ſprach auch ver
fategorifche Imperativ mit frifcher und vernehmlicher Stimme in
Doktor Schwan, 207
mir und diefer befahl, Adelen fo oft ala möglich an den befjeren
und treueren, an den vertrauensvollen fernen Freund zu erinnern,
Das that ih denn auch mit Freuden, denn mein Herz hing an
Jakob mit aufrichtigfter Liebe. Adele durchſchaute meine Abficht,
lächelte und ftimmte mit in das Rob des Freundes und in die
beiten Wünfche für feine Zulunft ein. Aber ein Gerücht, das
bis zu ihren Ohren drang, ließ fie eines Tages in einem andern
Sinne ſprechen. Das Gerücht durdlief die Stadt und erzählte,
daß Doktor Schwan mit Adele, der Tochter des infamen Heide:
loff, verlobt fei; e8 war in Folge unferer Befuche in dem Land—
baufe, unferes treuen Ausharrens bei den Verlaſſenen und des
Gifers, mit dem ſich Jakob zu wiederholten Malen der ſchuld—
Iofen Glieder der Familie annahm, entjtanden. An dem Tage,
da das Gerücht zu ihr drang, ſchwieg fie zu dem Lobe, das ich
zufällig in Bezug auf Jakob ausſprach. Ich ſah fie fragend an
und fie antwortete ärgerlich und aufgeregt: „Er ift ein unprak—
tiſcher Menſch, er hat feinen Takt, er bringt mich mit feinem
Eifer, mit feiner Freundfchaft jegt eben jo in Berlegenheit, wie
er und oft in unfern Gejellihaften durch feine Ungeſchicklichkeit,
durch fein kindiſches Weſen und durch unverzeihliche Einfachheit
und Formlofigkeit in Verlegenheit gebracht hat.”
Ich war überrafht. „Sit es ein jo großes Unglüd,” fragte
ih, „für feine Verlobte zu gelten?” Und ich fügte auf die zartejte
Weiſe die Bemerkung hinzu, daß es in ihrer Lage ein Glüd jei,
eine fo treue, edle, hingebende Seele fich für immer verbunden
zu wiſſen.
Uber ich hatte noch nicht ausgeredet, als fie mir ſchon mit
ftrömenden Augen an der Bruft lag, ſich mit beiden Armen an
meine Schulter klammerte und ſchluchzend ausrief: „Daß Gie,
gerade Sie mir zureden müſſen!“
Ich wollte diefen Ausruf nicht verjtehen und jagte, während
ih fie unwilllürli ans Herz drüdte: „Gerade ich! das ift natür:
li, denn ich kenne ihn, ich weiß ihn zu würdigen !“
Ihre Thränen floffen heftiger; fie lehnte den ſchönen Kopf
208 | Novellen.
an meine Schulter, verbarg ihre Augen und ftotterte: „Sie haben
Reht! — und doch — Sie willen e3 ja. — Retten Sie mid!
— laſſen Sie mich e8 nicht ausſprechen — er ift fein Mann —
er ijt lächerlich !“
Ich verjtummte, machte ihre beiden Hände von meiner
Schulter los und ſchob fie einen Schritt weit zurüd, Sie erhob
ihren Kopf, ſah mir gerade in die Augen und fagte laut und
kräftig, und mit einem Ausdruck der Aufrichtigfeit, den ich noch
nicht an ihr Fannte: „Sch bin erniedrigt und gedemüthigt genug;
ic werde mich für noch erniedrigter halten, wenn ich einen Mann
heirathe, über den ich mich feit zwei Jahren mit allen meinen
Belannten luftig machte!”
Ih war entrüftet und griff unmillfürlich nach meinem Hute,
der auf der Rafenbanf neben mir lag; doch imponirte mir die
mutbige und wirklich natürliche Aufrichtigfeit und rührte mich der
Ausdrud tiefften Rummers, mit dem fie fich bei meiner abweh—
renden Bewegung auf die Bank fallen ließ. Bald war ich wieder
balb beſchwichtigt, al3 fie, wie zur Selbſtanklage, vie ſchönen
und edlen Eigenfchaften Jakobs mit einer Wärme und Berebt:
famfeit augeinanderzujegen anfing, daß mir die Thränen in bie
Augen traten.
„Bei folder Erkenntniß,“ ſagte ih, indem ich den Hut wieder
binwarf, „kann bei einigem guten Willen ein anderes Gefühl,
wenigftens eine innige Freundfchaft, die ver Liebe gleihfommt,
nicht lange ausbleiben.“
„Ach,“ jeufzte Adele, „vergeilen Sie nicht, daß ich ein Mäd—
hen bin — vielleicht liebe ih auch einen Andern.“
Mir fhwiegen Beide, bis ich einen Vorwand fand, dem Ge:
fprädhe eine andere Wendung zu geben und endlich mic zu
empfeblen.
Sonderbarer Weife hatte dieſe Szene dazu beigetragen, unfer
Verhältniß intimer zu machen; fie hatte mir ja den höchſten Grad
des Vertrauens gezeigt. Andererfeit3 war durch das, mas in
diefem Gefprädhe angedeutet und verſchwiegen worden, zwifchen
Doktor Schwan. 209
uns ein gewifler Reiz der Gefahr ausgegofjen, der uns Beide in
einer nicht unangenehmen Spannung erhielt, al3 ftänden wir
am Vorabend, an ver Schwelle eines entjcheidenden Geftändnifles.
Manchmal beantwortete ih mir die Frage, ob ich Adele liebe,
mit einem entfcheidenden „Ja!“ Dann mwälzte ich die verſchieden—
ften Gedanken in meinem Kopf berüber, hinüber; unter andern
auch den, daß mit Jakob ein Kompromiß zu jchließen wäre. Er
liebte Adele fo innig, al3 man nur lieben kann; aber vor Allem
wollte er ihr und nicht fein Glüd; eine Heine Andeutung würde
bei feiner Aufopferungsfähigfeit wielleiht hinreihen, ihn felbit
ihre Hand in die meinige legen zu lafjen. Dann dachte ich wieder,
mid, al3 das Hinderniß zu Jakobs Glüde, zu entfernen und
Adele Zeit zu laſſen, bis fie die Meinung der Menjchen verachte
und über ven guten Eigenſchaften Jakobs das, was fie feine
Lächerlichkeit nannte, vergefjen lernte. Wäre er nur erft zurück—
gekehrt! Während feiner Abwefenheit wurde das Band, das Adele
um mic ſchlang, immer enger und es fah bald aus, als *
es ein dauerndes ſein.
* *
BB
Obgleich e3 jpät Abends war, eilte ich doch fofort zu Jakob
ins Hofpital, wo er noch immer wohnte, fobald ich die erfehnte
und zugleich gefürdhtete Nachricht von feiner Rückkehr erhielt. Er
erzählte mir mit Lächeln, daß aus feiner Anftellung nichts ge:
worden. Im Momente, al3 die Angelegenheit ſchon fo weit war,
daß er den bejten Erfolg hoffen durfte, kam in der Provinz ein
Uriasbrief an, der ihn dem Grafen, der ihn anjtellen follte, als
den Verlobten Adelens bezeichnete. Der Graf wollte mit einem
Menſchen nicht? zu thun haben, der mit Heideloff in irgend welcher
Verbindung ftehe. — „Diefer Ausgang,“ fagte Jakob, „bat mich
bis zu einem gewiflen Grabe, ic) geſtehe es, gefreut, als die erfte
Unannehmlichkeit, die ich für Adele zu tragen habe. Ich bin ein
jhredlich leichtſinniger Menſch!“ fügte er lächelnd hinzu. „Auch
bat e3 mich gefreut, daß man mich den Verlobten Adelens nannte;
Morig Hartmann, Werke. VI, 14
210 Novellen.
das Hang mir wie eine Prophezeiung. Auch bin ich entſchloſſen,
ihr jo bald als möglich, vielleicht ſchon in den nächſten Tagen,
meinen Antrag zu mahen. Dem armen Kinde wird es wohl
thun, wieder, jo zu fagen, eine legitime Stütze zu haben.”
Ich feufzte unwillkürlich, und ich mochte fehr ſchmerzlich ge:
jeufzt haben, denn Jakob ließ die Pflanzen, die er auf dem Lande
gejammelt hatte und mit deren Ordnung er eben beſchäftigt war,
aus der Hand fallen und wandte fich raſch und mit einem er:
Ihrodenen Gefihte zu mir, und ſah mir groß und fragend ins
Auge. Es war, als bligte e8 in feinem Kopfe.
„Du wirft doch nicht —,“ rief er rafch und fuhr dann jtodend
fort: „in Adele verliebt fein!”
Ich fuchte zu lächeln und frug zurüd: „Wie kommſt du auf
die jonderbare Idee?“
„Du haft Net zu fragen,” jagte er dann ruhig. „Aber
während meiner Abmejenheit, in einfamen Stunden auf dem
Lande, auf dem Felde, meift während ich botanifirte, kamen mir
mande jonderbare Ideen. Du warſt während dieſer Zeit immer
und allein mit Adelen. Wer kann ihrem Zauber miderjtehen !
Und dann — du — du haft eine befjere Erziehung erhalten als
ih — du biſt ſchöner, du bift liebenswürdiger, bu haft befiere
Formen. Adele ift ein Mädchen und iſt in der Refidenz aufgewachſen.
Ich — ih bin ſcheußlich häßlich, ungeſchickt, edig — ja — ja
— ich weiß das ganz gut. Der Graf, der mich anftellen jollte,
bat mir das ganz offen gejagt. Er fagte, e3 fei ſchade, daß ich
nicht zugleich der Leibarzt feiner Frau fein fünne. Aber fie liebe
e3, von jhönen und gemandten Menjchen umgeben zu fein, und
ich fei — mie ich eben fagte.”
Er kehrte wieder zu feinen Pflanzen zurüd, Aber feine Auf:
merkſamkeit war nicht mehr mit ihnen. Er verfuchte von Allerlei
zu ſprechen, aber er fprach ohne Zufammenhang. Nach einem
längeren Schweigen, während defjen ich nachdenklich daſaß, Tagte
er plöglich vor fi hin, al3 ob er einen Monolog bielte: „Wenn
ich Adele verliere — werde ich mich nicht erſchießen und nicht vergiften.
Doktor Schwan. 211
Sch habe etwas zu thun in der Welt; ich habe eine arme Mutter
zu ernähren. Aber ich würde ewig unglüdlich fein, fehr unglüdlich.”
Ich mußte, mas ich zu thun hatte. Ych erhob mich, reichte
ihm die Hand und fagte gute Nacht.
„Gebt du morgen zu Adelen?“ fragte er mich noch auf der
Treppe.
„Nein!“ rief ich zurüd und lief fort. Aber ich war allerdings
entſchloſſen, morgen hinzugeben; Jakob follte um den Gang nicht
wiffen und nie erfahren, was ich mit ihr ſprechen wollte. Ich
hatte meinen Entſchluß gefaßt; ich empfand jenes in zwanzig:
jährigen Gemüthern gerne heimiſche Gemiſch von Selbftgefühl
und Edelmuth; ich war zufrieden mit mir, ich war ftolz; ich
hatte mich zu einem Opfer, zu Entjagung emporgerafft. Ich
wollte von nun an Adele meiden; ih mwollte morgen für immer
Abſchied von ihr nehmen und ihr bei der Gelegenheit jagen, daß
fie die edeljte Seele, das liebevollfte Herz nicht von ſich ftoßen
folle. Bor Allem wollte ih, daß Jakob nicht ewig unglüdlich
ſei, und wollte ih den Freund nicht betrügen. Auf diefen Ent:
ſchlüſſen entjchlief ih, wie auf einem weichen Kiffen.
Sch machte mich fehr früh auf den Weg, und zwar nicht
nad der Wohnung Adelens, jondern nad) einem verlafjenen, vers
wilderten Parke in deren Nähe. Dort, in einer langen, gewun—⸗
denen Allee, mit verwilderten Heden am Rande, ging Adele jeden
Morgen fpazieren. Sie hatte e8 ung Beiden zwar aufs Aus:
drüdlichfte unterfagt, fie daſelbſt aufzufuchen, aber ich hoffte, daß
mich das Ungewöhnliche meiner Lage bei ihr entfchuldigen werde.
Schon der Anblid des Parkes erfüllte mich mit Traurigkeit,
zugleih mit jener höheren Stimmung, die zum Abſchied von
einem Ölüde jo nothwendig ift, wenn er nicht zaghaft und weibiſch
ausfallen ſoll. Die Jahrhunderte alten Bäume waren von didem
Epheu bevedt, die Heden wucherten überall wild, und zwifchen
ihnen jtredten ji Zweige und Ranken über die Wege, die mit
Gras bewachjen waren. Nur bier und da war ein Durchblick in
dunkle, wirr verwachfene Winkel offen; heiter waren bier nur die
212 Novellen.
Thautropfen, die, in der Sonne glänzend, auf den Blättern
hingen ; jelbft ver Gefang der Vögel war traurig gedämpft. Adele,
die mit einem Buche in der Hand, in der Allee auf- und abging,
lächelte, da fie mich erblidte, als ob fie mich erwartet hätte, fam
mir mit ausgeftredter Hand entgegen und machte über meine
Uebertretung ihres Berbotes nur eine ſcherzhafte Bemerkung.
„Sie fompromittiren fih und mich,“ fagte fie vorwurfsvoll aber
fanft. Ich legte meine Hand ſchweigend in die ihrige, und auch
fie ſchwieg, al3 fie meine peinliche Stimmung bemerkte, und
beobachtete mih. So gingen wir lange ftumm und Hand in
Hand neben einander einher. Ich wußte nicht, wie zu beginnen,
bis mich ein leifer Drud ihrer Hand aus meinem Nachdenken wedte.
„Adele,“ jagte ich mit zitternder Stimme und hob ihre Hand
an meine Lippen, „ich fomme, um Ihnen zu erflären, warum
ih Sie nit mehr, oder nur fehr felten ſehen werde — ich will
Abſchied von Ihnen nehmen.“
„Abſchied!“ rief fie erjchroden.
„Jakob ift feit geftern zurüd,” jtammelte ih, „er vertraute
mir — er liebt Sie —“
„Adele fiel mir ins Wort: „Sch errathe Alles,“ rief fie,
„ſchweigen Sie, machen Sie mi nicht unglüdlich !”
Bei diefen Worten traten ihr die Thränen aus den Augen,
und wie um dieſe zu verbergen warf fie fi an meine Bruft und
drückte ihre Stirne an meine Schulter, indem mich ihre Arme
umklammerten. Ich zitterte vor Aufregung ; ich hatte nicht die
Kraft, mich loszuminden ; der Ton ihrer Stimme, ihr Schluchgen
fagte es, daß ich fie in der That in ein Unglüd zurüdftoße; den«
noch ſtand der Entſchluß unerfehüttert in mir, mich von ihr für
immer zu trennen. Nie fühlte ich, wie in diefem Augenblide,
melches Opfer ich bringe, aber eben dieſes Gefühl ftärkte mich.
Ich faßte mich, ich wurde ruhig und wollte nur abwarten, bis
auch fie fi ein wenig berubigte, um ihr dann zuzuſprechen.
So ftanden wir Bruft an Bruft da, als Adele plöglich auf:
fuhr und ausrief: „Allmächtiger Gott! der Doktor Schwan!”
Doktor Schwan. 9213
Jakob war eben um eine Ede gebogen und ftand ungefähr
fünf Schritte von und wie eingewurzelt; feine Augen, die die
Gruppe vor ihm anftarrten, ſchienen mir durch die blaue Brille
wie verjteinert. Plötzlich hub er die Arme, ſchlug die Hände über
dem Kopfe zufammen und lief mit einer furchtbaren Schnelligkeit
auf und davon. Bei feinem Anblide flog mir die Erinnerung
an feinen geftrigen mißtrauifchen Ausruf: „Du wirft doch nicht
in Adele verliebt fein,” und hundert andere Gedanken mit Bliges-
jhnelle dur den Kopf. Was mußte er denken! was fühlen!
welche furchtbaren Qualen müjlen ihn in diefer Stunde zerreißen !
Ich wollte mich von Adelen los machen, aber fie, die nach dem
überrajhten Ausruf einen halben Augenblid lang ihre Arme
ſinken ließ, hatte mich aufs Neue und ftärker gefaßt und um:
Hammerte mich mit Heftigfeit. Mit der Hand auf ihrer Stirne
drüdte ih ihren Kopf von meiner Bruft zurüd, mein Blid fiel
auf ihr Geficht ; mit einem Male glaubte ich in diefen Zügen eine
gewiſſe Kälte, eine gewiſſe Berechnung und Abficht zu entdeden.
Die ungeheure Aufregung, meine jchredliche Lage machten mid
bellfehend. Dieſes berechnende, elende Geſchöpf will meine Ab:
ficht zu Nichte machen, will mich für immer von meinem Freunde
trennen, will, daß er und Arm in Arm ſehe. Plöglich fühlte
ih, um wie viel theurer mir Jakob war, als diefe Tochter ihres
Vaters — mit einem Rude entwand ich mich ihren Armen und
ftürzte dem Freunde nad. Obwohl diefe ganze Szene und der
Flug all’ diefer Gedanken durch mein Gehirn nur durd Sekunden
dauerte, war Jakob doch ſchon fern; ich lief, als hätte ich Flügel,
ich wollte ihn um jeden Preis erreihen, um ihm zu erklären, um
das Mißverftändniß zu löfen, um ihm zu fagen, daß ich ihn
nicht verrathen, — ich durchlief den ganzen Park, ich lief wieder
an Adelen vorüber, ohne fie mit einem Blide anzufehen, er war
verfhmunden. Athemlos fant ich ind Gras. Sobald ich mid
erholt hatte, fuhr ich in die Stadt zurüd und ins Hofpital. Jakob
war nicht da. Sch wartete, er kam nicht.
Und fo wartete ich viele, viele Tage — er kam nit. Nach
214 Novellen.
Moden erfuhr ih, daß ihm feine Habjeligfeiten aus dem Ho:
fpital auf der Donau nad Ungarn nachgeſchickt worden, und daß
er irgendwo im Orient verſchwunden fei.
An demjelben Tage, da ich Adelen im verwilderten Parke
zum legten Male fah, erſchien in ihrem Haufe ein Herr v. L.. g,
ein Emporfömmling, der al3 Wucherer und Staatälieferant ein
ungeheures Vermögen, Orden und den Adel gewann. Er hatte
ih im verflofjenen Winter in der ganzen Refidenz lächerlich ges
madt, indem er, obwohl bereit3 an fünfundfünfzig Jahre alt,
auf jein Geld bauend, um Adelens Hand angehalten hatte und
einen Korb befam. Er zog fih damals, um ſich vor den Epi:
grammen der vielen Verehrer Adelens zu retten, auf feine Güter
in die Provinz zurüd. Nun, da er von Adelens tiefem Falle
hörte, fam er wieder und mit neuer Hofinung. Er hatte fi
dießmal nicht getäufcht. Wenige Tage nach feiner Ankunft hoben
Adele und ihr Bräutigam die Mutter in den bereit jtehenden
vierfpännigen Wagen, und die Drei brausten dem Schlofje ent:
gegen, wo ein Dorfgeiftlicher die heilige Handlung der Vermäh—
lung volljog. Der Vater wurde um dieſelbe Zeit zu fünfzehn:
jähriger Zuchthausſtrafe in Ketten verurtbeilt.
* *
*
Die lebhafte Erinnerung an diefe mit meinem eigenen Leben
jo eng verflochtene Gejchichte de3 Studiofus und jungen Doktors
Jakob Schwan machte, dab ich die Anfichten des Ruſtſchuker
Helim über die Frauen und deren erften Urfprung begriff, aber
auch, daß ich ihn von nun an mit größerer Trauer fommen und
gehen jah, und daß die Sehnjucht, mich ihm zu entdeden und
ihm Aufflärungen zu geben, immer mächtiger wurde. Dieb ge:
Ihah furz nachdem ich feiner Einladung, bei ihm in Giurgewo
zu wohnen, gefolgt war, als er mich eines Tages, während einer
Dämmerftunde, plöglih nad mir felber fragte. Ich fiel ihm um
den Hals, ich erzählte raſch, und er glaubte Alles, was ich ihm
jagte. Mir waren die alten Freunde. Aber meine Mühe, ihn.
Doktor Schwan. 215
zur Nüdfehr nad) Europa zu bringen, war vergebend. „Mit
meinen orientaliihen Gewohnheiten und den Eigenthümlichkeiten
eine3 alten Junggeſellen,“ fagte er, „wäre ich heute noch Fächer:
licher als vor zwanzig Jahren. Hier bin ich begraben; feine
Geele ſteht mir nabe; aljo fann mir Niemand weh thun. Lächelt
man über mich,” fügte er felbjt lächeln hinzu, „jo möge man
lächeln!”
An der Spielbanf,
Ich bin kein Spieler und vorzugsweiſe deßhalb nicht, meil
ih fürdte, daß, wenn ich einmal anfange, ich zu leidenſchaftlich
fpiele und dabei nicht viel einzujeßen habe; aber fo oft ich in
eine3 jener deutſchen Bäder fomme, die troß aller moralifchen
Entrüftung des Vaterlandes und troß der Verachtung des Aus:
lande3 mit einem Muthe, der einer bejjern Sache würdig wäre,
fortfahren, Spielbanken zu halten, ich fage, jo oft ih an einen
jener Orte fomme, die Deutjchland das Recht benehmen, über
Frankreichs Mabil und Quartier Breda die Nafe zu rümpfen
und moralijch entrüftet zu fein, jo oft verbringe ich ganze Stun=
den am grünen Tifhe. ch ſpiele nicht, aber ich betrachte die
Gefichter der Spielenden, die mir ganze Gefchichten erzählen von
dem, was während des Spieles in ihnen vorgeht, und lange
ſcheußliche Geſchichten aus ihrer Vergangenheit. So jtand ich
eines Tages in Homburg. Nachdem ich bereitö mehrere bi3 zur
Grftarrung unbemwegliche oder in allen Faſern leife zitternde Ge-
fihter männlichen und weiblihen Geſchlechts durchgemuſtert, blieb
mein Auge am Gefichte einer Frau haften, das offenbar bereit3
der Zielpunft vieler beobadhtenden Blide geworden war. Nicht
nur ruhige Beobachter meines Schlages, felbjt mehrere ruhige
Spieler fanden ihr Vergnügen darin, die eigenthümliche Frau
in ihren Bewegungen und Worten zu beobadten, die der Art
waren, dab das Lächeln des Publikums in der That gerechtfertigt
An der Spielbanl. 217
eribien. Vor ihr, auf dem Tiſche, lag ein großer Beutel, aus
deſſen klaffender Oeffnung da3 Geld wie aus einer Quelle ber:
vorfloß; auf diefem Beutel lag, während die Kugel im Kaſten
lief, ihre linfe Hand, die krampfhaft eine Schnupftabalsdofe hielt,
während die rechte den Reden zum Herbeifcharren des Goldes
faßte und wie einen Scepter an der Schulter ruhen ließ. Geficht
und Geftalt waren während dieſes Momentes unbeweglih, fie
borchte dem Rollen ver Kugel, al3 wollte fie daraus die gewin—
nende Nummer erkennen. Dann hing fie am Munde de3 Grous
pierd, der da3 Refultat verfündigte, um gleich darauf, in rafcheiter
Beweglichkeit, die mit der bisherigen Starrheit unheimlich fon:
traftirte, mit beiven Händen entweder den Gewinn einzufcharren,
oder in ihr Gold zu fallen, um auf Neue Nummern, Serien
und Farben zu befegen. Sie that Letzteres mit unbejchreiblicher
Geſchwindigkeit, als ob fie feit lange gewußt hätte, wohin fie
jeßt ihr Gold jegen follte, ohne Ueberlegung, ohne Zaubern und
doch, wie e3 ſchien, nad einem gewiſſen Syitem. Mar fie im
Augenblide, da der Eroupier fein „Le jeu est fait* jagen wollte,
noch nicht fertig, ftredte fie ihre linfe Hand aus, mie um ihm
den Mund zu fchließen, und fuhr mit der rechten jo rafch von
Nummer zu Nummer, daß man ihren Bewegungen faum folgen
fonnte. Während diefer Zeit ftieß fie ununterbrochen einzelne
Morte hervor; bald nannte fie die Nummer, die fie eben bejette,
bald machte fie eine Bemerkung über den Verluft, den fie eben
erlitten, dann war e3 wieder ein Verweis für den Croupier über
jeine Eilfertigfeit, dann eine Bemerkung über die Chance des
Rouge und eine Prophezeiung, daß fih das jogleich ändern
müffe, und fo fort, ohne daß fie fich eigentlich Zeit ließ, einen
einzigen Sag zu Ende zu ſprechen. Sobald der Dedel auf das
Roulette gefallen war, nahm fie eine Prife und die vorige hor—
chende, laufchende, gefpannte Ruhe kehrte wieder. Aber fie fpielte
nit nur für fi, fie fpielte für alle Anweſenden und verfolgte
deren Glüd oder Unglüd mit demfelben Interefje, wie das ihrige.
Sie wußte immer, mwohin und was Jeder geſetzt hatte, mer
218 Novellen.
gewann oder verlor, und mancher Ungeübte, der nicht raſch genug
jeinen Gewinn zurüdzog, wurde von ihr darauf aufmerkſam ge:
macht, meilt in Verbindung mit einer Bemerkung über fein Spiel.
Bei all! diefen Beihäftigungen hatte fie wenig Zeit, auf ihre
eigene Perſon zu achten, bemerkte fie z. B. nicht, daß ihre große
Spigenhaube jchief auf der Seite ſaß, daß ihr dider, ſchwarzer,
mit etwas Grau gemijchter Scheitel ſich aufgelöst hatte und wild
und wirr vorn berabhing, vergaß fie auch manche Vorficht, die
bei ihren häufigen Priſen nothwendig gewejen wäre.
Die fpielende Dame, vie jo alle Blide auf fi zog, die
Einen ftaunen, die Andern lächeln machte, war eine Frau von
ungefähr fünfzig Jahren. Ihr Geficht, obwohl voll und beim
Spiele ſtark, beinahe jugendlich geröthet, war voller tiefer Ein:
ſchnitte und ftarfer Erhöhungen und fah wie eine Gegend „voll
Zufälligleiten“ aus, „un terrain accidente,* wie es die Fran:
zofen nennen. Das Auge, obwohl es immer auf einen Gegen:
ftand firirt fchien, hatte doch etwas Irres. Bei alle dem aber
fonnte man Spuren großer Schönheit entdeden; die Naſe war
ftol; und imponirend, die Lippen nod immer angenehm ge:
jhwellt, und den Augen jah man es an, daß fie einft fanft und
voll Güte bliden konnten. Freilich waren die Refte ver Schönheit
zur Zeit dur Haltung und Kleidung bedeutend beeinträchtigt,
denn, um e3 kurz zu fagen und ohne ung in weitere Bejchreibung
einzulafien, Alles an ihr war unordentlih und ſchmutzig. Kein
Theil ihrer Bekleidung jaß orventlih und vorn waren alle von
berabfallendem Tabak bevedt, deſſen Spuren aud auf den Fin:
gern und dem Rüden ver ſchöngeformten Hand fichtbar waren.
Der Anblid diefer Frau konnte den Beobachter eigentlich nur
fo lange in Anfprudy nehmen, als er neu war; nad) einiger Beit
hatte er etwas Abftoßendes und zugleih Schmerzlihes. Wie gern
bereit man auch) fein mag, nad modern humanen Grundjägen,
fich Verbrechen und Laſter jo viel ald möglich zu objektiviren,
fie al3 nothwendige Produkte gewiſſer Entwidelungen zu betrachten
und in Folge deſſen ven Verbrecher over Lafterhaften vielmehr zu
An der Spielbant. 219
bemitleiven al3 zu verurtbeilen, jo bleibt der Anblid des Laſters,
in der Ausübung wie in den Wirkungen, doch immer der Art,
daß man fih, troß aller Reflerionen, am Ende doch mit mehr
Abſcheu als Mitleid abwendet. Ich war des Schaufpield müde
und ſah unwillfürlih im Saale umher, um Blid und Seele bei
einem anderen, erquidlichern Gegenſtande ausruhen zu laſſen.
Da erblidte ich zu meiner größten Ueberrafhung, der jpielenden
Frau ſchräg gegenüber, einen alten, lieben, guten Belannten.
Es war der ruflifhe Graf S..., derſelbe, mit dem ich dur
beinahe fünf Jahre als fein Leibarzt, und ich darf wohl, troß
der großen Verfchiedenheit des Alters jagen, als fein Freund
den Orient und Occident bereist hatte. Seit drei Jahren hatte
mid mein Schidjal von ihm getrennt und war er mir in ente
fernten Weltgegenden, in Inneraſien und Indien volllommen
aus meinem Geſichtskreis verfhwunden. Wie freute ich mid,
dem vortrefflihen Manne, dem ich Freundichaft, Erfahrungen,
Wiſſen dankte, wieder einmal die Hand drüden zu können. Kaum
hatte ich ihn erblidt, als auch fhon mein Schritt meinem Blide
folgen wollte, aber eben fo rafch hielt mich der Ausprud feines
Geſichts und feines ganzen Weſens an der Stelle feſt.
Er Stand an die Pfoften der Eingangsthür gelehnt, hatte
den Hut tief ind Gefiht gedrüdt und ließ beide Arme jo ſchlaff
hängen, al3 ob er ihrem Falle folgen und bald in ſich zuſammen—
brechen wollte. Auf jeinem edlen, von weißem Haar eingefaßten
Geſicht lag der Ausprud tiefiten Grames; nur die zufammen-
gefnifjenen Lippen bewegten fih manchmal, um die Mundwinkel
immer tiefer und ſchmerzlicher herabzuziehen. Seine Augen hingen
unabwendbar und ftarr an der fpielenden Dame, Wenn fie eine
leidenſchaftliche, manchmal an gemeine Heftigfeit gränzende Be:
wegung machte, oder ein diefer entſprechendes Wort hervorftieß,
zudte er am ganzen Körper zufammen. Nur einmal jehien er ven
Blid von ihr abwenden zu wollen. Zwei Fremde, die neben ihm
ftanden, fpotteten über die Art und Weife, wie die Dame ge
wonnenes Geld mit beiden Händen und laut aufladhend zufammen:
220 Novellen.
Iharrte, und ſchienen eine höhnifhe Bemerkung zu machen. Da
wandte fich der Graf rafch zu ihnen, blidte fie mit zornigen Augen
an und ſchien etwas fagen zu wollen. Aber rafch fahte er ſich
wieder, nahm feine vorige Stellung ein und betrachtete die Dame
mit derfelben Aufmerkſamkeit wie vorhin. Wie er die Spielerin,
jo betrachtete ih ihn. Sein Gefiht verfteinerte fich zuſehends,
und ich wähnte e3 ſchon volllommen gleichgültig und theilnahmlos
und that eben einige Schritte, um mich ihm zu nähern, als über
das kalte fteinerne Gefiht, das immer der Spielerin zugefehrt
war, zwei große Ihränen langſam dem weißen Schnurrbart ente
gegenrollten.
Armer Graf, dahte ih — die Dame fteht ihm gewiß fehr
nahe; ihr Anblid maht ihm Kummer — foll ich aber ftören,
um ihn zu zerftreuen ? Oder wird es ihm unangenehm fein, wenn
er ſich in diefem Augenblide beobachtet weiß? — Und ſoll ic
mid fern halten ?
Nach einem Heinen Zwiſchenfall, der jet eintrat, ſchien es
mir beſſer, ihn für den Augenblid noch allein zu laffen.
Ein junges, jehr anmuthiges Mädchen trat an der Seite
ihrer Mutter, einer eben fo anmuthigen al3 würdigen Dame,
an den Spieltiih, um diejes, den beiden Neuangelommenen
offenbar noch ganz unbekannte Schaufpiel zu beobadten. Nah
einiger Zeit jagte die Tochter: „Mutter, ich will auch fpielen.”
Die ältere Dame fehüttelte lächelnd und abmwehrend den Kopf;
aber die junge ließ fih nicht abſchrecken und bat: „Gib mir einen
Louis, ih will zum Beten des Kinderhofpitals fpielen.” Kaum
hatte fie diefe Worte ausgefprochen, als jene alte Spielerin, an
der das Auge des Grafen mit fo großer Theilnahme haftete, und
die troß ihrer leidenfchaftlichen Vertiefung Alles, was aufs Spiel
Bezug hatte, zu fehen und zu hören ſchien, fich plöglich ummwanbte
und dem Fräulein in einem Tone ernfthaftefter Belehrung zurief:
„Fürſtin, man fpiele nie für wohlthätige Zwecke, man verliert
immer! Außerdem ift das Spiel des Teufel3 und nicht des lieben
Gottes. Wer mit frommen Zweden an diefen Tifch tritt, den
An der Spielbant. 221
umgibt der Teufel, der hier erfter Croupier ift; das ganze Spiel
nimmt eine faljhe Wendung und es ift nicht mehr möglich, die
Chance zu beredhnen. Ich bitte Sie aljo, liebe Fürftin, mit
Ihren wohlthätigen Zweden zum Herrn Pfarrer und nicht in die
Spielbank zu kommen.“
Die Worte klangen um fo komiſcher, als fie von der alten
Spielerin im ernfthafteften Tone, beinahe predigend ausgeſprochen
wurden, und das ganze verfammelte Publikum brach in ein
ſchallendes Gelächter aus. Bei diefem Gelächter flog glühende
Nöthe über das Geficht des Grafen und fein ganzer Körper zudte,
während die Rednerin fi wieder ruhig und unbeirrt durch die
von ihr verurfachte Heiterkeit dem Spiele zumandte, Aber da
fie wieder mechanisch nad der Stelle griff, wo der Beutel lag,
war alles Geld verjchwunden; ihr Auge folgt der Hand, und als
fie ſah, daß Alles verfpielt war, ſprang fie in höchſter Aufregung
auf, indem fie Worte augftieß, die beinahe Flüchen gleich kamen.
Bon ſchlechter Chance fprehend und allerlei Nummern nennen,
eilte fie davon. Die Hälfte des Publitums folgte ihr abermals
lahend, und in der That war fie in dem Augenblide höchſt
komiſch anzufehen. In der linken Hand Tabaksdoſe und Beutel
baltend, trug fie in der rechten den Geldrechen, den fie in der
Aufregung anftatt des Sonnenjhirms ergriffen hatte, und fo,
immer gewinnend und über das Spiel fprechend, lief fie aus
dem Saal in den Garten und juchte ſich mit vem Rechen gegen
die Sonne zu jhüßen, ohne zu bemerken, daß das Volk, das fie
begleitete, über fie und ihren Aufzug lachte. Auch der Graf folgte
ihr in einiger Entfernung, aber auf feinem Geſichte fand ſich auch
nit die geringfte Spur der Heiterkeit, melde die Dame rings
umber erregte; im Gegentheil war e3 von einem rührenden Ge:
miſch von Empörung und tieffter Nievergefchlagenheit bevedt.
Ich verlor ihn nicht aus den Augen und bald ſchien e3 mir, ala
wäre er feines Schritte mehr fähig, denn überwältigt lehnte er
ſich an einen Baum und ſchloß die Augen.
Jetzt näherte ich mich und faßte feinen Arm.
222 Novellen.
„Herr Graf,“ jagte ih, „ind Sie es wirklih? Wie freue ich
mich, Sie wieder zu ſehen.“
Er jhlug die Augen auf, und nachdem er mich eine Sefunde
lang angejtarrt, rief er plöglich, wie aus einem Traume erwacht:
„Doltor, find Sie es? Willlommen! Das ift ein Freundesgeficht
zur rechten Zeit.”
Dann machte er eine Bewegung, al3 wollte er etwas ab:
ſchütteln, ftügte fich auf meinen Arm und 30g mic) in die Tiefe
des Parkes.
„— Wie geht e3 Ihnen?“ fragte er nad einiger Zeit —
„wie haben Sie die legten Jahre verbradht? Erzählen Sie.“
Ich erzählte, merkte aber wohl, daß er nicht hörte. Endlich
fagte er: „Verzeihen Sie, ich bin zerftreut und habe Urſache, es
zu fein. Ich habe eben Schauerliches erlebt. D ihr Ideale der
Jugend!” rief er und lächelte fchmerzlih. — „Kommen Sie,
Doktor, wir wollen zufammen zu Nacht fpeifen und uns ein-
bilven, daß wir wieder im Zelte liegen am Ufer des Tigris oder
de3 Indus. Ich wollt’, wir wären noch immer dort. ch will
Ihnen etwas erzählen — e3 iſt ein Bebürfniß zu erzählen —
und ich will e3 fo thun, als wären wir noch taufend Meilen weit
von bier.”
So ſprechend, führte er mich in fein Hotel, auf feine Stube
und beftellte daS Eſſen. Er gab fih Mühe, heiter zu fein, fragte
mich während des Mahles nad meinen feitherigen Schidjalen
und borchte fo aufmerkſam, als es ihm möglich war. Erſt fehr
jpät in der Naht, nachdem mir einige Flaſchen geleert, gewann
er jene Ruhe wieder, die ich beinahe al3 unzerftörbar an ihm
gefannt hatte, und erinnerte er fich des Verfprechend, mir etwas
erzählen zu mollen.
„Lieber Doktor,” begann er, „ich will Ihnen von Dingen
ſprechen, die ich fonft, bei allem Vertrauen, das Sie mir immer
einflößten, nie berührt habe. Gewöhnlich ift man in weiter Ferne,
in kalter Fremde eher bereit, auf Angelegenheiten zurüdzufommen,
die man daheim am Liebften mit Schweigen übergeht oder in ein
An der Spielbant. 223
Geheimniß gebüllt fieht. Es iſt Einem da zu Muthe, al3 wäre
man in einer anderen Welt und al3 ſpräche man von Abgefchie:
denheiten. ch aber habe in aller Ferne über meine Gejchichte
geſchwiegen; vielleiht nur, um die Ruhe, die ich auf Reifen in
Betrachtung der Natur gefunden, nicht dur alte Diffonanzen
zu ftören. Heute, da ich wieder in die Nähe von Perfonen kam,
die mich jene Ruhe anftreben ließen, habe ich das Bedürfniß von
alten Geſchichten zu ſprechen; vielleicht, um in meinem Gemüthe
für immer mit ihnen abzufchließen. Uebrigens waren Sie mir
immer ein lieber Freund und erfchienen Sie mir heute, in einem
fehr bittern Nugenblide, auf fo providentielle Weife, daß ich mir
Vorwürfe made, jo lange und jo intim mit Ihnen gelebt zu
haben, ohne Ihnen jemals über die mwichtigite Epoche meines
Daſeins zu fprecen.
Ich war jchon mit dreißig Jahren General und Adjutant
des Kaiſers. Ych brauche Ihnen nicht zu jagen, daß ich die
rafhe Beförderung mehr den Verdienſten meines Vaters als
meinen eigenen, ferner meinem Namen und meinem Stande ver:
dankte. ch ftand hoch oben auf den Höhen menfchlicher Gejell:
ſchaft, bevor ih dur Erfahrung und Nachdenken über das Bes
ſchämende einer folhen Laufbahn belehrt wurde. Ich bekam das
Kommando einer Provinz und ich bewohnte deren Hauptitadt,
da die Regierung wünfchte, daß diefer armen Stadt in den Ein:
famteiten der Steppen einiges Einfommen zufließe und ich war
einer der reichiten Erben de3 ganzen meiten Kaiſerthums. Aus
demfelben Grunde hatte man die Civilgouverneurftelle dem über:
aus reihen Grafen Nikolajeff übertragen. Diefer hatte feine
Stelle feit beinahe fünfzehn Jahren inne, und war auf feinen
einfamen jtillen Boften mit größerer Bereitwilligleit abgegangen,
al3 ic auf den meinigen. Er war ein Gelehrter, der die Ein:
ſamkeit und das einfache Leben liebte, ver ſich außerdem nad)
dem Tode einer geliebten Frau aus der Reſidenz und ihren Ber:
ftreuungen zurüdzuziehen wünſchte. Mit jener Stelle war ihm
Gelegenheit gegeben, feine Neigungen mit der Erfüllung feiner
224 Novellen.
Pflihten gegen den Staat in Harmonie zu bringen. Er mußte,
was man von ihm erwartete: daß er einen großen Theil jeines
großen Einkommens der Gegend, die er verwaltete, zu Gute
fommen lafje, und da es nicht in feinem Weſen war, dieß auf
bergebradhte Weife zu thun und Feſte zu veranftalten, benußte
er jeine beiden Töchter von früheiter Jugend an, um durch fie
jein Geld unter die Armen der Stadt und bei Gelegenheit von
Inſpektionsreiſen, auf denen ihn beide Kinder immer begleiteten,
unter die Bebürftigen der ganzen Provinz zu bringen. In der
der That wäre es ſchwer geweſen, liebenswürdigere Trojts und
Hülfsboten aufzufinden. In der Einfachheit des Landlebens, den
Neigungen und Grundjägen des Vaters gemäß, anſpruchslos
aufgewachſen, war an diefen beiden in voller Schönheit er:
blühten Geſchöpfen nichts von den Schladen zu bemerken, weldye
bodariftofratiiher Rahmen und großer Reichthum in den Ge
müthern, bejonders in weiblihen, abzufegen pflegen. Unter
Anleitung des gelehrten aber nichts weniger als pedantiſchen
Vaters hatten die beiden Mädchen einen Schag von Willen ge:
jammelt, wie e3 bei der oberflädlihen modernen Erziehung, die
in meinem Baterlande gang und gäbe ift, in ariftofratijchen
Kreifen zu den höchſten Seltenheiten gehört, und hatte fich eine
Empfänglichkeit für alle ſchönen Produkte aller Künfte geoffen-
bart, von der man vorausſetzen durfte, daß fie Leben und Er:
fahrung, Sehen und Hören ver beiten Werke zu einem hoben
Grade, vielleicht bis zur felbjtändigen Schöpferfraft entwideln
könnten. Die glänzendere der beiden Erſcheinungen war die
ältere Tochter, Naftinka; in ihr vereinigte fih, was fo felten
vereint vorfommt, Sinnigkeit mit ſchlagfertigem Geifte und Poeſie
mit komiſchem Wige. Sie jchrieb Verfe, die in der That reizend
waren und einen großen Fonds von Liebe und Leidenſchaft ver:
einten. Bei all den Eigenſchaften dachten die beiden Mädchen
nicht daran, glänzen zu wollen; in ihrem etwa3 farblofen Leben
verging ein Tag nad dem andern in größter Anfpruchslofigkeit,
als ob es immer jo jein müßte, al3 ob Rang und Reihthum
Un der Epielbant, 225
nit auf ein anderes Leben hinwieſen; und diefe Harmlofigkeit
fügte zu all ven Vorzügen der beiden Mädchen noch einen neuen _
Neiz, einen befonderen Duft hinzu,
Ich war fein Jüngling mehr, aber der beinahe tägliche Um:
gang mit jo ausgeftatteten jungen Mädchen konnte nicht ohne
Folgen für mein Herz bleiben. Ich entſchied mich für die glän-
zende Naftinfa und noch den erften Winter, den ich in der Pro—
vinzſtadt zubrachte, war ich ein verheiratheter Dann. Ich liebte
meine Frau und ic gewann fie von Tag zu Tag lieber, je mehr
ic den großen Reichthum ihrer guten Eigenſchaften kennen lernte,
und ich fühlte das Bebürfniß, meinen alten Freunden in ver
Refidenz mein Glüd zu zeigen. Die Kaiferin hatte ihr am Hoch—
zeitstage ihre Chiffre in Diamanten gejhidt, oder mit anderen
Morten, hatte fie zu ihrer Hofdame ernannt und e3 war Pflicht,
zu Hofe zu gehen und für diefe Ehre zu danken. Naftinka zitterte
vor der dee, in der großen Welt zu erfcheinen; ich freute mich
fie fehen zu lafjen. Ich werde, dachte ih, all diefen Weibern
des Hofes zeigen, wie ein Weib fein fol. Die Ueberzeugung
von der Solidität der guten, felbjt der blendend glänzenden
Eigenfhaften meiner Frau jtand fo feft in mir, daß ich nur daran
dachte, wie fie als Mufter dienen, und nicht einen Augenblid,
daß fie irgend wie durch Schlechtes Beifpiel oder durch große Er:
folge erfchüttert werden könnte. Mit Stolz und voller Zuverficht
erfbien ich mit meinem jungen Weibe in der Reſidenz und warf
mich in den ganzen Strudel der fogenannten großen Welt. Von
wie vielen jungen Männern fie auch fofort umringt war: ver
Gedanke, daß fie jetzt Vergleiche anjtellen könnte, daß fie zu der«
gleihen in der provinziellen Einſamkeit feine Gelegenheit gehabt,
und daß ich vielleicht nur diefem Umftande mein Glüd verdanfte,
ftellte fih mir nicht einmal auf die flüchtigfte Weije dar. Mit
Monne ſah ich mich beneidet und fah ich in dem Neide nur eine
Anerkennung ihres Werthes. Daß fie mitten unter ihren Trium:
phen an weiterer Ausbildung ihrer fünftlerifchen Anlagen, ihrer
Maler: und Gefangstalente arbeitete, war mir nur ein Beweis
Morit Hartmann, Werke VI. 15
2236 Novellen.
mehr, daß ihre Liebe zum Schönen durch die Frivolitäten der
Melt niht erbrüdt werden fünne und meine Sicherheit, meine
Ueberzeugung von der Unerjhütterlichkeit dieſer ſchön begrün—
deten Natur ftand feſt, ja war am fefteften, al3 man Raftinfa
ſchon allgemein als eine Löwin im gewöhnlichjten Sinne des
Wortes betrachtete, al jeder Stuger ſchon wußte, daß ihr Wiffen
und Künfte Toilettgegenjtände und Mittel des Erfolges waren,
wie Kleider und Coiffuren aus Paris. Zwei Jahre vergingen io,
und ich glaubte noch im Befige meiner Frau zu fein, ala fie ſchon
mit allen Gedanken, mit ihrem ganzen Wefen der frivolen Welt
gehörte, die fie umgab, und als fie längft Vergleiche angeftellt
hatte, die nicht zu meinen Gunften ausfielen. Ich wollte wirk-
ih etwas thun, was nachträglich die fo früh und unverbdient
erworbene Stellung rechtfertige; ich machte militärifche und po=
litiſche Studien, ich arbeitete und gab fo den unzähligen Müflig-
gängern Raum und Zeit, meine Frau zu bejchäftigen.
Mein Benehmen fiel feinem Menfhen auf. Mein Gott! ich
that ja nur, was jo Viele thaten: ich beichäftigte mich mit meinen
ehrgeizigen Plänen und war froh, daß es Andere, daß e3 hundert
Anbeter übernahmen, meiner Frau die Zeit zu vertreiben, und
ih mußte mich noch beſonders glücklich jhägen, daß fih unter
diefen Anbetern ein Prinz befand, ein Brinz, der dem Throne
fehr nahe ftand, und jehr großen Einfluß hatte.
Lieber Doktor, erlaflen Sie mir die Erzählung Alles deſſen,
was ich eines Tages erfuhr, als ich einem Freunde meinen
Wunſch nah einem gewiſſen Kommando in Ajien zu erfennen
gab und er mir antwortete, der Prinz werde meiner Frau nichts
abjhlagen. Am jelben Tage wurde der Prinz von mir geohr:
feigt, und da ein Prinz ſich nit ſchlägt, fuhr ich noch jelben
Tags in demſelben Schlitten mit meiner Frau aus der Rejivenz
den Steppen zu. Ich war allein mit ihr und ich kutſchirte felbit;
ih konnte mir die Genugthuung nicht verfagen, fie perſönlich
ihrem Erile und der Hölle, die ich ihr ausdachte, zuzuführen.
Ich mußte noch nicht, was ich thun mollte, aber jo etwas wie
An der Spielbant. 227
die Gefhichte, auf die Dante anfpielt, ſchwebte meinen Gedanken
vor. Sie erinnern fi der Pia dei Tolomei, die ihr beleidigter
Gatte in die Sümpfe der Maremmen führt, um fie dort an den
Fieberlüften zu Grunde gehen zu lafjen. Ich war um fo grau—
ſamer geftimmt, al3 die Ueberzeugung von meinem Unglüd fo
plögli, jo ohne alle Vorbereitung kam.
Wir fuhren volle zwölf Tage dur ſchauerliche, minterliche
Ginfamtleiten dahin, dur Schneeftürme, die und zu begraben
drohten, über gefrorene Flüffe und Seen, dur Gegenden, die
felbjt der Wolf nicht bevölferte und durch andere, die nur er
aufſucht. Wir faßen in dem Eleinen Schlitten eng aneinander ;
unfere Ellenbogen berührten fi, aber nicht ein einziges Wort
wurde während der ganzen Reife gewechjelt, vielleicht nicht ein
einziger Blid. Am breizehnten Tage traten wir in ein altes,
großes Holjgebäude, das man Schloß nannte und das ich feit
meiner frübeften Jugend nicht wieder gejehen hatte. Es war
mein Eigentum, aber außer aller Welt, in vergeflener Gegend
liegend und zu einem Gute gehörend, das man als uneinträg-
lich vernachläſſigte, war ich nie verſucht, hierher zurüdzufehren.
In meiner Erinnerung war mit dem Schlofje ein Dorf verbunden,
aber als ich mit meiner Frau dafelbit anfam, war von dem Dorf
faum eine Spur vorhanden. Die Leibeigenen hatten den undant:
baren Boden verlaffen und waren mit Erlaubnißfcheinen in vie
Städte gezogen, um als Handwerker zu leben. Das Schloß ragte
als ein halbvermitterter und verfaulter Würfel ſchwarz und einfam
aus der unendlichen jchneebevedten Ebene hervor und war nur
von dem alten Intendanten, der bier noch den Reſt jeiner Tage
verleben wollte und einigen leibeigenen Dienern und einer Unzahl
von Wolfshunden bemohnt. Dort ſchlug ich meine Refidenz auf.
Was ich dajelbft wollte? Auf dieſe Frage wüßte ich noch
beute feine genaue Antwort zu geben. Wollte ich meine Frau
an Langeweile jterben lafjen ? wollte ich fie nur einer Buße unter-
werfen, um fie, die ich noch immer liebte, eines Tages gereinigt
und nad gefühnter Schuld wieder an mein Herz zu drüden?
2283 Novellen.
Sch weiß es nicht. Bald war die eine, bald die andere Abficht
in mir vorherrſchend, je nachdem ich an die glüdlichen mit ihr
verlebten Tage oder an ihren Berrath dachte. Und Tage, Wochen,
Monate vergingen und ich wußte noch immer nit, warum ich
mich mit ihr in dieſe Einfamfeit vergraben hatte. Ich ließ die
Zeit tonlos dahinſchwinden und gedankenlos die Zulunft heran:
fommen. Die einzige Abwechslung, die ich mir geftattete, war
ein Ritt auf wildem Steppenpferbe; doch entfernte ich mich nie
vom Schlofje, fondern zog in weiten und engen Streifen rings
umber, wie ein Wächter, der einen Schag bewacht oder ein wildes
Thier, das feine Beute niederreißt.
Die Gräfin verließ nie die ihr angewiefenen Gemächer. Sie
batte ſich dieſe Lebensweiſe ſelbſt vorgefchrieben, ohne daß ich ihr
oder der Dienerſchaft eine dahingehende Anmweifung gegeben hatte,
Sie fpeiäte auf ihrer Stube, während ich unten im alten Speifes
ſaal meine kurzen Mahlzeiten hielt. Die einzige Gefellfchaft, die
fie während dieſer Zeit juchte, war die des Drtögeiftlichen eines
benachbarten Dorfes, den fie einladen ließ, und der zwei: bis
dreimal in der Woche kam. Ich glaubte damals, fie wollte fromm
werden, aber das Ganze jchien nur eine vorübergehende Grille,
denn die Bejuche hörten bald wieder auf. Wir fahen uns, wir
ſprachen und nie. Nur eine Tages, nad einem beinahe zwei—
jährigen Aufenthalte im Schlofje, der mir bald wie eine furze
Moche, bald wie eine Ewigkeit erfchien, an einem Herbitnachmittage
ftand fie plöglid im Hofe vor mir, ſah auf den Boden und
fragte mit zitternder Stimme: „Wird das noch lange dauern?”
Sch war erfhüttert und unfähig, ein Wort hervorzubringen,
wohl aber fühlte ih, daß mit dem erften Blid aus meinen
Augen ein Strom von Thränen hervorbrechen würde. Ich
mandte mich um und floh ins Schloß zurüd, konnte aber nicht
umbin, ih mußte fie durchs Fenfter, hinter der Jalouſie ver:
ftedt, betrachten. Sie ftand lange auf derſelben Stelle, bi3 fie
eine Bewegung machte, al3 ob fie nad) reiflihem Nachdenken zu
einem Entſchluß gelommen wäre und rafchen Schritte in die
An der Spielbant. 2929
Wohnung zurüd ging. E3 flog mir der Gedanke durch den Kopf,
daß fie ihrem elenden Dafein ein Ende machen konnte, und in
höchſter Aufregung ftürzte ich ihr nah, um fie an mein Herz zu
drücken, um mich mit ihr zu verfühnen und ein neues, vielleicht
noch glüdliches Leben zu beginnen. Aber im Korridor vor ihrer
Stube angefommen, hörte ih ihre Stimme: fie fang, fie
trillerte! — Die Stubenthür war offen; mein Auge durchflog
den Raum und ich fah mit Staunen alle Wände mit neuen
Landſchaften bevedt und in ver Mitte des Zimmers eine Staffelei
mit einer neuen Arbeit.
Das Alles machte mir den Eindrud der Herausforderung,
der Verhöhnung. Sie hatte ſich alfo nicht einmal gelangweilt
und fie war nicht beftraft, ich war nicht gerächt. Sie hatte die
Ruhe des Schaffens und die Freuden des Vollendens, während
ih, ihr Richter, in ihrer nächften Nähe ein leeres, ruhe» und
freudenlofes Leben binfiechte. Ich fühlte mich gebrochen und jede
Möglichkeit fünftigen Glüdes untergraben — und fie fang, fie
trillerte, und während ich erftarrt vor der Thüre hielt, jtand
fie mit dem Pinfel in der Hand, immer noch fingend, wieder
vor ihrer Arbeit, vor ihrer Freude. Nur noch einen Grad höherer
Aufregung und ic wäre hingeftürzt und hätte roh und barbariſch
gegen all’ diefe Bilder gemwüthet. Aber ich war ein gebildeter
Menſch und Hamletiſch eilte ich in die Steppe hinaus, um über
das neue Erlebniß nachzudenken.
Woher und wie hatte fie ſich die Mittel verfchafft, um diefe
neue Welt um ſich herum aufzuführen? Woher Pinfel, Farben,
Staffelei, Leinwand? Es war unter meiner Würde, bei ber
Dienerſchaft Erfundigungen einzuziehen, deſto lebhafter bejchäf:
tigten mich dieſe Hleinlihen Fragen ſowohl wie das MWichtigere,
das mit diefen zufammenhing. Bor Allem erfehien mir Naſtinka
als eine höchſt durchtriebene Betrügerin, da fie jo Vielerlei
binter meinem Rüden zu Stande bringen konnte, nad und nad)
‚aber erſchien mir die ganze Sache in einem ganz andern und
verjchiedenen Lichte. Nur wenige Tage vergingen und ich konnte
230 Novellen.
an da3 mit Bildern bededte Zimmer nicht ohne Rührung denken.
In ihrem Unglüd hatte fie ſich zur Kunjt geflüchtet und das
Schöne gerettet. Durch beinahe zwei Jahre war fie in voller
Einſamkeit nur mit künſtleriſchem Schaffen beſchäftigt, führte fie
ein Zeben, das von dem Refidenzleben jo unendlich verſchieden
war. Es muß ihr fein, als läge ein Jahrhundert zwiſchen jet
und der Zeit, da fie mich und fich felbit vergaß; es muß ihr
feinen, al3 wäre fie nicht diefelbe Perſon, vie fih an meiner
Liebe fo ſchwer vergangen; fie begreift jegt jelber nicht, wie fie
fih den Frivolitäten des Lebens hat fo hingeben können, va fie
deſſen tiefere Freuden kennen lernte, denn was gibt tiefere Freu:
den und mehr veredelnde, ald Schaffen und Hervorbringen des
Schönen? Hat fie dur die lange Haft nicht ihre Schuld ge-
fühnt? Iſt fie durch ein folches Leben nicht geläutert und ge:
reinigt? Gewiß, fie fühlt, daß fie es ift und daß nad Gere:
tigkeit ihre Strafe ein Ende haben müfje und das hat ihr ven
Muth gegeben, jene Frage, ob dieß Leben noch lange dauern
folle? an mich zu richten. Mag die Welt fih ewig eines be-
gangenen Fehlers erinnern, der Einzelne joll nicht nur verzeihen,
er joll auch vergefien. Ya, ich mollte jtarf genug werden, um
einer auf volllommenes Bergefien ruhenden Vergebung fähig zu
fein. Der Entſchluß that mir wohl, ftimmte mich milder und
erfüllte mich mit einer Art glüdlichen Gefühles, wie ich es lange
nicht gefannt hatte. Einzelne Erinnerungen, einzelne Ueberreite
bitterer Empfindung, die ich von Zeit zu Zeit noch in mir ver:
jpürte, wollte ich erft ganz verwifcht haben, dann zu ihr eilen
und mic aufs Neue mit ihr vermählen. Ich fühlte, daß ich es
mit der ganzen Innigkeit eines liebenden Bräutigams thun
werde, mit eben folder Innigkeit und Aufrichtigfeit wie jener '
gekränkte Ehemann in der altengliihen Tragödie von Thomas
Heymwood fi auf3 Neue mit feinem Weibe auf dem Todtenbette
vermählt, auf das fie, von feiner Güte zu Tode gevemüthigt,
gejunfen war. Der Geburtstag meiner Frau war nahe; an diefem
Tage wollteich fie und mich dem Leben und dem Glüde wiedergeben.
Un der Spielbanf. 931
Der Tag brad an, Mit ver erften Frühe ftand ich an ihrer
Thüre und — mein Gott! — mit welhem Gefühle, in welcher
feligen Aufregung. Ich glaube, daß ich nie fo glüdli war, fo
tief durchdrungen glüdlih, wie in jenem Momente, weldhem
fofort die furchtbarſte Enttäufhung folgen ſollte. Ich trat ein,
fie war fort. Sie war nicht in der Stube, nicht im Haufe, nicht
im Garten, fie war entflohen.
Ich habe fie nicht verfolgt.
Kurz darauf begannen meine Wanderungen über die Erbe,
auf denen ich Sie kennen lernte, und die Sie zum Theil mit mir
machten. Was die Gräfin betrifft, fo erfuhr ich denn von Lands:
leuten, die mich nicht fannten und die mit mir von ihren Aben-
teuern ſprachen, daß fie allein zu Pferde die unendlichen Steppen
und Wüfteneien durcheilte unter allerlei Drangjalen und Ent:
behrungen, bis fie nad beinahe einem Monat und unzähligen
Grlebnifjen in Petersburg anfam. Sie befchrieb fpäter dieſe
Flut, die meinen Landsleuten um fo intereflanter erſchien, ala
die Beihreibung in franzöfiicher Sprache und in einer Barifer
Nevue erfhien. Dieß mar genug, um fie zu einer Heldin zu
machen und ihr, wenn auch außerhalb der Gefellichaft, eine ge:
wifle Stellung zu verſchaffen. Sie war das Ziel der Neugierde
geworden und bald der Mittelpunkt eines großen Männerfreifes,
in dem ſich Viele fanden, die ſich gerne zu ihren Rittern auf:
warfen. Unter dieſen begünftigte fie einen Franzofen, der unter
dem Vorwande legitimiftifcher Treue nach der Yulirevolution an
den Hof Rußlands kam, um fein Glüd zu maden. Er erwartete
vom Kaiſer Nikolaus irgend eine glänzende Stellung; bis dieſe
fam, bejhäftigte er fi mit Plänen zur Eroberung und gänz—
lihen Unterwerfung des Kaukaſus, faßte dahingehende Memoiren
ab und überreichte diefe dem Kaifer und den Miniftern. Zu
gleiher Zeit trieb er fih durch alle Geſellſchaften und fpielte
jehr hoch, ohne daß man hätte beftimmen können, woher er bie
Fonds zu diefem Leben auftrieb, da er nicht immer gewann und
jein Vermögen, wie er fagte, durch die Julirevolution zu Grunde
232 Novellen.
gegangen war. Aber er war eine glänzende und ſchöne Erſchei—
nung, geijtreih, was man in der Geſellſchaft fo nennt, und ein
vollendeter Weltmann. Da er der begünftigte Ritter der Gräfin
war, hatte er bei ihrer zweideutigen Stellung bald Gelegenheit,
für fie einzutreten und fich für fie zu fchlagen. Dieß benupte
man bei Hofe, wo er längit läftig geworden war, um fich feiner
zu entledigen und ihn aus dem Lande zu fchiden. Er duldete
für die Gräfin und es fohien ihr nur natürlib, ihm ins Aus-
land zu folgen.
Mit viefem Manne durchreiste die Gräfin Deutfchland,
Frankreih, Stalien. Weber da3 Leben, das fie während dieſer
Zeit führte, weiß ich nur wenig; ich habe mid) felten danach er—
fundigt; ich weiß nur, daß fie fih nah Jahren, nachdem er fie
um ihr halbes Vermögen gebracht, von ihm trennte und daß fie
jeitdem allein von einer Spielbank Deutſchlands zur andern
reiste. Am grünen Tiihe fand fie ihren ehemaligen Begleiter
manchmal wieder, denn jeit er nicht mehr über ihr Vermögen
verfügen fonnte, hatte er ji ganz auf da3 Spiel, al3 auf einen
Erwerb geworfen und ift endlich Croupier geworden. Der Mann
mit grauem, feinem Badenbart, den Sie heute die Bank halten
fahen und ver e3 mit fo großer Würde thut, ift fein Anderer
al3 der ehemalige Ritter meiner Frau, der Vicomte de S...,
der in Petersburg eine Rolle fpielte und hunderte von Damen
herzen gewann. Wohin es mit meiner Frau gelommen, was
aus ihr geworden, darf ich Ihnen nicht erjt jagen. Sie haben
fie heute am Spieltifch gefehen. ch fah fie feit mehr als fünf-
undzwanzig Jahren zum erften Male wieder — und mie! in
welchem Zujtande! nad welcher Veränderung! Sept begreifen
Sie die Aufregung, in der Sie mich gefunden haben.
Nun aber will ih den Kellner rufen und ihm fagen, daß
er meinen Namen nicht in die Kurliſte fee. Mit dem früheften
Morgen reife ich wieder ab. Ich gehe nad) Aegypten und Nubien.
Wollen Sie mich wieder begleiten, follen Eie willkommen fein.
Zwanzig Millionen,
Erftes Kapitel.
In den Runftausitellungen gibt e3 immer ein hintere Ge—
mach, gewöhnlich das jehlechtefte und mindeft gut beleuchtete des
ganzen Gebäudes, in welchem Aquarelle, Baftelle, Delbilver,
Beihnungen, ordnungslos und offenbar mit geringer Rüdficht
auf die Verfertiger derfelben aufgehängt find. Die mit der Topos
graphie der Ausftellung vertrauten Bejucher gehen gewöhnlich
an dieſem Gemache vorbei, nachdem fie es einmal beſucht, oder
fehren nur dahin zurüd, um ſchlechte Wiße zu machen, oder um
einem Bekannten etwas Lächerliches zu zeigen; am liebjten aber
fchleihen an diefem Gemache die Künſtler ſelbſt vorbei, deren
Werke dort ausgeftellt find; das Gemach ift gewiſſermaßen ein
Pranger. Wer dort prangt, ift, wenigſtens für dieſes Jahr der
Ausstellung, verurtheilt, denn dorthin werden eben nur die
ſchlechteſten Bilder gehängt. Diefes Zimmer heißt in der Kunit-
fpradhe, oder wenigſtens in der Atelierfprahe mander Städte,
die Spedfammer. Cine ſolche Speckkammer befigen wir, —
mögen mir die Anatomen verzeihen und die Pſychologen e3 mir
bezeugen — eine ſolche Spedfammer befigen wir alle in unjern
Herzen, Alle — ich, der ich diefe Gefchichte ſchreibe, du, Leſer,
der fie liest und alle Diejenigen, die fie nicht lefen. In den
vorderften Kammern, die wir Jedermann zur Schau jtellen, und
durch die wir in den glücklichſten Stunden am Liebften luftwandeln,
hängen die ſchönſten Bilder der Erinnerung, Portraits, biftorijche
234 Novellen.
Bilder, Stillleben, Joyllen, Bilder jeder Art — aber in jener
verborgenen Kammer hängen die häflichen Bilder, bei deren An-
blid, wenn wir nothwendig durch müſſen, wir und mit der Hand
über die Stirn fahren, als ob wir von einer Leinwand, von
einer Gedenktafel oder vergleihen, etwas wegwiſchen wollten.
Glüdlih, wer nur eine Heine Speckkammer befigt. Wenn er klug
ift, zeigt er fie, und er kann ficher fein, daß er fie Einem zeigt,
der ebenfall3 eine befigt. Welcher Menſch hatte nicht ſchwache
Momente! ja gemeine, ja niederträhtige Momente!
Ich bin ein Menſch, ver heute eine ſehr geadhtete Stellung
einnimmt, ich erfreue mich eines fehr guten Rufes, ich habe viele
Freunde und Jedermann wird behaupten, daß ich ein langes,
fledenlojes Leben hinter mir habe, und man wird Iegteren Um—
jtand befonders hervorheben, da man weiß, daß ich in der Yu:
gend und im männlihen Alter mit Hinderniffen zu kämpfen
hatte, mit Noth, Elend und Neid, an denen, wie Kleiderfegen
an Dornen, oft die beiten Stüde des Charakters hängen bleiben.
Niemand ahnt, daß ich meine Spedfammer habe, ganz wie ein
Anderer — und fonderbarer Weife danke ich das häßliche Bild
in dieſer Spedlammer meiner vortrefflihen Mutter. Sie ift die
erfte Urſache, daß ich mich lange, lange mit einem Gedanken,
mit einem Plane getragen, dem alle meine Grundfäge wider:
ſprachen, daß ic an mir felbjt einen Verrath beging, mit einem
Worte, daß ich gemein war.
Nah der Anficht der guten Frau befaß ich ſchon mit meinem
zwanzigiten Jahre Alles, was einen trefflihen und glüdlichen
Menſchen machen kann, eine einnehmende Erſcheinung, ein em:
pfängliches Herz, einen gebildeten Geift, ein heitered Gemüth,
kurz alle Eigenſchaften, die eine Mutter an einem erträglichen
Sohne entdedt — nur Eines fehlte mir: Reichthum! Sie glaubte
zwar nicht, daß hunderttaufend Thaler Nenten eine nothwendige
Bedingung des Glüdes feien, fie mußte es, daß es auch ein fehr
idyllifches, darum nicht minder tiefbegründetes Glück geben fünne,
da fie felbft ein foldhes an der Geite meines PVaterd dur
Zwanzig Millionen. 235
ungefähr zwanzig Jahre genoſſen und fi noch ala Wittwe mit
dreihundert Thaler Gehalt glüdlih fühlte; aber welche Mutter
wünſcht ihrem Kinde nicht noch mehr Glüd, als fie ſelbſt fennen
gelernt? und fie dachte, befjer ift befjer und ficherer iſt ficherer.
Am Ende könne man ja, wenn man die Neigung habe, felbft mit
großer Rente ein ivyllifches Leben führen, ohne große Rente aber
fönne man Vieles nicht thun, was man vielleicht ja gerne thun
möchte. Und das Geld ift eine fo gewaltige Mat! Wie viel des
Guten kann e3 bewirken, wenn e3 in die rechten Hände gelangt!
Sie zmweifelte übrigens nie daran, daß ſich eine ungeheure Erbin
eined Tages in meine ausgezeichneten Eigenſchaften verlieben
werde. Als ich vierundzwanzig Jahre zählte, und zu meinen
ausgezeichneten Eigenfchaften noch die erjten Keime eines künftigen
Nufes, vielleiht Ruhmes al3 eines Gelehrten famen, war fie
erftaunt, daß ihre Hoffnungen ſich nicht ſchon verwirklichten. In
dem Heinen Landſtädtchen, in welchem fie ihren Wittwengehalt
verzehrte, erwartete fie jeden Pofttag einen Brief, der den Poit:
ftempel der Univerfitätzftadt trüge und ihr die endliche Erfüllung
ihrer Wünſche verfündigte.
Sonverbarerweife follten die Dinge eine Wendung nehmen,
wie fie die gute Mutter in der Einſamkeit ihres Städtchens aus:
geträumt hatte,
Ich bewohnte die Univerfitätsftadt, welche zugleich ein großer
literariiher Mittelpunkt war, und arbeitete fleißig an einem
biftorifhen Werke, das den Ruf, den ich mir mit einem erften
Buche bereit3 erworben, befeftigen, wo möglich vergrößern, und
mir endlich ein gutes Stüd ſoliden Brodes, ich meine eine Pro:
feflur, einbringen follte. Eines Tages, da ich eben über meinen
Büchern und Notizen faß, bringt mir mein Dienftmäbchen ein
kleines Briefchen, das fo lautete: Dr. Edmund Born.
Lieber Freund!
Kommen Sie heute, ohne Umftände, auf einen Löffel Suppe.
Mir haben einen lieben Gaft, eine Freundin meiner Tante,
236 Novellen.
Fräulein Zelinde Heil, eine ſehr liebensmwürdige, alte Jungfer,
die viel gejehen, viel zu erzählen weiß und Ihre Bekanntſchaft
zu machen wünſcht. Seien Sie liebenswürdig mit ihr. Hören
Sie? — fehr liebenswürdig. Mündlich werde ich Ihnen jagen,
warum ich Ihnen das empfehle und zwar auf die dringendite
Weiſe. Wir eflen heute um zwei Uhr. Alfo auf baldiges Wieder:
fehen
6. September.
Clara Micheljen.
ALS ich das Briefhen erhielt, war Mittag bereit3 vorüber;
das Landhaus der Hofräthin Michelfen lag wohl eine halbe
Stunde vor der Stadt; ich hatte alfo nicht viel Zeit, mich in
Staat zu werfen. Das beunruhigte mich nicht; die gute Freundin
meiner Mutter und meine vortrefflihe Gönnerin nahm e3 mit
mir nicht genau. Ich Eonnte bei ihr erfcheinen wie ich wollte;
außerdem handelte es ſich ja um eineimprovifirte Einladung aufs
Land, und die Fremde war eine alte Jungfer. Auch gehörte ich
zu der Klafje der eleganten jungen Gelehrten und brauchte mic,
um unter Menjchen zu geben, nicht erjt von Monate altem Bücher:
ftaub zu reinigen und Kleider bervorzufuchen, die nur für Be
ſuche bei Regierungsgräthen und Miniftern beftimmt find.
Im Landhauſe der Hofräthin Michelfen, die mich mit ge:
wohnter Freundlichkeit und einem ungewohnten, räthjelhaften
Lächeln, zugleich mit einem, meine ganze Berfon prüfenden Blicke
empfing, fand ich, nebft der zahlreihen Familie, nur noch einige
alte Belannte und jenes befagte Fräulein Zelinde verfammelt.
Dieje gehörte zu den abgerundeten, lächelnden alten Jungfern
mit vollen, immer noch jugenvlich gerötheten Wangen; ihr Ge:
iht war voll Wohlwollen für alle Welt, beſonders, , wie es jchien,
für die Jugend, die fie nicht haßte, weil fie nicht mehr zu ihr
gehörte; fie war eine jener umverheiratheten Matronen, die bei
erfter Bekanntſchaft immer überrafhen, weil fie alle Vorftellungen,
die man einer alten Jungfer entgegen beweist, auf das An-
Zwanzig Millionen. 237
genehmite Lügen trafen und denen man, dankbar für die erlebte
Enttäufhung, deſto rafcher und deſto lieber mit Freundſchaft
entgegenfommt. Als ich eintrat, war fie eben in ein Gefpräd
verwidelt, aber fie brach e3 fofort ab, al3 mein Name genannt
wurde, um mich mit Neugierde zu betrachten; ſpäter bemerkte ich,
daß fie, immer mich beobachtend, während ich mit Andern ſprach,
unmillfürlih eine billigende, ja beifällige Bewegung mit dem
Kopfe machte. Bevor man zu Tiſche ging, ftreifte die Hofräthin
an mir vorbei und flüfterte mir zu: „Geben Sie der Fremden
den Arm!" — Ich that es ohne jene Verdrießlichkeit, mit der
man derartigen Anmeifungen ver Frauen vom Haufe nadhzus
kommen pflegt, welche bei ſolchen Gelegenheiten den Freunden
gewöhnlich die unangenehmiten Pflichten ver Höflichkeit zumuthen.
Fräulein Zelinde, meine Tiſchnachbarin, war jehr geſprächig;
aber ich fühlte jehr wohl, daß fie es nicht mit altjüngferlicher
Geſchwätzigkeit war, oder um Willen und Geiſt auszukramen;
e3 mar ihre offenbare Abfiht, nur mich mittheilfam zu machen,
um mic weiter fennen zu lernen. Zu diefem Zmede ſchlug fie
die verfhhiedenften Saiten an, und ſprach fie unter Anderem auch
von meinem Buche, das fie fannte und fragte fie nach den Ar:
beiten, die mich eben befchäftigten. Ich ließ mich mit Vergnügen
verhören und gab gerne ausführliche Antworten; denn die ganze
Art und Weife der guten Dame, wie das Intereſſe, mit dem
meine liebe $reundin, die Hofräthin, manchmal zu uns herüber:
jhielte, fagte mir, daß hinter all’ dem etwas mir Günftiges
ſtecken müfle.
„Ihr Name,” fagte Fräulein Zelinde, an das Gefpräch über
meine Arbeiten anfnüpfend, „wäre mir auch ohne Ihr Buch nicht
unbefannt geweſen. Die Baronefjen von Friedendborg haben mir
mehr als einmal von den fhönen Stunden erzählt, die fie mit
Ihnen verbradten. Sie denken mit Vergnügen daran, wie —“
„Die Baronejjen Friedensborg ?” fragte ich erftaunt.
„Gewiß,“ bejtätigte Fräulein Belinde, „fie haben Sie nicht
vergeflen.”
238 | Novellen.
„Dich — nicht vergefien?” fragte ich wie vorher. „Das muß
ein Irrthum fein. Mein Fräulein, Sie verwechleln mich wohl
mit Jemand anderm ?“
„Sind Sie nit Dr. Edmund Born
„Ganz richtig.”
„Haben Sie nicht vor zwei Jahren eine Rheinreife gemacht
und zwar an Bord des Rubenz ?“
„Sben fo richtig.”
„gaben Sie niht an Bord des Rubens die Bekanntſchaft
dreier liebenswürbiger junger Mädchen gemacht ?"
„Rein! — ich erinnere mich nicht !"
Fräulein Zelinde ließ Mefler und Gabel fallen und machte
ein Geſicht wie ein Menſch, der eben eine große Täufchung er=
lebt, oder einen ganzen liebgemonnenen Plan in Scherben gehen
fieht. Sie flößte mir wahrhaftes Mitleid ein, und ich hätte mas
darum gegeben, wenn ich mich befagter Baronefjen hätte erinnern
fünnen, und dieß um fo mehr, als die gute Dame nit nur
chmerzlich getäufcht, fondern fogar.beleidigt ſchien. Darum fragte
ich weiter: „Woher waren diefe Baronefjen von Friedensborg?“
„Aus Kopenhagen !” fagte Fräulein Zelinde und ſah mid
faum mehr an dabei.
„Aus Kopenhagen!” rief id, „& la bonne heure!“
Auf diefen Ausruf wandte fih die gute Dame wieder mit
einem Blide frifcher Hoffnung zu mir: „Alſo Sie erinnern fi?
Sie hatten nur den Namen vergeflen?“ fragte fie haſtig.
„Ich erinnere mich eines alten Herrn aus Kopenhagen —
ein Heiner Mann mit grauem Badenbart und dichten, fehr feinen
weißen Haaren.”
„Das ift der Vater, Baron von Friedensborg!“
„Ja,“ jagte ih, indem ich mir die Stirn rieb und mein
Gedächtniß aufmühlte — und ohne laut ſprechen zu wollen, fügte
ich hinzu: „ein Emporlömmling ?”
„Sin jehr ehrenwerther Mann! ein ausgezeihneter Mann!“
fiel mir Fräulein Zelinde ins Wort, fehr gebrüdt und fehr raſch,
Zwanzig Millionen. 239
wie um mich zurecht zu weiſen und die beleidigende Bezeichnung
mit lebenden Ausdrücken zu deden.
„O mein Fräulein, mißverftehen Sie mich nicht; ich wollte
mit dem Wort nichts Beleidigendes jagen. Herr von Friedens:
borg bat den Ausdrud ſelbſt von ſich gebraucht; das fiel mir
damals auf als ein intereffanter Charakterzug, und fam mir das
ber zuerft ind Gedächtniß und auf die Zunge. Auch will ich dar
mit nicht3 Böſes bezeichnen. Ich kenne ſehr gut die Fehler und
Lächerlichleiten der Parvenus, aber ich finde fie meift nur in der
zweiten Generation, in den Kindern der Parvenus; dieſe felbit
flößen mir meiſtens einen gewiflen Refpelt ein. Man kann ficher
jein, daß ein Mann, der aus dem Nichts ein Vermögen fchafft,
ein Mann von Geift, von Charakter und Ausdauer und von
unendlichen Hülfsmitteln fein muß, und wenn unter diefen Hülfs⸗
mitteln feine niedrigen find, verdient ein folher Mann alle Ad:
tung, unter Umjtänven felbft unfere Bewunderung.”
„Sin folder Mann ift der Baron Friedensborg,” verficherte
Fräulein Zelinde.
„Als ein folher erfchien er auch mir; ich bemunderte feinen
Beritand, feinen gefunden und geraden Sinn; ich war erftaunt
über die Maſſe von Erfahrungen, die ſich in diefem Kopfe ge
jammelt, und die merkwürdige Einfachheit des ganzen Weſens,
das er fich bei einem in den verfjchiedenften Berhältniffen bewegten
Leben zu bewahren wußte. Wa3 mir aber an dem Manne am
meiften gefiel, war feine Freude an jedem Fortjchritte, eine Freude,
die wenige Menjchen in feinem Alter zu empfinden vermögen,
und endlich feine Achtung für Bildung und Wiſſen.“
Das Gefiht der ältlihen Dame heiterte fi während dieſer
meiner Rede wieder auf.
„Sie haben den alten Herrn verſtanden,“ ſagte fie befriedigt;
„wie Sie ihn hier ſchildern, fo ift er in der That, und gerne fieht
man bei ihm über mande Eigenjchaft des Parvenus hinweg, ja
man vergißt fie endlich gänzlich feiner wahrhaft großen Tugenden
wegen; ja, was mehr ift, man vergißt bei ihm, daß er vielleicht
240 Novellen.
bundertmal Millionär ijt. Ich Iobe ihn gerne, aber noch lieber
höre ich ihn loben. Er ift mein edler Freund, und feine Familie
trachtet mich als zu ihr gehörig. ch habe die jungen Baroneflen
alle erzogen, ich war wie ihre Gouvernante, und Sie werden
zugeben, daß ich Urſache habe, auf fie ſtolz zu fein.“
Da3 war eine neue Verlegenheit. Ich konnte der alten Gous
vernante fein Kompliment machen, denn ich erinnerte mich nur
dunkel, daß der alte Herr auf dem Dampfſchiffe von einer zahl-
reihen Dienerfhaft und einigen jungen Mädchen in Sommer:
hüten und grünen Schleiern umgeben geweſen. Sie fchüttelte
den Kopf und ſagte: „E3 ijt verbrießlih, daß ich Ihnen ver:
rathen, in meld’ gutem Andenken Sie bei den jungen Damen
ftehen, während Sie ſich ihrer gar nicht erinnern. Sch habe die
guten Kinder fompromittirt. Vielleicht hätten fie Ihre Aufmerk:
ſamkeit wenigſtens als eine Seltenheit auf fich gezogen, wenn
Sie, Herr Doktor, gewußt hätten, daß jedes diefer Mädchen
wenigſtens zwanzig Millionen mitbelommt, denn ſolche Mädchen
befommt ein Mann Ihres Alters nicht alle Tage zu Geſichte.“
Ich lachte auf: „Sie irren, mein Fräulein, Ich bereiste da=
mal3 den Rhein, um römische Alterthümer aufzufuchen, und
diefe nahmen mein ganzes Intereſſe in Anſpruch, den Net des
Intereſſes, deſſen ich noch fähig war, nahm der alte Herr hin:
weg, von dem ich wußte, daß er Kaufmann und Rheder gemwejen,
und der fich do jo warm und förmlich nad Belehrung lechzend,
nah den Monumenten von Trier und Igel erkundigte.“
Fräulein Zelinde ſchien von diefer Antwort fehr befriedigt.
Am Ausdrude ihres Gefichtes nahm ih wahr, daß ich etwas
gejagt hatte, was ihr wichtig war. Sie verfank in Nachdenten,
aus dem fie erjt erwachte, als die Stühle zurüdgejchoben worden
und man fih vom Tifche erhob. Nachdem ich fie in das Wohn:
zimmer zurüdgeführt, wo fich ihr einige Verwandte des Haufes
näherten und mid von ihr trennten, winkte mir die Hofräthin,
die fih in die Ede an den Kaffeetifch geftellt hatte, und fragte
mich mit leifer Stimme: „Hat fie Ihnen etwas gefagt”
Zwanzig Millionen. 241
„Ber ?“ fragte ich zurück.
„Run, Shre Tiſchnachbarin.“
„Worüber? Sie mahen ein bedeutungsvolles Geſicht —
ich verſtehe Sie nicht.”
„Sie hat Ihnen alfo nicht3 gejagt,“ murmelte die Hofräthin.
„Sie haben ihr vielleicht nicht gefallen.” |
„Sehr möglich,“ fagte ih, gleichgültig die Achjel zudend,
Die Hofräthin verwies mir, den Kaffee einſchenkend, meinen
Leichtſinn. „Es handelt fih um nichts Kleines — es handelt ſich
um eine Heirath, und was für eine Heirath!”
„Dit wen? mit Fräulein Zelinde?“ rief ich mit komiſchem
Entjegen, daß die Hofräthin mit Kaffeejchenken einhalten mußte,
um ihren Tifch nicht zu beiprengen, da fie vor Lachen zitterte,
„Seien Sie fein Narr, Edmund, und jcherzen Sie nicht, wo
es fih um ein außerordentliches Glüd handelt, in der That, um
ein ganz außerordentliches Glück, um eine Partie, wie es deren
wenige in Europa zu machen gibt.”
„Ab, ich merke,” antwortete ih, „ih bin fünfundzwanzig
Jahre alt, da muß ich darauf gefaßt fein, daß mich alle Damen
meiner Belanntihaft unter die Haube bringen wollen. Das
würde mich nicht wundern, man fennt ja die Leidenſchaft, den
Verheirathungsfanatismus der Frauen, aber daß Sie, verehrte
Freundin, daran denken können, daß Sie mich jo wenig fennen,
um zu glauben, daß eine folde Art ver Verheitathung, dieſes
Partiemachen bei mir angebracht jei, das, ich geftehe es —“
„Schon gut,” unterbrad mich die Hofräthin, „wir fprechen
noch davon.”
Sie nahm eine Taſſe Kaffee und brachte fie ſelbſt vem alten
Fräulein, mit dem fie rafch einige Worte wechſelte. Als fie fi
ihr ab und mir zumwandte, ſah fie mich mit einem vorwurfövollen
Blide an, ven ich nicht verſtand. Ich war do, ihrem Wunfche
gemäß, gegen das Fräulein fo liebenswürdig gewejen, als es
mir möglid war. Aber ich veritand fie halb und halb, als fie
mir im Borbeigehen fagte: „Sie find ein ungefdhidter Menſch.
Morig Hartmann, Werke VI. 16
242 Novellen,
Eich nad) zwei Jahren eines alten Vaters und nicht dreier Töchter
zu erinnern, deren Eine man jogar erobert hat! Sit das je vor:
gefommen ?”
Nah einer Stunde war mir Alles um mich her räthjelbaft;
jegt fing e3 an, in meinem Kopfe zu tagen, oder wenigitens zu
dämmern. E3 war zwifchen ven beiden Damen wohl ausgemadt,
daß ich eine der zwanzigfahen Millionärinnen, deren ich mid
ganz und gar nicht erinnerte, heirathen jollte. Eine verjelben
hatte ich, der Himmel weiß wie? erobert. Der Gedanke jchmei-
helte mir außerordentlih, zum Theil wegen der Eroberung an
und für fih und zum Theil wegen der zwanzig Millionen. Zus
gleich mit dem Gedanken an dieje ſchöne runde Summe flog mir
der Gedanke an meine gute Mutter dur den Kopf; ich ſah fie
vor mir, wie jie bei der Mittheilung, bei der Nachricht von einer
ſolchen Heirath felig, überjelig lächelte und viejes Lächeln trat
auf meine eigenen Lippen. Ihr Traum verwirflichte ſich auf eine
mehr al3 glänzende Weiſe! ch hatte in der That einen von
Glück gejättigten Moment; aber die Wolfe, die ihn verbüftern
follte, ließ nicht lange auf fih warten, denn jenem glüdlichen
Gedanken folgte bald der beleivigende, empörende: die mir Zu:
gedachte ift wohl ein Scheujal, irgend ein Ausbund von Häß—
lichkeit! Dieje alte Jungfer reist, um irgend einen armen Teufel
auszuſpähen, der ein joldhes mit zwanzig Millionen gerne in den
Kauf nimmt. Wenn dem nicht jo wäre, wozu braudte man die
alte Gouvernante zur Aufjuhung eines Bräutigam reijen zu
laſſen? Zwanzig Millionen haben faft genug Anziehungskraft,
um mehr freier herbeizuloden, als Venelope je bevrängten. Ich
war entrüftet und am tiefften empört gegen die Hofräthin, die
mich doch fennen und wiſſen follte, daß ich mich nicht jo ver:
faufe. Ich eiferte mit ihr und fagte höhniſch: „Die mir Zuges
dachte ſchielt, ift blatternarbig, kahl und hat zwei Budel!?“
Die Hofräthin verftand mich jchnell, ftand vom Stuhle auf,
faßte mih am Rockknopfe und fagte leife, aber mit Nachdruck:
„Sie ift Feine große Schönheit, aber fie ift hübſch, wohlgebilvet,
Zwanzig Millionen. 243
ſehr unterrichtet, fehr liebenswürdig, und hat das vortreffliche
Herz, das die ganze Familie auszeichnet !”
Dann feste fie ſich mwieder, ſprach mit Einem ihrer Gäite
und überließ mich meinem Nachdenken, da3 immer wirrer wurde
und grübelnder. Um ungejtört zu fein, zog ich mich in eine
Fenfternifche zurüd, wo ich durch einen Vorhang von der Ges
jellihaft getrennt war. In diejer Einſamkeit jah ich mich nad
wenigen Minuten, vielleiht Sekunden, in einem prächtigen
Landhauſe — ein Landhaus ſchien mir von jeher der wünſchens—
wertheſte Befig — in einem gewaltigen Bibliotheljimmer — in
der Mitte dieſes Bibliothekzimmers ein bequemer Bult mit Seiten
klappen recht? und links, auf dieſen große Bücherhaufen, und
vor dem Bulte jaß ich ſelbſt, angeblidt von marmornen Büften,
die auf den Bücherfchränfen jtanden. Hart an der Bibliothek —
ih ſah durch die offene Thüre hinein — mein Antiquitäten:
fabinet, ein wahres Mufeum, voll von griehifchen, römifchen,
etruskiſchen, ägyptifchen, ja aſſyriſchen Alterthümern. In einem
gemüthlihen Winkel des Landhaufes wohnte meine Mutter in
einer bequem eingerichteten Reihe von Zimmern. Gie trat in
meine Bibliothet und brachte mir mein Zehnuhrbrod, ganz wie
zu Haufe, wenn ich einige Wochen bei ihr zubrachte. Wie blü-
bend und wie glüdlich ſah die gute Frau aus; um zwanzig Jahre
verjüngt. Die gute Luft meines Landhauſes, am Ufer des Sees
oder großen Stromes und der Anbli meines Wohlftandes thaten
ihr fichtlih wohl. Dann war ich wieder fern von meinem Land:
hauſe; ich war auf Reifen, in Stalien, in Griechenland, in Rlein-
afien und Syrien, überall, wohin ich mich bis jegt vergebens
gefehnt hatte, auf allen Punkten, die mich hiftorifch intereflirten
oder deren Autopfie mich in meinen Arbeiten fördern konnte,
indem fie mir Volkscharaktere, Thaten und Ereignifje lebendiger
vergegenmärtigte. Aber Derjenigen, ver ich all’ das Glüd, all’
diefe Erfüllung meiner Wünjche verdankte, war in diefen ſchönen
Träumen nicht die geringfte Rolle zugedacht. Ich ſah fie nicht
im Landhauſe, fie faß nicht neben mir im Reifemagen, fie ritt
244 Novellen.
niht an meiner Geite. über das Schlachtfeld von Marathon.
