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Full text of "Sammlung gemeinverstandlicher wissenschaftlicher Vortrage"

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Sammlung 

gemeinverständlicher ... 

Franz  von  Holtzendorff,  Rudolf 
Ludwig  Karl  Virchow 

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Kjcccrf 


EX  LIBR1S 


- . v u v v-ror  . .vjuq 0i  vjäx\.'nenar/ . thüt.  \%mohv  vtar  'mensm .•%*#  wk»W/  *■.*.&  MW#' J»? 


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Sammlung 

aemeinDtrffänjUidier  roiMMtf 
©orträgc 


bcgninbel  Don 

$ife.  JJir^oro  unb  fr.  i.  fjelijrBlirf, 

tjerauagegeben  Don 

$Ub.  ^trdjow  unb  ^ifß.  ^attenßa^. 

ISfue  3fofge.  V.  £nrie. 


$eft  97—120. 


rC  y^ 

^Vv  oy  TnR 

fUHWS-P-SITlf;'- 


Hamburg. 

$*erlag«>anftalt  unb  GDrudcrei  Kctien»® efellf d>aft 
joormal«  3.  &.  Siebter). 

1891. 


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Ws 


ilrud  bet  SJerlogianflolt  unb  SDnicferei  'achen-öeicflfdjoft 
(BormaW  3.  J.  Stifter)  in  jpambunj. 


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3utyttlt8-0er}eid)ml! 


$eft «ritt 


97. 

Wiebemann,  ©.,  lieber  Die  Baturnufieuichaften  bei  ben 

Brabern  

1 —32  

98. 

Jfefter,  Dr.  (Hicharb,  eine  oergcffene  ©efcbicht8pf)ilojopbie 

Bur  @efcf)ichte  be«  jungen  Deutfchlanb« 

83—70 

99. 

ftolfter,  W.  4E>- , Bleranber  bcr  ©ro§e 

71  — 110 

100. 

(faro,  l>r.,  Beroegutig$=  unb  Sinne«  • BorfleUungen  be« 

9Kcnid)en  in  ihren  (Beziehungen  zu  feiner  ©rofjhtrn- 

Oberfläche,  ffliit  6 Bbbilbungen  auf  2 lafeln 

111—134 

101. 

Bmmon,  Otto,  Bnthropologijche  Unteriuchungen  ber  Sehr' 

pflichtigen  in  Baben 

135—170 

102. 

Benber  .ßebtoig,  ©iorbono  'Bruno.  Sin  Btärtprer  ber 

©eifteefreibeit 

171— 208  -t 

103. 

Weher,  Dr.  Chr.,  Bbel  unb  fHitteridjaft  im  beutfchen 

Wittelalter  

209-24« 

104. 

Weniger,  t'ubroig,  Srlebniffe  eine«  griechiichcn  Brzte«  .... 

247—278  

105. 

Clfchnncpfp,  Dr.  W.  B.,  Sntbedung  be«  Sauerftoff«. . . > 

279—826 

106 

WaderneU,  © » Da«  beutjche  BolMlieb  Sin  Bortrag. 

gehalten  im  Deutfchen  Sprachverein  zu  ^nn«brucf  am 

7.  Januar  1890 

327-372  — 

107. 

(Neinharbt  Dr.  3rr.,  Die  englijche  Smin.SntfaB'Sipebition. 

ffllit  einer  Äarte 

373-418 

108. 

&aef,  D.,  Buftu«  oan  ben  Bonbel.  Stn  Beitrag  zur 

©efchichte  be«  nieberlanbifcheit  Schrtfttpum« ...  

419-462' 

109. 

ÄI*b«,  Dr.  3-  $•>  Die  Oftfee  uno  bie  3njel  Bornholm 

©eologijche  unb  fulturhiftorifche  Bilber.  Bortrag,  gehalten 

• 

im  ©uftao-Bbolf-Berein  zu  Braunichmeig 

463—496 

110. 

WfiKer,  ®.  9i.,  Die  eleftrijchen  Wafchinen  unter  Berud- 

ftcbtrgung  ihrer  aejchichtlichen  Sntroidelung.  Biit  12  ?lb* 

hilbuitgen 

497—536 

111 

iHinn,  Dr.  Heinrich,  Schleiermacher  unb  feine  romantiichen 

ftreunbe  

537 — 56« 

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4>fft 

11213.  Gran*,  Dr.  (fori,  ©emcintterftänblidjeS  über  bie  foaenannte 

Seite 

oierte  Dimenfion.  SSortrag,  gegolten  bei  bem  ©tiftungS* 

fefte  be§  matbem.maturm.  ®erein$  ber  tedm.  öodjfdiute 

in  Stuttgart  am  8.  $cflember  1 888,  mit  Srroeiterungen 

-ni4. 

unb  Kitaten.  Sftit  10  Slbbilbuitgen 

©diuttbeift,  3116.,  Pietro  2lrctino  at$  ©tammoater  bcS 

567—636 

mobernen  SitteratentbumS.  ®iitc  Sbarafterftubie  au8  ber 

itatieniicben  SRenaifiancc 

637-684 

115. 

116. 

Spetter,  lieber  bie  9ltbmuttg3organe  ber  Tb»*«  SWit 

3 9lbbilbungen 

9(t*berg,  Dr.  ®1. , Die  SHafienmifdjunfl  im  ^ubentbum. 

685-710 

SWit  3 9lbbi(bunqen ttf.f 

711-750 

117. 

•öauff,  (6.,  ©bafefpeare'$  £>amlct  

751-804 

118. 

'Ceterfen,  Dr.  3obanneö,  3)er  Ruitanb  im  Srbinnern... 

805-849 

119. 

fNSfdi,  Jaeitu# 

850-888 

120. 

■Kooer,  Dr.  3-,  Srnft  SDlorifc  9lrnbt 

889-  916 

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lieber  bie 


ftaturroin'enfdjaften 

bei  beit  Arabern. 


33  on 

^rofeflfor  g.  ^iebemamt 

in  ttilangfn. 


Hamburg. 

5PerIagöanftaIt  unb  ®rurferei  31*  (tiormalS  3.  5-  SRidjter). 

1890. 


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J)q8  ÜRcdjt  ber  Utberitjjung  in  frcmbc  ©praßen  wirb  ootbe^alten. 


irutf  ber  Berlagbanftalt  unb  Itudtrti  SktifnQtticUidjaft 
(bormalS  3.  g.  Siebtet)  in  Hamburg, 


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9?a<h  ben  ^errfd^enben  Stnfdjauungen  waren  cS  bie  SBölfer 
b e3  ftaffifdjen  2lltertljum$,  fowie  bie  Söffer  Gruropa3  uom  Grnbe 
be3  5DZittela[ter3  an,  bie  bei  ber  ©ntwitfelung  ber  SKaturwiffen« 
fdjafteit  unb  ber  ÜDZatfjematif  befonbcrS  tfjcitig  gewesen  fiub. 
S)ie  .ßeit  etwa  ätuifdjen  bem  britten  unb  bem  breijeljnten  3a^r* 
fjunbert  nadj  GbriftuS  betrachtet  man  a!3  eine  @podje  be3  ©tiü> 
ftanbeS  ober  giebt  höchftenS  ju,  bafj  bie  Slraber  bie  ©rgebitiffe 
griedjifdjer  gorfchung  aufgenommen,  bewahrt  unb  bann  bem 
Slbenblanbe  überliefert  fabelt.  2>iefe  Slnfc^auuitgen  finb  aber 
bei  einem  eingefjenberen  ©tubium  unb  guriiefgehen  auf  bie 
CueUen  nicht  faltbar.  3'»  folgenben  foH  üerfudjt  werben,  einen 
furzen  Ueberblicf  über  bie  £f)ätigfeit  arabifdjer  ©elefjrten  in 
biefer  ^jinficht  ju  geben,  gunt  richtigen  SBerftänbnifj  berfelben 
müffen  wir  aber  erft  einen  ©lid  auf  bie  oorljergefienben  ©nt- 
wicfelunggftnfcn  biefer  ©ebiete  meufdjlidjer  Strbeit  werfen. 

3n  ©riedjenfanb  unb  feinen  Kolonien  Ratten  bie  ißljilofoptien 
bie  ©runbgebatifen  für  bie  SBeitcrentwidelung  ber  SBiffenfchaften 
gegeben,  ©ie  tjatten  oerfudjt,  entweber  uon  beit  ^Beobachtungen 
auffteigenb,  einen  ©inblitf  in  ba§  SBcfett  ber  ®iitge  ju  erlangen, 
ober  non  üorgcfafjteu  Meinungen  auSgeljenb,  bie  Sftatur  unferem 
Renten  unterjuorbnen.  äRatfjematif  unb  SRaturwiffenfdjaften 
füllten  aber  ihre  erfte  Stütze  uor  allem  auf  ägtjptifdfem  ©oben 
fiuben.  SBoht  waren  e§  bie  ©riedjen,  bie  fper  forfdjten  unb 


Sammltmj).  9i.  R V.  97. 


(*l 


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4 


badften,  aber  angeregt  burdj  bie  manuigfadjen  Erfahrungen  ber 
alten  Serooßiter  jenes  SanbeS.  9?ocß  ift  aus  ben  oorliegenben 
©cfjriften  — finb  bod)  ber  Slatur  ber  ©adße  nad)  aus  bem 
alten  Slegppten  meift  religiöfe,  auf  b aS  Seben  im  SenfeitS  be- 
jüglidje  j£ejte  uns  iibertommen  — , nocß  ift  nicht  fcftgefteüt, 
»nie  »nett  bie  alten  ©emoßner  bcS  9?ifthaIeS  fhftematifche  gor* 
fcßungeit  auSgefüßrt  Ratten,  aber  footel  fönnen  mir  au$  ben  uu$ 
überlieferten  ÜKonumenten,  au$  ben  genauen  Sanboermeffungen 
erfennen,  baß  ihre  praftifcßen  ftenntniffe  groß  mären.  $>aß 
ihnen  bie  ©igenfcßaften  beS  |>ebel3,  erbi^ter  SBafferbäntpfe,  bie 
fpäter  jnr  Srricßtung  oon  £ampfmafd)inen  führten,  nicht  fremb 
mären,  lehren  un8  Ucberliefcrungcn  über  bie  ÜJfittel,  rneldje  bie 
^ßriefter  anmanbten,  um  bie  ftaunenbe  SDienge  baS  fftaßeit  beS 
©otteS  aßnen  ju  laffen.  Unter  römifcßer  fperrjdjaft  finben  mir 
im  allgemeinen  rnoßl  eine  juneßmenbe  Sammlung  oon  einzelnen 
©eobiidjtungen,  ein  fompilatorifcheS  3ufan,mei1fl1ffen  ber  älteren 
Unterfliegungen,  aber  leinen  mefentlidjen  gortfdjritt.  3n  Üllejaubrta, 
mo  ein  ißtolemciuS  fein  SBeltfpftem  erfaun,  fönnen  mir  noch  am 
längften  ©puren  einer  $ßätigfeit  auf  unferem  ©ebiete  oerfolgen, 
aber  and)  h‘er  fonnten  bie  iRaturmiffenfcßaften  nur  auf  furje 
3eit  ihr  Sehen  friften.  Erft  trat  ihnen  ber  9?euplatoni8mu8 
entgegen,  ber  mit  feiner  $ämonenleßre  jeber  naturmiffenfdjaftlidjen, 
auf  bie  ©rünbe  ber  fJfaturerfcßeiuungcn  juriidgeßenben  gorfdjung 
feinblich  war,  unb  bann  litten  fie  unter  ben  Kämpfen,  bie  fid) 
an  baS  Auftreten  be§  EhriftcnthumS  anfcßloffen.  ®ie  neue  Seßre 
mußte  baS  Sntcreffe  aller  ihrer  SBefentier  im  ooöftcn  Umfange 
in  Slitfprucß  neßmen,  galt  c£  bod)  bie  emige  ©eligfeit  im  ©egenfaß 
ju  irbijeßem  SBoßl  ju  erlangen.  SCie  öeßanblung  ber  gragen, 
roelcße  fieß  an  bie  cßriftlidje  Seßre  anfnüpfteu,  bie  fßolemif 
forooßl  gegen  bie  Slnfcßaitungcn  bc§  abfterbenben  |>eibcntßum£, 
mie  biejenige  ber  einzelnen  Sfiidjtungen  innerhalb  beS  Eßrifteit* 
tßumS  felbft,  abforbirtett  alle  Strafte. 

(41 


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SBenn  bie  öiefc^ic^te  auch  bte  §aub(ungSWeife  einzelner 
Heloten  unb  ganatifer,  burdj  tuefc^e  bie  (Scheine  beS  SKterthumS 
»ernidjtet,  heroorragenbc  ©eiehrte  uid)t  nur  in  ihrer  Jfjätigfeit 
oerhinbert,  foitbern  fogar  baljiu  gemorbet  würben,  nerurtfyeilen 
muß,  jo  ift  bocf)  bie  gau^e  Sewegung  au  fid)  boßfommen  oer- 
flänblic^.  SlfleS,  was  ^eibttifd)  war  ober  aud)  nur  mit  bem 
^eibenthum  jufammenju^ängen  fd)ien,  mugte  oernidjtet  werben, 
©oldjem  cfflufiöett  Verhalten  begegnen  wir  in  ber  ©utwicfelung 
beS  SlNenfchengefchlechtS  faft  fietd,  wenn  baSfelbe  uon  neuen 
Sbeen  bewegt  wirb,  eS  geigt  fid)  gerabe  ebenfo  in  ber  @nt- 
widelungSgefd)ichte  einer  jeben  2öiffenfd)aft.  3e  weniger  bie 
©treitpunfte  burd)  bie  Scobad)tung  fontroßirbar  fiub,  je  mehr 
bie  9Jieitiungen  oon  fubjeftioen  SluSleguttgen  abfjängen,  je  mehr 
unfere  etljifchen  Sluffaffuitgeit  mit  in  gragc  fommen,  um  fo  er- 
bitterter werben  bie  Äcintpfe.  *£er  9tatur  fte^eu  wir  weit 
gleichgültiger  gegenüber.  Sntfpredjenb  ber  eben  gefd)ilberten 
Stiftung  finbeti  wir  in  ber  djriftfidjeu  2Beft  nad)  bem  britteu 
3ahrhunbert  fein  Sutereffc  für  uaturwiffenfchaftlidje  gragett. 
3n  tedjnifcfjer  .fj>infid)t  aber  gingen  bie  ©rfinbungen  eines  .'pero, 
eines  $lrd)imebeS  nidjt  »erloren;  jwangen  hoch  bie  grofjeit  Sauten 
ber  ^anptftabt  am  SoSporuS  ju  einer  eingehenben  93efd)äftigung 
mit  ber  ^Bewegung  großer  ÜDiaffen,  mußten  bod)  bie  Spjantiner, 
nm  beit  attbrängenbeu  Serfern  unter  beu  ©affauiben  311  wiber- 
ftefjen,  auf  möglicfjfte  Serooflfommnung  ifjrer  StriegSmafchinen 
(innen.  3»  biefer  $eit  roirb  wohl  baS  gried)ifd)e  geuer,  eine 
Sirt  ^uloec  erfunbett  worben  fein. 

Snbeffen  ift  uufer  Söiffen  über  bie  tedjnifchcu  Seftrebungen 
biefer  $eit  unb  barüber,  was  aus  früheren  ©podjeit  an  Stennt* 
niffen  erhalten  blieb,  noch  recht  gering.  Sieles  biirfte  wohl  au« 
arabifchett  Gueßeit  $u  ergritnben  fein. 

23od)  foßte,  waS  in  Spja^  oon  Wiffenfdjaftlidjer  gorfd)ung 
geblieben  war,  nur  inbireft  für  bie  SSeiterentwidelung  oon 


6 


©cbeutung  werben.  S$  war  bic  unterbrüdte  unb  anägewanberte 
@elte  ber  Sieftoriaiter,  bie  bajit  beftimmt  war,  bie  neue  Anregung 
bent  jefet  auf  bent  (Scpatiplap  erfcpeineitbett  ©olfe  ber  Slraber  51t 
geben.  2113  bie  9?a<fjfofger  beä  fDiupammeb  beit  SSlam  mit 
bent  Schwert  über  bie  ©renjen  iprer  ^eimatp  weiteruerbreiteten, 
waren  irrten  wiffettfdjaftlidje  Sntereffeit  fremb.  Spr  eitriges 
3iel  war,  bie  Cepre  „(53  giebt  nur  einen  ©ott  unb  SDiupamttieb 
ift  fein  ©roppet"  in  bie  weiteften  gerne«  31t  tragen,  getrieben 
jug(eid)  uott  ber  arabifdjen  fiuft  au  ©eutejügen  unb  Krieg«* 
getümmet,  wie  fie  un«  fd)oit  bie  ölten  Sieber  fcpilberit.  Sine 
iprer  erfteit  Sroberuttgen  war  biejenige  2legppten8,  bei  ber  fie 
iit  popent  ©rabe  burd)  einpeiniifcpe  Stiften,  bie  dopten,  bie 
non  bem  aitberSgläubigen  ©p5ana  fcpwer  bebriidt  würben,  Unter* 
ftüpung  fanben.  ÜDiatt  fiat  befatmtlid)  ben  Arabern  beti  ©ormurf 
gemacht,  fie  pätteit  bie  Söibliot^ef  in  3l(ejattbria  t> erbraunt,  unb 
jwar  ipr  gelbperr  2(mr  auf  ©efepl  be8  Kalifen  ©mar.  ‘Diefe 
©epauptung  wirb  burep  bie  Ipatfacpe  Wibertegt,  baji  bic 
©ibliotpef  fdjon  »iel  früher  unb  jWar  in  ben  Kämpfen  Safar«  unb 
in  ben  inneren  ßwiftigfeiten  ber  Gpriften  jit  ©runbe  gegangen  war. 

3Jiit  ben  größeren  Verpältuiffen  und)  ber  Sroberung  oon 
3tegppteu,  Sprien,  Siorbafrifa  unb  Verfielt  Wucpfen  auep  bie 
Sebiirfniffe  ber  (Sieger.  £>ie  großen  fiänberftriepe  »erlangten 
eine  georbnete  Verwaltung,  bie  Srpebuitg  ber  «Steuern  mit 
folcpeit  Gingen  oertraute  ÜDMitner,  unb  pier^u  waren  bie 
arabifdjen  Krieger  niept  oorgefcpult,  auep  patten  fie  junäepft  opne 
ßerfplitternitg  ber  UJiacfjt  gar  niept  baju  »erwenbet  werben 
fönneit,  man  fiebelte  fie  in  befoitberen  SKilitarlagern  an,  wie  in 
goftat,  au«  bem  fiep  ba«  mobertte  Kairo  peraulentwidelt  pat, 
in  ©a«ra,  bem  jepigeti  ©afforap,  »011  bem  in  „laitfenb  unb  eine 
Siacpt"  fo  Diel  bie  Siebe  ift.  ®ie  Verwaltung«ftellen  würben 
baper  Spriften  unb  Silben  übertragen,  biefelben  würben  al8 
Slerjte  an  ben  $of  be3  ÄTalifeit  berufen,  unb  jwar  befonberö 

(«j 


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7 


alss  biefer  oon  2>anta3fu3,  roo  bie  erflen  bcr  £3mmajaben  ihre 
Siefibenj  Ratten,  nacf)  Vagbab  gefommen  war,  mo  fid^  mit  bem 
großen  SujuS  aucf)  mehr  Äranfljeiten  einfteßten.  Viele  bet  bort 
rooljnenben  SReftorianer  bedielten  ihre  d)riftlid)e  iRetigion  bei. 
T)eitn  gegen  bie  Sefenner  einer  ber  geoffenbarteu  ^Religionen, 
bie  3uben  mtb  Stiften,  mar  ber  itoran  äußerft  bulbfam,  er 
geftattete  benfelben  gegen  bie  Vejahluitg  einer  JÜopffteuer  freie 
Ausübung  ihrer  ^Religion.  Srft  oiel  fpäter  griff  eine  größere 
3ntoleran$  um  fiel).  infolge  ber  näheren  Veriihrung  mit  ben 
Strohern,  namentlich  auch  megen  ber  baniit  oerbunbenen  pefu» 
niären  Vorteile,  traten  oiele  ^um  3$Iam  über,  fo  oiete,  baß 
jeitmeife  ber  Uebertritt  oon  feiten  ber  muhammebanifdjen  5Re* 
gterung  erßhmert  mürbe,  um  ber  ©taatSfaffe  nicht  gu  große 
Summen  ju  entheben.  2Rit  bem  Uebertritt  nahmen  bie  Äon* 
oertiten  natürlich  bie  ©prache  ber  Vefenner  beS  Storan  an,  mie 
bieS  oon  allen  Vefehrten  gefchehen  mußte:  barf  ber  ftoran 

nicht  überfefct,  fonbern  muß  itt  ber  Sprache,  in  ber  er  geoffenbart 
ift,  gelefen  merben."  Slrabifd)  rufen  auch  *>‘e  HRuejjin  oon  ben 
SRinaretS  jum  ©ebete.  9lod)  jeßt  bringt  baS  Slrabifdje  burch 
bie  Verbreitung  beS  3$lam  burch  3)erroif<horben  unb  noch 
meßr  burch  bie  Äaufleute  in  bas  innere  oon  Slfrifa  oor. 

2)ie  ©rlaubttiß  3Ruhammeb3  oiec  grauen  Ju  nehmen,  be* 
förberte  ebenfalls  ba$  Umfichgreifen  beS  Slrabifchett.  3)ie  jahl* 
reiche  SRadjfommenJchaft  fprad)  bie  ©pradje  ihrer  Väter  unb 
betrachtete  fid)  als  echte  Slrabcr,  ba  bie  Vermanbtfd)aft  mit  ber 
äRutter  allmählich  für  bie  äußere  Stellung  oon  untergeorbncter 
Vebeutung  mürbe;  benn  anfangs  h*efc  nur  ber  ©otjn  einer 
freien  ein  Sbelmanu.  ©o  mürbe  fchr  balb  baS  Slrabifdje  bie 
überall  herrfdjenbe  ©prache.  ffienit  mir  baher  oon  ben  miffen» 
fchaftlichen  Seiftungen  ber  Slraber  fprechen,  fo  ift  eS  nirfjt  baS 
ethnographifch  mit  biefem  SRanten  bejeichnete,  in  Arabien  an* 
fäffige  Voll,  oon  bem  mir  reben.  @3  ftnb  nicht  biefe  allein, 

(7) 


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8 


ja  nicht  einmal  übermiegenb,  betten  mir  bie  Strbeiten  nerbanfen, 
fottbern  ©prer,  ißerfer,  3nber,  dopten,  ©panier.  Kber  ade 
fc^rieben  in  ber  ©pracfje  ülftuhammebS,  b.  f).  arabifd).  2öir 
begegnen  ^ier  einer  ähnlichen  ©rfdheinung  mie  im  SOliitelalter 
im  Occibent,  roo  in  aden  fiänbern^bie  ©pracf)e  ber  ©eiehrten 
baS  fiateittijcfje  mar.  ©itt  Unterfc^ieb  ift  inbeS  oorhattben, 
nämlich  ber,  ba§  in  ben  mu^ammebanijcfjen  fiänbern^bie  arabifd) 
©predjenben  aud)  einem  arabifdjen  ©taate  angehörten.  maren 
aber  nicht  nur  praftifc^e  Keimtniffe,  mie  SJiebijin,  SuriSpruben^ 
unb  IBermaltungSlehre,  bie  ben  Arabern  burcf)  bie  dleftorianer 
5ugefüf)rt  mürben,  fottbern  aud)  ppilofophifche;  „beim,"  jagt 
einer  ihrer  bebeutenbjten  ©djriftfteder,  3bn  ß'^albun,  „als  ihre 
^errfdjaft  jid)  ebenfo  mie  ihr  jReid)  befeftigt  Ijatte,  als  bie 
Sttnnahme  beS  fefjhaften  fiebcnS  jie  au  einer  tton  feinem  früheren 
SBolf  erreichten  Kultur  geführt,  als  jie  begonnen  hatten  bie 
SEBiffenfdjaften  itt  aden  ihren  Zweigen  ju  pflegen,  ba  fam  ihnen 
auch  ber  2Bunfd),  bie  philofophifcfjen  SBiffeitjchaften  ju  ftubiren, 
ba  fie  burch  bie  ißriefter  unb  Sifd)öfe  ber  untermorfenett  SBölfer 
tton  ihnen  hatteu  fpredhett  hören,  unb  rneil  ferner  ber  mettfdh* 
liehe  ©eift  Bon  Statur  aus  nach  ©rfenntnifj  biefer  ®inge  ftrebt, 
bat)er  bat  ber  arabifche  Kalif  2lbu  SDjafer  ©Imattcjur  ben  König 
ber  ©riechen  ihm  ittS  Ülrabifcfje  überfefcte  SEBerfe  $u  fenben." 
®er  ®efchichtfd;reiber  ber  arabifchett  Sterbe  3bn  ?lbi  Ofaibia 
y berichtet  unS  ähnliches:  „$arun  al  jRafchib  hübe  aus  Stntmorium, 
Mttagra  unb  anberen  ©täbten  KleinafiettS  eine  grofee  SDiaffe 
griechifchev  Südjer  als  Kriegsbeute  mitgebracht.  Später  ließ 
jföamuti  Biele  Sucher  in  Konfiatitinopel  faufen,  moju  er  nur 
mit  ÜJiiihe  oom  Kaifer  bie  ©rlaubttijj  erhielt."  3bn  Khalbuti 
hat  mopl  2lbu  2)jafer  ei  Üftangur  mit  211  SJlamun  oermechfelt, 
®l  9Jian?ur  hotte  ju  oiele^attberc  Aufgaben  ju  löfen,  um  an 
griechifche  SBiffenfchaften  ju  benfen,  uttb  mar  auch  3U  (jeijig, 
um  bafür  ©elb  auSjugeben. 

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9 


Sei  allen  biefen  ©elegenljeiten  famen  philofopf)ifd)e,  mebi* 
jinifche,  naturmiffenfdjaftlidje  SSerfe  nach  ©agbab,  nnb  jnmr  in 
großer  Sülle,  wie  wir  aus  arabifd)en  ©iidjcroerjeichniffen  erfeljen 
fönnen.  ®ie  @d)öpfungeit  ber  ©riechen,  ober,  wie  fie  bic  ?lraber 
nannten,  ber  fHömer,  würben  bann  itiS  Slrabifdje  übertragen. 
3u  beachten  ift,  baß  non  ®id)terwerfen  fo  gut  wie  gar  nidfts 
überfejjt  würbe.  @3  lag  eben  bie  gan^c  9lrt  beS  ©mpfinbenS  ber 
©rieten  unb  3nbogermancn  berjenigen  ber  Slraber  uitenblid)  fern. 
3n  ber  3)id)tfun|'t  fjabeu  fie  baljer  ihren  ßljaraher  twUfommen 
national  bewahrt,  umgefeljrt  aber  haben  fie  fpäter  manche  Sonnen 
unb  ©ebanfett  non  Spanien  aus  an  baS  Slbettblanb  abgegeben. 
Slnbere  finb  fpäter  uachgeahmt  worben.  $nS  ©afel,  eine  Sornt 
beS  arabifdjen  SiebeSgebid)teS,  hQt  fogar  feinen  Flamen  bei* 
bemalten. 

S)ic  philofophifdjc  ©ilbuttg  beS  arabifchen  ©eifteS  att  ber 
|>anb  grie«i)ifcf)er  ffierfe  würbe  für  bie  SBeitcrentwicfelung  beS 
SSlant,  ganj  abgefeßen  ooit  bem  ©influß  auf  baS  übrige  Heben, 
non  weittragenber  ©ebeutung.  TaS  religiöfe  ©pftem  war  oon 
ÜDluhammeb  nicht  in  gefdjloffener  S°rm  ^interlaffen  worben,  er 
beßanbelte  lange  nidjt  alle  auftretenben  Sra3en/  unb  wenn  man 
auef)  noch  bie  fpäter  gefammelten  SluSfprüche  beS  fßropßeten  unb 
feiner  erften  iRachfolger  bagunaljm,  fo  blieben  bod)  uod)  »tele 
Süden  auSjufüöen,  unb  baju  beburfte  eS  oor  allein  einer  griinb* 
litten  logifdjen  Schulung;  biefe  fonnte  an  ber  §anb  ber  gried)ifd)en 
fßßilof  opben,  oor  allem  au  ber  beS  9lriftoteIeS  erworben  werben.  2Bir 
müffen  eS  als  ein  großes  ©liid  betrachten,  baß  nicht  etwa  bie 
platonifcße  ober  ißt  SluSläufer,  bie  neuplatonifchc  2tnfd)nuung 
ben  arabifchen  ©eiehrten  als  ?luSgangSpunft  bei  iljren  ©eftre» 
bungett  biente.  $enn  wie  ber  fßlatoniSmuS  in  ber  3e>i  ber 
©riechen  mit  feinen  hohe«  Sbealett,  aber  feiner  bie  Siatur  bis  flu 
einem  gewiffen  ©rabe  oerachtenben  Äuffaffung  bie  ©ntwidelung 
ber  ejeaften  SBiffenfchaften  in  ^ofjent  ©rabe  hinberte,  als  er 

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10 


\ 

über  bie  ariftotelifdje  natur»üiffenfc^afttid)e  Slnfdjauuitg  mef)r  unb 
mehr  fiegte,  fo  märe  eS  aucf)  im  Orient  gefdjefjen.  ©in  Seifpiel 
Ijieifür  merbeit  mir  fpäter  feinten  lernen,  mentt  mir  bie  SSerbienftc 
ber  Slraber  um  bie  Cptif  befpredjen. 

Tie  it’euntnifj  ber  gried)ijd)en  unb  lateinifdjen  Slutoren  fam 
anfangs  nidjt  bircft  burdj  Ueberfefjuitgeu  auS  ber  Urfpradje 
in  bie  ber  9Wuljammebaner.  Tie  Uebertragung  gefc^af)  nteift 
burdj  bie  ftjrifchen  9feftorianer,  beiten  meber  baS  ©riedjifche, 
nodj  baS  Slrabifdje  SDhitterfprache  mar.  Slufjerbem  mar  bie 
Sprache  ber  Slraber  für  miffenfdjaftlidje  .grnecfe  nodj  $u  menig 
auSgebilbet.  @S  fantt  uns  baljer  nidjt  überrafdjett,  menn  man 
in  ben  erftett  $eiten  baSfelbe  SBkrf  nidjt  einmal,  fonberit  Diele 
9)?alc  überfefjte  unb  Diele  ber  Ueberfefjungeit  mieber  neu  bearbeitete. 

Später  als  bie  Slraber  meljr  unb  meljr  mit  ben  ©rieten 
unb  ihrer  ©pradje  befamtt  mürben,  trat  ju  biefer  mittelbaren 
Uebertragung  audj  eine  birefte,  roie  fomohl  auS  ben  ^eugniffen 
beS  oben  citirten  3bu  Slbi  Dfaibia,  als  auch  auS  einer  bireften 
SJcrgleidjung  ber  alten  Ucberfe(jungen  mit  ben  $anbfdjriften 
erhellt,  ©in  grofjer  Tljeil  ber  fpäteren  Slrbeit  beftefjt  in  einem 
©rläutern,  einem  Srmeitern  beS  gegebenen  Originals.  Tiefe 
SDletljobe  fnüpft  an  bie  93efjanblung  ber  urfpriinglidjften  arabifchen 
SBiffenfdjaft,  ber  Äorancrflärung,  fomie  an  bie  ber  alten  Tidjter  an. 

3n  ben  nrabifc^eu  Schulen,  ben  ÜJtcbrefcfjS,  fafj  ber  Scfjrer 
umgeben  Don  feinen  ©djülern;  meift  lafeit  fie  ihm  unb  nidjt  er 
ihnen  Dor,  unb  er  crflärte  baS  SSorgelefene.  ©eine  SluSeittanber- 
fefeungen  fchriebeit  bie  ©filier  bann  nieber  unb  Derbreiteteit  fie 
meit  über  baS  Sanb.  gmar  effiftirten  noch  nidjt  bie  mobernett 
Transportmittel,  aber  bie  Semeglidjfeit  beS  SnbiDibuumS  mar 
bamals  größer  als  mau  gemöljnlid)  annimmt.  Tic  Äommuni» 
fation  mar  burdj  bie  jährlich  auS  aßen  Tfjeilen  ber  muhamme- 
bauifdjen  Söelt  nad)  ÜDfeffa  ftrömenben  ©läubigen  fe^r  erleichtert. 

Tie  Pilgerfahrt  mar  ja  für  jeben  ©laubigen  eine  religiöfe  Pflicht. 

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11 


ler  Spanier,  ober,  wie  er  bamalS  hieß,  ber  Slttbalufier  gog  mit 
feilten  SanbeSgenoffett  nad)  SRelfa  uitb  fcßloß  ficf)  bort  etwa 
einer  nacß  Schott  gehenbett  ©djar  att.  ©o  fann  eS  uns  bcnn 
and)  nicßt  tonnberit,  baß  weit  »oneinattber  getrennte  ©cleßrte 
ficß  i»iffen}d)aftlid)e  ©d)reiben  fcßicfteu. 

(£3  ift  nicßt  unintereffant  gu  fehen,  wie  burcß  bie  äußeren 
jBerßältniffe  bie  3trt  ber  Söeröffentlicßung  bebingt  ift.  Sitte  große 
ängaßl  ber  erhaltenen  ©cßrifteit  fittb  aus  bett  eben  erörterten 
©rüttben  Kommentare  gn  einem  bereits  befteljcnben  SEBerf.  33er 
len  biefeS  wirb  angeführt  mit  beit  SBorten  „Sr  fagt",  bent 
bann  bie  Srfläruttg  folgt,  „i cß  fage".  93ielfad)  »ermitteln,  wie 
ermähnt,  ©etibfdjreiben  beS  einen  etwa  in  fßerfien  lebenbett  @e« 
lehrten  att  eilten  in  ©paniett  bie  g°rfcßuiig.  33er  Srftc  fteÜt 
bem  3weiten  eine  Aufgabe,  bie  bann  tiefer  löft.  Sber  nucß  gu> 
famntenfaffenbe  DarfteHungeit  mangeln  int  ^Irabifc^en  nicßt. 
@roße  2eßr*  unb  §anbbiid)er,  bie  oft,  oßnc  ißre  OueHett  gu 
nennen,  ihren  ©toff  fßftematifcß  erörtern,  uttb  gerabe  berartige 
Schriften  waren  eS,  bie  guerft  ins  2ateinifd)e  iiberfeßt  würben, 
häufig  hat  man  baßer  ißre  Autoren  in  neuerer  $eit  beS  3)ieb» 
ftaßlS  an  ihren  SBorgängertt  begidjtet.  SKeift  aber  fällt  biefer 
Sotnntrf  in  nichts  gufommen;  wenn  toir  bie  oott  eben  beufelben 
belehrten  »erfaßten  ©cßriften,  in  benett  ißre  eigenen  Unter* 
mdtuttgen  niebergelegt  finb,  ftubiren,  bort  erlernten  fie  »oU* 
fommen  bte  SBerbiettfte  ißrer  Vorgänger  an.  ©efprädje  fittbcu 
fteß  im  Slrabifcßen  wenig  als  9lrt  ber  Sbarftetlung.  Dies  ift 
ber  3cit  ber  fRenaiffance  »orbeßalten,  wo  g.  93.  ©alilei  einen 
großen  2heil  feiner  Unterfuchungen  in  biefer  gorm  barlegte, 
toäfirettb  fpäter  wieber  SBriefe  unb  bei  uns  bie  5°wi  beS  93or* 
tragS  als  ÜRittel  ber  3)arfteflung  angewenbet  werben. 

3nt  9trabifcßen  wären  ttod)  bie  fießrgebießte  gu  erwähnen. 
Deren  gab  eS  über  alle  gweige  ber  SBiffetifcßaft.  3ßr  fpaupt* 
jwed  war  außer  Zweifel  baS  üluSwenbiglertten  ber  ^auptfaeßen 

an 


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12 

ju  erleichtern,  bie  bann  oont  Sehrer  fomntentirt  mürben.  ©eljr 
vielfach  haben  fidf  8l(d)emiften  berfelben  bebient.  ©eftattete  ei 
bod)  bie  poetifche  Jornt  noch  beffer  als  bie  ^ßrofa,  unllare  unb 
mhftifdje  ©ebaufeit  oerfdjfeiert  mieberjugebeu. 

3it  bem  ©orhergehenbcn  habe  ich  ncrfudjt  in  furjen  ßügen 
eine  Sieifje  bcr  ©erbiiltniffe  ju  fdtjilbern,  bie  bei  ber  ©ntmidelung 
ber  SEBiffenfchaften  bei  ben  Arabern  in  $rage  fommen.  3d)  toenbe 
mich  nun  Su  ber  Sefprechuttg  ber  SE^ätigfeit  jenesS  ©offeS  auf 
naturmiffenfdjaftlidjcm  ©ebiete. 

S33ir  beginnen  mit  ben  Söiffenfchafteu,  in  benen  bie[$lraber 

(baS  ©orjiiglichfte  geleiftet  haben,  unb  in  benen  fie  weit  über  ihre 
fithrmeifter  hinausgegangen  fiitb,  nämlidj  mit  ber  Slftronomie 
unb  ber  äRathematif. 

Ser  faft  ftetS  ffare  Fimmel  muhte  oon  früh  ihre  Stuf* 
merffamfeit  auf  baS  ©tubiuin  ber  ©eftirne  leufen.  SBie  bem 
©Ziffer  bie  ©terne  bie  SBegmeifer  auf  bem  Djean  mären,  fo 
roaren  fie  eS  bem  ©ebuinen  in  ber  SEßüfte.  Satin  famen  bie 
Araber  nad)  ben  ©egettben  URefopotamienS  unb  SleghptettS,  oon 
benen  baS  crftere  bie  ättefte  SGBiege  unferer  äöiffenfd)aft  ift; 
©oitnett*  unb  ©ternbiertft  mar  bie  ^Religion  ber  alten  ©abplonier : 
ber  ©ott  üJielfart  burchmanbert  als  ©ounengott  bie  jmölf 
Reichen  beS  2h*erfre'ie^  fie  nacheinauber  im  Saufe  beS  SoljreS 
überminbcnb,  — eine  §luffnffung,  bie  lebhaft  an  bie  Shnten 
beS  $erlu(e3  erinnert.  Sn  ber  Slftronomie  haben  bie  Slraber 
bie  ©ahnen  ber  ©ontie,  beS  SRottbeS  unb  ber  einzelnen  fßlaneten 
genauer  feftgeftellt  unb  baburd)  ber  fpätcren  fjorfchung  ben 
SSeg  geebnet.  SDie  ooit  ihnen  entmorfenen  Safeln,  bie  für  jebeit 
Sag  bie  Stellung  oon  ©onne  unb  SRonb  beftimmten,  liegen 
mit  größter  ©enauigfeit  ©onneu»  unb  2Ronbfinfterniffe  üorauS» 
fagen.  Sie  SRamen  oieler  in  ber  Slftronomie  üorfommenber 
Singe  rühren  Oon  ihnen  hcr-  ^er  ßenith  h£ifji  ©amt,  bie 
^Richtung;  oon  bemfelben  SSort  ftammt  aud)  Sljimut;  ber  bem 
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13 


Samt  gerate  gegenüber  liegenbe  ißunft  bieji  9labir.  SKfjibabe, 
Xfjeobolit^  finb  gleicbfatlg  arabifeben  Uripruugg.  Sbettfo  bie 
Steruennanien  Sllgol,  9iigel,  ©etelgeuje,  Sllbebaran.  SBefentlidj 
förberten  bie  giirften  biefe  Stubien.  Sternmarten  ftanben  fo* 
wobt  int  fernften  0ften,  in  Socfjara,  wie  im  fernfteit  SBeften, 
in  Spanien.  gn  unseren  ültufeen  fönnen  mir  noch  öiele  aftra* 
nomiidje  Suftrumente  aug  biefer  Slftrolabien,  mie  fie  bie 
Slraber  nach  bett  ©riechen  nannten,  jum  5be*f  *n  gtofjer  Soll* 
fommenbeit,  febett. 

«ueb  aftropbbfifalifcbe  fragen  haben  bie  Slraber  be* 
febäftigt.  $af3  tag  Siebt  beg  iDionbeg  non  bev  Sonne  entlehnt 
fei,  mar  ihnen  befannt.  @ine  befonbere  Slbbanblung  3bn 
al  fpaitbamg,  beg  jmeiten  ißtolemäug,  mie  ibn  ein  anberer 
©etebrter  nennt,  oerfolgt  bag  Problem  big  in  feine  Sinjelbeiten. 
55erfelbe  ©efebrte  fuefjt  nacbüuroeifen,  bafj  bie  ißlanctcn  unb 
giffterue  Selbftleucbter  feien.  Grr  ftüfet  ficb  barauf,  baff  fie 
feine  ißbafeu,  mie  ber  fPtonb  jeigett.  [5)ie  ißbafen  ber  SBenug 
unb  beg  SKerfur  batten  mit  ben  bamaligen  §ülfgmitteln  noch 
nicht  fonftatirt  merben  fönnen.]  55a  er  aber  fühlt,  baff  feine 
Semeife  für  bie  giffterne  unb  oberen  platteten  nicht  binbenb  finb, 
fo  fcbliefjt  er  mit  ben  SBorten : „Sinb  aber  33enug  unb  SDierfur 
bei  ihrer  Stäbe  ju  betu  9Jtonb  unb  ber  SBelt  beg  Seittg  unb  ber 
33erberbnifi , Selbftteucbter , fo  ift  bieg  erft  recht  bei  ben  gif* 
fternen  unb  ben  oberen  fßlaiteten  ber  gatt,  bie  fo  meit  oon 
biefer  SBelt  beg  Seing  unb  ber  Skrberbnijj  abfteben." 

5>ie  grage  nach  ber  Umbrebung  ber  @rbe  um  ihre  Slfe 
haben  bie  Slraber  oentilirt.  fR^afeö  bat  ein  SBerf  oerfaffi 
„lieber  bag  Untergeben  ber  Sonne  unb  ber  Sterne  unb  Stad)* 
meig,  bah  bie  Urfacbe  biefer  Srfcbeiuung  nidjt  bie  Sercegung 
ber  @rbe,  fonbern  beg  ^immefggemölbeg  ift."  5)ie  Slraber  finb 
alfo  ju  einem  unrichtigen  fRefultat  gelangt. 

Slber  nicht  nur  in  ber  SBeiterfiibrung  ber  mirflicben 

u#> 


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14 


aftronomifcf;en  SBiffenfcpaft  erruiefeit  fic^  bie  Slraber  als 
würbige  Sftadjfolger  ber  alten  Sewoptier  ÜJlefopotamienS, 
fonbern  ebenjo  wie  biefe  pflegten  fie  bie  3lftrologie  unb  fudjten 
auS  ber  Stellung  ber  ©eftirne  bie  Scpidfale  ber  ÜJlenfcpen  gu 
enträtseln,  ©ange  Serge  oon  SBerfen  finb  unS  erhalten,  bie 
biefer  ©eiftcSoerirrung  fpftematifd)  fic^  roibmen.  ©erabe  wie 
bei  uns  waren  es  nielfad)  giirften,  bie  aus  bett  Sternen 

ipr  Scpidfal  erfaßen  wollten  nnb  baju  ber  SSBiffenfcpaft  ein 
31fit  boten. 

SBie  gegen  bie  Slcpemie,  fo  paben  fid)  auep  gegen  bie 
3lftrologie  ^erüorragcnbe  arabifdpe  ©eleprten  gewenbet,  unter 
anberen  Äoicenna , ber  in  einer  Scprift  „Söiberlegung  ber 
?lftrologie"  geigt,  bafj  fie  fiep  auf  aprioriftifepe  $ppotpefen,  bie 
nnerwiefen  unb  unerweisbar  finb,  ftiipe.  3)?it  SRecpt  maept  aber 
®e  @oeje  barauf  anfmerffam,  baf?  wenn  inan  einmal  biefe 

tfjtjpotpefen  gugiebt,  bann  bie  Slftrologie  Wirflicp  eine  Sßiffenfcpaft 
ift,  ba  fie  oon  ipnen  aus  mittelft  uuwiberleglicper  Seobacpiuitgen 
unb  genauer  SRecpnungen  fortfepreitet.  Sine  91acprcd)nung  oon 
Tabellen  beS  311  Äinbi  über  bie  Sionjunltionen  beftätigt  bie 

ooit  biefem  gefunbenen  3a^en,Ber^e/  Me  aber  natürlid)  nichts 
mit  bem  Sdjidfal  ber  SUienfc^en  git  tpun  paben. 

3n  ber  SRatpematif  finb  bie  Serbienfte  ber  Slraber  auS= 

nepnienb  groß.  Son  ipnen  paben  wir  nnfere  $aplgeicpen 
erhalten.  3n  ber  arabifepen  SBelt  waren  gwei 
nebeneiuanber  üblich,  baS  orientalif<pe,  ooit  ben  ftalifen  nuS 
3nbieit  eingefiiprte,  unb  baS  occibeutalifcpe,  bie  ®pobär=Sd)rift, 
aus  weldjer  unfere  giffern  ftammen.  ®ie  leptere  Schrift  haben 
üiefleicpt  fc^oit  bie  SReupptpagoreer  gelaunt,  bie  fie  aber  auep 
aus  3nbien  empfangen  paben  fönnen.  ®ie  3itber  faitnten  übrigens 
fepon  bie  Serwetibung  ber  SteQuitg  einer  3apl  gur  Scgeicpnung 
ipreS  SBertpeS.  ®ie  Araber  paben  baS  Serbienft,  bie  beffere 
äRetpobe  eingefiiprt  gu  paben.  ®er  ^auptwertp  beS  SpftemS 

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15 


liegt  barin,  bafj  bie  9iuH  mit  einem  befonbereu  geidjeit  oerfelien 
wirb,  beffen  arabifdjer  9Jame  „Ziffer"  je^t  für  alle  unfere 
jeidEjen  angeroanbt  wirb,  ©in  ßeidjen  für  bie  9iutl  Ratten  fetjon 
bie  Sllejranbriner,  wanbten  eS  aber  nur  äujjerft  feiten  an.  9lur 
burd)  bie  prinzipielle  ©infüfjrung  berfelben  ift  eS  aber  möglich, 
mit  je^n  gcid&en  fianJe  ftüße  ^cr  3°^en  bü  umfajfen  unb 
juglcid)  burdj  bie  Stellung  ben  SBertlj  einer  3af)l  Su  bezeichnen,  fo 
bafc  bie  1 fowoljl  10  als  100  u.  f.  w.  bebeuten  fann.  SBäfjrenb  man 
bei  ben  lateinifdjen  3*ffern  erf*  lange  Steifen  oon  Operationen 
$ur  SBeftimmung  beS  SESert^eS  einer  $af)l  machen  ntufj,  fo  über-, 
fieljt  man  ifjn  in  bem  arabifdjen  Spftem  mit  einem  93(icf. 

Sind)  bie  abgefürjte  Sejeidptung  ber  äßultiplilatiDn,  ber 
®ioifion,  wenn  aud)  in  etwas  anberer  Sßeife  als  wir  fie  an* 
wenben,  entftanb  bei  ben  Arabern.  Siefe  I^eile  ber  Süiat^ematif 
tragen  nod)  je$t  einen  arabifdien  9lamen,  Sllgebra.  9iic^t  weniger 
als  in  ber  Algebra  fjaben  bie  Araber  in  ber  ©eometric  geformt 
unb  oor  allem  geometrifdje  SÖietfjoben  jur  Söfung  algebraifdjer 
Probleme,  fo  ^ur  Söfuitg  oon  @lcicf)ungen  höfjeren  ©rabeS, 
öerwenbet.  $urd)  bie  gäfpgfeit  geomctrifdje  Äonftrultionen  jur 
©rgeugung  non  ©ebilben,  bie  felbft  äujjerft  uerwicfelt  waren, 
burdföufüljren,  burd)  biefe  matfjematifdjen,  fid)  befonberS  auf  bie 
©eometrie  erftretfenben  Arbeiten  würbe  bem  arabifefjen  ftünftler  bie 
SKöglidjIeit  gegeben,  in  ber  SSeife,  wie  er  eS  getf)an,  $ecfen  unb 
SBänbe  mit  einem  geometrifdfeu  £iniengewebe  zu  überziehen.  3n 
ftets  neuen  formen  werben  Linien  unb  ^war  nteift  gcrabe,  inein- 
anber  gewoben,  um  bie  gläd)e  Zu  füllen.  $ieS  gefd)ieljt  in  ganz 
anberer  SBeife  als  im  perfifefjen  Stil,  wo  eS  Slumen  unb  ge- 
wunbene  fiinien  fittb,  welche  bie  beforatiocu  ©lemente  liefern. 
3n  ^öcfjfter  SSoQenbung  finb  biefe  £inienbe!orationen  in  ber 
SUfjambra,  ber  rotten,  öerwenbet;  aber  aud)  auf  oieleu  Sdjalen, 
Türfüllungen  treten  fie  uns  entgegen.  2Jiit  SBonne  folgt  baS 
äuge  ben  rfjptljmifd)  fid)  wieber^olenbeit  ©eftaltungen  bcS  halb 

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16 


frei  fdjaffenben,  t)db  geometrifcJ)  benfenben  ÄünftlergeifteS,  unb 
freut  fid),  wenn  e»  metjr  unb  meßr  erfennt,  wie  biefe  reigtoCe 
geidjnung  burd)  bie  aQereinfarfjften  Mittel  erreicht  wirb.  Tie 
©rmübung  burd)  bie  unabläffige  SBieberholung  beleihen  äWotiteS 
Wirb  bnburd)  gliidlich  beseitigt,  baß,  fei  eä  in  ba«  Sinien* 
Ornament  Ijtneinfomponirt,  fei  e§,  baß  in  bie  Süden  ober  um 
bie  SRänbcr  beäfelben  Snfcßriften  eingefügt  fiitb,  Soranfprüche, 
Tidjterterfe,  ober  ber  SBatjIfprud)  ber  ©rbaucr,  in  ber  Sllßambra: 

giebt  feinen  ©ieger  außer  ©ott". 

3m  Slnfd)luß  an  bie  SBerwenbung  ber  Sinie  ju  rßptßmifcßen 
SBieberßolungeu  im  Ornament  wäre  auch  nod)  ber  erfolgreichen 
wiffenfdjaftlicheu  SBeßaitblung  ber  ÜJfuftf  bnrd)  bie  Slraber  @r* 
wät)uung  ju  tßun. 

Tie  ©efejje  ber  SDiechanif  ber  feftett  unb  ber  flüffigett  Körper 
ßaben  bie  Slraber  mannigfach  beßanbelt  unb  angemanbt.  Sßon 
ben  einfachen  üftafd)inen  war  e3  befonberä  ber  $ebel,  mit  bem 
fie  fid)  eingel)enb  befdjäftigten  unb  beffen  ©igenfdjaft  fie  bei  ber 
ftonftruftion  ihrer  äußerft  empfinblichen  SBagen  oerwanbten. 
©beitfo  eiugehenb  erörterten  fie  bie  Sehre  oom  ©dfwerpunft, 
fowie  biejenige  oom  Schwimmen,  (entere  natürlich  atifnüpfenb 
au  baS  ihnen  wohlbefannte  ardjimebifdje  ^Srinjip.  ©o  gelang 
e3  ihnen,  eine  Steiße  oou  SDtethoben  gur  SBeftimmung  bet 
fpecififcfjen  ©ewießte  ju  erfinnen,  refp.  bie  alten  ju  »erbeffern. 
©ie  gogeit  babei  nicht  nur  fefte  Körper  in  ben  Sereicß  ißrer 
Unterfucßungen,  fonbern  auch  fjlüffigfciten , fonftatirten  ba3 
Seidjterwerben  ber  lederen  mit  erhöhter  Temperatur  u.  f.  f. 
Ta8  fpecififd)e  ©ewießt  ber  feftett  Körper  biente  ihnen  ferner 
jur  ©rfennung  ber  ©cßtßeit  ton  eblen  ÜftetaHen  unb  ©belfteinen. 

©owoßl  bei  biefen  wiffenfcßaftlicßen  gorfdjungett  all  auch  bei 
bereu  praftifeßer  Slnwenbung  jur  Äonftruftion  ton  SDtafcßinen 
gingen  bie  Slraber  ton  ben  Äenntniffen  unb  ©rfaßrungen  ber 
©rieeßen  au3,  bei  leiteten  befonberä  ton  benen  beä  §ero,  beffen  ßaupt* 
ae> 


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17 

fäd)tich)’te  ntedjanifche  Schrift  un«  überhaupt  nur  noch  in  orabifcfjer 
©pradje  erhalten  ift.  darauf  fiel)  ftüfjenb,  haben  bann  bie 
Araber  mannigfache  Sewegung««  unb  Ärieg«mafd)inen  fonftruirt. 
Sie  haben  SBafferleitungen  in  ber  oorjügtichften  ?Irt  angelegt; 
babei  fchafften  fie  nicht  wie  bie  Nömer  burch  Slquäbufte  unb 
©nfchnitte  bie  Sdjwierigfeiten  fort,  fonbern  fchmiegten  fich  burch 
ftnnreidje  Siöhrenleitungen  beu  @igent^ümlicf)feiten  be«  Serrain« 
an.  Sn  ben  SBafferfiinften  haben  fie  faft  unübertreffliche«  geteiftet. 
$>ie  ©rjählungen  in  „Jaufenb  unb  eine  Nad)t"  geben  un«  einen 
©egriff  baoon.  ®enn  wa«  h>er  ber  Nomanerjähler  feinen  3““ 
hörern  in  Äairo,  wo  jum  $hert  biefe  ©efchidjten  fpielen,  fd)ilbert, 
wirb  burch  bie  ©rjahlung  ernfter  Neifenber  oofifommen  beftätigt. 
$a«felbe  lehren  un«  befonbere  Schriften  über  biefeit  ©egenftanb. 
SBir  brauchen  ferner  nur  barau  $u  benfen,  bafj  unter  ben 
ftalifen  au«  bem  Stamme  §lbberraf)man«  unb  ihrer  Nachfolger 
Spanien  burch  bie  oorjüglidjften  Sewäffernngctanlngen  etn 
©arten  war,  unb  bafj,  wa«  jefct  nod)  oon  Sßafferanlageu  fegen« 
fpettbenb  ba«  Sanb  burchsieht,  auf  arabifefjen  Urfprung  juriief« 
geht.  @rft  nach  ber  ©roberung  Spanien«  burdj  bie  (S^riften, 
welche  bamal«  an  SBilbitng  hinter  beit  Arabern  weit  jurüefftanben, 
würbe  Spanien  ju  bem,  was  e«  je^t  ift.  ®enn  nicht«  ift  falfdfer 
al«  bie  ?(nfchauung,  bafj  bie  Sarazenen,  bie  ftarl  SJiarteH 
jurücffchlug,  etwa  wilbe  Barbaren,  oergleichbar  ben  Hunnen, 
gewefen  feien.  ©«  war  ein  hoch  cioilifirte«  Söolf,  beffeu  ftultur* 
oerhältniffe  in  oieler  |)inficht  an  bie  unferigett  erinnern. 

2öir  wenben  un«  je^t  ju  ben  optifchen  ©rjdjeinungen. 
2>ie  fieljre  oon  ben  ©efe^ett  ber  Neflefion  au  ebenen  flächen 
hatten  bie  ©riechen  fchott  fehr  weit  geförbert,  für  biejenige 
an  gefrümmten  bie  ©runbtagen  gelegt,  wenn  c«  and)  nach 
neueren  Unterfudjungeit  fcheitten  mödjte,  al«  ob  fie  hierbei  etwa« 
weiter  fortgcfdjritten  waren,  al«  man  gewöhnlich  annimmt.  Sn 
einheitlicher  ©arfteßung  finbeit  wir  bie  ©hcor*e  &cr  sJieflejiou 

Sammlung.  91.  0.  V.  97.  2 C17> 


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18 


an  ^oljlfpiegetn  jucrft  bei  gbn  al  §aitham,  bem  Slft)ase«  be« 
SRittelalter«,  entruitfelt.  @r  weifj,  bafj  nicht  alle  ©tragen,  bie 
parallel  auf  einen  §oljlfpiegel  fallen,  in  einem  unb  bemfelben 
fünfte,  bem  ©rennpunfte,  oereint  werben,  fall«  ber  |whlfpiegel 
au«  einer  ftugeloberfläd)e  gebilbet  ift,  aber  er  jeigt,  bafj  bie« 
gefdjieljt,  fobalb  bie  fpiegelnbe  Oberfläche  einem  Umbrehung«* 
©araboloib  entfpridjt.  Tiefe  Rejultate  leitete  er  mathematifd) 
ab  unb  jeigte  ferner,  wie  man  ©renufpiegel  ju  fonftruiren  bat, 
beren  Srennpunft  »or  ober  hinter  ber  fpiegelnbeit  glache  ge= 
legen  ift. 

Tiefe  Qrrgebniffe  arabifd^er  gorfchung,  bie  freilich  nreift  in 
noch  nicht  publicirten  ^anbfehriften  »erborgen  finb,  fittb  un«  jum 
®heil  iw  Slbeitblanbe  au«  ben  Schriften  Roger  ©aco«  befannt 
geworben,  ber  fid)  eng  an  bie  arabifchen  Arbeiten  anfdjliefjt,  unb 
bem  man  gewöhnlich  biefe  ©ntbeefungen  jufchreibt. 

©benfo  wie  für  bie  Theorie  ber  ^o^Ifpiegel  bie  5£^ätigfeit 
ber  Slraber  einen  gortfdhritt  be^eic^net , fo  ift  e«  auch  für  bie 
ber  fiinfen,  ber  ©renngläfer.  ©ei  biefen  fommt  bie  ©rechung 
be«  £id)te«  in  grage;  auch  hier  haben  bie  Araber  bie  baju  nötigen 
©eobachtungen  ber  ©riechen  erweitert  unb  »erbeffert. 

©renngläfer,  b.  h-  fugetförmige  ©tücfe  ©lafe«,  bie  bie 
©igenjdjaft  befifcen,  barauffaüenbe  ©onnenftrahlen  in  einem 
©unft  ju  »ereinen  unb  baburdj  Ejofje  Temperaturen  ju  erjeugen, 
waren  fdjon  ben  Sllten  befannt.  ©or  ba«  91uge  gehalten,  bienen 
fie  al«  ©ergröfjerung«glä}er.  Tie  richtige  ©rfenntuifj  ber  SBirffam- 
feit  unb  bamit  bie  ÜJlöglichfeit  eine«  gortfehritte«  in  ber  ©e> 
nujjung  bcrfelbett  war  ben  Arabern  »orbehalten.  3bn  al  Jpaitham 
fchilbert  un«  gan$  genau  ben  ©trahlengaug  bttreh  eine  mit 
Söaffer  gefüllte  ftugel.  Sßir  nennen  fie  ©djufterfugeln,  fie  bienen 
ben  ©chufimadjern  bap,  um  £id)t  »ou  ihrer  Siampe  auf  eine 
©teile  ihrer  Slrbeit  ju  fonjentriren.  Slnfdjliefjenb  baran  entwicfeln 
Äamäl  eb  Tin  unb  Slbii  al  Tanä  eine  Theorie  be«  Regenbogen«, 
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19 


bei  ber  er  ber  einmaligen,  zweimaligen  ic.  fReflejioit  im  Innern 
ber  Söafjertropfen  fHedptung  trägt,  nnb  feine  SRefuItate  burd) 
Skrfudje  begrünbet.  Sin  neuer  SSeweiS  bafür,  baf?  bie  Araber 
wirflid)  ejperimentirt  fjabeu. 

iöalptbredjenb  waren  bie  Äraber  in  ber  Sntwicfelung  ber 
ße^re  twm  ©ef)en.  ÄriftoteleS  Ijatte  bie  ganz  richtige  Än« 
fc|auung  aufgeftedt,  nacf)  ber  baS  Sidjt  in  ©tragen  befiele, 
bie,  uon  bcm  leudjtenben  ßörper  auSgeljcnb,  uitfer  Äuge  treffen 
unb  un$  baburd)  ben  ©egenftanb  fidjtbar  machen.  3n  ganz 
äljnlicfyer  SBeife  erflart  er  baS  ©id)tbarwerben  oon  fiörpern, 
bie  baS  Sidjt  nur  juriidwerfen,  aber  nicfjt  felbft  leudjten. 
Unter  bem  Sinflup  ber  plaionifdjen  Schule  entftanb  bann  aber 
bie  Änfid)t,  bafj  oon  ben  Äugen  aus  giifjlfäben  auSftraljlten, 
roeldjc  bie  einzelnen  ©egenftänbe  betaftetcn  unb  uns  baburd) 
Äunbe  oon  ifjnen  bringen.  #um  Unglüd  für  bie  Sntwidelung 
ber  Dptif  befielt  bie  zweite  Änfidjt  bie  Oberljanb.  SDiait  ftüfcte 
fid)  barauf,  bafj  baS  Äuge  gewölbt  fei  unb  ba^er  weniger  zum 
Äuftieljmen  als  zum  ÄuSfenben  geeignet,  ferner  auf  ben  ©lauben, 
bafj  gewiffe  Xl)iere  unb  einzelne  SRenfdjen,  wie  ber  ftaifev 
2)omitianuS,  im  ®unfeln  fe^en  fönnten  nnb  auf  anbere  äljnlidje 
Sdjeingriinbe  mel)r.  ©elbft  bie  gröfjten,  mit  bcm  £id)t  fid) 
bejd)äftigenben  ©elefjrten  ©riedjenlanbS,  beS  gräcifirten  ÄegpptenS, 
wie  ber  um  bie  SDiatfjematif  ljod)Oerbiente  Suflib,  ber  ein  neues 
SSeltfpftem  grünbenbe  ißtolemäuS  würben  burdj  bie  fjjeffel  ber 
ja[jcf)en  Änfdjauung  an  einer  freieren  Sntwidelung  gefjinbert. 

Srft  bie  Äraber,  bie  an  ÄriftoteleS  anfniipften,  fanben  baS 
}Rid)tige.  SS  finb  Äerzte  wie  SRljazeS,  bie,  auf  ber  einen  ©eite 
mit  bem  anatomifdjen  ®au  beS  ÄitgeS  oertraut  — Äugenleiben 
finb  ja  im  Orient  nur  zu  Ijäufig  — , anbererfeits  aber  mat^e* 
matijd)  unb  pl)ilofopf)ifd)  gefdjult,  ben  wafjreit  ©adjoerljalt 
erfannten.  ©ie  fanben  ben  ©ijj  ber  SBaljrne^mung  auf  ber 
fRüdwanb  beS  ÄugnpfelS,  auf  ber  Sie^aut.  5)iefe  ift  ja  aud) 

2*  (19) 


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20 


f)ofj(  gegen  baS  Ijereiitfallenbe  2id)t.  ©ie  gerlegten  anatomifd) 
baS  ütuge  unb  lehrten  bie  ©rünbe  femien,  warum  mir,  trofebem 
mir  gwei  klugen  §aben,  bereu  jebeä  ein  Vilb  ber  umgebenben 
SBelt  aufnimmt,  jebeS  Objeft  bocfj  nur  einmal  fefjen. 

Von  ben  ©ebieten  beS  Magnetismus  wufjte  man  im 
Orient  nur  wenig,  bie  ©igenfdjaft  gemiffer  ©teine,  baS  ©ifen 
attgugieljen,  famtte  man.  Viele  gabeln,  wie  bie  twm  Magnet* 
berg,  fnüpfeit  ficf)  baran.  Man  oerglicf)  bie  in  bie  gerne 
mirfenbe  Straft  ber  Magneten,  bei  ber  bocfj  ber  wirfenbe  Körper 
an  ©ewidjt  nidjt  abnatjm,  wie  beit  Arabern  bcfonbere  Meffttngen 
geigten,  mit  ber  SluSjenbung  beS  Mofd)uSgcrucf)eS,  ber  and),  of)ne 
baß  ber  buftenbc  Körper  merflid}  leidster  wirb,  ein  ganges 
ßimrner  erfüllt. 

SBeiter  fam  man  in  ber  ©rflärung  uicf)t.  ©tetS  mar  ferner 
arabifc^en  $id|tern  bie  3ßed)felroirfung  gwifdjen  Magnet  unb 
(Sifen  ein  beliebtes  Söilb  für  bie  3unei9ung  groeier  fitebenben; 
wie  ber  Magnet  baS  ©ifen  angiefjt,  fo,  fingen  fie,  giet)t  audj 
ber  fiiebenbe  bie  ©eliebte  an. 

5)aS  Slbenblanb  oerbanft  ber  Vermittlung  ber  Araber  ben 
Kontpafj.  9iad)  ®ogp  fannten  bie  Slraber  ben  Kompaß  fdjon 
im  gafjre  854  unter  bem  Stamen  Oaramit,  öott  bem  fidj  bie 
ttocf)  jefet  in  gtalieit  gebrändjlidje  Vegeicfinung  ßalamita  ablcitet. 

@itt  gemiffer  Vailat  aus  KiSgaf  berietet  unS:  „Von  ben 
©eeleuten,  bie  baS  inbifdje  Meer  befahren,  ergäljlt  man,  baff 
fie  fidj  eines  fleinen  Ijoljlen  gifdjeS  aus  ©ifen  bcbienett,  ben  fie 
fo  Ijcrguftetlen  miffen,  bafj  er,  meint  man  it)tt  auf  eine  ©cfjale 
mit  SBaffer  legt,  oben  fdjroimmt  unb  mit  feinem  Kopfe  unb 
©djroang  itad)  beiben  ©eiten,  und)  Diorb  unb  ©üb,  geigt."  ®er 
©ifenfijd)  wirb  öorf)er  magnetifirt.  2)iefer  magnctifdje  gifd) 
finbet  fidj  ttodj  jefct  in  einem  befannten  Kinberfpielgeug.  ©S 
finb  aber  nidjt  bie  Slraber,  fonberu  bie  ©fjinefen  bie  ©rfinber  beS 

KompaffcS  geroefcn,  uott  benett  er  gu  beit  arabifdjen  ©djiffern 

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21 


fam,  bie  »oit  ißerfien  auSfaßrenb  nad)  ©eßlon,  zu  beit  ©unba» 
infcfn,  ja  bis  ©ßina  fclbft  oorbrangen,  um  oon  bort  ©eibe  unb 
aitbere  SBaren  jurucfjubringeii.  3nbem  bie  Araber  ben  ©ee» 
fahrern  Italiens  bie  Kemttniß  beS  KompaffeS  übermittelten, 
haben  fie  bie  äRöglicßfeit  ju  ben  großen  ©eereifcn  »om  Anfang 
beS  fünfzehnten  SahrßmtbertS  an  gegeben.  ®enn  bi«  babin 
mußte  bie  ©cßiffaßrt  mehr  ober  weniger  eine  Küftenfaßrt  bleiben, 
wenn  auch  ber  im  ©üben  Diel  weniger  bewölfte  .jjjimmet  bem 
©djiffer  eS  wefentlicß  leichter  machte,  feinen  Sauf  nach  &eit 
©ternen  jtt  regeln. 

2Bir  wifjen,  wie  beinahe  Kolumbus’  ©utbecfungSfaßrt  baran 
fcheiterte,  baß  bei  feinem  33orfcßreiten  nach  SBeften  ber  Kompaß 
mehr  uttb  mehr  auS  ber  SRicßtung  nach  Siorben  abwicß,  unb 
bie  SRannjcßaft  fürchtete,  auf  bem  Djean  beit  einzigen  fieberen 
SBegweifer  ju  Derliereit. 

©<ßon  bie  ©riechen  wußten,  baß  ein  geriebenes  ©tiiefeßen 
iBernftein  leicßte  Körper  onzießt,  biefe  Slnjiehung  nennen  wir 
jegt  nach  ^em  griec^ifcßen  Sftatneit  beS  SernfteinS  „©leftron" 
eine  eleftrifcße.  2)ie  Araber  fanben  biefe  ©igenfeßaft  auch 
anberett  §arjen  wieber,  ein  folcßeS  trägt  im  ^erfifeßen  ben 
fjübfcßen  tarnen  KaßarbA,  ober  ber  ©troßanzießer. 

Sn  ber  ©rflärung  ber  großartigen  eleftrifcßeu  atmofphärifeßen 
©rfcßeinuitgen  haben  bie  Slraber  nießt  oiet  neues  311  bem  oon  ben 
©riechen  ©rerbten  ßinzugetßan. 

©preeßen  wir  oon  ben  SBiffenfcßaften  beS  Orients,  fo  benfen 
wir  befonberS  an  bie  eine,  welcße  feßon  einen  arabifeßen  9fameu 
trägt.  3<ß  meine  bie  ^Icßemie  ober  beffer  gejagt,  bie  Sßentie, 
was  ja  baS  SBort  Jllcßemie  bebeutet,  benn  $11  ift  ber  Slrtifel 
unb  bebeutet  ber,  bie,  baS.  Älcßemie  ßat  für  unS  eine  bejonbere 
iRebenbebeutung,  mir  benfen  babei  ftetS  an  baS  ©eftrebeit  ber 
SRenfcßeti  unebfe  SöietaHe  in  eble  ju  oerwanbeln,  oor  allem 

©olb  fünftlicß  ßerzufteHen.  SDie  ßßemie  bagegen  fott  bie  Um* 

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22 


fe&tttigen  ber  einzelnen  ©ubftanjen  miteinanber , i|re  fRein* 
barfteHung,  bie  ©rünbe  für  bie  habet  auftretenben  ißro$effe 
eittwideln.  2>ie  ©runbanfdjauungen  ber  arabifefjett  ©Ifemifer 
waren  nun  gar  nid|t  fo  irrationeü  wie  matt  nteift  glaubt,  ©ie 
meinten,  alle  in  ber  SRatur  Dorfommenbett  ©toffe  festen  fic^  au« 
jtoei  Körpern  jitfammen,  bie  fie  ber  ©infad)fjeit  wegen  mit  bett 
tarnen  ©djwefel  uttb  Guedfilber  bejeic^neten.  2iefe  fonnten 
ntefjr  ober  weniger  rein  fein  uttb  unter  oerfc^iebenen  äußeren 
©ebingungen  jufammentreten,  bann  bilbeteit  fieß  bie  oerfcßieben= 
artigften  ©ubftansen.  Qm  Schwefel  felbft  fittb,  an  ariftotelifdje 
Slnfdjauungen  anfnüpfenb,  erbige,  wäfferige  unb  luftige  Seftanb* 
tßeile  enthalten.  2en  ©ilbungSprojefj  erflärtett  bie  Qdfwatt 
©ffafa,  bie  lauteren  ©rüber,  in  folgenber  28eife.  2ie  »er« 
fdjiebenen  glüffigfeiten  im  Qitnerit  ber  @rbe  löfett  fid)  unter  bem 
©inffufj  ber  §i^e  auf,  fie  »erflüdjtigen  fieß , fteigen  empor  bi« 
junt  oberen  9iaum  ber  |>öl)leit  uttb  SHiifte  uttb  Derweilen  bort 
eine  $eit.  SBirb  im  ©ommer  ba«  Qnnere  ber  ©rbe  falt,  in« 
bent  nadj  arabifeßer  Slnfdjauung  bie  J^i^e  nad)  oben  gezogen 
wirb,  fo  nerbicfjten  fie  fieß  unb  träufeln  auf  beit  ©oben  ber 
|>öf)len  fjerab.  SDabei  mifdjen  fie  fieß  mit  beit  bort  befinblidjen 
©taubtfjeilcfjen.  ®ie  ©rubenljifce  Wirft  auf  fie  ein  unb  fodjt 
fie  jufammen.  2urd)  if)r  lange«  @tef)enbleibeit  werben  fie 
geläutert,  fie  werben  fcfjwerer  unb  bidflüffiger,  ein  2ljeil  ber* 
felbett  wirb  jitternbe«  Cuedfilber,  ein  anberer  bagegett  ©djwefel. 
2a«  ©olb  bilbet  fid),  wenn  Cuedfilber  unb  ©djwefel  itt  ßöcßfter 
3leinf)eit  fid)  mit  eittanber  uermifdjen  uttb  gleidjjeitig  eine  fjofje 
lemperatur  einwirft.  Qft  bie  §i^e  aber  eine  geringere,  fo  bilbet 
fid)  ©ilber,  fittb  relatio  juniel  erbige  ©eftanbtßeile  twrljanbeit, 
fo  erhalten  wir  Tupfer.  Sbenfo  wirb  bie  ©ilbung  ber  attbereu 
SWitteralien  erflärt.  ®ie  f5arbe  ber  einzelnen  Äörper  fofl,  unb 
l)ier  fpiclctt  aftrologifcfje  Slnfdfaiiuitgen  Ijitiein,  nott  ber  garbe 
ber  Sterne  ßerriißreu,  bie  fie  toäfprenb  ißrer  ©ilbung  beftraljlen. 

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23 


©o  ruft  bie  Sonne  bie  gelbe  garbe  &eS  ©olbeS,  beS  gelben 
|>hacintheS,  beS  &rofuS  fjeroor,  baS  bleiche  £id)t  beS  üJionbeS 
bie  toeifce  garbe  beS  Silbers,  beS  SalgeS,  ber  Saunnoolle,  baS 
Sdpoarg  gehört  bem  Saturn,  baS  SRotl)  bem  SÖfarS,  baS  Slau 
ber  SBenuS,  baS  ©rün  bem  Jupiter,  baS  ^Buntfarbige  aber  bem  / 
löferfur  gu. 

fflar  aber  biefe  Slnfidjt  ber  Araber  richtig,  baff  bie  oer« 
fc^iebenen  Subftangen  nicht  ber  St  r t nach  oerfdjieben  finb,  foitbern 
biefelben  Elemente  nur  in  Oerfdfiebener  äöeife  gemifdp  enthalten, 
fo  lag  fein  ©runb  oor,  toarum  bie  SDietaHoertoanblung  nidjt 
möglich  fein  foQte,  unb  barüber  entfpann  fic^  ber  Streit  gtoifdjen 
35enen,  bie  meinten,  man  fönne  SDfetalle  ineinanber  oenoanbeln, 
unO  Sollen,  bie  biefer  Slnfidjt  mit  aller  ©nergie  entgegentraten. 

3)er  fieberen  gab  es  fef)r  oiele,  fo  oor  allen  ben  berühmten 
Slrjt  unb  *!ßf|ilofopl)en  Sloicenna.  @S  ift  alfo  nidjt  richtig,  alle 
Araber  als  Stlc^emiften  gu  begegnen.  Segen  fid)  bie  mobernen 
©eleljrten  bie  $rage  oon  ber  SOfetallüermanblung  oor,  fo  gefd)iet)t 
eS  in  gang  älpilidjer  SBeife,  toie  eS  bie  Vlraber  tbaten,  nur  finb 
bie  tljatfächlichen  Senntniffe  fortgefchritten  unb  gtoar  nicht  gum 
toenigften  auf  ben  uttS  oon  ihnen  überlieferten  ©runblagen. 

S5ie  pofitioen  oon  ben  Arabern  errungenen  Sfenntniffe  in  ber 
©^emie  finb  um  fo  höher  gu  fdjäfcen,  als  oicleS,  toaS  uns  itt 
biefen  (Gebieten  oon  ben  ©riedjeu  überliefert  ift,  in  äujjerft  un* 
flaren  mpftifdjen  Spefulationen  befielt,  bie  feiber  aud)  für  eine 
SHichtung  ber  arabifdjen  Sitteratur  oerberblicf»  mürben.  ®ie 
ftreng  lüiffenfchaftlicb  forft^enben  arabifdjen  ©hemifer  höben 
unferen  Scf)afc  an  fiinftlidj  barftellbaren  Subftangen  in  hohem 
9JJafje  bereichert,  unb,  toaSin  bem  3ugenbftubium  einer  Sßiffenfchaft 
nicht  hoch  genug  gu  fc^ä^ert  ift,  fie  hoben  bie  ihnen  ooit  ben 
©riechen  mitgetljeilten  XlrbeitSmettjoben  oerooKfontmnet  unb  er> 
toeitert.  So  ftrebten  fie  befonberS  bie  SJietljobcn  beS  ®eftiflireitS, 
giltrirenS,  SublimirenS,  JtalcinirenS  ic.  unb  ihre  Slntoenbbarfeit 

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24 


auf  bie  uerfd)iebenartigftcn  Stoffe  genauer  fenneu  ju  lernen. 
®arauS  erflart  fidj  auch  bie  für  uns  bcfremblic^e  Slitorbnung 
»ieler  i^rer  SBerfe.  SBä^renb  wir  fucceffioe  bie  uerfdjiebenfieit 
Äörper  unb  ifjr  Verhalten  gegenüber  ben  einzelnen  Sgentien  unb 
bei  »erfdjiebener  Se^anblung  betreiben,  tfjeilten  bie  Araber  ihre 
28erle  nadf  ben  ÜDietljoben  ein  unb  befpradjen  nadjeinanber,  wie 
fidj  bei  bcrfelben  öebanblungSweife  bie  »erfdjiebenften  Äörper 
»erhielten.  @S  jeigt  fid)  bieS  bei  einer  Unterfudjung  f owotjl 
ber  wenigen  gebruften  Ueberfe^ungeit,  als  and)  bei  beseitigen 
ber  .Jpanbfdjriften. 

Stuf  bie  ©ntroidelung  ber  d)emifc^en  3nbuftrie  unb  bawit 
ber  (^emifc^en  Senntniffe  überhaupt  fiub  audj  bie  gefteigerten 
Stnfpriic^e  an  ben  $lrjneifd)afc  unb  an  bie  2Boljlgerüd)e  »on 
©inftufj  gewefen.  $ur  ©erfteßung  berfelben  beburfte  man  immer 
neuer  IKpparatformen.  ©attje  Snbuftrien,  djemifdje  gabtifen 
entftanben  in  ©^ujiftan  unb  an  ber  perfifdjen  &üfte  bis  ©tjraf 
unb  fDiolran,  wo  bie  ßurferraffinerie  juerft  erfunben  .unb  aus« 
geübt  würbe. 

3n  Sßarfiftän,  in  Serien,  an  ben  Rängen  beS  Sibanoit  unb 
in  Dielen  aitberen  ©egenbett  würben  woblriedjeuben  ^flanjen 
il)re  ®üfte  burd)  3)eftiHationen  abgewonnen,  unb  wenn  aud) 
Ijier  fd)on  ältere  Snbuftrien  fidj  »orfanbeit,  fo  Ijaben  bodj  bie 
gefteigerten  Sebürfniffe  eines  &aIifenf)ofeS  biefelben  ungemein 
geförbert.  9lodj  jefet  blü^t  in  jenen  ©egenben  bie  ^erfteüung 
beS  SRofenwafferS.  35afj  bie  Slraber  fo  febt  Diel  SSoblgerüdje 
»erbrausten,  liegt  t^eilS  woljl  in  ber  9?atur  ber  Nation  be« 
grünbet,  würbe  bann  aber  burd)  bie  Vorliebe  beS  Sßropbeten 
für  biefelben  geförbert,  inbent  babitrd)  baS  ©alben  unb  $ar* 
fiimireit  ju  einer  Strt  »on  religiöfer  sJ5flid)t  würbe. 

£ie  (^emifc^e  Stljätigfeit  ber  Araber  bot  in  Dielen  SRamen 
ihre  ©pur  binterlaffen.  ©o  ift  unfer  SEBort  Sllfo^ol  ein  arabtfdjeS. 
®odj  bejeidjuet  ber  Araber  mit  Stobol  — al  ift  ber  Slrtifel  — 

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25 


etwas  gang  auberes  als  »Dir;  cS  ift  gait$  fein  jerriebencr  fdjwarjer 
Bleiglanj,  mit  bem  bie  Araberinnen  ifjre  Augenbrauen  unb  Dor 
allem  bie  unterhalb  ber  Augen  gelegenen  Steile  fdjwarg  färbten, 
um  fo  bem  Auge  einen  fjöfieren  ©tanj  ju  uerleihen.  2)a  biefer 
Stoff  als  ein  äußerft  feines  fßuloer  angewanbt  mürbe,  fo  übertrug 
man  ben  tarnen  auf  äße  fepr  feinen  flüchtigen  Körper,  ju  beuen 
ber  Alfopol,  ber  Spiritus,  im  ©egenfafc  jum  Söaffer,  gehört. 
Sin  anbereS  auch  bei  uns  noch  öerbreiteteS  Schminfmittel  Der» 
banft  ebenfalls  feinen  tarnen  ben  Arabern,  Alßennah,  bie  Al- 
fannamurjel,  beren  Sjtraft  einen  prächtigen  rothcn  Stoff  liefert. 
2J?it  ihm  bemalten  unb  bemalen  fid?  noch  je^t  bie  arabifdjen 
tarnen  bie  Fingernägel,  unb  wie  bei  uns  ftrenge  SWoraliften 
gegen  Schönheitspfläfterchen  geeifert  haben,  fo  thaten  eS  bie  beS 
3)lorgenlanbeS  gegen  baS  ^»ennafärben.  Oer  bei  ber  Oeftillation 
benn^te  Alembif  ift  ein  in  arabifche  Farn»  umgegoffeneS  griechifdjeS 
SBort,  äfiß v§. 

9Jüit  arabifchen  tarnen  bejeicpnen  wir  auch  manche 
fchmecfenben  Oinge,  fo  ben  Sprup,  ben  Sorbet,  bie  beibe  uon 
bemfelben  SBort  fchareb,  baS  trinfen  bebentet,  fid)  ableiten. 
OaSfelbe  SBort  fiubet  fid)  wieber  in  ber  Be^eidjtiung  äJ?afd)rebijeh; 
fo  heißen  im  Orient  bie  wunberooll  burdjbrochenett  $oI$läben, 
mit  benen  bie  Fenfter  beS  £>aufeS  nach  ber  Straße  ju  abge» 
fcploffen  ftnb.  OieS  finb  bie  Orte,  wo  man  bie  aus  poröfem 
Jpon  pergefteHten  Orinfgefäße  aufftellt,  ber  Dorbeiftreichenbe 
SBinb  bringt  baS  SBaffer  jur  Berbunftung  unb  füplt  baSfelbe 
ab.  Oie  FM^en  felbft  hieben  bamalS  unb  heißen  noch  je§t 
AlfarajgaS  unb  jwar  nicpt  nur  in  arabifd)  fprechenben  ©ebieten, 
fonbern  auch  in  Spanien,  in  beffen  Sprache  fefjr  öiele  SBorte 
an  bie  Araber  erinnern.  Aud)  unfer  SBort  Karaffe  ift  ara- 
bifchen UrfprungS  unb  heißt  ©harrafeh,  bas  Schöpfrab. 

Anfchließenb  an  bie  Betrachtungen  über  bie  Chemie  fei 
noch  baS  Beben  eines  ber  £>auptoertreter  berfelbet»,  ber  fiep 

(25; 


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26 


gleichzeitig  grofje  SSerbienfte  um  bie  SDiebijin  erworben  hat, 
gefchilbert. 

2lbit  ©efr  Uftuhammeb  ©en  .ßafarija  er  5Ra^i  (fRhfläeg) toar  auS 
9taj,  einer  ©tobt  ghorafang,  gebürtig  unb  bofelbft  erzogen, 
gr  zeigte  öoit  Sugenb  auf  eine  grofje  SReigung  fiir  bie  SBiffen* 
fdfaft  unb  erwarb  [ich  gute  p^itofop^ifc^e  unb  p^ilologifcfje 
Stenntniffe.  Slm  meinen  fprach  iljn  aber  äRufif  an;  big  in  feilt 
breijjigfteg  Safjr  war  er  nur  alg  guter  ©änger  unb  3itf)er» 
fpieler  befannt.  daneben  fotl  er  auch  2öechfelgef<häfte  betrieben 
haben.  9Rit  fortfehreitenben  fahren  erfdjien  ihm  biefe  Sebeng» 
weife  nicht  mehr  alg  ehrenooU  unb  er  wanbte  fich  mit  allem  gifer 
bem  ©tubium  ber  SDlebizin  unb  ^ß^tlofop^ie  zu-  ®<JZU  begab 
er  fich  u<*<h  bem  bamaligen  £>auptbrennpunft  geiftigen  Sebeng, 
nach  Sagbab.  9tachbem  er  fich  bort  «orjügliche  Stenntniffe  er» 
worben,  lehrte  er  nach  SRaj  juriief  unb  würbe  ®ireftor  beg 
bortigen  ftranfeuhaufeg.  ©pater  übernahm  er  eine  analoge 
Stellung  in  ©agbab. 

@r»9iazi  würbe  ber  @alen  feiner  geit  genannt,  ©ei  beit 
tRegierenben  feiner  Sage  ftanb  er  in  hohem  Slnfehen. 

©o  glänzenbe  grfolge  er  mit  feiner  mebijinifchen  Sljätig* 
feit  erzielte,  fo  wenig  glücflich  war  er  in  ber  Sugnufcuitg  feiner 
chemifchen  Semttniffe.  ®afj  er  hier  wirtlich  Süchtigcg  geleiftet 
hat  unb  einen  flareit  ©lief  bejafj,  erfehen  wir  aug  feinen  ung 
hanbfchriftlich  erhaltenen  ©chriftcn. 

gine  biefer  Schriften,  „bie  ©eftätigung  ber  fiunft  ber 
ghemie",  überreichte  er  einem  dürften  el  SKancjur,  zu  bem 
er  oon  ©agbab  ^inreifte.  Siefer  war  hoch  erfreut  unb  gab 
ihm  1000  ®inare,  um  bie  angegebenen  ©erfudje  anzuftellen, 
unb  bewilligte  in  bem  SBunfche,  bie  betriebenen  gntbecfungeit 
Zu  fehen,  eine  grojfe  ©umme  zur  Slnfchaffung  ber  nötigen 
Apparate.  Sllg  aber  bie  ©erfuche  nicht  glüefen  wollten,  fagte 

ber  bariiber  erzürnte  et  3Rangur:  „Sch  hätte  nicht  geglaubt,  baff 

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27 


ftn  ©eifertet  baran  ©efallen  fänbe,  bie  Sügen  nod)  burd)  Siicber 
ju  befräftigen,  bcnen  er  einen  pf)i(ofopf)if<f)en  Slnftrid^  giebt, 
anb  an  benen  fid)  bann  bie  ÜJienfdjeit  ohne  9?ufcen  abmu^en. 
pr  beine  Semitbungen  habe  id)  bicb  mit  1000  Dinaren  reich- 
lich belohnt,  jejjt  mujj  id)  bicb  für  beine  fiügen  beftrafen."  üJiit 
biejen  SBorten  erhob  el  9)ian$ur  feine  ißeitfdje,  jcblug  Sr-SRaji 
über  ben  Kopf,  liefe  if)n  aufpacfett  unb  fcfjicfte  ihn  nach  Sagbab 
jurücf. 

®er  Schlag  batte  (Sr-iRaiiS  eines  Sluge  fo  ferner  »erlebt, 
ba§  er  nach  unb  nach  erblinbete;  anfangs  wollte  er  fid)  operiren 
laffen,  bod)  frag  er  juerft  ben  Operateur,  waS  ganj  cborafte- 
riftifcfe  ift,  ltacfe  bem  anatomifcfjen  Sau  beS  $lugeS.  2US  biefer 
i|m  bie  page  nicfet  beanttoorten  fonnte,  fagte  er:  „2Ber  baS 
nidjt  weif),  foü  auch  fein  Snftrument  an  mein  Singe  bringen", 
unb  als  man  ibm  oorftellte,  bie  Operation  fonnte  bod)  gelingen, 
antwortete  er:  „Sch  habe  fooiel  oon  ber  SSelt  gefefjeit,  bafj  ich 
i^rer  überbrüffig  bin." 

(Sr>9taji  mar  fo  freigebig,  bafj  er  arme  ifranfe  nicht  nur 
unentgeltlidj  beljanbelte,  fonbern  ihnen  oft  nod)  (Selb  baju  gab 
unb  felbft  in  ber  2)ürftigfeit  lebte.  (Sr  ftarb  im  Sabre  320, 
ber  gludjt  SDiubammebS,  alfo  etwa  932  nad)  (SbriftuS,  in 
bobem  Sllter.  5)ie  @eifteSrid)tung  beS  SDfanneS  unb  gemiffe 
änfcbauungen  feiner  $eit  cfearafterifiren  folgenbe  SluSfprüdje: 
SBenu  (Solen,  ber  berühmte  griecfeifcfee  Strgt,  unb  SlriftoteleS 
oon  einer  ^Meinung  finb,  fo  ift  bieS  juoerläfftg  mabr.  ©inb 
l'ie  aber  öerfdjiebener  Slnfidjt,  fo  ift  bem  (Selefjrtert  fcbmer, 
bas  9licfetige  auSfiubig  ju  machen.  (SS  erinnert  bieS  an  bie 
oiel  fpätere  Äeufjerung  eines  3efuiten,  ber,  als  ihm  ißater 
Steiner  melbete,  er  feabc  auf  ber  Sonne  bunfle  glecfen  gefeben, 
antwortete:  „9Jiein  ©obtt,  ich  b<*&e  roeber  in  ber  ®ibel  noch  im 
äriftoteleS  etwas  oon  foldjen  pecfett  flefefeit,  fie  werben  baljer 
wohl  in  beinern  Äuge  fich  befunben  haben." 

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28 


Grin  anberer  SluSfpruch  Don  NageS  ift : „S)ie  SSa^r^eit  in 
bcr  SNebijin  ift  ein  3icl,  baS  nicht  erreicht  wirb,  unb  bie  in 
ben  Sücf)ern  befchriebene  Heilart  fteht  weit  unter  ber  praftifchen 
Erfahrung  eines  gefehlten,  benfettben  ?lrgteS."  Sßeiter  jagte  er: 
„Serftef)t  ber  Slrjt  feine  Sache  unb  ift  ber  Äraufe  folgjam,  fo 
jiefit  fic^  nicht  leid)t  eine  Sranftjeit  itt  bie  Sänge."  ferner: 
„2öo  bu  burd)  Nahrungsmittel,  b.  h-  ®iät,  Reifen  fannft,  ba 
Derorbne  feine  Heilmittel,  unb  tuo  einfache  SDfittel  fyinmfyn, 
ba  nimm  feine  jufammengefefcten." 

2) te  Serbienfte  ber  Araber  um  bie  befcfjreibenben  Natur- 

wiffeitfdjaften,  Niineralogie,  fflotanif  unb  Zoologie  ju  fdjilbern, 
mürbe  *u  weit  führen.  2)ie  3al)l  ber  befannten  formen  mürbe 
wefentlid)  burch  fie  bereichert,  bie  Nfineralien  behanbeltett  fie 
einmal  nach  >hrem  SBertf)  als  Sbelfteine,  unb  bann  in  ihren 
Sßirfungeu  als  Sn  festerer  Hinfid)t  wucherte  ein 

fiirchterlid)er  Slberglaube.  Slud)  ben  ^Sflanjen  tuurbe  oielfach 
auS  pharmafologijchem  Sntercffe  Slufmerffamfeit  gefd>enft.  3nbeS 
bei  ihnen  fomohl  als  auch  bei  ben  SE^iereit  juchten  bie  arabifdjcn 
gorfdjer  auch  &er  Söfung  Hh9fi°Io0if<^er  Srageit  näher  ju 
fonimen.  Siel  91ntl)eil  an  ber  Erweiterung  ber  Äenntniffe  hatte 
bie  Errichtung  Don  ©ärten,  in  benen  feltene  ^flanjen  gezogen 
unb  bie  burch  Sogelljäufer  belebt  nmrbeit.  3?ie  greube  ait  bem 
Sebenben  flingt  in  unjähfigen  üWärdjen  burd). 

3) ie  Stege,  auf  benen  bie  arabifche  SBiffenfchaft  in  baS 
Sfbenblanb  fam,  waren  äufeerft  mannigfach-  Ob  herbei  beti 
Sreujjiigen  an  fich  ein  grofjcS  Serbienft  jujufchreiben  ift,  wage 
ich  nicht  ju  entfcheiben.  ®ie  Sßiffenfdjaften  brangen  über  bie 
italienifchen  Seeftäbte,  Sicilieit  unb  Spanien  nach  Statten  unb 
ber  ijkoüence.  fann  uns  baher  auch  nicht  überrafdjen,  bafj 
bort  juerft  ein  reges  ©eifteSleben,  ein  eblereS  SDafein  nach  allen 
Nichtungen  erblühte.  Sor  aQem  war  £olebo  eine  ißflanjftätte 

arabifchcr  SBiffenfdjaft  für  ganj  Europa.  Sou  bort  ftammen 
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29 


eine  grojje  Stnjafjl  ber  nod)  erhaltenen  Ueberfehungen  in« 
Sateintfc^e.  Slber  nicht  allein  bie  in  ba«  Sateinifdje  über- 
tragenen Söerfe  bürfen  mir  tjerbeijiefjen , wenn  e«  ficf>  barnm 
fjanbett,  nachjuweifen,  wie  Diel  ba«  Slbenblanb  ben  Arabern  Der- 
banft.  ®ie  nad)  Solebo  fommenben  ©eiehrten  lernten  bort 
Diele  anbere  SBerfe  fennen  unb  gaben  Don  bereit  Inhalt  nach 
ber  9tüdfehr  in  bie  fjeimatf)  ihren  Sianb«leuten  Nachricht.  ©in 
Stubium  ber  ©efchichte  ber  fonfreten  $enntniffe  be«  abenb- 
iänbifcfjeit  fDlittelalter«  in  ben  9?aturroiffenfc^aften  lägt  am 
beutlichften  ben  großen  öinflufj  ber  Araber  erfennen. 

3übifcf)e  Slergte  au«  ben  nach  ©paniett  unb  Portugal 
au«getuanberteit  Stämmen  Dermittelten  oft  ben  Uebergattg. 
3hnm  mar  bie  2anbc«fprnche  befannt  unb  jugleidj  war  ihre 
Sprache  bem  Strabifchcn  nahe  oertüanbt.  ®a«  Slrabifche  jeigt 
un«  noch  bie  Dolleren  gormeti,  wenn  aud)  bie  ©prachbenfntäler 
be«  ^ebräifchen  roeiter  hinaufreidjen.  2)er  jiibifche  ober  arabifche 
Slrjt,  ber  jugleid)  Slftrolog  ift,  tritt  un«  in  Dem  fieben  Dieler 
fwhenftaufenfaifer  entgegen,  beren  größter  gürft , griebricfj  II., 
manche  feiner  Slnfchauuttgen  arabifdjen  @infliiffen,  bie  in  Sicilien 
auf  ihn  wirften,  oerbanlt. 

$iefe  Serjte  tuaren  an  ben  Schulen  ju  ©ranaba,  Seoißa, 
in  beit  wegen  ihrer  ©lauben«ftrenge  berühmten  norbafrifanifdjen 
Schulen  unb  Äranfenhäufem  gebilbet.  Sei  ihren  ©anberungen 
nach  bem  korben  brachten  fie  bie  arabifchen  ©erfe  mit.  ®afe 
3uben  unb  nicht  etwa  Sateiner  ober  ©riechen  bie  Ueberfejjungen 
beforgten,  erfennen  mir  au«  ber  gönn  Dieler  ©igenttamen.  $5ie 
Subett  nerwanbelten  ba«  b be«  ©orte«  3bn  (Sohn)  in  ein  v. 
$aher  fagen  wir  Sloicenna,  Sloerroe«.  £ie  SDfänner  he*6en 
3bn  Sina,  3bn  fßofchb.  Sehr  Diele  Schriften  be«  2lltertt)um« 
finb  fo  bent  Occibent  juerft  burdj  Ueberfejjuitgen  au«  bem  2lra- 
bifchen  befannt  geworben,  crft  fpäter  legte  man  bie  erhaltenen 
griechifchen  .panbfchriften  bem  Stubium  ju  ©runbe. 

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30 


(Sin  anberer  3Beg,  auf  bem  später  aul  bem  Orient  Kennt» 
niffe  ju  uni  gelangten,  geht  über  Venebig.  3)ie  ©eletjrten  bei 
9lbenblanbe!  bürften  j.  SB.  burdj  Vermittlung  ber  Kaufleute 
ber  fiagunenftabt  bie  ftenntniß  ber  Veftimmung  bei  fpecififdjen 
©emichte!  erhalten  fabelt.  $al  fpecififdje  @emid)t  ermöglicht 
el  befanntlicfi  bie  oerfdjiebenartigften  Körper,  felbft  wenn  fie  gan$ 
gleich  aulfehen,  ooneinanber  ju  unterfcßeiben. 

©o  geftattete  eine  Veftimmung  belfelben  bem  Slrc^imebel, 
bem  König  |>iero  mitjutheilen,  baß  feine  Krone  nicht  au!  reinem 
©olb  fei,  mie  ber  ©olbfcßmibt  behauptete,  fonbern  au!  einer 
SDiifdjung  mit  ©über,  unb  er  fonnte  auch  ben  ©cfjalt  an  ©itber 
angeben,  unb  jmar  alle!  biel  ohne  bie  Krone  ju  jerftören. 
®ie  Veftimmung  bei  fpecififchen  ©emichte!  mürbe  für  |>anbel!> 
§mecfe  oon  höchfter  Vebeutung:  el  biente  jur  Unterfcheibung 
ed)ter  unb  unechter  ©belfteine.  Verriebene  2Jiet  hoben  mürben 
erfonnen.  ©o  befonberl  eine  oon  911  Virüni,  einem  ber  fcharf» 
finnigften  arabifcheit  ©eiehrten,  meldjcr  in  3nbien  lauge  $eit 
am  |>of  ber  ©ajnemiben  lebte,  jener  dürften,  bie  in  höchfter 
Solerang  Vertreter  aller  ©laubenl»  unb  2Reinunglri<htungen 
an  ihren  £>of  beriefen,  um  biefe  fennen  ju  lernen.  Jjjjier  oer» 
faßte  911  Virüni  ein  SGÖerf  über  Snbien;  in  ihm  befpricßt  et  bie 
©rfennung  ber  ©belfteine,  giebt  feine  SKethobe  an,  bie  fpecififchen 
©emichte  ju  ermitteln,  unb  erhielt  SBerthe,  bie  fid)  burch  große 
©enauigfeit  auljeicßnen.  9111  Konftantinopel  unb  ber  Orient 
in  bie  $änbe  ber  dürfen  fam,  hoben  fie  fich  fcßon  arabifcße 
Kultur  angeeignet,  mie  bie  Dielen  Ueberfejjungen  arabifcher 
SSorte  in  ihre  ©pradje  jeigeit.  3n  tiirfifcfjer  ©pracße  ift  nnl 
nun  ein  fiehrbuch  ber  Sbelfteinfunbe  erhalten,  bal  gerabe  bie 
fpecififcßen  ©emichte  betont.  $ie  Venetianer  haben  oon  biefem 
mie  el  fcheint  allgemein  üblichen  Verfahren  Kenntniß  erhalten, 
©alilei,  ber  oft  in  Sßabua,  in  ber  9tahe  Venebigl  roeilte,  mit 
beffen  oornehmen  Familien  ißn  audj  mannigfache  Vejiehungen 

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31 

»erbanben,  ljat  bort  wohl  ftdjer  twn  ben  arabifdjett  fDfetf)oben 
Üenntnijj  erhalten,  bie  wir  bann  in  feinen  Serien  wieberfinbett. 

bleibt  nur  nod)  übrig,  mit  wenigen  Sorten  bie  ©rünbe 
für  ben  SerfaU  ber  arabtfe^en  Siffenfdjaft  ju  erörtern.  Sät)> 
renb  in  beit  erften  3a^r^unberten  beö  3«Iam  ein  relatio  fetjr 
toleranter  ©eift  bie  ÜJlad)thaber  leitete,  uerfchwanb  biefer  all- 
mählich mehr  unb  mehr.  3m  3slant  felbft  Ratten  bie  mannig- 
fachen theÜS  orthobojren,  theilö  rationaliftifdjeu  Hnfichten 
itebeneinanber  beftanben,  aber  fpäter  gewannen  bie  ftrengften 
Sichtungen  bie  Oberfjanb  unb  hinbertett  jebe  freiere  g^fthung. 
2 5aju  lamen  twr  allem  aud)  bie  politifchen  Serhältniffe.  $)aS 
Seid)  jerfiet  in  etnjelne  Staaten.  SlnfangS  beftanb  jwifdjen 
ben  einzelnen  $öfen  ein  Settftreit,  ber  bie  Siffcnfdjaft  beför* 
berte.  Sie  jur  3«t  ber  SRenaiffance  bie  gu  dürften  aufge* 
ftiegenen  Sonbottieri,  wie  ju  unferer  3^*1  in  ©cutfdjlanb  bie 
einjelnen  Unioerfitäten  fiefj  gegenfeitig  an  Xüdbtigfeit  ber  einzelnen 
Sebrer  ju  übertreffen  ftreben,  fo  war  e$  auch  im  Grient.  ®ie 
3erftüdelung  beS  Seidje3  erleichterte  eS  aber  aud)  ben  2Ron« 
golen,  baöfelbe  im  Often  über  ben  Raufen  ju  werfen,  wie  fie 
ei  im  Seften  ben  Gfjriften  in  Spanien  ermöglichte,  eines  ber 
bortigen  Meinen  Kalifate  nad)  bem  anberen  gu  öernid)ten. 

Unb  was  ift  fehl  »on  jenen  Siffenfchaftcn  noch  geblieben? 
3m  Slnfeljen  bcS  Orients  fteht  noch  h°d)  Unioerfität  ber 
8I-Äjhar  in  $airo,  ju  bereit  Setjrftü^len  alljährlich  Saufenbe 
oon  Schülern  ftrömen.  Slber  fortgcfdjritten  finb  bie  Orientalen 
nicht;  es  finb  bie  alten  Serie,  bie  ftetS  oott  neuem  wieber 
besprochen  werben.  Sille  Serfuche  ber  einjelnen  fthebioe,  ettro- 
päifche  Silbung  in  Slegppten  einjuführen,  finb  im  wefentlicheti 
gefcheitert,  nicht  an  ber  mangelnben  Begabung  beS  Zolles,  benn 
ei  ift  in  feltcner  Seife  gewedt,  fonbern  baratt,  baff  man  um 
»ermittelt  bie  2J?etfjobe  beS  OccibentS  einfüljren  wollte.  Sürbe 
man  au  bie  alte,  noch  im  Solle  unb  in  ben  ©eiehrten  leben- 

(Sl) 


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32 


bige  Irobition  anfniipfeit,  fo  wären  bie  fRefultate  wohl  beffere. 
fjier  unb  ba  ^ebeit  ficb  fcßon  einzelne  ©djeifö  ijcroor,  bie  an* 
fangen  moberner  ju  arbeiten.  93cm  3a br  ju  3abr  mebren 
ficb  infolge  birefter  93erfebr§mittel  bie  93erbinbung3glieber 
jwifcben  Orient  unb  Oceibent.  $ürfifd)e  öeamte  fenben  ihre 
©öbtie  jum  ©tubium  an  europäifdje  SRittel»  uitb  jgwdjfcbulen, 
bie  ^Regierung  felbft  ihre  Offiziere  in  beutfdje  ^Regimenter.  ®a» 
burcb  werben  fie  mehr  unb  mehr  mit  bem  ©eifte  unb  nicht  nur 
mit  ber  äußeren  gorm  be$  SlbenblanbeS  öertraut;  auf  ber  anberen 
©eite  laffen  ficb  bctb9*bilbete  9lbenbtänber  an  ben  Ufern  be3 
93oSporu8  unb  be8  SRileS  bauernb  nieber  unb  bringen  fo  tiefer 
in  morgenlänbifdje^  SBefen  ein,  al£  früher,  wo  fie  nur  furge 
3eit  in  jenen  ©egenbeti  weiften. 

3n  ganj  öefonberS  b0b*m  ©rctbe  bürftc  ©eutfcßlanb  be» 
rufen  fein,  eine  Vermittlerrolle  gu  übernehmen,  feit  e§  in  ® erlin 
ein  orientalifcbeS  ©eminar  gegriinbet  bnt,  an  bem  neben  Suro* 
päern  auch  Orientalen  lehren  unb  baburdj  ficb  in  bie  Slnfchou* 
ungen,  wie  fie  in  bem  beutfcfjcn  Unterricht  ficb  Qeftcnb  machen, 
einleben  müffen.  $ie3  ift  ihnen  um  fo  eher  möglich,  als  in 
richtiger  ©rfenntuiß  ber  Verljältniffe  bem  ©eminar  eine  wefent- 
ließ  ben  praftifeßen  ©ebürfniffen  entfprechenbe  (Einrichtung  ge> 
geben  ift. 


(82) 


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(Eine  xiErjifDßnc 

Jut  «Efdiidite  Bfs  junpii  gcutfdjlanDs. 


SSon 


Dr.  phil.  ^UcQarb  Hefter 

in  Karlönihf. 


$ambnrg. 

SSerlogSanftatt  unb  ®rucferei  21.«©.  (BormafS  5-  5Kic^ter). 

1890. 


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Da$  9ied)t  ber  Ueberfe^unq  in  frembf  6prad)en  rcirb  oorbeljaiien. 


2rnd  bet  SSfrlagSanftatt  unf  truifftri 

(normal*  3-  3-  W'<btfri  in  Hamburg. 


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^(ufmerffame  üefer  oon  3ntmermann3  „fDtündjbaufen" 
werben  fidj  wohl  ber  föftlic^en  Stelle  erinnern,  wo  fidj  ber 
Sudjbinber  gegen  ben  Vorwurf  beS  Herausgebers  »erwart, 
baß  er  otjue  3nterpunftion  auf  ein  33ucb  ben  ©olbtitel  „gur 
^l3l)ilofopf)ie  ber  ©efcbidjte  oon  Äarl  ©ubfow"  gefegt  habe.  $er 
an  feiner  (Stjre  angegriffene  DJtcifter  erflärt  cS  ba  für  eine  llu* 
möglic^fcit,  auf  305  Seiten  ©ott  itnb  bie  fReoolutionen,  ben 
Xeufcl  uub  feine  ©rofjmutter  ab jufjanbeln.  „Sßenu  aber,"  fo  läfjt 
er  fid)  oerttcbmen,  „©u^fow  baS  33ud),  was  er  uermutfjlid)  aud) 
nur  fdjrieb,  um  ficb  bie  Saugeweile  ju  ncrtreibcu,  bettnod) 
Verausgab,  fo  tonnte  baS  nur  in  ber  einzigen  ?lbfid)t  gefaben, 
fDtemoireu  über  feine  fdjlcdjten  uub  mangelfjaftigen  Stubien  ju 
liefern."  $er  Xitct  fei  alfo  ridjtig.1 

?lujjer  biefer  einen  Stelle  öerrnag  ich  nidjts  beijttbringen 
übet  bie  Slufna^me,  weldje  baS  23ucb  beS  rafcp  betannt  geworbenen 
jungen  SdjriftftellerS  bei  feinem  ©rfdjeiitcn  gefunbeu  bat.  $iir 
bie  golgejeit  bat  baSfelbe,  obwohl  es  ber  Serfaffer  unter  bem 
2itel  ,,^ßb*tafopbie  ber  $bat  unb  beS  ©reigniffcS"  iit  feine 
gefammelteu  SBerfe  aufnapni,2  fo  gut  wie  nicht  ejriftirt.  sJDtan 
follte  nun  beitfen,  eine  ©ejd)id)tSpbilofopbie  ttoti  bent  geiftigeu 
Haupte  beS  „jungen  SCeutfcfjlanb"  oerbienc,  fic  fei  fo  unfpfte* 
matijcb  wie  fie  wolle,  oode  S3ead)tung.  So  febr  jwcir  ©upfow 

Samtnlunfl.  ».  3.  V.  98.  1*  f.Ji) 


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4 


felbft  bagegeit  ju  proteftiren  pflegte,  mettn  man  in  ber 
jungbeutfeßen  ©djufe  mehr  fcßeit  moüte  als  bie  in  einigen 
jungen  Söpfen  gleichmäßig  jum  SlnSbrud  gelangte  Jenfceng  be£ 
gäßrenbett  gfitotorS,  fo  hot  .boeß^aueß  er  gngegeben,  baß  bie 
juugbeutfdje  Sriti!  Bor  ©riinbung  ber  „^aflifdjeu  Saßrbiidjcr" 
eine  9Jiacßt  mar  im  geiftigeit  fieben  ber  Station,  S'ennod)  fließt 
man  in  beit  größeren  ©efeßießten  ber  Sß'iofopßie,  wie  in  ben 
einfeßlägigen  ©pejialmerfett  Bott  glint  unb  SRodjoö  BergebenS 
beit  kanten  ©ußfom.  SBir  finb  nun  ollerbingS  entfejjlicß  afa« 
bemifdj  gemorbeit,  unb  ber  gelehrte  .gunftütoang,  ben  bie  feit 
beit  breißiger  3aßren  ßereinbrcdjenbe  feuilletoniftifcße  ©iinbfliitß 
mit  ßeraufbefdjmoren  ßot,  föitnte  eS  moßl  erflären,  marum  man 
bem  Bieruitbjraanjigjährigett  ©cfdjidjtSpßilofopßen  bie  93ead)tuitg 
Bcrfagte,  rnelcße  boeß  bie  ©cßrift  bcS  breißigjäßrigen  Berber, 
„Siudj  eine  ^S^irofop^ic  ber  ©efd)id)te",  nodj  immer  gefunben 
hat.  §erberS  Scrfudjeit  folgten  fpäter  freilich  reifere  grud)t 
bie  „3beeit  jur  $bilofopßie  ber  ©efeßießte",  aber  aud)  ©ußfom 
hat  fein  ganzes  geben  lang  mit  ben  ißrobfcinen  gerungen,  loetdje 
feilte  3ugeitb  bejchäftigten.  finge  aber  auch  ber  pofitine  ©eminn, 
ben  mir  bem  Stieße  entnehmen  fönnen,  nießt  auf  pßilofopßifdjem 
©ebiete,  fo  bliebe  noeß  immer  bie  grage  offen,  ob  baöfelbe  für 
beit  SiitmidefungSgatig  beS  ®id)ter3  fo  ganj  bebeutungSloS 
gemefen  ift.  Slber  and)  bariiber  gleiten  felbft  bem  Serfaffer 
foiift  moßfgefinnte  fiitterarßiftorifer  entmeber  mie  ©ottfdjafl5 
mit  einigen  nidjtSfagenbett  SScnbuttgen  ßinmeg,  ober  fie  ßüflen 
fieß,  mie  ,£>einricß  finrj,  in  tiefe«  ©djmeigen.  Sffienn  id)  nun 
ben  pßilofopßifdjeu  SBertß  beS  SudjeS  außerorbciitlid)  gering, 
feilten  Sßertß  als  geugniß  Don  ©Ußf0nig  ©ntmidelung  feßr  ßoeß 
attfdjlage,  fo  mirb  einer  Mnalpfe  beöfelben  eine  Darlegung  feiner 
©litftcbuugSbebingungen  oorauSgeßeit  ntiiffen. 

3it  bent  IiebenSmürbigeit  ffludje,  „SluS  ber  finabenjeit"4 
ßat  uns  ber  fo  oft  rnegcit  feiner  UnlicbenSmürbigfcit  Berfcßrieene 
(86) 


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Sichtet  tiefe  Sinblide  in  bie  ftinberfeele  tl)un  taffen.  SBir  ferne« 
ba  bie  eigentümliche  Umgebung  feitnen,  in  welcher  ber  lebhafte 
Äuabe  (jeranroucffS.  Serlin,  wo  ec  1811  geboren  würbe,  mar  ba= 
malg  noch  uidjt  bie  raufcheube  Vleltftabt  oou  heute,  bie  e«  bem  iliube 
faum  mehr  erlaubt,  jung  ju  fein  uub  fic^  bie  ju  feinem  geiftigeu 
©ebeiljeu  notfjioenbige  Meine  SBett  jit  erbauen.  Uub  befdjränlt  genug 
mar  feine  SBelt.  2Bie  er  ung  feine  ©Itern  fcfjilbert,  fjat  fict)  biegmal 
gegen  bie  Siegel  bie  Siuft  jum  gabuliren  oon  bem  mit  feinem  .fperrn 
in  beit  langen  flrieggjeiten  oiet  herumgefotnmenen  Vater,  einem  Ve< 
reifer  beg  ißrinjen  Heinrich,  auf  beit  Soffn  oererbt,  ooit  ber  fDiutter 
aber,  einer  einfacfjett  grau,  bie  jtuar  lefen,  aber  nid^t  fd)reiben 
tonnte,  bie  nüchterne,  oerftänbige  Sluffaffung  ber  Singe.5  38ir 
»erben  baher,  wenn  wir  ©ujtfowg  ©ntwicfelungggang  oerfteheu 
wollen,  nidjt  iiberfetjen  bürfen,  oon  welcher  Söefc^affen^eit  ber 
Stoff  war,  in  beffeit  Verarbeitung  fid)  jene  Sljcira[tereigeufd)afteu 
Zuerft  betätigen  füllten.  Vei  einem  Vetter  oon  mütterlicher  Seite, 
einem  ÜJtuffelinroeber,  macht  bag  Rinb  frühzeitig  Vefanntfchaft 
mit  bem  SBefen  eineg  eigenartigen  fpietigmug.®  ®ber  auch  in 
bem  Vater  erwachen  burdj  2Maud)olie  genährte  religiöfe  Ve* 
bürfniffe,  beren  Vefriebigung  er,  natürlich  in  ^Begleitung  feiueg 
Sohneg,  in  ftonoentifeln  fud^t  ober  gar  in  Slubndjtgübuugen, 
welche  ein  oerfommener  Stubent  auf  feinem  ßimnter  oeranftaltet. 
Allein  fdjoit  übt  ber  Äuabe  in  feiner  'Beifc  SUitif.  lieber  Vibcl 
unb  ©cfangbudj,  feine  erftc  geiftige  Slahrung,  tjinauö  hat  feine 
Vhontafie  bie  erfte  Anregung  burdj  ein  ©rbauunggbud)  aug  ber 
Schule  Slaoaterg  erhalten,  unb  bie  braftifdje  Sßolemil  bcgfclbcit 
gegen  ben  Siationaligmug  legt  eg  ihm  nahe,  audj  aubere  Stuf* 
faffungen  ber  |>eilglehre  prüfenbcu  Vlideg  ju  betradjten.  $ier 
liegen  bie  SBurjeln  beg  ©vunbthentag,  bas  wir  fclbft  in  beu 
flüchtigfteu  Srjeugniffeu  feiner  geber  geftreift  fiubcit,  ber  grage 
nach  bem  Verljältuiffe  oon  ©ott  unb  Vielt.  §ier  aber  hat  er 
jid)  auch  att  icne  Vetradjtunggweife  gewöhnt,  welche  alle  Singe 


8 

Don  jtoei  Seiten  liefet  unb  „bie  üftetifcfecn  auS  bem  ©efefe  iferer 
eigenen  ©ntmicfelung  ju  miirbigett"  befirebt  tft.7  3n  ber  ©tief* 
fuft  jener  Konuentifel  feat  er  tiefere  ©liefe  in  baS  Seelenleben 
beS  ffeinen  SDfattneS  getfean,  als  eS  ifetn  ©iele  jugeftefeen  moflen, 
unb  fo  fef)r  ifem  baS  Seftcnmefen  jurotber  fein  mochte,  in  ber 
unleugbaren  ^njieljungSfraft,  welche  berartige  ©ereinigungeit 
auf  ben  Ungebilbeten  attSübett,  fafe  er  fpäter  einen  ©emeiS  für 
bie  3u,furift  ber  fre’en  ©etneinben  unb  beS  $eutfd)fatfeoliji8ntu8. 

Soldjen  Naturen  wirb  eS  au  Kämpfen  jroifdfeen  Kopf  uitb 
fjjerj  nidjt  fehlen.  3)enn  „eS  giebt  jmei  Sßelteit,  bie  beS  fjerjenS 
unb  bie  beS  ©eifteS.  ®ie  ©flid)ten  uitb  fRcdjte  beiber  gleichen 
fid)  feietticben  niefet  aus."8  SllS  ergöfelicfeeS  ©eifpiel  ber  friifj  an 
ifen  feerantreteuben  Kämpfe  erjäfelt  er  felbft  in  ben  SebettSbilbern, 
mie  ber  non  btirfcfecnfcfeaftlidjcn  Sbealcn  erfüllte  ©rimaner  in 
bem  »erfaßten  SDcmagogcttBerfolger  ÜRinifter  Bon  Kampfe  feinen 
SBofeltfeäter  uitb  Bätcrlicfeett  greunb  Bcreferett  mußte.9  3tt  ber 
geiftigen  Sltmofpfenre  ber  ©erlitier  UniBcrfität,  bie  er  1829  jttm 
Stubium  ber  Sfeeologie  bejog,  mürbe  juuädfeft  nur  bie  bia* 
leftifdje  ßitcfetuiig  feines  ©eifteS  einfeitig  entmidclt.  3)er  pfjilo* 
fopfeifefeen  SDietfeobc  §egelS  unb  ScfeleierntadjerS  entnahm  ber 
junge  Stubent  gleid)  fo  oiefett  feiner  SllterSgenoffeu  itt  erfter 
üitiie  trofe  aßeS  Spottes  über  bie  3ongleurfünfte  ber  ©feilofopfeen 
bod)  nur  baS  Btrtuofe  Spielen  mit  ©egriffen.  „®aS  abftrafte 
gormelbenfen" 10  miberftanb  ifem,  Slber  bie  feinem  ©enfen  notfe* 
meitbige  fonfretc  Unterlage  fanb  er  junäcfjft  itod)  itt  feinen 
afabemifefeen  Stubiett.  Sei  ber  ?lrbeit  att  feiner  pfeilologifdfeen 
©reiSfcferift  über  bie  ScfeidfatSgottfeeiten  ber  Sllten  (1880)  fdjtoebte 
ifem  ber  in  biefer  Raffung  au  Scfecflittg  erintternbe  ©ebanfe  Bor, 
baß  ber  $n>ed  alles  SebettS  unb  aller  ©efd)id)te  bie  ©arfteßung 
unb  £>eroorbringung  ©otteS  fei.11  Slber  je  mefer  feine  tfeeo* 
logifcfecn  Stubien  itt  ben  £>intergrunb  traten,  befto  mefer  mattbte 
er  feine  Ülrt,  bie  ®inge  jü  fefeett,  auf  baS  geiftige  ficbett  ber  $eit  att. 

(3S) 


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3mei  ©djriftftefler,  SBolfgang  Sftengel  unb  bcffen  späterer 
?lntagonift  Vorne,  mürben  jefct  feine  Seitfterne.  Vei  beibeit 
fanb  er  „bie  ^Beibehaltung  be3jenigen  oom  Älten,  ma3  ihm 
mo&lthat,  bei  ÜRengel  bie  romantifdje  @d)ule,  bei  Vorne  3ean 
Vattl,  unb  bod)  bei  öeiben  bie  ooHc  3ntf)at  oom  EJteuen".1* 
sJ?id)t  al3  firitifer,  fonberit  al3  ^tntifritifer  unb  Vcrtheibiger 
'DfengelS  oerbiente  er  fid)  itod)  al3  ©tubent  in  bem  „gorum  ber 
3ournallitteratur"  feine  litternrifcfjen  ©poren  unb  betrat  bamit 
bie  jountaliftifdje  Saufbnljn,  in  ber  er  fich  nur  ein  3ahrgefjnt 
fang  gerjplittern  unb  mit  ber  an  feinem  Seben$feim  nagenben 
Verbitterung  erfüllen  füllte.  53  f)at  etma3  IRüfjrenbeS,  rnenn 
ber  $reiunbfed)gigjährige  in  feinen  „jftücfblicfen" , (©.  113)  bie 
mit  bem  ^Srofafu(tu3  be§  oieffchreibenben  Mutigen  ®eutfchlanb3 
notbmenbig  oerfniipfte  Unreife  fd)ilbert,  menit  er  ben  ©o^it  ber 
bicf)tenbett  2)iufe  gfücflich  preift,  „ber  mit  ben  erften  ftunbgebungeit 
feiner  geber  I)au3  gu  halten  oerftel)t",  aber  noch  gfüdlicher 
jenen,  „ber  fofort  in  eine  Sahn  geräth,  bie  jebe  Unreife  ber 
5rfahrutig,  jebe  3ugenblid)feit  be3  @efchmatf3  unb  be3  Urtheil3 
fo  lange  oerbirgt,  bi3  bie  3«hre  bem  ©eifte  bie  größere  SReife 
gegeben  habe»"-  3hm,  beffen  gange  fünftige  Syifteng  auf  ben 
Srtoerb  feiner  geber  geftellt  toar,  füllte  e3  nicht  fü  gut  tuerben. 

Verrätf)  fdjon  bie  SEBahl  feiner  Seitfterne  bie  Unreife  feine3 
@eifte3  unb  bie  „gugenblidjfeit  feine«  ©efdjmades",  fo  mar 
meber  bie  3«tt  noch  fein  ®eruf  bagu  angethan,  ihn  oott  3lbmegen 
fernguhalten.  2)ie  gährenbe  $eit,  überreidj  an  Stnregungen  toie  fie 
mar,  gu  begreifen,  ober  roie  man  bamal«  fagte,  bialeftifch  g« 
überminben,  erforberte  mehr  al3  bie  flüchtig  bei  -§egel  auf* 
gelefene  SBei3heit  be3  ©tubenten.  ©ein  „^anbmerf“  aber  lieh 
ihm  beim  beften  SEBiöen  nidht  3«t,  bie  Sinbrücfe  oielfeitiger  aber 
haftiger  Seftüre  fomie  eine3  unfteten  3BaiiberIeben3  grünblich  gu 
oerarbeiten.  SEBemt  er  einmal  gefagt  hat,  bah  walle3  höhere, 
geiftige,  innerlichfte  SEBachfen  be3  ÜDienfchett  halbe  Stranffjeit"  fei,18 

(S9) 


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8 


jo  giebt  et  nur  in  abftrnfter  gorm  wieber,  was  er  an  fid)  felbft 
erfahren  hatte.  3DieS  geigt  fid)  oor  allem  in  ber  ©eftalt,  welche 
feine  SieblingSibeen  bamalS  anna^mett.  Senn  jo  jef)r  ber 
Sournalift  bie  Slnregungen  jiir  jeine  ©d)riftftellerei  aus  ben 
©reigniffen  beS  SageS,  ja  auS  feinen  perfönlid)en  ©rlebniffcn 
fdjöpfte,  baS  ©runbthenta  bleibt  both  immer  bie  ©rforfdjung 
beS  gufammenhattgeS  oon  ©ott  unb  Sßelt.  „©erfolgt  oon  einer 
oft  quälenben  Unruhe,  fid}  in  ©ott  unb  göttliche  Singe  gu  uer- 
jenfen,  oft  beglüdt  oon  einem  milbeit  |jaud}e  ber  ©laubigfeit, 
oiel  öfter  aber  noch  gerriffen  oon  Zweifeln  unb  ergrimmt  über 
bie  irbifdjen  ©ntfteDungen  beS  ©wigen,  erjagte  er  mit  Siebe  ben 
©ebanfen,  in  profaner  SBeife  bie  gnfarnation  ©otteS  in  einem 
SDtenfchen  gu  fdjilbern." 14  ©r  tf)at  bieS  in  feinem  erften  SRomane 
„9Raha  ©uru",  beffen  Senbettgett  jebodj  gu  oerwitfelter  fRatur 
waren,  als  baff  bie  Meinung  beS  Sichters  oöHig  erjagt  werben 
lonnte.  Stein  fKuberer  als  er  felbft  war  bann  jener  in  gweifel 
öerftridte  ©abbucäer  oon  Slmfterbant , ber  barüber  bie  ©raut 
oerliert.  $luS  bem  ehemaligen  ©tubenten  ber  5S^eotogie  würbe 
ein  gefdjworener  geinb  alles  fßfaffenthumS,  als  er  gu  bemerfen 
glaubte,  baff  bie  Orthobojie  ihr  jpaupt  wiebet  hoch  erhebe,  unb 
bie  eben  bamals  in  Seutfdjtanb  ©ingang  fittbenben  Sehren  eines 
©t.  ©imon  unb  SamennaiS  fielen  baher  bei  ihm  auf  fruchtbaren 
©oben.  Söeitn  ©t.  ©imon  in  ©efämpfung  beS  ©afceS:  „SReiu 
fReidj  ift  nicht  oon  biefer  SBelt"  bie  fogiale  SReform  als  bie  bis 
auf  feine  $eit  oerfannte  ober  abfichtlid)  oerhüHte  Senbeug  beS 
©hriftenthumS  ginftedte , Jo  fühlte  fich  ©ufcfow  gu  biefer  Sehre 
anfangs  um  fo  mehr  hingegogen,  als  er  gu  finben  glaubte,  bajj 
SamennaiS  oon  gang  anberen  fonfeffionelleu  ©orauSfejjungen  aus 
fc^liegltch  gu  einem  ähnlichen  fRefultate  gefommeu  fei. 

Sa  ftarb  fein  ehemaliger  Sehrer  ©chleiermacher  (gebruar 
1834),  unb  ©ufcfowS  ftets  gu  Stampf  unb  äSiberfpruch  bereiter  ©eift 
erfd)raf  bei  bem  ©ebanfen,  baff  bie  Orthobojie  ben  SRann,  ber 

(40) 


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9 


SReligion  unb  SSiffenfcbaft  auf  bem  neutralen  öoben  beS  ©e< 
mütbeS  gu  »erfö^nen  gewußt  tjatte , als  einen  ber  3^rigen  tu 
Slnfprud)  nehmen  fönne.  $af}  aud)  biefer  jeine  romantifdje 
$j$eriobe  burdjgemadjt  hatte,  glaubte  er  bafjer  fd)on  beSwegen  in 
Erinnerung  bringen  gu  miiffen,  weil  „baS  ©erücht  fagte,  bie 
Söerlinifcben  .ßionSwächter  uab  iene  üo^alität,  welche  jo  lange 
an  ©djleiermadjer  gegupft  bat,  bis  er  gu  il)r  l)erunterfiel  unb 
gang  gewöhnlich  unb  offigiell  wie  fie  würbe,  hätten  £uft,  feine 
Söriefe  über  bie  Sncinbe  mit  ©tillfdjweigen  gu  übergeben".15 
2)aS  ©erficht  war  oößig  unbegrünbet.  S)enn  bie  1835  beginnenbe 
Ausgabe  non  ©cbleiermacberS  Sßerfen  b<*t,  aßerbingS  fe^r  Diel 
fpäter,  in  ber  britten  ©erie  bie  Söriefe  gebracht,  welche  felbft- 
oerftänblid)  in  ber  erften  ber  Rheologie  gewibmeten  Abteilung 
nicht  erfc^einen  fonnten.  2Benn  alfo  ©ußfow  fpäter  behauptet 
bat,  er  habe  feine  9?euauSgabe  berfelbcn  oeranftaltet,  weil  bie 
X^eotogcn  fie  t>on  ber  SlnSgabe  ber  SScrfe  auSgefcbloffen  hätten, 
fo  ift  bieS  nicht  richtig.  ÜBaS  er  bamit  begwecfte,  fagt  er  Doll* 
fommeit  ungweibeutig  in  ber  im  Satiuar  1835  in  granffurt 
niebergefdiriebenen  Süorrebe.  „ÜDiit  bem  bebaglichften  ©efüble"  — 
beifit  eS  ba  (©.  XII)  — „werf  idj  biefe  fRafete  in  bie  erfticfenbe 
£uft  ber  proteftantifcben  Xfjeologie  unb  ißrüberie,  unb  weibe 
mich  an  ber  SBerlcgenbeit,  wenn  in  baS  moralifcbe  ©efäufel 
gewanbt  unterbrütfter  fieibenfchaften  unb  bie  loyale  ^olitur 
gefeüfcbaftlicber  93equem(id)feit  unb  ©elbftgenugbabenS  plößlid) 
eine  recht  berbe,  natürliche  unb  wißige  ßweibeutigfeit  fährt." 
Er  wifl  ben  Pfaffen  geigen,  baß  „nicht  aßeS  3:^eoIogie  fei,  was 
in  ber  Söelt  ift".  'Aber  er  wifl  noch  mehr.  8Benn  griebrich 
Schlegel  in  feiner  £ucinbe  bie  „Religion"  ber  fronen  freien 
©innlichfeit  prebigt,  fo  üerfjinbert  ihn  nad)  ©ußfow  nur  bie 
lebiglich  auf  ben  Zünftler,  nicht  auf  bie  übrige  banaufifcße 
SRenfchheit  begogene  romantifche  ®oftrin,  feine  leitenben  ©ebanfen 
gum  SluSgangSpunft  einer  „fogialen  'Jieoolution"  gn  madjen. 

Ml» 


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10 

Sie  Anfäfce  bnju  fänbeit  fid)  aber  gerabe  bei  ©d)leiermad)er, 
ltnb  bieg  fei  bag  mefentlidje  Vcrbienft  feiner  „oertrautcu  Briefe".15 
Aug  beiben  fdjöpft  nun  ©it{)fom  feinen  ©tauben  „an  bie  fRcform 
ber  Siebe  wie  an  jebe  fojiale  grage  unferg  gahrhunbertg".  (XVII.) 
©leidjroohl  lägt  er  ung,  fo  „beutlid)"  er  and)  gumeilen  metben 
mag,  über  bag  SSefen  biefer  fogialeu  9tebolution  gang  unb  gar 
im  itnflaren.  @r  öermirft  groar  bie  firdjlic^e  Stauung,  öermirft 
er  aber  barunt  auch  bie  Snftitution  ber  ©ge?  ÜJian  mirb  bieg 
bod)  nicht  offne  roeitereg  behaupten  biirfen.  SBeitn  igm  aber  bie 
grauen  feiner  $eit  nur  ba  gu  fein  fd)ieiten,  „um  burd)  ängfttic^e 
SRücffidjten  ben  glug  unfereg  SBefeng  nieberguhalten"  (XX),  fo 
erfennt  ber  mit  ©ugfomg  Sebeitggang  Vertraute  in  biefer  t>on 
grengenlofer  Ucbcrgebung  geugenben  Verallgemeinerung  bie  Ver- 
bitterung mieber,  meldje  über  feine  erfte  infolge  feineg  Vernfg* 
medjfelg  guriiefgegangene  Verlobung  im  ©emuthe  beg  jungen 
äJIanneg  haften  geblieben  mar.  Unb  auch  angeficfjtg  feiner 
übrigen  Vehauptuugen  fötinen  mir  ben  grauen  jener  Sage  nur 
©lücf  bagti  mitnfehen,  „bag  fie  hinter  ben  SDZönnern  fo  unenblidj 
meit  guriicfgeblieben"  roaren. 

2Sie  aber  foücn  mir  eg  mit  allem  Angeführten  nereinigen, 
meint  ber  ^erauggeber  feine  Vorrebe  fcheinbar  gufamtnenhangglog 
mit  bent  Sage  fcgliegt:  „§ätte  bie  SBelt  nie  oott  ©ott  gemugt, 
fie  mürbe  gliidlidjer  fein!"  (XXXVIII.)  Atlerbingg  mürben  mir, 
menn  ©ugfom  nach  biefer  Vorrebc  nidjtg  mehr  getrieben  hatte, 
ben  3ufammen^an9  öergeblich  auffuchen.  Sag  bie  Siebe  erft 
burd)  bie  binbenbe  £janb  bee  5^riefterö  eine  fittlic^e  merbe,  bag 
bie  ©h«  flar  nach  fatgolifcher  Auffaffuttg  ein  ©aframent  fei, 
glaubt  er  unbebingt  oerneinen  gu  nuiffen.16  SSSie  nun,  menn  eg 
fein  ©hriftenthum  gäbe?  Sieg  führt  auf  bie  grage,  mie  fid> 
mohl  bag  Scbett  ber  9J?enfd)beit  ohne  bie  ^iftorifcfje  ©rfcheiitung 
beg  ©hriftenthumg,  ja  otjne  ein  ©ottegbemugtfein  überhaupt 
geftalten  mürbe.  Sie  grage  mar  nicht  neu.  Auch  nach  bem 

(42) 


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Solfenbüttler  gragmentiften  fiatte  SBilhelm  üon  .jpumbolbt  1792 
in  ben  „3been  31t  einem  SBerfud),  bie  ©reifen  ber  SBirffamfeit 
be$  Staate^  3U  beftimmen",  mit  hribnifdjer  Unbefangenheit  er* 
örtert,  bajj  ein  ibcnle«  menfehenwürbige«  Streben,  baff  ein  Sehen 
t>on  unautaftbarfter  fittlic^ev  Sauterfeit  auch  otjne  ben  ©tauben 
an  ©ott  uttb  Unfterbfichfeit  möglich  fei  ” $umbotbt8  erft  1851 
per  ö fr  ent  f i d;  t en  „gbeen"  fonnten  natürlich  ©ufjfow  nicht  befannt 
'ein,  aber  ba§  befonnenc,  fühle  SRaifonnement  beä  tiefen  JenferS 
hätte  ber  breiften  jugreifenbett  Sri  be$  jungen  ©chriftfteHerS 
idiwerlich  3ugejagt.  Ja  war  fReimaruS  mit  feiner  fcharfen, 
feden  Snangelienfritif  ein  gan3  anberer  SRann,  unb  burch  einen 
teitgemäjjen  Su^ug  au$  ber  „Sdjuhfchrift  für  bie  »emiinftigen 
Verehrer  ©otteS"  bachte  ©ufcfow  eine  jroeite  wirffamere  9Iafetc 
in  ba»  Säger  ber  Orihobojrie  31t  fdfjteubern,  welche  eben  bamal& 
bnreh  ba§  „Sehen  gefu"  öott  Strauß  in  bie  ^eftigfte  Aufregung 
perfekt  tuar.  Sßein  alfyu  genau  fcheint  er  e§  auch  mit  biefer 
Arbeit  nidjt  genommen  31t  hoben,  weil  er  fonft  nicht  fefjon 
barnals  ben  Sr3t  SReimaruS  als  SSerfaffer  ber  „gragmente" 
bejeicfjnet  hätte.  Slbcr  öofftnanu  unb  Campe,  bie  boih  nicht 
aü;u  ängftlidjen  Verleger  .1peineS  unb  ®örne8,  3eigten  bieSmal 
feine  fiuft  31W  Sunahnte  be§  ihnen  angebotenen  33iichlein8.18  Suf 
Veröffentlichung  feiner  3been  modjte  ©u^fow  nic^t  Deichten. 
Ging  e£  alfo  nicht  in  ber  gorm  ber  theologifchen  <Streitfc£jrift, 
io  burfte  er  uieDcicfjt  hoffen,  mit  einem  jRomaue  auf  weniger 
Vebenfcit  3U  ftofjen.  3a  er  gewann  bamit  bie  wißfommene 

Gelegenheit,  bie§  in  ber  SSorrebe  31t  ben  Sucinbebriefeit  behattbclte 
Ihcnta  noch  einmal  in  anberer  gorm  in  ein  helleres  Sicht  3U 
iejjen.  |>atte  er  bodj  fchon  bort  (XXXVII)  bem  SRotnane 
empfohlen,  feine  „©runbfä&e  3ur  Snfchauung  3U  bringen",  ba 
tu  ihm  ber  „boftrineße  Jon  eine  <Sntmriljung  fei,  währenb  auch 
bie  ^oefie  energifcher  3um  $er3eit  fpreche  uitb  nicht  31t  nennen 
brauche,  wo  e§  genüge,  nur  31t  seigen".  2Sa3  öcrfchlug  e8  ba/ 


12 


baff  er  befcfyloffen  halle,19  nur  itodj  für  Sföänner  ju  fdjreiben. 
URit  ber  fdjwierigften  aller  gragen  trat  cr  l10t  5orum  be« 
bamal«  wie  heute  bunt  gemifcfjten  belletriftifchen  ißublifum«.  So 
entftanb  (/3Baüt;  bie  ßweiflerin". 

2>aß  eilt  SBeib  jum  SKittelpunft  be«  9tomane«  gemalt 
würbe,  ^atte  abermal«  feinen  ©ruttb  in  einem  perfönlid)en  ©r- 
lebnifj.  gn  einer  ©efeUfdjaft  in  granffurt  a.  hatte  ©ufcfow 
ein  junge«  Üftäbchen  fennen  gelernt,  bie  ihm  anfangs  nur  wie  eine 
Äofette  gewöhnlichen  Sdjlage«  erfcf)ien,  weshalb  e«  i^n  hoppelt 
überrafcfjcn  mußte,  al«  biejclbe  ein  oon  ihm  angeregte«  ©efpräch 
über  religiöfc  5)inge  mit  bem  uerjweiflungauollen  Ausrufe 
unterbrach,  h*erü&et  nadjjubenfen  fei  ihr  unmöglich.*0  ©«  fiel 
ihm  nicht  fdjrner,  bei  einem  grühling«aufenthalte  in  SRannheim 
einen  Unioerfität«freunb  fiöwenthol,  bem  er  jene  ©pifobe  er- 
jagte, jum  Sßerlage  eine«  fRomane«  $u  beftimmen,  welcher  bie 
Seelenfämpfe  eine«  nur  fdjeinbar  oberflächlichen  Üöeibc«  fchilbern 
füllte,  ba«  au«  SRangel  an  2Biberftanb«fraft  burch  bie  Ser* 
jweiflung  an  ber  (Sattheit  fchliefjlich  ju  ©runbc  gehe.  Vluf  ba« 
SRotio  bc«  Selbftmorbe«,  aber  auch  lebiglid)  barauf,  ^atte  ihn 
ber  bamal«  allgemeine«  Sluffe^en  erregenbe  freiwillige  £ob  ber 
überfpannten  ©harlotte  ®tieglih  (®ejember  1834)  geführt.91 
fiöwenthal  foUte  ben  9ioman  erft  nach  ißollenbung  be«  £rutfe« 
ju  fehen  befommen,  unb  in  bem  ©lauben,  bie«mal  „etwa« 
.Jpübfdje«"  99  ju  liefern,  benufcte  ber  dichter  bie  Sommermonate 
be«  gahre«  1835  in  granffurt  unb  2Sie«baben  jur  Vluöarbeitung 
feine«  £enben$romane«,  burch  ben  er  „bem  ©hriftenthum  im 
neunzehnten  gahrhunbert  eine  neue  Söegbereitung  in  ben  ©e* 
müthern  ju  geben,  e«  mit  ben  Stimmungen  unb  Öebürfniffen 
biefer  ,$eit  in  ©inflang  ju  bringen  unb  jur  Vlngel  einer  neuen 
Bewegung  ju  machen*  hoffte.23 

VI  ber  felbft  ein  Jenbenjroinan  Ija:  anbere  ©efe^e  al«  eine 
Vlbhanblitug,  unb  bie  ©ntwitfelung  ber  ©harafterc  wirb  aud) 

C«) 


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bie  jjorm  ber  lenbeng  immer  infoweit  bebingen,  baß  fie  al£ 
Ausfluß  einer  t>om  ®icßter  gefeßaffenen  ^ßerfönfießfeit  erfeßeint. 
£aß  er  auf  biefent  Sßege  gu  einer  lebcnStmllen  $icßtung  gelangen 
fonnte,  bat  ©ufcfow  oft  beroiefen,  niemals  beffer  als  in  feinem 
„Sabbugäer".  SDaß  er  jeboeß  in  ber  SBallß  auf  ßalbem  SSege 
fteßen  geblieben  ift,  ßat  es  woßl  ßauptfäcßlicß  öerfcßulbet,  baß 
ber  Vornan,  gwifeßen  ®icßtung  unb  ©treitfeßrift  feßroanfenb,  gitr 
Jrafce  geworben  ift.  Senn  man  follte  glauben,  baS  ©ange 
fei  eine  'ßarobie  im  «Stile  ber  SDtautßncrfcßen  Sflacßaßmungen 
„betößmter  SDiufter".  ©ine  Heine  fßrobe  möge  genügen.  Ülls 
männliches  ©egenbilb  wirb  SBaßß  ber  falte  ©goift  Gäfar  gegen» 
übergefteßt,  ber  UrtßpuS  jener  „gerriffenen"  ©ßaraftere,  welcße  feit- 
bem  twn  ©uftao  ffreßtagS  „©rafen  SEBalbemar''  unb  ©pielßagenS 
.^roblematifcßeit  Staturen"  bis  ßerab  gu  ben  „breiten  Bcttelfuppen" 
moberner  ®urcßfcßnittromane  bie  fiammSgcbitlb  beS  beutfeßen 
2efepublifumS  erroiefen  ßaben.  3)iefer  Gäfar  nun  „ftanb  im 
zweiten  drittel  ber  groangiger  3aßre.  Um  9?afe  unb  SJtunb 
fcßlängelten  gureßen,  in  toelcße  bie  friiße  ©aat  ber  ©rfenntniß 
gefallen  mar,  jene  Sinien,  bie  fieß  »on  bem  licblicßften  ©inbruef 
bis  gu  bämoniftßer  Unßeimlicßfeit  fteigern  fönnen.  GäfarS 
©ifbuttg  mar  fertig.  2öaS  er  noeß  in  fieß  aufnaßm,  fonnte 
nur  bogu  bienen,  baS  feßon  Borßanbene  gu  befeftigen,  nießt  gu 
ueränbent.  Gäfar  ßatte  bie  erfte  ©tufenleiter  ibealifeßer  ©cßroär* 
merei,  melcße  unfere  geit  auf  junge  ©emiitßer  erbringen  läßt, 
erftiegen.  ©r  ßatte  einen,  gangen  gricbßof  tobter  ©ebanfen, 
herrlicher  Qbeen,  an  bie  er  einft  glaubte,  ßinter  fieß;  er  fiel 
nießt  meßr  oor  fieß  felbft  nieber  unb  ließ  feine  Bergangenßeit 
bie  finiee  feiner  gufunft  umfcßlingeti  unb  jene  gu  biefer  beten: 
heilige  gufunft,  glüßenber  SJlolod),  mann  ßör’  icß  auf,  mieß 
mir  felbft  gu  opfern?  Gäfar  begrub  feine  lobten  meßr:  bie 
füllen  Sbeen  lagen  fo  weit  »01t  ißm,.  baß  feine  Bewegungen 
ftt  nicht  meßr  erbrüden  fonnten.  ©r  mar  reif,  nur  itocß  formell,. 


nur  nodj  ©feptifer;  er  regnete  mit  GegriffSfdjatten,  mit  ge* 
mefenem  (SnthufiaSmuS.  ®r  mar  burd)  bie  ©djule  ^inburd) 
unb  hätte  nur  noch  f)  au  bellt  fötttten;  bemt  IU03U  if)tt  feine 
tobten  Sbcen  mad)tcn,  er  mar  ein  ftarfcr  ßl)arafter.  Unglücf* 
liehe  gugenb!  2)aS  gelb  Dcr  X^ätigfcit  ift  bir  uerfdjloffen,  im 
Strome  ber  Gegebenheiten  tarnt  beine  roiffenSmatte  Seele  nicht 
mieber  neu  geboren  mcrben;  bu  fannft  nur  lädjcln,  feuf^en, 
fpotten,  unb  bie  grauen,  menn  bu  liebft,  unglücflid)  machen." *4 
Söir  fügen  jur  Gerwotlftänbigung  biefer  Sharafterfchitberung 
hiitju,  bafj  l£äfar  „jebe  «Situation  fatal  mar,  in  ber  er  fict> 
fclbft  nid)t  h°tte  beobad)ten  fönnett,"*5  glauben  aber,  bafj 
öuhfom  benfelbett  Sffeft  erreicht  hätte,  menn  er  fdjledjtmcg 
fagte:  ßäfar  mar  ba$,  maS  mau  auf  beutfdjen  ^»odjfdjuleu 
einen  Sdjauerbotf  31t  nennen  pflegt. 

3>ie  gabel  beS  SRomaneS,  menn  mir  001t  einer  folcheu 
rebeit  bürfeu,  ift  in  ßiirje  folgenbc:  2Ballt),  bie  uieluttiroorbcne, 
heirathet  einen  ungeliebten  ÜRanit.  Slber  im  ©eiftc  gehört  fie 
ISäfar,  bein  fie  fich  jum  Spnibol  ihrer  geiftigen  Vermahlung 
an  ihrem  ^>od)jeit8tage  uacft  jeigt,  }o  mie  eS  nach  SBolframS 
Xiturel  ©igune  bem  für  fie  in  beit  Jtampf  jiehenbett  Sdjionatu* 
lanber  gethait  hotte.  @ie  folgt  barauf  ihrem  ©attcn  nad) 

ißariS,  aber  als  fid)  biefer  als  ein  e^rlofcr  Sdjitrfe  entpuppt, 
trägt  fie  fein  Gebeuten  mehr,  ihn  31t  oerlaffeu  unb  (iäfars 
SebeuSgefährtiit  31t  merbett.  Iber  ein  (Sgoift  mie  (Säfar  meifj 
biefeu  Sdjritt  nid)t  nad)  feinem  wollen  2Bertf)c  311  fd)ä|)en  unb 
menbet  feine  Neigung  balb  ber  „wou  Siebe  fdjmellcuben  rcid)eu“ 
Siibiu  Slbolpljine  311,  bie  mir  uns  allerbiugS  beftridcnb  311 
beuten  hoben,  rneil  „baS  Segel  ihres  .fpei^enS  niemals  fd)laff, 
fonberu  immer  aufgebläht,  ruub  unb  toll"  ift.20  3n  bie  Seelen* 
ftimmung,  in  melche  SSallp  baburd)  geräth,  lägt  uns  ihr  Jage* 
budj  ©inblirfe  thnu.  2lud)  bie  Religion  gemährt  iljr,  bereu 

©lanbeu  burd)  ßäfarS  „©eftänbniffe  über  ^Religion  unb  ©hviften* 

(•16) 


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15 


tljum"  oollenb«  crfc^iittcrt  ift,  feinen  £alt  ntcf|r  unb  im  frei- 
willigen $obe  fnc^t  fie  ©rlöfung  oon  ihren  Gualen. 

5)ie  „©eftänbniffe",  auf  welche  cS  beni  5)idjter  ursprünglich 
i>och  am  meifter,  anfam,  finb  eine«  Gäfars  üoßfommen  roürbig. 
8üe«  läuft  borauf  btnau«,  baß  f)iftorifd)e  Religionen,  alfo  aud) 
ba«  ßfiriftent^um,  bei  fteigenber  Slufflärung  eine  Unmöglichfeit 
feien.  SIber  gottlos  möchte  er  ein  geitalter  nicht  nennen,  bem 
ein  ©t.  ©imon  unb  ein  fiamennai«  angefjört  haben.  „3Bir 
werben  feinen  neuen  Fimmel  unb  feine  neue  Srbe  habeu;  aber 
bie  Skiicfe  jioifdjen  beiben,  fdfeint  eS,  mufj  oon  neuem  gebaut 
werben."  27  .gum  ©cfjluffe  ergreift  ber  ^Dichter  in  einem  „Sßaljr- 
beit  unb  SBirflidjfeit"  überfdjtiebenen  ©piloge  felbft  ba«  SBort, 
unb  nimmt  fid)  in  ^inblicf  auf  ba«  eben  ffijgirte  iß^antafie» 
gemäße  ber  über  ber  gemeinen  SBirflicfjfeit  ftefjenben  höheren 
poetifchen  Söahrljeit  au.  £enn  ,,nod)  immer  ging  ba«  ©enie 
feinem  Qa^r^unberte  oorau«".  Ramentlid)  in  ber  franjöfifdfen 
fiitteratur  baut  fich  aber  „eine  2Saf)rheit  ber  2)idjtung  auf,  ber 
in  ben  un«  umgebcubeu  3nftitutiouen  uid)t«  entspricht,  eine 
ibeefle  CppofUiou,  ein  bichterifdjeS  ©egeutfjeil  unfercr  gfit,  ba§ 
einen  grocifadjen  Mampf  wirb  gu  befielen  haben,  einmal  einen 
gegen  bie  SSirflidjfeit  felbft  al«  fonftitnirte  Ü)iacf)t  mit  pljtjfifdjer 
Stutorität,  fobamt  einen  gegen  bie  ißoefie  ber  2Birflid)feit,  luelrfjc 
fo  oiel  dichter  unb  fo  öiel  Mritifer  für  fid)  hat."*8  Än  ber 
phhftf<hen  ?lmorität  aber  ift  ©ujjfoto  bamal«  gefdjeitert,  unb 
nur  feiner  Slusföhnung  mit  ber  rcd)t  oerftanbenen  ißoefie  ber 
SBirflic^feit  hflt  er  e«  gu  banfen,  wenn  fein  Raine  heute  in  ber 
fihteraturgefdjidfte,  nicht  nur  in  ber  Mrauft)eit«gefdjidjte  bc« 
beutfehen  ©eifte«  genannt  toirb. 

9Bir  mürben  und  bei  bem  fläglidjeu  Riadpoerfe  nid)t  fo 
lange  aufgeljultcn  fabelt,  wenn  e«  fid)  nicht  nm  bie  folgen- 
Schwere  Sugcitbfünbe  eine«  bebeutenbeu  ÜJianne«  hanbelte. 
©ufcfoiu  aber  hat  aud)  fpäter  ben  Roman  für  poetifcf)  nidjt 

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16 


ganj  mißlungen  gehalten 49  mit  berfetben  unbegreiflichen  ©elbft- 
täufeßung,  mit  melcßer  er  unter  anberem  für  'pauI  Impfe« 
„Nooellenfcßaß"  al«  befte  feiner  NooeKen  bie  Iäppifcßen  „Shtr«- 
tauben"  au«gemäßlt  ßflt.  Sn  allen  anbereu  fünften  trifft  feine 
©elbftfritif  beu  Naget  auf  beit  Stopf.  Sn  ber  ©efeßießte  ber 
beutfcßeit  fiitteratur  feeren  faft  regelmäßig  bie  Sucinbeperioben 
mieber,  meldje  nicht  immer  fo  gefunbe  fruchte  mie  ©oetlje«  römifeße 
©legien  gejeitigt  ßaben.  2)amal«  mar  nun  mieber  einmal  Sßiebcr* 
einfeßung  be«  Natürlichen  in  feine  Necßte  ober,  mie  bie  ©cgner 
mit  gcßäffiger  ©etouttng  be«  |>einefcßen  SBorte«  fagten,  ©rnanji- 
pation  be«  ffleifcße«  bie  Sofung,  unb  |>eine,  bie  unter  bem 
Namen  be«  jungen  3)eutjcßlanb  millfürlicß  jufammengefaßten 
©cßriftfteller,  fomie  Nidjarb  Sßagner  in  feiner  jmeiten  Oper 
,,ba«  £iebe«oerbot" 30  oerfiinbeten  bie  alte,  neue  Sehre,  beren 
Duelle  bod)  nicht  bei  allen  bloße  ffrioolität  mar.  Slm  menigften 
bei  ©ußfom,  ber  ganj  im  ©egenfaß  ju  eine«  Soltaire  friooter 
©rajie  nirgenb«  ben  plumpen  ®eutfdjen  oerleugnet  unb  mit  eeßt 
beutfd)er  ^?ebanterie  ber  Siebe  eine  beffere  „SNetßobif"  miinjeßt.31 
$)ie  „©eftänbniffe"  enblid)  erfeßeinen  ben  gereiften  Ueberjeu« 
gungen  be«  SNaune«  at«  „reine  23on  Duijoterie".  Söolltc  bie 
Sritif  oon  bem  Nomane  überhaupt  Noti$  nehmen,  fo  hätte  fic 
benfelben  „ßöcßften«  im  SBotlgefüßl  ihrer  fälteren  SSernunft  au«* 
(adjen  foflen",  etma  in  ber  Sßeife  Snrnicrmann«,  ber  in  feinem 
„SNündjßaufen"  aueß  ber  „alten  Sßafltj,  ber  natürlichen  $o<ßter 
oon  Sucinbe  ©cßlcgel,  Söcßin  eine«  fränfifeßen  fßrälaten  a.  ®." 
gebeult.3*  Slber  e«  fam  anber«. 

®er  ©ßnagogenflucß,  rcelcßen  ber  $icßter  über  feinen  Uriei 
Slcofta  au«rufen  läßt,  foQte  aueß  ißn  treffen.  SBoIfgang  Nlcn^el, 
ber  aKjeit  fampffertige  Folterer,  mit  bem  fieß  ©ußfom  au« 
geringfügigem,  menn  feßon  fclbftoerfdjulbetem  Slnlaß  bereit«  oor 
jmei  Snßren  iibermorfen  ßatte,  erßob  in  jmei  Nummern  feine« 
Sitteraturblatte«  feine  ©timme  gegen  bie  „marf*  unb  maben* 

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17 

lofen  3ünglinge",  melden  nid;t  einmil  ber  ocrführerifche  9ieij 
fine#  Ton  3uan  $ur  ©ntfchulbignng  biene,  in  ber  9lbficht,  „ben 
JRiopf  ber  ©erlange  ju  vertreten,  bie  fitf)  im  2Kifte  ber  SBofluft 
wärme".  @r  fcf)Iog  feine  Ausfälle,  roeld)e  an  urroüchfiger 
©robfjeit  ben  religiösen  ©treitfehriften  bc«  fechiehnten  3a^r= 
bunbert#  nid)t«  nadjgaben,  mit  bem  niefjt  ganj  unberechtigten 
Hu#rufe : „3unge«  Teutfchlanb!  meber  jung  noch  beutfeh,  ©reife«- 
falte  im  öerbrannten  §irn,  franjöfifche«  ©ift  in  ben  ?lbern! 
Tich  Sollten  mir  nnerfennen  al«  bie  3ugenb  unfere«  großen 
fd)önen  Rolfe«?  Tid)?!"’3 

©r  erreichte,  toie  e«  ju  gefcheheti  pflegt,  mit  feiner  ftritif 
nur  ba«  ©egentheil  »oit  bem,  roa«  er  be^medt  ^atte.  Ter 
iRoman,  beffen  ©rfcfieinen  »oahrfcheinlich  ohne  biefelbe  fpurlo« 
oorübergegangen  toäre,  mürbe  mit  einem  ©<f)lage  populär. 
®u$fom  unb  feine  greunbe  blieben  bie  SKntroort  nicht  fchufbig, 
unb  ol«  bie  ©erichte  Schließlich  Seranlaffung  nahmen,  gegen 
ben  93erfaffer  ber  „SöaHp"  einjufchreiten,  ba  erhob  fiel)  ein 
roüfter  ©lanbal,  ber  in  utiferer  nn  fchntu^igen  £mtibeln  fo 
überreichen  Sitteraturgefchichte  obenan  fteht.  $luf  ben  Tenun- 
üanten  SOlenjel  miefett  nun  3lHe  mit  bem  ginger  h’n/  b<e  ^fr 
tabelfrohe  9Jlann  in  feiner  langen  Slritiferlaufbahn  befeibigt 
batte.  3«  erfter  Sinie  Sßrofeffor  Sßaulu«  in  ^eibelberg,  ber 
„alte  Rationalift",  melcher  jmar  bie  Tenbenj  be«  Romane« 
nöflig  mißbilligte,  aber  bie  greiffeit  ber  9J{einung«äufjerung 
in  religiösen  gingen  für  ernftlich  gefährbet  ^ielt.34  .ßeiite  fjnt 
Sogar  einer  ©chmähfdjrift  gegen  SUlenjel  ben  Titel:  „Ter 
Tenunjiant"  gegeben,  unb  ©u^fora  felbft  hat  bi«  ju  feinem 
lobe  leine  Gelegenheit  nerfäutnt,  feinen  ©egiter  mit  biefem 
Sortourfe  311  belaften.  ©0  ift  e«  gelommen,  bah  mir  bi«  auf 
ben  heutigen  Tag  überall  lefen  fönnen,  Rfenjel  habe  bie  ©erichte 
unb  fogar  bie  Regierungen  aufgeforbert,  gegen  ©ufcfom  ein^u- 
Schreiten,  ma«  fid)  nur  babnrd;  erflärt,  baff  fein  einziger  Üitterar- 

commlang.  9J.  0.  V.  9S.  2 (49) 


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18 


Ijiftorifer  bie  ÜReitjelfdje  Äritif  felbft  jur  §anb  genommen  l)at. 
Da  ift  eg  roafirlid}  f)ol)e  geit,  bajj  bag  fttitbenfen  eineg  jtvar 
befdjrcinften,  ober  bod)  djarafteroollen  üRanneS  enblid)  oon  um 
»erbienter  ©djmadj  gereinigt  roerbe. 

9iid)t  an  bie  ©eridjte,  fonbern  an  bie  gcmje  Nation  fyatte 
fid)  3JienjeI  gemanbt  mit  ber  ?lufforberung,  bie  lenbenjen  beg 
jungen  Deutfdjlanb  alg  unbeutfd)  ju  oerbammen.  Da  er  jebod) 
bem  Romane  llnfittlidjfeit,  oerquidt  mit  ©otteetäfterung,  jum 
33ormurfe  madjte,  jo  mar  eg  aüerbingg  natürlid),  bajj  aud)  bie 
©eridjte  auf  benfelben  aufnierffant  mürben,  ©ooiel  id)  fef)e, 
mürbe  bie  Schrift  juerft  im  baperifdjen  Obermainfreife  9Ritte 
Cftober  mit  ©cfdjlag  belegt.  3n  Sarlgrulje  erfuhr  mau  erft 
burd)  eine  9iot4  beg  gronffurter  Souritalg  ooit  ber  Äonfig* 
jirung  eineg  in  SDÜanitfjeint  erfdjienenen  93ud)eg,  unb  am 
20.  Cftober  mürbe  bie  ^Regierung  beg  Uuterrljeinfreifeg  auf 
biefen  Umftanb  burdj  ein  miuifterietleg  jReffript  aufmerffam 
gemacht  unb  if)r  übertaffen,  „^inficfjtlic^  ber  ©djrift  nad)  ben 
befteljenben  gefefclidjen  $Borfd)riften  31t  oer fahren''. 35  Die  golge 
mar  bie  Slonfigjirung  am  14.  SRooember36  unb  jmei  Dage  fpäter 
bie  SSorlabung  beg  tßerfafferg  oor  bag  babifcf)c  |>ofgerid)t  bee 
Unterrfyeinfreifeg  auf  ben  1 . Dejember  „unter  ?lubrof)uug  beg  im 
babifdjen  ’prefjgefetye  (§  71  sub  1)  beftimmten  jRed)tgnad)tl)eilg, 
monad)  berfelbe,  roenn  er  in  ber  ®orunterfud)ung  unb  ber  in  ber 
golge  anjuberaumcnben  ©eridjtgfifcuug  nic^t  erfdjeint,  ber  ange= 
fdjulbigten  unb  nidjt  miberlegten  Dljatfadje,  alg  geftänbig  3U 
betradjteu  fei". 

©ujjfom,  meldjer  bamalg  in  Uraitffurt  motjnte,  3Ögerte 
anfangg,  ber  ißorlabnug  gotge  311  leiften,  unb  beoollmäd)tigte 
einen  -IRaunfyeimer  Slnmalt,  bie  3nfompeteii3  ber  babifdjett 
©ericfjte  311  erfläreit.37  Da  er  fid)  jebod)  and)  in  jßrcufjeu 
nidjt  fidjer  füllte,  001t  ber  freien  ©tabt  jjranffurt  bie  $tug> 
lieferung  an  öaben  311  gemärtigen  Ijatte,38  bag  bcntfdjc  33unbeg= 

(50) 


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19 


gebiet  aber  wegen  feiner  Braut  in  granlfnrt  nicht  oerlaffeit 
mochte,  fo  jog  er  eS  fdjließtid)  uor,  fid)  freiwillig  ju  »teilen, 
nadjbem  er  juoor  in  ftarlärulje  in  einer  ?lubieitg  bei  bem 
SRiuifter  „Bater  SBinter"  — beffen  $enfmal  jejjt  beit  an  ber 
babifdjen  Refibenj  ooriiberreifenben  grentben  wie  ein  ©hntbol 
ber  guten  alten  $eit  unfreunblid)  ben  Rüden  gufefjrt  — aus 
unbeftimmten  Sleufjerungen  beleihen  bie  triigerifdje  Hoffnung 
gefdjöpft  f»atte,  non  ber  ünterfuchungSljofl  uerfcfjont  ju  bleiben.39 

28ie  bie  babifdje  Regierung  über  ben  gall  badjte,  läßt 
fid»  leiber  nicht  meßr  feftfteüen,  fdjwerlid)  feßr  öerfdjieben  ooit 
ber  atlerbingS  nur  nach  ben  Gitaten  ber  ©ntfcheibungggrünbe 
gebilbeten  Slnfidjt  be$  SJlinifterä  dou  Reigenftein,  bem  ber 
Roman  eine  für  ben  BilbungSgrab  oon  „Sabenbienern  unb 
Hammermcibchen"  berechnete  Seftiire  ju  fein  fc^ien.10  SMIbefanut 
ift  nun,  bafj  ber  Bunbeätag  in  jenen  lagen  fid)  bie  Rolle  be3 
Sittenrichters  aninafjte  unb  ben  beutfdjen  Regierungen  eine  Der* 
fdjcirfte  2luffid)t  auf  bie  Schriften  beS  jungen  35eutfd)Ianb  aus 
4?er$  legte,  baß  ber  öfterreidjifdje  BuubeSpriifibialgefanbte  ©raf 
9ftünd)  gerabe  ©ujjfowS  „SBallp"  als  ein  djarafteriftifdjes 
ifSrobuft  ber  neuen  bie  Stüfcen  ber  ©efeflfcfjaft  imtergrabeuben 
Richtung  anfü^rte.4*  SBenn  nun  aber  ofjue  jebe  5Rüdfid)t  auf 
bie  geitfolge  ber  (Sreigtiiffe  ber  ^rogeß  gegen  ©uhfoiu  immer 
loieber  mit  ber  Reaftion  in  ßufammenfyang  gebraut  unb  gleidjfant 
ber  ganje  2Retternid)fd)e  Apparat  beStuegeu  in  Bewegung  gefegt 
wirb,  fo  liegt  baritt  eine  burd)  nichts  gerechtfertigte  Betleumbung 
beS  babifdjen  RichterftanbeS,  welche  ebenfo  unoerautiuortlid)  ift, 
wie  bie  gegen  SOiengel  erhobene  Slufdjulbigung.  dagegen  fönnen 
wir  ©ufcfowS  Bertfjeibigung  oon  bemBorwurfe  fophiftifdjer  fünfte 
nicht  freifprecfjett.42  Cbwoht  er  in  feinen  Antworten  auf  RlengelS 
ftritif  bnS  ©egentljeil  fcßon  ha^  »mb  ha^  jugeftanben  hotte, 
wollte  er  je&t  feinen  Roman  lebiglid)  nach  äfttjetifchen  ©efidjts* 
punften  beurtheilt  wiffett,  unb  glaubte,  jebe  Xenbeng  in  ?lbrebe 

*2*  (51) 


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20 


[teilen  ju  bixrfen.  3mmet^in  tjatte  [eine  Verttjeibigung  ben 
©rfolg,  baß  ber  ®ericht«f)of  ant  12.  Sanuar  1836  »on  ben 
bttrd)  ben  @taat«anwa(t  au[ge[tetlten  brei  Slnflagepunftett  bie 
Slnflage  wegen  ,,©otte«tä[terung"  unb  wegen  „2>arftetlung  utt* 
flüchtiger  ©egenftänbe"  »erwarf,  ißn  bagegen  „ber  burd)  bie  ^re[[e 
begangenen  »eräcf)ttichen  $)arftettung  be«  ©tauben«  ber  djrift* 
Iidjen  9WigtonSge[eH[d)aften"  für  [djulbig  ertlärte  unb  flu  »ier 
2Bod)en  ©efängniß  unb  31t  einem  ^Drittel  ber  ißrofleßfoften  »er* 
urtfjeitte. 43  $a«  Urzeit  betonte  at[o  bie  Unmöglichfeit  [traf* 
rcdjtfidjen  ©infeßreiten«  gegen  gcrabe  ba«jenige,  wa«  fDlenflet  an 
ber  neuen  SRidftung  [ür  franjöfifche«  ©i[t,  ber  83nnbe«tag  [iir 
[taat«gefährlich  erftärt  hatte. 

Vom  30.  SJloöember  1835  bi«  jum  10  gebruar  1836 44  ein* 
[d)lief3lidj  ber  llnterfud)ung«haft  mailte  nun  ber  £eget[d)üter,  wie  er 
nicht  unwijjig  bemerft,  »on  bem  „Stuffichbeflogenfein"  be«  Vegriffe« 
bie  praftifdfe  9?u^ant»enbung.  3n  ber  eittjamen,  nur  burd)  bie  ein* 
tägige  SD?itgefangen[d)aft  be«  ©djaufpieter«  Itjeobor  35öritig4J  »or* 
iibergetienb  mit  grote«fen  SBifbcrn  erfüllten  3eKe  be«  ehemaligen 
SJiannheinter  Äaufhaufe«  ber  mit  [einen  ©ebattfen  feef  in«  litt* 
getneffene  fdjweifenbe  [onberbare  Schwärmer  — wahrlich  eine 
[ett[ame  SQuftration  ju  ber  mephiftophetifdjen  ©entenj: 

®uo  bem  $alaft  in«  enge  &au$, 

So  bumm  tauft  eö  am  Snbe  boef)  tjinaiib. 

|)ier  ttun  mochten  alte  afabemifdhe  ©rintterungen  in  ©ujjfom 
auffteigeit,  h*fr  »wehte  er  baran  bettfen,  wie  $egel  ein[i  bei 
©clegenheit  be«  Slbteftiren«  3U  bem  angehenben  ©chriftfteüer 
gejagt  fjatte,  „wie  famt  man  [ich  nur  an  bte[en  SBolfgang 
sJJlciifleI  att[d)ließen!''46  Slucf)  ÜÄettflel«  itritif  hatte  nun  gegen 
ben  einft  »ott  ihr  gefeierten  Verfaffer  »on  „SJlaha  ©uru"47  ihre 
attbere,  befanntlidj  etwa«  rauhe  ©eite  her»u«gefehrt.  Unb  wie 
ihm  [o  [eine  eigene  Vergangenheit  gteichfant  hM^rifd)  werben 
mußte,  [o  Wählt  er  fid)  jept  ben  bialeftifchen  ißrofleß  be«  hiftorifdjeit 

(5J) 


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21 


SebettS  jum  ©egenftanbe  feines  SRadjbenfenS,  mtb  eS  entfielt  — 
eine  ©efäugnifjarbeit48  im  ftrengftcn  SSortfinne  — bie  Sdjrift 
„3ur  ^^ilofop^ie  ber  ®efd)id)te". 

3u  bem  ©orworte  bejeidjnet  ber  Söerfaffer  als  feine  einzigen 
CueHett  bie  SSanbinfdjriften  unb  geufterfrißeleien  feines  ?luf« 
entbaltorteS.49  Später  aber  l)at  er  jugeftanben,  baß  er  gegen 
Gnbe  feiner  $aft  nom  ?lntiquar  eine  ©iidjerfifte  erhielt,  bereu 
3nf)alt  jebodj  größtentbcilS  ju  anberen  litterarifc^en  3rce£fen 
oerroenbbar  gewefen  fei.  3Bir  fönneu  bem  fiefer  beit  9?ad>roeiS 
nid)t  erfparen,  baß  biefe  ©ebauptuug  wie  fo  manche  anbere  ber 
„fRürfblide"  eine  ungenaue  i|t.i0  Gin  ©ud;,  Kants  „Gwiger 
griebe",  lag  ihm  jebenfallS  uor;  benn  er  gicbt  nidjt  nur  auf 
3.  223 — 33  eine  genaue  Slnalpfe  beSfelben,  foitbern  bringt  and) 
jwei  ftiliftijdj  nur  wenig  oeräuberte  wörtliche  Gitate. 51  Gine 
fpätere  Ginfd)iebung  beS  Kapitels  „Krieg  uitb  griebeit"  ift  aber 
faunt  juläffig,  weil  bie  ©orrebe  fdjon  aus  bem  2Rär$  1836 
batirt.  §(ud)  fRouffeauS  9luSjug  aus  bem  ewigen  griebenS- 
traftat  St.  ©ierreS  {djeint  er  bireft  benufet  $u  fjaben,  jebocfj 
in  einer  ber  bei  SRouffeauS  fiebjeiteu  berau^gffommeneit  9luS- 
gaben  ber  2Berfe,  ba  er  fRouffeauS  Kritif  nidjt  fennt  unb 
infolgebeffen  bie  Meinungen  beS  ©euferS  unb  beS  Slbb»'-  uer> 
roecbfelt.:'ä  SSeitere  birefte  CueHen  finb  nicht  nachjuweifen. 
Xer  Slutor  fniipft,  wie  fd^on  erwähnt  würbe,  an  frühere  ©ebanfen« 
reifen  an,  wie  benn  gleich  ber  Anfang  über  bie  SdjicffalSibce 
ber  ?Uten  an  bie  ©reiSfdjrift  »oit  1830  erinnert.  $aß  .fpegel 
babei  eine  große  fRofle  fpielt,  fcßeint  felbfttierftänblid),  obwohl 
©ußfow  bie  ©orlefungett  über  ©bilofopbie  ber  ©efdjidjte  oer« 
muthlich  gar  nicht  gehört  bat,  ba  er  int  SBinter  1830/31  faft 
fein  Kolleg  mehr  befuchte.  2lber  eine  fritifcße  SluSeinanberfefcuitg 
mit  bem  $egelf<hen  Spfteme  barf  mau  bie  Schrift  nidjt  nennen. 
Xiefe  war  in  ihrer  Slrt  fchoit  feßr  t>iel  früher  erfolgt. 

Schon  als  Stubent  fatn  ©ußfow  bei  fpegel  „nid)t  über 

(33) 


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22 

bie  eine  Wippe  pinweg,  baß  baS  ©enfeu  gleid)  jein  füllte  bent 
realen  ©ein" ! 9Jfit  bem  jpäteren  fionuerttten  Soel  3acobt)  unb 
einigen  anbereit  ppilofoppifcpett  greunbeit  patte  er  bamal^  bie 
Gncpflopäbie  |>egefö  ißaragrapp  für  ißaragrapp  bunpgenommen, 
um  fid)  itacp  Saeobp«  SluSbrucf  ju  überzeugen,  „was  baran 
©inu  ober  Utifinn  fei".53  SSenit  er  aber  aud)  auf  ba«  ©pftem 
als  foldjeS  nie  gefdjworeu  patte,  fo  fanu  er  boep  beit  Hegelianer 
in  ber  golge  uid)t  oerleugtten  uub  ift  auep  feinerfeit«  nidjt  ganz 
frei  non  jenem  oon  ipm  felbft  gejepilberten  S3raminenftolz,  mit 
welcpem  ber  berliner  ©tnbent  oon  1830,  tocitn  er  in  ber 
Slotlegienmappe  unter  feinem  §(rmc  ba«  bei  Hegel  naepgefepriebene 
Heft  füplte,  auf  bie  armen  J)enfparia3  peruuterfap.  ©o  oiel 
alfo  aud)  in  ber  ©ejcpidjtSppilofoppie  balb  für,  balb  gegen  Hegel 
fritifirt  wirb,  ba§  Sfteue  beS  IBudjes  muffen  toir  bod)  auf 
anberem  ©ebiete  fucpeit.  G«  beftept  zunäepft  bariit,  baß  wir 
gleicpfam  einen  ißrofafommentar  zu  ©ußfowS  älteftcr  Jragöbie, 
bcin  Sefcbrama  „9fcro"  (1835)  empfangen. 

Söir  ntüffen  un«  bas  uäpereGingcpen  auf  biefe  intereffante  burdj 
Jietf  beeinflußte  Sugenbfcpöpfung  bcs  J>id)terS  oerfagcit,  in  wclcper 
wie  in  feinem  anbereit  feiner  SBerfe  bie  ftarfen  unb  bie  fdjwacpen 
Seiten  feiner  Begabung  nnoermittelt  nebeneinanber  zu  Jage  treten, 
©teilen  ooH  ©oetpefepen  JieffinnS,  in  beit  bureß  ben  „gauft" 
populär  geworbenen  Hans  ©adjSfcpen  ituitteloerfen,  weepfetn  ab  mit 
ben  paarfträubenbften  ©efdjmadlofigfeiteu;  bas  ©anze  aber  ift  iibcr= 
Zogen  mit  einem  biepten  9?eß  politifeper  unb  litterarifdjer  5lnfpielun> 
gen,  weldjc  bie  ©ieptung  fcpou  bem  Sefer  oon  1835  ungenießbar 
tuaepen  mußten.54  H*er  nun  fiiprt  ©upfow  bie  alte  unb  bie  neue  geit 
ein  in  ben©eftalteu  beS  jungen  mit  fidj  felbft  uneinigen  Julius  Sßinbey 
uub  beS  refiguirten  Ginfiebler«,  ber  fid)  am  ©djluffe  beS  ©efprätpe« 
als  GorneliuS  Jacitu«  zu  erfennen  giebt.  3?er  Giufieblcr  ift  längft 
bei  bem  ©lauben  angelangt,  baß  oor  ©ott  alle  ©ejdjicpte  nur  wie 
ein  Jag  fei.  ©eine  SiebenSweiSpeit  faßt  er  zufanunen  in  bie  Sporte: 

(M) 


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23 


$11  fjdft  beut  Sieben  immer  redjt  gelohnt, 

3Benn  bu  bem  SRedjte  folgft,  bne  in  bir  rooljnt. 

Slber  ber  3üngting  ftudjt  biefem  ©tauben,  er  fiubet,  baß 
bie  SSelt  ber  £et)re  beS  Sitten  noch  immer  baS  tlmgcfetjrte 
entgegengeftctlt  ^abc,  bie  3u^UTlft  Wf#  er  fid)  »ich*  rauben,  beim 

'Jiidjt  bac  Vtltc  roirb  mieber  jung; 

$a*  3ungt  laufe  ^um  erftenmal  fid)  se*flcn- 

SltS  er  fiel)  aber  auf  eine  nähere  @d)itberuug  ber  3ied)te 
her  3ugenb  einläfjt,  ba  entgegnet  itjm  emft  ber  (Sitifiebler: 

3^r  Ijafet  bie  Jtjrannei!  bodi  iljre  Srioolität, 

$ie  ift'e,  bie  eud)  p Sinne  ftclit. 

$ie  SluSfiihrung  ber  in  $ürge  roiebergegebeneit  ©ebanfeit 
(eibet  mic  ber  gange  „9tero"  an  Unftarfjeiten.  £aS  aber  mirb 
jebem  Sefer  fofort  ftar,  baft  gmei  ©eeten  in  beS  Xicfjterd  ©ruft 
wotjneit,  baß  er  bie  einem  SacituS  in  beit  äJiuitb  gelegten  @in> 
würfe  fid)  felbft  madjt.  @r  füf)(t  baS  ^Mfdje  unb  Sdjiefe  in  ber 
gangen  5Rid)tung  beS  jungen  ©eutfchlanb  unb  fann  fid)  um  beS 
non  if)r  angeftrebten  ©Uten  mitten  hoch  nic^t  non  itjr  IoS- 
matten.  3n  ber  „sptjitofoptjie  ber  ©efd)id)te"  ift  jebod)  bie 
ßntfdjeibung  gu  ©nnften  einer  männlichen  'Oiefigitation  au$ge= 
fallen.  „Seben"  — fo  Reifet  eS  je$t  (©.  143)  — „ift  fein  ©enufj. 
Sieben  ift  eine  Slnfgabe."  3)ie  ©eurttjeitung  ber  ©efdjichte, 
beren  eingiger  ,$med  eben  Sieben  ift,  fjtrt  atfo  non  biefem 
safte  auSgugel)eu.  $aS  SRättjfet  ber  ©efd)id)te  mirb  au  jebem 
läge  gelöft,  „an  jebem  Ütage  ift  baS  @ube  ber  Söett".  ÜJJit 
biefer  inbtoibuotiftifchen  Slnfid)t  ber  ©efdjidjte  hängt  bann  and) 
gufammen  eine  mefentlid)e  Stenberung  feines  Urtfjcilä  über  bie 
Steftimmung  beS  SBeibeS.  $enn  fo  menig  bis  bahin  baS  3Bcib 
als  fotdjeS  in  ber  @efd)id)te  als  bem  Jummclplaj)  ber  fieiben« 
jdjoftcn  auftreten  foitnte,  „meit  eS  feinen  Snftinft  ber  ÜJiaffe 
bat  unb  feine  ©pmpathien  nur  bem  (Eingeliten  gelten",  fo  mirb 

155) 


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24 


bod)  ber  SluSgang  ber  ©efäidfte  bie  töeruffigung  bcr  £eiben« 
haften  uitb  „ber  Sieg  beS  weiblichen  ^ßrinzipeS"  fein.  9?id)tS 
aber  entfernt  unS  tueiter  oon  biefent  $iele  als  bie  fogeitannte 
Smanjipation  ber  grauen,  „bie  atbernfte  3bee,  welche  unfer 
Zeitalter  auSgehedt  hat".  (S.  148 — 50.) 

Wicht  minber  iiberrafchenb  wirft  baS  ©eftänbnijf  beS  Skr* 
faffevS,  baff  er  beu  333eg,  ber  zum  giele  führen  füllte,  mit  bem 
giele  fclbft  uerwechfelt  fjat.  £ettit  er  abftrabirt  bod)  wieter 
nur  uon  feiner  perjönlichften  (Erfahrung,  wenn  er  fagt  (164 — 65): 
„Xie  griihreife  beS  SclbftbemufjtfeinS  ift  baS  moberne  Unglücf ; 
beim  ber  günglittg  ahnt  nicht,  baff  feiner  jc^igen  3beenftaffel 
nod)  ^öftere  folgen  werben,  bafj  in  einem  Safjre  alle  feine  93e* 
griffe  eine  anbere  SSenbung  genommen  fjabeit,  er  wartet  bie 
geit  nicht  ab,  fonbern  beginnt  fogfeich,  feine  erfte  it)m  flar 
geworbene  3bee  auf  bie  pofitioen  Skrhältitiffe  überzutragen  . . . 
SJtan  nehme  nur  in  Teutfdjlanb,  wie  lange  währt  eS,  ehe  man 
bie  Senbenjen  eines  Ülrabt  unb  Sahn,  bann  biefenigett  eine« 
©örreS,  Sied  unb  Slrnim,  barauf  bie  eines  Steffens,  enblid) 
bie  •'pegelS  ober  SchellingS  überfianbcit  unb  julefjt  fich  felbft 
gefunben  hat!  ®ei  biefeit  oier  SWetamorphofen  hat  ntan  auf 
jeber  fchon  hun&wt  Jhorh£'ten  begangen  unb  fann  fidj  unb 
feine  gamilie  an  beu  fRaitb  beS  SlbgrunbS  gebracht  hab£n-:,:’ 
hiermit  ift  ber  wahre  geinb  ber  mobernen  ©efellfdjaft  gezeichnet, 
unb  ich  forbere  alle  Staatsmänner  auf,  biefe  merfwiirbige  (Er* 
feheinung  mit  philofophifchem  Wadjbenfen  ins  Sluge  $u  faffen." 

Sie  »erblüffenbe  Sicherheit,  mit  ber  h'er  ©ufcforo  als 
einziges  fRettungSmittel  „gegen  bie  ©ährungSprozcffe  ber3ugenb" 
eine  llmgeftaltung  uitferer  Schulen  unb  Unioerfitäten  bezeichnet/’8 
ift  unS  babei  hoch  ein  erfreulicher  beweis  bajiir,  bah  feine 
(EmpfinbungS*  unb  Senfweife  hinter  b£u  vergitterten  geuftern 
ooit  ihrer  Sugenbfrifche  nichts  eiugebiijjt  hot-  Sluch  bie  guoer* 
fid)tlid)feit  feiner  ftritif  erinnert  au  feine  oierunbzwaitzig  Sahte- 

156) 


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25 

Xa  erfahren  wir  ju  unferent  grftaunen  (39),  baff  in  beit 
jpanben  §erber£,  be$  SantgegnerS,  be$  oon  bem  ÜJforalpolitifer 
Schleifer  Unoerftanbeneit,  aus  ber  ©hilofavh'r  ber  gefdjidjte 
fine  Äritif  berfelben  geworben  fei,  bafc  ^erber  „jene  moralifch 
politifchen  ß^rien  oeranlajjt  fjut,  reelle  ein  eigentümliches! 
Stabium  ber  beutfd)en  Schulbilbung  bezeichnen",  unb  man  ift 
unter  foldjen  Umftänben  nur  zu  fel)r  geneigt,  unbere,  HerberS 
Eigenart  treffenb  wiebergebenbe  Stellen 57  lebiglid)  für  ßnfaüS« 
treffet  be£  geiftreidjen  Sournaliften  zu  hflften. 

gin  weiteres  gingehen  auf  ben  3nhalt  ber  Schrift  oer- 
lohnt nicht  ber  SDliihe.  ginfall  reiht  fief)  an  ginfall,  feie  feuifle- 
toniftifche  ©ointe  jdjeint  häufig  Selbftzwecf,  unb  ba$  zufummen* 
faffenbe  ©anb  einer  einheitlichen  SBeltanfchauung  fehlt  burchauS. 
®u$foro  felbft  bebauert,  baß  er  nicht  wie  SWonteSquieu  burd) 
X'üragrapheneintheilung  feinem  '-Buche  einen  ^tnfdjein  ooit  XiS- 
pojition  geben  bürfe,  ber  es  anbererfeitS  bod)  um  fo  mehr 
bebürfe,  als  ber  Hauptfehler  feiner  Schreibart  ihre  Unruhe  fei. 
(Sine  burchgehenbe  Xenbenz  unb  in  biefer  Sefchränfung  and) 
eine  StuSeinanberfehung  mit  .'pegel  liegt  allein  barin,  bafj  er  fid) 
toie  fein  3uliu$  SBinbej  bie  ßufunft  nidjt  rauben  lägt.  (50.  236.) 
Seine  Shmpatbien  weilen  bafjer  troj}  aller  fritifdjen  ©ebenfen 
bei  bem  genfer  ^ß^ilofop^cn,  unb  wir  bürfett  jagen,  baß  bie 
$eit  baran  nichts  geänbert  hat.  Slod)  zwei  3ahrJehnte  fpäter 
hat  er  eS  eben  jo  tief  wie  fcf)ön  au$gefprod)en,  bah  bie  oon 
diouffeau  aufgebaute  neue  Siklt  bei  aller  Unmöglichfeit  bod) 
noch  jefct  baS  abftrafte  Qbeal  ber  Xenferbruft  geblieben  ift! 
„Sehre  man  oon  ber  9lothwenbigfeit  bei  ©eftehenben  was  man 
toiH,  StlantiSinfeln  ber  Xinge,  wie  fie  fein  füllten,  jehwimmen 
hoch  immer  in  unferer  Mhnung!"68 

Such  bie  politifche  Seite  feiner  3ufunft$träume  hQt  unS 
nicht  weiter  zu  befdjäftigen.  Seine  Stimme  oerhallt  in  bem 
mächtigen  gfjoruS  ber  $eit.  ^Sichtiger  ift  unS  ein  fleiner,  uu- 

(57) 


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2G 

fdjeinbarcr  Saß,  in  bem  fic§  ber  93erfaffer  ber  „Witter  Dom 
©eifte"  anfiinbigt.  35ie  Jßatfadje,  baß  bie  3bee  be$  römifdfen 
3mperium8  bie  gan^e  mittelalterliche  SBelt  bewegt  fjat,  füfjrt 
i()it  auf  ben  ©ebanfeit  (53),  „baß  bie  gorm  ber  ©efdjicßte  nid)t 
9luf»  unb  Slbfteigen,  nid)t  ber  fonjentrifdje  Kreis  ober  bie  Spirale 
ift,  fonbertt  ber  cpifdjc  fßaralleliSmuS,  halb  fongruirenb,  balb 
biuergirenb".  ©8  oerfcßlägt  nid)t3,  baß  ©ußfow  im  ©runbe 
bamit  abfolut  uidjtS  fReucS  fagt;  beim  baS  £>ereiitragen  einer 
übenuunbenen,  ber  ©ergangenßcit  augeböreuben  f^eriobe  in 
fpätcrc  ßiftorifdie  ©ntwicflungSreißcn  fdjließt  aud)  baS  £)cgelfd)c 
Stjftem  nid)t  an«.  ?lbcr  wass  ©ußfow  l)ier  nur  als  ein  ©eweiS 
gegen  bie  ©eroaltfamfeit  |>egclfd)er  Slonftrnftioncn  bienen  füll, 
Derbicßtct  fid)  oieraefju  3af)re  fpnter  ju  ber  uielbefprodfeucn 
Üßeorie  beS  „fRebeueinauber" . 

3n  ben  „fRitterit  Dom  ©eifte"  unb  nod)  burdjgebilbeter 
im  „gauberer  t>on  fRont"  wirb  ber  cpifdje  fßarnllelismuS  nidjt 
mehr  bie  gorm  ber  ©efd)id)te,  fonberit  bie  gorm  beS  fRomanS. 
T’ajwifeben  liegen  bie  faft  anSfcßließlid)  bramatifcfjen  Arbeiten 
gewibmctcu  Dierjigcr  3aßre,  in  weldjen  ber  $icf)ter  feine  STljcorie 
junäd)ft  auf  baS  ®rama  auwenbct,  befanntlid)  jum  größten 
Sd)aben  für  boSfelbe.  ©rfdjcinen  bod)  Diele  feiner  5)rameu 
als  Derfcßlte  Gjrperimentc  lebiglid)  burdj  baS  gefjlcn  ber  „ab< 
folutcn  Kontinuität  in  ben  gaften  einer  ©rjäßlung",  gegen 
weldje  fid)  fein  fritifd)e8  ©ewiffen  uou  jeßer  gcfträubt  hatte, 
wo  fein  fünftlcrifd)e8  ©ewiffen  bod)  Dollfommen  fjätte  beruhigt 
fein  biirfen.  ©r  felbft  erjäfjlt  in  ben  „fRiicfblicfen"  (280),  baß 
eine  Aufführung  feiner  „beiben  SluStoauberer"  (1843),  ber  er 
beiwohnte,  in  ifjm  einen  Umfdjwung  bewirft  ^abe.  Silber  wenn 
er  aud)  jcjjt  jugefteßen  muß,  baß  „baS  $rama  bie  feltenen 
gälle  eines  braftifcßen  SRacßeinanber  aufgreift"  — eine  ©infidjt, 
welcher  ber  $id)ler  bie  bleibenbc  ©iißuenfäfjigfeit  Don  „gopf 
unb  Schwert"  mtb  „Uriel  Sifofta"  uicßt  atn  wenigften  Derbauft 

ibV. 


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27 


— fo  foll  bagegen  ber  neue  fHomatt  bc$  „fftebeneinanber"  feilten 
äbfdpiitt  be§  Sefaenö,  fotibcrn  beit  gangen  runben,  t»o[Icii  Kreis 
jur  Tarfteflung  bringen.  Gr  bcriitffidjtigt  nid)t  allein  „bie 
älienft^en,  bie  gtt  ber  ergäben  ©efcfjidjte  gehören",  er  fiifjrt 
nn$  aud)  aDc  bie  uor,  „bie  ifjr  nur  eine  niibcrftrafjlte  ®eleudj* 
tung  geben". 59  ©ein  SSefeu  ift  „bie  formelle  unb  ibeeüe  Se> 
güglidjfeit  ober  Korrelation",  tuottad)  „ein  SDfeufdj  luiffeutlid} 
ober  imroiffentlid)  ben  anbertt  tuid)tig,  tuertfjooll  unb  notfjmeiibig 
eridjeint". 60  Xa$  toafjre  9febeiteiitanber  unferer  SBeltbegietyungen 
fennt  Gott  allein,  aber  ber  £idjter  fann  cd  netten.61 

SU»  bie  Angriffe  auf  bie  neue  Theorie  uidjt  auöbliebeit, 
äußerte  ©ufjfon)  fein  ©ebaitertt  bariibcr,  bafj  er  baS  ©efjeimnifi 
ferner  Kunftform  gleid)  gtt  Slnfattg  offen  au3gcfprocf)cn  tjabc. 
Teint  „bie  gorm  K>  if>nt  ettuaö  unb  luefenllid)  fei 

itjm  nur  ber  ©ebanfe".  Stber  Joritt  unb  ©ebanfe  gefjen  t)ier 
bodi  gang  ineinanber  auf,  mtb  eS  uerbient  bemerft  gtt  toerbcn, 
ba§  fogar  ber  eigentümliche,  ftjntbofifdie  ©ebanfe  eiltet  ©e- 
fjcimbunbeö  ber  „Witter  oom  ©eifte"  in  jener  Sugeubfdjrift 
ebenfalls  fdjon  angebcutet  toirb,  tuemt  ©tt^foto  fagt  (3.240), 
baß  „in  aflett  UcbergangSgeiten  gunädjft  bie  2Untojpf)äre,  in 
melier  bie  3nbiüibuett  Ijöfjerer  ©egabuitg  fid)  ttodj  gu  atfjmen 
getrauen,  oon  ber  2Birf!id)feit  abtoeidjen  tucrbe".  SJiögeit  baljer 
Stnbere  unterfudjcn,  ob  er  mit  ber  SBefjauptung  redjt  fjat,  baff 
ti  iljm  mit  ber  fßoefie  gefje  toie  fieffing  mit  ber  3Saf)rf)eit,  fie 
bleibe  ifjm  ctuig  bie  ferne  ©eliebtc,  uns  fam  e£  f)ier  nur  barauf 
an,  in  jenem  oergeffenen  öudje  bie  Süerbiubungögtiebcr  gtuifdjeit 
GuffomS  Sfttfängett  unb  feinen  fpätereit  ©djöpfungcn  großen 
Stile«  nadjginoeifcn. 


(50) 


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Stnmerfuugen. 

Seinem  (ünftigen  Siographcn  l;at  Wufcfow  fclbft  ein  reiches  bio> 
graphifdjcS  Staterial  Ijinterlafien.  frür  unferen  3™e(*  fnmen  in  Setradjt: 
2lu$  ber  Unaben.^cit.  ffranffurt  a.  3)2.  Witter.  Slnfialt.  1852.  — Tie 
fdjöneren  Stunben.  JHücfblicfe  non  ft.  ®.  Stuttgart  1869.  Bebensbilber. 
'JJooeUen  unb  Stilen  oon  ft.  &.  Stuttgart  1870  Sb.  2.  — iHüdblidc 
auf  mein  Heben.  Berlin  1875.  — Tie  für  GlöbrfeS  ©runbrijj  »erfaßte 
autobiographiiehe  Sfijje  in  ber  ©egenmart  IG  (1879)  3.  394  ff.  — Tie 
Sorrebcu  ju  ber  erften  'Ausgabe  ber  „Otefammelten  3Berfe"  (citirt  SJcrfej 
Sranffurt  a.  5D2.  1845  ff.  in  13  Säubcn.  — Aufjerbem  glaube  itij  burefj 
biefe  Stubie  zu  bemeifen,  mit  reich  feine  Schriften  an  Setbftbefenntniffeu 
finb.  3ur  meine  oon  ber  bisherigen  oöüig  abroeichenbe  Tarfteflung  bes 
©atlpprozeffeS  l)obe  ich  bie  Unterfud)ung$aften  (citirt  U.  •21.)  gegen  OJubfoiu 
unb  Höwenthal  iftarlSruhe  WenerallanbcSarchit).  Slannheim  3543)  jum 
erftenmate  benufct,  welchen  auch  bie  int  Anhänge  mitgetheilten  Schreiben 
entnommen  finb. 

1 SKündjhaufen.  Originalausgabe,  Tüffelborf  1838.  I.  S.  85  ff. 

* SBrrfe  4.  Sanb,  1—153.  llnfere  Gitate  nach  brr  erften  Ausgabe. 
Hamburg  1836. 

s Tie  beutfehe  Aatioualtittcratur  in  ber  erften  .frälfte  beS  neunzehnten 
^ahrhuubcrtS  2 A Sb.  2,  85. 

4 Son  biefem  Hobe  mochte  ich  nur  ungefähr  bie  erften  4 Sogen  aus- 
nehmen,  auf  welchen  &.  in  unerträglicher  SEBeife  über  feine  fyamilie  wißclt. 
Gr  h<»t  r«ch  foft  immer  in  feinen  Gkgcnftaub  erft  f)inetnfcf>reibcn  müffen. 

6 ft  naben  jeit  72. 

8 Gbenba  62  ff. 

I Bcbensbitbcr  2,  62. 

* Stnabcnzeit  49. 

* Bcbcnsbilber  2,  45  -126:  „TaS  ftaftanicnwätbdien  in  Serlin", 
bei.  S.  62. 

*•  SJüdblicfe  26. 

u Bebeusbilber  2,  100  ff. 

'*  Gbenba  108. 

II  finabenjeit  136. 

14  Sorrebe  jn  „EOiaha  Wuru",  Skrfe  5.  Seite  6. 

16  SdjleiermadjerS  Sertraute  Sriefe  über  bie  flucinbe.  S2it  einer 
Sorrebe  oon  fi.  &.  Hamburg  bei  .fjoffmann  unb  Gampe.  1835.  3.  XI. 

tt») 


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29 


“ „Ter  einzige  Briefter,  bcr  bif  Jöerpn  traue,  fei  ein  entpdenber 
Sugenblid,  nicht  bic  ftirdje  mit  ihrer  Geremonie  unb  ihren  gefchciteltcn 
Itenern!" 

17  3n  bem  ftapitel  über  Religion  ©.  71  ber  fMusgabe  Don  Gnuer  = 
Serie  VII  Dgl.  SR.  iiatjnt.  28.  b.  $mmbolbt.  Berlin.  1856.  ©.  60 

” 3«  ber  „Sallt)",  Serie  13.  116  (t*gl.  SRüdblide  141 ) r „©ie  wollen 
bae  Bncf)  nicht  heeausgeben.  ©ie  fürchten,  bat?  au*  bem  Dergilbtcn  Bapier 
jener  Äritif  Motten  fliegen,  bie  baS  Ghriftenthum  felbft  anfreffen  " 

19  SRüdblide  20. 

” 11. ‘8.  f.  19.  auSfagen  beS  BcrlegerS  Söroenthal.  Mannheim. 
1835  9?oo,  17.,  bamit  libereinftimmenb  SRüdblide  Hl.  Die  betreffenbe 
ecene  in  ber  Söalltj,  28erle  13,  23;  nach  ber  im  91od.  1831  getriebenen 
^otTebe  p berielben  (13,  XVI)  hätte  ber  BuSruf  gelautet:  „28ie  läfjt  fich 
begreifen.  was  mir  glauben  fallen ! “ Dgl  auch  8nm.  42 

*'  Serie  13,  XVI. 

11  Beilage  SRr  1. 

,s  Serie  13,  181  in  ber  „appcßation  an  ben  gefunben  Menfdjen- 
rerftanb.  Siebte«  Sort  in  einer  litterar.  ©treitfrage.  tfrranlfurt  1835." 

u Serie  13.  4.  Seiber  tonnte  ich  bie  Mannheimer  Originalausgabe 
ber  Saßt)  nicht  auftreiben,  borf)  ift  bcr  Slbbrud  in  ben  Serien  nach  ©S 
8erfid)erung  (13.  XXVH)  nur  in  unmefcnflichen  Dingen  geänbert. 

,J  13.  138. 

* 13,  110.  9Iuf  biefe  ffigur  fpielt  Söroenthal  an,  wenn  er  11.  81. 
f.  29  fagt,  baß  „im  3.  Buche  bie  Gharatteriftit  eine*  Ijtcfigen  (b.  h-  Mann- 
beimer)  SrauengimmcrS  Dorlomme,  ein  llmftanb,  ber  ihn  ebenfofehr,  als 
bie  Angriffe  auf  bie  SReligion  in  Unannehmlichteiten  Dermidelc". 

13,  132  unb  151-53. 

*•  13,  159  unb  162. 

” 13,  XXI  unb  „©egenroart"  16,  395. 

*’  0ef.  ©chriftcn  unb  Dichtungen  1.  A.  1,  37  ff.  2.  A.  1,  20  ff. 

Jl  Borrebe  p ben  Sucinbebriefen  XXXV : „©chämt  euch  ber  Scibcnfchnft 
aictt  unb  nehmt  baS  ©ittliche  nicht  wie  eine  3nftitution  bes  ©taateSi  Stör 
allen  Dingen  aber  benft  über  bie  Metbobif  ber  Siebe  nach  unb  heiligt 
euern  Sißen  baburch,  bafi  ihr  ihn  freimacht  pr  freien  Sahli"  Dgl  bamit 
feine  Selbftfritif  13,  XXVI:  „Diefe  abälarbpljantafie  hat  etwa*  fomtjch 
SlateinifehrS  unb  fcheint  gerabep  aus  bem  5tl öfter  p fommen!“ 

u Münchhaufen  1,  222  b.  Originalausgabe. 

” Sitteraturblatt  auf  baS  3ah*  1835  .©.  369—76  Dom  11.  unb  14. 
September.  ©u^IoniS  Sntmort  d.  d.  ffrantfurt.  13.  ©eptember.  Beilage 
b.  tÄOgem.  3e*t-  (1835  ©eptember  19.)  ©.  1498.  „3mcitc  unb  brittc 
Abfertigung“  MengelS,  Sitteraturblatt.  September  28.  unb  Cttober  19. 

(61) 


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30 


®.  3%  unb  426.  ®cmeinjcf)aftlidjc  Grflärung  ©upforod  unb  ©Jienbargd 
in  Sachen  ber  „Scutfcpen  9ievue".  ©eil.  ber  Aflg.  Beit.  Cftobec  23. 
Untere  Gitate  aud  Siitteraturbl.  S.  371,  374,  428.  Aufjerbem  erfebienen 
nod)  üon  ©uptem  „©ertbeibigung  gegen  ©tcnjel  unb  ©ericbtignng  einiger 
Urttjeilc  im  ©ublifunt.  ©tannheim  bei  Sörocntija!.  1835."  (mir  leiber 
niept  jugänglid))  unb  bic  in  Aumertung  23  citirte  „Appellation". 

34  Senbfdjrciben  an  St.  &.  ©ou  einem  alten  ©ationaliften.  ©tannheim. 
1836.  Aufgenommen  in  bie  ©Berte  13,  181*  ff.  unb  in  „SDed  Glro&beraogt. 
©ab.  igofgeridjtd  ju  ©tannheim  oollftänbig  motioirted  Urtbeil  über  bic  in 
bem  9t oman  SB.  b.  B-  angeliagten  ©rejjoergeben  nebft  jroei  reebtfertigenben 
©eilagen  unb  bem  Gpilog  bed  .yieraudgeberd.  Aftenftüde  unb  Semerfungeit 
beraudgegebeu  oon  Dr.  £>.  ©.  &.  ©aulud",  £>cibelberg  1836;  entbält  unter 
anberm  eine  „9iecbtdvertbeibigungdrebe,  roelcbe  oor  bem  AppeHationdgericbt 
hätte  gebalten  werben  tonnen",  in  welcher  ©aulud  S.  84  GJ.  fagen  läßt, 
Siemanb,  ber  bie  $eit  fenne,  werbe  fagen,  baß  er  biefen  Gäfar  erfunben 
habe,  vielmehr  trage  bie  .'pegelfcbe  ©bilojopbic  bie  ©erantwortung. 

M U.  -A.  $ad  9teftript  ^anbelt  in  ber  jpauptjacbe  von  Söwrntljal, 
welcher  in  ©tannheim  eine  ©ucbbn«bluiig  errichtet  tyabe , obwohl  ibm  fein 
©eiuep  am  11.  Auguft  abieblägig  beicbiebeit  worben  fei.  3m  Jranffurter 
3ournal  vom  18.  Dftober  3ir.  288  ftebt  nur  bie  Aotij,  baft  eine  ©efantit- 
maebung  im  Butelligcitjblatt  bed  batjerifebeu  Cberniaintreifed  bie  ©efcplag- 
nähme  ber  ©Ballt)  oerorbne. 

36  U. 'A.  27.  3»folgc  ber  SJtenselfcöeii  SKe^enfiott  war  bie  gattje  Auf- 
lage oon  700  Gjemplaren  trop  bed  ©reifet  von  3 fl.  in  turpem  vergriffen ; 
bei  Böwentpal  tauben  fiep  nur  jwei  Gjemplarc.  $ic  erften  ©erfeubungeu 
erfolgten  am  14.  Auguft,  nach  ©abeu  oerfanble  bie  Truderei  Sauerlänber 
in  3r“nffurt  im  ganzen  34  Gjemplare,  13  nach  ©tannpeim,  9 nach  Sarld- 
rupe,  9 nad)  fteibelbcrg,  2 nach  Breiburg,  1 und)  Slonfiattj.  ©Jegen  ber 
Jtonfidfation  ihrer  Gjemplare  erhoben  jwei  3nboberinnen  oon  Ueibbibliotbefen 
in  ©tannheim  oergeblid)  Anfprüche  auf  Scpabenerfap.  $cr  firiminalfenat 
bed  Jtönigl.  öericbtdbojd  für  beu  Stedarfreid  unterbriidte  unb  verbot  erft 
am  17.  Bebruar  1836  ben  ©oman,  worauf  bad  Stuttgarter  firiminalgericht 
am  8.  ©tärj  bem  ©tannbeimer  Stabtamt  1 Gjentplar  (sic)  iiberfanbte. 

37  3ür  Cbergcridjtdanwalt  .£>ofratl)  öerbel  in  ©tannheim  d.  d. 
Branffurt.  ©oveinbcr  27.  Sgl.  jum  Solgenbcn  äiüdblidc  150. 

38  11. -A.  3)ad  ©olijeiamt  b.  f.  Stabt  ftranffurt  au  Stabtamt 
©tannheim  ©ooember  23,  habe  ©.  mitgetbeilt,  bajj  er  auf  weiteres  An- 
juepen  bed  Stabtamtd  audgeliefert  werbe. 

” Uebendbilber  2,  139  „aud  Gmpfangdjimmern".  ©Benn  aber  ©.  aud) 
©Binter  oon  ©ten^eld  „Aufforberung  an  bie  9tegicrungen"  reben  lä&t,  fo 
ift  biefe  G)ebäcf)tnijjfcbmäebe  faum  mehr  ju  entfchulbigen. 

(62) 


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31 


40  91n  ©auluS,  Äarlsruhe  4.  ^uli  1830,  in  SKeidjlin  ©telbeggs  „©aulus 
unb  ffine  3eit".  Stuttgart  (1853)  2,  171. 

41  bcr  Sipung  Pom  10.  Tejcmber  1835.  Sgl.  Start  ftifcher,  bie 
Station  unb  ber  ©unbedtag.  Seipjig.  1880.  ©.  423  ff. 

45  U.«9l.  41  ff.  ©eint  crften  ©erhör  am  30.  'Jiooember  oermieS  6). 
auf  bie  „21ppelIation",  welche  er  täglicf)  aus  JJranffurt  erwarte.  „3dj  fue^tc 
bort  noch  einmal,  bie  ganze  Sadje  unter  ben  rein  litterarifdjen  @efid)t3punft 
,ju  fteDen,  unb  eine  Auslegung  ber  infriminirteit  ©unfte  ber  in  ber  Unter« 
iudiuitg  gegebenen  Schriften  aus!  ihrem  3ufommenbang  mit  ben  übrigen 
Tfjeilen  bes  al$  norübergctienbe  Srfcfjeinung  in  ber  litterarifdjen  ©Jett  fiel) 
barftelleitben  fRomanS  ju  geben,  moburd)  icf)  ^offc,  bie  Erhebung  förmlicher 
Snflage  $u  befeitigen.“  Sr  befemte  fid)  als  Serfaffer  aller  infriminirteit 
«teilen,  befemte  bamit  jebod)  feitteSmegö,  baff  bie  hierin  zur  Sprache 
gebrachten  3been  unb  2lnfid)ten  feine  eigenen  b.  tj-  biejenigen  feien, 
moburd)  feine  lieber jeugung  gebilbet  werbe,  unb  beren  Serbreitung  if)m 
angelegen  gewefen  märe.  „©ielmehr  — fährt  65.  fort  — finb  eS  Sleufjerungen, 
welche  einer  ober  ber  anbereit  ftigur  lebiglich  für  bie  bialeftifd)e  Sntmide« 
lung  ber  ganzen  3bee  in  ben  ffllunb  gelegt  finb.  Tie  ©runbibee  bcS 
iHontanS  SBallt)  ift  in  folgenbcm  enthalten:  3<h  wollte  ein  pjbdjologifdjeS 
©hänomen  ichilbern,  roeldjeS  baSfelbe  9iccf)t  auf  poetifdje  Tarftellung  hot, 
wie  bie  ©ferfudjt,  bie  Siebe  ober  irgenb  eine  anbere  Seibenicfjaft  bes 
menichlichen  perjenS.  3<h  wählte  ju  biefem  ^roeefe  ben  3roeifel,  nicht  um 
meine  Sefer  baju  jn  oeranlafjcn,  fonbern  um  bie  Serirrungen  jit  fdjilberu, 
auf  welche  man  ftöfjt,  wenn  man  ben  rcligiöfen  paltpunft  feines  Sehend 
oerliert.  ©iit  biefer  rein  poetifdjeit  Slbficpt  oerbanb  id)  eine  zweite,  nämlich 
einen  fiontraft  im  menfchlichen  (ilcmütl)e  }u  fehilbern;  id)  wählte  eine  9ie> 
oräfentantin  meiner  3bec,  wo'bci]  ich  mit  oon  bem  ©egenfape,  bafj  fie  ju« 
näd)ft  nur  eine  unbefangene  fofette,  burch  bie  Ülefellfrfjaft  raujehenbe  Sr« 
icheinung  bennod)  ein  (ilemüthsleben  iu  iich  hotte,  was  Slientanb,  bcr  fie 
betrachtete  unb  jclbft  ber  falte  Sgoift  Eäfar  nicht  bemerfte.  eine  poetijcfje 
©Sirfung  oeripradj."  grage:  TaS  Stapitel  über  bie  Religion  im  britten 
Suche  beginne  mit  bem  ©ape  ,,3d)  will  über  ben  ©lanben  fpreepen.'’  picr 
rebe  alio  ber  ©utor  felbft.  ©upfoiu:  pier  pabc  er  nur,  um  bie  Stataftrophe 
oorjubereiten,  alle  21  n ficht  eit  Säfars  jufatnmengefa&t.  Tiefer  bleibe  „in 
ihnen  berjelbe  falte  Jlnatont,  ber  in  allen  höheren  Tingen  immer  nur  auf 
ben  zufälligen  llriprung  berfclbcn  jurürfgeljt,  unb  nicht  im  flanbc  ift,  fid) 
auf  bie  pölje  bcS  Shriftcnthums  als  einer  welthiftorifchen  Srfdjeiitutig  ju 
ühwingen,  fonbern  überall  ganz  in  ber  SBcije  ber  alten  maleria(iftifd)cu 
jranzöfijchen  ©hMofoPhte  bas  3ufätlige  unb  Slnefbotenartigc  am  Shriftenthum 
beroorhebt.  Sr  jelbft  höbe  in  anbereu  Schriften  jolcpe  ©nfichten  über  2ic« 
ligion  unb  Ghr'ftcnthum  niebergelegt,  bap  ipm  um  fo  weniger  bie  hier 

(63) 


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32 


oorfommenben  9leußerungen  perfönlidj  imputirt  roerbcn  fönnten."  Cr  giebt 
jebocß  au.  baft  überall  baS  fßublifum  ber  Stnficßt  fei,  „baß  in  bern  fRontan 
im  allgemeinen  ein  frioofer  £on  ßerrfcße,"  erflärt  bieS  aber  „burcß  baS 
©fiäjenßafte  unb  gragmentariidje  ber  $arfteflung"  unb  burcß  ben  ftontraft 
in  SBalltjS  Gßarafter.  9luf  bie  grage,  roarum  er  in  feiner  ©ertßcibigung 
gegen  Wenjel  ©.  35  ben  3roecf  ber  fdjroffen  3lrt  feiner  $arftellung  nießt 
anjugeben  roage,  antwortet  ©.:  „3cß  ßabe  bie  Sertßeibigung  gefdjriebcn 
in  einem  Slugenblicfe,  roo  tcß  mir  bie  Wögliißfeit,  für  bie  Grfinbung  meinet 
fh'omanes  felbft  üerantroortlicß  ju  fein,  gar  nießt  oorftetlen  lonnte,  unb  roo 
icf»  bei  ber  aufgeregten  Weütung  beS  ©ublifumS  nit^t  mußte,  roie  id)  mir 
bei  einer  feßeinbar  eingetretenen  ©erroirrung  aller  litterarifdjen  ©egriffe 
ßelfen  füllte.  uaßm  in  meiner  ©ertßetbigung  nießt  bie  Meinungen, 

fonbern  nur  bie  Stimmung  ber  Gßarafterc  in  ©eßuß.  fagte  jogar,  baß  icß 
felbft  ©erroanbtfeßaft  mit  Gäfar  ßiitte,  aber  nur,  um  bie  Wöglidjfcit  eines 
GßarafterS,  uicfjt  um  bie  Ginfeitigfeit  einer  Meinung  ju  reeßtfertigen.“ 
©oetßc  fei  ja  aueß  fein  ©ietift,  obrooßl  er  im  Weifier  bie  ©efenntuiffe  ein- 
feßalte.  ©Jie  fönne  fein  Sueß  £>erabroürbigung  ber  fHeligion  bejroecfen,  ba 
„fein  ©til  unb  feine  2arftellung  mir  für  Gingerocißte  unb  ©ebilbete  bc- 
reeßnet  fei,  unb  er,  um  fein  3'd  ju  erreießen,  bireft  ein  ©ließ  l)ätte  feßreiben 
müffen,  mo  er  fieß  als  fRebner  auf  irgenb  eine  ©üßne  gebaeßt  ßätte."  $as 
junge  ®euticßlanb  aber  fei  nur  „ein  $>irugefpiuft  unb  löfe  fieß  in  einzelne 
Pfänner  auf,  roeleße  utiabßängij  ooitcinanber  $ur  Gßre  ber  Siation  ißr 
Sehen  ber  Grforfeßung  ber  SBaßrßcit  gemibmet  ßaben."  iTOeß  giebt  er  ju. 
baß  bie  2BaQi)  fiiß  oont  äftßctifeßen  Startbpunfte  aus  angreifen  laffe  „roeil 
man  niemals  einen  Stoman  ftßreiben  füll,  in  mclcßem  bie  Wotioe  oon 
größerem  Snterefje  finb  als  bie  ftabcl  felbft,"  unb  noeß  baju  „einen 
ipepellen  ©eigefeßtnaef  ßaben." 

SBeun  ein  ©erfafjer  ßaftbar  fei  für  Sleußeruugen  feiner  ©ßantaiie 
gebilbe,  fo  biirfe  3‘tntpa  nießt  aufgefüßrt  roerben,  roeil  ein  ©öferoießt  bartn 
auSrufe:  eS  giebt  feinen  ©ott;  bann  roar  aueß  ©eßiller  roegen  feines 
fHüuberö  Woor  ftrafbar.  „3)ie  Jtunft  fennt  nur  Gjtreme,  fie  barf  nießts 
halb  feßilbern,  fonbern  fie  muß  mit  ben  ftärfften  färben  auftragen."  — 
fvortjeßiiug  beö  ©erßörö  am  3.  Xcjcmbcr.  ftragc  29:  „Sonnen  Sie  mit  ben 
Gegriffen  oon  Woral  ücrcinigen,  baß  ein  perßeiratßeteS  Srauenjimmer  fieß 
einem  fremben  Wanne  naeft  präfentirt,  unb  ift  es  3ßr  Grnft,  roenn  ©ie 
behaupten,  biefe  Scene  roerbe  oor  ber  Woral  geroeißt  burtß  bie  Silie,  bie 
oor  bem  grauen, ymntcr  fteßt?"  ©ußforo:  „GS  ift  ein  großer  Unterfeßieb 
ppifcßeit  bent,  roaS  man  tßun  füll,  unb  bem,  roaS  man  feßreiben  barf. 
3ene  ©eene  reeßtfertigt  fieß  aus  bem  3ufammenßange  unb  ift  oon  mir  mit 
belifatcr,  jarter  unb  poetifeßer  fHücfficßt  bcßanbclt  roorben.  3)aju  fömntt 
baß  icß  bie  ganje  Scene  im  fPuft  einer  3Ulegorie  gclaffen  ßabe,  baß  ief> 

(Mi 


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33 


i&r  ein  befannteS  altbcutjeßeS  ©ebießt  a($  ©ewanb  ließ,  uub  baß  oon 
meinem  fünftlerifcßen  ©tanbpunfte  au$,  jene  Silic  allcrbingS  eine  finnige 
nnb  tiefe  ©cbeutung  ßat."  ©gt.  bantit  ©erfe  13,  XIX  ba$  ©eftänbniß,  baß 
iftnt  bie  polemifeße  Xenbenj  gegen  bie  Slnfprüdie  be«  Xßeotogen  unb  Äireßen- 
tbnms  bie  ftauptfaeße  war“  (SUflcfbtiefc,  148),  womit  aueß  üöweutßalS  WuS- 
lagen  übereinftimmen. 

‘3  ©ebrurft  in  ben  „Annalen  ber  ©roßßerjoglicß  babifdjen  ©erießte 
1836  31r.  16  oom  16.  9lpril  unb  mit  falfcßem  Saturn  in  ber  9lnntcrfung 
34  eitirten  Seßrift  oon  ©autuä.  $er  bem  Urtßeil  ju  ©runb  liegenbe  § 21 
be4  babiießen  fßreßgefeßeS  tautet:  „©er  eine  im  ©roßßerjogtßum  auerfaunte 
SieügionSgefeQfcßaft  in  tj>rudjcßriftcu  ober  ©ilbwerfen  bureß  ÄuSbrüde  ber 
Beraißtung  ober  oerädjtlicßc  fDarfteflungeu  augreift,  ober  ber  ©eraeßtung 
prei^ugebeu  iud)t,  berfättt  in  eine  ©etbftrafc  »on  5—100  fl.,  ober  in  eine 
öetängnißftrafe  bi«  ju  3 attonaten."  ßöwentßat  würbe  freigeiproeßen. 
$er  Staatsanwalt  ßattc  beantragt  für  ©ußforo  1 3aßr  3uct>lÖauö  unb 
100  il  ©etbftrafe  eoent.  ©efängniß  oon  3 ®lonaten,  für  Söwentßal  3 fDZonate 
3ußtßauS,  ©elbftrafe  oon  20  Üßtr.  eoent.  3 fflJonaten  ©efängniß. 

“ «tfo  nießt  12  ©oeßen,  wie  @.  fpäter  behauptet  ßat. 

45  „3wei  ©efangehc"  in  beit  „feßöncren  Stunben"  @.  291  ff. 

44  SebenSbilber  2,  110.  SRiiefbliefc  10  unb  bie  in  Stnmerfung  33 
cirirte  ©rflärung  in  ber  9lflgcm.  3^*1-  wo  ber  Safe  jeboeß  in  gcßäffiger 

Seift  jußffpi&t  ift. 

,T  Sitteraturblatt  1834  Februar  24.  ©.  77.  $ic  Vignette  geigt 
©ufjforoS  Flamen  in  einem  Sorbecrfrang,  loctdje  SluSgeitßnung  übrigen»  auef) 
Spinbier  jn  tßeil  würbe.  3)ie  ebenfalls  ßäufig  wicberfeßreitbc  Vignette 
ber  Sotlnfritif  ift  eine  blißfeßleubcrnbc  ©cftalt. 

44  6r  ooüenbcte  außerbem  ben  SHoman  ©erapßine  unb  begann  bie 
Seßrift  „©oetßc  im  ©enbepunft  gweicr  ^oßfßunberte",  bereu  ©orrebe 
fdion  aus  bem  2lpril  batirt  ift. 

49  SRüdblicfe  155;  naeß  ©erfe  13,  XIX  in  ber  fünften  biSfeeßftcn  ©otßc. 

M 3utian  ©djmibt  ßat  in  ©b.  37  ber  preußifeßen  ^oßebücßer  (1876) 
eine  Keine  ©lütßeitlcfe  angeftellt,  fdjien  aber  nad)  ber  2lrt  unb  ©eife,  in 
ber  er  e$  tßat,  feines  SHontancS  „©tßwabcnfpiegcl"  uneingebenf,  oergeffeu 
ja  ßaben,  baß  ber  im  ©laSßaufe  Sißenbe  nießt  mit  ©teilten  um  fid)  werfen 
foH  Slber  aueß  an  erßeiternben  3rrtßümcrn  feßtt  eS  ben  ©üdblicfen  nießt. 
£o  j.  ©.  läßt  ©.  ©.  39  bei  bcin  ©artburgfeft  1817  baS  erft  1820  er< 
feßienene  fiiubnerfcße  *3Jianujfript  aus  ©übbcutfeßlanb  auf  ben  ©eßeiterßnufeu 
raanbern,  fo  ßätt  er  ®.  55,  obwoßt  er  in  ffrnnffurt  faft  jo  gu  £>auic  war 
»ie  in  feiner  ©eburtäftabt,  bie  „ffulber",  weteße  ißre  ©oeßenböife  auf  bent 
fogenannten  „Xallee"  ©de  ber  3e'0  uub  ber  griebbergetftraße  abgnßalten 
oflegtcn,  für  ©ingepfarrtc  ber  ©tabt  aus  ben  umtiegenben  Dörfern,  ßat 

Sammlung.  9t.  g.  V.  98.  3 (65; 


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34 


tbenba  ba$  fcltene  Vergnügen.  im  Iheater  ben  „politijchen  ginngiejjer" 
(sic)  gu  fctjcn.  unb  in  bev  batjerifcheit  gad)enau  baS  noch  »iel  feltnere 
Vergnügen,  ®.  97,  bic  girnen  bet  Itjroler  Älpen  unb  bie  „ßi^aden"  ber 
Venebiftcnmanb  anjuftaunen. 

51  ®.  225  = Want,  Serie  (Säubert  — fHofenfranj)  7,  1,  243  unb  bie 
fölajime  S.  232  = 7,  1,  291. 

M Vgl  Oeuvres  ecl.  Müsset- Patliay  22,  420  ff.  bas  Verzeichnis  ber 
ocrfd)iebcnen  Ausgaben. 

“ ÜebeuSbilbcr  2,  112  unb  117. 

M ©richienen  1835  bei  ©otta  (=  Serie  1.).  25er  brittc  Sophift 
forrifirt  — wie  @.  jelbft  bemerft  hat  — bic  VortragSroeife  .jpegels,  ber 
oierte  Soptjift  ift  Sdjfeicrmadjer,  ber  fedjfte  Want-gid)te  mit  ihrer  rigorofen 
Verwerfung  ber  'Jlothlüge.  gn  ben  ©hören  ber  Satprn,  91t)mphen  unb 
91ajaben  ahmt  6).  nicht  ohne  g.  Vifdjer  antiflipirenbe  ißerfiflage  bie  ©eifter« 
d)öre  beS  ©oethefdjen  gauft  nach-  25er  ©hur  ber  dichter  oerfpottet  bie 
fchroäbtfche  55ictiterfd)ulc,  S.  167,  bie  WommanboS  in  ber  Schlacht  oerfpotten 
©tabbeS  „Siapoleon"  u.  f.  m. 

“ 25er  befümmerten  9lnöerroanbten  gebenft  er  auch  in  bem  mert- 
roürbigen  Schreiben,  baS  er  am  15.  ganuar  an  ®tinifter  Sinter  richtete, 
als  er  Sieberaufnahmc  bes  Verfahrens  befürchtete.  2>er  ben  U.-9t.  jetjt 
beigcheftclc  Vricf  lourbe  burch  g-  0.  Seecfj  1878  in  ber  ©egenmart  14, 
420  beröffentlidjt.  Vgl.  auch  Beilage  4. 

88  S.  167.  „Senn  OTethobe,  UntcrrichtSftofi  unb  bie  Schule  in  allen 
ihren  feigen  oeränbert  unb  auch  im  Organismus  beS  Staates  eine  neue 
Stellung  betämen,  maljrlich  baS  moberne  geh  mürbe  fid)  mit  meit  meitiger 
'Jiachtheil  fomohl  für  bie  öffentliche  Sicherheit,  mie  für  bie  fHulje  ber  gamilien 
probujiren  unb  entpuppen,  graget  euch  felbft,  iljr  jungen  Scanner  au£ 
biefer  gcü.  wie  t>icl  Jperjen  ihr  oerrounbet  habt,  ehe  ihr  jo  meit  gefommett 
roarct,  euch  “iS  ein  haltbares  ©lieb  in  ber  ©cifterfettc  beS  gahrhunbertS 
ju  fühlen  I“ 

11  S.  33.  „$a  blifcte  baS  ©euie  eines  tjperber  auf,  ein  Phänomen, 
beffen  eleltriicher  Stoff  für  Xeutfdjlanb  oerloren  fdieint  unb  nichts  Slehn- 
lichcS  mieber  heroorbringen  mirb". 

68  gn  ber  ©rjählung  „gean  gacques"  (1854)  ©cf.  Serfe  2 A.  gena 
1.  Serie  4,  129. 

**  Vormort  zur  1.  Wufl.  ber  „IKittcr  Dom  ©eiftc".  Scipjig  1850. 

8U  Vormort  zur  3.  Slufl. 

81  „gean  gacqucS"  a.  a.  C.  118. 


(M) 


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35 


^Beilagen. 

1.  ©ußfow  an  Söwentfjal. 

g-ranffurt.  ben  5.  0«”*  1836. 

Sieber  Söwcnthal  . . . Seine  Stagen  beantworte  icf)  folqcnbcrmaßen : 
Griten«,  ber  Hlmanath  bringe  alle«.  wa«  bie  Autoren  geben  wollen.  3n>eitrn«, 
Mitarbeiter  feien  . Saube,  ©üdler,  id),  Sewalb,  SBienbarg,  Schlefier,  3nliu« 
Mojen,  Soui«  2 aj,  £>eine;  'Jiamen  genug ! Sie  Sdfwaben  laß  mir  weg ! SRiicfert 
ober  forbre  auf.  Srirten«,  fwnorar  für  bie  SDtitarbieiterj  beftimmt  fid)  nad) 
bem  Autor. ; ..  ©ierten«,  Saube  foU  mäßig  fein,  unb  bebenfeit,  baff  Gorreft. 
«.  für  ibn  gaitj  wegfäüt,  unb  fid}  für  feinen  'Jiamen  mit  lü  Sriebr.  be< 
gniigen:  für  bie  ©eßträge  foH  er  mit  27«  Sr  üuf rieben  feßtt,  er,  ber  bie 
6t)re  bat  unb  für  bie  3“Innft  benfen  muß,  unb  mit  bem  ©udjtjänblcr 
öanb  in  §anb  geht.  Sünfteu«  ba«  jufnge]  $eutfd)lanb  fe^teppt  au« 
®i>]n[barg]«  Wich  nach  unb  ift  unnüf).  Sechften«,  moberne  Schilberfungen] 
ift  iebr  triöial.  Sa«  SBort  inobern  füllte  ganj  fehlen:  warum  uitfjt 
Sbaraftcriftifen  jur  ©efd)id)te  unb  Sittcratur?  Sdjattcnriffe, 
Umriffe,  ber  leßte  ift  ber  befte.  Siebenten«,  für  ©edjftein  (Unterweg«) 
(Äuf  ber  9i e i f e) , Gin  SRoman  be«  Sage«  (au«  meinem  Sebcit)  ober  bie 
Apriltagc.  Slu«  meinem  Seben.  . . . 

Saft  tjätt  id)  oergeffen,  baß  idj  täglich  an  ber  SBallp  arbeite.  Sie 
ift  auf  5 Srucfbogcn  roenigften«  gebichen,  in  14  Sagen  bin  ich  mit  bem 
Stuße  fertig,  ba«  15  Sogen  ftarf  wirb.  3$  arbeite  con  amore,  unb  weiß, 
bog  ich  etwa«  ßübidje«  liefere.  Senn  Su  fie  burchau«  haben  willft,  fo 
»eranl  affe],  baß  fie  hier  unter  meiner  ftuffießt  gebrueft  wirb.  Sa«  Rapier 
nimm  oon  3ffinftf>  unb  ben  Srucf  bejorgt  ©aßrljoffer  (Soucrl'änbcrj  ift  über- 
füllt). 3cf>  möchte  gern,  baß  Su  nicht  eine  3c*lf  bau  bem  JHoman  fäljeft, 
ehe  er  nicht  im  Srucf  fertig  ift  unb  fid)  Sir  fauber  ju  Süßen  legte ! Sic  höchfte 
gleganj  ift  erforberlich-  Siefe  erreichft  Su  hoch  nicht  in  Mannheim.  Sriff 
olfo  bie  nöthigen  Anftalten!  Sauerl[änber]  ift  geneigt,  für  Sranlf^urt., 
Seine  Äommifftonen  ju  übernehmen.  3<b  fcfjo  aber  mit  Scßrcdeu,  baß  Su 
bieDeicht  all  Seine  Sachen  auf  ba«  30  fl.  ©apier  brnefft,  ba«  wäre  fürchterlich. 
Sauerlänbelr  brueft  alle«  ber  Art  auf  ba«  föftlichftc  ©apicr,  wo  er  50  fl. 
für  ben  SaUen  gaßU.  ©erfieß.  hierin  um  @otte«wideu  nicht« 

Sein  ©itfjfow. 

II.  Söioenthal  an  GJußfow  in  Stuttgart,  ©aftßau«  gunt  SSalbhoru.1 

[1835.  Gnbe  iluguft.] 

Sieber  öufcfom.  Sein  ©rief  hat  mich  ju  jcßmerglicf)  berührt,  al«  baß 

1 Ser  Brief  ©uptoro«,  auf  roelcfien  fibroentljat  in  tiefem  fiir  bie  Bejlepungen  beiber 
ffllnnet  fo  (Sarolteriftiicben  Schreiben  antwortet,  lan  nietet  bei  ben  Bitten . Sab  Saturn 
«Siebt  futj  aui  ben  U.-a. 

3*  (67) 


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36 


id)  burd)  eine  Grflärung  Darüber  nicht  gleich  meinem  Jperjen  SJuft  machen 
feilte.  3dj  feite  bie  ©adje  Har:  Xu  benfft  mir  eine  innerliche  ©cring- 
fdjäpung,  eine  nur  burd)  ©pcfulatiou  gebotene  ®cref|ruug  Xeincb  Xalenteb. 
Xeincr  SHidjtung  an ; meine  burd)  nüchterne  Ältflugljeit  uub  alltägliche 
3BeiSI)eit  in  Slnfprud)  genommene  SBewintberung  SHenaelb  hälft  Xu  für  ben 
©runbtppub  meiner  ©eele.  Xein  SKißoerftänbnifi  thut  mir  toeh;  beim  Xu 
foUteft  mich  foweit  fennen,  bafi  Siiebe,  Eingebung,  ©erounberung  bei  mir 
einb  linb  babfelbe  ift.  Unb  ift  ei  nicht  graufnm  bon  Xir,  bafi  Xu  meine 
üiebe  mit  einer  Sleußerung  über  Söallt),  bie  biel  mehr  beut  Stopfe  alb  bem 
§erjen  angehörte  (unb  mic  barf  bab  ben  Xichtcr  fränfen?)  nach  ©inem 
Söiafiftabc  miffeft?  3<ß  fage  Xir  nicht  mehr,  wab  id)  für  Xid)  innerlich 
füljle,  bafi  mir  Xeine  jyreunbfdjaft.  Xein  ©oblipollen  unentbehrlich  geworben 
ift,  bafi  Xu  allein  feit  jmei  fahren  ber  unmillführliche  fienfer  unb  Leiter 
aller  meiner  ©ebaufen,  meiner  ©efiihle,  meiner  ©ittjd)lüffc,  meiner  Sjanb- 
lungen  roarft.  Unb  Xu  fprichft  bon  ©ebrauchen,  obe^gar  oon  $Rifi< 
brauchen!  SBettn  id),  flcinlidjer  ®erl)ältniffe  loegen,  bie  mich  umgeben, 
manchmal,  meifi  ©ott!  mit  toiberftrebenbem  tperjen  fleinlich  l)nnbeln  mufi, 
glaubft  Xu  mich  aller  Sonfcqnenjen  fähig,  bie  nur  ein  llnfunbigcr  aub 
foldjen  ©chritten  jiehen  lönnte!  (Id)  achte  SRenjel;  Xich  liebe  ich;  unb 
ich  wollte  lieber  mit  Xir  irren,  alb  mit  '.Dfcitjel  flug  unb  weife  fein.  Stimm 
biefc  ©rflärnng  alb  bie  aufrichtigfte,  bie  id)  je  inadjte;  unb  fic  ift  um  fo 
aufrichtiger,  ba  gcrabe  jept,  wo  fid)  SJtißoerftänbniffe  jwifdjeu  unb  au 
brangen  fuchen,  mein  tief  fl  eb  .yicra  in  i'iebc  ju  Xir  auffprubelt,  unb  id)  mit 
boller  ©eele  bab  ©liicf  Xciner  Jreuubfdjaft  fühle.  (Ich  weiß,  bafi  ich  jept 
fchmärmc;  Xu  wirft  auch  lochen  barüber,  aber  menigftenb  ift  meine 
©chwärmerei. feine  3llufion,  unb  meine  Sfiebe  ju  Xir  eine  tiefe  ©ahrpeit!" 
[fjragt  an,  wie  er  fid)  gegen  SB e cf) ft e i n berhaltcn  folle,  beffen 
„fRcijctagc;  aub  meinem  Sehen"1  au  fd)lcd)t  feien,  alb  bafi  er 
fie  berlegeii  möchte,  unb  fährt  bann  fort:]  „Sllfo  bib  tDiontag  fepeii 
wir  uub  wieber?  Somme  aber  gewiß!  ©egen  ber  3c>tfd)rift  thu  noch 
feinen  entfchiebeucn  Schritt ; wenn  Xu  mit  Gotto  abfchliefieft,  wirft  Xu 
mich  hoffentlich  nicht  übergehen.  Unb  SWenjel?  — qu’est  ce  que  m’im- 
porte?  — 3<h  hoöe  an  Siüdert  in  ©rlangcn  unb  Jammer  in  SBicn  ge- 
fchricbcii  unb  fie  um  Stfcrlngbartifcl  gebeten.  3^  mache  bie  8iunbc  bei 
allen  großen  ©c(el)rten  Xcutfdjlaiibb,  wenn  fie  mir  auch  nidjtb  geben,  fo 
lernen  fie  mid)  bod)  fennen. 

Saube  läßt  Xich  grüßen.  3n  feinem  SBucfje  hält  er  fid)  fehr  fein  unb 
höflid)  mit  ben  ®crliiiern,  ja,  er  mad)t  ihnen  fogar  bie  Sour.1  Sein  ®ucf) 
ift  übrigen»  nett  uub  wirb  gewiß  gut  gehen.  ®on  Xciner  SBalli)  finb  Iper 
auch  fchon  8 G^cinplarc  abgcgangen,  fogar  in  beiben  langiamen  8eif)bibliotl)cfen. 

1 lif  „Stfilftaflc"  cr|d)iriirn  181(1. 

* tJcsiftjt  fcdi  iuul)l  aui  &ic  „9ici|<uot>clIrn  , 3 8dnt>e  1831-37. 

(68) 


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37 

itlbicu,  mein  lieber  f.  f.  öftr-  .ftoffanjleibireftorialratb  1 gef)  glaube, 
fie  juchen  2>ich  beSbalb  ju  gewinnen,  weil  fie , nach  deiner  ©orrcbe  über 
Sucüibe,  in  Tir  einen  jweiten  griebricb  Spiegel  termutben.  Uebrigens  ift 
bie  ©efchidjte  eine  wütbenbe  ©cleibigung  für  Uid) , bie  ©tut  forbert. 
Somm  halb  $u  deinem  Söwentbal.  ©riiße  Sewalb  uub  er  foH  bodb  halb 
©tanuifript  ienben!  — 9lud)  erinnere  ibn  an  baS  [abgeriffeti]. 


III.  ©ufcfoto  au  ben  JHebafteur  ber  Wllgent.  Leitung1 
Dr.  $olb  in  9tugSburg. 

©fein  Sieber'  ©eforgen  Sie  gütigft  ben  9lbbrutf  biefer  Srtlärung 
unb  laffen  Sie  ben  ©etrag  berfclbcn  auf  mein  bei  ber  (Jottaifdfen  .jSanblung 
laujeitbeS  ßonto  {eben! 

geh  febreibe  gbnen  biefe  ge*1*1'  aus  bem  f^ieflflcn  Stabtgefängniffe  I 

lieber  ©erunbottc  erwart"  icf)  non  £>.  ton  ßotta  Antwort I 

3br  ® « t)  I o w. 

lieber  einen  ©crliner  Sorrcjpoubeutcn. 

Seit  einiger  geit  enthält  bie  granffurter  0.  ©.  91.  geitung2 
91rtifel,  welche  au«  ber  geber  beS  ehemaligen  ipalleiifer  Äorrefponbenten 
ber  ftdgemeinen  Leitung,  beS  iperrn  goel  gaeobt),1  beeriibren  unb  außer 
meiner  ©erfon  and)  alles,  was  an  ©üchern  uub  ©tenfeben  mit  mir  jufammen- 
bängt,  in  ein  gefährliches  Sicht  $u  ftellen  iuctjeit  ©iefe  werben  fich  über 
bie  jüugft  angeregten  Streitfragen  ein  eignes  Urtbeil  gebilbet  hoben,  aber 
jeber  billigbenfeitbe  wirb  über  ben  ©ebraud)  erfebreefeu,  welcher  feit  einigen 
©tonaten  non  ber  Schrift  in  3>cutfd)lanb  gemacht  worben  ift.  Sticht  nur, 
baß  bie  itriiil  ftatt  an  9(riftoteleS  unb  Seffing  au  ben  Staat  appellirte, 
fonbern  auch  litterarifche  SBinbbeutel,4  (wofür  man  iperrn  gaeobt)  feit 
©rfinbung  beS  ©erüchtS  tont  VI  u feilt  halte  ber  .yerjogin  ©errt)  in  grauffurt 
unb  feit  ben  ©rfolgcn  ber  großen  mpfteriöfen  SHcifc , bie  er  auf  {Rechnung 
eines  großen  Staates  im  9lufaug  biefes  galjreo  au  machen  torgab,  halten 
muß),  nehmen  eine  offizielle  ©taste  tor  unb  affectiren  eine  ©iuweibung 
unb  Äutorifation , rneldje  ibncir  warlich  fein  Staat  geben  wirb.  tperr 
gaeobt)  bot  in  einer  merfwürbigeit  SlßoprojeÜic5  feit  einigen  gabren  halb 
auf  ben  Sätteln  ©örneS  uub  ipeineS,  halb  auf  benen  ipegefS  unb  Scos 

1 lic  folgtnbeci  Schreiben  tarnen  »u  ben  U S..  weit  bent  UnlfTfurtiunaSflefannentn 
bce  Slbjenbung  Derartiger  ieine  reridnlicben  8erl)ällnijfc  betreffenbrn  öffentlichen  i« ictcb 
gehungert  mebt  geftattet  itmcbe. 

1 Sie  Rrantnirter  Cberpoftamtteitung. 

s Ueber  (Jacobb  »9!  oben  S.  2»  unb  PebenDbiiber  2.  117—19. 

* Da«  (Singetlammerte  ift  »on  Subton)  bitrdigeflrichen ; bie  „mnfleriöie  Steife"  Wirb 
auch  in  ben  gebenSbilbent  a.  a.  C.  ermähnt. 

* San  dXXortpöoaMog,  niettettoenbifci). 

(69) 


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38 

geritten  unb  iooict  Werfehr  mit  beu  oon  iljm  oerboteucn  Xenbenjen  gehabt, 
baß  er,  um  etwas  lohalcb  ju  fagen,  nur  immer  baS  ©egentljeil  oon  bem 
flu  behaupten  braucht,  was  er  felbft  trüber  geglaubt  bat.  Schon  feit  länger 
alb  einem  5S°br£  berteßert  $err  $acobt)  unbefangene  unb  gefeßlidje  We- 
fttebungen,  inbem  er  nidjtb  tljut,  als  feinen  eigenen  alten  SRoct  umteßren, 
roie  ein  oon  brüben  gefangener  Solbat,  ber  in  umgetoaitbter  TOontur  in  bie 
biebfeitige  Wrm^e  gefteeft  roirb.  .{rerr  3oes&ü  f)at  lolent,  aber  ju  wenig 
©harafter,  um  einjufeben,  meid»  ltiebrigen  ©ebraud)  er  oon  bem  erften 
macht,  ©b  würbe  ißm  weit  meßr  ©hre  bringen,  irgenb  ein  wißenfeßaft' 
lidjcs  ©erf  bem  Urtbeilc  beb  i|Sublifum§  oorjulcgen,  alb  halb  in  bieier,  bal!' 
in  jener  ÜDfnbfe  an  oerftedten  Dertem  aufjutauchett  unb  burd)  einen  orafel 
haften  Xon  bürgerliche  ©jeiftenjen  maultourfnrtig  ju  untcrmül)len. 

Mannheim,  b'en]  4 Stcjember  1835. 

©ußfow. 


IV.  0iißfom  an  © ©agner,  SHebaftcur  ber  Xibabfalia 
in  Sfranffurt  a.  föt. 

Mannheim,  beu  11.  Xejember  1835. 

Sieber  ©agner!  3<h  höre,  baß  Xu  meinen  Wernabotte  aub  ber 
Mg.  Leitung  abbrudft.  Xßu  wir  bie  ©efäUigfeit,  unb  feße  meinen  Ooll- 
ftänbigen  9tameu  barunter,  nicht  beb  fßubltcumb  ober  meinetwegen,  fonbern 
aub  Slntljeil  für  meine  armen  Srranffurter  Werbinbungen  für  meine  Wraitt 
unb  ©d)Wicgereltern,  welche  ich  burd)  mein  Sdjicfint  jo  namenlos  betrübe! 
Xu  wirft  wißen,  baß  ich  in  £>aft  bin. 

©inft  wirb  mir  bie  Suft  ber  Freiheit  toieber  juftrömen,  unb  toie 
banfbar  werb’  ich  fet)n  gegen  He,  bie  mich  in  meiner  iRotf)  nicht  oer laßen 
haben!  Stimm  Xicf)  meines  ütufeb  an  unb  fdiüfce  mich  oor  ben  ©fein, 
welche  tobten  Söwen  gerne  ihren  ffjußtritt  geben!  Söwenl  9iod)  immer 
ftot^ ! Xu  wirft  lächeln,  guter  ©agner! 

Wenußc  bieb  alb  Stotij:  arbeite  an  einem  fpecufatioen 

©erle  über  bie  Wh>l°i°bh*c  ber  ©efdjicßte  unb  werbe  mich  »on  ber  Xageb- 
literatur  in  gufunft  gänzlich  jurüdjiehen.  fOteine  jerftreuten  fritifeßen 
Arbeiten  erfdjeinen,  burdjgeglättct  unb  gefeilt,  unb  burd)  ein  ©emälbc  ber 
jeßigen  Siteratur  eingelcitet  ju  Oftern  in  2 Wänben. 

Weßalte  lieb 

Steinen  ©ußfow. 

Werföhnc  patter:  ich  weint  eb  nicht  bös’  mit  ihm. 


C70) 


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Perlagsonflalt  unb  Sruibrrri  JL»®.  (uormals  ).  J.  Pidjtrr)  in  gambnrg. 


getvadjtu  ttßcn 

über 

Karl  (EhtlgltuUis  jüit^jlc  Cljaf. 

»Olt 

^rei$  TO.  1.20. 


Der  Kuf?m  im  Sterben. 

Sin  Scitrcig  jitr  Segenbe  beS  XobcS. 

»on 

3-eobor  SSeßf. 

8°.  ©egaut  geheftet  5 TO.,  fein  gebunben  6.50  TO. 

tie  btnlfdie  Ciiteratur  icirb  bierburd)  uni  ein  gaui  eigentbümlidje»  iüerf  berddiert. 
Xalftibe  idnlbert  bie  If tjten  Jlugenblide  unb  Sorte  berühmter  Brrfonen  au*  aHrn  Stänben 
nnb  »rrb  giebt  eine  gebrangte  Biographie  brrtrlbrit  Siele  BUber  mad)en  rinen  oft 

ergreifeitben,  oft  erbebenbeit  (Jinbrud  unb  birlrn  brm  Orbitbrtru  eine  ernfte  unb 
»eiljePoUe  mit  bodfintereffante  Settüte.  Xa»  f<hBn  au«geftattete  ®ud)  rottb  in 
gebührten  «reifen  gotoig  gutr  Stufnabme  unb  ouif)  o[4  iBefd)ent6ud)  gute  Bertoenbung  fiuben. 


ÖUS  junge  Dcuifdjlunb.  eilt  fleiucr  »eitrng  jitr  Süteraturgefdjicbte 
unterer  Seit  oon  3feobor  5$eßf.  TOt  einem  Slnfjatige  Jeitber  nod)  uuocr- 
öffentlicbier  iBricfe  uon  2b-  SKunbt,  £>.  Sattbc  unb  &.  ©ußforo.  S“, 
elegant  geheftet  TO.  3.—. 

Xcr  pielerfa^rene  Äntoi  giebt  in  biefem  Serie  reidieä  ©alerial  unb  eine  BafiJ  tut 
Beurteilung  benenigen  Xiditer  unb  ilfre«  litterarifdien  SBirlcn«,  rucldje  mau  gemeinbin 
unter  bem  ®cfonttnamen  „XaS  junge  X eutidiiaiib"  bejeidinet.  SJiit  faft  allen  biefett 
öieiftebberoen  eng  beftennbet  gemefen,  ift  j$.  SB  e b I Bot  allen  Stuberen  »u  einer  foldicn  Xar- 
Heilung  berufen,  unb  bat  er  t*  aud)  oerftanben,  bie  Sdiilberung  brr  Berfonen,  Seitumftänbe 
nnb  bei  gefriudiUidieu  «Momente  in  ein  lebenbootle*  unb  bBdift  intere  ffante*  Stilb 
jufommenjufaffen.  Xaä  fdjOn  aubgeftattete Bud)  tuirb  allen  Sitteraturfreunben  b o d)  ■ 
toillfontmen  fein. 


iüufjelju  Jaljrc  Stuttgarter  ^oflljcofer-fcttung.  ©n  «b- 

febnitt  au$  meinem  Sebcn.  »on  Jfeobor  jJSeljr.  TOt  bent  Porträt  beä 
»erfafferS  unb  einer  Stbbilbung  be$  Stuttgarter  ipoftbeatcrS.  ©r.  8°. 
©egattt  geheftet  TO.  6.—,  gebunben  TO.  8. — . 

Xer  Btrfaffer,  loetdieT  16  Jahre  lang  baö  Stuttgarter  #Dftf)tater  diirrft  a!8  artiftififirr 
Beirath  unb  Xirettor,  bann  alst  Jntenbant  gelritet,  bietrt  biet  eine  auoführlidte  Xatflefluug 
btt  Borgänge  bort  roahrenb  feiner  langen  Xienfljeit  — uidit  feinbfelig  unb  »erbittert, 
ionbtrn  frei,  offen  nnb  unparteilich  nadi  jeber  (Richtung  Xabei  giebt  et  intereffantc  ttin. 
bilde  in  bie  geiftige  fRenfamteit  nuferer  jüngeren  Xramatifcr.  in  baO  Singen  unb  Kämpfen 
nads  einem  beutfdjen  vfationalthrater.  ©nt  Selbe  ber  belanntcftcn  unb  bcrübmteften 
Xbeatcrgr&Bfn  be*  Schauiptele  unb  ber  Cper  paffirrn  Sepue,  unb  mifdit  ber  Brrfaffrr 
mancherlei  föfitidie  Bnefboten  über  Eefctere  ein. 


fünfjig  3al)rc  etitcs  Deutfdfcit  ^tjeater-Birektors.  ©rinne. 

rangen,  Stilen  unb  »iograpb'e»  nu$  ber  ©efdjicbte  be«  Hamburger 
ibolia.Sbeaterä  oon  Stcinßofb  tbrlmaitti.  ©legnnt  geheftet  TO. 3.—, 
elegant  gebunben  TO.  4.50. 


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grrlapanflalt  nni  Prudtfrti  J.‘G.  (»ormals  }.  #.  fUdjtrr)  in  fjanbnrg 


JnttgBtt  unti  ^apn. 

Beus  01>ebttfjfc  uon  HU’evt  IWuEfcr. 

8#,  280  ©eiten  eieg.  geh  9Wf.  3 — , cleg.  geb.  mit  ©olbfdjuitt  9Rf.  4. — . 


(ÖteMdjte  tt ott  Ulbert 

örftc  Sammlung.  QC  Sritte,  fcfjr  oermcbrtc  nnb  ucrbejfcrte  Auflage. 

©reis  eieg.  geh-  SKf.  3,  cleg.  geb.  mit  ©olbfdjnitt  ©ff.  4. 

