Beiträge zum
Studium der
individualität
Wilhelm Dilthey
linrctan Itititicrditii.
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Von W, DiLTUBY.
A tu
(Voigetngen am 25. April 1895 [s. Jahig. 1895, St. XXI. S. 419].}
Mit dicMr Abhandlung beginue ich Beiträge zum Studium der indivi*
duellen Unterschiede in der Menachennatur: dieselben gehören also der
▼erglddienden Psychologie des Mensdben an. Die beschreibende und
zergliedernde P^chologie breitet sich in der vei-glelehenden Psychologie
aus, wie der Stamm eines Baumes in seinen Zweigen. Das b^
sclireiV)ende und zergliedernde ^'erfahren setzt sich in dem v«p-
gleichonflen fort. Während aber die allgemeine Psychologie, auf
uelciie ich mieli in der letzten Al>handlnn£? bescliränkt liabe, die
Gleichförmigkeiten des Seelenlehens zu ihrem Ciegeiistande Imt, suelit
die vergleichende gerade die individuellen Differenzen , die Abstufungen
der Unteradiiede und die Verwandtacluiftcai einer wisseittdiaftlldien
Behandlung zu unterw^en. Die allgemeine Seelenlehre Iflsst diese
Unterschiede zurücktreten. Ihre Beschreibung und Analyse ist über-
wiegend auf die in allen Individuen gleichartigen Bestandtheile und die
in allen gleichförmigen Proeesse des Seelenlebens gerichtet. Sie mOelite
den Zu«:ammenhang. wie er am normalen Menschen überall einstimmig
autlritt, erfa.ssen. Die g?in/e Menschheit bildet ihr Object, aber sie
sucht das (TleicbartijSfe und Gleicliformige in ihr z« erfassen, unter X\y-
straction von den individuellen Untersclücden , von deren Abstufungen
und von den so bedingten Verwandtschaften. Gerade diese Verhält-
nisse macht die vergleichende Seeloülehre zu ihrem G^nstande. Damit
ergreift sie nun Probleme von der grOssten Bedeutung. Auch sie hat die
Hensdhheit zu ihrem Objecte. Ab» auf dem Grunde der Gleichartig-
keit von Bestandtheilen und der Gleichförmigkeit von Processen, wie
sie durch alle Individuen der Menschheit hindurch gehen, treten in dieser
Menschheit nun Individualität, Abstufungen drr Unterschiede zwischen
Individualitäten, Verwandtschatt , Typus auf: diese bilden das Object
der vergleichenden Psychologie. Eben in der unermessliehen Fülle
singulärer Gestaltungen ieljt sich die Menschheit aus. Welche Probleme
entstehen hier gerade aus d» regelmässigen Verbindung individuell
0 (ÖICAP;
nh?^im 20183; J
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296 Sitzung der phil. - hist. V\mse v. 5. IMirz. — Mittheiinng v. 25. April 1895.
differenzirter Züge zu typisclieii Grundformen des Seelenlebens! Solche
Grundformen sind die beiden Gcscldcchtor , die Kaceu, die Natio-
nalitäten, die landschaftlichen Besonderheiten, die Verschiedenheiten
des mitgegebenen Naturells, innerhalb derselben die aufialligen Typen
der vier Temperamente, nun gar die plastische FCUIe ausgebildeter
Unterschiede» wie sie den Dichter Yom Religiösen» den Mann der
Wissenschaft von dem des praktischen Lebens, den Griechen der
perikleischen Zeit ^ on dem Italiener der Renaissance trennen. Die
vergleichende Psychologie möclit" nun lipschreiben , wie in solelien
typischen Grundformen >)estinnnte Züge regehnässig verbunden sind
und die Proeesse erkeiiuen, welclio in dieser Besonderung des all-
gemeinen Seelenlebens wirksam sind. inUcui die Seelenlehre diese
Au^ben zu behandeln sucht, tritt sie in die Rdhe der Tergleicheuden
G^teswissenschaften.
1.
Gleichartigkeit der Menscliennatur und Individualität.
Die Gejsteswissenseliadeii gelieii ans von dem in der inneren
Erfahrung gegeben* u seeliselieii Zusamnienlinng. Darin, dass Zu-
sammeidiang im Seelenleben ]»rimär gegeben ist. besteht der Grund-
unterschied der psychologischen Erkeuntniss vom Naturerkennen, und
da li^ also auch die erste und fhndamentale Eigenthümlichkeit der
Geisteswissenschaften. Da im Gebiet der ftusseren Erscheinungen nur
Neben- und Nacfaeinand» in die Erfahrung fftllt, könnte der Gedailke
von Zusammenhang nicht entstehen, w&re er nicht m der eigenen zu-
sammenhängenden Einheitlichkeit gegeben. Diese ist ohne Hypothesen
nlier ein«' einbeitlicbe SjinntÄneität oder seelische Substanz, (bireh un-
sere inneren Wahrnelnnungen und deren VerbiTubm gen, im Struetur-
zusammenhang des Seelenlebens gegeben. Von demselben sind alle
Einheitsbildungen und alle einzelnen Zusammenhange umfa&st. Hinter
diesen Zusammenhang können wir nicht zur&ckgehen ; er ist die einheit-
Uche Bedingung für Leben und Erkennen. So entbftlt er den sicheren
Ausgangspunkt für die Pi^chologie* Darin, wie in dies^ Stnictur-
zusammenhang Wahrnehmung und Denkoi mit THeben und Gdtihlen
und diese mit Willenshandlungen in einander greifen, ist innere Zweck-
mässigkeit als Grundeigenschaft des secli.sclien Zusammenhangs primSr
gegeben. Nun erwirkt dieser Stnicturzusammenhang vermittelst der
zunäclist nur der Beschreibung und Analyse zugänglichen Proeesse der
Asst)eiiitioii, Keproduction und Verückmelzung weiter die stnictureUe
und zweckmässige Gliederung des erworbenen seelischen Zusammen-
hangs, der dann die bewussten Acte bedingt und die Erinnerung
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DiL-rncv: Beitiiige mm Studium der IndiTiduAtitlt.
2U7
ennögUcht. Er erwirkt die zunehmende Articulatiou der seelischen
LeSstimgen, welche in der Entwickelung der geistigen Lebenseinheit
stattfindet. So macht dieser Structurzusammenhang, als eSne einheit-
liehe Kraft, dies Wort ohne jede metaphysische Suhstantialisirung
genommen, den lebendigen Wirkungszusammcnliaiig inner-
halb des Seelenlebens und der geschichtliehen Welt wenig-
stens innerliaD) eines tjewisson Umfangs verstäiitllicli. l'nd so kann
< r luiii anch viuvr hcschreibenden und analytisclien P.sychol()Li:i(' t iiien
siclu'i'oii und iiaturyeniässen Gang von «lern Ganzen zu den Gliedern,
von dem am mciÄtea umiVtösendeu Zusumuienliang zu den Einzel-
zusanunoihängen ermöglichen^. Auch tüx das Verstftndniss der Indivi*
' Diese obigen Sätze über den Stnictiirzusamnienhanji; näher zu entwickeln und
ihren Werük fiir die Gestsltting einer beschreibenden und zergliedernden F:>ychülugie
darxnthun, war der Zweck der Abhandlung Sitzungsberichte 1894, 20. December ; nicht
aber handelt es sich in ihr, wie der Aufsatz in der Zi'it.srliriü füt l'syrlmlogie von
Hrn. Eniiixr.HArs (t895, Octf>1iPi) aiiiiinimt . inn hesserc \\'üfdi^;uiig der psychischen
Einheiten im Allgemeinen (8.177!". ), uueli tücla um die Tlüiisnche der Stractur,
welche nicht blos.s den Psychologen, sondern nach Obigem jedem Qber sich Be-
tlcctircnden irelStific: ist (S. 193). Wenn nun iler eben erwähnte Aufsatz einwen-
det, dass auch das von mir skizxirte Verfahren hyiM>tbetischer Bestandtlieiie und
ihrer Erprobung an den TlmtsMslien bedttrfe, so hab« ich das selbst aitq^proehen
(S. 2. ^.5 0. hin- lieiif^n ilie I?(>i nhninf;spunkte zwischen con.structivfr Tind beschreibender
Psychologie; irülzdeui ist, dabei bleibt's, Stelle und Tragweite des Hypothetischen
in einer derartigen analytischen Psychologie eine ^Uixlich andere, als wenn die ana*
lyrischen Eif;chriisse durch Hypotliesen von selbständigen EmjifiiKluufi^einhritcn, jisyclio-
physischem Parallelismus, Determinismus, unbewussteo Vorstellungen ergänzt werden
und nun hieraus constmirt wird. Denn tunlchst ist der Structurzusammenhang selbst In
ganz sicherer Weise gegeben. Wie seine einzdnen Oiiciler stflckweise erfahren und mit-
einander verbunden werden , ist S. 33. 34. 38. 68 eingehend daigelegt. Doch wird in
ien einz el n en probirenden oder die Erinnerung nachträglich aufmerksam distinguirenden
Acten nur der im Lebensverlauf selber von einer Vorstellungslage zu einer Willena-
bestimmiini; fnt tjrehendc StructurrnsnrTiuienhang, wie er der Ausdruck »mserer einheit*
liehen ütruclurelien Lebendigkeit ist, 2U solchem disttuci cunstatireiuleu Bewusstsein
gt-hracht. Durchlaufen wir ja auch in den Erinnerungen aus unserem früheren Lehen
den i^rinzcn Zusammenhang in cinlifitliphem Zuge. .\ns solchen einzelnen Fällen wird
dann der allgemeine Begriff des ätructurzusammenliangs alistrahirt und auf das Ganze
des Seelenlebens Obertragen. In diesem Sinne ist (im Gegensatz an Zeitschr.i^sf.) der
Atisdnjck r -\^t'v P(i'uctur/usßmnienIi-iriL' w'-t-d erteilt- (S, f>Ri zu v ei-stehen, worauf ja
der Zusammenhang mit dem vorhergeiienden Satze hinführt; ebenso S. 72. Ferner ist
ebensowenig gegrflndet, wenn die Sicherhdt dieser Erfahrtmg Zeltsehr. S. 189 herab'
genundi-rt wird durcli die Einhezielumi; der .\MsIei;unLr tliieiiselier Bewegungen, in
denen der Structurzusammenlumg sich äussert. Auf sulclie ihieriscbe Bewegungen
nahm ich vielmehr nur Bezug, um zu den inneren Wahrnehmungen und deren Ver>
bindungen überzuleite»; die Zergliederung der Vorgänge, in denen wir des Structur-
zusaramenhangs gewiss werden, kommt natürlich mit keiner Silbe auf die .\uslegung
jöjer Bewegimgen zurück, und so durfte mir eine solche Gedankenfolge nicht unter-
geschoben werden. Bleibt es so hei der erkenntnisatheoretisch und psychologiseh so
wichtigen ^ ölh'uen Siclir t heit der Kenntniss vom Stnicturzusammenhang, so .stellt es mit
dem weiter skizzirten \ erlauf der analytischen Psychologie, welcher nun den Structui"-
zuaamnenhug gerade als «ErkenntniMmitteU bnwdit (gegen Zeitoehr. 19«), fiwilieh
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298 Sitxung der phii.- hist. Clane v. 5. Ml». — Mitdieilnng v. 26. Aiwi! 1895.
dualität wird er sit li uns nun wichtig erweisen. Das Ideal der Geistes-
wissenschafteu i^t ja das Verstandniss der ganzen menschlicL-gesdüclit-
Bdien ladMdiMtiQn aus dem Zusanmenhang und der Genieiii«»Dkidt in
allem Seelenleben. Wenn der innere Zusammenhang des Seelenlebens
dureh Verbindung der Erfiibrungeii im Denken erBust» beschrieben und
analysirt ist, wenn die Gleichförmigkeiten in der Verbindung der
etwns anders; die •Tiidiictidnini', «Schlns>io auf das Niclifj,'egel)cne« , •Hypnflieseii.
welche eiazelo dein wisseoschaAUcIieo Gedankengang eingeordnet «iiid> (ä. 5), 'Er-
proben von Hypothesen als wichtigste Metbode psychülogischen Fortschrtitena«, welche
nach diesen ineioen ausdrücklichen Worten in dem weiteren Verlauf der analytischen
Psychologie auftreten (S. 53), können Zirle, wie die Analyse der seelischen Vorgkagfi oder
Prödnet«, die Feststellung von Kinz-elzusaminenhängen natürlich nicht in etner keinem
Zweifel ansgcsetztenWei.se erreiclien. Das versteht sich \ i 1 ll)*it. Aber etwas ganz
Anderes wäie t's rrflÜrli, wenn ich von geriniiiiuM-klicIirn \'nri;än.<;iMi uder Tliatsachen,
vom innewerden, das hcliwer gegenständlich gemacht weidcu kajjii, von sofortigem
Vergesaen. als constatirbaren Thatsaehen, au der Hypothese >unl>ewusster X'orstellun-
gen- flbergingr. Indem mir dies zugeschrieben wird (S. iq^), ist es dann leicht, die
Untei-sciiiede der skizzirten analytischen Psychologie von der constinictiven (in Bezug
auf deren b^p^lTHdie und bbtoHsehe Bestimmung ich an anderer SteUe die Einwürfe
richtig stellen wrrdr) in ein Nichts ndor so ;j;ut als ein Nichts verschwinden zu mardrn.
Diese UypoUtese von den unbewtmten Vorstellungen habe ich i>. 40 entschiedenst ab-
gelehnt, und hiernach war es wohl billig, den einzelnen Aiisdnirk: «nicht fictive
Essenzen, sondern jisycliisclie Wirklichkeiten •• /.ii interprelirrn , i!ei- iin< li dem M-inzen
Zweck der Seiten 50 IT. an den Wiiienszusuuimenhänj^n festlegen will, dass sie, als
•oldte, >n die Erfahrung fallen können, wie idi sie mir ja eben als Zusammenhang,
der mein Handeln l>e<ii.imuit. Jederzeit zum Bewusstsein bringen kann. WinI mir dann
in Bezug auf die Durchführbarkeit einer solchen analytisdien Psychologie dns Bedürf-
niss, doch auch den Zusammenhang der I{eproducti«)n zu erklSren, entgegengehalten
(Zeitsclir. 187): so uDterscheide idi ja eben den lebendigen Wirkungaxusaminenbang,
dessen Glieder im Bcwuastsein liegen, von den zwischen Nichtbe\vu«ist*-n» und Bewusstetn
verlaufenden Vorgängen , und hebe hervor, dasj» letztere in einer solchen analyiittchen
Psychologie nur nach Abfolge und Zusammenhing bescfarielien werden können (S. 4oir.).
Und wo hnite ieh in dfr fJarle^rnni des Ziis-aTTnnrnlmnirs der Entwirkfltrn'^ solche Grenzen
einer analytischen Psychologie überschritten? Wird mir endlidi die in Besclireibung und
Analyse enthaltene Unsicherheit entgegengehalten, so hebe ich sie ja selbst hervor <S. s),
auch können ^"er[;Iei^hll!li^ der Ergelmis-e \ ersrliii'ilener Reidiacliter und Kxpfriment
diese Unsicherheit eben nur mindern (übrigens kann bei Beschreibung der .\ufmerk-
samkeit diese wirklich (tmtx Zeitschr. soi], wtdl sie eljen verschiedene Seiten hat,
ohne Widerspruch zugleich als -verstärkte Bewusstseinserregimg- beschrielxjn und ein
«willentliches Verhalten« an ilu- herausgehoben werden, wie auch bei anderen Psycho-
logen beides nebeneinander vorkommt). Aber eine Psychologie, wie ich sie skizzirl^ wddie
von einer sicheren Grundlage ans dem lel>endigen Wirkungsziisammenhang im Seelen-
leben nachgeht und in diesem Verlauf J?e>elii eilnmgen . Analysen, Einzelzusanimen-
hängc vorlegt, deren etwaige Unsicherheit tlurch andere Beobachter «iberall controlirt
uikI auf die Probe weiterer concreter Untersuchung gestellt werden kann, ist doch
in Bezug auf die in ihr zurückMeibende Unsiclierheit nich! den» Grad (Zeitsrhr. 107 IT.).
sondern der Art nach unterschieden von dem hypothetischen t'harakter einer Psycho-
logie, welche das in die Erfahrung Fallende an einem Cansalxusaamienhang dareh
Hypothesen wir psychophysischen Pamllelisnnis. unbewu.ss(e \'i>rsfeHmi'jrn cfc. rrtninzt
und glaubt^ solche Ergäosungen au den Erscheinungen erproben zu können. Es bleibt
dabei, daas dies Verbhren einstweilca zweddos ist, weil bei der geringen Bestimmtheit
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Dii.rHKv: Beitt-iig« zum Studium der Individiiaiitüt.
299
Bestandtheile und in den Einzelzusammenliänpen. dü: in jedem mcn^^li-
lichen SeplfnleV'Pn nuftreteii, fest^a-stellt sind: ilaiin entsteht die
Auft'n>)p der Einordnung des Besüiideren, der i^anzen (rliedprung
und Individuation der geistig geschichtlichen Weit in diese Gemein-
samkeit und diesen Zusammenhang.
Eine »ndere EigentlklimMdkkeit der Geiateswiasensehaften ist
dann von den weiteren Eigenschaften ihres Erfiüirungskr^es ab<-
bfln^g. In jedem einzelnen Seelenleben etveht sein Strueturzusammen-
haag, eine beficiedigwde seelisehe Verfittsung b^beizutuhren, und so
ist das Bewusstseiii oiries selbfittadigen inneren Warthes von dem
sich Fühlen jodcs Individuums u nah trennbar. Hieraus ercficlit sich,
dass der Schwerpunkt der (ieisteswissenschatlen aus dem Erkennen
des Generellen, in welclieni unter Abstraction von den Unterschieden
alle einzelnen Mensclien ühereinstimmen , hinüherrückt in das grosse
Problem der Individuation. Die Wissenschaft sti-ebt hier sich der
Fülle des individuellen Lebens zu beniAcbtigen. Aus dem liebevollen
Verstftndniss des Persönlichen, dem Nacherieben der unerschöpflichen
Totalit&ten, als weldies in der eigenen Lebensmlchtigkeit gegründet
ist, entspringen so die grossen historischen Schöpfungen. In der
Biographie am einfachsten stellt sich diese selbstündige Werthung
der Person, welche den Geisteswissenschaften eigen ist, dar. Und
an die Darstellun tj des Siuijularen . welche doch Erkennen des Zu-
samTTipnhanifs schon enthält , scldi( s^i sieh nun die Aufpnhe. Unter-
schiede, AlKstul'ungen , Vfrwaudtäehatten, kurz die Individuation tlieser
menschlidi-geschichtliehen Wlrkliehkeit nach ihren Zosammenhiingen,
deroi Kern die Motivation ist, zu erfiissen.