Mie follte fie auh? Ich kannte fie ja nit; ich wußte nicht, ob
meine Freuden ihre Freuden, ob mein Glüd ihr Glüd fei. Ich
verglich dieſes mein vereinfamtes Leben, das ich fo eben im
Traume durchgemacht, gerade fo, als ob ich noch Junggeſelle
wäre, mit dem Ideale, das ich mir ſonſt von der Che gemacht,
diefe mir gleihgültige Perfon, deren Namen ich noch nicht einmal
wußte, mit jener geliebten Freundin, der ich Alles anvertraute,
mit der ich Alles genoß,- die fich in mich hineinlebte, meinen
Sekretär machte, fih an den jehönen Formen der Berge und
Buchten des Archipels, an den Säulen des Kap Kolonne-Sunium
mit mir freute, und — ich empfand den frühen Verluft einer fo
foftbaren Frau aufs Schmerzlichfte und — ih fam mir felbft
höchſt erbärmlic vor. An Alles hatte ich gedacht bei diefer pro-
jeftirten Heirath, nur nicht an meine Frau! Ich entvedte einen
ſchlechten Menſchen in mir, und war eben im Begriffe, mir diefen
ſchlechten Menſchen aufs Lebhafteite auszumalen, al3 die Hof:
räthin kam, fich über meine Zurüdgezogenheit und Verſenkung
in mich ſelbſt Iuftig machte und mich bat, mich meinen holden
Gedanken auf einige Zeit zu entreißen, um bie Gefellichaft
in den Garten zu begleiten.
weites Kapitel.
Als ich jpät am Abend das Haus der Hofräthin verlieh und
Fräulein Zelinde an ihr Gaſthaus begleitet hatte, fühlte ich mich
jo aufgeregt und von mir fo neuen Gedanken bewegt, daß e3
mir unmögli war, an die Arbeit oder zu Bette zu gehen. Ich
trat gegen meine Gewohnheit in eine Bierfneipe, in ver fi
meine Belannten, meift Dozenten, zu verfammeln pflegten.
Unter diefen fand ich dort einen Freund, einen Dozenten der
Chemie, der, nebenbei gejagt, feit Jahren fich mit einer Gefchichte
Zwanzig Millionen. 245
ver Alchymie befchäftigte, fih im Laufe der Zeit in feinen
Gegenftand fo vertiefte, daß er ſelbſt Alchymift wurde, an bie
Kunft glaubte, den Stein der Weifen fuchte, fih zu diefem
Zwecke auf Reifen begab, auf Reifen und in Erperimenten fein
Bermögen verpuffte, und dann eben zu Grunde ging. Diejer
Freund, der, wie man fieht, ſich ala Phantaft enthüllte und ſich
ind Verderben ftürzte, galt damals in unferm ganzen Kreife und
bei Allen, vie ihn fannten, für einen jehr praftifhen Mann,
und vor Allem für einen höchft vortrefflihen Rathgeber. Wie
alle Bhantaften und Theoretiker, hielt er fich felbit vafür, glaubte,
mit allen Freunden, daß er vor jeder Täuſchung und Träumerei
fiher fei, und daß er immer die wahrhaft nügliche Seite an
einer Sache, Gejhäft, Angelegenheit herausfinde, daß er das
„Poſitive,“ „Reale” aus jeder Schaale herauszufhälen wiſſe.
Mit diefem Freunde zog ich mid) in einen ftillen Winkel ver räu—
cherigen Stube zurüd und fegte ihm nach kurzer Einleitung bie
Pläne auseinander, die man mit mir hatte und bat ihn um
feinen praftifchen Rath.
„Greif zu,“ rief er mit Kraft, indem er das Bierglas er:
griff, „du märejt ein Narr, ein Phantaft, wenn du es nicht
thäteft und irgend welche theoretifche Bedenklichleiten in dir auf:
fommen Tießeft. Zum Teufel alle diefe Theorieen, melde die
modernen jchönen Seelen ausbrüteten!”
Dann, ala ob er fih der Leidenfchaftlichkeit ſchämte, mit der
er diefe Worte ausſtieß, ftellte er da3 Glas wieder hin, nahm
die Brille von der Nafe und fagte im ruhigften Tone: „Sieh,
mein Freund, du treibt Archäologie und Geſchichte. Noch
ſchwankſt du zwifchen Beiden, aber ich prophezeie dir, daß du,
wenn du erjt etwas älter und praftifcher geworden, dich für bie
pofitivere Geſchichte entjcheiden wirft. Nun kann man heute
unmöglich Gefchichte jchreiben, ohne Renten, ohne bedeutende
Renten; man faugt ſich heute nicht mehr die Gefchichte aus den
Fingern. Man muß reifen können, man muß fich in den ver:
ſchiedenſten Hauptſtädten ver Bibliothelen und Archive megen
246 Novellen.
aufhalten, man muß die Schaupläße ſehen und Sefretäre und
Kopiften bezahlen können. Man muß Jahre und Jahre ohne
Sorgen und Mangel vor fih haben, um zu fammeln und das
Gejammelte zu verarbeiten. Kannjt du das Alles ohne Renten?
Nichts Fannft du ohne Geld, nicht einmal [hör ſchreiben, denn
man fchreibt nur jhön, wenn man mit Ruhe jchreibt, wenn man
Beit hat, jein Manuffript vreißigmal über den Haufen zu werfen.
Man jagt, daß man dem Style ven Charakter des Schriftſtellers
anfieht: ich fage, daß man dem Style die Renten anfieht. Ren:
ten, mein Freund, Nenten! du haft offenbar Talent, aber nichts
wirft du leilten ohne Renten. Es iſt deine Pflicht, dein Talent
fruchtbar zu machen und etwas zu leiften, aljo ift es beine
Pfliht, Renten zu haben, oder, wenn du fie nicht haft, dir
ſolche zu verſchaffen.“
So ſprach mir der Chemiker noch lange. Er hielt es für
Pflicht, mir meine ſentimentalen Skrupel auszutreiben und er
brachte es wenigſtens dahin, daß ich mir ſagte, alle praktiſchen
Menſchen müßten eine Heirath, mie die projeftirte, gut heißen.
Freilih war mir noch nicht bewiefen, ob die praftiichen Menſchen
immer Recht hatten.
Fräulein Belinde blieb noch zwei Tage in der Univerſitäts—
ftadt und ih machte ihren Cicerone, da fie die Hofräthin in
meiner Gegenwart verficherte, daß ich e3 mit befonderem Ber:
gnügen thäte. Anfangs war ich etwas verbrießlic über das mir
aufgebürdete Amt, aber während unferer Wanderungen von
Merkwürdigkeit zu Merkwürbigkeit, gewann ich die alte Dame
mehr und mehr lieb. Sie war fo jung von Herzen, fo theilneb:
mend und empfänglic für alles Schöne, voll Wohlwollen für
Jedermann, und dabei, troß einer gewiſſen Würde, die ihr Aus:
drud und graue Haare gaben, ein guter Kamerad, der auch
einen Scherz verjtand und nicht im Geringſten prüde. Eine Ent:
deckung aber machte fie mir befonders lieb und erklärte mir zu—
gleih — abgefehen von dem Heirathsplan — die ungewöhnliche,
die auffallende Wärme, mit der fie mir von Anfang an entgegen kam.
Zwanzig Millionen. 247
Nahdem mir fhon Stadt und Vorftädte durchlaufen hatten
— am zweiten Tage unferer Wanderungen — an Gallerieen,
Monumenten und Sonderbarfeiten nicht3 mehr zu fehen mar,
jpazierten wir behaglihen Schritte durch die Anlagen, melde
die Stadt umgeben, und vertieften uns in eine Geitenallee, bie
in ein Wäldchen führt und in ihrer Fortfegung durch die Ein:
famfeit der alten Lindenbäume der Philoſophenweg heißt. Fräu—
lein Zelinde fegte fich auf eine der Raſenbänke, und faum hatte
ich neben ihr Plat genommen, al3 fie, und zwar vielleicht zum
jehsten Male feit zwei Tagen, wieder von meiner Wehnlichkeit
mit meinem feligen Vater zu ſprechen und mich zu vwerfichern be—
gann, daß fie ihn fehr wohl gekannt habe. Ich fah fie etwas er:
ftaunt an, denn die Hartnädigkeit, mit der fie ftet3 auf diefelben
Worte zurüdtam, ohne etwas hinzuzufügen, fiel mir auf und
brachte mich fogar in Berlegenheit, da ih am Ende auf diefe
Bemerkungen nur mit einem ftereotypen Lächeln zu antworten
wußte. Fräulein Zelinde aber war dießmal ausführlicher, und
al3 ob fie fühlte, was ich über diefe Art denken müſſe, ſagte fie:
„Ja, ich habe ihn gefannt und er fpielte eine große Rolle in
meiner Jugend!” dann ſchwieg fie einen Nugenblid und fügte
binzu: „Nicht nur in meiner Jugend, ich kann wohl fagen in
meinem Leben!”
Ich ahnte, was fommen follte, ob fie es nun ausſprach oder
verſchwieg. Aber fie verſchwieg es nicht: „Lieber Doktor,” fagte
fie, „ein halbes Jahrhundert ift über mich dahingegangen, und
mehr als ein ganzes Jahrhundert fcheint es mir, daß ich mit
Ihrem Vater getanzt, geplaudert und geſchwärmt habe — warum
ſoll ich e8 heute und dem Fa nicht fagen dürfen, daß ich ihn
geliebt habe 4"
Bei diefen Worten lächelte fie fich eine Jugend ins Geficht,
deren Abglanz aud die grauen Locken vergolvete.
„Es war ein herrlicher Mann,” fagte fie dann etwas leifer und
mit einer Verfchämtheit, die für die Jugend und Reinheit dieſes
alten Herzens zeugte, „und man darf ftolz darauf fein, ihn
248 Novellen.
geliebt zu haben. Ich habe feines Gleichen nicht wieder ger
jehen !“
Sie jah in diefem Augenblide fo rührend aus, eine fo milde
Sehnſucht lag in ihrem Blide, und in ihrer zitternden Stimme
noch fo viele treue Liebe, daß ich fie hätte umarmen können. Ich
ergriff ihre Hand und drüdte einen Kuß darauf. Sie lächelte
und jtand auf, um den Spaziergang fortzufegen und um mir
weiter von meinem DBater zu erzählen. Sie erinnerte fich jedes
Wortes, das er zu ihr oder in ihrer Gegenwart gejproden, fie
befchrieb ihn, mie er gekleidet war, mie er fich bewegte, welche
Gewohnheiten er hatte; fie hatte die Heinfte Einzelheit nicht ver=
geffen, und das Bild des theuern Mannes, den ich in meinem
zwölften Jahre verloren hatte, ftand lebendig vor mir und ih
beflagte in meinem Innern, wie ich fo oft bei den Erzählungen
meiner Mutter gethan hatte, des Rathes, der Stübe, des Bei-
ipiel3 eines folden Vaters entbehrt zu haben. Dieſes Gefühl,
jowie da3 Geſtändniß des alten Fräulein, ftellte im Laufe einer
Stunde zwiſchen uns eine größere Innigkeit her, als der Um:
gang der legten drei Tage; wir Sprachen bald mwie zwei Anvers
wandte zufammen, und waren fähig, einander Alles zu fagen
und ohne jede Zurüdhaltung.
Den Abend nahm ich den Thee mit ihr auf ihrem Zimmer.
Es war ſchon ſpät und ic machte Anftalten zum Aufbrud, als
fie mich an der Hand nahm und noch einmal auf3 Sopha zurück⸗
zwang.
„Ih kann Sie nicht gehen laſſen, lieber Freund,” ſagte fie,
ohne über ein Etwas, da3 zwifchen uns Beiden, und das mir
Beide noch nicht berührten, gefprochen zu haben. Ich weiß, daß
Ihnen die Hofräthin von dem theilweifen Zwecke meiner Reife
mehr verrathen, als ich Anfangs gewünſcht hätte; fie glaubte
Ihnen al3 Freundin hinter meinem Rüden einen Wink geben zu
müffen, damit Sie nur Ihre guten Eigenfchaften vor mir glän:
zen laſſen. Indeſſen bin ich über diefen Verrath nicht böje, da
ih damit die Erfahrung machte, daß Sie fich trogdem zu feiner
Zwanzig Millionen. 249
Heuchelei verleiten ließen, und ich den Muth gewonnen habe,
mit Ihnen vollflommen aufrichtig zu fein, ohne die geringite
Angit, eine mir fehr liebe Perſon vor Ihnen bloßzuftellen.“
Es murde mir etmas unbehaglih zu Muthe, da Fräulein
Belinde eine Zeitlang ſchwieg, als ob fie ſich eine Rede zurecht
legen wollte; ich fühlte, wie fi die Aufregung, die ich vom
Tage de3 Diners bei der Hofräthin empfand, wieder in mir vor:
bereitete; es war mir, als rüdte eine Entſcheidung, oder menig-
ſtens das Vorſpiel zu einer Entfheidung, an mich heran. Die
alte Dame fuhr nad wenigen Minuten fort und ih war ganz
Ohr als fie fo begann: „Ich muß Ihnen vor Allem jagen, daß
meine Stellung im Haufe des Barons Friedensborg die intimfte,
die vertrautefte it. ch war nie, wie man meint, die Gouvers:
nante der Kinder; ich war ſtets und von frühefter Jugend an
die innigfte Freundin der Frau von Friedensborg, die aus ders
jelben Stadt ftammt wie ih. Als ihres Mannes Verhältniffe
einen jo glänzenden Auffhwung nahmen und ihre Familie fich
vermehrte, lud fie mich ein, zu ihr nad Dänemark zu fommen
und ihr bei Erziehung ihrer Kinder behülflich zu fein. Ich folgte
diefer Einladung mit größter Freude; entſchloſſen, mich nie zu
verheirathen, fand ich dort die Geſellſchaft der liebſten Freundin,
ein Familienleben, nachdem ich mich trog meinem Entſchluſſe
immer fehnte, und Pflichten, die mir ein Altjungfernleben zu
einem nicht verfehlten Leben machten. Ich war in der Familie
glücklich; ich erzog die vier Töchter, ald wären e3 meine eigenen
Kinder, im Verein mit der Freundin, welche diefe Gemeinjchaft:
lichkeit nur no inniger mit mir verband, Bon dem großen
Leben, das Herr von Friedendborg, von feinen Verhältniſſen
gezwungen, führen mußte, blieben wir in der Familie beinahe
unberührt; die Kälte der äußeren Welt drang nicht dur die
Thüren, hinter denen wir ung liebten, arbeiteten, erzogen und
erzogen wurden. Das Vermögen des Herrn von Friedengborg
wuchs in wunderbarer Weife; wir aber wären bei einem Kleinen
Bruchtheil diefes Vermögens eben fo glüdlich gemwejen. Ein
250 Novellen.
Opfer aber hat uns der Reichthum doc gefoftet, und zwar ein
nambaftes Barvenuopfer, wie e3 beinahe jede Cnmporfömmlings: .
familie zu bringen bat. Die ältejte der vier Töchter, ein liebens—
würdiges und geiftvolle8 Geſchöpf, konnte fih, troß allem Geift
und einem vortrefflihen Herzen, den Schwächen der Empor:
fümmlinge nicht entziehen; fie wollte in der ariftofratifchen Welt,
zu der ihr Vater den goldenen Schlüffel befigt, einheimiſch wer:
den; fie wollte wirklih jein, was ihr Vater dem Namen nah
war, eine Arijtofratin; fie wollte glänzen und beirathete zu
diefem Zwecke einen glänzenden Namen, den Grafen Kerfiteen.
Sie mußte bald die Erfahrungen maden, die ſolchen Ehen immer
bevorjtehen. Ein Theil ihres Vermögens bezahlte die Schulden,
ein anderer Theil die Vergnügungen, die der Graf außer dem
Haufe ſuchte. Zum Glüde tröftete fi die Gräfin über ihre
Täuſchungen mit zwei reizenden Kindern, mit denen fie zu ihrem
Vater zurüdkehrte, und mit der Liebe ihrer Familie, während
ver Graf, von einer Benjion feines Schwiegervater lebend,
feine Zeit in Baris und in den deutjchen Bädern verbringt. Sie
werden ſolche Verhältniffe ſchon kennen gelernt haben und er:
lafien mir die nähere Schilverung. Die Erfahrung ift für die
Familie nicht verloren und nicht3 ſteht ihr heute ferner al3 ver
Gedanke, wieder irgend einem ruinirten Adeligen voll nobler
Paflionen ein trefflihes Weib zur Vernahläfligung und ein
tolofjales Vermögen zur Verſchwendung hinzugeben. Die drei
unverbeiratheten Töchter find feſt entichloffen, nur ſolche Männer
zu wählen, welche die Bürgſchaft des Glüdes nur in Bildung
und Charalter bieten. Sie haben jelbit etwas Rechtes gelernt,
fie willen vor Allem Geift und Talent zu jchäßen; ver Name,
den ſich der Mann jelbjt mit Talent in Kunft oder Wiſſenſchaft
erworben oder erwerben fann, it ihnen mehr werth, ala ver
glänzendfte angeborne Titel. Der Vater läßt ihnen volllommen
freie Wahl; feine ächt bürgerliche Natur war von jeher gegen vie
adeligen Heirathen ; fein offener Einn jchägt das Willen, das
er ſich jelbit in feiner Jugend nicht hatte erwerben fünnen, und
Zwanzig Millionen, 251
27
Neihthümer braucht er bei feinem Schmwiegerfohne nicht zu
ſuchen, da ſchon der Theil feines Vermögens, den er jeder feiner
Töchter mitgibt, an jich ein großes Vermögen ausmacht. Preis
lich,“ fügte Fräulein Zelinde diefer Auseinanderjegung lächelnd
binzu, „freilich wollen meine Fräulein Friedensborg auch etwas
geliebt fein.”
Gerade diejes legten Sapes wegen wußte ich nicht, was zu
jagen und ſchwieg, bis Fräulein Zelinde wieder begann: „Sch
will ſehr kurz fein, und ich glaube Ihnen nur ein Kompliment
zu machen, wenn ich ohne Umfchweife mit ver Thüre ind Haus
falle: Sie wären ein Mann, wie ihn meine Zöglinge träumen.”
„Ich?“ rief ich, in der That überrafcht, obwohl ich voraus
mußte, was meine Freundin jagen würde.
„5a! Sie! und zwar für Helene, die ältejte von den Dreien.
Sie hat Sie auf dem Rheindampfſchiffe kennen gelernt, Sie
haben ihr gefallen, fie hat oft mit Intereſſe von Ihnen ge:
ſprochen und fie empfand einen gewiſſen Stolz, al3 fie von
Ihnen in den Zeitungen lad, Sie überall rühmlihft erwähnt
ſah, und ala fie Ihr Buch kennen lernte. Ich faßte die Sache
mit Wärme und Ernit auf, weil — nun meil Sie der Sohn
Ihres Vaters find; ich fagte mir, daß, wern Sie Ihrem Vater
nur entfernt ähnlih find, meine Helene gut gewählt hat, und
ih fehe nicht ein, warum man mit Vernunft nicht fortjegen
follte, was ſchon der Zufall fo vernünftig angefangen. Ich
reiste und fo reiste ich hierher, um Sie fennen zu lernen, und
da ih Sie nun fenne und die Hofräthin mir meine Aufgabe er:
leihtert hat, will id Sie veranlaffen, uns in Kopenhagen zu ,
beſuchen. Es ift zwar nicht jchmeichelhaft, daß Sie ſich Ihrer
Neifegefährtinnen ganz und gar nicht erinnern, und hat mic
diefe Entdedung anfangs etwas ftugig gemacht, aber bei näherer
Ueberlegung gefiel es mir, daß Sie fih um folde Erbinnen jo
wenig fümmerten. Lernen Sie aber meine Helene kennen und
ich bin überzeugt, daß Sie an ihr ein treffliches Geſchöpf finden,
und daß ich dann für das Glüd zweier Menſchen geforgt habe,”
259 Novellen,
Jetzt, da mir die Angelegenheit näher rüdte, da die Ver:
wirklichung fich fo zu geftalten begann und klare Worte darüber
gewechſelt werden jollten, war ich ganz wieder der Menſch, der
ih vor Ankunft des alten Fräulein geweſen. Ich hörte aus
ihrer Rede nur eine Art geſchäftlichen Antrags heraus, Wie
Ihön aud ihre Auseinanderfegungen Hangen, wie jhmeichelhaft
jelbit bis zu einem gewiflen Grade, ich jagte mir, daß felbit
zwei Kornwucherer, wenn fie eine Heirath arrangiren, das Ge:
Ihäft zu vergolden und jo zu jagen zu idealifiren ftreben. Man
jagt ich bei foldhen Gelegenheiten nie: machen wir ein Gejchäft,
einen Kauf und Verlauf, einen Handel; man fucht immer eblere
Motive geltend zu machen, um fich vor fich felbit zu entſchuldi—
gen. Etwas jchroff, aber entſchieden, antwortete ih, ohne auf
Einzelnheiten in der Rede der alten Dame einzugehen: „Ich
werde nie eine Geldheirath machen !”
„Das weiß ich,” jagte Fräulein Zelinde mit einer Rafchheit,
die mir mwohlthat, „aber,” fügte fie hinzu, „aber Sie werben
aud ein liebenswürdiges Mädchen nicht verfchmähen, nur weil
fie reich ift, oder weil Leute, die Sie nicht kennen, jagen könn:
ten, daß Sie eine Geldheirath gemacht haben. Sie werden die
Leute reden lafjen. Oder glauben Sie nidht, daß ein rechter
Mann fo viel mwerth it, wie das größte Heirathsgut feiner
Frau
„3a — das ift Alles recht und gut,” erwiderte ich, „aber
e3 ift etwas Anderes, ein reiches Mädchen heirathen, weil man
e3 liebt, und etwas ganz Anderes, ſich zu einer Heirath mit
einem Mädchen zu entjchließen, oder fih nur dafür auszuſpre—
hen, oder dad Mädchen aufzufuhen, von dem man das Eine
gewiß weiß, daß es reich ift, aber ganz und gar nicht, ob es je
lieben werde.”
„Ganz richtig,” lächelte Fräulein Zelinde, „aber man ver:
langt ja auch nichtS anderes von Ihnen, als daß Sie den Ver:
ſuch und die Erfahrung machen. Sie follen nichts Anderes thun,
als was ich von der andern Seite gethan habe: zufehen, ob dem
Zwanzig Millionen. 253
Zufall einiger Verftand abzugewinnen iſt. Was mich betrifit,*
fagte fie mit einer. etwas fomifhen, doc überaus jchmeichel-
haften Berbeugung, „jo habe ich diefen Zufall außerorventlich
vernünftig befunden. Sie haben nur eine Reife nad Kopen-
hagen zu machen. Damit ift allerdings nicht jedes Biel erreicht;
Sie müfjen ſich nicht einbilden, daß dann Alles abgemadt ift;
meine Helene will, wie gejagt, auch ſehr herzlich geliebt fein,
und e3 wird Zeit und einer wahrhaftigen Liebe bevürfen, um
Sie daran glauben zu mahen. Dann haben Sie fie erft recht
zu erobern, denn da3 Gefallen, das fie auf dem Dampfſchiff an
Ahnen gefunden, reicht nicht aus, um dem vernünftigen Mädchen
einen genügenden Grund zur Verheirathung abzugeben. Sie
baben alfo in Kopenhagen zu thun, viel zu thun. Wenn Sie zu
den Menſchen gehören, denen nur da3 einen hohen Werth hat,
was fie mit großer Mühe erringen, fo prophezeie ic Ihnen, daß
Ihnen Helene jehr werth wird. Ober wollen Sie,” fragte die
alte Dame ironisch lächelnd, „daß Helene hierher komme und fich
von Shnen betrachten laſſe?“ .
Ich late und wir fpraben von nun an, bis fpät nad
Mitternacht, gemüthlicher über die Sache; dennoch konnte ich
mich nicht entjchließen, fie die Reife nad Kopenhagen als eine
ausgemachte Sache betrachten zu lafjen. Selbjt als fie am an:
dern Morgen ſchon im Poſtwagen ſaß und mir im legten Mo:
mente noch die Hand entgegenftredte, mit den Worten: „Alfo
Sie kommen?“ ſchlug ich zwar ein, fonnte aber ein Ja nit
über meine Lippen bringen.
So eigentbümlih ift das Leben geftaltet, daß ver beite
Menſch unfer böfer Dämon werden kann. Der breitägige Ums
gang mit der guten alten Jungfer ließ in meinem Herzen eine
ganz gewaltige Unruhe zurüd; ja, ich war nach ihrer Abreife
fogar unglüdlih, mie ich e3 niemals vorher gewejen. Es war
mir unmöglih, mit demſelben Behagen, wie ehemals, an bie
Arbeit zu gehen und mit berjelben Ausdauer bei ihr zu ver:
barren. Oft mitten in der Arbeit überfielen mich meine Träume
254 Novellen,
von den zwanzig Millionen und nahmen mir, ohne daß ich es
gewahr wurde, ganze Stunden hinweg, wohl aber gemahrte ich,
daß mir Tage und Wochen vergingen, ohne daß mich ein Forte
jchritt erfreut hätte, wie er mich fonft oft nad wenigen Tagen
beglüdt hatte.
Bor Jahren einmal, als dreizehnjähriger Gymnafiaft, hatte
ic von meinem Pathen das Loos einer Güterlotterie zu meinem
Geburtstage geihenkt erhalten und mit dem Loofe die Abbildung
des prächtigen Schlofjes, welches der glüdlihe Gewinner fammt
zmweimalhunderttaufend Gulden erhalten follte. Bon meinem Ge:
burt3tage bis zur Ziehung vergingen einige Monate, und ich
war während diejer ganzen Zeit der jchlechtefte Schüler meiner
Klaſſe. Ich lernte nicht? mehr, ich dachte nur an mein Schloß,
deſſen Bild ich über mein Bett gelebt hatte, und hielt mich für
einen gemachten Mann, der nichtS mehr zu lernen brauchte. Erft
die Ziehung befreite mich von diefem Alp, der mich um mehrere
Monate Arbeit gebradht und beinahe zu einem trägen Jungen
gemacht hatte. Mit Scham date ih nun oft an jenen Knaben,
da ich mir eingeftehen mußte, daß der Mann die größte Aehn—
lichfeit mit ihm hatte. Raffte ich mich endlich auf, fam ein Brief
des alten Fräuleins, der mich aufs Neue in die träumerifche Un:
ruhe und Trägheit zurüdwarf, denn ich war in beftändiger
Korrejpondenz mit Fräulein Zelinde, und ihre Briefe ſchilderten
fo lebhaft, daß ich bald die ganze Familie Friedensborg fo genau
fannte, al3 ob ich in ihrer Geſellſchaft aufgewachſen wäre, und
daß mir der Ueberfluß de3 Dajeind, aus dem heraus fie ihre
Briefe jchrieb, überaus gegenwärtig wurde und fich aller meiner
Sinne bemädtigte. Ich fehnte mich in diefes Leben hinein, mie
nad den glüdjeligen Inſeln. Ych fühlte, daß ich der Zerftreuung
bedurfte, wenn ich nicht in unfruchtbare, für den Geift fo ver:
derbliche Phantafiejchmwelgerei verfinfen wollte, und ich ging viel
in Gejellihaften, auf Bälle und Soireen. Zu meinem größten
Gritaunen und halb und halb zu meinem Schreden machte ich
die Bemerkung, daß ich gegen die Reize der ſchönſten Tänzerinnen,
Zwanzig Millionen. 255
der verführerifchjten Frauen beinahe unempfindlid war, ic,
der ich fonft feinen Ball ohne eine Heine PVerliebtheit ver:
laflen. Meiner Theilnahme bemächtigten ſich vorzugsweiſe die
Gejprähe über Heirath, und da ich diefem Gegenftande zum
erjten Male meine Aufmerkſamkeit widmete, machte ih die Er:
fabrung, daß fich vorzugsweiſe die fogenannten Bartieen des
Beifall3 der Welt zu erfreuen haben, und daß man von Hei—
rathen aus Liebe zwar wie von etwas Antereffantem, aber uns
gefähr wie won einer Novelle fpreche, ald von etwas, was nicht
ganz der Wirklichkeit angehöre und das man nicht als „in der
Regel” betrachte. Bei mehreren Gelegenheiten lobte man jogar
die neue Mode der reihen Heirathen, die um dieſe Zeit in ber
literarifchen Welt einriß, als höchſt nüglich und praktiſch, da die
Literatur Geld braude und nie unabhängig, werden fünne, wenn
fie nicht auf eigenem Kapital beruhe. Ein berühmter deutjcher
Romandichter fagte mir einmal mit dem Ernſt, den er feinen
edlen Vätern und gewiegteften Figuren zu geben pflegt: „Es
jind mehrere reiche äfthetifche Jüdinnen bier, die nur Gelehrte
oder Dichter heirathen wollen ; Sie follten fi eine ſolche nicht ent=
gehen lafjen!” Vielleicht nahm man mich in Folge meines welts
lichen Lebens überhaupt für einen Heirathslandidaten, denn im
Laufe des Winters famen mir mehrere wohlmeinende Freunde
und ältere Freundinnen mit mehr oder weniger Haren Andeu—
tungen und Anträgen; aber wie fleinlich erfhien mir Alles, was
mir in diefer Stadt ald „gute Partie” gerühmt wurde. Alle
glänzenden Schilderungen und Anpreifungen fonnten mir nur
ein mitleidiges Lächeln abloden.
Meiner Mutter ſchrieb ich nicht3 über die Vorgänge und be
ſchwor die Hofräthin, ihr die Kopenhagener Projekte gänzlich zu
verheimlihen. Ich wußte, mit welchem Eifer fie die Sache auf:
faffen würde, mit um fo größerem Eifer, als fie in ihrer mütter:
lihen Einbildung fofort überzeugt wäre, daß nur eine fo außer:
ordentlich glänzende Heirath meiner würdig fei, und ich wußte,
welchen Kummer ihr eine endliche Täuſchung verurjachen würde.
256 Novellen,
Doch war ich es, der ihr das ganze Geheimniß verrieth. ch
befuchte fie, wie aljährlih, zu Weihnachten; es erwartete mich,
wie immer, auch dießmal ein Weihnahtsbaum, und an biefem
Weihnachtsbaum hingen Geſchenke, deren Erwerb bei ihrem
Heinen Einkommen monatelange Erfparniß und Entbehrung vor:
ausfegte. Ich mar gerührt und beihämt, venn ich war mit
leeren Händen gefommen; meine Zerftreuung ver legten Wochen
hatte mich nicht3 erwerben lafjen. Ich wollte ihr aber doch eine
Freunde mahen, und am Fuße des Meihnahtsbaumes erzählte
ih ihr von Fräulein Zelinde, von Kopenhagen, von der Familie
Friedensborg und von den Ausfichten, und belegte meine Ere
zählung mit einzelnen Stellen aus den Briefen meiner alten
Freundin. Die gute, alte Mutter! Ihre fanften blauen Augen
überftrablten die Weihnachtskerzen; diefe ftrahlenden Augen fahen
bereit3 das Fernfte ganz in naher Wirklichkeit; fie ließ feinen
Zweifel, feinen Widerſpruch, feine Bedenklichkeit mehr auf:
fommen, fie konnte während der Zeit meines Aufenthaltes von
niht3 Anderem mehr fpredhen, al3 von meiner demnächftigen
Heirath mit der Baronefje von Friedensborg.
In die-Univerfitätzftabt zurüdgefehrt, Tebte ich nun zwiſchen
zwei Frauen: den Briefen Zelindens und den Briefen meiner
Mutter, die mich nicht mehr zur Ruhe und zur Vergeſſenheit des
Gegenftandes kommen ließen. Gezwungen, mid fortwährend
mit dem Gedanken zu beſchäftigen, ja mich freiwillig immer mehr
in denjelben bineinlebend, wurde er mir unerträglich, wie ein
überreifer Plan, der nah Ausführung fchreit.
Ich war bereit, mich lächerlich zu machen, und mitten im
Minter die Reife nach dem falten Norden anzutreten — aber es
fehlte mir glüdlicherweife an Geld! Die Reife koſtet Geld, der
Aufenthalt in einer Hauptftadt koſtet Geld, und endlich follte ich
bort in einer reichen und eleganten Welt leben, mußte alfo jelbft
wenigſtens als ein eleganter junger Gelehrter auftreten und vor
den Heinen Demüthigungen fiher fein, denen der philofophifchfte
arme Teufel in Gefellihaft von Millionen ausgefegt ift, da er
Zwanzig Millionen. 257
oft gezwungen ift, Ausgaben zu maden, die die Anderen für
nicht? achten, ihn aber in die größten Verlegenheiten bringen,
die er dann noch verbergen muß. Meine Arbeit, von der ich ein
hübſches Einfommen hoffte, war vernadhläfligt und menig vor:
gerüdt; aber nunmehr ging ich mit frifchem Eifer daran, oder
befier gejagt, mit Haft. Sie mußte um jeden Preis fertig
werden. Zum erften Male in meinem Leben arbeitete ic um
Geld, und im April zahlte mir mein Buchhändler eine ſchöne
Summe aus, n
Drittes Kapitel.
Aber obwohl ich für Geld arbeitete, fiel mein Werk, Dant
der Vorarbeiten, die noch meiner befjeren Zeit angehörten, zu
meiner Zufriedenheit aus; auch hatte ich mich im Laufe der Arbeit
in meinen Gegenjtand jo vertieft, daß alles Andere darüber in
. den Hintergrund trat, und diejer Umjtand, verbunden mit der
Genugthuung, die eine vollendete Arbeit immer gewährt, machte,
vaß ih, als ich mich vom Pulte erhob, wieder den alten Men:
ſchen in mir fand. Ich dachte wieder nur an meine Wiffenfchaft ;
ich empfand wieder, daß die höchften Genüffe für mich nur in
ihr und in der Arbeit beruhen, und ohne große Selbftüberwin:
vung hätte ich die Reife nah Kopenhagen gänzlich aufgeben
fünnen. Mittlerweile aber war meine Mutter, die an feinem
hiſtoriſchen Werke arbeitete und die ſich nur, nach ihrer Art, mit
dem Glüde ihres Sohnes bejhäftigte, mit dem Gedanken an
meine glänzende Heirath fo verwahfen, daß fie mir von nichts
Anderem mehr ſprechen konnte, Ihre Briefe wurden immer
dringender, je mehr ſich der Frühling und meine Arbeit der
Vollendung näherte. Zuletzt, da fie meine Kaltblütigfeit ſah,
war fie nahe daran, mich für frivol, oder wahnfinnig, oder für
eine Aft von Selbftmörber zu halten, der freiwillig fein ſchönes
Leben zerftört, ohne Rückſicht auf ven Kummer feiner Angehörigen.
Morig Hartmann, Werke. VI. 17
258 Novellen.
63 ift aber ſehr gefährlih, alten Leuten eine Lieblingsidee zu
entziehen, wenn fie fo fehr mit ihr eins geworden; es kann da
leicht gehen, wie mit dem Stüßbalten eines alten Haufe, Man
entferne ihn und das alte Haus bricht zufammen. Ich fing an,
ernitlich für meine Mutter bejorgt zu werden, und da fie felbit
eines Tages in meine Stube trat, hatte ich ihr eine halbe Stunde
nad ihrer Ankunft das Wort gegeben, die Reife nächſtens anzu=
treten. Es ging nun an ein Einkaufen und Ausftaffiren meiner
Perjon, was meiner Mutter jo große Freude machte, ala ob e3
ſich um meine Ausſtattung handelte, und fie hätte ihren armen
Schmud, das legte Andenken meines Vaters, verkauft oder ins
Leihhaus getragen, als die Hälfte meines Honorars erfhöpft
war, wenn ich ihr nicht Ausfichten auf neue Einkünfte vorges
jpiegelt und verſprochen hätte, mich im Nothfalle an fie und den
Reit ihres Vermögens zu wenden, um die Sache ja auf würdige
Weiſe zu Ende zu führen, und nicht am Mangel einiger hundert
Thaler ſcheitern zu lafjen.
Und jo ſahen mich denn die legten Tage des Wonnemonats
auf der Reife nad) Norden, und endlich zwifchen ven Inſeln des
dänischen Archipels an Bord des Dampfers Prinzeß glüdlich da:
bin jteuern. An Bord befanden fich mehrere Familienväter, da=
von einige mich freundlich anredeten; ich ermwiderte ihre Freund»
lichkeit in erhöhtem Grade, und ſah mid unwillfürlid um, ob
fie nicht Töchter mit fich führten. Aber e3 wiederholt ſich nichts
im Leben ganz auf diefelbe Weife, und fo fam ich auf der Höhe
von Kopenhagen ohne neue Bekanntſchaft und ohne Abenteuer
an. Das baltijche Meer ift in diefer Jahreszeit zwijchen diejen
Inſeln jo blau wie die füblihe See, und Kopenhagen in feinem
Kranze üppigfter und frifchefter Vegetation fpiegelt fich in diejen
Mäflern und bietet fih dem Anblide des Seefahrer auf eine
wahrhaft zauberifche Weife. Mit meinen archäologiſchen Studien
war mein Gedanke immer dem Süden zugewendet, und mit der
Einfeitigleit des Fachmenſchen glaubte ih, daß die Schönheit erſt
an den Gränzen jener Länder beginne, die die Heimat ber
Zwanzig Millionen, 259
antifen Kunft find. Ich bat dem Norden meine Ungerechtigkeit ab
und fagte mir, daß man bier auf jhöne Weije leben und glüds
lich fein könne, und ich fühlte mic in dem Augenblide fo heiter,
als ob ih, ahnungsvoll, einem Glüde entgegen ginge.
Wie ein Eroberer und voll Gemwißheit, daß Alles gut gehen
müſſe, ſprang id ans Land und ſchlenderte dem Hotel d'Angle—
terre, dem erften Gajthofe der Stadt, entgegen. Doch erwartete
mich bei meiner großen Unternehmung bereit eine Unannehm:
lichkeit oder ein Hinderniß. Fräulein Belinde, die mir rathen,
mi führen und fteuern follte, war abmwefend; fie hatte eine
franke Anverwandte nach Nizza begleitet, wo fie mehrere Monate,
vielleicht über ein Jahr, bleiben ſollte. Ich mußte mi, anftatt
von ihr vorgeftellt zu werden, in das Haus Friedensborg, mit
einem Briefe von ihr an den Baron, jelbjt einführen, Aber
früher wollte ih mich ein wenig in der Stadt orientiren und
über die Friedensborg etwas aus anderem als befreundetem
Munde hören. Ich befuchte mehrere Gelehrte und unter dieſen
einen gewiflen Dr. Bille, mit dem ich in 2eipzig ftudirt und
ziemlich befreundet gewejen, und ich brauchte, während er mit
mir die Stadt durchwanderte, nicht viel Diplomatie anzuwenden,
um das Geſpräch über Handel, Reihthum und die einflußreichen
Männer des Staates auf die Friedensborg zu bringen. Der
Name kam immer wieder maßgebend vor, fo bald von irgend
welcher fommerziellen oder fozialen Seite de3 Lebens die Rede
war. Bon den Töchtern des Haufes wußte man nur Gutes zu
fagen, man lobte fie al3 gebilvet und wohlthätig, man gejtand
ihnen alle Tugenden zu, die man gewöhnlich deutſchen Mädchen
zuzufchreiben pflegt, nur wollen fie, ſagte Dr. Bille, hoch hinaus
und haben fie, wie alle Kinder großer Parvenus, ariftofratifche
Muden. Die ältefte hat einen Grafen geheirathet; da der Vater
feitvem noch reiher geworden — man fagt, er befie jet über
hundert Millionen — werden die jüngeren nur noch Fürften
heirathen wollen. — Ich lächelte in mir und dachte: das, lieber
Freund, meiß ich beffer, und wird man in einiger Zeit den
x
®
260 Novellen,
Fräulein Friedensborg vieleicht auch diefen legten Vorwurf nicht
machen. Ich fühlte mich fogar gebrungen, fie ſchon jegt in Schub
zu nehmen, wa3 mein Freund als ein Zeichen allgemeinen Wohl:
wollens hinnahm.
Am nächſten Morgen mußte endlich ver ſchickſalsvolle Weg
angetreten werden, der Weg, auf den ich mich den ganzen vor:
hergehenden Tag vorbereitete, indem ich fortwährend in Gedanken:
iras ingens iterabimus aequor jitirte. Herr v. Friedensborg
empfing männlihe Befudhe von zehn Uhr Morgens an, aber
ichon vor ſechs Uhr war ich aus dem Bette, und ſchon um acht
Uhr fir und fertig. Die Familie wohnte auf dem Lande, zwi—
hen der Stadt und dem reizenden Bade Klampenborg, in einem
Sandhaufe, deflen Gärten vorn bis and Meer liefen, rüdwärts
ſich als Park in den berrlihen Buchenwäldern des Thiergartens
und Klampenborg3 verloren. Man hatte es mir gleih nad
meiner Ankunft al3 eine Merktwürdigfeit, weil es dem Baron
gehörte, und als eine der jchönften Villen des Landes gezeigt.
Ich überlegte, ob ich einen Wagen miethen oder einfach zu Fuße
hinauswandern follte; die Einfachheit ſchien mir zweckmäßiger
und ſchöner, und ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Mit
Herztlopfen trat ih aus dem Hotel, und, am nördlichen Stadt:
tbor angelommen, fühlte ic jchon das Bedürfniß, meinen Weg
zu verlängern, um Beit zur Beruhigung meiner aufgeregten
Geijter zu gewinnen, und ich ſchlug mic) recht3 durch die Gärten
von Kaſtell-Vejen nad) der fogenannten „langen Linie,” die von
Kaitell aus hart am Ufer des Meeres, als einer der fchönften
Spaziergänge der weiten Welt, vahinläuft.
Das Meer war jo blau und ftille; eine unfichtbare und un:
fühlbare Macht kräujelte es; die Luft war fanft durchfeuchtet und
durchſichtig, daß man Malmöe und die ſchwediſchen Küften wie
eine Fata Morgana auf den Wellen ſchimmern jah ; weiße Segel
träumten dem Norden und dem Ausgang aus dem Sunde ent:
gegen, um in alle Welt zu ziehen; in meiner Nähe zogen Fiſcher
die Nepe in den Kahn. In der ſchattigen Allee war ich in diefer
Zwanzig Millionen. 261
frühen Morgenftunde allein. Es überfam mid; jene Sehnjudt,
die ich immer empfand, wenn ich allein einer fehönen Natur:
fjene gegenüberftand, und in dem Alter, in dem ich war, iſt
eigentlich jede rege Sehnſucht nichts Anderes als ein Wunſch
nach Liebe, und da meine Gedanten fo fehr gemöhnt waren, die
Richtung nach der Villa Friedendborg zu nehmen, zogen fie auch
jegt dahin, in der feſten Ueberzeugung, dort Liebe zu finden und
Liebe geben zu können. Wie alt ich mich in ven legten Monaten
mit meinen praftiihen Plänen fühlte, jegt war ich mit einem
Male wieder jung. Ich erhob mich und ging rafchen Schrittes
weiter, ich fühlte mich berechtigt, meinen Eroberungszug anzu:
treten und nicht3 von der inneren Beihämung, die ich immer
für diefen Weg befürchtet hatte. Das Badhaus hatte ein weißes
Thürmchen und diefes führte mich wie ein Leuchthurm.
Das Gartenthor ftand offen und ich trat ein. Als mein
Schritt auf dem gemwundenen Sandwege, der zwifchen Blumen
und Gebüfchen dem Haufe zuführt, erfholl, hielten zwei liebliche
Kinder von ſechs und acht Jahren auf einem Rafenplage, rechts
von mir, im Spiele inne, um mich neugierig zu betrachten; da
ich mich ihnen zumandte, fiel mein Auge auf einen Mädchenkopf,
der fih aus einer Laube in ihrer Nähe hervorftredte, aber, von
mir bemerkt, ſogleich wieder hinter den Schlingpflanzen ver:
ſchwand. Es war ein überaus liebliher Kopf gewefen: blond:
lodig, braunäugig und von den feinften, durchſichtigſten norbi:
fhen Farben. Nur einen Augenblid hatte ich ihn gefehen, aber
ih hätte ihn malen können; es war mir nicht ein Zug dieſes
milden, doc verfländigen und charaltervollen Gefichtes entgangen.
Unanftändig lange ftarrte ih nach der Laube, immer hoffend,
daß ich ihrer noch einmal anfichtig werde, und während ich jo
binftarrte, ſagte ih mir: die könnteſt du gleich heirathen, dieſes
Geſicht, diefer Blid, diefer Mund bieten alle Bürgfchaften. Es
war mir das im Leben ſchon oft vorgefommen, daß ich mir beim
Anblid eines Vertrauen einflößenden Gefichtes dergleichen fagte,
daß ich hätte hingehen und fprehen mögen: Mein Fräulein,
262 Novellen.
beirathen Sie mih! Ich bin bereit! Eine foldhe auf den erjten
Eindrud bafırte Heirath hatte immer einen großen Reiz für mid.
Mein Stehenbleiben und Huften mochte die Kinder ängftlich ge:
macht haben, denn wie auf ein gegebenes Zeichen liefen fie zu:
gleih und wie Schuß fuchend in die Laube, deren Wände ich
noch immer betrachtete, vergebens betrachtete. Der lieblihe Kopf
fam nicht wieder zum Vorſchein, und ich hatte beinahe Luft, den
Kindern nadhzulaufen, um, unter dem Vorwande fie beruhigen
zu wollen, hinter die grüne Laube zu fehen und wo möglich mit
der Unbefannten ein Geſpräch anzufnüpfen. Aber, dachte ich,
fie gehört offenbar zum Haufe und du wirſt fie noch zu fehen
befommen. Wenn die Baronefjen fo find, mie dieſe, bift vu ges
borgen und wirft du dich zur Liebe nicht zu zwingen brauchen.
Glüdlih, wenn es die mir zugedachte Helene ift! Und jegt feine
Voreiligkeit, die Alles verderben könnte,
Gefegten und gemeſſenen Schritted ging ich meiter, ja fogar
etwas fteif, da ich vorausfegte, daß mir von der Laube aus nad):
gejehen werde. Im Vorſaal trieben ſich mehrere Bebiente noch
in ihren Morgenanzügen herum, die offenbar über die frühe
Störung verdrießlich waren; der Eine, der den Maitre d’Hötel
anwies, mich zu melden, und meinen Brief dem Baron zu über:
geben, der aljo gezwungen war, feine Livrée anzuziehen, jah
mid mit feindfeligen, und da er meine etwas bejtaubten Schuhe
bemerkte, mit etwas verächtlichen Augen an. Ich war nahe daran,
dieje Baletaille anzulächeln, um fie für mich zu gewinnen, aber
da fam ich mir felbft wie ein Parvenu auf der unterften Stufe
vor, und ich verfiel in das andere Ertrem, indem ich die Hände
auf den Rüden legte, im Vorfaal auf und ab fpazierte und zu
thun ſuchte, als ob ih an den ſchon im Vorzimmer beginnenden,
in der That großen und erftaunlichen Luxus von Jugend auf
gewöhnt wäre. Schon bier ftanden ſehr interefjante alte Möbel
und hingen fehr hübſche Landſchafts- und Seebilder an den
Mänden; ich ließ meine Blicke über das Alles nur fo binfliegen,
ich bemerkte es kaum. Als der Bediente zurüdlam, um mir zu
Zwanzig Millionen. 263
Tagen, daß der Herr Baron ſehr erfreut fein werden, war er
ſchon viel unterthäniger, und darauf hin, mie auf einen elektri-
fhen Schlag, veränderten ſich aud die Gefichter der andern Be:
dienten, und mehrere fprangen zugleich herbei, um mir die Thüre,
die durch einen zweiten Borfaal zum Barone führte, zu öffnen
und fi vor mir zu verbeugen.
Der Baron empfing mich mit großer Freundlichkeit und drückte
mir feine Freude aus, daß ich feiner Einladung, ihn einmal in
Kopenhagen zu befuchen — deren ich mich gar nicht erinnerte —
endlich gefolgt ſei. Er bedauerte, daß ich nicht bei ihm abge:
ftiegen, geſtand mir aber zu, daß ich jo zweckmäßiger gehandelt ;
ich fei jo freier und der Aufenthalt in der Stadt felbft werde mir
angenehmer jein, da ich doch wahrscheinlich wifjenfchaftliche Zwecke
mit dem Ausfluge hierher verbinde. Indeſſen bot er mir feine
Dienfte im ausgedehnteſten Sinne an und bat er mich, über ihn
zu verfügen. „Sch habe Einfluß genug,” fagte er lächelnd und
mit einiger Selbitgefälligkeit, „um Ihnen in vielfaher Art nütz—
lich fein zu können! — Wen wollen Sie kennen lernen? Ich fann
Sie Jedermann vorftellen, ich kann Sie überall einführen! Sie
werden überall gut aufgenommen fein, wenn Gie vom alten
Baron kommen.“
Mir befanden uns im Bibliothelfaal des Barons, einem
Saale, der fo groß war, wie das Lejezimmer irgend einer großen
Öffentlichen Bibliothek. Die Bücherfchränfe, mafliv und doch
zierlich gearbeitet, liefen rings um alte Wände, ziemlich hoch
hinauf. Von ihrer Höhe hinab und hie und da aus Nifchen
blidten marmorne Büften berühmter Menfchen und mythologifche
Statuen, mie fie in eine Bibliothek pafjen. Vor den Schränken
ftanden, ordnungslos über den Saal zerjtreut, mehrere auf Rollen
bewegliche Treppen, deren Gelände mit fhönen Holzfhnigereien
bededt waren und auf denen man mit größter Bequemlichkeit zu
den höchſten Fächern gelangen konnte. Das Licht kam von oben
berab durch die durchbrochene Dede; der Plafondraum, den das
Fenſter übrig ließ, war mit Bildern bevedt, zwar nicht mit Fresten,
264 Novellen.
aber ſchönen Delmalereien auf Leinwand, melde das Wieder—
erwachen der Künſte und Willenfchaften darftellten:: auf der einen
Seite ſymboliſch als Sonnenaufgang, auf der andern hiſtoriſch,
als Landung der flüchtigen Griechen, die mit Statuen und Büchern
ans italienifche Ufer fteigen, wo fie die Mediceer empfangen. In
der Mitte diefes idealen Bibliothekzimmers, an einem breiten
Tiſche, ſaß Herr von Friedensborg wie ein Gelehrter, der in feinen
Schätzen ſchwelgt. Lächeln bemerkte er, mit welchem Intereſſe
ih um mid blidte.
„Auch diefe Bibliothek ftelle ich zu Yhrer Verfügung. Sehen
Gie fih ein wenig um, während Sie mir erlauben, bier einen
Gejhäftsbrief zu Ende zu ſchreiben.“
Die Bibliothek mochte fünfzehn: bis zwanzigtauſend Bände
enthalten, und dieſe, meiſt jo prächtig gebunden, daß fie eine
glänzende und bunte Tapete ausmachten, enthielten die koſtbarſten
und gefuchteften Werke aller Zeiten und aller Sprachen. „Aber ‚”
fragte ih mich, „was fängt mein Schwiegervater mit all den
Büchern an, die er doch nicht leſen kann, die er zum größten
Theil nicht verftehen würde, felbjt wenn er fie lejen könnte.” Ich
wußte, daß er nur feine Mutterfprache, die deutfche, und dann
noch dänifch verftand, und die erjtere fprach er noch dazu, fei eg,
daß er fie in der Fremde vergefien oder nie recht gelernt hatte,
mit unzähligen und fehr auffallenden grammatikaliſchen Fehlern.
Ich hatte das auf dem Nheine nicht gemerkt oder vielleicht jeit-
dem vergeflen ; jet aber fiel e8 mir mit manchem Anvern auf.
So 3. B. war er offenbar froh, wenn man feine Beligthümer
bewunderte, und ſprach er jehr gerne von feiner Macht und feinem
Einfluß. Freilih that er es mit einer Naivetät, die wieder mit
dieſem Emporkömmlingsthum verföhnte und ohne durd Macht
und Reichthum irgend welche Anmaßung und Ueberhebung ge:
rechtfertigt zu mwähnen. Die Ironie, die beim Anblid ver herr-
lihen Werke, die für ihn unfruchtbar und ftumm waren, in mir
auffommen wollte, ſchlug er zu meiner Beſchämung nieder, in:
dem er, nachdem er den Brief gefiegelt, fih mir näherte und
Zwanzig Millionen, 265
fagte: „Nicht wahr, e3 find treffliche Bücher? Ich habe da einen
gelehrten Mann unter meinen Bekannten, dem ich den Auftrag
gegeben, alles Gute für mich einzulaufen. Wenn ich aud nichts
oder wenig davon verftehe, fo macht e8 mir doc) Freude, es zu
haben, und halte es für Pflicht, es zu kaufen. Früher over fpäter
fommt eine folde Bücherfammlung doch Jemandem oder Vielen
zu ftatten, und ich habe oft ſchon die Freude erlebt, daß man ſich
um ein Buch an mich wandte, das ſchwer aufzutreiben war und
das irgend ein Gelehrter zu feiner Arbeit bedurfte.”
Dann ftügte fi der alte Mann auf meinen Arm und führte
mih in den Garten und in feine Pflanzenhäufer, wo fich eben
fo viele feltene Blumen und Bäume fanden, als jeltene Bücher
in feiner Bibliothef. Cr hatte bier diefelbe Freude an meinem
Staunen, wie in der Bibliothef, und mittheilfam, wie er war,
erfuhr ich, auf welchen Wegen, mit welchen Mühen er fi das
Alles verfhaffte, und bei diefer Gelegenheit, daß er Mitglied,
felbjt Präfident vieler nüglicher, mwohlthätiger, felbft gelehrter
Geſellſchaften ſei. Wohl über zwei Stunden wanderten wir jo
umber. Als ih Abſchied nahm, bevauerte er, mich um biefe
Stunde den Damen noch nicht vorftellen zu können, bat mid)
aber, um ſechs Uhr wieder zu kommen und mit ihm zu Mittag
zu ejlen, wo ich dann die ganze Familie fennen lernen folle.
Al ih aus dem Haufe ging, neigten fi alle Bedienten
bi3 zur Erde. Mir ſchwirrte e3 im Kopfe von all den Wunder—⸗
dingen, die ich geſehn; dennoch blidte ih um mi, ob nicht
wieder der Lockenkopf zum Vorſchein fomme. Er fam nicht, und
ich vertröftete mich auf den Abend. Dr. Bille, dem ich erzählte,
daß ich heute Abend bei Friedensborg fpeife, ftieß ein erftauntes
Bah! aus und ſah mich verwundert von Kopf bis zu Fuß an.
„Wenn du heute bei Friedensborg fpeifeit,” fagte er, „kannſt du
morgen beim König frühftüden und uns Alle protegiren. Du
gehſt ſchnell. — Aber ſchön und recht elegant mußt du dich
machen, oder vielmehr recht vornehm, denn man ift an ben
gewöhnlichiten Tagen da draußen vor einem halben Dugend
266 | Novellen.
Gefandter und Minifter nicht ficher, abgejehen davon, daß die
Damen des Haufes etwas verwöhnt find.”
Ein ſchwarzer Frad, friſche Wäſche, das dünnſte meiner
Taſchentücher, gelbe Glacehandſchuhe, dazu ein Fiaker — das
war Alles, was ich der VBornehmbeit zu Gefallen leiften konnte
und mochte. Ich paflirte dießmal einen andern Borfaal, eine
lange Reihe von Bedienten, und trat in den großen Salon.
Un einem marmornen Kamin, ber aber bei ver Jahreszeit
auf das Gejhmadvollite mit Blumen angefüllt war, faß bie
Baronin, eine Heine überaus feine und zarte Frau, mit grauen
Haaren, die ſich in Scheiteln an janftgeröthete Wangen anfchlofien,
und mit den kaum fichtbaren aber doch zahlreichen Fältchen des
Gefichtes in Ichönem Einklang ftanden. Sie empfing mich mit
rüdhalt3voller Anmuth, doch freier Freundlichkeit und ftredte
mir eine magere, überaus weiße Hand entgegen. Diefe Frau
des Parvenus, in einem Eleinen Städtchen Deutſchlands geboren
und erzogen, war durch und durch große Dame, flößte Ehrfurcht
und zugleih, mit einem frankhaften, auf körperliche Leiden
beutenden Zuge, Mitleiven ein, das ſich aber nicht zu zeigen
wagt. Gleich beim erjten Anblid fagte ih mir, daß ich zufrieden
fein könne, daß e3 wünfchenswerth wäre, wenn die Töchter dieſer
Mutter entiprächen.
Ich mar der erite Gaft, und die Baronin knüpfte fogleich
ein ungezwungened Geſpräch an. Aber ich ſaß faum zwei Mi:
nuten, als fich hinter ihr eine Thüre öffnete und die Gräfin
Kirkfteen eintrat, Ich wußte, daß fie e8 war, bevor mir von
der Mutter der Name genannt worden. Gie ging nicht, fie
raufchte herbei; es war, als ob nicht allein ihr blaufeidenes
Kleid, ald ob Alles an ihr, ihre braunen Augen, ihre dunklen
Haare, ja ihr ganzes Gefiht und Wefen einen gewiſſen Lärm
machte. Aber es war fein unangenehmer Lärm und er hatte etwas
Imponirendes. Sie war eher klein al3 groß, aber ihr ganzes
Auftreten ließ fie groß ericheinen. Man hätte troß ihrer Schön:
beit ein wenig vor ihr erfchreden können, allein ſobald fie zu
Zwanzig Millionen. 267
ſprechen anfing, verwandelte fih das ganze Impoſante ihres
Auftreten in die zuvorfommendfte Liebenswürdigkeit. Man er:
fannte eine heitere, lebenäluftige Natur, einen frifchen Geift, die
jelbft durch traurige Erfahrungen nur ſchwer getrübt werden
fönnen. „Sie gleiht zwar nicht ihrer Mutter,” dachte ich, „aber
ih fehe doch wenigſtens, daß diefe Mutter ſchöne und liebens—
würdige Töchter haben kann; vielleicht gleichen fich die Töchter
unter einander, und ich fann zufrieden fein.“
Sie übernahm fogleih das Geſpräch mit der größten Leb—
baftigkeit, und nad) einigen Minuten, da eben wieder die Mutter
etwas jagen wollte, wandte fie ſich vertraulich zu mir und fagte:
„Lieber Herr Doktor, wir hoffen Sie oft in unferem Haufe zu
ſehen, darum will ic Ihnen gleich von Anfang ein unverbrüch—
liches Hausgeſetz auferlegen und das befteht darin, unfere gute
Mama fo wenig ald möglih ſprechen zu laffen. Sie ift nicht
wohl und das Sprechen ift ihr auf Strengfte verboten; es regt
fie auf, erfchöpft fie und macht ihr Herzklopfen. Sie werben hie:
mit bevollmädtigt, fie nicht zu Worte fommen zu lajjen, alle
Regeln der Schidlichleit bei Seite zu fegen und in dieſer Hinficht
fo unartig als möglich zu fein, auf die Gefahr hin, geſchwätzig
zu werben, wobei wir,” fügte fie verbindlich hinzu, „nur gewinnen
fönnen.”
Die Baronin wollte etwas zur Erflärung oder Entſchuldigung
jagen, aber ich fiel ihr fogleich ins Wort und rief was mir auf
die Zunge fam: „Kopenhagen ijt eine fchöne Stadt |”
Die Baronin fuhr erfhroden zurüd, die Gräfin Hatfchte in
die Hände und rief: „Bravo! Bravo! Wenn Sie fo fortfahren,
verdienen Sie fich unfern Dank.“
Die Heine Szene ftellte raſch eine gewifje Vertraulichkeit her
und mir plauberten, die Gräfin und ich, mit jenem gemillen
unterdrüdten Lächeln, das dem Beobachter und den Sprechenden
verräth, daß man aneinander Gefallen findet. Wir ladhten ſchon
ziemlich befannt und ungezwungen, al3 mehrere Gäfte anfamen
und zugleih durch die Thüre hinter der Baronin ein junges
268 Novellen.
Mädchen von etwa einundzwanzig Jahren eintrat. Diefe hatte
wieder einen von der Gräfin volllommen verjchiedenen Charalter;
fie war Hein, ſchmächtig, blaß und braun; hatte ſchwarzes Haar
und ein überaus lebhaftes, kluges braunes Auge, das eimas
verjhmigt hinter langen Wimpern bervorblidte. Das weiße
Sommerkleid, der Spigenkragen, Bänder, Schleifen und Haare,
Alles hing etwas nadläflig an ihr, aber diefe Nachläſſigkeit war
nicht ohne Anmuth. Sie hatte etwas von einer Fleinen Gelehrten,
von einem Mädchen, das viel liest und fpigige Bemerkungen und
Witze macht. Was mir aber vor Allem auffiel, war eine erftaun:
lihe Aehnlichkeit mit einem vierzehnjährigen Mäpchen, das ich
als zwanzigjähriger Student mit zwanzigjähriger Schmwärmerei
geliebt hatte. Ich ſetzte jogleich alle Eigenjchaften meiner Jugend⸗
geliebten bei ihr voraus und mein Herz flog ihr entgegen wie
einer alten Belannten, und wie eine alte Belannte redete ich fie
an. „O,“ date ich, „wenn du Helene bift, jo habe ich dich ſchon
vor Jahren geliebt!” Db fie aber Helene war oder nicht, konnte
ih nicht jogleich erfahren, da die gleichzeitige Ankunft der Gäfte
eine förmliche Vorftellung verhindert hatte; die Gräfin hatte mic)
ihr entgegengeführt, ohne mir in der Eile ihren Namen zu nennen.
Sch ſprach ihr fogleih, ohne e3 zu wollen, mit einer großen
Märme, und da mir das Herz davon überfloß, von einer Aehn—
lichfeit mit einem mir lieben Kinde. Sie war über dieje Raſch—
beit meines Benehmens offenbar etwas erftaunt und verlegen,
und mit einer geſchickten Wendung des Gefpräches drüdte fie mir
ihre Freude aus, mich noch heute ihrem Verlobten, der ebenfalls
zu Tiſche komme, vorftellen zu können.
Diefe Worte trafen mich wie ein doppelter Donnerfchlag, fie
war alfo nicht Helene! und warum ſprach fie mir fo raſch von
ihrem Verlobten? Weil fie merkte, daß fie mir gefiel, daß ich
ihr den Hof machen wollte. Das mußte fofort verhindert werden,
weil ic wegen einer Anderen, ihrer Schwefter wegen, gelommen
war. Ich ftand alfo höchſt wahrſcheinlich als abfichtsvoller Freier
im Haufe da, man wußte, warum id fam! Ich hatte immer noch
Zwanzig Millionen. 269
gehofit, daß man meinen Beſuch als Zufälligkeit betrachte, und
daß ſich die Sache auf natürliche Weife werde fo geftalten können,
daß es den Anjchein habe, al3 hätte meine Heirath mit der Bes
kanntſchaft Helenens ihren erften Anfang. Nun war ich in den
Augen aller diefer Menſchen ein ganz gemeiner Heirathsſpekulant.
Ich ſchämte mich, ic war befangen.
ALS ich aus meinen Reflerionen erwadhte, war Bertha, denn
nur Bertha konnte die ſchwarzäugige Braut fein, ihrem Bräutis
gam, der eben Fam, entgegengeeilt. Ich ftand einen Moment
allein und betrachtete die Schwefter, die mit ihr eingetreten war
und jegt auf einem Schemel zu Füßen ihrer Mutter faß, ein
fleines, in Wahsthum und Entwidlung zurüdgebliebenes Ge:
ſchöpf, das, troß feiner achtzehn Jahre, noch fehr kindiſch aus:
ſah, und das man im Haufe auch als Kleines Kind behanbelte,
Nach dem Briefe Zelindens wußte ich, daß dieß die Heine Mathilde
war, an deren Berheirathung man, zur Zeit wenigftend, nicht
dachte. Alfo waren bereits alle Schweitern im Salon verfammelt,
mit Ausnahme der Einen, die mich beſonders interefjiren mußte.
Aber ih war ärgerlich, ja ich war etwas voreingenommen gegen
fie, weil fie nicht Bertha oder die Gräfin war, und dieß um fo
mehr, als ich auch ärgerlich gegen mich felber war, weil ich als
Heirathskandidat daftand, in einer Stellung, die mir in dieſem
Augenblide als die lächerlichfte und trivialfte ver Welt erfchien.
Plöglih aber fuhr mir ein leuchtender Gedanke durch Kopf und
Herz, der mich Alles vergefien ließ: Bertha, die Gräfin, meine
Läcerlichkeit, und der mich wahrhaft beglüdte. Ich hätte vor
Freude aufjchreien mögen. Der lieblihe Lockenkopf von heute
Morgen ift ja nicht erfhienen. Vielleicht war es Helene!
Ich fehte mich wieder an meinen vorigen Play zur Baronin
und, aufgeregt von dem Gedanken, daß nun jene liebreizende,
mir beftimmte Helene kommen müfje, plauberte ich ihr mit ner:
vöſer Lebhaftigkeit und mit dem unmillfürlihen Wunſche, ver
Mutter zu gefallen, hundert verfchiedene Dinge vor. Sie glaubte,
daß ih nur der Anmweifung der Gräfin folgte, um fie nicht
270 Novellen.
zu Worte fommen zu laſſen, und lächelte, dankbar für den
guten Willen, felbit zu jeder Plattheit, vielleicht auch zu man:
hem Unfinn. Auch die Gräfin, die mit Andern ſprach, meine
laute Beredtfamkeit bemerfend, nidte mir freundlih und eins
verftändig zu.
Trogdem bemerkte ih, daß ſich dieſelbe Thüre, aus der vie
andern Töchter gelommen waren, leife, beinahe furchtſam öffnete.
Schüctern und im höchſten Grade befangen trat ein Mädchen in
den Salon, ala ob es in eine fremde Gefellihaft und in fremde
Räume träte, ftolperte gleich beim Eintritt über ein Blumen:
geſtell, erröthete und legte die wenigen Schritte zu ihrer Mutter,
während fie ſich den rechten Scheitel verlegen mit der Hand
ftreichelte, mit offenbarer Anftrengung zurüd. Sie hätte ſchon
mit dieſer höchſt mäpchenhaften Schüdhternheit Mitleivden und
Gefallen einflößen können; mich aber überlief es kalt bei ihrem
Anblid, denn die Mutter ftellte fie mir als Fräulein Helene vor,
und fie war nicht der Blondkopf, der fich heute Morgen vor mir
in der Laube verborgen hatte. Es war eine etwas runde und
volle Gejtalt, ein Gefiht voll Güte und Unfchuld, aber von
Formen, denen man eine Abmagerung wünjchte, weil fie nur
unter diefer Bedingung vortheilhafter und plaftifcher hervor:
getreten wären. Auch die Augen, die von mildem Glanze waren,
würden dann gewonnen haben, während fie ihn bei den gegen:
wärtigen Verhältnifjen jehr verkleinerten und bei einigem Lächeln
beinahe ganz verjchwanden. Bei ruhigem Blute und bei näherer
Belanntihaft bat fie mir fpäter beſſer gefallen, aber in zwei
Stunden war fie mir nad) der Gräfin und nad Bertha und vor
Allem neben dem Bilde der Unbekannten, die ich in ihr erwartete,
eine höchſt ſchmerzliche Enttäufhung. Auch beftätigte mir ihr
jpätes und fo jehr fchüchternes Auftreten im eigenen Haufe, daß
ih ihr wie der ganzen Familie ein Heirathskandidat war, und
der Gedanke erfüllte mich mit höchftem Unbehagen. „Man wird
mich beobachten ‚“ dachte ich, „jedes Wort, das ich an fie richten
werde, wird für Kurmacherei gelten, in all’ meinem Thun wird
Zwanzig Millionen. 271
man Abficht und Spekulation vermuthen, Alles wird fie Alle an
die zwanzig Millionen erinnern und ihnen, während fie mich ala
Anverwandten acceptiren, eine ftilfehweigende Verachtung ein:
flößen.“
Ich ſaß meiner Zukünftigen gegenüber auf mehr Dornen
als Roſen. Auch ſie wagte es nicht, mich anzublicken. Flüſternd
übergab fie der Mutter eine Zeitung, die fie mitgebracht hatte,
und deutete auf eine gemwifle Stelle. Die Mutter las, lächelte
und übergab mir dann das Blatt, daß ich die Stelle auch lefen
möge.: E3 war ein eben erjchienenes Abendblatt, das meine An:
funft in Kopenhagen meldete und meinen Namen mit einigen
rühmenden Prädikaten begleitete. Helene betrachtete mich, wäh:
rend ich mein Lob las, mit einer gewiflen Genugthuung, nahm
dann das Blatt, das ich auf den Kamin gelegt hatte, und gab
e3 der Gräfin, aus deren Hand es dann die ganze Geſellſchaft,
die indefjen zahlreich geworden war, durchwanderte.
Endlich kam der Baron und man ging zu Tiſche. Es war
ein gemwöhnliche8 Mittagefien, doch mar eine lange Tafel von
wohl zwanzig Perſonen bejegt, und ſchien mir das Eſſen könig—
lid. Unter den Gäften, die & la fortune du pot famen, waren
zwei Gejandte, ein deutfcher Attahe, Graf Tannen, und mehrere,
dem Hofe und der Regierung nahe jtehende Perjönlichkeiten.
Hinter je zwei Speifenden ftand ein Bedienter; andere trugen die
Speifen auf und ein Maitre d’Hötel im ſchwarzen Frad und
weißer Kravatte jtand am Buffet und dirigirte die Schaar ber
Diener mit feinem Blide. Unfere Pläge waren durch Karten
bezeichnet, die auf der Serviette lagen. Ich kam der Gräfin
gegenüber und neben Helene zu figen, die ich zu Tiſche geführt
hatte. Die Gräfin machte dem jüngern Theile der Tiſchgeſellſchaft
die Honneurs und fie that e3 mit folcher Anmuth, und bei der
Lebhaftigleit, mit der fie Jedermann in das Geſpräch, das fie
fortwährend neu belebte, zu ziehen verftand, leuchteten ihre Augen
jo fehr voll Geift, daß ich die meinen nicht von ihr abwenden
tonnte, Helene bildete einen ſchreienden Kontraft mit ihrer
272 Novellen,
Schweſter. Sie ſchwieg ausdauernd und fchien fi mit der
Bewunderung ihrer Schwefter zu begnügen, ver fie oft zulächelte,
Bon Zeit zu Zeit entriß ich mich dem Zauber der Gräfin, um mic
meiner Nachbarin zu erinnern, die ih ſchon mehrere Male felbft
hatte Waſſer einſchenken lafien. Aber welhe Mühe ich mir auch
gab, ich Eonnte ihr nur fehr kurze und fehr unbedeutende Ant:
worten entreißen; mandmal antwortete fie ſelbſt mit Schweigen.
Es iſt freilich wahr, daß ich diefe Pflichtgefpräche immer wieder
jo bald als möglich unterbrah, um der Gräfin zu laufchen und
zuzufehen, manchmal auch um nad) Bertha hinüberzufchielen und
ihren Verlobten zu beneiden, der, unbefümmert um ven Reft der
Geſellſchaft, gemüthlih mit ihr plauderte. Der junge Attaché,
Graf Tannen, ein fehr gebilveter und liebenswürdiger Mann,
der mir außerdem viel Achtung bezeugte, und Andere, trugen
viel zur Belebung des Gefpräches bei, das ziemlih laut und
ungeziwungen wurde, und ich hätte mich bei dieſem Diner treff-
lich unterhalten, wenn nicht der moralifhe Zwang, meine Nach—
barin zu befhäftigen, auf mir gelaftet hätte. Das ging fo er:
ſtaunlich ſchwer, und ich war nicht gerecht genug, um mir zu
jagen, daß ich das fertige Weſen der Weltdame, das ich an der
Gräfin bewunvderte, und das heitere, glüdlihe Sichgehenlafjen
der Braut Bertha von ihr nicht verlangen und erwarten dürfe,
daß fie ihre Stellung mir gegenüber, wenn fie mich wirklich als
Heirathskandidaten betrachtete, mochte fie mich nun lieben oder
nicht, befangen maden mußte. Um es kurz zu fagen: ich lang:
weilte mich mit ihr, und mwir maren noch nicht bei der vierten
Schüſſel, als ich mich ſchon fragte, ob ein ſolches ganzes Leben
voll Langweile mit zwanzig Millionen nicht außerordentlich ſchlecht
bezahlt ſei? ja, ob es einen Preis gebe, der ein ſolches Leben
aufwiegen könne? Einmal dieſe Frage geſtellt, gab ich mich der
Unterhaltung mit der Gräfin ohne Rückhalt hin, und Helene, die
nun immer öfter das Waſſerglas an den Mund führte, mußte
es ſich mehr als einmal ſelber füllen.
Nach Tiſche miſchte ich mich in die Geſellſchaft und in die
Zwanzig Millionen. 273
allgemeine Unterhaltung; manchmal ſchlich ich allein die Wände
entlang, um die Bilder und allerlei Kunftwerfe, wie Statuen
und Mofaiktifche, die ven Salon jhmüdten, zu betrachten. Ich
dankte ven Gäften, die mir Pläße in ihren Wagen zur Rüdfahrt
nach Kopenhagen anboten, und wanderte gegen Mitternacht zu
Fuß zurüd, allein mit meinen Gedanken. Dieje waren eine fort
währende Variation über jene Frage, die ich mir an der Geite
Helenens geftellt: ob ein langmeiliges Leben mit zwanzig Millionen
nicht zu fchlecht bezahlt jei?
Verdrießlich fam ih in meinem Gafthaufe an; mein Argos
nautenzug ſchien mir verfehlt.
Auf meinem Zimmer fand ich einen Brief meiner Mutter.
Die gute beforgte Frau ſchrieb, als ob fie divinatorifch fühlte,
was in mir und mit mir vorging. „Sch beſchwöre dich,“ hieß es
unter Anderem, „urtheile nicht nach dem erſten Eindrud, wenn
diefer ein ungünftiger fein follte; höre und prüfe Wie oft tritt
ein Mädchen, das aller Welt gefällt, gerade dem, der fie hei:
rathen foll, ins ungünftigfte Licht, weil fie ihm gegenüber ver:
legen und in Folge deſſen unbeholfen, oft ungraziös und lang:
mweilig erſcheint. Hinter dieſen ſcheinbaren Fehlern liegen gerade
die meijten weiblihen Tugenden verborgen: fie find die Hülle
der Bejcheidenheit und Anſpruchsloſigkeit. — Aber laſſe dich auch
von den günftigften Eindrüden, wenn fie von anderer Seite
fommen, nicht von deinem Ziele abwenden, Es ift fo natürlich,
daß man in folhem Momente vergleicht, und da findet man
Manche jehöner, liebenswürdiger, geiftreiher. Aber dieſe ift dir
ja nicht beftimmt — aljo laß di um eines vorübergehenden
Eindrud3 willen nicht um das ganze Glüd deines Lebens
bringen.”
Es war in der That, al3 müßte meine Mutter von Bertha
und der Gräfin und vor Allem von der Unbelannten, ala wüßte
fie, wie mir Helene erfchienen, aber auch welche geheimen Eigen:
ſchaften fie befige. Der Brief rührte mich, denn er zeigte, wie
die gute Mutter grübelte, für mich forgte und wie fie aus purer
Morig Hartmann, Werke. VI. 18
”
274 Novellen.
Sorge eine wahre Welt: und Menfchenfennerin wurde. Ich be
Ihloß, mir ihren Rath zu Herzen zu nehmen, den Argonauten-
zug nicht als verfehlt zu betrachten und meiter zu fteuern.
Viertes Kapitel.
Am folgenden Tage machte mir der Baron von Friedens:
borg jeinen Befuh, und ich konnte bemerken, daß das ganze
Hotel darüber in Aufregung fam, und wie fi in den Gängen
Gäſte und Kellner aufftellten, um den berühmten Mann zu fehen.
Mit dem Studenten, der noch in mir ſtak, fagte ich mir, daß
ih nunmehr ungemefjenen Kredit im Hotel haben könnte. Als
der Baron ging, fagte er: „Ich bleibe in ver Stadt; ich habe
beim Finanzminifterium zu thun und gehe zu Fuß dahin. Mein
Magen jteht zu Ihrer Verfügung, wenn Sie ihn zu Bejuchen
oder Spazierfahrten brauchen. Meiner Familie wäre es am lieb:
ften, wenn Sie ihn zu einer Fahrt nach meiner Villa benugen
wollten.”
Ih nahm dankbar an, doch begleitete ich den Baron erit
durch einige Straßen. An. der Art und Weiſe, wie man ihn
überall grüßte, konnte ich erkennen, daß er nicht nur feines
Reichthums wegen der hochgeachtete Mann, fondern daß er auch
eine beliebte und populäre Perſönlichkeit war.
Die Familie fand ich im Garten verfammelt, und der ganze
Nachmittag verfloß mir mit Geſprächen und Eleinen Spazier:
gängen viel unbefangener, al3 ich es nad den gejtrigen Vor:
gängen in mir erwartet hatte. Und als die Tiſchſtunde kam, ver:
ſtand e3 fi von ſelbſt, daß ich wieder da bleiben ſollte. Es
gab heute etwas weniger Gäſte und der Abend war familienhaft
gemüthlih, gemüthlicher als ich mir ihn bei folhem Reichthum
vorftellen konnte, und jo war er, neben andern Urſachen au
darum, weil man fih nah Tifhe nicht in den großen Prunf:
Zwanzig Millionen. 275
faal, fondern in ein kleines, einfach eingerichtetes Zimmer begab.
Als ich daſelbſt eintrat, überfam mid auf3 Neue die Hoffnung,
daß ich die lieblihe Unbekannte zu ſehen befomme, denn dahin
bien fie mir zu gehören. Es war in mir ausgemadt, daß es
irgend eine arme Anverwandte fei, die man aus Barmherzigkeit
im Haufe habe, die aber bei Tiſche und in größeren Gefellichaften
nicht erfcheine. Der Eintritt in die ſtille Stube, dachte ich, wird
ihr nicht verwehrt fein. Sie fam aber nicht, und ich fegte vor:
aus, dab man die arme Anverwandte planmäßig fern balte,
um die Töchter des Haufes nicht von ihrer Schönheit überftrahlen
zu laſſen. Vielleicht aber auch ijt fie die Gouvernante der gräf:
lihen Kinder? Vielleicht ift fie fremd im Haufe, war jie geftern
nur zufällig anmwejend und du wirft fie nie wieder zu ſehen be:
fommen. Keine der drei Möglichkeiten eröffnete die Ausſicht auf
eine nähere Bekanntſchaft und näheren Umgang mit der Unbe:
kannten, und ich gab mir Mühe, fie mir aus dem Sinne zu
ihlagen, was mir im Laufe der nächſten Tage auch gelang.
63 gelang mir, weil diefe Tage eine Zeit voll Bewegung
und Herjtreuung waren.
Die jungen Damen wollten ſelbſt meine Führerinnen durch
die Merkwürdigkeiten der Hauptitadt machen, und bei diefer Ge:
legenheit, wie jie ſich ausdrückten, ihre heimiſchen Schätze unter
meiner Anleitung erjt recht fennen und beurtheilen lernen. So
zogen wir denn durch das an Mufeen und Gallerieen jo reiche
Kopenhagen, und von Kirche zu Kirche, von Monument zu Mo:
nument, von Atelier zu Atelier. Ueberall fprangen vor meinen
Führerinnen Thüre und Thore auf; überall beeiferten ſich Di:
reftoren, Kuftoden und Künftler, ſich zuvorkommend zu erweifen;
wir drangen überall in das Verborgenfte; für uns gab es feine
Verbote und feine feitgejegten Stunden, und eriftirte feines der
Hindernilje, die oft den Fremden ftören. Zum erften Male fühlte
ih, in dem MWiederjcheine, der von den Damen auf mich zurüd:
fiel, die Süßigfeit des Reichthums — und damit zugleich fühlte
fich meine Eitelkeit gejchmeichelt, denn fie folgten und horchten
276 Novellen.
mir wie Schülerinnen überall, wo wir hiftorifhe, archäologifche
oder artijtifche Gegenjtände zu ſehen befamen. Es hatte fich rafch
das Verhältnik gebildet, das immer entiteht, wo gebildete Frauen
mit einem Manne zufammentreffen, dem jie höheres Willen, als
das ihrige ift, zufchreiben. Sie lernen jo gerne und ordnen fich
lieber unter.
Aber diefe Wanderungen, die jo große Reize hatten, waren
denn doch nicht ganz ohne Unbehagen. Wie fehr ich mir vorge:
nommen hatte und in der That mir Mühe gab, gegen die gute
Helene aufmerffam zu fein, id war doch aufmerkſamer gegen die
Gräfin und gegen Bertha. Mit meinem Worte richtete ich mich
meift an die Gräfin; während des Sprechen erinnerte ich mich
meines Entſchluſſes und drehte mich gegen Helene, um gegen
meinen Willen vor Ende des Satzes mein Geficht wieder der
ihönen Gräfin zuzufehren. E3 war ein fortwährenvder Kampf
zwifchen Neigung und entgegengefegter Abfiht. Die Damen
merften vielleiht nicht3 davon, aber ich fürchtete, daß ihrem
weiblichen Gefühle doch auffallen müſſe, daß die kluge Gräfin
die Abfiht und die gute Helena das Beleidigende meines Weſens
empfinde, und es ſchmerzte mich, die Eine zu kränfen, und in
den Augen der Anderen verächtlich zu erfcheinen. Trogdem fiel
ich fortwährend aus meiner Rolle, und troß dem fortwährenden
Ausderrollefallen fam ich mir jelbjt wie ein ausgemachter Ko:
mödiant vor, und dieſes Bewußtſein fchnitt mir manchmal mitten
in der Rede das Wort ab. Während wir 3. B. die Loggien des
Thorwaldſen-Muſeums durchwanderten und ich die reizenden
Basrelief3 nad) der Anthologie erklärte, war es mir, al3 ob mir
der beleidigte Genius des Schönen, zornig mie der böfe Geijt
binter Gretchen, zuflüfterte: Wer erlaubt dir, über deal und
Schönheit zu fprehen? Haft du nicht mit Beiden gebrochen ?
Haft du did und fie nicht verrathen? Bift du hier, um Ideale
zu fuchen oder um Millionen zu erhaſchen? Wo ift die Har:
monie, in der du bisher mit dir felber gelebt? Wo ift vie Wahr:
beit? Was du fprichft ift Lüge! Wer die Götter der Wahrheit
Zwanzig Millionen. 277
© und Liebe in feinem Innern umgeſtürzt, der ſucht fie vergebens
in der Kunft und was er fpricht ift Wind, Wähnſt du, daß dir
Jene glauben können, die wiſſen, daß du nicht dieſer Götter
wegen, fondern des Mammonz halber hierher gemwallfahrtet biſt?
Ich verftummte plöglih und wäre am liebften wie ein von
den Eumeniden verfolgter Verbrecher aus diefem Tempel hinaus:
geftürzt.
„So fahren Sie dod fort,” fagte die Gräfin, „jagen Eie
und doch etwas über diefen Eros und die unzähligen Heinen
Amoretten! Wir wollen doch auch fehen, wie ſchön Sie über
die Liebe fprechen können.“
Enthielten diefe Worte eine abſichtliche oder zufällige Jronie?
Wollte fie damit jagen, daß es fih nit um die Sache, jondern
bloß um das Talent handle, über die Sache fprehen zu können ?
Auf diefe Aufforderung hin wurde ich erft recht einfylbig.
Zu der Art Momenten und Empfindungen fam noch Ans
deres hinzu, um den Zwieſpalt in mir Hlaffender zu machen.
Weiß der Himmel, wie in großen Häufern die intimften Fami—
liengeheimnifje den Leuten verrathen werben; fo viel iſt gewiß,
daß fie, auf denen immer fo viele Augen ruhen, ſtets mehr Vers
traute haben, als obfture bürgerlihe Familien. Jedes Schlüffel-
(och ift ein Beobahtungspunkt, ein Ohr des Dionyſius für jeden
Bedienten, und mo viele Bediente find, fchnappt jeder etwas
auf, einen Sat, ein Wort, eine Sylbe, die dann im Vorzimmer
und in der Küche zu ganzen zufammenhängenden Gejhichten zu:
fammengefegt werden, und dieß um fo leichter, al3 die Diener
die Charaktere ihrer Herren fo gut kennen und wiſſen, weſſen fie
fähig find, weſſen nicht. Dazu kommt, daß in folden Häufern
ein Menſch in Livrde faum mehr als Menfch betrachtet wird;
man fpricht vor ihm, wa3 man feinem Gentleman feiner Bes
fanntichaft anvertrauen möchte, und er wird zum unbeadhteten
Vertrauten. Nun hat die ganze Welt der Dienerjchaft fein Ge:
beimniß vor einander; in den langweiligen Stunden, die das
Gefinde verfchiedener Häufer, die Herrfchaft erwartend, in den
278 Novellen.
Vorzimmern verbringt, taufchen fie ihre Beobadhtungen aus, und
die eine Herrfchaft wird die nie gefuchte Vertraute der andern.
Bon Kammerdiener zu Kammerdiener, von Stubenmäbdhen zu
Stubenmädchen läuft eine Nachricht wie von einer Telegraphen-
ftange zur andern, bis fie an der Hauptitation, bei der Herr:
ihaft, anlangt, Wie viele Weltmänner und Damen danken ihre
Allwiffenheit diefem Telegraphen, der beim Rafiren oder Frifiren
fungirt! Man mochte Helene vor meiner Ankunft mit ihrer Reife:
befanntichaft genedt haben ; man mag bie und da meinen Namen
genannt haben; nun fam ich an, wurde mit der größten Freund»
lichfeit aufgenommen, in der Zeitung, die alle Bedienten vor der
Herrſchaft lefen, wurde ich angekündigt und zwar als berühmter
Mann, wie fonft Diplomaten und StaatSmänner, die ins Haus
famen; bei Tifhe faß ich neben Helene und war nun immer mit
der Familie. Meine Lage war dem Gefinde Har und den Freunden
des Haujes bald fein Geheimniß. Das Gefinde fam mir mit un:
geheurer Unterthänigfeit entgegen, die Geſellſchaft des Haufes
forſchend, fpähend, unficher, zmweifelnd, vielleicht war ic Man:
chem ein Stein des Anftoßes, ein Nival, ein Hinderniß in
feinen Plänen für einen Anverwandten. E3 wurde mir manche
ironische Bemerkung gemacht, die ich oft erft nachträglich verftand.