©on  ber  ©ebeutung  Ulbert  ffltoefcrS  als  Stjrifer  ift  erft  jüngft  bei 
©efprecbung  ber  bierten  Sammlung  feiner  Sichtungen,  bie  er  „Schauen  nnb 
Schaffen“  betitelte,  bie  Siebe  gemefen.  ©4  ift  feine  gragc,  ©toefer  bot  ficb  in 
feinen  jpätern  Sichtungen  noch  mehr  auSgereift  unb  bot  ber  2t)rif  fo  ju  fagen 
ganj  neue  ©ebiete  mit  ©rfolg  erobert.  92icf)tSbeftomeniger  haben  aber  auch 
feine  trüberen,  feine  erften  ©ebidjte,  bie  bicr  nun  fdjon  in  britter.  man 
bemerfe  wol)l  in  „britter"  91nftage  »orliegen,  ihre  eigenen  grojjen  ©brjüge, 
ihre  btragerainnenbe,  man  fanu  oft  fagen  bcrjbejaubcrube  griffe,  bie  auf 
ihnen  roie  Sljau  auf  ©iefenblumcnfcldjen  liegt.  ©or  allem  ift  aber  audj 
©loejer  ein  ©teifter  ber  tabcllofeti  gormooHenbuug.  3 5aS  befunbet  febon  baS 
beit  erften  Sbcit  ber  oorlicgeuben  Sammlung  bilbenbe  ©ud)  „Sonette".  ©ei 
aller  gormoofleubung  ift  bas  aber  burdjauS  fein  IcereS  SBortgcftingel.  auch 
feine  fühle  ©eiftreidjclei.  ©ein,  auch  burtb  ihre  unb  Btrfdjlingungen 

pulfirt  warmes  *t>er^blut,  unb  3nnigfeit  ber  Gmpfinbung  belebt  fdjöne  ^ütle 
ber  ©ebanfen.  3n  ben  barauf  folgenben  Oben,  jum  Jbeil  in  antifer  gorm, 
joroie  noch  weiter  folgenben  Sonetten  unb  Dbeit  offenbart  fid)  baS  übrigens 
nicht  minber  ausgeprägt,  gn  ben  „ücrmifchten  ©ebiebten"  oerflärt  ©Joefer 
eigentlich  alles,  maS  er  berührt,  mit  bem  golbenen  Schimmer  ber  ©oefie. 
2öelch  eine  prächtige,  tounberOoUe,  mirflich  tief  }u  fterjen  gebenbe  Sichtung 
ift  nicfjt  baS  ©ebicht  „Än  meinen  entflohenen  unb  luiebcrgefcbrtcn  3cifig"- 
Soch  auch  „Sie  3bea(e",  „Sofung",  „©tufen  ber  Schöpfung"  finb  Offenbarungen 
eines  echten  Sid)tergcnicS.  Sic  ©ebiebtgruppe  „©cfchichte  unb  Sage“  jeigt, 
maS  ©toejer  im  ballabenartigeu  ©ilbc  ju  leifteu  oermag.  MeS  prächtig 
abgcfchloffen  oor  baS  Üluge  tretenbe  malerifche  ©eftaltungen.  ®anj  ?lebnlicbeS 
gilt  oou  ber  lebten  Slbtbeiluug,  „biftoriidje  Sanbfchaften"  betitelt.  „9luf  ber 
SlfropoliS",  „Sanoffa“,  „Ser  Sburm  oott  fftfturn“,  „Sic  ©chtoebenbriicfe" 
finb  ©chöpfungen,  wie  beren  bie  bcutfdjc  Sichtung  nicht  eben  oicle  gezeitigt 
bat.  ©men  ©aub  folchet  finrif,  loie  bie  ÜÜJoeferfchc  ift,  fann  man  roobl  als 
©efchenf  toibmen,  ohne  in  ben  ©erbadjt  ju  fommen,  bicS  bcS  ©olbidmitteS 
wegen  gctljan  ju  haben. 

^tboff  ttSeisRe  im  iripjifltr  üageßfaft  oont  19.  Secember  1889. 


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Alcrnnbct  bet  ©tobe. 


3$on 


3?rof.  'SS.  <&.  ^offlter 

in  Chitin. 


|mmburg. 

SScrlagoaiiftaft  uttb  ®rucfevei  ?(.*©.  (oormalö  5-  Stifter). 

1890. 


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SHedjt  ber  Ueberfe|suitcj  in  frembe  Seradjeii  n»irb  oprbebotten. 


trutf  ber  SJrrlaRJaiiftalt  unb  Sruiftfi  Itcticn  ffldrflidmft 
(«orraatf  ft.  iMubtft)  tn  tiamburq. 


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^ln  großer  ©tänner  2f)ateu  baS  |>erj  ju  erlaben  unb 
bewunberttb  aufjufdjauen  ju  bem,  tuad  menfcf)tid)e  Begabung, 
menfd)tidK  ©trebfamfeit,  StuSbauer  unb  ©itergie  im  ftanbe 
gcwefeit  ift,  ju  twflbringen,  gehört  fo  redjt  ju  bett  ^odjgenüffeu 
unfereS  ^er^ettS:  baruni  ift  eS  aucf>  boppelt  fdjmerjlid)  ju  jetjcn,  wie 
ein  {jodjfjerjigeS,  gewaltiges  Sirfeit  oerfannt  unb  um  bcr  ©tängel 
unb  ©iafel  willen,  bie  ilpn  wie  allem  3rbifcf)en  anfleben,  in  ten 
©taub  gezogen  wirb;  benti  ad),  es  ift  nur  allju  waf)r,  waS  ©djiller 
jagt:  eS  liebt  bie  Seit  baS  ©trafylenbe  ju  fdjwärjen  unb  baS 
©rtjabene  in  bett  ©taub  ju  jie^ett.  ©S  genügt  ben  Stauten 

^llefattberö  ju  nennen,  um  eine  Snife  non  untnürbigen  ©ebanfeu 
beraufjubefdjwören,  alst  hätte  bie  Seit  nur  ein  Sluge  für  feine 
Mängel.  Uttb  bod),  meid)  ein  SKantt  war  baS ! ©in  ©tarnt, 
ber  mit  geringftett  ©tittein  eine  Seltmoitardjic  uieberwarf  unb 
meint  aud)  nid)t  ein  irbifdjeS  Seltreid)  gegriinbet  — beim  bas 
verfiel,  als  ber  £ob  if)ttt  bie  Stugen  fdjlojj  — , aber  im  ganzen 
Crieut,  nom  ©oSporuS  bis  jum  SnbuS  eine  neue  ©ilbung  ins 
Seben  gerufen,  eine  ©erbinbung  beS  Orientalifcfjeu  unb  Ccciben- 
talifdjen  neemittelt  fjat,  jette  ©erbinbung  ber  ©eifter,  welche 
brei  3abrl)unberte  fpäter  für  baS  ficf)  entfaltenbe  Gf)riftentf)um 
bie  unerläjjlidje  ©orauSfebung  war,  eine  ©Übung,  bie  mef)r  als 

Sammlung.  8t.  g-  V.  9'J.  1*  (78) 


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4 


ein  palbeg  Suprtaufenb  bie  SBelt  be^errfcfjt  pat,  welche  ung  fdjoit 
als  ftinber  in  ber  mittelbar  aug  ihr  ftammenben  S3lütpeHjeit 
ber  römifepen  Sitteratur  in  ipre  Sepre  nimmt.  Unb  mettn  beim 
nur  gelten  fofl,  mag  in  ben  Söereicp  ber  Sinne  unb  beg  3rbifdjen 
faßt,  jo  ftefjen  mir  jroar  nicf>t  »or  ber  Schöpfung  eineg  2Selt- 
reit^eS,  aber  oor  SReicpcn,  bie  lebensfähig  unb  golben  tuareu 
gegen  ben  Segpotigmug,  ber  big  bopin  bort  geperrfept.  ©g  ift, 
»oie  gejagt,  Sllejanber  ber  ©roße,  ben  i<p  meinen  Sefern  peut 
einmal  oorfiipren  möchte,  ein  3Äamt,  ber  nur  ju  fepr  oon  un* 
gerechten,  ja  albernen  Urteilen  begeifert  mirb  unb  bod),  näper 
betrachtet,  ju  ben  ebeljten  unb  glänjenbften  ©eftalten  gehört, 
roelcpe  bag  Slltertpum  aufjumeifeu  pat.  ©ine  bejjere  ©inficht 
oerbanfen  mir  Schlofjer,  9iicbnpr  unb  oornemlicp  tropfen,  aber 
unfere  |>anbbücher  jeheinen  jich  berjelbeit  altem  Schletxbrian 
gemäß  3U  öerfcpließen.  Sag  SBorurtpeil  ift  eben  eine  2Racpt 
unb  eine  große. 

SBefennen  mir  aber  hier  gleich  um  ©iitgaitge:  eg  ift  ihm, 
bem  nach  @hre  unb  SRupm  ©ei$enben,  ein  parteg  Sog  gefaflen; 
mie  jdjneibig  berührt  eg  ung,  wenn  mir  ipit  ooß  Srang  bie 
SBelt  mit  fangegroürbigett  Spaten  erfüßen  ben  Kcpifleg  an 

feinem  ©rabe  felig  preifen  pören,  baß  ipm  bag  ©efepief  einen 
fpomer  jum  ^erolb  feiner  Spaten  gegeben  pabe,  unb  baneben 
benfen,  baß  feine  ber  Schriften,  meldje  bie  .ßeitgenoffen  feinen 
Spaten  mibmeten,  auf  bie  SRacpmelt  gefommen  ift  mtb  ung  nur 
ein  fd)macper  Slbglang  aug  menigeit  abgeleiteten  Oueflen  geblieben, 
ein  Silb,  oerfümmert,  oerjerrt  unb  entfteßt  mie  menige,  faum 
ein  3Bort  über  bag,  mag  er  gehofft,  gefiiplt,  gemoßt. 

Sllejanber  mar  ber  einzige  Sopn,  menn  and)  niept  ber 
einzige  Sproß  aug  ber  @pe  Honig  'ißpilippg  oon  SJlafebonieit 
mit  ber  iflprifcpeu  ißrinjeffin  Clpmpiag.  Sie  SÖlafebonier  mareit 
ber  nörblicpfte  ber  ©rictfjenftämme  unb'  bemopnten  bie  Später 
beg  |>aIiafmon,  Sljiug  unb  Strpmon.  Surcp  bag  Opmpug« 
(74) 


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gebirge  Bon  ihren  {üblichen  StammeSbriibern  gefd)iebcu,  hatten 
fie  jaljrhunbertelang  in  ber  $eit  beS  ^öc^fteit  AuffchmungeS 
griechifdjeu  SebenS  uub  griec^ifrfjer  Äunft  feinen  2f)e'l  genommen 
an  ihrem  geiftigen  Streben  unb  ihrer  politifc^en  ©ntmidelung, 
hatten  ben  Verbinbungen  unb  ben  Jeften,  an  bie  fid)  biefelbett 
fniipfteit,  fern  geftanben.  3n  bent  fchredlid)en  Sturm  ber  Sßerfer 
fonnte  ©riechenlanb  fie  nicht  fd)iißen,  unb  bie  fjotgc  mar,  baß 
bie  ißerfer  im  Schote  SDiafebonienS  ihr  Hauptquartier  nahmen. 
$aburcf)  mürbe  bie  Scbeibung  immer  größer  unb  baS  Volt  galt 
in  ©riechcnlanbs  ©lanjperiobe  ben  ©riechen  ald  ganje  ober 
halbe  Sarbaren.  Vielleicht  ocrgleidjt  man  baS  Verf)ältniß  uid)t 
gan$  unpaffenb  ben  beutfchen  unb  ffanbinaBifdjen  Stämmen. 
©runboerfd)ieben  ooit  ben  ©riedjen  finb  fie  nicht.  Hier  in 
Vierien  ift  bie  Heiroatf)  ber  SDiufen,  h'er  bie  ©egenb,  mo 
CrpfjeuS  fang,  hier  ber  Sdjauplaß  eines  nicht  geringen  $he’feä 
ber  VacdjuSmt)the,  auch  rühmte  fid)  bie  ftönigSfamilie  griechifcher 
Aßncn  unb  bemühte  fid)  roieberholt,  fidh  ber  griechischen  Vilbung 
§u  nähern,  ja  fie  an  ihrem  Xheil  ju  pflegen;  fie  jog  ©uripibcS 
borthin,  ber  bort  mef)r  als  eine  feiner  Jragöbien  fchrieb,  jog 
Agatljon  heran  unb  hätte  bein  SofrateS  fich  geöffnet,  menn  er 
fie  nidjt  »erfchmäht  hätte.  3h*e  Sprache  hatte  ©igentljümlicheS, 
ftanb  aber,  fo  fcheint  eS,  bem  ©ried)ifd)cn  boch  nur  als  Xialeft 
gegenüber,  aber  im  Sterne  ihm  nicht  fern.  Vlieb  auch  baS  Volf, 
^urnal  bie  Veroohner  ber  oberen  gebirgigen  glußtfjäler,  griechischem 
Sehen  unb  gried)ifd)er  Arnnutl)  fern,  jum  2heü  unter 
v5ürftengefd)lcchtern,  bie  fid)  aber  bem  mafebonifdjen  Äönigthum 
unterorbneten,  fo  haben  mir  bod)  nicht  ju  jmeifeln,  baß  auch 
für  fie  baS  2Behen  beS  griechischen  ©eiftes  nicht  roirb  umfonft 
geroefen  fein,  menn  fie  auch  Borläufig  bet  ber  rauhen  unb  berben 
SBeife  ber  Väter  blieben  unb  thrafifche  Hänbel  f)öher  h>elten 
alS  bie  Verhältniffe  griechischer  Staaten.  Aber  mächtig  hatte 
fieß  fd)on  oor  Alejaitber  bie  Ausgleichung  angebahnt,  itibem 


6 

Philipp,  ber  einige  3a^re  in  Sfjeben  als  ©eifei  feftgcfjalieit 
war,  bic  Gelegenheit  benufct  hotte , bie  gried)ifd)e  Silbung 
grünblich  fcnneit  ju  lernen.  So  hätte  er  feinem  9teid)e  ein 
Rührer  ju  berfelbett  werben  mögen,  wenn  er,  ber  Stönig,  ben 
SBeruf  in  fid)  gefüllt  hätte,  ber  geiftige  ^Reformator  feineg  SanbeS 
jn  rcerben.  216er  bie  Staatshänbel  sogen  ihn  mehr  an,  er 
gebaute  nicht  fomof)!  als  ©lieb  fid)  in  bic  gried)ifd)en  Organismen 
ein ju fügen,  als  oiclmefjr  fid)  als  föerrfcher  über  fie  ju  fteHen.  ©r 
organifirte  fein  SRilitär  auf  gried)ifdjem  fyuße,  fudfte  burd)  eine 
fReif)c  gliidlidjer  Unternehmungen  unb  2Serbinbungeit  ben  ©intvitt 
in  ben  ©unb  beS  fiiblidfcn  ©riecf)enlanbS  unb  baburdj  eine 
güfjrerfteHung  für  baS  gefamte  SSolf  ber  ©riechen  ju  getoinnen. 
beiläufig  bemühte  er  fid)  auch  griechifdjeS  Sehen  unb  griechifdje 
SBiffenfd)aft  unb  Shinft  feinem  Sanbc  sujuwenben  unb  an  feinen 
|>of  ju  oerpflanjen.  Slber  öor  allen  Gingen  fcfcte  er  ben 
gried)ifd)en  Stampf  in  georbneten  ©liebem  an  bie  Stelle  beS 
2Raffengefed)teS  ber  3Rafcbonier,  bilbete  fo  bie  ntafebonifdje 
$halQ,,f  bcr  gried)ifd)cn  nach,  behielt  aber  für  fie  bie  fehlere 
mafebonifche  Sariffe  bei,  wie  fie  ber  bortige  berbfnodjige 
£anstned)t  nod)  führen  fonnte,  unb  gab  fo  berfelbcn  eine 
Ueberlegcnheit  über  ihr  aRufter,  wie  oiel  mehr  über  bie  um> 
wofjnenben  Barbaren.  Slber  nachbem  er  ben  ©intritt  in  ben 
Slmphiftponcrtbunb  erlangt,  begriff  er  bie  9tothwenbig!eit,  burd) 
eine  nationalgried)ifd)e  Unternehmung  bie  lefcte  ©djranfe  hinweg* 
juräumen,  er  wählte  einen  fRadjefrieg  gegen  baS  perfifdjc  SReid), 
um  bie  Striege  unb  ©iferfüchteleieu  ber  Griechen  su  beteiligen 
unb  burdi  gemeinfame  Siege  an  ihrer  Spifce  eilt  neues  Saab 
SWifchen  fid)  unb  ihnen  su  fnüpfeit.  SRad)bem  er  ben  SBiberftanb 
feiner  griechifcheit  ©egner,  Üljcben  unb  Slthen,  bei  ©häronea 
niebergeworfen,  ließ  er  fiel)  su  Äorinth  sum  öunbesfelbherrn 
wählen  unb  rüftete  fofort  sunt  Kriege;  hatte  hoch  einft  Slthen 
in  gleicher  SSeife  fid)  emporgefchwungen.  gü*  ©riechenlanb  war 

7ß) 


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7 


folrf)  ein  Kampf  gegen  Werften  eine  Sßohltbat  erfter  ©röfje. 
Seit  einem  3ahrhunbert  ftrefate  ba«jelbe  burd)  ©elb  bie  geinb« 
fünften  ber  ©riechen  p nähren  unb  ben  inneren  .paber  ju 
erhalten,  itibem  e«  ben  einen  Stamm  gegen  ben  anberen  p 
bereit  nnb  ©riecheulanb«  Alraft  burd)  griec^ifct>e  SEßaffen  ju 
brechen  judjte. 

®er  ©ebanfe  mar  glütflid);  inbe«  bie  angegriffene  orienta« 
ltfd)e  ®3elt  f)<ü  auch  ein  9ied)t,  p forbern,  baß  man  ben  Alrieg 
unter  ihrem  ©eficht«punft  betrachte;  aber  bie  oberfläd)lid)fte 
Äenntnifj  ber  perfifdjcn  ©efdjidjte  genügt,  um  uns  ju  belehren, 
baß  bie  perfifdjen  Könige  fid)  ju  itjrern  perrfcherbcruf  ooHfommen 
unfähig  jeigten.  35enn  ma«  enthüllt  fid)  und  hier?  Ülufftänbe 
oon  ißölferf chaften,  SbfaH  non  Stabten,  Sluflehttung  einzelner 
Tpnaften  bi«  p ber  eine«  föniglicfjen  ^riujen  hinauf,  mechfeln 
unabläffig  mit  fßalaftintriguen,  ben  entfehlichfteu  ©raufamfeiten 
unb  Slutthaten  aller  Slrt.  ®«  genügt,  bie  ©efd)id)te  be«  ®atame« 
im  'Jiepo«  ju  lefeit,  um  ben  bobenlojeu  Äbgrunb  p erfeunen, 
ber  ficf)  hier  unter  ben  güfjen  einer  foldjen  perrfd)aft  öffnet, 
©eben  mir  aber  non  biefer  äußeren  @efd)id)te  über  auf  bie  innere, 
fo  finben  mir  3ertre,ung  einjelnen  Völferfchafteit  unter  bie 
hochntüthige,  bedpotifcf)e  Söillfür  perfifdjer  ©roßen,  baneben  nur 
prunfenbe  Verfdjroettbung,  ileppigfeit  unb  Sdjlentnterei.  Die 
äRänner,  beiten  bie  Seitung  unb  Orbnung  ber  einjelnen  ißroöinjen 
übertragen  "mar,  hatten  entroeber  al«  geborene  Werfer  für  ba« 
innere  üeben  ber  Golfer  fein  Verftänbnijj  unb  bradjten  ihren 
©ebanfen  unb  Sntereffen,  felbft  beit  heiligften,  ini  beften  pralle 
nur  ©leidjgültigfeit,  oft  genug  nur  Verfettmutg,  Veradjtuug  unb 
Ufißhanblung  entgegen,  ober  erroecften  al«  oott  ben  ffretttben 
erhobene  ©ünftlinge  nur  .'paß,  Verachtung  unb  äöibermillen,  fo 
baß  bie  Vefeitigung  folcher  perrjchcr  nur  al«  ein  Freiheit«- 
morgen  fonnte  begrübt  roerbett.  v2lud)  unter  be«potifd)er  perr* 
jdjaft,  unter  Sultan«launen  etttmidelt  ficf)  bi«meilen  eine  ölüttje 

177) 


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8 


Dort  Sßiffenfdjaft  unb  föunft,  aber  unter  ben  Werfern  ift  feine 
9tebe  non  einer  £itteratur,  einer  ^ßocfie,  einer  öliitije  ber  bilbettben 
ftunft,  eS  muffte  benn  etrua  bie  Ütrdjiteftur  fein;  aber  felbft  mag 
ihre  $anb  an  ben  SBänbctt  non  'ißerfepolig  gefchaffeu,  f>at  mehr 
ein  antiquariftfjeg,  alg  ein  fünftlerifdjcg  3ntereffe. 

©egen  biefe§  9$olf  alfo  moHte  Iß^ilipp  einen  SBergeltunggfrieg 
beginnen,  um  bie  üor  150  Sauren  ton  ihnen  eingeäfdjertcn 
Sempel  ©riecffenlaubg  gu  rächen.  @g  mar  insofern  ein  mutt)’ 
miüigeg  SBadjrufeit  ber  milbeften  Seibenfdjaften,  unb  milb  mürbe 
fiel)  unter  ^Sfjifipp^  Leitung  ber  Strieg  geftaltet  haben  — geigt  uns 
hoch  ber  ©ranb  ton  *ßerfepoli§,  mogu  felbft  ein  groffer,  ber 
©raufamfeit  unb  allen  Untaten  abgeneigter  Stönig  fid)  gebrängt 
falj,  meil  man  fid)  einmal  auf  eine  fdjiefe  Sbeite  gefteflt  ^atte. 
ißergeltunggfrieg  ift  ein  entfestiget  Strieg,  ber  neben  ben  £eibcn, 
bie  ber  Strieg  mit  Stotfymenbigfeit  itt  feinem  ©efolge  ^at,  tuet) 
tt)un  unb  frättfen  min  unb  fein  bann 

( £g  mar  ^^itipp  nicht  befcfjieben,  augjuführen,  tun»  er 
geplant  unb  torbereitet  hatte:  am  S3orabertb  beS  StampfeS,  als 
er  bereite  feinen  gelbfjerrtt  ^armenio  nad)  Slfien  torauSgefanbt 
hatte,  traf  itjn  ber  Diörberbolch,  ber  eine  ffSritatfränfung  an 
ihm  rädjeit  roollte,  unb  legte  bie  HluSführung  in  beS  ©ohne« 
$anb,  frönte  beffen  Haupt  mit  untermclflidjem  £orbeer. 

©ohtt  Stönig  ^ß^ilippg  unb  ber  sClpmpiaS,  erblicfte  ?Uej:anber 
353  tor  Sl)r.  ©.  baS  £icf)t  ber  SBelt  unb  ermeefte  fd)ou  in 
früher  Sugcnb  glättgenbe  Hoffnungen,  an  Stürper  unb  ©eift  auf 
baS  l)errlid)ftc  auSgeftattet.  ©rojj,  fräftig,  ftraf)lenb  in  fugenb* 
lieber  ©djönfjeit  unb  griffe,  goger  ?lller  'Singen  auf  fid)  unb  über- 
ragte bie  ÄlterSgenoffen  burd)  bie  gäfjigfeit  gu  aufjerorbeutlidjen 
eingelnen  £eiftungen  fo  fehr  — trefflicher  Sdjttellläufer,  9tinger, 
3teiter,  ©chmimmer  — , baff  ihn  (Sitter  für  ben  Strang  gu  Olpmpia 
berufen  erachtete,  anbererfeitS  mar  er  ton  einer  9tad)l)altigfeit  ber 
.(traft  unb  ÄuSbauer,  baff  er  uns  fpäter  im  Striege  überall  an  ber 

(78) 


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9 

©pifcc  feiner  |>bpafpiften  crfc^cint,  wo  eS  galt,  pfeifen  über  gelfen 
$u  erflimmen,  Jag  unb  SNadjt  ausjubauern  iit  SBiitbe  unb 
Strapazen.  ®amt  fetjen  wir  ibn  wicber  an  ber  ©pifce  feiner 
Düeiter  jur  ©cf)[ad)t  fliegen;  er  fennt  feine  (Srmübung,  feine 
^inberniffe,  burd)  glübenbeu  ©onnenbranb,  burdj  utiwegfame 
©dpteentaffen,  »orwärtS  eifenb,  wo  alles  nieberfinft  unb  liegen 
bleibt,  uuerfdjopflid)  an  Straft,  uitbejwinglicb  an  Üttutl),  Men 
ein  leudjtenbeS  öeifpiel,  aller  feiner  ©enoffen  ^erjcn  empor- 
baltenb  unb  wie  in  ficfjerem  91rme  über  alle  ©djwierigfciten 
binwegtrageitb.  ®enn  felfenfeft  wie  fein  2eib,  war  aud)  fein 
©eift  in  ben  größten  ©djwierigfeiten  unoer^agt,  fein  ©rmüben 
unb  ©rmatten  fennenb,  nie  um  MSfunftSmittel  »erlegen,  burd) 
fvrcunblic^feit  unb  £>erablaffung  alles  an  ficß  feffelnb,  fdjweigenb 
burdj  fein  SSertranen  unb  fein  93eifpiel  jebe  9ter»e  in  bein  ©eifte 
feiner  Umgebung  ftäf)fenb,  fröf)lid)  im  ©enießen,  auSbauernb 
bis  jum  füeußerften  im  ©ntbeßren,  alles  an  fid)  feffelnb,  £>ocb 
unb  fiebrig,  Sorne^m  unb  ©eriitg,  föniglid)  in  allem  feinen 
Ifpnt,  freunblid),  freigebig,  fromm.  SS  finb  biefe  $üge  nidp 
gering  aujufcblagen ; eS  ift  ein  d)arafteriftifd)er  3UÜ  für 
9üejanberS  föriegfiibrung , baß  uubebiugte  Serrainlpnbcruiffe 
nidjt  für  itjn  ejiftireit,  fein  gfafi  ju  breit,  fein  ©ebirge  fo  [teil, 
fo  unzugänglich,  baS  er  nicßt  ju  iiberfdjreiten  wüßte,  unb 
er  überläßt  baS  nicht  etwa  feinen  gelbßerren  ober  Äriegern, 
fein  Seifpiel  ift  eS,  baS  jebe  9ier»e  fpannt.  ®arunt  cntpfinbet 
er  eS  auch  als  eine  fdjwere  fftieberlage,  a(S  cS  ifjm  mißlingt, 
in  ©ebrofien  bie  ©ubfiftenjmittel  für  fein  .jjjeer  ßerbeijufcßaffen. 
3mmer  ift  er  an  ber  ©pi£e  ber  ©einen:  er  fennt  nicfjt  weidjlidje 
sJtaft.  Unb  frifd)  wie  fein  ftörper,  ift  fein  ©eift;  nad)  ricfigen 
leiblichen  fänftrengungcn  bat  er  immer  ©pannfraft,  neue  ,*pülfS- 
mittel  ju  erfinticn,  alle  feine  Unternehmungen  folgen  ©cßlag  auf 
®d)lag,  unb  ber  ©ebanfe  ift  nidjt  fo  halb  gefaßt,  fo  feßen  wir 
ilpt  |>anb  an  bie  SluSfübrung  legen:  wirb  ibm  ein  fßlait  burcfp 

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10 


freist,  io  ift  ber  nädjfte  fdjon  entmorfen.  Hub  in  bie  Snabeit- 
jeit  ge^en  bie  $üge  biefcr  SRührigfeit  be^  ©eifteS  jurücf.  fjreubig 
l)atte  er  in  fid)  aufgenommen,  maS  bie  ©Übung  feiner  3m 
bot,  fein  Monier  ruhte  unter  feinem  Äopffiffen,  unb  bie  fpäteren 
Sänger  toaren  ihm  mehr  a(S  eine  StuSfüflung  müßiger  Stunbcn; 
bie  bilbenbe  ttunft  fanb  bei  ihm  freubige  Sfnerfennmtg,  Sdjäßuug 
unb  görberuttg.  Sein  ©ater  hatte  ju  feiner  9luSbiIbung  ben 
au^gejeicftnetften  ber  ©fjilofophen  feiner  3eü,  ^eIt  ÄriftotefeS, 
bernngejogen,  ber  burcf)  bie  ©eburt  ber  niafebonifc^en  ©egcnb 
angehörte,  unb  ber  Jüngling  oerfdjlang  bie  Selfre  beS  großen 
©ianncS  mit  einem  Geifer,  baß  er  ü)m  fpätcr  ben  ©orrourf  machte, 
burd)  ©eröffentlidjung  bie  üe^re,  bie  er  ifjm  oom  3Kunbe  ab- 
getaufdjt,  unter  baS  ©olf  ju  bringen  unb  gemein  ju  madjen. 
21uf  biefen  Unterricht  ha&clt  wir  jebeitfaUs  juriicfjuführen, 
mctin  mir  fpäter  SUejanber  in  feinen  Kriegen  als  Süieifter  ber 
Ü)ied)aitif,  b.  h-  ber  angcmanbten  ©iathematif,  oor  uns  finbcn. 
3BaS  jene  3t’it  üi  bicfer  ©ejietjung  feiftete,  jeigen  uns  bie  ©e- 
tagerungen  oou  £>alifarnaß,  2pruS  unb  ©aja,  geigt  uns  bie 
jüngere  Schute  ber  itriegSmechanif,  bie  im  Demetrius  ^Solior* 
feteS  fulminirt,  unb  ber  Job  entriß  Sltejrauber  großartigen 
©tönen,  ooit  benen  bie  2)uril)fted)ung  beS  SfthmuS  oon  ftorinth  bis 
auf  unfere  3e*r  ein  2xaunt  geblieben  ift.  S(ud)  tjü’lt  ber  Äöuig 
feft  an  feiner  Siebe  3 um  Setjrer  unb  förberte  bcffen  ©eftrcbungen, 
mie  er  fonnte. 

Siber  ber  Üieufd)  f)nt  nicht  allein  einen  ©eift,  fonbern  auch 
ein  ©emiith-  Schon  ermähnte  id)  oben  SUejanberS  #od)herjig- 
feit,  /peiterfeit,  fyreigebigfeit,  greunblichfeit,  mit  ber  er  fein  £>cer 
au  [ich  feffette,  fo  baß  feiner  feiner  gelbljerren  au d)  nur  ent- 
fernt barin  mit  ihm  metteifern  fonnte,  feine  ©roßmuth  unb 
©erfühnfichfeit.  Unb  bamit  oerbanb  er  eine  Stufmerffamfeit 
unb  Zartheit,  bie  ihm  felbft  bie  $ergen  feiner  ©egner  gemaun, 
fo  baß  SifpgambiS,  bie  SDiutter  beS  Marius,  bei  feinem  üobe 

(SO) 


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11 

au«rief,  nun  feien  fie  flum  groeitenmal  gefallen,  nod)  einmal 
entthront;  wer  ihnen  nun  ein  ^weiter  Sllejanber  luerben  würbe. 
— 216er  tiefer  läßt  un«  ber  Umftanb  bliefen,  baff  Älejanber 
einen  wahren  greuub  ^abe  gewinnen  unb  bi«  an  beffen  Sebcn«» 
enbe  feftfjalten  fönnen,  beim  bein  greunbe  fahlen  wir  burd)  ba«, 
wa«  wir  finb,  greunbfehaft  fann  nur  auf  gegenfeitiger  Sichtung 
berufen,  ©ie  grünbet  auf  niefjt«  3rbifcf)e«;  Siebe  famt  erweeft 
werben  burd)  ©djönheit,  Änmutf),  2Bi$,  burd)  mannigfache  ge» 
feüige  ober  perfönlidje  oergängliche  3Jorjiige  unb  ©iiter,  beim 
fie  berührt  fid)  mit  ber  ©innlichfeit;  wo  greunbfd)aft  ift,  ba 
ift  2öertf)fc^ä^uttg ; ben  SBertfj  be«  Slnberen  aber  mifjt  ber  ÜRenfch 
nach  bent  eigenen  SBertlj:  wir  fdjäfcen  am  Slnbereit,  wa«  wir 
an  un«  felber  am  ^öc^ften  fc^ä^en,  ober  am  i)öd)ften  fc^ä^en 
würben,  wenn  wir  e«  befäjjen.  f5reun^>fc^aft  will  nicht«  oott 
bem  greuube,  fie  will  bem  greunbe  etwa«  fein,  fie  freut  fiel) 
ju  (elften  unb  $u  opfern.  Unb  wie  Sllejanber  über  ffreunb  unb 
greunbfefjaft  bad)te,  ba«  hat  er  in  einem  bebeutenben  ÜHiomente 
flar  au«gefprod)en.  rw  2lit  feine«  §epfjäftion  ©eite  trat  er  ju 
ber  gefangenen  ÜJhttter  unb  ©attiu  be«  £ariu«  ein.  (Singebcnf 
ber  ©raufamfeit,  mit  ber  bie  Werfer  in  folchen  Jällen  meiften« 
oerfuhren,  bemiithigte  fid)  bie  (Srftere,  warf  fid)  für  fid)  unb 
SSeib  unb  Äinb  ihre«  Sohne«  bem  Sieger  ju  frühen;  aber  fie 
nahm  für  benfelbett  ben  größeren,  ftattlidjeren  |>ephäftion. 
SU«  fie  bann  über  ben  Srrthum  belehrt  loarb,  ba  jammerte  fie 
laut  auf,  nun  fei  fie  ganj  oerloreit.  ©ie,  eine«  Äönig«  SDhttter, 
im  ©eifte  oielleidjt  fefjon  Stfjne  einer  Steihe  »on  Königen,  batte 
oor  einem  Untertanen,  einem  Ätiecfjte,  gefuiet,  oon  ihm  er- 
barmen erfleht,  wem  lonnte  fie  nadj  biefer  ©tunbe  itod)  mit 
föniglichem  ©clbftgefühl  entgegentreten?  Unb  Sllejanber ? — 
Sllejanber,  ooll  Sßerftänbnifj  für  ihr  ©efiihl,  ergriff  fie  bei  ber 
f)anb  unb  fpradj : „@ei  ruhig,  ÜJfutter,  ba«  ift  aud)  Sllejanber. 

(Sr  ift  mein  jweite«  3d),  ift  Jffönig,  wie  id),  er  herrfdjt  in 

(81) 


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12 


meinem  §erjcn.  Unb  als  jmeiter  SHejranber  ift  §ep^ä|tion 
burd)S  Sieben  gegangen.  Kein  SDftfjöerftänbuifj  bat  if)r  Sßer* 
bältnijj  getrübt,  nie  Ijat  er  baS  ©eine  gefurfjt.  Sie  onberen 
mafebonifcben  ©rofjen  mürben  irre  an  bem  König,  als  er  über 
Sßerfer  perfifcb  ^errfd)eit  mollte,  ^ep^äftion  blieb  ihm  treu,  bie 
Slnberen  fugten  Saaten,  ©bie,  fRcidjtbümer,  ©eniiffe  für  fid), 
§epf)äftion  blieb  an  feiner  ©eite,  baS  Stlejanber  nergötternbe 
heer  empörte  fid)  gegen  iljn,  als  er  perfifcbc  ÜÄannfd)aft  ju 
KriegSebren  Ijebcn  mollte,  Sllejcanbcr  ftüfcte  fid)  auf  hcpbäftion. 
SaS  er  bem  greuube  burd)  9tatl),  Sroft,  Unterhaltung  gemefen 
ift,  fönnen  mir  nur  ju  erratfien  fud)en;  als  aber  bie  Kraitfbeit 
$epbäftion  non  feiner  ©eite  nahm,  ba  marb  für  Stlejanber 
ber  Söedjer  beS  ©cbnterj\eS  ooD,  unb  er  fixeste  feinem  ©efübl 
burd)  ein  Seid)enbegängnifj  genug  ju  tbun,  fo  glän^enb,  bafj  mir 
oerftummen  müffen  oor  ber  grage,  welche  ^ö^cre  ©bren  für 
beS  StönigS  eigenes  öegräbnife  noch  übrig  blieben.  Ser  fo  ben 
greunb  bod)  ju  halten  meifj,  ber  ift  beS  ^reunbeS  mertb;  roelcb’ 
ein  ©cbob  aber  ber  greunb  ift,  baS  mirb  feines  anberen  Siippe 
auSfprecben. 

Sie  gern  miiftte  ntau  SläbereS  über  StlejanberS  Söerbältniß 
ju  ben  perlen  ber  Sichtung,  Siffenfcbaft  unb  Kunft,  mit  benen 
ibm  ©riedjenlanb  entgegentrat;  aber  mir  haben  feine  ©efcbid)te 
SllejanberS,  fonbern  nur  SlnSjtüge  aus  einer  foldjett;  »iel  fagt 
uns  feine  Siebe  ju  SlriftoteleS,  ber  ihn  jum  Urgrunb  ber 
Siffenfcbaft  bingefiibrt  batte,  üief  auch,  bafj  er  nur  oon  einem 
SlpctleS  gemalt,  nur  oon  SpfippuS  in  ©rj  gegoffen  fein  mollte, 
unb  bie  SDlilbe,  mit  ber  er  einmal  über  baS  anbere  baS  auf* 
fäffige  Silben  als  baS  ©aatfelb  unb  bie  ©tammabne  alles 
©roßen  unb  herrlichen  bebanbelte,  ^eigt,  mie  fyod)  ihm  bie 
ibealen  ©ütcr  beS  SebcnS  über  ber  realen  Seit  ftanben.  ©r 
repräfentirt  baS  beffere  Jbeit  beiber  ©Item,  bleibt  beS  SBaterS 
üßöflerei  unb  Srunffud)t  ebenfo  fern,  als  bem  leibenfcbaftlidjen 
(82) 


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£>aß  unb  ber  ©rauiamfeit  ber  SDiutter.  ftöitiglid)  war  feine 
Haltung  ebenfo  wie  Seiber,  er  wußte  aud)  bei  Safel  ju  «prüfen- 
tiren  unb  biircß  ißrc  greuben  ben  mafebonifdjett  Slbel  an  fid) 
ju  feffeln:  ißm  felber  war  cS  wefetttlid)  um  bie  gefellige  Unter- 
haltung ju  tßun.  30t  ber  äRutter  hing  er  mit  großer  Siebe  unb 
war  entfdjloffen,  ißr  £o$  ju  tßeilen,  als  Philipp  fie  üerfticß, 
um  fid)  mit  einer  fdjönett  SRafebonierin  ju  oermäßlen.  Unb 
hoch  hatte  er  fdjon  unter  be$  Vaters  Mugeit  bei  Gßäronea 
feine  Sporen  oerbient  unb  wußte,  baß  er,  ber  SWutter  folgenb, 
3ieicß  unb  fRußm  in  bie  Scßanje  fdjlage,  aber  er  jwcifelte 
feinen  Slugeitblicf;  ba  traf  ffißitipp  ber  ÜRörberbold)  unb  fteHte 
2Rafebonien  oor  bie  grage,  wer  ißm  auf  bem  $hroue  folgen 
fotle.  £aß  ber  erft  wenige  SRonate  alte  Soßu  ber  Cleopatra, 
SßüippS  jweiter  ©entaßlin,  beit  Stürmen  ber  3e«t  nid)t  ge- 
wacßfen  fei,  lag  am  Sage,  bennod)  ftrebte  im  erften  fttugcnblicf 
bie  gaatilie  für  ißn,  ja  e$  ftrecfte  nod)  ein  jweiteS  dürften- 
gefcßled)t,  bie  Sßnfeftier,  bie  £>anb  nach  ber  Jiroue  au$;  aber 
bie  Vernünftigen  erfanntett  fdjneü,  baß  allein  bei  bem  älteften 
Soßn,  bem  achtjehnjährigen  Sllejauber,  fRettung  fei,  unb  eilten, 
ißn  auf  ben  j£ßron  feiner  Väter  ju  fefcen. 

2>amit  fcßließt  SllejanberS  gugettb  unb  beginnt  bie  $eit 
feines  felbftänbigen  $anbelitS  336 — 323.  Sie  fdjeibet  fid)  in 
brei  feßr  üerfcßiebene  3eiträume.  3ucrft  f«h$  Saßre  frifdjen, 
freubigen  VorwärtSftrebenS  oon  336 — 331.  @3  folgen  ben- 
felbeu  brei  Saßre  ber  Cppofition  be$  mafcbonifcßen  ülbelS, 
330 — 328,  unabläffiger,  paffioer  SBiberftanb  im  gortgange  ber 
Eroberung,  oerbunbeit  mit  ben  fRabelfticßen  beS  SarfasmuS 
unb  ^poßneS,  bie  Sllejanber  baS  Sebcit  oerfeibcten  unb  burd) 
fortwährenbe  fReijungen  ißn  empfänglid)  macßten  für  bie  Um- 
nebelung feines  Sinnes  burd)  Söein,  bann  enblicß,  nad)  ftlitnS’ 
©rmorbung,  eine  geit  beS  oerjweifelten  VorwärtSbrättgeuS, 
baS  über  neuen  Jßaten  ben  Vorwurf  beS  ©eroiffenS  ju  oer- 

(M) 


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fleffen  fudjte,  uttb  als  fie  ooriiber  toar,  bie  leibcr  nur  ju  früh 
unterbrochene»  Sdjritte  jum  äufbou  eines  neuen  SieidjeS. 

2öie  fdjnell  ficf)  auch  SWafebonien  für  Stlejanber  entfchieb, 
ioie  fd)netl  er  nucf)  oou  bem  £>ofe  feines  iügrifchcn  Ohe*m® 
herbeieilte,  bennod)  faub  er  bie  ©erhäftniffe  fDiafebottienS  un* 
geheuer  oeränbert.  Kaum  iwar  bie  SRadjricht  oon  bem  £obe 
ißh'Kppä/  ber  alles  mit  eiferner  §anb  niebergehalteu  hatte, 
erfd)oHen,  als  bie  $inge  in  ©riechenlanb  uttb  Iheffalien  einen 
oölligen  Umf^wung  nahmen.  SC^effalien  fagte  fich  fofort  oon 
bem  mafebonifchen  ©ünbniß  loS,  30g  feine  fRitterfdjaft  jurücf 
unb  befeßte  bie  ©äffe,  toeldje  nach  ÜRafebonien  führten.  3n 
©riechenlanb  erfchien  £emoftheneS  auf  ber  fRebnerbühne  oon 
Althen,  jubette  über  bie  tieugeroonnene  Freiheit,  fdjalt  JUefanbcr 
einen  Knaben  unb  £ropf,  unb  Theben  ergriff  fofort  bie  2Baffen 
gegen  bie  mafebonifd)e  Sefaßung  auf  feiner  ©urg  unb  be- 
brängte  fie  aufs  heftigfte.  Slber  baS  toar  cS  nicht  allein,  auch 
oon  onberer  Seite  erhoben  fich  Seinbe:  im  Siorben  oon  ü)Za» 
febonien  ergriffen  bie  SribaHer  bie  SBaffen  unb  behüten  ihre 
©erbinbungen  bis  au  bie  ©onau  aus,  unb  bie  Sftl^rier  erhoben 
fich  Segen  ben  Üfachbarftamm,  fliegen  oon  ihren  ©ebirgen  herab 
in  ber  Hoffnung,  ihm  ©ren.^prooinjen  §u  entreißen. 

So  oiefen  geittbeit  gegenüber  fchicn  ÜRafebonien  9tadj* 
giebigfeit  geboten  31t  fein  unb  oor  allem  ber  ©erfud)  gemacht 
werben  3U  niiiffen,  fid)  mit  beit  »ergebenen  ÜRädjten  auf  einem 
neuen  guß  31t  arrangiren,  ben  Krieg  gegen  ©erfien,  ju  bem 
©h'tipp  atlerbingS  bereits  ein  tpeer  über  ben  .fpellcSpont  gefchidt 
hatte,  aufjugeben.  ©a3U  riet^en  SMejanber  auch  manche  feiner 
fRatfjgeber.  SfnberS  badjte  ber  König,  füiafebonien  mußte 
entioeber  emporfteigen  jur  fiihreuben  ÜRadjt  in  ©riechenlanb, 
ober  herab  31t  ben  alten  ©erhältniffen.  @S  mußte  ©riechen- 
tanbs  Angelegenheiten  in  bie  £>anb  nehmen,  ben  Krieg  beginnen, 
in  toelchcm  bereits  eines  SfofrateS  Patriotismus  ©riechenlanbS 

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peil  erfanut  hatte,  bad  SÄtttel,  cd  311  einer  gemeiufc^aftlic^en 
Jftion  311  beftimmen,  ben  fletnf icfjeii  geinbfcfjaften  unb  3ntrigucn 
icr  einjcluen  Staaten  ein  @nbc  31t  machen;  ober  ed  mußte  fich 
roieber  auf  fid)  felber  ^uriicfjie^cn,  auf  feinen  alten  Jammer: 
Die  Auflehnungen  ber  {(einen  Spnaftieti  gegen  ben  ftönig,  bie 
inneren  3lt,*f**9^ejt:en  'n  ber  föniglicßen  Familie,  geittbfdjafteu 
mit  ©riecßenlanb,  ^e^beit  mit  Kolonien  an  ber  ©renje.  Sa 
. nur  für  einen  Alejanber  feine  SSatji.  Ser  itrieg  toar  ja 
eigentlich  ©riedjcnlanbd  Sache,  für  bie  ©riedjen  wollte  ihn 
SJJafebonien  führen,  mar  ed  bod)  fein  mahred  .giel,  fßerficnd 
Sinfluß  auf  ißre  SSerljältniffe  bauernb  3U  brechen,  ben  argen 
Stifter  enblofer  groiftigfeiten,  bad  perfifdjc  ©elb  ju  befeitigen. 
Ja  lag  ber  knoten,  bie  fRad)e  für  einftmald  ^erftörte  Sempel 
toar  nur  9?ame  unb  freilich  gefährlicher  |>ebel.  Aber  oon 
iolchem  ©elbe  lebten  Diele  Sdjmarofccr;  ed  galt,  bie  ©riechen 
an  ihrem  mähren  Sntereffe  feftjuhaltcn.  Sad  fonnte  nur  ber 
König  felber  unb  an  ber  Spifcc  eined  .jpecred.  So  mar  beim 
Slejanber  fofort  3um  guge  nach  ©riedjenlanb  entfcßloffen. 

Sr  30g  fein  §eer  sufamnten  unb  erfdjien  an  ber  Siib- 
grenze  feined  9Jeiched  am  Eingang  bed  Sempethaled.  |>ier 
aber  fanb  er  bie  Sheffalier  gelagert  unb  3toar  in  fo  feften 
Stellungen,  baß  fie  ohne  ungeheure  SJienfdjenDerluftc  aud  bcm 
felben  nicht  mären  3U  oerbrängett  gemefen,  foldjen  aber  gcbacßte 
er  feine  treuen  3Rafebonier  nicht  aud3ufejjeu.  So  30g  er  beim 
ohne  Äampf  oon  ber  G5rcnje  gurücf,  bie  Sheffalier  triumphirtcn. 
Sber  bad  mar  fein  Söe^agen,  fottbern  nur  eilte  (Entfaltung 
feine#  reichen  ©eifted,  ber  im  llnmegfanten  SBege  31t  finbett 
mußte,  unb  feine  phhfifdje  unb  moralifdtc  Straft  Dcrmodue 
burchjuführen,  road  Attberen  unmöglich  fd)icn.  Sr  fdjlug  ben 
öcg  nach  bem  unteren  ifkneud  ein,  ging  über  bcufelbcn  unb 
fanb  fith  baburd)  3roifd)en  bern  finden,  fcßmalen  Saum  ber 
Sieeredfüfte  uttb  bem  Offagebirge  eiugcflemmt,  bad  bort  Sßcf* 

(SS) 


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falieit  ttad)  Often  abgrenjt.  lieber  basfelbe  führte  feine  $eer* 
ftrafee,  nur  SBege  gangbar  für  3*cSen  un^  oHenfafl3  bereit 
Wirten,  bie  ihren  2; gieren  nad)juflettern  Derflaitbett.  ®on  biefer 
©eite  war  für  bie  I^effalier  fein  Slugriff  ju  erwarten,  fjier 
ftattb  beäholb  feine  tljeffalifche  4?ecre3abtfjeifung.  Sllejattber 
aber  getraute  ficfj,  and)  über  folcfje  §ejett treppen  feinem  Heere 
einen  SGÖeg  ju  finben,  unb  wo  ber  Zottig  mit  feiner  Slafticität 
unb  ©ewanbtheit  öoranfd)ritt,  hotte  ber  ©olbat  fid)  gefd)ämt 
jurücfjubleibett,  fein  öeifpiel  fpornte  bie  fDiafebonier  ju  Sltt* 
ftrengungett,  bie  fie  ohne  ba3  für  uumöglid)  gehalten  Ratten. 
Sltt  ber  ©pi^e  feiner  teilten  Gruppen  erflomm  ber  Mönig  bie 
Jelfen,  tiefe,  wo  eS  nötljig  war,  ©tufeu  in  biefelbett  einhauen 
unb  ben  ©chwerbewaffneten  Söege  bauten,  ©o  ermöglichte  er 
feiner  fßf)atanj  ba3  ©rfteigen,  erreichte  ftimmenb,  mahnenb,  ar» 
beitenb,  Don  Meinem  aufgefjatteu,  ben  Maitint  be3  ©ebirgeS  unb 
war,  wo  ihn  Meiner  mehr  aufhalten  fonttte,  mit  feinem  $eere 
itt  Jheffatien.  5Damit  war  bie  Hauptarbeit  gethan,  beim  au 
ber  inneren  ©eite  bacht  fid)  baS  ©ebirge  getinbe  ab,  unb  er 
ftieg  ohne  ©d)Wierigfeit  ^erab.  ©o  ftanb  er  im  fRüden  jener 
uttüberwinbüchen  SBoHwerfe  beS  S$etteussthale8.  Söer  bcfdfjreibt 
bett  ©chred  ber  X^effalier,  als  fie  fahett,  bafe  ber  f5c*n55  mitten 
im  Sattbe  ftehe,  bafe  ihre  ©täbte  mit  SBeib  unb  Minb  ihm 
preisgegeben  feien?  — @3  war  alles  oertorcu;  man  ntufete 
^rieben  fudjett;  aber  welche  Sebingungeit  würbe  nun  ber  fieg« 
reid)c  geinb  twrfdjreibeit  ? 

Bageitb  traten  bie  ©efanbten  oor  baS  SIttgefid)t  beS  jungen 
MöitigS,  beffett  ^ottt  fie  IjerauSgeforbert  hotten.  Unb  Sltejattber? 
Sllejanbcr  erinnerte  ^unächft,  bafe  Söiafeboniett  unb  Sheffalien 
ja  93rubertmlfer  feien,  gemacht  fi<h  31t  förbertt,  itidjt  ju  be* 
fämpfett,  erinnerte,  bafe  bie  ntafebonifche  uttb  tl)effalifd)e  jReiterei 
wieberholt  ©eite  au  ©eite  geftritten  unb  in  Sapfcrfeit  mitein» 

anber  gewetteifert  höbe,  bafe  fie  feinen  Skter  311111  SJunbeSfelb* 

1*6) 


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17 


Öerrn  gewählt  uitb  ihm  |>eere#folge  jugefagt  hätten,  ltnb  forbcrte 
jie  nun  auf,  it)m  ju  haften,  tun#  fie  jenem  oerfprodjen.  53  or- 
tbeile  für  ficfi  über  ba#  ^tnaud,  ma#  barnal#  jugefagt  fei,  forberte 
er  nidjt.  — Cb  bie  Sheffalier  einjdjlugcit  auf  folche  93ebin* 
guugen?  £a#  bebarf  feine#  SBorte#:  ber  Triebe  mar  gefdjloffen, 
jo  wie  bie  33orfd)läge  gemacht  luaren.  $)ie  ttjeffalifchen  Witter 
ftrömten  ju  ben  mafebonijd)en  Jahnen,  »ob  bie  £iebeu#roitrbig* 
feit  be#  jungen  Möitig#  uoflenbete,  wa#  fein  öbeliimth  begrünbet. 
äber  auch  5llefanbcr  erntete  fofort  bie  Jrud)t  beffen,  roa#  er 
gejäet.  9iun  ftanben  ihm  bie  ^^emtop^fen  offen.  @r  eilte,  fie 
ju  befejjen.  533er  hätte  ihn  jeßt  fchou  bort  erwartet?  unb  ba# 
mit  ganzer  SJZacht?  SBodjcn»,  ja  monatelang  mußte  ihn  ja 
Zhefjalien  oufhalten.  51ber  er  mar  ba,  unb  mit  fliegenbeit 
Jahnen  eilten  53ölfer,  bie  fßhofeo)^  bie  mafcbonijch  gefilmten, 
Dfueu  einft  Mönig  in  ihrem  ßwift  mit  Delphi  jutn 

Siege  oerholfen  hotte,  ju  feinem  |>eere.  ©o  maren  bie  $he= 
bauer  bie  nächfteu,  aber  erjchrecft,  burch  be#  ©egner#  ©chneflig* 
feit  gelähmt,  baten  fie  bentiithig  um  Jrieben,  uub  Ülthcn  blieb 
nichts  übrig,  al#  ba#  ©leidje  ju  thun. 

?llefanber  forberte  auch  nid)t#  al#  Sejdiiduug  be#  in 
Soriitth  abjuhaltenben  33uube#tage#,  um  ihm  bie  feinem  53ater 
jugejagte  S3unbe#felbherrnfd)aft  ju  beftätigeit.  511#  fie  ba#  ju> 
gejagt,  ba  ftrömte  e#  oou  allen  ©eiten  fjerbei,  unter  gleicher 
iöebiugung  beit  Jriebeit  jit  erlaufen,  nur  Safebämon  [jtelt  fidj 
jem.  5lber  feit  ÜDieffeite  mieber  aufgeridjtet  mar,  bnrfte  er  ba# 
al#  eine  gefallene  ©röße  betrachten,  bie  genug  in  ihrem  Sintern 
ju  fämpfeit  höbe;  SUejranber  mar  itid)t  gefonnen,  mit  Mampfen 
in  üafonien#  t^elfeitbefileeu  eine  foftbare  $eit  ?u  ücrt^itn.  Xic 
übrigen  Staaten  erfchiencn  iii#gcfamt.  unb  cinftimmig  roarb 
Slejranber  bie  Jührung  gegen  bie  Werfer  oerlieheu.  Uub  c# 
ctjchieneti  nirfjt  atleiii  $eputirte;  non  allen  ©eiten  ftrömte  e# 
herbei  wie  $u  einem  53olf#feft,  unb  5Ule  maren  bejaubcrt  uon 

Sammlung.  91.  3.  V.  99.  2 ts>) 


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18 


ber  Siebeitgwürbigfeit  beg  ftönigg  uitb  bem  ©erftänbnife,  bag 
er  jeber  ßeiftung  entgegenbracfete,  unb  ber  SBeife,  wie  er  auf 
bie  ©ebanfen  unb  Intentionen  jebeg  ©ittjelnen  einjugcfeen 
wufete. 

ÜKan  ftaunte,  wie  er  ganj  ©rieche  fei  in  feiner  Silbung, 
alg  ob  er  im  ©cfeofee  ber  üJiufenftabt  aufgemadjfen  wäre.  ®r 
fnüpfte  ©erbinbungen  nacfe  allen  Seiten  an,  unb  alg  ficf)  ©iner, 
ein  fßfeilofopfe,  S)iogeneg  oon  Sinope,  bodj  oon  ifem  fern  l)ielt, 
ein  eigentümlicher  SJfenfcfe,  ber  bem  ©ittenoerberben  ber  3eit 
ju  fteuem  fud)te,  inbem  er  ©eradftung  beg  ©innengenuifeg 
leferte,  liefe  Sllejanber  ficf)  gern  erjagen  oon  bem  feltenen  &auj, 
ber  jeglidfeg  ©efeagen  beg  ßebeng  oon  fid)  weife,  unb  bem  im 
$afeu  ber  Stabt  eine  'ioitne  jur  Sßofeimng  genüge.  3a,  ba  er 
uid)t  ju  ifem  fommeu  wollte,  liefe  ficfe  SUejanber  nicfet  oerbriefeen, 
ben  Söeltoeräcfeter  aufjufucfeeit,  unb  fcfenell  lernte  er  ben  SRann 
achten,  für  ben  bie  ÜÄeifteit  nur  Spott  featten,  füfelte  ficfe  aitge* 
fprodjett  oon  bem  ©cfelagenben  feiner  Slntworten  unb  ber  Sin« 
nigfeit  feiner  ©ebanfen.  So  unterhielt  er  ficf)  länger  mit  ifem 
unb  fcfelofe  bag  ©efpräcfe  mit  ber  grage,  ob  er  ifem  eine  ©unft 
erjeigen  fömie.  ®iogeneg’  Antwort  warb  wofei  oon  manchem 
Höfling  belächelt,  Slleyanber  aber  fpracfe:  ©Senn  id)  nicfjt 
Sllejranber  wäre,  würbe  icfe  ein  5>iogeneg  feilt. 

So  war  beim  Sllejaitberg  Aufgabe  in  ©riecfeeitlaub  gelöft 
unb  er  eilte  feeim,  feilt  Sanb  aud)  gegen  bie  Singriffe  oon  9torben 
ju  fcfeü|en.  2öir  laffen  aber  biefe  fiämpfe,  fo  fcfewierig  fie 
waren,  unberührt,  unb  ftreifen  feilt  über  bie  nochmalige  ©r* 
feebung  ber  antimafebonifdjen  ißartei,  bie  Ifeebeng  $erftörung 
im  ©efolge  featte,  beim  Sllejanber  liefe  niefet  mit  ficf)  fpielett, 
aber  bie  §ärte,  bie  er  bort  üben  mufetc,  trug  für  bie  golge 
allen  fpäter  gefangenen  Sfeebancrn  bie  milbefte  ©efeaitbluttg  ein, 
uitb  eg  genügte  ifern  an  bem  einen  ©eifpiel  feiner  Strenge:  er 

errnieg  fiel)  beit  Sltfeettertt  gnäbig,  alg  fie  ficf)  beugten. 

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19 


3dj  übergehe,  mie  2IIeyanber  über  beit  |>e[leSpont  ging, 
nod)  einmal  an  2ld)iüS  ©rabe  fdjroämten,  mie  perfifd)er 
$od)muth  am  ©rauifuS  bie  lefcte  (Seance  bcS  Siegel  ner* 
id)mähte,  bie  Ufer  beS  ^ruffesi  burd)  bie  gried)ijd)e  Infanterie 
in  ifjreni  ®ieitfte  üertljeibigen  $u  raffen,  unb  fo  nad)  mutigem, 
aber  frudjtlofem  Stampfe  nur  bie  krümmer  beS  pecreS  auf  bie 
|>od)ebene  mm  Stleiuafieit  rettete.  üllcjranber  lief?  fie  gieljeit, 
iljn  rief  jefct  eine  ^ötjere  Aufgabe,  er  hatte  bcr  gried)ifd)en  Stte= 
öölferung  längs  ber  Stufte  AtfeinafienS  greiheit  nnb  Orbnung 
im  gnnern  ^ugefidjert.  80  rüdte  er  ab  nad)  ©üben  auf  ©arbeS 
unb  bann  lueiter  auf  SpfjefuS,  banad)  bie  Stiifte  beS  2lrd)ipelagus 
entlang,  fdjoit  burd)  bie  9?äf)e,  in  melier  er  ©riechenlanb 
gegenüber  meilte,  jeben  ©ebanfen  an  eine  Auflehnung  ber 
©riedjen  gegen  ihn  befeitigeub.  2$on  Sßiberftanb  feiteitS  ber 
Werfer  mar  nicht  bie  fHebe,  ©tobt,  $urg,  ©dja&fammer  mm 
©arbeS  marb  ausgeliefert.  @r  ernannte  ihnen  uatiirlidj  einen 
Statthalter  aus  bem  Streife  bcr  ©einen.  Süann  orbitete  er  bie 
lüerhältniffe  ber  gried)ifd)cn  ©täbte  im  gnitern  au  ber  griedji- 
fdjen  Stüfte,  meld)e  bie  fßerfer  burd)  einfeitige  SBegiiuftigung 
ber  Ariftofratie  beljerrfdjt  fjatten,  bie  »ont  Üiolfc  grimmig  ge- 
hofft mürbe.  2lber  bie  ©ilbuttg,  auf  bie  fid)  urfprünglid)  jene 
Cligarchie  geftiifct  hatte,  mar  längft  ©emeiugut  gemorben. 
Alejanber  berief  bie  3)emofratie  jur  £)errfd)aft,  gab  ihr  Sßer- 
faffung  unb  ©efe^e  unb  mehrte  3IuSfd)reituugen  ber  9tad)e. 
®S  marett  £anbSleute  unb  als  foldje  behanbelte  er  fie.  $urd) 
glänjenbe  gefte  bei  beit  Dtationaltcmpeln  muffte  er  bem  neu 
ermachfenbeu  2$olfSlebeit  einen  inneren  §alt  ju  geben.  Aber 
bei  Milet  fd)mt  nahte  ihm  eine  neue  ©cfaf)r:  eS  erfd)ien  eine 
perfifd)e  gtotte  mm  400  ©egelu  unter  phönijifdjcn  gührern. 
Mit  Mühe  fidjerte  ihm  bie  feiitige  ben  tafelt,  fat)  fid)  aber 
mit  ihm  bafelbft  eingcfdjloffeit.  And)  bie  ©tabt  machte  neue 
Änftalten  jur  ©egenmehr,  freilid)  erft  als  bie  ißorftabt  bereits 

•_>*  (bu 


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20 


in  ÄlefattberS  |»inbe  flcratljeit  luar.  üllefattber  mieS  bcn  ©c» 
baufeit  eines  SSiberftanbcS  jnr  ©ee  mit  ungleichen  Kräften  ent» 
fdjloffen  »ott  fid)  tutb  lüfte  feine  flotte  auf,  fieberte  beit  fmfen 
bureß  ©efefcittig  nnb  öefeftigung  ber  »orliegenben  Sitfcltt,  mehrte 
bie  feinblichen  Schiffe  burcf)  Sorgfältige  Söefehung  ber  SanbungS» 
plciße  uiib  $lbfchitcibttitg  beS  JrinfmafferS  ab  utib  bernunte 
bann  bie  ©tabt  mit  folchetn  9?nchbrucf,  baß  fie  fid)  im  Äuge» 
ficht  bev  mächtigen  feinblichen  flotte  ergeben  mußte.  Tann 
entioicfeltc  er  gegen  baS  »oit  bei»  perfifdjeit  ©ölbnerfübrer 
'JDtemnon  befejjte  ^palifaritaß  bie  ganje  9)?ad)t  feiner  SSelagerungS» 
funft  burd)  eine  fReißc  neu  erfunbener  SDiafcßinen.  ©emiß  fam 
bie  3unetflunfl  ber  griechifcheu  Sfeuölfcrung  Älejanber  f)*er  feßr 
ju  ftatten , ber  als  Söcfreier  crfdficit  uiib  beit  grieeßifeßen 
©täbten  greißeit  uub  ©clbftäitbigfeit  gab.  Änd)  bett  Kariern 
im  Sintern  beS  SanbcS  gegenüber  blieb  er  biefem  SJJrinjip  treu , 
berief  ben  lebten  ©prößling  beS  alten  ^errfchergcfchlechteS, 
eine  Süirftin  Äba,  jur  .fperrfdjaft,  fti'i^te  unb  fchirmte  baS  alte 
©efe$  uub  tperfommen,  uub  eS  mag  ttnS  eine  ffliirgfcßaft  für 
bie  Klarheit  feines  SBlicfcS  feilt,  baß  toir  erft  itacß  feinem  in* 
bifcfjeit  $ttge  »on  Äuflehmwg  gegen  bie  »on  ißm  eingefe^teit 
^errfeßer  hörnt,  toenn  auch  ntattdje  einzelne  Kunbe  uns  bureß 
bie  $eit  ,,,aH  entzogen  feilt.  Sn  bem  nun  Fjereiubrecfjenbeii 
SBinter  gönnte  er  feinem  §cere  9tuße  unb  Söinterguartiere, 
nicht  fid)  unb  feiner  Umgebung,  er  burd)jog,  ftetS  an  ber 
SDfeeresfüfte  fid)  ßaltenb,  bie  Sanbfdjaften  Spcieit  unb  ’ißanipßi)» 
licn,  mit  einer  ber  griccf)ifd^cit  naßc  venoaubten  Kultur  unb 
manchen  bem  gried)ifd)eit  .fwttbel  geöffneten  ©eeftäbten,  »on 
feiner  ©rtnübung,  feinem  bahnfofeii  Söcge  gefdjredt,  bis  ißm 
bie  fdjroffen  5c^fuppeit  beS  JattritS  ben  Sßfab  uerfperrten. 

sDiit  bem  grüßling  oereinigte  ber  König  fein  fReiterge* 
fdjmaber  toieber  mit  feinem  £eerc  uub  jog  nun  auf  bie  £md)- 
ebene  »on  Sßßrpgicit  ju  einem  bcn  ®ried)cn  entfernt  »erioanbteu 

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21 


SSoIfe,  bei  beni  bic  hieratifd)en  Sntereffeu  über  bie  politischen  — 
wir  fittb  feljr  mangelhaft  barüber  unterrichtet  — ftarf  fdjeinen 
bie  Cberljanb  gehabt  ju  hoben.  SUejanber  lüfte  bort  ben  gor» 
bifchen  Knoten,  empfing  bie  Unterwerfung  ber  oerfdjiebenen 
Sanbeötßeife  niib  eilte  bann,  burd)  bie  filififcheu  pfiffe  wieber 
jutu  üllittelmeer  herobjufteigen,  wo  er  einen  .feauptfampf  mit 
ben  tperfent  »orausfah.  $azu  erfdjieu  bieStnal  ber  s4$erferfötiig 
felbft  mit  einem  §cer,  baS  bem  gried)ifd)eu  um  mehr  als  bas 
Vierfache  überlegen  war.  ÜJJit  biefem  h°tte  er  int  Sladffelbe 
jenfeitS  beS  CntauuSgebirgeS  feine  Slufftedung  genommen,  ent< 
fchloffett,  bort  §Ue£auberS  Eingriff  zu  erwarten.  Tent  aber  fiel 
es  nic^t  ein,  aus  biofeer  Kampfbegier  fid)  auf  baS  ungünftige 
lerrain  ju  begeben,  baS  SReer,  feine  fefte  6tüpe  ju  oerlaffen, 
er  wanbte  fid)  und)  Silben  ju  ben  fogcuanuteu  Pylae  Svriae 
gegen  ißhöt'ijifit  zu.  ®oS  nahm  Karins  für  gurd)t,  führte 
fein  £eer  über  ben  ÜlmanuS  unb  lagerte  ficfe  in  SUejanbers 
SRiicfen.  $er  wollte  feinen  Slugen  faum  glauben,  baß  bie  Werfer 
ihren  53ortfeeil  fo  aus  ben  Rauben  gäben,  um  ben  Kampf  auf 
einem  Serrain  nnjunehmeu,  ber  für  ben  ©egtter  wie  anSgefudjt 
war.  J)ie  $olge  ift  befaunt;  wer  unternähme,  bie  Schritte 
eines  ,'peermeiftcrS  wie  9llei;anber  ja  fdjilberu.  3>urd)  einen 
Sieg  auf  ber  Jlaitfe  im  SRiiden  gefafjt,  muhte  SDariuS  eilen, 
mit  großem  Sikrluft  an  Ülfcnfdjenleben  Sehen  unb  Freiheit  ju 
wahren:  baS  Säger  mit  feines  ©egtterS  ©emahlin,  SJiutter  unb 
Stinb  fiel  in  911e;ranberS  .fennbe.  Kein  2Bort  über  ben  ©bei- 
muth  unb  bie  Zartheit,  bic  er  babei  bewies,  baS  ift  ju  befaunt; 
aber  feöcfeft  iutereffaut  ift  SllejanberS  weiteres  Verfahren  gegen 
bie  '‘ßhönijier,  in  bereit  Sattb  er  nun  ciitrüdte.  .fiier  fanb  er 
nid)ts  weniger  als  griedtifdje  Shmpathien  oor  fid):  fie  hotten 
ftets  ^erfiettS  flotte  jum  größten  unb  befteit  $he*ie  gcbilbet,  bei 
9lrtemifiunt,  Salamis,  am  (Surpmebon  unb  in  unzähligen  Heineren 
Kämpfen  waren  fie  bie  ©efdjlageneti  gewefcn,  il)r  .ftaitbel  nach 

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bern  ÜBefteit  mar  faft  ganj  gelößmt  unb  in  bie  Jjpänbe  ber 
©riecßett  übergegangen.  SBelcße  Stellung,  mußte  man  fragen, 
mürbe  ?tfejonber  ju  ißneu  einneßnten?  ®ie  ?Introort  lautet 
hoppelt:  meint  fic  roollten,  bie  eine«  Sefrcier«,  menn  fie  uießt 
mollten,  eine«  Sieger«,  ©efneeßtet  maren  fie,  mie  äße  anberen 
Sötfer  be«  pcrfifcßcit  jRcidje«,  Religion,  Serfaffung,  ©efeß, 
Sitte,  fomeit  nießt  bie  Seeuerßältniffe  ißnen  einen  Sdjuß  ge» 
mäßrten,  unter  bie  $üße  getreten.  2>a«  aße«  naßnt  Äleyanber 
unter  feine  Cbßut,  begehrte  für  fid),  ma«  be«  heieße«  mar,  be» 
rief  bie  Sprößlingc  ber  ebelften  ©cfcßlecßter  jur  Sertualtung 
unb  ©eßiituitg  bc«  Solf«tßüinIid)en,  fo  in  Siboit  uitb  anberen 
Stabten,  bie  au«  bem  Siege  bei  3ffu«  fid)  eine  fießre  ju  jießett 
mußten,  unb  oon  ißrem  liebertritt  erntete  Sllefattber  fofort  bie 
f^rueßt,  bie  Kontingente,  bie  fic  jur  gfdte  ßatten  fteßen  ntiiffen, 
mcldie  beit  gaitjen  Sommer  über  im  ägäifcßeu  SWeere  untßätig 
gelegen  ßatten,  Dom  £>ofe  uid)t  unterftußt  unb  .ooit  jebent  ge» 
magten  Unterueßmen  jurütfgcßalteti  bureß  bie  gurd)t  oor  ben 
•Sntrigueit  perfifeßer  ©roßen;  jeßt  «erließen  fie  biefelbe,  fteflten 
fid)  Sllefanber  jur  $i«pofitioit,  ber  fid)  nun  roieber  eine  flotte 
bilbeit  foiiute  unb  bie  Seetüdjtigfeü  ber  griecßifdjeit  Stabte, 
•pirnal  itt  Kleinafiett,  treffließ  ju  beiüißen  mußte.  Slber  ein 
anberer  $ßcil  ber  fßßönijier,  jumal  Jßrtt«,  oerblcnbetc  fieß 
aud)  jeßt  notß  bariiber,  baß  ber  be«  perfifeßen  ffteieße« 
nur  eine  3?rage  ber  3e‘4  fei,  unb  brängte  jo  Sllefattbcr,  feine 
gan^e  $iid)tigleit  al«  Ingenieur  gegen  fie  311  eittmidelit  unb, 
menn  aud)  in  riefigein,  fiebeitmoiiatlid)cm  fRingett  gegen  alle«, 
ma«  Seefuttbc,  lapferfeit  unb  sulcßt  Serjroeiflung  gegen  ißn 
aufbieten  fonnte,  in  bie  Scßranfett  ju  treten  unb  atteß  bett 
Kampf  mit  ben  Elementen  nießt  ju  feßeuen.  £ßru«  oerfd)manb 
für  beit  §lugenblid  001t  ber  t£rbc,  unb  Sllefanbcr  geigte  feinen 
©egttevn,  baß  er,  mo  e«  fein  ntüffe,  and)  euergifcß  ju  (trafen 
oerfteße.  3cß  fcßeitfc  e«  mir,  Jfßiten  0011  ben  Kämpfen  mit 

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ben  ©prern  unb  Suben  ju  jagen,  müfcte  e«  mir  jcpenfen,  and) 
wenn  wir  griinbficper  baoon  unterrichtet  mären.  Sch  eite  ju 
bcn  Sfegpptem,  jenem  Söffe,  ba«  burcp  bie  Grigenthümficpffit 
feiner  Sifbung,  bie  au«  ben  Irüntmern  auch  »och  ja  un«  rebet 
unb  nicht  minber  berebt  $u  feiner  ÜJfitmelt  gefprocpen  pat. 
Jpier  fah  er  ficf)  mit  offenen  Sfrmen  oon  einem  Söffe  aufge« 
nommeit,  mefd)e§,  mie  fern  e«  auch  in  ©itte  unb  £eben«ge« 
rooh«heit  ben  ©riedjeit  ftanb,  in  feinem  $afj  gegen  alle«,  ma« 
perfifch  h «eff,  unb  in  feiner  Sbolatrie  in  ben  ©riechen  bie 
©feicpgefinnten  achtete.  9tie  hatten  bie  Serfer  e«  oerftehen  ge« 
lernt,  aber  ben  ©riechen  ftanb  e«  in  märdjenhaftcr  ©reifee  gegen« 
über,  hier  hatte  ißptpagora«  feine  ©tubien  gemacht,  pier  hatte 
fcerobot  gereift  unb  ©rfunbigungen  eiuge^ogen,  Ejier  hatte  aud) 
Sfato  einer  uralten  2Bei«peit  unb  SBeftfunbe  gegenübergcftanben. 
©eiberfeitige«  Sertraueti  erleichterte  bie  Serftänbigung,  unb 
Sllejanber  nahte  ihnen  mit  ebenfo  offenem  0pr  al«  energifcfjcr 
Spatfraft.  ©efcpiipt  ju  fein  in  ihren  ©ottc«bienften,  mar  ben 
Slegpptern  alle«,  roeftfiche  |>errfcpaft  begehrten  fie  nidjt,  unb 
Sflejanber  fd^eute  fich  nicht,  fich  belehren  *u  faffen,  mo  ein  ©fato 
gelernt  hatte.  Die  £>errjcpaft  gab  ihm  Slegppten  ohne  SBiber« 
jprucp  ^in,  unb  ^fejanber  eilte,  eine  Jperrfd)crtpat  $u  oollbringen. 
$u  Dpnt«  hatte  er  bera  |>anbel  berjeit  ein  Sluge  nu«geftod)en, 
er  eilte,  ihm  in  SUejanbria  ein  anbere«  einjufe^en,  ben  ftreit« 
baren  Staufmann  hatte  er  befämpfen  müffen,  bem  frieblicpen 
ließ  er  mit  greuben  feinen  ©cpu§  angebeihett.  Sn  bem  $Jit 

erfcpfofj  er  eine  fßul«aber  bc«  |janbef«  bi«  tief  in  Slfrifa  hinein, 
am  9lil  eröffnete  er  bem  gried)ijcpen  Staufmann  einen  mitlfom« 
menen  4>anbcl«pfa$,  bort  in  Sffejanbria  fcfjuf  er  Demjenigen, 
ber  au«  fernen  Sanbcit  in  Sprit«  ben  ÜRittelpunft  be«  Serfepr« 
gejuept  patte,  mie  bem  ^ppöni^ier,  ber  niept  ©ut  unb  geben  für 
ein  frembe«  Soff  einfepen,  fonbern  ben  SBeltberfcpr  an  feinem 
Speile  förbeni  mottte,  ein  miOfommetie«  8lfpl,  unb  in  ber 


24 


inneren  Kommunalfreiheit,  welche  er  feiner  neuen  ©tabt  ge- 
währte, fcfjcnfte  er  bem  £>anbel  bie  freie  ^Bewegung,  beren  er  gu 
feinem  ©cbeifjen  beburfte.  SIber  inbem  er  fo  bem  bürgerlichen 
Sebeit  einen  ©djag  guwanbte,  empfing  er  auch  h'fr  wefentlidje$ : 
äghptifche  s^riefter,  barait  fann  fein  3n)e’tet  fein,  öffneten 
2Uej:anber  bie  Singen  über  ba3,  wa£  er  ben  Orientalen  fei,  fo 
lange  er  in  feiner  heiter  freunbfdjaftfidjen  SSeife  mit  ben  ©einen 
uerfefjrte,  ein  gliicflic^er  SRäuberhauptmann,  ein  gewaltiger  £>au- 
begen,  ber  tuie  bie  2Binb3braut  über  bie  gelber  bahinfege. 
Uöolle  er  beneit  ihren  König  nehmen,  fo  miiffe  er  fich  al§  König 
auf  ihren  3H)ron  fegen,  ©ent  SRorgenlänber  ift  fein  König 
ein  SEBefen  au3  einer  anbereit  28elt,  umgeben  oon  fabelhafter 
ißradjt  unb  ©lang,  baä,  bem  Srbifchen  entrüeft,  auf  ben  Knien 
oerehrt,  ein  irbifcher  ©ott,  nad)  entgegengefegten  ©eiten  ©egen 
unb  SJerberben  fpenbet.  (Sr  fönne  nicht  als  ibealer  König  über 
ber  Srbe  flehen,  er  fei  ben  SDiorgenlänbem  fchulbig,  ba$  fRegi- 
ment  in  ihrem  ©inne  gu  führen,  wenn  er  König  fein  wolle 
über  ben  Orient.  — 3Ber  ber  SRann  war,  ber  bas  guerft  bem 
SUejanber  auSfprach  mtb  waS  biefer  erwiberte:  man  fragt  uer- 
gebend;  ber  Oberpriefter  ber  Cafe  ©iwah  fprach  baS  legte  ent- 
fdjeibenbe  SBort  unb  Sllejattber  ging  auf  ben  ©ebanfen  ein. 
Sr  meinte  fich  auf  fßetfeuS  unb  .'perafleS,  feine  Slfptherren,  be- 
rufen gu  fönnen,  bamit  eröffnete  er  aber  für  fidj  brei  Sabre 
bitteren  fieibenS,  in  baS  ihn  bie  Cppofition  feiner  mafebonifchen 
greunbe  ftiirgte.  ©ie  oerfchmähten  baS  neue  ^wfceremoniell, 
unb  wie  weit  bie  @d)ärfe  ihrer  SBorte  ging,  geigt  mtS  am 
©chluffe  biefer  3eit  bie  ©pradje,  bie  KlituS  gegen  ihn  führte. 

3uuächft  traten  ®ie,  weldfe  ihm  bie  Iiebften  waren,  feine 
tägliche  Umgebung,  gegen  ihn  auf,  itiemanb  fdjärfer  als  ij?ar* 
ntenioS,  ©ohne  ^ßh^ota8  nnb  fRifanor:  für  ben  König  möge  es 
©ewinn  fein,  als  ©ohit  beS  Slmun  gu  gelten,  für  bie  ÜRafc- 
bouier  fei  eS  2$erluft.  Unb  fie  hatten  fRedjt,  bie  SBafiö  ber 

(M) 


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mofebonifdfen  ÄönigSgewalt  war  bamit  in  grage  flffteüt;  wer 
^atte  gegen  einen  ©ottfönig  beim  nod)  ein  fRedjt?  e3  [tieften 
eben  jwei  unoerfol)nlid)e  ©ebaufenweltcn  aufeinauber. 

So  begann  benn  in  3llejanberS  'Jiäfte  ein  paffiuer  SBiber- 
ftaitb  fid)  geltenb  machen,  eine  Unbotmäftigfeit,  bie  an  bem 
|jerfömmlidjen  feft^ieft,  unb  ein  Jtantpf,  mit  2Sift  unb  ©ar> 
faSmuS  geführt,  ben  wir  feiber  genotfjigt  finb  nietjr  ju  erratften, 
weit  un$  über  3lle;rnnber  feine  ©efdjidjte,  fonbern  nur  eine  notft- 
bürftige  ©fi^e,  jumeift  über  baS,  was  ins  31uge  fällt,  twrliegt; 
aber  wir  fefjeit,  was  öorgegangen  ift,  wenn  brei  gaftre  fpäter 
SßfjilotaS,  ber  ©erfcftwörung  gegen  SlleyauberS  ^ebett  angeflagt, 
nadjbem  er  wenigftenS  burd)  fein  ©cftweigett  ofjne  gragc  beit 
König  in  bie  Ijodjfte  ©efaftr  geftiirjt  Ijatte,  behauptet,  bafe  feit* 
bem  Sttejanber  wegen  biefer  Steuftcrungen  gegen  iftn  grimmigen 
Jpaft  im  ^erjeit  trüge,  unb  wenn  ftlituS,  feiner  Slrnnte  ©ruber, 
brei  ©ierteljaljre  fpäter  ben  §ofjn  gegen  ben  König  auf  bie 
f)öd)fte  ©pifte  treibt,  fteigt  man  nur  auf  Dielen  ©tufen  unb 
burd)  manche  ©orfomntniffe  ju  folcfter  ©djärfe  ber  ©egenfäfce 
empor. 

gür  bett  Slugenblicf  gewann  Üllejanber  bie  3legftpter  nicftt 
allein  burd)  beit  ©djuft,  ben  er  iftren  Tempeln  angebeiften  lieft, 
fonbern  opferte  felbft  bem  3lpiS,  oerfterrlidjte  feine  unb  aitbere 
gefte  burd)  griedftfdje  ?tuffüf)rungen,  grünbete  in  Älejaubria 
neben  griedjifcfien  Tempeln  and)  einen  ber  3fiS.  £aS  Kom> 
manbo  ber  juriicfbleibenbcn  Gruppen  blieb  natiirlid)  in  ben 
Rauben  oon  SERafeboniern,  bie  ©erwaltung  organifirte  er  unter 
ägpptifcften  ©roften  unb  fudjte  überall  bem  ägpptifdjen  ©olfS= 
leben,  fo  frembartig  eS  iftnt  erfdjciuen  mocftte,  in  jeber  2öcife 
SKedjnung  ju  tragen  unb  orbnete  möglicftft  alle  ©erftältniffe. 
3)ann  nafjm  er  ba$  blutige  Söerf  beS  Krieges  wieber  auf.  ©o 
naftm  er  oon  bem  §alfe  ber  Slegftptcr  ein  god),  baS  fdjwer 
auf  iftnetx  gelüftet  ftatte,  ebenfo  wie  er  es  früher  in  Karieit  unb 

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26 


Vponiflien  getpan,  ftelltc  bic  innere  Verwaltung  unter  bie  Cbput 
eiupeimifdjcr  ©rojjen,  bic  ©pracpe,  ©efep  unb  Sitte  fannten, 
ftrecfte  feine  fcpirmenbe  §anb  über  ben  geiftigen  ©diaß  be« 
Volte«,  SRetigion,  (Sitte,  fiitteratur,  Siutft.  SDtocpteu  ipm  bie 
ägpptifdjen  ©öttergeftatten  wie  bie  ppiinpüfcpen  g'fdfflötter 
wutiberbare  großen  biinfeit,  er  achtete  in  ipnen  ba«,  wa«  bem 
Volte  peilig  war.  fiambpfe«  patte  ben  Slpi«  getöbtet,  Sleyanber 
feierte  ipm  gefte;  bic  patten  bei  iprem  unftnnlicpen 

©otte«bienft  überall  bie  gbole  ücrfolgt,  bie  ©riecpen  pulbigten 
felbft  bcr  Sbofatrie , unb  Stleyanber  beeilte  fiep  anjubeuten, 
baß  ipm , wenn  and)  unter  attbercr  gorm , ba«  $eiligtpum 
feiner  Untertpanen  peilig  fei.  ffteben  ber  Religion  fcpirmte  er 
Sitte  unb  9tecpt,  gewäprte  Stommunalfreipeit,  ben  Unterworfenen 
3utritt  ju  Slemtern,  wenn  aucp  bie  ftaatlicpe  fütacpt,  wie  ber 
Atrieg«bienft,  in  ben  §änben  ber  ÜKafebonicr  blieb.  £)aß  bem* 
näcpft  ber  Stampf  wieber  aufgenotnnten  werben  muffte,  oerftcpt 
fiep:  e«  ftanb  ja  bcr  perrfepenbe  ©tamm  ber  Sßcrfer  in  feinen 
peiwifcpeit  ©ißen  noep  ganj  unaugefoepten  ba.  ©r  mußte  auf* 
gepiept  werben,  wie  fcpwer  bcr  Stampf  aucp  werben  moepte; 
fd)uf  ba«  grofje  Vlacpfclb  SUeyanber  ungepeure  £>inbeiniffe,  fo 
leiftete  eine  folcpe  fReiße  »on  ©iegen  ipm  burd)  ba«  Vertrauen 
unb  bie  Eingebung  feine«  §ecre«  oud)  ungemeinen  Vorfepub. 
Stber  wir  taffen  feinen  weiteren  3ug  jng  innere  ülfien,  feinen 
©ieg  bei  Ütrbeta  im  Vtacpfelbe,  wo  er  nid)t  mepr  bie  Statur 
be«  Voben«  fonnte  für  fiep  ftreiten  taffen,  wo  er  fefbft  gegen 
bie  $um  erftenmat  im  fßerferpeere  oerwanbten  ffilepßanten  ben 
©ieg  gewann,  unb  wetiben  un«  ju  ber  Stellung,  bie  er  naep 
bem  ©iege  bem  perrfepenben  Volte  gegenüber  einjunepnien  be« 
ftiffen  war.  ©«  waren  nid)t  neue  ©ebanfen,  er  btieb  bei  bem 
©ruitbfaß,  bajj  ber  SRcgent  bem  Volte  eine  tiieptige  Slbmini* 
ftration  feputbig  fei,  eine  Verwaltung,  bie  feine  ©praepe  rebe, 
fein  Stecpt  unb  feine  Verpättniffe  tenne,  feine  Slnfcßauungen 
(06) 


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uiib  Sitten  tßeile:  fo  hatte  er  fie  big  baßiu  in  bie  £>änbe  bcr 
Sanbegfinber  gefegt,  feinen  2Rafeboniern  nur  bie  bewaffnete 
9Rad;t  unb  jene  Cberaufficßt  oorbeßnlteu,  welche  bcm  fierrfcßer 
ben  notßwenbigften  (Siufluß  ficßert.  (ftwag  anberg  warb  bag 
ßier,  wo  jene  Sanbegfinber  eben  diejenigen  waren,  bie  big  bnßin 
twrjuggweife  gegen  bie  ÜRafebouier  in  ben  SBaffen  gcftanben 
hatten,  wo  bie  ©teilen  boppelt  einträglich,  boppeft  einflußreich 
waren.  £>ier  hatte  fie  ber  mafebonifche  Slbcl  oor$uggweife  nur 
ju  gern  alg  feine  burcß  ©cßweiß  unb  lülut  oerbiente  53eutc  be- 
trachtet unb  oerging  in  ülerger  unb  (Siferfucßt,  wenn  er  fah, 
baß  Slejanber  nun  bie  perfifcßen  ©roßen,  bie  fich  unterwarfen, 
als  feine  ©roßen  attfaf),  fie  mit  ©tattßalterfcßaften  betraute, 
an  bie  ijkrfoit  beg  itönigg  ßeranjog,  in  fRaitg  unb  (Sßrcn  fie 
ÜRofeboniern  gleichfteüte.  der  Slönig  befeßte  SBabploit  unb 
umgab  fich  bort,  ber  Sitte  beg  Sanbeg  ^ulbigenb,  mit  einem 
glänjenben  .jpofe,  fchuf  baju  eine  SRenge  neuer  SBcbienungen, 
befeitigte  bie  Grinfachßcit,  in  welcher  er  big  boßin  mit  ben 
©einigen  oerfeßrt  ^atte.  dag  hatte  feine  bebenflicße  ©eite. 
üRodjten  ißm  fo  auch  gewaltige  8d)äße  in  Söabplon  in  bie 
Jpänbe  gefallen  fein,  modjte  feine  Jreigebigfeit  in  oerfdjwen- 
berifchem  9Raße  ben  SBünfdjen  ber  SRafebonier  entgegenfommen: 
cs  mehrte  fich  >n  beg  ftöttigg  SRäße  bag  SRnrreu  unb  bie  Un* 
jufriebenßeit,  unb  je  größer  bie  Eingebung  war,  mit  welcher 
ber  gemeine  ©olbat  feinen  ftetg  fiegreießen  gclbßerru  oergötterte, 
befto  finfterer  warb  bie  SDiiene  ber  Offiziere,  bie  fieß  um  bie 
rechte  grueßt  ißrer  SRüßen  betrogen  glaubten.  l£g  war  in 
mancher  föejießung  günftig,  baß  bie  ^erßältniffe  feine  lange 
«Ruße  geftatteten:  dariug  ßatte  fidj  mit  bett  immerhin  noeß 
anfeßnlicßen  drümmern  feineg  £eereg  auf  bie  perfifeße  .jjiocßcbeue 
naeß  Sfbataita  gerettet,  für  ^llejanber  immer  noeß  eine  äBetter- 
wolfe,  unb  ber  fteile  Abfall  ber  ©ebirge,  bte  ©cßwicrigfeit  ber 
pfiffe  maeßten  ißn  unb  bag  Snnere  beg  'ißerferlanbeg  faft  miau* 


28 


greifbar.  SUejanber  aber  luicberljolte,  rnas  er  am  Anfang  feiner 
SHegierung  in  X^effalien  geübt,  überftieg  auf  ungangbar  ge- 
glaubten  ©egen  ben  §lbl)attg  be$  (SebirgeS,  erhielt,  inbetn  er 
»on  SDiü^eu  unb  Vefdjmcrben  ftetö  ben  Söwettant^etl  für  fid) 
nahm,  ben  SDiutb  unb  bie  ©pannfraft  feiner  ftrieger  unb  ftanb 
oor  s^erfepoli^,  of)ne  baß  eS  Semanb  geahnt  hätte.  SDie  ®e- 
ftürjung  »on  SBefafcung,  »on  öeamten  läßt  fid)  nid)t  fd)ilbem, 
nid)t  bie  öröße  ber  ©d)ä£e,  tiidjt  bie  ©idjtigfcit  ber  Rapiere, 
bie  hier  in  StlejanbcrS  £>änbe  fielen,  aber  eS  ereilte  if)n  ^ier 
bie  $olge  bcS  ^Jrinjip^,  baS  er  »on  Anfang  an  auf  feine 
Jahnen  gefdjrieben  ^atte : fRadje  ju  nehmen  für  bie  »on  ben 
Werfern  jerftörten  Icmpcl  ©ried)enlanbs.  $unbertmal  t)  rtten 
foldje  ©orte  parabireit  müffen,  tuo  eS  galt,  bie  Xruppen  ju 
Äampf  unb  Slnftrengung  aujufeuern,  jefct  erhob  fid)  inmitten 
ber  überangeftrengten,  erfjipteu  itrieger  ber  ©d)rei,  Vergeltung 
ju  üben.  '.fkttifte  unb  fKegierungSgebäube  in  ÜJfenge  tuaren 
hier  in  bie  §änbe  ber  Sieger  gefallen,  beim  Jempel  fanmen 
bie  ^ßecfer  bei  iljrer  uufinttlichen  ©otte3»eref)ruug  nid)t,  unb 
Sllefanber  mußte  ba$  ©ort  maßr  niadjen,  weil  er  e§  gefprocfjen, 
es  marb  ein  Ifjcil  ber  VllIäfte  bcu  flammen  geopfert,  ©ir 
finb  über  ben  Hergang  nid)t  uäf)er  unterrichtet,  bod)  bie  ©ad)e 
ift  nidjt  abjumeifen.  (£$  erbebt  fid)  felbft  bie  bi«  babiit  nie 
gehörte  Vefdjulbiguug,  ber  Jtöuig  fei  nicht  nüchtern  gctoefen, 
als  er  ben  Vefehl  crtheilt.  ?lber  Slrriait  fagt  nichts  ba»on, 
n>ol)l  aber  fpridjt  er  »on  einem  Slbrathen  VünncnioS,  e$  feien 
ja  je|)t  beS  Atüuig»  ^inläfte,  maS  auf  eine  Veratljung  hin3u’ 
roeifen  fdjeint.  $er  Jtünig  gab  bem  ©d)reien  ber  Ütfcuge  nad), 
toeil  ihm  fein  ©ort  »erpfänbet  fdjieit,  bem  gefbherrit  bcbiinftc 
mit  ben  Umftätiben  bie  Sache  »eränbert.  §lber  märe  and)  bie 
Vefdjulbiguug  mabr,  fo  märe  cS  nicht  baS  erfte  9Jfal,  baß 
baueruber  Slerger  unb  lleberauftrengitug  ber  £ruufe»heit  bc« 
©cg  gebahnt  Ijfltten. 

(9S) 


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29 


2Bir  fielen  an  einem  fünfte,  ber  »nie  irgenb  einer  auf. 
forbert,  jur  Sonjeftuv  ju  greifen,  bettu  ba«  muß  man,  cfye  man 
einem  fMejanber  Unfinnige«  aufbürbet,  aber  unfinnig  ift  e« 
bod),  ba«  prächtige  £>au«,  in  bent  mau  wofjnen  fönnte  unb 
füllte,  fid)  über  bem  ftopfe  anjujünben.  Da«  ©feicbe  gilt  oon 
bem  ®ericf)t«<,  non  bem  Serfammlungögebäube:  aber  eS  giebt 
bod)  ein  ©ebeiube,  ba«  ber  ©ine  (ißarntenio)  für  einen  ©djaß 
halten  tann,  ber  9lnbere  wegwifdjen  möd)te,  ba«  ift  ba«  9lrd)iu, 
weldje«  bie  Unter  Ijanblungen  mit  ber  grembe  birgt,  bie  ©dfreibeit 
be«  ißelopiba«,  Spfanber,  tlflibiabe«,  DljemiftofleS:  ba«  waren 
gäben,  an  benen  maud)  griecfjifdjer  Serrätlfcr  fdjwirrte,  unb 
bie  2J2and)em  in  ber  £>eimatlj,  ber  fjodfmütljig  einfjerftoljirte, 
ba«  »lut  in  bie  SBangen  treiben  unb  beit  füiutib  oerbittben 
fonnten.  2öic  wenn  SUejanber  gefproefjeu  ^ättc:  gort  mit  biefen 
papieren,  unter  meiner  |>errfd)aft  fürchte  ein  geber  bie  golgeit 
oon  bem,  wa«  er  gegen  fie  gefreoelt;  wa«  er  uor  il)r  getljan, 
bariiber  rnfjc  92ad)t  unb  Schweigen!  — Seweifen  läßt  fid) 
ba«  nid)t,  aber  unter  biefer  SorauSfefcuttg  bod)  9llej;anber3 
Iljat  begreifen. 

2Bir  müffen  e«  un«  oerfagen,  uieiter  einjuge^cn  auf  bie 
riefigeu  Änftrengungen,  bie  Sllejrauber  fpäter  machte,  bie  ©no 
pörung  ju  unterbriiefen,  bie  fid)  barnad)  gegen  Darin«  erfjob, 
al«  eine  mit  feinem  2Wangel  an  ©nergic  unjufriebene  Partei 
mit  Seffu«  an  ber  ©pißc  ifjn  ber  ^Regierung  $u  entfetten 
trachtete  unb  ifjm  fctyliefjlid)  beu  Dob  gab,  auf  fein  ocrgeblidje« 
Semiiljen,  iljnen  burd)  bie  SBiiftc  ju  folgen,  ©old)  ein  Serfud) 
muffte  uicbergcfd)lagen  werben,  fd)oit  weil  er  gur  gortfeßuug 
be«  Stampfe«  gegen  bie  fDtafcbonier  erhoben  war.  ©orläufig 
aber  jeigte  fid)  bie  92atur  ber  SBiifte  al«  ein  att  biefer  ©teile 
nid)t  ju  überfteigeube«  Sollwert,  c«  muffte  oon  einer  anberen 
©eite  angegriffen  werben,  ©o  jog  bettit  $lle;ronber  au  ber 
inneren  ©eite  be«  fHanbgebirge«,  bie  öftlid)en  ©alrapieu  in 

(9')) 


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'.jjflicfjt  ucfjmetib,  fiibiucirt«  nad)  £>erat,  jum  erftenmale  mit 
orieutalifdjer  SBortbrüdjigfeit  uttb  Unjuöerläffigfeit  ringenb,  be> 
müht,  ben  SStufftaub  besS  23effu3,  ber  fidj  mm  ÄrtajerjeS  nannte 
uitb  in  üöaftrieit  feinen  ©ife  behauptete,  nicberjuidjlageu;  ba 
brängte  fidj  ifjm  ber  ©inblicf  in  bie  inneren  ©(haben  auf,  tueldje 
ficf)  itt  ber  9täf)e  feiner  ißerfon  gcbilbet  hatten.  (53  bilbetc  fich 
im  (befolge  be3  Königs  eine  SBerfdjtvörung  gegen  ba3  Seben 
besfelbeu,  au3  toeldjen  ©riinbeit  unmittelbar  liegt  nicht  uor,  ba 
ber  £>auptuerfchiüörer  fid)  felbft  crmorbete;  aber  be3 

'4$armenio  ©oljn,  ein  £>aupt  beS  unjufriebenen  31bel3,  perfönlich 
bent  Könige  nahe  ftefeenb,  ^üg  baburd),  baß  er  eS  gefliffentlid) 
unterliefe,  bent  Könige  ooit  ber  ifem  brohenben  ©efafjr  äJlittheilung 
ju  machen,  ben  '-üerbadjt  auf  fid),  ber  iöerfdjmörung  anjuge« 
hören.  <£r  fudjte,  als  ber  König  if)u  uor  ba«  ©erid)t  be3  oer» 
fammelten  feeres  (teilte,  bie  ©cfeulb  auf  ben  König  ju  fdjieben, 
ber  ifen  feit  ber  illerfagung  ber  göttlidjeu  (51)veu  mit  bitterem 
$afe  »erfolgte,  uttb  betonte,  bafe  er  als  3$erfd)iuörer  nicht  ge» 
nannt  fei.  $ic  Änjeige  h°öe  er  unterlaffen,  meil  er  nicht  an 
bie  ©adje  geglaubt,  foubern  fleinlidje  '^rioatfeiubfchaften  für 
ben  ©ruub  gehalten.  Slber  ba3  §eer  hielt  feft  au  bem  Jaftum, 
bafe  er  burd)  fein  ©djmeigen  ben  König  in  gröfete  lobeSgefaljr 
geftürjt  l)abt*r  uerurtheilte  ifen  unb  begrub  ifen  unter  feinen 
Sausen. 

Sllcfauber  liefe  bann  aud)  ben  üBater  'ißarmenio  tobten,  ber 
burd)  einen  stueibeutigeu  Srief,  in  bem  er  uoit  gamilietiplänen 
fprad),  uerbächtigt  toar,  in  beffeit  ^pänbett  er  in  (Sfbataua  feine 
Sdjäfce  uttb  ben  ©cfelüffel  für  ben  §einttoeg  feine3  Jpeere3  ge» 
taffen  hatte  unb  beffeu  $orn  er  nad)  .£>inrid)tuug  beS  ©ofeneS 
SU  fürdften  hatte. 

©in  biiftereS  Sid)t  fid;erlid;  läfet  bie  ©ad)e  auf  bie  inneren 
$erf)ältniffe  uon  2)iafebonieit  fallen,  grell  bis  s“ni  (Sutfefeen: 

^llejanber  foll  s»  milber  Sef)onblung  best  galtcS  geneigt  ge» 
(100) 


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81 


rocfeii  feilt,  aber  |>ephäftion,  HoinoS  uttb  ßrateruS  sprachen  tu 
bem  eitleren  ÜriegSratfje  für  Äufbecfuttg  beS  ©cfjabenS.  Jie 
Uitterfucbnngeit  bliebett  babei  uidjt  fielen;  attberc  tnafeboitijdje 
Gfcofse,  bie  einer  geinbfdjaft  gegen  Sllejattber  oerbädjtig  waren, 
mürben  jur  Verantwortung  gezogen,  bod)  hören  wir  nidjt  uott 
attberweitigen  Vluturtheilen.  öl  nabte  ber  SBittter  829 — 828 
mit  feinen  3urüftungen  für  ben  Uebergang  über  baS  fchttecbe- 
becfte  ißaropamifnSgebirge.  $er  ftöttig  bejeidjiiete  ibtt  burd) 
eine  eminent  politifcbe  2hat-  folgte  bem  |>eere  bereits  eine 
aufjerorbentlidje  ÜJienge  oott  Snoaliben,  zunt  $heil  Verftüm» 
melten,  bie  matt  aus  bem  Snnern  SlfiettS  nidjt  nach  Tarife 
fenben  fonnte:  wie  füllte  er  fidj  betrn  berfelben  eutlebigen?  — 
3um  Shell  oielleic^t  mit  Veziehung  auf  bie  nun  beoorftefjenben 
änftrengnngen  uttb  Strapazen  fdjieb  er  fie  aus  nttb  Bereinigte 
fie  ju  einer  feften  Slnfiebelung  oon  ©riechen  im  fßerferlaube, 
er  grüubete  bie  erfte  griedjifdj-perftjdje  Äolonie,  baS  je^ige 
£erat,  Alexandria  Arionmi,  gab  i^r  uöütg  griedjifdje  Stabte- 
oerfaffung  uttb  ©tabtredjt,  fteUtc  fie  als  (Scfpfeilev  griedjifcber 
Sprache  unb  griechischen  iiebens  im  fernen  Cften  hin-  tfraueu 
mußten  fich  natürlich  bie  Jlttgefiebelten  in  ber  sJläf)e  fudjett, 
ifjre  Stinber  foHteit  eben  Vermittler  jwifchen  ben  beibett  2lu» 
fchauungen  werben.  35aS  war  eine  ©enteilte  ohne  orientalifdjeit 
Despotismus,  oon  Seuten  mit  griedjifchent  greiheitSfiun,  ager 
buch  gewohnt  an  mititärifche  3ucht  nnb  Orbnuttg.  Uttb  eS 
blieb  nicht  bei  biefer  einen:  wenige  ajloitate  fpäter  grünbete 
Älejanber  eine  zweite  itt  Vaftrien,  wie  eS  audj  ÄUjroS  getljait,  am 
oberen  3afarteS,  Alexandria  eschata,  bas  heutige  Äobfdjetib  au 
bett  ©retten  beS  Reiches,  bann  zahlreiche  anbere  mehr.  Sie  waren 
einerfeitS  gelungen,  auf  bie  mau  fich  (tüfteit  fonnte,  attbererjeitS 
Stübpunfte  eines  auSgebehnten|)anbclS,  burd)  Straßen  »crbunbett. 

Süir  halten  unS  nicht  auf  bei  bett  ©chmierigfeiten,  weldje 

bie  Ueberfteigung  beS  f)inbufhn,  bann  ber  Uebergang  beS  CfuS 

(101) 


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bereiteten,  nad)  welcher  ©effuS  gefangen  genommen  mar,  Der» 
ratfjen  oon  beit  Seinen,  tuie  er  oerratfjen  Ijatte.  ©$  folgten 
Stümpfe  mit  ben  bie  ©ren^e  bebvängenben  ©ftjtfjen  nnb  mit 
ben  ©etooljnern  ber  |>od)tanbe  im  Ofteit,  betten  Cfus  unb 
Stayarte«  entfpriugeit,  metdje  ben  felfigett  ©oben,  ben  fie  be- 
wohnten,  mit  äufjerfter  Japfcrfeit  31t  oertljeibigeu  bemüht  toaren 
unb  Ütlejanber  311m  Stnftrcngen  alter  feiner  Spannfraft  nötf)ig‘ 
ten,  tun  f)ier  ttidjt  einen  Jeittb  im  fRiicfen  31t  taffen.  3ur 
©cfjauptung  biefer  roeit  auägebefjnten  liaiibftrccfcn  fafj  fid) 
Jlleiattber  genötigt,  aitd)  bie  tjeimifdie  3Bet)rfraft  tfera^njietjen 
unb  itt  gorm  oon  attadjirten  Gorp3  feinem  £teere  3tt3ugefeflcn, 
um  ttad)  atteu  Seiten  gront  31t  machen  unb  jebett  SBiberftanb 
cnergiftf)  3U  bredjett.  2)ie  9iotf)toenbigfeit,  fid)  31t  biefem  ©elfuf 
mit  einer  tReifie  perfifdjer  nnb  baftrifdjer  dürften  in  SSejiefjung 
311  fefeen  unb  ber  £»off)aftung  beö  ©effuS  feine  nid)t  mittber 
glcin3enbe  entgegen3ufefecn,  fie  babttrd)  an  fid)  31t  fnupfen:  fo 
brättgte  alte«  31t  neuen  2Rafjnaljmen;  Ütlejanber  legte  ben 
Sdjmttd  ber  perfifdjett  Gültige  au,  ocrtaufcfjte  ba£  ntafebottif^e 
ST'iabent  mit  ber  nufftetjenben  mebifdjeu  liara  unb  fing,  freilid) 
3um  t)üd)ften  Sterger  feiner  3tltma!ebonier,  an  bei  ben  ^eften 
ftrenger  auf  bem  $ofceremottiell,  ber  7TQoqxvytjaiq,  31t  hefteten, 
©r  t)atte  babei  inbeffen  in  feinem  ©efotge  fetbft  jtuei  Parteien 
fid)  gegenüber,  fotdje,  bie  bett  SBütifdjeu  be$  SlönigS  entgegen- 
tarnen  unb  tuie  beraufdjt  oon  ben  ©rfotgen  bie  eigene  ©egen- 
toart  faunt  begriffen  unb,  mie  beim  ber  gried)ifd)e  Sinn  gar 
nid)t  gteid)güttig  ift  gegen  ©tattj  unb  ©runf,  3toifd)cn  beg 
JU'nigS  3l*9eit  nnb  betten  be3  ©iontjfuS  unb  fteraffe#  fd)meid)el- 
bafte  ißaratleten  3ogen,  umgaben  bod)  ben  Siöttig  niefjt  btof» 
itrieg^männer,  fottbertt  aud)  ein  ©efolge  oon  Äünftlern,  S'id)- 
tern,  9tf)etoren,  s#t)ifofop[)cn.  Sfpten  ftanb  freitief»  eine  fd)roffe 
©eguerfdjaft  gegenüber,  bie  attfjer  fid)  mar  über  biefett  Stbfatl 

oon  oätertid)er  Sitte  unb  mit  oerlefeenber  |>crbigfeit  bie  Sdjmei* 

ao2) 


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33 


tf»eleien  ber  Slnbereit  rügten.  Unter  biefer  Partei  trat  als 
SSortfnfjrer  befonber«  StaHiftratu«,  ein  SReffe  be«  Slriftotcle«, 
beroor,  ber  al«  ©efc^ic£>tfc^reiber  fid)  bem  |>eere  üllejanber« 
angefdjfoffeu  ^atte,  ein  2J?ann  non  Ijofjer  .©ilbung,  aber  »oll 
©elbftiiberbebung,  üon  hcrbfm  SBe^en  unb  in  troßiger  grei> 
mütf)igfeit  fid)  gefaHenb.  Sr  bitte  ^^i(otaS  nabe  geftanben 
unb  einftmal«  bemfelben  auf  bie  Sleufjerung,  ein  ftönig«mörber 
werbe  nirgenb«  einen  3uftll£f)t3ort  finben,  geantwortet,  ?ltheu 
werbe  einen  fotdjen  nicht  »erjagen,  ba  e«  fortwäbrenb  ben 
|>armobio«  unb  Slriftogeiton  feiere  unb  für  bie  »erjagten  §era* 
ttiben  bie  SBaffen  ergriffen  b«be.  Dian  fiebt,  wooon  bie  Herren 
rebeten,  unb  mancher  Sirieg«ntann  fchlofj  fich  an  ihn  an.  gär 
fie  war  bie«  neue  ©orgefjen  be«  ?l(ejanber  ein  ©tad)el,  ber  fie 
bi«  auf«  ©tut  traf,  ©on  biefem  ©egenfaß  ging  ber  unheil* 
ootle  gufammenftojj  be«  ftönig«  mit  Stlitu«  au«,  bei  bem  man 
nur  jweifefbaft  fein  fann,  wa«  babei  größer  war,  ob  ba«  Um 
gtücf,  ober  ba«  Unrecht.  S«  war  nach  Wrrian  um  bie  3e»t 
ber  $iont)fien,  olfo  im  ©Sinter  328,  an  beren  Statt  aber 
Stlejanber  ein  $eft  ber  $io«!ureit  feierte.  Sin  ©d)mau«  ber 
©enerale  unb  be«  |»ofe«  fd)lofe  bie  Jeier,  bei  welkem  ©chmeichter 
Ihorfjeit  rebeten  unb  fich  parallelen  erlaubten  jwifchen 
Älepanber  unb  ben  (gefeierten,  bie  au«  irbifchen  ju  göttlichen 
©erhSltniffen  unb  Shren  aufgeftiegen , au«  Stßnbaru«föhnen 
$>io«furen,  ©öhne  be«  hödjften  £)immel«gotte«  geworben  feien, 
man  mödjte  glauben,  e«  Jjabc  fich  um  ein  ©ebidjt  $u  ber  geier 
gehanbelt.  ®a«  ©efpräcf)  jog  auch  ben  ^erafle«  heraH  unb 
verbreitete  fid)  über  ben  9leib  ber  Dienfchen,  ber  ben  ©terb* 
liehen  in  ben  Söeg  trete,  baff  ihnen  oon  ihrer  Diitwelt  bie 
gebührenben  Shren  nicht  ju  theil  toürben.  Unter  ben  ©äften 
war  aud)  Jülitu«  geloben,  ber  ©ruber  »on  Sllejanber«  Smnte. 
Sr  bitte,  fagt  Slrrian,  mit  beffen  ©Sorten  wir  ben  unglüdlichen 
©orfafl  wiebergeben  wollen,  längft  merfen  laffen,  wie  ärgerlich 

SammCtuig  S.  3-  V.  09.  3 (103) 


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34 


iljtn  Slleyanber«  Hinneigung  gu  ber  Söarbarenfitte  fei,  nidjt 
ntinber  al«  bie  Sieben  ber  Schmeichler;  ba  aber,  felber  oom 
©eine  aufgeregt,  tffat  er  ©iitfprudj  gegen  foldjc  Herabfeßung 
ber  ©ott^eit.  $)ie,  meldje  fo  bie  Sfjateit  ber  alten  Heroei1 
heruntermachten,  fagte  er,  ergeigten  bent  Stleyanbcr  einen  fdjlec^ten 
$)ienft,  beim  Slleyanbcr«  Sljotcn  feien  gar  nidjt  fo  groß  unb 
lounberbar,  wie  jene  fic  priefen:  er  hotte  fie  ja  nid)t  allein 
getljan,  ein  gut  Xfjcil  fei  ber  SJiafebonicr' ©erf.  $5iefe  Siebe, 
fagt  9lrrtatt,  fränfte  beit  Slleyaitber,  unb  idj  lobe  fie  and)  nidjt, 
feßt  er  hmgu,  fonbcrn  in  fo  einem  Sieben  beim  Söedjer  folltc 
man  fcßmcigen  oon  fidj  felber  unb  nidjt  eben  fo  arg  fidj  oer 
gefjen  mie  bie  Schmeichler.  911«  aber  ©inige,  fährt  er  fort,  über 
«ßfjitipps  Spaten,  nur  um  9lleyanber  etroa«  9lugeneljme«  gu 
fagen,  ohne  alle«  Siedjt  behaupteten,  baß  oon  ihm  nicht«  ©roße« 
unb  ®cmnnbern«mertlje«  ooübracfjt  fei,  ba  fdjrie  ftlitu«,  be« 
«Philipp«  ^haten  feien  bie  oiel  größeren,  riß  91leyanber«  3:h0tcn 
herunter  unb  erging  fidj  in  feiner  Xrunfenfjcit  in  mandjerlei 
gingen  fonft  unb  hielt  befouber«  91leyaitber  oor,  baß  er  burdj 
ihn  errettet  fei,  al«  am  ©ranifu«  ba«  Sicitergcfecht  mit  ben 
^Serfern  im  ©ange  mar,  unb  inbent  er  ihm  herou«forbernb  bie 
Siebte  entgegenftreite,  rief  er,  biefe  Hanb  hot  in  bem  9lugcm 
blief  bidj,  9tleyanber,  gerettet.  Sänger  ertrug  Sllcyanber  bie 
Xrunfenheit  unb  Herau«forberuug  be«  Slitu«  nicht,  fonbern 
fprang  ooll  $orn  auf,  toarb  aber  oon  ber  ©cfeHfcfjaft  gurücf- 
gehalten;  $litu«  aber  ließ  nidjt  nach  mit  Höhnen,  Hleyanber 
rief  nadj  ber  ©acfjc.  911«  aber  Siietnaub  auf  ihn  hörte,  üagte 
er,  e«  ergehe  ihm  nicht  beffer  al«  bem  ®ariu§,  ba  er  oon 
Scffu«  unb  feinen  ©efelleit  gefangen  genommen  unb  fortgefcßleppt 
mürbe  unb  nidjt«  meiter  al«  ein  bloßer  $tönig«name  mar.  $a 
mären  bie  ©enoffen  nidjt  mehr  im  ftanbe  gemefen  ihn  gu  holten, 
fonbern  er  märe  aufgesprungen,  hotte  einem  ber  ©arbiften  bie 
Sauge  meggeriffen  unb  bamit  nadj  Silitu«  geftoßeit  unb  ihn  ge- 

(104) 


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3r> 


tobtet.  Sfnbere  fagen,  eg  fei  eine  ißartifane  gemefen,  ebenfalls 
oon  einem  ber  3Bäd)ter.  SIriftobul  aber,  fährt  er  fort,  fagt 
nid)t,  rooooit  bag  3edjen  attggegangen  fei,  fdjulb  aber  fei 
Slitug  allein  gemefen,  ber  fei,  alg  Stlejanber  mütf)enb  warb 
mib  gegen  ihn  aufgefprnngen  fei,  um  itjn  umjubringen,  non 
ißtofemäog,  beg  Sagog  ©ohn,  bcnt  öeibgarbiften,  jur  J[)ür 
hinaug  unb  über  3J?auer  unb  ©raben  ber  93urg,  mo  er  ge* 
tnefen,  fortgebradft,  märe  aber  nid)t  bageblieben,  fonbern  umge* 
fef)rt,  mieber  eittgebruitgen  bet  ?(Iefanber,  ber  uad)  ftlitug  rief, 
hätte  fid)  nor  ihn  hittgepf(an$t  unb  gerufen:  ba  bin  id),  Stlitug, 
?flejanbcr.  Ja  märe  er  oott  ber  ißartifanc  getroffen  unb  hätte 
feinen  Job  gefunbett. 

3d)  aber,  fährt  Slrrian  fort,  table  ben  Stfitug  fyöfyid) 
wegen  feiner  3ubr*n9ftd)feit  gegen  ben  Äönig,  um  Slteyanber 
aber  tfjut  mir  biefeg  llngfitd  leib,  baff  er  fid)  in  bicfem  ?lugen* 
blid  alg  non  jmei  Hebeln  übermäftigt  jeigte,  bereit  feinem  ein  oer* 
uiinftiger  SDfenfd)  erliegen  muff,  bem  3ont  unb  ber  Jrunfenfjeit. 
SBegen  beffen  aber,  mag  nun  folgte,  tob  id)  Sllejanber:  baff  er 
jofort  erfannte,  mie  @tttfej}lid)eg  er  getljan  habe,  unb  Sinige,  bie 
Slejanberg  Sehen  unb  Jfjaten  flefdjrieben  hoben,  fagen,  er  höbe 
bie  fßartifane  gegen  bie  Sßanb  geftemmt  unb  fich  htneinftürjen 
rooHen,  meil  er  mit  @fjren  nicht  leben  forme,  nad)bem  er  im 
9iaufd)e  ben  5rcunb  getöbtet.  Jie  meiften  aber  Jerer,  bie 
baoon  gefchrieben,  fagen  bag  nic^t,  fonbern  baff  er  fortgegangen 
fei  unb  fid)  jammeritb  auf  fein  Säger  gemorfen  höbe,  ben 
fiteitog  ntfenb  unb  beffen  ©cfjmefter  fianife,  beg  Jropibeg 
lochter,  metch  einen  Sfmmenfohu  er  ihr,  nadibetn  er  herattge» 
roachfen,  gezahlt  habe,  ihr,  bie  ihre  Üinber  für  ihn  hätte  in  ben 
lob  gehen  fef)en  unb  ber  er  nun  auch  ben  Söruber  erfd)fagett 
habe,  fo  hätte  er  nicht  aufgehört,  fid)  feiner  grcunbe  9Jiörber 
ju  fchelten  unb  ohne  ©peife  unb  Jranf  brei  Jage  fang  gelegen 
unb  feine  pflege  an  feinen  Seib  fommett  faffeit. 

3*  ciost 


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3(3 


©ewiß  i)'t  Stlejanber  fein  fdjwerere«  Unglücf  begegnet,  unb 
fo  groß  feine  Scßulb  mar,  e«  überwog  boc^  ba«  Ungliicf.  ©« 
ift  ber  SSenbepunft  in  feinem  Sebeu,  beffeti  ®uft  unb  fjreubig- 
feit  bahiu  ift.  SBoht  überzeugen  ihn  bie  greunbe,  baß  er  fidj 
unb  fein  £eben  bem  £>cere  fdfulbe,  ba«  nur  er  au«  biefem 
fernen  Offen  burch  taufenb  geinbe  in  bie  |>eimatb  führen  fönne. 
@r  unternimmt,  um  feine  Sdjrctfen«tf)at  ju  nergeffen,  einen 
$ug  nach  Snbien,  ber  nur  nicht  ganz  ein  Sflbetiteurerzug  ift, 
beim  inbifche  Jpülfstruppen  mären  bem  ©effu«  guge^ogeit,  unb 
mit  Jpülfe  foldjer  fonnte  ein  ©hrgeijiger  ade«  urnftür^en,  wa« 
Sllejanber  h'cr  im  Offen  geftiftet,  aber  mir  erfemten  in  ber 
©raufamfeit,  mit  ber  er  hier  »erfährt,  ben  alten  Sllejanber 
faum  mieber.  greilid)  ei  wollte  unb  mußte  fchrecfeit.  $)ann, 
nachbem  er  hier  21/*  Saljre  (327,  26  unb  25)  ben  Srieg  ge- 
führt hat,  erhebt  er  fich  zu  zwei  ©roßthaten,  er  läßt  burd)  eine 
glotte  ben  perfifdjeit  ©ufen  burchfehiffen,  für  jene  geit  eine 
@ntbe<fung«fahrt  erfter  ©röße,  er  felber  aber,  nachbem  er  ben 
größeren  $f)eil  ber  £>eere  auf  befonnten  SBegen  ^cimgefanbt, 
fucßt  eine  ©erbinbung  zu  Canbe  burd)  ©ebrofien,  ihn  leitet  bie 
Ueberzeugung,  baß  eine  fluge  unb  encrgifche  ©enupung  ber 
§ülf«mittel  eines  jeben  Sanbe«  bie  Xitrdjroanberung  beäfelbeit 
ermögliche,  aber  zu  feinem  tiefen  Schmerze  fieht  er  fich  in  biefem 
©tauben  getäufdjt  unb  ben  größten  Jheil  feiner  ©egleitung 
biefer  Xäufdjung  zum  Opfer  faden,  ©r  felbft  rettet  fich  mit 
bem  »ierten  $he'l  ber  ©einigen  nad)  ©armanieti,  Serman. 

Schmer  tritt  h*er  feine  Slufgabe  au  ihn  heran,  ©iele, 
beuen  er  fein  ©ertrauen  gefchenft,  bie  er  z»  Satrapen  gern  ad)  t 
unb  mit  michtigeti  Slemteni  belehnt  hatte,  haben  fich  be«  in  fie 
gefegten  ©ertrauen«  uiimürbig  gezeigt,  bie  ihnen  oerlieheut 
Sftadjt  zur  Unterbrücfung  ber  ißrooinzeu  mißbraucht,  bie  fönig- 
liehen  Schäle  oerfd)leubert:  er  hat  zu  ftrafen  unb  er  ftraft  ernft 
unb  nad)brüdlid)  unb  zeigt,  baß  er  fich  mohl  bewußt  fei,  baß 

OO«) 


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37 


er  feinen  Untertanen  ®erecf)tigfeit  unb  Stu|}  ft^wlbc.  So 
fefjrt  im  Söeften  feinet  5Reic£)ed  Orbnung  unb  ©cfeßmäßigfeit 
3urücf  unb  bie  $otgefteflten  fügten,  baß  eine  ftarfe  .'paub  über 
ifjnen  fei. 

3?ann  ftrcitet  er  ju  einem  großartigen  91  ft  ber  SBerftmet* 
3ung  ber  Sßötfer.  fRot  ftefjen  ficf)  SRafebouier  unb  ißerfer 
fc^roff  gegenüber,  gefcfjiebeit  bunt)  ^Religion  unb  Sitte.  Sefct 
nermätßte  er  fit  mit  einet  Sottet  be§  SariuS  unb  jugteid) 
eine  fReifje  feiner  t)öcf)ften  getbtjerren  mit  perfifdjen  fjürftinnen 
unb  feiert  mit  innert  nnb  nie!  niebriger  ftefjenben  Alriegerit  einen 
^otäfit^tag,  burt  foldje  SBermäfjlung  ©cgenfäße  aufgufjebeu, 
beren  '.Regelung  fit  ber  ©efeßgebung  ent^iefjt,  er  tuieberfjoft  im 
großen  perföntid)  unb  mit  ben  dürften  be$  £eere$,  ma$  er  im 
fteineit  in  ben  Kolonien  begann,  bann  fud)t  er  fein  £>cer  in 
feiner  gegenwärtigen  Sßerfaffung,  bie  auf  törieg  beretnet  mar, 
aufjulöfen,  entläßt  bie  9tu3gebienten  reit  beftenft  nad)  ^jaufe. 
93i§  batjin  Ratten  bie  ißerfer  in  feinem  fReite  ber  firiegSefjren 
entbehrt,  aber  längft  fjatte  9l(efanber  bie  perfifte  Sugcub  im 
grietiftfn  Sßaffenbienfte  üben  taffen,  jeßt  gebatte  er  fie  in 
^Regimenter  nnb  SorpS  ju  organifireit  unb  in  aftioeit  Sienft 
treten  311  taffen,  aber  bie  Säte  ftieß  auf  bie  [eibcnftaftlitfte 
Oppofition  feiner  SRafebonier,  bie  aflc  angenbtidfite  tSutlaffung 
forberten.  Ser  Stönig  aber  gab  nitt  nad),  foubern  griff  mit 
ebenfo  nie!  Energie  als  SiebenSWürbigfeit  burd),  erftütterte 
burd)  fein  2Bort  bie  ©etnütßer,  mäf)renb  er  bie  gorberung  ge, 
währte.  So  beugten  fie  fit  feinem  SBifleit  unb  nur  bie  ißete* 
raneit  mürben  enttaffen,  bie  neuen  ett  perfiften  CSorpa  geigten 
fofort  ifjre  Süttigfeit. 

9(ber  ma$  foßen  mir  fagen  non  ben  ^Reformen  im  Sintern, 
bie  er  in  einem  Sctljre  in  bie  .fjjanb  nafjnt.  begonnen  maren 
fte  ja  freilief)  längft  burt  bie  midjtigfte  001t  aßen,  bie  9lnfegung 
jener  tRei^e  non  ßolonicit,  bie  er  überall  gegriinbet  fjatte  nnb 

(107, 


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33 

fortfuhr  ju  grünben,  burd)  weldje  er  griec^ifc^eö  Sölut  burch  bie 
Slbern  feines  neuen  Staates  ftrömett  liefe  unb  welche  bie  knoten* 
punfte  eines  SBerfefjrS  gwifchen  ÜRorgenlanb  unb  Abettblanb 
tmtrbcn,  wie  man  ihn  bis  baffen  gar  nid)t  gefannt  ^atte,  waren 
bod)  betn  Abenblaitb  AleyanberS  3“9e  e'ne  grofee  CntbecfungS* 
faljrt,  unb  biefer  Sierfefer  blieb  ber  SBelt  als  fdjliefelicfjer  ©eminn 
unb  gab  ber  neuen  3eU  ifer  ©epräge.  $on  nicht  geringerer 
iöebeutung  mar  für  baS  perfifdjc  fReid)  bie  Sefeitigung  ber 
SRaturalleiftungen  für  ^of  unb  Statthalter,  benen  er  bafür 
reidje  ©efjalte  anwieS,  woburch  er  bie  Seranlaffung  ju  taufenb 
©ebrücfungen  für  bie  Untertanen,  taufenb  Ausbreitungen  ber 
^Beamten,  weldje  mehr  ober  weniger  auf  bie  SRegierungSgewaft 
jurüdfallen  ntufetcn,  befeitigte. 

iRiefige  Summen  ^atte  er  in  ben  Sdjafcfantmern  ber  ißerfer 
oorgefunben : fie  gemährten  ihm  baS  2Rittel  theilS  ju  ber  glän* 
jenbften  greigebigfeit,  theilS  ju  grofeartigen  Unternehmuugeit 
aller  Art,  {ebenfalls  gab  er  einen  grofeen  Ztyit  bem  SSerfe^r 
juriicf  unb  förberte  baburch  |>anbel  unb  ©emerbe,  fomie  ben 
Söerfefjr  in  grofeartiger  SEÖeife,  ber  ihm  fefjr  am  ^perjen  lag. 

2öie  wollte  ich  fertig  werben,  alle  bie  Umgeftaltungen  ju 
fd)ilbern,  bie  baS  fRiefenreidj  burch  ihn  erfuhr.  Sie  3Renge  feiner 
Jätolonien,  man  ääfjlte  ihrer  über  fiebjig,  erhob  baS  ©riedfefehe 
§ur  SBeltfprache,  unb  er  forgtc  für  ihre  bauembe  Serbinbung 
unb  Serfehr,  benn  fein  thätiger  ©eift  fannte  nicht  fRuhe  noch 
fRaft  unb  fein  träges  ©etutfeleben.  Aber  auch  ©riechenlanbS 
2$erf)ältniffe  riefen  fein  thätigeS  ©ingreifen;  aud)  hier  fucffee  er 
Ausgleichung  ber  ©cgenfäfee,  SBerföhrtung  ber  Parteien  in  ben 
Sleinftaaten,  unb  er  mufete  fie  fucfeen,  benn  bie  SBcrbannungen 
hatten  oielfad)  bie  mafebonifchc  Partei  getroffen;  jefet  förberte 
er  öon  ben  ©riechen  zweierlei,  Ancrfennung  feiner  fönigtidj 
perfifchen  ©hren  unb  3uriicfrufung  ber  SBerbannten,  aber  baS  Iefetere 
namentlich  liefe  bie  einzelnen  Staaten  auf  Juden  in  milbein  Scfemerj 

f I OS) 


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39 


$ocß  für  alle  biefe  Umgeftaltungen  im  Snitertt,  beiten  fidj 
nocß  eilt  neuer  Strieg  beigefeflen  foüte,  um  fein  lteugebilbeteS 
£eer  gu  prüfen,  tua^rfcfjeinlicfj  eine  (SiitbcdungSfaßrt  gttr  Um= 
fegelting  non  Arabien,  gu  einer  Seeöerbinbuttg  ber  Supßrat- 
münbung  mit  bem  rotßen  SÖJeer  uub  9(egt)pten,  luar  betn  Könige 
non  ber  ißorfcßuttg  nur  ein  3aßr  gemäßrt,  cS  mar  ißm  nicßt 
befcßiebett,  lueber  baS  Säcfjeltt  feines  ftittbeS,  ttod)  bie  glütflidje 
fiöfung  einer  ber  oben  angebeuteten  2Raßregelit  gu  feßen,  n>ot)f 
aber  boten  ißm  biefe  fDfonate  ben  $eld)  beS  bitterften  SdjmergeS 
am  Seicßenbette  feinet  treuen  $epßäftion.  2BaS  ßalf  ißm  baS 
föniglidje  £eid)cnbegättgttiß,  mit  bem  er  ben  ©ettoffen  feiner 
Siinberfpicle  eßrte,  er  gab  ißn  bamit  bem  Sebeit  nicßt  guriicf. 
fRur  neue  EXßätigfeit  fonnte  ißn  über  baS  Seib  ber  Stuitbc 
ßittroegßeben,  aber  es  mar  ißm  eine  nocß  fcßmerere  befcßieben,  als 
an  feinem  Sterbebette  feine  gelbßcrrett  fragten,  men  er  berufe, 
fein  SEBerf  fortgufeßcn  unb  gu  Sttbe  gu  führen.  Söofjl  mar 
feine  Slntmort  föniglid),  aber  mer  ermißt  bett  Sdjmerg  ber 
Seele,  bie,  maS  fie  im  Sebcit  nie  geroefen  mar,  int  EXobe  ratß< 
loS,  auf  folcße  grage  mit  einer  SWgemeinßeit,  „ber  SBürbigfte", 
ootn  Sieben  fcfjeibett  tu ufjte.  Hub  battebeit  ber  ölid  auf  feine 
Reformen,  alle  angefangen,  feine  gu  Hube  geführt,  mußten  fie 
nid)t  mie  ©efpettficr  fein  Sterbelager  umfteßen.  @r  füllte  bi 
Spannfraft,  bett  gorbifeßen  itnoteu  gu  löfett;  baß  fein  gmeiter 
bagu  im  ftanbe  fei,  geigte  baS  ©rabgeläute  eines  faft  fiinfgig« 
jäßrigen  Krieges,  baS  gar  nicßt  oerftummen  wollte.  Unb  bie 
SRacßmelt?  SüBiirbe  fie  geredet  gegen  ißn  fein?  mürbe  fie  ein 
£>erg  für  ißtt  ßaben?  Saffcn  Sic  unS  nur  meufeßtid)  für  ißn 
füßlen  unb  bem  ©rabe  eines  Sllejranbcr  ben  SRoSntaringmcig 
nicßt  »erfagett. 


(10UJ 


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Irmepttgü-  unb  SinnrsoatftrUungfn 
brr  lUrnfiiirn 

in  tyrrn  Jciidjungrii  ;n  frinrr  Mbirnolifrflaiijr. 

SBoit 

Dr.  garo, 

»rafiiiditm  flrjt  in  $ai(n. 


Hamburg. 

Sierlagäanftalt  unb  $ruc!erei  Sl.=®.  (uormafl  3.  5.  SRidjter). 

1890. 


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Tai  :Hed)t  Der  Ueberjeflmtg  in  frembe  Sprayen  roirb  oorbetyalten. 


Irud  st r BetlniiSfliifialt  uitb  t rudern  mctitiKÖffröidjaft 
(normal«  3.  J.  SiidHrr)  in  Hamburg. 


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3u  feinen  ©renjen  beä  SRaturerfennenS  faßt  SuboiS’iHep* 
ntoub : SBäre  unfer  ©eljiru  fo  groß,  baff  mir  felbft  ofjne  optifdje 
^pülfgmittcl  bie  ©ewegungen  feiner  ffeinften  Sljcilchen  mäfjrenb 
feiner  Sfjätigfeit  beobachten  fönnten,  niemals  würben  wir 
barauä  einen  erfläreuben  ßufammenhang  fiitbeu  fönneit  ^wifdjeit 
biefer  ©emegung  materieller  Sheildjen  unb  bem  ©emufjtfein. 
So  ungefähr  lauten  feine  SSorte.  Selbft  bie  elementarfte 
©mpfinbung  (äfft  fief)  nicht  au$  ber  ©ewegung  materieller 
fXheifchen  erfläreit,  unb  e3  l)ilft  nichts  ju  fagen,  bie  ©mpfinbnng 
fei  eine  ©igeitfdjaft  ber  Materie,  Samit  ift  nidjts  erflärt.  Sie 
Grfenntniß  ber  ©ewegnngen  tnad)t  nur  fomplijirte  fragen  3lt 
elementaren,  unb  hier  bleiben  wir  fteljen.  — Sie  grage  mid) 
ber  ©rflärung  ber  Gmpfinbuug  ift  eine  foldje.  ?lber  ba3  üer* 
wicfelte  Spiel  nuferer  ©ef)irntf)ätig!eit  möglidjft  jergliebern, 
©mpfinbung  unb  ©orftedung  nad)  ihrer  ?(rt  fonbern,  — bie 
©ntftefjungäftcitten  ber  einzelnen  ©mpfinbungen  unb  ©orftellungen 
im  ©efjiru  fudjen,  — oerftehen,  wie  fie  fid)  in  ihrem  Sßirfen 
uutereinanber  jit  fomplijirtereu  Elften  oereiueu  — ba3  fönneu 
wir  anftreben.  Ser  ©rfofg  hot  bie  ©credjtigung  erwiefen.  Saß 
bie  hier  gewonnene  ©rfenntniß  oou  ber  fülebijin  auSging,  ift 
felbftoerftänblid).  Sa  ba3  Sjperiment  be$  ÜJfeu}d)eit  am  ©ehiru 
Seinesgleichen  nicht  möglid)  ift,  muß  man  fid)  auf  baS  @jperi> 
ment  oerlaffeu,  welches  bie  Statur  in  ©eftalt  ber  Hranffjeit  am 

Sammlung.  3J.  ft.  V.  >00.  1*  (U3J 


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4 


SÖtenfdjen  oft  macht.  (Daher  ift  eS  ber  Srjt,  welcher  in  biefer 
^Beziehung  ^Beobachtungen  fammelt.  (Er  fieht,  welche  Störungen 
bei  beftimmten  SlranfheitSherben  int  ©e^irn  auftreten,  bie  nadj> 
träglidje  ©eftion  belehrt  ihn  genau,  an  melier  ©teile  beS  @e* 
IjirnS  ber  Sranfljeitsherb  gefeffen.  (Durch  ga^Ireic^e  (Erfahrungen 
lernt  er  bann,  welche  ©teQen  beS  ©cfjirnS  biefen,  welche  jenen 
StuSfaH  ber  gmtftioncn  bcwirfett.  Slber  inbem  bie  9fatur  für 
uns  baS  (Experiment  übernimmt,  lägt  fie  uns  noch  öiele  ©chwie* 
rigfeitcn.  Sßiele  ÄranfheitS^erbe  wirten  nicht  blofj  funttionS« 
toernichtcnb  auf  biejenige  ©ehirnftede,  in  ber  fte  ihren  @i| 
haben,  fie  wirfett  auch  burch  (Drucf  weit  in  btc  gerne,  unb  ein 
fritiffofer  SBeurtljeiler  würbe  manche  Störungen  auf  ben  Ausfall 
einer  ©ehimftelle  fchieben,  ju  ber  fie  nicht  gehören.  (Derartige 
fernwirfenbe  f>erbe  miiffen  oorfichtig  beurtheilt  ober  »ou  ber 
Serwertljung  oft  auSgejdjIoffen  werben.  (Es  ftefien  fich  auch 
üiele  ©chwicrigteiten  für  bie  (Erfenutnifj  ber  SBebeutung  einzelner 
©ehirutheile  ein,  eS  genügt,  Iper  barauf  gingcroiefeit  ju  haben, 
©ie  werben  aus  bem  ©efagten  entnehmen,  baff  bie  ©runblage 
für  bie  £otalifation  im  ©ehirn  in  ttnfcrcm  mobcrnen  ©inne 
erftenS  eine  ftreng  anatomifdje  ift,  zweitens,  bah  bie  oorliegettben 
anatomifchen  ^Beobachtungen  nicht  fritifloS  üerwerthet  werben. 
SBeibe  Momente  unterfdjeiben  fie  oon  ber  ©aüfcheit  ©chäbel* 
lehre,  ber  man  oon  oornherein  auch  beShalb  ben  SBorwurf 
ber  £ädjcrlichfeit  nicht  erfpnren  fann,  weil  fie  ganz  fomplijirte 
(Dinge,  wie  Sorn/  ^afcgier  ic.  lofalifirt.  — $u  ben  SDhatfadjen 
ber  9?atur  fommen  noch  ©Eperimeute  oon  SDtenfchenhanb,  an 
(Klieren  angefteflt,  oon  gritfd),  £)i(sig,  ältunf  :c.  SBeitn  auch 
burch  ©olfc  ein  gewiffer  SBiberfprucf)  in  ber  experimentellen 
ißhbfi°l°9'e/  ich  meine  burch  (Xh'eroerfudje,  Ijeroorgerufen  worben 
ift,  fo  ift  bod),.  was  baS  2Jtcnfchengehirn  anbetrifft,  bie  £ehrc 
oott  ber  fiofalifation  oon  beftimmten  ©efjirncrfcheinungen  als 
etwas  einfach  Unzweifelhaftes  allgemein  anerfannt.  3d)  will 

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mid)  junächft  ^ter  nicht  weiter  auf  eine  ©rörterung  ber  Sofali« 
fation  oon  Sranf^eiten  im  ©ehirn  gegenüber  ber  ßofalifatton 
oon  gunftionen  einlaffen,  fonbem  jiir  ©rflärung  einiger  ©runb* 
begriffe  übergehn.  Ter  Bergleich  uttfereS  SReroenfpftemS  mit 
einem  Telegraphen  ift  eigentlich  fein  Bergteich  mehr,  benn  bie 
Bezeichnung  becft  fidh  mit  bem  bezcidjneten  ©egenftanb  oöflig. 
spalten  Sie  flar  auSeinanber  einerfeitS:  SRadjridjte«  entfenbenbe 
unb  empfangenbe  Stationen,  unb  anbrerfeitS:  SeitungSbräljte. 
Tem  entfprechenb  giebt  eS  wefentlich  im  ©ehirn  zweierlei: 
©rftenS  fogenannte  ©angliengeßen,  fugelige  ©ebilbe  mit  gort« 
fäpen.  TaS  finb  bie  Stationen.  3n  ihnen  werben  bie  ©in« 
brücfe,  welche  wir  oon  außen  befommett,  beponirt.  Sie  hoben 
in  3hrem  Sopfe  hoch  betriebene  Borfteßungeti,  5.  B.  bie  oon 
ber  ©eftalt  eines  ThalerS.  Tiefe  Borfteflung  ift  in  eine  fotcfje 
©anglienjeße  ^ineinteiegrap^irt  worben  unb  ruht  ba,  bis  fie 
wieber  jum  ©rflingen  gebracht  wirb.  ©in  anbcrer  Tf)eil  ber 
©anglienzeßeu  braucht  bloß  erregt  ju  werben,  unb  er  entfenbet 
baS  Signal  $u  irgenb  einer  Bewegung.  Zweitens  fommeu  in 
Betracht:  bie  SRerben,  burch  welche  biefe  ©anglieujeßen  unter« 
einanber  unb  mit  aßen  Thcilen  beS  ÄürperS  oerbunben  finb, 
baS  finb  bie  2eitungSbräl)te,  baS  finb  gäben.  Sie  wiffen  nichts 
oon  ben  Tepefdjeit,  welche  fie  tragen,  fie  hören  nicht,  fühlen 
nicht  tc.  ©S  fühlt  nur  bie  ©attglienzeße  ben  SReiz,  ben  ber 
SRerb  leitet.  — Tie  ©anglienzeflett  fehen  grau  aus,  fie  finb 
ju  mehr  ober  weniger  großen  ©ruppen  oereint,  unb  biefe 
©ruppen  bilben  im  ©ejjirn  bie  graue  Subftanj.  Tie  Heroen 
im  ©ehirn  fehen  weifj  aus,  unb  ihre  Summe  bilbet  bemnach 
bie  Weiße  Subftanj.  Ülufjerbem  giebt  eS  im  ©ehirn  noch  eine 
Subftanj,  welche  bie  eigentlich  nerböfen  ©lemente  (worunter 
man  alfo  ©anglienzcflen  unb  SRcroenfafern  berftefjt)  oerfittet, 
eS  ift  bie  fogenannte  SReuroglia.  — Tie  Cberflädfe  beS  ©ef)irnS 
befteht  wefentlich  auS  ©auglienzeßen,  fie  ift  bemnach  grau  unb 


6 


matt  nennt  fie  bie  §irnrinbe.  Otti  Ämtern  beS  ©etjiritS  ftnbcrt 
fid)  aber  gerftreut  noefj  mefjr  ober  meniger  große  ©ruppett  oon 
©attgliettieflett.  ®ie  auf  ©eljirnfdjnitten  im  Snnern  mefentlid) 
fjeroortretenbe  meiße  ©ubftau3,  bie  SReroenfafern,  nennt  man 
bie  SJJarfmaffe.  ®ie  ^irnrinbe,  unb  jmar  bie  @roßf)irnrinbe 
(ficf)e  gigur  II)/  reprfifentirt  mit  ißrer  ©attglienmaffe  beit  ©iß  ber 
Sßorfteünngen,  ifjre  ?lrbeitSleiftuug  ift  bemitad)  bie  pfpcfpfd) 
ßödjfte.  $ie  SSJinbungen  finb  ein  Sunftgriff  ber  9iatur,  um 
innerhalb  eines,  burdj  bie  ©djcibelfapfel  gegebenen  IRaunieS 
eine  möglidjft  große  fpirttoberflcidje  entftefjen  ju  taffen.  Ur> 
fpriiuglidj  ift  bie  gKidje  glatt,  bie  (Sutmidelung  fdjafft  bic 
SBinbuttgen.  ©ie  feßeit  jugteid),  baß  ber  ©rab  beS  33orftel* 
luugSreidjtfjumS  «ou  ber  ©röße  ber  ©roßßirnoberflädje,  loaS 
fief;  itidjt  mit  Sfopfgröße  ober  .^irngemidjt  bedt,  abhängig  ift. 
©amit  ßabeit  ©ic  eine  elementare  Ueberfidjt  über  bie  Serßält- 
niffe.  Sd)  möchte  aber  jeßt,  um  51t  einer  eiugeßettben  ©cßil> 
berung  itberjugeßen,  beit  SBeg  eiufdjtagen,  bei  meinem  ©ie 
meßr  ben  pfpdjologifdjen  2Berbcpro3eß  auf  materieller  ©runb> 
läge,  als  bie  fertigen  Jfjatfadjen  erfahren.  ®er  3Beg  ju 
niederer  (Srfenntniß  fiifjrt  bnrd)  bie  Södjer  beS  ©rijcibelS.  — ?Ule 
uttfere  93orftclIuugeu  finb  ertuorbene,  nufer  inneres  Sieben  matt« 
bert  burd)  biefe  Oeffiiuitgett  beS  ©djcibelS  in  uttS  ßittein.  S33ir 
lernen  bic  2>ingc  oon  fo  oiel  ©eiten  feinten,  als  mir  ©iitneS> 
organe  ßaben,  ober  oielmeßr  bie  25iuge  finb  für  uns  baS,  maS 
mir  oon  ißnett  feßett,  ßürett,  rieeßen,  fdjmecfen,  taften.  2Bir 
feinten  bemitadj  eigentlich  nur  nufere  Sßorftellungen  oon  ber 
3Llett.  3)ie  ©intteSorgaue  empfangen,  je  uad)  ihrer  fpecifiidjeu 
Einrichtung,  bett  erften  Einbrucf.  35ie  jpecififdje  empfängliche 
9?atur  ber  ©inneSorgane  ift  aber  nicht  gonj  ejaft  anfjufaffen, 
oielniefjr  antmortet  bie  fJfeßßaut  mit  einer  Sidjtcrfdjeiuuug,  nicht 
bloß  auf  Sidjtrei3,  foitbcru  audj  auf  35rurf,  eleftrifdje  Siebung  ic. 
35a  mir  ßier  oerfdjiebeuc  Urfadjen  ein  unb  biefelbc  SBirfuitg 
1116) 


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7 


heroorbrittgen  feljen,  fo  ift  ber  Sernei«  gegeben,  bafj  bie  SRatur 
unserer  SBorfteHungen  ebenfatl«  fiel)  mit  ber  äöirflichfeit  ber  Singe 
nicht  ju  becfen  brauet.  SBir  fönnen  eben  nur  jagen,  unfere  (Srnpfin* 
bungen  unb  SSorfteHungen  finb  (Sinmirfungen  ber  Slufjenbinge  auf 
un«,  bie  Singe  fönnen  ebenfo  fein,  mie  mir  fie  empfiuben  unb 
nn«  oorftetlen,  miiffen  e«  aber  nidjt.  3d)  möchte  ^ier  noch 
eine  anbere  grage  ftären.  Sie  gunftion  ber  SRe^aut  mirb  ge* 
möfinlicf»  nic^t  rein  genug  aufgefafjt.  ©ie  empfängt  einfach  Sicht- 
einbrücfe,  ber  £id)tintenfität  unb  £id}tgualität  (garbe).  (Sin 
Silb,  melche«  ba«  Sluge  betrachtet,  nimmt  fie  auf.  SDiit  ber 
Stuffaffung  ber  ©teile  im  ÜRaum,  roeldje  biefe«  Silb  einnimmt, 
hat  bie  ÜRehhawt  nicht«  jit  thun.  @«  ift  baher  eine  müßige  grage 
ergrünben  ju  moHen,  me«ljalb  ein  Silb,  obmohl  e«  in  ber  9fe£> 
haut  fich  in  umgefehrter  ©efialt  fpiegelt,  bennoch  al«  grabe* 
ftehenb  empfunben  mirb.  giir  bie  Sluffaffung  ber  Stellung,  bie 
ein  Söilb  im  IRaume  einnimmt,  ift  bie  Sage  feineg  ©piegelbilbe« 
in  ber  SRehhnut  gleichgültig,  ba  ein  ganj  anberer  ©inn,  ber 
Saftfinn  nämlich,  bie  jRaumfteflung  beftimmt.  3d)  faffe  biefen 
©inn  roeiter  unb  Derftehe  barunter  nicht  nur  bie  gähigfeit, 
melche  man  gemeinhin  unter  Saften  öerfteßt.  ©ie  benfen  babei 
geroöhnlich  an  bie  gähigfeit  ber  §aut,  namentlich  ber  fwnbe 
unb  giifje,  bei  gejchloffenen  Slugen  an  einem  ©egenftnnbe 
Unebenheiten,  überhaupt  feine  ©eftaltung  h^011^  i»  finben. 
3um  Saftfinn  gehört  aber  nicht  bloß  ber  Srucffinn,  ber  Sem* 
peraturfinn  ic. , fonbern  auch  ba«  fogenannte  äRuSfelgefüljl. 
©djliefjen  ©ie  bie  Singen  unb  machen  ©ie  irgenb  melche  Seme* 
gung  3hrer  ©liebmajjen  felbft,  ober  laffen  ©ie  fich  biefelben 
Bon  einem  Slnbcren  machen,  ©ie  rnerben  immer  miffen,  in 
meldjer  gegenfeitigeit  Sage  fich  bie  betreffenben  ©lieber  befinben; 
noch  mehr,  ©ie  fühlen  ben  ©rab  ber  ÜRu«felanfpaunung,  ben 
©ie  für  biefe  ober  jene  Semeguttg  brauchen  ober  gebraucht 
haben.  Sin  ben  ©elenfenben  unb  ben  ÜRu$feIn  fifeeit  Saftorgane, 

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8 


biefe  erhalten  in  ^orm  ton  ffteijen  Kunbe  batwn  unb  trogen 
fie  auf  ben  SReroen  fjinauf  in«  ©ebirtt,  wo  fie  empfunben 
werben.  — ©ie  werben  jefct  wiffen,  wo«  Sageöorftellung  eine« 
©liebe«  ift,  ©ie  wiffen  au  cf),  wa«  3Ru«fefgefü^I  ift.  3efct  wirb 
e«  nucf)  oerftänblich,  wie  wir  ju  BaunworfteHungeu  gelangen. 
Ein  Kinb  ftefft  j.  8.  einen  Baß  am  Boben  in  einer  beftimmten 
Entfernung  liegen.  Um  ben  Baß  ju  feben,  muh  e«  t>erfcf)iebene 
Äugenmn«feln  bewegen,  ©ie  haben  wohl  fcf)on  bei  Änbereti 
bemerft,  bah  man,  f obalb  man  etwa«  Siafjeliegenbe«  fief)t,  bie 
Äugenacbfen  in  eine  mehr  fonoergirenbe  ßticfjtung  fteflt,  af«  wenn 
man  etwa«  entfernter  Siegenbe«  fiyirt.  3)en  ©rab  ber  hierbei 
ftattfinbenben  3Xu«felfpannung  merft  ft<h  ba«  Slinb  aßmäblicb, 
ohne  bah  aßerbtttg«  ba«  ©efühf  ganj  oofl  in«  Bewuhtjein  ein« 
tritt.  SBenn  ba«  S'inb  fich  nun  ben  Baß  h°H/  f°  lernt  e«  burd) 
Äbmeffung  mittelft  Schritte  bie  Entfernung  fennen.  5Durdj 
taufenb  Erfahrungen  lernt  e«  bie  Begehungen  jtoifcben  ber 
Äugenmu«felfpannuug  uub  ber  Entfernung.  S)aju  fommt  noch 
ba«  2Rn«ftlgefübl  »on  ben  ißupiflar*  unb  Shtfenaccommobation«* 
mu«!eln.  3nt  wefentfichen  finb  e«  aber  bie  oorhin  betonten 
9Ru«feln,  beren  ©pannung«gefübl  un«  non  ber  Entfernung  ber 
Körper  Kenntitifj  giebt.  SBenn  wir  einen  Körper  betrachten, 
fein  ebene«  Bilb,  fo  ift  biefe«  förperlidje  ©eben  boch  eigentlich 
nur  babirrch  möglich,  bah  wie  ba«  ©efiihl  höben,  bah  t>erfd)iebene 
fünfte  biefe«  Körper«  oerfchieben  weit  oon  unferen  Äugen  ent* 
fernt  finb.  5>a«  9Ru«felgefübl  ift  benntach  bie  Urfache  unfere« 
förpertichen  ©eben«  ober  anber«  au«gebrücft:  SBir  höben  bc«* 
halb  swei  Äugen,  bamit  wir  erfteit«  Entfernungen  abfchähett, 
jweiteu«,  bamit  wir  förperliche  Eilige  oerftehen,  furj,  bamit  mit 
räumlich  fe^eit  fömten.  — ©ie  höben,  wenn  ©ie  bie  Ärten 
unferer  Empfinbungen  überfchauen,  §wei  Kategorien  berfelben 
bemerft.  2)ie  einen  geben  itn«  Äuffd)tuh  über  bie  Borgänge 

ber  Äuhenwelt  mittelft  Äuge,  Ohr,  SRafe,  3unfie,  Jaftorgane 

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9 


ber  Oberfläche,  bie  anberen  geben  un$  ftemttniß  oon  manchen 
ßuftänben  in  un«  felbft,  mittelft  ber  in  ben  SDiuSfeln  unb  an 
ben  ©elenfettben  befinblichen  Jaftneroen.  $>urd)  biefe  erhalten 
mir  SagetwrfteKungen  ber  einzelnen  ©lieber.  — ©ei  einer  ©e* 
roegung  nimmt  ein  ©lieb  eine  SDfenge  Sagen  ^intereinauber  ein ; 
jur  ©orfteHung  ber  ©eroegung  eine«  ©liebe«  gehört  bemnach 
bie  Summe  ber  ©orfteKungen  öon  ben  einzelnen  Sagen.  Heber* 
legt  man  fich  aber,  baß  man  mit  £>ülfe  bc«  SRuSfelgefühl«  nicht 
blo§  unterrichtet  roirb,  wie  ftarf  bie  in  grage  fomntenben  2Jfu«< 
fein  im  einzelnen  ffraüe  gefpannt  werben,  j.  ©.  bei  einer  beftimmten 
©dpreibbewegung,  fonbern  and)  welche  3Jtu«feln  gefpannt  werben, 
überlegt  man  ferner,  baß  gu  ben  eingelnen  KRuSfeln  beftimmte 
SReroenfafern,  beftimmte  SeitungSbräßte  ben  ©efeßl  be«  ©efjirttö 
tragen,  fo  wirb  man  bie  ©ewegung&oorfteHung  auch  folgeitber- 
maßen  befiniren  fönnen:  ©ie  befteljt  barin,  baß  man  weih, 
welche  SReruenfafem  bei  einer  beftimmten  ©ewegung  in  leitenbe 
Jhätigfeit  geraden  unb  wie  ftarf  bie  auf  ihnen  fortgeleitete  @r« 
reguug  ift.  @o  gefaßt  fteßen  bie  ©ewegung«üorfteHungen  nicht 
auf  fo  hohfr  Sch^eHe  Sewußtfein«,  baß  fie  uns  beutlich 
flar  werben.  Xem  KRuSfelgefühl  nad)  finb  un«  Sage  unb  ©e» 
wegung§»orfteHungen  oiel  flarer.  3d)  hQ&e  aber  ®rörterung 
biefer  ©orfteKungen  oom  ©tanbpunfte  ber  in  Sctracht  fontmenben 
SRernen  au«  fpäter  gu  erfehenben  ©rünben  oorgenommcn.  2)a< 
mit  haben  wir  ba«  große  ©ebiet  ber  ©orftetlungen  in  gwei 
Xfyeile  gefchieben,  in  ©ewegung€OorfteHungen  unb  in  ©inne«* 
oorfteHungeu.  3cß  will  hier  eine  etwa«  materielle  ©runblage 
geben.  Sille  untere  ©orfteKungen  finb  in  ber  Cpirnrinbe  hier 
niebergelegt  (gigur  I),  hier  fönneu  ©ie  burd)  einen  fReig  erwedt 
werben,  fo  baß  ißre  ©ilber  uor  un«  fteßen.  — 2)ie  ©orfteKungen 
ber  ©ewegungeit  finb  im  oorberen  ^h^/  bie  ber  Sinne  im 
hinteren  $heüe  ber  |>irnrinbe  beponirt.  3ch  beginne  bie  nähere 
Slu«einanberfehuttg  bei  ben  Semeguug«öorfteHungen.  Unfere 

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10 


erften  ©eioegungen  finb  imbeiuufet,  finb  refleltortifd).  @in 
äußerer  s3ieij  toirb  311m  fReflejcentrum  getragen  unb  §ier  in  einen 
©eioegiing3rei3  umgefeßt.  3)ie  Umfe^ungSftationen  befinben  fidj 
in  ber  fogenannten  ^pirnfdjentelbaube,  im  gefcbroeiften  Sern  unb 
Sinfenfern  (fie^e  gigur  II.)  Mmäblid)  bilben  fid)  bann  SieitungS* 
ftrange  au§,  meiere  non  biefen  ebenbejeic^neten  Crten  ben  ©eriebt 
über  bie  ©orgänge  ber  Bewegung  ju  ben  ©orfteßung§regionen, 
jn  ber  £>irnrinbe  tragen.  60  bilben  fid)  bie  ©ewegungSoor« 
fteflungen.  ©obalb  bied  gegeben  ift,  ift  bie  Bewegung  eine 
roiüüirlidje  geworben.  Sie  gefdjie^t  alfo  bewußt,  ift  einem 
beftimmten  3wede  angepaßt  unb  ber  lebenbige  llrfpruttg  biefer 
9lrt  üoit  Bewegungen  ift  in  ben  innert  entfpredbenbeu  |)irtirinbe» 
Partien  31t  f uebett.  ©obalb  eine  foldje  fRinbenftefle  jerftört  ift, 

ift  bie  jugebörige  Bewegung  unmöglich,  baS  betreffeitbe  ©lieb 
ift  gelähmt.  (Siebe  gigur  I)  $nß  e§  ftdi  bei  biefen  Säb» 
mungen  um  Störungen  ber  ©ißenSfpbäre  bembelt,  ift  ja  barauS 
erficßtlicb,  baß  bie  ^Reflexbewegungen  ober  äRitbewegungen  ber 
gelähmten  ©lieber  erhalten  finb.  91ur  bie  bireft  roißfürliche 
©eioegung  ber  betreffenbett  ©artie  ift  geftört.  ©ehr  intereffant 
finb  bie  ©erfuebe  oon  gritfd)  unb  £>ißig.  Sie  fanben,  baß  bei 
fReijung  Heiner  Ibe'fe  ber  ©orber^i rnrinbe  bei  2b’erfn  öewe* 
gütigen  ju  ftanbe  fommeu,  weldje  beit  ßl)arafter  einer  für 
einen  beftimmten  $wed  beabfidjtigten  ©eroegung  tragen. 

©011  bem  gaferoerlauf  ber  Sleroeit,  welche  oon  biefen 
fRinbenpartien  ausgebett,  machen  ©ie  fid)  am  beften  burdj  fol« 
getibe  Zeichnung  eine  ©orfteüung : (Jig.  VI.) 

91ußerbalb  unb  311111  Sheil  nad)  innerhalb  ber  ©chäbeltapfel 
oerlaufen  bie  SReroenfafern  31t  ©ruppeit  georbnet,  unabhängig 
oon  ber  gunftiou,  3.  ©.  bie  ©ruppe  @.  ©cfidjtäiieroen,  ft. 
fteblfopfneroen,  3-  3ungenneroen.  91un  ift  311t  9luSfprad)e, 
3.  ©.  beä  ©ucbftabeii  2 nötbig  ctioa  eine  gafer  oon  ©.,  eine 

ober  3ioei  oon  ft.,  eine  oon  Q.  Xicfc  gafcrit,  loelche  für  bie 

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11 


beftimmte,  gwedmäjjige  ©eweguitg  in  gmiftion  treten,  fpalten 
ftcfj  »ou  it>rem  ©ünbel  ob,  treffen  gufammen  unb  laufen  in 
biefer  Sombinatiou  eine  ©tretfe  weit  bi«  gu  beteiligen  $irn- 
rinbenftelle,  roeld)c  ba$  ßcntrum  ber  betreffenben,  gtuccfntä^igen, 
willfürlichen  ©cwegung  ift.  ©ine  ßerftörung  biefer  ©teile  wirb 
alfo  eine  Sähmung  ber  Sternen  in  einer  gWecfmäfjigen  Siontbi- 
notion  ^crbeifiifjren;  infofern,  als  non  biefen  ßentren  bemnach 
bie  nad)  ber  Stiftung  ber  Qualität  unb  Quantität  bewufeten 
©cwegitngen  auSgehen,  fiitb  wir  berechtigt,  fie  bie  ©orfteÜungS- 
centreu  ber  ©eweguitg  gu  nennen,  im  ©egenfah  gu  bett  9ief(ej> 
centren.  — inwieweit  bei  ben  gerftöruitgen  biefer  ©ebiete 
ber  ^irnrinbe  ©törungen  ber  Sageoorftelluugeit  ic.  ftattfinben, 
famt  noch  nicht  gefagt  werben,  ba  bie  bisherigen  bieSbegüglidjen 
^Beobachtungen  gu  ungenau  fiitb.  ©eben  wir  bagegen  etwas 
nach  rücfwärts  non  biefen  ©teilen  gu  ben  fogenannten  ©dieitel- 
läppten  (gigur  I.),  fo  machen  eS  manche  ©eobachtnngcu  wahr- 
fcfjeitilich,  bah  I)ifr,  um  fnrg  gu  feigen,  bie  jenforifdje  Stegion 
für  §aut  unb  SDiuSfeln  liegt,  ich  nieine  für  Saftfinn,  Sageuor- 
ftelluugen  K.  Sir  fiitb  ja  überhaupt  hier  fdfott  in  ber  ©iuneS' 
fphärc,  hier  für  bas!  Slugc,  hier  für  baö  Chr  ($ig.  1.) 

3df  fann  baS  Kapitel  oon  ben  ©cwegungSoorftellungen 
nicht  »erlaffen,  ohne  ein  ©pegialgebict  nach  biefer  Richtung  h'n 
berüdffichtigtigt  gu  haben,  bie  ©pradje.  Sie  oft  fdjwebt  Sfjnen 
ein  Sott  auf  ber  gungc  u,,b  ©ie  fonnten  cS  nidjt  über  bie 
Sippen  bringen.  *I)ic  ©orftellung  ber  ©pradfbewegung  war 
3hnett  entfallen,  ©ie  werben  fid)  fdfou  benfett  fönnen,  baf? 
bie  ©orftelluitgen  ber  ©prachbewegungen  ba  liegen,  wo  ungefähr 
bie  ©orftefluitgen  für  bie  gwecfmäfjige  ©ewegittig  für  gnitge 
unb  SDtnnb  liegen.  §ier  in  ber  britten  ©tirnwinbung  (Orig- 1) 
finb  bie  ©eroegungSöorfteßungen  ber  ©pradje  beponirt.  ©ei 
ihrer  ©erlejjung  fann  ber  ÜJtenfch  wol)l  bie  3uuge  au  fid),  bie 

Sippen  an  fid;  ic.  bewegen,  aber  fprcdjen  fann  er  nicht.  2>ie 

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12 


©ruppirung  ber  gur  ÄuSfpracße  eine«  933orte«,  einer  ©ilbe  in 
Sßätigleit  tretenben  Reröen  ift  oerloren.  ®a«  SBort  fdjwebt 
wie  gefaßt  auf  ber  $unge,  b'e  ÄuSfprache  aber  ift  unmöglich- 
Sntereffant  ift,  baß,  wäljrenb  fonft  bie  ©ehirnrinbe  bie  gunftion 
nur  ber  entgegengefeßteu  Äörperhälfte  übernimmt,  atfo  bei  einer 
gerftörung  ber  (infeit  @ehimoberfläcf)e  eine  fiäljmung  be«  Ärme« 
rechts  eintritt  mtb  umgefehrt,  intereffant  ift,  foge  id),  baß  bie 
©pra<hbewegung«oorfteHungen  nur  linf«  liegen;  mefleid^t  weil 
bie  gur  linfen  ©ehirnhälfte  gehörenbe  rechte  ftörperljälfte  mehr 
geübt  ift  unb  baßer  ba«  linfe  ©e^irn  auf  einer  fiöfferen  ©tufe 
ber  ÄuSbilbung  fteljt.  Sei  linfä^iinbigen  SRenfcßen  ergeben 
übrigen«  bei  berartigen  ©pracßftörungen  bie  ©eftioneu,  baß  bie 
Äranf^eit«^erbe  an  ber  rechten  entfprechenben  ©cljirnfteße  liegen, 
©ie  ^ben  einen  Unterfchieb  tennen  gelernt  gwifcßen  ber  witt* 
fürlicßen,  einem  beftimmten,  bewußten  .ßwecfe  bienenben  Be» 
wegung  unb  ber  unmiHfürlichen  ober  Reflexbewegung.  3)ie 
Zentren  ber  ©roßhirnrinbe  finb  aber  auch  im  ftanbe,  auf  bie 
Reflexbewegungen  Ejemmenb  einguwirfen.  ©«  ift  biefe  Sigen« 
fcßaft  feßr  intereffant,  wenn  man  bcbenft,  baß  bie  höheren,  fee« 
lifcßen  ©igenfdjaften  auch  »ur  auf  einer  Hemmung  unwißfür» 
licßer  Regungen  beruhen,  wie  Beherrfdjung  ber  oerfcßiebenen 
Iriebe,  .gurücfbrängung  be«  bei  einem  Sebewefen  fcßon  gu  einer 
Reflexhanblung  geworbenen  ®goi«mu«.  SBir  feßen  h^r  in  ber 
jpemmung  ber  Reflexbewegungen  am  einfacßften  auftretenb  eine 
©igenfcßaft  ber  ©roßhirnrinbe,  bie  ihre  Bebeutung  al«  oor* 
neßmfte«  Organ  in  un«  in  ba«  rechte  Sicht  fteßt.  ©ine  Reflex« 
hanblung  mag  oft  richtig  fein,  ficßer  aber  ift  fie  oft  falfcß. 
SBenn  ©ie  bei  ftarfem  SBinbe  unb  ©taub  uuwiflfürlicß  bie 
Äugen  fließen,  }o  hat  ba«  ja  feine  Berechtigung.  Äber  e«  ift 
falfcfj,  wenn  man  bie  Äugen  fcfßießt,  fobalb  gemanb  benfelben  in 
guter  Äbficßt,  g.  93.  um  einen  grenibförper  gu  entfernen,  bie 

$anb  nähert.  35er  gehler  befteht  bariit,  baß  bie  Reflex« 

<122) 


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13 


banblung  ju  allgemein  ift,  fie  lümmert  fiel)  nicht  um  beit 
fpejiellen  gafl.  3dj  erinnere  fyier  an  Eper«  oor  nidjt  langer 
^eit  in  ber  Naturforfcheroerfammlung  gehaltenen  ©ortrag  über 
allgemeine  ®enffehler. 

©otllommen  richtig  begrünbet  lann  uitfere  ©ewegung  nur 
bann  fein,  wenn  fie  aus  einem  Ueberlegungöprogeß  hetborgegangen 
ift,  ber  bie  fjanblung  genau  nnd)  bem  oorliegenbeit,  fpejießen 
gatte  einric^tet.  Sie  fehen,  e«  muß  eine  jroedmäßige  ©ewegung 
au«  ben  SRegionen  ber  ©orfteflungen  ihren  3mpul«  erhalten. 
3e  jahlreicher  biefe  gefammelten  ©orfteflungen  finb,  um  fo 
richtiger  wirb  bie  |janblung  au«faflen.  3)ie  ©runblage  ber 
inteflelhieflen  ©eroottlommnung  wäre  bemnacf)  bie  Erfahrung, 
gär  bie  Sjaltheit  unb  ©räjifion  ber  au«geführten  ©ewegung 
aber  offenbar  ber  $aftapparat  nöthig,  alfo  auch  SDZuSfel* 
gefühl  ic.  25ie«  erhellt  baran«,  baß  in  gällen,  in  beneit  bie 
fenfiblen  £eüung«bahnen  erfranft  finb,  in  benen  alfo  leine  Nach- 
richt oon  ber  Stellung,  SÄrt  ber  Bewegung  ic.  hinauf  in  bie 
|>irarinbe  lommt,  bah  in  folchen  gällen  bie  ^Bewegungen  unter« 
georbnete,  grobe  finb. 

Statt  wie  früher  mit  abgemeffener  ©ewegung  ju  gehen, 
ftampft  ber  Nüdenmartfchwinbfücfitige  auf  bem  ©oben.  3<h 
will  übrigen«  bei  biefer  Gelegenheit  bie  ©ebeutung  be« 
Nüdenwirbellanal«  mit  Nüdcnmarl  erllären.  2)iefe«  leitet 
einerfeit«  bie  ©efeßle  ber  Eroßhirnriitbe  h*nunter  ju  ben  ein- 
jelnen  Äörperregionen,  511  benen  burch  Seitenöffnungen  be« 
fRüdenmarttanal«  Neroenftränge  gehen.  Slnbererfeit«  gießen  ben 
umgelehrten  9Beg  nach  oben  anbere  Neroenbaßiten,  welche  bie 
ftattgehabten  Erregungen  jur  ^irnrinbe  tragen.  $ie  große 
Oeffnung  am  ©oben  be«  Schöbet«  bietet  bem  Niidenmarl  Ein- 
gang bejiehung«meife  3lit«gang. 

3ch  fagte  bereit«  am  Slitfang  be«  ©ortrag«,  baß  bie  Stellen 
bet  ifjirnrinbe,  ju  welchen  ba«  SRüdenmart  bie  Empfinbungen 

(123) 


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14 


trägt,  ober  üidmefjr,  in  welchen  auf  bie  ©enadjrichtigung  t>on 
feiten  be3  fRücfenmarfS  bie  bjtreffenbeit  (Jmpfiitbungen  ju  ftattbe 
fomnien,  mahrfdjeinlid)  hinter  ben  ©emegunggcentrcit  liegen,  ich 
meine  bie  ©d)eitelminbnngen  (gig.  I.)  $a§  toürbe,  bei  ihrer 

für  bie  roillfürliche,  ejrafte  ©emeguitg  erforberlichett  SJJitmirfung 
auch  gauj  flug  oon  ber  9?atur  eingerichtet  fein. 

Oebenfallä  betreten  toir  hier  juerft  fenforifdjen  ©oben  uttb 
bamit  baä  ©ercid)  ber  ©orftetlungen  xazltoy^v,  be£  ©efidjtS 
unb  beS  ©ehör3  — be3  Oiunbamentg  allerhöchfter  pftjchifrfjer 
*üf)ätigfeit. 

4pier  bie  SRinbenpartien  ber  |>intcrhauptlappen  (Jig.  I.) 
finb  als  Gentralorgaite  be$  ©eljeng  ju  betrachten.  SRathbem 
bie  iHehhaut  für  bett  Sichtreij  empfänglich,  moljlgemerft  nicht 
einpfinbenb,  ein  ©ilb  aufgenommen,  mirb  ber  SHeij  auf  ben 
©ahnen  ber  ©chneroeit  fortgeleitet  unb  tu  bie  @anglien3elle 
ber  §interhauptrinbe  eingebrüdt.  ,$ier  toirb  ber  ©etj  erft  in 
bemühte  ©mpfinbungen  umgefefjt  uttb  hier  bleiben  bie  Silber 
liegen  unb  bilben  ba$  3>epot  unfcrer  burd)  ben  ©efid)t3finn 
ermorbeuen  ©orfteDungen.  £a§  ©erhalten  ber  beibeit  hinter* 
hauptlappen  ober  oielmehr  ihrer  9iinbe  ju  bett  beibeit  Sftefchäuten 
ift  aber  bei  un8  ein  eigentümliches.  ©teilen  ©ie  fich  bie 
beiben  i)?e^^äute  ber  .'pinterbauptrinbe  gegenitberltegenb  t>or, 
bann  betrachten  ©ie  (fielje  gigur  111)  3.  ©.  bie  rechte  9ie&* 
haut.  Ohre  nach  redjtS  gelegene  §älfte  entfenbet  ©ehneroen* 
faferit,  b.  h-  2eitungSbrähte  311t  rechten  gegenüberliegenbeit 
Hälfte  ber  entfpredjenbcit  rechten  §interhauptriube.  Ohre  innere 
.'pälfte  entfenbet  gafertt  3ur  inneren  $älfte  ber  linfen  ^inter-- 
hauptrinbe.  ?lnalog  mad)t  cS  bie  linfe  Dlefcfjaut.  ©0  ift  bie 
©ehftörung  erflärlid),  meldje  burd}  eine  einfeitige  ^erftörung 
ber  .'pinterbauptrinbe  oeranlafjt  mirb.  ßerftörung  ber  rechten 
.^interhauptrinbe  mirb  eine  ©liubljeit  ber  äußeren  , 'pälfte  ber 
rechten  9?ehhaut  unb  ber  inneren  .tpälfte  ber  littfeit  sJIehhaut  3ur 

(124) 


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gofge  fjaben,  loä^re itb  bie  beibett  übrigen  .'pafften  ber  Seßtjäute 
fetjen.  Xie  umgefehrte  Seffftöruitg  finbet  fic^  natiirlid)  bei  3er’ 
ftörung  ber  linfen  §interhaiiptriube.  ©he  id;  meitergetje, 
möchte  idf  au  beit  Unterfc^ieb  jmifcheit  ißerceptiou  unb  Slpper- 
ception  erinnern.  ©$  ift  ltnä  fdjon  öfter  üorgefommeit,  baß 
nur  irgenbroo,  bei  einem  33efudje  3.  33.  geroiffe  Xiuge  gefehlt 
^aben  müffett,  3.  33.  bie  $rarbe  ber  Xifcßbecfe,  auf  bie  mir  bud) 
unfere  ,£>anbfchuhe  gelegt,  ober  bie  Xapete,  wenn  mir  aud)  nur 
einen  flüchtigen  3i(icf  inS  ßimmer  gettjau;  fiicßtftrahlen  ooit 
biefen  Xiitgeu  finb  offenbar  in  nnfere  Slugett  gefallen  unb  hoch,  al$ 
mir  fort  maren,  fiattcit  mir  feine  Sthnung  uoit  bem  3tu*fehen 
biefer  Xinge.  Xa$  roirb  fet)r  oieten,  mefleidjt  fdjon  allen  oon 
uuS  fo  ergangen  fein,  namentlich  meint  unfere  ©ebaitfen  ooit 
einer  mistigen  Sache  in  Slnfpruch  genommen  maren.  3n  biefem 
JaUe  mar  bie  SSahrnehmung  eben  eine  äußerliche,  eine  per* 
ceptioe.  Xie  Schleufen,  bie  311  beit  bem  Söahrgenommenen 
entfpretheuben  Sorftetlungen  führen,  maren  nicht  geöffnet.  Unfer 
©et)irn  ift  ein  ÜJtedjaniSmuS,  ber  311  einer  $eit  nur  nach 
einer  Sichtung  thätig  fein  fann.  Xretcit  3$orfteüungen  einer 
Sichtung  ununterbrochen  in  Xfjötigfeit,  fo  treten  bie  SSorftef* 
lungeu  anberer  Sichtungen  ebenfo  ununterbrochen  außer  Junf» 
tiott.  Xa3  fcßeinbar  gleichseitige  Jnnftioniren  jmeier  uerjdjie* 
bener  SorfteQungen  ift  nur  ein  fchnefleS  Sadjeinanber.  llr* 
fprünglich  finb  unfere  SBahrnehtnungen  al$  perceptioe  31t  bcnfeit, 
ba  anfangs  nod)  feine  33orfteflungen  in  unS  cjiftiren,  bie  erregt 
roerben  fönnten.  Xnrch  roieberljolte  ißerccption  mirb  bie  ©m= 
pnnbung  beS  ©efefjenen  eine  flarere.  233ie  35?ad)$  unter  ber 
forntenben  £>aitb  immer  meicher  mirb,  immer  meßr  bie  feinften 
Sinbrücfe  miebergiebt,  fo  mirb  auch  bie  ®anglien$eÜe  beu  oiclcn 
aiibräitgenbeu  ©inbrüefen  gegenüber  immer  gefdimeibiger,  bi3  fie 
ba$  ©ilb,  baä  bem  Seije  entfpricht,  in  notier  Klarheit  mieber- 
giebt, unb  fo  ooflenbet  bleibt  e3  in  ber  ©anglienjeEe  liegen. 


16 


Kefimen  wir  nun  etroal  mafir,  unb  ift  unfer  Sorfteßunglleben 
niefit  anbermeitig  in  Änfprudfi  genommen,  fo  gerätfi  bie  Sor- 
fteüuitg  bei  mafirgenommenen  ©egeitftanbel,  menn  fie  fcfion 
beponirt  ift,  ober  oertoanbte  Sorftellungen  ober  Sfieiloorftet* 
lungen  in  uni,  au!  benen  mir  bie  betreffenbe  ju  erjeugenbe 
Sorftetlung  jufammenfefien  fönnen,  in  ©rregung.  ®iefer  Vor- 
gang fieijjt  bie  Slppcrception,  bie  ©rfenntntfj,  fcfiöncr  gejagt 
Sßiebererfenntnijj.  ©ie  fefien  auefi  baraul,  bafj  man  SDinge,  oon 
benen  man  bie  entfprecfieube  ober  oermanbte  SorfteHung  nocfi 
niefit  in  ficfi  beponirt  fiat,  niefit  all  ©anje!  erfennen  !ann, 
baf?  man  fie  er  ft  fenneit  lernt.  ßum  finiten  2JfaIe  im  Saufe 
nuferer  Setraefitungen  fann  icfi  jagen,  ber  Soben  ber  ©rfenntnijj 
ift  bie  ©rfafirung. 

• Kacfi  bem  ©efagten  merbeit  ©ie  mir  oon  felfift  bie  grage 
beantroorten  fönnen:  2Bal  mirb  gefefiefien,  menn  burefi  einen 
Sraitffieitlfierb  bie  ©epotl  oon  Silbern  oerniefitet,  bie  ©teilen 
ber  einfadfien  SSafirnefimung,  ber  Sßerception,  aber  unoerfefirt 
finb.  SDfatt  mirb  oon  bem  ju  ©efienben  mofil  eilten  ©inbruef 
erfialten,  aber  bal,  mal  friifier  oon  biefetti  ober  einem  äfinlicfien 
Silbe  niebergelegt  mar,  ift  fort.  2Bir  erfennen  bal  ©efefiene 
niefit  mefir,  bie  Slpperception  fefilt.  ©olcfie  .guftänbe  ftrtfi  mit 
bem  Kamen  ©eelenblinbfieit  be^eiefinet  morben.  Patienten  mit 
berartigett  ©rfranfungen  maefien  oon  oorgelegtcn  ©egenftänben 
einen  ganj  falfcfien  ©ebrauefi  unb  benennen  fie  auefi  falfefi.  ©inen 
©efilüffel  nennen  fie  eine  gebet  unb  mollen  bamit  fefireiben. 
Uebrigenl  ift  bie  ©eelenblinbfieit  oon  Ktunf  experimentell  an 
Sfiiercn  erzeugt  morben,  oon  ifim  ftammt  auefi  bie  Sejeicfinung 
©eelenblinbfieit. 

Me!  bal,  mal  itfi  oon  ©eficfitlmafintefimuugen  unb  ©efiefitl* 
oorfteüungen  jagte,  gilt  oon  ben  ©efiörmafirnefimungen  unb 
Sorftellungen.  ©benfogut  mic  ein  Silb  fatm  mau  fiefi 

ben  ftlaitg  eine!  SBortel  oorfteÜen,  icfi  meine  rein,  nur  all 

(126) 


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17 


SHang,  ol)ite  an  beti  ^Begriff  beö  SöorteS  3U  benfeit.  (Sbeitfo 
fantt  man  fid)  eine  SDiclobie  einfad;  «orfteüen,  id)  erinnere  an 
bas  0?otenlefen.  3>ie  SBorftcDungen  beä  (M)ör3  nennt  man 
Ailangbilber.  Jie  Älangbilber  ber  SBorte  rufjen  hier  in  ber 
erflen  Schläfenwinbung  (fiefje  gigur  1).  §ier  werben  bie 
Schatleinbrütfe,  nad)bem  fic  in  (Sntpfitibung  umgefefct  ro erben 
fiitb,  bewahrt.  JaS  Jcpot  ber  illattgbilber  liegt,  wie  baS  ber 
SprachbewegungSbitber  nur  in  ber  tinfen  $ehiritf)älfte.  ®et 
3erftörungen  biefer  Stelle  prt  ber  Sranfe  wol)l,  er  percipirt, 
aber  ade«,  wa§  er  l)ört,  flingt  ihm  fo  unbefannt  wie  SBorte 
einer  fremben  Sprache;  er  merft  auf,  wenn  man  31t  if)m  fpridjt, 
aber  er  folgt  feinem  Sluftrage,  ober  tf)nt  etwas  gati3  aubereS, 
als  man  itjm  geheimen  l)at.  JieS  ift  ber  3uttanb  her  foge» 
nannten  SBorttaubljeit. 

23ie  Sie  fid)  (eicht  benfen  föitnen,  ftcljen  biefe  (Zentren  ber 
Älangbilber  in  bireften  SSejiehungen  3ur  Sprache,  ihrer  tjnt« 
wtdelung  uitb  SluSübmtg.  Sie  finb  ber  Söont,  aus  bent  ber 
■jRebner  fd)öpft,  ^ier  rufjt  ber  langfam  gefammelte  Sprachfdjaf), 
aus  ihm  mufj  ber  iüienfc^  bie  gerabe  31t  gebraitd)enbcn  SBorte 
fjeroorfjoten,  beim  er  will  fie  ja  fpredjcnb  nac^aljmen.  Jod) 
beoor  er  fprid)t  muß  er  wiffen,  wie  fie  fliitgen,  ob  iljr  ftlang 
bem  gleicht,  ben  er  er3eugeu  will.  Sie  feljen  bie  beibeit  üEBin- 
bungen,  bereu  Summe  ber  Si&  beS  iiufeereti  SpradiorganS  ift, 
eng  benachbart  bei  einanber,  in  ber  Jhat  bilben  fie  entwideluitgS< 
gefd)td)tlid)  eine  einzige  SBinbuug,  bie  erfte  Urwinbung.  Shee 
gunftion  ift  ber  Spradjbegriff  beS  SBorteS,  b.  h-  feine  Sprach» 
bewegungSoorftellung  unb  feine  ftlaugbilboorfteUung.  Jie  !öer» 
biubung,  bie  llffociatioti  ber  Sprad)bewegungS»  unb  Mlangbilb» 
oorftellungen,  übernimmt  bie  fogenannte  gnfel.  Sine  irgeubwie 
eingehenbe  Jarftcllung  beS  SpradporgaugeS  fann  id)  liier  nidtf 
geben,  nur  baS  (Slemeutarfte  fei  gefagt.  Sei  B (gig.  IV.)  ber 
au^ubriideitbe  SBegriff,  ber  übrigens  auatomifd)  nicht  einheitlich 

Sammlung.  S.  g.  V.  100.  2 (12?j 


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18 


lofaftfirt  ift,  feien  Bew  bie  (Zentren  ber  ©ewegungSoorfteüungen 
unb  Kl  bie  Sentreu  ber  ÄlangbilboorfteUungen,  bann  wirb  beim 
wittfürlicben,  fpracblicbcn  SluSbriiden  eines  ©egriffeS  non  B aurf) 
nad)  Bew  telegrapbhrt,  oon  Bew  aber  fdjnetl  nach  Kl  fjin  unb 
jurüdtelegrapbirt,  ehe  baS  SBort  auSgefprocben  wirb.  Ter 
Tepefdjenwecbfel  jwifcben  Bew  unb  Kl  pat  ben  3,DCC^  ^er 
Crientirung,  ob  bie  bon  B aus  jur  Tljätigfeit  befohlene  ©e- 
wegungSoorftetlung  audj  wirflid)  ber  ©citennung  B's  b.  b- 
feinem  Stlangbilbe  entfpricfjt.  ©pracbftörungen  werben  bemnad) 
entfteben,  wenn  ber  Girfel  B — Bew — Kl — B in  irgenb  einem 
©unfte  unterbrochen  ift,  natürlicf)  auch  bann,  wenn  ber  SRerüen- 
fompley,  welcher  bie  SewegungSbefeble  oon  Bew  weiter  ju  beu 
SIRuSfeln  trägt,  an  einer  ©teile  jerftört  ift.  StuS  ber  91atur 
ber  ©pracbftörungen  wirb  man  bann  fpejieH  auf  ben  ©i£  ber 
©rfranfung  fdjliefjen  föiuten.  Stuf  bie  feineren  ©pracfjöorgäitge, 
fowie  auf  biejenigen  beS  SefenS  unb  ©djreibenS  gebe  id)  pier 
nicht  ein.  Tie  Sitteratur  ber  ©pradjentwidelung  ift  eine  ^odjft 
intercffante.  Sogar  ©eigerS  ©eift  gerietb  im  Sladjbenfett  über 
baS  ©roblent  ber  ©pradjentwidelung  ins  ©cbwanfen.  3« 
feinen  ©petulationen  über  bie  girage,  ©ewufjtfein  ober 

bie  ©pradje  baS  primäre  fei,  fam  er  gu  bem  ©cbluffe,  jebeS 
oon  ©eiben  müffe  oor  bem  anbern  gewefcn  fein,  ©ie  geftatteu 
mir,  hier  meinen  eigenen  ©tanbpunft  gu  erf lären : 

TaS  ©emufitfein  üeroollfommnet  fidb  in  gleichem  ©cpritt 
mit  ber  ©erootlfommnung  ber  ©pracbe,  uitb  bie  ©pracpe  wirft 
ebenfo  gur  Sntwidelung  beS  ©ewujitfeinS,  wie  baS  ©ewufetfein 
gur  ©ntwideluug  ber  ©pracbe.  TaS  alte  ungelöfte  Problem, 
ob  ©pradje  ober  ©ewufitfein  baS  ©rimäre  fei,  ift  eben  unlös- 
bar, ba  nichts  oon  beiben  baS  ©rfte  ift,  fonbern  beibe  fich 
gleichzeitig  entwideln.  3cb  gebe  batjer  folgenbe  Tarfteünng  ber 
inbioibuelleu  ©pradjentftebung.  Tie  ©ewegungSoorgänge,  bie 

bei  ben  guerft  tjeroorgebraebten,  nicht  fprad)Iicbcn  Sauten  ftatt« 

(128) 


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19 


finben,  gefangen  aßmäf)lid)  iit3  ©ewufttfein,  ober  »iefme^r  e3 
bilbet  ficf)  ba£  ©ewufjtfein  biefer  ©orgänge  au3.  So  fomnteit 
junädjft  ©ewegung$*»orfteUungen  fiir  nicfjt  fpradßidjc  Saute  ju 
ftanbe,  jo  bafj  erft  jeßt  nnflfürli<f)c  Sautbcwegung  überhaupt 
möglich  ift.  3>ie  ^eranbilbung  be$  93eiou§tfeinö  madjt  eS  für 
6)ef)öreinbrücfe  wie  menjd)fi4e  fpracfjlic^e  Saute  empfänglich, 
unb  ©efjoröorfteüungcn  fommen  311  ftanbe.  $a$  Sliitb  fudjt 
nun  jeine  wißfürlic^e,  aber  nod)  nicf)t  fpradjlidje  Sautbilbuug 
bafjiit  ju  mobifijiren,  baß  bie  einzelnen  jelbft  Ijeröorgebradjten 
Saute  ben  gehörten  Sauten  ät)n(id)  werben.  3U  glei<f)er  3eit 
gelangen  bie  babei  ftattfinbenben  ©ewegungäoorgänge  in«  ©e* 
wufjtjein.  2)ie  üöüige  9?ad)al)mung  gelingt  aßmä^Iid),  unb  bie 
betreffenbe  ©ewegungsoorfteflung  prägt  fidj,  ba  fie  beibehalten 
wirb,  bem  ©ebädjtnijj  ein.  (Sbenjo  aber,  wie  in  ber  (Sntwicfe- 
fung  bie  Sprache  non  bem  ©ewufjtfein  fid)  uidjt  trennen  lägt 
jo  jinb  aud)  wä^renb  ber  fjödjjten  pjpd)ijc^en  Seiftungen  beS 
jd)on  entwicfeften  SJienjchen  ©pradje  unb  ©egriff  eng  oerfnüpft. 
£enfen  Sie  an  fofgcnbeS  ©d)ema  (ftefje  Jtg.  V.)  unb  Sie  werben 
ben  3ufainmen^au9  0011  Spröde  unb  ©egriffen  oerfteljen. 
34  ^atte  gejagt,  bafj  bie  oerjchiebenen  ©orftellungcn  be$ 
©efichts,  be3  ©ef)ör<3  tc.  an  oerjchiebenen  Stellen  best  ÖJegirnö 
niebergefegt  jinb.  Sie  jinb  untereinanber  burdj  Seitungäbrähte 
oerbunbeit  unb  jugleid)  mit  ben  Sentren  ber  Sprache,  jo  bag 
oon  jeber  ©orfteUung  aus  eilt  ©efeljf  jur  ©pradje  geljen 
famt.  $iefe  ©erf)ältnifje  werben  burd)  jolgenbe  3e>4llun8 
illujtrirt.  (#ig.  V.) 

£er  ©pradjbegriff  beä  SBortess  (©eweguugS’Stlaugbilboor* 
ftellung)  ijt  gier  einljeitlid)  bargeftellt  unb  ftegt  bem  Sad)begriff, 
ober  ©egenftanbäbegriff  gegenüber,  ber  auä  ber  Summe  ber 
©orftelluugeu  jiijammengejeßt  ijt,  bie  wir  oon  bem  ©egenftanbe 
haben. 

S'er  Sprac^begriff  be$  ©Jortes  ift  aber  ttocg  uidjt  im  ftanbe, 

2*  (129) 


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20 


bag  fpontane  ©predjen  j»  ermöglichen , er  ermöglicht  bloß  ben 
rein  äufjerfichen  ©pradpmrgattg,  alfo  ba§  finntofe  fflacßfpredjeH. 
@o  ift  ci  falfch,  bie  erfte  Urminbung  als  ©pradjorgan  im 
weiteren  ©innc  aufjufaffen  ©3  giebt  im  ©cßirn  feine  ber= 
artige  Unabßängigfeit  ber  Organe,  mie  am  übrigen  itörper,  and) 
(per  finb  fie  nicht  unabhängig  öoneinanber,  nur  unabhängiger, 
a(§  im  ©cßirn);  bie  fübbängigfeit  ber  einzelnen  (Jheile  uonein- 
anber  ift  im  ©ebirn  meit  größer,  ba  fie  nicht  bloß  burch  beit 
ßufammenßang  ber  Ernährung  bebingt  wirb,  ©o  aud)  in 
unferem  5°^-  Unfer  geroöhn(icße8  fpontaneS  Sprechen  uitb 
(Benennen  ift  a(fo  burcbanS  nicht  burdj  bie  Sntaftßeit  ber  erften 
Urtuinbung  gorautirt.  Qi  gehört  Daju  bie  (Berfttüpfung  biefer 
©ehirnpartic  mit  jenen  ©eßirntheifen,  in  meldten  bie  ben  (Begriff 
fonftituirenben  (Borfteflungen  beponirt  finb.  (Die  3nhl  biefer 
(Borfteßmtgen  fann  für  manchen  (Begriff  eine  ziemlich  große  fein. 
(Die  ©umme  berfelben,  rocldjc  je  einen  begriff  jufammenfefcen, 
fteßt,  roa§  ich  befonberS  betonen  miß,  in  gegenfeitigen  Abhängig* 
feitSDerßältniffen  jum  ©praeßbegriff  beS  28orte§.  ©3  ift  Don 
Söcrnicfe  nur  bie  ?(bßängigfcit  ber  ©pradje  uom  ©egenftanbS* 
begriff  herDorgeßobeit,  bie  Slbßängigfeit  ber  ©egcuftanbSbegriffe, 
ber  3nteßigenj  Don  ben  ©pradjbegriffeit  ber  SBorte,  b.  ß.  Don 
ber  ©pradje,  fogar  beftritten  morben.  SBeSßatb  fueßt  man, 
namentlid)  in  ber  SEBiffenfcßaft,  tuo  eö  auf  eine  Abgrenzung  ber 
(Begriffe  bcfonberS  anfommt,  aber  aueß  im  gemößnlicßcn  Sehen 
uad)  einem  SBorte,  itad)  einer  (Bezeichnung  für  aßel  ba§,  u>a$ 
man  al3  gefolgerten  ©egenftanbSbegriff  auffaffen  miß?  Qi  hat 
bie«  feinen  natürlichen  ©runb  barin,  baß  man  bie  (Dienge  Don 
(Borfteßuugeu,  me(d)e  man  Don  einem  ©egeuftanbe  befontmt, 
Zitmr  uutcreinanber  uerfiuipft,  baß  mau  aber,  ba  ein  Jßeil  biefer 
(Borfteßuugen  aueß  ju  anberen  (Begriffen  geßöit,  affo  mit  beren 
übrigen  (Borftcßungeit  ebenfaßs!  uerfiuipft  ift,  ba£  (Bebiirfniß 
hat,  eine  fefte  Stüße,  einen  feften  (BereinigungSpunft  für  biejenigen 

(130) 


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21 


BorfteHungen  ju  Ijaben,  welche  je  einen  Begriff  bilbeu.  ©iefer 
fe[te  Stüfipunft  beS  Begriffes  eines  ©egenftanbeS  ift  baS  SBort. 
@S  ift  gewiffermaßeu  ber  fRafymen  ober  ber  Stitt,  ber  bie  (ofe 
ju  einem  Begriff  bereinigten  BorfteHungen  jufammenf)nlt.  $aS, 
maS  id)  im  Schema  (gig.  IV.)  mit  15  bejeidjnete,  fei  bie  Bilb- 
borfteHung  eines  ©egenftanbeS.  Bon  il)r  aus  fömten,  iuie  noit 
jeber  anberen  jum  Begriff  gehörigen  Borftcllung,  olle  anberen 
BorfteHungen,  meldje  bett  Begriff  fonftituiren,  ßeroorgerufen 
werben. 

@S  ift  iiberfliiffig  unb  gezwungen,  ein  BegriffSrentrum  im 
Sinne  eines  beftimmten  DrtcS  anjunefimcn,  in  bem  alle  @igen> 
fdjafteu  eines  ©egenftanbeS  bereinigt  noef)  einmal  aufgefpeidjert 
finb.  21  He  BorfteHungen,  welche  einen  Begriff  jnfamntenfe^en, 

finb  an  berfdjiebenen  Stellen  ber  ©roßljirnrinbe  beponirt  unb 
miteinanber  oerfnüpft.  3ebe  berfelben  fann  bie  anberen  unb 
3ugleid)  bie  Spracfjc  innerbiren.  Sämtliche,  einen  Begriff 
fonftituirenbe  BorfteHungen  ftrömeu  alfo  im  2Bort  jufantmen 
unb  ifjr  lofer  ßufammenliang  finbet  erft  in  iljnt  eine  wirflid) 
fefte  Bereinigung. 

SSenn  mir  mit  Sactjbegriffen  operireit,  meint  mir  beuten, 
fo  ift  baS  nid)t  bloß  ein  Spiel  ber  bie  einjelnen  ©egenftänbe 
bilbenben  BorfteHungen,  fonbern  jugleic^  ein  SJiitflingen  ber 
Spradfbegriffe  ber  Söorte,  ein  inneres  Sprechen.  SSir  merben 
halb  feffeu,  baß  eine  ©rreguttg  . ber  Spradjbegriffe  fid)  nidjt 
immer  burd)  mirtlicßeS  Spredjen  311  bofumentiren  braud)t. 
UebrigenS  fpredjen  aud)  manche  ÜRenfdjen,  tuenn  fie  fid)  etwas 
emft  überlegen.  So  feiten  mir  Sad)begriff  unb  Sprad)bcgriff 
beS  SBorteS  im  gegenfeitigen  Gsinfluß,  in  Qntetligenj  unb  Sprad)e 
eng  berfnüpft.  $er  Spradjbegriff  ift  ber  Geutralpunft  l)öd)fter 
pfpd)ifd)er  Xfjätigfeit.  3n  ber  2lnlefjnung  an  if)n  gefd)iel)t  aud) 
bie  Gntmirfelung  ber  Borgänge  beS  SdjreibenS  unb  SefeitS,  er 
»ermittelt  ben  gufammenljang  biefer  Jtjätigfeiten  mit  ben  Sadp 

(131) 


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22 


begriffen.  (So  wirb  bie  Sprache  jum  ecfjten  bifferentiabbiag* 
noftifdjen  SDierfmal  beäs  bcnfenbeit  SRenfdjen  bem  Sfjiere  gegen» 
über  unb  erhält  aud)  oon  unferem  Stanbpunfte  eine  ©ebeutung 
jugemiefen,  mie  fie  if)r  »on  Spradjforfdjern  fdjon  längft  üinbijirt 
worben  ift. 

2(u3  bem  ©efogten  mirb  aucfi  erflärtidj,  baf?  wenn 
5.  ö.  bie  ©efid)t$Dorftetlungen  jerftört  finb,  eine  geroiffe  Spradj» 
ftörung  entfielen  mufj.  Soll  ein  feelenblinber  SRenfd)  einen 
©egenftanb  allein  nadj  bem  Slnfdjauen  benennen,  fo  märe  ilfm 
bas  unmöglich,  ba  ber  ©ilbrei$  feine  ©ilbüorftellung  erregt. 
$er  Üieij  fann  alfo  in  bie  ©ilbcentreu  nic^t  hinein,  alfo  aud* 
nicf)t  meitcr  jur  Snneroation  beS  SpradjbegriffeS  fdjreiten.  ®r* 
öffnet  man  bem  fRei^  aber  einen  anberen  Singang,  läßt  man 
ben  ©egenftaitb  betaften,  fo  mirb  er  gleicf)  benannt,  öorauSge* 
fejjt,  baß  bie  Saftüorftellungcn  unb  ifjre  £eitung£bal)nen  unoer* 
fetjrt  finb. 

So  tiaben  Sie  ein  ©ilb  Dom  Spiel  unferer  ©orftellungen 
untereinanber.  So  oerfdpeben  aber  bie  ©orfteQungSfombinationen, 
fo  oerfdjiebenartig  djarafterifirt  and)  bie  einjelnen  ©orftellungen 
finb,  ade  ftefjen  unter  einem  beftimmten  geitlidjen  ©ejefc.  Steine 
©orfteüuug  entftefjt  momentan,  jebe  entfielt  burd)  ein  hinein* 
anberfügen  ober  9?ad)einanberfügen  ifjrer  elementaren  2t)eile. 
$al)er  bebarf  jebe  ©orfteDung  einer  gemiffen  geit,  bis  fie  fertig 
ift:  ?lud)  baS  guftanbefommen  bcS  StlangbilbeS  ift  fein 
momentaner  ©organg,  fonbern  feine  Jbeile  merben  nacfjeiuanber, 
menn  aud)  in  fdpicücr  Speisenfolge,  IjcrDorgerufen.  Schließlich 
biirfeti  mir,  abfolut  genommen,  nid)t  einmal  eine  @efid)t§oor* 
ftellung  in  allen  iljrcn  feilen  gleichzeitig  entfteljenb  anneljmen.  @8 
unterjdjeiben  ficS  biefe  bei  ben  ©orfteHungSarten  ebenfo,  mie  bie 
entfpredjenben  aBahrnchmuttgcn  felbft  nur  relatio  in  ber  ®auer 
iSreö  äuftanbefommeuS.  Steine  Don  beibeu  entfielt  in  allen 
ihren  ^heilen  gleichzeitig.  ®ie  gemöfjnlid)  oerbreitete  Slnfidjt, 

032) 


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23 


welche  baS  Sehen  im  ©egenfafc  jum  §ören  als  einen  momentanen 
Borgang  auffafjt  unb  beSljalb  oon  einem  iRebeneinnnber  in  bcr 
SBirfung  ber  für  unfer  Singe  gefdjaffenen  Sunfttoerte  im  ©egen* 
fa$  $u  bem  ÜRadjeinanber  in  ber  SBirfung  fl.  ®.  oon  $on- 
ftücfen  fpridjt,  beruht  auf  ber  relativen,  nicht  abfolut  eingcrich- 
teten  StuffaffungS*  unb  ®enfweife  bes  SRenfcfjen.  SRiemalS  »er* 
mag  unfer  ©ehirn  jtoei  3)inge,  mögen  fie  nod)  fo  elementarer 
gorm  fein,  abfolut  gleichzeitig  aufjuf affen,  ein  getutffeS  fRad)- 
einanber  bleibt  immer  beftefjen,  cS  giebt  nur  Barietätcn  bcr 
Scfjnelligfeit,  biejeS  'Jtacheinanber  unb  biefe  ScfjnclIigfeitSbiffercHzen 
bilben  einen  toefentlichen  Unterschieb  gmifdien  ben  einzelnen 
SinueStoahrnchmungen,  refp.  ihren  entfprcchenben  SBorfteHungen. 

Unfer  $>enfen,  gemöhnt,  in  uns  felbft  ben  ÜRafjftab  für 
alles  ju  fuchen,  hat  b*e  fchneUfte  bcr  SinneSroahruehmungen, 
baS  Sehen,  jur  HReffung  aller  SinneStoahrnehmungcn  betiuht, 
unb  bamit  aitdj  ben  fd)itellftcn  SinneSoorgang,  baS  Sehen, 
gemeffen.  $a  eS  alfo  in  unS  feinen  fdjnelleren  Borgang  als 
bas  (Srbfitfen  eines  ©egenftanbeS  fanb,  hielt  eS  biefen  Vor- 
gang für  momentan,  ohne  zu  bebenfen,  baff  bcr  ÜRafjftab  felbft 
ein  Borgang  fein  fomtte,  mefcher,  toie  es  eS  eine  mehr  objeftioe 
Betrachtung  auch  toirflid)  zeigte,  auch  nur  nadjeinanbcr,  nid)t 
momentan  zu  ftanbe  fommt. 

3dj  ha&c  <Ufo  gejeigt , toie  uitfere  animalen  gunf- 
tionen,  Bemegung  unb  ©mpfinbung,  im  BorftellungSleben  gipfeln. 
3<fj  habe  erft  bie  BemegitngS«  unb  bann  bie  SinueSoorftellungeu 
ihrer  Bebeutung  unb  Sofalifation  nach  erörtert  unb  bann 
in  ber  Sprache  ein  Bilb  ooit  ihrem  gegenseitigen  SBirfeit  unter- 
einanber  ju  geben  oerfud)t.  ®aS  ift  bie  ©ruttblage  ber  mobernen 
ißfpchologie  unb  roirb  fpäter  bie  ©runblagc  ju  einer  tuirflid) 
elementaren  Sluffaffung  ber  fßfpchiatrie  merbctt.  5Der  Sprad)- 
foifcfjung  reicht  unfere  3)iSciplin  bie  £>anb.  Unb  menn  ein  auf-  ■ 
merffamer  Beobachter  in  bcr  Seeleublinbheit,  in  SBortoertucd)fc= 

(133) 


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24 


lungcn  2c.  guftiinbe  fiefjt,  bie  ben  Saieit  als  gciftigc  ©rfranfungen 
imponiren  fönneit,  bie  bitrd;  genaue  .ßerglieberung  fid)  aber  al& 
^perberfranfuitgen  entpuppen  unb  otjne  Störungen  ber  Senf« 
tfjcitigfeit  oerlaufen,  fo  toirb  aucf)  bitrd)  bie  fdjarfe  SegreujungS- 
fäfjigfeit  beffeit,  was  geiftig  gefunb  unb  roaä  geiftig  franf  ift, 
unfere  ®i$cipliit  ein  unentbehrliches  Imlfsmittcl  ber  SuriSprubeng. 

Sntereffant  ift  ba$  Sneinanbergreifen  ber  oerfc^iebenen 
©eifteSgebiete,  wenn  man  bebenft,  wie  and)  felbft  jebe  J^eil- 
funftioit  beS  ©eljirnS  auf  bie  anbereu  J^eitfunftionen  angeroiejen 
ift,  mie  tro{5  ber  fiofalifation  bie  einzelnen  fjunftionen  im  3u» 
fammenfjang  mit  beit  anbereit  mirfen.  3»  weiterem  Sinne  gilt 
hast  für  afte,  rcirflid)  nnatomifd)  unb  pijtjfiologifd)  im  geroiffen 
Sinne  gefonberten  Crgane  beS  SDlenfdjett ! 9?ur  in  Serbinbung 
mit  bem  Uebrigen  reiften  fie  baS  ihnen  Spejififche  unb  iljr  93er- 
ftänbnifj  ift  nur  möglich  oom  Stanbpunfte  allgemeiner  ffletradjtung. 


(134) 


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Gehirn  n berfliiche . 


II  risse  Substanz 


Hirnrinde 


Ins  el 


rivww  .<> 


Hirnrinde 


Hirnrinde 


II  risse  Substanz 


Bah  neu  der  Gesichts  ne 
der  Giiedbewrij 
Buhnen  der  Getuhlsnerven 


Fi cj.  II. 

tlo  rin  zon  tuls  chnitl 
durch  die 
Gross  fiirnhälfte 


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erven 


linke  Hinterhauptsrinde  rechte  Hin  t e rhu u p ts rin d c 


S e h //  <’  r vrn  ve  rlti  n /'. 


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Tastrarst. 


Fiy.VI. 

Ge  liifiiTie/ve  nveilnu 


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Antliroplogifdir  llntrrfn^ungrn 

ber 

ttJfljrjifltdjtiflcn  in  Itokn. 


s-ßoit 


<&tto  dmrnon 

in  ÄaiUrutje  nöabcn.'. 


Hamburg. 

Serlagöanitalt  urtb  ®rucfcrei  (oormatö  3.  g.  9tid)ter). 

1890. 


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®o i SHed)(  ber  Ucbfrfefcung  in  frembe  Spradjen  wirb  oorbe^allen. 


trutf  brr  SttlagSanfialt  imb  Srudfrn  *1  f titn 'CSirfrllfcftaf t 
iBormoIS  3.  J.  SB(djter)  in  $>amburg. 


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I. 

'©eit  Anfang  1886  ift  in  Sahen  eine  wiffeufd)aftlid)e 
Unterfliegung  im  ©ange,  welche  twn  ben  g-adpnännern  mit 
großer  Sfefriebigung  aufgenommen  unb  ingbefoubere  oon  ©et). 
Statt)  3)r.  ißirdjom  in  mehreren  Slnfpradjen  auf  ben  Safjreg- 
Derfammluugcn  ber  $>eutfd)en  ©efctlfd)aft  für  2lntt)ropologie 
in  Stettin,  Stürnberg,  Stoun  unb  Söien  alg  wiinfd)engmertt)eg 
3iet  für  alle  Staaten  bezeichnet  warben  ift.  3>ie  Unterfudjungeu 
werben  übrigeng  itidjt  burd)  ben  Staat  auggefüf)rt,  foitbern 
burd)  ben  &ar[gruf)er  Stttertfjumgüerein  mit  Unterftüftung  beg 
ÜJiinifteriumg  beg  itultug  unb  Unterridjtg,  ber  Xeutfdjen  ®e= 
feflfdjaft  für  Slntpropologie  unb  beg  Staturwiffeufdfaftl.  Sßereing 
$tarlgruf)e.  @g  mürbe  ju  biefem  gwede  eine  befonbere  Unter 
tommiffion  unter  bem  Storfifc  beg  ©eneratarjteg  35r.  non  öed 
ernannt.  fKitgtieber  waren  ©eneratar^t  a.  35.  3>r.  ^poffmanu, 
Cberftabgarjt  3)r.  ©ernet,  Stabtarjt  SDr.  SBilfer,  Ingenieur 
a.  35.  Otto  Stmmott,  meid)’  teuerer  zugleid)  bag  Schriftführer- 
amt  übernahm.  ®ie  ÄDmmiffion  befd)to&,  antt)ropologtfd)e 
Srtjebungen  fai  ber  SWafterung  ber  Söefjrpflidjtigen  burd)  bie 
fDtitglieber  3)r.  SBilfer  unb  Stminon  Dornetjmen  $u  taffen,  wozu 
ber  Storfifjenbe  bie  ©enetpnigung  beg  ©rofff)-  ÜJtinifteriumg  beg 
Snnern  unb  beg  fgl.  preufj.  förieggmiuifteriumg  erwirfte.  35ie 
Arbeiten  begannen  bei  ber  SOtufterung  1886  unb  Ratten  er- 
freulichen Fortgang.  3m  Saufe  beg  3ot)re^  1887  fd)ien  jebod) 

Sammlung.  “S.  3.  V.  101.  1*  (137) 


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4 


eine  &rifi«  $u  brohen,  ba  ©eneralarjt  dr.  uon  93ed  in  ben 
SRuheftanb  trat  unb  nadj  greiburg  iiberfiebelte,  uttb  and)  Cber* 
ftabSar^t  dr.  ©ernet  au«  ber  Äommiffion  au«fdjieb.  die&rifi« 
nmrbe  glüdlich  befcfjtüoren;  ©encralarjt  a.  d.  dr.  |>offmann 
übernahm  ben  Siorfifc  unb  ber  9Imt«nad)folger  be«  |>errn 
t).  Sied,  ©eneralarjt  dr.  ©ilert,  trat  in  bie  Äommiffion  ein. 
3m  3afjr  1888  mürbe  ©eneralarjt  dr.  o.  Sied  mit  feiner 
3uftimmung  »ieber  in  bie  ftommiffion  unb  jroar  al«  au«* 
»artige«  2Kitglieb  fooptirt,  unb  in  gleicher  öigenfd)aft  fam 
fßrof.  dr.  2Bieber«heim  in  ^reiburg  nen  ^inju. 

die  Strbeit  fetbft  ift  inbe«  feinen  Stugcnblicf  unterbrodjen 
gemefen.  3n  ben  Sauren  1887  unb  1888  »urbeit  bie  @r= 
Hebungen  bei  ber  fDiufterung  je  4—5  SSodjen  lang  burdj  bie 
beibeit  oben  genannten  üJfitglieber  oorgenommen,  im  Safjre  1889 
burdj  Slmmon  allein,  Sion  ben  52  2lmt«bejirfen  Saben«  finb 
bi«  jefct  30  mit  ruub  13  500  SDiattn  aufgenommen,  barunter 
6 oom  3af)r  1889,  für  »eiche  bie  ©tatiftif  noch  nidjt  ganj 
Dollenbet  ift.  den  folgenben  fDiitt^eilungen  liegen  fomit  24  Slmt«= 
bejirfe  mit  etwa  1 1 500  ÜJfann  ju  ©runbe.  Sion  ber  fDiannfdjaft«» 
jaljl  finb  be^uf«  gefouberter  Siehanblung  abju^iehen  bie  3§raeliten, 
ferner  alle  diejenigen,  welche  in  noch  uidjt  aufgenommenen  Sie* 
Juden  geboren  finb,  benn  e«  »erftebt  fiefj,  bajj  nicht  ber  jufäflige 
©efteHung«ort,  fonbern  ber  ©eburt«ort  für  bie  ©tatiftif  mag* 
gebenb  ift.  Slach  biefer  notfjtoenbigen  SSerminberuitg  bleiben 
für  bie  24  Slmt«bejirfe  9773  ÜDiann  übrig,  tnoöon  4710  SJiamt 
bem  jiingften  Sa^rgang  (20.  2eben«jafjr),  2986  ben  3,irüd* 
gefteHten  L (21.  £eben«jahr)  unb  2077  ben  3urütfgeftellten  II. 
(22.  £eben«jabr)  angeboren. 

Unter  ben  3urüdgeftellten  fehlen  bie  für  tauglich  unb  bie 
für  bauernb  untauglich  ©rflärten,  toe«toegen  biefe  beiben  3ahre^‘ 
flaffet;  nicht  al«  proportionale  Siertretuug  ber  ganzen  Sicoölferung 
aitgefehen  »erben  fönnen.  diefe  (Sigenfchaft  befifct  hingegen 

(136) 


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o 


ber  jimgfte  Jahrgang.  3»  bemfelben  fehlen  nur  diejenigen, 
welche  fid)  in  anberen  3)iufterung«be3irfen  fteHen  unb  bie  Sin* 
jährig -greiwißigen;  bieSrfteren  werben  burcf)  Uebertragung  jum 
dheil  ljereingebracf)t  unb  bic  fieberen  finb  auf  bent  Satibc  nidjt 
oott  erheblicher  3flhf-  28o  man  barauf  au«geht,  bie  Srgebniffe 
ber  Slufnahmeu  ju  oeraßgemeinern,  barf  ftet«  nur  ber  jüugfte, 
annähernb  ooßftänbige  Jahrgang  ju  ©ruitbe  getegt  werben, 
die  3uriicfgefteflten  finb  nur  au«hülf«weife  ju  betrügen,  föniten 
jebod)  h'eriu  fehr  ertminfcfjte  dienfte  leiften.  Sie  finb  3.  8. 
in  ber  ©rößenftatiftif  üon  ber  jungen  ÜHauufd^aft  oerfchieben, 
ebenfo  ift  bie  Skrtljeilung  ber  hfßen  unb  bunfeln  Pigmente 
etwas!  abweichenb;  bie  2lbftufuitg  ber  Äopfinbice«  ift  jebod) 
jo  nahe  iibereinjtimmenb  bei  allen  brei  Jahrgängen,  baß  man  hier 
unbebenflief)  bie  3of)fen  juntmiren  fault,  um  mit  größeren  Mengen 
ju  arbeiten,  bejw.  eittgehenber  fpecialifireit  ju  fönucn.  die« 
erflart  fid)  aüc«  jehr  einfach:  bie  ©röße  ber  'ßflidjtigen  fpielt 
bei  ber  8lu«wa(jl  ber  Siefruten  eine  |>auptroße,  ba«  '.pigment 
nur  infofern,  al«  bie  heßfarbigen  Ceute  laugfamer  wadjfen,  al« 
bic  bunfeln;  aber  nie  hat  matt  batwn  gehört,  baß  bie  9lu«* 
bebungsbeljörbe  fidj  barnaef)  gerichtet  hätte,  ob  ein  Sttaun 
bolichocephal  ober  brad)t)cephal  ift.  Srft  beim  Sinriicfen  ber 
Siefruten  fantt  e«  oorfontmen,  baß  ber  Äammerunteroffijier 
fich  herüber  ©ebanfen  mad)t,  wenn  ber  Siormalhelm  nicht 
auf  ben  Stopfen  feft  fißeu  will,  obwohl  bod)  bie  Umfang«* 
Stummer  ftimmt. 

die  Srgebniffe  ber  aitthropologifchen  Statiftif  laffett  fich 
am  beften  eimheilen  in  jwei  Stlaffen,  je  nadjbcm  fie  aßgemein 
(in  aßen  ©ejirfen)  auftretenbe  Srfdjeinungen  ober  lofale  93er* 
jdjiebenheiten  ber  Söejirfe  bejeugen.  ÜJtadjen  wir  mit  ben 
erfteren  beu  Slnfang. 

$11«  eine  überrafchenbe  dfjatfache,  bie  fid)  in  ben  brei 
iöerid)t«jahren  1886 — 1888  in  aßen  2tmt«bejirfen  mit  jwei 

(139) 


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6 


unbebcitteitben  3luguaßmen  wieberßolte,  ift  bie  SBernteßrung  bcr 
großen  fieute  unb  bie  SBerminberung  bcr  Ueinen  gegenüber  bcm 
25jäßrigen  Xurcßfcßnitt  non  1840 — 1864  ju  bejeicßnen.  9?ur 
im  ©ejirf  Stodacß  ftimmen  bie  jeßigen  imb  bie  früheren  ßaßlen 
überein,  unb  bie  öejirfe  Staufen  unb  SBeinßeint  Jjabett  fowoßl 
weniger  fileine,1  alg  aucß  weniger  ©roße,  fomit  meßr  Mittlere. 
3it  ben  23ejirfen  ®oitauefcßingen,  3>urlacß,  Sngen,  Sulingen, 
fiarlgruße,  fießl,  ftonftanj,  fiörracß  (fianb),  ÜHannßeim  (fianb), 
SWeßfird),  Sädingen,  Scßöitau,  Scßwefcingen,  Söolfacß  bleibt 
bie  SBerminberung  ber  kleinen  unter  10%,  beggleicßen  bie 
SBermcßruitg  ber  ©roßen  unter  9,5%.  hingegen  überfteigen 
bie  3af)fen  in  SBrucßfal,  ^eibelberg,  fiörracß  (Stabt),  Söiannßeim 
(Stabt),  StRün^eim,  ^ßfutlenborf,  Scßopfßeim,  Ueberlingen  biefen 
^Betrag  unb  erreichen  bag  2J?a|imum  in  SBieglocß  mit  23,2% 
weniger  fileinen  (eg  waren  1888:  15,9%,  1840—1864: 
39,1%  fifeine)  unb  15,5%  meßr  ©roßen  (1888:  31,1,%, 
1840—1864:  15,6%  ©roße).  ?lug  ©eobacßtunggfeßlern  unb 
3ufäßigfeiten,  welchen  bie  in  ßtebe  fteßenbe  Arbeit  natürlich 
aucß  auggefefct  ift,  läßt  ficß  biefe  immer  nur  nacß  einer  Seite 
eingetretene  SBerfcßiebung  uicßt  erffären.  ÜJtan  muß  alg  Xßat- 
facße  ßinneßmen,  baß  wir  jeßt  weniger  Heine  unb  meßr  große 
SBeßrpflicßtige  ßaben,  alg  in  früherer  3e*t-  ®er  ©cßluß,  baß 
bie  SKaffe  größer  geworben  fei,  wäre  jebod)  ein  $rugfd)luß. 
SBewiefen  ift  nur,  baß  bie  fieute  im  20.  fiebengjaßre  bureß* 
fdjnittlicß  größer  finb,  wag  aucß  fo  oiel  ßeißen  lann,  alg  baß 
fie  rafeßer  waeßfen,  ficß  rafeßer  entwideln;  unb  bieg  würbe  ficß 
ßinwieberum  aug  ber  oiel  befferen  Srnäßrung  uitb  fiörperpflege 
erflären.  Unfer  fianbbolf  cutwidelt  fieß  ja  überßaupt  oiel 
langfamer,  alg  man  gewößnlicß  annimmt,  unb  in  jebem  SBejirf 
finbet  man  fieute,  bei  benen  im  20.  3aßre  bie  Pubertät  noeß 
nidjt,  unb  jicmlicß  oiele,  bei  benen  fie  noeß  nießt  lange  ein* 
getreten  ift,  wäßrenb  in  ben  Stäbten  bag  14.— 16.  3aßr  ßierfitr 

(UO) 


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7 


bie  Siegel  bilbet.  Sludj  biefer  Unterfdjieb  famt  toieber  nur  itt 
bern  abtoeichenben  $$erhältnifs  be$  &räfteoerbrauch$  ^um  Kräfte* 
erfa§  — Slrbeit  uitb  Nahrung  — feine  Urfadje  haben.  3$on 
beit  im  SBadjätfjuin  ner^ögerten  Seuten  mufj  e$  früher  oiel  mehr 
gegeben  haben  als  je^t,  b a S bemeifen  bie  Tabellen,  fonft  nichts. 
£ajj  bie  au  ög  e mach  feit  eit  ÜKättner  je^t  eine  ^ö^ere  Statur 
erreichen,  märe  aber  erft  noch  ju  unterfucfjen.  Sch  glaube  nicht, 
bas  bieä  ber  Jafl  ift,  meil  eS  bent  fo  energifch  heroortretenben 
©efe&e  ber  ftrengen  Vererbung  ber  ©felettgröfje  roiberfprechett 
mürbe.  Sluch  habe  icf)  einige  ber  fnabenhaftcn  Subiuibuen  oon 
1886  bis  je^t  befonberS  beobachtet  unb  gefunben,  baf$  fie  fich 
halb  nachher  entmicfelteit  unb  jetjt  ihre  oorauSgeeilten  Äanierabeit 
an  ©röfje  unb  ©tärle  eingeholt  haben. 

(Sine  jroeite  merfmürbige  Jljatfache  ift  bie  eigentümliche 
©eftalt  ber  ©röfjenfuroe,  roelche  nicht  ein  Sliojtmum  in  ber 
SJlitte,  fonbern  ein  oberes  unb  ein  unteres  äRafimunt  mit  einer 
jwifdjenliegenben  (Sinfattlung  befi^t.  Sluch  Iper  hterrfcljt  faft  in 
allen  öejirfen  oößige  Uebereinftimmung,  nur  liegen  bie  beibeit 
'Ufajima  nicht  immer  an  ber  gleichen  ©teile.  Jfjeilt  man  j.  ö. 
bie  166  Üftanti  bes  jüngsten  SahrgaugeS  im  SlmtSbejirfe  Ueber« 
fingen  in  ©röfjeninteroalle  oott  3 ju  3 cm,  fo  finb  bie  Sßrojeute, 
roelche  in  jebeS  Snteroall  oott  1,84  m abroärts  fommen:  0,6, 


2,4,  4,2, 10,9,  21,1,  12,7,  21,1,  11,4,6,6,  5,4,  2,4,  0,6,  0,6; 
unter  1,45  in  roar  97iemanb  mehr.  (SS  ift  biefeS,  roie  oor> 
greifenb  bemerft  roerbett  foll,  ein  Sejirf  oott  oormiegenb 
alamanuifchem  ©epräge.  2)aS  obere  ÜKajimum  liegt  jroifdjen 

I, 69  unb  1,72  cm,  baS  untere  jmifchen  1,63  unb  1,66  cm, 
roähreub  in  bem  Sateroall  1,66 — 1,69  cm  toetiiger  Ceute 
roaren.  3”  bem  Sejirf  Söolfach,  mo  ber  Meine  ©chmarjtoälber> 
tppuS  oorroiegt,  finb  bei  186  2J{attit  bie  etttfprechenben  ißrojente 
oon  1,84  m abroärtS:  0,0,  0,5,  3,2,  2,7,  12,9,  19,3,  17,2, 

II, 3,  14,5,  5,4,  4,8,  1,6,  0,0,  3,2,  1,1,  0,5,  0,5,  0,5,  oor- 

(Hl) 


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8 


läufige?  Gttbe  bei  1,30  m,  bann  nodj  ein  $werg  öon  ,n- 
3)a?  obere  SRajimunt  liegt  b)ier  bei  1,66 — 1,69  m,  ba?  untere 
bei  1,57 — 1,60  m.  2>iefe  fonfequent  wieberfeßrenbe  ©rfdjeinung 
lägt  fid)  nid)t  mit  ben  UnuoQfommenheiten  ber  Uuterfud)ung 
abfertigen.  9Ran  muß  mit  ber  Ilfatfadje  rechnen,  baß  fid)  bei 
unferen  aSSegrpflicgtigen  jwei  ©rößentppen  au?prägeit.s  @?  ift 
mögt  feine  leere  ißljnntafie,  wenn  mir  ba?  obere  fDfafimuin 
auf  bie  germanifd)en  ©iuwanberer,  ba?  untere  auf  bie  roma* 
nifirte  oorgermanifdje  Qküölferuug  besiegen,  in  weldjer,  wie  wir 
fpäter  fegen  werben,  ein  runbföpfige?  unb  fdjwarjljaarige? 
©lement  ben  9lu?gaug?punft  gebilbet  gaben  muß.  2)enn  feine 
©igenfdjaft  ber  ©ermannt  ift  ficger  er  befannt,  al?  igve  Körper» 
große  gegenüber  ben  [Römern.  ©in  djarafteriftifdieS  ßeugniß 
giebt  3uliu?  ©äfar  im  ©allifcfien  Krieg  II  30,  wo  er  oon  ben 
bie  [Römer  oerlad)enben  Slbuatufern  fagt:  „SBir  fommcn  ifjnen 
wegen  unferer  Kleinheit  ücrädjtlid)  oor."  SBenn  geilte, 
1500 — 1600  3afjre  nad)  ber  ©inwanberung  ber  Hlamannen  in 
ba?  jefjige  [Baben  uod)  feine  oöllige  SBerfdimeljung  berfelbeu 
mit  ber  jweifeflo?  öorfjanbettcn,  igren  antgropologifcgen  ©influß 
auf  Sdjritt  unb  Jritt  beweijenben  oorgermanifcßen  ©eoölferung 
ftattgefunben  gat,  fonbern  bie  große  unb  bie  fleine  Statur  nod) 
immer  burd)fd)lagen,  fo  ift  bie?  einer  ber  fdpoerwiegenbften 
®eweife  für  bie  Konftanj  ber  Vererbung  ber  Körpergröße. 
2)ie  obige  SBemerfung,  beffere  ©rnä^rung  fönne  ba?  2öacf)3tf)um 
befcfjleunigen , aber  niegt  woßl  eine  größere  [Raffe  ßeroor» 
bringen,  wirb  nad)  oorftegenber  ißrobe  niegt  ungerechtfertigt 
erfd)einen. 


II. 

$!urd)  bie  SReffung  ber  Köpfe  unferer  SBegrpflicgtigen 
würbe  ein  beittlicgeS  Silb  gewonnen,  unb  jwar  jum  crftenmale 
auf  hinlänglich  breiter  ©runblage,  wie  bie  Kopfinbice?  ber 

(142) 


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9 


gegenwärtigen  Teutfdien  im  Sübweften  unfereS  ißaterlanbeS  be- 
gaffen finb.3  $ei  beit  großen  twrbanbenen  fahlen  bilben  bie 
auf  jebeu  einjetnen  3nbej  entfallenben  ^rojente  eine  oollfomnien 
ftetige  Stitroe.  Tpier  foflen  nur  bie  fßrojentjablen  ber  üou  5 ju 
5 anfteigenben  Snbejflaffett  angegeben  werben.  3ugleidj  füge 
id)  bie  3af)ien  für  675  altgermanifcf)e  ÜReibengräbcrtöpfe  an, 
welche  id)  babureb  gewonnen  fyabe,  bafj  icb  bie  oon  Stollmanit 
gegebenen  Scfjäbel  = SnbiceS  itad)  ®roca  um  je  2 Sinbeiten 


erhöhte : 

Jüngfttr 

Hilf  3 3<il)r8 

etfraian. 

(tnbfr 

'Ofntnmma 

3afirgang 

jiifamrnni 

SlfiSfnatdbfr 

4711)  Wann. 

K773  Wann. 

67Jt  «Soff, 

ij— 69,9 

.§t)perbolid)oceppat 

0,U4  % 

0,03  ®/o 

1,90°/« 

70-74,9 

Solicfjoceptjat 

0,90  %> 

0,80  % 

21,30% 

75-79,9 

SReiocepfjal 

14,90®/» 

15,10°/® 

45,00% 

80—84,9 

33rad)nccppal 

61,70®/® 

61,80»/» 

21,40% 

»5-89,9 

£t)pecbrad)t)ccpfial 

28,50  °/o 

28,90 »/« 

8.10  % 

9<J — 94  9 

llltrabradjpceptjat 

3,70  7» 

3,60  ®/» 

1 ,20  % 

95—101 

S{tccmbcncPiKepl)at 

0,30  7® 

0,30  7® 

— 

iUan 

erfennt  auf  baS 

flarfte, 

baß  in  llebereinftimmung 

mit  bem 

früher  ©efagteit 

bie  StopfinbiceS  ber 

3 3abr9önge 

ber  ©emufterteu  ganj  ober  bis  auf  wenige  $ebntel  ffirosent 
emanber  gleid)  finb,  baß  aber  jwifeben  ben  je^igen  ltub  beit 
altgermanifdiett  Stopfen  eine  bebeutenbe  Stluft  beftebt.  $ie 
jeeigen  stopfe  geben  oon  Sitbej'  68  bis  101,  ber  Sdjwerpunft 
fällt  in  bie  filaffe  ber  93rarf;Qcep^aIeu  (51,3%)  uitb  ber  |>öbe* 
pmitt  auf  3nbej  83  (11,7%).  ®ei  ben  ©ermatten  gingen  bie 
Rupfe  oou  Silben  66  bis  98,  bie  meiften  Stopfe  fielen  in  bie 
Riafje  ber  ÜDiefocepbalctt  (45,9%),  ber  fjäufigfte  Snbef  war 
77  110,6%).  37er  Unterfd)ieb  jwifcbeit  fonft  uitb  jeßt  wirb 
noch  größer,  wenn  man  bie  Srocafdje  tRegel  nicht  gelten  läßt, 
fonbem  ben  Stopfinbej  weniger  oon  bem  8cbäbelinbey  ab« 
roeicben  läßt,  worüber  ein  allgemein  auerlaitnteS  Verfahren 
nitbt  beftebt. 

(143) 


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10 


©3ol)er  bicfe  ©eränberung  ber  Sopfform?  3^er  erfte  ©e* 
banfe  ift  mofjl  ber,  bah  bie  fjö^cre  Kultur  btefelbe  bemirft  Ijabe. 
©eriitffidjtigen  mir  aber  bie  Sfouftaitj  ber  Vererbung,  bereu 
D?ad)t  wir  bei  ber  ftörpcrgröße  fenneit  gelernt  tjaben,  fo  ge* 
langen  tuir  ju  bem  Schluffe,  bah  and)  f)ier  nur  9laffenraifcf)uu8 
bie  Urfadje  fein  fann.  $>iefe  Änfidjt  tuirb  beftärft,  rcenit  mir 
feljen,  bah  bie  Sang*  uub  SRunbföpfe  in  bestimmten  geographifdjen 
©ejirfen  iljre  ÄuSftrahlungSmittelpunfte  befifcen.  £>iertmn 
Später. 

©oit  großem  SEBerth  märe  eS,  and)  bie  Cfjr*  3djeitelf)ü^e 
ber  Älöpfe  meffen  ju  fönnen,  mag  leiber  in  ber  furj  be* 
meffenen  3c>t  nicht  tfjunlic^  mar.  SDfatt  barf  bei  ber  ©e* 
urtljeilung  ber  babifc^cn  SDhifterungSerljebungen  nie  uergeffeit, 
bafj  babei  atleS  ungemein  rafch  oor  ficf)  geljeu  muh-  OberfteS 
®ebot  ift:  feine  ©erjögerung  beS  militärischen  ©efdjäfte«  ju 
öerurfachen.  SBeun  in  3—4  Stunben  etma  200  SJfann  ge* 
muftert  roerben,  fo  ift  leicht  au^urtchnen,  bah  im  2)urd)fd)nitt 
faum  1 SJiinute  auf  ben  9D?amt  fommt.  ©eim  jüngften  Jahr- 
gang, mo  über  bie  nieiften  Beute  eine  enbgültige  @ntfd)eibung 
nicht  gegeben  mirb,  ift  bie  $'urchfd)nitr«jeit  nod)  erheblich  fiirjer. 
Sänge  uub  ©reite  beS  SlopfeS  laffen  ftd),  nadjbem  biefer  fo  gut 
als  möglich  horizontal  geftellt  ift,  mittelft  eines  eigen«  fort* 
ftruirten  hölzernen  ßraniometerS4  in  jmei  ©riffen  abnehmen, 
mährcnb  bie  ©eftimmung  ber  Chr-8d)eitelhöhe  mit  bem 
©irchomfdjen  ftranionieter  gefchehctt  mühte  unb  jebenfaflS  etma« 
mehr  3e*f  erforbern  mürbe. 

©Ja«  bie  Äugen*,  §aar-  unb  Hautfarbe  ber  öemufterten 
betrifft,  fo  hat  Sich  folgenbeS  ergeben:  ©ou  ben  4710  ÜJiann 
beS  jüngften  Jahrganges  ha(  en  blaue  ®ugen  39,1%,  graue 
ober  grünliche  („gemifdjtc")  Äugen  38,7%,  braune  Äugen 
22,2%.  ©ei  ben  3»rüdgefteflteu  I.  uub  II.  ift  baS  ©erljältnih 
nahe  hiermit  übereinftimmenb.  ©ei  ben  ©irdjomfdjeu  Schul* 

(114) 


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11 


erhebungeit  waren  bie  entfpred)enben  3a^en  32,82,  30,52, 
36,28%.  Sine  birefte  SBergleichuitg  beiber  ffleobadjtungSreiben 
ift  nid)t  3u(äffig,  ba  bie  Schulerhebungen  ganz  Saben  umfaffen, 
bie  9)tufterungSerhcbungen  nur  etwa  bie  Hälfte  ber  AmtSbezirfe 
nach  ber  2Saf)l  beS  3ufaß8.  CSrft  wenn  auch  biefe  Arbeit 
oollenbet  fein  wirb,  laffen  fid)  auSben  Abweisungen  ©c^tiiffe  jie^eit. 

@3  ift  titbeffen  ju^ngebeit,  baß  bei  ben  SftufterungS- 
erßebungen  Diele  Augen  als  „gemifdjt"  rnbrijirt  würben,  weld)e 
ber  Sprachgebrauch  als  „braun"  bejeidptet  hüben  würbe,  ßum 
Serftfinbniß  fei  barauf  ßingewiefen;  baß  baS  braune  Pigment 
in  ber  3riS  felbft,  baS  blaue  (welches  eigentlich  and)  braun  ift,) 
jeboch  burS  bie  Interferenz  ber  yid)tftraf)len  blau  erfdjeiitt) 
in  ber  3fßfS‘St  hinter  ber  3riS  fi^t,  unb  baß  bie  Anorbuung 
beS  Pigmentes  eine  rabiale  ift.  ®laue,  graue,  grüne  unb 
braune  Augen  bilben  feine  fd)arf  getrennten  ©ruppen,  fonbern 
ber  Uebergang  üoHjieljt  fid)  ganz  aßmählid),  unb  jwar  in  ber 
3Beife,  baß  baS  braune  ißigment  ootn  ißiipiUarrattb,  baS  blaue 
Dom  Siliarranb  auSftrahlt.  3n  bent  blauen  Auge  zeigt  fief) 
manchmal  ein  grauer  ober  hellgelber  9iing  um  bie  ißupiöe,  ber 
einzelne  ßaeftn  in  bie  blaue  ijarbc  ^ineinfeuben  fann,  ohne  ben 
©efamteinbruef  „blau"  z»  beeinträchtigen.  SReidjen  bie  grauen 
ober  gelblichen  3atffn  fteruförmig  bis  z,un  Siliarranb,  fo  baß 
nur  blaue  Seftorcit  bajroifchen  übrig  bleiben,  fo  erfd)eiut  baS 
ganje  Auge  als  „grau".  2>aS  nächfte  Stabium  ift  ber  Ueber- 
gang beS  tßnpillatfterne#  Don  ber  hellgelben  zur  bunfelgelben 
ober  braunen  garbe;  bann  entfteht  burd)  baS  3ufammeuwirfett 
ber  bräunlichen  SRabien  mit  ben  blauen  Seftoren  ber  Iota!- 
einbruef  Don  „grün",  Sdjreitet  bie  iBermehrung  beS  bunfeln 
ißigmenteS  ber  3riS  weiter  fort,  fo  erfdjeiiten  felbft  in  näd)fter 
9?ähe  bie  ^toifc^cn  ben  braunen  3ac*en  ^upißarfterueS  be- 
pnbliSen  Seftoren  nidjt  mehr  blau,  fonbern  grün.  3u9le'^) 
werben  biefe  grünen  Seftoren  immer  Heiner  unb  ihre  Spifce 

(145) 


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12 


bleibt  jiemlid)  entfernt  dou  bem  ©upiUarranb.  Solche  SÜugett 
werben  Dom  ©prad)gebraud)  als  „braun"  bejeidjnet  ttnb  würben 
and)  non  2>r.  Sßilftr  in  bie  „braune"  SRubrif  gefegt,  wäbrenb 
id)  in  biefe  SÜubrif  nur  bie  febr  feiten  üorfommenben  rein  ^ell* 
braunen  ober  bunfelbrauuen  Stugen  bradjte,  welche  bei  genauer 
Seobadjtung  feine  grünen  ©eftoreit  metjr  erfcnnen  ließen. 
ÜJiit  foldjen  SJifferenjen  wirb  jebe  berartige  Arbeit  behaftet  fein, 
an  welker  mehrere  ©eobadjter  witwirfen,  ba  ©ebfcfjärfe  unb 
Jarbenfinn  ber  ©injelnen  nid)t  gleid)  finb.  ©ine  objeftioe  2lb* 
tbeilung  ber  SCugen  ift  auS  bem  ©runbe  äußerft  fcßwierig,  weil 
bie  ?lrt,  wie  bie  SßupiQarftrablen  uttb  bie  (ftliarfeftoren  an* 
georbnet  finb  (Diele  unb  formale  ober  wenige  unb  breite)  eine 
äufjerft  mannigfaltige  ift;  beinahe  jebeS  Sluge  ift  wiebcr  anberS 
unb  mau  müßte  faft  fo  Diele  SHubrifett  anlcgen,  als  man 
iicute  t)at. 

©effer  ift  bie  Slbttjeilung  ber  Haarfarben  gelungen,  inbent 
eine  Worntalbaarprobe  als  ©rcnjfarbe  ber  beiben  |>aupt» 
gruppen  „blonb"  unb  „braun"  aufgeftellt  würbe.  3Me  Sin» 
wenbung  in  ber  ißrajiS  bat  fid)  bewährt,  obwohl  audj  ^ier 
Diele  ftörenbe  ©inflüffe  fid)  geltcnb  madjen.  ®ie  Haare  er* 
fdjeineit  burd)  Jett  gläitjenb  unb  bunfler,  bureb  Xrocfenßeit 
matt  unb  geller  als  fie  finb;  meift  finbeit  fid)  an  beit  ©d)läfeu 
größere  ober  Heinere  ©ejirfe  fjeller  als  bie  übrigen.  $)ie  ©or* 
auSfebung,  baß  bie  Dorfontmenben  Haarfarben  eine  fortlaufenbe 
©fala  Dom  belüften  ©lonb  bis  jum  bunfelfteit  Schwär^  bilben, 
trifft  nicht  ju.  ©erabe  au  ber  ©rettje  Don  ©lonb  unb  ©raun 
finbet  eine  jienilid)  breite  feitlicße  Stbweidjung  ftatt,  inbem  bie 
Jarbe  bei  im  allgemeinen  gleicher  ©tärfe  ber  ©igmentirung 
mehr  in  baS  9tött)licbe  ober  mehr  in  baS  Slfdjfarbene  fcblagen 
fanu,  wobei  wieber  ganj  admäßtieße  Slbftufungen  ftattfinben. 
©on  Heüüblonb  ju  Scbwarj  giebt  eS  unenblicb  Diele  UebergangS- 
reiben,  bereu  iiußerfte  Umfaffungen  bezeichnet  finb  bureb: 

(146) 


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13 

orangeblonb,  rotfjblonb,  rotf),  braunrot!),  rotfjbraun  einerfeite 
unb  afcfjbloitb,  graubraun,  buttfelgraubraun,  braunfd)mar$, 
anberfeit».  9iur  in  ben  (Jnbpunften:  weifjblonb  unb  fo^I« 
fdjroarä  treffen  alle  öaljnen  toieber  jufammen.  ffiie  man  fiel)t, 
finben  in  biefem  Spftem  ancf)  bie  rotten  $aare  i^re  gefeß- 
mäßige  Einfügung,  wäljrenb  fie  fonft  ganj  getrennt  bnpiftelfen 
feinen.5 

SBlonb  mären  beim  jüngfteit  galjrgang  52,4%,  braun 
42,3%,  jcfjwarj  (eiitfdjl.  brauwfcfjwarj)  5,8%,  rotf)  1,4%. 
Sei  ben  ßnriicfgeftellten  finb  2 — 3%  roettiger  Sölonbe  unb  mefjr 
Xunfle.  $ie  3a^en  ber  6djulerl)ebungen  finb:  58,02,  38,76, 
2,57,  0,27%.  öei  ber  S3ergleid)ung  lann  menigften«  fo  oiel 
fonftatirt  roerben,  baß  bie  gafjlenreilien  ber  befannten  Tfjatfadje 
bes  9lad)bunfeln«  ber  |>aare  mit  bem  fortfdjreitenben  Filter 
nic^t  wiberfpredjen. 

Seljr  fd)mierig  ift  es,  für  bie  Hautfarbe  eine  allgemeine 
Sejeidjmmg  geben,  jdjou  be«megen,  weil  fie  uidjt  am  ganjen 
Körper  gleich  ift  unb  bann,  weil  äußere  Umftänbe,  wie  bic 
Temperatur  be«  3*mmer3,  bie  $e£ligfcit  beäfefbcn,  mefjr  ober 
weniger  langet  §eritmftef)en  ber  entfleibeten  2eute  ba«  §lit«fel)en 
beeinfluffen.  T)a  ift  natürlich  ber  fubjeftioen  8d)äßung  ein 

große«  gelb  eingeräumt.  18 on  bem  jüngfteit  Safjrgang  finb 
als)  wei§  (einfdjl.  gelblidjweijj)  bejeicf)net  79,9%,  al«  braun 
20,1%;  bei  ben  8d)ulerl)ebuugen  waren  bie  3°^en  86,98% 
unb  12,64%. 

6«  finb  nun  bie  wichtigen  grageit  31t  beantworten:  Sßeldje 
ffie^felbejie^ungen  hefteten  jmifdjen  ©riiße,  Kopfinbej,  Slugen-, 
§aar>  unb  Hautfarbe?  Sinb  bie  ©ro&eti  immer  ober  bod) 
oorwiegenb  bolidjoib,  bie  Kleinen  runbföpfig?  Vertreten  bie 
©rofjett  ben  blonbett  $t)pu«,  bie  Kleinen  ben  brünetten? 
Sud)  hierüber  geben  bie  ÜJOtfterungSerfjebungen  bereitwillig 
Sufidjlnfj. 

(147; 


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14 


III. 

3mifd)en  ber  ©röße  bcr  £eute  mib  ißrer  ©djäbelform, 

a(fo  jtuifcfjcn  jwei  ©feletteigenfdjaften,  beftetjt  eine  beftimmtc 
SBedjfelbeäießung ; eine  anbere  93?ed)jelbejief)ung  befielt  $wifdjen 
beit  ißigmentfarben  oott  Singe,  §aar  unb  frnut  unter  fiel). 
3mifcf)cit  jenen  ©feletteigenfdjaften  eitterfeitS  unb  biefen  Pigment* 
färben  anberfeits  befielt  aber  eine  Söecfjfelbe^iefjung  nießt. 

foft  fogleid)  nadigewiefen  werben. 

3m  oorigen  Slbfdpiitt  würbe  mitgetßeilt,  wie  oiel  ißrojent 
non  beit  Stopfen  in  jebe  Snbcjflaffe  fallen.  Unterfudjt  tnan 

nun  weiter,  wie  »ielc  l'eute  in  jeber  3nbejflaffe  groß,  mittel 

unb  flcin  (immer  im  ©inne  oon  3.  jRanfe)  finb,  fo  ergeben 
fief)  nadjfteljenbe  SReifjen: 


1 ii  finb  fflrofcc: 

SRittlrre : 

Steint: 

bei  bcu  Tolidioccptjalcit : 

40,0  7» 

42,5  ’/o 

17,5  7« 

„ „ 9Jtefocept)<ilen: 

26,7  •/» 

50,1  7«» 

23,2  7o 

„ „ ^3rac^l?ccp^aten : 

•24,9  7o 

48,0  7o 

27,1  7« 

„ „ .ptu>erbrad)t)ceoI)a(cn : 

19.2  7« 

49,6  7» 

31,27» 

„ „ lUtrabracffpccp^atcn: 

16.6  •/« 

44,3  7« 

39,1  7» 

©ei  beit  mittleren  Stopfffaffen  finb  bie  mittelgroßen  Seute 
am  ftärfften  oertreten  (48 — 50,1  %);  bei  ben  ®olid)ocepf)alen 
finb  40,0%  ©roße  unb  nur  17,5%  Stleine,  wogegen  bei  ben 
Ultrabradjtjcepljafen  baa  ©crfjälttiiß  faft  genau  umgefefjrt  ift. 
©oit  bett  $>olicf)ocepf)alen  ju  beit  Ultrabradjpcepfjaleit  nehmen 
bie  ©roßen  ftetig  ab,  bie  kleinen  ftetig  ju.  @3  ift  jwar  nid)t 
fo,  baß  alle  Sangföpfigen  groß,  ade  9iunbföpfigett  flein  finb, 
aber  unter  ben  erfteren  befinbett  fid)  23,4  % meßr  ©roße  al§ 
unter  ben  letzteren  unb  unter  biefen  21,6%  mefjr  kleine  als 
unter  jenen. 

©orlciufig  nnentfdjiebcn  bleibt  bie  gra9G  bie  ©er« 
binbung  oon  ©röße  unb  fiongföpfigfeit  bei  unferer  heutigen 

(148) 


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15 


SBeoölferung  ein  ©rbftücf  oon  bcn  alten  ©ermatten  ift,  ober  ob 
ein  allgemeines  SBacf)öt^nmlgefe§  bicfe  2Bed)jelmirfung  bebingt. 
$ie  festere  ?lnttahnte  mürbe  feljr  einfad)  erflären,  roie  bic  ©er» 
maneit  langfüpfig  gemorben  fiitb.  2)ian  fann  fid)  root)l  oor» 
[teilen,  bajj  ein  friegerijd)e3  unb  recfenfjafteS  bolf  burd)  natiir» 
Itcfje  nnb  [efuelle  gudjtmahl  einen  fjofjen  2Bud)ö  ermirbt,  nid)t 
aber,  melden  iöorttjeil  in  bem  Santpfe  umä  2>afein  bie  lange, 
fd)male  g°rm  ÄopfcS  gewähren  möd)te.  Sßürbcu  fid) 
©röjjc  unb  Sangföpfigfeit  gegenfeitig  anatomijd)  bebingen,  fo 
mären  bie  ©ermanen  einfad)  beömegeit  bolidjocephal,  meil  fie 
grofj  finb.  £abci  ift  jebod)  nid)t  ju  iiberfef)en,  baß  Slfien  unb 
^olpnefien  bölfer  oon  fleiner  Statur  unb  ^eroorrageuber  Saug* 
föpfigfeit  aufmeifeit,  eine  2:^atfad)e,  welche  ber  Sinnahme  eines 
jo(d)en  ©efe^eS  miberfprid)t. 

©ine  nahe  berroanbtfdjaft  beftefjt  anbevfeitö  jmifd)eu  beu 
gleichartigen  Slugeit*,  §aar»  unb  Hautfarben.  @o  finb  3.  ®. 

Hont)  braun:  fcfiwarj: 

3m  aQgenteinen : 52,4  % 42,3%  5,8% 

93ei  bcn  ^Blauäugigen : 80,1%  18,6%  1,3% 

„ „ Sraunäugigrn : 22,5  % 69,2  % 8,3  % 

JSeiBljäutig  finb  im  allgemeinen  79,9%,  braunhäutig 
20,1%,  bei  ben  blauäugigen  aber  90,0  unb  10,0%,  bei  beit 
braunäugigen  65,3%  nnb  34,7%. 

bei  ben  blonbfjaarigen  finb  meißhäutig  89,5  %,  braun* 
Ijäntig  10,5  %,  bei  ben  braunhaarigen  70,1  % unb  29,9  %, 
bei  beit  ®d)war3hanrigeu  53,4  % unb  46,6  %. 

$ie  rotheu  §aare  fommcit  mit  jeber  Slugettfaibe,  jebod) 
nur  mit  weißer  Hautfarbe  oerbunben  oor.  üfteift  jeichtteu  fid) 
bie  9iotf)haar*Seu  burd)  M)r  twifec  Haut  unö  jahheiche  Som» 
meriprofien  aus. 

Halten  mir  unö  iunädjft  au  bie  HanPtfrtr^,etl : blaue,  ge» 
mifchte  unb  braune  Slugen,  bloube,  braune,  fchmar^e  Hüare/ 

(140) 


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IG 


weiße  unb  braune  §aut,  fo  laffen  fid)  barauä  3x3x2=  18 
Kombinationen  (Kategorien)  bilben.  Sei  beit  ©djuterf)cbungen 
fjat  man  bie  fettencr  tiorfommeuben  Kategorien  weggetaffett  unb 
fid)  mit  11  berfelben  begnügt,  itt  welche  bie  Schüler  einju- 
reißen  waren.  2Sir  ßabcn  bei  uitferen  SDiufteruugSarbeiten  alle 
18  Kategorien  beibeßalten,  aber  ben  11  ber  ©d)ufcrt)eubngeit 
bie  bort  angewanbten  Hummern  betaffen  (um  Serwecßfelungen 
ju  oermeiben),  unb  bie  neu  ^injugefommeneit  mit  a unb  b 
gefennjeidjitet.  2)ttrd)  Trennung  ber  Kategorien  itt  „©roße", 
„SKitttere"  unb  „Kleine"  ergiebt  fid)  fotgenbe!  ©cßetna: 


8 c i <6  c ii . 

ttugen. 

M at  e g ori( . 
$aarc. 

jpaut. 

(Uroftdt 

$ro,itnt  ber 
®liltltren : 

«leinen 

1 

blau 

blonb 

roeiß 

29,8 

27,4 

30,0 

la 

„ 

rr 

braun 

2,0 

2,1 

2,0 

2 

n 

braun 

roeiß 

4,3 

6.3 

5,4 

3 

er 

rr 

braun 

1,8 

1.6 

1,3 

3a 

fcfjroarj 

mein 

0,5 

0.2 

0,6 

3li 

rr 

rr 

braun 

0,2 

0,2 

0.1 

4 

gemiiefjt 

blonb 

roeiß 

12,8 

14.1 

15,2 

4a 

„ 

rr 

braun 

2,2 

2,9 

2,1 

5 

n 

braun 

roeiß 

14,5 

12,7 

13.2 

6 

« 

braun 

3.9 

5,0 

5.2 

6a 

„ 

j^iuars 

roeiß 

1,9 

2,5 

2,0 

7 

M 

„ 

braun 

1,3 

1,3 

1,5 

8 

braun 

blonb 

roeiß 

3,3 

5,1 

3.0 

8a 

ff 

•* 

braun 

0,9 

0,7 

0,1 

9 

„ 

braun 

roeiß 

11.2 

9,2 

8.4 

10 

rr 

braun 

5,5 

6,0 

5,6 

10a 

„ 

idjiuor^ 

roeiß 

1.1 

0,6 

0.7 

11 

„ 

braun 

09 

0,9 

1,5 

Ütbgefetjen  oott  Keinen,  burd)  ßufälligfeiten  bebingten 
©cßwattfungen  geigt  bie  fabelte,  baß  bie  18  Kategorien  über 
©roße,  9JJitttere  unb  Kleine  gleichmäßig  oertßeilt  finb.  35a§fetbe 
ift  ber  $aQ/  roenn  matt  bie  Stugen*  unb  Haarfarben  einzeln 
betrachtet,  ©o  betragen  bie  blauen  Stugen  bei  ben  ©roßen 

(150) 


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17 


39,7  %,  Mittlern  38,2  %>,  kleinen  40,2  %>,  bie  braunen 
Äugen:  23,4  %>,  22,9  °/o,  20,1  %.  Slonbe  fjaare  ßatten 
bei  ben  ©roßen  51,7  %,  Mittleren  52,1  °/0,  ft  (einen  53,6  %; 
braune  .paare  37,9  %,  37,1  %,  34,9  °/o.  .frier  ift  ein  deines 
Ueberwiegen  ber  gellen  garben  bei  ben  Siebten,  ber  bunfelit 
bei  ben  ©roßen  gu  bewerten,  alfo  ba$  ©egentßeil  non  bem, 
wa£  matt  woßl  erwarten  fonnte.  $ieS  rüßrt  aber  nur  üon 
bem  fcßon  berührten  Umftanbe  ßer,  baß  bie  ßeflpigmentirten 
Seute  ßäußg  langsamer  wacßfen  al$  bie  buttfeln.  Sei  ben 
Surücfgefteüten  I.  unb  II.  finb  bie 3a^Ien  ^er  blauen  Äugen: 
39,2  %,  36,2  %>,  36,4  % unb  37,3  %,  37,1  %,  36,8  %, 
bie  ber  blonben  fraare  51,9  %>,  50,2  %,  49,7  % unb  49,9  %, 
50,6  %,  51,6  %,  wo  alfo  ber  Unterzieh  fcßon  beinahe  aus» 
geglichen  ift.  Silben  bie  3wmcf9efteßteTl  aucß  feine  »olle 
SaßreSfcßicßt  ber  Seoölferuitg,  fo  fönnett  fie  bocß  bei  ber 
Trennung  in  3 ©rößenftufen  mit  Kuweit  ßerangegogett 
werben. 