Aus den Eigenschaften des ErfahrungskreiseB der Geisteswissen*
sdbaften ergiebt sich dann noch ein weiterer Zug. Die AuÜassung
eines Zusammenhangs in einem Seelenleben fiinden wir nach dessen
Structur von seiner selbstfindigen Wcrthiuig unabtrennbar. Sehen
des Thatsfichlichen ist daher mit Vollkonmienheitsvorstelluagen ver»
dmer cur Verificatioo verwandten Eracheinangen verMhiedene Hypotbesencomplexe
gleich gilt erprobt werden küanen und diese Ilypotlie^en für die Einzclerkläning
doch nicht« leisten. Und auch dabei bleibt es, dass > Eigenschaften« wie das Antreten
von Nothwcndigkeit im Denken und von Sollen oder Momen Im Handeln bisher noch
keine «fiberzeiigende Zergliedeninji; gefiinduii ludjen« l8). Woraus mir freilich die He-
haiiptiing, sie seien »irrediu tl!)!!' Dinge«, nicht hätte gemacht werden sollen (Zeitschr.182).
Dies ist ungefähr so richiii;. als wenn die Zeitschrift mich sagen lässt: -die constnictive
Fsycholügie hätte eigentliili Niehls i,'elfi>t<'t • (S. 166) oder: die AsaOCiation.spsychulogen
• rnnrhrcn sich Vorschriften darüber, ->1j Z.ilil ilu ec Klementc gross oi1»*r k!«in se'm
müsse« (8.180). Ich erwart« eine überzeugende Zergliederung solcher Thatsachen oder
auch der heroischen WiUenabandinng, welche sich an opfern und das sinnliehe Dasein
Wf>p7.invfirf('n vermn^^ Ks winl wo!il , «at^o man nun /nnärh"?! oder immer, im
Seelenleben etwas Inconimcasurabie.s anerkannt werden nnlsscn.
300 Sitiung der pbil.-bist. CImm r. 5. Miir. — MittheiliinK v. 25. April 1895.
bimden. Das wns ist. orweist sich aLs iiielit lösbar von tlom, was
es gilt und wim ca aolL So schliessen sich an die Thatsachen des
Lebens die Normen desselben. Das Wesenhafte in den Lebeuser-
scheinungen ist der Ausdrudc des lebendigen WertiuEusammenliaiigs
in ilm^, und dies Wesenhafte drfickt sich »^etseits in den Ideal-<
Torstellungen und in den Nonnen ans, welche die Äusserangen dieses
Lebens von innen regeln. Hier entspringt ein grosses methodisehes
Problem, von dessen Auflösung der Zusammenhang der Geisteswissen-
sclmften abhängt. Die theoretischen Sntzf dürfen nicht losgelöst \\ erden
von <}cn praktischen. Die A\ alulicitt-n tliiriVu nicht s^oondcrt wcnlen
von Jen Idealvoi'steUnnir<'ii und den Normon. Denn diese Tivnnung
in zwei ClaHseu von Sätzen, von welchen die einen cuthalten, was
ist und die anderen sagen, was sein soU» nimmt den Erkenntniwen
ihre Fruchtbarkeit und den Ideslen und Normen ihren Zusammenhang
und ihre Begründung. Sonach gilt es, den Zusammenhang au findm,
in welchem aus dem Wesenhaften der grossen menschlichen Lebens-
bethätigungen die Normen derselben hervorgelien. Da Thatsachen und
Nonnen untrennbar verbunden sind, geht die Verknöpfung beider durch
Geisteswissenschaften hindurch. Tlir Kennzeiohrn in der Psychologie
ist die Unterscheidung des Normalen als ilires nächstt-ii degenstandes
von dem Anomalen; sobald mau aber erst einmal hierauf aufmerksam
geworden ist, so bemerkt mau, wie diese Unterscheidung in der ganzen
psychologisdien Begrifibbildung bedeutsam mitwirkt. Dann sind alle
systematisdien Geisteswissenschaften so structurkt» daas die Erkenntniss
des entsprechenden Thatsachen^tems in sich die Fraemiasm ftir die
Normen desselben enthBlt, und awar dieses eben, weil Werthung und
Zweckzusamraenhang schon im That.sachensystem enthalten ist. Dema
dieses TliatsaelxMisysh'm ist schliesslich überall in der Stnictur des
Seelenlebens begründet, und diese enthält die Richtunür auf Erzeugung
der Lebenswerthe in sieh. Ja hellest die ITi.st<)rie wird immer Be-
schreibung, ursächliche Erkenntniss und Urtheil verbinden: nur
nicht ausschliesslich moralisches Urfheil, sondern dasjenige, das aus
den Wwihbestimmungen und Norm«a aller menschliehen Lebens-
bethltigungen hervorgeht. Verwerflich, obwohl sittlich ehrwürdig,
ist das ausschliesslich momUsche Urlheil eines Schlosser oder Gcbvinus,
aber Urtheil Ober das Geschdbene ist an und f&c sich von der Dar-
Stellung desselben unabtrennbar.
Aus diesen Erörtenmgrn erhellt das Verhältniss zwischen der
generellen und der verLrh'ichenden Psychologie. Geistige Lebens-
einheiten, die unter Uaiständen stehen, bieten sich zunächst dem
Verstehen dar. Aus ilircr I^bendigkeit und ihrer Werthentwid«:elung
ergiebt sich ihre Singularität, sowie das dieser zukommmende selbst*
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DiLYUTt BeitrSge xum Stadium der lodividualitit.
301
fttiadige Interesse. Es ist unvermeidliehy dass alle durch diese Ein*
heiten gebildeten Lebensform- n denselben aingularen Charakter zeigen.
Sonach kommt dieser schliesslich der ganzen geistigen W elt zu. Aber
dieselbe liat von der Lebeiiseinheit aufwärts auch eine andere Seite.
Sie zeigt Gleichartigkeit und Gleichförmigkeit. Dies folgt schon aus
dem Verhältniss der Naturgruiidlage zu ilcin (reisticren. Grosse ge-
set/liche Verhältnisse durchwalten die gamv Natur, und indem sie
das liedingende Milieu (Ca die geistige Welt bilden, äussom sie sich
in dieser durdi dne Gleichförmigkeit ihrer Wirkungen. Es ist aber
zugleich durch die Gleichartigkeit und innere Verwandtschaft des
Geistigen bedingt. In dieser geistigen Welt selbst besteht eine Gl^ch-
artigkeit und innere Verwandtschaft , wcldie sich als Allgemeingültig*
keit im Denken, Ul>ertragbarkeit der (refulile. logisches Ineinander-
greifen der Zwecke und nh Sympathie rius.sert. Schon die Stoa, die
durch sie bedingte römische Jurisprudenz und ila.s nul' sie f^i'grüadete
natürliclie System des 17. Jahrhunderts hat diese Gleichartigkeit der
Mcnschennatur unter allen Himmelsstrichen und unter aUen geschieh t-
lidien Bedingungen heraushoben.
So sind von der geistigen Lebenseinheit ab bis zu den Systemen
der Gultur in den Formen der Organisation (Lberall Gleiehföimigkeiten
verbünde mit der Indiriduation. In jeder eilizebien Geisteswissen-
schni^ kommt diese Verbindung zum Ausdruck. Sie bildet eines der
eigensten Probleme der Geisteswissenseliaften. Sie ist iTir die Gestaltung
einer jeden von iliiien von entsclieidender Bedeutung. Uberall in deii-
selbiMi wird darum gekämpft, in welchem Umfang Gleichartigkeit,
Gleichförmigkeit, Gesetze das Einzelne bestimmen, von welchen Punkten
ab das Positive, das Geschichtliche, das Singulare auftritt. Insbesondere
die Wirihsehaftslehre, die RechtsMdssenschaft und die Politik sind
erföllt von leidoftsehaftlichem Streit hierflber. Überall besteht auch die
Tendenz» sich dem inneren Zusammenhang zu niheni, in welchem
das Gleichförmige Grundlage der Individuation ist. Es sind nun die
vergleichenden Methoden, durch welche das Positive, das Geschicht-
liche, das Singulare, kuiv, die Individuation selber (Jegenstand der
Wissenschaft wird. Schon die %vissenschaftliche Bestimnuuig der
einzelnen geschichtlichen Erseb< inung kann nur durch die Methode
universalgeschichtlicher Vcrgleichung vollzogen werden. Eine Er-
scheinung erleudktet die andere. Alle zusammen erleuditen die
einzelnen. Seit den tiel^Innigen Arbeiten von WnncsuiAmt, ScmtLEx
und den Romantikern hat diese Methode immer an fruehtbarkeit ge-
wonnen. An sie schliesst sieh v^mittelst der freien Verwerthung der
Analogie zum Zweck der Veraligmeinerung, wie sie insbesondere seit
der Aristotelischen Schule, Polybiüs, MAccmAVBixi und Vico grosse
Sitmngkberielite 1896. 2B
302 Sitziinf» iler phil.-tiist. ( l.issr v. ä. März. — MittlieiliiiiK v. 25. April 1895.
Historiker und politi.sohe Denker geübt liaben, diejenige vergleichende
jyictliodi'. welelie genau bestimmte alli»emf'inc Sätze zn gewinnen strebt.
Sif liMt sirli nn der Spraehwissensclialt tri't>il<l< T. wurde dann auf <lie
Mylliologie übei tragen, un»l es liegt in der (Onst (|uenz des D.irm'k'gitMi,
dass jede systematisclic Geistesw-issenseliaft im Verlauf ihrer Ent-
wickelung xu veigleichenden Methoden gelangen muss. Die Psycho-
logie als Grundwissenschait des ganzen Gebietes wird, indem sie veiv
gleichende Wissenschaft wird, sehr viel dazu beitragen können, diese
Tendenz in den Geisteswissenschaften unseres Jahrhunderts zu fördern
und den Fortschritt in dieser Richtung zu beschleunigen.
2.
Allgemeine Gesichtspunkte in Bezug auf die menschliche
Individuation.
Es sind nun für die Auffassung der menschlich -geschichtlichen
Individuation allgemeine Gesichtspunkte aufgestellt worden, welche
ich im Folgenden zusammenstelle. Ich gebe sie in dem allgemeinsten
Zusammenhang, in welchem sie innerhalb der Geschichte der Philo-
sophie zur (Jeltvini; trc langten. Dabei versteht sich von selbst, dnss
ihr Wf rth liir ims nur von ihrer emxnriscb«psychologischen Begründung
abhfmgen kann.
Soweit un.serc Kenntniss des Universums reicht, dürfen wir an-
nehmen, dass es aus denselben Stoffen zusammengesetzt sei. Und da
mit den Gesetzen der Gravitation das Verhalten aller Gestirne {Lber-
einstimmt, welche eine zulingltehe Beobachtung gestatten, so dfirfen
wir auch annehmen, dass dieselben Gesetze alle noch so ver-
schiedenen Tlieile des Weltalls durchwalten. So lusfrhon in dem
Weltganzen Constanz von Masse und Energie, Gleichart iü:k ei t der
Stoffe und (Jlcichformigkeit in den geset/.liclx'n Hr-ziehnngrii derselben
zu einander. Und die p.sychischen Vorgänge, welche nun an der
Materie auflrelen (Ausdrücke freilich, bei denen innner hinzuzu»U uken
ist: sofern sich in solchen al>.stracten liegriffen die menschliche (Je-
gebenheit, nus der sie entnommen sind, ausdrücken lässt), zeigen
ebenfalls in gewissem Um&ng Gleicliartigkeit ihrer Bestandtheile und
Gleichförmigkeiten in ihrem Verlauf.
An dem Wirklichen tritt nun aber dem Intelleet eine zweite
Grundeigenschaft entgegen. Auf der Grundlage aller dieser Gleich-
förmigkeiten erhebt sich das Siiifrularc. Jedes Singulare ist von dein
anderen verschieden. Lkibniz forderte im Cnrton von Charlottenbnrg
die Hofdamen tlcr philosophischen Königin auf, zwei gleiche Blätter zu
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Diumtcv. üeitvigia zum Studium der Individualitit. 'iO'S
suchen: so veranscl);Mili<hte er ihr sein Prineipium identitatis indis-
cernibiliimi. Und Oh i< lilicit bp/.otclinrt, wo von wirkliclien und gra^
ducll abstufharon Diniii-n der Ausdruck gebrauclit wird, nur die Annä-
herung an das jTän/.Ii«'!«- X'crstdnvindpn jedesTTnterseliiodes. Seine liöeliste
Anwendung? hat dies I'i iix'ip auf men.sciilieh('l^el>en.seiaheiten. — Da aber
ist es nun der Indiviilii.ilion des Wirklichen wesentlich, da.ss gewisse
Grundformen, welcli» w ir hier zunächst als Typen bezeichnen wollen,
in dem Spiel der Vnriationen immer wiederkehren. In einem solchen
Typus sind mehrere l^lcrkmale, Hieile oder Functionen regelmflssig mit
einander Terbunden. I Hese Züge, deren Verbindung den Typus ausmacht,
stehen in einer solcli« n uegenseitigen Relation zu einander, dass die An*
wesenlieit ib s Einen Zugs auf die des anderen schliessen lässt, die
Variation im Minen n ii* die hn Anderen. TTnd zwnr Truiiint diese ty-
pische Verbinduiiic v<ii. .^b'rknialen im Universum in einer ;uifsteijTf>nflen
Reihe von Lclieiihtonr n /.u und erreicht im organischen nnd (hmii im
psychischen Leben il i ii Höhepunkt. Dies Princip de*. Typus kann
als das zweite, welcli' > die Individuation behcrracht, angesehen werden.
Dies Gesetz ermöglichte es dem grossen Güvisr, aus versteinerten Resten
eines thierisdben KörptTs diesen zu reeonstruiren. Und dasselbe Gesetz
in der geistig gescliieh fliehen Welt bat Fb. A.Wol7 und Nkbubr ilire
Schlüsse ermOgliclit. Si'ine Begründung und Venvertlmng för die
menschli<di-geschi<*]ii liehe Welt kann natürlich el>eufalls nur in psy-
chologisclien Erfahnn «-n liffjen. — In der orcanisehen und geschiclit-
lichen Welt treten «Im Al>stul"im?('n des Leiienswerthes der Gel>ilde
auf, welebe mit den .\bstntuiij<< n tler Articrdation von llieilen oder
Functionen in Verhi'l niss stehen. Es entstehen Reihen, in denen die
Lehenswerthe in ehit r bestimmten Bichtung ^nehmen. So bilden den
Gipfel der Arthropotf' II die Amäsen und Bienen, den Gipfel derWlrbel>
thiere bildet die men^'diliche Organisation. Schliesslich ist aber dieser
Begriff des Lebensw« rtlH's und was mit ihm zusammenhängt uns nur
in der menschlich - 1: liiehtlichen Welt primär gegeben. Das Princip,
das hier innerhalb ih Iii<lividuation zur Geltung gelangt, kmin als (i;ts
d'*r Entwiekeinn' ' 'e/fielinet werden. Diese Verschiedenheiten
und Entwickehuii,'-^>' ' < n finden wir aber in der gnnzon orcnnisehcn
und geistig gcschicl liehen W'elt in inneren VerhiihnisM'U /,u (U'ül
physischen und geis L n ülilieu, in welchem sie auftreten. Bestimmte
Unterschiede in dies-m entsprechen bestimmten Unterschieden in der
Individuation. Giwh n Jener Unterschiede entsprechen Grade in diesen.
Der einfachste und priiuiire Fall ist die Einzelperson, umgeben von
ihrem Milieii, oder a:.ders ausgedrückt unter physischen und geistigen
Umständen. DarstelluMj dieses Verhältnisses ist jede EeV)ensgesclüchte.
Ebenso kann aber die Kc-hition einer Staatsverfassung oder der Ldtteratur
28*
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304 bitÄung der phil.-hist. (Masse v. 5. März. — Mittheiliing v. 25. Ajiril 18i»5.
eines Volkes zu den Naturbedingungen und den historisch -gesellscliafl^
liehen Factcrrn analysirt werden. Von Aristoteles ab bis auf den
grossen Analytiker Tocqueville und seine Naclifnlf^pr sin<l Staats-
verfassungen und grosse Krisen des stnafliehen L<'lH*uei einer solchen
Analyse unterworfen worden. Taine hat ein classisches Beispiel
in seiner englischen Litteraturgeschichte gegeben, das Veriiältniss
littoiarischer Zustftnde zu ihrem Milieu zu untersuchen! und die er^
heblichen Lücken, die er in seinen Analysen, z. B. d^ des Verhilt^
nisses von Shakspebe zu äxsa ihn umgebenden Umständen liesSt
Ibrdern zu einer Fortbildung seiner Methoden atif. Soll dies Princl])
auf seine Tragweite für das Problem der Individuation und zugleich
niieh niif die (Frenzen dieser Tracjweite geprüft worden, so müssen die
grossen gleich torniigen Beziehungen, welche zwiselu-n der Individuatitm
und den Umständen best<*hen, theoretisch entwickelt werden. — AVi»-
könnte man diese Verhältnisse in der Kürze aussprechen! Aber wenn die
Gedanlcenmftssigkeit des Weltalls in seiner universiden matKemfttisehen
Oesetzlidtkeit» in der Beziehung gleichartiger Theile nach quantitativ
geordneten Gesetzen gelegen ist: so öfihete sich doch von jeher der
Sinn der Welt för den künstlerischen Blick und för die philosophische
Contemplation am tiefsten in dieser Individuation, in dieser Speci-
fication nach Individuen. Arten. Haltungen, Lebensformen, typisclien
Gestalten und typischen Verhältnissen. Wie Gok.thf (nninal satj^t:
die Natur scheine Alles auf Individualität antrelept zu haben. Wie
dann die Natur- Philosophen vorschiedeuer liiutkr dies lläthsel durch
Begriffe, wie Individuation, substautiale Formen, bildende Kräfte,
EntWickelung, Differentüren und Intcgriren zu lAsen suchen, wobei
sie es freilich nur in allgemeinen Begriffen und den zu ihnen ge-
hörigen Worten wiederholen.