Sie mochten e3 halten wie fie wollten; fie waren mir gleich:
gültig und ich fing an mich etwas abzuhärten. Aber Graf Tan
nen, jener junge deutfhe Attaché, der mir Anfangs fo viel
Achtung erwiefen, fih mir bei jeder Gelegenheit näherte, meine
Gefjellihaft und mein Geſpräch auffuchte, mied mich jet fichtlich,
und wenn er mit mir ſprach, wandte er da3 Gefpräc immer auf
meine Wiſſenſchaft, in der er etwas dilettirte, vermied aber jedes
Geſpräch über perfönlihe Gegenftände oder Gegenjtände des
Herzens und des Charakterd. Kam ich felber auf ſolche, ſchwieg
er und ich glaubte einige Ironie, wenn nicht felbft Entrüftung
an ihm zu bemerken. Er hielt mic offenbar nicht für berechtigt,
bei dergleihen meine Stimme abzugeben. Bon allen Freunden
und Bekannten des Haufes war er derjenige, der mir die meilte
Zwanzig Millionen. 2379
Sympathie einflößte, Er war ein höchſt gebilveter junger Mann,
ohne Standesvorurtbeile, aber von feiten, unerfchütterlichen
Grundfägen, mit denen er jo wenig prahlte wie mit feiner Vor:
urtheilslofigkeit. Sein Titel, wie die angeborene, nicht ermor:
bene Stellung, und die Leerheit diefer legteren, ſchienen auf ihm
zu laften, und er fuchte vor feinem eigenen Gewiſſen, jo zu
fagen, von der Pike auf zu dienen und zu verdienen, was ihm
durh Zufall zugefallen. Solche Menſchen nehmen es immer
ernfthafter und ftrenger mit fich al$ e3 irgend ein Avancements-
oder Anciennetätsgejeß, oder irgend ein Vorgeſetzter thun würde,
Das gab feinem ganzen Wefen, troß jeiner Jugend, er mochte
vierundzwanzig Jahre alt fein, etwas Gefegte und Ruhiges,
und wie alle Menſchen, die einem Ziele entgegenleben, das fie
der Welt, der fie angehören, nicht ohne Gefahr befennen dürfen,
und die fih außerdem in diejer Welt fremd fühlen und einen
Kampf mit ihr voraugfehen, hatte er etwas Melancholiſches, das
feinem feiten, gerade vor ſich hinblidenven, dunkelblauen Auge
einen gewinnenden Ausprud voll Milde gab. Bor Allem fchien
er mir auch der Familie Friedensborg am Innigſten zugethan, und
mit einem antizipirenden Samiliengefühl war ich ihm dafür dank:
bar, und ich fagte mir gleich in den erjten Tagen, daß, wenn ich
einen Bertrauten bedürfte, ich diefen jungen Mann wählen würde.
Er mußte, wo e3 Rath galt, immer das Richtige und Gerade zu
finden. Nun aber wandte er fich offenbar von mir ab, und ih
meinerfeit3 fonnte feinen Rath nicht brauhen. Was konnte er
mir jagen, wenn er das Richtige und Gerade jagen follte? Wenn
Sie Helene lieben, heirathen Sie fie! Wenn nicht, reifen Sie ab!
Für mein Berhältniß zum Grafen Tannen war ich nod
nicht genug abgehärtet. Er war jung, und es gibt feinen un:
barmberzigeren Richter al3 die Jugend; fie ift abfolut in An:
fihten und Gefühlen; milvernde Umftände läßt fie nicht gelten.
Und ich follte noch vor einen anderen jugendlichen Richter
gejtellt werden.
Eines Nachmittags, da han fich eben zu einem gemeinschaft:
2830 Novellen.
lihen Ritte bereit machte, die Pferde vor die Veranda geführt
wurden, wo fi die Gejellichaft verfammelte, und ich indefjen
mit der Gräfin im Garten am Haufe plaudernd auf: und ab:
ging und mid an dem Anblid der ftolzen Amazone in Reitkleid
und Eleinem Männerhut mit weißer Feder erquidte, erſcholl aus
dem feinen Pavillon hinter dem Haufe das anmutbhigfte Kinder:
gelächter. „Apropos!” ſagte die Gräfin, „ih mwollte Jhnen ja
meine Kinder vorjtellen! Kommen Sie!”
Mährend wir hinter das Haus und dem Pavillon entgegen
gingen, fuhr fie fort: „Es iſt Ihnen vielleicht aufgefallen, daß
meine Kinder fo jelten zu jehen jind? Es beruht das auf meinem
Erziehungsplane; fie wohnen mit mir abgefondert in diejem
Pavillon und fommen fo felten als möglich in die Billa, wenig.
ftens nicht am Nachmittage. Wir werden von fo vielen Menſchen
beſucht, und da gibt e3 immer Ungeſchickte, die, um der Mutter
oder dem Großvater zu ſchmeicheln, den Kindern Dinge fagen,
melde eine fonjequente Erziehung von Monaten und Jahren in
einem Augenblide zu nichte machen.“
Am Pavillon angefommen, rief fie zu einem offenen Feniter
hinauf: „Fräulein Agnes, fommen Sie gefälligjt mit ven Kindern
herunter!” — Dann zu mir gewendet, jagte fie mit leiferer
Stimme: „Sch habe da eine Berfon bei ven Kindern, eine Deutiche,
auf die ih mich volllommen verlafien fann, troß ihrer Jugend.
Sie ift unterrichtet und zu einem erftaunlichen Grade pflicht-
getreu, und dabei von einer Wahrhaftigkeit des Charalterd, die
in der That außerorventlih, ich möchte fagen phänomenal ift,
und fie beinahe zu einem Sonderling macht. Das ift vortrefflic,
wenn die Kinder nur Wahrheit vor ſich ſehen, aber es ift beis
nahe gefährlih, diefe Gouvernante in Gefellihaft erfcheinen zu
lafjen; fie könnte manchmal mit einer Wahrheit herausplagen,
die die ganze Gefellihaft in Verlegenheit brächte, Aber bei aller
ernten Grundlage ihres Charakters und ihrer Grundſätze ift fie
doc fo findlih und jugendlih, daß fie die Kinder volllommen
verfteht und ich einen wahren Schag an ihr habe.“
Zwanzig Millionen. 281
Die Gräfin unterbrah fih, denn in dem Augenblide trat
die Oouvernante mit den beiden Kindern aus der Thüre. Es
war, wie ich es geahnt hatte, jener blonde Lockenkopf, den ich
am eriten Morgen in der Laube gefehen hatte: die einfachſte und
zugleih auffallendfte Erſcheinung. Sie hatte jene Schönheit, die,
jo zu jagen, von ihren Befigerinnen abhängt; man kann an
ihnen vorübergehen, ohne fie zu bemerken, fie glänzen und leuchten,
fobald fie ſich gehen lafjen, wenn fie fich in ihrer Befcheidenheit vers
gejlen oder glänzen wollen. Sie ſchob die Kinder fanft voraus
und blieb an ver Thüre ftehen; in ihrem dunklen Kleide, das
bis an den Hals geſchloſſen war, mit den eng anliegenden Aer—
meln, aus denen zwei längliche, weiße Hände hervorfamen, um
ih, wie fie befcheiven herabfielen, von dem dunkeln Kleide noch
marmorner abzuheben, jah fie wie ein Bild im Rahmen aus,
wie der Wirklichkeit entrüdt und doch fo nahe, fo lebend, fo mit:
denkend und fühlend. Erft als mich ihr die Gräfin vorftellte,
trat fie aus dem Rahmen heraus und einige Schritte näher.
„Fräulein Agnes Gillmer, die Erzieherin meiner Kinder!“
jagte die Gräfin.
Sie verneigte ſich mit der Zurüdhaltung einer Dienenden,
ohne daß ſich eine Muskel ihres Geſichts bewegte, und trat dann
wieder einen Schritt zurüd. Gegen alle Gefege der Artigkeit, die
man einer Mutter ſchuldig ift, befhäftigte ich mich mit den
Kindern der Gräfin nur auf die fürzefte und oberflächlichſte Weiſe.
Ich war verlegen, ich glaube, daß ich erröthete. Wie gerne ich
einige Worte an Agnes Gillmer gerichtet hätte, und obwohl
ih ganz wohl wußte, was ich ihr fagen fonnte, da der Name
Gillmer ein fehr hübfches Bild der Erinnerung in mir ermedte,
— ib war unfähig, einen Laut hervorzubringen. Ich war nur
Eines Gedankens fähig: auch fie kennt mich als Heirathgfan:
didaten bei den zwanzig Millionen !
Ich war wie von einem Alpdrüden befreit, ald man ung
zurief, daß Alles zum Auffigen bereit fei.
Mein armes Pferd befam heute die Sporen zu fühlen, wie
282 Novellen,
niemals; es jtedie mit feiner Lebhaftigfeit die andern an, und
die Geſellſchaft kam nicht aus dem Galoppiren. Das war mir
recht, denn ich fürchtete nichts fo fehr wie ein Geſpräch, e3 war
mir immer, als fäße Agnes hinter mir und verfolgte mich mit
veradhtungsvollen Bliden. Aber der wilde Huffchlag der zahl:
reihen Pferde, der Anblid des unvergleihlih ſchönen Buchen:
waldes, der ſich nördlich von Kopenhagen bhinzieht und des
blauen Meeres, das bie und da dur eine Lichtung fihtbar
wird, beraufchte mich um jo jchneller, als ich dem Allen ſchon
aufgeregt entgegenfam; und da nah halbjtündigem Ritt die
Pferde langjamer gingen, mar ich der Gefprädigite in der Ge-
fellihaft. Um das natürlichfte Gegengewicht gegen die Gefühle
zu fihern, die, wie der alte Dichter fingt, hinter mir auf der
Groupe jaßen, ließ ich mein Pferd neben Helene einhertraben.
In der Amazone ſah die etwas volle Geſtalt nicht am vortheil:
haftejten aus; aber es war mir, als hätte ich ihr etwas abzu:
bitten, und vor mich hinſehend auf den Kopf meines Pferdes,
unterhielt ich mich fortwährend und ſprach mich endlich in eine
Märme und Lebhaftigkeit hinein, die ich ihr bisher noch nicht
gezeigt hatte. Sie hörte fo dankbar zu, und ich empfand ein
ſolches Mitleid mit ihr, daß ich gerührt war und ihr gerne die
Hand hinüber gereicht hätte. Erſt auf dem Rückwege wurde ich
von ihr getrennt, indem fich Graf Tannen zu uns gejellte und
mid, wie er es ſchon feit mehreren Tagen nicht gethan hatte,
in ein freundfchaftlihes Geſpräch vermwideltee Dabei hielt er
manchmal für Momente das Pferd an, dann ließ er es immer
langjamer vorwärts jchreiten, jo daß wir am Ende von der Ge:
jellihaft getrennt waren.
Da brad er mit Einem Male das bisherige Gefpräd ab
und fagte plöglih und ohne Uebergang: „Sie find nahe an zwei
Stunden mit Fräulein Helene allein geweſen; wie finden Sie
das Mädchen 9“
Ich war von diefer Frage überraiht und fühlte, was Alles
hinter derjelben ftedte. Die Komödie, zu der ich mich verdammte,
Zwanzig Millionen. 283
jollte jegt- beginnen; Graf Tannen war ein intimer Freund des
Hauſes; es war am Plage, ihm zu verftehen zu geben, daß ich
Helene liebe; aber er ſah mich bei feiner Frage fo offen und
durhdringend an, daß id) nur fagte, was ich in jeder anderen
Lage mit beftem Gewiſſen hätte fagen fünnen: „Sie ift fo gut!”
„Sp gut!” wiederholte Graf Tannen mit einiger Parodie.
„But fein! es ift das Befte und Schönfte, was man von einem
Menſchen jagen kann, aber man braudt das Wort gemöhnlich
al3 einen Mantel chriſtlicher Liebe; man fagt es, wenn man
nichts Anderes zu jagen weiß. Herr Born, ich fage Ihnen, ich,
der ich die Familie länger und näher kenne, ich fage Ihnen, es
ift ein ganz vortrefflihes Geſchöpf.“
„Ich bin davon überzeugt,“ verficherte ich.
„Ich wollte aber mehr jagen,” fuhr Graf Tannen mit zit:
ternder Stimme fort, „ich wollte jagen, daß Helene werth ift,
wirklich und wahrhaftig geliebt zu werden, um ihrer felbft willen,
und daß fie verdient, glüdlich zu fein.”
Durfte ih es zu einer weiteren Erklärung fommen lafien?
Durfte ich den Grafen fragen, warum er mir das Alles fage?
Ich mußte mit Ruhe antworten und ich that es unabfihtlic auch
mit Wärme, daß ich in diefer Beziehung ganz und gar feiner
Meinung fei.
Er ſah mich forſchend an und ritt langfam der Geſellſchaft
nah, die fi nad uns umgejehen hatte.
Ich geftehe, daß ih mir ganz jämmerlih vorkam. Wäre
mir fonjt ein Mann fo entgegengetreten, um mich auszufragen,
um mir Andeutungen zu machen, die eine Zurechtiveifung ent-
hielten, und hätte er mich dann, nad einem folchen forjchenden
Blide fo entlafjen, ich würde mich empört haben, ich wäre im
Stande gewefen, jede ftudentifche Thorheit zu begehen. Jetzt
war ich Hug und berechnend. Auch meine Freundlichkeit gegen
Helene erſchien mir jegt als eine Heuchelei, und dieß um fo mehr,
als mir das Bild Agnefens ohne Unterbrehung vorſchwebte.
Aber, troß der Kühle, mit der ich meinen Plan ins Werk zu
284 Novellen.
jegen begann, lebte ich in einem fortwährenden Raufche, in dem
Raufche des Reichthums. Diejes gefättigte, üppige Reben hatte
mich ganz gefangen genommen, und ich fonnte den Gedanken an
eine Trennung von demjelben nicht mehr faſſen. Diefe Leich
tigkeit, fih alle Genüſſe zu verſchaffen, dieſe Freiheit aller
Wünſche, diefer wahre Zauber, den der Reichthum übt, ver
Alles berbeifchafft, Alles beherrſcht, — ih hatte mir vorher
feine Borftelung davon machen können. Jeder Tag bradte
andere Genüffe, andere Freuden, laute und ftille, aber immer
gejättigte. Die Menſchen, die in Armuth und Entbehrung leben,
erihienen mir wie zu einer anderen Gattung zu gehören. Und
ich lernte nicht nur das Verführerifche des Reichthums fennen,
aud feine Größe und Macht trat oft genug an mich heran.
Un einem Nahmittage ftanden wir Alle auf einer erhöhten
Terraſſe des Gartens verfammelt, um ein herrliches Schaufpiel
zu genießen. Seit dem Morgen wehte ein günftiger Norowind,
und mit ihm war am Nachmittag eine ganze Flotte von Kauf
fahrern, die den günftigen Wind zur Einfahrt in den Sund jen-
jeit3 Helfingör erwarteten, auf der Höhe von Klampenborg ans
gekommen. Segel an Segel fuhr an uns worbei, dem Hafen
von Kopenhagen zujteuernd oder meiter in andere Häfen des
baltifhen Meeres.
„Papa!“ rief Bertha, auf einen gewaltigen Dreimajter
zeigend, „ilt das nicht dein Edhiff, der Thomas ?“
„Ja wohl, mein Kind,“ antwortete der Baron, „er fommt
aus Rio Janeiro,”
„And jenes iſt die Henriette, mit der Büfte ver Mama vorn !*
rief Helene in die Hände Hatfchend.
„Ja mein Kind,” fagte der Baron, „die Henriette kommt
vom Gap und hat eine gute Fahrt gemacht !”
So zog eine ganze, dem Baron gehörige Flottille an ung
vorbei, aus allen Weltgegenden fommend und NReichthümer ber:
beibringend, während er ruhig daftand und faum lächelnd zuſah.
Er erfhien mir in dem Moment wie ein mächtiger Herrſcher,
Zwanzig Millionen, 285
ber die Fäden feiner Macht über den Erdball ausbreitet. — Und
ein andermal, da wir bei Tiſche faßen, trat eilig ein Beamter ein,
der ihm einige Worte zuflüfterte. Der Baron fprang auf und rief:
„Der Figkönig ift geitrandet! — und die Mannſchaft?“ fragte er.
„Sie ift gerettet,” antwortete der Beamte,
„Gottlob,“ rief ver Baron beruhigt, „Ichreiben Sie ſogleich
nah Glasgow, wohin fie fih mwahrjcheinlich begeben wird, an
unfern Korrefpondenten und an den Konful, daß für die Leute
aufs Beſte geforgt werde.” — Dann ſetzte er fich wieder ruhig
bin und nahm das Geſpräch auf, wo es der Beamte unterbrochen
hatte, ala ob nicht3 geſchehen wäre.
Er mahnte mid an Sidon und Tyrus, deren Kaufleute, wie
Jeſaias jagt, Fürften waren, und deren Händler die Geehrten
der Erde. Hätte mir mein Schwiegervater angeboten, mich zu
feinem Compagnon zu machen, e3 hätte mir gejhienen, als
würde ich zu einem Mitregenten ernannt. So weit entfernt war
ih Schon von dem, was mir früher Glüd gemefen.
Fünftes Kapitel.
Mit beftem Willen könnte ich heute nicht mehr jagen, ob ich
von nun an Agnes Gillmer, feit dem Tage, da ich ihr durch die
Gräfin vorgeftellt worden, mit Abfiht oder dur Zufall öfter
gefehen habe. Ich mußte nun, wo fie zu finden war, und
wollend oder nicht wollend, trugen mich meine Füße in die Nähe
de3 Pavillons, Der Baron war in Jägers-Prijs, einem der
zahlreichen Luſtſchlöſſer des Königs, und feine Bibliothek ftand
mir während diefer Zeit als Arbeitszimmer zur Verfügung. Ich
follte die Morgenftunden , während welcher die Damen meilt un:
fihtbar waren, daſelbſt verbringen, und zu diefem Zwecke begab
ich mich fehr früh in die Villa; aber die Morgen waren fo ſchön
in diefen feenhaften Gärten, daß ich fie den Studien, denen ich
286 Novellen.
ſchon fo entfremdet war, nur mit Widerwillen opferte — be:
fonders feit ih wußte, daß um diefe Stunden Agnes im Garten
zu finden war. Ich juchte fie nicht auf, aber ich fand fie immer,
obwohl fie mir auswich. Wenn fie auch in Geitengänge ihre
Schritte lenkte, jobald ich in ihrer Näbe erſchien, fo jaben mid
doc die Kinder, liefen auf mich zu und zogen mich oft an der
Hand zu ihrer Erzieherin. Ich fam mir da manchmal mie jener
- oft gemalte Mann vor, den Amoretten der holden Braut ent:
gegenführen. Aber die Amoretten bemübten fich vergebens;
Agnes empfing mich ftet3 mit einem zugleich freundlichen und
eisfalten Geſichte, das jelbjt abſchreckend ftreng wurde, wenn ich,
fieberifch aufgeregt in ihrer Gegenwart, etwas wärmer und
inniger mit ihr zu jpreden begann. Meine Märme beleidigte
fie. Ich erjchien ihr al3 ein Menſch, der ins Haus fommt, um
eine reihe Partie zu machen, nebenbei aber der Gouvernante
den Hof macht. Ich ahnte jo was und fürdtete, daß fie mich
mit der von der Gräfin angekündigten Geradbeit eine Tages
derb zurücdweijen werde; id mar voll Angjt, während ich mit
ihr ſprach und zitterte wor einer Beſchämung. Doc konnte ich
von dem Spiel mit der Gefahr nicht ablafjen, ebenfo wie ich
bald ihre Gejellfchaft, ihren Anblid nicht entbehren konnte. Es
war mir bald, als käme ich nur ihrethalben ins Haus — und
mandmal hoffte ich auf jene Beſchämung mie auf eine Rettung,
denn, bätte fie mir gejagt, daß ich ein unwürdiges Spiel treibe,
was hätte ih, um mich bei ihr zu entſchuldigen, Anderes ante
worten fünnen als: ch liebe Sie, Agnes!? — Aber Agnes
ſchwieg; fie befhämte mich nicht; fie ſah mich manchmal felbit
mit einem unendlich mitleidigen Blide an, als ob fie den ganzen
Yammer, der mich bei mir jelbjt herabjegte, erfannt hätte. Es
fam mir fogar vor, al3 wollte fie manchmal Anderes ald Be:
ſchämendes zu mir ſprechen, al3 wollte fie mich tröften und auf:
richten, und in diefem Gefühle konnte ich nicht anders, als ihr
Hagen und die Gelegenheit vom Zaune brechen, um ihr zu fagen,
daß e3 wenige glückliche Menſchen gibt. |
Zwanzig Millionen. 287
Man erzählt von einem Menfchen, ver dur Jahre ein
merkwürdiges Doppelleben lebte. Die Tage verlebte er in Elend
und Mangel, im Traume der Nacht aber lebte er al3 fpanijcher
Grande, in einem herrlichen Schloſſe in Balencia, ein Dafein
voll Glück und Genüſſe. Jede nächſte Nacht brachte die Fort:
jeßung des Traumes der vorhergehenden Nacht, fo daß der
Träumer nicht mehr wußte, was Traum, was Wirklichkeit war,
und am Ende den Traum für Wahrheit, vie Wahrheit für Traum
bielt. Ich führte ein ähnliches Doppelleben. Der Menſch, der
des Morgen? neben der Gouvernante durch den Garten ging,
war mit feinem ganzen Weſen ein anderer, al3 der Menfch, der
Nachmittags in Gefellihaft der Herrinnen des Haufes den
Freuden nahjagte, und mehr und mehr ſich in die Genüfle und
Gewohnheiten des Reichthums hineinlebte. Manchmal verflofien
dieje beiden Menfchen in Einen.
Die Baronin, immer kränflih, wurde unmohl und ver:
brachte ihre Nachmittage, auf einem Sopha liegend, unter ver
Deranda, wo fi nunmehr die Familie verfammelte, um ihr Ge:
jellfchaft zu leiften. Sie wollte aber auch ihre Enfelinnen um fich
haben, und jo war auch Agnes immer anmwefend. Eines Nach—
mittags fam man ans Erzählen von Erlebniffen, und die Gräfin
forderte mich auf, meine Lebensgeſchichte zu erzählen; Helene
unterjtüßte diefe Forderung mit einem bittenden Blide, während
fie abſichtslos näher rüdte und die Handarbeit ruhen ließ. ch
mußte lächeln, denn von meinem Leben war wenig zu erzählen,
und in dieſer Weberzeugung begann ih auch auf nadläflige
Weife mit einzelnen bingemorfenen Sätzen. Aber wie ih von
der Einfachheit meiner Jugend, von unferer Heinen Wohnung,
von den Sorgen und Mühen meiner Mutter ſprach, überkam
mich diefen Millionärinnen gegenüber plöglih der Stolz; des
Armen, und wie ih an meine Mutter und die ftille Jugend
dachte, zugleich eine Wehmuth und Wärme der Erinnerung, daß
ich mit Liebe auf das Einzelnſte unſeres armen Haushaltes ein:
ging. Meine Erzählung wurde zu einer Elegie über den früh
288 Novellen.
verftorbenen Vater, zu einer Hymne über die gute, forgenvolle,
nie ermüdende Mutter, und im Ganzen zu einer Idylle, die das
Leben einer. Wittwe und eines Waiſenknaben ſchilderte. Ich
malte mich mit meiner Mutter an dem armbejegten Tijche, dann
des Abends mich, den Knaben, an meinen Büchern, und fie,
mit dem Stridjtrumpf in der Hand, vor berjelben Talgferze;
dann wie fie mit mir lateinifch lernte, indem fie mich meine
Lektionen überhörte. Dann unfere Trennung und unfer jähr:
liches Wiederfehen zu Weihnachten; mich al3 Studenten und
Stundengeber in der Univerfitätsftadt, fie in ihrem Landſtädt—
hen, fparend und arbeitend und immer von Ferien zu Ferien
wartend, harrend, Glüdsträume für den Sohn ausſpinnend.
Erzählend vergaß ich meine Zuhörer, und malte diefe Bilder für
mic) felber au, und ohne es zu wollen, ſchloß ich mit einem
Ausruf über unſer Glüd.
Sch bemerkte, erjt nachdem ich geendet, daß ich die aufmerf-
famjten Zuhörer hatte. Die Gräfin fand meine Schilderung rei-
zend und meinte, ich folle das doch aufichreiben; Helene be:
neidete das Glüd der Armen. Dann wurde man jchweigjam.
Der Himmel weiß, welche Reflexionen durch die verjchiedenen
Köpfe gingen. Die Kinder lehnten jih an meine Kniee und jahen
mid groß an; fie wollten, daß ich nod etwas erzähle Die
Baronin drüdte mir die Hand und zog mic ind Haus zurüd;
ihre Töchter begleiteten fie, und Helene grüßte mich bejonders
freundlich, al3 ob fie mir fagen wollte: „ch bin überzeugt, daß
du mich nicht meines Geldes wegen heirathen willft. Agnes blieb
mit den Kindern, die nicht fort wollten, und da ich das Auge
zu ihr erhob, begegnete ich einem Blide, der mir wie ein Licht:
ftrahl ins Herz drang. Ich fühlte, daß fie fih mir nach meiner
Apologie der Armuth näher fühlte, daß fie mir gut war. Ich
ftredte unverjehens die Hand aus, wie um ein unverhofftes
Glüd zu erhaſchen, und ich ergriff ihre Hand, die ich drüdte
und die ich fo gerne gefüßt hätte. Die Heine Gitta, ihre Schü:
lerin, ſah uns Beide erftaunt an und fragte dann plöglic:
Zwanzig Millionen, 289
„Onkel Born, ift es wahr, daß du die Zante Helene. heirathen
wirft ?“
Ich war ftarr und blidte das Kind blöpfinnig an, ohne ein
Mort erwidern oder die Hand zurüdziehen zu können, was id
doch fo gerne gethan hätte; aber Agnes 309 vie ihrige leife fort
und ging mit den lindern aus der Veranda.
Bernichtet fank ich auf meinen Stuhl zurüd; das glüdfelige
Gefühl war dahin; es hatte nicht eine Minute gevauert. Ich
fonnte aufftehen , ich konnte der Heinen Gitta nachlaufen und ihr
fagen, daß e3 nicht wahr fei, daß ich Tante Helene nicht hei—
rathen werde! Da war fie ja, die Gelegenheit, die ih manchmal
und dunkel gewünſcht hatte! Aber follte ich mich jo mit Einem
Worte aus meiner geträumten Zukunft verbannen? — alle
meine Pläne vernichten? Nein, ich konnte aus den Armida=
gärten, in denen ich lebte, nicht heraus und mieder zurüd in
da3 arme, unfcheinbare Leben. D meld ein Lügner war ih, ala
ih vorhin das Glüd der Armuth jo Schön fchilderte, und meld
ein Betrüger! Und doc ein ſchlechter, ein ungeſchickter Betrü-
ger, denn ich habe Agnes nicht betrogen. Ich ſchlich mich fort
aus der Billa und machte einen Ummeg, um nicht an eine Stelle
zu fommen, wo ich vom Pavillon aus von Agnes gejfehen wer:
den konnte. Meinem gebeugten Naden hätte fie die Laft ans
fehen müfjen, die ich mit mir forttrug; meine Stirne brannte
von Schande,
Bald jollte ich Agnes noch öfter und ungeftörter fehen. Die
Baronin wurde ihres Unmwohljeins wegen nad Marienlyft, jen«
ſeits Helſingör, gefhidt, in jenes reizende Schlößchen, das jept
in eine Art Kurplak verwandelt ift, und hart am Ufer des
Sundes der ſchwediſchen Küfte gegenüber liegt. Die Krane
follte port Seebäder nehmen und vor Allem der Ruhe pflegen.
Sie fuhr mit der ganzen Familie auf dem eigenen Dampfichiffe
des Barons, auf der Ophelia, dahin ab, während Wagen und
Pferde den vier bis fünf Meilen langen Weg zu Lande zurüds
legten. Nur die Gräfin mit ihren Kindern blieb zurüd, da in
Morig Hartmann, Werke. VI 19
290 Novellen.
diefen Tagen einige Mitglieder ver Familie Kirkjteen nach Kopen-
bagen fommen follten, die fie empfangen mußte, und mit denen
mandherlei Familienangelegenheiten abzumahen waren. Ich
mußte verſprechen, demnächſt naczufommen, um die an fi
teizenden und durch die Poeſie Shafejpeare’s verflärten Gegenden
und endlich deren wundervolle Architefturen, von meinen bis:
berigen Führerinnen geleitet, kennen zu lernen.
Die Anverwandten der Gräfin famen bald nad) der Abreife
der Familie Friedensborg, und ich war mit Agne3 und den
Kindern Stunden und Tage lang allein, da mich die Gräfin ges
beten hatte, nunmehr den Bejchüger des Haufes zu machen. Es
war jetzt ftille in Haus, Garten und Park. Ich führte die Kinder
auf die Spaziergänge, als wäre ich ihr Hofmeijter; ich erzählte
ihnen Märchen, al3 wäre ich ihr Onkel, und ich faß mit ihnen
und Agnes um einen Tiſch, al3 wären wir zufammen eine ganze
Familie. Welche ſchönen und fonderbaren Gedanken kamen mir
oft, wenn wir fo da faßen. Ich ſagte mir, daß diefer Garten
nur ein eines Gärtchen, und dieſe Billa nur ein Feines Dorf:
oder Vorftadthäuschen zu fein brauchte, und daß Alles nicht um
ein Yota weniger ſchön wäre, Aber ich verwies mir ſolche Ge
danken al3 ivealiftiiche Träume, denen man nicht entgegenjtreben
dürfe. Agnes wurde von Tag zu Tage fchöner, auch jünger, da
fie den ftrengen Ernſt gegen mich ablegte, aber trotzdem ehr:
würbiger; es war mir, al3 beurtheile fie mic von der Höhe
herab und als wäre fie meine Gouvernante mehr al3 die der
Kinder, ohne daß mich das gevemüthigt hätte. Ach fie war
immer fo rubevoll, und id) fragte mich, ob, wenn fie die zwanzig
Millionen befäße, ich den Muth hätte, ihr zu fagen: „Agnes,
ich liebe Sie!“
Nur einmal fah ich fie in glüdlichjter Aufregung.
Wir faßen nah dem Eſſen noch am Tiſche, als fie mid
fragte: „Welches ift die ſchöne Erinnerung, die ſich bei Ihnen
mit meinem Namen Gillmer verbindet? Sie erinnern fih? Sie
fagten mir da3 einmal.”
Zwanzig Millionen, 291
„Ja,“ fagte ih, „eine liebliche Erinnerung, beinahe fo lieb:
ih, als die fein wird, wenn ich nach Jahren an diefe Tage
zurüdvenfen werde. Ich war noh Gymnaſiaſt und mochte acht:
sehn Jahre zählen, als ich eine Ferienreiſe durch den Harz
machte. An einem klaren Morgen kam ich durch ein Dorf und
an einer Kirche vorbei, aus der eben die Schuljugend trat. An
der Thüre ftand der Pfarrer und blidte mit Liebe und Wohl:
wollen auf die Kleinen Blondköpfe herab; mandem griff er in
die Loden, um ihm etwas Freundliches zu fagen, manchen bielt
er auf, um ihm eine fanfte Ermahnung zulommen zu lafjen.
Alle die Kinder, die er liebfoste, wie die er ermahnte, fahen
mit einer unendlichen Liebe zu ihm hinauf. Er mollte eben in
fein Pfarrhaus zurüdtreten, al3 er mich erblidte und offenbar
auf den erften Blid meinen Stand erkannte. Er lächelte wie bei
der Erinnerung an glüdlihe Jugendtage, da er fo geweſen war
wie ib, und wie gute Greife beim Anblide frifcher, in die Welt
binausftürmender Jugend zu bliden pflegen. Er grüßte mid
lateinifh und ich antwortete, Dann ftredte er mir die Hand ent:
gegen und fragte mich in derſelben Sprache nad Heimat und
Reiſezweck; dann lud er mich ein, bei ihm einzufprehen. Bor
dem Haufe war ein von milden Reben bevedter Gang, in wel:
chem Tiſch und Stühle ftanden, und wo der gute Pfarrer zu ar:
beiten pflegte, denn auf dem Tiſche und auf den Stühlen lagen
Papiere und Hafliihe Bücher. Er freute fih, wie ich in den
Büchern herumftöberte und mich in Manchem bewandert zeigte.
Ehe eine halbe Stunde unferer Belanntfchaft verlaufen war, lafen
wir ſophokleiſche Chöre mit einander, Wie herrlich las der Alte
den Chor aus der Antigone: Vieles Gewaltige lebt! und wie ver:
ftand er jede Schönheit mit einem Worte zu charakterifiren! Neben
dem mohlthuenden Eindrud, den mir da3 vwäterliche und mweife
Weſen viefes Mannes machte, erhob mich noch der Gedanke und
erfüllte mich mit Stolz, daß ſolche Männer in Deutfchland auf
dem Dorfe zu finden find. Auch fagte ih mir, jo wäre mein
Vater, wenn er noch lebte, und fo follten wir uns bejtreben,
292 Novellen.
Alle zu fein; fo ruhevoll in fih, jo im Eleinen Kreiſe große
Pflichten erfüllend, und fih am Schönen nährend und ewige
Jugend bewahrend. Es war eine jener Stunden, in denen ich
die beiten Vorſätze faßte; es war eines jener Beifpiele, die am
mächtigsten auf mich wirkten.”
Ich ſchwieg, denn ich fagte mir, was Agnes denken müfje;
daß das Beifpiel nicht nachhaltig gewirkt, daß die Vorfäge längft
verflogen find. Wie durfte der Mann, der nah Millionen jagte,
die holde Beſchränkung jenes Dorfweifen rühmen ?
„Fahren Sie fort,” bat Agnes, indem fie die Worte mehr
hauchte als ſprach.
„Es iſt nicht viel zu erzählen,“ ſagte ich; „er ließ mir ein
kleines Frühſtück vorſetzen, und es war mir, als wäre ich bei
irgend einer ſchönen Geſtalt der Dichtung, bei einem Bilar of
Wakefield zu Gaſte. Dann zeigte er mir feine Kleine Bibliothek
und den Garten, den er jelber pflegte. Gegen Mittag verlieh ich
ihn. Er drüdte mir die Hand und fagte: Mein Sohn, vergiß
nie, was du in der Jugend dachteſt. Das Belte, das wir leijten
können, ift die Erfüllung unferer jugendlichen Pläne.”
Ich ſchwieg wieder, erbrüdt von dem Gedanken, wie wenig
ich diefem Rathe nachgekommen.
„Und viefer Mann hieß?” fragte Agnes mit zitternder Stimme.
„Baftor Gillmer !“
„Dein Bater,” fagte Agnes glüdlich Tächelnd.
„Ihr Vater!“ rief ich, „lebt er noch?“
„Er lebt, heiter und glüdlich, wie immer; jung und liebend,
wie immer.”
„Könnte ich ihn wieder jehen,” fagte ich gerührt; „fein An-
blif würde mir recht wohl thun. Es ift fonderbar! In verſchie—
denen fchwierigen Lagen meines Lebens mußte ich feiner gedenken,
den ich kaum durch Stunden gekannt habe. E3 war mir immer,
als könnte ich bei ihm den beften Rath finden. Und jegt ift mir
auch fo.”
Es machte mir den Eindruck, als wollte fie die Nolle über:
Zwanzig Millionen. 293
nehmen, die ich ihrem Vater zudachte, und ihn bei mir erfegen.
Mehrere Male ließ fie fich an diefem und den folgenden Tagen
die Morte wiederholen, die er beim Abſchiede an mich gerichtet,
und offenbar hatte fie die Abſicht, mir fie fo oft ala möglich ins
Gedächtniß zu rufen. Sie fnüpfte allerlei Reflerionen daran,
und einmal auch die Frage, wie es fomme, daß ich, der ich mic)
des Stillleben3 mit meiner Mutter und des idyllifchen Lebens
ihres Vaters mit ſolcher Liebe erinnere, offenbar darnach ftrebe,
mich diefer Art des Dafeins fo ſehr als möglich zu entfremden?
Ich wich ſolchen Fragen mit allgemeinen Antworten aus. Eine
gerade Antwort hätte ein Bruch mit meinen Plänen oder ein
Riß durch die Verbindung mit Agnes werden können. Zu beiden
fehlte mir die Kraft; der Umgang mit diefem anmuthsvollen
Weſen war mir eine Nothwendigkeit geworden, wie der Bejig der
Millionen. Aber diefe ausmweichenden und charalterlofen Ant:
worten entfernten jie nicht mehr, ftießen fie nicht mehr jo ab,
wie e3 früher ojt ein Wort, ja meine bloße Erſcheinung gethan
hatte. Sie hatte Geduld mit mir, fie gab mich nicht auf, fie
wollte mir offenbar beiftehen; fie ſagte fih, daß fie eine Pflicht
an mir zu erfüllen hatte. Aber da kam ein Brief der Baronin,
welche ihre Enkelinnen zu fich berief, nad denen fie Sehnjudt
hatte. In diefem Briefe wurde ich wiederholt zu einem Beſuche
in Marienlyft eingeladen und zugleich gebeten, Fräulein Agnes
mit den Kindern zu begleiten und ihren Befhüger zu machen,
da die Gräfin noch nicht ablommen fonnte, Die Dampfyacht des
Barons, die Ophelia, follte und nach Helfingör bringen und dann
dort bleiben, um Ausflüge zu erleichtern.
Die Ophelia erwartete und nur einige hundert Schritte vom
Haufe. An einem berrlihen Auguftmorgen gingen wir an Bord
und dampften hinaus in den blauen, ſchimmernden Sund. Keine
Wolfe und fein Lüftchen regte fi, das Meer war durchſichtig
wie die Atmofphäre, und der Blick konnte eben fo ungehindert
in die geheimnißvolle Tiefe dringen, wie in die Wälder Däne—
marks und in die Buchten und Berge Schwedens. Vorbei ging's
294 Novellen.
an lieblihen Fifherdörfern und an reizenden Landhäuſern, die
alle von ſchattigen Buchenwäldern umjäumt find. Wenige Küjten
der Welt find jo jhön mie diefe; an wenigen Punkten der Erbe
vermäbhlt ſich die Ueppigfeit ver Pflanzenwelt jo wahr und innig
mit der Größe und Anmuth des Meered. Was Land und Meer
des Schönen bieten fönnen, vereinigt fih hier; Norden und
Süden geben fich hier einen Kuß, jener durch die jchattigen Buchen,
diejer durch das fommerlihe Meer vertreten, das jo jehr vem
Hellefponte gleiht. Schweden mit feinen in Duft getauchten Ber:
gen liegt da wie ein Märchenland, das eben nicht ſchöner ijt ala
die Wirklichkeit; Helfingborg, auf dem die Sonne liegt und das
ih im Meere fpiegelt, gleicht einer Fata Morgana. Die Inſel
Hveen, mit den Ruinen von Schloß und Sternwarte Tycho Brahes,
wo er in den Sternen las und Weisheit und Thorheit trieb,
Wahrheiten ergrürdete und phantaftiihe Träume aushedte,
ſchwärmt auf den Wellen, wie die Inſel eines Zauberers, eines
Prosper, der da mit einer Miranda wohnt und von einem Ariel
bedient wird. Wir gehen ein in die Traum: und Zauberjphäre;
der Geiſt Shakeſpeares, der dieſe Gegenden verflärte, wie fie die
Natur mit Schönheit ausjtattete, fängt zu wirken an. Es war
eine felige Fahrt! Die Kinder tummelten ſich auf dem Berdede
umber und jauchzten auf, wenn unten ein Geeftern am Schiffe
vorüberflog; Agnes ftand neben mir und blidte ſchweigend wie
ih in die fchöne Welt. E3 war mir, als führe ich mit ihr dem
Glüde entgegen. Wir waren allein; auf eigenem Schiffe. Da
war fein Getümmel, kein Stoßen der Paflagiere, kein Aus: und
Einfteigen; Kapitän und Matrofen umgaben uns wie dienende
Geifter. Nichts ftörte in Traum und Genuß. So hätte ich mit
Agnes hinausfteuern mögen ins unendliche Meer, in die unend-
liche Welt, um irgend an einer einfamen Küfte zu landen. Schers
zend fagte ich zum Kapitän: „Fahren Sie hinaus aus dem Sund
und landen Gie ung an den azoriſchen Inſeln!“ Und zu Agnes
gewendet fuhr ich fort: „Die Infeln find ein Reft der glüdjeligen
Atlantis.”
Zwanzig Millionen. 295
Sie lächelte und fagte: „Die glilckſelige Atlantis ift überall;
am Fuße des Weihnachtsbaumes bei Ihrer Mutter und im Garten
meines Vaters, in feiner Laube, wo Sie den Sophofles mit ihm
gelefen haben.“
Ich bejahte es, aber ich dachte auch zugleich, daß der Dampfer,
auf dem ich die glücjelige Fahrt machte und auf dem ich in alle
Melt fteuern wollte, nicht mir gehörte, und dab es ſchön fei,
einen ſolchen Dampfer zu befißen. ft es nicht ein Zaubermantel,
wie fi ihn Fauſt wünfchte?
ALS das getbürmte Kronborg, das den Sund beherrſcht, und
gleih darauf Helfingör auftaudhte, fing ih an, von fchönen
Lebenzftunden Abjchied zu nehmen. Wie romantiſch und phan—
taftifch au das alte Schloß und die ältere Stadt Helfings, des
alten Normannenreden, grüßen und loden, mir war e3, als zöge
ich dorthin wieder platter Alltäglichkeit entgegen — und als wir
in den Heinen Hafen einbogen, und und vom Damme her die
Taſchentücher der Damen Friedensborg entgegen wehten, war e3
mir, al3 erwachte ic aus einem ſchönen Traume, um wieder die
Arbeiten und Mühen des beichränften Dafeins zu übernehmen.
ALS ich Agnes an der Hand faßte, um ihr übers Brett auf das
Land zu helfen, drückte ich fie, wie zum Abjchied.
Sechstes Kapitel.
Man weiß es, daß die Hamlet:Sage urfprünglid in Jütland
zu Haufe ift, und eigentlich mit diefen Gegenden nichts zu thun
bat; aber Shalefpeare hat fie hierher verleyt; fein Trauerfpiel
fpielt in Helfingör, und er war ſtärker als Sage und Gedichte.
Mer glaubt nun nicht an Hamlet3 Grab, an Ophelia's Quelle
und an die ‚Terraſſe“, auf der der Geift erſchienen? In der Mitte
diefer heiligen Stätte der Dichtung liegt das Feine Schlößchen
Marienlyft, das wir bewohnten; die Terrafje erhebt ſich unmittel-
296 Novellen.
bar hinter dem Haufe, und von diefer Terraffe aus blidt man
über den Sund nah Schweden hinüber; zu Füßen der Terraſſe
ziehen die Schiffe dahin. Alte Bäume, heimlihe Gebüfche faujen
und flüjtern dem Schloſſe in ihrem Schooße Geheimniſſe zu; ger
wundene Pfade verlieren fi in verftedten Lauben und Winkeln;
die vor dem Haufe auf der Wiefe und in den Arkaden wandeln,
ſehen aus wie Glüdlihe. Die Natur, die Kunft und die Erin-
nerung an einen großen Genius, der diefen Boden zu geweihtem
Boden machte, vereinigen fich hier, um Herz und Kopf mit einem
heiligen Raujche zu erfüllen.
Spät am Abend ſaßen wir auf der Terraffe, und ich las den
Damen Hamlet vor. Die Lampe hatte ich ausgelöſcht und las
beim hellen Zmwielicht der nordifchen Sommernadt. Ich las mit
Andaht und man hörte mir mit Schauer zu. Der Hain unter
una — der Mond über der See, deren Stille Seufzen zu ung
herüberdrang — die einzelnen Lichter aus den Häufern Helfing:
borg3, da drüben in Schweden, die auf dem Sunde zu ſchimmern
ſchienen — die ſchwediſchen Berge, deren Fuß in Nebel, deren Haupt
in Mondlicht getaucht war — manchmal ein Auf der Wache auf den
Mauern von Kronborg, oder ein Geſangsbruchſtück, das von einem
vorbeijegelnden Sıhiffe kam — Alles das bildete eine vervollitän:
digende Beigabe und Ecenerie unferer Vorlefung. Aber mein Auge
und mein Wort wandte fich vorzugsmeife einem Heinen Lichte zu,
das aus einem Hinterftübchen von Marienluft fam. Dort wohnte
Agnes, und fie la3, wie man am Schatten erkennen konnte, in
einem Buche. Sie war allein; wieder ausgejchloffen von unferer
Gefellihaft. Und während ich da draußen deflamirte und mand:
mal die Stimme erhob in der Hoffnung, von ihr gehört zu wer⸗
den, kam ich mir ſelbſt wie ein Heiner, parodirter Hamlet vor,
der zu feinem Entſchluſſe kommen kann.
Die Damen gingen, tief erfchüttert von der Vorlefung, ins
Haus zurüd; ich irrte noch lange in den Gebüjchen umher und
bielt endlich auf ver Anhöhe, auf welcher die Fernröhren aufge:
ftellt find, vermitteljt welcher man von hier aus die Schiffe in
‚Zwanzig Millionen. 297
die weite See verfolgt und in die Thäler Schwedens blidt. Ich
richtete eine3 nad dem Fenfter Agneſens — ih fah nur ihren
Schatten auf den weißen Vorhängen, und auch diefer verſchwand
plöglih, da das Licht erlofh. Es war mir das wie eine andeu-
tende ſymboliſche Handlung, daß fie mir wieder entrüdt fei; und
fie war es aud. Seit unferer Anfunft wandelte fie wieder allein
mit den Kindern umber, oder faß fie auf ihrer Stube. Schon
am erjten Abend wurden Pläne zu Ausflügen entworfen, an
denen fie natürlich nicht Theil nehmen follte, da fie mit den
Kindern bei der Baronin bleibedt mußte. Ich werde fie nicht eine
Viertelftunde jo wiederſehen, wie ich fie in den legten Tagen
gejehen hatte — und doch glaubte ich, ohne fie nicht leben zu
fönnen,
Unwillfürlih trug mich mein Schritt am Morgen nad) der
Borlefung auf die Höhe zurüd, wo ich in ihr Fenfter jehen konnte,
Aber ich ſah fie kaum; die Entfernung war zu groß — ich jah
nur wie einen Schatten. Da fiel mein Blid wieder auf das
Fernrohr, das noch ihren Fenſtern entgegengerichtet war; ich
löste es vom Geſtelle los, verftedte mich in das Gebüſch und
legte es zmwijchen zwei Zweige. Ich ſuchte nur einen Augenblid
lang die Richtung und fie jaß jo nahe bei mir, daß ich fie glaubte
athmen zu hören; ich ſah of feinen, blauen Aederchen auf ihrer
Schläfe, die langen Wimpern, das feidene Haar. — „Agnes, ich
liebe dich!” flüfterte ich vor mich hin, als ob ich e8 ihr ing Ohr
flüfterte. Es ſchien mir, als ob fie darauf tief auffeufzte, al3 ob
fie in großer Aufregung wäre. Jetzt erjt bemerkte ich, daß fie da
faß und ſchrieb; die Buchftaben lagen groß vor mir — das erfie
Wort, das ich lad, war mein Name. Ych konnte nicht weiter
lefen, e3 flimmerte mir vor den Augen und ich erhob den Kopf.
Da war ich wieder fo fern von ihr. Soll ich lefen, was fie
ſchreibt? Iſt es nicht eine Heiligthumsentweihung, wenn ich einen
Blid in da3 unbewachte, jungfräulihe Gemüth werfe? Vielleicht
fchreibt fie ihr Tagebuch? Vielleicht fchreibt fie, daß fie mid
liebt? Die Verfuhung mar ungeheuer, ich erlag, Das Fern:
298 Novellen.
rohr war nicht mehr auf das holde Gefiht, e8 war auf das
Blatt gerichtet und ich las:
„— mit welcher Liebe er deiner'gedenkt! Ein Herz, das dich,
mein theurer Vater, jo zu würdigen verfteht, muß troß Allem
ein edles Herz fein. O wäreſt du da, um ihn an fich felbft zu
erinnern, um ihm in feinem Ringen beizuftehen und ihn zu
retten, denn er wird elend, unglüdlich jein fein Lebenlang, wenn
er fih verleugnet und dieſen Verrath an fich felbit begeht. —
Könnteft du nicht kommen? Sit eine ſolche Rettung nicht der
Reife wertb? Ich weiß es, mein guter Papa, du haft nichts und
die Reife würde die Hälfte deiner Einkünfte verfchlingen ; aber
ib habe etwa3 erfpart. Eieh, mein guter Bapa, ein Fleden auf
diefer Seele würde mir einen ewigen Summer bereiten, eine
Enttäufhung, die ich nie verfchmerzen würde, denn — dir fage
ih ja Alles — ich liebe ihn! und mit weldhen Schmerzen !”
Das Rohr entfiel meiner Hand ind Gras, und ich ftürzte
aus dem Gebüfche. Vielleicht wäre ich ind Haus geeilt und hin:
auf in Agnefens Stube; aber ich hörte plöglich überall meinen
Namen rufen, und nicht wiſſend, ob es Täufhung, ob Wirklich:
feit war, folgte ich betäubt dem Nufe und faß, ehe ich zur Be:
finnung fam, im Wagen, um, wie e3 verabrebet war, nad)
Friedrichsborg zu fahren. ch war betäubt, ich ließ mich hin:
fahren, ich glaubte, ich werde entführt. Der Weg geht fortwährend
durch Buchenmwälder, ohne daß man darum den Anblid des Meeres
nur durch Minuten verlöre; bald blidt es durch Hellen und Hals
den, bald, wenn man nur über Eleine Hügel fährt, breitet e3 fi)
in feiner ganzen Größe aus; wie oft glaubt man, durch die enge
Nachbarſchaft von Wald und See getäufcht, daß ein Segel mitten
durch die Buchenfäulengänge vahingleite. Es ift wie ein Zauber,
ein Traum, ein Märchen; die elfenhafte Phantafie kann nichts
Schöneres erfinnen. Und doch erwartet den Wanderer am Ende
diefes Weges noch etwas Schöneres, oder vielmehr e3 erwartete
ihn einft, denn jet ift e3 dahin, das Wunder Dänemarks, des
ganzen Nordens, die Schöpfung Chriftiang IV., das herrliche
Zwanzig Millionen. 299
Schloß Frievrihsborg. Da jtand es plöglih, aus einem Gee
mitten im Walde hervorragend, mit Zinnen, Thürmen und
Zinken, mit Bildern und Säulen, in allen Farben glänzend,
al3 ob ein Waflernir feine Nefivenz für einige Zeit aus ber
frpftallenen Tiefe and Licht der Sonne emporgehoben hätte, um
während der lieblihen Sommerzeit bier Hof zu halten, wie vom
Elfenkönig O’Donoghue in Irland erzählt wird. Inmitten all
dieſer Schönheit hatte ich Entſchuldigung genug für meine Schweig:
ſamkeit; ſchwiegen doch auch die Anderen, die nicht heute, fo wie
ih, durch ein Wunder erfuhren, daß fie vom jchönften Herzen
geliebt werden. Wer hat den Muth des Wortes in Gegenwart
unendliher Schönheit? Nur der fie nicht fühlt. E3 war einmal
ein Knabe im Morgenlande, der follte zum Hüter der Schäge des
Sultans und darum ftumm gemacht werden, „O,“ fprad er,
„Sultan, mache mich anjtatt zum Hüter deiner Echäße, zum
Hüter deiner ſchönen Tochter, der ſchönſten aller Brinzeflinnen,
und ich werde fie anfehen und von felbit verftummen, ohne daß
mir die Zunge herausgejchnitten zu werden braucht.“
An den folgenden Tagen ging e3 zu den Hünengräbern,
über den Fjord nad Röskilde zu den Königsgrüften, dann in die
Wälder von Jägers: Prijs,, dann nad der Inſel Hveen, dann
nah Schweden: überall hin, wo Schönes war, wo Rauſch und
Genuß war, und überall war Agnes nidht mit, wohl aber ver
Dämon, der mir immer wieder ind Ohr flüfterte: „Nur jo zu
leben iſt des Lebens werth! Und du kannſt nicht mehr anders
leben !“
Agnes war ſchon feit zwei Tagen abmwejend und mit den
Kindern nah Kopenhagen zurüdgelehrt — und ich hatte es nicht
gemerkt — und al3 ich mit der ganzen Familie auf der Opbelia
felbft vahin zurückkehrte, dachte ich an die einfame und ftille Fahrt
und an die Träume, die mit ung an Bord waren, wie an einen
längftvergangenen Traum, defjen Beitimmung e3 war, beim Ers
wachen zu verſchwinden und fich in Nicht zu verflüchtigen.
Graf Tannen erwartete und am Landungsplage. Als er
300 Novellen.
Helene an meinem Arme jah, lächelte er ganz eigenthümlich
bitter, und es fam mir zum erften Male der Gedanke, daß er jie
möglicherweife liebe. Sein Benehmen gegen mich erjchien mir
nun in anderem Lichte; e3 war Eiferfucht, es war nicht Miß:
achtung; er wollte jene nur verbergen, indem er dieſe errathen
ließ — und ih fah ihn kühner und herausfordernder an als
vorher. Er jchüttelte den Kopf, al3 ob ihn mein Auftreten in
irgend einem Gedanken, irgend einer Vermuthung beftärfe. Ich
mar unangenehm überrafcht, al3 er ſich Abends, da ich die Villa
verließ, an mich anſchloß, um mid in die Stadt zurüd zu be
gleiten, und etwas betroffen, als er mich, in der Stadt ange:
fommen, dringend einlud, ihm in feine Wohnung zu folgen.
Als der Diener die Lampe brachte, bat mich Graf Tannen
um die Erlaubniß, fie zurüdichiden zu dürfen; e3 plaudere ſich
beſſer in diefer lichten Dämmerung. Ich willigte gerne ein; tro:
dem rief er bald darauf dem Diener zu, die Lampe herein zu
bringen. Er war aufgeregt, ging mit großen Schritten in der
Stube auf und ab und bereitete ſich offenbar zu einem Gejpräche
vor, über deſſen Inhalt und Zweck er mit fich noch nicht einig
war. Er gejtand mir das auch offen, und bat mich zu wieder:
holten Malen um Entfchuldigung. Dann rief er wieder dem
Diener und bejtellte zwei Rheinweinflaſchen. „Zwei Deutjche,”
fagte er mit erzwungenem Scherze, „können ſich feit Tacitus’
Zeiten nur beim Trunfe recht ausfprechen, beſonders wenn e3
ih um Wichtiges handelt.”
Er ſchenkte ein und wir faßen da und tranfen köſtlichen
Johannisberger und plauderten, aber das Wichtige, das er mir
angelündigt, fam nicht zum Vorſchein; er fuchte im Gegentheil
die unmichtigften und gleihgültigften Gegenftände aufs Tapet zu
bringen, und erzählte mir unter Anderem, daß der Wein, den
wir da tranfen, ein Gejchent des Fürften Metternich an feinen
Vater fei. Er fam mir ſonderbar vor, diefer fo ernfthafte, junge
Mann, der fonft nur Gefpräche über beveutendere Fragen liebte.
Er trank mehrere Gläfer und fchien fih im Meine und mit vielen
Zwanzig Millionen. 301
Morten den Rauſch bejchleunigen zu wollen. Endlich hatte er
Muth und zugleich Kaltblütigkeit genug, um gleichgültig hinzu:
werfen, was ihm gerade das angekündigte Wichtige war.
„Run,“ fragte er lächelnd, „kommen Sie ala glüdlicher Ver:
lobter zurück?“ Ä
„Verlobter?“ rief ih achjelzudend, eben fo gezwungen, mie
er auf feinen ſcherzhaften Ton eingehend.
Richt?” fragte er etwas erjtaunt, doch offenbar erfreut, „es
wäre doch Zeit, endlich Ernft zu machen; ſchon fpriht man in
® der Stadt davon, wie von einer ausgemachten Sache.“
„Wovon fpriht man nicht? Fräulein Helene kann e3 er:
tragen; fie iſt nicht zu fompromittiren.”
„Allerdings,“ lachte Tannen, „mit zwanzig Millionen ift
man unlompromittirbar.”
„Und mit Helenen3 und der Familie Charakter,” fügte ich
ernster hinzu.
„Sie haben Recht ‚“ fagte Tannen plögli in einem anderen
Tone. „Alſo Sie haben nit um fie angehalten? Ich war über:
zeugt, daß der Aufenthalt in Marienlyft Alles zum Abſchluſſe
bringen müfle. Oder fehlt e3 Jhnen an Muth? So will id
Ihnen fagen, daß Sie dem Alten fehr wohl gefallen; er hat, wie
er fih ausdrückt, an Ihnen „herumgeförjchelt”“ und Sie gut ber
funden; die Baronin wünſcht fich feinen. liebenswürdigeren
Schwiegerſohn, die Gräfin feinen lebhafteren Geſellſchafter.“
„Und die Hauptperjon? von der ſchweigen Sie?"
„Die Hauptperfon ift Ihnen geneigt, und Sie brauchen ſich
nur durch wenige Tage anzuftrengen — ich feße voraus, daß
Gie das in Marienlyft gethan haben, um ihr ganzes Herz zu
gewinnen. Die gute, befcheidene Helene ift jo dankbar.”
„Aber, lieber Graf, fagte ich etwas ftugig, ja gereizt, „wie
fommen Sie dazu, von Anftrengung zu ſprechen?“
„Es bedarf alfo der Anftrengung nicht? Defto befjer!”
„Ich verftehe Sie nicht I“
„Sie lieben aljo Helene? fragte der Graf, indem er bie
302 Novellen.
Lampe etwas zur Seite ftellte, um mir befjer ind Auge jehen
zu fönnen.
Ich erhob mi, und indem ich die eine Hand nad) dem Hute
ausſtreckte, ſagte ih, „Herr Graf, ich habe nicht die Ehre, Sie
lange genug zu fennen, um Gie zu meinem Bertrauten zu
machen.”
Der junge Mann ftrich fi mit der Hand über die Stirne,
auf der einige Schweißtropfen erjchienen, jeufzte tief auf und
jagte:
„Ich gebe Ihnen gern zu, Herr Born, daß ich zudringlich
bin, daß ich fein Recht auf Ihr Vertrauen habe, und daß ich
Ihnen Urſache gebe, mich gehörig zurüdzumeifen. Aber hören
Sie mich — ich bitte Sie.”
Er fette fich wieder auf denjelben Pla, von dem er bei
meinen Worten aufgeltanden war, beugte ſich vor über den
jhmalen Tifh und fagte langſam und eindringlich: „Sch Liebe
die Familie Friedensborg; fie bejteht aus lauter vortrefflicen
Herzen, und ich habe ein gewiſſes Mitleid mit ihr, da ich fie
meilt von Menſchen umgeben jehe, die etwas von ihr wollen,
die fie ausbeuten, die durch fie emporzufommen wünichen. In
ihrem Tumulte leben die Friedensborg in der größten Einfamteit,
bei dem innigften Wunfche, wahre Freunde zu haben. D die
Schatten des Reichthums find eben fo fühl, als fie dunkel find,
Bor Allem aber liebe ih Helene!“
Der Graf ſchwieg wieder einen Augenblid, dann fuhr er
leife lähelnd fort: „Sie fehen, daß ich ein gewiſſes Recht habe,
mich in Ihr Vertrauen zu drängen, da ich Sie zubringlichermeife
zu meinem Vertrauten made. Ich habe Ihnen hier ein Wort
ausgeſprochen, das noch niemals über meine Lippen fam, aus
genommen meinem Bater gegenüber. Ja, ich liebe Helene, das
beite unter diefen guten Herzen. Aber glauben Sie nit, daß
ih Sie alle diefe legten Wochen aus Eiferſucht gerne von ihr
entfernt hätte, oder daß es Eiferfucht ift, die mich jegt mit Auf:
regung, die ich nicht verbergen fann, von ihr und von Ihrer
Zwanzig Millionen, 303
möglichen Verlobung mit Helenen ſprechen läßt. Sie wird jeden:
falls jemand Andern heirathen, nicht mich. Ich denke nicht daran,
jemal3 um ihre Hand anzuhalten. Mein Bater ift ein Legitimift
aus der alten Schule; die Heirath feines Sohnes mit einer Tochter
der roture würde ihm den empfindlichſten und wahrhaftigſten
Kummer verurfahen, noch mehr der Gedanke, daß man mic
für einen jener Adeligen halten könnte, die nad bürgerlichem
Parvenugeld jagen. Ich will meinem Vater diefen Kummer um
jo lieber erjparen, al3 ich überhaupt nicht zu heirathen gedenke,
und als es Helenen während der langen Zeit unſeres Umganges
nie eingefallen ift, daß fie mich heirathen könnte. Freilich habe
ich mich ihr niemals hofmachend genähert; aber bei meinen Grund:
jägen und Anſichten von der Liebe foll diefe ohne Hofmacherei
fommen. Außerdem balte ich mich für frank, Vielleicht täufche
ih mich, aber bei mir ift es ausgemadt, daß ich endlich nad)
Madeira oder Egypten werde gehen müffen, um ein ſchwächliches
Dafein zu frijten. Wäre Helene nicht in Kopenhagen, ich wäre
vielleiht fchon in Kairo. Ich will das junge Leben eines lieben
Geſchöpfes nicht an eine zweifelhafte Eriftenz fnüpfen. Sie jehen,
es ift nicht Eiferfucht, nicht Selbftfuht —" —
Er unterbrach, ftand auf und ging einige Male im Zimmer
auf und ab — dann fuhr er mit zitternder Stimme fort: „Sch
möchte Helene nur an einen Mann verheirathet ſehen, der fie
liebt. Sie braucht da3, fie fann anders nicht glüdlich fein. Aber
ih bin um ihr Glüd beforgt, denn fie hat eine Eeele voll Ber:
trauen und wird Dem glauben, der ihr jagt: „Ich liebe dich!“
Er jegte feinen Spaziergang durch die Stube fort, aber lang»
famen, befümmerten Schritte. „Wenn ich wüßte, daß Sie He
Ienen lieben, Herr Born, ich wäre glüdlih, fie an Ihrer Seite
zu ſehen.“
Ich ſchwieg. Ich war keines Wortes fähig. Ich ſaß da wie
der Verbrecher vor feinem Richter fit und nachdenkt, ob er be:
fennen foll oder nicht? Aber ich fagte mir, daß, wenn ber junge
Mann no länger fo fortfahre, ich wohl befennen werde, und
304 Novellen.
ih fuchte nah Mitteln, das Geſpräch abzubrehen, um einem
äußerften und entjcheidenden Entihluß zu entgehen. Ich hätte
ihn wohl mit feinem Vertrauen eben fo zurüdweijen fönnen, wie
ich zu Anfang gethban hatte; er war weder Vater noch Bruder
Helenens, noch trat er als Bevollmädhtigter der Familie auf;
aber in der Wahrheit feines Gefühles, mit dem Ausdrud tiefiten
Kummers auf dem Geficht ſchien er mir zu Allem berechtigt. Auch
fagte er mir, daß das Entjcheidende, was er mir mitzutheilen
babe, no kommen müfle; es madte mir den Eindrud, als ob
alles Bisherige nur Vorbereitung gemwefen.
„O müßte ich, ob Sie Helene lieben oder nicht!” rief der
Graf plögli, indem er mitten in der Stube ftehen blieb.
Ich erhob mi, um zu antworten, er aber fiel mir rafch ins
Dort: „Entjhuldigen Sie, es war ein Monolog; ich habe un:
willtürlic meine Gedanken ausgefproden ; Sie follen mir darauf
nicht antworten.”
Dann ſtellte er fich wieder vor mich hin, und beide Hände
auf den Tiſch ftügend, fagte er: „Ich muß Ihnen noch Manches
anvertrauen. Bitte, hören Sie mid. Ich bin rei, fehr reich.
Meine Mutter hinterließ mir Güter im Werthe von zwei bis drei
Millionen, deren unbeſchränkter Herr ih bin — von einer uralten
Tante erbe ich einft, vielleicht bald, ein ungeheures Vermögen.
Mein Vater iſt auch reih —“
„Aber, Herr Graf, wozu dieſe Auseinanderfegung — ih
fange an, Sie nicht zu verftehen ‚” rief ich etwas ungebulbig.
Anftatt aller Antwort ging der Graf an einen andern Tiſch,
ergriff eine Feder und ſchrieb rafch einige Zeilen auf ein Papier,
darauf er dann ein Siegel drüdte. Dann nahm er das beſchrie—
bene Papier und ſchwenkte es ftehend in der Luft, wie um die
friſche Schrift trodnen zu laſſen. So blieb er felbitvergefien
ftehen, regungslos; nur manchmal bewegte ſich der Arm und da3
Papier. Ohne dieſe Heine Bewegung hätte er wie eine Statue
oder wie ein Kataleptifcher ausgefehen. Seine Augen ftarrten
glanzlos vor fih bin. Ich fragte mi, ob er unmohl fei,
Zwanzig Millionen. 305
befinnung3los oder verrüdt. Ich bewegte mich, um ihm entgegen
zu gehen, aber dieſe Bewegung mwedte ihn; er feufzte tief auf
und ging wieder auf den Tiſch los. Sein Geficht war blaß, mie
das Geſicht eines Todten, als er fi) wieder zu mir herüberneigte.
Er wollte ſprechen, unterbrach fi aber, und indem er that, ala
ob er da3 Licht der Lampe regeln wollte, drehte er daran und
verfleinerte die Flamme, daß e3 im Zimmer beinahe ganz dunkel
wurde. Dann ftieß er rafch folgende Worte hervor: „Sie lieben
Helene nit! Sie wollen reich werden! Laffen Sie von ihr, reifen
Sie ab; bier ift die Verfchreibung meines ganzen Vermögens.“
So ſprechend warf er dad Papier vor mich hin.
IH jprang auf, und in meinem Eifer, an ihn zu gelangen,
vergaß id, daß der Tifch zwifchen ung war. Ich ftürzte ihn um,
und mit ihm die Lampe. Wir waren im Dunkeln. Unfähig, ein
Mort hervorzubringen, tappte ih, unartikulirte Laute ausftoßend,
nad ihm, um ihn für feine furdhtbare Beleidigung zu züchtigen.
Da ftieß ich mit beiden Füßen an ihn. Er lag auf dem Boden
und über ihm der Tifh. Er war ohnmächtig. Ich ftürzte hinaus
und ſchickte ihm feine Bedienten.
Die ich auf meinem Zimmer im Gafthof angelommen bin?
— ih fönnte e3 nicht jagen. Ich weiß nur, daß ich die halbe
Naht bald wüthend wie ein Tiger im Käfig umher gerannt,
bald vernichtet und beſchämt mich aufs Sopha warf und das
Gefiht mit den Händen bevedte, um gleich wieder aufzufpringen
und den mwüthenden Rundgang aufs Neue zu beginnen. Meine
BZimmernahbarn wurden ungeduldig, Elopften da an die Wand,
dort an die Thüre; aber e3 gelang ihnen nur, mich auf Momente
zur Ruhe zu bringen. Geſchimpf und Gefluche, das ich endlich
zu hören befam, berührte mich eben fo wenig, als vorher die
leifen Mahnungen. Es wäre mir ganz recht geweſen, wenn fie
über mich bereingeftürzt und e3 zu einem Handgemenge gelommen
wäre. Alſo fo tief war ich gefallen, fo weit war es mit mir ge
fommen, daß man es wagte, mir Geld anzubieten, um mir eine
Braut abzulaufen? Ein ehrenhafter Mann glaubte mit mir einen
Morig Hartmann, Werke. VI. 20
306 Novellen.
jolhen Handel maden zu fünnen? D wie elend, wie tief ge-
demüthigt fühlte ih mid; mie jehr jehnte ih mich nad der Zeit
zurüd, da ich eine foldhe Beleidigung, eine folhe Zumuthung
für unmöglih hielt. E3 war die goldene Zeit meines Lebens.
Aber Tannen hatte fi durch eine Ohnmacht meiner Züchtigung
entzogen; hätte ich ihn ohrfeigen, hätte ich ihn erbrofjeln können,
ih mwäre jegt ruhiger. Was blieb mir zu thun übrig? Philo—
ſophiſch hatte ih das Duell zu allen Zeiten al3 höchſt barbarifch
und unvernünftig verachtet, jetzt ſchwebte mir nicht? vor als der
Gedanke, wie ih. dem Manne, der mir folches bieten konnte,
gegenüberftehe und ihm eine Kugel direkt ins Herz ſchieße, oder
ruhig jelbjt die Kugel erwarte. Ich wollte unbarmherzig fein,
ich wollte ihn auf dem Plate tödten; er durfte nicht leben. Ich
jegte mich hin und jchrieb eine Herausforderung, die ihm Dr. Bille
mit erftem Morgengrauen bringen ſollte. Mit diefer Heraus:
forderung in der Taſche verließ ich das Hotel und ftreifte um das
Haus meines künftigen Sefundanten umber.
Die Morgenluft fühlte ein wenig meine fieberifche Stirne.
„Wie recht hat der Mann,” dachte ih, „ven ich erſchießen will;
er gibt fein Vermögen her, um das Glüd eines jungen Mädchens
zu retten; ich will ein Vermögen erwerben auf Koften dieſes
felben Glüdes.” Und ein anderer Gedanke fuhr mir durch den
Kopf und erfüllte mich mit Entfegen: Muß nicht Agnes eben jo
von mir denken, wie Tannen? Wie ein Verrüdter lief ich der
Bila zu, mit dem feften Vorſatz, fie zu meden und zu fragen,
ob fie mic) in der That für fo jämmerlich halte, daß ich mir eine
Braut ablaufen ließe. Das Gitter vor der Villa war glüdlicher:
mweife geſchloſſen; ich hing daran und — ich weiß nicht, wie e3
fam — ih meinte. E3 war mir, al3 trennte mich diefes Gitter
für ewig von Agnes. Die Villa, der Garten, al’ die Pracht,
die mich fo mächtig angezogen hatten, erjchienen mir jegt in ges
fpenftigem Lichte; ich hätte nur noch hineindringen mögen, um
Agnes daraus zu entführen, und mit ihr in die ftille Stube
meiner Mutter oder in das grüne Pfarrhaus ihres Vaters zu
Zwanzig Millionen. 307
flüchten. Ich mwollte nicht3 mehr ala ihre Liebe und mieder ein
wenig Achtung der Menfchen. Agnes war, wie immer, wieder
die erjte im Garten. Al fie mich erblidte, ftürzte fie mir ers
ſchrocken entgegen und rief: „Um Gotteswillen, was ijt Ihnen ?
Sie jehen fürchterlich zerftört aus.“
Ich ergriff aber beide Hände, die fie mir entgegenitredte,
und zog fie in die Laube, in der ich fie zum erſten Male gefehen,
und indem ich diefe Hände mit Küffen bevedte, bat ih: „Agnes,
verlaflen Sie mich nit; helfen Sie mir mich wieder aufrichten;
ich liebe ja nur Sie!“
Im Gefühl meiner Sünphaftigkeit ſank ich ihr zu Füßen und
drüdte mein Gefiht in die Falten ihres Kleides. Sie veritand
jhnell, was in mir vorging, und lächelte auf mich herab, wie
Engel auf reuige Sünder herabbliden follen. Dennoch zauderte
fie noch mit einem tröftlichen Worte,
„Keine Buße, Agnes," flehte ich, „Leine Verzögerung meines
Glüdes! Ich weiß es, du liebft mich !"
Sie beugte fi zu mir herab, und alle Millionen der Erbe
wiegen das Glüd nicht auf, das mit dem läuternden Kuß, den
fie mir auf die Stirn vrüdte, mein ganzes Weſen durchdrang.
Ich dachte nicht mehr an Tannen und Genugthuung. Als
er gegen Mittag in die Villa fam, trat ich ihm mit Agnes an
der Hand entgegen und fagte: „Herr Graf, Sie haben mich geftern
nad einer Verlobung gefragt; nunmehr hat eine ftattgefunden,
und bier ftelle ich Ihnen die Braut vor.”
Tannen fuhr erjhroden zurüd. „Um Gott,” rief er bla
und zitternd, „vergeben Sie mir! Ich habe an Ihnen ein fhänd»
liches Verbrechen begangen.”
„Ich habe Ihnen nicht? zu vergeben,” fagte ich, „ich habe
Ihnen nur zu danken.”
* *
*
Pfarrer Gillmer traute uns; meine Mutter tröſtet ſich beim
Anblick ihrer Schwiegertochter über den Verluſt der Millionen.
308 Novellen.
Zannen verjhaffte mir durd eine Empfehlung an feinen Bater
die Stelle eine Kuftoden an einem numismatifchen Kabinet, die
mir achthundert Thaler einbringt; Agnes hatte fi ala Gou—
vernante etwas erjpart und meine Mutter verzehrt ihren Wittwen-
gehalt mit ung. Meine Bücher bringen aud) etwas ein, und fo
geht e3, trotzdem die Erziehung meiner Kleinen ein Erfledliches
koftet, ganz gut von Statten; fo gut, daß ich die zwanzig Mil:
lionen nie bedauert habe, und daß ih ein Zmanzigmillionftel
meines Glüdes um diefe Summe nicht verfaufen würde.
Berredhnet.
Erftes Kapitel.
An einem ziemlich Fühlen April:Nachmittage fuhr ein ele
gantes, von zwei ſchönen engliſchen Pferden gezogenes, offenes
Kabriolet, von den Eaux-vives kommend, über den großen
Quai von Genf. Die Pferde trabten langfam dahin; denn die
beiden in dem Kabriolet figenden Perfonen erfreuten fih an ber
ſchönen Ausfiht, die diefer Punkt über ven See und bis an den
Jura gewährt. E3 waren zwei den Genfern belannte Perfönlich-
feiten; aber jelbjt wenn fte das nicht gewejen wären, man hätte
doch auf den erſten Blid ihre Abſtammung und ihr gegenfeitiges
Berhältniß zu einander kennen müflen. Sie waren Engländer,
und Vater und Tochter. Den Genfern waren fie befannter, als
es ſonſt an diefen Ufern verweilende Fremde zu fein pflegen,
und dieſes Belanntfein verbanften fie ihrem Reichthum, für den
die Eingebornen diefer Stadt immer ein aufmerffames Auge
haben, ihrem längeren, ſchon Jahre dauernden Aufenthalt in
einer am See gelegenen Billa und endlich ihrer auffallenden
Schönheit. Der Vater war einer jener ſchönen Greife, wie man
fie im Norden nur in England findet und vie Tochter, fein
Ebenbild, eine jener merkwürdigen Blondinen mit griedifchem
Profil und blauen Augen, wie fie ebenfall3 nur in England an-
zutreffen find. Als fie am Caf& du Nord vorbeitrabten, Tiefen
310 Novellen.
bie Gäjte ans Fenfter, um „Sir William Spencer und Miß Lucy“
zu fehen ; vaffelbe geſchah im zweiten und dritten Kaffeehaufe des
Quais. Solche Aufmerkſamkeit erregten die Zwei ſchon feit
Jahren, ſchon ſeit Sir William mit feiner damals vierzehn:
jährigen Tochter zum erjten Male in Genf erſchien und das war
nur natürlih. Denn der Anblid dieſer ſchönen Jugend und
dieſes beinahe eben jo ſchönen Greiſenthums war ein in der That
höchſt erquidlicher und er wurde immer bedeutender und an-
ziebender, je mehr Lucy fih zu einem vollendeten Weibe ent:
mwidelte. Sie war jegt an zwanzig Jahre alt und ftand in ihrer
ſchönſten Blütbe.
Sie hielt, wie immer, auch heute die Zügel. An der Bergues:
Brüde angelommen, lenkte fie plöglich nach links und der Rhone⸗
jtraße entgegen.
„Wollten wir nicht nah Haufe und zu Tifche?” fragte ver
Vater.
„Wir haben noch Zeit,” antwortete die Tochter — „noch Zeit
genug, um über die Corraterie zu traben.”
„Du bift nicht aufrichtig, Lucy!“ fagte der Vater mit vor
wurfsvollem Lächeln.
„Rein,“ fagte Lucy, ebenfalls lächelnd, „ich bin es nicht.“
„Alſo babe ich errathen“ — fuhr der Vater fort — „du
lenkteſt hier ein, weil du auf der Brüde Mr. Starling kommen
ſiehſt.“
„Ganz richtig!“ lächelte Lucy.
„Siehſt du, Lucy, es iſt dir doch, als hätteſt du ihm Un—
recht gethan, ſonſt würdeſt du ſeinem Gruße nicht ausweichen.“
„Nicht fo, Papa, von Unrecht iſt feine Rede. Thut man
allen Denen Unrecht, die man nicht heirathen will? Ich bin mir
deſſen bewußt, daß ich alle die guten Eigenfchaften Starling3
anerfenne — aber man begegnet einem Manne nicht gerne, von
dem man weiß, daß man ihm nächſtens einen Korb wird geben
müfjen. Ich bin ihm gut, er iſt ein vortreffliher Menſch, und
ich behandle ihn darnach; aber das täufht ihn, darauf baut er
Verrechnel. 311
Hoffnungen, und trotz aller Winke, die ich ihm gebe, fährt er
fort, mir den Hof zu machen und demnächſt wird er bei mir mit
einem Antrage herausrücken, wie er es ſchon bei dir gethan hat.
Er weiß, daß ich ihn nicht liebe, aber er iſt überzeugt, daß ich
ihn lieben werde; das iſt bei ihm zur fixen Idee geworden.“
„Aber warum ſollſt du ihn nicht lieben können?“ fragte Sir
William.
Lucy peitſchte ungeduldig die Pferde, daß fie ausgriffen und
in raſcheſtem Trabe die Gorraterie hinauffprengten.
„Peitſche mir den guten Hektor nicht jo unbarmberzig,”
lächelte ver Vater.
„Das iſt deine Schuld, Papa. Wie fannjt du nur folde
Fragen ftellen? Biſt du ſchon fo alt, um folder Fragen fähig zu
jein? Du fagft immer, daß du mit mir wieder jung geworben
bift — ich glaube e3 manchmal, aber ſolche Fragen machen mic
wieder irre.”
„Wohl! Du haft Net!” fagte der Vater begütigend, —
„aber ſelbſt für unbeftimmte Gefühle ſucht man wenigſtens nad
allgemeinen Urfahen; man will ſich doc Rechenſchaft geben —
und du befonders, du Tiebft es font, dir deine Gefühle und
Empfindungen Har zu machen. Ich bin überzeugt, du kannſt
mir auch bier, wenn du mwillft, mwenigftens einen allgemeinen
Grund deines Widerftrebend gegen diefe Heirath angeben.”
Lucy ſchwieg eine Zeit lang, dann fragte fie: „Nicht wahr,
Papa, auf dem Namen deines Onkels, des alten Lord Macdouald,
ruht ein gewifler Schandfleck?“
„Ja! Leider!“ feufzte Sir William. _— „Leider hat er ein
Leben, das ein ruhmvolles hätte fein fönnen, durch eine gemeine
Gelvfpefulation befledt. Leider hat er feine hohe Stellung be:
nugen wollen, um ſich fchnell zu bereichern. Ohne diefe Schwäche
würde unfere Familie einen Mann aufzählen, der ſich neben
Nelfon ftellen könnte. Aber wie kommſt du jet auf Lord Mac-
douald?“
„So!“ antwortete Lucy, „ich wollte dir ſagen, daß ich ganz
312 Novellen.
wohl einen Lord Macdouald mit feinem Schandfled heirathen
könnte, weil er trog Allem ein Mann ift, weil er etwas gethan
bat, weil er mit einer Eleinen elenden Brigg große feindliche
Schiffe genommen, weil er Europa und Amerifa mit feinen
fühnen Thaten in Erftaunen geſetzt hat.“
„Du liebjt die Soldaten, wie alle Mädchen,” jagte Sir William
und fügte lächelnd hinzu: „ich jhäte mich glücklich, bei Trafalgar
gewejen zu jein, ſonſt hätte ich das Herz meiner Tochter vielleicht
nie gewonnen.”
„Papa !” rief Lucy und fah ihn mit einem zärtlich vorwurfs⸗
vollen Blide an, „du wäreſt ein Mann und mein dear Pa
aud ohne Trafalgar. Du irrt übrigens; ich liebe die Soldaten
nit. Zum größten Theile find fie roh, ungebildet und einge:
bildet; fie meinen, die Welt fünnte ohne fie nicht beftehen und
gewiß wäre fie glüdlicher, wenn e3 nicht einen einzigen Soldaten
auf Erden gäbe. Ihre ſchönſten Thaten find oft, in der Nähe
betrachtet, nur Früchte der Gewohnheit, der Disziplin, des Ges
borfams oder höchſtens de3 QTemperamentes, felten der Ueber:
[egung, der Ueberzeugung, der Begeifterung. Ihre auffallenditen
Thaten zerftören in ihnen oft das Beſte, was der Menſch in
Herz und Seele befigt. Nein, Papa, ich liebe die Soldaten nicht,
aber ich liebe die Männer, die etwas thun, die etwas zu Stande
bringen, und ich werde nie einen andern heirathen und lieben,
als einen foldhen, der ſchon etwas gethan hat, oder dem ich es
anjehe, daß er etwas Rechtes zu thun fähig ift.“
„Well! Well!“ murmelte der Alte, „vu bift mein altes
britiihes Mädchen — aber,” fügte er lächelnd hinzu, „ich glaube,
daß wir der Gefahr, Herren Starling zu begegnen, nicht mehr
ausgejegt find und daß wir anjtatt nach Carouge nah Haufe
fahren könnten.”
Lucy wandte den Wagen, als Künftlerin, wie man ſich au:
zudrüden pflegt, auf dem Raume eines Teller8 und jagte in bie
Stadt zurüd und über die Inſel auf ven Quai des Bergues.
Dort ließ fie die Pferde wieder langfamer geben, um den Zög-
Verrechnet. 313
lingen eines der zahlreichen Knaben-Inſtitute Genfs, die eben
den Quai kreuzten, Raum zu laſſen und ſie mit Muße betrachten
zu können.
„Sieb, vie hübſchen Knaben, Papa,” ſagte fie.
„Es find viele Engländer darunter,” bemerkte Sir William.
In demjelben Augenblide erſcholl ein heftiges Angitgejchrei.
Ein Mädchen von ungefähr dreizehn Jahren hatte ein Kleines
Kind, das fie unvorſichtiger Weife aufs Parapet gejegt, um e3
fih auf den Rüden zu heben, in vie Rhone fallen laſſen. „Tas
Kind! das Kind!” ſchrie fie und lief mit der Schnelligkeit der
Ahonewellen um die Wette dem Quai entlang. Die fürhterlichite
Todesangit blidte aus ihrem blafjen, von Entfegen entitelltem
Gefihte. Lucy ſah, ſelbſt vor Schreden erftarrt, bald das
Mädchen an, bald nad dem Kinde, da3 von den fürchterlich
reißenden und fchäumenden Nhonewellen, dort, wo fie mit ges
mwaltigem Falle aus dem See ftürzen, herauf» und herunter:
geworfen wurde, bald auf der Oberfläche erfchien, bald unter
dem Schaume verjhwand. Trotz dem Feflelnden des jchredlichen
Schauſpiels wurde ihre Aufmerkſamkeit plöglih doch auf ein
anderes in ihrer nächſten Nähe abgelenkt. Einer der Knaben des
vorüberziehenvden Inſtituts befand fih auf dem Trottoir, un:
mittelbar am Wagen Lucy’3, der ftille hielt, mit einem älteren
Manne, offenbar einem Lehrer oder dem Vorſteher der Anftalt,
in einem heftigen Kampfe. Der Knabe, ein Junge von ungefähr
fünfzehn Jahren, blond, ſchlank und einer von denen, die Lucy's
Aufmerkfamkeit ihrer jugendlichen Echönheit wegen angezogen,
ftieß den Lehrer, der ihn krampfhaft feftzuhalten ftrebte, mit Ge:
walt von fih; der Lehrer aber faßte ihn mit beiden Armen um
den Leib; da ballte ver Schüler die Fauft und ftieß ihn vor den
Kopf, daß er rückwärts taumelte. Der Knabe jtand im felben
Augenblide auf dem Steingelände und ftürzte fi, unter dem
Auffchrei feiner Mitfehüler und des verfammelten Volkes, in das
fhäumende Maffer, das ihn mit feiner reißenden Schnelligkeit
fofort entführte und für lange Sekunden unfihtbar machte. Der
314 Novellen.
Lehrer, der ſich mit offenbarer, moralifher Anftrengung von
dem betäubenden Schlage raſch erholte, rang die Hände und
rief, indem er den Quai hinablief, nah Hülfe. Ihm nad) eilten,
rufend, fchreiend, zum Theil weinend, die andern Zöglinge und
an dieſe ſchloß fi das Volk, das fi bei dem allgemeinen Ge—
fchrei verfammelt hatte. Auch Lucy jagte die Pferde, den Blid
immer den ſchäumenden Wellen zugewandt, der Menge nad).
„Der brave Junge! der brave Junge!” rief fie, indem jie
dahintrabte, als ob fie ihn erreichen wollte.
„Der arme Lehrer!” fagte Sir William, „welche Verant—
mwortlichkeit, welch ein Unglüd für ihn, wenn der Junge zu
Grunde geht. Aber er hat das Geinige gethan, ihn von dem
tolfühnen Sprunge abzuhalten. Es ift Herr Röder, ein Deut:
fcher, der Vorſteher der Anftalt.” j
Qucy hörte nicht; fie hatte fich im Wagen aufgerichtet und
fah, indem fie die Pferde dvahinlaufen ließ, unverwandten Blides
nad der Rhone. Indeſſen hatte Herr Röder den Rod abgemworfen,
um ſich feinem Schüler nachzuftürzen; aber da entwickelte fich
zwifchen ihm und den anderen Zöglingen ein ähnlicher Kampf,
wie der, den er joeben durchgemacht hatte. Er ftand am Stein:
gelände und ftrebte hinauf zu gelangen, während fich die inaben
an feinen Leib, an Arme und Beine hängten, um ibn vom
Sprunge abzuhalten. Sein Gefiht war blaß, feine großen
Ihmwarzen Augen traten aus den Höhlen und ftarrten während
des Ringens fortwährend in die ſchäumende, fürdhterliche Fluth,
wo fie weiß und heulend durch die Schleußen unter der neuen
Brüde der hydrauliſchen Mafchine entgegenſchnellt. Plöglich Härte
fih fein Gefiht auf; ein glüdliches Lächeln beleuchtete e3; ein
tiefer Seufzer hob feine Bruft und das ganze verfammelte Volt,
das nach dem erjten Lärm ſprachlos und ftumm geworden war,
ftieß ein Geſchrei des Jubels hervor. Der heldenmüthige Knabe,
der eben im Schwalle verſchwunden gemwejen, hing an einer der
Schleußenpfoften, indem er mit dem einen Arme den Balken um:
Hammerte, mit dem andern das gerettete Kind über die Fluthen
Verrechnet. 315
hielt. Die ſchottiſche Mütze war verſchwunden; aus ſeinem röth—
lich blonden Haar, wie aus den Kleidern, floß das Waſſer in
Strömen. Er achtete nicht darauf; er ſah nur auf das Kind
hinab, daS bewegungslos unter feinem linfen Arme lag. Die
Zöglinge ftürzten auf die Brüde, um ihm nahe zu fein und riefen
jubelnd und gerührt: „Odo! Odo!“ Er nidte ihnen zu und ant-
wortete dem Zuruf mit einem kurzen Läheln; dann aber fuchte
er fih mit größter Kaltblütigfeit auf feinem gefährlihen Stand—
punkte feſter zu ftellen und, nachdem ihm diejes gelungen, faßte
er da3 Kind mit beiden Händen und neigte es leife und langjam,
um das Wafler aus Mund und Nafe ftrömen zu laſſen. Er
führte diefe Operation fo befonnen au3, wie ein alter Schwimm:
meijter, und mit dem beiten Erfolge; denn das Kind, das bis:
ber bewegungslos in jeinem Arm gelegen hatte, begann zu zappeln
und fing endlich zu weinen an.
Mittlerweile flog auf der Stromfchnelle, von der Bergues:
Brüde her, mit der Rajchheit eines Pfeiles, einer der ftet3 be-
reitftehenden Rettungskähne herbei. Zwei kräftige Fifcher lenkten
ihn kunſtvoll dem Knaben entgegen, der ihnen in dem Augen:
blide, da ihn der Kahn berührte, das Kind entgegenftredte.
Uber bei diefer Bewegung verlor er feinen Halt und jtürzte aufs
Neue in die Fluth, während die Fiicher das Kind in den Händen
hielten. Wieder erſcholl ein Schrei des Entſetzens, wieder ver:
wandelte er fih in einen Ausruf der Freude, denn Odo arbeitete
fih fogleih wieder empor und ſchwang ſich mit einer kräftigen
Bewegung in den Kahn. An diefem war ein Seil befeftigt,
daran er an das Ufer, an die Treppe des daſelbſt an Ketten lie:
genden Waſch-Schiffes gezogen wurde. Nun liefen Herr Röder
und die Zöglinge wieder von der Brüde auf den Quai zurüd,
Herr Röder fprang die Treppe hinab und empfing feinen Zög-
ling in feinen Armen, während die Schweſter des geretteten
Kindes daflelbe in Empfang nahm und noch ganz außer Faflung,
blaß und verwirrt dur die Menge und ihrer in der Nähe lie:
genden Wohnung, in der Vorftadt St. Gervais, entgegeneilte.