®aS  SRicßtoorßanbenfein  einer  SBecßfelbegießung  gwifcßen 
©röße  unb  ißigmentirung  läßt  ficß  im  gufanuncnßalt  mit  ben 
früßer  bewiefenen  2ßatfacßen  leicßt  oerfteßen  uttb  toibcrfpricßt 
feineSwegs  ber  Ännaßme,  baß  unfere  ßeutige  Seüölferung  im 
wefentlicßen  aus  gwei  frauptbeftanbtßeilen,  einem  großen,  boli» 
cßocepßalen,  ßeüen  unb  einem  deinen,  ruttbföpfigen,  bunfeln 
ßeroorgegattgen  ift.  ®er  Saß  beweift  nun:  1.  baß  bie  ©röße 
unb  bie  ßefle  garbe  ber  germattifcßett  unb  fonftigen  arifcßett 
Sölfer  nicßt  ber  näm ließen  Urfacße,  fonbertt  oerfeßiebenen 
Urfacßen  ißre  ©ntfteßung  oerbanfen  unb  2.  baß  ©röße  unb 
^igmentirung  fuß  getrennt  »ererben.  2>a$  Seßtere  ift  aueß 
wieber  ganj  natiirtieß.  Sei  einer  Sermifcßuttg  gweier  SRaffen 
fann  uttmöglicß  ein  Ißeil  alle  feine  SRaffencßaraftere  unter 
oottftänbiger  Äußerfraftfeßuttg  ber  Sßaraftere  beS  anberen 
XßeilS  auf  bie  SRacßfommen  oererben.  Sielmeßr  miiffen  bie 

Samnilnita  W.  R.  V.  101.  ü (IM) 


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18 


fRaffencßaraMere  iit  ben  fRacßfommen  burcßeinanber  gemilcht 
erflehten  unb  jroar  fo,  baß  einerfeitS  ©röße  unb  Kopfform 
(©fefetteigenfcßaften),  anbererfeits  Singen*,  Haar*  unb  Hautfarbe 
eine  geroiffe  33erroanbtfcßaft  ju  einatiber  beibeßalten,  bie  crfte 
unb  bie  jroeite  ©ruppe  jcbocf)  gang  roiHMirlicß  miteinanber 
Berbunbeit  roerben.  33eifpielStoeife  roerben  aus  ber  3$ermifcßuug 
Bon  ©ermanen  mit  einer  Meinen,  runbföpfigen,  brünetten  fRafje 
in  ber  erften  ©eneration  folgeube  Hauptoarianten  ju  erroarten 
fein:  groß  unb  brünett,  Mein  unb  bfonb,  feltener  mittelgroß 
unb  hellbraun  ober  bunfelblonb.  daneben  fönnen  aber  noch 
in  abfteigenber  .fjäufigfeit  oorfommen:  große  blonbe  fRunbföpfe; 
Meine  brünette  Saitgföpfe,  blauäugige  mit  bunfelm  unb  bunfel* 
äugige  mit  gellem  $aar  u.  f.  w.  u.  f.  ro.  $uS  ben  großen 
SSrünetten  unb  Meinen  33lonben  folgen  in  ber  jroeiten  ©eneration 
mieber  große  33lottbe  unb  Meine  33rünette,  rooßer  fieß  bie  ßäufig 
oorfommenbe  SSaßnteßmung  erffärt,  baß  Kinber  auf  ben 
2ßpuS  ber  ©roßeitern  „juriicffcßlagen".  ÜJJit  jeber  ©eneration 
roerben  aber  bie  reinen  Jpoen  ber  beiben  urfprünglicßen  SRaffcn 
feltener,  bie  SPiifcßtßpeu  jeber  möglichen  Kombination  ßäufiger, 
bis  ju  folcßer  SJetaiflirung,  baß  j.  33.  blonbeS  ^auptßaar  mit 
feßroarjen  Slugbrauen  ober  ßeHbloitbc  Slugbrauen  mit  feßroarjen 
3öimpern  fombinirt  beobachtet  roerben.  9ladj  einer  Berßältniß- 
mäßig  Meinen  Slnjaßl  oon  ©enerationen,  roelcßc  jebenfaHS  feit 
©inroanberuitg  ber  ©ermanen  in  3>eutfcßlanb  feßon  Iängft 
überfeßritten  ift,  muffen  bie  ßeHett  unb  bunfeln  fßigmente  über 
alle  ©rößenftufen  gleichmäßig  oertßeilt  fein,  roie  eS  tßatfäcßlicß 
gefunben  roirb.  Slber  feßr  lange  roirb  eS  bauern,  roenn  eS  je 
baßin  fommt,  bis  aueß  alle  Kopfformen  mit  allen  ©rößenftufen 
unb  alle  Slugenfarben  mit  allen  Haar»  unb  Hautfarben  in 
gleiten  Sfntßeilen  Berbunben  fein  roerben.  ©elbft  bann  roirb 
unter  ben  an  $aßl  juneßmeuben  Kombinationen  immer  roieber 
aueß  biejenige  ber  beiben  Urtppen  oorfommen;  bereu  fßrojent* 

f1S2> 


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19 


antfjeil  wirb  nur  immer  Meiner,  aber  niemals  werben  bie  „Sfiüd* 
idjläge"  gang  auSbleiben,  niemals  wirb  eine  „SDiifchraffe"  ent* 
fielen. 

Sei  biefem  Sßunfte  unfercr  Setradjtung  angelangt,  fragen 
mir  unmiHfürlidj : wie  Diele  Don  ber  Sircfjowfc^eu  Kategorie  1 
(blau,  blonb,  weife)  finb  benn  zugleich  grofe  uitb  bolidjo* 
ober  mefocepljal?  Um  für  biefett,  burefe  fünf  ©igenfehaften 
ebarafterifirten  DppuS  nicht  eine  mehr  ober  weniger  anfechtbare 
etbnographifdje  Bezeichnung  anwenben  $u  ntüffen,  nenne  ich 
benfelben  DppuS  A.  3it  Setracfet  fommen  hierbei  4665  SDiann 
ftatt  4710,  weil  bei  45  SDiann  aus  Serfefeen  bie  Hautfarbe 
nicht  angegeben  würbe.  Son  biefen  finb  Äategorie  1 : 1338 
SDiann  = 28,7  °/o.  ©rofe  unb  bolichoib  finb  208  SDiann, 
bieroon  Kategorie  1:  61  SDiann  = 30,0%.  Diefe  61  SDiann 
fteUen  beit  DppuS  A nor. 

Suf  ben  erften  Süd  erfcheint  bie  3“hi  81  fehr  M«n,  aber 
man  braucht  nur  bie  Sßrojentjahlen  ju  beachten,  um  fid}  zu 
überzeugen,  bafe  biefe  in  ftrenger  ©efefemäfeigfeit  ben  bereits 
itachgewiefenen  2Bed)felbeziehungen  entfprechen.  Der  Unterfcfeicb 
obiger  28,7  % unb  30,0  % überfcfercitet  fchwcrüch  bie  ©rettge 
ber  SeobachtungSfehler,  unb  man  barf  annehmen,  bafe  unter 
ben  grofeen  Dolicfeoiben  faum  mehr  Seute  zur  Kategorie  1 ge* 
hören,  als  unter  ber  SDiannfdjaft  im  allgemeinen,  waS  wieber 
baS  SRichttorbanbenfein  einer  S53cchfelbegie^ung  jwifcfjen  ©felett* 
mtb  Sßigmenteigenfchaften  barthut. 

Den  ©egenfafe  ju  DppuS  A bitben  biejenigett  £eute, 
roelcfee  flein,  runbföpfig  (oon  3itbe£  85  aufwärts),  braunäugig, 
braun*  ober  fehwarzhaarig  unb  buufelfeäutig  finb.  SJlennen  wir 
biefe  DppuS  B,  fo  hoben  wir  folgenbe  3flhlen : Son  ben  4665 
Kann  finb  Kategorie  10  unb  11:  316  SDiann  = 6,8  %. 
Stein  unb  runbföpfig  finb  493  SDiann,  baoon  Kategorie  10 

unb  11  : 30  SDiann  — 6,1  %.  $luch  hicr  fallen  bie  ®rojent* 

2*  OB*) 


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20 


gahleu  annähernb  gleidj  aug  unb  eg  ergeben  fidj  bie  nämlichen 
Folgerungen  loie  bei  Xppug  A. 

©o  Mein  übrigeng  bie  3a^en  ®on  $9pug  A unb  Sppug  B 
erfdjeineit  — oon  ber  ©efamtgahl  nur  1,3  unb  0,6  %>  — , 
fo  ergeben  fie  bod)  giemlid)  erheblidje  Volfgmengen,  wenn  man 
fragt,  wie  oiele  fieute  oon  $t)pug  A unb  Jppug  B befinDen 
fid)  unter  ben  1 600  000  öetuofjnera  Vabeng?  Vorauggefefct, 
baß  man  obige  ©rgebniffe  einer  3ahregfd)id)t  auf  ade  übrigen 
3af)reg|'d)id)teu  unb  aucf)  auf  bag  meiblidje  ©efdjlecht,  unb  oon 
ber  §älfte  beg  ©roShergogtfjumg  auf  bag  ©ange  augbe^nen 
barf,  mürben  fich  20  900  SDZenfdjen  oom  Jppug  A unb  10  300 
oom  Stppug  B berechnen  laffen,  für  bag  männlidje  @efd)lcd)t 
aflein  ungefähr  bie  Hälfte  Ijieroon. 

3n  ber  3ufammenfefcung  beg  Sppug  B tritt  uns  eine 
auffadenbe  ©rfcheinung  entgegen,  nämlid)  ber  ftarfe  tlntheil 
fd)W  arger  |>aare.  Von  ben  30  SDZann  beg  Jppug  B finb 
nic^t  weniger  alg  13  SDiann  fd)wargbaarig  unb  nur  17  braun- 
haarig.  Um  biefeg  Verhältnis  gu  würbigen,  rnuS  man  fid) 
erinnern,  ba§  im  adgemeiiteu  bie  fdjwarjeu  gu  ben  braunen 
paaren  wie  274  SDfann  gu  1025  3)lann,  atfo  wie  1 : 7 flehen. 
©d)on  wenn  bag  3ufawmentreffcn  mit  buufler  Slugeit*  unb 
Hautfarbe  oerlangt  wirb,  änbert  fid)  bag  Verhältnis,  tnbem 
fid)  Kategorie  11  gu  Kategorie  10,  atfo  fchwargeg  .fjaar  gu 
braunem  wie  50  3Kann  gu  266  SDZann  ober  wie  1 : 5,3  Der* 
hält.  Veim  ©rforbernifc  oder  mehr  genannten  5 ©igenfd)aften 
ift  aber  bag  Verhältnis  13  : 17  ober  1 : 1,3.  ©odte  fid) 
hierin  nidjt  ber  urfprünglidje  £t)pug  B alg  ein  fdjwargljaariger 
rfjarafterifiren  woden?  SDag  fd)Warge  .fpaar  würbe  bann  alg 
ber  'Äugganggpunft,  bag  braune  fdjon  alg  ein  2ftifd)probuft 
angufehen  fein. 


(IM 


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21 


IV. 

©eben  wir  nunmehr  »on  ben  allgemeinen  ©rgebuiffen  ber 
9JhifterungS*2lufnahmen  gu  ben  lofalen  über,  fo  fönnen  wir 
hierbei  fc^oit  bie  bieSjährigen  (Erhebungen  im  ©egirfS’Äommanbo 
SföoSbad)  (gwifdjen  9?edar  uitb  baljerifc^er  ©reit je)  mit* 
benu^en.  $5ennod)  biirfen  wir  nicht  erwarten,  fc^ott  jefct  eine 
Ueberfidjt  bcS  gangen  ©rofjhergogtf)umS  5U  erhalten,  &a  faum 
mehr  als  bie  §älfte  beS  ©ebieteS  bearbeitet  ift.  Slber  anber* 
feitä*  barf  man  baS  Grreidjte  auch  nicht  uitterfchäfcen,  benn  bie 
Statiftif  würbe  Schritt  für  Schritt  mit  ben  (Erhebungen  fort* 
geführt  unb  ihre  (Ergebniffc  finb  bereits  als  enbgültig  gu  be- 
trachten. (Einftweilen  würben  bie  SlmtSbegirfe,  in  einigen  gäöen 
aud)  bie  21mtSgcrichtSbegirfe,  gu  ©ruttbc  gelegt;  fpäter  biirfte 
eS  nöthig  fein,  eine  gweite  Statifti!  nad)  natürlichen  CrtS* 
gruppen  aufgufteHen,  welche  baS  bisher  ©efunbene  aber  nur 
betätigen  unb  fchärfer  hcrü°rtreteu  laffen  wirb.  $ur  ^er* 
anfchaulichung  höbe  id)  oerfdjiebene  fDIethoben  ber  (Uarftetlung 
gewählt,  theilS  harten  ©abenS  in  ftärferen  unb  fchwädjeren 
garbentöneit  gum  StuSbrud  uon  ©rogentgahlen,  tEjeilS  Äuroen, 
welche  burd)  ihre  Soorbiuaten  bie  Slbljängigfeit  gweier  ©röfjen 
ooneinanber  erfennen  laffen. 

©ine  Surchiprecfjung  ber  eingelnen  ©egirfe  würbe  hier  5U 
weit  führen;  cS  füllen  oielmehr  auch  &ei  beit  (Ergebitiffen  lofaler 
ober  richtiger  geographifdjer  SNntur  blojj  bie  §auptpuufte  her* 
oorgehoben  werben. 

$ie  grüne  $arte6  oon  ©aben  geigt  burdpoeg  mehr  „©rofje", 
als  ber  25jährige  35urchfd)nitt  oon  1840—64,  eine  ©rfdjeinung, 
welche  fchon  in  21bfchnitt  I.  gewiirbigt  würbe.  211S  geograpljifche 
2ßittelpunfte  mit  befonbers  oielett  grofjcn  Seuten  (21  bis  36,7  %) 
treten  heroor:  bie  ©obenfeegegenb,  befonberS  baS  ?lmt  lieber* 
lingett,  in  gweiter  fReilje  ißfuHenborf,  SJfefjfird),  (Engen,  Sonftang, 

(155) 


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iebodj  nicf)t  ©totfad),  welches  weniger  ©roße  ^at;  — bie  fog. 
Saar,  Slmt  Sonauefd)ingen;  — ba£  ÜUtarfgräflerlanb,  befonberS 
baS  Slmt  ÜJiüfltjeim,  fobann  Sörrad)  uttb  ©djopfheim;  — baS 
„§anauer  fianb",  Slmt  ftel)!  in  ber  SRfjeinebene;  — in  ber 
^Sfalj  bic  Slemter  9JiannI)eim  unb  SöieSlod),  weniger  S8einf)eim 
unb  ^eibelberg;  — baS  fräntifdfe  „©aulatib",  unb  ber  Sauber* 
grunb,  befonberS  2lbd3f)eim,  2Bert[)eim,  STauberbifcfjofö^eim . 

Sie  rotfje  ftarte  jcigt  weniger  „ft leine"  auf  als  ber  obige 
Surdjfdjnitt.  Sen  Süfrttelpunft  ber  ftleinen  mit  39,4  ißro$ent 
hübet  ber  SmtSbejirf  Söotfad)  im  ©djwarjwalb.  Sann  fommen 
©tocfa<$,  ©ätfingen  (|>o&enwalb),  ©djönau  (©djwarjwafb), 
|)arbtgegenb  bei  ftarl$ruf)e,  2Beinf)eim,  Gberbad)  am  Retfar. 

3n  ber  biolett  angemalten  ftarte  ber  Solidjoiben  (Sitbej 
unter  80)  finb  bie  SWittelpunfte  nacf)  bem  früher  ©efagten  im 
Ginflang  mit  benjenigen  ber  ©roßen,  beim  ©röße  unb  Solidjo- 
cepljalie  finb  fo^ufagen  wa^loerwanbt.  3d)  neune  ftonftanj 
mit  21,3  %,  Sörracf)  mit  21,4  %,  oon  meieren  bie  ißrojent* 
jaulen  ber  Ratffbarbejirfe  ftufenmeife  abfallen.  23?anntjeim, 
SBeinfjeim  unb  SöieSlod)  (©falj),  Suchen  mit  Söaflburn  im 
fjintern  Cbenwalb. 

Stuf  einer  weiteren  grau  abgeftuften  ftarte  finb  bie  Ruttb* 
föpfe  bargeftedt  oon  Snbej  85  aufwärts.  GS  wunbert  uns 
nidjt,  ben  ©djwarawalb,  bas  Gentrum  ber  ftleinen,  zugleich  als 
heroorragcnbften  SluSftraf)lungSpunft  ber  §pperbrad)pcepf}aleu 
Wieberjufinben,  übcrrafdjt  finb  wir  aber  burcf)  bie  auSncfjmenb 
ftarte  ©etonung  biefeS  SDterfmalS  unb  burd)  ben  ftreng  gefe$* 
mäßigen,  ftufenweifen  Slbfatl  nad)  bem  ©obenfee  t)in.  GS 
Ratten  Runbföpfe  in  ber  geograpf)iftf)eu  Reihenfolge: 


SBoIfadi 

64,3% 

©tocfa$ 

32,5% 

Srtberg  (.wirb  1890  aufgenommen) 

©tebfirdj 

32,7% 

SJitlingen  (beigl.) 

Ißfuflenborf 

25,47» 

$onaue[d)ingen 

58,9% 

Ueberlingcn 

25,97» 

Sngen 

44,47» 

ftoitftaiij 

23,37» 

(IM) 


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23 


Sott  beit  übrigen  I^eifeu  bes  ©djuiarjumlbe«  finb  bis 
jeßt  nur  bie  ÄmtSbejirfe  ©äcfingen  mit  61,9  %>  unb  ©djönau 
mit  SBiefentfjat  mit  51,5  % aufgenommen;  ber  91ad)barbeiirf 
©djopf^eim,  bie  $eimatb  §ebel«,  f)at  nur  39,0  %,  Sörrad) 
nur  28,8  %.  — 3m  ganjen  unteren  Sanbestheil  bis  gur 
heffifcf)en  unb  batjerifchen  ©renje  erfjebt  fid^  bie  3af)l  ber  £)pper» 
brachpcephalen  nirgenb«  über  36,4  °/o. 

S)ie  blaue  Sarte  beS  „btonben  $t)puS"  (BirchoiuS  State» 
gorie  1)  ift,  toie  fdjott  früher  bemerft,  einigen  Unfic^erljeiten  in» 
folge  fubjeftioer  Grinflüffe  bei  ben  Beobachtern  untertoorfeti. 
^eroorrageitbe  ©eutren  finb  ber  $aubergrunb,  Äbel^^cim, 
§eibelberg,  $)urla<h;  — bie  Saar,  baS  SRarfgräflerlanb  unb 
bie  Sobenfeegegenb;  — merftoürbigerioeife  auch  ber  ©cfjroarj» 
roalbbe^irf  SBoIfacf)  (31,7  %),  jebod)  nicht  ber  oom  gleichen 
^Beobachter  aufgenommene  Sejir!  ©chönau  (14,1  %). 

®et  braun  bargefteöte  „brünette  Üppu«"  (Kategorie 
10  unb  11)  beioegt  [ich  stoifchen  2 uttb  15  ^Srojent,  ift  aber 
infolge  ber  ©<h»ierigfeiten  bei  ber  fRubri^irung  ber  bunfeln 
$ugenfarben  (oergl.  21bfd)nitt  II.)  fo  »oenig  charafteriftifch  oertheilt, 
baß  nichts  9IähereS  angegeben  toerben  faitn. 

3n  bie  beibeit  lefctgenannten  Starten  hQ&e  ich  auch  bie 
Stjpen  A unb  B eingetragen,  aber  luegeit  ihrer  geringen  3Qh* 
nicht  in  ^Jrojent,  fonbern  für  jeben  äJtann  ein  Ouabrätchen  bei 
feinem  ©eburtSort.  ®ie  Seute  beS  $t)puS  A:  blau,  blonb, 
toeifj,  grofj  unb  bolichoib  finb  bttreh  rneifie  Ouabrätchen,  bie 
30  2J2ann  beS  2hpuS  B burch  fcf)toar$e  Ouabrätchen  bargefteHt, 
unb  jtoar  ft'ategorie  10  (braunes  .§aar)  unb  Stategorie  11 
(fchmar^eS  §aar)  ettoaS  unterfchieben.  $>a  ift  nun  bie  Ser« 
theilung  (toeil  ber  ftetS  ber  ©chäfcuug  loeit  überlegene  SJlafjftab 
eine  SRofle  fpielt)  fefjou  oiel  charatteriftifcher. 

$>ie  Seute  oom  STppuS  A fifcen  oereinjelt  an  ber  Zauber, 
bem  9?ecfar  unb  im  Obenroalb,  bitter  im  Saulanb  OäbelSheim), 

(157) 


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24 


nodj  bicfiter  a»  ber  Sergftrafje  oon  SBeinfjeim  über  |>eibetberg, 
Srudjfat,  Surlad)  nad)  ©ttlingen,  mit  Sergroeigung  in  bie 
Seitentäler,  tereingelt  an  ber  Stfjeinftrafje  unb  im  «fjanauer 
itanb,  in  ber  ÜRarfgraffc^aft,  in  ber  Saar*  unb  Sobenfeegegenb. 
Sie  festen  gang  in  ben  Sd)K>argroaIbbegirfen  SBoIfad)  (trofc  ber 
31,7  % oon  Kategorie  1)  unb  Schönau. 

®ie  !£t)pen  B oertfjeilen  fid)  tjaupfädjlidj  auf  ben  Segirf 
SBotfad)  unb  bie  9tacf)barbegirfe,  foroie  auf  bie  Älb*  begietjungS* 
weife  ^arbtgemeinben  bei  $arl$ruf)e,  bie  offenbar  Si{je  einer 
nid)t  gcrmaitifdjen  Seoöfferung  finb. 

ÄlT  baS  ©efagte  täfjt  fid)  unter  ben  ®efid)t$punft  bringen: 
üie  getmanifdjen  SKerfmafe  ber  babifd)en  Seöölferung  finben 
fid)  oorgugSweife  in  ber  9tf)eiitebene  unb  groar  befonberS  ftarf 
an  ber  f)effifd)en  ©renge  (fränfifdjeä  ©ebiet)  unb  in  ber  Sör* 
radjer  ©egenb,  ber  alten  SDfarfgraffdjaft,  f obamt  auf  ber  $od)* 
ebene  ber  Saar  unb  in  ber  Sobenfeegegeitb  (atamannifd)e£ 
©ebiet}. 

3)ie  frembartigen  (Steinerne  tjaben  if)ren  fjauptfädjfidjcn 
SOfittetpunft  im  Sd)Wargwatb  unb  einen  fefunbäreu  in  ben 
Älbgemeinben  fiiblid)  oon  ÄartSrutje. 

28er  eine  SDiuftcrung  in  ben  fo  grunboerfdjiebenen  Sftadjbat* 
begirfen  Sörracf)  ober  ®d)opff)eim  unb  ®d)önau  mitmad)t,  ber 
wirb  niemals  bie  Setjauptung  oertreten  mögen,  bafj  biefe  gegen* 
fäßtidien  Silbungen  burd)  äußere  SWebien  bewirft  fein  fönnten. 
§ier  bie  tjoljen,  weiten  ©eftatteu  mit  fetten  Äugen,  Seute, 
beiten  oft  nur  eine  Scfjattirung  beS  §aarc$  ober  ein  fütitlimeter 
am  Äopfmajj  gu  reinen  gerntanifd)en  Jppen  fctjlt  — bort  Meine 
braune  Surfdje  mit  buitflem  Äuge  unb  |>aar,  unb  wie  bie 
äufjere  @rfd)cinung,  fo  and)  Slid  unb  Senelfmen  gang  anberS, 
baf)  man  fid)  gu  bem  ©tauben  oerfud)t  füfjlt,  in  ein  frembeS 
Sanb  oerfefct  gu  fein.  Sftur  SRaffenmifdjung  fann  t)ier  eine 
auSreidjenbe  (Srftärung  geben.  2Bir  muffen  annef)nten,  bafj  bie 

(15S) 


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25 


©ermatten  (Xt)pu3  A)  bei  i^vec  ©inwanberung  eilte  »orhanbene 
Seoölferung  antrafen,  bie  feine  reine  fRaffe,  fonbern  au§  »er* 
fchiebenen  ©lementen  gemixt  gcwefen  jein  wirb,  in  welcher 
jeboch  ber  $ppu3  B einen  Ijerßorragenben  $lntf)eil  hatte.  3)iefe 
Seoölferung  jog  fich  »ott  ben  fruchtbaren  lief-  unb  Hochebenen 
junäcfjft  in  bie  Schwarawalbthaler  juriicf,  in  welche  bie  ©er* 
manen  fpäter  nachbrängteu.  9foch  heute,  nach  jahrhunberte* 
langer  Sermifchung,  »ererbt  biefe  Settölferung  bie  SRerfmale 
beS  j£t)pu3  B teils  »ereinigt,  tfjeilS  getrennt  auf  bie  heutigen 
SJlachfommen. 

©3  ift  faum  glaublich,  aber  benttodj  wahr,  baß  bie  ©renje 
ber  alamannifchen  unb  ber  jchwar^wälber  Scuölferung  fich  int 
SBiefenthal  noch  jefet  faft  gatij  fcharf  angcben  lägt.  25ie  Stabt 
3eß,  geographifch  <$um  Scjirf  Schönau  gehörig,  aber  nahe  ber 
©rettje,  gehört  anthropologifch  noch  gan$  ju  Sdjopfheim,  bie 
Heute  ftnb  »onoicgenD  heßpigmentirt  (14  »ott  19),  groß,  unter 
19  SÜianit  3 üföefocephale.  SBanbert  man  talaufwärts  nach 
■ä^enbach,  fo  finbct  man  bort  noch  große  Heute,  aber  feine 
SJiefocepbalen  mehr,  unb  bie  bunfeln  Pigmente  überwiegen  (15 
oon  26).  3m  nächften  $orf,  ÜRambad),  fielen  bie  heßen  ju 
ben  bunfeln  Pigmenten  toie  9 : 13,  bie  ©roßen  »erftwinben 
jaft  ganj,  ju  ben  6 Hhperbrachpcephalett  gefeßeti  fich  2 ©jtrem* 
brachpcephale.  Somit  finb  toir  hier  fcgon  ganj  im  ©ebiet  beS 
jchwarjwälber  JppuS,  »ie  er  im  Söe^irf  Sd)önau  mit  2lu3* 
nähme  weniger,  »on  St.  Slafiett  beeinflußter  Orte  »orherrjcht. 
3)ie  ©renje  »on  SUamannen  unb  Schwarjwälbern  liegt  jwifchen 
3eß  unb  Sliambach,  alfo  etwa  bei  Slfoenbach.  Sei  biefem  Orte 
beginnt  and)  ber  eigentümliche  fchwarjwälber  HauSttjpuS. 

©ine  ungemein  djarafteriftijche  Slntwort  erhält  man  auf 
bie  grage  nach  ben  abfoluten  ÜRaßeit  ber  Hopfe  im  unteren 
unb  obern  SBiefentfjal;  woher  fommt  ber  bolid)oibe  3ubef  bort, 
ber  hPPerbrachpcephale  hier?  $ie  Hänge  ber  itöpfe  bewegt  fich 

(159) 


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in  beibett  Söejirfett  bei  ber  größeren  £älfte  jroifdjeu  18  unb 
19  cm,  bie  Streite  bei  jroei  drittel  jroifdjen  15  unb  16  cm.  S)ic 
Stejirfe  imterfdjeibeu  ficfj  nun  burcf)  bie  fßrojentjatiten  ber  Stopfe, 
roetcfje  über  ober  unter  biefen  mittleren  SRaum  falten. 


SJcinge 

19,0  cm  u.  bariifcer 

Sidrradi: 

•29,5% 

3d)önai[ 

15,27« 

H 

unter  18  cm 

13,7% 

29,07» 

töreite 

16  cm  u.  boriiber 

19,1% 

22,6% 

unter  15  cm 

21,5% 

15,37» 

$ie  Stopfe  finb  atfo  in  ©djönau  nid)t  nur  fürjer,  foitbern 
aud)  breiter;  mir  fjaben  unoertennbar  jtoei  ganj  entgegengejeöte 
formen  oor  uns*. 

3m  ÄmtSbejirf  Sßotfad)  ift  ber  Xt)pu8  B befonbers  ftar! 
in  ber  ©emeinbe  Oberrootfad)  oertreten,  roeldje  eine  ©tunbe 
oberhalb  SBotfad)  in  bem  nadj  fRippolbäau  unb  StniebiS  hinauf* 
jiefjenben  ©eitentfjat  ber  Sinnig  gelegen  ift.  trifft  fid),  baff 
biefe  ©emeinbe  aud;  im  25 jährigen  $urd)fd)nitt  am  meiften 
kleine  (60,2%)  unb  3Jtinbermä§ige  (32,4%)  befifct.  ©d)on  bei 
ber  SJiufterung  fetbft  mar  biefe  ©emeinbe  burd)  itjre  oielen 
tleinen,  braunen  Seute  aufgefaßett  unb  bie  ©tatiftif  f)at  ben 
Sinbrucf  jafjtenmäßig  beftätigt.  33on  ben  30  3)?attn  be§  Jppuä 
B (jüngfter  3a^rgang)  faßen  9 auf  ben  Sejirf  SBotfad);  itt 
aßen  3 3at)rgcingen  jufammen  fjattc  ber  Sejirf  14,  mooon 
3 in  ber  ©emeinbe  Cberroolfacf).  ©ef)r  jatjlreid)  oertreten  finb 
natürlich  fjier  aud)  bie  oerroanbtett  $t)pen,  brünett  mit  grünen 
Slugen,  meiner  §aut  ober  btonb  mit  bunfeln  Stugen  tc.;  runb< 
töpfig  finb  faft  % unb  ffeiit  me!)r  at$  Vs. 

©iS  oor  furjem  mürbe  überhaupt  beftritten,  baß  Der 
©djroaräioatb  oor  ber  ©rüttbung  feiner  großen  Stlöfter  beroof)nt 
geroefen  fei;  erft  burd)  biefe  fei  bie  ©efiebetung  im  10. — 13.  Saljr* 
fjunbert  oeranlafjt  roorben,  bi3  baf)itt  fei  ber  ©dpoarjroatb  eine 

menfdfenleere  SBJilbnifj  geroefen.  9)fan  fennt  aßerbingS  an« 
(160) 


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3efjntprojc|fen  genau  bie  Vorgänge  bei  ber  Sefiebelung  einiger 
2f)äler  bes  SlmteS  SReuftabt,  aber  babei  ift  ju  bemerfen,  bafj 
IReuftabt  antfjropologifdj  iticf|t  jum  ©cf)mar3malb,  fonbern  311 
ber  alamannifdjen  |>od)ebene  gehört.  $ie  Unbewobntfyeit  bess 
©djroarjiüalbe«  ift  a priori  unwaf)rfd)einlid),  benn  wie  füllte 
ber  SRenftf)  nicf)t  bttrd)  ein  fo  wilbreidjeS  unb  fdjußgewälfrenbe« 
©ebiet  angejogen  worben  fein?  ®ie  Stingroätle  oon  3artcn 
(Tarodunmu)  unb  ©regenbad)  betoeifett  bie  Hnwefenßeit  einer 
»orgefdjicf)tlid)ett  ©eoölferung,  unb  mau  müßte  annelfmen,  baß 
biefelbe  burdj  bie  Körner  unb  bejw.  Alamannen  oöllig  aus!= 
gerottet  worben  fei.  tiefes  ift  aber  faum  benfbar,  weil  bie 
3?ütner  nur  in  wenige  Steile  beS  ©djwarjwatbeS  gelangten  unb 
bie  ©erntanen  erft  fefjr  fpät  benfetben  in  ©efiß  nahmen;  beibe 
©ölfer  Ratten  nießt  ben  ©ebrauef),  Unterworfene  mit  SSeibern 
unb  Äinbern  31t  tobten,  fonbern  fie  pflegten  biefe  als  ©flauen 
ober  porige  fortejriftiren  311  laffen. 

$>a3  ©Zweigen  ber  Urfunbett  über  eine  üorgertnanifdje 
©eoölferung  auf  bem  ©cf)war3walbe  fann  nod)  nid)t  bie  Un* 
bewoljntljeii  beweifen.  @3  ift  möglid),  baß  Urfunben  oerloreu 
gegangen  fxttb,  mögtidj,  b af}  bie  fraglidje  ©eoölferung  ein  Säger- 
leben  ofpte  fefte  2Sof)nftße  führte,  möglid)  and),  bafj  man  ifjrer 
nidjt  ermahnte,  weil  matt  il)r  feine  Siechte  3uerfannte;  für  Un- 
freie f)atte  man  im  Slltertfjunx  unb  im  frühen  SDiittelalter  wenig 
Slufmerffamfeit.  ßfjrift  ßat  bie  2lnfid)t  geäufjert,  baß  biefe 
f leinen  fdjeuen  Seute,  welche  in  $öf)letx  unb  Älüften  wohnten 
unb  beim  Slnblicf  eines  ©ermatten  in  il)r  ©erfteef  flogen,  in 
ben  ©agen  gemeint  ftxxb  oon  ben  ©ergmännleitt,  bie  fid)  itn* 
fid)tbar  machen  fonnten. 

Sn  neuerer  3eit  ift  über  aud)  oon  ©pradjforfdjern  unb 
^iftorifern,  wie  ©utf,  ©aumanix,7  21.  ©djulte8  ber  fJtadpoeis 
geführt  worben,  baff  im  $in3igtf)al  fRefte  einer  rotnanifirtett 

oorgermantfdjen  ©eoölferung  tiocf)  in  gefcfpdjtlidfer  3cit  Dors 

neu 


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28 


fjanbett  ruareit.  darauf  beuten  fdfon  bieöenteinbenamen  SBelfchen* 
botlenbad)  (neben  $eutfcf)enbolIenbach)  unb  28elfd)enfteinach 
(neben  3)eutfd)cnfteinad)),  fcimtlid)  jum  SImt  SEBolfad)  gefjörenb, 
barauf  beuten  CrtSnanten  romanifd)en  UrfprungS  toie  ßlettner 
(crepniger),  ©urtnaie  (cortina),  fßfauS  (fossa),  IXUerS  ober 
SDiuUerS  (niouliere)  u.  f.  to.  3tt  einer  ©renjbefchreibung  ber 
ü)?arfgenoffenfc^aft  ©ttenfjeim  fjcißt  bic  ©ren^ftrede  gegen 
SBelfdjenfteinach:  ad  commarchium  Alamannorum,  woraus 
herüorgel)t,  baß  bie  fenfeitigen  Söewohuer  noch  im  jefynten  3afjr* 
bunbert  nicht  als  SUamannen  angefehen  mürben,  ©inen  großen 
Shfil  feiner  ^Beweisführung  jieht  ©chutte  aus  ben  SDiönc^öliften 
bet  SHöfter  ©engenbad),  ©ttenheim  unb  ©futtern,  in  melden 
eine  größere  Stn^a^I  altromanifcher  ißerfonenuamen  öorfommen, 9 
mähreitb  Älöfter  in  rein  beutfc^en  ©egenbeit  nur  bcutfdje  tarnen, 
oermifdjt  mit  einigen  biblifdjen  unb  ^»eiligeitnamen  aufmeifen. 
„2Bie  im  SKpengebiet  ber  romanifdje  ©tamrn  fidt)  — gleid^fam 
eine  Snfel  bilbenb  — awifdjen  ben  germanifdjen  ©roberertt  er« 
hielt,  fo  batten  audj  in  ber  Ortenau  fidj  fofdje  3nfeln,  freilich 

Diel  Keinem  llmfangö,  erhalten Sßir  bürfen  in  ben  ro* 

manifdjen  Xbälcrn  (beS  ©chwarjwatbeS)  nicht  9ieftc  unb  ©puren 
aus  ber  h°f>en  Slütfjejeit  römifcber  Kultur  fiteren;  bie  ro* 
manifebeu  §lnfiebler  brachten  fdjtoerlicfj  Diel  mehr  in  bie  ©ebirgS* 
tßäter  mit,  als  baS  nadte  Seben  ....  SSaren  bie  romanifeben 
©pradjinfelit  auch  ftein,  fo  miiffen  fie  bodj  immerhin  fo  um* 
fangreich  gemefen  fein,  baß  fie  ihre  ©igenart  unb  ©pradje 
jwifchen  ben  $eutfd)en  mehrere  3ahrf)unberte  behaupten  fonnten- 
2)er  itt  ber  Urfunbe  uon  92G  befte^enbe  ©egenfaß  muß  fidj 
aber  bafb  barauf  »erwifcht  haben,  beim  bie  Urfunben  beS  13. 
unb  14.  Sahrhunberts  fennen  nur  mehr  rein  beutfdje  93er* 
hättuiffe."  3)ieS  bie  Schlußfolgerung  Don  ©djutte. 

2Benn  ©djulte  oor  ber  SJeraflgemeinerung  biefer  ©rgebniffe 

roarnt,  fo  meint  er  bamit  jebenfaUS  nur  bie  beweis»  unb  fritiflofe 

(162) 


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29 

SBerattgemeinerung.  ©el)ett  ruir  aber  aus  unferen  SDiufterungS' 
ergebniffen,  bafj  bie  oon  bcn  ^iftorifern  als  romanifcb  nad)* 
gemiefenen  Crte  SBelfcbenftcinacb  unb  Söelfcbenbottenbacb  eine 
Seöölferung  mit  befimberen  förperlirfjen  SDierfmalen  befifcen, 
unb  treffen  mir  Seute  mit  beitfefbcn  förperlidjeit  SRerlmalen  in 
Qbermolfacb  unb  anberen  ©emeinbeit  beS  3lmteS  SCöoIfacf)  an, 
fo  fönnen  mir  mit  Sicherheit  fchliefjen,  bajj  auef)  biefe  Seule 
Dorgermanifcf)eu  UrfprungS  finb.  SBenn  A = B,  B = C ift, 
fo  mufj  A = C fein;  id)  müßte  nießt,  maS  ftrenger  miffen- 
fdjaftlicb  fein  füllte,  als  biefer  (Scßfuß. 

©ie  oorübergebenbe  fRomatiifirung  ber  fraglichen  SBe- 
üölferung  feßeint  mir  inbcS  oon  nebenfäcßlicßer  öebeutung  ju 
fein.  SBir  finben  bie  nämlichen  fleinen,  ruubföpfigcn  fieute  im 
Slmt  ©chönau  unb  bem  oberen  Stßeile  beS  2tmteS  ©ädiitgen 
(f>o|}enroalb),  mobin  fießer  niemals  ein  SRömer  ben  gujj  gefegt 
bat.  SS  ßanbelt  ßcß  augenfcßeinlicß  um  eine  febr  alte  Se> 
oölfentng,  melcbe  in  ben  offenen  ©bälern  »on  ben  SRömern 
untermorfen  mürbe,  in  ben  entlegeneren  ©cbmarjmalb- 
gegenben  aber  nicht,  fonberit  erft  febr  fpät  burd)  bie 
©eutfehen. 

@S  märe  ein  unnüfeeS  ©efcßäft,  ^mifeßen  ben  gefeßriebenen 
Urfunbeit  unb  ben  ontbropologifcßen  Siebungen  einen  fiinftlicßen 
3miefpalt  auftbun  ju  motten,  ©ejd)id}te  unb  Slntbropologie 
mäffen  nothmenbig  ju  übereinftimmenben  Srgebttiffen  führen 
unb  fie  fönnen  fieß,  mie  mir  aus  ber  oerbienftooßen  Darlegung 
©djutteS  feben,  in  ber  gorfdjung  gegeufeitig  unterftüfcen.  ©aS 
©djmeigen  ober  gänjlidje  gebleit  oon  fcßriftlicßen  Quellen  barf 
aber  nod)  nicht  ju  negatioen  ©djlüffen  führen,  menn  bie  antbro* 
pologifchen  Sefunbe  eme  fo  beutlicße  ©prachc  reben.  ©enn 
auch  bie  SDterfntale,  bie  ber  SRenfd)  fvaft  ber  Vererbung  an 
feinem  Körper  trägt,  finb  Urfunben,  unb  jmar  oon  ben  atter- 
juoerläffigften. 

(1«3> 


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30 


V. 

Sie  bisher  bargeftclltcn  antßropologifchen  SBcricfjiebenheiten 
bcr  einzelnen  Stmtsbejirfe  raffen  fid)  geniigenb  erHären,  wenn 
man  bie  heutige  SBeoötferung  aI8  ein  9Jiifd)probuft  ber  urfpriing* 
ließen  Sppeit  A (blau,  blonb,  weiß,  groß,  bolidjoib)  unb  B 
(braun,  braun  ober  fchwarj,  braun,  Hein,  runbföpfig)  anfteht. 
Stile  bie  mannigfaltigen  Kombinationen  oon  Singen-,  fmar-  unb 
£mutfarbe,  ©röße  unb  Äopfinbcj,  welche  bei  unferen  9J?ufterung8- 
Pflichtigen  angetroffen  werben,  fittb  unter  93eriicffid)tigung  be8 
©aßeS,  baß  biefe  ©igenf^afteu  bei  einer  SRaffenmifdptng  fowof)! 
oereinigt,  al£  einzeln  oererbt  werben  fönnen,  auf  jene  beiben 
Urtypen  jurüdjuführen.  SBenn  c§  aber  aud)  genügt,  biefe 
beiben  Stjpcn  oorauSjufeßen,  fo  ift  bamit  noch  fein  SBeweiS 
geliefert,  baß  wirflidj  nur  biefe  au  bcr  3ufammenfeßung  ber 
heutigen  SBeoötferung  beseitigt  finb.  @8  fönnte  g.  SB.  eine 
blonbe,  Heine  unb  runbföpfige  ober  eine  brünette,  große  unb 
lartgföpfige  Urraffe  mitgewirft  haben,  unb  biefer  Sinftuß  würbe 
in  unferer  ©tatiftif  nicht  hertmrtreten.  ipier  muß  bie  ©tyno- 
togie  oermittelnb  eintreten,  um  uns  ju  fagen,  baß  Urraffen  oon 
iolcßer  SBefchaffenheit  in  ©uropa  nicht  befamtt  finb.  2Sir 
fennen  nur  brei  fmuptraffen,  bie  Slrier,  jiemlich  rein  aus  2typu8 
A befteßenb,  unb  eine  oorarifche  SBeoölferung,  welche  wahrfcßeintid) 
jur  $eit  per  germanifchen  SBanberungen  nicfjt  mehr  unoermifd}t 
war,  fonbern  fdjon  oiet  arifd)e8  SBtut  in  fiep  aufgenommen 
hatte,  aber  bodj  im  wefentlicfjen  bem  3typu3  B entfprach- 
Sr.  Sßeej  hflt  in  feinen  Stuffäßen  „©uropa  au8  ber  SBogelfcßau" 
bie  leßtcre  SRaffe  nad)  bem  SSorgange  §ölbcr8  „Suraniet"  ge- 
nannt, eine  SBejeidjnuitg,  beren  SBerecßtigung  oon  anberer  ©eite 
beftritten  wirb.  Ser  9?amc  thut  aber  gar  nid)ts  jur  ©aeße, 
im  wefenttichen  erfcheiitt  bie  Stnficßt  oon  Sr.  Sßeej  al8  richtig. 
Daß  ber  Sßpu8  A berjenige  ber  eigentlichen  eingeborenen  Sftorb- 
europäer,  ber  SppuS  B berjenige  eines  afiatifchen  ©teppenoolfeS 

(164 1 


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31 


ift.  3t(f  britte  fRaffc  fommen  bie  Semiten  in  ©etrad)t,  welche 
in  ben  fDtittetmeertänbern  eine  bebeutenbe  SRolte  fpieten  unb 
g.  ©.  auf  ber  iberif^en  ^atbinfel  in  brei  ginroattberungen  gu 
mjrfjiebeuen  feiten  aufgetreten  fittb : atf  fßfjöniflier,  Slraber  unb 
3uben,  wetd)  teßtere  gur  3e*t  ber  3nquifition  maffenfiaft  baf 
ß^riftent^um  annaf)men  unb  in  ber  ©enötferung  aufgingen. 
3n  SDeutfdjtaub,  wo  bie  3fraetiten  getrennt  fortleben,  finb  fie 
bei  ben  äRufterungSerffebungcn  gmar  gemeffen,  ltadjtjer  aber  auf 
ben  fiiften  aufgefcfjiebett  morbeit  gurn  .gmecfe  befonberer  ftatiftifcber 
©et)anb(ung  am  Sdftuffe  ber  Arbeit.  3^re  .ßaßl  beträgt  bif 
je§t  200  unb  wirb  auf  etwa  400  anfteigeit,  wetdje  einen  wertt)» 
noüen  ©eitrag  gur  änttiropotogie  ber  3uben  in  25eutfcfjtanb  liefern 
werben,  gf  erhellt  aber  auf  bem  ©efagten,  baß  ber  femitifd)e 
Stamm  für  bie  3ufammenfe(jung  uttferer  ©enötferung  fo  gut  wie 
gar  nicht  in  ©etradE)t  fomnit  unb  baß  mir  ef  in  ber  2f)at  nur 
mit  gm  ei  Urbe[tanbtt)eiten:  Xppttf  A unb  £ppuf  B gu  tt)un  haben. 

SEBie  bie  eingelnen  mitteteuropäifchen  Nationen  nur  burd) 
bie  abmeicbenbeit  ©rogentfätje  ber  beiben  2JZifd)ungfbeftanbtljei(e 
fidj  unterfcheiben,  fo  aud)  im  eingelnen  mieber  bie  Sanbeftfjeile 
uttb  Segtrfe.  33?an  fönnte  nun  auf  ben  ©ebanfen  fommen, 
roenn  bief  richtig  fei,  fo  müffe  fidj,  tro|  bef  gehtenf  einer 
unmittelbaren  ©egietjung  gmifcßen  Körpergröße,  Kopfform  unb 
©igmentirung  bei  ben  eingelnen  Qnbioibuen,  bod)  eine  mittel» 
bare  ©egiebung  baritt  offenbaren,  baß  in  ben  ©egirfen  mit 
nieten  großen  Seuten  auch  niete  Cangföpfe  unb  niete  ©tan» 

äugige,  ©Ionbe  unb  SBeißhäutige  norfommen,  unb  umgefebrt. 
£enn,  menn  auch,  mie  nacbgeroiefen,  biefe  gigenfrfjaften  ge» 

trennt  auf  bie  ßfachfommen  nererbt  werben,  fo  muß  fidj  ein 
urfprüngticb  größerer  Slntßeil  bef  £hpuf  A bod)  ebenfomoßt 
bei  ber  ©röße,  atf  bei  ber  Kopfform  unb  bei  ben  ©igment« 

färben  fühlbar  matten.  $ie  ©robe  hierauf  ift  am  über* 

fid)tti(bften  burd)  eine  grap^ifdje  ®arftettung  anguftetlen,  inbem 

(165) 


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32 


man  für  jeben  ©ejirf  bie  oerfdjiebenen  ißrojentjahlen  al« 
Orbinaten  aufträgt,  bie  fjomologett  ©nbpunfte  oerbiubet  unb 
jufieht,  ob  bie  Sluröen  ber  ©roßen,  ^olidjoiben,  ©lauäugigen, 
©lonben  unb  ©irchowfcßen  SDjpen  einen  geroiffen  fßaralleli«mu« 
im  ©teigen  uitb  fallen  befißen.  @«  h°t  fuß  herau«ge|tellt,  baß 
bie«  in  einigen  ©egcnbcn  in  ftreug  regelmäßiger  SBeife  ber  fjall 
ift,  baß  in  anberen  jebocß  Abweichungen  einzelner  iburoen  oor- 
fontmeu,  in  wieber  anberen  ein  regellofe«  SJurcheinanber  l)errf djt. 

©in  treffenbe«  ©eifpiel  ber  erfteren  Art  bietet  ba«  fog. 
atamannifcße  ÜRarfgräflerlaitb  mit  ben  beiben  benachbarten 
©chwarjwalbbejirfen.  SDie  ^aßlen  ftnb  bie  folgenbeu: 


fflroftf. 

?oli(t)oitir. 

® laue  Äugen. 

Slonbe  .{«aare. 

»ateg.  1 

9RülIt)eim 

26,3% 

10,6% 

38,0% 

45,2% 

29,9% 

Siörrad) 

24,2  % 

21,4% 

36,3% 

40,9% 

21,4% 

Sdjopffjcim 

24,0% 

9,7% 

40.9% 

57,2% 

29,9  % 

Sdjönau 

18,5% 

6,1% 

27,3  % 

30,3% 

14,1% 

Sädingen 

21,8% 

7,2% 

30,4% 

43,5% 

23,2% 

®a«  gleichmäßige  ©teigen  unb  fallen  ift  in  ber  Xbat 
merfwiirbig,  nur  hat  Sörracß  etwa«  mehr  SJolidjoibe  als  ihm 
jufärne;  e«  ift  fcßon  früher  al«  Au«ftraf)lnng§punft  ber  Sang» 
föpfigfeit  genannt  worben.  2Der  an  SDiüüheim  grenjenbe  ©ejirf 
©taufen  jeigt  folgenbe  gaßlen: 

Staufen  17,0%  5,1%  33,1%  53,3%  27,1% 

$ier  fallen  alle  3ahlen  gegenüber  9J2iillhcim  ab,  nur  bie  blonben 
$aare  fteigen. 

©inen  jiemlid)  guten  fßarallcltömu«  bieten  bie  Sejirfe  uom 
©obeufee  bi«  ®onauefdjingen,  jebodh  fteigen  bei  le|terem  ©ejirf 
mit  ben  ©roßen  ic.  jwar  bie  blonben  §aare,  aber  bie  blauen 
Augen  fallen. 

3m  ÜHittellanb  jeigen  bie  ©ejirfe  ©ttlingen,  ftarlöruhe 
unb  $urladj  gleichmäßige«  ©erhalten  aller  Äuroeit;  im  ©ejirf 
©rucßfal  fteigt  aber  bie  ©röße,  wäßrenb  blaue  Augen  unb 
blonbe  §aare  fallen. 

066} 


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33 

5»  ber  ©egenb  wo»  ÜNonnljeim  unb  $eibelberg  läßt  fid) 
eine  ©efeßmäßigfeit  itirfjt  erfeitnen. 

@3  ift  nun  bie  grage,  b*e  öorfommenben  SluSnahmeu 
bie  Siegel:  SBo  Biele  ©roße,  ba  finb  aud)  Biele  yaitgfopfc  unb 
jpellpigmcntirte,  umftürjen  fönneit.  3<h  glaube  nein.  Srftlid) 
mödjte  id)  auf  bie  ©eobadjtuug«fef)ler  ^inroeifen,  bie  befottberS 
bei  ber  ^igmentirung  bem  fubjeftinen  ©rmeffen  gu  nie! 
Spielraum  loffen.  ©obaiut  ift  begeidptenb,  baß  in  beu 
rein  länblidfen  Begirfen  mit  einfachen  Berhältniffen  ber 
Saß  fid)  jeßr  fcßarf  auSfpricht,  wogegen  bie  Stöße  großer 
Stabte  aus  begreiflichen  llrfac^en  einen  oerwirreitben@influß  auSübt. 

©tiblid)  aber  muß  barauf  tjingemiefen  tuerben,  baß  alle 
unfere  Betrachtungen,  uon  ben  Unterftellungen  auSgeben,  baß  bie 
BererbungSfraft  bei  beiben  ©efchledjteru  bie  nämliche  fei  unb  baß 
bie  urfpriinglidjen  $t)pen  A unb  B fid)  au§  beiben  ®cfchled)tern 
gleichmäßig  gemifcßt  hätten.  $)a3  Seßtere  trifft  aber  nicht  ju 
unb -baS  ©rftere  ift  noch  lange  nicht  genügeitb  unterfudjt.  Bei 
einem  mit  Kriegsmacht  einriidenben  (Eroberer  wirb  bie  männliche 
Benölferung  überwiegcn,  bei  bem  Unterworfenen,  beffen  Krieger 
im  Kampfe  geblieben  finb,  bie  weiblicbe.  333ir  müßten  alfo  bei 
bem  XppuS  A einen  Ueberfchuß  oon  SHännerit,  bei  bem  2t)pu$ 
B einen  Ueberfchuß  oon  grauen  annehmen  unb  wir  wiffen  nicht, 
welche  golgerttngen  fid)  hieraus  für  bie  ÜJterfmalc  ber  Stach1 
lommen  ergeben  föittien.  Unbenfbar  wäre  es  ja  nicht,  baß  baS 
eine  ©efd)led)t  mehr  bie  Körpergeftalt,  baS  anbere  mehr  baS 
Pigment  Bererbt.  Sind)  bie  Borgänge  bei  bem  allmählichen 
ginbringen  ber  ©ermatten  in  bie  ©cßmargmalbthäler  unb  ber 
Slntßeil  beiber  ©efcßledjter  an  biefer  Kolonifation  hat  manches 
Unflare.  SBir  biirfett  beSwegen  recht  befriebigt  fein,  baß  troß 
allebem  an  einigen  ©teilen  baS  obige  ©efeß  fo  beutlid)  unb 
fonfequent  ßeroortritt,  unb  müffeu  bie  ©rfläritng  ber  S(b> 
weicßungen  fpäteren  Unterfuchungen  überlaffen. 

Sammlung.  91.  -J.  V.  101.  3 (167) 


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guijt  Schluffe  fei  tiod)  eine«  gait^  eigenthümlidjen  Skfuitbe« 
in  ben  größeren  Stäbteu  gebaut.  äBir  hoben  bic  Stabte 
fUlatinheint,  £>eibelbcrg,  ftarlsruhe  uitb  £örrad)  getrennt  ooit 
ihren  fianbbejirfen  bemäntelt,  uttb  wo  bisher  bicfe  Söe^irfe  an- 
geführt würben,  waren  bie  gatjlen  ftets  mit  9luSfd)luf)  ber  Stabt 
311  üerftefjcn.  5»  ber  Statiftif  ber  Stabte  felbft  hoben  wir 
aber  nur  biejeitigeit  ^Pflichtigen  aufgeführt,  welche  in  ber  betr. 
Stabt  felbft  geboren  finb;  bie  auswärts  geborenen,  welche  fid) 
bloß  in  ber  Stabt  aufhielten  unb  *ur  SRufterung  ftellten, 
machten  eine  feßr  groffe  $ahl  aus,  mufften  aber  uothwenbig 
wegbleiben.  Saburd)  ift  nun  bie  ü)löglid)feit  gewährt,  bie  Stäbte 
mit  ihren  Sanbbejirfen  *u  ucrglcichen.  2)aS  ffirgebniß  in  betreff 
ber  Singen  ift,  baß  in  ben  Stabten  halb  bie  blauen,  halb  bic 
braunen  Singen  etwa«  ftärfer  uertreten  finb,  als  in  beit  9fadjbar* 
börfern.  hingegen  waren  bie  blonbcn  £aare  in  allen  Stabten 
ein  wenig  ^al)lrcid)er  als  auf  bent  Sattbe,  was  fd)Werlich  Semano 
erwartet  hoben  wirb. 

Sille  Stäbte  hotten  mehr  ÖJrojje  als  baS  Saiib,  nur  bei 
^Mannheim  waren  bie  ßohlen  gleidj,  unb  ohne  SluSnahnte  hotten 
bie  Stäbte  bebeutenb  weniger  ft  leine,  hierin  äußert  fid)  ber 
(Einfluß  ber  beffereu  Skrbicitft*  unb  ßrnährungSeerhältniffe  ber 
Stabt|ugenb.  SBie  fd)ott  früher  bemerft,  ift  bie  (Sntwicfelung 
ber  üanbjugenb  eine  oiel  Iangfamere.  Obige«  (frgcbnifj  beweift 
beSwcgeu  nicht,  baff  bie  aitSgewachfcne  Sanbbeoölferung  Heiner 
ift,  als  bie  ausgcwachfeiie  Stabtbeoölferung,  fonbern  nur,  baß 
im  20.  £ebensjaf)r  mehr  ausgewachfeuc  üeute  in  ber  Stabt 
oort)aitbeu  finb,  als  auf  bem  £anbc.  Schon  bei  ben  3uriicf« 
gefteUten  finb  bic  Unterfchiebe  geringer,  pm  Sljeil  fogar  bie 
ßanbleutc  größer.  — ®ic  allermerfruürbigfte  Srfdjeitiuiig  aber, 
bie  bis  jeßt  feber  nusrcidjeitben  ©rflärung  gefpottet  hot,  ift  bie 
oorwiegenbe  Öangföpfigfeit  ber  Stäbter  gegenüber  ben  benachbarten 
Canbbewohnern.  .'pier  bic  3ah^f,I: 

(165) 


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Xoli(t)titc 

ViipabraduiiiiitaU'. 

Statt 

t'aiiO 

Statt 

Itant: 

43.4% 

34,8% 

10,4% 

14.57 . 

JÖfibelbcrfl 

37,57» 

17,3% 

4 .67» 

•25,4"/.. 

ÄartSrubc 

33.0% 

13,0% 

IG, 5 7» 

32,9% 

Siörrad) 

‘25,8% 

21,4% 

•25,8% 

28.8  % 

©teilt  man  wiebcrbie  abfoluteu  Kopf>2äitgcit  mit»  Breiten  ju« 
fammen  (ruobei  Karlsruhe  wegen  Seitu^unß  eines  älteren  ÜJtejj* 
inftmmenteS  uid)t  birelt  uergleidjsfäbig  ift)  jo  ergiebt  fidj : 


eänflf  19  cm 

u.  barubrr 

Vdiiflr  unter 

1$  cm 

Statt 

£anb: 

Stobt 

Üant 

i)iaiiiil)cirn 

30,7  7 j 

27,1  % 

12,17» 

17,27» 

.peibelberg 

38,27» 

2G.8% 

14,li% 

15,97  • 

H'örrarfi 

33.3  " o 

29,57» 

4,8% 

13,77» 

ttrritr  lt;  cm 

u.  tarfibrr: 

Breite  unter  15  cm 

3Haittil)cim 

3,2% 

4,9% 

4G,1  % 

35,77» 

peibelberg 

5,5% 

11,47  » 

36,1  7» 

19.4  7» 

Sörrad) 

14,5% 

19,1  7» 

12.97» 

21,5% 

2(l)o:  Sn  ben  Stäbtcn,  uerglidjeit  mit  ben  umgebenbeit 
Üanbgemeiitbeii,  in  e t)  r lange  Köpfe  öon  19  ein  an  aufwärts  nnb 
weniger  furje  Köpfe  unter  18  ein;  beSglcidjeu  weniger 
breite  Köpfe  non  16  cm  aufwärts,  in  ÜJlaiiitljeim  nnb  .'peibelberg 
and)  mefjr  fdjmale  Köpfe  unter  15  cm,  in  fiörrad),  ©tabt, 
oor^errfdjeiib  Köpfe  oon  mittlerer  iöreite;  fummarijd)  ausgebriieft: 
lange  fdjntale  Köpfe  in  ber  ©tabt,  furje,  breite  auf  bem  2anb. 

£abei  ift  j*u  beriicffid)tigen,  bafj  bie  Zöglinge  Oberer 
i'ebranftalten,  überhaupt  alle  ©ebilbeteren,  wcldje  bie  öerecb« 
tigung  jum  IDienft  als  Sitijäbrigfreiwillige  hefigen,  in  ber  ©tatiftif 
feilen;  um  bie  fiiicfe  auSpfüHeit,  wirb  eS  nötfjig  fein,  an  einigen 
ögmnafien  nnb  iKealfdntleit  bie  Köpfe  ber  3üglii»ge  j)u  meffen. 

SSaS  will  aber  ber  merfwiirbige  Sefunb  beigen?  Ü)lad)t 
bas  ftäbtifd)e  2eben  bie  Köpfe  laug  nnb  fdptial?  über  üben 
bie  belferen  Schulen  biefeu  (Siuflufj?  Sollte  bie  bisher  geleng« 
nete  iBejiebuitg  bcs  Kopfinbej;  jur  ©ciftestbätiglcit  bod)  be- 
heben? ©inb  bie  ftrebfamern  SBolfSelementc,  weldje  nad)  ben 

3*  fl  «>:»; 


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Stabten  ftrömeu,  lattgföpfig,  bie  au  bev  Schotte  ftebenben  runb« 
föpfig?  (Srfliirt  ficf>  bie  feit  ber  Urzeit  cingetretcite  aflgemeitte 
Sßcrminbernug  bev  Sangfüpfc  uiedeidjt  gum  J^eil  babured,  baß 
biefc  non  beit  Stabten  angegogen  nttb  aflmät)ticfj  bort  aufgeric* 
ben  tuerbeit,  fo  baß  bie  Stnenernng  ber  ©enofferung  mef)r  unb 
ntetjr  ben  ’lanblicden  SHunbföpfen  anffeimfädt?  Ober  fpridjt  fid) 
in  ber  Sangföpfigfeit  ber  Stiibtcr  eine  fdaedwirfung  auS  ber 
^cit  ber  Stäbtegriinbnitgcn  burcf)  ^atrigier  gernianifd)er  Slbfunft 
aus?  Stuf  ade  biefe  fragen  fönute  einftroeifen  nur  mit  5ßer> 
mutdungen  geantwortet  werben.  3dj  begnüge  ntief)  bamit,  bie* 
fei  ben  fdjon  in  ber  grageftedung  angebeutet  gu  ^aben,  ofpte 
mied  für  eine  berfelben  gu  entfefjeiben.  Slber  gewiß  ift  bie 
3) olirfjocepbatic  ber  Stabtbewodtier  eine  ber  merfwürbigften  $dflt* 
fachen,  meldjc  ben  ?fntdropotogen  nod)  mandjeä  gu  benfen  geben  wirb. 


ftnntcrfititgcit. 

1 ®ro§e  (nad)  Monte)  »on  1,70  in  aujioärt*,  Steine  unter 
1,62  m.  a(fo  cinjdjlieiilid)  1,615  in. 

I Da?  itämlidje  Grgebnif;  faub  Sertilton  fiir  einige  Departement? 
ftranfreid)?.  Sgl.  Da  la  methode  statistique  dans  l’anthropologie  in  ben 
Annnles  de  demographie  internationale  1882. 

•'  Stau  »erftetjt  unter  Sopfiubcjr  bie  für  ben  Mafiend)arofter  mistige 
SrOjeuWerpältniBjatil  ber  gröftten  Breite  bei  Sopfe?  jur  tjori^ontaten  Sänge, 
leptorc  = 100  geietjt.  9tad)  ben  ftnbicc?  non  5 ju  5 Ginfjeiten  anfteigenb, 
tpcilt  mau  bie  Sopfe  in  Staffen  cm,  welche  in  ber  labclle  6.  9 erfidjtlidf 
gemalt  finb.  Die  brei  Staffen  mit  meniger  al?  ftubcj  80  toerben  in  ber 
©Cjeidjnung  „Dolicfjoibe"  jufammengefabt,  bie  brei  Staffen  bon  ftnbej:  85 
aufwärts  in  ber  Sejeidpiung  „Munbföpfe." 

4 Diefe?  Sraitiomctcr  in  ber  ungefähren  Olcftatt  be?  Sirdtoroidfen 
wirb  non  9t.  ftteftler  in  Sapr  mit  bödjfter  üfenauigfeit  tjergcfteüt. 

••  Sei  ber  oerfcfjicbeneu  Stiidping  ber  röüjtidieu  unb  bräunlichen 
.'pnariefiattirungen  fann  bao  Sortianbenfcin  zweier  Pigmente,  eine«  flüffigen 
unb  eine?  feiten,  eine  Motte  fpictcn.  Sgt.  ©atbeper,  2tttas  ber  menfcfi- 
ticken  unb  thierifdjeu  £iaare,  Satjr  1884  ©.  18  ff. 

II  .pierbei  benutzte  id>  bie  gteidicn  ftarbeu  wie  fßrofeffor  Dr.  ftot). 
Manfe  in  feinen  Seiträgcu  ,wr  9lntf)ropo(ogie  ber  Supern,  Stiindjcu  1888. 

7 Sdtrifteu  be?  Ser.  f.  ßcfcfi  n.  Staturg.  D Saar  (1885),  V,  135. 

s 3eüfd)rift  f.  ßcfcf).  b.  CberrtjeittS,  9t.  ft.  IV  3. 

’■  Sefonbcr?  diaraf tertftifdi  fttorrntiuS,  GtectuS,  Cuinti.  Subicinu?. 
McmebinS,  StniotuS.  Sorannu?  n.  p 9t.  nt. 


(170 


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(JMurftaito  brutto. 


(Ein  Ittärtijm  iirr  (BeiftesTrfiljcit 


©in 

Sebent  uub  (£t)arafterbi(b  aus  bent  16.  3al)rl)imbert. 

2$on 

4 

Äebtotfl  ^enber 

in  Sifenad) 


Hamburg. 

SerlagSanftalt  uitb  3)rucferei  21.=©.  (oormatö  3-  5-  9ttcf)ter). 

1890. 


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Jio«  SRedjt  bfr  Ueberfefcunß  in  frembe  Sprachen  roirb  oorbebolten. 


Inid  bft  SSrrlagbanftatt  unb  Ttudfrci  9(ctifn>C'cMl?(6aft 
(normal«  3.  3-  HiAttt)  in  Hamburg. 


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17.  gebruor  1600  fanb  auf  bcm  ßampo  bei  giori 
in  Nom  eine  jener  grauenooßen  geierlidifeiten  ftatt,  bie  in  ben 
Jagen  fanatifefjen  ©laubettghaffeg  nichtg  Slußergeiuö^nlic^eö 
waren — • eine  ooit  jenen  Äeßeroerbrennungen , bereit  bie  ewige 
Stabt  jo  oiele  gefehen.  Jag  3af)r  1000  war  ein  päpftlid)eg 
3ubeljaf)r  unb  Nom  war  aug  biejem  Slnlajj  oott  Slnbädßigen 
überfüllt;  aug  aßen  J^eifen  ber  abenblänbifdjett  Gfjriftenljeit 
jtrömten  jie  unabläffig  gu  Jaufenben  unb  Slbertaujenben  herbei. 
So  war  auch  bie  $af)l  ber  Neugierigen,  bie  bem  grauenooßen 
Sreignijjj  auf  bem  (Sampo  bei  gi^i  beiwohnten,  aßer  SBahr« 
jrf)einlid)feit  nach  fehr  9r°fe;  bettnoch  würbe  feine  Stimme  beg 
Ntitleibg  unb  ber  menfdjlichen  Jfjeiluahme  für  bag  jammerooße 
Scf)icffal  beg  Unglücflidjen,  ben  man  bem  glammentob  über« 
lieferte,  laut;  nur  neugierige  unb  tljeitna^mlofe  ober  böfjttifche 
unb  ^afeerfüßte  231icfe  begleiteten  i()n,  alg  er  feften  Schritteg 
unb  männlichen  Niutheg  ben  brettuenben  fpofgftojj  beftieg.  . . . 
SSag  fümmerte  eg  auch  bie  ftumpffinnige  ober  fiinftlich  auf- 
geftachelte  unb  faitatifirte  ÜJfenge,  baff  biefer  Unglücfliche  ein 
Jidßer  unb  tieffinniger  Jenfer  war,  ein  Sßahrheitg*  uitb  3frei* 
heitgapoftel,  wie  eg  nicht  oiele  gegeben  hat  unb  einer  ber  ebelften 
©eifter,  bie  jemalg  auf  Grrbett  gelebt?  3n  ihren  Slugen  war 
er  nur  ber  Nudjlofe,  ber  ©ott  unb  bie  heilige  ftirdje  geläftert 

Sammlung.  'Tt.  &.  V.  102.  1*  <173.! 


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4 


hatte,  bcr  abtrünnige  SDiöttd)  unb  ^riefter , bev  oerbammungs* 
njürbige  |>ärefiard). 

§eutjutage  freilich  urteilt  matt  attber«  über  bctt  großen 
fDtann  unb  fein  tragifdje«  So«.  ©dfon  feit  geraumer  Seit  rüftete 
man  fid)  in  feinem  ©aterlanbe  ißm  in  ber  einigen  ©tabt  ein  ®euf> 
mal  ju  feßen,  auf  bem  nämlichen  ßampo  bei  giori,  auf  bem  er 
an  jenem  benfmürbigeu  17.  gebruar  oor  nunmehr  halb  brei> 
ßunbert  Saßren  beit  geuertob  erlitt,  ©rfeßeint  bod)  berfelbc 
SDiann,  ber  nach  mittelalterlicher  SlnffaffungSmcife  ein  flud)< 
toürbiger  $e£er  mar,  nach  moberner  SluffaffungSroeife  al«  ein 
SDiärtprer,  ber  für  feine  miffeufcßaftlidje  Ueberjeuguttg  ftarb, 
als  ein  ©orfämpfer  ber  ©ebanten»  unb  ©emiffen«freißeit,  als 
ein  gottbegeifterter  ißropßet. 1 

ftein  SSunber  baher,  baß  ber  mittelalterliche  ©eift,  ber  auch 
heute  noch  feineStuegS  erlofchen  ift,  ben  Spanen  biefeS  3J?aitue« 
bie  unöerfößnlichfte  geinbfdjaft  gefchmoren  hot  — fein  SBunber, 
baß  er  alle  §ebel  in  ©emegung  feßte,  um  ju  üerßinberit,  baß 
fein  bereit«  ooQenbete«  ©tanbbilb  fich  fiegreich  auf  bem  ßatnpo 
bei  giori  erhöbe,  ein  triumpßirenbe«  SSahrjeicßeH  ber  miihfam 
errungenen  ©eifteSfreißeit,  ein  oerförperter  ißroteft  gegen  römifd)e 
Unbulbfamfeit  unb  gegen  jebe  Slrt  oou  ®eifteSfned)tfdjaft  uttb 
ßierarchifcher  Sprannei.  Kein  SBunber  aber  auch,  baß  bie 
SBeigerung  be«  flerifaf  gefilmten  römifd)en  ©emeinberatß«,  feine 
Ginmilligung  jur  (Errichtung  be«  ®enfmal«  ju  geben,  einen 
©türm  be«  UnroiUeit«  entfeffelt  hat,  bcr  auch  außerhalb  Italien« 
in  Uaufenbett  oou  fperjen  begeifterten  SBiberßafl  medte  — unb 
baß  mau  bieäfeit«  mie  jenfeit«  ber  Sllpen  bie  meitere  Gutmiefe’ 
lung  ber  Sltigelegenßeit  mit  gefpanntefter  Slufmerffamfeit  unb 
tiefinnerlicher  Slntheilnoßme  oerfolgte.  Um  bie  ßoeßgrabige 
(Erregung  ber  ©emiitßcr  auf  beibett  ©eiten  begreiflich  ju  finben, 
braudjt  man  fid)  ja  nur  bie  ©röße  unb  mahrhaft  einzige  ©e* 
beutung  be«  ÜDiamte«  (m  oergegenmärtigen,  beffen  ^erfönlidjfeit 

(174) 


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o 


im  aWittelpunfte  bei  ganzen  mit  io  großer  Jpeftigfeit  entbrannten 
&ampfel  ftefjt.  3 ft  bocf)  biefer  Wann  fein  (Geringerer  all  ber 
gröfjefte  unb  tieffimtigfte  fpefulatioe  ©eniul  Stalienl,  fein  (Ge* 
ringerer  all  ber  füfpifte  unb  begeiftertfte  Berfünbiger  bei  Sill* 
einljeitlgebanfenl,  fein  ©eringerer  all  ©iorbano  Bruno.  — 

@1  giebt  ©rfdjeinungen  in  ber  Wenfd)engefd)idjte,  bie  fernen, 
fjocfjragenben,  fonnenbeglänjten  Berggipfeln  gleicf)  aul  bett 
bämmernben  Siefen  ber  Saljrfjunberte  ju  uni  fjerübergrüjjen  — 
©rfdjeinungen , bie  einen  ftillen,  aber  unwiberfteljlidjen  $auber 
auf  uni  aulüben,  weil  ein  Slbglanj  ewigen  fiidjtl  oon  ifjren 
Stirnen  leuchtet  unb  ein  Straljlenfranj  unfterblidjen  fRuljml 
ifyre  Häupter  umfdjwebt. 

Solche  ©rfdjeinungett  toirfen  6efreienb,  fjer^bejwingenb  unb 
fjerjerljebeub  toie  eine  woljltfjätige  l)imtnlifcf|e  Wad)t;  fie  jeigeit 
uni,  wal  Wenfdjett  fein  unb  leiften  fönnen,  unb  wenn  wir  ju 
i|nen  aufblicfen,  wirb  uni  groß  unb  feierlich  ju  Sinn.  2öie 
ftärfenber  Sebenlobem  wel)t  el  aul  jenen  ^Regionen,  in  benen 
fie  beimifd)  finb,  ju  uni  fjer;  wir  glauben,  inbem  wir  ifjnen 
naljefommen,  jene  geiftige  .^ö^enluft  ju  atlpnen,  bie  ju  allen 
Seiten  bal  Sebenlefement  aulgejeidjneter  Wenigen  gewefen  ift, 
bie  unfere  im  Stampf  mit  ber  Wülifal  unb  @rbärmlid)feit  bei 
SlHtagllebenl  ermatteten  Strafte  ftärft,  bie  bal  bebrüefte  ©ernittf) 
entlaftet  unb  el  allem,  wal  niebrig  unb  fleinlid)  ift,  enthebt. 

3u  ben  aufjergewöfjtilidjen  Crfdjeinuitgen  in  biefem  Sinne 
gehört  aud)  biejenige  ©iorbano  Brunol.  3d)  glanbe  nidjt, 
baß  matt  fic^  in  bie  Sebenlgcfdjidjte  unb  in  bie  geiftige  ©igenart 
biefcl  feltcnen  Wannei  »erliefen  fann,  oljne  fid)  »on  Bewunbe« 
ruitg  burdjbrungen  gu  füllen  unb  otjne  tief  innerlid)  ergriffen 
ju  werben,  fowofjl  »on  ber  ©röfje  feinel  ©eniel  unb  ber 
Seelenftärfe,  bie  ac^t  fdjrecfcnloolle  Sterferjafjre  mit  aßen 
pfjtjfifcfjen  unb  feelijdjen  Wärtern,  bie  fie  in  fid)  fcfjloffen,  nidjt 
ju  erftfjüttern  »ermodjten,  all  and)  »on  ber  tragifefjen  ©rüfje 

(175> 


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feineg  jammeroollen  ©efcßitfeg.  $enn  alle  biefe  Momente 
tüirfen  bei  ißm  f>armonifd;  gufammen,  um  einen  ©inbrud  ßeruor« 
gubringen,  bem  oielleicßt  fein  gweiter,  ißm  oöllig  ebenbürtiger 
an  bie  ©eite  geftellt  werben  fann;  alle  biefe  Momente  muffen 
aber  eben  begßalb  audj  gleicßerroeife  itt  öctracßt  gegogen  werben, 
wenn  matt  ber  waßrßaft  einzigen  Sebeutung  ©iorbano  SrunoS 
ißrem  üollen  Umfange  nad]  gerecht  werben  will.  — 

©efjörte  er  bod;  gn  beit  wenigen  Slugerwäßlten,  beren  Sin» 
fprud)  auf  Unfterblidffeit  auf  ineßr  alg  einem  SRedßgtitel  beruht. 
SBeldje  ßcrüorragettbe  ©teile  fein  SRame  in  ber  Sntroidelungg» 
gefcßidjte  beg  mobertten,  pßilofopßifcßen  SBewußtfeing  entnimmt, 
wa§  er  alg  fdjarffinuiger  unb  tieffinniger  Genfer  für  bie 
9Biffenfd)aft  geleiftet,  wag  ingbefonbere  wir  Eeutfcße  in  p^ilo» 
fopßifcßer  wie  litterarifdjer  öegießung  ißm  gu  oerbanfett  ßaben : 
bag  atleg  ift  ßeutgutage  in  fadjwiffenfdjaftlidjeu  Greifen  läugft 
twfl  gewürbigt  unb  erfannt.  2)ie  SRacßwelt  ift  eine  ftrenge, 
oft  tiberftrenge  fRidjteriit,  aber  ißm  fjat  fie,  feit  feine  ©Triften 
meßr  unb  meßr  ber  unoerbicnten  Sßergeffenßeit  entriidt  worben 
finb,  beit  oollen  Ärang  ber  ©Ijren,  ben  fie  augfdßließlid)  ben 
Srften  unb  SBeften  barreicßt,  geweißt.  @r  ift  ber  größte  $ßßilo= 
fopß  3talieng,  ber  größte  ber  SRenaiffance;  er  ift  ber  ©cßöpfer 
unb  begeiftertfte  Slpoftel  ber  mobernen,  pautßeiftifdjen  28eft» 
aufdjauung,  bie  in  ©pinogag  Seßre  ißre  fonfequeutefte  wiffew 
fcßaftlicße  Sluggeftaltung  unb  in  ©oetßeg  ^oefien  ißre  ßerrlicßfte 
bicßterifdje  SBerförperung  unb  SBerfläruug  fanb.  — Sber  wie 
groß  feine  roiffenfcßaftlicße  Sebeutuug  aucß  ift:  nicßt  bloß  afg 
genialer  uitb  tieffinniger  Genfer,  nicßt  bloß  alg  entßufiaftifcßer 
unb  waßrßaft  propßetifcßer  SBerfünbiger  unfterblidjer  Sbeen, 
aud)  alg  fjjelb  unb  SRärtprer  unb  fiegreicßer  Xriuntpßator  ftcßt 
er  üor  utig  ba:  S)ie  ©cfcßidfte  feiner  Srrfaßrteit  unb  Sciben 
wirft  auf  itng  wie  ein  ergreifenbeg  ©ebicßt.  ©ein  gangeg 
Unfein  erfdjeint  alg  ein  eingiger  großer  Stampf,  beit  er  mit 

ri76) 


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i 

wiberftreitenben  Mächten  fämpfte  unb  ber  in  bcn  Stammen  beS 
Scheiterhaufens  feinen  erfchütternben  §lbfd)Iuß  fanb  — ein  Mampf 
für  eine  heilige,  mit  begeifterter  Snnigfeit  ergriffene  unb  lebens- 
lang hochgehaltene  Ueber^cugung,  ein  Mampf  für  eine  große, 
einige,  fein  ganjeS  ©innen  unb  brachten  erfiillenbe  nnb  be* 
herrfchenbc  3bee.  $iefer  Umftanb  giebt  feinem  liebenSbilbe  eine 
(Sinheitlichfeit  unb  ©efcßloffenheit,  tuie  fte  uttS  nur  äußerft  feiten 
in  ber  Söelt  ber  S53irflid)leit  entgegentreten,  eine  tiefe,  luahrhaft 
fpmbolifche  ©ebeutung  unb  eine  großartige  Harmonie.  3nbem 
wir  ihn  auf  feinem  SebeuSgang,  ber  fich  mehr  unb  mehr  ju 
einem  CeibeitSgang  geftaltete,  begleiten,  burdjftrömt  uns  mit 
©<f)auem  ber  Shtfwvcht  bie  beglticfeube  Ueber, jeuguug,  baß  hiev 
bie  (ihavaftergröße  beS  Menfcßen  fich  mit  ber  ©röße  beS  ©eniuS, 
ber  in  ißm  wohnte,  becft,  unb  baß  biefer  Mann  eS  wertß  ift, 
baß  fein  9lame  unfterblid)  in  ber  ©rinnerung  ber  9ladjwelt 
lebt. 

©iorbano  ©runo  tourbe  — loahrfcheiitlich  im  3aßre  1548  — 
ju  9lola  in  ©atnpattien  geboren.  Ueber  bie  ©erljältniffe  feiner 
©Itern  unb  feine  eigenen  früheften  SebenSfcßicffale  befißeu  wir 
nur  fpärlicße  Munbe.  ©on  feinem  ©ater  ©iobanni  wirb  be- 
richtet, baß  er  ein  MriegStnann  gewefen  fei,  unb  außerbem  — 
was  einen  ©iicffchluß  auf  feinen  ©ilbuitgsgrab  unb  feine  gefell* 
fchaftliche  Stellung  erlaubt  — ein  guter  greuttb  beS  SMcßterS 
Xanfido;  feine  -Mutter  feitnen  wir  nur  bem  Flamen  nach  — 
fte  hieß  gvauliffa  ©aoolina.  ©Jas  feine  ©aterftabt  9tola  betrifft, 
fo  ift  bie  herrliche  liagc  berfelben  ebeitfowohl  wie  bie  $hatfad)e, 
baß  feit  ben  $agen  SiaurentiuS  ©alias,  beS  berühmten  ©djrift- 
fteüerS  unb  2llterthumSforf<herS , ein  reges,  geiftigeS  lieben  in 
ihren  Mauern  geherrfdjt  hat/  befannt.  ®ie  ©djönheit  ber  iljn 
umgebenben  Ulatur  machte,  wie  wir  aitS  feinem  eigenen  Munbe 
wiffett,  tiefen  ©inbruef  auf  ©runoS  ©emüth,  unb  ba  er  leb» 
haften  ©eiftes  war,  fo  ift  es  aud)  waf)rfcheinlich,  baß  er  troß 

(ITT) 


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8 


feiner  großen  Sugenb  bantalS  fdjon  moniertet  Snregungen, 
bie  auf  ben  ©ang  feiner  inneren  ©ntwicfelung  non  (Sinflufj 
waren,  aus  ber  geiftig  bewegten  Stmofpbäre,  bie  ihn  umgab, 
empfing.  SQcrbiitgS  bat  er  nur  ben  erften,  frübeften  I^eil 
feines  Knabenalters  in  9io(a  oerlebt.  SIS  er  baS  je^nte  SiebenS* 
jafjr  juriicfgelegt  batte,  braute  man  ifpi  feiner  weiteren  geiftigen 
Susbilbung  wegen  nad)  Neapel,  unb  ^ier  trat  er  im  3af)re  1563 
in  beit  Dominilanerorben  ein  unb  wohnte  faft  neun  Sa^re  lang 
in  bemfelben  ftlofter,  in  bem  einft  Db°ntaS  oon  Squino,  bie 
£eud)te  ber  mittelalterlichen  SBiffenfc^aft,  ber  '-öater  ber  ©cbolaftil, 
gewirlt.  1572  erlangte  er  bie  ^ßriefterwei^e  unb  würbe  nun 
in  baS  Klofter  ©an  ©artolommeo  in  ßampanien  unb  balb 
barauf  lurj  itadjeinanber  in  oerfdjiebene  anbere  Klöfter  oerjeßt; 
erft  nach  einer  Sbwefenbeit  oon  etwa  brei  3ahren  lehrte  er 
nach  Neapel  in  bie  früheren  Sierhältniffe  jurücf.  — 52Diefe  ganje 
3eit  ber  llöfterlicben  ©title  war  jum  $he*f  bereits  eigenen 
fd)riftftellcrifchen  Srbeiten,  in  erfter  jReibe  aber  bem  ©tubium 
antifer  Genfer  unb  dichter  geweiht.  (Sr  fchricb  feiner  eigenen 
Sngabe  jufolge  oerfchiebene  fomifche  unb  tragifdje  Dichtungen, 
bie  aber  mit  einziger  SuSnabme  eines  noch  oorbanbenen  Üuft- 
fpielSs  oerloren  gegangen  fiitb;  baneben  laS  er  £ufre$  unb  ißlotin 
unb  machte  fid)  grünblich  mit  ißlaton  unb  SriftoteleS  belannt. 
Such  KoperniluS,  beffen  großartige  fietjre  oon  entfcheibenbem 
©iitfluß  auf  feine  gan^e  fernere  SSelt-  unb  SebenSauffafiuttg 
werben  fottte,  „pochte",  wie  er  felbft  fich  auSbrüdt,  fchon  bamals 
an  bie  fßforten  feines  jugenblichen  ©eniütbS.  Die  folgen  biefer 
oielfeitigen,  nach  ben  üerfdjiebenften  Stiftungen  bi»  aitregenben 
©tubien  blieben  nift  auS.  ©iorbano  öruno  gehörte  ohnehin 
nicht  ju  Denjenigen,  bie  fähig  waren,  fich  in  bie  oorgefdjriebenen, 
ein  für  allemal  feftftehenben  Den!-  unb  ©laubenSfdjablonen 
mittelalterlicher  Dogmatil  ju  fügen  unb  in  ben  ausgetretenen 
©eleifen  fdjolaftiffer  SBort«  unb  ©egriffSfpielerei,  beren  innere 

(178) 


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‘I 


$of)ff)ett  er  nur  ju  halb  burd)fd)aut  Ijatte,  ju  wanbeln.  (Sr 
war  eine  bnrch  unb  bitrd)  fauftifdj  angelegte  ©atur  unb  befaß 
neben  einem  tief  religiöfeu  ©entütlje  einen  füllten  mit  (eiben- 
fdjaftlidjer  Subrunft  nach  SBafjrheit  oerlangenben,  ungebänbigt 
unb  raftloö  immer  oorwärt«  ftrebenbcn  ©eift;  einen  ©eift,  ber 
ganj  Seben  unb  geniale  ©cweg(id)feit  mar,  ber  auf  ben  Schwingen 
feiner  bichterifchen  ^^antafie  ade  ^lö^en  unb  liefen  ber  Un» 
enblicßfeit  burdjfdjweifte,  ber  ba«  gerufte  wie  ba«  junädjft 
Siegenbe  mit  gleid)er  Scbhaftigfeit  ergriff  unb  ba«  §eterogenfte 
mit  fpieleitber  fieid)tigfeit  oerbanb.  ©ein  gattje«  SBefen  brängte 
infolgebeffen  mit  innerer  fftotfjwenbigfeit  über  alle«  bloß  Sleußer- 
(icfje,  ©djablonenhafte  in  religiöfen  Singen  fjinau«  unb  ju  felbft- 
tljätigem,  geiftigem  Slneignett  unb  getnütljlichem  (Srfaffett  ber 
SBaör£»eit  hin.  2Bie  ebenfooiele  jünbenbe  ^euerfunfen  fielen 
eben  beSfjalb  bie  neuen,  ißm  bi«  baljiit  ganj  fern  (iegettbcn 
©orftedungen  unb  3been,  bie  er  au«  bem  felbftänbigen  ©tubium 
ber  Sllten  unb  au«  ber  SMtüre  bc«  ttopentifu«  fdjöpfte,  in  be« 
heißblütigen  Jüngling«  empfängliche«,  für  ade«,  wa«  ihm  groß 
unb  ebel  erfchieu,  (eicht  ju  begeifternbe«  ©ernüth-  Unter  ihrem 
(Einfluß  jerfprengte  fein  ©eift  bie  geffeln,  bie  ihn  bi«  bal)in 
nmwunben  gehalten,  unb  lüfte  fidj  oon  bem  ©oben,  in  bem  fein 
gefamte«  religiöfe«  Settfen  unb  giihlen  bi«  bahin  gewurjelt 
hatte.  Io«;  unter  ihrem  (Einfluß  gewarnt  bie  großartige  einheit- 
liche 3BeItanfd)auuug , beren  begeifterter  ©erfünbiger  er  nach- 
mal«  werben  fodte,  in  feiner  ©eele  unb  ©eftalt. 

Saß  ein  ÜJIann  oon  foldjer  Senfung«art  unb  ©eifte«rid)* 
tung  mit  ben  SKnfchauungen  unb  Senbcn^en,  bie  in  feiner  Um- 
gebung bie  herefchenben  waren,  fehr  halb  in  Äonflift  gerieth 
unb  nach  Sage  ber  93er£>ä(tniffe  auch  nothwenbig  geraden 
mußte,  liegt  auf  ber  $anb.  äBar  hoch  gcrabe  in  jenen  Sagen 
ber  ©eift  ber  Unbulbfamfeit  unb  be«  gaitatilmu«,  ber  mit 
©aul  IV.  feiner  3eit  (1555)  gleicfjfam  in  'perfoit  ben  päpftlidjcn 

(179) 


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10 


Stußl  befliegen  batte,  innerhalb  ber  römifcfjen  Äircfje  immer 
allgemeiner  uub  immer  riicf^altlofer  jurn  Durchbruch  gelangt. 
Qi  mar  baä  3e‘tatter  &er  ©egenreformation  ober,  roie  man  ei 
and)  genannt  l)at,  ber  fatf)olifc§en  Deftauration.  Doch  jitterte 
in  Daufenben  unb  Äbertaufenben  oon  ©emiitbern  bie  mächtige 
Seroegung  nach,  bie  ba«  große  meltbiftorifdje  @reigni§  ber 
Deformation,  ba3  ficb  in  ber  erften  fjälfte  be8  Sabrbunbert* 
in  Deutfcßlanb  abgefpielt,  in  ber  gefamten  abenbläitbifcben 
CS^riftenbeü  ^erüorgerufen  batte  — , noch  brannte  aller  Crteit 
tbeilS  offen,  t^eilS  oerftedt  baä  fieuer  fort,  ba8  ber  mutbige 
SDöncb  »on  Söittenberg  bureb  bie  Verbrennung  ber  päpftlid)en 
VannbuOe  mit  ftarfer  $anb  entjünbet.  Um  fo  energifdjer  aber 
machte  ficb  nun  audj  oon  ber  entgegengejeßten  ©eite  ber  ber 
Düdfcßtag  geltenb,  um  fo  eifriger  mar  ber  fpe^ififd)  römifebe 
©eift  beftrebt,  bie  überall  auffebießenben  fteime  ber  fteßerei  gum 
menigften  in  ben  itod)  oorroiegenb  gut  fatbolifdjen  Sänbern  ju 
erftiden.  tiefer  ©eift  mar  e§,  ber  3gnaj  oon  Sopola  jur 
Stiftung  be§  Qefuiteuorbenä  begeifterte,  er  mar  eä  auch,  ber 
bie  ©reuet  ber  Vartbolomauauacbt  jeitigte  unb  ber  in  bem 
Debeum,  ba§  ©regor  XIII.  auf  bie  erfte  fiuitbe  biefes  grauen- 
ooKen  ©reigniffeS  b'n  anftimmen  ließ,  feinen  empörenbften  Slu§« 
brud  fanb.  Slber  nicht  nur  nach  außen  bin,  auch  innerhalb  ber 
römifebett  &ird)e  felbft  befunbete  biefer  ©eift  feine  Üttacbt,  offen» 
barte  er  bie  gleiche,  reaftioitöre,  auf  fdjraufenlofe  Unterjocbung 
unb  Veberrfcbung  ber  ©eifter  unb  ©emiitber  gerichtete  Deitbenj. 
Stuf  bie  oorbergegangene  ißeriobe  übermäßiger  Säffigfeit  in 
3ud)t  unb  Sehre  mar  eine  Sßeriobe  ber  äußerften  Strenge  gefolgt. 
2)iit  argmöbnifd^en  ©liden  tourbe  ber  niebere  $leru§  oon  oben 
ber  beobachtet  unb  bemacht,  mit  fpärte  jebe  §lu$fcbreitung  ge- 
abnbet,  mit  riidfid)tglofefter  Uuerbittliddeit  aber  oor  allen  Dingen 
jebe  freiere  Deguug  ber  ©eifter,  jebe  irgenbmie  oon  ber  faito- 

nifeben  Soßung  abmeidjenbe  Sebrmeinung  oerfolgt. 

aso) 


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11 


Unter  folgen  Verftältniffett  [lieft  ©iorbano  Vruno,  ber 
nid)t  jum  [peudjler  gefeftaffen  mar,  naturgemäft  feftr  halb  burdj 
freimütige  9leufterungcn  unb  unbefonttene  fiunbgebungett 
liberaler  ©efinnnngen  an.  Scfton  im  Saftre  1571  batte  man 
ifjm  bieferljalb  ben  ^ro^eft  $u  machen  gebroftt.  ?lber  ma§  ju 
jener  $eit  aller  Söaftrfc^einlicftfeit  nad)  eine  leere  ©rofjung 
tuar,  burd)  bie  man  iftit  $u  [djreden  gebaute,  ba«  ermic«  fidj 
jeftt  al«  eine  ernftftafte,  unmittelbar  über  feinem  Raupte 
[cfjmebenbe  ©efaftr:  iftr  ju  begegnen  »erlieft  er  insgeheim 
Neapel  unb  begab  fieft  itadj  [Rom.  |)ier  [teilte  er  [idj  bem 
s$rofurator  feinet  Crben«  unb  trat  in  ba«  bortige  Älofter  be$- 
[eiben  della  Minerva  ein. 

Slber  aud)  bort  mar  [eine  ©idjerfteit  gefäftrbet,  [eine 
greiljeit,  ja  [ein  Sieben  felbft  auf«  ernftlidjfte  bebroftt.  5)ie 
Slufeinbungett  [einer  neapolitanijcften  ©egner  lieften  iftnt  feine 
[Rufte  — , [ie  perfolgten  ifjn  unau§gefe|t  unb  nötigten  iftn  — 
feljr  gegen  [einen  Söillen  — ju  abermaliger  Jludjt.  ©eitbem 
irrte  er  mie  ein  Verbannter,  raftloS,  niftelo«,  fteimatblo§,  ein 
»aterlanbSlofer  glücfttling,  bureft  bie  äöelt.  Valb  trieben  iftit 
9fotft  unb  Verfolgung,  halb  bie  allgemeine  Ungunft  ber  Ver- 
ftaltniffe,  halb  bie  eigene  innere  Unraft,  »on  Crt  *it  €rt,  »on 
Sattb  ju  £anb.  Söoftl  leuchteten  meftr  af«  einmal  »oriiber- 
geftenb  auf  längere  ober  für^ere  $eit  [reuitbliefte  Sterne  über 
[einem  .fiaupt.  SBoftl  [eftien  e£  ttteftr  als  einmal,  als  ftabe  er 
nad)  langem  Umbertreiben  einen  frieblidjen  §afcn  gefunben,  eine 
bleibenbe  gufludjtSftätte  j^ber  alle  ©türme  unb  Unbilben  eine« 
feinblichen  ©efdjidS.  9lber  auf  bie  iDaiter  §ur  [Rufte  fam  er 
nicht,  ©r  mar  mie  eine  [ßflanje,  bie,  bem  ljeiinatljlid)en  Vobcu 
entriffen,  im  [rembeu  Vobcn  nicht  Söur^el  [affen  fann.  911« 
ihn  cnblid)  bie  ©ebnfudjt  nad)  feinem  Vaterlanbe,  bie  er  lebens- 
lang nicht  au«  [einer  Seele  jtt  bannen  »erntod)t  batte,  nad) 
Italien  ^uriieftrieb,  ba  ereilte  it)n  [ein  tragijd)e$  @efd)id. 

a»i> 


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(jl  würbe  ituS  ju  weit  führen,  wollten  wir  Prunol  öicl* 
gewunbencn  üebenlpfab  in  allen  feinen  Srümmungen  »erfolgen, 
wollten  wir  if)n  Sd)ritt  für  Stritt  auf  allen  Stationen  feiner 
abenteuerlichen  Pilgerfahrt,  bie  if)n  juerft  nach  Oberitalien  unb 
ber  Schweij  (157(5—78),  bann  nach  granfreid)  (1578—83) 
litib  ©uglanb  (1583 — 85),  bann  neuerbingl  nach  ber  fran* 
jöfifdjen  ^auptftabt  (1585—86)  unb  enblich  für  »olle  fünf 
3ahre(1586 — 91)  in  unfer  beutfdjel  Paterlaitb  führte,  begleiten. 
Sinb  biefer  Stationen  bod)  gar  fo  oiele  gewefen,  f)Qt  er  boc£> 
nicht  nur  in  ©enf,  Paril  unb  Sionbon,  fonbern  aujierbem  itt 
einer  fReilje  hochberühmter  Unioerfitätlftäbte  — fo  in  Souloufe 
unb  Cjforb,  in  Söittenberg,  Prag  unb  fpelmftebt  unb  enblidj 
noch  i»  unb  pabua  tfjeill  längere,  t^eilS  fürjere  Qeit 

gelebt  unb  für  feine  ihn  begeifternben  3beeu  propaganba  ge* 
inad)t  unb  gewirft.  ®a§  ein  fo  »ielbewegtel  Seben  auch  ein 
fetjr  wed)fel»ollel  gewefen,  begreift  fid)  leidet.  3n  ber  Jhat 
erfuhr  ®runo  währenb  belfelben  in  heroorragenbem  9Jia&e 
ebeitfowohl  bie  ©unft  wie  bie  Ungunft  eines  launenhaften  ©e* 
fd)icfl.  @r  hot  mehr  all  einmal  mit  SDiangel  unb  ©ntbehrung 
ju  fämpfen  gehabt  unb  hot  jwifdjenburd)  boch  wieber  in  bett 
erften  ©efeHfchaftlfreifeii,  ja  felbft  an  ftoljen  giirftenhöfen  ge* 
achtet  unb  oiel  bewunbert  gelebt.  3n  Italien  unb  ber  fran* 
jöfifdjen  Sdjweij  hflt  er  fich  lümmerlid)  burchfd)lagen  müffen, 
in  9lo»i  bei  Satwna  unb  in  anbereit  oberitalienifchcn  Stabten 
fudjtc  er  fid)  nothbiirftig  burd)  ©rtheilung  oon  Prioatunterrichr 
ju  ernähren,  in  ©enf  arbeitete  er  monatelang  all  Sorreftor 
in  einer  Sruderei.  3n  5ranfreid),  ©nglanb  unb  ®eutf<h(anb 
bagegen  begünftigte  ihn  ju  wieberholten  ÜJialen  in  heroorragenbein 
SWafje  bal  ©lücf.  3n  Jouloufe  ging  er  all  Sieger  aul 
einer  ftonfurreitj  hert,or  unb  würbe  jum  orbeutlidjen  profeffor 
an  ber  Unioerfität  unb  jum  ÜHagifter  ber  fd)önen  Sänfte  er* 
nannt.  3n  Paril  hielt  er  an  ber  Sorbonne,  ebenfo  wie  fpäter 


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on  beit  $ochfd)nleu  z»  ^elmftebt  unb  SlSittenberg  öielbgfud)te 
Porlefungen  über  SDiathematif  unb  ^ßf)iIofop^ie;  iit  fionbon 
enblid)  fanb  er  jahrelang  int  fjaufe  beS  fjod^gcbilbeten , fron- 
jofifcften  ©efatibten  2ttid)ael  be  Saftelnau  ein  fidjereS,  if)tt  aller 
Sorgen  entl)ebenbeS,  iljm  ooHe  geiftige  unb  genuitf)[id)e  Freiheit 
unb  ungeftörte  äWttfje  geroährenbeS  SlfQl.  $ttd)  an  äujjercr 
Sl) re  unb  Slnerfennuttg  fehlte  eS  ihm  itic^t.  ©8  ift  befannt, 
bafj  Stönig  ^cinrid)  III.,  ber  6of)tt  Satf)arinenS  öon  Piebici, 
Zit  feinen  auSgefprodjcnett  ©önncrn  gehörte,3  bafj  er  in  @ng= 
lattb  auf  ihren  befonberen  3Bunfd)  bcr  ftönigin  ©lifabeth  nor- 
geftellt  rourbe  unb  baS  Stecht,  jcberjeit  unattgemelbet  bei  ifyr 
einzutreten,  gettofj,  baß  er  in  präg  ju  Äaifer  fHubolf  II.  in 
perfönliche  ^Beziehungen  trat  unb  tuiebcrljolte  Söerueife  ber  §ulb 
unb  Slnerfennung  oon  feiner  Seite  empfing.  5)abei  fant  er  mit 
vielen  ausgezeichneten  perföulid)feiten,  unter  betten  nur  Philipp 
Sibnet),  2orb  SBurleigf)  unb  ©raf  Seicefter  aus  ber  $eit  feines 
englifchen  unb  Äepler  unb  £t)d)o  be  Prahe  auS  ber  $eit  feines 
böhntifchen  füufentfjalteS  genannt  werben  mögen,  iit  Perfef)r. 
Srof}  allebent  aber  fämpfte  er  lebenslang  wiber  ein  feinbfeliges, 
ihn  unauSgefefct  oerfolgenbcS  ©efdjicf.  Sr  mar  feiner  von  3)enen, 
bie  nnbemerft  unb  unangefochten  ihres  SEBegeS  ziehe»  fönnen  — , 
er  lenftc  aller  Orten  bie  ©liefe  auf  fid)  unb  forberte  burd) 
fein  ganzes  SBefett  zur  Parteinahme  für  ober  gegen  fid)  heraus. 
Sr  riß  bie  ÜKenfdjett  zur  Setounberung  l)in,  aber  er  regte  burd) 
bie  fiütjnljeit  feiner  3been  auch  beit  5a»ati8muS  berfelben  unb 
burd)  feine  eigene  2eibenfchaftlicf)feit  perföttlid)e  £>afj=  unb  5Had)e- 
gefühlc  in  ihren  Kerzen  toiber  fich  auf.  Sr  hi«3  mit  begeiftertcr 
3nnigfeit  an  feinen  Uebcrzcugungen,  er  founte  eS  fich  nicht  »er* 
fagen,  allenthalben  für  fie  propagattba  z»  machen,  er  befafj 
aud)  ein  gnteS  2heil  von  ber  Streitbarfeit  unb  gebbelnft  bcr 
älteren  ^umanifteit,  er  toar  feurig  unb  unbefonnen  unb  forberte 
feine  ©egtter  oft  unnöthigermeife  heraus.  $ieS  alles  aber 


14 


wareg  @igenfd)aften,  bie  ißm  nothwenbig  öerberfalicf)  werben 
mußten,  jumal  in  einer  fo  aufgeregten,  gerabe  in  ©ejug  auf 
ifjr  religiöfeä  ffimpfinben  fo  ^oc^grabig  erhifcten  uitb  über» 
reifen  $eit. 

2)ie  leibcnfd)aftlid)e  ^Bewegung  ber  ©emüttjer,  bie  2uther3 
füllte  £f)Qt  fieroorgerufen  hatte,  war  ja  in  aßen  Sänbern  gleich 
groß.  3n  grankreid),  wo  fid)  ©uifen  nnb  Hugenotten  in  er* 
bitterter  geinbjdjaft  gegeniiberftanben,  ^errfc^te  Wäljrenb  ber 
gaumen  9kegierung33eit  König  JpeinricfjÄ  III.  ber  ^Bürgerkrieg  fo 
ju  fageu  in  ^ermanenj.  Sind)  ©nglanb  war  fortgefefct  oon 
religiöfen  Parteiungen  jerriffen,  obwohl  ba§  ftuge  unb  ener* 
gifdje  Auftreten  GrlifabethS  gcwaltfame  Sluöbrüdjc  ber  2eiben* 
fünften  nieberju^alten  ober  im  Keime  311  erftirfen  oerftanb. 
3n  3)eutfchlanb  enblid)  war  nach  ber  ©eenbigung  beö  fdjmal» 
falbifdjen  Krieget  eine  periobc  äußerlidjer  SRtifje  eingetreten  — 
aber  e$  war  bie  fdjwiile  fRuhe  oor  bem  fnrdjtbarften,  fpätcr 
nur  um  fo  gewaltfamer  lo$bred)enben  breißigjährigen  Sturm. 
3iet)t  man  aße  biefe  Umftänbe  in  ©etracfjt,  fo  erklärt  fidb 
©runoö  fRaftlofigkeit  oon  felbft.  (Sr  felbft  ftanb  über  ben 
beiben  großen,  fid)  befehbenben  religiöfen  Parteien,  weil  fein 
freier  unb  kühner  ©eift  fid)  über  bie  fonfeffioneflcn  Sdjratifen, 
bie  beibe  trennten,  fjod)  empor  gefdpoungen  hatte  — , aber  eben 
beäfjalb  ftieß  er  aud)  auf  beiben  Seiten  — auf  proteftantifdjer 
fo  gut  wie  auf  katfjolifd)er  — faft  beftänbig  an  — , eben  be3- 
halb  fah  er  fid)  allenthalben  001t  Jeinben  umgeben  unb  lebte 
fo  31t  fagen  fortwäfjrenb  auf  ber  glud)t.  21u3  feinem  ©ater- 
lanbe  hatte  ihn  bie  Unbulbfamkeit  be3  katholifd)-hierard)ifchen 
©cifte«  oertrieben,  auä  Jouloufe  uitb  pari«  mußte  er  ber  uu- 
aufhörlid)en  religion3politifd)en  Unruhen  wegen  entweichen,  in 
Djforb  würbe  feinen  ©orlefungcn  burch  feine  fd)olaftifd)en 
©egiter  ein  frühjeitigcö  @nbe  bereitet,  in  ©enf  nnb  nadjntalä 
in  ^jekniftebt  geriet!)  er  mit  ber  reformirtcn  ®eiftlid)keit  in 

(184) 


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15 


Äonflift.  2)aS  (Gefühl  tollfommener  Sorglofigfeit  nitb  Sidjer* 
heit  ^nt  er  wohl  nur  in  Sonboit,  wo  er  im  |jaufe  unb  unter 
bem  8<hu§e  beS  htdjgefinnten  £>errn  ton  (Saftelnau  lebte,  unb 
fpäterf)in  in  SBittenberg,  wo  uodj  ber  milbe  unb  cd)t  Rumäne  . 
@cift  ^S^ilipp  ÜRelandjthonS  ruetjte,  getonnt. 

Ueberfjaupt  waren  bie  Sottboner  unb  bie  Sßittenberger 
3aljre  bie  glüdlidfften,  bie  er  jemals  erlebt.  Sein  Slufenthalt 
im  Gaftelnaufdjen  £>au)e  führte  itjn  im  budiftäblichften  Sinne 
auf  bie  tielbeneibeten  „Rolfen  beS  2>afeinS".  (Sr  lernte  bort 
jum  erftenmal  alle  inneren  unb  äußeren  iBortheile  einer  be- 
norgiigten  fiebenSftelluug  aus  nädjfter  9tä^e  fennen,  er  füllte 
fic^  mit  ffleßagen  im  SDHttelpunft  eineg  geiftig  tomehmen,  ihm 
iBerftänbniß  unb  ^erjtic^e  Slntheilnaljmc  entgegentragenben 
Streifes,  er  bewegte  fid)  in  biefer  Htmofpfjäre,  als  ob  fie  fein 
eigentliches  iebenSelement  wäre  unb  fat>  fid)  aufs  gliicflid)ftc 
geförbert  in  feiner  geiftigen  ifkobuftitität.  So  tarnen  beim  bort 
in  Sonbon  bie  bebeutenbftcn  feiner  italienifd)  gefcßricbenen  p^i* 
Iofophifd)eit  Schriften,  unter  benen  biejenigen  „lieber  bie  Urfadje, 
baS  ißrinsip  unb  baS  (Sitte“,  „®ie  Austreibung  beS  herrfdfenben 
X^ierS"  unb  „TaS  Such  tom  ^eroifcfjett  (SttthufiaSmuS"  * bie 
befannteften  unb  mcift  genannten  finb,  in  rafdjer  golge 
heraus. 

SBittenberg  h'nluie&erum  übte  auf  SBruno  in  anberer  Art 
einen  ganj  bcfonberen  SReij.  (SS  feffelte  ihn  burch  feine  großen 
(Srinnerungen,  eS  war  in  feinen  Augen  eine  tlaffifcfje  Stätte, 
eine  Stätte,  bie  fdjou  burcß  bie  3;f»ntfac^c,  baß  fie  bie  SBiege 
ber  ^Reformation  gewefen,  für  alle  feiten  geweiht  war.  (Srft 
hier  in  3Bittenberg  ging  ihm,  wie  eS  fdjeint,  baS  tolle  ®er* 
ftänbniß  für  SDfartin  SutherS  gewaltige  ^erfönlid)teit  unb  and) 
baS  tolle  Sterftänbniß  für  bie  tiefe  unb  fcf)öpferifd)e  Criginalität 
beS  beutidjen  ©eifteSlebenS  unb  für  bie  ftraft  unb  (Sigenart 
beS  beutfehen  SBolfSdjaratterS  auf.  So  hat  er  &enn  f>'er  *n 

fl  85; 


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16 

ber  alten  Sut^erftabt  fomohl  bem  ©eniu«  be«  großen  beutfd)en 
ÜReformator«  al«  aud)  bem  ©eniu«  $)eutfd)faitb«  felbft  bett 
Tribut  einer  fpontanen,  au«  marinem  bergen  quetlenben  §ulbi» 
gung  bargebracht  unb  iljiten  tief  empfunbene  fdjmungooöe  Sorte 
begeifterter  öerounberung  gemeil)t.R  Seiber  trieb  if|n  bie  Un* 
gunft  ber  SSer^ältniffe  am  Snbe  aud)  au«  Sittenberg,  beffeit 
eble  ©aftfreißeit  er  nid)t  genug  gu  rühmen  roeiß,  »ieber  fort. 
§113  nach  bem  lobe  §luguft«  oon  ©aeßfen  bie  ißm  feinblid) 
gefinnte  Partei  ber  ftrengen  ©alüiniften  and)  an  bet  bortigen 
Unioerfität  bie  Oberßerrfcßaft  erlangte,  naßm  er  fcßmereti 
bergen«  feinen  Sanberftab,  ber  ißn  gunädjft  auf  furge  3c't 
nach  ^ragli  unb  bann  nach  ber  neu  begrünbeten  Unioerfität 
$elmftebt  führen  füllte,  mieber  auf.  §lber  aud)  in  ^elmftebt 
mar  nad)  bem  2obe  feinet  ©önncr«,  be«  groß  unb  frei  gefinnten 
§ergog«  Suliu«  auf  bie  ®auer  für  ißn  feitifRaum;  bie  leiben» 
fcßaftlicßen  Singriffe  be«  ©uperinteubenten  unb  £auptpaftor« 
83oetßiu«,  ber  in  öffentlicher  ißrebigt  oor  ihm  marnte,  unb 
be«  Theologen  unb  fReftor«  ®aniel  |)ofmanu  trieben  ißn  feßon 
im  folgcnbeu  Saßr  mieber  fort.  @tma  um  bie  ÜJfitte  be« 
Saßre«  1590  finbcit  mir  beit  rußelo«  umhergetriebenen  Genfer 
mit  ber  ,jperau«gabe  feiner  ^oc^intereffauten  lateinifchen 
£id)tungen 7 befchäftigt  in  granffurt  am  SDlain. 

Sßon  bort  au«  machte  er,  mahrfcßeiulid)  noch  im  felben 
|>erbft,  einen  mehrmonatigen  SXbftechcr  nach  3«ric^  unb  folgte 
enblich  1591,  che  noch  ber  $rutf  feiner  eben  ermähnten  großen 
Sateinmerfe  beenbet  mar,  einer  ihn  unglücftichermeife  gerabe  ba= 
mal«  erreichenben  (Einlabung  eine«  jungen  oenetianifeßen  ©bei- 
manne«  nad)  SBenebig. 

@«  hat  oft  ben  Ülnfcßein  im  ficben,  af«  fei  etma«  $ämo* 
nifche«  in  ber  munberbaren  SBerfettung  äußerer  unb  innerer  S8e« 
gebenheiten,  etma«  ®ämonifcße«  im  Salten  be«  3ufa^^  unb 
eine«  rätl)fclhaften,  uöHig  unbegreiflichen  ®efd)id«.  3u 

ciscj 


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17 


VrunoS  Seben  tritt  biefer  bämonifcfye  3^9  on  jenem  SEÖeubc* 
punfte  beSfelbett,  ber  burd)  feine  plöfclidje  9iüdfeljr  nad)  Italien 
bezeichnet  wirb,  in  ganz  befonberS  auffallcuber  Sßeife  tjeruor. 
©in  anfd)einenb  tiormlofer  Srrtljum  nämlid),  bem  er  3eit  feines 
SebenS  gefjulbigt  hotte,  irug  für  ifjn  ju  jener  >^eit  burd)  eine 
unglucffelige  Verfettung  oon  Umftänbeit  bie  afieroerhängnifjüollfte 
grud)t.  6r  fjatte  ftch  in  fritieren  3af)ren  oielfad)  mit  ber 
mnemotec^nifd)en  ober  fogenannten  Sullifdjeu  Jiunft H befdjäftigt, 
er  fjatte  eine  9iei[)e  oott  ©driften  über  biefelbe  ^erauSgegeben, 
er  Ejatte  bie  gortbilbnng  berfelbcn  aus  einer  bluffen  ©ebädjtnijj* 
unb  ©rinnerungSfunft  in  eine  Äunft  ber  ©ebanfen*@rfinbung 
itad)  beftimmten,  ein  für  aflemal  gültigen  fßrinjipien  »erfuhr, 
©ine  non  biefen  ©djriften  nun  ^atte  im  ©ommer  1591  ein 
junger  oenetianifdier  ©beimann  aus  bem  ©efchlecht  ber  SDiocenigo 
im  33ud)f)änblerlaben  oon  ©iotto  erblicft.  2>aS  Sud)  erregte 
fein  lebhaftefteS  Sntereffe,  er  wiinfdjte  beit  Verfaffer  beSfelbeu 
fennen  gu  lernen,  er  oerlangte  banadj,  fidj  bei  if)m  felbft  in  ber 
Shtnft  ber  ©ebanfenerfinbung  ju  unterrichten,  ©o  lub  er  ifjn 
in  ber  angelcgcntlid)ftcn  SBeife  ju  fid)  ein.  Unb  Vruno  lief? 
fid)  burd)  bie  ©inlabung  oerloden.  $>ie  ©ehnfudjt  nach  feinem 
fdjönen  Vaterlanbe  war  im  Saufe  ber  Oafjre  immer  mächtiger 
in  ihm  geworben,  er  fonnte  ber  91uSfid)t,  baSfelbe  wieber  ju 
feljen,  nicht  wiberftehen.  ©o  folgte  er  bem  sJtufe  SDfocenigoS, 
würbe  oon  ihm  in  ber  oerbinblidjften  SBeife  aufgenommen, 
unterrichtete  ihn  feinem  2Bunfcf)e  gemäß,  Ejielt  zmifd)enburd) 
Vorlefungen  oor  beutfd)en  ©tubenten  in  sJ$abua  unb  lebte  im 
SSinter  beS  SafjreS  1591  abwechfetnb  halb  in  legerer  ©tabt 
unb  balb  wieber  in  Venebig.  — Slber  nad)  Verlauf  eines  Ejnlben 
3a|reS  würbe  ÜJiocenigo  ungebulbig;  er  fah  fid)  in  ber  SÜunft 
ber  ©ebanfenerfinbung  burd)  VrunoS  Unterricht  nur  wenig  ge* 
forbert  unb  gab  nach  ber  SBeife  eitler  unb  befchränfter  9J{enfd)eu 
bem  böfen  SBiUen  beS  SehrerS  an  biefem  ÜJiifegefdjicf  bie  ©djulb. 

Sammlung.  ft.  V.  J02.  2 (187) 


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18 


@r  meinte,  ©runo  leßre  ißn  nicßt  aße«,  ma«  er  miffe,  er  ßalte 
mit  bcm  magren  ©eßeimniß  feiner  fiunft  abficßtlitß  unb 
gefliff  entließ  juritef.  Unt  fieß  für  biefe  Bermeintlicße  ©öämiflig* 
feit  ju  rächen,  faßte  ber  elenbe  SJienfcß  (auf  Stnftiften  feinet 
©eießtuater«)  beit  benfbar  abfcßeulicßfteu  ©ntfeßluß:  er  reichte 
eine  SJenunjiatiou  gegen  ©runo  beim  3mquifition«gericßt  ein, 
ließ  ißn  in  feinem  eigenen  $aufe  näcßtlicßermeile  überfallen 
unb  gefangen  neßmen  unb  lieferte  ben  ßülflo«  in  feine  ©ernalt 
gegebenen  feinen  erbitterten  geinben  au«,  ©o  erfüllte  fich 

©runo«  maßrßaft  tragifeße«  ©efeßief:  am  22.  2Rai  (1592)  ßattc 
man  ißn  gefangen  genommen,  am  23.  mar  bie  ®enunjiation 
gegen  ißn  eiitgereicßt  morben,  am  24.  marb  er  in  ba«  Snquifition«* 
gefängniß  gebraeßt. 

Unb  nun  begann  jener  entfeßließe,  naßeju  aeßt  3aßre  maß» 
renbe  Sßrojeß  — ein  ^ßrojeß,  ber  juerft  Bor  bem  Snquifition«« 
tribunal  in  ©enebig  gefiißrt  mürbe  unb  nacßmal«  (feit  1593) 
Bor  bem  Ä'eßergericßte  ju  ©om  — ein  ißrojeß,  über  beffen  ©er» 
lauf  in  leßterer  ©tabt  mir  leiber  nießt  eingeßettb  unterrichtet 
finb,  ber  aber  in  ©runo«  ©erbammung  jum  ©eßeiterßaufen 
feinen  graufigen  Slbfcßluß  fattb.  2öa«  mau  bem  Slngeflagten 
feiten«  ber  römifeßen  Äurie  in  erfter  SHeißc  jum  ©ormurf  matßte, 
ba«  mar  feine  Eingabe  an  bie  fopernifanifeße  Söeltanfdjauung, 
feine  ©cmüßungen  um  bie  ©erbreitung  unb  miffenfcßaftlicße 
gortbilbung  berfelben,  fobann  feine  großartige  ©otteäoorfteßung 
unb  Söeltauffaffung,  feine  Seßre  oon  ber  ißrärpftenj  ber  ©eele 
oor  biefem  2eben  unb  enblicß  feine  gefamte,  Born  ©eift  eeßter 
SBiffenfcßaftlicßfeit  bureßmeßte  gorfißertßätigfeit,  feine  freie,  aller 
bogmatifeßen  geffeln  fpottenbe  ®eifte«ricßtung  iiberßaupt.  Slber 
nur  in  SRom  mar  man  fieß,  mie  e«  feßeint,  ber  Boßeit  ©ebeutung 
ber  ©ruuofcßen  fleßre  naeß  aßen  biefen  SKicßtungen  bemußt, 
nur  bort  befaß  man  ben  entfpreeßenben  SEeitblicf  unb  füßrte 

bemjufolge  ben  ©rogeß  gegen  ben  „Äeßerfürften"  in  einem 
(188) 


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10 


gewiffermafjen  großen  Sinn.  3n  SSenebig  bagegen  fyat  man 
allem  Slnfc^ein  nach  in  öruno  nichts  weiter  al«  einen  gaitj 
gewöhnlichen  $efcer  mie  bunbert  anbere  aud)  erblicft,  unb  man 
bat  ihn  bemgemäfj  in  ben  bärtigen  Verhören  au«fcblicf}lid)  über 
feine  Stellung  ju  ben  ©ogmen  unb  2ebtfä|en  ber  römifdjen 
Sirene  befragt,  fid)  auf  ben  SSerfud)  einer  „tuiffenfc^aftlic^en" 
SBiberlegung  feiner  2ef)reit  gar  nicht  eingelaffen  unb  fid)  au«* 
fdjlieBlicb  auf  bie  Betonung  be«  ftreng  fird)lid)en  ©tanbpuntte«, 
ber  bie  bebinguitg«lofe  Unterwerfung  ber  SBernunft  unter  bie 
burd)  göttliche  ©nabe  geoffenbarte  |>eil«lebre  ber  Stirne  forbert, 
befdjränft.  3)iefer  83ebanblung«weife  entfprad)  benn  auch 
Sruno«  Verhalten.  ÜRan  wirb  ibn  uoit  bem  Sorrourf  ber 
Schwäche  unb  eine«  fcfjwanfenbeit  unb  wiberfprmh«»otIen  33e* 
nehmen«  wäbrenb  be«  »enetianifd)en  ißrojeffe«  allerbing«  nid)t 
freifpredjen  fönnen.  — 2)enn  wäbrenb  ber  erften  Verhöre  tritt 
er,  wie  au«  ben  Elften9  beroorgebt,  mit  großartiger  Unerfcbroden* 
beit  »or  feine  tRicfjter  bin;  er  giebt  einen  furjen  Slbrifj  feine« 
2eben«gange«  unb  „fübn  unb  unbefangen,  al«  ob  er  auf  bem 
Äatbeber  ftänbe",  eine  burdjau«  wabrbeit«getreue  unb  fadjgemäffe 
JJarfteHung  feiner  SBeltanfchauung,  §u  ber  er  ficb  rüdbaltlo« 
befennt.  $aitn  aber  mit  einemmale  »erlaffen  ibn  ßuuerfidjt 
unb  5D?utb-  @r  erflärt  auf  öefragen  feine  »ofle  Ueberein* 
ftimmung  mit  bem  Siircbenbogma  ber  2ran«fubftantiatiou  unb 
unbefledten  ©mpfängnifj  — er  »erficbert,  baj)  er  an  bie  @ott< 
beit  ©brifti,  an  bie  SBunber,  bie  fieserer  ben  (Stählungen  ber 
Schrift  jufolge  »erridjtet,  an  Fegefeuer,  ifkrabie«  unb  §ölle 
glaubt ! 3a  in  ben  lebten  Verhören,  bie  Sruno  in  beliebig  ju 
befteben  batte»  ^üren  wir  ibn  fogar  au«brüdlid)  „aQe  feine 
Webereien  wiber  bie  Siebre  unb  bie  Saftigen  ber  beigen 
fatbofifeben  ftirebe"  abfebwöreu,  feine  9iid)ter  auf  ben  ftnien 
um  Schonung  feine«  Seben«  unb  um  Vergebung  anfleben  unb 
für  bie  3ufunft  Sefferung  unb  »öUige  ülenberung  feine«  bi«> 

2*  (189) 


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20 


herigen  SEBanbel«  geloben.  9Jlan  wirb  nicht  fehl  gefeit 
in  ber  Slnnafjme,  baff  bie  Srohungett  feiner  ©cgtter  if)n  in 
©djrecfeu  oerfefjt  Ratten,  baff  bie  Slngft  oor  ^olter  unb  ©Reiter» 
hänfen  ihn  übermächtig  ergriff.  @r  war  eben  aud)  nur  eilt 
ÜDlenfd),  ber  fid)  plfloä  allen  ©djretfniffen  ber  tiefften  geiftigeu 
unb  genuitfjlidjen  ©infamfeit  prei«gcgeben  faf>,  er  war  ooit 
aller  SBelt  oerlaffen  unb  füllte  fid)  ohnmächtig  in  feiner  geinbe 
©crnalt.  Sieben  ben  Söcforgniffen  um  fein  perfönlidje«  ©djicffal 
aber  ftürmten  fidjerlid)  aud)  religiöfe  3weifel  unb  ©frupel  ber 
peinlid)ften  Slrt  auf  feine  «Seele  ein.  9lid)t  bloß  bie  ©djrecfniffe 
ber  enblofeit  Serferhaft,  nicht  blofj  bie  pf)t)fifdjeu  unb  fcelifcfjen 
Dualen,  bie  er  ju  erbulben  ^atte,  aud)  bie  feierlichen  ©rmaf)* 
nungeit  aur  Umfel)r  unb  Sefehrung,  an  benen  e«  bie  ^eiligen 
äJäter  nidjt  fehlen  liefjen,  blieben  ficherlidj  nicht  ofjtte  ©inbrucf 
auf  fein  tief  religiöfe«  unb  in  feinem  batnaligcn  troftlofen  gu* 
ftanbe  ohnehin  neroö«  überreizte«  ©emiith-  ©r  war  nicht  bloß 
förpcrlich  in  geffelu  gefchlagen  — auch  fein  ©eift  fanf  allem 
Slufchein  ttad)  oorübergehenb  in  ben  SBatm  ber  alten  fircf)(tdßeii 
SluffaffungSWeife,  bie  er  oöllig  iiberwunbcn  31t  hal>erl  fehler», 
Zurücf.  ©«  ift  etwa«  wahrhaft  Sämonifd)e«  in  biefer  Sluf- 
faffungeweife,  etwa«  wahrhaft  Sämonijcfje«  in  jenem  funba* 
mentalen  ©ah  berfelben,  ber  bie  bcbingung«lofe  Unterwerfung 
be«  „natürlichen  2id)te«",  b.  i.  ber  tnenfdjlichen  gcfuitben  S$cr> 
itunft  unter  bie  Slutorität  be«  übernatürlichen  bem  9)lenfd)ett 
angeblich  burd)  göttlidje  Offenbarung  ju  tßeil  geworbenen 
Sichte«  unb  bamit  unter  bie  Slutorität  ber  $tird)e,  biefer  Sol* 
metfeherin  be«  göttlidjen  Söorte«,  oerlangt.  2Bie  energifch  fidh 
58rnno«  ftarfer  unb  fiif)ner  ©eift  in  glüdficheren  Sagen  aueß 
gegen  biefc  Sehre  nufgelchnt  holte  — in  jenen  feiten  tieffter 
geiftiger  unb  gemütl)Iid)er  Sliebcrgefdjlagenheit  gewann  bie  Hör* 
ftcllung,  ba&  rud)lo«  unb  gottlo«  fei,  fich  im  SBcrtrauen  auf 

bie  eigene  Vernunft  gegen  bie  Sogmen  unb  ©n^ungen  ber 
080. 


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21 


Üircfje  aufaulehnen,  aller  2Sahrjcheinlid)feit  nach  auch  über  jeine 
Seele  erneute  ©ewalt.  3a  er  flammerte  fich  fchliefjlich  fogar 
wie  an  einen  lebten  jRettungSanfer  an  jene  ungeheuer  lidje  Unter» 
Reibung  ber  natürlichen  »on  ber  geoffenbarten  äßafjrheit,  bie 
er  im  normalen  ©emütfjSjuftanbe  mit  oerbienter  Verachtung 
behanbelt  hotte,  an:  unter  auSbrüdlidjer  Verufung  auf  biejelbe 
oerlangte  er  als  ^ß^itofop^  unb  nicht  als  Kirchenlehrer  beurtheilt 
ju  werben,  unter  ftitlfchroeigenber  Vejieljuug  auf  biejelbe  oer- 
warf er  jwar  feine  fitddichett  Keßereien  als  folche,  nidjt  aber 
feine  auf  ba3  natürliche  Sicht  fid)  griiubenbe  unb  aus  biefem 
©ruttbe  nach  feinem  Dafürhalten  uitwiberlegliche  Vh'to|°Pfy'e- 
Oh»e  5wge  lag  biefem  Verhalten  ein  uneingeftanbener 
Sophismus  ju  ©rmtbe,  aber  eS  war  aller  2Bafjrfd)einlichfeit 
nad)  ein  folcher,  beit  er  unbewufjterweife  unter  bem  ginflufj 
unflarer  unb  wiberftreitenber  gmpfiubungen  beging.  Sluf  alle 
gälte  fämpfte  er  baraals  einen  fchweren,  inneren  Kampf.  gs 
famt  feinem  Zweifel  unterliegen,  baß  fein  ©emüth  tief  beim* 
ruhigt  gewefen  ift,  baff  er  jeitweife  an  fich  felbft  irre  würbe, 
bajj  ihn  SJfomente  tieffter  jDiutljfofigfeit  unb  gerfnirfchung  über» 
fomnten  haben  ntüffeu,  Momente,  in  beiten  er  feine  früheren 
leibenfdjaftlidjen  Angriffe  gegen  bie  &ird)e  thatfächlich  als  ein 
Unrecht,  als  eine  fdjwere,  fein  ©ewiffeit  belaftenbe  Schulb  em* 
pfanb.  ©leidjwoljt  gab  er  fid)  jwifchenburd)  immer  wieber  ber 
Hoffnung  auf  eine  SluSföfjnuug  mit  bem  Sßapft,  ja  allem  Sin» 
Ühein  nad)  fogar  ber  Hoffnung  auf  bie  SJiöglidjfeit  einer  Ver- 
höhnung ooit  ©tauben  utib  SSiffenfchaft  in  feinem  Sinne  l)'n- 
3u  biefem  Vetjuf  hatte  er  ein  Vud)  „Ueber  bie  fiebeit  freien 
Äiinfte",  burch  baS  er  bie  ©unft  beS  he^'9en  Katers  für  fich 
ju  gewinnen  backte,  oerfajjt,  unb  aus  biefem  ©runbe  hatte  er 
felbft  3U  wieberholten  ÜJiaten  feine  üluSlieferung  an  baS  römifefje 
Snquifitiouötribunal  üerlangt.  gr  erinnerte  fich  offenbar  ber 
Beiten,  ba  auch  bie  ißäpfte  SBiffenfchaft  unb  gelehrte  Vilbuitg 

(191) 


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22 


gu  fdjäfcen  wußten,  ba  fie  gegen  freifinnige  Andauungen  eine 
großartige  unb  weitgefjenbe  Julbung  übten,  ba  neben  bem 
fünftterifefjen  auch  ba«  burdj  ba«  ©tubiurn  ber  Alten  genährte 
p^itofop^ifc^=wiffenfc^aftIici)e  Seftreben  bei  ihnen  mannigfache 
görberung  unb  rege  Unterftüjjung  fanb.  Snbeffett  jene  geiten 
ber  Jolerang  unb  religiöfen  SEöeit^erjigfeit  waren  bafjin.  ©ie 
hatten  ber  ber  ©egenreformation  unb  bamit  einer  Strenge 
ber  Auffaffung  ©(ah  gemacht,  bie  ©runo  nicht  begriff  unb 
nicht  uerftanb.  2Sa«  c«  mit  biefer  ©treuge  auf  fich  hatte,  fofite 
er  nunmehr  gu  feinem  ©djaben  erfahren:  fein  SBunfd),  nach 
9tom  überführt  gu  werben,  fodte  ba(b  genug  in  ©rfüdung  gehen 
— aber  nicht  gu  feinem  @(ücf. 

©chon  feit  3afjr  unb  Jag  fetten  in  biefer  ©egiehung 
Serhanblungen  gwifdjen  bem  ©enat  ber  ÜRepublif  unb  ber 
römifcheit  Surie  gefchwebt,  fchon  wiebcrholt  hatten  Abgefaubte 
be«  ©apfte«  bie  Benetianifdje  Regierung  gur  Auslieferung  be« 
„©ruber«  ©iorbano",  be«  „Äeßerfürften"  unb  „abtrünnigen 
©riefter«"  gebrängt.  3U  ©cginn  be«  galjre«  1593  waren  biefe 
©erhanb(ungen  enblich  gum  Stbfchfuß  gefommen  — ber  ©enat 
hatte  ade  feine  pofitifdjen  ©ebenfen,  „au«  finblidjem  ©ehorfam 
gegen  beu  hediflen  ©ater"  faden  gelaffen  unb  fanbte  ©runo 
nach  SRom.  Jamit  war  ba«  ©chicffal  be«  fieberen  enbgültig 
befiegelt  — , benn  uon  nun  an  ging  fein  Serhängniß,  wenn  auch 
nur  langfamen  Schritte«,  fo  hoch  ftetig  unb  unaufhaUfam  feinen 
©ang. 

@«  erfcheint  nicht  Bödig  au«gefch(offeit,  baß  fein  ©rogefj 
möglicherweife  einen  günftigeren  Au«gang  genommen  hätte,  wäre 
er  in  ©enebig  gur  Aburteilung  gelangt.  Jenn  bort  hätte 
man  fid;  oder  2Baf)rfd)einIid)!eit  nad)  mit  ©runo«  SEBiberruf 
feiner  lird)lid)en  Siebereien,  gu  bem  er  fid)  herbeigelaffen  hatte, 
begnügt  unb  hätte  ihm  Bielleicht  in  Anbetracht  feiner  reu- 
miithigen  Unterwerfung  nadj  Auferlegung  einer  mehr  ober 

092) 


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minber  ferneren  Äirchenbujje,  grei^eit  unb  Sieben  gefdjenft. 

einem  ganz  anberen  ©efidjt«punft  al«  in  Sienebig  aber 
betrachtete  man,  wie  ich  fdjon  oben  bemerfte,  SBruno«  Angelegenheit 
in  S?om.  Sßa«  in  ben  fecf)«  Saljren  feiner  römifchen  Äerferhaft 
mit  ihm  norgegangen,  wiffen  mir  freilich  nicht.  Sowohl  über 
bie  ©njelnljeiten  be«  bortigen  ffjrozefjoerfahren«  wie  über  bic 
llrfachen,  welche  bie  ungewöhnlich  lange  3)auer  be«felbcn  be* 
biugten,  ift  nbfolut  nicht«  befannt.  Aber  wie  »iele«  in  biefer 
Sejieljung  auch  bunfel  unb  rätljfelhaft  erfcheint,  zweifellos  ge< 
mifj  ift  bod)  ba«  ©ine:  bafj  bie  Äurie  ben  benfbar  größten 
fBerth  barauf  legte,  ben  berühmten  Äefcerfiirften  — wenigften« 
fcheinbar  — bebingungälo«  auf  bie  Seite  ber  Stechtgläubigfeit 
hinüberäujiehen,  bafj  fie  feine  Anftrengungen  freute,  um  ihn 
burch  fogenannte  „wiffenfdjaftliche"  3)emonftrationen  tion  ber 
ff3rrthümlichfeit"  feiner  Sehren  ju  überzeugen,  unb  bafj  fie 
alle«  baran  fefcte,  um  auf  bie  eine  ober  bie  anbere  SBeife  eon 
ihm  ba«  ßugeftänbnifj,  bafj  er  fich  für  „überführt"  befenne,  ju 
erlangen.  Unb  nicht  minber  zweifellos  ift  auch  bie  2f)atfa<he, 
baß  93runo  zu  einem  berartigen  3ugeftänbnifj  jU  (>en,eg£n 
roar,  baß  er  allen  bieSbezüglichen  $umutljungen  auf«  energifchfte 
roiberftanb.  SBie  nachgiebig  unb  unterwürfig  er  fich  auch  in 
Senebig  gezeigt  hatte,  bei  bem,  wa«  man  jefct  oon  ihm  »erlangte, 
blieb  er  unnachgiebig  unb  »erftoeft.  So  lange  man  an  fein 
religiöfe«  ©mpfinben  appcQirte,  befaß  man  eben  einen  mächtigen 
AunbeSgenoffen  an  feinem  wahrhaft  frommen,  zu  Pietät  unb 
ßhrfurcht  geneigten  ©emiith;  fo  halb  man  fich  aber  an  ben 
philofophifchen  Genfer  al«  folcßeit  wanbte,  empörte  fich  fein 
intelleftuefle«  ©ewiffen,  fo  halb  man  ihn  „wiffenfdjaftlich"  z« 
überführen  »erfuchte,  reöoltirte  fein  flarer  Serftanb.  — @r  fah 
fuh  burch  bie  Argumente  feiner  ©egner  nicht  miberlegt,  ja  er 
fanb  fich  burch  biefelben  wahrfcheinlich  mehr  benn  jemal«  in 
feiner  Ueberzeugung  »on  ber  SBahrljeit  feiner  eigenen  Sehre 


24 


beftärft.  ©egen  jebeit  ©erfuch  einer  ©erleugttung  ber  flar  er* 
fanuten  SBabrbeit  aber  lernte  fein  ganjeS  SBefen  fic^  über- 
mächtig auf.  Qnbeffen,  aud)  feine  ©egner  iuaren  ^artnäcfig 
unb  gaben  ihre  ©emübuttgen  fo  leisten  ÄaufeS  nicht  auf.  Str- 
afften allem  Stnfc^ein  nad),  i(jn  burch  bie  lange  2>auer  ber 
Scrferbaft  mürbe  ju  machen,  fie  legten  eS  barauf  an,  iljn 
p^tjfifc^  unb  moralifch  $u  ©rttitbe  ju  richten,  um  oon  bent  förperlicfj 
unb  gciftig  ©ebrodjenen  am  ©nbe  bod)  noch  jenen  SBiberruf, 
ju  bem  man  ifjrt  auf  anbere  SBeife  nidjt  ju  beftimmen  »er* 
mochte,  ju  erpreffett. 

®ajj  mau  auf  biefeS  giel  ^ingearbeitet  ^at,  fteljt  feft;  e$ 
ge^t  au§  beit  SßrotofoHeit  oorn  ©egimt  beS  S^bred  1599,  bie 
in  Kugeligen  befannt  geworben  fittb,  mit  jweifellofer  ©ewihbeit 
beroor.  ?lud)  ber  3efuit  SlaSpar  ScioppiuS,  ein  junt  Satbo* 
lijiSmuS  übergetretener  ehemaliger  ^ßroteftant,  ber  ju  jener 
in  SRom  oerweilte  unb  in  einem  ausführlichen  oon  ©ebäffigfeiteti 
ftrojjenben  Schreiben  über  bie  ©erurtbeiluitg  unb  ben  $ob 
©iorbaito  ©ruttoS  nad)  SDeutfd)lattb  beridjtete, 10  betont  aus* 
brüdlidj,  bah  man  bis  junt  lebten  91ugenblid  auf  einen  SBiber* 
ruf  oon  feiten  beS  ©efangeneit  gerechnet  habe,  bah  aus  biefeni 
©runbe  bie  ©ollftrecfuitg  beS  UrtbeitS  noch  ganj  julejst  um 
mehrere  Stage  binciuSgefcbobcn  worben  fei  uitb  bah  man  oon 
Stunbe  ju  Stunbe  oergebtidj  auf  ©ritiioS  Unterwerfung  geharrt. 
— üftatt  wollte  eben  bie  Hoffnungen,  bie  man  fo  lange  gehegt 
hatte,  nicht  aufgeben  — mau  hoffte  bis  aitS  @ube,  aber  man 
fab  fid)  grünblidj  getäufcht.  ©iorbano  ©runo  blieb  ftanbhaft. 
(Sr  wuhte,  was  für  ihn  auf  bem  Spiele  ftanb,  er  wußte,  baß 
ih«  ein  SSiberrttf  retten  fonnte,  er  wuhte  aber  aud),  bah  ec 
rettungslos  oerloreit  war,  wenn  er  fid)  nicht  $u  einem  folchen, 
uid)t  31t  jener  feierlidjeit  5lbfd)Wöruiig  feiner  „Seriellen",  bie 
man  oon  ihm  begehrte,  oerftanb.  Irob  allebem  wiberrief  er 
nicht.  (Sr  war  001t  ber  SBafjrbeit  feiner  3beeu  tief  iittterlid) 

UM) 


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25 


burchbrungeit,  er  fonnte  unb  wollte  ihnen  nicht  abtrünnig  werben, 
er  fomite  unb  wollte  feine  Ijeiliflften  Ueberjeugungen  nicht  »ej> 
leugnen. 

Unwillfftrlicf),  inbern  wir  feiner  bamaligett  Sage  gebenfen, 
taucht  bie  ©eftalt  uitfereS  großen  beutfdjeii  ^Reformators, 
bie  ©eftalt  ißiartin  ßutherS  oor  unferem  geiftigeit  Äuge  auf. 
Bir  feßen  beit  fd)lidjten  üRöncß  oon  SBittenberg  in  feinem 
fcßwarjen  unb  unfdjeinbarem  ©ewanbe  — wir  fetten  ißn  furchtlos 
unb  unerfchrocfeit,  im  ftraßlenben  gürftenfreife  auf  jenem  ewig 
benfwürbigen,  ewig  unoer geglichen  SReidjStage  gu  Borats  — 
wir  feßen  ißn  groß  unb  gewaltig,  mit  blifcenben  Äugen  mußer* 
fdjauenb,  bie  ftarfe  ^pottb  feft  unb  madjtooH  auf  baS  ©ud)  ber 
©üdjer  gelegt.  SBir  ßören  bie  ergreifenbett  Borte:  ,,^>ier  fteße 
idßl  3cß  famt  nicht  anberS!  ©ott  helfe  mir!  Ämenl"  Äucß 
©iorbano  ©runo  fonnte  nicht  anberS  — aud)  ißn  trieb  ber 
©eift  ber  Baßrßeit,  ber  2Rartin  ßutßer  befeefte,  auch  ißn  riß 
bie  ©röße  beS  ©eniuS,  ber  in  ißm  lebte,  mit  fort.  @r  hatte, 
wie  wir  wiffen,  aud)  in  ©euebig  feine  pßilofopßifdjen  ßeßren 
al§  folcße  nid)t  wiberrnfen  — aber  er  hatte  fid)  bamalS  bodj 
pir  Unterwerfung  unter  bie  Äutorität  ber  ftirdje  ßerbeigelaffeit 
— er  hatte  uod)  an  bie  äRöglicßfeit  eineö  StompromiffeS,  eiltet 
äußerlichen  griebeitSfcßluffeS  mit  bem  ©apfte,  tueHeicßt  fogar 
an  bie  äRöglicßfeit  einer  ©erfößnung  uon  ®ogma  unb  Biffen* 
fcßaft  in  feinem  Sinne  geglaubt.  3e|jt  wußte  er,  baß  jebe 
berartige  Hoffnung  ein  $raum  war,  unb  baß  eine  tiefe  unb 
unüberbrüdbare  ßluft  bie  intolerante,  mittelalterliche  ÄnfcfjauungS* 
weife  beS  ©apfttßumS  für  alle  feiten  oon  feiner  eignen,  freien, 
am  Sichte  ber  wiffenfcbaftlidjen  gorfchuttg  gereiften,  üom  ©eift 
ber  neuen  3*il  burdjweßten,  menfdjlirf)  milbeit  unb  weitßerjigen 
'Belt*  unb  ßebenSaitffaffnng  fcßieb.  @r  halle  eingefehen,  baß 
er  nur  jwifcßen  pßhfifdjem  unb  moralifchem  Untergang  31t 
wählen  halte  unb  baß  er  fterben  mußte,  wenn  er  fein  ßebcn 

(195) 


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26 


nicht  burd?  eilten  unerhörten  2lft  ber  ©elbfterniebrigung  retten, 
e«  nicht  um  ben  ißrei«.  feiner  ©elbftachtung  ton  feinen  ©egncrn 
gurücffaufen  wollte.  8lngefid)tS  biefer  2llternatite  aber  fonnte 
bie  ©ntfdjeibung  für  ihn  feiner  gangen  Statur*  unb  Gharafter* 
antage  nach  unmöglich  gweifelhaft  fein.  SBenn  er  fich  ’rt 
©enebig  fcfjwanfenb  unb  fteinmüthig  gegeigt,  wenn  ihn  bort 
thatfächtidj  eine  Schwäche  angewanbelt  hatte:  jefct  hatte  er  biefe 
Schwäche  überrounbeit,  jefct  war  er  muthig  unb  ftarf,  ber 
tragifchen  ©röjje  feine«  ©chicffal«  gewachfen  unb  felbft  in  Ketten 
unb  ©anben,  uon  Kerferntauern  umfangen,  inmitten  aller 
©chrecfitiffc,  bie  ihn  umbrohten,  frei  . . . Söenn  er  früher  über 
feine  eigene  weltgefdpchtliche  ©enbuitg  im  unftaren  gewefen: 
jefct  itar  er  fid)  biefer  Senbung  mit  toller  Klarheit  bewußt 
— jejjt  fühlte  er  fich,  wie  wir  au«  feinem  eigenen  üKunbe 
wiffen,  mit  toller  Sntfdjiebenheit  al«  SDiärtprer  feiner  lieber* 
geugung  unb  bamit  gugleich  al«  SHärttjrer  einer  ewigen,  in 
ihrer  allgemeinen  fultureHen  ©ebeutung  lebenbig  ton  ihm  em* 
pfunbeueit  unb  mit  ber  tollen  ©lutfj  begeifterter  Eingebung 
umfafjtcn  unb  leben«lang  terfochtenen  3bec. 

durchbrungen  ton  biefem  ©enmfjtfein,  nahm  er  bie  ©er* 
fünbigung  be«  terhängnifjtollen  Spruche«,  ber  ihn  bem  Scheiter* 
häufen  überlieferte,  mit  bewunberung«würbiger  Raffung  unb 
Seetenftärfe  h*u.  ©ur  wenige  ftolge  ©Sorte  richtete  ber  gum 
dobe  ©erbammte  unter  bem  erften  unmittelbaren  ©inbrucf  ber 
ihm  gemachten  Sröffnung  an  feine  dichter:  „3hr/  bie  3hr 
mein  Urtheil  fprecht"  — fo  etioa  lauteten  biefe  ©Sorte  — „3hr 
hegt  tieüeicht  mehr  furcht  als  ich,  ber  ba«  Urtheil  empfängt." 11 
©ebenft  man  bie  Sage  desjenigen,  ber  biefe  ©Sorte  fprach,  unb 
ben  Slugenblicf,  in  welchem  fie  gefprochen  würben,  fo  wirb  man 
in  ber  dljat  bie  Seelengröjje  unb  feltene  ©tärfe  be«  ©eifte« 
bewunbern  müffen,  bie  in  ihnen  gum  ©uSbrucf  gelangten.  ©Seitig 
Änbere  an  feiner  Stelle  würben  fich  eine«  fo  ungebrochenen 

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9RutheS  haben  rühmen  fömten  — eines  fo  ungebrochenen  5Äutf)eS 
im  Hngeficfjte  beS  grauetwoUften  HobeS  unb  nach  einer  acht» 
jährigen,  qualooöen  ©efängni&haft  in  ben  fterfern  ber  3n» 
quifition!  ©iorbano  Stuno  befajj  biefen  SWutf).  Sr  mar  auS 
allen  Prüfungen,  bie  ihm  baS  Sdjicffal  auferlegt  hatte,  geläutert 
heroorgegangeu  — er  hatte  gerungen,  gefämpft  unb  in  fernerem 
inneren  Stampf  übermunben.  — 3e{}t  lag  baS  alles  hinter  ihm 
wie  ein  bumpfer,  ihn  oormalS  beängftigenb  untfangenber  Hraum. 
Sr  mar  aus  biefem  Traume  jum  hellen  Sichte  beS  HageS,  er 
mar  $u  jener  Klarheit  beS  ©eifteS,  bie  uns  alle  Hinge  sub 
specie  aeternitatis  — unter  bem  ©efidjtSpunft  ber  Smigfeit 
— betrachten  lehrt,  erwacht.  Sr  hatte  fich  $u  einer  Feinheit 
beS  HenfenS  unb  SmpfinbenS  emporgefchroungen,  bie  uns  ber 
Sphäre  ber  Snblicf|feit  unb  allen  ihren  »ergänglidjen  SRötljen 
unb  jtümmerniffen  enthebt;  er  hatte  bie  „Slngft  beS  Srbifchen" 
oon  fich  geworfen,  er  mar  gleichfam  oorn  Sanne  ber  Schwere, 
er  mar  oon  fich  felbft  unb  oott  allem,  was  ihn  bebriieft  unb 
gepeinigt,  erlöft.  3n  biefer  ültmofphäre  ber  Feinheit  oerlorett 
felbft  bie  ©chrecfniffe  beS  Scheiterhaufens,  bie  ihn  bebrohten, 
ihre  ÜHacfjt;  feine  irbifdje  furcht  noch  ©arge  trübte  in  biefer 
3eit  ber  Srhebuitg  ben  lauteren  Spiegel  feines  ©emüthS. 
Harum  ift  eS  auch  JtoeifelloS  wahr,  was  wir  ihn  jn  wieber» 
holten  Söiafen  oerfichern  hören,  bafj  er  ben  lob  nicht  freute, 
ben  Hob,  ben  er  felbft  fich  erwählt  hatte  unb  bem  er  willig 
unb  freubig,  baS  Hochgefühl  hünenhafter  SiegeSgewifeheit  im 
begeifterten  Hrrjen,  entgegenging  . . . 

Unb  fein  Hob  war  in  SBahrfjeit  oerf^lungett  in  ben  Sieg.  Hie 
jüngelnbeit  flammen  feines  Scheiterhaufens  umfpielen  für  alle 
3eiten  wie  ein  leudjtenber  ©lorienfehein  fein  Haupt  unb  umfliehen 
oerfläreitb  feine  ernfte,  aus  ben  bämmernbeu  Hiefen  ber  Ver- 
gangenheit in  ftiHer  ©röfce  aufragenbe  ©eftalt ...  SS  ift  ein  StmaS 
in  bem  ÜRarttjrium  gerabe  biefeS  SDianttcS,  baS  unwiberftehlich  bie 

(197; 


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28 


fper^eit  bejwingt.  gro9e«  wir  un«,  wa«  biefeS  ©tmo«  ift,  fo 
wirb  bie  Slntwort  lauten  müffeit : e«  ift  bie  wahrhaft  einjige 
93erbinbung  non  geiftiger  Sraft  unb  Seefcngröße  in  ber  $er* 
fönlid)feit  ©iorbano  53runo«,  e«  ift  feine  entf)ufiafiif<f)c  ffialjr» 
heit«liebe  unb  feine  J)eroifd)e  CpfermiOigfeit  in  ber  ffletljätigung 
berfelbeit,  bie  gerabe  burch  bie  Xrogif  feine«  ©chidfal«  jutn 
benfbar  prägnanteren  unb  ergreifenbften  $lu«brucf  gelangt. 

Slud)  ohne  biefe  Jragif  freilich  war  feinem  Slawen  bie 
Unt>ergänglid)feit  für  alle  feiten  Qeioife.  ©ar  er  boch  ber  be* 
geiftertfte  SBorfämpfer  unb  genialfte  gortbilbner  ber  foperoi* 
fanifchett  ©eltanfdjauung,  ber  eigentliche  Schöpfer  unb  S9e* 
griinber  be«  mobernen  ^antljeiämu«  unb  einer  ber  getualtigften 
©ahnbredjer  be«  naturwiffenfchaftlichen  ©eifte«  ber  Sleujeit 
überhaupt,  ©eljört  er  bo<h  in  bie  SReihe  ber  wahrhaft  große« 
unb  genialen  Genfer  aller  Ißölfer  unb  ßeiteit,  in  bie  fReihe  ber 
^hüofophett  unb  ©eltweifen  im  fjödjften  ©iiute  be«  ©orteS 
hinein,  ©a«  ihn  unter  biefeit  aber  in  gaitj  befonber«  fjeroor* 
ragenbent  SRaße  auäjeichnet,  ba«  ift  jene  ©luth  leibenfdjaft* 
lid^fter  Eingabe  an  bie  twn  ihm  uertreteiien  Sbeen,  bie  ihm  Jo 
oerhängnißüoll  werben  follte,  ba«  ift  bie  Äraft  hiwntelait» 
ftiirmenber  ©ahrbcit«begeifteriuig,  bie  feine  Seele  erfüllte.  — 
$iefe  ilraft  ber  ©ahrheit«begeifternng  ift  für  ihn  im  eminenteften 
©rabe  djarafteriftifd) ; fie  bilbet  bett  entfeheibenben  ©ruubjug 
feine«  ganjen  ©efen«,  beu  ftarfen  ©runbtou  all  feine«  ©ollcnS 
unb  ömpfittben«.  Sein  gefamte«  ©eifte«’  unb  ©entüth«lebeit 
war  auf  biefeit  ©runbtou  geftimmt;  alle  übrigen  Iriebe  unb 
Steigungen  orbneten  fid)  ganj  ooit  felbft  biefer  einen  große« 
SJeibenfchaft  feiner  Seele  unter,  in  ber  ber  unbejwingliche 
©ahrheit«-  unb  ©rfenntnißbraug  feine«  ftarfen  ©eifte«  mit  ber 
5Begeifteruug«fcif)igfeit  feine«  tiefen  ©emüthe«  üerf^molj.  — 
©iorbano  93ruito  war  eben  nicht  nur  ein  fcharffinniger  unb  tief* 
finniger  Genfer  — er  war  oor  allen  Gingen  ein  ©nthufiaft,  ei« 

(l'JS) 


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29 


geuergeift,  ein  heijj  unb  leibenfdjaftlid)  empfinbeuber  SJtenfd). 
$ie*  bofumentirt  fid)  in  auffaHenbftcr  SBeife  in  feilten  Schriften. 
SBie  ein  großer  $beil  berfelbeu  fd)ott  äujjerlid)  bie  bidjterifdje 
gorrn  trägt,  fo  entfprid)t  biefer  gorm  in  faft  ntlen  gälten  and) 
burdjauS  bcr  innere  ©cljalt.  S?a$  poetifdje  unb  r^etorifdje 
ßlement  fpielt  eine  grofje  Stoße  in  benfelben,  unb  nidjt  bloß  in 
feinen  Dichtungen,  fonbern  aud)  in  feinen  ^rofafcfyriften  nerrätt) 
fid)  ein  oft  bebenftidjeS  Söorwalten  einer  reichen  fünftterifrf) 
geftattenben  unb  unauSgefejjt  tätigen  ^3t)antafie.  ÄßerbingS 
muß  jugegeben  werben,  bafj  ber  ©inbrud  fein  burdjauS  reiner 
unb  ungetrübter  ift,  ben  man  oott  ber  Seftüre  ber  Sörunofdjcn 
Söerfe  empfängt.  63  finbct  fid)  ju  oiet  ©efdjraubteS  unb  lieber« 
labeneS  in  ihnen,  ju  üieleS,  wa8  nach  SarriereS  treffenber  53e« 
merfuitg  an  bie  ßiinftcleien  unb  unfeinen  Uebertreibungen  bcS 
©arodftilS,  ber  ju  jener  3eit  in  ber  Ärd)iteftur  ber  t)errfd)enbe 
war,  gemahnt.  Der  3ntjatt  ift  faft  ju  reichhaltig  unb  311  wenig 
überfichtlid)  georbnet,  bie  gorm  be3  SBortragS  oft  fdjteppenb 
unb  fdjwulftig,  oft  wieber  leibenfcfjaftlich  bewegt:  e3  fehlt  bie 
©infadjheit,  bie  &tart)eit,  bie  ruhig  fortfchreitenbe  Äonfequen^ 
be8  DenfcnS,  bie  fd)öne  Harmonie,  gafft  man  bie  ©efamt« 
wirfung  ins  Äuge,  fo  fann  man  fageit:  2Bir  gewinnen  burdjauS 
ben  ©inbrud,  baff  au3  SrunoS  SBerfen  ein  ©eift  fpridjt,  ber 
noch  mit  feinem  eigenen  inneren  5Reid)tf)um  nidjt  itiS  reine  ge« 
fommen  ift,  ber  nod)  mit  ber  giifle  ber  unauSgcfefjt  auf  ihn 
einbrittgeuben  ©ebanfen  unb  nicht  nur  mit  ben  inneren  Sdjwicrig« 
feiten  ber  twn  itjm  betjanbetten  Probleme,  fonbern  auch  mit 
ben  ©c^wierigfeiten  ber  Darfteßung  unb  beS  fprachfidjeu  §lu8« 
brudS  ringt.  Daher  ba8  wiebertjolte  gutiidfommen  auf  benfetbeu 
©egenftanb,  baS  offenbar  bem  SSeftrebeit,  fdjon  ©efagteS  beffer 
unb  griinblidjer  nod)  einmal  31t  fagen,  entfpringt;  baf)er  bie 
gelegentliche  Häufung  ooit  Söilbern  unb  rljetorifdjen  gigurett, 
bie  übertriebene  Steigung  ju  ©itaten,  bie  lleberf<hwänglid)feiten 

099; 


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30 


im  JluSbrutf,  baS  beftänbige  £afcf)en  nacf)  neuen,  d)arafteriftifd)en 
unb  effeftoollen  SBenbungen,  bähet  bie  Ungleidjheiten  in  ber 
Stimmung,  baS  häufige  Schwanfen  jwifchen  ©egeifterung  unb 
Nüchternheit,  ber  oft  jähe  SBedjfel  jwifchen  ©rnft  unb  Sd)er$ 
(benn  er  ift  aud)  ÜReifter  in  ber  Satire  unb  in  einer  geift* 
üoHen,  oft  überaus  anmutig  erfcheinenben,  oft  graufamen  unb 
bcijjenbcn  Sronie)  — batjer  im  allgemeinen  bie  hänget  unb 
Unebenheiten  in  ber  5>n'm-  ?lber  wenn  ber  Mangel  an  ©in* 
heitlicfjfeit  unb  hormonifi^er  SHarfjeit  in  ©rutioS  Schriften  audj 
bisweilen  ftörenb  wirft,  fo  wirb  biefer  ©inbrucf  bod)  immer  toieber 
burd)  beit  geuerhaud)  jugenbfrifc^er  ©egeifterung,  ber  uns  anS  ihnen 
entgegenweht,  wett  gemacht  unb  in  ben  ,£>intergrunb  gebrängt. 
SMefer  geuerhaud)  ebelfter  ©egeifterung  in  Serbinbung  mit  bent 
feltenen  ©ebanfeitreid)thum  unb  ber  erftauulichen  giitle  öon 
feinfinnigen  unb  geiftreic^en  SBenbungett,  bie  ihm  jeher  jeit  ju 
©ebote  ftehen,  oerteiht  ber  Srunofchen  Schreibweife,  trofc  aflen 
ihr  anhaftenben  SNängeln,  einen  uitoergänglidjen  Neij.  ©S  ift, 
wie  Riegel  treffenb  bemerft,  etwas  ©acdjantifd)eS  in  biefem 
UeberqueHen  beS  eigenen  inneren  NeichthumS,  in  biefem  SuS* 
ftrömen  eines  SelbftbewufjtfeinS,  baS  ben  ©eift  ftch  innewohnen 
fühlt  unb  bie  @inl)eit  feines  SBefenS  un&  ®Men3  wei§. 
2Bir  folgen  bei  ber  fieftüre  gleichfam  willenlos  bem  braufenben 
Strom  biefeS  übermächtigen,  titanifdjen  ©mpfittbenS,  wir  werben 
oott  ihm  ergriffen  unb  fortgeriffen  unb  gleich  bem  ©erfaffer 
felbft  emporgetragen  »on  ben  ftarfen  Schwingen  feiner  bichterifcf) 
geftaltenben  ^h^ntafie.  2Bir  laufc^en,  felbft  begeiftert: 

Stuf  ber  ©egeiftrung  ©ang,  ben  eroig  neuen, 

3Bie  btrer  Seiner  ifjn  erflingen  lieb, 

$ie  fid)  beö  SorbecrS  unb  bet  SDttjrtbc  freuen.15 

unb  unfer  .£>erj  wirb  weit  unb  groß,  wie  eS  baS  feine  gewefen, 
unb  unfer  ganzes  SBefeit  fühlt  fich  geftärft  unb  erhoben  unb 

ooit  bem  gewaltigen  Söogenfchlag  erhabenfter  ©ebattfen  unb 

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31 


©mpfinbungen,  ber  un«  au«  feinen  Sßerfen  entgegentönt,  in 

feinen  tiefften  liefen  ergriffen  unb  bewegt Unb  in  biefem 

©inbrud  werben  wir  burcf)  einen  »ergleidjenben  SRücfblicf  auf 
ben  SiebenSgaug  unb  ben  Dob  ©iorbano  ©runo«  immer  »on 
neuem  beftärft.  Denn,  inbem  wir  ben  ©erlauf  feiner  inneren 
©ntwicfelung  in  ©ebanfen  »erfolgen,  wirb  un«  ber  entfcßeibenbe 
©influß,  ben  ber  unbejwinglic^e  SBafjrßeitS*  unb  ©rfenntniß* 
brang  feines  ©eifteS  auf  biefe  ©ntmidelung  auSgeübt  f)at,  in 
augenfäfligfier  SSeife  Har.  23ir  fefjen,  wie  biefer  Drieb  fcßon 
frütjseitig  in  bem  faum  bem  Knabenalter  entworfenen  3üngling 
fjertwrtrat,  wie  unter  feinem  ©influß  ber  Süngling  jum  Spanne 
reifte,  wie  er  in  ber  ©ruft  biefeS  9Jfaune«  immer  feftere  unb 
tiefere  SBurjeln  fctjtug,  wie  er  mit  ber  ßeit  alle  übrigen  3n- 
tereffen  unb  ©eftrebungen  in  feiner  Seele  in  ben  .fpintergruub 
brängte,  ficff  aße  Kräfte  unb  gäljigfeiten  feine«  reidfen  ©eifte« 
untertßan  ju  ntadjen  wußte  unb  am  Sitbe  felbft  bie  große 
bidßerifdje  ©egabung,  bie  bie  9tatur  ißm  »erliefen,  auSfdßießlidj 
in  feine  Dienfte  swang.  — Unb  wie  biefe  eine  große  Sieibenfdjaft 
feiner  Seele  »on  beftimmenbem  ©influß  auf  ben  gefamten  ©ang 
feiner  geiftigen  unb  gemiitf)lid)en  ©ntwicfelung  würbe,  fo  wirfte 
fie  aucf)  »on  innen  ßerau«  geftaltenb  auf  fein  äußeret  ©e* 
fdficf.  Sie  riß  ißn  frübseitig  aus  ben  gewohnten  Sieben«* 
geleifen,  fie  nötigte  ißn  gut  Srlucßt  au«  feinem  ©aterlanbe, 
fie  trieb  ißn  jaßrsefjntelang  rußeloS  als  ßcimatf)lofen  glücßt* 
ling  burcß  bie  SBelt.  @S  mar  nur  ber  naturgemäße  SßitSgang 
eine«  fo  beftfiaffenen  Siebenmalige« , wenn  ber  HJtann,  ber  bie 
SBaßrßeit  über  äße«  liebte,  ber  für  fie  litt  unb  um  fie  rang, 
ber  fidj  lebenslang  mit  allem,  wa«  er  war  unb  fein  eigen 
nannte,  in  ben  Dienft  berfelben  gefteflt  ßatte,  am  ©nbe  aud) 
um  ber  SBaßrbeit  mißen,  nämlich  barum,  weil  er  fie  um  feinen 
©reis  »erleugnen  woßte,  elenb  su  ©runbe  giug.  — 

Unb  fo  fönnen  wir  beim  »on  ifjm  fagen:  bie  fcßöne  ©e* 

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32 


geifterung,  bic  feine  ©driften  atfjmen,  atfjmet  aud)  feine  gan$e 
lebenSuoB  unb  munberbar  ergreifenb  aus  bem  ÜRaljmen  feiner 
$eit  unb  Umgebung  uns  entgegenblidenbe  ©eftalt.  ©ie  ift  eS, 
bie  aud)  feine  2eibenfd)aftlid)feit  unb  feine  fRuIfelofigfeit  abelt, 
bie  tuie  ein  leudjtenber  SJiittelpunft  all  feines  35enfenS  unb 
©mpfinbenS  fein  ganjeS  SBefen  oon  innen  IjerauS  burc^geiftigt 
unb  oerflärt.  ©ie  mar  eS,  bie  ben  grofjen  Denfer  in  ihm  jum 
unerfd)rodenen  SBat)rf»eit§*  unb  greiheitSfämpfer  machte,  fie  war 
eS,  bie  ihn  inmitten  aller  Ouaten  entfe^Iic^  langer  Seibene* 
unb  ßerferjaljre  aufrecht  erhielt,  fie  war  e§,  bie  iljn  ftcrbenb 
nod)  mit  bem  ©ewufjtfein,  eine  große  ÜDJiffioit  ju  erfüllen  unb 
für  ein  Unvergängliches  in  ben  $ob  ju  gefeit,  befreienb  unb 
erfjebenb  burd)brang. 

Unb  fo  weifen  bentt  alle  2ebeitS>  unb  SBefenSäu§erungen 
biefeS  feltenen  ©eifteä  auf  biefen  warmen  ©pringquell  ebelfter 
©egeifterung,  ber  in  feinem  Sintern  fprubelte,  als  auf  ihren 
lebten,  gemeittfamen  Urquell  l)in.  ©iorbano  ©runo  war  nidjt 
bloß  ein  unerfeffrodener  ©orfämpfer  ber  ©eifteSfreifjeit,  nidjt 
bloß  iljr  Slpoftel  unb  üftärttjrer  unb  fie  twrafjneub  im  ©eifte 
erfd)auenber  ©rophet:  er  war  gleidjfam  bie  nerförperte  SBahr* 
IjeitS»  unb  greiheitSbcgeifterung  felbft.  ©o  uiel  glü^eitbe 
SBaljrheitSliebe,  fo  Diel  leibenfdjaftlidje  Smiigfeit  beS  ©mpfinbens 
aber  oerbanb  fidj  bei  ihm  in  ber  glüdlidjften  Söeife  mit  ber 
ungemöf)nlid)ften  Äraft  beS  ÜDenfenS,  mit  feltener  ftlnrf)eit  beS 
UrtljeilS  unb  mit  einem  uttbefted)lid)en,  burdjbringenb  fc^arfeit 
©erftanb.  ©ben  biefe  STßatfacßc  aber,  eben  biefe  wunberbare 
©ereinigung  feßeinbar  unoereinbarer  ©egenfäfce  macht  bie  ©er= 
fönlidjfeit  ©iorbano  ©rutioS  fo  eigenartig  bebcutenb,  madjt 
feine  gefd)id)tlicf)e  @rfd)einung  oor  allem  anbern  groß,  ©ie 
ift  es  and),  bie  feinem  Seiben  eine  wahrhaft  einzige  ©ebeutung 
verleiht,  bie  feinen  9?ameit  gleidjfam  für  alle  feiten  ,$um 

^eiligen  ©tjmbol  ber  ©ewiffeugfreißeit  gemadjt  ßat,  bie  ifjn  jum 

(202) 


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33 


begeifternben  SBortfüßrer  aller  Serer,  bie  gleich  ißm  fefbft  bem 
@eift  ber  Unbulbfamfeit  unb  beä  fircßlicßen  ganatiämuä  flum 
Opfer  gefallen  finb,  ergebt.  — 

97aße$u  breißunbert  gaßre  finb  feit  jenem  benfroürbigen 
17.  gebruar,  ber  ©iorbano  ©nmo  ben  geuertob  erleiben  faß, 
baßingegangen,  unb  bie  äfeße  beä  großen  ©färtßrerä  ift  längft 
in  alle  SBinbe  oerweßt;  aber  unoergeßließ  lebt  fein  9fame  in 
ber  Sefeßicßte  unb  in  ber  banfbaren  Srinnerung  aller  Serer, 
bie  fuß  bureß  fein  ©eifpiel  in  ber  Breite  gegen  bie  ßöcßften  unb 
ßeiligften  gbeale  ber  ©fenfcßßeit  geftärft  unb  biircß  bie  fitllicße 
Äraft  unb  bie  geiftige  |>oßeit  feiner  Srfcßeinung  tief  innerlicß 
erhoben  füßlen,  fort.  — Sä  ßat  gewiß  nur  SBenige  gegeben, 
bie  ber  ewigen  Sßaßrßeit  fo  tief  unb  ooll  in«  Sluge  gefeßen, 
wie  er,  unb  oicüeicßt  !aum  einen  Sinnigen  unter  biefen  SBemgen, 
ber  fie  fo  ßeiß  geliebt  ßat  unb  ber  fo  ©eßwereä  unb  ©eßmerjenä* 
Doücä  um  ißretwißen  erlitt  . . . Sben  beäßalb  aber  ßat  fein 
Sliame  aueß  einen  fo  eignen,  ßerjbemegenben  unb  ßer^cr« 
ßebenben  iHang.  Sben  beäßalb  ift  er  aueß  in  uttferen  Sagen 
Bieber  jum  Sofungäwort  für  bie  ©aeße  ber  greißeit  geworben 
— eben  beäßalb  erfeßeint  er  alä  ein  ßeifigeä  ©ßmbolum  unb 
Birft  wie  ein  ‘illlen  ooit  felbft  oerftänblicßeä,  feiner  Srflärung 
bebürftigeä  ©tßiboletß.  — 

„©iorbano  ©ruito  unb  greißeit!"  unter  biefem  ©eßlaeßtruf 
finb  im  ooroergaugeneu  ©ontmer  Saufenbe  unb  Slbertanfenbe  oon 
frei  gefinnteu  ©ürgerti  ber  ewigen  ©tabt  begeiftert  ju  beit 
gaßnen  geeilt,  unter  biefem  ©eßlaeßtruf  finb  fie  in  gefcßloffeiter 
fJßalanj:  in  ben  SBaßlfampf  gezogen,  unter  biefem  ©eßlaeßtruf 
errangen  fie  ben  glorrcießften  ©ieg. . . SSaä  alle  ©emüßungen 
begeifterter  Patrioten  biä  baßin  nießt  ju  ftatibe  ju  bringen 
»ermoeßten  — ber  Üiame  ÖJiorbano  ©runoä  ßat  eä  wie  im 
jjmnbumbreßen  oollbraeßt.  — SBeil  bie  biä  baßin  oorßanbene 
fierilal  gefinnte  ÜWeßrßeit  beä  römifeßen  ©emeinberatßeä  bem 

Sammlung.  H.  g.  V.  10  3 (203) 


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34 


denfmal  heg  großen  SWamteg  bie  (Stätte,  bie  man  jur 
ricßtung  begfelben  in  Slugficßt  genommen,  oenueigerte,  barum 
ßat  fie  bem  begeifterten  $lttfturtn  beg  mobernen,  freifinnigen 
©eifteg  meieren  miiffen,  ber  bei  biefer  ©elegenßeit  cttblid)  bie 
erfte  Stelle  in  ber  Äommunaloertretung  ber  §aupt»  unb  Stefibenz* 
ftabt  beg  jungen  italicnifcßen  Sönigreicßg  errang.  — 5Dic 
neue  liberal  gefinnte  SDießrßeit  aber  mußte,  mag  fie  demjenigen 
fcßulbete,  bem  fie  in  erfter  9ieiße  ben  Sieg  über  bie  flerifalen 
unb  antinationalen  Slemente  ber  römifcßen  ©eoölfermtg  »er* 
baufte.  Sie  ßat  ißr  ©otum  zu  gunften  ©iorbatto  ©runog  un« 
oerzüglicß  abgegeben  unb  bat  Sorge  bafür  getragen,  baß  ficß 
bag  Staubbilb  beg  großen  äßaßrßeitg*  unb  5reißeitgfreunbeg  fieg* 
reicß  unb  triumpßirenb  auf  bem  Gampo  bei  giori  erbebt.  — 
@g  giebt  Slnläffe,  Greigniffe,  öegebenßeitett,  bie  eg  Sebent, 
ber  bie  3eidjett  &er  3eit  zu  beuten  oerfteßt,  junt  Semußtiein 
bringen  miiffen,  baß  ber  ©unb  ber  Witter  oont  ©eiftc,  oon  bem 
Äarl  ©ttßforo  träumte,  in  einem  gemiffen  Sinne  längft  zur 
SBirflicßfeit  gemorbett  ift,  unb  baß  ein  jmar  unfic^tbared  unb 
rein  ibealeg,  aber  bod)  unzmeifelßaft  oorßanbeneg  ©anb  alle 
diejenigen,  bie  bem  ©eift  ber  ffrreißeit  unb  beg  fJortfcEjrittS 
ßulbigen,  alle  diejenigen,  bie  ein  ßoßeg  leucßtenbeg  Sbeal  t>ott 
juÜinftiger  SKenfcßenmürbe  unb  ©tenfcßengröße  im  begeifterten 
|>erzen  tragen,  feft  unb  unzerreißbar  untfcßlingt.  3m  gemößm 
ließen  Sebett  fittb  alle  bie  daufenbe,  bie  biefem  ©imbe 
angeßören,  ficß  biefer  dßatfacße  faum  jemals  bemußt;  aber 
eg  giebt  dage,  Stunben,  oielleicßt  nur  Slugenblicfe,  itt  betten 
biefeg  ©eroußtfein  in  ißnen  lebenbig  mirb,  unb  fie  mit 
einem  ©efüßl  oon  ftoljer  greube,  oott  begliidenber  Ülßnung 
unb  Hoffnung,  oon  begeiftertcr  Siegeggemißßeit  bureßbringt . . . 
@3  giebt  Momente,  in  betten  ein  ©ebattfe  bie  Seelen  aller 
biefer  daufenbe  bureßzutft  unb  ber  ©ulgfcßlag  eineg  großen, 
ftarfen  begeifterten  Gmpfittbeng  ißrer  aller  Terzett  bureßzittert 

(204) 


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35 


unb  bewegt.  (So(rf)  ein  ÜJioment  ift  aucf)  berjenige  getuefen, 
in  rcetdjem  bie  Quitte  t>on  bem  Stonbbilb  bei?  großen  9J2är* 
ttjrerS  ber  ©eifte£freit)eit,  bie  £wüe  oon  bem  ©tanbbilb  ©ior» 
bano  33ruuo$  fanf.  — SBergeffeit  ift  in  biefem  Slugenblicf  alle« 
geioefen,  roa$  bie  ©eifter  unb  |>er$eit  im  einzelnen  etwa 
jdjeibet,  oergeffcit  jebe  ©djranfe,  tueldje  bie  SBölfer  unb  3n» 
bioibuen  trennt.  Stufblidenb  ju  ber  madjtoollen  ©eftatt  bes 
großen  äBafjrßeitSfreunbeä  ßaben  alle  diejenigen,  bie  ber  er» 
fjebenben  geier  im  ©eifte  beirooßnten , fitf)  in  ©ebanfen 
fe^roeigenb  bie  fiänbe  gereicht,  unb  wie  im  SCngefic^te  beS  (Stoigeu 
haben  fic  fid)  oeretjrenb  geneigt  oor  ber  weltbcitoingenben 
unb  metterlöfenben  2Kacf)t  ber  emigen  in  ©iorbano  ®runo 
oerförpert  getoefenen  3bee. 


3*  (205) 


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Stitmerfuitflcn. 

1 Sie  ©efdjidjte  biefe«  Senfmal«  ift  nterfroürbtg  unb  in  mcßr  al«  einer 
©egteljung  interefiant.  Senn  fie  bat  ba«  9lnbenfen  be«  großen  ®ianne« 
and)  in  Streifen  populär  gemacht,  bie  Di«  baßin  poh  feiner  roiffenfdjaft- 
ließen  unb  allgemeinen  fultureüen  ©ebeutung  faum  eine  butiKe  9Ujnung 
belaßen,  fie  ßat  bie  ©liefe  gang  Guropa«  auf  Denjenigen,  beffen  9famen 
au«  biefeni  Äitlaß  gu  roieberbolttn  ©ialeti  burcfj  alle  ßeüungen  ging,  gelenft. 
Ser  römifcße  ©emeinberatß  roeigerte  firf)  (mie  tjier  für*  refapitulirt  roerben 
mag)  feiner  $cit,  feine  Giuloilligung  gur  Grricßtung  be«  Seufmal«  gu  er- 
tßeilen  — er  leimte  ba«  ©efucß  bco  Senfn’.alfomitee«,  bem  ©pilofopben. 
©djriftfteHer  unb  anbere  namhafte  ©erjötHichfciten  au«  allen  cipilifirtcn 
Slationen  als  ©fiigliebcr  augcßorten,  runbroeg  ab.  Siefe  Sßatfacße  fonntc 
an  unb  für  fid)  nicht  munbcr  nehmen,  itocf)  befrembcu.  Senn  bie  flerifale 
©efinnung  ber  überroiegeitben  ©iajorität  be«  römifeßen  ©eineinbcrath«  mar 
allgemein  befannt.  Sie  flerifale  ©artet  aber  batte  naturgemäß  ba«  ftärffte 
3ntereffe  baran,  bie  Slufftellung  gerabc  biefe«  Staubbilbe«,  ba«  ficß  al« 
ein  oerförperter  ©roteft  gegen  römifd)e  Unbulbfamfeit  barftellte,  mit  allen 
ißr  gu  ©ebote  fteljenbcn  ©iittcln  gu  oerbinbern.  ©leießmobl  war  bie  Gnt- 
rüflung  über  ba«  Sorgeßen  be«  ©emeinberatß«  in  allen  antiflerifal  unb 
national  gefilmten  Greifen  ber  italieuifcßen  ©coölferung  allgemein.  3n 
3iom  felbft  unb  in  oerfeßicbencn  Unioerfitäteftäbten  be«  SHeicße«  fam  c« 
gu  ftürmifcßen  Semonftrationen;  bie  gange  ftubirenbe  3ugcub  gerietß  in 
unruhige  ©cwegung,  bie  öffentliche  ©ieinung  ergriff  in  Icibenfcßaftlichcr 
SBeife  (unb  groar  in  ißrer  überroiegenben  ©tcßrßeit  gu  gunften  be«  großen 
Senfer«,  beffen  ©tanbbilb  errichtet  roerben  foHte)  ©artei:  Unb  unter  bem 
Srucfe  biefer  immer  mächtiger  werbenbcn  ©trömung  mürbe  bei  ben  im 
•Verbft  be«  3aßre«  1888  oodgogenen  ©euroaßlen  gum  römifeßen  ©emetnbe- 
ratß  bie  bi«  baßin  porßanbeue  flerifal  germnte  ©teßrßeit  beSfelben  burcß 
eine  antiflerifale,  Don  ber  man  mußte,  baß  fie  ben  früheren  ©efcßluß  in 
(206) 


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37 

ber  Jenfmalgangelegenbeit  rüdgängig  machen  mürbe,  erlebt.  Segtereg  ift 
benn  audt)  ju  Beginn  bes  borigen  ^atjreö  gefdjeben,  bic  Ginroifligung  *ur 
©rridjtung  beg  3)enfmalg  warb  erteilt  unb  bic  Gntbüllung  begfelben  fanb 
am  9.  3uni  1889  ftatt. 

* 58  fü^rt  ben  3iitel:  II  candelajo  ($ct  Siicfjter.^icljer)  unb  fom  1581 
ober  82  in  'ßarig  ^eraug. 

s $»einrid)  III.  mar  e8  auch.  ber  Bruno  in  ber  märmftcn  SEBcife  an 
irinen  ©efanbten,  ben  #erm  bon  Gaftelnau,  in  Sonbon  empfahl.  Bruno 
batte  bem  tönige  übrigeng  fein  erfteg  bcbeutenbercg  pbilofopbifcbeg  SBerf: 
„Bon  ben  Schatten  ber  3b«tt"  (De  umbris  ideamm)  gemibmet,  unb  aufter* 
bieiem.  bag  1582  erfdjien,  gab  er  roäfjrenb  jeneg  erften  Bariier  Äufenb 
balteg  (1580—83)  audj  nod)  fein  fd)on  erroäbnteg  Suftipiel:  „II  candelajo“, 
ben  lateinifdj  gefdjriebenen  „Cantus  Circaeus“  unb  bag  Büchlein  De  com- 
pendiosa  architectura  et  complemento  artis  Lullii“  Ijeraug. 

4 „De  la  Causa,  Principio  ed  Uno“,  „Lo  Spaccio  de  la  Bestia  trion- 
fante“,  „Degli  eroici  furori“.  Buffer  biefen  brei  unterblieben  Biologen  aber 
cricbienen  in  Sonbon  noch  bic  ebeitfo  geiftboD  gefdjricbenen : „La  Cena  delle 
ceneri“  ($ag  Bfd)ermittmocbggaftmabl)  „De  Tlnfluito,  Universo  e Mondi“ 
(Born  Unenbliebcn,  bem  BU  unb  ben  SSelten)  unb  bic  „Cabala  del  Cavallo 
Pegaseo“  (3>ie  0et)cimlef)re  oom  pegafeifcben  Bierbc)  — , enblid)  bic  „Gr- 
flarung  ber  30  (Siegel"  — ein  lateinifcheg  ©d)riftd)cn  über  bie  luHifebc  Sluuft. 

6 3"  feiner  feierlichen  Bbfd)icbgrebe  an  bie  SBittcnbergcr  llnioerfitiit 
1588.  3n  SBittenbcrg  gab  Bruno,  roabrfebeinlid)  afg  grucbt  feiner  Sehr- 
tbätigfeit,  ocrfcbiebenc  Heinere  lateinifdjc  ©cfjriftcn  Ijeraug,  fo:  De  pro- 
gressu  et  lampade  venatoria  logicorum  (1587)  unb  Jordani  Bruni  No'ani 
Camocracensis  Acrotismus  (1588). 

“ 3«  'Brag  roibmete  er  Saifcr  SRubolf  II.  feine : £>unbertunbfeebjiig 
Brtifel  roiber  bie  SWatbematifer  unb  B^Iofopben  biefer  3cit. 

7 Gg  finb  bieg:  De  triplici  Mininio  et  Mensurn  (Bom  breifad] 
Älcinften  unb  bem  sDia6),  De  Monade,  Numero  et  Figura  (Bon  ber  Ginbeit, 
Der  3abl  unb  J^igur).  „De  lnnnmerabilibus,  Immenso  et  Infigurabili,  seu 
del.’niverso  et  Mundis“  (Bom  3“bHofcu,  Unermeßlichen  unb  Unoorftell- 
baren  ober  oom  Bll  unb  ben  Selten)  unb  enblid):  „De  Imaginum, 
Siguoruin  et  Ideamm  Compositione“  (Bon  ber  ftompofition  ber  Bilber, 
3ei<ben  uttb  Borftellungen),  eine  Sicberbolnng  beg  ©runbgebanfeng  pon 
„De  Umbris  Ideamm“. 

* 3br  Grfinber  mar  ber  1234  ju  Balnta  auf  ber  3»icl  ffltallorca 
geborene  ©panier  SRaimunbug  Sullue.  ©ie  galt  für  eine  Brt  @el)eintlebre 
unb  bat  alö  foldjc  unter  ben  Barnen  ber  „©roßen  ftunft"  bie  für  bag 
SKtiftijcbe  unb  feßeinbar  Ueberuatürlicbe  fo  fiberaug  cmpfänglitbe  Bb<*»tafie 
ber  mittelalterlichen  2Wenfd)beit  jahrhunbcrtelang  aufg  lebljaftefte  be- 

( -07) 


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38 


fädftigt.  ©runo  benufcte  (ie  al«  bequeme«  ©tittel,  fid)  an  ben  Derfdjie- 
benften  Orten  cinjufübren  unb  fidj  mit  ifjrer  tpütfe  bie  @unft  unb  Unter- 
ftußinig  ber  ©roßen  ju  genrinnen. 

9 lf«  fiitb  bie«  bie  Elften  au«  bem  Slrdjio  be«  3nquifition«gerid)t0 
AM  ©enebig,  bie  ber  frühere  italienifd)e  'älderbauminiftcr  ©erti  in  feiner 
Vita  di  Giordano  Bruno  Beröffentlidjt  t)at.  Sic  bilben  bie  ©runblagc 
aller  neueren  SJarftellungen  uon  ©runo«  Sebcn. 

19  ©crgl.  ben  ©rief  Scioppiu«  an  9iittcr«f)aufen  bei  ©erti:  „Vita  di 
G.  Bruno“  pag.  401. 

11  „Maiori  forsan  cum  tirnore  sententiam  in  me  fertis,  quam  ego 
accipiam“.  Scioppiu«  an  SRitter«l>üu{cn  bet  ©erti:  „Vita  di  Giordano 
Bruno“  pag.  401. 

“ „Degli  eroici  furori“.  ßrfter  35ialog,  erfte«  Sonett. 


,208) 


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Stationen  meiner  lebewpilgerftbflfL  iz 

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Abel  mib  HUtterfdjaft 

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SScrlag«anfta!t  uttb  SDrucferei  (normal  3.  g.  Sftidjter). 

1890. 


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SRerfit  ber  Ueberfcfcung  in  fretnbe  ©braten  wirb  tjorbefjaften. 


trnef  brr  SSfrlagJaiiftolt  unb  Inufcrri  actim  ®e(rtl>'rt>oft 
(normo»  3.  J.  Strfitrr)  in  Homburg. 


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23o,  in  ber  dfteften  germanifchen  ^eit,  bie  greiheit 
bie  flcfeüfc^aftlic^c  ©runblage  beS  2lbetS  bilbet,  ba  mufj  biefer 
untergeben,  fobalb  erftere  als  ftänbebilbenber  gaftor  »erfcf)roinbet. 
Ter  älteftc  beutfcfje  ülbel,  aitfS  engfte  mit  ber  alten  SDemofratie 
rerbunben,  ftanb  unb  fiel  mit  biejer.  3n  bem  monardjifchen 
ätaatsroefen,  mie  eS  ficf)  feit  bem  SluSgang  beS  fünften  2Eaf|r- 
IpmbertS  »on  bem  fränfifc^en  ©aßieit  aus  als  allein  gültige 
Staatsform  über  alle  ßanbe  ber  Sljnftenljeit  oerbreitete,  mar 
lein  iptafc  für  2lnfprücf)e,  bie  ihre  Duelle  mo  anberS  als  in  bem 
alles  beftimmeitben  23 i Heit  beS  |)errfd)erS  fugten.  $aljer  bie 
auffaüenbe  St^atfac^e,  bafj  in  ben  älteften  Duellen  ber  fränfifefjen 
$eriobe  feine  8pur  eines  SlbelSelementS  im  alten  (Sinn  fief) 
corfinbet.  SPaS  fränfifcf)  * falifc^e  SRechtSbud)  meijj  nichts  »on 
einem  ©eburtSabel,  noch  überhaupt  »on  perfönlicben  unb  recht- 
lieben  ©orjügen,  bie  in  einem  ftänbifchett  ©lement  begrünbet 
liegen  fönnten.  2llS  perfönlicher  ©orjug,  ber  burch  bie  |>öhe 
bes  SSergelbeS  beftimmt  roirb,  tritt  ftatt  beS  SlbelS  bie  3lts 
gehörigfeit  jur  ©efolgfdjaft  beS  ßönigS  ober  ber  Tiienft  im 
$eere  ein.  ©on  einem  Slbel,  menn  mir  unter  einem  folgen 
eine  ©efeltfchaftSflaffe  mit  anerfanntem  ©orrang  »or  ben  übrigen 
Staffen  beS  ©olfeS  »erftehen,  fann  babei  noch  feine  9iebe  fein. 
$ber  bie  fruchtbaren  $eime  jur  ©ilbung  eines  neuen  ?lbelS- 

Sammlung.  91.  5.  IV.  103  1*  (211) 


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4 


ftanbeS  mären  gegeben.  23efannt  ift  bie  ßoße  Sebeutung  beS 
©efotgfcßaftSroefenS  für  beit  Gßarafter  beS  cifteften  beutfcßcn 
AbetS;  baS  Snftitut  beS  $rinjipatS  rußt  fogar  mit  feinen 
SBurjeln  ooUftänbig  auf  ber  im  Stiege,  inmitten  einer  ©d)ar 
treuergebener  Sßaffengcfäßrten  geroonnenen  auSge^eidjiieten  ©tet« 
lung.  ®S  leuchtet  baßer  oßne  weiteres  ein,  baß  in  einer  ißeriobe, 
in  weteßer  ber  Stieg  mit  allen  feinen  Abenteuern  faft  ben  aus* 
ßßließtidjen  Snßalt  ber  SöoIfSgefdjicßte  auSinacßte  — uitb  baS 
mar  gerabe  in  ben  festen  3aßrßunberren  ber  antifen  Söelt,  im 
erften  Saßrßunbert  ber  ftänfifdjen  3eit  &tr  — gerabe 
jenes  altgermanifcße  ©efotgfdßaftSwefen  eine  weitere  ^-ortbitbuncj 
ermatten  mußte.  Sn  erfter  Sieiße  äußerte  biefe  erßößte  SSebeu« 
tung  beS  friegerifeßen  SomitatS  ißren  ©influß  auf  bie  SBitbung 
einer  größeren  Anjaßt  mäeßtiger  gürfteugefdjledjter.  3>er  ger- 
manifeße  SßrincepS  war,  troß  ber  AuSjeicßmutg , bie  ißm  unb 
feinen  Abfömmtingen  in  ber  58oIfSgemeinbe  juftanb,  boeß  immer 
nur  ein  Crgan  berfetben  gewefen,  baS  mit  aßen  feinen  ©efug* 
niffen  Icbiglicß  auf  ber  ©ewatt  beS  SBoIfSwittenS  bafirt  war; 
ber  ©efolgSßerr  ber  fpäteren  ßeit  löfte  fieß,  eben  weil  bie 
©runbtage  beS  ganjen  SMfSfebenS  eine  üößig  anbere  geworben 
war,  meßr  unb  meßr  öon  jener  Unterlage  ber  SßolfSßerrfcßaft 
ab,  um  feine  ©ewatt  auf  baS  Stecßt  feiner  eigenen  Sßerfönlidjfeit 
jit  fteflen.  .fjatte  er  urfprüngtieß  ein  friegerifcßeS  ©cfotge  bloß 
ju  oorübergcßenbeit  ©elegenßeiten  um  fieß  oerfammelt,  unb  war 
baSfelbe  naeß  bem  AuSgang  beS  SriegS>  ober  SJaubjugS  meift 
wieber  auSeinanber  gegangen,  fo  fdjtoß  baS  jeßt  jur  Sieget,  jutn 
auSfcßließenbeit  SebenSiitßalt  geworbene  friegerifeße  ^»anöroerf 
giißrer  unb  ©efotge  ju  einem  bauernben  Sßerbanbe  jufammen. 
Sonnte  es  nadj  attgermanifeßer  Auffaffung  noeß  zweifelhaft  fein, 
ob  nicht  bie  ftrenge  Abßängigfeit  im  Dienft  eines  ©efotgSßerrn 
bie  ©tanbcSeßre  fdjmätere,  fo  galt  jeßt  foteßer  Sieuft  atS  eine 

AuSjeicßmutg  unter  fonft  gteicßfteßenben  ©enoffen.  ©erabe  ber 

(212) 


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Umftanb,  bafj  ber  ©ermane,  bem  im  übrigen  jeber  SDienft  — 
unb  beftänbc  berfetbe  auch  nur  in  einem  non  ifjm  innegehabten, 
einem  Oberen  eigentümlich  gehörigen  ©runbftücf  — »nie  eine 
mit  bem  ißrinjipe  ber  gemeinen  greifjeit  unoereiubare  Reffet 
erfchien,  ben  friegerifcfieit  $ienft  im  ©efotge  eine«  SHächtigen 
für  nicht  freibeitfchmäternb  anfatj  — nec  rubor  inter  comites 
adspici,  fogt  lacitu«  — giebt  ben  fchlagenbften  Vewei«  non  bem 
hohen  Änfehen,  in  welchem  ba«  Snftüut  ber  ©efotgfchaft  fdjon 
bei  ben  älteften  2>eutfd)en  geftanben  ^at  r wenngleich  biefe« 
SCnfehen  oorerft  noch  nicht  fo  h^t  geftiegen  mar,  bafs  ber 
©efolgebienft  fyöfym  Stanbe«el)ve  oerliehen  hätte.  S5ies  festere 
würbe  erft  möglich,  al«  ba«  alte  bemofratifchc  ©emeinbeprinjip 
auf  gehört  hatte,  bie  aüe«  beftimmenbe  ©ruitblage  be«  93oI!«* 
(eben«  auSjumachen.  ©in  förmlicher  Äobey  gefofgt^aftäre^tticher 
Veftimmungen  bilbet  fidj  nunmehr  au«.  Strenger  ©elforfam 
auf  ber  einen,  ©etoährung  oou  S<hu|  unb  Slntheil  an  ben 
©rrungenfcf>aften  be«  Stiege«  auf  ber  anberen  Seite  bitbeten  bie 
©ruitbbebingungen  be«  Verhältniffe«.  3n  ber  Verherrlichung 
be«  güfjrer«  erbrieften  feine  ©etreuen  ben  ©egenftaitb  ihrer 
heiligfien  Verpflichtung;  fie  wetteiferten  unter  fid)  in  Xhaten 
ber  Sapferfeit,  beren  Voßbringung  jeboch  nicht  ihnen  fetbft, 
fonbent  ihrem  gührer  jum  Stulpe  gereichte.  SSenn  er  im 
Stampfe  fiel,  war  e«  entehrenb  für  ba«  ganje  Seben,  ben  gürften 
übertebenb  au«  ber  Schlacht  gewichen  ju  fein.  ®ie  ^Begleiter 
ftritten  nur  für  ben  gürften,  ber  gürft  für  ben  Sieg.  2)ie 
©efotg«herren  bagegen,  beren  Slnfehen  nächft  ihrer  eigenen 
£üd)tigfeit  auf  bem  ©tanj  ihre«  ©efotge«  beruhte,  ftrebten  burch 
ba«  jahlreichfte  unb  tapferfte  Äomitat  fich  eine  überwiegenbe 
potitifche  Vebeutung  ju  fichern.  SDaher  bie  reichen  $uwenbungen 
an  SBaffen  unb  Stoffen,  an  Strieg«beute  unb  fonftigen  äuferen 
Sorttjeilen.  3m  übrigen  beftanb  bie  ©efotgfchaft  feine«weg« 
btofe  at«  eine  ©eteitfehaft  im  Kriege,  fonbern  bitbete  ebenfo  im 


6 


grieben,  wenn  auch  in  verringerter  ®tagal)t,  baS  ©hrengefolge 
beS  giihrerö.  ®a  niit^in  alle  ©eftrebungen  ber  ©efofgfcfjaft 
auf  einen  SDiittelpunft,  auf  ihren  gührer  gufammentrafen,  unb 
biefer  bie  ihm  gu  ©ebot  ftefyenben  Kräfte  nicht  fowohl  für  ein 
©tanbeSintereffe  gegen  bie  freien,  als  vielmehr  für  bie  ©rweite« 
rung  feines  eigenen  politiftfjen  ©influffeS  gegenüber  anberen 
ißringipcS  emfefcte,  fo  ift  eS  auch  erflärlid),  wie  fid)  vorerft  baS 
monarchifche  ©ringip  fräftiger  als  baS  ariftofratifdje  entwicfelte, 
unb  wie  gegen  baS  ©nbe  biefer  ©eriobe  nid)t  etwa  ein  fdjarf 
ausgeprägter  ?lbelftanb,  foitbem  eine  größere  Jlngahl  non  gürften- 
gerechtem  fjernortrat.  ©erabe  nun  aber  in  ben  Sföitgliebern 
einzelner  fürftlicfjen  gamilien,  welche  vermöge  ©eburtSrechtS 
fuccebirten,  farn  gucrft  ein  eigentlicher  ©eburtSabel  gur  ©rfdjeinung. 

3Me  Aufgabe,  alle  biefe  gasreichen  größeren  unb  Heineren 
©tammeSfiirften  unter  einer  einigen  Ijerrfdjaft  gu  vereinigen, 
war  einem  genialen  Häuptling  ber  falifdjen  granfen  Vorbehalten. 
Die  ©rünbung  beS  großen  granfenreicheS  bur<h  ©hiobwig  ift 
auch  für  bie  ©ntwicfelung  beS  beutfchen  SlbelS  oon  einfchnei* 
benbfter  ©ebeutung  geworben.  SGßaS  wir  aber  über  bie  ?tuS> 
bilbung  beS  ©efolgfchaftStvefenS  bemerft  haben,  gilt  in  gefteigertcm 
Sftafje  auch  für  bie  erfte  $eit  beS  frättfifchen  9ieid)cS.  DaS 
Dienftgefolge  beS  fränfifdjen  Königs  bilbct  einerfeitS  gleichfam  baS 
SRufterbilb,  bie  höc^fte  ©liithe  ber  ©ntwicfelung,  wie  cS  anberer- 
feits  wieber  ber  SuSgangSpunft  für  eine  völlig  neue  Schöpfung, 
wie  fie  uns  fertig  in  bem  geubalabel  beS  ÜJlittelalterS  vorliegt, 
geworben  ift.  ©erfuchen  wir  cS,  in  furgen  3ügen  baS  SBefen 
beS  föniglidjen  DienftgefolgeS  gu  fchilbern! 

©ine  ©ejeichnung  beSfelben  ift  eS  oorerft,  bie  unS  einen 
tiefen  ©lief  in  ben  ©hara^er  beS  ©erhältniffes  tlfun  läjjt:  bie 
©egeichnung  beS  ©efolgeS  mit  convivae  regis.  @S  brüeft  biefe 
baS  enge  ©anb  aus,  in  bem  König  unb  ©efolge  nicht  nur  im 
Kriege,  fonbern  auch  wäljrenb  ber  gangen  übrigen  ßeit  ihres 

UW) 


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7 


fieben«  ju  einanber  fielen.  SRamenttidj  ber  eigentliche  .^ofbienft, 
ber  oorjug«weife  in  jene  ^Bezeichnung  mit  eingefchloffen  ift,  ift 
für  bie  fpätere  ©eftaltung  be«  Ibel«  bebeutfam  unb  oorbilblicf) 
geworben.  Im  §ofe  mar  jebent  ©efolg«mann  fein  eigene« 
©efdjäft  angeroiefen,  unb  hierauf  entroicfelte  fieff,  jum  $he«l  >m 
Infdjluß  an  btjjantinifcfie  (Einrichtungen , eine  SReilje  non  Jpof* 
ämtern,  beren  jebe«  ursprünglich  nur  für  bie  ißrioatbebürfniffe 
be«  Sönig«  $u  forgen  hatte,  bie  aber  Später  gerabeju  in  wahre 
Staat«ämter  übergingen.  3Der  Äönig  mar  burchau«  an  feine 
23ebingungen  Ijinftchtlich  ®erer  gebunben,  welche  er  in  fein 
2)ienftgefolge  unb  in  bie  Umgebung  feiner  ißerfon  aufnehmen 
wollte.  ®iefer  monarchifche  SMenftabel  mürbe  im  ©egenfafc  ju 
bem  alten  bemofratifchen  SRationalabel  au«  aßen  (Jlementen  ber 
©efeUfcljaft  jufammeitgefchöpft;  e«  fam  babei  junächft  fo  wenig 
auf  ba«  «lut  in  ben  Ibern  biefe«  neuen  Ibel«  an,  baß  felbft 
greigelaffene  bie  Seiter  be«  Äönigsbienfte«  bi«  ju  ben  haften 
Stufen  emporflimmen  fonnten.  $iefe  ®efolg«leute  nun  gebraucht 
ber  Äönig  naturgemäß  al«  feine  nächften  9tatf)geber.  SBefonbere 
SSertrautljeit  mit  ihm  einerfeit«  unb  große«  Infeljen  beim  93olfe 
wegen  ihrer  friegerifcheit  fiebenämeife  anbererfeit«  befähigten  fie 
baju  Dorjug«roeife.  lu«  ihnen  nimmt  er  bie  Anführer  $u 
Ärieg«iügen,  Statthalter  über  unterjochte  Sänber,  ja  fogar  Könige 
für  unterworfene  Sölfer,  SSormünber  für  minber jährige  Äönige. 
Seinen  ®efolg«leuten  überträgt  ber  Slönig  roohl  auch  am  üebften 
bie  ftänbigen  lerntet  eine«  Jperjog«,  ©rafen,  llbermanne«, 
Schultheißen  unb  bergleicheit,  fobalb  er  über  biefe  ju  oerfügen 
bie  SKacht  hatte. 

$ie  !u«jei<hnungen  für  biefe  Äönig«bienftleute  beginnen 
mit  ber  .fjochfteUung  ihre«  SSergelbe«.  $er  Sönig  ließ  fich 
für  bie  Xöbtung  ober  93erlejjung  eine«  ihm  2>ienftbaren  neben 
bem  oolf«rechtlich  bem  iüerlefcten  gebührenbeit  betrage  oom  SSer* 
gelb  ober  Süße  noch  eine  weitere  Summe  für  bie  Sßerleßung 

1215) 


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8 


feines  Sd)ußrecf)tS  bejafjlen;  fpäter  würbe  tiefe  oon  if)m,  wie 
eS  fcfjeint,  bem  SSeleibigteit  felbft  überlaff  eit,  fo  baß  nunmehr 
beffen  SSergelb  unb  Süße  erhöbt  erfdjeint.  gür  beit  Slntruftio 
beträgt  baSfelbe  gerabe  breimal  fo  oiel  als  für  beit  freigeborenen 
granfeit,  wäßrenb  bet  •römifcfjgeborette  3)ienftgefolgSmann,  ber 
oorjugSweife  als  Sifdjgenoffe  beS  Königs  bejeicßnet  wirb,  in 
biefer  Slbftufung  nur  ßalb  fo  oiet  gilt  als  ber  fränfifd)  geborene 
Slntruftio.  $)a  ber  Slntruftio  junädjft  als  ein  unter  bem  be * 
fottberen  ÄönigSf<f)uß  fteßenber  greier  betrachtet  wirb,  fo  fteßt 
baburcf)  feine  Sdfäßung  ju  einem  breifachen  SSergelb  an  ihrer 
richtigen  Stelle ; beim  eS  erfdjeint  als  eitt  allgemeines  ißrinjh> 
in  bett  SBolfSgefeßeit , baß  bie  jtttn  föniglidjen  ®ienftgefo(ge 
©efjörigen  nad)  einem  um  baS  dreifache  erhöhten  ÜJfaßftab 
gefchä^t  werben,  liefet  ÜJlaßftab  ber  SBerbreifadjung  beS  SBertßeS 
fehrt  bann  aud)  im  gelbe  wieber,  wo  bie  Setzung  beS  SIntruftio 
fich  auf  1800  Solibi  fteigert,  aber  aud)  nur  wieber  in  reget* 
mäßiger  Einhaltung  ber  Sfala,  inbem  bann  aud)  ber  ©emein* 
freie,  ber  fonft  200  gilt,  auf  600  erhöh*  tt»irb.  3)ie  übrigen 
SSorjüge,  beren  ber  SIntruftio  genoß,  erfd)einen  beSljalb  weniger 
formulirt,  weil  fie  gan$  ber  inbioibueUen  ©ntwidelung  angelförten, 
bie  fein  perfönlicßeS  93erl)ältniß  jum  f)erm  naljm.  Seine  Stellung 
oor  ©ericht  fdjeint  aber  nicht  tninber  eine  beoorjugte  gewefen 
ju  fein. 

35ocl)  ift  baS  ©efolge  niefjt  ber  einjige  Seftanbtöeil  ber 
neu  fich  bilbenben  Slriftofratie:  als  ein  jweiter  fommett  noch 
ßittju  bie  Staatsbeamten.  Ü>iefe  waren  waßrfcßeinlid)  fchon 
jur  bemofratifd)ett  3eit  burd)  ßö^ere  Süße  unb  f)öl)ereS  2Ber> 
gelb  geehrt.  SllS  bie  ÜJfacf)t  ber  ©olfSgemeinbe  in  bie  |>anb 
beS  Königs  übergegangen  war,  würben  bie  Beamten  oon  biefent 
ernannt;  in  ihrer  äußeren  Stellung  änberte  fich  ober  baburd) 
weiter  nichts,  als  baß  fie  bie  Xreue,  bie  fie  bisher  ber  ©emeinbe 
gefdiulbet  Ratten,  nunmehr  auf  ben  fiönig  übertrügen.  S)amit 
(21«) 


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9 

traten  fie  aber  fofort  in  ein  ©ertjältnig,  weId}eS  bem  ber  ©efolgS« 
leute  fe^r  äfptlid)  war,  obwohl  matt  fie  mit  biefen  teineSmegS 
jufammenwerfen  barf;  wie  bie  ©efolgSleute  finb  aut  fie  nun» 
me^r  bem  König  ju  befonberer  Ireuc  »erbunben  unb  genießen 
baffer  beffeu  Stu§,  wäfjrettb  fie  anbererfeits  iffren  alten  (Sinflug 
ficf>  größtenteils  erhalten  fjaben.  IhtS  beiben  Elementen,  ber 
©efolgftaft  unb  bett  Staatsbeamten , emwicfelt  fit  nunmehr 
eine  Äriftofratie  beS  $5icnfteS,  welche,  erft  ftwantenb  unb  nichts 
weniger  als  felbftänbig,  allmäf)lidj  fit  befeftigt  unb  julefjt  ju 
einem  wahren  Slbel  Ijeranwätft. 

SSaS  bem  neuen  Siettftabel  in  beit  erftett  3af)rf)unberten 
feiner  ©titmicfelung  not  fehlte,  um  für  einen  in  fit  abgeftloffenen 
Äbelftanb  gelten  ju  tonnen,  mar  namentlit  baS  ißrinjip  ber 
©rblitfeit.  ®iefes  lag  burtauS  nitt  in  ber  SRatur  beS  neuen 
©erfjältniffeS,  baS  aus  inbioibueflen  ©eweggrünben  eingegangen 
itnb  aus  benfelben  wafjrfteinlit  aut  wieber  gelöft  werben 
tonnte.  ®ot  beginnen  berartige  Stellungen  ober  menigftenS 
ipre  ©orjüge  f)ier  unb  ba  bereits  auf  bie  Söffne  fit  ju  über- 
tragen. (5S  würbe  baS  in  gleit«  Söeife  burt  bie  3ntereffen 
ber  Kronbienftleutc  wie  beS  Königs  geboten.  ®en  erfteren 
gewährte  ber  KönigSbienft  jit  bebeutenbe  ©ortpeile,  als  bag  fie 
bemfelben  bie  Unabpängigfeit  beS  einfaten  freien  ©runbf)errn 
»orgejogett  Ratten ; ber  König  hingegen  mugte  bei  ben  jaf|l» 
reiten  inneren  Streitigfeiten  ftets  bafür  Sorge  tragen,  biefe 
einflugreiten  Familien  immer  oott  neuem  an  fit  ju  feffeln. 
2;ieS  festere  fteint  aber  f)auptfätl»t  burt  bie  Knüpfung  ber 
Slriftofratie  an  ben  ©ruttbbefifj  »ermittelt  worben  ju  fein,  wie 
folte  in  bem  ©enefijialwefen  fit  auSfpritt;  bot  ift  nit*  Su 
»erfennen,  bog  aut  abgefef)en  ^ieroott  ber  burt  baS  ganje 
beutfte  9iettSleben  fit  f)injiel)enbe  Jrieb  nat  ©rblitfeit  öfter 
ju  ®rfteinungett  geführt  fjat,  auS  weiten  ein  folter  Äbcl 
ertoatfen  tonnte. 

(217) 


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10 


Slber  auch  fonft  muffte  Die  oofle  ©ntfaltung  bieier  neuen 
Slriftofratie  bur<h  einige  anbere  Umftänbe  oorerft  nod)  gurücf« 
gehalten  werben.  (Sinmal  genoß , troß  bei?  Uebergaitgeä  bes 
|>errfchaft$pringip3  oon  ber  ©olfägemeinbe  auf  ben  Äönig,  bie 
gemeine  greifjeit  immer  noch  eine  fo  hohe  ©ebeutung,  baff  fogar 
9lbel  unb  greilfeit  gerabegu  für  ibentifdje  ©egriffe  galten,  unb 
felbft  ber  ©intritt  in  ba$  föniglid)e  SDienftgefoIge  oon  a)?anchem 
als  eine  befcfjimpfeube  Grniebriguitg  ber  angeftammten  greitjeit 
betrachtet  würbe.  ®leid)toohl  geftalteten  fid)  fdjon  in  ber 
gegenwärtigen  ©eriobe  — abgefelfen  oon  bent  Sluffommen  bes 
Stönig^bienfteÄ  — manche  ©erfjältniffe,  welche  beit  SBertl)  ber 
gemeinen  Freiheit  herabgubrücfen  brohten.  äBegen  ntangelnbett 
©runbbefißeS  waren  Diele  greie  genötigt,  fidf  auf  ben  ©ütern 
wo^I^abenber  ©runbherreit  niebergulaffen  unb  fiel)  benfelben, 
gleich  ben  Unfreien,  entweber  als  ©auern  gu  Vtbgaben  ober  al$ 
©afaflen  gu  gefolgfchaftlidjen  Obliegenheiten  gu  oerpflichten. 
£>ierburch  würbe  gwar  im  allgemeinen  ihre  politifdje  Stellung 
noch  nicht  oerrüeft:  fie  hulbigten  bem  Könige,  fie  bienten  im 
Heerbanne  unb  erfreuen  auf  bem  ©rafenbinge  wie  bie  freien 
TOobialbefißer.  Söttrbe  alfo  auch  burd)  folch«  Äbhängigfeitö* 
oerhältniffe  bie  perjönliche  Freiheit  nicht  aufgehoben,  fo  blieb 
hoch  eine  Schmälerung  berfelbeit  gurücf,  welche  wieberum  auf 
bie  Sdjäfcung  ber  oon  ihr  ©etroffenett  nngiinftig  eiuwirfen 
mußte.  3n  bem  ©taffe  aber,  in  welchem  ein  Sh«*  ber  ge* 
meinen  greien  unter  ba$  9?ioeau  ber  greifjeit  herabfanf,  ftieg 
ein  anberer  — eben  bie  reichen  nnb  angefehenen  ©runbherren  — 
über  baäjelbe  hinauf.  Siefe  fielen  aber  oorerft  feineSwegS  mit 
ben  föniglichett  ©efoIgSleuten  gufammen;  e£  foimte  oielmehr 
neben  benfelben  noch  eine  Sngaljl  oott  jebem  Siettftoerbanbe 
unabhängiger  oornehmer  greien  ejiftiren,  bie  au  äußerer  gefetl* 
fdfaftlidjer  Schälung  bie  erftgenannteii  aufwogen,  oielleicht  fogar 
überboten,  ^ebenfalls  finb  wir  nicht  befugt,  biefe  unabhängigen 

C218) 


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11 


Dornefjmen  freien  in  einer  3eit,  in  welcher  ber  neue  2tbel«* 
begriff  ficb  noch  wenig  fijirt  batte,  oon  biefem  au«zufd)lief3en : 
bie  2f)eilnaf)me  am  ©efolge  be«  ßönig«  war  bislang  wohl  ber 
roicfjHgfte,  nicht  aber  ber  einige  gaftor  iit  biefem  SBerbeprojeffe. 
da«  SBort  Stbel  finbei  bentgemäß  oorerft  and)  noch  Änroenbung 
auf  bie  oerfdjiebenartigfteit  Serbältniffe,  in  benen  Solfsgenoffeit 
als  fyerüorragenb  über  bie  SDienge  erfreuten,  DorzugSweife  gerabe 
auf  diejenigen,  welche  auf  eigenem  ©runb  unb  Sobeit  faßen 
uitb  aßet  ber  Siechte  t^eil^aftig  waren,  bie  non  alter«  ber  beit 
freien  juftanben.  3«  ben  SdjenfungSurfunben  aßer  Stämme 
wirb  „abelig"  unjä^ligemale  in  biefem  Sinne  gebraust,  auch 
StanbeSgenoffen  ober  berjelben  fßerfon,  fei  es  abwecbfclnb, 
fei  e«  zugleich,  Stbel  unb  greifleit  beigelegt:  mau  fpricbt  oon 
freiem  Slbel,  oom  Stbel  ber  greifet.  Unb  wenn  mitunter  Äbelige 
unb  greie  nebeneinanber  genannt  werben,  fo  ift  es  eben  aud) 
nicht  anber«,  al«  wenn  bie  oerfd)iebenften  SluSbrütfe  für  biefe 
jufammengefiigt  finb,  um  beit  weiten  Umfang,  ben  ber  Stanb 
ber  greien  f>at,  ooflfommeu  ju  begreifen  unb  bie  oerfd)iebenften 
SBeftanbt^eile  beSfelben  jufammeitjufaffen,  unter  Umftänben  Diel» 
leicht  wieber  bie  Ängefe^eneren  berfelben  ^erauSju^eben.  So 
ftefien  bie  Slbeligen  auch  aßgemein  im  ©egenfaß  ju  bent  gemeinen 
Soll,  ben  Säuern:  man  tfjeilt  ba«  gange  Solf  in  Stbetige  unb 
Unabelige. 

So  lange  nun  bie  äußere  Steßung  ber  dienftleute  nod) 
feine  oor  bem  übrigen  Solle  wefentlic^  ausgezeichnete  war, 
fonnte  oon  einer  eigentlichen  Iriftotratie  be«  dienfte«  noch  feine 
9febe  fein,  diefe  ^Bezeichnung  wirb  erft  möglid),  nacfjbem  bie 
©efolgfdjaft  ficb  über  bie  ganze  oornefjmere  itlaffe  be«  Solfe« 
auSgebebnt  unb  aßen  ober  hoch  faft  aßen  ©influß  im  Staate 
an  fidj  gezogen  bat-  ©in  weitere«  |>inbernij3  ber  SUbung  einer 
wahrhaften  Slriftofratie  lag  barin,  baß  bie  rechtliche  unb  that* 
fachliche  Steßung  ber  ßönigsbienftleute  lange  $eit  ^inburd)  ooit 

(219) 


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ber  freien  2Eüillfür  beS  Königs  als  35ienftherrn  abhängig  war. 
Sin  bebeutfamer  gortfdjritt  gur  ©ewinnung  eines  freieren  Staub» 
punfteS  lag  nun  bereits  in  ber  ton  uns  fcfjoit  oben  namhaft 
gemachten  Srhöhung  beS  SSergelbeS  unb  ber  83ufje,  begiehungS* 
weife  ber  3uf£^fa9utig  ber  KönigSbujje  gu  bem  einfachen  2Ber* 
gelb  beS  ©efolgSmanneS.  Stber  auch  fonft  gelang  eS  ben 
KönigSbienftleuten,  ihre  Stellung  mehr  unb  mehr  gu  befeftigen. 

3u  ftatten  fam  ihnen  bei  biefem  33eftreben  namentlich  bie 
Schwäche  ber  fpäteren  merowingifcheit  Könige  unb  beren  83er* 
wicfelung  in  galjllofe  Kriege.  SS  bilbete  fich  unter  folchen 
Sinflüffett  eine  förmliche  Korporation  föniglidjer  ©ienftleute 
aus,  mit  beftimmten  Rechten  unb  Slnfpriic^en,  nicht  fowoljl  gegen 
baS  übrige  33olf,  als  oielmehr  gegen  ben  König.  Unb  uon 
grauten  aus  oerbreitete  fich  biefe  Sntwidetung  nach  bem  inneren 
®eutfchlaub  unb  nach  Italien,  gu  beit  SBeftgothen  unb  ben 
Angelfachfen.  §atte  bis  bahin  ber  König  als  ber  abfolute 
Spenber  aller  Sterte  unb  ©naben  gegolten,  fo  baf?  baS  perfön» 
liehe  93erhä(tnij3  gu  ihm  auSfchliefjticl)  ben  größeren  ober  ge* 
ringeren  ©rab  ooit  öebeutfamfeit  jebeS  Staatsangehörigen 
geregelt  hatte,  fo  betrachtete  baS  83olf  nunmehr  bie  Shre  unb 
bie  SSorgüge  ber  ®ienftleute  als  in  ihrer  eigenen  Stellung  be* 
grünbet;  ber  König  fah  biefelben  fich  gegenüber  gu  einer  felb* 
ftänbigen  SDiacht  erwachfen,  bie  gu  brechen  ihm  bie  Kraft  fehlte. 
Alle  bebeutenberen  Aemter  beS  Staates  unb  .pofeS  werben  ihnen 
anoertraut,  bei  allen  wichtigen  Angelegenheiten  müffett  fie  gu 
SRatfje  gegogen  werben. 

So  oollenbete  fich  allgemach  bie  Umwaitbelung  ber  alten 
©eburtsftänbe  unb  .fperrfchaftsflaffen.  9?ächft  bem  Uebergang 
beS  9)littelalterS  in  bie  neuere  $eit  ift  feine  ^Jeriobe  ton  folcher 
SSidjtigfeit  für  bie  ©efeUfchaftSgefchichte  als  gerabe  bie  ©poche 
ber  inerowingifchen  Könige.  Allgemein  tritt  in  biefer  eine  burch« 

greifenbe  Umwanbeluitg  ber  ©eburtsftänbe  h^roor,  bernhenb  auf 

(220) 


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13 


ber  fteigenben  Sebeutung  aller  fierrfcfjaftlirfjen  SBertjältniffe,  Her« 
bunben  mit  bem  3urüdweid)en  ber  genoffenfchaftlichen.  (Einft 
ftanbeu  Slbelige,  grcie  unb  Siten  in  fcßroffer  ftänbifcher  Sonbe- 
rang  unb  unter  ihnen  bie  unfreien  Knechte;  nur  bie  greilaffung 
bahnte  ben  Uebergang  non  ber  fReddlofigfeit  biefer  wenigften« 
ju  einem  befferen  5Hed)te.  9hm  finb  bie  alten  Orbnungen  in 
Huflöfung  begriffen.  (Ein  fßrojeß  ber  3erfehun9  ift  non  unten 
nacf)  oben  immer  Weiter  gefdjritten.  Sie  $ahlreid)en  grei- 
laffungen,  welche  halb  nicht  bloß  bie  minbere,  fonberit  auch  bie 
nolle  Freiheit  gaben,  brachten  ber  SBolf«gemeinbe  ftet«  neue 
(Elemente  ju,  welche  bod)  nicht  fo  ohne  weitere«  mit  bem  alten 
©tamm  ber  Seoötfcrung  nerwachfett  fonnteit.  3U  ^en  Sfatmen 
be«  alten  9ted)t«  fommen  bie  fremben  hinzu,  ju  ben  Hbljängigfeit«- 
üerljältniffen,  welche  bort  mit  ber  ©rttjeilung  non  Sanb  jufammen- 
hingen,  bie  be«  ißatronat«  unb  ber  Klientel,  weldje  fich  bann 
toieber  mit  benen  be«  betttfchen  SDiunbium«  uttb  mit  anberen 
freieren,  auf  Jreue  unb  perfönlid>e  (Ergebenheit  beruljenben  93er* 
binbungen  mifchten.  Huch  Seutfdje,  bie  fein  eigene«  Sanb  hatten 
ober  einen  mächtigen  Schuh  fuchtelt,  traten  freiwillig  ober  ge- 
zwungen in  fotche  SBerfjältniffe  ein,  aber  auf  oerfd)iebene  SBkife: 
balb  bienten  fie  für  ben  ißrei«  ihrer  greifet,  bafb  Würben  fie 
Kolonen;  h*^  gaben  fie  fidj  in  perfönlidfen  Schuh,  bort  über- 
trugen fie  ihr  Sanb  unb  behielten  bloß  einen  ÜRießbraud). 
3ugleid)  brachte  bie  (Eroberung  größere  Sanbbefihungen  in  eine 
§anb,  bie  ju  öeränberten  3Sirtf)fd)aft«einrichtungen  Hnlaß  gaben 
unb  ben  Inhaber  häufig  auch  Su  einem  .fjerrn  über  jin«pflichtige 
Hderbauer  machten.  Sefünber«  in  ben  weftlidjeu  unb  füblicßen 
©egenben  be«  erweiterten  beutfchen  Sanbe«  war  bie«  ber  ffall. 
Siefe  würben  ber  Sih  großer  ©runbbefiher,  bie  SBiege  mächtiger 
©efchledjter.  So  fchwanb  bie  alte  fRegelmäßigfeit  in  ber  93er- 
theilung  ber  Slecfer,  auf  ber  bie  ©leidjberechtigung  ber  freien 
wefentlich  beruht  hatte.  Sagegen  erlangten  alle  9>erbinbungen, 

C221) 


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14 


mosten  fie  auf  Slmt  unb  perfönlichem  $ienft  ober  auf  beut 
©mpfattge  föniglicher  ©üter  berufen,  eine  fteigenbe  Sßüfjtigfeit. 
@g  ift  nicht  mehr  bie  ©enoffenfchaft  ber  gm«1  allein,  welche 
in  ©etracht  fornmt,  fonbern  bag  ©olf  in  allen  feinen  ©eftanb* 
feilen  unb  feiner  mannigfachen  ©lieberung.  @3  ift  nicht  bie 
©efamtheit  wefenttich  gfeicfjftehenber,  gleichberechtigter  ©olfg* 
genoffen,  welche  ben  Staat  augmacht,  fonbern  oerfchiebene  Sieihen 
fich  iibereinanber  erhebenber  ©erfonen  unb  ©emalten  führen 
hinan  big  ju  ben  Stufen  beg  Sihroneg.  ®ie  ©inen  hohen  fich 
ben  Stöberen  untergeorbnet,  ja  fie  fangen  an,  biefe  fo  oon  fich 
abhängig  ju  machen,  ba§  fie  aug  ber  unmittelbaren  ©erbinbung 
mit  bem  Oberhaupt  beg  Staate«  unb  mit  bem  Staate  felbft 
heraugtreten. 

©anj  befonberg  fam  biefe  Umtoanblung  ben  föniglichen 
$ienftlcuten  ju  ftatten  25aju  trat  bann  noch  ein  Weitereg, 
bie  ©leichartigfeit  ber  ihrer  Sflaffe  Singehörigen,  ihre  fefte  Slb* 
fdjfiefjung  begiinftigenbeg  SDtoment  bie  Stugbeljnung  beg  fönig- 
lichen $ienftoerbanbeg  über  bie  ganje  oorneljme  klaffe  beg  ©olfeg. 
®ieg  le|tere  war  bag  ©rgebnifj  ber  ftetig  wachfenben  ©ebeittung 
beg  ©enefaialwefeng,  weicheg  in  feinen  Stnfängen  wieberum 
aufg  engfte  mit  bem  ©efolgfdjaftgwefen  jufammenhängt.  Schon 
SDtontegquieu  h«t  mit  intuitioem  Scharfblicf  ben  Urfprung  beg 
gefamten  2ef|engwefeng,  biefeg  fpejififd)  germanifchen  gnftitutg, 
in  ber  ©emohnheit  ber  alten  ©ermanett  gefunben,  fich,  wo 
fich  um  bie  Slugführung  eineg  größeren  ©roberuttgg*  ober  Staub* 
jugeg  honbelte,  freiwillig  unter  ben  ©efefjl  eineg  ©rincepg  ju 
ftetlen  unb  beffen  gührerfdjaft  unbebingt  anjuerfennen.  So  oft 
nun  ein  germanifcheg  ©olf  einen  neuen  Sanbftridj  eroberte  unb 
befe^te,  würbe  ein  Ztyit  beg  ©runb  unb  ©obeng  unter  bie 
©roherer  oertljeilt  unb  oon  biefen  in  ©efiß  genommen.  2>er 
ßönig  erhielt  natürlich  bie  größten  SJänbereien,  unb  oon  biefen 

überließ  er  gewöhnlich  Solchen,  bie  bei  ihm  in  befonberer  ©unft 

(222) 


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15 


ftanben  ober  bie  fid|  burcf)  Japferfeit  um  baS  ©dingen  be$ 
©roberungSjugeS  befonberS  »erbient  gemalt  fjatten,  größere 
ober  Weinere  ©tücfe  als  fielen.  3m  übrigen  belieft  man  ben 
®oben  im  rußigen  ®efi$  be$  unterjochen  ®olfeS  — nidjt  nuä 
irgenb  welcher,  ber  bamaligen  $eit  unoerftänblicßen  ©roftmutß, 
foubern  aus  bem  einfachen  ©runbe,  weif  in  ben  btinnbeöölferten 
unb  burcf)  fortmäftrenbe  ftriege  arg  begimirten  fianbftricßen  noeft 
genug  ßerrenlofer  ©runb  übrig  mar,  ber  für  ben  ©ieger  »oß> 
ftänbig  auSreicßte.  $Da$  ®enefigialwefett  ift  alfo  ber  ©cßluft* 
punft  beS  neuen  ftänbifeben  UmbilDungSprogeffeS,  aber  aueft  bie 
aöe  mittelalterlichen  fiebenäDerftättniffe  befterrfdjenbe,  befrueßtenbe 
unb  erfüflenbe  3bee.  9iur  wer  ein  auch  noeft  fo  geringfügiges 
©lieb  in  ber  ftette  auSmacftt,  bie  nunmehr,  üon  bem  ßönig  als 
(extern  unb  oberftem  £>errn  aßen  ®obenS  unb  3nftaber  aßer 
9ie<f|te  auSgeßenb,  bie  gange  ©efeßfeftaft  mit  aßen  ißren  9fed)ten 
unb  ^flicßten,  aßem  ißren  Ifjun  unb  Saffen  umfcßlieftt,  ftat 
Hnfprucß  auf  politifeße  uub  fokale  ©eltung.  Slucß  anbere  ®olfS> 
flaffen,  roie  ber  ®iirger*  unb  ®auernftanb,  anbere  fiebenSfreife, 
wie  bie  Sfircße,  ßaben  fieß  biefetn  aßbeßerrfeßenben  ©inftuft  ber 
SeßenSibee  nießt  entgießen  fönnen;  boeß  ift  eS  naturgemäft,  baft 
ifjre  SBirfungen  fid)  am  lebßafteften  unb  einfcßneibenbften  bei 
berjenigen  ©efeßfcßaftSflaffe  fühlbar  machten,  bei  welcßer  fie 
guerft  gur  ©tfeßeinung  gefommeu  waren,  beren  gange  ficbenSart 
unb  fogiafe  Aufgabe  bie  engfte  ®erwanbtfcßaft  mit  ißr  aufwies, 
bie  enblicß  ißrer  ©pifce,  bem  Äönige  als  oberften  SeßenSßerrn, 
gunäcßft  in  ber  jRangorbnung  ftanb.  $ie  ®orneßmen  beS  ®olfS  — 
beruße  nun  bie  ©runblage  ißrer  SluSgeicßnung  auf  ißrer  ®er* 
binbung  mit  bem  Könige,  auf  grofteni  ©runbbefifc,  auf  $b= 
ftammung  oon  einem  bejonberS  uerbienten  ©efcßlecßt  ober  auf 
'■Borgügen  irgenb  welcßer  Sfrt  — batten  bis  baßin  eine  natürliche 
Sfriftofratie  , wie  fie  jebeS  fiulturöolf  in  fteß  fcßlieftt,  gebilbet; 

in  bem  $)ienftgefoIge  beS  Königs  war  bann  aitS  ihrer  SfRitte 

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16 


eine  @efeßjchaft«flaffe  aufgetreten,  welche  ben  fruchtbaren  Äeim 
ju  einem  mirflidjen  Slbel  in  fid)  trug:  ba«  Streben  nämlich, 
faftifd)  an  bie  ©injelperfon  gefnüpfte  Vorzüge  in  erbliche  Familien« 
uitb  Stanbe«öorred)te  ju  oerwanbeln  — ein  Streben,  bas  Ve r- 
roirftichung  namentlich  baburch  erfuhr,  bajj,  wäljrenb  bi«  bahin 
ber  ©enufj  perfönlid)er  füu«jei<hnung  ein  ©nabenaft  be«  Äönig« 
war,  nunmehr  bie  ®efoIg«leute  in  forporatioem  3ufantmenfchluS 
ihrem  f)errn  gegenüber  fich  ju  einem  gleichberechtigten  fyaftor 
emporarbeiten  unb  ihre  baburch  bereit«  wefenttich  gefeftigten 
Vorrechte  nod)  weiter  baburch  ju  ftüfcen  fich  artfehiefen,  baS  fie 
biefelbeit  binglich  rabijiren,  mit  ©runbbefifs  in  3ulatmnen()an8 
bringen.  Oberflächlich  betrachtet,  änberte  bie«  an  bem  SBefen 
ihrer  Siechte  noch  nicht«/  ba  bie  Sehen  oon  Anfang  an  ebenfaß« 
nur  auf  Stuf  unb  SBiberruf  gegeben  würben,  ber  Verleiher  nicht 
blofj  ibeeßer,  fonbern  faftifcher  ©igenthümer  blieb.  Stber  e«  ift 
hoch  ein  gewaltiger  Unterschieb,  ob  bie  ©rtheilung  oon  Vor- 
rechten lebiglich  an  bie  fßerfon  be«  ©egnabigten  gefniipft  ift 
ober  mit  ihr  jugleidj  jene  Saitbleihe  oerbunbeit  wirb.  @«  mag 
eine  folche  auch  in  ber  bem  Geliehenen  wenigft  giinftigen  gorm, 
fie  mag  auch  gaitj  ohne  inneren  3ufammenhang  mit  ber  perfön- 
liehen  Steßung  be«fetben  erfolgt  fein,  fo  wirb  fich  bod)  nlSbalb 
ein  boppetter  Vorgang  bejüglidj  be«  Verhättniffe«  jwifcf)en 
Seihenbent,  ©elehntem  unb  Seifjgegenftanb  bemerfbar  machen. 
3unächft  trachtet  bie  flüchtige  gorm  nach  fefter,  bauernber 
©eftalt : au«  ber  Seihe  auf  3?it  wirb  eine  folche  auf  Sebensjeit 
be«  ©mpfänger«,  bann  eine  ©rbleihe;  in  biefem  Stabiutn  erhält 
fid)  bann  ba«  Verhältnis  lange  3^1,  weil  meift  ba«  faftifche 
Vefihredjt  be«  ©rbbelehnten  bem  wahren  ©igenthum  fehr  nahe 
fommt,  bi«  Schließlich  bie  llmwanblung  in  rechte«  ©igen  faft 
!aum  mehr  al«  Vortheil  empfunben  wirb.  9Zod)  merfwürbiger 
ift  bie  Sßaitblung,  welche  ba«  Verhältnis  jwifchen  bem  ©dehnten 
unb  bem  Sehen«ftiide  erfährt.  SBir  machen  fprr  nämfid)  fchott 

(224) 


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17 


halb  bie  ^Beobachtung,  baß  ber  ©elehnte  feine  perfönlidfen  ©or> 
rechte  fo  fehr  mit  bem  öon  iljm  leih  weife  befeffenen  ©runb  unb 
©oben  in  3ufammen^ng  bringt,  baß  nicht  mehr  bie  ißerfoit, 
fonbem  baS  @ut  als  ber  Präger  ber  auSgejeichneten  Stellung 
feine?  Inhabers  erfcfjeint.  @3  ift  baS  eine  wirthfchaftlidje  Xh«t* 
fache,  bie  ihre  Srflärung  sumeift  in  bem  fonferoatioeu  Sfjarafter 
äße?  ©runbbefiheS,  nßer  ber  ©Obenbearbeitung  jugcwanbten 
4)antirungcit  finbet.  @3  ift  baher  ein  ©rcignijj  oon  ber  größten 
Tragweite  getoefen,  als  bie  föniglidjeit  ©efolgSleute  anfiitgen, 
ihre  3e't  nidht  mehr  gwifdjen  Stieg  unb  £jofbienft  jujubringen, 
fottbem  baneben  fich  ber  ©eioirthfchaftung  beS  ihnen  »om  Sönige 
oerlieheuen  SanbeS  ju  unterjief)en.  Aber  noch  ein  anbereS  folgte 
auS  biefer  ©abijirung  beS  SönigSbienfteS  auf  ©runbbefifc.  ©iS 
bahin  hotte  nämlich  eine  fcharfe  Trennung  swifchen  ben  ©efolgS» 
leuten  unb  ben  übrigen  angefehenen  ©erfönlid)feiten  bes  ©olfeS 
beftanben;  eS  ^atte  an  einem  Sanbe  gefehlt,  baS  aße  biefe 
tjeroorragenben  ©olfSetemente  ju  einer  Sorporation  mit  gemein- 
fc^aftlichen  gntereffen  ^ufammengefchloffen  hätte;  ber  föniglidje 
$ienftmamt  befanb  fich,  wenn  er  nicht  in  friegerifchen  Unter- 
nehmungen auswärts  war,  am  fpofe  beS  giirften,  ber  reiche 
Orunbherr  bagegen  fafj  oereinfamt,  ohne  ben  geringften  gufammen* 
hang  mit  bem  betriebe  beS  §ofleben3  unb  ber  Staatsoerwaltung, 
auf  feinem  |>errengut,  umgeben  oon  jahfreidjen  porigen  unb 
fonftigen  Abhängigen,  über  bie  er  aflerbingS  wie  ein  Heiner 
gürft  herrfchte,  ohne  bah  jeboch  biefer  fein  fterrfdfaftSbesirf  in 
näherer  ©erührung  mit  bem  Staate  al?  folgern  ftanb.  $)ie 
alten  ©runblagen  ber  ©olfSfreiheit,  bie  folcfje  fleinen  unb  fleinften 
j^errfchaftsfreife  roefentlidj  ihrer  Unterlage  gehabt  hatte,  waren 
gefchwunben  unb  an  ihre  Stehe  bie  abfolute  Monarchie  getreten: 
noch  beftanben  aßerbingS  bie  alten  gönnen  ber  bemofratifd)en 
$eit,  aber  fte  waren  taube  Sdjalen  geworben,  in  benen  ber 
oofle  gruchtfern  auf  ein  SWinimum  jufammengefchrumpft  war; 

Sammlung.  SB-  0.  V.  103.  2 (225) 


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18 


noch  immer  befugte  ber  freie  ©runbbefifjer  bie  alten  SBolfSbittge, 
ja  er  mürbe  bann  unb  mann  jn  allgemeinen  $of*  unb  SReidjS* 
tagen  entboten,  aber  bort  präfibirte  jeßt  ein  föniglidjer  ©eamter, 
ba$  Urteil  mürbe  in  beffen  9?amen  gefällt  unb  oon  feinen 
Unterbeamten  Oolljogen,  ^ier  ftanb  bie  ©erufuttg  oöllig  in  ber 
SBiHfür  be§  HönigS,  unb  auch  fo  erfcf|icn  bie  (Einholung  be§ 
SßolfSroiHenS  faft  nur  noch  als  eine  gormatie;  auf  bie  Raffung 
ber  midjtigften  ©efchliiffe  ift  berfelbe  fo  gut  mie  einflußlos 
geroefen.  3eßt  bagegen  mar  bie  fKöglidjfeit  gegeben,  aud}  ohne 
bafj  man  beit  ftrengen  Slnforberungen  beS  ©efolgSbienfteS  fich 
unterjog,  in  ein  biefem  ähnliches  perföttlicheS  SBerljältniß  jurn 
Honig  $u  gelangen.  $er  Honig  ^atte  felbft  bie  betreffenbe 
Carole  auSgegeben,  inbem  er  feinen  SDienftmannen  ©üter,  ftöfe 
unb  gorften  anroieS.  3)iefe  ©ele^nung  mürbe  nun  SBorbifb  unb 
Antrieb  für  bie  unabhängigen  ©runbherren.  SBenn  fie  in  gorm 
unb  (Ehre  mehr  fe‘n  tobten  als  ©runbbefijfer,  bie  bloß  burd) 
bie  größere  gal)!  ber  Sieder  unb  porigen  fidj  ooit  beit  gemeinen 
freien  untergeben,  fo  gab  eS  jeßt  eine  bequeme  Slrt,  bieS  jn 
betätigen,  eben  jene  perfönlicfje  93erbinbung  mit  bem  gürften, 
meld)e  baS  SefjenSbanb  gemährte.  2)aS  mar  baö  SJiittel,  um 
bei  ^offeften  unb  bei  anberen  ©elegenheiten  einen  hohen  ©taub 
einjunehmen.  Unb  locfte  nidjt  auf  biefem  SBcge  bie  81uSficf)t, 
Slemter  unb  ©iiter  ju  erlangen,  .ßöHe,  $ehnten  unb  SBogteired)te 
über  Hirchen  unb  Hlöfter,  bie  man  nicht  felbft  geftiftet?  Sluch 
fanfte  ©emalt  beS  dürften  mochte  mitroirfett,  baff  allmählich  bie 
großen  freien  ©runbbefifcer  fich  in  feine  SehenSntannen  um* 
manbelten.  Sie  trugen  ihm  ihre  ©üter  auf,  b.  h-  ber  gorm 
megett  übergaben  fie  ihm  biefelben,  um  fie  unter  bem  fcierlichften 
Sreugelöbniffe  als  Sefptgüter  mieber  jtt  empfangen.  9iur 
föenige  erhielten  fich  frei  »oxt  aller  2ehnSpflidjt,  fie  trugen  ihre 
®urg  famt  ben  zugehörigen  £öfen  oon  Heincm  ju  Sehen,  als 

»on  ber  ©onnc,  melche  Jlurett  unb  Sieder  in  ihren  Strahlen 

<m) 


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19 


glänjen  lieft.  SQlan  nannte  ifjr  Söefifttftum  ein  Sonnenleften. 
ffiar  ihr  ©ebiet  einigermaßen  anfehnlid),  fo  trachteten  fie  reich«* 
unmittelbar  ju  «erben. 

Sluf  biefe  SBeife  ooßjog  ficft  bie  93erfcftmeljnng  ber  3>ienft» 
unb  Seftenemannen  ju  einem  mächtigen  SlbelSftanbe  mit  be* 
ftimmten  ©taat«intereffen.  3Boftl  lebte  in  ben  £ehen«mannen 
bie  ©rinnerung,  baft  fie  mit  ißerfon  unb  ©ut,  nicht  wie  bie 
Dienftleute,  au«  ber  Unfreiheit  heröorgegangen.  Doch  ba«  gleiche 
abelige  Seben,  ba«  gleiche  Vermögen  unb  Slnfeften  bei  «jpofe  unb 
im  Sanbe,  ber  gemeinfcftaftliche  Dienft  bilbete  ebenfooiel  leichte 
Uebergänge  jWifcften  beiben  ftlaffen.  3Bo  ba«  38efen  einer  @adje 
befteftt,  bleibt  auf  ber  Dauer  auch  ber  9fang  nicht  au«.  Die 
(Srben  ber  oornehmften  §ofämter  faften  mit  ihren  glänjenben 
Xiteln  längft  auf  ihren  ©ütern,  nur  bei  feltenen  unb  feierlichen 
Inläffen  oerrichteten  fie  noch  ihr  2lmt.  ®ie  ftoljeften  Sehen«* 
mannen  hatten  fein  ©ebetifen  mehr,  fich  um  folcfte  Hemter  ooll 
@hren  unb  mit  wenig  Dienft  ju  bewerben.  38a«  aber  Sehen«* 
unb  Dienftmannen  mehr  oerfcftmolj  a I«  gleiche«  Ülnfefjen  unb 
®efiftthum,  war  ber  gemeinfcfjaftliche  ©ewinn  unb  @djaben; 
ihre  Slnftrengungen  hatten  ganj  ba«felbe  3*et  uacft  oben  «ab 
nach  unten,  ftfeft  oerbünbet  ftanben  bie  Söelehnteit  bem  £>emt 
gegenüber  unb  fcfjirmten  jebe«  ihrer  SDiitglieber  mit  ben  SBaffen 
in  ber  |mnb  bei  feinem  öefifce.  SBoflte  jener  ©ehorfam,  fo 
fanb  er  ftißen  3Biberftanb,  ber  nirfjt  ju  brechen  war;  wollte  er 
Dienft  in  ber  9?oth,  fo  muftte  er  iftn  mit  neuen  ©üterit  unb 
3ugeftänbniffen  erfaufen. 

©o  würbe  bie  föniglicfte  ^errfchaft  allmählich  ih^eö  Inhalt« 
entleert,  ba«  Sanb  jerfplittert  in  unabhängige  jrjerricftaften,  ber 
Sönig  nicftt«  nl«  Häuptling  ber  3lbel«herren  — ba«  war  ba« 
3beal  ber  SBafaßen.  Durch  Sehen«*  unb  Dienfthörigfeit  waren 
bie  groften  ©runbbefi&er  hinburchgegangen,  um  julef)t  ficft  wieber 
in  germanifcfter  SBeife  frei  unb  eigenherrlich  auf  ihrem  ©ebict 

2*  (227) 


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20 

ju  finben,  jafetreicfeer  unb  mächtiger  als  jemals  in  ber  alten 
$eit.  Stofe  in  Seutfcfefanb  gab  eS  fein  §emmnife  gegen  biefe 
ungtücfticfee  3erfefeunÖ*  3»  Spanien  feffelte  ber  &ampf  gegen 
ben  maurifdfeen  ©rbfeinb  alle  Kräfte  ber  Station,  bafe  fie  an  ben 
fiönig  gebunben  btieben.  3n  ©nglanb  featte  bie  normännifcfee 
Eroberung  ein  äfenlicfeeS  9iefultat.  3n  graitfreicfe  mürbe  eg 
erreicfet  burcfe  bie  jaferfeunbertelang  fortgefefete  fßolitif  eineg 
einigen  ÄönigSfeaufeS,  melcfeeS  fefeon  »on  ben  9iömern  feer  bie 
©ewöfenung  an  eine  centrale  ^Regierung  »orfanb.  3n  bem  weiten 
Seutfcfeen  9leicf>e  fefetten  alte  biefe  Sfeatfacfeen;  feier  mufete  ber 
fiefeeuSfiaat  jutefet  baS  fReicfe  in  gürftentfeümer  $erfptittern,  aber 
baSfetbe  ißrin^ip  fucfete  aucfe  bie  gftirftentfeümer  in  Saroitien  ju 
äerfefeen. 

Ser  ©cfemerpunft  beS  AbelSbegriffS  lag  in  ber  nterowingifcfeen 
unb  ber  erften  fränfifc^en  geit  in  gefolgfcfeaftlicfeen  ©ejiefeungen, 
itacfe  ben  nunmefer  eingetretenen  Seränberungen  aber  ift  er  in 
bem  Sefijje  eines  reicfeSunmittelbaren  ©ebieteS  unb  bem  bamit 
gegebenen  fReidfeSftanbfdjaftSrecfete  ju  fucfeen.  Jrofe'  ber  wefent- 
ticfeen  Seränberungen,  wetcfeen  feiemacfe  biefer  Segriff  jefet  unter« 
lag,  bleiben  gteicfewofet  beffen  früfeere  Attribute  nocfe  erfennbar; 
nur  treten  fie  je|t  entwicfetter  als  in  ber  »origen  ißeriobc 
feeroor.  Sie  fränfifcfeett  @bten  befafeen  SRekfeSämter  unb  @runb> 
feerrticfefeiten:  ebenfo  ber  mittelalterlicfec  Abel,  nur  freiliefe  mit 
ausgebefenteren  Sefugniffen.  ©etbft  ber  fteinere  $errenftanb 
featte  nunmefer  baS  ootle  ©rafenreefet  über  feine  immunen  Se« 
fijjitngen  erworben.  Sie  fReidfeSämter,  weidfee  efeebem  als  Scnefijien 
»om  ftönige  uertiefeen  worben  waren,  featten  fiefe  in  erblicfee  SReicfeS« 
lefeett  oerwanbett  unb  einen  patrimoniaten  Sfearafter  erfealteit. 
AuS  bem  urfprüngtitfeen  SmmunitätSrecfet  ber  Abeligen,  b.  fe. 
ber  Sefugttife,  bie  fönigtiefeen  öeamten  bejiigtiefe  ber  jpanbfeabung 
iferer  Amtsgewalt  »on  iferen  Sefifeungen  fernjufealten,  feat  fiefe 

allgemacfe  baS  Sieefet  ber  ootlen  ©eriefetSbarfeit  über  alle  in 

(228) 


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21 


ifjrem  $errftaft«bejirfe  Slnfäffigexi  entwicfeft.  |jaben  fie  früher 
lebiglit  ihre  fjinterfaffen  §ur  Seiftimg  ihrer  SBerpflidjtung  an= 
gehalten,  fo  hat  fit  jefjt  ber  prioatrettlite  Gfjarafter  folter 
Abgaben  in  einen  öffentlitf)>re(^tlic^en  oerwanbelt  unb  erfteint 
bemgemäft  au«gebehnt  auf  alle  Untertanen  bc«  Territorium«. 
SBaren  fie  oorbem  al«  2Rittel«perfonen  lebiglid)  jroifcfjen  bem 
König  unb  ihren  ©djufebefolflenen  geftanben,  fo  mar  je|t  feber 
birefte  .gufaimnenbang  jwiften  bem  erftcren  unb  bem  einzelnen 
3taat«angehörigen  aufgehoben;  ber  König  entbietet  nunmehr  fie, 
nicht  ihre  Untertanen  jum  9ieit$bienft.  TeSljalb  werben  aut 
in  ben  fpäteren  9iekf)3niatrifeln  bie  fReit^laften  junätft  nur 
bem  |>errenftanbe,  nitt  beffen  Unterthanen  auferlegt. 

Sluf  biefe  SBeife  gelangten  allmählit  bie  ©bien  ju  einer 
ber  SReit^hoheit  untergeorbneten  fRegierung«gewalt  über  ihre 
©ebiete.  3hr  prioilegirter  ®eritt«ftanb  oor  bem  Könige,  »oelten 
fie  bereit«  ju  fränfifter  $eit  in  beftränftem  DRafee  gehabt 
hatten,  erweiterte  fit  jefct  bahin,  baß  alle  ©egenftättbe,  weite 
ihre  ^erfon,  ©hre,  Sehen,  ©igen  unb  ©tbe  betrafen,  oor  bem 
Könige  oerhanbelt  unb  entftieben  werben  mußten.  Tie  ©bien 
ftwangen  fit  folglich  ju  reid)8unmittelbaren  Sanbe«herren  empor ; 
bot  jeitnete  fie  nitt  fotoohl  ber  SBefifc  ber  9ieidj«freiheit,  al« 
oielmehr  ber  53eft  lanbe«herrliter  9iette  oor  allen  übrigen 
©eburt«ftänben  au«;  benn  e«  gab  nitt  nur  reit&tnmittelbare 
iRitterbürtige,  fonbern  aut  reit^freie  Sürger  unb  Säuern. 
Tie  geiftliten  dürften  unb  bie  reitSftäbtiften  Korporationen 
genoffen  jwar  hierin  ba«felbe  SRett  wie  bie  ©bien,  ber  bebeutfame 
Unterftieb  liegt  aber  barin,  baff  ba«  9iett  ber  erfteren  auf 
ihrer  Slbftammung  beruht,  gerabe  wie  bie«  aut  mit  ber  9leits* 
ftanbftaft  ber  gall  ift.  Serfinnbilblitt  wirb  biefe«  SRett  burt 
ihre  SBelehnung  feiten«  be«  Kaifer«  unter  ©ntfaltung  ber  SReid)«> 
fahne,  währenb  bei  ben  geiftliten  dürften  bie  SBeleljnung  mit 
bem  Zepter  geftieht.  Taneben  bilbete  ein  jweite«  §auptmerfmal 

(229) 


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22 


ihrer  §ofjen  Stellung  ihr  alle  anberen  Staffen  auöfdjlieBenbe« 
3ted)t  ber  9teidjSftanbfdjaft,  b.  £).  be«  in  ihrer  ^Beziehung  ju  beti 
retch«täglicf>en  löerhanbtungen  jur  ©rfcfjeinung  fommenben  3)iit- 
wirfung«recht«  beim  Sieid)«regiment. 