Die höchste Stufe, in welcher diese Züge der Individuation
alles Wirklichen aulbeten, ist djis menschlich -geschichtliche Leben.
Auch auf dieser Stufe ]>ilden (Gleichartigkeit und ({leiclift^rmipkoit
die Grundlage der Individuation, diese erreicht alter liier ihren Höhe-
])nnkt. An ihr haftet nun auch hier ein selbsiändiLces Interes.se.
Während wir in der Natur nur das Gesetzliche suchen, wird hier
das Singulare zum Gegenstände der Wissenschaft. Wenn ich ge-
wahre, wie erhitztes, flüssiges Blei, das in kaltes Waaser tropft,
verschiedene wunderliche Formen annimmt, so kann ich an diesen
Formen als solchen nur ein fluchtiges Interesse haben: an den Ge-
setzen , welche di<'se Formen bestimmen , haftet ausschliesslich die
Aufmerksamkeit des Naturforschers. Und wenn im lebendigen Ver-
]i?iltn)«;s für den Araber sein Pferd bereits ein*^n selbständiq-en Werth
als eine Individualität gewinnt oder für den Jäger sein Hund: unter
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Dii/kirKY: Beitnige zum Stiidiinii der iniliviiiualiiiit.
305
dem Gesichtspunkt der Naturwisseiuchaft ist doch jedes thierisohe
Individuum nur nacli seinem Verhältnis? zur Art intfrossant. Wogegen
inmjcr -hmi*' Biographien dio grosse singulare Thntsache FRiEDRirn
der (Jrosst" oder Goktiik zu erioi^chen streben. Die Erforschung der
liier auftretenden Abstufungen, Verwandtschaften, Typen ist dalier
von höchstejn Interesse.
Man konnte nun annehmen, dMS den dargestellten zwei Seiten
am geistig-geschichtlich WlrkJidien xwei Arten von Wissenschaften
correspondirten, die generellen Theorien und die vergleichenden
Wissenschaften. Aber gerade die in einem Gebiet bestehenden Be-
züge zwischen diesen beiden Arten von Erkenntnissen sollen
rrfasst wcrdon. Das Denken, wclclics auf den lelicndigen Wirkungs-
zusamiuenhang des Seelenlebens gericlitft ist und den ]Mittel])unkt der
generellen Theorien bildet, soll nach dem modernen Ide;d des W issens
auch die Individuation erhellen. Diese Aulgaben werden gerade durch
Wissenschaften gelöst, deren jede die Feststellung des Gemeinsamen
in einem Gebiete mit der in ihm verwirklichten Individuation zu Einem
System zu vereinigen strebt.
Und zwar enlhftlt unsere EAenntniss nach ihrem gegenwirttgen
Bestände drei Systeme von generellen Wahrheiten. Dieselben beziehen
sich auf drei grosse Ordnungen von Inhalten am Wirklichen. Sie
kr.jinen idclit auf Einen die Wirklichkeit nmfa.«?spnden Causalzusaramen-
liant,' zurückgefiilirt werden. Das ideal der Erklärung aller Erschei-
nuni,^eu durch Einen InbegriflT genereller Wahrheiten ist unerrei('ld>ar.
Die mechanische Theorie der Erscheinungen hat zunächst da ihre
Grenze, wo die Zelle auftritt Wohl ist der Vei^uch methodisch ge-
fordert, aus den bekannten chemischen und physikalischen Processen
die Voxgftnge in der organischen Natur, als welche einen Theil der
äusseren WlrUidikeit bild^ ahzuleiten. Aber solange dieser Versuch
keinen ausreichenden Erfolg hat, müs.sen neue generelle Wahrheiten als
hinzutretend zu unserer Erkenntniss der physikalischen und cliemisehen
Eigenschaften der Materie da eingeführt werden, wo die Zelle auftritt.
Wenn wir dann an das organisclie Eeben innere Zustände gebunden
finden, welche im Menschen eine besondere Grestalt anneinnen und atif
Grund der inneren Ertaiirung liier als die der raensclilich-geschicht-
licben Wirklichkeit beschrieben werden können: so besteht zunächst
keine methodische Fordenmg, die generellen Wahrheiten, welche dieses
Gebiet beherrschen, auf gesetzliche Verhiltnisse in der ftusseren Natur
zurQekzufnhren. Je mehr das Naturcvkennen die ihm gegebimen Ek^
selieinungen auf die Bewegungen im Raum vertheilter Masseji zu-
rückfuhrt, desto entschiedener sondert sich die im Selbstbewusstsein
gegebene innere einheitliche Lebendigkeit von ihnen. Keine Zeit
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B06 SiteuBg der pfaH.-hist. Classe 5. Mira. — Mitdi«ll«ii|r v. 25. April 1895.
ist absehbar, in weklici- d'w. gemeinsamen Züp' im Vt;rli;ilt*'n (lirs( r
Lebcndip^keit durch die Leistungen von Gehiiui/.rllon und NerviuiuUcii
begreifliclt gemacht werden können, ünd diejenigen, welche vom
Eintreten einer solchen Zeit überzeugt sind, milKsen dodi inzwischen,
bis sie eingetreten, den Werth deijenigen Arlioltsweise anericennen,
-die für das menschlich-geschichtliche Gebiet pftychologisclie Wahi*-
heiteii zu finden strebt, welche sowohl die Gemeinsamkeiten als die
InUivlduation in ilim fassbar zu machen geeignet sind.
Die einzelnen Geisteswissenschaften heben dureli einen Vor-
gang von Analysis und A^>stjn( tion einzelne Zweckziis;un inen-
hänge aus di r nienschlicli-geschichtlichen irklu likpit heraus. Die
generellen Wahrheiten, zu welchen sie gelani^fn, gelten entweder
einfkch von dieser ganzen Wirklichkeit, oder sie mOssen doch einmal
als Folgewahrheiten solcher, die von ihr gelten» unter Hinzunahme
eoncreter Bedingungen, aufgezeigt weiden können. Und zwar verhalt
sich die Psychologie zu diesen einzelnen Geisteswissenschaften als
deren Grundwissenschaft. Beschreibend, nnnlysirend und verglei-
chend eröffnet und begnindet sie die Erkenntiiiss der menschlich*
geseliiehtliehen Welt. Sie kann diese ihre Funetion nur erfüllen, wenn
sie die Erklärungsprincipien für die in dieser Welt bestehende Indi-
viduation entwickelt.
B.
Die Kunst als erste Darstellung der n)enschliGh-geschicbt>
liehen Welt in ihrer Individuation.
Die nienschlich-geschichttiche Welt, wie sie auf dem Grunde
von Gleichfömiigk(Mten dun-h die so rlithselhafte Individuation sich
wie ein Stamm in getrennten Asten ausbreitet, ist der centrale Gegen-
stand der «larstellenden Künste, namentlich der Plastik, Malerei, rr-
zAhlenden und dramatischen Poesie. Nur an <ler Peripherie dieser dar-
stellenden Künste li<'gen die künstlerischen NaehhiUlungen der Thier-
weit und der Landschaft, in denen das erlebte iudividuirte Seelenleben
aus der Lebendigkeit des Künstlers in untere Stufen 2>rojicirt wird.
Überall bereitet die darstellende Kunst nach einem grossen geschicht-
lichen Gesetze dem wissenschaftliehen Studium dieser Welt den Weg.
Aber djus, was diese Künste über die menschlieh -geseliiehtlidie Wdt
und deren Individuation in ihr aussprechen, das belullt auch nach
jeder wissensehatlliehen Erforsclnmi;- dirscs (!(1)it'tes seinen selbstiin-
dii^en Werth. Kein wi'^spnsehattlitlH'r Kopf kniiii je ersehftpfen, und
kein Fortschritt der ^\ iisehafV kann erri iclicn . was der Künstler
über den Inhalt des Leb« iis zu sagen hat. Die Kirnst ist das Organ
des Lebensverständnisses.
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I)ii.THF.y: Beiträge zum Siudimn lici Individualität.
307
Für die Auffnssiiii? dor so ontsteheiKlon Bezi<'liTm£rcn zwiselion
Lf'bpnscrfMlinniir. Kunst und Wisson kann so ein dmclitrroifondes Ver-
hjiitiiif>s in einem ernsten Satze festgestellt werden. Wir können die
Thatsache sellu^r feststellen, dass die Auffassung der Lelwnswirk-
lichkeit durch die unlösliche Verbindung von Lebenserfahrung, Kunst
und wissenscliafltlicbeiR Denken bedingt ist, ganz im Gegensatz zu
der Naturerkenntniss, welche gerade auf der Abstraction von dem
Sinnenscliein der vulgftren Eifalimng beruht Auf jeder Stufe unseres
geistigen Lebens besity.en wir unser Wissen über die menschliche
Lebenswirklichkeil und die in ihr stattfindende IndividuMtion im Zu>
sammenlmno; dw lebendiaren Erfahrung mit den Werken der Kunst
und den L<'istungen der W i.ssenschalt.
Dass die Kunst auf der Krfahnmir «Ics I.clieiis iK'ruiit und in
dieser ihr Material hat, ist selbstvei^iäiidlicli. Sit- aialt Ilinunel und
Hölle, Götter und Gespenster nur mit den Farben, die in der L^bens-
wirkUchkeit enthalten sind. Sie st-eigert nur die in dieser enthaltenen
Bestandtheile. Aber auch die Lebenserfahrung eines jeden von uns
kann von den Einwirkungen der Kunst auf ihn nicht getrennt werden.
Wir alle würden nur einen geringen Teil unseres gegenwirtigen Ver-
ständnisses menschlicher Zustände besitzen, hätten wir uns nicht ge-
wHlnit, durch dns Auge des Dichters zu sehen und Ilnnilets und
(jretchen. Richards und Cordeben . ^larquis Posas und Philipps in
den Meusclien um uns /u gewahren. Und wie die Kunst in der
Lebenserfahrung selbstverständlich ihre Grundlage hat, so auch die
Wissenschaft. Endlich bleibt wie die Lebenserfahrung so auch die
Wissenschaft in gewissem Umfang an kOnstlerlsehes Vermögen und
künstlerische Mittel gebunden. Nur durch sie kann der Geschichts-
schreibe, der sociale Sehriftsteller, der politische Denker Menschen
und Zustände vergegenwärtigen. Daher sind Höhepunkte der 6e*
schichtssclireibung imnu r eigentlich durch solclie der Poesie liedingt.
G-ros.se GeschiehtÄsehreilier begannen nie]!* -fiten nut diehterisehen
Versuchen, und In ivonagende Dichter ,t;al>e)) (Un t der historischen
Kunst einen mächtigen Anstoss. Und um den Kreis dieser Bezie-
hungen ganz zu schlie.ssen, muss gegenüber <ler Lehre von einer wihl-
wachsenden Kunst, welche im vorigen Jahrhundert Geltung gewann
und auch heute wieder Propaganda madit, bemerkt werden, dass
jeder grosse darsteUende KfinsÜer, insbesondere jeder Dichter mit der
Bildung und den geistigen Kämpfen seiner Zeit in einem inneren
Verhältniss gestanden hat.
So entstellt in jedem von uns sein Verst&ndniss der Lebens-
wirklichkeit durrli das Zusammenwirken vnn Lebenserfahrung, dar-
stellender Kunst und wisseuschaftlicbem Deukciij das uns von überall
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308 Sttziini^ der phiL^hist. Classe 5. Mira. — Mittheilmig S5. April 1895.
li<'r bccinllusst. Die Mfnsclionwt^lt , welche "vvir in der Lebeiiserlabrung
besitzen, wird uns durch Kunst, Historie und abstracte "Wissenschaften
XU gesteigertem Bewiiftstsein gebracht Dm Leben eines jeden yon
uns nach seinen tiefsten Bezflgen ▼eimag nur in dieser Atmosphaere
▼on bildender Eunst, Darstellung, Dichtung, Geschichtsschreibung und
wissensduifUichem Denken sich auszuathmen, zu wachsen und sich
zu gestalten. Daher ist das Leben sdber immer geschichtlidi bedingt,
olinc dass wir es uns klar machen. Maler waren unsere Lehrer,
im Antlitz df^r Menschen zu leson und Gestalt und Geberde zu deuten.
Dichtor sind unsere Organe, Menschen zu verstehen, «n<l h]p be-
einüussen die Art, wie wir in Liebe, Ehe und mit Freuiuleji unser
Dasein fuhren. Geschichtsschreiber geben uns ein Verständniss der
historisdien Welt, in welche doch jeder durch sein Wirken mit irgend
etn^ Grad von Verstlndniss eingreifen soll.
Es ist so. Der Gehalt der menschlich -geschichtlichen Welt in
ihrer auf dem Boden des Gleichartigen und Gleichfonnlgen erwach«
Beuden Individuation ist unabtrennbar im LeTien selber, in dem künst-
lerischen Darstellen und dem wissrnscliaftliclion Begreifen uns gegeben.
Der ganze Unterschied der Naturwi.ssenschalU n ^ fn den Geistes-
wissenschaften macht sich hier in seinen Folgen geltend.
Auf dem Grunde dieses Zusannnenhangs, in welchem wir die
darstellende Kunst fanden, betrachten wir sie nun als das Organ,
welches die menschlich-gesehichtliehe Welt und deren Individuatkm
der Menschheit zum Verstftndniss bringt. In ihr ündet sich die Mensch*
hcit selbst. Die Besonnenheit über dss Leben ist in ihr immer da,
auf welcher Stufe und in welcher Region sich auch die Menscliheit
entwickele. Die Betrachtung dieser Function der darstellenden Kunst
erfasst nur Eine Seite an ihr. Tn Brzui,' ;iuf die anderen darf ich
mich rrtif früliere Darstell untren iie/ielieii. Diese Seite derselben aber
versuche ich nun in einitfen weiteren Sätzen darzustellen.
Die darstellende Kunst erweitert den engen Umkreis
von Erleben, in den jeder von uns eingeschlossen ist, sie hebt den
in dunklem und heftigem Innewerden enthaltenen Zusammenbang
des Lebens in die helle, leichte Spham des Nachbildens, sie zeigt das
Leben, wie es in mächtigeren auffassenden Vermögen, als die
unseren sind, sich abspiegelt, und sie rückt es in eine Ferne von
dem Zusammenhang unseres eigenen Handelns, durch welchen
wir ihm cfeofrTifdH'r in einen freieii Zustand geratlien (Sciui.i.kr.s Ver-
gleich der Kunst mit dem Sj)iel). So erweitert sich der Horizont
unsrn s Daseins durcli die Schöpfungen vieler jyrossen Genies, die sich
einander ergänzen, in da^ Ünermessliche. Man iiat nach dem Recht
der historischen Poesie gefragt. Abgesehen davon, dass überragende
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Dii.iiiKv: lieitiü^^c /uui Stiidiiiin der Individualität.
"VVillcusinacht , dor grßssto (Jogonstand aller Porsic, ;iu den Personon
von Sago und Geschichte vui uelunlich autlritt , ist es ein unvertilgliares
Bedürfniss, die Erweiterung des Horizontes von Lelien, Kraft, Existenz
nacli allen Seiten zu erstrecken, sonacli auch in der lAiüc des ge-
schichtlichen Daseins; das Herausheben der inneisten menschlidien
Lehendigkeit in einer geschichtliehen Situation und Gestalt wird aber
immer nur in dw Poesie vollkommen voUbracbt werden.
Diese erste Gruppe zusammeugehAriger Sfttze eiiftutem wir. Dabei
müssen wir zunächst, um den Vorgang des Nachbildens nnd Ver-
Stehens aufzuhellen, von der inneren Erfahrung, von dem Erleben der
eigenen Zustände ausgehen. Und zwar tritt in ihm innerer Zusammen-
hang unserer Zustände auf, stückweise, hier und da, doch so, dass die
inneren Erfahrungen sich in einander fiigen. Erleben eines eigenen
Zustandes und Naclihilden eines IVemden Zustande» oder einer fremden
Individualititr sind nun im Kern des Vorgangs einander gleichartig.
In jedem erßülten Lebensmoment ist die Totalitftt unserer Gremütha«
krftffce wirksam. Unterscheidet sich doch Gegenwart aunSchst dadurch
von Ver^ngenheit und Zukunft, dass sie ein solcher von der Totalität
unserer Kräfte erfällter Moment ist, wogegen Vergangenheit und Zu-
kunfl zunächst Vorstellungsbiklcr sind, die nur mittelbar andere Re-
gungen in sich aufnehmen. Und zwar ist dieser erlebte Zustand
wie ein Praedicat an das Subject nnserer Person gebunden; immer
ist er, wenn aneh noch so dunkel, auf den Zusammenhang unseies
Lebens bezogen und innerhalb desselben localisirt. Diese Merkmale
dm Erlebens kehren in dem Nachbilden der Lebenirilussenuig«» an-
derer Personen wieder. Wir können zuniehst das Verstehen eines
fremden Zustandes als einen Analogieschlusa aufbssen, der von einem
äusseren physischen Vorgang vermittelst seiner Ähnlichkeit mit
solchen Vorgängen, die wir mit bestimmten inneren Zustanden
verbimden fanden, auf einen diesen ähnlichen inneren Zustand
hingeht. In diesen Bestimmungen liegt doch nur eine rohe und
schematisehe Darstellung dessen, was im Ergebniss der Nae]il>ildung
enthalten ist. Denn diese Vorstellung iu Form eines Schlusses löst die
inneren ZusUindc, sowohl den, aus welchem geschlossen wird, als
den anderen, welcher nun durch Scfaluss ergänzt wird, aus dem jedes-
mallgra Zusammenhang des Sedenlebens loe, während doch durch die
Beziehung auf diesen das Nachbilden erst seine Sicherheit und seine
nähere Bestimmtheit empfängt. Dies kann audi durch folgende That-
sacben bestätigt werden. Die Interpretation fremder Äusserungen ist
eine sehr verschiedene, je naeh der Kenntniss des Zusnmmenliangs,
dem eine solehe Äusserung angehört, oder naeh dem Typus des
Seelenlebens, der ihnen, ohne ReÜexion darüber, doch in den meisten
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310 SitzunK der phil.- Iiis». Clflsse v. 5. M5r/.. - Mittheilmi;; v. '25. April 18'J5.