316 Novellen.
Alles drängte fih um den Retter, der jetzt oben auf dem
Quai ftand. Das Volk ertheilte ihm Lobeserhebungen, feine
Mitſchüler juchten ihm die nafje Jade abzuziehen, indem fie ihn
bald mit feinem Namen Odo, bald mit Man, bald mit Mary
anredeten. Cr hörte das Alles nicht, er betrachtete nur die auf:
geſchwollenen Schläfe feines Lehrers.
Ich erinnere mich,“ fagte er fanft, „das habe ich gethan;
ih habe Ihnen einen Fauftichlag verſetzt. Verzeihen Sie mir,
Herr Röder.”
„Sei nicht fo dumm, mein Junge,” ermwiderte diefer; „das
ift dir für alle Ewigkeit vergeben. Berlieren mir nicht die Zeit;
du mußt aus den nafjen Kleidern heraus, daß du dich nicht er:
kälteſt.“
Herr Röder ſah ſich um, wie nach einem befreundeten Hauſe
ſuchend, in das er mit Odo treten fonnte. Da ſtand Lucy neben
ihm und fagte in deutjcher Sprache: „Herr Röder, vertrauen Sie
mir diefen Gentleman; wir bringen ihn in unferem Wagen raſch
in unfer Landhaus, das nicht fern von bier ift.”
„sh nehme mit Dank an, Miß; meine Penfion liegt eine
balbe Stunde weit von der Stadt.”
Schon hatte Lucy den Mantel, ver eben ihre und ihres
Vaters Füße bededt hatte, um die Schultern Odo’3 geworfen;
Sir William machte eine einladende Bewegung und Odo, der
Lucy verfhämt und lächelnd gewähren ließ, ftieg in den Wagen.
Herr Röder jhidte die andern Zöglinge nad Haufe mit dem
Auftrage, friſche Wäſche und Kleider in die Villa Sir Williams
zu fenden und ftieg, ebenfalls eingeladen, in den Wagen. Miß
Lucy ſchwang ſich auf den Bod und der Wagen rollte mit Blißess
fhnelle über ven Quai du Montblane ihrem Landhauſe zu.
Bon Zeit zu Zeit wandte fie den Kopf, und wenn fie Odo zittern
ſah, ſchlug fie mit dem Eifer eines mwettrennenden Grooms auf
die Pferde los. Auch dauerte die Fahrt nicht fünf Minuten.
Sir William führte Lehrer und Schüler fogleih in fein
Schlafzimmer, das er ihnen zur Verfügung ftellte, und verließ
Verrechnet. 317
ſie, um ihnen volle Freiheit zu laſſen. Ein Bedienter brachte
gleich darauf Wäſche und Schlafrock, und ein anderer heißen
Thee, den Miß Lucy bereitet hatte. Odo wollte den herrlichen
Kaſchmirſchlafrock genießen und noch einigemal darin im Zimmer
auf- und abſtolziren; aber Herr Röder zwang ihn ins Bett,
hüllte ihn ein und gab ihm zwei Taſſen Thee zu ſchlürfen. Er
ſaß dann noch einige Zeit bei ihm, und nachdem er ſich über—
zeugt, daß ſein Puls nicht um einen Schlag ſchneller ging, als
es bei ſeinen fünfzehn Jahren natürlich war, empfahl er ihm,
daß er ein wenig zu ſchlafen verſuche und ging dann in den
Salon, um Sir William und ſeiner Tochter für ſo viel Güte zu
danken.
Miß Lucy kam ihm ſogleich entgegen. „Wie geht es Ihrem
Schüler?“ fragte ſie eifrig.
„Ganz vortrefflich,“ lächelte Herr Röder, „ich danke. Ich
hoffe, er wird ein wenig ſchlafen und nach einer Stunde wird
von dem Abenteuer keine Spur vorhanden ſein.“
Sir William lud ihn ein, ſich zu ſetzen; dann EN er:
„Ber ift der Knabe ?”
„Sr ift Ihr Landsmann, Sir,” antwortete Herr Röder.
„Sr kommt aus Devonfhire und ftammt aus einer guten Familie;
. fein Name ift Odo Worthington.”
„Es ſcheint ein braver unge,” fagte Sir William.
„D Sir,” rief Herr Röder mit Innigkeit, „ein vortrefflicher
unge, ein ausgezeichneter Junge; ja, ich kann fagen, ein aus:
gezeichneter Menſch.“
„Ich habe,” fuhr Eir William fort, „während der Junge
in der Rhone war, auch Sie bevauert; ich habe Ihrer beinahe
eben jo ſehr gedacht, wie des Knaben und feiner Gefahr. Welch
ein Unglüd für Sie, wenn dem Jungen etwas geſchah — melde
Berantwortlichkeit den Eltern gegenüber, die ihn Ihnen anver:
trauen. Es ift eigentlich fchredlih. Ich dachte ſchon daran, daß
ih Ihnen bezeugen wollte, daß Sie Ihr Möglichſtes gethan,
um ihn von dem Sprunge ind Wafler abzuhalten. Nun Gie
318 Novellen.
tragen das Zeugniß im Geſichte,“ lachte der alte Herr. „Hat
der unge gerungen und gejtoßen wie der beite Borer Alt:
englands. Man jchlägt fich felten jo gut, um fich zu einer guten
That den Weg zu bahnen.“
Herr Röder lächelte mit und jagte, indem er das gejchwol:
lene Gefiht im Spiegel betradhtete: „Diejer Stoß ijt mir lieber,
als jede Lieblofung, die ich je von meinen Zöglingen erfahren;
ih möchte eine Spur davon zum ewigen Andenken bewahren,
wenn das ginge. Was aber meine Lage während der Gefahr be
trifft, fo verfichere ih Sie, Sir, daß ich nicht einen Augenblid
an meine Verantwortlichkeit gedacht habe, fondern nur an die
ſchreckliche Möglichkeit. Der Tod diejes Jungen wäre mir jo
nahe gegangen, wie der Tod meines eigenen Kindes. Niemand
weiß es befjer ala ih, daß die Welt an ihm einen trefflichen
Bürger verloren hätte. Solche Knaben wachſen nicht alle Tage.”
„Indeed? Wirklich %* fragte Lucy, die in einem Fauteuil
Herrn Röder gegenüber faß, halb in Gedanken verjentt, halb
zerjtreut.
„Wirklich !” beftätigte Herr Röder, zu der jungen Dame ges
wendet. „In einer fiebenzehnjährigen pädagogifhen Laufbahn
batte ich Gelegenheit, über taufend jugendlihe Gemüther kennen
zu lernen und zu ergründen, wie e3 fonft nicht möglich ift; aber.
ich verfichere Sie, Miß, ich kenne vielleicht nicht drei Menjchen,
die fih an männlidem Muth, an Güte des Herzens, an Gerade
beit des Geifted und Gemüthes und an Wahrhaftigkeit des ganzen
Weſens mit ihm mefjen könnten.
Der alte Pädagog hatte diefe Worte mit folder Innigleit
ausgeſprochen, daß ihm die Stimme zitterte, und daß ſich Miß
Lucy gerührt fühlte.
„In der That? in der That?” wiederholte fie fortwährend,
während der Vater verficherte, daß der Junge ganz diefen Ein:
drud made.
Es trat ein Augenblid des Stillihweigend ein, und viel:
leiht nur um etwas zu jagen, vielleiht auch weil ihr Alles,
Verrechnet. 319
was Odo betraf, Theilnahme einzuflößen anfing, fragte Lucy:
„Was bedeuten die Namen, die ihm Ihre Zöglinge gegeben ha—
ben? Die Einen nannten ihn Mary, die Andern Man?“
Herr Röder lächelte: „Das ſind Spitznamen. Jeder der
Zöglinge hat ſeinen Spitznamen und je beliebter einer iſt, einer
deſto größeren Anzahl von Spitznamen erfreut er ſich. Odo war
kaum drei Tage in meinem Haufe, als er ſchon Mary hieß.
Seine weiblihen Tugenden, feine Sanftmuth, feine Bereitwillig—
feit zu jeder Hülfe brachten ihm diefen Mädchennamen zu Wege.
Bald aber erkannte man, daß fich mit diefen ächt weiblichen
Eigenſchaften eben fo viele, ja mehr, männliche verbanden,
Muth, Ausdauer, Offenheit u. |. w., und um die Gerechtigkeit
und das Gleichgewicht herzuftellen, hieß er plöglich neben Mary
auch Man, der Mann, der normale Menſch.“
Sir William und Miß Lucy lächelten. Herr Röder lächelte
mit. „Olauben Sie mir,” fagte er, „der Inftinft ver Kinder und
Mitſchüler erräth das innerfte Wefen eines neuen Zöglings eben
jo ſchnell und Mar, wenn nicht ſchneller und Harer, als die alte
Erfahrung des Erzieherd. Sehr oft hat mir der Spignamen den
Meg angedeutet, den ich mit einem neuen Zögling einzufchlagen
hatte.”
Solde und ähnliche Bemerkungen des berühmten Pädagogen
intereflirten Sir William, indem fie ihm belehrende Blide in
eine ihm ganz unbelannte Welt gewährten und erwedten feine
Zheilnahme um fo mehr, als Alles, was Herr Röder fagte, den
Stempel der Wahrheit trug, leicht und raſch einleuchtete und
dabei deſſen große Liebe zu feinem Berufe und ein allgemeines
menschliches Wohlwollen athmete. Sir William hatte viel zu
fragen und Miß Lucy borchte mit ihm und ließ ſich gerne bes
lehren. Erziehung hat für alle weiblichen Seelen einen großen
Reiz; diefer Beruf, fo ſchön vertreten wie er hier war, fchien
ihr mit Einem Male der ſchönſte und beiligfte. Doch hörte fie
am liebften zu, wenn Herr Röder, aus der Theorie auf die
Praris übergehend, fih auf DBeifpiele berief und bei dieſer
320 Novellen.
Gelegenheit manchmal Odo, ala das nahe liegende Erempel, er:
mähnte. Cine ſolche Erinnerung mahnte fie daran, fi nad
feinem Befinden zu erfundigen und fie ftand auf, um einen Be:
dienten ins Schlafzimmer zu fehiden und wollte ven Salon ver:
laſſen, als fie erftaunt am Fenfter ftehen blieb und, in ven Hof
binabblidend, auärief:
„Papa, da tummelt ein englijcher Midſhipman dein Reit⸗
pferd.“
Sir William eilte ans Fenſter, auch Herr Röder erhob ſich
und rief, nachdem er einen Blick in den Hof geworfen: „Iſt der
Junge ſchon auf dem Rücken eines Pferdes!“ Jetzt erſt erkannten
Sir William und Miß Lucy in dem reitenden Midſhipman ihren
Gaft, den fie noch im Bette wähnten. E3 war in der That Odo,
der, von Reitknechten, Bedienten und dem ganzen Hausgefinde
bewundert, die engliihe Stute des Hausherren, die eben vom
Hufihmied heimgefehrt war, in dem nicht fehr ausgedehnten
Hofe der Villa, mit wilder Kunft die ganze Schule und allerlei
Kunftftüde durchmachen ließ.
„Sr figt gut zu Pferde,” fagte Lucy.
„Beſſer, al3 man es an uns Geeleuten gewohnt iſt,“ ver:
fiherte Sir William.
Herr Röder wollte ihn rufen; aber Lucy bat, ihn nicht zu
ftören; offenbar freute e8 fie, den Jungen zu Pferde zu jehen,
wie er fich in jugendlicher Kraft und Anmuth tummelte.
„Er trägt in der That eine engliihe Seemannsduniform,
ganz orbonnanzmäßig,” fagte Lucy; „wie kommt er in dieſe
Tracht ?“
„Odo ift mwirklih Midfhipman in der englifhen Marine,”
erwiberte Herr Röder; „er ijt bei mir nur auf Urlaub, um bie
deutiche und franzöſiſche Sprache zu erlernen. Man hat ihm aus
der Penſion zum Kleiverwechfeln die Uniform gejhidt, vie er
jonft nur an Sonntagen trägt.”
„Alfo mein richtiger Kamerad,“ lachte Sir William.
Seht bemerkte Odo, daß er vom Fenfter aus beobachtet war;
Verrechnet. 321
er erröthete, ſchwang ſich mit einem Sprunge aus dem Sattel,
übergab das Pferd einem Reitknecht und ging, einem Winke
Herrn Röders folgend, ins Haus. Eine Minute darauf trat er
in den Salon.
„Anftatt ſofort Sir William und Miß Spencer aufzuſuchen,“
fagte Herr Röder, „um für jo viel Güte zu danken, tummelit
du dich im Hofe zu Pferde herum. Odo lachte: „Sie haben
Recht, Herr Röder; aber eben, da ich mic hier anmelden lafjen
wollte, ſah ich das prächtige Pferd, und ich fonnte nicht wider:
jtehen. Sie willen ja, meine Leidenjchaft.”
„a, ja,“ lachte Sir William, „das Pferd ift die unglüd:
liche Leidenschaft aller Seeleute; ich kenne dag. Wo wir immer
landeten, wir ſahen uns überall gleich nad Pferden um, und
eine halbe Stunde nad der Landung trabten und jagten wir,
zur Beluftigung der Straßenjungen, oft auf den erbärmlichjten
Rofinanten durch die erfchrodene Bevölkerung.
„Da Sie das kennen, Sir William, jo werden Sie mic
entſchuldigen,“ lachte Odo wieder, „ich bitte Sie um Verzeihung.”
Sir William ergriff die dargebotene Hand und jchüttelte fie;
eben jo that feine Tochter, die Odo ebenfalld um Verzeihung bat.
„Ja,“ ſagte Odo dann, „id foll au danken; ich danke
berzlich für fo viel Gaftlichkeit, für das gute Bett, für den guten
Thee und für — ja für mas noch?“ ſetzte er verlegen mit einem
gegen Herrn Röder gewandten fragenven Blide hinzu.
„Run, für fonft nichts; das ift Alles,” lachte Sir William.
Herr Röder wollte ih nun mit feinem Zöglinge empfehlen ;
aber fie wurden zum Eſſen, mit dem man ihrethalben fo lange
gewartet hatte, zurüdgehalten. Gegen Abend brachte fie Sir
William, der verficherte, daß er fih nur ungern von Odo trenne,
in feinem Wagen nad der jhönen La Chätelaine, der Anftalt
Herrn Röders, zurüd, Lucy hielt wieder die Zügel. Als fie in
den, das meitläufige Gebäude umgebenden Park einfuhren, ftan:
den jämmtliche Zöglinge verſammelt da und empfingen den Helden
de3 Tages mit hundertfahem: Hoc Odo! Hurrah Mary! Vive
Morig Hartmann, Werke. VI. 21
3232 Novellen.
Man! und fo rufend, Tiefen fie neben dem Wagen bis an die
TIhüre des Haufes. Lucy machte ed den Eindrud, al3 wäre fie
der Wagenlenter eines einziehenden Triumphators ; die Rufe der
Kinder erjchütterten fie im Innerſten, und als Odo aus dem
Wagen geiprungen und, von ihnen umgeben, geberzt, umarmt,
gefüßt wurde, traten ihr die Thränen in die Augen. Sie erin-
nerte ſich plöglich de3 Geſpräches über Heirath von heute Morgen
und dachte: MWeld ein Glüd, einen jolhen Sohn zu haben —
oder einen Geliebten, einen Mann, der nach vollbrachten Helden:
thaten von feinem Volke jo empfangen wird!
Bweites Kapitel.
Odo, von Sir William eingeladen, fo oft als möglich zu
fommen, war in der englifchen Billa bald heimifh. Herr Röder,
der treffliche Erzieher, wohl wijjend, daß der Umgang mit ſolchen
Menſchen das beite Erziehungsmittel fei, erlaubte ihm, fo oft e3
jeine Stunden geftatteten, die neuen Freunde zu befuchen. Nach
folhen Bejuchen pflegte Sir William auszurufen: Lucy, Lucy,
warum bijt du nicht ein Junge geworden! und Lucy fühlte fi
durd diefen Vorwurf, der ein mittelbare8 Compliment für Odo
war, nicht gekränkt. Diefem that die Liebe, die man ihm im
Haufe zeigte, fehr wohl; fie madte ihn heiter und gefprädig,
ohne daß er fih von Urſachen und Wirkungen Rechenfchaft abges
legt und feine Unbefangenheit verloren hätte. Meiſt war er mit
Bater und Tochter allein. Mr. Starling, der Heirathsfandidat,
dem Lucy damals auf der Bergues:Brüde ausgewichen war —
welchem Umſtande fie das Schaufpiel in der Rhone und die Bes
kanntſchaft Odo's verdankte — kam einige Male und traf auch
Odo. Er machte den erwarteten Heirathsantrag nit und nahm
endlich Abſchied, da er Genf verlaffen und eine größere Reife
machen wollte. Bei der Gelegenheit konnte er nicht umbin, Odo
Verrechnet. 323
das größte Lob zu ertheilen, und lächelnd auf die mütterliche
Zärtlichkeit Luch's für den Knaben anzuſpielen. „Werden Sie ja
ein großer Mann, Odo,“ fagte er zu dem Knaben, „wenn Sie
fi die Liebe Ihrer Mama erhalten wollen, wenigitens ein Nel—
fon, Wellington oder Shalejpeare; Ihre Mama kann nur die
höchſten Spiten ver Menjchheit lieben; gewöhnliche Menſchen find
ihr ein Greuel.“
So fpredhend, verneigte er fih und verließ das Zimmer.
„Mama! Tachte Odo, „Miß Lucy, er nennt Sie meine
Mama.”
Lucy lächelte und legte ihm die Hand auf den Kopf. Doc
ſchien es ihr, als hätte fih Starling damit, daß er ihr diefen
Titel gab, an ihr rächen wollen.
„Iſt es wahr, Mama, daß Sie nur einen großen Mann
lieben können ?” fragte Odo naiv:
„Rein, mein Freund,“ erwiderte fie ernſt, „es ift nicht u
Ich kann nur einen Mann, einen rechten Mann lieben, aber ein
großer Mann braucht es nicht zu fein.”
Es ijt mir, dachte fie bei ſich, al3 ob ich felbft einen Knaben
lieben könnte. Aber um diefen Gedanken zu zerftreuen, ſchlug fie
Odo ein Federballſpiel vor und verbradhte fie ven ganzen Nach—
mittag mit ihm in kindiſchen Spielen, obmohl es beſprochen ge-
weſen, heute ein Shaleſpeare'ſches Stüd, und zwar Julius Cäfar
zu lefen. Sie hatte es ſich nämlich bei Herrn Röder ausgewirkt,
mit Odo den englifchen Dichter lefen zu dürfen. Mit jener weib⸗
lihen Vorliebe für Erziehung, die jetzt zum erſten Male in ihr
erwachte, wünſchte fie Etwas zur Ausbildung ihres Lieblings bei«
zutragen. Sein männlicher Charakter ſchien ihr jo gut angelegt,
daß fie glaubte, man müßte ihn ganz feiner felbftändigen Ent:
widelung überlafjen, ja er ftand in ihren Augen fo hoch, daß fie
e3 für Anmaßung angejehen hätte, da eingreifen zu wollen.
Auch feinen Umgangsformen glaubte fie ihre ganze Natürlichkeit
belafjen zu müffen, um der Gerabheit und Wahrhaftigkeit diejes
Weſens, das ihr jo wohl gefiel, nicht den geringjten Abbruch zu
324 Novellen.
thun. Aber Odo hatte noch Vieles zu lernen; fein Gejhmad
fonnte noch an Kunſtwerken gebildet, da3 viele Gute in ihm
fonnte an großen Beijpielen geſtärkt werden; darum liebte fie
e3, mit ihm zu lejen.
Bald waren ihr die Tage, an denen Odo kam, die liebiten
in der Woche; an ſolchen Tagen machte fie feine Befuche und
nahm fie feine an. Ueberhaupt beſchränkte fie den fonft ſchon
geringen Umgang mit wenigen engliſchen Familien immer mehr;
am liebjten war fie im Garten mit Odo allein, oder mit ihrem
Bater und Odo im Wagen, den See entlang fahrend, oder auf
dem See felbjt im Kahne, deſſen Segel und Steuer der Mivfhip-
man leitete. Der Frühling hatte fih in aller Pracht entfaltet,
die er, freilih etwas jpät, am Genfer See zur Schau trägt.
Der Garten der Billa war von Blüthen bevedt und von Nachti—
gallen bevölkert; der See warf feinen blauen Schimmer durch
die Fenſter des Haufes. Die Dampfihiffe brausten immer zahl:
reicher und von Quftreifenden überfüllt, hin und ber. Das war
die Zeit, bald plaudernd, bald nur in dem Anblid verfenkt, bald
mit dem Buche im Garten umherzuwandeln.
Einmal, in fchattiger Allee auf» und abgehend und ven
ſchönen Berjen John Keats horchend, fiel ihr plöglich Francesca
da Rimini ein und ihr Paolo und der berühmte Vers:
„Und jenes Tages lajen wir nicht weiter.“
Sie erſchrak; fie war empört über fich felber und legte, um Odo
zum Schweigen zu bringen und ſich zu fammeln, die Hand in
das Bud.
„Leſen wir nicht weiter?” fragte er.
Diefe Worte erfchredten fie aufs Neue. Sie fuhr zufammen,
ließ die Arme finfen und ſah vor jih bin auf den Sand des
Meges.
„Was haben Sie, Mama?” fragte Odo beforgt.
Diejer Titel, der Odo jeit Starlingd Abſchied geläufig ge:
worden, brachte fie wieder zu fich.
Verrechnet. 325
„Nichts, nichts, mein Sohn,” ſagte fie lächelnd — „etwas
Schwindel. Leſen Sie weiter, leſen Sie ja weiter.“
Aber als er wieder beginnen wollte, fragte ſie: „Wie alt
war Sohn Keats, als er dieſen Endymion ſchrieb?“
„Ich glaube,“ ſagte Odo, „er war achtzehn Jahre alt.“
„Iſt ein ſolcher achtzehnjähriger Knabe“ — ſagte Lucy vor
ſich hin und weiter gehend — „nicht mehr werth und nicht mehr
Mann, als Hunderttaufende von fünfzigjährigen Männern?“
„Gewiß! gewiß!” rief Odo, „mir ift er lieber, als die hun—
dert achtzigjährigen Lords des Oberhauſes.“
„Wie alt find Sie, Odo 9
„Aber Mama |” rief diefer lachend — „welch' ein Gedächtniß!
Gerade um drei Tage älter, al3 da Sie mid vor drei Tagen
fragten, und um vierzehn Tage älter al3 vor zwei Wochen, und
gerade um einen Monat älter, als da Sie fi vor einem Monat
nad meinem Alter erkundigten: alfo fünfzehn Jahre, acht Monate,
neun Tage. Nie habe ich mein Alter fo genau gewußt, wie jet,
da Gie die Güte haben, mich fo oft zu fragen.“
„Sie find unartig,” fagte Lucy verbrießlih, indem fie that,
als ob fie ihm feinen Scherz übel nähme, während fie fich eigent-
lich nur über ſich felbft ärgerte, da fie fich erinnerte, in der That
jo oft nad feinem Alter gefragt zu haben.
„Sein Sie nicht böfe,” bat Odo, ergriff ihre Hand und füßte
fie zu wiederholten Malen.
Da mußte fie wieder an Francesca da Rimini denken und
unwillkürlich blidte fie zurüd, ob nicht die ftrafende Gerechtigkeit
hinter ihr ftebe.
„Ben ſuchen Sie, gute Mama % fragte Odo.
Diefer Name brachte fie wieder zu ſich; fie lächelte und fagte:
„Niemand, liebet Sohn.“
Doch verabjchiedete fie den Knaben heute früher ala fonft
und ging nod lange und allein im Garten auf und nieder. Sie
litt dag Schmerzlichfte; denn fie wußte ihr Herz von einem tiefen
und innigen Gefühle erfüllt und kam ſich dabei lächerlich vor.
526 Novellen.
Eie fagte jih, die Liebe eines jungen Mädchens zu einem ehr-
würdigen, edlen Greije, wie 3. B. ihrem Vater, fünne etwas
Heldenmüthiges, Rührendes haben, aber die Liebe eine Mäd—
chens ihres Alters, um das ſich ſchon fo viele Bewerber drängten,
da3 feit Jahren vermäbhlt fein könnte, zu einem Knaben fei lädher:
lich, ja müffe, in ven Augen jedes Verftändigen, abitoßend, häß—
lih, beinahe verbrecheriſch jein. Sie dachte weiter, in die Zukunft.
Noch in ſechs Jahren, nad einer langen Zeit, wird Odo ein
zweiundzmanzigjähriger Junge, noch immer ein Anabe, beinahe
ein Kind fein und fie, ein Weib, ein fertiges Weib, das ſchon
Kinder auf feinem Schoofe wiegen könnte. Sie verfolgte diefen
Gedanken weiter, immer weiter in die Zukunft: das Mißverhält-
niß wurde immer fchreiender, immer auffallender. Mit vierzig
Jahren ſah fie jich als früh gealterte, in Mißmuth und Entjfagung
verblühte Frau, während Odo in feiner unverwüſtlichen Friſche
al3 junger Mann neben ihr ftand, beinahe wie ein Sohn. Ich
bin eine Närrin, fagte fie ſich und zudte die Achſeln. Bis jet
glaubte alle Welt und glaubte ich felbit, daß ich einen geraden
und gejunden Menjchenverjtand habe; nun fommt die Närrin
zum Vorſchein. Man ſcheint auf dem Kontinent Recht zu haben,
baß jede Engländerin einen verrüdten Winkel in Herz oder Hirn
haben müfje. Wir wollen aber fehen, wer ſtärker ift, dieſer ver-
rüdte Winkel oder der gefunde Reft.
Sie ging in ihre Stube und fohrieb an eine Freundin in
England einen langen Brief, in dem fie zuerft viel von den
Schönheiten des Frühlings am Genfer See erzählte, dann von
der neuen Belanntfhaft mit einem herrlichen Knaben, den der
Vater jehr liebe und aus dem gewiß mit der Zeit etwas Rechtes
werde. Dann fügte fie hinzu, daß fie fih alle Mühe gebe, auf
den Knaben einen guten Einfluß auszuüben und welche Freude
es gewähre, zur Entwidelung einer jo ſchönen männlichen Natur
da3 Geinige beizutragen. Indeſſen, meinte fie, nad einer läns
geren Ausführung dieſes Sages, indeffen fann man bei einem
mit jo vielen fertigen Geiſtes- und Herzens : Eigenjhaften ge:
Verrechnet. 327
borenen Charakter wenig thun. Anſtatt ihn erziehen zu wollen,
müßte man irgend ein liebliches, von der Natur eben ſo reich
ausgeſtattetes junges Mädchen, das jetzt acht oder zehn Jahre
alt ſein dürfte, für ihn ſo erziehen, daß es einſt würdig wäre,
ſeine Lebensgefährtin zu werden.
In einem P. S. fügte fie hinzu: „Du wirſt über meinen
Brief und deſſen gouvernantenhaften Charakter lächeln. Du haft
mid eben feit vier Jahren nicht gejehen und fennjt nur den
Wildfang, den du in Fräulein Meyers Penſion in Bonn ver:
laffen; ich bin feitvem, bejonders in den legten Monaten, viel
ernfter geworden und — ich freue mich defjen — viel älter al3
meine Sabre.“
Nicht nur große Schriftfteller wie Goethe beruhigen und be:
freien fih aus der Befangenheit eines Gefühles durch Nieder:
fohreiben und durch die fogenannte Objektivirung derfelben ; auch
junge Mädchen befigen diefe Kunft und den Drang, fie auszu—
üben — daher in gewiffen Jahren ihre Schreibeluft, ihr Hang
zu Tagebücern und Korrefpondenzen. Freilih, das Genie befreit
fih aus folder Befangenheit für immer, das junge Mädchen nur
für Momente.
Als Lucy ihren Brief geendet hatte, war fie von ihrer
ſchweſterlichen oder mütterlihen Liebe zu Odo volllommen über:
zeugt, ruhiger als feit vielen Tagen und über mande Thorheit
lächelnd, vie ihr während ver legten Zeit durch Herz und Kopf
gegangen, begab fie fich zu Bette.
Lucy hatte das Bedürfniß, fich jelbft in diefer Ueberzeugung
zu befejtigen, und zu dieſem Zwecke nahm fie gegen Odo einen
ganz andern, wie fie jagte, einen mütterlihen Ton an, der nicht
immer ohne Strenge war. Sie unterbrüdte mit Bewußtfein eine
gewifle Befangenheit, die fie in feiner Geſellſchaft immer fühlte,
behandelte ihn mit der größten Vertraulichkeit und hatte oft
Manches an ihm auszujegen. Odo war anfangs betroffen, fügte
fih aber bald, ja bat fie, doch recht viel an ihm zu hofmeiftern.
Dieß geſchah manchmal mit einer Herbheit, daß ein Dritter hätte
328 Novellen.
glauben können, der Umgang mit diefem jungen Menjchen jet
ihr zur Laſt, oder daß jie mindeſtens in jeiner Geſellſchaft große
Geduldproben zu beftehen habe.
Sie fuhren wieder auf dem See, Odo und Lucy allein. Die
Sonne war jhon untergegangen. Sie famen von der Billa
Diodati, dem Landhauje, das Byron jo lange bewohnt und in
dem er feinen Freund Shelley jo oft empfangen hatte. Sie hatten
einige Tage vorher Child Harald gelejen und dieje Fahrt, um
die Odo feine Freundin gebeten hatte, war ihm wie eine fromme
Pilgerfahrt. In der That fühlte er fi noch auf dem Rüdmwege
von jener unſäglich ſchönen Andacht erfüllt, welche jugendliche,
empfänglihe Gemüther an folhen Stätten überlommt, die durch
ihre Ideale geweiht worden find. Er war mit dem erften Schritte
in die Billa Diodati ſchweigſam geworden und ſchweigſam ſaß
er noh am Steuer. Lucy hatte ihn beobachtet und wußte, was
in ihm vorging. Sie jaß ihm gegenüber am andern Ende des
Kahns und ſah ihn mit gerührtem Blide an. Diefe ftrebende,
frifche, ahnungsvolle Seele erfüllte fie mit einer heiligen Ehre
furcht und das war ihr fo rührend, daß fie diefe Ehrfurdt
vor einem Kinde empfand. Sie felbit kam fich ihm gegenüber
fo alt, fo fertig vor; dort drüben war alle Zukunft und Alles,
was uns aufregt, wenn wir an Zukunft denken. Die Thränen
ftiegen ihr ins Auge, eben als er ausrief: „Miß Lucy, ein
folder Child Haralo
Eie mußte antworten, aber fie durfte nicht fo antworten,
mie fie es gewünjcht hätte, und fo rief fie mit jener Heuchelei,
mit der wir oft unjere fanfteften Gefühle und Gedanken verjteden,
und mit einer Heftigleit, die ihre Rührung übertäuben follte,
zurüd: „Schämen Sie fih, Odo! Solche zerriffene, zerfahrene,
mit der ganzen Welt unzufrievene Männer, vie feine Männer
jind, kann die Welt nicht brauchen. Der ruhige Mann, der feine
Pflicht kennt und in feinem Berufe das Seinige thut, ift mehr
werth, als alle Byron’schen Helden zufammen genommen !“
Diefen Mann, den fie höher ftellte, als alle Byron'ſchen
Verrechnet. 329
Helden, ſah ſie keimen in demſelben Knaben, den ſie ausſchalt; ſie
vertheidigte ihn gegen ſeine eigenen Worte. Aber das ahnte er
nicht, auch dachte er nicht lange über ihre Meinung nach; er
hörte nur ihr Schelten und war nur von ihrer Heftigkeit erſchreckt.
Er zog raſch das Segel ein, ließ das Steuer fallen und eilte zu
ihr hinüber, daß der Kahn ſchwankte.
„Seien Sie nicht böſe, Miß Lucy,“ bat er, indem er ſich zu
ihren Füßen ſetzte und ihre Hand ergriff.
Die andere Hand legte ſie auf ſeine Haare und ſagte mit
zitternder Stimme: „Ich bin es nicht. Verzeihen Sie, Odo!“
„Verzeihen?“ lächelte der Knabe. „Ich bemerke ſeit einiger
Zeit, daß Sie ſehr ſtrenge mit mir find. Aber es thut mir un—⸗
endlich wohl.”
„Wie?“ fragte Lucy überraſcht.
„Sch will Ihnen ein Geſtändniß machen, Miß Lucy.”
„Sin Geftändniß?” fragte Lucy, vor Angjt zittern.
„Sie willen, id habe Sie lieb. Ich habe Sie lieb, weil Sie
jo find, wie Sie find. Aber ich habe Sie noch aus einem andern
Grunde lieb.”
„Run?“
„Meine Mutter ſtarb, als ich ein Kind von fünf Jahren
war. Gie felbjt hatte noch nicht fünfundzwanzig Jahre; fie war
jo jung, fo ſchön. Ich erinnere mich ihrer, als hätte ich fie heute
gejeben, beſonders eines Augenblides. Sie mußte in eine Ges
jellihaft und war dazu ſchon angelleivet. Da kam fie noch herein
in die Kinderftube, um mir gute Nacht zu jagen. Als fie herein:
trat, fagte ih mir: mie fehön ift meine Mutter! Gie trug ein
weißes Kleid mit Heinen blauen Streifchen; das war ganz luftig
wie Nebel; in ihren blonden Haaren hatte fie eine Kleine Roſe
mit einigen grünen Blättern. Sie war fo ſchön und ich fagte ihr
es auch. Da lächelte fie fo lieblih, ach jo unendlich lieblich und
füßte mich. Ich werde das nie vergeſſen. Miß Lucy, geben Sie
mir einen Ruß!”
Lucy büdte fich herab und blidte ihm ind Geſicht. Ein
330 Novellen.
trauriger, aber unbefangener, offener Blid kam ihr entgegen,
der jih nad der unſchuldigſten Liebe jehnte und fie büdte fi
tiefer und küßte ihn auf die Stirne. Sogleich fuhr er fort:
„Aber ich erinnere mich nicht diefes Momentes allein; ich erinnere
mid auch, wie fie einmal einer Unart wegen mit mir zanfte und
diejer Moment ift mir eben fo theuer, wie der andere. Ad, eine
Mutter, die ſchilt, ift wohl ebenfo lieblih, wie eine Mutter, die
füßt. Miß Lucy, ich habe diefes Glüd nur fo kurz genoſſen!
Denn Sie mit mir zanfen, Miß Lucy, möchte ih Ihnen beide
Hände füffen. Ach, wie erinnern Sie mich an meine Mutter!“
So ſprechend drüdte er jein Gefiht in ihre Hände und fie
fühlte jie von Thränen benegt. Sie ſaß aufrecht und blidte vor
ih hin. Ein Dampfſchiff näherte fich; fie wedte Odo nicht, daß
er den Kahn aus deſſen Bereiche bringe. Es brauste vorbei und
das Heine Fahrzeug tanzte auf den aufgeregten Wellen. Lucy
drüdte das Gefiht, das in ihren Händen lag, und dachte der
Lehre, die fie eben empfangen hatte. — Nun, fagte fie fich, dieſe
Lehre jtimmt ja ganz mit meinen Vorjägen überein! —
Der Kahn trieb auf der blauen, dunklen Fläche des Sees;
wie zufällig und jpät jtieß er ans Ufer.
Drittes Kapitel.
Trotz der Uebereinjtimmung ihrer Vorfäge mit ven Gefühlen
Odo's war es vielleiht gerade fein Geſtändniß, welches die
Mütterlihkeit verhinderte, im Herzen Lucy's Wurzel zu fallen.
Bon dem Augenblide an, da fie wußte, daß fie Odo an feine
Mutter erinnerte, erhob ihr Herz Widerſpruch. Sie erkannte,
daß fie einen falſchen Weg eingeihlagen, um jene Ruhe zu ge
winnen, die fie auf jo unbegreifliche oder wenigſtens vermwerf:
liche Weife verloren hatte und fie wäre glücklich gemwejen, hätte
fie irgend einen neuen Gegenitand der Beichäftigung gefunden.
Verrechnet. 331
Wäre in dieſer Stimmung Herr Starling zurückgekehrt, er hätte
vielleicht eine zuſagende Antwort erhalten. Dieſe Sehnſucht nach
einem neuen Gegenſtande war es, die fie durch einen natür—
lihen Gedankengang eines. Tages nad dem Kinde, das Odo ge:
rettet, und nach deilen Familie fragen ließ.
„Haben Sie,” fragte fie Odo, „nie etwas von dem Kinde
gehört? Hat ſich die Familie niemals um den Retter gekümmert?“
„Do, doch!” antwortete Odo. „Gleich ven Tag nad meinem
Rhonefprung erſchien der Vater des Kindes in der Benfion, um
mir die Hand zu drüden und zu danken. Er that es jo jhön
und einfach, daß er Herrn Röder ganz für fi einnahm. Auch
mir gefiel ver Mann jehr und ich habe ihn darauf wieder beſucht.“
„Und wer ijt er?”
„Das ift ſchwer zu jagen; denn er ift gewiß nicht, wofür er
fih ausgibt. Ih fand ihn im fünften Stod eines Haufe der
Contance, wo er mit feinen zwei Kindern, den beiden Mädchen,
eine einzige Stube bewohnt. Da fieht es ärmlich genug aus.
Am Fenfter fteht ein Werktifch, und an dem fit der Mann und
gravirt Uhrgehäufe. Als er mir entgegenfam und mic empfing,
that er e3 mit einer Feierlichleit und auf eine Weife, als wäre
er gewohnt, in großen Sälen zu empfangen.”
„Wie heißt er?” fragte Lucy.
„Sr nennt fih Durand und diefen Namen findet man au
mit dem Prädikat, Graveur‘ an feiner Thüre. Aber er fagte mir
bei meinem Bejuche fofort, daß dieß nicht fein Name fei und er
nannte mir einen italienijchen, den ich nicht recht gehört und den
ich vergejlen habe — denn, fehen Sie, Miß Lucy, e3 war noch
eine Berfon im Zimmer, die mich mehr intereflirte, als Herr
Durand, und die meine ganze Aufmerkjamleit in Aniprud nahm.”
„Das Kind, das Sie aus der Nhone gerettet haben 2”
fragte Lucy.
„Das war aud da, aber das meine ich nicht, fondern das
andere Mädchen, welches das Kind in die Rhone fallen ließ. Miß
Lucy, wel ein Gefiht und welche Augen! Ein kleines mageres
332 Novellen.
Gefihtchen, blaß wie Lilien ; und Augen, die größer jchienen als
das ganze Gefiht und fo ſchwarz und leuchtend wie ſchwarze
Diamanten! Ein ſolches Gefiht kann nur aus Stalien kommen.
Und wie mich das Gefihthen anſah, jo voll Milde und Dank:
barkeit ; ich verfichere Sie, ich hätte für diefen Blid mitten im
Winter noch zehn Mal in die Rhone jpringen können !”
„So!“ fagte Lucy, „wie alt ift dag Kind?“
„Sie wird wohl dreizehn Jahre alt fein.“
„Und feitvem haben Sie fih um diefe Leute nicht weiter ge
fümmert? Haben Sie die Bekanntſchaft nicht fortgeſetzt?“
„Nein,“ fagte Odo, „jeitvem habe ich jede freie Stunde, die
mir die Penfion gelaffen hat, bei Ihnen zugebradt.“
Lucy athmete tief auf und fah einen Augenblid ſchweigend
auf die Arbeit hinab, die fie in Händen bielt.
Nach einiger Zeit fragte fie wieder: Kann man für die Fa—
milie nichts thun, da fie fo arm ſcheint?“
„Ih glaube nicht,“ fagte Odo. „Herr Durand, oder wie
er font beißen mag, fieht in feiner Armuth fo ftol; aus und
jcheint von ihr umgeben wie von einer Feftung, die jede ſolche
Annäherung abmweist. Herr Röder meint, er habe gewiß viel
befjere Tage gejeben, und er hält ihn für einen italienifchen
Flüchtling. Auch ſprach er mit feinen Kindern italienisch.
Lucy nahm fih vor, die Belanntfhaft diefer italienifchen
Familie zu mahen; auch ſprach fie Odo davon, fi von ihm
einführen lafjen zu wollen; aber Tag um Tag verging, ohne daß
fie ihn zu dem Gange aufgeforbert hätte, Ein gewiſſes Etwas,
das jie fih nicht eingeftehen wollte, hielt fie davon ab. Odo
hatte von dem Mädchen mit folder Wärme gefproden, daß fie
eine gemwille Eiferfuht fühlte, und daß fie nicht ſelbſt die Ge
legenheit des Wiederſehens herbeiführen wollte. Um fich diejes
Gefühles wegen vor ſich ſelbſt zu entichuldigen, fagte fie ſich, daß
ja auch Mütter auf ihre Söhne, Schweitern auf ihre Brüder
eiferfüchtig find, und fie fand das natürlich. Iſt es nicht Schmerz:
lich, ein Weſen, das uns bis zu einem gewiſſen Momente durch
Verrechnet. 333
ſo innige Bande verbunden war, plötzlich durch innigere und
ſtaärkere Feſſeln an eine Frau geknüpft und ſich entführt zu ſehen?
Sie empfand, wie weh eine ſolche Erfahrung thun mußte und
beſchloß, dieſe Erfahrung ihrem Vater fo lange als möglich, viel-
leicht immer, zu erfparen.
So vergingen die Wochen. Der Herbſt war ſchon da, als
Odo eine? Nachmittags mit eigenthümlich aufgeregtem Gefichte
vor Lucy trat, die gedankenvoll am Fenſter des Gartenhäuscheng
ſaß und ihre Blide über den See ftreifen ließ. Der Ausprud
feine® Gefihts war ein Gemifh von Freude und Niederges
fchlagenbeit.
„Bas haben Sie?" fragte Lucy und fühlte, daß ihr Herz
jehneller zu pochen anfing.
„Eine große Neuigfeit,” fagte Odo, „von der ich nicht weiß,
ob fie mich freuen, ob traurig maden fol. Sie werben ed mir
fagen und Sie werden mir rathen, Mama.“
„Was ift e8? was iſt es?“
Odo zog einen Brief aus der Taſche. „Es ift ein Brief
meined Vormundes. Cr fündigt mir an, daß mein Schiff, die
Penelope, beitimmt ift, eine Erdumfeglung vorzunehmen und an
den wichtigſten Punkten des ftillen Ozeans, der Südſee, der in:
difhen und chineſiſchen Gemäfjer zu landen. Es jteht mir frei,
ob ich diefe wundervolle Reife, die wenigſtens drei Jahre dauern
fol, mitmachen will oder nicht?“
„So?“ fragte Lucy gedehnt, „drei Jahre?“
„Was fol ich thun 2” fragte Odo.
Zucy.ließ die Arme ſinken und lächelte: „Sie fragen, mas
Sie thun follen? Als ob Sie nicht fhon müßten, was Sie thun
werben !”
„Es ift wahr,” rief er, „ich weiß, was ich wünfce. Die
berrliche Reife! wie viel kann ich ſehen, erfahren, erleben! Wie
anders werde ich zurüdlommen! Sole drei Jahre zählen mehr
als fonft ein ganzes Leben; ich denke, ich werde bei meiner Rüd:
fehr ein fertiger Mann fein. Und doch, Mi Lucy,” fügte er
334 Novellen.
nad einigen Minuten mit weniger Feuer und mehr Wärme bin-
zu, „ih will Ihren Rath haben, ih will Ihnen gehorden.
Wenn Sie Nein fagen, jo bleibe ich.”
Lucy ſah ihn betroffen, beinahe erfchroden an. Sie mußte,
wie jehr die Theilnahme an einer jo großen Unternehmung feinem
Charakter, feinen innigjten Wünſchen entſprach; fie wußte, daß
eine ſolche Weltfahrt die Vermwirklihung feiner fhönften Träume
war, daß ihn einer folchen feine ganze Yünglingsphantafie ent
gegen drängte — und doch wollte er Reifen oder Bleiben von
ihrem Rathe abhängig machen, wollte er ihr vielleicht, wenn er
eine Ahnung davon hatte, mit welcher Wärme fie an ihm bing,
ein ſolches Glüd opfern. Es war graufam von ihm, daß er in
dem Augenblide, da er ihr einen joldhen Beweis feiner Anhäng-
lichkeit gab, fie zwang, ihn jelbjt aus ihrer Nähe zu verbannen,
einen Rath auszufprehen, der nur auf Entfernung, auf Trens
nung lauten konnte.
Nur um einer längeren Rede auszuweichen, die ihre Auf:
regung hätte verrathen können, fagte fie furz und mit Entfchies
denheit: „Sie werben reijen !”
„Rein, nicht ſo!“ bat Odo. — „Sie follen für mid nad:
denken und überlegen, Sie jollen reiflih erwägen, wa3 mir gut
ift, was nicht. Das wird mir gut thun und ih möchte Ihnen
fo gerne gehorhen. Und,“ fügte er zaudernd hinzu, „wenn Sie
nur den leifeften Wunſch haben, daß ich hier bleibe; ach wenn
Ihnen, meine gute Yreundin, mein Bleiben nur einen Augen:
blid Freude madt, fo fagen Sie es.“
Ahnt der Knabe, was er mir ift? fragte ſich Lucy und zog
die Augenbrauen zufammen. „Sie haben Recht,” fagte fie laut,
al3 ob fie den letten Theil feiner Rede nicht gehört hätte, „vie
Sache muß überlegt fein. Ich werde Ihnen morgen meine Meis
nung jagen.“
Sir William fam dazu, Als er hörte, um was es ſich han:
velte, begriff er nicht, wie ein junger Menſch da zögern könne.
Er malte ven Reihthum, die Mannigfaltigkeit, ven Nugen einer
Verrechnet, 335
folhen Reife mit jugendlicher Begeifterung aus und rief einmal
über andere: „Fort mußt du, old fellow, du mußt fort!“
Trotzdem verficherte Odo, als er Abends Abſchied nahm, daß
in ihm über feine Reife nicht3 feftitehe, und daß er Alles von dem
Rathe der Freundin, den er morgen einholen wolle, abhängen laſſe.
„Deine Freundfchaft für den Jungen,” fagte Sir William,
al3 er mit feiner Tochter allein war, „wird dich doch nicht ver:
leiten, Lucy, ihm einen Rath zu geben, der —“
„Seien Sie ruhig, Papa,” fiel ihm Lucy ein, „ich bin feine
fo arge Egoiſtin.“
Der Bater fuchte ihr noch Allerlei betreffs des Nutzens einer
ſolchen Reife für einen jungen Seemann auseinander zu ſetzen,
aber fie entſchuldigte fih mit Kopfſchmerzen und ging früh auf
ihr Zimmer.
Als Odo am folgenden Tage wieder fam und fie um das
Ergebniß ihrer Ueberlegung fragen wollte, fiel fie ihm ſelbſt mit
der Frage: „Wann reifen Sie?” ins Wort.
„Morgen!“ antwortete Odo und ſchlug die Augen nieder.
„Morgen !” lifpelte fie und fügte hinzu: „Dann müfjen Sie
nod viel mit Bapa fein.“
So ſprechend, führte fie ihn zu Sir William, der ihm nod)
Berhaltungsregeln gab, bis Lucy zum Aufbruch mahnte. Der
Wagen ftand bereit, und Vater und Tochter brachten Odo bis
an das Parkthor der Penfion. Sir William drüdte ihm die
Hand, Lucy fhloß ihn in ihre Arme, ſchob ihn rajch von fid
und fprang in den Wagen, wandte die Pferde und jagte in Ga-
lopp der Stadt zu. Sir William wiederholte und murmelte
immer vor fi hin: „Schade! Schade! Ich hatte den Jungen fo
lieb wie meinen eigenen Sohn!” Zucy erwiderte nichts; fie ſchlug
auf die Pferde ein. Sie war zufrieden mit ſich; fie hatte es
diefen ganzen Tag durchgefegt: fie war nicht einen Augenblid
mit Odo allein geblieben.
Wieder am nächſtfolgenden Tage gegen Mittag ftieg Odo in
den Poftwagen. Herr Röder und eine Anzahl feiner Zöglinge
336 Novellen.
hatten ihn bis an das Pofthaus begleitet. Als fih der Wagen
in Bewegung fegte, gingen Lehrer und Zöglinge gleich traurig
davon. In einer Buchhandlung in der Nähe ftand Lucy und ſah
mitten zwiſchen den Büchern des Auslegelaftens hindurch ver
traurigen Abfchiedsfzene zu. Eine ſchwere Thräne rollte auf die
Bücher herab. j
viertes Kapitel.
In dem Landhaufe am Genfer See hat fih Manches ver:
ändert. Sir William ift nur felten zu fehen. Nur an fehr ſchönen
Sommertagen fährt fein Rollſtuhl vom Haufe, durch die breite
Platanenallee bi an die Terraffe, an deren Fuße die Wellen
lifpeln. Lucy ſchiebt ven Rollftuhl, ftellt dem Vater einen Schemel
unter die Füße, die fie forgfam mit einem Shaw! umhüllt, fegt
fi ihm dann gegenüber, nimmt ein Buch zur Hand und martet
ab, ob ver Bater lieber ſchweigend oder plaudernd über ver
ſchimmernden Fläche hinſehe, oder ob er es vorziehe, daß fie
ihm etwas vorlefe. Die leidige Gicht, die ihn jo früh gezwungen
hatte, den Seedienſt, dann jein Vaterland zu verlaffen, hat ſich
bei dem fiebenzigjährigen Manne mit erneuerter Gewalt einge:
ftellt. Nun find e8 mehr als drei Jahre, daß fie gegen den fonft
fo kräftigen Greis einen Krieg führt, indem fie ihm nur wäh—
rend der jhönften Sommertage einen kurzen Waffenftillftand ge
währt. Die Winter find ein fortwährender Kampf. Er behaup:
tet, daß er in diefem Kampfe längjt erlegen wäre, wenn ihm
nicht die Hülfe, die unausgejegte Pflege feiner Tochter zur Seite
jtände. Wie glüdlich fühlt er ih, wenn er manchmal am Ufer
des Sees jo dafigen und gedankenvoll hinausſehen kann, bis ver
Montblanc, fein Haupt mit Abendrojen befränzt, ihn mahnt,
fih vor den ſonſt jo unſchuldigen Zephyren des Genfer Sees
flüchtend zurüdzuziehen. Die Heiterkeit der Gegend fpiegelt ich
dann in feinem Gefichte noch glänzenver ala im See, und bie
.
Verrechnet. 337
von Schmerz und Leiden zerarbeiteten Züge lächeln ſanft vor ſich
hin. Seine Tochter iſt in ſolchen Momenten trauriger anzuſehen,
als der gequälte alte Mann. Ihr Geſicht mit den durchſichtigen,
feinen Farben, mit dem blonden Haare, iſt ſo jung wie vor drei
Jahren und ſieht überhaupt aus, als ob es nie altern könnte;
aber der Ausdruck dieſes ewig jungen Geſichtes iſt gealtert. Bei
näherer Betrachtung erkennt man doch einige Fältchen, die ſich
von oben nach unten zwiſchen die Augenbrauen eingedrängt und
dieſe etwas näher an einander gezogen haben. Drei Jahre der
Krankenwärterſchaft gehen nicht vorüber, ohne Spuren zurückzu—
laſſen. Vielleicht fam bier noch Anderes hinzu. Sir William in
jeinen jehmerzensfreien Momenten glaubte mandhmal, der zu:
nehmende Ernjt fomme bei Lucy daher, daß fie ihre Jahre fo
hinſchwinden ſehe, ohne Liebe, ohne Ausfiht auf häusliches
Glüd. Doc ſprach er ihr nicht mehr von Heirath; fie hatte dieſe
Geipräde, die Sir William nah der Wiederkehr feiner Krank:
beit oft aufs Tapet brachte, ein für alle Male mit ver Erklärung
befeitigt, daß fie fich nie zu vermählen gedenke. Sie that dieß,
al3 Mr. Starling einige Monate nad Odo's Abreiſe wieder er:
ſchienen und dießmal einen fürmlihen Heirathsantrag machte.
Sir William fah außerdem ein, daß feine Gefpräcde eitel fein
und leere Theorien enthalten könnten, da Qucy außer aller Ver:
bindung mit der Welt lebte und ſich in ihrem Bereiche fein Mann
befand, auf den ihre Gefühle gelenkt werden konnten. Außerdem
erſchrickt man in engliſchen Familien nicht fo fehr vor dem Ger
danken, eine Tochter bis tief in die zwanziger Jahre, ja immer
unvermählt zu ſehen, und bei Sir William kam vielleicht noch
der Egoismus des Alters und der Krankheit hinzu, der fich bei
dem Gedanken, ſich eine jo treue und liebende Pflegerin zu ers
halten, leicht beruhigt.
Aber trogdem man außer aller Verbindung mit der Welt
lebte, war es doch nicht fo fehr einfam und ftille in Sir Williams
Landhauſe. Odo mar bald nad feiner Abreife durch mehrere
Perfonen erfegt; und das kam fo.
Mori Hartmann, Werke. VI. 22.
| 338 Novellen.
Kaum drei Tage, nachdem fie von ihm Abjchied genommen,
madte fih Miß Lucy auf, um das Haus des ſ. g. Herrn Du:
rand, de3 Graveurs, aufzuſuchen, das ihr Odo genau hatte be-
fohreiben müfjen. Sie fand es bald, aber die Wohnung war leer.
Andere Arbeiter, die auf demjelben Flur wohnten und bei denen
fie fih erfundigte, jagten ihr, es müſſe mit ihrem ehemaligen
Nachbar, von dem fie übrigens wenig zu berichten wußten, ein
großer Glückswechſel vor ſich gegangen fein; er habe mit feinen
beiden Kindern plöglid die Wohnung verlajlen und fei ver:
ſchwunden. Ob e3 ein Glüdswechjel zum Böſen oder zum Guten
geweſen, konnten fie nicht jagen. Er ſei wenig mit ihnen umge:
gangen und wenn er aud gegen Jedermann freundlich gemejen,
fo babe er doch feine Vertraulichkeit aufkommen laffen. Lucy
ging verbrieglih nah Haufe; fie hätte weinen mögen. Es war
ihr Bedürfniß, fich der Geretteten Odo's anzunehmen, etwas für
jie zu thun; fie wenigftens zu kennen und durd die Familie, die
ihn nothwendig lieben mußte, mit ihm gewifjermaßen in einer
gemüthlichen Verbindung zu bleiben. Das follte ihr auch nicht
gegönnt fein. Nach der Ausſage der Arbeiter fonnte der Sta:
liener aub in Noth und Elend verfunfen fein; fie wäre im
Stande, ihm und jeinen Kindern zu helfen und ſich fo, als Hel—
ferin der Familie, unmittelbar an Odo's Thaten zu fchließen
und dieje fortzufegen. Das zu thun ſchien ihr Pflicht, und nun
jollte ihr au das nicht werden. Und wie gerne hätte fie das
Mädchen mit dem bleihen Gefichte und den großen Augen, von
denen Odo mit jolher Wärme gejprochen, fennen gelernt! Aus
al’ Dem follte nun Nicht3 werben und fie jah eine öde, öde Zeit
vor fih, nachdem fie nod eine Stunde vorher geträumt hatte,
die MWohlthäterin, die Freundin der Familie, vielleicht die Leh—
rerin der Slinder zu werden. Es war ihr, ala müßte fie fih an
das Miplingen ihrer liebjten Pläne gewöhnen.
Zu Haufe angelommen, hörte fie faum, al3 ihr der Bediente
anfündigte, daß fie ein fremder Herr im Salon erwarte. Als
fie eintrat, fah fie einen Mann von ungefähr fünf: oder ſechs—
Verrechnet. 339
unddreißig Jahren, der ihr mit dem vollkommenſten und würde:
vollften Anftande eines Weltmannes entgegenlam. Gin edles,
von ſchwarzem Barte und ebenjo ſchwarzem, diden Haupthaar
eingefaßtes Gefiht, das im Blide und auf einer hohen Stirne
den gedankenvolliten Ernit jehen ließ, verneigte fich vor ihr mit
dem mildeften Lächeln. Faſt bedurfte fie, zerftreut wie fie war,
einiger Faſſung, um ihre Ueberrafhung und das MWohlgefallen
an der eben jo ſchönen als imponirenden Erſcheinung nicht zu
verratben.
„Mein Fräulein," fagte der Fremde in gebrochenem Eng:
liſch, „entſchuldigen Sie, daß ih mic Ihnen fo ohne jede
Empfehlung vorzuftellen wage. Herr Röder, von dem ich fo eben
fomme, hat mich dazu ermutbigt.“
„Sie fonımen von einem Manne, den wir fehr. fhäßen,“
erwiberte Lucy; „jegen Sie ſich gefällig. Mit wen babe ich
die Ehre? Womit kann ic Ihnen dienen 2”
„Ich bin der Marcheſe Brofferio aus Genua,” fagte ver
Fremde, indem er fih Lucy gegenüberjegte, „ich bin Flüchtling
und lebe jeit einigen Jahren bier in Genf in der Verbannung.”
Qucy verneigte ſich; der Marcheſe fuhr fort: „Bor einigen
Monaten erzeigte mir ein helvenmüthiger, junger Engländer eine
unſchätzbare Wohlthat: er rettete meine Kleine Emilia au3 den
Fluthen der Rhone.“
„Herr Durand!” rief Lucy aufs Freudigfte überrafcht.
„Derjelbe,” lächelte der Marcheſe, „unter diefem Namen
babe ich einige Jahre bier als Arbeiter gelebt, um mic den Ber:
folgungen der heimifchen Polizei zu entziehen. est bedarf ich
diefer Verkleidung nicht mehr, da ſich die Politik meiner Regies
rung geändert zu haben jcheint. Seit einigen Tagen bin ich
balb amnejtirt; zwar bleibt mir das Vaterland noch immer ver:
ſchloſſen, aber meine konfiszirten Güter find mir zurüdgegeben
worden. Dieje Veränderung meiner Lage ift es, die mich bewog,
fofort den Herrn Odo Worthington aufzufuchen; ich weiß nichts
von feinen Verhältniſſen, ich weiß nur, daß ich wie ein Bettler
340 Novellen.
vor ihm jtand, daß ich ihm mit Nichts feine ungeheure Wohl:
that vergelten konnte. Nun dachte ih — ich bin nun ein reicher
Mann, vielleicht, wie die Dinge jegt jtehen, bin ich bald auch
ein einflußreiher Mann. Mr. Worthington ift eine Waiſe —
vielleicht dachte ih — und wenn ih auch nichts für ihn thun
kann, ich kann ihn jetzt doch einladen, zu uns zu fommen, jich
an dem jungen Leben zu freuen, das er gerettet hat. Oft in die
ärmliche Stube zu kommen, die ih mit meinen beiden Rindern
bewohnt habe, wollte ich ihm nicht zumuthen. Aber da erfuhr
ih in der PBenfion des Herrn Röder, daß der junge Mann vor
einigen Tagen Genf verlaffen habe. Herr Nöder ſah meinen
Schmerz und wies mid an Sie, mein Fräulein. Sie würden,
meinte der brave Mann, mir wenigſtens Oelegenheit geben, daß
ich ihn nicht aus den Augen verlieren und daß ich die Hoffnung
bewahren kann, mich ihm einjt wieder nähern zu können.”
„Sie werden mir glauben, Herr Marcheſe,“ ſagte Lucy,
„daß ich Herrn Röder ſehr dankbar bin, wenn ich Ihnen fage,
daß ich jo eben aus Ihrer ehemaligen Wohnung komme und daß
ich es fehr bedauert habe, Sie nicht mehr dort gefunden zu ha—
ben. Ich wollte die Kinder kennen lernen, denen ich mid durch
meine Freundſchaft für Odo verwandt fühle,”
Der Marcheſe ergriff ihre Hand und küßte fie. — „Diefe‘
Bekanntſchaft,“ ſagte er lächelnd, „wird leicht zu machen fein.
Das Schidjal hat mich bei der Wahl meiner Wohnung gut ge:
leitet; wir find Ihre nächſten Nachbarn: ich wohne in dem an-
jtoßenden Landhauſe.“
Cr ftand auf und trat ans Fenſter. „Mein Fräulein, Sie
fönnen meine Kinder jenjeit3 der Mauer, die unfere Gärten
trennt, jpielen ſehen.“
Lucy eilte ans Fenfter und jah das kleine Kind, das ſich
in einem Haufen zujammengefegter welfer Blätter mwäljte, wäh—
rend die größere Schweiter, an einen Baum gelehnt, Tächelnd
zuſah. Es war das blajje Geſichtchen mit den großen ſchwarzen
Augen, von dem Doo mit jo großer Wärme geſprochen. Der
Verrechnet. 341
kleine Kopf bog ſich etwas nach der Seite, als ob er nur der
großen Laſt der ſchwarzen Haare nachgäbe, die theils in dicken
Flechten einen Kranz bildeten, theils aufgelöst auf die bräunlich
weiße Schulter herabfielen. Sie ſah wie träumend vor fich hin,
oder vielmehr mie finnend, als ob ihr der Anblid des Kindes
mitten unter den welfen Abfällen des Sommers melandoliiche
Gedanken einflößte; dabei beobachtete fie doch das Kind mit einer
mütterlihen Zärtlichkeit, immer bereit zu Hülfe zu fommen, e3
aufzuheben, wenn es fiele und ihm zu reihen, was es verlangte.
. „Sie fteht da, wie des Kindes Schußgengel!“ Tifpelte Lucy.
„Das ift meine Zanetta!” fagte der Marchefe.
Aber ald ob ihr ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf
fuhr, fagte Lucy: „Unbegreiflih! Diefes Mädchen hat das Kind
ins Wafjer fallen laſſen!“
Der Marcheſe zog feine Augenbrauen etwas zufammen und
jagte raſch, wie um Banetta fo fchnell als möglich gegen eine
Anklage in Schug zu nehmen: „Mein Fräulein, fie ließ das
Kind aus Schwäche fallen. Sie hatte damals beinahe zwei Tage
lang nicht8 gegefjen.“
Lucy erfchraf und ſah den Marcheſe mit einem Blide an,
der ihn um Vergebung anflehte. „Kommen Sie,” bat jie, „ma:
hen Sie mid mit dem Kinde befannt, geben Sie mir Gelegen:
heit, e3 zu küſſen.“
In dem Augenblide fiel Zanetta’3 Auge auf das Fenfter ;
fie ſah ihren Vater und lächelte ihm zu, dann erröthete fie eben
jo raſch, als fie die fremde Dame neben ihm ſah. Lucy winkte
ihr; fie ſah ihren Vater fragend an und da er eine bejahende
Bewegung machte, nahm fie das Kind und verſchwand hinter
dem Haufe.
„Miß Spencer," fagte der Marchefe mit zitternder Stimme,
„Sie werden mein Alles kennen lernen, die Erbſchaft eines ge:
liebten Weibes, da3 mir in der Blüthe des Lebens und unferer
Liebe entriffen wurde. Seien Sie gütig gegen die guten Kinder
und vor Allem nachſichtig. Beide haben bis jegt nur Elend
342 Novellen.
gekannt; fie find nicht erzogen, fie find nicht gelehrt; ich hatte
bisher nur Zeit, Brod für fie zu fchaffen und wie oft fonnte ic
jelbjt das nicht! Wie oft haben fie gehungert! Rechnen Sie ihnen
das an, daß fie für ihr Vaterland gehungert und gelitten haben.
Es joll jegt anders werden; nur ihrer Erziehung will ich leben,
bi3 mich vielleicht wieder mein Vaterland ruft.“
Wie gerne hätte ihm Lucy fogleih ihre Hülfe angeboten ;
aber fie hoffte, daß fich die Dinge von felbit fo fügen würden,
wie fie e3 ſchon gewünſcht hatte, als fie die Familie heute Morgen
aufſuchte und mie fie es jet noch inniger wünſchte. Gerührt
eilte jie den Kindern auf die Treppe entgegen und empfing fie,
al3 empfinge fie Schußbefohlene.
Nach wenigen Tagen der Bekanntſchaft mit Zanetta, vielleicht
nah wenigen Stunden fiel ihr ein, was fie vor mehreren Mo:
naten an ihre Freundin in Beziehung auf Odo gefchrieben: „An—
ftatt ihn erziehen zu wollen, müßte man irgend ein lieblicheg,
von der Natur eben fo rei ausgeftatteted junges Mädchen für
ihn fo erziehen, daß es einft würdig wäre, feine Lebensgefährtin
zu werden.” In Zanetta ftellte fich ihr ein folhes Mädchen be
jtimmter und noch reicher ausgeftattet vor, als fie e3 geträumt
hatte. Eine ſchöne Erfheinung ift in der Wirklichkeit mit den
beftimmten Zügen einer Perſönlichkeit immer ſchöner, als vie
Ihönften Gebilde unferer vagen Phantafie. Alle Ideale kommen
una hohl vor, wo wir in der Welt mit einem ſchönen Menſchen
zufammentreffen. Jede perfönlihe Phyfiognomie ift bedeutender
und mächtiger, als die Phyfiognomie des Ideals, das immer nur
fonventionelle Züge trägt, wie eine Zeichnung ohne Modell. Lucy
fühlte das der Heinen Zanetta gegenüber. Das Schidjal ihres
Vaters, frühe Verwaifung, anderes frühes Leiden, die jchon in
der erften Kindheit auferlegte Pflicht, für ein Kind zu forgen,
das Alles, verbunden mit einer angeborenen Energie des Cha:
rakters, welche die weibliche Sinnigteit nicht ausſchloß, machten
Zanetta, abgejehen von ihrer räthjelhaften Schönheit, zu einer
Erſcheinung, die Lucy in Erftaunen fegte, ja ihr infofern dieſelbe
— 343
“
BVerlegenheit bereitete, die fie Odo gegenüber empfunden hatte,
als fie ſich auch bier jagen mußte, daß eigentlich auch an dieſem
Gefhöpfe nichts zu erziehen fei. Aber lernen fonnte Zanetta
Manches und da fie ſah, daß es ihrer neuen, mütterlihen Freun—
din Freude machte, wenn fie lernte, ergriff fie Alles mit einem
Eifer, der bei ihrer Leichtigkeit der Auffaflung, bei ihrem rathen-
den Verftändniß in kurzer Zeit Wunder that. In ihrer Beſchäf—
tigung mit der Heinen Emilia, ‚die fie, trogdem ihr jegt ber
Vater eine Kinderfrau beigegeben hatte, doch ftet3 mit der zärt-
lichften Sorgfalt umgab, erinnerte fie Lucy an jene jugendlichen,
faum der Kindheit entwachſenen Madonnen Andrea del Sarto’3,
die fie in Florenz geſehen hatte. Troß ihrer Heiterkeit, oft kindi—
ſchen Ausgelafienheit bei ernfteftem inneren Wefen flößte fie Lucy
eine gewifle Achtung mie vor einer weit älteren Perfon ein und
. doch erfchien fie ihr andererfeit3, wenn fie fie mit fich felbft ver:
gli, jo unendlid jung. Die geheime Urſache war, daß ihr im
Grunde nur jung ſchien, was fo jung oder jünger war ala Odo,
und alt, was fo alt oder älter war als fie ſelbſt.
Bei den Erziehungsplänen Lucy's war natürlich oft die Rede
von dem abweſenden Odo; aber Lucy ſah bald ein, daß es nicht
nothwendig war, die Gedanken Zanetta's auf den Abweſenden
zu leiten; fie erfannte bald, daß er dem Kinde in einem eigen:
thümlic magischen Lichte, als eine Art verflärter Erfcheinung
vorjchwebte. Ye älter Zanetta wurde, je befler fie es unter der
bildenden Anleitung ihrer Lehrerin lernte, ihren Gedanken Form
zu geben, deſto deutlicher mußte fie es auszudrücken und defto
Harer wurde e3 ihr felbit, was fie Odo zu danken hatte. Er
hatte, wie fie ſich ausprüdte, nicht der Heinen Emilia, ſondern
ihr das Leben gerettet und mehr als das Leben. Sie gewöhnte
ih, fi den Zuftand auszumalen, in dem fie ihr ganzes Leben
bingejchleppt hätte, wenn ihr Schweſterchen in den Fluthen ver
Rhone zu Grunde gegangen wäre. Nah folder Borftellung
athmete fie tief auf, wie wenn fie von einem Alpdrude befreit
wäre und jedes Mal ftand Odo vor ihr, als der Befreier von
344 Novellen.
unbeimlihem, grauenvollem Drude. So war es ihr, alö habe
fie ihm jeden Tag zu danken. |
„Sehen Sie, Miß Lucy,“ fagte Zanetta oft, „ich fehe ihn
ftetö, wie er mit ausgebreiteten Armen von dem Steingelänvde
in die Rhone jprang, mie ein Schußgeift, der plöglib aus der
Höhe herabeilt. In dem Augenblid, da ich ihn fo ſah, fühlte ich
mich gerettet. ch wurde ganz ruhig und wartete nur, daß er
mir das Kind zurüdbringe. Als ihn dann die Knaben umring:
ten, war es mir, al3 ob ihn eine Wolfe eingefchloffen hätte, die
ihn wieder entführen follte. Als er dann zu ung fam, hatte ich
nicht den Muth, ihn anzufprehen — ich konnte ihn nur anfehen.
Und hätte er Emilia auf den Arm genommen und wäre mit ihr
fortgegangen, ich hätte fie rubig, vielleicht glüdlich gehen laſſen.
Es wäre mir zu Muthe geweſen, al3 führte er fie geraden Meges
in die Seligkeit. Und wenn er mir nur gewinkt hätte, ich wäre
ihm gefolgt, wohin es ihm gefiel, ohne zu fragen, ohne mid
umzufehen. Und heute ift mir noch gerade fo.”
So ſprach Zanetta in der erjten Zeit ihres Aufenthalts in
der Villa; fo ſprach fie nah Monaten und nachdem ſchon ein
und zwei Jahre dahin gegangen waren. Lucy hörte ihr dann zu,
als ob fie fhöne Kindermärchen hörte und doch Wieder mit einem
Gefühle tiefer Wehmuth. Sie legte ihr die Hand auf die ſchwar—
zen Scheitel, fah ihr lächelnd in das große offene Auge und
date: Glüdliches Kind, fo früh ſchon erfüllt dich ein deal und
du brauchſt dich dieſes Ideals nicht zu fchämen !
Von der Intimität, die zwifchen den beiden Familien herrfchte,
gab das jprechendfte Zeugniß jene Thüre, die man glei im
ersten Winter des Zufammenlebend in die Mauer zwiſchen den
beiden Gärten hatte brechen laffen und die nun die beiden Land:
häuſer gemwiflermaßen zu einem machte. Der alte Sir William
fegnete Odo's Andenken dafür, daß er ihm diefe Gefelljchaft ver
dankte. Am Marcheſe hatte er einen männlichen Freund, mit
dem er Ernſtes und vor Allem die politifche Lage Europa's, die
viefer fehr genau kannte, befprechen fonnte; an den Kindern eine
Verrechnet. 345
anmuthige, jugendliche Welt, die ihm über manche Stunde des
Leidens hinweghalf. Zanetta war eine eben jo gute Kranken:
märterin im Momente des Schmerzes, al3 fie in Stunden der
Ruhe unterhaltend war, mochte fie ihm nun von den Crinne:
rungen aus Stalien vorplaudern oder vor feinem Lehnftuhle
italienische Nationaltänze ausführen. Er hatte innige Zuneigung
für das Kind gefaßt und freute fih, wenn fie ihn Großvater
nannte, Der Marchefe war freilihb nur im eriten Winter ein
fteter Geſellſchafter des alten Herrn und feiner Tochter; jobald
er aber feine Kinder unter deren Schuße jo mohl geborgen fah,
begann er die verſchiedenſten Reifen in politifchen Aufträgen feiner
Partei. Die Kinder überfievelten dann gänzlih unter Sir Wil:
liam3 Dach, ja fie blieben fpäter im Haufe, jelbjt wenn ver
Marcheſe auf Tage und Wochen zurüdfehrte. So wurde ihnen
Lucy Alles und es ijt fein Wunder, daß fie fie, mie ehemals
Odo, ebenfall3 Mama nannten. Lucy lächelte dazu. Sie, die
ehemals im Bemwußtfein, ihrer Schönheit und in ihrem weiblichen
Stolze der Männermwelt gegenüber nicht den geringften Zmeifel
in ihre Macht fegte, fagte fich jegt: „Es ſcheint, daß ich beftimmt
bin, nur die kindliche Liebe zu einer Mutter einzuflößen.”
Vielleicht hätte fie mit der Zeit Anderes glauben gelernt,
menn der Marchefe im Landhaufe fo heimifch geworden wäre,
mie feine Kinder und wenn er, der begeifterte Sohn feines Vater:
landes, den perfönlihen Gefühlen geftattet hätte, den Raum in
feinem Herzen einzunehmen, den fie einzunehmen drängten, Aber
er hatte Pflichten, er ftand mitten in den vorbereitenden und
geheimen Bewegungen, welche die Wiedergeburt Italiens bezwed:
ten. Er konnte feine thätige Vaterlandsliebe eine Zeit lang zum
Schweigen bringen, al3 er gezwungen war, feine Kinder vor
Mangel und Hunger durd) feiner Hände Arbeit zu ſchützen; jetzt,
da diefe nächfte Pflicht won ihm genommen war, glaubte er fi
mit allen Kräften und Gefühlen der weiteren, bürgerlichen Pflicht:
hingeben zu müfjen. Seine Kinder waren unter Qucy’3 Schuß
fo gut geborgen; e3 wäre Verbrechen gemefen, dem Baterlande
346 Novellen.
einen Augenblid feiner Zeit, eine ſchwächſte Kraft feines Geiſtes
abzufparen. Es lebte jene Jntenfivität der Vaterlandsliebe in
ihm, die in unferer Zeit und in italieniſchen Gemüthern zu finden
ilt. Kein Sohn einer andern Nation veriteht es mie fie, feine
perſönlichen Gefühle, ja ſelbſt feine perſönlichen Anfihten und
Ueberzeugungen dem Ganzen unterzuordnen und aufjuopfern.
Diefe größte aller Opferfähigkeiten ift ihnen eigen und mar im
Marchefe aufs Ausgefprocdenfte vorhanden. Wie dankbar war
er Lucy für die Freiheit, fih ganz feinem Weſen bingeben zu
fönnen, und diefe Dankbarkeit erhöhte noch das Gefühl, das er
vom erjten Augenblide an ihr gegenüber empfand. Jede Be:
friedigung,, die er aus feinem Thun und Wirken ſchöpfte, glaubte
er ihr fchuldig zu fein, und wenn fein Streben dem Baterlande
einigen Nuten brachte, war fie es, der er ihn gerne zufchrieb.
Sie fühlte das und er fagte es ihr oft genug in feiner aufrichti-
gen und männlichen Weile. Ihrem ganzen Charakter und den
Anforderungen nah, die fie an einen Mann ftellte, freute fie
fih auch darüber; aber au hier fagte fie ſich mit demfelben
Lächeln: Ich bin nüglich!
Aber das Gefühl des Nützlichſeins breitet über ein Mädchen:
gemüth nicht jene ganze Heiterkeit, deren e3 fähig ift. Bei all
dem Bemwußtfein, einem kranken Vater, zwei lieblihen, mutter:
loſen Kindern, einem braven, zu den edelſten Zwecken thätigen
Manne und vielleiht auch vorforgend dem Glüde eines fernen,
theuern Freundes förderlich zu fein, lag auf Lucy ein dunkler
Schleier janfter Trauer, der ſich in der legten Zeit, immer dichter
und immer dichter jchattend, zufammenzog.
Diefe Trauer ijt gemach zur allgemeinen, drückenden Atmo—
iphäre des ganzen Hauſes geworden. Sie drüdt auf Sir Wil:
liam beinahe eben fo jehr, wie auf feine Tochter. Beide figen
dort auf der Terrafle und Lucy fällt es nicht ein, das Buch, das
auf ihrem Schooße liegt, aufzufchlagen. Sie fehen über den See
bin und jedes Segel, das vorüberzieht, erwedt traurige Gedanken.
Nur Sir William jeufzt manchmal; Lucy blidt ftarr vor ji hin.
Verrechnet. 347
Seit Odo's Abreiſe wird im Hauſe nichts ſo eifrig geleſen,
wie das engliſche Flottenjournal; dieſes Blatt brachte, nebſt den
wenigen Briefen, die man von ihm ſelbſt erhalten hatte, einige
Nachrichten über ihn oder vielmehr über ſein Schiff Penelope.
Man wußte wenigſtens, unter welchen Himmelsſtrichen ſich dieſes
Schiff befand, und man folgte ihm auf den alten Seekarten, die
Sir William wieder hervorgeſucht hatte. Aber ſeit Wochen hatte
ſich jede Spur der Penelope verloren, und das Flottenjournal
drückte zu wiederholten Malen ſeine Beſorgniß um Schiff und
Mannſchaft aus. An der Nordküſte Neuhollands war es ver—
ſchwunden. Jede Wochennummer des Journals wurde mit beben—
der Spannung erwartet und der Tag, an dem es kommen ſollte,
bis zum Momente der Ankunft ſchweigend zugebracht. Während
Vater und Tochter auf der Terraſſe ſaßen, ſtanden die italieni—
ſchen Schweſtern am Gartenthore und warteten des Bedienten,
der aus der Stadt kommen ſollte. Da Hang das Thor; Lucy
wandte fih um; Zanetta hatte ihr Schwefterchen verlafjen, um,
mit der Zeitung in der Hand, fehneller, quer durch den Garten
zu Lucy zu gelangen. Im Laufen riß fie den Umfchlag ab, um
das Blatt gleich entfaltet übergeben zu können. Lucy faßte es
mit zitternden Händen und las, während Zanetta und der Vater
ihren Bliden, die über die Kolonnen hineilten, voll Erwartung
folgten. Sie ließ das Blatt fallen und fagte faum hörbar: „Nichts !"
BZanetta trat einige Schritte zurüd und lehnte fi an einen
Baum. Ihr ſchlanker, zarter Leib zitterte, aus ihrem großen
Auge fiel eine Thräne, die fie zu verbergen fuchte, indem fie fich
abmwandte. Aber Emilie, die indeflen bereingefommen war und
fih an das Kleid der Schwefter Hammerte, bemerkte dieſe Thräne
und fing laut zu meinen an. Sir William wurde unruhig.
„Kinder,” fagte er, „keine Thorheiten! Man ertrinkt nicht fo
leiht! Ich babe aud einmal durch acht Wochen für ertrunfen
gegolten und fiße jegt hier in meinem breiundfiebenzigften Jahre.
Englifhe Seeleute lafjen ſich nit jo leiht von der See ver:
Ihlingen und englifhe Schiffe haben einen harten Kiel.”
348 Novellen.
Sir Williams Tröſtungen frommten wenig; ſie konnten die
ſorgenvolle Stimmung des Hauſes nicht zerſtreuen. Man verließ
die hergebrachte Tagesordnung, die gewöhnlichen Beſchäftigungen
wurden vernachläſſigt; man ging ſchweigend, wie durch ein
Sterbehaus, durch Stuben und Garten. Erſt als ſich wieder der
Tag näherte, der eine neue Nummer der Flottenzeitung bringen
ſollte, erwachte man unmerklich aus der trüben Stimmung und
äußerte ſich die erneute Hoffnung bie und da durch ein lauter
gefprochenes Wort, durch einen Troft, den jegt Zanetta, jetzt der
alte Herr auszufprechen wagte.
Uber diefe halberwachte Hoffnung follte zu ſchnell, noch vor
Anfunft der Zeitung, niedergefchlagen werden.
Plöglich kam der Marchefe aus London an, mo er fich eben
aufgehalten hatte. Nach der erften Freude des Wiederſehens be-
merkten Zanetta und Lucy, daß feine Stimmung nicht heiterer
war, als die ihrige. Er war den Nachrichten über die Penelope
mit derjelben Epannung und Beforgniß gefolgt, wie die Freunde
und die Kinder in Genf; er befaß die neueften Nachrichten, die
er ſich bei der Admiralität in London geholt hatte und eilte,
ihnen zuvorzukommen, ehe fie die Zeitung nad Genf bradte.
Lucy ahnte das und hätte ihn gerne allein befragt, aber Zanetta
wich nicht von feiner Seite. Eo vergingen peinvolle Stunden,
ehe Jemand ven Namen Odo over Penelope ausſprach. Der Mar:
cheſe fürchtete jeden Augenblid die Ankunft ver Zeitung und mußte
ſich entjchließen, den traurigen Gegenftand felbft zu berühren.
„Sie find wohl,” fagte er, als die ganze Geſellſchaft im
Salon Sir Williams verfammelt faß, „mit Beforgniß dem Flotten:
journal gefolgt?“ |
Niemand antwortete. Er fuhr fort: „Auch in England ift
man ſehr beforgt — durd mehrere Wochen fehlten die Nach:
richten gänzlich — feit einigen Tagen glaubt man, über das
Schickſal der Penelope etwas zu wiſſen.“
Er ſchlug, während er dieje legten Worte hervorbrachte, die
Augen nieder und fchmieg.
Verrechnet. 349
„Das Schiff iſt untergegangen!“ ſagte Lucy mit tonloſer
Stimme und ließ die Arme ſinken. Der Marcheſe ſchwieg, und
Zanetta ließ ihren Kopf auf ſeine Schulter fallen. Er ſchlang
den Arm um ihren Leib und drückte ſie an ſein Herz. Das war
Allen wie eine Fortſetzung ſeiner Rede und wie eine Beſtätigung
deſſen, was Lucy wie aus dem Traume geſprochen hatte.
„Aber,“ fuhr er raſch fort, „wenn man aud an der nördlichen
Küfte Neuhollands Trümmer der Penelope gefunden, jo hat man
doch Feine Leiche gefunden. Das Schiff iſt geftrandet; aber es
ift nicht gewiß, daß die Mannſchaft zu Grunde gegangen.
Das war noch ein Strobhalm, an dem jich die Hoffnung
feftllammern konnte; aber die jeit Wochen fo tief herabgevrüdten
und gequälten Gemüther hatten nicht mehr die Kraft, auf fo
geringe Urjachen hin zu hoffen. Selbſt Sir William, ver bisher
der Hoffnungsreichite gewefen, ſah man es an, daß ihn alle
Zuverficht verlaffen hatte,
Fünftes Kapitel.
Es war im Haufe, wie es .in der erjten, öden Stunde zu
jein pflegt, nachdem man einen Sarg hinaus getragen. Es
berrfeht eine große, dumpfe Leere, Wie in den Stuben, ift e8
in den Gemüthern. Alles ſchweigt, wie in Angft; jeder Laut
fönnte einen unerträglihen Schmerz erweden. Der Marcheje
war offenbar berbeigeeilt, um das Unglüd ertragen zu helfen
und um zu tröjten; aber diejer ſtumme Schmerz verdammte ihn
zur Unthätigkeit. Er konnte nur die kleine Emilia tröften und
beruhigen, da fie, geängftigt von der Stille und dem Ausprude
auf allen Gefichtern, zu weinen anfing. Sie fhlief in feinen
Armen ein, und er trug fie in ihr Bett. Das war das Zeichen
zum Aufbruch; man trennte ſich mit ftillen Händedrüden.
Lucy hatte fich fo gewöhnt, das wahre Gefühl, das fie mit
350 Novellen.
dem Andenken an Odo verband, fo zu verbergen, daß es ihr,
erit auf ihrem Zimmer angelommen, ſo ſchien, al3 ob fie jegt
erit ihren Thränen freien Lauf lafjen dürfte. Aber fie war nicht
allein. Bald öffnete fih die Thüre und Zanetta ſank vor ihre
Füße, drüdte die Stirne auf ihre Kniee und begann zu ſchluchzen.
„Lucy,“ rief fie, „meine geliebte Lucy, was foll ich beginnen?
wie joll ich länger leben? Ich babe ihn geliebt, fo unendlich
geliebt !”
Lucy bob ihren Kopf auf und ſah ihr in die thränenvollen
Augen. Der Ausdrud diefer Augen fagte es ihr klar, daß feine
tindifche Einbildung aus diefen Worten fprach, fondern die über:
zeugtefte Liebe einer Jungfrau.
„Armes Kind!” jeufzte Lucy und zog fie an ihr Herz. Wie
gerne hätte fie ihr jeßt gefagt: auch ich habe ihn geliebt! aber
die Scheu, diefe Liebe zu geftehen, die ſich im Laufe fo langer
Zeit in ihr eingeniftet hatte, verhinderte fie auch jekt, das Ge
ftändniß über die Lippen zu bringen, obwohl ihr in diefem Augen:
blide Zanetta nicht mehr wie ein Kind erfhien, fondern wie eine
Jungfrau, die der gleiche Schmerz zu ihrer ebenbürtigen Freundin
machte.
In der That war von diefer mitternädhtlihen Stunde an ihr
Verhältniß ein anderes. Ein Kind, das fo liebt wie Zanetta,
und das e3 fo gejteht, und dem das Geftändniß durch ſolches
Unglüd entriffen wird, ift fein Kind mehr. Zanetta fühlte das
ſowohl wie Lucy, und wie fi beim Weibe innigfte Empfindungen
gerne durch Aeußerlichfeiten offenbaren, oder vielmehr fymbolis
firen — fo wollte fie, die ihr Herz durd; VBermittwung zur Meib:
lichkeit gereift fühlte, die kurzen Mädchenkleiver nicht mehr an—
legen, die ihr, dem zarten, kaum fechzehnjährigen Kinde, biöher
fo natürlich ſchienen. Plötzlich erfchien fie vor Lucy in langen
Kleidern, die ihr, mit dem Ausdrucke tiefen Kummers im Ge:
fihte, das Anfehen eines fertigen, frühgeprüften Weibes gaben.
Lucy erfchraf, als fie fie fo erblidte. Sie fühlte ſich ihr freilic
näher, aber fie fonnte fich nicht mehr überreden, daß der Schmerz
Verrechnet. 351
und die Liebe Zanetta's Gefühle eines Kindes ſeien, die verwiſcht
werden können, und ſie kam ſich wie eine Verbrecherin vor, die
Ruhe dieſes Kindes ihren phantaſtiſchen Erziehungsplänen für
Odo geopfert zu haben, indem ſie den Keim einer kindlichen
Neigung abſichtlich und halb und halb in der Freude eiferſüchtiger
Selbſtquälerei bis zu einer Leidenſchaft pflegte und erzog, die
offenbar mit der ganzen Seele Zanetta's verwachſen war. Je
ſchuldiger ſie ſich fühlte, deſto hingebender und zärtlicher wurde
ſie für Zanetta; ſie vergaß zu Zeiten ihren eigenen Schmerz über
den Kummer ihrer Freundin, und für dieſe fand ſie Troſtesworte
und ſelbſt Troſtgründe, die ſie für ſich ſelbſt vergebens geſucht
haben würde.
Dieſe Theilnahme ſteigerte ſich, je tiefer und je ſichtbarer
von Tag zu Tag Zanetta in ihrem Kummer und endlich in eine
Art krankhaften Trübſinns verſank, aus dem ſie nichts zu reißen
vermochte, wie ſehr ſie ſich auch ſelber zwang, ihre Umgebung
manchmal durch ein Lächeln oder durch einen Scherz zu beruhigen.
Allgemach ſchwand auch dieſe Rückſicht für ihre Umgebung.
Stundenlang ſaß ſie in einem Winkel ihres Zimmers oder des
Salons und ſah mit ſtarren Augen vor ſich hin, die ſie ſchloß,
ſobald man ſich ihr näherte, um fie anzuſprechen und fie zu zer—⸗
ftreuen. Cine ungebuldige Bewegung oder ein tief ſchmerzlicher
Ausdrud wies Jeden zurüd, der es verfuchte, fie aus ihrem
Hinbrüten zu reißen. So ging fie auch ftundenlang und allein
in den winterlihen Gängen des Gartens auf und nieder, ſchwei—
gend, träumerifh, nur manchmal in ein krampfhaftes Schluchzen
ausbredhend, wenn über den dunfeln See ein Segel dahin trieb.
Nur ein Mittel gab es, das fie auf Stunden, wenn aud nicht
erheitern, fo do au ihrem dumpftraumartigen Zuftande reißen
fonnte, und diefes Mittel hatte Lucy mit jenem, dem wahren
Meibe angeborenen, ärztlihen Inſtinkte aufgefunden. Es war
ein Befuch im Parke der Röder'ſchen Penſion, im Haufe und an
den Stätten,. wo Odo zwei Jahre feines Lebens verbradt hatte.