Ter  begriff  be«  Slbel«  fchtiefjt  fid)  betnnacf)  auf«  engfte  an 
bie  beutfdfc  Sieidjäüerfaffung  an.  Stile  fyamitien,  beren  Häupter 
fich  im  S3efi|  eine«  reich«unmittelbareu  Territorium«  befanbeu 
unb  baS  Stecht  ber  Sieich«ftanbfchaft  genoffen,  mürben  nad)  mittel- 
alterlichem Siedet  ben  ebten  ©efihledjtern  beigcja^lt.  $war  fanb 
unter  ihnen  fetbft  wieberum  eine  33erjdjiebent)eit  be«  Stange« 
ftatt:  juerft  fanteit  bie  ©rafen,  welche  bi«  1180  a tiefamt  jugleid) 
dürften  finb,  fobann  bie  eblen  ober  freien  Herren,  oon  gleichem 
Stange  mit  beit  ©rafen,  aber  be«  amtlichen  ©inftuffe«  entbehrend 
unb  in  ber  Sieget  nicht  fo  reich  begütert;  jn  ihnen  werben  bann 
manchmal  auch  bie  ©rafen  fetbft  gewählt  unb  beibe  Staffen 
jufammen  at«  nobiles  ben  SÄinifteriaten  gegenübergeftettt. 

Snbeffeit  begegnet  man  fetbft  je|t  nod)  einzelnen  ßeugniffen, 
metche  lebhaft  an  bie  frühere  Stellung  ber  Öbleti  erinnern, 
hierher  gehört  namentlich  ber  Sachfenfpieget.  Tie  dürften  unb 
freien  §erren  fteltt  er  in  iBufje  unb  SBcrgetb  noch  ben  Schöffenbar- 
freien, b.  h-  bem  ©eburt«ftaub  ber  alten  3re’ei1/  S^ich  unb 
gefleht  fomit  noch  bie  ©benbiirtigfeit  beiber  Staffen  non  freien 
ZU.  Ueberhaupt  fpricht  er  nur  wenig  oom  ^errenftanbe  unb 
fetbft  ba,  too  er  bie  befte  ©etegentjeit  hätte,  ihn  at«  einen  be- 
fonberen  ©eburt«ftanb  gegenüber  ben  anberen  freien  herootjuhebeu, 
fchtoeigt  er  wie  geftiffentlidj  uou  bemfetben;  wo  er  bie  oerfchie- 
benen  Staffen  -ber  freien  auf^ähtt,  nennt  er  nur  bie  Schöffenbar- 
freien, Sieghaften  unb  Canbfaffen.  Stltein  anbererfeit«  anerfennt 
er  bod)  auch  wieber  bie  höhere  Stellung  ber  ©bien,  inbent  er 
feftfefct,  baß  man  ihnen  23uf?e  unb  Söergetb  in  ©otb  entrichten 
foll  u.  a.  Tagegen  fd)eibet  fie  ber  Schwabenfpieget  unter  ber 

^Bezeichnung  „Semperfreie"  nott  ben  übrigen  Staffen  ber  gmen 

<280- 


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23 


au«  unb  fteflt  fie  an  bie  ©pifce  be«  ftänbifcfjen  ©tjftem«.  ®ie 
^Bezeichnung  ift  nur  ein  oerborbeiter  ÄuSbrudf  für  bie  ©enbbar* 
freist,  für  bie  bem  ©tanbe  innewohnenbe  gahigfeit,  foiuo^I 
felbft  einen  ©enb  (©eridjt)  abhalten  ju  fönnen,  al«  auch  auf 
bem  ©enb  be«  Äaifer«,  bem  9teich«tag,  in  Äu«übung  ber  fReich«- 
ftanbfcfjaft  erscheinen  ju  bürfen.  Gr«  finb  bie  freien  ^errett, 
welche  anbere  gteie  ju  ihren  Scannen  haben.  ©anz  ftreng  barf 
freilich  biefe«  bi«fretioe  3)ioment  nicfjt  genommen  werben,  ba 
auch  bloße  IRitterbürtige  nicht  feiten  in  ber  nämlichen  (Sigenfhaft 
auftreten.  Sbenfowenig  ift  umgefetjrt  bie  Mobilität  burch  ba« 
®afaQetwerhältnif?  jum  ftönige  bebingt;  bemt  wenngleich  bie 
dürften  burchgängig  £ehen«mannen  be«  Sönig«,  bie  einfachen 
fRitterbürtigen  bagegen  wenigften«  fef)r  häufig  fielen«  mannen  ber 
dürften  finb,  fo  finbet  fich  boch  immerhin  eine  Änzaljl  oon  Herren, 
welche  fi<h  in  feine  SehenSabhängigfeit  begeben  haben  unb  bereu 
Freiheit  gerabe  be«halb  al«  eine  befonber«  ausgezeichnete  gerühmt 
wirb.  25ie  hohen  freien  — wie  man  bie  (Sblen  nach  ^em 
gang  ber  ©piegel  gleichfalls  nennen  fann  — bilben  fomit  ben 
erhüben  ^errenftanb  ber  Nation.  3U  «gierenben  Ärifto- 
fratie  gehören: 

1.  bie  brei  geglichen  unb  bie  oier  weltlichen  Äurfürften, 

2.  bie  übrigen  geiftlichen  dürften  (©rjbifchöfe,  Sifchöfe  unb 
gefürftete  siebte), 

3.  bie  übrigen  weltlichen  gürften  (^erjöge,  ^faljgrafen, 
SRarfgrafen,  gefürftete  ©rafen), 

4.  bie  ©rafen  unb  freien  Herren,  bie  zwar  feine  dürften- 
gewalt,  aber  hoch  £anbe«herrfchaft  unb  9ieich«ftanbfchaft 
befijjen. 

©eobadjten  wir  genau  ba«  innere  SEBefen  biefe«  Äbel«,  fo 
fpringen  mt«  al«balb  jwei  fcharfe  charafteriftifdfje  SRerfmale  be«> 
felben  in«  Äuge.  3)a«  eine  ift  feine  ©efchloffenheit,  bie  wieberum 
auf«  engfte  mit  feiner  93ererbungSfäbigfeit  jufammenbäitgt.  ®er 

(23i: 


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24 


ältefte  germanifcf>e  Slbel  war  — wenige  SluSnahmen  abgerechnet  — 
ein  offener  ©tanb:  inbem  er  aus  ben  Xiid^tigften  beS  VolfS» 
ftammeS  fich  jufammenfehte,  gehörte  ein  beftänbiger  2lb<  unb 
Zugang  ju  feiner  Sftatur.  gwar  hat  baS  VererbungSprhtjip 
aud)  an  ihm  feinen  ©influjj  geübt,  fo  bafj  mir  in  ben  fpäteren 
Sahrhunberten  bie  freiwillig  ert^eiften  perfönlichen  Vorzüge  ber 
©bien  mehr  ober  weniger  in  erbliche  Vorzüge  berfelbcn  um» 
gewanbelt  feiert : trofcbem  blieb  baS  ©runbprinjip  unangetaftet 
unb  brach  fich,  wenn  auch  h^nfig  gebecft,  hoch  immer  wieber 
Valjn.  ©benfowenig  fann  ber  fränfifche  Dienftabel  als  ein 
gefcfjloffener  ©tanb  mit  erblichen  Vorrechten  feiner  ÜKitglieber 
bezeichnet  werben,  ©efdjloffenheit  unb  Vererbung  liegen  nicht 
in  ber  9iatur  beS  DienfteS,  auch  nicht  beS  ßönigSbienfteS;  erft 
muffte  bie  Verpflichtung,  bie  biefer  auflegte,  oon  bem  Siecht,  baS 
er  gab,  übermunben  werben,  ehe  er  als  ©runblage  eines  ©tanbeS» 
rechts  betrachtet  werben  fonnte.  Unb  bieS  lefctere  gefchah  erft 
burch  bie  Verfniipfung  beS  ÄönigSbienfteS  mit  bem  Venefijial» 
wefen.  Von  ba  ab  batirte  baS  Streben,  fich  jnr  Sichtung 
feines  VcfifcftanbcS , wie  nach  oben  gegen  ben  $errn,  fo  nach 
unten  gegen  bie  übrigen  VolfSflaffen  in  forporatioem  Verbanbe 
abjufchliefeen.  Drat  in  ber  germanifchen  $eit  baS  gnbioibuum 
als  einzig  maffgebenber  gattor  bei  ber  guerfennung  ^ö^erer 
Siechte  unb  ©breit  heroor,  fo  ift  eS  jefct  bie  Siaffe,  baS  Vlut, 
bie  Slbftammung  oon  einem  eblen  Vater  unb  einer  eblen  SDiutter, 
welche  ben  ?lbel  tierleiht.  Dodj  finben  auch  ba  wieber  merf» 
wiirbige  Durchbrechungen  beS  ftrengen  ißrinjipS  ftatt  — Durch* 
brechungen,  welche  jebenfaHS  mit  ber  bereits  oben  ge!ennzeichneten 
Sluffaffuttg  ber  ©tanbeSoerhältniffe  im  ©achfenfpiegel  jufammen» 
hängen,  ©inmal  fah  man  zuweilen  lebiglich  auf  baS  Vlut  beS 
eblen  Vaters,  inbem  man  ben  Söhnen  eines  ©bien  auch  Slbel 
jufchrieb,  wenn  nur  bie  SHittter  oon  ©eburt  eine  greie  war. 
Söichtig  ift  bie  Durchlöcherung,  welche  bie  Siirche  beS  ÜJiittelalterS 

(2S2) 


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25 


geraffen  hat.  ?tuiS  ber  oben  fteljenben  ftlaffifijirung  bess  2lbcl« 
ergiebt  fich  nicht  nur  bie  ßugeljörigfeit,  fonbern  auch  ber  t^eil* 
weife  ^orjug  ber  fjofjen  ©eiftlidjfeit  uor  ben  weltlichen  ©roßen, 
greilich  würben  audE>  biefe  geiftlid)en  fReich«ämter  mehr  ober 
weniger  au«fd)lief5lich  oon  ber  weltlichen  Striftofratie  in  öefdjlag 
genommen,  ober  gan$  fonnte  hoch  eine  ftirdje  oon  bem  Sßringip 
be«  Snbioibualabel«  nicht  Slbftanb  nehmen,  beren  Stifter  unb 
Slpoftel  größtentheil«  ben  unterften  SBolf«flaffen  angehört  hatten. 
Slber  auch  in  bie  greife  be«  weltlichen  $lbel«  wußten  fich  fchoit 
bamal«  einzelne  begünftigte  ober  oerbiente  fßerfönlichfeiten  burch 
eine  förmliche  Stanbe«erböbung  feiten«  be«  fReidj«oberhaupte« 
(Eingang  ju  üerfdfaffen. 

Sin  jweite«  augenfällige«  SDierfmal  be«  mittelalterlichen 
&bel«,  auf  ba«  wir  übrigen«  fc^on  mehrmal«  im  ©ange  unferer 
Unterfuchung  hinjuweifeit  ©elegenheit  gehabt  haben,  ift  fein 
Politiker  (Sharafter.  Xlud)  hierin  weicht  er  — wenn  auch  nicht 
in  bem  2)ia§e  wie  hinfichtlich  be«  erftgenannten  fünfte«  — oou 
bem  SEBefen  be«  älteften  germanifchen  Slbel«  ab.  Sluflr  ber 
Urfprung  ift  bei  beiben  berfelbe.  Seibemal  erzeugte  fich  ein 
Slbel  au«  bem  friegerifcheit  ®ienftgefolge  heroorragenber  Führer; 
wäffrenb  aber  ber  germanifche  8lbel  im  wefentlichen  auf  biefer 
Stufe  fteheit  blieb  — eine  weitere  2lu«behttung  be«felben  wäre 
auch  bei  bem  bemofratifchen  Gljarafter  ber  öffentlichen  $erfaffuitg 
nicht  möglich  flttoefen  — , bilbete  fich  ber  fränfifdje  2)ienftabel 
ju  einem  herrfchenben  Stanbe  fort.  Unb  erft  in  feiner  politifchen 
SRachtfteflung  fam  er  $ur  o ollen  (Entfaltung  feine«  SBefen«. 
©efchlechter  unb  gamilien,  welche  biefe  in  ben  äußeren  58er» 
hältniffen  geoffenbarte  ÜUlacht  nicht  erlangen  ober  nicht  behaupten 
fonnten,  oerloren  fich  allmählich  in  ben  übrigen  58olf«ftänbeit ; 
anbere,  obwohl  wenige  gamilien,  welche  jur  ^errfchaft  fich  auf* 
fchwangen,  begrünbeten  eben  baburdj  neue  $hnaftenfamilien. 

(Eigentlich  waren  nur  biefe  .^errfchergef^lechter  bie  wirflichen 

(238) 


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26 

Jräger  bes  SlbelS.  ®as  ©ort  „Äbel"  würbe  baßer  wäßrenb 
eines  großen  S^eilS  beS  ÜÄittelalterS  nur  auf  fie  begogen.  3)ie 
Urfunben  bcS  breigebnten  SaßrbunbertS  unterfcbeiben  nod)  regel- 
mäßig, wenn  fie  bie  9iamen  ber  geugeu  auffü^rctt:  nobiles, 
milites,  ministeriales.  ®rft  gegen  ®ube  beS  ^abrßunbertS  unb 
oorgüglicß  im  uiergeßnteu  änbcrt  (ich  ber  Sprachgebrauch,  unb 
man  fängt  an,  aud)  bie  fRitter,  guleßt  bie  ©ienftleute  unter  ben 
gemeinfamen  9iamen  ber  „Sbelleute"  gufammengufaffen  unb  mit 
bem  ©orte  „$lbel"  ben  fjofjen  unb  ben  nieberen  ?lbel  gu  be- 
greifen. ©eitler  ülrt  fiub  nun  biefe  neuen  ÄbelSelemetUe  unb 
auf  welche  ©eife  Ijabett  fie  fid)  mit  jenen  alten  ©eftanbtbeilen 
gu  einer  fogialen  Älaffe  gufammengefdRoffen? 

©ir  müffen,  um  eine  richtige  ©orfteßung  non  biefem  mert- 
miirbigen  ißrogeß  gu  gewinnen,  f)ier  nod)  einmal  an  bie  aß- 
mähliche  Sntwicfelung  bes  alten  SXbefftanbee  erinnern.  $5enn 
genau  biefclben  SDJomente,  welche  in  ber  merowingifcfien  unb 
farolingifdjeit  ,3eit  baS  Sluffommen  beS  btynaftifdjen  ÜlbelS  be- 
giinftigtcn,  fiub  auch  für  bie  ÄuSbilbung  beS  nieberen  ÄbelS 
maßgebenb  gewefen.  @in  llnterfdjieb  befaßt  nur  barin,  baß  es 
bei  ben  erfteren  ber  ÄönigSbienft  in  ber  fränfifdjen  3eit,  bei 
ben  festeren  ber  ^ofbienft  bei  ben  fpäterßin  ben  ©egriff  beS 
ßoßen  ?IbelS  auSmacßenben  T'tjnafan  war,  ber  bie  Umbilbung 
aus  einer  bienenben  Älaffe  in  einen  SbelSftanb  bewerffaßigt 
bat.  Unb  wie  bort  mittelft  beS  SeßenSbanbeS  urfprünglicß  un- 
abhängige größere  ©runbberreit  in  eine  berjenigett  ber  twrneßmen 
©efolgSleute  ältliche  ©teflung  gum  Könige  eintraten,  fo  finb 
hier  burcb  Sluftragung  ibreS  ©runbbefaeS  an  einen  ®pttafan 
gaßlreidje  angefebene  greie  ber  gleichen  ©ßrenrecbte  w’e 
urfprünglicß  unfreien  SDiinifterialen  tßeilßaftig  geworben.  ®om 
©tanbpunft  beS  SRittelalterS  aus  betrachtet,  beftebt  bann  ein 
weiterer  bebeutfamer  Unterfchieb  gwifcßen  beiben  ftlaffen  beS 
SlbelS  barin,  baß  ber  ®pnaftenabel  bamalS  fcßon  längft  ein 

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hiftorifd)er,  nad)  unten  abgefd^toffenei-  erblicher  ©ebtütäftanb  ift, 
mährenb  ber  SRitter*  unb  2)iinifterialabel  ba«  ganje  SKittelalter 
hinburd)  — wenn  id)  fo  fagen  barf  — im  gluffe  be«t  @nt- 
ftebenS  begriffen  ift,  in  feinem  Stnfang  nnb  Fortgang  au«  beit 
einfad)  freien  unb  felbft  au«  porigen  gatnilien  ftrf)  Verleitet. 
Derfetbe  bleibt  batjer  aucf)  im  Stute  nacf)  rcie  Bor  mit  jenen 
erfteren  oerbunbett,  troft  aller  Serfudje  be«  Äaftengeifte« , if)it 
ebenfaü«  itad)  Strt  be«  t)of)en  äbel«  abjufd^Iie^en.  9tur  mit 
ben  Unfreien  ift  bie  ©tjegenoffenfcfjaft  befdjränft. 

Der  ©runb  ber  allmählichen  Stanbe«ert)öhung  ift  nun  ju 
fudjen  tljeil«  in  einem  anjehnlidjen  ©runbeigentljum  uott  minbefteu« 
brei  |mben,  tt)eit«  in  bebeutenbem  2ehen«befi|.  9Äit  jenem  Ber» 
banb  fid)  ba«  SRedjt,  in  bem  gräflichen  öJeric^te  at«  Schöffe  ju 
ft$en  unb  ju  urtl)eiten  (Schöffenbarfreiheit),  foroie  bie  höhere 
$rieg«pflicht  unb  &rieg«el)re  be«  Witter«,  auf  biefem  beruhte 
ebenfo  bie  ehreuBotte  Safattennerbinbung  mit  bem  flehen«» 
herrett  $u  Schuh  unb  Drufc  in  $of»  unb  Heerfahrt.  Da« 
»ichtigfte  SÜioment  ift  jebenfatl«  ber  SRitterbienft,  ber,  nachbem 
fpäterhin  beibe  Serhättniffe  — ©runbeigenthum  uitb  flehen«» 
beft|  — ineinaitber  übergegangen  fiub,  höher  gefcfjä^t  mürbe  at« 
ba«  fcböffenbare  ©runbeigenthum.  (£«  hängt  bie«  auf«  innigfte 
jufammett  mit  ber  ?trt  be«  SÜrieg«bienfte«  unb  ber  bamit  Ber» 
bunbenen  fleben«meife.  31t«  ber  alte  Heerbann  immer  mehr  in 
SBerfaU  gefommen  mar,  bitbete  fich  ein  neue«  $rieg«ft)ftem,  in 
metchem  ber  Dienft  $u  ißferbe,  bie  beffere  Semaffnung,  bie 
fchmerere  Lüftung  unb  gemiffe  Anfänge  ber  Daftif  bem  frieg«» 
geübten  2Ranne  eine  höhere  Stellung  gaben;  bie  SBaffeniibung 
roirb  im  flaufe  ooit  SJienfchenaltern  allmählich  ju  einem  fleben«» 
beruf  in  ftufenroeifer  Sluäbilbung.  ©eroöhnlich  rücfen  baher  je^t 
nur  noch  bie  Dienftmannen  unb  Safaßen  ber  dürften  unb 
anbere  begüterte  greie  in«  gelb.  Diefe  treten  — hierin  einem 
burch  bie  ganje  mittelalterliche  ©efdjichte  gehenben  $ug  auf 

(2351 


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forporatiüeu  gufammenfchluß  burd)  gleichen  SebetiSberuf  Ser* 
bunbener  fofgeitb  — in  eine  befonbere  ©enoffenjchaft  jufammen, 
beren  fämtlidje  SDiitgtieber  eine  bloß  friegerifc^e  Lebensart  führen 
unb  als  beren  hödjfte  SBi'trbe  bie  beS  5RitterS  betrauten,  hierin 
liegt  ber  Urfprung  ber  ritterlichen  ©efd)(ed)tcr.  Selbftoerftänblidj 
waren  bie  Söhne  SDerer,  bie  baS  ritterliche  Sehen  führten,  bie» 
jenigen,  welche  auch  iuitäcfjft  burch  bie  Schtuertleite  ber  @hrc 
unb  be^  SRechtS  ber  Säter  theilhaftig  würben.  Unb  wenn  audh 
biefeS  oorerft  noch  fein  auSfcfjlieijlicheS  SRedjt  war  unb  wehr 
af§  baS  ©efchlecht  ber  wirtliche  2/ienft  belohnt  würbe,  fo  ift 
hoch  in  ber  ftaufifcfjen  3eit  auf  bie  iRitterbürtigfeit  ein  ent» 
fcpiebeneS  ©ewicht  gelegt  worben.  Aber  nur  ber  abhängige 
Sauer  befanb  fiel}  in  einem  foldjen  ©egenfaß.  2Bo  er  in  alter 
SBeife  fich  auf  eigenem  ©runb  unb  Soben  erhalten,  führte  er 
auch  wohl  ritterliche  Sßaffen.  $er  holfteintfche  2lbel , wie  er 
uns  im  zwölften  Qahrhunbert  gegenübertritt,  befielt  aus  freien 
Säuern,  bie  ju  ber  ©renjoertheibigung  oerpflichtet  waren  unb 
beren  fRecht  hierauf,  wie  auf  ber  Iheilnohme  am  SanbeSgericht 
beruhte. 

3m  Saufe  ber  $dt  fonberte  fich  bann  jene  ftlaffe  ber  Se< 
oölferung,  bie  im  SBaffenbienft  ihren  Seruf  fah,  als  gesoffener 
sJiitterftanb  oon  beit  übrigen  Stäuben  beS  AtferbauS,  bcS  fmnbelS 
unb  ber  ©ewerbe.  2)ie  ©runblagen  befteljen  in  einem  ©runb> 
befijj,  oerfnüpft  mit  ber  perfönlichen  Freiheit  unb  ritterlichem 
Seben.  3h*  Sefiß  unb  ihre  Freiheit  büßen  baburdj  nichts  ein, 
baß  ihr  3nt)flber  in  ein  SehenS-  unb  SafaHenoerhältnifj  jn  einem 
gürften  trat;  im  ©egentheil,  er  gelangte  bamit  erft  ju  einem 
ißlaße  in  ber  §eerfchilborbnung,  bie  je$t  bie  ©runblage  ber 
ganzen  ©cfellfchaftSorbnung  würbe.  SBie  ber  gürft  burch  baS 
gafjnenlehen  unmittelbar  an  bie  ißerfon  beS  SaiferS  hinangerüctt 
ift,  fo  erscheint  ber  ritterliche  ©runbbefijjer  burch  bie  Auftragung 

feines  ©uteS  an  ben  gürften  an  biefen  angefniipft  unb  gewinnt 

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baburcß  giißlung  mit  bem  ©eichSoberßaupt.  llnb  nur  eine 
folc^e,  menit  auch  mittelbare  ©erbinbung  fdjaffte  bem  begüterten 
freien  eine  Stellung,  einen  Slang  im  fjjeerfcßilbe.  $aS  ©ittergut 
mußte  notßmenbig  SeßenSgut  werben,  wenn  eS  in  baS  gaitje 
SebenSfpftem  paffen  füllte.  £ie  ©ebingungen  für  ben  (Sintritt 
in  biefen  ©itterftaub  finb  bann  fcßon  frühzeitig  rechtlich  fifirt 
worben.  Um  als  ritterbürtig  oor  feinen  ©enoffen  unb  oor  bem 
©olfe  gu  gelten,  mußten  jwei  ©orauSfeßungen  erfüllt  fein: 
erftenS  oier  freie  Slßnen,  zweitens  fo  Diel  ©ermögen,  baß  man 
für  ben  ©djmucf  beS  SebettS  übrig  ßatte  unb  niemals  bloß  ooin 
SBerf  feiner  £>änbe  ju  leben  brauchte.  ®ie  erfte  ©ebingung 
fteUte  baS  ©efeß  auf,  ber  ©acßfenfpiegel  unb  ber  Schwaben* 
fpiegel  finb  barin  beutlidj  unb  faft  gleicßbebeutenb.  Söeibe  ©roß- 
eitern  unb  beibe  ©Itern  mußten  üoHfrei  fein  — bieS,  aber  nur 
bieS  mar  nach  bem  ©efeße  unerläßlich  jur  ©itterbürtigfeit.  2Ber 
aber  felbft  noch  ^örig  war  ober  beffen  ©Itern  hörig  gcwefen, 
mußte,  wenn  er  in  ben  ©tanb  ber  ©itterbürtigen  treten  wollte, 
erft  Dom  höcßften  fperru  im  Sanbe  feierlich  als  ein  ©fann  Don 
©itterSart  anerfannt  werben.  $icS  gefcßaß  burch  ©rtßeilung 
beS  ©itterfcßlageS  jum  ,3wecfe  ber  ©rßebung  in  ben  ©itterftanb. 
£ic  zweite  ©ebingung  war  Don  ber  Sitte  oorgefcßrieben.  Sie 
ließ  troß  ber  perfönlicßen  Freiheit  nicht  ju,  baß  bloße  ©auern 
unb  £anbmerfer  als  Seine  Don  fRitter^art  anerfannt  würben. 
2Boßl  aber  öffneten  biefe  ihre  ©efeflfcßaft  Dor  bem  ÜJlaune,  ber 
tßatfächlich  ihnen  wertß  würbe  an  ffreißeit,  ©ermögen  unb 
©ilbung,  unb  fie  fdjloffen  ißre  Greife  hinter  bemjenigen,  welchem 
bie  natürlichen  Unterlagen  eines  abligen  Sehens  cntfchwanbcn. 
Jaufenbe,  bereu  ©roßeitern  noch  nlS  ©auern  ober  ^anbwerfer 
arm  unb  unfrei  begannen,  traten  fort  unb  fort  in  bie  ©eiben 
ber  ©itterbürtigen  ein,  wenn  bie  ©roßeitern  frei,  oermögenb 
unb  angefeßen  geworben  unb  bie  ©Iteru  biefe  Dorneßmere  SebenS* 
fteüung  fortgefeßt  hatten. 


30 


Die  ritterliche  Slrt  beS  SfriegSbtenfteS  hat  aber  nicht  bloß 
bic  eine  golge  gehabt,  bie  ihm  als  ©eruf  ergebenen  begüterten 
freien  ju  einem  befonberen  Stanb  jufammenjufchließen,  fie  hat 
auch  nach  oben  unb  nach  nnten  gewirft:  nach  oben,  inbem  fie 
beit  hohe«  Slbel,  ber  ja  gleichfalls  in  ber  güßrung  ritterlicher 
SBaffen,  wenn  auch  nicht  wie  bie  ©orbejeichnetett  feinen  SebenS» 
beruf,  fo  hoch  eine  feiner  hauptfäd)lichften  Aufgaben  erblicfte, 
in  biefer  einen  ©e^ichung  auf  bie  gleiche  gefetlfdjaftliche  Stufe 
mit  ben  bloßen  SRitterbürtigen  brachte;  nach  unten,  inbem  fie 
bie  urfprüttglich  unfreien  Dienftleute,  infoweit  fie  baS  SBaffen» 
hanbwerf  jum  Berufe  hatten,  trofc  biefer  ihrer  perfönlichen  Un* 
freiheit  jur  Stufe  ber  freien  fRitterbürtigen  heraufnimmt,  bis 
jchließlid)  ber  gleiche  ©eruf  bezüglich  aller  brei  in  ihrem  Urfprung 
unb  fonftigen  SebenSoerhältniffeu  fo  Weit  auSeinanber  geljenben 
ftlaffen  eine  fo  mächtig  auSgleidjenbe  Söirfuttg  erjeugt,  baß  fie 
nach  außen  wie  ein  einziger  Stanb  auftreten.  Dies  war  ber 
höchfte  Triumph  ber  ritterlichen  SBaffenfüfjrung,  baß  baS  Sin» 
feßen  unb  bie  @hre»  melcße  fie  gab,  berart  überwogen,  baß  bie 
urfpritnglichen  ©ruttblagen:  ^errfcßaft,  f^rei^eit  unb  Unfreiheit, 
bagegen  jurücftraten.  Slbel  war  nun  9iitterftanb,  ber  fRitter 
galt  als  ablig,  auch  Wenn  er  als  ÜRinifteriater  ber  »ollen  Freiheit 
entbehrte. 

Glicht  auf  einmal  hat  fid)  biefer  merfmiirbige  ißrojeß  ooß» 
jogen.  Sangjam  pflegen  bie  ©eränberungen  ber  fokalen  SBelt 
oor  ftch  ju  geßen,  unb  ber  Schritt  oott  ber  nahezu  bebingitngS« 
lofen  Unfreiheit  beS  ^errfchaftlichen  DienftmanneS  bis  jur  Pollen 
Freiheit  beS  IRitterSmannS  hat  Saljrhunberte  in  Stnfprucö  ge» 
nommen.  Die  Slnfänge  biefer  Sßerf onenf faffe  finb  wohl  in  ben 
servi  benefieiarii  ber  ©olfSredjte  ju  fuchen.  Schott  DacituS 
hat  ben  merfwiirbigen  ßug  beS  germanif^en  SharafterS  wahr- 
genommen, baß  ber  Dienft  an  bem  |>ofe  eines  hohen  fperrn  ben 
Dienenbeit  emporhebe.  ©S  äußerte  biefer  $ug  feine  SBirfung 

2SS) 


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31 


bei  ber  iöilbung  beS  fränfifdjen  ^belftanbeS,  wie  fpäter  bei  ber 
.fiinaufhebung  ber  unfreien  $>ienftleute  ber  ^pnaften  pr  ©teßung 
freier,  ritterbürtiger  perren.  SDer  ©lan^  be§  fperrn  beleuchtet 
auch  bie  nädjften  Wiener,  ber  nafje  perfönliche  Umgang  mit 
jenem  gab  biefen  @influ§  unb  Slnfehen. 

5)er  ©ang  biejer  ffintwicfelung  bürfte  ungefähr  folgenber 
getuefen  fein.  Urfprünglicf)  ftehen  fie,  gleich  ben  gemeinen  Un* 
freien,  wenn  auch  nicht  in  bemfelbcn  ©rabe  ber  9fed)tIofigfeit, 
im  ©igenthum  ihres  35ienftherrn.  3n  ber  SEBahl  ihrer  grauen 
finb  fie  auf  bie  Üliinifterialinnen  beSfelben  befchrönft.  3hr 
©igen  fällt  nie  aus  beffen  ©ewalt.  (Gegenüber  britten  ißerjonen 
werben  fie  burdj  ihn  oertreten,  ©o  lange  man  alfo  biefe  ©eite 
ihrer  (Stellung  befonberS  ins  Sluge  faßt,  mitfj  man  fie  uubebingt 
unter  bie  niebrigfte  Äfaffe  ber  freien  fteßen.  ©ie  werben  beS* 
halb  auch  im  ©achfenfpiegel  noch  nicht  in  ber  Crbitung  ber 
^eerfchilbe  genannt  unb  erhalten  bitrch  ihre  greilaffung  bloß 
ba£  iRecpt  freier  fianbfaffen;  felbft  noch  &er  SSerfaffer  bes 
©chroabenfpiegelS  trägt  fein  Sebenfen,  fie  gerabep  ©igenlente 
p nennen.  3m  ©egenfajj  p ben  übrigen  Unfreien  burften  bie 
Dienftmannen  jeboch  nur  p ehrenooßen,  namentlich  friegerifchen 
2)ienften  oerwenbet  werben.  $>ie£  war  ber  eigentliche  ÜluS- 
gangSpunft  ihrer  fpäteren  hohen  gefeßfchaftli^en  ©eltung.  Unb 
mit  ber  3e't  tont  ^'e  oermögenSrecfjtliche  StuSftattung  mit 
©ütern  fjinp,  welche  an  Umfang  unb  ©rträgnifj  ben  ritter» 
ließen  Sehensgütern  nicht  nachftanbeu.  2>iefc  ©üter  würben 
§war  urfprünglich  nicht  p SeheuSrecht  oerliehen,  jonbern  auS 
©unft  beS  fperrn  p $ofredjt  gegeben.  Slber  ba$  ^ofredjt  ber 
®ienftleute  wirb  gröjjtentheilS  bem  SeheuSredjtc  ber  SSafaßeit 
nachgebilbet  unb  in  bem  £>ofgericht  beS  ,£>errn  fo  gut  wie  biefeS 
gejchüfct,  unb  bort  wie  hier  fant  eS  p fefter  Srblichfeit  beS 
SefifceS.  3)aher  fonnte  ihnen  ber  ©djwabenfpiegel  nach  ihrer 
greilaffung  nicht  mehr  bie  nämliche  ©teßutig  wie  ben  gemeinen 

(28») 


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32 


(Sigenleutcn  anweifen,  fonbern  muffte  ihnen  baS  SRedjt  ber  Witter» 
bürtigen  uttb  bamit  ben  fünften  |>eerfd)ilb  pgefte^en.  @S  ent* 
ftanb  fo  um  bie  dürften  unb  Sblen  fjer  neben  bem  erften  Greife 
ber  ritterlichen  SSafallen  ein  zweiter  SreiS  oornehmer  ©ienftleute, 
welche  burcf)  §ofämter  unb  ^ofbienft  ausgezeichnet  unb  bitrcf) 
hofrechtlidjen  ©runbbefi^  begütert  waren.  Sn  ber  ^ö^eren 
öilbung  unb  ber  feinen  ^öfifdjen  ©itte  ber  $eit  hatten  fte  nicht 
minber  3^he^  Bie  Witter,  ©ie  führten  ritterliche  äSaffen 
unb  folgten  bem  §erru  in  bie  gefjbe  wie  bie  fftitter.  SSie  eng 
allmählich  bie  ^Berührung  beiber  Stoffen  würbe,  baoon  giebt 
unter  aitberem  ber  Umftanb  3euflnifi,  Baff  Bie  alte  $ienft* 
mannenorbnung  ber  9taf)men  würbe,  in  welchen  ftch  nach  unb 
nach  alle  SRitterfc^aft  einfügte.  Sille  bie  ^Bezeichnungen,  bie  »oit 
je^t  an  bie  ©fala  ber  ©rabe  beS  SRittert^umS  auSmacf)en 
(©cffilbfnechte,  ©cuperS,  gamuli),  erinnern  an  2>ienftbarfeit. 
SBebeutetc  früher  Snabe  unb  Snecht  ben  unfreien  SDienftmann 
eines  |>errn  im  ©egenfafc  Zu  Bern  freien  miles,  fo  würbe  je£t 
biefe  ^Bezeichnung  einfach  oom  ©tanbpunft  beS  eblen  SBaffen= 
bienfteS  aus,  ohne  fRücfficht  auf  bie  perfönliche  Stellung  beS 
SBetreffenben,  aufgefafjt:  bie  Snaben  (Snappen)  waren  nicht  bie 
Suedjte  ber  Herren,  fonbent  bie  Suechte  ber  SS  affen. 

Stuf  biefe  SSeife  ftreiften  bie  ®ienftmannen  allmählich  ihre 
früheren  fnedjtifchcn  Sigenfchaften  ab  unb  oerfchmolzen  mit  ben 
ritterlichen  greien  zu  einem  ©eburtsftanbe.  2>ie  ^mtftmäBige 
Slbfchließung  beS  fRitterthumS,  bie  in  feinem  SBefen  lag,  brachte 
auch  Bie  in  ihm  wirfenben  Sbeen  in  ein  ©pftem.  9?ur  baS 
SSichtigfte  fann  ich  h*er  berühren.  SSie  fchott  in  ber  ©ermania 
beS  JacituS  bie  SBehrhaftmacfjung  ber  jungen  SDtänner  einen 
bebeutungSooüen  Slft  beS  nationalen  SebenS  gebilbet  hotte,  fo 
war  jefct  bie  ©djwertleite  baS  3e>£hen  Ber  9RünbigfeitSerflä- 
rung  beS  ritterlichen  SünglingS.  SSorauSgegangen  war  biefer 
meift  eine  längere  ißrüfungS»  unb  ©ienftzeit  bei  einem  herDor* 

C240) 


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38 

ragenben  $rieg«mnmt.  Spalte  fich  ber  ftnabe  Wader  gehalten, 
fo  erhielt  er  nunmehr  mit  gewiffer  geierlid)feit  ^<e  SRanne«- 
Waffen,  bie  ooHe  ritterliche  fRüftung.  Unb  wie  fcfjoit  in  aft* 
germanifcher  $eit  mit  ber  3Beljrt)aftmad)ung  bie  Säuglinge  au« 
bem  Greife  be«  $aufe«  fjttauStraten  unb  fortan  al«  SJtänner 
unb  ©lieber  be«  Sollet  anqefeheit  würben,  fo  ftanb  aud)  jefct 
bem  ritterlichen  Sünglitig,  wenn  er  au«  bem  üeibbienft  feine« 
2el)rherrn  entlaffen  war,  bie  Söelt  offen.  ÜDer  eigentliche  9iitter= 
fchlag  ift  oon  biefer  ^reitaffung  gatq  unabhängig  unb  feiner 
®ebeutung  nach  nicht«  al«  ber  ibeale  Ülbfdjlufj  in  ber  fRang> 
orbnung  ber  SRitterbürtigen.  ÜReift  liegen  beibe  bfte  weit  au«> 
einatiber.  *5roiffarb§  fiiebling,  ber  9)?arfdjall  ©ouciquaut,  unb 
Salain,  ber  Spiegel  aller  SRitterfdjaft,  hatten,  uadjbem  fie  bie 
ritterlichen  SBaffen  angelegt,  fdjon  eine  hükfdK  sbcil)e  oon 
Jpelbetjthaten  ocrrid)tet,  ehe  ber  eine  auf  bem  Sd)Iad)tfelb,  ber 
anbere,  beoor  er  in  einen  ferneren  gweifampf  ging,  ficf)  ben 
bitterfdRag  erbat;  Saparb  unb  bie  grunb«berg  galten  längft 
al«  bie  beften  SRitter  im  §eere,  al«  fie  ju  Gittern  gefchlagen 
würben.  £>er  Sd)werpunft  ber  gefellfdjaftlichen  Sebeuhtng  be« 
bitterftanbe«  lag  in  ber  ihm  befonberett  brt  ber  Stoffen* 
führuug.  Schwert  unb  San^e  waren  ber  Stol$  be«  bitter« 
unb  ba«  Siecht  be«  Stoffentrageu«  im  griebeit  follte  feine  9lu«> 
jeicffuung  bleiben.  ®er  2aitbfriebe  oon  1156  beftimmte,  bafj 
ber  Siichter  jebem  Säuern,  ber  2atqe,  Schwert  ober  überhaupt 
Stoffen  trage,  entweber  biefe  ober  20  Schilling  abnehmen  folle. 
lud)  ber  Kaufmann,  ber  in  .£>anbel«gefd)äften  bie  Sßrooiuj 
burchreifte,  burfte  nach  bemfelbeit  ©efefc  ba«  Schwert  nur  am 
Sattel  häugeitb  ober  auf  bem  Stogeit  liegenb  mit  fid)  führen. 
SRitterlid>e  $rei«fämpfe  boten  ben  Ärieg«leuten  ®hre  unb  Äu$* 
jeidjnung  auch  im  grieben,  ber  ÜRenge,  bie  fich  um  bie  Schranfen 
brängte,  ein  wiflfommene«  Schaufpiel.  Um  nach  aujjeu  hin  in 
bie  gerne  ber  Söelt  ju  wirfen,  bilbeten  fich  bie  Siitterorben,  in 

€amniluni{  ')!.  3 V.  103.  3 (211) 


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weldjen  bcr  Slrieg  als  ein  neues  Södtprinjip  auf  ibeeHer  ©runb* 
läge  aufgefafjt  würbe.  Äucf)  Ijicr,  wie  bei  fo  Dielen  ©eftaltungen 
beS  ©iittelaltcrS,  Ratten  bie  3nftitutionen  bcr  Sirene  SJtufter 
unb  ©orbifb  gegeben,  wie  aud)  bcr  ©nbjwed  biefer  Crbcu 
immer  nur  bic  ©erfjerrlidjung  beS  ßl)riftentljum8  war.  lieber* 
Ijaupt  mnd)en  bie  3becit  eines  djriftlidjcn  33JeItreid)§,  bie  $luS* 
breitnng  unb  ?(nfred)terl)altung  feiner  ißrinjipien  baS  ©runb* 
dement  beS  ganzen  SHitterwefeuS  an«.  8m  ÄultnS  ber  gött* 
lidjeti  8uitgfrau  gewinnen  biefe  fjalbmpftifdjeu  Seftrebungen  eine 
fidjtbare  ©piße,  baS  ewig  ©öttlidje  nerförpert  fid)  barin  jum 
ewig  Sßeiblidjeit  unb  giebt  non  ba  aus  ben  §fnfaft  ju  einem 
djarafteriftifdjen  JlultuS  beS  ^raucitbienfteS  überhaupt,  (Jnblid) 
muß  nod)  eines  mehr  iiußcrlidjen  SfterfmalS  beS  ©ittertßumS 
ermähnt  werben,  baS  fpäterßiu  non  großer  2Bid)tigfcit  für  ben 
gefammten  ÄbetSftanb  geworben  ift:  idj  meine  bie  juerft  bei 
jenem  unb  burcf>  jenes  norfommenbe  güijrung  t>oit  Familien* 
uamen  unb  ©Sappen.  Tie  erfteren  begegnen  uns  jiterft  im 
11.  Safjrfjunbert,  wo  fie  fid)  auföiiter  ober  ©cßlöffer  beließen, 
bie  ber  gotnilie  angeboren.  Tod)  entbehren  fie  nod)  ber  feften 
iionftanj,  medjfeln  in  ben  fid)  folgenbeit  ©enerationen  ober  finb 
gerabe  bei  ©rübern  nerfeßieben  nad)  bem  ©efißc,  ben  jeber  ßat, 
ober  anberen  Uniftänben.  Tie  ©rafcit  ßatteu  fid)  ißren  Hainen 
urfprünglid)  nad)  bem  ©au  gegeben,  ber  ißren  SlmtSfprengd 
bilbete.  Turd)  ben  ©ro^eß,  in  bem  aus  ?{mt  Sefiß  gemadjt 
würbe,  ßatte  fieß  auf  biefem  Territorium  aßmäßliiß  muß  ein 
.fjauptgut  ßerauSgeßoben,  auf  bem  fid)  ber  neue  |jerrfdjafts< 
begriff  oonteßmHtß  ju  fonjentriren  begann  unb  non  beffen  ©e- 
geießnuttg  ber  ©raf  batttt  and)  am  liebften  feinen  eigenen  tarnen 
fid)  übertrug.  Tiefe  ©ejeießnung  würbe  ber  §aupturfpruug 
ber  neuen  ariftofratifeßen  ©efdjlecßternamcu.  ©3aS  baS  Stuf* 
tommen  ber  Sßappen  betrifft,  fo  ßatte  ftßon  in  ben  älteften 
feiten  baS  3ufammcnfteßen  ber  ©erwanbten  im  Kampfe  p 

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35 


einer  eigentümlichen  ©lieberung  ber  .fpeerhaufeu  geführt,  wobei 
bie  Schilber  burdj  gleichartige  garben  unb  Äbjeidjen  biejc  ©e* 
meiitfchaft  aud)  äufferlid)  wahrnehmbar  djarafterifirten.  SS 
entfprang  barauS  ber  ©ebrauch  ber  Sßappen,  beren  Sittnbilber 
fief»  befottberS  in  ben  Slreuzzügett  fcftftelltcn  unb  mit  beneu  bie 
gantilien  bie  ©efdjloffenheit  ihrer  ©efdjlechter  befiegelten. 

SS  mürben  aber  biefe  äujjerlidjcn  Motioe  ju  einer  felb« 
ftänbigen  ©eftf)led)terbilbiiiig  nicht  auSgereidjt  hoben,  wenn  bas 
fHittertljum  nicht  zugleich  bie  materiellen  SBefi^oer^ältniffe  jur 
©ruttblagc  feiner  Sntwidelung  ergriffen  hätte.  3)aS  fHitterthum 
»erwuchs  mit  ber  £cl)enSfähigfeit  ju  einem  unb  bentfclbcn  33e« 
griff.  SS  würbe  baburch  biefem  ©tanbe  »orjugSweife  bie  Sahn 
eröffnet,  höhcrcg  ©igenthum  an  baS  ©cfchledjt  ju  feffeln.  3?er 
rittcrlidje  ©ruubbcfig  würbe  für  bie  ganze  3citanfd)auung  ber 
.^öhepunft  unb  SBerthmeffer  aller  politifdjen  unb  materiellen 
5Red)tc,  Steuerfreiheit,  SanbtagSfähigfeit  unb  richterliche  ©ewaft 
erfdjienen  als  bie  »oit  biefem  beuorjugten  Sefift  getragenen 
SRealberedjtigungeit.  3n  fokaler  Segichung  aber  bezeichnet  baS 
9iitte«hum,  wie  baS  ganze  £ef)nwefen,  einen  ungeheuren  gort« 
jd)ritt  beS  Mittelalters,  einen  er.tfdjeibenben  Schritt  zur  Sefrei« 
ung  unb  ehrenhaften  Srhebuttg  ber  Slrbeit  unb  ihres  SerbienfteS 
gegenüber  bem  Sefifc.  $er  alte  ©ermatte  hätte  fief)  einen  Manu, 
ber  »on  einem  attbern  Mann  geliehenen  ©ruubbefip  gegen  SJei« 
ftung  »on  SJienften  angenommen,  nicht  anbcrS  bettfen  föttnen 
wie  als  ftnecht,  bie  bewaffneten  .fpinterfaffen  ber  ©rofjett  fittb 
in  ber  $hflt  bewaffnete  Unechte.  2)afj  jejjt  ber  betoaffnete  bie« 
nenbe  Mann  als  ehrenhaft  galt,  obgleich  er  nur  auf  geliehenem 
@ut,  nicht  auf  echtem  Sigeuthum  fafj,  bafi  ber  9iame  Unecht 
jogar  zum  (S^rcntttcl  werben  fonitte,  ift  ein  bebeutfamer  gort« 
tritt  ber  geit,  Ejerbeigcfü^it  burd)  ein  gemeinfanteS  Sebürfniff 
ber  Sölfer  SuropaS,  baher  ber  foSmopolitifd)e  Sinn  beS  3n* 
ftitut«,  welcher  befottberS  feit  ben  Äreuzzügen  unter  ber  pflege 

3*  (243) 


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36 


ber  ftirdje  gebiet);  unb  biefer  ©imt  war  c«  beim  nud),  meiner 
beit  gro&en  ©runbljerrn  mit  bem  flehten  Seither,  ben  ©afaüen 
mit  bem  Slfteroafallen  bereinigte ; ©rjiehung,  Seben«beruf  unb 
friegerifrfje  @f)re  waren  it)iten  gemeittfam.  der  ©taub  ber 
Siitterbürtigen  mürbe  ber  eigentliche  ©runbftod  be«  fogenannteu 
niebereit  Slbel«,  ber  in  deutfchlanb  halb  auf  ber  breiteften  ©runb= 
tage  unb  in  einer  gemiffen  SJiaffenhaftigfeit  fid)  ju  eutmiefetn 
unb  fort^upflanjen  begann.  ©inen  ©runbftotf  bilbeteit  bie 
freien  ©runbbefifcer  auf  bem  Sattbe,  welche  wohlfjobenb  genug 
geblieben,  um  geharnifdjt  ju  Stoffe  aufjureiten,  jebodj  nur  unter 
ber  einen  ©ebingung,  baff  fie  ober  ihre  ©orfatjren  auf  ihren 
.'pof  feine  bürgerlichen  diettfte  ober  Saften,  wie  bie  ftörigen 
uitb  Seibeigenen  fie  leifteten,  übernommen  hotten.  ©on  ihnen 
fagte  ba«  Sprichwort:  „ein  ©betmann  mag  oormittag«  zum 
Sltfer  gehen  unb  nachmittag«  im  durttier  reiten."  dazu  fameit 
bie  zahlreichen  großen  unb  flehten  ©ut«befifcer,  mefche  früher 
dienft*  ober  ©urgmannen  gemefen,  bie  aber  ihre  ritterliche 
Seben«weife  au«  bem  ©taube  ber  Unfreien  herau«gefjobcn  hotte. 
3tt  einer  SJlettge  uon  dörfern,  wo  jefct  feine  ©pur  oon  Sbligett 
ju  finbeit,  meifen  bie  Urfuitbett  ritterbiirtige  Seute  nach-  ^äufig 
fafjen  auf  einer  ©urg  ober  einem  £ofe,  ber  feinen  ®hurm  hatte, 
zwei  ober  brei  Familien  jufammen.  der  ©ternerbunb  in  Reffen 
unb  Umgegenb  zählte  über  2000  abtige  ÜJiättner,  metche  jufammen 
nur  oierthalbhunbert  ©urgen  hotten.  die  ©toffe  jum  ©achfen* 
fpieget  fagt,  bah  nur  diejenigen  nicht  ba«  Siecht  bet  Seute  üon 
Siitter«art  übten,  metd)e  feinen  eigenen  ©ruttb  unb  ©oben 
hatten  unb  ©ferbe  btof)  ju  ihrer  Seibe«nott)burft  hielten. 

SJiatt  hot  in  neuerer  geh  metfad)  bezweifelt,  ob  nud)  bie 
©atrizier  unferer  alten  Sieid)«ftäbte  biefem  Slbel  ber  Siittcr« 
bürtigen  beigejählt  werben  bürfen.  SEBettit  genügenber  @runb* 
befiel,  »erbunben  mit  ritterlicher  Seben«meife,  baju  au«reid)te, 
ben  aJiann  au«  ber  ftlaffe  ber  gemeinen  freien  in  ben  Slrei« 

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37 


be«  Sitterabel«  ^inaufjuljeben,  fo  ift  ber  Sßatrijier  fidjerlid) 
ritterbürtig  gemefen.  6r  befaß  nicht  nur  innerhalb  ber  ©tabt« 
mauern,  fonbern  auch  auf  bem  Slanbe  eine  Änja^f  öurgcn, 
Jpöfe,  Zehnten,  grunbherrlidje  ©efälle,  3agben,  $ölle  uub  anbere 
Berechtigungen,  er  ftanb  meift  in  2ct)euäbcjicf)uugeu  ju  geift- 
liehen  unb  weltlichen  gürften,  er  hielt  fid)  eine  SDieuge  Unter- 
gebener unb  ©djüfcltttge,  — bast  3nftitut  ber  ÜHuntmannfchaft 
fomrnt  ^uitöchft  im  ©efolge  be«  SJktrijiat«  bor  — , er  führte 
eine  ritterliche  2eben«»eife,  tummelte  fid)  mit  feinen  Sfnechten 
im  Stampfe  »ie  im  furniere,  fur^,  er  erfüllte  getreulich  alle 
Pflichten  eine«  ebleu  Sitter«.  ®afj  er  baneben  örofjl)anbet 
betrieb,  fonnte  ißm  in  ben  Äugen  feiner  ©tanbeagenoffen  fo 
wenig  Sadf)theil  bringen,  al«  bem  fianbebeltnann,  »eldjer  fein 
©ut  betpirthfehnftete ; nur  burfte  er,  gleich  lu'c  jener  nicht  jum 
gemeinen  Säuern  h«unterfinfen  f ollte,  nicht  eilt  bloßer  Stränter 
(ein;  er  füllte  nicht  nad)  Sßfunbett  au«»iegen  unb  nicht  nad) 
ber  SHe  au«fd)neibett.  äöiirbe  im  SWittelalter  — unb  lebig(id) 
mit  beffen  Änfd)auung«»eife  ha^en  lu'r  h'er  Su  lhun  — 
eine  anbere  Äuffaffung  gültig  gemefeit  fein,  fo  mühten  auch  bie 
»enejianifchen  uub  florentinifdjen  Sobili,  bie  ®eutfd)  - Orben«- 
ritter,  bie  alle  fdj»unghaften  fpanbel  trieben,  e«  müßten  auch 
jolcfje  hochgeftiegene  gamilien,  tuie  bie  Siebter  unb  Bugger, 
bie  mit  ben  SBurjeln  ihrer  ©röße  unb  ihre«  Seichthum«  auf 
ben  |janbel  unb  ©elbermerb  jurüefgehen,  au«  ben  Seihen  be« 
äbel«  geftrichen  »erben.  (Srft  gegen  Sttbe  be«  üüiittelalter«, 
al«  Straft  unb  Sieben  be«  Äbel«  erftarben,  fuchte  ber  Saubabel 
bie  ißatrijier  »on  furnieren,  ®omftiftern  unb  Sitterorbeit  au«- 
jujthließen.  ©o  Diel  ber  Äbel  bamal«  an  Sebcutung  im 
Bolf«ganjen  einbüfjte,  um  ebenfooiel  fuchte  er  fein  ©elbftgefiil)l 
ju  fteigern,  tnbem  er  fid)  laftenmäfjig  abfdjloß  uub  nicht  mehr 
bem  Solle,  fonbern  immer  nur  feinen  ©enoffen  in«  ©eficht 

blidte.  ©anj  attber«  »ar  ba«  früher.  Sie  »ar  eble  Äbfunft 

<ü«) 


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38 


iuerttjüoüer,  nie  übte  bet  Ülbel  eine  größere  potitifd;e  Mad)t  als 
im  Mittelalter,  aber  niemals  fd)ieit  er  audj  weiter  oerbreitet, 
niemals  frifdjer  unb  flüffiger.  (5r  ftaub  bamals  wie  eine 
orgauifchc,  lebenbige  Snftitution,  bie  fidj  fortwäßrenb  oerjüngte 
unb  erneuerte,  weil  fie  an  ©teile  ber  abfterbenben  ©lieber  fid; 
neue  aus  bem  Solfe  Ijeranjog.  (Srwägt  man  nun,  weldj  be* 
trädjtlichen  2^eil  beSfclben  all  biefe  klaffen  ber  fRitterbürtigen 
umfaßten,  rechnet  mau  f)ingu,  baß  ber  ÄleruS,  welker  mit 
ißneit  auf  gleidjem  guß  oerfehrte,  bamals  in  feine  Meißen  nid)t 
wenige  oou  benen  aufnahm,  roeldje  je^t  freier  als  ©elchrte  unb 
Seamte  leben,  baß  enblid)  and)  bie  Äiinftler,  fobalb  fie  fid) 
über  baS  Jpanbwer!  erhoben,  uns  in  Silbern  nnb  Siidjern  in 
STracßt  oou  fßatrijiern  entgegentreten,  fo  liegt  bie  Slnfidjt  nahe, 
baß  bie  rittcrlidje  ©efellfdjaft  im  Mittelalter  fo  jicnilid)  baS 
war,  was  wir  je^t  bie  gebilbete  ©efellfdjaft  nennen. 


C246) 


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Drrlagsnuftalt  nnb  Dntdtfrti  (vormale  ).  I»irt|tcr ) in  Hamburg. 
(gitt  illuftrirtfg  ^rtufttwerf  erftctt  ÜHattflcä: 


(’fraufyffltWn  Mit 

l*oii  Bnih,  mit  Uirtlir, 

■ti.t  'SMnlrJl  i r.  SHJrinf  ni .kr. 

linier  i'i mrirf ui! pon 

(£ontre>9tbiuiroI  a X SJtroer, 
£>au»tniami  l*.  ll-csdl, 

H febtut*. Map.  ».  SJclicI  ^itrlobcrg 
».  btutidion  u.  ciifll.  SfcofRjitrfii. 

oüufjnri  r.'ii 

'Prof  fl.  ».  iBJmtcr,  '.Wavincmalrr  'Jücilir, 
Uinbitcr,  tMnfi,  Slricfd,  'üuvlli  u fl 

$aS  3Bcrt  umfaßt  bnS  gefamte  SDlarineroefcu  unter  bejouberer  Slerücf' 
fidjtigung  ber  beutjdjcn  Kriegsmarine,  jdjilbcrt  in  populärer  Keife  baS  See* 
mannSIcben  au  93orb  unb  am  2anb,  auf  Kriegs*  mie  .^aubelsfc^iffen.  unb  giebt 
bem  2eier  ein  getreues  33ilb  oon  bem  Staube  unb  ber  ®tad)t  nuferer  TOariue 
in  allen  ifjren  3roei0CH-  öegcu  40«  Original  ^Uuftrationen  begleiten  ben  lejrt. 

3>aS  fomplete  28crf  in  '4>rad)tbanb  gebuubcu  foftet  7.»  ®if.  — 'J(ucf) 
in  12  einzelnen  Uicfcrungcu  ü 5 Ulf.  ^ u beließen 


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Urrlagsanftnlt  unb  Drudtrrri  luormnlo  3.  #.  ilirtitrrj  in  tambnrg. 

Cenngfons  Hümgaftigtten. 

llebertrageu  ooit  $elbniauit. 

9 Sogen  o'fil  in  klein  folio  mit  37  euglifrijrn  stiiijru  non  ftuflou  Dir«'*. 

'•l?rei$  in  reid)  oruament.  '.JJradjteiiibanbe:  20  üttf. 

Tcnniiion«  M önigoibtidrn  rrfdjeinrn  liier  jum  rrftrn  »jlt  illuftrirt  nor  bent  beulidirn 
'Jlublitum  imb  hoben  in  biefer  (ürftalt  bnrd)  bir  mriftrrlioft  an-'flf f iilirteit  (tUuftrotionrn  lore« 
rinr  gerabein  begrifterlr  Wufnabntr  gefnnben. 


stille  IfDinfeL 

10  Still  (eben  non  Termine  ttou  Ktreufdigit» 

3»  uoUtnbetcnt  ,'Varbciibritif  auoncfiiljvt. 

lejt  non  $).  £Pmtcker. 

0^“  Sllbum- Srormat  in  rrietjem  Ifiubcmbc.  $rc:4:  24  9Kf. 


S5ie  Xon|d|B|)fungrn  Wagner«  unb  S'i«jt«,  bir  Xidftnngen  $rhfe«,  Ctbjru«,  Iftier«,  ®ribell 
»nb  Storni«,  bir  Oiemälbe  ©ordlitt«,  ürnbod)«  unb  fütenjel«  ftnb  jrbrm  fflrbilbetrit  mifrrrr  Heil 
lirf  »rrtrautr  ttnnftrorrte. 

i.'irb  wirb  ti  barnm  allen  ©rrebrern  birfrr  Weiftet'  (rin,  baft  .{irrmiiit  uon  ©rcujdien 
r*  untrrnoinmrii  tiat,  in  jr  einem  ftimmungbboOrn  ©ilbr  — gtridifain  allrgoriidi  — lebhaft  Der 
unlere  tftngrii  jn  ritirn.  wo«  tut«  ol«  d)iirattrriftiid)r«  Merfreicbrn  br«  rinirlnrn  Xiditrr«,  Dfalal 
utib  iDntiinftlrr«  in  feinen  'Werten  bornrhmlidt  frffelnb  berührt  bot. 


^üti|ec-€rtmtmmgtit 

von 

|h*an?  fsjern*ljcim, 

rhemaligrin  itoniul  br«  Teutfdien  Weitfte«  onf  ^aluit. 

Itiit  einem  einleitenöen  llorroort  non  §r.  0tto  finfd). 

l>i i 1 18  in^arbenbrnif  auegefütirten  'itoUbUbern  unb  oiden  Tcjrt  JUuftrotiimrii. 

'Ureisf  f»  Sif. 


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frlelmiffe  eines  griediifiljen  JUjtes. 


SSon 

olubwig  Weniger, 

litffior  bfä  ©tjmnßfiuml  in  SBfimar, 


Hamburg. 

SBerlagSanftatt  uub  SDruderei  (öormatS  3-  5-  Stifter). 

1890. 


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Da«  5Red)t  ber  Uebtrfefcung  in  frembf  ©praßen  wirb  öorbepalten. 


»tut!  brr  8rrla8#anftatt  unb  $ra<ftrrt  8ctien-&efeBtäaft 
(normal#  3.  g.  8ti<bttr)  in  Hamburg. 


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3(n  ber  fruchtbaren  Cftfüfte  be«  heutigen  Salabrien«,  wo 
brr  tarentinifcbe  SKeerbujen  nad)  bcr  weiteren  gfädje  ber  ionifdjen 
©ee  fidb  auftbut,  lag  ein  fjalbeS  3abrtaufenb  t>or  ber  djriftlicfjen 
ßeitredjnung  bie  griec^ifc^e  ©tabt  Äroton,  eine  ©rünbung  ber 
Achäer.  infolge  ber  günftigen  öobengeftaltung,  ber  nu«gejeid)net 
gefunben  Suft,  bei  reichen  £>inter(anbe«  unb  ber  bequemen  93er* 
binbuitg  mit  ber  griecbifdjen  ÜÖJuttererbe  mar  bie  Anfiebetung  in 
furjer  3ci*  ^erangemac^fen  unb  hotte  in  ber  jweiten  §älfte  be« 
jccbften  Sabrbunbert«  eine  twbe  Sötiit^e  erreicht.1 

9Kit  bem  SBobtftanbe  ibjrer  SBürger  ftieg  bie  Au«bilbung 
in  beit  meiften  Gebieten  be«  geiftigen  Seben«,  bie  ba^umaf  bei 
ben  SSötfern  griec^ifc^en  ©tamme«  in  gebei^tic^er  Sntwicfefung 
begriffen  maren.  SSieleö  oerbanfte  bie  ©tabt  ben  Anregungen  be« 
weifen  ^ßt)t[jagora§,  ber  ben  größeren  Zty\l  feineg  SebenS  in  ihr 
äugebracfjt  unb  feine  p^itofop^ifc^e  ©cbute  bafelbft  gegrünbet  bot. 
Son  Äroton  au«  terbreiteten  fid)  feine  jünger  unb  burdE)  fie  feine 
eigenem liefen  fie^ren  unb  £eben«anfcbauungen  über  bie  Äiiften 
Bon  Unterhalten  unb  Sizilien.  EDurdf  lebhaften  SSerfeßr  mit* 
einanber  oerbunben,  gleich  empfänglich  unb  oon  alter«  ffer  twtt» 
eifernb  in  allem,  wa«  einen  gottfdfritt  ju  bebeuten  fdjien,  Ufaten 
bie  blübenben  ©riechen  ftäbte  an  ben  Ufern  ber  weiten  ©eebud)t, 
Sarent  unb  SDtetapont,  ^erafleia  unb  ©bbari«,  Stautonia, 

Sammlung.  91.  J$.  V.  IM.  1*  (249) 


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4 


ba«  epiaepßprifcpe  Sofroi  unb  Region,  fowie  bie  ©riinbungen 
in  fiufanien  unb  an  ben  Siiften  ©ijiliett«,  bec  neuen  SDenfweife 
bereitwillig  fiep  auf,  unb  befonber«  in  ben  ©eelen  ber  3ugenb 
fd^lug  fie  tiefe  SBurjeln.  ©elbft  bie  ftaatlidjen  SBerpältniffe  finb 
nicpt  wenig  burcp  bie  ©runbfäpe  be«  Ißptßagora«  beeinflußt 
worben.  Sine  Neigung  ju  gemäßigter  Süriftofratie,  ein  ftarfer 
§aß  gegen  bie  ©ewaltperrfcpaft  (Jinjelner,  ein  enge«  Sßerpaltniß 
freunbfepaftlicpcr  Snnigfeit  untereinauber  jeicpnete  bie  Sünger 
be«  großen  SBeltweifen  au«,  unb  auep  bie  Arbeit  auf  mancpcit 
gelbern  wiffenfcpaftlicper  gorfepung,  fo  weit  folcpe  bereit«  an- 
gebaut waren,  würbe  fleißig  getrieben.* 

SDurcp  ben  s-ücrfel)r  jur  ©ec  ftanb  Srotoit  aucp  mit  ber 
weftlicpen  Äüfte  be«  griecpifcpen  gef^Qn^e^  in  fortroäprenber 
SSerbinbung.  ©eine  Sewopner  waren  bem  großen  $eiligtpume 
be«  $eu«  in  Dlpmpia  eifrig  gugetpan  unb  jeicpneten  fiep  burcp 
rege  öetpeiligung  an  ben  berühmten  SBettfpielen  feine«  |>ocpfefte« 
au«.  SBoit  allen  ©riecpenftäbten  pat  Äroton  feiner  $eit  bie 
weiften  olpmpifepett  ©ieger  peroorgebracpt.  2>urcp  wieberpolten 
grfolg  ermutigt,  wanbte  man  fiep  ben  £eibe«übungen  mit  immer 
größerem  Gtifer  ju  unb  erlangte  in  ad  ben  Slrten  turnerifeper 
Äunft,  bie  auf  ben  Slingpläpen  be«  Hltertpum«  am  meiften 
gepflegt  würben,  eine  allgemeine  unb  ungewöhnliche  gertigfeit. 
25em  fßptpagora«  bei  ben  ßeitgenoffen  an  Hnfepen  !aum  naep- 
ftepenb,  lebte  gleichzeitig  mit  ipm  in  Äroton  ber  gepriefene  Sltplet 
SJiilon,  ©opn  be«  SMotimo«,  oon  bem  bie  grieepifepe  SBelt  mit 
ftaunenber  Söewunberung  fiep  erjäplte,  baß  er  fecp«mal  in  Olpmpia, 
ebenfo  oft  in  Ißptpo,  jepttmal  auf  bem  Sftpmo«,  neunmal  in 
Slemea  ben  ©iegeöfranz  im  IRingen  baoongetrageit  patte.  Seber 
Srotoniat  war  ftolj  auf  ben  poepberiipmten  SMitbürger  unb 
wußte  oon  feiner  riefenpaften  ©tärfc  fabelpafte  jßinge  $u 
berichten,  ©olcpe  Seiftungen,  oon  folepem  (Erfolge  gefrönt, 

bilbeten  in  jenem  3eitalter  pag  peg  pöcpften  (Sprgeije«  im 

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0 


ganzen  ©riechenöolfe  unb  marett  auch  oon  äußerem  SBohlftanbe 
unb  großer  ©ßre  im  bürgerlichen  fieben  begleitet.3 

£ie  beiben  angefeßcnften  Srotonioten  foöen  burcß  Oer* 
roanbtfcßaftliche  Banbe  miteinonber  oerfniipft  geroefen  fein. 
SJtilon  hotte  SRtjia,  eine  Ü£ocf)ter  be«  Bhtßogora«  au«  feiner 
@fje  mit  ber  üielgefeierten  3;hean0/  ol«  $ou«frau  ^eimgefü^rt. 
SBenn  e«  wahr  märe,  roa«  überliefert  roirb,  baß  au«  ber  geber 
biefer  grau  ein  noch  hcute  erhaltener  Srief  an  eine  ©ricdjin 
namen«  ißhhötö  herrührt,  ber  fich  über  bie  2Baf)l  einer  §lmme 
unb  bie  pflege  be«  ©äugling«  in  facßoerftänbiger  SBeife  an«* 
fpridjt  unb  gute  Stathfcßläge  über  bie  meitere  ©rjiehung  be« 
Sinbe«  in  §lu«fi<ht  [teilt,  fo  bürfte  man  fließen,  baß  bei  ihr 
eigene  ©rfaßrung  in  ber  ©rjiehuttg  gefunber  9?acf)fommenfchaft 
mit  einer  oon  ben  ©Item  ererbten  Neigung  jit  lehrhafter  £ar* 
fteüuiig  oerbunben  geroefen  ift.4 

3n  ber  Beit,  oon  ber  mir  rebeu,  much«  in  Shroton  ein  junger 
äJtenfch  auf,  ber  bei  reicher  Begabung  oon  bem  gciftigen  fieben  feiner 
Umgebung  nicht  unbeeinflußt  blieb,  meitn  auch  feine  Steigungen 
roeber  ber  £urnfunft  noch  reiner  ©ebanfenarbeit,  fonbern  oiclmefjr 
ber  auf  Beobachtung  unb  ©rfaßrung  gegrüttbeten  SüSiffenfcfjaft  ber 
SRebijitt  jugemanbt  mar.  Merbing«  mar  auch  auf  biefem 
©ebiete  in  ber  ©tabt  bereit«  ©rfreuliche«  geleiftet  morben. 
3)em  jungen  2>emofebe«  aber  blieb  e«  oorbehaltert,  bie  froto« 
nifchen  Siebte  jum  ßöchften  Änfehen  unter  ben  griechifcfjcn  Ber* 
tretern  be«  gache«  ju  bringen.  SBa«  mir  oon  ben  ©djicffalen 
feine«  fieben«  miffen,  läßt  mit  Sicherheit  barauf  fdjließen,  baß 
er  bereit«  in  frühen  gaßren  burcß  au«gejeid)nete  ®iagnofe  ebenfo, 
mie  burch  @efrf)icf licfjfeit  ber  .§anb  fich  heroorgetf)an  hot.5 

S)ie  oerfdjiebenen  3*oeige  ber  SDtebijin  maren  in  jener  3*'* 
Oott  einattber  noch  nicht  gefcßieben.  ®ie  griechißhen  Slerjte  be* 
reiteten,  mie  e«  noch  heute  in  ©nglanb  üblich  ift,  bie  oon  ihnen 
oerorbneten  Ärjneieu  felbft;  ?tyothefen  gab  e«  nicht.  Um  ißrajri« 


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6 


ju  gereimten,  fam  e«  baßer  barauf  an,  übet  ©elbmittel  ju  »er« 
fügen.  $ie  Söefc^affung  bet  mancherlei  Snftrumente  foreofjl, 
reie  ber  nicht  immer  leicht  ju  bejieJjenben  $rogen  oerurfacßte 
anfeßnliche  Soften.  @«  rear  üblich,  einen  größeren  SRaum  jum 
Empfang  ber  fßatienten  unb  zur  ©eforgutig  oon  leichteren  fallen 
bereit  ju  hotten,  auch  rearen  gefchulte  Wiener  unentbehrlich, 
b.  h-  gefaufte  ©flauen,  reelche  ihrem  Herrn  in  ben  ©efdjäften 
beiftanben  unb  gelegentlich  reohl  auch  felbft  auf  fßrnji«  gefchicft 
reerben  fonnten.  ©eiernt  reurbe  bie  Strjneireiffenfchaft  barnal« 
nicht  auf  hohen  Schulen,  reo  gelehrte  SReifter  Süorträge  hotten 
unb  Uebungett  anfteHen,  fonbern  burch  ben  Stnfdjfuß  an  einen 
älteren  Slrgt,  bei  bem  fidj  ber  herattreachfeitbe  jünger  be«  gacß« 
in  bie  Beßre  gab.  SSon  alter«  her  bilbeten  auch  bie  Tempel 
be«  §eilgotte«  9l«fIepio«  eine  Slrt  ärztlicher  ©chulen.  ©ie  rearen 
mit  mancherlei  (Hinrichtungen  jur  Aufnahme  uttb  pflege  oon 
Sranfen  öerfetjen ; erbliche  fßriefter  behanbeltett  im  SRamen  be« 
©otte«  bie  oon  nah  unb  fern  ßerbeiftrömenben  Patienten  unb 
gelangten  fo  burch  reertßooHe  Ueberlieferung  unb  oielfeitige 
Erfahrung  in  ben  löefifc  einer  achtbaren  Senntniß  be«  ^eilreefen«. 
SRancße  biefer  fßriefterärzte  löften  fich  tren  ihrem  ^eiligthum 
Io«  unb  praftijirten  auf  eigene  §anb.  ©o  rear  e«  beim  fein 
feltener  f^all,  baß  ber  ©oßn  oom  Sßater  bie  Sunft  erlernt  hatte 
unb  ba«  Söefte  oon  beffen  SBiffen  zugleich  mit  Snftrumenten  unb 
Heilmitteln  unb  zugleich  mit  ber  fßraji«  ererbte.6 

Slucß  ®emofebe«  rear  ber  ©ohn  eine«  Slrzte«.  ©ein  SSater 
SaHipßon  rear  in  Snibo«  ißriefter  be«  SI«fIepio«  gereefen  unb 
fpäter  nach  Sroton  überfiebelt.  ®ie  mebizinifche  ©cßule  oon 
Snibo«  reetteiferte  mit  ber  oon  So«  an  Sücßtigfeit,  unb  wenn 
fie  auch  feinen  ^ippofrate«  ßeroorgebracßt  hat,  utie  biefe,  fo 
befaß  fie  hoch  reohlgegrünbeten  Slnfprucß  auf  hohe  Sichtung  ber 
ßeitgenoffen  unb  burfte  fich  ebenfall«  fehr  angefeßener  ©cßüler 
rühmen,  ©o  erhielt  beim  auch  SDemofebe«  eine  treffliche  93or» 

(242) 


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bereitung.  Slber  bic  Sugenbjabre,  bie  ber  ftrebfame  junge  Slrjt 
unter  ber  Dbfjut  be§  eigenen  93ater£  »erleben  mußte,  maren 
nicht  burcb  greunbticbfeit  unb  grieben  »erfcbönt.  25er  alte 
ftallipfjon  mar  ein  aufbraufenber  ÜWann,  ber  im  Sä^jorn  ficb 
nicht  p beberrfcben  mußte  unb  feinem  ©ofjne  ba$  fieben  un* 
erträglich  machte.  @3  fam  fo  meit,  baß  ber  bereits  beran‘ 
geroadjfene,  in  feiner  Sunft  p ben  fdjönften  Hoffnungen  be* 
recbtigenbe  Süngting  ben  ©ntfcbluß  fußte,  bie  |>eimatb,  ben 
ftreiS  ber  greunbe,  gefieberte  Nahrung  unb  gtänjenbe  ?luSfid)ten 
im  «Stich  p taffen  unb  in  bie  grembe  31t  geben.  Söie  ferner 
ibm  biefer  Scbritt  gemorben  ift,  läßt  fi«h  barauS  ermeffen,  baß 
er  fpäter  alles,  maS  er  fein  nannte,  babin  gegeben  bat,  um  baS 
geliebte  SBaterlanb  mieberpfeben.7 

©inftmeiten  roenbete  er  fid)  nach  Regina,  ber  bliibenben  gnfet 
im  faronifeben  äßeerbufen.  ©teicbmeit  »on  Sttben,  mie  »om  argi« 
»ifeben  ©pibauruS  entfernt,  mochte  fie  für  einen  Slrjt  günftige  StuS- 
fubten  bieten.  0b  fonft  noch  Umftänbe  »ortagen,  bic  ben  jungen  2)e> 
mofebeS  p biefer  SSabt  »erantaßten,  miffen  mir  nicht.  Bietleicbt  mar 
eS  baS  nabe  ^etligthunt  beS  StSftepioS  in  ©pibauroS,  nachmals 
ber  erfte  Jiurort  ber  grie^ifeben  SEBett,  baS  mit  feinen  Stniagen 
©etegenbeit  p mebijinifeben  ©tubien,  mie  pm  Serfebr  mit 
erfahrenen  gaebgenoffen  bot.  25emofebeS  batte  Ne  SBabl  fe‘ne<* 
neuen  SBobnfifceS  nicht  p bebauern.  SJtittelloS  angefommen, 
ganj  auf  fich  allein  angemiefen,  ohne  ©ebülfen,  ohne  gnftrumente, 
ja  fogar  ohne  Strpeimittel,  gelang  eS  ihm,  bureb  gtücflicbe 
Suren,  metebe  erfenneit  ließen,  baß  in  bem  tüchtigen  Spanne 
©efebiefliebteit  mit  SEBiffen  unb  pflichttreue  in  feltenem  SJtaße 
oereinigt  maren,  nach  furjer  geit  äße  feine  Soßegen  p überflügeln. 
25er  maebfenbe  iRuf,  beffen  er  ficb  unter  feinen  neuen  SMitbürgem 
erfreute,  führte  f<bon  nach  SabreSfrift  babin,  baß  bie  Regierung 
ihn  mit  einem  ©ebalt  »ott  einem  latente  p einer  feften  8tn> 
fteflung  berief,  ©in  äginetifdjeS  latent  batte  SBerth  »on 

(263) 


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8 


6500  9Jiarf  jefeigen  ©elbeS;  eS  war  alfo  eine  ©efotbung,  bie 
man  aucfe  feeute  als  eine  retfet  attftänbige  bejeicfenen  würbe. 
9?acfe  ben  bamaligen  ißreiSoerfealtniffen  bebeutete  eine  Summe 
non  folcfeer  £>öfee  weit  mefer,  unb  fie  fäfjt  erlernten,  weldj  feofeen 
SSertfe  man  auf  ben  ©efife  biefeS  SJianneS  legte. 

©er  fiebenSweg  beS  jungen  HrjteS  war  fortan  gefiebert 
unb  aQe3  fefeien  oereint,  um  fein  ©afein  aufs  angenefemfte  ju 
geftatten.  @r  grünbete  fief)  ein  eigenes  $eim  auf  ber  gaftlicfeen 
Sufet  unb  burfte  mit  3uberficfet  einer  glüefliefeett  3ufunft  entgegen» 
felfeen.  SWeitt  ©emofebeS  gefeört  ju  ben  merfwürbigen  ©ienfefeen, 
bereit  geben,  naefebem  eS  burdj  gewaltige  Rügung  einmal 
auS  bem  fRafemen  bcS  ©ewöfenficfeett  feerauSgeriffen  ift,  fortan 
niefet  mefer  jur  Stufee  fommen  !ann,  bie,  fein»  unb  feergeworfen 
oon  ben  SBMen  beS  ScfeicffalS,  ofene  eS  ju  wollen,  in  baS 
©etriebe  ber  weltbewcgenben  3eitoorgänge  feitteingejogen  werben 
unb  fetbft  in  beren  ©eftaltung  einjugreifen  berufen  finb.  3n 
Stegina  follte  feines  ©IeibcnS  niefet  lange  fein,  ©ereits  ein  Safer 
naefe  bem  ©egimt  feiner  amtlicfeen  ©feätigfeit  im  bortigen  ©iettfte 
erfeielt  er  einen  9iuf  naefe  Htfeen.  2Jfan  bot  ifent  eine  SünfteÖung 
afS  ftäbtiftfeer  3trjt  mit  einer  ©efotbung  oon  feunbert  SDfinen, 
baS  ift  nafeeju  8000  ÜJiarf,  wofür  er  bie  ©erpfliefetung  über* 
nafem,  auefe  bort  fein  SBirfen  bem  gefamtett  ©emeinwefen  ju 
gute  fommen  ju  taffen.8 

Slber  atufe  in  ber  attifefeen  £>auptftabt  fanb  ©emofebeS  feine 
bauernbe  föeimatfe.  ©in  3afer  lang  featte  er  in  feinem  neuen 
SBofenorte  praftijirt  unb  in  biefer  fttrjen  3fit  feinen  ärjttiefeen 
©uf  ttoefe  mefer  watfefen  fefeen,  als  eine  ißerfönliefefeit  auf  ifen 
aufmerffam  würbe,  bie  ju  ben  glänjenbften  ©rfefeeinuttgen  ber 
bamatigen  3eitgefcfei(fete  gefeört  unb  ein  beffereS  ©djicffal  oerbient 
feat,  als  ifer  ju  tfeeit  geworben  ift.  ©ieS  war  ißolfefrateS,  ber 
©ferann  oon  SatnoS,  jener  gewaltige  SDlann,  in  beffen  Hopfe 
ber  grofje  ißlatt  erwaefefen  war,  ein  auSgebefenteS  9teicfe  ju 

(2M) 


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9 


begrünben,  melcßeS  baS  Äüftengebiet  beS  ägeifcßeit  SföeereS  famt 
beffen  Snfeln  umfaffen  unb  bic  fagenßafte  ^errfcßaft  beS  alten 
©eefönigS  SföinoS  non  Üreta  jur  SBirflicßfeit  matten  follte. 
^ßoItjfrateS  wußte  feßr  moßl,  wie  große  Sebeutung  baS  ©olb 
für  bie  ©rreicßung  ber  ßoßen  3^/  bie  öor  feiner  ®eele  fanben, 
befaß;  auf  SReicßtßum  berußte  feine  |>eereSmacßt;  baS.  Streben, 
immer  größere  ©cßaße  ju  gewinnen,  ift  eS  gewefen,  baS  ißn 
fcßließlicß  ju  ©runbe  gerietet  ßat.  Slber  baS  ©elb  mar  ißm 

bocß  niemals  ©elbfawecf,  fonbern  immer  nur  SJiittel  jur  @r> 
reidjung  größerer  SBertße,  unb  fo  biente  eS  ißm  aucß  baju, 
ßertorragenbe  üDtänner  an  feinen  §of  ju  jießen.  2Bir  wiffen, 
baß  Slnafreoit  ton  £eoS  unb  3bt)foS  ton  Stßegion,  bie  größten 
2)icßter  beS  3eilnfterS,  bei  ißm  eßrentoße  Slufitaßme  fanben  unb 
ju  feinem  greunbeSfreife  gehörten.  9tucß  ein  jcßidfalSlunbiger 
©eßer  weilte  am  $ofe  ton  ©arnoS,  ein  äRann  eleYfcßer  $erfunft, 
ber  in  feiner  £eimatß  bie  $unft  erlernt  ßatte,  auS  ber  lobernbett 
flamme  beS  OpferfenerS  bie  3«funft  ju  beuten.  3»  ber  SKitte 
beS  ßeiligen  Raines  ton  Olpmpia  erßob  ficß  ber  große  Slfcßen» 
altar  beS  3euS/  flnf  beffen  §öße  fette  ©cßenfel  ton  9iinbern 
jaßrauS  jaßrein  bem  ©otte  ju  @ßren  terbrannt  würben,  unb 
mit  biefem  Sltare  war  ein  Crafel  terfnüpft,  an  bem  jwei 
ißropßeten,  auS  ben  ©efcßlecßtern  ber  famiben  unb  Slptiaben 
je  einer,  ben  ßeiligen  $ienft  terfaßen  unb  bie  ©efefee  beSfelben 
an  ißre  SRacßfommen  tererbten.  3)a  jebocß  nur  eben  bie  jwei 
für  bie  3eit  ißreS  SebenS  am  f>eiligtßume  ton  Clßmpia  §ln- 
fteQung  fanben,  fo  waren  bie  übrigen  ©lieber  beiber  ©efcßlecßter 
barauf  angemiefen,  anberSwo  ißre  tßeologifcße  SBeiSßeit  ju  ter> 
wertßen.  9?amentlicß  bie  famiben  waren  feßr  begeßrte  ÜDieifter 
ber  ©eßerfunft  in  griecßifcßen  Sanben  aucß  außerßalb  ißrer 
efet'fcßen  fpeimatß.  ©leid)  mandßen  SBiirbenträgern  ber  römifcßen 
Rircße  ift  meßr  als  einem  biefeS  geiftlicßen  ©efcßlecßtS  befcßieben 
gewefen,  audß  im  ©taatSleben  ber  3*itgenoffen  eine  wichtige 

(255) 


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10 


SRolle  ju  fpieleit.  Sem  Stamme  ber  Snmiben  gehörte  auch  ber 
Sef)er  an,  ber  mit  ben  Serben  Sintern  jugleich  alg  S^rengaft 
bei  fßolpfrateg  einen  neuen  unb  opne  gmeifel  t«h*  einträglichen 
SBirfmtggfreig  gemonnen  hotte.  $u  ihnett  gefeßt  fich  nun  ber 
3Jiebijiner.  SentofebeS  termochte  bern  glänjenben  Stufe  beö 
fßolpfrateg  nicht  ju  miberfteheu  unb  langte  im  tierten  3al)re 
nach  feinem  SSeggange  ton  Sroton  in  Sarnog  an.  Ser  Sprann 
gemährte  ihm  ein  Safjrgehalt  tott  jmei  Salenten  unb  jog  ihn 
in  feinen  engeren  Serfeljr.  Sa«  Vergnügen,  meld)eg  ber  Umgang 
mit  bem  gefdjeiten  SJtanne  feinem  neuen  ©ebieter  gemährte,  fo* 
mie  bie  nahe  öejieljuug,  bie  ber  33eruf  beg  Slrjte«  fo  mie  fo 
mit  fich  brachte,  »eraitlagte,  baß  er  auch  auimärtigen  Unter* 
nehmungen  feinem  ©ebieter  jur  Seite  blieb.  Mein  gar  balb 
füllte  fich  hwouSftellen,  baß  bie  e£)rentotle  Stellung  tpeuer  be* 
jahlt  merben  mußte;  benn  ißr  ift  eg  jujufchreiben,  baß  Semofebeg 
in  ben  Sturg  beg  fßolpfrateg  mit  termicfelt  roorben  ift.9 

Unfern  ton  Sarnog  lag  SDlagnefia,  bie  Stefibenj  beg  perfifchen 
Satrapen.  Samalg  befanb  fid)  in  biefer  Stellung  ein  ehr* 
geiziger  unb  ränfetoKer  SJtann  Slameitg  Croitag,  ber  mit  brenneuber 
Ungebulb  auf  eine  ©elegenljeit  augfah,  fich  &e*  feinem  Röntge 
Slnfepen  ju  terfchaffen.  ^olpfrateg  fc^ien  ihm  ein  geeigneteg 
Cpfer  ju  fein;  er  faßte  ben  fßlan,  ihn  auf  eine  liftige  SEBeife 
$u  beseitigen  unb  bie  herrenlofe  Snfel  bann  für  ben  Stönig  ju 
geminnen.  $u  biefem  3tüec?e  fehiefte  er  junädjft  einen  Unter* 
hänbler  nach  Samog,  ber  bem  Sprannen  eröffnen  mußte,  Croitag 
finne  auf  SlbfaH  ton  feinem  f>errn  unb  hoffe  babei  auf  Unter* 
ftüßung  beg  fßolpfrateg,  bagegen  terfpreche  ihm  ber  Satrap 
reicpe  ©elbmittel  gur  görberung  feiner  eigenen  $iele.  Gine 
perfönliche  Unterrebung  fchieit  nothmenbig,  unb  fßolpfrateg  mürbe 
eingelaben,  nach  Sülagnefia  ju  fommen.  Gr  ging  in  bie  gaQe. 
Srofc  ben  SBarnungen  feiner  greunbe,  troß  ben  bringenben 

üftapnungen  feineg  meltflugen  Seherg,  trop  ben  flehentlichen 

(266) 


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11 


Sitten  feiner  enuachfenen  Jochtet,  bie  ben  geliebten  SS  ater  nodj 
an  Sorb  beS  Schiffes  meinenb  umfdjlang,  liefe  fich  ^olpfrateS 
nicht  abljalten,  bie  üerhängnifeooQe  gahrt  3U  unternehmen.  3n 
Sftagnefia  ift  er  522  0.  ßhriftuS  auf  ^eimtiicfifc^c  äBeife  er- 
morbet  worben.  ®er  Satrap  liefe  ben  Seidjnam  ans  Äreuj 
fcfjtagen  unb  bemächtigte  fich  ber  mitgebrachten  Schäle.  5Die 
eingeborenen  ©amier  aus  ber  ^Begleitung  beS  SßolhfrateS  mürben 
in  ihre  ^eintath  jurücfgefchicft,  weil  bem  fchlauen  Werfet  baran 
lag,  für  feine  weiteren  ißläne  bafclbft  eine  Partei  ju  gewinnen ; 
alle  Slnbereit  aber  ohne  Unterfdjieb  machte  man  ju  ©flauen. 
Unter  biefen  befaitb  fich  auch  unfer  greunb  SDemofebeS,  fowie 
ber  Qamibe  oon  Clpmpia.  Sh**  Sage  mag  anfangs  fciueSWegS 
beneibenSwerth  gewefen  fein.  Ülllmählich  begann  fie  fich  in 
etwas  ju  beffern;  ®emofebeS  wenigftenS  fanb  auch  in  ©arbeS, 
ber  nachmaligen  Stefibenj  beS  ©atrapen,  ©elegenfeeit,  burch  SluS= 
Übung  feines  SerufS  Slnfehcn  ju  erwerben.10 

OroitaS  füllte  feines  tücfifch  gewonnenen  ÖefifceS  nicht  lange 
froh  bleiben.  Ueberniüthig  burch  ntanche  ©rfolge,  würbe  er 
fchücfelich  bem  eigenen  SanbeSherrn  läftig  unb  oerbächtig.  fiönig 
®ariuS  war  burch  außergewöhnliche  Vorgänge  auf  ben  SEhnw 
gelangt  unb  befanb  fich  noch  nicht  lange  in  feiner  hohen  ©tellung. 
®aher  fchien  eS  ihm  gefährlich,  ben  mächtigen  ©atrapen  in  ber 
üblichen  SEBeife  jur  Verantwortung  ju  jiehen.  Stach  Serathung 
mit  feinen  ©etreucn  fanbte  er  fcfjliefelich  einen  juoerläffigen 
SDtann,  SRamenS  SagäoS,  mit  bem  Aufträge  ab,  ben  CroitaS  auf 
gefehlte  Slrt  ju  befeitigen.  SagäoS  reifte  nach  ©arbeS.  ®ort 
angefommen,  übergab  er  bem  föniglichen  ©d)reiber,  ben  alle 
Statthalter  bei  fich  hatten,  einen  ©rief  beS  ftönigS,  burch  welchen 
bie  Seibgarbe  beS  Statthalters  ben  Vefehl  erhielt,  unoerjüglid} 
ihre  35ienfte  einjuftellen.  21IS  bieS  gefchah,  erfannte  VagäoS, 
bafe  baS  Slnfehen  beS  ©rofeherra  bei  biefen  SfriegSleuten  noch 
in  ungefchwächter  ©tärfe  beftehe,  unb  jefet  holte  er  ein  jweiteS 

, C257) 


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12 


©treiben  fjertwr,  tu  welchem  ber  König  ben  joforttgcn  Job 
be«  Droita«  befahl.  Jser  ©atrap  würbe  niebergefjauen,  feine 
©täfce  würben  eingejogen  unb  famt  feilten  ©flauen  nacfj  ber 
fönigli^en  £>auptftabt  ©ufa  übergefüfjrt.  Unter  ben  ©flaoen 
befanben  fit  aud)  bie,  welche  einft  jum  S^ac^laß  be«  ^ofpfrate« 
gehört  fjatten.  3um  fünftenmale  erfuhr  J}emofebe«  einen  jäfjen 
2Bed)fel  feines  ©eftidS;  öon  ber  £>eimatf)  an  ber  ÜHeereSfüfte 
Unteritalien«  faß  er  fit  nunmeßr  in  ba«  ferne  ÜDiorgenfanb 
unter  Sarbaren  oerftfagen  unb  bem  äußerften  ©lenb  preis« 
gegeben.“  3nbe«  fdjien  e«  in  ben  ©ternen  gefdfrieben  ju  fteßen, 
baß  er  nodj  ju  wichtigen  Jingen  aufbeßalten  fei. 

©ei  ben  ©erfern  beftaitb  bie  ©itte,  baß  ber  König  mit 
@ifer  ber  3agb  oblag  unb  ju  $ferbe  ben  Kampf  mit  roilben 
Jßieren  aufnaßm.  ©o  »ar  e«  überliefert  oon  alter«  ßer,  unb 
Jnriu«  gütete  fit  woßl,  ooit  einem  fjerfommen  ju  laffen,  ba« 
ißm  SXnfe^en  bei  feinen  Untertanen  braute,  jumal  ba  er  felbft 
ein  greunb  be«  SBaibwerf«  unb  ein  tüchtiger  Leiter  war.  Ja 
ereignete  e«  fit  nid)t  lange  3eit  nad)  ben  gefcfjUberten  ©or* 
gangen,  baß  ber  König  bei  einer  SCBilbjagb  oont  Sßferbe  fprang 
unb  fit  babei  ben  guß  oerrenfte.  J>ie  ©erlefcung  motte 
jiemlit  ftarf  fein,  benn  ber  Knötel  war  ißm  au«  ben  ©e> 
lenfen  getreten.  2Jtan  brätle  ben  ©erlebten  nat  $aufe  unb 
ftidte  gleit  nat  ärjtliter  §ülfe.  9?un  waren  ju  jener  3eit 
am  fönigliten  $ofe  ägßptifte  Slerjte  angefteßt;  biefe  galten 
al«  bie  erften  ÜDfeifter  in  ber  $eilfunbe  unb  waren  aut  ou«- 
gejeitnete  ©pejialiften,  aber  ißre  ftwate  ©eite  war  bie 
Slnatomie.  ©ie  naßmen  ben  König  in  ©eßanblung,  müffen  e« 
aber  grünblit  uerfeßen  ßaben,  benn  e«  gelang  ißnen  nitt,  ben 
au«gefaßenen  3fuß  wieber  einjuritten,  unb  inbent  fie  babei  ©e« 
walt  anwanbten,  matten  fie  ba«  Uebel  ftlimmer  al«  juoor. 
J)er  König  mußte  heftige  ©tuteten  leiben  unb  fonnte  fieben 
Jage  unb  fieben  ßlätte  feinen  ©tlaf  finben.  Sftatürlit  madjte 

(258) 


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13 


biefe  @ejcf)id)te  groheS  Sluffehen  unb  bilbete  baS  einige  ®e- 
fpräch  am  ganzen  |>ofe.  SlfleS  mar  rathloS,  am  meiften  bic 
ägpptifchen  ,'peilfünftfer.  Ja  melbetc  fid)  am  adjten  Jage,  als 
eS  mit  bem  Könige  ganj  fehlest  ging,  ein  SWann,  ber  jufäßig 
früher  in  ©arbeS  gelebt  unb  bort  non  ber  feltenen  ©efchicf- 
licf)Feit  eines  griccfjifrfjen  9lrjteS  aus  bem  iRadjlafj  beS  $olt)frateS 
gehört  hatte.  @r  fajjte  fid>  ein  £>erz  unb  braute  feilte  Kunbe 
»or  ben  König.  JariuS  befahl,  ben  fremben  Str^t  aufs  fdfteunigfte 
herbeijttholen.  SDtan  fanb  ihn  unter  ben  ©Hauen  beS  OroitaS 
irgenbtuo,  tuo  fi«f>  fjfiemanb  um  ihn  fümmerte,  auf  unb  führte 
i|n  uor,  feine  Sanbe  nachfchleppenb  unb  in  fiumpen  gebüßt. 18 

SBermuthlich  mürbe  uitfer  §elb,  menit  man  if)n  gefragt 
hätte,  eS  uorgejogen  hoben,  meiter  unbeachtet  in  einem,  metm 
auch  flenben,  guftonbe  äu  leben,  ber  ihm  bie  C>°ffnun9  Kehr 
(Gelegenheit  jur  |)eimfehr  ju  finben,  als  an  einen  morgen- 
länbifcften  fißnigSfjof  ju  gelangen,  »on  bem  eine  SoSlöfuttg 
!aum  jemals  mieber  ju  ermarten  mar.  JarauS  erflärt  fich  fein 
Verhalten.  SllS  er  uor  ben  König  fam,  frug  if)n  biefer,  ob  er 
fidf  auf  bie  $eilfunft  uerfte^e.  JemofebeS,  ber  fofort  erfannte, 
baft  alles  ooit  feiner  Haltung  abhing,  oerneinte.  SUIein  ber 
König  burchfchaute  ihn  unb  merfte  mol)!,  bah  er  feinen  £aien 
in  ber  ärztlichen  Kunft  uor  fich  höbe.  Ohne  fi<h  auf  2Bei- 
terungen  einaulaffen,  befahl  er,  ©eifjeln  unb  Stacheln  herbei- 
jujdjaffen.  Seht  uerfuchte  JemofebeS  nicht  mehr,  fich  iu  wer- 
ft eilen,  boch  rieth  ihm  feine  Sefonncnheit,  fich  nicht  uöüig  preis- 
jugeben:  mer  fonnte  miffen,  maS  mit  ihm  gefdjah,  menit  bie 
Sur  mifelang?  ©o  gab  er  an,  er  fei  nicht  eigentlich  Slr.zt 
»on  gach,  boch  h°be  er  uiel  mit  einem  ?lrjte  uerfehrt  unb  ba- 
her  einige  befcheibene  Kenntnijj  uon  beffen  Kunft  fid)  angeeignet. 
Slber  es  half  nichts.  @r  muhte  beit  ftuh  unterfucheu,  unb  mie 
fein  Kennerblicf  fofort  burchfchaute,  morin  bie  SSefjanblung  uer- 
fehlt  roar,  ermachtc  auch  fein  fachmännifcheS  Qntereffe  an  bem 

(259) 


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14 


gaHe.  @r  forgte  junäf  ft  für  fiinberung  ber  ©f  merjen,  wanbte 
bann  griff  iffe  Heilmittel  an  unb  brachte  el  balb  bahin,  bafe 
Jariul  wieber  ruhige  9Iäf  te  fanb.  J)ie  mafeooHe  Sehaitblung, 
welche  ber  9latur  ju  Hülfe  fam,  hatte  fo  günftigen  ©rfolg,  baß 
ber  König  in  furjer  Seit  »öllig  genefen  war,  mö^renb  er  bereite 
äße  Hoffnung  aufgegeben  hatte,  je  wieber  einen  graben  guß  ju 
befommen. 

5)ie  SDanfbarfeit  bei  ^o^en  HcrTlt  fpraf  fif  in  einer 
fpmboliffen  ©abe  aul,  bie  funb  tfjat,  wie  gerechtfertigt  bie 
Sefürftungen  bei  Jetnofebel  gewefen  waren;  SDariul  liefe  ihm 
*wei  ißaar  golbeite  geffeln  überreichen.  SlUein  Demofebel  war  nicht 
ber  9Jiann,  fich  ohne  weitere!  in  fein  ©ficffal  ju  fügen.  @r 
richtete  an  ben  König  bie  freimütf)ige  grage,  ob  er  benn  ab» 
fichtlich  bafür,  bafe  er  ihn  gefunb  gemacht,  ihm  ein  hoppelte! 
Uebel  juwenben  wolle?  35ariul  gefiel  bal  offene  SEBort  unb 
ba!  ganje  SEBefen  bei  griechifc^en  Slr^tel;  er  lachte  unb  gab 
ihm  ben  Stuftrag,  fif  ju  feinen  grauen  ju  begeben.  Sill 
er  nun  in  ^Begleitung  ber  Kämmerer  bal  ©crail  betrat,  fagten 
biefe  ben  ®amen,  bal  fei  ber  ÜJtann,  ber  bem  Könige  bie 
©eete  gerettet  habe.  ®a  fc^öpfte  eine  jebe  oon  ihnen  mit  einer 
©fale  in  bie  ©olbfifte,  bie  mohlgefüöt  imSintmer  ftanb,  unb 
beffenfte  ben  Jemolebe!  mit  einer  fo  reiflichen  ©abe,  bafe 
ber  SBebiente,  Welfer  fm  folgte,  er  h'cß  ©fiton,  bie  »on  ben 
©f  alen  fjerabfatlenben  ©olbftücfe  auflal  unb  fif  auf  biefe  SEBeife 
nof  eine  hnbffe  ©umme  äufammenbrafte.“ 

Jemofebel  ffien  nun  fein  ©lücf  gemaft  gu  haben.  SEBen 
ber  König  ehrte,  ber  war  bei  ben  ißerjern  ein  grofeer  SDiann. 
fReifthum  unb  Slnfehcit  fteßten  fif  ein.  ©r  war  ber  Helb 
bei  Jage!.  Jie  H^wn  am  H°fe  überff  ütteten  ifen  mit  Sluf« 
merlfamleiten.  @r  mafte  ein  anfehttlifel  Hau!  unb  nahm 
täglif  ju  in  ber  ©unft  bei  ©rofeherrn.  Jariul  ernannte  ihn 

nift  nur  ju  feinem  Seibarjt,  fonbem  fafete  auf  perfönlife 
(260) 


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15 


3nneigung  31t  ißm  unb  30g  ißn  3ur  föniglicßen  Dafel,  eine  ber 
hofften  ©ßren  im  perfifeßen  fiofleben.  Dort  lieg  er  fid)  ge- 
legentlich auch  oon  {einen  SebenSfcßicffafen  erjäßlen  unb  hörte 
mit  freunblicher  Slufmerlfamfeit  bie  ©cßilberungen  aus  {einen 
Sugenbjaßren  in  Kroton  an;  aber  baS,  was  ber  ©rieche  oon 
bem  Athleten  SDlilon  er^ä^Ite,  gefiel  bem  Könige  oor  allem. 
Den  Werfern  Hang  e§  wie  ein  SJiärcßen,  baß  ein  ganseS  93olf 
ben  befeßeibenen  ißreiS  eines  KranjeS  oon  grünen  Slättern  bc$ 
6djmeißfS  ber  ©beln  werth  erachten  fonnte,  unb  in  2Milon$ 
©eftalt  war  ja  in  ber  Dßat  ber  Inbegriff  beS  ^öd^ften  atßle- 
ti{chen  fRußmeS  enthaften. 

©0  fehlte  nichts  3U  bem  ©lüefe  uitfereS  gelben  außer  baS 
eine,  roaS  in  ber  ©eele  beS  ©riechen  freilich  alle  Fracht  unb 
Ueppigfeit  aufwog,  bie  $eimfeßr  in  fein  Skterlanb.  ©8  macht 
bem  .fielen  beS  DemofebeS  ©ßre,  öaß  er  itt  {einer  ©rtjößung 
bei  ©euoffen  {eines  früheren  ©lütfS  unb  UnglücfS  nicht  oer- 
gaß.  @r  feßte  eS  burch,  baß  auch  ber  ©eher  aus  ©liS,  ber 
unter  ben  ©flauen  beS  OroitaS  {ich  befanb,  aus  feinem  Slenb 
bemorgejogen  unb  in  eine  würbigere  Sage  gebracht  würbe. 
Such  errettete  er  burch  feine  giir  bitte  bie  ägppti}cf)en  Ster^te, 
beren  unglücfliche  Kur  mit  ber  ©träfe  beS  SluffpießenS  oer* 
gölten  werben  follte. 14 

©0  ftanben  bie  Dinge,  als  fidj  ein  neuer  SBedjfel  in  {einem 
2cben8{cßicffal  oorbereitete.  Unter  ben  grauen  $artU§ 
rcar  bei  weitem  bie  bebeutenbfte  an  ©eift  unb  Dßatfraft  Sltoffa, 
eine  Socßter  beS  KproS,  beS  erften  Königs  ber  ißerfer  unb  Söe- 
grünberS  ber  Dpnaftie.  Die  ßoße  grau  hatte  }cßon  Diel  erlebt, 
als  fie  bie  ©emahlin  beS  DariuS  würbe,  ©ie  mar  in  erfter 
ßße  mit  ihrem  Söruber  KambpfeS  oerbunben  gemefen,  ein  93er* 
ßältniß,  welches  3War  gegen  bie  perfifeße  ©itte  oerftieß,  aber 
ber  hohen  Stellung  beS  Königs  naeßgefeßen  mürbe.  3118  bann, 
tDäßrenb  KambpfeS  außer  SanbeS  weilte,  mit  £>ülfe  ber  mäcß« 

(261) 


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16 


tigeu  üJiagierjunft  einer  ooit  beren  ©enoffen  unter  bem  Sior* 
roanbe,  er  fei  ©merbi«,  ber  tljronberedjtigte  SBruber  be« 
Kambpfc«,  fich  311m  ,fperrfd)ec  aufgeworfen  hatte,  übernahm  er 
nach  bem  Sobe  be«  Königs  auch  beffen  grauenhau«  unb  in 
ihm  ncbft  anbern  hochgeborenen  Samen  bie  Sßrinjeffin  unb 
Königinmitwe  Sltoffa.  ©pater  mürbe  ber  falfc^e  ©merbi«  ent- 
becft  unb  ermorbet  unb  Sarin«,  ber  einer  Seitenlinie  be« 
föniglichen  £>aufe«  ber  Slchämeniben  entfproffen  mar,  auch  felbft 
bei  bem  ©turje  be«  Söetriiger«  mitgemirft  hatte,  nach  ihm  auf 
ben  £hron  erhoben.  Stuch  ihm  fiel  al«  ©rbfrfjaft  ber  |>arem 
feine«  SBorgcinger«  ju.  ®«  ift  nicht  ju  oermunbern,  bah  unter 
ben  grauen  be«  neuen  König«  bie  ftolje  unb  in  allen  Sfanfen 
be«  ©erail«  erfahrene  Socfjter  be«  Kpro«  balb  beit  bebeutenbften 
©influfj  aitäübte.  3hre  ^erfunft  oerlieh  ber  Stellung  be« 
Sariu«  eine  gemiffe  Segitimität,  bie  für  ihn  oon  größter  SBich- 
tigfeit  mar.  3n  bie  Srabitioneti  be«  perfifchen  Königthum«  oon 
Äinbheit  an  eingemeiht,  mar  fie  in  ber  Sage,  ihrem  britten  ©e* 
mahl  manchen  f lugen  fHath  3U  geben,  roie  ihn  SZiemanb  fonft 
3U  ertheilen  magte  ober  ocrmochte,  weil  feinem  anbern  SDienfchen 
fo  mie  ihr  ber  König  fein  gnnerfte«  auffchliegen  burfte. 
Slnbererfeit«  hatte  aud)  Sltoffa  Urfadje  genug,  bem  Könige  fid) 
unentbehrlich  3u  machen,  ©ie  hatte  ihm  ©ohne  geboren  unb 
fefcte  alle«  baran,  ihrem  älteften,  bem  befannten  Xerje«,  ber 
nachmal«  ben  großen  Krieg  gegen  ©riedjeitlanb  meitergeführt 
hat,  bie  Shronfolge  ju  fid)ern,  auf  welche  beffen  |>albbruber 
Slrtabajane«,  ber  ©ohn  be«  Sariu«  au«  feiner  früheren  @he, 
ba«  9ied)t  ber  ©rftgebnrt  hatte. 14 

SBie  midjtig  e«  mar,  auch  burch  förpcrlichc  fReije  bem 
Könige  fich  angenehm  gu  erhalten,  barüber  mad)te  fich  bie  nicht 
mehr  ganj  jugenbliche  Same  feine  fallen  93 orftellungen.  Sa 
gefchah  e«,  bah  Sltoffa  an  einem  Seiben  erfranfte,  beffen  golgen 

für  ihre  ©tetlung  nicht  abjufehen  waren,  ©ie  befam  ein  ©e« 

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17 


fdpoür  auf  ber  Isöruft,  tueldjeS  nadj  einiger  3eit  aufbrad)  uub 
weiter  um  fid)  frafe.  ©o  lange  baS  ©efcfewiir  nod)  flein  war, 
oerbarg  fie  eS  unb  gütete  fid)  rooljl,  mit  irgenb  gemanb  baoon 
gu  reben,  als  eS  aber  immer  fdjlimmer  würbe,  liefe  fie  ben 
griedjifcfeen  Srgt  gu  fid)  befcfeeibcn,  ber  ifercm  ©emaljl  fo  ge« 
fcfeitft  geholfen  featte,  unb  entbccfte  fid)  ifem  ofene  fHüdfjalt. 
2>emofebeS  erfannte,  bafe  für  ifen  bie  rettenbe  ©tunbe  gefcfelageu 
feabe;  jefct  feiefe  eS,  bie  günftige  Rügung  bcnu&en  ober  für  immer 
auf  bie  ^eimfefjr  oergidjteit.  Sr  unterfudjte  bie  Alranfe  unb 
ftellte  ifer  oötlige  .fperfteQung  in  $luSfid)t,  bod)  fnüpfte  er  an 
baS  ©elingen  feiner  Wur  bie  ©ebingung,  bafe  Sltoffa  fid)  eiblidj 
oerpflidjte,  ifem  einen  ©egenbienft  gu  leiften,  ber,  für  ifen  fo 
Wichtig,  wie  für  feine  |»errin  bie  ©enefung,  bod)  nid)tS  ent« 
fealten  fotlte,  was  ifjr  felbft  gur  Uneljre  ober  gum  ©traben  ge« 
reichen  fönnte.  ?ltoffa  leiftete  ben  @ib;  bie  ftur  würbe  unter« 
nommen  unb  Ijatte  ben  gcwünfdjten  (Srfolg.  SllS  bie  foniglidje 
grau  ifere  ooHftänbige  ©enefung  wiebcr  erlangt  Ijatte,  tfeat  ifer 
£emofebeS  fein  Anliegen  fmtb,  welcfeeS  barauf  feinauSlief,  ifem 
einen  Sefud)  in  feiner  Saterftabt  Proton  gu  ermöglidjen.  Cb 
er  wieberfommett  werbe,  blieb  unnuSgefprodjen.  Seibe  er« 
fannten,  wie  fdjwer  3)ariuS  barein  willigen  werbe,  feinen  2eib« 
argt,  auf  beffen  Söefife  er  ben  feödjften  SäJert^  legte,  oon  fid)  gu 
laffen,  unb  bafe  eS  befonberer  SWittel  bebürfe,  um  ben  Stönig 
bagu  gu  bewegen.  £emofebcS  featte  fid)  feinen  fßlan  bereits 
auSgebadjt  unb  oerabrebete  bemgemäfe  bas  Söeitere  mit  ber 
gürfün.  Sei  ber  nädjften  ©elegenfeeit,  wcldje  fid)  biefer  gu 
ungeftörter  3ufammcnfunft  mit  IDariuS  barbot,  füllte  fie  in  ge« 
fdjidtem  ©efprädj  ben  ftönig  banad)  gu  lenfeit  fudjen.16 

Unb  fo  gefd)al)  eS.  ®aoon  auSgefeenb,  bafe  ber  ftönig 
i^r  fdjon  mantfeeSmal  eingeräumt  Ijabe,  iljm  in  wichtigen 
gragen  feines  fiebenS  einen  SRatfj  gn  ertljeilen,  bat  fie  fid)  bie 
©rlaubnife  aus,  offen  mit  il)m  über  eine  ©acfee  gn  fpredjen,  bie 

Somrahitig.  9!.  3.  V.  104.  2 (263) 


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18 


il)r  fdjon  lange  im  füllen  Sorge  bereite.  JariuS  forberte 

fie  auf,  ißm  ja  nichts  gu  üerfdjweigen,  unb  fieberte  ihr  feine 
Janfbarfeit  für  Dolle  Slufridjtigfeit  gu.  So  fam  benn  SUoffa 
auf  ben  ©egenftanb  i^reö  StummerS.  JariuS  fei  ein  mächtiger 
Stönig  geworben  unb  Bereinige  in  feiner  §anb  eine  ©ewalt, 

mit  ber  fidj  DielcS  auSriditen  ließe,  wenn  fie  tfjatfräftige  93er- 
wenbung  fänbe.  Seiber  aber  fiße  ber  Stönig  in  ÜJtüffiggang  ba 
unb  t^ue  nichts  bagu,  irgenb  ein  Sanb  ober  SSolf  weiter  für 
baS  ^ßerferreicfj  gu  gewinnen.  Jabei  fei  er  bodj  nodj  in  jungen 
Satiren,  unb  eS  würbe  fieß  wot)l  gegiemen,  baß  er  etwa«  unter- 
nähme, auS  bem  fein  93otf  erfennen  fönnte,  baß  ein  ganzer 
SJtann  auf  bem  Jhrone  ftjje.  9tud)  bürfc  er  nicht  außer  ad)t 

laffen,  baß  feine  Untertanen,  wenn  fie  nicht  burch  auswärtige 

Kriege  befcßäfügt  würben,  leicht  auf  ©ebanfen  ber  ©mpörung 
gerathen  fönnteu,  benn  nichts  fei  für  bie  SBölfer  fo  gefährlich, 
als  bie  Jage  langer  9tuf)e.  Se§t  fei  bie  rechte  $eit  bagu, 
fo  lange  JariuS  felbft  noch  in  Doller  SRüftigfeit  ber  auffteigenben 
Straft  beS  SebenS  fich  erfreue;  benn  fo  lange  ber  Störpcr  gu* 
nehme,  wadhfe  mit  ihm  auch  Shatfcaft  unb  UnternehmungSgeift, 
nur  gu  halb  aber  fteüten  bie  Jage  fich  «tt,  tu®  bie  Äräfte  ab- 
nähmen unb  mit  ihnen  bie  Suft  gu  großen  JhateiT- 

SDlan  hört  aus  ben  Söorten  ber  Königin  bie  ©ebanfen  beS 
JemofebcS  heraus,  benn  eS  finb  phttjagoreifche  Sttnfidjten,  welche 
§ltoffa  einflocht.  UebrigenS  war  ihre  Siebe  fliiglid)  gured}t 
gelegt,  ©inen  folgen  Sorwurf  aus  bem  2Kunbe  her  Jodjter 
beS  StproS  founte  beffen  Nachfolger  auf  bem  perfifeßen  StönigS» 
thron  nicht  leicht  auf  fich  fi&en  laffen.” 

Stuf  JariuS  malten  benn  auch  bie  Sßorte  feines  SBeibeS 
gang  ben  gewünfehten  ©inbtuef.  ©r  erwiberte  ihr,  baß  fie 
DöUig  aus  feiner  Seele  gefproefjeu  habe,  benn  eS  fei  längft 
feine  Slbficht,  in  ihrem  Sinne  gu  hflnbeln.  @r  h“bc  nichts 
©eringereS  befdjloffen,  als  Slfien  mit  ©uropa  burd)  eine  iBrücfe 

(2M) 


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19 


gu  oerbinben  unb  gegen  bctS  53olf  ber  Sftjthen  gu  gelbe  gu 
giehen,  auch  fülle  mit  ber  9lu8führung  bicfed  planes  nicht  mehr 
lange  geroartet  roerben. 

Mein  feine  Slutwort  fanb  nicht  ben  erwarteten  S3eifall. 
Sltoffa  meinte,  fie  fönne  bem  fiönige  gu  biefem  Unternehmen 
nicht  gureben.  Wie  Sft)then  unterroerfen,  fei  fein  grofee»  itunft* 
ftücf  unb  roerbe  ihm  wenig  SHnljm  bringen.  2lud)  fei  er  ihrer 
ficher,  benn  fie  würben  fein  roerben,  fo  halb  er  wolle.  Wa« 
gegen  möge  WarhiS  ihr,  ber  Königin,  einen  (gefallen  thun  unb 
lieber  gegen  bie  ©riechen  gu  gelbe  giehen.  ©r  werbe  ihr  ba> 
mit  einen  lange  gehegten  SBunfcf)  erfüllen.  Sie  fei  mit  ben 
Wienerinnen,  bie  ihr  jefct  gur  S3erfügung  ftänben,  wenig  gufricbcn. 
Wljue  WariuS,  wie  fie  fage,  fo  fönnte  fie  bann  lafonifche,  argiötfche, 
attifche  unb  forintljifche  Sflaoinnen  befommen,  über  bie  fie  erfahren 
habe,  bafj  fie  in  jeber  |>inficht  anfteltiger  feien.  Slujjerbem  habe 
er  je^t  einen  Söiann  gur  Verfügung,  ber  über  bie  gricc^ifcfjeit 
®erhältniffe  in  einer  SEBeife  unterrichtet  fei,  wie  feiner  am  j£jofe, 
fie  meine  ben  griechifchen  9lrgt,  ber  feinen  gujj  geheilt  habe. 

WariuS  ahnte  nicht,  bafj  bie  Sehnfucht  feiner  ©emahlin 
nach  griechifdjen  Wienerinnen  bloß  erfonnen  war,  bamit  er 
glauben  füllte,  ber  Dfath  StoffaS  fei  auf  eine  weibliche  Saune 
jnrücfguführen.  @r  war  ein  gn  guter  @hemann,  um  nicht  auf 
ben  SBunfch  ber  Äönigiit  eingugehen.  So  würbe  benn  oerab* 
rebet,  eine  Slngahl  guoerläffiger  Werfer  unter  ^Begleitung  beS 
WemofebeS  nach  &en  bebeutenbften  ^lä|en  in  ©riechenlanb  gn 
fchicfcn,  bie  alle  wiinfchenSWcrthen  ©rfunbigungen  eingiehen 
füllten,  unb  auf  ©runb  baoon  aisbann  ben  gelbgug  gn  eröffnen. 
Sllfo  füllte  baS  Schicffal  ©riechenlanb^  unb  mit  ihm  bie  3ufunft 
©uropaS  an  bie  Saune  eines  SBeibeS  gefnüpft  werben.18  SÖBem 
fällt  nicht  ein,  was  in  neueren  3e'ten  &en  üerhängnifjtwHen 
ftrieg  heroorrufen  half,  ber  gwei  großen  93 ölfern  tiiel  93lut  unb 
Whtanen  unb  feiner  Slnftifterin  ben  Whron  flefoftet  hat! 

2*  (26i: 


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20 


5Run  mürben  ohne  gögerti  bie  nötigen  ©orfehrungen  ge- 
troffen. Sdjott  am  folgenben  ®age  lieft  ®ariu«  fünfzehn  an- 
gefehene  fßerfer  nor  ficf)  fommen  unb  mie«  fie  an,  unter  $üh- 
rung  be«  ®emofebe«  bie  griedjifdjen  ftüftenlänber  gu  bereifen. 
®od)  erteilte  er  ihnen  gemeffenen  ©efehl,  genau  barauf  ac^t 
ju  geben,  baß  ®emofebe«  nicht  etma  burchgehe,  fonberu  ihn 
um  jeben  ißrei«  mieber  nach  ©ufa  jurüdjubringen.  ®ann 
mürbe  auch  ®emofebe«  jum  ftöuige  befchieben.  ®ariu«  nahm 
feinen  Anftanb,  feinen  Seibarjt  in  ben  ganzen  fßlatt  einjumeihen. 
©r  bat  ihn,  bie  Rührung  ber  au«gemählten  ißerfer  ju  über- 
nehmen unb  ihnen  alle«  2Biffeu«merthe  in  ©ried}enlanb  ju 
jeigen.  Uebrigen«  gab  er  ihm  auch  ©tfaubnifj,  feine  ganje 
merth»ode  |>abe  al«  ©efchenf  für  ©ater  unb  ©rüber  mitju- 
nehmen  unb  ftedte  ihm  nach  erfolgter  fRitcffehr  reichlichen  ffirfafc 
für  alle«  in  Au«fid)t.  fRicht  genug  bamit,  erflärte  ber  Äönig 
fich  bereit,  ihm  ein  mit  allen  möglichen  Schüßen  angefüllte« 
üaftjchiff  ntitjugeben,  melche«  ber  ©rieche  an  ber  p^öntfifcfjen 
itüfte  gaitj  uad)  eigener  SBahl  befrachten  follte. 

®ariu«  ^atte  bei  biefen  ©nabenermeifen  nicht«  meiter  im 
©inne,  al«  ben  gefehlten  Arjt  burch  fold)e  Reichen  feiner  £ulb 
noch  mehr  an  fid)  gu  feffeln.  ®er  oorfichtige  ©rieche  jebod) 
errcog  bie  2Rögli<f)feit,  bah  e«  mit  biefer  greigebigfeit  auf 
eine  fßrobe  feiner  3m>erläffigfeit  abgefehett  fein  fönne.  ©r  er- 
flärte baf)er  bem  Äönige,  er  mode  lieber  feine  ganje  |)abe  in 
©ufa  gurüdlaffen,  bamit  er  biefelbe  bei  feiner  SRüdfeljr  mieber 
oorfinbe.  ®a«  Saftfcfjiff  mit  ben  ©efchenfen  für  feine  An- 
gehörigen nahm  er  banfenb  an. 

©alb  barauf  fanb  bie  Abreife  ftatt.  9Ran  begab  fich  3U* 
nächft  nach  ©ibon,  ber  großen  |>anbel«ftabt  an  ber  Stüfte  oon 
fßhönifien.  ®ort  mürben  ben  fReifenben  auf  föniglidjen  Sefehl 
jmei  ®reiruberer  jur  ©erfügung  geftedt.  Auch  ba«  £aftfd)iff 

mürbe  beforgt  unb  nach  ber  SGBahl  be«  ®cmofebe«  mit  merth- 

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21 


»ollen  Gütern  aller  Strt  »ollgelaben.  SBit  biegen  brei  ga^r* 
geugen  fuhr  man  an  ben  gried)ifcf)en  lüften  entlang,  berichtigte 
biefelben  eingeljenb  unb  machte  alle  nötigen  9lufgeicf)nungen. 

(Snblich  gelangte  man  auch  in  bie  ^eimifdjcn  Gewäffer 
beg  2)emofebeg.  SBie  mochte  fein  £>crg  Hopfen,  alg  er  in  ber 
grerne  bie  lüfte  beg  Saterlanbg  auftauchen  fah!  3n  Tarent 
gingen  bie  ©d)iffe  »or  9lnfer.  Jpier  bot  fid)  gurn  erftenmale 
eine  Gelegenheit  gu  entfommen,  aber  cg  galt  rafd)  unb  flug  gu 
hanbeln,  um  bie  flucht  Su  betoerffteUigen.  $er  regierenbe 
lönig  2lriftopf)ilibeg  war  ein  SBerwanbter  beg  $emofebeg.  Siefj 
e«  [ich  ermöglichen,  mit  biefem  unbemertt  in  Serbinbung  gu 
treten,  fo  war  bie  ^Rettung  gefiebert.  Unb  eg  gelang.  Slrifto* 
p^ilibeg  würbe  unterrichtet  unb  jögerte  feinen  Slugenblicf,  bie 
geeigneten  ERaffregeln  gu  ergreifen.  @r  gab  ben  93efehl,  ben 
fremben  Schiffen  bie  ©teuerruber  abgunehnten  unb  bie  perfifcheit 
^Beamten,  weil  fie  offenbar  alg  Spione  in  bag  £anb  gefommen 
feien,  gu  »erf)aften,  unb  wäf)renb  fid)  biefcg  »ollgog,  erfah 
3)emofebeg  ben  günftigeu  3e'lPun^/  fid)  baoon  gu  machen  unb 
in  feine  SSaterftabt  Iroton  gurücfgufehren.  93on  bort  lieg  er 
bem  Sriftophilibeg  fofort  Nachricht  gufommen;  biefer  gab  nun- 
mehr bie  Werfer  frei  unb  fteflte  ihnen  auch  ihre  Schiffe  wieber 
unoerfehrt  gur  Verfügung.  So  war  ber  Schein  gewahrt  unb 
ber  3roecf  erreicht;  fpäter  etwa  gu  madjenbe  93 or würfe  liegen 
fich  mit  allem  fRecgt  gurücfweifen. 19 

2lber  bie  perfifdjen  93eamten,  eingebenf  beg  »on  ihrem 
Grohhetm  erhaltenen  99efef)lg,  gögerten  feinen  Slugenblict,  ben 
Xemofebeg  nad)  Iroton  gu  »erfolgen.  Sie  ftiegen  ang  fianb. 
3)urch  einen  glücflichen  3uf°ß  itafett  fie  ben  glüdjtling  auf 
bem  SRarftplafj  ber  Stabt  unb  fudjten  ihn  ohne  Weitereg  feft- 
gunehmen.  2)entofebeg  fe^te  fid)  natürlich  gur  SBehr,  unb  eg  ent- 
ftanb  ein  fKuflauf  beg  93olfcg.  2Ug  bie  93ürger  erfuhren,  um 
wag  eg  fich  hanMc/  erhob  fich  «in  3tt,iefPaii  &er  Meinungen. 

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25ie  58orficßtigeren  gelten  eS  für  gerätsen,  im  Dinblid  auf  bie 
Üftacßt  beS  ^ßerferfönigS  fieß  ber  Auslieferung  feines  ileibargteS 
uid)t  gu  wiberfeßen;  allein  ber  bei  weitem  größere  ü£ßeil  war 
boeß  entriiftet,  baß  eS  einer  ftemben  SJiacßt,  unb  fei  biefe  aueß 
noeß  fo  groß,  erlaubt  fein  feilte,  mitten  in  ißrer  @tabt,  auf 
offenem  fDiarfte,  einen  Mrototter  Söiirgerfoßn  wiber  SöiHen  feiner 
greißeit  gu  berauben.  ä)ion  brong  mit  Jtnütteln  anf  bie  ^ßerfer 
ein,  unb  eS  wäre  gu  Slutoergießcn  gefomtnen,  wenn  nießt  bie 
SBefonnenen  fic^  ittS  Drittel  gelegt  tjätten.  SDocß  »ergeben? 
gaben  bie  Abgefanbten  beS  ftönigS  ben  Srotoniotcn  gn  bebenfen, 
wa?  eS  bebeute,  wenn  fie  fieß  unterfteßen  wollten,  ißnen  einen 
flüchtigen  Sflaoen  ißreS  ©ebietcrS  gu  entreißen.  ®oß  ber  Äönig 
nimntermeßr  eine  folcße  ©ewolttßot  ungeröd)t  fieß  gefallen  loffen 
werbe,  baß  eS  fein  ©rfteS  fein  werbe,  Sttoton  mit  ftrieg  gu 
übergießen  unb  nießt  eßer  gu  rußen,  als  bis  er  fie  olle  gu  Sflaoen 
gemoeßt  ßabe.  5Die  ftolge  Siebe  goß  nur  Del  inS  geuer.  ggQreu  j>ie 
ISiirger  feßon  oorßer  empört  bariiber,  baß  matt  eS  wagte,  auf 
folcße  SBeife  in  ißre  Stabt  eingubringen,  fo  befeßloß  man  jeßt,  ben 
Werfern  gu  geigen,  wie  wenig  man  fieß  aus  ißtten  unb  aus  ißrem 
Äönige  maeße.  ®em  Söortfiißrer  würbe  baS  purpurne  <ßracßtge> 
wottb,  welcßeS  er  trug,  auSgegogen  unb  bem  Wiener  beS  ißrptanen 
angetßau;  bei  ben  öffentlicßett  Cpfern,  bie  ber  ^ßrptan  am 
fiebenten  jebeS  ÜJJottatS  an  fämtlicßen  Altären  ber  Stabt  gu 
ooUgießeu  ßatte,  foHte  ber  SDfann  fortan  baS  bunte  ^ßerfcrfleib 
als  amtlicße  Sracßt  attßabett,  gur  ©rinnernttg  an  ben  Sßorfall 
unb  gum  bleibettbett  geießen,  baß  bie  freie  ©rieeßenftabt  bureß 
bie  $roßungen  beS  afiatifeßen  Despoten  fieß  nießt  eittfcßücßtern 
laffe.  ®en  perfifeßen  Beamten  blieb  nicßtS  übrig,  als  ber  ©e* 
toalt  naeßgugeben  unb  woßl  ober  übel  auf  bie  SDfttnaßme  beS 
2)emofebeS  gu  oergießteu.  Aueß  baS  Saftfcßiff,  welcßeS  $etnofebcS 
als  fein  ©igentßum  itt  Anfprucß  naßm,  mußten  fie  gurüdlaffen. 

Sie  gogett  ttaeß  Aßen  guriid,  wo  fie  naeß  ntaitcßerlei  Srrfoßrten 

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23 


anfangten  unb  bem  Könige  bie  unerfreuliche  ftunbe  übet* 
brockten.40 

SDemofebeg  ^atte  fic^  nicht  üerfagen  fönnen,  i^nen  uocf) 
einen  Stuftrag  bon  fid)  an  Sariug  mitgugeben.  @r  hatte  bie 
furge  3e‘4  feine*  Slufenthaftg  in  Proton  wohl  gu  benufcen  »er* 
ftanben.  SDer  9ieid>thum,  beffen  er  fich  erfreute,  machte  i^u  gu 
einem  angefefeencn  SDiaune.  ßr  warb  um  bie  Softer  beg 
Stifteten  Siifon,  unb  bie  ftattlidje  SDiitgift,  weld)e  er  bargu- 
bringeit  imftanbe  mar,  »erfd)affte  if)m  bag  3awort  beg  Saterg. 
Sieg  mar  eg,  mast  er  bem  Älönige  fagen  liefe;  eg  tfjat  ihm 
mohf,  ben  Sariug  miffen  gu  taffen,  bafe  er  in  feiner  ^eimatf) 
ein  geachteter  SDiann  fei.  Ser  ißerferfönig  hat  ifjm  feine  gluckt 
nie  »crgiehen;  menn  bei  £>ofe  oott  treufofen  SDtcnfdjen  bie  Siebe 
war,  fo  nerfefette  er  nicht,  bag  ©eifpiel  beg  Semofcbeg  afg  bag 
eineg  fdjledjten  Sharafterg  anguführen. 41 

ßublid)  mar  bag  Sebengfchiff  unfereS  gelben  nad)  medjfet* 
ooffen  SBanberjahren  in  einen  fidjeru  £>afen  eingelaufen,  ber 
frieblid)eg  Sefjagen  unb  ein  lauge  bauerubeg  ©liid  in  Sfugficht 
fteöte.  Sur<h  bie  SJer^eiratfeung  mit  ber  Sod)ter  beg  äRifon 
mar  er  in  ben  Streik  ber  erften  gamifien  unb  in  öerwanbt* 
fdjaftli^e  ©egieljung  gum  £aufe  beg  ©pthagorag  getreten. 
Safe  er  »on  ben  Slnfchauungen  beg  grofeeu  SBeifen  bereits  früher 
nicht  unbeeinflufet  gcmefcn,  ^aben  mir  oben  gefefjen;  wie  hätte 
aud)  ein  empfänglicher  Jüngling  üotl  höheren  ©trebeng  einem 
Seferer  oon  fo  überwäftigenber  ©eiftegmadjt  ficfj  entziehen  fönnen! 
Vielleicht  mar  übrigeng  fchou  ber  Vater  beg  Semofcbeg  bem 
©pthagorag  perfönlidj  nahe  getreten,  £>ermippog,  einer  ber 
^Biographen  beg  ^h’bofophen,  berichtet,  ißtfehagorag  habe  nach 
bem  Stöbe  eineg  feiner  ©enoffen,  eines  Srotoniaten  Siameng 
Äaßiphon,  bag  beutfiche  ©efüfjf  gehabt,  bie  ©eefe  beg  ßnt* 
fchlafenen  weife  Sag  unb  Siacht  in  feiner  Umgebung.  ßg  ift 
immerhin  benfbar,  bafe  tiefer  Satliphon  fein  anberer  gewefen 

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24 


ift,  al«  bcr  Vater  unfere«  gelben,  ber  giemlich  in  gleichem 
Sllter  mit  sßpihogora«  geftanben  haben  muß.  — ®emofebe«  mar 
bamal«  ein  fertiger  9Rann  ooß  SebenSerfafjrung  unb  roiffen* 
fchaftlicfjer  Steife,  ein  anerfannter  SJieifter  feine«  gad)e«  in  Sehre 
unb  Veifpief.  Sn  jener  3e't  wirb  geroefen  fein,  baß  er 
auch  SDtuße  gu  f^riftfteHerifdjer  X^ötigFeit  fanb.  @in  mebi» 
ginifche«  Süöerf  in  gehn  ©ücfjern  ift  au«  feiner  gebet  hen,°r* 
gegangen,  roeldje«  noch  ^ßtiniu«  in  feiner  9?aturgef<f)icf)te  benu|t 
bat.  3ahfreiche  ©d)üler  ftrömten  ißm  gu,  unb  bie  ärgtlidje 
©chule  oon  Äroton  erlangte  bamal«  ihren  meit  au«gebe{jnten 
Stuf  im  griechifcfjen  Sllterthum.  9JZit  ®emofebe«  gufammen 
roirb  gewöhnlich  Üllfmaeon  genannt,  ebenfaß«  SIrgt  unb  Statur* 
forfcfjer  au«  ber  ©chule  be«  Vbthagora«,  bebeutenb  at«  Slnatom, 
ber  erfte,  welcher  ©eftionen  oorgenommeit  hoben  foß.  Sludj  er 
ift  fcbriftfteflerifcb  tbätig  gemefen.  SH«  £anb«mann,  geitgenoffe 
unb  SÜoßege  öoit  folcber  Vebeutuug  unb  gleicbfaß«  ein  Slnljänger 
be«  ißpthagora«,  muß  er  mobt  auch  mit  SDemofebe«  in  Verfehr 
geftanben  hoben.  SBenti  berietet  roirb,  baß  mehrere  SDienfdjen* 
alter  fpäter,  al«  Sßpthagora«  unb  $>emofebe«  längft  nicht  mehr 
lebten  unb  ftiirmifche  3e*tei*  über  bie  Sßpthagoreer  herf™‘ 
gebrochen  roaren,  unter  ben  au«  ber  Verbannung  heimfchrenoen 
©chülern  be«  großen  ^hßofophen  eine  Slngahl  Sergtc  geroefen 
finb,  bie  burch  biätetifche  Vchanblung  ber  Stranfcn  ©rfolge  er* 
gielten,  fo  erfennt  man  einerfeit«,  roie  eng  ba«  gach  mit  ber 
ppthagoreifdjen  Sehre  »erbunbeit  geroefen  ift,  unb  roie  lange  noch 
ber  Sinfluß  ber  großen  SHeifter  roeitergeroirft  hat. 22 

3u  jener  3C*1/  in  roefd^er  3)emofebe«  auf  ber  ^ößc  feine« 
SEBirfen«  ftanb,  erfreute  ficß  auch  bie  ©tabt  Proton  ihrer  größten 
Vlütfje.  Die  altoäterifcße  Verfaffung,  ber  man  Söoljlftanb  unb 
©ebenen  oerbanfte,  rourbe  ooit  bem  beften  Ihe^e  ihrer  Vürgcr 
ftreng  aufrecht  erhalten.  $er  (Einfluß  be«  ippthagora«  unb 
ber  fittliche  Stern  feiner  ©runbfäfce  machte  fich  and)  auf  bem 

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25 


ftaatlicfjen  ©ebiete  fräftig  geltenb  unb  beugte  jebem  äRißbranche 
ber  SJtadjt,  toelrf^e  thatfadjlich  in  ben  §änben  feiner  Snßänger 
au«  ben  alten  ©efdjlechterit  lag,  erfolgreich  »or.  SBoßl  hat  bie 
©efdfichte  alle  Urfadje,  bie  feltene  ©rfcheinung,  baß  eine  Srifto» 
fratie  ber  ©eburt  mit  einer  Sriftofratie  be«  ©eifte«  jufammen- 
fiel,  in  ber  ©rinnerung  feftjutjaiten.  2!ro|bem  ift  e«  burd)au« 
begreiflid),  baß  e8  an  äJiiß»ergnügten  nicht  fehlte,  toelc^e  mit 
Siecht  ober  Unrecht  fich  jurücfgefe^t  fühlten  unb  mit  faum  »er* 
hehttem  Serger  auf  eine  ©etegenheit  warteten,  um  bie  einfluß- 
reichen ©egner  ju  ftürjen  unb  felbft  an  bereit  ©teile  bie  Seitung 
be«  ©taate«  an  fich  iu  «ißen.as 

35a  !am  e«  510  »or  ©hriftu«  pm  Kriege  gegen  bie  mächtige 
Sladfbarftabt  ©pbari«,  ber  mit  bem  glänjenbften  ©iege  ber  ftroto« 
niaten  unb  einer  »oflftänbigen  SBernidftung  ihrer  Siebenbuhler  enbete. 
©pbari«  mürbe  »on  ©runb  au«  $crftört.  Um  bie  Stätte,  welche  fo 
lange  burdf  ben  Steichthum  unb  bie  Ucppigfeit  ihrer  Semohncr  ben 
Sieib  ber  Siachbarorte  erregt  hatte,  für  äße  feiten  unbewohnbar  ju 
machen,  leitete  man  ba«  SBaffer  be«  gluffe«  Ärathi«  über  bie 
krümmer.  Sn  ber  ©djladjt  hatte  »or  aßen  SJiilon  fräftigen 
Sntheü  genommen.  3n  ber  £rad)t  be«  $eraWe«,  mit  ber 
Sömenhaut  angethan  unb  bie  Äeule  fchwingenb,  ba«  |>aupt  mit 
feinen  olpmpifchen  ©iege«fränjen  gefdjmücft,  war  feine  Siiefen- 
geftalt  bem  fieere  ber  Ärotoniaten  »orau«gefchritten  unb  hatte 
©djrecfen  unb  SBernichtung  in  ben  Steiheu  ber  geinbe  »erbreitet. 
Such  hören  mir  »on  ber  ÜRitlfülfe  eine«  eleifdjen  ©eher«  au« 
bem  ^ßropheteugefdjlecht  ber  3amiben.  ©«  ift  burchau«  nicht 
unwahrfcheinlich,  baß  biefer  ©elfer,  er  ßiefe  Äaßia«,  berfelbe 
gewefen  ift,  beffen  ©cfjicffal  wir  in  ben  fahren  »orher  an  ba« 
be«  ®emofebe«  gebunben  faljen.  3)er  weitreichenbe  ©influß  be« 
angefetjenen  Srjte«,  ber  ihm  felber  in  SCareitt  bie  SRettung  au« 
bem  §änben  ber  $erfer  ermöglicht  hatte,  fdjeint  e«  gewefen  ju 
fein,  bet  bem  ©eher  junädjft  eine  ©teßung  in  ber  Umgebung 

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26 


beS  prämiert  $eth$  öoit  ©hbaris  »errafft  tjat.  §11$  jebodj 
im  Heerlager  ber  ©pbariten  .fpaber  entftanb  itnb  furchtbare 
©reuet  öeriibt  würben,  erfannte  ber  ©eher,  baf?  in  bem  benot* 
fteheubeu  Stiege  bie  StuSfidjt  auf  ©rfolg  gu  beu  Srotoniaten 
fich  neigte.  S)ie  Opfer,  welche  er  al$  §eere$priefter  bet  ©gba« 
riteu  bargubringen  beauftragt  war,  fielen  merfwürbigerweife  fo 
ungiinftig  für  biefe  au§,  baff  ber  ©eher  e$  für  feine  ^Sflic^t  erachtete, 
eine  ©ad)e  gu  oertaffen,  welcher  bie  tjimwlifchen  ©ötter  ihre 
©unft  fichtbar  oerfagten.  @r  ging  gu  ben  Srotoniaten  über 
uitb  mufj  fich  benfetben  unentbehrlich  gemacht  ha&en-  SBir 
hören  wenigftenS,  bafj  ihm  nach  bem  glüdlid)  oottenbeten  Stiege 
ein  ftattticher  ©runbbefifj  al$  Dotation  für  feine  Serbienfte 
»erliefen  worben  ift,  unb  feine  Dkdjfommen  hoben  fich  nod) 
mehrere  SRenfchcnalter  im  gefieberten  SBefi^e  ihrer  Sanbgüter 
befunben.*4 

SBeniger  günftig  al$  ba$  be§  ©eher«,  fottte  fich  ba$  ©chieffat 
be$  2)emofebe$  geftatten.  2)ie  Politiken  Unruhen,  wetdje  nach  bem 
gliidtidjen  $lu$gange  beS  SriegeS  gegen  ©hbariS  mehr  al$  oorf)er 
ba$  bisher  wohlgeorbnete  ©taatswefen  öon  Sroton  erfdjütterten, 
haben  auch  ben  berühmten  §lrgt  in  ihren  ©trübet  gegogen.  @3 
ift  begreiflidj,  baff  er  im  ©treit  ber  Parteien  gum  ppthagoreifchen 
©tabtabet  fich  h^t-  ^ßhtha9orag  felbft  hatte  bamal$  Sroton 
oertaffen  unb  war  nadj  SDietapont  übergefiebett;  Oietteidjt 
hätte  feine  ©egenwart  beruhigenb  gewirft.  9tun  gefchah  e§, 
ba§  burch  bie  ©roberung  üon  ©hbariS  reiche  Sänbereien  in 
ben  Sefih  ber  Srotoniaten  gelangt  waren,  unb  bafj  bei  beren 
SBertheilung  ber  gemeine  SOtfann  nicht  in  bem  SWafje  feine 
SBünfche  erfüllt  fah,  als  er  e$  fidj  eingebitbet  hatte.  35ie  ©r» 
bitterung  barüber  war  fo  grofj,  baß  bie  im  ftitten  fchon  lange 
beftchenbe  unb  burd)  SBiihler  fiinfttid)  genährte  ÜJiijjftimmung 
gegen  bie  teitenben  Steife  gutn  SluSbrud;  gelangte.  gu  ben 
Stagen  ber  unteren  $Botf$fchid)ten  gefeilte  fich  ,10$  e'n  anbeter 

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27 


Umftanb.  SCuct)  Solche  nämlich,  welche  ben  ißpthagoreern  burdj 
SBaitbe  be§  23tuteS  oerbunben  waren,  fingen  an,  mit  ben  be- 
fteljenben  guftänben  unjufrieben  $u  werben,  unb  biefe  an  fiel) 
auffaßenbe  ©rßheinung  fjatte  ihren  guten  ©ruttb.  ®er  enge 
.gufammenfjatt  gmifcheti  ben  Süngern  bc§  SBeifen  beeinträd)tigte 
in  öielen  gäßen  SSerwanbte  unb  alte  greunbe,  beren  Anfprücße 
auf  Siebe  unb  Sichtung  burd)  Sftatur  unb  ©ewöhnung  gleich 

begrünbet  feierten,  oft  redjt  empfinbtid)  unb  fränfte  fie  ebeitfo 
tief,  wie  mandje  Sigenthümlidjfeiten  ber  SuubeSbrüber  bie 
breiten  ©cf)ic^ten  beS  SBoIfeS  uor  ben  Stopf  fließen.  ®ie  faft 
göttliche  SSereljrung  beS  SNeifterS,  bie  ftolje  Abfonberung  feiner 
©chüler,  itjre  nach  uiwerbrüdjlidj  feftgeßaltenen  ©runbfäfcen 
geregelte  SebenSweife,  aßeS  bieS  war  ben  f)ergebrad)ten  ©itten 
juwiber.  Schien  eS  bodj,  als  fäfjen  bie  s$t}tf)agorcer  in  fid) 
felbcr  Süfenfdjen  einer  fjö^eren  ©attuug  unb  in  ihren  ÜWitbürgern 
tief  unter  fid)  fteljenbe  ©efcf)öpfe  nieberer  Art.  @8  erregte 

Aergcrniß,  wenn  jene  nur  ihren  ©enoffett  unb  fonft  nicht  ein- 
mal  ben  Häuften  Angehörigen,  außer  etwa  ihren  Sltern,  bie 
$anb  gum  ©ruße  reiften,  unb  wenn  fie  untereinanber  Söcfi^ 
unb  £abe  freunblidj  mittbeilten,  fo  fühlten  fid)  bie  eigenen 

gamilienglieber  gar  oft  fräitfenb  jurücfgefc^t.  Unb  biefe  Sente 
waren  eS  iiberbieS,  welche  in  ber  fKathSöcrfammtung  bureß  3abf 
unb  engen  3ufaromenhalt  bisher  bie  Angelegenheiten  ber  ©tobt 
ganj  nach  ihren  SBißen  geleitet  hntten-  ®o8  foflte  enblich 

anberS  werben.  25ie  Häupter  ber  SWißöergmigten,  §ippafo8, 
$ioboro8  unb  IheafleS,  fteflten  im  fRathe  ber  ©tabt  bie  gor» 
berung  auf,  baß  fiinftighiit  ade  Siirger  ooit  Stroton  gleichen  An» 
theil  an  ber  Scitung  beS  Staates  erhalten,  unb  baß  bie  23ef)örben 
über  aße  ßJiaßregeln  bem  93oIfe  9icdjenfd)aft  oblegen  foflten.*5 
SBic  ju  erwarten  war,  erhob  bie  ppthagoreifche  AbelSpartei 
entjd)ieben  SBiberfprud).  An  ihrer  ©pifce  finbeit  wir  neben 
AlfitnadjoS,  25eimad)o8  unb  SDieton  aud)  SDemofebeS.  AIS  bie 

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28 


©egner  auf  biefem  SBege  nicht  gu  ihrem  $\t[t  gelangten,  ent* 
fdjloffen  fie  fidj  gu  einem  entfdjeibenben  ©dritte,  ©ie  fefcten 
eS  burdj,  baß  eine  SBolfSoerfammtung  berufen  mürbe;  in  biefer 
maren  fie  fidjer,  baS  große  SBort  gu  führen  unb  bie  ißpthago* 
reer  nicht  auffommeit  gulaffen.  @S  fehlte  nicht  an  rebegemanbten 
ÜJiännern,  unb  man  brachte  bittere  Anlagen  gegen  bie  Sßtjtlja» 
goreer  oor.  ©iner  ber  ©predjer  behauptete,  einen  Sinbticf  in 
ihre  ©eljeimfehren  gemonnen  gu  haben,  unb  feilte  groben  bar* 
aus  mit,  metdje  befonberS  geeignet  maren,  bie  erbitterten 
SDiaffen  noch  mehr  gu  erregen.  fei  ©efefc  beS  SBunbeS,  bie 
SJiitglieber  mie  ©ötter  gu  oerehren,  bie  übrigen  Sföenfcfjen  ben 
Shi£rcn  flfeicf)  gu  achten;  baS  SBolf  betrachte  man  als  gerben* 
oieh,  fid)  felbft  als  beffen  Wirten.  SaS  offenbare  3^  ber 
ißhthagoreer  fei  nichts  ©eringereS,  als  bie  AHeinherrfchaft  im 
©taate;  fie  fprächen  eS  aus,  baß  eS  beffer  fei,  nur  einen  Sag 
ber  ©tier,  benn  baS  gange  Seben  Ipnburch  ein  ©tüd  aus  ber 
|>erbe  gu  fein.  3hre  gange  2£hr£  laufe  auf  eine  S3erfd)mörung 
gegen  baS  93oIf  hinaus.  Ssarum  fei  eS  üödig  gerechtfertigt, 
menn  man  fofche  fieute  überhaupt  nicht  anhöre.  S)ie  SBürger 
füllten  nicht  bulben,  baß  fie,  bie  über  baS  geroaltige  ^eer  ber 
©pbariten  ben  ©ieg  erfochten  hätten,  nun  in  ber  eigenen  $ei* 
ntath  »on  einer  fleinen,  aber  mächtigen  Partei  unterbrürft 
mürben. 

©8  faßt  fich  begreifen,  menn  folche  Anfchulbiguttgen  ben 
gemeinen  äftann  aufs  äußerfte  empörten,  gumat  ba  man  ben 
Angegriffenen  bie  Sertheibigung  oerroehrte  unb  auch  bie  9Jiaß; 
ooßeren  nirfjt  beftreiten  tonnten,  baß  in  bem  Sßorgebradjten 
manches  auf  Sßahrheit  beruhe.  S)ie  ©ährung  ftieg  aufs 
höchfte.  SRod)  menige  Sage  blieb  bie  ©tabt  äußerlich  in 
grieben,  bann  gab  ein  gufäöiger  Umftanb  bie  Seranlaffung 
gum  Ausbruch-  Sie  ^ßpthagoreer  maren  unoorfidjtig  genug  in 
biefer  gefpannten  3£it  fich  gut  Sarbringung  eines  gemeinfamen 

(274) 


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29 


Opfers  an  bie  ÜJiufert  in  einem  |>aufe  nafje  bem  §eiligtf)um 
beS  ffSpthifcben  HpoHon  jufammeitgufiitben.  ®ie  ©adfe  mürbe 
ruchbar;  ein  ungeheurer  S8oIf<S^aufe  rottete  fid)  jufammen  unb 
oerfud)te  baS  ^auS  ju  ftiirmcn.  2Jiit  genauer  9?otf)  gelang  eS 
ben  Slngegriffenen,  §n  eutfommen;  ein  $he'l  flüchtete  fid)  in  ein 
öffentliches  ©ebäube,  SDemofebeS  mit  einer  ©d)ar  bon  Jünglingen, 
bie  er  um  [ich  ^attc,  entfam  nach  bem,  oermuthlich  nahe* 
gelegenen,  ißlateä. 

35ie  ©efchichte  unfereS  gelben  neigt  ficf)  ihrem  Snbe  ju. 
Stuf  ihn  oor  allen  enttub  fid)  bie  Söuth  ber  SDiaffen.  $er 
fmuptoormurf,  metchen  man  ihm  machte,  ift  mohl  auf  baS  aufjer» 
gemöhnliche  Slnfefjen  jurücfjuführen,  baS  er  in  meiten  Streifen 
beS  Jn«  unb  SluSlanbeS  genoß.  9)tan  flagte  ihn  öffentlich  au, 
baß  er  bie  Jugenb  an  fich  locfe,  um  mit  beren  £ülfe  fid)  bie 
Ädeinhenfchaft  ju  ücrfrfjaffen ; eS  mürbe  ein  ißreiS  oon  brei 
latenten  auf  feinen  Stopf  gefefct.  Sturj  barauf  fam  es  ju 
einem  blutigen  gufammenftoß,  unb  bei  biefer  Gelegenheit  ift  eS 
bem  oorhin  genannten  2hea9^  gelungen,  ben  ausgefeßten  ißreiS 
$u  oerbienen.26 

$ieS  mar  ber  ÜtuSgang  beS  merfmürbigeit  üJtanneS,  beffen 
oerfchlungenen  SebenSpfaben  mir  nadjjugeheit  oerfucht  hQben. 
SGßohl  gleichen  feine  ©d)idfale  mehr  romanhafter  ©rfinbung,  als 
gefieberter  2Birflid)feit,  unb  hoch  beruht  baS  meifte  beffen,  mnS 
mir  baoon  miffen,  auf  juuerläffiger  Ueberlieferung,  mie  eS  benn 
auch  burch  sahireiche  ©injelsüge  an  fonft  betätigte  ^hatfachen 
gefniipft  ift.  ®ie  9tadjmelt  ift  mohlbcrechtigt,  bem  großen 
grie^ifchen  ^eilfunftler  ihre  Jhcilnahme  gu  freuten.  @r  gehört 
ju  ben  erften  Mpofteln  einer  SBiffenfdjaft,  bie,  mie  feine  anbere, 
berufen  ift,  unmittelbaren  ©egen  für  bie  ÜKenfchheit  ju 
ftiften.  9Die  2)enfart  beS  ÜKanneS  befunbet  bei  oerjeihlichen 
©chmächen  bennoch  überall,  baß  er  eble  8iele  oerfolgt  hat  unb 
in  allen  3Öed)felfäflen  feines  ©efcßicfeS  an.  Stopf  mie  an  £erj 

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30 


gleich  tüdjtig  gemefen  ift.  SBenn  er  bem  ißerferfönig  gegenüber 
ber  fiift  fic^  bebiente,  um  nadj  ber  4?einiath  jurüefjufommen, 
fo  mirb  iljm  ba«  »oit  SRiemanb  »erargt  merben,  ber  ftd)  bie 
Huffaffung  ju  »ergegenmärtigen  uermag,  reelle  jeber  @riedje 
bem  Barbaren  gegenüber  Ijegte.  ©ein  Verhalten  gleicht  bem 
be«  »ielflugen  göttlichen  ®ulber«  Obpffeu«,  mie  ba«  ®po«  ihn 
fchilbert.  ®iefelbe  Sefonnenheit  im  entfdjeibenben  Söechfel  be« 
©efdjicf«  nnb  biefelbe  3öh*8feit,  »eiche  ba«  erfefjnte  $iel  auch 
in  ber  äußerften  9ioth  nicht  einen  Stugenblicf  außer  acht  läßt,  er- 
regen  unjer  SöoßtgefaHen  unb  unfere  ®ßeiina^me.  Sind)  bie  fpär« 
liehen  9?ad)rid)ten  über  fein  Verhalten  in  beu  SKJirren  bc«  Partei* 
fanipfeS  bieten  nichts,  ba«  it)u  in  unferer  üldjtuug  herabfefcen  fönnte. 

Uebrigen«  mar  e«  mit  ber  SBlütlje  »on  Proton  feit  ben 
unglücflidjen  ©treitigfeiten  jener  ®age  ein  für  allemal  »Dr- 
über. ®ie  ißptßagoreer  mürben  »ertrieben;  um  bie  ßö^ereit 

3iele,  meldje  fie  »erfolgt  hatten,  flimmerte  fich  ba«  neu  auf- 
fommenbe  ©efdjlecht  nicht  mehr.  ®ie  einft  fo  erfolgreich  ge* 
triebene  ©tjmnaftif,  mclcße  beu  ©ürgern  ffießrfraft  unb  ©iegeS- 
muth  in  ber  Kriegführung  »erlie|en  hatte,  »erfiel.  SRidjt  lange 
nachher  brach  ein  fernerer  Krieg  mit  ber  griechifdjen  SRacßbar- 
ftabt  öofroi  au«,  ber  ben  Krotoniaten  ein  ähnliche«  ©cßicffal 
brachte,  mie  fie  e«  bercinft  ben  ©pbariten  bereitet  hotten.  3hr 
geroaltige«  fjeer  mürbe  am  ffluffe  ©agra«  »on  einer  meit  ge- 
ringeren ©treitmadjt  ber  geinbe  »ollftänbig  »crnichtet,  unb  »on 
biefein  ©erläge  hat  Kroton  fich  nie  mieber  erholt.*7 

®agegen  erhob  fich  ein  3Renf<henalter  fpäter  an  ber  ©teile 
»on  ©pbari«  ba«  »on  ben  Slthenern  im  herein  mit  anberen 
©riechen  neitgegrünbete  ®hurioi.  Unter  ben  Slnfiebtern  befanb 
fich  ber  2Jtann,  bem  mir  unfer  SBiffen  über  bie  ©djicftale  be« 
berühmten  griechifchen  SlrjteS  ganj  iibermiegenb  »erbanfen,  unb 
melchem  unfere  ®arftetlung,  »ielfach  »örtlich  an  ba«  Original 
fich  onlehitenb,  gefolgt  ift,  ber  große  @cfchidjt«jchreiber  ^erobot. 

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31 


@3  ift  burtfiauä  roafjrfdjemtid),  bafj  et  feine  9tad)ricf)ten  über 
bie  Srlebniffe  beg  $emofebeä  aus  bem  3)funbe  »on  ficuten  ocr* 
nommen  f)at,  bie  fefbft  ober  bereu  Leiter  bem  .petben  unferer 
©rjöljtung  natje  geftanbeu  fabelt.*8 


SBcfcgc. 

1 Äroton,  ©rünbuitg  unb  Sage  Strabon  6,  262.  269. 

1 'JBt)tbagora8:  Difäard)  bei  B»rpl)t)r.  V.  P.  18.  3uftin.  IN),  4 
ßiftc  ber  Bptßagoreer  nad)  bcu  Stabten  bei  3utublid).  V.  P.  36. 

s SlgonifHf:  Strabon  6,  262.  SJtilon:  ebb.  263.  3ul.  Slfrican.  01.62. 

4 5Kt)ia:  ßueian.  mus.  enc.  11. 3anibl.  36, 267.  Borplj-  4.  ©uibag  s.  v. 
Der  Brief  bei  £>erdjer  epistologr.  Gr.  p.  608. 

I Sic  Ucberlicfcrung  über  bag  ßeben  bess  Demofcbeg  lägt  fid) 
auf  ciererlci  Guetlen  jurütffüljren,  uäntlid): 

A.  £>erobot.  3,  129—138  nebft  5,  44  f . ; baraug  Dio  Gfjrpfoft. 
or.  77  p.  653  uitb  3°-  £z£Oe3  Chil.  3.  544,  foioie  ber  größere 
'Iffeil  beg  Slriifelg  Jyuoxqiftic  bei  ©uibag. 

B.  Berntutfjlid)  ein  mebijiuifdjc«  2B e r f ; baraug  ber  9lufang 
bcö  9(rtife(g  bei  ©uibag,  ferner  ©ubocia  p.  129  unb  Mottos 
bibl.  376,  34  Beffer. 

C.  Die  bem  Slpotloniog  beigelegte  Biographie  beg  $ptbogora8 
unb  bie  © ^ r on i f (vnouv^uttut  3ambt.  35,  262)  ber  ftroteniaten, 
baraug  3uuib(.  V.  P.  35,  254  ff. 

I).  Einer  ber  ©efdjidjtg jcfjreibe r über  bie  frotonifdjen  Vorgänge; 
baraug  Slttjenäuä  12  , 522  (o»  iff,  im  ©egenfnf  ju  Dimäog), 
nie(Ieid)t  auefj  'Äelian  V.  H.  8,  17. 

6 Äranffjeitcn  unb  9terjte:  Dag  SBefentüdje  jufammcngefteUt 
bei  Bliimner,  ©ried).  $riöataltertt)ümcr  ©.  351  ff. 

7 3ugenb  beg  Demolebeö:  $erob.  3, 131.  93atcr  Äaütpljon : ebb. 
125;  er  roar  Slgflcpiabe  auä  finibog  nad)  Suib.  s.  v.  J^uox^iftj;.  Der 
<Sd) utc  uon  Snibog  gehörte  fpäter  and)  fttefiag  an. 

* Slegina  unb  9Ut)en:  $erob.  3,  131.  Daß  D.  in  Regina  beiratbete, 
bezeugt  ©uibag.  Bet  Bemeffung  ber  ©ebattiummen  ift  äginctifcbeg  ©etb 
corauggefebt.  lieber  Spibaurog  Strabon,  8,  374  f.  'Beziehungen  zu 
Regina  ebb.  unb  £»erob.  5,  82  ff.;  bag  ägflepicion  feit  1881  auggegrabeu, 
cgi.  Bcibefer,  ©riedjenlanb  ©.  249  ff. 

9 Demofebcg  bei  ißolpfrateg:  £>erob.  3,  131  f.;  über  $o!t)frateg 
ebb.  39  ff.  DraFel  oon  Dlpmpia  unb  Bropbetengefd)led)ter  Boedl)  expl. 
Pind.  01.  6 p.  152  unb  bie  olpmpifdjen  Snfdjrifteit. 

10  IfJothlrateg  unb  Oroitag:  fterob.  3,  120  ff.,  D.  in  Sarbcg 
ebb.  129. 

II  Oroitag'  Sluggang:  Jperob.  3,  126  ff.;  über  D.  bamaligcg 
©djiclial  auch  Sttfjenaeog  15,  622. 

17  Dariug’  Beinbrud):  §erob.  3,  129.  3ugMiebe  ber  Berfer- 
lönige  Xenoph-  Eprop.  1,  2,  10.  Bael)r  zu  £>erob.  a 0.  Slegpptifdje  'Herzte: 
$omer.  Ob.  4,  231.  iperob.  2,  84.  3,  1.  Elemeng  911.  ©trom.  758  Botlcr. 

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32 


13  Wentofcbc!  ftcilt  ben  Sfönig:  £>erob.  3,  130.  So  fleine  ßüge, 
mie  ber  9Jnme  bc!  gebienten  Sfiton,  beuten  auf  einen  mohlunterridjteten 
©ercfibrbmann  be!  ^)crobot ; f.  ba!  oben  ®.  29  ©efagte 

14  Wemofebe!'  {Erhöhung:  Jpcrob.  3,  132.  Wio  6brt)f.  or.  77, 
653.  Xijdjgcnoffen  br!  SönigS:  §erob.  5.  24,  »gl.  .Yenopf).  Sin.  1.  8,  25. 
Stjrop.  7,  1,  30.  TOilon:  'perob.  3,  137,  »gl.  8,  26. 

15  Sltoffa;  ©ergaitgcnheit : §crob.  3,  31.  68.  88;  9Bad)t:  7,  3; 
JerjeS  Whnmfolgcr  ebb. 

16  Sltoffa!  Teilung:  .fjerob  3,  133  f.  9lad)  Sttf)en.  12,  522  [teilt 
abroeidjcnb  »oit  §crob.,  ®.  feine  9iüdfef)r  in  Shüficht. 

11  Wie  Sieben  nad)  .fjerob.  3,  134.  ©et  Wiog.  Saert.  8.  1,  10  »er- 
gleicht  ©gtljagora!  bie  SJebenoalter  ben  3<>hrf3äcitcn.  Slehulid)  tote  hier 
l'ucret.  3.  445. 

**  Wafs  Sltoffa,  um  attifche  Wienerinnen  $u  befontmen,  ben  ftrieg 
angejettett  höbe,  fagt  Stelian.  N.  A 11,  27. 

19  Wie  3(ud)t:  £ierob.  3,  135  f.  Slriftophilibc!  mit  W.  bermanbt 
$jerob.  3,  136.  5.  (Wie  Ucberliefcrung  iyfhtvm  di  ix  A!(>^aru5»->/f  njv- 
JtjftoxtjJtoc  — nttgikvaf  ift  »erberbt,  unb  bie  ©efferungs- 

Beriudje  befriebigen  nicht.  3n  ben  ©Sorten  ix  n fteeft  meine! 

(Erachten!  ein  jrauenuame  unb  j)u  tefen  märe  ctroa  ivfhti-ut 

di  XQtjCttüyiig  itji  Jijuoxijdios  <id  fk  if  rj f 6 (i vq  q UyiOio'f  ii.idq;  ober 
ytjtfid  ( tidfkifif  ober  ä^itlid}.) 

50  ©erfolgung:  £>erob  3,  137.  Silben.  12,  522. 

31  [Rettung:  ^erob.  a.  £>  ©rod  be!  Wariu!:  Slelian.  V.  H.  8,  17 

11  3n  ber  $eimatb  JtaUipljon : Ilermippus  de  Pythag.  1 bei 
3ofeph-  c Ap.  1,  22  (©lütler  Kr.  h.  Gr.  3 p.  41).  Scfjriftftetlerei  bc! 
W. : Suiba!.  (Eubocia  p.  129.  ©ei  ©liniu!  N.  H.  1 ift  er  unter  ben 
Cueflcnfchriftftcflcrn  Such  12  unb  13  angeführt.  Sterbliche  Schute  bc* 

W. : ,£tcrob.  3,  131;  »gt-  bei  3ambt.  35,  261  bie  ßpbeben  um  ihn;  bei 
Gaffiu!  Wio  38,  18  roirb  er  mit  .frippofrate!  jufammen  genannt.  Sie 
9iad)richten  über  Sllfntneon  giebt  3fUer,  b.  @r.  1,  421  ff.  ©tjtba- 

goreer  Sterjte:  3amb(.  35,  264;  »gl.  Slelian.  V.  If.  9,  22. 

13  firoton!  ©tüthe  unb  ©gtbagora!:  3uftin  20,  4.  Wiog.  fiaert. 
8,  3.  Slpotloniu!  bei  3<>nibf.  35,  255. 

51  Strieg  mit  Stjbari!:  Strabon  6,  263.  Wiobor.  12,  9 f.  Silben. 
12,  621.  Wer  Seher  ilatlia!  jperob.  5,  44  ff.;  Stein  jtt  £>erob.  3,  132,  8. 

“ Wer  Slufruhr:  Slpotton.  bei  3<Mtbt.  35,  254  ff.,  »gl.  248. 
3uftin.  20,  4. 

” Wemofcbe!’  Slu!gang:  3<>mbl.  35,257  ff.  ©Sa!  unter  ©lateä 
(nkaiius  bie  .yanbfdgriftcn , fietje  'Jiaud  ,(u  261)  ju  »crftchen  fei  bleibt 
unfidjer,  »ieücicht  eine  3nfd,  mie  bie  übrigen  Drtfchaften  be!  Slamene, 
f.  ©enfetcr  s.  v.  lieber  ben  Wob  be!  W.  ift  nicht!  Nähere!  befannt;  bie 
unflarc  llebcrtieferung  läfjt  nur  erfetjen,  baß  er  burd)  Xlteaged  fein  OEttbe 
gefunben  hat. 

37  ftroton!  ©erfüll:  Strabon.  6,  261  f.  3uftin.  20,  3 f. 

**  Xhurioi:  Strabon-  6,  263  f.  §eroboi:  Suiba!  s.  v.  'H(H>doio<. 
Strabon  14,  656.  ©(in.  N.  H.  12,  8. 


(27«) 


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(Eutkduutg  k s iaucrltoffö. 


3?ou 


Dr.  £8.  <Ä.  ($)ffdJaitdjßij 

in  Cbfffa. 


Hamburg. 

^erlagäanftalt  unb  Drucferei  §(.<©.  (oormatö  3.  g.  9lic^ter> 

1880. 


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Diecfjt  bcr  Ucberfe&ung  in  frembe  Sprayen  wirb  üorbe^attcn  - 


Irutf  bcr  Ccrlagiaiifialt  unb  Iruderci  JIcticn-ÖlfffDitboft 
(normal*  3.  g.  Sldjtrr)  In  Hamburg. 


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3at)re  1774  mürbe  »on  bem  englifcheti  (S^emifer 
ffirieftlet)  (geb.  1733  in  ^ielbheat,  einem  $orfe  in  g)orf jt)ire, 
f 1804  in  fftorthumberlanb  in  Slmerifa)  unb  unabhängig  mm 
ihm  in  bemjclben  3af)re  and)  oou  bem  beutfchen  Slpothefer 
©<f)ee(e  (geb.  1742  3U  ©tralfutib,  f 1786  iuüöping  in  ©djwebeit) 
unb  ferner  tmn  Sanoifier  (1743 — 1794)  in  granfreicf)  ein  ®a« 
entbecft,  ba«  unter  bem  tarnen  ©auerftoff  (Ofhgenium)  in  ber 
2Biffenfd)aft  befannt  ift.  SDiefe  Cfttbedung  muß  eine  (Spodje  im 
öereid)  be«  menfc^Iic^en  SBiffen«  genannt  werben,  ba  fie  bie 
©runblage  ber  heutigen  Chemie  mürbe.  Ungeadjtet  beffen,  baß 
©cheele  unb  ifkieftleh  oor  Saooifier  ©auerftoff  in  reinem 
3uftanbe  erhielten,  mirb  bie  @hre  unb  ba«  Sßerbienft  ber  @nt« 
becfung  biefe«  ©afe«  boch  nur  Siaöoifier  pgefdjrieben  unb 
3toar  au«  bem  einfachen  ©ruube,  weil  e«  wenig  bebeutet,  irgeitb 
etwa«  ju  entbedeu,  mag  ba«felbe  noch  f°  wichtig  fein,  fottbern 
weil  e«  auch  nöthig  ift,  ba«  Sßerhältniß  ber  neuen  (Sntbedung 
3U  fcßon  befannten  £l)atfadjen  feftjufteüen  unb  ben  3Beg  ju 
weiteren  Cntbedungeu  unb  jwedmäßiger  Slnwenbntig  berfelben 
ju  jeigen.  Unb  bie«  war  ba«  23erbienft  Saooifier«. 

25ie  Unterfuchnngeit  ©cheele«  unb  ißrieftlet)«  würben  unter 
bem  Cinfluffe  ber  bamal«  geltenben  thcoretifdjen  ©orftel- 
hingen  über  ben  Söeftanb  ber  Atörper  geführt. 

Sammlung.  9?.  g.  V.  105.  1*  (2*ij 


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4 


Cbmohl  bte  ©rgebitiffe  ihrer  93erfud)e  im  SBiberfprucfje  mit 
biefeit  Slnfdjauungen  ftanben,  fonnten  ©cf)cele  unb  fßrieftlep 
fic^  nidjt  oon  ber  fyergebracfjteit  J^eovie  loSfagen. 

Der  große  (Seift  Saooifier«  bagegeit  oerließ,  fobalb  er 
ben  Sßiberfprud)  ber  alten  Slufdjauung  mit  feinen  Sntbedungen 
bemcrfte,  bie  biSßer  befolgten  SBege  uitb  fteflte  ber  9iatur  fragen, 
auf  weldje  biefclbe  ihm  fategorifdje  mtb  flarc  Antworten  für  bie 
gormulirutig  neuer  leiteuber  ©runbfäße  in  ber  Sßemie  gab, 
Antworten,  welche  jur  ©ntbecfung  »ieler  neuer  in  ber  Slatur 
oorf)anbener  «Stoffe  führten,  unter  benett  ber  Sauerftoff  ben 
heroorragenbften  ißlajj  einnaßm. 

Um  einen  flarcn  Segriff  über  bie  Unterfudiungen  Saooifier« 
ju  fyaben  unb  biefelben  aud)  nach  Serbienft  toiirbigen  3U 
fönncn,  ift  e«  erforberlicß,  wenigften«  einen  oberflädjlidjen  ©lief 
auf  bie  23orfteüungen,  meldje  bie  2)ienfd)en  »ergangener  3aßr» 
fiunberte  über  ben  ©eftanb  ber  Äörper  Ratten,  ju  werfen,  unb 
jroar  ift  e«  in  erfter  SUnie  wichtig,  fid)  mit  bem  Slbfdjnitt  ber 
©efdjicßte  ber  Gßemie  oor  Sftooifier  befannt  ju  machen. 

Der  Urfprung  ber  öfteren  ißeriobe  ber  (S^emie  oerliert  fid) 
in  ba$  frii^efte  SUtertfjum,  bentt  ba«  Sßeftreben,  bie  oerborgenen 
©igenfeßaften  ber  Dinge,  bie  geheimen  Sßirfungen  ber  Dlatur  3U 
erforfdfen,  mußte  fieß  oon  fefbft  ergeben,  fobalb  ber  SJienfd)  311 
einiger  Üultur  getaugte.  Unter  allen  SBöfferit  be«  SlltcrtljumS 
fdjeint  bei  ben  ißrieftern  Slegßpten«  unb  bei  ben  ©rahminen  in 
Dinboftan  ba«  ©titbium  ber  SKatur  am  eifrigften  getrieben 
roorben  3U  fein,  allein  oon  beren  gorfchungen  unb  Senntniffen 
ift  auf  unfere  Dage,  abgefeßett  oon  fabelhaften  Sericßten,  nicht« 
gefommen.  9?ur  fo  oiel  toiffeit  mir,  baß  bei  ben  Slegßptern  ba« 
SHaturftubium,  — Sfjemie  — genannt,  oon  ben  ißrieftern  geheim 
gehalten  würbe,  unb  baß  man  fd)on  bamal«  einige  SJfetaHe, 
garben,  &od)fal3,  ©almiaf,  SKatron,  ©eife,  ©ier,  @ffig  ic.  unb 

oerfdjiebene  chemifd)  jubereitete  Ä^neimittel  gelaunt  h«t.  Äriege 

(282) 


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5 


unb  bereu  jerftörenbe  folgen  liegen  bie  (Sgcmte  in  ihrer  erfteu 
^&f)afe  in  2leghpten  unb  «giinboftan  ju  ©ruttbe  gegen.  Stur  ein 
fcgmacger  Seim  mürbe  im  Siebenten  3af)r^unbert  auf  arabifcgen 
©oben  terpflanjt;  feiber  ging  barauS  bie  <3ucgt  Ijeroor,  unebfe 
©tetaße  in  ebfe  ju  oermanbelu. 

®ie  uatürlichfte  unb  zunächftliegeube  Sbee  mar  bie  ooit  ben 
©lementen  ober  ©eftanbtheilen  ber  Sörper,  über  roeldje  beim 
auch  nic^t  nur  bie  ^ßgilofopgen  @ried>enlanb£,  fonbern  aud)  bie 
Steifen  auberer  SSötfer  oiel  uacggebacgt  hoben. 

3mar  hotten  fcgon  einige  'ißgifofopgen  beS  alten  ©riechen* 
lanbS  geglaubt,  bafj  bie  SJtaterie  in  ihrem  SBefeit  ibentifch  unb 
bie  phhfifdpe  SJtannigfaltigfeit  nur  auf  bie  f$orm  ber  fteinftcu 
3:geife  gegruubet  fei.  @o  hot  fchon  Xgole«  baS  ©Juffer  für 
baS  ©fentent  aller  Sörper  gehalten;  Slnbere  hingegen  haben  bie 
ßuft,  mieber  Slnbere  baS  geuer  als  ben  Urftoff  aller  $inge 
bezeichnet.  Mnajimanber  aber  unb  SlriftoteleS  fiitb  oon  ben 
üier  gauptjuftänben,  in  melchen  uns  bie  SJtaterie  erfcgeint, 
auSgegangeit,  unb  hoben  oier  ©lemeute  angenommen,  nämlich 
©rbe,  SBaffer,  ßuft  unb  $euer.  SMefe  ^phpotpefe,  als  bie  am 
flarften  in  ber  Statur  jum  SluSbrud  gelangenbe,  blieb  burdf 
oiele  Sahrhunberte  hinburch  bie  mahrfcheiulichfte! 

Sn  feinen  anleitenben©r!läruugen  nimmt  SlriftoteleS  folgenbe, 
für  alle  $eitcn  unbeftreitbare  ©aftS  juni  ©tubiunt  ber  Statur 
au:  „Sn  aßen  fräßen  tniiffen  mir  oom  ©efannten  511111  Uitbe* 
fannten  fortfehreiten."  SBeiter  fegtägt  SlriftoieleS  fepr  richtig 
bie  Slnafpfe  als  baS  befte  SJtittel  beS  ©tubiuntS  oor.  Snbem 
er  äße  entgegengefepteu  ©igenfdjaften  ber  SKaterie  beobadjtet 
unb  feftfteßt,  erfennt  er  als  mefentlicge  nur  Hier  an,  unb  jmar: 
baS  §eiße,  baS  Ürodene,  baS  Saite  unb  baS  geuegte. 

@r  oereinigt  bie  ibentifegen  CSigenfcgaften  ber  SDtaterie,  mie  j.  ©. 
fiifce  unb  EXrodenfjeit,  unb  ficht  bereit  üßrototpp  im  geuer,  ebenfo 
ben  ber  |)ij5e  unb  fjeugtigfeit  in  ber  ßuft,  beu  ber  geuchtigfeit 

(2SS) 


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6 


unb  teilte  in  bem  SBaffer,  ben  ber  Jrocfenheit  mtb  Stätte  in 
ber  Grbc;  beShalb  nannte  er  fie  11  r ft  o f f e.  @8  ift  Har, 
bah  biefe  Sttaffififation  nur  auf  bie  ©ejiehung  ber  Körper  jur 
SBärnte  begrünbet  ift. 

Stber  StriftoteteS  begnügte  fief)  mit  biefen  oier  Urftoffen 
nicht,  er  meinte,  bah  einfache  Urftoffe  einfache  Sewegungen  haben 
miiffen;  fo  miiffe  geuer  unb  Suft  als  natürliche  ©ewegung  bie* 
jenige  nad)  oben  haben;  Grbe  unb  SBaffer  biejenige  nach  unten. 
Stber  anher  biefen  ^Bewegungen  ejiftire  eine  ©ewegung  im  Kieife, 
weldje  zwar  unnatürlich  für  biefe  Urftoffe,  aber  ooflfommener 
atS  anbere  fei,  weit  ein  Streik  fid)  als  eine  üoüfommene  Sinie, 
eine  gerabe  Sinie  aber  als  eine  unootlfommene  barfteüe.  @8 
miiffe  bemnad)  etwas  geben,  für  welches  eine  foldje  ©ewegung 
natürlich  ift.  „GS  ift  atfo  offenbar,"  folgerte  er  mit  einem 
fcheittbaren  sßatfjoS,  „bah  ^ ein  beftimmteS,  oon  ben  Hier  Urftoffen 
oerfchiebeneS  SBefen  ber  Körper  giebt,  welches  göttticher  unb 
höherftehenber  als  biefe  ift.  SBenn  im  Kreife  fid)  bewegetibe 
Körper  gegen  bie  Statur  fid)  bewegen,  fo  erfd)eint  eS  unbegreiflich 
ober  abfurb,  baff  biefe  unnatiirlidje  ©ewegung  allein  ununterbrochen 
unb  ewig  fein  fotl,  ba  aüe  unnatürlid)eit  ©ewegttngen  bod)  halb 
aufhören.  Unb  fo  müffen  wir  annehmen,  bah  «»her  ben  oier 
Urftoffen,  bie  uns  umgeben,  ein  anberer,  oon  unS  entfernter 
Urftoff  oorljanben  ift,  ber  um  fo  ooHfommctier  fein  wirb,  je  ferner  er 
uns  liegt.  ®iefcn  fünften  Urftoff  nannte  er  bie  „quinta  essentia“. 

£ie  Sehre  oon  ben  oier  Urftoffen,  aus  welchen  gewiffer« 
mähen  alles  beftehe,  hat  fich  im  ©olfe  fogar  bis  jur  heutigen 
3eit  erhalten.  3fn  ber  £hflt,  wir  müffen  bie  Kraft  beS  ©enieS 
beS  StriftoteleS  unb  noch  meh^  bie  Trägheit  beS  menfd)lid)en 
©eifteS  bewunbern,  Welche  fo  lange  eine  Sehre  gelten  lieh,  neben 
ber  Ifjatiadjen  befannt  würben,  bie  ganz  unb  gar  nicht  mit 
ben  eingewurzelten  Stnfdjauungen  in  Ginflaitg  ju  bringen 
waren. 

1284) 


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( 

©o  feßen  wir,  baß  ba«  Slffertßum  wenig  gnr  Söfuug  ber 
t$rage  nad)  ber  .gufammenfeßung  ber  Körper  beigetragcu  ßat. 
@«  ßat  nur  t^eoretifc^  biefe  fjrage  anerfannt  unb  bamit  ficf> 
immerhin  ein  Verbienft  erworben. 

2Jiit  ben  Kreugjügen  im  elften  bi«  jitm  Sube  be«  brei* 
geßnten  Saßrßunbert«  fam  bie  ßßemie  enblicß  nad)  ßuropa 
herüber.  $ie  Slraber  Ratten  ißr  ben  Slrtifel  „SU"  (bie)  ßitigu* 
gefügt  unb  fo  ßieß  fie  nun  SUdjemie  ober  Sllcßpmie. 

SBie  nid)t  anber«  git  erwarten,  fonnte  in  jenen  bunflen 
3eiteit  bc«  Söfittelalter«  bie  ßßemie  au cß  in  ßuropa  feine  $ort* 
fcßritte  machen;  fie  blieb  auf  bem  ißr  oou  ben  Slrabern  ge* 
gebeneit  ©tanbpunfte  fteßen.  $er  Slnfang  ber  Unterfucßungen 
über  bie  ßufammenfe^ung  ber  Körper  ift  meßr  auf  eigenuiißige 
Triebe  jurücfgufüßreu , al«  mit  bem  Streben  nacß  Sßiffen  gu 
begriiuben.  ©eit  jeßer  lieben  e«  bie  3Renfcßen,  ein  Söoßlleben  ju 
führen  unb  ba«felbe  folange  al«  irgenb  möglicß  ju  genießen. 
SReicßtßum  unb  Vergnügungen,  bie  erfterer  oerfcßafft,  fittb  ba« 
©trebett  bet  9}icnjd)en.  Veicßtßum  faßen  fie  im  93efiß  be« 
©olbe«;  ba  aber  ba«  ©olb  feßr  feiten  oorfam  uttb  and)  nur 
mit  großer  3Jlüße  ber  ßrbe  abgewonnen  werben  fonnte,  fo  {udjte 
man  nacß  einem  Drittel,  ficß  auf  leidjte  SBeife  in  ben  Vefiß  be« 
wertvollen  äJfetaUe«  gu  feßen.  Sin  bie  SRöglicßfeit  ber  Sluf* 
fiubung  eine«  folcßett  Spittel«  ju  glauben  lag  naße,  weil  man 
ficß  oon  ber  SDfeinung  leiten  ließ,  baß  alle  Körper  au«  benfelben 
Veftanbtßeilen  jufammengefeßt  feien.  ÜJlan  glaubte  alfo  fcßließlicß, 
baß  äße  Stoffe  fid)  in  ©olb  oerwanbeln  ließen.  $ie  golge 
war,  baß  bie  ßßemie  lange  3«t  weiter  uicßt«  bebcutete,  al«  bie 
Kenntniß  ber  SJietaße  unb  bie  ©ucßt  ber  SDfetaßoerwanblung. 

SDiefe  a)ietalloerwanblung«fucßt  war  nod)  mit  einem  anbereu 
Vßantom  gepaart,  welcße«  man  unter  ber  Vejeicßnung  „©teilt 
ber  SBeifen"  (Lapis  philosophontui)  fannte.  9Jian  fucßte  näntlicß 
uicßt  nur  bie  nneblen  SDletofle  in  eble  ju  oerwanbeln,  fonbern  man 

(2S5) 


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8 


wollte  auch  ein  Unioerfalmittel  gegen  alle  Kranfheiten  unb 
fogar  gegen  bie  ©terblidjfeit  fcfjaffen.  ?lucf)  biefer  SBa^n  ift 

einer  3eit,  tn  ber  bie  menfchüchc  Kultur  in  ben  Kinberfchuhen 
ftedte,  nidjt  $n  oerargen,  benn  fobalb  bie  Sfjemie  ißre  ßöchfte 
Aufgabe  in  ber  ©rforfchung  ber  Satur  fah,  mußte  ftd)  bem 
JJorfcfjer  oon  felbft  bie  ftolje  Hoffnung  aufbrängen,  mit  bem 
©rforfdjen  ber  Satur  ju  ißrem  ÜÄeifter  ju  werben.  Unb  roa« 
ift  wol)l  natürlicher,  al«  baß  ber  SJteifter  ber  Satur  oor  allem 
fid)  bie  Aneignung  ber  fdjwierigften,  föftlichften  unb  geßeimften 
Künfte  $um  Jiele  ftccft,  baß  er  Seichthum,  ©efunbljeit  unb  eine 
lange  £eben«bauer  erftrebt.  Uebrigen«  fd)cinen  fdfon  bie  erften 
arabifcßen  Vllcfjeiniftcn  ber  SOteinung  gewefen  jn  fein,  baß  bie 
(Elemente  unter  ber  §errfcßaft  geiftiger  SBefen  ftänben,  bie  ber 
9ftad)t  be«  SRenfchen  unterbau  gemacht  werben  fönnteit.  35iefe 
fchötte  Jbee  ber  Slraber  ging  mehr  ober  weniger  auf  ihre 
europäifdjett  ©djiiler  über. 

©laubeu  wir  nur  uid)t,  baß  bie  Älchemiften  grunblo«  au 
bie  Siöglichfeit  ber  §erftellung  oon  ©olb  unb  au  bie  $ran«» 
mutation  (SBerwanbluug  eine«  Körper«  in  einen  anbcren)  ge- 
glaubt haben.  SBergeffen  wir,  baß  wir  im  neunjehnten  Jahr* 
hunbert  leben,  unb  beitfen  wir  un«  in«  inerte  3n^r^uubert 
jurüd.  28ir  befinben  un«  im  Saboratorium  eine«  berühmten 
ÜJleifter«  ber  heiligen  Kunft;  mau  nimmt  oor  unferen  Slugen  ein 
©tüd  bi«  jur  Söeißglutfj  erhifcten  @ifeit«  unb  bringt  ba«fclbe 
in  ein  gefdjloffene«  ©efäß  mit  SBaffer;  wir  fe^en,  wie  ein  Sheil 
be«  SBaffer«  burdj  ein  luftähnlidie«  ©a«  crfe^t  wirb,  wir  fehen 
bie  S3erwanblung  oon  SBaffer  in  £uft;  biefe  £uft  wirb  frei  ge* 
affen  unb  mit  einem  glimmenben  Körper  in  Berührung  gebracht: 
— er  fladert  auf.  — SBir  fehen  bie  SSerwaublung  ber  £uft 
in  Jener.  SDiatt  nimmt  eine  blaulidje,  einem  öergwer!  ent* 
ftammenbe  Jliiffigfeit,  legt  in  biefe  Sifcn  unb  erhält  an  beffen 

©teile  Kupfer.  2Jian  legt  ein  ©tüd  SSlei  in  eine  mit  Knodjenafdje 

(286) 


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9 


gefüllte  Schafe  unb  erhifct  fie  ftarf;  baS  93Iei  fdjmiljt,  feine 
garbe  neränbert  fid),  cS  nerfleinert  fid),  eS  entfielt  eine  buufle 
Rrnfte,  bie  baS  gcfdjmoljene  ©lei  übersieht,  bie  STrufte  »er» 
fdjminbet,  bie  Oberflädje  ruirb  blenbenb  unb  nnftntt  eine!  ©tüdeS 
©lei  haben  wir  t>or  uns  — ein  Stüd  Silber. 

Unb  ba  frage  id),  wem  non  uns,  ber  in  ein  fold)eS  f>eiligtf)um 
eingelaffen  tnurbe,  Ijätte  fich  itid)t  ber  ©laube  an  bie  Irans* 
mutation  aufgebrängt,  tuet  tuäre  nicht  ein  fjeißer  ?lbept  getoorben, 
»oller  ©erlangen,  in  bie  ©eheimniffe  ber  heiligen  Sunft  ein* 
geführt  ju  werben? 

liefe  fo  leicht  erflärlidjen  ©erirrungen  ber  §lld)emie  f)errfd)ten 
faft  breijeljn  3al)rhunberte  h'nburd).  Sie  bilbett  eine  3e>t  'n 
ber  ©efc^id)te  ber  Gljemie,  weld)c  in  jwei  ©eriobeit  gcrfäÜt; 
eine  nom  nierten  3al)rf)unbert  nach  (S^rifto  bis  jum  Anfänge  beS 
fed)jeljnten  SaljrhunbertS  — bie  ffkriobe  ber  §lld)emiften  — unb 
eine  nom  erften  ©iertel  beS  fedjaehuten  SahrhunbertS  bis  jur 
fDlitte  beS  fieb^efinten  3aljrhunbertS  — ©eriobe  ber  Satrodjemiften, 
b.  lj.  ber  Gfyemifer  = Slerjte. 

lie  §lld)emiften  liegen  ihren  fftachfolgertt  folgeube  Slit* 
febauung  über  bie  3afammenfehung  ^er  SO^ctaHc:  Stile  befielen 
fie,  i^rer  ÜReinung  nach,  aus  Schwefel  unb  Ouedfilber  in  ner* 
fdjiebenen  ©ortionen.  Unter  biefeit  Spanien  aber  haben  bie 
Sldjemiften  nicht  baS  oerftanben,  was  wir  fegt  barunter  ner* 
ftehen.  Der  ©djwefel  ber  5Udjemiften  mar  ein  ©eftanbtheil,  ber 
bem  SRetaüe  bie  garbe  oerleifjt;  baS  Ouedfilber  biente  als 
oerebelnbeS  (Element,  ©eibe  betrachtete  man  als  ©eftanbtheile 
aller  fÜietaQe  in  reinem  ober  unreinem  $uftanbe;  fo  befinben 
fid)  beibe  im  ©olbe  im  reinften  3uftanbe  unb  ftarf  mit* 
einanber  nerbunben;  im  3’»«  bagegen  ift  mel)r  Schwefel,  — 
weniger  rein,  als  im  ©olbe,  unb  nerbunben  mit  einem 
ebenfalls  unreinen  Ouedfilber.  Iro£  oller  SÄängel  war  bie 
Sllcheraie  nicht  arm  an  nü^lidjeH  ©ntbedungen,  bie  freilich 

(297) 


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10 


nteifteuS  nur  grüßte  beS  gufaüS  maren.  9J?au  lernte  bie 
Salpeterfäure,  baS  KönigStnaffer,  ben  Silberfalpeter,  baS  rotße 
Ouecffilberojßb  unb  oiefeS  aubere  fennen.  9(ud)  ßatte  bie  9(1* 
cßemie  unter  bcr  3«ß(  ifjrer  ©ereßrer  mattdjen  ecßt  pßilofopßifd)en 
9iaturforfd)er,  j.  ©.  <55eber,  EtßcopßraftuS  EßaraeelfuS,  ?(nb. 
SibaoiuS  2c. 

£ie  Slntrocßemifteu  ßaben  baS  Streben  itadj  ber  ©ntbedung 
beS  Lapis  Philosophorum  faft  anfgegeben,  bagegen  bauten  fie 
ein  mebijiuifcßcS  Sßftem  auf,  roelcfjeö  bie  ©orgänge  im  gefunben 
unb  fraufen  Körper,  foiuie  bie  SBirfungen  ber  Heilmittel  auf 
cßemifcße  Vorgänge  juriidjufüßren  0 erfüllte.  2)ie  pßpfiologifcßeit 
©erricßtungen  im  gefunben  Organismus  betrachteten  fie  a(S 
cßemifcße  ©rojeffe,  in  melden  bie  einzelnen  ©eftanbtßeile  beS 
Körpers  in  regelmäßigem  ©erßältniß  aufeinanber  mirfen.  $ie 
patßologifdjen  ©rfcßeinungeu  (Kranfßeiten)  ßielteit  fie  für  bie 
llrfadje  aller  Störungen  ber  normalen  eßemifeßen  ^rojeffe. 

Sie  mußten  baßer  in  ber  $ßerapie  nur  bie  Aufgabe  er* 
bliefen,  mit  entgegengefefeteu  ÜJiitteln  bie  Störungen  ju  neutra- 
lifiren  unb  auf  biefe  SEBeife  bie  toirfenben  ©(erneute  beS  Körpers 
roieber  in  bie  richtigen  ©erßä(tni|fe  ju  bringen.  ®ie  Satro* 
djemifer  »erglicßen  alfo  ben  menfeßließen  Organismus  mit  einer 
Retorte,  in  meld)er  ber  cßemifcße,  bei  eintretenber  Unregelmäßigfeit 
ftets  ju  regulirenbe  ©rojcß  oor  fid)  geßt. 

®ie  SBänbe  biefer  9fetorte  befteßen  aber  nidßt  aus  einem 
groben,  im  üebenSprojeffe  unbetßciligten  SDfaterial,  fonbern  aus 
einem  garten  ©eroebe,  meldjeS  im  ©egentßeil  eine  entfdjeibenbe 
SBirfung  auf  ben  ©ang  biefeS  ©rojeffeS  ßat,  — ein  tlmftanb,  ber 
oon  ben  3atrod)emifern  gänj(id)  außer  aeßt  gelaffen  toorben. 
91ud>  mar  ißiten  nid)ts  befannt  oon  ber  qualitativen  ©ebeutung 
ber  eßemifeßen  Üfeaftioneit  außerßalb  beS  SebenSprojeffeS,  unb 
ba  fie  ferner  bie  Körper  nur  nad)  ißrett  oberfläeßließen  ©igen* 

feßaften  woneinanber  trennten,  j.  ©.  bem  ©efeßntade  nad)  — 

(28*) 


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11 


faucr,  äfcenb,  fühleitb  jc.  — , fo  ift  e«  Har,  ju  welchen  falfrfjeit 
©rgebniffen  fic  gelangen  mußten.  ,£mben  wirtlich  einige  3atro> 
(fjemifer  ©rfolge  bei  ihren  Ipeitoerfuchen  gehabt,  fo  finb  biefe 
Erfolge  einerfeit«  anf  bie  ^cilfame  SBirfung  oerfchiebcner  ©toffe, 
anbererfeit«  aber  nnb  hauptfädjlich  anf  bie  im  SRenfdjeu  mohnenbe 
9?aturfraft  juriicfjufübren.  Bon  ben  ^ntrochcmifern  ift  un«  alfo 
tro$  ifjrc«  fdjeinbar  wiffenfdjaftlidjen  ©trebeu«  eine  nur  wenig 
brauchbare  tfjeoretifcfje  SorfteHung  über  Den  öeftanb  ber  Körper 
Ijinterlaffen  worben.  3lt  ben  alcßemiftifchen  (Elementen  Ouecffilber 
unb  Schwefel  hoben  fte  ba«  ©alg  h^jugefügt,  aber  nicht  in 
Dem  jefct  mit  biefem  tarnen  oerbunbeiten  ©inne.  Ta«  ©alj 
würbe  bem  Cuedtfilber  gegenübergeftellt  al«  eine  horte  uuoer> 
brennbare  ÜKaffe.  9lußerbem  oerbanfeit  mir  ihnen  ben  Begriff 
ber  ©äuren  unb  ?llfalien.  Ta«  ift  ber  ©ruttb,  warum  bie 
Satrodjemiften  ^lafc  in  ber  ©e}djid)te  ber  C£f)cntie  finben. 

Tie  barauffolgeitbe,  fiaooificr  oorattgehenbc  ^ßeriobe  ber 
©efehießte  ber  (Shcmie  wirb  burch  ben  kanten  ber  „phlogiftifchen 
Iheorie"  gefennjeic^net.  3n  ber  üttitte  be«  fiebjehnten  3afjr> 
bunbert«  trat  ein  merfwiirbiger  Umfchwung  in  ben  SJleinungen 
über  bie  3>ele  unb  3roecfe  ber  6ßemie  ein-  9Äan  befd)äftigtc 
fich  nicht  mehr  mit  ben  ÜJfetaüen  unb  ber  ülietaCfe  wegen,  fonbern 
fuchte  nach  ben  ©efe^eit  ber  Bereinigung  unb  Verlegung  ber 
Körper,  ein  ©treben,  welche«  geeignet  war,  in  ba«  frühere  (£f)oo« 
einige«  £idjt  ju  bringen.  Um  aber  biefe  ©efefce  ju  entbeefen, 
mußte  man  näher  mit  ben  Grigenfcßaften  ber  Körper  befannt 
werben;  barau«  erhellt,  baß  bie  fRidftung  biefer  ^?eriobe  mehr 
qualitatit»,  al«  quantitativ  war.  Ter  Diattgcl  genauer  quanti* 
tatiocr  Unterfuchungen  fieberte  ber  neuen  3lf)eorie  eine  Tauer 
oon  faft  125  fahren. 

3u  ber  Annahme  eine«  elementaren  Bremtftoffe«  würben 
bie  (X^emifer  bamaliger  3e*t  bureß  bie  Beobachtung  be« 
Berbrennunglprojeffe«  unb  beffeit  Bergleicßung  mit  anbereit 

(2S9) 


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) 


12 


cßemifcßen  ßrfdjeinuitgen  geleitet.  3.  3.  Vcdfer  (f  1682)  naßtn 
and)  eine  Urfäure  an,  beutete  bie  großen  Staturerfcßeinungen 
afg  d)emifd)e  ^ßrojeffe  unb  gab  bie  erften  ©runblagen  ju 
einer  umfaffenbeit  Jßeorie.  SÖtan  lernte  nad)  unb  nad)  ein= 
fe^en,  baß  bie  Vermanbhtng  ber  SUietalle  in  erbige  ©ubftanjen, 
nämlidj  in  fogenannte  SWetallfalfe,  bie  ©äßrung  ber  glüffigfeiteu, 
bag  Sütßmen  ber  ST^iere,  bag  Seimen  ber  ©amen  tc.  ?leßnlid)feit 
mit  bem  Verbrenmtnggprojeffe  befißen.  Von  biefer  2(uffaffung 
auggeßenb,  ftubirte  gegen  Snbe  beg  fiebjeßnten  Saßrßunbertg 
ber  beutfdje  Gßcmifer  ©eorg  ßrnft  ©taßl  (f  1734)  bie  Vcr» 
maitblunggoorgänge  ctmag  genauer  nitb  ftellte  bie  erfte  georbnete 
Sßeorie  ber  djemifcßeu  Ißrojeffe  auf;  er  fcßuf  eine  Xf>eorie, 
bie  halb  allgemein  angenommen  unb  unter  bem  kanten  „pßlo» 
giftifcße  Jßeorie"  betanut  mürbe,  ©taßl  fanb,  baff  menti 
man  einen  oerbrannteit  Sorper,  j.  V.  ©dfmefelfänre,  mit  einem 
brennbaren  Sörper,  nämlid)  mit  Soßle  gliißt,  festere  bie  ßigen- 
fdjaft  beg  Srenueng  verliert,  mäßrenb  erftere  ju  ©cßmcfel,  alfo 
brennbar  mirb.  ßr  fdjloß  baßer,  baß  bie  Soßle  ißr  Vrcttn« 
bare^  ober  Sßljlogifton  an  ©djmefelfäure  abgebe  unb  eg  in 
©cßmefel  oertuanble,  baß  alfo  leßtercg  aug  ©äure  unb  ^Jljlogifton 
befteße  ober  pßlogitifirie  ©äure  fei. 

3tt  ber  großen  SBelt  ficß  untfeßeitb,  fanb  ©taßl  uicßtg  all  Ver* 
brennlicßeg  ober  Verbrannteg,  alfo  überall  pßlogiftifirre  ober  be> 
pßlogiftifirle  Körper.  ÜDa  nun  bag  Verbrennen  unter  fiicßt-  unb 
Sßärmeerfdjeinnngen  oor  ficß  geßt,  gelangte  er  ju  bem  ©cßluffe, 
baß  bag  ^riitjip  beg  £idjteg  unb  ber  2Bärme  bag  s^rinjip  beg 
Unterfdjiebeg  jmifcßeu  Verbrcnnlidjem  unb  Verbranntem  fei, 
unb  baß  and)  beim  bunffen  Verbrennen,  beim  langfamcn  ßr- 
falten,  beim  Sltßmen  unb  bei  anberen  cßemifcßeu  ißrojeffen  bag 
93ßlogifton  entmeber  langfam  entmeidje,  ober,  oßne  frei  ju  merben, 
oon  einem  Körper  in  beu  anberen  übergeße.  9lacß  biefer  Jßeorie 
mirb  alfo  bie  Heterogenität  in  ber  9?atur  unb  bie  Stnjießung 

(290/ 


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IS 


ungleich artiger  Waterien  gu  einanber  burd)  bie  refatioe  Wenge  be« 
$|(ogifton$,  roetd)e  ein  Äörper  enthält,  beftimmt,  unb  abhängig 
gemalt  non  ber  Äraft,  mit  melier  ein  Äörper  c§  an  fid)  gu  feffeln 
ober  einem  anberen  ftörper  gu  eutgiehen  nermag.  9?a<h  biefer  Slnfidjt 
ift  bie  chemifdje  StngiehungSfraft  ober  $erroanbtfchaft  nichts  aubereS 
all  ber  retatine  (5Jegeiifa0  gwifchett  pf)logiftifchen  uitb  optjlo* 
giftigen  J^eorien.  Stuf  biefe  SBeife  ()at  Stof»!  fpnttjetifd)  unb 
analptifcb  bie  Sgifteng  non  )J$ffÄ|iftoH  nadjgeroiefen,  tro(jbem  er 
baSfelbe  nicht  im  freien  guftanflP  erhalten  tjat.  Sinige  feiner 
begeiftertften  Stntjänger  ftiefjen  aber  auf  fragen,  bie  *m  2öiber> 
fprudje  mit  biefer  $t)eorfe  fid)  befanben.  SSenn  ba«  5$er« 
brennen  eine  3erfe&un9  ift,  worum  ift  bann  ber  Wetaßfalf, 
melier  bod)  burd)  ©tilgen  be§  WetatlS  im  geuer  entftanbeu  ift, 
fdjtterer  als  baS  Wetaß  felbft,  aus  meldjem  er  entftanb? 
darauf  giebt  bie  I^eorie  @taf)lS  feine  StuSfunft,  aber  ber 
menfd)liche  ©eift  mar  um  Stntmort  nicht  tierlegen : (Sinige 
i^rieben  bem  fßfjtogifton  bie  (Jigenfdjaft  gu,  bie  Jtörper,  in 
roelc^en  eS  enthalten  ift,  leichter  gu  machen;  Stnbere  gaben  ber 
Unooüfommen^eit  ber  Unterfudjungen  bie  Sdfulb  ober  enblidj 
hielten  bieGrrfcfjeinung  überhaupt  für  gtt  geringfügig,  um  einer  fRach* 
forfd)ung  mürbig  gu  fein,  — eine  Slnfidjt,  meld)e  ©taf)I  felbft  feilte. 

fragen  mir  nun:  SBar  benn  biefe  Theorie  noßftänbig 
falfd)?  3dj  benfe  — nein!  unb  betife,  bafe  jebe  ber  ©tahlfchen, 
einftimmig  oon  fo  nieten  benfeuben  Seuten  angenommenen 
Xljcorie  gleicfjenbe  Stuffaffung  etmaS  28al)reS  in  fid)  hat-  ®'e 
äJ?enfd)en  be§  fiebgehnteit  3ahrhunbertS  maren  nicht  geringere 
JenfeT,  als  mir  eS  jefet  finb,  unb  mir  bürfeu  nicht  über  ihre 
Jbeen  oon  nnferem  ©tanbpunfte  aus  urteilen.  2)a3  fßfjf°0'fion 
toar  für  fie  ein  gang  unbeftimmteS  SSefett,  aber  feine  Waterie 
in  bem  6inne,  mie  mir  eS  oerfteljen.  $iefe  3bee  mar  atlerbingd 
Derfdjroommen,  gleich  nieten  anberen  metapbhfifdjen  SBorfteßungen 
jener  3eit,  aber  nicht  abfurb. 

(291) 


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14 


®aß  fie  nic^t  abfurb  war,  ift  au«  folgettbem  flar.  Grfefcen 
wir  ba«  Eiort  „Ißßlogifton"  buriß  ba«  Eiort  „Gnergie"  uiib 
ftellen  wir  in  bem  SBerfe  ©taßl«  — „Gßemie  unb  iflßßfif" 
oon  1731  — überall  ba«  Eiort  Gnergie  anftatt  ißßlogifton,  fo 
finben  wir  barin  ben  Slnfattg  einer  ber  größten  neueren  2>oftriiteit, 
nämlicß  bie  ber  „Grßaltuug  ber  Gnergie". 

35iefe  Jßeorie  ift  bttreß  fiatwifier  oeruoßftänbigt  worben.  E*ir 
würben  un«  aber  feßr  täufeßen,  wenn  wir  aniteßnteii,  baß  bie 
£ßeorie£at>oifier«  biejettige  ©taßl«  gänjlidß  gii  oerbrängenoermag. 
©taßl  faß  beutlid),  baß  ba«  Gßaratteriftifcße  ber  Verbrennung 
Gntwidelung  oon  Gnergie  ift,  unb  wenn  er  biefe  Gnergie 
ißßfogifton  nannte  unb  ißr  waßre«  Elefen  erläutert  ßat,  fo  gab 
er  ju,  baß  e«  beit  funbamentalen  Einfang  ber  Dlatur  bilbet. 
Gr  oerftanb  aber  nießt  bie  eßemifeßen  Veränberuttgen,  melcße  mit 
bem  Verbrennung«pro$effe  oerbunben  fiitb;  biefe  »erfteßen  gu 
leßren,  war  Saooifier  oorbeßalten! 

®amit  will  idj  meine  Giuleituug  feßließen  unb  gu  meinem 
eigentlicßen  2ßema  übergeßen. 


©cßott  oor  ©taßl  ßaben  grünblidje  gorfeßer,  wie  Vau 
§elmont,  3oß.  9laß  unb  ÜJiaßom,  bur<ß  Vcrfudje  gefuitbeit,  baß 
beim  Verfallen  ber  ÜlictaHe  unb  beim  Sltßmeit  etwa«  au«  ber 
£uft  angegogen  wirb;  e«  ließ  fieß  alfo  mit  Eecßt  barau«  folgern, 
baß  bie  Körper  beim  Verbrennen,  ftatt  eines  Veftanbtßeile«  (be« 
fßßlogiftoit«)  beraubt,  oielmeßr  mit  einem  anberen  Stoffe  oer> 
bunben  werben,  ©egen  Gnbe  be«  acßtgeßnten  gaßrßunbert« 
würbe  bieS  au<ß  mit  oölliger  ©ewißßeit  bargetßan.  3wei  &er 
größten  Gßemifer,  bie  je  gelebt  ßabeu,  uämlidj  3oß.  ijlrieftlep 
in  Gnglanb  (f  1804)  unb  G.  ES.  ©cßeele  in  ©cßwebeit  (f  1780), 
fanben  faft  gleicßgcitig  unb  jeber  für  fieß,  baß  bie  atmofpßärifcße 
£uft  au«  gwei  fiuftarten  befteßt,  alfo  nießt  cinfacß  ift,  baß 
ber  eine  Veftaubtßeil  berfelben  beim  Verbrennen  be«  ©cßwefel«, 

(292) 


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15 


beg  $ßf)o§pf)org,  beim  ©erfalfett  ber  3)ietaHe,  beim  $lthmen  ber 
Spiere  angezogen  wirb,  um  ficfj  mit  ben  ftörpern  ju  »erbinben, 
unb  baß  ohne  biefen  ©eftanbtheil  in  ber  Suft  fein  ©rennen  unb 
fein  §tt^men  ftattfinben  fönnte.  ®iefe  Suftart  würbe  geuerluft, 
bepl)Iogiftifirte  Suft,  and)  Sebcngluft,  reine  Suft,  genannt. 

$en  jweiten  ©eftanbtheil  ber  atmofphärifcgen  Suft,  welcher 
bie  größere  SDienge  berfelbeu  augmad)t  unb  nicht  ju  ntfjmen 
ift,  nannte  man  Sticfluft,  pglogiftifirte  Suft  ober  »erborbetie 
Suft. 

Sn  feiner  Slbijanblung  über  „Suft  unb  geuer"  fagtSdjeele: 
„$)ie  Suft  mug  auS  zwei  elaftifchen  glüffigfeiten  beftetjen"  unb 
beftätigt  bieg  bnrd)  eine  Steife  »ott  ©erfinden.  Gr  nimmt  eine 
Söfung  »oit  Schwefelleberfali,  gefattigt  mit  bem  ®afe  uon  »er* 
branntem  Schwefel,  trocfnenbe  Oele,  beit  naffen  Stücfftanb,  ber 
burd)  Sfali  in  Söfung  »ott  Gifeiwitriol  tc.  gebilbet  wirb,  unb  bringt 
bieg  in  eilt  ©efäg,  bag  er  ^ermetijd)  fliegt;  ttad)  einiger  $eit 
öffnet  er  bagfelbe,  wätjrenb  er  ben  |>a(g  beg  ©efägeg  unter 
SBaffer  t)ä(t.  ®ag  SBaffer  bringt  in  bag  ©efäg  unb  nimmt  in 
bemfelben  20 — 30%  beg  urfprünglichett  Untfangg  ein,  wag  atg 
unzweifelhafter  Seweig  gelten  muff,  baff  bie  obengenannten 
Stoffe  einen  $he*l  ber  int  ©cfäye  »orhanbeneu  Suft  abforbirt 
haben. 

Scheele  erflärte  biefe  ©rfdjcinuug,  wie  folgt:  bie  Suft  entzog 
bett  genannten  Stoffen  bag  tßfjtogifton,  ittbem  ber  zweite  öeftanb* 
theil  z-  ©•  in  Schwefelfäure  frei  würbe. 

Sn  ber  SXeinung,  baß  bie  Glaftizität  ber  Stift  ttad)  ©er* 
einigtmg  mit  ^hi°9ift°n  fid)  »ermittbere,  b.  h-  einen  geringeren 
Umfang  annehme,  glaubte  er,  bafs  bie  Stift  fompafter  unb 
fernerer  werben  muffe.  Söie  grog  aber  war  fein  Grftautten, 
alg  eg  fich  heraugftellte,  bag  bie  int  @efäg  gebliebene  Suft 
»iel  leichter  War,  alg  bie  »ott  ihm  z»m  ©erfttd)  »erwetibete. 
2>araug  fchlog  Sdjeele,  bag  bie  Suft  aug  zwei  »erfd)iebenartigeu 

(293  J 


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1 H 


gliiffigfeiten  beftelje.  @v  nannte  ben  einen  $f)eit(  Da  er  ba$ 
Slthmen  uitb  trennen  nidjt  beförbert  unb  feine  Neigung  befifct, 
'^f)[ogifton  aitjitjie^en,  fc^fecfjte  Suft  im  ©egenfah  bem  ^weiten 
Ifjeil,  welcher  bie  bem  erften  feijlenben  ©igenfdjaften  befiel,  aber 
nur  V* — V»  ber  atmofphcirifdjen  fiuft  au3mad)t.  Um  aber 
jeigen  ju  fönnen,  wohin  ber  jmeite  Sfjcil  ber  fiuft,  öerbunben 
mit  bem  ^Jfjtogifton,  ücrfdjwinbct,  madjte  er  folgenben  Verfud) : 
3n  einem  gesoffenen  ©efäfje  jünbet  er  ^^oSpfjor,  ober  SEBafferftoff, 
ber  nacf)  ber  ÜKeinung  ©djeeleS  an«  ^^togifton  unb  fiuft  befielt, 
an.  35ie  Verbrennung  führte  il)ti  311  bemfelben  Srgebnifj,  welches 
er  burd)  feinen  erften  Verfud)  gewonnen  hatte,  nämlid)  baf?  ber 
Umfang  ber  fiuft  nad)  ber  Verbrennung  fleiner  geworben  ift. 
9?un  glaubte  er,  bajj  beim  Verbrennen  einer  SBachSferje  ober 
Stöhle  biefe  @rfd)einung  nicfjt  ju  Sage  treten  mürbe,  aber  aud) 
hier  entbecfte  er  baSfelbe,  benn  in  ber  jnriicfgebliebenen  Suft 
fanb  er  air  fixe,  ba£  Reifet  Stoljlenfäure,  bie  man  burd)  Sali* 
fjtjbrat  au§  ber  Suft  fjerauäjieljen  fonnte. 

35a  er  alfo  uidjt  im  ftanbe  war,  burd)  ben  Verfug  ju 
geigen,  wohin  jener  X^eil  ber  fiuft,  ber  fid)  mit  5p^Iogifton 
oerbunbett  hat,  oerfdiwanb,  fo  fdjuf  er  eine  unmögliche  |>ppot^efe, 
inbem  er  behauptete,  ba§  ber  »erfchwunbene  $he'i  ber  2uft,  üfr‘ 
bunben  mit  ^ßhlogifton,  SEBcirme  gebilbet  habe,  wefd)e  burd)  bie 
SBänbe  beS  ©efäfjeS  fich  oerflüd)tigte. 

SBeitn  nun  auch  biefe  Vorfteöung  falfd)  war,  biente  fie  ihm 
boch  als  StnSgangSpunft  für  feine  Verfudje,  ben  beim  Ver» 
brennen  ocrfchwunbenen  2f)eil  ber  fiuft  'n  reinem  3uftanbe  $u 
gewinnen. 

Vorder  hatte  Scheele  bie  oerfd)iebenen  Umwanblungen  ber 
Salpeterfaure  ftubirt  unb  war  $u  ber  ?lnfid)t  gelangt,  bajj  bie 
reinfte  Säure,  b.  h-  bie  am  wenigften  ^h*0S>ftan  enthaltenbe,  bie 
raudjenbe  fein  müffe,  biejenige,  welche  er  burd)  2)eftitlation  auS 
Salpeter  unb  Schwefelfäurc  erhielt. 

(2W) 


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17 


Sfnbem  er  beim  2)efti£liren  mehr  erhifcte,  bemerfte  er  ein 
ftarfe«  Slufbraufeit  unb  neben  ber  raudjenben  Säure  bie  ®u«< 
{Reibung  eine«  befonberen  ©afe«,  toelche«  ba«  Verbrennen  mit 
einer  ungeheuren  Stuft  beförberte.  Sr  ocreinigte  bie  Suft,  welche 
noch  ber  Verbrennung  be«  Vh°äph0r3  übrig  blieb,  mit  ber  Suft, 
welche  er  bei  ber  gerfefcung  be«  ©alpeter«  erhielt,  im  Ver« 
häftnijj  non  3 : 1 unb  erhielt  wieber  Suft,  bie  ber  atmofpljärifchen 
ähnlich  mar.  2en  2 heil  ber  Suft,  ber  ba«  Vrennen  beförberte, 
nannte  er  nun  „geuerluft".  2en  eigentlichen  ®ilbung«pro$efj 
fdjrieb  er  ber  .ßerfeßung  bet  SBärme  $u,  inbem  ein  2he<l/ 
nämlich  W°9tf*on/  mit  ber  Salpeterfäure  bie  raudjenbe  Säure 
bilbet,  mährenb  ber  jroeite  2he^  — bie  5euer^ufl  — frei  mirb. 
Scheele  wieberholte  feine  Verfuche  mit  oerfdjiebenen  Stoffen, 
welche  alle  bem  'phlogifton  fehr  »erroanbt  touren  unb  erhielt 
entlieh  feine  „geuerluft"  au«  Sruunftein  (2ftanganerj)  burch 
Slüfjen  mit  Schtoefelfäure,  au«  Sulpeter  unb  ferner  au«  ben 
Rolfen  be«  Silber«,  ©olbe«  unb  Guecffilber  beim  Srtoärmen.  3n 
allen  gäßen  lieferte,  feiner  Meinung  nach,  bie  SBärme  ’ip^Iogiftojt, 
ba«,  mit  Säuren  unb  Halfen  oerbunben,  bie  geuerluft  au«> 
gefchieben  hat. 

So  erflärte  einer  ber  erften  unb  größten  Shemifer  be« 
oorigen  3af)rhunbert«  feine  Sntbecfung. 

Vor  hunbert  Salden  mur  ber  Verfehr  ^toifchen  ©eiehrten 
fe|r  lungfam,  unb  auch  bie  ©eiehrten  felbft  beeilten  fief)  burdjau« 
nicht,  ber  SBelt  ihre  Srfinbungen  mitjutheilen,  be«halb  barf  e« 
nicht  iiberrafchen,  bajj  ju  eben  berfelben  ßeit,  ju  welcher  Scheele 
in  Schieben  feine  Jeuerluft  entbeefte,  ein  anberer  Shemifer  in 
dnglanb,  Vrieftlep,  ber  fich  mit  ähnlichen  Unterfuchungen  be* 
fhäftigte,  biefelbe  Sntbecfung  machte,  toie  Scheele. 

2ie  Slrbeiten  Vrieftlep«  in  biefer  'Jfid)tung  begannen  im 
3ohre  1771.  Sr  hatte  gefunben,  baß  „air  fixe“,  b.  h- 
Soljlenfäure,  bie  beim  Slthmen  ber  2l)iere  fich  au«fcheibet,  itt 

Sammlung.  91.  JJ.  V.  105.  2 (295) 


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18 


ber  ßuft  unbrauchbar  für  bie  Erhaltung  beS  fiebeuSprojeffeS 
wirb,  bah  aber  air  fixe  burcfj  bie  ©flanjen  wieber  in  brauchbare 
2uft  für  bie  Slthmung  umgewanbelt  wirb. 

3m  3al)re  1772  entbecfte  er  im  ©tidojpb  baS  |jülfSmittel 
jur  quantitatiben  ©eftimmung  jene«  ^er  Suft,  ber  baS 

91thmen  unterftüfjt,  ahnte  aber  noch  nicht,  baff  bie  2uft  ein 
©eftanbtheil  beS  Stido£hbS  ift.  — 3n  bemfelben  3af>re  machte 
er  audj  bie  ©ntbecfung,  bah,  Wenn  man  in  einem  gefdjloffencn 
©efäjje  Stofjle  mittelft  eineg  ©remtglafeS  uerbrennt,  fid)  ein  ©aS 
bilbet,  welches  burrf)  fialfwaffer  abforbirt  wirb,  unb  bah  ein 
Heiner  $heü  jurücfgebliebenen,  nicht  »erwehrten  Suft  burdj  eine 
naffe  ÜKaffe  Don  ©ifenfpänen  unb  Schwefel  gleidjfaHS  abforbirt 
wirb;  er  berechnete,  bah  ber  'Ifyeii  ber  fiuft,  ber  ber  Hbforption 
Söiberftanb  reiftet,  = Vs  feines  urfprünglicheu  Umfanges  ift. 

3m  3ohre  1774  fanb  ißrieftteh,  bah  man  ben  $he'l  ber 
2uft,  ber  fürs  33 erbrennen  nötljig  ift,  in  fehr  reinem  ßnftanbe 
erhalten  tönne,  wenn  man  Salpeter  in  einem  glintenlauf  glüht. 
$5aS  fich  bei  biefem  Vorgänge  auSfdjeibenbe  ©aS,  welches  burch 
Sßaffer  nicht  abforbirt  wirb,  nährte  bie  flamme  ungewöhnlich 
ftarf.  3lm  1.  Sluguft  1774  erhielt  er  baSfelbe  ®aS  aus  erhifctem 
äQuedfilberofpb  unb  auch  QnS  SWennige. 

Qtrfreut  über  feine  ©ntbecfung,  eilte  er  nach  s$ariS  unb 
oertünbete  bercn  ©ictjelnheiten  im  |jaufe  Saooifier  in  ©egenwart 
mehrerer  ©eiehrten  beim  STOittagSeffen.  ißrieftlepS  Stnficht  war, 
bah  baS  non  ihm  entbedte  ©as  Suft,  frei  non  'phl^f*00/  H 
währenb  ber  anbere,  baS  ©rennen  nicht  unterhaltenbe  Shel( 
Suft  mit  Sßhlogifton  fpi- 

Siaüoifier,  ber  unfterbliche  ©hfmder  granfreidjS,  benuftte 
biefe  ©ntbecfuugen,  fowie  bie  ber  älteren  ßl)emifer  auf  eine 
höchft  fcharffinnige  SBeife : er  Dcrbanb  fie  mit  Dielen  eigenen  (Sr» 
fahrungen  unb  grünbete  barauf  eine  neue  chemifdje  Theorie, 
mit  welcher  er  bewies,  bah  «in  ©ld08'fton  überhaupt  nicht 

<296) 


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19 


gebe;  beäljalb  würbe  bie  £aooifierfd)e  J^eorie  bie  anti» 
Phlogiftifdfe  Jtjeorie  genannt. 

. Saooifiet  bemühte  ftcf>  ju  jeigett,  bafj  ohne  Sebenäluft  feine 
Verbrennung  ntöglic^  unb  baft  baS  Sßrobuft  einer  jeben  Verbrennung 
eine  Verbinbung  ber  brennbaren  ©ubftanj  mit  ber  wägbaren 
©runblage  ber  SebenSluft  fei,  bafj  alfo  bie  ©djwefel-,  bie  Stöhlen- 
fäure  jc.,  welche  burd)  Verbrennung  be£  Schwefels,  ber  Stöhle  u.  f.  tu. 
entfielen,  foldje  Sebensluft-Verbinbungen  barfteßen.  Gr  nannte 
baljer  bie  SebenSIuft  ©jpgen  (Ofhgenium),  ©auerprinjip  ober 
©auerftoff.  Gr  wie3  and)  burd)  fef)r  finnreidje  unb  genaue  Verfuge 
nach,  baff  ba8  SBaffer  aus  ©auerftoff  unb  ber  wägbaren  ©runb- 
läge  ber  brennbaren  Suft  befiele,  unb  nannte  ledere  baher 
$t)brogen  (§pbrogenium),  wafferbilbenben  ©toff  ober  SBafferftoff. 
Tie  oerfdjiebeneii  £uft<  ober  ©asSarten  erflärte  er  für  Ver* 
binbungen  ber  wägbaren  ©toffe  mit  einer  unwägbaren  SDtaterie, 
bie  er  mit  bem  SfluSbrud  „Calorique“,  SBärmeftoff,  beteidjnete. 
Tiefer  Sßärmeftoff,  ber  Sidjtftoff,  ber  ©auerftoff,  ber  SBafferftoff, 
ber  ©ticfftoff,  Schwefel,  Stoblenftoff,  bie  ©runblagen 

ber  Stohlenwafferftoffe,  Vorayfäure,  gtfufjfäure,  bie  Grbeit,  ber 
Stalf,  ba£  fRatron  bie  oerfdjiebenen  3)teta0e  waren  nun  bie  un- 
terlegten ©toffe,  unb  fo  fam  bie  Gfjemie  auf  einmal  ju  einer 
SJtenge  oon  Glementen,  beren  3al)l  fich  burd)  fpätere  Gnt. 
bedungen  immer  nodj  oermehrte.  ®ie  franjöfifc^e  fReoolution 
entriß  Saooifier  feinen  geiftreidjen  Arbeiten,  inbem  fie  ihn  im 
3af)re  1794  bem  Vlutgerüfte  überlieferte. 

2Bir  werben  halb  fefjen,  ob  Saooifier  ba8  fRedjt  hatte,  in 
feinem  SBerfe:  „Tie  elementaren  ©runblagen  ber  G^emie,  be- 
trachtet unter  neuen  ©efidjtäpunften  unb  auf  ©runb  ber  neueren 
Gntbedungen"  (Traite  elementaire  de  Chymie  presente5  sous  un 
ordre  nouveau  et  d’aprfcs  les  dtfeouvertes  modernes)  ju  fagen, 
bafj  ber  ©auerftoff  gleidjjeitig  oon  ihm,  Scheele  unb  fßrieftlep 
entbedt  würbe,  eine  Vehauptung,  gegen  welche  ißrieftlet)  proteftirte. 

2*  (2»7) 


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£ie  bemerfenäroertfjeften  c^emifc^en  Slrbeiten  Caüoifierö 
begannen  im  3afjre  1768,  al«  er,  27  3af)re  alt,  $um  SWitglieb 
ber  franpfifdjen  Slfabemie  ber  SEBiffenftfeaften  ermaßt  mürbe. 

3mei  3at)re  (pater  tritt  fiaooifier  mit  einer  felfr  mistigen 
Unterfucfeung  auf:  „lieber  bie  SDiöglit^feit  ober  richtiger  Un* 
möglicfefeit,  SEÖaffer  burdj  anfealtenbc«  ßrmärmen  in  ßrbe  ju 
oermanbeln."  $iefer  Serfudj,  ber  ein  fealbe«  3n^r  jur  oöfligen 
3Eurdjfüf|rung  in  SInfprud)  nafjm,  bernie«  mit  unmiberleglicfjer 
ftlarfjeit,  bafe  feine  SBerroanblung  oon  SBaffer  in  ßrbe  ftatt* 
gefunben  ffat.  $)ie  ÜÜienge  be«  SEBaffer«  £>atte  fid)  nic^t  nur 
nid)t  oerminbert,  fonbern  fogar  etma«  oermefjrt  burdj  bie  Sluf* 
löfung  eine«  Xljeil«  ber  garten  ©ubftanj,  meldje  fid)  in  iljr 
gelöft  featte;  bnfür  fjatte  ba«  ©efäfe,  in  meinem  ber  S3erfud)  ge- 
malt ronrbe,  ebenfooiel  im  ©emidjt  abgenommen.  ß«  ift 
merfmürbig,  bafe  fiaooifier  auf  biefem  SEBege  rcieber  bem  be- 
räumten fcfjmebifdjen  ßfeemifer  ©cfeeele  begegnete,  meldjer  eben- 
faß«  bie  Sefeauptung  auffteßte,  bafe  bie  Sermanblung  oon 
SEBaffer  in  ßrbe  unmöglich  fei.  fjreilidj  fam  ©cfjeele  ju  biefem 
©cfeluffe  burd)  bie  qualitatioe  Unterfudjung  be«  trotfenen  SRüd* 
ftanbe«  be«  SEBaffer«  nadf)  ber  Slbbampfung.  Snbem  er  biefen 
SRürfftanb  für  einen  Seftanbtfjeil  be«  jur  Slu«füfjrung  be«  ßj* 
perimente«  benufcten  @Ia«gefäfee«  f)ielt,  oergafe  er,  bafe  ®la« 
au«  $alf,  ©anb,  Süfalien  fjergefteßt  mirb,  b.  ff.  au«  eben 
benfelben  23eftanbtf)eilen,  au«  roeldjen  bie  ßrbe  jujamnten* 
gefegt  ift.  äJtan  fonnte  ben  ßrgebniffen  feiner  Unterfucfeung 
gegenüber  affo  behaupten,  bafe  Xran«mutation,  b.  f).  bie  $er* 
roanblung  oon  SEBaffer  in  ßrbe  ftattgefunben  fjabe.  ©egen  fiaooifier 
aber  liefe  fid)  fein  SEBiberfprud)  ergeben,  ba  beffen  Unter* 
fudjungen  aud)  quantitatio  Öeftätiguug  fanben.  — Cbroofel 
biefer  Serfudj  nidjt  jur  ßntbedung  be«  ©auerftoffe«  gefeört, 
glaubte  id)  bodj,  an  bemfelben  niefet  offne  meitere«  oorübergefjen 
3U  bürfen,  meil  er,  meiner  Sfnfid)t  nad),  al«  ©runblage  für  aüe 


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21 


weiteren  Unterf  Übungen  SanoifierS,  welche  er  ftetS  mit  ber 
SBage  in  ber  fpanb  ausfuhrte,  bient. 

©eit  Sanoifier  ift  bie  quantitatine  Veftimmung  oller  ©toffe 
eine  nothwenbige  gorberung  jeher  Untersuchung  geworben. 
3Bir  nerbanfen  biefem  Verfahren  bie  2Röglid)feit,  eine  SfontroHe 
über  bie  ©enauigfeit  eines  jeben  Verfud)e3  unb  jebeS  SRefuttateS 
ouSjuüben. 

^ür  Sanoifier  felbft  würbe  biefer  SKerfudE)  eine  fefte  ®runb> 
läge  aller  feiner  Weiteren  Untersuchungen,  ßunädjft  überzeugte 
er  fich,  bah  ber  ©toff  weber  nernichtet  wirb,  nodj  feine  Statur 
neränbert.  @r  erfannte  ferner,  bah  in  allen  möglichen  i|ko> 
jeffen,  bei  beneit  fcfjeinbar  bie  ßerftörung,  Vernichtung  ober 
Transmutation  beS  ©toffeS  nor  fich  gef)t,  biefer  ©toff  ftetS 
in  ben  ißrobutten  beS  ißrojeffeS  gefunbeu  unb  in  feiner  ur- 
sprünglichen fjorm  auSgefd)ieben  werben  fann,  Wenn  wätjrenb 
beS  VerfucheS  bie  nötige  Vorfidjt  nicht  auher  acht  gelaffen 
wirb.  3m  3ahre  1772  unterbreitete  Sanoifier  ber  Slfabetnie 
ber  SBiffenfchaften  ein  nerfiegelteS,  fchriftliche  ÜRittheilungen  ent- 
haltenbeS  ißacfet.  3n  biefen  SDtittheilimgen  fpricht  er  über  bie 
Vermehrung  beS  ©eroichtS  ber  3J?etade  beim  ©lüften  unb  behauptet, 
bah  bei  ber  Verwanblung  ber  äRetaQe  in  Stalfe  unb  ebenfalls  beim 
Vrennen  non  Sf*h°$Phor  unb  ©djwefel  bie  Verehrung  eine«  be- 
beutenben  Ihe>^  »on  Suft  ftattfinbet  unb  bah  &ei  ber  SHebuftion 
ber  metaßifchen  Äalfe  bie  Suft  fich  wieber  in  grober  Quantität 
auSfcheibet.  3m  3af)re  1774  ftelltc  er  einen  genaueren 
Verfuch  an,  — übrigens  nur  eine  SBieberholung  eine« 
bereits  anberthalb  Sa^rbjimbert  früher  non  bem  ?lpothefer  Vrun 
in  Vergerac  unb  fpäter  non  SHet)  unb  Vople  auSgefüf>rten 
VerfuchS. 

Sanoifier  fchüttete  in  eine  geräumige  SRetorte  ein  fleineS 
Quantum  metaüifcheS  ginn  »nn  beftimmtem  ©ewicht,  nerfchloh 
bie  SRetorte  noßfommen  bid)t  unb  beftimmte  bann  möglidjft 

(•J99) 


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22 


genau  mit  ber  2Bage  baS  ©emicf)t  be3  ganjen  Apparates,  farnt 
feinem  3»l)alt.  hierauf  er^i^te  er  bie  fRetorte  längere  3f<t 
fjinburd),  fo  bafj  ba3  3^nn  fc^molg  unb  fid}  aQmäljlidj  in  jo. 
genannte  3>mmfdje  (SSerbinbung  be£  ©auerftoffS  mit  bem 
c^emifc^en  ©(erneute  3^)  öermanbelte.  9}ad)betn  ber  Apparat 

geniigeitb  abgefüfjlt  mar,  unterjog  er  benfelben  mieber  einer 
SBägung  unb  fanb,  baß  fid)  ba3  ursprüngliche  ©emidjt,  trop 
ber  ftattgeljabten  Sßeränberung  be$  3'nne§  fogenannte  3>nn* 
afdje,  uicfjt  geäubert  hatte.  8113  er  aber  ben  Apparat 
öffnete,  bemerfte  er,  bafj  atmofpl)ärifd)e  Suft  in  bie  SRetorte 
einbrang.  ©r  unterzog  nun  ben  ganjen  Apparat  einer  jmeiten 
SBägung  unb  ftettte  feft,  bafj  eine  ®emitf)t8junal)me  ftatt» 
gefunben  hatte,  hierauf  mog  er  bie  fogenannte  3‘nnaf^e 
für  fich  aQein  unb  fanb  bei  bem  23ergleid)  ber  urfpriiitglicfjen 
©erpichte , bafj  bie  ©emidjtSjunafime  be3  3*nneg  ber  ©emic^t- 
junaljme,  mcldje  fich  au3  ber  jmeiten  SBägung  bc3  Apparates 
ergeben  hatte,  gleich  taar.  ®urdj  biefen  SSerfuch  tarn  Saooifier 
ju  ber  für  bie  ©fjemie  mistigen  Folgerung,  a)  bafj  ba8  metatlifdje 
3inn  beim  Uebergange  in  3innafdje  an  ©eroidjt  junimmt; 
b)  baj)  biefe  ©emid)t$junal)me  burd)  bie  SBerbinbuitg  be3  3*nng 
mit  einem  Seftanbtljeil  ber  atmofpl)ärifcf)en  Suft,  meiner  abforbirt 
mirb,  fjeroorgerufen  mirb. 

9Bie  ©djeele,  mar  je^t  auch  Sauoifier  auf  ©runb  feiner 
SBerfudje  überjeugt,  bafj  bie  Suft  au3  jmei  nerfdjiebenartigen 
©afen  beftejjt.  3nbem  er  fich  bie  ißrieftlepfdjen  ©rfaljruugen 
ju  nujje  machte,  badjte  er  an  einen  SBerfud),  ber  analptifd) 
unb  ftjntfjetifch  bie  Seftatibtljeile  ber  Suft  unb  ihre  quantitatmen 
93erhältniffe  nadjmeifen  unb  aurf)  bie  2Röglid)teit  geben  füllte, 
bie  ßigenfd)aften  ber  einjelnen  Seftanbtljeite  ju  unterfucfyeu. 

liefen  funbamentalen  Serfudj,  ben  Saüoifier  einigemale 
felbft  mieberfjolte  unb  üor  Slnberctt  au$füf)rte,  betreibt  er 
folgenbermafjeit : 

(300) 


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23 


,,3d)  nahm  einen  geräumigen  Kolben  mit  fe^r  langem  $alfe 
unb  bog  beufelben  fo,  bafe  er  fid)  nach  einer  ©eite  neigte  unb 
fein  Snbe  bie  |50rm  eine«  $ofen3  befam.  3uf  biefe  Sßeife 
fonnte  bie  SHetorte  felbft  in  beit  Ofen  gebracht  werben,  wäferenb 
ba«  umgebogene  Silbe  ihre«  $alfe«  unter  eine  ©la«glocfe  ge* 
fteüt  war,  bie  in  eine  Ouecffilberwanne  tauchte.  3n  ben  Kolben 
legte  idf  4 Ungen  feljr  reine«  Ouecffilber,  bann  gog  id)  mittelft 
eine«  ©iphon«  au«  ber  ®la«glocfe  etwa«  Suft  fjerau«,  fo  ba& 
ba«  Ouecffilber  gu  einer  ^ö^e  ftieg,  bie  ich  burcfe  Sluffleben 
eine«  ißapierftreifen«  begegnete.  3dj  machte  in  biefem  SDfoment 
eine  genaue  Seobadjtung  über  ben  ©tanb  be«  ^Barometer«  unb  be« 
Jhermometer«.  fttachbem  auf  biefe  SBeife  äße«  norbereitet  war, 
entgünbete  id)  im  Ofen  ein  geuer,  wellte«  idj  im  Saufe  non 
12  Jagen  immer  in  einer  ©tärfe  erhielt,  bafe  ba«  Ouecffilber  faft 
bi«  gum  ©iebepunfte  erwärmt  würbe.  Slm  erften  Jage  ereignete 
fiel)  nicht«  Sefonbere«.  Obwohl  ba«  Ouecffilber  nicht  fiebete,  ner* 
bunftete  e«  fortwäljrenb  unb  begann  ba«  innere  be«  Solben« 
mit  fleinen  Jröpfdjen  gu  bebecfen,  guerft  mit  fe^r  Meinen,  bie 
aber  mehr  unb  mehr  fid)  nergröfeerten,  bi«  fie  fdßiefjlid)  non  felbft 
feerunterfielen  unb  fid)  mit  ber  übrigen  SDiaffe  non  Ouecffilber 
wieber  nereinigten.  3m  gweiten  Jage  fal)  icf)  auf  ber  Oberfläche 
be«  Ouecffilber«  fchwimmenbe  rotfee  Jheilchen,  bie  fid)  bi«  gum 
fünften  Jage  an  3af)l  unb  ®röfee  oermehrten. 

„31«  ich  nach  3hlauf  non  12  Jagen  bemerfte,  baß  biefe 
Jheilchen  fich  nicht  weiter  oermehrten,  löfd)te  ich  ba«  geuer  au« 
unb  liefe  ba«  ®efäfe  abfühlen." 

„Jer  Umfang  ber  Suft  im  Äolbeu  unb  in  beffen  fjwlfe, 
fowie  in  bem  leeren  Jfeeil  ber  ©la«glocfe  war  unter  normalem 
Jrucf  unb  bei  normaler  Jemperatur  nor  Seginn  be«  SBerfucfee« 
= 50  SfubifgoII;  am  ©cfelufe  be«  SBerfucfee«,  bei  berfelben 
Jemperatur  unb  bemfelben  Jrucf,  war  ber  Umfang  ber  Suft 
= 42 — 43  Sfubifgoß.  3ch  fammelte  forgfältig  ba«  rotfee 

(301) 


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24 


©uloer,  baS  auf  bem  Cuedfilber  fchwamm,  trennte  eS  non  bem 
flüffigen  Cuedfilber  fo  gut  als  möglich  unb  wog  eS;  fein  ©ewicht 
war  45  ©ran. 

„$)ie  in  ber  ©focfe  jurüdgebliebene  Suft  hat  fidj  auf  V« 
ihres  urfpriinglicheu  Umfanget  oerminbert,  war  untauglich  ge- 
worben  für  baS  ätljmen  unb  unterhielt  nicht  baS  ©rennen. 
Ihicre,  welche  ich  in  biefe  üuft  ^ineinbradjte,  erftidten  fdjon 
nach  einigen  Sefunben,  unb  brennettbe  Äörper  oerlofdhen  äugen* 
blidlich,  al§  ob  ich  biefelben  in  SBaffer  tauchte.  ?lnbererfeits 
nahm  id)  bie  45  ©ran  beS  rothen  ißulöerS,  weldjeS  fich  beim 
<Jrf)if)cn  beS  OuedfilberS  gebilbet  fjatte,  unb  brachte  baSfelbe 
in  eine  Heine  ©laSretorte,  an  welche  ich  ©efäftf  jur  Aufnahme 
oon  flüffigen  unb  gasförmigen  Stoffen  angefügt  halte  " 

„3nbem  ich  biefe  SRetorte  erwärmte,  bemerfte  id),  bafj  bie 
ÜRaffe  beS  rothen  ißuloerS  juerft  bunfel  würbe,  unb  als  bie 
SHetorte  nahe  am  ©lühpunfte  ftanb,  in  berfelben  nichts  jurüd* 
geblieben  war;  in  ben  angefügten  ©efäjfen  aber  fanb  ich  411/* 
©ran  metaflifdjeS  Duedfilber  unb  7—8  ÄubifjoO  ©aS,  — ein 
©aS,  welches,  bebeutenb  ftärter,  als  bie  gewöhnliche  Suft,  baS 
©erbrennen  oon  Körpern  unb  baS  Slthmen  ber  $l)ifre  unter* 
ftüfcte." 

Saooifier  oereinigte  biefeS,  aus  bem  rothen  ’ißuloer  aus* 
gefchiebene  ©aS  mit  ber  in  ber  ©lode  nach  bem  @rf)i&en  beS 
duedfilber  jurütfgebliebencn  fiuft  unb  befam  ein,  ber  gewöhnlichen 
atmofpfjärifchen  üuft  ähnliches  ©emifd).  $uerft  nannte  er  baS  fo 
erhaltene  ©aS  „2uft,  bie  aujjerorbentlich  ftarf  baS  Slthmen  unter* 
ftüfct"  (eminemment  respirable),  fpäter  SebenSluft  (air  vital), 
bann  „principe  oxygene  “uttb  enblid)  gab  er  ihm  ben  richtigen 
SRainen  Oxygäne,  welken  er  aus  ben  griedjifchen  SBörtern 
o£vg  (oxys)  fauer  unb  ytvvata  (gennao  ich  eräuge)  ableitete, 
dagegen  nannte  er  ben  jtoeiten  gasartigen  ©eftanbtheil  ber  2uft 
Azot  (ßebenSberauber)  ebenfalls  eine  Ableitung  aus  bem 
©riechifdjen  (oon  „£»/;“  Sebeit  unb  berauben). 

(302) 


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25 


Der  Diame  ©auerftoff,  ber  bem  erfteren  ©afe  gegeben  würbe, 
war  bie  golge  einer  grünblicben  ©rwiigung  fiaooifierö:  mit 
biefem  ©Sorte  Wüßte  er  auf  bie  wichtige,  rein  cfjemifdje  ©igen* 
fefjaft  biefe«  neu  entbeeften  ©afe«  fpnweifen,  weld)e«  bie  ©igenfebaft 
befifct,  ba«  Stimmen  ju  unterftii|en  unb  t>on  welkem  ba«  £eben 
abhängig  ift.  Saüoifier  üermieb  burcf)  bie  neue  ©eaeidjnung  jebe 
Änfpielung  auf  bie  pbbfiologifcbett  Grigenfcfjaften  be«  ©afe«,  wie  er 
benn  aud)  ben  bureb  ©cbeelc  gegebenen  9iamen  „geuerluft"  oerwarf, 
bamit  ba«  SBort  geuer  au«  ber  3abl  ber  ©lemente,  ju  weiten  er 
©auerftoff,  ©tidftoff,  SSafferftoff,  Äoblenftoff,  Schwefel,  $^o«pt)or 
unb  bie  SMetaße  gejault  wiffen  Wüßte,  »erfdiwinben  möchte. 

Unterfud)en  wir  jejjt  bie  ©igenfebaften  be«  ©auerftoff«  unb 
feine  ©erwertfiung  für  bie  $wede  ber  menfcblidjen  ©ebürfniffe. 
Der  reine  ©auerftoff  finbet,  obfd)on  er  einen  wefentfidjen  ©e* 
ftanbttjeil  unzähliger  Körper  bilbet,  feiner  foftfpieligen  Dar* 
fteßung  falber,  nur  eine  befdjränfte  ©erwenbung. 

Der  ©auerftoff  ift  unter  gewöhnlichem  Drud  unb  bei  ge* 
wohnlicher  Temperatur  ga«förmig  unb  lägt  fid)  al«  fotdjer 
burcf)  feinen  ber  fünf  ©inne  bireft  wafjrnefjmen,  weil  er  Weber 
ftarbe,  nod)  ©erueb  noch  ©efe^maef  befifct. 

Da  er  1,108  fernerer  al«  atmofpf)ärifd)e  fiuft  unb  16,0 
mal  fernerer  al«  Söafferftoff  ift,  fantt  mau  iljn  au«  einem  ©e* 
fäfje  in  ein  anbere«  mit  £uft  gefüflte«  bringen  unb  feine  ©egen* 
wart  bureb  einen  glimmenben  ©pan  beweifen. 

Der  ©auerftoff  lägt  fid)  mit  £>ülfe  oon  ficilte  burd)  ftarfen 
Drud  ju  einer  glüffigfeit  jufntnmenpreffen  unb  oerbid)ten.  — 
fjür  fidi)  aflein  nirf)t  brennbar,  unterhält  unb  fteigert  er  bie 
Verbrennung  unter  großer  Sßärmeentroideluug;  er  ift  alfo  eine« 
ber  wefentlidjften  unb  wnentbe^rlicfjften  ÜJiittel,  um  eine  Ver- 
brennung überhaupt  ju  ftanbe  fommen  ju  laffen. 

©ntjünbete,  bi«  jum  ©lühett  erhi^te  ober  nur  glimmenbe 
fiörper,  wie  j.  ©.  glimmenbe«  £>olj,  glühenbe«  ©ifen,  entjünbeter 

(S03J 


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26 


^Jljoapfior,  brepnenber  Schwefel  brennen  in  reinem  ©auerftoffgaS 
hellleuchtenb  unb  lebhaft  mit  groffem  Sidjtglattj. 

@r  geht  mit  allen  chemifcheu  Elementen,  $luor  ausgenommen, 
meift  leidjt  chemifche  Serbinbungen  ein.  • 

©auerftoff  ift  wenig  löslich  in  2Baffer.  Sei  gewöhnlichem 
$rucf  abforbirt  baS  SBaffir  nur  3%  bem  Solumen  nach,  aber 
biefe  geringe  SJienge  ift  fdjoit  ^inreidjenb,  um  ba«  Sternen  ber 
gifche  im  SBaffet  ju  unterhalten ; ber  ©auerftoff  toirb  au«  ber 
£uft  ober  au«  bem  Sßaffer,  in  Welchem  er  gelöft  oorfjanbeu 
ift,  burd)  bie  SlthmungSorgane  »om  Slute  abforbirt,  bei  welchem 
Vorgänge  baS  bunfle  oenöfe  Slut  in  baS  rptf)e  arterielle 
übergeht. 

$er  im  Slut  burd)  bie  Slutförpercheu  ^urucfgehaltene 
©auerftoff  erzeugt  im  Organismus  djemifc^e  fJJro$effe,  bie  für 
bie  gortbauer  beS  Seben«  unb  bie  (Erhaltung  ber  SBärme  im 
Äörper  nothmenbig  finb.  deshalb  erftiden  fdjon  na<h  einigen 
©efunbeit  $h*ere/  welche  in  einen  9taum  gebracht  finb,  in  bem 
fein  freier  ©auerftoff  öorfjattben  ift.  dagegen  wirft  reiner 
©auerftoff,  furje  $eit  unb  in  nicht  aüju  großer  fDtenge  ein* 
geatljmet,  auf  ben  thierifchen  Organismus  anregenb.  Sei  größeren 
Duantitäten  treten  halb  Sranfheitsfhmptome  auf,  bie  mit  bem 
$obe  enbigen  fönnen. 

@S  ift  alfo  flar,  bafj  ber  ©auerftoff  in  ber  SDiebijin  mit 
gutem  ©rfolge  unb  jwar  in  folgenbett  fällen  angewenbet 
werben  fann: 

a)  Qu  (Sinathmungen  bei  Sergiftungen,  welche  burch  Auf- 
nahme oonStohlenfäuregaS,  ÄohlenojpbgaS,  ©chwefelwafferftoffgaS 
in  ben  Organismus  heroorgerufen  finb;  bei  Afphhjie  (©cheintob) 
nach  (ärftirfungSanfäKen,  wie  nach  Strangulation  (Srhüngen), 
(Srtrinfen,  nach  Shiuroformirungen  :c. 

b)  $ur  SBunbbehanblung  im  allgemeinen.  3tt  granfreich 
gefdhieht  feine  Serwenbung  in  ber  (£f)intrgie  berart,  baß  man 

(304) 


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27 


ba$  erfrcmftc  ©lieb  in  muffäfjttlidje  Kautfdjuffjiinen,  bie  beftänbig 
mit  ©auerftoff  gefiiflt  gehalten  werben  unb  innen  offen  finb, 
einfdjtiefct. 

Tie  ©erbinbuttg  be$  ©auerftoffeS  mit  anberen  Körpern 
gefdjiefjt  immer  unter  StuSfdjeibung  Don  SSärme  unb  fetjr  oft 
unter  SuSfdjeibung  Don  2id)t.  3e  rafdjer  bie  ©erbinbung  anberer 
Elemente  mit  ©auerftoff  Dor  fief»  get)t,  befto  lebhafter  entfielt  baS 
©rennen,  unb  befto  mef)r  SEBärme  unb  £id)t  wirb  ergeugt. 

3n  reinem  ©auerftoff  brennen  äße  Körper  mit  einem  oiel 
ftärferen  2id»tglang,  als  in  ber  Suft.  SDie  fiebljaftigfeit  biefeS 
2id)tglange$  unb  bie  fjotje  Temperatur  madjt  ber  ÜDtenfd)  ficf> 
in  Dielen  gälten  nutjbar. 

©3enn  man  in  einen  ©traffl  Don  ©Bafferftoff,  ber  burdf 
©auerftoff  angeblafett  wirb,  feuerfefte  Körper  tjineinbringt,  gum 
©eifpiel  Kal!,  SÖtagnefium  jc.,  fo  merben  biefelben  fo  glüfjenb, 
baB  fie  wie  bie  ©onne  leuchten. 

9?ad;  bem  tarnen  beS  (SrfinberS  trägt  biefeS  2id|t  bie 
©egeidjnung:  TrumonbS  fiidjt. 

SBeiter  wirb  ber  ©auerftoff  in  ber  fDictatlurgie  Dermcnbet, 
unb  gwar  gang  befonberS  gur  Srgielung  eines  Ijöfjeren  |)i&egrabe3 
bei  bem  ©dfntefgen  fermer  fdfmelgbarer  SDietaHe,  roie  g.  ©.  bcS 
ißlatinS,  beS  ©otbeS  :c.  unb  bei  bem  gur  gabrifation  fünftltc^er 
Sbelfteine  erforberfiefjen  ©dpelgen  ferner  fdjmelgbarer  ©taSflüffe. 
gerner  gur  ©erbefferung  ber  Siuft  in  ©erfammlungStofalen 
unb  in  Taudjergtoden,  fowie  aud)  gur  görberung  bcö  |>efe« 
mad)8tßumö  bei  ber  ißrefjfjefefabrifation. 

Dr.  ©refelb  fü^rt  ber  Üftaifdie,  worin  §efepilge  ausgefät 
finb,  Sauerftoff  gu,  woburcf)  bie  rafcf)e  ©ermetirung  ber  §efe< 
pilge  bebeutenb  geförbert  wirb. 

$118  Süfittet  gur  ©rgielung  einer  intenfioen  ©erbrennung, 
bgro.  größeren  |>ifce  wirb  ber  ©auerftoff  mittelft  ©ebläfe  in  bie 
flamme  ober  ba8  geuer  eines  bereits  brennenben  §eigmateriatS 

(305) 


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28 

eingebfafen  ober  mit  anbereit  an  ber  Suft  brennbaren  ©afen 
»ermißt,  bireft  terbrannt. 

3n  mehreren  ©rofjftäbten , tote  9?em-9)orf,  2öien,  ©rüffel, 
fjat  man  ju  geroerblid)en  ßroecfen  ©auerftoff  im  grojjen  nad)  bem 
®erfaf)ren  oon  Seffio  bu  ÜJ^ota^  in  ber  Seife  bargefteflt,  baj?  man 
87  ©emid)tStf)eile  Braunftein,  80  @emid)t«tl)eilc  Slefcnatron  unb 
1 6 @emid)t«tf)eile  Stupferojpb  unter  3ufiif>rung  ton  atmofpljärifdter 
fiuft  in  eifernen  Retorten  auf  450°  C.  erf)i$te  unb  ba«  ent= 
ftanbeite  manganfaure  Natrium  mittelft  Safferbampf  roieber  in 
SRanganojrpb,  ®e|natron  unb  ©auerftoff  gerfefcte. 