Fällen zu (Jrnmle ^jelept wir<]. Vm\ <lif Grenzo niisoros VerstAiidnisses
lit'ift iiniiicr <la, wo wir nicht mehr aus dem ZnsrmiTnenhnnjre liern?is
nM<'li1)il<lcn können. Aber dit* tiluth'r des Nacliltildum^s\ ori^anLrs sind
gar nicht bloss dui'cli logische Operationen, etw a durch einen Analogie-
sdilussi, mit einander verbuiuleii. Nfidibilden ist rlien ein Niuiheriebrai.
£in rätliselliafter Thatbestand! Wir können dies etwa, wie auf
ein Urpbaenomen, darauf zurückltthren, dass wir fremde Zustinde in
einem gewissen Grade wie die eigenen fühlen, uns mitfreuen und
niitirauern können, zuiUielist ji' uncli dem Gnule der Sympathie, Liebe
oder Verwandtschaft mit anderen Personen. Die Verwandtschnft dieser
That.s;u-ltr mit dem naclibildenden Verstehen eririrbt sicli rms nielireren
l'mstnndeii. Auch das Verstehen ist von dem Maass der .Syni]t.'Uliie
abhän^'i«:. und ganz unsvnipnthi.sche 3Ienschen verstehen wir über-
haupt nicht mehr. Ferner olVenbart sieli die VerwandtÄchaft des Mit-
geföhls mit dem nachbildenden Verstehen sehr deutlich, wenn wir
vor der Bfihne sitzen. Wir stellen dann nicht nur vor* wir nehmen
nicht nur wahr: wir erleben die seelischen Zantüiidc nach. Und dieser
innige Antiieil entspringt nun nicht aus den Bezügen unserer eigenen
Interessen zu dem, was auf der Bühne vorgelit. Die Rückbeziehung
auf das. was uns seihst begegnen könnte, entliält nicht den (irund
unserer SeelenlH'wegung. Das (»<'gentlieil ist der Fall. Wo diese
liimcr ^ic!i treltend macht, da giebt sie <iiesem ti.n bliildenden
Ver.stelKU l im u Zusatz vun roher und stärkerer Art, w( lelier iless«'n
ruhigen Abiluss kreuzt und stört. Daher wir, j(t näher etwa durdi
die dramatische Darstellung der Vorgang uns auf den Leib rückt,
um so mehr durcli den Abstand der Beschaffenheit des Vorgangs von
unseren eigeiu'n Verhfiltnissen Sicherjieit fiir ilas ru]iige, mitempfin-
dende Nachbilden erhalten müssen. Helden der Sage, Könige und
historische Pe rsonen sind schon hierdurch, niebt um durch ihre Be-
deutung ffir die Tragö«lie geeignet, wogegen ims 4lie Nälie der Per-
s<men im Lnsts]Mel nur darum nicht stört, weil durch die Natur
seines Tnhalis Urzüge auf eigenes Sprosses I.eid ausgesclilossi-n sin<l.
Dazu kuiinnt, tlass der grosse LusLspit lilieliter inunrr <huvlj etwas
Urotcskcs in der Erfindung und in den Charakteren uns aus der
Sphaere des AUtaglebens herausrflckt. Gerade das Groteske, das an
manchen Figuren von Shakspese, Rabelais, Dicken.s getadelt wird,
adelt ihre Kunst.
Gemfiss diesen VerhSltnissen hat auch die wissenschaftliche
Auslegung oder Interpretation als das kunstm3ssig nachbildende
Verstellen inuner etwas (ienialisches, d. h. sie erlangt erst durch innere
Verwruirltschaf^ und Sympathie einen hohen Grad von Vollendung. So
wurden dW Werke der Alte« CRst im Zeitalter der Renaiiisance ganz
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OiLTUEY: Beiträge zum Studiitiii der Individiinlitüt.
311
wieder vorstanden, «Is Hlmliclie Verlinltiiisse eine Verwandtseliaft der
Menschen zur Folsje hatten. Dieses iimorp Vprliältniss, das die Trnn«;-
position ennöiilirlit, bildet sonach die N'oraussctziin^ aller hermciitu-
tischtju Regeln, und dieselben können nur aus l iiu la auf diesem leben-
digen Verliftlten bemheAdeii methodiseheii Vorgehen gef^fenüber den ver-
schiedenen Gegenständen di6 einzelnen Bestimmungen ableiten. Aus
demselben lebendigen Verbalten entspringen auch in erster Linie die
Ergänzungen des Überlieferten und die Ausscheidungen des Unechten,
welche rationalen Factoren auch sonst noch mitwirken mögen. Es giebt
keinen wissenschaftlichen Process, welclier dieses lebendige Naclibilden
als untergeordnetes Moment hint«'r sich 7m la.ssen vermf^rLtc. Tlinr ist
der müttPiliclic P)0<l(Mi. aus dem aucJi die abst ractesten OjH-rationen der
Gei.stcswis.si'iiM hafti n imnur wie<ler ihre Kraft ziehen müssen. Nie
kann hier Verstehen in rationah^s Begreifen aufgehoben werden. Es ist
umsonst, aus Umständen aller Art den Helden oder den Genius begreif»
lieh machen zu wollen. Der eigenste Zugang zu ihm ist der subjec-
tivste. Denn die hOcIiste MdgUdikeit, das Gewaltige in ihm zu erfassen,
liegt in dem Erlebniss seiner Wirkungen auf uns selbst, in der fort-
dauernden Bedingtheit unserer eigenen Lebendigkeit durch ihn. Der
Luther Ranke's, der Winkelniann Goethe's, der Perikles des Thü-
KYDn)Es sind aus einem solchen Verhältniss von Lebensmacht eines
Helden hervorgegangen.
Die Natur der Nachbildung fremder tiestait und Zustämlliclikeit
empfängt nun aber in der nachahmenden Kunst noch besondere
Züge, welche sie von den Erfiihnmgen des Lebens selber trennen. Von
diesen Zügen« wie sie im obigen Satze zusammenge&sst sind, bedarf
nur Einer noch einer näheren Erörterung. Die Welt, die ein Künstler
darstellt» seine Mensehen, Situationen, Schicksale sind wie durch einen
Rainnen von dem Zusammenhang, in dem unsere eigne Existenz
stellt, abgeschnitten. Die Weehselwirlaingcn . in welche unser D.a-
.sein vertloclitcii ist, r( ithcii nicht zu ihr hinan. Die ^Vellen, in
denen imstr eigi n» s SchiiV schwimmt, berühren diesen Pei*sonen
nicht die Füsse. Wiederum von der Verflechtung von Wirken und
Leiden, welche ihre Welt ausmacht, kommt keine Wirkung leisester
Art an uns heran. Es ist ein Vorgang, welcher in sich einen Zu-
sammenhang bat, aber mit unserem Leben in keiner Art von
Causalverhältniss steht. Daher ist die Thätigkeit des Dichters und
seines Zuschauers, wie ScBnj.E& richtig sali, dem Spiel r(M-gleichbar.
Emst und Arbeit ist, was im Zusammenhang unseres Zweckleljens
von uns gethan Avtrd. Wa«;, diesem entnommen, nur dem Gesetz unter-
worfen ist, die Structtir \mseros .Seeh'nlel>ens in hoitere TliMtierkeit
zu versetzen, das ist Spiel, und das l>efreit unsere Seele, welche iu
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.i 12 >i!znnf; dri- {iiiil -Iiis!. ( lasie v. MSrz. — MiüheiluDg v. 2ö. Aprii liSüö.
der TJntcrthfiiiitrlvf it unt«r dem harten ZweckzuMmtnoiliaiig des Leben«
oft sicli vrivj'lirf-n will.
Die tlnrsiclit iKlc Kunst gxeht aber mehr als Naebbiklungoii de.s
menscblicheii Lebous. Das typische Sehen und Darstollen i.st
ihr Kunstgriff, im Thats&chlichen die Regel des Geschehens
zu geben. So enthält sie eine Anleitung zu sehen. Diese Er>
kenntniss ist ebenfalls dureh die firfihere Darstellung vorbereitet. Dort
sahen wir bereits weitere Eigenthilmliehkeiten der Auffikssung sedisch-
geschichtlicher Zustande dureb (b n .sclbstAndigen Werth der Person
und die Untrennbarkeit des Thatsächlichen von Werthbestimmungen
und Nonnen bedingt. Hieraus ngicbt sich nun die Bedeutung des
Typisc'lien in der Poesie. Aiu h in dem typischen Sehen begegnen
sich künstleri.sches und wissenschatlliches Auffassen. Es ist die
Form, in welclier das Kunstwerk, zumal die Dichtung, das Wieder-
kehrende der Unterschiede, Abstufungen und Verwandtschaften in der
menscblicfa'geMdiiehÜichen Welt besitzt. Ich betrachte einen Schlltt-
sehuhUufer oder eine Tanzende. Die Angemessenheit der Bew^pun«
gen Ist für mich untrennbar mit der Auffassung derselben verbunden.
Ich verbinde diese Bilder mit den verwandten Krinm rimgsbüdem
unter dein Gesichtspunkt ihrer Angemessenheit und Vollkommenheit.
Die S.'U'lnorstolluncTPn kann ich hier nur durch Anstrengung und
Übung von den Werth Vorstellungen trennen. S(» entsteht f\\r jeden
Theil mensehiieher Leben.säu.s.seruntren ein Typus ihrer angemessenen
Ausfülirung. Derselbe bezeichnet ihre Norm, wie sie zwisciien den
Abweichungen nach beiden Seiten liegt. So repraesentirt nun eine
typische Lebensftussening dne ganze da^. Das ist der nächste
Sinn, in welehm wir den Begriff des Typischen anwenden, hadern
ich nun aber diejenigen Züge eines solchen Typus, welche das Regel-
hafte der ganzen Gruppe ausdrücken, betcme oder gleiclisam mit stär-
keren Stri(dien verzeichne, kann ich weiter auch das in diesen Linien
Herausfi-ohobene als T^']iur bezeichnen. Der Begriff des Typus be-
zeichnet dann also das herau.sgehobene Genieins.une. Aiich so behidt
der Typus noeli seine Bildlichkeit. In diesem .'^inne finden wir aueh den
Ausdruck zunäclist technisch gebraucht, werni der Arzt Coeiiu.s ^wahr-
scheinlich im 2. Jahrhundert n. Chr.) vom Typus des Wechselfiebeis
spricht und darunter die Regel seines Ablaufe versteht. So sprechen
wir Oberhaupt von einem typischen Veriauf. In diesem Sinne giebt
Shaksfbbc Typen der LeidensduKften. In ihm sind die vier Tempe-
ramente ireninl gesehene Ty|>en der physisch bedingten Gemüths-
aulagen. Wir dürfen nun aussprechen . dass das Auffas.sen des
Menschlichen in einem entwickelten Bewusstsein stets typisch war
und sein musste. Daher ist es gar nicht ein Ergebnis« der Kunst-
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Diltb£y: Beiträge zum Studium der Individoalilät. 31H
entwickelung, sondern Ut jedem künstlerisdieji Darstellen von der
Lebenserfahrung her eigen.
Fjissen wir zusammen. Dio Kunst versucht auszusprechen, was
das Le})en sei, Dk' canze Individualion der menschlich -geschicht-
liehen Welt kommt zuerst, in der Poesie üuiii Verstäinlniss, lange bevor
die Wissenschaft sie zu erkennen strebt. Und zwar ist das Mittel fiir
die Daretellung des Glekhförmigen, der Wiederkdir von Unterschieden,
Abstufungen und Verwandtschaften das typische Sehen. Wenn die
Begriifo, in deren Anordnung die wissenschaftliche Classification diese
IncÜviduatioa zu «rlassen sttdkt, entweder Substanzen, wie Pflanzen
oder Thiere, oder praedicative ßestinimungen, wie Krankheiten oder
Verbrechen oder Leidenschaften, bezeichnen, dann auch praedicative
Relationen, wie sie in LebensverhÄltnisson und Schick<;aloii liecjen. «o
unifasst auch das typische Wahrnehmen der darstellenden Kunst, da es
diesellic Aut^t^abe zu lösen liat, gleichmfissiß' das Typische an Personen,
Zuständen, Verhältnissen und Sehieksaicu. Ks eruiöglicht der Poesie,
Erfthrungen zu ywdichten und gedanklich zu durchdringen, so dass sie
einen lehenseifalirenen Mann befHedigen Icann. Sie vermittelt das Ver-
stftndniss des Lesers oder HOrers. Unser begrenztes VennOgen der Nach-
li^ldung wQrde sich durch die Winkel und RftÜisel des Fartieularen nur
mühsam dtirt !iv indrn. w i^nn nicht Linien des lebendigen Zusammenhange
im typischen Darstellen heraust^clioben oder stärker ver/oiclmet wären.
Endlich entspricht dnr Art, wie die Wissenschaft die fifsnze
Individuation der LelKnswirklichkoit tUirch das puts^egensetzende, ein-
theilende und classificireude Verlaluen darzusleUen sucht, in der
höchsten darstellenden Kunst das Verfahren, durch die Bezüge
einer Anzahl von Personen gleichsam diese ganze Lebens-
Wirklichkeit zu repraesentiren. So sind in der Schule von Athen
sowie in der Disputs Raphaelas ganze Sdiaren von Vertretern der ent-
sprechenden geistigen Cidtur durch die BezQge einer Anzahl von Per^
sonen dargestellt. Im Sommernacldstraum sind Illusionen und Irrungen
doi- I,iel»e als ein Scherz, an dem sich das souveräne Bewusstsein ^'cradf
darum so eri^fUzt, weil er den Tiefsinn der Erhaltung des LcIk n.s Ik -
rührt, in typisclien lic/ü^en repraesentirt. Dajs Leben würfelt die Perso-
nen bunt durcheinander; aber wie naturalistisch auch ein Künstler sei,
von seiner Grösse ist miabtrennbar, dass er die west uiiaiten Bezüge
derselben heraushebt Und in der Art, wie der Künstler eine Atmo-
sphaere» eine Wdt bildet, in welcher seine Figuren sich bewegen
und verbunden sind, kommt seine ganze ^elenverlkssung und der
aus ihr stammende Gesichtspunkt, unter welchem seine Auf&ssung
der Lebenswirklichkeit in einem Werke steht, am tiefsten zum Au.s-
dnick. Diese Art, Atmosphaere mid Weltkörper eines grossen Werkes
r
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314 8it7.uiig der phil.-bist. C'lasse v. 5. MSrz. — Mietheilung v. 2."». April 1895.
2U bilden, ontsprinpt nus dem prim&ren und lebendigen Verliaiten
des darstellenden Künstlers zur aijssereii Lebendigkeit. In diesem
entsteht die Writhvertbeiliiii/^, last iiiöelite ich sagen die Theilung
der Lebendigkeit an Fitrurrn und Vorgänge. Daher niuss hier auch
schliesslich der tiefste Cirund fiir die geschichtlichen Formen der
künstlerischen Dsfstellung enthalteii aein; ans ihm fliesten dann erst
die Unterschiede der Technik.
Diese Vertheilung der inneren Lebendigkeit an Figuren und Vor^
gSnge, die so entstehende Articulaiion eines Werkes, die Werth-
vertheilung, welche dessen einzelnen Gliedern ihre Bedeutung zumisst,
enthält Personen, Handlungen und Scliicksale in sich. So ist Jede«
grosse Werk eine ^\'rlt für sieh. Die Individuatioii in ihm ist von
dem inneren Mittdininkte des Werkes nns vollzogen. Da aber die
Reiiie der Werke (miics ^n-osscn Diehlcrs Eine Eritwickelung au.s-
niacheii, so besteht in liizug auf die Individuen, welelie in ihnen
auftreten, eine innere Verwandtschftft. Sie gehören Einer Familie an.
Ein bestimmter Umkreis von typischen Personen macht diese
Familie aus, und sie haben unter einander als Geschöpfe derselben
Diehterphantasie eine Familienähnlichkeit. Jede von ihnen hat
etwas vom Blut des Dichters mitbekommen, jede ist in einer bestimmten
Weise formirt und hingestellt. Die.se Subjeetivit.lt kann auch vom
grö.ssten Dielt ter niebt fiberwunden wpnlen. Jener U.\NKK'sehe Wtinsrb.
sein Selbst auszulnscln ii. um die Dinge zu sehen, M'ie sie gewesen sind,
ist liir den üiditer noch viel unmöglicher als für den Gesciiiclits-
sehreiber.
So ist also schliesslich daa Typische der Personen und Be-
xQge durch ihr Yerhältniss asur Subjectivität des Dichters und
ihre Function im Ganzen jedes Werkes noth wendig gegeben.