Dort, unter den Tannen und RKaftanienbäumen, luſtwandelte fie
359 Novellen.
heiter mitten im Winter, als wäre ihr Herz von Frühlingslüften
belebt, und borchte fie den Worten des guten Herrn Röder und
feiner liebevollen Stimme, der doch auch Odo fo gerne gehorcht
hatte.
Auf Lucy mit ihrem britifchen, der Selbftbeherrfhung jo
fehr fähigen Charakter wirkte der leidenſchaftliche Kummer des
italienischen Kindes wie ein Räthfel und wie ein geheimnikvoller
Zauber. Sie fam fich felber Kalt und gefühllos vor. „Das ift
Liebe,” ſagte fie zu fich jelber; „was du für Odo fühlteft, war
berzliche Neigung zu einem Rinde, das eine fhöne Zukunft ver-
iprab, und halb und halb Phantajterei.” — Und doch wieder
fagte fie ih, daß Zanetta’s Liebe nur auf Bifionen ihres eigenen
Gemüthes, auf jenen verklärten Bildern beruhe, die fie ſich von
Odo machte, und die fie ehemals zu jhildern liebte, mie fi
Kinder gerne Märchen vorerzählen. Aber je räthſelhafter ihr das
Weſen Zanetta’3 war, deſto mehr zog es fie an; und je beun:
tubigender ihr Zuftand, deſto mehr Liebe und Sorgfalt glaubte
fie ihr ſchuldig zu fein. Bei ihr, wie bei allen anderen Haus:
genoffen, war das traurige Loos des Entfernten vor dem An-
blide der gegenwärtigen Leiden Zanetta's in den Hintergrund
getreten. Selbſt Sir Willian vergaß feine Krankheit.
Der Marcheje, der fih nicht entfchließen konnte, fein Kind
in diefem Gemüthszuftande zu verlafien und feine Reifen aufge:
geben hatte, ſah die Sorgfalt Lucy’3 mit unendlicher Rührung.
Dft wenn er mit ihr am Bette Zanetta's jaß — denn fon war
e3 fo weit gelommen, daß der trefflihe Dr. Peliſſier anrieth,
fie Tage lang im Bette zu halten — fahte er plöglic ihre Hand
und zog fie an feine Lippen. Lucy ließ es gejchehen. Die Einen
liebten mich wie eine Mutter, er liebt mich aus väterlicher Liebe
als Krankenpflegerin feines Kindes, dachte fie bei ſich mit jener
Ironie gegen fich jelbit, die ihr in diefen Jahren zur Gewohnheit
geworden. — Banetta aber, wenn fie ſprach, ſprach ihr in einem
anderen Sinne. Mit der Rube einer älteren Perſon und mit der
Ueberlegenheit eine Weſens, das in Beziehung auf fich jelbft
Verrechnet. 353
mit Allem abgeſchloſſen und mit der Welt abgerechnet hat, ver:
fiherte fie Lucy, daß fie ihr Vater liebe, und daß er würdig jei,
von ihr geliebt zu werden. „Er liebt mich,” fügte fie hinzu, „er
wird unglüdlich fein, wenn ich fterbe. Eines könnte ihn tröften :
deine Liebe, Lucy !”
Lucy glaubte auf die Phantafieen des Franken Kindes ein-
geben zu müfjen und gab ihr die Gegenverficherung, daß fie ihre
Morte nicht vergeſſen werde.
Dr. Beliffier aber durfte auf die Todesahnungen Zanetta’3
nicht eingehen und auf ihre Verfiherungen hin, daß fie bald
fterben werde, nicht aufhören, nach Mitteln zu ihrer Rettung zu
fuchen. Eine neue Welt, neue Umgebung, neue Eindrüde, meinte
er, könnten die Gemüthskranke zerjtreuen und ſie von den Ge:
danfen abwenden, an die fie fih jegt mit Hartnädigkeit feit:
klammerte. Er hoffte viel von der heimatlihen Luft und von der
Schönheit der genuefiihen Heimat. Zanetta hatte außerdem in
früheren Zeiten immer mit großer Sehnjuht von Genua ge
proben, das fie in früher Kindheit verlafjen hatte, und das
ihrer Phantafie mit allem Zauber einer Fata Morgana vor:
ſchwebte. Noch jest flog ein melancholiſches Lächeln über ihre
Lippen, wenn Genua, wenn Stalien vor ihr genannt wurden.
Er rieth dringend, dieſes ſchöne Mittel zu verfuhen. Die polis
tiichen Angelegenheiten und im Bejonderen die Stellung de3
Marchefe waren in diefem Momente fo befhaffen, daß man die
Rückkehr in die Heimat leicht und ohne Demüthigung bewerf:
ftelligen konnte. So ging denn Auch der Marchefe gleich daran,
die nothwendigen Schritte bei feiner heimifchen Regierung zu
thun und die Reife vorzubereiten.
Uber welche Hoffnungen für Zanetta man auch an dieſe
Ueberſiedlung fnüpfte und wie jehr diefe Hoffnungen die durch
innige Liebe und gemeinfchaftlihe Schidjale fo eng verbundenen
Hausgenofien aufbeiterten, jo war die Ausfiht auf die nahe
Trennung andrerſeits doch eine neue Urſache zu neuer Betrübniß.
Aud behauptete Zanetta, daß ihr Genua und das Meer die Liebe
Morig Hartmann, Werke VI. 23
354 Novellen.
und die Gejellihaft Lucyh's nicht erfegen fünnten. Sie fträubte
ſich mit krankhafter Leidenfchaftlichkeit gegen die Reife und brachte
jo zu Betrübniß noch Zweifel und Unentſchiedenheit in die Ges
müther. Es war, als jollte es in dieſer Heinen Welt nicht mehr
zur Ruhe und Klarheit fommen.
An einem jener fchönen Februartage, die an ven Ufern des
Genfer See’3 jo frühen und vollen Frühling heucheln, um dann
wieder in de3 Märzen Sturm und Schnee wie ein ſchöner Jugend»
traum zu verfehwinden, ging Lucy allein und in Gedanken ver:
tieft im Garten auf und nieder, in dem es bereit3 zu fingen und
zu ſproſſen begann. Sie hatte das Bedürfniß, fich zu fallen und
zu ſammeln. Obwohl eben erft ein Schidjal über fie dahin ge-
gangen und die Folgen in Geſtalt der kranken Zanetta fie no
immer verkörpert und mit immer neuen Sorgen und Leiden ume
gaben, war es ihr doch, als ftände ihr eine neue Entſcheidung
bevor. Die Geſpräche Zanetta’3 über die Liebe ihres Vaters
machten ihr einen um fo tieferen Eindrud, al3 das Mädchen ſich
nur zum Sprechen aufraffte, um von diefem Gegenftande zu
ſprechen; als e3 ſchien, als jei dieß das Einzige, was fie nod)
auf diejer Erde intereflirte, und al3 fie diefe ihre Reden mit
Ihwader Stimme, wie aus dem Traume, wie ein Drafel, eine
Warnung und eine Bitte hervorbrachte. Das Wejen des Marchefe
war mit den Morten feines Kindes in vollfter Harmonie. Lucy
konnte fi darüber nicht täufchen, daß ihn ein mächtiges Gefühl
in feinem Innerſten bewegte und fie war gerührt, wie diejer ernite,
vom Schidjal und durd Charakter gefeitete Mann, zu dem mit
Achtung emporzubliden fie fo viel Urſache hatte, ihr gegenüber
eine faft jünglinghafte Schüchternbeit zeigte, als ob er fich, der bei-
nahe vierzigjährige Mann, jo jugendlicher Empfindungen ſchämte.
Sie wußte, daß er fie liebte, wenn fie es auch ohne Zanetta's
Reden vielleicht nicht errathen haben würde. Was follte fie ihm
antworten, wenn er ihr feine Liebe geſtand? Sie hatte fich dieſe
Frage, im Garten auf: und abgehend, kaum geftellt, als er
neben ihr jtand und fich ſchweigend ihrem Spaziergange beigefellte.
Verrechnet. 355
„Miß Lucy,” ſagte er endlich, „ich komme eben von Zanetta;
ſie iſt feſt entſchloſſen zu bleiben, um ſich nicht von Ihnen zu
trennen.“
„Haben Sie ihr,“ fragte Lucy, „die Grille nicht auszureden
gejucht ?“
„Nein, Miß Lucy. Dieſer Liebe wegen zu Ihnen iſt mir das
Kind nur theuerer. Kann ich gegen eine Anhänglichkeit ſprechen,
die mir ſo begreiflich iſt?“
Lucy ſchwieg. Der Marcheſe fuhr nach einiger Zeit mit
bebender Stimme fort: „Das Kind ſtirbt, wenn es bleibt; es
ſtirbt, wenn wir es zwingen, Sie zu verlaſſen. Miß Lucy, kom—
men Sie mit uns!“
Der Marcheſe ſchwieg wieder, aber Lucy ſagte: „Fahren Sie
fort, Sie haben mir noch etwas zu ſagen.“
Sie wußte, daß ihr der Marcheſe jetzt ſeine Liebe geſtehen
würde; aber nicht um dieſes Geſtändniſſes wegen forderte ſie ihn
auf, fortzufahren. Sie hoffte, daß in ſeinen Worten etwas ſein
werde, was fie über ſich ſelbſt, über ihre Lage, über ihr Ver:
bältniß zu ihm und den Kindern auflläre; fie wünfchte, daß in
diefen Worten etwas wie ein Gebot der Pflicht fein werde, das
fie zwinge, auf feinen Antrag einzugehen, und daß dieß aus:
gefprochen fei. E3 war ihr, die fich jo tief gealtert fühlte, als
dürfte fie nicht mehr bloßen Empfindungen des Herzens folgen,
als müßten Pflichten und Verftand bei ihrer Handlungsweiſe mit
betheiligt jein.
Der Marchefe fuhr fort: Meine Kinder lieben Sie wie eine
Mutter; feien Sie e3! Sie retten vielleiht Zanettal“
Wie glüdlih war Lucy, daß er nicht fagte: Ach liebe Sie!
Sie empfand die große Bejcheidenheit, die dieſes Schweigen ver:
rieth und wahrlich, jo fagte fie fi, er durfte noch Liebe geftehen
und fordern. Mit Thränen in ven Augen wandte fie fich zu ihm,
gebemüthigt von der Demuth, mit der er vor ihr jtand und wie
fie rafch die Hand augftredte und fie ihm reichte, und er diefe
Hand faßte und fie an feine Lippen zog, war es ihr, als würde
356 Novellen.
fie aus einem Traume in die Wirklichfeit gezogen, al3 käme fie
plöglih zu Halt und Ruhe. Sie fühlte feiten Boden unter ihren
Füßen und auf dem eben erjt betretenen Lebenswege empfand die
Neuverlobte, was Neuverlobte jo jelten empfinden: Abgejchlofjen:
beit, Befriedigung! Sie lächelte, und der Marcheje ſchloß fie in
jeine Arme.
Diefe eigenthümliche Verlobungsjcene hatte ihren Zeugen.
Die Heine Emilia war ihrem Vater nachgeſchlichen und umklam—
merte Lucy's Aniee, während fie der Marcheje umarmte, Das
Kind meinte vor Freude, ohne eigentlich zu wiſſen, warum e3
mweinte. Lucy fühlte fich wie in Liebesbanden gefangen; fie hob
das Kind an ihre Bruft und Füßte es herzlih. Sie glaubte glüd-
ih zu fein und jtrahlenden Gefichtes ging fie an der Seite des
Marceje mit dem Kinde auf dem Arme ins Haus.
ALS fie Zanetta jo eintreten ſah, fagte fie mit einem Lächeln
des Errathens: „So iſt es gut. Jetzt dürfen wir reifen.“
Erft gegen Abend traten der Marchefe und Lucy vor Gir
William, der ven Tag hindurch von Schmerzen geplagt gewefen
war, ſich jegt aber einer ruhigen Stunde und mit diefer wie
immer einer beitern Laune erfreute, um ihm die neue Wendung
der Dinge mitzutheilen. Sir William, der ven Marcheje fo jehr
ihägte und liebte, legte hocherfreut ihre beiden Hände in ein-
ander und wünjchte fih und ihnen Glüd. Lucy fah alle Welt,
Alle die fie liebte, glücklich; follte fie es nicht fein?
Boll ver froheiten Zuverficht in die Zukunft ſaßen die Drei
da und beſprachen die gemeinfchaftliche Reife und Anfievelung
in der Villa des Marcheſe, auf einem der fhönften Hügel zwi:
ſchen Genua und La Spezzia, und andere Pläne der Zukunft,
als fih plöglih die Thüre aufthat und zu aller Ueberrafchung,
ja zu ihrem Schreden Zanetta hereintrat. Sie fam, wie fie eben
das Bett verlafjen haben mußte, Das Haar hing lang und un-
geordnet über Gejiht und Schultern; das dünne, weiße Nacht:
Heid ſchmiegte fi in Falten um die zarten, ſchmächtigen Glieder;
die Füße waren nadt; fo waren auch die Arme, von denen die
“
Verrechnet. 357
Aermel zurückfielen, indem ſie beide Hände ausſtreckte, deren eine
ein Licht, die andere ein entfaltetes Papier hielt. So ſtand ſie
da, wie eine Geiſtererſcheinung und wie ein Geiſt blickte ſie aus
den großen, ſchwarzen Augen. Aber ihre Wangen waren von
einer Röthe, von einer Gluth überflogen, die man ſeit Monaten
nicht an ihr geſehen hatte. Sie wollte ſprechen, aber konnte nicht.
Der Marcheſe und Luch eilten ihr entſetzt entgegen und wollten
ſie an einen Stuhl führen; aber ſie ſträubte ſich; ſie ſtreckte ihnen
nur das Papier entgegen, das ſie krampfhaft in der Rechten hielt.
Es war das engliſche Flottenjournal.
„Die Zeitung! Die Zeitung! Nachrichten von Odo!“ rief Lucy.
Zanetta nickte und lächelte ſelig; aber ſie ließ das Blatt nicht
los, das nun auch Lucy gefaßt hatte. Sie that einen Schritt
weiter, ſeufzte tief auf und nachdem ſie alle Anweſenden nach—
einander lächelnd angeſehen, ſtieß ſie aus tiefſter Bruſt die Worte
hervor: „Es iſt ein glücklicher Tag!“
Mit dieſen Worten war der Bann, der auf Zanetta wie ein
Starrkrampf lag, gebrochen. Raſchen Schrittes näherte ſie ſich
der Lampe, die vor Sir William ſtand, entfaltete das Blatt und
las: „Wir haben von Port Adelaide aus Nachrichten über die
Penelope. Das Schiff ift nörblich von Neuholland geftrandet,
aber die Mannjhaft ift zum größten Theile gerettet. England
dankt diefes dem Muthe, der Umficht, der Ausdauer eines Mid:
ſhipman, Odo Worthington.“
Zanetta ſtieß bei Leſung dieſes Namens einen zitternden
Ton aus, der ebenſowohl einem Lachen, als einem Schluchzen
glich; raſch aber fuhr ſie fort: „Auf einer halbzertrümmerten
Schaluppe ſammelte er unter beſtändigen Gefahren den größten
Theil der Mannſchaft, die von den hochgehenden ſturmbewegten
Wellen hin- und hergetrieben mit dem Tode rang. An ihrer
Spitze ſetzte er dann zu Lande die Reiſe fort. Schon am nächſten
Tage ſtieß er auf einen Haufen Wilder, die ſich eben bereit mach—
ten, den Kapitän der Penelope, der an einem anderen Punkte
gelandet und in ihre Hände gefallen war, zu tödten, um ihn zu
358 Novellen.
verzehren. Mr. Worthington befreite den Kapitän nad einem
heißen Kampfe. Da biefer in Folge der erfahrenen Mißhand—
lungen frank und unfähig war, das Kommando zu übernehmen,
behielt e3 der faum neunzehnjährige Mr. Worthington und er
zeigte fich feiner jchwierigen Aufgabe gewachſen. Durch undurd-
dringlihe Wälder, dur Wüſteneien und durd Gegenden, die
nie eines Europäer Fuß betreten, im beftändigen Kampfe mit
wilden Stämmen, mit Hunger und Durft und Krankheiten, jelbit
mit der Muthlofigfeit und Verzweiflung feiner Untergebenen,
führte er die Schaar Wochen: ja Monate lang, bis er fie zu
europäiſchen Anfievelungen bradte. Der bei der Admiralität
eingelaufene Bericht de3 kranken Kapitän, der nur Zufchauer
der Thaten des jungen Mannes fein konnte, findet nicht Worte
genug, feinen Helvdenmuth zu rühmen. Wir begnügen uns heute
mit diejer furzen Notiz, die wir zu druden eilen, um viele be
jorgte Seelen zu beruhigen. Wir hoffen, die Odyſſee des jungen
Helden bald ausführlicher mittheilen zu können.“
Nachdem Zanetta viefes gelefen, flog ihr Blid triumphirend
von Geficht zu Gefiht. Sir William war der Erfte, der Worte
fand: „Lucy,“ fagte er, „ver wurde, wie bu prophezeit haft !"
Der Abend war fehr belebt. Man konnte das Thema von
Odo's Leiden und Heldenmuth nicht erfchöpfen. Am berebteiten
war Zanetta, am ſchweigſamſten war Lucy.
Sechstes Kapitel.
Nur wenige Wochen nach jenem Abende war in dem Land—
baufe fehr Vieles verändert. Zanetta blühte wie eine junge Rofe.
Ihr Siehthum, ihr Trübfinn war an jenem Abende von ihr
gefallen, wie eine Hülle, die man abwirft; fie war blühender als
je vorher, felbft ihre Wangen, die von Natur zu ewiger Bläſſe
verurtheilt fhienen, waren jegt von einer unverwifchbaren fanften
Verrechnet. 359
Röthe gefärbt; ihr Mund lachte im Widerſpruch mit ihren tiefen,
immer ernſten Augen und brachte nur Scherz und Witzworte
hervor. Sie war die Verkörperung jungen Glückes und wie die
menſchliche Fortſetzung des ſchönen Frühlings, der nunmehr in
lachendſter Fülle die Ufer des Genfer Sees bedeckte. Die Haupt:
motive der Reife waren fomit weggefallen; nicht3 drängte mehr
zum Abfchied von den altgewohnten, liebgewordenen Stätten.
Doh war der Marcheſe nad) Genua gereist, um fein Haus zu
beitellen, daß e3 würdig fei, feine junge Gattin zu empfangen.
Seit drei Wochen war er der glüdliche Gatte Lucy’. Wenige
Tage nachdem die Nachricht von Odo's Rettung angefommen mar,
begann fie zur Vermählung zu drängen. Niemand ſah in die
Borgänge ihres Innern, aber man kann fie errathen: fie wollte
vie Schiffe hinter fi verbrennen ; fie wollte fih den Nüdweg
abſchneiden. In ihrer Stärke hatte fie Angſt vor ihrer Schwäche.
Sie wußte, Odo werde, faum nad Europa zurückgekehrt, herbei:
eilen, um die alten Freunde zu ſehen. Er wird ihr jo entgegen:
treten, wie fie ihn geträumt hatte, als ein heroijcher, früh er:
probter junger Mann. Die große Reife, die großen Erfahrungen,
die überftandenen Leiden müſſen ihn früh gereift haben; er wird
fich ihr, fie wird fich ihm näher fühlen. Alle Urſache, fich ihrer
Liebe zu ſchämen, ift vielleicht weggefallen und mit ihr bie
Schranke, die fie von Odo trennte, Wird fie ſtark genug fein,
dem braven Marcheſe, den fie in ihrem Befige fo glüdlich ſah,
ihr Wort zu halten, und Zanetta, deren Mutter fie jchon ge:
worden, dem Manne entgegen zu führen, ohne den das junge,
zarte Geſchöpf nicht mehr leben zu können jhien? Sie mußte
fich vor fich felber ſchützen, fie wollte ſich nicht auf ſich allein ver:
laflen, wo e3 das Glüd Anderer betraf; fie ſuchte nach einem
Zwang, nad einem pofitiven, feiten Halt; Beides bot ihr, das
wußte fie, eine definitive übernommene Pflicht und fo jpradh fie,
wie gejagt, ſchon einige Tage nad Ankunft jener Nachricht den
Wunſch nad baldiger Vermählung aus.
Sie fand in aller Stille in ver katholiſchen Kapelle ftatt.
360 Novellen.
Und jest war fie ſchon jeit drei Wochen Mardeja Brofferio.
Sie jaß auf ihrem Lieblingsplägchen unter den Platanen auf der
Terrafje und nahm Abſchied von ihren Kindern, die mit Sir
William, den fie Großvater nannten, eine Epazierfahrt auf die
ferne Plotte am andern Ufer des Sees machen follten. Sir Wil:
liam ſaß fhon im Wagen und ließ die Peitiche ungeduldig fnals
(en. „Adieu, Mama,“ jagte Emilia und fühte Lucy die Hand;
„Ihreibe vem Papa ſchöne Sachen.“ — „Adieu, Mama ‚“ wieder:
holte Zanetta und ſchloß fie in ihre Arme. Lucy küßte Beide auf
die Stirne und fie liefen durch den Garten in den Hof; jprangen
in den Wagen, der gleich darauf dahinrollte.
In dem Augenblide, da der Wagen aus dem Hofgitter fuhr,
raujchte e3 hinter Lucy in dem Gebüjche, das die Gartenmauer
verhüllte und fie überwucderte. Ehe fie fih nad dem Geräufche
umjehen konnte, jprang ein junger Mann aus der dichten Ber:
büllung und ehe fie einen Schrei der Ueberrafhung ausſtoßen
fonnte, lag Odo zu ihren Füßen. Gie erkannte ihn augenblidlic,
obmohl er fich bedeutend verändert hatte. Er war höher gewach—
jen und ftärfer geworben; fein Gefiht war braun und verbrannt
und von einem kleinen Badenbarte eingefaßt, wie ihn englijche
Seeleute lieben. „Endlich,“ rief er lachend, „endlich bin ich da!
Die Meinen Kreaturen, die Sie da lieblosten, haben mih um
einige koſtbare Minuten gebracht, die mir eine Ewigkeit jhienen.
Denn ich liege jchon lange hier auf der Mauer verftedt und
wartete, bis id Sie allein haben konnte.“
„do!“ feufzte die Marcheja, indem fie fih an die Platanen
lehnte und beide Arme fallen ließ.
Der Zon ihrer Stimme verfcheuchte plötzlich die Luftigkeit,
mit der er berbeigejprungen war; mit einem Ausdrude höchſter
Innigkeit faßte er ihre beiden Hände, fah ihr in die Augen und
jagte mit zitternder Stimme: „Bin ich endlich da! bei Ihnen,
Lucy! indem Augenblide, nad dem ich mich feit Jahren gefehnt
babe, jeit Jahren und immer, immer, in guten und böfen Stuns
den und überall, unter allen Himmel3ftrichen.”
Verrechnet. 361
In dieſen Worten, in der Innigkeit, ja Leidenſchaft, mit der
fie hervorſprudelte, im Tone der Stimme lag etwas, was Lucy
mit Schrecken erfüllte. Sie entzog ihm die eine Hand und fuhr
fih über vie Stirne Es war ihr, als follte ihr jegt erit ein
Unglüd fund werden. Sie fuchte fich zu fallen und ließ die
Blide, wie fuchend, durchs Weite fchweifen, während Odo die
Hand, die ſie ihm ließ, mit Küſſen bedeckte.
„Odo,“ ſagte ſie, „haben Sie die Kinder geſehen, die mich
eben verließen? Haben Sie ſie nicht erkannt?“
„Nein,“ ſagte er, „was kümmern mich die Kinder? Ich habe
von meinem Verſtecke nur Sie angeſehen, nur das liebe, be—
kannte Geſicht, das ſo viel ſchöner geworden iſt.“
„Ahnen Sie nicht, wer die Kinder ſind?“ fragte ſie weiter.
„Sie ſtehen Ihnen nahe.“
„Wie?“ fragte er erſtaunt.
„Es ſind die Kinder des Marcheſe Brofferio.“
„Brofferio?“ fragte er wieder. „Wer iſt Marcheſe Brofferio
„Jener Herr Durand |!" —
„Ach fo!” lachte Odo, „die Kleine ift meine Gerettete. Ad,
die alte Geſchichte! Ich hätte fie längjt vergeflen, wenn ich ihr
nicht Ihre Belanntjchaft verdankte. Gefegnet fei die Kleine, die
ins Wafler fiel und die Große, die fie hineinfallen ließ. Wie
fommen die Beiden hierher 2”
„Es find meine Kinder!” lispelte Lucy.
„Ach,“ lachte Odo wieder, „daran erkenne ich Sie! Sie
müfjen immer Mama jein, immer für Jemand forgen, Jemand
Gutes thun.”
Plöglih ging er wieder vom Lachen zum innigften Ernft
über: „Nein, Lucy,“ rief er, „es gibt auf Erven kein Weib wie
Sie. Sehen Sie, das fteht hier in diefem Herzen feit und von
Tag zu Tage, feit ih Sie kenne, ift diefe Heberzeugung in mir
mächtiger geworden. ch habe Ihres Gleichen nicht gefunden,
ih werde Ihres Gleichen nicht finden. Verzeihen Sie, Lucy,
daß ich Ihnen fo ſpreche; ih muß, ich kann nicht anders. Im
362 Novellen.
Glücke des Wiederſehens fprudelt mein Herz über und doch kann
ih Ihnen den millionften Theil deffen nicht jagen, was ich Ihnen
auf der Dede der See, in der Wildniß der Urwälder, in Glüd
und Unglüd gefagt habe. Laſſen Sie mich fpredhen, fo lange ich
im Raufche diefer Stunde den Muth dazu habe. Es fpricht nicht
mehr ein Anabe zu Ihnen; glauben Sie mir, ich bin ein Mann,
ih bin alt geworden und ich fann jet beurtheilen, was ich ſchon
als Knabe gefühlt habe. Und ich habe e3 mir geſchworen, e3
Ahnen gleich zu jagen.” —
Lucy machte eine abwehrende Bewegung. Sie empfand eine
wahre Todesangſt vor dem Worte, das er ausſprechen wollte,
Odo erfhraf vor dem ftarren Ausdrucke ihres Gefichtes und
verftummte.
Lucy richtete fih auf und fagte mit einem gezwungenen
Lächeln, zu dem fie die ganze Kraft ihres Weſens zufammen-
nehmen mußte: „So lafjen Sie mich doch ausreden. Verweilen
Gie doch einen Augenblid bei diefen beiden Kindern; fie ver:
dienen dad. Die Kleine dankt Ihnen das Leben und die Große
mebr als da3 Leben, und fie empfindet das mit der mwunderbarften
Innigkeit. Erinnern Gie fih doch an das Heine blaſſe Geſicht
mit den großen, ſchwarzen Augen, das Ihnen einen jo tiefen
Eindrud machte. Das ift Zanetta, das liebenswürbigfte Geſchöpf
diefer Welt; Sie müfjen fie kennen lernen.” —
„Lucy, ich begreife Sie nicht!“ rief Odo ungeduldig und ges
kränkt, „ich bin jo glüdlich, bei Ihnen zu fein, ih will nur mit
Ihnen allein fein und Sie fprehen mir immer von Andern, von
Fremden,“
„Es find nicht Fremde, es find meine Kinder!” ſagte Lucy
mit Nachdruck.
„Run ja, aber —”
„Meine Kinder !” wiederholte Lucy und indem fie fich an die
Platane zurüdlehnte und ſich unbewußt, inftinktmäßig feiter auf
ihre Füße ftellte, fügte fie hinzu: „Ich bin die Frau ihres
Vaters.“
Verrechnet. 363
Odo ſah ſie mit weit offenen Augen an, dann ſank er auf
einen Stuhl und ſagte vor ſich hin: „Alſo kam ich doch zu ſpät.
O mein Glück und meine Träume!“
Lucy hätte ſich ihm fo gerne genähert; fie fühlte eine un—
endlihe Sehnſucht, ihre Hand auf feinen herabfallenvden Kopf zu
legen, ihn an ihre Bruft zu drüden; aber fie fonnte feinen Fuß
bemwegen. Sie war wie eingemwurzelt. Unbeweglich ftand fie va
und fagte: „Odo! geben Sie klindiſche Gedanken auf — Sie
haben mich Ihre Mama genannt — ich bin fo viel älter al3 Sie
— ib bin und bleibe Ihre Mama — ich habe für Sie gejorgt.
Lernen Sie Zanetta kennen; fie liebt Sie; ihre ganze Seele ift
von Ihnen erfüllt. Ab, wüßten Sie, was das Kind um Sie
gelitten hat. Sie war dem Tode nahe, ald man Sie verloren
glaubte und fie blühte wieder auf, fie lebt und ift glüdlich, feit
wir wiflen, daß Gie gerettet find. — Es ift ihr Tod, wenn Sie
fie verfchmäben. Nehmen Sie fie aus meiner Hand — ich fann
Ihnen nicht® Beſſeres geben. Ich habe fie für Sie erzogen, ich
babe die Liebe zu Ihnen in ihrem Herzen gepflegt.” —
Bei diefem Worte fprang Odo von feinem Sitze auf und
ftellte jich drohend vor Lucy. „Wer gab Ihnen das Recht,“ rief
er zornig, „über mein und ihr Herz zu verfügen? Hier dieſes,“
fuhr er fort, indem er mit geballter Fauſt auf die Bruft jchlug,
„At feines, das man fo vergibt. Es liebt und bleibt ſich treu.”
Eben fo rafh, als er aus dem Gebüfche gefprungen mar,
fprang er jegt wieder hinein. Es ſchlug hinter ihm zuſammen.
Lucy börte feine Schritte, die wie fliehend auf der Landſtraße
forteilten. Jetzt erſt gewann fie wieder die Kraft, fich zu be
wegen. Sie ſank auf venfelben Stuhl, von dem Odo eben auf:
gejprungen war, ihre Stirne fiel hart auf ven Tiſch vor ihr und
ein Strom von Thränen benegte den Sand, der fie aufiog, als
wäre e3 Regen,
Feigheit.
Eine Geſchichte aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Erſtes Kapitel.
Deutſchland, das muß man leider zugeben, iſt vor Allem
das Land des Unfertigen, und ſo hat es ganz richtig einen un—
vollendeten Dom zu ſeinem Symbol gewählt. Es gab eine Zeit,
da alle Staaten Europa's gleich ſehr in Folge der Art ihrer
Gründung durch große Vaſallen und andere Umſtände in viele
kleine Staaten getheilt waren; ſie arbeiteten an ihrer innern
Einigung, und gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ſind
die bedeutendſten mit dieſer Arbeit fertig und in ſich geeinigt;
andere vollendeten dieſe Einigung im ſiebzehnten Jahrhundert
und unſere Zeit ſah noch die Aufnahme einer ſolchen Arbeit in
einem der zerriſſenſten Länder und wird bald die Vollendung
ſehen: nur Deutſchland iſt auch mit dieſer Arbeit nicht fertig ge—
worden. So auch auf andern Gebieten. Es begann die Refor:
mation, fein größtes Werk; es kam mit diefem Werke nicht halb
zu Ende. Im Kleinen wie im Großen: fein Land der Welt zählt
jo viele unvollendete Bauwerke wie Deutfchland; nicht nur die
Dome de3 dreizehnten Jahrhundert? blieben auf halbem Wege
fteden. Im achtzehnten Jahrhundert bemächtigte ſich der’ Fürften
und Großen eine große Baumuth und die Eitelfeit, es Ludwig XIV.
nachzuthun; großartige Echlöffer wurden angelegt, die Verjailles
Feigheit. 365
gleichkommen oder gar es übertreffen ſollten. Man ſehe nur das
Schloß von Mannheim; mit hohlen Augen, unfertig, todt, bevor
geboren, blickt es in die lebende Welt, und dieſes Schloß, wie
der Kölner Dom zählen viele und unbekannte Brüder in ganz
Deutſchland, denn mancher Graf, manches Fürſtlein, deſſen Ge—
biet nicht viel größer war als das Weichbild der Stadt Verſailles,
wollte doch ein Schloß haben wie das Schloß zu Verſailles. Zum
Theil ſind dieſe ſtolzen Anfänge, die man nicht einmal erhalten
konnte, verfallen und von der Erde verſchwunden; zum Theil
bat man fie maskirt und das Unvollendete mit einem heuchle—
riihen Abſchluſſe verdeckt, während nicht ein Drittel der Abficht
ausgeführt worden; zum Theil find fie in der Einfamteit ver:
ſchwunden, da fi) das Leben aus diefen Gegenden, die einjt
Mittelpunfte eines Hofjtaates geweſen, zurüdgezogen.
Ein ſolches gewaltiges, unfertiges, in ber Einſamkeit ver:
ſchwundenes Schloß findet fih in einem deutjchen Fürftenthum,
durch das feine große Heerjtraße und feine Eijenbahn führt und
das deßhalb heute eine noch Kleinere Rolle in der Weltgefchichte
jpielt ald ehemals und noch weniger bejucht wird als zu Anfang
diejes Jahrhunderts, da gewifje, früher berühmte, jegt beinahe
vergeflene Heilquellen Befuher aus Nah und fern herbeizogen.
Das Heine Fürftenthum mit feinen grünen Wäldern ruht auf
vulkaniſchem Grunde und ijt eine Heine deutſche Auvergne; der
Zuftreifende, der nur malerifhe Landſchaften fucht, wie ver
Geologe finden ihre Rechnung, wenn fie e8 beſuchen, aber es iſt
leichter in andere Gegenden zu dringen, in denen für beide noch
größere Ausbeute zu finden und die ausgevehntere Kommu:
nifationgmittel befigen, und fo bleibt es weltvergefien. Die Heil:
quellen werden nur nod von den Nachbarn aufgefuht und ge:
ſchätzt, die wilden und doch lieblichen Thäler nur noch von den
Studenten einer nahegelegenen Univerfität beſucht, wenn fie ver
Profeſſor der Geologie dahin führt. Die wenigen Reiſenden be:
fommen dann aud jenes gewaltige, unausgebaute Schloß zu
jehen, da3 gerade an der Gränze des Ländchens liegt und feine
366 Novellen.
weiten Parks über das Gebiet zweier Staaten ausdehnt, denn
dieſes Schloß ift vielleicht die einzige architektoniſche Merkwür—
digkeit des Landes und hat für findifche Neugierde noch mande
jener Kunftanlagen und Ueberrajchungen, wie Flüftergrotten, Ein:
ſiedler, Aeolsharfen, Fallthüren, Waflerfälle, künſtliche Ruinen,
fopfwadelnde Chinefen, kurz all die holvden Thorheiten, vie unjere
reifrodtragenden Großmütter ergögten und erfchredten. Doch fteht
das Schloß felbit nicht in Harmonie mit diefen Rococothorbeiten ;
der Erbauer hatte mehr Gejhmad als feine Zeit, und anftatt
Verſailles nachzuahmen, 30g er ed vor, das Schloß Franz’ I. von
Frankreich, die herrliche Phantafie Primaticcio's, des Schülers
Rafaels, Chambord bei Blois, fih zum Mufter zu nehmen. Wie
Chambord erhebt jih Schloß Holfen breit und gewaltig mit einem
Hauptgebäude und zwei Heinen Seitenflügeln im phantafievolliten
Renaifjanceityle mit gewaltigen Thoren, breiten Fenftern, un
zähligen großen und Heinen Baltonen und Erfern, lebend, viel:
bewegt, bis zu einem platten Dache, aus dem dann, wie aus
einer Ebene, eine ganze Stadt Hleinerer Gebäude und breiter,
vielfach gezadter Schorniteine hervorwächst. Dieje breiten Schorn:
jteine find mit Binnen gekrönt und mit weißen, rothen und
ihwarzen Marmorplättchen mannigfaltig ausgeſchmückt; die Heinen
Gebäude find eine Art von Dachſtuben in Geftalt von Pavillons
oder Heinen Thürmen, die bronzirte Wetterfahnen tragen. Aus
ihnen führen Thüren auf die Plattform, welche fi), durch dieſe
Ueberbaue und Eſſen getheilt, in ein wahres Labyrinth von
Gängen und Plägen verwandelt. Das Ganze ift von einer
Baluftrade eingeſchloſſen, die hier und da unbeſchädigte und ver:
ftümmelte Statuen, biftorifche und allegorifche, trägt und dieſe
luftige Welt abſchließt. Dort oben ift Alles fertig und vollendet,
nur die Seitenflügel des Schlofjes find niemals zur Vollendung
gelangt, und der große Eingangsjaal des Hauptgebäudes, der
eine Nahahmung der Salle des Gardes von Chambord werden
follte, hat niemals jeine gewaltige Wölbung erhalten. Auch die
Doppeltreppe & la Chambord ijt unvollenvet geblieben; nur eine
Feigheit. 367
zieht und windet ſich die drei Stodwerfe hinan und mündet mit
drei Thüren auf die drei über einander hinlaufenden Galerien;
die andere, die fich fpiralförmig neben diefer hinaufwinden ſollte,
ift in der Mitte abgebrodhen und erreicht nicht einmal die erjte
Galerie. Natürlich fehlen in fo unvollendeter Vorhalle auch die
Fresken, die fie zu ſchmücken beftimmt waren, und werden dieſe
heute durch große, won Staub verdichtete Spinngewebe erjegt,
die fih, eind am andern hängend, von Winkel zu Winkel ziehen
und faum den Schwalben Plag laſſen, die bier Nejter anzu:
leben juchen. Doch ift ein ganzer Fried won bewohnten und
halb zerjtörten Schwalbenneftern eingenommen, die oft in dreis
und vierfadhen Reihen übereinander fißen.
| Das Alles wurde ehemals von den Reifenden beſucht, be—
wundert und von deren Phantafie, mo es nöthig war, ausgebaut.
Das legte und höchſte Ziel war die labyrinthifche Plattform, die
in der That hier wie in Chambord den ſchönſten, eigenthüms
lichften Theil des Schloſſes ausmachte. Aber feit einer langen
Reihe von Jahren war die Plattform unzugänglid, und der Bes
fchließer, der einzige Beamte, der das Schloß bewohnte, gab auf
die dringenden Fragen der Reifenden, warum fie nicht dahinauf
gelangen dürften, ausweichende oder gar feine Antworten und
blieb auch jeder Beſtechung ebenfo verfchloffen, wie die Kleine
eiferne Thür, die durch ein Seitenthürmchen auf die Plattform
führte, E3 war diefer Beſchließer ein alter, graubärtiger Soldat,
den man nicht lange fragen, in den man noch weniger dringen
durfte, wenn man nicht mit überrafchender Kraft zurüdgefchlagen
fein wollte. Die Fremden blieben gewöhnlich zu kurze Zeit in
der Gegend, um nähere Erfundigungen einzuziehen über einen
Gegenitand, der übrigens fein großes Intereſſe einzuflößen ge:
eignet war. Man konnte eben die Plattform. nicht fehen, der
Befiger geftattete e8 nicht; bei jo vielen Merkwürdigkeiten, die
man bejucht, blieb man von einem Theile derfelben ausge
ſchloſſen; man berubigte fich bei der Weigerung des alten Sol:
daten und damit war die Sache gut. Einzelne Fremde über:
368 Novellen.
nadteten wohl in dem nahegelegenen Dorfe Holken und dieſe
fonnten, wenn fie bei Mondichein noch einmal ausgingen, um
das Schloß in romantijcher Beleuchtung zu betradhten, wohl be:
merfen, daß aus einem der Feniter auf der Plattform ein ſchwaches
Licht hervorbrach, aber auch diefe, wenn fie fi dann nad dem
Bewohner diejer einjamen Höhen erkundigten, fonnten jelbjt im
Dorfe jchwer irgendwelchen ausführlichen Beſcheid erlangen. Faft
alle Bewohner antworteten jo abwehrend wie der alte Soldat,
jelbft ver Wirth der Herberge, zu deſſen Pflichten es doch gehörte,
jever Frage zu ftehen und mögliche Auskunft zu geben. Es war
al3 hätte die ganze Gegend ein auf das Schloß bezüglidhes, ge
meinfchaftliches Geheimniß, ein Familiengeheimniß, von dem zu
iprechen jchmerzlih war. Trogdem war e3 feit mehreren Jahren
auf viele Dleilen im Umkreiſe und endlich auch in der Fremden:
welt de3 Badeortes fein Geheimniß mehr, daß der einzige und
einfame Bewohner des Schlofjes, oder vielmehr der Manfarde
auf der Plattform, fein anderer war, al3 der Stammbalter de3
Haufes und der Befiger des Schloſſes jelbit, ver ehemals reich:
unmittelbare Graf von Holken — und diejenigen Fremden, die
den Theil feiner Gefchichte fannten, welcher in die Deffentlichkeit
gedrungen, bejuchten das Schloß und übernadhteten im Dorfe,
nur um fagen zu fünnen, daß fie das Licht in ver Nacht gefehen,
das aus der Einfievelei des Mannes drang, der einft jo viel von
jih reden gemadht.
Ich follte glüdlicher fein al3 alle andern Fremden und über
den Bewohner des Sclofjes und fein Geheimniß mehr erfahren
al3, einen einzigen Mann ausgenommen, irgend Jemand in der
Umgegend und in der Welt überhaupt. Im Jahre 1845 kam ich
auf die jhon erwähnte, von Holten nicht jehr entfernte Univer:
fität, um mich dajelbjt als Dozent zu habilitiren; der Pfarrer
von Hollen war mein Better, aber mir eben fo unbelannt als
dem Reft der Familie, da er frühe feine und unfere Heimat in
Süddeutſchland verlaflen hatte. Man drang von Haufe aus in
mid, ihn zu befuchen, und ich that es gern, da ich nie Anderes
Feigheit. 369
al Gutes von ihm hörte; er feinerfeit3 nahm mich mit großer
Herzlichkeit auf. Mein Better, ein Mann von ungefähr fünf:
undvierzig Jahren, gefiel mir. Wir hatten gleichen wiſſenſchaft—
lichen Geſchmack, er bewohnte ein idylliſch-ſchönes Pfarrhaus,
befaß eine reiche Bibliothef, die Gegend ift überaus lieblih und
malerifeh, der Vetter fühlte fi außerdem einfam, da er im
Sabre vorher eine jehr liebe Frau verloren hatte, und jo machte
e3 fih, daß ich ihn bald zum zweiten Male bejuchte, um mehrere
Moden, vielleiht Monate mit ihm zu haufen.
Das pradtvolle Schloß zog natürlich gleich während meines
ersten Befuhes meine ganze Aufmerkſamkeit auf fih und der
Paſtor machte ſelbſt meinen Führer dur die innern Räume,
zu denen ihm ber Soldat die Schlüfjel gegeben, wie durch den
Park. Auf die Plattform gelangte ich eben jo wenig al3 jeder
andere Fremde.
„Barum darf ich nicht dort hinauf?” fragte ih den Paſtor,
mit dem ich in dem weiten, grasbewachjenen Hofe ftand, „vie
Plattform fcheint ja gerade der ſchönſte Theil des Schlofjes zu
fein und muß eine prächtige Ausſicht haben
„Die Plattform ift bewohnt,” antwortete mein Better kurz.
„Die ganze Plattform ? Da können zwanzig Familien wohnen
und ich ſehe feine Seele.”
„Ich fage zu viel,“ werbeflerte fich der Paftor, „wenn ich
fage, daß die Plattform bewohnt iſt — eine der Stuben da oben
ift bewohnt.”
„Warum follten wir denn nicht dahinauffteigen dürfen 9
„Der Bewohner will e3 nicht.”
„Das ift jehr ungaftlih! Die Plattform ift jo groß, eine
ganze Welt — er brauchte una ja gar nicht zu fehen.“
„Sr will es einmal nicht,“ wiederholte der Paftor und offen:
bar in der Abficht, das Gefpräc über diefen Gegenftand abzu:
ſchneiden.
Wer iſt denn dieſer ungaſtliche Einſiedler ?“ fragte ich trotz⸗
dem weiter.
Moritz Hartmann, Werke. VI. 24
370 Novellen.
„Es ift der Befiter des Schloſſes.“
„Wie heißt er 9”
„Die das Schloß, Hollen — Graf Holten.“
„Das iſt doch erjtaunlich,” rief ih, in der That verwundert,
„der Graf felbjt? In diefer Wüſte? In dieſem verfallenden
Schloſſe? Und nirgends fehe ich eine Spur von Familie oder
Dienerihaft — und gerade da oben in einer Manfarbe, in einer
einzigen Manjarde muß er wohnen, während im Sclofje jo
prachtvolle Säle leer jtehen ?“
Mein Better ſchwieg und ich fuhr mit meinen Fragen fort:
„Sr ilt wohl ruinirt? Er hat wohl fein la durchgebracht,
daß er ſich fo einſchränkt ?“
„Sr iſt der reichſte Grundbeſitzer des ganzen Landes,” ant-
wortete der Paſtor.
Die Sache wurde mir immer räthſelhafter, eben fo räthſel—
haft al das Benehmen meines Vetters, den meine Fragen mit
ſichtlichem Unbehagen erfüllten, und der mir durch feine kurzen
Antworten deutlich zu verftehen gab, daß er nicht weiter gefragt
werben wollte. Auch nahm er mich am Arm, um mich weiter
zu führen, vielleiht um mich durch den Anblid anderer Gegen:
ftände auf andere Gedanken zu bringen. Aber Alles das hatte
mich zum Nachdenken gebracht; das ganze Geheimnißvolle diejer
halben Mittheilungen wie des Schloffes in Verbindung mit dem
Namen Holken hatte in meinem Gedäctniffe unbeitimmte Ers
innerungen gewedt, die ich noch nicht recht fallen fonnte, und
e3 begann jene Qual des Gehirns, die man zu empfinden pflegt,
wenn einjt Gewußtes, längſt Vergeſſenes wieder aufzuerjtehen
und über die Schwelle des Bewußtſeins zu treten ftrebt. Es
war mir, al3 müßte fih an den Namen Holfen eine Gefchichte
fnüpfen, eine Geſchichte, die ich einft gehört oder gelejen hatte.
In wirren Tönen umfummte fie mein Ohr; fie ftand gebrudt
vor meinen Augen auf einem Blatte — aber noch jo verwiſcht,
daß ich fie nicht lefen konnte. Ich legte die Hand auf die Stirne
und dachte nah, mährend mich mein Better am Arm padte,
”
Feigheit. 371
um mich in meiner Anſtrengung zu ſtören und fortzuziehen. Ich
ließ mich nicht ſtören, ich grübelte — und plötzlich, wie ein Blitz
fuhr es mir durch den Kopf und ich rief: „Graf Holken, General
Graf Holken, der bei Waterloo wegen ſeiner Feigheit infam —“
„Nein! — Ja!“ rief der Paſtor haſtig nacheinander, indem
er ſich in dem öden Hofe umſah, ob Niemand meine Worte ge—
hört, und gleich darauf eben fo ängſtlich hinauf nad der Platte
form blidte, obgleih meiner Stimme Schall unmöglih dahin
hatte dringen können. Dann faßte er mih am Arm und 309
mic aus dem Hofe. — „Sprich mit Ehrfurdt von dem Manne,”
fagte er dann mit einem Gemifh von Rührung und ärgerlicher
Aufregung — „mer er auch immer fei oder geweſen fei, er ijt
der MWohlthäter diefer ganzen Gegend, der Helfer in jeder Noth
— da3 weiß Niemand beffer als ih — und dabei ift er, ad,
fo unglücklich.“
Mein Vetter gab mir während meiner erften Bejuche im
Pfarrhaufe oft zu verftehen, daß er über jenen einfamen Mann
im Schloſſe und über deſſen Geſchichte nicht zu fprechen liebe,
und ih ſchwieg, troß aller Neugierde, mwie/e3 die Pflicht des
Gajtes und des mohlerzogenen Menfchen gebot. Aber meine
Neugierde wurde darum nicht vermindert und verwandelte ſich
mit der Zeit in herzliche Theilnahme für den Einfamen. Unter
Tages hätte fein Menſch geahnt, daß die Plattform bewohnt ſei,
aber in der Nacht, beim hellen Mondſchein, fah man manchmal
einen Schatten an den breiten Eſſen hingleiten oder aus einem
gewiſſen Fenſter einer den äußerften Rand der Plattform ein:
nehmenden Manfarde einen gedämpften Lichtjtrahl durch die
Jalouſie bervorbredhen. Aus dem Fenfter meiner Stube im
Pfarrhaufe konnte ich diefes Licht beobachten, und ich ftand oft
ftundenlang da, immer hinauffehend nad der Höhe, in der das
Licht wie ein kranker, erlöfchender Stern, der fich in Nebel auf:
zulöfen droht, in der Luft ſchwebte. Der Anblid erfüllte mit
Traurigkeit und das um fo mehr, wenn man, was ich endlich
bei meinem britten oder vierten Befuhe im Pfarrhaufe erfuhr,
372 Novellen.
wußte, daß der Einfame da oben ſeit mehr ala vreißig Jahren
hauſe, daß e3 ein Greis mit ehrwürbigem Angeficht fei, und daß
er dort oben fich mit einer unverwifchbaren Schande vor den
Augen der Welt verberge, feſt entjchloffen, fo lange feine eigenen
Augen noch offen ftehen, fich diefen nicht mehr zu zeigen. Ob:
wohl ich felbft, theilnehmend und traurig, oft zu dieſem Lichte
hinaufblidte, war id doch bald beinahe eben fo unangenehm be:
rührt wie mein Vetter, wenn ich jah, wie manchmal Fremde bei
Tag und bei Nacht um das Schloß herumſchlichen und mit plumper
Neugierde das Licht, wo nicht den Einfiedler ſelbſt, zu erfpähen
fuchten. Erft als ich jo weit war, und es mein Better bemerkte,
und erit nachdem ſich im Laufe mehrerer Monate ein fehr inni-
ges, freundſchaftliches Verhältniß zwiſchen ung gebilvet hatte,
war e3 ihm möglich, ruhig über ven Grafen Holfen mit mir zu
ſprechen.
„Ja,“ ſagte er mir eines Tages, „Du haft es damals er:
rathen, es ift der General Graf Holfen, verfelbe, der bei Water:
[oo feiner Feigheit wegen infam kaſſirt wurde.“
„Iſt es nicht jo?“ fragte ich, „er jollte mit feiner Kavallerie
einen Angriff ausführen, und in dem Augenblid, da ihm vie
feinplihe Abtheilung entgegen fam, wandte er fein Pferd und
ergriff die Flucht *"
„Ja, jo ift es!“ betätigte ver Bajtor, und fuhr fort: „Seine
Schwadronen folgten ihm, brachten mehrere Infanterieregimenter
in Unorbnung, riſſen einen Theil mit in die Flucht, und dieſe
Epifode hätte der Entſcheidung des entſcheidenden Tages leicht
eine andere Wendung geben fünnen, eine Wendung, die vielleicht
der ganzen europäifchen Welt unheilvoll geworden wäre.“
„Ich habe,” fagte ich, „jeit meinem erſten Bejuche bier
Manches über den Grafen und diefe merkwürdige Epifode ge:
lefen, auch Manches durch mündliche Erkundigungen erfahren —
aber je mehr ich erfahren, deſto unflarer fehe ich in der Sache.
Die Laufbahn des Grafen endet mit einer ungeheuern Schmach
— aber die Laufbahn felbft, bis zu diefem unglüdfeligen Ende,
Feigheit. 373
iſt eine durch und durch ehrenhafte, ja ruhmvolle. Graf Holken
galt für einen der ausgezeichnetſten deutſchen Offiziere und als
ſolchen betrachtete ihn auch Napoleon, als er, nach den damaligen
Zeitverhältniſſen, unter ſeinem Kommando focht. Dem großen
Kenner und Entdecker des Talentes und des Muthes verdankte
er es, daß er noch verhältnißmäßig ſehr jung als General kom—
mandirte. Wie ſeine militäriſchen Talente und ſein Muth, hatte
ſich auch ſein Privatcharakter, ſeine Ehrenhaftigkeit, ſeine edle
Männlichkeit bei vielen und allen Gelegenheiten bewährt. Er
war von Freund und Feind gleich ſehr hochgeachtet, von ſeinen
Kameraden geliebt, von ſeinen Soldaten wahrhaft vergöttert —
und dieſer Mann wird an einem Tage wie der bei Waterloo
mit einem Male feige, er vergißt Vaterland, Pflicht, Ehre, ſeine
eigene ganze Vergangenheit und wendet ſich zur ſchimpflichen
Flucht! Iſt das begreiflich ?“
Der Paftor zuckte die Achfeln und fagte: „Du kennſt die
Geihichte des Generald Mad. Auf wenigen Deutjchen laftet ein
jo gewaltiger Schandfled al® auf dem Mann der Kapitulation
von Ulm. Nun wohl! Erkundige du dich bei Allen, vie fein
Leben und fein ganzes Weſen aufs Genauefte gefannt haben,
vor und nad der Schandthat, und fie werden dir fagen: General
Mad war nicht nur der vortrefflichfte und erprobtefte Offizier,
eine Autorität in feinem Face, eine Berühmtheit in der militä:
riſchen Welt, e3 war auch ein trefflicher Menſch, ein durch und
durch ehrenhafter Charakter, an dem feine alten Freunde bis an
jein Lebensende mit unveränderter Liebe und Achtung hingen.
Selbſt Denen, die ihn nad feinem Falle, nach der Schande von
Ulm, kennen lernten, blieb es ewig ein Räthjel, wie ein folder
Mann fo hatte handeln können; fie fagten von diefer That: fie
müßten fie, aber fie glaubten fie nicht.”
„Solche Erſcheinungen,“ fagte ih, „Sind und bleiben aud
in der That unbegreiflih. Wer kann da beftimmen, welch eine
förperlich begründete Stimmung gerade im entſcheidenden Augen:
blick ſtärker iſt al3 alle moralifchen Einwirkungen, als alle
374 Novellen.
Gefühle von Pliht und Ehre, als alle Erinnerungen und Rüd—
fihten —”
„ein!“ fiel mir der Paftor ind Wort, „an Dergleichen
glaube ih nicht, will ich aus Nüdficht auf die Würde der Menſch—
beit nicht glauben. Mein fefter Glaube ijt, daß ſolche Erjchei-
nungen rein tragifher Natur find, und daß hinter ihnen eine
tragiſche Schuld ftedt, die gefühnt werden muß, und die Er:
fahrungen, die ich felbit gemacht, die innere Geſchichte eines
folhen tragifhen Opfers, die mir befannt ift, befeftigen mich
nur in dem Glauben.“
Damit hatte der Paſtor ſchon zu viel gejagt, um leugnen
zu fönnen, daß er mit der innern Gefchichte und mit den Ur:
ſachen des Unglüds jenes Einfamen vertraut war. In der That
erfuhr ich bald, daß er der einzige Menſch war, den der Graf
mandmal in feiner Manfarde empfing, dab durch ihn die Wohl:
thaten ausgeübt wurden, duf die der Graf jein ungeheures Ver:
mögen verwendete, und endlih, daß ſich zwijchen den beiden
Männern ein beinahe inniges Freundfhaftsverhältniß gebildet
hatte. Daß der gute Paſtor bei diefem Verhältnifje mit feinem
ganzen Herzen betheiligt war, erkannte ih an der Aufregung,
die ſich feiner bemädhtigte, fo oft gegen den infam fajlirten Ge:
neral irgend ein Wort der Anklage oder Mißachtung fiel, ja jo
oft nur jein Name genannt wurde und Gefahr da war, dab fi
an diefen Namen irgend eine verlegende oder frivol verurtheis
[ende Bemerkung knüpfen fünnte. Sprad er, ohne diefe Gefahr
befürchten zu müflen, von ihm, that er e8 immer mit einer auf:
richtigen Traurigfeit und mußte er jich bezwingen, um nicht
weich zu werden. Die Theilnahme, die ich dem Einjamen zeigte,
trug offenbar viel dazu bei, daß ſich zu dem verwandtjchaftlichen
Gefühle bei dem Paſtor auch bald das freundſchaftlichſte gejellte,
und daß diefem das größte Vertrauen folgte. Er gejtand mir
bald zu, daß er in der That die Gefchichte des Grafen genau
fenne, und nicht lange darauf verfpradh er mir, daß ich fie der:
maleinſt auch fennen folle, nur follte ich ihm dagegen ver:
Teigheit. 375
ſprechen, den Unglüdlichen bis dahin nicht für einen Verräfßder
oder für einen gemeinen Mann zu halten.
Darüber gingen Jahre dahin, ehe er Wort gehalten — aber
er hielt Wort, als der Graf in dem verwilderten Barfe von
Holken beftattet war, dort, wo er jegt noch liegt, ohne Denkmal,
obne Grabftein, wie er es verorbnet. Mit den Wünſchen ver
Agnaten jtimmte es zu fehr überein, daß Geftrüpp jein Grab
überwucherte, und daß fein Name jelbit nicht durch eine Grab:
fchrift erhalten werde, als daß fie gegen diefe jeine Anordnung
etwas gethan haben würden,
Bweites Kapitel.
Viktor Graf von Holten ftammte aus einem alten, reich)
begüterten Gefchlechte des mittleren Deutſchlands. Die kriegeriſche
Beit, die in feine Jugend fiel, jowie eigene Neigung und Fami—
lienüberlieferungen beftimmten ihn, die militäriihe Laufbahn zu
betreten, nachdem er in der Familie und auf der Univerfität eine
forgjame Erziehung genofjen hatte. Garnifon= und Lagerleben
verhinderten ihn nicht, ſich fortwährend geiftig weiter zu bilven ;
von den neuen Ideen, welche die Vhilofophen des achtzehnten
Sahrhundert3 und die Neufranken in die Welt gebracht, nahm
er jo viel in fih auf, als ein offener, wohlwollender, aber in
einer vorurtheilsvollen und bejchränkten Zeit erwachſener Geift
in jih aufnehmen fonnte; die große Epoche der deutichen Litera—
tur, in die feine empfängliche Jugendzeit fiel, ging nicht ſpurlos
an ihm vorüber; er ſah die Welt ſchöner und won einem höhern
Standpunft an als feine unmittelbaren Vorfahren und viele feiner
zeitgenöflifhen Standesgenofjen. Er erkannte jehr wohl, melde
großen Beränderungen im Ganzen wie in allen einzelnen Zweigen
des Lebens in kurzer Zeit vor fih gegangen, und wie ſehr noth:
wendig und geboten e3 fei, wenn man fich als nügliches Mit:
376 Novellen.
glfed der Gefellihaft erweifen wolle, fich diejen Veränderungen
zu fügen und des Belehrenvden, das fie enthielten, fo viel ala
möglich in fich aufzunehmen. Das militärische Wejen lag ihm
nun am nächſten, und er verſchmähte nicht, von den fiegreichen,
aber von feinen Standesgenojjen noch immer verachteten Feinden
zu lernen, was er von Cäjar, Vauban, Friedrich dem Großen,
überhaupt aus der Vergangenheit und aus Büchern nicht lernen
konnte. In der Armee des Mittelftaates, der er angehörte, war
er bald nicht nur als tapferer, bereit3 in zwei Feldzügen bewähr—
ter, jondern au in feinem Fache höchſt unterrichteter Offizier
befannt. Als man durch Napoleon gelernt hatte, auf Talente zu
achten, das Willen zu benugen und die Zukunft zu bevenfen,
wurde Viktor von Holken oft vem Garniſonsleben entriffen, um
in die Nähe des Kriegsminifter® und des Hofes gezogen, bei
Reformen und Ausarbeitungen von Plänen verwendet zu werben.
Sp madte es fih von jelbjt, daß er außerhalb der Reihe und
ohne Neid zu ermeden, jchnell im Range aufrüdte, und da er
„das Glüd” hatte, bei verſchiedenen Gelegenheiten von dem nun—
mehrigen Alliirtten oder vielmehr Schußherrn feines Staates,
Kaiſer Napoleon, gelobt zu werden, war er ſchon in feinem fünf:
undzwanzigften Jahre zum Major aufgerüdt. Als folder und
al3 ein Mann, der vom Freunde, dejlen Feind man einft werden
konnte, zu lernen im Stande war, wurde er als Militärbevoll-
mächtigter der Gejandtichaft feines Fürften beigegeben und kam
er im Jahre 1809, zur Zeit des höchſten Glanzes des Kaijer:
reihes, nah Paris.
Das Leben der franzöfiihen Hauptjtadt, ihrer Natur und
der kaiſerlichen Politit gemäß beftimmt, die Augen der ganzen
Melt auf fih zu ziehen und zu blenvden, hatte für den jungen
Mann jo viel des Neuen und Beraufchenden, daß er anfangs
nicht zur Befinnung fam und von Schaufpiel zu Schaufpiel, von
Freude zu Freude, von Feſt zu Feit taumelte, Aber die Müdig—
feit mußte fich bei einem an ernitere3 Streben gewöhnten Cha:
rafter bald einftellen und diefer mußte folgerichtig die Sehnſucht
Feigheit. | 377
nah einen ftilern, innerlich reihern Leben folgen. Der junge
Mann, der ehemal3 die Muße der Friedenszeiten auf feiner
Stupdirjtube oder in Geſellſchaft inniger Freunde verbracht hatte,
hätte auch jegt gerne alle die Zerjtreuungen um wenige Stunden
innigen Umgangs bingegeben. Ein erniter Freund, mit dem er
vertraut feine Meinung über die Intereffen, die damals die Welt
bewegten, hätte austaufchen können, ein Heiner Familienkreis,
in dem er ſich gemüthlich gefühlt hätte, ſchien ihm bei Weiten
wünjchenswerther, als der ganze Glanz der Tuilerien, als die
ganze Gejelljhaft von Fürften und Königen, did er dort wie
Trabanten um die Sonne von Aufterlig fich bewegen jah.
Sein Wunſch follte ihm erfüllt werden. Oberſt Jules Ma:
rigny, der in Frankreich ungefähr dieſelbe Stellung einnahm
wie Viktor in jeinem Waterlande, der feine Grade auf dem
Schlachtfelde gewonnen, aber in den kurzen Friedenspauſen, die
Napoleon feiner Nation gönnte, bei der theoretifchen Ausarbei-
tung neuer Pläne im Kriegsminifterium verwendet wurde, erhielt
gleich bei Ankunft des jungen deutſchen Offiziers vom Kriegs:
minijter den Befehl, fich deflelben bejonder8 anzunehmen, und
er war es, mit dem Viktor den Theil der gefandtichaftlichen Ge
ihäfte, der ihm zufiel, abzumadhen hatte. Oberſt Marigny
ſtammte noch aus dem Geſchlecht der begeijterten Freiwilligen,
die auf den Ruf bes Baterlandes, nicht in Folge Eaijerlicher
Konjkriptionen, an die Gränzen eilten, aus jenem Geſchlechte,
das nur zum Theil jih von dem folvatifchen Wefen des Kaijer:
thums abjorbiren ließ, zum Theil aber jene eriten, evlern Ge:
fühle aus der Zeit der Republik als Grundlage ihres Charakters
beibehielten, als fich viele Franzofen aufricktig einbilveten, daß
fie nur als Apoftel der Freiheit und Civilifation zu Felde zögen.
Er hatte die Univerfität al3 zwanzigjähriger Jüngling verlaſſen,
als er zum erften Male im Jahre 1793 unter die vreifarbige
Sahne eilte. Immer wähnend, daß er noch einft zur Wiſſenſchaft
zurückkehren werde, zog er von Schlachtfeld zu Schlachtfeld, wäh:
rend jich hinter ihm in Paris fortwährend die Szene änderte,
378 Novellen.
und ehe er fich deſſen verſah, war er aus einem PVertheidiger ver
Freiheit und des Vaterlandes ein Soldat des Kaijerd geworden,
hatte er einen bedeutenden Offizierdrang gewonnen, waren Jahre
bingegangen und war nicht mehr daran zu denken, feinen Vater,
den geachtetjten Arzt Dijons, zu erjegen. Dieſes Schidjal hatte
er mit vier Fünftheilen der franzöfifchen Offiziere gemein; mas
ihn von diefen unterfhied, war die Stärfe, mit der er jich vor
folvatifher Vermilderung bewahrte und vor dem Vergeſſen aller
der beflern Jugendneigungen, die ihn fo mie viele Andere ins
Lager geführt hatten, die aber bei viejen vielen Anvern aus:
gewifcht waren aus dem Gedächtniſſe oder von ihnen wie von
ihrem Chef als kindiſche Ausgeburten unprakt'ſcher „Soeologie“
verachtet wurden. Oberſt Marigny war nun ein Mann in den
dreißiger Jahren, ruhig, in ſich abgejchloffen, duch Bücher und
Erfahrungen gebildet. Mit dem Leben hatte er abgerechnet; was
ihm die Welt im Großen und Ganzen verfagt, durch Vereitelung
feiner jchönften Träume, die er uneigennügig für fie geträumt
hatte, ſuchte er fi im Kleinen zu erjegen, dur Erfüllung ver
nächſten Pflihten und dadurch, daß er die Welt in Denen fuchte,
die er liebte. Ein warmes Herz, wie er war, Elammerte er ſich
mit dejto innigerem Glauben an einzelne Berjonen, als fein Ber:
trauen in die Welt erfhüttert war. Solche Menſchen, die an
ihre Landsleute nicht glauben, da fie an ihnen ihre Erfahrungen
gemacht, und die doch ihren Glauben an die Menjchheit nicht
aufgeben fünnen, fommen den Fremden mit bejonderer Vorliebe
entgegen, und fo fand Biltor beim Oberften Marigny eine um
fo herzlihere Aufnahme, als in ihren Charakteren, ihrem Beruf,
ihren Neigungen, ihrem Streben jo viele Berührungspunfte vor-
handen waren. Beide waren unter dem Solvdatenrode mild und
gebildet, Beide im frivolen militärischen Leben ernſt geblieben;
Beide juchten ihrem Berufe die geiftigfte Seite abzugewinnen;
aber fie waren aus verfchiedenen Verhältniſſen, verfchiedenen
Nationen und Schulen hervorgegangen; die Grundlagen ihrer
Bildung waren in vielfacher Beziehung verfchieden, und fo hatten
Feigheit. 379
fie auch, Einer vom Andern, etwas zu lernen, und jo waren alle
Bedingungen der Gleichheit und Ungleichheit —— die
innigen Verbindungen förderlich ſind.
Nachdem Oberſt Marigny ſeinen Schutzbefohlenen kennen
gelernt, führte er ihn, den er bisher nur in den Tuilerien, in
großen Geſellſchaften und in ven Bureaur geſehen hatte, in fein
Hausweſen ein, und damit hatte Viktor den heimlichen Ruhepunkt
gefunden, der ihm in dem betäubenden Lärm der Welthauptitabt
fo wünjchenswerth ſchien.
Oberjt Marigny war verheirathet und zwar glüdlich verhei-
rathet, obwohl jeine Heirath halb und halb auf franzöfiiche Weile
geſchloſſen worden, das iſt durch Einmiſchung dritter Berfonen,
die mehr die äußern Bortheile als die Bedürfniſſe des Herzens
in Betracht zogen. Seine Freunde und Anverwandten juchten
für ihn, während er ven Feldzug von 1805 gegen Oeſterreich
mitmachte, eine gute Partie, und fie fanden dieſe in der Perſon
des Fräuleins Helene von Perouſſet. Mademoifelle de PBeroufjet
war der legte Sprößling eines altadeligen Haufes, aus dem unter
den Bourbonen gewöhnlich die Kapitäne der Garden in Berfailles
gewählt wurden und das in der Schredengzeit des Jahres 1793
auf dem Schaffote erlojh. Helenen rettete ihre Jugend; fie war,
al3 fie ihre jämmtlihen Anverwandten unter der Guillotine ver:
bluten ſah, erſt acht Jahre alt. Ein Emigrant, Freund ihres
Baters, nahm fie für einige Zeit zu ſich nad Deutſchland, ſchickte
fie aber nad) wenigen Jahren wieder nach Frankreich zurüd, wo
fie in einem Mädcheninftitut erzogen wurde. Sie war zwar, ala
fie um ihre Familie fam, auch um ihre Güter gekommen, die als
Nationaleigentbum eingezogen wurden, und fie war eigentlich
nicht3 Anderes als ein armes Fräulein; trogbem hatten die
Freunde Marigny’3 Recht, fie al3 eine gute und wünjchenswerthe
Partie zu bezeichnen. Abgejehen von ihrer guten Erziehung und
ihrer auffallenden Schönheit, war noch gegründete Hoffnung vor:
handen, ja man fonnte mit Sicherheit darauf rechnen, daß der
Kaiſer, wenn fie Marigny heirathete, ihr vie jämmtlichen ein:
380 Novellen.
gezogenen Güter oder einen bedeutenden Theil derjelben zurüd:
eritatten, oder, wenn dieß ganz und gar unthunlic, ihr jeden:
falls eine binreihende Mitgift und Ausftattung geben werde.
Der Kaifer fab es gern, wenn jeine Offiziere oder jonjtigen
Mürdenträger Töchter alter Häufer heiratheten und fich die alte
Legitimität fo mit feinem neuen Adel vermifchte. Bei jolchen
Gelegenheiten war er überaus freigebig, und er liebte es, Männer,
die ſolche Heirathen eingegangen, raſch emporzubeben, um mit
ihnen ihre Frauen, die Töchter der Legitimiften, an feinem Hofe
zu ſehen. Dieje Lächerlichkeit des Emporlömmlings machte Helene
zu einer guten Partie. Aber Marigny ſah das jchöne und ver:
lafjene Fräulein, und er adelte dieſe arrangirte Heirath, indem
er vom Kaiſer weder Rückgabe der eingezogenen Güter noch eine
Mitgift verlangte, indem er ſich überhaupt bei dieſer feiner
Privatangelegenheit um die Einwilligung feines Kriegsherrn ganz
und gar nicht fümmerte: ein Verfahren, das ihm von Anfang an
die Achtung feiner Frau fiherte und vielleiht den feſteſten Grund:
jtein jeines Glückes bildete. Die Hinterlaffenihaft feines Vaters,
der der erite Arzt Dijons geweſen, fein Oberftengehalt und die
Zulage, die er als Arbeiter im Minifterium des Krieges bezog,
waren übrigens mehr al3 hinreichend, um einen beinahe luxuriö—
jen, jedenfalls forgenlojen Haushalt zu begründen. Das junge
Ehepaar hätte fogar nad) den damaligen Anfprüchen ein offenes
Haus machen können, wenn e3 fich nicht ſelbſt genügt hätte. Die
offiziellen Fefte, an denen fie theilnehmen mußten, waren ihnen
Abwechslung genug; fonft liebte man es, daheim zu bleiben und
ih an einander zu erfreuen, Morgen, übermorgen konnte ja die
Kriegstrompete wieder erfchallen und die Glüdlichen trennen. Man
mußte die gegönnte Frijt benugen. Doc war die Trennung, bei der
Schnelligkeit, mit der Napoleon feine Kriege zu beenden pflegte,
meijtens nur von kurzer Dauer, bei Marigny von um fo kürzerer
Dauer, als er jedesmal bei beendetem Feldzuge den aktiven Dienit
jofort verlafien fonnte, um in das Kriegsminifterium nad Paris
zurüdzufehren, wo er mit feinen Renntnifjen ftet3 willfommen war.
Feigheit. 381
Die Liebe, die Marigny durch ſein uneigennütziges Verfahren
der Braut gezeigt hatte, wurde von der Frau durch die rüdhalt:
Iojefte Hingebung heimgezahlt. Das arme, verlaflene Gejchöpf
fühlte zum erften Male, daß fie Jemand gehörte, dab Jemand
zu ihr gehörte, daß fie nicht mehr allein und ſchutzlos in ver
Melt daftand. E3 war eben das Gefühl der Sicherheit, das fie
fogleich zu ihm hinzog, al3 fie den wettergebräunten, in Schlach—
ten gehärteten Mann, der noch viel Älter ausſah als jeine Jahre,
zum eriten Mal anblidte; jein Alter, das eigentlih nicht im
rechten Verhältniß jtand zu ihren neunzehn Jahren, war in diefer
Beziehung in ihren Augen ein Vorzug mehr. Sie empfand ihm
gegenüber alle die Gefühle, die zu empfinden ihr bisher nicht
gegönnt war; er war nicht nur ihr Gatte, er war ihr älterer
Bruder, ihr Vater, er war ihr Alles, was Liebe, Schug und
Halt gewährt. In ihrer Sehnſucht nad) dieſen Gütern, die ihre
ganze Jugend ausfüllte, hätte fie fih einem jüngern Manne
gegenüber vielleicht länger befonnen, als fie es Marigny gegen:
über gethan hatte, dem fie gewiljermaßen mit au&gebreiteten
Armen entgegeneilte, und je näher fie ihn fennen lernte, deſto
tiefer wurde fie überzeugt, daß unmöglid eine rau an ihren
Mann mit mehr Banden gelnüpft jein könne, als fie e3 war.
Trotzdem fie kinderlos war, fand fie Graf Viktor Holfen nad
fünfjähriger Ehe noch in derſelben Leberzeugung, als er fie, von
ihrem Manne vorgeftellt, fennen lernte,
Viktor hatte von Madame Marigny, die jehr zurückgezogen
lebte, nie jprechen hören. Hätte er gewußt, daß fie für eine
Schönheit galt, würde er wahrjcheinlic den Ruf bejtätigt haben;
jo aber trat er ihre ohne vorgefaßte Meinung entgegen, und das
Erjte, was ihm im Haufe gefiel, war das ruhig:innige Zufammen:
leben des Ehepaares, das ihm um jo mwohler that, als ihm ein
ſolches Schaufpiel in dem damaligen Paris und in feinem offi
ziellen Hofleben feit lange nicht geworden. Er fühlte fich behag-
ih an dieſem häuslichen Herde und bald vollkommen heimiſch.
Dazu trug auch die zufällige Entvedung bei, dab er und Helene
382 Novellen.
eigentlih alte Bekannte und Yugendgefpielen waren. Während
ihres Aufenthaltes in Deutihland hatte fie mit der Emigranten-
familie, die fie dahin hatte fommen laffen, einige Zeit auf dem
Schloſſe des alten Grafen Hollen, des Vaters Viktor verbracht,
der, ein jtarrer Legitimift, es fich zur Ehre rechnete, alle feine
aus Frankreich vertriebenen, durch feine Gegend kommenden Ge—
finnungägenofjen bei fih zu beherbergen und la fidelit& mal-
heureuse fürftlich zu bewirthen. Helene erinnerte ſich genau der
ihönen Wochen in dem gemwaltigen Schloſſe und dem herrliden
Parke; fie waren ja ein Lichtblid in dem Leben der Berlaffenen ;
fie erinnerte fich jeder Einzelheit in ihren damaligen Erlebnifien,
jeder Perfönlichkeit und vor Allem des kleinen Viktor, der jo gut
für fie war, fie auf fein Pferd nahm und ihr ven erften Unter:
richt in der deutfhen Sprache gab. Der jungen Frau und mehr
nod dem Oberften war es nun, als müßte man Viktor, der fich
in Paris in feiner Art einfam und verlaflen fühlte, die Gaftlich-
feit, die Helene einjt von ihm und feinem Vater genofjen, mit
Binfen in Freundſchaft und Freundlichkeit wieder vergelten, und
das Miederfinden trug jehr viel zu einer rafhen Entwidlung
gegenfeitiger Vertraulichkeit bei, abgejehen won der Achtung,
welche beide Männer fchon aus ihrem Welt: und Geſchäftsleben
ber in den ftillen Kreis mitbradten.
Viktor fühlte fih in diefem Zufammenleben glüdlicher als
je zuvor. Sein patriotiſches Gefühl, das er fih bewahrt hatte,
obwohl fein Fürft ein Alliirter, oder beſſer gefagt, ein Bafall
des Kaiſers war, und das er fonft in Paris ſchon aus politi-
ihen Rüdjichten verbergen mußte, tonnte fich bier frei ausfprechen.
Der Oberft war ein zu gebildeter Mann und felbft ein zu guter
Patriot, um nicht zu verſtehen, was ein Deutjcher bei der da=
maligen Lage der Dinge fühlen mußte; er hätte Viktor vielleicht,
ja gewiß weniger geachtet, wenn er, wie viele deutſche Fürſten
und Offiziere, die ihr Glück von Frankreih erwarteten, dem
franzöſiſchen Gögen geräuchert hätte. Seine Frau hatte Deutic:
land zu lieb gewonnen und ftand ihrer Abitammung nad dem
Feigheit. 383
gegenwärtigen franzöfiihen Treiben und dem Kaijer zu fern, um
nicht laut und aufrichtig beizuftimmen, wo ihr Mann nur durd
jein Schweigen beiftimmte. Außerdem konnte er mit ihr von
Perfonen und Dertlichleiten ſprechen, die ihm theuer waren und
von denen fie mit Begeijterung ſprach, da fie fich in ihrer Er-
innerung aus der ſchönſten Zeit der Jugend zu wahrhaften Idea—
len verflärt hatten.
Als fie fo zum erften Male ſprach, erfuhr er, mie ſchön fie
mar. Ihre blafjen Wangen rötheten fih, ihre Augen jprübten,
die deutiche Sprache, die fie bei ſolchen Gelegenheiten brauchte,
obwohl fie fie unvollflommen ſprach, erfchien ihm in ihrem Munde
unendlich melodijch und wurde ihm noch theurer. Er pries feinen
Freund glüdlich wegen des Befiges eines ſolchen Weibes, und je
länger er mit ihnen lebte, deſto inniger freute er fih an dem
Glüd diejer geliebten Menfhen. Doch mußte er fih manchmal
jagen, daß das Glück Helenens oder vielleicht nur ihre Heiterkeit
von Zeit zu Zeit dur irgend etwas getrübt, unterbrochen ſei.
Don Natur mit dem heiterften Temperament begabt, das nur
durh Anmuth mwohlthätig gemilvdert war, verbreitete fie ring
um ſich ber die Harte Atmoſphäre, aber manchmal verſank jie
in einen Trübfinn, der um fo rührender war, al3 ihre Anmuth
dadurch nicht vermindert wurde und ihre Trauer mit der ge—
wohnten Heiterkeit um jo auffallender Eontraftirte. Helene hatte
bald feine Geheimniffe vor Viktor, und er glaubte die Urſache
dieſes Trübfinns zu errothen. War es nicht natürlich, daß das
Schidjal ihrer ganzen Familie manchmal durch ihr helles Leben
einen düftern Wolkenfchatten warf? Und nun wußte Viktor aud,
daß Helene als adhtjähriges Mädchen ſämmtlichen Hinrihtungen
ihrer Eltern, ihrer Brüder und einer Schwefter beigemohnt, daß
fie die gräulihen Schaufpiele mit eigenen Augen geſehen hatte.
ALS ihre Anverwandten in die Conciergerie gebracht wurden, um
vor das Nevolutionstribunal Fouquier Thinville's geftellt zu
werden, blieb fie im öden väterlichen Haufe allein, unter dem
Schuß einer Wärterin. Diefe war eine heimliche, nunmehr offen:
384 Novellen.
kundige Zakobinerin, und glaubte vem Kinde das Schaufpiel nicht
erfparen zu dürfen; fie ließ fie die Hinrichtung der theueriten
Perfonen auf dem Greveplate jelbjt mitanfehen, um ihm, wie
fie jagte, die im Blute ſteckenden ariſtokratiſchen Ideen durch den
Anblid des Blutes ein: für allemal und gründlich auszutreiben.
So lebhaft fie fih der Tage auf Schloß Holfen erinnerte, eben
fo lebhaft, wo nicht Tebhafter, ftanden diefe Blutfpuren vor ihren
Augen. Kein Wunder, daß fie über ihre Seele einzelne Schatten
warfen, und daß fie das Bedürfniß hatte, manchmal über die
furchtbare Art, wie fie vereinfamt, wie ihre Jugend verdüſtert
worden, zu Hagen. Ihr Mann hörte die Klagen mit Theilnahme,
aber ungern, denn es waren Anllagen der Republik, für die er
fih geichlagen ; fie hoben die Schattenfeiten eines Zuſtandes her:
vor, der ihm in anderer Beziehung, befonders in Erinnerung an
die damalige Begeifterung und an die Unmiderftehlichfeit der
franzöfifhen freiwilligen Krieger al3 ein Ideal erſchien. Auch
geitand Helene, daß die Wärterin mit jener Kur ihren Zweck
verfehlte, und daß, wenn fie eine Ariſtokratin fei, jene blutigen
Schaufpiele daran die vorzüglidite Schuld trugen. Auch diejes
Geſtändniß konnte dem ganz bürgerlichen Wejen des Oberjten
nicht angenehm fein. Helene wandte fich darum, feit der Bekannt:
ihaft mit dem Grafen Holken, mit ihren trüben Erinnerungen
und den daran gefnüpften Klagen an diefen, ver auf foldhe Weiſe
gemwillermaßen ihr DBertrauter wurde und fo auch erfuhr, daß
zwifchen diejen zwei fo innig verbundenen Menfchen doch etwas
jei, was fie bis zu einem gewiflen, wenn auch, fo zu fagen,
unmeßbaren Grade und wenn aud nur für Momente, trenne.
Für Viktor, der bisher im Lager, auf feiner Studierftube
ober in der großen Welt gelebt hatte, war, wie für viele Männer
feines Standes, der vertrauliche Verkehr mit einer Frau etwas
ganz Neues und wirkte auf ihn mit unendlihem Zauber. Er
machte, wie das immer bei Srauenumgang der Fall ift, fo viele
Entdeckungen an ſich felber, Entdedungen von Eigenschaften, die
ihn freuten, und von Fehlern, die er abzulegen ftrebte, und die
Feigheit. 385
er leicht ablegte. Für Beides war er Helenen dankbar. Daß ein
folhes Zufammenleben mit einer ungewöhnlich ſchönen und be
gabten Frau, deren Geift und Anmuth fo viele Freuden gibt,
deren traurige Momente mit jo viel gerechtfertigtem Mitleid er:
füllten, daß ein foldes warmes Hingeben von beiden Seiten auch
feine Gefahren haben fünne, fam ihm, bei jeinem Mangel an
vergleichen Erfahrungen, nit in den Sinn. Und wenn ihm
auch manchmal ein ähnlicher Gedanke, unbejtimmt, faum faßbar,
durch den Kopf fuhr, oder vielmehr nur als verihmommenes
Gefühl auf Augenblide fein Herz erfhredte, wenn er zum Bei:
fpiel unmwillfürlih ihre Hand ergriff und fie wärmer füßte, als
er je eine Hand gefüßt hatte, fühlte er fih in dem andern Ge:
danken, der fofort auftaudhte, daß Helene feines Freundes, des
edeln Marigny, Frau fei, jo fiher wie in einer uneinnehmbaren
Seftung. Und wäre er der ſchwächſte Menſch, der treulofete ge:
wejen, fähig, feinen theuerften und geachtetſten Freund zu ver:
rathen, fand er in Helenens Treue, in ihrer Wahrhaftigkeit nicht
die ficherfte Bürgſchaft für fich jelbjt? Sie war eine Frau, von
ver ihr Mann mit Recht jagte: „Cette femme est un honnäte
homme* (Diefe Frau ift ein Ehrenmann!). Fühlte jih Viktor
nicht auch als folder? Konnten aus dem Umgang zweier Ehren:
männer moralifhe Gefahren entftehen?
Nah einigen Monaten fragte ſich Viktor, ob die Liebe eine
ſolche moralifhe Gefahr ſei? Daß er Helenen liebte, war ihm
nah wocenlangen Kämpfen fein Geheimniß mehr. Er mußte,
daß er nur dann ohne fie leben könne, wenn die Pflicht ihm fie
zu meiden gebiete, daß er aber ohne fie nicht glüdlich fein könne,
Jene Frage aber beantwortete er ſich noch mit einem entjchiedenen
Nein;“ er fühlte zu Har, wie fehr diefe Liebe und die mit ihr
verbundenen Kämpfe ihn in feinen beiten Grundſätzen beftärkten
— freilih auf Koſten feiner Ruhe und mit der Ausfiht auf voll:
tommenfte Entfagung. Wie alle jungen Herzen, die ſich auf Ent:
jagung vorbereiten, die mehr oder weniger Täuſchung ift, fuchte
er ih zum Erſatz ein künſtliches Glüd aufzubauen, und die
Morig Hartmann, Werke. VI. 25
386 Novellen,
Phantafie unterftügte das Herz. Er bildete fi ein, fchon jenes
fleine Mädchen, das vor dreizehn Jahren durch Holen fam, geliebt
zu haben; er fand in ihren Zügen ſchon die ganze Helene, die jet
jo oft mit ihm allein am Kamine faß; diejes Kleine Mädchen war
noch frei; er herzte und füßte es mit der unſchuldigſten Leiden:
ihaft. Ad, daß er ed damals nicht gethan hatte! — daß fi
nicht eine Art jener kindlichen Liebe herausgebilvet, die dauernd
und aus der dann ernite, ewige Verbindung werden konnte! Sein
Bater, der fo jehr für die Emigranten eingenommen war, wäre
glüdlich geweien, feinen Sohn mit einer verbannten Royaliftin,
mit einem Opfer der Revolution verbunden zu fehen. Was er
wünfchte, jah er bald wirklich, und in dem Augenblid, da er jo
träumte, lag Helene als das herrliche Weib, das fie eben war,
als feine Frau in feinen Armen.
Wir müffen und hier mit diefen kurzen Andeutungen über
den damaligen Gemüthszuftand des Grafen Viktor von Holfen
begnügen; fie find ein bloßer Auszug aus feinen Tagebüchern
und fpätern Briefen, die vor uns licgen und die alle Einzelheiten
des unglüdjeligen, aufreibenden Kampfes zwiſchen Pflicht und
Leidenſchaft in ſelbſtquäleriſcher Ausführlichfeit enthalten. Eine
joldhe traurige Gejhichte innerer Vorgänge ijt nur von dem Ger
quälten jelbjt gejchrieben wahr; von einem Dritten bearbeitet,
mit biftoriographifcher Berüdfichtigung und Zurathejiehung der
Quellen wird fie, bei dem Streben nad) objeftiver Wahrheit, zu
befonnen, falt, oder, wenn man fih mit Ruhe bemüht, der
Leidenſchaft nachzukommen, bombaftifb und unwahr. Wo, wie
in Werthers Leiden, die Briefe und Tagebücher nicht ſelbſt ge:
geben werden dürfen, ift die kürzeſte Andeutung der Seelen:
zuftände, ein bloßes Anfchlagen der Saiten das Beſte.
Bon Helenen befigen wir aus jener Zeit weder Briefe noch
Tagebücher; wir müffen bei ihr, wie Geſchichtſchreiber bei Quellen:
mangel, von Einem auf das Andere, von fpätern Zeiträumen
und Vorkommniſſen auf frühere ſchließen und das Wahrjcheinlihe
al3 wahr annehmen.
Feigheit. 387
Im Grund befand ſie ſich in derſelben Lage wie Viktor, der
vor ihr noch kein Weib geliebt hatte. Aus dem Mädcheninſtitut
tretend, in eine Welt, in der ſie nur Verfolgungen, Verbannung,
Blutgerüſte kannte, warf ſie ſich einem Manne in die Arme, deſſen
erſter Anblick Sicherheit, Schutz gegen alle Feinde verſprach. Sie
fühlte ſich unter ſeinem Fittig ſo warm, ſo ſicher, um ſo ſicherer,
je älter er ihr erſchien. Sie hatte die vollſte Sicherheit und in
dem glänzenden Paris eine ganz andere Anſicht vom Leben ge—
wonnen, als die war, die mit den Blutſzenen in ihrer Erinnerung
zuſammenhing, als ſie Viktor kennen lernte. In ihm lernte ſie
die Jugend kennen und ſie war ſelber jung. Wie ihre Wahl
Marigny's mit der ſchrecklichen Erinnerung zuſammenhing, ſo
hing die Erſcheinung Viktors mit den freudigſten Bildern ihrer
Jugend zuſammen. Viktor war außerdem ein Freund, wie ſie
noch keinen beſeſſen hatte, mit dem ſie ſprach wie nie vorher mit
einem Andern, und ihn konnte ſie ohne Angſt einen Winkel ihres
Herzens ſehen laſſen, den ſie ſelbſt vor ihrem Mann verſchleierte.
Als ſie zu empfinden anfing, wie unentbehrlich er ihr geworden,
fühlte ſie ſich wie Viktor ſicher in dem Gedanken, daß dieſer
Marigny's Freund ſei, und in der Unmöglichkeit, daß man einen
Mann wie Marigny hintergehe. Hätte ſie doch lieber alle höchſten
Glückſeligkeiten hingegeben, als daß ſie ſich in die Lage verſetzt
hätte, dieſem vortrefflichen Mann einen Moment lang nicht offen
ins Auge ſehen zu können.