Surd)  ©rt)if}en  unb  @infüf>ren  neuer  atmofpf)arifdjer  2uft 
unb  barauf  folgenbe  gerfefcuitg  mürbe  bann  mieber  ton  neuem 
©auerftoff  gemonnen,  fo  bafe  burd)  fortgefefcte«  Siebenten  be« 
SBerfafiren«  grofje  SRengen  ton  ©auerftoff,  roeldje  j.  ®.  tor 
einigen  Sauren  in  9?em*^)orf  pro  Sag  850  Äubilmeter  betrugen, 
in  eifernen  Gplinbern  auf  20 — 30  atmofptyärifdjen  Srud  fotn- 
primirt,  bett  Äonfumenten  jugefii^rt  merben  fonnten.  Sa  fidj 
aber  trofc  ber  ©infad;f)eit  be«  Berfaljren«  ber  Sßrei«  immer  ttocf) 
auf  2 SD/arf  30  ißf.  pro  ftubifmeter  fteßte,  founte  bie  Snbuftrie 
fid)  biefe«  HeigtnitteH  nur  in  befcfyränftem  SRajjftab  bebietten. 

©ine  anbere  iRufcanmenbung  be§  ©auerftoff«  jur  ©rjietung 
t)ot)er  Semperatur  unb  befferer  91u«nu|ung  ber  Heizmaterialien 
fjat  fid)  in  neuerer  3eit  ©ingang  oerfcfjafft.  Siefelbe  befte^t 
barin,  baff  man  bie  ©ebläfe,  meldje  ein  ©emifcf)  ton  ge- 
pultertem  SRanganfuperoypb  (©ramiftein)  unb  fottz.  ©djmefel- 
fäure  enthalten,  terbinbet,  fo  baff  bie  ©ebläfeluft  burd}  ba« 
©auerftoffentmicfelungSgemifd)  l)inburd)gef)t  unb  babci  baS 
auftretenbe  ©auerftoffga«  jur  Neuerung  mit  fortleitet.  Sie 
baburd)  erzielten  ©rfparniffe  an  Heizmaterialien  foßen  20  bi« 
30%  betragen. 

Senn  ©auerftoff  in  Berbinbitng  mit  Safferftoff  tritt,  fo 
gefdjiefjt  bie  Bereinigung  momentan  mit  einer  ©jpfofiott,  bie  um  fo 

(306) 


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29 


ftärfer  ift,  als  baS  Berhältniß  bcr  beibett  ©afe  nätjer  ber  Pro- 
portion ift,  in  welcher  beibe  ®afe  SBaffer  bilben,  b.  h-  auf 
1 Bolumen  ©auerftoff  fommen  2 Bolumen  SGÖafferftoff.  Dasfelbe 
finbet  bei  ber  Bereinigung  oon  Suft  mit  SSafferftoff  ober  mit 
ÄohlenwafferftoffgaS  (5.  33.  Seucf)tgaS)  ftatt. 

Sine  folc^e  3J?ifc^ung  Reifet  Knallgas. 

Diefe  Sigenfdjaft  bient  jur  Srmittelung  ber  ©auerftoff- 
menge  in  ber  Suft.  2Kan  nimmt  eine  bicfe  ©faSröhre,  bie  an 
einem  Snbe  jugeft^motjen  unb  in  gleiche  Steile  geteilt  ift,  unb 
füllt  fie  mit  SBaffer.  gnbem  man  fte  bann  perft  in  ein  ©efäß 
mit  äBaffer  bringt,  führt  man  in  biefelbe  100  Bolumen  ber  p 
unterfuchenben  Suft  unb  bann  noch  50  Bolumen  3Bafferftoff 
ein.  2Benn  nun  anftatt  ber  150  Bolumen  nadf  ber  Sjplofion 
fidj  nur  67  Bolumen  ^erauäftetten,  fo  {fließt  man,  baß  in  ber 
gegebenen  SJlifchung  21  Bolumen  ©auerftoff  waren,  ta  aus 
berfelben  63  Bolumen  ausgetreten  finb,  oon  welchen  ein  Drittel 
bem  ©auerftoff,  jtoei  Drittel  bem  Söafferftoff  angef)örten.  Sin 
folcßer  Apparat  Reifet  Subiometer. 

SSenn  ber  ©auerftoff  eine  folc^e  Snergie  bei  feiner  Ber- 
einigung nach  oorhergeljenber  Srwärmung  ober  in  ber  ©luth  eines 
bremtbarcn  ßörperS  äußert,  fo  jeigt  er  biefe  Snergie  weniger 
bei  gewöhnlicher  Demperatur.  Unb  bennocfj  ift  eS  gelungen,  ben 
©auerftoff  p einem  ettergifchen  gaftor  p machen,  wenn  bie 
lejjtgenannte  Bebingung  befteht.  Ilm  bieS  p erreichen,  braucht  man 
nurburch  ben  ©auerftoff  eleftrifdje  gunfen  burchgehen  p laffen; 
ber  ©auerftoff  befommt  bann  einen  bem  Ph0!?pf)0r  unb  ©djwefel 
ähnlichen  ©etucf)  unb  einen  ©efdjmacf,  welcher  an  fitebfe  unb 
SCuftern  erinnert,  er  wirb  bitter  unb  h^fel  in  einem  folgert 
guftanbe  0pn  ober  aftioer  (fonbenfirter)  ©auerftoff.  SDian 
oerfteht  alfo  unter  Cpn  im  allgemeinen  eine  ätiotrope  SPlobifi* 
lation  beS  ©auerftoffeS,  b.  h-  gewöhnlichen  ©auerftoff,  welcher, 
burch  nähere  Slneinanberlagerung  ober  engere  Berbinbung  ber 

(»07) 


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30 


einzelnen  üttome  untere  inanber  offne  Slnwenbung  dou  Trucf  Der* 
bicfjtct,  anbere  @igcnfcf)aften  angenommen  hat- 

Tag  SBort  „C$on"  ift  abgeleitet  Don  bem  griedjifcfjen 
o£nv  (rieten).  Heber  bie  Silbunggweife  beg  aftiDen  ©auerftoff 
ober  beg  0zong  aug  Sltmofphärefauerftoff  lägt  ftd?  folgenbeg 
lagen. 

Turcf)  bie  (Jinwirftutg  ber  Steftrigität  auf  Stthmofphäre* 
fauerftoff,  beffen  Motefüte  aus  jmei  Sltmofphären  jufammen* 
gefegt  finb,  wirb  in  beit  Htomen  eine  Slnjie^unggfraft  erregt, 
bim.  bie  oorljanbene  fogenannte  djemifdje  Affinität  erhöht,  fo 
bafj  eine  bidjtere  Äneinanberfageruttg  ber  Sttome,  eine  $erbid)tung 
eintritt,  wobei  fiefj  3 Molefüte  Sltmofp^ärefauerftoff  = 3x2 
= 6 Sttome  zu  2 ÜJiotefüten  ©zon  Don  je  3 Sltomen  miteinanber 
oerbinben.  Tiefe  ^nficfjt,  welche  aflerbingg  wenig  mehr  alg  eine 
$hpott)efe  barfteüt,  ftügt  fich  auf  bie  fRefultate  Dieter  ejpert« 
mentetter  Unterfucfjungen,  welche  ergeben  ^aben,  bafj  bei  ber 
lleberfiitjnmg  beg  SttmofphärefauerftoffS  in  aftioen  ©auerftoff 
ober  ©zon  mittetft  ftitler  eleftrifcher  (Snttabungen  fic^  genau 
3 Sotumen  Sttmofpprefauerftoff  ju  2 Volumen  ©zon  Der- 
bitten,  bafj  fidf  atfo  3 zweiatomige  Sltmofphärefauerftoff« 
Motefiite  in  2 breiatomige  ©zowMolefiife  oerwanbeln,  unb  bag 
wieberuttt  bei  ber  Ueberfüfjrung  beg  Cjong  in  ‘ättnofpgäre* 
fauerftoff  mittetft  ©rhigen  genau  2 Volumen  ©zon  in  3 Sotumen 
fttmofphärefauerftoff  übergeben. 

Tag  ©zon  hat  im  allgemeinen  fotgenbe  ©igenfdjaften: 

1.  Unter  gewöhnlichem  Trucf  unb  gewöhnlicher  Temperatur 
ift  eg  gagförmig,  lägt  fich  aber  unter  einem  Trucf  oon  125 
Sttmofphären  bei  einer  §tbfüf)lung  auf  100°  C.  zu  eiuer  bunfet* 
inbigobtauen  gtiiffigfeit  fonbenfiren.  Tiefe  SBerbidjtung  ober 
Jtonbenfation  ift  mittetft  beg  oon  ^autefeuifle  unb  Shappuiä 
bargeftetlten  Slpparatg  auggefütjrt  worben. 

2.  3n  einer  ©djidjt  Don  1 Meter  Tiefe  betrachtet,  erfcheint 

(308) 


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31 


eS  unter  gewöhnlichem  Trude  ^itmnelblau,  mit  5—6  Sltrno- 
fpfjären  SDrucf  3ufammengeprefjt  inbigoblau.  — Stuf  biefe  Sigew 
fc^aften  hin  ^oben  einige  ÜKeteoroIogen  bie  jiemlidj  gewagte 
93ehauptung  aufgefteHt,  baß  bie  blaue  |)immelSfarbe  oon  bem 
Cjonge^alt  ber  2uft  ^errüfjre ! Toch  ift  man  oon  biefer  iöer* 
mut^ung  mieber  ganj  abgefommen. 

3.  (SS  fjat  einen  eigentümlichen  ©cruch  (nach  Knoblauch, 
©djmefel,  Ph0^0*  tc.),  reijt  eingeatfpnet  fjeftig  jum  $uften  unb 
wirft  fonjentrirt  eingeathmet  giftig.  ©0  fönnen  @rfticfungSfätte, 
welche  bei  einem  Silihfdjlag  in  gesoffenen  Räumen  oorfomnteu, 
burch  Cjonnergiftung  oerurfadjt  werben. 

4.  Sn  reinem  SBaffer  ift  eS  nur  wenig  löslich,  reich* 
lieber  aber  in  SBaffer,  bem  etwas  Cjalfäure  jugefefct  ift. 
Tiefe  (Srfcheinung  ift  oon  Seremin  in  Petersburg  beobachtet 
worben. 

5.  Sn  ber  SBärme  jerfe^t  fid)  baS  Cgon  leicht  oon  felbft, 

fo  bafj  eS  fich  !aum  länger  als  jwei  SBochen  unb  jwar  nur 
unter  ftetem  Perluft  aufbewahren  läfjt.  ©tarier  erhifct,  verfällt 
ber  fogenannte  aftioe  ©auerftoff  ober  baS  C3011  rafch  in 
Sltmofphärefauerftoff,  unb  eS  entfteljen  bann  aus  2 Polumeu  0301t 
3 Polumett  Sttmofphäref  auerftoff.  O3011  ojpbirt  fe^r  fchnell 

Pletalle,  bie  bei  gewöhnlicher  Temperatur  nicht  Ofpbirbar  finb, 
3.  P.  Ouedfilber;  organifche  ©ubftan3en  werben  burch  O3on 
gan3  serlegt,  b.  f).  oerbrennen  oollftänbig  ohne  glamtne,  ober 
werben  ofhbirt. 

Tiefe  ©igenfehaft  beS  0301t  ober  ber  03onif^en  Suft  benufjt 
man  für  praftifche  gwede,  fo  3.  93.  werben  unter  (Sinwirfung 
berfelben  Pflansenftoffe  unb  organifche  ©ubftan3eu  rafch  gebleicht, 
besw.  3erftört. 

Tie  fogenannte  Pafettbfeiche  ber  Seinwaub,  fowie  bas 
Gleichen  burch  91uSbreiten  auf  Pafen  unb  Pegicfjen  mit  SSaffer 
bei  (Sinwirfung  oon  ©onnenfeheiu  überhaupt,  beruht  auf  ber 

(309) 


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32 


(£inwirfung  oon  aftioem  ©auerftoff,  welcher  jum  I^eÜ  burch 
bag  Söadjgthum  beg  ©rafeg,  jum  J^eil  burch  bag  Ser- 
bampfen  beg  SSafferg  unter  (Sinwirfung  oon  Sonnenlicht  erzeugt 
wirb.  Snbeffen  hat  biefer  Sorgang  beg  Sleidjeng  oon  fieinewanb 
burch  ©inwirfung  beg  Cjon§  big  jejjt  eine  beftimmte  Söfung 
nodj  nicht  gefunbeit. 

Cjon  befreit  ben  ©piritug  oom  üblen  ©erucf)  unb  ©efchmad, 
inbem  er  bag  gufelöl  ojpbirt.  Sei  weiterer  ©inwirfung  beg 
Ojong  wirb  ber  ©piritug  in  Qfffigfäure  umgewanbelt. 

$iefe  fÄugführuttgen  werben  genügen,  bie  angeführten  Sei- 
fpiele  ber  Serwanbfung  beg  ©auerftoffeg  ju  erläutern. 

©amtliche  Seftanbtheile  ber  ung  umgebenben  2uft,  bes 
Skfferg,  ber  @rbe  unb  aller  auf  berfelben  lebenben  Siefen 
enthalten  ju  einem  guten  <£i)eih  freien  ober  mit  anberen 
©toffen  oerbunbenen  ©auerftoff.  3n  faft  allen  natürlichen 
unb  in  bern  größten  $1^  ber  fünftlich  heroor9e&rac$tcn  'pro- 
jeffe  ober  aller  berjenigen,  welche  eine  SBirfung  auf  unfer 
Sebeit  hoben,  fehen  wir  oerfdjiebene  Slrten  Oon  Cfpbation  ber 
Körper. 

Könnte  man  ben  ©auerftoff  wohlfeiler  herftellen,  unb  bahin 
geht  bag  ©treben  ber  praftifchen  (Sh^tnifcr , fo  würbe  berfclbe 
in  einem  weit  größerem  ÜÄaßftabe,  alg  bieder  gedieht,  jur 
Senufcung  gelangen.  211®  eineg  ber  beften  Verfahren  ber 
jüngften  3eit,  weicheg  eine  praftifche  Slnwenbung  oerfpricht,  muß 
bag  2)urchficfern  oon  ©auerftoff  burch  Kautfdjuf  bezeichnet 
werben,  Weil  babei  mehr  ©auerftoff  alg  Cjon  burchftrömt. 
Xurch  öftere  SBieberbolung  beg  Serfahreng  fann  man  einen  feljr 
reinen  ©auerftoff  erhalten.  2ftan  nennt  btefeg  ^erftellungg- 
oerfahren  „Sltmolpfe". 

(£g  barf  wohl  nicht  beftritten  werben,  baß  bie  dntbetfer 
eincg  ©toffeg,  welcher  eine  fo  wichtige  fRoQe  in  ber  Satur 
fpielt,  fich  ein  unfterblicheg  Serbienft  erworben  haben,  ja,  noch 

(MO) 


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33 


mefjr,  bie  iöebeutung  ber  ffintbecfung,  weldje  ade  unfere  begriffe 
über  bie  9iatur  iit  anbere  39afjnen  gelenft  f)at,  ergebt  biefelbe 
auf  bie  $öf)e  eine«  SSeltereigniffe«! 

Salb  nadj  feinem  funbamentalcn  33erfud)  fteHte  Sawoifier 
eine  gange  9Rci^e  ton  quantitatioen  Unterfudjungen  an.  ©r  »er» 
brannte  im  ©auerftoff,  ißboapßor,  ©cßwefel,  Koßle,  bereit  3bentität 
mit  bem  Diamant  er  feftftetlte,  unb  alle  bamat«  befamtten  ÜJietaHe, 
unb  beroie«  mit  öoUftänbiger  ©enauigfeit,  baß  in  allen  biefen 
fällen  eine  Serbinbung  ber  genannten  Körper  mit  ©auerftoff  ein* 
getreten  war.  Dabei  liefern  bie  nid)t  metaHifdjen  Körper,  welche 
ftcß  mit  einer  oerljältnißmäßig  größeren  Quantität  ©auerftoff 
oerbinben,  ©äuren,  bie  9Jietaöe,  Ka  Ife  ober  Ojpbc,  wie  er 
fxe  beffer  nannte.  ©leidjgeitig  fanb  tx  fpntßetifcf)  unb  ana* 
Iptifd)  al«  SBeftanbtßeile  be$  SBaffer«  SBafferftoff  unb  ©auer- 
ftoff, weSfjalb  er  eS  gu  ber  Steiße  ber  Cjcpbe  regnete. 

Die  ©ntbecfung  ber  elementaren  SSeftanbtßeile  organifdjer 
Körper  unb  ber  Qbentität  ber  Sltßmung  ber  Dßiere  mit  bem 
^rojeß  ber  SSerbrennuttg  war  ebenfalls  ba«  2öerf  fiaooifier«, 
melier  ficf)  folgenbe  SQorfteHung  über  ben  ©eftanb  ber  Körper 
bilbete: 

1.  ®S  egiftiren  einfache  Körper,  b.  ß.  Körper,  bie  man 
bi§  jeßt  mit  feinem  un«  befannten  erfahren  ßat  gerftören  unb 
jerlegen  fönnen.  Damit  befeitigte  er  ben  ©tauben  an  bie  Dran«* 
mutation  ber  Körper. 

2.  ©in  einfacher  Körper  ift  im  ftanbe,  ficß  mit  ©auerftoff 
in  beftimmten  SBerßältniffen  gu  oerbittben  unb  eine  ©äure  ober 
ein  Ojßb  gu  bifben. 

3.  Die  ©auren  oerbinben  fitf»  mit  ben  Ogtjben^unb  bifben 
Salgc. 

Diefe  auf  ber  ©ntbccfung  bes  ©auerftoff«  berußenben 
©runbfäße  ließen  fidß  fofort  auf  bie  SBerbinbung  aller  einfachen 
Körper  miteinanber  anwenben.  ©o  war  bie  neue  Dßeorie, 

Sammlung.  9?.  3-  V.  105.  3 (311) 


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34 


bie  antipfjlogiftifdje,  weld)e  alle  bamalS  befannten  d)emifd)eit 
©runbfäfce  im  93er^ältni§  gu  bett  fDiineraffubftangen  umfafjte, 
burd)  fiaooifier  begrünbet. 

fRad)  £aooifier$  ®orftetlung  Bereinigten  ficf»  bie  Stoffe 
paarweife,  g.  ©.  Derbanbcn  fid)  gwei  einfache  Äörper,  Sdjroefel 
unb  ©auerftoff  gu  ©djwefelfäure;  $inf  unb  ©auerftoff,  ebenfalls 
groei  einfache  Körper,  gu  ßütfojpb ; ©dfwefelfäure  mit  3infojt)b 
bilbete  ein  ©alg,  baS  fc^roefclfaure  ginfojrpb. 

2luS  biefer  Stnfid^t  bilbete  fid)  fpäter  bie  fogenannte  bua* 
liftifdfe  Theorie. 

So  lange  man  biefe  ?lnfid)t  auf  bie  jT^atfac^e,  ber 
^Bereinigung  allein  gurüdfüljrte,  fonute  man  bamals  unb  aud) 
jefct  nid)ts  gegen  biefelbe  eiitweitben,  ba  fie  fid)  auf  unwiber* 
legbare  unb  ungweifelljafte  SBerfucffe  begrünbet.  2113  man  aber 
biefe  §tnfid>t  auf  bie  SBertljeilung  ber  SE^eilc^cn  ber  einfachen 
©ubftangen  im  gufammengefe^ten  fiörper  erweitern  wollte,  fo 
fteQte  fief)  halb  bie  Unmöglidffeit  einer  ©rflärung  öieler  fReaftioneit 
heraus,  befonberS  wenn  organifdje  ©ubftangen  einer  genauen 
Unterfudfung  unterworfen  würben.  @3  entftanben  beS^alb  in 
ben  breifjiger  Sagten  biefeS  3al)rf)unbert3  anbere  2lnfid)ten  über 
beit  ©eftanb  ber  gufaminengefefcten  Äörper,  unb  e3  bilbete  fid) 
bie  fogenannte  „Unität3tl)eorie". 

fiebere  aber  beftritt  burdjauS  niefjt  bie  fRidjtigfeit  ber 
Quantität  ber  ©lementc  nad)  CaooifierS  ©rflärung,  fonbern  fie 
wollte  nur  auf  ©runb  neuentbedter  fHeattionen  unb  tljeoretijdjer 
©rwägungen  bie  ©ruppirung  ber  S^eilc^en  ber  ©lemente  ber 
gufammengcfefcten  ttörper,  b.  Ij.  ihren  inneren  S0au,  in  baS  rechte 
£id)t  gerüeft  wiffen. 

SBenit  wir  bie  begriffe  über  ben  Söeftanb  ber  Störper, 
welche  bie  Vorgänger  SaooifterS  Ratten,  mit  beffen  ®d)luf)* 
fofgerungen  Dergleichen,  fo  finb  wir  geneigt,  jene  mit  Slinber« 
lallen  unb  SiinglingSträumen  in  SSergleidj  gu  fefccn , biefe 

(312) 


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35 


aber  als  bie  oernünftigen  SSorte  eines  reifen  SJianneS 
hinsufteßen. 

SBofjer  ftammten  beim  jene  taufenbjährigen  ©erirrungen 
eines  StriftoteteS,  ©eber,  ©acon,  ©alenthtuS,  ißaracetfuS, 
Hnbr.  SibaüiuS,  ©tauber,  ©ecfjer,  ©taht,  ©obre  unb  fchliefjlid) 
Gaoenbifh,  ©rieftlet)  unb  ©cheete,  — ber  erften  ÜJZäniter  ifjrer 
3eit  ? 

@3  ift  bem  menfdflichen  ©eifte  nicht  »er gönnt,  bie  erften 
Urfacfjen  ber  (Srfcheinungen  nach  bereit  SSefen  311  erfennen;  er  ift 
nur  im  ftanbe  unb  nur  auf  ©runb  be$  ©erfud)eS,  bie  SIb* 
fjängigfeit  einer  @rfcf)ciuung  oon  einer  anbereit  ju  ftubiren,  b.  h- 
er  oermag  bie  SinheitSoertjättniffe  ju  ergrünben  unb,  inbent  er 
eine  ganje  Bfeilje  foldjer  ©erhättniffe  oereinigt,  bie  ©efefje  biefer 
©erhättniffe  p entbeden,  ©efefce,  welche  aber  auch  anbere  un- 
befannte  ©lieber  p finben  geftatten.  SebeSntal,  wenn  ber  tnenfdj* 
liehe  ©eift  eine  für  if)it  ungeeignete  Slrbeit  anfängt,  b.  f).  luenn 
er  fpefutatio  bie  Urfadfe  ber  Urfadjen  ju  ergrünben  unb  if)r 
ma^reS  SBefen  p erfennen  ftrebt,  entfernt  er  fid)  oon  ber 
SBafprfjeit.  Stubirt  er  bagegen  bie  tt)atfäd)tid)en  unb  feinen 
©innen  jugättglicfjen  ©ertjättniffe  jioifdjen  ben  (Sr Meinungen  unb 
ift  er  bemüht,  benfefbett  getoiffermafjen  nur  nachsufpüren,  um  fid) 
nicht  oon  ihnen  täufdjen  ju  taffen,  fo  fte^t  er  auf  bem  eigent- 
lichen ©oben  ber  SBatjrfieit.  ®aS  jeigt  fiel)  am  ffarften  an  ber 
©ntbedung  beS  ©auerftoffS  unb  ben  barauf  gefügten  Segriffen 
über  ben  ©eftanb  ber  Äörper.  Sßie  fugten  bie  otten  ©Seifen 
bie  grage  über  ben  ©eftanb  ber  Störper  p beantworten?  ©ie 
pf)ilofopf)irten,  aber  fie  arbeiteten  nicht  an  biefer  Stufgabe,  ©ie 
gaben  fid)  nicht  bie  SJiühe,  bie  Statur  311  oerhören,  eS  intereffirte 
fie  nicht,  3U  erforfcheit,  roeShatb  in  einem  gaüe  ihnen  bie  ©rbe 
unb  baS  geucr  9J?etnß,  in  einem  anberen  gafle  £f)on  liefert. 
Sie  fd)äfcten  bie  ins  einseine  gehenben  Unterfuchungen  gering, 
tiertrauten  bagegen,  inbem  fie  aßcS  nur  oberflächlich  betrachteten, 

3*  (313) 


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36 


i^ren  ©innen  allein  unb  brücfteit  nur  beit  ©inbrud,  melden  bie 
in  ber  9latur  norhanbenen  Körper  auf  fie  malten,  gan$  all« 
gemein  au§. 

$ie  Äldjemiften  unb  Sfatrodjemiften  ftanben  auf  äf)nlid)en 
©tanbpunften,  fie  ftellten  fid)  bie  Aufgabe,  baS  SBefentliche,  bie 
Urfadje  ju  entbecfen  unb  Derförperten  biefe  begriffe  im  Lapis 
philosophorum  unb  im  2ebeu8elijir.  Sie  fugten  ba8  Sticht« 

ejiftirenbe. 

3nbent  fie  ihren  f$potl)etifd)en  Sorftelluttgett  folgten,  fdjufen 
fie  SDtpthen  neuer  ©ubftanjen:  ©chmefel,  Ouecfftlber  unb  ©alj. 
Ratten  fie  fid)  nun  mit  biefen  SorfteHungen  begnügt  unb  mären  fie 
auf  ben  ©ebanfeit  gefommen,  beren  Stidjtigteit  ju  prüfen,  fo  Ratten 
fie  fich  jweifelloä  balb  oon  iljren  ^ppothefen  loSgefagt,  aber  $um 
Uitglüd  entftanb  bei  ihnen  nod)  eine  neue  Sorftellung  über 
reinen  unb  unreinen  ©chmefel  unb  Guedfilber.  3118  ob  bie  oor« 
fteflbarc  Unreinheit  ber  Äörper  mit  beren  Söefc^affen^eit  nid)  18 
gemein  hätte  1 ©ie  fonnten  aber  feinb  pofitioen  Serljältniffe 
jroifthen  ben  ©rfdjeinungen  ermitteln,  traten  aber  biefe  Ser- 
hältniffe  ohne  ihr  3uthun  ihnen  öor  klugen,  fo  erblidten  fte  in 
ben  d)emi{chen  fReaftionen  Slflegorien  unb  fchufen  fich  allerlei 
Phantaftifdje  Silber,  ft.  S.  einen  rotljen  3)rad)en,  ber  feinen 
©thmanj  oerjehrt,  ober  bie  §odjfteit8feier  beä.üRetallS  mit  ber 
©äure  u.  a.  m. 

Stoch  mehr  aber,  al3  burch  bie  Sorftellung  folcher  §irn- 
gefpinftc,  mürbe  bie  ©rfenntnifj  ber  SBahrljeit  ben  Älchemiften 
burch  bie  ©eheimnifjfrämerei  unb  Serborgenheit  ihrer  Unter« 
fuchutigen  unmöglich  gemacht.  Sou  ber  SRitmirfuug  über» 
trbifdjer  Kräfte  bei  ihren  Arbeiten  überjeugt,  glaubten  fie  ben 
©chleier  be8  ©eljeimniffeS  nicht  entbehren  ftu  bürfen. 

©ine  folche  3titfchauung  fonttte  bie  ©rlenntnifj  nicht  auf» 
fommen  laffen,  bah  einzig  unb  allein  bie  SReaftion,  melche  bei 
ibentifdjen  Sebiitgungen  burch  jeben  anbereit  Äörper,  unb  jmar 

(314) 


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37 


in  bemfelben  quantitativen  iinb  qualitativen  SBerbältnif?  hervor* 
gerufen  werben  faitn,  als  unantaftbare  23eftätigung  für  bie 
Sidjtigfeit  ber  gu  unterfudjenben  @rfd)einung  bient. 

Sogar  bann,  als  bie  Sfjemie  fc^on  ihre  wahre  wiffen* 
fdjaftlicbe  Stiftung  eingefchlagcn  batte,  fomtte  man  fid^  von  ben 
f)t)potf)etifcf)en  SBorfteöungen  nod)  nicht  gänjlicf)  foSfagen,  inbem  man 
g.  3.  baS  Urfäc^lic^e  beS  geuerS  noch  immer  auf  baS  ^^logifton 
juriicffü^rte.  SBeldjer  ©egenfafc  gwifdfen  biefeit  Änfcbauungen 
uub  benen  SavoifierS!  Sefcterer  fümmerte  fiel)  wenig  um  baS 
Urfäd)lid)e  beS  geuerS.  C^ne  SBoreingenommenbeit  fteflte  er 
einfach  bie  grage,  waS  für  eine  Schiebung  bat  baS  treuer,  ober 
richtiger  bie  SBärme,  gum  SBaffer  ? — verwanbelt  fie  auch  nur 
ein  2bf't<hen  beSfelben  in  Gerbe  ? SDie  Antwort  ift  ein  fategorifdjeS 
Sein!  @r  erbitte  bis  gum  ©lüben  ein  Stüd  Sietall  in  ber 
Suft,  fcblofc  Sietall  unb  £uft  in  ein  ©efafj  unb  fragt,  ob  fid) 
bie  Cualität  nnb  Quantität  beiber  veränbert  bat.  $ie  Antwort, 
welche  er  erhält,  läfjt  an  Älarbeit  nichts  31t  wünfcbett  übrig. 

@r  verbrennt  Äoble  unb  Sßafferftoff  im  ©auerftoff,  unter* 
fucbt  bie  fßrobufte  ber  SSerbrertnung  unb  unterfucbt  auch  bie 
ißrobufte  ber  fNtbmung.  911S  ©rgebnifj  fteßt  fid)  bie  3bentität 
beiber  öerbrennungSprobufte  heraus.  @r  unterfudjt  bie  SSärme 
in  beiben  fßrogeffen,  finbet  fie  nicht  nach  ber  Energie  ihrer  ?luS* 
fcbeibung,  fonberit  nach  ber  Quantität  proportional  ben  bilbenben 
^robuften  unb  erfennt  ihre  3bentität. 

9luS  allem  ©efagtett  leuchtet  ein,  warum  Savoifier  bie 
gleichartigen  Arbeiten  feiner  3eitgenoffen  nicht  beachtete  unb  in 
feinen  9lngeigen  barüber  ftillfdjmeigenb  hinweggegangen  ift,  ein 
Umftanb,  welcher  ihm  gum  ©orwurf  angeredjnet  ift.  @r  war 
fich  eben  bewufjt,  felbft  auf  einem  feften  ©oben  gu  fteben,  ber 
ihn  in  bie  Sage  brachte,  feiner  Sntbedung  Sebeutung  jit 
geben,  fie  in  bie  Seihen  anberer  Xbatfadjen  gu  ftellen  unb  aus 
allebent  eine  richtige  Schlußfolgerung  gu  gieben,  wäbrenb  feine 

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38 


Konfurrenten  bie  oon  ihnen  entbecften  Sdjotfochen  nicht  au«- 
beuteten,  fonbern  ber  ihrer  ÜJieinung  nad)  unfehlbaren  bamaligen 
Jljeorie  als  weiteres  ©lieb  einer  Kette  anreihten.  • 

Sit  feinen  Reflexions  sur  le  phlogistique  (Slbljanblung  über 
^hloflifton),  erfchicnett  im  3atjre  1777,  fprirfjt  er  fic^,  wie  folgt, 
über  bie  abgelebte  $heor‘e  auS: 

„Unb  wenn  in  ber  Chemie  fid)  aUe£  befriebigenb  ohne 
^ßh^ogifton  erllären  läfjt,  fo  ift  beSbjalb  burchauS  wahrfdjeinlich, 
ba§  biefer  Begriff  gar  nicht  ejiftirt,  baff  er  tielmehr  nur  eine 
hhpothetifdje  Borftellung,  eine  unnüfce  Bermutf)ung  ift  (sup- 
position  gratuite),  welche  in  ben  ißringipieit  ber  gefunben  Sogif 
bie  $ahl  ^er  Borftellungen  ohne  Bothwenbigfcit  oermehrt.  3<h 
fönute  midj  oieKeidjt  mit  biefer  ncgatioen  Behauptung  begnügen 
unb  mit  bem  Beweife  juf  rieben  fein,  bah  man  fich  oicl  beffcr 
Bcchenfdjaft  über  bie  djemifthen  ©rfcheinungen  ohne  ^ß^togifton 
geben  fann.  öS  ift  aber  bie  ^ödjfte  3eit,  bah  ich  mich  über 
biefe  Stnficht,  bie  ich  'n  ^er  Sljemie  als  eine  oerberbliche  Ber» 
irrung  betrachte,  eine  Berirrung,  welche  bie  gortfchritte  biefer 
SBiffenfdjaft  bebeuteitb  aufgehalten  hoi/  heutiger  unb  förmlicher 
ausfpreche." 

3itbeffen  fonnte  man  ja  entgegnen : wenn  auch  bie  ^J^fogifton» 
tljeorie  falfcf»  war,  fo  hoben  boch  ©djeele  uttb  Sßrieftlep  Sin» 
beutungen  gegeben,  biefelben  Unterfuchungen  auSjuführett  uub 
biefelben  Befultate,  wie  fiaooifier,  $u  befommen.  greilid)  ift  cS 
unmöglich,  nicht  nur  bei  folchcn  Berühmtheiten,  Wie  ©cheele  unb 
Brieftletj,  fonbern  bei  oiel  befchcibenevcn  Kämpfern  ber  SBiffenfdjaft 
Ihotfadjen  ju  beftreiten  unb  Sinologien  in  ben  örfcheinungen  ju 
entberfen;  aud)  bie  ^8hIo9ifionl|eorie  war  eben  beSljalb  eine 
wiffenfchaftlicfje , weil  fie  eine  ganje  Bei(je  oon  analogen  ör« 
fcheinungeti  beobachtet  unb  jufammengefteflt  hot.  Bertaufcheu 
wir  nur  baS  SBort  phlogiftiren  mit  rebujiren  unb  baS  Söort 
bephlogiftiren  mit  ojhbiren,  unb  bie  gan^e  Beihe  oon  <hemifd)en 

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39 


grflärungen  ber  öorhergehenben  ^ßeriobe  »Derben  in  quali« 
tatioer  ©ejiebung  richtig  fein!  9iun  wirb  biefe  eine  Schiebung 
aber  nicht  ben  Slnfprüchen  ber  SEBiffenfdjaft  gerecht! 

3n  ber  quantitatiDen  Unterfuchung,  in  bereit  9)iöglid)feit 
unb  in  ber  gäf)igfeit,  aus  berfelben  richtige  ©djlüffe  ju  gieren, 
befielt  baä  SBerbienft  SaöoifierS  unb  jugleich  auch  ber  Triumph 
ber  tbeoretifcben  Stnfdjnuungen,  gegrünbet  auf  genaue  üBerfudje, 
nicht  auf  Spfjilofop^iren,  nicf|t  auf  oberflädjlidjeS  ^Beobachten. 

Würbe  ein  £eid)te3  fein,  ^ier  eine  ganje  Steife  »on 
^Berichten  fiaooifierS  ju  nennen,  mit  ber  ^Bezeichnung  beä  3abre£ 
ihrer  ©rfdjeinung,  aber  ich  benfe,  ^wertmäßiger  ju  ^anbeln, 
wenn  ich  auf  bie  tiotlftänbige  SIu§gabe  ber  „Oeuvres  Lavoisier“, 
bie  baä  franjöfifdje  SultuSminifterium  1862  veröffentlicht  ^at, 
öerweife.  SMefeS  SEBerf  läßt  fid)  mit  großem  Sntereffe  unb 
ÜRufcen  burd)fefen. 

3cb  möchte  nod)  ^injufiigen,  baß  Saöoifier  feit  bem  3a^re 
1764,  b.  f).  feit  ber  ßeit,  nl8  er  bie  wiffenfd)aftliche  93af)n 
betreten  ^at,  bis  ju  feinem  gewattfamen  2obe  im  3«bre  1794, 
fiebjig  SBeridjte  über  feine  Arbeiten  veröffentlichte  unb  eine  neue, 
oon  i^m  begrünbete  ßf)emie  üerfaßte. 

(£§  fonnte  nid)t  auSbleiben,  baß  bie  neue  Sefjre  ßavoifier« 
vielfach  angefeinbet  würbe,  unb  zwar  gerabe  »on  ben  größten 
Gbemifern  unb  ^ßfipfifern  jener  $eit,  »pie  j.  *8.  ÜKafyer,  SBobrne, 
SReaumur,  ^rieftletj,  Scheele  unb  anberen. 

Slber  fo  ftarf  war  bie  Äraft  ber  SEBaßr^eit  unb  ber  unab* 
wenbbaren  Sogif  ber  Schlußfolgerungen,  baß  Siaooifier  15  3af)re 
nad)  feiner  (Sntbedung  bie  ©enugtljnung  hatte,  feine  Sbeen 
oon  allen  feinen  $eitgenoffen  geteilt  ju  fefjen.  ©eine  £ef)re, 
als  biejenige  einer  neuen  unb  ooMommen  fruchtbaren  9tid)tung, 
biente  nunmehr  nicht  nur  als  ©runblage  für  baS  ©tubium  ber 
ßfjewie,  fonberu  bilbete  auch  einen  nicht  unwefentlichen  göftor 
bei  ber  SBefcbäftigung  mit  ben  fRaturwiffenfdjaften  im  allgemeinen. 

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40 


Unb  in  ber  $hat,  bie  ©ntbecfung  folc^er  2Ba£»r^eiteu,  wie 
bie  Ungerftörbarfeit  ber  9Raterie  bei  allen  cßemifchen  Opera- 
tionen, bie  ©rfenntniß  ber  Unmöglichfeit,  baß  bei  einem  cfjemifcfien 
'jBrogeß  irgenb  ein  Stoff  geraffen  werbe,  welcher  nicht  un- 
mittelbar  an  ber  SReaftion  tfjeilffat,  ferner  bie  geftftellung 
eine«  fo  einfachen  ©efeße«,  baß  in  allen  @rfcf)einungen,  bei 
welken  eine  Zunahme  an  ©ewicht  oorfommt,  eine  ^Bereinigung, 
unb  bei  folgen,  wo  eine  Abnahme  an  ©ewicht  eintritt,  eine 
gerfeßung  unb  3lu«fcheibung  ftattfinben  muß,  fcßließtich  bie  Slrt 
ber  Unterfudjung  felbft,  begrünbet  auf  ba«  ©ewicht  unb  ÜRaß, 
ba«  alle«  gab  bem  menfd)lid)en  ©eiftc  nicf)t  nur  einen  außer- 
gewöhnlichen Stoß,  ber  fein  Sntereffe  wecfte,  fonbern  gab 
ber  Sh«mie  neue«  Sieben  unb  würbe  SBeranlaffung,  baß  biefe 
2Biffenf<haft,  felbftänbig  eingreifenb,  fich  gu  einem  ber  umfang- 
reichfteu  unb  niißlichften  gweige  ^er  menfchlichen  Senntniffe 
entwideln  fonnte. 

Sogar  bie  theoretifchen  SBorftellungen  fiaooifier«  über  ben 
Seftanb  ber  Körper  bienten  ber  Söiffenfchaft  in  h^oorragenber 
Söeife.  3ch  fagte  früher,  baß  nach  ber  Meinung  Saooifier«  unb 
feiner  Slithänger  eine  ©äure,  um  ein  ©alg  gu  bi  Iben,  fich 
nur  mit  bem  Cjtjbe  eine«  SRetafl«  oereinigen  föitne.  3nbeffeit 
ejiftirten  Sllfalien  (ttali  unb  Patron),  gewöhnlicher  Äalf,  SBarpt  zc., 
bie  bie  größte  SBerwanbtßhaft  mit  ben  ©äuren  geigten,  unb  hoch 
würbe  in  ihnen  ber  metaHifdhe  $h£rt  wit^t  entbecft.  gaft  SRie- 
manb  aber  gweifelte,  baß  fie,  ber  Sinologie  nach,  SRetaHofßbe 
feien.  Unb  wirtlich  *ra  erften  ®ecenitium  biefe«  Saßrhunbert« 
gelang  e«  bem  erften  englifcßen  ©hent^er/  unb  Slnberen  au« 
ihnen  bie  SRetalle  Kalium,  SRatrium,  ßalcium,  Sarpum  zc.  au«gu> 
fcßeibeit  unb  gu  beweifen,  baß  ber  gweite  Seftanbtheil  ©auerftoff  ift. 

Später  war  bie  ©ntbecfung  neuer  einfacher  ftörper  nicht 
mehr  mit  ©chwierigfeiten  oerbunbeit,  fonbern  nur  ©achc  be« 

3ufaH«.  ©elangten  wenig  in  ber  iRatur  oerbreitete  ©ubftaugen 

(»18> 


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41 


unb  SJiineralien  in  bie  .jpänbe  eines  richtigen  ßljemiferS,  jo  war 
bereu  ßntbecfung  fieser. 

£en  ©runbfäßen,  bie  Caooifier  in  ber  SBiffenfdjaft  feft= 
[teilte,  »erbanMe  befonberS  bie  aualptijche  ßhemie,  b.  h-  bie  Swift, 
gujatnmengefeßte  Subftangen  in  ißre  ©eftanbtljeile  gu  gerlcgeu, 
ihre  ßntwicfelung;  beim,  jo  lehrte  Saooifier,  jo  lange  als  bie 
Summe  ber  ®ewid)te  aller  gefunbeiten  Stoffe  ber  unterfudjten 
Subftang  nicht  gleich  bem  ©ewichte  ber  ganzen  Subftang  ift, 
fann  unb  barf  ber  gorjchungSeifer  beS  ßhemiferS  nicht  raften. 

ffiS  ift  Mar,  baß  ich  nur  einen  gang  Meinen  Umriß  jener 
SBirfung,  welche  bie  ßntbedung  ßaooifierS  auf  bie  gortfehritte 
unb  ßntroideluttg  ber  ßhemie  bjatte,  geben  fonnte;  wollte  id) 
ausführlicher  werben,  jo  wäre  ich  gelungen,  einen  Söeridjt  über 
baSjenige  gu  geben,  was  bie  Slnljänger  unb  Nachfolger  fiaöoifierS 
thaten.  [für  einen  jolchen  ©ericht  fann  als  ßeitfaben  baS 
»ielbänbige  Maffifdje  SGöerf  ooit  ©ergeliuS  bienen.  ©ergeliuS  war 
einer  ber  größten  ßhemifet  biefeS  3ahrhunbertS  bis  gum  3ahrc 
1848,  ber  in  SaooifierS  [Richtung  arbeitete  unb  ber  als  lejjter 
unb  mächtigfter  Kämpfer  für  bie  bualiftifche  Theorie  gilt. 

25aS  gaMijche  feiner  umfangreichen  Arbeit,  bie  bie  Kräfte 
eines  gewöhnlichen  SJfenfchen  weit  überfteigt,  bleibt  unbeftritten, 
unb  bie  Kritif,  welche  ©ergeliuS  an  ben  neuen  Sbeen,  bie  in 
ben  breißiger  Sahren  anftaudjten,  übte,  war  öielleicht  baS  befte, 
anregenbfte  ÜRittel,  um  neue  Strafte,  neue  Kämpfer  ber  ßhemie 
guguführen,  Kämpfer,  welche  fid)  auf  bem  fruchtbaren  ©oben 
beS  ©erjucheS  bewegten,  aber  nicht  ihre  mit  ©hii°f°Phiren/ 
ober  wie  ©ergeliuS  fich  anSbritcfte , mit  wiffenjchaftlidjen 
Spetulationen  oergeubeten. 

Chne  bie  ©erbienfte  unjerer  3eitgenoffen  auch  nur  um  baS 
©eringfte  jchmälem  gu  wollen,  muß  man  rücfhaltloS  auSfprechen, 
baß  burch  ben  großen  gorfcher  fiaöoifier  utijere  Söifjenjchaft 
eine  neue  ©eftalt  angenommen  hat,  unb  baß  bie  neuere  ßhemie 

* (319) 


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42 


nur  eine  itothwenbige  gofge  t>er  ihr  oon  Saöoifier  ju  ©runbe 
gefegten  ©ntbeefung  ift. 

Saooifier  ift  eS,  ber  ber  ©hemie  einen  ftreng  wiffenfchaftlichen 
©harafter  gab! 

Befdjäftigen  wir  un«  jefct  mit  ber  Bebeutuitg,  welche  feine 
©ntbeefung  auf  ben  gortfcf)ritt  anberer  gweige  ber  933tffcnfcf)aft 
geübt  hat. 

©iner  ber  berühmteren  ©hemifer,  Siebig,  oerglirf)  ba« 
Stubium  ber  iKaturroiffenfc^aftcn  mit  einer  Beife  in  wenig  be* 
fannten  Säubern.  „$>ie  Beobachtung  über  Oertlicfjfeiten  unb 
über  bie  ©Meinungen  be«  äußeren  ScbenS  in  biefen  Säubern 
fann,"  fo  fiitjrt  er  au«,  „aßerbingS  gemacht  werben  ohne 
Äenntnifj  ber  Sprache  biefeS  Sattbe«  unb  ift  matt  im  ftanbe, 
über  baSfelbe  eine  mehr  ober  weniger  richtige  Borfteflung  ju 
geben,  aber  nur  ^Derjenige  ift  im  ftanbe  aßcS  ju  oerftehen,  roa« 
er  in  biefem  Sanbe  gefehen,  ber  bie  Sprache  ber  ©inwoljner 
biefe«  Sanbe«  fennt."  3)ie  Sprache  ber  9iatur,  im  Bergfexe 
Siebig«,  ift  baSjenige,  wa«  fo  recht  eigentlich  für  ben  Bereich 
ber  CS^emie  ©eftung  hat. 

2)entt  wahrlich,  welche  Sprache  rebet  oerftäitbficher,  af« 
biejenige  ber  Batur,  wenn  fie  un«  Slutwort  ertheift  über  ben 
inneren  3ufamntenhang  ber  ftörper.  ' 4?ängt  bodj  »on  biefem 
bie  9Jtebrf)eit  ber  Üfiaturerfcheiitungen  ab.  25ie  2f  nt  wort  wirb 
eine  um  fo  ooßfommenere  fein,  je  mehr  un«  ber  Beweis  möglich 
ift,  bah  eine  Berättberung  ber  Beftanbtheife  beS  Körper«,  bie 
an  einer  ©rfcheimtng  theifnahmen  ftattgefunben  ober  nicht  ftatt- 
gefunben  hat. 

Saooifier  fann  im  Bejug  auf  biefe  Sprache  ber  Batur 
afS  ©ntbeefer  bes  SB©  betrachtet  werben;  er  erfanb  ein  chemifcheS 
?lfphabet,  in  wefchem  bie  Saute  burcf)  einfache  Äörper  erfe&t 
finb.  ®ie  Borgänger  Saooifier«  muhten  fich  mit  fcfjwer 
feferfichett  ^ierogltjpfjett  behelfen.  ÜJfein  Bergleich  macht  er* 

(S20) 


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43 


flärlitb,  warum  feit  Üauoifier  in  bem  ©ttdje  ber  9iatur  be- 
beutenb  meßr  gelcjcn  unb  geformt  worben  ift,  als  in  ben  oor« 
bergebenben  Saljrtaufenben. 

Unter  ben  SBiffenfdjaften,  welche  aus  ber  oon  fiaooifier 
gegebenen  ^Richtung  9iubeu  gog,  war  bie  erfte  bie  — 

Saooifier,  welker  ficf)  mit  ber  SBiberleguttg  ber  $bIo8'^on’ 
XfKorie  unb  ber  ülufftellung  einer  neueren  SSerbrennungStbeorie 
befcbäftigte,  mußte  fid)  auch  naturgemäß  mit  ber  SBärme  be- 
jcbäftigen  unb  genaue  üRetßoben  gu  itjrer  ÜReffung  finben. 

2>ie  Maffifdjen  ©erfuche  in  biefer  fRidjtung,  bie  oon  fiaplace 
unb  fiaooifier  auSgefüßrt  würben,  unb  bie  oon  ihnen  oor- 
geftblagenen  SRetboben  gur  ÜReffung  ber  SBärme  finb  3ebem  gur 
genüge  befannt.  Quantitatioe  Unterfucbungen  waren  übrigens 
ber  Sßbbfif  nidR  neu. 

3b*e  Sntwitfelung  bauptfädjlid)  ben  Slrbeiten  ber  Stftrouomie 
unb  ber  2Ratf)ematif  oerbanfenb,  würbe  bie  fßbbftf  fcfjon  in  ber 
ÜRitte  beS  fiebgebntett  3a^rfjunbert§  auf  biefe  ©alpt  gelenft.  ®er 
Sortbeil,  welchen  ibr  bie  neue  SRidjtung  brachte,  geigte  fidj  be- 
fonberS  barin,  baß  oiele,  biö^er  gewiffermaßen  für  bie  Sßbbfif 
tobte,  mathematifche  ©roßen  jeßt  Sinn  unb  ©ebeutung  ge- 
wannen, wie  g.  SB.  bie  Tabelle  ber  fpegififcßen  SBärme  ber 
Äörper.  ?lußerbem  aber  lieferten  bie  neu  entbedten  einfachen 
unb  gufammengefeßten  Körper  ein  reiches  SRaterial  gur  ©r« 
gängung  ber  phpfifalifcßen  Unterfuchung  unb  ber  ©rflärttng 
tieler  ©rfcßeinungen.  SRan  fann  mit  großer  ©eftimmtbeit  be» 
baupteu,  baß  ohne  fiaüoifierS  ©ntbedung  ber  gu  ©eginn  unfereS 
Sahrßunberts  entbedte  ©aloaniSmuS  fcbwerlidj  fo  halb  bie 
richtige  ©rflärung  feiner  ©rfcbeinungen,  unter  beiten  befanntlicb 
oiele  cßemifcher  SRatur  finb,  erhalten  haben  würbe. 

Seit  fiaooifier  geben  beibe  Söiffcnfdjaften , tS^emie  unb 
fbbß»,  §attb  in  $anb.  äöir  fönnen  uns  feinen  ©bemifer  yor- 
fteüen,  ber  bei  feinen  Arbeiten  nicht  immer  wieber  phhfifalifche 

1321) 


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44 


Uiuerfudjungen  gu  |)ülfe  nimmt;  ober  auch  ber  ber  bei 

bem  ©tubium  ber  phhfifalifchen  (Erfdjeinuitgen  ftetä  ben  ©eftanb 
be3  gu  uitterfudjenbeu  ftörperä  fennett  muß,  fjat  bie  (Erfahrungen 
ber  SJjemie  gu  entlehnen. 

3)ie  (Entbecfung  unb  ba£  ©tubium  be$  gufammenhangeg 
jwiphen  ber  djemifcfjeu  Natur  ber  iiörper  unb  ihren  phhfifa- 
lifchen  Nierfmalen  hat  nicht  nur  bie  genannten  beiben  SSiffen» 
fdfaften  um  eine  grofje  Slngafp  wichtiger  X^atfachen  bereichert, 
fonbern  biente  auch  tu  ber  lebten  3e*t  ben  Slftronomen  gur  (Er* 
forfdjung  unb  Veftimmung  ber  3u?ammenfehung  ber  |>immelg- 
förper.  2)en  größten  3)anf  unter  aßen  Naturwiffenfdfaften  hot 
aber  bie  Nftneralogie  ber  neuen  Chemie  abguftatten.  ©eit 
ßaooifier  ift  eä  möglich  geworben,  burch  eine  genaue  djemifche 
Slnalpfe  bie  Natur  jebeS  2Jiineral3  gu  beftimmen  unb  auf 
biefe  ©eftimmung  eine  genaue  SUaffißfation  in  biefer  SSiffen- 
fdfaft  gu  grünben.  $aben  auch  bie  ©otanif,  bie  30°t°9ie  unb 
ißhPfiofogie  mit  ber  Slnatomie  ber  neuen  Shemie  feine  SUafpp* 
fation,  wie  bie  SRineralogie,  gu  uerbanfen,  fo  hQt  bemtoch  bie 
(Entbecfung  be3  ©auerftoffä  auch  h'er  einen  nterfwürbigcn  Um- 
fchwung  in  ben  beftehenbcn  Slnfchauungen  heroorgerufen. 

SSir  wiffen,  bafi  fchon  fßrieftfeh  einen  3ufammcnhang 
gwijchen  Iljieren  unb  Spangen  erfannte,  inbern  er  nachwieg, 
baff  bie  burch  bie  Sltljmung  ber  3:h*erc  »erborbene  ßuft  burdf 
bie  fßPangen  wieber  in  ßuft  umgewanbelt  wirb,  bie  fähig  ift, 
baS  thierifche  ßebeit  gu  unterhalten. 

ßaooifier  fanb  bie  ooUfommene  Sinologie  ber  Slthmung 
mit  ber  Verbrennung  unb  erfannte  in  ber  erfteren  bie  Cuelle 
ber  thierifchen  SSarme. 

3)ie  Nachfolger  ßaooifierS  unterfud)ten  bie  terfchiebeneu 
©eftanbtheile  ber  Spangen  unb  Spiere  unb  erflärteit  bie  gunf- 
tionen  ber  oerfdjiebenen  Organe  unb  ber  in  benfelben  ficfj 
bewegenbeit  glüffigf  eiten;  infolge  biefer  (Erflärungeu  mufften  bie 

(322) 


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9Jaturforfcßer  aDmößlicß  oon  ber  $ßeoric  ber  SiebenSfraft  gurüd* 
treten.  @3  ift  bie$  als  ein  Umftanb  oon  großer  SBicßtigfeit  gu 
begeießneu.  3>enn  wäßrenb  man  früher  ftetS  beftrebt  mar,  einen 
unbeftimmten  Segriff,  wie  bie  üebenSfraft,  in  bie  SBiffenfcßaft 
eingufüßrett,  fonnten  jeßt  bie  ©eleßrten  bie  ftetS  rege  Sietigier 
bei  ©eifteS  bureß  baS  ©ebürfniß  einer  genauen  gorfeßung  be- 
liebigen, — einer  gorfdjung,  welche,  wie  ade  anberen,  oon  ber 
Seränberung  ber  eßemifeßen  nnb  pßßfifaliftßen  ©igenfeßaften 
ber  ben  Seftanb  beS  Organismus  bilbenben  ÜJiaterie  auSging. 
Serfucßett  wir,  baS  ©efagte  bureß  ein  SBeifpiel  gu  erflären:  2>er 
roefentlicße,  ber  größte  $ßeil  beS  fjolgeS  befteßt  aus  .ftolgftoff. 
@o  lange  man  feine  gufammenfeßuttg  nid)t  fannte,  lag  bie 
Innaßme  naße,  baß  bie  SebenSfraft  bem  fpolg  mit  ipiilfe  beS 
tBobenS,  ber  flfeucßtigfeit  unb  ber  Suft  gugefüßrt  werbe.  Iber 
als  bie  ßßemie  entbedte,  baß  ber  fpolgftoff  aus  einer  beftimmten 
Cuantität  oon  Äoßlenftoff  unb  (Elementen  beS  SBafferS  befteßt  als 
fte  gegeigt  ßat,  baß  bie  ftetS  in  ber  £uft  oorßanbene  Äoßlenfäure 
unter  ber  Söirfung  beS  ©onnenlidjteS  in  ben  grünen  S£ßeilen  ber 
ißflangen  in  ißre  S3eftanbtßeile  Äoßlenftoff  unb  ©auerftoff  gerfeßt 
wirb,  wobei  ber  ©auerftoff  in  bie  Itmofpßäre  guriidfeßrt  unb  ber 
Äoßlcnftoff  in  ber  ^ßflange  bleibt;  als  mau  enblidj  quantitativ 
beftimmte,  baß  bie  Sßflange  gerabe  fo  oiel  ©emid)t3gunaßme  er* 
fäßrt,  als  auS  bem  ßoßlenftoff  ber  Stoßtenfäure  organifeße  ©ubftang 
gebilbet  worben  ift,  unb  bie  gleicße  SJZenge  ©auerftoff  in  bie  Itmo* 
fpßäre  gurücfgefeßrt,  als  bie  oon  ber  Sßflange  oerfcßluttgene  Stoßlen* 
fäure  entßielt,  würbe  eS  ftar,  baß  ber  ißrogeß  ber  Silbung  beS  £jolg* 
ftoffeS  gang  einfaeß  auf  einem  eßemifeßen  Sorgauge  berußen  muß. 
lud)  bie  SJtebigin  fteßt  gur  ßßemie  in  gleicher  ©egießung,  wenn 
fid)  nueß  biefe  beiben  SBiffenfcßaften  niemals  toicber  in  eine  oer* 
fdjmelgen  werben,  wie  eS  gur  3eit  ber  3atrocßemie  ber  galt 
toar.  2)ie  Srfaßrungeit  ber  SUfebigin  werben  aber  ftetS  bie 
ffortfeßritte  ber  (Sßemie  im  gewiffen  ©ittne  rechtfertigen  unb 


46 


beeinflußen.  £en  entfcfjiebenften  ginfluß  inbeffen  übte  bie  neuere 
©Ifemie  auf  bie  Secßnif  au?. 

gg  ift  hinlänglich  befaitnt,  baß  nicht  nur  jebeg  Material, 
meldjeg,  in  eine  aitbere  ©eftalt  umgearbeitet,  einem  beftimmten 
$roede  bienen  fotl,  fonbern  auch  bie  ©eminmntg  beg  SRaterialg 
im  roßen  .ßuftanbe  felbft  eine  gerftüdelung,  ^ertßeilung, 
Steinigung  uitb  äEjnlic^e  Cperationen  erforbert;  bieg  gefdjießt 
ftetS  entmeber  burcß  bie  mecßanifche  Straft  ber  fjänbe  unb 
SRafdjinen  ober  burdß  chemifcße  ^ßrogeffe.  25aß  mit  ber  Snt- 
bedang  öieler  neuer  Körper  unb  i^rer  gigenfdßaften  bie  $ecßnif 
burcß  Diele  neue  ^jerfteHunggoerfaßren  unb  burd)  Verootl- 
fommnung  ber  ejiftirenben  bereichert  metben  fonnte,  ift  felbft- 
»erftänblicß.  Söilbete  ftcß  hoch  fogar  ein  eigener  3lDe*0  ^er 
Sttbuftrie  unter  bem  tarnen:  bie  djemifdie  3nbuftrie. 

Stieben  mir  aber  alle  biefe  Verbienfte  beifeite  unb  beiden 
mir  ung,  baß  bag  immer  madjfenbe  unb  nie  gufriebcngufteHenbe 
Vebiirfniß  im  3D£enfc^en  nach  neuen,  beffereu  ober  billigeren  $ro- 
buften  ohne  gutßun  ber  S^emie  bie  Srfinbungggabc  angeregt 
habe,  fo  muffen  mir  hoch  gefteßcn,  baß  bie  ©eminnfucßt  allein 
nid)t  im  ftanbe  getoefen  märe,  bag  gu  geben,  mag  bie  heutige 
rationelle  Xechnif  auggeicßnet  unb  mag  bicfelbe  nur  ber  ©nt- 
bcduttg  Saöoificrg  oerbanft,  — nämlich  bie  SJtöglicßfeit,  fich  über 
bie  Vorgänge  in  ben  gur  Verarbeitung  gelangenben  Stoffen 
roährcnb  ber  Verarbeitung  Stedjenfcßaft  gu  geben. 

$er  ßanbmirtß  ift  im  ftanbe,  mittelft  chemifdjer  Unter- 
fuchungen  bie  gufammenfeßung  feines  Vobcng  oor  unb  nach 
ber  Srnte  gu  beftimmen  unb  herauggufittbeit,  mag  berfelbe  burch 
bie  Sfultur  einer  gemiffen  Sßflange  berloren  hat;  er  erfährt  auch 
bie  Qualität  unb  Quantität  beg  Vießfutterg,  melcheg  er  gu 
beftimmten  3medeu  gießt. 

3)er  ÜDtetaHurge  meiß,  melcße  Quantität  er  aug  einem 
gegebenen  ©emießt  ©rg  erhalten  fann;  er  fann  beftimmen,  mo 

'324) 


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47 

unb  warum  ein  Verluft  ftattgefunben  ^at  unb  wie  berfelbc  in 
ber  »ermiebett  ober  nicht  »ermiebett  werben  fann. 

Seber  gabrifant  fantt  im  »orauS  roiffert,  wie  »iel  für  feine 
3wecfe  brauchbare  Stoffe  im  gegebenen  Sötaterial  »orhanben 
finb,  roaS  er  in  ben  Stücfftänben  oerliert  uub  ob  eS  ber  SDtiihe 
werth  ift,  biefelben  einer  erneuten  Verarbeitung  gu  untergeben 
ober  nicht. 

Schließlich  föttnen  aller  Slrten  ber  techttifchen  Vetriebe, 
unb  jwar  auf  ©runb  ber  Verfudje  »on  ßaooifier,  im  woraus 
wiffen,  wie  »iel  SBärme  ihnen  bie«  ober  jenes  §ei$material  geben 
wirb  unb  wie  oiet  fiuft  man  bemfelben  jur  ©rjielung  guter 
Verbrennung  $ufüf)ren  muß.  Sitte  bicfe  fünfte  bilben  bie 
©runblage  einer  rationellen  Decfjnif,  b.  h-  einer  folgen,  bie 
im  ftanbe  ift,  im  weiteften  Sinne  Stedjenfchaft  über  ihre  Vr0‘ 
bufte  ju  geben. 

SOteine  Darlegungen  geben  mir  wohl  baS  Stecht,  feinen 
SBiberfpruch  feiten«  meiner  ßefer  fürchten  $u  müffen,  wenn  ich 
behaupte,  baß  bie  (Sntbecfung  be«  Sauerftoffe«  nidjt  nur  ber 
SBiffenfchaft  angehört,  fonbern  ein  Söeltereigniß  bebeutet.  Sßäre 
bie  ©ntbecfung  nur  oott  wiffetifchaftlichem  SSerthe  geblieben,  fo 
hätte  ich  bie  ruhmooOen  Stamen  »on  ^ßrieftlep  unb  Scheele 
»oranfteöen  müffen;  bagu  aber  f)\dt  ich  wich  nicht  berechtigt, 
bemt  bie  miffenfdjaftlich  werthöoHe  ©ntbecfung  be«  Sauer- 
ftoff«  gewann  erft  ihre  eigentliche  Vebeutung  bitrch  ba«  ©enie 
be«  großen  ßawoifier. 


(32S) 


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Bas 

©eutfdic  IMkslirix 


©in  Vortrag, 

gehalten  im  beutfcfyen  ©pracfjoerein  ju  Snnäbrud 
am  7.  Satiuar  1889 

Don 

g.  39adurneIT 

in  ClnnMiruit. 


Hamburg. 

ScrlagdanftaU  unb  ®rucferci  (toormatö  3-  5-  icijtcr;. 

1890. 


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J>a$  {Recfit  bcr  Ueberfe$ung  in  frcmbe  Spradjen  wirb  oorbeljalten. 


Jrmf  btt  'getlagianftaU  unb  Xvutftrti  Sctirn-#ff{Hid)aft 
(normal»  3’  8-  Sidjttr)  in  fynnbiiifl. 


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«iBolfSpoefie,  ©olfSbidjtung,  ©olfsiieb:1  ba#  finb  ©ejeich« 
nungen,  welche  häufig  gebraucht,  ober  feiten  richtig  unb  im 
eigentlichen  ©inne  be#  ©orte#  oerftanben  werben.  @S  wirb 
baber  angejeigt  fein,  junächft  über  bie  Sntftehung  unb  ba# 
Seien  be#  ©olfSliebe#  Raubein;  bann  erft  ben  ©lief  ju 
werfen  auf  bie  (Sntwicfelung  be#  ©olfSliebe#  unb  auf  bie  ©e« 
beutung  beSf eiben  in  nuferer  Sitteratur. 

Schlagen  wir  in  einer  Sitteraturgefchichte  ober  in  einer 
^oetif  nach,  wa#  ein  ©olfsiieb  fei  unb  wie  eS  entftehe,  fo  finben 
wir  gewöhnlich  Definitionen  wie  bie  folgenben:  „©olfsiieb  ift 
ein  unmittelbare#  Srjeugnife  be#  ©olfeS"  (©öbefe,  Sitteratur» 
gefchichte)  ober:  „©olf Stieb  ift  (Sigenthum  unb  Srgufj  einer 
ganzen  Station"  (ßarriöre,  ©oefie).  SJtan  merft  fofort,  bajj 
folche  Definitionen  feine  ©rflärungen  finb,  fonbern  nur  Um» 
ithreibungeit;  bettn  nach  wie  oor  bleibt  bie  5ra9e  offen ; wie 
lann  eine  gro&e  ©efamtfjeit , ein  ©olf,  eine  Station  ein  Sieb 
abfaffen?  SDfit  einer  Definition  ift  h**r  überhaupt  nicht#  ju 
erreichen,  wir  miiffen  einen  anberen  SBeg  auffuchen.  Den  be* 
quemften  unb  flarften  Sinblicf  würben  wir  gewinnen,  wenn  e# 
möglich  wäre,  bie  @ntftef)ung#weife  eine#  ©olfStiebe#  noch  in 
ber  lebenbigen  ©egenwart,  gleichfam  oor  unferen  Singen  ju 
oerfolgen. 

Sammlung.  ».  g.  V.  10«.  1*  (»29) 


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4 


2>aS  ift  in  ber  If)at  möglich-  ©dpn  OScar  «Schabe  hat 
(3ßeimarifd)eS  3ahr&u<$  III,  263)  nachgewiefen,  wie  baS  1781 
gebid)tete  fc^öne  Sieb  planier  @d)mibt’S  „£>ier  id)  auf  fRofett 
mit  Veildjen  befränjt"  non  Vauern  in  ber  Umgebung  SBeimarS 
gefnngen  unb  umgeftaltet  worben  ift.  ©inen  anbcren  nod) 
Diel  näher  liegenbeu  Veleg  bietet  $.  ©teinthal  (SSölfcr* 
pftjchologie  XI.,  1 ff.)  @r  bezieht  fid)  auf  baS  befannte  ©ebicht 
UhlanbS: 


Ter  gute  ftamerab. 


3d)  balt’  «tuen  fiameroben, 

©inen  belfern  finbft  bu  nitt. 

Tie  Trommel  fdjlug  jurn  Streite, 
©r  ging  an  meiner  Seite 
3u  gleichem  Sdjritt  unb  Tritt. 


©ine  Sugcl  fam  geflogen: 
©ilt'ö  ntir  ober  gilt  ei  bir? 
3b"  b«t  e3  toeggerifjen, 

©r  liegt  mir  Dor  ben  tjrüfjen, 
StB  toär'S  ein  Stürf  oon  mir. 


«Bia  mir  bie  £>anb  nocf;  rcictien, 
Tietoeil  id)  eben  lob': 

Monn  bir  bie  £>anb  uid)t  geben, 
331eib  bu  im  cro'gen  Sebcn 
üRein  guter  Üamerabl 


$aS  ©ebid^t  befi£t  einen  allgemein  oerftänblic^en  Inhalt: 
greunbfdjaft  bis  jum  $obe  unb  barüber  hinaus  bis  ins  ewige 
Seben.  @S  hat  bie  einfadjfte  ©tilform  ber  ©r^ählung,  welche 
ohne  oermittelnbe  Uebergänge  Söilb  um  Vilb  an  uns  oorüber* 
führt,  fo  baß  wir  ben  ganzen  Hergang  mit  ben  8lugen  beS 
©eifteS  flauen.  $>ie  Sprache  ift  einfach,  War,  fdjlidjt,  mit 
fRebewenbungen  aus  ber  täglichen  UntgangSfprache  burd)fe|jt. 
©infad)  unb  angenehm  ins  ©ehör  faüenb  ift  auch  ba$  ®erSmaß 
unb  bie  ©ingweife.  Scber,  ber  baS  ©ebicht  Icfen  ober  fingen 
hört,  oerfteht  cS,  ber  ©ebilbete  fowohl  wie  ber  einfache  SDiann 
auö  beni  Volfe.  $aS  Sieb  befifct  bie  Vebingungen  ju  einer 
weiten  Verbreitung  unb  hat  bicfelbe  auch  wirfiid)  gefunben. 
©in  folcheS  Sieb  nennen  wir  öolfSthiimlid);  aber  cS  ift  noch 
fein  VolfSlieb. 

C3;m» 


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D 


2>ie  UeberlieferungStoeife  best  ©ebichtcS  ift  eine  hoppelte. 
3n  ben  gebilbeten  Streifen  toirb  eä  iibertoiegenb  burd)  ben 
5Drud  oerbreitet:  burch  UtjlanbS  SSerfe,  burd)  Sefebiidjer,  burd) 
©efangbiicher  u.  f.  io.;  in  ben  ©oltsfdjichten  bagegett  burcb  bag 
353ort:  b»ier  finbet  lebenbige  Ueberliefernng  Don  üüiunb  ju  9©unb 
ftatt.  (Jitter  f)at  c3  fingen  hören;  e3  gefiel  ifjui  uttb  beS^alb 
fang  er  eä  nad).  ©on  biefent  tjörten  eS  Slnbere  unb  fangen  e3 
tuieber  nad)  unb  fo  fort  unb  fort. 

2>iefe  oerfcffiebene  HeberlieferungStoeife  jie^t  merftoürbige 
folgen  nad)  fid).  ©ei  ber  ntünblirfjett  Ueberlieferuttg  be$  ©olfeS 
beibt  bie  ©ingtoeife  mit  bcm  Jejte  oerbuttbett,  beibe  bilbett  eine 
©inbeit  unb  tuerbett  als  foldfe  übermittelt.  2)a3  ©olf  recitirt 
unb  beflamirt  nid)t,  eS  fingt  nur;  ba^er  fpricfjt  eS  aud)  nid)t 
Don  einem  „©ebicht",  fottbern  Don  einem  „Sieb"  ober  „©fangl". 
3m  $rude  bagegett  ift  bie  ©ingtoeife  meift  gar  nicht  oorbanben 
in  ben  gebilbeten  Streifen  toirb  inebr  gelefen  unb  gefprodjen  als 
gefungen.  — Umgefebrt  beiuabrt  ber  £rud  getoöf)nIid)  bie 
Ueberfcbrift  be$  ©ebic^teiS  („2>er  gute  Stamerab")  unb  ben  ©amen 
beS  £id)ter$;  bie  münblid)e  lieber lieferung  bagegen  beibe3nicf)t: 
in  ben  ©olfäfdjicbten  roirb  baS  ©ebicbt  alSbalb  ein  namenlofeS 
unb  b«nrenlofeS  ©ut.  ülber  noch  ein  anberer  llnterfd)ieb  ergiebt 
ficb  unb  ber  ift  ber  toidjtigfte.  3)er  25rud  bewahrt  ben  $ejt 
beS  ©ebid)te3  ziemlich  getreu;  eS  fd)leid)en  fid)  f)örf)ften«  ©ah* 
oerfehett  ein,  bie  früher  ober  fpäter  immer  roieber  befeitigt 
toerben.  ®en  3Jiitte(punft  ber  Ueberliefernng  bilbet  b*er  baS 
bebrudte  leblofe  ©apier,  unb  ba$  fann  nichts  ättbertt.  ©attj 
anberS  ©erhält  e$  fich  bei  ber  oolfSmäfjigen  Srabition:  ihr 
2Kittelpunft  ift  ba£  ©ebächtnijj  aller  3ener,  welche  baS  ©ebicht 
fennen  unb  fingen.  ®ie  X^ätigfeit  beS  ©ebäcf)tniffe3  aber  toirb 
begleitet  oott  ber  S£^ätigfeit  ber  ^5^antafie  unb  beä  ®efüf)l$, 
toefche  forttoährcnb  oeräitbernb  unb  umgeftaltenb  eintoirfen. 

©o  ift  bcnn  in  ber  $f)Qt  nachweisbar , bafj  HblonbS 

(331) 


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6 


„©uter  Äamerab"  im  VoltSmunbe  fid)  bereits  oeränbert.  hat 
ifkof.  Steinthal  berietet  o.  q.  0.,  wie  er  baS  Sieb  oon  einem 
$iettftmäbcf)en  habe  fingen  hören:  bie  britte  ©tropfe  fang  cS  gar 
nicht;  bie  anberen  beiben  hatten  mancherlei  Veränberungen,  bie 
fid)  bei  genauerer  ^Betrachtung  als  wirtliche  Verbefferuttgen  er» 
weifen,  ©o  fang  eS  in  ber  jweiten  ©trophe:  „2)ie  Äuget  fam 
geflogen".  SDie  Volfsfängerin  fejjte  atfo  baS  beftimmte  ©ubjeft 
für  baS  unbeftimmte  unb  jwar  fonfeguent  nicht  nur  in  biefem, 
fonbent  aud)  in  ben  fotgenben  Verfen  („3h«  hQt  fie",  ftatt 
,,3h«  h«t  eS"  u.  f.  w.);  baS  ift  oiet  genauer,  wefentjafter, 
lebenbiger,  aufchaulicher.  ISbenfo  gelungen  ift  ber  Umgujj  beS 
jweiten  VerfeS,  ber  bei  ihr  lautete:  „@ilt  fie  mir?  ©ilt  fie  bir?" 
®ie  jwei  turjen  gleichgebauten  fragen  briicten  beutlich  bie  ftofjeitbe 
Slngft  beS  beobachtenben  ©olbaten  aus,  unb  bie  ißaufe  in  bet 
3Ritte  malt  ben  fchrecflichen  Vlugeitblid  beS  athemlofen  f>in» 
ftarrenS,  auf  wen  bie  Äuget  einbringe,  ob  auf  ihn  ober  auf 
feinen  greunb.  Sfticht  weniger  gut  finb  bie  Slenberungen  im 
britten  Verfe.  3n  ber  U^fanbfdjeti  Raffung  fteljen  unter  fecf)$ 
SSörtern  fünf  ©infilber,  welche  betanntlich  ben  jer» 

fchneiben  unb  ben  VerS  fdjleppcnb  machen.  3)ie  VoltSfängerin 
entfernte  jwei,  inbem  fie  fe^te : „@r  lag  oor  meinen  frühen 
„lag"  ift  gleichfalls  beffer  als  „liegt",  benn  auch  fonft  fteht  im 
©ebicht  bie  Vergangenheit  ber  (Stählung,  ©nblid)  bilbet  ber 
ganje  VerS  jefct  einen  fchönen  ©leichbau  mit  bem  eierten  Verfe 
ber  erftett  ©trophe:  „@r  ging  an  meiner  ©eite".  — @S  ift  ganj 
merfwiirbig  ju  beobachten,  wie  f)ier  VoIfSfänger  ohne  jebe 
Schulung,  blojj  geleitet  oon  natürlichem  ©efühle,  einen  fo  tun  ft» 
geübten  Sänger  wie  llljlanb  gteichfam  im  3tfl,9e  öerbeffert 
haben. 

3lud)  für  ben  SBcgfall  ber  britten  ©trophe  laffett  fich  bie 
©riinbe  oermuthen.  @8  ift  fd)on  innerlich  unwahrfcheinlid),  bah  ber 
töbt!ich©etroffene  noch  bie£>anb  reidjt,  unb  ebenfo  unwahrfcheinlich, 

(332) 


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7 


bafj  ber  Sifer  beg  Sabeng  bem  Sameraben  feinen  Kugenblicf 
gönnen  füllte,  biefen  $bjd)iebggrufj  ju  erwibern.  »(«bann  fü^rt 
bie  ganje  ©tropfe  bie  ^anblung  nicf)t  mef)r  weiter:  wie  bie 
tragifcfie  Sfugel  beit  greunb  ju  lobe  getroffen,  ift  fie  oollenbet; 
U^fanb  fügte  nur  einen  augflingenben  ?lccorb  f>inju,  ber  bie 
greunbfdjaft  ber  ©eiben  unb  bie  UnOerbrüd)Iid)feit  berfelbeit 
(„©leib  bu  im  ew’gen  Seben  mein  guter  ftamerab")  uod)  be» 
fonber«  fjeroorljebt,  wie  eg  iljm  bie  funftmäfjige  Äbrunbung  ju 
oerlangen  festen,  ©nblid)  f|at  bie  ©djlufjftropbe  eine  füfjlidj* 
fentimentale  gärbung.  dag  alleg  finb  Kiomente,  welche  bem 
©olfggejdjmacfe  juwiberlaufen;  biefer  begnügt  fiel)  mit  bem 
Sfjatfädjlidjen,  mit  bem  Kotfjwenbigen  unb  SBefentlidjen, 

©om  Kamen  beg  urfprünglidjen  dicfjterg  fjatte  bie  ©ängerin 
natürlich  feine  ?ll)nung. 

©on  wem  rüljren  nun  biefc  ftenberungen  tjer?  dag  fönnen 
mir  nid)t  genau  ermitteln,  bag  wiffen  wir  nur  im  allgemeinen: 
öon  allen  Senen  aug  bem  ©olfe,  welche  eg  bigfjer  gefungen 
fjabert.  Unb  diejenigen,  weldje  eg  fernerhin  fingen,  werben  bag 
Sieb  nocf)  weiter  umgeftalten,  werben  weglaffen  unb  jufejjen 
ganj  nadj  eigenem  ©efüljle.  daburd)  wirb  bag  ©ebidjt  immer 
me^r  oon  einem  ftunfter^eugnifj  ju  einem  Katurerjeugnifj,  oon 
einem  Äunftlieb  ju  einem  ©olfglieb. 

Kun  ift  flar,  wag  eg  Ijeifjt:  ein  ©olf  bittet.  Studj  l)ier 
ift  ber  urfprünglid)e  didjter  immer  ein  ©injelner;  aber  eg  ftnb 
Unjäljlige,  bie  nad)  i^m  fommen  unb  baran  arbeiten:  eg  ift 
ein  ganjeg  ©olf,  eine  ganje  Kation,  welche  bag  Sieb  „3ured)t 
fingt",  wie  ber  bejeidjnenbe  ©olfgaugbruef  lautet. 

Sluf  biefem  Sßege  finb  Diele  Slunftprobufte,  oon  beuen  jefct 
nod)  bie  ©erfaffer  nadjgemiefen  werben  fönnen,  ju  ©olfgliebern 
geworben,  befonberg  im  14.,  15.  unb  1(5.  Soljrljunbert:  j.  S. 
©ebidjte  £>gwalbg  oon  SBoIfenftein,  £>einridjg  oon  Saufenberg, 
Sieber  oon  SEBijjftatt,  ©engenbad),  ©riittewalb,  Sutljer  unb 

(383) 


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8 


Stnberen.  ©o  finb  auch  bie  ritterlichen  SBät^tevlieber  non  ber 
Äuuftpoefie  in  bie  S8olf«bichtung  geraden,  ja  fetbft  antife  ©toffe 
mie  |>ero  unb  £eaitber  (groei  Sönig«finber:  „Steh,  @t«lein, 
liebfte«  @I«tcin")  fameit  auf  biefe  Söeife  in  ba«  beutfehe  SBolf. 

Jer  Hergang  bleibt  berfetbe,  wenn  ber  erfte  SBerfaffer  fein 
gefcbulter  ftunftbichter,  fonbern  ein  ungelehrter  2Rann  au«  bem 
SBotfe  ift.  97ur  werben  fotche  ©ebicfjte  öfter  unb  lieber  öom 
®otfe  aufgegriffen  unb  gefungen  werben,  weit  biefer  dichter 
oon  üornherein  ber  Stnfchauung«-,  ©efüht«-  unb  St uäbrucf «weife 
be«  SSolfe«  näher  fteht  at«  berjenige  au«  ber  Stoffe  ber 
©ebitbeten. 

©«  braucht  in  biefetn  gatte  weniger  Umfchmeljung  unb 
Verarbeitung,  bi«  ba«  ^robuft  bem  ©efiihte  unb  ber  Neigung 
be«  Volfe«  entfprid)t.  Stuch  foldje  Votf«lieber  entftehen  noch 
fortwätjrenb  in  unferett  Jagen,  wenn  auch  weh*  ’n  berfelbeu 
3(njaht  wie  in  früheren  3e*tci1-  3»  ben  Sttpentänberu  treiben 
bie  ©chitaberhüpfeln  noch  immer  neue  ©pröfctittge.  Stuch  fonft 
fann  man  ba«  beobachten.  1870—1871  hatten  plöfclich 

mehrere  beutfefje  ^Regimenter  ihre  neuen  ©otbatentieber.  Vilmar 
weift  nach,  wie  1830  ba«  £ieb  oon  ber  ertrunfenen  SRütter«« 
tochter  entftanb  unb  fiel;  am  3ff^cin,  in  granfeii,  ©djlefien  unb 
©teiermarf  rafch  »erbreitete.  ©etbft  neue  ftitlturerfdjeinwtgen, 
an  wetche  bie  ftunftbichtung  fid>  nur  jögernb  wagt,  ergreift 
ba«  Votf«lieb  lebhaft,  ©o  hat  e«  j.  V.  fchon  bie  Sifenbahn 
poetifch  oerwerthet  (Vödet,  £>effifd)e  Votf«tieber,  9ir.  58): 

Stuf  ber  ©ifenbafjn  bin  id)  gefahren 
Ten  fcd)jcf)mcn  9Rai, 

©in  treuem  äßäbdjeit  Ijab  id)  gelicbet 
3u  ber  ©fjr  unb  ju  ber  £rcu. 

Natürlich  fütnmert  fich  ba«  Volf  auch  biefem  gatle 
nicht  um  ben  SRamen  be«  Jitter«,  ebenfowenig  mie  ber 
$id)ter  barauf  au«get)t,  fid)  befannt  $u  machen;  hoch  begegnet 

(334) 


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9 


eS  bei  älteren  ©olfSliebern  fiäufig,  baß  er  in  einer  angetjängten 
©d)Iußftropl)e  feinen  ©tanb  bejeic^net,  tuaS  n?of)l  in  3ufammen* 
fyattg  gu  bringen  ift  mit  beni  auSgebilbeten  ©tanbeSgefiil)!  jener 
3eit.  $a  Reifet  eS  g.  ©.: 

SBer  ift’S,  ber  un«  bie«  Sieblein  fang? 

Sin  freier  8anbbfned)t  ift  erb  genannt. 

Sr  Ijcit*  gar  rooI)l  gelungen. 

©oll  ©elbftgefit^I  befd)ließt  ein  anberer  fein  Sieb  mit  ben  Werfen: 

©er  ift,  ber  nn«  ba«  Sieblein  fang 
3lub  freiem  ÜDtutt),  ja  9)tutt)? 

$a«  tat  ein«  reichen  Sauren  ©otjn, 

SBar  gar  ein  junge«  Sinti 

SBieber  ein  aitbereSmal  fjeißt  eS:  bieS  Sieb  fang  ein  ©tubeut, 
ein  Sinber,  ein  ©djreibcr,  ein  $ifd)er,  c'n  Jußrmann,  ein 
Stieger  gut,  ein  junger  fßfaff,  ein  Serggefefl,  ein  ©ätferSfned)t, 
ein  ©ilgram,  ein  Leiter  gut  gu  3lugSburg  in  bei  ©tabt,  ein 
armer  Settier  u.  f.  w.  3(ud)  bie  grauemoelt  ift  vertreten.  ©er> 
cingelt  fommt  eS  and)  öor,  baff  ber  9lame  beS  £id)terS  auS* 
brüdlicf)  genannt  rnirb: 

Ter  un«  ba«  Siebtein  bat  gebiet, 

Son  nemen  tjat  er«  ju  geriet, 

36rg  $>atn>ad)  tut  er  fid)  nennen. 

Älfo  auS  ben  öolfStßiimlidjen  Siebern  ber  Sunftbicßter  unb 
aus  ben  Srgeugniffeit  ber  ©olfSfänger  fefct  fid)  bie  ©olfslprif 
jufammeu.  3luS  biefen  groei  Ouelleu  floß  im  Saufe  ber  $eiten 
ein  großer,  faft  unerfdjüpflidjer  ©djaß,  melier  im  ©ebädjtniffe 
beS  ©olfeS  oon  ®efd)Ied)t  gu  ®efd)led)t  meßr  ober  minber  ooü* 
ftättbig  überliefert  mirb.  @S  ift  ein  freies  lebenbigeS  (Sigentljum, 
aus  bem  3fbcr  fdjöpfen  mag  nad)  Neigung  unb  gät)igfeit. 

3n  bem  Sieberfdjaß  eines  SoIfeS  fpiegelt  fid)  feine  ©pradje, 
feine  ©ßautafie,  feine  SDenf • unb  ©efiißlStueife,  feine  gange 
©igenart  unb  felbft  ber  ©oben  tuiber,  ben  eS  betooßnt.  £aS 

1305) 


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10 


liegt  in  ber  9iatur  ber  Sache,  benn  wa«  feiner  ®rt  nid)t  an* 
gemeffen  ift,  nimmt  ba«  Soll  itic^t  auf  ober  Ijält  e«  wenigften« 
für  bie  $>auer  nid)t  feft.  3n  biefem  ©inne  ift  e«  gemeint, 
wenn  man  ©ammlungen  oon  SBoIföIiebern  gerabeju  al«  „Stimmen 
ber  Söller"  bejeidjnet  (§erber)  unb  biefelben  bei  ©djilberung 
üon  Solf«cbaralteren  oerwertbet  bat.  9iur  ein  paar  Einbeulungen 
biefer  Elrt  mögen  ^ier  fßlafc  finben. 

$a«  norbifc^e  Solf«Iieb  ift  eruft,  oofl  tragifd^er  Schwere; 
ei  bat  befonber«  gern  bie  finfteren,  gcfpenftifcfjen  SRaturgewalten 
jum  Snbalte,  welche  mie  fRiefen  über  ben  ÜDlenfchen  Ijerein* 
ftiirjen  unb  ihn  ju  ©runbe  ridjtcn.  $a«  Slfa^ängigfeitSgefü^I 
jener  |>ocblanbäbewobner  oon  ber  ftürmifcben  unerbittlichen 
Sftatur  ifjreg  Saitbe«  fpridjt  fid)  beutlid)  au«.  2>a«  Soll  ahnt 
in  Silbern  unb  Sagen,  ton«  toir  at«  SRaturgefeße  erfennen. 
3«Ianb,  Norwegen,  Schweben  finb  oorjugötoeife  bie  $eimatb 
ber  Scfjauerbaüaben. 

®a«  beutfche  Soll«lieb  ift  iibertoiegenb  fjciter,  fräftig,  traten* 
luftig,  oieltönig.  $eutf<hlanb  ift  ba«  Iieberreicbfte  2anb;  hier 
bat  ba«  Ceben  be«  Solle«  in  feinem  ©efange  befonber«  reichen 
Elu«brud  gefunben.  SBir  löitnett  basfclbe  faft  in  feiner  ganjen 
gefchichtlichen  ©ntwidelung  oerfolgen:  bie  toelterfchütternben 
Xbaten,  mit  beiten  bie  ©ermancit  in  bie  ©efdjichte  eintraten, 
bie  großen  unb  lleinett  Stampfe  untereinanber  unb  mit  ihren 
ÜRacbbarn,  bie  jabrbunbertelange  politifebe  Ohnmacht  unb  innere 
#erflüftung,  ber  SDrucf  ber  fremben  ©roherer,  bie  (jCTlidje 
Söiebererbebuitg  ju  nationaler  ©röfje  — all  ba«  Hingt  im 
beutfchcit  Solf«liebe  miber;  nid)t  weniger  jene  tiefe  ^römmigfeit 
unb  finnoolle  fRcligiofität,  welche  innerlich  ba«  ©emütb  begliidt 
unb  äußerlich  eine  3rüOe  fcfjöirer  fpmbolifcber  Sitten  unb  Sräuche 
fchuf,  bie  ba«  2eben  be«  beutfcheit  Solle«  „wie  lieblich  buftenbe 
SSinbeit  umranlen  unb  fclbft  ba«  ©raufige,  ba«  3erllüftete  be« 
9Renfchenbafeiti«  ju  oerbccfen  ober  ju  milbern  wiffen".  (Södel.) 

(8WS) 


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11 


flud)  bie  gejeßfd)afttid)en  SBerljältniffe , bic  §o<hfchä|ung  beS 
SBeibe«,  bie  |>eiligfeit  ber  Spe.  bie  beutle  |)äu«Iichfeit,  bie 
montiigfalrigen  g°rmen  be«  fRecht«(eben«,  ja  fclbft  häßliche 
nationale  Seibenfdjaften  wie  bie  SRaufluft,  bie  Srunfjucpt  (in 
ben  ©chnaberpüpfeln  fogar  ber  ©cpnap«!)  fpredjeit  aflerroegen 
au«  bem  SBolfSliebe  in  feinen  mannigfaltigen,  iiberwiegcnb  er< 
jä^tenben  ©attungen. 

Sie  flatrifdjen  83oIf«lieber  finb  Weid),  flagenb,  eintönig, 
»weit  gebest  unb  manchmal  eben  fo  wenig  furpoeilig  wie  bie 
großen  Sbenen,  benen  ba«  ©laoemwlf  entftammt".  (®.  fDJeper, 
Cffap«  312.)  — Sa«  griechifcpe  2$olf«licb  ift  flar,  burcfjfic^tig 
wie  bie  Suft  be«  ©üben«,  geiftreich-  @«  befunbet  eine  fonnige 
S*eben«auffaffung,  einen  unbefangenen  ©ettuf)  be«  Safein«,  eine 
paefenbe  bramatifche  (Energie.  „Sßo  bem  ©erben  bie  mefanefjo- 
lifdje  $lage  be«  jungen  2Jiäbd)en«  genügt,  ba«  auf  bem  ©flacht* 
felbe  bie  Seiche  if)re«  ©eliebten  fucfjt,  »erlangt  ber  ©riedje  eine 
£>elbengeftalt,  bie  fid)  emporf)cbt  über  bie  fßfaffe  be«  93oIfe«: 
bie  31ia«  ift  nidjt  ba«  Sieb  oom  ftampfe  um  Sroja,  fonbern 
ba«  Sieb  twin  3orne  be«  Üldjifleu«.  Unb  biefem  $uge  folgenb 
hat  ein  93olf«lieb  felbft  ben  armfeligen  lebten  ißaläologen- 
fiaifer  jurn  gelben  geftempelt."  Sw  italienifd)en  93olf«lieb 
fpricht  fid)  »or  aßem  bie  fubjeftioe  Smpfinbung  au«,  fei  e§  in 
mutfjmißigem  ©«f>cr^  ober  in  feßarfer  ©atire,  in  Siebe«gtiid  ober 
£iebe«fchmerj.  Siefe  Sieber  finb  grajiöfe  Äinber  augenblidlidjer 
Umgebung,  epigrammatifd)  fein  unb  treffenb.  .^iftorifche  Sieber, 
SBnßaben  unb  fRomaitjen  finben  fich  im  eigentlichen  Italien  nidjt 
unb  nur  am  SRorbranbe  be«  Sanbe«,  burd)  fremben  Sinfluft 
erzeugt  (SKeper,  ebenba  313). 

Sie  äßeiftett  au«  bem  SSolfe  befipeu  mehr  ober  weniger 
oon  biefem  aßgemeinen  Sieberfdwfse.  ©«  ift  wopl  faum  ein 
2Jicnfch  fo  arm  unb  fo  unglücflid),  bafj  er  nicht  ba«  eine  ober 
anbere  „©fangl"  fennt.  Siefe  „©fanglen"  finb  feine  Subelrufe  in 

(837) 


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12 


ber  freute,  feine  Tröfter  im  Unglücfe : bie  T>olmetfcf|er  aller  feiner 
©efüljle.  gür  ^'efe  ©ebrauth« weife  ^aben  mir  einen  flaffifdjen 
Seleg  in  ©oethe«  gauft.  ©retdfen,  ba«  unerfahrene  Sürgerfinb, 
hat  auf  bem  Kirchgang  gauft  gefehen.  9lun  fi^t  fie  einfam  in 
ihrer  Kemenaten  unb  fühlt  bie  erften  Regungen  ber  Siebe«neiguug. 
Sie  fucfjt  einen  9lu«brucf  bafür:  ba  fpricfft  fie  fich  nicht  un* 
mittelbar  au«,  ba  bichtet  fie  nicht  felbft,  fonbern  greift  in  ben 
allgemeinen  ©djafc  ber  Solf«bichtung  unb  holt  ein  Sieb  hetoor, 
weldjf«  fingt  oon  Siebe  unb  Treue: 

G#  roat  ein  Simig  tu  Sollte 

®av  treu  bi#  an  fein  ®rab,a  u.  f.  ro. 

3a  felbft  in  ber  Serfehr«fprache  erfcheint  ber  ©nfluß  be« 
Sollsliebe«.  ÜJiatt  lefe  Sriefe,  welche  ba«  uitgebilbete  Soll 
befottber«  in  Slugcubliden  ber  ©efühlSübertoaüung  fchreibt,  unb 
man  wirb  in  zahlreichen  gällen  Sruchftücfe  oon  SollSliebern 
bariu  oerflochtcn  finben,  bie  bem  Schreiber  unwilllürlich  in  bie 
gebet  gefloffeu  finb.3 

Sei  biefer  freien  SBiebererjeuguttg  au«  fiel)  herou«  entftehen 
nun  fette  Slettberuitgen,  oon  benen  mir  oorher  gefprochen  hoben, 
©ie  finb  theil«  unbewußte,  bie  üorgeitommen  werben  au«  buttflem 
SDrattge,  wie  wir  bereit«  oben  au  llhlatib«  ©ebidjt  beobachten 
fonnten ; theil«  finb  biefe  Slettberutigen  bewußte,  welche  ber  ©änger 
oornimtnt,  weil  fein  Temperament,  feine  allgemeine  Slnfchauung 
ober  feine  augenblicfliche  Situation  eine  anbere  ift  al«  bie 
Terjenigeii,  oon  benen  er  ba«  ©ebicht  überfommen  hot.  Sludj 
für  folcfje  bewußte  $lenberuttgett  fiitb  bie  öeifpiele  zahlreich- 
©itt«  ber  berühmteren  SolfSlieber  lautet: 

Dort  t)o<f)  auf  jenem  Serge 
Da  gel)t  ein  ffltüfjlenrab, 

Da#  maljlct  nid)t#  beim  Siebe 
Die  9?ad)t  bi#  an  ben  Dag. 

(838) 


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13 


Die  9WüJ)!e  ift  jerbro^en, 

Die  Siebe  (jat  ein  (Snb. 

60  g’fegn  bidy  ©ott,  mein  feine«  Sieb, 

3ef)t  fahr  id|  in«  (Slenb.* 

@in  junger  ©efelle  liebt  bie  SliiHerin  ober  bie  StüllerS- 
totster  Ijod)  broben  auf  bcm  Serge.  ©icfjt  er  baS  9J?iil)lrab 
geljeti,  beult  er  nidjt  an  ba$  Stahlen  beä  &orn§,  jonberit  an 
fein  Sieb.  ®iefer  ©ebanfe  unb  bie  Sünfdjauung  fließen  ifjm  im 
Silbe  ber  SDJi'i^le  31t  einer  ©inljeit  jufammcn.  Soit  ber  Stühle 
erfdjaut  er  gerabe  jenen  $f)eil,  meiner  fie  oor  allem  cfjarafterifirt : 
ba3  SDlüljlrab;  baljer  fingt  er:  „baS  matjlet  nichts  benn  Siebe". 
$}ie  groeite  ©tropfe  mad)t  einen  großen  Sprung,  oljne  benfelben 
burd)  irgenb  einen  Uebergang  angubeutcn : fie  er^äfjlt  »01t  einer 
öiel  fpäteren  $eit,  »0  bie  SDlüljle  ftiü  fteljt,  ba§  Sftüljlrab  gep 
brocken,  bie  Siebe  entzwei  unb  er  baran  ift,  auä  Seib  barüber 
in  bie  tneite  Sßelt  gu  tuanbern.  — $a§  Sieb  ift  un§  nod)  in 
öerfdjiebenen  anberen  Raffungen  überliefert,  (Sitte  baoon  lautet 
(U^lanb,  2lbf).  über  baS  Solfälieb,  ©djriften  IV,  34): 

Dort  ferne  auf  jenem  ®erge  Do«  8tab  ift  gang  jerbrodjen. 

Da  maltet  ein  9?arrenrab,  Die  Siebe  I}at  ein  (Snb. 

Da«  treibet  nidit«  benn  Siebe  2fat)r  t)in,  bu  guter  ©eiet!! 

Die  9tacf)t  unb  and)  ben  Dag.  3<b  frei  nod),  mo  id)  min. 

$)a3  ®ebid)t  geigt  benmjjte  Slenberuttg.  3nt  allgemeinen 
liegt  biefelbe  (Situation  gu  ©runbe  tuie  in  ber  früheren  Raffung; 
ollem  je£t  fingt  bie  ©eliebte:  ©ie  f)at  ein  oiel  leidjtereä  ©eblüt 
unb  betrachtet  ba3  gange  SicbeSuttglücf  als  eine  ttärrifdje  ©cjd)id)te; 
bestjalb  bie  Segeidptung  „iliarrcnrab",  bcsljalb  am  ©djluffe  ber 
leben^luftige  Stusruf:  ,,3d)  freie  nod),  tuo  idj  null";  fie  tröftet 
fi«h  mit  einem  Slnberett.  — 2)a£  Sieb  ift  nod)  fjeute  am  Seben 
unb  totrb  oom  Solfe  gefuttgen.  Södel  (.§eff.  Solföl.  9tr.  10) 
tljeilt  fofgenbe  Raffung  mit: 


* 3n«  (Slenb  fahren  = in  bie  Srcntbc  fahren. 


(339) 


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14 


Da  brunten  an  jenem  Deiche, 

Da  treibet  ba«  SBaffcr  ein  9iab, 

S«  mahlet  nid)te  anberst  als*  Siebe 
Son  Äbenb  bi«  auf  ben  Dag. 

Da«  SWiiijlrab  ba«  ift  e«  jcrbrochen, 

Die  Siebe  hot  noch  e«  fein  Snb, 

Daß  mir  33eibe  eoneinanber  milffen  fcheiben 
©eben  un«  ©eibe  bie  §änb. 

Scheiben,  ad)  Scheiben  1 

SBer  hot  benn  ba«  Scheiben  erbacht? 

Da«  hot  mir  mein  jungfrifdj  Seben, 

©lein  .'perj  e«  fo  traurig  gemacht. 

3n  meine«  ©ater«  Suftgärtchen 
Da  ftehen  jtoei  ©aume  allein; 

Der  eine  ber  trägt  ©tusfaten, 

Der  anbere  braun«  SRägelein. 

fflhiefaten  uub  bie  fein  füge, 

©raun«  ©ägetein  riechen  e«  wohl; 

Die  »erehr  ich  jefct  meinem  3ein«liebd)cn, 

Dafj  e«  baran  riechen  fofl. 

$ie  Situation  ift  fdjott  wefentlidj  gcänbect:  bie  Siebe  bridjt 
hier  nießt  innerlich  jufammen,  foitberrt  äußere  ©ewalt  bebrängt 
bie  beibeit  Siebeuben  uttb  jwingt  fie  jum  Scheiben.  £ie  Siebe 
lebt  nod)  beiberfeit«  fort;  baljer  wirb  aud)  ba«  Sieb  weiter  ge- 
wonnen unb  jwar  junäcbft  mit  einer  Stropfje  au«  einem  anberen 
alten  ©olf«Iiebe,  welche  ber  ©itterfeit  be«  9(bfd)ieb«  bewegten 
?lu«bru<f  giebt.  2J?it  Slnlefjnung  an  ein  britte«  befannte«  ©olf«- 
lieb  benft  bie  (beliebte  bann  nodj  in  $ierlid)er  Ütaitiität  an  einen 
Slbfd)ieb«ftrauf3  für  ben  (beliebten,  ber  if)n  an  iljre  Siebe  unb 
Brette  erinnern  foK,  fo  oft  er  iljn  fieljt  uttb  baran  riecht. 

©efonber«  nterfwürbig  uub  jaljlreid)  erteilten  foldje  Um- 
geftaltungen  bei  ben  leidjtbeflügelten  fleineren  ©attungen' be« 
$olf«liebe«  wie  bei  ben  Sdjiwberffüpfeltt,  wo  bie  öerfdjiebenften 
augenblicflidjen  Situationen  uttb  Stimmungen  an  ba«felbe  ©ilb 
attgefnüpft  werben.  So  fingen  j.  ©.  bie  $eanjen  in  Ungarn; 

(840) 


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15 


Srei  jrf)nce)oai§i  Sdubal 
Jluign  iiba  mein  So: 

$iaj  muiS  iS  »aftein, 

Saft  mi  mai  ©ui  nimo  mo. 

$ie  Hauben  erfdjeinen  hier  als  Hbjügler  unb  in  ihnen  crblicft 
ba$  oerlaffene  SWäbdjen  baS  ©innbilb  beS  untreuen  ©cliebten. 
HiefeS  ©c^naberfjüpfel  bat  fich  roeit  über  ®eutfc^Ianb  oerbreitet. 
Habei  bleibt  ber  bilblicfje  Hheil  ber  erften  Hälfte  feft  ober  er- 
leibet nur  geringe  Sßerdnberung;  bie  zweite  ,§älfte  bagegen  unb 
bie  ^Beziehungen  berfelben  jur  erften  werben  je  nach  bem 
wedjfelnben  Srlebnifj  umgebicfjtet.  3m  ®ogtlanb  fingt  man: 

3roa  idjnceroeiße  Säubta 
3rtteflu  über  mein  £>au$: 

Unb  ber  ©djafe,  ber  mir  beftimmt  iS, 

Ser  blabt  m'r  net  auS. 

3n  fRieberöfterreid): 

3roa  idjneetoaijji  Sairoal 
gtiageu  iroa  mairt  SiauS: 

Ser  ©ua,  ben  ma  bidjoffa  - r • iS, 

©(eibt  mo  nib  auS. 

Sehnlich  hört  man  eS  in  Hirol.  H)a3  SingangSbilb  ift 
basfelbe  geblieben,  allein  bie  Schiebung  ift  eine  ganz  anbere: 
hier  roerben  bie  Hauben  als  Snfömmlinge  aufgefajjt  unb  fiitb 
bementfprechenb  bas  ©innbilb  bcS  „SBuabn",  beffett  Snfunft  baS 
SRäbchen  hofft  unb  erwartet. 

3n  Hirol  fingt  man  auch: 

8rooa  id)necroeiBe  Säubel 
Unb  oonS  f)at  on  Stern: 

Unb  jefct  bat  mi  mein  alter  Sd)a(j 
91  roieber  gern. 

Hurd)  SBeglaffen  be$  ßeitworte^  mürbe  ber  erfte  Hheil 
etwas  oerbunfelt;  gleichwohl  ift  ber  gufammenbang  noch  Har: 
Hie  Hauben  finb  wieber  Snfömmlinge  unb  oerbilblichen  bie 

(341) 


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16 


SBieberfunft  beS  alten  ©chajjeS;  bet  jmeite  33er§  weift  auf  ben 
Sßorjug  jener  einen  $aube  fjin,  moburch  eine  parallele  mit  ber 
SBorjüglidjfeit  be§  „alten  ©thajjeS"  leitet  angebeutet  wirb.  3n 
Sirol  hat  bie  ©tropfe  noch  eine  britte  Untbilbung  erfahren: 

91  irfjncciucific^  laubel 
fliegt  über  mein  35adj: 

UKueft  nit  fo  (aut  reben, 

Sein  guelofer  itmdj. 

25ie3mal  braucht  baä  ®ienbl  ben  SBuabn  nicfjt  erft  ju  er» 
märten  roie  in  ben  »orljer  angeführten  gäHeit;  er  ift  fefjon  bei 
ihr  unb  fie  unterhalten  fich-  2>al)er  hat  auch  b'e  ^aube  ihre 
fRolle  gcmechfelt  unb  ift  ©innbilb  geworben  für  bie  $orcher 
(=  guelofer)  in  ber  9Mhe. 

3n  ©teiermarf  hat  man  noch  eine  fec^fte  Sßariation  gebilbet. 

3tooa  fdjneeioeißi  Säuberfn 
Jöaben  JJlügerln  blaroi: 

©ift  a ranbtiga  ©ua, 

$aft  a Gdjncib  a (aroi. 

$ier  ift  bie  ganje  ©trophe  anberS  gemenbet:  bie  erfte  £>älfte 
ift  nicht  mehr  finnbilbenb  für  bie  jweite,  fonbern  ba$  ®er» 
gleid)ungSelement  liegt  in  ber  fatirifchen  Slntitljefc.  25er  zweite 
®ers  jeigt,  baß  ber  erfte  nicf)t  wahr  ift,  er  macht  ben  erften 
lächerlich,  betttt  toenn  bie  Saube  „blawi  Klägerin"  hat,  ift  bie  23e» 
hauptung,  bafj  fie  roeifj  fei,  lächerlich;  wo  eine  „lawi  ©chneib"  ift, 
wirb  bie  ^Behauptung,  bafj  ber  SBua  „ranbtig"  fei,  eine  wijjige 
Serhöhnung. 1 2)iefe  ledere  ©eftaltung  hat  in  Jirol  wieber 
eine  Umbilbung  erfahren.  2)aS  Element  be3  ftontrafte«  mürbe 
beibehalten,  jebod)  anberS  gemenbet : $on  einer  fchmarjen  $aube 
ermattet  man  nicht  lichte  ^lügel,  t>ou  bem  ©eliebten,  ber  fich 
früher  treu  gezeigt,  nicht  Untreue;  allein  mie  ba«  eine  oorfommt, 
fo  fürchtet  ba3  9ftäbd)en  aud)  ba§  anbere  unb  fpricht  baä  in  ben 
folgenbeit  Vierzeilern  auS: 

(R42) 


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17 


3moa  fof)lfrfjiua  r.^e  Säubaln 
pab’n  glüga!  licdjti: 

Unb  baß  mir  mci  ©iiabat 
Sit  treu  bleibt,  fünf)t  il 

3roegn  roa#  bteibft  bctm  au$? 
grocgn  maS  fimmft  benn  nit  t)er? 
Sk'ir  ift  tjatt,  alä  roar  i 
Sei  Sdja&al  nit  meffr. 

SKir  bat  tion  Saliebtfein, 

Bon  Jreufein  toas  tramt; 

Unb  i roollt  unb  i mcdit, 

3 b®ttä  SBadjmerbn  oafamt. 


3ab  rocarb  ma  fo  antriidf, 
3afe  rocarb  ma  fo  bang: 

3 ntoan  halt  unb  fiird)t  tjalt. 
3 mad(S  nimma  lang. 

SBo  iS  bcnn  bie  grenb 
Unb  wer  bat  ma'S  entfüert? 
Bor  furjem  ba  fjatS  no 
3nt  mein  Jperjcn  lofdpert. 

3 fuedj  unb  i frag 
Unb  i finb’S  nimma  mehr  — 
Sic  iS  ma  halt  au^ogu 
Unb’S  fiammal  iS  leer. 


(öreing-ftapferer,  lirolcr  SBolfSlieber  ©.  146) 


9toch  manche  Variation  biefer  Strophe  mag  im  93olfe 
gebitbet  morben,  aber  nicht  $ur  Stuf jeicfjnniig  gefommeu  fein,  mie 
btnn  überhaupt  bal,  mal  uni  überliefert  oortiegt,  fo  Diel  el 
auch  fein  mag,  fidjer  nur  einen  geringen  Iljeit  beffen  bitbet, 
mal  t>orf)anbcn  mar  unb  junt  guten  J^eit  nod)  öorljanben  ift, 
roie  jebe  auch  noch  fo  leiste  58erüt)rung  mit  bem  Sßotfe  bemeift. 


3)ie  angeführten  Selege  unb  mal  biö^er  über  bie  ©nt* 
ftetjung  bei  Solflliebel  gefugt  morben  ift,  lägt  auch  fcgon  bal 
Siefen  belfetben  beuttich  crfenneit.  Schlichte  ©infalt,  Unmittct* 
barfeit,  Knappheit,  Dlatürtidjfeit  finb  wor  altem  ©igenfcfjaften 
bei  SBotfllicbel.  35a  finbet  fid)  feine  lleberfpannung  bei  9lul* 
btudel,  feine  Anhäufung  unb  fein  ißrunf  großer  SBorte,  metche 
ein  fdjmachel  ©efiiht  aufbtafen  füllen.  3?  einfacher  unb  fchmud* 
loier  bie  Sßorte  finb,  um  fo  leichter  merft  man  unter  ihnen  ben 
toatmen  ißutlfchlag  bei  ftarffühtenbm  £>erjenl,  jumat  in  Siebes* 
tiebern : 

9tn  Bucb’n  t)an  i gliebt 
Unb  ben  mottet  i tyab'n, 

Unb  bitü  I)am  fa  ben  Bucb’it 
3n  bie  (Srb’n  einigrab’n. 

Sammlung.  St.  3-  IV.  106.  2 (313) 


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18 


2öie  fein,  wie  feufdj  briicft  fid)  bie  tiefe  Siebe  in  biefer 
Strophe  auS:  fein  äßort  ift  empfittbelnb  ober  grofffprecherifd)- 
„3  f)an  ihn  gliebt,  i wollet  ifjn  Ijab’n"  — fo  fpridß  bie  wahre 
Siebe."  (Södel  LVUI.) 

2BaS  baS  Soll  fingt,  ift  nicht  bloß  gebaut,  nid)t  erbittet, 
fonbern  erlebt.  ®afjcr  finb  biefe  Sieber  fo  gegenftänblidj.  5)aS 
Solf  fingt,  roaS  man  begreift  nnb  ficht,  nic£)t  roaS  man  benft 
unb  refteftirt.  2)aS  erf>te  SolfSlieb  ift  meljr  finnlid)  cmpfinbungS» 
ooü  als  finnig  gebanfenootl , eS  ift  niemals  angefränfelt  oon 
beS  ©ebanfenS  SSIäffe.  SDieift  empfangen  mir  im  SolfSliebe 
nur  eine  fRethe  oon  ©inbrüden,  oon  finnlicfjen  Slnfdjauungen, 
oon  Silbern  ofjne  ftrengen  gufammenfjang,  ofjne  logifdje  Ser» 
fnüpfung.  Sber  biefe  ©inbrüde,  biefe  Slnfdjauungcn,  biefe  Silber 
erzeugen  in  uns  beit  beftimmten  Ion  ber  ©mpfinbuttg,  ber  feiten 
unmittelbar  auSgefprod)en  ift,  fonbern  gleichfam  als  bie  Seele 
beS  Siebes  unfidjtbar  unb  unfaßbar  über  bem  ©anjen  ruf)t. 
©in  Sergleich  liegt  nahe.  SBie  ©iner,  ber  plöfclid)  oon  einem 
äußeren  Sorgange  heftig  ergriffen  roirb,  im  Slugenblicfe  nicht 
nadjfinnt,  nicht  reflcftirt,  fid)  nicht  felbft  baS  ©efü^l  oorfagt, 
oon  bem  er  ergriffen  ift,  fonbern  fid)  nur  ben  Hergang  ber 
$ittge  gegenroärtig  f)ält  unb  in  ben  äußeren  Sorgängen  un» 
mittelbar  entpfinbet,  fo  ift  eS  auch  "n  SolfSlicb.  „Sinnliches 
roirb  auSgcfprodjeit;  baS  ©eiftige  muß  man  merfen."  @S  hat 
manchmal  ben  Slnfdjein,  als  roäre  eS  auf  ein  förmliches  ©rratf)en» 
laffen  angelegt.  2Ber  baS  nicht  fattn,  roirb  roeber  rechtes  Ser« 
ftänbniß  für  baS  Solfslieb  noch  rechte  greube  an  bemfclben 
geroinnen. 

£iefe  ©igenheiten  beS  SollSliebeS  geigen  fich  bei  ben  oorf)in 
angeführten  ©ebichten  beutlid)  genug.  Seim  Uhlanbfd)en  Siebe 
ließ  baS  Soll  gerabe  bie  Schlußftrophe  roeg,  welche  ben  ©runb« 
gebanfen  beS  ©ebidjteS  beutlicher  auSbrüdt,  aber  bie  ^anblung 
nicht  mehr  weiter  führt.  2lud)  beim  ÜJiütlcrlicbe  finb  nur  bie 

(3WJ 


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19 


©egenftänbe  ge3eid)uet,  bie  ^t^atfadjen  gegeben,  baS  ©ciftige 
bagegen  ift  faum  angcbentet;  in  äßnlidjer  Seife  ift  bei  ben 
©d?naberf)üpfeln  baS  geiftige  93anb,  welches  bie  Jfjeile  ber 
©tropfe  oerbinbet,  nidft  auSgefprodjen,  fonbern  muß  erratßen 
werben.  Unb  fo  ift  eS  and)  in  ben  meiften  anberen  fällen. 

SD?it  biefen  6f)araftereigenfd)aften  im  3ufammenfjang  fte^t 
aitd)  jene  @igentl)ümlid)feit  beS  SBolfSIiebeS,  wefdje  man  feit 
Berber  mit  bem  Sorte  „©prungfjaftigfeit"  bcjeic^net.  £er 
ftunftbidjter  achtet  baranf,  baß  nicfjtS  unoorbereitet  fommt,  baß 
alles  mit  einer  Einleitung  unb  ben  gehörigen  Uebergängen  »er* 
feßen  fei;  er  fefjt  ÜJiittelglieber  ein,  forgt  für  Slbrunbung  unb 
©leidjmäßigfeit.  Um  baS  alles  flimmert  ficf>  baS  9$olfSlicb 
nicf)t:  nur  baS  Sidjtigfte  unb  ©rgreifenbfte  erfaßt  eS  unb  ftetlt 
eS  bar  unb  erreicht  bamit  bie  größte  ©djnelligfeit  ber  §aub* 
lung.  ©o  enthalten  bie  adjt  9$crfe  beS  SJiüHcrliebeS  eine  ganje 
2iebeSgefd)id)te  mit  ©liirf  unb  Ungfiid.  Sie  nie!  SSerfe  ßätte 
wof)l  ein  moberner  fiunftbidjter  gebraucht,  baSfelbe  bar jufteflen  ? 
ÜRit  einer  5rQ3e  °^er  einem  SluSrufe  fpringt  baS  93olfSlieb  ge* 
wößntid)  fofort  in  medias  res,  fo  baß  fdjon  aus  bem  erften  93erfe 
ber  ©efamtdjarafter  beS  ©ebicßteS  unb  bie  Tonart  beSfelben  31t 
erfemten  ift.  ©0  beginnt  3.  93.  eine  fRccfenbaßabe:  „Sbuarb, 
warum  ift  beiit  ©djtoert  fo  rotf)?"  ober  ein  Älagelieb:  ,,9ld) 
©ott,  id)  Mag  bir  meine  Stotfj";  ober  ein  tlbfdjiebSlieb:  ,,9td) 
©ott,  wie  wet)  tßut  ©treiben";  ober  ein  ©pottlieb  auf  §er3og 
£einrid)  oon  93raunfd)weig:  „?ldj  bit  armer  ^einje,  wag  fyaft 
bu  gemacht?" 

SDaburd),  baß  baS  33otfSlieb  alles  fßcbcnfädflidje  ferne  ^ält, 
fommt  baS  Sefentlidje  unb  fßotßwenbige  31t  um  fo  ftärferer 
Sirfuitg.  3n  bem,  was  eS  »erfdjweigt,  3eigt  fid)  ber  ÜKeifter 
beS  ©tilS.  |>ier  ftedt  aud)  baS,  was  ©oetße  ben  „ feefen  Surf 
beS  SBolfSliebeS"  nennt;  ßier  3eigt  eS  fid),  baß  „natürliche 
iölenfdjen  fid)  beffer  auf  ben  2afouiSmuS  oerfteßen  als  eigentlich 

2*  (345) 


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20 


©ebilbete"  (®oetfjc).  Die  ^ß^amafie  beg  3u^örer8  ober  Sefer« 
wirb  burcß  biefe  fprunghafte  Darftellung  oiet  lebhafter  jur 
©elbfttljätigfeit  angeregt,  unb  üoöenbg  bei  graffen  ©toffen  ift 
biefe  Darftellung  allein  erträglich.  Sftan  Bergfexe  j.  8.  bag 
SBoIfSlieb,  welche«  Ußlanb,  SBoIfglieber  I.,  ©.  272  „Die  ©tief= 
mutter"  überfcfjriebeti  hllt: 


Sinb,  mo  bift  bu  tjingeroejcn? 
Sinb,  jage  bu’g  mir! 

,,'Jtadj  meiner  TOutter  ©d>mefter: 
SBie  roel)  ift  mir!" 

Sinb,  mag  gaben  Tie  bir  ju  effen? 
Sinb,  fage  bu’g  mir! 

„@ine  ©riibe  mit  Pfeffer: 

SBie  roeh  ift  mir!" 


Siub,  mag  gaben  fie  bir  ju  trinfen  ? 
Sinb,  fage  bu'g  mir! 

„©in  ©tag  mit  rotfjem  SBcine 
SBie  melj  ift  mir!" 

Sinb,  mag  gaben  fie  ben  .ftunben? 
Siub.  fage  bu'g  mir! 

„©ine  Skittje  mit  Pfeffer: 

SBie  roeh  ift  mir!" 


Sinb,  mag  machten  benn  bie  £>unbe 
Sinb,  fage  bu'g  mir! 

„Sie  fturben  jur  (eiben  ©tunbe: 

SBic  me!)  ift  mir!" 


giehen  wir  bie  gleichmäßig  wieberfehrenbett  fragen  ab, 
woburch  bag  SBicßtige  befonberg  l)erDorge^oben  wirb,  jo  finb 
eg  nur  wenige  SSerfe,  welche  bie  Danblung  barfteüen:  nur  ba« 
SBcjentlidjfte  unb  9Zot^wenbigftc  wirb  geboten.  Der  ©chmerjcttgruf 
„SBie  weh’  tft  mir,"  läßt  aßnen,  baß  bag  ftinb  ®ift  im  fieibe 
hat;  ber  |>inweig  auf  bie  $unbe  erhebt  bag  $ur  ©ewißheit. 
3n  ber  aufmunternben  Slnrebe  „Äinb,  fage  bu’g  mir!"  erhält  bie 
erbarmunggoolle  Dheilnahme  aubeutenben  Slugbrucf.  (Sineg  ift  aber 
nodj  nicht  Har  geworben:  gab  bie  ©eßwefter  ber  (©tief)mutter  bem 
&inbe  ©ift  aug  eigenem  Slntricbe  ober  auf  Slnftiften  ber  ©tief- 
mutter,  unb  wie  oerf)ält  fid)  ber  8ater  ba$u?  begßalb  folgen 
noch  jwei  ©trophen,  bie  gerabe  wieber  bag  SRottjwenbigfte  geben: 

Sinb,  mag  fofl  bein  SJater  haben? 

Äinb,  fage  bu’g  mir! 

„©inen  Stuhl  in  bem  Stimmet: 

SBic  roeh  ift  mir!" 

(346) 


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21 


$)er  alfo  ift  unfdjulbig,  ber  SDtorb  gefdhah  ohne  fein  SEBiffen. 

kinb,  roaS  foü  beine  Mutter  Ijaben? 
ftinb,  jage  bu’S  mir! 

„©inen  Stuf)!  in  bcr  §ötle: 

SBie  roef)  ift  mir!" 

9iutt  ift  ber  Urheber  be§  SBerbrecfjenS  gefennjeichnet;  zugleich 
bli|t  in  ber  lebten  ©tropfe  bie  |)erjeng^ärte  beä  SBolfeS  auf, 
welche  unerbittliche  SBeftrafung  forbert. 

3n  biefer  fprungfjaften,  blofj  baS  Stothmenbigfte  anbeutenben 
3lrt  liegt  auch  bic  ®ecenj  unb  Äeufchheit  beS  SBollSliebeS  bei 
2>arftellung  oerfänglidjer  Stoffe,  too  ftunftbidjter  nid)t  ungern 
unter  burchfichtigem  Schleier  breit  auSmalen.  SDEan  oergleiche 
j.  S.  bie  „ÄinDämörberin"  bei  SBikfel  9?r.  54: 

„komm  ber.  lieb  3andje,  Unb  als  breitiertel  Jatjr 
komm  ber  ju  mir."  Skr  fl  offen  roar, 

SS  ift  gefcbeben,  .ftat  fte  geboren 

So  ift  Borbei.  Sin  jdjöneS  ßinb. 

Sie  nahm  bas  kinb  unb  trugS 
S'em  SBaffer  ju: 

„^>icr  tannft  bu  roobnen, 

Jpier  finbft  bu  9tut)." 

3u  biefem  @ebid)te  mit  ben  3 fleineit  oierjeiligen  Strophen 
halte  man  bie  15  achtjeiligeu  Strophen  in  ber  „Kinbeämörberin" 
be3  jungen  Schiller,  wo  bie  ©efaüene  breit  beflamirt  oon  bem 
©ift  ber  SSelt,  rcelcheS  fo  fii§  gefchmecft;  oom  Sdjroanenfleib 
ber  Unfchulb,  ba§  terloren  gegangen;  oom  meinen  SBufenioaHen, 
ba3  Ieiber  nicht  oon  ^elbenftfirfe  begleitet  loar  u.  bgl.  m.  $er 
SBetoeggruttb  be8  StinbSmorbcS  mirb  im  SolfSlieb  mit  8 SBorten 
angebeutet,  bei  Schiller  burch  4 Strophen  auägeführt: 

Unb  bas  Sinblein  — in  bcr  Mutter  ®d)o&e 
Sfag  eS  ba  in  füjjer,  golbner  SRulj’, 

3n  bem  fRei^  ber  jungen  Morgcnrofe 
Sadjte  mir  bcr  bolbc  kleine  ju.  — 

(347) 


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22 


Jöbtlich  lieblich  iprad)  au?  allen  3^8rn 
^eS  geliebten  Schelmen  Sonterfep 
Sen  beflontmnen  SJlutterbuien  roiegen 
Siebe  unb  — Skrrätheret). 

©eib,  roo  ift  mein  SJater?  lallte 
©einer  Unfchulb  ftumme  Sonnerfpradj’; 

©eib,  roo  ift  bein  ©atte?  haHte 
3eber  ©infei  meine?  fterjen?  nach-  — 

©et*!  umfonft  roirft,  ©aife,  bu  ihn  fudjen, 

Ser  oielleicht  jd|on  anbre  fiinber  ijerjt, 

©irft  ber  ©tunbe  unfrer  ©oblluft  fluchen, 

©eint  bict)  einft  ber  Sßame  SSaftarb  icbroärjt. 

Seine  Slhitter  — o,  im  Sufen  ^)öHe!  — 
ginfam  figt  fic  in  bem  ?IU  ber  ©eit, 
durftet  einig  an  ber  JJreubenquetle, 

Sie  bein  Stnblicf  fürchterlich  oergätlt. 

Sich,  in  jebent  Saut  non  bir  crroachet 
Sobier  ©cmne  Dualerinnerung, 

3eber  beiner  halben  ®li<fe  fachet 
Sie  unfterbliche  SBerjroeifelung. 

Jpölle,  .fjölle,  roo  ich  bid)  oermiffe, 

£>ölte,  roo  mein  Sluge  bich  erblicft! 
gumenibenruthen  beine  Süffe, 

Sie  non  feinen  Sippen  mich  entlieft! 

©eine  gibe  bonnern  au?  bem  ©rabe  roieber, 
groig,  einig  roürgt  [ein  SJteineib  fort, 

©roig  — hier  umftriefte  mich  bie  $pber,  — 

Unb  oollcnbet  mar  ber  SKorb. 

Sin  ganzer  ©tufengang  be3  pfpdjologifdjen  ^rojeffeS,  burch 
bett  eine  foldje  Unglüdliche  jur  Berhängnifjöoßen  Sftorbthat 
getrieben  werben  fann,  fomntt  Iper  jur  $arfteßung.  $a§  SBolfS« 
lieb  begnügt  fid)  mit  bem  fpinweiä  auf  ben  tüüf)numnad)teten 
©inn  ber  83erlaffenen , welche  im  fßaffer  bie  befte  ÜJuheftätte 
fuc^t  für  ihr  itinb. 

ÄflerbingS  fittb  mit  biefer  fprungfjaften,  abgebrochenen, 
anbeutungSweifen  fTarfteßung  be«  SBolfsIiebeS  auch  ©chatten« 
feiten  oerbunben:  werben  bie  ©priinge  31t  grofj,  bie  §lnbeutungen 

(318) 


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23 


gu  bünn,  fo  leibet  bie  Serftänblid)feit,  jurnal  bei  ben  älteren 
SoltSliebern,  welche  »ielfadj  anbere  SebenSoerljältniffe  »orau«< 
fefcen  unb  iibcrbie«  nodj  häufig  Iüdenljafte  Ueberlieferung  haben: 
fie  ftnb  uns  oft  »öflige  SRäthfel  geworben.  §lt«bann  öermag 
ba«  SoIfSlieb  bie  feine  Snbioibualifirung  unb  bie  pfhdjotogifdje 
9J?annigfaltigfeit  ber  Sunftlhrif  nicht  ju  erreichen.  2Bät)renb 
jeber  »obre  Äunftlprifer  eine  inbioibueüc  fiebenSanfdjauung  au«« 
fpridjt,  eine  eigenartige  SSelt  offenbart,  bie  un«  an^ieht  unb 
gefällt,  bleibt  ba«  Sotfäfieb  mehr  in  ber  Mgemeinfjeit  ber 
©mpfinbung  unb  ftrcbt  eine  pfhdjologifdje  Vertiefung  unb  3n« 
bioibuatifirung  berfelben  gar  nicht  an.  @«  begnügt  fid),  in  un« 
eine  allgemeinmenfchliche  ©ntpfinbung  anjufdhlageit.  3nbem  ba«« 
felbe  aber  befonber«  fräftig  gefc^ie^t,  wirb  unfere  ©efühl«welt 
lebhaft  erregt  unb  toir  übertragen  au«  bem  eigenen  £>er$en  bie 
£$arbc  bc«  gan$  ißerfönlichen.  2Rit  SHecfyt  fagt  Södel:  „$ie  aü» 
gemeine  gornt  ber  Seclenbcwegung  im  Solf«lieb  nimmt  erft 
innerhalb  unferer  Slnfcfjanung  unb  burdj  ba«,  wa«  mir  fetbft 
unwiüfürlidj  an  ©ebanfengehalt  ober  inbttjibueCfer  ©mpfinbung 
bamit  »erbinben,  bie  gorm  beuttitfjer  Seefenbilber  an." 

£a,  wie  wir  gehört,  bie  2(nfd)aulid)feit  eine  ber  wefent» 
lichften  @igenfd)aften  be«  Solf«liebe«  ift,  fo  fornntt  e«  in  bcm« 
felben  auf  eine  glütflidje  SBahl  fd)öner,  ungefucfjter,  fräftiger, 
pacfenber  Silber  unb  Sergleidje  befonber«  an.  llnb  hierin  jeigt 
e«  wieber  feine  grofje  2Reifterfd)aft.  ®a  erhalten  alle  Vorgänge 
im  menfd)lid)en  ©emütlje  ihre  ©pmbole,  ihre  Vergleiche,  ihre 
Spiegelbilber  in  ber  finnenfälligen  Ülufjenwelt,  befonber«  im 
fiebeu  ber  iRatur,  mit  ber  ba«  Voll  ja  befonber«  oertraut  ift, 
mit  ber  e«  täglichen  Umgang  pflegt.  2Man  fann  nad)  Selieben 
in  ben  beutfdjen  Volf«lieberfd)a(j  hineingrcifen  unb  wirb  überall 
biefelbe  Erfahrung  machen. 

fiaub  unb  ©raS  btiS  muf?  bcrroelfcn ; 

9tber  treue  SJiebe  Hid)t. 

(S49) 


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24 


SBie  wirb  gier  bie  ©eftänbigfeit  ber  Siebe  burcg  ben  Äontraft 
mit  bem  ©cwegticgften  unb  SBanbetbarften  ber  äußeren  9?atur 
einbringticg  gemacgt!  Ober  man  erinnere  fid)  etwa  an  bas 
befannte  „©erlaffen,  üerlaffen  wie  ber  @tein  auf  ber  ©tragen". 
3>aS  ©efügt  grenjentofer  ©ertaffengeit  fann  burcg  feinen  ttäger« 
liegenbeit  unb  patfenberen  ©ergleicg  auSgebrütft  werben  als  burcg 
ben  ©tein  auf  ber  belebten  ©trage,  an  bem  Stile  acgtloS  oorüber« 
gegen,  ber  göcgftenS,  wenn  man  ign  bemerft,  unmittig  auf  bie 
©eite  geworfen  wirb,  ©icgt  bie  ©erfaffengeit  in  ber  ©inöbe, 
fonbern  jene  mitten  unter  ben  ÜHenfcgett  ift  bie  qualoottfte! 

gertier  treten  im  ©otfSliebe  bie  äugeren  $>ittge  in  un« 
mittelbare  ©erbinbung  mit  ben  ©orgiingen  beS  menfcgticgen 
©emiitgeS. 

6$  ftefjen  brri  ©tcrn  am  §immet, 

$>k  geben  ber  Sieb’  ifjren  Sdjtin : 

„®ott  grub  cud),  icf|öue$  3ungfräultin!" 

agiere  reben,  .jpimmelSförpfr,  ©teine,  ©ffartjen  werben  belebt, 
jubeln  unb  ftagen  mit  bem  SDfenfcgen,  leben  unb  fterben  wie  er. 
©o  fingt  ein  treulos  ©erlaffener: 

fteljt  eine  Sinb  in  bieiem  $f)at: 

9t  dj  ©ott,  um«  ttjnt  fte  ba? 

©ie  toiü  mir  ^etfen  trauern, 

Sag  i <S)  fein  9)ufjlen  gab. 

$ie  Sitie  neigt  fid)  oor  ber  3rau»  roeldje  igrem  ©atten 
bie  Ireue  bewagrt;  bie  ^pafetftaube  Warnt  oor  nagem  Ungfücf; 
bie  iftacgtigatl  maegt  ben  Siebesboten.  35ie  gute  ©onne  fiegt 
baS  SiebeSmtglücf  jweier  ©etrennten  unb  meint,  auf  bem  un« 
überfteigtidjen  ©erge,  ber  fo  tauge  Sieb  üon  Siebe  fegieb,  fei 
igr  ber  ©egnee  noeg  ju  gart,  um  igtt  ju  fegmet jen ; aber  ©otteS 
©Sitte  mug  gefegegett:  ber  ©egnee  fegmitjt  unb  fetig  fliegt  bie 
©efangene  ginauS.  — Sta  bureg  bie  gan^e  SRatur  wegt  eine 
gegeimnigoofle  Straft  unb  SJfacgt,  wetege  im  ^ufammengange 

(WO) 


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25 


ftef|t  mit  bcm  Stü  be$  $)afein$.  SBie  fd^ön  wirb  in  einem 
geijßidjen  93olfäliebe  ber  ©eeleitfampf  beS  SBeltljeilanbeS  ge» 
fdjilbert : 

35a  3e)u«  in  ben  ©arten  ging 
Unb  itjnr  {ein  bittre#  fieib  anfing, 

35a  trauert  ade#  über  bie  3Äa6, 

®3  trauert  8aub  unb  grüne#  @ra8! 

Sluf  biefem  ©ege  ber  Katurbefeelung  finb  namentlid)  bie 
Blumen  aßmätylid)  ju  öößig  tppifdjer  Skrroenbung  gelommeit. 
Blumen  finb  Jungfrauen  roie  ba$  SRöStein  auf  ber  |>eibe, 
rcelcf)f8  ber  toilbe  Änabe  bricht;  ober  S3 turnen  unb  itjre  garben 
bebeuten  @igenfd)aften  be3  ©emütljeS.  ©o  bie  Silie  unb  ifjre 
rocifie  garbe  bie  Unfdjulb;  bie  Kofe  unb  ifjre  rotfje  garbe  bie 
üicbe;  ba3  Sergifjmeinnidjt  unb  ifjre  bfaue  garbe  bie  Xreue  u.  f.  to. 
Sie  finnbilbfidjen  Sebeutungen  frpftaßifirten  fidj  in  Kamen  unb 
biefe  gingen  »otn  SBolfSliebe  fogar  in  ben  ©ebraucfj  be£  täg» 
liefjen  SebenS  über.  SDfancfje  öfume  oerbanft  ifjre  Benennung 
bem  finnigen  ©emütfje  be3  SoffeS:  fo  baS  SBergijjmcinnidjt, 
SDiafelieb,  ©ofjtgemutf),  QtfjrenpreiS  u.  f.  tu. 

©eit  auägefponnene  33ergfeidje  unb  ©ilber  liebt  bie  ecfjte 
Bolfspoefie  nidjt,5  getuöfjnfkfj  reidjen  fie  nidjt  über  ein  ober 
jmei  SSerfe  fjinanS,  bann  mirb  in  ebetifooiel  Werfen  bie  Stn» 
roenbung  baneben  gefteflt.  $lu3  biefem  ©ebraudje  fjat  fid)  eine 

beftimmte  gorm  IjerauSgebilbet,  tueldje  man  getuöfjnlidj  als 
„BaraßeliSmuS"  bejeid^net  unb  ju  ben  ©tileigcntljümlidjfeiten 
be#  BolfSliebeS  rechnet.  2)ie  Sßertuenbung  biefeö  SßaraßeliSmuS 
ift  vielfältig.  miß  nur  bie  tuidjtigften  Wirten  mit  Seifpielen 
belegen. 

Sie  fdjön  ift  DodJ  bie  Silic, 

3>ie  auf  bem  Safjer  {djroimmt! 

Sie  f<f|ön  ift  bod>  bie  3ungfrau, 

S)ie  i^re  t£f)r  behält  1 

3uerft  jtuei  SSerfe  Sifb,  bann  jtuei  Sßerfe  Sfntuenbung. 

($51 1 


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26 


@8  fann  ober  auch  umgefeffrt  ba$  93ilb  nachfolgen,  ober  e$  fantt 
berfefbe  ®efiihl$au§brucf  roieberholt  unb  burdj  ein  hoppelte« 
S3ilb  üerftärft  werben : 

3 lieb  bi  jo  feft 
©ie  ber  ©am  jeine  Äejt, 

©ie  ber  Fimmel  feine  ©terti 
©rab  jo  bab  t bi  gern. 

®ie  ©ergleidjung  fann  ganj  allgemein  nnb  auch  negatio  fein ; 

v 3ft  nit  an  jebS  ©ajjert  f(ar, 

'Jlit  an  jeb«  trüeD : 

3ft  nit  an  jebS  ©üebi  fein, 
fftit  an  jebd  lieb. 

3a  ei  ift  manchmal  gar  nicfjt  auf  eine  birefte  ißergfeicf)ung 
abgefe^en,  fonbern  ber  bilbliche  $f)eil  fann  ben  3roecf  ^f»ben, 
eine  ©emiitf)8ftimmung  ju  begleiten  unb  jtt  oerftärfen: 

Stf'n  Jauern  tuctS  ftfjaucrn, 

Jab  e$  blau  niebergeat: 

«’Jienbl  tuet  trauern, 

©eil  ber  ©ua  eoit  tyrn  gcat. 

®ie  SJatur  erfcfjeint  tyet,  um  eine  93e$eicf)nung  au8  ber 
SJfufif  ju  gebrauchen,  al$  jRefonanjraum,  ber  mittönt  unb  bie 
filiinge  be$  ©emütheä  oerftärft.  — Ober  ber  bilbliche  Xfjeif  fann 
oenueubet  toerben,  um  eine  gemiffe  ©runbftimmung  ju  erzeugen, 
meiere  ber  dichter  braudjt: 

Jab  ber  ©alb  finftcr  ift, 

Jab  machen  bie  ©am: 

Jab  mein  ©d)a&  untreu  ift, 

Jod  glab  i tarn. 

$)ie  bäntmernbe  Unbeftimmtheit,  bie  llnfichcrheit  ber  SBahr- 
nehmung  wirb  burcf)  ba3  9iaturBilb  oorbereitet.  — Ober  ba8 
9?aturbilb  fann  bie  Situation  jeichnen  unb  zugleich  bie  ©tim« 
murtg  anfdjlagen: 

(352) 


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27 


S)rei  Saub  auf  einet  Sittbcii 
, 3>ie  Mitten  alfo  tooljl: 

Sie  t^ut  Biel  taujcnb  Sprünge, 

3^r  f>erj  ift  freubenBolI. 

3<b  gönn’8  bem  SPlägblein  tooljl  l 

Die  Sinbe  beginnt  gu  blühen:  e«  ift  grüfjling  uitb  frö^> 
lidje  Stimmung.  Da«  SDMgblein  ift  f|erau«gefommeu  unb  tangt 
unter  ber  Sinbe  ben  Zeigen.  Diefer  33eleg  geigt  un«  bereit« 
bie  ©renge,  wo  bie  beftimmte  $orm  be«  ^ßaraßeliömu«  in  bie 
allgemeine  SBüblic^feit  überfliegt.8 

Die  Neigung  be«  93olf«licbe«  gur  finnlidjen  SBerattfcfjau» 
lidjung  offenbart  fidf)  aud)  im  fleinen  unb  einzelnen.  Äbftratte 
StiiSbrücte  ber  geit  unb  be«  Orte«,  loie  fie  bie  $nnftbid)tung 
häufig  gebraust,  werben  im  SßolfSliebe  möglicfjft  gemiebeit. 
gür  „immer"  g.  93.  fefct  e«  lieber  bie  beiben  finnlidjen  |>älften: 
„bie  9?ad)t  unb  aud)  ben  Dag"  (ogl.  oben  im  SDiüflerliebe). 
Da«  entgegengefefcte  „niemal«"  toirb  anfc^aulicf)  Umtrieben  mit 
„wenn  bie  3iaben  fidf)  in  weijje  Dauben  oerwanbeln"  ober 
„roenn  ba«  ÜJ?eer  ftiß  fieljt  unb  gum  ©arten  wirb"  u.  bgl.  m. 
(Sine  weite  räumliche  Strecfe  wirb  au«gebrücft  mit  „foweit  ba« 
Äuge  fieljt"  ober  „foweit  bie  Sterne  teuften"  ober  „foweit  ber 
£>immel  blau"  u.  f.  w.  Sn  ä^nlicfjer  SSeife  werben  aud)  abftrafte 
Äu«briicfe  ber  $al)l  burd)  fonfrete  93ilblid)feit  aitfcfiaulid)  gemacht. 

So  gtüg  icf)  birf)  fo  oft  unb  bicf 

SIS  mandjer  Stern  Bom  §imme(  blicft, 

2tfä  mandje  3Mume  warfen  mag 
®on  Dftcrn  biä  Sanlt  URidjctätag. 

Ueberaß  merft  man,  wie  biefe  Dieter  nidjt  nur  beiden, 
roa«  fie  bidjten,  fonbern  aud)  flauen. 

Die  bi«f)er  an  ben  oerfdjiebcnftcn  Steflen  unb  gu  ben 
»erfd)iebenften  3weden  angeführten  Sieberftrop^en  geben  gugleicf) 
Seugnifj,  wie  ba«  93olf«lieb  aud)  über  rein  ftiliftifdje  SJiotioe 

(363) 


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28 


ber  öerfdjiebenften  Mrt  oerfiigt,  »eld)e  bie  Sirfung  be3  3n()altce 
erhöben.  So  fanben  »tr  finnoolle  MuSrufe,  »irffame  grager 
3n»erfionen,  »ieberfebrenben  ©leidfbau  ber  @ä|e  in  berfelb« 
©tropbe.  Sie  fc^ön  ift  j.  8.  bie  Mnapbora  im  obigen  ©d»ober« 
büpfel:  „3ft  nit  an  jebS  Safferl  flar" , »eld)e  fiel)  burdj  bie 
ganje  ©tropfe  f)inburdjjief)t.  Mud)  innerhalb  be3  Serfeä  liebt 
eä  bie  Solfäpoefie,  ben  ©inbrucf  mistiger  Sorte  burc§  Sieber« 
bolmtg  ju  oerftärfen:  „©djeibeit,  ad)  Scheiben  t^ut  web!"  — 
„Sir  jogen  in  baS  »eite,  »eite  gelb".  — „2>ie  fallen,  fallen, 
3ungen."  — „®ie  hoben,  hoben  Serge;  ba«  tiefe,  tiefe  $baJ"  — 
Mud)  j»ei  Strophen  »erben  burd)  Sieberboiungen  miteinanber 
oerbunbeit  wie  j»ei  ©lieber  einer  fiette,  inbem  bie  neue  Strophe 
ba§  Schlußwort  ber  oorbergebenben  »iebert>olt,  fo  baß  ©nbe  unb 
Mnfang  incinanber  greifen: 

$a&  i d)  bid),  Sieb,  muß  meibcn, 

£0,511  jivnnget  nticf)  OJcmalt. 

©eroalt  bu  bift  eine  grofje  ißein  u.  f.  n>. 

(o.  SBalbbcrg,  SHcnaiffanceltjrif  61.) 

3a  ganje  Serfe  werben  »ieberbolt,  um  fie  befonber$  ein« 
bringlicb  ju  machen,  unb  bie  betreffenben  Strophen  iiberbieä  mit 
SaralleliSmuS  gefcfjmücft.  ©inen  bübfdjen  8cleg  biefer  Mrt  bot 
§anä  ©raßberger  (in  einem  geuideton  ber  Siener  SDeutfchen 
ßeitung)  mitgetbeilt: 

®rou6en  im  SBalb 
33  a SBafferle  trüab: 

£>aft  an  anbern  ®neb'n  gfjalf’n, 

®ift  nij  me^r  jo  liab. 

£>aft  an  anbern  SJuab’n  gball’n, 

©ift  nij  mcfjr  fo  liab: 

Ifannft  bi  Ijunbcrtntal  toafd)'n, 

SRinnt3  SSafferte  trüab. 

3n  cntgegengefefcter  Seife  wirb  ein  ober  »erben  mehrere 
Sörter  oerfd)»iegen  unb  mäffen  oom  ,£>örer  ergänjt  »erben, 

(354) 


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29 


rooburd)  gleichfalls  bie  Ättfmerffamfeit  gefpannt  wirb.  Sin  Sei' 
fpiel  bei  Uljlanb,  SJoIfSlieber  I.,  268: 

O @d)tffmann! 

i!a&  bu  boä  S-aljitlein  ramme  bretjn. 

2a6  bu  bas  Sdjifflein  untergetjn, 

£a6  bu  baS  fdjmarabraun  SNäbelein 
flu  ©runbe  . . .! 

(Sin  häufig  gebraustes  ©tilmotiü  beS  SBolfSliebeS  ift  cS,  glciS 
mit  einem  ^inmeiS  ju  beginnen  („£ort  brobctt  auf  jenem  Söerge." 
„$a  unten  im  tiefen  2f)al")/  fo  baß  man  gleiSfant  nur  bie 
Äugen  aufjufSIagen  brauSt,  um  bie  ganje  ©egenb  nor  fidj  ju 
fehen.  Cber  eS  tnirb  juerft  baS  allgemeine  93ilb  ber  Certlidjfeit 
gegeben,  bann  noS  ei»  bejonberer  5£^eil  baoon,  woburdj)  baS 
©an$e  erft  reSt  lebhaft  unb  anfdjaulid)  tuirb. 

Unb  ba  fic  »or  baS  Slofter  tarnen, 

SBofjl  nor  baS  tjofje  Jtjor, 

Sfragt  er  nach  ber  jüngfteu  Tonnen. 

®ie  gigur  ber  grage  inirb  (außer  bem  Änfang,  barüber 
fSoit  oben  ©.19  f.)  aud)  im  entfdjeibenben  SBenbepuuft  ber  bar« 
gefteUten  ^anblnng  gern  gebraust,  tuoburS  biefer  bebeutfam 
heraustritt.  Sin  gutes  Seifpiel  bei  Hilmar,  SSoIfSlieb  ©.  131: 

28aS  jog  er  aus  feiner  Jafctjen? 

@in  ffltcfjer  luar  blant  unb  rcar  fpi(j. 

ftenngeiSnenb  für  baS  SiolfSlieb  ift  auS  ber  häufige  ©ebraud) 
»on  ®iminutioen  unb  anberen  Sßerf leinerungSroörtern : „3S  hört 
ein  ©idjelein  raufSen".  „SS  gieng  ein  Änöblein  faSte". 
„ÄS  SlSlein,  liebes  SlSlein",  unb  fo  geroöhnliS:  „ein  Sßafferl", 
„ein  Süebl"  unb  bergteiSen  ungejähltemal.  £aS  fSmeibigt  bie 
©praSe,  giebt  ihr  eine  giirbung  ber  Zartheit,  3rtnigfeit,  $erj« 
liSleit,  melSe  baS  naioe  9?aturgemüth  »erlangt. 

fReS»et  man  noS  baju  bie  häufige  S8ertt)enbung  beS 
Dialogs,  fotoie  beS  SöeSfelS  gtüifSen  birefter  unb  inbirefter 

(356) 


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30 


Siebe,  fo  wirb  man  erfennen,  baß  baS  93oIf  über  einen  ©cf)a| 
wirffanter  ©tif  mittel  üerfiigt,  wobur cf)  ber  3n^oft  fräftiger  heraus« 
gearbeitet,  bie  Sprache  poetifcf)er  geftaltet,  bie  ganje  SBirfung 
beS  SolfSfiebeS  erhöht  wirb. 

SBaS  bie  ©pracf)e  fefbft  betrifft,  fo  finbet  man  bie  ganje 
©tufenleiter  oom  MtagSbialeft  bis  fjinauf  jurn  reinen  Schrift« 
bentfcf).  3m  allgemeinen  ift  baS  ©treben  nach  einer  Sprache, 
welche  glatter  mtb  feiner  fich  auSnimmt  als  bie  gewöhnliche 
UmgangSfprache,  eS  ift  baS  Streben  nach  einer  gehobenen 
Sprache  beutlicß  wahrnehmbar. 

®ie  SJietrif  befifct  fefbftoerftänblidj  nicht  bie  SJiannigfaltigfeit 
uttb  feine  SluSbifbung  wie  bie  ber  Äunftltjrif;  aber  bafiir  ift  auch 
nirgenbS  bie  ©pur,  baß  fie  etwas  für  fi<fj  felbft  fein  toiß, 
welches  außer  bem  ©efjaft  beS  ©ebichteS  einen  SBerth  hat-  ^ec 
SthMmuS  ift  höchft  einfach,  9ehl  nicht  auf  ©ifbeitjähfen,  auf 
Sorreftheit  unb  Pfeile,  fonbern  nur  auf  baS  SEBefentliche,  auf 
beit  Sfnfchfuß  an  ben  3nhalt.  5Der  Sieirn  wirb  gern  uerwenbet, 
wenn  er  fich  einfteßt;  fehlt  er  jeboch,  fo  läßt  fich  ber  dichter 
baburch  nicht  aufhaften.  @o  fommt  cS,  baß  ©trophen  mit 
üppigem  Sieimfchmucf  neben  ganj  reimfofeti  ftehen.  ©in  ähnliches 
SBerhäftniß  ift  wafirjunehmen  bei  Mitterationen  unb  ben  Der* 
fchiebenen  anberen  Äfang«  unb  Sautmafereien,  bie  bafb  reichlich, 
bafb  fpärfich,  bolb  gar  nicht  oertreten  finb. 

gufammenfaffenb  faun  man  fagen:  §Ieußere  gorm  unb 
Sieget  finb  Siebenfache,  um  fo  mächtiger  aber  waltet  bie  innere 
S£riebfraft.  25aher  ift  eS  gefommen,  baß  bie  SöoffSbidjtung 
bie  richtigen  ©runbfäfce  ber  beutfchen  SJerSmeffung  auch  noch 
in  jenen  3e‘tcn  fefthiett,  als  bie  ganje  beutfcße  Äunftbicf)tung 
biefelben  oerforen  hatte. 

Slach  aß  bem  ©efagteit  wirb  fich  bie  ftarfe,  oft  über« 
wäftigenbe  SBirfung  eines  guten  SBoIfSIiebeS  begreifen. 

Söir  wenben  uns  §ur 

(S66) 


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31 


ßntnncfefuitg  unbSebeutung  beä  beutfc^en  SßoIfSliebe«. 

$>ie  beutle  SotfSbichtung  ift  jo  alt  wie  bas  beutfche  Sol! 
felbft,  ja  ihre  SBurgeln  reichen  nodj  weiter,  reichen  in  bie  inbo* 
germanijdje  Urzeit  unb  gu  ben  Anfängen  ber  3Rcnfd)heit  gurücf: 
bie  poetifche  ©chöpfungSfraft  ift  ein  ebenfo  nothwenbigeS  Attribut 
beS  SRenjdjen  wie  ©djauen,  ©mpfinben,  güf)len,  $)enfen.  ©chon 
in  ber  ©prad)bilbung  offenbart  fid)  if)r  mächtige«  SBalten  burd) 
Uebertragung  finnlidjer  Vorgänge  auf  geiftige,  burd)  ©Raffung 
jdjöner  Sergleidje  unb  Silber,  bie  wir  nod)  in  fjiftorifcfyer  ßeit 
in  mannigfaltiger  Söeife  beobad)ten  fönneit.  UnS  freilich  ift 
fjeute  oielfad)  fdjon  ba§  Sewujjtfcin  baoon  oerblajjt:  mir  ge. 
brauchen  biefe  alten  unb  neueren  ©pradjfdjöpfungen  meift  als 
abgegriffene  üftüngen,  welche  mir  gebanfenloS  empfangen  unb 
ebenfo  roieber  roeitergeben.  Sßer  benft  ^eute  noch  baran,  bafj 
er  in  einem  fd)önen  93ergleid)e  gefprod)en  ijabe,  wenn  er  etwa 
jagt:  „2>aS  gange  Unternehmen  ift  gu  ©runbe  gegangen"  ober 
„biefer  SRenfd)  ift  gang  gu  ©runbe  gegangen"?  2öer  erinnert 
ficf),  bafj  er  ein  Silb  oermenbet  ^at , welches  fjer9enomn1en  ift 
oo m ©djiff  auf  bem  SReere,  oom  ftaf)n  auf  bem  gluffe?  ®e,tn 
nur  biefe  fönnen  im  eigentlid)en  ©inne  beS  SBorteS  „gu  ©runbe 
gehen"  unb  finb  bann  oernicf)tet.  SBenn  @iner  jagt:  „ich  &«• 
greife  baS",  fo  wirb  ihm  heute  taum  mehr  gutn  Sewufjtfeiu 
fommen,  bajj  er  einen  finntidjen  Sorgang  auf  einen  geiftigen 
übertragen:  bafj  er  mit  ben  ^pänben  beet  ©eifteS  gugegriffen, 
angepadt  hat,  wie  er  eS  fonft  mit  ben  §äitben  beS  SörperS 
macht.  3>ie  ,3ahl  joldjer  unb  ähnlicher  gälle  ift  Segiou.  — 
Such  bie  ÜJttjthologie  unferer  21hnen,  bie  Srt,  wie  fie  fid)  bie 
göttlichen  £inge  unb  baS  geljeimnifwolle  Seben  ber  9?atur  in 
Silb  unb  ©rgäfjlung  oeranfchaulichten,  ift  ein  wahres  Slumenfelb 
echter  urfprünglicher  SotfSpoefie.  Unb  jo  hatte  ®amann  fRed)t, 
wenn  et  jagte:  „ißoefie  ift  älter  als  ißrofa;  ^Joefie  lebt  in  ber 

(357) 


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32 


©pracfie,  ißoefie  lebt  im  äRpthuS,  ißoefie  fteljt  am  Anfänge  ber 
©efd)id)te." 

Sieben  ber  ißoefie  in  (Sprache  unb  ÜRpthuS  ^aben  bie  alten 
©ermatten  auch  ißoefie  im  engeren  ©inne  befeffen. 

©d)on  bie  lateinifdjen  unb  griedjifchen  ©chriftfteller  in  bcu 
erften  3a^rt)unberten  nad)  öfyriftuä  erzählen  non  ©efang  unb 
Siebern  ber  ©ermatten.  (Sine  Sleipe  uon  Sieften  biefer  alt* 
peibnifchen  ißoefie  pat  fic^  mit  geringen  SSeränberungen  bis  auf 
unfere  $eit  Ijerab  gerettet,  ©o  ^ört  man  im  ££}üringifd)en  nodj 
folgenbcn  ©egenfpruch  jum  SSlutftiHen : 

(Ss  gingen  brei  tjeitige  grauen, 

3)ie  rooflten  baS  SBlut  6efcf)auen. 

®ie  eine  fprad)  „eg  ift  rotf)", 

®ie  aubere  fpradj  „eg  ift  tobt", 

5>ie  britte  jprad)  „ei  luotl  ftitle  ftcpn 
Unb  nicht  toeitergetjn''. 

((Schabe,  SEeim.  gafjrb.  TII.  254.) 

9iur  baS  SSort  „heilige"  ftatt  meife  grauen  ift  c^riftfic^en 
UrfprungS,  alles  anbere  ift  noc^  urheibttifd)  uttb  ganj  im  ©tile 
ber  beiben  befannten  althocpbeutfchen  3au^erfPrüc^e  gehalten. 

(Die  älteften  Ueberbleibfel  fc^riftlidjer  Ueberlieferung  enblid) 
enthalten  gleichfalls  nid)t  ißrofa,  fonbern  fßoefie  beS  93olfeS. 
®aS  93oIf  mürbe  bamalS  gebilbet  nom  Äriegerftaube,  uttb  ber 
fang  natürlich  junädjft  non  Ärieg  unb  ©djladjt,  non  Kämpfern 
unb  gelben,  fang  alfo  SRecfenbaHaben,  mie  uns  im  f>ilbebranbs* 
lieb,  unb  fang  ©c^Iaditenlieber,  mie  uuS  im  SubtnigSliebe  ein 
fchöneS  SJeifpiel  erhalten  geblieben  ift  (Silienfrott,  ©eutfclfeS 
Seben  im  SJoIfSliebe  ©.  XXXVIII). 

SllSbalb  aber  mürben  bie  germani)d)en  Hölter  jutn  Sfjriften- 
tpum  belehrt.  2>amit  fanten  bie  Anfänge  einer  höheren  geiftigen 
finltur  unb  bamit  auch  ber  Unterfdjieb  jmifchen  gebilbet  unb 
ungebilbet.  Slaturgemäfe  mar  bamalS  bie  ©eiftlidjfeit  Präger 
biefer  höheren  Kultur.  Sie  brachte  halb  auch  c‘ne  onbere,  mehr 

(358) 


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33 

gelehrte,  mefjr  fdjufmäßige  ^icf>tungStt»eife  in  bie  Sitteratur  unb 
brüngte  bie  alte  VoffSbidjtung  ebenfo  wie  ben  alten  Volts* 
glauben  in  ben  |>intergruub.  $afj  bie  VoftSbidjtung  aber 
wäfjrenb  ber  ganjen  aftfjodjbeutfdjen  $eit  im  Verborgenen  weiter* 
lebte,  beweifen  bie  wieberpoften  Verbote  ber  firdjlidjen  Oberen, 
^eibnifefje  unb  weftfidje  Sieber  ju  fingen.  2Bir  fjören  in  bett* 
felben  audj,  baß  bie  alten  $eutfdjen  mitunter  fogar  in  ber 
&ird)e  Xanjlieber  anftimmten  unb  bafj  bie  Können  im  SUofter 
ftatt  ber  Vefper  lieber  üoffSmäfjige  Ciebeöfieber  fangen;  noef) 
£ar(  ber  ©rojje  mußte  ifjnen  baS  in  einem  befonberen  ©rlaß 
»erbieten.  Kidjt  weniger  betoeifeit  baS  »erborgenc  gortfeben 
ber  VoftSbidjtung  bie  ftilifttfdjen  unb  inhaltlichen  ©inflüffe  ber* 
felben,  welche  ba  unb  bort  in  ber  mefjr  fdjufmäjjigen  $idjtung, 
befonberS'  aber  in  ber  Inteinifdjeit  Vagantenpoefie7  jum  Vor* 
fc^ein  fomnten. 

$fm  Seginne  beS  KtittefaftcrS  tritt  ber  geiftlidje  ©tnnb 
mefjr  unb  mefjr  in  ben  fpintergrunb;  ftatt  feiner  übernimmt  nun 
ber  $fbef  bie  fjüfjrung  in  ber  beutfefjen  Sitteratur.  $ie  erften 
Sfnfänge  ber  mitteffjodjbeutfdjcn  Sprit  gefjen  oon  ber  VoltSpoefie 
au«.  Sieberftoffe,  welcfje  in  jener  $eit  fjeroortreten,  föntten  nod) 
in  ber  fjeutigen  VoltSpoefie  nadjgetuiefen  werben.  Von  Dielen 
Veifpiefen  möge  nur  eines  fjier  Sßfajj  finben,  auf  baS  fdjon 
jperm.  junger  (Vogtfanb)  fjingewiefen  fjat.  $n  einem  Siebe#* 
brief  aus  bem  12.  Safjrljunbert  finbet  fidjbaS  rei^enbe  Siebdjen: 

Du  bist  min,  ich  bin  dln: 

Des  sott  du  gewis  sin. 

Dü  bist  beslozzen 
In  niinem  herzen : 

Verlern  ist  daz  slflzzelin: 

Dü  muost  immer  drinne  sin 

tiefes  üftotiö,  baS  ^erj  afS  einen  Sdjrein  ju  betrachten, 
ber  mit  einem  Sdjfoffe  üerfperrt  ift,  ift  bem  VoIfSfiebe  nod) 
jeljr  geläufig.  80  fingt  man  in  Ständen  unb  $irof: 

Sammlung.  ü.  jj.  V.  106.  3 (859 > 


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34 

ffllci'  jperj  unb  bei'  iper-t 
Sein  .tufammengfcfjnninb'n, 

Xer  Scfjlüffel  ift  oerloren, 

©erb  nimmer  gfunb’n. 

Opörmanit,  ®cf)nab.  S.  107). 

häufig  i|‘t  bie  finnige  SBariation,  baff  nur  einer,  ber  (be- 
liebte, beit  Scfjliiffcl  junt  Sdjloffe  befiße. 

SWei’  iperü  ift  ocridjtoff’n, 

3fl  Q ©ogcnjdjlOB  bram 
3ft  an  anjigei  ©nebl, 

3\i3  'S  aufinadm  fann. 

3n  biefev  SBeife  fingt  man  e$  in  $iro(,  Steiermarf,  Kärnten, 
iBogtlanb  unb  an  attberen  Orten  £cutfdjlanb$. 

3n  ber  ^weiten  ^älfte  beö  12.  3nf)rf)uubert3  wirb  ber 
:öolf§einfluß  oom  ßöfifdjen  9Befen  best  SRittcrtfjuinS  meljr  nnb 
meljr  juriief gebrängt;  bafiir  gewinnen  frembe,  fjauptfädjlid)  fron* 
äöfifdfe  fDiobeeinfliiffe  bie  Oberfjanb,  nnb  ei  cntmicfelt  fid)  eine 
funftmäßige,  ganj  fonoentionelle  Sprit:  baS  ßöfifdje  ÜNinnelieb. 
(Cer  SoltSgefang  würbe  af3  un^öfifd),  als  „börperlid)"  jurfid» 
gewiefen.  ÜNitt  bie  alten  .'pelbenlicber  fanbeit  ©nabe,  wttrben 
aufgelefen,  bem  .ßeitgefdjmacfe  entfpredjenb  umgearbeitet  unb  ju 
großen  (Spen  oereinigt,  welche  jum  Koftbarfteu  gehören,  wa§ 
bie  beutfdje  Sittcratur  befißt.  So  entftanben  bie  ^Nibelungen, 
bie  Kubrun  unb  bie  auberen  fogettannten  ®olfSepett. 

3tt  ber  ^weiten  §älfte  beS  13.  unb  im  14.  3af)rl)unbfrt 
verfiel  ber  SRitterftanb  unb  mit  ifjnt  and)  feine  Sittcratur. 
$afür  gewannen  bie  unteren  Sdjidjten,  nameutlid)  bas  33iirgcrtf)um, 
metjr  unb  meßr  ©cbeutung  unb  traten  in  beit  SBorbergrunb.  5Nun 
wirb  aud)  ber  Sann  gebrochen,  weldjer  bieder  ben  SBolfSgefang 
beengt  unb  oerf)ülIt  fjatte:  oon  allen  gwcigeit  fefjadt  eS  unb  iit 
allen  möglidjen  Xonarten.  $5a  (jören  wir  ^ägerfieber,  heiter- 
lieber,  Stubentenlieber  unb  halb  aud)  .fjanbwerfer*  unb  SanbS* 

(840) 


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35 


fnetf)tlieber.  Slud)  ba§  refigiöfe  uitb  geiftliche  Sieb  finbet  iti  uiib 
Qu§er  ber  Sirene  liebeoolle  pflege. 

Ueberblicfen  wir  bie  ruic^tigften  Gattungen  beä  3$olf3liebe3 
nom  13. — 16.  Qafjrfjuttbert , fo  finben  wir,  bafs  bie  fdjönften 
perlen  bem  epifdjen  Siebe,  ben  SBallaben  uitb  SRomanjeii  an« 
gehören.  Uralte  Stoffe  erfdjeinen  nod)  unter  benfelben:  fo  ba§ 
pilbebranbälieb,  C£rmenrid)Stieb  utib  ber  Säger  «on  ©riedjenlanb. 
Sie  finb  gefdjweöt  oon  urgermanifc^er  Straft.  9Äan  fann  mit 
'43.  Scherer  fagen:  3e  älter  biefe  iüolfsbaltaben,  um  fo  marfiger 
unb  ergreifeuber  finb  fie.  Sw  15.  3af)tfjunbert  werben  fie  fcfjott 
matter,  breiter,  oerfdjwommencr,  erhalten  fie  einen  fentimentalen 
3ug  ober  »erfüllen  in  Ucbertreibung  unb  bamit  in  innere  Un- 
wahrheit; im  16.  So^^unbert  beginnen  fie  abjufterben.  Sbnen 
junächft  fte^en  bie  läge«  unb  SBädjterlieber,  in  welchen  fid)  ein 
trümmerhafteS  Jtacfjleben  ber  Jjöfifc^ert  Sprit  offenbart.  St)ten 
Sntjalt  bilben  nächtliche  3ufammenfiinfte  ber  Siebenben,  welche 
burch  einen  28äd)ter  ober  burd)  ben  ©efang  ber  iBögcl  ober  bn3 
pereinbrechenbe  £age3lid)t  aufgefcheudjt  werben: 

Ser  ©achter  oerfüubgct  una  ben  Ing 
Hit  hoben  3mnen,  ba  er  lag: 

„©oblauf  öefell!  e«  mujj  gefrfjicben  fein; 

So  nun  jroet  Sieb  bei  cinanber  jein. 

Sie  febeiben  fidj  halb! 

Ser  9Konb  fc^eint  burd)  ben  grünen  Salb." 

„SDterf  auf  fein«  Sieb,  toa$  id)  birfag: 

G«  ift  noch  fern  oon  jenem  lag. 

Ser  SRonb  febeint  burd)  bie  ©olfenftern; 

Ser  Sachter  betrübt  uns  3)eibe  gern; 

Sa«  fag  id)  bir: 

Sie  SRitteruacbt  ift  nod)  uidjt  für.“ 

Gr  briieft  fie  freunblicb  an  jein  93ruft, 

Gr  jprad):  „Su  bift  meine«  ^erjen  cm  Suft, 

Su  tjaft  erfreut  ba«  öerje  mein, 

®erfcbmunben  ift  mir  alle  ^cin. 

3*  (sei) 


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36 


3«  bi«fer  Qrnft 

2luf  (Erben  mir  feine  lieber  ift." 

28a«  30g  er  bon  ben  $änbeu  fein? 

$on  rotfjem  ©olb  ein  Siiitgelein: 

,,@icf)’  bo,  feind  Sieb,  ba«  rotfye  ©olb! 

3d)  bin  bir  Don  ©runb  meinet  Jperjen  fjolb, 

Ta?  glaub  bu  mir: 

Sin:  bid)  fo  toolt  id)  fterben  fdjier." 

Sr  au  ?fad)  tigall  fang  überall, 

3Bie  fie  normal«  mefjr  fjatt  gctljan, 

$abei  fpürt  man  be«  Sage«  ©djein: 

„SBo  nun  jtoei  Sieb  bei  einanber  fein, 

$>ie  fdjeiben  firf)  halb! 

3?er  lag  fcfieint  burdj  ben  grünen  3Balb." 

3n  ber  heutigen  SBoIfSpoefie  finb  bafür  bie  „©tänbdjen"* 
unb  bie  „gfenfterllieber"  getreten.  3m  15.  unb  16.  3afjrf)unbert 
mürben  biefe  Sage-  nnb  SßädjterlieDer  audj  fjäufig  geiftlicfj  um* 
gebietet.  Dir  fDiorgenftern,  melier  bic  Sladjt  üertreibt  unb  bie 
Siebeitben  rnedt,  wirb  jum  äßorgenftern  beS  einigen  Sebenß, 
meiner  bic  SBelt  aus  bem  ©d)lafe  ber  ©ünbe  werft;  ber  SBädjterruf 
auf  ber  ginne,  ber  bie  Siebenbcn  warnt,  tuirb  umgeftaltet  in  ben 
9iuf  beS  SöärfjterS  t>or  bem  lebten  ©eridjt  unb  uor  ber  58oH> 
enbung  biefer  2Beft  (SSilmar,  SBolfSl.  175). 

3>ie  Jage-  unb  SBäcfyterlieber  buben  nod)  erjählenben  Joit 
unb  finb  burd)  ben  Jialog  bramatifdj  belebt,  fie  bilben  baljer 
ben  tlebergang  non  ben  öaClaben  gu  ben  eigentlichen  Siebes* 
liebem,  in  meldjen  bie  inbioibueße  ©emiithSftimmung  mehr 
hemortritt.  9iad)  gorm  unb  Sn^alt  geigen  bie  Siebeslieber  eine 
uuerfdjöpflicfie  SÖiannigfaltigfeit.  Steine  ©attung  ift  fo  zahlreich 
tiertreten.  Sille  erbenflidjen  ©timmungen  nnb  3öed)felfälle  ber 
Siebe  finb  poctifd)  werroerthet,  oon  ber  erften  SReguitg  bis  jum 
ooHen  ©enufj  ber  Siebe  ober  bis  jum  ©Reiben  unb  SJieiben. 

Sieben  ber  Siebe  fommt  nun  aud)  bie  förperlidje  Sabe  in 

(S62) 


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37 


ber  ^oefie  gur  ©eltung:  eS  entfteljert  Xrinf-  itnb  3ed)lieber, 
dou  beiten  bie  ßöfifdje  ^Soefie  nicßta  mußte;  nur  bie  lateinifdjen 
Sagantenbicßter  ßabeu  ficß  aucß  in  biefen  Üöncn  oerfud)t.  „3n 
bie  Kneipen  laufen,  all  fein  ©elb  oerfaufeit"  war  bcn  Teutfdjen 
id)on  fef|t  früße  „ein  ßoßer  ßerrlidjer  ©eruf".  ®ie  SBeltplage 
be3  durfte«  Raufte  fcßon  bamalä  unb  fanb  am  rotß*  ober  weiß- 
befleibeten  SBein  ben  alljeit  tapferen  SBiberfacßer.  3)arum  toirb 
er  fo  eifrig  gefudjt,  oereßrt  unb  im  Siebe  oerßerrlidjt  als  bnS 
Sabfal  ber  dürftigen,  als  ber  SEröfter  ber  ©etrübten,  ber  ©efell- 
jdjafter  ber  Serlaffenen,  ber  greunb  ber  Sefümmerten  unb  ber 
Slblaß  ber  ©ünbigen.  @r  »oirb  als  liebfter  ©ußle  gefdjilbcrt, 
ber  „mit  einem  fjölgernen  fRödlein  angetßan"  unten  beim  SBirtß 
im  Äeller  liegt;8  ober  er  wirb  al$  SRebetßeil  beflinirt,  ober  al$ 
oorneßmer  IRitter  öoit  altabeligem  ©ebliit  begrübt;  ober  e8  werben 
für  fein  ©ebenen  ©ebete  gum  ßeiligen  Urban,  bem  SBcinpatron, 
emporgefcßidt,  bamit  er  beit  rotßen  unb  weißen  Stebenfaft  fegnen 
unb  ben  ©enießer  beSfelben  oor  97ieberlagen  gnäbiglid)  bewahren 
möge.  3a  gange  Xrinferlitaneien  werben  bem  SBein  gur  ©ßre 
gebidjtet. 

®ie  alten  Heineren  ©attungen  be§  SolfSliebeS,  bie  iRätfjfel-, 
SÖett*  unb  2Buufd)lieber  fotoie  bie  SUnberlieber  blüljen  neu  auf. 
Sleußerlidj  einen  breiten  fRaum  neßmen  bie  ßiftorifcßen  Solls- 
lieber  ein.  55ie  gaßlreidjen  ©treitigleiten  ber  Sürger  unter= 
einattber,  bie  SerfaffungSläitipfe  ber  fReicßöftäbte , bie  $eßben, 
meldje  dürften  uttb  fRitter  einerfeitS  fid)  gegenfeitig,  anbcrerfeits 
ben  bürgerlichen  ©tänben  lieferten,  bie  SefreiungSlriege  ber 
©cßweiger  unb  SJitßmarfcßen,  bie  ilriegSgüge  gegen  bie  jpuffiten, 
gegen  bie  dürfen  unb  bie  SBälfcßen  bilben  ben  3nßalt  biefer 
Sieber,  ©ie  fittb  mitten  aus  ber  Segebenßeit  ßerauSgebicßtet 
mit  ber  Slbficßt,  im  Solle  für  biefe  ober  jene  Partei  Stimmung 
gn  macßen  unb  fo  in  ben  ©attg  ber  ©reigttiffe  eingugreifen,  ßatten 
alfo  für  jette  feiten  eine  äßnlidje  Stellung  unb  Sebeutuitg  wie 

(363) 


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38 


heute  etwa  bie  Seitartifel  ber  großen  politifcfjen  Leitungen. 
Ginfeitige  Uebertreibung,  ungerechte  Vehaublung  ber  ©egtter, 
fcßarfeS  Auftreten  gegen  bie  Obrigfeit  machten  fie  gefürchtet  unb 
führten  »ielfadj  gum  Verbot  berfelbeit.  Um  ihnen  eine  möglidjft 
rafche  unb  weite  Verbreitung  gu  geben,  paßte  man  ihre  Dejrte 
aßbefaiintcn  SDtelobien  an,  fo  baß  fie  jeber,  ber  fie  oernahm, 
fofort  gu  fingen  mußte.  Daßer  fommt  eS,  baß  bie  E)iftorifcf)en 
VolfSlieber  für  bie  alte  äJfufif  nur  geringen  SBertß  beftfcen. 
Slflein  auch  ißre  Voefte  wirb  gewöhnlich  oiel  gu  feßr  überfcßä&t. 
Der  größere  £ßeil  biefer  Sieber  ftammt  gar  nicht  aus  bem 
Volte,  fonbern  würbe  oon  ftunftbießtern  für  baS  Volt  gebietet, 
weichet  fie,  wenn  eS  nicht  gerabe  Partei  war,  fiißl  aufnahm  unb 
geringe  Suft  ^atte,  fie  gurecht  gu  fingen,  gür  bie  augenblictlüfie 
Sage  gefchaffen,  waren  fie  überhaupt  nicht  gu  einem  langen 
Seben  angelegt:  fobalb  ber  Streit,  bie  gcßbe,  ber  ftantpf  oor« 
über  war,  hotten  fie  in  ber  Siegel  auch  ißr  Sntereffe  oerloren 
unb  würben  oon  neuen  oerbrängt.  Daher  bcitn  auch  bie  Gr» 
fcheinung,  baß  bie  cßarafteriftifchcu  üfterfmale  beS  ecfjten  Volts» 
liebes,  bie  wir  früher  beftimmt  haben,  bei  biefen  Sßrobuften  oiel 
weniger  gum  Vorfchein  tommen  als  bei  ben  aitberen  ©attungen. 
3m  allgemeinen  gilt  auch  hier  baSfelbe  XIrtf)eiI  wie  für  bie 
VaOabe  unb  Vomange:  fie  finb  um  fo  beffer,  je  älter  fie  finb. 
Die  jüngeren  hiftorifeßen  VolfSlicber  »erfaßen  in  plumpe  Stuf* 
fchtteiberei  unb  in  baS  Hufgäßlen  maffenhafter  Gingelßeiten  iit 
troefenfter  ißrofa , bei  welcher  nur  bie  holperigen  unb  mangel* 
haften  Verfe  auf  bie  ehemalige  ©oefie  hrittueifen.  Seit  ber 
üölitte  beS  16.  SaßrßunbertS  beginnen  fie  feiten  gu  werben. 

Sieben  biefen  weltlichen  Siebergattungen  entfaltet  ftd)  nun 
auch  baS  geiftlidje  VolfSlieb  gu  oofler  ©liithe.  Von  brei  Seiten 
her  ftrömt  eS  gufammen,  einerfeits  oon  ben  Ueberfeßungen  ober 
oießeicht  beffer  gefagt  oon  ben  Vachbichtungen  ber  alten  latei» 
nifchen  §pmnen  unb  ft  ireßen  lieber,  welcße  oielfacß  gum  Sdjönften 

(SM) 


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39 

gehören,  ma§  fßoefie  jemals  ju  [taube  gebracht;  aitbercrfeitä  Bon 
ben  [elbftänbigen  ®id)t  ungen,  meldjc  jefct  in  mannigfaltiger  Art 
ju  läge  treten:  ba  giebt  eS  ©itt*  unb  SJattflicber,  ©ußgebete, 
ißreiSgefänge,  I^rifcfje  ©rgüffe  innerer  ©rbauuitg,  Sieber  auf  bie 
Berfdiiebenftcn  greuben  unb  Seibeit  bc3  SebeitS,  Anrufungen  ber 
^eiligen  befonberS  Üliariene,  ÜJiotioe  au£  ber  biblifcßeit  ®efd)id)te 
unb  |>eiligenlegenbe;  enblid)  brittenS  Bon  Umbicßt  ungen  meltlidjer 
Sieber  in  gciftlidje,  moBon  id)  [d)on  früher  gefprodjen  unb  ein 
©eifpiel  gegeben  ßabe.  35ie  ©olfäneigung  jum  geiftlidjeu  ©efange 
mar  groß:  e3  fang  ber  ©iiijeluc  für  fid),  man  fang  in  ber 
gamilie,  man  fang  bei  ©ittgängcn  unb  ^rojeffionett , auf 
Söallfaßrten,  in  ber  Hirdje  Bor  unb  nad)  ber  ißrebigt,  bei  ber 
©efper  unb  mäf)renb  ber  ÜUleffe.  fDian  befaß  aud)  fdjou  be- 
ftimmte  ©orfcfjrifteu  für  ben  ©cbraud)  ber  Sieber  beim  ©otteä- 
bienfte,  es  gab  alfo  beutfdje  ttirdjenlieber  im  eigentlidjen  ©inne 
bcä  SSorteö;  baö  fjaben  bie  gorfdjmtgen  9J?cifterö  unb  ©äumfers 
(£as>  fattjolifdje  Stirdjenlieb)  außer  $meifel  geftedt.9  And)  bie 
religiüfen  ©onberbünbe  mie  bie  älitjftifer  unb  ©eißter  bcnußtcn 
biefe  ©aitgeSluft  beä  ©olfeS,  um  burcf)  geiftlicfye  Sieber  if)rcn 
Seljren  ©ingang  ju  Berfcßaffen.  2Nit  Suttjer  mürbe  ber  ©ebrauct) 
be3  SlircßenlicbeS  nod)  häufiger  unb  fefter  geregelt.  Aucßjcfct  mürben 
nod)  Iateinifcf)e  §t)mneit  iiberfefjt,  alte  meltlid)c  unb  geiftlidje  ®e> 
fange  umgebidftet  unb  neue  mit  proteftantifdjer  gärbung  gefcßaffeit. 
SDfan  Beranftaltete  AusSlefen  nnb  Bereinigte  fie  in  ©cfangbiidjer 
ju  fircf)lid)em  ©ebraudje.  3)od)  $eigt  fid)  in  bcnfelbeit  fcfion 
eine  Sßenbung:  „nur  ein  geringer  Jfjeil  biefer  Alirdjenlicber  ift 
roirfticße  ©olfäpoefie,  bie  fDiet)rjat)t  ift  Stunftbidjtung,  befonberS 
alle  bogmatifdjen  Seßrgebid)te."  (©öl)tne,  Altb.  Sieberbud).) 

Au3  biefen  Anbeutungen  über  bie  einzelnen  ©attungen  bes 
©olfäliebeS  rcirb  flar  gemorbeu  fein,  mie  ba3  14.  unb  15. 
SabApiitbert,  als  baS  ©ürgertlfum  unb  feine  ©emerbe  einen  fo 
munberbaren  Auffdjmung  naßni  unb  baS  treufleißige  Jpanbroerf 

'3Ö5) 


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40 


ftcf)  jur  Äunftljöhe  emporarbeitete,  bie  eigentliche  ©liithe^eit  be« 
beutfchen  Volf«gefange«  weltlicher  unb  geiftlic^er  Slrt  ift.  Tie 
ißoefie  wuselt  311  biejcr  3eit  nicht  mehr  in  einem  pfjantaftiichen 
Traumleben  wie  in  beit  Tagen  ber  SKinnejänger,  jonbent  fte^t 
ganj  auf  bem  Voben  ber  SBirflidjfeit.  Ter  fRiß  juiifctjeu  ißoefie 
unb  Seben  ift  befeitigt:  beibe  finb  ein«.  Unb  nicht  nur  bie 
fchöiteren  unb  cbleren  (Srfcfjeinuitgen  be«  Tafeiit«  werben  befungeit, 
fonbern  alle«,  wa«  unb  wie  ba«  oofle  2JienfchenIeben  e«  bietet.  Sil« 
Seleg  bafür  mag  nur  barauf  h*ngewiefeit  werben,  baß  in  ben 
tReiterliebern  unb  ben  etwa«  fpäteren  Sanb«fnechtliebern  (fiir 
bie  Truppen  ju  3uBe)  °^ne  Scheu  fogar  ba«  Sangfingerthum, 
ba«  fRauben,  Stehlen  unb  Tafchenau«leeren,  womit  ber  „freie 
Strieg«manu"  eigenmächtig  feinen  ©olb  aufbefferte,  frifch  unb  fecf 
befungeit  wirb.  tDiatt  vergleiche  3.  33.  in  Uhlanb«  Volf«(iebern 
'J?r.  191,  welche«  fich  wie  ein  vade  mecum  für  junge  Mrieg«- 
gefefleit  au«nimmt: 

9limm  btrS  ju  'Dlutt) : 

Iradjt  nidjt  nadj  ©nt. 

Safl  9licmanb  Don  bir  erben ! 

Sauf  nidjt  ein  .fpnuä, 

Jrag  nur  fjernnet, 

Jfju  SSeib  unb  Kinb  Derbtrben! 

9timm  barnadj  einen  Orben 
llnb  tocrb  ein  freier  Kriegämann. 

Sud)  bir  ein  reidjen  fjierrn, 

SBilt  bn  baS  Kriegen  lernen. 

3 n junger?  'Jiottj 

Schlag  .'pennen  tobt 

llnb  laß  fein  @an$  meljr  leben. 

3m  Saufe  be«  16.  ^ahrfjunbert«  finben  wir  ba«  Volfslieb 
fchon  in  innerer  (Entartung  unb  äußerem  Slbfterbcn.  Ter  wüfte 
Särm  uitb  3an*  in  ©lauben«fachcn  oerrohen  bie  ©entüther. 
2Rit  ber  größeren  Verallgemeinerung  ber  Vuchbrucferfunft  nimmt 
ba«  Sefeit  immer  mehr  überfjaub  unb  wirb  fernerhin  ba«  jpaupt- 

(366) 


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41 


mittel  ber  geiftigen  Unterhaltung,  mährenb  ber  lebeitbige  Vortrag 
oon  Dichtungen  in  bemfelben  SOiafse  abnimmt.  9lud)  auf  bem 
(Gebiete  ber  2)?ufif  gefchiefjt  eine  Ummäljuug.  Söiß^cr  mürbe 
fie  fjauptfädjlid)  oon  ben  fahrenben  Spielleuten,  meldje  aud)  bie 
befteu  Pfleger  uub  Verbreiter  bei  Volflliebel  toaren,  beforgt. 
3e£t  tritt  an  beren  Stelle  „ber  fürftlidjc  ftapedmeifter  mit  btr 
Santorei".  Sine  meitere  golge  baoon  mar,  bafj  fid)  bie  äJUtfif 
Dom  Dejte  lollöfte  unb  felbftänbig  mürbe:  bie  Dejte  merbctt 
nunmehr  in  Drudmerfeu  gelefen,  bie  SWelobie  mirb  auf  Snftru* 
menten  gefpielt:  el  beginnt  bie  Trennung  jroifchen  Dichter  unb 
ÜJiufifer.  Der  größte  geiub  bei  Volflliebel  enblich  ermächft 
aul  bem  fich  immer  meiter  aulbreitenben  $umaniSmu8.  Sr 
jüchtet  einen  ©elehrtenftanb  heran,  meldjer  frembe  Stoffe  unb 
gormett  aul  oder  ^errett  Sänberu  jufammeufchleppt  unb  bamit 
auf  lange  Qnt  bie  üitteratur  beherrfcßt.  Die  Volflbichtung 
tritt  in  ben  £)intergrunb  juriid;  hoch  mirft  fie  felbft  noch  uon 
hier  aul  fegettbringenb.  3ur  3eit  ber  Slullänberei  oertritt  fie 
faft  allein  noch  bal  ^eimathliche  unb  Nationale  in  ber  Sitteratur. 
3ur  3^it,  mo  finnlofe  nietrifdje  Silbenjählung  ober  antife  Verl- 
meffung  in  ben  Schmung  fam,  ßält  fie  allein  noch  bal  alte, 
ber  beutfchen  Sprache  angemeffene  ©runbgcfe^  ber  öetonung 
unb  ber  Verlmeffung  ttad)  Hebung  uitb  Senfung  feft.  Von  ihr 
geht  beim  auch  ber  Slnftofj  $ur  IRegenerirung  ber  beutfchen 
SDietrif  aul.  Sie  beeinflußt  im  meiteren  Verlaufe  bie  Stunft- 
Iprif  unb  erjeugt  aul  berfelben  bie  SMifchgattung  bei  fogenannteit 
Sefetlfchaftlliebel,  meines  ber  fiprif  bei  17.  unb  $um  Dheile 
auch  nod)  bei  18.  3af)rhunbert!  ihre  befteu  ißrobufte  jufiihrt. 
(Vgl.  oon  SBalbberg,  fftenaiffancelprif  S.  6 ff.). 

Sine  neue  3eit  für  bie  Sdjäfjung  bei  Volflliebel  fam  erft 
in  ber  jroeiten  Hälfte  bei  18.  3aßrßunbertl  mit  bem  Sinjug 
Shnlefpearel  in  Deutfdjlanb  unb  mit  ber  erften  Slulgabe  ooit 
Volflliebern.  3hrer  9anien  $lrt  nad)  ftanben  Sfjafefpearel 

1367) 


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42 


®rumen  ber  VoffSpoefie  üiel  näher  als  jene  fran3öfifd)en  ©tücfe, 
mefdje  bic  2)eutfdjen  bisher  öl«  f)üdjfte  Äunftmufter  oerehrt 
tjatteit;  ja  ©hafefpeare  h«t  gerabe3u  alte  VoffSfieber  mirfungS- 
»oll  in  feine  $ramen  eingeftod)ten.  1765  t>eröffentlicf)te  afSbann 
ber  engfifdje  Vifdjof  ißercp  bie  erfte  große  Sammlung  alter 
VoffSfieber.  ©ie  tuurben  halb  in  f£eutfd)fanb  befannt  unb 
mirften  mächtig  auf  .fjcrbcr  unb  feine  geitgenoffen,  befonberS 
auf  @oetf)e,  mefdje  alSbafb  ein  neue«  ©oangefium  ber  ißoefie 
»erfiinbigten : toeg  öoit  ber  bisherigen  ©efefjrtenbichtung  ohne 
©aft  unb  Straft,  nur  nach  fc^iefext  Siegeln  auSgeffügeft  unb  mit 
leerem  JSitter  behängt;  meg  aus  bcm  tintenffejcnben  ©täbte- 
leben  unb  h”tauS  ju  ben  ibtjClifrfjen  ßuftänben  urfpriinglicher 
äftenfcpheit,  roo  bie  VoffSbid)tung  im  Verborgenen  lebt;  benu 
fic  ift  eine  Cueüe  mahrer  ißoefie,  bei  ihr  ift  Statur  aus  erfter 
|>anb  311  empfangen,  fie  mirft  »erjiingenb  unb  fräftigenb  mie 
ber  35uft  beS  SBafbeS  unb  ber  £>aud)  ber  Jfjochlanbsiuft:  „mer 
aus  biefent  Vrunnen  trinfet,  ber  junget  unb  mirb  uid)t  alt". 

®aS  Voltslieb  mürbe  mie  ©hafefpeare  ein  ©djtagmort  für 
baS  junge  geifteSmädjtige  $id)tcrgefd)fecht  jener  $eit.  Uxxb  fo 
ift  eS  getommen,  baß  bie  VoIfSbichtuitg  einen  entfcßeibenben 
©influß  gemonnen  h<d  bei  ber  SBiebergeburt  unferer  beutfchen 
©idjtung.  @S  ift  befannt,  mie  ©octhc  fefbft  VolfSlieber  fammelte; 
eS  ift  befannt,  baß  feine  fdjönften  Sieber  jene  finb,  mo  er 
entmeber  gerabe3u  ein  VolfSlieb  3U  ©runbe  fegte  (^eibenröSIein, 
©rfenfönig  n.  f.  m.),  ober  mo  er  im  ©eifte  beS  VoffSfiebeS 
bidjtete,  maS  üor  ber  itaficnifdjen  Steife  überroiegenb  ber  gaU 
mar.  Uttb  mie  bei  ©oetße  fo  mar  eS  bei  Viirger,  fo  mar  es 
bei  ben  Stomantifern , fo  mar  eS  bei  ben  greiheitsfängern,  fo 
mar  eS  bei  ben  ©djroaben  unb  fo  mar  eS  bei  ben  meiften  hertmr- 
ragenben  Sprifern  nach  ©oetfje  unb  fo  mirb  eS  auch  fernerhin 
fein.  3)aS  VolfSlieb  ift  in  ber  2pat  Per  Jungbrunnen  ge- 
morben,  ber  nufere  nationale  Sprif  uerjiingte  unb  ihr  unaufhörlich 

(368) 


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43 

neue  9?a£)rnng  $ufüfjrt,  wie  umgefefjrt  mandje«  »olf«tf)iimlid)e 
Sieb  oon  biefen  Shmftbicfytern,  we(d)e  ftd)  oom  $olf«liebe  be* 
fruchten  unb  ergießen  (affen,  in«  Süolf  gelangt  uttb  ba  auredjt 
gefungen  wirb. 

SBie  bie  alternben  Stabte  fid)  fortmäljreub  mit  neuen  Straften 
au«  bem  Sanboolfe  auffrifdjen;  wie  unfere  Sdjriftfpracfie  fort- 
wäljrenb  neue«  Spradjgut  au«  ben  ÜKunbarten  fdjöpft,  fo  jieljt  bie 
Äunftbidjtung  ftet«  neue  Seime,  neue  Säfte  au«  ber  $olfe* 
bid)tung.  Sßäfyrenb  nocf)  ©ridpar^er  feinen  Sauge«genoffen 
Urlaub  wegen  beffen  oolf«tf)ümlid)er  $id)tung«weife  angriff, 
ift  peute  unter  ben  Sprifern  bie  Ueber$eugung  fo  fliemlid)  all- 
gemein geworben,  bajj  in  ber  $olf«tpümlid)feit  be«  Siebe«  ein 
erftreben«wert()er  93orjug  liege,  Sber  aud)  ba«  gebilbcte  ^Jublifum 
felbft  oerlangt  mepr  unb  mepr  nacp  93olf«bicptung.  SDiait  pat 
feit  ben  iRomantifern  angefangen,  in  allen  beutfd)eit  Sanben  bie 
Scpäße  ber  alten  unb  nocp  lebenben  5ßolf«licber  ju  fammeln 
unb  burep  ben  2)rud  31t  fidjern.  S«  finb  wopl  über  pnnbert 
33änbe  ju  Stage  gefommen;  aber  fie  alle  werben  gefauft  unb 
gerne  gelefcn.  Sud)  bei  2Jfufifauffüprungen  ift  ba«  t»olflid;c 
ßlement  regelmäßig  üertreten. 

$a«  ift  nicpt  bloße  ÜDiobefacpe,  fonbern  ein  tieferer  ©runb 
liegt  bapinter.  @«  ift  ein  elementarer  3ug,  ber  unfere  über* 
bilbete  3ei*  Jur  Syolf«bid)tung  loctt:  (£«  ift  berfelbe  3U0>  be* 
un«  im  Sommer  pinau«brängt  au«  ber  Sdjwüle  unb  bem  be* 
täubenben  Samt  ber  Stabt  auf  ba«  ftille,  frifepgrüne  Sanb, 
bamit  wir  bort  im  Scpofje  ber  9latur  au  ©eift  unb  Sörper 
neue  Sraft,  neue«  Seben  gewinnen.  @«  ift  jene  alte  unftiUbare 
Sepnfucpt  be«  Sulturmenfcpen  uad)  ©infalt,  nacp  SSaprpeit, 
nacp  Urfprünglicpfeit,  nacp  SRatur  im  ganzen  Umfange  be«  SBorte«. 


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9htmerfuugcn. 


1 Tic  Scjcichnungen  ftammen  Bon  Jp erber.  Tte  frühere  3«*  befag 
feinen  einheitlichen  Flamen  bafür,  fonbern  benannte  nur  einzelne  ©attungen 
roic  „SReitcrlieblein",  „Scrgreiffen",  „Straffcnlicblein"  u.  f.  ro.  3n  ältefter 
3eit  bejeieffnete  man  ben  SolfSgefang  gegenüber  ben  gelehrten  lateiniicffen 
Serien  (versus)  at«  carmen  unb  gewöhnlich  mit  einem  Wbjeftio  oerbunbeu 
al«  carmen  barl)aruin,  carmen  vulgare  ober  triviale  ober  rusticum,  carmen 
publicum  u.  bgl. 

* Taff  ba«  ©ebicht  ©oetffe«  eigenes  Srobuft  tft,  änbert  an  ber  ©adje 

nicht«. 

s Södel,  §eff.  SolfSl.  CLXXV. 

* Tie  ©chnaberffüpfeln  in  ©leger,  gffag«  ©.  402.  gr  ffefft  aber 
in  ber  erften  §älfte  ber  ©tropfen  nur  medjanifdjen  ©infaff.  ber  Sinn  unb 
Scbcutung  Berloren  hat.  Mein  au«  bem  Obigen  wirb  ba«  ©egentffei! 
flar  geworben  fein.  Offne  bie  beiben  erften  Serie  mürbe  ber  ©egenfaff 
jroijchen  „ranbtig"  unb  „lam"  nid)t  io  beutlicff  fein  unb  nicht  fo  ftarf  gefüfjlt 
roerben;  ber  SarntlcliSmu«  ift  alfo  notffroenbig  jur  Serbeutlichung  unb 
Serftärfung,  er  macht  bie  Strophe  erft  roipig  unb  ju  einem  @ebidjt. 

s ftommen  foltf)  meiter  auSgefponncne  Silber  unb  Scrgleiche  nor,  fo 
offenbart  fiep  gewöhnlich  eine  Schwäche  ber  Solf«pocfie:  fie  oermag  eS 
nämlich  feiten,  ben  Sergleicff  einheitlich  unb  folgerichtig  burchjufüffren, 
ionbern  mifefft  unpaffenbe  3ö8e  ein-  34  will  ein  berühmte«  ©ebidjt  als 
Seleg  anführen.  3U  feinem  .fjeibenröSleiu  benagte  ©oethe  ein  alte«  Soll«- 
lieb.  Tie  4.  Strophe  be«felben  lautet: 

Tao  9iö«lein.  ba«  mir  roerben  muff, 

SHöSIcin  auf  ber  ,'peiben, 

Ta«  hot  mir  tretten  auf  ben  Juß 
Unb  gefcffach  mir  boeff  nicht  leibe. 

Ter  Ser«  „hat  mir  tretten  auf  ben  ffruff"  fällt  ganj  au«  bem  Silbe  : 
ein  fRöelein  hat  feinen  fjuff  unb  fann  nicht  treten;  ©oetffe  h“t  4”  baffer 
geftrieffen,  ben  ©ebanfen  aber  beibeffalten  unb  bem  Silbe  entjprecffenb  au«- 
gebrüdt;  „8tö8lein  roeffrte  ffeff  unb  ftaeff".  ©o  ffat  er  e«  auch  an  anberen 

(S70I 


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45 


Stetten  gemocht  unb  )'o  wirb  es  ber  cc^te  Sunftbichter  ftetS  machen,  bem 
ginheit  ber  Darfteltung  ein  .vauptgefch  ift. 

* jüngere  unb  fc^Iec^te  SlolfSlieber  jeigen  biefeit  iparatlcliStmtS  manch« 
mal  fcßon  uerfnödjert;  baS  'Jlaturbilb  ift  rein  formelhaft  geworben,  unb  nur 
in  ber  Sufawwenftettung  ber  frcmbartigften  Dinge  liegt  ein  geroiffer  Si^; 

Der  Spielhahn  im  Salb 
Sjat  an  Schwoaf  an  frump’tt; 

Sann  i brei  Dianbl’n  hält 
Sännt  i Atu  ca  oalump’n. 

1 916  unb  p begegnet  man  bcr  Neigung,  bie  lateinifche  Vaganten* 
poefie  felbft  als  So(f£bid)tung  p betrachten ; allein  baS  ucrbictct  fdjon  bte 
frcmblänbifche  angelernte  Sprache. 

* DiefeS  SRotio  ift  in  ba$  Sdjnaberhiipfel  cingebrungen  unb  lebt 
bafelbft  heut«  nodj.  So  inelbet  $ormann  (S.  279)  aus  95oralberg: 

Unb  ba$  SÖJoabli,  baS  i lieba  thue. 

DaS  ift  im  Setter  brunta. 

§at  a eidjcc  Sittle  a 
llnb  ift  mit  SHeafli  bunba. 

* Sitterarifchcä  Gcntralblatt  1884  , 221:  „Der  allgemeine  Dheil  bc$ 
93uche3  (oon  Seifter  • 99äumfer  hQt  feine  §auptbcbeutung  in  bem  92ath« 
weife,  bafi  baS  bcutidje  Slirdjenlieb  nicht  ein  IfJrobuft  bcr  SÜcformation  ift. 
Diefe  namentlich  QUf  SacfernagelS  Darfteflung  geftü^tc  9lnficf)t  muß  je^t 
als  ein  für  allemal  miberlcgt  gelten,  ba  SBäumfer,  Deutfche  Sieber  in  bcr 
tatholifchen  fiirrfte,  nicht  bloß  in  einigen  ocrein, gelten  fällen  fonftatirt, 
fonbern  auch  überjeugenb  flarftellt,  baß  über  baS  S3crf)ältniß  beä  beutßhen 
Sieben  pr  Siturgic  in  ber  oorreformatorifchen  Seit  allgemeine  ®eftim« 
mungen  herrfchten.“ 


(3-1) 


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ijSrof.  $r.  2S.  ^reijer  in  33ertin,  Sdjutratf)  2.  SPaucr  in  2(ug§6uvg  nnb 
©hmnafiat-Jürcftor  (?.  Sdjmetjer  in  .£mmm 
heraiiesgcgebcn  ucm 

f>r.  ffugti  ©ürinit 

2.  ^nl)igmtg.  2Cprü  1890  bic«  9Rär£  1891. 

ißrciS  bed  3ahrgangä  9J?f.  9.—. 

„3>ie  Steuc  ®eut)(be  ©hule"  rocnbet  ficf)  an  Eltern,  Sekret  unb  «de  ©ebilbeten, 
bei  benen  ein  3ntcrcffc  für  bie  gegenwärtigen  Aufgaben  ber  (Srjp'hnng  unb  be$ 
Unterrichte  öorauSgefc&t  rocrbeu  fann  unb  non  bencn  eine  tfjatträftige  Sörberung 
biefer  ernften  Sfulturbeftrebungcn  ju  erwarten  ift.  Sie  will  für  bie  gegenwärtige 
Sdjulreformberoegung  einen  einheitlichen  SJtittelpunft  barbieten  unb  bie  Parteien 
Bereinigen,  bie  fheinbar  fcinblidi)  einanber  gegentiberftehrn,  in  39irflid)feit  aber  naef) 
einem  giele  ftreben,  welche*  ber  Herbeiführung  einer  ber  3eitbitbung  entfpreebenben 
bcutfdj'Baterlänbifchen  ©hule  gilt,  ©ie  will  bie  Srunbjäfje  pm  Stewujjtfein  bringen, 
nah  benen  bie  erjiehung  fi d)  naturgemäß  geftaltet  unb  bem  Seifte  ber  heutigen 
©ifienfhaft  entfpriebt-  $e*balb  roiü  fie  bie  ©rgebniffe  ber  neueren  Aaturmiffenjcbaft 
für  Srjiehuug  unb  Untcrridjt  Derwertben.  ©ie  will  bafür  auftreten,  baff  (ärjiehungS- 
unb  Uiiterrihtälchre  ihre  felbftänbige  ißertretung  au  Hodtjdjulen  gewinnen  utib  bem 
Stbrer  an  höheren  ©dplen  eine  angemefiene  päbagogifhe  ®urd)bilbnng,  nicht  nur 
eine  einfeitige  &adjfcbulung  ju  theil  werbe. 

Stanb  unb  Jitlr  btt  Sd)iilrffarm=Örturgung, 

SRebe  in  ber  foiiftituivenbeu  SBerfanimtuug  beä  2(ügemeiiiett  ®cutfcf)en 
SSereittS  für  Schulreform : „£ie  neue  beutfdje  Sdjule", 
gehalten  am  15.  April  1890  ton 

IJrofcllfot*  iP-  Uvfijer. 

Sch-  50  '#f. 


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UfrlngsanUnlt  uub  Brndtcrri  (oormals  J.  Iiidjtcri  in  Tambur!. 

gier  junge  ©olfcfdjmiefc* 

Birfffung  von  Earl  (grnfl  Hltrna 

iCrnll  Ricsac)), 

— Vierte  mänbertc  uiib  pcrniefjrte  Auflage. 

(füuftrirt  Don 

A.  Airnlg,  <S>.  ^»orfdjc,  3*rof.  $.  "aiUpnifr. 

'45rcid  in  Ijodjefcgnntcm  Original. ßinbanb  mit  öolbjdjnitt  fDlf.  6.—. 


Aiiä  brn  llrtljcilcn  ber  greife: 

laö  Sud)  ift  reijenb  auigeftattet  unb  empfiehlt  fidi  al»  Jüeihnartite  unb  geftgefibenr 

(ßltnft  ßbronif.  ffiien  ’ 

XaS  ffirrt  Idfif  tiefe  3)efriebigung  im  $erjen  jurfid.  (Sehiefiidie  ((eitung 

Sin  praditpofl  auigeilattetr»  Sudi  mit  ber  rbento  rei)euben  als  gemütbDoUen  Sithtung 
einri  Bon  ©ott  begnabrten  iiditrri  (Sriefler  gritting.: 

'fleionberi  bie  ringeftreuten  itirbrr  ftnb  dufirrft  anmutbig.  (Berliner  Xagrbialt.) 


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8°,  280  Seiten  elcg.  gcl).  ®lf.  3.—,  elcg.  geb  mit  ß)ülb)cf)nitt  3)if.  1 — . 


Äu$  ben  Urtfjeilen  ber  greife: 

Sir  fieraiiigobe  bieirr  fflrbiditr  ift  bie  le&te  $ii[bigung,  Bie  brm  fterbenben  t>  a m e r 1 1 n g 
Mi  Ibtil  würbe.  beim  ibnt  ftnb  fic  alb  ,.,lrirf)en  langjähriger  SSerebrung  unb  ffreunbftbaft*  bom 
SfesTia ffer  gcroibmei.  SBabridicinlidi  ift  es  aud)  tmnterling  geroeirn,  wrld)er  brr  SBrrlagtanfialt 
unb  trudari  '.’lctirn  ■ ©ricllirtiait  Sllbctt  Wlorirr»  Sill  fr  rntp'ohlrii  unb  sugrffibrt  bot.  Irr 
berühmte  lichter  itt  ©raj)  toollte  olme  groeifci  burcf;  bieie  (Smpfeblung  unb  Zuführung  Ulbert 
Wörter  grroifiermafirii  al»  feinen  Waitiolger  bejeidtnen,  mit  roeidtet  ©rieidjnung  er  auch  burdi 
aus  ittt  Wechte  genicicti  ift,  beim  in  Sioefer»  Xirfituitgru  ftnben  mir  .üamerlingJ  icbSnr  iform 
tiamerling«  catijet iirtie.it  Schwung  unb  teilen  ©ebautemiefe  io  jirmlid)  toicber.  ülUe  feine  Serie 
finb  don  toobltbuenbrt  farmonie,  wahrhaft  lünfttcrifcb  goftaitrt  uttb  im  Sinn  turebfiditig  unb  flar 
'Jtirgenbi  ftört  ein  migtböriger  VliKbrurt.  eine  nid)t«|agrobe  iHebenbart  ober  ein  überflüftigel 
ftüUraort.  Rnapp.  geidiiofien,  toobl  gefügt,  eridn'incn  faft  alle  feine  Strophen,  bie  jn  [eien 
unb  in  fid)  aufjunebmen  baber  aud)  immer  ein  ©enitfi  ift.  (Sieform  Wo.  214  ) 

Sin  Siebter,  uollenbet  in  ber  (form,  mit  einer  beripadenbett  Sprache  begabt,  boD 
2B.irme  uttb  Smpftnbuug,  ein  Shtlojopb.  rcicb  an  tiefen  burd)  reidjr  Criabrung  geläuterten 
fflebattfen,  mit  einer  feinen  'Ueobaditungägobe.  roie  fie  nur  bent  SEBeltrocifen  eigen  — ein  tpabrtr 
SBort  unb  ein  ganjer  ilioct,  ba«  ift  ber  ÜJrrfaffer  br«  Buche!.  ba«  au  bieier  ©teile  icbem  ffreunb 
be4  Schönen  al«  eine  Cuetle  rrinften  [ünftlerifd)cn  ©muffe«  empfebfen  ju  Ibuncu,  mir  eine 
berjlitbe  ©enugtbuung  bereitet.  ($re*b  )Ug.  Wo.  201.) 

vln  bieiem  jüngiten  28rrfe  bei  befaiinten  SbrifcrS  fitibcn  wir  eine  Sülle  ftiuimungbooHrr 
forniBoneiibeter  Siditungcn  ju  einem  präditigeu  Slraufte  Mtiammetigetttunbeii.  Sloefrr  bebanbeit 
bie  Peridticbenartigileii  Stoffe  unb  Mim  Itieil  tiödift  ipröbe  Sorwürfr.  Die  (Eröffnung  ber  ©ott 
baibbabu.  ber  Xclrgrapb  im  vodiatpcntbale,  bie  iJrairiebübtter.  bie  Senn«  be«  Slpelle«  larroir.. 
bie  'Dtartetcnberni  SricbridiS  b ©r..  ftaiferin  Ifugeiiie.  ber  Stomet.  ber  Wcfang  bei  i53eltnieere# 
— bieie  auf«  gerabemobl  berauigegriiieneu  Ueberiebriften  laßen  uns  Sofort  erfetttten,  tan  mir  ei 
in  Dfoeferi  neuen  (Hebiditni  nicht  mit  iiinlidjer  SlUlagilbrit  ju  thun  haben,  (fine  intereßante 
ffliidjung  Bon  atitirem  unb  mobernem  ffiefen  tommt  bent  4'udie  febr  su  gute  nnb  uerleiht  ihm 
eilten  ausgeprägten  ffharaftcr.  (Übein.  «urier  Wo.  238.) 

3n  ber  Siittoideluitg  ber  gegenwärtigen  Snrif  bebrütet  , gingen  unb  Sagen  ' einen 
erbebliibtti  Sotticbritt,  wie  ihn  nur  em  ediierftüiifller  berurfadjen  fann.  (Wat. '8tg.  Wo.  478.) 

Irr  Sevinfier  bat  bieie  Bierte  Sammlung  feiner  (Mrbidne  ,btm  eblen  lichter  SHobert 
•tiamerling  ali  Scidjen  ber  üferetituug''  jitgrrigiKl  unb  batnit  gewißetmafeen  bie  ©cifteiBcrmanbt 
idiaft  beftatigt.  wctdie  (Wifcben  tljni  unb  tiamerling  brftattben  bat  Sliitb  hKocfrr  beberrfdjt  mit 
UHfiPtricbaft  bie  Sonn , bie  Spradie  ift  ebel  unb  (d)ün.  bai  Wefübl  warm  unb  wabc.  — — — 
3)i e öebichte  werben  baijlnieben  beS  im  groben  ^ublifum  noib  tu  wenig  gewütbiglen  Siebter» 
gewib  nod)  erhöhen.  (.{lainh.  grembenhlatt  Wo.  197.) 


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Die 

^ngiifitrr  (Fttiiii-(fntfnij--(fi|iföitioii. 


Sßon 

Dr.  5fr.  ^etnßrtrbf, 

önmnafiaUfhtf r in  Sljditrlltbrn. 


SKit  einer  .fnrte. 


Hamburg, 

33erlag«anftalt  uttb  3>rucferei  31. •&.  (uormalä  3.  5-  Stifter). 

1890. 


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I>aS  9ied)t  ber  Uebcrfefcung  in  frembe  ®pracf)tn  »oirb  Dorbef)oIt*n. 


®rnc(  bfr  SfrlaflbanftaU  unb  Enitfrrrt  ?(aim-<IWrni<f)aft 
(normal«  3.  g.  »idjtrr)  in  tynntnrg. 


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»ie  oortiegenbe  Arbeit  ift  entftanben  unter  bem  frifcbett 
©inbrucf  ber  non  3-  Scott  Seltie,  ©ibtiotbefar  ber  Äönigticfjen 
@eograpbifd)en  ©efeüfcbaft  gu  Bonbon,  im  Slnfnng  biefeS  3abre$ 
berauägegebeuen  „©riefe  StantepS  unb  feiner  Segteiter  über 
©min  ©afcbaö  ©efreiung".1  ©eitbem  finb  fedjä  SJionate  »er- 
gangen. ©tantep  ift  nach  ©ngtanb  gurücfgefcprt,  nm  firf)  feiern 
gu  taffen  unb  — gu  beiratpen,  ©min  fßafdja,  faum  »on  bem 
ferneren  Unfall,  ber  if|n  furg  nach  feiner  Slnfunft  an  ber  Äüfte 
in  ©agamopo  betroffen  hotte,  genefen,  pot  fiep  in  ben  bunfetn 
©rbtpeit  guriicfgercanbt,  um  in  beutfcfjem  SDienfte  ba3  ©ioi- 
lifatioitSroerf,  menn  auch  itt  aitberer  gorm  ot3  uorper,  fortgu- 
fepen.  ©eitbem  finb  mir  ohne  fftadjridjt  über  it)n.  Um  fo 
mehr  poben  mir  über  ibn  in  ber  lebten  ßeit  aus  ©tantepS 
Sieben  gehört,  bie  biefer  auf  ungegäbtten  ©antetten  in  ben  testen 
brei  ÜJionaten  gepatten  bot,  obgteid)  er  fetbft  erttärt,  feine  geeube 
am  Sieben  gu  finben.  ©o  muff  eS  ibm  mobt  notbmenbig  er- 
fcbienen  fein,  um  bie  ©ngtänber  auf  bie  oermeintlidjen  ©efapren 
aufmerffam  gu  machen,  bie  ihnen  eon  ben  Seutfcben  in  Stfrifa 
broben  foCten,  unb  um  burcb  oft  mieberbolte  unb  immer  heftiger 
mcrbenbe  Stuftagen  gegen  ©min  bie  ©ormürfe,  bie  ihm  taut 
unb  im  ftitten  mit  Siecht  ober  Unrecht  über  bie  augenfdjeinlidje 
Siicpterreidjung  ber  eigentlichen  groetfe  per  (Jjpebition  gemadjt 

Sammlung.  91.  g.  V.  107.  1*  (375) 


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4 


werben  mögen,  jitrücfjuroeifen.  Slucb  fein  jüngft  erfdjieneneg 
SBerf  über  biefelbe*  ift  in  biefer  Sejiebung  eine  grojfe  oratio 
pro  domo,  beren  §auptargumente  Silagen  über  bie  eigenen 
Offiziere  uitb  (Swing  Unentfchloffenbeit,  Sangfamfeit,  Uitjuoer- 
läffigfeit  unb  über  bie  fdjlimmen  (Sigenfdjaften  ooit  (Sming 
©efolge  aug  Slequotoria  nad)  ber  Stüfte  finb.  @g  ift  inbeg  nicht 
meine  Slbfid)t,  auf  biefe  fragen  ^ier  näher  einjugcben  ober  and) 
nur  ben  trefflichen  ÜKann  gegen  biefe  Singriffe  ©tanfepg  ober 
gar  bie  tbeilweife  unqualifijirbaren  Slrtifel  ber  Ximeg  unb  aitbercr 
Sölätter  jn  öertbeibigen.  (Sr  roiro  bag  felbft  tf)un,  wenn  er  eg 
für  nötljig  bü^-  Vorläufig  tbut  er  eg  burdj  — ©chweigen. 
©djminbet  bocb  aud)  bie  (Srreguttg,  welche  bie  Sanfettreben 
©tanlepg  unb  feine  Silagen  in  bem  fReifewerf  betöorjurufen  im 
ftanbe  finb,  angeficf)tg  feiner  auch  bei  biefer  (Sfpebition  gerabeju 
bewunberuttggwürbigen  fieiftungen  unb  glücfricf)en  (Sutbecfungen. 
Sluf  biefe  wiffenfdjaftlichen  (Srfolge  nur  will  ich,  geftüfjt  auf  bie 
trüberen  $eröffentlicf)uugen  unb  bag  neuefte  SSerf  ©tanlepg, 
aufmerffam  machen.3  3>ie  Slrbeit  fdjliegt  fich  fo  inhaltlich  unb 
ihrer  Slbficbt  nach  an  bie  in  bemfelben  Verlage  1884  erfd)ienene 
©fij^e  ber  „(Durchquerungen  Slfrifag"  oon  iß.  Xreutlein 
an,  welche  ich  bem  fiefer  jum  3rce(fe  ber  Orientirung  febr 
empfehlen  möchte. 

Sig  junt  Sabre  1 885  nur  in  naturwiffenfchaftlicheu  unb  geo* 
grapbifchen  Streifen  befannt,  war  ber  Slame  (Smin  ißafd)ag,  beg 
©ouöerneurg  ber  Slcquatorialprooin$  beg  äghptifcheu  ©uban,  feit 
ber  ÜJiitte  beg  Sabreg  1886  in  Silier  ÜDtunb.  ©eine  tapfere  $8er* 
tbeibigung  gegen  bie  fdjier  unbefiegbar  fcheinenbeu  föorben  beg 
fogennnntett  ÜKahbi,  wefdjer  foebeu  jwei  englifch-ägbptifche  ^eere 
vernichtet,  öbartum  erobert  batte,  jog  bie  Slugen  auch  auf  feine 
fonftigen  93erbienftc  nicht  um  Slegppten  allein,  fonbern  um  bie 
(Sioilifation  überhaupt.  §atte  er  hoch  bie  in  jeber  Beziehung 

traurigften  SSerbältniffe  feiner  tßrooiitj  in  fiirjefter  3e>t  unb 

(37fl) 


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5 


in  betounbcrunglwürbiger  SEßcife  gebeffert  unb  bort  burcfj  ©e» 
feitigung  bei  ©flaüenhanbell  unb  bei  graufatiten  ägtjptifdjen 
Negimentl,  burdj  milbe  ©erwaltung  unb  Hebung  bei  Merbaitel 
unb  ber  ©ewerbe  eine  $eit  bei  Ofriebenl  unb  ber  ©e^aglic^feit 
für  Me  eingefüljrt,  wie  fie  bisher  nie  befannt  gewefen  war. 
Dr.  Sunfer,  ber  befanute  ?lfrifaforfd|er  unb  langjährige  Jreuitb 
©mini,  betätigte,  aul  bem  ©uban  juritcffehrenb,  affe  biefe  Nach- 
richten. 3n  2)eutf<hfanb  regte  ficf),  wenigftenl  in  wiffenfcfjaft» 
liehen  Streifen,  ©ewunberuitg  bei  tapferen  unb  tüchtigen  2anb!« 
mannel,  man  fing  langfam  fogar  an  baran  ju  benfen,  ob  man 
ihm  nicht  Unterftiijjung  bringen  fönne,  ihn  befreien  fönne  aul 
ber  Umflammerung  burch  bett  2Jiaf)bi  einer»,  beit  graufamen 
Stönig  2Jiuanga  oon  Uganba  anbererfeitl.  3n  ©nglaitb  würbe 
feine  Stellung  unb  Sage  unb  bie  bei  ©ebietl,  bal  er  be* 
herrfchte,  in  intereffirten  Streifen  bal  ©efpräd)  bei  Jagel. 
9Jtan  beobachtete  bie  beutfehe  Negung,  man  muffte  ihr  juoor* 
fommen  aul  oielerlei  ©rüttbett,  unb  man  fom  ipr  juoor. 

3m  Mfang  bei  3af)rel  1886  bilbete  fid)  in  2onbott  ein 
Komitee  unter  ©orfifc  bei  ©ir  Sät.  ÜRafinnon,  eincl  mit  ber 
Oftafrifanifcheu  ©ngtifchen  ©efeüfdjaft  ebenfo,  wie  mit  bem  Shmgo« 
ftaate  in  oielfacher  ©ejiehung  ftefjenbcn  fperrn.  @r  famntelte 
in  furjer  $eit  unter  feinen  Jreunben  eine  hohe  Summe  (cirfa 
1 1 500  £ ),  bie  Sonboner  ©eographifdje  ©efeüfchaft  ftcuerte  bei . 
(1000  £),  bie  äghptifdje  Negierung  erflärte  fich  ju  einem  ©eitrag 
oon  10  000  £ für  bie  Nettung  ihres  ©onoerneur!  bereit.  ?lud) 
mehrere  Leitungen  betheiligten  fich  unter  ber  ©ebingung,  baff 
ihnen  ber  Mbrucf  aul  Slfrifa  eiitgehcnber  ©riefe  ©tanlepl 
geftattet  würbe.4  ®ettn  biefer  berühmte  Neifenbe  war  oon 
Anfang  au  für  bie  Mlführung  ber  ©ypebition  in  31ulfid)t  ge* 
nommen.  3war  befanb  er  fich  augenblicflid)  in  Norbamerifa, 
um  bort  ©orträge  ju  halten,  bie  ihm  10  000  £ einbringen  füllten. 
@r  hatte  fich  aber  bereit  erflärt,  faül  bal  Komitee,  welchem 

(377) 


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6 


ein  pan  oon  iljm  oorlag,  it)n  jum  fjührer  ber  ®Jpebition 
mählen  foßte,  alle  feine  bärtigen  Verpflidjtungen  fofort  rüd* 
gängig  ju  madjen  unb  ohne  jegliche  Grntfdjäbigung  ober  ©e- 
loljnung  baS  ©efreiungSmerf  ju  übernehmen. 

$lm  11.  Tejember  1886  erhielt  ©tanlep  eine  Tepefdfe  oon 
©ir  SKacfinnon:  3hr  pon  unb  Offerten  angenommen.  ©c< 
herben  billigen  fie.  SDlittel  oorhanben.  Unternehmen  bringenb. 
kommen  ©ie  fofort.  — ©d)on  am  22.  fernher  lanbete  ©tanlep 
in  ©onthampton. 

@r  hotte  auS  bcn  brei  oerfügbaren  fRouten  nach  ber  3lequatorial- 
proöinj  burch  baS  9J?affailaitb,  über  Slnfori-Karagme-Ufongora 
unb  ben  Kongo  aufwärts  bie  ledere  getoählt,  meil  einmal  ein  Vor- 
bringen oon  ber  Oftfiifte  nur  unter  fortroährenbeu  Kämpfen  unb 
bnmit  oerbunbenen  Tefertionen  ber  Träger,  mit  ©efährbung  bee 
£ebcnS  ber  franjöfifdjen  unb  englifc^en  ÜRiffionare,  welche  in 
ber  ©etoalt  beS  Königs  ÜJiuanga  oon  Uganba  waren,  möglich 
fd)ien,  anbererfeitS  ber  König  ber  ©eigier  als  ©ouoerain 
beS  KongoftaateS  ihm  alle  Transportmittel  biefeS  ©taateS  jur 
Verfügung  geftellt  hotte.  ?lud)  h°ffte  er  ouf  biefem  SBege  baS 
3ufammentreffen  mit  arabifd)en  ©ftaocnjägcrn  $u  oermeiben. 
©r  fannte  bieS  aus  früheren  Steifen  als  tmchft  gefährlich  für 
bie  TiSciplin  ber  £eute,  welche  burch  bie  ein  freieres,  leichteres 
fleben  führenben  Stäuber  leicht  jum  gortlaufen  ocrleitet  toerben 
mürben.  Tie  SBeiterreife  nad)  ber  Küfte  foßte  burch  baS  ©ebiet 
ber  Grnglifchen  Oftafrifanifchen  ©cfeflfchoft  auf  ÜKombaS  gehen. 
Slud)  „ber  Slrgwoljn  ber  Teutfd)en  (?),  eS  honbele  fidh  um  bie 
SluSfübruug  einer  politifcfjen  Aufgabe,  foßte  burch  bie  äöahl 
ber  Stoute  jerftreut  merbeit".  Tenn  bie  Slufgabe,  roeldje  ihm  gefteflt 
mar,  lautete  nicht  anberS  unb  nicht  roeiter  alS:  „©efreie  ©min". 

3lm  27.  Sonuar  1887  traf  ©tanlep  in  SUejanbricn  ein, 
fonferirte  in  Kairo  mit  bem  Kt)ebioe  unb  feinem  ©remier-fDtinifter 
9tubar  pfdja  unb  mit  ©d)meinfurth  unb  Dr.  Ounfer,  „bie  hier 

(S7S) 


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7 


als  gacfjleute  gelten",  öon  betten  ber  Sefjtere,  eben  auS  betn 
©uban  juriidgefehrt,  i^m  manche  itü$lidje  SluSfunft  geben  fonntc. 
Slm  21.  ffebruar  fattb  er  in  ©anftbar  aßeS  burd)  feinen  Agenten 
©Jafen^ie  unb  burd)  beit  ettglifchen  JfonfuI  §olmwoob  öorbereitet. 
$>ie  ?IuSrüftung  war  in  ©nglattb  befd)afft.  ©eifpielSweife  ge= 
hörten  baju  26000  ©ieter  3eu8e,  1800  ftilogramm  ©laSperlen, 
9Keffing  unb  ©ifenbraht,  ein  jerlegbareS  Stafjlboot  non  8 7*  ©Jeter 
Sänge,  550  ©entehre,  200000  ©atronen  unb  40  Sxägerlaften 
beS  feinften  europäifd)en  ©rottiants.  Schon  am  25.  gebruar 
tttar  bie  ©infchiffung  ber  ca.  600  Suaheli  • Xräger,  einiger  60 
©ubanefen  auS  SCegppten  unb  ber  SSaren  auf  ber  „©Jabura" 
bcettbet.  ©oten  nmrben  über  Sattb  an  ©min  burd)  Uganba  unb 
Unioro  unb  nach  ben  ©tanlehfäöen  am  mittleren  ftongo  ab« 
gefanbt.  2>iefe  tterfaffene  Station  beS  ÄongoftaateS  war  infolge 
einer  burd)  ©tanlet)  inS  Söerl  gefegten  ©ereinbaruug  jtoifchen 
bem  ftönige  ber  ©eigier  unb  bem  berüchtigten  SIraber  $ipptt  $ib, 
alias  ©djeid)  |>ameb  ©en  ©Johammeb,  bem  fdjlüuen  ©Hatten« 
unb  ©Ifenbeinjäger  unb  „ungefrönten  ßönig"  Der  ©Janjema 
jtoifcheti  Äongo  unb  Sanganifa,  biefem  als  ©eamten  beS  fiongo* 
ftaateS  gegen  ein  beftimmteS  ©JonatSgehalt  übertragen  worben. 
©Jan  wollte  ihn  babnrd)  baran  hinberit,  feine  ©eutejüge  ben 
Äongo  Weiter  abwärts  fortyufehen,  unb  bewegen  anbere  Araber 
batton  abgufjalten,  anbererfeits  foüte  er  bie  ©ypebitioit  bei  ihrem 
Ueberlanbmarfche  ttom  ßottgo  nach  SJabelai  in  ber  §Iequator- 
prottinj  ober  bem  3tlbert  ©ianfa,  wo  ©min  fid)  bamalS  auf« 
halten  füllte,  mit  600  Jriigertt  untcrftüfcen  unb  aufjcrbem  bie 
fefjr  bebeutenben  bei  ©min  oermutheten  ©Ifenbcinfdjä^e  burd) 
feine  Seute  nad)  ber  Station  „Stanlep  (falls"  tranSportiren. 
?luS  bem  ©rlöS  beS  ©IfenbeinS  foflte  citt  3l^eil  ber  Stoffen  ber 
©fpebition  gebedt  werben. 

$!ie  (fahrt  StanlepS  unb  STippu  $ibS  mit  ihren  Seuten 
auf  ber  ©Jabura  »on  ©anfibar  bis  ©anana  ©oint  an  ber  Stongo« 

(379) 


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8 


münbung,  roo  man  am  18.  3Rärj  eintraf,  ging,  abgefefjett  non 
einer  Prügelei  jmifdjen  ben  ©anfibarträgern  unb  bett  aug 
Steg^pten  mitgenommenen  cirfa  60  ©ubanefen,  gtiicflicf)  oßne 
bebentenbe  93erlufte  oon  ftatten.  .§ier  mürben  brei  Heinere 
Kämpfer  gemietet,  mcldje  bie  Cjpebition  junäd)ft  big  üHatabi 
unterhalb  ber  erften  gälle  beg  Kongo  brauten.  S3on  ba  aug 
mürbe  tßeilg  ju  Sattbe,  tf)eilg  jn  SBaffer  ber  ÜRarfcf)  big  Sambuga 
am  Srnmimi  fortgefefct.  $>ie  Sriefe  geben  oon  biefem  Sljeil 
beg  3ugeg  roenig  9tad)ridjten,  aud)  bag  fReifemerf  fafet  fidj  fe§r 
furj  über  biefen  Sßeg,  ber  in  ©tanlepg  „$5urcf|  ben  bunfeln 
Sßelttfjeil"  unb  „®er  Kongo  unb  bie  ©rünbung  beg  Kongo- 
ftaateg"  eittgcfjenber  beßanbelt  ift.  Siel  9tott)  machten  im  Slttfang 
bie  ©ubanefen,5  bie  faul  unb  unbotmäßig  maren;  „fefbft  £iob 
mürbe  über  fie  ärgerlid)  gemorbeit  fein",  lieber  bie  %äüc  f)inaug 
big  ©faulet)  Pool  l)errfd)te  großer  SRangel  att  üebengmitteln. 
31  Her  prooiant  mußte  mitgefü^rt  merben.  3lud)  bie  Irangport» 
mittel  reichten  nidjt  aug.  Sn  Sofobo  mußten  begfjalb  125 
ÜRantt  unb  mehrere  Cffijierc  juriidbleiben.  ®ie  übrigen  511 
3Rann  unb  90  2Rann  Sippu  Sibg  tarnen  Anfang  3uni  ju  ©cßiff 
in  Sambuga  am  Slrumimi  glüdlid)  an.  |>ier  füllten  132  ÜRann 
unter  güßrung  beg  ÜRajor  Sarttelot,  beg  älteften  Offijierg, 
jurüdbleiben.  mürben  außerbem  bie  Cffijiere  Samefon, 

SSarb,  Xroup  unb  Dr.  Sonnt)  untergefteHt.  öarttelot  follte 
Hier  bie  jurüdgebliebenett  2Äannfdjaften  unb  600  oott  $ippu  lib 
oerfprodjene  Präger  erroarten  unb  bann  ©tanlep,  ber  mit  ben 
übrigen  als  Sorfjut,  Pfabfinber  uttb  SSegbaßner  oorauggefjen 
mollte,  unoer^üglicf)  nad)  bem  ©intreffen  Setter  nacßfolgen. 
Sarttclot  mar  ein  in  ben  Kämpfen  im  ©uban  unb  in  3lfgljaniftan 
erprobter  britifrijer  ÜRajor.  ©tanlep  fdjilbert  ißn  alg  freimütig, 
tapfer,  fogar  magefjalfig,  fattn  aber  freilief)  bie  öeforgniß  nidjt 
unterbrüefen,  baß  er  oieHcicfjt  etrnag  gefäfjrlid)  fei,  menn  er 
gereift  merbe.  ©g  mangele  ifjtn  oielleid)t  an  ber  nötigen 

(380) 


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9 


fiangmutf).  Xrofcbem  glaubte  unb  glaubt  er  oicßeicbt  auch  jefct 
noch,  beu  nad)  beu  gegebenen  Serhältniffen  richtigen  SDlamt  auf 
biefen  uerantroortlidjen  Sßoften  gefteflt  ju  haben.  „@«  lief)  [ich 
burebau«  niefjt  anber«  modjen." 

Mm  28.  3uni  (1887)  begann  ber  Sormarfd)  oom  befeftigten 
Säger  in  Qambuga  nach  Cfteu.  Sor  ©tanlet)  lagen  ©egenbett, 
Die  bi«  jefct  feine«  (Europäer«  gujj  betreten  batte-  @3  galt 
fiawalli  am  Sllbert  SJtianja  auf  1°  22'  nörbf.  Sr.  unb  30°  30' 
flftl.  2.  zu  erreichen.  3ambuga  liegt  auf  1°  17'  nörbl.  Sr.  unb 
25°  8'  öftl.  2.  (oon  ©reenwicb),  alfo  faft  bireft  weftlicb  oon 
fiawaüi  in  einer  (Entfernung  oon  80  geographischen  üJteilen. 

Xie  Sorhut  beftanb  au«  389  au«erlefenen  2euten,  ©tanletj 
unb  feinen  Offizieren  Sephfon,  ©tair«,  ßtelfon  unb  Dr.  med. 
Sßarfe.  Son  ben  üßtannfebaften  trugen  180  feine  2aften.  ©ie 
waren  mit  SSincbefterbiicbfen  bewaffnet  unb  führten  2lefte  unb 
fwefmeffer,  um  bureb  ba«  Urwalbbicficbt  ben  SEBeg  zu  bahnen  unb 
fonftige  §tnberniffe  zu  befeitigen.  ©ie  waren  bie  Si°mere  ber 
übrigen.  Xiefe  trugen  3 Xonnen  SDlunition  unb  ebenfooiel 
Sßrooiant;  fie  führten  aufjerbem  ba«  oben  erwähnte  ©tafjtboot 
mit  ficb,  wa«  fid),  fo  lange  man  ben  lülruwimi  befahren  tonnte, 
al«  aujjerorbentlid)  nüfclid)  erwie«. 

X)id)t  hinter  Sambuga  trat  man  in  ben  Sialb  ein.  ©tanlep 
glaubte  febr  freigebig  zu  fein,  wenn  er  ficb  einen  2)larfdj  oon 
jtoei  SBocben  geftattete,  um  bie  jtuifeften  bem  Kongo  unb  bem 
@ra«lanbe  liegenbe  SBalbregion  zu  paffireu.  (Er  foüte  eine« 
auberen,  ©cblimmeren  belehrt  werben. 

Xer  SBalb  war  im  Slufang  ftarf  bewohnt.  3n  natürlichen 
ober  burd)  fiunft  geschaffenen  2icbtungen  lagen  zahlreiche  Xörfer 
ber  (Eingeborenen  zerftreut.  Xiefe  oerhielten  fid)  oon  Slnfaug 
an  feinblid)  unb  fdjon  beim  erften  Xorfe,  am  erfteu  Xagc  be« 
SDlarfcbe«,  lernte  man  einige«  oon  ber  barbarifdjeu  Kriegführung 
biefer  SBilben  feuuen.  Xer  fdjmale,  feftgetretene  (Sittgeboreuenpfab, 

(881) 


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10 


auf  melcßem  man  junäcßft  im  ©änfemarfcß  marfcßirt  mar,  ßörte 
plößlicß  in  ©icßt  einer  ©ingebornenanfteblung  auf.  @r  mar 
fiinftlicß  burd)  ©ebiifcß  oerfpcrrt.  ©tatt  beffen  öffnete  ficß  in 
geraber  SRicßtung  auf  ba#  3)orf  ju  ein  breiter,  licßter  28eg, 
ganj  oon  Unterßoß;  befreit  unb  anfcßeinenb  einlabenb.  2tber 
bie  oorficßtigen  Slnfii^rer  ber  Kolonne,  au#erlefene,  auf  früheren 
SReifen  erprobte  ©anfibarleute,  bemcrften  fcßnell,  baß  ber  2Beg 
mit  fcftnrf  jugefpißteu  £>oljpfäßlen  gefpidt  mar,  melcße  in  flach« 
©ruben  eingeftecft  unb  mit  großen  ©füttern  bebecft  maren.  &a# 
mar  für  barfüßige  2eute  unb  felbft  für  bie  ©tiefet  tragenben 
©uropäer  eine  große  ©cfaßr.  $>ie  fcßarfen  ©pißen  brangen 
burd)  Scber  unb  gufj  unb  öerurfadjten,  ba  fie  oergiftet  maren, 
furchtbare  SSunben  unb  Cäßmungen.  äReßrere  Seute  ber  ©j* 
pebitioit  gingen  ju  ©runbe  burch  biefe  £>iuterlift,  auf  bie  man 
al#  auf  ein  allgemein  gebrauchte#  unb  beliebte#  2lbmeßrntittel 
aud)  auf  fpäteren  SBegen  burdj  beit  SBafb  uttb  an  fonft  ge- 
eigneten ©teilen  fließ.  — Sil#  man  ficß  mit  großer  ©orficßt  unter 
?lu#jießen  ber  fßfäßle  unb  ftetem  geuer  auf  bem  breiten  Sßege 
bcm  $>orfe  näßerte,  gab  ber  am  ©ingang  beSfelbeit  aufgefteHte 
SSacßtpoften  ein  Slarmfignal  mit  ber  Trommel,  moranf  ade 
©ingebornen  an  bie  jur  ©ertßeibigung  angeroiefenen  fßläße  eilten. 
SDer  Kampf  freilief)  toar  ein  feßr  fur^er.  ®a#  $>orf  mürbe  nach 
furjem  SBiberftanb  oerlaffen  unb  oon  ben  ©emohnern  felbft 
ange$ünbet,  eine  SDiaßregel,  meldje  bie  ©iugeborenen  auf  bcm 
ganzen  SBege  bureß  beit  28alb,  aud)  naeß  frieblicßer  ©inlagerung 
oon  ^«mben  überall  beobachteten,  (©tanleß  fann  feinen  ©runb 
bafiir  fiitben  al#  bie  „©rämlicßfeit  biefer  SBilben".)  dergleichen 
©eenen  feßrten  faft  tüglicß  mieber,  fo  lange  man  burd)  be* 
moßnte  diftrifte  jog. 

©tanleß  ßatte  oom  Sambuga  au#,  um  möglicßft  bie  gerabe 
Sinie  auf  Karoalli  halten,  junäcßft  einen  2Bcg  eiitgefdßlagen, 
ber  in  fiiböftlidjer  fRicßtung  »om  gluffe  abfftßrte.  diefer  fam 

(SS2) 


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II 


nämlich  ju  meit  au«  Sßorboft  Jjer.  ©ine  .geitlang  folgte  man 
gingebornenpfaben,  bie  in  frumraen  Sinien  oon  Sorf  ju  Sorf 
führten.  Sann  mürbe  eine  ©lefantenberbenfpur  benufjt.  911« 
biefe  zu  weit  t>om  gluffe  u&  uad|  ©üben  führte,  fdjlug  man 
bie  SRidjtung  bortf)in  roieber  ein.  9luf  biefem  SSege  lernten  bie 
SReifenben  nun  juerft  bie  Statur  biefe«  Stongomalbe«  jur  ©eniige 
fennen.  Siebte«,  bornige«  unb  ftacbelidjte«  Unterholz  unb  born- 
bemefjrte,  riefige  ©lattpflanzen,  aufgezogen  unter  bem  imburd)- 
bringlieben  ©chatten  oon  50 — 60  äßeter  t)o^en  Saumriefen,  be» 
becften  ben  häufig  fumpfigen  ©oben,  ber  überall  mit  bußfertigem 
£>umu«  au«  oermobernben  ©lottern,  Stielen  unb  ^roeigen  belegt 
mar.  Schlingpflanzen  aller  9lrt  bi«  zu  ber  Sicfe  eine«  Seine« 
Zogen  fid)  neuartig  in  zubtßfen  Serfcblingungeit  toie  ©emebe- 
fäben  oon  Saum  zu  Saum,  fo  bafe  man,  roo  nicht  ©lefanten 
einen  ißfab  gebrochen  ober  Sturm  unb  Älter  oor  furzem  erft 
einen  ©aumricfen  zu  gebracht  unb  biefer  ade«  mit  fid) 
nieberreifeenb  Sicht  unb  Suft  gefchaffeit  ^atte,  mittelft  9ljt  unb 
fiacfmeffer  tunnelartige  Deffnungen  bestellen  mufete,  um  in  ba« 
Sicfid)t  einzubringen,  Sßamentlidj  ber  junge  SBalb,  ber  an 
Stelle  einer  oerlaffenen  Sichtung  aufgeroachfen  mar,  liefe  fein  anbere« 
ginbringen  in  feinen  Schatten  zu.  Sie  ©egetation  mar  bort 
fo  miteinanber  oermachfen  unb  oerroidelt,  bafe  e«  leichter  fd)ien, 
über  bie  Spijjen  biumegzufcbreiten,  al«  in  ba«  Sididjt  einzu- 
bringen. Äber  auch  alten  oon  Sßenfcbenbanb  unberührten 
Urroalbe,  mo  bie  Säume  höher  unb  umfangreicher,  ber  ©oben 
fefter  erfdjien,  mar  ber  Äufenthalt  ein  auf  bie  Sauer  gerabezu 
furchtbarer,  Stein  Sonnenftrahl  braitg  burch  bie  ungeheuren  ©lätter- 
maffen.  Selbft  mitten  am  Sage  mar  tiefe  Sömmerung,  fonft 
„greifbare  ginfternife".  $)ie  Suft  mar  fchmül,  unrein,  oerborbeu 
burch  bie  faulenben  Ueberrefte  ber  ben  ©oben  bebecfenben  ©flanzen 
unb  umgeftürzten  Säume,  in  beren  Ißober,  ber  oon  Qnfeften 
jeber  9lrt  unb  ©röfee,  oon  ber  roinzigen  Ämeife  bi«  zum  fd)marzen 

(383) 


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T2 


Jaufenbfuff  unb  hanblangen  9tiefen!äfer  wimmelte,  man  tief 
einfauf.  £>in  unb  wieber  unterbrachen  träge  bal)in  fdjleidjenbe 
öäd)e  unb  moberige,  ftinfenbe  ©ümpfe  ober  ein  breiter  Sieben* 
flufj  eineg  großen  Stromes  ben  SDlarfd).  Jtobei  regnete  eS  faft 
jeben  ^weiten  Jag  in  Strömen.  (93om  1.  Sanitär  1887  bis 
jurn  31.  SJiai  1888  regnete  eS  an  138  Jagen  569  Stunben 
lang,  einmal  19  Stunben  hintereiuanber).  Shifferbem  aber  würbe 
bie  Karawane,  oor  allem  natiirlid)  bie  halbnadten  Jräger,  oon 
einer  unenblic^cu  ÜDienge  »on  SDiücfen,  fliegen,  mifroffopifdj 
{(einen  geden  nnb  flöhen,  ungeheuren  fchwarjen  SSeSpett  unb 
befonberS  oon  ganjeu  feeren  rotier  unb  fdjwarjer,  ernpfinblid) 
beijfenben  Slmeifen  geplagt,  oor  benen  man  marjcfjirenb,  liegenb 
unb  fifcenb  auf  ber  $ut  fein  muffte.  Sn  ben  Söäumen  Rauften 
Slffen  üerfcfjiebener  Ülrt  unb  ©röjje,  befonberS  2Äa!iS  unb  SofoS 
ober  Ghimpanfen,  bie  hier  eine  bebeutenbe  ©röjfe  erreichen  unb 
bie  fReifenben  in  ber  9iad)t  burd)  iljr  tiefes,  bajjartigeS  ©ebriiD 
beläftigteu.  lieber  ben  Köpfen  lärmten  Sögel  mit  tounberbaren, 
nie  oernommenett  Stimmen.  9Jlan  fatj  fie  nicf)t  in  ber  4?ölje 
oon  6—9  Stodwerf,  obwohl  man  ihr  pfeifen,  Jrillern,  Kreifdjen 
unb  Schreien  forttoährenb  hörte,  ©rojfe  unb  Meine  Papageien, 
JurafoS,  Schwalben,  gmten,  jgurger,  giegenmelter,  SBiebchopfe, 
Gulett,  Jroffeln,  SBeberoögel  unb  taufenb  anbere  Slrten  beoölferten 
ben  92301b,  oor  allem  audj  SJiiüionen  oon  glebermäufen.  SSilb 
fah  man  öerf)ättni&mäffig  wenig,  nur  beffen  Spuren*  eS  würbe 
burd)  ben  Särm  ber  herannahenbeit  Karawane  leicht  oerf<f)eucht. 
Ginigemale  begegneten  Glefanten  bem  guge,  bie  bann  mit 
fradjenbem  ©eräufd)  fliehenb  SBege  burd)  baS  Unterholj  bahnten. 
Sich  weiter  oon  ber  Karawane  ber  Sagb  wegen  ju  entfernen, 
war  bei  ber  Unwegfamfeit  beS  SöalbeS  unb  ber  ®efährlid)feit 
ber  Sewohner  beS  SSJalbeS,  bie  ben  Ginjelnen  aus  fid)eretn 
Jididjtoerfted  ohne  ©efinnen  nieberftieffen  ober  mit  oergifteten 
Pfeilen  ju  Jobe  oerwuubeten,  nicht  gerathett.  Jiefen  überall 
(S»l) 


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13 


lauernben  SSilben  fielen  aud)  »iele  Seute  jur  ©eute,  bie  fid) 
trop  fortnjäljrenber  «Kaf)nungen  einzeln  ober  in  DruppS  ber 
SebenSmittel  wegen  »on  ber  Klaffe  entfernten,  ©ie  würben 
getäbtet  unb  jebcnfallS  Derart,  „benn  biefe  ©Silben  pflegen  alles 
$u  effen,  was  fie  töbten",  meint  ©tanlet).  Snblid)  am  5.  3uli 
fam  man  mieber  am  ^luffe  an,  ber  nun  nur  auf  !urje  ©trecfen 
nodj  »erlaffen  würbe. 

Der  Slruroimi,  bei  feiner  «Dlünbnng  in  bett  ftongo  Dubu 
ober  ©ijerre,  weiter  oberhalb  Suljali,  KoncÜe,  Kewa,  julefct 
bis  }ur  Duelle  3turi  ober  3tiri  oon  ben  (Singeborenen  genannt, 
ift  an  ber  Klünbung  2700 — 3000  fffufj  breit.  Kod)  680  englifd)e 
äReilen  oberhalb  berfetben  ^at  er  eine  ©reite  »ott  375  gufj  unb 
ift  0 $uft  tief-  ©eine  JpauptqueHen  — er  ftrömt  aus  brei 
üuellflüfftn  jiufammen  — liegen  wafjrjdfeinfid)  in  ber  Käf)e  ber 
auf  ben  Äarten  als  3unferS*  unb  ©d)weinfurtf)S  ©erg  be* 
jeidjneten  |)öt)en.  ©on  ba  läuft  ber  ftauptftrom  anfangs  ungefähr 
parallel  bem  Sllbert  Kianfa  am  gufte  ber  allmäf)lidj  nad)  biefem 
0ee  auffteigenben  ©obencrl)ebung,  »on  weldjer  er  jnljlreidje 
SRebenflüffe  erhält,  fließt  bann  in  flacher  ©ogeitlinie  bis  1°50' 
nörbl.  ör.  unb  »on  ba  plöjjlid)  nad>  ©üben  umbiegenb  in  uit* 
ge^euren  SBinbungen  erft  füblid)  bann  weftlid).  ©tanlet)  be* 
redpiet  bie  Sänge  beS  ^auptfluffeS  auf  800  «Keilen  (engl.),  er 
l)at  bemnad)  ungefähr  bie  Sänge  beS  KfjeinS.  (150  beutfdje 
«Weilen.)  Die  Ufer  finb  meift  flacf),  überall  mit  SBalb  bebedt. 
Srft  weiter  im  Cberlauf  wirb  ber  glujj  burd)  t)°f)c  fteilc  Ufer 
eingeengt,  reijfenb  unb  »ielfadj  »on  gelSbänfen  burdjfcpt,  welche 
bie  ©d)iffal)rt  wegen  ber  entfteljenbeu  ©tromfc^netlen  erfdjweren 
ober  ganj  unmöglid)  machen.  ©tromfdptellen  finben  fid;  übrigens 
aud)  im  Unterlauf,  wenn  aud)  leichter  ju  überwinbenbe  ober  ju 
umgebenbe.  ©ebeutenbere  Kcbenfliiffe  erhält  ber  $luf3  aufeer 
ben  erwähnten  Dueüfliiffen  befotiberS  »on  Korben,  ben  Kepofo 
unb  mit  bem  Dui,  »on  ©üben  ben  Seitba. 

(SS5) 


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14 


Sroß  ber  nidf|t  feltcncn  Stromfdfneden  half  bcr  glu§  ber 
©fpebitiott  hoch  roefentlich  im  gortfommen.  Sraglaften 
mürben  um  ba«  ©tahlboot  oerminbert,  ba«  gufammengefeßt 
mieber  einen  meitcrn  Sheil  ber  Saften  unb  bie  Stanfen  unb 
Schmalen  trug.  $D?an  requirirte  aufjerbem,  roo  e«  ging, 
Äanoe«,  burchmeg  ©inbäume,  meldje  in«  Schlepptau  genommen 
mürben.  2ln  größeren  Stromfchtieden  mußten  freilich  bie  Voote 
entleert  unb  mit  lauen  unb  Sdjlingpflangen  am  Sanbe  meiter 
gezogen  merben,  eine  Slrbeit,  bie  öfter  mehr  al«  einen  Sag  in 
Slnfprucp  nahm.  Sennodj  ging  jefct  noch  ode«  gut.  j£>ier 
am  gluffe  >oar  &od)  bie  Sufi  reiner  unb  ftifdjer,  mehr  Sicht 
unb  frifchc«  SSaffer. 

Sin  ben  Ufern  be«  Struminii  erhielt  man  erft  recht  einen 
begriff  non  ber  tropifchen  Vegetation.  Sie  niebrigen  Ufer 
roaren  non  Scijlinggemächfen  oodftänbig  übermachfen,  fo  ba§ 
man  ihre  |jöhe  nicht  beftimmen  fonnte,  ba  biefe  Schling* 
pflanzen  mie  ein  Schleier  herabfielen  oon  bent  unmittelbar  am 
gluffe  fich  crhebenben,  mauerähnlich  40 — 60  Bieter  auffteigenben 
SSalbe.  Vefonber«  fiirglich  oerlaffene  Sichtungen  geigten  aujjer 
einer  ungeheuren  Sichtigfeit  ber  Vegetation  Steden  mit  pracht* 
»öden  Vlumen,  meift  oon  bunfelrother,  purpurner,  gelber  pber 
meifjer  garbe,  babei  bie  mannigfaltigften  gormen  unb  gär* 
bungeit  ber  Vlätter,  mie  bcr  Stämme;  bie  Vlüthen  ftrahlten 
SBohtgeriiche  au«,  mie  fie  Stanlep  fonft  nirgeitb«  auf  ber  SBelt 
fennen  gelernt  gu  haben  meint. 