Woraus denn die Familien&hnliehkeit dieser Personen und ihr
gleichsam systematisches Verhältniss in einem Ganzen, <las
dureil die Suly'ectivitjit des Dielifers bedingt ist. entsprincT. (lehen wir
von einem besonderen Fnlle aus. Die älteren Maler fliehten, die bleibfMi-
den Züge der Pliysii ij.rn< miie in ein<'m idealen ]VIoni<*ut, der für diesellieii
am meisten praegimni luid be/.eiehiiend ist, zu .sammeln. Moeliie nun
eine neue Schule den momentÄiien Eindruck festlialten, um so den Ein-
druck des Lübens zu steigern: so giebt sie die Person an die Zufälligkeit
<lieses Momentes hin. Und auch in diesem findet ja eine Auffassung
des Inbegriffs von Eindrftcken eines gegebenen Momentes unter der
Einwirkung des erworbenen seelischen Zusanmienhangs statt; eben in
dieser Appereeption entspringt die Verbin«lung der Züge von einem
gefühlten Eindruekspunkte aus. welcher Auslassungen und Betonungen
bedingt: so entsteht ein Momeiitbild ebenso der Apperceptionswcise
'S
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DiLTBRv: Beitrige zum Studium der Individualität. B15
des Malers als des <'(-(;<'nstandes, und jode Bemühung, zu seheii ohne
zu appereipiren, so gleichsam das sinnliclie Bild in Far)>en auf einer
Palette aufzulösen, imiss misslingen. Was noeh tiefer luhrt, der
EindruekspuJikt ist s. hliesslich durch das Verliältniss irgend einer
Lebendigkeit /n d* i im iiiiir''n lic(linLrt. ieli Hude luieb in meinem
Lc'himszusannai'iihiin;' von etwiis \Virkend«'ni in eiui-r juuleren Nalur
innerlich berührt; icli veratehe von diesem Lebenspunktc aus die dorthin
convcrgirenden Züge. So entsteht ein Typus. Ein Individuum war das
Orij^nal; ein Typus Lst jedes echte Portraitt gesi^weige denn jede
Gestalt in einem Flj.rtirengemllde. Auch die Poesie kann nicht ab-
sehreiben, was vor -ieh geht. Wenn ein Dramatiker ein wirkl'K li- s
Gespräcli eopiren «i«" lite» mit all dem Zufälligen» Incorrrcten , Läppi-
schen, (Jedelinten, < i>- ihm anhaften maif. so ^^•!rd er die Leser huig-
weilen: wie weit I 1 il't er so in der Wirkuiiii- hint<r der t^iiualen
Verdieht unjf und Kr' »huu^' ziinirk. wcN-lic das Zulallii^c. das Iiii|Mil>ive,
das Versinken mitt. n im Gespräeiie in uns .s» ll».sL zugleieii steigert
und simplificirt: ab^ r immer wird auch ein solcher Versuch abzu-
schreiben durch dir Subjectivität dessen, der hört, erinnert, nach-
bildet, bedingt sei». <)a alle diese Vorgänge vom Zusammenhang der
erworbenen BegriiTe uiul BUder aus beeinflusst werden. Dann aber
gie]»t jeder (Jesf ili 'ic in eiiieiii Drama oder einer erzHliIciiden
Dichtung auftritt, d \ < rtheilung der inneren Lebendigkeit an Figuren
und VorpiiiLre ihre klimmte Function im Gnnzen. eine gewisse Ab-
greij/uiiLir geifenübcr u nridi icii und etwas vom Blut ihres Sehopfers.
So hat sie stets ef ^ Typisches ujid gehört immer zu der Familie
des Dichters und s i -i Zeit.
Hieraus ergiebt -^Ich, dass die Darstellung der Individuation immer
subjeetiv, und zwar perK5nlich, national und in geschichtlicher
Abfolge bedingt i t. Ieh erOrtere hier nur die in der gesdiichtlichen
Abfolge hervortrete- r.M II Unterschiede in der Darstellung der Indivi-
duation, und auch *\ :'-^' nur auf dem engeren Gebiete der europäischen
dichti'risclien Litern Die gros.sen Epochen in der Geschichte der
Poesie von Euro ' sind zugleich Abschnitte in der «liebte-
riscln n Auffassi ■ ^' von der Individuation der allgemeinen
Menschennattir.
An der Grcn der theologisch bedingten Entwickclung der
ionischen Colonialgr^ -ehen stehen die Gesftnge des Homer. In ihnen
finden wir, wie in den Dramen Shakspgbe^b, die Macht der Trans-
scendenz gebroeJien. Wie auch diese grOsaten dichterischen Werke
der alten Welt ent <.iri<len sein mögen: eine ausserordentliche Macht,
emporzutiiuchen au .!< lu Dunst von Todten- und Götterglauben tmd
nun Leben und Wfi> tnit. unbefangener Wabrhaltigkeit und Objecttvitftt
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316 Silzuug der jdiil. - liiM. ( liis.sc \ . i). Mär/.. — Mitilu iluiig v. 25. Ajnil läll5.
anzusehen, .'liissort sidi in ihnen. Denken wir nns oinon Dichtor-
genius lunl «Ii* von diesem grössten Dichter der antiken Mcnschljeit
geistig be<iingten ('« ndssen des Dielitcrvcrbandes: dann war dieser
Homer Aristokrat in scimr Ge>inuung; eine feine Ireigeistige welt-
freudige Luft umgicbt ihn. Sein Götterstaat zeigt innere Beziehungen
typischer Gestalten; in diesen ist Macht mit gewimenlofiem, reue-
losem , von keinen Russeren Schranken bedingtem Lebensdrang ver-
bunden , wodurch diese Gestalten dann den scrupellos dahinfidirenden
Naturaolchten ähnlich sind. Dl< Helden sind von diesen Göttern
nur äusserlich bedingt: wie die Vertrauten in der franzö-sischen
Tragödie bescliwichtie^en oder erreiyen «liesclben die lioroischen
Menschen. Denn das ist mm das Entscheidende, dnss dioso HehUn
das Gesetz ihres Handelns in sud» selbst tragen inusscu und da.ss
jedem von ihnen wirkliches Leben nur so lange dauert, als ihm die
Sonne leuchtet. Denn nach dem Tode veriiert sich die Seele in ein
unerreichbares Todtenland, wo sie in einem Halblebcn vegetirt So
erhebt sich mftchtig, mlbstftndig, ganz allein auf sich selber ruhend
die Wirklichkeit des Heldenthums.
Das sind die Bedingungen, unter welchen /um ersten Male in der
Dichtung ganze, volle und fein durchgebildete Gestalten von Indivi-
duis binffcst* 11t werden. Das Kunstmittel, .sie hinzustellen, ist die
K( (!('. Das Ilcldenthnm. so wortkarcr bei den Gorninnen, wird in
diesem \'olk der OflVntlichkeit und der Iltuk- aulgi'sclilo.ssen durch
Reden von einer so impulsiven Lebendigkeit, dass kein griechischer
Tragiker sie wied» ordchte. Man lese die Worte der Andromache,
die zuerst den Leichnam Hektors erblickt. Wie sie sich beklagt»
dann plötzlich den Todten anredet: »Jetzt in Aldes' Wohnung hinab
zu den Tiefen der Erde Gehest Du; ich hier bleib*, in Schmerz
und Jammer verlassen. Eine Wittwr im Haus und das iranz un-
mündige Söhnlein«. Wie dann die Bilder vom jammervollen Schick-
sal dieses Sohnes sie unwiderstehlich anlocken und frstlinlten : bis
ganz plöt/li(li das liitd d<'s nackten Todten sich wieder vor ihr
erbebt, in sonderbarer Natur walaluit verwebt mit der Erinnerung
aik das feine Linnen zu Hause. Einen schönen Contrast dazu bilden
dann ihre spftteren Worte, als die Leiche nach Ilion gebracht Ist;
schon tauchen die ruhigeren Bilder seiner Heldenmacht in ihr auf,
auch gedenkt sie dessen, was nach seinem Fall ihr nun bevorsteht;
dann bricht ganz impulsiv die Anrede an Hcktor hervor, die Ver-
gangenes und Künftiges in einem schönen einheitlichen Gefühl zu-
sammenfasst. »Unaussprechlichen Gram der Verzweiflung schufst
Duden Eltern, Hektor: docli niidi vor allen betrül>t nie endender
Jammer! Denn nicht hast Du mii* sterbend die Hand aus dem Bette
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DiLTRev: Üeiti'ige zum Sludiutn der ludividualitlt.
317
gereichet, Noch ein Wort mir gesagt voll Weisheit, deMen ich
ewig Dächt<» boi Tag uiul Nacljt, welimilthige Tliränen vergiessend. «
Der neunte Cu sang nähert sich im Wechsel der Reden der Form des
Dramas. Auch Shaksfer£ l&sst so von einfr ruhenden Lage aus, die uns
auf dem gemeinsamen Boden de*» Lebens /nnSchst uns einzuijrcw (■■)liiieu
gestattet, die gesteigerten Leideoschafleu gern erwachsen. Die Ge-
sandten finden den Aehill, «wie er kbte Min Ben mit der klingenden
Leier«, ihm gegenüber sitatt sdiweigend Patroldus; mm empftngt
Aehill die Gestindten höflich und gmeasen; er wird dann im Laufe
des Geapridis fortgerissen dazu, den unbezihmharen Haas g^n
Agamemnon in «einer Seele und den Traum von Handlungen» der
sich an diesen Hass knüpll »ind ihn Tag und Nacht verfolgt, ganz
auszusprechen; die ungeheuere S?eene endet mit dem Bewusstsein
unwiederherstellbaren Bruches; die (lesandten kehren zurück und theilen
lakonisch das Ergebniss mit. Das damalige Leben selber spricht hier
zu uns. Wir blicken in Achill hinein. So hat Homer zuerst wirkliclie
Individuen geschaffen, welche üb« daa Wirkliche hinaunagen nnd
es doch typisch repraesentiren, daau amgestattet mit der ganzen
natfirlidien Beweglichkeit des Lebendigen.
Die Grenzen, in welchen seine Einsieht in die Individuation
eich bew<^, sind die der Zeit seliger. Sein ganzer Gesichtskreis ist
von der aristokratischen (Gesellschaft erfiillt, diese allein liat ihm
ein Schicksal; jenseit ihrer steht Tliersites, wie SnAKSPEKE's Volk,
realistisch, derb, komisch, mit niissachtendem Spass und zugleich
selbstverständlich mit Prügeln überschüttet. Die Unterschiede der
Individuen innerhalb dieser aristolcratischcn Gesellschaft sind die
natOrlichen; nach Geschlecht, Alter, T^persment, nach Graden von
hoh«r Herkunft, Sfocht und hdd^ahafkier Kraft Alle diese vor-
nehmen Naturen werden von ein&ehoi durdbgreilenden MotivoD und
Leidenschaften bewegt. Alle aber haben, im Vergleich mit den Helden
Shakspere's, etwas in der Natürlichkeit Ruhendes, Keiner von ihnen
wird als Knergie, Machtwille von einem vorsehwehenden Zweckzusam-
menhaug, den ihm seine Leidenschaft eingiebt, planvoll vorwärts ge-
trieben, wie Richard nr., Heinrich H^. oder Macbeth. Hiervon ist Achill
selbst das grösste Beispiel, der davon imumt, iu Pliüiia. ruixig zu leben
und nur durdi XJmatlnde vorwirts geschoben wird, ünd alle htHbm
dieselben DurchachnittsvorsteUungen, keinem von diesen Menschen
wird nodi die IndividualitiU ganz M und abgerundet durch einen
Ideenkxeis, der ihr entsprechend ist und ihn von anderen trennt und
der dann bis in die Sprache hinein ilm individualisirt.
Der Fortschritt über Homer hinaus lag für die Tragödie in der Ver-
tiefimg des seelischen Gehaltes innerhalb des Rahmens von Götter- und
SttamgslHvkhte 1898. 29
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318 äitzuug der phil.-hist. Ciasse v. 5. März. — Mitiiieiiuiii; v. 25. April 1895.
Hero«Mige.scInc']it«. Er lag für die Komödie in der Aufstellung einer Fülle
von Charaktertypen, die auch dri.s inotlcrnc T.u.stspicl mächtig in seiner wei-
teren Entwiekeluug bedingt haben. Die Tragcxlie hat sich iu <ler grossen
ISewegung des» grieehisdu a Geistes ausgebildet, welche über die Crötter-
geschichten ein ideales Ürdnungsprincip erhob, wie es den gesteigerten
moralischen und rationalen Begriffen gemftss war. So wurde zum Angel-
punkt des Tragisdien Gegensatz» Leiden und Versöhnung durch die Kraft
dieses idealen Ordnungaprindps. Die Kritik des Sagenstoffs aus dem
morslisch rationale Gesiehtqfvunkt macht sieh sehon in dem Qior^
gesang des Stesichonis hemerkhar. In den bedeutendsten Dramen
von Aeschylus und Sophokles herrscht die Richtung auf ehien solchen
idealen Zusammenhang. Ist doch auch die Ideenlehre Plato's in metn-
physischer Form eine Darstellung dieses idealen Ordnungsprincips, und
an dem Kampf zwi.schen diesem und der Gfttterctmvenlion hat auch er
in seiner Sclmft, über den Staat theilgenommeu. So fällt Conilict
und Versöhnung bei Aeschylus und Sophokles ausserhalb der Person.
Ihre Menschen sind einheitlidi geformte Typen; auch den complicirteren
von ihnen fehlt die Perspective in eine unergrOndliche Innerlichkdt»
aus welcher der tragische Gonflict entsprSnge. Auch die vom Sturm
der Leidenschaft am misten geschüttelten gehen doch nicht als frei-
wirkeiule Energie vorwärts dureh das Leben. Und wie diese atti.sche
'rragödie so sicli aufbaut, antithetisch und ty]nscli in ilireni Kern,
konnte der rhetoriselie (i( ist sich Uirer Iteinäc-litigen und den (iegen-
satz, auf dem sie berulit, in den antithetisclien Formen der Rede bis in
alle Glieder des dramatischen Ganzen durchfäliren. Die Bedeutung des
Lddens in ihr, der Pomp der Darstellung, die Madte, das Musikalische
begfinstigen ein sich ausathmendes Pathos. Keine Ruhelsge, sichtbar
gemacht durch die natürliche Hingebung an andere Lebensmomente,
unterbricht die Gemüthsbewegungen und giebt iin.s wieder einen Maass-
stab für ihr Ansteigen. Selten tritt in den Reden der Wechsel des
Siyets, des Ausgeredeten, der Stimmung auf, welcher so reeht das
Zeichen der natürlichen I/cbendigkeit ist. Noch selt4?ner ist das Für-
sichsein auch mitten im Gesprach. Echt rhetorisch sind die Personen
durch ihre antithetischen Stellungen bestimmt. Erst mit Euripides
erhalten diese tragischen Typen ein individuelleres Leb^. bisbeson«
dcre der Mactitmensdi, diese so wichtige taragische Figur» erhfilt in
dem Zeitalter der sophistischen naturrechüichen Reflexion ein Bewusst-
sein, eine AtmosphsüBre von Begriffen über seinen Machtwillen, durch
welche er gedanklich zur vollen Person abgerundet wird. Uber alle
frfüieren Darstellungen der men.schlichen Innerlielikeit reiclit Plato
hinaus, welcher in die^fi- Rücksicht der grösste Künstl r b r (irieclien
nach Homer war; sein Sokratcs ist eine der paar Gestalten, welche der
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DiLTHEv: Bettrige zum Studium der Individualität. 319
gänxen Menschheit angehören. Am lebwdigsten und maanigfaltigstei»
hat sich aber nach Homor <lu' crriochische Kraft, Menetehen hinzustellen,
in den Chai akterl^en der Komödie geäussert; von ihnen ist die moderne
Komödie bis zu Mouere hin l>edin!?t.
TTnd VOM hier trclit mm auch ein Weg zur theoretischen Dar-
stellung der individuellen Verschiedenheiten in der Menschennatur.
Wie es sich auch mit der Entstehuiig.s weise der Schrift über die
Charaktere von Theophrast, welche uns so verstümmelt übeiliefert
ist, verhalten mag: jedenfkUs sind sie, wie Otto Ribbecx in seinen
för die Littnaturgeschichte höchst bedeutenden Untersuefanngen nachge»
wiesen hat, das letzte Ergebnis» der reichen griechischen dialo^sehen,
rhetorischen und dichterischen Litteratur, welche Tj'pen komischer
oder niedriger menschlicher Charalvtere herausarbeitete. Hier liegt also
litterarisch der erste Versuch vor. eine Zusammenstclhmg menschlicher
Charaktertypen zu geben , und gerade dai?s diejenigen Typen , welche
von den Beobachtern des taglichen Lebens, den Sittenschihlerem und
komischen Dichtern des Alterthums mit der mimischen Kraft der süd-
lichen Völker gescdiaffen worden sind, zu einem besonderoa Ganzem
verbunden auftreten, machte diese Ueine Schrift fftr die Pi^cholog^e
mensehlicher Charaktertypen unschätzbar und gab ihr, seitdem sie 1527
suerst theilweise gedruckt wurde, für die Litteratur der Sittenschilderung
mid der Darstellung des gemeinen l^bens einen besonderen Werth. Die
tlu'oretisehf Reflexion über Charaktere und Sitten setzte sieh in der Lit-
teratur des 16. und 1 7. Jahrhunderts fort, und insliesondere Montau;ne
und La Bruykrf. behalten einen dauernden Werth. Eine zweite antike
Quelle von Reflexion über menschliche Ch.araktere fliesst in der A f f e cte n -
lehre. Diese wurde durch die stoischen Philosophen und durch die von
ihnen bedingten römischen Schriftsteller au einer ausserordentlidien
Feinheit der CSassiflcatlon durchgebildet Mehr als mit dem Studium
der Dichte stand sie mit der Rhetorik in Beziehung. Auch an sie
sdiliesst sich dann die philosophische Schriftstellerei der drei grossen
modernen Jahrhunderte der Kunst und Poesie vom 15. Iiis 17.. und
bedingt vielfach Künstler und Dichter. Eine dritte antike Quelle
fiir die Begründuner und Beschreibimg menschliclier Typen ist die
Lehre von den vier Temperamenten, dem sanguinisciiea, choleri-
schen, melancholischen und phlegmatischen, wie wir sie bei Galen
zuerst ausgebildet antreffen. Auch sie wurde ein wesoatlic^er Bestand-
theil der Psychologie der Renaissance und «itibielt für die bildende
Kunst und die Poesie den Stoff wichtiger Anregung.