Als ſie Beide erriethen, was in dem Herzen des Andern
vorging, ſchwuren ſie ſich es mit einem Blick, daß ſie es ein—
ander nie geſtehen und daß ſie ſtärker ſein wollten als alle Liebe.
Drittes Kapitel.
Der Winter, der das glüdlihe Zuſammenleben eines Heinen
Kreifes zu fördern pflegt, verfloß in gebrüdter Stimmung.
3833 Novellen,
Marigny, der immer an die alten Urſachen von Helenens Trau—
rigfeit glaubte, bat Viktor, fie in diefer Stimmung, die unge
wöhnlich lange dauerte und die ihn daher beunrubigte, nicht zu
verlafjen. Ex vermied fie jo viel als möglih, um fie mit dem
Freund allein zu laffen, mit dem, wie er wußte, fie über jene
Dinge aufrichtiger und lieber ſprach al3 mit ihm. Die äußere,
politifhe Welt begann auch in den Heinen Kreis hineinzugreifen.
Napoleon, nah gänzlicher Niederwerfung Defterreih3, dem er
mehrere Provinzen und eine Prinzefjin alten Blutes abgewann,
warf feine durch dieſe Erfolge verfügbar gewordenen Streits
fräfte nach Spanien, das, in Verbindung mit den Engländern,
feinem Bruder Joſeph jo viel zu fchaffen und die Kunſt feiner
trefflichiten Feloherren, GSoult, Augereau, Soucdet, Gouvion
St. Cyr, Maſſena zc., zu Schanden machte. Die beften Regi:
menter und bie beten Offiziere follten dieſer fchlimmen Lage ein
Ende machen und ein Beifpiel befeitigen, das dem Neft Europa’s
Muth zum Widerjtand gegen den Welteroberer einflößen fonnte.
Marigny’3 Regiment hatte die Pyrenäen bereit3 überfchritten,
und eö war wahrjcheinlih, daß er ihm demnächſt werde folgen
müſſen. Seitdem zum erjten Male davon die Rede gewejen,
hörte Helene nicht auf, ihn mit Bitten zu beftürmen, daß er fie
dießmal ing Feld mitnehme. Marigny lächelte über viefen Ge:
danken, wie über eine Unmöglichkeit. In jeden andern Krieg,
in jedes andere Land hätte er fie leichter mit ſich führen können,
al3 in diefes Land ver Guerillad, wo die Armee fortwährend
über Fallthüren marſchirte und fie wie jever Einzelne immer von
Hinterhalten und unjihtbaren Feinden umgeben war; wo jelbft
Weiber, von Mönchen angeführt, mit dem Kreuz in der Hand
in den Kampf zogen, darum von ritterlihen Nüdfichten für
Frauen nichts zu hoffen war. Den Franzofen erfchien das da—
malige Spanien als eine einzige große Mörbergrube, und die
war e3 ihnen au in ver That; wie follte fih Marigny ent:
Ihließen, feine geliebte Frau dahin zu bringen? Aber Helenens
Bitten wurden von Tag zu Tag dringender; jie jhien am Ende
Feigheit. 389
von dem Gedanfen nicht mehr laſſen zu können, ſprach mit einer
bebenden Angſt von der Trennung und wie mit unerjchütter:
ficher Meberzeugung von unbeftimmten Gefahren, die fie, fern
von ihm, bedrohten. Bei der frankhaften Art und Weiſe, wie
fie ihre Bitten vorbrachte, wie fie immer darauf zurüdtam, und
bei der immer mehr überhandnehmenven Bläffe ihres Geſichtes
und Traurigkeit ihres ganzen Ausdruckes erfchien ihm ihr Wunſch
bald wie eine fixe Idee, von der er zu Viktor mit Staunen und
Beſorgniß ſprach. Aber er war noch mehr erſtaunt, als Viktor
dieſem Wunſche das Wort redete, oder wenigſtens ſchwieg, wenn
Helene ihren Mann in ſeiner Gegenwart beſchwor, fie nach Spa⸗
nien mitzunehmen. So kam es, ohne daß irgend ein poſitives
Wort darüber gefallen wäre, dahin, daß die Reiſe Helenens
nach Spanien halb und halb für ausgemacht und bevorſtehend
betrachtet wurde.
Auf unzähligen Familien drückten damals Sorgen und Bes
ängftigungen, die mit dem furchtbaren Lande jenjeit3 ber Pyre⸗
näen in Verbindung ſtanden, denn welche Familie hatte nicht
einen Sohn, Vater, Bruder, Gatten in der gewaltigen Armee,
die Napoleon dahin geworfen und von der nur traurige Nach⸗
richten einliefen. Aber das kaiſerliche Paris durfte von ſeinen
Beängſtigungen nichts merken laſſen; es mußte ſich mit ſeinem
kaiſerlichen Herrn, der eben ſeine habsburgiſche Braut und mit
ihr eine ſeiner Parzen heimgeführt hatte, laut freuen und ſich
an Feſten berauſchen. Mit dieſen Feſten kam ver Frühling heran,
und jener vom öſterreichiſchen Geſandten Fürſten Schwarzenberg
zu Ehren der Vermählung gegebene Ball, der durch ſeinen trau—
rigen Ausgang, durch den Tod der liebenswürdigen Frau und
guten Mutter, Fürftin Pauline Schwarzenberg, eine traurige
Berühmtheit erlangte und fpäter als ein Vorſpiel de3 Brandes
von Moskau und als eine Warnung für Napoleon betrachtet wurde,
Bon diefem Zeitpuntte an fnüpft ſich unfere Geſchichte bis
an ihr Ende mit ihren Hauptbegebenheiten nur an die bedeu—
tendften biftorifchen Epochen und Greignifje, die wir zu einem
390 Novellen.
großen Hintergrunde benugen könnten, wenn wir eine von den
beliebten hiſtoriſchen Novellen fchreiben wollten; aber wir erzählen
nur die Geſchichte eines einzelnen Unglüdlichen.
In dem Ballhaufe, das Fürft Schwarzenberg im Garten
des Gejandtihaftshotel3 mit eben fo zauberhafter Schnelligkeit
al3 zauberifher Pracht hatte aufführen Iaffen, mag e3 in jener
verhängnißvollen Nacht manches traurige Herz inmitten des un:
erbörten Glanzes gegeben haben, aber gewiß gab e3 Wenige,
die für den Glanz der Ausfhmüdung, der ganzen unvergleich:
lihen Verfammlung, der unzähligen anmwejenden großen Namen
jo wenig Auge und Sinn hatten, wie das eine Baar, das Arm
in Arm, jchweigend fi von der wogenden Menge langfam und
willenlos fortbewegen ließ. Es war Viktor mit Helene. Viktor
trug feine Uniform, und in der kriegeriſchen Tracht ſchien ihr
fein Gefiht noch milder und in der glänzenden Umgebung nod
trauriger als fonft. Wie fie die Menge forttrug und die Muſik
in Träume wiegte, vergaß fie Menge, Mufit und die ganze
Melt und fühlte nur, daß fie an feinem Arme hing, daß fie fich,
von der Maſſe gedrängt, ohne es zu wollen, an ihn drücken
durfte. Viktor, der fie um eine ftarke Kopfhöhe überragte, ſah
fehnfüchtig zu ihr nieder. Von ihrer Toilette war in dem Ge:
bränge wenig zu ſehen; er fah nur das blaſſe, von ſchwarzen
Scheiteln eingerahmte Geſicht, die langen ſchwarzen Wimpern,
die es noch bläffer erfcheinen ließen, und die feine weiße Büſte —
daß fie ihm vorkam wie eine Schwimmende, die fih an ihn
Hammert und die er rettend ans Land trägt. Der Oberjt war
bei einer Gruppe von Offizieren ftehen geblieben, die eben ver
Feſte halber aus Spanien zurüdgelehrt waren und ihm, der
demnächſt dahin abgehen follte, über die dortige Lage der Dinge
Auskunft ertheilten. Helene, die mit ihm abzureifen gedachte,
fagte fi, daß fie heute vielleicht zum legten Male mit Viktor fo
allein fei — denn wo ift man mehr allein als in folhem Ge:
dränge — und da fie von ihrem Glück Abſchied nahm, glaubte
fie ſich dieſem Glück ohne Verbrechen hingeben zu dürfen. Sie
Feigheit. 391
wußte es ja, was ſie die Trennung koſtete und was ſie geleiſtet,
indem fie diefelbe gewiffermaßen erzwungen, um ſich dieſe kurze
und unſchuldige Belohnung als Preis ihrer Kämpfe geſtatten zu
dürfen. Aehnliche Gefühle bewegten Viktor, und ſo ließen ſich
Beide vom Strome des Gedränges und von dem ſanften, glei—
tenden Strome ihrer Träume forttragen, nur wünſchend, daß
dieſe ſelbige Stunde ewig dauern, daß ſie nichts aus dieſen
Träumen wecke.
Aber ſie ſollten auf ſchreckliche Weiſe geweckt werden.
Der Brand brach aus. Eine hochhängende Gardine, von
der erhitzten Atmoſphäre hin und her bewegt, kam mit einer
Lampe in Berührung, fing Feuer und theilte im Momente die
Flamme dem ganzen obern Theile des Saales mit, ſo daß er
augenblicklich von einer großen Lohe überwölbt war. Die
Maſſen, die ſich bis jetzt in einer gewiſſen Ordnung durch den
Saal bewegt hatten, wurden nach dem erſten Schreckensſchrei
ein wildes und lärmendes Chaos. Alles ſchrie, Alles drängte
den Thüren zu; auf Niemand wirkte die Anweſenheit oder das
Beiſpiel des Mannes des Verhängniſſes, der ruhig einen Blick
auf die Flammen warf und dann ſeine habsburgiſche Gattin
eben ſo ruhig durch das Gedränge zu ihrem Wagen führte.
Schon geſellten ſich zu dem Schreckensgeſchrei Ausrufe und
Schreie des Schmerzes, da dort und da die Flammen von der
Höhe auf die Häupter der Verſammelten herabzuregnen begannen
und das Gedränge ſo wild wurde, daß Viele zu erſticken oder in |
das Feuer gedrängt zu werben fürchteten.
Victor fah und hörte von Allem, was um ihn ber vorging,
Nichts. Bevor er einen Blid auf das drohende Unheil werfen
fonnte, lag Helene Hülfe fuchend in feinen Armen; er fühlte fie
an feiner Bruft und er ftand bejeligt da, ohne die Flammen,
die ihn umzüngelten, zu beachten. Er hob fie nur höher an fi
binauf, er drüdte fie nur inniger an ſich — aber er hat es nie
gewußt, wie er mit diefer theuern Laſt auf den Armen die
Menge theilte und plöglich mit ihr im Freien ftand. Die frijche
392 Novellen,
Frühlingsnachtluft im Garten bradte ihn ein wenig zur Be:
finnung; aber er hatte nicht die Kraft, die Bürde niederzufegen,
mohl aber vie Kraft, fie weiter fortzutragen bis ans Ende ver
Melt.
Im Garten war die Verwirrung beinahe eben jo groß wie
im brennenden Tanzjaale. Die Gäſte ftürzten in Strömen her-
aus und obwohl nunmehr der Gefahr entronnen, glaubten ſich
Viele doch noch nicht gerettet; Frauen und Männer rannten be
ſinnungslos umber, Einzelne jtanden vor dem brennenden Ges
bäude und ftaırten e3 jehreiend an, erwartend, ob irgend eine
geliebte Perjon, die fie darin zurücgelaffen, nicht herworfomme;
Andere, wie jene unglüdlihe Fürftin Schwarzenberg, ftürzten
jih vom Garten aus wieder zurüd in die Flammen, um nad
den Vermißten zu ſuchen und um, wie eben diefe gute Mutter,
die nach ihrer Tochter fuchte, nicht wieder das Flammengrab zu
verlafien. Bei all dem flogen brennende Splitter oder Stoffe
der Saaldekorationen im Bogen mitten in die haotifche, jchreiende,
drängende, jammernde Verwirrung. Im ganzen Parke war fein
Plägchen, dem Viktor feine Laft hätte anvertrauen mögen; für
fie ſah er überall Gefahr, und ohne zu überlegen, trug er fie
weiter durch den Hof, dur das Hotel, durch zwei Gaflen bis
an den Quai Voltaire, mo er am Ufer der Seine ein in einem
Garten liegendes Haus bewohnte. Helene hing bemußtlos an
jeinem Halje, oder vielmehr, fie hatte von jenem erſten Momente
des Schredend an nur das träumerifche, halbe Bewußtfein, an
feinem Herzen zu liegen. Sie erwachte erft, als fie in Viktors
Zimmer, auf feinem Sopha lag und er, der bisher nur die Ges
fahr gefehen, in der dieſes geliebte Leben gefchwebt hatte, vor
ihr fniete und zum erſten Male aufathmend und in ein Schluchzen
ausbrechend, ihre Hände mit Küſſen bevedte.
Oberſt Marigny, der fogleih beim Ausbruch der Feuers:
brunft nad) feiner Frau gefucht hatte, jah fie über das Gedränge
der Köpfe hinaus in den Armen Viktors und gleich darauf im
Garten. Er war beruhigt und gefellte fich fofort zu den Offizieren,
Feigheit. 393
die Anftalten trafen, um dem Feuer Halt zu gebieten, neue Aus:
gänge in den Saal zu brechen, um dem Gedränge leichteren Ab—
fluß zu geftatten und um, wo es Noth that, Menjchenleben zu
retten. Cr war überrajht, als er fpät in feine Wohnung trat
und Helenen noch nicht daheim fand; aber fie war ja gerettet.
Sie kam erſt gegen Morgen in einem Miethswagen und
Marigny war entjegt über ihr Ausjehen. Ihre Wangen waren
eingefallen, ſchwarze Ränder umjäumten ihre Augen, die im
Fieber glühten, wie aud) ihre Bulfe fieberiich flopften. Vor der
Schwelle ihrer Stube ſank fie nieder und fträubte fih, als fie
Marigny erhob, um fie auf ihr Bett zu tragen. Sie jagte
Allerlei, was ihm unverftändlich blieb, und er glaubte, fie rede
irre, der Schred‘, das gräßliche Echaufpiel habe ihre Sinne ver—
wirrt und er lieb den Arzt holen.
Sie blieb jo durch mehrere Tage. Das Fieber hatte ſich
zwar gelegt, fie ftarrte wie theilnahmlos vor fich hin, aber fie
gerieth in die heftigfte Aufregung, wenn ihr Marigny von Viktor
ſprach, der immer fam, um fich nach dem Befinden Helenens zu
erfundigen und Stunden und halbe Tage lang ſchweigend im
Salon ſaß. Unter dieſen Umftänden fam Marigny der Befehl
zu, fchleunigit nad Spanien aufzubrechen; Helene ſprach nicht
mehr von Mitreifen. Der Oberjt empfahl die Kranke dem Schuße
jeine3 Freundes, der ihn dabei mit glafigen Augen anſah.
Viertes Kapitel.
Wir willen zwar aus dem Tagebuche des Grafen Holfen und
aus Briefen Helenens, die ebenfalls vor uns liegen, wie ich die
Geſchichte der beiden Unglüdlihen in allen Einzelheiten weiter
entwidelte, aber diefen Theil der Geſchichte ausführlicher zu er:
zählen, ift nicht der Zweck diejer Blätter. Das Verbrehen an
dem trauteften und vertrauenvollften Freunde mar begangen;
394 Novellen.
Viktor und Helene erlagen der Wucht und e3 war ihnen Beiden,
als follte ihnen fein froher Tag mehr fcheinen. Aber folches
gemeinjchaftliches Bewußtſein und gemeinſchaftlich begangenes
Derbrehen verbinden jchon Verbundene noch inniger. Jedes
war dem Andern ein lebender Vorwurf, aber fie hatten nur ein:
ander zu Vertrauten und fie waren allein. Das Leben war ihnen
eine Hölle, aber wie Francesca da Rimini und Paolo konnten
fie in diefer Hölle nicht von einander laſſen; die Leidenſchaft
trug fie in ihrem Wirbel fort und fie Hammerten fi mehr und
mehr aneinander. Wie follten fie die Stunden der wahnfinnigiten
Leidenschaft fliehen, da fie ih nur in ſolchen Stunden felbft ver:
gaßen? Die Zeit fam bald, da fie den Rauſch fuchten, um nicht
tlar denken zu müflen, und es folgte feine Zeit der Ueberfättigung
und des Widerwillens, weil Jedes das Andere elend mußte.
Menn fie allein waren, konnten fie ſich nur lieben, nur bemit:
leiden und beraufhen — aber getrennt ſchrieben fie einander
Briefe über die Straße, um fih anzullagen, um fich zu einer
Trennung zu ermuthigen. Beiden that Buße Noth und die
höchſte Buße lag in der Trennung, da fie fih in ihrem Falle
immer inniger lieben gelernt, und jo wurde Trennung bejchloflen.
Viktor war es leicht, fih von feinem Posten abberufen zu
lafjen und er verließ Paris einige Monate nad der Abreiie Ma—
rigny’s, um nad) Deutſchland zurüdzufehren. Seine Pflicht war
Schweigen gegen Marigny, aber Helenen hatte er bejchmoren,
Alles zu thbun, was ihr für die Ruhe, oder theilweife Beruhigung
ihres Gewifjens rathiam fchiene, ohne Rüdfiht auf ihn: fie folle
Marigny, wenn fie deſſen bevürfe, Alles befennen und ihn,
Viktor, dem Shmählichiten Elend, das e8 auf Erden für ihn gebe,
ausſetzen: ihn in den Augen des Freundes als PVerräther er:
fcheinen laſſen.
Nur wenige Wochen nad feiner Ankunft in der deutjchen
Heimat erfuhr er von Helenen, daß auch fie Paris verlaflen hatte.
Sie war auf dem Wege nah Spanien. Sie reidte dahin, aber
fie wußte felbft nicht warum? zu welchem Zwecke? mit welchem
Feigheit. | 395
Gefichte fie vor Marigny treten werde ? ob fie als niederträchtiges
Meib hingehe, um ihm Liebe zu heucheln? ob fie fih ihm zu
Süßen werfen werde und ihm Alles geftehen, um fich dann ſelbſt
den Tod zu geben oder von ihm geben zu lafjen? Wieder einige
Zeit jpäter fchrieb fie Viktor, daß fie no immer die Pyrenäen
nit überjchritten habe, daß fie längs dieſes Gebirges bin- und
berirre, wie vor einer Thür, die man aus Angjt vor den Schreden
jenfeit3 derfelben nicht zu durchſchreiten wagt. Was follte fie in
Spanien? Viktor anllagen? es zu einer Entfheidung bringen,
die Einem von Beiden, dem theuren Freunde oder dem Geliebten,
ven Tod brächte? Und wieder einige Zeit fpäter waren Helenens
Briefe aus den verſchiedenſten Gegenden des mittleren und nörd—
lihen Frankreich datirt; jeder Brief aus einem anderen Otte,
bis fie ſich wieder der jpanifchen Gränze näherte, um fie aufs
Neue zu verlaffen. Auf allen dieſen ruhelojen Zrrfahrten trug
fie die Briefe mit fi, die ihr Viktor in Bari von feinem Haufe
in das ihrige gejchrieben : fie waren ihr Schat und ihre Anklage,
die Verkörperung ihrer Liebe und ihres Verbrechens; fie konnte
fih von ihnen nicht trennen und jedenfall3 jollten fie für fie an
ihrer Statt ſprechen, wenn fie einft den Muth hatte, Marigny
das grauenvolle Geſtändniß abzulegen.
Viktor ſah dieſen Irrfahrten in der Ferne wie im halben
Schlafe zu, ohne fih zu gänzlichem Stumpffinn berabjtimmen
oder zu irgend einer That aufraffen zu können. Wie Helene fo
vor feinen Augen hin: und herzog und dabei aus ihren Briefen
die ewige Klage, der ewige Schrei des Gewiſſens heraustönte,
als die paſſende Gejangsbegleitung zu folder Wanderung, mar
e3 ihm, als wäre diefes Alles nur unheimliche Vorbereitung eines
Verhängniſſes, das über ihn und fie hereinbrechen müfje, und
das er nur ruhig abzuwarten habe. Endlich verſchwand ihm
Helene gänzlich; er hörte nichts von ihr, nichts von Marigny;
fie mußte in Spanien jein; jeglichen Tag erwartete er den letzten
Schlag feines Schidjald. Manchmal war ihm, al3 müßte er
fliehen, lebte er doch geehrt mit dem Bewußtſein feiner Ehrlofig:
396 Noverfen.
feit, und das alte Schloß Holken, das feit dem Tode feines Vaters
verlaflen jtand, fchmebte ihm als wünſchenswerthe Einjamteit
vor — wenn fich nur nicht die Erinnerungen an die mit Helene
dafelbft verlebten Tage, die ihm in Paris fo theuer gemejen,
darangelnüpft hätten!
Aus diefem Zuftande riffen ihn die kriegeriſchen Vorbereis
tungen, die im Jahre 1812 den ganzen Continent in Bewegung
jegten. Napoleon jammelte feine große Armee, die Rußland de:
müthigen, vielleicht erobern follte, und die Truppen des deutſchen
Fürften, dem Viktor diente, jollten einen Theil diefer großen
Armee bilden. Das war eine Rettung. Als Oberſt trat er wieder
in die aftiven Dienfte und entfaltete eine außerortentliche Thätig-
feit. Nicht mehr wie fonft bei joldhen Gelegenheiten wurde jeine
Kriegsfreude und Thatenluft dur den Gedanken getrübt, daß
er eigentlich als Knecht eines Knechtes im Dienjte des fremden
Untervrüders ins Feld ziehe, gegen den Vortheil des eigenen
Vaterlandes. Solche Gedanken lagen ihm jetzt fern; er fah nur
betäubenden SKriegslärm vor fib, und das war ihm genug. Er
fonnte ja auch fallen! Das unbefannte kalte Steppenland, dem
man entgegenzog, ſchien ihm ein wünſchenswerthes Grab; vie
trüben Ahnungen, die überall in Beziehung auf diefe Unter:
nehmung Napoleons laut und in den Heeren feiner Verbündeten
am ausführlihiten ausgefponnen wurden, erhöhten nur feine
Hoffnung.
Es ift befannt und geht jelbft aus den offiziellen Berichten
franzöfifcher Generäle und aus den nationaleitlen Memoiren
franzöfiicher Augenzeugen hervor, wie viel deutfche Truppen im
Allgemeinen zur Erhöhung der franzöfifchen Gloire bei Smolenst.
und Borodino beigetragen, und in franzöfifhen mie deutfchen
Lagern mußte man, mas der Oberft Graf v. Holken im Befon-
deren während dieſes Feldzuges geleifte. Sein Name, ſchon
früher mit Ruhm genannt, gewann an Glanz, und deutſche
Patrioten, die auf eine Erhebung des Vaterlandes vorbereiteten
und ſich nah Führern der zufünftigen Befreiungsarmee felbit
Feigheit. 397
unter den gezwungenen Verbündeten Napoleons umſahen, ließen
ihr Auge mit Hoffnung auf dem Manne ruhen, der ſich während
des Feldzuges als tapferer, Alles unternehmender Offizier aus:
zeichnete, wie er ſich ſchon früher als Theoretiker und im Rathe
ausgezeichnet hatte. Der Krieg voll Gefahren und voll unheim—
licher Schreckniſſe, wie er der großen Armee ſeit ihrem Weber:
fohreiten der polnifchen Gränze entgegentrat, der Krieg mit einem
unfichtbaren, geifterhaften Feinde, der fich chon vor der Mos—
fauer Kataftrophe jo gejtaltete, daß er nicht feines Gleichen in
der Weltgejhichte hatte, war ganz der Art, daß er mit ver Ger
müthsverfaſſung Viktors, ter in feinem Innern einen ähnlichen
unfaßbaren Feind zu befämpfen hatte, zufammenftimmte. Sa,
da diefe innern Kämpfe graufamer waren als alle die ihn um:
gebenden Vorgänge, fand er in diefen nur eine Erleichterung
und in der ruhelofen Bewegung, die der Krieg erfordert, einen
Rauſch, der ihn manchmal feiner ſelbſt vergeſſen ließ. Wie oft
er mit franzöfiihen Truppentheilen oder einzelnen Offizieren zu:
fammentraf, er wich forgfältig jeder Erfundigung nah Marigny
aus, obmohl er ihn bei der großen Armee vermuthete, da Na:
poleon den größten Theil des ſpaniſchen Heeres zu diejer herbei:
gezogen hatte. Doch erfuhr er es endlich mit Beitimmtheit, daß
der Oberft in der That mit ihm in derjelben Armee viente; ein
Schauer überlief ihn bei dem Gedanken, wie er mit ihm zufammen:
treffen werde? — Dieß Zufammentreffen war auf dem raftlofen
Marie gegen Moskau beinahe unmöglich, da jeder Offizier auf
feinem Poſten bleiben mußte, um die raſch um ſich greifende
Demoralijation der Truppen fo viel als möglich zu mildern; erit
dort, wo die ganze Armee in einem unglüdjeligen Knäuel, in
ihrer Falle zufammen war, erjt in Moskau jollte er ihn wiederjehen.
Es war an dem tritten Tage des Brandes, da aud Na:
poleon entjegt mitten durch ftürzende Trümmer und züngelnde
Flammen aus dem Kremlin floh, um fih nad dem Luſtſchloſſe
Petrowsky zu retten. Die Stadt war bereits ein einziger un—
geheurer, zum Himmel aufraudender Schutthaufen; die unglüd»
398 Novellen,
jeligen Soldaten hatten innerhalb der Stadtmauern fein Obdach
mehr und in die einzelnen noch aufrecht ftehenden Häufer wagte
man nicht zu dringen, um dafelbft auszuruhen, da man überall
fürdhtete, der Flamme, die allerorten aus dem Boden, aus den
Mauern hervorjprang oder wie vom Himmel fiel, gewiß nod da
zu begegnen, wo fie noch nicht emporgefprungen war. In den
Straßen war man bei den überall zufammenftürzenden Trümmern
eben jo menig ficher ala in den Häufern ſelbſt, und bereits
drängten ſich ungeheure Schaaren zu den Thoren hinaus, um
ih auf freiem Felde unter fortgefchleppten Balken und Brettern
unterzubringen oder auch unter offenem Himmel zu lagern. Viktor
batte fein Regiment, oder vielmehr die Trümmer feines Re:
gimentes bereit3 hinausmarſchiren laflen und irrte nun allein
über die gewaltige Brandftätte, zu helfen bereit, wo Hülfe Noth
that, oder auch mit dumpfer Gleichgültigfeit durch das große
Elend binfchlendernd, je nachdem der alte, wohlwollende, milde
Viktor oder der-Unfelige, deſſen Herz ſelbſt eine Brandftätte war,
in ihm ftärfer wurde. Schon an das Gräßlichfte gewöhnt, fiel
es ihm faum auf, wie plöglich ein bisher von den Flammen
unberührt gebliebener, kleiner Stabttheil aufloderte und wie ihm
aus den Gaffen und Straßen vefjelben unzählige Flüchtlinge ent:
gegenftürzten und zwar in fo entjelicher Angſt, als ob ihnen
die Flamme, die Verheerung auf den Fuße folgen fünnte. So
war es gewijlermaßen auch in der That; denn in diefen bisher
verſchonten Stadttheil hatte man beinahe alle PBulverwagen ges
rettet, auch die Bulvervorräthe, über denen Napoleon eine Nacht
lang mit feiner alten Garde im Kremlin gefchlafen hatte. Wenn
nur ein Funke des eben neu ausgebrodhenen Brandes einen der
Wagen erreichte, war das Unheil unfäglih; nit nur diefer
Stadttheil — halb Moskau und die halbe Armee war von un:
vermeidlihem Untergange bedroht. Der Strom der Flüchtenden
war eben im Begriffe, Viktor zu erfaflen und ihn auf demſelben
Mege fortzureißen, auf dem er eben herangefommen war, als
er fih am Arme feit ergriffen fühlte und eine wohlbefannte
Feigheit. 399
Stimme ihm ins Ohr rief: „Viltor, dort in dem letzten Hauſe
dieſer Straße, das eben jetzt von den Flammen ergriffen wird,
liegt Helene allein, hülflos — retten Sie ſie! Ich darf von den
Pulverwagen nicht fort !”.
War es Traum? war es Wirklichkeit? Die Stimme war
ganz die Stimme des alten Freundes; in dieſen Worten: allein,
hülflos, retten Sie ſie! zitterte die alte Liebe. Und Viktor ſollte
ſie wieder aus den Flammen retten, wie damals in Paris, als
ſein elendes Glück begann — er ſollte ſie wieder auf ſeinem
Arme forttragen! Und Helene hier in Moskau in dieſer flam—
menden Hölle — oder waren ſie wirklich ſchon Beide in der
Hölle? — war es feine ewige Strafe, fie ewig fo aus den Flam—
men tragen zu müjjen, ewig an jene Nacht erinnert zu werden?
— und Marigny follte zu ihm immer, ewig mit dem Tone des
Freundes ſprechen? — Er lachte laut auf wie ein MWahnfinniger
und ſah fi um, ob er wirklich lebte oder ein abgeſchiedener Ver:
dammter war. ein erfter Blid fiel auf Marigny, der unab:
läjlig bemüht war, das Chaos zu orbnen, die Pulverwagen an:
einanderzureihen und fie anzutreiben, daß fie der immer näher:
fommenden Flamme entflöhen. — Sonderbar! — beim Anblide
Marigny’3 ſah Viktor nichts mehr von dem ihn umgebenden
Elend und fühlte er nicht3 mehr von den Qualen der legten zwei
Jahre — er fah fih nur mit dem Freunde und mit Helenen wie
ehemals in dem glüdlihen Winkel am Kamin in Paris — und
unmittelbar an dieſe Vorftellung reihte ſich ſchnell der andere
Gedanke: du follft fie wiederfehen! Helene ift in deiner Nähe !
du follit fie retten.
Aber er hatte Marigny kaum gehört — wo? in welchem
diefer brennenden Häufer lag Helene — allein, hülflos! Wie
durch eine Hallucination aber, oder als ob die gefprochenen
Morte vor feinem Ohre körperlich ſchwebend geblieben wären,
börte er fie vermitteljt einer gewaltigen Anjtrengung der Erinnes
rung noch einmal: Dort in dem legten Haufe diefer Straße, das
eben jegt von den Flammen ergriffen wird !
400 Novellen.
Er ſchwang ſich über die Reihe ver Pulverwagen, die ihm
den Weg abjchnitten, er jtürzte in das Haus, deſſen oberes
Stockwerk bereit3 von Flammen eingehüllt war und in ein Zim—
mer, in das der Qualm einzubringen begann. Der Zufall hatte
ihn richtig geleitet. Da lag fie auf einem Soldatenmantel, ven
Kopf an ein Bündel gelehnt, mit gefchlofjenen Augen, als ob
fie jchliefe, oder als wollte fie die Schreden nicht fehen, die fie
vernichten jollten. Der erſte Anblid jagte es, daß fie Schwer franf
war; fie ſah aus wie eine Sterbende — und doch wie jchön!
ſchöner als jemals. Viktor glaubte fie bewußtlos, büdte fich zu
ihr nieder und umfaßte fie mit beiden Armen. Sie öffnete vie
Augen und ein glüdliches Lächeln verklärte ihr Geficht.
„Sind Sie es wieder, Viktor ?” fragte fie mit leifer Stimme,
aber plöglih, als hätten fie diejelben Gefühle übermannt, die
er bei dem Gedanken, daß er fie wieder aus den Flammen retten
follte, empfand, ftieß fie ihn von ſich und rief: „Sort! fort!
Ich will nicht gerettet fein !“
Die Sinne vergingen ihr; ihr Kopf ſank zurüd und er
glaubte eine Leihe aus dem Haufe zu tragen. Er hatte nicht
den Muth, irgendwo mit ihr auszuruhen und fich der Gefahr
auszujegen, mit ihr allein zu fein, wenn fie wieder die Augen
aufihlüge. Die Reihe der Pulverwagen leitete ihn; ihr folgte
er nach vor die Stadt aufs offene Feld, wo er Marigny fand.
Diejer ſank ihm weinend an den Hals, als er ihn mit der Kranken
beranfommen ſah. „O mein Freund,” rief er aus, „welch ein
Miederjehen, welch ein unerhörtes Elend und dabei Helene krank,
vielleiht — !” Er wagte e3 nicht, weiter zu ſprechen.
Fünftes Kapitel.
Der grauenvolle Rüdzug von Moskau war mit allem Grauen
nicht ſtark genug, die drei Vereinigten wieder zu trennen, Durch
Feigheit. 401
die Schneewirbel, die nad dem verhängnißvollen 5. November,
mit dem der vernichtungsreihe Winter begann, die Welt mit
einem Leichentuche überzogen, durch die ununterbrodenen Reihen
von Leichen und Sterbenden, durch den erftarrenvden Froft, durch
die ftreifenden Koſakenbanden, die wie Gefpenjter, immer tobt:
bringend und das mörberifche Werk der Natur vollendend, und
wie vom Sturme hergemweht, überall aus dem Schleier des
Schnee3 hervorbrachen, zogen die drei bald als vereinzelte
Gruppe, ohne Gefühl für das Elend Anderer, wie ſich Andere,
ohne Gefühl für ihr Elend, an ihnen vorübertrieben.
Mer wird es unternehmen, das Grauen jener Tage zu be:
ſchreiben; ift doch Gejchichtichreibern und Augenzeugen, nachdem
fie hundert der graufamften Epijoden aus diefem Trauerfpiel
aufgezählt, die Feder aus der Hand gefallen, mit dem Geftänd:
niß, daß fie Unbejchreibliches zu jchildern unternommen. Was
batte der Einzelne zu dulden, der nur fein nadtes Leben retten
wollte! Wie viel mehr hatten die beiden Männer zu erbulven,
die eine Sterbende auf ihren Schultern durch das Elend zu tragen
batten. Ihre Pferde waren bald nah Einbruch des Froftes er:
legen. Es ift befannt und in den Memoiren des Generals Sir
Robert Wilſon zu lefen, wie ſich die Koſaken auf das erjte ge:
fallene Pferd der franzöfiihen Armee, dem fie begegneten, ber:
jtürzten, eifrig feine Hufe befühlten und jubelnd ausriefen: „Der
Herr bat fie in unfere Hände gegeben, fie fönnen uns nicht ent:
rinnen!” Die Pferde der großen Armee waren nicht für ven eifi:
gen Boden Rußlands bejhlagen und die nicht gleich in den erften
Tagen de3 Rüdzuges vor Hunger zu Grunde gingen, fielen mit
gebrochenen Schenkeln zujammen, um fi nicht wieder zu er:
heben. So waren Holfen und Marigny um ihre Pferde gekom—
men, und jo wanderten fie jegt dahin, Helenen auf einer aus
Zweigen, Brettern und Mänteln beftehenden Bahre auf ven
Schultern tragend, den Degen in der Hand, um fi und die
Kranke gegen die Streifpartien der Koſaken zu vertheidigen,
Manche Franzöfinnen waren damals ihren Männern in ver
Morig Hartmann, Verle VI. 26
402 Novellen.
großen Armee, übermüthig und wie zu einer Zujtpartie, big nach
Moskau gefolgt. Daß e3 mit Helenen anders war, wußte Viktor.
In menigen Worten hatte jie ihm eines Tages ihre Geſchichte
ver legten zwei Jahre erzählt, während Marigny ein verlafjenes
Dorf durhmühlte, um nad Lebensmitteln zu juhen, und Viktor
bei der Kranken blieb, um etwaige Ueberfälle abzufchlagen. Sie
war endlih doch nad Spanien und zu ihrem Mann gelangt,
ohne je den Muth zu einem Gejtändniffe zu finden; wie eine
ewige Anklage führte fie die Briefe Viktors immer mit fi, mie
eine Berförperung ihres Gemiljend. Mit Marigny kam fie wieder
nad Frankreich zurüd; er hielt fie immer nur für körperlich franf
und zwang fie, in Paris zurüdzubleiben, als er mit der großen
Armee abzog; an dem Tage, da der große Brand ausbrad, fam
jie in Moskau an. Es hatte fie in Paris nicht geduldet; fie
mußte ihr Urtheil von ihm empfangen. Aber wie fie ihn jo
liebevoll jah und in der Erinnerung an Biltor, in dem Gedan—
fen, durch ihr Geſtändniß aus Marigny den elenveiten Menſchen
zu machen, hielt fie e3 wieder zurüd. „Das,“ fagte fie, „iſt es
allein, was mid noch am Leben erhält; es ift mir, al3 müßte
ih ihm befennen, als dürfte ich nicht früher aus dem Leben
gehen. Nur mein böſes Gewiſſen lebt noch, ſonſt bin ich todt.”
Und in der That war e3 ein Wunder, wie das Weib, das
immer an der Thür des Todes zu ftehen ſchien, fortlebte, wäh:
rend Zehntaujende der kräftigſten Männer dem Elend des Rüd:
zuges unterlagen.
In Dorogobufh am Dnieper war e3 den Franzoſen ge:
stattet, einen Augenblid aufzuathmen. Es galt hier den Ueber:
gang zu fihern, jo lange als möglih; der Herzog von Treviſo
bejegte die Stadt und einen auf der Höhe gelegenen Kirchhof
und machte den Truppen des Generald Miloradowitſch, Jermo—
lows und des Herzogd Eugen von Württemberg ven Befit diejes
Punktes lange ftreitig, Der Kampf mwüthete vorzugsmeije wäh:
rend der Nacht, und erft fpät konnten die erften ruflifchen Truppen
in die jenfeitS des Fluſſes gelegene Vorſtadt gelangen, mit deren
Feigheit. 403
Beſitz ſie erſt eigentlich in den Beſitz der Stadt kamen. Dort, in
dieſer Vorſtadt, in der großen Stube einer Herberge ſaßen wäh—
rend des Kampfes Marigny und Viktor am Lager Helenens.
Sie dachten nicht daran, am Kampfe theilzunehmen, ſie dachten
auch nicht weiter zu fliehen, obwohl es wahrſcheinlich war, daß
die Ruſſen jeden Augenblick in die Vorſtadt eindrängen. Sie
hörten auch den Kanonendonner nicht, der vom Kirchhofe her—
ſchallte, und achteten nicht der Kugeln, die überall in die Straßen,
auf die Dächer fielen, ſelbſt in die Stube drangen, in der
ſie ſich befanden. Ein Bombenſplitter hatte ein Stück des Kachel—
ofens abgeriſſen, in deſſen Nähe das Lager Helenens bereitet
war, und die Flamme, die aus dem Riſſe hervorleuchtete, gab
der weiten Stube ihre einzige Beleuchtung, nur daß hier und
da ein aufflammendes Gebäude ſeinen Gluthſchein manchmal
auch in einen entfernten Winkel der Stube warf. Viele der Fran—⸗
zoſen in Dorogobuſch blieben da figen oder liegen, wo fie zum
Tod ermattet oder ftumpffinnig faßen und lagen, ſelbſt als vie
Ruſſen jchon hereinbrahen — wie follten jene beiden Männer
fliehen, da fie am Sterbelager Helenens ſaßen. Sie lag in ven
legten Zügen. Es war fein Zweifel; ihr Geficht bevedte bereits
Todesbläfje; ihre Augen waren erlofchen und jchlofjen ſich endlich
von felbjt; fein Puls war mehr fühlbar. Die Männer faßen
rechts und linf3 am Lager und ftarrten vor ſich hin, ohne etwas
zu ſehen. Sie glaubten fie Beide todt, aber feiner ſprach es aus.
Mar es ftummer Schmerz? Oder waren auch ihre Sinne und
Gefühle in dem durchgemachten Elend jo ftumpf geworden mie
die der andern Hunderttaufende ihrer Leidensgefährten?
Helene lag ſchon lange wie eine Leiche da, als Marigny zu
ſchluchzen begann, aufitand und in eine dunkle Ede der Stube
ging, um verborgen zu weinen. Viltor jchnellte empor, als ob
ihn plöglich eine unfichtbare Geißel aufgetrieben hätte, und eilte
zur Thür hinaus. Doc konnte er von dem Anblid der Leiche
nicht laſſen, und er ftellte fih draußen an eines der Fenſter,
durch welches er, won einem dichten Schatten bevedt, auf das
404 Novellen.
von der fladernden Ofenflamme beleuchtete blaſſe Geſicht ſehen
konnte.
Aber wie ſonderbar ift ver Menſch beihaffen! Wer hat es
nicht ſchon erfahren, daß ihn in Momenten oder bei Szenen des
größten Schmerzes, der grimmigften Verzweiflung plöglich eine
ſchauderhaft kalte Ruhe, eine fürchterlihe Gleichgültigkeit über:
tommt, als ob Schmerz oder Verzweiflung müde wären, aus:
rubten und neue Kräfte zu neuen Angriffen fammelten. Man
jteht an. einem Grabe, das eben das Iheuerfte auf Erden ver:
ſchlingen fol, klanglos, beveutungslos verhallen die Worte ver
Klage und des Lobes am Ohre, wie irgend ein anderes Ge:
räuſch; man blidt auf die Schollen hernieder und betrachtet die
fonderbaren Formen eines Steines oder die Zeichnung des Erz:
beihlages am Sarge. Selbſt das Gewiſſen hat ſolche Augen:
blide der Ermüdung und blidt mit Gleihgültigfeit auf ein be:
gangenes Verbrechen wie auf das ganze Leben zurüd.
Diefer öde, leere Seelenzuftand überkam Viktor, al3 er
durch das Fenjter das blaſſe Gejicht Helenens ſah, das ihm fo
tbeuer war. Er hörte feit Stunden zum erften Male ven Kano:
nendonner, er ſah die fliehenden Franzoſen, die brennenden
Häufer, die Lichter und Schatten, die wie zwei fich befämpfende
Heere in den Straßen und in der Luft miteinander ftritten —
er fah Alles, nur nicht das bleihe, von unfägliden alten Qua«
len durchfurchte, noch immer jhöne Geliht. Mit der größten
Ruhe ſah er einen ruſſiſchen Offizier (wir wiſſen jegt aus den
„Demoiren eines Liefländers,“ daß es der fpätere General, da:
malige Major und Adjutant Miloradowitih3, von Lömenftern,
gewejen), den erjten Rufen viefjeits der Dnieper, in den Hof
treten, und ſah er eine ganz eigenthümliche Szene, die fich jetzt
vor ihm abjpielte, und hörte er alle Worte, vie gefprochen
wurden.
Kaum war der ruſſiſche Offizier in den Hausflur getreten
und kaum ward er als ſolcher erkannt, als ihm der Wirth des
Hauſes, ein ausgedienter Soldat, der ſeine franzöſiſchen Gäſte
Feigheit. 405
den Tag hindurch mit Augen voll Haß umfchlichen hatte, ohne
ein Wort über die Lippen zu bringen, mit ausgebreiteten Armen
entgegeneilte, jich ihm zu Füßen ftürzte, feine Knie umflammerte
und mit fanatifch aufgeregter Stimme ausrief: „Väterchen! Du
bit der Erfte der jiegreihen Armee unferes allergnädigften
Kaiſers, den diefe Augen erbliden. Gelobt fei der Allmächtige,
der Erlöfer und alle Heiligen! Ruhe hier aus unter meinem
Dache; jegt ift e8 an uns, unfere Arbeit zu thun!“ —
Darauf erhob er ſich, zog ein Meſſer aus der Bruft, ver:
neigte ji vor einem Heiligenbilvde im Hausflur, ſchlug dreimal
das Kreuz und fagte, das Mefjer ſchwingend, zu dem ruflifchen
Offizier gewandt: „Wie oft habe ich nicht zu Gott gefleht, mich
diefes Mefjer gebrauchen zu laffen gegen die Ungläubigen, die
unjer Land bejhmugen und unfere Kirchen entweihen. Mein
Gebet ift erfüllt. Die Hoffnung, die ich immer hegte, fo oft ich
dieſes Meſſer betrachtete, während dieſe Ungläubigen bier die
Herren jpielten, fie erfüllt fich endlich. Gelobt fei Gott der All:
mächtige, der Heiland und alle Heiligen !“
Sein Auge bligte, feine Glieder zitterten und fo mit auf-
gehobenem Mefjer ftürzte er jchreiend in die Straße, feine Lands:
leute aufrufend, ein Gleiches zu thun, und während er rief,
ftieß er vier Franzofen, die fliehend an ihm vorüberkamen, mit
ſchrecklicher Schnelligkeit nieder. Es war dieß das Eignal zu den
Blutfzenen, melde die Nacht von Dorogobuſch zu einer ber
ſchrecklichſten des ganzen Rüdzuges machten.
Trotz alledem wandte ſich Viltors Auge doch wieder durchs
Fenſter dem todten Geſichte zu, und er ſollte da eine Szene er:
leben, hinter deren Schreden die Vorgänge in feinem Rüden
weit zurüdblieben, Er glaubte anfangs, daß er fich täufche und
daß die Bewegung in Helenens Zügen nur von dem Fladerlichte,
das darauffiel, herkomme; aber fie öffnete die Augen, den Be:
wegungen ihrer Lippen folgten jchwere Bewegungen des Kopfes.
Sie lebte. — Mühſam erhob fie den Kopf und den einen Arm,
um ihn zu ftügen. Sie befann ſich und fuchte fich zu ſammeln.
406 Novellen.
Mit einem Male fhien ein Gedanke fie zu erſchrecken; fie fuhr
zufammen und griff mit der Hand nad der Bruft, als ob fie
nad etwas Verborgenem fühlte. Dann erhob fie den Oberleib
mit unendlicher Anftrengung und wandte fpähend den Kopf nad
allen Seiten. Da Marigny ſchweigend, unfihtbar in einer tief-
dunfeln Ede, nod) verdedt von einem gewaltigen Schranke, ſtand
und fie Niemand erblidte, athmete fie tief auf und griff in die
Bruft. Aber noh einmal und mit unendlicher Anjtrengung
blidte fie um fi; erft als fie fih wieder überzeugte, daß Nie:
mand zugegen fei, 309 fie mit zitternder Hand eine Anzahl von
Briefen hervor — Viktor erkannte fie — e3 waren feine Briefe.
Zu ſchwach, um ſich zu erheben, begann fie nun, am Boden
binzufriehen, um fi der Flamme im Dfen zu nähern. Die
Bewegung hatte Marigny gewedt; er ftredte den Kopf aus der
Dunkelheit hervor, daß ihn Viktor fehen konnte. Glüd und Ent:
jegen malte fi in feinen Zügen, ald er Helenen lebend jab;
nber er konnte nicht von der Stelle und der Ausdruck des
Glückes verſchwand und regungslos und mit glafigen Augen
ftarrte er hin, als er fah, wie Helene den Arm erhob und die
Briefe in die Flamme zu werfen ſuchte. Ihre ſchwachen Hände
warfen zu kurz; die Briefe fielen vor dem Dfen nieder. Helene
feufzte auf und froh ihnen nad. Marigny ftredte die Arme
aus; fein Geficht verzerrte fi; es verrieth, daß ein furchtbarer
Verdacht in ihm aufgetaucht war. Er wollte vorwärts, aber er
war verfteinert, er konnte nicht von der Stelle, die Arme er:
boben, die Augen ftarrend, den Oberleib vorwärts gebeugt.
Erſt als Helene bei den Briefen angelangt war und eben bie
Hand auöftredte, fie zu faflen, fiel der Bann von ihm. Wie
von einer unfihtbaren Macht gejchleudert, flog er durch die weite
Stube, um fi auf Helenens Hand zu werfen; in dieſem Augen:
blid flogen die Briefe ing Feuer. Aber Marigny hatte fie nicht
aus den Augen verloren; mit der einen Hand Helenens Hand
faflend, griff er mit der andern ind Feuer und zog das Padet
hervor, bevor e3 die Flamme ergriffen hatte. Helene, al fie
Feigheit. 407
Marigny gefaßt hatte, jchrie auf, wand ſich wie im Krampfe
noch einmal in die Höhe und ſank dann todt auf den Boden.
Marigny ließ fie fallen, ohne nach ihr zu jehen; feine Augen
waren nur auf das Padet Briefe gerichtet, das er in der Hand
bielt, und das er zitternd zu Öffnen ſuchte. Endlich hatte er
einen Brief entfaltet und ftarrte hinein, während die andern vor
ihm auf den Boden fielen.
Viktor fah ihn lefen; er jah feine gläfernen Augen und hörte
ihn laden, al3 er and Ende fam. Dann ſah jih Marigny um.
„Du ſuchſt mi!“ fagte Viktor und eilte in die Stube zurüd.
Stumm jtellte er ih vor Marigny hin. Diejer jah ihn an und
lachte. Viktor Schloß die Augen, um nicht in die gläfernen ſehen
zu müſſen, die ihn anjtarrten; aber er mußte ihn laden hören.
Auch breitete er unmillfürlih die Arme aus, um den Stoß zu
empfangen, den er von Marigny erwartete; aber es dauerte eine
ſchauerliche Emwigfeit, bis fich dieſer ſo weit gefaßt hatte, um
feinen Degen zu ziehen. Endlich ftürzte er mit vorgejtredter
Maffe auf den verrätheriihen Freund los — in demſelben
Augenblid jchlüpfte der Hausmirth mit bluttriefendem Meiler
unter dem aufgehobenen Arme Viktors dur und tauchte es mit
einem Stoß in Marigny's Bruft. Er ſank lautlos zu Viktors
Füßen.
Major von Löwenftern war dem wüthenden Manne gefolgt,
um ihn vom Mord feiner Gälte abzuhalten. Er fam zu jpät für
- Marigny, aber er ftellte fich rafch vor Viktor, um wenigſtens
diefen vor dem unfoldatiichen Tode zu retten. Aber das jchien
nicht nothwendig, denn der Hausmwirth, der Marigny’3 Degen
gegen Viktor gezüdt, auch deſſen verfchiedene Uniform und Abs
zeihen ſah, nahm dieſen für einen rufliihen oder wenigſtens
einer befreundeten Macht angehörenvden Offizier und wandte ſich
triumphirend zu ihm, indem er ausrief: „War der Stoß gut?
Kam ih Euch zur rechten Zeit zu Hülfe?“
Doch Viktor riß ihn aus feinem Irrthum. „Auch ich bin ein
Feind I” murmelte er — „warum fehonft du mich?“
408 Novellen,
In der That erhob der Ruſſe jofort fein Meſſer, um ihn
niederzuftoßen; aber Herr von Löwenſtern fiel ihm in ven Arm:
„Wahnſinniger,“ rief er ihm zu, „mwillft du nicht aufhören mit
Morden und gegen Freund und Feind gleich jehr müthen?
Diejer bier ift ein Deutfcher und ung mehr zugethan als Napo—
leon; in wenigen Wochen fiht er mit und, an unjerer Seite
gegen die Fremden !“
Diefe Worte brachten ven Wüthenden menigitens zum Zau—
dern, das Herr von Löwenſtern benutte, um Biftor, ehe der
Hauswirth zur Belinnung fam, aus dem Haufe zu ziehen.
Viktor folgte bewußtlos; er jah nicht3, er wußte nicht, was mit
ihm vorging; er fah nur die gläfernen Augen Marigny’3, die
ihn noch todt, vom Boden auf, immer anftarrten, mit derjelben
Muth, mit demſelben Hab wie in dem Augenblid, da er mit
gezogenem Degen auf ihn losjtürzte.
Mit einem Male fand er fih mitten im Haufen flüchtender
Sranzofen, außerhalb Dorogobufjh, ver unglüdjeligen Stadt,
in der Marigny und Helene todt nebeneinander lagen, wo er
einen Augenblid lang gehofft hatte, jo neben ihnen liegen zu
können — wo er vergebens gehofit hatte, gerichtet zu werden.
Von dem Schmwarme fortgerijjen, mußte er die Erinnerung an
diefe Stunden mit fortnehmen und meitertragen durchs Leben
zugleih mit feinem ungefühnten Verbrechen — wohl wiſſend,
dab e3 nicht ungefühnt bleiben werde.
Sechstes Kapitel.
Mas Viktors Bekannten bei feiner Rückkehr ins deutjche
Vaterland an ihm zuerit auffiel, ohne weiter in Verwunderung
zu jegen, war das viele graue Haar, das fi in fein braunes
miſchte. Man nannte e3 den natürlichen Abglanz des ruſſiſchen
Minterd. So fand man auch feine Verfchloffenheit natürlich.
Feigheit. 409
Erinnerungen wie die, welche die Soldaten der großen Armee
aus Rußland mitbrachten, waren wohl geeignet, ſelbſt heiterere
Gemüther als das Viktors zu verdüſtern. Indeſſen fand man
doch bald, daß dieſe Verdüſterung bei ihm länger währte als
bei Andern; den Leuten ſeines Umgangs, den patriotiſchen Sol:
daten ſeiner Umgebung, die nun bald ihre Waffen gegen Napo—
leon zu wenden hofften, zu lange. Sie beobachteten ihn und
entdeckten allerlei Sonderbarkeiten. So zum Beiſpiel hatte er die
Gewohnheit angenommen, während des Sprechens, ſelbſt wenn
er allein über die Straße ging, oder ſaß, in kurzen Zwiſchen—
räumen immer den Kopf mit einer gewiſſen eckigen, maſchinen—
baften Bewegung der Erde zuzubeugen und, wenn auch kurz,
einen Punkt ftarr zu firiren, als ob er da etwas Schredliches
vor ſich ſehe. Sie mußten nicht, daß ihn in der That Marigny
immer fo anſah, mie er ihn, todt vor ihm auf dem Boden lie:
gend, mit offenen Augen anjtarrte, oder vielmehr, daß jene
gläfernen Augen Marigny's allein, ohne deſſen Antlig und Kör:
per, fortwährend vor feinen Füßen aus dem Boden hervorblidten.
Eben jo auffallend war es, daß Viktor die Gefellihaft mit dem:
jelben Eifer auffuchte, als er fie flob; daß er ſich bald in die
Einjamfeit begrub, bald wieder Tage und Nächte lang von
Kameraden umgeben zu fein wünſchte — jegt durch Tage von
Cafe zu Cafe, von Bejuh zu Befuh, von Soiree zu Spiree
eilte und jegt wieder verjcehwand, um auf Schloß Holken einfam
zu haufen.
Auffallender ala Alles das wäre e3 feinen Kameraden ge:
wejen, wenn fie gewußt hätten, welche Bücher ihm, ven fie
immer für einen Gelehrten gehalten, in der Einſamkeit Gejell:
ichaft feifteten. Es waren die romantiſch-myſtiſchen Dichter, die
damals in Blüthe ftanden, mehr noch die hyper: romantischen
jogenannten Bhilofophen, die jich mit den „Nachtfeiten der Natur,“
zugleich andere, die fi mit der Yortvauer nad dem Tode, mit
der Geſchichte der Seele und dergleihen Fragen beſchäftigten. Er
erlebte fo manche Hallucinationen, daß er fich gern Gewißheit
410 | Novellen.
verſchafft hätte, ob es wirklich Hallucinationen feien, befonders
jene fortdauernde Erjheinung der beiden Augen. Hier und da,
wenn aud läcelnd, erfundigte er fih, wohin denn alle Die
Geiſterbeſchwörer verfhmwunden feien, von denen man fo viel
geſprochen, als er jhon ein erwachſener Knabe gemwejen, und die
am Hofe Wilhelms des Dicken ihr Weſen getrieben.
Man fing an, den Kopf über ihn zu jchütteln, als glüd-
licherweife für feinen Nuf jeine Armee an den Feldzügen von
1813 und zwar auf deutjcher Seite theilnehmen durfte und feine
Thaten die Bedenklichkeiten, die rege geworden, gänzlich in Ver:
geſſenheit bradten. Sich endlich für fein Vaterland ſchlagen zu
dürfen, drängte bei ihm Vieles in den Hintergrund; er durfte
mithelfen bei ver Sühne jener Schuld, die ein großer Theil
Deutihlands auf ſich geladen hatte; es war ihm dabei, al ars
beitete er zugleich mit an der Löjung des Problems von Schuld
und Sühne — eines Problems, das ihn jchon feit Jahren be—
ihäftigte und das immer unheimlicher verworren wurde. Schlach—
ten und Bewegung drängten ſich im Jahre 1813 und ließen ihn
nicht zur Befinnung fommen, und fo fam er mit den fiegreichen
Heeren in demjelben Paris an, das er bei Befinnung nie bes
treten haben würde. Er fam daſelbſt al ein Mann an, von
dem es bieß, daß er vie Begriffe Gefahr und Schreden nicht
fenne; er hatte an feiner Schladt, an feinem Gefechte Theil ge:
nommen, ohne ſich durd eine jtaunenswerthe Todesverahtung
ausgezeichnet zu haben.
Aber diefer Unerfchrodene ſchlich zitternd jede Naht um das
Haus, das Marigny und Helene bewohnt hatten. Die Bewoh—
ner, die jetzt dafelbft aus- und eingingen, die Erben und Ber:
wandten Marigny’s, trugen Trauerkleider, Trauer um Marigny.
Viktor wagte es nicht, Jemand anzufprechen; nur einmal trat er
in die Loge des Portiers, der ihn nah einigem Beſinnen er:
fannte und al alten Freund de3 Haufes gut aufnahm. Diejer
erzählte Viktor, daß der Oberft, wie ein kaiferliches Bulletin zur
Zeit erzählt hatte, tapfer fämpfend an ver Berezina gefallen ſei,
Feigheit. 411
und daß Madame Marigny wahrſcheinlich in det Berezina um:
gelommen. Man erzähle zwar, daß der Oberft, von einer
ſchweren Wunde genejen, irgendwo in Rußland noch lebe, aber
das jei jo eine der vielen Sagen, wie fie jegt in Frankreich um:
gingen und die Familien tröfteten. Uebrigens fei dem Oberft
das Leben gar nicht zu wünſchen, wenn feine Frau todt fei. Er
babe fie zu ſehr geliebt. „Aber das wiſſen Sie ja beſſer als ich!“
fügte der Portier jeufzend hinzu.
Viktor fam nicht wieder in die Roge des Portiers,
Er kehrte einer der Erſten, und zwar als General, mit feinen
Truppen nad Deutjchland zurüd. Der Friede war längit ge:
Ichloffen, Deutſchland war befreit, der Wiener Kongreß ſchien die
MWeltangelegenheiten auf Geſchlechter hinaus ordnen zu follen und
General Graf Holten hatte Urlaub genommen und die Einſamkeit
feines Schloſſes aufgeſucht. Aber die Rückkehr Napoleons von
Elba rüttelte die Welt no einmal auf, und Viktor Graf von
Holken ftand an der Spige feiner Brigade bei Waterloo.
Dem Unerfchrodenen hatte man einen Poften gegeben, ver
feiner würdig war. Er ſchützte die Flanke feines Korps, die in
der Ebene jtand und offen war. Er konnte von drei Eeiten an:
gegriffen, er konnte umgangen werden und er hatte außerdem
eine dreifache feindliche Batterie jich gegenüber, die von einer
beberrjchenden, wenn auch nicht beträchtlichen Höhe herab Tod
und Berberben jchleuderte, um die Flanke der Verbündeten zu
entblößen. Die Brigade Holken hatte nichts zu thun als das
Schrecklichſte, was in einer Schlaht einer Truppe zugemuthet
werden kann, fie hatte nur zu ftehen. So vergingen ihr Stunden,
und fie ftand, während ihr Führer, heiterer als feit Jahren, auf
feinem Pferde vor feinen Truppen auf» und niederritt. Gein
Lächeln, fein Mares Gefiht war ein Anblid, der feine Soldaten
mit Zuverfiht und Ausdauer erfüllte und um fo tiefer auf fie
wirkte, als fie bei ihrem büftern General an vergleichen nicht
gewöhnt waren. In der That war ihm fo heiter und dabei fo
ruhig zu Muthe, wie er nicht glaubte, daß ihm noch werden
412 Novellen.
könnte. Gin einfacher, ein überaus einfacher Traum, den er
während der legten Nacht, auf offenem Felde jchlafend, geträumt
batte, war die Urfache diejer Heiterkeit. Er jah ih auf Schloß
Holfen, oben auf der Plattform, in Geſellſchaft Marigny’3 und
Helenen3. Sie faßen zufammen, plaudernd, glüdlich, vertrauen?:
voll, wie ehemals um den Kamin in Paris. Helene lachte und
ſcherzte, Marigny hielt feine Hand wie verjöhnt und ruhig vor
fich hinlächelnd. Nichts als diejes eine Bild machte den ganzen
Iraum aus und dauerte, wie ed Biltor jchien, während des
ganzen Schlafes, ohne fich zu verändern. Manche feiner Träume
hatten fchon fo begonnen, aber fie endeten dann immer in Schred»
niſſen: Helene, die eben gelächelt hatte, wand fi dann plößlich
im Todesfampfe, mie damals in Dorogobufh, und Marigny’3
Augen, die ihn eben freundlich angeblidt, verwandelten ſich in
jene gläfernen, mit denen er ihm dort entgegengeftürzt, die noch
aus der Leiche vom Boden auf ihn angejtarrt und die ihn feit-
dem nicht verlaifen hatten. Aber in dem Traume ver legten
Naht war von Anfang bis zu Ende Alles klar, glüdlich, ver:
jöhnt geblieben. In feinem militärischen Leben hatte er fo viel
von bedeutungsvollen Träumen gehört, die viele feiner Kamera-
den und manche berühmte Krieger die Nacht vor der Schlacht
geträumt hatten, daß er feinem Traum eine Bedeutung zugeſchrie—
ben haben würde, jelbjt wenn er nicht in Folge feines Grübelns
und jeiner myſtiſchen Studien zu dergleichen geneigt geweſen
wäre. Gr hatte die Ueberzeugung, daß ihm diefe Schlacht eine
Verſöhnung mit ſich ſelbſt und mit den Freunden, daf fie ihm
die Ruhe, oder mit andern Worten, den Tod bringen werde.
Und war nun nit der Poſten, den er einnahm, der Ort, um
eine jolhe Vermirklihung feines Traumes höchſt wahrfcheinlich
zu machen? Aus den Batterien dort gegenüber, die Tod und
Verderben fpieen und die fortwährend von Pulverdampf wie von
einem geheimnißvollen Schleier verhüllt waren, mußte das Cr:
wartete fommen. Der entjcheidende Moment mußte herannahen,
da ihm die Ordre zufommt, vorzurüden und jene Batterien zu
Feigheit. 413
nehmen: dann wird es wohl geſchehen, das Endliche! wenn ihn
nicht ſchon eine der Kugeln wegreißt, die ſie unthätig hier ab—
warten mußten. Von Zeit zu Zeit näherte er ſich dem Offiziere,
der ihm der nächſte im Range war, um Manches mit ihm zu
beſprechen, was zu thun ſei, wenn er, dieſer andere Offizier, zu—
fällig das Kommando übernehmen mußte. Dann ritt er vor der
Fronte auf und ab, oder hielt ſein Pferd an, um mit Theilnahme
den weißen Pulverdampf, den beweglichen Vorhang zu betrachten,
hinter dem ſein Schickſal ſchlummerte.
Endlich kam der Befehl vorzurücken und die Batterien zu
nehmen.
Die Batterien ſtanden, wie geſagt, auf einer unbeträchtlichen
Höhe, die ſich leiſe abſenkte und als Ebene auf der Hälfte des
Weges zwiſchen den Batterien und der Brigade Holken verlief.
Leicht konnte man mit Kavallerie da hinanſprengen. Holken ließ
ſeine Artillerie und Infanterie zurücktreten und ſammelte ſeine
Reiterei. Er ſelbſt ſtellte ſich an ihre Spitze, winkte den zurück—
bleibenden Truppen ein bedeutungsvolles Ade, befahl, daß
ſämmtliche Trompeter ins Horn ſtießen, ſchwenkte anſtatt allen
Kommandos den Säbel, gab ſeinem Pferde die Sporen und
ſprengte voran.
Nach den erſten Schritten empfing die Heranſprengenden
eine gewaltige Artillerieſalbe; von dem Momente aber ſchwiegen
die Batterien, ein Anzeichen, daß Holken ebenfalls Reiterei oder
Fußvolk entgegengeſchickt wurde. Noch konnte er nichts ſehen,
denn der Rauch der letzten Salve lag noch dicht auf dem Feinde.
Jetzt ſprengte aus dem Rauch ein Reiter hervor; er ſtreckte
ſeinen Säbel vor ſich hin, als wollte er ſeinen Folgern, die noch
unſichtbar waren, den Weg zeigen. Der vorgeftredte Säbel war
gerade gegen Viktor gerichtet, der bei diefem Anblid feinem Pferd
aufs Neue die Sporen gab. Im Augenblide ftanden die beiden
Reiter einander gegenüber und hoben beide ihre Waffen, um
beide verfteinert jtehen zu bleiben, wie zwei Bildjäulen. Viktor
blidte in die gläfernen Augen Marigny’3, in die Augen, die
414 Novellen.
gerade fo blidten, wie damals in Dorogobufh; die Waffe war
ihm gerade jo entgegengejtredt, wie damals; aber das Geficht
Marigny’3 war noch mehr verzerrt; ed war abgemagert, vie
Knochen ragten hervor, jchauerliche Todesbläſſe bevedte es. Der
Todte fehrte wieder, um fich zu rädhen. Er fah ihn an wie ein
Gerippe, und jegt lachte er laut auf, gerade wie damals, da er
ven Brief gelefen. Vor diefem Lachen wandte Viktor jein Pferd
und floh; Marigny lachte fort, bob feinen Eäbel und ſchlug ihm
mit der flachen Klinge auf den Rüden. General Graf von Holfen
bückte fih unter dem Schlage und floh weiter, die Reihen der
Reiter durchbrechend, die ihn eben erreicht hatten. Paniſcher
Schrecken ergriff fie, als fie das Schauſpiel und den fliehenven
General ſahen — und die Flucht wurde allgemein.
Der Reſt der Gefchichte ift dem Lefer befannt.
Einige Tage nach der Echladht bei Waterloo wurde General
Graf von Holken infam kaſſirt — megen Feigheit und feiger
Flucht auf dem Schlachtfelde.
Nicht mit dem Leben hatte er feine Schuld gefühnt, jondern
mit der Ehre.
Der Hetman.
Eine Gefhihte aus der Zeit des ruſſiſchen Durchmarſches durd Böhmen.
Menn wir Kinder das Wort „die ruſſiſche Zeit,” mit welchem
die furze Zeit des ruſſiſchen Durchmarſches dur Böhmen und
der rufliihen Einquartierung gemeint war, nur ausſprechen
hörten, überlief uns das angenehmite Grufeln von der Welt, und
wir rücten der Perfon, die es ausſprach — und das war meift
die Großmutter — näher, um wo möglich zu den vielen Ges
ihichten aus der „rufliichen Zeit” noch eine neue zu hören und
unſer Grufeln zu vermehren. Es ging übrigens den Erwachjenen
eben jo wie uns Kindern. Die Vorgänge in jener Zeit ſchienen
den Bewohnern des bis dahin ftillen und weltvergefjenen böhmi—
ihen Dorfes ganz auferordentlihe, unerhörte und große Ereig:
niſſe. Man erzählte von Koſaken, die das fußdide Eis des Teiches
aufhadten, um ſich zu baden, al3 wäre e8 Mitte Juli ; von andern,
die jo viel Branntwein tranfen, daß man fie in Düngerhaufen
vergraben mußte, damit ja die Flamme nicht aus ihrem Munde
berausichlage und fie verzehre, — und endlich von täglichen Exe—
futionen, bei denen hundert und zweihundert Anutenhiebe ertheilt
wurden, und nach melden ſich die Patienten abfchüttelten, als
wäre gar nicht3 geſchehen. O wie fehr bedauerten wir, für dieſe
rufliihe Zeit zu fpät auf die Welt gekommen zu fein und fo
außerordentlihe Menfchen, die fo viel vertragen konnten, nicht
gejehen zu haben. Dieſes Bedauern wurde jehr oft in uns
416 Novellen.
gewedt, da jeit der ruſſiſchen Zeit, d. i. jeit mehr al3 dreißig
Jahren, in unferm Dorfe nicht viel oder gar nicht3 vorgegangen,
die Erinnerung und Phantafie der Bewohner alfo immer wieder
und bei jeder Gelegenheit in diefe merkwürdige Periode zurüd:
ſchweifte, und endlih, da in unjerm Dorfe lebende Monumente
beitanden, die immer an die Ruſſen erinnerten. Da war z. B.
ein alte Weib, oder vielmehr eine alte Jungfer, die man nur
„die Ruſſin“ nannte, aus dem fonderbaren Grunde, weil fie fi
damals, da fie noch ein jchönes junges Mädchen geweien, ven
Derfolgungen eines Ruſſen entzog, indem fie fich mitten im Win-
ter ind Waſſer ftürzte. Wäre fie damals umgelommen, bätte fie
gewiß das Volkslied ald eine neue Lucretia traurig befungen;
da fie aber davonkam, war und blieb fie mit ihrem Ruffen und
mit ihrem Waflerfprung eine lächerlihe, mit einem Spignamen
behaftete Perſon. In Folge deſſen blieb fie auch alte Jungfer
und wurde fie von Jahr zu Jahr wilder und häßlicher. Sie fah
am Ende wie eine böfe alte Here aus, die alle Welt ſcheute —
und das mar der Lohn ihrer Tugend. Meiner leiblihen Tante,
die, wie ihre Mutter, meine Großmutter, verficherte, fo fchön
war mie die Faunus (jpric Venus), hätte es leicht eben jo er:
gehen können, wie der „Ruflin.“ Aehnlichen Verfolgungen, wie
diefe, von Seiten eines rufliihen Offiziers ausgeſetzt, verftedte
fie fich eines Tages in einen Aſchenhaufen, wo ihre Kleider Feuer
fingen. Die Flamme verrieth fie ihrem Verfolger ; er eilte herbei,
rettete fie und ließ fie feitdvem in Ruhe. Aber ihre Tugend hatte
feine Zeugen, und fo entging fie jeder Nachrede und jevem Spig:
namen. Der Sprung in den Aſchenhaufen und der drohende
Feuertod wurde ald Familiengeheimniß behandelt. — Dann war
noch ein Kutſcher da, der im Dorfe auch nur „ver Ruſſe“ hieß,
ein ftiller guter Mann, der nur manchmal in Wuth gerieth, die
Pferde ausgezeichnet zu behandeln, beſonders den Schlitten gut
zu führen wußte, und der — aber eben die Gejchichte dieſes
Kutſchers wollen wir ausführlicher erzählen.
Der Hetman. | 417
Erftes Kapitel.
Es war im Winter des Yahres 1799 bis 1800. Die ganze
traurige Gegend, melde deren Mittelpunft, der berühmte Wall:
fahrtsort des „Heiligenberges,“ mit feinen acht Kuppeln beherricht,
mar von gefrorenem Schnee bevedt. Der Schnee gligerte nicht
heiter und erfriſchend, troß dem Froft, da die Sonne von fahlen
Wolken umhüllt war, fondern breitete fih grau und unerquidlich
über die Hügel und Föhrenwälder. Ebenjo traurige. Eisdeden
blendeten die vielen Teiche des Landes, die fonft, in den Sommer:
monaten, mit ihrem Schimmer einiges Leben und Abwechſelung
in die troftlofe Gegend bringen. Gelbit die vergolvete, ſlaviſch—
byzantiniſche Mitteltuppel des Heiligenberges, unter ver die
wunberthätige ſchwarze Madonna wohnt, hatte ihren Glanz ver:
loren; die Stadt Pızibram lag fröftelnd zu Füßen des Berges.
Wo die Schneedede einen Riß hatte, blidte fteiniger Boden her:
vor, wie ein abgemagerter Leib aus zerfegtem Bettlerrod.
Aus dem Dorfe Dubna bewegte ſich ein feltfamer Zug be:
jagter Stadt Pızibram entgegen, die heute eine berühmte Silber:
bergitabt mit Bergafademie ift, damals aber von dem Metall:
reihthum der Berge vor ihren Thoren feine Ahnung hatte, ein
elenvdes Leben friftete und fich beinahe nur vom Abfall deſſen
nährte, was die hunderttaufend Pilger jährlich ala fromme Gaben
der Jungfrau und dem Probft vom Heiligenberge darbrachten.
Der Zug beftand aus einer Anzahl Bauern, an deren Spige
ver Dubnaer Schulze in fonntägliher Tracht — einem meißen,
mit unzähligen Meſſingknöpfen befegten, langen, über vie Füße
berabfallenden Schafpelze, mit einer Pelzmüge auf dem Kopfe
und einem breitfrämpigen ſchwarzen Filzhut über der Pelzmütze
— langfam einherſchritt. In der Hand trug er ein hohes fpani-
ſches Rohr, während feine Begleiter mit gewöhnlihen rohen
Prügeln oder ftangenähnlichen Stöden bewaffnet waren, melde
die Einen wie Stäbe, die Anderen wie Waffen, Spieße oder
Morik Hartmann, Werke VI. 27
418 Novellen.
Gewehre auf den Schultern trugen. In ihrer Mitte ging oder
ichleppte fi ein altes Meib, deſſen Naden ſich unter der Laft der
Jahre zu beugen jchien und deſſen Hände hinten über dem Rüden
mit Striden zujammengebunden waren. Die Kleider der Ge:
fangenen, obwohl für die rauhe Jahreszeit offenbar zu leicht,
waren doch in einem guten Zuftande; ein grauer, mit bunten
Flicken bejegter Manchefterrod und eine Art langen, unten aus:
gezadten ſchwarzen Mieders, das eine rothe Schnur loſe zufammen:
hielt, Eleiveten die Alte etwas phantaftiich und ftanden in einem
ichreienden Gegenja zu den jtruppigen grauen Haaren, welche
wirr und wild den alten Kopf bevedten. Der Ausdruck ihres
ganzen Gelichtes war unter unzähligen großen und Kleinen Falten,
wie unter einem Vorhang, verſchwunden; nur wenn fie, mas
jelten geihah, die Augenlider erhob, kam ein überaus lebendiger,
ja brennender Strahl aus grünlich-ſchwarzen Augen, an denen
die Macht eines hohen Alters ſpurlos vorbeigegangen war, Sie
ſchwieg und ſah unverwandten Blides auf den Weg, ven fie zu
gehen hatte, während die Bauern, ihre Begleiter, fortwährend
plauderten, ih mit lauter Stimme vom Verbrechen der Ge
fangenen unterhielten, fie mit Schimpfreden überhäuften, oder
ihr mit den graufamjten Strafen drohten, die fie in der Stadt
erwarteten.
Auf der Höhe angefommen, von der aus man die Stadt
ichon fehen fonnte, machte der Schulze Halt und fagte zu feinen
Begleitern: „Bei den erften Käufern werdet ihr mich verlaflen
und nach Dubna zurückkehren; nur drei von euch bleiben bei mir,
um die Zigeunerin aufs Amt zu bringen.“ |
„Barum nicht Alle?” fragte einer der Bauern.
„Weil es eine wahre Schande ilt, daß ein fo großer Haufe
ein einziges altes Weib bewachen joll.“
„hr irrt Euch, Schulze,” ermwiderte derſelbe Bauer, „es ilt
das nicht die geringfte Schande, weil e3 fih um eine Bigeunerin
handelt, um eine Here, gegen die man nie eine genug große
Macht aufbieten fann. Wenn e3 fih um unfer Einen handelte,
Der Hetman. 419
wenn 3. B. hier der Straß oder der Wlach meinen Hahn ge:
ftohlen hätte, dann wären unfer Zwei genug, ihn durchzuprügeln
oder vor’3 Amt zu fchleppen, — aber bei einer Here! Wir find
unfer elf, das ift in diefem Falle lange nicht genug, oder zu
viel; wir follten jieben jein, oder dreizehn, oder einundzwanzig,
oder fiebzig, denn da3 find Bahlen, gegen die die Zauberin
Nichts vermag.”
„Iſt's wahr?” fragte ver Schulze.
„Wie ih Euch ſage. Ich verftehe mich auf dergleichen,
Darum meiß ih auch, warum fie mir meinen Hahn geftohlen.
Warum hat fie nicht des Ribnit oder des Strom feinen Hahn
geitohlen, und gerade meinen? Weil meiner ſchwarz war und
gerade zu Johannis aus dem Ei gekrochen iſt. Solcher Hähne
braucht dieſes Volk zu feinem Teufelswerk. Glaubt Ihr, daß
ih meines Hahnes auf menſchenmögliche Weife noch habhaft
werden könnte? Unmöglich! ch habe lachen müſſen, als Ihr fie
darauf hin werhörtet und willen wolltet, wo fie den Hahn ver:
jtedt? Den kann fie ſelbſt nicht mehr herbeilchaffen, wenn fie es
taufendmal wollte. Der ift heute Morgen, gerade in dem Augen
blide, da er ven erften Hahnenſchrei thun und Gott im Himmel
(oben wollte, dem Teufel geopfert worden. Iſt's nicht fo?
Sprich, du verfluhte Here!” rief der Bauer, indem er ihr die
Fauft unter die Nafe hielt.
Die Zigeunerin regte fih nicht und gab auch feine Antwort.
Der Zug feßte fich wieder in Bewegung.
„Wenn nur,” fuhr derfelbe Renner im Gehen fort, „wenn
nur die junge Here, die mit ihr war, nicht entlommen wäre!
Ich fürchte, die macht unfere ganze Unternehmung durch irgend
einen Zauber zu nidhte, und die Alte entwiſcht ung oder fommt
ohne Strafe davon. Aber in dem Augenblide, da ich die Alte
ergriff, Ichlüpfte die Junge wie eine Eidechſe davon, und ver—
ſchwunden war fie im Walde, als hätte fie ein Baum ver:
ihlungen.
Die Gefangene hörte das Alles mit an, ohne ven Mund zu
420 Novellen,
verziehen, ohne einen Zug ihres Gefichtes zu verändern. Gie
wanderte fort, gebeugten Kopfes, immer den Weg vor ihren
Füßen mit Aufmerkjamkeit beobachtend. Plöglich lachte fie laut
auf. Die Bauern fuhren zufammen und fahen dann einander er—
ihroden an. „Warum bat fie gelacht?“ „Was hat fie” „Sie
bat jih einen hölliihen Plan ausgefonnen!” „Sie entgeht ung!“
riefen fie Alle zugleih und drängten ſich enger um fie, als ob fie
fürdhteten, daß fie jeden Augenblid auffliegen und ihnen ent:
wifchen könnte. Dann erhoben fie ihre Stöde und drohten ihr,
fie in Stüde zu ſchlagen, wenn fie nicht fage, warum fie gelacht
habe. Aber die Alte lachte ihnen aufs Neue ins Geficht, ohne
fih um ihre Drohungen zu befümmern. Die Bauern wurden
fehr betroffen und führten jie ſchweigend meiter. Sie dachten
über die möglihen Urjachen diefer plöglichen Heiterkeit der Zi—
geunerin nad. Aber in der Nähe der Stadt angefommen, wo
die Scheunen eine Art von unbewohnter Vorftadt bildeten, ſchlug
fich der Bauer Straß vor die Stirne und rief: „Sch hab's! ich
weiß, warum fie gelacht hat.“ Der Zug hielt wieder inne, um
Straßen Anfiht mit größerer Ruhe fennen zu lernen. Diejer
fuhr fort: „Seht ihr da die alte elende Scheune, die fich faum
mehr auf den Füßen hält? Warum ift fie fo elend? Weil fie die
ältefte von allen Scheunen ift. Warum ift fie die ältefte? Weil
fie niemal3 abgebrannt iſt, während alle Scheunen ringsumher
ihon zehnmal vom Feuer aufgefrefien wurden. Warum ift dieje
Scheune bei den größten Bränden vom euer verfchont geblie-
ben? Darum! Einmal, vor vielen Jahren, fam eine Bande Zi:
geuner in die Stadt. Kein Menſch, wie recht ift, hat fie in feinem
Haufe oder auch nur in feiner Scheune beherbergen wollen, ob:
wohl e3 regnete und jtürmte. Da öffnete ihnen ein Bürger feine
Scheune, dieſe alte Scheune. Sie fochten und brieten darin bei
großen Feuern, während fie voll von Stroh und Getreide war,
Da liefen die Bürger und der Beliger der Scheune herbei und
ſchrieen: Was thut ihr, verfluchte Zigeuner! ihr ftedt uns ja die
Stadt in Brand! — Die Zigeuner aber antworteten: Seid ruhig,
Der Hetman. 421
fein Funke fol bier auf das Stroh fallen und wenn wir hier
noch jo viele Feuer anzünden, und noch hundertmal wird der
rothe Hahn über diefe Scheunen und diefe Stadt fliegen, auf
diefe Scheune, die uns beherbergt, wird er fich nie niederlaſſen.
— Und mahr iſt's. Alle Scheunen und Scheuern ringsherum
find ſeitdem jchon zehnmal abgebrannt, und dieſe alte Scheune
jteht noch. Nie hat fie auch nur ein Fünkchen verfehrt. Aber
wen gehört dieſe Scheune? Dem Bürgermeifter gehört fie, und
darum hat die Here gelacht. Sie weiß, er wird einer Zigeunerin
Nichts anthun, weil ihm die Zigeumer fo viel Gutes gethan.
Vielleicht iſt es Diefe felbft, die den Zauber über die Scheune
ausgeſprochen. Das wird fie ihm fagen, und er wird fie laufen
laſſen. Darum hat fie gelacht.”
Die ganze Geſchichte, fo wie die daraus gezogenen Schlüffe
däuchten den Bauern fehr einleuchtend. Sie wußten nicht, was
zu beginnen, und ſtanden wieder ftill, um aufs Neue zu be-
rathen. Der Schulze fragte fich hinter dem Ohr und meinte, daß
jelbjt ohne die Gefhichte von der Scheune wenig Hoffnung da
jei, die Zigeunerin orventlich beftraft zu fehen. „Wann hat man
gehört,” fragte er, „dab der Bürgermeifter Haug einen Menfchen
orbentlic hätte durchprügeln laſſen? Niemals! Er läßt Niemand
prügeln, er läßt die Leute höchftens auf zwei, drei Tage ins
Loc fteden. Was kümmert fih fo ein Bigeunerweib darum, ob
e3 zwei Tage eingeftedt wird oder nicht? Und was haben wir
davon, wenn wir ihr nicht wenigftens Fünfundzwanzig zu Wege
bringen ?“
„Freilich, freilich,” fagte der beftohlene Bauer, „mein Hahn
war doch wenigſtens fünfundzwanzig Stodprügel werth.“
„Aber warum läßt er denn die Leute nicht prügeln?” fragte
ein Anderer erftaunt.
„Das verftehft du nicht,” antwortete der Schulze mit einigem
Stolze, doch will id dir's fagen: „Weil er noch aus der Zeit
Kaifer Joſephs ftammt; der hatte es nicht gerne, wenn man bie
Menſchen prügelte, er fagte, das fei gegen — ich weiß nicht
422 Novellen.
was — Gefühl oder Menjclichkeit. Und damals hat ſich's ver
Bürgermeifter Haug abgewöhnt.“
Die Bauern murrten und fanden da3 dumm. Der Beitoh:
lene ſchlug envlih vor, man ſolle die Zigeunerin ſelbſt durch—
prügeln und fie dann laufen laſſen; dem aber wiberjegte ſich der
Schulze, als einer Anmaßung von Rechten, die nur den Be
amten und Evelleuten gehörten.
Mährend fie fo beriethen und ſprachen, ſchwebte bejtändig
ein ruhiges Lächeln auf den dünnen Lippen der Zigeunermutter
und machte fie mit dem rechten Fuße gewiſſe Bewegungen, welde
die Bauern mit fcheelen Augen betrachteten, da fie fie für ma:
giſche Prozeduren hielten. Sie aber that nicht? Anderes, als daß
fie gewifje Spuren von Schuhnägeln, die zufammen ein Dreied
bildeten, im Schnee verwifchte. Diefe Dreiede im Schnee waren
es, die fie zum Lachen braten. Es waren die Spuren ihrer
Enkeltochter Verunka, die dem Bauern, der fie eingefangen, ent:
wicht war, und nach diefen Spuren hatte fie auf dem ganzen
Wege fo aufmerkſam gefuht. So balo fie fie entdedt, war jie
unbeforgt und lachte fie laut auf. Sie wußte, Verunka war ihr
und den Bauern ſchon nad der Stadt vorausgeeilt, und jie
zweifelte nicht mehr an ihrer Rettung. Verunka, die Prinzeflin
des Stammes, konnte ja, was fie wollte, und mo fie war, ba
hatten Zigeuner feine Gefahr zu befürdten.
Darum aber erfchraf die Alte auch doppelt und verſchwand
das fpöttifche Lächeln von ihren Lippen, ald Straß im Laufe der
Berathung mit dem Antrag hervortrat, fie nicht nad) Przibram
und vor den Bürgermeiſter, ſondern nach Duſchnik und vor den
Hetman der Koſaken zu führen. „Dort in Duſchnik,“ ſagte er,
‚im Branntweinhauſe beim Juden, hat ver Hetman fein Haupt:
quartier; dort wird jeven Tag geprügelt, und jo geprügelt, wie
man e3 bier zu Lande noch nicht gefehen. Die Koſaken überlegen
e3 ſich nicht fo lange wie der Bürgermeifter; fie ſchlagen gleich
los, man braudt fie nur darum zu bitten.“
Der Antrag fand großen Beifall. Sofort brad der Zug
Der Hetman. 423
wieder auf und betrat, mit Umgehung der Stadt, den Weg, der
nad dem Dorfe Duſchnik führte. Die Nievergefchlagenheit ihrer
Gefangenen war ihnen ein Beweis, daß fie das Rechte gefunden,
um zu ihrem Ziele zu gelangen. Darum aber erjchrafen fie dop:
pelt, als nad kaum halbjtündiger Wanderung, da das Dorf
Duſchnik fchon vor ihnen lag, die alte Zigeunermutter eben fo
laut aufladhte und fich ihr Geficht eben fo fchnell aufbeiterte wie
vorhin. Gie folgten ihrem Blide, der an dem Kiefernwalde
rechts vom Wege hing, konnten aber Nichts entdeden.
„Was ſiehſt du dort, verfluchte Here?“ fchrie fie Straß an,
indem er ihr einen unfanften Stoß verfegte.
„Deinen Schußgeift habe ich geſehen,“ lachte die Zigeunerin
vol Hohn und Freude, „meinen Schuggeijt, der mir überall
voraugeilt, um meine Wege zu bahnen und Unheil von meinem
Haupte abzuwenden. Ihr müßt eilen, wenn ihr ihm zuvor:
fommen wollt, denn er fliegt rafch wie eine wilde Taube.“
So fprechend erhob fie ven Kopf und fchritt vorwärts, als
wäre fie die Führerin der Schaar.
weites Kapitel.
Im Hof der Duſchniker Branntweinbrennerei ſah es wüſt
aus. Trotz Schnee und Kälte lagen gemeine Koſaken, fowie
Offiziere, ohne Unterfhied des Nanges auf der Erde und auf
Bänken in allen Winkeln des weitläufigen Raumes und tranfen
aus großen Flajchen das ſchlechte Getränk, das ihnen der Jude
verkaufte, fchlehten, elenden Kartoffelbranntwein. Die in der
Stube ſchienen die Kälte eben jo wenig zu fürdten, wie ihre
Kameraden im Hofe, denn die meiften Fenfterfcheiben waren zer:
brochen oder fprangen eben in Stüde, wenn fich die Zecher in
ihrer Zuftigfeit gegenfeitig durch das Fenjter leere Flaſchen zu:
warfen. Selbft auf der Eisdecke des nahen Teiches lagen einzelne
424 Novellen.
Gruppen. Nicht Alle zechten; Manche lagen jehon im tiefen
Schlafe ver Trunfenheit. Der Lärm war groß, doch wurden nur
wenige Lieder gehört, wohl aber viele Flüche und hie und da
berzzerreißendes Weinen, denn der Rufje wird im Trunfe jehr
meinerlich geftimmt. Der jüdiſche Schenkwirth lief geſchäftig hin
und ber und bediente die Unmäßigfeit, die er jo ſehr verachtete.
Er war der einzige Nüchterne in der ganzen Menge. Doc war
diefes Haus die Kommandantur vieler Kofalenpulfe, melde
mehrere Dörfer der Umgegend erfüllten, denn hier wohnte ver
Hetman. Man konnte das auch an den vielen Drbonnanzen er:
fennen, die den ganzen Morgen hindurch in den Hof einritten;
jchwer aber hätte Jemand den Hetman jelbit in dem Jünglinge
erfannt, der mit aufgeriffener, unordentlicher Uniform, waffenlos
und beinahe jo betrunfen wie die Anderen, auf einer Bank vor
der Thüre lag. Die Ordonnanzen, die fih ihm mit ihren
Napporten näherten, empfing er mit Flüchen oder mit Bewe—
gungen, die verfehlten Fußſtößen glihen. Sie erkannten raſch
jeinen Zuftand und gejellten fich zu den Andern, um die Nüch—
ternbeit ihre Kommandanten abzuwarten, mittlerweile ein Glas
zur Erwärmung zu trinken, und fich bald in demſelben Zuſtande
zu befinden, wie Kommandant und Untergebene.