Sa«  SBetter  mar  morgen«  meift  trübe  unb  büfter,  bie 
Semperatur  17 — 18°  R.,  ber  §immel  mit  brohenbett  SBolfen 
bebeeft  ober  ade«  in  bieten  Sftebel  gehüdt,  ber  bi«  9—10  Uhr 
anhielt.  ,,9ficht«/'  fo  fdjreibt  Stanlct)  in  einem  feiner  Vriefe, 
„bemegt  fich  bann;  ba«  gnfeftenleben  fchläft  unb  im  SBalbe 
herrfcht  Sobtenftide ; ber  bunfle  glufj,  burch  bie  hohen  ÜRauern 
ber  bichten  Vegetation  be«  SBalbe«  noch  mehr  »erbüftert,  ift 

(386) 


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15 


fchweigfom,  wie  baS  ©rab,  man  glaubt  faft  baS  ißodjen  beS 
eignen  |>erafchlagS  unb  bie  innerften  ©ebanfen  ju  hören.  SBenn 
biefer  Dunfetheit  fein  liegen  folgt,  bann  tritt  bie  Sonne  hinter 
ben  Sßolfenmaffen  ^eroor.  Der  9iebel  oerfchminbet,  unb  ba$ 
Seben  wirb  burd)  ben  gellen  lag  erwecft.  Schmetterlinge 

feffroirren  burd)  bie  Suft,  ein  oereinjclter  3biS  fräch*t  feinen 
Hlarmruf,  ein  Däuser  fliegt  quer  über  ben  Strom,  aus  bem 
IBalbe  crfdjaßt  feltfameS  ©emurmel  unb  etwas  flußaufwärts 
ertönt  bie  SlriegStrommel.  Die  fd)arffid)tigen  ©ingebornett  hüben 
unS  erblicft  unb  fchreien  unS  ihren  StriegSruf  entgegen,  bie 
Sperre  büßen  unb  bie  feinbfeligen  Seibenfchaften  finb  erwacht." 
Die  glußufer  waren  ftarf  bewohnt.  gn  faft  jeber  Siegung 
beS  gluffeS  lagen  Dörfer  ber  ©ingebornett,  aus  fegeiförmigen 
Jütten  mit  l)oh€r  @piße  beftehenb,  oft  gattje  9tei£)en  berfelben, 
fo  bei  Sanalja,  bem  Crt,  ber  fpäter  burch  bie  Slataftroph«  beS 
2Rajor  SBarttelot  berüchtigt  würbe,  nicht  weniger  als  13  Dörfer, 
beren  ©inwoljnerfchaft  Stanletj  auf  5200  Stopfe  beredjnet. 
Die  ©ingeborueu  gehörten  ju  einem  großen  Stamm,  bem  ber 
öajofo,  fie  hotten  wenigftenS  ooit  gambuga  bis  ÜJfugwqe  (ober 
HJiijui  auf  StanlepS  Starte)  baSfelbe  Sllarmtrommelfignal  unb 
baSfelbe  griebenSjeid^en;  fie  waren  fehr  fdjeu  unb  litten  ihrer 
SluSfage  nach  fämtlid)  junger.  ©S  foüte  weber  Sananen, 
noch  Bucferroljr  unb  2Jianiof,  noch  Biegen  °^er  £>ühttcr 

geben.  Die  üblichen  Daujchmittel,  Stauris,  äJteffingftangen, 
perlen,  fagten  fie,  hatten  für  fie  feinen  Söerth,  fie  fönnten  fid) 
boeß  feine  SebenSmittel  bamit  oerfehaffen.  Dabei  lagen  in  ber 
ülähe  ber  Dörfer  bis  ju  bem  obengenannten  SJiijui  (ober  ÜWjowe, 
SKufupi)  oft  quabratfilometergroße  Dianiof«  unb  33anatten« 
Pflanzungen,  gn  ben  Dorfumjäunungen  gebieten  ißarabieS« 
feigen  oon  feltencr  ©röße  unb  Schönheit,  eS  fanb  fidj  hin« 
reießenber  Dabaf,  auch  SWaiS  unb  Stürbiffe  unb  in  ben  Sichtungen 
Bananen.  Diefe  Sichtungen  ftelleu  bie  ©ingebortten  auf  eigen« 

(387 1 


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16 


tljümli<f)c  ©eife  her-  ©ie  foppen  bie  Säume  in  einer  §öf>e 
»on  6 2J2eter;  bie  3roeige  werben  »erbrannt  ober  jur  Anlegung 
ber  Jütten  unb  3äune  »erwanbt.  3n,'f($en  beit  ®oum* 
ftiimpfen  wirb  gepflanjt.  fjeinblidje  Angriffe  zwingen  jum 
Serlaffett  ber  Jörfer  unb  Sichtungen,  bie  bann  in  furjer  3eit 
in  gan$  wunberbarer  ©eife  juwachfeti  unb  ber  Äolottne  bie 
größten  £>iitberniffe  boten.  ®er  Umftanb,  baß  bie  ©ingcbornen 
meift  ihre  Dörfer  oor  ber  Slnftntft  ber  Starawane  »erließen, 
erleichterte  bie  ©rlangung  »on  SebenSmitteln.  ©efangene  Sin* 
geborene  jeigten  ficf)  fe^r  fcfjeu , würben  aber  balb  jutraulicb. 
§US  giihrer  waren  fie  jeboch  nidjt  ju  gebrauchen,  weit  fie  wegen 
ihrer  3folirtl)eit  untoiffenb  ober  and)  böswillig  unb  unjuocrläjfig 
waren.  SWit  ihren  burdj  eine  fräftige  SÜantaft£  unterftüfcten 
fdjeinbar  genauen  Slngaben  taufchten  fie  fogar  ben  gührer 
einigemale. 

Sis  jum  1.  Sluguft  war  ber  SDlarfch  trofc  großer  Sin* 
ftrengungen  faft  ohne  Serlufte  »or  fich  drangen,  ©in  einiger 
SDiann  war  geftorben.  Cberßalb  SDfijui  aber  bis  in  bie  ©egenb 
ber  als  Sait9flfäߣ  bejeidjneten  h°^c,t  Äatarafte  gerieth  man 
juerft  in  »ollftänbige  ©ilbitiß,  ju  feeren  Ueberwinbung  man  neun 
Jage  brauchte.  J>ie  Jörfer  lagen  h>er  weiter  in  ben  ©alb 
hinein  unb  eS  fanben  fich  wenig  SebenSmittel.  So  nahmen 
bie  Kräfte  ber  Seute  bei  ber  fdjwcreit  Slrbeit  fdjnefl  ab.  Siele, 
bie  ftdj  troß  wieberholter  Mahnungen  auf  ber  ®ud)e  nach 
SebenSmitteln  $u  weit  »oin  3ll9c  entfernten,  würben  »on  ben 
©ingeborneit  crfdjlagen,  ?lnbere  »erloren  fidj  im  ©albe,  befer* 
tirten  auch  wohl,  um  bann  in  ber  ©inöbe  ju  fterben;  JßS* 
enterie  unb  fehmerghafte  ©efdpuiire  fjinbertett  baS  fcßnellere 
gortfommen.  J)och  ging  eS  noch  ftetig  oorwärts,  fo  lange  ber 
3luß  nod)  nicht  beit  J)ienft  »erfagte.  dagegen  würbe  bie  Sc* 
»ölferung  gefährlicher,  fobalb  man  wieber  aus  ber  ©ilbniß 
heraus  war.  $ie  ©ittgeborneit  gehörten , nach  ber  Sauart 

(38H) 


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ihrer  jpiitten  unb  ißrer  Sprache  gu  fdjließen,  einem  attberen, 
triftigeren  SBolfe  an.  Sin  Stelle  ber  fegeiförmigen  traten  oier* 
eefige,  getrennt  liegenbe  Sefjaufungen,  jebe  oon  einem  flogen 
ßaune  umgeben,  bie  Söänbe  außerbem  burd)  Saumftämme  ge- 
fcßüöt,  fo  baß  fie  fogar  gegen  geuerlüaffen  einen  getoiffeit 
©dju^  gemährt  Ijätten.  Sie  (Singebornen  führten  oergiftete 
Pfeile,  unb,  mof)l  auf  biefen  anfefjeinenben  SBortheil  geftii^t, 
griffen  fie  j.  93.  bei  Slrifibbu,  oberhalb  ber  SßattgafäHe,  ba# 
Säger  ber  (Sjpebition  in  bjöc^ft  entfdjloffener  SBeife  an,  fo  baß 
e#  nicht  ohne  Sßermuitbungen  abging.  9tuch  Sieut.  ©tair#  mürbe 
oou  einem  oergifteten  Pfeile  oermunbet;  ba  aber  ba#  ©ift 
mahrfdjeinlid)  nicht  frifd)  mar,  oerurfadjte  e#  nur  eine  mehrere 
SDlonate  offne,  fdjinerj^afte  SBunbe.  güitf  2eute  jebod),  bie 
nur  gauj  leichte  ©tid)e  erhalten  Ratten,  ftarbeu  tfjcilö  fofort, 
theil#  in  menigen  Sagen  am  ©tarrframpf.  Sie  (Siugeboriten 
ftellen  ba#  ©ift  au#  einer  $5 rumart  ^er.  ©ie  tobten  bantit 
(Slefanteu  unb  anbere#  große#  SBilb.  (Sin  anbere#  ©ift  mirb 
aus  getroefneten,  in  ißalmöl  gefotzten  rotten  Slmeifen  bereitet. 

9lm  25.  Stuguft  mürbe  Sloijeli,  gegenüber  bem  Einfluß 
be#  Diepofo  erreicht.  Ser  ca.  1000  guß  breite  ©trom  ftür^t  fid) 
in  hohem  galle  in  beit  9lrumimi.  — SBom  ftongo  bi#  Ijierljer 
roaren  bie  Ufer  biefe#  bluffe#  gleichmäßig  niebrig  gemefeit. 
3$on  f)ier  ab  begann  hügelige#  Sanb,  bie  glußufer  mürben  fteil, 
oft  felfig.  Se r SSJalb  mürbe  lichter,  ^almeit  unb  bie  hohen 
meißftämmigen  öaummollenbäume,  bie  fich  aud)  am  untern 
Hottgo  oielfach  finben,  traten  jabjfreic^er  auf.  SBurbe  f)ierburd) 
einige  (Srleicßterung  gefchaffen,  fo  oerfagte  bagegen  halb  ber  gluß 
feine  oorjüglichen  Sienfte.  Sie  ©chiffahrt  mürbe  immer  mehr 
burch  ©tromfchnellen  aufgehalten  ober  ganj  unmöglich  gemach:. 
2M)rere  große  gätlc  mußten  umgangen  merbett,  eine  Slrbeit 
oon  jebe#mal  1 — 2 Sagen.  Sftan  bot  ber  SBilbheit  be#  Strome#, 
ber  juleßt  bi#  auf  300  guß  eingeengt  in  einem  engen  (Safion  floß, 

eotnmlung.  SR.  3.  V.  107.  2 (389) 


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18 


nocf)  einige  Sage  Sroß.  ©nblid)  mußte  man  ÜanoeS  unb  ®oot 
entleeren,  baS  ledere  auSeinanbernehmen,  um  eS  *u  i'anbe 
meiter  ju  tranSportiren.  Sie  Karawane  würbe  gemuftert.  Sa 
(teilte  fidj  ßerauö,  ba(3  bie  Seute  nicht  mehr  im  (taube  waren, 
bie  Stiften,  reelle  bisher  burch  baS  93oot  befürbert  waren,  unb 
bieS  (elbft  jit  tragen.  junger  un^  Äranfßeit  ßntteu  (ie  bejü 
mirt  unb  untauglich  gemacht.  9iid)t  weniger  als  36  (Wann 
waren  (eit  ÜRijuc  theilS  geftorben,  tfjeits  würben  (ie  »ermißt. 
3ubcm  traf  bie  3?orßut  je£t  jum  erfteumale  (31.  Sluguft)  auf 
eine  Ülbtljeiluug  SRanjema,  welche  $ur  ftararoane  beS  arabifc^en 
©flauen«  unb  ©IfenbeinjägerS  llgarrowa  ober  lllcbi  iöalijuS, 
eines  frühem  3et*bienevS  ©pcfeS,  gehörte.  Sicfe  Karawanen 
finb  cS,  weldje  tjauptfadjlic^  in  ber  ©egenb  jroifdjen  Sanganifa 
bis  junt  ftongo  unb  nörblidj  bis  juni  Slruwimi  burcf)  ihre 
©flaoenjagben  baS  fianb  entuülfern  unb  oerwüften.  ©ie  nähren 
fid)  ßauptfäd;(id)  oon  (Raub  unb  Siebftaf)!,  feiten  bauen  fie  an 
Crteu,  wo  bie  einzelnen  Slbtßeilungen  länger  oerweilen,  bie  Sidj* 
tuugen  an.  ©tanlep  ßatte,  wie  oben  erwäfjnt,  ber  Slongoroute 
mit  aus  bem  ©runbe  ben  SBorjug  oor  ben  anbern  gegeben,  weil 
er  baS  3ufammenfommeu  mit  arabifeßen  Karawanen  fürchtete, 
welche  gewößn(id)  unter  ben  Ceuten  einer  folgen  ©ipebition 
intrigiren,  fie  jum  Ungeßorfam  unb  jur  Sefertion  oerleiten. 
Sluf  bem  ©ege  oon  Cften  würbe  bei  einigermaßen  fdjmierigen 
2$crf)ältniffen,  ©anfibar  im  (Rüden,  leicßt  bie  Karawane  fid)  bei 
einem  foldjen  ^“fonimentreffen  aufgelöft  ßaben.  SaS  batte  er 
burd)  bie  ©afjl  ber  üongoroute  oermeiben  wollen.  (Run  fiel  er 
f)ier  ben  Arabern  in  bie  $änbe,  unb  biefe  fcßlaueu  Barbaren 
wußten  bie  (Rotf)  ber  Seute  für  fid)  aufs  befte  auSjubeuten. 
(Born  Slugenblide  beS  gufamnientreffenS  befertirten  innerhalb 
3 Sagen  26  ÜRann,  bie  fid)  ben  niarobirenben  ©treiffefjaren 
ber  SRanjema  anfcßloffen.  — SBärc  bie  ©jpebition  ferner  ein 
3af)r  früßer  aufgebrochen,  fo  hätte  fie  in  biefer  ©egenb  (Nahrung 

(390) 


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19 


bie  .£mfle  unb  'Jütte  gefunben.  Jeßt  mar  alle«  in  weitem 
Umfreife  burd;  bie  SRenfcßenjagben  uttb  Stäubereien  ber  Ugarroma 
unb  eines  feiten  ÄraberS,  beS  ftilittga  Sottga,  eines  ©flauen 
beS  frühem  ©anfibarfflaoen  Äbcb  ben  ©elim,  beffeit  ©luttßaten 
Stanley  in  feinem  SBerfe  „$er  Äongo  nnb  bie  ©riinbung  beS 
ftongoftaateS"  gefcftitbert  hat,  fo  grünbticß  oertüiiftet,  baß  aud) 
ni<ßt  eine  fpütte  fielen  geblieben  mar.  2öaS  biefe  Jerftörer  an 
Rainen  unb  ^Pflanzungen  non  93ananen  unb  iparabiesfeigen, 
an  2Jianiof*  unb  SDiaiSfelbern  übrig  gelaffen  hatten,  baS  war 
non  Siefanten,  ©cßimpanfen  unb  fonftigen  Slffett  31t  »crwefen* 
bem,  ftiufenbem  Soll)  zertreten  unb  zermalmt  worben,  fo  baß 
bie  ganze  ©egettb  in  eine  fürchterliche  SBilbniß  umgewanbelt 
war.  SDian  mußte  woßl  ober  übel  gute  ÜUliene  zum  böfen  ©piel 
machen,  ficß  mit  ben  Ungeheuern  »ertragen  unb  Jreunbfcbaft 
fcßließen,  um  nicht  zu  »erhungern.  56  001t  ben  Seuteu  ©tanleps 
waren  oottftänbig  untauglich  geworben,  ©ie  mußten  bei  ben 
Ärabern  zuriicfgclaffen  werben,  bie  ficß  natürlich  für  ihre  93  er* 
pfleguug  bezahlen  ließen.  9iad)  furger  9laft  ging  eS  weiter 
burch  baS  oottftänbig  auSgefogene  ©ebiet.  ©egenüber  bem  Sin* 
fluffe  beS  Sßuru  in  ben  Slruwimi  würbe  bie  fiolonne  wieber 
gemuftert.  fpier  mußte  Kapitän  Helion,  ber  franf  war  unb  be* 
fonberS  an  Jußgefcßmüren  litt,  mit  52  fDiann  z»nidbleiben. 
33ian  überließ  fie  ihrem  ^djidfal,  unb  oerfprach  fie  fobalb  als 
möglich  nachzuholen.  ®ie  übrigen  wanfteu  weiter,  oottftänbig 
entfräftet,  z»  afdjgrauen  ©feletten  abgemagert,  ©eßwämme  unb 
wilbeS  Obft,  ©djnecfcn,  ftäfer,  Ämeifen  batten  fcßoit  feit  SBocßen 
faft  bie  einzige  Währung  gebilbet.  „98er  nicht  genug  oon  ben 
merfwürbigeit  gingen,  oon  welchen  wir  uns  nährten,  fittben 
fonnte,"  feßreibt  ©tanleß,  „ging  zu  ©runbe."  £er  SDiarfcß 
war  ber  langfamfte.  Um  bie  Srfcßöpften  nicht  umfommen  z« 
laffen  unb  bie  Saften  fortzubringen,  mußte  jebe  SBegftrede 
mehrere  ÜDiale  bureßmeffen  werben.  $u  einer  Sutferuung  001t 

2*  (»91) 


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20 


60  engt.  ÜHeilett  braucßtc  bie  Sjpebition  ben  falben  fDtonat 
Oftober,  ©taufet}  fagt,  e$  fei  ißm  ju  SWutße  getoefen,  als 
fcßfeppe  er  bie  Seute  an  einer  um  feinen  §al3  gefcßfungenett  $ette 
mit  ficß.  UntertoegS  begegnete  man  toieber  fDianjemaS,  Leuten 
beS  ftilinga  Songa.  ©ie  erjäfjften,  baß  baS  Säger  ißreS  Sn* 
fiißrerS  5 lagereifen  entfernt  auf  bem  anbern  Ufer  be$  JluffeS 
liege.  Sieä  gab  menigftettS  einige  Hoffnung,  fo  ftßfimm  aucß 
baS  gufammeutreffen  mit  ben  Arabern  unb  ÜKonjemaS  ©taufet} 
erfcßien.  9tacß  einigen  Sagen,  am  14.  Oftober1,  tourbe  ber 
Srutoimi  überfdjritten  unb  auf  bem  anbern  Ufer  ioeiter  mar* 
fcßirt.  f)ier  bot  ber  SBafb  meßr  griicßte  unb  bafb  jeigten  fid} 
bie  Vorboten  einer  größeren  SUeberfaffung.  Sm  18.  Oftober 
fam  man  im  Säger  Sifinga  SottgaS  in  3poto  an.  SOian 
tourbe  freunbficß  empfangen.  Sie  SWianjema  ßatten  120 — 160 
$eftar  mit  SJiaiS,  2 §eftar  mit  fReiS,  ebenfooief  mit  ©oßtten 
beftefft.  ©ie  fjatten  ungeheure  fDiengen  oott  SUiaiS  aufgefpeicßert, 
rutcf)  ©ieß,  affe«  ben  Singebornen  geftoßten.  Sußerbem  befaßen 
fie  große  Söananenpffanjungen.  Äurj,  bie  Sage  ber  Seute  toar 
eine  oorgügficße. 

Sie  greunbfdjaft  inbeS  bauerte  nicfjt  fange.  Sie  ?fraber 
Ratten  gehofft,  bie  Sjpebition  toürbe  oiefe  für  fie  begeßrenStoertße 
Singe  mit  fid}  führen.  SIS  fie  ficß  getäufdjt  faßen,  tourben 
fie  fcßmieriger  in  ißrer  ©aftfreunbfcßgft.  ©ie  ließen  fid)  afleS 
bejaßfen,  juerft  mit  ben  ftleibungSftüden  ber  Seute,  bann  mit 
©etoeßren  unb  fßatronen,  Sejten  unb  anbern  biefett  nicßt  ge* 
ßörigett,  ganj  unentbeßrficßen  Singen,  ©tanfet}  faß  ein,  baß 
bie  Sfpcbition  bei  biefem  SuSpIünberungSfpftem  oerforen  fei. 
Sr  mußte  fcßfießlidß  bie  fcßärfftett  Maßregeln  ergreifen  unb 
einen  ber  ©öfctoidjter,  ber  Snbern  ißre  ©etueßre  unb  SDfunition 
geftoßfen  unb  fie  oerfauft  ßatte,  ßängen  taffen. 

©ei  Kiliitga  Songa  blieben  toieber  55  SDiann  mit  Dr.  ißarfe 
unb  Sepßfon  jurüd;  über  ißre  Srßnltung  mürbe  ein  förmlicßer 

(392) 


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21 


Vertrag  mit  ben  2lrabern  abgefc^loffett.  2lußerbem  foQten  biefe 
unter  güljrung  SephfoaS  beut  im  |>ungerlager  am  3ßuru 
juriicfgebliebenen  Slelfon  |>ülfe  fcfjitfen  unb  bic  bortgelaffencn 
©orrätlje  nacfjfjolen.  3ephf°n  brod)  fofort  auf  unb  fanb  »on 
ben  56  SJlantt,  welche  bei  Sielfon  geblieben  inareit,  nur  biefen 
unb  5 anbere  nod)  »or,  »on  betten  jwei  im  Sterben  lagen. 
2>ie  übrigen  waren  befertirt  ober  tobt.  @r  brachte  bie  lieber- 
lebenbeit  nad)  3poto. 

Stanley  war  unterbe^  mit  StairS  unb  ben  nod)  übrigen 
cirfa  200  ÜJiann  weitergejogen.  önblicf),  am  10.  Slooember, 
nach  einem  weiteren  »erfuftreidjen  üttarfdje,  immer  burd)  ben 
Salb,  erreichten  fie  bie  ©rettje  beS  ©ebiet«,  b aS  bie  Slraber  »er- 
wüftet  hatten,  bei  3bwiri,  einer  großen  Siieberlaffung  ber  ©ateffe, 
bie  fid)  wieber  burch  eine  »on  ber  früher  gefehlten  abweichettbc 
©auart  ihrer  Jütten  auSjeichneten.  ®ie  @igenthümlid)feit  ber 
Dörfer  beftanb  in  einer  langen  Straße,  welche  auf  beibeu  Seiten 
»on  einem  langen,  niebrigen,  aus  ^laufen  fjcrgeftellten  ©ebäube 
»on  60 — 120  m Sänge  eingefaßt  würbe.  Stuf  ben  erften  ©lief 
erjdjienen  biefe  ©aleffebörfer  wie  ein  großes  ©ebäube,  baS  in 
ber  äJütte  beS  SacßfirfteS  auSeinanbergefdjnitten  ift,  worauf  bie 
tpälften  6 — 9 m auSeinatiber  gerüeft  finb.  |>ier  in  3bwiri 
würbe  eine  »iergehntägige  9taft  gemacht.  SDenn  hier  war  alle« 
im  Ueberfluß  »orhanbett.  2)ie  173  noch  übrigen  Seute  [topften 
[ich  mit  ©eflügel,  3‘e0en/  ©ananen,  SDlaiS,  fiißett  Kartoffeln, 
2)am3,  ©ohnen  unb  anberett  he^r^^en  gingen  förmlich  D°ü- 
211$  matt  am  24.  Siooetnber  aufbrach,  waren  bie  Seute  ban! 
ber  9iulje  unb  guten  Moft  wieber  »oUftänbig  fjergefteßt.  21  ber 
biefe  173  waren  ber  9left  »on  389!  Sie  »iele  »on  ben 
3urücfgeb!iebeiten  nachfommett  würben,  war  feßr  bie  [[rage. 

Schon  am  31.  Oftober  war  man  auf  ein  ®orf  bergtuerge 
geftoßen,  bie  in  biefen  ©egenben  unb  weiter  itörblid),  wo  fie 
Schweinfurth  fennen  gelernt  unb  beschrieben  hat,  fich  aufhalten. 

(393) 


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©ie  nennen  ficf)  SBambutti,  ©atua,  ?tffa  unb  ©afutigu.  (Diefe 
©pgmäen  leben  im  ungelicfjteten  Urroalbe  unb  ernähren  ficf) 
burcfj  bie  3agb,  tveldje  fie  mit  großem  ©efdjic!  betreiben.  3f)re 
©röfje  fcfjtuanft  jwifdjen  90  cm  unb  1,4  m.  (Sin  auSge- 
tuadjfener  $iwerg  roog  40  kg.  3f)re  Torflager  finben  ficf) 
rings  um  bie  (Dörfer  ber  acferbautreibenbeit  (Singeborenen,  oon 
beiten  fie  gegen  SBifb  SebenSmittel  auStaufdjen.  SDJit  ilfren 
vergifteten  pfeifen  tobten  fie  (Siefanten,  ©üffel,  Antilopen, 
anbere  (Dljiere  fangen  fie  in  ©ruben  ober  ©iigclfallen;  gifdje  in 
Sieben  unb  SReufen.  (Da  fie  nur  in  ber  SEßilbnijj  leben  unb  oft 
bie  ©egenb  toed)fetn,  finb  fie  oorjiigficfje  Shnibfcf)after,  iooju 
fie  befonberS  oon  ben  acferbautreibeitben  eingeborenen  benuftt 
toerben.  ©ie  finb  boSfjaft  unb  f)interliftig,  wie  eS  bei  folgen 
gagboolfem  ber  SBalbtoilbnif?  nid)t  anberS  fein  faitn.  9Ran 
unterfcfjieb  befonberS  2 ©pe^ieS  oon  iljnen,  bie  fid)  an  Haut- 
farbe, gorm  beS  ÄopfeS  unb  cfjarafteriftifdjen  ©efidftSjügen 
burcfjauS  unäfjnlicf)  »waren.  (Die  niebriger  ftefjenbe  ©pejieS  ber 
©atua  Ijat  eine  nicf)t  abjulcugneitbe  Slefjnlidjfeit  mit  „beut  lange 
gefugten  ©liebe  3toifd)en  bem  moberneu  <Durd)fd)nittSmenfcf)en 
unb  feinem  (Dartoiniftifcfjen  ©orfafjren".  ©ie  fjaben  fleine, 
fd)lauc,  röt^Iicfje,  engjufammenfte^enbe  Slugen,  platte  fdjmale 
©ruft,  fjängenbe  Unterlippen  unb  ©dfultern,  bie  gü§e  finb  ftarf 
einwärts  gebogen,  bie  Sfrme  lang,  bie  Unterfdfenfel  unoerljält- 
nifjmäBig  furj,  baju  ber  gattje  Körper  mit  flaumartigen  ober 
mit  fteifen,  furjen,  grauen  Haaren  Oebecft.  $)ie  SBambutti 
f)aben  fjofje  ©tim,  gajeßenartige,  weit  woneinanber  ftef)eitbe 
klugen  mit  offenem  ©lief,  gelbe  (Slfenbeinfarbc.  (Die  ©atua 
finb  bunfler,  oon  ber  garbe  eines  f)albgebrannten  giegelfteinS, 
etwa  blaff-braun-rotfpgrau. 

(Die  Söambutti  beioofjnen  bie  fübfidje,  bie  ©atua  bie  itörb- 
lidje  HäIfte  &er  ©egeub  um  ben  3turi  bis  ju  ben  SBälbem 
oon  Iroamba  am  ©cmlifi. 

1394) 


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23 


(53  waren  oon  gbmiri  bis  jum  Sllbert  9?ianfa  nod)  cirfa 
126  SDieileu  jurücfjulegen,  junädjft  immer  noch  burd)  beit  ©alb. 
Slber  er  mürbe  mit  jebem  Jage  lidjtcr.  Son  Jorf  ju  J)orf 
führten  breite  ©trafteii,  unb  SebenSmittel  waren  im  Ueberflufj 
oorbanben.  J)ie  fleißigen  Söaleffe  lichteten  beit  ©alb  unb 
pflanjten  fortwä^reub,  woju  fie  wohl  audj  bic  fc^ort  oben  erwähnte 
®ewol)nheit  jwang,  bah  fte  ein  einmal  tiott  gremben  befncfjteS 
Jorf  fofort  nach  bereu  Slbjug  in  Sraub  ftecfeit  unb  ein  anbereö 
anlegeit.  Stm  1.  Jejember  faf)  man  oon  einer  fpiigelfette  nach 
Cl'ten  hin  juerft  wieber  ©eibelanb,  flache  mit  ®ra3  bebecfte 
©betten,  währenb  ficf)  nad)  9?orboft  ber  ©alb  ununterbrochen 
weiter  au3behnte.  Slm  5.  J)ejember  war  ba3  ©raälanb  er* 
reicht;  ber  tobtbringenbe  biiftere  ©alb  lag  hinter  ben  SReifenbett. 
9iad)  160  Jagen  unauggejejjter  Jämnterung  erblicfte  man  ba3 
helle  Sonnenlicht  jutn  erftenmale  wieber.  9J2ait  glaubt  e3  gern, 
wa§  Stanleh  fdjreibt,  bah  fie  9tHe  wie  wonneberaufd)t  waren, 
wie  ihrer  geffeltt  entlebigte  ©efattgeite.  ,,©ir  liefen,"  fagt  er, 
„mit  unfern  Saften  über  baö  weite  uneiitgefriebigte  gelb,  wäh* 
reub  .gerben  oon  Süffeln,  ©len*  unb  anberen  rött)lic^  * grauen 
Antilopen  mit  gefpi$ten  Ohren  unb  weit  geöffneten  Singen  auf 
beiben  Seiten  ftattben  unb  oerwunbert  bie  plö&lid)e  ©oge 
menidjlicher  ©efen  betrachteten,  bie  mit  greubengefdjrei  au3  ber 
buufelit  Jiefe  be3  ©albeä  her0Dr^rac^ett-  J>ie  Seute  jauchten 
unb  fprangen  mit  ihren  Jraglaften  buchftäblich  oor  greube 
umher  unb  jagten  fid)  hin  unb  her-  ®aä  war  ber  alte 
©cift  früherer  glücflid)  ausgeführter  ©fpcbitionen,  ber  plä^tich 
juriicfgefehrt  war.  @8  hä*te  jefct  nur  ein  eingeborener  Sin- 
greifer fommen  follen,  gleichviel,  wie  ftarf  er  gewefeit  wäre, 
gleid)  ©ölfen  auf  bie  Schafe  hütten  unfere  Seute  fid)  auf 
benfelben  geftür$t,  ohne  bie  geinbe  gewählt  311  ha&en.  @8 
mar  ber  ewige  ©alb  gewefeit,  ber  unfere  Seute  ju  oer* 
äd)tlicf)en  Sflaoen  gemadjt  fjatte , bie  oon  beit  arabifchen 

(395) 


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24 


Sflaoen  bei  Kilinga  £ottga  in  fo  brutaler  föeife  geplünbert 
worben  waren." 

Sluf  bie  Stngreifer  brauchte  man  allerbingl  nicht  lange  gu 
warten.  Dal  £anb  war  reich  bewohnt.  Die  eingeborenen 
öabufcffe  wohnten  in  fegeiförmigen  Jütten  unb  bauten  fpirfe, 
©efatu,  füge  Kartoffeln,  Sonnen  unb  befagen  SRinber,  Riegen 
unb  §ügner.  ©cgon  nad)  wenigen  Dagemärjcgen  erreichte  man 
©egenben,  wo  bie  Dörfer  unb  *ßf£angungen  fo  biegt  aneinanber 
tagen,  baß  man  mitten  jwifegen  ignen  ginburdjgiegen  mußte. 
Dal  flaub  ftanb  unter  ber  Regierung  SUiaffambonil,  eines  Unter» 
föttigl  bei  befannteu  Kabba  SRcga  oon  Uitioro.  Die  ©in» 
geborenen  geigten  fiel)  burcgaul  feinblicg.  93ott  SBerg  gu  Öerg, 
oon  Dorf  gu  Dorf  ertönte  bie  Kriegltrommel,  ber  grelle  Don 
ber  Krieglgönter  unb  Stufen  unb  ©freien.  Ueberalt  geigten 
füg  §unberte  oon  fpeertragenbeu  SRännern.  Kaum  wollte  inan 
fiel)  auf  Unterganblungeu  einlaffen.  ©nblicg  öerfpradjen  bie 
SQBilben,  igreö  Königl  SJieimtng  eingubolen.  Der  folgenbe 
ÜJlorgeit  follte  bie  ©ntfegeibung  bringen,  ©ie  lautete  auf  itrieg 
unb  würbe  oon  beu  ©ingeborenen  mit  weithin  fdjallenbem 
3reubengefcgrei  begrüßt.  ©I  fam  gu  einer  regelrechten  ©(gleicht, 
in  ber  bie  fleiite  mit  gfcuergeroehreu  bewaffnete  ©egar  unter 
guter  gügrung  natürlich  ben  ©ieg  über  bie  ^unberte  oon  fpeer» 
tragenben  geinben  baoontrug.  Dennoch  blieb  ber  SBeitermarfcg 
nicht  unbehelligt.  3m  £aufe  jebel  Dagel  waren  ©djarmiißel 
gu  beftegen.  Slber  wal  mar  bal  gegen  bie  frühere  9totg. 
Man  hatte  fiebenlntittel  in  SDfaffe,  auch  SRarfch  war  ohne 
große  93efcgwerben. 

Der  hier  375  gnß  breite  fpauptftrom  bei  3turi  war  fegon  am 
9.  Degember  wicber  überfegritten  worben.  33on  ba  tnarfegirte 
man  bireft  oftwärtl  bureg  hügelige  flanbfegaft  bil  gunt  13.  De« 
gember.  ÜJian  befaub  fieg  auf  einem  uaeg  Dften  gin  tangfam 
anffteigenbeu  ^ßlatean.  Sluf  bem  göcgften  ißunft  einer  @in> 

(390) 


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fattelung  beSfelbett  angefommen,  erblicfte  Stanleg  in  einer  @nt> 
fernung  non  ca.  40  km  bie  lange,  ununterbrochene,  in  bie 
SBolfen  rogettbe,  blaue  £inie  beS  SafellanbeS  oon  Unioro,  ba« 
öftlicf)  oom  Sllbert  Sliaufa  fich  auSftrecft.  Stuf  bie  Beute 

machte  ber  Slnbticf  ben  entgegcngefefjten  Sinbrud  als  auf  ihn. 
Sie  murrten:  „ÜJtafchallah,  biefer  Stianfa  geht  aber  auch  immer 
meiter  oon  un8,"  worauf  er  fie  tröften  fottnte:  „galtet  bie 
Stugeit  offen,  SuitgenS,  ihr  tönnt  ben  SJiattfa  jefjt  jeben  Stugen- 
bticf  311  fehen  befommen."  Smmer  tiefer  ftieg  man  hinab,  immer 
höher  ftieg  baS  Safetlanb  ooit  Unioro.  ^löfetid)  fah  man  oom 
fchroffen  Slbljang  tief  Ijinab  auf  eine  graue  SBolfe.  mar 
ber  in  leichten  Siebet  gehüllte  Siianfa.  ©S  bauerte  eine  SBeile, 
ehe  bie  Beute  begriffen,  baß  baö,  was  fie  unter  fich  fa^eu, 
wirtlich  SBaffer  fei.  Sann  machte  fich  ihre  Jreube  in  3ubel‘ 
rufen  unb  3auchjen  Buft.  Sie  umgaben  Stanleg,  füjgten  feine 
■pättbe  unb  liehen  ihn  oor  ©utfdjulbigungen  nicht  31t  SBorte 
tommen.  X>aö  war  meine  ©elohnung,  fagt  er. 

Sie  @Epebition  befaub  fich  auf  1°23' n.  58r.  1524  in  über 
beni  ÜÄecre.  Ser  Slianfa®  tag  mehr  als  750  m unter  ihnen, 
baS  ©iibenbe  beleihen  ca.  9 Slieilen  entfernt;  ber  oon  ©üb- 
weften  h^  beni  See  juftrömenbe  ©emtifi  (ttafibbi)  war  beutlid) 
ju  ertennen,  „wie  eine  filberne  Schlange  auf  bunttem  ©runbe". 

Verfolgt  oon  ben  ©ingeborenen  ftieg  man  jum  ©ee  hinab 
unb  näherte  fich  bem  am  ©übenbe  gelegenen  Sorfe  ÄatonfaS. 
Stuch  hier  geinbfeligfeit  ber  SBilbeit.  Sie  meinten,  alte«,  maS 
oom  3turi  herfomme,  muffe  böfe  fein,  wollten  feine  S3lut- 
brüberfchaft  madhen  unb  lieferten  faum  baS  SBaffer  für  bie 
Surftenben.  Sltt  ben  ©ec  wollte  man  bie  Sieifenben  auch  nicht 
taffen  wegen  ber  bort  weibettben  Stiitberherben. 

Stanlet)  erfunbigte  fich  fofort  nach  ©min.  Stiemanb  wollte 
etwas  oon  ihm  wiffen.  ©eit  ihrer  Kinbheit  erflärten  bie  jungen 
ÜKänner  fein  „tftauchboot"  gejeheit  ju  haben.  (SWofon  ©et)S?) 

(387) 


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2J?an  mußte  annehmen,  baß  Gmin  bie  Sriefe  non  ©anfibar 
nießt  erhalten  habe  ober  nießt  fomnicn  roolle.  Gr  hätte  boeß 
fonft  rooßf  bie  Gingebornen  auf  bie  Slnfunft  ©tanletjö  wor« 
bereitet.7  ©cßott  »on  hier  ab  beginnt  ©taufeßS  Unjufriebenfjeit 
mit  bem  Sßafcßa. 

2Ba3  tuar  ju  tßun?  Gmin  in  SBabelai  aufjufueßen,  ben 
ungeheuren  SDiarfcß  »on  25  lagert  ohne  ©emißßeit,  ißn  ^ort 
31t  finben,  jnriief jutegen,  fcfjieit  ©taufet)  ein  31t  großem  üBagniß. 
3tt  ben  ©efeeßten  ber  festen  Jage  mar  ein  großer  Jljeif  ber 
öorßanbenen  SJiunition  »erbraueßt.  äBeiter  unter  fortmäßrenben 
Kämpfen,  bie  ju  ermarten  roareit,  ju  marfeßiren,  unb  bann 
unter  benfelben  gäßrlicßfeitert  juritef  311  miiffen,  baS  ging  nießt 
an.  ÄanoeS  31t  einer  ©eefaßrt  mareu  nießt  ba,  oueß  feine 
Säume,  fofeße  ßer^uftcHen.  Sfucß  an  Sftaßrungämitteln  mürbe 
eS  halb  gefeßft  ^aben , ba§  3aßfreicß  norßanbene  SBifb  fonnte 
nießt  als  genügenber  Grfaß  für  fofeße  betraeßtet  merben.  2er 
Gntfcßfuß  mar  bafb  gefaßt.  Sftan  befeßfoß  naeß  gbmiri  3uriicf-- 
3itmarfeßiren,  bort  ein  gort  an3u(egen,  ba3  Soot  unb  bie  ÜRacß- 
3ügfer  non  Äifinga  Songa  unb  non  Ugarroma  nacß3ußolen  unb 
bann  mieber  naeß  bem  ©ee  311  marfeßiren  nnb  mit  bem  Soote 
naeß  Gmin  3U  fließen. 

©ofort  mürbe  ber  SRücfmarfcß  angetreten.  ?lut  16.  2e- 
3etnber  mar  ba§  Sßfateau  mieber  erftiegen,  am  7.  Januar  1888 
mar  gbmiri  mieber  erreießt.  Jie  Gingebornen  ßatten  fiel)  bie 
berbe  Seftioit  3U  liefen  genommen  nnb  bie  Äaramane  mürbe 
roetiig  befäftigt.  £jier  in  ber  SRäße  ber  »erfaffenen  Jörfer  001t  gbioiri 
mürbe  ein  gort  gebaut,  b.  ß.  e$  mürbe  ein  tiefer  ©raben  ge3ogen, 
ein  Sßatüfabe^aun  mit  Geftßiirmen  ßergeftellt,  im  gnnern  ein  SBafl« 
gang  angelegt  unb  Käufer  mürben  für  bie  Seute  unb  Sorrätße 
gebaut.  ®ann  mürben  bie  umfiegenben  Slecfer  mit  SDiaiS  unb 
Sanaiten  befteflt.  Jiefe  Slnpffan3ungen  gebießeit  in  maßrßaft 
munberbarer  ©cßneffe.  ©taufet)  taufte  ba$  Säger  gort  Sobo. 

(398) 


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27 

SlairS,  tiad)  Stilinga  Üonga  gefdjitft,  brachte  oou  bort 
ba$  SBoot  unb  Dr.  ^arfe  unb  SRelfon  juriitf.  Sic  waren  uon 
ben  SDianjema  trofc  beS  fchriftlichen  Vertrags  übel  genug  be 
hanbelt  worben.  Von  ben  38  ftranfen  waren  nodj  11  übrig. 
Sie  Uebrigen  waren  geftorben  ober  befertirt.  Serfelbe  Cffijier 
ging  fofort  wieber  jurücf  nacf)  UgarrowaS  ÜZieberlaffung,  unt 
aud)  Bon  bort  bie  gurüdgebliebenen  abjuljolen.  Gine  grei« 
wifligenabtheiluitg  Bon  swan^ig  2J?ann  mit  ^Briefen  an  Söarttclot 
begleitete  ißn.  9(lS  er  Gnbe  Slpril  mit  16  Boit  56  3uriitf« 
gelaffenen  nad)  gort  $urüdfeljrte,  war  Stanlet),  welcher 
unter  ber  $eit  einen  ÜWonat  franf  gelegen  ^atte,  bereite  wieber 
nad)  bem  See  abgewogen. 

Sd)on  am  2.  §Ipril  mar  er  mit  Septp'on  unb  Dr.  ifSarfc 
wieber  aufgebrodjeu.  Ser  immer  noch  fdjmadje  9ie(foit  war 
als  SefehlSljaber  im  gort  juriidgeblieben. 

Ser  jweitc  HJJarfd)  nad;  bem  See  war,  abgefeimt  oon  beit 
^intcrliftigen  iJSraftifen  ber  boshaften  Zwerge,  >^reu  vergifteten 
gußangeln  unb  Pfeilen,  weniger  gefäfjrlid)  als  bas  erfte. 
SWafatnboniS  Uutertljanen  jeigten  firfj  je&t  freunblidjer  gefinut. 
ÜDian  ^atte  wo^l  bie  Unmöglichfeit  beS  SBiberftanbes  ein« 
gefe^en  unb  entjdjulbigte  bie  frühere  geinbfeligfeit  mit  bem 
übermütigen  Srängen  ber  jungen  üftannfdjaft,  bie  einen  Ber« 
nünftigen  Vefdjluß  oerinbert  l)abe.  SDiafamboni  felbft  fdjloß 
unter  groteSfen  Zeremonien  unb  unenblidjen  Verfluchungen 
bes  etwaigen  Sreulofen  Vlutbriiberfchaft  mit  Stanlet).  Sie 
SSilben  fdjafften  nun  umfonft  Sebensmittel  her^e>/  brachten 
iRinber,  Riegen,  §ül)ner  in  großer  ÜRenge.  Valb  erhielt 
Stanlet)  auch  Nachricht  Bon  Gmin  $afd)a.  Gr  war  im  Saituar 
ober  Anfang  gebruar  „in  einem  großen  ftanoe  ganj  auS 
Gifen"  nach  Äatonfa  gefommen.  Sie  Gingebornen  machten 
eine  fjöchft  ergöfeliche  Schilberung  baoon,  nannten  ißn  9Ralleju 
(ben  Sättigen)  unb  ben  Sruber  Stanlet)«,  ben  biefcr  balb  auf« 

(599) 


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28 


finbeit  roerbe.8  Salb  barauf  erfuhr  er  aud),  baß  „ÜJiatleju"  bem 
Häuptling  töatonfa  ein  {cßmar^eS  ißafet  ^interlaffen  ßabe,  ba§ 
berfelbe  ©tanleß,  „feinem  ©oßne",  einßänbigen  folle.  tim  näcßfteit 
Jage  feßon  erhielt  ©tanleß  ben  Srief.  ©min  ßatte  auf  ba8 
©erüeßt  (!)  beä  @rfdjeineu3  eilte«  tSeißen  am  ©übenbe  be& 
©ceä  9lad)forfd)uugett  mit  einem  J)ampfer  angefteHt,  aber  Don 
ben  fureßtfamen  ©ingeborenen  nichts  SeftimmteS  erfahren  fönnen. 
©r  bat  ©tanleß  ju  bleiben,  too  er  fei,  er  roerbe  fid^  mit  ißm 
in  Serbinbung  feßen. 

J)aS  Soot  tuurbe  nun  in  ©ee  gelaffen.  3epßfon  fußt  am 
SBeftnfer  ßinab  bi«  Sffua,  ber  füblidjften  ©tatiou  Don  tlequatoria, 
unb  begrüßte  bort  jum  erftenmale  bie  ägßptifcße  Sefaßung. 
Jie  tlnfömmlinge  rourbeit  umarmt  unb  als  Srüber  bemiUfonimnet. 

©inige  Jage  fpäter  (29.  Slpril)  fant  ber  J)ampfer  ftßebioe 
bei  Äaroalli  in  ©ießt.  ©egen  Slbenb  begrüßten  fieß  ©min,  ©afati 
unb  ©tanleß  im  üager  aufs  ßerjlicßfte.  Öi3  jum  25.  ÜJfai 
blieb  man  jufammen  unb  — Derßanbelte.  J)er  erften  ©nttäufeßung 
©tanlepS,  ber  in  ©min  eine  fräftige,  große  ©olbatengeftalt 
erroartet  ßatte  unb  fid)  einem  fleinen,  fdjtnädjtigen  ©eleßrten 
gegenüber  faß,  gefeilte  fuß  halb  bie  jroeite,  größere,  ©min  wollte 
„feine  Seute  nießt  öerlaffeit",  fonbern  bleiben.  3roar  &ie  Slegppter 
in  feinem  £>eer,  bie  ägpptifcßen  Seamten  unb  Sioiliften  feßienen 
feßr  geneigt,  mit  ©tanleß  ju  jießen,  bie  »on  ©min  auSgebilbeten 
fubanefifeßen  ©olbateu  bagegen  oerfpürten  feine  Suft,  ißr  beßag* 
ließet  Jsafein  mit  bem  ©olbatenbienft  in  tlegppten  ju  oertaufeßen. 
Unb  ©min  erflärte  ein  über  baS  anbere  3Jial  „roo  meine  Seute 
bleiben,  bleibe  idß  aueß".  ©afati  fdjloß  fieß  ,ißm  an.  ©in  Söefeßl 
oom  Äßebioe,  jurütfjufeßren,  mar  für  ©min  nießt  ba,  fo  oft 
aueß  ©tanlep  oon  ber  folbatifeßen  Serpflicßtung  be3  ißafcßa,  naeß 
tlegppten  jurücfyufeßren,  fprießt.  Jer  Äßebiöe  ßatte  e$  ©min 
iiberlaffen,  ju  ßanbeln,  wie  er  wolle,  ©ein  Srief  an  biefen, 
„ber  Sefeßl",  fdjtießt  mit  ben  SBorten : „Sie  ßabeit  ooUftäubigc 

HOO) 


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29  _ 

ffreifjeit,  enttucber  nach  ftairo  objumarfc^iven  ober  mit  bett 
Offizieren  unb  aRannfcffaften  bort  ju  bleiben.  — ^Diejenigen 
oon  ben  Offizieren  unb  3ftatutfd)aften,  welche  ju  bleiben  nninfcfjen, 
föntten  bie«  auf  ifjre  eigene  93erantmortung  f)in  tfiun,  bürfen  aber 
in  .gufunft  feine  £iilfe  oon  ber  fRegieruttg  erwarten.  Sßerfuchen 
fie  ben  3uf)aft  biefe«  Sefefjtä  (?)  genau  zu  oerftef)n  :c. 

©tanlep  faf),  ba§  ©min  entfdjloffen  fei,  zu  bleiben, 
machte  er  ihm  folgenbe  Slnerbietungen:  1)  er  fülle  feine  ißrooinz 
bem  Äongoftaate  übergeben  mtb  felbft  al«  ©ouoerneur  gegen 
ein  @e^a(t  oon  1500  £ oertoalten.  So  nic^t,  fofle  er  2)  mit 
feinen  ©olbateit  ©tanlep  nadj  bem  9iorboftufer  be«  SSictoria, 
SJUattfa  begleiten  unb  in  bie  SDienfte  ber  ©nglifdjett  Oftafrifanifdjen 
©efeDfc^aft  treten.  ®en  erften  SBorfdjlag  lernte  ©min  fofort 
ab,  weil  bie  Sebiitgung,  bie  Söerbinbung  zwifdjen  SRil  unb  ftongo 
offen  z«  fjalten,  unerfüllbar  fei  unb  weil  feine  fßrooinz  enttoeber 
ägpptifd)  ober  ,,9liemanbe«  fiattb"  fein  fofle.  $er  zweite  ftfjieit 
if)m  „tl)unlich".  (?)  ©ornuf  ber  S8orfcf)Iag  hinau«lief,  erfannte 
er  rooljl  halb,  greilid)  ntufjte  erft  Unioro  unb  Uganba  unter- 
worfen  werben,  wenn  man  oon  Cften  ^er  fixere  s3etbinbung 
mit  ber  SRilprooinz  ^erfteflen  wollte,  ©in  fRefuftat  ber  $Ber« 
hanblungen  würbe  nid)t  erreicht,  ©tanlet)  gab  ©min  SBebenfjeit 
bi«  zu  feiner  fRüdfehr  oon  ber  §luffucf)ung  ber  9iad)l)ut.9 

®enn  bie«  war  jefct  zunädjft  feine  Slufgabe.  3n  welcher 
Sage  fidj  ber  ÜRajor  befanb,  fonnte  SRiemanb  wiffett.  Sebenfall« 
^atte  bie  ihm  aufgetragene  Unternehmung  ben  richtigen  gortgang 
nicht  gehabt,  ©onft  ntufjte  er  Iängft,  nach  jejjt  11  SKonaten 
feit  Abgang  ©tanlet)«  oon  Sambuga  auf  bem  für  ihn  oorge* 
Zeichneten,  theilweife  ooflftänbig  gebahnten  ©ege,  am  Gilbert 
IRianfa  angefommen  fein,  ©r  muffte  alfo  gefudjt  werben. 

@«  würbe  an  bie  Gruppen  ©min«  auf  ©unfd)  biefe«  ber 
törief  be«  &h£bi°e  U1,b  £'ue  ®otfd)aft  oon  ©tanlet)  abgefanbt, 
in  ber  fie  mit  bem  |>inwei«  auf  bett  „öefehl"  be«  $hebioe  zunt 

(401) 


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©erfaffen  ber  Sfequatorprooinj  aufgeforbert  mürben.  geppfon 
bfteb  bei  ©min  juriid,  um  meiter  mit  ipin  ju  oerpanbefn.  ©eibe 
joflteu  ©ubc  gufi  bie  ©efaßuttg  oon  gort  ©obo  ttacp  Samaöi 
geleiten.  Sort  foüte  int  feftett  Säger  auf  Stanfep  gcmartet 
merbeit.  ©i§  bapin  mürbe  fiep  ber  fßafcpa  aud)  entfliehen  paben. 

2(m  25.  ÜJiai  jog  Stanfep  oom  See  ab.  gort  ©obo  fanb 
er  in  blüpenbem  ßuftanbe.  gaft  10  Slder  SanbeS  maren  unter 
ftuftnr,  eine  ©rnte  ÜDiaiS  bereits  cingebrac^t.  SJtit  113  ©attfi* 
bariten  uub  99  oon  @min§  Seuten,  bie  ade  mit  Sebensmittefn 
aus  beni  gort  auf  fange  3e't  9ut  öetforgt  merbett  fonnten, 
machte  er  fid)  am  16.  gufi  oon  bort  auf  bcn  2Beg,  junäcpft 
nad)  gpoto.  Sifinga  Souga  machte  tuegcn  ber  fcpfecpten  öc« 
panbfung  feiner  Scpitßliuge  faule  ©ntfdjufbigungen.  Seiber  mar 
man  ju  fcproad),  um  iljn  für  feinen  ©ertragSbrucp  büßen  ju  (affen. 
UgarromaS  Station  fanb  Stanfep  »erlaffen.  Sie  Araber  maren 
mit  ißrem  SIfenbeiuraube  abgewogen.  Sötan  traf  fie  fpäter,  eine 
gfottifle  oon  57  SanoeS,  unterhalb  auf  bem  gluffe.  Sie  litten 
junger,  ©on  ben  20  ©oten  StanfepS  maren  noch  17  bei  ihnen. 
Siefe  maren  auf  ihrem  ©orbringett  ttad)  SBeften  fortroährenben 
Sümpfen  unb  Ueberfällen  burch  bie  ©ingebortten  auSgefeßt  ge* 
mefen,  3 maren  getobter,  ein  einziger  unoermunbet,  unb  eS  mar 
faft  SBunber  ju  neunen,  baß  fie  rüdmärtS  ffiehenb  noch  bie 
ftaramane  llgarromaS  erreicht  hatten. 

5lni  17.  Stnguft  traf  Stanfep  bei  ©anafja  auf  bie  Srümtner 
ber  9tad)hut.  @r  hatte  biefeti  ißfaß  mit  ber  ©orput  oon  gambuga 
aus  in  16  Sagen  erreicht.  Sie  'Jiadjput  hatte  43  Sage  gebraucht, 
gn  ber  gangen  3roi)<pengeit  patte  fie  baS  Säger  oon  gambuga 
nicht  oerCaffen.  Sort  maren  über  bie  Raffte  ber  Seute  an  Sxanf* 
peit,  meld)e  fie  fid)  theifmeife  burd)  ben  ©enuß  roßen  ÜDianiofS 
gugegogen  patten,  geftorben.  ©arttefot  mar  tobt,  erfcpoffen  ooti 
einem  Sffaoen  Sippu  SibS,  ber  ipit  troß  feiner  Serfprechungen 
oon  Srägern  im  Stid)  gelaffen  unb  fo  fange  bingepaften  patte. 

(•102) 


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31 

Sott  bett  übrigen  Offizieren  mar  nur  nod)  Sonnt)  oorßaubcn, 
3amefon  mar,  mie  fid)  nad)l)er  fjerauSftetlte,  auf  einer  Dieife  beu 
Jluß  abroärtS  geftorben,  SBarb  in  Sangala,  Jrottp  nad)  Suropa 
franf  zuriitfgefefjrt.  Sott  beit  257  Seuten  tuaren  nod)  71  übrig 
unb  biefe  in  traurigem  3uftai,öc,  mäljrenb  Stanleps  Seule  tro§ 
ber  ttielen  ertragenen  Strapazen  fräftig  unb  gefuttb  auSfafjett. 

®ie  ®efd)id)te  ber  fßadjljut  ift  eine  lange,  traurige,  ttod) 
fefjr  ber  Slufflärung  bebiirftige  (Spifobe  itt  biefer  Sjrpebition. 
Bern  Stanlet)  bie  Scßulb  an  bem  Untergang  fo  oicler  3Renfd)en 
jumigt,  barüber  fpricf)t  er  fid)  itidjt  flar  ans.  33ielleid)t  Ware 
eS  beffer,  er  t)äüe  bieS  getljan.  9tad)  SarttelotS,  SnmefottS, 
SonntjS  Scridjteit  tuar  baS  Ungliicf  burd)  Jippu  2ibS  galfdjfjeit 
unb  3krfd)lagenf)eit  unb  baburd)  fyerbeigefüfjrt,  baß  Sarttelot 
fid)  meber  mit  feinen  Offizieren  nod)  mit  beit  Seuten  rid)tig  zu 
fteüen  gemußt  ßatte.  ®er  SD?angel  an  „Saugmutl)"  ßatte  if)m 
ben  Job  bereitet.10 

iRod)  einmal  mußte  matt  ben  «crberbficßett  SBalb  burd)« 
fcßrciten,  unb  faft  Jjätte  er  Stanlet)  uitb  feiner  ganzen  Scgleitung 
nod)  baS  Seben  gefoftet.  2)ie  SBaren  unb  firanfen  mürben  zu* 
näd)ft  auf  einer  großen  $lnzal)l  gefantmclter  StauoeS  itt  bequemerer 
Skije  als  früher  beförbert.  9?ttr  mad)teit  bie  (Singebornen, 
roeldje,  in  ben  Stampfen  mit  ben  ÜHanjemaS  UgarromaS  oft 
fiegreid),  ißre  eigene  Stiirfe  erft  eittbedt  Ratten,  öftere  Eingriffe 
unb  fügten  ber  (Sjpebition  erf)eblidje  öerlufte  bei. 

3Jief)rere  $agemärfd)e  oberhalb  Ugarroma  «erließ  Stanlet) 
bett  0r(uß,  uw  mit  lXmgef»uitg  ber  SBiifte  auf  bem  Sübufer  in 
birefter  Sinie  auf  bem  9iorbufer,  natürlid)  ebenfalls  bttrd)  ben 
SBalb,  auf  3bmiri  zu  marfdjiren.  Üftan  traf  auf  jatjlreid^e 
Wieberlaffungen  ber  3njerf:le-  SRtdjt  weniger  als  150  $örfer 
ber  munberbaren  SRaffe  fal)  man  ttom  Stepofo  bis  3bmiri.  Seiber 
brachen  unter  StatilegS  9Rannfd)aften  bie  fßodett  aus.  Sou 
ßminS  fDlabi-Seuten  unb  ben  oon  Sanalja  als  Präger  ntitge» 

(403J 


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»ommeneu  üflanjema  ftarb  ein  großer  $ßeil,  mäßrenb  oon  ben  ©an- 
fibarleuten  infolge  ber  3mpfung,  welche  fie  fid)  an  Sorb  ber  ü)ia« 
bnra  mit  großem  Söiberftreben  Ratten  gefallen  laffen  müffeit,  ein 
einziger  ber  fßeft  erlag. 

©alb  ftieß  man  auf  einen  rechten  Nebenfluß  beß  Sßuru, 
ben  25ui,  meld)er  fid)  mit  jenem  in  ben  3turi  ergießt.  $Da  er 
311m  Ueberfcßreiten  ju  tief  unb  breit  mar,  folgte  man  feinem 
Saufe  meit  nad)  korben.  Grnblicß  mürbe  er,  immer  nocß  180  #uß 
breit,  auf  einer  mit  großer  Äunftfertigfeit  ßergeftellteu  ©rücfe 
iiberfcßritten.  25a  bie  gefangenen  3roeri}e  immer  meiter  nacß  91orb> 
oft  führten,  ©tanleß  aber  fcßoit  burd)  ben  Üftarfcß  ben  aui’ 
miirtß  oon  ber  nötigen  füböftlicßen  SRicßtung  abgefommen  mar, 
ließ  er  fie  fcßließlicß  laufen  uttb  folgte  bett  SBilbfpuren  füböftltd). 
?lber  jcßott  nad)  mettigen  ©lärfcßen  mar  er  gejmitngen,  mitten 
im  ungeheuren  SBalbe  §alt  $u  madjen,  um  iiacß  Sebenßmitteln 
außjufenben.  150  SDiamt  mit  ©emeßren  mürben  nach  einer 
ca.  15  SDieileu  juriidlicgenben  Üiieberlaffung  gefanbt.  Ülber  faft 
eine  Söocße  üerging,  fie  famett  nicßt  roieber.  2)ie  .ßurücfgebliebeneit 
gerieten  in  bie  größte  9?otß.  2)ie  Sebenßmittel  mären  gan$ 
aufgejeßrt  biß  auf  bie  für  eine  fo  große  Slujaßl  geringen  ^rooiaut- 
oorrcitße  ber  Offiziere,  rnelcße  oon  ©analja  mitgebracßt  maren. 
©djließlid)  erßielt  Seber  täglid)  eine  Jaffe  SDießlfitppe.  2sie  Seute 
fingen  au  jüngere  $u  fterbeu.  91ad)  6 Xageu  macßtc  fid)  Staulep 
felbft  mit  ber  größeren  ©leßrjaßl  auf,  um  bie  gouragirer  ju 
fud)en.  9lur  bie  firanfen  unb  10  SJiann  ©ebeefung  blieben  mit 
©omtp  im  Säger.  Salb  fanb  man  bie  ©öfemießter.  Sie  mar- 
fdjirten  gemäc^lid),  möglidjft  langfant,  mußten  fieß  jeßt  natürlich 
in  25rab  feßen  unb  famen  gerabe  nocß  gur  reeßten  $eit,  um  bie 
nocß  Uebrigen  ju  retten.  21  maren  uttterbeß  geftorben.  Stanlep, 
beffen  ©cßilberung  ber  9iotß  gerabeju  ergreifenb  ift,  meint,  er 
fei  auf  allen  feinen  Steifen  bem  abfoluteit  ©erßungern  nie  näßer 
gemefett. 

(404) 


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33 


Stadlern  audj  noch  bcr  3ljuru  überfchritteti  roar,  erreidjte 
man  am  20.  25ejember  (1888)  baS  roeftliche  ©nbe  ber  ?In- 
Pflanzungen  beS  gort  ©obo.  Sleue  Ueberrafchung ! @S  mar 
nicht  leer,  roie  man  ermattet  fjatte.  Sieutenant  ©tairS  befatib 
fid)  mit  ber  ©arnifon  unb  Slelfon  nod)  bort  unb  tjatte  in  ben 
fieben  SJlonaten  Don  ©tanlepS  Sibroefenheit  nichts  oon  ©min 
unb  3ephfon  gehört.  ©S  mar  unerflärtidj.  Slach  für^efter  Slaft 
mürbe  roeiter  marfd)irt.  9lm  9.  Januar  1889  marb  ber  3tnri 
paffirt,  baS  ©raSlanb  erreicht,  baS  auf  Dr.  ©onnp  unb  bie  oon 
©analja  Uebrigen,  bie  ja  nod)  länger  als  bie  Stnberen  im  SSalbc 
jugebrac^t  Ratten,  ben  entfpredjenben  ©inbrucf  ju  machen  nicht 
»erfefjlte.  ©ei  föanbelore  in  SllafamboniS  Sanb  blieb  ©tairS 
juriicf  mit  bem  größten  Sbtil  ber  2eute.  ©tanletj  eilte,  nichts 
®ute8  aljnenb,  junt  @ee.  UnterroegS  traf  man  auf  ©oten  Don 
Samafli.  ©ie  brachten  ©riefe  Don  ©min  unb  Sepljfon  mit  ben 
iiberrafc^enbften  Slachrichtcn.  ©alb  nach  ©tanlepS  ?lbmarfd)  mar 
in  ©minS  ißroninj  burd)  einen  Offijier  unb  einen  ©eamten  baS 
©eriicfjt  Derbreitet  morben,  ©tanletj  fei  ein  Slbenteurer,  Don 
Slcgppten  gar  nid)t  gefommen.  2)ie  angeblichen  ©riefe  Dom 
ftljebiüe  feien  gefälfdjt.  @S  fei  unmaf)r,  bah  ®hartum  gefallen 
fei.  ©min  unb  ©tanletj  Ratten  ein  Komplott  gemacht,  ©ie 
rooUten  bie  fflefafcung  aus  ber  ißroDinj  herau^oc*cn  unb 
als  ©JlaDen  ben  ©ngtänbern  überliefern  (1).  ®ie  gofge  biefer 
Slusftreuung  mar  eine  allgemeine  SRebeflion  unb  bie  ©efangen- 
feßung  ©minS  unb  3epf))onS  gemefen.  ©leid)  barauf  aber  maren 
bie  SJlaljbiften  in  bie  ißrooinj  eingebrodjen , hattcn  Stebjaf  er- 
obert unb  eS  trojj  eines  Eingriffs  Don  ©minS  ©olbaten  gehalten. 
©)a§  roeiter  fiibliih  gelegene  lunbjuru  hatten  fie  Dergeblich  be- 
ftürmt  unb  hotten  bann  um  Unterftüßung  Kämpfer  nach  Sfjartum 
hinabgefdjicft.  Sejjt  muhte  eS  auch  &em  ©föbeften  flar  fein, 
bah  ©hortum  gefallen  fei.  Silan  hotte  Sephfon  unb  ben  ißafdja 
freigelaffen,  ohne  ben  2efcteren  inbeS  mieber  in  feine  ©teile 

Sammlung.  91.  &.  V.  107  . 3 (-405> 


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34 

einjufe&ett.  Sic  fRebellett  Ratten  bie  Cberhanb,  waren  aber 
unter  fid)  unein«.11 

9lm  6.  gebruar  traf  3epf)ion,  am  17.  Smin  im  Säger 
auf  bem  ^lateau  bei  Sawalli  ein,  am  nädjften  Sage  ©tair« 
mit  feiner  JMoune  »om  Sluri.  Sie  Sjpebition  war  jefct  tuieber 
vereinigt  unb  bi«  auf  Smin  alle«  bereit  jum  äRarftfi  nach  ber 
Siifte.  Siefer  fd)ien  noch  immer  unentfdjloffen.  Sr  wollte  feine 
Seute  nidjt  »erlaffett,  bie  ißroöinj  nicht  aufgeben.  Sine  Seputation 
feiner  Offiziere  begleitete  ihn.  ©ie  erflärten  mit  abjiehen  ju 
wollen,  wenn  mau  ihnen  3eit  ließe,  ihre  Fan|iton  unb  uubere 
Flüdjtlinge  nachzufjolen.  600  berfelben  begleiteten  ben  ^?afd)a 
bereit«.  S«  würbe  ihnen  eine  grift  gewährt  uttb  fie  fd)icften 
Wbgefanbte  ab,  nicht  um  Flüchtlinge  einjuholen,  fonbern,  wie 
fid)  halb  hfrauäftedte,  um  weiter  gegen  ©tanlep  ju  fonfpiriren, 
um  ihn  fd)liefjlidj  überfallen,  ber  ©ewefjre  unb  ber  SJhinition 
berauben  unb  »erjagen  $u  föniten.  ©o  wenigften«  glaubte 
©tanletj,  unb  bie  Serfdjwöruitgen,  welche  bie  jurücfgebliebeiten 
Offiziere  im  Säger  anjujetteln  »erfuchten,  SBotfchaften  ber  in 
bie  ^ro»in$  3urütfgefel)rten,  welche  gerabeju  baju  aufforberten, 
ben  3J?arfch  aufzuhalten,  bamit  3ene  ihre  »erbrecherifchen  kleine 
au«führett  fönnteit,  beftätigten  feine  Slnfidjt  augenfcheinlid).1* 
Snblid)  fd|ien  auch  ®tnin  ber  Ueberzeugung  geworben  zu  fein, 
bah  e«  ba«  Söeftc  für  ihn  fei,  ©tanlep  ju  folgen,  ba  er  wohl 
einfah,  bah  e«  wit  feiner  äJlacht  in  ber  fßroöinz  ganz  »orbei 
fei.  Such  je^t  gehorchte  er  nur  ber  91oth,  fein  $erz  jog  ihn  mit 
jener  „»erberbeitbringenben  FuScinirung,  »eiche  ba«  ©ebiet  be« 
©uban  auf  faft  olle  Suropäer  au«juüben  fcheint",  bie  felbft 
Fephfon,  ben  fonft  fo  flaren  &opf,  bem  ©taiilep  einmal  »or* 
wirft,  er  fei  „Sminift"  geworben,  ergriffen  ju  h°ben  fchien, 
immer  nod)  ju  feinen  Seuten  h<n- 

$tm  10.  Slpril,  bem  mit  ben  Offizieren  be«  ijkfcha«,  bie 
fich  noch  in  ber  Sßro»inz  befanbeit,  »erabrebeten  Sage,  brach 

MOf.) 


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35 


mau  auf,  ca.  1500  SJtann  ftarf , oon  benett  ungefähr  600 
©ming  ©ioilgefolge,  SBeiber,  fifinbcr,  triefe  Jienftboten,  cirfa 
250  Seute  ©tanlepg,  ber  SFieft  ber  ©fpebition,  bie  Hnberen 
einheimif<he  Präger  maren.  $Bon  feinen  ©olbaten  folgten  @min 
nur  fe§r  menige.  @g  mar  eine  munberbare,  oft  mehrere  ©teilen 
ftd)  ausSbefjnenbe  Kolonne,  bie  ©tanlet)  ooti  jejjt  ab  hinter  ftd) 
herfchleppte.  23oran  er  felbft  mit  5 Offizieren,  ©min  Sßafcha, 
©afati  itnb  ber  rotten  ägpptifchen  gähne  mit  bem  Halbmonb, 
bann  ein  bunteg  ©emijch  aller  ©tämme  SlfrifaS  unb  Stationen 
©uropag,  ©ngfänber,  Slmerilaner,  Stalieiter,  granzofen,  Jeutfdje, 
guben,  ©rieten  unb  Jürfen,  baß  bie  ©ingeborenen  oor  ©c^recf 
fich  faum  faffen  fonnten.13  SDieg  toanbetnbe  et^nofogifc^e  SEabinet 
oon  fraglichen  ©yiftenjen  aber  fcpfeppte  ftd)  mit  allerlei  Stram 
unb  ©erümpel,  beffen  SInblicf  ©tanlepg  Humor  unb  ©äße  bei 
bem  Slufbriitgen  auf  bag  ^ßlateau  oon  Samafli  bereite  erregt 
hatte.  „©tan  fah,"  fagt  er,  „©chleiffteine,  fupferne  3ehnßflßl,nei,J 
fiodpöpfe,  ungefähr  200  hölzerne  Settfteflen,  altertümliche  grof.e 
Äörbe,  ähnlich  galftaffg  SBäfcheforb,  alte  ©aratogafoffer,  paffenb 
für  reiche  amerifanifche  ©tütter,  große  ©dfiffgtiften , umfang* 
reiche  plumpe  ©acflaften,  Heine  Sßie^tröge,  Papageien,  Jauben 
u.  f.  ro.  u.  f.  to.",  aflerbingg  ein  Möglicher  3ug,  befonberg  roenn 
man  bebenft,  mit  toie  ftolzen  Hoffnungen  man  auggezogen  mar, 
mit  melden  ©tühen  unb  Jobeggefahren,  mit  melchem  Ungeheuern 
SBerluft  an  ©tenfefjenfeben  bie«  ©efultat  erreicht  mar.  ©tan  barf 
©titleib  mit  ©tanlet)  hflö«u,  barf  ihm  oiele  feiner  galligen  Se* 
merlungen  auch  «ber  ©min  unb  (Safati  oerzeihen  unb  !ann  mit  bem 
^Dichter  fprechen:  „@g  tf)ut  mir  in  ber  ©eele  meh’,  baß  ich  bid)  in 
ber  ©efeßfdjaft  fef)’."  ®ie  alte  33orfteßung  oott  ber  gronie  beg 
Schicffal«  melbet  fich-  ©r  Z°9  au$  mit  ftoljen  ©Sorten,  „um 
einen  H^ben  ju  retten",  ober  eigentlich,  um  ein  ©eich  zu  er* 
obern,  unb  lehrt  ^eint  an  ber  ©pifje  eineg  ©ammelfuriumg 
meltoerfchlagener  ©jiftenzen  unb  alten  ©erümpefg. 

3*  mot; 


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36 


Benige  Sage  nach  bent  Slbmarfdje  fiel  ©tanfep  in  fernere 
Kranfheit,  bie  ihn  28  Sage  ans  Saget  feffelte.  SS  war  oielleicht 
fein  ©liid,  baff  in  SEBabetai  unter  ben  SRebellenoffijieren  bie 
gröfjte  Unorbitung  unb  Unbotmäjjigfeit  ^errfc^te.  So  War  eS 
ihnen  unmöglich,  ihre  ©ernichtuugSpläne  auSjuführen.  Srohbem 
fonfpirirten  bie  Seute  im  Säger  immer  nod)  mit  ihnen,  forberten 
fie  anf.  fo  fcfjneQ  als  möglich  su  tommen,  unb  oerfprachen,  ben 
SDiarfch  ber  Sjpebition  aufjuhalten.  Sie  ©efalfr  mar  grojj,  fo 
bafj  Stanletj,  als  er  einen  ber  SRäbelSführer  überführt  ^atte,  ein 
Stempel  ftatuiren  unb  ihn,  nachbem  ihn  ein  Kriegsgericht  jum 
lobe  oerurtfjeilt  hatte,  aufhängen  taffen  muffte.  SaS  half- 
Ser  äRarfch  nach  her  Küfte  30g  fich  junächft  weftlid) 
ber  ©alegga-  (blauen)  Serge  ^in,  ungefähr  40  äReileit  toeftlich 
00m  See,  burch  reiches  ©ebiet,  bann  hoch  am  SRanbe  beS  auf 
ber  meftlichen  Seite  ben  See  begleitenben  fßlateauS,  bis  man 
ju  bcm  tief  unten  liegenben  Semlitiflufj  h'nabftieg,  welcher  bem 
See  oon  tiibweft  juftromt.  Sor  fich,  5ur  Sinfen,  hatte  man  in 
weiter  gerne  ben  in  Schnee  ftrahlenben  ©ipfel  eines  ©ebirgeS, 
beS  fRuwenjori,  ben  Stanlep  jum  erftenmale  am  25.  9Rai  1888, 
bei  feinem  erften  3ufammentreffen  mit  ©min  erblicft  hatte.  3«h 
werbe  unten  noch  auf  hiefe  intereffautc  Sntbecfung  jurüdfommen, 
nachbem  ich  htrj  ben  Beg  ber  Sjpebition  gezeigt  habe,  welcher 
in  ben  ©riefen  unb  auch  in  bem  Berl  „3m  bunfelften  Sfrifa" 
nur  oberflächlich  beljanbelt  ift  unb  über  ben  aud)  baS  obener- 
wähnte Sagebuch  beS  fßater  81.  Sdjtjnfe  wenig  bringt,  was  nicht 
fdjon  oon  früherher  belannt  wäre.  Ser  SDtarfch  führte  pnächft  auf 
bem  rechten  Ufer  beS  Scmlifi  weiter,  bei  beffen  Ueberfchreitung 
man  Kämpfe  mit  ben  Banioro,  ben  Unterthauen  Kabba  fRegaS 
oon  Uttioro  ju  beftehen  hatte.  Sie  werben  oon  ben  Singeborneu 
Barafura  genannt  unb  hatten  bie  ganje  ©egenb  jwifchett  bem 
8Ubert  SRianfa  unb  bem  füblicher  gelegenen  See  oon  Ufongora 
(Sllbert  Sbwarb-See)  rings  um  baS  Siuwen^origebirge  anneftirt. 

(408) 


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37 


3f)re  ©ertreibung  machte  bie  oon  ißnen  oft  beraubten  ©ingeborenen 
gu  gtfunben  Stanley  unb  oerfdjaffte  if>m  freien  ©urcßgug  burcß 
b ag  ©ebiet  oon  Stmamba,  über  bag  h<>he  ©lateau  oon  STnfori 
big  gum  Ufinbfa  (bem  fübroeftlichen)  Ufer  beg  ©ictoria  Nianfa. 
©ig  bortfjin  mürbe  tpeilroeife  unter  großen  SDiütjfalen  marfcpirt; 
fo  mar  im  Semlifitßafe  ttod)  einmal  ein  an  ben  Abhängen 
beg  Nuroengori  auggebepnter  Urtoalb  gu  burdjfcßreiten,  ber  ben 
Äongotoalb  an  Ueppigfeit  ber  Segeiation,  aber  auch  an  fumpfigem 
©oben,  f>iße  unb  fieberfdjmangerer  Suft  nod)  übertraf.  $ann 
fam  man  auf  bürre  £ocpebenen,  mo  bie  SBinbe  für  biefe  ©reiten 
ungewöhnlich  fall  meßten  unb  bag  lieber,  befonDerg  nach  einer 
©ergiftung  burcß  fcßlecßteg  SEBaffer,  felbft  bie  ätteften  ©eteranen, 
©afati  unb  ben  ©afcßa,  auf  bag  empfinblicßfte  quälte.  Am  Ufer 
beg  ©ictoria  Nianfa  oerroeilte  man  längere  $eit  in  SWfalala, 
ber  SNiffion  beg  befannten,  leiber  oor  furgein  oerftorbeuen,  oor* 
trefflichen  SNiffionarg  fNacfap,  unb  genoß  gum  erftenmale  mieber 
europäische  ©aftfreunbfchaft.  ©on  ba  ging  eg  füblid)  über  Xabora, 
gum  Jßeil  unter  fortmäßrenben  Singriffen  ber  ©ingeborenen,  bann 
iüböftlicß  big  gur  bamaligen  ©cengftation  beg  beutfchen  Sefipeg, 
SJluapua,  too  bie  SReifenben  burch  beutfche  Cffigiere  begrüßt  nnb 
mit  europäifcßen  ©eniiffen  oerforgt  mürben,  ©on  hier  aug  er* 
hielten  mir  bie  erften  Nachrichten  über  ©tanlep  im  Nooember 
1889,  itachbem  2 V*  3aßre  nur  bunfle  ©erüchte,  rneift  traurigeg 
3nßattg,  gu  ung  gebrungen  mareit.  $)er  Äongoroalb  hatte  alle 
Nachrichten  feftgehalten,  bie  ©erbinbungen  unterbrochen.  3m 
gangen  brauchte  bie  ©jpebition  oom  Sllbert  Nianfa  188,  uom 
©ictoria  Nianfa  55  Jage  big  SNuapua.  ©tanlep  patte  big 
©agamopo  im  gangen  einen  Niarfch  oon  9703  Kilometer  ge» 
macht.  Slm  4.  $egember  mar  ©agamopo  erreicht.  ®ag  blaue 
inbifche  SNeer  lag  oor  ben  entgücften  Äugen  ber  SBegemüben. 
Nur  menige  ber  im  gebruar  1887  oon  hier  Abgefahrenen  faßen 
eg  mieber.  Auch  ben  ©afcßa  ^ätte  ja  faft  noch  am  @nbe  ber 

,409) 


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38 


Steife  ber  Job  ereilt.  Jajj  er  lebt,  mufj  un$  freuen,  bajj  er 
in  beutfdjen  SMenfte  fein  ßiDilifationäwerf  fortfefct,  um  fo  mefjr. 
Slm  6.  J)ejember  gingen  ©tanlet)  unb  feine  Cffijiere  ju  ©djiff 
nad)  Slegppten.  Jie  englifdje  ©ntfa&‘@fpebition  toar  ju  ©nbe. 

SBir  aber  feeren  nodj  einmal  in  ba«  innere  jurücf.  Jtei 
fünfte  waren  e«  befonber«,  welche  im  Slnfang  be«  §eimweg« 
ba«  geograpljifdje  3ntereffe  ber  fadjDerftänbigen  ©jpebition«* 
mitglieber  erregten.  $er  ©emlifi  unb  fein  Sauf,  refp.  bie  Ser* 
binbung  bc§  Sllbert*@ee«  mit  bem  füblidjer  gelegenen,  oon 
©tanlet)  1876  entbecften  ©ee  Don  Ufongora,  ben  er  jefct  „ju 
@l)ren  be«  erften  englifrfjert  ißrin^en,  ber  entfdjiebene«  Sntereffe  für 
afrifanifc^e  ©eograplfie  geigt",  Sllbert  @bwarb  ©ee  nennt,  biefer 
©ee  felbft,  unb  ba«  „Siuwenjori",  aud)  Sugambowa,  SlDirifa, 
Sfrufa  ober  Siuroenbjura,  b.  I).  „Siegenmat^er  ober  SBolfen* 
fönig"  genannte  mächtige  fdjneebebedte  ©ebirge  füböftlid)  Dom 
Sllbert-@ee,  öftlid)  Dom  ©emlifi. 

TDer  ©emlifi,  bei  ben  (Singeborneu  aud)  Äaffibi,  ftrömt 
in  bem  Jfjale  jwifcf)en  ben  Saleggabergen  (blauen  Sergen)  linf« 
unb  bem  ©ebirge,  ba«  fid)  an  ba«  ben  Oftranb  be«  2llbert«©ee- 
bedeit«  bilbenbe  $od)plateau  oon  Unioro  füblid)  anfdfliejjt. 
©r  ift  ein  mächtiger  ©trom  Don  250 — 300  Juff  ©reite  unb  einer 
burdjfdwittlidjen  Jiefe  Don  9 ffrujj,  ^er  ’u  Dielen  SBinbungen 
einen  Staum  Don  240  km  burdjläuftt.  Son  ben  Slbffängen 
be«  Stuwen^ori  fließen  iljm  nid)t  weniger  al«  60  feljr  anfeljn. 
Iicf>e,  reifjenbe  glüffe  *n  lief  eingefdjnittenen,  burc^  ba«  Don  bem 
©ebirge  in  früheren  3e'ten  ^erabgeftürgte  ©etöH  gegrabenen 
Setten  ju.  Seim  ©iitflufj  in  ben  Sllbert-©ee  fefct  er  ungemein 
Diel  ®d)lamm  ab,  woburd)  ber  ©ee  immer  metjr  nad)  Sforben 
f)in  Derfleinert  wirb,  ©tanlet)  beregnet,  baff  er  Dor  ca.  600 
3af)ren  fid)  ungefähr  12—15  ÜJieilen  weiter  füblid}  ausgebefjnt 
tjabe.  (?)  3m  mittleren  Saufe  wirb  ber  gMi  burdj  bie  loeft» 
licfjen  unb  öftlidjen  ©ebirge  bi«  anf  wenig  über  100  gufj  eingeengt. 

(410) 


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3)aS  2anb  fteigt  plöfclid)  nad)  ©üben  hin,  entfprecßenb  bem 
immer  ßößer  ficß  erßebenben  öftlicßen  Xßalranb.  fJiur  75  Meilen 
oom  Sllbert-See  entfernt  liegt  eS  200  Meter  ßößer  als  bie 
Jßalfohle  am  Sübenbe  besfelben.  $er  obere  See  liegt  1008 
Meter  ßocß.  2)er  Ißeil  beS  IßaleS,  melier  ber  ©eroalt  bcr 
oom  Sllbert  • Slianfa  ßerfomnienben  Stürme  auSgefeßt  ift,  hat 
nur  fümmerlüßen  ^flanjen-  unb  SöaumtoucßS,  ßauptfäcßlKh 
biinne  Slfajiemoälber,  in  ber  Mitte  feines  SaufeS  bagegen  burcß- 
fließt  ber  gluß  bie  Süoambcroälber,  ein  SBalbgebiet,  toaS 
Stanlep  gerabep  ein  natürliches  ÜreibßauS  nennt.  2>ie  öft» 
liehen  unb  füblicßen  Sßinbe  finb  burdj  baS  hohe,  maffige  ©e- 
birge  im  Often  unb  bie  SBinbungen  beS  SßaleS  ooQftänbig  ab- 
gefperrt.  SMe  bem  rings  eingefchloffenen  $ßale  entfteigenben 
heißen  fünfte,  bie  burch  bas  93orhanbenfein  heißer  Duellen 
noch  fodjenber  gemacht  locrben,  oerbüßten  fieß  in  ben  obern 
Üiegionen,  wenn  fie  bie  folteren  fiuftfeßießten  beS  ©ebirgcS  er- 
reichen, unb  ßöitgen  als  ftete  SRrbeltoolfe  über  bem  Jßale,  fo 
baß  ber  SRaucß  beS  SagerS  toie  ein  Mantel  über  ben  fiöpfen 
ber  Sieifenben  ßängen  blieb,  ißnen  bie  klugen  feßmer^en  unb  fie 
ßalb  erftiefen  maeßte.  3«  feinem  Ißeile  SlfrifaS,  meint  Stanleß, 
finbet  man  einen  folcßen  lleberfluß  an  fiebenSmitteln,  nießt  ein- 
mal in  bem  berounberungStoürbig  reießen  Uganba.  3eßu  folcßer 
Kolonnen  roie  bie  feinige  hätten  lange  geit  im  Ueberfluß  fcßroelgen 
fönnen.  2lüe  $rücßte,  befonberS  Sananen  unb  ^arabieSfeigen  be- 
fiten  ßier  bie  hoppelte  ©röße,  bie  Sananenßaine  reießen  bis  2500 
Meter  an  ben  Slbßängen  beS  öftlicßen  ©ebirgeS,  beS  fHuroenjori, 
ßiuauf.  2lm  Oberlauf  beS  gluffeS  wirb  baS  Sanb  rcieber 
weniger  frueßtbar  unb  geßt  in  eine  bürre,  $ulefct  juni  See  gan$ 
allmäßlicß  abfallenbc  fällige  ©raSfteppe  über. 

SBon  fpeciett  geograpßifcßem  Sntereffe  ift  nun  bie  geft- 
fteßung  ber  jtßatfacße,  baß  ber  Semlifi  aus  bem  oberen  See 
fommt.  2ßeilS  bureß  eigene  unb  bie  Unterfucßungen  bes 


40 

Seutenant  ©tairg,  tffeilg  burd)  augbrüdliche  58erfid)erung  ber 
©ingebornen  würbe  feftgefteöt,  baß  bet  ©ernlifi  ben  oberen  ®ee 
üevläjjt,  biefer  a(fo  bie  Imuptquefle  beg  9til  bilbet.  Ob  bet 
®ee  aud)  nad)  bem  fiongo  hin  refp.  bem  Soroa  SBaffer  abgiebt, 
fonntc  nicht  feftgefteOt  roerben.  ©tanlep  erflärt  eg  jebodj  für 
unroahrfd)einlich  wegen  bet  auch  im  SBeften  fid)  fortfeßenben 
bebeutenben  |)öhen. 

lieber  ben  ?llbert-@broarb»©ee  fonnte  ©tanlep  wenig  in 
©rfahrung  bringen.  2>ie  ©ingeborenen  gelten  ihn  für  größer 
alg  ben  2llbert»©ee.  2Bafjrfcf)einlid)  ift  bieg  aber  nicht  ber  3raH. 
©tanlet)  meint,  baf)  er  ttid)t  weiter  alg  50  teilen  füblich  fid) 
augbe^tte,  alfo  ungefähr  halb  fo  grofj  alg  ber  untere  ©ce  fei. 
3a,  ©tanlet)  fpricfjt  (in  ben  SSriefen)  fogar  bie  ißermut^ung 
aug,  bafj  man  eg  nicht  mit  einem,  fonbent  mit  groei  ober 
mehreren  untereinanber  oerbunbenen  ©een  gu  tfjun  habe.  2Bag 
feine  ©rforfdjuttg  ungemein  erfdpoerte,  mar  ber  Umftanb,  baf} 
er  faft  immer  mit  iRebel  bebeeft  unb  fein  Ueberblicf  ju  ge» 
mimten  mar.  Ob  if)n  bie  eilten  beg^alb  ben  -,,©ee  ber 
35unfel£)eit"  genannt  haben?  ?luch  ber  Sllbert-Sbroarb  hat  oor 
nod)  überfe^barer  3«t  eine  bebeutenb  größere  Slugbehnung  ge* 
habt.  3>ag  fie^t  man  an  ben  weithin  falpeterhaltigeu  Uferebeneit, 
an  ber  oiclfacf)  eingebuchteten  nörblicf)en  Ätüftenlinie.  Sitte 
©rhühun8  beg  ©eeg  uni  anberthalb  SReter  mürbe  ben 

©piegel  8 km  weiter  nach  Slorben  unb  ©üben  augbebnett, 
15  IReter  ©rhöbung  feine«  SBafferftanbe«  mürben  ihn  big  an 
ben  oben  gefchilbertett  SBalb  oott  Sltoamba  oorfchieben.  ©o 
weit  muß  er  fief)  früher  auggebehnt  haben,  ehe  ber  ©emlifi  in 
bag  oom  fRuwenjori  herabftürjenbe  @letfd)ergeröfl  feinen  tiefen 
2Beg  gebohrt  hatte.  @r  ift  eilt  Problem  ttott  ^öc^ftem  geog» 

noftifd^en  Sntereffe,  mag  hi«  fich  bietet,  ©tanfepg  eingehenbe 
©rörterungen  hierüber  in  feinem  SReiferoerf  (cf.  II.,  304  ff.) 
roerben  nicht  oerfehlen,  ju  weiteren  gorfchungett  anjuregen. 

(412) 


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41 


Sluch  biefer  ©ee  wirb  gefpeift  uoit  ben  Äbfliiffen  ber  Stowen* 
jori,  bie  öon  beffen  fübroeftlicfjcn  uitb  füblichen  Slbhängen  tjerob* 
fommen.  @r  wäffert  feinerfeitS  wieber  außer  burcfj  ben  ©emlifi 
in  ben  §llbert*©ee,  burcf)  ben  Heineren  ßatonga,  welker  feiner 
Oftfüfte  entftrömt,  nad»  bem  SBictoria  Stianfa  ab. 

SWerfwürbig  finb  bie  au«  Ueberbleibfeln  be«  jurücftretenben 
©ee«  entftanbenen  ©aljfeeit,  non  benen  ber  öon  JÜatiöe  am 
SRorbenbc  ©alj  in  frpftaQinrfd)  reiner  3r°rm  liefert  unb  fiir 
ganj  Cftafrifa  in  ber  Umgebung  ber  ©een  ba«  oiefumftrittene 
natürliche  ©a^werf  barftellt. 

$>ie  intereffantefte  ©ntbetfmtg  aber,  welche  ©tanlet)  auf 
biefem  $beile  ber  Steife  gemacht  hat>  »ft  ber  Stuwenjori. 
Si«ßer  fannte  man  am  ©übenbe  bei  2flbert=@ee«  ben  Hbjif-Serg 
(1760  SOteter).  Sluf  früheren  SHeifen  hatte  ©tanlet)  bie  füböfttich 
baoon  gelegene  Süiafinnonfpiße  unter  ca.  0°  37'  nörbl.  Sr. 
unb  30°  30'  öftl.  ß.  (4600  SDigter),  ferner  etwa«  weiter  fiib* 
weftlich  unb  füblich  ben  ©orbon  Sennet  unb  jiemlid)  auf  gleicher 
£öbe  mit  ber  äJtafinnonfpiße  weiter  füblidj  ben  Slrnolb  ©bwin» 
Serg  feftgefteöt.  SDiefc  Serge  bilben  bie  Sorpoften  eine«  mach* 
tigen  ©ebirge«,  wa«  au«  bem  Iha^  be«  ©emfifi  fteil  auf» 
fteigenb  ba«felbe  öom  Sllbert  Stianfa  bi«  jum  Sllbert  @bwarb-©ee 
begleitet,  nach  ©üben  ait  .pöhc  gunehmenb,  bi«  e«  in  bem 
oom  ©emlifi  quer  nach  Often  fich  erftredenben  Stowenjorigebirge 
eine  |whe  öon  5800  SJieter  erreicht.  Söunberbar  genug  ift  e«, 
baß  Weber  Safer,  noch  ©effi  ißafdja  öom  8llbert*©ee  au« 
unb  ÜJtofon  Set)  auf  feiner  Umfahrt  biefe«  ©ee«  im  Saljre  1877 
noch  ©tanlet)«  ©fpebition  in  ben  Sauren  1876,  nod)  ©min 
Safcha  unb  ©afati  früher  unb  1888  biefe«  fd)neebebedte,  wollen* 
burchragenbe  Serghaupt  gefehen  höben.  @«  erflärt  fid)  ba«  wohl 
barau«,  baß  ber  Serg  ben  größten  Jhcü  be«  3af)re«  öon  bichten 
SSolfen  öerfdjleiert  ift.  Sluf  eine  nähere  Sefchreibung  be« 

©ebirge«  fann  ich  mich  h'er  nicht  einfaffen.  ©tanlet)  giebt  in 

«13; 


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12 


feinem  ßteifewerf  (II.,  287  ff.)  eine  ausführliche  SDarfteHung  im 
ganzen  unb  einzelnen,  foroeit  e$  möglich  war,  bie  formen 
unb  Konturen  be«  ©ebirge«  bei  ber  Steife  um  beu  SCÖeft*  unb 
©iibfuß  beöfelben  feftjufteüen.  ©ine  Bon  ©tair«  uerfud)te 
löefteigung  ^atte  nur  ben  ©rfolg,  »on  einer  $öhe  Bon  cirfa 
2500  SJteter  einen  ©inblid  in  bie  großartige  SRatur  biefe«  burdj 
Butfanifcße  Kräfte  emporgeftiegeneit  Sllpenlanbe«  gewonnen  ju 
haben,  ba«  fein  anbere«  ift,  af«  ba$  SRottbgebirge  ber  alten 
©eograpßen,  35jebei  Kumr,  ©mar  ober  ftammar  ber  arabifdjen 
9ieifebefrf)rciber  unb  Kompilatoren.  ©ine  ausführliche  3ufammen* 
fteduug  im  Steifewerf  belehrt  uns  über  bie  oerfdjiebenen  Sin- 
ficfjten  unb  fartographifdjen  ®arfteHungen  biefeS  fageuumwo- 
benen  Sßeitö  oott  Slfrita,  beö  CueHgebietS  beS  ÜRils,  Bon  beit 
älteften  beä  Steter  £omer  unb  ^erobot,  ber  hinter  baS 

SRonbgebirge  bie  „2ßt)gmäen"  oerfeßt,  bie  Zwerge,  welche  ficf) 
im  Ireibfjauswalbe  non  Slwaraba  noch  ßcute  finben,  bi«  ^um 
SInfang  unfreS  Saßrfjnnbert«  (a.  a.  £>.  II.,  266  ff.).  Später  ift 
baS  „SRonbgebirge"  als  „Sage"  Bon  ben  Karten  nerfdjwunben. 
SRan  fucßte  eS  allenfalls  im  Kilimanbßharo  ober  Kenia,  unb 
StetcrmannS  äRittheilungen  1888,  34.  93b.  ©.  177  erflären: 
„$ie  {Jabel  Bon  bem  SRonbgebirge,  baS  man  nad)  ©O.  gerücft 
ßatte  2c.,  würbe  burd)  ben  SRiffionar  Sßafefielb  (1870)  enbgiiltig 
jerftört."  3efct  ift  burcß  ©tanfet;  tnbgültig  bewiefen,  baß  ber 
arabifcße  ©eograpb  ©cßeabebbitt  im  15.  Sabrbnnbert  bod)  nicht  fo 
gan^  Unrecht  hatte  mit  feiner  93ebauptung:  „3m  URonbgebirge 
eutfpringt  ber  ägbptifcße  Stil.  91  uS  biefem  fommen  Biele  {Jlüffe, 
bie  fidj  in  einen  großen  ©ee  Bereinigen.  9luS  biefem  ©ee  fommt 
ber  Stil,  ber  größte  unb  fdjönfte  gluß  ber  Grbe."  @S  bleibt 
unflar,  ob  ber  „große  ©ee"  ber  {übliche  ober  nörblicße  Stianfa 
ober  ber  Uferewe  ift,  roaS  für  baS  SRonbgebirge  aber  wieber 
gleichgültig  erfcßeint,  nacßbem  ber  3nfamwenhang  zweier  ©een 
burd)  ben  ©emlifi  feftgefteüt  ift,  nacßbem  aud)  bie  ©peifung 

(414) 


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43 


bei  Uferemefeel  burdj  $uflüffe  »om  jRuroengori  »orläufig  ben 
Äatonga  itadjgemiefen  ift.  3m  Butwenjori  erbliden  mir  ben 
Bater  ber  ©emäffer  bei  «Rill. 

Diefe  lederen  geographifd)eu  ©ntbedungen  unb  bie  burcf) 
biefelben  entfteljenben  Probleme,  jufammengenommen  mit  ber 
©ntbecfung  ber  ungeheuren  Slttlbehnung  unb  bei  jReichthuml 
bei?  Slongomalbel,  ber  nach  ©tanlepl  Berechnung  bie  gleiche 
»on  832  000  Ouabratfilometer  <=  Spanien  unb  granfreidj) 
bebetft,  jufammengenommeit  ferner  mit  ber  grünblichen  @r* 
forfchuitg  bei  Arumimi  unb  bei  roeftlich  »om  Albert*@ee  bil 
gum  Albert  ©broarb  ficf)  aulbehnenben  ©ebietel,  feiner  eigen* 
thümfidjeit  Boben*  unb  Beoölferungloerhültniffe  (cf.  bef.  ©tanlep 
a.  a.  0.  II.,  365  ff.)  fiebern  für  immer  ber  englifchen  ©min* 
©jpebition  einen  unter  ben  epocfjemachenben  gorfchungl* 
reifen  in  Afrifa,  benen  bie  SBiffenfd^aft  Unenblidjel  »erbanft. 
greilid)  ntufj  man  nicht  ben  einfeitigen  äRafjftab  früherer 
feiten,  t»o  bie  Bebeutung  einer  fDldjen  «Reife  nad)  ber  3af)l 
ber  gurüdgelegten  fiilonteter  bemeffeu  mürbe  (obgleich  9700 
Kilometer  auch  Jeine  föleinigfeit  finb)  antegen.  Die  .geit  jener 
blenbenben  Späten,  ber  Durchquerungen  Afrifal  auf  gänzlich 
unbefannten  SEBegen  nach  »erfchiebenen  ^Richtungen  fcheint  worüber, 
fall!  nicht  bie  neuerbingl  irgeitbmo  aufgetaucfjte,  abenteuerliche 
3bee  einer  Durchquerung  »on  fiiberia  bil  ©auafim  gur  Aul* 
führung  fommt.  (?)  Die  Aufgabe  unfrer  $eit  ift  bie  toeniger 
ejtenfioe  all  intenfiwe  Slfrifaf orfc^ung.  Dabei  »erbinbet  fid) 
überall  bal  miffenfchaftliche  mit  bem  materiellen  gntereffe  aufl 
engfte.  «Rieht  gum  «Rad)theil  bei  einen  ober  anbern.  ©erabe 
burch  bie  intenfioe  ©rforfdjung  »erhältnifjmäjjig  fleinerer  ©ebiete 
mirb  eine  9Renge  theill  bem  ©ebiete  ber  «Raturmiffenfchaften, 
theill  bem  ber  ©eiftelmiffenfchaften  angehörigen  Aufgaben  an* 
geregt,  bie  fonft  am  2Sege  liegen  bleiben,  ©eognofie  unb 
Botanif,  Zoologie  unb  Anthropologie,  ©thnologie  unb  ©prach* 

(415) 


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44 

wiffenfdjaft,  fie  alle  finben  um  fo  mehr  SlnfttüpfungSpunfte 
unb  Slrbeitsfelber,  je  weniger  bie  (ürntbetfung  burd)  ungemeffene 
gerablinige  2luSbel)nung  oberfläc^licf)  au  bem  ®efel)enen  oorüber» 
gel)t,  je  mehr  fie  felbft  fchon  burd)  genauere  ^Beobachtung  bei 
fleineren  $imenfionen  ben  Soben  für  weiteres  ©tubium  oor> 
bereitet. 

@o  wenig  man  baljer  mit  ben  eigentlichen  3Wec*en  ber 
©tanlepfdien  fogenannten  @min-@ntfah*(£jpebition  auS  irgenb 
welken  ©rünbeit  fpmpathifiren  mag,  fo  wenig  aud)  oietleicht 
bie  ©eftalt  beS  ^orfcherS  felbft  in  feiner  oft  angelfäd)fifd>en 
©rabf)eit  ober  anbern  @igenfd)aften  Söiattchen  anmutfjen  mag  — 
auch  mein  ©efühl  ihm  gegenüber  ift  ein  auS  aufrichtiger 
SBewunberung  unb  nicht  feltener  SBerwunberung  gemifchteS  — , 
Born  wiffenfchaftlichen,  fpeciell  oom  geographischen  ©tanbpunft 
aus  müffen  wir  ber  uttenblichen  ÜJiül)e  unb  toboerachtenben 
Kühnheit  beS  großen  Pioniers  ber  2öiffettf<haft  ungefchtnälerteS 
Üob  joHen.  @r  hat  fich  auch  burch  biefe  $hat  wohloerbient 
gemacht  um  bie  SBiffenfchaft. 

S)ie  beigegebene  Karte  hat  felbftoerftänblich  nur  ben  3metf, 
ben  SBeg  ju  jeigen,  unb  macht  feinerlei  ?lnfprud)  auf  ©enauigfeit. 
ÜJteuerbingS  finb  fo  oiel  gute  Karten  oon  Slfrifa,  ich  nenne  nur 
3r-  .£>anbtfe  (fJlemmingS  Verlag  £Rr.  38),  5R.  Sübbede  (©otlja, 
SßertheS)  erfchieiten,  baß  3eber,  wer  will,  fich  genauer  inftruiren 
fann.  ,§luf  ber  bei  $ßertf)eS  erfdjienetien  „©elegenheitSfarte" 
9ir.  2 (1889)  „@min  Sßafc^a  unb  ©tanlep"  tc.  oon  9i  fiübbede 
finb  einige  SBerfefjen.  Kilinga  2onga  (3poto)  liegt  auf  bem 
rechten  Sturiufer.  $)ie  ©jpebition  umfdjritt  ben  SRuwenjori 
weftlid),  nicht  öftlid). 


(■116) 


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Grenze  ä.  h'ont/os/aa  /es 


Uabotie 


Wadelpi 

Junker^B 

>ij 


BASOKO 


/am  bi 


Shit  Mt*  Ti  ft  ff u lib.s 


Stißhy  hilf  l 


•*■/  ndj  a 


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35’  4 Oc 

f=^~l 

Reiseroute  Sfanley's 

von  Jambuga  bis  Bagamoyo. 


— • — Stanley s Reiseroute 


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4 5 


^ttmerfuitßen. 

1 Keutfd)  oon  £>.  0.  SSobefer,  Seipzig,  3-  91.  BrodhauO,  18f«0. 

8 ,3m  bunfclften  9lfrifa,  9luffud)ung , Siettung  unb  DiAdjug  ©min 
Bafchaä",  beutid)  t>on  $.  o.  SBobefer,  öeipjig,  3 91.  Brodhaust,  1890. 

8 9lud)  9lug.  ©chhiife,  Blit  ©tanlet)  unb  ©min  Bafd)a  burd) 
Keutfd)  Dft«9lfrifa  (Söln  1890  bet  3-  S.  Bachem)  ift  benu$t. 

* 3m  ganzen  mürben  cirfa  33  250  £ gezeichnet.  Kie  englifche  Sie* 
gierung  hielt  offiziell  fid)  aus  erfiditlicheit  ©rünben  ber  Sache  fern. 

5 Somchl  6min  als  auch  SBifjmann  haben  mit  ihren  fubanefifchen 
©olbaten  anbere  6rfabrungen  gemacht. 

* ffiianfa  bebeutet  jo  Biet  roie  großem  SBaffer.  ©0  wirb  nicht  auf 
Seen  allein  angetnenbet. 

7 9lu$  einem  Briefe  ©mittS  an  Dr.  0felfiit  Born  fRoBember  1887  geht 
herBor,  bafj  6min  Seute  auf  Sunbfdjaft  auügefchidt  hotte.  „6rtunrte  ©tanlet) 
ungefähr  am  15.  2>ejetnber“  (1887),  fchreibt  er.  ©tautet)  taugte  am  14.  Ke« 
Zember  an  $atte  ©min  bie  Briefe  Bon  ©anfibar  erhalten?  ©S  ift  ba3 
eine  ber  Bieten  Unflarheiten,  bie  ber  Äufflärmtg  burch  ©min  fclbft  tourten. 

8 hieran  anfnüpfenb,  fügt  ©tanteh  folgenbeo  a.  a.  D.  L,  852:  34 
hatte  fdjon  im  3ebruar  1887  oon  ©anfibar  Boten  abgefchidt,  um  überall 
bie  fRadjridjt  oon  unferem  Äommett  ju  oerbreiten  unb  bie  ©ingeborenen 
auf  ba£  plöhlidje  ^erattnohen  oon  Jrctttbcu  au#  bem  unbefannten  SBeften 
oorjubereiteit.  ftätte  6min  fßajcha,  ber  uns  am  15.  Kezcmber  (cf.  o.)  er« 
»artete.  fi<h  nur  bie  3Rüf)e  gemacht,  feine  Kämpfer  auf  eine  neunftüttbige 
gahrt  oon  3Rfua  aus^ufenben,  bann  mären  mir  fidjer  am  14.  Kezentber 
mit  feinen  Seuten  jufammengetroffen,  hätten  fünftägige  Sümpfe  erfpart  (?), 
nicht  Bier  fflionatc  3crt  Bertoren,  unb  ich  wäre  ant  15.  ober  gegen  ben 
16.  3Rärz  innerhalb  ber  Baflifabcn  oon  3ombttga  gemefett,  früh  genug, 
Barttelot  oor  bem  Blörber,  3omefon  oor  bem  töbttichen  3iebcranfatl,  Xroup 
tor  ber  Bothmenbigfeit , als  3noa(ibe  nach  itattfe  gefanbt  ju  toerben, 
38oob  oor  feiner  BöHig  miplofen  SRiffiott  nach  San  ißaolo  be  Soattba  unb 
Bonnh  nor  ber  lieibenOjcit  in  Banalja  ju  beroahren.  (Kas  ift  boch  root)l 
genug  ber  Borroürfe  für  ©mini  ßr  ift  eben  an  altem  fdjulb.)  fRacf)  I, 
379  roaren  ©tanlepS  Briefe  oon  ©anfibar  am  27.  3uli  (87)  abgegattgett, 
am  11.  September  in  SRfalala,  am  1.  tRooember  in  Uganba  eingetroffen. 
2tm  1.  Kezentber  hotte  fie  ©afati  erholten,  ber  am  13.  ftebruar  60n 
Biuonga  oertrieben  mürbe.  Bis  bahin  toaren  bie  Briefe  nicht 
roeiter  beförbert  gemefett,  ©min  hotte  fic  nid)t  erhalten,  ©ein  Brief 
an  Dr.  Oretfin  mit  ber  Bezeichnung  beS  15.  KezemberS  cf.  o.  ift  nicht  ju 
erfiären.  ^»öffentlich  mirb  6min  baS  alles  flar  legen,  ©r  (attn  es  allein 
unb  mirb  eS  sine  ira  ac  Studio  tljurt- 

(417) 


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46 


* (Dian  fatin  wohl  anneljmen,  baß  ©min  fo  gut  als  ©tanlet)  mußte, 
maS  er  wollte,  wenn  es  aud)  nad)  ©tanfepS  Bericht  ben  Änfchein  hat.  a(S 
habe  er  fid)  ju  nichts  entfdjließen  fönnen.  Sein  ©iberftanb  gegen  Stanley 
«brieten,  ber  gewiß  (eine  triftigen  ©rünbe  batte,  Weber  ©igenfinn,  nodj 
Gßarafterfdjmäche  war,  madjen  ben  an  ©iberfprüchen  nicht  gewöhnten, 
energischen  (Diann  in  feinen  Briefen  unb  Berichten  entfliehen  ungeretht 
gegen  ©mitt.  ©eine  9Icußerungeu  über  benfelbcit  unb  Gafati  ftnb  theil- 
weife  fleinlith  unb  härnifd).  Sie  englifchc  intcreffirtc  Äolonialprejfe  hot 
barauf  weiter  gebaut  unb  ©min  gcrabeju  herabjufe^en  oerfudjt  unb  ge- 
fchmäßt,  maS  ©tanlet)  fidjer  mißbilligen  wirb,  wie  er  fid)  benn  auch  an 
anberen  ©teilen  a.  a.  0.  über  GminS  'fJerfon  ftctS  anerfennenb  au8jprid)t. 
cf.  I.,  414.  3<h  tonn  b'er  nur  bie  einfachen  Shatfadjcn  erjählen,  wie  fie 
©tanlet)  giebt. 

10  3<h  lefe  honte  aus  ber  „Daily  News“  doii  ©alter  Barttclot,  bent 
Bruber  beS  ©rmorbeten,  IfäarfamentSmitgliebc  ■.  ©tanlet)  giebt  bor,  in  feinem 
Buche  „3m  bunfelftcn  Wfrifa"  einen  wahrheitsgetreuen  Bericht  über  bie 
Sage  ber  9tod)hut  unb  bie  Staßnahmen  ber  Cffijierc  berfclben  ju  geben, 
©obalb  aber  bie  Sogcbiidjcr  unb  Bricffchaften  SIHajor  BartelottS  unb  ffir. 
3atnefonS  oeröffentlicf)t  finb,  wirb  man  fehen,  baß  ©tanletjS  Bertljeibi- 
gung(!)  wegen  feines  Benehmens  ber  Kachhut  gegenüber  unjureichenb  ift. 
fltußerbem  ift  fie  ungenau,  irrcfüljrenb  unb  uncbel. 

11  ©min  Bafdja  befaß  jmei  Bataillone  regulärer  Gruppen,  im  ganjen 
1800  ®ian.  welche  über  acht  ©tationen  Pon  Kebjaf  bis  (Difua  am  Silben- 
©ec  oertljeitt  waren,  außerbem  mehrere  Saufenb  3rreguläre.  SaS  eifte, 
nörblich  fteßenbe  Bataillon  mar  nie  ganj  jubcrläffig  gewefen.  ffieiügftenS 
hatte  Dr.  3unfer  bieS  behauptet.  SaS  jmeitc  war  treu  erfdjienen.  Such 
nach  ©tanleps  Bericht  waren  es  nur  bie  Offnere,  welche  meuterten.  Ten 
Gruppen  hatte  eS  ©min  unb  3eph)’on  ilu  oerbanfen.  baß  ihnen  nichts  gefd)ah- 
©tanlep  wirft  ©min  bor,  baß  er  ißm  aus  ©tolj  nichts  oon  bett  mißlichen 
militärifdjen  Berhältniffen  gefagt  habe.  Dr.  3un!erS  obige  SluSfage  hatte 
aber  ©min,  gefragt,  als  richtig  beftätigt.  freilich  wäre  eS  ©tanlep  er- 
wünfeht  gewefen,  ©mitt  in  Befif)  einer  großen  juoerläfftgen  Stacht  ju 
ßtibcn.  S>a8  war  bie  britte  Gnttäujdjung.  bie  ihm  begegnete.  3n  Besug 
auf  bie  Kettung  beS  (ßajdjaS  mar  jeboch  woßt  ber  3uftanb,  fo  ober  io. 
gleichgültig.  ©arten  mir  weitere  Slufflärungen  ab. 

” ffiaS  ©afati,  ber  bor  einigen  Sagen  nach  3talien  jurüefgefehrt  ifl, 
über  biefeit  Slbjug  auSgeiprochen , Hingt  freilich  anberS,  oorläuftg  iß  eS 
aber  unberftänblicß. 

cf.  Batcr  jj.  SdjtjnfeS  Sagebuch  „fDlit  ©min  Bafcha  unb  ©tanlep 
burch  Cftafrifa"  S.  33. 


HW) 


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Jrrli|san|Ult  uni  Prnikrrri  J. (oornals  ).  #.  fiid|trr)  in  Samknrg. 


|uf  Sd|nrrfd(ut|fii  burd)  Crönlanb. 

SSon 

|tanfcn* 


Jatorifirlf  Urbrrfrijiing. 


3Kit  übet  120  3 Hit ftrati oricn  unb  mehreren  Karten.  ~*WI 

20  Lieferungen  k 1 9Jiarf. 


3?ie  erfte  Lieferung  loirb  Don  jeber  Sfludibnnbtmifl  &ur  21nfi(f)t  porgdegt. 


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Slrrlegeonftolt  uni  SrnAtrri  ä.>®.  (oarmole  J.  f.  jBirijtrr)  in  fjombart. 


3n  Sürje  erfd)eint: 

fEagni. 

Vornan 

t>on 

Sßjörttftjertie  £3  j ö r tt  f o tt» 

9lutorifierte  Ueberfebung.  2 Vänbe.  ©leg.  gef).  SDtf  9.—,  eleg.  geb-  SDtf.  11.—. 

Bon  bicfrm  übrraue  intrrrlTnntfii  Mrrkr  fnnbrn  imurtmlb 
4 ttlodicit  mehrere  Anflagm  ber  ffiriginfli-Änsgabr  Abfot},  brr 
Kommt  mirb  and)  oon  bfiitfdifn  £cfmi  mit  größter  ^pannnng 
uiti)  onfmcrkfmnrr  illifilnohmr  griffen  rorrbrn. 

3«  ben  früheren  3a{)rgängcn  bet  „Sammlung"  erfdjienen 

iteber  (deoejrapfyie. 

(25  $fftf,  rotnn  auf  einmal  bfjogtn  h 50  $f.  = 12.50  Start.} 

2lnbcrfon,  Tie  erfte  ©ntbedung  Bon  Wmerifa.  (SR.  ft.  49/50) Ji.  1.2U 

Saffian,  SDtejifo.  2.  Stuft.  (62) -—.75 

».  Voguolatoofi,  Tie  Tieffee  unb  ihre  SBoben-  unb  Temperatur-Ver- 
bältniffe.  SDtit  einer  Tiefenfarte  bet  Dceane  bet  ©rbe  unb  fed)S 

Tiagrammcn  im  Tejrtc.  (310/311) • 1.80 

Vudihciffcr,  ©ine  tBif|eitfd|aftltd)c  8llpenreife  im  SBinter  1832.  (97.  fj.  4)  « — .60 

Vudiholn,  2anb  unb  Heute  in  ©eftafrifa.  (257) • 1.— 

(£ngel,  Ta«  Sinnen-  unb  Seelenleben  b.9ftcnfcben  unter  b.  Tropen.  (204)  • —.75 

— , SRad)t  unb  SOtorgen  unter  ben  Tropen.  (240)  ■ 1 .— 

— , tfluf  ber  Sierra  'Iteoaba  be  SDteriba.  (SR.  3-58) • — .80 

».  &od)ftetter,  Ter  Ural.  (181) . 1.— 

3>rban,  Tic  geographiftbeu  SJtefultate  ber  oon  ®.  SHohlf«  geführten 

©jpebition  in  bie  libqfdie  SBüfte.  SDtit  einer  ffarte.  (218) • 1.20 

Söglcr,  Tirol  af«  ©cbirgblanb.  Streiflichter  auf  Vergangenheit  unb 

©egentoart.  (384) - — .«JO 

Notier,  Ueber  bie  ueueften  ©ntbedungen  in  Slfrifa  (69/70) • 1.20 

SDicper,  91.  V.,  Tie  Stinapaffa  auf  ©elebe«  (262) *—.60 

9teuhauö,  Tie  §atpaii-3nfeln.  (97.3-9) • 1 .— 

9leumapr,  $ur  ©efdjicpte  be?  öftlithcn  SDfittelmeerbcden«.  (392) »—.60 

Sabebcd,  @ntroirfelung«gang  ber  ©rabmejjung«  Arbeiten  unb  gegen- 
wärtiger Stanb  ber  europ.  ©rabmeffung.  91t it  einer  Ueberfid)t«- 

Sarte  Ber  beutichen  ©rabmeffung^-Slrbeitcn.  (258) » 1.40 

8.  Seebad),  ®entral-9lmerifa  unb  ber  intcroceanifthe  ©anal.  SDtit 

einer  Starte  oon  ©entral-Sttmerifa.  (183) . • 1 . — 

Treutltin,  Tic  Turchquerungeu  8lfrifa«.  SDtit  einer  Starte  (433/434)  « 2.— 

©agner,  Tie  Vcränberungen  ber  Starte  Bon  ©uropa.  (127) -—.60 

©attenbad),  Wlgier.  2.  SSLbj.  (35) • 1 — 

8.  Sittel,  Ta«  sßunbcrlaub  am  fjellotoftone.  (468) - — .60 


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Jujlus  bau  treu  Btmiu'l 


Sin  Seitrag 

jur  ®cicf)irf)tc  be3  nieberlänbifcfjcn  ©djrifttfjuinS. 

Sott 

3>.  Jörteft 

in  Bitn. 


Hamburg. 

SBedagSanftalt  imb  $)rucferei  $.•©.  (öornialS  3.  SRicfjter). 

1890. 


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9ü'd)t  ber  Ucbcrfe^mig  in  freutbe  Spradjcu  luirb  ppibcljalten. 


®rud  brr  Stfrlnglanflnlt  imb  S'nttftrri  'Jlcticn  OtofrUiduft 
(DOrniaU  3.  S-  Widnrr)  in  Hamburg. 


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I. 

2)er  bebeutenbfte  2>id)ter,  meldjcn  baS  niebcrlänbifdje 
Sd)rifttl)um  aufjutuetfcit  t)at,  bcr  »or^iglic^fte  ißoet  jener  öpodje, 
welche  bie  Jiieberiänber  mit  berechtigtem  Stolze  „3)ie  golbene 
$eit"  nennen,  3uftn§  Dan  bcn  $$oubel*  mürbe  am  17.  9?o- 
Dember  1587  in  Ätölu  am  iRßein  geboren.  $8on  feiner  £>erfunft 
ijt  nur  meuigeS  befannt  gemorben  uttb  biefcö  betrifft  aud)  mefjr 
feine  Familie  miitterlidjerfeitss  alä  jene  »äterlid)erfeit$. 

3n  ben  HWitteljafjren  beä  16.  Saljrljunberts  madjte  bie 
Deformation  in  ben  SRieberlanben  immer  größere  go^fd)™16/ 
tro$  ber  fatl)olifd)cn  fpanifttyen  ^>errfd)aft,  ober  wefleidjt  gerabc 
toegen  biefer.  ®att$  befonbcrS  maren  e$  jene  eigenartigen,  bcn 
franjöfifdjen  Chambres  de  Rhetorique  nadjgebilbeten  unb  and) 
ben  beutfdjeit  „äJieifterfdjulen"  ciljnclnbcn  „Deberijferä-jtamerö", 
bie  ber  neuen  Ccfjre  jugetfyan  maren  unb  fie  ju  förbern  ftrebteu, 
nicht  acßteub  ber  Strenge,  mit  ber  bie  ^Regierung  jebe  biefer 
Dcguugen  $u  umerbrücfcn  fudjte.  £er  Uinftanb,  baß  bie  $öe- 
megung  nicht  öon  oben  ausging  unb  and)  ber  einheitlichen 
Seitung  entbehrte,  mag  ba3  Scftenmefen  geforbert  ljabcn,  baS 

* habe  eS  tuirgcjogcn,  ftatt  bc$  nicbcrläitbifcfjen  Warnend  3ooft 
3uitu3  ju  fctjreiben,  ba  crftereö  gleich  betn  beutfeben  Soft  nur  eine  Siürjung 
liefe«  Warnen«  ift. 

Srnmnlmtg.  9J.  jj.  V.  1CW.  1*  C421) 


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4 


hier  iit  ber  iippigfteit  SBeifc  gebieh-  Sieben  fiutherg  §(n^ängertt 
gab  eg  jene  Kalöing,  gminglig,  Sßiebertäufer , furg:  eine  recfjt 
ftattlic^e  3at)l  Sefenntitiffe , beren  Anhänger  fpäter  einanber 
nic^t  rninber  bcfeljbeten  als  fie  felbft  in  ben  Jagen  beS  Jrangcg 
befehbet  unb  »erfolgt  nmrben,  guntal  bie  religiöfen  Parteien 
auch  politifdje  Parteien  bilbeten. 

Sefoitberg  für  bie  ^Reformation  t^ätig  waren  bie  Slittwerpener 
SRebcrijferg,  gu  beren  Häuptern  ber  taufgefinnte  „fRfjetorifer"  — 
bag  miß  Jitter  fagen  — ißeter  Kranen  gehörte. 

Jiefer  würbe  nun  »on  mohtmodenber  ©eite  »erftänbigt, 
feine  SBerhaftung  fei  befdßoffen,  er  floh  ba^er  mit  feinen  Kiitbertt 
nach  Köln,  weicheg  bamatg  bie  gaftlicfje  3uflud)tgftätte  »ieler 
©laubeitgflüchtlinge  mar.  ©eine  ^oc^fd^ioangcre  Frflu  blieb 
gurücf,  fie  mürbe  eiitgeferfert  unb  gurn  geuertob  »erurtheilt. 
3n  biefer  Sebrängnifj  folgte  fie  bem  SRatl)  einer  ÜDiitgefartgenen 
unb  erbot  fid)  um  ben  ißreig  ihrer  Freiheit  fatfjolifd)  gu  werben 
unb  auch  itjre  öltefte  Jodjter  ©arah  taufen  gu  (affen.  Jag 
Verbieten  würbe  angenommen,  bag  2Räbd)en  fant  »on  Köln 
gurürf,  beibe  untergogen  fid)  bem  ©laubengwechfel,  unb  bie  @e* 
fangene  erhielt  nun  iljre  Freiheit-  ©ie  eilte  bann  mit  ihrem 
Kinbe  gum  ©atten,  unb  ber  gmanggbefehrung  mürbe  weiter  nid)t 
gebaut. 

3m  £>au[e  ißeter  Kraneng  gu  Köln  »erfebrten  gasreiche 
Slntmerpeuer  Flüchtlinge,  barunter  auch  ein  junger  ©trumpfmirfer 
nameug  3uftug  »an  ben  ©oitbel,  ber  im  Saufe  ber  geit 
jene  ©arah  ^eirattjete.  Stwa  nach  einjähriger  @fje  gebar  fie 
einen  Knaben,  ber  wie  fein  SBater  genannt  würbe  unb  fpätcr 
ber  gefeiertefte  JidRer  |>odanbg  war. 

SSonbelg  gamitie  modjte  woh(  auch  bem  Srabantifchen 
entflammen,  weuigfteng  beutet  ber  9?ame  barauf  hin.  Sonbcl 
()ie&  nämlich  nach  ber  ÜRuubart  beg  ©übeng:  ©teg,  ißlanfe, 
Währenb  bieg  im  SRorbcn,  im  eigentlidjen  podanb,  mit  SBlottber 

(422) 


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5 


ober  SBfunber  auSgebrücft  tourbe.  UebrigenS  mar  ber  ^Dichter, 
bent  Sroucbe  feiner  $eit  gemäfj,  nicht  feljr  genau  in  ber  Schreibart 
feinet  SRamenS.  Nahezu  jioei  3a!)rzehut  Unterzeichnete  er  feine 
Söerfe  mit  Sooft  oan  SBonbelen  ober  mit  bem  Slnagram 
beffen:  Door  een  is’t  nu  voldaen  (35urd)  ©inen  ift  eS  nun  ooU> 
bracht).  Grft  fpätcr  fdjrieb  er  oan  ben  SBottbel,  aber  oft  auch 
iöonbelS  unb  attbereS. 

Glänjenbe  Jage  fdbeinen  eS  nicht  getoefen  zu  fein,  bie  ber 
töater  beS  Richters  in  ber  „heiligen  Stabt  am  fRh£'n"  »erlebte. 
3m  3ahre  1600  befdjlojj  er  nach  ber  £eimath  zurücfzufehreit 
unb  »erließ  mit  feiner  gamilie  Ätölu.  ®o<h  mar  eS  nicht  fein 
Geburtsort  Slntmerpen,  too  er  fich  mieber  nieberliefj,  fonbern 
Utrecht,  bie  Stabt,  bie  jum  Gebiete  beS  befreiten  SRorbenS 
gehörte.  3>od;  oerblieb  er  Iper  faum  ein  3ahr,  fonbern  über« 
fiebclte  nad)  Slmfterbam,  too  er  einen  Meinen  $anbel  begann; 
hierbei  mujjte  ihm  SuftuS,  bas  ältefte  feiner  fünf  Äinber,  toerf* 
thätig  jur  Seite  ftchen. 

@h£  mir  beS  Richters  Sieben  unb  SEßirfen  meiter  oerfolgen, 
fei  eine  furze  3)arfteHung  beS  uiebcrlänbijchen  SchriftthumS  jener 
3eit  gegeben. 

üDiit  bem  Schminben  beS  ÜRiltelalterS  fdjmanb  aud)  bie 
Sebeutung  beS  nieberlänbifcheit  SchriftthumS,  baS  früher  fo 
föftlidie  griidjte  9eÄeitigt.  $h£ilS  lag  bicS  in  ber  $eit  fclbft, 
bie  oon  ben  Greigniffen  zu  fef)r  bemegt  mar,  als  bafj  fie  einer 
fünftlerifchen  SluSgeftaltung  bie  nötige  9Jul)e  ^iittc  gemahren 
fönnen;  aber  mehr  noch  mar  eS  ber  Umftanb,  bafj  zufolge  ber 
burgunbifchen  |>errfchaft  Sitte  unb  Sprache  beS  Golfes  immer 
mehr  unb  mehr  oermälfeht  mürben. 

SDie  ermähnten  fKeberijferSütamerS  maren  eS  allein,  too  baS 
heitnifche  Schriftthum  eine  _3uflud)tSftättc  fattb ; allerbittgS  mürbe 
hier  ber  ftunft  mehr  guter  SBiüe  als  gäljigfeit  entgegengebradjt. 

(423) 


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6 


Sette  Kammern  bürften  in  bent  ©üben  ber  ©ieberlattbc  ben 
llrfprung  getjabt  t)abeit;  int  91orben  mar  bie  erfte  jette  »on 
äJiibbelburg,  bie  int  Saf)re  1430  gegriinbet  mürbe.  gebe  Sommer 
batte  ihr  Oberhaupt,  ba#  ben  STitef  Saifer,  Sönig,  giirft  ober 
bergleidjen  führte;  über  bie  ©elbmittcl,  ©eiträge  ber  SDtitgtieber, 
mad)te  ber  „gi#fal>©üd)fcttmeifter",  bie  fdjriftlidjen  Slttgelegett* 
beiten  beforgtc  ber  „gaftor",  mährettb  ber  „9?arr"  für  mehr  ober 
mittber  berbc  ©päfje  forgte.  gebe  Sommer  führte  and)  ein 
Stoppen  ttttb  ©innfprud).  (Sie  berüfjmtefte  Sommer,  bie  Slinfter» 
biintcr,  meldjc  im  Sabre  1517  gegriinbet  mürbe,  batte  ein  Gl)riftu#* 
bilb  im  SSappeti  ttttb  beit  ©prud):  „In  liefde  bloeyende“  (Sn 
Siebe  bliibenb). 

Sie  SDlitglieber  hielten  ihre  ©erfammlungen  ab  in  einem 
geräumigen  ©emache,  ba#  ibncit  gemöljnlich  öon  ber  ©tobt- 
oermaltung  foftenlo#  pr  ©erfiigung  geftedt  mttrbe.  $icr  trug 
nun  Sebcr  feine  poctifdjeit  ©cböpfutigen  t>or,  jumeift  ©pie* 
lereictt,  mie  Sriolette,  Settengebidjte,  Sreb#bidjtungen,  bie  nämlich 
oon  oorite  ober  riidroärt#  gelefett  toerben  fonnten,  ©impletten, 
Supletten,  SRidcradeit  u.  f.  tu.,  mie  e#  itt  einer  gereimten  ©or* 
fcbrift  be#  9Jiatf)ia#  Saftelchn,  gaftor  ber  Sommer  „Pax  vohis- 
cuin“  ju  Otibettaarbe,  beißt,  eine  ©orfcfjrift,  beren  ©eftimmungett 
überall  ©eltuitg  faubett.  (Sitten  hoben  ©ertb  befaß  bie  „Sill* 
bidjtuttg",  eitt  ©erfefpiel,  rno  jebe#  SBort  ber  einen  3e^e  niit 
bem  ber  nädjften  fid)  reimte.  Serartige  Sättbeleien  finben  tuir 
übrigen#  faft  itt  jebettt  ©djriftthume,  tiamentlid)  and)  im  Seutfdjen. 
ÜJfehr  al#  mit  bergleidjeit  poetifdjeit  Schöpfungen  mirften  bie 
Sommern  burd)  ihre  bramatifdjen  ©orfteüungen  auf  bie  ÜRettge; 
e#  maren  bie#  jumeift  9J?hfterienfpicle,  too  gute  ttttb  fdjledjte 
Grigcnfdjaften,  ©ünbett  unb  Sugenbcn  öerförpert  auftratett  ttttb 
mohlgemeinte  ©prüdje  in  argen  ©erfen  boten.  s21ud)  berbe  ©offen 
mürben  aufgeführt,  furje  ©eenen  au#  bem  ©olf#leben  unb  jtoar 
geroöhttlid)  al#  9Iachftüde.  3ulüe^cn  würbe  auch  ein  allgemeiner 

<424) 


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7 


bidjterifdjer  SBettfampf — „Saiibjuniel"  genannt-  auSgejd)ricbcit. 
hierbei  tmtrben  eine  ^rad)t  mtb  ein  ^?runf  enttoicfelt,  rneldje 
ber  ©djauluft  bei-  fötenge  eine  fijülle  boten.  $aS  am  3.  ?luguft 
löt»l  jit  Sltitmcrpeu  begonnene  „Sanbjumel"  übertraf  tiad)  ber 
Sdjilberutig  bcS  trefflichen  Ö5cfc^icf)töf(f)rciber^  Sondbloet  adeS 
frühere.  £cr  $ug  burd)  bie  feftlid)  gcfdjmüdte  Stabt  fühlte 
nicht  meniger  als  1400  Weiter,  22  fßrunfroagen  unb  190  ge- 
fdimacfood  »eruierte  SBagen,  in  benen  bei  300  Äammermitglieber 
auS  oerfebiebenett  Stabten  fallen. 

Sehr  begreiflich  ift  eS,  bah  biefe  Atörpcrfdjaften,  beren 
Wiitglieber  gröhtentl)eils  beit  beften  Vürgerfrcifen  angehörten, 
einen  groben  (Sinflitjj  auf  baS  Volt  unb  baS  gefellfchaftliche 
ijebeit  auSiibten.  Sie  mürben  baher  oott  ber  fpaitifcheit  .$errfd)aft 
mit  befonberem  ÜRifjtvauen  unb  Ungnitft  behaitbclt,  3uttin(  fie, 
mic  fchon  ermähnt  mürbe,  faft  alle  ber  ftirchenrcformation  ju> 
geneigt  mären.  Vielleicht  I)ätte  aud)  ber  finftere  9llbn,  ber  feinen 
Warnen  in  ben  Wieberlanbcit  burd)  taufenb  ©raufamteiten  un> 
oergehlid)  gcmad)t,  fomohl  bie  WeberijfcrS’StamerS,  mie  überhaupt 
bie  ganje  SaitbcSfprache  auSgerottet,  meint  er  bei  bem  „Volt  auS 
Vutter"  — mic  er  eS  fpöttifd)  nannte  — nicht  gröberen  SBiber- 
ftanb  gefttnben  hätte,  als  er  je  31t  öerntutfjen  oermochte,  Selbft 
im  fRathe  0011  Vrabant  fatib  er  in  ben  91bgeorbneteu  001t 
Vriiffel  unb  Stntmerpen  bie  tapferfteu  ©cgner  feiner  ^läne. 
Seinen  £)ah  gegen  bie  Ataiitmcrn  befunbet  am  beften  ber  Um- 
ftanb,  bah  er,  ber  1572  fo  graufam  beftraften  Stabt  dJiedjeln 
ihre  Wcdjte  jurücfgebettb,  bie  ftammer  hieroon  auSnahm,  fo  bah 
fie  bis  311111  Vegimte  befferer  ‘läge  gefchloffen  bleiben  muhte. 
Senii3eid)ncnb  für  feine  .fpanblungStueife  ift  and)  eilt  Vorfall, 
ben  ber  @efd)id)tSfd)reibcr  ipetcr  bc3ongf)e  mclbet:  „31  in  16.  SDiärs 
1569  mürben  in  bem  gait3cn  Wicbcrlanbc  alle  Käufer  unb  ©e> 
fd)äftslabeit  ber  Vuchbruder,  Vitd)hönbfer  unb  Vudjbiuber  auf 
Vefehl  bcS  ,§cr3ogS  001t  91lba  in  früher  fDiorgenftunbe  gcfdtloffcn 

<42.r>) 


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8 


unb  2Bad)en  oor  bie  Sfjiiren  gefteHt,  bi«  alle  ©ücfter  »on  bcn 
geiftlidjen  Senforen  unb  bem  3Kagiftrate  burcbfudjt  würben, 
©faftregetn,  bie  bei  bem  ©olfe  groften  Unminen  gegen  bie  fpanifcfje 
Snquifition  fdjufeu.  . . 

©i«fter  batte  bie  geij'tige  5ö*)run9  ber  SWeberlanbe  ber 
©üben;  biefer  war  e«,  ber  bem  ©olfe  feine  bebeutenbften  ftünftler 
gab,  feine  Spraye  war  e«,  welche  al«  ©c^riflfpradje  $ur  ©eltung 
fam.  Sie«  würbe  auber«  bur<b  bie  Union  oon  Utrecht  (1579) 
unb  burd)  bie  jwei  Saftre  fpäter  erfolgte  Unabbängigfeit«erflärung 
aller  fßrooinjen,  nadjbem  bie  füllte  SBaffentpat  ber  SBaffergeufen 
bei  ©riel  bie  greiljeit  be«  Sßorbcn«  erfteben  lieft,  ©eine  ÜMunbart, 
ba«  ^oHänbifcbc,  gewann  nun  bie  Obermad)t,  bie  e«  bisfter  and) 
behalten,  fo  baft  ba«  ©lämifcbc  al«  ©d)riftfprad)e  immer  weniger 
©eltung  ftatte,  bi«  e«  etiblid)  in  unferen  lagen  al«  folcfje  ganj 
aufftorte  ju  fein. 

Sem  ©üben,  glauberit  unb  ©rabant,  bcn  ^einiftätten 
uralten  gleifte«  unb  ©ewerbetbätigfeit,  ftatte  ber  9?orben  beit 
beftcn  Sfteil  feine«  Söoftlftanbe«  ju  oerbanfett,  ganj  befottber« 
war  e«  Slmfterbam,  beffeit  Söoplftanb  burdj  bie  oielen  fleißigen 
unb  oft  aud)  ocrmöglicbcn  glüd)tlinge  au«  ben  ©übprooinjen 
gemeftrt  würbe;  unb  biefe  ©tabt  war  e«  aud),  oon  ber  au« 
ba«  nieberlänbifdje  ©djrifttftum  *u  einer  9?eubliitbe  erwacftfcu 
foflte. 

SU«  ber  @rfte  in  ber  3abl  3ener,  welche  ba«  ocrfaUene 
©djrifttljum  $u  erneuern  ftrebteu,  fann  ‘ißftilip  oon  ©iarniy 
gelten,  ber  Siebter  be«  ©olf«liebe«: 

Wilhelmus  van  Nassauwen 
llen  ik  van  duytseken  bloed, 

Het  Vaderland  getrouwe 
Blyf  ik  tot  in  den  dordt. . . . 

l£r  ift  and)  ber  ©erfaffer  be«  „©ijenforf  ic.",  jene«  ©udje«, 
ba«  ^ifdjart,  bie  frudjtreidje  ©ebe  be«  beutfdjeu  ©djrifttftum«. 


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9 


bie  ftet«  am  frembett  (Stamme  aufranfte,  unter  bem  $itet 
„Vienenforb  be«  tjeil.  röm.  Smmenfdjmarm«  rc."  fj«:au«gab. 

SRarnij  mürbe  1538  in  Vriiffel  geboren.  3um  Süitgting 
berangemaebfen,  unternahm  er  tangere  ©tubienreifen,  mobei  er 
aud)  eine  geraume  $eit  ßalöin«  ©djüter  mar.  3n  feine  Vater* 
ftabt  jurüdgefebrt,  betfjeiligte  er  fid)  an  einer  Verbinbuttg  gegen 
bie  fpanifd)e  |>errfd)aft,  flüchtete  jebod),  at«  biesS  entbeeft  mürbe 
utib  ber  Slutratf)  ihn  oerurtbeilte.  @r  nahm  erft  bei  bem  Kur* 
fiirftcn  non  ber  s4äfalj  ®ienfte,  bann  bei  bem  Dränier,  bem  er 
treu  mit  ^eber  unb  ©djmert  biente.  3nt  3af)re  1584  mar  er 
Viirgermeifter  be«  belagerten  Slntmerpen«,  ba«  er  ohne  §Iu«fid)t 
auf  ©ntfafe  übergeben  muffte.  $iefc  It)at  mürbe  non  feinen 
©egnertt  ju  feinem  ©djaben  au«gebeutet,  fo  baß  er  fid)  oom 
öffentlidjen  2ebcn  gurürfjog,  um  ganj  ber  SBiffeufdfaft  ju  leben. 
Sieben  feinen  Sfkofafcbriften,  bie  juerft  ba«  ©treben  nad)  ©prad)* 
reinbeit  befunbeten,  oeröffenttidjte  er  auch  gereimte  Ueberfe^ungen 
ber  Sßfatmen,  gefd)riebett  „tbeit«  in  Verbannung,  tbeit«  im  ©e* 
fängnif?  unter  ge*ube«banb,  tf>cÜS  auch  unter  oieten  anbereit 
Kitmmerniffen".  hierbei  betunbete  er,  meint  aud)  fein  große« 
poetifdje«  latent,  aber  immerbin  boefj  eine  fräftige,  geläuterte 
©pradje. 

Srmäbnung  möge  hier  aud)  Sünna  Siju«,  bie  „brabantifdjc 
©appbo",  fiitben.  ©ie  lebte  in  ber  erften  Hälfte  be«  16.  Sabr* 
bunbert«  $u  Süntroerpen  unb  mar  bie  Tochter  eine«  ©d)nlmeifter«. 
Sbrer  eigenen  SRebe  jufotge  biirfte  fie  in  ihrer  3ugetib  einen  rec£)t 
loderen  £eben«maubet  geführt  buben.  $)ie  SReue  mag  fie  fpäter 
oerantafet  buben,  9?omte  ju  merben  unb  at«  eifrige  Äatbolifin 
ba«  2ob  ihre«  fflefenntniffe«  ju  fingen,  im  ©egenfafje  ju  ihren 
bicfjterifdjen  ©euoffen  ber  Kammern,  bie  faft  au«nabm«to«  ber 
'.Reformation  jugeneigt  maren.  (Sin  gemiffe«  latent  läfft  ficb  ihr 
iüdjt  abfpreeben,  ba«  ficb  atterbing«  mehr  in  ber  Klarheit  be«  2tu«* 
bruefe«  at«  in  poetifdjer  Kraft  unb  ©pradbf^önbeit  ju  erfettnen  giebt. 

(427) 


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10 


$rei  ©immer  waren  e£,  Welche  bie  .fyauptftüfjcn  ber 
9(mfterbamcr  Kammer  „In  liefde  bloeyende“  bilbeten:  Soorn* 
£)ert,  ©piegbcl  unb  Bonner. 

3)irf  SolfertSgoou  gooritfjcrt  wurbe  1522  in 
91mfterbam  geboren.  fütafjooll  in  feinen  Stnfcfjaunitgen,  madjte 
er  fid)  fowobl  bie  5tntf)oIifen  wie  aud)  bie  ftarren  Äaloiniften 
ju  geinben,  fo  bafi  er  wieberbolt  fliid)ten  nutzte  unb  crft  1578 
in  bie  £>eimatf)  guriidlebrte,  um  wiebcr  mit  beti  fßräbüanten 
in  ©treit  gu  gerätsen,  ber  erft  mit  feinem  1590  erfolgten  Xobe 
ein  (Snbc  fanb.  ©leid)  ÜJiarniy  war  and)  er  bemüljt,  bie  ©pradie 
gu  reinigen,  ©eine  poetifcfjen  ©djöpfungen  fittb  grüfjtentl)eil3 
2el)rgebirf)te,  benen  ein  Üinftlcrifdjer  SBcrtt)  faunt  gugemeffen 
werben  lann. 

.fpcinrid)  2auren§goott  ©piegfyel  (?  — 1612)  war  ein 
Kaufmann,  beffen  Sebeutung  für  baS  nieberlänbifdjc  ©djrifttfjuni 
weniger  in  feinen  and)  ber  3ol)l  nad)  geringen  ©djöpfungen  liegt, 
al§  in  bem  (Sifcr,  mit  bem  er,  vereint  mit  öoorutjert,  in  ber 
erwähnten  Kammer  für  ilraft  unb  Sieinljeit  ber  ©pradje  eintrat. 
3n  feinen  Heineren  ®ebid)ten  ift  er  nidjt  feiten  jenen  Jänbeleien 
wie  Äreböbidjtungen  :c.  gugetljan,  in  feinem  2cl)rgebid)t  „3>er 
4?ergen3fpicgel"  befunbet  er  oft  eine  ©ebruitgenbeit  beS  9luS« 
bruefs,  welche  bie  ©rengen  ber  ©d)ön£)eit  überfcfjreitet. 

©ein  greunb  unb  SerufSgenoffe  Dioemcr  Sßisfd)er 
(1547 — 1620)  war  in  ber  Kammer  in  äbnlidjcr  SBeife  tf)ätig. 
91ber  nod)  bebeutungSooller  wurbe  er  burd)  beit  Umftanb,  bafj 
fein  .fpauS  bet  ©ammelpunft  aller  hmftbcfliffenen  ©eifter  ber 
4pauptftabt  Ämfterbam  würbe.  91IS  £id)tcr  pflegte  er  wie  bie 
meifteit  ^oeteit  feiner  3^1  »orgüglidj  ba§  ©iitugebidjt,  wobei 
er  faft  immer  ftlarljeit  beS  SBJortcS,  SBerftiinbigfeit  unb  gumeilen 
aud)  gefunben  .jpumor  befunbete.  ©owol)l  ©piegbel  wie  9$i3fd)er, 
wie  and)  beffen  gwei  Xöd)ter  91una  unb  SJJaria  Xcffclfd)abe, 
bie  gur  Ännefjmlidjfeit  bes  9?erfebrS  im  löaterljaufe  nicf)t  wenig 

(428) 


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11 


beitrugen,  waren  fatljolifd)  geblieben,  waS  im  |>inblicf  auf  Soitbel 
nicht  überfliiffig  gu  erwähnen  ift. 

2>ieS  tuaren  bie  9Ränner,  welche  ber  „golbenen  $eit"  ber 
Stieberlanbe  als  Vorboten  bienten,  jener  3<üt,  wo  auf  fünft» 
lerifefjem  ©ebiete  SBonbel,  ßats,  .&ooft  als  dichter,  SRem- 
braitb,  oatt  Sijcf,  .fjubred)t  als  SJtafer,  Keiger,  »an 
Kämpen  als  93ilbf)auer  wirften,  wo  bie  ffiiffenfdjaft  glättgenbe 
Staaten  wie  |uigo  be  ©root,  .£>eittfiuS  oufguroeifen  fjatte 
unb  ©eeijclben  wie  SRupter  unb  Xrotttp  ber  flagge  ^oflanbS 
bie  gröjjtc  Sichtung  gu  oerfdjaffcit  mußten. 

3u  beu  Seften  jener  $eit  jä^ft  ^5  et  er  KorneliSgoon 
£>ooft,  ber  1581  in  Slmfterbam  geboren  würbe;  feine  {yantilie 
war  eine  ber  angefetjenften  bcS  StanbeS.  er  gehörte  jener 

Kammer  an,  welche  bie  SSiege  beS  nieberlänbifd)en  (SdjrifttfjumS 
war;  aud)  er  war  ein  häufiger  ©aft  im  $aufc  SioemerS.  Sn 
feinen  SüitgliitgSjahrtn,  in  welchen  er  aud)  ein  2’raucrfpiel 
„Sld)ifleS  unb  ^ßolijena"  uerfafjte,  baS  er  felbft  jeboch  fpätcr 
als  unreif  oerwarf,  unternahm  er  eine  längere  Steife  unb  »er» 
weilte  huuptfächlid)  in  bem  gelobten  Uanbe  ber  Kunft,  in  Italien. 
Stach  breijähriger  Slbwefenbeit  wieber  in  bie  §eimath  guriid- 
gefehrt,  lieh  er  fic^  in  Sepben  nieber,  wo  er  neben  fleißigen 
gerichtlichen  unb  StedjtSftubien  auch  ber  ©id)tfunft  feine  3e^ 
weihte;  bie  ffrucht  beffen  war  neben  gafjlreid)ett  Heineren  ©c» 
bichten  ein  Xrauerfpiel  „2:hcfclI§  uttb  Slriabite".  Snt  Sabre 
1607  fehrte  er  wieber  nach  Slmfterbam  guriief  unb  nahm  beit 
Serfeljr  mit  ber  Kammer  unb  StoemerS  fjauS  wieber  auf,  wo- 
bei er  mit  $5onbeI  befatint  würbe.  gwei  Saljre  fpäter  würbe 
er  tton  ber  ^Regierung  gum  2>roft  üou  SRuibett,  ein  recht  an- 
febnlidjeS  Slmt,  ernannt,  ©ein  ©djtofj  rhet  Muiderslot“  würbe 
nun  im  ©ommer,  gang  bcfottbcrS  nad)  bem  Xobe  StoemerS, 
ber  ©ammelpunft  aller  tjernorragenben  SJtäimer.  ^pier  »erfaßte 
er  feine  Oranten  „©craerbt  oau  Steigen",  „Saeto",  baS 

(429) 


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©chäferfpiel  „©raniba",  bal  ßuftfpiel  „SSarenar",  eine  lieber- 
tragung  ber  „Slulularia"  bei  fßlautul  unb  eublidj  aud)  {eine 
|>auptroerfe,  ^iftorif^e  Schriften,  bie  itjm  ben  Kamen  einel 
„nieberlättbifdjen  Sacitu!"  oerfdjaffteit. 

Ser  Sdjmerpunft  feiner  fdjriftftellerijdjeu  ©ebeutung  liegt 
in  ber  fßrofa;  Ijier  ft^uf  er  beim  mirflid)  SJluftergiiltigel,  ob- 
gleid)  ber  ©orrnutf  ber  ©tilfünftelei,  ber  ihm  oft  gemadjt  mürbe, 
nicht  unberechtigt  ift.  3ierlid)feit  ber  Sprache  — fie  läßt  überall 
erfertnen,  bah  bie  Italiener  feine  ©orbilber  fittb  — ift  auch  in 
feinen  ©ebidjten  unb  Schaufpielen  uorhanben,  bod)  fehlt  ihm 
bort  ber  poetifdje  Sdjmung,  hier  audj  bie  bramatifche  ©eftaltungl- 
gäbe,  immerhin  fantt  ihm  eine  befonberl  heroorragenbe  Stelle 
in  jener  geit,  bie  an  bebeutenben  SJiännern  fo  reich  toar,  nicht 
abgefprochen  merben ; bie  ©puren  feine«  SBirlettl  für  bie  nieber« 
lättbifche  Sprache  fiub  für  alle  feiten  unoermifdjlich.  Sr  ftarb, 
überhäuft  mit  Shren  unb  SBürbett,  am  25.  9)iai  1647. 

Käuntlid)  unb  auch  geiftig  getrennt  ooit  ber  §lmfterbamer 
Kammer  unb  beut  |>ooftfd)en  „Kluiber-Kreil"  bichtete  ber  auch 
all  Staatsmann  bebeutenbe  Salob  Satl  (1577  — 1660)  in 
Sorbrccht.  Obgleid)  mehr  all  irgenb  Sitter  oon  bem  ©eifte 
ber  llaffifdjen  ©ilbung  burchbrungen,  toar  fein  333irfen  hoch  gatrj 
oolflthiimlid),  fo  bafj  er  eine  bil  itt  unfere  Jage  ^ineinrcidjenbe 
©eliebtheit  getuamt.  Sßeber  itt  ©e$ug  auf  ©pradjfdpuheit  noch 
auf  poetifdje  Straft  erreichte  er  feinen  Kioaleu  ©oubel.  2Ba! 
ihn  jeboch  bem  bergen  bei  ©olle!  näher  bradjte,  toar,  bah  er 
in  beffen  ©eifte  fchrieb,  baß  er  nidjt  ntie  ©onbel  unb  ber  gange 
jpooftifd;e  Kreil  eine  unnatürliche  unb  beut  ©olfe  frembe  ©er- 
quitfung  flaffifcher  gorm  — nid)t  ©eiftel  — uornahm.  ?lm 
beften  fettngeichnct  biel  ber  Umftaub,  baß  ©ottbell  ©egabung 
mohl  bie  höd)fte  Slnerfettnuttg  fanb,  bah  er  ber  gürft,  ber  König, 
ber  Sßring  ber  nieberlättbifdjen  Sichtung  genannt  mürbe,  mährenb 
für  Satl  nur  eine  ©ejeid^nung  galt:  ©ater  Satl.  Sittige 

(430) 


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13 


Semerfungen  über  gmei  ^erfonen,  berer  bereits  ermähnt  mürbe, 
biirften  f)ier  am  rechten  Orte  fein.  Sie  betreffen  bie  Döchtcr 
KoemerS,  bie  gleichfalls  eine  bic^terifc^c  Dljätigfeit  entfalteten  unb 
beren  Sßirfen  nicfjt  ohne  ©ittflujj  mar,  mie  benn  überhaupt  baS 
SBirfen  ber  grauen  in  feiner  Sitteratur  fo  bebeutfam  fich  gezeigt 
mie  in  ber  nieberlänbifcheit. 

Slnna  SiSfcfjer  mürbe  1584  geboren;  fie  mar  bie  ältefte 
ber  brei  Döcbter  ihres  SBaterS.  gtt  ihrer  Äinberjcit,  faum  gehn 
3af)re  alt,  oerlor  fie  ihre  Mutter,  bie  furg  nach  ber  ©eburt 
ihrer  brilten  Docfjter  Marie  ftarb,  fie  mar  baber,  faum  ber 
ftiitbbeit  entmachfen,  genöthigt,  bie  Seitung  beS  $aufeS,  bie  @r- 
giehung  ihrer  ©efchmifter  auf  fich  gu  nehmen  unb  bie  „meife 
Slnna"  — mie  fie  ooit  Mett,  bie  ihr  näher  famcn,  genannt 
mürbe  — erfüllte  biefe  Pflichten  in  bcfriebigenbfter  SSeife. 
3US  Dichterin  folgte  fie,  troj)  beS  fjerglichften  SßerfeljrS,  nicht  ber 
Kicfjtung  fmoftS  nnb  93ottbelS,  fonbern  ber  oolfSthümlicheren 
ßatS,  mit  bem  fie  bis  gu  ihrem  1650  erfolgten  Dobe  im  frenttb* 
fchaftlichen  Söerfehr  blieb.  $hre  jumeift  fprnchartigen  SOichtungeit 
führen  eine  flare  Sprache  unb  begeugeu  bie  ftlugfinnigfeit  ihrer 
Schöpferin. 

Die  unter  Seitung  ihrer  Schmefter  aufgemachfene  Marie 
Deffelfcfjabe  mar  um  gehn  galjre  jünger  als  jene.  Den  gmeiten 
tarnen  nerbanft  fie  einem  barocfeit  (Jinfatl  ihres  ®aterS,  beffcn 
HattbelSfchiff  mettige  Monate  »or  ber  Dochter  ©eburt  bei  Deffel 
fdjeiterte;  biefeS  SchabeitS  gu  gcbeufcu,  gab  er  ihr  bcn  Kamen 
Deffelfcfjabe. 

Mehr  als  irgenb  eine  ermarb  fich  biefeS  Mähren  bie  Siebe 
unb  Hochachtung  Mer.  £>ooft,  ®onbef,  HntjgenS  — furg,  alle 
erlefenen  ©eifter  ihrer  gfit,  melche  bie  geber  führten,  gaben 
biefe  ©efüljle  in  Dichtungen  funb. 

gm  Streife  ber  jungen  ftünftlerf<f)nr,  bie  in  ihres  ffiater 
HauS  fich  oerfammelt  hatte,  mar  bas  ebenfo  fchöne  mie  geiftooHe 

(431) 


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14 


3Jfäbd)eu  ber  SJHttelpuntt;  unb  als  fpäter  bie  SBoIjnung  |)ooft3 
jum  ©ammeiorte  mürbe,  mar  eg  aud)  h*er  2Jfarie  SEeffelfc^abe, 
bie  mit  bem  ©eifte  ^olber  SSeibtid)feit  ben  gefefligen  Serfehr 
belebte,  ©ie  fjeiratfjetc,  faft  brciffig  Siapre  alt,  einen  ©eeoffijier 
namens  San  ßrombalg,  nadjbem  fie  bie  SSerbungen  Sieler  juriicf« 
geroiefen.  ©cpon  nad)  einigen  Safjren  ftarb  if)r  3Jiatut  unb  aud) 
bie  ältefte  i^rer  jmei  Södjter.  Sie  junge  SJitme  mar  halb 
roieber  ooit  einer  @d)ar  SBcrber  umgeben,  barunter  aud)  San 
Saerle  uttb  ^upgenS.  Ser  erftere,  ftafpar  oait  Saerle 
(1584—1648),  ift  jener  befannte  ^umanift,  ber  aud)  ben  lati- 
nifirten  Samen  SarlaeuS  führte  unb  als  ^Srofeffor  an  ber 
$od)fd)ule  ju  Slntfterbam  mirfte.  Sie  3al)l  feiner  nieberläubifdjen 
©ebid)te  ift  ebenfo  gering,  mie  bereu  poetifcper  SSertl);  gefd)äpter 
fittb  feine  in  jmei  Säiibcu  erfdjieneneu  lateinifdjen  ©cbid)te. 
Stuf  bie  fdjriftftellerifdjen  ©d)öpfungen  jener  $eit  übte  er,  ber 
intimfte  greunb  .^>ooft^,  feinen  geringen  ©influfj,  ba  fein  Urtl)eil 
als  baS  entfcpeibenbe  galt.  Unb  iljn  trifft  and)  ber  gröfjte  S^eil 
ber  ©d)ulb,  baß  bie  Sid)tung  ben  pfeubo  > flaffifcpen  3rrpfab 
einfdjlug. 

©ertte  patte  £>ooft  bie  Serbinbung  SeffelfdjabeS  mit  feinem 
befteu  g-reuitbe  gefel)en,  bod)  all  feine  Semüpungen  l;ierfiir  maren 
oergebenS.  ©ünftiger  geftimmt  fdjeint  bie  junge  SEBitme  für 
ftoftantin  $upgcn8  (1596 — 1687)  gemefett  ju  fein,  bod)  biefer 
mar  ein  ftrenggläubiger  unb  glaubenSeifriger  fßroteftant,  ber 
roieberpolt  oergeblidje  Serfudje  machte,  feine  ^reuitbiit  ju  be> 
feprcn.  Ser  @laubengunterfd)ieb  modjte  bie  Serbinbung  Seiber 
Derpinbert  paben.  ^upgenS  lebte  fpäter  in  gliidlidjer  @pe  mit 
©ufanna  oau  Saerle,  ber  ©d)mefter  beS  ©rmäpnteu;  fie  machte 
ipn  jum  Sater  breier  ©öpite,  bereit  jüngfter  Gpriftian  ber  be- 
rühmte SSatpematifer  unb  Slftrouom  mar  (1629 — 1695). 

Sadjbem  ÜDinrie  Seffelfcpabe  ihre  $reunbe  $ooft  unb  San 

Saerle  fur$  nacpeinanber  burd)  ben  Sob  oerloren  hatte,  ftarb 

11:12) 


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15 


i(jr  aud)  balb  barauf  ba§  eitrige  Stiitb,  ifere  Xocfeter,  bie  fie  fo 
innig  liebte,  eilt  SBerluft,  ber  fie  fo  fd)merjf)aft  traf,  bafe  fie 
ifett  faum  jtuei  3afjrc  überlebte.  Sie  ftarb  im  3uni  1049, 
tief  beflagt  unb  betrauert  uon  Sitten,  bie  fie  fanuten.  2Jlerf- 
umrbig  bleibt  ei,  baß  unter  ben  oieleu  Ürauerücrfett,  ju  beiten 
iljr  Xob  Slnlafe  gab,  fein  einziger  uon  ©onbel  fid)  befinbet, 
obgleid)  er  if)r  in  greunbjcfeaft  bi$  ans  @nbe  jugetfjan  mar  unb 
trojjbem  er  fonft  faft  gar  fein  freubigesi  ober  trauriges  ßreignife 
in  feiner  Sfälje  unbefungen  liefe. 

3f)r  SBertl)  für  bas>  nicberläitbifcfee  Sdjrifttfeum  dufeerte 
fid)  mefjr  burcf)  ifereu  perfönlicfeen  Sinflufe  als  burd)  ifere  ©cbidjtc, 
obgleid)  aud)  biefe  eine  mefer  als  mäfeige  ^Begabung  erfennen 
laffett.  SöefonberS  ermeift  bieS  iljre  5)id)tung  „©laria  Diagbalena", 
bie  überall  ben  (Sinflufe  ©onbelS  jcigt,  niäljrcub  in  ifjren  Heineren 
©ebicfjteu  metjr  jener  Jpooft^,  ber  3talienS  ißoetcit  itacf)ftrebte, 
burd)fd)intmert.  3f)re  Ueberfefeung  oou  Xaffoö  „2)aS  befreite 
3erufalem"  ift  in  ©erluft  gerätsen. 

2)ie  $id)tungcit  Äonftantin  .fputjgenS,  ber,  nebenbei 
bemerft,  and)  l)ol)e  StaatSämtcr  befleibete,  fiitb  jum  grofeen 
Ifeeile  Sinngebicfetc , bie  mit  sJicd)t  ju  ben  beften  ber  nieber- 
länbifdjen  fiitteratur  getäfelt  tuerbeu.  Slufecrbem  ueröffeutlicfete 
er  uod)  fird)lid)e  unb  Sefergebicfjte.  3»  feinem  SluSbrucfe  ift  er 
einfad)  unb  näfeert  fid)  nod)  am  meiften  oon  Sitten  aus  jenem 
greife  ber  oolfstfeiiiitlidjen  SBeifc  (£ats.  SBäfjrenb  jebod)  biefer 
ju  einfad),  ja  tjäufig  fogar  trioial  ift,  luäfjrenb  biefer  feine  ©erfe 
mit  mel)r  g-iiüioorten  auöftattet  als  ber  nad)fiditigfte  ©eurtfjeiler 
billigen  fönntc,  bcmüfetc  fid)  JputjgenS  friiftig  im  VlnSbrucfe  ju 
fein,  ettte  3Bortgebrungenl)eit  ju  bieten,  lueldjc  ifeitt  fd)on  bet 
feinen  ^eitgcnoffcit  ben  ©ortuutf  ber  Uitflarfeeit  eintrug.  Sind) 
oertoeitbcte  er  auf  bic  Spradje  meitiger  Sorgfalt  als  £>ooft  unb 
©ottbel.  9tod)  mären  auS  jenem  Streife  ju  nennen  ©erbraub 
Slbrianfen  ©reberoo  (1585 — 1(321),  ein  begabter  Sdjaufpieb 

(433) 


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1(5 


bitfiter,  ber  jebod)  fein  $aleut  weniger  in  feinen  £rauerfpielen 
natf)  fpaiiifdjem  SDiufter  (,,9ioberid)  unb  Sllfoit?"  — „®er 
ftumme  bitter"  tc.)  erwies  al?  in  feinen  natf)  alt » itieber* 
länbifdjer  ?lrt  gefdjriebenett  ^Soffenfpielen.  9lud)  er  $äf)lte  ju 
ben  abgewiefenen  greiertt  2effcIfd)abeS,  ber  er  trofcbem  bis  $u 
feinem  leiber  gu  frül)  erfolgtem  2obe  freuttbfdjaftlid)  jugefeüt 
btieb.  $er  SSerfe^r  in  9ioeitterS  §au?  mar  cS  and),  ber  if)t\ 
oeranlafjte  oott  ber  fDiaferei,  ber  er  fid)  jjuerft  gemibmet,  ab« 
julaffen  unb  bid)terifd)  311  wirfen.  Sr  unb  fein  ©cttoffe  Satnuci 
Softer,  ein  Slrjt  unb  Sichter  einiger  Xrauerfpicfe  („3pl)igenia"  — 
„3ti?"  jc.)  unb  hoffen  waren  es  autf),  welcfje  burd)  Stiftung 
ber  Stfabemie  (1617)  ooit  Sebeittung  für  bie  nieberlänbiftfie 
Sdjaufpielfuitft  würben.  .fjieroon  fofl  übrigen?  fpäter  nod)  bie 
SRebe  fein.  Sitblid)  wäre  f)ier  nod)  jn  nennen  .£jugobe©root, 
ber  berühmte  9iedjt?Iel)rer  unb  ®efd)id)tSfd)rciber,  Staatsmann 
unb  $id)ter,  nod)  beffer  befannt  unter  bem  lateiuifdfen  9?amen 
©rotiuS.  (1583 — 1(545.)  ?lutf)  er  ift  jenem  Streife  gu^urec^uen, 
ba  er  felbft  in  ben  Sauren  ber  Verbannung  au§  feiner  ^eimatf) 
im  regen  brieflidjett  Verfef)r  mit  £»ooft,  Vonbel,  Jeffelfdjabe 
unb  Änberen  blieb.  UBeltfic  $od)ad)tutig  er  jeberjeit  ßier  genoß, 
beweifcn  am  beften  bie  jaljlreic^en  .jpulbigungSgebidjte,  in  benen 
and)  faft  überall  ba§  billige  Söortfpiel  mit  feinem  9iamett  »or* 
fommt.  (groot  ==  groß). 

ßäßt  fid)  nicßt  oiel  jurn  2obe  feiner  lateinifdjen  ©ebid)te 
unb  Srauerfpiele  fagen,  fo  ift  bie?  faft  nod)  weniger  möglid)  bei 
feinen  nieberlänbifcfjen  ©ebidjten,  bie  übrigen?  aud)  wenig  an 
ber  3af)l  finb.  Sein  ^auptwerf  ift  l)ier  „Vewei?  be?  wahren 
©ottcSbienftc?",  ein  £efjrgebid)t,  bem  ineßr  wiffenfdfaftlidjer  als 
poetifd)er  SBertf)  jugefprodjett  werben  fann. 

2)iefe  waren  eS,  mit  betten  Vonbel  früher  ober  fpäter  in 
einen  mef)r  ober  mittber  intimen  Verfeßr  trat. 

(434) 


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17 


n. 

®er  erfte  poetifcße  Sßerfud)  SBottbelS,  eilt  redjt  flägtidjer 
^ocß^eitgreigen,  ftammt  aus  bem  3aßre  1605;  nicßt  Diel  beffer 
ift  fein  jmei  C?atjrc  fpäter  geschaffene«  „jReujaßrälieb".  Sine 
größere  Spur  ^Talent«  meift  feßon  ein  furjeä  ©ebießt  auf,  baS  er 
bem  1609  erfolgten  jroölfjäßrigen  SBaffenftißftanb  jmifeßett  £>oßanb 
nnb  Spanien  tnibmete;  rncßr  noeß  ift  bie«  ber  goß  bei  einem 
Srauerfatia,  ber  bem  halb  barauf  ermorbeten  Honig  £>eiuridj  IV. 
non  granfreid)  galt. 

3m  gaßre  1610  ßeiratßete  er  äRarie,  bie  Sodjter  bes 
Kaufmann«  §ait§  be  Sßolff,*  ber  gleicßfaßs  bem  $rabantifcßen 
entflammte  unb  beffen  Soßn  bie  Scßmefb-r  SonbelS  jum  SBeibe 
naßm.  fiurj  nad)  feiner  §o(ßjeit  ftarb  fein  Sater,  unb  SSonbel 
übernahm  nun  gänjlicß  beffen  §anbel,  ber  freilich  nur  gering 
mar,  aber  immerhin  feinen  SDlann  näßrte.  SBacfer  ftanb  ißm 
ßier  feine  ©ßegeitoffin  jur  Seite,  mag  um  fo  nötiger  mar,  ba 
ber  ®icßter  ju  oft  bergaß,  baß  er  and)  Strümpfe  »erlaufen  miiffe. 

SSottbel  mar  halb  naeß  feiner  Slnfitnft  in  Slmfterbam  ÜJiit- 
glieb  ber  „fReberijferS  Hatner"  geroorben  unb  jmar  jener,  melcße 
„®ie  ^abenbelblume"  ßieß  unb  beren  fDiitglieber  faft  nur 
flämifeße  glücßtlinge  rcaren;  jeboeß  naeß  furjer  geit  übertrat  er 
jnr  ßoflänbifeßen  Hammer  unb  fam  ßierbureß  mit  ber  gamilie 
SRoemerg  unb  £>ooft  in  SBerfeßr.  Sie  erfannten  fein  Talent 
unb  munterten  ißit  in  jeber  Sßeife  auf,  gau$  befoitbcrS,  naeßbem 
fein  erfteg  55rama  (1612)  „fßaffaß  ober  ßie  ©rlöfung  ber  Hiuber 
3frael  au«  Slegppten"  erfeßien;  er  nannte  e§  Trauer <£uftfpiel, 
entfprecßenb  bem  franjöfifcßcn  Tragicoinödie.  @3  mürbe  mit 
großem  öetfaße  aufgenommen,  ber  nicht  nur  ber  fCicßtung  felbft, 


* Slemerft  fei,  bau  ba3  „bc"  bei  nicbcrlänbifdfen  Flamen  feineSroegS 
ein  5lbe(^eid)en  ift.  fonbern  ber  fdjlidjte  Slrtifet  „ber". 

Sammlung.  9i.  5.  V.  108.  2 (435) 


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18 


fonbern  ctudj  bem  Inhalte  galt.  Siefer  bot  nämlich  einen  93er* 
gleich  mit  ber  ^Befreiung  ber  SRieberlanbe,  ein  ©ebante,  bem 
Vonbel  in  einem  Schlufjgebichte  beutlicf)en  SluSbrud  gab.  Ser 
3nl)alt  biefeS  ©djaufpielS  — fofern  eine  fReilje  langer  Selbft» 
gefprädje,  furjer  gwiegefprädje,  umfangreicher  Sieber  unb  ©hör* 
gefätige  hierfür  gelten  mag  — fdjliefjt  fidj  jiemlich  genau  ber 
©ibeler^nhlung  an,  öon  ber  ©otterfdjeinung  im  lohenben  Sorn- 
bufch  bis  jum  Untergange  beS  pharaonifchen  $ecreS.  VotibelS 
Sprache  ift  hier  noch  ziemlich  roh  mtb  ungefüge,  nicht  beffer, 
nicht  fchlechter,  als  fie  bie  SReberijfcrS  jener  3eit  übten.  Siefer 
$icf)tung  folgte  ein  „Sobgefang  an  SSilhelm  VartienS", 
einen  befannten  äRathematifer,  beffen  SRame  im  ^oHänbijchen 
bermafjen  jum  „geflügelten  Sßorte"  würbe,  wie  in  ber  hoch’ 
beutjchen  Schwefterfpradje  ber  feines  SöerufSgenoffen  Slbam  SRiefe. 
3n  bemfelben  Sahre  würbe  Vonbel  ein  Sohn  geboren,  ber 
gleichfalls  ben  ÜRanten  SuftuS  (^oBänbifch  Sooft)  erhielt. 

Zufolge  Slufforberung  beS  Verlegers  Sirf  ißieterSaoou  uer- 
faüte  Vonbel  1613  ben  „©olbenen  Saben  für  f unftliebenbe 
iRieberlänber",  eine  SReihe  furjer  Spruchbichtungen  $u  oor= 
hanbenen  Silbern.  SerartigeS  war  ju  jener  $eit  fe^r  üblich, 
unb  nicht  nur  Vonbel  frf;uf  einige  folcher  SBerfe,  fonbern  auch 
3afob  ©atS  bitbete  bie  meiften  feiner  Sinnfpriiche  in  biefet 
SBeife,  er,  ber  fidj  ftets  in  giinftigen  Verljältniffen  befanb  unb 
nicht  wie  Vonbel  baS  ©rträgnifj  feine«  Schaffens  in  Vetracfjt 
nehmen  mufjte.  Sluf  biefem  ©ebiete  übertrifft  auch  „®oter  ©atS" 
feinen  Äunftgenoffen.  #Sei  ihm  ift  bie  Sprache  um  uieleS  oolfS- 
thümli^er,  bie  poetifd^en  Vergleiche  weniger  erzwungen  unb 
oolfSfremb.  Saher  mag  eS  wohl  fommeit,  ba§  biefe  Sichtungen 
VonbelS  trojj  beS  VeifallS,  ber  ihnen  geworben,  nie  jene 
Verbreitung  faubeit,  wie  bie  beS  behäbigen  ©atS,  für  ben 
ber  -Titel  eines  „JUajfiferS  bcS  fßhilifterthumS"  ber  geeignetfte 
wäre. 

(J36) 


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19 


Sine  Steife  religiöfer  ©ebidjte,  bie  ©ottbel  in  jener  3e<* 
fchuf,  haben  fteHeitweife  eine  nterfwürbige  Slehttlicfjfeit  mit  beiten 
be§  fpäter  lebettben  beutfrfjen  ®id)ter3  So^anneg  ©chefler 
(2lngelus  ©ilefiuS,  1624 — 1677).  Serfe,  wie  fie  g.  ©.  in 
Sonbel8  „Itodjgeitägefang  gwifchen  ©ott  unb  ber  gläu- 
bigen (Seele"  üorfontmen,  fönnten  ebenfo  gut  bcn  beutfdjen 
9Rpftifer  gum  SBerfaffer  ^aben,  ber  auf  feinem  bidjterifdjen  ©fabe 
trüber  feinen  SBillen  gum  Slttäbnid  be3  reinften  ©antf)ei8tnu3 
gelangte,  eine  ©rfdjeinung , bie  auch  bei  bem  perfifdjen  ®id)ter 
9tumi  ®fd)elallebbin  (1207 — 1273)  fic^tbar  wirb.  ©o  wie 
©chefler  trat  aud)  ©ottbel  fpäter  gum  SatholigiämuS  über,  unb 
biefe  ©leichart  hier  wie  bort,  wie  nod)  fpäter  bei  ben  geiftig- 
oerwanbten  Häuptern  ber  beutfcheit  romantifdjett  $id)terfchule, 
giebt  ben  SeroeiS,  baff  ei  ihnen  bod)  ein  feelifdjeä  93ebiirfni§ 
fein  mochte,  baff  minbeftenS  nicht  jene  felbftifcfjen  ©riinbe,  bie 
iljnen  öon  ©egncrn  gugefprochen  würben,  beftimmenb  waren. 
$>er  Sßunber»  unb  §eiligenglaube,  ber  prunfoofle  SRituä  mufften 
puf  berartige  ©emütljer  nie!  angiefjenber  wirfett,  al§  bie  ©in- 
fadjfjeit  ber  SReformationSlehre,  bie  bei  ber  in  ^oDattb  Jjerrfd^enben 
falDiniftifdjen  SRidpuug  noch  am  nüchternften  gum  $u3brude 
gelangte.  §ier  ba8  ftimmmigSDoHe  gwielidjt  be3  fat^otifd)en 
5)onte§,  bttrd}  beffett  buntbemalte  genfter  ber  nur  in 

gebrochener  Straft  ben  ®urd)lafj  finbet,  bort  ber  fahle  ©au, 
burd)  beffett  offene  genfter  baS  ttofle  2id)t  ungebämmt  hinein* 
fluthet  unb  bie  ©hant£,ne  felbft  aug  bem  entfernteften  SEÖittfelc^ett 
oerjagt. 

©om  3al)re  1613 — 1616  war  ©onbelS  ©cfjaffen  nur  fe^r 
gering,  tf)eil§  weil  er,  gur  ©rfenntnifj  feinet  mangelhaften 
SBiffettS  gelangenb,  eifrig  ba8  ©tubium  ber  lateinifdjen  uttb 
frangöfifdjen  ©pradje  trieb  (bie  beutfche  war  ihm  oott  feiner 
©eburtsftabt  her  nicht  fremb),  wieber,  weil  er  jejjt  nur 
feiten  in  ber  Summer  erfrf)ieit  uttb  fomit  beS  anregettben  ©erfc^rö 

2*  (437) 


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20 


entbehrte.  @r  unterlicp  bieö  nämlich,  roeil  er  barnali  ein  Slmt 
bei  beit  Saufgefinnten  erftrebte,  bereu  puritanifch-ftrengeit  Häuptern 
bie  tüeltfrofje  bichterifdje  Bereinigung  ein  ©reuet  mar. 

@rft  1016  veröffentlichte  er  rnieber  eine  größere  Stiftung, 
„Sie  Säter",  bie  gleich  ber  nier  Sa^re  fpäter  folgenben 
Sichtung  „Sie  $errlid)feit  Salomoi"  eine  freie  lieber- 
feßung  öott  Sßerfen  bei  franzöfifchen  ißoeten  be  Satrai  ift, 
ben  Bonbel  fid)  nun  jum  Borbilb  genommen.  3ur  felben  $eit 
»erfaßte  er  aud)  ju  oorfjanbenen  Silbern  ein  „ga  beibuch", 
bai  135  g^cln,  jumeift  nad)  Jlefop  unb  Slnberett,  enthalt. 
SBar  an  feinen  SBerfen  büßer  ein  ftcter  gortfdjritt  ju  erfennen, 
fo  laßt  hingegen  bai  leßte  toieber  einen  fRüdfcßritt  bemerfen; 
ber  §luibrucf  ift  minber  gemailt,  bie  Sprache  toeniger  rein  als 
früher.  Saifelbe  gilt  aud)  oon  ber  gleichfalls  ju  Silbern  ge- 
raffenen ©ebicßtifammlung  „Sie  gelben  ©ottci",  Sd)ilbe- 
rungen  ber  ©eftalten  bei  alten  Seftamenti;  hierbei  benußte  er 
ßäufig  ©ebicßte  bei  ermähnten  Satrai,  ber  ju  bem  fogenannten 
„litterarifcßen  Siebengeftim"  granfreicßi  iäßtte,  fo  baß  baS 
©anje  nicht  gut  ali  Urrnerf  gelten  fantt.  Seffer  ift  fcßoit  fein 
gleichzeitiger  Sang  „Sai  jerftörte  Serufalem",  ber  32- 
ftrophige  „Saoibi  Sobgefang  Serufalemi"  unb  fein 
„Sittengebicßt  über  bie  ©itelfeit  ber  ÜRenfdjett".  ©» 
crgiebt  fich  eben,  baß  Bonbel,  roie  jcbcr  echte  Sichter,  bie  fßoefie 
nicht  „lommanbiren"  fonnte,  mie  ber  Sljeaterbircftor  bei 
fauftifdfeit  Borfpieli  meint,  fonbern  baß  er  bort,  mo  er  gemiffer- 
maßen  nur  auf  Seftellung  hin  bicßtete,  feinei  Salentei  nicht 
mäcßtig  mar. 

Ser  nadjfolgenbe  „Sobgefang  ber  chriftlicßen  SRitter", 
ein  SBerf  ähnlich  fettem  „gelben  ©ottei",  mag  nod)  ali  bai 
gelungenfte  SGBerl  feinei  bisherigen  Schaffens  betrachtet  merben 
©S  hübet  ben  Uebergang  ju  einem  neuen  viel  erfprießlidjeren 
3eitabfd)nitt  feiner  ^hötigfeit,  bie  int  3aßre  1620  begann, 

C438) 


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21 


itod)bcui  er  ooit  einer  mefjrmonatlidjen  gefährlichen  Siranfljeit 
gencfen,  meldjeS  er  mit  einem  fdjmungöollen  ©ebidjte  „®ebet" 
feierte. 

Um  bie  folgenbe  ^^ätigfeit  IBonbefS  genau  ju  fhilbern, 
märe  beinahe  nötfng,  einige  Kapitel  Staats*  unb  üird^engcfc£)id)te 
flu  fchreibeit.  Ser  $anf  ber  Parteien,  baS  heftige  gcgenfeitige 
Öefehbcn  ber  Selten,  bie  anfangs  nur  bie  uerfcfjiebene  Scutung 
roeniger  SBorte  trennte,  nahm  an  Umfang  immermehr  $u, 
jumal  biefe  ©egnerfdjaft  auch  jfur  politifdjeit  fid)  auSmeitete. 
ÜRiüeu  im  ßampfgetoüfjl  ftanb  auch  93onbel,  ber  ben  Sßiber* 
fächern  gar  manches  bittere  Spottgcbidjt  anfheftete. 

311S  f)auptgegner  ftanben  einanber  gegenüber  fRemoit* 
ftranten,  auch  nach  ihrem  Stifter  Slrminiauer  genannt,  ©egtier 
ber  ifkäbeftinationSleljre,  unb  konträrem  onftrantcn  ober  ©o= 
marianer.  ©rftere,  ju  beneit  auch  33ottbe(  jählte,  marcti  mehr 
ober  minber  republifanifd)  gefilmt,  mäf)renb  ledere  jur  Partei 
beS  ©eneral*Stattl)alterS  SRorijs  oon  9taffau  (1567 — 1625) 
gehörten. 

Ser  ffiifjrer  ber  SRemonftranten,  ber  ©egner  beS  £>aufeS 
Orattien,  mar  ber  ©rojVißenfionär  3anoau£Ibcnbarncuelbt 
(1547 — 1619),  ber  nach  mehrjährigem  'ißarteifampfe  feinen 
geinben  unterlag  unb  auf  bem  Ölutgeriift  cnbete.  Slnbere  feiner 
Partei  jogen  fid)  juriicf  ober  mürben,  mie  fpugo  be  ©root, 
oerbannt. 

97ad)  feiner  ©enefung  lernte  Söonbel  ben  greutib  |>ooftS, 
ben  früheren  ©cuernl-@ouoerneur  OftinbienS  Saure nj  SReaöl 
fenuen;  ber  ti$erfef)r  mit  biefem  hochbegabten  Anhänger  beS 
hiitgeridjtetcn  ©ro^ißenfiouärS  übte  auf  ben  Sid)ter  feinen  ge* 
ringen  ©influjj  aus.  Seine  folgeubcn  poetifdjen  Schöpfungen 
marett  zahlreiche  fleinere  ©ebidjte,  oerfdjiebenen  ‘ißerfonen 
gercibtnet,  fomie  etliche  religiöfe  Sichtungen,  oon  benen  baS 

(4SU, 


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„fiobgebicht  ber  ^eiligen  Slgtte«"  gattj  befonber«  erwähnt 
fei,  mittber  ber  bid)terifd)en  SSoHeitbuitg  wegen,  al«  be«  Um- 
ftanbe«,  bafj  $5onbel  bereit«  mehr  al«  anberthalb  3abrjebnte 
nor  feinem  ©lnuben«med)fel  bie  SBerherrtidjung  einer  eminent 
fatholifchen  ©eftalt  öornahnt. 

Samal«  würbe  and)  fälfchlid)  ba«  ©erficht  laut,  SBonbel 
hätte  an  einer  93erfcf)Wörung  ber  ©ohne  Olbenbarneoelbt«  gegen 
ben  Statthalter  ttjeilgenommen.  ©enäljrt  mochte  jener  SBerbadjt 
burd)  bie  gahlreidjen  ©ebidjte  werben,  bie  er  bem  Slttgebenlen 
be«  Hingerichteten  weif)te  unb  Welche  bie  heftigen  Eingriffe  auf 
feine  ©egner  enthalten,  ©rwäljnt  fei  hiertion  ba«  „©efpräd) 
auf  bem  ©rabe  öott  weilanb  Satt  »an  Olbenbarneoelbt"; 
Sonbel  benu^te  babei  eine  gorm,  bie  Dießeidjt  frangöfifchen 
Urfprunge«  ift  unb  auch  heute  noch  &e'  fatirifchen  ©ebichten 
Serwenbuttg  ju  finben  pflegt.  ©«  ift  bie«  nämlich  jene,  wo  be« 
Söerfe«  Ie£te«  ©ort  ober  ©ilbe  bie  gegebene  grage  al«  @<ho 
beantwortet,  wie  e«  fpäter,  wohl  nach  Sßonbcl«  93orbilb , Opiß 
in  feinem  ©ebichte  „®d)o  unb  ©ieberhaH"  that. 

9tod)  fräftiger  trat  er,  furj  nach  bem  $obe  be«  ©tatt» 
halter«  SDforih  oon  92affau,  für  ben  hingerichteten  Olbenbarnenelbt 
in  bie  ©chranfen,  inbern  er  fein  aHegorifd)e«  ©chaufpiel  „ißala- 
mebe«  ober  bie  ermorbete  Uttfdjulb"  (1625)  oeröffentlichte. 
®er  Snhalt  ergäbt,  bah  ^alamebe«  bei  ben  ©riedjen  hoch  in 
Slnfehen  ftanb  unb  ohne  feinen  SHath  nicht«  befchloffcn  würbe. 
3)ie«  erwedte  bie  ©iferfucht  Slgantemnon«,  bie  non  ben  Sßrieftern 
nnb  gang  befonber«  öon  Saldja«  genährt  würbe  unb  enblid)  gttr 
©rmorbung  be«  $önig«fol)ne«  führte. 

3n  S$onbel«  Slbficht  lag  e«  gar  nicht,  feine  Singriffe  gu 
uerfcfjleiern , im  ©egentfjeil,  er  gab  biefelben  möglidjft  beutlich 
gu  erfennen,  fo  beutlich,  baf)  er  felbft  jette  ©orte,  bie  ber  greife 
©rofc-ißenfionär  bei  feinem  ©ttbe  fprach,  bem  fterbenbeit  ißala* 
tnebc«  in  beit  ÜJiunb  legte. 

(440) 


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23 


Ser  ©rfolg  biefer,  minber  gegen  ben  Statthalter  alg  gegen 
beffen  Umgebung  gerichteten  ©cßrift,  bie  auch  ©teilen  »on  großer 
poetifcßer  ©cßönßeit  aufmeift,  mar  ein  gewaltiger;  fie  gäßlte  in 
wenigen  Sauren  bei  breißig  Auflagen,  ©tolg  pflegte  Sonbel 
»on  jener  ÖU  ntandje  feiner  SSerfe  mit  P.  V.  K.  gu  geicßnen, 
bag  miß  h^i§en : fßalamebeg  »an  beulen  (Sollt). 

Slnbererfeitg  wieber  mürben  burd)  biefe  bramatifcße  ©treit» 
fcßrift  gaßlreicße  ©egenfcßriften  ßeröorgerufen,  ja  noch  mehr- 
feine  (Gegner  festen  burcß,  baß  gegen  ißit  bie  ülttflage  erhoben 
mürbe.  3ßr  ©entüßen,  ißn  oor  beit  fHicßterftußl  im  £>aag  gu 
bringen,  wo  eg  ißm  gmeifefloö  feßr  arg  ergangen  märe,  mußten 
jeboeß  bie  greunbe  Sonbelg,  ber  fieß  furge  $eit  auch  »erborgen 
hielt,  gu  »ereiteln;  er  !am  »or  bie  fttmfterbamer  ©cßöffettbanf, 
bie  ißn,  um  aud)  ben  ©cgnern  einigermaßen  gu  genügen,  gu  einer 
©elbbuße  »on  breißunbert  ©ulbett  »erurtheilte.  SBie  eg  ßeißt,  fotl 
ihm  biefer  Setrag  halb  barauf  raieber  gurüdgegeben  morbeit  fein. 

SRacß  Seröffentlicßung  einiger  ©pigramme  unb  ©elegenßeitg« 
gebießte  erfdjien  Sonbelg  Ueberfeßuttg  ber  „$efuba"  »ou 
©eiteca,  fomie  eine  längere  $ßmne  „Sie  Srudfunft",  SBcrfe, 
benen  nur  ein  feßr  mäßigeg  2ob  gegeben  werben  fann. 

Sem  ©tattßalter  SDioriß  »on  fRaffau  folgte  griebrieß 
fieinricß  in  ber  äBürbe,  beffen  gemäßigtere  Slnfcßauungen 
befannt  waren  unb  ben  baßer  bie  unterlegene  SRemonftranten- 
Partei  für  fieß  gu  gewinnen  ftrebte.  Sonbcl  bießtete  gu  feinem 
©reig  mehrere  Sieber , baruntcr  eine  Umbicßtung  beg  beliebten 
Sföarnijifcßen  fßringenliebeg,  beffen  Segintt  nun  lautete: 

Jgricbrid)  Bon  'Jlaßau 
Sin  ic t),  fjotlänbild)  33lut, 

©etreu  bem  Statcrlanbc 
®?it  Sebcn,  Scib  unb  ©nt. 

9Iucß  bie  ©eburt  »on  beffen  ©oßit  begrüßte  er  (1620)  mit 
einem  längeren  ©ebießte  „©eburtgtaggglocfe  au  äBilßelm 

(411) 


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24 


oott  9?  aff  au".  Sabei  oergaft  er  nic^t  ClbenbarncoelbtS,  bcs 
„SaterlanbeS  Satcr",  wie  er  ifjn  nannte.  Sine  ftattlicfje  $ahl 
©tacfjelücrfe  galten  feinen  politischen  unb  retigiöfen  ©egttern, 
hauptsächlich  fei  ^iernon  erwähnt  bie  Satire  „Stommel  • s$ot", 
was  ungefähr  mit  „ftaftenmufif"  iiberfeftt  werben  fönnte,  unb 
„®prüd)e  beS  fReiitecfe  guchS".  J)iefe  richteten  fid)  gegen 
ben  Siirgermeifter  jReiner  fßaum,  ber  baS  Urteil  über 
Clbeubarneüetbt  fpracft  unb  beffeu  ©ofjti  Slbrian  Sonbeis 
iirgfter  fjeinb  mar.  ©dfon  bie  SittgangSjeilen  biefcr  berben 
Xidjtung  geben  einen  Segriff  beS  ©anjeit: 

9tun  Ginä  uom  (ojcn  9tei:iecfe 
©ejnngcn,  baß  hingt, 

®em  'Jticfcrtc  unb  §einede 
Gin  fro^  SBitlfommen  bringt- 

Semerft  fei,  baß  SRtcferle  unb  ^jeiuccfe  Se$eichnungen  für 
Jeufelcheu  finb. 

Sineit  gleichartigen  berben  ©pott  meift  auch  fein  „Sa  nenn 
SlatechiSmuS"  auf;  er  beginnt: 

®aucr:  bid),  unterricht  mich  (ein, 

2Ba$  theo(ogi|che  iyafultät  mag  fein. 

Stubent;  3$ier  Gfct  biimmer  noch  «t$  bamm- 

Unb  in  biefem  Jone  getjt  eS  fort. 

Salb  barauf  erfeftien  fein  Jraucrfpiel  „f?ippolt)tuS",  bas 
gleichfalls  nur  eine  Uebertragung  beS  gleichnamigen  non  ©eneca 
ift , ein  „ßobgebidjt  auf  griebrid)  Heinrich“  unb  „J)er 
h ^ i lt  ft  r o m" , worin  er  ben  gluft,  beffen  äöellen  feinen  ©e- 
burtSort  befpiileit,  in  fchöneit  unb  tiefempfuitbenen  Serfeit  befang. 
Son  Sottbels  üiebe  für  jene  ©tabt  fleugt  Quch  fein  fpätereS 
„® e b i dj  t a n © n ft  a o 91  b o I f , u m i f)  n j u bewegen,  b a ft 
er  ftöln,  meine  ©eburtsftabt,  oerfchone". 

SS  würbe  bereits  erwähnt,  baft  auf  Anregung  SreberooS 

bie  Slfabemie  gegriinbet  würbe,  ©ein  früher  Job  lieft  biefe 

(«2) 


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Angelegenheit  eine  3e'^anfl  ruhen,  bi3  fte  Softer  thatfräftig 
roieber  aufnahm  unb  311  einem  befouberen  Anfefjen  brachte;  er 
nub  3>onbel  maren  nun  bie  ^äupter  jener  ^Bereinigung,  bie  ficf) 
toon  ber  lKeberijfer3--Stamer  nur  infofern  unterfdjieb , alst  bort 
ber  pflege  ber  ©cfjaufpielfunft  eine  toeit  größere  Aufmerffamfeit 
gemibmet  mürbe.  @8  hätte  nidjt  eine  Stampfnatur  mie  jene 
SSonbelS  an  ber  ©piße  biefcr  ©efettfdjaft  ftehen  miiffeu,  um 
nicht  auch  bi£f£  tu  beit  Kampf  ber  Parteien  31t  bringen.  Salb 
nachbem  bie  Afabentic  itjre  Xljätigfeit  fräftig  befunbete,  etroa  1630, 
erfchien  ihrerseits  ein  ©pottgebidjt  in  gönn  einer  Preisfrage, 
tiefes  ©ebidjt,  ba§  Pottbef  3ugefdjrieben  mürbe  — mohl  nicht 
mit  Unrecht  — , brachte  gar  Diele  ©egengebichte  tjeroor,  barunter 
auch  cmc®  0011  3afob  SatS,  ber  übrigens  nicht  pcrfönlich  am 
gegriffen  mürbe,  hierauf  blieb  ihm  SBonbel  bie  Antmort  nicht 
idjulbig,  unb  Sat§  befam  fo  machet  ftadjelige  Sßort  ju  hören. 
Xa§  mar  bie  einjige  perfönlidje  93ejiehung,  bie  je  jmijcheit 
^jotlanbS  größten  Poeten  beftanb,  obgleid)  iöeibc  gemeinfd^aft» 
liehe  greuitbe  hatten. 

®er  Umftanb,  bah  Gats  reidj,  in  Amt  unb  SSiirben  mar, 
mochte  mohl  bie  Urfadje  biefer  Sntfrembung  nicht  fein;  Sßonbel 
ftanb  im  Perfefjr  mit  feljr  bebeutenben  SDJännern  unb  fanb, 
troj}bem  er  fein  namhafte»  Sermögen  befaß,  bie  größte  £)odp 
adjtung  bei  Allen;  itamentlid)  feine  ÜBebeutung  als  Poet  mürbe 
felbft  oon  feinen  ©egiteru  nidjt  in  Abrebe  geftellt.  2)och  DieHeicbt 
mar  e3  gerabe  biefeS , roa$  bie  Siferfudjt  SatS’  h£roorrief,  bie 
ihn  oeranlafjte  feine  greunbfdjaft  ju  meibeit  unb  bie  ihn  h>£r 
jum  Angriffe  oerleitete. 

33onbelS  nächfteS  größeres  ©ebicht,  bent  mie  gcmöhnlich 
zahlreiche  Spigramme  unb  SBibmungSoerfe  oorangingen,  mar 
„3 um  3a hreStage  ber  Einrichtung  OlbeitbarneoelbtS", 
ba3  fehr  feunjeidjnenb  al£  2)lotto  führt:  „Quid  sentire  putas 
onines,  Calvine,  reccnti  de  scelere  et  ficlei  violatae  crimine“, 

(443) 


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26 


ferner  ein  ©ebidjt  „Jobteitopfer  für  üftagbebur g"  unb 
ein  £obg  ebidjt  auf  |jugo  be  ©root,  ber,  glücf  lieber  als 
Olbenbarneoelbt,  bie  SJiadjt  ber  Kontraremonftranten  nur  burdj 
©efängnifj  unb  Serbannuitg  ju  füllen  befam. 

Jer  Job  feinet  SBeibeS,  ba§  am  15.  gebruar  1635  ftarb, 
hielt  ihn  nur  furje  Zeit  0011  feinen  bidjterifcfjen  Slrbeiten  ferne. 
ÜJiodj  in  bemfelben  3a^re  überfefcte  er  ein  latehiifdjeS  Jrauerfpiel 
beS  ©rotiug — „©ophompamaS",  baS  eine  ©pifobe  au3  bem 
Seben  beä  oon  SSonbef  öfters  bramatifch  behanbelten  ägtjptifdjeit 
SofefS  giebt.  §11$  Äunftwerf  fann  biefe  STrbeit  nad)  feiner 
Sidjtung  hin  in  Setradjt  fommen. 

SöereitS  brei  3ahre  früher,  1632,  bereinigte  fidj  bie  Slfabentie, 
welche  ba§  SSahlwort  „Yfer“  (@ifer)  führte,  mit  ber  oft  er- 
wähnten Kammer,  bereit  Sebeutung  bur<h  Abgang  unb  Job  ber 
bebeutenbften  SDZitglieber  abgenommen  hotte.  J>ie  Slfabemie 
führte  nun  bett  nereinteit  Spruch : «Yfer  in  liefde  bloeyende“. 
Zahlreiche,  redjt  einträgliche  ©djaufpiel  • SorfteHungen,  bereit 
fieiter  ©öfter  war,  ermöglichten  ben  nothmenbigen  Jheaterbau, 
ber  mit  SSeiftanb  ber  ©tabtobrigfeit  in  Singriff  genommen 
unb  bei  einem  Koftenaufwanb  001t  30  000  hoflänbifdjen  ©ulben 
1637  ooOenbet  würbe.  SBie  un8  bie  oorhattbenett  Slbbtlbungen 
geigen,  war  biefeS  erfte  IjoUättbifche  Jheater  ein  recht  ftattlicher 
Sau,  bcffen  Znfdjauerraunt  bent  ^eut e üblichen  giemlicfj  ähnlich 
war  Jie  Sühne  war  ein  wenig  erhöht  unb  hatte  auch  einige 
Jeforationeu  aufjuweifeit.  ©iitnfprüche,  sumeift  oon  Sonbel, 
gierten  bie  SSänbe,  unter  attberen  auch  folgenber,  ber  auf  bie 
angebrachten  Süften  beö  JemofrituS  unb  $eraflitu3  Sejug  nahm : 

5nS  ©cf)onipie(  fam  jur  3Belt  als  Cdjrjant  3eitoertreib, 

3hm  gleicht  fein  ©piel,  nicht  mar  ein  eblerS  je  crfnnben; 
ßs  locft  bie  SBelt  gerbet,  eS  fefjelt  ©cel  unb  £eib, 
ßs  ftachelt  uns  *ur  Suft  unb  fc^fägt  uns  jüßc  9Bnnben. 

5er  Sfcnjchen  ßitelfeit  int  fileinbegrifj  erjcheint, 

9S?o  SencofrituS  lacht  unb  JperaflituS  meint.  — 

!«•») 


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27 


Vonbel  erhielt  beit  Auftrag  ein  ©<haufpiel  $ur  (Eröffnung 
gu  fd)affen;  eS  gefc^a^,  unb  baS  neue  Sweater  rourbe  1637  mit 
feinem  „©pSb  recht  tian  Stemftel"  eröffnet.  Der  Verfaffer 
mibmete  biefeS  ©tüd  §ugo  be  ©root,  ber  als  Verbannter 
in  lebte  unb  mit  bem  er  einen  lebhaften  SBrieftuecfjfel 

unterhielt.  Der  Inhalt  beS  ©tüdeS  — baS  pietätooO  noch 
heute  am  SteujahrStage  auf  ber  Stmfterbamer  Viiljne  aufgeführt 
mirb  — fdjitbert  nicht  ganj  gefchidjtlich  treu  ein  ©reignifj  aus 
ber  Vorzeit  (1304)  91mfterbamS.  Das  ©ange  ift  gemiffermafjen 
nichts  anbereS  als  bie  Selagerung  DrojaS  nach  Virgil  im 
hoDänbifchen  ©emanbe:  nicht  nur  bie  £anblmtg  ift  eine  gleich- 
artige, auch  biefelben  ^Jerfonen  finb  f)\n  ju  finben,  toenn  auch 
unter  anberem  tarnen. 

SBaS  fi<h  oon  biefer  erfteit  bebeutenberen  Schöpfung  VonbelS 
fagen  labt,  gilt  für  alle:  ÜDtangel  an  ©rfinbung,  SUianget  an 
§anblung  überhaupt,  fo  bah  eS  nichts  weniger  als  ein  Drama 
ift,  üftangel  an  charafteriftifcher  ©eftaltung,  jebocf»  ©teilen  ooll 
Iprifcher  Schönheit  unb  eblen  ÜluSbrudS.  ^auptfädjlid)  gilt 
biefeS  oon  ben  zahlreichen  Siebern,  mit  benen  faft  alle  feine 
Stüde  burchfefct  finb.  ©ineS  ber  fdfönften  ift  ^ftlariffenS 
Steigen"  aus  „©hSbredjt",  beginnenb: 

O (Xfjriftnocht,  fcfjöiicr  als  bie  Sage, 

3Sie  fann  §erob  baS  Siebt  ertragen, 

$aS  belle  bitref)  bein  Sunfel  bfinft ! 

Go  mirb  geehrt  unb  angebetet, 

Sod)  hört  lein  £>od)mutt)  nid)t  ben  Jubel, 

Ser  hctllaut  bis  ans  Cljr  ihm  bringt. 

Die  feftlid)  gefeierte  Slnfunft  ber  ältaria  o.  ÜJtebici  itt 
Slmfterbam  — belanntlich  muhte  fie  in  granfreid)  bem  Drängen 
fRidjelieuS  weichen  — gab  Vonbet  ju  einer  gröberen  3af)t  .ffulbi* 
guttgSgebichten  Slnlah-  Dem  folgte  ein  Drama  „füieffalina", 
baS  er  jebod)  unterbriidte,  ba  eS  als  gegen  baS  ißrinjenpaar 

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gerietet  gebeutet  würbe.  Sin  £rauerfpiel  aus  jener  3eit 

„SRofantunbe"  blieb  Brudjftiicf. 

3m  folgenben  Saljre  gab  Sßonbel  eine  Bearbeitung  ber 
„öleftra"  ooit  ©opfjofleS,  uermut^licf)  nach  einer  loteinifdjen 
Ucberfeßung,  ba  jeine  ßenittniffe  beS  Sriechijdjen  hierfür  nicht 
auSreidjenb  gewefen  jein  biirften,  ferner  eine  öon  SrotiuS  fchr 
getobte  $idjtung  „®ie  ^eilige  Urjula",  bie  jebod)  bei  ben 
Broteftanten  getualtigeu  Slnftofj  erregte,  uitb  enblid)  nodj  „2)ie 
Briiber",  ein  Irauerjpiel,  baS  ©d)icfjal  ber  Brüber  ©nulö 
bctjaubetnb,  uttb  „3ofef  in  ®othan"  nnb  „3ofef  in 
Slegppten",  jtuei  ©djaufpiele,  bcren  crftereö  jeinen  bejten 
©d)öpfungen  $ugc3ä(j[t  werben  tann. 

9iod)  elfe  bie  tejjtgenannten  SSerfe  crfchienen,  trat  Bonbet 
öffentlich  ^um  Katholizismus  über,  ein  ©djritt,  ber  allgemeinen 
Unwillen  erregte  unb  bie  galjl  feiner  ohnehin  nicht  wenigen 
Segnet  ocrmehrte.  SDiandje  behaupteten,  eS  wäre  einer  beabfidp 
tigten  zweiten  @he  wegen  gefdjehen,  9lnbere,  er  fei  bereite  als 
Äinb  fatfjolifch  geworben,  wieber  Slnbere  attbereS.  Sin  aQebem 
mochte  fein  wahres  SBort  fein.  £er  romantifche  Seift 
BonbelS  mochte  fich  eben,  wie  bereits  erwähnt  würbe,  innerhalb 
beS  Katholizismus  oiet  — mau  fönnte  jagen,  Sott  näher  fühlen. 
Bielleidjt  ^at  ihm  and)  ber  Umgang  mit  ber  fatholifdjcn  ÜJiarie 
Xeffeljdjabe  ben  Uebertritt  erleichtert.  ®afj  fie  einen  unmittel* 
baren  Sinflufj  herauf  auSgeiibt  hätte,  lägt  fidj  nicht  gut  an* 
nehmen,  jumal  fie  felbft  bei  ben  BefchruugSt>erfud)en,  mit 
welchen  fich  ber  ftreug  proteftantifdjc  |mhgenS  bei  ihr  oft  be- 
mühte, bie  Slntwort  gab,  eS  fei  möglich,  baß  er  9icd)t  fw&r* 
bod)  eS  wäre  einmal  ihr  alter  Slaube  unb  baS  Klügeln  in 
berlci  ÜDiugen  fei  für  grauen  nicht  jiemlidj. 

gaft  ließe  fich  fcgon  über  baS  ©cgaffett  beS  nun  mehr  als 
fünfzigjährigen  ®ichterS  ein  Urteil  abgeben,  beim  feine  nad)= 
folgenben  Söerfe  weifen  wohl  maitdjeS  Sleichwcrthige  auf,  aber 

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feinen  einzigen  Üließrmertl).  Slud)  feine  ®id)tung  „fiucifer", 
bie  eben  in  ber  nacfjfolgenben  $eit  entftanb  uitb  im  SluSlanbe 
fein  befanntefteS  Söerf  ift,  fann  niefjt  af£  9lu3itaf)me  gelten. 


III. 

©leid)  ben  meiften  SJteoptjpten  befunbete  Sonbct  für  feinen 
neuen  ©(auben  einen  ©ifer,  ja  man  fönnte  fageit  Uebercifer,  ber 
nun  in  feinem  ©djaffen  gang  befonberä  gum  flluSbrude  fam. 
©eine  ©egner  gaben  ifjrem  30r,t  ober  Herger  oft  in  ©pott- 
unb  ©djimpfuerfen  StmSbrud;  uatürlid)  blieb  ber  allgeit  fampf« 
bereite  unb  ftreitluftige  SBonbel  bie  Slntroort  nidjt  fdptlbig, 
unb  fo  entftanb  mitunter  ein  redjt  lebhaftes  unb  ant)attenbe§ 
©egänfe. 

Som  ©eift  ber  Sefeßrung  befeelt  ift  audj  fein  1641  er- 
fdjieneneS  Irauerfpiet  „f|3eter  unb  fßaul",  meteßeg  ba8  ©djidfal 
ber  beiben  Stpoftel  beßanbelt. 

§ier  fehlen  bie  langen  ßfjorgefänge,  bie  feinen  früheren 
SEerfen  eigentßiimlicf»  maren.  SBeitn  fie  aud)  bei  beit  fpäterett 
mieberfetjrteu , fo  mar  e€  roenigftenä  im  geringeren  SDiaße  alä 
fonft.  llebertjaupt  mar  fein  bramatifdjer  ©til  gebrungeiter  unb 
lebenbiger  gemorben,  ein  Umftanb,  ber  mofjt  bem  ©inftuffe 
©öfters  gugufdjreiben  ift.  SBie  immer  fcfjuf  Sonbet  in  ber 
3roifdjcngeit  feiner  größeren  ©djöpfungen  gatjlreidje  Heinere 
©ebidjte,  gumcift  ©pigramnte,  bie  fßerfonen  ober  Silbern  gatten. 
3m  fotgeuben  Satjre  überfeßte  er  OtiibS  „fperoiben",  bie 
jebod)  erft  1716  im  $)rucf  erfdjienen;  ßier  geigte  fid)  Sonbef 
guerft  at$  ^ßrofafc^riftftcller  unb  gmar  in  redjt  oorttjeittjafter 
ÜBeife.  ©ein  SluSbrucf  ift  ftar  unb  fräftig,  frei  oon  ©djmulit 
unb  Saftarbmörtern,  äJtcingel,  bie  ben  SSerfen  ber  meiften  feiner 
©enoffen,  ja  auef)  feinen  erften  ©djöpfungett,  anfjaften.  UebrigenS 
bürfte  er  mit  biefer  Ueberfefcung  meßr  eine  Uebung  im  fiatein, 

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30 


al?  eine  fd)riftfteHerif<he  fieiftung  beabfidjtigt  ^aben,  bemt 
anberenfaü?  mürbe  er  bie  Veröffentlichung  foum  nnterlaffen 
hoben.  Jit  bemfetben  Jaf)te  erfchienen  auch  feine  „95 riefe 
ber  heiligen  Jungfrauen",  ein  mäßiges  Vcinbdjen  poetifcfjer 
©pifteln,  bie  juft  nicht  gu  feinen  gelungenen  Schöpfungen  ge« 
hören,  fomie  eine  SReihe  Meiner  ©ebichte,  gumeift  religiöfen 
Jnfjalt?.  ©inen  größeren  bidjterifchen  SSertf)  befi^cn  feine  1643 
ueröffentlichten  9iadhbid)tungen  einiger  pfalmen  Ratoib?. 

93ei  bem  lebhaften  Verfefjr,  ber  gmifd)en  §oHanb  unb  bem 
ftammoermanbtett,  obgleich  oft  auch  feinblich  gegenüberftehenben 
©nglanb  beftanb,  ift  e?  begreiflich,  bah  bie  Slngelegenheiten  be? 
festeren  Staate?  in  erfterem  ein  lebhafte?  Jntereffe  fanben.  Jn 
bem  Kampf,  ber  nun  gmifd)en  bem  englifchen  Parlamente  unb 
König  Karl  begonnen,  ftanb  Vonbel,  ber  fatholifch  geroorbene 
Vonbel,  natürlich  gut  Partei  ber  Stuart?,  unb  manche?  fdjarfe 
©ebidjt  richtete  er  gegen  bie  „aufriihrerifchen  ©nglätiber"  unb 
gegen  bie  „öerrätf)erifd)en  Schotten",  bie  befanntlich  König  Karl 
gu  feinem  Sdjufce  fommen  lieg,  bie  jebodj  mit  ben  parlamentlern 
gemeinfchafttiche  Sache  machten.  — ©roße?  Slergernifj  erregte 
auch  eine  S^meichelbichtung  „Olioengtoeig",  bie  Vonbel  1644 
bem  Papfte  Jttnoceng  mibmete;  parobien  biefe?  ©ebiihte?  er* 
fchienen,  unb  ma?  für  Vonbel  noch  fc^Iintmer  mar  — er  gerroarf 
fidj  mit  feinem  greunbe  §ooft.  $u  bicfer  3e‘l  erfc^ien  auch 
bie  erfte  9lu?gabe  feiner  ©ebichte,  bie  bi?  bahin  nur  in  (Singel* 
brnden  in  bie  Oeffentlidjfeit  gelangten. 

Jm  Jahre  1645  brannte  bie  fatholifdje  Kirche  $lmfterbam? 
ab,  ein  llnglüd?fa(l,  bem  er  einige  ©ebid^te  mibmete.  Obgleich 
biefe  !eine?meg?  bie  9lnber?gläubigen  angriffen,  ja  e?  fam  fogar 
baritt  fein  Katholigi?mu?  noch  ntajmoller  gunt  9lu?brutf  al?  in 
manchem  Vorhergegangenen,  erregten  biefe  Richtungen  bennodj 
einen  Sturm  ber  ©ntrüftung.  Rer  gange  ©roll  feiner  ©egner 
fchiett  entfeffelt  gu  fein,  unb  e?  erfchien  eine  gülle  Spottgebichte 

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31 


gegen  ben  „papiftifdjcn  Vonbel",  ben  „libertinifcheit  Joelen". 
Äaum  beruhigte  fid)  biefcr  Streit,  in  bem  ber  Sichter  heftig 
wie  immer  fämpfte,  als  ein  neuer  entftanb.  Sen  Slnlafc  ^ierju 
bot  ein  ©ebicf)t,  baS  ber  @lauben§eiferige  einem  angeblichen 
£ioftienmunber  wibmete.  Unb  biefem  folgten  wieber  Satiren 
roiber  fein  erfcfjieneneä  Sud) : „Slltargeheimniffe",  eine  9teif)e 
oon  ©ebidjten  über  Seichte,  SDleffe  unb  bergl.,  bie  fteßenweife 
oon  unbeftreitbarer  poetifdjer  Schönheit  finb. 

Sereit3  früher  h<d*e  ftch  Sonbef  in  theotogifche  Stubien 
»errieft,  bie  ihn  manchmal  wieber  auf  ben  grrpfab  ber  äßpftif 
brachten.  UebrigenS  war  ihm  bei  ber  Hbfaffung  ber  „Stltar- 
geheimttiffe"  ein  gefuit  behülflid);  biefem  0rben,  fowie  beffen 
Stifter  wibmete  Sonbel  fpätcr  auch  einige  Sobgebidjte.  gür 
bie  Eingriffe  füllten  ihn  ein  Sattfbrief  unb  eine  Silbfpenbe  be§ 
®rjbifchofö  öon  SDtcchetn  entfchäbigen,  ju  feinem  Slerger  erflärteit 
jeboch  fiunftfenner,  biefeä  angebliche  foftbare  Silb  fei  nur  eine 
werthlofe  Slachbilbung.  $ber  mehr  noch  mochte  Sonbel  eine 
Steuerung  beä  ©rsbifdjof«  fränfeit.  „Siecht  gut,  Sinjor  Sonbel", 
meinte  er,  „aber  Sie  finb  noch  lange  nicht  Gat§  nahe."  — Sie 
Siiicffehr  §ugo  ©rotiuS’  aus  feiner  Verbannung,  bie  im  nämlichen 
3at)re  erfolgte,  gab  Sonbel  Slnlafe  ju  mehreren  ©ebichten. 
Siefen  unb  anbercn  f leinen  ©ebid)ten  folgte  eine  ^rofaüber- 
fejjung  oon  SBirgilö  „gbplleti"  unb  ber  „2letteibe",  halb 
barauf  auch  fein  Srauerfpiel  „SDiaria  Stuart",  baS  bem 
©nfel  ber  Hingerichteten  Königin,  Sbuarb  Üßfaljgraf  oom  Steine, 
geroibmet  würbe.  Sioch  mehr  als  in  feinen  anberen  bramatifchen 
Söerfen  ift  bie  Kargheit  ber  §attblung  in  biefent  ©tiicfc  be« 
merfbar,  ba§  eine  Verherrlichung  ber  !atholifcl)en  giirftin  h<*upt= 
fäcf)lich  sn  bejweden  fcfjien,  jener  giirftin,  oon  ber  fein  @pi> 
gramm  fagt: 

ßroei  Dinge  tjaben  itjr  ben  Dobesftreicf)  gegeben: 

3t)f  ©rbrcdjt  auf  bie  ffron'  unb  if)r  fattjotifd)  Sieben. 

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32 


Nebenbei  fei  eine  anagrammatifche  (Spielerei  ermähnt,  mofür 
ißonbet  roie  bie  meiften  feiner  fleitgenoffen  eine  Vorliebe  hatte, 
©r  oerfe|te  nämlich : Maria  Stuart  erit  Matura  arista. 

Unter  ben  fteineren  ©ebidjten  jener  $eit  befinbet  fich  eineg, 
bo«  ber  SSerbinbung  ber  fiuife  ö.  Dranien  mit  gr<fbnd)  Söit^etm, 
bem  branbenburgifdjen  ßurfiirften,  gilt. 

©achbern  ber  jmeite  Jtjeit  feiner  fteineren  ©ebidjte,  1648 
gefammett,  erfdjienen  mar,  ueröffentticfjte  S^onbel  ein  größeres 
©ebicht  „Ser  geahmte  ©iarg".  ©g  erfolgte  jum  ifkeis  beg 
griebeng  »on  Stmfterbam,  ber  batb  barauf  ju  ©fünfter  be> 
ftätigt  mürbe.  9Zocf)  feien  aug  jenem  Sofjte  ermähnt  bag  aHe- 
gorifche  Srama  „Ser  Sömentfjater"  unb  bas  Srauerfpiel 
„©atomon",  beibe,  gaitj  befonberg  bag  festere,  fcfjönfpradjig 
unb  ftiliftifdj  glattgefeitt,  fo  baff  eg  gteidjfaüg  feinen  befielt 
©Köpfungen  anjurei^en  ift. 

Sie  1649  erfotgte  Einrichtung  Slart  ©tuartg  gab  Sßonbet 
Slnlafj  ju  einigen  ©ebicfjten  gegen  bie  „ßöniggmörbcr  in  @ng« 
tanb",  gegen  ©rommell,  ber 

Vermummet  Sucifcr  fyat  burefj  fein  Parlament 

®ent  $crrtt  bag  ©dauert  entrüeft  unb  Sirrf)’  unb  .§of  gcjd)änbt, 

Unb  bag  gcfalbtc  .ftaupt  nad)  blut’gem  Äainpf  ber  Sotten 
©ab  b>n  um  Subagiofjn  Stcrrät^erfc^ar  ber  Spotten. 

Unb  a!S  bag  orbbeil  ittjlug  beg  ÄönigS  §aupt  unb  Sron, 

©djuf  r»«b  ber  .'pöüenfürft  in  ©ngtanbg  Seid)  ben  Htjron.  — 

Sooft  »an  ben  Sßonbetg  ükrhättniffe  hatten  fid)  feit  einigen 
Sahrett  giinftiger  geftattet;  er  erübrigte  ein  fteineg  Sßermögen, 
bag  ihm  ermöglichte,  fidj  »om  E°nbel  jurüct^u^ie^eu,  um  ben 
©eft  feiner  Sage,  einzig  feiner  ftunft  geroibmet,  ju  »erleben, 
©r  übergab  auch  feinen  Eanbel  bem  ©ohne,  einem  recht  locfereit 
©efellen,  bem  nicht  nur  jebeg  SSiffett,  fonbern  auch  ber  uötljige 
SSerftaub  fehlte.  Sonbel  foltte  feinen  ©ntichlufj  bitter  ju  be- 
reuen haben. 

(450) 


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33  _ 

3n  ber  folgeitben  3eit  war  beS  TicßterS  SDJufc  nicßt  feßr 
fruchtbar,  erft  1654  füllte  eine  größere  Ticßtung  erfcßeinen  unb 
jwar  ber  ernannte  „Sucifer". 

ES  gebt  woßl  nid)t  gut  an,  biefeS  ober  ein  anbereS  feiner 
SBerfe  als  SReifterftiid  $u  bezeichnen.  Vonbcl  war  troß  ber 
oielen  Tramen,  bie  er  fdjrieb,  fein  Tramatifer  fonbern  Sprifer, 
unb  bie  Trefflidjfeit  feiner  Schöpfung  wirb  faft  nur  oon  beu 
tprifeßen  ©teilen  beftimmt.  Tiefe  finb  nun  in  allen  feinen  £aupt* 
werfen  beachtenswert!),  fo  wie  aud)  einzelne  ©ebießte  oon  großer 
©djönbeit  üorßanben  finö.  2Bof)l  fpricfjt  für  „Sucifer",  baß  fein 
Snßalt  mehr  Sntereffe  ju  erregen  oerinag,  allein  Vonbel  meiftert 
biefen  Stoff  oiel  weniger  als  er  oon  ibm  gemeiftert  wirb.  35er 
Snßalt  befagt  ungefähr,  baß  Sucifer  gegen  ©ott  ficb  empörte, 
weil  er  ben  SDfenfdjen  fcfjuf,  ibm  bie  Erbe  jur  £errfcßaft  gab 
unb  beu  §immel  oerßieß.  Ter  rebellifcße  Erzengel  oerleitete 
auch  anbere  jum  Slbfall,  befriegt  mit  ihnen  beu  Schöpfer,  unter* 
liegt  unb  wirb  für  ewig  oerbammt,  bod)  werben  auch  bie  SDtfeufcßen 
beS  EbenS  oerluftig. 

SS  ift  alfo  ungefähr  baSfelbe,  waS  SJJilton  in  feinem 
„Verlorenen  ifJarabiefe"  $nm  Slusbrude  brad)te.  VonbelS 
Ticßtung  erfdjien  einige  Sabre  oor  bem  SSerfe  beS  englifcfjen 
5ßoeten,  er  fonnte  baßer  oon  biefem  nicßt  beeinflußt  fein,  oiel 
eßer  ift  baS  ©egentßeil  anzuueßtnen,  ba  JDliltoit  mit  ber  nicber- 
länbifeßen  Spraye  oertraut  war.  UebrigenS  — ber  ©ebattfe 
ift  Weber  ba  nod)  bort  urfpriinglicb,  ba  bie  ©age  oon  ber  Ern* 
pöruug  ber  Engel  unb  beren  §öOenfturj  uralt  ift. 

SSenn  „Sucifer"  nie  berart  jur  ©eltung  fommen  fonnte 
wie  ÜJliltonS  SBerf  ober  baS  ähnliche  ÄlopftodS,  fo  liegt  cS 
woßl  minber  in  bem  Umftanbe,  baß  ber  ©toff  beffer  jur  epifdjen 
als  bramatifdjen  Tarftellung  geeignet  ift,  als  in  jenem,  baß 
Vonbel  bett  ©toff  nicßt  ju  bewältigen  ocrmodjte.  ES  giebt  feinen 
©toff,  ben  ein  edjter  Tramatifer  nießt  bramatijcß  gu  geftalten 

Sammlung.  9 1.  3 V.  108.  3 H51) 


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weiß,  allerbitigS  will  bamit  nidjt  gejagt  fein,  bühnenfähig  311  ge« 
ftalten.  für  33onbeI,  bcr  001t  ber  ariftotelifdjen  ^reiein^cit 

nid)t  abweichen  mochte,  waren  bie  Schwierigfeitett  weit  größer. 

$wei  treffficf)c  nieberlänbijd)e  2itterarf)iftorifer,  ber  aud)  als 
$id)ter  ()od)gejd)äl3te  3.  oait  Sennep  unb  ber  jcharffinnige 
Soncfbloet,  tarnen  faft  gteidjjeitig  unb  unabhängig  uon  eittanber 
jur  SDieinung,  Vonbet  hätte  mit  feinem  „Sucifer“  eine  Megorie 
beS  21ufftanbS  ber  sJtieberlanbe  gegen  Spanien  f (hoffen  wollen. 
ÜRandjeS  hflt  bicfe  Slnficßt,  welche  bie  VaterlanbSliebe  beS  $icf)terS 
fd)tuer  ocrbäd)tigt,  fiir  fich:  mit  feinem  rcligiöfen  ©tauben  hotte 
fid)  and)  fein  potitifdjer  üeränbert,  mo$u  feine  neuen  greunbe, 
bie  Sejuiten,  ihr  Schärflein  beigetragen  hoben  mochten;  aus  bem 
©eguer  Spaniens  war  ein  greunb  jener  fatholifchcn  ÜRad)t  ge- 
worben, was  auch  ein  ®cbid)t  befunbet,  baS  er  fpäter  anläßlich 
ber  ©cburt  eines  fpanifchen  ^rinjen  ocröffenttid)te.  ferner  hattc 
Vonbet  einige  allegorifdje  Sdjaufpicle  fd)on  gcfdjriebcn  unb  ber 
Stoff  forberte  gewiffermaßen  jur  Stllegorie  hinaus.  Selbft  ber 
Umftanb,  baf?  Sucifcr  unterliegt,  wäßrenb  ber  Dränier  gegen 
Spanien  fiegreicf)  heroortrat,  läßt  fid)  fliigelnb  beuten,  obgleich 
oan  Setmeps  9tnfid)t,  Sucifer  fiege  infoferne,  als  baS  ÜJtenfdjen« 
paar  baS  ifJarabieS  oerliere,  bod)  als  Vergleich  311  feßr  E)iuft. 

2lber  bie  Umftänbe,  bie  gegen  jene  Verbächtigung  fprechen, 
finb  bocß  311  fchwerwiegcnb;  eS  liegt  teilte  Üteußerung  Dor,  bie 
gebeutet  werben  fönnte,  als  höbe  er  bie  jRiictfeljr  ber  fpanijdjen 
,£jerrfd)aft  erwiinfeht,  uitb  bcr  §ißtopf  Vonbet  pflegte  mit  feiner 
üReinuttg  nid)t  im  Verborgenen  311  bleiben.  Von  ber  ©egner« 
fefjoft  31W  tJreunbfcfjaft  ift  bcr  2öcg  noch  lottge  ttid)t  fo  weit 
wie  dou  biefer  31m  Unterwerfung.  ferner  worbe  bnmalS,  wo 
bie  Erinnerung  an  ben  adjtjig  3aßre  lang  befämpften  geinb  noch 
unoerblaßt  mtb  baS  SRißtrauen  ttod)  lebeitbig  war,  aud)  nicht 
eine  Stimme  laut,  bie  Vonbel  beffen  belichtet  hätte.  SEBäre 
cS  auch  nur  *m  entfernteren  an3itnehmeu  gewefen,  fo  hätten 

(452) 


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35 


feine  jaljlreidjeu  (Gegner  fidjerlid)  nidjt  unterlaffcn,  nodjbrütflidjft 
barnuf  Ijinjuweifeit,  gumcd  biefeö  ©djaufpiel  mefjr  ©ntrüftung 
ßeroorrief  als  je  ein  SBerf  beS  SDitfjterS.  SDie  £arftcßung  beS 
|>immel3  auf  ber  profanen  Süljne  bünfte  ben  frommen  eine 
@ntweif)ung  bes  §öd)ften.  ©elbft  oou  ber  fianjel  ßerab  rourbe 
gegen  biefen  greoel  gcprebigt,  unb  baS  ©djaujpiel  muffte  aud) 
nad)  jmeimaliger  2luffiif)rung  abgefefjt  werben,  liefern  Hnfturm 
begegnete  SBoitbel  mit  einer  fatirifc^en  ^rofafdnift  „©djuftrebe 
für  ba$  ©djaufpiel";  ftolj  fügte  er  biefer  als  iülotto  bei: 
„Cedo  nulli“,  ma$  aud)  feine  s}?raf)lerei  mar,  benn  Siacfjgiebig« 
feit  mar  mirflid)  nie  feine  ©adje. 

Sieben  ßpi  gram  men  unb  fteßcnmeife  rcd)t  mpftifdjcn  3)id)« 
tuugeu  („©infame  Änbadjten  in  ben  gaften"  — „©ctbfemane"  — 
„Kcce  homo“  — ) fdjuf  Süonbel  in  bicfem  3af)re  and)  nod)  bie 
fßrofaübcrfejjung  non  .fporajs'  „Oben"  unb  „Ars  poetica“. 

S?od)  fei  ermähnt,  baf)  ber  greife  £id)ter  am  21.  Cftober 
beSfelbeit  3a^reS  auläjjlid)  be§  ©t.  SufasfefteS  ber  Mnftlerge- 
feßfcbaft  in  biefer  feierlidjft  mit  bem  2orbeerfran^e  als  $>id)tcr= 
fönig  gefrönt  mürbe. 

Sion  ben  nad)folgcnben  ©cfmpfungen  mären  befonberS  ju 
ermähnen:  ein  ©ebidjt  au  jfjapft  SUejanber  VII.,  ben  Siadp 
folger  3nnocenj’,  eine  umfaugreidje  unb  fteßenmeifc  uor§iigIic^e 
$id)tung  „(Sinweifjung  bcS  ©tabtfjaufeS  ju  Slmfter- 
bam"  (1655)  unb  ein  ©ebid)t  ju  ©fjreit  ©fjriftinaS  oon 
©d)  weben,  bie  bamalS  in  3uusbrucf  fat^olifd)  mürbe  unb 
nach  fRom  pilgcrte.  3m  folgenbeit  Sa^re  fdjuf  er  ein  Srama 
„©almoneuS",  ein  jicmlid)  bebeutungSlofeS  ©tüd,  baS  er  fjaupt* 
fäcfßicb  nur  fdprieb,  bamit  bie  für  „Sucifer"  angefertigte  Rimmels* 
beforatioit  SBerwenbung  fänbe.  $a3  ©tiief  fpielt  nämlid)  im 
Clpmp.  ©nblid)  crfc^ieit  oon  ifjm  in  jener  $eit  nod)  eine  ge- 
reimte Ueberfefcung  ber  fßfalmcu  Saoibä. 

Sföit  SonbelS  fiebjigftem  ©eburtSjafjre  begann  ber  traurigfte 

3*  (468) 


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36 


9lbfd)nitt  feines  SebeitS.  ©ein  leichtfertiger  Soßn  hotte  ben  uom 
Söoter  übertiüntmetten  §anbel  rafcß  h'nuntcr  gebrockt  unb  geriet^ 
in  arge  ©elboerlegenheit.  Xa  in  Xänemarf  größere  Setroge 
außenfteßenb  waren  unb  SSonbel  feinem  ©ohne  bie  nötige  rafche 
Slbwicfeluitg  nicht  jutraute,  entfdjloß  er  fid)  felbft  bie  5a^rt 
oorjunehmen.  3n  ber  bänifchen  .'pauptftabt,  wo  ber  greife 
Xichter  einige  $eit  »erblieb,  mochte  er  recht  gut  aufgenommen 
worben  fein  unb  — toie  etliche  ©ebießte  jeigeit  — mit  be- 
beutenben  fßerfonen  »erfeßrt  hoben.  35och  befriebigt  mag  ihn 
biefe  SReifc  in  gar  feiner  SBeife  hoben,  benn  he*mge^ebrt  unb 
befragt,  wie  es  ihm  ergangen,  antwortete  er  mißmuthig,  bafj 
er  oft  gefleht  habe: 

£>crr  luotlc  mich  crlßjeit 
SSo»  biefen  bän’ichen  Ddjfen, 
ßrfüir  mein  SJünidjen,  bringe 
9tad|  ipollanb  mich  ju  HJienfc^en. 

Xer  jüngere  Sonbel  ftanb  oor  bem  Sanferott.  Um  biefen 
ju  oerhinbern,  um  feinen  9Jamen  nicht  mit  ©djimpf  bebeden  $u 
laffeit,  gab  ber  Sater  fein  ganzes  Vermögen  hi»-  Söenit  bie 
angegebene  $iffer  »ou  40000  ©ulbeit  richtig  ift,  fo  biirfte  e<S 
mit  „ber  Slrmuth"  SonbelS,  bie  fo  häufig  ermähnt  wirb,  nicht 
fo  arg  gewefen  fein.  Anfangs  mögen  wohl  feine  Sßermögen®* 
oerhältniffe  fehr  befdjeiben  gewefen  fein,  aber  „9toth  unb  ©lenb" 
hat  hoch  nie  bei  ihm  gegaftet,  fowie  er  aud)  nie  ben  ©eiftanb 
feiner  reichen  greunbe  attrief.  ©ein  ipanbelSgeminn,  ber  ©rtrog 
feiner  oietgelefenen  Schriften  unb  anfehnlidjc  ©efeßenfe,  bie  er 
erhielt,  ergaben  ein  für  jene  $eit  recht  ftattlicßeS  Vermögen, 
baS  ihm  eben  ermöglidjte,  ben  ©efchäften  ju  entfagen. 

Xer  93ertuft  feines  SefißeS  war  noch  nicht  baS  Hergfte; 
fein  ©ohn  mußte  noch  manchen  argen  ©treidj  auSgeführt  haben, 
ba  Sonbel  barauf  beftanb,  baß  er  nadj  ben  Kolonien,  nadj 
Cftinbien  geße,  bie  bamalS  mehr  noch  als  fpäter  ber  $ufluchtä» 
ßafen  Vieler  war,  bie  im  Seben  ©chiffbruch  erlitten.  Unb  al$ 

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37 


bcr  junge  tßonbel  bie  gabrt  oermeigerte,  bat  ber  ©reis  ben 
Siirgermeifter,  man  möge  jenen  jmangStoeife  babin  fcfjicfen. 
Sod)  baju  fam  es  nicht,  inbem  er  fich  enblicb  hoch  jur  frei- 
mittigen  gafjrt  beftimmen  ließ,  ©eine  Kinber  — er  mar 
SSitroer  — blieben  bei  bem  ©rofjoater  juriid.  @rft  nach  längerer 
3eit  erfuhr  ber  Sinter,  bafj  fein  ©otjn  baS  3i^  nicht  erreichte, 
bafj  er  mäbrenb  ber  Ucberfabrt  geftorbeit  fei.  9?ocb  blieb  i^m 
ein  Kinb,  feine  Softer  Slitna,  bie  gliidlicb  nerbeirattjet  mar. 

Um  oor  örotforgen  gefchüfjt  ju  fein,  mar  ber  greife  Sonbel 
genötigt,  ein  Sttnt  an^unebmen,  baS  ihm  feine  unb 

©ömter  bei  ber  ftäbtifcf)eit  ‘•ßfanbleibanftalt  oerfchafften.  ©ein 
3abreSgebalt  betrug  750  ©ulben,  bie  nötige  ©iirgfcfjaft  oon 
4000  ©ulben  teifteten  feine  greunbe.  @S  gefchab  bies5  mit  bem 
beginn  beS  3abreS  1658.  Sie  ©cbidjalSfcbläge  tonnten  feine 
©cbaffenSluft  ebenfomenig  gerfcbmettern,  mie  fte  bie  SSiirbe  beS 
SlmteS  ju  erfcbmereit  oermocbten;  S3onbeI  oeröffentlicbte  in  ber 
nä<bfteit  3e*t  e‘ue  beträchtliche  gab1  oon  Sichtungen.  23or  allem 
ein  längere«,  befdjreibenbeS  ©ebid)t  „SaS  ©eemagajinju 
Slmfterbam",  baS  feineSroegS  eine  ÜDiinberung  feines  Könnens 
behutbet,  fleinere  3?itgebicbte,  ferner  „Sie  ©tammtaf ein", 
eine  gereimte  Sbr°n*f  ber  heroorra9en^f*ea  SlbelSbäufer,  ein 
SBer!,  bcffen  Kunftmertb  nicht  hoch  gefc^ä^t  merbeit  fann. 

3m  folgenben  Sabre  erfcbien  fein  Srama  „3epbta", 
er  für  feine  befte  ©cböpfung  b‘e^  unb  baS  mirflich  auch  ju 
feinen  beften  SBerfen  jäblt.  Sie  Sprache  biefeS  ©cbaufpiels, 
beffen  $anblung  ber  befannten  ffirjählung  im  alten  Seftamente 
folgt,  ift  fteüenmeife  oon  einer  ganj  befonberen  ©chönbeit. 
3$on  ben  nächften  Söerfen  SSonbelS  — Ueberfe&ungen  ber 
SBerfe  tßirgilS  unb  beS  „OebipuS"  oon  ©opbofleS,  bie 
Srauerfpiele  „König  Saoib  in  SSerbannung"  unb  „König 
SaoibS  SBiebereinfefcuitg"  — läfjt  fich  nic^t  mehr  jitm  2obe 
unb  nicht  mehr  jum  Sabel  fagen,  als  toaS  oon  ben  meiften 

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38 


feiner  ©djaujpiele  gejagt  werben  fann.  Sil«  ©rgfinjung  biefer 
Jidjtungen,  weldje  bie  befannten,  int  ©ud)  ber  Sinnige  erjäfjlten 
©reigtiiffe  ^iemlid)  getreu  wiebergeben,  fann  ba«  ein  Safjr  fpäter, 
1061,  erjd)ieuene  Jraucrfpiel  „Slbonia«"  gelten.  (£«  bebaubeit 
ben  Slufftaub,  ben  biefer  ältefte  ©oßn  Jaoib«  nadj  feinet 
Siatcrö  Job  fjcroorruft,  um  betn  jüngeren  ©alomo  bie  Sirone 
ju  entreißen;  hierbei  wirb  ©rfterer  befiegt  uub  getöbtet. 

Sind)  ©onbel«  ttäcf)fte§  SBerf  „©amfon"  bcljaubcft  einen 
©ibelftoff,  wie  fd)on  ber  Jitel  anbeutet.  giebt  ben  ©d)lufj 
au«  bem  Üeben3laufe  be«  geblenbeten  Sieden,  wo  er,  ba«  .paus 
feiner  geitibe  jerftörenb,  biefe  unb  fid)  unter  ben  Jrütnmern  begräbt. 
Sn  biefem  ©tüde  lägt  ber  Jidjter  wicber  übernteufdjlidje  SEßefen 
Ijanbelnb  auftreteu,  wie  gabaül,  ©amfon«  „©eburtSeugcl"  unb 
Jagoit  ben  „dürften  ber  Ipölle  uub  größten  ©ott  ber  ©bilifte*"- 

(Sine  teligiöfe  Jicfjtung  „©efpiegelung  in  ©ott",  bie 
halb  barauf  erfdjieu,  gab  wieber  Slnlaß  $u  neuen  Singriffen 
feiner  ©egner.  £>ier  fidj  ber  2)id)ter  oou  ber  ÜJipftif  ferne, 
weldjc  bie  weiften  feiner  berartigen  ©griffen  bunfel  macf)t.  ©in 
größerer  poctijdjer  Söertl)  ift  biefem  SSerfe  and)  uid)t  juju- 
jprcdjen,  bod)  ift  bie  Sprache  flar  unb  öerftänblid).  Sieben  oer- 
feßiebenett  Heineren  ©ebic^ten  — wobei  bie  ©tadjcloerfe  immer 
felteuer  würben  unb  balb  aud)  ganj  oerfdguanbeu  — neben 
biefett  erfdjiett  jur  felben  $eit  ba«  Jrauerfpiel  „Jie  bata- 
oifdjen  ©rüber".  2Bie  im  ©ijSbredjt  bewegte  fid)  aud)  l)ier 
©onbel«  2)iufe  auf  fjeimifdjem  ©oben:  bie  Ipanblung  fpielt  jur 
3eit  ber  Siömcrtjerrfdjaft.  Suliu«  ©aulu«  unb  Stifolau«  ©urg= 
ßarbt,  ©efdjwifter  oon  föniglid)em  ©ebliite,  werben  oou  bem 
auf  fein  Slttfe^en  eiferfiitf)tigen  ©tatttjalter  gonteiu«  ©apito 
unter  bem  ©orwanbe  beabfid)tigter  jRebetlion  gefangen  genommen. 
3um  ©cßluffe  wirb  ber  ältere  ^ingeridjtet  unb  ber  jüngere 
gefettet  bem  ©äfar  Siero  gefanbt.  — @S  ift  eine«  ber 

wenigen  ©tüde  ©onbel«,  bie  einen  entfdjiebcnctt  bramatifdjen 

«86) 


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39 

Stoff  haben;  baff  er  if)it  nid)t  geniigenb  ju  oerwenbeu  wuftte,  beweift 
eben  toieber  baS  UitauSreichenbe  feiner  bramatifdjeit  Segabung. 

Slud)  fein  Können  auf  epifcfjem  ©ebiete  ift  twtt  feiner 
großen  Sebeutuug.  $ieS  jeigt  fein  1662  erfdjieneneS  ©poS, 
fein  einziges  größeres,  baS  er  Jcfjuf,  „3of)nnneö  ber  33 üf?er" 
benannt.  g°rm  nnb  ©prad)fd)öttf)eit  ift  flmor  hier  veidjfid)  oor* 
banben,  fo  bafj  eS  wie  bie  nadjfolgenbe  rcligiöfe  $icf)tuug  „3)ie 
§errlidjfeiten  ber  Kirrije"  feinem  beften  Sd)affett  jugerei^t 
werben  fann.  ©ein  nächfteS  Jrauerfpiel  „ißbaeton",  be- 
fannten  mt)tf>ologifcf>en  Snljaltä,  ift  unbebentenb. 

3m  Saufe  ber  3e*4  hat}c  fid)  bnä  Ämfterbamer  £f)eater 
als  räumlich  unanSreidjenb  erwiefen;  eS  wnrbe  bal)cr  ein  Neubau 
befdjloffen  uttb  audj  auSgefübrt.  3)od)  würbe  er  nid)t,  wie  Soitbel 
hoffte,  mit  einem  feiner  Dramen  eröffnet,  fonbern  mit  ber 
„ÜJfebea"  beS  ^5 o ^ a ii  SoS. 

®iefeS  „barbarifefje  ©ettie",  wie  ihn  ber  itüberlanbifd}e 
©diriftfteller  £>ofbijf  nidjt  unpaffenb  nennt,  war  urfprüngfidj 
©lafergcfellc.  ©ein  erfteS  ®rama  „?lrait  uitb  JituS"  würbe 
bereits  1641  aufgefnlfrt.  Sottbel  munterte  ben  jungen  .^anö> 
Werfer  auf,  <£>ooft  unb  ganj  befonberS  San  Saerle,  ber  fein 
Talent  gewaltig  überfdjäjjte,  unterftüßten  ilpt  unb  fpornten  ifpt 
gleidjfatls  ju  bic^terifcfjcm  Schaffen  an.  Sei  ©rfterem  war  er 
aud)  ein  gentgefeljener  ©aft,  fo  bafj  er  gleichfalls  bein  „ÜRuiben» 
freiS"  jujurcdineu  ift.  9Jid)t  utiitber  beliebt  war  er  bei  ben 
Satrijicrn  unb  bent  Siirgcrmeifter,  ber  ifpt  jum  SJJitleiter  beS 
©djaufpielhaufeS  ernannte.  9tad)  gemeinem  ©rbenbraudje  lohnte 
er  SSonbel,  ber  suerft  für  ihn  eintrat,  gar  arg  bie  ©üte  burch 
allerlei  fRänfe;  er  war  eS  aud),  ber  ju  werljinbern  muffte,  bafj 
baS  Xh^ter  mit  einem  ©djaufpiele  SonbelS  eröffnet  würbe, 
was  fo  jiemlid)  als  befchloffette  ©ad)e  galt. 

Slls  dichter  ift  SoS  gattj  unbebeutettb,  obgleich  fteflenmeife 
ein  Talent  aufblißt;  feine  ©prad)e  fatttt  fid)  mit  ber  fflonbelS, 

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40 


wa«  poetifche  Sdjönheit,  Kraft  unb  ^Reinheit  betrifft,  nid)t 
meffen.  ©eine  jaf^rcidjen  Dramen,  bie  heute  fd)on  ganj  üergeffen 
finb,  bieten  gerabe  ba«  ©eoentheil  ber  ©onbelifcheu.  SBetut 
biefen  mit  5Red)t  bie  fprge  fianblung  jum  ©orwurf  gemacht 
wirb,  fo  trifft  bie  anbern  bie  ©efchulbigung  311  oiel  311  bieten, 
ba«  heißt,  er  fudfte  feenifd)  auf  bie  iRenge  3U  Wirten.  31m 
befielt  fennjeic^net  fid)  feine  SRidjtung  burd)  bie  groteSfe  ©e 
merfung  in  feinem  Prolog  3ur  ©röffnung  be«  Jheatcr«.  9?fl<h  ^luf1 
3äf)Iung  all  ber  ©d)aumunber,  bie  er  nun  bieten  wirb,  ruft  er  au«: 
Statur  [otl  eure  ftunft  erzürnt  in  SIbgrunb  tDün(d)cn. 

2lu«  @iferfud)t  meinte  er,  unb  nicht  wie  e«  anber«  auch 
uerftanben  werben  tönnte.  5Rad)  unb  nach  f)atte  $£>3  ©onbel 
gan3  an«  ber  ©unft  ber  äRenge  oerbrängt;  feinen  ©d)nufpie(en 
ober  beffer  gefagt  ©djauftitefen  würbe  3ugejauch3t,  währenb  bie  $luf> 
iitirung  ©onbelfcfjer  2>ramen  nur  eine  geringe  3u^örerfcb)aft  fonb. 

3ene«  35rama,  mit  bem  ber  alte  dichter  gerne  ba«  neue 
Sfjeater  eröffnet  gcfeljen  hätte,  ift  ba«  1664  erfd)ieitene  „Slbarn 
in  ©crbaiutitng  ober  ba«  £rauerf piel  aller  $rauer= 
fpiele".  ®ic  groeitbenennung  fott  wol)l  90115  allgemein  bem 
3nf)alt  gelten,  unb  ba  wäre  fie  uicbt  unrecht  gewählt,  beim  ber 
©erluft  be«  ’tßarabiefc«  — net)ni’  e«  ©iner  wortgläubig  ober 
finnbitblid)  — fanti  wirflid)  ,,ba«  Srauerfpiel  aller  $ranerfpiele" 
genannt  werben,  immerhin  !ann  e«  auch  3U  ©onbel«  beften 
SBerfen  gejälRt  werben.  ®ie  ^anblung  biefe«  ®ranta«,  ba« 
fid)  gewiffermafjen  feinem  „Sucifer"  anfdfliejjt,  fdjreitet  in  ber 
©pur  be«  ©ibclworte«,  ba«  er  ftelletiweifc  aud)  wörtlirf;  wiebergiebt, 
überbie«  benähte  er  auch  ba«  lateinifdje  Irauerfpiel  „Adamus 
ex  ul“  feine«  iitbe«  oerftorbenen  f^ennbe«  fwgo  be  ©root. 

31ud)  biefe«  Söerf  rief  ©egenfchrifteit  heroor,  hoch  3«  einem 
ber  früher  fo  häufigen  Kämpfe  fam  e«  nicht.  SDcr  alte  ifßoct 
wor  30hm  geworben;  feine  ©djöpferlraft  ^atte  abgenommen. 

5)ie  nächfte  ,ßeit  reifte  nur  einige  ©elegenheit«gebid)te  uitb 

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41 


merfwiirbigerweife  and)  etliche  anafreontifd)  flittgenbe  Siebereien, 
©ein  £>ang  Zur  religiöfen  Schwärmerei  modjte  geruic^cit  jein; 
bod)  uergaß  er  iticfjt,  wie  fein'  näd)ftefij  (1666)  Srauerfpiel 
„3ungchin  ober  ber  Untergang  ber  d)inefifd)en 
£)errfd)aft"  zeigt,  feiner  alten  ^reuttbe,  ber  3efuiten.  3n 
biefetn  ®ranta,  baS  einzige,  baS  in  feinem  Zeitalter  fpielt,  be« 
banbeit  er  ben  1647  ftattgefunbenen  91ufftanb  in  Shina.  ®er 
ftaifer,  belagert  von  feinem  früheren  gelbherrn,  uerrathen  uon 
feinen  Seuten,  töbtet  S53eib  unb  Üodjter  unb  enblid)  auch  fidj. 
(Sine  bebeutenbe  tRolle  fpielt  auch  babei  ber  3efuitcnpater  Stbam 
©<haal,  ber  uon  bem  ©ieger  gnäbig  befjanbelt  tuirb.  3uin 
©d)lnffe  erfdjeint  bem  SRiffionär  ber  ©eift  beS  heiligen  jfrranz 
Sauer,  ber  befanntlid)  and)  als  ©enbling  beS  OrbenS  in  Slfiett 
wirfte,  unb  prophezeit  ben  (£inbrud)  ber  Tataren.  $iefe$  fonnte 
©onbel  fef)r  leicht  gefefje^en  laffen,  ba  bie  1hnt  inbeffen  erfolgte. 

tiefes  ©ratna,  weldjeS  für  fein  fd)wäd)fteS  äöerf  gelten 
fann,  hat  benfelben  3nf)alt  wie  ein  furz  uorßer  erfdjiencneS 
feines  ©djiilerS  StntonibeS  uon  ber  ©oeS,  ber  aud)  fpäter 
ben  ©puren  feines  SReifterS  folgte. 

$er  in  berfelbett  3eit  erfolgte  ©ieg  ber  nieberlänbifdjen 
flotte  über  bie  englifdje  gab  il)m  ?lulaß  zu  einigen  ©ebidjten, 
bie  ben  ©ieg  felbft,  fowie  bie  ©eehelbcu  ÜRidjael  fRupter  unb 
ftorneliuS  $romp  uerfjerrlicfjten.  3>er  große  ©raub  uon  Soitbon 
ueranlaßte  ihn  zu  einer  „3ammer  flage",  ein  ©ebidjt,  bas 
ben  heften  ans  ber  3eü  feiner  ©ollfraft  ebenbürtig  ift.  9Zod) 
fanb  er  in  bemfelbett  3of)re  3eit  „Sphißenia  in  ÜauriS" 
uon  ©uripibeS  z»  iiberfeßen. 

SluS  bem  folgenben  3nt)re,  1667,  wäre  huuptfädjlid)  fein 
IeßteS  ®rama  „5R  o a h"  Zu  erwähnen,  ein  SEBerf,  weldjeS  beS 
3)ichterS  Stlter  fehr  zu  erfennen  giebt. 

©pärlich  fieferte  nun  in  ben  lebten  Saßren  feines  SebenS 
ber  einft  fo  ooUfprubelnbe  ©orn  ber  $id)tung.  Äleine  ©ebidjte, 


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42 


©rabfdfriften  unb  bcrgleidjen  mären  cg  jumcift , Sprühe  für 
©cbenfpfennige,  bereit  fßrägwtg  bamalg  für  Hochzeiten,  Sobeg* 
falle  mtb  fonftige  gamilienanläffe  fehr  üblich  mar. 

lieber  feine  ülmtgthätigfeit  roaren  in  ber  regten  3eit 
Klagen  »orgefommen,  ja  man  behauptete  fogar,  er  hätte  bie 
ernftmüdjternen  ißfanboerzeidjuiffe  mit  Sßerfen  angefüllt.  Sllleiu 
eg  mag  mohl  nur  im  $inblicf  auf  fein  fyofyeS  SUter  gefdjel)en 
fein,  baß  er  mit  »ollem  fRuhegeljalt  feineg  Slmtes  enthoben 
tourbe.  ©leid)  bie  erfte  $eit  t>er  Slutje  benähte  er  bann,  um 
bie  „fß  hö  nie  i er  innen"  uon  ©uripibeg  unb  „Herafleg  in 
Sr  ad)  in"  »on  Sophofleg  jit  übertragen.  (Sin  harter  @d)(ag 
für  ben  ©reig  mar  ber  1075  erfolgte  Sob  feineg  einzigen 
Äinbeg  ülnna  . . . 

Ser  Verfall  feiner  Kräfte  trat  nun  allmählich  ein.  9lm 
5.  gebruar  1079  ftarb  Quftug  »an  ben  SBoitbel  im  Sitter  »on 
nahezu  92  fahren. 

Hie  jaeet  Vondelus 
Poebo  et  musis  amicus. 

Siefe  fchlechteu  Serfe  — §ollanbg  größter  Sid)ter  hätte 
beffere  »erbient  — bezeidjneten  feine  ©rabftelle  in  ber  „Nieuve 
Kerke“  (9leufird)e)  ju  Slmfterbam.  (Sr  mürbe  itt  berfelben  ©ruft 
beftattet,  in  ber  feine  gtuu  unb  feine  (Snfel  lagen;  fpäter  famen 
noch  anbere  Särge  l)*1^11/  bie  ©rabftätte  beg  größten  uieber* 
länbifd)en  Sidjterg  gerieth  ing  SSergeffen,  fo  baff  man  nur  mit 
SDlühe  bie  Stelle  ermitteln  fonnte. 

Slnläßtirf)  feineg  Sobeg  crfd)ienen  zahlreiche  Srauergebidjte, 
manche®  berfelben  füllt  fd)ier  ein  ©Ünbd)en  aug.  Sic  Senf* 
münze,  bie  bamatg  zu  @hreu  beg  „SBatcrg  ber  Sid)tfunft",  beg 
„großen  Slgrippinerg"  geprägt  tourbe,  zeigt  auf  ber  einen  ©eite 
fein  umfränzteg  Silbnifj,  auf  ber  anberen  einen  gleichfallg  um- 
fränzteit  ©dfrnan  mit  ber  Snfdfrift  „Seg  Sanbeg  älteftem  unb 
größtem  Sichter". 

(41-0) 


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4.n 


3m  3aferc  1867  mürbe  ifem  in  Jtmfterbam  ein  Tettfmal 
gefegt,  bcffen  am  8.  Oftober  erfolgte  SntfeiiHung  mit  einem 
breitägigen  gefte  gefeiert  mürbe. 

Ucberblicfen  mir  prüfcnb  be$  Tid)ter3  fleben,  fo  finbeit 
mir  ein  offenes,  et)rlicf)eö  ©emütfe,  ein  aufbranfeiibeS,  fampf- 
frofeeö  Temperament  unb  einen  rontantifcfecu,  ber  ©djmärmcrei 
jugeneigten  ©inn,  ber  baS  Itngeroöfenlicfee  erfefente.  Unb  ba  er 
biejeS  nicfet  nm  fid)  fecrum  fonb  unb  aucfe  nid)t  finben  fonnte, 
fucfjte  er  e§  auf  iiberirbifcfeem  ©ebiete,  bort,  mo  bie  ©rfenntttife 
feine  feemmenbett  ©cferanfcn  fteflt.  Tafe  ibn  ber  3S3eg  nun  ins 
Tunfel  ber  SRfeftif  führte,  ift  fefer  begreiftid);  ber  ©taube,  ber 
bie  SRaiüetät  »ediert,  mirb  immer  bafein  getangeu. 