So hatt^ denn die Dichtung und bOdende Kunst d(s 15., 16.
und 1 7 . Jahrhunderts tragische Typen, wie sie insbesondere Seneea
den Dramatikern überheferte, komische Typen, deren Tradition durch
2»*
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H2() Sitziinj; der )ihil.-lii>t. ( l-is-«' v. 5. Mäi7.. -— Miitiieiluiig v. 25. Api il 1 s'.lö.
Plautus, Teicnz tind den leLondigcn Anschluss der italienischen
Komödie an diese Laiidsleute sich vollzog, und eine breite Litteratur
über die Temperamente, die Charakterformeu uiul dir C'la.ssen der
Leidenschaften vor sicli. Das Problem der Iiidividuation trat an «lic
Dichter dieser Jahrhunderte unter Bedingungen heran, welche einzig
gOaasüg waren. Daher hat denn die grosse Epoche der modernen
Ktmat vom 15. bis 17. Jahrhundert die IndiTlduation, wie aie auf der
Orundlage der gemeinsameji Mensdiennatur sich yerwirklidit, zu einer
viel tieferen und allseitigeren Darstellung gebracht als das Alterthum.
In zwei Richtungen hat sich die Poesie und in dieser besonders
das DraiTi!i d nnals enlfnlt^t. Die romanisehen Dichter sind vor Allem
auf die Führung der Handlung gerichtet, sie bedienen sich mit Vor-
liebe der ans dem Alterthum überlieferten Typen, nur Ein grosser
Schöpfer von Charakteren tritt in ihrer erzählenden Litteratur hervor,
Cebtahtsb, und nur Eaner in ihr» dramatischen Litteratur, MoufatE.
Dieser bezeichnet die letzte Vollendung und Verfeinerung der komisdben
und niederen duuraktertypen» welche aus der griediischen in die
römische, aus dieser in die italienische und ftanzOsische Litteratur
gelangt war. Es ist das Letzte und Äusserste in der mimischen
Durchbildung charirh'ter Cliarakterrollen ; so ist es auch das Theatra-
lischste, was je auf der modernen Bühne erschienen ist. Die andere
Richtung der dramatischen Poesie, welche den germanisehen Völkern
angehört, hat die volle innere Lebendigkeit der individuellen Menschen-
natur zuerst in dem Drama sichtbar gemacht. Man muss an SsAKäPEHE
Studiren, was die Poesie Aber das grosse Problem der menschlieben
Bidividuatilon zu sagen hat.
Audi Er ist, so gut als die griechischen Tragiker, von einer
rnftchtigen geistigen Bewegung getragen. Durch diese grossen drei
Jahrhunderte, vom fünfzehnten bis in die ersten Jahrzehnte des sieT>-
zehnten . wächst bestandig die Anerkennung des Werthes der Indivi-
dualität sowie des Rechtes von l^ii 'iL,'i'\ Machtwillen und Leiden-
sehaften: der selbständige reliffif'i^i' Prur,--,-. im Innern der Person
und die ideale religiöse Erfüllung liircr Lcbcnssphuere gelangen zur
Geltung; die Autonomie wissensdiaftlifihjen Denkens und die Voll-
endung der indlTidueUen Besonderheit durch die selbstindige Farbe
der Gedanken werden erobert Das eifällt diese Jahrhunderte. In
den Gegmsfttzen von Katholicität, Ptotestantismus und Renaissance
macht es sich geltend. Indem Shakspere in den neuen Ideen lebte,
entsprang ihm aus der Verbindung der Renaissance mit dem prote-
stantischen Geiste ein GeiTdd des Lebens und der Welt, das über
beide hinausi?i njj^. Gleichviel, wie lang oder kurz das Leben sei,
in der Bethätigung der in uns liegenden Energie zu leben, unseres
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DlLTHKv: Beiträge zum •Studiiiin der Individuali tat.
321
' Wesens froh ztt weiden, den Aufgaben, die aus Ihm cntspiingen,
genug zu tliun, in der Schönheit und dem Glück, die in unserem
Umkreis liegen, sich auszuleben, dabei f\hor in Resoiinenlicit das "Recht
und Maass, das die Verhältnisse uns zutheilcn, einhalten: das ist die
neue Regel des Lebens, welche er nicht in abstractem Denken, son-
dern an den Bildern des Daseins selber mächtiger als irgend einer
Tor ihm zum Ausdruck hxingt.
Hieraus ergebt sidi, dasa ihm der tragische Conflict in die Penon
selbst flUllt Er ist in der Tiefe der Seele selhor angelegt ht dnem
Charakter, dessen Mächtigkeit sonst in die Region glänzenderin der Phan-
tasie sieh ausstrahlender Lebensbeth&tigung fällt, ist eine Unangemessen-
heit in der Structur, vermöge deren er nun doch feinem patholoj^schen
Processe anheimfällt. So entsteht vor unseren Anpen ans dieser niäclitigen
seelischcT) Stnictur des Helden, in Folge einer .solchen UnanCfemessen-
heit in ihr, plötzlich herausgelockt aus der Tiefe durch Bedingungen
des Lebens, die zu dem, was nun gesehldity in kdnem VerhSltniss
stehen, eine L^denschaft, die dann wie ein Traum den Hdden yor^
Wirts tr^bt, gana Ton innoi, eine Flamme welche Äusserer Nahrung
kaum bedarf, der Zerstörung enl^gen. Sofem diese Leidensehafb
das Recht und Dasein Anderer verletzt oder zerstört, aber auch nur
dann, tritt das Bewusstsein hiervon in den Gewissenshi.ssen als ihre
Strafe auf. Denn das ist fiir Shakspere keine Strafe, sondern hei-
nahe ein .sciiiuies Schicksal, dass der Tod die Gcwaltig'sten, Scliönsteu
und Reinsten früh hinwegnimmt. Wie denn aiü" einer höheren .Stufe
der europäischen Entwickelung ScmLLER dasselbe Gefühl zum Aus-
druck bringt.
So lii^ das Tragische ihm nicht im Widerstrelt g^en die
Gewalten der Welt, sondern im Utanem, m der Structur der Seele,
in einem da gelegenen IGssverhSltniss. Daher nmss sich nun dieser
ungeheuere Verstand ganz concentriren auf die Erfassung: und diw
Verständniss 'l"r (Mgenj?carteten Person. Diese Person ist bei ihm
nicht von Umstanden firmirt, sie entwickelt sich nicht, Umstände
scheinen ihren nng(stümen Verlauf nirgend zu hemmen; als (»h sie
direct aus der Tiefe der Gottheit als Energie hervorbräche und unm sLuni
ihren Lauf durch die Wdt nShme. Er kennt noch nidit den gcschidit^
liehen Menschen, die Bedingtheiten des Lebens sehnen för ihn nidkt
da zu sein. Seinem Zeitalter und dem Geist seiner Natur ^tspreehend
hat er ein höchst lebendiges Gefühl fflr die Atmosphaere von Klima,
Land und gesellschaftlicher Gliederung; wir athmen Venedig odor
Nebel und Haide des Nordens; a>>er er macht das Handeln seiner
Helden noch nicht aus den geschichthclifn oder gesellschaftliclien
Bedingungen verständlich. Bedingtheit eines Schicksals ist für ihn
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it22 SitaDDg der phil.-hwt. Clasite v. 6. MXrx. — Mittlidlang v. 25. A|)i il 1 895.
auch nicht dn. Es ist schliesslich auch bei ihm eine ti ;ui»i ciulcntt'
Ordnung, auü welcher die individuellen Energien hervorgehcu. St»
sind es auch Verhältnisse ron Contrast und FftnUlelismus, wie sich
ihrer die vom Freseo bedingten grossen italienischen Ifaler bedienten,
durch welche er seine Helden erleuchtet.
Er lässt die Figuren so sehen, wie man im wirklichen Leben
andere Menschen erblickt, von aussen nach innen. So hat er sie
auch von den Russercn Zügen seiner Quellen lier gebildet. Wider-
sprechende Handlungen oder Züge hält er lest und gerade hieraus
einpfaiigen Ncinc Personen die äusserste Lebendigkeit, Öfters ver]>leil»t
in ihrem Innern etwas Unlassbares. Nur in seinen früheren Stücken
Ifisst er, wie in Richard III., seine Bösewichter über den letzten Grund
ihres Charaicters sich selbst aussprechen. Er bringt die grüsste
Natürlichkeit heiror, indem' er «o£ die Grundlage der allgemeinen
menschlichen Nothwendigkeit das Individuum stellt. Kr mischt das
Alltigliche in den Fortgang der ju;rn.ssen Action. So in der Ein-
leitung der Gtästererschdnung des Hamlet und in der Verschwörungs-
scene des Julius Caesar. Er geht von der Ruhel.ni^c immer wieder
aus, um gleielisfim einen Maassstab iiir die Eueririe tler Leideiiseliat't
zu haben. Iinjinlsivc Bewegungen weeliseln bei ihm, jede Rede ist
durch sie zerschnitten, mitten im Gesprach macht die einsame
Individualität sich geltend und scheint einen Moment laug nur sich
SU hören und fikr rieb da su sein.
Die typischen Unterschiede der Lebensalter sind ihm immer gegen-
wirtig. Die unschuldige Vertiaulidlikeit, das ahnende Umblicken, das
anschmiegend Süsse des Knabenalters hat er besonders schön ge-
zeichnet. Niemand hat dann den Gegensatz der Geschlechter und
ihre darauf gegründete, naturgewachsene Beziehung mit tieferem
Griffel gezeichnet. Die Männer seiner Wald sind ganz Kraft, und
die Frauen, die er liebt, ganz Kmplunghchkt'it, Güte und Hingabe.
Der vornehmste Tj'pus des Mannes ist ihm der des Machtwillens.
Die politische Welt zeigt ihn dem damaligen Dicbter überall am
Werk, und er findet ihn wieder in den Bewegern der Historie. Von
dem Agamemnon des Horn» ab haften die Augen der Dichter an
ihm. Sein Ziel ist Hernsdiaft, sein Organ der von einem mächtigen
Verstände geleitete Willen; dalier halten sieh seine Mittel in den
Grenzen dessen . was erlaubt i.st nach der Staatsraison . nach der
Geltung der bestehenden Kräfte, unter welche dann auch Halten v(m
Verli'Hgcn, Treue und T.oyalitilt begriffen sind, solange tlas (n^nentheü
nicht nothwendig wird. In den zwei vollkommensten Keittrstatueu
der Renaissance ist dieser Typus so ausgesprochen, dass er beinahe
physische Schrecken erregt. Die Tollkommenste Darstellung eines
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iJii.iUKk: Beitrüge zum Suidioui dei' liidividualitüt.
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Menschen tlips«r Art in einer c^anzon LeTirnsrntwickchiug ist der
Hcinricli Holiiifjbroke, Herzog von Hf-relord, der dann als Heinrich IV.
zur Königswürtle gelangt ist, in Richaitl II. und den beid«'ii Tlieik'n
Heinrich IV. In fast übermenschlicher Grösse ist dann im Caesar
diese HftditherrlieldMit dftrgeatdlt, Umlidi wie in manehen rtodselien
Statuen und Büsten.
Diesem Typus benachlMKrt ist die Tyrannen-Natur. Seneca bereitet
diesen Typus vor. Die Renaissance hat ihn geschaffen. Sein gf^&O!-
fiselies Merkmal ist der Ausschluss jedes moralischen Grundsatses
oder Gelilhls. Aber das unterscheidet ihn von so manchen Caesaren-
Naturen der alten Welt, dass verschlagene, rücksichtslose Benutzung
der Mensclicii and Umstünde zur Durchsetzung <h's eigenen Selbst
in ihm verluinden ist mit einer Tapferkeit äussersteii Grades, mit
wörtlicher Todesverachtung. Macchiatelu's Schrift über den Pürsten
hat das Bildniss dieses JUiannes so hingestellt, nacli dem Leben sdbst,
nimlich nach den Tyrannen, Fluten und Condottieren dw Rraaissance,
dass er in ganx Europa sichtbar wurde. Nach ihm ist Mablowb's
Tamerlan und Jude von Malta gebildet, dann Shakspebe*8 Richard m.,
sein Macbeth und d* r Edmund im Ijcar. Diese Figuren müssen auf
der Bühne von Schrcck(?n umgeben sein. Wogegen dann Jago mid
der Köniüf im Hamlet sich den gcwfiliidichen Büsewichtern annähern.
ISac Ii der anderen Seit« grenzt an den Typus des Machtwillens
eine Form des Cliarakters, welche das Lebens -Ideal Shakspere's eut-
hilt. Es ist der ron der Vernunft» dem Maaas und der Gl«rechtig^
keit geleitete und so aus selbstthitiger Kraft bestimmte heroische
Mensch» weicher d^ in den Verhftltnissen li^nden Forderungen des
Schicksals an sein Wirken folgt, ohne doch unter die Herrsdiaft des
blossen Machtwillens hierdurch zu gelangen. Dieser Typus war von den
Römern stoischer Observanz zur höchsten Vollkommenheit gebracht.
SiTAKsi'KUK gicbt ihm nun aber eine innere, fröhliche Lebendigkeit, die
aus ihm selbst und seiner Zeit stammte. So macht diese Form des
Charakters sich als Ideal seines eigenen Lebens zuerst in der Heiter-
keit der selbstmSchtigeu Natur Heinricli's V. geltend. Die Jugend einer
soldien Natur, ihr Vermögen, sich dem buntesten Treiben hinzugeben
und sieh dodi selbst zu behaupten, im Überschwang des Lebens sich
immer selbst wied«BWiffnden, hat er im Gefilhi seiner eigenen Existenz
in den beiden Thcilen Heinrich IV. dargestellt. Darm entfalttt sich
auf Grund der festen Verhältnisse des Erbrcclites in Heinrich V. die
Vollendung einer solchen Natur. Dieser König ist siegreich im Krieg,
aber er lebt /u^^Ieich zum Wohl seiner Unterthanen. »Wieviel Beha^n-n
muss ein Kiniig niisjseu, des sich der Einzelne freut?« »Der Selav, ein
Glied vom Frieden seines Lands, geniesst den Frieden, doch sein rohes
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^J24 SiUung der phil. -hist. (,'ia.sse v. 5. Mäi i--. — .Mütheiltuig v. 25. April 1M<5.
Hirn weiss wenig, wie wacli der König ist zum Schirm des Friedens,
des Tag' am besten docli dem Bauer frommen.« Noch in der Scene
seines Leichenbefffiiiffiiisses am Beginn Heinrich's VI. liegt der Nach-
glanz seiner Existenz glciclisam über der ganzen Welt. »Ein liclitrer
Stern wird deine Seele werden als Julius Caesar oder Kassiopeia. « In der
minnlidiai und atnik peaaiiniatiMheiL Epoehe bildet sich dieser Typus
fort XU der Form eines Mannes, der dem Anprall einer Welt gegen-
über in ruhiger Würde sieh behauptet, und zwar, weil er den StOssen
des Schicksals geg^flber ein Unzui^gliches besitzt, das davon nicht
getroffen werden kann, das Bewusst>sein der Selbstmacht und Würde
seines Willens. Die grössten Darstellungen dieser Charakterfonn sind
der Rnttu.s im Julius Caesar und der Horatio im Hamlet. Man höre
Antonius, wo er das letzte Wort über Brutus spricht. »Dies war der
beste Römer unter allen: Denn jeder der Verschworenen, bis auf
ihn, that, was er that, aus Misi^iunst gegen CSaesar. Nur er
verband ans rdnem Biedersinn und zum g^oaeinen Wohl sieh
mit den Anderen. Sanft war sein Leben, und so ralschtm sieh
die Element* in üun, dass die Natur su&tehen durfte, und der Welt
verkünden: Dies war ein Mann!« — Ganz diesdbe Cliai-akterform,
auf nordischem Boden ein Römer, ist Horatio, der von sieh .selbst sn^t:
»Ich bin kein DSne, sondern ein antiker Römer.« Hamlet .saift von
ihm: »Seit meine theure Seele Herrin war von ilirer Wahl und
Menschen unterschied, hat sie dich auserkoren. Denn du warst, .
als littst du nichts, indem du Alles littest; ein Mann, der Stöss'
und Gaben vom Gesdiiok mit gleichem Dank genommen: und ge-
segnet, wes Blut und ürdieil sidi so gut yarmischt, dass er
zur Pfeife nicht Fortunen dient, den Ton zu spielen, den ihr Finger
greift. Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft nicht macht
zum SclaTra, und ich will ihn hegen im Hersensgnmd, ja in des
Herzens Herzen wie ieli dicli hege.« — So verbindet sich in
dem letzten Ideal Shakspebe s der Römer stoischer OKserN'anz mit der
Lebensenergie des protestantischen Engländers jener Tage. Darin be-
.steht eben die grosse Stellung SnAKSPERE's, dass er, mitten in das
Ringen der gewaltigen Potenzen von Renaissance und Refiirmation ge-
stellt» eine höhere Form von Leb^is- und Weltansieht daraus entwickelt
Nur der darf als ein grosser Dichter gelten, wdeher mit den Mftehten
und Schmerzen seiner Zeit gddUnpft hat und so zu einer Auflassung
des Menschen und des Schicksals gelangt ist, aus wdclier nunmehr
Ki&(t zu leben fiir seine Zeit- und Schicksalsgenossen entspringt.
Der letzte grosse Typus des Mannes, den Shakspere schuf, ist
der Mensch, in welchem die IntcllectualitÄt in irgend einer Weise
* überwiegt. Maulowe hat in seinem Doctor Faustus den ersten
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DitTHEv: Beitrige zuin Studium der Individualitit.