Plöglic aber erfchien eine von Ordonnanzen und fonftigen
Kofalen jehr verſchiedene Geftalt am Thore des Hofes. Obwohl
fie einen weitfaltigen Rod über ven Kopf gezogen und ihn mit
einer Hand vor dem Geficht zufammenbhielt, daß man nur zwei
dunkle Augen hervorleuchten fah, konnte man an der Art, mie
fie ih an die Thürpfofte lehnte und wie die Falten über ihrer
Bruft auf: und niederwogten, erfennen, daß fie im höchſten Grade
ermüdet war und daß fie nur ausruhte, um zu Athem zu fommen,
Der Jude mußte jogleih, daß der Gaſt eine Zigeunerin mar,
denn nur die Zigeunerinnen tragen die Röde jo über den Kopf
geichlagen, daß fie eine große Kapuze und rückwärts einen weiten
Schnappjad bilden. Er winkte ihr von Weitem, um ihr zu ver:
ftehen zu geben, daß fie hier Nichts zu fuchen und fich davon zu
Der Hetman. 425
machen habe. Auf dieß Zeichen aber jchlug fie ihren Nod etwas
zurüd, und ein kleines braunes Geficht mit wunderbar großen
Augen und einem großen Munde, der überaus freundlich lächelte
und eine unvergleichlich glänzende Reihe von Zähnen fehen ließ,
fam zum Vorſchein.
„Biſt du es, Verunka?“ rief der Jude, angenehm überrafcht,
indem er fich ihr näherte. „Biſt lange ausgeblieben — warit
wohl nicht im Lande? He? Was zu handeln?"
„Rein, Nichts zu handeln heute — ein andermal, lieber
Schime!“ antwortete die junge Zigeunerin — „lage mir fchnell,
wo ich den Hetman finden kann?“
„Den Herrn Hetman mwilljt du finden? Bei Gott, das ift
nicht jchwer, den Herrn Hetman zu finden. Dort auf der Bank
vor meiner Thür liegt der Herr Hetman.”
„Diejes Sind ift der Hetman?“
„Sa, dieſes betrunfene Kind ift der Herr Hetman. Wer
fol e8 denn fein? Irgend Etwas, ein Graf oder ein Fürft,
darum Herr Hetman. Er foll übrigens ein ſtarker Gibbor
jein oder Held, mie fi die Koſaken erzählen, wenn fie nicht
ganz betrunfen find. Sie haben einen fchredlihen Reſpekt
vor ihm.”
Die Becher riefen nach einem neuen Trunk, und der Jude
eilte davon, Verunka blieb an ihrem Poften. Sie betrachtete
den jchlafenden Hetman mit prüfendem Auge und lächelte. In
der That hätte der Anblick, abgejehen von der Trunfenheit, Jedem
gefallen müflen. Es war eine überaus einnehmenve Geftalt, die
des jungen Hetmans. Obwohl etwas mädchenhaft von wegen der
lihten Geſichts- und Haarfarbe, der fleinen Füße und der eben
jo Heinen Hände, von megen der ſchlanken und beinahe zarten
Glieder, gaben ihm die dunklen Augenbrauen und ebenjo dunklen
und langen Wimpern, die fih auf den lichten Wangen um jo
dunkler abhoben, der etwas breite, finnlich ſchwellende Mund
einen Ausdrud der Entichiedenheit, der durch eine gewiſſe, über
alle Züge au2gegofjene Melancholie nicht gemindert wurde. Selbit
426 Novellen.
aus dem ruhenden, fchlafenden, in der Trunfenheit erfchlafften
Geſichte konnte man die Möglichkeit tiefer Leidenſchaft und Cr:
regbarfeit herausleſen. Verunka betrachtete ihn mit zufammen:
gezogenen Augenbrauen. Offenbar hatte ihre Betrachtung ernitere
Zwecke al3 die Freude an einem fchönen Gefihte, und gewiß
mar fie mit dem Ergebniß ihrer Prüfung fehr zufrieden, denn
ihre ernſt gefaltete Stirne glättete fih bald und fie lächelte, als
ob fie fih dabei fagte: Ich bin unbejorgt! E3 wird gehen! —
ALS hätte ihn der geſammelte, fejte Blid der Zigeunerin magne:
tiſch geweckt, ftredte und dehnte fi der Hetman, wandte ſich ihr
zu und flug die Augen auf. In dieſem Furzen Momente eilte
Verunfa auf ihn zu, geſchickt den Echläfern und Zechern auf
ihrem Wege ausmweichend, wie ſchwebend, al3 ob fie ven Eiertanz
tanzte. Aber bevor fie bei ihm angefommen, hatte er vie Augen
wieder geſchloſſen. Sie dachte einen Moment lang nah, dann
fegte fie fih zu ihm auf die Bank, hob fanft feinen Kopf auf und
legte ji ihn, näher rüdend, auf ihren Schooß. Dann ftredte
fie die Hand nad) dem Schnee aus, der auf dem Holzftoß neben
ihr lag, fühlte fie und legte fie dann leife auf die Stirn des
jungen Mannes, der im Schlafe vor MWohlbehagen aufathmete.
Sie wiederholte das mehrere Male, indem fie die Hand immer
länger auf dem Schnee liegen ließ, biß er endlich die großen
blauen Augen öffnete. Sie begegneten den dunkelgrünen, von
langen kohlſchwarzen Wimpern überjchatteten Augen und dem
lächelnden Munde Verunka's, die fich tief zu ihm hinabbeugte.
Nah einem lauten Athemzuge blieb er wie gebannt und be
wegungslos liegen, immer in das wunderbare Geſicht jtarrend,
das ihm wie ein Traumgeficht erſchien. Ein entſchiedenes Lächeln
dieſes Gefichtes wedte ihn endlich jo weit, daß er fhüchtern, ala
ob er feinen Augen noch nicht traue, fragte: „Wer bijt du?“
Anftatt aller Antwort legte Verunfa nody einmal ihre küh—
lende Hand auf feine Stirne. Er faßte und vrüdte fie fefter auf.
„Das thut wohl!“ feufzte er und fügte dann hinzu: „Sch habe
dich eben im Traume gejehen, wie du auf dem Schlachtfelde von
Der Hetman. 427
Schwyz zwifchen den Leihen bintanzteft. Warft du bei Schwyz
mit Suwarow? Biſt du der Engel de3 Todes ?“
„Rein,“ antwortete ihm Verunka in feiner Sprade, „nein,
mein gnädiger Herr, ich bin eine arme Zigeunerin.“
„Kein,“ fagte der Hetman wieder, „du bijt ein Engel, aber
ich weiß nicht, ob du ein guter oder böſer Engel bijt.“
„Dein gnädiger Herr, ich bin eine Zigeunerin.”
„Schweig!” rief der Hetman zornig, „und mwiderfprich nicht !“
Er erhob fih halb und betrachtete figend die Zigeunerin,
die bei feinem Zornesausbrud die Augen nievergeihlagen hatte,
von Kopf zu Fuß. Die Zorneswolfe verſchwand mieder von
feiner Stirne und er fagte mit Lächeln: „Fürchte dich nicht! du
bift jo ſchön, wie ich die Tage meines Lebens Nicht gefehen
habe! So ſchön wie heute bin ich noch nicht erwacht! Und meine
Sprade ſprichſt du auch! Bift du eine Botin meiner Heimat?
Mo haft du meine Sprache gelernt?”
„Am Don, gnädiger Herr, wo ich geboren bin. Ich bin die
Prinzeflin vom Don.”
„Die Prinzeflin vom Don!“ lachte der Hetman, fügte aber
gleich wieder fanfter hinzu: „Du fennft ven Don und die Steppen,
meine Heimat kennſt du? Ach, ich werde fie nie wiederſehen!“
„Nein, du wirft fie nie wiederſehen!“ bejtätigte Verunka in
feierlihem Tone.
Der Hetman ſprang erſchrocken auf und blidte ihr entjegt
in die Augen. „St es wahr?“ rief er, „prophezeift du? Sit es
wahr, was ich ahne, feit ich die Steppen verlajlen habe ?“
„Es ift wahr!“ ſagte Verunfa traurig.
Der Hetman verbarg jeine Augen in beide Hände und
meinte.
„Ich werde auf dem Schladhtfelve fallen?” fragte er dann.
„Rein, du wirjt leben; aber die Liebe wird dich der Heimat
vergefien lafjen.”
„Niemals!“ rief der Hetman, ich weiß Nichts won Liebe.”
Er jprang von der Bank auf und ging einige Male im Hofe
428 Novellen.
auf und nieder. Nach wenigen Sekunden hielt er wieder vor der
Bigeunerin und fragte: „Rannft du wirklich prophezeien ?”
„So weit id es von meiner Großmutter gelernt habe.“
„So jage mir mehr,” flehte der Hetman.
„Ih kann nicht,” verficherte die Zigeunerin; „warte, bis
meine Großmutter fommt, die ſieht jo Har in die Zukunft wie in
den gejtrigen Tag.“
„Bo ift fie, deine Großmutter?” fragte der Hetman ungebulovig.
„Sleih wird fie da vor dir um das Haus biegen, von
dummen Bauern umgeben, die fie al3 Gefangene berbeijchleppen,
damit du ihren Büttel macheit, du, der Hetman der Koſaken, —
daß du meine arme alte Großmutter prügeln lafjeit, du, ver
Edelmann. — Wie heißt du, Hetman ?“
„Merei Petrowitſch,“ antwortete der Hetman.
„Alerei Petrowitſch, mein Väterchen,” fuhr die Zigeunerin
mit zartjchmeichelnder und unterthäniger Stimme fort, „wirft du
meine Großmutter prügeln lafjen, weil fie ven dummen Bauern
ein Huhn geftohlen? Meine Großmutter ift am Don geboren,
wo du zu Haufe bift, Alerei Petrowitſch.“
„Ich werde fie nicht prügeln laſſen, du Here, weil du e3
willjt und weil du mich bezauberft mit deinen Augen und mit
deiner Stimme — aber, willſt vu mich dafür belohnen, fo gebe
ih dir noh mas dazu und laſſe die Bauern, die fie herbei:
ſchleppen, durchprügeln, fo lange e3 dir Freude macht. Bleibe
bei mir, Here; wie ift dein Name“
„Verunka nennen fie mich, aber mein eigentliher Name ift
Prinzeſſin vom Don.“
„Bleibe bei mir, Verunka,“ flehte der Hetman, indem er
feinen Arm um ihren Naden fchlang, „ic langweile mich jchred:
(ih mit meinen Koſaken — und du bift fo ſchön — ich will dich
lieben — ic will di niemals prügeln — die fhönjten Kleider
will ich den Weibern diefer ganzen Gegend wegnehmen laffen und
dir ſchenken — meine Kofafen jollen dich behandeln wie eine
Prinzefiin — Sei gut —“
Der Hetman. 429
„Hier kommen die Bauern,“ fiel ihm Verunfa ins Wort,
„zeige mir deinen guten Willen.”
Der Hetman fprang wirklich raſch vom Site auf, jtieß einige
Koſaken, die ihm zunächſt lagen, mit dem Fuße an, daß fie auf:
jprangen und fih umſahen, als ob fie vom Feinde überfallen
würden. Andern, die wachend bei ihren Gläfern jaßen, rief er
einige Kommandoworte zu, und ſogleich ftürzte ſich ein ganzer
Haufe auf die Bauern, die eben in den Hof traten und entjeßt,
fih fo empfangen zu fehen, auseinanderftoben, Aber jchon
tegnete es Hiebe auf ihre Köpfe und Schultern. Die alte Zigeu:
nerin, um ſich den dichtfallenden Schlägen zu entziehen, Fauerte
auf dem jchneeigen Boden; Berunfa war herbeigefprungen, um
die Großmutter zu ſchützen und beugte ſich über fie, während der
Hetman in ähnlicher Stellung neben ihr ftand, um fie ebenfalls
zu ſchützen. Verunka drehte den Kopf nah ihm zurüd und ſah
ihn mit dankbarem Blide an, und mwährend Gefchrei und Ver:
wirrung rings um die Gruppe herrſchten, drüdte der Hetman
einen Kuß auf ihre Lippen und e3 war, als ob ihn dieſe magnetifch
anzögen, denn er ſchlang beide Arme um ihren Hals und drückte
fie immer feſter an fi, bis er am ganzen Leibe zu zittern be:
gann und plöglich, als ob ihn die vorige Trunkenheit wieder er:
griffen hätte, bewegungslos zu ihren und der alten Zigeunerin
Füßen niederſank. Diefe murmelte ihrer Enkelin, welche ſich zu
dem Hetman niedergebeugt hatte, ins Ohr: „Das ift ein Kind —
mit dem fannjt du machen, was du willſt.“
Die fliehenden Bauern hatten indefjen die Koſaken nad) fi
gezogen, und die Gruppe blieb allein auf dem Hofe. Verunka
bemerkte das, blidte um fi, beugte fih dann zu dem halbbes
täubten Jünglinge nieder und flüfterte ihm ins Ohr: „Auf
Wiederſehen, Alerei Petrowitſch!“ Einen Augenblid darauf lief
fie fliegenden Schritte den Hügel hinan; ihr folgte die Groß:
mutter beinahe eben fo rafh, und nad einer halben Minute
waren Beide hinter den Häufern des Dorfes verſchwunden.
Der Hetman erwachte erft, als die Koſaken mit Lärmen auf
430 Novellen,
den Hof zurüdfebrten. Ein jeliges Lächeln ſchwebte auf jeinen
Lippen, wie im Traume ftredte er beide Arme aus; da er aber
nur kalte Luft umarmte, jprang er zornig auf und fah fragend
nach allen Seiten. „Verunka!“ rief er laut ind Haus und dem
Dorfe entgegen. Plötzlich wurde er milder und juchte fich zu er=
innern. „Auf Wiederjeben, Alerei Petrowitſch!“ Hang es noch
in jeinen Ohren und lächelnd ging er wieder zu feinem vorigen
Site zurüd, ftredte fih aus und ſchloß die Augen, um zu
träumen. Der glüdlihe Ausdruck verſchwand bald von feinem
Geſichte und wich einem überaus melandolifhen. „Soll ich den
Don und meine Heimat nie wiederfehen 2” feufzte er vor fich hin
und verjanf in traurige Hinbrüten. Nach einiger Zeit aber
erhob er jich wieder, machte eine Handbewegung vor der Stirne,
als ob er verächtliche, feiner unwürdige Gedanken verjagen wollte
und fagte laut: „Bin ich nicht Alerei Petrowitſch, der zivilifirte
Menih? Habe ih nicht Voltaire und Roufjeau gelefen? Welcher
gebildete Menſch glaubt heute noch an Prophezeiungen und an
Bigeuner? Aber,“ fügte er nach einiger Zeit bedenklich hinzu,
„es ijt heute Freitag, meine Liebe für Verunka beginnt an einem
Freitag — das fann nur fhlimm enden. Ich will dem Teufel
einen Streich fpielen und fie vergeflen.“
Er befahl einem Koſaken, fein Pferd zu fatteln, einem andern,
jeine Baradeuniform zu bereiten und ging entſchloſſenen Schrittes
ins Haus,
Drittes Kapitel.
In dem eine Stunde von Duſchnik gelegenen Schloſſe Hlu:
boſch mar große Geſellſchaft; Graf Schönborn hielt es für feine
Pfliht, Felt auf Feit folgen zu laſſen, um die Bundesgenofjen
jeines Kaiſers, welche feit Wochen in der Gegend lagerten, jo
oft wie möglich bei ſich zu bewirthen. Sein Schloß, aus den
Zeiten Ludwigs XIV. ftammend, mar zu großen eitlichfeiten
Der Heiman. 431
ganz geeignet. Die Empfangsiäle jchloffen ſich unmittelbar an
große Treibhäufer an, die im Winter von den herrlichiten Pflanzen
aller Zonen erfüllt waren, und an dieſe wieder fügte fich ein ges
waltiger gejchlofjener Raum, deſſen Wände aus Felsblöden be:
ftanden, daß man fih da in einer wilden Felſenſchlucht zu be:
finden glaubte. Die Felſen bildeten vielfache verftedte Winkel
und Grotten, die, mit Schlingpflanzen übervedt, hie und da
von einem murmelnden Waſſerfaden, wie von einer Quelle mit
angenehmem Geräufch, erfüllt waren. ‚Die Treibhäufer und der
Felfenfaal waren der Lieblingsaufenthalt der Gefellihaft. Sie
waren jo mweitläufig, daß fich dafelbjt Hunderte von Gäſten zer:
jtreuen und in einzelne Gruppen vertheilen konnten, ohne von
den Andern gejtört oder belaujcht zu werden. Dieß war bei dem
Zuftande, in welchem fich die gewohnte Gejellichaft des Grafen
Schönborn feit einigen Wochen befand, jehr wünjchenswerth,
denn die fremden Offiziere ftanden zu den Damen diejer, an
Schlöffern und Eveljigen jo reichen Gegend bereits "in folchen
Beziehungen, denen ftille Winkel, in die man fich zurüdziehen
und Liebesworte austaufchen konnte, ſehr willlommen maren.
Es jtörte nicht, wad man in der ganzen Umgegend von den
Wildheiten und Ausfchweifungen der Bundesgenofjen erzählte;
e3 war ein großer Unterjchied zwiſchen Gemeinen und Offizieren,
oder e3 war wenigitens ein großer Unterfchied zwijchen den Offi—
zieren in ihrem Benehmen gegen die armen Einwohner de3 Lan:
des und zwilchen den Offizieren und ihrem Benehmen, wenn fie
al3 Gäjte in den Schlöſſern erjchienen. Die Meijten von ihnen
ſprachen etwas Deutfch und vortrefflih Franzöſiſch; fie waren
überaus fein in ihren Manieren und höchſt zuvorlommend gegen
die Damen — und endlich waren fie Alle adelig, und Viele von
ihnen trugen ftolze Fürftentitel. Der Beliebtefte unter ihnen war
unftreitig Alerei Petrowitſch, Fürſt von Nafumoff, den jelbit
jeine Borgefegten, Oberfte und Generäle, mit großer Rüdjicht
behandelten. Er mar anerlannt der ſchönſte Offizier des ganzen
Armeekorps; Keiner nahm fich zu Pferde fo elegant aus wie er.
432 Novellen.
Schon fo frühe Hetman, prophezeite man ihm eine rajche und
glänzende Garriere um fo lieber, als er feinen im Verhältniß zu
feinem Alter hohen Rang, wie es mwenigftens den Anjchein hatte,
nicht blos feinem Fürftentitel, fondern auch verſchiedenen Be
weiſen der Tapferkeit verdankte, die er in den Schlachten Suwa—
row3 auf dem Gotthard und bei Schwyz ablegte. Außerdem
war er, was man unter den Adeligen Böhmens „höchſt gebildet“
und unter feinen Landsleuten „eivilifirt” nannte Cr mar
von einer deutfhen Amme und einem franzöfifhen Hofmeifter
erzogen, und man bewunderte an ihm eine große Belejenheit und
eine Konverfation, von der man fagte, daß fie eines PBarijer
Salons würdig wäre. Im Schloſſe des Grafen Schönborn war
er befonder3 beliebt, denn der Graf Schönborn hatte eine arme
Nichte, Gräfin Emilie Ginetz, die aus ihrer Liebe zu Alerei nad
der damals herrſchenden Sitte fein Hehl machte, und der Graf
wäre jehr froh gewejen, wenn der Hetman, der für ziemlich
leihtjinnig galt, die Nichte ohne Mitgift auf die Croupe feines
Pferdes genommen hätte und mit ihr in den Steppen am Dor
verſchwunden wäre. Man behauptete darum auch, daß die Felte,
die er den rufjiichen Offizieren gab, vielmehr eine Schlinge für
Alerei al3 ein Beweis für den Patriotismus de3 Grafen und
jeine Liebe zu den Bundesgenojien fei.
Gräfin Emilie ſah übrigens gar nicht darnach aus, als ob
man viele Schlingen zu legen braudte, um einen Mann für fie
einzufangen. Ihre jhönen, aus diden Wimpern ſehnſüchtig und
lächelnd zugleich hervorblidenden Augen warfen der Nee genug,
denen ſchwer zu entgehen war. Diefe Augen wurden außerdem
durd ein Geſpräch unterftüßt, durch eine Redekunſt, die ein holdes
Gemisch von Verftand und romantischer Schwärmerei war, und
jelbjt wenn fie ſchweigend auf einer der fteinernen Bänke in einer
der Grotten des Felſenſaales hingegoſſen lag, madte fie den
Eindruck einer unwiderſtehlich lodenden Nymphe. Wenn fie dem
Hetman von feinen Steppen am Don ſprach, glaubte er jelbft,
daß dieje ſchöner feien, als die herrlichften Gegenden der Schweiz,
Der Hetman. 433
die er in Suwarows Heere kennen gelernt, und wenn fie ihn
jelber reden ließ und immer nur aus ihm hervorlodte, wovon
fie wußte, daß er es gelernt oder gelejen hatte, hielt er ich für
einen der gebilvetiten Menſchen des Jahrhunderts. Er war ihr
für dergleichen überaus dankbar, in ihrer Geſellſchaft fühlte er
fih am mohlften, und e3 mwar beinahe feinem Zweifel mehr
unterworfen, daß Graf Schönborn mit ihm feine Zmwede erreicht
haben were.
Die Sahe ſchien abgemadht, und Niemand nahm es der
Gräfin Emilie übel, daß fie, die Einſamkeit ſuchend, in einem
Mintel des Felfenfaales lag und die ganze Gejellihaft vernach—
läfligte, fo lange Alerei Petrowitjch fehlte Der Verdruß, der
fih über fein langes Ausbleiben auf ihrem ſchönen Gefichte deut:
lich genug ausdrückte, war nur ein Zeichen ihrer Liebe, und vie
“ jüngjten Offiziere waren nicht beleidigt, fich mit Eurzen Worten
abgejpeist und Gräfin Emilie erjt lächeln zu ſehen, als der Be
diente den Fürften Nafumoff ankündigte.
Alerei trug feine glänzende PBaradeuniform, auf der Bruft
die großen Sterne des Annen: und Wladimir-Ordens, aber auf
dem Gejichte nicht die lächelnde Heiterfeit, die man in Gejellichaft
an ihm gewohnt war. Auch dankte er kurz den Gäften, die ihn
rechts und links empfingen, und ging wie ein Träumer durch
die Säle und Gewächshäuſer. Man fand das natürlih, denn
er ſuchte augenscheinlich das ftile Vläschen auf, wo er mit Emi—
lien zu plaudern pflegte und wo fie in der That auch ſchon wartete.
Aber Alerei ging auch bier worüber und geraden Weges immer
weiter, bis wo die Felswand feinen Weg abſchnitt. Gedankenlos
fehrte er um und wanderte den ganzen langen Weg wieder zurüd,
ohne Emilien nur bemerkt zu haben. Die Damen fragten ſich,
was das bedeuten möge, feine Kameraden meinten, er werde
beute zu viel getrunfen haben. Gräfin Emilie erhob fi ärger:
ih und fnüpfte mit dem erften, beften Gafte ein Gefpräd an
und erhigte jih bald fo jehr, daß man fie höchſt erzürnt glaubte,
Ale Welt blidte fie mit Staunen an, nur Alerei nicht, der ſich
Morig Hartmann, Werke. VI. 28
434 Novellen.
nad langem Hin» und Herwandern endlich hingefegt, das Kinn
in die Hand geftügt hatte und mit weit offenen Augen, ohne zu
jehen, vor fih hinftarrte. Emilie, wie ſehr fie bei ihrem Gegen-
jtande zu fein ſchien, beobachtete ihn doch fortwährend, und jo
bemerkte fie auch, daß er die Lippen bewegte und von Zeit zu Zeit
bald leife, bald lauter Etwas vor ſich hinmurmelte. Sie näherte
ſich unmerklich, und da er wieder zu Sprechen anfing, ſchwieg fie
plöglih, und fie und die nächjte Umgebung hörten deutlich, wie er
kopfſchüttelnd und mit einer gewiſſen Zärtlichkeit in der Stimme
vor fich hinlispelte: „Auf Wiederfehen, Alerei Betromitich !“
Emilie und die Geſellſchaft lachten fo laut auf, daß Alerei
aus feinem Hinbrüten erwachte und fich erftaunt umſah. Emilie
ließ fich diefe Gelegenheit nicht entgehen, ihn anzureden, da es
auch den Anſchein haben konnte, als ob fie ihm nur einen Ge,
fallen erweifen und ihn aus feiner Verlegenheit reißen wolle. —
„Fürſt Naſumoff,“ rief fie, „Sie haben geträumt und au3 dem
Traume geſprochen.“
„Ja,“ antwortete er, ſtand auf und verneigte ſich vor der
Geſellſchaft, wie zur Entſchuldigung für ſein bisheriges Benehmen,
ſchüttelte den Kopf, als wollte er in der That einen Traum ab:
ſchütteln, und fügte lächelnd hinzu: „Sch habe einen Traum ge:
habt, ich weiß nicht, ob gut oder bös, aber es fcheint mir, als
wär’ e3 ein prophetijcher Traum gemefen.”
„Sie find alfo doch abergläubifcher, als Sie zugeben wollen,”
lachte Emilie. „Da3 vorige Mal, als ich Ihnen einen Traum
erzählte und ihn von Ihnen gedeutet haben wollte, haben Sie
mich ausgelaht und mir ſehr gelehrt bewiejen, wie die meilten
Träume vom Nachteſſen abhängen, oder vom Buche, das mir
im Bette lejen.”
„Allerdings ,” erwiederte Alerei, „allerdings ift es jo, aber
man träumt manchmal fo lebhaft, daß der Traum die Bedeutung
eines Erlebnifje3 erhält, und wieder erlebt man mandmal jo
fonderbare Dinge, daß man fie einen Augenblid fpäter für Traum:
erſcheinungen halten möchte.”
Der Hetman. 435
Das Gefpräh, einmal begonnen, floß fo lebhaft fort, wurde
von Alerei in fo gebilveter und feiner Weife fortgeführt, und
dabei benahm er fich fo rückſichts- und formvoll gegen Alle, vie
jih in das Geſpräch mifchten, daß es ſchwer geweſen wäre, in
ihm denfelben jungen Menſchen zu erkennen, der heute Morgen,
vom Branntwein beraufcht, inmitten berauſchter Koſaken von
der Zigeunerin gefunden und gewedt worden. Wer ihn in beiden
Lagen geſehen hätte, würde fich gejagt haben müſſen, daß in
diefer zarten und ſchönen Geftalt zwei von einander verfchiedene
Menfhen, zwei einander ganz unähnlihe Seelen wohnten; ja,
er follte diefe Vorausſetzung noch in derjelben Stunde beftätigen,
denn mit einem Male brad er das Geſpräch ab, wandte ver
Gräfin Emilie und den Gäſten, die fih um fie gruppirt hatten,
den Rüden, und ftarrte plöglic ftumm und regungslos in das
anftoßende Glashaus, aus dem ihm der Schall eines Tambouring
entgegentönte. „Da ift fie!” rief er jubelnd aus und eilte hinein,
wo fich bereit3 ein großer Theil der Geſellſchaft verfammelt hatte,
um die Zigeunerin Verunka tanzen zu jehen.
Graf Schönborn, immer darauf bedacht, feine Gäfte aufs
Angenehmfte zu unterhalten, hatte die Zigeunerin, von deren
Schönheit und Anmuth im Tanze in der Gegend viel geſprochen
wurde, für diefen Abend engagirt. Sie erſchien in einem phan-
taftifchen Anzuge von rothem und ſchwarzem Sammet, der mit
Golpflittern bevedt war. Zarte Bruft und Schultern, beide tief
gebräunt, aber von einem feinen Goldglanze bevedt, blidten aus
dem Mieder hervor, während ein kurzes Röckchen andere an:
muthsvolle Formen, eine überaus feine Fefjel über zartem Füß—
hen, jehen ließ. Sie jtand in der Nähe von Palmen und Mor:
then, ſchlug ihr TZambourin über dem Kopfe und bewegte nur
ihren Oberkörper janft hin und ber. Die ganze Geſellſchaft blidte
fie mit außerordentlicher Theilnahme an und fchien es nicht ers
warten zu können, daß die Zigeunerin den eigentlichen Tanz bes
ginne. Die Männer lächelten unmwillkürlich, und offenbar ermwedte
e3 in ihnen ein angenehmes Gefühl, wenn Berunfa, von Einem
436 Novellen,
zum Andern blidend, ihr Auge auf ihnen ruhen ließ. Aber es
fiel ihnen au auf, daß von dem Momente an, da fie Alerei
anſah, ihre Blide die Wanderung einjtellten und auf feinem
Gefichte haften blieben. Ein Läheln, wenn au bei Manchem
fih der Neid dahinter verjtedte, verbreitete fih über alle Ge
fichter, und man bewunderte das geübte Auge der Zigeunerin,
das fo rafch den ſchönſten Mann der Gefellfchaft herausgefunden
hatte. Emilie allein ahnte, daß fich Alerei und die Tänzerin bier
nicht zum erften Male jahen, denn, neben ihm ftehend und ihn
aufmerfjam betrachtend, hörte fie, wie er, al3 ihn das Auge
Verunka's traf, abermal3 wie vorhin: „Auf Wiederſehen, Alerei
Petrowitſch!“ lispelte. Raſch flog ihr Blid zur Zigeunerin bin:
über, und e3 war ihr, als ob der Name Alerei Petrowitſch aud
auf ihren Lippen ſchwebte. Es dauerte feine Minute und ver
Hetman nahm die Aufmerkjamleit der Gefellihaft weit mehr in
Anspruch als die Tänzerin, troß ihrer Anmuth. Dieſe bewegte
fich jegt, das Tambourin ſchlagend, in beinahe wilden Kreifen
durch den offen gelaffenen Raum; jeder ihrer Bewegungen folgte
der junge Mann mit Bliden, die verjteinert jchienen, während
feine Bruft fich tief athmend auf» und niederhob und jeine
Nüftern wie bei einem Pferde edler Race fich weit öffneten. Ein
Lächeln überflog fein Gefiht, als fi ihr Tanz plögli in einen
Kofalentanz verwandelte Die andern anmejenden ruflifchen
Dffiziere Hatjchten in die Hände und freuten fich diefer Erinne—
rung an ihre Heimat. Manche zogen Dulaten aus der Taſche
und warfen fie auf den Boden vor Verunfa hin. Alexei aber
ftand regungslos, nur daß ſich fein Oberkörper unmerflih nad
und nad) vorwärts beugte, bis er weit vorgebüdt und aus der
Reihe ver Zufchauer hervorragend daſtand. Hie und da börte
man ein bald lautes, bald unterbrüdtes Lachen, welches viejer
in der That komiſchen Geberde galt. Alexei aber hörte nichts.
Er lachte wohl aud einmal auf, al3 Verunka mit großer Ge:
ihidlichkeit, und mit noch größerer Beratung in ihrem Mienens
jpiele, mit den Spigen ihrer Füße die hingeworfenen Gold:
Der Heiman. | 437
ftüde von fich fchleuderte, daß fie zwifchen den Füßen ver Bu:
Schauer und den aufgeftellten Gartentöpfen verſchwanden. Es
ſah aus, al3 müßte er das Gleichgewicht verlieren und vorn hin:
fallen, wenn man ihn nur leife berübrte; vielleicht dachte und
beabfichtigte das auch die Gräfin Emilie, al3 fie mit verhaltenem
Herger und grimmig lächelnd zu ihm fagte: „Wenn Sie mit
der Zigeunerin tanzen wollen, fo thun Sie e8 doch — geniren
Sie fih nit,” und al3 fie bei diefen Worten ihn am Arme
faßte und leife vorwärts ftieß. Alexei fiel nicht, aber er folgte
der Aufforderung der jungen Dame, fprang mit einem Satze
vorwärts und tanzte plößlich, zur größten Ueberraſchung der Ges
jellichaft, feinen heimatlichen Tanz mit der Zigeunerin.
Die ruffiihen Offiziere lachten, mande applaudirten; die
einheimifchen Säfte murmelten. Gräfin Emilie wandte Jid) ent-
rüftet um und verließ den Saal; das Alles kümmerte den Het:
man nicht, für ihn war nur die Zigeunerin da; auf feinem Ge:
fihte malte ſich die höchſte Leidenschaft; er verjchlang fie mit
feinen Augen, und es war offenbar, daß außer ihr nichts,
weder die Gefellfhaft noch die Welt, für ihn vorhanden war.
Die Gäſte hatten diefen Ausdrud kaum bemerkt und unter ein:
ander zu ziiheln angefangen, al3 ihnen ſchon eine neue Ueber:
rajhung bereitet war. In dem Augenblide, da Alerei ih, den
Touren des Koſakentanzes folgend, der Zigeunerin näherte, faßte
er jie um den Leib, und einen Augenblid fpäter war er mit ihr
aus der Gejellihaft verſchwunden. Mit erjtaunlicher Kraft und
Glafticität hatte er fie an feine Bruft gehoben und mit einer
Schnelligkeit, die keine Befinnung auffommen ließ, die Reihen
der Zufchauer durchbrochen. Bald waren feine Schritte und das
Geflirre feiner Sporen im entfernteften Vorfaale verklungen, und
als ſich einige feiner Kameraden faßten und ihm lachend nad:
eilten, ſchwang er fi ſchon im Hofe mit der Zigeunerin auf ein
Pferd und fort galoppirte er mit ihr durch die Nacht, wie Emilie
wünjchte, daß er fie entführen folle.
Emilie fam in dieſer Nacht nicht wieder zum Vorfchein.
438 Novellen.
Graf Schönborn, der feine Pläne vereitelt ſah, war entrüftet
und fonnte feinen Aerger nicht verhehlen, als er jah, wie bie
Kameraden Alerei’3 die Sache fo leicht nahmen und als einen
berrlihen Koſakenſtreich rühmten und belachten.
Nur einer der rufliihen Offiziere, und zwar ein Oberft und
Vorgefegter Alerei’3, jhien die Sache erniter zu nehmen, und
alle feine Kameraden mußten, was den Oberften Nicolajeff be:
wog, ein jo ernftes Gefiht zu machen. Er war, feit die rufli-
ihen Offiziere in das Schloß Hluboſch kamen, bei Emilien ver
Nebenbuhler Alexei's. Seit einiger Zeit hatte er e8 aufgegeben,
mit ihm zu rivalifiren, denn wenn er fi auch nicht jagte, was
Jedermann dachte, daß feine lange Don Quixote-Geſtalt mit
dem magern braunen Gefichte, deſſen Haut ji von oben nad)
unten in lange, unzählige Falten legte, nicht gemadt fei, den
ihönjten Offizier des ganzen Armeekorps auszuftehen, jo ſah er
doch ein, daß er hinter dem jüngern Alexei, hinter feinem
Fürftentitel, hinter feinen Orden und hinter der prophezeiten
großen Carrière zurüditehen müſſe. Jetzt, da fein Nebenbubler
das Haus auf eine Weife verließ, die an feine Rückkehr zu denken
erlaubte, und da er Emilien die Geſellſchaft im höchſten Zorne
verlafjien ſah, glaubte er die Zeit gefommen, um jeine Ber
werbung wieder aufzunehmen. Während die andern Offiziere
noch lachten und die übrige Geſellſchaft ſich über den erlebten
Skandal unterhielt, trat er leife au dem Gewächshauſe in ven
Felſenſaal, wandte fich fogleich der verborgenften Grotte zu und
fand dort, was er ſuchte- Emilie faß da und meinte Thränen
des Zornes.
„Gräfin,“ fagte Oberft Nicolajeff, indem er vor ihr ftehen
blieb und die linfe Hand an den Degengriff legte, „Gräfin, Sie
haben einen Affront erlebt. E3 reicht für mich hin, Sie eine
Minute lang geliebt zu haben, um jet die Pflicht der Züchti-
gung, der Rache an jenem Knaben zu übernehmen. Sie haben
meine Liebe verfhmäht, verſchmähen Sie die Dienfte meines
Degen nicht.“
Der Hetman, 439
Oberſt Nicolajeff war nicht3 weniger al8 ein Don Quirote,
aber e3 war ihm Recht, daß ihn feine Geftalt dazu jtempelte und
daß ihn Jeder für den Typus eines irrenden Ritters hielt. Das
gab ihm ein gewiſſes Anfehen und feste Muth und Tapferkeit
voraus. Seiner Rolle gemäß feste er auch feine Worte und er
liebte es, ritterliche Gefühle auszudrücken, bütete ſich aber dabei
vor Uebertreibung, welche die Wahrhaftigkeit feines Weſens in
zweifelhaften Lichte hätte erfcheinen laffen. Gräfin Emilie war
aus hoher Familie, er felbjt der Sohn eines geadelten Armee:
lieferanten, was ihm in der rufjifhen Armee eine unangenehme
Stellung bereitete. Eine Frau von altem Adel, wie Emilie, war
das höchſte Ziel feines Ehrgeizes; ihre Armuth fehredte ihn nicht
ab, da er von Haufe aus ein großes Vermögen bejaß, und
Graf Schönborn, ihr Onkel, konnte ihm den Uebertritt in die
öfterreichifche Armee, wo man feine Vergangenheit nicht kannte,
wo aber der Name feiner Frau in hoben Ehren ftand, erleich:
tern. Diefe Berechnung führte ihn bald nad) feiner Ankunft in
diefer Gegend zu den Füßen Cmiliend, und führte ihn jeßt
wieder al3 ihren Ritter und Rächer zurüd. Cmilie, die ihre
Pläne auf den Hetman und Fürften gejcheitert und ſich außer:
dem bloßgeftellt ſah, fagte fih raſch, daß fie den eriten beiten
Erſatz ergreifen müfje, und ungefähr eben jo berechnend, mie
ihr Ritter, ließ fie ihre Thränen noch reichlicher fließen, blidte
ihn mit gerührter Dankbarkeit an, und die Hand nad) der feini:
gen ausſtreckend, lispelte fie: „Meine Liebe für eine blutige
Rache!”
Nicolajeff verneigte ſich mit ehrerbietigem Gefichte und that,
als wollte er fi, ihr unterthäniger Diener, wieder entfernen,
nachdem er ihre Meinung entgegengenommen, als wollte er ſich
viefer Liebe erft freuen, wenn er den Preis der Rache dafür ge:
liefert; aber Emilie faßte feine Hand aufs Neue und zog ihn zu
fih auf ihren Sig herab.
440 Novellen.
Viertes Kapitel.
Nicht Alerei lenkte die Zügel des Pferdes, auf das er fi
mit Verunka geſchwungen hatte. Er warf fie ihm auf den Naden
und ließ e3 dahinlaufen, gewiß, daß e3, wie immer, ind Quar:
tier zurüdfehren werde. Bedurfte er doch der Freiheit beider
Arme, um die Zigeunerin zu umſchließen und an feine Bruft zu
vrüden. Diefe aber, während jie in feinen Armen lachte, ergriff
die Zügel und leitete das Pferd nad ihrem Willen. Alerei, im
Raujche feines Glüdes, bemerkte nicht, daß fie, anftatt dur
die Allee dem Dorfe Duſchnik entgegenzureiten, ſich immer tiefer
in jene Gegenden. des Waldes verloren, die man die neue Welt
nennt, weil man erjt vor nicht langer Zeit durd dicht verwach—
jene3 Urgeftrüpp dahin vorgedrungen war. Der rhythmiſche
Hufſchlag feines Pferdes, die Lieblojungen der Geliebten bes
rauſchten ihn jo fehr, daß er es nicht fühlte, wie fie endlich in
ein Didicht drangen, wo die Zweige an fein Geficht ſchlugen und
Geſtrüpp jeine Kleider in Fetzen riß. Erſt al3 das Pferd plöglich
inne hielt, erwachte er aus jeinem Traume und glaubte wirklich
in einer neuen Welt angefommen zu fein. Er befand fi in einer
Maldlihtung, die ringsumber von einer uralten Vegetation, wie
von einer undurhdringlichen Dauer, umgeben war. Er jah jich
um und konnte bei dem hellen Scheine de3 Mondes, des Schnees
und der vielen Feuer, die auf dem Plage brannten, nicht die
Stelle erfennen, an der er aus dem Didicht hervorgebroden.
Baumzmweige und Geftrüpp hatten fich wie eine Thür hinter ihm
geichloffen. Nicht weniger überrafchte ihn das Schaufpiel, das
jih ihm auf dem meiten fchneebededten Bühel darbot. Wir
Heine Hügel erhoben fich unmittelbar aus der Erde an fünfzehn
bis zwanzig Dächer, welche über breite Gräben gededt waren
Bor dem Eingang einer jeden ſolchen Kellerwohnung, in di
man von außen bliden konnte und die alle gegen Süden gekehrt
waren, brannte ein großes Feuer, welches das Innere der
Der Hetman. 441
Bigeunerwohnungen erhellt. Drinnen, bunt durcheinander ges
miſcht, lagen Männer, Weiber, Kinder und allerlei Vieh. Nur
eine der halb unterirviichen Hütten, die größer war als die an—
dern, ſchien leer, und in viele führte die Zigeunerin ihren Gaft.
Als er eintrat, erhob fich in einem Winkel die Alte, die er dieſen
Morgen aus den Händen der Bauern befreit hatte.
Das Abenteuerliche feines Nittes, und der romantische An:
blif des Zigeunerlagers hatten Alerei’3 aufgeregte Lebensgeiſter
noch mit einer Art poetiſcher Heiterkeit erfüllt; e3 war ihm, als
wäre er in ein Mährchenland eingeritten, wo ihn nur Glüd er:
wartete. Von Verunfa über die Schwelle ihrer Hütte geführt,
fühlte er fih, in der Vorahnung unendlicher Freuden, von
Wonneſchauern durchriefelt. Aber der Anblid der alten Zigeuner:
mutter, und wie fie fih in ihrem Winkel aus den Deden und
Hüllen berausmidelte, erfüllte ihn plöglich wieder mit Trauer.
Er dachte an die Prophezeiung Verunfa’s, daß er feine Heimat
nicht wiederfehen folle und daran, daß die Alte noch beſſer in
die Zufunft bliden und fein trauriges Loos noch bejtimmter er:
fennen könne. Es flog ihm durch den Sinn, fie fogleich zu be:
fragen ; er legte die Hand auf beide Augen und dachte nad.
ALS er wieder aufblidte, entjchloffen, feine Frage zu thun, um
ich das gehoffte Glück nicht zu ftören, war die Zigeunermutter
aus der Hütte verſchwunden.
Ungefähr um dieſelbe Stunde ritt die lange Geftalt Oberft
Nicolajeffs dem Dorfe Duſchnik zu. Neben ihm trabte auf klei—
nem Pferdchen jein dider Kapitän Veragin, den man jchon
darum, meil er immer in Gejellichaft des langen Oberjten zu
finden war, feinen Sancho Panſa nannte. Diefer fchien mit dem
nächtlichen Ritte nicht ganz zufrieden und ſah mit verbrieklichem
Gefichte über die fchneebededte Landfchaft hin. Anfangs wollte
er feine Meinung über diefen unangenehmen nächtlichen Ritt nur
durch lautes Gähnen fund thun, das er überaus oft wiederholte;
da ſich aber fein Oberft nicht darum kümmerte, drüdte er feine
Meinung in Worten aus. „Michael Iwanowitſch,“ fing er
442 Novellen,
demüthig und etwas zurüdhaltend an, „Michael Iwanowitſch,
meinjt du nit auch, daß e3 nah dem guten Trunfe beim
Grafen Schönborn bejjer wäre, daheim auszufchlafen, oder
mwenigftens in Ruhe die Wirkungen des Weines, daran Unjer:
eins nicht gewöhnt ijt, mit einem guten Trunk Wotfa unſchäd—
lich zu machen?“
„Pavel Sergewitſch,“ erwiderte der Oberft verweiſend und
mit hohler Stimme, „die Ehre fteht höher als alle Ruhe und
ala der beſte Trunk. Michael Iwanowitſch, dein Oberft, iſt ges
wohnt, Alles der Ehre zu opfern, als ver Sohn eines altapligen
Haufes, deſſen Ahnen ſchon unter dem heiligen Alerander Newski
gefämpft haben.”
Beragin fragte fih hinter den Ohren und war um eine Ant:
wort verlegen. Er wußte, daß es fich nicht jchide, etwas gegen
die Ehre zu fagen, doch jchien ihm fein Oberft dieſes Gefühl
etwas zu übertreiben; daran hielt er fih auch und erlaubte fi
die unterthänigfte Bemerkung: „Sch diene jet jeit zweiund—
zwanzig Jahren, aber bei ung Koſaken ift in diefer ganzen Zeit
fein Duell vorgefommen. Ych habe wohl gehört, daß fie in den
Gouvernement3, die an das Ausland ftoßen, diefe Dummheit der
Franzofen und Deutſchen nahahmen und einander nieberjtechen
oder niederfhießen, aber bei ung Koſaken hat von jeher die gute
Eitte geherrfcht, und herrſcht noch heute, daß man feine Streis
tigfeiten mit der Fauſt abmacht und daß man an einem blauen
Auge genug bat. Seine Majeftät ver Zaar bezahlt uns nidt,
daß wir uns für fein Geld unter einander todtichlagen, er be:
zahlt ung, daß wir unter Suwarow die ungläubigen Franzojen
zur Chre Gottes und des heiligen Nikolaus ausrotten.”
„Pavel Sergewitfh,” entgegnete wieder der Oberſt, „das
find Dinge, die du nicht verſtehſt.“
„Sehr möglich, ja wahrſcheinlich,“ gab der Kapitän zu, „id
bin fein Studirter, und fpreche auch nicht Franzöfifh, ich weiß
e3, ich bin leider Gottes nicht zivilifirt und bin auch niemals in
Petersburg geweſen, aber das verftehe ih, Michael Iwanowitſch,
Der Hetman. 443
daß e3 dir nicht fo glatt abläuft, wenn du den Fürjten Najumoff
zuſammenſchießeſt. Es mag fein, daß deine Ahnen unter dem
heiligen Alerander Newski gefämpft haben, aber ich glaube, daß
man das in Rußland vergeflen hat, und fo viel ih weiß, bat
Alerei auch größere Proteltionen als du.”
„hut nichts,” brummte der Oberjt, „er muß mir doch vor
die Klinge — ich habe meine Urſachen.“
„Deine Urfachen in Ehren, deine Tapferkeit in noch höhern
Ehren,” fagte der Kapitän, indem er fich auf feinem Pferde ver:
neigte — „aber —“
„Run, aber ?” herrjchte ihm der Andere entgegen; „heraus
mit dem Aber!“
„Alexei Petrowitſch, der läßt jih auch nicht fo leicht ab:
ſchlachten wie ein gutmüthiges Schaf.“
Der Oberjt ſchwang feine Hand in die Luft und rief laut in
die Nacht hinaus, ala ob er wünſchte, daß die ganze Welt feine
Worte höre: „Dergleihen hat Oberft Nikolajeff nie bedacht.”
Dann wandte er fich feinem Begleiter zu und ſagte im gemefjenen
Tone de3 Vorgefegten: „Und jegt bift du ftumm und ſprichſt
fein Wort mehr, bis ich es dir erlaube.” Der Kapitän jchlug
ein Kreuz über Stirn und Bruft als Zeichen feiner Unterwerfung,
verneigte fih abermals, und ſchweigend ritten die Beiden durch
die Nacht und bei Morgendämmerung in das Dorf ein.
Sie fanden das Neft leer, was dem Oberften eine große
Enttäufhung war, da er der Gräfin gerne fo fchnell wie möglich
Beweiſe feiner Ritterlichleit gegeben hätte; vor Allem aber, weil
er die Möglichkeit einer Verſöhnung fürchtete, der er durch eine
entjcheidende That zwoorzulommen wünſchte. Zum Glüde war
das Quartier Alerei’3 eine Branntweinſchenke, in der man feine
Heimkehr ohne Langeweile abwarten fonnte. Der Oberjt löste
wieder die Zunge feines Begleiter3, der aber vor der Brannt:
weinflaſche in freiwilliger Stummbeit beharrte. Der Tag rüdte
vor, und Alerei fehrte nicht zurüd. Dem Oberften ſchien es un:
würdig, ihn fo lange zu erwarten, auch hielt er es für Hug, im
444 Novellen.
Schloſſe Hlubofh über deſſen Ausbleiben zu beridhten, und er
befahl dem Kapitän Veragin, auf feinem Poften zu verharren
und nicht von der Stelle zu weichen, bis Alerei zurüdgefommen.
Dann follte er al3 fein Kartellträger auftreten und den Hetman
im Namen des Oberften zu einem Zmeifampfe herausfordern.
Veragin war mit einem ſolchen Poften wohl zufrieden. Bereits
mit dem ganzen Kopfe in allerlei Dünften und Nebeln ſteckend,
börte er aus den Worten feines Vorgejegten nur den angenehmen
Befehl heraus, vor der Flaſche figen zu bleiben. Wohlgefällig
und lächelnd nidte er zu Allem Ja und verlicherte lallend, daß
fih der Oberft auf ihn verlaſſen könne und daß er Alles zu feiner
Zufriedenheit beitellen werde.
Beragin hielt infofern fein Wort, als er ji in der That
von der Stelle, an die ihn jein Oberjt geſetzt hatte, nicht ent—
fernte. Dort jchlief und machte er abwechjelnd, und wenn er von
Duntelheit umgeben war, glaubte er, es fei noch die Nacht, in
welcher er hier angelommen, und wenn e3 hell um ihn mar,
hielt er das für den eriten Tag, den er in der Schenke verbrachte.
Aber e3 waren in Wirklichkeit feit feiner Ankunft in Duſchnik
bereit3 zwei Tage und zwei Nächte verflofien, ohne daß Alerei
zurüdgelommen wäre, ohne daß er feinen Auftrag hätte beitellen
fönnen. Endlich am dritten Tage, da er nah langem Schlafe,
unmittelbar am Fuße feines ehemaligen Sitzes liegend, die Augen
aufihlug, glaubte er, in einem Winkel derjelben Stube Alerei
mit jeinem Lieutenant Yegor figen zu fehen. Doch war er nicht
gewiß, ob er wirklich den Hetman Alerei Petrowitjch vor fich
babe; daran waren ebenjowohl die Nebel ſchuld, die noch auf
jeiner Stirne lagen, mie da3 etwas veränderte Ausfehen des
Hetmans. Alexei's Kleider hingen in Fetzen von feinem Leibe,
fein Haar, ganz verwildert, fträubte fich zum Theil in die Höhe
und dedte anderntheils berabfallend jein überaus blafjes Gelicht.
Seine Augen glübten fieberijh und hatten trogdem einen über:
aus melandolifchen Ausdrud. Er jaß gebüdt da, hielt die Hand
feines Lieutenant3, der eben jo jung war mie er felbjt, und
Der Hetman, 445
ſprach zu diefem mit einer Stimme, die erzitterte, al3 ob er jeden
Augenblid in Weinen ausbrechen wollte,
„Die mir jeßt zu Muthe ift,“ ſagte der Hetman, „weiß ich
wirflih nicht, ob ich geträumt habe, oder ob ich wirklich das
Alles erlebte. Ich glaube an Zauberei. Die ganze Gejhichte ift
wie ein Märchen, und die Zigeunerin ift nur eine Fee, die mich
liebt. Wo ijt das Land, in dem ich diefe Zeit zubradhte? Nir-
gends. Frag’ alle Leute der Umgegend. Es wird dir Niemand
Etwas von der glüdjeligen Stelle im Walde jagen fünnen. Ich
weiß nicht, wie ich wieder hierher gekommen, und weiß aud
nicht, wie ich wieder den Weg dahin finden werde.”
Bei diefen Worten fprang der Hetman auf. Der Gedante,
den er eben ausgeſprochen, erjchredte ihn. Er war bereit, fo:
gleih abermals fortzureiten und zu verfudhen, ob er den Meg
in die Waldlichtung nicht wieder auffinden könne. Aber jein
Lieutenant zog ihn auf den Sig zurüd und beruhigte ihn mit der
Derfiherung, daß jene vwerzauberte Stelle auf Erden und nicht
fern vom Dorfe liege, und daß Verunfa, wenn jie ihn wirklich
jo liebe wie er ſagte, im ärgiten Falle dafür forgen werde, daß
er den Weg zu ihr wieder auffinde. Der Hetman, ber das Be:
dürfniß hatte, von feinem Glüde zu ſprechen, ſetzte ſich wieder
bin und begann lächelnd: „Alſo drei Nächte und drei Tage ſagſt
du, daß ich ausgeblieben 2“
„So iſt es,“ bejtätigte Yegor, „drei Nächte und beinahe drei
Tage.”
„Richt drei Minuten in meinem Leben find mir fo raſch ver:
gangen,” verficherte Alerei, und fügte fragend hinzu: „Sit das
nicht ganz jo, wie es in den Märchen erzählt wird? Und gerade
die Zahl drei, das ift ja immer die Zahl, die in den Märchen
vorkommt.“
„Ja, ja,“ beſtätigte der Kapitän, der ſich indeſſen erhoben
und dem Geſpräch mit halbem Bewußtſein zugehört hatte, „ir—
gend ein Zauber muß dieſe Zeit hindurch gewirthſchaftet haben;
denn wenn du, Alexei Petrowitſch, drei Tage ausgeblieben biſt,
446 Novellen.
fo muß ih, Pavel Sergewiih, eben fo lange bier getrunfen
haben, und doch glaube auch ich, jo eben erft hier angefommen
zu fein.“
Er rieb ſich die Augen und fuchte ſich zu befinnen. „Ich
glaube,“ fagte er endlich, „daß ich an dich eine Botjchaft zu be:
jtellen habe. — Könnteft du mir nicht fagen, um was es fid
eigentlich handelt, Alerei Petrowitſch?“
„Die willft du, daß ich dir fage, wa3 du mir zu bejtellen
haſt?“ fragte Alerei lächelnd zurüd.
„E3 ift eine dumme Geſchichte,“ murmelte der Kapitän und
fragte fih hinter den Ohren — „wenn ich den Auftrag nicht be
jtelle, habe ih vom Oberften allerlei Fußtritte zu erwarten. Er
it fo kitzlich im Punkte der Ehre.”
Dieſes legte Wort ſchien ihn plöglih, wenn auch nur ver:
ſchwommen, an feinen Auftrag zu erinnern. „Ganz richtig,”
rief er aus, „das ift es. Michael Iwanowitſch will wiffen, wann
du dich mit ihm ſchlagen willjt, weil er dich beleidigt hat.”
„Michael Iwanowitſch?“ fragte Alerei. „Das ift ein Irr—
tbum; Michael Iwanowitſch hat mich nie gefränft, und ich habe
ihm feine Herausforderung gejchidt.”
„Nicht?“ fragte der Kapitän erjtaunt.
„Niemals,“ beftätigte der Hetman, „er hat meine Ehre nicht
gefränkt, und fo viel ich weiß, ich auch die feinige nicht. Wenn
da3 geſchah, jo mar ed ohne mein Willen. Unjer Beider Ehre
ift hoffentlich nicht fo leicht gekränkt.“
„Gott ſegne di, Alexei Petrowitſch,“ rief der Kapitän voll
Freude, „du haft diefelben Anfichten von der Ehre, wie ich; ich
babe dem Oberften gejagt, das find nur Dummbeiten. Wer
wird fih denn ſchlagen? Zwei Ruſſen, das find zwei Brüder,
und der Zaar iſt unfer Aller Vater. Friede! ich predige immer
Friede, und dem Öberjten werde ich jagen, daß du ganz meiner
Meinung bit und daß du das Alles für dummes Zeug hältit.
Was kannſt du auch gegen ihn haben? Er ift ein Ruffe, du bift
ein Rufe, ich bin ein Ruſſe, Yegor Georgewitfh da iſt ein
“ Der Hetman. 447
Ruſſe, wir find Alle Rufen und, fo Gott will, wird Alles aus:
gerottet, was nicht Ruſſe ift, und dann werden wir Alle in
Frieden leben, wie Brüder ſollen. Und dazu fage ih Amen —
und das will ih auch dem Oberften jagen.”
„Ganz gut,” lächelte der Hetman, „aber mit deinem Auftrag
ſcheint e& doch nicht die volle Richtigkeit zu haben. Du hätteft
ihn wohl anderswo beftellen follen, befinne dich.“
Der Kapitän, der feinem Gedächtniſſe nicht traute, rieb fich
die Stirne, und während er fich befann, wurde es ihm immer
zmweifelbafter, ob er wirklich einen Auftrag an den Hetman hatte.
Das Kopfzerbrechen ftrengte ihn augenscheinlich an, daß er endlich
ungeduldig wurde und ausrief: „Es ift gut, es iſt Alles gut,
ich werde die Sache ſchon aufs Frieplichite abmachen, daß der
Oberſt zufrieden fein wird. Er wird ſich auch nicht gerne jo für
Nichts und wieder Nichts Schlagen wollen !”
So ſprechend beftellte der Kapitän noch ein Glas, leerte es,
ließ feine Zeche auf Rechnung des Oberſten ſetzen, grüßte den
Hetman und deſſen Lieutenant, und trabte davon.
Alerei freute fih, mit feinem Lieutenant wieder allein zu
fein und wieder von dem erlebten märchenhaften Glüd der legten
Tage fprechen zu können; aber er that es nicht mehr mit ber
glüdlichen Beredtſamkeit wie vorhin, bevor ihn der Kapitän ges
hört hatte, Nicht deſſen Auftrag war e3, der ihn zerftreut machte,
fondern der ängftlihe Gedanke, in der That den Weg ins Bis
geunerlager nicht wieder finden zu fönnen. „Am Ende,” rief er
aus, „jehe ih gar nicht ein, warum ich es nicht gleich verfuchen
fol; noch weniger fehe ih ein, warum ich Verunfa und mein
Glück fo ſchnell verlaffen habe. Wer weiß, wie lange e3 dauert!
Mir jagt mein Herz, dab ich es raſch genießen joll, bevor es
dahingeht. Yegor Georgewitſch, mein Freund, fieh zu, daß mein
Pferd gut gefüttert wird, während ich die Kleider wechsle. Ich
muß nachſehen, ob mein Paradies nicht von der Erde ver:
ſchwunden ift.“
Nicht ganz eine Stunde fpäter ritt der junge Hetman wieder
448 Novellen.
dem Walde entgegen, und jein Lieutenant Yegor ſah ihm nach,
jhüttelte den Kopf und fagte: „Der ift verliebt, und wird in
feiner Liebe Dummbeiten machen, wie eö nur einem Fürjten er:
laubt ijt.”
Fünftes Kapitel.
In der Freitags: Soirde beim Grafen Schönborn hieß es,
das der Hetman Alerei fich gemweigert habe, die Herausforderung
anzunehmen, welche ihm Nikolajeff durch den Kapitän Veragin
babe zufommen lafjen. Oberjt Nikolajeff affeftirte, nicht viel über
diefen traurigen Gegenjtand ſprechen zu wollen, und Veragin,
der ebenfall3 zugegen war und weder Deutſch noch Franzöſiſch
verjtand, antwortete auf alle in Bezug auf dieſen Gegenjtand
an ihn gerichteten Fragen mit „Ja“ und „Oui*. Man erzählte
ferner, daß Hetman Alerei, um der Gefahr zu entgehen, ſich
gleih, nahdem ihm die Herausforderung zugelommen, in bie
Wälder geflüchtet habe, aus denen er bis zur Stunde noch nicht
zurüdgelehrt fei. Einige ruſſiſche Offiziere, die den Hetman befier
fennen wollten, zogen dieſe Gerüchte in Zweifel und behaupteten,
e3 müſſe hinter Allevdem ein Mißverſtändniß fteden, das ſich mit
dem Miedererfcheinen Alerei’3 aufllären werde. Aber Nikolajeffe
lächelndes Schweigen und Emiliens Beredjamkeit trugen viel dazu
bei, daß die Gejhichten allgemein geglaubt und die Feigheit und
Flucht Alexei's als Thatfahen angenommen murden. Man
erzählte ferner, daß es in dem Dorfe Duſchnik greulich hergehe.
Die Koſaken, fich jelbft überlaffen, mißhandelten die Einwohner,
plünderten die Häufer und verfauften die geraubten Gegenjtände
entweder haufirenden HandelSleuten oder den Eigenthümern jelbit
zurüd. Damals geſchah es, daß das junge Bauernmädcen ſich
in da3 aufgehadte Eis eines Teiches ftürzte, um den Verfolgun:
gen eines Kojafen zu entgehen, und das andere jchöne Mädchen
aus gleichen Urfachen in einen Ajchenhaufen jprang, der unglüd:
Der Hetman. j 449
licher Weife noch glühend war und aus dem fie halb verbrannt
bervorgezogen wurde. Es war nicht zu leugnen, daß die ſich
jelbft überlaffenen Koſaken, ihres Führers beraubt, in dem Dorfe
ärger hausten, al3 es der Feind hätte thun können. Nikolajeff,
der diefe Erzählungen fammelte, hielt es für feine Pflicht, nad
Prag an das Kommando zu berichten, und zwei Tage nachher
befam er den Befehl, auch die Koſaken des Dorfes Dufchnif unter
fein Kommando zu nehmen. Da Alerei verſchwunden blieb, be:
richtete Nikolajeff aufs Neue, und in der Antwort, die er erhielt,
wurde der Hetman bereit3 als Deferteur betrachtet.
Alerei ahnte von alledem nichts. Sonſt konnte ein KRofalen:
offizier, wenn man nicht gerade dem Feinde gegenüber ftand, von
feinem Boften fortbleiben und feinen Freuden nachgehen, jo lange
er wollte. Es fragte fein Menſch darnach, meil e3 feinem Offi—
zier einfiel, ihn anzugeben. Alerei, in feiner glüdlichen Zurüd-
gezogenheit voll Liebe und Freuden, wünſchte mandmal, daß
während feiner Abmefenheit der Befehl zum Aufbruch fomme und
er in den Armen der Liebe zurückgelaſſen und vergefjen werde.
Er follte ja feine Heimat am Don nicht wiederfehen, auch auf
dem Schlachtfelde nicht ehrenvoll fallen — da ſchien es ihm noch
die beſte Verwirklihung der Prophezeiung, wenn er bei Ve—
runla blieb, Manchmal allerding3 dachte er auch als Golvat an
die Möglichkeit, im Falle eines Aufbruches feines Korps als
Dejerteur zu erfheinen; dann aber beruhigte ihn Verunka mit
der Verfiherung, daß er e3 dur ihre Kundſchafter, die Zi—
geuner, jedenfalls erfahren werde, wenn fi in der Gegend
irgend eine Bewegung, die auf Aufbruch der Koſaken deute, bes
merfen ließe.
Sein Lieutenant Yegor fing bereit3 zu glauben an, daß mit
dem Hetman wirklich irgend ein Zauber fein Spiel treibe. Wenige
Tage nach deſſen abermaligem Verſchwinden, al3 die fchredliche
Koſakenwirthſchaft im Dorfe begann, fing er nad ihm zu fuchen
an, ohne die glüdliche Dafe, die ihm Alerei jo märchenhaft
geihildert hatte, auffinden zu fönnen. Er erneuerte feine An:
Morig Hartmann, Werke VI. 29
450 Novellen,
jtrengungen, als Nifolajeff da3 Kommando in Dufchnik übernahm,
und von dem Augenblide an, da man von Alerei redete, jtellte
er an dem Punkte, wo fein Hetman in den Wald hineingeritten
war, hinter dem Nüden des Oberjten Wachen auf, die ihn be
nachrichtigen jollten, jobald der Hetman an diejer Stelle wieder
bervorfomme. Dieb geſchah auch wirklich eines Abends bei hellem
Mondicheine, da Yegor vor dem Dorfe auf und nieder wanderte.
Alerei ritt jo langjam aus dem Walde heraus, daß es den auf:
geitellten Koſaken leiht war, ihm zuvorzufommen und daß ihm
Yegor beinahe bis an den Rand des Waldes entgegeneilen fonnte.
In wenigen Worten theilte ihm diejer mit, welche Gerüchte um:
liefen, und was indejlen vorgegangen.
Alerei erhob den Kopf, ſah Negor ftarr ind Geſicht und
ihien das Mitgetheilte nicht zu verjtehen. „Dumme Welt,” jagte
er endlich achjelzudend, „nichts als Schmerzen und Schlechtig:
feit, während dort drin im Walde nicht3 al3 Glüd und Liebe.
Ich thue am beiten, wenn ich gleich wieder umfehre.”
Mirklih machte er eine Bewegung mit dem Zügel, als ob
er Augenblid3 fein Pferd wieder wenden wollte, aber Yegor er:
griff den andern Zügel und rief: „Träumer, es iſt endlich Zeit,
daß du aus deinem Traum erwachſt! Willſt du deine Thorheit
fo weit treiben, bis du nie wieder nach Nußland zurüdfehren
fannjt 2!“
„Rah Rußland,” wiederholte Alerei ahjelzudend — „weißt
du denn nicht, daß ich die Ebenen des Don nie wiederjehen joll ?“
„Thorheit!“ rief Yegor wieder, „Ichlage dir dieſe Thorheiten
aus dem Sinne und werde wieder ein Mann. Denke auch ein
wenig an deine Ehre! Vergiß nicht, daß du jeit vielen Tagen für
eine Memme giltjt, die vor Nilolajeff weggelaufen ift.“
„Ja fol” ſagte der Hetman fi bejinnend, „das ijt richtig,
ich begreife jegt die ganze Geſchichte. An Alledem iſt Nikolajeif
ſchuld, der mich haßt, weil ich ihn bei der Gräfin Emilie aus:
geftohen habe. Närrijcher Kerl, eine Welt voll folder Gräfinnen
überlafje ih ihm für eine Zigeunerin wie Verunka. Aber das
Der Hetman. 451
mit dem Duell, dad muß gleich abgemacht werden. Wenn du
mein Freund biit, Yegor, jo ſchwingſt du dich gleich auf das
Pferd dieſes Mannes” — er deutete dabei auf einen der Koſaken,
die ihn am Walde erwartet hatten — „und reitejt mit mir als
mein Sefundant.”
NYegor wollte wideriprechen, aber Alerei befland auf feinem
Verlangen, und anjtatt in das Dorf zu reiten, ritten die beiden
Offiziere den Weg bin, der den Wald entlang in das Dorf
führte, in welchem Nicolajeff fein Quartier hatte. Yegor meinte,
daß man eben jo gut in Dujchnif hätte bleiben können, da Nico:
lajeif regelmäßig dort übernachte, um vecht zu zeigen, daß er
den Hetman im Kommando erfege — vielleiht auch, um diejen
port anzutreffen, wenn er endlich heimfehrte.
„Deſto nothwendiger ift es,“ ermwiderte Alerei, „daß ich ihn
aufjuhe und mid nicht von ihm in meinem Lager überrafchen
lafje.”
Sie ritten nicht zehn Minuten lang, al3 ihnen ſchon zmei
andere Reiter entgegen famen, die jelbit ein Kurzſichtiger aus der
Ferne erfannt haben würde: die lange Don Quirote-Geftalt des
Oberſten und die kurze, dide des Kapitäns, deilen afthmatijchen
Athem man aus weiter Ferne durch die ftille Nacht hörte,
„Er fommt wie gerufen,” ſagte Alerei zu feinem Begleiter ;
„und zur böfen Stunde,” fügte er düſter hinzu, „venn er hat e3
mit einem verzweifelten Gegner zu thun. ch weiß nicht, ob ich
Verunfa jemald wiederſehen werde. Die Zigeuner find meiner
müde, weil ich Verunka am Herumftreifen hindere. Vielleicht in
diejer Nacht jchon verſchwinden fie mit ihr, und e3 verwijchen
fih ihre Spuren in aller Ferne. Der Zigeunerfönig will fie mir
auch entreißen und die Prinzeflin vom Don zur Königin von
Aegypten machen. Das Alles habe ich vor faum einer Stunde
erfahren, und ih fürchte, daß es vor Allem Oberft Nicolajeff
empfinden wird.”
So ſprechend, gab er jeinem Pferde die Sporen, riß feinen
Säbel aus der Scheide und jprengte den Kommenden entgegen.
452 Novellen,
„Hurrah! Michael Iwanowitſch!“ rief er, den Säbel über
dem Kopfe ſchwingend, „Hurrah! da ift die Memme, die fich vor
dir verjtedte. Heraus mit deinem tapfern Degen und fieh, wie
du mit der Memme fertig wirft!“
Oberſt Nicolajeff, jo plötzlich angegriffen, ftußte einen Augen:
blick und riß fein Pferd rüdwärts. Der Kapitän, ver beim An-
iprengen Alexei's eine ungejhidte Bewegung gemadt, aber nicht
fo weit rückwärts prallte wie der Oberft, kam zwifchen die beiden
Gegner, und da auch Oberft Nicolajeff feinen Degen zog und er
ſich zwifchen zwei blanken Waffen befand, die über ihn hinweg
auf einander loszufchlagen drohten, erſchrak er ſichtlich und ließ
feine Zügel fallen, was ihn binderte, fi aus der gefährlichen
Lage zu ziehen. Er hob beide Arme in die Höhe und ſprach
ftotternd und mit flehender Stimme: „Alexei Petrowitſch, haft
du mir nicht verfprohen — iſt es nicht eine Dummheit — ftede
deinen Säbel ein — Michael Iwanowitſch, und du — tapferfter
aller Koſaken, haft du mir nicht erft geftern gefagt, daß es aus
ift mit dem Duell — du ſchlägſt dich ja nicht mit einem Dejer-
teur — mer wird Chriftenblut vergießen — ftedt eure Säbel
ein, ihr tapferiten aller Ruſſen!“
Während er jo durch einander und immer weiter jammerte,
hatte Alerei fein Pferd herumgeworfen, und fein Säbel Hang
bereit3 auf den Säbel Nicolajeff3. Diefer parirte gejhidt und
führte einen Hieb gegen Alexei's Kopf, bewirkte aber nur, daß
deſſen Koſakenmütze herabfiel. Yegor, wohl wiſſend, meld einen
guten Schuß die Pelzmütze gegen Säbelhiebe gewährt, jprang,
da er felbft nur ein leichtes Käppchen aufhatte, raſch vom Pferde,
um die Mütze aufzuheben und fie Alerei wieder aufzujegen. Wie
er den Kopf wieder erhob, fehien das unnöthig, denn dem Ober:
ften Nicolajeff fprang ein dider Blutjtrahl aus ver linfen Seite
des Haljes. Er bäumte ſich und redte fi in den Bügeln hoc
empor, während ihn Alerei anjtarrte, wohl ahnend, daß er
feinem Feinde, indem er ihm die große Ader durchhieb, eine
tödtlihe Wunde beigebracht. Aber der Oberft redte fich immer
Der Hetman. 453
höher, beugte fich weit vor über den Hals feines Pferdes, und
während Yegor berbeifprang, um ihn in feinen Armen aufzus
fangen, da e3 den Anjchein hatte, daß er vornüberftürzen jollte,
bob der Sterbende mit der legten Anftrengung noch einmal‘
feinen Arm, und während er in ver That vorwärts ftürzte, fiel
auch jein Arm, unterftügt von der fallenden Wucht des Körpers,
nad vorwärts, und der Säbel, den er frampfhaft feithielt, traf
auf das unbededte Haupt Alexei's. Yegor hörte deutlich, wie
das Eifen in den Knochen einhadte. Im felben Augenblide
fanfen beide Gegner von den Pferden, — der Eine, deſſen
Blut in Strömen aus der geöffneten Ader ſchoß, offenbar in
demjelben Momente todt, der Andere noch mit einem Ausrufe
des Schmerzed auf den Lippen.
Dem Kapitän, hinter deſſen Rüden das Alles im Laufe
einer kurzen Minute vor ſich gegangen, und der Nicht3 von dem
Kampfe gejehen hatte, gelang es endlich, die Zügel feines Pfer:
de3 wieder zu ergreifen und fich zu wenden, Spradlos und bes
megungslos blidte er auf die beiden vor ihm liegenden Kämpfer,
bis er ſich foweit faßte, um über Stirn und Bruft ein Kreuz
nad dem andern zu ſchlagen. Yegor warf fih in den Schnee,
faßte den Kopf Alerei’3 und rief um Hülfe.
Es war, al3 ob troß der Dede, in meldher der Zweikampf
ftattgefunden, der Hülferuf an hundert Ohren gedrungen wäre,
denn aus dem Walde heraus auf die Landſtraße bewegte ſich mit
einem Male ein langer bunter und fonderbarer Zug von Män—
nern, MWeibern und Kindern, und zwifchen diefen Heine Pferde,
die Reiter oder Gepäd trugen, grunzende Schweine, Hunde und
Gethier von allerlei Art. Der Zug ſchien nicht im geringiten
Willens, auf ven Hülferuf Yegors zu horchen, und zog über die
Landſtraße hinweg, ohne fih dur den Anblid ver blutigen
Gruppe, jelbjt nicht durch die Flüche des Kapitäns, der fich in:
deſſen gefaßt hatte, aufhalten zu laffen. Erſt als die Mitte des
Zuges auf der Landftraße ankam, ſtockte er, und plöglich ſprang
eine verhüllte Geftalt von einem der Pferde und kniete im felben
454 Novellen.
Augenblid neben Yegor und drüdte ihre Wange an die blafle
Wange Alexei's. Die Kapuze war ihr bei der heftigen Bewegung
vom Kopfe gefallen, und Negor erfannte beim Lichte de Mondes
ein ſchönes Zigeunergefiht, won dem er bald errieth, wen e3 ge:
börte, Nur einen kurzen Moment gab Verunka ihrem Schmerze.
Schnell gefaßt, mifchte fie mit ihrem Kleide das Blut von
Alexei's Haaren und prüfte mit Kaltblütigfter Nube die Wunde,
„Der Säbel,“ Lifpelte fie, „ift nicht ganz durchgedrungen — er
ift nicht todt, er ift nur betäubt — ich werde ihn heilen.“
Dann erhob fie fi, rief dem Zuge, der indefjen in feiner
ganzen Länge Halt gemacht hatte, während ein Haufe von Bis
geunerfnaben den beiden freigewordenen, im Felde herumirren:
den Pferden nahjagte, einige Negor und dem Kapitän unver:
jtändlihe, aber wie ein Befehl Elingende Worte zu. Ein Ge
murmel, bie und da ein Gefchrei, erhob ſich aus dem Haufen
der Zigeuner. Verunka trat ihnen um einige Schritte näher, er:
bob den rechten Arm und ſchrie ihnen ein einziges Wort zu, auf
welches das Gemurmel fofort leiler wurde und endlich ganz ver:
ftummte, als fih im Zuge ſelbſt die alte Zigennermutter ver:
nehmen ließ und, wie e3 fchien, der Enkelin beiftimmte. Yegor
ſah diefer Szene mit Nengftlichkeit zu, und da fih der Zug
wieder in Bewegung ſetzte und weiter wanderte, glaubte er ſchon
Derunka’3 Bemühungen gefcheitert, als er zu feiner Freude be
merkte, daß die Zigeunermutter mit vier Fräftigen Männern aus
ber Schaar zurüdblieb. Diefe traten vor, breiteten ein großes
wollenes Tuch auf den Schnee und legten Alerei darauf. Dann
ergriff jeder der vier Männer einen Zipfel des Tuches, zog ihn
über die Schulter, und von Verunka und der Figeunermutter
geführt, gingen fie gleichen und fanften Schritte, der auf dem
gefrorenen Schnee faum zu hören war, verfelben Stelle zu, mo
der Zug aus dem Walde gebroden war. Yegor folgte ihnen, um
den Freund nicht zu verlaflen, aber plötzlich fühlte er fich von
einem Arme zurüdgehalten. „Heilige Mutter von Kaſan!“ rief
der Kapitän, „willft du mih um Mitternacht mit einem Todten
Der Hetman. 455
allein laſſen!“ — Negor bedachte, daß der Kapitän die Leiche
des Oberſten allerdings nicht allein in das ferne Dorf bringen
fonnte, daß Alerei wohl aufgehoben und guter Pflege ficher ſei —
der Oberjt war vielleicht auch nicht todt und konnte bei fchneller
Hülfe ind Leben zurüdgebradt werden, obwohl es dazu nicht
den geringften Anschein hatte, denn der unglüdliche Körper lag
neben einer Lache von Blut, das aus der geöffneten Hauptader
bervorgeftrömt war, fo bleich da, ala ob nicht ein Tropfen des
Lebensfaftes in ihm zurüdgeblieben wäre. Auch hatte Verunka
bei jeinem Anblid eine Bewegung mit der Hand gemacht, die
veutlih befagte, daß fie ihn für verloren halte. Trotz Allem
wußte Yegor nicht, was anzufangen. Obwohl im erften Augen:
blide entjchloffen, mit dem Kapitän die Leiche des Oberften ins
Dorf zu bringen, lief. er doc dem verwundeten Alerei nach ; aber
am Rande des Waldes angefommen, hörte und fah er, troß an:
geitrengtem Ohr und Auge, nicht3 mehr von den Zigeunern, bie
ihn fortgetragen, ja er erkannte felbjt im Schnee nicht die ges
ringſten Spuren. Sie waren verfhwunden, und er kehrte zum
Kapitän zurüd, |
Sechstes Rapitel.
Der Oberjt wurde auf dem Kirchhofe zu Przibram beftattet.
Das Kommando über die in Dufchnik einquartierten Koſaken be:
fam an feiner und an Alexei's Statt der Kapitän Veragin. Der
Zweikampf und der Tod des Obersten machten im ruflifchen Ar—
meelorp3 großes Aufjehen. Man war an Dergleihen nicht ge:
wöhnt und wollte aud nicht zugeben, daß fo was vorkommen
fönne. Negor und der Kapitän, die nicht als Sefundanten gelten
durften, jtellten die Sache wie eine zufällige dar, und das Kom
mando in Prag wollte den Tod des Oberften wie eine einfache
Ermordung deflelben betrachtet mwiffen. Aber, wenn es ſchon
feiner Familie und feiner Verbindungen wegen ſchwer mar,
456 Novellen,
Alerei für einen Dejerteur zu erklären, jo war e3 noch ſchwerer,
ihn der Ermordung eined Vorgejegten anzuflagen und dieſes
Verbrechens wegen vor ein Gericht zu ftellen. Dieje jchwierige
Angelegenheit verurfacdhte dem Generallommando großes Kopf:
zerbrehen ; man fonnte zu feinem Entſchluſſe gelangen, und wie
vie Tage bingingen, hielt man es für dag Gerathenſte, das
Ganze nah und nah in fanfte Vergeſſenheit finken zu laſſen.
Diefem Eugen Auskunftsmittel ftand nur die Furcht entgegen,
daß Alerei eined Tages wieder erjcheine, aber Kapitän Veragin
ſchwur hoch und theuer, daß der Hetman längft felig entſchlafen
jein müſſe, da man von einer fo fürdterlihen Wunde unmöglid
genejen könne, und der Entſchluß ftand feſt, Alerei Petrowitich
al3 einen Todten zu betrachten. Man verfolgte die Sache nit
weiter, und in der That war es nach einiger Zeit, ald ob Der-
gleihen nie gejchehen wäre. Das Schloß Hluboſch, wo die Er:
innerung an das Greigniß hätte genährt werden fünnen, war
verjhloflen, denn Graf Schönborn wie feine Nidhte glaubten
einzufehen, daß fie mit den ruſſiſchen Offizieren fein Glüd hätten,
und reisten nach Prag, dann zu Hofe nah Wien ab.
Es mochten ungefähr jeh3 Wochen jeit jener Nacht des Zwei:
fampfes verflojjen gemejen fein, und Alles ſchien nach dem ver:
abredeten Plane der rufjiihen Offiziere glüdli von Statten zu
gehen, da Wlerei nicht wieder auf dem Schauplage erſchien und
die Annahme, daß er todt fei, rechtfertigte, als Veragin zu
feinem Schreden wieder an alles das, mas ihm fo viel Angit
und Sorge eingeflößt hatte, gemahnt wurde. Mit einem Male,
al3 er von einem Dorfe zum andern ritt, fah er zwei ſchwarze
Kerle aus dem Gehege bervortreten und fich ihm in den Weg
ftellen. Er glaubte im erjten Augenblide an einen Raubanfall,
und war ſchon im Begriffe, fein Pferd zur Flucht zu wenden,
als ihn die unterthänige Stellung der beiden Geftalten und ihre
flehentliche Geberve beruhigte. Sofort herrſchte er fie mit der
Frage an, was fie auf feinem Wege zu thun hätten.
„Bäterhen,” fagte der Eine der Beiden mit dem fanfteften
Der Hetman. 457
Tone in der Stimme, „Väterhen, wir find arme Zigeuner und
fommen nur, um von deiner Gnade Hülfe zu verlangen. Bes
freie und von einem läftigen Gafte, der uns an Allem hindert,
und von dem unfere Prinzeflin nicht laffen will. Es wäre und
ja ganz recht, ihn mit uns fortzunehmen nad Ungarn und ihn
al3 unfern Bruder anzuerfennen, wenn er und nur zu Etwas
nüß wäre. Aber jest, da er durch die Kunft unferer Prinzeflin
wieder geheilt ift, zeigt jich3, daß wir ihn zu Nichts brauchen
fönnen. Er ift zu Nichts mehr geſchickt, zu feiner der Künfte und
Wiſſenſchaften, die und arme Zigeuner ernähren, denn ſieh,“ —
und den Finger auf die Stirn legend jeßte der Spreder hinzu:
„nenn fieh, das Vögeldhen, das darin jaß, iſt ihm wahrfcheinlich
durch die Spalte im Schädel vavongeflogen, ehe Verunka die
Hand darauf legen konnte.”
„Was ſchwatzet ihr mir da von Verunfa und Vögelchen und
läjtigem Gafte vor?” brummte der Kapitän. „Was und Wen
meint ihr? Sprecht doch wie vernünftige Chriften, daß man euch
verſtehe und nicht wie gottwerfluchte Heiden, die ihr feid, in Bil
dern und Räthjeln.”
„Wir ſprechen vom Hetman Alerei Petrowitſch,“ nahm ver
Andere das Wort, „Er ift noch immer bei uns verftedt, und
gegen die Prinzeflin, die in ihn vernarrt ift, dürfen wir Nichts
thun, es würde ung ſonſt fchlecht ergehen, denn wenn fie ung böfe
wird, jind wir verloren. Es kann Niemand auf der Erde tanzen,
fingen und die Zukunft deuten wie fie, und Niemand mie fie
lennt jo viele geheime Künfte. Darum wollten wir dir fagen,
wenn ihr ven Alerei Petrowitſch wieder haben wollt, zeigen wir
euch den Weg in den Berfted, wo ihr ihn holen könnt.“
Pavel Sergewitſch, der mit einem Male alle feine und des
ganzen Offizierkorps Verlegenheiten wieder auftauchen fah, der
nicht3 dabei gewinnen konnte, wenn man Alerei’3 habhaft wurde,
wohl aber verlieren, wenn diefer mit heiler Haut davonfam und
wieder in feine Stelle, die er felbft jeßt inne hatte, eingefeßt
wurde; nicht verjtehend, was die Zigeuner Betreff3 der Vernunft
458 Novellen.
Alexei's angedeutet hatten, — geriet in Zorn, machte die
Geißel vom Sattel los und fprengte auf die beiden Zigeuner ein.
Dieſe ſprangen erfchroden über die Hede, wohin ihnen ver er=
grimmte Kapitän nicht folgen fonnte, und hörten nur noch von
ferne, wie er fie mit hundert Ainutenbieben bedrohte, wenn fie
ih noch einmal vor ihm fehen ließen, oder irgend ein Wort über
Alerei Petrowitfch mittheilten.
Der Kapitän wußte, daß alle Verlegenheiten ein Ende hätten,
wenn nur noch zwei Tage über die Geſchichte, wie fie jetzt ſtand,
bingingen. Der Hetman war als todt ind Buch eingetragen, und
mit diefem Buche follte — der Befehl war ſchon da — über:
morgen das ganze Armeeforps aufbreben, um ſchleunigſt nad
Rußland zurüdzufehren.
Dieb geſchah aud in der That, und als ſich des Frühlings
erite Sonnenſtrahlen zeigten, als der Schnee zu ſchmelzen begann,
war, noch vor dem Winter, der mwinterlihe Gaft, das rufjische
Armeelorp3, aus der Gegend verfhmwunden. An einem und dem:
jelben Tage brachen fie in allen Quartieren des Beraunerfreijes
auf und zogen auf ihren leichtfüßigen Pferden raſch dem Norden
entgegen.
Man war im Dorfe Duſchnik, wo man fich fo fehr gefreut
hatte, die läftigen Gäfte los zu fein, ſehr erſtaunt und erfchroden,
als man eines Morgens wieder eine Koſakenuniform erblidte.
Alles Tief zufammen, um den einfamen Kofafen, der wor der
Mühle wie ein Träumer auf und ab ging und ohne Unterlaf
vor ſich binlächelte, zu betrachten, und erjt nach langer Prüfung
erfannte man in dem lächelnden Gelichte, das ſich gewaltig ges
ändert hatte, den Hetman, der chemals bier kommandirte.
Man hatte ihn diefen Morgen auf der Schwelle der Mühle
ichlafend gefunden. Die Müllerfnechte erzählten, daß fie in der
Nacht ein Geräufch gehört und dur das Fenſter gejehen, mie
zwei Männer einen dritten vor dem Haufe vom Pferde hoben
und wie fie dann ein Mädchen, das fih an ihn klammerte, fort:
riſſen, e3 auf das leer gewordene Pferd banden und gleich darauf
Der Hetman. 559
mit dem Mädchen im Galopp fortritten. Das ganze Schaufpiel
habe etwas jo Geſpenſtiſches gehabt, daß fie, die Müllergefellen,
während der Nacht nicht nachzufehen wagten und daß fie erſt am
Morgen erkannten, daß e3 ein wirklicher und leibhaftiger Menſch
war, den man vor die Thüre des Müllers gefegt hatte. Die
Duſchniker hatten beim Anblid des. Hetmans rafcher als der
Kapitän verftanden, was die Zigeuner mit dem ausgeflogenen
Vögelchen meinten. Ob e3 in der That, wie Jene fagten, durch
die Spalte der Hirnfchale entflogen, oder ob feine Liebe und alle
die Vorgänge der legten Wochen das Heine Vöglein, den Ver:
Stand des Hetmans, erbrüdten, wir willen e2 nit; wir fennen
eben fo wenig die Vorgänge und Creignifje im Bigeunerlager.
Auch gelang es gleih an jenem Tage und in aller künftigen Zeit
den Fragen der Duſchniker nicht, etwas Näheres zu erfahren.
Alerei Petrowitſch hatte feine ganze Vergangenheit, felbit feinen
Namen, vergeflen. Seine gewöhnlichen Antworten beftanden in
einem gleihmäßigen Lächeln.
Der Müller, der ein guter Mann war, bielt es für feine
Pfliht, den Gaft, der ihm auf fo jonverbare Weiſe beſchert
. worden, bei ſich aufzunehmen, und da es derjelbe veritand, mit
Pferden umzugehen und fich bei dieſen im Stalle lieber und beſſer
befand, als in Gefellihaft von Menſchen, machte er ihn zu feinem
Kuticher, und der Berfafler diefer Gejchichte erinnert fih, von
dem alten grauhaarigen Ruſſen oft nad Prag kutſchirt worden
zu fein, wenn der Vater vom Nachbar Müller die Pferde miethete.
Im Laufe der Jahre vergaß der ruffifche Kutſcher die fran:
zöſiſche, deutfche und felbft feine Mutterfpradhe, ohne, da er immer
in der Einfamleit lebte, die Sprache des Landes erlernt zu haben,
So erſchien er, wenn er nothgedrungen auf eine Frage antworten
mußte, noch findifcher al3 er war, und die Bauern hatten, jo
lange er lebte, viel über ihn zu lachen.
Tante Helene,
Eine Familiengeſchichte.
Erftes Kapitel.