Ueberbtidcn  mir  beS  TicfeterS  ©Raffen,  fo  miiffen  mir 
oor  altem  bebauern,  bafe  SSonbct  fidj  nid)t  jener  üotfStfeümticfecn 
Stiftung  jumanbte,  in  metdjcr  ber  miitber  begabte  3afob  EatS 
fo  etfolgreid)  mirfte,  baf?  er  fid)  Don  bcn  fcfeutmeifterifcfeen 
©ritten  öon  SaerteS  beeinftuffen  tiefe,  ber  gornt  ttacfe  ben  Sttt« 
Sttaffiferu  nacfejuftreben,  ober  öielmefer  bereit  franjüfifdjett  iRadj« 
afemern,  bem  „©iebeugeftirn"  iRonfarb,  Tu  ©ellat),  SDiarot, 
SBartaS,  Sobet  unb  $aif.  9Rancfeerfeit3  mürben  bic  ©cfemädjen 
feiner  bramatifcfeen  ©tüdc  ju  entfdjulbigen  gcfudjt  mit  bem 
Umftanbe,  bafe  e£  früher  ein  eigentlid)e«  ©djaufpiet  in  ben 
SRieberlanbett  nicfet  gegeben  feabe,  bafe  alle  bie  Stnfangsfdjmierig- 
feiten  oorfeanben  maren.  Tiefe  Gntfcfeulbigitngen  finb  jiemticfe 
tticfetig.  @itt  guter  Tramatifer  mirb  feine  Söerfe  unter  alten 
Umftänben  gnt  gu  geftatten  miffen,  in  ber  §auptfad)e  feat  cnb* 
tiefe  fein  ©efeoffett  mit  ber  SBüfettentecfenif  nichts  gemein.  Sfent 
mangelte  bie  erfte  SRotfemenbigfeit  beS  Tramatifer^:  ÜRenfcfeett 
unb  SBelt  fojufagen  aus  ber  SBogelfdjau  betradjten  jn  föttneit. 
§IIS  Cprifer  jener  $eit  unb  aud)  ber  uaefefotgeuben  gebiifert  ifem 
^meifetloS  bie  erfte  ©teile  im  nieberlänbifcfeen  ©eferifttfeum,  ba 

(461) 


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44 


ihm  kleiner  an  ©djtuung  unb  Straft  ber  Sprache  feiner  beftett 
SSerfe  gleidjfommt.  Unb  nicht  gering  ift  aud)  fein  SBerbienft  um 
bie  Sßerbefferung  unb  Üluäbilbung  be3  ffiieberlänbifdjen,  baS  er  mit 
uielen  SCÖortern  bereicherte  unb  uon  uielen  gremblingen  reinigte. 

gaft  fremb  ftefjt  ber  SJeutfdje  jener  Sitteratur-Qrpodje  ber 
uieberbeutfdjen  Sdjtuefterfpradje  gegenüber,  unb  baS  tuirb  jum 
hoppelten  Unrecht,  ba  fie  auch  auf  ba§  fjodjbeutfdje  ©djriftthum 
feinen  geringen  (Sinflufe  auSiibte.  53on  hier  au3  h°^te  fidj  ber 
„SBater  ber  beutfdjeu  ©idjtfunft",  füfartin  Opifc  (1597 — 1639) 
bie  iiorbilber  gur  Sfeugeftaltung  ber  oenuilberten  beutfchen 
®idjtung,  toie  er  ja  felbft  gefteht:  toelchen  fRuhm  er  immer 
auch  burdj  „hodjbeutfdj"  tuirb  erlangen,  befennen  toiü  er  jeberjeit 

. . . frei, 

$ajj  (Sure  'Uocfic  ber  meinen  SDiutter  fei. 

@3  thut  notl)  barauf  ganj  befonbcrä  bi^Ä^^eifen,  weil  bie 
meiften  Sitterarhiftorifer  nur  feiner  franjöfifchen  si5orbilber 
gebenfen.  SSohl  hnt  Opife  feine  Öeifpiele  aud)  uon  granfreidj 
l)er  geholt,  aber  erjt  nachbem  er,  ber  Schüler  ®aniel  .^einfiuS, 
in  §ollanb  Sehre  genommen.  Ülber  nidjt  nur  bie  beutfdje 
Sprif,  aud)  bie  beutfdje  bramatifdje  Sitteratur  tuurbe  uon  ber 
nieberlänbifchen  beeinflußt,  toie  fo  manche  Ueberfepuugen  unb 
^Bearbeitungen  nieberläitbifcher  ©chaufpiele  jener  3eit  lehren.  . . 

®aS  3eitalter  s-ßoubel«  bebcutete  ben  §öljepunft  beS  nieber» 
länbifc^en  ©djriftthumS  unb  aud)  ben  Ijöljepunft  ber  politifdjeit 
SJfadjt  ^ollanbg.  fpier  toie  bort  folgte  gar  halb  ein  rafdjer 
Siiebergang,  bem  fein  bebeutenber  ?luffdjtuung  meljr  folgen 
follte.  3tuar  hob  fid)  bie  Sitteratur  in  ber  gioeiten  |)älfte  be$ 
18.  3ahrhunbert3,  gtoar  geitigte  fie  feither  manche  buftige 
Slütlje,  aber  feine  einjige,  bie  ficfj  ju  bem  Strauje  ber  SBeltlitteratur 
fledjteu  liefe. 


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Die 


©pfrf  uni)  bir  Jnfel  Öornljölin. 

@eo(ogi(cf)e  mtb  fulturfjiftorifcfie  33ilber. 


SS  ortvag, 

gegolten  im  ©nftaö>9tt)oIf-S5erein  ju  SBraunfdjmetg 
oon 

l)r.  £foos, 

i*toftilor  ber  ökolcgit  unb  iJlinfraloflif  an  ber  ^cr^ogl.  $o4fdjule 
ju  »raunidirocig. 

ffltit  jct>n  Slbbilbungen. 


Hamburg. 

SBerlagßanftalt  unb  ®rucferei  31.-©.  (bomtalß  5-  iWic^ter;. 

1890. 


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I'q«  ber  Ueberjebung  in  frembc  ©praßen  wirb  öorbefyalten. 


Irud  btt  Btrlagianflalt  unb  Student  flctitn-ÄrftUidiaft 
(normal!  3.  g.  Witzler)  in  Hamburg. 


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^ie  ©eologie  ober  bie  Sehre  oon  ber  (Srbe  fann 
fich  nicht  rühmen,  eine  populäre  SEBiffenfcfjaft  ju  fein.  Namentlich 
bie  pofitioett,  auf  £f>atfacf)en  gegrüttbeten  ©rgebniffe  berfelben 
erfreuen  fid}  feine«  allgemeinen  unb  fjeroorragenben  Sntereffe«. 

@tma«  meljr  ift  bie«  ber  gatl  mit  bemjenigen  Steile  unferer 
S33iffenfd)aft,  melier  n acf)  beit  Äräften  forfdjt,  bie  tuolfl  mirffam 
geroefen  fein  fönnen,  um  unfere  Srbmaffe  jum  platteten  ju  ge« 
ftalten  unb  biefem  Sßeltförper  biefenige  33efd)affenl)eit  ju  geben, 
meld)e  jur  @ntftef)ung,  ©ritahrung  unb  33ermef)rung  organifirter 
SSefen  nothmenbig  mar. 

©o  bilben  gemiffe  Slbfc^nitte  ber  btjnamifdjen  ©eologie, 
bie  fic^  über  bie  §erau«bilbung  ber  @rbe  au«  einer  djaotifdjen 
SDfaffe  unb  ihre  SJejic^ungeu  jtt  ben  übrigen  £immel«förpern 
oerbreiten,  beliebte  ©egeuftänbe  geologifc^er  Ißorträge.  Sfber 
gerabe  biefe  ^Ibfc^nitte  finb  rein  tljeoretifdjer  Natur  unb  befifcen 
miffenfdjaftlicfy  nur  ben  SSertl)  unb  bie  ©ebeutuug  oon  §ppotf)efen, 
b.  f).  oon  ©rflärung«oerfucheu , melche  burch  $ljatfad)en  nidjt 
ober  nur  feljr  unjurcicffenb  bemiefen  merben  fönnen.  Slufjer- 
bem  liegt  bei  begleichen  ^Betrachtungen  bie  ©efaljr  febr  nahe, 
baß  ber  23oben  ber  ejaften  Naturforfdjung  überhaupt  oerlaffen 
mirb  uitb  mir  burd)  bie  nur  allein  oermenbbaren  ©pefulationen 
unmerfbar  in«  ©ebiet  ber  opf)ie  — unb  $mar  in  ben 

nebelhafteren  $hert  berfelbeit  — in  bie  SNetaphpfif  — hinü&er’ 
geführt  roerbett. 

Sammlung.  ».  0r.  V.  109.  1*  (465) 


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4 


©tma«  günftigcr  oerßätt  fid)  bie  @ad)e  bet  Setracßtungen 
über  bie  ©efcßicßte  ber  ©rbentmidelung  $u  einer  ftelt , welche 
bem  ©rfcßeiuen  be«  SJtenfcßen  unmittelbar  oorangegattgen  ift.  @3 
mürben  biefe  in  ßoßem  ©rabe  geeignet  fein,  ba«  Qntereffe  fämt* 
lieber  gebilbeter  Streife  bauernb  ju  feffelit,  mettn  nicf>t  bie 
©eologie,  fomcit  ißr  tßatfädjlidje  93erßättniffe  unb  ejafte  gor- 
fauligen  gu  ©ruttbe  liegen,  eine  fo  junge  Sßiffenfdjaft  märe! 
©«  mecßfelit  noeß  gu  feßr  bie  grunblegenbcit  SIttfcßauungen  über 
ßödjft  mistige  Stbfdjnitte  ber  ©rbgefcßidjte  unb  jmar  um  fo  meßr, 
je  näßer  utt«  biefelben  liegen.  @«  ift  bie«  fo  feßr  ber  gaö, 
baß  geologifdje  ficßrbücßer,  roelcße  unferen  ©tanbpunlt  in  ber 
jmeiten  §älfte  ber  fiebriger  gaßre  noeß  forreft  unb  erfcßöpfeitb 
gttr  Darftetlung  brachten,  jeßt  bereit«  in  Dieter  iöegießung  Deraltet 
finb.  Stameutlicß  finb  ade  bamaligett  Slnfidjten  über  beitjenigen 
3eitabfcßuitt,  an«  meldjcm  mir  bie  ätteften  menfeßließen  Ueberrefte 
fentten  — unb  bie  bi«  baßin  bie  ßerrfeßenben  mareit  — , 
jur  3e*t  Dotlftänbig  aufgegeben. 

@«  giebt  jmeiertei  SIrteit  Don  Staturbctracßtuna,  bie  id)  al« 
bie  fdjmärmerifdje  ober  inftinttioe  unb  at«  bie  Dernünftige 
ober  rationelle  begeießneu  möchte,  ©rftere  giebt  fieß  ununt- 
fdjränft,  aber  aueß  unbemußt,  beit  ©inbriiefen  ßin,  melcße  bie 
Statur  auf  ba«  menfcßlidje  ©emiitß  au«übt,  oßne  naeß  ben 
©rünben  biefer  ©inbriide  gu  forfdjen,  oßne  banadj  gu  fragen, 
in  meinem  tßatfäcßlicßeu  3ufammenßange  bie  ®inge  fteßen,  bie 
uttfer  Singe  erblidt.  ®ie  rationelle  Staturbetracßtung  bagegeit 
fueßt  fogleicß  gu  ergriinben,  in  mclcßer  SBeife  unb  me«ßalb 
ba«  ©efeßene  auf  uitfcre  ©imie  mirft  unb  mobureß  bie  Statur* 
förper  in  ißrer  Slnorbitung  fieß  fo  überall«  ßarmonifcß  geftalten. 

Seibe  Slrten  ber  Sctracßtung  föituen  einen  ßoßen  ©emiß 
gemäßreit  — glüdlid)  oeranlagte  Staturen  finb  fogar  beiberlei 
Sluffaffuttgen  fäßig  unb  bei  ißnen  mirb  ber  inftinttioe  ©enuß 
bureß  ein  Dernünftige«  ©enießen  noeß  gefteigert.  ®er  Statur- 

(4661 


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o 


fcfjw ärmer  ift  jebod)  abhängig  oon  feiner  Stimmung,  oon  ben 
©ittbrüefen  beS  SlugenblicfS,  oon  beit  obwaltenbcu  SBerhältniffen 
in  feiner  Umgebung,  oon  feinem  förperlidjen  SBohlbefinben; 
fein  ©enufj  ift  ein  oorübergef)enber,  ein  bebingter.  (Die  ratio- 
nelle fflatnrbetradjtung  bagegen  ift  eine  fortbauerube,  utter* 
fd)öpflid)e  Guclle  eines  ©enic&enS,  welches  feine  Sßiberwärtig- 
feiten  beS  SebenS,  ja  nidjt  einmal  förperfidje  üeiben  31t  beein- 
trächtigen im  ftanbe  finb,  fo  lange  unfere  Sinne  nod)  sur  93e- 
obadjtung  unb  jur  Sergleichung  anSrcid)en. 

$u  einer  vernünftigen  9tnturbetrad)tung  gebürt  fclbftocr- 
ftänblicf)  ein  gewiffcS  SDßafj  oou  pofitioen  Renntniffen.  SEBenn 
auch  bie  ©abe  ber  Scobadjtung  etwas  SubioibuelleS  ift,  oon 
ber  Schärfe  beS  ülugeS,  beS  Chrc^/  »or  allem  Dom  Sau  unb  oon 
ber  Sefchaffenheit  beS  ©efjirttS  abhängt,  fo  fann  ein  Rombiniren 
auf  ©runb  eigener  Seobacfjtungeu  ober  berjenigen  Ülttberer  nur 
gefdjehen,  wenn  bie  geeigneten  SorauSfehungen  oorhanben  finb. 
3e  reidjhaltiger  ber  SNeitfdj  mit  Renntniffen  auSgeftattet  ift,  je 
anehr  er  eS  oerftanben  hat  unb  immer  nod)  oerfteljt,  bie  ®r* 
gebniffe  ber  gorfchung  in  fid)  aufiunchmen,  je  gröfjer  wirb  feine 
ffreube  an  ber  9iatur  fein  fönneit.  (Deshalb  fteigert  fid)  ber 
rationelle  Statnrgenufj  mit  ben  Renntniffen,  mit  bem  Sllter, 
mähreitb  bie  fRaturfchwärmerei  oft  im  gleichen  SSerfjältnifj  abnimmt. 

(Deshalb  fann  eine  unb  biefelbe  9ieife  311  oerfd)iebenen 
3eiteit,  in  oerfchiebenent  SebcnSalter  gemacht,  unter  fonft  gleid)ett 
Serfjältniffen,  einen  gau3  oerfchicbcneit  ©enufj  gewähren,  and) 
gans  oerfchicbenett  (Jrfolg  hüben.  (SS  ift  nicht  31t  leugnen,  bafj 
fogar  Renntniffe,  bie  auf  ben  erften  Slid  mit  ben  Staturwiffen- 
fchaften  nichts  311  tfjun  31t  hoben  fcheiuett,  3.  S.  gefd)ichtlid)e 
Renntniffe,  bod)  in  fjofjem  9Rajje  ba3u  beitragen  fönnen,  ben 
9taturgenufj  3U  erhöhen. 

@S  erflärt  bieS  auch  bie  Serfitüpfung  oou  ©eologie  unb 
©efchid)te,  welche  fid)  in  bem  STitel  biefeS  SortragS:  ©eolo- 

(4G7> 


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gifdje  unb  fultnr^iftorifc^e  Söifber  ton  ber  Oftfee  unb 
fpeciell  oon  bcr  Snfel  ©ornljolm  ju  erlernten  giebt  unb 
welche  ©erbinbmtg  groeier  formbar  heterogener  ©egenftänbe 
tießeicht  auf  ben  erften  ©litf  etwa«  wuttberlich  erfcfjeint.  333  ic 
fetjr  gefd)id)tlichc  ®inge  ton  Sntereffe  für  ben  ©eologcn  finb 
unb  fruchtbringenb  auf  geologifche  ©etradftungen  wirlen  löttnen, 
wirb  bie  ©ntwidelung  meiner  ©Über  jeigen  müffen. 

3n  ber  alten  ©eographie  he*6*  Oftfee  mare  balticum. 
2>ie  58ejeid)niing  leitet  fich  ab  Don  bem  Iateinifc^en  SBorte 
balteus  unb  ihm  liegt  wieber  baS  altnorbifd)e  belti  ju 
©runbe,  aus  welchem  baS  fdjwebifche  hält,  baS  bänifdje  bälte 
(beite)  I)ergeleitet  wirb.  Sämtliche  Sßorte  haben  bie  ©ebeutung 
©ürtel  ober  SReereSgürtel.  Baltia  ober  Basilia  nannten 
bie  alten  ©öller  and)  baS  £anb  ober  bie  Snfel  im  (Rorbcn 
©ermanienS,  woher  bereits  in  torgefdjichtlidjen  feiten,  wie  bie 
guttbe  aus  ©räbern  beweifen,  ber  ©ernftein  bezogen  würbe. 

Offenbar  hatte  fich  ber  im  Slltnorbifchen  wurjelnbe  SRame 
ber  Oftfee  auf  baS  ©ernfteinlanb  übertragen,  benn  befanntlich 
ift  baS  (übliche  ©eftabe  biefeS  ÜHeereS  bie  Sdjahlammer,  welche 
noch  jejjt  baS  fo  fe^r  gefuchte  SUfaterial  für  ßunft-  unb  Sdjmud- 
gegenftänbe  liefert. 

Ülud)  wir  gebrauchen  fefjr  häufig  ©ejeidjnung  ©al* 
tifcheS  2Reer,  wie  benn  üott  ©eographett  unb  ©eologen  bie 
(Region  ber  Oftfee  gan*  gewöhnlich  ©altifcheS  ©ebiet,  bie 
beutfdje  Oftfeelüfte  in  ihren  Dcrfd)iebeneH  $heilen  ©alt if che 
Tiefebene,  ©altifdje  Seenplatte  u.  f.  w.  benannt  wirb. 

2>ie  jefct  gebräuchlichere  ©ejeichnung  als  Oftfee  foß  juerft 
um  bie  (Dlitte  beS  neunten  Saljrhunberts  auf  baS  ©altifche 
SJieer  Slnwenbung  gefnnben  hüben,  jur  $eit,  wo  im  Aufträge 
beS  angelfäd)fifcheu  Königs  Sllfreb  beS  ©rohen  fiihne  9?or> 
männer  bie  2Reere  um  Sfanbinatiett  bereiften  unb  bie  (Radjrichten 
über  ihre  ©ntbedungen  unb  Streif jiige  nadj  ©itglanb  brachten. 

(468) 


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i 


2Bir  ^aben  guten  ©runb  für  bie  Sinnahme,  bafj  bie  Oftfee, 
gcologiidj  gefprodjen,  ein  fcfjr  geringes  Sitter  befijjt.  3n  ber 
©cologie  ift  eS  nidjt  möglich,  mit  ben  gleichen  3citma§en  ju  redjnen 
wie  in  ber  ©efdjidjte  unb  im  täglichen  fieben.  Sin  3ahr  ift 
eine  unbeftimmbar  Keine  ©röfje  — ein  Sa^r^unbcrt  ein  nur 
burd)  bie  fcfjärfften  örtlichen  ^Beobachtungen  nachweisbarer  $eit* 
raum  in  ber  SntwidelungSgejdjtdjte  unfereS  Planeten. 

SBären  öor  taufenb  fahren  bie  entfprechenben  3Jleffungen 
gemacht  unb  bertrauenSwerthe  Ueberlieferungen  oon  mehreren 
fünften  ber  Srbe  über  geologifdje  Serhältniffe  aus  einem  fo 
entlegenen  3eitrcmme  iu  unS  gefommen,  fo  toürbe  Dielleicht 
baS  3 ahr  taufenb  ein  geeignetes  9Rajj  abgeben,  um  geologifdje 
^Begebenheiten  ju  beurtheilen.  SS  mürbe  bann  wot|l  mögiidh 
fein,  SBeränberungen  in  ber  ©eftalt  ber  Srbe,  in  ber  93ertf)ei« 
Iung  oon  £aub  unb  ÜBaffer,  in  ber  Srljebung  ber  ©ebirge  u.  f.  w. 
ju  meffett.  Äomntcnbe  ©efdjledfjter  werben  mit  bem  Safjrtaufenb 
als  SinljeitSmafj  geologifch  rechnen  fönnett;  haben  hoch  bie  lebten 
Sahrhunberte  eine  ganje  Steife  werthooller  ^Beobachtungen  über 
bie  fdjmanfenben  SBerhältniffe  oon  £anb  unb  SDieer,  über  ®e* 
wegungen  beS  Srbfeften  — furj  über  sßeränberungeu  gebradjt, 
welche  trob  beS  fcheinbar  geften  Unwanbelbareit  itt  unb 
auf  unferem  fßlaneten  oor  fich  gehen.  Sludfj  bie  Umgeftaltungen 
in  ber  $h‘er‘  unb  ‘‘Pflanzenwelt,  ber  SBedjfel  in  ber  geograph'fch«» 
SSertljeilung  ber  Organismen  machen  fich  immer  mehr  bemerfbar, 
je  älter  baS  ÜDieitfchengefchlecht  unb  je  mehr  ber  Sinn  für  foldje 
SBahrnehmungen  gefchärft  wirb. 

SBir  fönnen  atlerbingS  nur  nach  geologifchen  ^ßerioben 
rechnen,  beren  ©rennen  fich  burd)  auffällige  Slenberungeti  in 
benjenigen  fReften  ber  organifirten  Söefen  ju  erfemten  geben, 
welche  einer  Srhaltuug  in  ben  Srbfdhidjten  fähig  waren.  5Dort 
legen  wir  beim  bie  ©renje  jroifdjen  jwei  geofogifche  gor* 
mationen  ober  ^ßerioben.  3«  ber  Äinbheit  ber  SBerfteinerungS* 

(469) 


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8 

funbe,  als  baS  SDlaterial,  welches  uns  jur  Beurteilung  ber» 
gleidun  Berljältniffc  ju  ©ebote  ftanb,  noch  mangelhaft  unb 
äufjerft  unooUftänbig  war,  fpradjen  mir  oom  Untergang  ber 
älteren  Sebewefen  unb  non-  ber  ©d)öpfung  neuer  Fornten- 
Taher  unterfcf)ieb  man  früher  ©djöpfungSperioben,  beren 
jebe  ben  Untergang  einer  früheren  SSelt  uorauSfejjte. 

Fcfct  wiffen  wir,  bap  alles  9leue  aus  Umbilbung  unb  l£nt» 
tuicfelung  beS  Sitten  entftanben  ift.  Taher  laffen  fid)  bie  ©renjen 
ber  Formationen  nicht  mehr  fcharf  ziehen  unb  »iel  weniger  noch 
als  früher  wagen  wir  eS,  bie  Sänge  einer  ^eriobe,  bie  Zeit, 
welche  eine  Umgeftaltung  in  Slnfprucfi  genommen  hat,  in  Fahre  unb 
Fahrhunberte  auSjubriicfen.  Sille  Berfudje  aus  bem  SEBadjSthum 
oou  ©rbfd)id)ten,  wie  baSfelbe  an  einigen  fünften  ber  (Srbc,  j.  B. 
in  FlufjbcltaS  ober  in  Torfmooren,  währenb  ber  hiftorifdjeit  ßeit 
oor  fich  gegangen  ift,  auf  bie  Zeiträume  ju  fdjliehen,  welche  bie 
23ilbung  unferer  $nlf»  unb  ©aubfteine,  unferer  Stfjonfchiefer  unb 
ftohlenflöfje  in  Slnfpruch  genommen  hat,  erwiefen  fich  als  mifcloS, 
Febe  neue  Beobadjtung,  jebe  ©pecialunterfuchung  weift  barauf 
hin,  ba&  wir  eS  mit  Zeiträumen  zn  thun  haben,  beren  Tauer 
ber  menfdjliche  ©eift  nur  ahnen  !ann,  wie  er  auch  nicht  im 
ftanbe  ift,  fid)  eine  flare  Sßorftellung  ju  machen  oon  ber  @nt> 
fernung  ber  Fijfterne  unb  oon  ber  SluSbehnung  ber  ©onnenftjfteme 
im  Staunte! 

Tie  jüngften  geologifchen  gerieben  werben  als  biejenigen 
beS  TilutiumS  unb  SllluoiumS  bezeichnet.  Tiefe  Benen-- 
nungen  fiitb  auf  bie  lateinifdjen  Berben  luo  unb  lavo  für  SBafdjen, 
HuSwafchen,  Slbwajdjen  jurüdzuführen.  ©ic  geben  zu  erfennen, 
ba§  wir  für  biefe  Formationen  im  wefeutlichen  auf  ©d)Wemm» 
gebilbe,  Slbfä^e  burch  Ftnffe  ober  ©letfdjer  angewiefen  finb, 
wie  folche  auf  bent  Feftlanbe  oor  fid)  gehen.  Tie  jüngeren 
SDieereSbilbungen  finb  mit  wenigen  StuSnahmen  unfereit  Singen 
oerborgen,  unferer  Beobachtung  entzogen. 

(170) 


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9 


ÜBemt  wir  ju  ben  Igoren  Sraunfdjweigg  ^inau^Joanbern, 
bemerfeu  »ir  ait  allen  fianbftrafjen  |>aufwerfe  Pon  ^anb-  big 
fopfgroöen  ölöcfeit  fefler,  harter,  meifteng  frpftaUinifc^er  geig* 
arten,  jogenannte  Sefefteiite,  weldje  ber  ißflug  beim  bearbeiten 
beä  Slderg  aug  bem  ©aub*  ober  2e£)mboben  ju  Sage  geförbert 
hat.  gwifdjen  biel'cn  Heineren  Steinen  liegen  oereinjelt  blöcfe 
oon  ganj  bebeutcnbeit  Slbmeffungett,  loie  fie  oorjuggweifc  alg 
■^rell*  uitb  Scffteine  an  ©trafjeneden  oerwatibt  werben  ober  nad) 
bem  3erfd)lagen  alg  bamnaterial  bienen.  die  gelgarten  finb 
hödjft  perfcfjiebencr  Slrt  unb  oft  lägt  fid)  ang  einem  einzigen  £>auf* 
toerfe  eine  rcid)haltige  unb  jiemlid)  Pollftänbige  petvograp^ifefje 
Sammlung  vurcd)tmad)en. 

Sille  biefe  ölefteine  (unb  fie  finbeit  fid)  in  glcid)er  SBeife 
voie  bei  ung  im  ganjeit  nörblicfjen  deutjd)lanb,  in  ben  Slieber* 
lanben,  in  dänemarf,  im  fiiblidjen  ©daneben  unb  in  einem 
großen  dfjeile  SHufjlanbg),  ftammen  aug  ben  Ölebirgen 
©fattbinaoieitg,  ober  ipenigeng  aug  Siegionen  nörblid)  oon  ben* 
jenigen  ölegenbcn,  too  fie  fid)  gegenwärtig  uorfinben.  9lid)t  bag 
SBaffer,  bag  gewöhnliche  drangportmittel  non  verriebenem  unb 
Verfallenem  Ölefteiugmaterial,  l)at  fie  an  iljve  jc^igen  guubfteDcu 
gebrad)t.  SJlöge  bie  bewegunggfäfjigleit  beg  fliiffigeu  ©lementeg 
aud)  nod)  fo  groß  fein  itub  erftaunlidje  ÜJlengen  jerftörter  öle* 
birggfehichten  burd)  nufere  glüffe  angefdjwemmt  werben,  bag 
Söaffcr  in  fefter  gorm,  alg  Sig,  ift  ein  noch  oicl  beffereg  unb 
ergiebigereg  drangportmittel. 

diejenigen  loderen  ©efteine,  welche  ber  5£^ätigteit  ber 
©letfd)er  ihre  ©ntftefjung  oerbanfen,  nennt  man  SJloränen,  fo 
lange  fie  nod)  nicht  Pon  @letfd)erbäd)eu  unb  anberen  flicfeenben 
©ewäffern  bearbeitet  worben  finb.  die  norbifchen  ©efdjiebe 
ber  baltifchen  ©egenben  nun  fiitben  fief)  entweber  in  einer  uit* 
oeranberten  ©runbmoräne  ober  in  ben  umgelagerten  unb  auf* 
bereiteten  Söilbuugeu,  bie  aug  berfelben  Jjeroorgegangeu  finb. 

(471) 


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10 


Siefe  oormalige  ©rwtbmoräne  eineg  gewaltigen  bituoiaten, 
ffanbtnaoifchen  ©Ietfcfterg  fpielt  in  ber  neueren  ©eotogie  ber 
norbifcfjen  fiänber  eine  bebeutfame  SRotle.  Sie  wirb  üerfdjie* 
bentlid),  je  itadj  ihrer  SRatur  unb  3ufammenfej)ung,  als  83tod» 
ober  ®ef  cbiebetebm  unb  atg  ©efd)iebemerget  be^eirfjnet. 

Srft  nadjbcm  man  bie  üerfdjiebenartigen  ©cbwemmgebilbe 
beg  ttörblidjen  Suropag  mit  beseitigen  ©cftuttmaffen  öerglidjen 
batte,  bie  in  beit  Süpett,  in  Sstanb,  Norwegen,  namentlid)  aber 
in  ©röutanb,  oom  Sife  trangportirt  unb  surücfgetaffen  werben, 
ift  man  über  ihre  Sntftebunggweife  oöflig  ing  llare  gefommen. 
ffig  giebt  benn  auch  gegenwärtig  nur  wenige  ©eotogen,  bie  in 
ihren  Snfcbauungen  non  ben  oorgetrageiten  abweicbett,  wenn 
and»  über  bie  SBer^ältniffe  an  bestimmten  Orten,  unb  namcittlicb 
über  bie  SluSbebnung  unb  iöegrenjung  ber  bituoiaten  9)Jeere, 
noch  2Reinunggoerfd)iebenbeiten  obwalten. 

Sine  33ergtetfd)erung  beg  ung  beutc  intereffirenben  ©ebieteg 
famt  aber  nur  baburd)  erflärt  werben,  baß  wäbrcitb  ber  ißeriobe 
beg  Situoiumg  bie  ftimatifcben  SBerftättniffe  gänzlich  oerfdpeben 
Waren  oon  ben  gegenwärtig  ^ier  obwattenben.  hätten  wir  eg 
nun  mit  einer  oereinjetten  Srfdjciming  ju  tbun,  jo  tiefte  ficb 
ein  fäftereg  unb  gugleid)  feftr  feudjteg  Stima  für  unfere  ©egenben 
am  einfatbften  non  einer  oerfdjiebenen  SSertbeitung  oon  £anb 
unb  SBaffer,  oon  Kontinent  unb  ÜKeer,  Verleiten.  SBenben  wir 
aber  unfere  Stide  nad)  anberen  fRegionen  ber  nörblidbcn  ^>alb- 
fugel,  j.  23.  nach  SRorbamerifa , fo  treffen  wir  bort  auf  bie 
gleichen  ©rfefteinungen.  Sud)  fyev  lönnen  wir  nicht  umhin  an- 
junehmett,  baft  in  ber  Siluoiataeit  eine  Söergtetfdjerung  ooit 
gr öfteren  Sänberftrecfen  ftattgefunben  habe,  oon  fotchen  ©egenben, 
bie  jeftt  oöflig  frei  finb  oon  einer  Sigbede  unb  bie  in  einer  ber 
jeftigen  gemäftigten  Rotten  unferer  Srbe  liegen. 

Sieg  füftrt  uitg  baju  nad)  einer  allgemeineren  Urfadfe  für 
bie  gänjtich  oerfdjiebene  SBertfteitung  oon  Sßärme  unb  Säfte 

(472) 


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11 

auf  ber  nörblidjen  |>albfugel  überhaupt  ju  fuchen.  SRachbem 
viele  vergebliche  SBerfudjc  eine  einigermaßen  plaufibele  ©rfläruitg 
au«  fosmtfchen  ©rünbeit  ^cr^uleiten,  gemacht  uitb  gefcheitert 
waren,  würbe  ber  franjöfifche  SDiatEjematifer  Slbhemar  in 
1842  ber  Segriinber  ber  (Dljeorie  ü0,t  ber  s?eriobijität  ber  @i«» 
Zeiten  burd)  bie  verfchiebene  SSertheilung  ber  ©onnenwärme  auf 
bie  nörbtiche  unb  füblidje  $albfugel  im  Saufe  vieler  (Eaufenbe 
von  Saßren.  ®iefe  vom  englifcheit  Slftronomen  (Srofl  erweiterte 
(Dheorie  erfreut  fid)  auch  je^t  noch  vieler  Anhänger,  namentlich 
unter  Slftronomen  unb  Sß^Qfifern. 

SScrfdjiebene  ©rfcheinungen  am  §immel  weifen  barauf  hin, 
baß  burch  bie  Ülnjiehung  ber  .fpimmelSförper,  namentlich  von 
Sonne  unb  üüioitb,  bie  Neigung  ber  (Srbachfe  jur  Sonnenbahn 
beftänbig  etwa«  veränbert  wirb.  SJlan  bezeichnet  bicfe  (Sr- 
fdjeitiung  al«  ba«  SBorrütfeu  ber  9iad)tgleichen,  unb  fann  ich 
hier  bariiber  nur  mittheilen,  baß  nach  ber  Slbhemarfcßen  Theorie 
wäßrenb  einer  ißeriobe  von  beiläufig  10  500  Sohren  ba« 
SRajimum  ber  SBärnie,  welche  bie  Srbe  von  ber  Sonne  erhält, 
von  ber  nörblidjen  auf  bie  füblidje  |>albfugel  verfchobeit  wirb 
unb  umgefehrt.  (Danach  f)ätte  im  3ahre  1248  unferer  ftcit- 
rechnung  ba«  SKajimum  ber  SBärmevertheilung  auf  ber  nörb* 
lidjen  §alb!ugel  ftattgefunben  unb  fich  biefelbe  feitbem  immer 
mehr  abgefühlt.  (Dann  hätte  bort  jebodj  auch  9250  Sahre 
vor  unferer  ßeitrechnung  kag  3jj0jimum  ber  ftälte  geßerrfcht 
unb  fo  wäre  e«  erflärlid),  baß  ju  ber  $eit  bie  Si«bebetfung 
hier  am  au«gebehnteften  gewefeu  fei. 

(Die  Slbhemarfche  Dheorie  begegnet  fefjr  vielen  Sinwänben, 
namentlid)  feiten«  ber  ©eologett.  Ginntal  ift  e«  noch  nicht  ge» 
hingen,  geologifdje  SQeweife  bafiir  aufjufinben,  baß  auf  ber 
nörblicßen  ftemifpfjäre  periobifche  SBergletidjerungen  ftattgefunben 
haben,  unb  bann  beuten  viele  ©rfeßeinungen  barauf  tun, 
baß  feit  ber  Sßergletfcherung  be«  baltifdjen  ©ebiete«  ein 

(473) 


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12 


bebeutenb  größerer  Zeitraum  oerftridjett  fein  muß,  als  bie  Sfjeorie 
crgiebt. 

SereitS  feit  anbertfjalb  Sahrhunberten  fjaben  bie  Stiften 
ber  Oftfee  einen  flaffifdjett  Sobeit  abgegeben  für  f)öd)ft  wichtige 
^Beobachtungen  ^infic^tlic^  einer  anberen,  üielfadj  erörterten 
geologifdjen  (Srfdjeinung.  (SS  Ijanbelt  fid)  babei  um  bie  Ser- 
änberungen,  bie  währenb  ber  fjiftorifdjen  $eit  in  ber  ^Begrenzung 
t>ott  fiaitb  unb  SBaffer  ftattgefunben  ^nben.  3)er  fchwebiidje 
©elchrte  GelfiuS,  ber  greunb  beS  SinnäuS  (beffen  91ame  am 
meiften  baburd)  befannt  geworben,  weil  er  ben  glüdlidjcn  ©riff 
that  eine  ®cjintaltbeilung  ber  £fjermomcterffaIa  an  bie  Stelle 
ber  früheren  unpraftifdjcn  Xiteilungen  zu  fteden),  fammelte  juerft 
im  Anfänge  beS  «origen  SafjrhunbertS  bie  Ueberlieferitngen, 
weldje  unter  ben  Siiftenbewohnern  beS  bottnifdjen  ÜJieerbufenS 
über  baS  langfame  Steigen  ber  Stifte  beftanben.  (Sr  tlfat  aber 
nod)  mehr  — an  bein  felfigeit  ©cftabe  würben  oielerortS 
3eid)en  in  baS  ©eftein  cingehauen  unb  biefe  fonnten  ju  fpäteren 
efaften  SKeffungen  gebrandjt  werben.  SluS  ben  «ielen  jeßt  oor* 
liegeitbett  SBatime^mungen,  Sergleidjungeit  unb  f)iftoriffc^eii  91uf- 
Zeidptungeit  ergiebt  fid)  baS  unzweifelhafte  Siefultat,  baß  bie 
ganze  Oftfüfte  ©djwebcnS  unb  baS  gegeniiberliegenbe  Ufer 
ginnlanbS  wou  §aparanba  im  korben  bis  SarlSfrona  im 
©üben  in  Rebling  begriffen  ift,  b.  h-  immer  höher  über  ben 
Söafferfpiegcl  emporfteigt. 

3m  allgemeinen  nimmt  baS  SPiajj  biefer  ^Bewegung  non 
Sliorben  ttadj  ©üben  ab.  Sott  ben  «ielen  3a§ien/  welche  oor- 
liegen,  wähle  id)  nur  einzelne  unb  zwar  foldje,  benen  bie 
längften  $Beobad)tungSzeiten  zu  ©runbe  liegen.  Hnbere  ba- 
ZWifdjenfalleitbe  9J£effungeu  finb  weniger  znoerläffig,  toeil  fie 
nur  auf  einer  oierzehujährigen  ^Beobachtung  beruhen. 

Sei  ber  ^afenftabt  ißitea  in  65°  91.  ©reite  beträgt  bie 
©teigung  für  ein  3ahrhunbert  1,26  m;  an  ber  Stifte  beS  Sirch- 

(474) 


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13 


fpiel§  Satan,  ein  ©rab  »netter  fiiblid),  ift  faft  bie  gleiche  3al)l, 
1,23  m,  fonftatirt,  unb  bet  ber  bebeutenben  £>anbel§ftabt  ©efle 
in  60°  S.  Sr.  fonb  man  für  ben  gleichen  Zeitraum  nur  0,85  m. 
©üblich  öom  60.  Sreitengrabe  liegen  feine  genauen  Slcffungen 
oor.  3tt  ber  Umgebung  non  Stodljolm  (59°  30'  91.  Sr.)  unb 
ftalmar  (56°  30')  lägt  fiel)  auS  Slenberungett,  bie  im  Saufe  ber 
3eit  in  ber  Sage  öott  ©ebäubeu  unb  Säumen  ftattgefunben, 
bie  ^ebung  nod)  fdjäf}en  unb  gmar  »ttirb  fie  für  bie  Jfjauptftabt 
Sd)»oeben8  auf  0,25  m,  für  ftalntar  auf  0,15  m itt  einem 
3ktf)rf)unbert  angegeben. 

©ang  anber§  jeboef)  liegen  bie  Serfjältniffe  am  füblictjett 
©eftabe  beS  baltifchen  SDteereS.  Son  einer  ^jebuitg  be3  SanbeS 
in  f)iftorifdjer  $eit  ift  ^ier  feine  Sebe  mehr,  bagegett  taffen  fid) 
üielfad)  ülngeichen  ber  eittgegcngefe^ten  ©rfdjeinung,  eines  aH* 
mählichen  UntertaudjenS  ber  fladjen  ftüfte  unter  ben  SBafferfpiegel, 
auffinben.  §iergu  gehören  bie  ttntergegangenett  2SaIbmtgen  im 
SDtemel-Selta,  beren  Seftc  gegenmärtig  unter  ber  Oberffärfje  beS 
&urifd)en  |>affS  liegen,  bann  alte  Stcinpflafter  unb  anbere 
Slngeidjen  be§  cinftmalS  trodetten  SanbeS,  bie  jegt  ftänbig  über« 
fpiilt  finb. 

Sei  einer  Seurtljeilung  biefer  Serfjältniffe  ift  jebodj  mit 
größter  Sorficfjt  gu  »erfahren  unb  namentlich  gier  finb  längere 
fßerioben  ber  Seobadjtung  nötgig,  als  uns  bi«  jegt  gu  ©ebote 
ftegett.  Sor  allem  fann  eine  llfergerftörung  burdj  SSMettfdjfag 
ober  eine  neu  eintreteitbe  Stauung  ber  Strömungen  gmifcfjen 
geftlanb  unb  Unfein  leidjt  mit  Ueberflutgung  unb  Settfutig  beä 
SanbeS  üermcchfelt  »oerbeit. 

Sooiel  ift  aber  mit  Sidgergeit  nadjgemiefcn,  bie  Sdjmatt« 
fungett  gtüifcgeit  Sanb  unb  ÜDteer,  bie  Serfdjiebuttgen  ber  Stranb« 
linien  be$  baltifcgen  SUiftengebieteS,  gegen  nicht  überall  gleirfjmägig 
unb  in  ber  nämlidjcn  Sichtung  oor  fieg.  SMefe  Jhatfache  ift  »on  großer 
Sebeutung  für  bie  ©rflärungSuerfuche  be£  iutereffanten  ißhänonie,,S! 

(175) 


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14 


2)ie  ^Bewegungen,  welche  noch  gegenwärtig  im  ©ereile  ber 
Oftfee  ber  feften  Srbfrufte  inneguwohnett  fcheinen,  fmb  nichts 
weiter  al«  bie  gortfefcung  ber  Aufwärt«preffungen  in  oor- 
Ijiftorijdjer  3eit,  wie  fie  au«  ber  Höhenlage  ber  jüngften  SReere«- 
bilbungen  unb  bereit  (Entfernung  uom  jefjigen  ©tranbe  gefolgert 
werben  müffen.  ©owof)I  im  füblid)en  ©fanbinaoien  wie  im 
norböftlidjen  SJeutfdjIanb  fiitben  fid)  weit  in«  2anb  hinein 
3Reere«abfäße  mit  unzähligen  fReften  oon  ©eethieren,  welche  mit 
ben  jeßigen  ©ewohnern  ber  nörblidjen  2Recre  ibentifch  finb. 
3n  ©chwcben  ergeben  fid)  foldje  äRitfdjelbänfe  bi«  gu  einer  Höhe 
Bon  250  SRetern  über  ben  ©piegel  ber  Oftfee. 

Sin  ber  tief  eingefdfnittenen  fdjwebifchetx  SBeftfüfte  nörblid) 
Bon  ©otcnburg  liegt  ber  freunblic^e  Sabeort  UbbeDaQa.  ©eine 
Umgebung  Ija*  burcf)  biefe  fogenomtten  gehobenen  SRufchelbänfe 
eine  große  Berühmtheit  erlangt.  ®a  auf  ber  neuen  9toute  oon 
9Ralmö  nach  Gljriftiania  ein  Heiner  Abftecher  e«  ermöglicht 
UbbeBaHa  gu  befudjen,  laffett  fie  fid;  jeßt  mit  fieicßtigfeit  erreichen. 
SRachbent  man  bie  großartigen  STroü^ättafälle  befidjtigt,  ba« 
Jh“f  ber  ©ota-@lf  bewunbert  unb  ficß  an  ber  intereffonten, 
aber  geitraubenbett  gahrt  burdh  ben  SroHhäOafanal  ergöfjt  hat, 
Berläßt  man  in  2Bener«borg  bie  ^auptlinie.  ®ie  ©apn  führt 
junädbft  über  ein  Hochplateau  be«  ©ruitbgebirge«,  welche«  aus- 
gezeichnet fchöne  ©eifpicle  einer  fogenannten  Siunbhöcfcrlanbfchaft 
mit  ihren  burd)  ©letfcßer  abgehobelten,  gerunbeteu  unb  geglätteten 
Reifen  barbietet.  3n  ber  SRähe  be«  Orte«  fährt  ber  3U8  niit 
fteilem  ©efäfle  in  einen  alten  9Reere«fjorb,  ber  je(jt  faft  gättglich 
Bon  Ablagerungen  au«  jüugfter  3eit  erfüllt  ift.  ©ineSiheil« 
finb  e«'mäd)tige  ©letfdjerbitbungen,  9Roränen  mit  gewaltigen 
erratifcßen  ©loden,  anbenttheil«  bi«  gu  30  2Reter  ftarfe  An- 
häufungen Bon  ganzen  unb  getriebenen  ÜRitfchelfchalen,  oermifcht 
mit  etwa«  ©anb  unb  mit  oereingelten  ©eröllett.  3h*e  größte 
(Entfernung  oom  jeßigen  Ufer  beträgt  brei  Kilometer  unb  lagern 

(476! 


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15 


fie  unmittelbar  auf  ben  oon  ber  ©ranbung  glatt  gelecftcn 
©neifjfelfen.  die  9)iufc^eln  befielen  gröjjtcntheilS  aus  fofdjen 
formen,  bie  noch  jefct  an  ber  bortigeu  ftüfte  leben,  jurn  Streit 
aber  aus  Wirten,  bie  gegenwärtig  erft  in  fjöljeren  ©reiten,  in 
fälteren  3onen  beS  atlantischen  OjeattS,  angetroffen  werben, 
die  oöflig  gebleichten,  bid)t  auf  eiitanber  gepacften  ©chalett 
liegen  bis  in  einer  £öf)e  oon  60  ÜDtetern  über  bem  ©fager»9laf. 

dergleichen  Stnhäufungen  ber  ©chalen  oon  ©eethieren,  bie 
noch  gegenwärtig  Oft»  ober  Slorbfee,  jurn  dfjeit  beibe  SUieere, 
beoölfern,  werben  nun  auch  angetroffen  auf  ber  Snfel  Oefel  ltnb 
ben  übrigen,  bem  SRigafdjen  SDleerbujeit  oorgelagerten  Snfeln,  fowie 
an  ber  Sfüfte  oon  (Sfthlanb.  £>ier  erreichen  fie  jebodj  nur  eine 
£wf)e  oon  10  ÜJletern  über  bem  SDieereSfpiegel,  wieber  ein  ©eweiS 
bafür,  bafc  ein  Smporfteigen  beS  SanbeS  im  füblichen  dheile 
beS  baltifchett  ÄiifteugebietS  bebeutenb  langfamer  oor  fich  geht, 
als  bieS  im  Siorbett  ber  galt  ift. 

daSfclbe  gilt  für  bie  nörblidjen  dl)eile  Sänetttarfs,  für 
3ütlanb,  $ünen,  ©eelanb,  fowie  für  SÜtöen  unb  ©ornholm.  ?Wer» 
roärtS  jeboch  giebt  fid)  nörblich  oon  einer  Sinie,  weldje  giter  burch 
dänemarf  oerläuft  unb  bann  jwifdjen  fRiigen  unb  ©ornholm 
hinburch  nach  ßurlanb  hiitüberfejjt,  ein  langfameS  ©teigen  beS 
ßrbfefteit  3U  erfettnen.  ©ntroeber  liegen  alte  ©tranblinien  in 
1,5  SJJeter  $ölje  über  bem  jef)igen  mittleren  Söafferfpiegel,  ober 
neue  Snfeln  finb  in  h'ftorifcher  3«it  entftanben,  ober  ©anbbänfe 
unb  Untiefen  oerbinben  jefct  SanbeStheile,  bie  früher  burd)  fahr» 
bares  SSaffer  getrennt  würben. 

Sange  3«ü  hot  über  bie  Urfadje  biefer  (Srfcheinung  bie 
gröfjte  Unflarheit  geherrfdjt  unb  3toar  houptfächlid)  baburdj, 
weil  mau  bie  langfameit,  fogenannten  fäfularen  Hebungen  unb 
©eufungett  ber  jüngeren  unb  jitngften  GSntmicfelungSftabien 
unfereS  ©rbförperS  ftetS  für  etwas  gattj  anbereS  angefehen  hot, 
als  biejenigen  ©erfdjiebuttgen,  welche  ttnfcre  ©ebirge  gebilbet  unb 

(477) 


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16 


f)od)  über  baS  äReereSniueau  aufgetfjürmt  haben,  $te  berühmten 
(Steilufer  ber  baltifrfjen  Unfein,  bie  ftlintS  auf  ÜRöen  unb  SRiigen, 
haben  jebodi  in  attcrjüngfter  $eit  burdj  eine  neue  unb  jebenfatlg 
richtigere  Huffaffung  ber  SagerungSnerhältniffe  ben  Scfjfüffel  jur 
©rflärung  geliefert.  SDort  liegt  bie  ©ruubmoränc  beS  biluoialen 
©letjdjerS  aflermärtS  im  gleichen  9iioeau  mit  ben  bebeutenb  älteren 
Sreibefchichten.  ©ie  ift  an  ben  SJänbern  eines  ©enfungSfelbeS  att 
©palten  hinabgefunfcn,  unb  liegt  jeftt  neben  älteren  ©c^ic^ten 
ganj  in  gleidjer  SSeife  wie  in  unferen  ©ebirgen  bie  aJiecreS» 
bilbungen  ber  oerfd)icbenften  SllterSftufcn  uebeneinanber  liegen. 
SSir  haben  es  baher  audj  hier  im  »oüften  ©inne  beS  SBorteS  mit 
©ebirgSbilbung  ju  thun.  3m  füblidjen  SCfjeire  ber  Oftfee  ift  nad) 
ber  ©letfcherjeit  eine  ©enfung  cingetreten,  unb  infolge  beffen 
muhte  baS  Saub  im  ÜRorbeit  fdjeinbar  fteigen,  inbem  baS  2Hcer 
fidj  oon  ber  Äüfte  surütfjog.  ®iefe  ©enfung  geht  nodj  in 

hiftorifdjer  geit  t>or  fid)/  hat  aber  bebeutenb  an  Sntenfität  ab* 
genommen  unb  wirb  nach  unb  nad)  ganj  aufhören. 

SBir  haben  bcmnacf)  bie  3nfeln  beS  baltifchcu  äReereS 
aufjufaffen  als  bie  hödjften  fßlateauS  eines  ©choUcn*  ober 
JcrraffengebirgeS,  welches  jum  größten  Steile  unter  bcm  Spiegel 
beS  ÜReereS  verborgen  liegt.  ©S  liehe  fich  als  baS  baltifche 
©ebirge  bejeidjnen,  welches  erft  nach  ber  ©letfdjerperiobe 
feine  jefjige  .fjöhe  unb  ©eftalt  erlangte. 

3n  ber  SBiffenfchaft  ift  jebcSmal  bann  ein  bebeutenber 
gortfchritt  ju  t>erjeid)nen,  menn  cS  gelingt  jtoei  fdjeinbar  »er* 
fdjiebeite  Stfatureridjcinnngen  auf  eine  unb  biefelbe  ©rutiburfache 
^uriidjuführen ; wenn  mir  üoit  neuem  erlernten , bah  eine  unb 
biefelbe  Straft  fidj  unferen  ©innen  in  ganj  oerfdjiebener  SBeife 
offenbaren  fann.  SRid)t  bloh  tritt  eine  Vereinfachung  unb  baher 
eine  Verbeffernng  unferer  Slnfchauungen  ein,  — bie  harmonijche 
©eftaltung  beS  SBeltallS  jeigt  fich  immer  mieber  in  ihrer  ganzen 
©rohartigfeit  unb  ©rhabenljeit! 

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17 


3n  biefem  fpccicüen  galle  ift  bie  Deränberte  löeurtfjeilung 
ber  33ewegungSerfd)einuttgen  in  bei-  €ftfee  ttod)  beSfyalb  oon 
SBidjtigfeit,  weil  fie  erlaubt  nun  enbflültig  gtt  brechen  mit  bem 
alten  ©tauben  an  ein  wirflidjeä  ßntporbeben  irgenb  eines 
£f)eileS  ber  feflen  ßrbfrufte! 

Ueberblicfen  mir  nun  bie  ÜRefuItate  ber  neueren  geologifdjett 
Unterjudjuitgett  in  beit  baltifdjen  Äüftenlänbern,  fo  fommeit  mir 
gu  ber  nadjfolgenbett  Jluffaffung : 

3ur  3e'1/  at$  ber  gewaltige  notbifd)e  ©letfdjer  fid)  von 
bent  ffanbinavifd)ett  ©ebirge  weit  füblid)  inS  flacfje  fiattb  er- 
ftreefte,  war  bie  heutige  Oftfee  ttod)  nidft  vorljanben.  2Bo 
gegenwärtig  ein  gerftüdelteS  Snfelreid)  von  ben  glut^en  beS 
SJieereS  umwogt  wirb,  bcfinte  fief)  ein  nichtiges  f^eftlanb  mit 
wenigen  parallelen,  im  gangen  unbebeutenben  ^ö^eugiigen  aitS 
uttb  über  ba^felbe  feftob  eine  mächtige  ©iSbecfe,  belabeit  mit 
ben  Krümmern  beS  Vorgebirges,  langfam  aber  unaufljaltfam 
Ifinwcg.  ®ie  83erf)ältniffe  müffen  amtäfjernb  bicfelben  gewefen 
fein  wie  biejenigen  beS  heutigen  ©rönlanbS.  23ergteid)t  man 
bie  SluSbe^nung  biefeS  ©ebieteS  mit  berjenigen  ber  baltifrfjen 
SHegiou,  fo  oerfdjwinbet  baS  gweifelttbe  Staunen,  weldjeS  ber 
3bee  eines  völlig  vergletfdjertcn  nörblic^en  ßuropaS  gemöfynlid) 
entgegengebradjt  wirb,  derjenige  £l)eil  ©rönlanbS,  wcld)er 
gegenwärtig  oon  einer  nie  fc^meljenben  ßisbede  iiberfruftet 
wirb,  erftredt  fid),  fo  weit  jefet  befanttt,  über  gwaitjig  33reitett- 
grabe,  nach  korben  ftetig  an  Sireite  gune^menb.  TaS  ßis 
nimmt  lper  e>n  ®real  ein,  welches  baS  baltifcf)e  ©ebiet  im 
weiteften  Sinne  famt  ben  englifdjcn  Sttfcln  umfaffen  würbe. 

Sßäfjrenb  gegen  Süben  baS  mit  ßiS  belabene  Sattb  fid) 
bis  an  bie  erften  f)öf)eren  ßrljebtingett  unfereS  beutfd)en  93ater« 
taubes  auSbefjnte,  lag  im  Cften  ein  weites  SJieer,  an  ber 
Stelle,  wo  gegenwärtig  ginnlanb  uttb  baS  niebrige,  waffer- 
reidje  ©ebiet  beS  norbwcftlidjen  SRufjlanbS  auf  ber  fianbfarte 

Sammlung.  S.  0.  V.  109.  2 <479) 


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18 


erftfjeint.  äSahrfdjeinlich  [taub  basjelbe  mit  bem  jeijigen  Skißen 
ÜDieere  unb  folglich  mit  bcm  (SiSmeer  in  SBerbinbung,  jeboch 
hat  bie«  nod)  nicht  mit  ©ewißheit  nachgewiefen  werben  föttnen, 
ebenjowenig  wie  e$  noch  gelungen  ift,  genau  bie  Äiifte  ju  be* 
Zeichnen  beS  jefjt  oeridjwunbenen  biluoialcn  Kontinenten. 

©rft  nach  ber  Sinjeit  be$  mittleren  unb  nörblidjen  ©uropa& 
bilbeten  fid)  bie  Senfuitgöfelber,  weld)e  eine  io  bebeutenbe  SSet* 
fdjiebung  ber  Küftenlinien  unb  eine  jo  große  Slenberung  in  ber 
ffiertffeilung  oon  £anb  unb  SBaffer  Ijeroorriejen. 

(Sn  erflärt  fid)  nun  and)  ungezwungen,  wen^alb  bie  norb* 
beutjdjen  Küftengcbiete,  namentlich  Söeftpreußen,  fjiomment  unb 
'Diedlenburg,  ooHfomnien  beit  gleidjen  ©harafter  tragen  wie 
jäintlidje  Jljeile  Sänemarfn,  wie  'Jiügeit,  bie  größte  Snjel 
an  ben  beutjdjen  Äüften,  unb  wie  bie  fiiblidjen  ^rouinzen 
Scfjwebenö,  namentlich  Schonen  unb  ber  größere  2f)eil  t>on 
ölefinge.  2)ie  bcjeidjiieitbe  Formation  ift  überall  bie  oormalige 
©runbmoräne,  ber  ©efd)iebelehm  mit  feinen  fich  in  allen  Ihe‘len 
biefen  einftmain  jufammenhängenben  Siaubcn  gleicf)bleibenben 
heroorragenben  @igenjd)aften,  — mit  feiner  grud)tbarfeit  unb 
©rgiebigfeit  für  SBalb-  unb  Sltferbau,  mit  feiner  ©rttährungS* 
fähigfeit  für  SJienjd),  $h'er  »nb  ^flanje! 

Slbwechfelung  unb  ©lieberung  in  biefem  oon  oornherein 
jebenfaün  ^oc£)ft  einförmigen  ©ebiete  haben  erft  bie  jpäteren 
öreigniffe  heroorgerufen.  Söie  auf  bem  geftlanbe  bie  Senfungg* 
felbcr  unferen  jeßigeu  glüffen  ihren  2Seg  angewiefen  unb  jur 
Gilbung  ber  IX^alalluoionen  mannigfadjfter  Slrt  bie  SJeran* 
laffung  gegeben  haben,  fo  führten  fie  im  baltifchen  ©ebiete  baS 
ÜJieer  herbei.  2)urd)  feine  2f)ätigfeit  würbe  an  einer  Stelle 
baö  geftlatib  jerftört  unb  an  anberer  Stelle  oergrößert;  überall 
nagte  e$  an  ben  Kiiften  unb  oerarbeitete  e3  bie  locferen  ©efteinS* 
bilbungeit  ber  ©isjeit.  9lacf)  unb  nach  entftanben  auägcbehnte 
ebene  glädjcn  oon  Sanb  unb  ©eröllen,  auö  benen  alle  feineren, 

(4HO) 


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19  __ 

flammigen  If)et(e  reeggefpiilt  unb  aitSgereafcheu  finb  — geft- 
laub  unb  Sttfeln  erhielten  ben  jo  überaus  mistigen  ©tranb! 

Aber  fe^r  ungleidjmäfjig  ift  biefcr  ©tranb  au  beit  llfcnt 
ber  Cftfee  Dertfjeilt.  greei  iJfaftoren  fomnten  für  bie  Cber- 
pd)engeftaltung  biefel  iiiitgften  geologifcheu  ©rjeugniffel  in 
©etradjt.  gorm  unb  Sage  ber  Hüftenlinie  einerfeitl,  bie  Slidjtung 
ber  oorherrfcheitbett  2Binbc  anbercrfeits,  fdjreibeit  ben  UJiccreS- 
reellen  ihre  Il)ätigfeit  Dor.  SDlattdjer  Stufte  fehlt  ber  ©tranb 
gänzlich;  ber  ©efd)iebelef>m,  Dielfad)  Don  ben  SBeflen  angenagt 
fteigt  bann  unDermittelt  aus  bent  üJieere  empor  unb  bilbet  ein 
Steilufer,  umfäumt  non  gewaltigen  Anhäufungen  ber  auSge- 
reafd)eneit  ©löde.  dergleichen  fdjroffe  Abftürje  unb  cftflopifd)e 
fRiugroälle  finb  gereift  manchen  meiner  fiefer  Dott  ber  pommerfchett 
Hüfte  unb  ber  Snfel  fRiigen  h**  befannt  unb  oieHeicfjt  in  utt* 
frennblidjer  (Srinnerung.  3d)  brauche  in  biefer  ®ejiehung  nur 
ben  ©pajiergaitg  bei  ©Öhren  um!  Dlorbpeerb,  ober  bet  ©inj 
am  gufje  bei  herr^^et1  ©ronifcer  SßalbeS,  ober  ben  2Seg  am 
ÜJfeereSufer  jreifchen  ©afjnit}  unb  ©tubbenfammer  auf  ber  §atb* 
infei  StaSmunb  in!  ©ebäd)tttifj  juriicf  jurufen ! 

©ei  ben  Dorhergehenben  ©etradjtuttgcn  ha&e  i<h  0011  ^er 
Cftfee  als  Don  einem  einheitlichen  3J?eere  gefprodjen,  ohne 
barauf  einjugehett,  bafj  ber  ßharafter  beS  ©altifchen  ÜJJecreS  itt 
feinem  roeftl  idjen  unb  üftlichen  dhe**e  beträdjtlid)  oerfchieben  ift 
Allel,  real  auf  diefeitDerhältniffe,  Snfelbilbung,  Hüftenform 
u.  f.  re.  ©ejug  fjot,  swingt  uni  jebod)  für  beibe  dhe'^e  0er' 
frfjiebene  ©ilbungljeiten  unb  Derfchiebene  (SntftehungSreeifen  an- 
junehmeit.  9lur  möchte  id)  bie  ©rett^e  jreifchen  einer  recftlichen 
unb  öftlichen  Cftfee  etreaS  anberl  legen,  roie  biel  gewöhnlich 
oon  beit  ©eograpfjett  gefdjieht. 

Üritt  man  nämlid)  biefer  2frage  Don  ber  geologifchen 
©eite  näher,  fo  flößt  man  auf  bie  faft  itt  ber  SDJitte  jreifdjen 

2*  (4811 


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20 


®eutfdjlanb  mtb  ©djweben  liegenbe  Snfel  Sornbolm  als  ein 
bon  SerwerfungSfpalten  begrenzte«  ©tüd  ©rbfrufte,  burcb  meiere 
eine  natürliche  ©reitje  für  baS  baltifdje  ©ebiet  ^inbnrd)ge£)t. 
®iefe  Snfel  wirb  baburcb  »on  ber  größten  Sebeutung  für 
bie  ©eologie  ber  Oftfee,  weSbalb  fie  eS  wofjl  »erbient,  baß 
wir  uu$  etwas  näßer  mit  ihr  befcbäftigen , unb  bieS  um  fo 
ntet)r,  als  fie  ju  gleicher  3eit  aud)  gefchichtlid)  ein  ^o^eS  3nter« 
effe  hat. 

®ie  Heine,  nur  610  Ouabratfitometer  ober  etwa  ll1/* 
bcutfche  Ouabratmeilen  meffenbe  Snfel  befielt  ju  */s  aus  ©ranit, 
gehört  baljer  jurn  größten  Jtjcitc  einer  geologifd)en  Formation 
an,  weldje  ber  weftlidjen  Oftfee  »otlftänbig  fremb  ift.  SBeber 
in  Sommern  unb  SDledlenburg,  nod)  in  SDänemarf  unb  im  füb* 
weftlidjen  ©dj weben,  trifft  man,  abgefefien  »on  ben  ©ef djieben, 
©ranit  unb  oerwanbte  ©efteine  an.  2>iejeS  frbftatlinifd)c 
©ebirge  feßt  bagegen  bie  ganje  Dorbfüfte  SorubolmS  jufammen 
unb  erhebt  fid)  aud)  an  einem  2f)eile  ber  SBeft«  unb  Oftfeite  in 
fdjroffeit,  romantifd)en  gelspartien,  an  welchen  bie  SBeöen  beS 
DieereS  fid)  bredjen.  @S  wirb  hier  ein  »orjüglidjeS  Saumaterial 
gewonnen,  baS  in  großen  SDiaffen  nach  Stettin,  Königsberg, 
Hamburg  unb  Sremeit  »erlaben  wirb. 

SDaS  ©ranitgebiet  ber  Snfel  bat  reichlich  uiermal  bie 
©röße  bcS  granitijdjen  SrotfengebirgeS  im  |>arj  unb  fteigt 
überall  unmittelbar  aus  bem  Sßaffcr  empor,  woburd)  ber  lanb- 
fcbaftlidje  Gbavafter  aud)  ein  wefeutlich  anberer  wirb  als  ber< 
jenige  fRiigcnS.  $aß  man  jebod)  uidjt  berechtigt  ift  auf  Sorit< 
bolm  ben  ausgeprägten  ^ocßgebirgScbarafter  beS  SrodenS  ju 
f neben,  gebt  bereits  aus  bem  Unterfd)iebe  in  ben  £öben»er> 
bältniffen  berüor-  2öäl)renb  im  £)arj  bie  granitifcbeit  ,§od)> 
ebenen  fid)  bis  ju  600  unb  800  Dieter  erbeben,  babei  »on 
Sergen  überragt  werben,  bie  1000  unb  1100  Dieter  £>öbe 
erreichen,  beirägt  bie  böcbftc  Srbcbung  unferer  3ufel  162  Dieter 

(482) 


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21 


unb  bie  burchfdjnittlidje  iüicereShöhe  beS  ©ranits  überhaupt 
nur  95  bis  125  Bieter. 

tiefes  niebrige  ©ranitplateau  wirb  außerbem  oodftänbig 
iiberbetft  oon  ben  nämlidjen  lodern  ©efteiuSbilbungcn,  bie  wir 
als  bie  ©rjeugniffe  beS  ffanbinaoifd)en  QJletfcf)cr§  aus  ber  3)ilu» 
oialjeit  fennen  gelernt  haben.  Sfur  bort,  reo  biefe  leicht  3er» 
ftörbaren  SJiafjen  oont  Siegen  roeggefdjreenimt  reurben,  reie  in 
ber  9tälje  ber  ^pammerfefte  auf  ber  äußerften  Sforbfpifce  ber 
Snfel,  tritt  ber  ©ranit  ju  Jage  unb  jeigt  bann  burd)  bie  ge* 
glättete  unb  gefrifcte  Oberfläche  feiner  gelfen,  baß  einftmalS  ber 
norbifcfje  SiSfoloß  auch  über  ihn  fid)  ^intoeggefcfjoben  hat. 

Xie  ©teilränber,  reelche  Sornholm  ihre  .pauptanjiehung 
Berleifjett,  bie  fturmumreogten  Klippen  unb  tief  eingefdjnittenen 
Jelfenfchluchten  ihrer  Sfiifte  oeranlaßten,  aud)  fie  oerbanfen 
i|re  ©ntfiefjung  ©palten,  an  reellen  ringsherum  große  Srb* 
fdjoüen  fich  loSgelöft  haben  unb  in  bie  2iefe  gefunfen  finb. 
2>ie  gortfefeuttg  biefer  23rüd)e  finbet  fid)  in  ber  ©ranit3one  beS 
füböftlidjen  ©chreebenS,  unb  hicrburd)  erreeift  fich  bie  3ugehörig« 
feit  SornfjoltnS  31t  biefem  3:^eile  ©fanbinaoienS.  @S  läßt  fich 
nicht  mit  ber  gleidjen  Seftimmtheit  reie  für  fRügett,  äJiöen  unb 
bie  reeftliche  Oftfee  überhaupt  nadjreeifen,  baß  bie  ©eitfungS* 
felber,  welche  Sornljolm  umgeben  unb  jeßt  oon  ben  glutljen 
ber  Oftfee  erfüllt  finb,  erft  it ad)  ber  ©letfdjerseit  entftanben. 
$enfbar  erfdjeint  eS  immerhin,  baß  eine  mehrere  fjuttbert  Bieter 
mächtige  ©iSmaffe  baS  ©enfungSgebiet  oon  80  bis  100  SJieter 
liefe,  welches  unfere  3nfel  ootn  fchreebifchen  geftlattbe,  foreie 
oou  Oelanb  unb  ©otlanb  trennt,  einft  oollftänbig  auSgefiißt 
hat.  s^^t)fifalifdje  ©rünbe  jebod)  machen  bieS  wenig  roafjrfchein» 
lieh  unb  brängt  oielmehr  afleS  31t  ber  Slitnahme,  baß  auch 
biefe  $Serfd)iebungen  erft  am  ©nbe  ber  $iluöial3eit  oor  fich 
gegangen  finb. 

SebenfaßS  ift  ©oritholm  ein  ©tüd  oon  ©fanbinaoien  unb 

(4S3) 


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22 


trägt  ba#  biiftere,  erhabene,  jurn  I^eil  wilbe  ©epräge  be# 
SRorben#.  fRiigen  bagcgen  ift  ganj  imb  gar  beutfch  — bort 
ergebt  fic^  ber  bcutjche  Sudjcnwalb,  bort  finbet  fid|  bcr 
bcutfdje  ©tranb  — ganj  wie  in  9Redlenburg , genau  wie  in 
fßommern. 

2öie  bie  Sttfel  felbft,  jo  finb  aud)  bie  Sewo^ner  SBorw 
holm#  urfprünglid)  fdjwebifd).  3)ie  33eüöl!erung  ift  jefct  jcbocf) 
mit  §erj  uub  Seele  $änemarf  jugethan,  tro|bcm  fie  bi#  in« 
elfte  3atjrf)unbert  unabhängig  war  unb  oon  eigenen  Sönigcn 
regiert  würbe.  SSahrfcheinlid)  famen  bie  Sornljotmer  fdjon  an 
3)äncmarf  jur  $eit  bcr  ©infiihruug  be#  G^riftentbum#  burdj 
ben  au#  ber  ©efdjidjte  wohfbefannten  fchwebifch-bänifchen  Söifcfjof 
©gino  oon  finnb. . 

2rop  ber  SRähc  ber  fdjwebifcfjen  $üfte  (36  Nitometer)  unb 
ber  geringen  ©ntfernung  $eutfd)lanb#  (Sotberg  in  fßommerti 
87  Kilometer)  finbet  bcr  S3erfef>r  gegenwärtig  faft  au#fdjlicj3ti<f) 
mit  Kopenhagen  ftatt  uub  wirb  berfelbe  burdj  Kämpfer  mit 
Dänemarf#  |)anptftabt  «ermittelt.  $Bon  bort  fährt  täglich  f>n 
fleine#,  aber  gut  eingerichtete#  tßoftfcf)iff  uad)  fRönnc,  bem 
bebeutenbften  $afeit*  unb  £>anbel#plap  ber  Snfel.  Smmerhin 
ift  bei  giinftigem  SBiub  unb  SBetter  eine  jehnftünbige  Seefahrt 
erf orberlich,  um  nach  ©ornljolm  ju  gelangen,  währenb  oon 
Stettin  au#  bie  $af)rt  nur  G1/«  Stunben,  oon  Kolberg  unb 
Stralfunb  5 Stunben  bauern  würbe. 

SDie  SBornhotmer  SRunbart  ift  eine  eigeitt^ümticfje  unb  felbft 
für  ben  Kopenbagener  unoerftänbtid).  äRan  fönnte  fie  al#  ein 
fßlattbänifd)  bejeidpien,  in  welchem  fief)  uod)  fRefte  bcr  alten 
gotlanbifchen,  jept  oerfchwuubenen  Spradje  wieberfinben  foflen. 
®iefelbc  ift  in  mehreren  3nfchriften  erhalten  geblieben,  oon  benen 
eine  ber  bebeutenbften  ba#  berühmte  Saufbeden  an#  ber  Kirdie 
$u  Safirfebt),  ber  älteften  Stabt  bcr  Snfet,  trägt.  5$on  biefem, 
au#  ber  jweiten  £>älfte  be#  breijet)nten  Sahrljimbcrt#  ftammenbeit, 

(4SI) 


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23 


au«  ®ottnnber  Sanbftein  gemeißelten  Sauffteine  ift  in  nadp 
fteljenber  $i(Uir  ba8  au«  iterrafotta  gefertigte  ÜJiobell  unb  barnnter 
bie  Srflarung  ber  in  fRunen  gehaltenen  3nfcf)riften  roiebergegeben. 


Sfr  Xaufftrin  in  ber  HirAf  tu  Ünfirftbp 
an»  bom  btfitfbntfn  3af>rbunbtrt 


3t it i rf) r i f t be« 
Ditta  ir  santi  Gabrel  ok  seghdi 
santa  Maria,  at  han  sktildi  barn 
fyda. 

3nfd>rift  be«  • 
Ditta  ir  Kliznbed  ok  Maria  ok  hails 

US. 

gnidjrift  be«  britlen 
Hiar  hwilits  Maria,  sum  bann  barn 
fyddi,  skapera  himi  | u | z ok 
jordar  sum  oss  loysti. 


elften  gelbe«: 

2!ie«  ift  St.  (üabriet  unb  ber  fugte 
tu  St.  ®?aria,  bajj  fic  ein  ßittb 
gebären  iolltc. 

jroeiten  gelbe«: 

$ie«  finb  TOaria  unb  Cflifabctl) , bie 
fid)  begrü&en 

gelbe«,  auf  ber  Säule: 

§icr  ruljct  Siaria , bte  ba«  fiinb 
gebar,  ben  Sd)i>pfer  be«  Jpitnmcl« 
unb  ber  Srbc,  ber  un«  crlöftc. 


Sfnfdjrift  bc«  pierten  gelbe«; 

Ditta  iro  pair  prir  kunungar,  sum  3}ic«  finb  bie  brei  Sinnige,  tucldje 
kristi  iriardti  ofTr  warum  drdtni.  tarnen,  um  Gljrifto  unferem  £icrru 

Opfer  tu  bringen. 

gnftbrift  bes  fünften  gelbe«; 

Hiar  tök  bann  widr  kununga  oft'ri,  $icr  empfing  er  ba«  Opfer  ber 
warr  drötinn.  Slünige.  — unfer  .fSerr  — 


gnl'tfjrift  bc«  fed)«ten  unb  iiebenten  gelbe«; 


Hiar  ridu  pair  burt  prik  kunungar, 
sidam  pair  offrat  hafa  örum 
drätni  gudi. 


,f>ier  ritten  fic  roeg,  bie  brei  Üötiige, 
nadjbem  fic  unferem  Ferrit  ©oft 
Cpfer  gebracht  batten. 

(4S.i) 


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24 


3n)'cf)rift  6c«  achten  c I b c ö ; 

Pair  pet  hiar  frani  säghu.  Sie  ialjen  oorau«,  loa«  ^ier  ein« 

treffen  würbe. 

3nfd|rift  be«  neunten  Selbe«: 

Jodar  töku  wärm  dröt  in  ok  berdn  $ie  Subcn  nahmen  unfcren  £erm 
kann  widr  tri  ok  gettu.  nnb  geißelten  if)n  an  ber  Pforte. 

Snfcfjrift  be«  jehnten  Selbe«: 

Sidam  laddu  pair  hann  burt  piadan  9Ja<f|t)er  führten  fie  i$n  gcbunben 
hundinn.  weg. 

Snidjrift  be«  elften  Selbe«: 

Ok  neghldu  hiar  Jodak  Jesus  ä Unb  hier  nagelten  bie  Suben  Sei«« 
kruss.  an«  Sfreuj. 

Si  fram  ä pitta.  Stelle  bir  bie«  Oor. 

9luf  ber  Säule  ber  9tamc  be«  ©tlbtjauer«: 

„Weiftet  Sigbraf." 

Der  gröfjte  2§eif  ber  Snfef  ift  fe^r  fruchtbar  unb  fann  fiep 
fRügen,  fotuie  beit  fonftigen  probuftioen  ©egetiben  in  Sommern, 
ben  übrigen  Jtieilcn  $äncmarf8,  futuie  ber  fchwebifcpen  fßrooinj 
©cpoiien  breift  an  bie  ©eite  fteflen.  ©täbte  finb  wenige  öor» 
panben  unb  alle  Mein,  gröjjtentheifS  au§  niebrigen,  einftöcfigen 
|>äufern  befte^enb.  Dörfer  giebt  e8  gar  feine,  ba  auf  ber  ganzen 
gnfef  eine  ©üterbennrtfjfdjaftung  ^errfcf)t  unb  biefefbe  baffer  faft 
gleichmäßig  mit  ^Bauernhöfen  wie  befpicft  ift.  $a3  Sanbeigentpum 
ift  burcfftoeg  in  fleine  ©i'iter  getfjeift,  bie  30  bi§  60  preufjifcpe 
Üftorgen  umfaffen,  uiib  jjeber  Qngentffütner  ßat  feine  2Bof)n>  unb 
ffiirthfcfjaftSgebäube  möglicpft  in  ber  fDiitte  feines  SBefipeS  angefegt. 
2>ie  .ßäufer  finb  ganj  normiegenb  braunrotp  angeftridjen  unb  heben 
fief)  prädftig  »on  ben  grünen  gelbem  unb  ben  üppigen  Söalbungen 
ab,  ober  liegen  maferifd;  ani  SRanbe  ber  faftigen  Söiefen. 

SBäprenb  im  SUfittelafter  ©ecräuberei  faft  ba$  alleinige 
©etoerbe  ber  (Sinroohiter  bifbete,  befteßt  bie  40  000  ©eefen 
jähfenbe  Scoölferung  jefct  jumeift  aus  Slcferbaucnt  unb  gifdjern. 
®ie  iubuftriefleit  Unternehmungen  befchränfeit  fich  im  tt>efent= 
fiepen  auf  bie  ©eminnung  uon  Söaumateriaf  in  ber  gorm  non 
086) 


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25 


©rucfjfteinen,  3iegefti,  Mörtel  unb  fcuerfeften  Steinen,  baueben 
ift  bie  Slugbeute  au  Jtaoliu  unb  Serrafotta  oon  SBichtigfeit. 
Jer  frühere  Sergbau  auf  &of>len  ift  jutn  ©rliegen  gefommen, 
ba  le&tere,  toeldje  einer  jüngeren  geologifcheit  gormatiott,  ber 
oberen  Iriag,  ober  beit  fogeuaunten  r^ätifc^en  Schichten,  äuge« 
hören,  fitfj  alg  Ijödjft  unrein  unb  wenig  brauchbar  entliefen  buben. 

Ser  angenehmfte  unb  für  beit  Sourifteu  be^aglicfjfte  Sluf* 
enthalt  ift  bag  fturljnng  nahe  beit  bebeutenbeit  (Ruinen  beg 
Schloffeg  $ammerghitug.  Siefeg  a(g  93landg  $otel  befannte 
S8irthgf)aug  ift  für  einen  bebeutenben  grembenuerfefjr  eingerichtet 
unb  empfiehlt  fid)  bttrd)  feine  Sage  inmitten  ber  grofjartigften 
Partien  beg  ©ranitmaffiog  gaitj  befoitberg  jitm  längeren  9$er> 
nieilen.  Srog  ber  geringen  |>öhe  über  bem  SDleere  erinnem  bie 
mit  bidjtctt  (ßolftern  oon  |>eibefraut  uitb  28ad)holbcr  betuachfeuen 
gelten  ^ier  in  auffälliger  SSeife  an  bag  |>ochlanb  unb  bie 
Süftengegenb  im  Urgebirge  Sdjmebeitg.  ©ine  27*ftünbige  gagrt 
mit  bett  oorjüglidjcit  bänifcheu  (ßferben  unb  beit  gewanbten 
Kutfchern  führt  oon  (Rönne  nach  §ammerghuug.  Utibefitmmert 
um  bag  unebene  Serrain  unb  otjite  (Rüdfidjt  auf  bie  oielett 
jdjarfen  ^Biegungen  ber  fchmalen  SSege,  welche  ftetg  an  ben 
tSrenjen  ber  einjeliten  ©iiter  unb  |)öfe  angelegt  finb,  (offen  bie 
Sutfcher  auf  ©oritholm  ihre  (ßferbe  utiaufhaltfant  traben, 
brauchen  babei  jebod)  meber  (JSeitjche  noch  93rentfe. 

Sie  jwanjig  ttirdjeit  ©ornholmg  liegen  wie  bie  (Bauern* 
höfe  unb  ©iiter  (©aarber)  frcifte£)cnb  über  bie  ganje  gnfel  jer* 
ftreut  unb  ftamnteit  grögtetitfjeilg  aug  bem  (Mittelalter.  ©ine 
Sigenthiimlichfeit  biefer  Äircfjeit  ift,  bag  fie  jowof)l  jum  ©otteg* 
alg  firieggbienfte  erbaut  würben;  lefctere  SBeftimmung  ift  an 
ben  biden  (Kauern,  fowie  an  ben  fehleren  Pfeilern  unb  ©e* 
roölben  erfeitiibar.  Sie  äugettmauent  fiitb  mandjinal  8— lOgug 
bid  unb  mit  Sdjieglöchern  oerfehen,  wie  j.  93.  an  ber  höchft 
intereffaiiten  9Jt)(arg(irche  bei  Slafirfebp.  ©g  ift  bieg  eine  ber 

(487) 


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26 


Oter  fRunbfirdjcn  ber  Sinfel,  brei  ©todtoerf  ^ocfj  mit  einem 
SBaffenhaufe  unb  einem  bcfonbern  ©lodenthurme.  Sirdje  unb 
2:f)urm  finb  au§  unbehauenen  ©rattitblöden  erbaut;  runbum 
bie  2Iußenntatter  läuft  ber  3 guß  breite  Sßädjtergang. 

Eie  Sirdjen  fpieleit  eine  große  fRoflc  in  beit  gewaltigen 
Sümpfen,  welche  auf  ©ornholm  im  12.  unb  13.  Sahrßunbert 
jmifdjen  beit  Sönigen  oon  Eanemarf  unb  ben  ©ifchöfett  »oti 
fittnb  um  ben  ©efifc  ber  Snfel  nnitfjeten.  3n  ben  Sircßen 
fammelte  mtb  bewahrte  Die  ©emeittbc  ihre  Sßaffcn  uttb  nament' 
ließ  bie  Xfjürmc  bilbeten  wahre  SriegSarfenale.  Eiefe  finb  ba- 
malS  noch  unbebedt  gewefen;  ihre  jefcige  hödjft  eigentümliche 
£ols*  unb  ©djieferbebachuttg  erhielten  fie  erft,  als  ber  friegerifdje 
ßwed  aufhörte.  Eie  im  ganzen  fchmudlofen  ©ebäube  geben 
in  ihrer  ©eraitlagutig , in  ihren  fRunbbogen,  ^riefen  unb 
fßfeilerit,  ihre  ßugehörigfeit  311  beit  romanifdjen  ©anten  beut= 
lieh  5lt  erfentten. 

@3  erübrigt  mir  nun  ltodj  in  wenigen  $ügen  ein  ©Üb  oon 
bem  31t  entwerfen,  was  beit  Süftenlättbern  ber  Oftfee  eine  jo 
große  2Bicf)tigfeit  für  Slnthropologie  unb  Sulturgefchid)te  oer« 
leißt.  Eie  baltifdjcit  ©egenben  bilben  eine  uralte  ©tätte  ntenfdj' 
lieber  Ehätigfeit.  Eat)er  hat  bie  Srforfchung  ber  jüngften  5rb' 
(Sultur)fchichten  eine  große  Hitjahl  oon  ©egenftänben  3U  Inge 
geförbert,  welche  für  bie  Earfteflung  ber  geiftigen  unb  materiellen 
©ntwidelung  beS  ÜRenfd)engefd)led)t$  oon  fwroorragenber  8e> 
beutung  finb.  £>ier  begegnen  fich  ©eologie  unb  Slnthropologie, 
baher  auch  Sftaturwiffenfdjaft  unb  Sulturgefchichte;  beibeit  fällt 
bie  nähere  Unterfudjung  unb  Deutung  biefer  gunbe  anheim. 

©efottberS  reid)  an  Ueberlieferungett  aus  beitjenigen  weit 
3urüdlicgcnbett  feiten,  bie  noch  fdjriftlidjen  Sluf^eic^nuitgen 
irgeub  Welcher  21rt  geliefert  haben,  warnt  oon  jeher  bie  bänifdien 
Snfeltt  unb  Siitlanb,  fowie  iRiigen,  £>ibbenföe,  fRußben, 
©ilm  unb  bie  pommerfdje  Siifte  überhaupt.  EaS  föiufeum 

(t88) 


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27 


norbijdjer  SKtertljümer  im  Vänbjenspalai«  gu  ftopenljagen,  jo- 
wie  ba«  Sßromngiafmufeum  für  9ieut>orpommeru  nnb  jRügen  im 
SRatfjfjaufe  gu  ©tralfunb,  enthalten  in  auÄerorbentlidjer  fReid)- 
fjaltigfeit  SBaffen,  SBerfgeuge  unb  ©efäfje  au#  ber  älteren  unb 
jüngeren  ©teingeit,  ber  93rongeperiobe  n.  j.  ro.  @«  finb  bie 
inbuftrieöen  ©rgeugnifje  au#  ben  aüererften  SntwidlungSftufen, 
weldje  ber  3Renfd)  im  uörblicfjen  ©uropa  burdjmacfite!  9Ran 
erfennt  au«  ifjneit,  Weid)  gewaltig  langen  3e‘traum  biefe  t,Dr* 
(jiftorifdje  ^ßeriobe  umjajfen  mufj. 

9Bie  ba«  3ufammenf°mmen  ber  äfteften  antf)ropologijd)eu 
©egenftänbe  mit  ben  fRejten  au#geftorbeuer  Spiere  ber  glacialen 
®iluüialgeit  beweift,  fällt  ber  Anfang  biejer  ^ßeriobe  mit  bcm 
lebten  SRiitfguge  bc«  norbifdjen  ©tetfdjer«  gujammcn. 

S)ie  3njel  93ornf)otm  f)at  für  bie  präl)iftorifd)e  ßeit  feine 
geringere  Sebeutung  al«  irgenb  ein  Üljeil  ber  wcftlidjen  Cftjee* 
länber  unb  gwar  fd)ou  be«f)alb,  weil  fie  f)ier  weit  in«  SDiittef- 
alter  fjineingreift,  al«  in  anberen  ©egenben  f<f)on  fcfjriftlicbe 
Uebertieferungen  entftanben. 

©«  würbe  midj  jebodj  gu  weit  führen,  an  biejer  ©teile 
hierauf  ttäfier  eingugeben,  »ielmefjr  inöd)te  id)  bie  Slufmerffam- 
feit  meiner  Sejer  nod)  einige  ?lugeitblirfe  auf  bie  (Srseugni jfe 
einer  weit  jpäteren  3«it,  auf  bie  jogenannten  jRunenfteine,  lenfeit. 
$ieje  jtummen  unb  bodj  jo  berebten  3cu9en  on«  ben  äfteften 
feiten  be«  Gf)tiftentf)umä  irt  biejem  Guropa«  befreit 

eine  grojje  Verbreitung  im  gangen  ftüftengebiete  be«  Vattifdjen 
ÜDJecrc«.  @«  finb  ©rab*  unb  ^enfmäler  oon  ber  ücrjd)iebenfteu 
§orm  unb  ©röfje  mit  Sufdjriften  in  eigeut^iimfid^ett  ©djrift* 
geilen,  ntandjmal  aud)  mit  giguren  unb  beforatioen  3äd)uungen 
bebeeft.  ©tet#  hefteten  fie  au«  einem  eiitgigeit  grojjcn  Vtode 
ober  au«  einer  rof)  bearbeiteten  unb  an  ben  jRänbern  gugef)auciten 
©teinplatte.  2>ie  äfteften  jRunenfteinc  finben  jid)  bei  Selliuge, 
an  ber  Dftffifte  Siitlaub«;  fie  ftammen  au«  ber  gweiten  .jpälfte 

(489) 


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28 

beS  zehnten  ^ahrhunberts.  2)er  großen  ÜKef)rjaf)I  — unter 
otiberen  aud)  benen  aus  Vornholm  — roirb  ein  etroaS  jüngeres 
Sitter  augefcßrieben. 

$aS  SBort  Stune  bebeutet  Schriftlichen,  ift  aber  mit 
fämtlid)en  SBorten  im  Slltnorbifchen , ©otljijchen  unb  Slltljocf)- 
beutidjen  »ermanbt,  welche  bett  SSegriff  beS  ©eheimnißoollen, 
beS  Verborgenen,  in  fid)  fc^Iiefeen.  3d)  erinnere  nur  an  raunen 
im  9leuf)od)beutfc§en,  meines  heimlich  reben  bebeutet  unb  un§ 
im  Slltfjodjbeutfdjen  als  runa,  ©emurmel,  Slath,  entgegentritt. 
®a^er  mag  eS  fontmen,  baß  mir  nod)  jejjt  öielfad)  bie  Sinnen 
als  eine  Slrt  ©eßeimfchrift  ju  religiöfen  gmecfen,  als  fd)üfcenbe 
mpftifche  3ei<fjen  auf  SSaffen  u.  f.  m.,  ouffaffen. 

$>aß  gerabe  Schriftjeichen  — bie  SPlittel  jur  meitgeßenbften 
Veröffentlichung  unb  Verbreitung  oon  ©ebanfeit  unb  3bcen  — 
jugleicf)  bie  Vebeutung  beS  Verftecften  unb  Verborgenen  haben, 
muß  rnoßl  baburch  erflärt  roerben,  baß  bie  Stunen  nur  oon 
einjelnen  bevorzugten  klaffen  benußt  mürben  unb  bem  größeren 
Jfjeile  beS  Volles  unoerftänblicf)  roaren,  ober  ihm  erft  fpäter 
zugänglich  geroorben  finb. 

2>ie  norbifcßen  SRuneit  ber  @rab<  unb  3)enffteine,  mie 
mir  fie  im  ©ebiete  beS  Valtifdjen  äJleercS  finben,  finb  verhieben 
oon  ben  beut jdjen  ober  mar fomannifchen  8chriftjeichen,  bie 
mir  nur  als  auf  Pergament  gemalte  Vucßftaben  fennen. 

SluS  ben  norbifcßen  Siunen  unb  bem  norbißhen  Sllphabet 
(Futhork,  fo  benannt  nach  ben  erften  fedjS  Saut^eichen  f u th  o r k) 
foHen  fich  nach  einigen  gorfdjern  fpäter  bie  Schriftlichen  ber 
©othen  unb  Sltigelfachfen  entmidelt  haben,  bie  nod)  als  gotljijche 
unb  angelfädjfifcfje  Stunen  unterfchieben  merben.  Slm  meiften 
oerrcanbt  mit  ber  norbiidjen  SRunenfchrift  ift  bie  iSläubifcße 
Spradje,  meldje  jeboch  in  eine  noch  entferntere  ©poche  ber 
mettfdjlichen  Kultur  priicfreicht.  Slnbere  Sprachforfcher,  Z-  V. 
Sßilfjelm  ©rimnt,  hotte»  es  bafiir  baß  bie  Slngelfachfcn  ihre 

(490) 


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29 


fRunen  oon  beit  überelbifcf;en  Sacßfen  erhielten  uttb  mit  nacß  Suglanb 
bradjtcn,  wo  bie  ©cßrift  fid)  nur  wenig  erweiterte  unb  wenig  felbftänbig 
mtroideltc.  ©ritnm  führt  alle  9tunenfcf)rift  gemeinsam  auf  bie 
6 älteften  23ud)ftaben  beS  itorbifchen  SSIpßabetS  juriicf  ttub  ift  bcr 
nficßt,  baß  biefe  t>on  ber  großen  93ölfergruppe  in  ÜJJittelafien,  ben 
irbaren  be§  Haffifcßett  2lltertßum§,  auf  ißrer  SBanberung  nacß 
•ften  mitgebracßt  worben  finb,  als  fic  fieß  über  Europa  ergoffen. 

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tt  «.  (fpätrr  tjinjitßctommcti.) 


So  »erliert  fid)  ber  llrfpruug  bcr  fRunenfdfrift  in  bas 
graue  Sirtertßum,  wie  bie  Entfteßung  ber  Erbe  in  eine  ttod)  weit 
geßeimnißooflere  SBergaugenßeit.  Söeibe  haben  eS  gemeinfam,  baß 
jebe  feßrifttieße  Urfunbe,  jebe  Ueberlieferung  fehlt.  Es  finb  baßer 
fotroßf  bie  ®prad)forfd)er,  bie  ^nftorifer  wie  bie  ©eofogeu,  fobalb 
fie  bem  Urfprung  beS  jeßt  Sefteßenbcn  näßer  treten,  auf  Xßeorieit 
unb  £upotßefeu  attgewiefen,  we(d)e  fieß  ber  gefdficßtticßen  Ent* 
»itfelung  unb  Dem  jeßigeit  3uftan^e  tßunlicßft  anpaffen  muffen. 
$ie  jeßt  fofgenben  ffigureu  ftellen  oier  auf  Söortißolm  fieß 

(491) 


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30 


bcfinbenbe  fHunenfteine,  unb  jwar  in  bem  richtigen  93crf>ältniffc 
ifjrer  relntioen  ©röfje,  fowie  brei  in  3i’tttou&  angetroffene  SHunen* 
benfmäfer  bar.  33on  lejjteren  finb  bie  Sellinger  ©teine  bereits  oben 
erwäfjnt  worben.  $a3  auf  ber  uorfjergeljenben  ©eite  bargefteüte 
norbifrfje  SUpfjabet  entsaft  fiimtfidje  ©djriftjeidjen  ber  3n> 
fdjrifiett. 


2ct  gtofet  3tUingfr  ©tritt. 


9t u f ber  SJorberl'eitc  ftetjt: 

Hat  altr  kunuke  bad  g&urva  kühl  .§aratb  Siönig  lieb  madjen  bttit 
ilausi  aft  (lurtn  fadur  sin  auk  Senfmäler  nach  ®urm  ieintm 

aft  dourvi  mndur  sina  sa  Haraltr  'öater  unb  und)  feiner  betrauerten 

jassor  van  Tanmaurk  'DJutter.  Serfclbe  iparatb,  ber  ftd) 

geroann  Sänemarf 

gortfegung  unter  bem  Sradjen: 
ata  auk  Xurviak  unb  nuef)  Sioiroegcn, 

Unter  bem  C£Qriftuäbitb: 

auk  T | anmarkar  | kristno.  and)  bie  Säneu  ju  Sffriftcn  mflfbte. 


£er  oben  abgebitbete  große  Seflinfler  ©teilt  ift  ein  enormer 
erratifdjer  33locf,  ber,  wie  ©ajo  ©rammaticuS  berichtet,  burc^ 
eine  ganje  Mrtnee  oon  ÜJfenfdjen  unb  Ocfjfeit  Don  ber  Äüftc  fferbei* 

(■192) 


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31 

gefcfjafft  routbe,  um  ben  ®rabf)ügel  Don  £f)t)ra,  ©emafjlin  be8  ®orm 
ober  ©urnt,  be8  SütiigS  dou  2:änemarf,  ju  jieren.  @r  jeigt  au 
ber  einen  ©eite  fRunen,  an  ber  anbereit  Smblemeit,  Don  benen  ba8 
eine  beutlid)  als  ein  ßfjriftuSbilb  ju  erfemtett  ift,  baS  anbere  Der- 
fd)iebentlid)  als  $rad;e  ober  ©eier  gebeutet  roirb.  ®ie  auf 
©eite  30  mitgetfjeilte  Sufdjrift  befagt,  baß  ber  ©tein  für  Sättig 
@orm,  ben  ®rünber  ber  bänifd)eu  $errfd)aft,  unb  beffett  grau 
2f)i)ra,  Don  beren  Sof|u  £aralb  errichtet  tuurbe.  £>aralb8  t)at 
eS  unter  ben  bänifdictt  Sättigen  befantitlid)  niedrere  gegeben.  $er 
©of)tt  ©ormS  ift  in  ber  ®efdjirf)te  als  |>aralb  Slaatanb  ober 
©laujaljn  Derjeidjnet. 


Ift  tleine  Jtcllinflcr  3 teilt . 


3n  jdjrift: 

Gurmur  kunugr  gnnli  kubl  dusi  aft  (Harm  ftönig  crridjtetc  bieicS  $enf< 

dnrvi  kunu  siua  Tanmarker  but.  mal  natf)  ber  betrauerten  Stönigin 

(If)i)ra} : feiner  3)äncu  Jroft. 

Sönig  ®orm  foll  nad)  beit  neuefteit  ©efd)icf)tSforf(f)ern  in 
950,  nad)  attberen  Sltigabeit  in  936,  fein  ©oljn  |>aralb  itt  991 
geftorben,  bejtü.  ermorbet  fein.  2118  3af)re8ja^l  fiir  bie  @rrid)tung 
be8  2)ettfntal8  toirb  968  angegeben* 

$er  fogeuaitnte  fleine  Hetlinger  ©teilt  trägt  nur  SRuneit- 


* .fjarato  II.  ober  S31aatanb,  ber  2of)tt  ÖJormb,  regierte  feit  938  unb 
ging  948  jum  £f)riftentf)um  über. 


(4031 


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32 


fdirift  uttb  ift  uon  Stöuig  @orm  für  feine  grau  $f)t)ra(  bie 


öielgeliebte  unb 
(SBergf.  gigur  unb 
Snfctjrift  auf  ©eite 

•31.) 

5)a8  brittc 
jütlänber  fRunen- 
benfmal  führt  ben 
fRamenbcSCbbum- 
fteittS  n ad)  einem 
Sirdjfpiel  bafelbft. 
@3  ift  ein  $enf- 


Xroft  2)anemarf6 


3?ct  CBbuni-Stcin. 


, errietet  roorben. 
mol,  meines  non 
einem  Söoter  für 
feinen  jüngften 
©of)n  errietet 
mürbe  unb  fteljt  an 
gefd)id)tlid)er  99e= 
beutung  jebcnfafl« 
meit  hinter  ben 
beibeit  erfteren  ju- 
riid. 


Snfdjrift: 

Durylfs  sati stein uftir  TukaTukasun  Surulf  fepte  biefen  Stein  für  luffl 

hin  usta.  Gnd  hialbi  lians.  lufajun  ben  jüngften.  ©ott  helfe 

feiner  (Seele). 


f£er  größte  auf 
Sornßolm  gefun* 
bene$>euffteiuiftber 
SSrogaarb=©ten.@r 
hat  gegenmärtig  in 
beriltäßeuoH^a^le, 
ber  jroeitgrößten 
©tobt  ber  Sufel, 
einef)übfd)e2tufftel> 
hing  im  S23olbe  er- 
halten. ©eine^öfie 
roirb  über  2m  betra- 


get ®rogaatb>2leiii. 


gen. — SöiebieS  aut 
ben  meiften  älteren 
fRuuenfteinen  ber 
galt,  meldje  lebig 
ließ  norbrunijehe 
©d)riftjeid)en  hll‘ 
ben,  ftehenbiefclbcn 
auf  mehr  ober 
meniger  uerfd)luit- 
geneit  Schlangen- 
bänbern  unb  fol- 
gen Deren  Ström- 


3 n f d)  r i f t : 


Suenkir  lit  raisa  Stein  denn  eftir 
Tosta  Fadnr  sin  auk  eftir  Alf- 
lak  Brodur  sin  auk  eftir  Modr 
sina  auk  eftir  Sustur  sina. 

M94)i 


Senfir  lieb  errichten  biefen  Stein 
für  lofta,  feinen  Statcr,  oudj  für 
Sllflaf,  feinen  93ruber,  aucfifürftmt 
SUtutter,  and)  für  feine  Sdjroeitcr 


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33 


mungen  oon  linfS  nach  rechts.  ©ie  werben  an  beibeit  ©eiten 
oon  ben  Stnien  ber  Säitber  berührt  unb  bie  einzelnen  ©orte  finb 
ooneinanber  burcf)  ein  fleineS  üreuj  getrennt. 


Die  gleiche  Slnorbttung  fiitben  wir  auf  ben 
jwei  ausgezeichnet  erhaltenen  SRunenfteinen , welche 
in  ber  oben  angeführten  9lt)lar8firche  bei  Safirfebt) 
aufbewahrt  werben.  Der  eine  berfelben  ift  in  neben- 
ftcfjenber  ftigur  abgebilbet.  @r  würbe  augenfcheinlicf) 
in  Srinnerung  an  einen  ©djiffbrucf)  errichtet,  wie 
folgenbe  3n(cf)rift  geigt. 

Snicfjrift: 

Sasur  lit  rosa  steu  cftir  Al-  Snfur  lieb  errieten  benSteiu 
vard  fadur  sin.  Truknadi  für  SKoarb,  feinen  3$ater. 

Imn  nti  med  ala  skibara.  Gr  crtranf  mit  allen  ©djifftS* 

E(t)lgi  kristr  ha(l)bi  siolu  (euten.  2)er  tjciligc  Gfjrift 

ha(n)8.  Sten  pesi  stai  eftir.  fjelf c feiner  Seele,  X'icfcr 

Stein  fteljt  fiir  iljn. 


Die  jwei  jule^t  jur  Darfteüung  ge- 


brachten Denfmäler  au§  bent  5Df  ittelalter 
führen  auf  Pornholm  ben  92amcn  beS  ÜRareoab- 
unb  beS  ®eftermaria-©teine3.  (Srfterer  ftet)t 
je§t  auf  betn  Kirchhofe  ju  .^>aSle  — auch 
hier  fdjeinen  gamiliengrabbenlmäler  oorju- 
liegen. 

3 11  f tb  r i f t : 

Anlakr  let  reisa  Stein  2tn(af  ließ  crrid)teit  biefen 
dana  eftir  Sasur  Fadur  Stein  fiir  Safnr  feinen 

sin  Bonta  gudan.  find  SBnter,  ben  guten  (Bauer, 

hialbi  Siol  bans  aug  Glott  helfe  feiner  Seele 


Sata  Mihcl.  unb  St.  SDtidjacl.  j,r  «larrnb. stein. 


Die  Slbbilbungeit  ber  SRunenfteiue  finb  {amtlich  nach  Photo- 
graphien angefertigt  worben,  beuen  bie  ausgezeichneten  ÜKobclle 
ju  ©ruttbe  liegen,  Welche  in  ber  Derrafottafabrif  ooit  2.  $jörth 
nt  {Rönne  in  oerfchiebener  ©rüffe  angefertigt  werben.  Das 

Sammlung.  9?.  IV  V.  109.  2 (495) 


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34 


SRoterial  für  bie  öornfjolmer  Serrafotten  bilben  farbige  plafttfcfje 
Stjone,  bie  an  ber  Sübfüfte  ber  3nfel,  allerbingS  nur  in  be* 
fdjränften  SDiaffen  unb  in  einer  Sage  auftreten,  welche  ber  3er* 


ftörung  burd)  bie  SDJeereS* 
branbung  in  f)of)em  ©rabe 
auSgefefot  ift.  ©S  ift  nod) 
ungewiß,  ob  biefe  rotb 
unb  griin  gefärbten  % fjone, 
bie  in  iljrer  abwedffelnben 
Sagerung  mit  garten 
©teinmergeln  unb  grob* 


$ct  SJtftrrmatifl' 
Stein. 


bie  Sieuperforniatiou  er* 
innertt,  noct)  jur  $ria§ 
gehören  ober  bereits  ber 
aufSornt)olm  fetjr  oerbrei* 
teten  Siasformation  ju- 
geregnet  werben  miiffen. 
©an,$  äfjnlidje,  in  glei* 
cber  SBeifc  oerwertljbüre, 


förnigeit  ©anbfteinen  an  mit  biinnen  ©anbftein* 


3nfcf)rift: 

As  valti  risti  stein  piusa  iftr  2Uoalb  errichtete  biefen  Stein  für 
Alfar  brudur  sin  drinr  godr.  21Ifcir,  feinen  2Jrubcr,  beit  fluten 

Trebinu  syni  auk  Skogi  svek  Änaben.  Sie  Sötjne  bee  Xrebiini 

saklausan.  unb  ©Jogi  betrogen  ben  Unidptb 

bigen. 

platten  abwedjfelnbe  $f)one  fommen  bei  fwlmftebt  auf  braun* 
fd)weigifd)cm  ©ebiete  in  bebeutenber  üJ?äd)tigfeit  Dor  unb  formten 
in  neuefter  $eit  burdj  baS  Sluffinben  oon  Ammonites  angulatus, 
einem  be^cicfjneten  Seitfoffil  ber  unteren  liafifdjen  ©djidjten,  mit 
©idjerljeit  in  unferen  gormationSgruppen  eingereifjt  werben. 


(4%) 


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m e 

(ElEftfrifdjnt  B)afd|umt 

unter  ©erücfficfjtigung 

Urei  0Efd)id)tlid)en  (Biitintdieliniß. 


©on 

g.  Juffer 

in  ®iarnt  (^olfttin). 


12  ?U)bt!butigen. 


-M- 


fmmburg. 

©erlngSanftatt  unb  $rucferei  (normafäS-  5-  ÜKtdfjter). 

1890. 


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SDa8  9te<f)t  ber  Ue&erfefcuiig  in  frembe  Sprayen  roirb  oorbeljalten 


Trtirt  btt  SßftlagSanftalt  uafe  Xriufcrci  Slctim  türfcnisfioft 
(BomtaM  3-  3-  SRiifjtrr)  in  Hamburg. 


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llnfer  3af)rbunbert  barf  mit  einem  gemiffen  Stolj  auf 
eine  große  3ieUje  mistiger  ©ntbedungen  juriidblirfen,  burcf) 
melcfje  mir  in  bcn  Stanb  gefefct  finb,  bie  SRaturfräfte  unferem 
SBiflen  bienftbar  ju  machen.  3n  »ielen  gäöe«  mar  allerbingS 
nur  nötfjig,  SSermäc^tniffe  meiter  jurüdlicgenber  3e*te«  unter 
neuen  @efid)t$punften  jn  oermerthen.  Sin  ©ebiet  aber  giebt  eä, 
ba§  unfer  3at)r^unbert  alg  fein  uitbefchränfteä  ©igenthum  für 
fid)  in  Slnfpruch  nehmen  fnnti,  nämlid)  ba§  ©ebiet  beä  ©atoa* 
niSmuä;  bentt  erft  oor  hunbert  3af)rcn  (1789)  machte  ©alcaiti 
bie  erften  ^Beobachtungen  über  ©rfdjeinungen,  welche  burcf)  bie 
nnd)  if)m  benannte  ©leftri^ität  ^eroorgerufeit  merben.  Unb 
gerabe  bem  ©aloaniämuä  mar  e$  oorbefjalten,  bem  raftlofen 
©etriebe  unferer  3c‘l  feinen  eigenartigen  Stempel  aufjubriitfen. 
1833  fonftruirten  ©auß  unb  SBcber  in  ©öttingen  bett  erften 
brauchbaren  galoanifdjen  Telegraphen,  1866  mürbe  Slmerifa 
burcf)  ba§  ftabel  mit  Suropa  oerbunben  unb  an  bie  unzähligen 
T)räf)te,  bie  theilö  über,  theils  unter  ber  @rbe  bett  eleftrifdjen 
Junten  im  Tienfte  ber  äfienfrfjßeit  leiten,  fließen  fich  feit  bem 
lebten  3ahrjehnt  auch  noch  b'e  Sernfprecheinridjtungen,  «iit 
benen  jejjt  fchon  alle  größeren  ©täbte  oerfehen  finb.  01)ite 
gmeifel  ift  ber  Telegraph  bie  midjtigfte  ©rfinbung  unfereS 
3ahrhunbert§;  e§  hat  fi<h  a&er  iu  *u  «euerer  3e'l  noch 

Sammlung.  91.  Sr.  V.  110-  1*  (499) 


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4 


eine  9Jlafd)iue  gefeilt,  bie  wie  er  bent  ©ebiete  beS  ©aloaniSmuS 
angehört  unb  gleichfalls  eilt  wichtiger  Faftor  in  ber  Kultur- 
entwicfelung  ju  werben  »erfpric^t.  GS  ift  bieS  bie  ®hnamo- 
mafchinc  mit  all  ihren  jahlreichen  Serwenbuitgen.  2Bohl  arbeitet 
fie  jum  größten  £he‘l  1,DCh  >n  engbegrenjten  Staunten,  als 
Sichtmafchine  aber  ift  fie  wegen  beS  fomtettheflen  ©langes,  mit 
bem  fie  unfer  Sluge  ju  blenben  »ermag,  fchott  3ebwebem  befannt, 
unb  immer  häufiger  wirb  auch  &*e  Änwenbung  berfelben  als 
SewegungSmafchine.  Vielleicht  ift  bie  $eit  nicht  mehr  anjufern, 
in  ber  jebeS  fjauS,  wenigftenS  in  beit  Stabten,  außer  mit  einer 
Seitung  für  ©aS  unb  Sßaffer  auch  mit  einer  Seituitg  für  Glef- 
trijität  »erfehen  ift.  ®ie  ungemein  h ohe  Stellung,  welche  bie 
SDpnamomafchine  fdjon  jeßt  unter  ben  SBcrfjeugen  unfereS  SBiHenS 
einnimmt,  ift  eS,  Welche  uns  »eraitlaßt,  bei  bem  Schluffe  beS 
erften  Saßrhunberts  beS  gal»anifd)en  $eitalterS  mit  einer  ein» 
gehenbeit  Sefprechung  biefer  SOiafdjine  unter  ^injujiehung  ihrer 
gefd)idftlid)en  Gntwidelung  »or  ein  größeres  gebilbeteS  ißublifum 
ju  treten. 

3m  Frühling  beS  3aßreS  1820  machte  ber  $äne  Cerfteb 
in  Kopenhagen  bie  Gntbedung,  baß  ber  galoanifcße  Strom  im 
ftanbe  ift,  bie  SDtagnetnabel  aus  ihrer  Ruhelage  herauSjttbrehen. 
5)ie  Stadfricht  »on  biefer  ^Beobachtung  oerbreitete  fich  mit  einer 
Sdutefligfeit,  bie  im  höchften  ©rabe  unfer  Grftaunen  wachrufen 
muß,  wenn  wir  bebenfen,  wie  unoodfommen  in  bamaliger  $eit 
bie  VerfehrSmittel  waren.  3m  3uli  1820  erft  üeröffentlid)te 
Cerfteb  feine  Gntbedung  in  einer  Meinen  Slbhanblung.  Salb 
barauf  wieberßolte  be  la  Siiüe  biefe  GEperimente  auf  einer 
Staturforfcheroerfammlung  in  ©eitf,  unb  nun  ergriff  ein  wahrer 
Feuereifer  baS  gebilbete  unb  ^albgebilbete  ißublilum.  3eber, 
ber  fich  ein  galoanifdjeS  Glenient1  unb  eine  SDtagnetnabel  »er- 
frf;affeit  fonntc,  ließ  Ießtere  ihre  geheimnißooHen  Scin^e*  auf- 
führen. GS  macht  auf  uns  ben  Giitbrud,  als  ob  man  fchon 

(500) 


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o 


geaßnt  ßätte,  baß  eine  neue  3eit  mit  ber  Cerftebfcßen  ©ntbecfung 
beginne,  llnb  »nenn  aucß  nocß  »olle  13  Safjre  üerftoffen,  eße 
SßJeber  unb  ber  große  ©auf?  beit  erften  praftifc^  oerwenbbaren 
Sßabeltelegrapßen  anfertigten , fo  folgten  bocß  bie  Arbeiten  ber 
©eleßrten,  welcße  ficß  bem  neu  entbedten  3roe'9e  ber 
gMoanbten,  mit  einer  gang  außerorbentlicßen  ©cßnefligfeit  auf» 
eittanber.  %üx  unfere  ßtoetfe  genügt  eS  fjeröorju^ebeu , baß 
fdjon  im  September  beS  3aßreS  1820  ber  grattjofe  9lrago  bie 
©eobacßtung  madjte,  baß  ein  Eraßt,3  welcßer  oom  galtanifcßen 
©trom  burcßfloffett  roirb,  ©ifenfeile  anjugießen  oermag,  baß 
ferner  ebenfalls  nocß  im  September  1820  ülmpfcre  bie  grunb» 
legeitben  öeobacßtungen  gu  ber  langen  Steiße  ton  Gntbedungen 
macßte,  weldje  1826  in  ber  Stmpferefcßen  SE^eorie  beS  SDtagnetiSmuS 
ißren  Slbfcßluß  fanben.  Eie  praftifcßeu  fHefultate  biefer  Eßeorie 
taffen  ficß,  fotoeit  fie  für  unfere  3roe^e  erforberticß  finb,  in 
folgenbc  ©äße  gufammenf affen:  Seber  SDJagnet  fattn  als 
eine  öon  eleftrifcßen  Strömen  burdjfloff  ene  Eraßt» 
fpirale  angefeßen  werben,  .fjat  ber  Scobacßter  ben 
Dtorbpol  beS  ÜKagnetS  oor  ficß,  fo  bewegt  ficß  ber 
pofitioe  Strom  in  ber  Eraßtfpirale  linfs  ßerunt  b.  ß. 
bem  3eiger  ber  Ußr  entgcgcugericßtet,  ßat  er  bagegen 
ben  Sübpol  oor  fid),  fo  läuft  ber  pofitioe  Strom 
redjtS  ßerunt.  Umgefeßrt  faitn  aucß  jebe  oon  einem  galta» 
uifdjert  Strome  burcßfloffene  Eraßtfpirale  an  bie  Stelle  eines 
SDiagnetS  treten. 

Obgteid)  aber  bereits  im  Saßre  1822  Slmpere  bie  magnetifdjen 
SBirfungen  ber  galoanifcßeit  Spirale,  welcßer  er  ben  tarnen 
Solenoib  gab,  ooüfommen  befannt  waren,  fam  man  bocß  erft 
im  3aßre  1826  oon  anberer  Seite  — örewfter  unb  Sturgeon, 
beibe  unabhängig  ooneinanber  — auf  ben  ©ebanfeit,  in  eine 
oom  galtaniftßen  Strom  burcßfloffene  Eraßtfpirale  einen  Stab 
weicßen  GifenS  gtt  ftecfeit.  Eie  magnetifdjen  SBirfungen  eines 

(50t) 


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6 


foldjcn  (SifeitS,  Sleftromaguet  genannt,  festen  bie  ^ßpfifer  ber 
bamafigen  3e^  ”l  größte  (Erftaunen.  ^ßrofeffor 
welker  bie  SBirfungen  eines  (SleftromaguetS  in  Sonbon  faß, 
braeß  in  bie  SBorte  auS:  „@3  grenzt  an  Zauberei,  *n  &em 
Slugeitblicfe,  ba  man  mit  einem  ber  $räßte  ben  fireiS  ("Strom) 
fdjließt  unb  fo  beu  eleftrifcßen  Strom  einfeitet,  felbft  aus  einiger 
(Entfernung  ben  mit  8 Sßfunb  unb  bariiber  bejeßwerten  Slttfer 
angegogen  ju  feßen,  ber  ebenfo  augenblicflicß  wieber  abfäUt, 
menn  ber  ftreiS  unterbrochen  wirb.1 

(ES  ift  oerjeißlicß,  baß  man  fieß  bureß  bie  gewaltigen  Slraft- 
Wirfungen  ber  (Eleftromagncte  $u  ben  fii^nften  Hoffnungen  ^iit* 
reißen  ließ.  Ü)ian  gfaubte  bureß  biefeS  neue  sßrinjip  ber  Äraft- 
umfejjuitg  bie  5)ampfmafd)ine  in  ben  Scßatten  ftellen  ju  föniten. 
bereits  im  3aßre  1830  baute  Saloatore  bet  SRegro  in  ißabua 
bie  erfte  eleftromotorifcße  ÜDiafcßine.  2)ie  Stiftungen  berfeffcen 
waren  allerbingS  reeßt  uubebeutenbe.  Srofjbem  ließ  man  fieß 
aber  nießt  abfdjreden,  weitere  Skrfucße  gu  maeßen. 

3nt  3aßre  1838  ßatte  ber  bureß  bie  Sntbedung  ber  ©aloano- 
plaftif  befatinte  3afobi  eine  fflewegungSmafdßine  fertig  gefteHt, 
bei  welcßer  oier  feftfiegenbe  unb  bier  rotirenbe  (Eleftromagnete 
jur  Stnwenbung  fameu,  wäßrenb  ber  eteltrifdje  Strom  in  64 
3infplatin*  (Elementen  erzeugt  würbe.  2>urd)  biefe  SDiafcßine 
würbe  nun  aud)  wirfließ  ein  Soot,  welcßeS  12  ißerfonen  trug, 
auf  ber  Sftewa  in  Bewegung  gefeßt,  ber  SWußeffelt  erreießte  aber 
nid)t  gang  eine  ißferbefraft,  wäßrenb  fidß  bie  ftoften  unoerßältniß* 
mäßig  ßod)  ftellten.  Stn  eine  praftifdjc  ÜBerwenbung  berartiger 
SDiafcßinen  war  baßer  gar  nießt  ju  benfen.  SJiacßbem  bann  noeß 
einige  3aßre  ßinbureß  ein  granffurter  3.  SBagner  eS  oerftanben 
ßatte,  weitere  Jtreife  für  eine  oou  ißm  ju  fonftruirenbe  galoa> 
ttifeße  Sofoinotioe  ju  intereffiren,  oßne  jebodj  irgenb  welcßen  praf- 
tifdjeu  (Erfolg  ermöglichen  ju  föitnen,  gab  man  enbfieß  gegen  bie 
SÖiitte  ber  Diesiger  3aßre  biefe  SBerfucße  als  üöllig  auSficßtSloS  auf. 

1502) 


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7 


bereits  im  jroeiten  Tccennium  unfereä  3ot)r^unbertä  mürben 
inbeg  bie  ^Beobachtungen  gemadjt,  beren  SBeiternerfolguttg  in  ber 
neueften  3e't  enblidfj  ju  ber  Älonftruftion  ber  bemunberungg- 
mürbigen  eleftrifcfjcn  SDiafcfjinen  führte,  furj  Thnamog  genannt, 
^ierburcf)  mürben  nicht  nur  bie  Träume  eineg  Sacobi  unb  SBolf 
»ermirflicfjt,  fonbern  biefe  9D?afchinen  geftatteten  nod)  mehrere 
anbere  Slitmenbungen,  unter  beneit  bie  fjerfteüung  beg  elcftrifdjen 
fiicfjteS,  bie  Srjeugung  tjo^er  Temperaturen  unb  bie  oerfdjieben« 
artigften  galnanijdjen  3erfefBin9en  bie  midjtigften  finb.  Srago 
machte  nämlich  im  3a^re  1824  bie  ^Beobachtung,  baß  bie 
©chmiitgungett  einer  ÜKagnetnabel  bebeutenb  nerlangfamt  merben, 
roemt  man  biefelbe  bicfjt  über  einer  Supferfdjcibe  anbringt.  T)ie* 
felbe  Srfdjeinung  beobachtete  er  auch,  wenn  er  bag  Tupfer  burch 
anbere,  bie  Sleftrijität  gut  teitenbe,  Sftetafle  erfejjte.  3m  nädjfteit 
3ahre  führten  feine  meiteren  Uuterfuchungeu  ju  ber  Sntbcdung, 
bafe  fine  SDfagnetnabel  brehenbe  Semegung  annimmt,  menn  man 
in  ihrer  unmittelbaren  9iälje  eine  &upferfd)eibe  rafdj  um  ihre 
?tchfe  laufen  läfjt.  Tie  föupferfdjeibe  mar  bei  biefen  SBerfudjeit 
burch  eine  ©lagplatte  non  ber  SWagnetitabel  getrennt,  bamit  bie 
entftehenbe  Suftbemegung  feinen  Sinflufj  auf  bie  9?abel  fm&en 
fonnte.  Sine  richtige  SrHärung  biefer  3:^atfacf;e  mujjte  man 
aber  nicht  ju  geben.  Srft  alg  garabap  *m  3nhre  1831  bie 
galnaitifche  Snbuftion  entbedte,  fanben  hifrburd)  bie  big  baljin 
räthfelhaft  gebliebenen  SBeobadjtungeit  Slragog  ihre  uugejmuugene 
Srflärung. 

fjarabah  midette  jmei  iiberfponnene  Trähte  ju  einer  Stoße 
auf  unb  fejjte  bie  Sttben  beg  einen  Trafjteg  mit  einem  ©aloano» 
meter5  in  SBerbittbung , mäfjrenb  er  bie  anbereit  an  beit  ißob 
fchrauben  eineg  galnanifchen  Slementeg  befeftigte.  Sllg  er  nun 
ju  micberholten  SDtalen  beit  galoaitifdjeit  ©trom  burch  ben  einen 
Traf)t  fdjidte,  bemerfte  er,  baff  bie  SDiagnetnabcl  beim 
jebegmaligen  Oeffnen  unb  ©chliefjett  beg  ©tronieg  eine 

(503) 


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8 


Slblettlung  erfuhr.  2fuS  ber  9?ic^tung  biefcr  Stbfcnfung folgte, 
baff  beim  ©fließen  ber  Sette  iit  bem  mit  bem  ©atoano« 
meter  üerbunbenen  ®raf)t  ein  ©trom  entftanb,  melcöerbem 
be«  galüanifchen  (Elemente«  entgegengeridjtet,  beim 
Deffnen  bagegen  mit  bemfelben  gleichgerichtet  mar. 

$em  neuentbecften  ©trom  gab  man  ben  kanten  Snbuf* 
tionäftrom.  25ie  meitere  Verfolgung  biefer  (Sntbecfung  führte 
halb  ju  ber  Slbünberung  bei  Separates,  bafj  bie  beiben  SeitungS- 
brühte  getrennt  in  ©piralen  aufgemicfelt  mürben,  roelche  über- 
einanbergefchoben  merben  fonnten.  gür  bie  innere  fRoüe,  burd) 
meldje  ber  ©trom  Der  galoanifdEjeit  Vatterie  geleitet  mirb,  mähtte 
man  bicfen  ®raht  in  menigen  Sagen,  mährenb  man  für  bie 
©pirale  bei  Snbuftioniftromei  feljr  oiele  SBittbungen  eine« 
büttnen  ®rohte«  nahm. 

3)a  nach  Slmpere  ftatt  einer  ©tromfpirale  auch  ein  SKagnet 
genommen  merben  fann,  unb  ba  ferner  ©djtiejjen  unb  Unter« 
brechen  eine«  Strome«  gfeichbebeutcnb  fein  muff  mit  Mähern  unb 
(Entfernen  eine«  Strome«  bejiehuitgiroeifc  eine«  ältagnet«,  fo 
leuchtet  ohne  meitere«  ein,  bah  3nbuftion«ftröme  auf  mehrfache 
SBeife  erzeugt  merben  tonnen.  $ie  Snbuftion  mittetft  einest 
Strome«  bezeichnet  man  al«  (Eleftro-Snbuftion  (auch  2$oIta« 
Snbuftion),  bie  mittetft  eiltet  ÜRagnet«  al«  ÜJiagtteto-Snbuf- 
tion.  (E«  giebt  im  gangen  acht  »erfcfjiebene  SBege,  auf 
benen  man  Snbuftioniftröme  ^erfteden  fann:  1.  SSenn 
man  einen  ©trom  fchliefjt,  fo  entfteht  in  einem  nahen  Seiter 
ein  ©trom  oon  entgegengefefjter  ^Richtung.  2.  SEBenn  man  einen 
©trom  öffnet,  fo  entfteht  in  einem  nahen  Seiter  ein  ©trom  oott 
gleicher  fRidjtung.  3.  SBenn  man  einen  ©trom  einem  Seiter 

nähert,  fo  entfteht  in  biefem  ein  Strom  oon  entgegengefefcter 
9tidjtung.  4.  SBetut  man  einen  ©trom  oon  einem  Seiter  ent- 
fernt, fo  entfteht  in  biefem  ein  ©trom  oon  gleicher  Stiftung. 
5.  SBcnn  man  in  ber  9?ähe  eines  Seiter«  ÜRagneti«mu§  erregt, 

(5041 


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9 


fo  entftef)t  in  bcm  Seiter  ein  Strom,  melier  in  SBejug  auf  bie 
Slmpärefdjett  Ströme  be«  9)?agnet«  entgegengefejjte  fRicfjtung  ^at. 
6.  SBeitn  in  ber  SRaf)e  eine«  Seiter«  9J?agneti«mu«  oerjc^toinbet, 
fo  entftefjt  in  bem  Seiter  ein  Strom,  toeldjer  mit  ben  Slmperef^cn 
Strömen  be«  SJlagnet«  gleiche  9ticf)tung  tyat.  7.  Sßenn  man 
einen  SJiagnet  einem  Seiler  nähert,  fo  entfielt  in  bem  Seiler  ein 
Strom,  tuetdfer  in  ©ejug  auf  bie  Hmperefdjen  Ströme  be« 
SDtagnet«  entgegengefefcte  fRidjtung  l)at.  8.  3Bemt  man  einen 
SDiagnet  oon  einem  Seiter  entfernt,  fo  entfielt  in  bem  Seiter  ein 
Strom,  toeldjer  mit  beit  §tmpärefcf)en  Strömen  be«  üJJagnet« 
gleiche  Südjtung 

3wei  ©ruppett  widriger  Apparate  oerbanfen  ben  obigen 
(©efefcen  i^re  @ntftet)ung.  $ie  eine  biefer  beiben  ©ruppen  er* 
reidjte  mit  bem  mächtigen  SHufjmforfffcben  gunfeninbuftor 
bereit«  anfang«  ber  fünfziger  3af)re  ihre  größte  3?otlfomment)eit. 
35ie  anbere  ©ruppe  macfjte  oerfdjiebetie  SBanblungen  bnrrf)  unb 
ift  erft  itt  bem  festen  Sa^rjeßttt  fo  oerbeffert,  baß  eine  roeitget)enbe 
llmgeftaltung  Hießt  mef)r  ju  ermarten  ift.  SBäfjrenb  aber  jene 
3nbuftion«apparate  niemaf«  über  bie  Sdjroetle  be«  pßtjfifalifcßett 
Äabinet«  Ijinau2getreten  finb,  bflben  fid)  bie  lederen,  in  ißrer 
»oDenbetften  $onn  unter  bem  tarnen  3)pnamo«  befannt,  einen 
fieberen  ißtaj}  in  ber  fjodjentroiefetten  Stedjnif  ber  9?eujeit  erobert. 

dlad)  biefert  ertäuternben  Sorbemerfungen  motten  mir  un« 
nun  ju  ber  genaueren  ^Betrachtung  ber  eleftrifcßen  SDiafcßinert 
felbft  toenbeit.  £ie  erfte  gorm  berfclben  be^eießnet  man  al« 
magnctoeleftrifd)e,  toeit  bie  (Slcftrijität  burcß  ben  (Sinflujj  eine« 
SJiagnet«  auf  einen  ©leftromagnet  entfteßt.  ®ereit«  ein  3atjr 
nach  ber  ©ntbedung  ber  Snbuftion  burd)  garabap,  alfo  1832, 
tourben  bie  erftert  beiartigen  2Rafcf)inen  oon  jioei  fjorfeßern 
fonftruirt,  roelcße  unabhängig  ooueinanber  arbeiteten.  £er  eine 
toar  Satoatore  bet  iftegro,  ^ßrofeffor  ber  ^JßpfiC  in  s}kbua, 

(60S) 


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10 


bcr  anbere  fßßrii  in  ff?arii.  SSeibe  Ratten  folgenbe  fBorricßtung 
erfonnen:  Sin  großer  fjiufeifenmagnet  fonnte  rafcß  um  feine 
Slcßfe  gebreßt  werben.  Unmittelbar  oor  feinen  fßolen  war  ein 
ßufeifenförmig  gebogener  ©leftromagnet  befeftigt.  ©ai  eine 
©nbe  bei  Seitungibraßtei  taueßte  in  Ouecffilber,  wäßrenb  ba*§ 
anbere  bießt  über  ber  Oberfläche  bei  Ouecffilberi  enbete. 
©reßte  man  nun  ben  SDJagnet  rafd)  um  feine  Sldjfe,  fo  fpraitgen 
jwifeßen  bem  freien  ©raßtenbe  unb  bem  Cuecffilbcr  unauigefeßt 
eleftrifcße  ffunfen  über.  ®a  man  balb  erfannte,  baß  in  ^metf* 
mäßig  fonftruirten  9J?afcßinen  ber  SWaguet  »on  nie!  größerem 

©ewießt  fein  muß  ali  ber 
©leftromagnet,  fo  legte  man 
ben  erfteren  feft  unb  feßte 
ben  festeren  in  ©ewegung. 
©er  ©leftromngnet,  beffen 
Spiralen  man  nur  eine  ge- 
ringe Sänge,  aber  eine  große 
Slujaßl  ©raßttagen  gab, 
würbe  büßt  oor  ben  ißolen 
bei  SRagueti  mittelft  ein- 
faeßer  Ucbertragung  in  rafeße 
©reßung  nerfeßt. 

$ur  Äuffinbung  ber  ©tromridjtung  in  biefen  SRafcßiuen 
wollen  wir  bie  ffigur  1 benußen.  SBewcgt  fieß  bie  ©raßtfpirale 
auf  bem  oberen  $albfreife  unferer  gigur  in  ber  fRicßtung  bei 
großen  fßfeili,  fo  werben  in  berfelben,  weil  fie  fieß  oom  ©üb- 
pol entfernt,  naeß  bem  aeßteu  garabaßfdjen  3nbuftionigefeß 
Ströme  erzeugt,  welcße  red)ti  ßerum  laufen.  Ströme  öon  ber- 
felben JRicßtung  entfteßen  aber  aneß,  weil  fieß  bie  Spirale  auf 
biefem  SEBcge  bem  9?orbpol  näßert  (7.  ©efeß).  Sluf  bem  unteren 
^lalbfreii  finb  fämtlicßc  Serßältniffe  umgefeßrt,  unb  baßer 
werben  ßier  in  ber  Spirale  liitfi  ßerum  laufenbe  Ströme  erzeugt. 

(506) 


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11 


SöiS  jejjt  ^aben  loir  nur  bie  SBirfuitg  beS  feftliegettben  ü)?ag* 
netö  auf  bie  Spirale  betrachtet;  eS  ift  uns  baljer  nod)  übrig  zu 
untersuchen,  welchen  ©influfj  bie  (Jijenferne  ber  Drahtrollen  auf 
bie  Strombilbnng  hoben.  Die  ©ifeuferne  wechfeln  bei  jebem 
nolleit  Umlaufe  jweimal  bie  fßole  mtb  jwar  in  ben  fünften 
a unb  b,  währenb  fie  in  ben  fünften  N unb  S am  ftärfften 
wagnet^h  finb.  5°^8cn  mir  bem  einen  @ifenfern  auf  feinem 
SBege  uon  S an  gerechnet.  S3or  S felbft  ift  er  an  feinem 
freien  @nbe  norbmagnetifd),  b.  fj-  bie  ?Impferefd)en  Ströme 
gehen  linfs  hemm,  fie  hoben  alfo,  bo  nuS  in  unferer  5i9ur 
bie  ^ßolflädhe  abgewenbet  liegt,  biefetbe  DrehuugSrichtung  wie 
im  Siibpol  beS  feftliegenbeit  2J?agitetS.  Da  nun  auf  bem  SBege 
uon  S nach  il  ber  SÄagnetiSmuS  abnimmt,  fo  müffen  nach  bem 
fedjSten  SnbuftionSgefeb  in  ber  Spirale  rechts  hemm  loufenbe 
Ströme  entftehen.  Sluf  bem  SBege  ooit  a nach  ^ entfteht  Siib* 
magnetiSmuS,  bie  Slmpörefcheit  Ströme  im  Sifenfertt  hoben 
baher  je^t  jwar  entgcgcngefe|jte  fRidjtung,  finb  aber  non  berfelben 
SBirfung  auf  bie  Spirale,  ba  ber  SltagnetiSmuS  junimmt. 
(5.  ©efefc).  @S  entftehen  fomit  aud)  burch  ben  SRag« 
netiSmuS  beS  ©ifenfcrnS  auf  bem  ganzen  oberen  £>alb* 
frei  fe  rechts  herum  laufeitbe  Ströme.  Sluf  bem  unteren 
fialbfreife  müffen  linfs  herum  laufenbe  Ströme  ent* 
ftehen,  weil  hier  alle  93erJ)ältniffe  umgefehrt  finb. 
Die  SBirfungett  beS  feftliegenbeit  ÜDlagnetS  unb  bie  ber  CSifen* 
ferne  beS  Sleftromagnetä  oerftärfen  fich  alfo  gegenfeitig  bei  ber 
Stromerzeugung  in  ben  rotirenbeit  Drahtfpiralen.  DaS  eine 
@nbe  beS  SeitungSbrahteS  war  an  ber  metaKifcfjen  DrehungS* 
achfe  befeftigt,  währenb  baS  anbere  an  eine  ifolirt  über  bie 
DrehungSachfe  gefcfjobene  3y?etaHf)ülfe  gelöthet  war.  ©egen  bie 
DrehungSachfe  felbft,  fowie  gegen  bie  SJfetaUhüIfe  lieh  man 
metaQifdöe  fiebern  fchleifen.  SBenn  man  bann  biefe  fiebern 
burch  einen  ®raf}t  oerbanb,  fo  ging  burd)  biefen  ein  Strom, 

(507) 


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wetdjer  jebeSmat  bann  jeine  5Rid)tung  äitbcrn  mujjte,  wenn  bie 
©pulen  oor  ben  äRagnetpoten  oorbeigingen. 

®a  ficf)  nun  aber  ein  ©trom,  ber  jebeit  Stugenbticf  jeine 
SÜdjtung  änbert,  nur  in  wenigen  gäßen  oerwerthen  läfjt,  jo 
war  bie  nädjfte  Aufgabe  ber  Iß^pjifer,  eine  ©orricfjtung  gu  er< 
jiniten,  mitteljt  welcher  eS  möglich  ift,  bie  oerfdjiebeu  gerichteten 
©tröme  ber  SDRafchine  in  einer  unb  berfelben  fRidjtung  ^trcf)  ben 

äufjeren  ©cfflie^ungÄbra^t  gu  jenben. 
SDian  nennt  eine  fotdje  ©orrichtung 
©tromwenber  ober  Kommu- 
tator. 0rigur2  jteflt  einen  fotzen 
in  ber  einfachen  SSuSführung  oor. 
Sluf  ber  $rehung$ad)je  ftnb  jroei 
hatbcplinbrijche  SDietaßbleche  jo  be> 
jejtigt,  bafj  jie  unter  fid)  unb  oon 
ber  Stcfjfe  burch  nicfjtlcitenbe  ©cfjic^ten 
getrennt  jinb.  S^acf)  jebem  biejer 
beibeit  fjalbcplinber  führt  je  ein  (£nbe 
be§  trabte«  beS  ®teftromagnet8. 
3)ie  ©nben  be£  äußeren  ©djfiefjungS- 
braf)te£  brüden  mit  jtoei  gebern  gegen 
V bie  Stchfe,  bie  eine  oon  oben,  bie 
attbere  oon  unten.  ®ie  SDretjung 
erfolgt  recf)t§  ^erum,  aljo  oon  S nach 
oben  unb  bann  nad;  N.  28ie  bereits  erläutert,  entfielt  bann  in  ber 
auf  bem  oberen  .patbfreife  jid)  betoegenben  ©pirale  ein  rechts  herum- 
taufenber  ©trom,  toährenb  in  ber  anberen  jich  ju  gleicher  $eit 
ein  liitfs  herum  taufenber  ©trom  bilbet.  $>a  nun  bie  jeweilig  oben 
laufenbe  ©pirale  immer  nur  mit  ber  oberen  geber  >n  leitenber 
©erbinbuttg  ijt,  jo  geht  ber  ©trom  immer  oon  ber  oberen  geber 
burdj  ben  ©d)Iiefjung3brabt  nad)  ber  unteren  gebet  u.  f.  w.,  feine 
Stiftung  bteibt  al jo  im  ©djtiejjungSbraht  jtets  biejetbe. 

(.508) 


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13 


Um  möglich  ftarfe  SBirfungen  mit  beit  magneto*eleftrifchen 
SOfafc^inen  ju  erzielen,  nahm  man  junädjft  baranf  Vebacht,  bie 
äftagnete  ju  oergrößertt.  SBeil  aber  bicfe  ©tahlmaffen  nur  fehr 
uiwollfommen  magnetifirt  werben  fönnen,  fteflte  man  bünne 
gleichgroße  SRagnete  her  unb  legte  fie  fo  aufeinanber,  baß  alle 
©übpole  unter  fidö  unb  ade  Sorbpole  unter  [ich  oereinigt 
waren.  Salb  fah  man  jeboef)  ein,  baß  nicht  bie  Vergrößerung 
ber  SRagnete  allein  junt  $iele  führen  lonnte,  fonbern  baß  eS 
barauf  anlam,  mehrere  große  ÜRagnete  in  einer  9Rafchine  ju 
oereinigen.  35er  (Srfte,  welcher  biefeit  ©ebanfen  praftifch  Oer* 
»oerthete,  war  ©töhrer  in  fieip^ig.  @r  oerbanb  junächft  brei 
große  9Ragnete,  fo  baß  ihre  ©djenfel  unter  fiel)  parallel  waren 
unb  bie  fech«  fßole  in  gleichen  Slbftänben  auf  einem  greife 
lagen,  So$>pot  unb  ©übpol  miteinanber  abwechfelnb.  Vor 
tiefen  ^ßoleit  würben  6 3)rahtroHen  mit  (Jifenfernen  gebreht, 
welche  gleichfall«  in  einem  Greife  in  gleichen  fKbftiinben  befeftigt 
waren.  ®urch  einen  ©tromwenber  fonnten  fämtliche  ©tröme 
in  gleiche  Sichtung  gebracht  werben,  ©pater  oereinigte  ©töhrer 
fogar  8 SRagnete  unb  16  3nbuftion«rollen  in  gleicher  SBeife. 

35ie  größten  magneteleftrifchen  SRafchinen  würben  öon 
1863  ab  oon  ber  franjöfifdjen  ©efeüfchaft  1’ Alliance  gebaut. 
2Ran  ging  bi«  ju  48  großen  SRagntfen  uttb  96  Snbuftion«* 
rollen.  3)iefe  SRafchinen  entwicfelten  fo  ftarle  ©tröme,  baß  fie 
troß  ihrer  ftoftfpieligfeit  oielfach  ju  Veteud)tung«gwec!en  Oer* 
wenbet  würben,  $.  V.  auf  großen  Vaupläßen  unb  fieuchtthürmen, 
fowie  in  ißari«  Währenb  ber  Velagerung  1870/71.  £ange 
lonnten  fich  jeboch  bicfe  Sfafdjinea  nicht  al«  bie  beften  behaupten; 
fie  füllten  halb  oon  anbereu  ooHlommeneren  oerbrängt  werben. 

Vereit«  im  3ahrc  1857  tjatte  nämlich  SB.  ©iemen«  in 
SSerlin  eine  Verbefferuug  an  ben  magneteleftrifchen  ÜRafchinen 
angebracht,  welche  oerhältnißmäßig  ftarfe  ©tröme  ju  erzeugen 
geftattete.  @r  befeftigte  eine  größere  Slitjahl  Sfagnete  in  paralleler 

(509) 


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14 


Sage,  fo  baß  alle  Slorbpole  auf  ber  einen  unb  alle  ©übpole 
auf  ber  anbereit  ©eite  maren,  unb  ließ  jmifcheit  ben  '.ßolen 
einen  ©ifene^finber  rotiren,  melcher  ber  ßänge  nadj  mit  jmei 
fid)  gegenüberfiegenben  tiefen  Süßen  oerfeßen  mar.  SängS  biefett 
Süßen  toar  ber  Gplinber  mit  SeitungSbraht  ummicfelt.  ®iefe 
®orricßtung  nannte  Siemens  ßplinberinbuftor.  ®amit  bie 
■ülagnetpole  bcm  Öhlinberinbuftor  möglicßft  genähert  roerben 
tonnten,  erhielten  bie  §ufeifeumagnete  auf  ber  Snnenfeite  Heine 
SluSfdjnitte.  5'9ur  3 enthält  einen  ber  üDiagnete  unb  ben 
Guerburchfcßnitt  beS  GhlinberinbuftorS.  '25a  nach  i£&er  ha*&cn 
Umbrehung  bie  ißole  in  bem  (Sif entern  umgefeljrt  merben,  fo 
müffen  auch  b'e  entftehenben  Sitbuftionssftröme  hei  jeber  Um* 

brehung  bie  Stiftung  mechfelu.  -Durch 
Slnfügen  eines  ©trommepberS  fann 
man  biefe  ©tröme  in  einerlei  SÜcßtung 
burch  ben  ©chließungsbraßt  fenben. 
®a  ber  (SQlinberinbuftor  einen  »er* 
hältnißmäßig  fleinen  ®urd)nteffer  h«t, 
fo  folgen  bie  einzelnen  SnbuftionS- 
ftröme  fehr  rafch  aufeittanbcr,  unb  ihre  SSirfung  nähert 
fich  baher  bebeutenb  mehr  ber  Sßirfuttg  beS  ununterbrochen 
fließenben  ©tromeS . ber  maloanifdjen  fflatterie,  als  bieS  bei 
ber  älteren  Äonftruftion  ber  gaß  mar.  Slm  beften  fpric^t  für 
bie  ©iemenSfchen  SDiafcßinen  ber  Umftanb,  baß  fie  in  taufenben 
oon  föfemplaren  unter  bem  Slamen  Säuteinbuftoren  bei  ben 
(Sifenbahnen  in  ®ienft  gefteßt  mürben,  um  bie  ©tröme  für  bie 
Sngaitgfeßung  ber  ©ignalglocfeit  ju  liefern.  ®iefe  Sßlafchinen 
enthalten  28  einfache  ftarle  SJiagnete  unb  liefern  ©tröme,  tueldje 
ftärfer  finb  als  bie  uou  100  galoanifchen  (Elementen.  ®urd) 
ihre  große  guoerläffigfeit  mürbe  fogar  bie  Sicherheit  im  ©ifen* 
bahnoerfehr  red)t  bebeutenb  erhöht. 

Sluf  bem  oon  Siemens  eingejcßlagencn  SBege  roeitergehenb, 
gelang  es  im  Slnfange  bcSSaßreS  1866  SBUbe  in  SJtandjefter, 

(510) 


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15 


burd)  galoanifcfjc  Ströme  Don  gan$  außerorbentlidjer 
©tärfe  großes  Sluffeljen  ju  errege«.  ©r  üerbanb  eine 
©iemenSfdje  magnet-eleftrifd)e  ÜJiafdjine  mit  jmci  anberen,  in 
benen  ftatt  ber  SJfagnete  ©leftromagnete  benußt  mürben.  Ser 
©trom,  roeldjer  in  ber  erften  ÜJiafdjine  erzeugt  mürbe,  ging 
burd)  bie  ©leftromagnete  ber  jroeiteit,  unb  ber  ©plinberinbuftor 
tiefer  ^weiten  3Jlafd)ine  lieferte  ben  ©trom,  meldjer  burd)  bie 
©leftromagnete  ber  britten  SDiafdjine  ging.  Ser  ©trom  beS 
SplinberiubuftorS  biefer  britten  üJiafdjine  enblicf)  mürbe  ju  ben 
©jperimenten  benujjt.  Sie  erfte  2Jiafd)ine  enthielt  16  ©taljl« 
magnete,  beren  ©cfammttragfraft  160  Silogramm  betrug.  $u 
ben  ©cßcnfeln  beS  ©leftromagnets  ber  jmeiten  SKafdjine  maren 
©ifenplatten  non  66  ©entimeter  Jpöße,  91  ©entimeter  ©reite  unb 
3 ©entimeter  Side,  fomie  1000  Uleter  biefer  Supferbraljt  Der* 
Juenbet.  ©eine  Sragfraft  mar  beinahe  5000  Silogramm.  Sine 
93efd)reibung  ber  britten  ÜKafcßine  unb  ber  mit  ifjr  angefteßten 
©Eperimente  finbet  fid)  im  „Sltfjenäum" : „3n  ber  3Uafd)i«e 
felbft  lag  fdjoit  etmaS  5(cf)tunggebietenbeS,  ba  bie  ©leftromagnete 
au§  1,22  Bieter  ßoßen  unb  25  ©entimeter  biden,  14  ©entner 
Supferbraljt  entßaltenben  ©djenfeln  beftanben,  jmifeßen  benen 
ein  ßtjlinberinbuftor  lag,  ber  burd)  bie  außerhalb  bcS  ©ebäubeS 
aufgefteüte  Sampfntafcßine  ooit  15  ©ferbefräften  mit  einer 
Qkfdjminbigfeit  oon  1500  Souren  in  ber  SJiinute  gebreßt  mürbe. 
Um  unb  um  flogen  bie  Gpliitber  (ber  brei  ÜJiafdjinen),  unb  jebe 
Dotation  fanbte  neue  elcftrifdjc  Ströme  in  bie  ©leftromagnete, 
als  plößlid)  ber  freie  aus  ber  ÜJiafd)iite  ßerauStretenbe  ©trom 
mit  Dotier  Sraft  in  eine  am  ©nbe  beS  ©erfudjSlofaleS  aufgefteüte 
cleftrifcße  Satnpe  geleitet  tourbe,  unb  fofort  jmifdjen  ben  finget» 
biden  Soßlenftäben  ein  ungemein  intenfioeS  eleftrifdjeS  2id)t  Dor 
ben  Slugen  ber  3ufc^aucr  aufflammte,  baS  fie  ebenfo  bienbete, 
mie  bie  9JlittagSfonne  unb  alle  ©den  unb  SBinfel  beS  großen 
©aaleS  mit  einem  QHanj  erleuchtete,  ber  ben  ©onnenfdjein 

(511) 


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16 


übertraf,  unb  gegen  welchen  bie  f)ell  brennenben  ©aSflammen 
in  ber  9Rittc  beS  3*mmer§  braun  erfcfjienen.  ©in  in  ber 
SRid)tung  beS  Sicfjtftra^lS  gehaltenes  ©rennglaS  brannte  Södjer 
in  baS  Rapier,  unb  wer  bie  SBärme  mit  auSgeftretfter  $anb 
auffing,  fonnte  biefelbe  in  einer  ©ntfernung  tion  50  9)?eter  noch 
beutlicf)  wahrnehmen.  35ann  fpaunte  man  eine  lange  eiferne 
®raf)tfd)linge  in  bie  Seitung  ein;  nad)  wenigen  SRinuten  glühte 
ber  ®raf)t,  nahm  eine  mattrotf)e  garbe  an,  würbe  weißglühenb 
unb  fiel  in  glüfjenben  Stödten  ju  ©oben,  ©benfo  würbe  ein 
fur^eS  Stiicf  ©ifett  oon  ber  SDicfe  eines  Keinen  gingerS  ge» 
fcfimotjen  unb  oerbrannt;  aber  alle  bie  ©erfudje  würben  über* 
ftraljlt  oon  bem  Schmelzen  beS  fdjwerflüffigften  SRetalleS,  eines 
©latinftabeS  oon  mehr  als  6 SWiüimeter  $urcf)meffer  unb 
61  ©entimeter  Sänge." 

®iefe  gewaltigen  Seiftungen  ocrfdfjafften  ber  Söi(befcf)en 
SDtfafdjine  halb  ©ingang  in  oerfc^iebenen  gnbuftrieftätten.  92a» 
mentlich  fattb  fie  ©erwenbung  für  gatoanoplaftifche  Arbeiten, 
jur  Ojonbcreitung  unb  jur  Sidjtentwidelung  für  pffotograpljifdje 
ßtoede.  Slber  auch  ifjr  Stern,  ber  jiuerft  alles  Sagewefene  mit 
feinem  ©lan$e  übcrftraljlt  ^atte,  foUte  halb  erbleichen,  ge 
genauer  man  biefe  9D2afd)ine  nämlich  fennen  lernte,  befto  beut« 
lieber  traten  auch  ihre  SRängel  heroor;  inSbefonbere  war  eS 
ber  rafche  SBechfel  be§  93?agnetiSmuS  in  ben  ©ifenfernen  ber 
3nbultionSct)linber,  welcher  biefe  lederen  recht  ftarl  erwärmte 
unb  baburd)  ben  galoanifd)en  Strom  fdjwädjte.  ©S  war  infolge» 
beffen  nidjt  möglich,  burdj  biefe  SWafdjine  auf  längere  3eü 
Ströme  oon  gleichmäßiger  Stärfe  §u  erjeugen.  ©oit  ber  9iotfj> 
wenbigfeit,  gerabe  biefe  gorberung  an  bie  elettrifchen  SOfafchinen 
ftellen  ju  müffen,  hatte  mau  fid)  aber  bereits  ^inretc^enb 
überzeugt. 

©S  würbe  uns  hier  ju  weit  führen,  wenn  wir  ttodf)  aß 
ber  anberen  ©erfuche  gebenleu  wollten,  welche  man  anfteOte, 

(512) 


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17 


unt  leiftunggfäßige  SOfafcßinen  ju  erßalten.  $)er  heutige  ©tanb 
ber  Sfeftrotecßnif  öerroetft  alle  bieje  fotuie  alle  oben  betriebenen 
eleftrifcßen  SDtafcßinen  in  bag  ©ebiet  ber  ©efcßitßte.  Unb  wenn 
aucß  nocß  einige  Saßre  ßinburcß  ber  ©iemeitgfcße  Gßlinber» 
inbuftor  öielfacße  Serwenbung  fanb,  fo  ßat  bod)  aucß  er  jeßt 
bag  gelb  anberen  SBorricßtungen  gegenüber  uotlftänbig  raunten 
muffen. 

$ie  neue  ißeriobe,  in  ber  wir  jeßt  nodi  fielen,  wirb  ein- 
geleitet  burd)  jwei  großartige  ßmtbedungen : burd)  bie  (Sntbedung 
beg  fßaccinotti-©rammefd)en  9tingeg  unb  beg  bpnamo* 
eleftrifcßen  ißrin^ipg  oon  ©iemeng.  $u  biefem  leßteren 
wollen  wir  ung  nun  junäcßft  wenben. 

^Bereits  int  ®ejember  1866  ßatte  ©iemeng  in  SBerlin  oor 
mehreren  ^ac^geteEjrtert  mit  einer  fDfafcßine  ejperimentirt,  welche 
feine  ©taßlmaguete  enthielt,  fonbertt  ftatt  biefer  einen  großen 
©leftromagnet.  ®ie  3)raßtenben  beg  leßteren  waren  bireft  mit 
ben  Sürßen  beg  ©tromroenberg  oerbuitben.  Seoor  bie  SDZafcßine 
in  ©ang  gefeßt  würbe,  ßatte  ©iemeng  ben  ©trom  weniger 
galoanifirter  (Elemente  burcß  ben  fieitunggbraßt  beg  Qrleftro- 
magnetg  geßen  laßen.  ®ie  Grrfaßrung  leßrt  aber,  baß  (Sifen, 
welcßeg  einmal  magnetifcß  erregt  ift,  bauernb  geringe  ©puren 
oon  magnctifdjcr  Straft  beßält.  ©irb  nun  ber  Gßlinberinbuftor 
einer  folcfjen  fDfafcßiue  gebreßt,  fo  entfteßt  in  feiner  $raßtfpirale 
unter  bem  ©ttfluß  beg  im  ®ifen  beg  Gleftromagnetg  juriid* 
gebliebenen  SWagnetigmug  ein  fdjwacfjer  ©trom,  weldjer  burcß 
ben  ®raßt  beg  ©leftromagnetg  fließt  unb  biefen  oerftärft.  ®a> 
burcß  finbet  wieber  eine  Serftärfung  beg  ©tromeg  im  Stjlinber- 
inbuftor  u.  f.  w.  ftatt,  unb  in  furjer  $eit  ift  bie  SDiafcßine  big 
jum  SDiafimum  ißrer  Seiftunggfäßigfeit  angeregt.  2)ieg  ift  in 
furzen  ©orten  ber  Stern  beg  ©iemengfcßen  bßnantoeleftrifcßen 
fßrinjipg.  ©egen  feiner  ungemeinen  ©icßtigfeit,  jugleicß  aber 

Sammlung.  91.  g.  V.  1X0.  2 (513) 


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18 


um  nadjsuweifen,  baf$  Siemens  unzweifelhaft  bie  Priorität  in 
biefer  Sntbecfung  jufteht  troß  alter  fflemüijuitgen  ber  ©nglänber, 
welche  biefc  (Sfjre  ihrem  SanbSmann  SB^eatftone  retten  wollten, 
motten  mir  Siemens’  eigne  AuSeinanberfehungen,  welche  fich  im 
gebruar»§eft  1867  ber  Sßoggenborfffdjen  Annalen  finben  unter 
ber  Ueberfdjrift : „lieber  bie  Untwanblung  »on  ArbeüS- 
fraft  in  eleftr ifdjen  Strom  ohne  Anwenbung  perma- 
nenter  3Ra  gnete",  ^ier  wörtlich  folgen  taffen: 

„SBSenn  man  jwei  parallele  ©rätjte,  welche  Steife  beS 
SdjliefjungSfreifeS  einer  galoanifchen  Sette  bitben,  eiitanber 
nähert  ober  ooneinanber  entfentt,  fo  beobachtet  man  eine 
Schwächung  ober  eine  SSerftärfung  beS  Stromes  ber  Sette,  je 
nacfjbem  bie  Bewegung  im  Sinne  ber  Sräfte,  weld)e  bie  Ströme 
aufeinanber  auSüben,  ober  im  entgegengefefcten  Sinne  ftatt« 
finbet.  Ssiefelbe  @rf<heinung  tritt  in  oerftärftem  SRaße  ein, 
wenn  man  bie  ißoleitben  zweier  (Steftromagnete,  bereit  SBinbungen 
X^eife  beSfetben  SchliefjungStreifeS  bitben,  einattber  nähert  ober 
ooneinanber  entfernt.  Söirb  bie  ^Richtung  beS  Stromes  in  bem 
einen  ®raf)t  im  Slugenblicf  ber  größten  Annäherung  uitb  (Snt- 
fentung  umgelehrt,  wie  eS  bei  eIeftrobt)namif<hen  fRotatiouS- 
apparaten  ber  eteftromagnetifchen  9Rafchinen  auf  mechanifchem 
SEBege  ausgeführt  roirb,  fo  tritt  eine  bauernbe  Sßerminberung  ber 
Stromftärfe  ber  Sette  ein,  fobalb  ber  Apparat  fid)  in  Bewegung 
fe^t.  ®iefe  Schwächung  beS  Stromes  ber  Sette  burch  ©egen- 
ftröme,  welche  burch  &*e  ^Bewegung  im  Sinne  ber  bewegenben 
Sräfte  erzeugt  werben,  ift  fo  bebeutenD,  baß  fie  ben  ©rutib 
bitbet,  warum  eteftromagnetifche  Sraftmafchinen  nicht  mit  ©rfolg 
burch  galoanifche  Setten  betrieben  werben  fönnen.  SBirb  bagegen 
eine  foId)e  SE>2aftfjine  burch  eine  äußere  ArbeitSfraft  im  entgegen- 
gefegten  Sinne  gebreht,  fo  muß  ber  Strom  ber  Sette  burch  b‘e 
jefct  ihm  gleichgerichteten  inbucirten  Ströme  öerftärft  werben. 
®a  biefe  SBerftärfuug  beS  Stromes  auch  eine  SSerftärfung  beS 

(514) 


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19 


3ftagneti«ntu«  be«  Sleftromagnet«,  mithin  aud)  eine  SJerftärfuug 
be«  folgenben  inbucirten  Strome«  ^eröorbringt,  fo  »üäc^ft  ber 
Strom  ber  $ette  in  rafdjer  ^3rogreffion  bi«  einer  folgen 
^>öf)c,  baß  man  ledere  felbft  ganj  au«fchalteu  fann,  ohne  eine 
Serminberuitg  be«  Strome«  loahrjunehmett.  Unterbricht  man 
bie  Drehung,  fo  oerfchminbct  natürlich  auch  ber  Strom,  nnb 
ber  feftftehenbe  Sleftromagnet  oerliert  feinen  äliagnetiSmu«. 

2)er  geringe  ©rab  oon  ÜJ?agneti«mu«,  melcher  auch  'm 
roeichften  Sifett  ftet«  jurüdbleibt,  genügt  aber,  um  bei  mieber 
eintretenber  Drehung  ba«  progreffioe  Slnmachfen  be«  Strome« 
im  Sd)Iießung«freife  oon  neuem  einjuleiten.  S«  bebarf  bahcr 
nur  eine«  einmaligen  furzen  Strome«  einer  Mette  burdj  bie 
SSinbuttgen  be«  feften  Sleftromagnet«,  um  beit  Apparat  für  alle 
3eit  leiftung«fähig  gu  machen. 

2)ie  ^Richtung  be«  Strome«,  «eichen  ber  Apparat  erzeugt, 
ift  oon  ber  Polarität  be«  jurücfbleibenbcn  2Jt'agneti«mu«  ab- 
hängig,  änbert  man  biefelbe  oermittelft  eine«  furjen,  entgegen- 
gefegten  Strome«  burch  bie  SSinbuttgen  be«  feften  Sleftromagnet«, 
fo  genügt  biefe«,  um  auch  allen  fpäter  burch  Dotation  erzeugten 
mächtigen  Strömen  bie  umgefehrte  Dichtung  ju  geben. 

3>ie  befchriebene  SSirfung  muß  jtoar  bei  jeber  eteftromag* 
netifchen  ÜJiafchine  eintreten,  bie  auf  Slnjiehung  unb  Slbftoßung 
oon  Sleftromagueten  begriinbet  ift,  beren  SBinbungen  $hfite 
be«felben  Schließung«freife«  bilbeit;  e«  bebarf  aber  hoch  befonberer 
9iücffichten  jur  ^erfteüung  oon  eleftrobpnamifcf)en  Snbuftoren 
oon  großer  SBirfung.  25er  oon  bctt  fommutirteu,  gleichgerich- 
teten Strömen  umfreifte  feftftehenbe  ÜJJagnet  muß  eine  h'1,re»* 
cf)enbe  magnetifcße  Trägheit  ha&en/  um  auch  «ährenb  ber 
Stromioechfel  ben  in  ihm  erzeugten  fjödjften  ©rab  be«  äRagne» 
ti«mu«  ungefchtoächt  beigubehalten,  unb  bie  fidt>  gegenüberfteheit- 
ben  ifjolflächen  ber  beibett  äRagnete  müffen  fo  befchaffett  fein, 
baß  ber  feftftehenbe  ÜRagnet  ftet«  burch  beuadjbarte«  Sifett 

2*  (515) 


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20 


gefdfloffen  bfeibt,  möhrenb  ber  beroeglidje  fid)  brel)t.  $iefe  53e> 
bingungen  roerbeu  am  beften  burcß  bie  ton  mir  oor  längerer 
$eit  in  Vorfdhlag  gebrachte  unb  feitbem  ton  mir  unb  Slttberen 
tielföltig  beiiu^te  Slnorbttung  ber  ÜJiagnetinbuftoren  erfüllt. 
$er  rotirenbe  ©leftroinagnet  beftef;t  bei  benfelben  auö  einem  um 
feine  Sldffe  rotirenben  Grifettcblinber,  melier  mit  grnei  gegenüber« 
ftehenbeu,  ber  2ld)fe  parallel  laufenbett  @ittf  dritten  terfehen  ift, 
bie  beit  ifolirten  Umtuinbung§braf)t  aufnehmen.  $ie  sßolettben 
einer  größeren  gaßl  ton  ©taljlmagtteten  ober  im  torliegenben 
galle  bie  Sßolenbctt  beö  feftfteljenben  ßleftroniagnetö  umfaffcn 
bie  ^Peripherie  biefeö  ©ifenchlinberö  in  feiner  gangen  Sänge  mit 
möglidfft  geringem  ^mifchenraume. 

SOZit  $iilfe  einer  berartig  eingerichteten  ÜDiafdjine  fanit  man, 
meint  bie  Verßältniffe  ber  eingeltten  $he*k  richtig  beftimmt 
finb  unb  ber  Kommutator  ridjtig  eingcftellt  ift,  bei  ^inreicffenb 
fdjneller  Drehung  in  gefd)loffenen  Seituugäfreifen  ton  geringem 
nnmefcutlidjen  Söiberftaube  ©tränte  ton  foldjer  ©tärfc  ergeugen, 
baß  bie  UmminbungSbrähte  ber  (Sleftromagnete  burd)  fie  in 
furger  $eit  bis  gu  einer  ^Temperatur  ermärmt  mcrbett,  bei 
meldjer  bie  Umfpinnung  berfelben  terfof)lt.  Sei  anhaltenber 
©enufcung  ber  ÜJZafdjine  muß  biefe  ©efalfr  bnrcf)  ©infdjaltung 
tott  SBiberftänbeit  ober  burdi  üDiäßiguitg  ber  ©rehungSgefchttinbig« 
feit  termieben  merbett. 

SBäßrenb  bie  Seiftung  ber  magneteleftrifdjen  Snbuftoreit 
nicht  in  gleichem  Verhältttiffe  mit  ber  Vergrößerung  ihrer 
®imenfionett  gunimmt,  finbet  bei  ber  betriebenen  baS  um« 
gefehrte  Verhältniß  ftatt.  @3  hat  barin  feiten  ©runb, 
baß  bie  Kraft  ber  ©tahlmaguete  in  meit  geringerem  Verhält« 
niffe  guttintmt  als  bie  SDiaffe  beS  gu  ihrer  ^erftellung  tertten* 
beten  Stahles,  unb  baß  fid)  bie  magnetifdje  Kraft  einer  großen 
Slngahl  fleitter  ©tahlmaguete  nicht  auf  eine  fleine  ^Jolflädje 

fotigentrireit  läßt,  ohne  bie  SBirfung  fämtlidjer  ÜDßagnete  be* 

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21 


beutenb  ju  fc^tuäc^ett  ober  fie  jum  Tljeil  ganj  ju  entmagnetifiren. 
ÜRagnetinbuftoren  mit  ©taljlmagneten  firtb  bnt)er  nicht  geeignet, 
100  e3  fid)  um  ©rjeuguttg  fef)r  ftarfer  anbaueritber  ©tränte 
banbeit.  üRan  ^nt  eS  jioar  fdjon  mehrfach  oerfudjt,  folcfje 
fräftige  magneteleftrifdje  Snbuftoren  ^erjuftellen  unb  auch  fo 
Iräftige  ©tröme  mit  ihnen  erzeugt,  baß  fie  ein  intenfioeS  elef* 
trifd)e8  üicfjt  gaben,  bod)  mußten  biefe  9Rafchinen  foloffale 
Timenfioiten  ertjalten , rnoburd)  fie  fefjr  foftbar  mürben.  Tie 
©tahlmagnete  oerloren  ba(b  beit  größten  Tbeit  i^re«  ÜRagne- 
tiSmuS  unb  bic  SDiafc^iite  ihre  anfängliche  Kraft. 

UieuerbingS  bflt  b«  SRechouifer  SBilbe  in  Sirminghant  bie 
£eiftung3fäf)igfeit  ber  magneteleftrifdjen  9Dtafd)inen  baburch 
mefentlid)  erhöht,  bafj  er  jtoei  SJiagnetinbuftoren  meiner  oben 
betriebenen  Konftruftion  jn  einer  Süiafdjine  fombinirte.  Ten 
einen  größeren  biefer  Stibuftoren  oerfieht  er  mit  einem  (Sleftro* 
magitet  an  ©teile  ber  ©tahlmagnete  unb  oermenbet  ben  anbereit 
jur  baueruben  SDfagnetifiruitg  biefei  ©leftromagnets.  Ta  ber 
Gfeftromagnet  fräftiger  mirb  als  bie  ©tahlmagnete,  melche  er 
erfefjt,  fo  mufj  aud)  ber  erjcngte  ©troin  burd)  biefe  Kombination 
in  minbeftemS  gleichem  ÜJiage  üerftärft  mcrben. 

©S  läfjt  fich  leicht  erfennen,  bafj  SBilbe  burd)  biefe  Korn* 
bination  bie  gefchilberten  SRängel  ber  ©tahlmagnet<3nbn!toren 
roefentlich  oerminbert  C)at.  Slbgefefjcn  oon  ber  Unbequemlichfeit 
ber  gleichseitigen  ©enoettbung  jmeier  ^nbnftoren  jnr  ©rjeugung 
eitieö  Stromes,  bleibt  fein  Slpparat  bod)  immer  abhängig  oon 
ber  unjuüetläffigen  fieiftung  ber  ©tahlmagnete. 

Ter  Techni!  finb  gegetnoärtig  bie  Üliittel  gegeben,  eleftrifche 
©tröme  ooit  unbegrenzter  ©tärle  auf  billige  unb  bequeme  SBeife 
überall  ba  ju  erzeugen,  mo  Slrbeitsfraft  biSponibel  ift.  Tiefe 
Tljatfache  mirb  auf  mehreren  ©ebieten  berfelben  oon  mefentlicfjcr 
©ebeutung  toerben." 

3Jian  fteht  au?  biefen  ÄuSeinanberfefcungen,  bafj  ©iemenS 

(517) 


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22 


baS  ißrin^ip  feiner  neuen  DJtafchine  »oHfommen  ffar  erfaßt  hatte. 
SEBheatftone  teilte  feine  Beobachtungen  über  biefeit  felben  ^Junft 
erft  am  14.  Februar  1867  in  einer  Sijjung  ber  Royal  Society 
mit  unter  bem  Titel:  „On  the  Augmentation  of  the  Power  of 
a Magnet  by  the  Rotation  thereon  of  Currents  indueed  by 
the  Magnet  itselP,  ttnb  eS  unterliegt  baljer  feinem 
3meifel,  baß  Siemens  bie  Gl)re  ber  Priorität  jufte^t. 
Tie  Slnfichten,  bie  SB^eatftone  in  feinem  Bortrage  entmidelte, 
becften  fid)  im  mcfentlidjen  mit  benen  oon  «Siemens,  unb  e$ 
bleibt  nur  räthfelßaft,  baß  er  ber  Gntbedung  »on  Siemens  gar 
feine  Grmähnung  tßat,  obglcid)  biefclbe  fdjon  fed)S  SBodgn 
»orßer  öffentlich  befannt  gegeben  »ar. 

GS  bürfte  hier  bie  paffeubfte  Stelle  fein,  um  einige  furje 
Bemerfungeu  über  bie  Gintfjeilung  ber  eleftrifrfjeu  SDJafchinen  in 
jtuei  £>auptgruppeu,  näntlid)  in  SBedjfelftr  om>  unb  ©leid)' 
ftrommafdjincn  einjufdjalten.  Stile  bisher  befchricbenen 
SJiafdjineit  finb  äöechfelftrommafchinen ; nur  burdj  eine  befonbere 
Borrichtung,  ben  Stromroeubcr,  ift  man  im  ftanbe,  bie  SBechfel- 
ftröme  ber  SDiafchine  in  einer  unb  berfelben  fRidjtung  burd)  ben 
äußeren  PeituugSbraht  ju  fenben.  Tie  ©leidjftrommafchinen, 
ju  benen  mir  unS  im  folgenben  roenben  mollen,  liefern  bagegen 
bireft,  alfo  ohne  Slnmeubung  eines  StrommeitberS,  gleichgeridjtete 
Ströme.  GS  fei  aud)  noch  barauf  hingemiefen,  baß  gerabe  biefe 
2)tafd)inen  eS  finb,  welche  bie  mannigfaltigftc  Berwcnbitng  in 
ber  Subuftrie  gefuuben  hoben;  benn  mcnn  aud)  für  manche 
groede,  j.  B.  für  bie  §erftellung  eines  elcftrifchen  BogenlichteS, 
bie  ©ed)fetftrommafchincn  gemiffe  Bortheile6  bieten,  menn  fie 
bei  Fernleitungen,  meil  für  ihre  ho^0efpannten  Ströme  nur 
biinner  SeitungSbraht  erforbcrlich  ift,  namentlich  feit  Grfinbung 
ber  Transformatoren,7  immer  nod)  eine  »üidjtige  SRoöc  fpielen, 
fo  ift  boch  unzweifelhaft  feftgeftcllt , baß  fie  im  ©efamteffeft 
ihrer  fieiftungen  ben  ©leichftrommafchinen  mefentlich  itachftehen. 

(518) 


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23 


^Rationelle  SBermenbung  be«  2J?aterial<S  ift  aber  bie  erfte  33e* 
bingung,  welche  bie  Snbuftrie  betreff«  ihrer  ©erzeuge  fteHen  muß. 

25er  mefentlicfjfte  2he*l  bcr  ©leidjftrommafchinen,  bie  mir 
jeßt  befpredjen  motten,  ift  ber  SRinginbuftor.  ®eüor  mir 
jeborf)  bie  ©rflärung  beSfelbett  unternehmen,  roollen  mir  einige 
furje  gerichtliche  öemerfungen  oorauSfchicfen.  3m  Saljre  1860 
fonftruirte  Antonio  Sßaccinotti  in  gloren^  für  bie  Uni* 
oerfität  Sßifa  eine  fRingmafchine.  Sine  ausführliche  Sefcßreibung 
berfelben  mürbe  aber  erft  einige  Söhre  fpäter  in  bem  3oarnal 
„II  Nuovo  Cimento“  oeröffeutlicf)t.  25er  betreffenbe  33anb  trägt 
bie  Safjreäjahl  1863,  fann  aber  erft  1865  fertiggeftellt  fein, 
meil  bariti  aud)  eine  öbfjanblung  au«  bicfem  Söhre  enthalten 
ift.  Sin«  bem  SBortlaut  ber  ^accinottifchen  Slufjeichnungen  geht 
beutlich  heröor,  baß  ihr  SSerfaffer  bie  Theorie  feine«  fRinge« 
flar  erfaßt  hötte.  Slujjerbem  ift  ermiefett,  baff  er  leiftungSfäljige 
JRingmafchincn  fonftruirte,  in  bcnen  er  theil«  Stahl*,  theil« 
©leftromagnete  oermenbetc.  @S  unterliegt  fonach  feinem  ßmeifel, 
baß  bie  ©efchidjte  bcr  E|$hh!if  fßaccinottt  al«  bcn  erften  ©rfinber 
be«  Stinginbuftor«  nennen  muß.  2roßbcnt  aber  läßt  fich  nicht 
leugnen,  baß  ber  fRinginbuftor  erft  burdj  feinen  jmeiten  @r* 
finber  ©ramme  bie  Söürbigung  erfuhr,  bie  ihm  gebührt.  3l‘no^e 
©ramme  au«  ©elgien  mar  in  ber  ©efellfchaft  l’Alliance  al« 
9RobeQtifch(er  befchäftigt  uub  hatte  fiel)  fchon  mehrere  patente 
über  eleftrifche  Sidjtmafchinen  ermorben,  al«  er  im  3ahre  1871 
ben  fRinginbuftor  fjerfteüte,  ohne  eine  Slhnuitg  baüoti  ju  haben, 
baß  biefe  ©rfinbung  bereit«  gemacht  mar.  25afür,  baff  ©ramme 
feine  ©rfinbung  felbftänbig  gemacht  hat,  fpricf)t  fchon  ber  Sßeg, 
ben  er  einfehlug.  ©r  lieh  nämlich  juerft  einen  SKagnet  innerhalb 
eine«  feftftehenben  ^o^Iett  ©ifenringe«  rotiren,  melcher  mit 
£eitung«braht  ummicfelt  mar,  unb  fam  fpäter  erft  auf  ben 
©ebanfeit,  beit  SÖfagnet,  bejm.  Slcftromagnet,  feftjutegen  unb 

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24 


ben  SRing  in  2)retjung  ju  öerfe&en.  ®ie  Stnorbnung  ber  ein- 
zelnen Steile  rourbe  iiberbieä  unter  ©rammeä  geriefter  §anb 
eine  mefentlicfy  nnbere  ab?  bei  ißaccinotti.  $>er  SRing  mürbe  auf 


Rifl-  ■*■ 


baS  fleinfte  ÜRa|  gebracht , unb  ber  ©tromfammler,  non  ißacci- 
notti  fälfcpcf)  ©trommenber  genannt,  unmittelbar  an  ben  3n‘ 
buftorring  angefdjtoffen.  £er  ©taf)Imagnet  mürbe  mit  fo- 

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25 


genannten  ißolfdjufjen  berart  öerfefjen,  baß  ber  IRing  faft  rimb* 
fyerum  non  magnetifdjer  Äraft  umfcßloffen  war.  SBegen  ber  ge* 
brungeneit  gornt  be«  SRitigeS  war  e8  möglid),  bie  UnibreßungS* 
gefcfjminbigfeit  rcdjt  tjodj  $u  nehmen,  uitb  bieS  war  t>ou  be* 
fonberem  93ortl)eil  für  bie  ©tromfteigeruug. 

9iad)  biefen  gefdjid)tlid)en  93emerfungen  wollen  wir  uit«  nun 
mit  |>ülfe  ber  gigur  4 bie  Sntfteljung  be8  eleftrif d)en 
©tromeS  in  bem  Ütinginbuftor  flar  machen.  Der  äußere 
iRtng  ift  aus*  Sifen  f)ergeftetlt  unb  wirb  burd)  einen  ftarfett 
(Sleftromagnet  in  jwei  ßalbfreiSförmige  9Jlagnete  »erwanbelt, 
roeldje  bei  S mit  ifjren  SRorbpolen,  bei  N mit  iljreit  ©iibpolett 
aneinanber  ftoßen.  Die  Pfeile  auf  bem  fRinge  beuten  bie 
9lmpferefd)en  ©tränte  an.  Der  SRing  ift  mit  einer  großen  Sin* 

jafjl  Drafjtfpiralen  umgeben,  beren  in  unferer  gigur  nur  fedjS 
gejetc^net  finb.  Stuf  ber  8ld)fe  befinbet  fid)  ber  ©tromfammfer, 
welcher  au$  fo  oicl  SeitungSftüden  befielt,  wie  ©piralen  t»or* 
Rauben  finb.  Die  Seitunggftüde  (in  ber  5*9ut  fdjwarj)  finb 
burdj  nidjtleitenbe  ©ubftanj  ooneinanber  unb  ooit  ber  ftäblernen 
Sld)fe  getrennt.  Die  beiben  Draljtenben  ber  einzelnen  ©piralen 
finb  mit  je  jwei  aufeinanber  folgenben  Seitnngöftücfen  oerbuuben. 
93 on  re<f)t3  unb  oon  linfä  werben  ftupferbraßtbiirften  burdj 
fd)wad)e  Gebern  gegen  ben  ©tromfammler  gebrüdt.8  Der  große 
ißfeil  jwifcßen  S unb  b giebt  bie  Drel)ungSrid)tung  be3  IRingeS 
an.  3Birb  ber  Siitig  um  feine  Sldjfe  gebrefjt,  fo  bleibt  bie 
magnetifdje  93ertl)eilung  tvoß  ber  Söewcgung  beS  ©ifenS  feft 
liegen,  fo  baß  alfo  immer  oben  2 SRorbpole  unb  unten  2 ©üb* 
pole  jufammenftoßen;  bie  ©piralen  bagegen  änberit  fortwäljrenb 
iljre  Sage  itt  93ejug  auf  bie  magnetifdje  Slertßeilung  im  IRinge. 

2Bir  wollen  nun  junäcßft  unterfudjen,  welche  SSJirfuttg  bie 
Ijalbfreisförmigen  ÜRagttete  auf  bie  ©piralen  auSüben,  wenn 
biefe  fid)  in  unmittelbarer  SRäfje  ber  fünfte  a,  S,  b,  N bewegen. 
SBälfrenb  eine  ©pirale  fid)  in  ber  ÜJlälje  oon  S befinbet,  muß 

1521) 


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26 


in  it)r  nad)  bem  achten  $arabatjfd)en  Snbuftionlgefefc  ein  Strom 
entfielen,  werter  mit  beit  Stmperefcf)en  Strömen  jwifdien  S 
unb  a biefetbe  9iid)tung  f)at,  nad)  bem  fiebenten  SnbufttonSgefe^ 
ein  Strom,  melier  ju  beit  Stmpörefd)en  Strömen  3Wifd)en  S 
unb  b entgegengesetzte  Stiftung  tjat;  beibe  Stromgruppen  »irfen 
alfo  in  bemf eiben  Sinne  auf  bie  Spirate  bei  S.  Sie  Siidjtung 
bei  entfteljenben  Stromei  ift  burd)  ißfeite  angegeben,  ©enau 
in  berfetbcn  SQSeife  erftärt  fic£j  bie  Strombilbung  in  ber  Sfätje 
oon  N.  ©ewegt  eine  Spirale  in  unmittelbarer  9?ät)e  oon 

a,  fo  ift  bie  SSirfung  ber  Slmperefdjen  Ströme  jwifdien  a unb 
N gteid)  unb  entgegengerid)tet  berjenigen  SSirfung,  weldfe  bie 
2tmp£refd)en  Ströme  jwifdfen  a unb  S aulüben,  el  fann  alSo 
in  ber  Spirate  fein  Strom  entstehen,  ©enau  balfetbe  gilt  in 
©ejug  auS  ben  ißunft  b.  3e  weiter  nun  aber  eine  Spirale  öon 
a itad)  S oorrüdt,  befto  metfr  gewinnen  bie  9tmperefd)cn  Ströme 
hinter  it)r  bie  Cbertjanb  über  biejenigen  oor  it)r;  bal  SJfajimum 
ber  SSirfung  mujj  alfo  bei  S eintreten.  ©on  S nad)  b finft 
bie  SSirfung  auS  Stufl  jurüd-  ©beitfo  mäd)ft  ber  Strom  auS 
beut  SSege  oon  b itad)  N unb  nimmt  ab  auf  bem  SBege  oon 
N nad)  a.  SBir  fetjen  alfo,  bajj  bie  Ströme  in  alten  Spiralen 
bei  oberen  £>albfreifel  unter  ficf)  biefetbe  SRidjtuitg  f)aben.  Sal> 
fetbe  gilt  oom  unteren  £>albfreil.  Ser  Ucbergang  bei  Stromei 
oon  einer  Spirate  auf  bie  fotgenbe  wirb  burd)  bal  bajwifd)en 
tiegenbe  Seitunglftiid  bei  Stromfammterl  oermittett.  Ser 
Strom  bei  oberen  ^afbfreifel  trifft  mit  bem  bei  unteren  |)alb* 
freifei  in  bem  am  weiteftcn  nad)  red)tl  liegenbeit  Seitunglftüd 
jufammen.  Ser  ©cfamtftrom  gef)t  burd)  bie  Srafjtbürfte  unb 
ben  Sdjtiefjunglbratjt  nad)  ber  tinfl  befinbtidjen  ©ürfte,  um 
fid)  t)icr  wieber  in  jtoei  gteidje  Steile  ju  fpatten  u.  f.  w. 

Sie  3at)l  ber  Spiraten  ift  fetfr  üerfdjiebcn,  bei  ben  fteinften 
finb  el  20  bil  30,  bei  ben  größten  über  100.  Sa  nun  bie 
fteinften  SDiafdjinen  in  ber  SDiitiute  2000  bil  3000,  bie  größten 

(522) 


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27 


mehrere  £>unbert  Umläufe  madjen,  fo  müffett  in  jeber  ÜHinute 
»eit  über  50000  ©pule»  bei  jebem  ißole  oorbeigef)en.  3n 

gleicher  Söeife  paffiren  audj  bie  fieitung^ftücfe  bie  ©ürften.  ®ie 
nid)tleitenbe  ©ubftauj  jtuifdjen  je  jmei  aufeinaiiber  folgenben 
£eitung«ftiicfeti  ift  l)öd)ften«  1 bi«  2 SJiillimeter  bicf.  ®ie 

dürften  fd)leifen  fid)  au  beit  ©teilen,  too  fie  gegen  bett  ©trorn* 
fammler  brücfen,  feljr  halb  etwa«  ljof)l,  uitb  baljer  finb  bie 
dürften  fogor  in  beit  Slngenblicfett,  in  tueldjcn  bie  uidjtleitenbe 
®d)id)t  an  ilgten  »orübcrgel)t,  mit  ben  ScitungSftütfen  in  93e« 
riif)rung. — £iefe  SluSeiitatiberfejjungen  laffen  alfo  als  Doflfommen 
einleudjtettb  erfdjeinen,  bafj  bie  2ljeilftröme,  toeldje  bie  jeweiligen 
beibett  §albfreife  burd)laufen,  Dott  benen  ber  eine  über,  bcr 
attbere  unter  ber  fiittie  a b liegt,  ebenfo  gleidjmöfjig  oon  ber 
einen  ©iirftc  burd)  ben  £eitungSbrat)t  nad)  ber  auberett  fliegen, 
wie  in  einer  galoanifdjett  Satterie  uon  einem  ißol  jttnt  anbertt. 

©iS  je£t  ^abeit  toir  angetionttiten,  bajj  ber  Strom  bircft 
burd)  ben  ©djliejjungSbrafjt  oon  einer  ©ürfte  pr  anbereu  gcljt. 
SSir  Ijaben  baljer  ttod)  jtt  erörtern,  toie  ber  ©trotn  burd)  bie 
©leftromagnete  uttb  burd)  bie  einjujdjalteiibcn  Apparate  geführt 
toirb.  Unter  biefem  ®efid)tSpunft  tf>eilt  man  bie  2)t)nantoS  in 
brei  |jauptgruppeit  ein:  1.  §auptf d) I tt B * , 2.  97ebettfd)lu§-, 
3.  Gompouttbmafdpnen  ober  2Jfafd)inen  mit  gemifdjter 
Söidlttng.  SBir  geben  eilte  frfjematifcf^e  ^eidjnung,  gig.  5,  ber 
erften  Slrt  uttb  erflärcn  baratt  and)  bie  beiben  anberen.  2)ie  beiben 
Ubeilftröme  beS  SKinginbuftorS  R tiereinigen  fid)  burd)  bie 
©ürfte  a ju  einem  ©cfamtftrom.  2)iefer  gel)t  über  bie  Ätlcmme  c 
burd)  bie  Slpparate,  bann  über  d burdj  ben  ©leftromagnet  uttb 
julejjt  nad)  b.  ©ei  biefer  ajfajdjine  mujj  ber  Sßiberftanb  ber 
eingefdjaltcten  Slpparate  im  richtigen  SÜertjältni^  bem  ©3iber> 
ftanbe  ber  Üftafdjinc  ftef)cit.  SlttS  biefem  ©ruttbc  finbet  fie 
paffenbe  ©ertoenbuttg,  wenn  eS  fid)  j.  ©.  barum  fjanbelt,  eine 
untieränbcrlid)e  3a()l  uon  Santpett  jn  fpcifett.  ©ei  ber  9lebctt= 

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28 


fdjfufjmafdjine  gef)t  ein  2>rat|t  öon  a burd)  bie  GHeftromagnete 
nacfj  b,  ein  anberer  geljt  ooit  a burd)  bie  Apparate  unb  bann 
bireft  nad)  b.  25a  man  nun  in  beit  SDrafjt  ber  ©feftromagnete 
beliebige  SBiberftänbe  einfdjaften  fantt,  fo  fönnen  audj  bie  ge* 
fpeiften  Slpparate  oerfdjiebene  SBiberftänbe  tjaben.  ©ine  Sieben* 
fd)tuf}mafcf)ine  geftattet  batjer  bie  öielfeitigfte  Slnwenbung  unb 
ift  au3  biefem  ©runbe  bie  $orm/  todcfje  für  ®d)uleyperimente 
am  geeigneten  ift.  ®ie  ßompounbmafdjinen  finb  mittelft  eine« 

ftarfen  $rat)teg  genau  ebenfo 
gewidett,  wie  bie  ,f)auptfd)lufj* 
ntafdjincn,  aufferbem  geljt  aber 
ttod)  ein  biimter  2>raljt  non  einer 
SSürfte  burdj  ben  ©leftromagnet 
jur  anberen  dürfte.  35ie  Appa- 
rate werben  in  ben  biden  2)rat)t 
geftattet.  $iefe  ÜJiafdpne  regu* 
lirt  fid)  felbft.  3ft  näntlicf)  ber 
SBiberftanb  jwifd)en  c unb  d Heilt, 
fo  arbeitet  fie  als  £>auptfdjlu§* 
mafdjitte,  ift  er  bagegen  groß, 
fo  arbeitet  fie  als  Siebenfdjluß* 
mafdjine.  ©iefinbet  bie  paffettbfte 
Serwenbung  bei  großen  gewerb* 
lidjett  Slnlagen,  weil  in  biefem 
$afle  oft  febr  oerfdpebette  SBiberftänbe  in  bie  ©tromleitung  ein* 
geftattet  werben. 

@3  fei  f)ier  nod)  erwähnt,  bajj  fid)  im  Sifen  be§  ©ramme* 
fdjett  SiittgeS  infolge  oott  3nbuftioit  elettrifcfjc  ©tröme  bitben, 
bie  fogenannten  goucaultfdjen  ©tröme.  25iefe  ©tröme  wirten 
auf  ben  Setrieb  ber  2)pnamomafd)inen  ftörenb,  ba  fie  baS 
Sifen  bes  SRingeS  beträdjtlid)  erwärmen  unb  ju  iljrcr  ©ntwidelutig 
ein  £f)eit  ber  aufgeWanbten  Arbeit  unnötig  »erbraust  wirb. 

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29 


Um  nun  bie  öilbung  ber  goucaultfdjen  ©tröme  möglidjft  ju 
nerljinbern,  fteHt  man  ben.örammefdjen  fRing  nidjt  meljr  au3 
einem  feften  ©tücf  f)er,  fonbern  aus  bünnem  @ifenbral)t,  beffen 
einzelne  Sagen  burd)  ifofirenbe  (Stoffe  getrennt  finb.  ®ie 
Söiitbungen  be$  ©ifenbraf)te$  müffen  fenfrecf;t  jur  5Drel)ung3ad)fe 
fteljen,  roeil  ber  £eitung§braf)t  ber  ©pulen  paraUet  mit  ber 
£ref|ung3ad)fe  oerlnuft.  £>icrburd)  finb  bie  goucaultfdjett 
Ströme,  tueldje  parallel  mit  ben  inbucirenbeit  verlaufen,  auf  ein 


8'fl-  6- 


unfdjäblicfjeS  SDiajj  juriidgefüf)rt,  mäf)renb  ber  magnetifdjen  &raft> 
ftrömung  fein  SBiberftanb  entgegeugefejjt  ift. 

9?ad)bem  bie  ©eftalt  be3  9iinge3  bie  mannigfadjften 
SBaitblungen  burdjgemadjt  fjat,  fjat  man  fiefj  jule^t  nadj  bem 
Vorgänge  non  ©d>udert  in  Nürnberg  für  ben  gladjring  ent* 
fdjiebcn.  gigur  6 jeigt  eine  glad)ringmafd)inc,  mie  foldje  non 
öebrüber  $rflaS  i»  Söunfiebel  gefertigt  merben.  2)er  gladj* 
ring,  in  ber  .ßeidjnung  pur(ij  einen  Sledpnantel  uerbedt,  f)at 
parallel  mit  ber  Sldjfe  geringere  2lu$bcl)nung  als  fenfredjt  jur 

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30 


gfadjringmafdjine  oou  ©djutfert  iit  Nürnberg.  3ur  SIbnafjme 
bei  ©tromel  fiitb  bei  bieder  9?iafdjine  oier  Siirften  erforberlicf), 
oou  welchen  in  nuferer  Slbbilbnng  (redjtl)  brei  fid)tbar  fiitb, 
wäfjrcnb  bie  oicrte  hinter  bem  ©tromfammter  liegt. 

itaum  ein  3af)r  mar  nad)  ©rnmmel  Srfiitbung  bei  fRing* 
inbnftorl  oerfloffen,  all  el  oou  ^jefner-Ältenetf,  einem  Ingenieur 
ber  (Jleftrijitätlwerfe  non  ©iemenl  & £>atlfe  in  ©erlin, 

(526) 


?(d)fe  unb  ift  fnft  auf  bem  ganjen  Umfreife  non  großen  hoppelten 
ißolfdjußen  umgeben.  ®ie  Sleftromagnete  fönnen  burcf)  eine 
©töpfelfcf)aItoorrid)tung  (in  ber  Hbbilbmtg  nidjt  erficßtlid))  auf 
©pannuttg  ober  Quantität,  b.  t)‘.  ^intereinanber  ober  neben* 
einanber  gefdjaftet  werben.  $er  ©tromfammler  liegt  linfl  unb 
wirb  jum  größten  $fjeil  burdj  bie  eine  Surfte  oerbedt.  gigur  7 
jeigt  eine  größere,  mit  oier  ®oppeleIeftromagneten  aulgeftattete 


S«8-  7* 


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31 


gelang,  auf  einem  anberen  SBege  baöfelbe  iu  erreichen. 
$er  Sif  entern  feineä  3nbuftor$,  ber  Trommel  genannt  toirb, 
fjat  Gplinbergeftalt  nnb  ift  parallel  ju  feiner  ?ld)fe  mit  einer 
größeren  Slnja^l  oon  Erafjtlagen  ummicfelt.  gigur  8 giebt 
eine  Ueberficßt  über  bie  ^aupttljeile  ber  SDiafcfjine,  unb  jmar  fo, 
baß  man  bie  Stirnfläche  be3  $rommelinbuftor8  oor  fich  ßat, 
welche  ben  ©tromfammler  trägt.  3ebe  ber  fdjon  ermähnten 
S>raljtlagen  befielt  auä  oielen  SBinbungen,  bilbet  alfo  eine 


einzelne  2>ral)tgruppe,  beren  beibe  Gnben  mit  je  einem  SeitungS* 
ftüd  be8  ©tromfammlerS  oerbunben  finb,  unb  jtoar  fo,  baß 
ebenfo  toie  beim  fRinginbuftor  ber  Anfang  unb  baS  Gnbe  ber 
einzelnen  ©ruppen  an  je  jtoei  aufeinanber  folgenbe  SeitungS* 
ftücfe  gefdjraubt  finb.  3-  finb  1 unb  9 jmet  fünfte  ber 
Stirnfläche,  burd)  bie  eine  ®raßtgruppe  geßt.  S3on  ben  beiben 
Gnben  berfelben  ift  baä  eine  mit  bem  2eitung$ftiicf  c,  ba« 
anbere  mit  bem  SeitungSftiicf  d oerbunben,  ebenfo  geßt  burcß 
2 unb  10  eine  ®raf)tgruppe,  beren  Snben  nach  h unb  g führen 

(527) 


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32 


u.  j.  ro.  3n  miferer  gigur  finb  ber  beffereit  Ueberfidjt  wegen 
nur  8 Srahtgruppen  angenommen,  unb  oon  biefen  finb  nur 
bie  2x8  = 16  (Snbbräljte  unb  ihre  SBerbinbung  mit  bem 
©tromfammler  cje^eicfjnet.  Sie  Sromntel  wirb  ber  ganzen 
Sänge  nach  auf  etwa  jmei  drittel  i^reS  Umfangt  oon  jwei 
ftarten  Sieftromagneten  umgeben,  bie  in  N mit  ihren  9Jorb« 
polen  unb  in  S mit  ihren  ©übpolen  jufantmenfiofcen.  SBirb 
nun  bie  Srommel  rafd)  um  ihre  Sldjfe  gcbreljt,  fo  miiffeu  in 
ben  einzelnen  Srahttljeilen  ©tröme  entfielen,  weil  biefelben 
fortroährenb  ihre  Sage  ju  ben  Magnetpolen  änbern.  @3  ift 
baffer  unfere  Aufgabe,  ju  unterfudjen,  mie  alle  biefe  ©injel- 
ftröme  ficfj  ju  einem  ©cfamtftrom  auf  am  menfügen.  2Bir  wollen 
junächft  eine  Srafftgruppe  eltoa  1,9  in§  Sluge  faffen.  SSirb 
bie  Trommel  fo  gcbrefft,  baß  im  oberen  £f)eil  ein  ©trom  ent- 
fiel, welcher  bei  1 ^erau^tritt,  fo  mujj  in  bem  unten  liegenbeit 
2f)eil  ein  ©trom  oon  cntgegengefefjter  $Ricf)tung  entfielen,  melier 
alfo  bei  9 f)ineintritt,  weil  oben  unb  unten  entgegengefefcte 
ißole  liegen.  SaSfelbe  gilt  »on  allen  anbcren  Srahtgruppen 
unb  jroar  fo,  baff  ade  Sljeile,  meldje  jeweilig  oberhalb 
ber  Sinie  M M liegen,  ben  pofitioen  ©trom  ^erang  auf  bie 
Stirnfläche  fenben,  Wäfjrenb  ade  unter  M M liegenbeti  Steile 
ihn  oon  ber  Stirnfläche  her  aufnehmen.  Sie  SBerbinbung  mit 
bem  ©tromfammler  ift  fo  eingerichtet,  bafj  ade  biefe  (Sinjel* 
ftröme  ju  jtoei  ©ummenftrömeit  oereinigt  toerben,  welche  mittelft 
jweier  SSürftcn  ihren  2öeg  burch  ben  ©chliefjungSbraht  nehmen. 
Sie  Siirften  briicfeit  gegen  bie  Seitungäftiicfe,  welche  gerabe  bie 
Sinie  M M paffiren.  SBir  woden  nun  fehen,  wie  bie  ©tröme 
ber  einzelnen  Srahtgruppeit  in  eine  Stidjtung  gebracht  werben. 
SB  on  e gehen  bie  beiben  ©ummenftröme  für  bie  gcjeid^nete 
©tedung  ber  Srommel  au$;  ihre  SEBege  finb  folgenbe: 
e 6 14  f 8 16  g 10  2 h 11  3 a 
e 12  4 d 9 1 c 7 15  b 5 13  a. 

(528) 


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33 

Siegen  d unb  h in  ber  Sinie  M M,  fo  finb  bieSSege  fotgenbe : 
d 4 12  e 6 14  f 8 16  g 10  2 h 
d 9 1 c 7 15  b 5 13  a 3 11  h. 

Siegen  c unb  g in  ber  Sinie  M M,  fo  finb  bie  Sßege  folgenbe: 
c 1 9 d 4 12  e 6 14  f 8 16  g 
c 7 15  b 5 13  a 3 11  h 2 10  g. 

Siegen  b unb  f in  ber  Sinie  M M,  fo  finb  bie  SBege  folgenbe: 
b 15  7 c 1 9 d 4 12  e 6 14  f 
b 5 13  a 3 11  h 2 10  g 16  8 f. 

Jür  bie  noch  möglichen  öier  Stellungen  ber  Xrommel 
gelten  bie  »orftefjenben  2Bege,  oon  redjtö  nadf  linlS  getefen. 

35ie  ©erbinbung  ber  35raf)tgruppen  unter  fich  mittelft  be£ 
©tromfammlerS  erfcheint  auf  ben  erften  ©lief  unftjmmetrifd). 
35aß  bieS  in  SBirflidjfeit  nidjt  ber  gaU  ift,  geht  au8  ben  oor* 
fte^enben  fahlen  unb  ©udjftaben  beutlid^  heruor.  ©ettaii  toie 
bei  bem  Siinginbuftor  ift  f>ier  ba8  @nbe  je  einer  ®raf)tgruppe 
burd)  ein  Seitungöftücf  mit  bem  Slitfang  ber  folgenbeit  oerbuitben, 
toä^renb  ber  Stnfang  unb  baS  @nbe  jeber  einjelnen  35raljlgruppe 
nach  jwei  aufeinanber  folgenbeit  SeitungSftiidcn  führen.  35a 
nun  ^ier  auch  in  ©c^ug  auf  bie  .gaßl  ber  2)ra^tgruppen  unb 
bie  @inrid)tung  beS  Strontfamntlerg  baSfelbe  gilt  toie  bei  ben 
9iingmafd)inen,  fo  ift  flar,  baß  biefe  äRafdjinen  ebenfo  toie  jene 
einen  ununterbrochenen  Strom  öon  gleicher  SRidftung  erzeugen. 

3e  länger  bie  Irommel  ift,  befto  fiirjer  finb  bie  35raht> 
ftücfe  auf  ber  öorberen  unb  hinteren  Stirnflädje  im  ©erljältniß 
ju  betiett,  meld)e  längs  ber  Trommel  laufen.  35arau$  folgt, 
baß  an  langen  trommeln  nur  wenig  35ral)t  ber  inbucirenbeit 
SSSirfung  ber  SleHromagnete  nicht  unterworfen  ift.  35a  biefer 
©or$ug  fich  aber  immer  erft  bei  einer  nicht  ju  geringen  Sänge 
geltenb  macht,  fo  ergiebt  fidf  aud)  jugleid),  baß  ber  Irommel- 
inbuftor  am  jwedmäßigften  in  größeren  2JJafd)inen  oerwanbt 
Wirb,  währeitb  ber  glad}ring  am  beften  für  bie  Heineren  paßt. 

Sammlung.  W.  g.  V.  110.  3 (B29> 


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34 


3m  Serfauf  ber  Sßeiterentwicfelung  bcr  Zrommelmafcbinen 
bat  man  noch  bie  (Einrichtung  getroffen,  bafj  ber  (Sifcnfern  ber 
Zrommet  an  ber  Sewegung  nicht  ttjeilnimmt,  mäbrenb  bie 
Trommel  felbft,  bie  in  biefem  gatle  b°bfe  Helfen  bat,  fich  in 
bem  SRaum  gmifeben  bem  (Sifenfern  unb  ben  SSögert  ber  Grleftro- 
magnete  brebt.  SBenn  nämlich  ber  Sifeitferit  gebrebt  wirb, 
miiffen  feine  ißofe  fortmäbrenb  itjre  Sage  änbern,  unb  baburd) 
wirb  ein  Zbcif  ber  bemegenben  Straft  ^wecflo«  oerbraudjt,  ja 
fogar  mirb  babureb  eine  nicht  unerhebliche  3Jienge  SBarme  ent« 

»riefelt,  welche  auf  bie 
Snbuftion  fchäb(ich  »oirft. 
3ur  Slbfcbwäcfjung  ber 
y 5oucauItfd)en  Ströme  ift 

ber  Sifenfern  berZromntel 
' au«  ifotirtem  3)rabt  her- 
gefteflt,  beffen  SSinbuitgen 
fenfrecht  jitr  Sldjfe  ver- 
laufen,9 meil  ber  Seitung«- 
v brafjt  parallel  jur  Slcbfe 

liegt. 

Sei  beit  neueftenXrom- 
melmafcbinen  ber  ftirma 
Siemen«  & £a(8fe  in 

Serliit  haben  ber  Stromfammler  unb  bie  (Sleftromagnete  noch 
eine  ?lbänberung  in  ber  SInorbnung  ihrer  Zbe>lc  erfahren, 
welche  bie  Sraucf)barfeit  biefer  3Jinfcf)inen  nicht  unroefentlich 
erhöbt  hat-  Jiir  ben  Stromfammler  ift  jefct  allgemein  bie 
„Jfreujfchaltung"  angenommen,  nachbem  fie  fchon  feit 

3abreu  in  einzelnen  Jätten  benufct  mar.  Zie  Äreujfchaltung 
ift  in  5ig»r  9 fchematifd)  bargefteüt.  Zer  befferen  Ueberficbt 
wegen  fitib  bie  jtoei  ^ßuitfte,  welche  ju  je  einer  unb  berfelben 
Zrabtgruppe  gehören,  mit  berfelben  $abf  oerfeben,  bie  eine 

(530) 


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35 


ofjne,  bie  anbere  mit  ©tridj;  eS  gehören  alfo  bie  fünfte 
1 unb  V,  2 unb  2‘  u.  f.  tu.  ju  je  einer  SDrahtgruppe.  $urd) 
SSergCeicfjen  biefer  gigur  mit  gigur  8 erfcmit  man  leicht,  baf? 
bie  Sagerung  ber  einzelnen  $rahtgruppen  eine  anbere  ift  als  bei 
bett  älteren  Ü)iafd)iuen.  SBä^renb  nämlidj  bei  jenen  bie  einzelnen 
®rat)tgruppen  genau  centrifcf)  liegen,  finb  fie  hier  ein  tuenig  e£= 
centrifch  angebracht.  9luS  ber  gigitr  ift  aufjerbem  ohne  weiteres 
dar,  bafj  bie  ©djaltungen  uoflfomnten  fpmmetrifd)  liegen. 

$ie  ißfeile  geben 


bie  ^Richtung  ber 
Ströme  in  beit  ein- 

zelnen $rahtgruppen  an 
unter  ber  93orauS> 

fe^ung,  bajj  ber  eine 
$ßol  über,  ber  anbere 
unter  ber  Trommel 

liegt.  2Die  beiben 
3tueigftrö>ne,  welche 
bei  biefer  «Stellung 

ber  Trommel  entftehen, 
nehmen  folgenben  93er* 


Sifl.  10. 


lauf : 


a 5 5'  b 6 6'  c 7 7'  d 8 8'  e 


a 4'  4 h 3'  3 g 2'  2 fl'l  e 
$ie  dürften,  welche  beu  ©trom  abnehmen  foHen,  muffen 
alfo  an  a unb  e attliegen.  $a  jeboch  biefe  Sage  ber  Abnahme* 
ftellen  für  bie  ©tromenttuidelung  uugünftig  ift,  hat  man  ben 
©tromfammler  um  90°  uad)  rechts  gegen  bie  Trommel  gebreht, 
fobafj  unter  Beibehaltung  ber  obigen  Srommelftellung  bieSeitungS* 
ftücfe  a unb  e in  bie  ÜDfittedinie  beS  (SleftromaguetS  faden,  gig.  10 
ueranfdjaulicht  alfo  bie  in  ber  wirflidjett  SluSfiihrung  gebrauch* 
lidje  93erbinbung  beS  ©tromfainmlerS  mit  ben  SJraljtgruppen. 

3*  <531; 


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36 


liegen  li  unb  d in  ber  9J?ittellinie  beä  ©leftromagnets, 

jo  nehmen  bie  beibcn  3'De'9ftröme  folgenbe  SBege: 
h 4 4'  a 5 5'  b 6 6'  c 7 7'  d 

h 3'  3 g 2'  2 f 1'  1 e 8'  8 d. 

Siegen  g uttb  c in  ber  ÜJiittellinie  beS  ©leftromagnetS, 

fo  nehmen  bie  beibeit  gtüeigftröme  folgenbe  SBege: 
g 3 3'  h 4 4'  a 5 5'  b 6 6'  e. 

g 2'  2 f 1'  1 e 8'  8 d 7'  7 c. 

Siegen  f unb  b in  ber  Sßittellinie  be$  ©leftromagnetä,  fo 
neunten  bie  beiben  3n,f*9ltrönie  folgenbe  SBege: 
f 2 2'  g 3 3'  h 4 -i'  a 5 5'  b 

f 1'  1 e 8'  8 d 7'  7 c 6'  6 b. 

giir  bie  oier  anbcren  nod)  möglichen  Stellungen  be» 
StromfammlerS  gelten  bie  »orftehcnbeu  SBege,  non  red)t3  uad) 
linfS  gelefen. 

®a  nun  bie  Siirften  immer  gegen  bie  in  ber  SÖJittellinie 
befiublicfjen  Seitungöftücfe  briiden,  fo  ergiebt  fid),  bafj  bicfelben 
bei  jeber  Stellung  ber  Trommel  bie  entftehenbeu  3tofi9ffrönie 
aufnehtneu  unb  einen  Strom  non  gleicher  fRidjtung  burd)  bie 
®raf)troinbungen  beS  äußeren  StromfreifeS  fenben. 

Sin  bie  Stelle  beS  2)oppelcleftromagnetö  ber  älteren  9)fa- 
feinen  ift  bei  ben  neueren  ein  einfacher  getreten.  3rigur  17 
giebt  bie  Seitenanfidjt  einer  fofd)en  SJfafchine.  ®er  aufrecht 
fteljenbe  ©leftromagnet  hat  ftarfe  Sdjenfel  aus  ©ufjeifen,  meiere 
an  ben  ißolenbeu  jur  Slufnaljme  ber  Xrommel  auSgeboljrt  finb 
unb  mit  ber  ftarfen  ©ruubplatte  ber  9Driafc^ine  ein  jufammem 
hangenbeS  Stiid  bilben. 

2Me3  ift  in  Jürgen  3ü9eit  k*e  ©ntwidetung  ber  £pnamo> 
mafdjinc  aus  ihren  erften  Slnfängen  l)er.  SBeldje  Stellung 

biefelbe  bermaleinft  in  ber  Sfedjitif  erobern  mirb,  läfjt  fidj 
mit  ©emifjheit  noch  uidjt  oorf)erfeljeu.  Soweit  man  aber  bis 
jefct  urtheilen  fann,  wirb  fie  jur  Kraftübertragung  immer  mehr 

1532) 


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37 


»erwenbet  werben,  olpie  jebod)  bie  $ampfmafd)iue  itbcrftüffig 
ju  machen,  ©ie  wirb  als  Stromquelle  in  ber  Xelcgrapfjie 
immer  weitere  Verbreitung  finben,  fie  wirb  al$  Sicbtmafdjiue 
nufere  jefcigen  93eleud)tung3apparate  metjr  uub  mcfjr  üerbrängen, 
fie  Wirb  wegen  ber  bebeutenben  cfyemifdjeu  SEBirfungcu  ftarfer 
galnanifd)er  ©tröme  neue  ü)fetf)obeu  ber  äJietallgewinnunq 


Sifl.  U. 


möglich  machen.  $ie  ©aloanoplaftif  bcbient  fid)  i^rer  fdjou 
jefet  faft  auäfdjlie&lidj. 

hiermit  finb  wir  am  ©c^tuffe  uttfercr  ffletradjtungen  an* 
gelangt.  SD'Zögcn  biefelbcn  iljr  ©djerflein  mit  baju  beitragen, 
bajj  bie  einfachen  93erE>ältniffe  nuferer  jdjon  fo  Ijod)  entwidelteu 
Sleftrotecfjnif  in  immer  breiteren  ©d)id)ten  ber  Soienwelt  be= 
fannt  werben. 


(j33) 


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91nmcr!ungcit. 

1 ®a«  ciitfoc^ftc  (Element  erhält  man,  wenn  man  in  ein  @ta$- 
gefäfj  auf  ben  ©runb  ein  Shtpferblcd)  legt  unb  in  bie  obere  $älfte  einen 
3inlbledjct)linber  mit  übergreifenbem  SRanb  tjängt.  ®ie  untere  §älftc  bei 
GJefofec^  roirb  mit  ftupferoitriollöfung,  bic  obere  mit  Bittcrfaljlöfung  ge- 
füllt. Bon  ber  Jfupferpfatte  führt  ein  ®rat)t,  locldier  mit  einem  Sidjtleiter, 
etwa  Sicgcllad,  überzogen  ift.  burd)  bie  ftliiffigleitcn  nach  oben  perau«. 
$aö  obere  Gnbc  biefe«  ®ral)te8  (alfo  auch  be«  ftupfer«)  ift  ber  pofitioc 
Sol,  ba«  obere  (Enbe  be«  3'nf«  ber  negatioe  Sol  br$  (Elemente«.  Ser- 
binbet man  nun  bic  freien  Silben  bc«  3t»f«  unb  be«  Supfer«  burd)  einen 
®raf)t  (Sd)licfoung«braht) , jo  gleichen  fich  bie  beiben  (Eleftrijitäten  gegen- 
fettig  au«,  locrben  aber  ju  gleicher  3c<t  auch  immer  loieber  ergänzt,  fo 
bafj  bie  Su«gteiehung  ununterbrochen  flaltjinbct,  fo  lange  ba«  Slement  fid) 
in  brauchbarem  3uftanbe  befinbet.  Biefc  Bewegung  ber  Gleftrijität  nennt 
man  galoanifd)en  Strom  ober  furj  Strom.  ®ie  Bewegung  oom  pofitioen 
Sol  pm  negatioeu  nennt  mau  pofitioen  Strom,  bie  entgegengejebte  nega- 
tioen  Strom.  3n  ber  Siegel  braucht  man  nur  ben  Su«brud  „Strom“  unb 
meint  bamit  ben  pofitioen. 

Bei  anberen  (Elementen  fiat  man  3iuf  unb  ftohle  (Bunfen)  ober  3>uf 
unb  Slotin  (©roee).  ®iefe  Slörper  finb  burch  einen  poröicn  X^ortcQtinber 
getrennt.  3<nf  befinbet  fid)  in  ftarf  oerbünnter  Sdjwefetfäure,  Slotin  unb 
itohle  in  fonputrirter  Salpetcrfäure.  Such  hi”  geht  ber  Strom  (pofitioe) 
burch  ben  SdjlicfjungObraht  nach  bent  3inf-  Su&crbein  giebt  e«  noch  fiel« 
anbere  galoaniicbe  (Elemente.  (Eine  Bereinigung  oon  mchtcrcn  (Elementen 
nennt  man  eine  Äette  ober  Batterie. 

* ®ie  Sblenfung  ber  Biagnetnabcl  ergiebt  lieh  an«  ber  Sinperefchen 
Siegel:  ®enft  man  fid)  eine  mrnfchlichc  fjigur  im  Strome  mit  bcmfelben 
fchloimmenb,  ba«  ©cfidjt  ber  Sabel  pgewenbet,  fo  jdjlügt  für  biefe  Origur 
ber  Sorbpol  immer  nach  linfö  au«. 

3 ®er  £eitung«bral}t,  toclcher  p Sollen  (Spiralen)  aufgcroiefelt 
mirb,  ift  immer  mit  einer  ifolirenben  Schicht  (bünncr  mit  Seibc,  [tarier 
mit  SBoIle)  fiberpgen. 
t534) 


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39 

4 Sdjweiggerö  Journal  ber  ©hbfif  LVIII. 

5 ©aloanometer  jeigen  fc^r  fchwache  Ströme  an,  ba  Biele 
$raljtminbungen  um  bie  fRabel  beriimgefübrt  finb  unb  biefelbe  ber  ©in- 
roirfung  bcä  ©rbmagnetieimuö  baburd)  entzogen  ift,  bafi  fic  mit  einer  jwciten 
entgegengerichteten  fcft  oerbunben  ift.  Stöan  nennt  eine  fotcöe  9iabel-©er- 
binbung  ein  aftatifdjeö  9iabclpaar. 

8 ©ei  ben  ©egcnlampcn,  welche  burch  ©leichftrommajchinen  in  ©ang 
gcjeft  werben,  brennt  ber  eine  Äohlenftab,  burch  welchen  nämlich  bie  pofitioc 
©leftrijität  auöftrömt,  bebeutenb  rajd)er  ab  alö  ber  anbere,  mährenb  bei 
ben  burdj  SBcchfclftrom  gejpeiften  ©ogenlampen  beibe  Sohlen  gleichmäfeig 
»erjebrt  werben.  $ie  SHegulirnorridjtungen,  welche  bie  jwedmäfjigft  c ©nt- 
iernung  jwifchen  ben  beiben  Sohlcuftäben  hrrpftellen  haben,  müffen  aua 
biefem  ©runbe  bei  bem  ©leichftrom  Biet  nerwidelter  ala  bei  bem  SBedjfel- 
ftrom  fein.  Slnbercrfeitö  aber  haben  bie  fficdjfclftromlampen  ben  SRa'htheil, 
baß  fie  ein  fummenbe*  ©eräufd)  hören  taffen,  wa«  namenttid)  in  ge- 
fdjtoffenen  SRäumcn  recht  ftörenb  wirft. 

1 gigur  12  jeigt  einen  Xranäformatorin  feiner  einfadjftcn  ©eftatt. 
fiin  eiferner  fHing  ift  mit  jwei  ©rahtfpiralen  umwidett. 
hkht  nun  burd)  bie  eine  Spirale  ein  9Bcdjfelftrom,  fo 
wirb  ber  ©ifenring  wechfetnb  magnetifirt.  §icrburdj 
werben  aber  in  ber  jweiten  Spirale  SBcchfelftröme  er- 
jeugt,  welche  bei  Snwenbung  Bon  gleichen  Spiralen 
an  traft  bem  erften  Strom  nahezu  gleichfommen  ®a 
man  nun  bie  3ahl  ber  SBinbungen  ber  beiben  Spiralen 
nach  beliebigem  ©erfjältnif?  wählen  unb  eine  beliebige 
8njahl  fotcher  Jranäformatoren  anbringen  fann,  welche 
untereinanber  burch  ^Jaraflelfdjaltung  ober  §interein- 
anberfchaltung  oerbunben  werben  fönnen.  fo  fann  man 
imttelft  &er  Jranöformatoren  bie  hah«  Spannung  bca 
S0iafd)inenftrom4  beliebig  hrrabminbern  unb  baburch  bie 
Stromftärfe  Bergröjjern,  ober  man  fanti  auch  auf  Soften  ber  Stromftärfe  bie 
Spannung  erhöhen. 

* 3n  Jig.  4 finb  auö  ©erfehen  bie  SHedjtede,  welche  bie  Supferbraht- 
bürften  oorftetlen  jotlen,  nicht  bidjt  an  ben  Stromfammler  gelegt. 

9 ffltit  noch  befferem  ©rfotge  fertigt  mau  ben  ©ifenfern  auä  frei«- 
förmigen,  unter  fich  ifolirten  ©ifenbledjen,  welche  gleichfalls  fenlrecht  pr 
flchfe  liegen. 


(63ä) 


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*&ü}Uxtxnwü}tx 

uttb  feint  romantifdp  frcutibr. 

3$ott 

Dr.  ^riitrid)  j&tnn, 

Sirofffior  in  Hamburg. 


Hamburg. 

^erlagSnnftalt  uitb  2>rucferei  SL-GJ.  (öormalS  3-  5-  9iicf)ter). 

1890. 


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Tn«  fHedjt  bcr  Uebcrfefcunc)  in  frembt  Sproßen  roirb  Dorbefyadrn 


Trutf  brr  'PrrldflSnnftalt  unb  Irudrrri  flctirn'®ffrtlt(b«fl 
ioormalr  3.  g.  Siidürn  in  Hamburg 


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^Berlin  mar  für  ©cßleiermacher  fein  gan$  frember  ©oben, 
als  er  im  September  1 796  bort  für  (äugere  3e*t  feinen  SBohnfifc 
auffeßfug,  um  baS  9lmt  eincö  ©rebigerS  an  ber  Sharit6 
übernehmen.  ®rei  3aßre  »orßer  mar  er  nach  Ablegung  feiner 
erften  t^eoIogifc£)en  ©rüfung  in  baS  ©ebifefeße  Seminar  ein- 
getreten,  juglcid)  als  Seßrer  an  bem  ftornntefferfdjen  SSaifen- 
f)aufe  befefjäftigt  morben.  3»  biefer  Stellung  fünfte  er  fid) 
roenig  behaglich;  „jur  großen  SSelt,"  fo  läßt  er  fieß  oernehmeit, 
„hatte  id)  natürlich  gar  feinen  3utritt,  für  bie  feine  machte  mid) 
ber  Scßulftaub  uod)  ungefchidter,  als  ich  fcßoii  oon  9?atur  bin, 
unb  bei  ber  gelehrten  hfltte  id)  noch  nidjt  recht  3cü  getjafat, 
mich  ein^ufiihren.  2Jtein  Umgang  befdpränfte  fid)  alfo  auf  einige 
neue  ©orgefeßte,  ein  paar  alte  ©efaitute  meines  ©aterS  unb 
ein  paar  alte  UnioerfitatSfreunbe."  Sine  Srmeiterung  feines 
©efanntenfreifeS  »ermittelte  oornehmlich  ber  ©raf  ?Xlcf anber 
oon  Soßna,  in  beffen  österlichem  £>oufe  er  oon  Cftober  1790 
bis  SDiai  1793  jur  greube  ber  gaitjen  gamilie  als  £>auSlel)rer 
gemirft  hatte.  junge  ©raf  mar  bei  ber  JlriegS-  unb 

^Domänenfammer  in  ©erlin  angefteflt;  er  führte  Schleiermacher 
unter  anberem  in  bas  ^per^feße  £>auS  ein.  Sind)  bort  blieb  biefer 
freilich  bamalS  noeß  feßr  fremb,  unb  fo  freute  er  fid),  baß  er 
im  SDlarj  1794  als  Slbjuuft  nach  SanbSberg  berufen  mürbe 

Sammlung.  ».  8.  V.  111.  1*  (539) 


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4 


$em  ülmte  eines  eoangelifc^en  ^ßrebigerS  fog  er  mit  2uft  unb 
Siebe  ob;  aujjerbem  nahm  er  fid)  mit  großem  gifer  beS  gugcnb- 
Unterrichtes  an;  in  beiben  Beziehungen  mirfte  er  fegenSreid)  bis 
jum  September  1796,  mo  er  roieber  in  Berlin  einjog.  SS 
terfteljt  [ich,  baf)  er  bie  früher  beftanbenen  Serbinbungen  micber 
anfmipfte;  oornehmlid)  toar  eS  baS  fperjfdje  £>auS,  in  bem  er 
nunmehr  als  ©aft  gern  gefehen  mürbe  unb  gern  meilte.  tiefes 
mar  eins  non  ben  jübifchen  Raufern,  melche  in  bem  bamaligen 
Berlin  nie!  bebeuteten,  thcilS  burch  ihren  Seichthum,  tljeilS  ba* 
burch,  bafj  fie  ju  ber  gelehrten  SBelt  tüchtige  Sertreler  fteüten; 
tor  allem  pflegten  fie  eine  ganj  eigenartige  ©efeüigfeit.  $>ie 
SEBorte  ber  Saf)el  Seoin,  ber  fpäteren  grau  non  Samhagen, 
melche  1795  fchreibt,  ©oethe  fei  ber  SereinigungSputtft  für  aÜeS, 
maS  SDtenfd)  he'feen  lönne  unb  mofle,  finb  bejeidjnenb  für  bie 
21nfd)auungen  biefer  Greife.  SchleierntacherS  Stellung  zu  ben* 
felben  erfahren  mir  am  beften  aus  bem  am  4.  Sluguft  1798 
an  feine  Schmefter  ßhurlotte  gerichteten  Briefe;  ba  he>fet 
unter  anberem:  „28er  auf  eine  recht  ungenirte  Ärt  gute  ©e< 
feflfdjaft  feheit  roiH,  läfjt  fich  in  folgen  (grofjen  jübifchen)  Käufern 
einführen,  roo  natürlich  jeher  SReufch  ton  Talenten,  mcnn  eS 
auch  nur  gcfeöige  Talente  finb,  gern  gefehen  mirb  unb  fich  auch 
gemife  amiifirt,  meit  bie  jübifchen  grauen  fefir  gebilbet  finb, 
ton  allem  ju  fprechen  miffen  unb  gemöhitlid)  eine  ober  bie  anbere 
fdjöne  Äunft  in  einem  t)°hen  ©rabc  befreit.  2lud)  id)  mürbe 
ein  paar  ton  biefen  Käufern  befugen,  menn  id)  nic^t  ben  ßirlel 
meiner  Befanntfchaften  ein  für  allemal  gefchloffen  hätte,  unb 
menn  mich  nicht  baS  9Jlifjterl)äItnif!  jmifd)en  beiben  ®efd)lechtern 
abfdjrecfte,  bei  bem  eS  nur  gar  ju  auffallenb  ift,  bah  man  nur 
ber  grauen  megen  h*ngeb)t.  Stit  ^erjenS  unb  BeitS  ift  baS 
eine  ganz  anbere  Sache.  £ie  erften  fehen  jmar  auch  tiele 
greunbe,  unb  eS  fontmt  nid)t  leicht  ein  merfmürbiger  SRenfdj 
nach  Berlin,  ber  fie  nid)t  befuchte,  unb  auch  hier  finb  fie  in 

(540) 


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beti  auSgefareitetften  S3erbinbungen,  aber  fie  galten  bocß  nicßt, 
wag  mau  ein  offeneg  |>aug  nennt,  unb  id)  befonberg  bin  weiften» 
tßeifg  en  fuwille  bei  ifjneu  unb  oermeibe  eg,  große  ©efellfcßaften 
ju  feßett,  weil  mir  wirflicß  ju  wenig  baran  liegt.  ©ie  be» 
fonberg,  bie  fjers,  fdjränft  ißre  perfönlicße  Söefanntfdjaft  feßr 
ein,  unb  wenn  fie  nid)t  beg  ÜJianneg  wegen  müßte,  unb  weil 
fie  einmal  eine  befannte  grau  ift,  fo  würbe  fie  gewiß  nur  mit 
ein  paar  SKenfcßen  leben,  iöeitg  aber  finb  gar  nicßt  in  biefe 
Slaffe  ju  feßeit  unb  leben  feßr  eingejogen." 

©eßen  wir  ung  bie  genannten  ^»äufer  etwag  genauer  an, 
äunäcßft  bag  Seitfcße.  ®ie  £>erriu  begfelbeu  war  3>orotßea, 
bie  Socßter  non  ÜDtofeg  ÜJtenbelgfoßn,  welche  aHaufrüße  an  beit 
öanfier  SSeit  oerßeiratßet  worben  war.  2)ie  SJerbinbung  er* 
fcßien  äußerlich  alg  eine  glänjenbe,  bocß  eg  fehlte  alleg,  wag 
fie  für  bie  Serbunbenen  ^u  einer  glücflicßen  gemacht  ßütte;  bie 
(äße  war  oßne  Siebe  gefdjloffen  worben,  ©o  würbe  eg  für 
Sorotßea  Sebürfniß,  einen  größeren  gefeflfdjaftlidjen  ftreig  um 
ficß  ju  fammelti,  jubem  übertrug  fie  auf  biefe  SSeife  eine  ©itte 
aug  bent  öäterlicßeu  ^aufe  in  bag  ißrige.  3)ocß  aucß  fo  litt  fie 
an  ftetg  quäleuber  innerer  Unruße,  unb  bie  ift,  wie  wir  fpäter 
feßeu  werben,  in  ißrem  ferneren  Seben  nur  öermeßrt  worben. 
(Sine  ißrer  oertrauteften  Sugettbfreunbinnen  war  Henriette  be 
Semog.  ©eit  ißrem  fünfzehnten  3aßrc  mit  bent  beriißmten  unb 
pßilofopßifcßßodjgebilbeten  Slrjte  fOiarfug  §erj  nermäßlt,  lebte 
fie,  um  ©cßleiermacßerg  SBorte  ju  gebrauchen,  mit  ißm  in  einem 
wunberbareit,  nieloerfcßlungenen  Sßerßältniß ; im  großen  unb 
ganzen  erging  eg  ißr  in  ber  (äße  ebenfo  wie  SJorotßea  SSeit. 
©cßleicrmacßer  ßat  oiele  SSriefe  an  ^enriette  £>erj  gericßtet; 
aucß  itt  feinen  greunbegbriefen  fpricßt  er  oft  »on  ißr.  3m 
©egeufaß  ju  feiner  eigenen  ©eftalt  fcßreibt  er  ißr  „eine  toloffale, 
föniglicße  gigur"  ju,  ißr  ©eficßt  ift  ißm  „unftreitig  feßr  fd)ön"; 
babei  befaß  fie  ein  gefäUigeg,  rußigeg  SBefen,  unb  fo  tjat  fie 


6 


©ulpi;  Soifferee  oerglichen  mit  ben  oenetianifdjen  grauen- 
porträtS  Don  Sorbone  ober  Sigian,  beren  fdE)öner  Stopf  aud) 
nad)  oerfdjwunbener  Sngenb  noch  angenehm  ift.  Sen  Sßcrfehr 
gwifdjen  ©dßeiermadjer  uitb  ber  £erg  möchte  id)  am  üebften 
Dergleichen  mit  bem  gwifchen  ©oetpe  unb  grau  Don  ©tein,  Don 
bem  aJUcfjael  SSetnapS  fagt,  an  ber  Steinzeit  beSfelben  fönnten 
nur  Sie  groetfeln,  welche  niemals  gelernt  hätten,  aug  Katen 
ßeugniffen  Kare  ©dßüffe  gu  giepern 

„Safj  bu  bir/'  fcfjreibt  ©cpleiermacber  an  feine  ©cpwefter, 
„ohne  eS  gu  fe^cn,  mein  SBefen  unb  SBerhältnifc  mit  ber  £erg 
nicht  benfen  fannft,  ift  eigen.  (SS  ift  eine  recht  oertraute  unb 
herglidje  greunbfcpaft,  wobei  Don  2Rann  unb  grau  aber  auch 
gar  nicht  bie  Siebe  ift;  ift  baS  nicht  leicht  fi<h  oorgufteßen?" 
Sin  einer  anberen  ©teße  peiht  eS:  „Slm  weiften  lebe  ich  Kl1 
(Sßiai  1798)  mit  ber  §erg;  fie  wohnt  ben  ©ommer  über  in  einem 
nieblichen  Keinen  £>aufe  im  Spiergarten,  wo  fie  wenig  SKenfcpen 
fiept,  unb  ich  f>e  alfo  recht  geniefjen  fann.  3cp  pflege  jebe 
Söocpc  wenigftenS  einmal  einen  gangen  Sag  bei  ihr  gugubringen; 
. . . in  einer  Slbwecpfelung  Don  ©efdjäftigungeit  unb  SBergniigungen 
geht  mir  biefer  Sag  fepr  angenehm  mit  ihr  pin.  ©ie  pat  wich 
3talienifch  gelehrt,  ober  tput  eS  Dielmehr  noch,  lD*r  tefen  ben 
©hafefpeare  gufammen,  wir  befcpäftigeit  uns  mit  ^ßhhfif,  idj 
theile  ihr  etwas  Don  meiner  Siaturfenntnif;  mit,  wir  lefen  halb 
biefeS,  halb  jenes  aus  einem  guten  beutfchen  23ud)e,  bagwifchen 
gehen  wir  in  ben  fdjönften  ©tunben  fpagieren  unb  reben  recht 
aus  bem  Snnerften  beS  ©emütpeS  miteinanber  über  bie  wichtigfteit 
Singe."  (Sin  treffenber  SluSbrud  für  bie  ©eiftesoerwanbtfchaft, 
weldje  gwifcpen  öeiben  beftanb,  ift  eS,  wenn  ©djlciermadjer  bie 
£>erg  „feine  näd)fte  oerwanbte  ©nbftang"  nennt,  Don  ber  ihn 
Sliemanb  trennen  fonne.  SlßerbingS  nahmen  SBicle  ait  bem 
SBerpältniffe  Slnftofj,  aber  barüber  patte  Schleietinacper  feine 
„eigenen  ©runbfäjje",  er  glaubte,  eS  liege  feinem  ©tanbe  gerabegu 

(542) 


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< 


ob,  ben  «Schein  gu  ocradjten,  um  fo  mefjr,  als  if)m  ber  ©erfe£)r 
mit  $enriette  $erg  wefentlid)  unb  mistig  erfdjiett,  gu  {einer 
©Übung  gereichte  unb  er  fo  mancherlei  ©uteS  ftiften  fonnte. 
(Sine  redjt  peinliche  fäuSeinanberfejjung  über  bie  gonge  9ln- 
gclegenfjeit,  „eine  IfergenSerleidjterung"  ^atte  er  mit  feinem 
oäterlidjeit  gremtbe,  bem  §ofprebiger  ©ad. 

3n  bem  £>ergfcf)en  £>aufe  ift  audf  ba$  ©anb  fefter  ge* 
fdjluitgen  worben,  welches  ©d)leiermad)er  mit  griebrid)  (Schlegel 
oerfnüpft  ^at.  ®ie  erfte  fflefauntfd)aft  Rotten  ©cibe  in  ber 
SDiittmodjSgefeßfcfiaft  gemacht,  ber  9tad)foIgerin  ber  „alteräfdgoadj 
geworbenen  3Jiontng«gefcQfd)aft,  iit  wetdjer  einft  fieffing  unb 
9)?enbelgfof)n  fief)  begegnet  waren."  ®ie  ÜDiemoireu  ber  $erg 
fagen  mörtlid):  „3df  beeilte  mid),  ©Riegel  mit  ©djleiertnadjer 
befannt  gu  mailen,  übergeugt,  bafj  ein  näheres  ©erljältnifj  ©eiben 
förberlidj  fein  werbe";  jebeitfaflS  mürben  burd)  ben  ©erfefjr 
©eiber  in  bem  .{paufe  ber  gemeinfamen  greunbin  itjrc  ©egie* 
jungen  engere.  $er  befte  ©eweiS  bafiir  ift  bie  freier  be£  29. 
©eburtStageS  oon  ©d)leiermacf)er,  über  weldje  ber  ©efeierte  am 
21.  SRooember  1797  an  feine  ©cfjmefter  berichtet.  Slm  borgen 
biefeS  $age§  fafj  er  in  tiefem  Sieglige  an  feinem  $ifcf|e,  als 
ber  uitä  befamtte  ältefte  2)ot)na  erfd^ien;  fpäter  trat  beffeit 
©ruber  2Bilf)clm  ein  unb  gratulirte;  nidjt  lauge  barauf  tarn 
fDiabame  £>erg,  enblicf)  äliabame  ©eit  mit  ©djlegel.  „©löblich, " 
fo  fäljrt  ber  ©eridßerftatter  fort,  „mar  auep  mein  lifd)  ab* 
geräumt  uitb  mit  ©djofofabe  uitb  Studjen  befefct,  bie  £ofjna 
beforgt  fjatte.  ®ie  freunblidjften  ©lüdmünfdje  ftrömten  mir 
oon  allen  ©eiten  gu,  unb  fleine  ©efdjenfe,  um  mir  bie  ©r* 
innerung  an  biefe  freunblidfe  geier  feftguf>alten.  SDu  fannft 
beuten,  mie  idj  mid)  über  bie  Sßeilna^me  oon  fünf  SRenfdjen, 
bie  mir  alle  in  einem  botjen  ©rabe  wertl)  fiitb,  f)erglicfj  ge- 
freut habe." 

©on  ben  genannten  „fünf  5Dienfd)eu"  feinten  mir  Jriebrid) 

(543) 


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8 


©cbteget  noch  nic^t.  gotgenbeS  mag  uns  feine  ©efanntfcbait 
»ermitteln,  ®eborcn  ift  er  1772  ju  fpannooer  als  ber  ©obn 
beS  in  bem  Slopftodfd)en  Streife  bocbgefd)äbten  3ob-  2lb.  Stieget. 
SlnfattgS  jum  Kaufmann  beftimmt,  warf  er  fiel)  »on  feinem 
16.  3abre  an  eifrig  auf  baS  ©tubium  ber  alten  ©pracben; 
fpciter  ftubirte  er  in  ©öttingen  unb  öeip^ig  iß^itologie:  ißlaton, 
bie  tragifdjen  Siebter  ber  ©riechen  unb  SBincfelmannS  SBerfe 
roaren  feine  SBelt.  ©ereits  17y4  »eröffentlid)te  er  eine  3lb- 
battbtung  ,,»on  beit  ©djnlen  ber  grieebifeben  ißoefie".  1767 
batte  gerbet  nach  einem  $meiten  bentfcf>en  SSinefelmattn  gefragt, 
melcber  ben  Sempel  ber  grieebifeben  2öei^£)eit  unb  ißoefie  eröffne, 
©cblegel  »erfpraef)  in  bem  genanten  Üluffafce  eine  in  bem  ©eifte 
beS  großen  SunftbiftoriferS  ju  febreibettbe  ©efebiebte  ber  griedji» 
feben  ©oefie,  beutete  ancb  bie  leitenben  ©efiebtäpunfte  biefeS 
SßerfeS  an.  3»  bent  3abre,  mo  er  in  ©erlin  anftrat,  1797, 
erfebien  bie  ©d)rift  „über  ba$  ©tubium  ber  grieebifeben  ©oefie", 
metebe  in  unmittelbarem  ©eilige  ju  ber  ©efcbidjte  unferer  »ater» 
länbifeben  Sichtung  ftebt,  inbem  ber  ©erfaffer  barjutbun  »er» 
fuebt,  meteber  fRufcen  ait§  bem  rechten  ©tubium  ber  grieebifeben 
©oefie  für  bie  beutfefje  gejogen  merben  fönne.  Sabei  fommt 
er  auch  auf  ©oetbe  ju  fpred)en  unb  d)arafterifirt  ibn  als 
ben  Siebter  ber  9?eujeit,  mit  beffen  SBerfen  eine  bem  ©eifte 
unb  ber  $orm  nad)  fieb  ber  grieebifeben  annäbernbe  eebte  Sich- 
tung mieber  begonnen  bube. 

©ergegenmärtigen  mir  uns  nodj  einmal  baS  oben  äuge* 
führte  SBort  oon  fRabel  2e»in  über  ©oetbe,  unb  mir  begreifen, 
roie  ©ebleget  in  ben  tonangebenben  titterarifeben  Steifen  ©erlinS 
gern  gefeben  mürbe.  Äud)  ©ebteiermaeber  fanb  ©efallen  an 

bem  „jungen  äRanne  »ott  25  fahren  »on  fo  auSgcbreiteten 
Senntniffen,  baff  man  nicht  begreifen  tann,  mie  eS  möglich  ift, 
bei  foldjcr  3ugenb  fo  »iet  ju  roiffen,  »on  einem  originellen 
©eifte,  ber  b’er,  mo  cd  boeb  »iet  ©eift  unb  Satente  giebt,  alte# 

£544) 


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9 


felfr  weit  überragt."  Sd)leiermad)er  hotte  jwar  bisher  für 
jebe  einzelne  2öiffenfcf)aft,  bie  ihn  intereffirte,  einen  9Rann 
gehabt,  mit  bem  er  bariiber  rebeit  fonnte,  aber  bod)  fehlte  eS 
ihm  nod)  gänjicf)  an  einem,  ber  feine  pfjilofophifdjen  Sbeen  fo 
recht  oerftanb,  ber  mit  ihm  „in  bie  tiefften  'älbftraftionen  hinein* 
ging".  $iefe  große  iiiicfe  füllte  griebrich  ©chlegel  auf  baS 
herrlidjftc  aus.  ,,3cf)  fann,"  fo  äußert  fid>  Schleiermadjer 
feiner  ©djwefter  gegenüber,  „ihm  nid)t  nur,  was  fd)on  in  mir 
ift,  auSfdjütten,  fonbern  burd)  bcn  unoerfiegbaren  ©trom  neuer 
$lnfid)teti  unb  3been,  ber  it)m  unaufhörlich  jufließt,  wirb  aud> 
in  mir  9Rancf)cS  in  ^Bewegung  gefegt,  was  gefdjlummert  ^atte. 
5turj,  für  mein  SDafein  in  ber  pt>iIofopf)ifcf)en  unb  litterarifdjen 
Seit  geht  feit  meiner  näheren  93efanntfdjaft  mit  ihm  gleidjfam 
eine  neue  ißeriobe  an".  3m  weiteren  betont  ber  Schreiber 
bes  SBriefeS  — unb  baS  ift  ein  fjerrlidjeS  ^eugniß  für  feinen 
hohen  etlichen  ©tanbpunlt  — , es  fei  eine  (Eigenheit  oon  ihm, 
baß  er  mit  SRiemanbetn  philofophiren  fönne,  beffen  Gefinnungen 
ihm  nicht  gefielen;  beShalb  höbe  er  fich  bei  ©djlegel  juoor  oon 
ber  Unoerborbenheit  unb  9{ed)tfchaffeuhcit  feinet  GemütheS  über* 
jeugt,  beoor  er  i(jn  in  baS  innere  feines  SBerftanbeS  fjinein* 
geführt.  — Unter  biejett  Umftänben  fauit  eS  unS  nid)t  Sunber 
nehmen,  wenn  ©d)leierntad)er  fagt,  bei  ber  oorlfin  befd)riebenen 
Geburtstagsfeier  fei  etroaS  §errlidjeS  bcfchloffcn  worben,  nämlich 
©djlegel  füllte  beti  Sinter  über  — eS  war  ber  oon  1797  auf 
1798  — ju  ihm  herauSjiehen.  Segen  eines  Umbaues  in  ber 
Gharit6  hotte  er  feine  bortige  Slmtswohnung  oerlaffen  müffen 
unb  war  in  ein  $auS  au  ber  bamalS  noch  jiemlich  Wüften 
unb  unbebauten  Oranienburger  Sljauffee  gezogen.  Gern  trat 
er  ©chlegel  eine  Stube  ab,  innig  freute  er  fid)  barauf,  feine 
leere  Ginfamleit  gegen  einen  folcfjen  Gefeflfchafter  ju  oertaufchen. 

3Rit  griebrid)  ©chlegel  hielt  ber  „^ßhilofoph  ber  fRomantifer" 
feinen  Ginjug  bei  ©djleiermadjer.  SaS  ift  fHomantif?  ©chlegel 


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10 


jelbft  gebraust  ba«  Dielgebeutete  SBort  in  {einem  Sluffafce  über 
©oetf)e«  SBilfjelm  fDceifter.  Ja«  genannte  SBerf  ift  ein  Sornan, 
fo  läßt  er  fidj  au«,  aber  ein  SRoman  ohnegleichen ; in  bem- 
fclben  ift  bie  ©umme  ade»  Soetifdjen  enthalten,  unb  fo  foß 
ctudf  bie  romantifdje  ißoefie  ba«  poetische  Qbcal  {ein.  Jie 
Somantil,  ba«  SBort  al«  Sezeidjnung  einer  beftimmien  ^Richtung 
gefaxt,  bat  alfo  bie  Aufgabe,  biefe«  Sbeal  gu  Dertoirlticfjen: 
babei  muß  fxe  achten  auf  fiinftterifdje  gorm  unb,  beit  Snljatt 
angefehen,  gleich  bem  Spo«  un«  einen  «Spiegel  ber  ganzen  um- 
gebenbett  SBelt  uor^allen,  un«  in  bem  Spiegel  ber  ißoefie  ba« 
3eitalter  geigen.  Streffenb  bezeichnet  Sulian  ©cbmibt  ba«  $iel 
ber  romantifcfjen  Ißoefie  mit  ben  SBortett,  fie  tooße  „in  Silbern 
ba«  ßöcbfte  Beben  ber  SBelt  unb  ihrer  ©eele  barfteßen".  Jarau« 
ergiebt  fich  gnnäd>ft  bie  gorberung,  ba«  geiftige  Vermögen  ju 
pflegen,  roeldje«  bie  9Kenfd)en  befähigt  Silber  ju  fdjaffeit,  bie 
Sbantafie.  3n  biefem  ©inne  fagt  ©cbleiermacber:  „3<b  moflte, 
ber  Jeufel  holte  bie  §älfte  afle«  Serftanbe«  in  ber  SBelt,  unb 
wir  fönnten  bafür  nur  ben  oierten  Jßeil  jber  fßbmrtafie  e'n! 
taufdfen,  ber  ^ß^antafie,  toeldje  aßein  eigene  3nbioibualität 
giebt  unb  ba«  Serftänbuiß  frember  Snbioibualität."  SBeiter 
fcßreibt  Sl.  SB.  Schlegel  au  ©dßeiermadjer,  e«  fei  3eit,  baß  ßuft, 
$eucr,  SBaffer,  Srbe  toieber  poetifirt  tDiirbeit,  ber  Jepoetifation«* 
pro^eß  habe  lange  genug  gebauert;  im  ©eifte  felje  er  fepon 
bie  echten  ^ihhfifer  afle  zu  ben  SRomantifern  übergeben.  — Jen 
©etoinn  bnt  un«  bie  fRomantif  jebenfaß«  gebraut,  baß  ba« 
Dlaturgefiit)l  „Derfeinert  unb  oertieft  tuorben  ift".  gfrner  aber 
hat  fie,  roetl  fie  ba«  höcpfte  Beben  ber  SBelt  nur  in  ber  s$oefie 
bargefteßt  fap,  eifrigft  bie  Jicßtuugen  ber  ©egentoart  unb  ber 
Sergangentjeit  bei  bem  eigenen  Solle  unb  bei  ben  frembeu 
Söllern  ftubirt,  unb  befouber«  unferem  Solle  ba«  Scrftänbniß 
feiner  Sergangenßcit  Dermittelt  unb  ba«  begrünbet,  loa«  unfer 
©tolz  ift,  bie  beutfepe  SBiffenfdjaft. 

(646) 


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11 


Snmiefern  gr.  ©djlegel  unb  ©chleiermacher  Slnhänger  ber 
romantifdjcn  Sichtung  finb,  ift  eben  nur  furj  angebeutet;  beoor 
mir  ausführlich  über  beibe  SKänner  fprec^cn,  moUcn  mir  uns 
mit  gmei  ©enoffen  berfelbcn  näher  befanttt  machen.  S5a  tritt 
uns  gunächft  Subrcig  Sied  entgegen.  (Sine  äußere  ©eranlaffung 
führte  ihn  ju  gr.  ©Riegel;  eS  ^anbelte  fich  um  einen  ©eitrag 
ju  SReicffarbtS  „fitjceum".  3Äan  fanu  uicht  fagen,  baß  ©chlegel 
einen  fehr  günftigen  ©inbrud  non  Sied  befommen  ^abe;  be- 
fottberS  im  Vergleich  ju  ©chleiermacher  erfcheint  er  ihm  als 
ein  ganj  gewöhnlicher  ÜJienfch,  ber  nur  ein  felteneS  unb  fehr 
auSgebilbeteS  Talent  hot.  ©eit  bem  ©rfdjeinen  beS  „©ternbalb" 
mürbe  er  anberer  Slnficßt,  in  biefem  fieljt  er  ben  crfteu  Stoman 
feit  SeroanteS,  roelcher  romantifch  ift.  — SSorin  beftanb  benn 
aber  baS  feltene  Salent  SiedS?  ©on  frühe  an  mar  bei  ihm 
bte  *ßhantafie  &ie  herrf^enl)e  Stacht  geroefen,  »ermittelft  ber 
©hantafic  Solang  eS  ihm,  bie  öerfdjiebeuften  ©timmungen  in 
fich  iu  erzeugen  uitb  ©eftalten  ju  bilben,  melche  fern  oblagen 
non  ber  SSirflidjfeit. 

©chleiermacher  befreunbete  fich  and)  mit  biefem  Talente; 
Henriette  $erj  bittet  er,  fie  möge  fich  bod)  bie  „uerfehrte  Sßelt" 
geben  laffen.  „@S  ift  mirflid)  fehr  roijjig,"  fährt  er  fort,  „unb 
ich  habe  herzlich  lachen  müffen.  S>er  Sied  ift  hoch  einjig  in 
feiner  Slrt."  91och  mehr  Sluerfennutig  goüt  er  bem  „eigentlichen 
Sidjter  ber  fRomantif",  roenn  er  fagt:  „UebrigenS  überzeuge 
id)  mich,  baß  Sied  feljr  uiel  ift  für  bie  beutfcße  fiitteratur, 
unb  $roar  etroaS,  mas  meber  ©oethe  nodj  ©chiller  nod)  dichter 
fein  fann,  maS  »ieüeicht  außer  ißm  je^t  9tiemanb  fein  f amt ; 
müßte  er  ficf}  nur  nicht  auch  mit  feinen  Arbeiten  eilen!"  (StmaS 
uorfichtiger  Hingt  fein  Urteil  über  SiedS  poetifdjeS  Sournal, 
er  fagt:  „@S  ift  bariit  fo  allerlei  nach  feiner  SDtanier."  Sied  mar 
fehr  erfreut  über  ©cßleiermadjerS  anerfettneube  Sleußerungen,  bafür 
^eugt  bie  SBJibmung  einiger  feiner  fchönften  9Rärd)en  im  ©hantafuS. 

C547) 


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12 


33er  (Srfte  inbeffen,  weldjer  beit  in  ©erlitt  bamalS  gonj 
»ereinfamteit  Sidjter  aus  feiner  Sunfelljeit  fjetoorgejogen  unb 
©d)leiermad)er  fowofjl,  wie  gr.  ©djlegel  auf  ifjn  aufmerffant 
gemacht  Ifat,  ift  beS  festeren  ©ruber  Sluguft  SBilfjelm.  günf 
galjre  älter  als  griebricf),  war  er  fdjon  mit  jwanjig  Sauren 
unter  bie  ÜJiitarbeiter  ber  ©öttingifdjen  Äujeigeu  aufgenommen 
worben.  (Sinen  bebeutenbeit  ©influfj  auf  feine  gauje  litterarifdje 
ßaufbaljn  gewann  @.  81.  ©ürger,  mit  bem  er  in  freunbfdjaft' 
lidje  ©erbinbungen  trat.  8lud)  roäljrenb  feines  8lufentf)alteS  int 
SluSlanbe  blieb  er  mit  ber  beutfdjeu  Sitteratur  in  ©erbinbung 
unb  fniipfte  ju  ©oetf)e  unb  ©djiller  ©ejiefjmtgen  an  burd)  feine 
©eiträge  ju  ben  £>oreu.  gn  bett  Sohren  oon  1795 — 1804 
war  er  am  tfjätigftcu;  „wäfjrenb  biefer  $eit  tont,"  wie  er 
felbft  fagt,  „baS  SJieifte  in  ben  fritijd)en  ©djrifteu  ©efammelte 
ju  ftanbe,  fobann  bie  Sßadjbilbungen  beS  ©f)afefpeare,  beS 
(Salberon  unb  einzelner  ©tücfe  oon  italienifdjen  unb  fpatiifcfyen 
3>idjtern."  3nt  gritf)ling  1798  fant  er  ttad)  ©erlin.  ©einer 
©djwefter  madjt  ©d)leiermad)er  bariiber  folgenbe  SDiittljeilung: 
„Seit  einigen  Sagen  ift  (gr.)  ©djlegels  ©ruber  aus  geua  ljier, 
ber  als  Sinter  unb  Ucberfefjer  beS  ©fjafefpeave  befatmt  ift. 
©iefcr  ©ruber  t}at  webet  bie  Siefe  noch  bie  gitnigfeit  beS 
tjiefigeu,  er  ift  ein  feiner,  eleganter  ÜJiann,  Ijat  fe^r  uiel 
Äenntniffe  nnb  fiinftIerifd)eS  ©efdjicf  unb  fprubelt  oon  SBij};  baS 
ift  aber  and)  alles.  gd)  fjabe  ©Riegel  geweiSfagt,  baß  fein 
©ruber  feinen  ©inn  für  mid)  fjaben  würbe,  unb  wie  eS  fdjeint, 
f)abe  id)  redjt."  33iefeS  Urtfjeil  beftätigt  ein  ©djreiben  an  ben 
©djwebeit  ©rinfmann,  einen  ©efinnungS«  unb  ©tubiengcnoffen 
©djleiermacfjerS,  in  bem  über  81.  SB.  ©d)legelS  ©ebidjte  ge> 
fprodjen  wirb.  „ÜJterfwürbig,"  Reifet  eS  ba,  „ift  eS,  baß  biefe 
erfiinftclte  ©egeifterung  ber  SHeligioit  bod)  niemals  urfprünglicf) 
fein  fann,  fottbern  if)nt  immer  burd)  ÜJlalcrei  ober  burd) 

frühere  ißoefie  fommen  mufj."  giir  baS,  worin  ©djleiermadjer 

;si$; 


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13 


webte  unb  lebte,  ßatte  31.  SB.  ©eßteget  banadj  atterbing«  feinen 
©inn.  3m  übrigen  erfennt  ©djteiermacßer  naeß  bem  ange* 
^ogenen  ©riefe  in  ben  genannten  ©ebießten,  biefer  „eigenen 
©tütße  beutfeßer  ©oefie",  einen  gortfeßritt  gegen  früßer  an. 
„Stile«  teuere,"  fagt  er,  „feßeint  mir  nießt  nur  funftreießer, 
fonbern  and)  geßattnofler  at«  ba«  ältere,  aber  be«  ©ruber« 
©eift  roeßt  nießt  bariit";  jwei  Stegien  finbet  ber  $ritifer  reefjt 
djarafteriftifc^,  „aber  bod)  gar  feßr  autif,  ate^anbrinifcß  nämlicß". 
SBir  feßen,  ©eßteiermadjer  »ermißt  in  ber  ©oefie  3t.  SB.  ©eßteget« 
waßre  ©mpfinbung;  fertigte it  unb  Seßerrfcßung  ber  $orm 
jeießnen  fie  au«.  SBetdje«  ©ewießt  ©eßteget  auf  bie  leßtere 
legte,  bejeugt  ein  ©rief  an  ©djteiermacßer,  in  roeteßem  er  biefeit, 
ber  ganj  geroiß  fein  bießterifeße«  ©enie  roar,  ÜJintß  maeßt  gunt 
55id)ten,  unb  fieß  ißm  mit  feinen  metrifdjen  Äenntniffen  ju 
£)ienften  ftellt.  „ÜJiaucße«  freitidj,"  fäßrt  er  bann  fort,  „ift 
in  unferer  ©pradjc  nod)  feßroer,  aber  e«  muß  teießt  roerben,  fie 
erweitert  fid)  naeß  allen  ©eiten,  benußt  ißre  »ernaeßläffigten 
©cßäße  unb  roirft  bie  unniißen  geffeln  ab."  Slucß  mit  ©oetße 
ßat  er  »ietfaeß  über  SKetrif  »erßanbelt;  ba«  tßeilt  er  ©eßleier- 
maeßer  mit  in  einem  ©riefe,  in  roeteßem  er  bei  biefem  anfragt 
wegen  poetifeßer  Ueberfeßungeit  unb  ©tubien,  wegen  be« 
©opßoftc«  unb  ber  Trimeter. 