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Charakter dieser Art zu kunstni&ssiger Darstdliing gebracht. Faust am
Studirtiscb: das ist der Anfang des Stückes; aus der Mrissenschaftlichen
BcsoliSlftigung, zumal in den metnpliysisehen Nelt^ln von Deutschlaiul
erhebt sich in ihm der Wille, durch die Krall des (Jeistes Macht,
Lebensftille und Kulim /u erlangen, Herrschaft über die Natur, Wissen,
das die Seele vom Zweifel löst, und Gewalt über die Menschen. Da sind
die kommenden JahrÜumderte in dner ersten Gestalt vorgebildet; wie
denn der Wille zur Uadkt Aber die Natur auch Bacon leitet und die
dunklen mystischen Wege su dieser Herrschaft noch in manohen Ge-
danken, fiildem und Bezeichnungen seiner Methodenlehre dem Bacom
gegenwärtii.' sind. Shakbpere hat in sichtbarem Erinnern an dies tiefste
Werk des alten Genossen Marlowe seinen Prosper© geschaffen, in
welchem eine ruhige, weise, zur höchsten moralischen Reife gelans^te
Herrsch ernattir dargestellt ist, die durch die Macht des Geistes
geheimnissvollen Naturkrafle bezwingt. Wie Faustus hat er weltab-
wesend ein Wissen ohne Gleichen durch Studien errungen. »Der StiU'
ergeben» mein G«nüth zu besswn, bmiiht mit dem, was, «rftr*s nicht
so geheim, des Volkes Schätzung ftbeistfegl« die Familie dieser
Mensehen von übenviegender LitelÜgenz und Reflexion gehört dann
Skakspere's tiefste Charakterschöpfung, der Hamlet. Auch ist eine
wdtere Modification dieses Typus, in welcher das Überwiegen der In-
tellectualität Grübelei des Gemüthes zur Folge hat, von ihm dargestellt
in seinem mit ahnlichem Tiefsinn wie Hamlet ausgestatteten naclideiik-
lichen und melancholischen Ja^ues in dem Lustspiel: »Wie es Euch
gefällt«.
Andere Typen eitstehen, wo Einzelaffecte eine pathologische Stärke
in einer Seele erringen. So stdüt er die liebesl^densduiit in ihren
verschiedenen Formen mehr&eh als regierende Kraft in einw Seele dar,
zonidist als unwidentdilichen Afibet ^es Sinnesmenschen im Romeo,
dann in Verbindung mit einer Herrscher-Phantasie im Antonius, fer-
ner in der Vereinigung mit soldatischer Wiidlieit im Othello, an
den sich dann auch der blind ung^estüme sicilianische König Leontes
im W^intennärchen anschliesst. Die Maa.sslosigkeit Rirstlichen Selbst-
gefühls hatte schon Marlows in seinem Eduard dargestellt, und sie ist
dann die herrschende Leidenschaft in Shaksfere's Richard 11. und
Lear. Fmönlicher Stolz als herrsehender Afibct, der zur Verneinung
der Gdtung der ganzen fibrigen Wdt vorwärts getrieboa wird, ist
typisch dargestellt im Coiiolan, und er ist tan Percy einer Natur zu-
gemischt, die sich sonst dem Ideal Shakspebb's annähert. Geldgier
und der Hass gegen die umgebende fremde Race regiereu den Shylock.
Andere Typen liegen unter diesen traciischen ü(1(t ^^ssen Na-
turen, in einer tieferen Region. Einer dieser Typen gehört der Icich-
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32ß Sitzung der phil.-hwr. Classe v. 5. Mir»:. — Mirttieiliing v. 25. April 1895.
teij mui h<Mtt*ren venezianisclien Gesfllscliitlt an. von M'elclicr die
«lunklon Figuren des Antonio und d(\s Shylock sich al)li(>beji, oder
der Hol'gf.sellschaft in einigen Komödiea und uu Hamlet. Uiiter
diesen Figuren ragen als eine besondere Geistesform, welcher
SHAKsrcxE viel von seiner Zeit und aus stell selbst mitgegeben
bat, die sanguinischen Naturen hervor» deren Lebendigkeit in Ein-
fSIlen, Bildern, in einem hesUindigen Funkeln des Geistes sich äussert.
Auch in ihnen regiert die Phantasie, das Leihen ist da das Fe.st, das
diese Phanta.sie sich selber giebt, Mercutio und Benedict sind schöne
Beispiele solcher Monschrii. Union gegenüber lietrcn dip nninialischen
Nntiircii, Das Thier im Menschen ist liier f^eiiau mu mit so viel
Vorötellungeu au.sgestattet, als es erzeugen mu-ss, um zu leben. Das
Trieblcben wirkt in ihnen stossweise, unwiderstehlich, Airchtbar.
Die gewaltigste Schöpfung dieser Art ist Cftliban. Die unxfthmbare
Wildheit eines Wolfes, die sinnliche Gier eines grossen Afien, die
Mordlust der mSchtigen Kathen, dazu Furcht und Unterwürfigkeit
eines durch Schläge bös gewordenen Hundes machen ein ganz eige-
nes Geseliöpf aus ihm, das seine Nachfolger erst in den Erfindungen
des im Animalischen schwelgenden Swift finden sollte. Cloten steht
ilim /.nnäelist. dann ein Stück weiter ab Ajax Kine CoiiibinaÜon gut-
mütliii>-er pldcgmati.scher Auimalität mit einer spielenden Leichtigkeit
<ler (»t danken und des Witzes, wie sie bei sehr dicken Personen öfters
vorkommt und gerade durdi die seheinbaren Widersprüche, wdche
so entstellen, einen Immer neuen und unwiderstehlichen Zauber ausübt,
ist Grundlage f&r eine der sublimsten Charakterschöpfungen SnASsrBRE's
— seinen Falstaff. Diese Figur ist die grösste humoristische Erfindung
Shaksfebe's. Sie wirkt wie <las Leb(>n selbst. Sie ist nicht ohne Vor»
gang, ohne Zweifel ist sio durch Rabelais vorbereitet, aber Shakspf.re
erfiiUte sie mit der yanzcu lärmenden WTrthslinnsfrr)blichlc<>it seiner
Übermüthigen Jugend und seiner Genossen aus jenen lagen.
Die Frauen -Naturen Shakspere's stehen in ihrer grossen Mehr-
heit in einem beabsichtigten schärfsten Contrast zu den männlichen.
Die animalischen Naturen finden sich auch hier, wie die scfakdite, weib^
lidie Gesellschaft in Heinrich IV, Cressida und die Amme In Romeo und
Julia. In seinen idealen Flrauen, der JuUa, Desdemona, Ophelia, Imogen,
Miranda und Cordelia, regiert Empfänglichkeit, Hingabe, passives Ver-
halten gegenüber der männlichen Kraft, wogegen selbständiges Denken
Grundsätze, snwio dns ^^■^nlö,^^■en . das Leben sieh selbrr zu gestalten,
gänziieli /uriiektreten. Sic Itilden eine Stufenfolge von Julia, in welclier
das Triebmässige wie im starken Duft einer südlichen Hlüthc sieh aus-
athniet, deren Leidenschaft momentan konnul, Alles niederwirft and
nur Phantasie, kein klares Denken in ihr entbindet, bis zu den vom
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DiLTHKv: Beiträge zum .Studium der Indivulualnäi.
327
ganzen Triebleben freien und in einen Aetlier voji Reinheit getaueliten
Gestallten der Miranda. ITrrniionc mid Cordelia. An sie scliliessen sicli,
durch die Schönheit dri' Natur iiinen verwandt und doeli einen an-
deren Typus repraeseiitiicnd , die Frauen, in denen p'm sichcie.s tn»d
khares Bewusstseiu ihrer Stellung und ihrer Theilnahme an dem wirk-
lichen Leben des Jttannes herrscht. £ine solche Natur mit einem Zusatz
von Beschränktiheit und Humor ist die Lady Percy, das Ideal jedoch
einer Frau dieser Art hat er in der Gemahlin des Brutus» der edlen
P(»tift, gezeichnet Diese stellt mit seinem n^nnHehen Römer-Ideal in
devselben Welt. Dies sein höchstes hleal siegreicher Macht des Willens
und Denkens hat er dann auch Einmal in einer weiblichen Gestalt, der
Porzia im Kaufmann von Venedig, dargestellt. Macht w(M}>cr stehen
besonders in seinen historischen Stüekcii ticIich den politischen Helden
und Verbrechern. Seine psychologisch interessanteste weibliche Ge-
stalt ist Cleopatra, diese Tigerkatze, in welcher alle Instinete der Shin-
liehkeit, der Herrsdisucht und der Unbestftndigkdt unter den weieht^en
Formen sich verbergen.
Diese Übersidit über die Charaktere Shaespebb's genfigt, imi in den
folgenden Untersuchungen benutzt zu werden. Die Familidiähnlich»
keit aller dieser Typen, die Art, wie sie den Menschen der Zeit ent-
sprechen, ilas innere Princip ihrer Sonderung in einer Individtiation :
das sind ilie Punkte, welche hier schon «lurchleuchten und für die
Verwerthung Suaksfkre's in unserer Untersuchung deu Ausgangspunkt
bilden müssen.
Die dritte Epoehe in der Auffi»sung der menschlichen Indivt-
duation durch die Dichtung entsteht unter den Voraussetzungen des
17. Jshrhunderts. Unter dem Einfluss dieses grossen Jahrhunderts
b^itet sich eine neue AufiTassimg des Menschen vor« und in dem 18.
setzt sie sich durch. Das Universum ist nach dieser Auffassung des
17. und 18. Jahrliunderts durch physisclie Gesetze determinirt. Die
Völker .stehen nach ilir unter den Redingungeu der Race, des Klimas,
der geographiselien Provinz, der wirt]iscli;ilt liehen Kräfte, welche der
Boden bietet, und der historisclien ^'er(;is^tln.^^. welche dem Zeitalter
eigen ist. So lebt das Indi%iduuni unter Bedingtlieiten compliclrter
Art Es wird formirt von einem Milieu, es wirkt in der Bedingtheit
einer wirthscfaafUichen und socialen Lebensordnung. Unter diesen Um-
stünden entsteht eine ganz neue Auf&ssungaform der menschlichen In-
dividuation. Diese hat dann ihren Ausdrude in einer ganz verftnderten
Technik.
Diese neue Betrachtungsweise des menschlichen Daseins wie eines
naturgeschichtliciien Vorgangs liess zunächst eine Kun.sttVir!»! entstehen,
welche tüe ganze Entwickelungsgeschichte eines Menschen inmitten
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328 Sit/.uug tiff j*hil. - bist, riasst' v. ö. Mira. — Mittlieiluiig v. 25. AjJi il I89ö.
seines Milieu hinzustellen sucht. T)'h sc jxx tisclK* Form ist einer wissen-
schaftliclicn vorwandt, welche sich nun auch ausbildete. Das ist die
biojErra]ilii.sclic Darstelking wie in einem Milieu ein IjedeutenUer Mensch
sich entwickelt. Die zweite Kuustform, die nun neu geschaffen wurde,
ist die Darstellung der Gesellschaft, welche den Dichter umgiebt, nach
ihren typischen Charakteren und Bezögen. Auch sie hat in ihrer
gedankenschweren um&ssenden Absicht ein wisaenacbaftliehes Qegsof
Stüde in der gleichzeitig sich ausbildenden GeseUscbalUldtre. Die
dritte Runstfonn hat die Dat-stcllting des Zusammenhangs gescliiclit-
iicher Bedingungen mit geschiclitlichen Charakteren und Schicksalen
zum Gegenstande. Da.»« ist das hi.storische Drama und der historische
Roman. Audi sie liat ein wissenschaftliches Gegenstück. Von Volt.mrk,
HuBiE und (iiBBuN al) bildete sieli die moderne Gescliichtsschreibuiig
aus, wid eben in Deutschland und im Zeitalter unserer classischcn
Poesie hat sie des geistigen Zusammenhangs gesdbichtlicher Zeiten sich
bemichtigt Damit entstand dann die dichterische Bewftitigimg einer
ganz neuen Seite der Indlviduation.
Dass die beiden ersten poetischen Formen in diesem Zusammen-
hang entstanden sind, wird kaum bestritten werden. Beide treten
zunaclist in der Dichtgattung des Romans auf. Der Homan ist die
Form, in welcher das bedinge und c(uii]dicirto Leihen am vollsten,
weitesten und feinsten und doch zugleich nach seinen gleichsam
physiologischen Zusammcnliängen zur Darstellung kommt. Insbeson-
dere von Goethe's Wahlverwandtschaften ab werden die psycho-physi-
schen Bedingtheiten, unter denen die menschlichen Typen sich aus-
bilden, in ihrem Einfluss verfolgt. Der Roman ermöglicht zugleich,
Bedingungen» Zusammenh&ngc und Stufen einer Bildungsgeschichte zur
breite Darstellung zu bringen. In Wilhelm Meister wird nach Rousseau's
Vorgang der Bildungsroman begründet, welcher die Entwickelung eines
Menselicn von seinem Milieu aus zum Gec^enstande hat. Überhaupt ist
(toetiie der schöpferische Dichter diespr neuen, [>netischen Zeit. Er ringt
auch damit, ihr im Faust eine dramatische Form ni finden, l)reit und
locker genug, die Entwickelujig eines Menschen in sie zu bringen. Sein
VennGgen, innere Lebenszustände unter ihren Beding\mgen zum Aus-
druck zu bringen, im weiteren Sinne könnte man es seine lyrische
Crenialit&t numen, OTnöglichte ihm, innere Zustlnde einer ganzen
Leb( ns( !it\vi( k« lung in loser Verknüpfung neben rinander zu stellen
und Iiierdurch diese Entwickelung zu repraesentiren. Da in ihm selber
diese Innerei» Zustände zusammenhingen, lag in ihnen ein stiller, leise
merklicher Zusaumienhani; . in welchem Leser und Hörer fortijezogen
werden. Und da er, wie kein zweiter Dichter, die Stufen des I.icbens
typisch ausgelebt liatte, ist in innerlicher Wahrlicit ihrer Darstellung
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DiLTHKr: Beiträge xuni •Studium der lodivjdualit&t.
329
mit Wilhelm Mdster und Faust nichts xu vetgleicheii. Die Form des
Bildungsromans ftnd dann in dem Ofterdingen von Noyaub, in dem
Sartnr Resartus von Carlyle, dera Copperfield \ (<ii Dickens und vielen
anderen Romanen wcitrrp Vorw* itliung. Virl hrcit« !' und gewaltiger
noch hat siel» <ler Roman entwickelt, welclier die (lesellsehaft:. zum
Gegenstände hat, wie sie die Gegenwart eiiu s Dieliters ausmacht.
Die universelle und tiefe Tendenz forderte die Austlchnuug in die
grössten Dimensionen. So entstand die phantastische Ausdehnung
von Balzac*« »menscblieher Komödie«, dem Gegenbild der g&ttUchen
Komödie Dartb*». Hieran sehliesst sich dann der Bomancyklus von
Zola mit sdnen ungeheuren Dimensionen. Es ist eine von den natur-
wissenschaftlichen Gedanken geleitete, aher dann doch von der eigenen
modernen Lebensverfasstm^?' p^anz bedingte Auffassung der Individuation,
die liier zum Atisdniek tcelantrt. l Uritrens Imt liei uns (»ottfried Keller
ein verwandtes engeres Prolileni mit ähnlichen Mitt{dn in höchst he-
lehrender Weise aufgelöst; er hnt in den T,enten von Seldwyla aus
dem Milieu ehier Schweizerstadl Charaktere, Leidenschafteji und Schick-
sale in einer Ansahl vcm Novellen ftssllch gemacht. In diesem ge-
seUsdiaMichen Roman werden neue Charaktere geschaffen, in weldien
die Gombination d^ Eigenschaften von dem gesellschaftlidien MQieu
so bedingt ist, dass ihre Mögliirhkeit in diesem gelegen ist.
Doch ist die Entstehung dieser Darstellimg der Ludividuation im
gesellseliaftlielien Roman klar vorliegend. Dagegen erregt vielleicht
Verwundern, wenn ich behaupte, dass das historische Drama in sei-
nem vollen Verstände erst damals entstanden ist, dass .Sciiillek es
schuf mid dass es nach dem erste u genialen Wurf des Don Carlos
in seiner tiefen, langen und verzehrenden Arbeit am Wallenstcin ent-
standen ist ScmLLEK anierst hat einen grossen geschichtlichen Zu«
sammenhang in der Causalverkettung seiner Glieder poetisch darge-
stellt Realistisch wahr« historisch tief und erschöpfend sind die ge-
schichtlichen Bedingungen hingestellt; im Wallenst«in ist ein histori-
.seher Charakter ^eselmffen, und in strengen Erweis der Nothwendig-
keit, welche die Glieder der Handluni?' von den geschiel iTli ^hen Be-
dineuiiß-en aufwärts verbindet, ist ein walirliaft i?eschie]uüeiies Ver-
stiindniss seines Schicksals j>-egeben. Sciullek löst liier das f^eseliielit-
liche Räth.sel der grössten deutschen Persönlichkeit des dreissigj ährigen
Krieges so, das die nachfolgende Geschichtschreibung im Wesentlichen
diese Lösung nur zu bestAtigen vermochte. Er schuf als der erste
Dichter einen historischen Charakter. Ich verstehe unter einem solchen
eine Verbindung von Eigenschaften, welche durch eine gesehichtliehe
Lage bedingt ist und nur aus dieser verständlich wird. Er zuerst
vermochte dies, weil in ihm ein angel>orenes, instinctives, natorstarkes
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ii30 SitsuDg der phil.>bisU Classe v. 5. Mirz. — MittheiiuDg v. 25. April 1895.
VerhÜtniss zu der geschichtlichen Welt bestand. Beruhte doch die
Grösse seines eigenen "Wesens eben auf der Verbindung einer nich-
tigen impetuosen dichterischen Pliantasie damit, dass er immer nur in
der HiTii7ab(^ an nllgemfine Zwecke, in der Vertiefung in dir grossen,
üImt <iif Person hinaus reichenden Inhalte eine BctVit- (liL,ning fiir die
streljcuden Kräfte fand. So fand er sich dem mit grossen Inhalten
erlullten geschichtlichen Willpu verwandt. Un<l seine historischen
Stildien machten ihm selbstverstSiidiich, dass ein solcher nur in seinem
Zusammenhuig mit der geschichtlichen Inhaltlichkeit einer Zeit und
seiner hierdurch bedingten Structur verstanden werden kann. So
wurde auch das historische Drama genOthigt» sich in grossen Dimen-
sionen auszubreiten. Nur in drei Stficken hinter einander löst<* Schiller
die Aufgalie. von den grossen gnsehiehtlichen Potenzen, welche die
Lage des Heiden erwirken, zu dem inneren Conflict, der dnrcli seine
Seelenverfassung bedingt ist inid endlich zu seinem Unt<'igani^ genau
bestimmt, positiv folgericl»tig urid lückenlos vorwärts zu schreiten.