Es ift mir, al3 wäre es gejtern gejchehen. Und doch liegt
eine ganze Weltgefchichte zwijchen damals und heute. Damals
ſprach man noch von dem Tode Napoleons als von etwas Neuem;
freilich dauerte in einem böhmischen Dorfe das Neue mebrere
Jahre; damals faßen noch die Bourbonen auf dem Throne und
galt unfer Kaifer Franz noch für einen ganz guten Kaijer Franz.
Es iſt aljo ſchon lange her. Trogdem erinnere ich mich genau.
Die Mutter ftand auf einem Stuhle und räumte die Schalen
und Tafjen, die fie eben gefpült hatte, beim Scheine eines Talgs
lihtes, in den Glasfchranf; ich Stand auf ebenem Boden und
reichte ihr die Taſſen und Schalen vom Tiſche und war ftol;
darauf, mich nüglih machen zu fönnen, denn ich war ſchon
fieben Jahre alt. Die Tafjen wurden in zwei Reihen aufgeftellt;
vor jie hin aber, in die vorderfte Reihe, ftellte die Mutter acht
ihöne, gleich ſchlanke, beinahe alle mit Goldrändern eingefaßte
Porzellanbecher mit Henfeln, welche fämmtlih vorn auf dem
Baude, im Innern eines goldenen Zirkels oder eines Eichen:
kranzes die Inſchrift: „Andenken an Karlsbad“ trugen. Trotz
ihrer Einförmigfeit waren fie der Stolz des Glasfchranfes, und
jo oft ih der Mutter einen reichte, la3 ich, um mich in der faum
Tante Helene. | 461
erworbenen Kunjt des Leſens zu üben, mit lauter Stimme:
„Andenken an Karlsbad.” Diefe Andenken an Karlsbad kamen
alle vom Großvater, der feiner Gicht zu Gefallen jedes Jahr das
genannte Bad befuchte und jedes Jahr einen ſolchen Becher heim:
brachte und meiner Mutter ſchenkte. Ahr Wunſch war, endlich
ein volles Dutzend zu befigen, Was mich betrifft, fo machte ſchon
die achtfache Infchrift den Eindrud auf mi, als ob alle Ans
denken aus Karl3bad fämen, und wenn ich irgendwo von einem
Andenken ſprechen hörte, pflegte ich zu fragen: „Ein Andenten
von Karlsbad?” — Meine Mutter war ftolz auf ihren Glas
ſchrank, obwohl von feinem Inhalte felten Gebrauch gemacht
wurde; aber auch ich wurde ftolz, wenn ihn die Mutter jo ſchön
ordnete und alles Vergoldete vornhin ftellte. „So einen Glas—
ſchrank,“ fagte ich mir, „haben doch nur wir in ganz Littanig.”
Das war aber auch wahr, denn „Wir“ waren die reichiten Leute
des ganzen Dorfes. „Wir,“ d. i. Melchior Brant und Sohn,
d. i. mein Großvater und mein Vater, wurden menigftens auf
zwanzig bis fünfundzwanzig Taufend Gulden Gonventionsmünze
geichäßt, und das war viel in damaliger Zeit und bortiger Gegend.
Dabei wurde noch das alte, Heine Haus des Großvaters und das
etwas größere und neuere, das er hinter dem feinigen für den
Sohn gebaut hatte, die Stallung vor dem Haufe mit zwei Pfer-
den und brei Kühen darin und endlich ein gutes Stüd Feld nicht
mitgerechnet. Fragte ich meinen Vater: „Was bift du eigentlich,
Vater?” antwortete er mir mit ftolgem Bewußtſein lächelnd:
„Bir find Unternehmer, Wir, Melhior Brant u. Sohn. Da
der Vater immer „Wir“ fagte, hielt ich mich ebenfalls für einen
Unternehmer und war ebenfalls ftolz darauf, ein Unternehmer
zu fein. Mit diefem Titel aber, der mir früh ein großes Be:
wußtſein gab, verhielt es fi fo. Weder der Staat noch irgend
eine Patrimonialherrſchaft konnte damals den geringſten Bau
eine Dammes, eines Vicinalweges, einer Brücke und dergleichen
unternehmen, ohne von den Beamten aufs Schrecklichſte betrogen
zu werden, Man zog es vor, ſolche Unternehmungen dem Wenigft:
462 Novellen.
nehmenven zu überlaffen und diefem einen fleinen Gewinn zu
gönnen. Dabei fam man am beiten weg. Solde wenigitnehmende
Unternehmer waren Bater und Großvater, Meldhior Brant und
Sohn. Mein Großvater hatte das Geſchäft begründet und jtand
im Rufe eines in feiner Sache ausgezeichneten Mannes und dieß
bejonders jeit einer Unternehmung, die ihn beinahe zu runde
gerichtet hätte. Er hat die Gejchichte oft genug erzählt.
Da war nämlih einmal — mein Vater war damals noch
ein Kind — einige Stunden weit von unjerem Dorfe eine Brüde
zu bauen; e3 verjtand jich wie von jelbit, daß jie Melchior Brant
bauen werde. Aber da fand er bei der Ausbietung einen Mann,
der ihm ſchon mehrere Male entgegengetreten war und offenbar
ven beiten Willen hatte, Melchior zu verdrängen. Diejen Kon:
furrenten durfte man nicht auffommen laflen. Mein Großvater
ärgerte ih und in jeinem Aerger nahm er immer weniger und
weniger, bis ihm der Bau der Brüde zugejchlagen wurde. Nun
erit, beim Lächeln feines Gegners und bei fühlerem Blute, merfte
er, daß er und nicht fein Konkurrent der ruinirte Mann war.
Auf drei Stunden in der Umgegend war fein Steinbruch, den
er beim Baue bätte benugen fönnen; er wird gezwungen jein,
den Stein aus fo weiter Ferne herbeilommen zu lafjen, und bie
Iransportlojten werden eine größere Summe ausmachen, als
ihm der Staat für die ganze Brüde zahlte. Traurig betrachtete
er die Stelle, wo die Brüde jtehen und wo er jein ganzes Ber:
mögen ind Waller verjenfen jollte; traurig umkreiste er dieſe
Stelle ſeines Ruines. Nur manchmal bilieb er jtehen, um fein
ganzes Unglüd zu überdenken, und bohrte er mit jeinem Stode
in die Erde, gerade jo, wie ſich der traurige Gedanke an Verfall
und Armuth immer tiefer in fein Herz bohrte. So bohrte er,
auf einem Hügel stehend und nochmal3 auf feine Unglüdsjtelle
zurüdblidend — aber da wollte der Stod nicht weiter in den
Boden; etwas Steinhartes hielt ihn auf. Ein leuchtender Ge
danke fuhr meinem Großvater durch den Kopf; er grub mit Stod
und Taſchenmeſſer, er grub eifrig wie ein Maulwurf — er nahm
Tante Helene. 463
endlih Hände und Nägel zu Hülfe — und o Glück! — er hatte
einen Stein gefunden, einen Felſen, wie er ihn für jeine Brücke
nicht beſſer hätte bejtellen fünnen — nit hundert Schritte vom
Bauplage. Er war gerettet — er ftedte die Hälfte der Summe,
die ihm der Staat zahlte, al3 reinen Gewinn in die Tafche. Seit
jener Zeit galt er für einen Mann, mit dem Niemand konfurriren
fönne, und baute er allein, jpäter in Kompagnie mit meinem
Vater, alle Vicinalmege, Brüden, Dämme, Schulhäujer, auf
wenigitens acht Stunden in der Runde,
Das Alles wußte ich jehr früh, nämlich daß wir Unter:
nehmer und reiche Leute und endlich auch, daß wir „nobel“
waren, denn wir fprachen deutſch im Haufe und nur noble Leute
iprachen damal3 deutſch in Böhmen; czechiich ſprach nur das ges
meine Voll, Ich wunderte mich darum nicht, daß ung fo viele
noble Leute, Beamte und viele Fremde, die alle deutſch Sprachen,
bejuchten — und ih war gar nicht erftaunt, al3 es an jenem
Abend, da ich der Mutter die Tajjen und die Andenken an Karla:
bad reichte, an die Thüre Flopfte und zwei Fremde eintraten, die
jehr vornehm ausfahen, bejonver3 der Eine, der Größere und
Jüngere.
Er trug eine große ungariſche Bunda, oder Mantel mit
Aermeln, der vorn viele Fangſchnüre hatte, deren eine did und
in vielfachen Anoten über tie Schulter geworfen war und rüd:
wärts eine große mit Gold gemijchte Quaſte herabfallen ließ,
Während er mit der einen Hand in den Schnüren fpielte, bielt
die andere eine ebenfall3 fremdländiſch ausfehende Filchotter:
müße, wie denn die ganze Erſcheinung mit dem damals noch
feltenen Schnurrbarte etwas Fremdartiges hatte. Schnurrbart
und Molernafe gaben dem ſchönen Gejichte etwas jehr Männ—
liches, während doch Mund und Augen immer fehr milde, weich
und beinahe weiblich lächelten. Man mußte den jungen Mann,
der übrigens jünger ſchien al3 er war, gleich lieb haben, und
troß feinem vornehmen, cavaliermäßigen Ausjehen fühlte man
fih doch gleich vertraut mit ihm. Auch ſah er mir ſehr auf:
464 Novellen.
munternd zu, als ich mich näherte, um feine Bunda zu betrachten,
fo aufmunternd, daß ich an der großen Quafte bald wie an einer
Klingelfhnur 309. Er bielt fih jtile und ſchweigſam nahe ver
Thüre, während der andere fremde, ein Feiner, fehr beweg—
liher Mann von ungefähr fünfzig Jahren, auf meine Mutter
zutrat, einen Brief aus der Taſche zog und mit einer Zunge, die
eben fo beweglich ſchien wie feine ganze Geftalt, rafch eine Menge
Komplimente hbervorbradte, fi al Herrn Gregor Altmann, den
andern als feinen Schwager Wilhelm Gerhard vorftellte und,
den Brief überreihend, ihn al3 ein Empfehlungsichreiben an:
fündigte, da3 vom Bruder meiner Mutter fomme, und fofort
im rafcheften Zuge. Er war nicht zehn Minuten in der Stube,
al3 wir ſchon feine Abkunft Fannten, einen Blid in feine Ber:
bältnifje werfen konnten und als er ſchon die Schönheit unferer
Gegend, die Lage unſeres Haufes, ja felbft den Reichthum des
Glasſchrankes gelobt, mich einen jchönen Jungen genannt, die
Beichwerlichkeiten ver Reife beflagt und bedauert hatte, den Vater
nicht zu Haufe zu finden, Meine Mutter hatte faum Zeit, ihre
Freude darüber augzudrüden, daß fie Empfohlene ihres Bruders
empfangen und fich über die Unordnung auf dem Tifche zu ent
ſchuldigen. Sie war überzeugt, daß fie hier zwei ausgezeichnete
Männer begrüße. Ihr Bruder, Lehrer an der Hauptſchule einer
großen Stadt, d. i. einer Stadt von fiebentaufend Einwohnern,
der Gelehrte der Familie, auf deſſen Wort meine Mutter viel
gab, hatte fie ja empfohlen!
Es that mir fehr leid, als meine Mutter die beiden Fremden
zum Großvater hinüber führte und mir nicht erlaubte mitzugeben.
Ich hätte den jhönen Mann in der ungarifhen Bunda gerne
noch lange betrachtet und beinahe eben fo gerne feinen Heinen
diden Begleiter plaudern hören. Und wahrhaft wehe that es mir,
von der Gejelihaft ausgeichloffen zu fein, als glei darauf in
der Küche der Großmutter ein arges Baden und Kochen losging.
Ich hatte den einen Troft, wenigſtens nicht aus der Küche ge:
wieſen zu werden, und ich fonnte fehr wohl bemerken, wie Mutter
Tante Helene. 465
und Großmutter, die ab» und zugingen, bedeutungsvolle Blide
tauſchten. Ich ahnte, daß etwas Großes und Außerordentliche
vorging. Tante Helene war fehr ſchweigſam, was mich jehr
wunderte, da fie fonjt Haus und Hof mit Geplauder und Ge:
fang erfüllte. Mehr noch wunderte es mich, daß die Großmutter
ihre Tochter, bejagte Tante Helene, die immer ſehr propre ge:
fleidet war und die, nach dem Ausdrude des Großvaters, immer
ausfah, als hätte man fie eben aus einem Bühschen genommen,
beute nicht ſchön genug gekleidet fand. Sonft fand fie, daß ihr
Töchterhen für ein Dorfmädchen fich viel zu Schön anziehe und
viel zu viel Zeit darauf verwende. Heute fand fie das Gegen—
theil, und Tante Helene fträubte fich ganz gegen ihre Natur, ein
fchöneres Kleid oder wenigſtens eine hübſchere Schürze anzulegen.
Die Welt fchien mir auf den Kopf geftellt und ich fah Großmutter,
Mutter und Tante mit großen Augen an. Mit der Tante hatte
ich einiges Mitleid, denn die Großmutter fagte ihr, fie ftelle fich
dumm an und wiſſe mit den Fremden fein Wort zu ſprechen;
darüber verwunderte ich mich noch mehr als über alle Andere,
denn nicht einmal, fondern hundert Male hatte ich e8 aus dem
Munde meines Großvater3 gehört, mie fchade e3 fei, daß aus
dem Mädchen kein unge geworden; da3 hätte einen Advokaten
gegeben, der alle Andern auf zwanzig Meilen im Umtreife in
ven Sad geftedt hätte. Ich mußte ja außerdem, daß fie der
Großvater bei den ſchwierigſten Geſchäften, bei ven vermwidelteften
Aufträgen verwendete, daß er fie mit den höchſten kak. Beamten,
mit denen er in Berührung fam, verhandeln ließ. Und die follte
mit Einem Male dumm geworden fein. E3 ftand an jenem Abende
nicht3 auf diefer Erde feſt für mich; ich verftand die Welt nicht
mehr. Aber es ging mir doc ein Licht auf, als die Großmutter
einen Augenblid, da die Tante die Küche verlaſſen hatte, be:
nußte, um meiner Mutter rafch zuzuflüftern: „Du wirft dich
überzeugen, Sophie'hen, e3 ift ein Freier. Mas der Dide da
von MWollgefhäften fpricht, das ift Alles Geflunker. Wann ift
noch ein Gefhäftsmann wegen der Wolle in diefe waldige Gegend
Mori Hartmann, Werke VI. 30
466 Novellen,
gefommen? Ich wette hundert gegen eins: es ift ein Freier, der
wegen meiner Helene fommt, und der Gelbjchnabel von Mädel
hat's zuerjt gemerkt. Hab’ ich fie doch mein Lebtag nicht jo
ſchüchtern und einfältig gejehen.“
„Run, und wenn e3 wäre?” fragte meine Mutter und fügte
jtolz hinzu: „Ein Mann, den mein Bruder empfiehlt, ift gewiß
empfehlenswerth.“
„Ich ſage nicht Nein,“ gab die Großmutter zu, „und ſo
viel man ſehen und hören kann, iſt es ein recht netter junger
Mann, der ſich auch in der Welt umgeſehen hat. Er hat ganz
Ungarn durchreisſt und kam, Gott weiß wie weit, bis an die
türkiſche Gränze, wo alle Leute Soldaten find, und er erzählt
ganz ſchön davon.”
„Wenn ihn mein Bruder empfiehlt,” jagte wieder meine
Mutter, „jo ilt er gewiß ein recht gebilveter Mann, denn mein
Bruder geht nur mit gebildeten Männern um.“
„Davon bin ich überzeugt,“ bejtätigte wieder die Großmutter,
aber jie fügte etwas bedenklich hinzu: „Dein Bruder iſt ein Ges
lehrter — nun mir willen ja, wie Gelehrte find — auf weltliche
Angelegenheiten verjtehen fie fich Schlecht. Dein Bruder, ich will
dich nicht beleidigen, Sophie'hen, hat's auch nicht jo weit gebradit,
als es ein gejchidter Mann bringen könnte. Nun mag diejer
Herr Gerhard ein ganz gejhidter Mann fein und ein jchöner
Mann ift er gewiß, ob er aber darum eine gute Partie ift, wie
wir fie Gottlob für unfere Helene mit Recht beanspruchen dürfen,
ob jeine Umftände derart find, daß zehntaufend Gulden Mitgift
— aber,” unterbrach fich bier die Grogmutter und wandte ſich
mir zu, „da fteht der Heine Lump und horcht auf jedes Wort,
da3 wir fprehen — man kann gar nicht mehr reden, ohne von
diefem Heinen Volke belaufcht zu werden.”
Bei diefen Worten faßte fie mih an beiden Schultern und
ihob mich zur Küche hinaus, Ich war jehr unglüdlih, jo plög:
(ih au3 dem Familiengeheimniffe ausgeſchloſſen zu fein und brad)
in Weinen aus, Tante Helene, die eben aus der Stube trat,
Tante Helene. 467
hob mich zu fih empor und füßte mich mit noch größerer Zärt:
lichkeit al3 jonjt und machte mir, mährend fie mic in unfere
Wohnung zurüdtrug, alle möglihen Verfprehungen, um mid
zum Echweigen zu bringen. Auch mifchte ih mir fogleich vie
Thränen ab und fühlte das Bedürfniß, ihr für ihre Zärtlichkeit
und für ihre Verfprehungen meine Dankbarkeit zu beweifen, in:
dem ich ihr den Inhalt des Geſpräches von Mutter und Groß:
mutter verrieth. „Zante Helene,“ fagte ich, „ver ſchöne junge
Mann ijt ein Freier und hat das Land gejehen, wo alle Leute
Soldaten find, und dann ift noch etwas von zehntaufend Gulden
dabei, aber ob er eine gute Partie ift und von den weltlichen
Angelegenheiten weiß der Onkel Schulmeifter und weiß die Groß:
mutter auch nichts, aber der Onkel Schulmeifter kennt lauter ges
Ihidte Leute.“
Nachdem mich die Tante hatte ausfprechen lafjen, befahl fie
mir zu ſchweigen und fagte mir, wenn ich recht brav fein und
feinen Lärm machen wollte, jo lange die Fremden im Haufe find,
jo werde fie mir ein Stüd Pfannkuchen herunterbringen.
Über fie brachte keinen Pfannkuchen. Ich und mein kleines
Brüderhen blieben den ganzen Abend in größter Cinfamteit.
ALS der Vater fpät heimkam, holte ihn jogleid die Mutter hin:
über zum Nachtefjen. Sie felbit fam bald darauf zurüd, um
uns ind Bett zu legen. Allein die aufregenden Vorgänge dieſes
Abends ließen mich nicht ſchlafen und von unſerer Kinderſtube
aus, die mit der großen Wohnſtube durch eine große Oeffnung,
in welcher der Ofen ſtand, der beide Zimmer heizt, in Verbin—
dung war, konnte ich Alles hören, was drinnen vorging und
ſogar ſehen, wenn ich mich in meinem Bette nur ein wenig auf—
richtete. Nach dem Nachteſſen kam mein Vater mit der Mutter
in die Wohnſtube zurück. Die Mutter reichte ihm Kleider zum
Wechſeln, er aber ſagte, indem er einen andern Rock anzog:
„Es war nur eine Ausrede, daß ich den Rock wechſeln wollte,
weil ich mit dir allein zu ſprechen wünſchte. Weißt du, Sophie,
daß mir die zwei Leutchen gar nicht gefallen!“
468 Novellen.
„Die ,” rief meine Mutter erftaunt, „zwei Männer, die mein
Bruder empfiehlt *“
„Die Empfehlung deines Bruders in Ehren, fieht mir diefer
Herr Altmann jo recht wie ein Spigbube aus. Er fpricht jo
ichredlich viel, ald brauchte er die vielen Reden, um fich dahinter
zu veriteden; das weiß ich aus dem Geſchäfte, dab die Leute,
die fo viel reden, nicht viel taugen und daß die Leute, die viel
von Geld reden, nicht viel Geld haben.“ |
„Und der Andere?” fragte meine Mutter.
„Sin ſchöner Mann, o ja, ein fehr ſchöner Mann — jehr
ein ſchöner Mann, gewiß auch ein guter Menfd und wenn er
fpricht, thut er’3 ohne Prahlerei und wie ich vermuthe auch nur
darum, weil ihm der Andere gejagt hat, daß er jprechen muß.
Aber er ift mir verdächtig, meil er mit dem Andern ift. Er ilt
nicht fein eigener Herr, der Andere lenkt und leitet ihn und weil
er ein fo jhöner Mann ift, fo glaube ih, daß der Andere mit
ihm ſpekulirt.“
„Dazu ift er denn doch ſchon zu alt,” erwiderte meine Mutter,
„auch muß er ſchon zu erfahren fein, um fi wie ein Mädchen
gängeln zu lafien, ein Mann, der jo große Reifen machte.”
„Ja diefe Reifen,” fagte mein Vater fopfichüttelnd — „von hun:
dert Reiſenden find neunundneunzig Abenteurer, bleibe im Lande
und nähre dich reblich, und wo ift er gewejen? In Ungarn, wohin
alle Bankerottirer laufen, weil es dort feine Geſetze gibt; wäre
er in Sachſen oder in Preußen geweſen, ich hätte nichts dagegen,
Ungarn ijt mir verdächtig. Indeſſen,“ fügte mein Vater hinzu,
„ih will nit vorſchnell urtheilen und will vem jungen Manne
nicht Unrecht thun, denn er fieht ganz ordentlich und einnehmend
aus. Uebrigens wird man ſich ja erfundigen und wird der Mann,
bevor es zum Klappen fommt, mit der Sprade berausrüden
müfjen. Dazu bin ich ja da, der Bruder, und ift der Vater da.
Wir werben fehen.“
So ſprechend, verließ der Vater wieder das Zimmer, um zu
den Gäften hinüberzugehen; die Mutter hängte feinen Rod in
Tante Helene. 469
den Schrank und wollte eben zu ung herüberfommen, um nad)
den Kindern zu jehen, als die Thüre aufflog und meine ſchöne
Tante Helene hereinftürzte. Zwar einmal im Bimmer wußte man
nicht, was fie fo eilig da zu thun hatte, denn fie blieb ruhig an
der Thüre ftehen und fagte nichts. Meine Mutter jah fie an
und fragte, was fie wollte, da wurde fie wieder lebendig und
rief: „Sophie, weiß Gott, jo ein Mann: ift mir mit einem balben
Kopf lieber, als ein Neuberg mit zwei Köpfen.”
„Man follte wirklich glauben, daß du ſchon verliebt bift,“
fagte meine Mutter mit einigem Vorwurf in der Stimme.
„Ja,“ erwiderte die Tante mit Entfchievenheit, „ich bin es,“
und dabei hob fie den Kopf in die Höhe und fah meine Mutter
fo herausfordernd an, daß ich glaubte, fie wollte zu zanken an-
fangen.
„Aber Helene,” fagte meine Mutter befhwichtigend, „du bift
ja ein geſcheidtes Mädchen. So ein Schritt will überlegt fein —
du bift ja jonft nicht fo. Man weiß ja noch gar nicht? von dieſem
Manne, und ob er zu dir paßt, und feine Vermögensverhält—
nifje —”
„Das ift mir Alles gleichgültig! Diefen oder Keinen,” rief
die ſchöne Tante, und al3 ob fie nirgends Ruhe hätte, oder noch
einen Widerspruch von meiner Mutter befürchtete, lief fie wieder
zum Zimmer hinaus und meine Mutter folgte ihr.
Da war wieder fehr Vieles, was mir Kopfbrecdhen verur-
fachte und Vieles, was mir neue Lichter aufftedte. Daß der
Neuberg mit zwei Köpfen neben diefem Fremden mit einem
halben Kopfe genannt wurde, das erflärte mir zum erjten Male,
warum denn diefer gute Neuberg fo oft zu ung ins Haus fam
und warum er mir erſt vor Kurzem einen Kanarienvogel geichentt
hatte. Offenbar wollte er ebenfo wie diefer Fremde mein Onkel
werben. Es fchmeichelte mir, daß er mich mit dem Kanarienvogel
bejtehen mwollte und ich bevauerte ihn, in Erinnerung an bie
vielen häßlichen Sachen, melde Tante Helene hinter jeinem
Rüden gejagt hatte. Sie fand ihn nämlich überaus dumm und
470 Movellen.
plump. Ich fonnte ihr, wenn ich ihn mit dem Fremden verglich,
nicht Unredht geben, aber die Gefchichte von dem halben Kopf
und von den zwei Köpfen verſtand ich doch nicht recht; ich wußte
am Ende nicht mehr, welchem von Beiden fie einen halben und
welchem fie zwei gegeben hatte und ich glaube, ih träumte ſchon
al3 ich die beiden Freier meiner fhönen Tante Helene abwech—
jelnd mit einem halben, mit einem ganzen und mit zwei Köpfen
geipenftiih vor mir herumtanzen ſah. Ich fchlief jehr unruhig,
und als mich die Mutter am andern Morgen nach der Urſache
fragte, fagte ih, ich hätte deßhalb ſchlecht geſchlafen, weil vie
Tante Helene eine ſchlechte Partie machen jolle.
weites Anpitel. |
Die beiden Fremden reisten am Tage nad ihrer Ankunft
wieder ab. Es hatte fih im Haufe nicht verändert und doch
war alles anders und ganz anders, als nach der Abreije anderer
Beſuche. Alle Welt ſprach von Herrn Wilhelm Gerhard, nur
Tante Helene nit. Sie war nicht ſchweigſamer als ſonſt; fie
war lebhaft wie immer, aber fie fah aus wie Jemand, der im
Geheimen zu etwas entſchloſſen ift, und wenn die Andern von
dem Fremden fprachen, fagte fie fein Wort, aber gerade das
fchien zu bedeuten: fagt ihr, was ihr wollt, ich weiß doch, mas
ich thun werde. So viel ich mich erinnere, war das ganze Haus
in zwei Parteien getheilt, die Einen für, die Andern gegen den
Freier und beide Parteien mußten nicht reht, warum fie für
oder gegen waren. Der Großvater ftand damals auf Seiten de3
Fremden, nur weil ihm die Großmutter gejagt hatte, daß Helene
gewaltig verliebt fei und daß fie fich die ganze Nacht ſchlaflos im
Dette hin: und herwälze. E3 war mit dem Großvater eine eigene
Sache. Sein Lebenlang im höchſten Grade praftiih und auf
Erwerb ausgehend, wurde er in feinen alten Tagen romantifd.
Tante Helene, 471
Seit ihn die Gicht den größten Theil des Jahres an das Haus
bannte und ihn zwang, die Gejhäfte feinem Sohne zu über:
laflen, wurde er jung und etwas phantaftiih. Er ließ fih von
aller Welt Geſchichten erzählen und er felbit erzählte uns Kindern
Geſchichten aus alten Zeiten und allerlei Märchen, die er kannte
oder jelber erfand. Am Lebhafteiten aber äußerte fich feine zweite
Jugend im Verhältniß zu feiner jüngften Tochter Helene. Nach—
dem er ſchon vier feiner Kinder gut verforgt und verheirathet
hatte, hing fein ganzes Herz an diefem feinem jüngften Kine,
und er holte bei dieſem Töchterlein alle Zärtlichkeit nad, die er
bei jeinem früheren Gejhäftsleben den andern Kindern gegenüber
verfäumt hatte. Helene konnte er nicht nur Nichts verfagen,
jeder ihrer Wünfche wurde fein eigener Wunfh und in ihm viel
lebhafter al3 in dem Mädchen. Es reichte hin, daß ihr etwas
gefalle, und der Großvater faufte es ihr fofort, felbjt wenn fie
fih gegen die Ausgabe fträubte und mit dem Gefallen bei ihr
aud nicht der geringste Wunſch nach Befit verbunden war. Es
war übrigens natürlih, daß der alte Mann diefen Troft feines
Alters liebte. Helene, wenn auch nicht fo jchön, mie fich ihr
Vater einbildete, der fie für die größte Schönheit de3 Landes
bielt, war in der That ein überaus reizendes Mädchen und dabei
eined von jenen glüdliben Geſchöpfen, denen Alles gut ſteht,
was fie immer an» und umthun mögen. Sie vereinigte bie
mwiderjprechenditen Schönen Eigenschaften in ihrer Erſcheinung; fie
war fräftig und zart, derb und anmuthig, ruhevoll und beweg—
lich, ftolz und überaus freundlich und einnebmend. Mein Groß:
vater fannte faum eine größere Freude, als fie anzufehen, wenn
fie zu Beſuche ging, beſonders am Sonntage jchleppte er fich mit
Mühe auf die Bank vor der Hausthüre, won welchem Stand:
punfte aus er ihr am längften nachſehen konnte, wie fie über bie
Teihdämme, über die MWiefe, dem etwas entfernten Dorfe ent:
gegenfchritt und man konnte fiher fein, daß er feinen Sig nicht
eher verlaffe, als bis er, und zwar immer mit der Brille auf
der Nafe, fie defjelbigen Weges zurüdfommen gejehen. Ebenjo
472 Rovellen.
gerne hörte er jie jprehen und aus jedem ihrer Worte jog er die
Ueberzeugung ein, „daß fie wie das ſchönſte auch das geſcheidteſte
Mädchen im Lande jei.” Cr hatte nur einen Kummer. Er war
nicht jo reich al3 die Welt glaubte. Jedem feiner vier verforgten
Kinder hatte er zehntaufend Gulden W. W. mitgegeben; Aus:
ftattung und Hochzeiten, die jeinem Stolze entſprechend ausfallen
mußten, hatten auch an zwanzigtauſend Gulden gefoftet, Summa:
jechzigtaufend Gulven, ein großes Vermögen für einen damaligen
reihen Mann des offenen Landes. Es war ihm noch fo viel
übrig geblieben, um Helenen ebenjo reich auszuftatten wie die
andern Kinder, Nicht das grämte ihn, daß er, wie er allein
wußte, nachher als ein alter armer Mann zurüdbleibe, jondern,
daß er einem ſolchen Mädchen nicht einen Mann in höheren
Kreifen juchen könne. Inſoferne war ihm der vom Himmel ge:
fallene Freier, Herr Wilhelm Gerhard, von dem er ſonſt nicht3
wußte, jehr lieb, ala diefer mit Ausfehen, Auftreten, Erfahrung
und Bildung diefen hohen Kreijen bis zu einem gewiſſen Grade
angehörte. Alles das zufammengenommen machte, daß er ent:
jhieden auf Seiten Helenens ftand und entſchloſſen war, dem
jungen Manne, der in einiger Zeit wiederfommen follte, im
Falle er um die Hand feiner Tochter anhielte, eine hoffnungs—
volle Antwort zu geben. Mein Vater hingegen, der no ganz
in der praftiihen Periode ſtak, aus welcher der Großvater in
jeiner zweiten Jugend herausgewachſen war, empörte ſich über
die Liebe de3 Mädchens und über die Voreingenommenbeit des
alten Mannes einem Fremden gegenüber, von dem man jo wenig
wußte, der offenbar weder Stand noch Geſchäft hatte, ihm eben
wegen feiner Schönheit und Liebenswürdigfeit al3 ein unpraftis
ſcher Gejelle und in der Gejellfchaft feines Schwagers noch dazu
als verdächtig erfhien. Die Großmutter ſchwankte; mein Vater
hatte fie mit feinem Mißtrauen angejtedt und ihre mütterlice
Liebe war auf der einen Seite beforgt, auf der andern gab fie
gerne der Neigung ihres Kindes nad, und diefes Legtere hielt
fie für unbedingt nothwendig, überzeugt wie fie war, daß jeder
»
Tante Helene. 473
Widerſpruch Helenen in ihrem Entſchluſſe nur befeftigen könne.
Helene, die fich bisher allen Bewerbern gegenüber überaus ſpröde
benommen hatte, galt bei Jedermann für ſtolz und alt, bei
Jedermann, nur nicht bei der Mutter; dieſe behauptete immer,
daß wenn diefes Kind fich einmal irgend etwas oder irgend Je—
mand in Kopf oder Herz fegen werde, es feine Macht der Erbe
wieder werde austilgen fünnen und daß, wenn Helene ftolz jei,
fih diefer Stolz gegen Diejenigen kehren werde, die fich ihrem
Entſchluſſe mwiderjegen. Ebenſo hatte jie immer behauptet, daß
das Alles über Nacht fommen werde, und als e3 fam, mar fie
weniger überrajcht als erjchroden. Auch meine Mutter war
ihwanfend. Als junge Frau nahm fie Partei für die Liebe und
als Schmweiter für den Empfohlenen ihres gelehrten Bruders,
aber mein Vater, auf deſſen Urtheil fie jo viel gab, war am
Ende doch ftärker al3 der abmwejende Bruder und bradte fie da:
bin, daß jie zur Zeit mehr gegen als für die Heirath war. Doc
jpielt meine Mutter in diefer Gefchichte eine zu Eleine Rolle, als
daß mir ihre Gefühle, mit denen fie dabei betheiligt war, näher
auszuführen brauchen.
Außerdem fenne ich das Alles nur aus fpätern Mitteilungen.
AS Augenzeuge fann ih nur erzählen, was ich wirklich mit
Augen gefehen.
Ungefähr vierzehn Tage nad dem erſten Bejuche fehrte Herr
Wilhelm Gerhard wieder und zwar allein, ohne feinen Schwa—
ger, was ihm im Allgemeinen fehr zum Vortheile gereichte. In
Folge deſſen lud man ihn ein, dießmal länger zu bleiben und er
blieb auch drei Tage. Sein etwas furchtſames und ſchüchternes
Weſen gab ihm einen Anſtrich größerer Jugend als er wirklich
beſaß, und dieſes wieder flößte mehr Vertrauen ein. Man glaubte
ihm gerne und mein Vater übernahm es, ihn über ſeine Ver—
mögensverhältniſſe auszuforſchen. Es war bald unzweifelhaft,
daß er in feiner Stadt S.. ein zweiſtockiges Haus beſaß und
ein zmweiftodige® Haus in diefer wohlhabenden Kreisjtadt war
ein Befig, der zu einer Mitgift von zehntaufend Gulden W. W.
474 Novellen.
im böchjften Grade beredhtigte. Freilich konnte man vom Befite
diefes Haufes nicht leben und hatte Wilhelm Gerhard, mie er
offen eingeftand, auch fein eingerichtete Gefchäft; aber er mar
erſt vor Kurzem von Reifen heimgekehrt, hatte noch feine Zeit
fih einzurichten, und gejtand außerdem mit Offenheit ein, daß
er fich verheirathen und die etwaige Mitgift zur Errichtung eines
Geſchäftes benugen wolle. Praktiſchen Männern, wie Vater und
Großvater waren, konnte es nicht mißfallen, daß ein junger
Mann nah einem beträchtlichen Heirathsgut ausblide und daß
er ein Geſchäft erjt mit Fonds in Händen beginnen wolle. Die
Stellung de3 jungen Mannes wurde im Haufe eine viel befjere;
man machte Spaziergänge mit ihm, man erlaubte ihm, dem
jungen Mädchen den Arm zu geben, auch dem Reſt der Gejell-
ſchaft manchmal einen Vorfprung abzugewinnen und Worte aus:
zutaufhen, die die Andern nicht hören konnten. ch erinnere
mich genau, wie oft ich auf diefen Spaziergängen von meiner
Mutter zurüdgerufen wurde, wenn ic mid, alter Gewohnheit
folgend, an Tante Helene angehängt hatte. Wilhelm Gerhard
reiste nicht ab, ohne dem Großvater feine Abfichten fund gethan
zu haben.
Ungefähr zehn Tage ſpäter wurde aus der Scheune die alte
Kalefhe hervorgezogen und vom Knechte in allen ihren Theilen
auf das Sorgfältigite gepugt und hie und da jogar friſch ange:
ftrichen; fie hieß in der Familie nur die Arhe Noäh und ftammte
aus der Verlaffenfchaft eines Dekans, nah deffen Tode ſie mein
Großvater um volle fünfundfünfzig Gulden erſteigert hatte.
Neben dieſen fünfundfünfzig Gulden hatte ſie noch allerlei Koſten
verurſacht, da ſie roth angeſtrichen war, wie ſämmtliche Kale—
ſchen der reichen Pfarrer, Dekane und Pröbſte der Umgegend
und mein Großvater nicht für einen Geiſtlichen gehalten werden
wollte. Die rothe Farbe wurde demgemäß mit einer blauen über—
zogen. Da aber das Blau nicht dick genug aufgetragen war,
außerdem der Zeit und dem Wetter wich, ſchlug das geiſtliche
Roth durch die dünne Hülle immer wieder durch und es gab eine
Tante Helene, 475
höchſt niederſchlagende Farbenmiſchung. Trotzdem war die Arche
Noäh der Stolz des Großvaters und der ganzen Familie, denn
wir waren die einzigen Bürgerlichen der ganzen Umgegend, .die
eine Kalefhe bejaßen; dennob, da mein Großvater es nicht
liebte, übertriebenen Qurus zu treiben und vor Allem den Neid
feiner Mitbürger nicht weden mollte, fam die Arche Noäh nur
bei feltenen und höchſt feierlichen Gelegenheiten zum Vorſchein.
Es ging gewiß immer etwas Großes vor, wenn fie ſelbſt aus
der Scheune hervorgezogen und wenn die Kiffen und das Spritz—
leder aus der Kammer, wo man fie beſonders verwahrte, hervor:
geholt wurden. Heutzutage würde eine verweichlichte und ver:
derbte Melt mit Spott auf eine Kalefche nieverfehen, die vorn
unmittelbar auf der Achfe lag und in diefen Theilen ebenfo er:
fchüttert wurde wie jeder gewöhnliche Bauernmwagen, damals aber
war man ftolz auf die zwei weit ausgebogenen Federn, auf denen
fie fich mit dem hintern Theile zu wiegen begnügte. Es ift wahr,
daß man in der Arche Noäh niemals eine Reife ohne irgend einen
Heinen Unfall zurüdlegte, da fie bereitö ein bedeutendes Alter
binter fih hatte und daß die Großmutter den Großvater immer
mit größerer Bejorgniß in der Kaleſche als in einem gemöhn-
lihen Bauernwagen abreifen ſah — aber e3 war doch eine Ka—
lefhe, und da man fie befaß, war man es fi und feiner Würde
ihuldig, fie bei großen Gelegenheiten zu benugen. Das Cr:
ſcheinen ver Kalefhe auf dem Hofe war immer ein Creigniß, er:
füllte mein Gemüth immer mit großer Feierlichfeit und prägte
fih darum meinem Gedädtniffe ein. Und fo erinnere ich mic)
ganz wohl, wie der Großvater hineingehoben wurde, wie ihm
mein Vater nadhjftieg, wie Beide ihre Sonntags-Kleider anhatten
und wie die Großmutter Beiden anempfahl, fih das Haus Ger:
hards doch recht anzufeben und ſich überhaupt genau zu erfun:
digen; ferner wie Mutter und Großmutter der Kalefhe lange
nachſahen, fo lange fie fihtbar war und wie fie dann noch ge
dankenvoll im Hofe ftehen blieben. „Mein armer Meldior,“
jagte endlih meine Großmutter, „ich hätte nicht gedacht, daß
476 Novellen.
er in feinen alten Tagen und mit jeinem Podagra noch jo eine
lange Reife von zwanzig Meilen maden werde. Was thut man
nicht für feine Kinder! Wenn's nur zum Guten ausjhlägt. Gott
gebe es!“
Vater und Großvater blieben viele Tage aus, denn ein
Meg von zwanzig Meilen mit eigenen Pferden und einer Ka-
leſche wie die unfrige, auf fchlehten Wegen, wie man fie damals
in unferem Lande nicht anders fannte, nahm wenigſtens drei
Tage in Anſpruch und jo mochten wohl an zehn Tage vergangen
jein, al3 die Kaleſche wieder in den Hof einfuhr, Großmutter
und Mutter ihr entgegen, während Tante Helene in der Stube
blieb und unmwilltürlich nach der Rampe des Kachelofen3 griff um
fih daran zu halten. Sie trat erft auf den Hof, als der Vater
ausrief: „Wo ift denn das Mädel?” Er drüdte fie in jeine
Arme, küßte fie und fagte mit bebenvder Stimme: „Nun gebe dir
Gott alles Glüd und mögeft du's nie bereuen! Du bift Braut.”
Auf diefes Wort brad Alles in Weinen aus; ich meinte mit und
alle Mägve, die auf den Schwellen der beiden Hausthüren er
jhienen waren, um die Kalefche zu fehen, meinten ebenfalls mit
und Alle wußten jogleih wer der Bräutigam war, obwohl e3
ihnen Niemand gejagt hatte und obmohl fie gethan hatten, als
ob fie gar nicht merkten. Sie fanden au Alle, daß Fräulein
Helene ganz recht gethban habe und daß fie einen jehr jchönen
Dann befomme, der fehr vornehm ausfehe. Helene gab Allen
die Hand und lief dann in ihr Zimmer um ſich auszumeinen.
Ich lief ihr nad, denn ich hielt es für meine Pflicht ihr eben:
falls zu jagen, daß fie Recht habe, wie's die Andern gethan
hatten. „Weine nicht, Tante Helene,” rief ich ihr ſchon won ber
Schwelle zu, „ou haft ja ganz recht gethan.” Sie nahm mich auf
ihren Schooß, küßte mich und fagte: „Gott gebe, daß du wahr
ſageſt.“ Dann fing fie noch heftiger zu weinen an und ich wußte
nicht mehr, was ich fagen follte.
Tante Helene. 477
Drittes Kapitel.
Der Bräutigam kam bald, und da er zu Haufe nichts zu
thun hatte, blieb er mehrere Tage, und das war für ung Kinder
eine luftige Zeit; er bradte und Hanswürſte und Steckenpferde
mit und zu den Befuchen, die er mit feiner Braut in der Nach—
barſchaft machte, wurden wir und zwar immer in der Arche Noäh
mitgenommen. Im Haufe viel bejjer gekocht als ſonſt; Gänſe
und Truthühner, unfere guten Belannten verſchwanden vom
Hofe und ich durfte bei den großen Mahlzeiten immer mit dabei
fein. Da faß Onkel Gerhard immer neben der Tante Helene und
ich fah e3 ganz deutlich, wie fie manchmal unter dem Tifch ein-
ander die Hände drückten. Ich ſah auch, wie der neue Ontel die
Tante manchmal, wenn fie allein waren, da ich nicht zählte, fehr
berzlih und oft umarmte und küßte. ch glaubte nun den deut:
lichſten Begriff vom Zuftande der Brautichaft zu haben. Diefer
ſetzte fi für mich aus Befuchen in ver Kaleſche, aus gebratenen
Gänſen und Truthühnern, Sonntagslleidern, Händedrüden und
Küffen zufammen. Es ſchien mir der ſchönſte Zuftand der Welt
und ich begeiff fehr wohl, daß Neuberg, der zu diefem Zuftand
nicht fommen fonnte, der einzige Traurige in der Gejellichaft
war; der Lejer weiß e3 ſchon, daß dieſer ebengenannte junge
Mann zu den unglüdlichen Bewerbern der Tante Helene gehörte.
Cr war der Sohn des Dorfarztes, der, jo lange er lebte, ver
gute Freund des Haufes gewefen, und deſſen Freundfchaft fich
auf den einzigen Sohn vererbte. Auch er hatte Arzt werben
follen, fiel aber zu wiederholten Malen durchs Cramen, ergab
fi in fein Schidjal und lebte auf dem Dorfe von der Rente
des kleinen Vermögens, das ihm fein Vater hinterlaffen. Er
hatte feine andere Bejchäftigung al3 die, der Tante Helene alle
möglihen Aufmerkſamkeiten zu erweijen, immer für fie bejorgt
zu fein und ihr troß wiederholter Zurüdweifungen den Hof zu
machen. Er gab es felber zu, daß er gar nicht der Mann jei,
478 Novellen.
der auf ein Mädchen wie Helene Brant Anſprüche erheben dürfe.
Er nannte fich jelbit eine Vogelſcheuche, eher gemacht abzuſtoßen
als anzuziehen und einen Menſchen, ver offenbar zu Nicht3 nüße
ſei, da er nicht einmal das leichte chirurgifhe Eramen habe
machen fünnen. Aber wer fonnte ihm verbieten die Reize He—
lenens und alle ihre Vorzüge anzuerkennen und jie zu lieben.
Mas wäre es, wenn er das nicht thäte, was ihm allein einen
Werth in feinen eigenen Augen gab, Es war gewiß ein Zeichen
feiner Aufrichtigfeit, daß er nad) der Verlobung wie vorher all
täglich ing Haus fam, freilich noch etwas ſchweigſamer als ſonſt
und nad einigen Tagen au etwas trauriger. E3 fragte ihn
Niemand nad der Urjache und das gerade bewog ihn fich darüber
auszusprechen und zwar gegen meine Mutter.
„Ihr meinet Alle,” jagte er eines Tages nad der Abreije
Gerhards, „daß ih aus Eiferſucht traurig bin, oder weil Helene
einen Andern gewählt hat. Nicht im Geringjten, ich finde das
natürlich, aber ich weiß, daß ihr über die Verhältnifje des Ber:
lobten nicht im Alaren ſeid und daß man Helenen verlobte, weil
fie verliebt ift. Wenn fie nun ihre Liebe ind Unglüd ſtürzt?“
„Run,“ fragte meine Mutter zurüd, „hätten Sie an unjerer
Stelle anders gehandelt? Sie behaupten ja immer, daß die
Liebe bei einer Heirath die Hauptjache fei, hätten Eie Helenen
einen Mann verjagt, den jie liebt, nur weil er arm ijt?“
„Bott bewahre,” rief Neuberg, „einmal weil e3 gegen meine
Grundſätze wäre, dann weil fi Helene Nichts verſagen läßt.
Hättet ihr euch dieſer Heirath widerſetzt, fie hätte ihn erjt recht
und troß euch genommen,“
„Run alſo?“ fragte meine Mutter wieder.
„Sch wünſchte nur,“ fuhr Neuberg fort, „daß ihr Perfonen
und Berhältnife befjer kennen gelernt hättet. Dann wenn etwas
nicht richtig ift, ließ fih doch vorbauen.”
Meine Mutter tröftete ihn damit, daß die Brautreife dem—
nächſt unternommen werden ſolle. Es war nämlih Sitte in
bürgerlichen Kreifen unferes Landes, daß die Braut, wenn fie
Zante Helene. 479
fih auf eine gewilje Entfernung verheirathete, vorher in Ber
gleitung von Anverwandten das Haus des Bräutigams bejuchte,
um Haus und Familie fennen zu lernen. Meine Mutter follte
die Brautreije mitmachen und fie verficherte dem bejorgten Neu:
berg, daß fie ſich recht umjehen wolle. Eie war dazu um fo
mehr entichloffen als es der ganzen Familie gleich nad) der Ber:
lobung wie Schuppen von den Augen fiel und fi Jedermann
jagte, daß man ſich von dem Wunjche, Helenen zu gefallen, zu
jehr hinreißen laſſen und die ganze Angelegenheit überftürzt habe,
Die Reife wurde gemacht, da ich aber nicht mit von der
Bartie war, fo fann ih nur beridten, was ich mit Staunen
nad der Heimfehr durch mehrere Tage immer wieder und wieder
erzählen hörte. Zwar die Tante Helene felbit erzählte Nichts,
dafür aber Mutter und Großmutter defto mehr; jie waren von
Allem, was fie erlebt hatten, fo entzüdt, daß fie fih, wenn fie
Bater und Großvater nicht zu Zuhörern hatten, die ganze Ge:
ſchichte ſelber rekapitulirten. Nach diefen Berichten ſtand e8 in
den Gerhard'ſchen Familien aufs Schönfte und Beſte. Des Bräu—
tigam3 Mutter war eine vorzügliche Frau, feine Schweitern gan;
vortrefflihe Perſonen; Helene konnte jih unmöglich eine beflere
Schwiegermutter und beſſere Echwägerinnen wünſchen, jelbit
Herrn Altmann, dem Schwager, hatte man unrecht gethban. Es
war allerdings wahr, daß er zu hoch hinaus wollte, daß er zu
ſehr wie ein großer Herr lebte, dafür aber hatte er auch die
Manieren eined großen Herrn, wie man überhaupt von der
ganzen Familie Lebensart und Sitte lernen konnte, Es war er:
ftaunlich, wie fie fih in dem Gerhard'ſchen Haufe auf das Bor:
nehmjein verftanden. Bei Tifche z. B. hatte Jedermann bis auf
das Hleinjte Kind eine Serviette, ein Qurus, der damals in unferer
Gegend noch jehr felten war. Der Braut und ihren Beglei:
terinnen bradte man de3 Morgens Orangen ins Bett. Solcher
Kleinigkeiten wußten die Heimfehrenden unzählige zu berichten
und priefen Helenen glüdlih, in folher Umgebung und in einer
jo aroßen Stadt fünftig leben zu können. Nur Eines fiel ftörend
480 Novellen.
auf. Der Bräutigam bat der Braut die von der Sitte unum:
ftößlich gebotene Perlenſchnur nicht geichenkt. Mein Vater fragte
gleich darnach und war jehr unangenehm berührt, als man fie ihm
nicht zeigen fonnte. Man berubigte ihn damit, daß die Perlen:
ſchnur ganz gewiß nachkommen werde, daß fie der Bräutigam
während des Befuches, wie es die Sitte gebot, ung darum nicht
geſchenkt, weil in diefer Stadt feine zu haben war, die er für
Ihön und Helenens würdig genug gehalten hätte.
Troß diefer Berfiherung blieb mein Vater, der nun einmal
argwöhnifch war, verftimmt, und bald follte die Verftimmung
bei ihm und bei allen Andern noch größer werden,
An al dem Rumor und in all den Aufregungen nad ber
Heimkehr hatte man nicht bemerkt, daß Neuberg verihmwunden
war, und man war jehr erftaunt, ihn nad einigen Zagen vom
Walde herab auf der Landſtraße daherfommen zu fehen, mit
einem elleifen auf dem Nüden und einem Stod in der Hand,
bejtaubt und etwas vernadhläfligt und müde, ganz wie ein Mann,
der eine größere Fußreiſe hinter fich hatte Man ließ ihn am
Haufe nicht vorübergehen, man rief ihn auf den Hof und er
follte erzählen, woher er fomme, welche wichtigen Angelegenheiten
ihn, der feit Jahren das Dorf nicht verlaffen, in die Ferne ge:
trieben baben. Er feßte fih hin an die Seite des Großvaters,
räufperte fih und war offenbar in Verlegenbeit. „Nun,“ jagte
er endlih, „eben weil ich feit Jahren das Dorf nicht verlaflen,
it es natürlih, daß ih aud einmal eine Neife machte. Die
wichtigen Gejchäfte, die ich hier verfäumte! nicht wahr, iſt es
nicht gleihgültig, ob ich meine faule Haut hier oder anders wo
berum ſchleppe. Reist doch heut zu Tage alle Welt.“
Darauf brachte er das Geſpräch auf einen andern Gegen:
ftand, erzählte etwas von einem Better und fragte die Groß:
mutter, wie fie mit ihrer Reife zufrieden fei? Die Großmutter
fing, jchnell bereit, da8 befannte Lied von der Vornehmbheit und
von ber Lebensart des Gerhard'ſchen Haufes zu fingen an und
merkte in ihrem Eifer nicht, wie ihr Neuberg mit einem bedenk—
Tante Helen“ 481
tihen Kopffchütteln zuhörte und manchmal ein „hm, hm“ oder
„jo, jo“ dreinbrummte und dabei das Kinn auf den Knopf des
Stodes fügte. Sie war fehr überrafcht, als Neuberg in einem
Augenblide, da Helene, vielleiht müde, die Erzählungen von
ver Vornehmbheit ihrer neuen Anverwandten anzuhören, ing
Haus gegangen war, fich plöglich vorwärts neigte und halblaut
in den Kreis hineinfagte: „Sch war aud in S.. und id) kenne
jest die ganze Familie jo gut wie ihr und vielleicht beſſer.“
„Was? wie” fragte Alles wie aus einem Munde.
„Was follte ich hier, wenn Helene fort war,” ſagte Neuberg
mit großer Einfalt. „Da dachte ih: du gehſt auch nad ©... und
erkundigft di dort; auf die Weiber fann man fi ja doch nicht
verlaffen, die laffen fih Sand in die Augen ftreuen, und daß
ih Recht hatte, habt ihr mir eben bewieſen, Frau Brant.“
Die Großmutter wollte auffahren, er aber machte eine be:
rubigende Bewegung mit der Hand und fagte mit zitternder
Stimme: „Ich habe euch nicht beleidigen wollen und es handelt
fih da gar nicht darum, ob wir miteinander empfindlich fein
"wollen, fondern es handelt fih um das Glück Helenens.“ u
„Er bat Recht,” fagte der Großvater und zu Neuberg ge:
wendet, fragte er: „Und was haft du erjehen ?“
Neuberg ftand auf, büdte ſich vor und fagte mit einer hef:
tigen Armbewegung und mit eindringlicher Betonung, obwohl
halb leife: „Ruinirt, verfchuldet, die Haare auf dem Kopfe find
jie ſchuldig, fein Stein ihres Haufes gehört mehr ihnen — die
Mitgift wird nit hinreihen, ale Schulden zu bezahlen. — Und
die Orangen, die ihr gegellen habt,” fagte er zur Großmutter
und zu meiner Mutter, „find auch noch nicht bezahlt, und die
Perlen, die fommen werden, find auf Borg bei einem Wucherer
genommen, dem fie nach der Hochzeit zu dreifachen Preiſe be:
zahlt werden follen,”
Nah dieſer Mittheilung drehte fich Neuberg raſch um und
ging, wie empört, daß man dieſe — ſo leichtſinnig
betrieben, dem Dorfe zu.
Morig Hartmann, Werke, VL al
482 Novellen.
Die ganze Geſellſchaft blieb wie in Erftarrung figen; Eins
ſah das Andere an, ob man nicht das Schweigen brechen wolle,
aber Keine hatte den Muth dazu. Wie vorauszuſehen war,
fand die Großmutter zuerft das Wort wieder: „Bah,“ rief fie,
„Narrenspoſſen, al® ob man nicht wüßte, daß man dem Narren
aufbinden kann, was man will. Und ein guter Junge, wie er
immer jein mag, darf man doc nicht vergeſſen, daß er von
Helenen einen Korb befommen hat, ven er nicht verwinden fann.
Mas erfindet nicht Alles die gekränkte Eitelkeit und die Eiferfucht.”
„Kein, nein,” fchüttelte der Großvater den Kopf, „ver
Neuberg erfindet nicht, und was er jagt, hat jedenfalls —“
Er unterbrab jih, denn Helene trat wieder in den Hof.
Alles ſchwieg und Niemand wußte was draus zu machen, als
fie ihren Blick raſch prüfend über die Gefichter Streifen ließ, und
den Kopf an die Pfofte der Hausthüre lehnend und die Arme
ineinander verfchränfend, traurig vor ſich hinlächelte. Der Groß:
vater lud fie ein fich zu ihm auf die Bank zu fegen, und legte
den Arm um ihren Naden. Er wollte fprechen, aber er fonnte
nicht. Mein Vater, ald er Thränen in den alten Augen ſah?
ſprang verbrießlih auf, legte die Arme über den Rüden zufam:
men und ging von dannen; die Großmutter und meine Mutter
fingen bei demjelben Anblid zu ſchluchzen an. Nur Helene blieb
rubig und fagte: „Vater, gib dir feine Mühe, ich weiß was bu
mir fagen willft. Was joll id tbun? Was befiehlit du? Ich bin
zu Allem bereit. Nur abjchreiben will ih ihm nicht, denn id
fiebe ihn und lafje nit von ihm, was immer daraus folgen
möge.”
„So weit, mein Kind, find wir noch nicht,” ermiderte der
Großvater mit fichtliher Anftrengung, „wir wollen nur genau
wiffen, was von der Sade zu halten, Gehe hinein und fchreibe
ihm in zwei Morten, daß er hierher fommen und uns Reden:
ichaft geben folle,”
„Das will ih thun, Vater, um deinetwillen,* fagte Helene,
und ging jofert ind Haus.
Tante Helene. 483
Mein Vater, Helenens Bruder, war unglüdjeliger Weiſe
nicht jo fanftmüthig wie jein Alter. Als er hörte, daß Helene
an ihren Bräutigam jchreibe, eilte er hinein zu ihr und beſchwor
fie, die Sache fogleich und ein: für allemal abzumachen. Einen
jolhen Menſchen, der feinen Stand, fein Gejchäft, fein Ver:
mögen, nichts al3 Schulden habe und nichts könne als etwas
Biolinfpielen, könne fie ja doch nicht heirathen. Da ihm Helene
nur mit ruhigem Lächeln antwortete, erzürnte er ſich immer
mehr und befahl ihr, ihm jogleich zu jehreiben, daß fie ihn ala
einen Betrüger anfehe und drohte ihr, wenn jie das nicht thue,
fie nicht mehr al3 feine Schweiter betrachten zu wollen.
„Ich werde es nicht thun,“ antwortete Helene ruhig, und
mein Bater verließ fie im höchſten Zorn und verficherte draußen
im Hofe, daß er fich in die dumme Geſchichte nicht mehr miſchen
wolle, und daß er die eigenfinnige Schweſter ihrem Schidjale
überlaffe.
Am jelben Abend fam ein kleines Padetchen an, das, wie
Alles an Melchior Brant und Sohn Noreflirte, bei meinem Vater
abgegeben wurde, er öfinete es: es waren die Perlen. Unmillig
warf er fie auf den Tiſch, dann in der Aufregung, da ich allein
mit ihm im Zimmer war, legte er fie mir in die Hände und
jagte: „Bringe fie hinüber ver Tante Helene und fage ihr, das
find Thränen und daß fie von dort aus nichts Anderes er:
warten jolle,”
Ich hatte von jeher einen Stolz dareingejegt, meine Kom:
mifjionen gut zu bejtellen und mit den Perlen in der Hand
wiederholte ih mir meinen Auftrag während des ganzen Weges
hinüber in das Haus des Großvaterd. Helene jaß in einem
Mintel am Ofen, alö ich vor fie hintrat. Ich hielt ihr die Perlen
vor die Augen und fagte: „Papa läßt dir jagen: das find
Thränen und daß du von dort aus nichts Anderes erwarten ſollſt.“
Tante Helene ergriff die Perlen, drüdte ihr Geſicht darein
und im felben Augenblide war die Schnur in cbenfoviele Thränen
getaucht, als fie Perlen enthielt.
484 Novellen.
Viertes Kapitel.
Onkel Gerhard ließ nicht lange auf fi warten; er kam
auf die Vorladung der Tante in der möglichft kurzen Zeit. Von
allen Mitgliedern der Familie, Tante Helene ausgenommen,
war ich vielleicht der Einzige, der ihn mit ver alten Herzlichkeit
empfing. Sch wußte wohl ſchon, daß er fein Geld hatte und
wußte auch, daß id in einem Geſchäftshauſe erzogen war, daß
man dem Gelde viel Achtung ſchuldig jei, aber in mir übermog
die alte Liebe zum Onkel Gerhard und das Mitleid, daß er fein
Geld haben follte. Als ob er das gefühlt hätte, fehrte er von
ven falten Händedrüden und Begrüßungen immer wieder zu
mir zurüd, um mic aufs Neue zu küſſen. Ich bemerkte auch, daß
es mit dem Kochen und Baden vießmal nicht fo eifrig herging
wie früher, und bei Tiſche machte ich die laute Bemerkung, daß
wir fonjt, wenn Onfel Gerhard da war, befjer zu eſſen betamen.
Bon dem Augenblide an wurde das Gejpräh noch ärmer als
e3 bis dahin gemwejen, und der Abend wäre in der größten
Schweigjamleit und allgemeiner Beengung hingegangen, wenn
ich nicht gleich bei der Ankunft des Onkels bemerkt gehabt hätte,
daß er diejesmal feine Violine mitbradte. Mutter und Groß:
mutter hatten von feinem BViolinfpiel fo viel erzählt, daß ich
wirklich außerordentlich begierig war ihn zu hören. Ich forderte
ihn zum Spielen auf und leijtete der Gejellihaft, die nicht
wußte, was mit fi und ihm anzufangen, einen ebenjo großen
Dienft, als ich ihr vorhin eine Verlegenheit bereitet hatte. Alle
Melt ftimmte mit ein und Onkel Gerhard holte feine Violine,
die er, wie er fagte, mitgebracht, weil er es meiner Mutter ver:
ſprochen hatte. Er jpielte mehrere ungarische und Zigeunerweiſen.
Sch hätte nicht den Muth, mein jiebenjähriges Urtheil bier für
ihn abzugeben und zu fagen, daß er vortrefflich fpielte, wenn es
nicht auch mein Großvater gejagt hätte, ver als Böhme in feiner
Jugend ebenfalls gefpielt hatte, und wenn ich mich nicht erinnerte,
Tante Helene. 485
welhe Wirkung Onkel Gerhard mit feiner Violine hervor:
brachte. Vergaß doch ſelbſt mein Vater darüber, daß es ein
über den Kopf verfchuldeter Menſch war, der fo ſpielte. Schon
nah dem erjten Stüde war der böfe Geiſt gebannt, der den
ganzen Abend über dem Kreife gewaltet hatte. Alles war auf:
geregt, Alles war gerührt und man ſprach mit dem Onkel Ger:
hard, wie man immer mit ihm gefprochen, und al3 ob er feinen
Kreuzer Schulden hätte. Meine Großmutter ließ fi zu dem
Ausruf hinreißen: der Befig einer folhen Kunft ſei allein fünf:
taufend Gulden werth, und mein Vater flüfterte meiner Mutter,
auf deren Schooß ich faß, ins Ohr, man follte glauben, daß
man nicht3 befigen dürfe, um ein folcher Künftler zu fein. Meine
Mutter hingegen antwortete ihm, daß man viel Kummer haben
müſſe, um jo traurig Spielen zu können. Am Ruhigſten war wieder
Tante Helene, die in ihrem Winkel am Ofen faß, im dunteljten
Winkel der Stube, in dem man Nichts ſah, al3 ihre Augen, die
aus dem Dunfel herporleuchteten.
Der Großvater war nad diefem Epiele nicht in der Stimmung,
die Hauptangelegenheit, wie er fich vorgenommen hatte, noch
heute mit dem Onkel Gerhard zu behandeln und ihn betreiis
feiner traurigen Verhältnifje zu verbören. Er verfchob dieſes
ſchmerzliche Gefhäft auf morgen. Als aber der Morgen anbrad,
mar der Onfel Gerhard über alle Berge.
Die Ueberraſchung war fehr groß und Niemand wußte, wie
er fich diefes Verſchwinden deuten ſolle; mein Vater war ſchon
geneigt, die Sache als abgemacht und zwar als glüdlich abgemacht
zu betradten, als Tante Helene hervortrat und erflärte, fie
babe ihren Bräutigam zu diefer ſchnellen Abreife bewogen.
„Du haft mit ihm gebroden, du haft ihm ven Abſchied
gegeben?” fragte mein Vater rafch.
„Nein,” antwortete Helene troden, „ih mollte ihm euere
Verhöre erfparen und die Geftänpniffe, die er euch zu machen
hatte. Es war ihm leichter, in dunkler Kammer die Geftänpniffe
mir zu machen und ich werde fie euch nicht vorenthalten.”
456 Novellen.
Sie nahm einen Stuhl, fette fi meinen und ihren Eltern
gegenüber und begann im rubigiten Erzählertone: Gerhard ging
in feinem neunzehnten Jahre auf Reifen, kurz nad dem Tode
feines Vaters. Diejer hatte ihn zum Kaufmann beftimmt, Ger:
bard fühlte aber feinen Beruf zum Kaufmannzjtande und ging
in die Welt, um ſich umzufehen, wie und wo er feinen Neigungen
gemäß fein Glüd machen könne Er war nicht dazu geſchaffen,
binter dem Ofen feines väterlihen Haufes figen zu bleiben. Sein
Vormund, Herr Altmann, gab ihm eine Heine Summe mit, die
bald dahin war. Glüdlicherweife machte er die Bekanntſchaft
eines jungen ungarifhen Magnaten, der ihn fehr lieb gewann
und ihn an feine Perjon, als Sekretär, ala fo etwas, mehr
noch al3 Freund attadhirte. Mit diefem ungarischen Edelmann
durchzog er die verfchiedenften Länder, vorzugsmeije die un:
gariſchen. Er war glüdlih, er ritt, er jagte, er verbrachte feine
Zeit auf den Steppen Ungarns, er lernte die Violine fpielen
von den Zigeunern und einige glüdlihe Jahre vergingen ihm
in einem luftigen und wilden Leben. Er war indeſſen großjährig
geworden, und er fchickte feinem Schwager und Bormund Gregor
Altmann, auf deſſen Verlangen, eine Vollmacht, fein Vermögen
nad Belieben zu verwalten. Was lag ihm an diejem Heinen
Vermögen, deſſen er nicht bedurfte! Es beunruhigte ihn aud
fehr wenig, als er erfuhr, daß Herr Altmann fih in allerlei
Spekulationen einlafje und höchst wahrfcheinlich fein Vermögen
verthue. Er hatte eine gute und angenehme Stellung und freute
fih nur, daß fein väterliches Erbe feiner Familie zu Gute
fomme. Da ftürzte der ungarifhe Magnat, fein Freund, von
einem wilden Pferde und jtarb in Folge des Sturzes. Gerhard
ftand plöglih hülf» und brodlos da. Der Magnat hatte ihm
verfprohen, dauernd für ihm zu forgen, aber feinen Erben,
entfernten Anverwandten war Gerhard unbefannt. Zur jelben
Zeit erhielt er einen Brief, der ihn um rafche Hülfe für feine
Familie anging und ihn bat, im geeigneten Yalle jelber nad)
Haufe zu kommen. Gerhard hatte in Ungarn Nichts mehr zu
Tante Helene. 487
ſuchen, da3 Land war ihm durch den Tod feines lieben Freundes
verleidet und er eilte auf diefe Aufforderung in die Heimat
zurüd. Hieß e3 do in dem Briefe, daß es fih um Ehre und
Mohlergehen der ganzen Familie handle. Dem war auch fo.
Märe Gerhard nicht zurüdgelehrt, hätte der Schwager wegen
Schulden, vielleiht wegen Aergerem, ins Gefängnik wandern
müflen und wäre das Haus, die einzige Zufluchtsſtätte feiner
alten Mutter, verkauft worden. Gerhards Erfcheinung flößte ven
Gläubigern, welche zum Theil feine Gläubiger waren, da Alt:
mann, die Vollmacht benügend, auf feinen Namen Schulven
gemadt hatte, wieder Vertrauen ein. E3 leuchtete ihnen ein,
daß fie mit Strenge verfahrend nur eine bis dahin ehrenwerthe
und geachtete Familie zu Grunde richten würden, ohne fich ſelbſt
zu nüßen und daß fie nur gewinnen fönnten, wenn fie Gerhard
eine Friſt gellatteten. Altmann ftellte ihnen vor, daß e3 Gerhard
nicht fehlen könne, daß er in Kurzem eine gute Partie machen
müfle, und daß fie mit Hülfe der Mitgift befriedigt werden
jollten. Gerhard erfannte, daß auf ihm allein die Rettung der
Familienehre berube. Diefe auf eine andere als die vom Schwager
eingeleitete Weiſe herbeizuführen — dazu fehlte es ihm an Zeit,
da die Gläubiger eine genau begränzte Frift beftimmten. Wollte
er auf Alles das nicht eingehen, fo wurde feine Mutter mit
beiden unverbeiratheten Schweitern obdachlos und mußte er
jelbft mit feinem Schwager ins Gefängniß wandern und bie
Mutter fammt der ganzen Familie dem Elende preisgeben. Un:
erfahren in den Gejhäften und in dergleichen Angelegenheiten
und entjegt über die Verwirrung, über das Gewebe von Ber:
gehen und Leichtfinn, in das er blidte, war e3 dem Schwager
leicht, fich feiner ganz zu bemächtigen und ihm das Verſprechen
abzuringen, ſich von ihm leiten zu laffen, bis fie Beide aus den
drohenden Gefahren gerettet find. Das Alles erzählte er mir
heute ausführlih, aber ich wußte e3 von Anfang an aus ein:
zelnen Mittheilungen. Mich hat er nicht betrogen; ich mußte
was ich that. Ja es ift wahr, er Fam von feinem Schwager
488 Novellen.
geführt hierher, um mich zu betrügen, nur um meiner Mitgift
halber, aber er fam das zweite Mal allein zurüf, um mir die
Wahrheit und Lebewohl zu fagen.
„seht aber,“ rief mein Vater, „wirft du dich doch nicht länger
befinnen — jegt, da du weißt, wohin deine Mitgift wandern ſoll.“
„Bird ihm damit geholfen,“ fragte Helene lächelnd, „wenn
ihm meine Mitgift entgeht? Habe ich dir nicht gefagt, daß ich
ihn liebe? Welchen bejjern Dienft fann mir die Mitgift leiften,
ala den, daß ich ihn damit vor Gefängniß und Schande be:
mahre? Cr braudt meine Mitgift und er braucht mid. Er iſt
nicht ein praktiſcher Menfh wie wir bier alle find, er ift em
Künftler von Natur und es ift nicht feine Schuld, va er um
feine Jugend gelommen, ohne fich, wie er e3 verdiente, ausbilden
zu können.”
Sie jtand auf wie Einer, der in einer Verhandlung fein
legtes Wort gejagt.
Die Zeit, die jegt folgte, jhwebt mir in meiner Erinnerung
als eine überaus büftere vor. Man ging durchs Haus, als be
fände ſich ein gefährlicher Kranker darinnen. Der Großvater ſaß
gedanfenvoll in feinem Lehnjtuhle; die Großmutter fam von Zeit
zu Zeit herüber und erzählte, wie unruhig Helene ihre Nächte
verbringe. Bei meinem Vater äußerte fich die Trauer als Ver—
prießlichfeit und ich fann jener Zeiten nicht gedenken, ohne mich
zugleich der verſchiedenſten Puffe zu erinnern, vie ich damals in
bedeutender Anzahl erhielt. Troß dem entfchiedenen Auftreten
der Tante Helene, das zum Zmwede hatte, alle Berhandlungen ab:
zubrechen, ließ man doch nicht ab, man ftellte ihr fortwährend
vor, welchem Unglüd fie entgegengehe und daß es ihr Klugheit
und Pflicht gebieten, Gerhard den Abfhied zu geben. Man
fonnte beinahe nicht anders mehr im Haufe ſprechen, und mie
jehr mich die Angelegenheit zu Anfang intereflirte, fo hörte ich
am Ende gar nicht mehr zu, wenn von diefen Dingen geſprochen
wurde. Doch bleibt mir eine Szene ewig gegenwärtig, der Worte
wegen, die dabei gefallen find und die einen Eindruck auf mich
Tante Helene. 489
madte, wie ſpäter felten irgend eine pathetiihe Szene eines
Trauerſpiels.
Es war an einem Morgen. Der Großvater ſaß wieder in
feinem Lehnſtuhle; Tante Helene ftand am Ofen, vor einem
Spiegel, den jie auf die mittlere Rampe gejtellt hatte, und
fämmte ihr langes jchwarzes Haar. Der Großvater fprach wieder
über das Thema, über das nun fchon feit Wochen gefprocden
wurde. Tante Helene antwortete beinahe gar nichts mehr, und
da3 begriff ich vollfommen. Jch fügte mir, daß diefe beftändigen
Reden die arme Tante fürchterlich langweilen müffen und ich be:
wunderte fie, daß jie nicht längft die Geduld verloren. Doc
fonnte ich bemerken, daß ihre Hand, während fie den Kamm
durch die langen Haare führte, mehr und mehr erzitterte, als der
Großvater von der Spigbubenfamilie des Gerhard ſprach. Sie
bielt einen Augenblid lang im Kämmen inne, fuhr aber bald
wieder fort. Auch der Großvater hatte, eine Antwort erwartend,
geſchwiegen. Da diefe Antwort nicht fam, erhob er fich auf feine
gichtkranten Füße, ftredte den rechten Arm aus, während er fich
mit dem linfen am Lehnſtuhle hielt, und rief mit gewaltiger
Stimme: „Helenchen, wenn du dich auf alle Berge ftellit, kannſt
du dein Unglüd nicht überfehen !” Darauf wandte fich Helene
zu ihm und, ohne die Hand vom Kamme zu thun, aber mit
blafjen Lippen und glühenden Augen rief fie zurüd: „Sch werde
betteln gehen, aber vor Eure Thüre werde ich nicht fommen.”
Ich meiß nicht, was darauf erfolgte; dieſe Szene fteht in
meinem Gedächtniſſe für fich abgejondert wie ein Bild in einem
Rahmen da. Ich weiß nur, daß endlich Hochzeit gehalten wurde
und daß ic mic an dem Tage wiederholt zu meiner Mutter und
zu Tante Helene beflagte, daß die Hochzeit nicht luftig jei. Ich
wußte jhon, wie eine Hochzeit jein jollte, denn vor etwas mehr
al3 einem Jahre hatte fih die Tante Roſalie verheirathet und
jener Tag ſchwebte mir als ein Mufter eines Hochzeitätages vor.
Der Bräutigam, ein luftiger Gutsbefiger, hatte alle feine Brübder
und Schwäger, fämmtlich dicke und rothbadige Landwirthe, mit:
490 Novellen.
gebradt, der Großvater hatte die ganze Gegend geladen, man
tanzte, man fang, Haus und Hof mwiederhallten von Gelächter
und die Derfjugend fnallte einen Böller nad dem andern lo2.
Das war heute ganz anders. Unſererſeits hatte man nur die
Familie geladen, Schweitern und Schwäger meines Vaters, melde
die Heirath natürlich eben fo ungern fahen, wie wir. Der Bräu:
tigam hatte nur eine junge Schweiter mitgebracht, die ſchüchtern
durhs Haus fhlih, als ob fie Vorwürfen ausweichen wollte.
Für einen Tanz war nicht gejorgt und fein Menſch kümmerte ſich
um die Dorfjugend, melde ihre Böller aufgeftellt hatte. Co
wenig ging an diefem Tage vor, daß er mir in der Erinnerung
zu einem armen kurzen verbrießlihen Momente zufammens
Ihrumpft.
Am nächſten Morgen reiste Helene mit ihrem Manne und
ihrer Schwägerin in der Kaleſche ab. Unter den Abſchiednehmen—
ven Stand auch Neuberg. Als fie ihm die Hand reichte, zog er
fie ein wenig aus dem Kreiſe der Umſtehenden und fagte mit
niedergefchlagenen Augen und ftotternd: „Helene — du weißt —
ich habe etwas Vermögen — wenn du einmal etwas braudit —“
Zum Erſtaunen Aller, die diefe Worte nicht gehört hatten,
ſchlang Helene die Arme um Neubergs Hals, küßte ihn auf beide
Mangen und fprang dann in den Wagen, der fi ſchwerfällig
in Bewegung fegte. Wir faben nah, fo lange wir nachjehen
konnten, dann gingen wir ſchweigend ins Haus zurüd, wie man
von einem Begräbniß zurüdlehrt.
._— — — — —
Fünftes Kapitel.
Als Helene am erſten Sonntag an der Seite ihres Mannes
in die Kirche von S.. ging, ſtand an der Thüre ein kleiner alter
Mann in fadenſcheinigem Rocke, mit einem alten haarloſen Hute
in der Hand. Helene hielt ihn für einen Bettler, als er ſich bei
Tante Helene. 491
ihrer Ankunft in Bewegung feßte und ihr mit dem Hut in der
Hand und in unterthäniger Stellung entgegenging. Er gab dieje
Stellung nicht auf, trat ihr aber auf unfhidliche Weife jo nahe,
daß er ihr Sonntagskleid mit dem ſchmutzigen Aermel feines
Rockes berührte und fagte laut genug, daß es andere Kirchen:
gänger hören konnten: „Wenn diefe Perlen bis zum nächiten
Sonntag nicht bezahlt find, reiße ich Ihr fie vom Halfe.“ Helene
fuhr zufammen. Ihr Blick fiel auf ihren Mann, der auffuhr
und den Arm nad jenem Fremden ausftredte. Sie faßte diefen
Arm und drüdte ihn nieder. Dann löste fie die Perlenſchnur
vom Halſe und reichte fie dem Manne hin. „Nicht die Perlen
will ich,“ kicherte ſpöttiſch der Alte, „die find verfauft, mein Geld
will ich.“ Helene band die Perlen wieder um und ging in bie
Kirche. 5
Am nächſten Sonntag waren die Perlen bezahlt und waren
die Berlen auch fchon verkauft. Auch die Möbel des Haufes
waren bereit3 bezahlt; auch mehrere Wechſel waren bereit3 ein:
gelöst, und Helene in ihrer Thätigkeit war auch ſchon daran,
die eben bezahlten Möbel des Haufes zu verkaufen, um nod
fernere Schulden zu bezahlen. Bald darauf übernahm das Ge:
richt die Fortfegung diefer Thätigfeit und verkaufte das Haus.
Dieß in wenigen Worten die Schilderung der Flitterwochen der
Tante Helene. Sie felber befchrieb fie auf dringendes Fragen
ungefähr fo in ihren nah Haufe gerichteten Briefen. Seine
Klage begleitete diefe Schilderung, wohl aber die Verficherung,
daß fie nad einem lange vor ihrer Hochzeit feftgeftellten Plane
handle. Aber betteln ging Tante Helene nit. Mit einer Kleinen
Summe, die vom Verlauf des Haufes übrig geblieben mar,
pachtete fie in der Nähe der Stadt ©. eine fogenannte Häusler:
wohnung mit einigen Strich Feldes; mit dem Werthe ihrer Feſt—
kleider, die fie verkaufte, fchaffte fie die erfte Ausjaat an. Nie:
mand von uns fah fie in diefen neuen Verhältniſſen, fah fie auf
dem Felde arbeiten. Ihr Vater war zu frank geworden, um die
Reife zu mahen, und fie hatte fih ganz beſonders ausbedungen,
492 Novellen.
daß jie mein Vater nicht früher beſuchen folle, als bis fie ihn
einlade. Ein Jahr nach der Hochzeit fchrieb fie und, daß fie
einen Knaben geboren und daß ihre wenigen Felder genug ge:
tragen, um ihre Familie fammt der alten Mutter ihre Mannes,
die fie bei fich hatte, zu ernähren. In einem ihrer Briefe hieß
e3: „O wie herzlich würdet ihr meinen Mann um Verzeibung
bitten, wenn ihr ihn bei Regen und Sonnenhige auf dem Felde
arbeiten oder die Frucht auf feinem Rüden zu Marfte tragen
ſähet. Mein Kind, das Ebenbild feines Vaters, blüht und gedeiht.
Abends, wenn er nicht zu müde ift, jpielt und der Vater auf
der Violine vor. Wir find glüdlich.”
Als der Großvater von diefem Glücke hörte, verfaufte er
feine Kalefche, feine Pferde, und verfügte, daß künftig für feinen
Haushalt nur die Hälfte der bisherigen Summe aus der Kajle
der Kompagnie genommen werde, jchidte den Erlös für Kalejche
und Pferde und die halbe Summe: feines Haushaltungsgeldes
für mehrere Monate an Helene. Das Geld kam nad) einer Woche
mit Dank zurüd, Helene verficherte, daß fie es nicht brauche.
Es vergingen drei und vier Jahre; der Großvater wurde
immer unbeweglidier, die Großmutter alterte rafch und was im
legten diefer Jahre vorging, kann ich im Einzelnen nicht mehr
mittheilen, da ich mich um dieſe Zeit bereit3 in der Hauptſtadt
auf der Schule befand. Ach weiß nur, dab man damals zu
Haufe um Tante Helene mehr al3 früher bejorgt wurde. Es war
ein jchlechtes Jahr. Im Frühling hatten ſtarke Wolfenbrüce
beinahe im ganzen Lande die Ausfaat zerftört; was die Wolfen:
brüde des Frühlings übrig gelaffen, vernichtete eine furchtbare
Sommerdürre. Man ſah mit Schreden dem Winter entgegen
und es begann im Herbite eine allgemeine Flucht vor den er:
warteten Schreden der Hungersnotb dieſes Winters. Die Re:
gierung und einige große Magnaten benugten das Unglüd Böh:
mens, um Ungarn zu bevölfern und in unangebauten Gegenden
diejes Landes Kolonien anzulegen. Man erließ Proklamationen,
die zur Auswanderung nad) Ungarn aufforderten, und Geiftlihe
Tante Helene. 493
und Memter, welche in der Auswanderung die einzige Rettung
vor der Hungersnoth ſahen, unterjtügten dieſe Broflamationen
und munterten das arme Volk auf, indem fie ihm auch Anwei—
fungen über Wege und Ziele gaben. Es war damals, als ob vie
halbe Bevölkerung Böhmens auswandern wollte. Bon Aug:
wanderungen nad Amerifa wußte man noch nichts in diefem
Lande, und fo wandten alle vom Elend Bedrohten ihre Blicke
dem üppigen, fruchtbaren Ungarn zu, das ihnen-als ein gelobtes
Land gepriefen wurde. Auf allen Wegen ſah man Schaaren
zu Fuß und zu Wagen ſich dem Oſten entgegenbewegen.
Der Schreden in unferm Haufe war groß, als das Gerücht
dahin drang, daß auch Tante Helene mit Mann und Kind aus:
wandern mwolle Der Großvater war unfähig, zu ihr zu eilen,
um jie zurüdzuhalten, und jo war mein Vater gezwungen, jein
Wort zu breden und fih ihr aud ohne Einladung wieder zu
nähern. Er kam durch Prag, mo er mich abholte, da ich eben
Ferien hatte, und wir fegten die Reife nah ©. in Eile fort.
Wir fanden das Haus, das Tante Helene gepachtet hatte,
bereit3 von einem anderen Miethsmanne bewohnt, von diejem
aber erfuhren wir, daß die Familie Gerhard in einem Kleinen mit
Leinwand bevedten Leitermagen, der von einem Pferde gezogen
wurde, erft geftern die Reife angetreten habe. Es fonnte uns
nicht ſchwer werden, den mit allerlei Hausrath beladenen Ein:
jpänner mit unfern zwei guten Pferden zu erreichen. Mein Vater
befann ſich auch nicht lange, und wir legten noch am jelben Tage
eine Strede auf der mährifhen Straße zurüd. Nachdem wir in
einem Heinen Städten übernachtet und die Pferde hatten ge:
hörig ausruhen laffen, festen wir am nächften Morgen die Reije
im rafhen Trabe fort. Die Flüchtlinge konnten nicht mehr ferne
fein und wir fahen fortwährend und mit angeftrengten Augen
der Straße nad, ob wir fie nicht bald entvedten. Wir famen
an mandhem Ausmandererwagen vorüber, aber es war immer
nicht der, den mir fuchten. Gegen Mittag ſahen wir abjeits
vom Wege im Schatten eines Waldſaumes eine Gruppe, die wir
494 Rovellen.
jedenfalls in der Nähe jehen mußten, um nicht möglichermeije
an Denen, die wir fuchten, vorüberzufahren. Wir liegen Wagen
und Pferde unter der Hut des Kutſchers auf der Straße und
gingen durh den Wald jener Gruppe entgegen. Unjer Weg
führte uns dur ein Didicht, das und die Gruppe bald verbarg,
und wir wußten nicht, ob wir die dahin führende Richtung eins
ſchlugen, als mit Einem Male, als wollte er uns auf den rechten
Meg führen, der Ton einer Violine erflang. Wir hielten Beide
inne. Mein Nater lehnte fih an einen Baumjtamm und ich
glaube, daß er geweint haben würde, wenn ich nicht zugegen ge:
weſen wäre. Leiſern Schrittes und vorjichtig ging er endlich vor:
wärts und juchte alles Geräujc der Zweige und der Schritte
durch das Laub zu vermeiden. Ich folgte ihm und wir famen
an eine Stelle, faum zwanzig Schritte von der Gruppe, die
wir hier genau und mit Muße betrachten konnten. Ein Kleiner,
mit einer weißen Plaue gededter Bauernwagen jtand am
Saume des Waldes auf ebenem Boden und daneben ein
ausgefpanntes Pferd, das feine Mittagsmahlzeit hielt. Etwas
tiefer in den Wald hinein, unter dem Schatten der Buchen,
jaß die ung fo nahe Familie. Onfel Gerhard hatte einen ge
fallenen Stamm zu feinem Site erlefen und ſtrich die Violine
mit großer Lebhaftigkeit. Ein breitfrämpiger Hut faß auf feinem
Kopfe und bejcdattete. das von Sonne und Wind gebräunte Ge
fiht, das noch jo ſchön war wie ehemals, und infoferne fchöner,
als e3 einen fräftigern und männlichern Ausdrud hatte. Neben
ihm auf dem Baumjtamme lag ein brauner Rod, den er abge:
worfen hatte, um in Hemdärmeln bequemer geigen zu fönnen.
Starte meitfaltige leinwandene Beinkleiver wurden durch einen
breiten Ledergürtel um den Leib feftgebalten. Er hatte ein Bein
über das andere gejchlagen und ſah, während er fpielte, auf fein
Kind hernieder, welches, den Kopf in den Schooß der Mutter
gelegt, trog dem lauten Spiel vortrefflich jehlummerte. Tante
Helene hatte die eine Hand auf den blonden Lockenkopf gelegt,
während fie das Kinn in die andere jtügte; fie ſah mit Lächeln
Tante Helene. 495
zu ihrem Manne hinauf und bewegte den Kopf janft nad den
Bewegungen der Melodie. Sie hatte ſich erftaunlich wenig ver:
ändert. Treo dem braunen Baumwolltub, das fie wie einen
Turban um den Kopf gefchlungen hatte, und dem ganzen aus
blauer Leinwand bejtehenven, bäuerlichen Anzuge hatte ich jie,
wie immer, im erften Mugenblide als meine ehemalige jhöne
Tante Helene erfannt. Es ift wahr, daß fie etwas magerer ge:
worden, daß die Friſche ihrer Wangen dahin war, aber die
ſchöne Form des Gefichtes war noch ganz und gar diefelbe, die
Augen dunkel und glühend wie ehemals, nur blidten fie fanfter
und milder. Zwifchen ihr, die im Moofe faß, und ihrem Manne
lagen noch die Refte einer einfahen Mahlzeit und ftand ein großer
irdener Krug. Das ganze Bild, das wir mit Rührung betrad):
teten, machte den Eindrud leichten und jorglofen Glüdes. Es
war, als ob mein Vater nicht den Muth hätte, diefes Stillleben
zu ftören, denn er bielt immer wieder inne, wenn er eine Be—
wegung gemacht hatte, um fich der Gruppe zu nähern. Mic)
aber, jobald ich in das Geficht der Tante Helene gejehen und e3
jo unverändert gefunden hatte, zog es unmiberftehlih zu ihr
und, ohne meinen Vater zu erwarten, fprang ich aus dem Ge:
büſche und küßte einen Nugenblid darauf fonderbarer Weife weder
Zante noch Onfel, fondern das ſchöne Kindergeficht meines Kleinen
Vetters.
Was foll ih noch lange erzählen und bejchreiben. Tante
Helene nahm ihren Bruder wie eine zärtlihe Schweiter auf; fie
war glüdlih, bevor fie in die Fremde ging, noch in zwei Ge:
fihter aus ihrer Familie bliden zu können; aber von dem Ent:
Ihluffe, in die Ferne zu gehen und fih mit ihrem Manne ein
jelbjtändiges Loos zu gründen, war fie nicht abzubringen. Eben
jo wenig war fie zur Annahme verfhiedenfter Anträge, die ihr
mein Vater machte, zu bewegen, und er hatte am Ende nicht
mehr den Muth, felbjt vem Kinde etwas anzubieten. Er benußte
die Freude, die das Kind an den Brelod3 jeiner Uhr hatte, um
ihm dieſe fammt der goldenen Kette umzuhängen. Die Tante
496 Novellen.
bemerfte das und lächelte, und ihr Bruder drüdte ihr dankbar
die Hand dafür, daß fie dem Kinde die Annahme des Gefchenfes
erlaubte.
Die wenigen Stunden, die wir mit den Auswanderern am
Saume des Waldes verbrachten, leben in meinem Gedächtniſſe
als eine der jhönften Idyllen, die ich jemals erlebt oder gelefen.
ALS fih die Sonne zu neigen begann, jpannte der Onfel das
Pferd vor den Wagen und führte diefen wieder auf die Land—
ftraße. Mein Vater nahm das Kind auf den Arm und wir
folgten. Auf der Landſtraße trennten wir ung wieder — ich will
nicht fagen wie traurig.
So lange die Großeltern lebten, befamen wir aus Ungarn
manchen mwohllautenden Brief; ſeitdem die beiden Alten begraben,
ift und Tante Helene ganz aus dem Gefichte verfchwunden.
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BMI
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ININUMINI
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