Alle historischen StQcke vor dem Wallenstein sind verglidien mit ilim
immer Verbindung historischer Bilder, umgeben von einer geschiehtp
lidien Atmosphaere.
Mit einer einzigen Kunst ist dieser geschichtliehe Charakter ent*
^\ickeU. Sein Schattenbild war im Lager und im ersten Act der
Piccoloniini inmier gegenwartig. Der Zuschauer erwartete ihn bestündig.
.•^chon diese lange Erwartung steigert «lie Wirkung seiner Erscheinung
jnisseronlentlich . wenn er nun im zweiten Act der Piccohnuini in
• lebender Gestalt« auftritt. Sein dimiunischer Machtwille und sein
ungeheures schöpferisches Vermögen wurden geföhlt, ehe er erschien.
Seine astrologischen Manipulationen gehen vor ihm her. Geheimniss-
umgiebt ihn. Und zwar tritt er eben in dem Momente auf, wo
er naeh langem Zögern die erste Entscheidung zu treffen genöthigt
i»t. Nur noch eine kurze Spanne Zeit ist von diesem Momente bis
zu seiner Ermordiuig. Sein Charakter kann also nur gleichsam ana-
h tiscli entwickelt werden. Mit einer nie dagewesenen Kunst werden
die Tli;its;i< hrn und Zusnmmenhfintje. deren es zum V(M>tändniss seines
( liarakters und der N<»tliweii(ligkei1 seines Schicksals iiciLirf. wie yanz
zufallig und höchst natürlich, besonders in (ilesj)riichen Anderer über
ihn mitgetheilt. In wundcrbai- poetischer Wendung tauchen die Bilder
seiner Jugend unmittelbar vor seinem Tode auf nnd machen ihn nun-
mehr erst ganz verstindlich. Man veigleiche, wieviel von der wirk-
lichen historisch -poliiaschen Lage, von den historischen Motiven in
irgend einem Stücke .Sh.^kspere's vorkommt mit dem, was dieses ge-
schichtlic]>e Genie so ohne Pedanterie ganz natürlich dem Leser zum
Verständniss an die Hand zu geben weiss. Versuchen wir nun an
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DiL'riiKY: BeitrSge zum Studium dar Individualittt.
331
der DanteUung des Wallensteiii zu begründen, dass hier zuerst ein
geacliiclktiliclier Chaiakter uns in der Poesie entg^entritt. WsUen»
stein ist eine WiUensnatur, eine Herrsclierseole. Im Bcw usstvsein der
Mftclit zu leben und zu wirken liegt fiir ihn allein Glück. Ihn um-
^rielit wie alle königliche Natiirrn flns Srhwoiiye!). In dieser Einsam-
keit nun spinnt er unablässig Pläne, welche die ganzr pnlitische Welt
seiner Zeit umfassen. Audi fiir die, welche ihm am Nächsten stilien,
war er von Kind auf unfassbar. Seine trau, die Gräfin Terzky, Thekla
steh^ unter dem iürchibaren Zauber dieser Kdnigsnatur. Selbst in
seinem astrologischen Aberglauben, der ihn mit Jupiter verbindet,
iat etwas, Königliches. Er ist absolut fiirchtilos. Spricht sich hier
wie in dem Heinrich Shakspere's königliche Genialit&t und ihr Recht
aus, so dringt Schiller in diese tiefer als Shakspere ein durch den
Begriff des schöpferischen Vermögens. Er gebrauclif den transscen-
dentalen Idealismus als Mittel des Verstfiiidnisse«; lür die }>raktisehe
Genialität. Verlassen vom grössten Theil seiner Armee, tiiidt 1 VVal-
lensrein »innen im Marke die scliaflfcnde Gewalt, die sprossentl eine
Welt aus sich geboren.« Ein Schöpfungswort liegt in ilim. Die
Äusserung dieses achöpferisdien Vermögens ist die Organisation seines
Heeres, in welchem sein Geist sich seinen Körper schuf. • Alle fuhrt
an gleich gewaltigem Zügel ein Einziger.« Wohl benutet er auch
die Schwächen der Menschen , aber das ist doch, das ^Wesentliche,
dass er jede positive Kraft in ihrer Art gebraucht und ihr dadurch
das (H'fiihl ihres Werthes giebt. Eine solche Natur ist clH nso Politiker
als Feldherr. Ja c^nni diese Verbindung inuss ihm Nn|hwen(lii,'-keit
sein. »Ein König alu r. einer der es ist, ward nie In siri^'t nnch .ils
durch Seinesgleichen." Daher kann dieser gewaltigste deutscht' lleer-
fthrer der Skdt auch nur in der Begründung einer selbständigen flirst^
liehen Macht Genüge finden.
Dieser Zauber seiner Person ist aber in der mSchtigen Breite
seines Temperamentes» in seiner nniversellen Lebendigkeit und Mensch*
lichkeit geginindet. Wie tief ist dieser Blick Scriller^s in eine prak-
tische Genialität, wie uberlegen ist er hierin Shakspere. Als Kind
des humarnstisehen \m<\ transseendontnl -philosophischen Zeitalters «»-iebt
ScmLLER in seiner rcii'cii Zeit .seinen trrossen wirksamen ^It iisclu ii fliese
freie Lebendigkeit einer ganzen Menselu imatur zur Gruiidlage. Er
Hast Leidenschaft, Schuld und Untergang nur in der lebendigen Re-
thfttigung des ganzen Willens entstdben, in welcher alle KrBfte rege
werden und alle Motive und Seiten des Menschen in -Wirksamkeit
treten. Wie oft sind der Monolog im Wallenstein und der im Teil
getadelt wcvden! Die idealisirende Form gebe ich preis. Aber in-
haltlich betrachtet, entspringen sie doch nur aus dem Bewusstsein
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332 Siteiing; der pliil. - hist. ( lasse v. 5. März. — Mittheiliing v. 26. Aprii IHOö.
von der fireien Lelieiuligkeit der Menschennatur. als in welcher auch
bei grosser Gewalt Kinos Reweggrundes flocli die cj^anzr- Breite der
Existenz anklingt, mltliandelt und (jcltung fordert, wo an einer ent-
scheidenden Stelle des Lebensweges ein Willciiscnt^ehhiss in Frage
ist. Diese Breite des Temperaiuentü und der menschlieheu Li bendig-
keit kommt nun auch anderen Personen gegenüber zur Geltung, und
gerade in sie liat Schilleb tielbehend den Zauber WaUenstrain's ver-
legt. Aber wenn er so sieh in Jeden und Alles temperamentvoll
hineinfiftblt, so mag sieh doch dadurch weder da Leser noeh der
Schauspieler tHusehen lassoi. In jedem Moment besitzt Wallenstein
<loch zugleich sich selbst und seinen harten Herrscherwillen. Viel-
leicht ist das Dfimonische einer solchen Natnr nie so dargestellt worden
als in den Gesprächen Wallenstein 's mit den Kürassieren, in den
zwei Unterredungen mit Max und dann in einer anderen Tonart in
den Verhandlungen mit (^uestenberg in Gegenwart der Generale. Voll-
ständig wahr Ist Wallenstdn's Geffihl ßkt Ufax: «denn über alles
Glüek geht doch der Freund, der's f&hlend erst erschafit, der's theUend
mehrt«, und ebenso wahr ist sein Hohn über die Idee, ThelEk mit
Ifax zu verbinden. Nichts licherUcher, als Wallenstein als treu-
heiv-ii^en Freund oder Hausvat«r in solchen Scenen zu verstehen oder
zu spielen. Diese Zweideutigkeit zeigt sich in tragLschcr Tragweite in
seinem hinterhaltigen Verfahren mit Hutler und dann in dessen Hewiü-
kommnung in Eger. Was für Iler/enstinie 1 »Komm an mein Herz,
du alt4L'r Kriegsgetahrt««. Was in der schweigsamen Tiefe dieser Seele
vorgehen kann, zeigen die Worte an die Herzogin über Thekla: »Es
giebt Sehmerzen, wo der Mensch sidi selbst nur helfra kann: ein
starkes Herz soll sich auf s^e Stftrke nur verlassen.«
Das Alles sind Eigensohaffcen eines grossen gesehiohtlichen Willens*
menschen, wie Historie und Politik sie uns jeder Zeit vor Augm
bringen und wift jetzt Scun.LER*s Genie sie erfasste. Nun zeigt sich
aber die geschichtliche Structnr dieses Charakt<»rs in einer Verbindung
von Zfigen, deren Möglichkeit nicht durch zeitlose Genialität sondern
durch die historische Verfassung des Walienstein'schen Zeitalters be-
dingt ist.
Der erste dieser Züge ist das Zögern, Stehen und Mandvriien
Wallenstein's. Es Ist oft als Gharaktersehwftche aa%efiisst worden.
Man kann Scrauusa nicht gründlicher missversteben. Bloss aus den
Quellen selbst entstand ihm dies Bttd: ManAvriren, Anknüpfen von
Fftden, die immer wieder fallen gelassen werden können, Passen auf
d^ Moment. Und eben diese EigensehaiYen .sind bezeichnend für
die gatize Kriegskunst und Politik der Zeit. Es ist in diesem grossen
Jalirhundert etwas üechnendes, eine Art von mathematischer Ver-
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Dii.rBRT: B«itrilee xnm Studiiim der Individaalit&t. H33
liMSung des militairisehen und politiselien Geistes, entspreehend der
Herrschaft der mathematisehen Naturwissenschaft. So wird sein mili«
tAirisclics Verfahren Gustav Adolf gegenüber gescliildert : »Vei^ebens
lockt man ihn «ur Sehlaclit, er grftht sieh tief un<l tiefer nur im
Ijij^er ein u. s.w.«. T^iid dem ontspru'ht seine PoUtik: »Ein f^rosser
Rechenkünstler war der Vürst von je her; Alles wusst er zu be-
rechnen, die Menschen wusst er jc^leich des Brettspiels Steinen nach
seinem Zweck zu setzen und zu schieben*.
Dieses redmende Vermögen ist nun in einer historischen Sin-
golaritftt eigenster Art mit dem astrologischen Gruben Wallenstein's
yerbunden. Der Weg geht wie durch einen unterirdischen Gang,
den die Geschichte gegraben hat; denn diese liat durch den mathe-
matischen Charakter des Zeitahers die Möjflichkeit einer Verbindung
der angegebenen Eigenschaften mit der auf mathematiselier Speeu-
latinn beruhenden AstrfHioniir und Astrologie herbeigeführt. Diese
VerbiiKbin^- (•nts]»ia( li einem Zeitalter, in welchem Keplkr, der grosj»e
Zeitgenosse VVallen.stein .s , des.sen Eroberungen in der Region des Him-
mels lagen, reelmende Asti'onomie, Speculation über die (Testirnlcräfle
und Astrologie vereinigte. Und zwar erftsst Scbiluee diese g(\schicht-
liche Combination von Zfigen in ihrer ganzen Hefe. Sein philoso-
phischer Geist verstand das Menschlich -Tiefe in diesem Glauben. Der
Panpsychismus des Jahrhunderts bildet den Hintergrund fiir die Macht
der Astrologie; «Die Geisterleiter, die aus dieser Welt des Staubes
bis in die Sternenwelt mit tarisend Sprossen hinauf sieh iKvnt. an der
die liimiulisehen G<MVMlten wirkend auf imd nieder wnmleln«. So
dürfen an diesen SterngUnd>en vermittelst einer alten metn|»hysisehen
Lieblingsvorstellung ScmLLF.H s auch Max und Thekla den Ursprung
ihrer Liebe knüpfen.
Die letzte aus der geschichtlichen Combination der Krftfte ent-
stammende Verbindung von Zügen in Wallenstein ist religiöse Indiffe-
renz, welche nicht in wissenschaftlidiem Denken, sondern in Hemch-
sucht, Glauben an seinen Stern, Kenntnis« der relig^Asen Narrheiten,
Menseljenverachtung und Staatsniison gegründet ist, und die nun mit
<len relicrifr^en Leidensehaften als mit Kräften rechnet. In Wallen»
stein s Ke.dismus der düsterste, zweideutigste Zug. »Der Mensch ist
ein nachahmendes Geschöpf, und wer der Vorderste ist, fiihrt die
Herde.« »Messbuch oder Bibel — mir ist's all eins.« Die Coni'essionen
verbldben ihm ftusseriich, er seilet ist nur Verstand und JHachtwille,
auch diese Religionskrifte zu beherrschen, und sein Glaube ist das
Geschöpf dieses Machtwülens. Dieser Glaube hat etwas KOniglidies.
Er füihlt sich durch die Constellation seiner Geburt mit dem Planeten-
system verbunden. Vor seiner Ermordung — wer gedSchte nicht
SitaDDngriwridite 1896. 30
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334 Sitzung der phil.-bist. Clusse v. 5. Min. — Mittheiluog v. 2ö. April 1895.
des Todes von Faust» vrie denn der zweite Theil desselben Schillee
so viel verdankt — umgiebt ilin etwas Gespenstiges — Jupiter ist
verdunkelt — » wenn ich ihn sähe, Avai' mir wohl. Es ist der Stem,
der iiH'incin Lflien strahlt, und wuruleri>ar <>t't stärkte niirli sein An-
blick«. Zu diesem Könisysj^laulien gehört au« h Ulierzeugung, dass
den grossen Geschicken ihre Geister scltun voransclurciten.
Aus der gesehiehtliehen Combiiuitlim und dem ron ihr bedingten
Charakter ISsst Schilker den inneren Veriauf in diesem Charakt^,
die Entscheidung, die Schuld und den Untergang in streng gedachtem
geschichtlichen CausaJzusammenhang folgen. Nur ein philosophisch
und historisch so geschultt r Geist wie Schiller konnte diese Fülle
gescliichtlichen Details in einen so reahstisch liistorischen und doch
so strengen Zusammenhang bringen. Drei Möglichkeiten liegen vor
ihm bei .«einem Auftreten. Er kann die RedinG^ingen des Kaisers
annohnien und resigniren. Dies ist durch seine llerrschernatur aus-
geschlossen. Er kann sich selbständig zwischen die Parteien stellen,
gestützt auf seine Armee und so den Frieden dictiren und als Reidis-
stand seinen Platz einnehmen. Dies will die Armee. Er selbst mOchte
es. Hier aber macht sich der innere Widerspruch in seiner ganzen
politischen I^ge geltend. Er kann nicht das Heer erhalten, ohne alle
Reichssfiinde auf es zu hetzen. Er kaim es nicht Im Namen des
Kaiser,«? leiten und gegen diesen zugleich benutzen. Auch die Schweden
lassen nicht mit sicli spielen. So wird er ihnen entgegengedrängt.
Auch der Zusammenhang der Handlung im Wallenstein ist echt
historisch.
In dtesem dichterischen Zeitalter, unter dem Gestirn des gesell-
schaftlichen und des historischen Romans und Schauspiels und des
Entwickelungsromans, leben wir heute noch. Die allseitige Bedingt-
des Menschen, seine Abhingigkeit Ton der ihn umgebenden Ge-
sellschaft, -seine Geschichtlichkeit, und wie er nun doch unter diesen
Umständen nach einer ihm eigenen schöpferisclien Kraft sich entfaltet
und zu einer wenn nuch immer Itedinsjten Wirksamkeit gelangt: das
ist, was einem Dii hier in einem Zeitalter der Naturwissenschaft, der
politischen Ockunomie und der Gesehichte vorschwebt. Wenn in be-
rechtiglein Gegensatz zu vorübergeliendeu naturalistischen Übertrei-
bungen dieser dem Er&ssen des Wirklichen zugewandten Seite der ,
Dichtung heute auch das Recht ihrer anderen Seite, nach welcher sie
von der Totalität unserer Gemflthskrifte aus das Wirkliche idealisirt
und seelischen Zusammenhang verbildlicht, sich stärker und theilweise
in neuer P'inseitigkeit geltend macht, sei es in einem neuen Symbo-
lismus oder in dem nie ventltenden Ideali.smus: so werden solclic Rich-
tungen, um Icbenskrällig zu sein, den Fortschritt, den wir schüdcrteD,
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DiLracv: fieitrige zum Studium d«r Individualität. 335
in sich aufhebmen mfiasen, und ein wichtiges Element dieses Fort-
sohiittes in die Tiefen des Wirkliehen bleibt immer das zunehmende
VerstÄndniss der Individualität.
Im ZoitÄlter Goetiik's ist nun aber die Individuattnn zum (T<>e'(»n-
Htande der Wissenschaft geworden. Hier bostt ht ein merkwürdiger
Znsammenhang, Eben da, wo dicsp neu«« Art. die Individuation zu
sclieu, in (jukthe zum höchsten Auüdiuck gelangt, ist sie von dem
ganzen Wissen der Zeit getragen. Es ist eine grosse geistige Bewegung,
von welcher die Dichter von DmEsoT und Rousseau bis auf Goethe
und Schiller emporgetragen werden. Und eben in dieser Zelt wird
nun zuerst auch auf dem Gebiet der Wissensehaft das Problem d^
Individuation \n der organischen Welt verfolgt, Geslehtepunkte , Be-
griffe und MetJioden bilden sich, welche dann von Goethe ab auch
für die Erkenntnis^ der Individuation in der Menschenwnlt benutzt
werden konnten. Die vergleidi enden Naturwissenschaften t^elaii^-<>n von
BuFFON mid CüviKK ab zu strenger Dun libildung. Und in ihren Fuss-
stapfen, nicht am wenigsten durch Herder, Goethe und Schiller in
dieser Übertragung bedingt, gelangen die Geisteswissenschaften in das
Stadium der veig^ächraden HeUioden.
Au^^egebea am 12. M&n.
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