SBir  fagten  oben,  ©ürger  ßabe  auf  81.  SB.  ©eßteget« 
litterarifeße  ©ießtung  bebeutfam  eingeroirft.  @«  ift  befannt,  baß 
©iirger«  ©tubien  in  ©öttingen  fieß  auf  bem  ©ebiete  ber  eng- 
tifeßen  unb  romanifeßen  ©praeßen  bewegten,  baß  ©ßafefpeare 
fein  £iebling«bidjter  war;  wir  wiffett,  baß  er  ©iacbefß  bear- 
beitete, baß  er  eine  iJfacßbilbung  be«  ®ommernacßt«traume« 
unternaßm,  unb  baß  31.  SB.  ©eßleget  babei  mitßatf.  SBa«  SBunber 
atfo,  baß  ber  Sünger  neben  anbereti  Ueberfeßungen  bie  bureß 
ben  ©ieifter  ißm  lieb  geworbenen  ©erbeutfeßungen  ©ßafefpeare« 
fortfeßte!  1796  erfeßienen  in  ben  $oren  unb  in  ©eid)arbt« 

(549) 


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14 


„SDeutfdjlanb"  groben  baoon;  jugleid)  lünbigte  er  in  ber  erft- 
genannten  3eitfdEjrtft  in  einem  Sluffa^:  „(Etwag  über  SB. 
©fjafefpeare  bei  ©elegenfjeit  SB.  SKeifterg"  fein  93orf|aben  an, 
ben  englifdjen  Siebter  ju  überfein,  ©erabe  unt  beffenwiüeit 
fud)te  er  audj  bie  f^reunbfe^aft  mit  $iecf.  lieber  feine  8lrt  $u 
überfein,  fcfjreibt  er  an  ©djlciermadjer : „(£g  giebt  bei  einer 
Ueberfejjung  fo  manche  feinere  3tue*fe^/  lü*e  °^cr  ieneä 
ju  geben  ftefje,  über  welcfjeg  nur  nad)  einem  bebeutenben 
ßwifdjenraunt  feit  bem  erften  (Entwurf  eine  fixere  SBaf)l  ent» 
fdjeiben  fann.  3d)  weife,  wie  oft  unb  öiel  id)  bie  erften  ©tütfe 
meineg  ©fjafefpeare  burdjgcarbeitet  fjabe;  fie  feabeit  mir  lange 
$eit  im  SDtanuffript  gelegen,  efje  fie  jum  ®rutf  tarnen,  unb 
bod)  möcfete  id)  nun  öieleg  barin  anberS  feaben."  3)em  Ueber* 
fejser  31.  SB  ©djlegel  fpenbet  audj  ©djfeiertnadfer  in  einem 
Briefe  an  SReimer  ungetfjeilteg  2ob.  „$ie  S31umeufträufee," 
(Uebcrfejjungen  romantifdjer  ißoefie)  fagt  er,  „finb  fo  elegant, 
wie  mir  fange  $eit  nichts  öor  Slugett  gefommen  ift.  ©enoffen 
fjabe  id)  fie  nod)  wenig,  unb  mit  bem  Criginal  fann  id)  nidjtg 
vergleichen  afg  ben  ©uarini.  Söon  ben  ißetrarfifdjen  ©onetten 
Ijabe  id)  nod)  nidjtg  gefefen,  aber  fo  im  ooraug  faßte  id)  faum 
gtauben,  bafe  ©djlegel  ben  Petrarca  verfehlen  fönne.  ©eine 
Zueignung  ift  eine  fdjüne  Sfompofition,  recht  im  ©eifte  ber 
italieitifchen  ©djule."  — „81ud)‘  f)aben  mir,"  fo  lefen  wir  weiter, 
„bie  SBorfefungen  oon  31.  SB.  in  ber  „(Europa"  im  ganzen  fefjr 
wofjl  gefallen,  unb  id)  Ijabe  bie  grofee  Klarheit  in  ber  ®ar- 
fteüung  einiger  Sbeen  fef)r  bewunbert."  ©emeint  ift  [mit  ben 
®orfefungen  ein  Jfjeil  berjeitigcn,  welche  81.  SB.  ®d)legcl 
wäljrenb  feineg  Slufentfealteg  in  Sfcrlin  oon  fperbft  1801  big 
grütjjaljr  1804  in  ben  SBintermonaten  alljährlich  gehalten  f)at. 
3n  einem  SBrief  oom  7.  ©eptember  1801  fd)reibt  er  an 
©d)leiermad)er  oon  3ena  aug:  „3Jieine  Slnfünbigung  ber  $Bor> 
lefungen  ift  fdjoit  t)iniibergefd)idt;  id)  empfehle  fie  hiermit  3^rer 
(660) 


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15 

ißrotcftion  mtb  iöeförbcrurifj  beftenS.  Sie  fönnen  mich  immer 
fdjon  mit  guten  ©ewiffen  etwas  ^eraugflrcidjen".  2)ie  öorträge 
betrufen  bie  ©efcbicljte  ber  mittelalterlichen  unb  neueren  abenb* 
länbifdjen  Sßoefie  überhaupt,  theilS  ben  ßuftanb  ber  beutfchen 
Sitteratur  in  ber  jüngften  SSergangenheit  unb  ber  ©egenwart 
inSbefonbere;  bie  eben  erwähnten  han^elteu  über  fiitteratur, 
5lunft  unb  ©eift  beS  3e*talter«. 

SllS  trefflicher  ÜJtetrifer,  Ueberfefcer  nnb  Sitterar^iftoriCer 
ift  unö  $1  SB.  Schlegel  bis  jefct  entgegengetreten,  ben  Äritifer 
lernen  wir  fennen  aus  einem  am  9.  Juni  1800  an  Sd)leiermacher 
gerichteten  ^Briefe,  in  bem  er  non  ber  ungeheuren  fDlaffe  nott 
Stumpfheit,  fßlattheit,  Slltgläubigfeit , griebliebenbheit  unb 
eigentlicher  Dummheit  fpricht,  welche  noch  8“  befeitigen  fei. 
Jn  biefem  3uftanb  ber  SEBelt  erscheint  il)m  bie  ftritif  als  ein 
unentbehrliches  Organ  ber  großen  SReoolution;  bie  glücf liehe 
^eit,  wo  Oie  junge  2>id)tcrgeneration  fiel)  gan$  ber  pofitioen 
SBirffamfeit  h'ttgeben  fann,  muß  fie  fich  erft  fchaffett.  Jm 
weiteren  ift  bann  bie  Siebe  uon  ber  SBegrünbung  „fritifcher 
Jahrbücher",  bie  freilich  nicht  h^  auSgeführt  werben  fönnen; 
biefelben  füllten  an  bie  Stelle  beS  „Slthenäum"  treten,  beffeit 
Singehen  Schleiermacher  bebauert,  weil  ein  fo  entfchiebcneS 
$alent  jur  ftritif,  wie  Schlegel  eS  befifce,  nun  brach  liegen 
müffe.  SBir  tßeilen  jnr  CSfjarafteriftif  beS  Slthenäum,  ber  be* 
beutenbftcn  3c'tW)r'it  ber  fKomantifer,  folgettbeS  mit. 

35aS  erfte  Stiicf  laut  um  Cftern  1798  bei  S3ieweg  in  SBerlitt 
heraus.  Jn  5Be$ief)ung  auf  bie  gorm  ber  Dfittheilung  hatten  bie 
fflegrünber  greiheit  unb  Slbwecfjfelung  in  SluSficht  geftellt;  in* 
haltlich  füllte  bie  Jcttfdjrift  aüeS  umfaffeit,  waS  unmittelbar 
auf  93ilbung  abjiele.  Sluf  gr.  Schlegels  Slufforberutig  [teilte 
auch  Schleiermacher  ^Beiträge  in  SluSficht;  feine  große  greube 
bariiber  fpricfjt  St.  23.  Schlegel  in  einem  ^Briefe  oont  Januar 
1798  aus.  SOie  jweite  Slbtheilung  beS  erften  IBanbeS  enthält 

(561) 


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16 


unter  einer  ültenge  ofjne  Nennung  ber  SBerfaffer  jufammen* 
gefteHter  StphoriSmen  bie  „Fragmente''  ©d)leiermacberS.  SBeiter 
lieferte  biefer  eine  ©eurtljeilung  ber  Stntbropologie  »on  Stant, 
bie  nach  ©djlegelS  Urteil  eine  ber  atroceften  ©acfjen  im 
Stthenäum  mar.  Sin  ©aroeS  ©djriften  bemieS  ©djleiermacber, 
baß  berfelbe  als  Pfleger  ber  StnmerfungSpbilofopbie  ein  mittel* 
mäßiger  ^ß^ilofopt)  fei.  3n  feiner  Siotij  über  SngelS  ißbilofopljie 
für  bie  SBelt  hatte,  mie  Sapnann  fagt,  aud)  ©oetbe  baS  ©eift* 
reiche  anerfannt,  $r.  ©djlegel  fanb  fie  ganj  sprigbtly,  St.  SB. 
©d)Iegel  pepper’d  for  this  world  mit  ber  eleganteften  ©robljeit 
unb  bemfelben  ©rio  non  Slnfang  bis  ju  Snbe.  9lu<b  mit  gidjte, 
beffen  ^^ilofopbie  it)m  burcbauS  nicht  für  baS  ftat^eber  geeignet 
fdjien,  fejjte  er  fi<b  in  einer  Stecenfion  über  beffen  ©eftimmung 
beS  SJtenfdjen  auSeinanber,  bie  mit  ÜNonolog  unb  ©ialog  ab* 
med/felte.  gr.  ©djlegel  betete  biefe  Stotij  an,  St.  SB.  ©Riegel 
nannte  fie  ein  ÜJteifterftüd  öon  Reinheit  in  Ironie,  ^ßarobie 
unb  fdjonenbcr  refpeftueufer  Strdpteufelei  unb  meinte,  als  er 
hörte,  5‘^te  babe  &ie3  übet  öermerft,  baS  fei  mot)t  barum, 
meit  er  biefe  SBaffe  gar  nicht  mieber  fiteren  fönne.  groei 
Fragmente  ©cljleiermadjerS  finb  befonberS  bestjatb  beacbtenSroertf), 
meil  fie  jeigen,  mie  et£)if^e  ©erfönlicbfeiten  audj  im  ©piel  ber 
*ßf)antafie  unb  beS  SBißeS  fiefj  nic^t  »erleugnen.  ®aS  eine  ift 
nad)  bem  ©tidjmort  „bie  Offenheit"  betitelt.  Söcr  auf  ben 
erften  SSiitf  fertig  ift,  fo  beißt  eS  ba,  beu  Kafteltan  oon  ficb 
felbft  ju  machen,  unb  maS  in  ihm  ift,  Sebem,  ber  an  feiner 
2büre  fteben  bleibt,  ju  geigen,  ber  beifet  ein  offener  SDtenfcb. 
SnbcS  oon  einem  Sbarafter  giebt  eS  feine  anbere  ©rfenntnife 
als  Stnfdjauung.  ©er  Sütenfd)  gebe  fid}  felbft  mie  ein  fiunft* 
merf,  ftelje  frei  unb  beroege  fid)  feiner  Statur  gemäß,  ohne  $u 
fragen,  mer  ihn  anfief)t  unb  mie.  ©iefe  ruhige  Unbefangenheit 
oerbient  eigentlid)  ben  Stamen  ber  Offenheit  allein. 

®aS  jmeite  Fragment  trägt  bie  Ueberfdjrift : „3bee  ju 

(652) 


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17 


einem  fiatedjiSmuä  ber  Vernunft  für  eble  grauen."  $a  finben 
toir  gunäefeft  „10  ©ebote" ; bejeidjnenb  ift  ba8  erfte : 3)u  foUft 
feinen  ©eliebten  Ijaben  neben  ifjnt;  aber  bu  fotlft  greunbin  fein 
fönnen,  ofene  in  ba8  ftolorit  ber  Siebe  ju  fpielett  unb  ju 
fofettiren  ober  an^ubeteu.  2)aS  10.  lautet:  Safe  bidj  getüften 
nad}  ber  SDMnner  93ilbung,  fünfte,  SCßeiö^eit  unb  @f)re.  $er 
3.  „©laubcnSartifel"  befagt:  „gefe  glaube  an  Segeifterung  unb 
^Eugenb,  an  bie  SEBunber  ber  Ä'unft  unb  ben  iReij  ber  SEBiffen» 
fd)aft,  an  greunbfd)aft  ber  SDinnner  unb  Siebe  jum  93aterlanbe, 
an  »ergangene  ©röfee  unb  fünftige  SScreblung".  ©ewife  tritt 
utig  in  biefen  SBorten  bie  ®eiftc§eigentl)ümlidjfeit  «Schleier» 
ntadjerS  entgegen,  „wie  fie  in  ber  93erül)rung  mit  bem  SBerliner 
gefeQigen  Seben  unb  ben  Vertretern  ber  romantifdjen  ißoefie  unb 
*ßl)ilofopl)ie  fid}  auSgebilbet  Ijatte."  ffioQte  gemanb  meinen, 
ber  Verfaffer  feabe  bie  {(eiligen  10  ©ebote  unb  ben  djriftlidjen 
©tauben  auf  biefe  SEßeife  abfdjaffen  wollen,  ber  würbe  fid)  felbft 
baS  .Qeugnife  auSfteHen,  bafe  er  nidjt  ^u  unterfdjeiben  weife 
jwifdjen  bem  Spiel  in  Der  gorm  unb  bem  Srnft  in  bem  Snljalt. 
SBir  leugnen  nic^t,  bafe  ba3  Spiel  ein  gewagtes  war,  unb  bafe 
in  bem  „Sagen  nad)  SBip  unb  ©fprit"  bie  ©ren^e  leidjt  über- 
fdiritten  werben  foitnte. 

©3  fonnte  nidjt  fehlen,  bafe  bie  Stuffäfce  beS  Ültljenäum  bie 
Äritif  ber  ©egner  IjerauSforbcrten.  Um  »ott  ßofcebue  nic^t  ju 
reben,  fo  trat  Üiicolai,  ber  öon  Einfang  an  bei  Sdjleiermad)er 
feine  ©nabe  gefunben  Ijatte,  bie  „feufjenbe  Äreatur",  ber  „alte 
fialifomier",  itod)  einmal  auf  ben  litterarifdjen  Scfeauplap. 
Seine  „oertrauten  Vriefe  ooit  5lbelf)eib  93.  an  iljre  greunbin 
Sulie  S."  waren  befonberS  gegen  bie  gragmentc  in  bem  jweiten 
Stüde  gerichtet.  Sdjleiermadjer  nennt  bie  93riefe  erftaunlicfe 
nai»;  fie  würben  aber  in  ber  genaer  SlUgcmeineu  Sitteratur« 
Leitung  als  ber  fräftigfte  Sdjlag  gegen  bie  fRomantifer  gepriefen, 
unb  ber  Sattjr  gelobt,  ber  bie  „HßeinweiSfjeit  mancher  junger 

Sammlung.  9f.  55  V.  111.  2 (558) 


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^(jilofopfien,  beit  gelehrten  @goi8mit§,  baS  ftolje  .'pintoegfe^ett 
über  bürgerliche  Berf)ältniffe  unb  llonüenienj . . . fcfjarf  iit3  Äuge 
faßt  unb  mit  SBi$  unb  Saune  fofd^e  Iljorheiten  jüdjtigt". 

. Xiefe  günftige  Änjeige  be3  geifttofen  3Kacßn?erfS  beranlahte 
Ä.  SB.  Sdjlegel,  jum  Eingriffe  überjugefjen.  Dorothea  Schreibt 
barüber  au  ©cßteiermacßer  (28.  10.  1799):  „33er  gmift  mit 
ber  Sitteraturjeitung  ift  angejettelt,  unb  e$  mirb  nun  tüoijf 
halb  etma£  Ceffeutlicfjeö  barüber  erfdjeinen.  SBilhelm  ift  ein 
rüftiger  Slämpe,  aber  mir  tßut  e£  leib,  bah  er  SBij}  unb  Ätäfte 
gegen  bie  3Bid;te  fo  uerfdjiuenbeu  muh."  ©alb  barauf  fanbte 
Sdjlegel,  ber  langjährige  Sütitarbeiter  au  ber  geitung,  einen 
Äbfagebrief  au  biefelbe,  getoiir^t  mit  fchttöben  Beleibigungen. 
Sdjleiermadjerä  Äeuherung  au«  bem  gat)re  1801,  eä  töune 
bod)  nichts  pöbelhafteres  geben,  als  bie  fiittcraturjeitung 
jefct  fei,  jeigt,  bah  fie  fefjr  gefüllten  mar.  SBenn  er  ferner 
roiinfcht,  bah  gr.  Sdjlegel  in  ber  Srlanger  Leitung  recenfireii 
möge,  beim  man  tnüffe  bodj  irgenbmo  eine  ^anb  in  ber 
Ütritif  hoben,  fo  ift  biefer  SEBunfd)  jmar  nicht  in  Erfüllung 
gegangen,  bie  genannte  Leitung  aber  mürbe  baS  Organ  ber  neuen 
Schule. 

SBir  menben  un$  nunmehr  mieber  ber  näheren  Betrachtung 
ber  beibeit  ÜRänner  ju,  melche  bie  fRomanti!  in  Berlin  jumeift 
oertraten.  ®anj  oerfehrt  ift  bie  Änfdjauung,  als  h^tte  Schleier* 
machet  fid)  gar  ju  fefpr  in  Äbfjängigfeit  oott  gr.  ©cßlegel  be< 
geben.  SBurbe  ihm  bei  bem  gufammenleben  Seiber  ooit  bem 
greunbe  bie  SR  olle  ber  grau  juertheilt,  fo  ift  er  bod)  gaitj 
gemih  nicht  als  ein  Änfjängfel  ooit  Sdjlegel  ju  betrachten,  mie 
uuö  noch  Baruhagen  miH  glauben  machen.  SBie  meitig  Be* 
redjtigung  biefe  Änfidjt  hat,  jeigen  folgettbe  SBorte  Schleier* 
macfjerS  über  beu  greunb:  ,,©r  ift  äußerft  finbltch,  offen  unb 
froh,  naio  in  allen  feinen  Äeufjerungen,  ein  töbtlicßer  geinb 
aller  gormeit  unb  piatfereien,  heftig  in  feinen  SBüitfchett  unb 

(5M) 


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19 


Steigungen,  allgemein  woßlwollenb,  aber  aud),  wie  Äinber  oft 
gu  fein  pflegen,  etwuS  argwöbnifcf).  ©ein  Gf)arafter  ift  nod) 
nicht  fo  feft,  unb  feine  Meinungen  über  3J?enfd)en  unb  ©er* 
f)ältniffe  finb  noch  nid^t  fo  beftimmt,  baß  er  nid)t  leicht  füllte  gu 
regieren  fein,  toenn  er  einmal  3emanb  fein  Vertrauen  gefcfjenft 
hat.  2BaS  ich  aber  boc^  oermiffe,  ift  baS  garte  ©efiißl  unb  ber 
feine  ©imt  für  bie  lieblidjen  fllcinigfeiten  bcS  ScbenS  unb  für 
bie  feinen  Sleußerungeu  frfjöner  ©efinnungen,  bie  oft  baS  gange 
©emütfj  entlüden.  (Sr  hält  alles  für  fcfjroad),  was  nid;t  feurig 
unb  ftarf  erfdjeint.  (Sr  toirb  immer  mehr  fein  als  id),  aber 

id)  merbe  ihn  »oHftänbiger  faffcn  unb  fennen  lernen  als  et 
mid).“  3m  Saufe  ber  3e't  traten  nod)  aubere  ©d)wäd)en 
©djlegelS  ^eroor,  welche  ©d)leicrmad)er  wahrhaftig  nicfjt  »er* 
fdjweigt.  2Sie  ein  ©rief  an  Srinfmann  jeigt,  »ermißt  er  an 
ihm  bie  innere  unb  äußere  SHuße,  um  baS  Sßerf  über  bie 
gricdbifdje  Sßoefie  gu  »ollenben.  „(Sr  ift,"  fo  beißt  eS  bann, 
„mit  feinem  großen  ©gftem,  mit  feiner  allgemeinen  Slnfidjt  beS 
menfdjlichen  ©eifteS,  feiner  gunftionen  unb  Sßrobufte  unb  ihrer 
SBerfjältniffe  noch  nicßt  im  flareti  unb  ßat  gu  rcenig  £>errfchaft 
über  fid),  um  ein  SBerl  fortguarbeiten,  worin  er  es  immerfort 
mit  biefer  gu  tf)mt  bat.  gamnierfchabe  ift  eS  unb  ein  uttenb* 
ließet  Unglücf,  baß  er  bie  fragmentarifcf)en  Arbeiten,  bie  ibm 
bei  biefem  inneren  Treiben  entfielen  unb  nur  aus  bcmfelben  gu 
erflären  unb  gu  »erfteffen  finb,  immer  bruefen  laffcn  muß." 
SBcnit  ferner  gr.  ©cßlegel  fefbft  fein  ©erhäftniß  gu  3d;leier* 
machet  für  fid)  als  ein  fruchtbares  anfie^t,  unb  fein  ©ruber 
SBilbelm  ©d)leiermad)erS  gebet  bie  weit  geiftreidjere  nennt, 
biefen  auch  mahnt,  er  möge  über  bie  Slrbeiten  feines  SruberS 
wadjen,  ber  unaufhörlich  feine  inneren  SReidjthümer  in  allerlei 
Ungeftalten  »on  fid;  gebe,  fo  ift  bieS,  mit  bem  ©origen  gu* 
fammengehalten,  ©eweiS  genug,  baß  ©chleicrmacher  in  ber  „<$he" 
mit  gr.  ©chlegel  in  ber  2hot  nic^t  ber  nur  empfangettbe  Ztyit 


' 2*;  tsay 

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20 


»war.  (Sitten  bouerttbeit  ©ewinn  f)at  atterbingS  ©cfjleiermadjer 
uitb  mit  ifjm  bie  ÜJiit-  unb  Siadjwett  aus  ber  befprodienen  93er* 
biubung  gezogen,  unb  biefer  befte^t  barin,  bafj  er  fic£)  auf  beS 
grcunbeS  fDiafjnung  ^in  entfc^toffen  l)at,  als  ©c^riftfleßer  auf- 
jutreten.  „2tn  mir  rupft  er  beftänbig,"  fdjreibt  ©djreiermadjer, 
„idj  müfjte  aud)  fdfreiben,  eS  gäbe  taufeub  Singe,  bie  gefagt 
werben  müßten,  unb  bie  gerabe  icf)  fagen  fönnte".  * Stuf  ben- 
felbeit  ©egenftanb  fommt  er  ju  fpredjen  bei  ber  ©efdjreibung 
ber  oben  ermähnten  ©cburtStagSfeier.  „@d)teget,"  fo  ^ei§t  eS 
ba,  „fpiette  mir  jwar  einen  Keinen  ißoffen,  inbem  er  fie,  (bie 
anberen  ©äfte)  aufbefjte,  in  choro  in  feinen  alten  SBunfd)  ein* 
juftimmen,  baff  idj  nun  aud)  ©iidjer  fdpreiben  foflte.  29  3aljre 
unb  nod)  nidjtS  gemacht,  bamit  fonnte  er  gar  nid)t  auftjören, 
unb  id)  muffte  it)m  feierlich  bie  $anb  geben,  bafj  idj  nod)  in 
biefem  3at)re  etwa§  fdjreiben  wollte." 

SaS  ©ebeutenbfte,  was  ©d)teiermad)er  auf  biefe  SBeife 
auS  fidj  ^at  „ans  ßicfjt  loden"  taffen,  ift  bie  ©djrift  „über  bie 
Religion,  Sieben  an  bie  ©ebilbeten  unter  i^ren  ©eräd)tern". 
©ietfad)  Ijat  er  mit  ^enriette  §erj  über  biefetbe  öerljanbelt, 
wäfjrenb  er  öou  Slnfang  gebruar  Slnfang  üJiai  1799  bie 
©teile  beS  alten  ^ofprebigerS  ©amberger  in  ©otSbarn  oerfat). 
Stm  15.  g^ntar  fdjreibt  er:  ,,3d)  ^abe  ein  Meines  ©tüd  Sie- 
ligion  gemalt";  anberSWo  tjeifjt  eS,  er  fjabe  fid)  in  ©ejug 
auf  baS  SJiadjni,  b.  t).  bie  üinftlerif^e  SarfteQung,  „geärgert 
über  eiujelite  ©teilen  in  ber  5.  Siebe,  welche  an  einer  Portion 
Siatefti!  leibe  unb  gewaltig  trodeu  gerätsen  fei."  3n  anberen 
©riefen  berietet  er  über  beit  gortfdjritt  beS  SßerfeS,  bittet  aud) 
bie  §erj  einmal,  i!)n  in  jebem  ©riefe  ju  mahnen,  bamit  „bie 
Sietigiou"  ifjm  tticfjt  inS  ©toden  geratf)e.  SBcldje  fjrcube  er  empfun- 
ben,  als  bie  Strbeit  oofleubet  war,  erfe^en  wir  aus  fotgenben 
©Sorten:  „3efjt  eben  am  15.  beS  ÜJionatS  Stprit  (1799)  ift  ber 
©trieb  unter  Sietigion  gemalt,  beS  SJiorgenS  ein  Jjalb  10  Ut)r-" 

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21 


SS  faitn  nicht  uttfere  Stufgabe  fein,  unS  über  beit  Snljalt 
ber  Sieben  weiter  ju  Derbreiten,  genügen  mag  bie  SJlittfjeÜung, 
baß  ©djleiermad)er,  ber  SDiann  ber  ©ilbung,  oon  innerer  Sioth* 
toenbigfeit  bef)errfcf)t,  bie  Sieligiott  gerabe  gegen  bie  ©ittwänbe 
ber  ©ebilbeten  oertßeibigt,  baß  er  berfelben  eine  eigene  ^roDinj 
in  bem  menfdjlichen  ©eniütlje  juweift,  baß  er  immer  roieber 
betont,  bie  Religion  fcl)f  in  bem  ffinblidjen  baS  Unenblic^e. 
Sr  ^at  bie  Sieben  »erfaßt  auf  bem  §öf)epunft  feiner  Sugenb* 
entwidelung,  fein  religiöfeS  Snitenleben,  baS  toeit  ablag  oon 
bem,  roaS  ber  bamaligen  Äirtfje  als  ^Religion  galt,  lieft  er  ba 
heraustreten  in  bie  Söelt.  2)a8  „Siomatttifdje"  in  ber  ©dfrift 
befielt  barin,  baß  bie  Sieligioit  bem  ©erfaffcr  etwas  gan$  Sn* 
bioibitelleä,  aus  ber  ©ubjeftioität  beS  Sin^clnen  .£>erDorgcbenbeSift. 

Slm  meiften  war  Sdtleiernta^er  um  beit  ©inbrud  beforgt, 
beit  bie  Sieben  auf  ben  .fpofprebiger  ©ad  machen  würben.  £aß 
biefe  ©eforgniß  nid)t  mtbegrüubet  war,  beweift  ber  ©rief  beS 
fieberen,  in  wcldjeitt  er  bie«  ©ud)  für  eine  geiftDolle  Slpologie 
beS  ltßantf)eiömusS  erflärt,  für  eine  rebnerifdje  $arfteüung  beS 
Spinojiftifdjen  ©hftemS.  Smpört  ift  er  audj  über  bie  reoolu* 
tionäre  neue  Sprache,  bie  ber  erfteit  Siegel  alles  Deruünftigen 
Sieben«  nnb  ©elehrenS  (ber  ©erftänblid)feit)  jum  2ro|j  immer 
mit  falfdjer  SJiünse  $ahlt,  fidj  in  rätselhaftes  $>unfel  büßt 
unb,  aus  gurdjt  fid)  gentein  auS^ubrüdeit,  fd)roülftig  wirb. 
„Sin  mit  ber  eblen  ©infalt  ber  ©riechen  fo  befannter  ÜJZann 
wie  ©ie,"  fo  wenbet  fid)  ©ad  au  ©d)leiermad)er,  „follte 
wenigftenS  biefe  pomphafte  unb  gefd)madloje  ©djreibart  Der* 
fchmähen  unb  fie  ben  Schwärmern  unb  poetifirenben  SBifclingen 
überlaffen,  welche  fid)  mit  bem  Slnftaunen  unb  bem  2obe  ber 
empfinbelnben,  gelehrt  fein  woQenben  SSeiblein  begnügen". 
©chleiermad)er  übergeht  in  feiner  Antwort  baS  bloß  2itterarifd)e 
beS  Schreiben«;  ber  ffinbjroed  feiner  Sieben  ift  ihm,  in  bem 
gegenwärtigen  ©türm  pf)ilofophifd)er  SJieinungen  bie  tluab* 

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22 


ßängigfeit  ber  Religion  tton  jeber  ÜJietapßufif  red^t  barjuftcHeu 
unb  ju  begrünben.  ©eine  gonje  Denfung§art  ßat  feinen  anberen 
©runb  al«  feinen  eigentßiimlicßen  ßßarafter,  feine  angeborene 
SJißftif  unb  feine  »on  innen  auägegangene  S3ifbung. 

©anj  anber«  als  bei  ©ad  unb  beffen  ®eifte«üerwanbtcn 
war  bie  Slufnaßme  ber  Sieben  bei  ben  romantifcßen  grennben 
be«  Scrfaffer«.  3n  3fena  war  im  £>erbft  1 799  ber  gauje  fireis  ber 
Siomantifer  »erfammclt.  Anfang«  September  mar  gr.  ©cßlegel 
oon  Serlin  bortßin  übergefiebelt,  im  Oftober  mar  ißm  Dorotßea, 
meldje  ficf)  fcßließlicß  oon  Seit  getrennt  ßatte,  bortßin  gefolgt. 
3n  mehreren  Briefen  an  ©djleiermacßer  ßatte  er  fid^  über  bie 
Sieben  geäußert,  j.  8.  gefügt,  bie  britte  Siebe  ßabe  ißm  feßr 
gut  gefallen,  ber  ©til  fei  weniger  »oüenbet,  al«  in  ben  beiben 
erften,  aber  ber  Snßalt  gefalle  ißm  feßr  unb  aueß  bie  ©ub< 
jefnoität  ber  Slnficßt  unb  ber  $eßanblung.  3n  bem  Sltßenäum 
ließ  er  eine  Slnjeige  beS  93ucßeS  erfeßeinen,  nod;  eße  eS  ooß> 
ftänbig  gebrudt  mar.  28ie  ©djleiermadjer  barüber  baeßte,  feßeit 
mir  aus  folgeubett  SBorten  an  SBrittfmann : „Du  mirft  aus  bem 
Sltßenäum  gefeßen  ßaben,  baß  ©cßlegel  oßneraeßtet  er  oon  bem 
fßofaunentou  in  feiner  Siotij  nidjts  aßubet  unb  oielnießr  glaubt, 
neben  bem  £obe  feinen  Dabei  unb  feine  SIbweidjung  non  mir 
feßr  ftarf  angebeutet  3U  ßaben,  3U  einer  orbcntlicßcn  ffritif  nießt 
311  gebraucßeit  ift."  Der  „^ofaunenton",  ber  3U  laute  Don  beS 
ÜobeS  ließ  ©djleiermadjer  befürchten,  baß  eS  Hießt  uon  fersen 
fomtne,  bie  bloßen  Stnbeutungen  beS  Dabei«,  baß  ßier  uieleS 
3imidbefjalten  fei.  Diefe  Sl^eige  unb  anbere  Serßanblungeit, 
bie  mit  ben  Sieben  in  Serbinbuug  fteßen,  ßaben  baS  Serßältniß 
ber  greunbe  311m  erfteumale  nacßßaltig  getrübt;  befonberS  über 
bie  „Sbeen"  ©cßlegel«  äußert  fieß  ©eßleiermaeßer  mißbidigenb, 
er  nennt  fie  „baS  ßoffentlicß  leßte  '4^robuft  innerer  Unfertigfeit 
unb  ungeorbueter  giiHe  oon  ©ebanfen  unb  Slureguttgen". 
©djlegel  fießt  fieß  bcSßalb  oeranlaßt  311  fdjreiben:  „2BaS  in  ben 

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23 


3been  in  näherer  Schiebung  auf  beine  fReben  fdjeiut  als  baS 
Uebrige,  ift  eigentlich  Weber  an  bidj  nod)  gegen  bid^." 

Schlegel  berichtet  uns  genau,  welchen  ©inbrud  bie  fReben 
auf  bie  ©ettoffen  in  Sena  gemadjt  hoben.  Hud)  ©oetlje,  ber 
oft  borthin  fam  unb  mit  ben  SRomantilern  oerfeljrte,  laS  fie; 
„anfangs  fonnte  er  gegen  SBilhclm  (Schlegel)  bie  Silbuitg  unb 
Sielfeitigfeit  biefer  ©rfdjeinung  nicht  genug  rühmen.  3e  nad)* 
(affiger  inbeffen  ber  Stil,  unb  je  djriftlicher  bie  fReligion  würbe" 
(b.  h-  je  weniger  oon  ber  SReligion  überhaupt,  unb  je  mehr 
non  ber  fpejifijch  d)riftlid)eit  bie  SRebe  war)  „je  mehr  üerwatt* 
bdte  fidj  biefer  ©ffeft  in  fein  ©egentheil".  Nebenbei  mag  be» 
merft  werben,  bafe  wir  uns  nicht  wunbern  Jönncit,  wenn  oon 
Schiller  hier  feine  Siebe  ift;  $r.  Sdjfegel  hatte  fid)  burd)  »er« 
fchiebcne  SRecenfionen  mit  ihm  überworfen,  unb  fo  „ging  man 
nicht  ju  ihm".  Huch  Schleiermacher,  ber  beit  groften  dichter 
früher  t)od)  geftcdt,  hatte  fich  ganj  oon  ihm  abgewanbt.  — 
5)en  gewattigften  ©inbrucf  hat  jebeitfaßS  $arbenberg  oon 
SchleiermacherS  SReben  empfangen,  „er  erfanute  in  ihnen  bie  ge* 
meinfame  religiöfe  Heimat!)."  @r  ftammte  aus  einer  gamilie, 
bie  ben  Herrnhutern  angehörte,  unb  Sd)leiermacher  war  ja 
oon  feinem  10.  SebenSjafjre  an  in  Herrnhuterifdien  Hnftalten 
erjagen  unb  gebilbet  worben,  bis  er  ju  Dfterit  1787  bie  Uni* 
oerfität  Halle  bejog.  SBährenb  Harbenberg  in  3ena  ftubirte, 
gewannen  fReinhotb,  ber  Vertreter  ber  Äantifchen  ^h>l°fophif, 
unb  Sd)iflcr  grofjen  ©influfj  auf  ihn,  in  fieipjig  traf  er  mit 
$r.  Schlegel  jufammen,  bem  er  „fehr  gut  gefiel  als  ein  junger 
ÜRann,  aus  bem  aßeS  werben  fann"!  3n  Sena  fameit  93eibe 
nun  im  Hcr^f*  1799  wieber  jufammen.  SöiSher  hatte  Harben* 
berg,  wie  afle  SRomantifer,  in  ©oethcS  SSilbcInt  SDicifter  „ben 
fRoman  ohnegleichen"  oerehrt.  Hfimählid)  befdfränfte  fich  bei 
ihm  bie  Hachfthäljung  auf  bie  gorm,  in  ©cjug  auf  ben  Inhalt 
würbe  er  umgeftimmt,  wahrfd)einlich  burch  ben  „Sternbalb". 

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24 


3)ieS  ift  um  fo  mehr  anjunefjmen,  weit  er  nach  Dorotheas  Bericht 
bei  ber  perfönlidjen  Begegnung  mit  Jiecf  in  3ena  „gattj  rafenb 
unb  toll  in  biefen  oerliebt  mar  unb  behauptete,  baS  tuäre  noch 
ein  gan$  anberer  dichter  als  ©oetfje".  5)ie  ©euoffen  ber 
neuen  ©chule  brauten  ifjnt  grofje  Siebe  unb  ©emunberung  ent- 
gegen; jeine  djrifttidjen  Sieber  nennt  ©Riegel  baS  ©öttlichfte, 
rnaS  er  je  gemacht,  bie  ißoefie  barin  habe  mit  nichts  ülehnlich- 
feit  als  mit  beu  innigfteu  unb  tiefften  unter  ©oet^eS  früheren 
©ebidjten.  @S  faitn  uns  nidtjt  munbern,  roentt  ber  alfo  ©efeierte 
fidh  entfchlofj,  fid)  auch  in  bem  §öd)ften  ju  oerfudjen,  roaS  bie 
gtomantifer  faunten.  ©ein  ,3^  mar  barum  ein  SRoman  in 
„traufcenbeutalem  ©inne",  in  meinem  bem  ©emeitien  ein  hoher 
©iun,  bem  ©emöhttlichen  ein  geheimnifjoolleS  Sfnfeheit,  bem  ©e> 
fannten  bie  2Bürbe  beS  Unbefannten,  bem  ©üblichen  ein  unenb- 
lieber  ©cfjein  gegeben  mürbe,  ©erabe  in  ber  festen  ©emerfung 
btirfen  mir  eine  SEBirfung  oon  ben  Sieben  ©chfeiermacherS  fehen, 
bie  er  nach  ©chlegelS  ©eridjt  mit  bem  hödjfieit  Sntereffe  ftubirte, 
non  benen  er  ganj  eingenommen,  burcfjbrungen,  begeiftert  unb 
enthübet  mar.  SDen  ©toff  ju  feinem  9ioman  fanb  er  in  ber 
©ibliothef  eine«  föiajorS  oon  gunf;  bort  „ftiefj  er  auf  bie  ©age 
beS  Heinrich  non  Ofterbingen  unb  oom  ©äitgerfrieg".  9tach  bem 
tarnen  beS  ©ängerS  betitelt  er  fein  SEBerf,  meines  bie 
Sehrjahre  eines  merbenbcit  Richters  enthält,  mie  9iooaliS,  bieS 
ift  ber  ©chriftfteHername  $arbenbergS,  fich  felber  oorfam.  gr. 
©chlegel  fchreibt  im  2Jiai  1800  an  ©chleiermacher:  „§arbenberg 
hat  auch  e*lten  Vornan  gemacht,  |>einrid)  non  Dfterbingen. 
(Sine  munberbare  unb  burdjanS  neue  ©rfcheinuug.  3m  üKärcfjen 
ift  er  einzig  unb  fünnte  halb  audj  fo  ooHenbet  unb  gemanbt 
unb  ficher  barin  fein,  mie  in  Siebern  unb  ©ebichteu.  25aS 
©anje  fod  eine  Stpotljeofe  ber  s45oefie  fein."  iparbenberg  ftarb 
bereits  im  SDiärj  1801.  @S  mar  ©djleiermadjer  nicht  oergönnt, 
ihn  perfönlich  fennen  ju  lernen;  ben  mieberholten  bringenben 

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25 


©inlabungeu  $orotbeenl,  bocb  auf  eine  geitlang  nach  3ena 
gu  fommen,  bamit  fie  in  ihrem  $immer  »bie  gonge  Kirche  oer> 
fammett  fetjen"  fönnte,  bat  er  nicht  gotge  teiften  fönnen.  Sin 
fdjöneS  ®enfntal  bat  er  bem  3üngling,  ber  in  ber  gangen  ©ene» 
ration  oon  ber  religiöfen  ©eite  if)n  am  meisten  oerftanb,  gefe&t 
in  einem  ©riefe  oom  29.  3uli  1802  an  ©leonore  ©runom.  @r 
rühmt  an  feinem  Siotnau  bie  Siebe  unb  bie  SJipftif,  bie  bem 
©angen  gu  ©runbe  liegeitbe  große  giiße  bei  SBiffcnl  unb  bie 
unmittelbare  ©egiebuug  belfelben  auf  bal  |>öcbfte,  bie  Kn> 
fc^auung  ber  ©klt  unb  ber  ©ottfjeit.  „©etuiß,  ^arbenberg 
märe  neben  allem  anbern  ein  febr  großer  ftiinftter  gemorben, 
meitn  er  uni  länger  gegönnt  morben  märe." 

SBie  oon  £>arbenberg,  fo  berietet  uni  gr.  ©Riegel  aud> 
oon  ben  übrigen  Stomantifern,  meiere  ©ebeutung  ©d)leierntad)erl 
Sieben  für  fie  gehabt,  ober  fie  benfelben  gugemeffen  haben;  aul 
aßern  gebt  b^oor,  baß  mit  benfelben  ein  neuel  Slement,  bal 
religiöfe  unb  etßifcbe,  in  bie  romantifdje  ©emegung  ge> 
fomnten  ift. 

SBar  auch,  mie  mir  gefeßen  hoben,  burd)  bie  Stecenfion 
ber  Sieben  oon  feiten  ©cblegell  eine  gemiffe  ©erftimmung 
groifdjen  ißm  unb  ©djleiermocber  eingetreten,  ber  Sefjtere  bot  ficb 
babureb  nicht  abbalten  taffen,  bei  ber  ©enrtbeilnng  eitiel  SBerfel 
Oon  feinem  greunbe  für  biefen  in  einer  Söeifc  einjutreten,  bie 
faum  3emanb  oerfteljen  fonnte. 

Km  2.  SJiärg  1799  empfing  ©djleiermacber  einen  ©rief  oon 
©cßlegel,  itad)  melcbcm  ber  b<ftorifcbe  Xb^il  ber  Sucinbe  fertig, 
unb  ber  ©erfaffer  bamit  über  ben  eigentlichen  ©erg  fei.  ©djlegel 
fefct  auch  bal  Urteil  feittel  ©ruberl  unb  feiner  ©djroägerin 
Saroline  gu;  biefer  gefiel  bie  ©ebrift  beffer  all  jenem,  ber 
bamal!  „gar  gu  teufelmäßig  autif"  mar.  ©aug  anbcrl  urteilt 
bie  grau,  melcße  bureb  ben  Siomait  am  meiften  in  SJiitleiben* 
fefjaft  gegogen  mar,  ^Dorothea.  „2Bal  Sucinbe  betrifft,  — ja 

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26 


wag  fiucinbe  betrifft!"  5D?it  biefetn  ©tofjfeufger  fommt  fie  in  einem 
^Briefe  an  ©cbteiermacber  auf  bag  83ud)  gu  fpredjen.  „Oft 
wirb  eg  mir  fjeifj  unb  wieber  fatt  um«  tperg",  fdjreibt  fie,  „baß 
bag  Snnerfte  fo  fjerauggefefirt  werben  foß,  — wag  mir  fo 
t>ei£ig  war,  fo  fjeimtitfi,  jefct  nun  aßen  Neugierigen,  aßen  Raffern 
preiggegeben  . . . Umfonft  fuc^t  er  mid)  burdj  ben  ©ebanfeit 
gu  ftärfen,  bajj  ©ie  nod)  fübner  wären  afg  er.  Sld),  eg  ift 
nidjt  bie  Äiibnbeit,  bie  mich  erfcbrecft"  . . . ©d)Ieiermac^er 
nennt  bicfen  Söricf  fdjön,  unb  giebt  ®orot^ea  recht,  wenn  fie 
fidj  burcb  feine  „Siibnbeit  in  ber  Neligion"  liiert  woße  tröften 
taffen  . . . ®et)t  atjg  biefeu  Steuerungen  ^eroor,  baß  eg  jebenfaßg 
ein  gewagteg  Unternehmen  war,  bent  fid)  ©cbleget  bei  Slbfaffung 
ber  Sucinbe  unterzog,  fo  hören  Wir,  bafj  nadj  bem  Qrrfdjeinen 
beg  Nomang  aße  SBett,  auch  bie  nädjften  greuitbe  beg  93er- 
fafferg  entfett  waren.  §tn  bem  SBerljättnifj  ©dßegelg  gu 
Dorothea  batten  gar  3$iete  febon  Slnftofj  genommen,  in  Na^reben 
unb  ißagquiflen  batte  ficf)  ber  Unmutb  beg  ißubtifunig  bariiber 
bereitg  9uft  gemadjt:  bie  ®arftelluug  unb  ^reiggebung  begfetben 
oor  afler  SBelt  erregte  ftarreg  ©rftaunen.  ©in  ©cbo  biefer  ba- 
maligen  ©timmung  finbeit  wir  in  ©ittbeqg  Söortcn,  welcher 
fd)reibt:  ,,3d)  beabfiebtige  nidjt  gu  beweifen,  baß  ber  SHoman  . . 
fowobt  unfütlicb  atg  biebterifeb  formtog  unb  oerwerflicb  ift. 
SMefc  ©infiebt  bebarf  feiner  iöegrunbung  mehr.  3a,  fommt  man 
frifdj  uon  bem  93ucbc,  fo  erfdjeinen  auch  bie  b^rbften  Urteile 
matt  unb  beinahe  gutmütbig"  . . 

33on  Slufatig  an  trat  ©djteiermacber  für  ben  angegriffeneu 
f^rcunb  ein.  3n  einem  93ricfe  an  örinfmann  febreibt  er:  „§ier 
in  utiferem  SEbeite  oon  £eittfd)lanb  ift  bag  ©ejdjrei  gegen  bie 
Sucinbc  aßgemein,  ber  s}.?arteigeift  oerblenbet  bie  ßJtenfcben  big 
gur  SRaferei,  unb  bie  töcrtefcuug  ber  $eceng,  biefeg  böcbft  unbe- 
ftimmte  Verbrechen,  . . läjjt  auch  oernünftige  SJfenfchen  aßeg 
©cböne  unb  Vortrefflidje  in  biefeut  Suche  unb  feinen  eigen« 

(562) 


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27 


tfjümlidjeit,  gereift  groften  ©eift  überfein."  Slehnlicf)  fpridjt  er 
fid)  in  ber  ©rroiberung  auf  ba§  Schreiben  be$  |jofprebigcr3 
©ad  au«,  ber  an  feinen  „freunbfc^aftJicften  Serbinbungen  ÜÖiift» 
faQen"  gefunben  hatte.  ?lud)  ba  fagt  er,  baS  Sud)  enthalte 
neben  tiietem  SobenSreürbigen  nnb  ©djönen  manche«,  reaS  er 
liiert  billigen  fönne,  aber  oerberbte  ©runbfäfce  unb  ©itten  jeige 
eä  nicht  an.  ©aö  t)ier  prioatim  angebeutet  ift,  fiitben  reir  nun 
öffentlich  aller  ©eit  mitgetfteilt  in  ©chleiermacherS  vertrauten 
Sriefen  über  fiuciitbe.  ©cftlegel  forooljl  reie  Dorothea  rearen 
anfterorbenttieft  erfreut  über  biefe  ©d^rift  beö  ftreunbeS.  Sejeich* 
nenb  ift  ba$  llrtfteit  2)orotfteeuö;  fie  fdjreibt  an  beit  Serfaffer 
am  16.  3uni  1800:  „Sie  fefjen,  reie  aufmerffam  ich  bie  Sriefe 
ftubirt  ftabe.  ®a3  tnuft  ich  3^nen  aber  bodj  fageu,  baft  fie  mir 
reenigftenö  fo  fühn  reie  bie  fiucinbe  felbft  ju  fein  fefteinen,  unb 
baft  fie  ber  ©clt  ^offentlid;  mit  ihrer  ©riiublichfcit  tioDcnbS  ben 
ftopf  tierrüden  reerbeit."  $iltl)et)  faftt  fein  Urtheil  über  Schleier- 
madjerS  SertheibignngSfchrift  aufamnien  in  bie  ©orte,  berfelbe 
habe  barin  eine  äfthetifefte  3;he°rie  • beS  Stomancö  entreorfen,  bie 
man  mit  fehr  fdjönen  unb  geiftrcichen  Screeggriinben  Dergleichen 
fönne,  reie  fie  Semattb  nachträglidj  ^anblungcn  untcrfdjiebe, 
bie  nicht  mit  ihnen  ftimmen  reollen.  ®aö  trifft  ungefähr  ju- 
fammen  mit  ben  ©orten  ©djleiermadjerö  an  ©ad:  ,,©enn 
Scmanb  eine  Jhcor>e,  b*e  cr  ftd)  über  ben  Umfang  einer  poeti* 
fd)en  35arfieflung  gemadjt  hat,  in  einem  Seijpiel  ausbriiden  reill, 
fo  hat  baS  mit  feinem  (if^arafter  nichts  ju  fdjaffen."  — S)aft 
©djleiermacher  fpäter  auberö  gebaut  hat  über  bie  fincinbc  unb 
feine  Söriefe,  feigen  bie  an  .^enriette  §erj  gerichteten  ©orte:  „3<h 
habe  ©palbing  bie  fiucinbenbriefe  befannt,  (fie  rearen  auonhm 
erfchieneu)  ...  bei  biefer  ©elcgenf)eit  laS  idj  fie  reieber,  reie 
reurbe  mir  babei  ju  9Ruthe!" 

©eun  ©d)legel  einmal  an  ©cftleiermadjer  gcfdjrieben  hat, 
beffen  eigentlicher  SBeruf  fei  bie  2rreunbfd)aft,  fo  hat  fid)  biejeö 

(563) 


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28 


SBort  bei  ber  eben  erjagten  Seranlaffung  aHerbingS  bewahr« 
beitet;  aber  noch  ein  auberer  galt  bat  bie  9fticf)tigfeit  beSfelben 
bewiefen. 

Schlegel  ging  eS  in  3ena  nicht  gut.  Seine  äußere  fiage 
war  eine  er  befanb  ficf)  oft  in  ©elboerlegenbeit  unl> 

tonnte  trofc  alles  guten  SBiHenS,  trofc  afler  ©egabutig  bocf)  uic^t 
fo  rafd)  arbeiten  wie  fein  ©ruber,  um  ©elb  gu  oerbieneu.  ®aS 
ging  Scbleiermacher  fe^r  nabe,  toie  wir  au«  manchen  brieflichen 
Sleufjermtgen  an  bie  ihm  befreunbeten  ißerfonen  erfeben.  @r 
betrachtet  boch  gr.  Schlegel  immer  noch  als  feinen  greunb, 
wenngleich  bicfer  nicht  im  böchften  t§5rabe  fei.  S)iefe  S33orte 
tonnen  fich  in  bem  gegebenen  3ufammenbange  nur  auf  bie  Uw 
juoerläffigfeit  Schlegel«  belieben,  wie  fie  bei  ber  oou  ihm  mit 
Schleiermacher  gemeinfam  unternommenen  Ueberfeßung  beS 
©laton  ju  Jage  trat. 

„SSenn  ich  nur  brei  ®ücber,  bie  ©ibel  ungerechnet,  au« 
bem  2lltert£)um  retten  foßte,  fo  würben  eS  boch  teine  anberen 
fein  als  .fpomer,  ^erobot  rnib  ^laton,"  lefen  wir  in  einem 
©riefe  Schleiermachers  an  ^enriette  oon  Söillich  Sind)  in  ben 
©riefen  an  Henriette  §erj  ift  oft  oon  bem  genannten  griechischen 
Philosophen  bie  Siebe,  überall  tritt  unS  biefelbe  fflcgeiftcrung 
beS  Schreiber«  für  ihn  entgegen.  SDiit  greuben  ging  Schleier* 
machet  beSbalb  auf  gr.  Schlegels  Sorfdjlag  ein,  piatonS  Söerfe 
gemeinfam  mit  ihm  $u  überfein.  „Sich,  *3  ift  eine  göttliche 
3bee,"  fchreibt  er  an  bie  §erj,  „unb  ich  glaube  wohl,  baff  eS 
SSenige  fo  gut  tonnen  werben,  als  wir."  ©rintmann  gegenüber 
äußert  er  fich,  baS  ©orbaben  begeiftere  ihn,  benn  er  fei  oon  ber  Ser- 
ebrung  beS  piaton,  feit  er  ibn  tenne,  unaussprechlich  tief 
burcbbrungen. 

Schlegel  oerbanbelt  in  feinen  ©riefen  nun  oielfach  mit 
Schleiermacher  über  bie  Slnorbnung  beS  ©anjen,  über  bie  @c£jt- 
beit  einzelner  Dialoge,  über  bie  Slntüubigung  beS  SBerfeS  u.  a. 

(664) 


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29 


©cfjon  babei  ^atte  ber  2ej$tere  oft  einen  fd)weren  ©tanb;  be* 
•fonber«  »erbroß  iljn  aber  bie  gange  Sluffaffung  be«  greunbe« 
tion  ber  ißflic^t  be«  Ueberfefcer«;  er  nennt  e«  eine  wunberlidje 
3bee,  wenn  ©Riegel  »erlange,  er  fotte  ben  ißljäbru«  nur  gleich 
überfein;  e«  fei  gar  nidjt  in  feinem  ©til,  fäfjrt  er  fort,  bie« 
gu  tljun,  beoor  er  ba«  ©ßftem  feine«  ÜRitarbeiter«  feitne, 
unb  über  bie  Ueberfe$ung«tljeorie  aße«  abgemadjt  fei  . . . 
„3a,  toenn  id)  aufrichtig  fein  fofl,"  fjeifjt  eS  ein  anbere«  9DM, 
„fo  muff  i d)  gefteljen,  bafj  bu  burd)  bie  Slrt,  toie  bu  ben 
9ßIaton  unb  meinen  Slnttieil  baran  beljanbelft,  ba«  2Röglid)fte 
tljuft,  um  mir  bie  2uft  gu  ber  ganzen  ©adje  gu  oerleiben." 
9ll«bann  geht  ©dßeiermadjer  in  ber  fdjärfften  Sßeife  oor  gegen 
ben  bei  ©dßegel  immer  toieber  gu  Sage  tretenben  2Bcd)fel 
gwifdjen  eilfertigen  Slnftalten  unb  laugen  3ö9erun9en/  guoer* 
fichtlidjen  33er  fjeifjun  gen  unb  leeren  SSertröftungen,  gegen  beffen 
ooflftänbige  9dücfficht«lofigfeit  feiner  $l)ätigfeit  unb  feinen  2ln= 
fragen  gegenüber. 

Sngwifdjen  war  ©Riegel  mit  ®orot()ea  nad)  ißari«  ge* 
gogen.  $>afj  bort  itocf)  weniger  an  eine  geregelte  Arbeit  an 
bem  ißlaton  gu  benfen  war  al«  in  3ena,  liegt  auf  ber  $anb. 
fßüfirenb  ift  ber  Sßrief,  melden  $orotf)ea  am  21.  Uiooembcr 
1B02  oon  bem  neuen  SBofjnorte  an«  an  ©d)lciertnad)er  fcfjreibt; 
ba  flogt  bie  unglüdlidje  grau,  bajj  e«  fo  gar  uicf)t  redjt  geljen 
miß,  trofebetn  baß  fie  e«  fidj  recht  fauer  werben  laffen;  bann 
bittet  fie,  griebridj  nicht  gu  freiten  wegen  be«  ißlaton,  „ber 

arme  Söfenfd)  tljut,  wa«  er  fann,  unb  meljr  al«  er  foflte;  if)r 

Herren  fjabt  gut  rebeit,  bie  ifjr  nicht  für  ba«  tägliche  93rot  gu 
forgen  habt“  . . . 2Sir  fönueit  uerfidjert  fein,  bafe  ba«  aße« 

©djteiermadjer  fefjr  nafje  ging,  er  war  aber  aucfj  in  feiner  be* 

iteibeti«wertf)en  2age  gegenüber  bem  53ud)f)änbler  unb  Verleger 
grommann,  mit  welchem  beftimmte  Serabrebnngen  wegen  be« 
(Srfdjeinen«  ber  ißlatonüberfefcung  getroffen  waren. 

(565) 


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30 


3m  Üluguft  1802  ljatte  er  bei  biefem  angefragt,  ob  er, 
faß«  ©djlegel  i^n  im  ©ließe  taffe,  bcn  ißlaton  mit  ifjm  afleitt 
wagen  woüe.  darauf  fonnte  grommaitn  erwibern,  eS  feien  nun 
enblicß  »on  ©cßlegel  jwei  ffeiite  Umleitungen  aitgefommen,  unb 
ber  größte  $h*rt  be$  SJtanuffripteä  in  balbige  ?lu3ficßt  gefteßt. 
®od)  e§  erfcßien  and)  je^t  ni<ßt§ , mit  ©cbleiermacbcr 
aflein  woßte  ber  Senenfer  Sucßßänbler  nicßt£  ju  tßun  haben, 
unb  fo  erbot  ficß  auf  ©dßeiermadjerö  ®orf<ßlag  SHeimer  in 
öertin,  bie  Ueberfeßung  beS  ißlaton  oon  iljm  in  Verlag  ju 

nehmen. 

©o  war  benn  gerabe  baS  Unternehmen,  burcß  weldjeS 
©cßleicrmacber  gehofft  hatte/  bfl3  ®<»nb  jmifdjen  ihm  unb 

©d)!egel  fefler  $u  fnüpfen,  ben  f5reunb  auch  ju  ©tetigfeit  unb 
regelmäßigem  gleiße  ju  erziehen,  ber  Slnlaß  jur  Untfrembung 
geworben,  gier  ihn  felbft  aber  würbe  bie  ißlatonüberfeßung 
bie  öeranlaffung,  fid)  auSfcßließlidj  ber  wiffenfchaftlichen  2hätig* 
feit  ju  wibmen,  mtb  auf  biefem  ©ebiete  ^at  er  llnoergänglicbeS 
geleiftet.  §lm  weiteften  hot  er  fid)  ooit  ben  romautifchen  Streifen 
baburch  entfernt,  baß  et  fid)  bem  wirtlichen  fiebert  gaitj  unb 
gar  juwanbte;  feine  in  §aße,  bei  ber  ©runbung 

ber  Unioerfität  ®erlin,  bei  ber  Erhebung  ^eutfdjlanbS  gegen 

bie  grembherrfcßaft  jeigt  ihn  un§  als  et^ifdje  s^erföntid)feit 
im  heßfte«  £id)tc. 


(»66) 


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Ufrlflgeondalt  unb  llrndirrri  J.«Ä.  (oormato  #.  Uittiter)  in  Hamburg. 

Der  Hufym  tm  Sterben. 

@iti  ®eitrnc]  $ur  Segenbe  be«  lobe«. 

Bon 

i>eobor  35r$r. 

8°.  (Sfegnitt  gcfjeftet  5 ffllf.,  fein  gebiutben  6.50  BM. 

Tie  beiitirfic  Ss ttrra 1 11  c roirb  hierburdj  uni  ein  gang  eigentümliche«  fflert  bereidiert. 
tatfelbe  fchilbert  bie  lebten  Äugeitblide  1111b  Sorte  berühmter  l<rr(0!ini  au*  atlm  Stdiibru 
uub  ßtitfn  unb  giebt  rint  gebrangtc  Biographie  berlelben.  2iefc  'Silber  machen  einen  oft 
ergreifenbeit,  oft  erbebenben  Sinbrutf  unb  bieten  bem  ©ebilbeten  eine  rrnftf  unb 
weihen  olle  wie  hodjlnterelfante  Settüre.  2a«  fdjön  au«geftattete  Buch  wirb  in 
gebildeten  Streifen  geiuift  gute  Aufnahme  unb  and)  al*  © r f che  u f burf)  gute  Brrnjenbung  finben 

Das  junge  Deuifdliaub.  eilt  fteiner  Beitrag  jur  Sittcraturgcfdjirfjte 
unferer  Seit  ron  3feobor  2Se6f.  Btit  einem  Slnfjange  ieittjer  uod)  unocr- 
öffentlicher  Briefe  ööii  2f).  SJtunbt,  Jp.  Siaube  uub  ft.  Qhi&foro.  8", 
elegant  gcfjeftet  ®tf  3.—. 

2et  Bielcrfabtene  Autor  giebt  in  biefem  IsSerfe  reiihe«  Staterial  unb  eine  Bail«  tur 
Beurtbeilimg  berjenigen  2ichter  unb  ihre»  litterari fdten  Sitten«,  roeldie  man  gemeinhin 
unter  bem  fflefamtnamen  »2a«  junge  2eutfthlatn>"  bejetdinrt.  i'iit  faft  allen  biefeit 
®eifte*6eroen  eng  bcfreunbet  getuefrn.  ift  S Steht  bor  allen  51  n bereu  tu  einer  foldjen  2ar* 
fteUung  berufen,  unb  bat  er  r*  and)  verftanben,  bie  Schilbeiung  ber  Bcrjonen,  $eihimfttnbe 
unb  ber  gefchiditlichen  fflomente  in  ein  leben«Ootle«  unb  b ö <bft  intere  ffanteb  Silb 
Sufamraeiijufaffen.  Sa»  idjüu  aiugeftattete  Buch  wirb  allen  Sit  te  i at  utfrcunben  hoch- 
u>  i 1 1 f o m m en  fein. 

-fünfteljn  3ul)re  Stuttgarter  tjoftljcater-i’ettung.  ein  «&• 

fdjnitt  au«  meinem  Sieben.  Bon  3feobor  SSelif.  Btit  bem  B°rtr<it  bc« 
Berfaffer«  unb  einer  Jlbbilbung  beet  ©tuttgarter  ;po(tf)eater«.  @r.  8°. 
ölegaut  geheftet  Bif.  6. — , gcbuitbeu  Btt.  8.—. 

2er  Berfaffer.  ineldicr  15  (fahre  lang  ba«  Stuttgarter  $oftbealer  luerft  al»  artiftifdier 
Beiratb  unb  Sirettor,  bann  al«  Jute ubant  geleilet,  bietet  hier  eine  aii«iührlidie  SarfteUung 
ber  Sorgdnge  bort  inährenb  feinet  langen  2ienftjcii  — nicht  feinbfelig  unb  oerbiilert, 
fonbern  frei,  oifeu  unb  unparteiifih  iiad)  jeber  Sichtung  2abei  giebt  er  inttrefiante  liui> 
blide  m bie  geiftige  Senfamtcit  unferer  jüngeren  2ramaiifer,  in  ba»  Singen  unb  «dmpfen 
naih  einem  beutfdien  Aationaltbeater.  (fine  Seihe  ber  befannteften  nnb  berübmteflen 
2heatergr5fjen  be»  Schaufpirl«  unb  ber  Cper  paifiren  Seoue,  unb  mifiht  ber  Berfaffer 
mancherlei  tbftliche  Auefboten  über  Eefctere  eilt. 

künftig  3aljre  eines  ieutfdjeu  Jljeatcr-Direktors.  «rinne. 

rungen,  ©fi.yett  unb  Biografien  au«  ber  ®efd)id)te  bc«  Hamburger 
Stjal  ia.I!)cater«  uott  jUeiitlfofb  öfrtmann.  (Slegant  geheftet  Blf.3.— , 
elegant  gebuuben  SWf  4.50. 

|mt0e  ©olbfdjmiefr- 

Bidjfung  ooit  E.trl  <£rttfl  Hltcita 
(Srnp  B(esaci). 

— b»»  Biertc  Deränbertc  unb  Dernicfjrte  Auflage. 

3Hufirirt  Poti 

«Ä.  (ftirntg,  Uforfdfe*  ^rof.  f.  ftftjnicr. 

Brei«  in  Ijodjelcgantem  Driginal-lSinbanb  mit  ®olbf  nitt  Btf.  6.—. 

Bn«  bett  Urtlfeilen  ber  ^reffe : 

2a«  Such  ift  reijenb  au«geflattet  unb  empfiehlt  fich  al«  SBeihitachU’  unb  gcflgefdten!. 

(ftunft  (Shronit.  Siien.) 

2n»  ffiert  ISBt  tiefe  Befriebigung  im  fersen  äuritd.  (Sdjleftiche  Leitung.) 

Sin  pradjtuoll  au«geftattete«  Buch  mit  ber  ebettfo  reijenben  al«  gemülhpolleii  2ichtiing 
tine«  bou  ®ott  begnabelen  2id)ter«.  (trieftet  geitung.) 

Sefonber«  bie  eitigeflteulen  Sieber  finb  3 u her  ft  anmuthig.  (Berliner  tageblalt.) 


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Urrlopnuflalt  uni  Jlrnihrrri  %.<$.  (oarmals  J.  J.  jiid)tfr)  in  iaabnri. 


•t»ocf)intcrcffantc  9ieuigfctt: 


M Sdinccfrijnljrn  bunt)  (ßröitlanii. 

®on 

^riMfof  gtanfen» 

^»Urifirle  P(ktrftl|ing. 

2 SJcinbe.  ®r.  8°.  2Hit  übet  160  Driginal-9lbbilbungen,  einer  ©eneralfarte 
non  ©röntanb  unb  brei  Heineren  Sarten. 

IJSrcia  eleg.  geh-  9Jlf.  20.—,  eleg.  geb.  3Hf.  22.—.  Äucf)  in  20  Sieferungen 

& 1 2Hf.  gu  begießen. 

3)ie  erfte  giefernng  liegt  in  nHen  ffiKtihnnblungen  gur  91nfirf)t  auf. 


OUuftrirte  ^rofpefte  werben  unentgeltlich  abgegeben. 


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©tme'uuierftüHMidjti! 

über  bie 

fogpnonntr  uirrtr  Jlimntfioiu 


Vortrag, 

gehalten  bei  bem  StiftungSfcft  beg  mattem.  • naturro.  S$ereiu£ 
ber  ted)ni(c^en  ^ocfjfc^ule  in  Stuttgart  am  8.  Sejcntbcr  1888; 
mit  ©rroeiterungcn  unb  ßitaten 

oon 

Dr.  gart  granj, 

lojcnt  an  bcr  tcdiniirtifii  t'odijdnik  in  Suitlgart. 


9)tit  jcfjn  9tbbilbungen. 


— *■ 


+ 


Hamburg. 

s-üedag3anftalt  unb  2>rucferci  (uormalS  3.  g.  föidjter). 

1890. 


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$<nS  JHecfjt  ber  Ucberieftung  in  frcmbe  ©praßen  roirb  »orbtfjalten. 


Srtitt  brr  ®etlag4anftalt  unb  Intimi  “Metten ■ OirfeHidjaft 
(bormaiS  3.  jj.  SRitfitrr)  in  Hamburg. 


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®er  matfjematifdjen  SEBiffenfdjaft  ber  neueren  $eit  ift 
eigentljümtid)  ba£  Streben  uadj  Verallgemeinerung,  nad)  ßu* 
fammenfaffung  be«  ©iitjelnen  unter  allgemeinere  @efid)t«pun!te, 
ttnb  banebeu  fpcciett  unferem  3afjrf)unbert  ber  Ürieb  nad)  tieferer 
@infid)t  in  bie  (SJrunbtagcn  unfereö  SBiffen«.  bereinigt  tjaben 
biefe  efteufioen  unb  intenfiöeu  £enbcn3en  unter  auberetn  bie 
moberuen  Staumtfjeorien  (jeroorgebradjt.  Schott  im  fiebaeljnien 
unb  ad)t3et)nten  3af)rf)unbert  non  oereinjeltcn  ptjitofoptjen  unb 
Ideologen  gefaßt,  tjat  bie  3bee  einer  önueiterung  unfereS  3taum* 
begriff«  erft  im  erften  Xrittet  uttfere«  Satjrfjunbert«  angefangen, 
©emeiugut  ber  SDiatfjematifer  31t  tnerbeit,  unb  bilbet  jefct  für 
biefelben  ein  nufcbringenbe«  Priu3ip  ber  Verallgemeinerung. 
Stuf  attberctt  ©cbieten  tourbeu  bie  Vefuttate  ber  eyaften  matt)e- 
matifdjen  gorfdjung  benufct,  um  gemiffen  tängft  fultioirten 
Ptjantaftereien  nttb  Spefutationen  neuen  sJtat)rung«ftoff  31t  geben. 
@ben  bie  teueren  2tmneubungen  fittb  e«  nor  allem,  roctdje  bem 
Vegriff  ber  oierten  ©imcnfion  feine  Popularität  in  nidjt* 
matljematijdjen  Greifen,  aber  aud)  3afjtreid)e  SRijjöerftänbniffe 
eingetragen  ßabeit,  — Sftifjoerftänbniffe  ber  2trt,  baff  biefelben 
ba«  Slnfetjen  ber  SKatfiematif  in  ben  Stngen  mancher  £aien  3U 
fdjäbigen  im  ftanbe  roarett;  baß  man  in  ben  feiger  Sauren 
bas  SBort  f)üren  foitnte,  an  jetten  ptjantaftereien  trage  eine 
„erfenntnifjfranf  geworbene  SÖtatfjematif"  bie  Scfjutb. 

Sammlung.  31.  S-  V.  112.  113.  1*  (569) 


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4 


Snt  $inblicf  einerfeits  auf  bie  Popularität  ber  fogenannten 
üierten  2>imenfion,  anbererfeitS  auf  bie  mannigfachen  irrigen 
Sluffaffungett,  meldje  bie  SKuffteHung  biefe§  ©egriffS  jur  golge 
hatte,  möchte  id)  einen  raffen  ©ang  burcf)  bie  I^eorie  ber 
tjö^eren  fRäume  unb  ihre  mannigfachen  Slntoenbungen  unternehmen 
unb  am  ©djluffe  mit  fritifdjem  SBIicf  auf  ba§  burchroanberte  ©ebiet 
guriicfblicfen;  — mobei  ich  b'c  ÜRicfjtmathematifer  baran  erinnere, 
bafj  fein  „firjösig  ayeojfjfT^rjToc  über  ber  @ingang8tf)üre 

beS  ©aaleS  irgenb  Sinem  beit  ©intritt  mehren  moQte,  fonbern 
bie  ©erfidjerung  gebe,  bafj  bie  geometrifdjen  SdjulreminiScengen 
eS  Sebent  ermöglichen  rnerben,  mir  auf  jenem  ©ange  ju  folgen. 

Sch  geftatte  mir,  brei  Strömungen  ju  unterfcheiben,  meldje 
auf  bie  ßonjeption  mehrbimenfionaler  fRäume  h”tführtcn;  ^'e 
erfte  liegt  in  ben  jahrfjunbertefangen  öergeblidjen  ©erfuchen  ber 
9Ratf)ematifer,  ba§  Par  allelettajiom  ber  ©uflibifdjen  ®eo- 
metrie  ju  bemeifen,  unb  in  ben  gorfdjungeit,  meldje  fich  an  bie 
burch  ©aujj  erreichte  Söfung  beS  fRäthfelS  anfchloffcn;  bie  jmeite 
in  bem  «ngfücEIic^en  ©eftreben  einiger  SRaturforfdjer  unb  Philo- 
fophen,  gemiffe  metapbhfifd)e,  fpeciell  foSmologifcfje  fragen 
•ju  löfen  unb  0118  gemiffett  SBiberfprüchett  311  entrinnen;  e$  finb 
bieS  bie  gragen  nad)  ber  @nblicf)feit  ober  Unenblichfeit  bei 
UntoerfuntS,  3af)l  ber  gtjftente,  SBeltanfang  unb  SBeltenbe, 
Äonftitution  ber  SlRaterie,  ©ejidjung  jmifdjen  ben  ©rfcheinungen 
in  ber  finnlich  mahrtiehmbaren  SBelt  ju  ben  unbefannten  Gingen 
an  fich;  enblidj  bie  britte  in  ben  ©erfudjen  gu  einer  ©rflarung 
ber  (behaupteten)  fpiritiftifdjen  SBahrnehmungen,  ©eifter- 
matcrialifationen,  $ellfehen  ber  Somnambulen  unb  §ppnotifirten, 
SBirfung  in  bie  gerne  tc. 

STiefe  ©intheilung  in  STranfccnbentalgeometrie,  $ranS- 
fcenbentalphhfif  utib  £raufcenbentalpfh<hologie  foH 
übrigens  nur  baju  bienen,  einige  Drbnuttg  in  bie  ©etradjtung 
unb  nadjherige  ©eurtheilung  beS  ©anjen  ju  bringen. 

(570) 


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ö 


1.  9)ian  famt  fagen,  jebe  Söiffeitfcfjaft  ift  oorjugSweife 
burcf)  bic  peinigenbett  Siätljfel  unb  ©djtoierigfeiten  groß  ge- 
worben, bie  fid)  iljren  Vertretern  entgegenfteHten.  (Solche 
SRät^fel  bilbeten  unter  auberen  für  bie  ©eometrie  bie  Stjiome. 
93efantttlid)  liefert  bie  ©uflibifdje  ©eometrie  baS  glänjenbfte 
Veifpiel  für  bie  bebuftioe  2Ketfjobe,  wottadj  ein  ©a&  um  beit 
anberen  burdj  Äombinatiou  aus  ben  oorljergeljenben  abgeleitet, 
bcbitjirt  wirb.  Urfprünglidj  blofje  Regeln  unb  Vorjdjriften  für 
bie  ißrajiS,  bie  burdj  ^robiren  ober  burd)  3ufflß  gefunben 
waren  (ogl.  ®iobor,  |jero,  ©trabo)  unb  in  Slcgppten  bei  ber  §er* 
ftefluttg  ber  |>odjbautcn,  SBaffcrbauten  unb 
ben  immer  roieberfeljrenben  SanbeSoernteffungen 
ifjre  Verwenbung  fanben,  wurbett  bie  geo- 
metrifdjen  ©äfce  erft  oon  ben  ©rieten  wiffett- 
fdjaftlidj  $u  jenem  ©pftem  oerarbeitet,  weldjeS 
wegen  ber  ©djärfe  ber  Sogif  unb  ber  Voll- 
enbuttg  ber  gorm  immer  wieber  ton  neuem 
unfere  oerbiente  Vewunberung  erregt,  ©in 
©lieb  ber  $ette  reiljt  ficf)  an  ba£  attbere ; 
ben  Slnfang  aber  bilbet  eine  ©ruppe  oon  meljr 
ober  weniger  felbftoerftanblidj  flittgenbeti 
©äjjen,  bie  uttbewiefen  blieben.  Sie  eigentlid)  geometrifdjeit 
Sljiotne,  bie  ©ullib  ber  ©eometrie  ooranfteöt  — mögen  fie 
nun  mit  «/r^juara  ober  xoival  Zwoicu1  bejeidjnet  fein  — 
ftnb  bie  folgettben: 

8.  SßaS  einattber  becft,  ift  einattber  gleid). 

11.  3mei  gerabe  Sinieu  a unb  b,  bie  oon  einer  britten 
c fo  gefdjnitteit  werben,  bafj  bie  beibett  inneren  an 
einerlei  ©eite  liegenben  SBittfel  a ß jufammett  Meiner 
finb  als  jwei  Sterte,  treffen,  gettügettb  oerlängert,  an 
berfclben  ©eite  jufammen  (gig.  1). 

12.  .gwei  ©erabe  fdjliefjen  leinen  (enblidjen)  SRautn  ein. 

(571) 


S>8'  1- 


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6 


löefonberg  bag  elfte,  bag  fogenaunte  Parallelen-Sljriom, 
befijjt  burdjaug  nid)t  benjenigen  ©rab  non  ©elbftoerftänblidjfeit, 
bah  eg  nidjt  gum  SBeiueife  reigen  foflte.  2tber  merlmürbig,  mehr 
alg  groeitaufenb  3a^re  miberftaub  cg  alten  Sllnftrengungen  ber 
9J?athematifer,  bagfelbe  gu  bemeifeit;  b’SUembert,  ber  fid)  eben- 
faflg  baran  »erfaßte,  nennt  eg  „l’ecueil  et  le  scandale  des 
el^ments  de  geometrie;“  in  ber  „Snct)flopäbie  ber  Sßiffen* 
fünften  unb  ßiinfte"  gählt  ©of)n!e  nicht  tueniger  alg  92  ©chein* 
bemeife  für  biefen  ©ah  auf.  ©efonberg  lange  quälte  fich 
Segenbre  bainit;  er  geigte,  bah  bicfe  2$oraugfehung  gleic£)tr>ert^ig 
ift  mit  einer  ber  brei  folgenben: 

a.  ®urch  einen  punft  Q außerhalb  einer  ©eraben  a (Jig.  1) 
lägt  fich  nur  eine  einzige  parallele  gu  a jicljen,  b.  £)•  nur  eine 
eingigc  ©crabe,  bie,  fo  roeit  man  fie  auch  verlängert,  a nicht  fdjneibet 
— ober  mie  man  jefjt,  um  mehrere  ©ä^e  gufamntenfaffen  gu 
tonnen,  lieber  fagt,  nur  eine  ©crabe  b,  rneldje  bie  ©erabe  a 
in  bereu  „unenblidj  fernem  fünfte"  fdjneibet  — ; benit  gäbe 
eg  gmei  noneinaitber  nerfdjiebene  parallelen  b unb  göge  man  bie 
©entrechte  c non  Q auf  a,  fo  mären  bie  SBinfel  « unb  ß gufammen 
entmeber  größer  ober  Heiner  alg  gmei  fRed)te,  alfo  müßten  fich  nach 
©ah  1 1 bie  ©eraben  a unb  b entmeber  auf  ber  einen  ober  ber 
attberen  ©eite  non  c in  einer  enblidjeu  Sittfernung  begegnen; 
gmeiteug  mit  ber  SBoraugfehung: 

b.  SBenu  gmei  parallelen  non  einer  britten  ©eraben  gefchnitten 
merben,  fo  finb  bie  inneren  SEßcdjfelminfel  einanber  gleich,  ober 

c.  ®ie  Söiufelfumme  in  einem  ®reied  beträgt  gmei  Siechte,  — 
mie  beibemal  ebenfo  leidet  311  fe^cn  ift. 

Sine  biefer  SBoraugfchuitgen  muhte  unberoiefen 
bleiben,  ©g  hoff  oud)  nidjtg,  bie  parallele  anberg  gu  be- 
finireit,  etma  alg  bie  Sitiie,  bereu  Puntte  non  bet  ©eraben  a 
überall  ben  gleichen  2lbftanb  hoben;  benn  bann  bemeife  man, 
bah  biefe  £inie  eine  ©erabe  ift. 

(672) 


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7 

„2BaS  ift  eS  nun  mit  biefen  Äjtomen,  bie  baS  fjunbament 
ber  ©eometrie  bilben,  was  finb  unb  waS  foücn  biefc  ©äfce, 
unbeweisbar  unb  bocf)  unzweifelhaft  richtig?  ©inb  fie  ein 
©rbtljeil  auS  ber  göttlichen  Quelle  nnferer  Sßernunft,  wie  bie 
ibealiftifdjen  S|3^iIofopf)en  meinen,  ober  ift  ber  ©c^orffinn  ber 
bisher  aufgetretenen  ©enerationen  oon  2tfatf)ematiferu  nur  nod) 
nicht  auSreichenb  getoefeit,  ben  S8eweiS  ju  finbett?" 

©auft  fcheint  als  (Srfter,  unb  zwar  fdjon  in  fe^r  früher 
3eit,  1792,  beit  wahren  ©runb  erfannt  ju  haben,  wie  fich  auS 
einigen  Slnbeutungen  unb  aus  feinen  h<nterlaffenen  ©djriften 
ergab;  aber  bie  SSJa^rfjeit  blieb  nod;  längere  3eit  »erborgen, 
ba  er  felbft  nichts  barüber  t>eröffentlicf)te.  @r  fam  auf  bie 
©tttbedung  burch  feine  Unterfud)ungen  über  bie  Krümmung  ber 
Cberftädjen.  ®ie  einfache  Söfuug  beS  StäthfelS  ift  bie, 
ba&  jene  ©äjje  nicht  bewiefen  werben  föniten,  weit  fie  überhaupt 
nicht  unumgänglich  nothwenbig  finb;  bah  alfo  bie  Stfiome  feine 
SlnfdjauungS*,  noch  weniger  Senfnothwenbigfeiteu  oorfteHen; 
bah  auch  ohne  fte  WiberfprudjSfreie  ©eometrien  fid)  entwicfetn 
taffen.  SefctereS  gefchah  bnrch  öolpai  unb  fiobatfchemsfi;, 
©chüter  oon  ©auh,  etwa  im  3ahr  1832.  SS3ie  ein  foldjer 
Aufbau  einer  ©eometric  mit  SBerjicht  auf  eines  ober  mehrere 
jener  Sljiome  möglich  ift,  barf  id;  furj  geigelt,  ba  bieS  bie 
©runblage  für  baS  SSerftänbnih  beS  golgenben  bilbet. 

SSIeiben  mir  junädjft  bei  ber  Planimetrie,  ber  ©eometrie 
auf  ber  fläche,  alfo  bei  ben  SRaumanfchauungen,  welche  für 
jweibimenfionat  oeranlagte  SBefeit,  bie  nur  oon  2änge  unb 
Söreite,  nicht  aber  oon  ber  |)öhe  etwas  mühten,  bie  alleinigen 
wären,  — um  erft  nachher  jur  ©tereomctrie  überzugehen.  \ 
SBefanntlicfj  fpiclen  in  ber  (Suflibifdjen  ©eometrie  bie  $?on> 
gruengfä^e  eine  wichtige  jRolle;  man  pflegt  bie  9iid)tigfeit  aller 
geometrifchen  Sonftruftionen  burdj  ben  9iad)weiS  ber  Äon gruen  j 
an  ©trecfen,  SBinfeln,  gtädjenftüden  je.  31t  geigen.  ®ie  Äongntenj 

(573) 


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8 


jroeier  geometrifdjer  ©ebilbe  aber,  3.  $.  bie  jtoeier  Sreiede  A 
unb  B (gig.  2),  tuirb  baburdj  nacßgewiefen,  baß  man  fid)  bal 
eine  A in  ber  3e^enflä<^e  f ortberuegt  benft,  bis  eS  mit  bem 
aitbcren  B oollftänbig  jur  ®edung  gebraut  ift.  $>iefeS  3ur* 
35edungbringen  jroeier  fongruenter  Sreiede  burdj  93erfdjiebuitg 
in  ber  3ei£henebene  ift  in  aßen  fällen  ausführbar,  mit  ber 
Ausnahme,  mettn  bie  SDreiede  fpmmetrifdj  liegen  wie  At  unb  B, 
wotwn  fpäter. 

Sine  ftiUfdjweigettbe  93 orauSfeßung  bei  biefem  Verfahren 
ift,  baff  währenb  ber  93erfd)iebung  beS  gflfichenftüdS  innerhalb 
ber  3eidjenpd)e  baSfelbe  feine  ©eftalt  unb  feine  2)imen« 

fionen  nicht 
ä n b e r e.  $ iefe 

93orauSfe{jung  ift 
aßerbingS  erfüllt, 
3.  93.  wenn  bie 
3eid)enfläd)e  eine 
Sbene  ift;  in  biefer 
fann  ein  ®reied  in 
©ebanfen  beliebig 
üerfdjoben  werben,  ohne  baß  bie  9GBinfel,  ©eiten  unb  ber  gläcben* 
inhalt  eine  9lenberung  erteiben.  ®ieS  gilt  auch  nod),  toenn  wi* 
unS  bie  3e^enebene  3U  einer  Splinberflädje  ober  Stegeifläche 
aufgeroUt  benfen;  auf  ber  fo  entftanbenen  Segelfläche  3.  93.  läßt 
ftd)  baS  $reied  3toar  mit  93iegung,  aber  ohne  Dehnung  ober 
3ufammcn3iehung,  atfo  ohne  9lenberuitg  001t  ©eftalt  unb  Sn^aft 
beliebig  fortbewegen.  9lttberS  bagegen  bei  einer  Sifläcße;  auf 
einem  @i  würbe  ein  barauf  gepaßtes  glädjenftiid  galtung  er« 
fahren  müffen,  wenn  man  eS  nach  ber  ©piße  beS  SiS  hin  fo 
bewegen  wollte,  baß  eS  ftetS  gan3  auf  bet  glädfe  aufliegt. 

2ttan  fieht  alfo,  baß  bie  ÜKöglid}feit,  burch  Slufeinanberlegen 
3Weier  glädjenftüde  üjre  Songrueit3  3U  beweifen,  burchanS  feine 

(574) 


3ig.  2. 


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9 


uttbefdjränfte  ift,  baß  in  jenem  Verfahren  ein  wirtliches  ißoftulat 
fich  oerbirgt.  Sben  ^ieroon  ^anöelt  nun  baS  achte  2ljiom; 
biefeS  ftellt  folglich  feine  iRotljroenbigfeit  bar  unb  ift  alfo  un< 
beweisbar;  eS  fagt  unS,  baß  nur  auf  beftimmten  glätten 
(j.  33.  bet  @bene,  ßhlittber*  ober  Segelfläche)  bie  $or» 
berung  8 erfüllt  loirb;  wollten  toir  un«  bie  Aufgabe 
ftelleu,  eine  ©eometrie  auf  ber  @ifläcf)e  auSjubilben,  fo  müßte 
bie  gorberung  8 *tl  SSegfaö  fommcn. 

Solcher  flächen  nun,  welche  biefe  Sigenßhaft  hoben,  baß 
gläcfjenftüde  in  ihnen  ohne  $eljnung  ober  3ufamnten$iehung 
oerfchoben  werben  föttneit,  giebt 
eS  unzählig  oiele;  eS  fiitb  bie  in 
fich  fongruenten,  in  fid)  gleichartig 
gefrümmten  glächeit,  bie  foge» 
nannten  „flächen  oou  fon* 
ftantemSRaß  ber  Krümmung" 

(babei  unter  KrümmungSmaß  einer 
fläche  in  einem  ißunft  oerftanbeit 
baS  ißrobuft  ber  Krümmungen  nach 
gewiffen  jwci  ju  einanber  feuf* 
rechten  ^Richtungen).  ÜJtan  unter* 
fcheibet  breierlei  Wirten  folchcr 
gläcßen.  (SrftenS  bie  flächen  mit  jogenanntem  fonftanten 
pofitioen  SrümmuttgSmaß;  bieS  finb  folche  allenthalben  gleich* 
mäßig  gcfrümmte  flächen,  bie  überall  nach  berfelben  Seite  hof)l 
finb,  Wie  j.  93.  bie  Kugelflächen;  jweitenS  bie  flächen  mit  foit- 
ftantem  negatioen  KrümmungSmaß,  bie  nach  berfelben  Seite 
hin  tßeilS  fonfao,  tljeilS  fonoef  gebogen  finb,  nach  2trt  oon 
Sattelflächen;  cnblidj  bie  glädjen  mit  fonftantem  SrümmungS* 
maß  ÜRutl,  mie  5.  93.  @bene,  Segel,  ßplittber. 

@S  läßt  fich  beroeifen,  baß  innerhalb  irgenb  einer  ber  brei 
©attungen  jebe  fjfäc^e  auf  eine  beliebige  ber  gleichen  ©attung 

(WV> 


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10 


ohne  Segnung  ober  .gufammenjiehung  aufgebogen  werben  fann; 
fo  [affen  fid)  alle  benfbareit  ftcgelfladjen,  (fpliitberflächen,  ab> 
wirfelbaren  ©chraubetifläd)en  u.  f.  tu.,  wenn  man  fic  ficf)  nötigen- 
falls  ttaef)  einer  ©eraben  aufgefdjnitten  benft,  fämtlid)  in  eine 
Gbenc  nmbiegen. 

2Bir  ^aben  ba^er  nur  nötljig,  brei  fpanpttppen  $u  be> 
betradjten:  bie  Stugelflädje  (gig.  3)  als  SppuS  ber  glätten 
fonftanteit  pofitioen  ÄriimmungSmafeeS;  bie  Jraftrijflacbc 
(gigur  5),  geftaltet  etwa  in  gorm  eines  umgefeljrten  gefdjtueiften 
GhanipagtierfelchS  mit  unenblid)  ocrlängerter  ©pijje,  als  befonberS 

einfadje  unter  bett  glädjett  mit  fon- 
ftantem  n?gatioen  StrümmungSmüfi; 
enblicf)bie  Sbene  als  jRepräfentantin 
ber  glcidjett  mit  fonftantem  Jtlrüm* 
mungSmafi  9lutL 

giir  alle  biefe  brei  gladjen  trifft 
bie  SSorauSfefcnng  8 ju,  baß  fie  in 
fid)  oerfd)iebbar  finb;  ober  anberS 
auSgebriidt:  wenn  man  fid)  oerftanb- 
begabte  jweibimcnfionale  SBefen 
benft,  tucldje  eine  fold»e  gläd)t 
bewohnen  unb  weldje  nicht  oon  ben  ©ebilbett  außerhalb 
ihres  fläd)enf)aften  fRaunteS,  fonbern  nur  oon  benen  innerhalb 
ihrer  glädje  SBafyrncf) mutigen  hoben  fönnen,  uott  lederen  aber 
in  äl)n[id)er  SBeifc,  wie  wir  SDienfdjen  oon  benen  unfereS  fRaumcS, 
fo  müffen  biefe  SBefen  ihren  jweibimenfionalen  fHautn  als  einen 
gleichartig  gefrümmten  erfennen,  wenigftens  falls  ihre  eigene 
[Bewegung  innerhalb  ber  glache  eine  ungef)inberte  ift. 

Sie  geraben  Stnien  auf  einer  folcfjcn  glädje  werben  für 
jene  SBefen  bie  fürjeften  SSerbittbuttgSlinien  jtoifdjen  je  $mei 
fünften  ber  glache  barfteöen,  alfo  bie  Sinien,  weld)e  oon  gäben 
gebilbet  werben,  bie  ohne  [Reibung  auf  ber  gläche  gefpannt 

(ÖT6) 


a 

b 

p 

< fir 

Q 

c 

% 

S'8-  ^ 


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11 


werben,  ober  bie  fogeuantiten  geobätifcfjcn  Siitieit;  biefe  finb 
tbentifrf;  mit  benjenigen,  melrfjc  ein  mit  feiner  {Bewegung  an  bie 
glätte  gebunbener  ÜRaffenpunft  auf  ©runb  einer  gegebenen 
Slnfangsgefdjwinbigfeit  befdjreibt,  faßS  feine  dufferen  Kräfte  auf 
iljn  wirfen.  SBir  werben  biefe  Sinieit  fiinftig  einfad)  mit 
„Sürjefte"  ober  „©erabefte"  be$eid)nen  (offne  übrigens  ©erabe 
burdj  Stürmte  befiitiren  ju  woflen). 

©uctjen  wir  uns  nun  ber  {Rcilje  ttad)  oon  ber  ©eomctrie 
auf  ber  fiugelffädfe  unb  ber  Sraftrijfläcfye  einen  Söegriff  ju 
machen,  um  fie  berjenigcn  auf 
ber  ©bene  gegeniiberjufteßen 
unb  bamit  ben  tieferen  Sinn 
ju  erfahren,  ber  ben  Voraus* 
fe(jungen  11  unb  12  unter" 
liegt. 

3unöcf)ft  bie  ©eometrie 
auf  ber  & u g e 1 f I ft  d)  e 
(gigur  3);  alfo  bie  {Raunt- 
anfe^auungett,  weldje  in« 
teßigentc  gweibiitteufionale 
SBefen  auSbilben  würben, 
bie  mit  iljren  {Bewegungen 
auf  biefe  glädje  befdjräuft 
Wären.  Sie  fürjeften  Sinien  fittb  ©rofffreiSbögen.  {ßaraßele 
©erabefte  giebt  eS  überhaupt  niefjt;  bejw.  bie  fünfte,  welche 
non  einer  ©erabefteit  iiberafl  bie  gleite  fiirjefte  (Sntfernung 
Ijaben,  liegen  auf  einem  ftlcinfreiS  (ißaraßelfreiS);  ferner  trifft 
nicf)t  aßein  baS  Sljiom  8 ju,  fottbern  auef)  bie  {BorauS- 
fefcung  11;  beim  wenn  jwei  ©erabefte  a unb  b ooit  einer 
britteu  c gefdfjnitten  werben,  fo  begegnen  fie  fief)  ftets  in  enb- 
liebem  Slbftanb  (in  R unb  R1),  mag  SSinfel  a mit  ß ju- 
fammett  ntefjr  ober  weniger  als  jwei  {Rechte  ober  attdj  jwei 

(577) 


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12 


SRecßte  felbft  betrogen.  SBenn  alfo  gwei  jener  S33efeit  öott  gwei 
fünften  P unb  Q einer  ©erabeften  c fenfredjt  gu  festerer  ab» 
geßen  unb  auf  ber  (beliebig  groß  gu  benfenben)  ßugelfläcße  mit 
gleichen  ©efißwinbigfeiten  auf  ©erabeften  a unb  b wanbern,  fo 
werben  fie  anfangs  nießt  hoffen,  fid)  jemals  wieber  gu  begegnen,  — 
wie  eS  auf  ber  ©bene  (gigur  4)  in  ber  £ßat  nießt  ber  gatl 
wäre  — , unb  bod)  träfen  fie  fieß  in  gwei  fünften,  in  R unb  R’. 

2)aburcß,  baß  fie  wieber  gu  beit  SüluSgaugSpunften  P unb  Q 
gurüdgelangen,  wäre  für  fie  ber  SRacßweiS  geliefert,  baß  ißr 
fläeßenartiger  9iaunt  nießt  ber  unettblicße  ift,  für  ben  fie  ißn 
oieöeicßt  anfangs  gelten,  fonbern  baß  er  enbließ,  begrengt  ift,  — 
äßnlicß  wie  itadj  ber  erften  ©rbumfegelung  für  bie  SBerooßner 
ber  ©rbe  bewiefen  war,  baß  biefe  nießt  bie  unenbltcß  große 
©treibe  ber  antifett  SSeltanfcßauung  tft.  UebrigenS  gilt  biefe 
SBemerfung2  natürlich  nur  bann,  wenn  jene  SSefen  innerßatb 
ißreS  gweibimenfioitalen  SRaumeS  ungeßinberte  ©igenbewegung 
befäßen.  SJBären  fie  an  bie  SBeweguttg  anbercr  gweibimenfionaler 
Körper  (Planeten)  gebunben,  fo  gäbe  eS  für  fie  feinen  abfolut 
fijen  Sßunft  in  ißrem  SRaum,  oou  bem  fie  behaupten  fönnten, 
baß  fie  gu  ißm  als  SluSgattgSpunft  wieber  gnrücffeßrten;  ißr 
Üiaum  müßte  ißnen  baßer  unbegrengt  erjeßeinen,  wäßrenb  wir 
wiffen,  baß  er  enblicß  ift. 

SDie  ©umme  ber  SBinfel  in  einem  SJDreieef  auf  ber  Äugelpcße 
beträgt  meßr  als  gwei  SRccßte,  baS  55reicef  P Q R g.  SB.  beftßt 
in  P unb  Q gwei  reeßte  SBinfel,  wogu  noeß  ber  SBinfel  bei  R 
fommt.  ferner  feßließen  gwei  ©erabefte  ftetS  eine  enbließe  glüeße 
ein;  eS  gilt  alfo  baS  Sljiorn  8 unb  11,  jeboeß  nießt  baS  Sljiom  12. 

Sünbererfeits  läßt  fteß  ßinficßtlicß  ber  ©eometrie  auf  ber 
SEraftrijrfläcße  geigen,  baß  gwei  ßürgefte  feinen  enblicßen 
gläeßenraum  einfeßließen  (Sljiom  12),  unb  baß  ein  S)reiecf  oßtte 
Slenberung  ber  SDimenfionen  [m  ber  gtäcße  oerfeßoben  werben 
f .mn  (Sljiom  8).  dagegen  fittb  bureß  einen  Sßunft  Q anßerßalb 

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13 

einer  &iir$eften  a nicf|t  nur  eine,  fonbern  unjäljlig  öiele  biefelbe 
niemals  fdjneibenbe  Sürjefte  möglid);  biefe  alle  finb  begrenzt 
ton  jwei  1)  unb  b’,  rodele  bie  ©erobere  a in  bereit  jwei 
toneinonber  »erjcfjicbenen  unenblicf)  fernen  fünften  treffen; 
a(fo  aud),  wenn  « unb  ß jufammen  Heiner  als  jwei  SRedjte 
finb,  brauchen  fief)  a unb  b nidjt  notf|Wenbig  in  einem  ettblid) 
entfernten  ißunft  ju  begegnen. 

|>ier  fjaben  wir  alfo  bie  ©eometrie  »or  uns,  welche  auf 
baS  ^araQelenafiom  11  öerjid)tet,  bie  fogenannte  „niefjb 
(hiflibifdje"  ©eometrie:  bie  SBinfelfumme  im  £reiecf  ift  für 
biefelbe  Heiner  als  jwei  9tecf)te. 

Settrami  l)at  bie  ©eometrie  auf 
ber  £raftri£fläd)e  baburcf)  auf  bie  Sbene 
abgebilbet,  bajj  er  (fjig.  6)  ben  unenb- 
lid)  fernen  fünften  ber  glädje  bie  fünfte 
einer  ÄreiSlinie  juorbnet;  eine  ©erabe  a 
befi^t  bann  jwei  uncttblid)  ferne  fünfte 
U unb  U1;  burd)  einen  ißunft  Q au§er* 

Ijalb  laffen  ftd)  gwei  bie  erfte  in  beren 
mtenblidj  fernen  fünften  fefmeibenbe  ©eraben  b unb  b1  legen, 
bajwifdjen  liegen  unjäfjlig  Diele  nidjt  ©djneibenbe.  (3ntereffant 
ift,  bafj  bie  imaginäre  ©infjeit  i,  bie  Ouabratrourgel  aus  — 1, 
fjier  eine  Siolle  fpielt.  ®ie  nid)t.@uHibifd)e  ©eometrie  läfjt  fid) 
als  eine  foldje  auf  einer  imaginären  föugelflädje  auffaffen;  man 
brauet  nur  bie  ©eiten  a,  b,  c eines  SugelbreiedS  burd)  ai,  bi, 
ci  ju  erfefcen;  bie  auf  biefe  Söeife  fid)  ergebenbe  ©eometrie 
befiel  bie  ©igenfdjaften  ber  nidjt-Guflibifdjen,  mit  ber  ÜluSnaljme, 
baß  ifjr  feine  ?lnfdjaulid)feit  gufommt;  bagegen  laffen  fxef) 
auf  einer  foldjen  imaginären  ftugelflädje  Ereicde  uidjt  nur 
olfne  SJefjnung  ober  .gufammengieljung,  fonbern  aud)  offne 
Biegung  Derfdjiebett,  wie  auf  ber  reellen  Alugel.  SluS  ben 

erwähnten  ©rünben  fprid)t  man  ftatt  non  nidjt-Suflibifdjer  ©eo< 

(679) 


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14 


metrie  audß  oft  uon  „pfeubofpfjärifcßer"  ober  „imaginärer" 
©eometrie.) 

Äurj,  ftetlt  man  nurbalacßte  Slyiom  atl  Soraulfeßung 
auf,  fo  Reifet  bieS:  mir  treiben  ©eometrie  auf  irgenb  einer  glätte 
uon  gteidjmäßiger  Krümmung,  alfo  um  nur  bie  |>aupttt)peu  ju 
nennen,  entmeber  auf  ber  Äuget  ober  auf  ber  ißfeubofpßäre 
ober  auf  ber  ©bene;  läßt  man  bal  elfte  Stjiom  ßinjutreten, 
fo  ßeißt  biel:  mir  treiben  ©eometrie  auf  ber  Äuget  ober  ber 
©bene;  enbticß  mit  .fjunjunaßme  nodj  bei  jmölften  Stjioml 
mirb  audj  bie  Äugetgeometrie  aulgefdjtoffen,  unb  el  ßcißt:  mir 
treiben  ©eometrie  auf  einer  gtädje  oom  fonj'tanten  Äriimmungl» 
maß  9ZuH,  etma  fpecieH  auf  ber  ©bene. 

2>ie  ©uffibifcße  ©eometrie  fteßt  atfo  in  einer  gemiffen  SBeife 
in  ber  SDZitte  jmifdjen  ber  fpßärifcßen  unb  ber  pfeubofpßärifcßen 
©eometrie;  in  ber  erfteren  ift  bie  SSinfelfumme  einel  $reiecfl 
größer,  in  festerer  fteiner  all  jmei  9lecfjte,  in  ber  ©uftibifdjen 
©eometrie  gerabe  gteicf)  jmei  Siebten.  2>ie  ©eometrie  Suflibl 
fann  alfo  all  ein  ©ren^fatl  fomoßt  ber  einen  all  ber  anbcrn 
jener  ©eometrieit  aufgefaßt  merben;  mie  ber  Äreil  all  @renj< 
faü  ber  einbefdßriebeiten  ober  ber  umbefdjriebenen  regulären 
ißotpgoite,  ober  mie  bie  ißarabet  atl  ©renjfatt  oon  Gttipfe  ober 
^pperbet. 

®ie  große  SSicßtigfeit  biefer  Unterfliegungen  liegt  barin, 
baß  bamit  bal  alteingemurjette  SBorurtßeit  abge« 
feßüttett  mürbe,  all  fei  bie  ©uftibifcfje  ©eometrie  bie 
einjig  benfbare,  ni cf; t üielntefjr  nur  ein  fpecieller 
galt  aul  einer  unenblidjeit  3Q^  0011  ©eometrien, 
bie  ebenfo  miberfpru eßlfrei  aitfgebaut  merben 
fönnett. 

Stnatog  fann  baran  gebadjt  merben,  eine  «Stereometrie 
unter  bem  ©eficfjtlpunft  auljubitben,  baß  ber  breibimenfionate 
©rfaßrunglraum  unferel  ©eficßtl«  unb  STaftfinnl  all  ein  fpecieller 

(580) 


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15 


wirtlicher  Jall  aug  einer  unenblidjen  Slnja^l  von  benfbaren 
Jollen  einer  mehrfachen  quantitativen  3)?annigfaltigfeit  betrachtet 
tüirb.  — 

SBir  finb  in  feiner  SBcife  im  ftanbe,  einen  [Raum  von 
mehr  £}imenfionen  ober  von  anbereu  ©igenfc^aften  ung  vorsu* 
[teilen,  alg  bie  fRaumform  befipt,  in  welcher  fid)  für  ung  bie 
©egenftänbe  orbneit,  ober  — »oie  fßrofeffor  Äummer  in  feiner 
[Borlefung  fid)  augbrüdte  — alg  „ber  [Raum,  welchen  unfer 
lieber  Herrgott  für  ung  erfchaffen  hat"-  SBo^l  aber  vermögen 
wir  eine  anbere  berartige  SRannigfaltigfeit  ju  befiniren,  511 
benfen.  Unmöglich  ift  ja  für  ben  SDfathematifer  nur,  wag 
fid)  felbft  wieberfprid)t,  wie  eine  frumme  ©erabe  ober  eine 
ct)linberfönnige  Sugel.  ©ine  [Reihe  von  ©ebanfenbiitgen,  mit 
beiten  wir  operireit  alg  mit  ganj  vertrauten  2)ingen,  finb  für 
ung  ebenfo  unvorftetlbar;  bag  Uitenblichgrofje,  bag  Unenblidj* 
fleine,  bie  unenblid)c  [ßunftmannigfaltigfeit  auf  ber  Strecfe,  bie 
©renje  eineg  uitenblicheit  ®e3imalbruchg,  bie  imaginären  Sreig» 
punfte  ber  ©bene,  bie  äSirfung  von  fträften  in  bie  Jerne,  bag 
®ing  an  fid),  — aöeg  bag  finb  blojje  ©rjeugttiffe  unfereg 
SDenfeng  unb  unvorftetlbar. 

befiniren  wir  ung  alfo  „[Räume"  von  brei  3>imenfioneit 
mit  anberen  Gigenfd;aften,  alg  ber  @uflibifd)e  @rfaf)runggraum 
befi^t,  fämtlich  enthalten  in  ein  unb  bemfelben  vierbimenfionalen, 
unb  allgemeiner  [Räume  von  beliebig  vielen  2)imenfionen.  $>ieg 
gefchieht  burch  folgenbe  Ueberlegung. 

SSenn  wir,  mit  unfereit  itforftetlungcn  ^crabfteigenb,  ein 
©erabe  alg  einen  [Raum  nieberer  Drbming  betrachten,  fo  müffen 
wir  bemfelben  eine  $imenfion  jufd)rciben;  beim  ein  veränbcrlicher 
[ßunft  begfelbeit  ift  in  feiner  jebegmaligen  Sage  burch  ein  ein* 
jigeg  SLRerfmal  beftimmt,  bie  Slngabe  ber  bejüglid)en  ©ntfernung 
beg  [ßuuftg  von  einem  beftimmten  Slnfanggpunft  nach  Sänge 
unb  [Richtung,  ober,  wenn  wir  unter  3u9runbe*e9un9  einer 

(581) 


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16 


Sänge  als  SRafjeinljeit  bie  Entfernungen  burdj  bic  Slitzaljl  ber 
9Jiaßeinf)eiten  angeben,  ift  ber  ißunft  burcf)  eine  mit  einem 
SBorzcidfen  oerfeljene  3<*f)l  beftimmt.  (Seite  oariable  (Entfernung 
beS  fßunftS  oon  bem  SlnfangSpunft  beifjt  bie  „Äoorbinate"  beS« 
felbeit,  rein  analptifcf)  biefe  3a*>l  eine  „Variable".) 

Analog  ift  bie  (Ebene  als  ärocibimenfionaler  SRaum  anzu< 
fefjen;  benn  ein  oariabfer  s$unft  berfelbett  ift  burd)  Slngabe 
Zweier  SDierfmale,  uämlidj  burd)  bie  Entfernungen  beSfelben  oon 
Zwei  ©runbgeraben  (Äoorbinatenacpfen)  beftimmt.  SluS  ber  zwei- 
bimenfionalen  Ebene  laffen  fiel;  beliebig  oiele  Sinien  (einbimen- 
fiouale  fRäume),  fpecieK  ©erabe,  Äreife  ic.  auSfd)eiben.  Slnalptifd) 
fönnen  mir  eine  beliebige  ©leidjung  gtüifcfjen  zwei  Variablen 
auffteHen;  biefe  repräfentirt,  falls  nod)  gewiffe  ©tetigfeits- 
bebiugungen  erfüllt  finb,  geometrifcf)  eine  Äuroe;  unb  jtuar  eine 
©erabe,  falls  bie  Variablen  nur  in  ber  erften  ißotenj  oorfommen; 
eine  §pperbel  ober  Parabel  ober  EHipfe,  fpeciell  ÄreiS,  wenn 
bie  Variablen  and)  in  ber  zweiten  ißotenj  oorfommen  jc.  SClfo 
burd)  Slufftcüung  einer  ©leicfjung  zwifdjen  gtuei  Variablen 
fdjeiben  toir  aus  bem  gmeibimenfionalen  fRaum  einen  einbimen- 
fionalen,  eine  Sinie  auS,  burd)  Slufftellung  zweier  foldjer  ©lei- 
djitttgett  ben  Schnitt  zweier  Sinien,  einen  ^ßunft. 

Enblid)  auS  bem  breibimenfionalen  ebenen  Staunt  fönnen 
toir  in  ©ebanfcn  beliebig  oiele  Ebenen,  Äugeln,  Eplinber  :c., 
ferner  frumme  unb  grabe  Sinien,  alfo  beliebig  oiele  zwei«  unb 
cinbimenfionale  Stäume  £)erauSl)eben;  analtjtifdj  gefdjiel)t  bieS, 
inbem  eine  beliebige  ©leidjuttg  siuifdjen  brei  Variablen  oorauS- 
gefcjjt  wirb;  enthalt  biefe  bie  brei  SSariablen  nur  in  ber  erften 
$otenj,  fo  ift  bamit  eine  Ebene  auSgefdjieben ; burd)  jroei  gleich- 
zeitig befteljenbe  bevartige  ©leidjungen  wirb  ber  ©dfnitt  zweier 
Ebenen,  eine  ©erabe  befinirt  u.  f.  f. 

S$crfud)en  wir,  biefeS  Verfahren  fortzufefcen,  fo  läßt  unS 

bic  Slnfdjattung  im  ©tid).  Stid)tS  f)'nbert  unS  aber,  eine 

(r*2j 


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17 


©leidjung  jruifc^en  Dier  Variablen  aufjufteßen  unb  bamit  einen 
üierbimenfionafen  9taum  p befiniren.  f5aö3  in  &er  ©letc^ung 
bie  öier  SSariablen  nur  in  ber  crften  ißotcng  erjdjeinen,  fo  ift 
burd)  biefelbe  ein  ebener  breibintenfionaler,  unfer  (Snflibifcher  (Sr- 
fa^rungSraunt  au«gefchieben;  fontmen  bie  Variablen  nnr  in  ber 
gmeitett  i^oteng  Dor,  jo  honbelt  eS  fid),  unter  geroiffen  ©cbin» 
gungen,  um  einen  fugeiförmigen  breibimenfionalen  jRaunt  u.  j.  m. 
3u  einem  Dierbimenftonalen  9?auin  finb  oljo  unenblid)  Diele  ebene 
unb  gefriimmte  breibimenfionale  enthalten,  mie  in  unjerem  9iaum 
unenblid)  Diele  ebene  unb  frumme  glädjen.  3)ie  CSigenfcfjaften 
jpecieß  eine«  fuge! förmigen  breibimenfionalen  9taumes 
bot  fpelmholh3  näher  befprodjen;  ein  fold)er  91aum  wirb  fidj 
p unferem  ebenen  (Srfa!jrung«raum  Derbalten  mie  bie  EreiSlinie 
pr  ©eraben,  bie  Engel  pr  (Sbene;  alle  ©erabefteit  in  einem 
foldjen  9iaum  führen  baljer  mieber  in  ftd)  priitf,  ber  9taum 
felbft  ift  alfo  ettblid). 

$ie  $ljew’e  ber  bifr-,  fünf-,  überhaupt  mehrbimenfionalett 
IHäume  mürbe  Don  91iemaun,  §elmf)olh,  Eroncder,  bann  Don 
Eiein,  ©Riegel,  Srill,  Edling,  53eej  au«gebaut;  e«  mürbe  bie 
Siehre  Don  ben  9iaumfurDen  unb  gläd)en,  bie  Erümmung«theorie, 
bie  Sä^e  Don  (Suler  unb  ®upin,  ba«  Sreiförperproblem,  ber 
Sah  über  bie  Slnpbl  ber  regulären  Eörper  u.  a.  auf  einen 
9ttaum  mit  n 3>intenfionen  au«gebehnt. 

$er  .fpauptauftoff,  bem  man  bei  Saien  immer  mieber  be- 
gegnet, liegt  barin,  baß  gefagt  mirb,  e«  fei  ein  Unbing,  biefe 
mehrfach  auägcbeljnteu  9)fanuigfaltigfeiten  noch  „9täume"  p 
nennen.  $em  gegenüber  ift  feftphalten,  bah  für  ben  9Jlatl)e- 
matifer  jene  mehrbimenfionalcn  91  ä u m e itid)t«  au- 
bere«  fein  follen  al«  analt;tifd;e  giftionen,  benen  erft 
bann  etroa«  SBorftellbare«  entfpricht,  menn  bie  hinten- 
fionljahl  n = 3 ift.  2Ber  eS  oorgieI)t,  einen  nagen  9lu«brurf 
mie  „ÜJfannigfaltigfeit"  ober  „Crbnungäfhftem"  (2oj)e)  ober 

Sammlung.  ».  g.  V.  112.  113.  2 5S3) 


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18 


bie  ©qeic^nung  burd)  einen  Sudjftaben  mit  Snbej  Rn  bafür 
311  öerwenben,  bem  fann  bied  unbenommen  bleiben.  Ob  jene 
höheren  fRäume  ej;iftiren  ober  nicht,  barnad)  fragt  ber  üHattje- 
matifcr  gar  nicht,  ba  fie  bloß  Srjeugniffe  feines  eigenen  SenfenS 
finb.  SBenn  ber  ÜRatßematifer  3.  ö.  oon  bem  ÄrütnmungS* 
maß  eines  n-bimenfionalen  fRaumeS  fpridjt,  fo  ift  er  fidj  bewußt, 
bah  e§  fid)  babei  um  einen  bloßen  fRedjnungSauSbrucf  ßanbelt, 
bem  feine  2Infd)anlid)fcit  meßr  ^ufotnmt,  wenn  11  größer  als 
2 ift.  $011  ber  ©erecfjtigung  unb  bem  fRußen  jener  Segriß’S* 
crioeiterungen  mirb  fpäter  beS  Näheren  bie  Siebe  fein. 

SßorfteÜbar  finb,  tuie  erwähnt,  jene  höheren  SJäunte  nicht, 
unb  Stant  fud)t  gerabeju  bie  grage  ju  löfen,  njeS^alb  mehr* 
bimenfionafeit  SRäumen  gegenüber  bie  menfdjlidje  SJorfteüungl* 
fraft  oerfagt  („©ebanfen  oon  ber  wahren  ©d)äßung  ber  lebenbigen 
Kräfte",  ©ef.  SBerfe  ©anb  V.,  § 9 — 11):  „.  . . ^emjufolge 
halte  ich  bafür,  baß  bie  ©ubfta^en  in  ber  eyiftirenbcn  Seit, 
wooon  wir  ein  £f)eil  finb,  wesentliche  Strafte  oon  ber  Slrt 
haben,  baß  fie  in  ^Bereinigung  miteinanber  nach  bem  hoppelten 
umgefehlten  SBerßältniß  ber  Sßciten  ihre  SSirfungen  oon  fid> 
auSbreiten;  3weitenS,  baß  baS  ©auje,  baS  barauS  entfpringt, 
oermöge  biefcS  ©cfefceS  bie  ©igenfchaft  ber  breifacßen  Simenfion 
habe;  brittenS,  baß  biefeS  ©efeß  willfürlich  fei  unb  baß  ©ott 
bafür  ein  anbereS,  311m  Stempel  bes  umgefehrten  breifachen 
SBerßältniffeS  hätte  wählen  fönnett,  baß  enblicf)  oiertenS  auS 
einem  anbern  ©efej)  and)  eine  SuSbehnung  oon  anbern  Sigen* 
fcbaften  unb  Slbmeffungen  gefloffen  wäre  ....  ©ine  SSif fern 
fcßaft  oon  allen  biefen  möglid)en  fRaumeSarten  wäre 
unfehlbar  bie  fjöchfte  ©eometrie,  bie  ein  enblicher  SBerftanb 

unternehmen  fönnte Sie  Unmöglichfeit,  bie  wir  bei 

uns  bemcrfen,  einen  SRaurn  oon  mehr  als  3 Slbmeffungen  uns 
oor3uftellen,  fcheint  mir  baßer  3U  rül)ren,  baß  unfere  Seele 
ebenfalls  nad)  bem  ©efej)  beS  umgefehrten  hoppelten 

(5*4) 


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19 


93erf)8ltniffeS  ber  SBeiten  bie  ©iubriicfe  Don  braunen 
empfängt1  uub  baß  ifjre  Statur  felber  baju  gemodjt  ift,  nidjt 
allein  fo  ju  leiben,  fonbern  aud)  auf  biefe  SBeife  außer  firf? 
ju  mirfen."  9iimmt  man  noch  bie  furj  barauf  fotgenben 
SSorte  Kants  fjinju:  „2Benn  eS  möglich  ift,  baß  eS  SluSbelp 
nungen  oott  anbern  Slbmeffungett  ($)intenfionen)  gebe,  fo  ift 
eS  auch  fefjr  mahrfdjeittlid),  baß  fie  ©ott  irgenbmo  attge= 
bracht  hat,"  fo  feljen  ©ie,  baß  mir  ttnS  auf  einmal  mitten  in 
beit  metapfjpfifdjen  fragen  beftnben. 

SSentt  mir  alfo  jeßt  ben  fidjent  Soben  ber  mathematifchen 
gorfdjung  üerlaffen  unb  bem  nebelhaften  ©cbiet  ber  £ranS« 
fcenbcntalphhfif  uttS  jumenben,  fo  möge  gleich  anfangs  auS* 
briidlidj  fjeroorgc^obcrt  merben,  baß  eS  fid)  im  folgetiben  jtt* 
näd)ft  um  eine  bloße  Darlegung  ber  roichtigften,  im  Saufe  ber 
3eit  aufgefteflten,  bieSbe^iiglidjen  Theorien  unb  erft  meiterf)in 
um  eine  fritifdje  Seleudjtung  berfelben  l)a»&cln  foH. 

3d)  perfönlid)  üermerfe  bie  meiften  ber  folgetiben  Jhcoriett 
atS  ^^antaftereieit;  aber  aud)  auf  biefem  ©tanbpunft  bietet 
es  citt  großes  pljilofophifdjeS,  mitunter  aud)  pftjc^iatrifdjeS  3n« 
tereffe,  anjitfeljett,  mie,  nad)bem  ber  fRaumbegriff  jene  ungeahnte 
Srmeiterung  erfahren  ^atte,  biefe  auf  bie  tiefgel)enbften  rneta* 
phhfifchett  unb  pft)d)ologifd)cn  gragen  angemanbt  mürbe. 

2.  Zöllner5  mar  burd)  feine  aftrophhfifalifd)en  Unter« 
fitdjuugen,  befonberS  über  bie  ÜRatur  ber  Kometen,  auf  bie 
grage  nach  ber  3°^  ber  5'ffterne  unb  bamit  nach  ber  @ttb« 
lidjfeit  ober  Uneitblidjfeit  beS  SRaumeS  uub  beS  im 
Uninerfum  enthaltenen  ©toffeS  geführt  morben. 

3|t  ber  9?attm  unb  bie  SRaterie  enblich  ober  nicht? 

SBerljältnißinäßig  einfach  mar  bie  grage  für  bie  alten 
griechifdjen  ißhil0i0Phen-6  Weber  ber  großen  ©d)eibe,  auf  ber 
bie  SOlenfchen  mohnten,  mölbteit  fich,  mie  bemeglidje  große  ©las« 
fugein,  bie  fiebett  ©pljären  ber  Planeten;  auf  einer  meitereit 

2*  (586) 


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20 


adjten  Siugel,  bem  primum  mobile,  waren  bie  unjäßlig  öielen 
gi;rfterne  attgebracßt;  unb  oben  auf  biefem  JreibßauS  faßen  bie 
©ötter  ©riedjenlanbS  nnb  „amüfirteit  ficß  föftlicß  über  baS  wum 
berlicße  Treiben  ber  SDtenfcßen  barunter",  gür  biefe  Kosmologie 
war  fomit  ber  9iaum  enblicß,  wenn  aucß  unermeßlicß  groß. 

Slber  bie  neue  aftronomifcße  Seßre  jerftörte  biefeit  ganjen 
Sau , unb  ein  eubfofer  ^intmel  mit  einer  enblofen  Sdjar  ge- 
waltiger ©eltförper  öffnete  ficf)  bem  geiftigen  Slicf.  $er  SDlonb 
bewegt  fid)  um  bie  Grbe,  biefe  um  bie  Sonne;  9JtiQionen  »ou 
Sonnenfpftemett  erfüllen  beit  iDiilcßftraßenriug,  ber  felbft  wieber 
nur  ein  Snbioibuum  in  einem  größeren  ©attjen  ju  fein  fcßeint. 
©iebt  es  ba  ein  @nbe?  SeibeS,  fowoßl  baß  bie  3a^  ^er 
Sonnen  enblicß,  als  baß  fie  unenblicß  fei,  läßt  fid)  fcßeinbar 
Zeigen.  ©eftatten  Sie  mir,  baß  idß  beibeS  beweife. 

©rfleitS  ber  üorßattbene  Stoff  ift  unenblicß.  ®enn  wäre 
er  enblicß,  fo  fönnte  bie  enblicße  ©aSntaffe  auf  ©runb  beS 
SNariottcfdjen  unb  fftewtonfcßen  ©efcßeS  nicßt  im  ©leußgewicßt 
fein.  Sei  bem  Seftreben  ber  ©afe,  fid)  im  Jiaum  auSzubeßnen, 
müßten  fid)  bie  größten  enblitßeit  SDlaffett  in  bent  unbegrenzten 
9iaum  fortbauerub  bis  jum  Serfcßwinbctt  verflüchtigen , in  ein 
Aggregat  biSfreter  ©aSntolefüle  non  fonftanter  unb  grabliniger 
©efeßwinbigfeit  auflöfeit,  bereit  mittlerer  Ibftanb  unenblicß  groß 
ift.  2)ie  $icßtigfeit  beS  ©afcS  würbe  nad)  unettblicß  langer 
3eit  unenblid)  Mein  geworben  fein  unb  ber  5Haum  für  unfer 
9Iuge  als  eine  nießt  mit  SDfaterie  erfüllter,  als  twllfommen  leer 
erfeßeittett.  $ieS  ift  ttidjt  ber  gall;  burtß  bie  Sfiftettj  ber  uns 
finulid)  oerneßmbaren  SBelt  finb  wir  empirifcß  jur  Vlmtaßme 
einer  wenigftenS  partiellen  ntatcriellett  Üiaumerfülluttg  gezwungen, 
golglid)  ift  bie  SorattSfeßung  unrichtig  uttb  fomit  bie  SDiaterie 
utieitblid). 

2)ie  SluSflucßt,  burd)  beit  umgebenbeit  Sletßer  werbe  auf  bie 
äußere  ©renzfcßidjt  ber  enblidjcn  ©aSmaffe  ber  erforberlicße 

1586) 


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2>ruöf  auSgeiibt,  ift  un$uläffig,  ba  ber  2letf)er  alle  Slörpcr,  alfo 
aud)  bie  fluft  burd)bringt.  Gbeufo  bie  Slnnaljme  einer  io 
niebrigen  Temperatur  jener  ©ren$fcf)id)t , baß  bie  ©afe  if)rc 
elaftifcf)c  Straft  Doßftäubig  öerlierett  uitb  tropfbar  fliiffig  werben, 
entfällt  burd)  bie  Ueberlegung,  b aß  bie  enblidje  Suftmaffe  oon 
beit  2öärmeftra£)len  ber  ©onneti  allenthalben  in  cttblidjer  Gut- 
fernnng  getroffen  würbe. 

GS  bliebe  übrig  bie  §ppotl)efe  einer  Segrcn^mtg  ber  3 eit, 
welche  feit  ber  Gyiftenj  ber  SBelt  biö  auf  bie  ©egenwart  oer* 
floffen  ift,  alfo  bie  Mitnahme  eines  ©djöpfungSafteS,  burdj 
welchen  ju  einer  itt  enblic^er  Vergangenheit  liegenben  3e>t  ein 
beftimmter  MnfaugSjuftanb  ber  28elt  begonnen  hat,  ber  fid)  nun 
fortbauernb  in  einer  für  unfere  ©intte  unb  3citräutne  tutmerf* 
ließen  Söeife  bem  öorbin  erwähnten  Gnbjuftaub  ber  ©toffuer* 
flüchtiguug  unb  allmählichen  Sluflöfuitg  ber  SBelt  in  ÜJfidjtS 
nähert.  Sine  foldje  VorauSfejjuug  würbe  (für  3adner)  feine 
logifdje,  fonbent  nur  eine  willfürlidje  Vegrenjung  ber  Staufal» 
reihe  cinfcfjliegext,  gegen  weld)c  fic^  ber  Vcrftanb  auf  ©runb  bes 
ihm  innewohnenben  ÄlaufalitätSbebürfniffeS  fträubt. 

3weitenS,  ber  oorhaubeue  ©toff  ift  aber  and)  nicht  um 
cnblich,  fonbern  enblid).  Tenn  wäre  er  unenblid),  fo  müßte 
au  jeber  ©teile  beS  materiell  erfüllten  9laumeS  ber  ^Drucf  ber 
Diaterie  unenblid)  groß  fein.  Teuft  man  fid)  närnlid)  eine 
enbliche  Quantität  gasförmiger  ober  flüffiger  ober  fefter  fDtaffe, 
weld)e  unter  bem  Ginfluß  ihrer  Sträfte  bie  ©eftalt  einer  Singel 
angenommen  hat,  fo  ift  ber  Trucf  im  Gentrum  ber  Slugel 
proportional  bem  fJlabiuS  ber  Slugel.  ©od  alfo  bie  SDiaffe  eine 
unenblidje  fein,  fo  müßte  aud)  ber  SRabiuS  ber  Slugel  einen 
unenblich  großen  SBerth  befifcen,  unb  an  jeber  oom  Gentrum 
gleid)  weit  entfernten  ©teile  wäre  ber  Trucf  gleid)  unb  uttenb* 
lid).  Sine  unenblich  §ltmofpäl)re  würbe  mit  unenblichent 
Trucf  auf  uns  lafteu  unb  uns  31t  ©leinen  preffen. 


22 


SKocß  meßr;  0 IberS7  loieS  barauf  ßin,  baß  bie  SInnaßme 
einer  unenblidjen  3aßf  »on  Hidjt  unb  SÖÄrme  auäftraßlenben 
ftörpern  (giffternen)  notßwenbig  ju  bcnt  Scßtuß  fiißrt,  baß  b a$ 
ganje  Himmelsgewölbe  überall  mit  einem  ©Ianj  unb  einer 
SBärme  [trauten  müßte,  wie  gegenwärtig  bie  Sonnenfcßeibe. 
2öir  Ratten  fcßeinbar  nur  eine  einzige  ungeheure  Sonne.  Söian 
fönnte  eintuenben,  baß  in  bern  jwifeßen  ben  SBeltförpern  be* 
finblicßen  2)iebium  bie  Sidjtftraßlen  abforbirt  werben;  bann 
würben  aber  aucf)  bie  SBärmeftraßlen  abforbirt  unb  jenes  SDic« 
bium  würbe  unenblicß  erwärmt  fein,  waS  nidjt  ber  gall  ift. 
SUfo  ift  ber  Stoff  enblicß.  ©r  ift  aber  and)  nidjt  enblicß;  benn 
wäre  er  enblicß  ....  unb  fo  fort,  aurücf  jum  Anfang,  in 
infinitum. 

?luS  biefem  Sabßrintß  oon  feßeinbaren  SBiberfprücßen 
weiß  fid)  3öQ»er  nur  bureß  bie  Hintertßiire  ber  oierten 
©imenfion  ju  retten. 

$>ie  ©igenfeßaften,  bie  Wir  bem  SRautn  beilegen,  finb  me- 
fentlid)  empirifeßen  UrfprungS.  3n  bem  primitioeit  3uftanb  ber 
unbewußten  ©erftanbStßätigfeit  beS  ÜJient'cßen  werben  bie  bureß 
finnlicße  ©mpfiubungett  erzeugten  ©Über  ber  Sfeßßaut  auf  eine 
glädje,  alfo  einen  jweibimenfionalenfRaum  bezogen.  3U’C^ Cbjefte, 
weldje  ßiutercinanber  fieß  bewegen,  feß einen  in  biefer  gläeße 
in  eigentßiinüicßcr  SJeife  fieß  gegeufeitig  ju  üerfcfjieben,  ju  oer* 
beden,  aueß  ißre  ©eftalt  ju  änbern.  Um  biefe  auf  jener  ©nt* 
wicftungSftufe  rätßfelßaften  ©rfeßeinungen  31t  erflären,  faß  fieß 
naeß  ber  Slufidjt  3öüuerS  ber  ©erftanb  31t  einer  Hßpotßefe  über 
bie  ©efdjaffenßeit  beS  SRaumeS  genötßigt,  unb  3U  ben  jroei 
2)imenfionen  be$  SRaumeS  würbe  bie  britte  gefügt.  lie  fort* 
wäßrenb  beftätigte  ©idjtigfcit  biefer  ^ßpotßefe  bei  ©rflärung 
ber  ©inwirfungeu  ber  Außenwelt  erßob  biefe  Hßpotßefc  3U  einer 
folcßen  ©ewißßcit,  baß  wir  gar  nidjt  meßr  im  ftaitbe  finb,  oon 
biefer  ©efdjaffenßeit  bcS  ffiaumeS  ab3ufeßen. 

(5SS) 


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23 


Kerfelbe  Vorgang  geigte  fid)  in  ber  aftronomifdjen  Er* 
fenntnifj.  Zur  Srftärung  ber  fdjeinbar  auf  einer  Äugelflädje 
bor  fid)  geljenben  ^Bewegungen  ber  |>immet$törper,  wetdie  g.  Kf). 
regeüofe  ffia^nen  am  Fimmel  gu  befdjreibcit  fct)einen  („fßlaneteit"), 
war  man  genötigt,  eine  Kiefenbimenfion  beS  Himmelsgewölbes 
aitgunef)men,  unb  bie  fompligirten  ^Bewegungen  im  gweibimen* 
fionalen  9iaum,  auf  ber  Äuget,  uerwanbelten  fid)  in  f)öcf)ft  ein* 
fad)e  ^Bewegungen  im  breibintenfionalen. 

ES  genügt,  einen  6d)ritt  weiter  gu  getjen  unb  eine  gweite 
Eigenf<f)aft  unfereS  fHaume«  angunefjmeu,  um  mit  einem  SRate 
bie  borljin  gefdjilberten  Sßiberfprüdje  entfalten  gu  fetjen.  ©ei 
jenen  ©eweifen  war  ftiflfdjweigenb  borauSgefefct , bafj  unfer 
fRaunt  ber  unbegrengtc  ebene  £uttibifd)e  fei.  SDiadjen  wir  bie 
Hppottjefe,  bafj  er  ein  fugetförmiger  jRaum  fei,  atfo  ein 
fotdjer  breibimenfionaler,  ber  fid)  gu  einem  ebenen  breibintenfio* 
naten  fRaum  ebenfo  berljält,  wie  bie  Äuget  gur  Ebene,  atfo 
ein  9iaum,  beffen  ÄrümmungSmajj  nid)t  bcn  SSJert^  fRull,  fonbern 
einen  wenn  aucf)  nod)  fo  ttcineu  pofitiuen  SSertt)  befityt.  3n 
einem  fotzen  finb  bie  geraben  Sinieit  burd)  ÄreiSlinien  erfe^t 
gu  beuten,  bereit  fRabiuS  beliebig  grofj  fein  fann.  Z^ei  SRaffen- 
punfte,  welche  fid)  boneinanber  entfernen,  begegnen  fid)  wieber 
unb  gwar  periobifd)  wieberfet)renb  in  enblid)en  Zeiträumen,  bereu 
©röfje  bon  ber  ©efd)Winbigfeit  ber  ^Bewegung  unb  bem  Ärüm* 
mungSmafj  beS  fRaumeS  ab^ängt;  periobifcf)  wirb  tebcnbige 
Äraft  in  Spanntraft  bei  Slmtäfjeruug  unb  Spannfraft  in 
tebenbige  firaft  bei  Entfernung  berwanbelt.  KaSfelbe  gilt  für 
beliebige  äRaffen.  SBclten,  bie  an  einer  Stelle  beS  fRaumeS  Ber- 
ge ^en,  trennen  fid),  um  an  einer  anberen  Stelle  mit  atibcren  SRaffen 
gu  neuen  SBetten  gufammengutreten.  Kie  ©efaljr  ber  allgemeinen 
Stoff*  unb  Energie*3erftreuung  unb  bamit  beS  SBett* 
ftitlftanbeS,  bie  fo  bieten Sdjrerfcti  berbreitete,  feit  Kljomfon* 
mit  allerbingS  wenig  jRedjt  auf  ©ruitb  beS  Eartiotfdjen 

(580j 


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24 


©a^eS3  feine  bcfanute  £)t)pothefe  aufftellte,  wäre  gliicflid)  ab= 
gemenbet. 

®ett  Slnftoß  ju  biefen  3beett  erhielt  3ö^ner  burch  ^’e‘ 
mann/0  ber  unter  atibercm  in  fofgenber  SBeife  fid)  äußerte: 
„@e()t  man  oorattS,  baß  bie  Körper  unabhängig  oom  Crt 
efiftiren,  jo  ift  baS  KrümmungSmaß  überaH  fonftant,  uub  e£ 
folgt  bann  aus  ben  _ aftronomifchen  Sföeffungen  (an  ©tern* 
®reiecfett),  baß  eS  nid)t  tmtt  9?ull  oerfd)iebett  fein  faitu;  jebcufall& 
müßte  fein  reciprofer  SBertl)  eine  gläcße  fein,  gegen  melcfje  ba£ 
uuferen  Steleffopen  zugängliche  ©ebiet  t>erfd)minben  müßte." 
3n  neuerer  3c*t  fc^ciiten  jette  3ötlnerfd)en  Slnmenbungett  biefer 
3bee  auffallenbermeife  attdj  itt  äftathematiferfreifen  fid)  manche 
greunbe  ermorbcn  ju  haben.  9)ioftu  führt  aus  — unb 
91.  Söeej1*  hat  bem  gegenüber  ein  atterfeunenbeS  SEBort  — : 
„9}idjt  iinmahrfdjeiulid)  tft  eS,  baß  fid)  nodj  in  bem  abfaufettben 
Saljrhunbert  allmählich  itt  beit  93 orftelInng«FreiS  ber  ©ebilbeten 
eine  Neuerung  brängt,  meld)e  in  2lrt  unb  Süebeutung  jener 
SBorfteflungSänberuitg  gleid)ftel)t , meldje  tor  mettigen  3ahr- 
hunberten  in  SJejug  auf  bie  ©eftalt  ber  ©rbe  unb  bie  Stellung 
berfelben  im  Sßeltall  jum  2lbfd)luß  fam.  @S  I)aube[t  fid)  barum, 
ben  Sßeltenraum  als  unbegrenzt  unb  bod)  cnblich  nach  $lrt  ber 
Kreislinie  unb  ber  Kugelfläche  zu  erlernten  unb  bamit  bie 
broljenbe  ©pfjin{,  meldjc  bem  armen  ©rbenmanbercr  unabläffig 
baS  nermirrenbe  Siätßfel  t>on  bem  unettblidjett  fRaume  oorljölt. 
Zu  ftürzen;  eS  hanbelt  fich  barum,  bie  graufige  Konfequenz  oon 
ber  gerftreuuitg  ber  ©nergie  beS  SBeltaÖS  zu  bredjen  unb  bamit 
eine  ^orfteflung  zu  bannen,  rneldje  mie  ein  Sllpbrucf  ebcnfo  ftarf 
auf  ber  bualiftißhen,  mie  auf  ber  moniftifcßen  Söeltaufdjauung 
laftet;  mirb  bod)  als  3>et  ber  SBeft  eine  Skrfümmerung  itt 
©rftarrung  unb  üRonotoitie  gefeßt.  Unb  füllte  eS  and)  nicht 
gelingen,  bnrzulcgett,  baß  man  für  baS  SEBeltaH  bie  enbliche, 
fpßärifdje  9laumform  benfett  muß,  fo  mirb  eS  jetten  bcbriicfettben 

(590) 


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fragen  gegenüber  fd;ou  al«  SBo^lttjat  empfunben  werben,  bafj 
man  fidj  biefe  enblidje  gorm  mit  bemfelbeit  fRedjte  wie  bie 
übliche  naef)  feiner  28af)(  beuten  barf." 

©on  einem  fugeiförmigen  fRaum  ju  fpredfen,  bat  aber  erft 
bann  einen  ©iun,  wenn  ber  ©egriff  eiueö  »ierbimenfionalen 
fKaurne«  befinirt  unb  acceptirt  ift,  in  welchem  unenblidj  fiele 
breibimenfionale  SRäume,  ebene  unb  gefrümmte,  enthalten  finb, 
wie  in  unferem  breibimenfionalen  fRaum  unenblich  fiele  glädjen. 

tiefer  Gebaute,  baf?  nufer  fRaum  nur  ein  £bcil  eine« 
größeren  Ganjen  ^ö^erer  Orbnung  fei,  lief}  3öüner  nicht  mehr 
frei;  um  fo  mehr  al«  ihm  bamit  Stuf  f lärmig  über  eine  fReihe 
wichtiger  gragett  bet  Ontologie  — nach  bem  ©ertjältnif}  ber 
Grfdjeinungen  ju  ben  Gingen  an  fich,  nad)  ber  Sott* 
ftitution  ber  fDiaterie  u.  f.  w.  — gebracht  fdjiett. 

Gr  glaubte  gerabe^u  gewiffe  flhatfadjen  entbedt  ju  haben, 
weldje  bie  Gfiftenj  f)fi)erec  fRäume  be  weif  eit.  Um  bie 
göünerfdjen  ?lnfd)auungenis  fürs  ju  ffijjiren,  ift  e«  nötfjig, 
etwa«  weiter  au«juholeu. 

SDie  3:^otfache,  baß  wir  überhaupt  räumlich  forfteüeit,  b. 
baß  wir  Gmpfinbuttgen  auf  Urfachen  beziehen  tönnen  unb  müffett, 
ift  eine  for  aller  Grfahrung,  b.  i.  apriorifcf)  unferem  ©erftanbe 
innewohitenbe  gähigfeit.  Snfoferu  ift  ber  fRaum,  ba«  Grseugnifj 
biefer  fid)  bethätigenbeu  gähigfeit  jurn  räumlichen  ©orfteüen 
überhaupt,  eine  „9lnfchauung«f  orm  a priori“,  dagegen 
ift  für  Zöllner  — unb  er  glaubt  hierin,  wie  in  ben  mciften 
ber  folgenben  fragen  Äant  an  feiner  ©eite  ju  finben  — ber 
fpecieüe  3nljalt  biefer  Slufdjauungöform,  j.  ©.  ber  fon  un« 
3Renfd)ett  angefdjaute  fRaum  ein  ©robuft  ber  Grfahrung. 
$5emt  biefe  fpecieüe  fRaume«art  tonnte  nur  au«  benjenigen  Gin« 
brüefett  unb  Gmpfinbuttgeit  erjeugt  werben,  wcldje  bie  un«  uer« 
liehene  Crganifation  unjerc«  £eibe«  fon  ber  Gefamtheit  ber  in 
ber  SBelt  überhaupt  ejiftirenben  Urfadjen  (ber  $)inge  an  fid)) 


empfangen  fonnte.  (@S  »erhält  fid)  ber  SRaumbegriff  all 
foldjer  ju  jeber  fpecietlen  SSorftellung  belfelben  mie  ein 
Äolleftiribegriff,  3.  93.  ber  eines  $reiedl,  3U  ben  ©injeloor« 
fteflungen,  weldje  biefer  Segriff  umfajjt.  SCÖiCt  man  eine  biejem 
begriff  entfpredjenbe  SSorftellung  er3eugen,  fo  tritt  uni  ein  gan$ 
beftimmtel  UDreietf,  beffen  ©eiten  unb  SBinfel  biefe  ober  jene 
beftimmte  ©röfje  befifcen,  »or  bie  ©eele;  unb  biefe  fpeciefle 
Slnfdjauuug  ift  empirifdjen  Urfprungl,  ift  nur  möglid)  für 
3emanb,  ber  einmal  ein  ®reied  gefefjen  tjat.) 

3ft  aber  ber  u n S anfdjaulidje  9iaum  aul  $l)atfad)en  ber 
©rfafjrung  entfprungen,  bie  uttferem  SBerftanb  burdj  bie  ©inne 
jugefüfjrt  merbcn,  fo  ift  el  benfbar  unb  baljer  aud)  möglich, 
bng  el  Jfjatfadjen  ber  ©rfafjrttng  im  ©ebiet  unferel  räum- 
lichen SBorftelleul  gebe,  bie  fiel)  nicf)t  beroeifen,  nirfjt  aul  betn 
^Begriff  unferel  breibimenfionalen  SJtaumeg  Verleiten  laffen. 

©ine  folcfje  Jfjatfadje  erblidt  göllner  in  bem  Bunber 
ber  ©pmmetrie.  ©8  ift  eine  ber  2:l)atfad)en,  bie  uni  all- 
täglid)  umgeben,  unb  über  weldje  ficf)  iljrer  jErioialität  wegen 
friiljer  ÜJtiemanb  gewunbert  hatte,  mie  tmr  SJtewton  Sftiemanb 
über  bal  |>erabfaflen  bei  Slpfell  »orn  93aum  ficf)  erftaunte. 

35ie  ©ntbcdnng  biefel  SBunberl  üinbigirt  ßößner  für  Sant. 
„Bir  wollen  bartfjutt,"  fagt  Äant,u  „bajj  ber  ooQftänbige  93e« 
ftimmunglgrunb  einer  förperlidjen  ©eftalt  nidjt  lebiglid)  auf  bem 
33erf)ältnifs  unb  ber  Sage  feiner  £f|ei(e  gegeneinanber  beruhe, 
fonbern  nod)  iibcrbie!  auf  einer  ^ieljuug  gegen  ben  all- 
gemeinen abfoluten  9taum,  fo  mie  iljn  bie  SUfaßfünftler 
benfctt,  — bod)  fo,  bafj  biefe!  SBerljältnijj  nidjt  unmittelbar 
faun  mafjrgenommcn  werben,  aber  wol)l  biejenigen  Unter- 
fdjicbe  ber  Siörper,  bie  ein3ig  unb  allein  auf  biefem  ©runbe 
berufen:  Beim  jivei  Figuren,  auf  einer  ©bene  gejeidjnet,  ein- 

anber  gleich  unb  ähnlich  finb,  fo  beden  fie  einanber  (tonnen  fie 
3ur  ®edung  gebracht  werben).  SlUein  mit  ber  förperlitfjen 

(592) 


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27 


^luäbeljnung  ober  aud)  bcu  Sintert  uitb  Slawen,  bie  nic^t  in 
einer  ©bene  liegen,  i|'t  e§  oft  ganj  anberS  bemanbt.  Sie 
Fönneit  oöllig  gleid)  uitb  äfjnlid),  jebod)  an  fid)  felbft 
fo  »erfdjiebett  fein,  baß  bie  ©rettjen  ber  einen  nidjt 
3ugleid)  bie  ©rengen  ber  anberen  fein  fönnen.  2)a3 
flemeiitfte  uttb  flarftc  Scifpiel  tjaben  mir  an  bett  ©liebntafjen 
be$  menfd;ticfjen  ßörperS,  rneldje  gegen  bie  ®ertifalfläd)e  be3« 
felben  fptnmetrifd)  georbnet  finb.  ®ie  red)te  $anb  ift  ber 
Cinfen  äljnlidj  unb  glcid),  unb  tuettn  matt  bloß  auf  eine  ber* 
felben  allein  ftcfjt,  fo  muß  eine  »ollftänbige  ©efdjreibung 
ber  einen  in  allen  ©tiidett  aud)  oon  ber  anberen  gelten.  SBeil 
aber  gar  fein  Unterfdjieb  in  bent  35crfjältni§  ber  Sfjeile  ber« 
felben  unter  fid)  ftattfinbet,  fie  mag  eine  rccfjte  ober  linfe  fein, 
fo  mürbe  biefc  fpanb  in  Slttfetyung  einer  folgen  ©igenfdjaft 
gänjlid)  unbeftimmt  fein,  benn  fie  mürbe  auf  j e b e ©eite  beä 
tuenfd)lid)en  ftörperä  paffeit,  meldjcS  unmöglich  ift."  genier 
an  anberer  Stelle:15  „2öa2  fanit  motjl  meiner  £>anb  ober  meinem 
£)f)r  äfjitlidjer  uitb  in  aßen  Stüden  gleicher  fein,  als  ifjr  öilb 
ittt  ©piegel?  Uttb  bemtodj  fanu  idj  eine  foldje  fpanb,  al8  int 
Spiegel  gefefjen  mirb,  nidjt  an  bie  Stelle  iljreS  llrbilbeä  fcfjen ; 
benn  menn  biefe§  eine  redjte  §attb  mar,  fo  ift  jene  im  Spiegel 
eine  linfe.  2Jfan  fatttt  bett  .^anbfdjul)  ber  einen  fpanb  (ofjne 
il)ti  umjuftiilpen)  nidjt  auf  ber  anberen  brauchen  u.  f.  f." 

®ie  ©rflärung  biefer  SSibcrfpriidje  finbet  Kant  in  bem 
SJerfjältnijj  ber  ©rfdjeinungcn  jtt  ben  batjinter  liegenben  ®ingen 
an  fid):  „Sßaä  ift  nun  bie  Sluflöfung:  Siefe  ©egenftäitbe  finb 
nidjt  etma  tßorftellitngen  ber  ®inge,  mie  fie  att  fid)  felbft  finb, 
unb  mie  fie  ber  pure  Serftaitb  erfennen  mürbe,  fonbertt  eS  finb 
fitinlidje5lufd)auungett,  b.i.  @r  f d)  ei  ttungeu,  bereit  ÜDiög  ließ  feit 
auf  bem  Skrljältnifj  gemiffer  an  fid)  unbefattnter  ®ittge 
$u  etma«  anberem,  ttämlid)  nuferer  Sinnlidjfeit  be- 
ruht." darunter  ift  be3  9täf)eren  moljl  folgenbcS  311  öerfteljen. 

(593! 


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28 


Stenn  mir  bei  Sonnen«  ober  Sterjenlidjt  baS  Sdjatlenbilb 
nuferer  rechten  .jpanb  auf  einer  gegeniiberliegenben  SBanb  ent« 
luerfeit,  jo  finb  wir  im  flanbe,  bcn  auf  ber  SBanbflädje  erzeugten 
Schattenriß  unmittelbar  burd)  Umfcfjrnng  ber  fd)attenwerfenben 
£attb  in  fein  ftimmetrifcheS  ©egenftücf  ju  oertoanbeln,  ohne  baß 
hierbei  au  ber  .fjaub  etwas  anbereS  oeräubert  mürbe,  als  ihr 
räuinlidjeS  Serhältniß  jur  SrojeftiottSflädje.  (gegenüber  beu 
Sd)attenerfdjeinungen  in  ber  jmeibimenfionalen  SBanbebene  ift 
hier  bic  §anb  baS  ©ing  an  fid),  baS.  „hinter  bie  Oberfläche  ber 
Grfdjeinungen  guriicftritt“.  Slitalog  fönnte  ein  unb  basfelbe 
Objeft  im  oicrbimenfionaleit  fRaum  burd)  fßrojeftion  fhmmetrifche 
Störper  in  unferem  breibimcnfionaten  erzeugen  (recht^Ijemiebrifc^e 
Ätriftaüe  — fRedjtStraubenfäure;  IinfSl)emiebrifd)e  Striftafle  — 
SinfStraubeufäure). 

@8  liegt  naße,  nun  überhaupt  bie  ganje  uni  finnlid) 
gegebene  breibimenfiouale  353 e 1 1 als  ein  ißrojef tionS« 
Phänomen  einer  anbereu  Söelt  „an  fich"  oou  oier 
©imenfionen  nach  Analogie  einer  Sd)atteuprojefti  o n 
aufjufaffen,  alfo  als  bloßes  Sd)attenbilb  einer  unS  nicht 
bireft  wahrnehmbaren  Stell  oou  Objeften,  meldje  im  Vergleich 
ju  ber  uns  gegenwärtigen  Störperwelt  um  ebenfo  nie!  realer 
fitib,  wie  bie  breibimenfionaten  Storper  realer  finb  als  ihre 
Schatten  auf  ber  SBanb,  ober  ihre  Silber  auf  ber  glädje  ber 
ffteßh'Ud  ober  ber  camera  obscura. 

©ie  Sorftetlung  ber  ganzen  ficht  baren  Stelt  mit  ihren 
brei  ©imenfionen  ift  ja  erft  oom  Serftanbe  lebiglid)  auf  ©runb 
oou  Silbern  erzeugt  worben,  welche  auf  ber  Silbfläd)e  ber 
s3ießhcud,  alfo  in  einem  ©ebiet  oon  gwei  ©imenfionen  fich  bar« 
ftellten,  ift  alfo  ein  353 er E unfereS  SerftanbeS,  ju  bem  er 
burd)  bie  SBiberfprüdje  angetrieben  würbe,  welche  ihm  bei  Sit. 
nähme  »on  nur  jwei  ©imenfionen  bie  perfpeftioiföhm  Ser* 
^errungen,  Serbedungcit,  Serfleincruugen  ber  Objefte  barbieten 

(&M) 


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29 


würben.  (3n  ber  wenn  ein  ßinb  feine  .fpanb  »or  bent 

^luge  bewegt,  biefelbe  brefjt,  nähert  ober  entfernt,  fo  erfjält  baS» 
felbe  nadjeinanber  bie  »erfdjiebeuartigften  (Sinbriicfe  in  ber  glad)e 
ber  SRefcfßiut  non  einem  unb  bemfelbeit  Cbfefte,  »on  beffett 
3bentität  unb  Unoeränberlidjfeit  es  bod)  burd)  fein  ®efüf)t  fort» 
wäfjrcnb  überzeugt  wirb.  Riefte  baS  Stinb  bte  »eräitberlidje 
iprojeftion  ber  |janb  in  ber  gläd)e  ber  9teßf)aut  für  ein  reales 
Cbjeft,  nic£)t  »ielmcfjr  bie  balfinter  liegenbe  |>anb,  fo  müßten 
fid}  beftänbig  SBiberfpriidje  ergeben.) 

(Sinm  al  alfo  f)at,  nac^  Zöllners  2lnfidjt,  jeber  SDfenfcf) 
fdjott  ju  ber  urfprünglid)  jmeibimeitfiomtfen  SRaumanfdfauung, 
burd)  S53iberfpriid)e  getrieben,  eine  britte  SMmenfioit  ^in^ugefitgt, 
inbem  er  fid)  boran  gewöhnte,  bie  auf  ber  Sftefctjautflcidje  jwei» 
bimenfional  erfdjeineubeu  ©egenftänbe  breibimenfiottal  »orjuftellcn. 
U)ie  weitere  ©rfenntnifj,  bie  Sluffaffung  ber  materiellen  2Bett  als 
tgcfjattenbilb  einer  realeren  uietbintenfionalen  Söelt,  wirb,  »er» 
fünbet  3ößncr,  für  bie  Scanner  beS  jroanjigften  SafjrfjunbcrtS 
ebenfo  eine  Srioialität  barfteflen,  wie  feit  GoperttifuS  für  uns 
bie  (Jrflärung  ber  ^Bewegungen  ber  $imme(Sförper  mit  £nilfe 
breibimenfionaler  Slttfdjauungen 

©renjett  ber  Siaturerfenntniß  ejiftireu  für  3^Hner  nidjt.16 
t£Bir  miiffen  bie  Sßibcrfprüdfe  ju  löfen  fudjen.  35aS  burdjweg 
angewenbete  Süerfa^ren  hierbei  giebt  ifjm  baS  9tiemannfcf)e 
Sßrinjip  an  bie  £>anb,  „unerwartete  SBaljrnelfmungen 
burd)  Srgänjung  ober  SBerbefferung  bcS  ^Begriffs» 
fpftemS  $u  erflären." 

9ftan  follte  faum  uermutfjen,  baß  er  bei  biefer  Stuffaffung 
ber  (SrfdjeiuungSwelt  ©auf}  unb  ißlato  als  ©efinnungSgeuoffeu 
entbedt  ju  £)aben  glaubte. 

Sott  ©auf)  erjä^lt  fein  ©iograpf)  SBalterSfjaufen:17  er 
fjabe  öfters  als  feine  innerfte  Slnfidjt  auSgefprodjen,  bie  brei 
■SDimenfionen  beSSRaumeS  feien  nur  eine  fpecififd)e  (Sigent^iint l icfjfci t 

(*»95) 


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30 


ber  menfdjfidjen  Seele;  fieute,  mefcfje  biefeö  nid)t  einfefjen 
fönnten,  bejeidjnete  er  einmal  in  feiner  fjumoriftifcfjen  öaune 
mit  bem  Kamen  „SBöoticr".  2Bir  fönnen  uns,  jagte  er,  itt 
SSefen  Ijineinbenfen,  bic  fid)  nur  jmeier  Simenfionen  beroufjt 
finb;  ^öfjer  über  unS  ftefjenbe  mürben  uielfeidjt  in  äfjnficßer 
SBeife  auf  unS  fjerabbfirfeu ; unb  er  fjabe,  fuf)r  er  fdjcrjenb  fort, 
„gemiffe  Probleme  Ijier  auf  bic  Seite  gelegt,  bie  er  in  einem 
f| öfjeren  3 u ft a it b e fpäter  geometrifd)  ju  beljanbefn  gebähte." 

SaS  SBeifpiel  'JSfatoS  oon  ber  fpöfjle  ber  ©efeffelten 
im  fiebenten  Sud)  besä  „Staats"  foH  jmar  nidjt  auf  eine  be* 
mu|te  Sfnticipation  ber  ©efefce  f)öf)ercr  Käume,  aber  auf  eine 
Äfjnung  äf)ttlid)er  Kaumanfd)auungeit  Anbeuten.  Ser  im  Siafog 
jroifdjen  SofrateS  unb  ©laufen  gehaltene  ^affuS  ift,  furj  bar* 
gefteflt,  fofgenber: 

Kinn  benfe  fid)  SDienjdjen  in  einem  f)öf)fenartigen  Kaum, 
beffen  SluSgang  nad)  bem  Sicfjte  511  offen  ift,  oon  Alinbfyeit  auf 
fo  gefeffelt  gehalten,  baß  fic  nur  nad)  bem  gunern  ber  §öf)le 
ju  bliden  oermögen.  Sie  SBefcucfjtung  fomme  non  einem  fjinter 
ifjnen  in  ber  gerne  bremtenben  geuer.  gmijdjcn  bem  geuer 
unb  ben  ©efeffeften,  am  SfuSgang  ber  £>öf)fe  öorbei,  füfjre  ein 
SSeg,  auf  bem  ©egeuftänbe  getragen  mcrbeit,  auef)  Kienfdjeit 
gefjen,  tfjeifS  fpredjenb,  tfjeifS  fdjmeigcnb.  Sie  ©efeffeften  merbcit 
nott  fid)  unb  oon  jenen  Kienfdjeu  uid)ts  anbereS  fe^eu,  afS  bie 
Born  geuer  auf  bie  gegemiberftefjenbe  SBanb  ber  $ül)le  9«* 
toorfeneit  Schotten;  Bon  bem  ©efprodjenett  merbett  fie  nur  baS 
ISdjo  an  ber  $öt)Icnmaub  Bcritefjmen.  Katürlid)  merben  bie 
©efeffeften,  menn  fie  fid)  untereinauber  umerrebeit,  biefett  allein 
Bott  ifjnen  bemerften  Sd)atteu  bie  Kamen  ber  ©egenftönbe  fcfbft 
geben  unb  bie  Sdjatten  ber  mirflid)en  ©egenftönbe  für  baS 
allein  SBafjre  galten.  SÜBenu  nun  einer  ber  ©efeffeften  entfeffeft 
unb  gum  2id)te  aufgubfideit  genötigt  mürbe,  märe  er,  geblenbet 
Bott  bem  ©fange,  nid)t  im  ftanbe,  bie  ©egenftönbe  gu  fefjen; 

(f>96) 


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31 


unb  »Denn  i(jm  gefügt  würbe,  jefct  fef)c  er  richtiger,  baS  früher 
©efetyene  fei  nur  ©aufelwerf  gewefen,  fo  würbe  er  anfangs 
oorjiehen,  jenes  bodj  für  wahr  $u  galten,  nicht  bie  ©cgenftänbe 
felbft,  unb  erft  nad)  längerer  ©ewoljnung  bie  Sßal)rl)eit  erfennen. 
Samt  aber  würbe  er  wegen  ber  Seränbcriutg  fid)  gliidlicf) 
greifen  unb  lieber  wiinfdjett,  einem  bürftigen  äftaitne  ohne  @rbe 
baS  gelb  als  Sagelöhner  $u  befteüen,  als  unter  beit  ©efeffelten 
derjenige  ju  fein,  ber  bie  erfdjauten  ©chatten  ber  ©egenftänbe 
am  fdjärfften  erfennen  unb  im  ©ebäcfjtniß  bewahren  würbe,  aud) 
wenn  eS  unter  ihnen  ©{jrenbejeugungen  unb  Seloßnungen  hier- 
für gäbe.  Unb  wenn  ein  foldjer  wieber  in  bie  |)öf)le  ^iitab> 
ftiege  unb  ben  früheren  ©ij)  eittnäfjme,  fo  würbe  il)m,  ba  feine 
?(ugen  mit  Sunfelßeit  erfüllt  wären,  gefagt  werben,  er  fei  mit 
oerberbten  Slugen  ^erabgefommen.  „Unb  würben  bie  ©e- 
feffelten,"  fragt  ©ofrateS,  „nid)t  Sen,  ber  gemanbeit  ju  ent» 
feffeln  unb  ^inaufgufü^reit  »erfucfjtc,  fönnteit  fie  irgenbwie  feiner 
habhaft  werben,  fogar  wohl  tobten?"  ©laufoit:  ,,©an$  gewiß, 
beim  3euS."  ©ofrateS:  „SBettn  bu  aber  baS  2tuffteigcn  nad) 
oben  unb  bie  Setradjtung  beS  oben  Sefinblichett  mit  bem  ©id)> 
ergeben  ber  ©eele  ju  bem  Sereidje  beS  ©ebenfbaren  ^ufammeit- 
ftedft,  fo  wirft  bu  baS,  was  td)  hoffe,  nid)t  »erlernten,  aber  nur 
ein  ©ott  weiß  wofjt,  ob  eS  mit  ber  SSaßrßeit  jufammentrifft." 

Sie  ^latonifdjeit  Sbeen  unb  bie  $atttifd)en  Singe 
an  f icf)  betrachtet  fornit  ßöKner  als  räumtidje  Objefte  »ott  meßr 
als  brei  Simettfioiten,  bie  in  bemfelbeit  ©inn  baS  „wahrhaft 
©eienbe"  barfteden,  wie  bie  ftörperwelt  gegenüber  ben  Silbern 
auf  ber  9fefcl)aut.  (SJfatt  wirb  fagen  bürfen,  baß  göüner  bei 
feinem  Suchen  ttad)  ©efinttungSgenoffen  hierin  ju  weit  geführt 
wirb,  unb  baß  ifUato  felbft  ber  ©rftauntefte  Wäre,  wenn  er 
oon  biefen  feinen  oierbimenftonalett  9iaumanfchauungett  Ätunbe 
erhalten  föitnte.) 

©uchen  wir  (immer  ltocf»  fd)einbar  3öduer  fotgenb)  bie  neu 

(597) 


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gewonnene  $tnftf)auung  auf  bie  rein  pf)i)fifalifc^en  Probleme  anju> 
wenbett.  91ad)  ©aujj  laffen  ficf)  äße  Söirfungen  eines  9RagnetS  auf 
anbere  Körper  burd)  tnagnetifdje  gluiba  erflären,  welche  auf 
feiner  Oberfläche  (einem  jtueibimenfionolen  fRaum)  in  beftimmter 
SBeife  oertheilt  fittb.  ®ie  Gntbecfung  ber  Schiebungen  beS  SDfagne- 
tiSmuS  jur  Gleftricität  legte  eS  nabe,  bie  Sertbeilung  ber  ntagne- 
tifeben  Jfuiba  on  ber  Oberfläche  ber  Äörper  ju  erfetjen  burd) 
^Bewegungen  eteftrifdjer  ÜRoIefuIarftröme  int  inneren  ber 
Körper,  alfo  in  einem  breibimenfionalen  fRautn.  Slber  wenn 
and)  bie  magnetifefjett  @rfcf)einungen  auf  bie  eleftrifcben  jurüd= 
geführt  finb,  fo  ift  bod)  baS  SBefcn  ber  Gleftricität  noch 
fo  rätbfelbaft  ntie  jtwor.  Söäre  eS  nidjt  bettfbar,  bie  Sraft  ber 
<5teftricität  unb  ber  Schwere  auf  medbanifc^e  ®rutf>  unb 
Stofjfräfte  ju  rebujirett,  inbem  ein  weiterer  Sd)ritt  geinagt 
wirb?  Taff  wir  eS  mit  einer  wcnigftenS  jcf)on  biSfntirten  grage  hu 
tfjun  haben,  möge  man  barauS  erfefjen,  bajj  einer  ber  jugleidj 
nüdjternften  unb  fdjärfften  Seurtbeiler  naturpl)ilofopbifcber 
fßrobleme,  s.ßrofeffor  2Rad)18  in  ißrag,  fidj  nicht  freute,  bie 
^Infidjt  auSjufpredjen : baß  „ber  ©runb,  warum  eS  bisher  nicht 
gelungen,  eine  befriebigettbe  Xh^orie  ber  Gleftricität  her^ufteHen, 
nief(eid)t  mit  baran  liege,  baß  ntatt  fidj  bie  eleftrifdjen  (Srfdjei- 
nungen  burdjauS  bureb  ÜRolefularoorgängc  in  einem  breibinteit- 
fionalett  fRaum  erflären  wollte". 

fRiemann  betrachtete,  nach  ben  SKittheil'ungen  eines  feiner 
•Schüler,  „jcbeS  materielle  Sltom  als  einen  Gintritts- 
puttft  ber  »ierten  Simenfion  itt  beit  breibimenfionalctt 
IRaum."  Gr  fagt:19  „Sou  biefer  $batffldje  geleitet,  mache  id) 
bie  /pppotbefe,  bafj  ber  SBeltraum  non  einem  Stoff  erfüllt  ift, 
weldjer  fortwähreub  in  bie  ponberablcn  ?ltome  ftrömt  uttb  bort 
aus  ber  GrfdjeinuugSwelt  (ftörpcrwelt)  werfdjwinbet.  3»  jebes 
pottberable  Sltont  tritt  in  jebem  ülugcnblicf  eine  beftimmte,  ber 
©raoitati ouSfraft  proportionale  Stoffmenge  ein  unb  erfcheint 

(••>98) 


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33 


bort.  $ie  poitberablen  Iförper  f in b fjiernadj  ber  0rt, 
mo  bie  ©eiftermelt  in  bie  Hörpermelt  eingreift." 

$ie  bielbejüglidjeu  ©ebanfen  göHncrl  uitb  SRiemannl  finb 
moljl  burd)  folgenbe  Sinologie  am  einfachen  Har  jn  machen. 
3n  einer  ©bene  benfe  man  fid)  jmei  SJIaffenpunfte,  meldje  burdj 
ben  ©influfj  einer  gegenfeitigen  Hnjie^ungSfraft  fidj  ju  nähern 
ftrebeit.  Serbinbet  man  bie  beibeit  fünfte  burd)  ftarre  ©erabeit 
mit  einem  Ißunft  im  9ianm  mtb  benft  fid)  ben  SBinfel  biefer 
©erabrn  jufammengebrüdt,  fo  ift  bie  Slnjiebungsfraft  jroifdjen 
ben  fünften  in  ber  jmeibimenfionalen  ©bene  auf  einen  mecfja- 
nifef»en  3Drud  im  breibimenfionalen  SRaunt  juriicfgefüljrt. 

3it  ber  Sltonttbeoric  ber  ©ßemie  l)nt  fidj  ber  Uebergang 
öon  ber  jroeibimenfioualen  jnr  breibimenfionalen  fRaumanfd)aimng 
fcßon  oolljogen;  bal  djemifdje  SUiolefül  mirb  als  ein  Aggregat 
oon  ©tcmentaratomen  gebaut,  bie  in  beftimmter  Steife  im 
Siaum,  nidjt  meßr  mie  früher  in  ber  ©bene  gruppirt  finb. 
SEBiöliceimö20  j.  19.  mürbe  burdj  eine  Arbeit  über  bie  ißaramildj- 
fäure  »eranfafjt,  bie  S3crfd)iebenl)ei t ifomerer  SDIolefiile  oon 
gleidjer  Strufturformel  burd)  üerfd)iebene  Sagerung  iljrer 
Sltome  im  SRaunt  ju  erflären. 

2>ie  Sltome  aber  ejiftiren  bod)  nur  in  unferem  93crftanb. 
Gingen,  bie  mir  nie  gcfefjen  unb  nie  gelaftet  Ijaben,  legen  mir 
bie  Sejdjränfungen  bes  ©efeßcuen  uitb  ©etafteten  auf,  ba$u 
liegt  feine  SRotljmenbigfeit  »or.  3m  ©egentßeil  entfielen,  fagt 
äRad),  SRadjtljeile  burd)  biefe  ®efdjränf  ungen.  SBeitn  mir 
bie  djemifdjeit  Sltome  nur  nacf)  brei  2)imeufionen 
nebeneinanber  gelegt  benfen,  fo  ift  bie  ^er 

benfbaren  ©ntfernungen  größer,  all  bie  $al)t  ber 
in  biefem  fRaum  möglidjeit  ©ntfernungen.  3n  ber  Xljat, 
ein  SDiolefiil  bcfteße  j.  S.  aus  fünf  Sltomen  A,  B,  C,  I).  E, 

0 4 

fo  finb  jroifdjen  ifjnen  ober  10 ©ntfernungen  benfbar,  aber 

1 . £ 

Sammlung.  ».  %.  V.  112.  113.  3 (3W) 


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34 


nur  9 unabhängige  ©ntfernungen  möglich  (gig.  7);  b.  h-  bie 
jetinte  noch  beitfbare  Entfernung  DE  ift  oermöge  ber  ©igenjdjaft 
btefeS  Raumes  fcfjon  mitbeftimmt,  matt  fann  über  biefetbe  nicf)t 
mehr  frei  oerfügen.  @3  ift  nicht  möglich,  bie  ©ntfernung  DE 
allein  objuänbern,  ohne  baburch  bie  übrigen  ©ntfernungen  ju 
änbern,  otfo  nicht  möglich,  fid)  mehrere  fünfatomige  ifomere 
9D?oIefüIe  ju  benfen,  bie  fi<h  nur  burcf)  bie  ©ejie^ung  gwif<heit 
D unb  E unterfdjeiben.  2Bof)l  ober  finb  in  einem  oierbimen- 
fionaten  Slaum  für  fünfatomige  SDlolefüle  jefjit  unabhängige 
©ntfernungen  nicht  nur  benfbar,  fonbern  auch  ^erftellbar. 

SBetm  hier  oon  betreten  ÜJlolefülen  unb  Atomen  bie  Siebe 
ift,  bie  einen  Körper  unftetig  erfüßen,  fo  werben  SlngiehungS- 
unb  SlbftofjungSfräfte  jwifchen  ben  Sltomen, 
alfo  unoermittette  gernwirfungen  nicht  als 
unbenfbar  angenommen  werben  tnüffen. 
QDer  ©ebanfe  oon  gern wirfungen  ohne 
oermittelnbeS  SJlebium  hat  für  3ößnft 
fo  wenig  als  für  Slewton,  Sfant  unb  SHad) 
etwaö  ©rfchrecfeitbeS.  2öo  ejiftirt  beim 
ber  Körper  A,  ber  auf  einen  anberen 
Körper  B wirft?  fragt  flöDner  — über- 
einftimmenb  mit  ÜDiacf).  Söenn  bie  Antwort  tautet:  bort,  wo 
unfer  SBerftanb  einen  $he'l  ber  »oit  ihm  erjeugteit  unb  oon  unS 
wahrgenommenen  SBirfungeu  ^iuöerfe^t,  fo  ejiftirt  j.  93.  ber 
üJlonb  an  ber  ©rboberfläche,  infofern  er  bie  gluthwelle  beS 
ÜDleereS  ergeugt.  Statt  beS  atten  fdjolaftifc^en  ©rnnbfafceS: 
ein  Körper  fann  nicht  ba  wirfen,  wo  er  nicht  ift,  ließe  fid) 
oietmehr  fagen:  ein  Sörper  wirft  nic^t  ba,  wo  er  ift,  fonbern 
er  wirft  ba,  wo  er  nicht  ift.  SEBenn  bie  2icf)tftrah(en  eine« 
neuaufftammenben  unb  nach  Monaten  wieber  oertöfchenben 
Sterns,  wie  g.  93.  beS  Sterns  oon  1885  im  Siebet  ber  Stnbro- 

meba,  unfer  Singe  treffen,  fo  wirft  auf  ber  Slefchaut  besfetben 

(600) 


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35 


ein  Körper,  ber  wogt  Bor  Bielen  £aufenb  Sauren  burdj  3U* 
fammenftoß  mit  einem  anberen  in  krümmer  gegangen,  ber  alfo 
gar  itid)t  mehr  als  folcher  ejiftirt.  Ron  bem  beftimmten  Orte, 
an  bem  fich  ein  Regenbogen  befinbe,  fann  nid)t  wol)l  bie  Rebe 
fein,  ba  biefer  jebem  öefdjauer  an  anberem  Ort  erfd)eint  u.  a. 

aud)  SeriihrungSwirfuitg  ift  nur  ein  fpecieKer  gaß  öon 
gernwirfung,  roo  ber  abftanb  gu  (lein  ift,  um  gemeffen  werben 
ju  föitnen.  außerbem,  wenn  eine  JSfugel  meine  §anb  brütfl, 
fü  fann  nicht  behauptet  werben,  baß  ber  gange  ftörper  ba 
ejiftire,  wolfin  ich  bie  25rurfempfinbung  oerlege,  nämlich  an  ber 
RerührungSfteße;  berfelbe  Raum,  ben  ein  Körper  einnimmt, 
fann  nicht  gleichgeitig  Bon  einem  gweiten  Körper  eingenommen 
werben. 

«Ifo,  ffernwirfungen  gwifdjen  Atomen  bflben  wenigftenS 
nidft  mehr  Räthfelhafte«  an  fid),  als  unmittelbare  S)rucf« 
wirfungen. 

3.  Slber  biefe  atonte  ober  SDfonaben  ober  Sfraftcentren, 
wie  wir  fie  heißen  mögen,  fiub  für  Zöllner  empfinbenbe  SBefeti, 
mit  S3uft*  unb  Unluftgef fielen;  alle  ^Bewegungen  ber  atome  uitb 
i^rer  aggregate,  ber  Störper,  gehen  fo  Bor  fid),  al«  ob  fie  ben 
unbewußten  3wecf  oerfolgten,  bie  Summe  ber  Uitluftempfinbungen 
gu  einem  SRinimum  gu  machen. 

Ober  oielnxehr,  logifcherweife  muß  ^ötluer  fließen: 
nicht  bie  atoine  felbft  befigeu  ffimpfinbungen,  fonbern  bie  hinter 
ihnen  ftehenbeti  oierbimenfionaleu  „$iuge  an  fid)",  Bon  welchen 
fie  bie  breibimenfionalen  Rrojeftionen  finb;  ähnlich,  wie  wir 
nicht  ben  au  einer  üöanb  fid)tbareu  Scffatteu  gweier  miteinanber 
ftreitenben  äRenfdfen  Smpfinbungen  beilegen,  fonbern  biefen  felbft. 

$er  legte  Schritt,  ben  oierbimenfionalen  Raum  mit 
intelligenten  SBefen  (©eifteru,  Spirit«,  tranfcenbentalen 
Subjeften,  aftralmefen)  gu  beoölfern,  gu  beneit  bie  Rienfdjen  in 

beftimmter  Regielfung  ftegen  unb  bie  gelegentlich  in  uuferen 

3*  (601  > 


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36 


SrfahrungSraum  eingreifen,  war  fomit  für  3öQner  nur  ein 
Heiner.  Anfangs  jögernb,  trat  er  fpäter,  eingenommen  ton  bcn 
23orfüf)rungen  beS  fülebiumS  ©labe,  welches  5l!jafom  aus 
Slmertfa  fjatte  fommen  Iaffen,  mit  bem  ganzen  ©ereilt  feiner 
^ßerfönfid)feit  für  bie  feit  etwa  1840  neuerbingS  in  ©djwung 
gefommenen  Sehren  beS  Spiritismus  ein,  unterftüßt  ton 
Ulrici,  3.  ®.  gic^ie  u.  Ä.  SBie  burd)  bie  fiöfung  metaphhfifdjer 
Söiberfpriiche  bie  Syiftenj  beS  tierbimeufionalen  SRaumeS,  fo 
fdjien  ihm  burd)  bie  fpiritiftifc^en  Sjperimente  bie  Sjifteng 
ber  ißn  bewohnenben  tierbimenfionalen  ©eifter  bemiefen  ju 
fein  unb  gelegentlich  ein  SieblingSwunfd)  beS  großen  ÄönigS- 
berger  ^Sfjilofop^en  in  SrfiiHung  gegangen.  Sia  nt,  ber  gegen« 
Wcirtig  mit  einer  geraiffen  Smfigfeit  ton  ben  ©piritiften  als 
SBorläufer  beS  mobenten  Sßft)chiSmuS  in  Slitfprud)  genommen 
toirb,  fagt  in  bcn  „träumen  eine«  ©eifterfeherS"  :31  ,,3d)  gefte^e, 
bah  id)  fe^r  geneigt  bin,  baS  ®afein  immaterieller  Staturen  in 
ber  SBelt  gu  behaupten  unb  meine  ©eele  felbft  in  bie  Älaffc 
biefer  SBefeu  gu  terfeßen.  ($4  fcfjeint,  ein  geiftigeS  SBefeit  fei 
ber  SRaterie  innigft  gegentoärtig,  mit  ber  eS  oerbunben  ift,  unb 
wirtte  nicht  auf  biejenigen  Strafte  ber  ©(erneute,  womit  biefe 
untereinanber  in  5ücr^ältniffen  fiitb,  fonbcrn  auf  baS  innere 
ißrinjipium  ihres  ßuftanbeS.  SS  wirb  fünftig  — id)  weiß 
nicht  wo  unb  mann  — noch  bemiefen  werben,  baß  bie 
menfdjlidje  ©eele  aud)  in  biefem  Seben  in  einer  un* 
aufhörlid)  terfnüpften  ©emeinfehaft  mit  allen  im- 
materiellen Naturen  ber  ©eifterwelt  ftefje,  bafj  fie 
wechfelweife  in  biefe  mirfe  unb  oon  ihnen  Sinbrüde  empfange, 
bereit  fie  fith  aber  als  Sftenfd)  nicht  bewußt  ift,  fo  lange  alles 
woßl  fteßt.  SS  mürbe  fdfön  fein,  wenn  einebergleichen 
fhftematifche  Sßerfaffung  ber  ©eifterwelt,  wie  wir  fie 
torfteüen,  nicht  Iebiglidj  aus  bem  begriffe  »on  ber  geiftigen 

Statur  überhaupt,  ber  gar  ju  feßr  hßpothetifd)  ift,  fonbern  aus 

(602) 


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37 


einer  wirtlichen  unb  allgemein  jugeftanbenen  ©e* 
obadjtung  fönnte  gefcf> loff en  ober  aud)  nur  wahr* 
fdjcinlich  oermuthet  werben." 

S5ie  üielumftrittene  grnge,  ob  biefe  Sleu&erungen  SantS, 
fowie  bie  noch  auffallenberen  in  ben  ©orlefmtgeu  über  Pfpdjo* 
logie"**  in  feine  oorfritifcf)e,  bejro.  nadjfritifdje  Periobe  $u 
rechnen  finb,  itnb  ob  baS  „tranfcenbentalc  ©ubjeft"  oon  ihm 
oierbimenfional  gemeint  mar  ober  nicf)t,  enblich  bie  grage  über 
feine  Stellung  gegenüber  bem  ©eher  ©weben borg  muß  fyier 
unerörtert  bleiben,  ©enug,  bie  oierte  3)imenfion  erwies  fi<h  für 
^tjantaften  wie  3ößncr  u.  f.  w.  als  feljr  geeignet,  auf  bie  ©r* 
flärung  ber  behaupteten  überfinulichen  2öahmef)mungen 
aller  2lrt  überrafd)cnbeS  Sidjt  ju  werfen. 

®ie  fpiritifiifchen  Phänomene  Iaffen  fiel)  itt  pfjpf  ifalifdje 
unb  intelleftuelle  fdjciben.S3  3U  ben  erfteren  ift  ju  redjncn : 
©emegung  oon  Jifdjeu,  ©tüf)len;  ©eieben  oon  ©pajierftöcfen, 
Pantoffeln  mtb  ©efenftielen;  munberbarcS  SBerfen  oon  ©egen* 
ftänben;  ©eifterflopfen  (Cutter  oernaljm  auf  ber  Söartburg 
einen  fiärm,  „als  würfe  man  ein  ©djocf  gäffer  bie  ©liegen 
herab");  efftafifdjeö  Schweben  oon  perfonen  über  bem  ©oben 
($.  SgneS,  fiuitgarbiS,  Peter  oon  Sllcantara,  ber  fid)  währettb 
beS  SJieffelefetiS  bis  an  baS  Sirdhengemölbe  erhob) ; ©erminberung 
ber  Schwere  (bie  fchmimmenbc  Sljt  beS  Propheten  @(ifa); 
|>ejenproben;  ©eibringen  gewünfchter  ©egenftänbe;  Slblenfung 
ber  äJtagnetnabel  burd)  eine  entfernte  Perfon ; fiöfung  oon 
Sfnoten  in  einem  gefdjloffenen  gaben;  Unempfinblidjfeit  unb 
Unoerlefjbarfeit  gegenüber  oon  glühenbeit  Sohlen,  Sreujigung, 
goltern  unb  fragen  oon  heißem  ®ifen;  unfidjtbare  ©eifter* 
mufif;  Srfcheinungen  („ÜJiaterialifationen")  oon  ©eiftent  ober 
loenigftenS  einseiner  ©liebmaßen  berfelben  (bie  weihe  fpanb  beim 
©aftmaßl  beS  ©elfajar,  ©uch  2)aniel;  gufjabbrüde  bei  ben 

Sjperimenten  ©labeS,  Photographin  oon  3öHner);  doppelte 

(60- ) 


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38 


(Erfd)einung  berfelben  ©erfon  („boppette«  ©efidjt",  gforence 
(Eoof,  ßatie  Sting,  ©cnfitiüe  oon  ©rof.  (SroofcS);  Turchbringung 
bcr  ©iaterie  (gefc^foffener  Thiiren,  genfter  ic.).  ©on  inteflef- 
tueßen  ©bänomencit  feien  ermähnt:  ©cifterfchr  ei  ben  („(Emauu- 
leftor",  gnftrument  erfunben  oon  Gare  jur  (Erleichterung  be« 
©erfehr«  mit  ben  ©eifterti);  Geflfehen  unb  SSeiSfagen  uon 
(Somnambulen , ©ifiouären,  (Efftatifern  unb  ^ppnotifirten,  — 
beförbert  ober  erwecft  u.  a.  burd)  fRarfotifa  (SomatranF  ber 
©rahminen,  ^>afd)ifcfj  ber  Orientalen,  ÜRepcnthe«  Römers,  SRotp), 
burd)  Tempeljchlaf,  ÜRufif  unb  Tanj  (©rojeffioiten  ber  Stftarte, 
SRelptta,  $efate;  ©abäiSmu«  ber  Äanaaniter,  tanjenbe  unb 
peulenbe  Termine),  burch  abgefonbertc«  Seben  unb  Slufentfjalt 
in  unmirtfj(i<fjcn  ©egenben,  burd)  SuSftrömungen  be«  ©oben« 
unb  ber  ©ewäffer  (Orafel  ju  Tetppi,  ©ibpDe  Telpbobe  in  ber 
Göple  am  Sloernerfee),  burch  Slnfchouen  oon  (Ebelfteinen  (Urim 
unb  Sbuinmim),  oon  Ningen  (5)a!tpIomantie),  gtanjenben  2Retaß* 
bechern,  ©piegetn  unb  reinem  SBaffer  (Äatoptromantie,  §pbro« 
mantie),  burd)  ©eftreichen  ber  gingernäget  mit  geweihtem  Oel 
(Cnimantie).  ferner:  (Erhöhung  ber  ©erebfamfeit,  ©predjen  in 
fremben  Sprachen;  (Erfcheinung  berfetben  ©ifion  bei  oielen 
©erfonen  ju  gleicher  3ert  (fompfenbe  ©charen  in  ber  Suft, 
äRaffabäer  £ap.  5;  $e’chCI1  oor  ber  3erf*örung  gerufatem«), 
röthfelhafte  ©erbreitung  oon  Nachrichten  (©erferficge  bei  ©latää 
unb  Nihfafe,  granjofentag  1848);  geiftige«  SSirfen  in  bie  gerne 
(„Telepathie"),  geftbamten,  SBißenäubertragungen  u.  f.  w. 

Tabei  ift  ber  ©pirittömuS  fo  alt  unb  fo  oerbreitet  loie 
bie  SRenfchheit;  bie  fflerichte  oon  ben  (Experimenten  ©labe«, 
oom  Toftor  gauft,  ber  weifjen  grau,  ben  Gegenproben,  bcr 
2BünfcheIruthe  unb  bem  Tifchleimbed-bid)  firtben  fiep  in  anberer 
gorm  in  bem  äRiirchen  oon  bem  3flU&erftob  ber  (Sirce,  Slaroit« 
bliihenbem  ©tab,  bem  SRebijinfad  be«  Slmerüaner«  unb  in  ben 
©rjählungen  oon  ben  ägpptifchen  3auberern  unb  ben  SBunbern 

<604 


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39 


beö  ßcil.  SltnbrofiuS  lieber;  bo8  Jifdjrüden  ift  bei  ben  ©ßinefen 
unb  ben  Snbianern  ooit  Soma  ebenfo  im  ©djroung,  mie  e3  in 
©uropa  um  bie  üDiitte  beS  SafjrßunbertS  ©efeQfdjaftSunterßattung 
bilbete.  Jer  moberne  ©piritiSmuS  foH  8 — 11  SJiiHionen 
Snßänger,  befonberS  unter  ben  gebilbeten  ©tänben,  umfaffen, 
bie  itjre  ©rlebniffe  mtb  2lnfid)ten  in  25  periobifcßen  .ßeitfdpriften 
unb  fjunbert  unb  aber  ßunbert  felbftänbigen  Sßerfen  nieber legen. 

leichter  für  3öllner,  al$  &■  ©•  ba3  ^ellfe^en  unb 
bie  geiftige  $ernmir!ung  erftären.  3unädjft  groei  ©eifpiele. 
©oetße*4  fagt:  „Unter  Hiebenben  ift  biefe  magnetifdje  $raft 
befonberä  ftarf  unb  mirft  fogar  in  bie  $erne.  Sdj  l>abe  in 
meinen  Sünglinggjaßren  $älle  genug  erlebt,  mo  mid)  auf  ein* 
famen  ©pagiergängen  ein  mächtiges  ©erlangen  nadj  einer  ©e> 
liebten  überfiel,  unb  mo  id)  fo  lange  an  fie  backte,  bis  fie  mir 
mirflid)  entgegenfant.  ©§  mürbe  mir  in  meinem  ©tübdjen  un* 
leiblich,  fagte  fie,  id)  fonnte  mir  nidjt  meljr  ßelfeit,  id)  mußte 
ßierßer."  ißrofeffor  ©epp  in  ÜOlündjen  erjä^Ite  mir  einmal 
fofgenbe  öon  ißm  fetbft  menigftenS  für  eine  Jfjatfadjc  gehaltene 
©pifobe  aus  feinem  Heben,  bie  id)  nadjljer  in  feinem  ffikrf  über 
ißaläftina  nad)la§ : ©r  litt  ©cßiffbrud)  im  SDiittelmeer,  fdjmamm 
auf  ben  SSefleit  unb  mar  jeben  ?tugenblicf  gemärtig,  „au§  ber 
großen  ©d)ale  gu  trinfen";  ba,  in  ßöd)ftcr  JobeSnotß  erfaßte 
ißn  ber  lebhafte  SBuitfd),  ben  geliebten  ©Item  in  ber  fernen 
$eimatf)  burd)  gerumirfung  beS  ©eifteS  infolge  nerööfefter  ?tn* 
fpannung  ber  ©nergie  ben  teßteu  ©ruß  gu  übermitteln;  eine 
SBeQe  marf  iljn  oßitmäcßtig,  aber  lebenb  anS  Ufer,  unb  al§  er 
nad)  3aßr  unb  Jag  gurüdfeßrte,  erfuhr  er,  baß  feine  ©Itern, 
©eibe  unb  gleichzeitig,  burd)  lebhafte  Slßnungen  öon  feiner  ©efafjr 
in  Äenntniß  gefcßt  maren. 

Jenfen  mir  un§,  mir  ergeben  un§  au§  einer  ©bene  (groei* 
bimenfionaler  iRaum)  in  einem  HuftbaQon  in  bie  §ößc  (britte 
Jimenfion),  fo  genießen  mir  einen  meiteren  Umblid,  al§  bie  in 

(605) 


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40 


ber  Ebene  Stefjenben;  luir  oermögen  in  betreff  eines  erwarteten 
EifenbaljnjugS  auf  längere  $eit  oorauSjufagen,  baß  er  ^eran- 
nahe,  wir  finb  im  ftanbe  in  weite  gerne  geidjen  J'1  geben  ur*b 
gegebene  geilen  ju  bemerfen;  fur^,  ber  jroeibimenfionale  Staum 
ift,  non  ber  britten  $imenfion  aus  betrachtet,  nach  allen  Seiten 
bin  ein  offener.  Sinolog  müßten  uns  breibimcnfionale  um- 
fdjloffene  9täume,  aus  ber  Dichtung  ber  öierten  ®imenfion  be- 
trachtet, a(S  offen  erlernen,  unb  gwar  in  einem  um  fo  größeren 
Slbftanb  oon  bem  Ort  unfereS  ftörperS,  je  höher  fief)  bie  Seele 
nach  ber  »ierten  ®imettfion  erhebt.  ES  finbet  hierbei  mit 
waeßfenber  Erhebung  nach  biefer  vierten  ®imenfion  in  ähnlicher 
SBeife  eine  Erweiterung  beS  breibimenfional  iiberfchauten  9taumeS 
ftatt,  wie  bei  ber  Erhebung  über  bie  ©rboberflädje  nach  geome» 
trifchen  ©efeßen  eine  Erweiterung  ber  jweibimenfional  über- 
fchauten  |>ori$ontalfläche  ftattfinbet.  So  erhob  fid}  alfo  in  bem 
angeführten  Beifpiel  bie  Seele  Sepps  in  bie  oierte  Sitnenfion, 
unb  oon  hier  aus  war  eS  ihr  eine  ftteinigfeit,  über  baS  SDiittel- 
meer,  gtalien  unb  bie  Schweij  weg  nadj  £eutfd)lanb  ju  blitfen. 

SS  ift  ju  erwarten,  bemerft  Zöllner,  baß  oon  Beginn  beS 
helljehenben  3uftanbeS  mit  wachfenber  Entwitfelung  beSfelben 
fucceffit)  eine  Erweiterung  beS  geiftigen  ©efichtSfreifeS  eintreten 
müßte,  b.  h-  bie  förperlidjen  ®inge  müßten  für  bie  Seele  in  immer 
größerem  Slbftanb  burchfießtig  werben;  ja,  man  fönnte  fogar  ein 
®?aß  für  bie  ©röße  ber  Erhebung  in  bie  oierte  ^imenfion 
ermitteln,  falls  meßbare  Beobadjtuitgen  über  bie  robial  nach 
allen  ©imenfionen  wachfenbe  gernficht  einer  allmählich  in  ben 
magnetijdjeit  Schlaf  oerfejjten,  heöfehenben  Somnambule  an* 
geftellt  werben  tonnten. 

3n  ber  $hat  befdjrcibt  ber  amerifanifdje  .gieflfeher  S)aoiS 
feine  behaupteten  SSafjrnchmungeu  im  magnetifchen  Schlaf  unter 
anbcrein  mit  ben  SBorten: . . . „$er  ÄreiS  meines  SdjauenS  begann 
fid)  jefjt  ju  erweitern,  gunädjft  tonnte  ich  bie  Stauern  beS 

C«W) 


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41 


DaufeS  beutlid)  mahrnehmen.  Ülnfangg  erfdjienen  fie  mir  bunfel 
unb  finfter;  aber  halb  mürben  fie  geller  unb  bann  burdp 
fdjeinenb.  3<h  founte  je^t  bie  ©egenftänbe,  ba«  fpauSgeräth 
unb  bie  ©erfüllen  in  bem  angrcnjenben  $auje  ebenfo  feidjt 
fefjen,  roie  bie  in  bem  Zimmer,  in  meinem  ich  mich  befanb. 
*2fber  meine  SBa^rne^mungen  floffen  uodj  meiter.  ®ie  meite 
Oberfläche  ber  @rbe  mürbe  Diele  Rimberte  Don  SÄeilen  Dor 
meinen  umf)erfd)roeifenben  ©liefen,  bie  beinahe  einen  fpalblreiS 
bejdjrieben,  burdjfichtig  mie  SBaffer,  unb  ich  fab  bie  ©ef)irnc, 
bie  Sitigemeibe  unb  bie  Doüftänbige  Slttatomie  ber  £h*ere,  welche 
in  beit  SBälbern  ber  öftlichen  fpemifphäre  umherftrciflen,  ^unberte 
unb  Staufenbe  Don  SRcilen  Don  bent  Zimmer  entfernt,  in  meinem 
ich  biefe  Seobadjtungen  anftellte." 

©teilt  man  fich  ferner  Dor,  man  betrachte  ba«  Treiben 
auf  einer  belebten  ©trafje  in  einer  camera  obscura,  fo  fcheinen 
ade  Seränberungen  ber  ©egenftänbe  in  einer  ©bene  Dor  fid) 
ju  gehen;  ©erfonen,  bie  fich  nähern,  oergröjjern  fich;  folc^e,  bie 
fich  entfernen,  Derfleinerit  fich;  mürbe  eine  fefjr  bünne  ©latte 
in  ber  ^Richtung  gegen  fie  f>er  getragen  unb  roährenb  be$  ÜragenS 
mannigfach  bemegt,  fo  mürbe,  je  nachbem  bie  ©bene  ber  ©latte 
gegen  bie  Silbebene  ber  camera  geneigt  ift,  biefelbe  einmal 
größer,  einmal  Heiner  ju  merbeit,  jeitmeife  fogar  ju  Derfchminben 
fcheinen.  @3  mürben  fich,  falls  mir  bie  mirflidjen  Serhältniffe 
nicht  fennten,  für  uns  SEBiberfprüche  mit  bem  ©efe$  Don  ber 
©rljaltung  ber  Stoffe  ergeben:  biefe  löfeit  fich  aber  burd)  bie 
Annahme,  bafj  jene  fcheinbar  in  ber  gmeibimenfionalen  ©bene 
Dor  fich  flehenben  Semegungcn  in  SBirflichfeit  im  breibimenfionalen 
fRaum  erfolgen.  Slnalog  erflärt  fid),  für  Zöllner  unb  feine 
©artei  unter  ben  (ehrlichen)  ©piritiften,  ba$  unoermittelte 
©rfepeinen  unb  Serfdjminben  Don  ©egenftänben  ober 
©erfoneit  ober  einzelner  ©liebmafjen  berfelbcu  burd) 
geeignete  ©tellung  biefer  in  SBirflichfeit  Dierbimenfionalen 

(607) 


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42 


©egenftünbe  ober  ißerfonen  gegen  unfcren  breibimenfionalen 
9taum. 

3-  SB-  für  bie  ©rflärnng  beS  ^erauä bringend  ber 
©djrottugel  aus  ber  gefcf)loffenen  ©laSfugel  o^ne  3cr* 
brechen  ber  (enteren  ift  folgenbe,  wenn  aucfy  etwa«  trioiale 
Ueberlegung  fet)r  befannt:  $D?an  benfe  fid)  intelligente  SBefen, 
welche  in  einer  ©bene  [eben  unb  »on  einer  §ölje  nichts  roiffen; 
il)r  Staum  ift  bie  ©beite,  unb  ein  s-ßunft  A.  fann  für  fie  nad) 
einem  anberen  Crt  B in  ber  ©bene  nur  gelangen  burd)  ®er= 
fdpebung  in  ber  ©bene.  3n  ber  ©bene  fei  (gig.  8)  ein  &rei« 
mtb  barin  ein  (jweibimenfionaler)  Sörper  A.  SBenn  nun  ber 
Körper  plöfclid)  au«  bem  $rei«  »erfdjwunben  ift  unb  fid)  aufecr- 
l)alb  in  bem  ißunft  B ber  ©beite  oorfinbet, 

Ouitb  menn  fämttic^e  bie  $rei§peripl)erie 
bewo^nenbe  Söefen  »erfidjern,  bafj  ber  $reiS 
»on  bem  Körper  nic^t  paffirt  morben  fei, 
fo  mirb  allgemein  unter  jenen  Söefen  an» 

g.fl  8 genommen  werben,  eS  liege  Setrug  ober  3»u* 

berei  »or.  ©in  befonbereS  intelligenteg 
3nbi»ibuunt  mirb  bann  »ießeidjt  auf  ben  ©ebanfen  fommen, 
bafj  ber  Äörper  »on  einem  SEBefen  in  ber  britten  ®imenfion  in 
ber  SRidjtung  nad}  ber  festeren  »erfe^t  unb  bann  aufjerljalb  beS 
ÄreifeS  mieber  in  bie  ©bene  jurüdgelegt  fei.  333 ir  finb  folcfje, 
einen  breibimenfionalen  fRaum  bewoljnenbe  Söefen;  nidjtS  leister 
für  uns,  als  biefe  3öu&erei  auSjufüfjren.  ©teigen  mir  eine 
«Stufe  auf  unb  beulen  uns  eine  ©laSfugel  unb  ein  «S^rotlom 
barin,  fo  genügt  eS,  um  baS  Sdjrotforn  batauS  ju  entfernen, 
bafj  ein  Söefett  in  einem  »ierbimenfionalen,  ben  unferigen  aß- 
feitig  umgebenbett  SRaum  in  unferen  breibimenfionalen  fRaum 
eingreife,  bie  ©laSfugel  famt  ©djrotforn  nad)  ber  »ierten 
SDimenfion  entriide  unb  beibeS  fo  jurüdfüljre,  bafj  ficf>  notier 

baS  Sdjrotforn  außerhalb  befinbet. 

(608) 


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43 


$ag  gnnere  einer  ©cgleife,  wie  in  gig.  9 b,  wäre  für 
folcge  aweibimenfionale  SEÖefeit  ein  gesoffener  SRaum.  Slug 
einem  gaben  a lägt  ficg  biefelbe  gerftellen,  erfteng  innerhalb 
ber  @betie,  inbem  ber  eine  £geil  BC  um  360°  um  B gebregt 
wirb  (unb  oon  jenen  gebacgten  SBefen  nur  auf  biefe  SBeife), 
jweiteng  innergalb  beg  breibimenfionalen  ©aumeg,  inbem  ber 
gaben  a juerft  in  bie  Sage  c,  bann  burcg  ^eraugbregen  aug 
ber  @bene  in  bie  Sage  b übergefügrt  wirb,  wobei  in  legterem 
gaü  bag  @nbe  C in  berfelbett  jRicgtung  bleibt.  Slnalog  liege 
ficg  ber  Knoten  d erfteng  im  breibimenfionalen  SRaurn  burcg 
3)regen  oon  BC  um  360  °,  gweiteng  unb  einfacher  in  einem 
oierbimenfioitalen  ogne  Slenberung  ber  ©icgtung  BC  fcgürjen 
unb  löfen;  — ein  ©ebanfeu* 
gang,  ber  fitg  mit  3ugülfe> 
nagme  oon  oier  Variablen 
aucg  in  aller  Strenge  in 
bie  Spracge  ber  ÜJlatgematif 
überfegen  lägt  (©imong, 

Klein,  Jfjoppe,  ©cgiirlein), 
womit  aber  natürlicg  fein 
matgematifcger  ©eweig  für 
bie  SDiöglicgfeit  beg  ©cglcifenejperimentg  gegeben  fein  foll.35 

35ie  ©ebingungen  — fagt  göHner  unter  welcgen  unfere 
(£rfenntnig  oon  ber  3Belt  fortfcgreitet,  liegen  in  ben  33 i ber» 
fpriicgen  beg  2)enfeng  mit  ben  £gatjacgeit  ber  ©eobaigtung. 
SDic  erwägnten  fpiritiftifdgen  SBagrnegmungen,  wie  ©erminberung 
ber  ©cgwere,  2)urcgbringung  ber  SDlaterie,  totale  ober  partielle 
©eiftererfcgeinungen,  beweifen  bag  ©orficggegen  gewiffer  ©er« 
änberungen  an  itnferer  Körperwelt,  inbem  „bie  ©eifterwelt  in 
bie  Körperwelt  eingreift".  (gefegt  eg  jagen  in  ber  ©onbel  eineg 
Suftballong  jwei  Sßerfonen  ficg  gegenüber,  in  fo  bicgtem  ©ebel, 
bag  bie  gnfaffen  jcbeg  ©licfeg  auf  bie  @rbe  unb  ben  bewölften 

(609) 


•d B C,a 

4 bQ c {b 


3ifl.  »• 


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44 


Fimmel  beraubt  mären,  unb  fie  empfänben  plöjjlid)  einen  ®rucf, 
ber  fie  mit  unfidjtbarer  ©eroalt  ouneinanber  ju  trennen  fudjte, 
unb  fie  bemerken  jugleid),  roie  ein  an  einem  fpiralförmig  ge» 
munbenen  $raf)t  aufgefjängteS  ©eroidjt  fid)  jn  f)eben  fud)te,  fo 
mürbe  ein  SSefeit,  bem  bie  abfo luten  fRaumoerhältniffe  beS 
©aßonS  befannt  mären,  bcn  le$tereu  in  fdpießer  fRotation  um 
feine  StängSadRe  unb  in  HbroärtSbemegung  begriffen  erfennen. 
|)ätte  ©alilci  ober  SReroton  an  ber  Suftreife  theil  genommen, 
fo  mürben  fie,  öermutffet  gößner,  ohne  jemals  bie  ©rbe  gefehen 
gn  haben,  auf  bie  (Sfiftenj  biefer  ihnen  unfid)tbaren  2BeIt  auS 
jenen  ©rfcljeinungen  gef d)l offen  fyaben,  mie  2c»errier  unb 
HbarnS  auf  bie  Sfiftenj  beS  Neptun  aus  DrtSoeränberungen 
beS  Uranu«  fchloffen,  beoor  ihn  cm  fterblidjeS  Huge  erblicft 
hatte.  Sbenfo  müffeit  mir  auf  bie  ©jrifteuj  einer  anbern,  mit 
intelligenten  SBefen  beoölferten  üierbimenfionalen  Söelt,  bie  uiel« 
leicht  eine  größere  ^Realität  als  unfere  ©innenroelt  befißt,  auS 
ben  fpiritiftifdjen  ^ß^ä nomenen  fcfj  ließen. 

2öaS  berechtigt  uns  überhaupt,  ber  SBeft  unfercr  ©imte 
allein  abfolnte  ^Realität  jujufchreiben?  $>er  Unterfchieb  jroifchen 
ben  ©ilbent  ber  träume  unb  ^paflucinationen,  bie  ohne  Ser« 
mittelung  beS  phpfiologifdjen  ©efidjtSfinnS,  auSgeftattet  mit 
aßen  Slttributen  ber  ©innlichfeit,  in  unferer  ©eele  entfteljen, 
gegenüber  ben  im  geroöhnlicfien  fieben  burd)  Sermittelung  beS 
©eficßtSfinnS  in  uns  erjeugten  bcftebt  nur  in  ber  größeren  2eb* 
haftigfeit,  ©efeßmäßigfeit  unb  Seftänbigfeil  ber  lefcteren.  Huch 
in  ber  ©eele  eines  Hnberen  oermag,  roie  bie  befannteit  h9P' 
notifchen  Serfuche  bemeifen,  ber  inbioibuefle  SBiüe  eines  ein« 
jelnen  SJienfchen  Sorftellungen  gu  erzeugen,  mit  aßen  ©tjmptomen 
berfelben  ^Realität,  mie  mir  fie  ber  uns  umgebenben  fogenannten 
realen  Söelt  beilegen.  3n  ähnlicher  Söeife  toirb  als  Urfache 
unferer  real  genannten  SorfteßungSroelt  ein  inbioibuefleS,  mit 

3ntelligen$  unb  SBillen  begabtes  Söefcn  üorauSgejefct  merben 

ceio) 


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45 


muffen,  gleichgültig,  wieweit  in  quantitatioer  §inficht  bie 
Snteßigenj  unb  ©tärfe  jene«  inbioibueHen  SEBiüeuö  beit  menfcf)- 
licken  überragt. 

3u  welcher  ©ezieljung  fte^t  nun  jene  oierbimenfionale 
©eifterroelt  }u  ber  S33elt  nnferer  ©ittnlid)feit? 

§ier  befonberS  fefct  bie  Dljeorie  ®arl  bu  ©reis  an28 
biejenige  göHnerS  an;  hinter  jebem  Ding  ber  ©innlid)feit 
fteljt  ein  realeres  tranfcenbentaleS  (üierbimenfionaleS)  „Ding  an 
fi<h",  welches  fid)  in  jenem  gleicfjjam  auf  bem  ©rfahriitigSraum 
projicirt.  ?ludj  mit  ber  irbifc^en  ©erfon  jebeS  SRenfchen  ift 
ein  tranfcenbentaleS  ©ubjeft  gleichzeitig;  nur  mit  einem  Dljeit 
unfereS  SSejenS  fiub  mir  in  bie  irbifdje  Orbnung  uerfenft. 
Die  Trennung  beS  irbifchett  SeibeS  üott  bem  „geiftigen  i?eib" 
tritt  ein,  erftenS  im  Seben,  foroohl  uniuillfürlich  (Doppelgänger, 
boppelteS  ©eficht),  als  burch  fremben  SSiflenSzwang  (ßitation, 
§t)pnotif(rung);  zweitens  im  ©terben;  brittenS  nad)  bem  lob 
als  roillfürlidje  .Darfteflung  beS  tranfcenbentalen  „ülftralleibeS" 
(©eifter,  ©efpeitfter)  unb  als  »eranlafjte  Darfteflung  (flftateria- 
lifatiou,  fllefromantie).  Die  ©fiftenz  biefeS  gleichzeitigen  trau- 
fcetibentaleit  SdjS  ober  ÜtftralleibeS,  biefeS  DämoniumS,  baS  uns 
ftetS  begleitet,  zeigt  fid)  unter  aitberen  in  ben  guftänben  beS 
tiefen  ©chlafS,  beS  ©omnambuliSmuS  unb  SüiebiumiSmuS, 
welchen  baS  äRerfmal  einer  Verlegung  ber  ©mpfinbungSfdjroefle 
gemeinfchaftlich  ift,  ferner  in  bem  Doppelgefühl  ber  gieberfranfen 
unb  SBabnfinnigen,  iit  bem  Süden  iit  ainputirten  ©liebern. 
©ei  ben  ©omnambulen  ift  bie  @nipfinbungSfd)Wefle  bauentb  »er- 
legt, alfo  bie  Drenmmg  beS  ©ubftanzleibeS  Dom  §lftralleib  jeher- 
Zeit  möglich;  eine  ©omnambule  ift  Z-  ©•  iw  ftanbe,  in  wenigen 
©efunben  geiftig  eine  fReife  »on  Orleans  nad)  SDieunt)  Zu  unter- 
nehmen, um  bort  eine  fterbenbe  ©djroefter  z«  befudjeti,  unb 
finbet  babei  noch  3e>t,  fich  unterwegs  einige  ©täbte  anzufehen, 
bie  fie  nod)  nicht  fennen  gelernt  (bu  ©rel).  Die  SSunber  ber 

(611) 


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46 


©efjeriit  oon  ißreoorft  (guftinuS  fterner),  bie  finftreifen  ber 
tauberer  unb  ^eycn  je.  erflären  ftc^  fo  oon  felbft. 

Ski  bet  SBicßtigfeit,  welche  biefe  ©heorien  für  bie  fragen 
nad)  bem  SSer^ältitife  uoit  ©eele  unb  2eib  unb  bem  gortleben 
nad)  bem  Job  fabelt  müffeit,  läßt  ftd)  benfeu,  baß  bieXfjeo* 
togie  nidjt  gleichgültig  benfelben  gegenüberftanb. 

Stach  bem  englifcfjen  Sßeojopfjen  §enrt)  SJiore*7  (1614  bis 
1687)  — ber  bie  Slnficfjt  auffteflte,  alle  Körper  ber  ©innenroelt 
feien  mit  brei,  bie  ©eifter  mit  oier  ©imenfionen  begabt,  weshalb 
für  bie  ©eifter  feine  Unburd}bringlid)feit  ftattfinbe  — war  in 
©eutfcfßanb  ber  württembergifche  Pfarrer  goh-  Subw.  grider** 
(1729 — 1761)  auS  ©ettingen  bei  Urad)  ber  erfte,  welcher,  unb 
jwar,  wie  eS  fd)cint,  unabhängig  uoit  SJtore,  bie  Äonjeption  einer 
burd)  eine  ©intenfion  erweiterten  Staumanfdjauung  gewann  unb 
auf  bie  ©rflärung  oon  33ibelfteflen  nerwanbte. 

©ie  jwei  ©teilen,  über  welche  fid)  eine  umfangreiche  Sitte« 
ratur  angefammelt  fjat,  fiitb:  ©pheferbrief  Äap.  3,  ©.  18: 
„Stuf  baß  ißr  begreifen  möget  mit  aßen  ^eiligen,  welches  ba 
fei  bie  SSreiteunb  bie  Sänge  unb  bie  Xi ef e unb  bie  £>öh<"; 
fowie  baS  altteftamentalifche  SJorbilb  ba^u,  Jpiob,  &ap.  1), 
9.  7 — 9:  „SDteineft  bu,  baß  bu  fo  üiel  wiffeft,  als  ©ott  weiß, 
unb  woßeft  aßeS  fo  toßfommen  treffen  als  ber  Slßmädjtige;  er  ift 
höher  benn  ber  §immel,  was  wiflft  bu  thun;  tiefer  beim  bie 
$öße,  was  fannft  bu  wiffen;  länger  benn  bie  ßrbe  unb 
breiter  benn  baS  SDieer." 

griderS  ^3^i[ofop^ie  ift  oon  Oetinger*9  eingeljenb  be« 
fdjrieben.  Seßterer  wanbte  bie  gricferfdje  fRaumtheoric  außer« 
bem  au  auf  bie  ©rflärung  oon  SBifionen  ber  Propheten  unb 
bie  ©efcßreibuitg  beS  neuen  gerufalemS  in  ber  „Offenbarung 
gohanniS";  baSjenige,  waS  auf  biefer  SBelt  bie  Sänge  auSmadhe, 
fei  iit  foldjcr  ©tabt  unmeßbar,  fie  ha&c  folglich  eil,e  D'erte 

©imenfion,  wooon  fich  freilidj  ohne  ©röffnung  eines  befonbereit 

(612) 


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47 


6enforii  fein  Segriff  formiren  loffe.  Sou  Detinger  ift  befaitnt, 
baff  er,  burdjbrungen  oon  ber  ^Realität  einer  uit«  umgebenben 
unfidjtbaren  ©eifterroett,  nachts  in  bie  SBälber  unb  gelber  ober 
aud|  feine  Sircfje  ging,  um  ben  abgegebenen  ©eiftern  ju  prebigen. 
3u  bem  Sudjhänbler  gue«  in  Tübingen  fagte  er,  bießuft  fei  „foooll 
oon  ©eiftern,  bafj  Siele,  wenn  fie  c«  müßten,  ober  fetjen  fönnten, 
bei  9fad)t  fid)  fürchten  mürben,  ein  genfter  aufjutitacfjen." 

SU«  gegen  ba«  @nbe  ber  fiebriger  Safjre  bie  fpiritiftifdje 
Sercegung  unter  Stnfüfjrung  oon  Groofe«,  SBaßace,  göttner, 
gierte  unb  Utrici  befonber«  lebhaft  im  ©ange  mar,  fonnte  man 
bie  miberfprecfjenbften  Urtljeite  au«  bem  tf)eotogifd)en  Säger 
hören.  Ser  „ßiberale  ißroteftant"  unb  bie  „ißroteftan* 
tifcf)e  $ird)en  jeitung"  äußerten  fief):  ,,e«  ift  ein  fjäfjlidjer 
fiejenfabbath,  ben  mir  bie  ftortypfjäen  ber  ÜRaturroiffenfd)aft  auf* 
führen  fetjen;  aber  e«  ift  bie  notfjroeubige  ©rgänjung  ju  jenem 
SJfanget  an  Sertiefung  in  ecfjte  S^ßofop^ie  unb  roiffenfdjafttidje 
jE^eofogie,  metefje  jenen  Greifen  eigen  ift."  Stnbererfeit«  $öf  fer, 
ißrof.  ber  3;^eofogie,  fRcbafteur  ber  geitfcfjrift  „Seroei«  be« 
©tauben«" : „Ser  ferneren,  oietteidjt  töbtlicfjen  SEBunbe,  bie  bem 
9Jfateriati«mu«  unferer  Sage  burdj  biefe  neue  ©rfenntnifj  aller 
sEBafjrfdjeintidjfeit  uadj  gefdjtagen  merben  roirb,  barf  fidi  ber 
Gfjrift  geroijj  freuen."  Unb  fßr°f-  Suttjarb,  iRebafteur  ber 
„GrgänjungSblätter  jur  allgemeinen  eoang.*tutf).  Sirdjeit^eitung" 
fdjrieb  1879  eine  lange  anerfenttenbe  Slbfjanbtung  über  3öflner« 
Sfjeorie  ber  oierbimenfionateit  fRaumroefen,  beginnenb:  „Sem 
ftoffoergötternben  ÜRateriaIi«mu«  ift  feit  furjern  im  Heerlager 
ber  bi«tjer  ifjm  ergebenen  SRaturforfcfjer  felbft  eine  nidjt  ju 
oeradjtenbe  ©egnerfefjaft  erroadjfen;  ein  3beati«mu«  fünfter 
3trt  fjat  fidj  au«  eben  berfelbeit  atomiftifdjen  ÜRaturbetradjtung 
tjerangebilbet,  roetefje  bem  2Rateriali«mu«  jur  ©runbtage  biente." 

3öttnerS0  felbft  madjte  aufmerffam  unter  anberem  auf 
bie  djarafteriftifdje  Uebereinftimmung  ber  oon  Gfjriftu«  berichteten 

(613) 


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48 


Sßunber  mit  bem  „neuen  Sicht",  baä  nach  feiner  Ueberjeugung 
bnrdj  bie  SBegrünbung  ber  JranfcenbentalphbfiF  auf  ©runb 
fpiritiftifdjer  iß^änomene  angebrochen  fei : B^eifjung  beS2cmpel< 
oorbangS  bei  ber  Äreujigung,  Stuferfte^ung  unb  fjimmelfabrt, 
SBerFlärung,  ba§  (Sprechen  in  vielerlei  Bungen  bei  Sluggiefjung 
be§  ^eiligen  ©eifteä;  ferner  auf  bie  SBorte  S^rifti,  in  benen  er 
feine  3ünger  ju  wieberbolten  SDfalen  auf  bie  Unmöglid)feit  bin- 
weift,  benjenigen  Ort  ju  »eranfcfjautic^en,  wohin  er  bei  feinem 
SSerfdjtninben  gebe,  unb  uon  wo  er  wieberFommen  mürbe. 
(3ob-  13,  33;  13,  36;  14,  2 u.  3;  14,  28;  16,  5;  16,  13;) 
„3b*  werbet  mich  fucben,  unb  wie  icb  ju  ben  3»bcn  fagte:  SSo 
icb  begebe,  ba  fönnt  ibr  nicht  binFommen.  Spricht  ^ßetruä  ju 
ibm:  fperr  wo  gebeft  bu  bin?  3efu3  antwortete  ihm:  $a  icb 
bingebe,  Fannft  bu  mich  bicSmal  nicht  folgen,  aber  bu  wirft 
mir  bemacbmalS  folgen"  u.  f.  w. 

SDie  (Spifobe  17,  19  erfdjeint  Börner  wie  bie  ©cbilberung 
einer  fpiritiftifcben  ÜJfaterialifatiouSfibuug;  er  berichtet,  wie  er 
unb  $ßrof.  Srooteä  mehr  als  einmal  gefebett  bnben,  wie  ficb 
2J2ebien  (£>ome,  (Eglington  u.  §1.)  frei  in  bie  Suft  erhoben, 
^eutyutagc  Fönne  iftiemanb  mehr  bie  SWöglicbFeit  ber 
leiblichen  SBieberFunft  (S h ^ i ft i in  Slbrebe  ftellen.  iöiit 
berfelben  innerften  Ueber^eugung  wie  Oetinger  erblicFt  er  in 
jenen  ©eftrebungen  ber  Sranfcenbentalgeometrie  einen  propbe> 
tifchen  Hinweis  auf  bie  bereinftige  (Erweiterung 
unferet  SRaumanfchauung  unb  bie  baburch  bebingte 
oollFommenere  (ErFenntnifj  gegenüber  allen  lepten 
grageti,  welche  bie  benFenbc  502 enfdjb6*4  peinigen. 

(ES  lohnt  nicht  bie  2J2iit»e,  auf  berartige  lächerliche  (Ein- 
mifd)ungeu  in  theologifche  fragen  weiter  einjugeben. 

Nunmehr  geftatte  ich  ww,  weine  perfönlichen  Slnfichtcn  über 
bie  im  »orbergebcnben  gefchilberte  Xbeorie  &er  höheren  SRäume, 

(614) 


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49 


ber  ©intljeitung  fotgenb,  3U  entwidetn  unb  ba§  ©rgebniß  beS 
fotgenben  ©ebanfengangä  fogfeidj  jufammeitfaffenb  oorwegju* 
nefjmen:  Ser  menfd)tid)e  ©rfafjruitggraunt  i ft  ber 

einjige  ÜKaßftab,  unter  be f f cn  ©orauSfe&ung  über 
auögebet)nte  33? annigfaTtigfeiten  Unterfliegungen  an- 
gefteltt  werben  tönnen;  bie  Sljiome  ber  ©eometrie 
djarafterifiren  biefen  Scannt  aU  einen  ebenen,  gteidj« 
förmigen.  Sie  fogenannten  met)rbimenfionaten 
Staunte  finb  nichts  weiter  aU  ©ebanfenbinge,  ana* 
tptifdje  giftionen,  wetefje  bajit  bienen,  ©äfce  ber 
Stnalpfiä  ober  ©eometrie  allgemeiner  auSjufpredjen, 
mehrere  ©äfje  in  einen  einzigen  jufammenjufaffen, 
StuSnatjmen  ju  oermeiben.  Sitte  übrigen  Stnwen* 
bungen  ber  fogenannten  oierten  Simenfion  finb 
gegenftanb3lo3,  weit  auf  Srugfcf)füf fen  b cru fjen b. 

©in  ©tanbpunft,  oon  welchem  au8  eine  togifdje  Seurtf)eilnng 
jener  Sßeorien  gefefje^en  fann,  wirb  gewonnen  burd;  guriief- 
gefeit  auf  baS  SBefen  ber  Staumanfdjauung.  Sa§  ©rfte,  wa3 
bem  SJtenfcßen  oon  ber  Stufjenwelt  entgegentritt,  finb  Stffef> 
tionen  ber  ©inne,  SRcijungen  ber  Steroenenben  burd)  Steuer* 
unb  $örper-©(bwingungcn.  Siefc  iReije  tjaben  ©tnpfinbungen 
jur  3oI9e-  Ueberjeugt  oon  ber  ©jiftenj  einer  Oon  un§  unab* 
gängigen  realen  Slußcnwelt  unb  unterftiifet  oorjugSweife  burtfi 
ben  Saftfinn  tofatifiren  wir  biefe  ©mpfinbungen , finben,  baß 
biefetben  in  irgenb  einer  gorm,  toelcße  oor  alten  ©mpfinbungen  eji* 
ftiren  muß,  fid)  orbnen.  Siefe  g orm , in  welcher  fidj  für  unS  bie 
©egenftänbe  einreifjen,  ober  oermittetft  berer  wir  bie  Singe  außer 
un8  oorftetten,  ift  ber  ©rfaßrungäraum.  Sie  ©truftur 
biefer  Staumform  faim  aber  nodj  irgenbwie  befdjaffen  fein. 

Son  jenen  Steifen  unb  ben  barauffotgeubeit  ©rnpfim 
bungen  bleiben  in  ber  ©eete  ©rinnerungen  surüd,  wetdje  uit§ 
in  ben  ©tanb  fefjen,  jeben  Stugenbtid  bie  ©orftettung  ber 

Sammlung.  3-  V.  1L2.  113.  4 (615) 


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50 


©egenftönbe  im  ©emüth  micberherjufteOcn;  mir  betrauten  bann 
bie  ©egenftönbe,  welche  uorljin  auf  unfere  Sinne  wirften,  in 
„innerer  Änf^auung".  Die  ©runbgebilbe  bei  {Raumei,  bie 
faum  a priori  mit  ber  {Raumanfchaumtg  gegeben  waren,  finb  ber 
{ßunft,  bie  ©erabe  nnb  bie  ©bette.  Den  {Einlaß  jur  ©ilbung 
biefer  Slementarbegriffe  erhalten  Wir  in  ber  ©rfaljrutig. 
3-  83.  Dort  einem  Stab,  einem  gcfpannten  gaben  ober  ber- 
gleichen  benfen  mir  ade  Untwflfomnienljeiten  meg  unb  gelangen 
fo  burcf)  Slbftraftion  jur  reinen  SBorfteHuitg  einer  „©erabeit", 
bie  aber  felbft  nicht  befinirt  merbett  fann;  alle  Definitionen  ber 
©erabeit  müffen  lederen  Söegrtff  felbft  mehr  ober  weniger  öerftecft 
einfdjließen;  ein  leiteitbei  {ßrinjip  bei  jener  S3egriffibilbung  ift 
uni  in  ber  Dccfung  breier  fünfte  innerhalb  ber  Se^linie  gegeben. 

2Rit  biefen  ©runbbegriffen  unb  einigen  baraui  abgeleiteten 
operiren  mir  in  ber  elementaren  ©eometrie.  Die  geometrifchen 
©ebilbe  fonftruiren  mir  uni  babei  in  ber  inneren  2lnfd)auung 
auf  ©ruub  ber  ffirinnerung,  welche  mir  oon  ben  burch  Slbftraf» 
tioit  genommenen  jurüdbeljalten  ^abeit;  uttb  wenn  mir  bie 
©ebilbe  empirifd)  auf  Rapier  fonftruiren,  fo  ift  biei  nur  eine 
©rleidjteruug  ber  inneren  Slnfdjauuttg.  Uebrigeni  ift  bie  geo* 
metrifche  Söiffenfchaft  burchaui  feine  rein  logifdje.  SCÖie  ©erfen99 
mit  {Red)t  betont,  ift  bei  bem  Slufbau  biefei  Spftemi  außer  bem 
St;llogiimni  fteti  nodj  eine  33etljätigung  ber  Ülnfdjauung  ju 
betnerfen.  SEBenn  brei  fünfte  ABC  oorgefteöt  merbett  nnb 
jmifdjen  A unb  B,  ebettfo  groifdjeti  A unb  C eine  ©erabe 
möglich  ift,  fo  lehrt  uni  erft  bie  Sliifdjauung  beit  SEBinfel  B A C 
feinten;  fie  erft  jeigt,  baß  {Raum  $wifd)en  beibett  ©erabeit  ift, 
ber  eine  SBerbinbutig  ber  {ßunfte  B unb  C burd)  eine  ©erabe 
öott  gleidjer  ülrt  wie  jroifdjen  A unb  B uttb  gmijdjen  A unb  C 
geftattet;  fie  lehrt  zugleich,  baß  biefe  ÜJJöglichfeit  für  alle  {ßuitfte 
auf  A B unb  A C befteßt  unb  erjeugt  fo  bai  britte  ©lement 

ber  {Raumoorftefluug,  bie  ©bene  (2o(je,  SRetaphhfif  Seite  245). 

(610) 


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5 t 


SEBenn  wir  bemeifen  moflen,  bafj  bie  ©umme  ber  üöinfel  im  Sßierecf 
hier  fRechte  ift,  unb  ju  biefem  3®ed  e*nc  ®iagonale  sieben,  fo 
jagt  mir  nicfjt  baS  Iogifd)e  ®enfen,  fonbern  bie  Hnfdjauung, 
bafj  bie  ©umme  ber  SBinfel  in  ben  beiben  fo  entftehenben 
©reieden  biefelbe  bleibt  rnie  in  bem  jubor  angefdjanten  ©iererf. 

$ie  grage,  mie  biel  SDimenfionen  unfer  ©rfahrungS* 
raum  befi^e,  ift  eine  fefunbäre  unb  läfjt  fid)  betrieben  beant» 
morten,  je  nadjbem  ein  ©lement  bem  fRaum  als  erjeugenbeS 
ju  ©runbe  gelegt  mirb.  Ursprünglich  ift  bie  SDreiheit  ber 
3)imenfionen:  Sänge,  SBreite,  |jöhe,  ein  unbeftimmter  „SRad)> 
hall  ber  fonfreten  SBe(teinrid)tung";  befttmmt  fd)eint  bie  ^Dreiheit 
erft  aufjutreten,  feit  ber  föoorbinateitbegriff  eingefiif)rt  mar: 
SEBirb  ber  SRaum  als  ©efamtljeit  feiner  fßunfte  erjeugt,  fo  fiitb 
jur  Drientirung  eine«  SßunfteS  brei  Hbmeffungeit,  etma  bie 
brei  mit  SRidjtnngSmerfntalen  oerfetjenen  3lbftänbc  beS  fünftes 
bon  brei  ©ruitbebenen  erforberlid).  ®er  SRaum  erfcheint  bann 
als  eine  breifad)  auSgebeljnte  SRannigfattigfeit.  9Rit 
bem  gfeid)en  SRedjt  f «Junten  mir  ilju  als  eine  bierfadj  auS» 
gebef)nte  SDiannigf  altigfeit  betrachten,  falls  nämlich  bie 
©erabe  (ober  bie  Singel)  als  ©runbelement  beS  fRaitmS  borauS» 
gefegt  mirb,  roorauf  fchon  Sß  liider  aufmerffam  madjte.  ERämlicf) 
benfen  mir  unS  j.  SB.  bie  ©erabe  als  erjeugenbeS  ©lement 
beS  SRautncS,  fo  bilben  bie  ©eraben  in  einer  ©bene,  bie  bon 
einem  Sßnnfte  anSgcf)en,  eine  einfache  Unenblid)feit;  bie  ©eraben 
bott  allen  fünften  ber  ©bene  auS  bilben  fomit  eine  jmeifadje 
Unenblichfeit.  Um  alle  ©erabe  im  SRaum  ju  erhalten,  b.  h- 
lefcteren  mit  ©eraben  ju  erfüllen,  genügt  cS,  jmei  ©beiten  an» 
junehmen  unb  bon  jebem  Sßunft  ber  einen  ©bene  nach  jebetn 
ißunft  ber  attberen  ©bene  eine  ©erabe  ju  jiehen,  alfo  bie  jmei= 
fache  Unenblichfeit  ber  einen  mit  ber  jroeifadjen  Unenblidjfeit 
ber  anberen  bollftänbig  ju  fombiniren;  fo  betrachtet,  ftellt  fi<h 
ber  SRaum  als  eine  jmeimaljmei*  ober  bierfache  Unenblichfeit 

4*  (6171 


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52 


bar.  (Srrtfjiimfidj  ift  natürlich,  wenn  Soße  bemerlt,  beSljalb 
fönne  g.  B.  bic  ©bene  auch  als  breibimenfional  angefehcn 
werben,  weit  eS  freifteße,  ftatt  gwei  recßtwinfeligen  Soorbinatew 
acßfen  brei  fi<^  unter  HO0  fdjneibenbe  2ld)fen  anguitehmen. 
SMerbingS  wirb  ein  folcheS  ©Aftern  bei  ben  fogenannten  $rei- 
ecfSfoorbinaten  benufct,  aber  bann  bcfte^t  groifchen  ben  brei  §tb> 
ftänben  eines  fünftes  non  ben  brei  ©eraben  eine  Relation.) 

®ie  ©truftur  beS  SftaumeS  ift  angegeben  in  ben 
2tjiojnen,  ben  ©runbwafjrtjeiten  ber  ©eometrie,  bie  eben  beS< 
halb  nidtjt  gu  beweifen  finb.  ©ie  fagen  aus,  baß  unfer  fRaum 
ben  G^arafter  einer  „ebenen"  gleichförmigen  gorm  in 

welchem  bie  fefteit  ©ebilbe  ohne  Dehnung  ober  gufammen* 
giehung  fid)  bewegen  taffen;  fie  finb  infofern  cmpirifch,  als  bie 
ätienfchheit  biefe  ©runbwahrheilen  erft  erlernen  mußte,  wie  jeber 
9Henf<h  feine  ©prache  lernt,  — was  nicht  ^inbcrt,  baß  bie 
Stfiome  non  unS  unabhängige  ©igenfchaften  unfereS  SrfahrungS- 
raumeS  barftetten,  in  welchem  nun  einmal  ißunft,  ©erabe,  ©bene 
bie  einfachen  ©lemente  bitben. 

$iefe  Behauptungen  werben  befoitberS  flargelegt,  wenn  wir 
in  ein  ©ebiet  herabfteigen,  baS  wir  leichter  beljerrfchen.  ©teilen 
wir  uns  wieber  gweibimenfionate  Söcfen  W oor,  welche  auf 
einer  Slugeifläche  K leben,  ohne  non  einer  britten  ©imenfion 
eine  Slnfdjauung  gu  bcfijjeit.  ®iefe  Slugeifläche  ift  ihr  a priori 
gegebener  SRaum,  enblich  unb  unbegrengt,  ba  ein  SiugelgroßfreiS 
für  ein  SBefen  \V  baSfclbe  ift  wie  für  uns  eine  unbegrengte 
©erabe.  $itfer  Staunt  befißt  ©igenfchaften,  welche  fid)  in 
anbereit,  Don  jenem  SBefen  W gu  erlcrnettben  ©runbwahrheiten, 
Stjiomen,  geigen  müffen.  Um  bie  Söinfelfumme  im  ®reied  gu 
fonftruiren,  werben  fie  fid)  eine  ÜHaßeinheit  gur  SBinlelmeffnng 
herfteUen,  etwa  inbem  fie  gwei  aufeinaitber  fenfrechte  ©erabefte 
(Slugelgroßlreife)  giehcit;  fie  finben,  baß  jebeS  $>reied  (g.  B. 

A l'QP  f5ig.  3)  eine  SSinfelfumme  ergiebt,  bie  um  eine  Äon* 

(618) 


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53 


ftanlc  größer  ift  als  $wei  ihrer  rechten  SBinfel.  ©ic  er» 
fennen  ferner,  baß  jiuei  ©erabefte  fi<f)  in  3 »ei  fünften  R unb  R* 
fdjneibcn  u.  f.  f,  ÜRichtS  ^inbert  bann  jene  SBefeit  W,  ©e» 
Pachtungen  in  ber  $infidjt  anjufteflen,  welche  ©mpfinbungen 
fie  erfahren  würben,  faß«  ifjr  SRaunt  ein  anberS  beschaffener 
jweibimenfionaler,  ein  anbereS  SRaumoib  wäre,  — um  bamit 
einen  trefflichen  SluSbrucf  oon  Softe  gu  acceptireit,  ber  ihn  „feinen 
©egnern  gum  ©cfdjenfe  macht,  als  baS  ©ingige,  was  er  für 
ihre  ©ad)e  thun  fönne". 

S)abei  ift  jeboch  noch  golgenbeS  gu  erwägen.  Um  bie 
Sinologie  ooöftänbig  burchgufüftren,  müßten  wir  für  jene  SSJefen 
Boütommen  freie  Sewegung  in  ihrem  9taum  auSfchlieften  unb 
il)re  Sigenbemcgung  an  biejenige  oon  anberen  gtoeibimenfionalen 
©ebilben  gebunben  benfen,  wie  bie  unferige  an  biejenige  oon 
©laneten.  @S  ift  beS^alb  fehr  unwahrfcheinlicfj,  ob  bie  W eg  je- 
mals in  SSirflichleit  fonftatiren  fönnten,  wenn  fie  wieber  beit» 
fetben  abfoluten  fRaumpunft  R erreicht  ha&en-  Slujjerbem  finb 
ihre  SReffungen  ebenfaßS  mit  gehlem  behaftet  oorauSgufeften. 

Slß  uitfer  ®enfen,  auch  bie  Qnttwicfelung  ber  analfttifdjen 
©eometrie  ift  an  bie  fRaumanfchauuitg  gebunben.  @S  fteht  uns 
nichts  im  SEBege,  eine  ©egieftung  groifefjen  n Variablen  aufgu» 
Stellen,  aber  eine  Slnfchaulidjleit  fommt  berfelben  nicht  mehr  gu, 
wenn  n größer  als  brei  ift;  unb  wenn  gefagt  wirb,  burch  Stuf« 
ftellung  einer  linearen  ©leidjung  gwifeften  oier  Variablen  fei 
ein  ebener  oierbimenfionaler  fRaum  befinirt,  fo  ift  fich  ber 
nüchterne  3Ratl)ematifer  bewußt,  bah  bieS  nichts  weiter  als  eine 
SiebenSart  ift,  bagu  bienettb,  geometrifche  ©egiefjungen  als  ©pecial» 
fälle  eines  allgemeineren  ©efefteS  auSgubrücfen  ober  gewiffe 
©äfte  gufammengufaffen.  ®aS  „ÄrümmungSma§  eittcS  n>bi* 
menfionafen  SRcmmeS"  ift  eine  analotiScfte  gormel,  oet  eine 
geometrifche  ©ebeutung  nur  für  n = i unD  n = 2 emjpricht. 

$afc  bie  ©rweiterung  beS  ©egriffs  „fRaum"  gum  gweef 

(619) 


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54 


ber  .ftufammenfaffung  unb  gut  Sßernteibung  ooit  Su$naf)tnen 
einige  SJicnfte  leiften  famt,  jeigt  fid^  beutticf)  in  ber  Snalpfiä81 
unb  tafjt  fidj  nur  fe^r  umwflfommen  bnr<h  einige  elementare 
Seifpiete  jeigen: 

©dfon  Äant  unb  9)?übiug  wiefen  borauf  fjin,  baff  gmei 
fottgruente  Xreiede  in  einer  ©bene  nid)t  in  jebcm  galt  burdf 
SB  erfdpebung  innerhalb  ber  ©bene  jur  ©eduitg  gebrad)t  »erben 
fönnen.  5Die  2)reiedc  in  gigur  10a  taffen  fic f)  nur  bann  beden, 

wenn  mir  bie 
britte$imenfion 
juf>ütfenet)nien, 
alfo  ba$  eine 
2)reted  um  eine 
©eite  umflaf 
pen.  Stnalog 
fönnen  mir 
f a g e n : $»ei 
fongruente 
ramiben  — bie 
alte  ©eiten  unb 
SBinfet  gleich 
haben  — taffen 
fidj  in  jebem 

galt  jur  üDedung  bringen;  beim  wenn  fie  liegen  »nie  biejenigen  non 
3igur  10b,  fo  benfcn  wir  un$  uortjer  bie  eine  in  einem  fingirtcit  nier- 
bimenfioitalen  9?aum  umgeftappt.  — ferner  ift  befamitlid)  bei  ber 
Stnwenbung  ber  SDfafjbeftimmungen  auf  bie  ©eomctrie  a eine 
©trede,  a2  ein  Cuabrat,  a3  ein  SlubuS;  wa§  aber  ift  a4,  aJ?  3U’ 
nädjft  geometrifcf)  nid)t  beutbar.  9lber  nad)  ^utaffung  be8  ®egriff8 
mehrbimcnfionater  9täume  entfällt  aud)  biefe  Stuänatjme,  unb  es 
ftetlt  g.  S8.  a4  ba§  9fefuftat  ber  Sntjaltäbeftimmung  in  einem  oier- 
bimenfionaten  9faum  t>or.  — ©cfjlcgel  hot  ferner  bie  regulären 

f620) 


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oo 


^ßolpeber  in  einem  mcl)rfad)  auSgebelfnten  SRaum  uuterfndjt  unb 
gefunben,  ba§  ber  ©a|:  es  giebt  nur  5 reguläre  Körper  (3fo< 
faeber,  $)obefaeber  . .),  baS  StnfangSglieb  einer  gemiffen  einfad) 
gefe^mäfeigen  Steife  »on  ©ä{)en  ift ; im  »ierbimenfionalen  fRaum 
gäbe  es  fed)S  reguläre  Slörper  jc.  — Sdjoit  Gnbe  beS  »origen 
Saljrhunberts  »erfudjte  ßagrangc  bie  SHecfjanif  als  eine 
©eometrie  »on  »ier  SDimenfionen  aufaufaffen,  inbem  bie  3eit 
als  »ierte  ftoorbinate  ^injufommt.  U.  a.  m. 

©on  einigen  SJtifjüerftänbniffen  ßofjeS  möge  nod)  furj 
bie  Siebe  fein  (ßofce,  ÜRetapfjpfif  1879,  2.  ©ud)  fioSmologie, 
2.  Sta p.,  35ebuftionen  beS  ©aumeS,  ©eite  246  ©d)Iufj,  248 
©litte,  256  Anfang  unb  9Ritte,  262  ©djlujj,  264  SDtitte;  ßogif 
1874,  über  Segrenjung  ber  fflegriffe,  ©eite  217).  Gr  ermafjnt 
feine  gac^Senoffenr  auf  ^em  ©renjgebiet  jroifcfjen  2Ratl)ematif 
unb  ^ß^ilofopt)ie  i^reö  HmteS  ju  märten  unb  bie  ferneren  ©e* 
beiden  geltenb  gu  machen,  welche  fie  im  ©amen  ber  ^ß^ifofop^ie 
gegen  manche  matf>ematifd)e  ©pefulationen  ber  ©egenmart  er* 
heben  foOten.  Gr  felbft  legt  gegen  bie  Gnueiterung  beS 
©e griffe  „Staum"  auf  mefjrfad)  auSgebeffnte  ©pfteme  heftige 
©ermahrung  ein : „GS  ift  burdjauS  unjjuläffig,  ©amen  unb  ©egriff 
beS  ©aumeS  auf  ©ebilbe  ju  übertragen,  bie  mit  ifjm  unter  ben 
gemeinfamen  Oberbegriff  eines  anfdjaulichen  CrbnungSfpftemS 
fallen  mürben . . .,  ouS  biefem  gefährlichen  Sprachgebrauch  entfteljen 
bie  folgen,  bie  mir  »or  unS  felfen:  bie  Sinnahme,  eben  ber 
©aum,  in  meinem  mir  leben,  l>abe  mirftidj  aufjer  feinen  brei 
$>imenfiouen  eine  »ierte  unb  fei  nur  tiidifd)  genug,  fie  unS  nid)t 
merfen  ju  taffen,  vielleicht  aber  gelinge  eS  unS  in  3ufunft,  aud) 
in  fie  hinein  einen  ©lief  ju  thun;  bann  mürben  mir  burd)  fie 
fpmmetrifdje  Äörper  ebenfo  jur  $ecfung  bringen  lönnen,  mie  in 
ben  breien  bie  fpmmctrifdien  giguren  &er  ®&ene.  . . . 28aS  hätten 
mir  übrigens  bann  für  ein  ©ut  gemontten,  menn  mir  uns  mit 

bem  Umffappen  fpmmetrifrijer  ©aumfiguren  befdjäftigen  lönnten, 

(«21) 


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56 


uitb  was  geßt  uns  jeßt  ab,  ba  wir  eS  nicßt  fönnen,  unb  außer- 
bem,  muß  beim  baS  alles  fein,  waS  fd^ön  Ware,  wenn  eS 
wäre?"  unb  an  bie  träume  ber  gourieriften  erinnernb:  „bann 
wirb  eS  freilich  fdjön  fein,  wenn  gejäßmte  SBalfifcße  unS  burcß 
bie  werte  ®imenfion  beS  .ßucfermeereS  tragen  werben."  „Sa 
gewiß  ber  Siame  beS  SiaumeS  für  uns  nur  ein  OrbnungSftjftem 
bebeutet,  in  welchem  Wir  biefe  urfprünglicße,  auS  aritßmetifcßen 
^Betrachtungen  allein  gar  nicßt  ableitbare  Slttfcßauung  ßabett, 
fo  gewiß  ift  eS  logifcße  Spielerei,  ein  Spftem  uon  oicr 
ober  fünf  Eimenfionen  nocß  Staunt  $u  nennen,  ©egen  alle 
folcße  ißerfucße  muß  man  fieß  weßren;  fie  finb  ©rim affen 
ber  SBiffenfcßaft,  bie  burcß  DöHig  nußlofe  paraboyien  baS 
gewößnlicße  Sßewußtfein  einfcßücßtcrn  uttb  über  fein  gutes  Stecßt 
in  ber  SBegrettjung  ber  ^Begriffe  täufcßen."  Unter  anberem  be> 
werft  Soße:  „Sieben  oon  einer  ©erobert,  bie  als  heimlicher  ÄreiS 
oon  unenblichem  SDurcßmeffer  in  fieß  juriidtfeßre,  oßne  ißre 
Siicßtung  oeräubert  ju  ßaben,  finb  nießl  Ußeile  einer  eja- 
terifeßen  SBiffenfcßaft,  fonbern  geugniffe  einer 
logifeßen  ^Barbarei.  Sticßts  anbereS  bezeugen  biePßrafen 
oon  parallelen,  bie  fieß  in  unenblicßer  Grntfernung 
feßneiben  füllen,  fie  feßneiben  fieß  in  feiner  enblicßen  @nt- 
fernung,  unb  ba  jebe  Gsntfernuitg,  wenn  man  fie  erreießt  bäcßte, 
toieber  eine  enblicße  fein  würbe,  fo  tßun  fie  eS  überhaupt  in 
feiner;  gan$  unjuläffig  aber  ift  bie  SBerfeßrung  biefer  23er* 
neinung  in  bie  pofitioe  SBeßauptung,  im  Unenblicßcn  gebe  es 
einen  Ort,  wo  ißr  2)urcßfcßritt  ftattfänbe.  2)aS  ift  pompßafter 
Äalfnl,  bureß  ben  ooUftänbiger  SBiberj'inn  empfoßlen  wirb."  u.  f.  f. 

Sleßnlicße  ©rweiterungen  Wie  biejenige  beS  ÖegriffS  Staum 
finb  in  Dielen  Zweigen  ber  SDtatßematif  übließ  unb  Don  großem 
Siußen : 

9IuS  bem  urfprünglicßett  SBegriff  ber  gaßl,  als  Siefultat 
ber  wiebcrßolten  Seßung  eines  ObjeftS,  bie  SÖerecfjti* 

(C22) 


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57 


gung  oon  3a^en  tD'e  2 + 3 V — 1,  — ö , V1*  bireft  nadjju* 
weifen,  wirb  9tiemanb  gelingen.  — 5 wirb  als  3Q*}1  erft 
baburd)  eingefüfjrt,  bajj  bie  Definition  ber  ©ubtraftion, 
(a  — b)  -f  b = a,  aud)  auf  folcfje  Sifferensen  a — b auSge* 
be^nt  wirb,  in  benen  ber  ajiinuenbug  fteiner  ift  als  ber  ©ub< 
trafjenbuS;  uub  fjierju  ift  eine  ©rroeiteruug  beS  Segrip  ber 
3af)t  in  bem  ©inne  erforberlidj,  bafe  audj  foldje  uneigentlic^e 
Sifferensenformeit  als  3Q^en  in  ber  2lritf)metif  jugelaffen 
werben.  Sebermann  aber  weifj,  welche  93ort£jeire  für  bie  SS  er* 
einfadjung  aritfymcti jdjer  ©pradjweije  bitrdj  biefe 
3ulaffung  erlangt  worben  ift;  eS  ift  barait  möglich,  bie  ©ub> 
traftion  unter  bie  Stbbition,  weiterhin  bie  Dioifion  unter  bie 
SDtultiplifation  ic.  ju  fubfumntiren. 

Stetjulid)  »erhält  eS  fic^  mit  SBegriffen  wie  „unenblid)  ferner 
ißunft",  „unenblid)  ferne  ©bene",  „imaginäre  Ä'reiSpuitfte"  u.  f.  w. 
Ser  unenblid)  ferne  üßunft  einer  ©d)ar  oon  Sßaraßelen 
ift  offenbar  fein  „ißunft"  im  urfprünglidjen  ©inne  biefeö  SBortS. 
Seine  ©infüf)rung  beruht  aber  aud)  auf  nidjtS  anberem,  als 
einer  analgtifdjen  ober  geometrifdjen  {Jeftfe^ung,  weldje  ermög- 
licht, ©äfce  jufammenjufaffen.  ©tatt  su  fagen:  1)  jwei  ©crabe 
fdjneiben  fid)  im  allgemeinen  in  einem  ißuuft,  2)  in  bem  fpecieUen 
gafl,  wo  fie  parallel  finb,  fdjneiben  fie  fid)  nidjt,  oereinbarcn 
wir  su  fagen:  jwei  ©erabe  fdjneiben  fidj  ft  et  S in  einem  ipunft, 
(nämlid)  wenn  fie  parallel  finb,  in  einem  uneigentlidjen,  bem 
fogenannten  unenblid)  fernen  fßunft).  Saraus  folgt  bann 
mit  9lotl)wenbigfeit,  bie  unenblid)  fernen  fßunfte  aller  9iid)= 
tungen  auf  einer  (uneigentlidjen)  ©erobert  ju  benfen.  Äeinem 
oernünftigen  ÜDiatljematifer  faßt  cS  ba^er  ein,  bie  „unenblid) 
fernen  ©eraben"  in  einer  beftimmten  Sage  auffud)en  su  woßen. 
SicS  finb  afleS  nur  nüfclidje  9t ebenSarten,  fpülfSmittel  ber 
SluSbrncfSroeife.  ©ine  metaphpfifdje  ©pefulation  ift  hinter  bem 
SSegriff  „unenblid)"  in  ber  ÜKattjematif  nur  für  Senjenigen 

(C2!) 


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58 


»erborgen,  weldjer  bie  Sutfteljung  beSfelben  unrichtig  er* 
faf?t  Ijat. 

333enn  Sojje  fragt:  was  gewännen  wir  für  ein  ®ut,  wenn 
roir  in  jebem  galle  ftjmmetrifd)e  giguren  äur  Dedung  bringen 
fönnten?  fo  biirfte  er  mit  bemfelben  IRedjt  fragen:  was  Ijaben 
toir  für  ein  ©ut  gewonnen,  toenti  toir  bie  ermähnten  Säge  ber 
©eometrie  in  ei  nen  sufammenfaffen?  Antwort:  @infad)f|eit 
beS  DenfenS.  Unb  oorauSgefejjt,  bag  bie  9J?ad)fd)e  Definition 
oon  2Biffenfd)aft  als  „Qelonomie  beS  DenfenS"  für  jutreffenb 
anerfannt  toirb,  ift  jenes  ©erfahren  ber  Segriperweiterung 
burdjauS  wiffenfdjaftlidj. 

Die  fjeftige  Abneigung  monier  ©Ijilofopfjen  gegenüber  ber 
©Weiterung  beS  'Jtaumbegrip  lägt  fid)  übrigens  leidster  ocr» 
ftefjen,  wenn  man  bie  tfjatfädjlidjen  Uebergriffe  fidj  oergegen* 
Wärtigt,  bie  aud)  üon  matl)ematifd)er  Seite  nidjt  feiten  finb. 
Dr.  ©uftao  ©eil  er  mann  oeröpntlidjt  eine  toiffenfd)aftlid)e 
©eilage  junt  Programm  beS  ^önigftäbtifcfjen  SReafgpmnafiumS 
31t  ©erlin,  Cftcru  1889  mit  bem  Dljema:  „SeweiS  aus  ber 
neueren  $Raumtl)eorie  für  bie  ^Realität  oon  3e*l 
unb  SRaunt  unb  für  baS  Dafein  ©otteS",  Programm* 
nummer  95.  So  fidjer  eS  ift,  bag  jebe  Slnwenbung  beS  matfje* 
matifd)en  SfalfulS  auf  bie  5ßf)t)fif  nur  ein  ber  Qualität,  nidjt 
ber  Quantität  itad)  neues  SRefultat  bringen,  bag  infjaltlidj 
nichts  weiter  tjcrauSgeredjitet  werben  fann,  als  oorljer  burd)  bie 
©orauSfefcitngen  gineingelegt  würbe,  fo  gewig  ift  burd) 
fRedjituitg  baS  Dafein  ©otteS  Weber  $u  beweifen,  nod)  ju  be- 
ftrciten;  aud)  nidjt  burd)  §errn  Dr.  ©uftao  ©ellermann. 

SBeniger  IjarmfoS  ift  ein  an  jene  intereffanten  Unter* 
fucfjutigen  über  bie  regulären  oierbimenfionalen  ißolpeber  fid) 
anfdjliegenber  ©erfitd)  beS  §errn  Schlegel, 32  bie  ©erljältniffe 
beS  oierbimenfionalen  SRaunteS  burd)  ißrofeflion  biefer  ißolpeber 
auf  ben  breibimenfionaleit  ©aum  ber  menfddidjen  fünfdjauung 

(624) 


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59 

näßer  gu  bringe«:  „unb  nacßbem  wir  in  ber  ißrojeftion  biefer 
©ebilbe  auf  beit  breibimenfionalen  SRaum  aud)  ein  I f S* 
mittel  ber  ülnfcßauung  gewonnen  ßaben,  wie  mir  eS  in 
analoger  SBeife  aud)  in  ber  «Stereometrie  benähen,  fo  feljen  mir, 
baß  bie  wiffenfcfjaftlidje  ©ntwicfelung  einer  folgen  oierbimen- 
fionaten  ©eometrie  feineSwegS  außer  bem  Sereid)  ber  ÜJföglid)« 
feit  liegt.  $iefe  3ufunftSgeometrie  wirb  aüerbingS  niemals  bie 
SBidjtigfeit  unb  ©cbeutung  ber  ©eometrie  ber  ©bene  unb  beS 
SRaumeS  erlangen,  unb  aud)  in  iljrer  ©igenfdjaft  als  formales 
©ilbungSmittel  unferen  Sdjufen  fern  bleiben,  eS  müßte  beim 
fein,  baß  in  einer  fünftigen  ©eneration  bie  @nt* 
laftung  uon  einem  uitmobcrnen  Sefjrftoff  eine  nod) 
ungeahnte  Steigerung  beS  93orftellungS-  unb  $lb> 
ftraftionSoermögenS  gur  $olge  ffätte." 

|>öl)ere  Üfaume  finb  im  ißrincip  unöorfteflbar,  ba  aud) 
bie  allen  menfdjlidjen  SBorfteUungen  gu  ©runbe  liegeitben  @m> 
pfinbungen  an  bie  einzige  breibimetifionale  gornt  gebunben  finb, 
in  welker  ficf)  für  uns  bie  ®inge  orbnen.  Um  gum  leßten 
9Kal  bie  §elml)oI&’fdjen  gweibimenfioiialen  SBefen  gu  £>iilfe  gu 
rufen, — glaubt  $err  Scßlegel  in  ber  £f)at  fid)  iibergeugen  gu 
fönnen,  baß  folcße  SBefen,  falls  fie  bie  gweibintenfionale  ©rutib« 
rißebene  E eines  breibimenfionalen  ©ebäubeS  G bewoßnen,  allein 
burd)  ben  Slnblitf  beS  redjtecfigen  ©runbriffeS  G fid)  in  ißrer 
SBorfteltung  oon  bem  ©ebäube  G felbft  geförbert  fiitben?  9fur 
ein  neues  iRätßfel  toirb  bamit  für  fie  auftreten.  Cf)ne  baS  @e> 
bäube  G felbft  einmal  gefdjaut  gu  fjaben,  mögen  fie  ißren  ©eift 
beliebig  germarterit  unb  ifjre  SßorftellungSfraft  oerooHfommnen, 
fie  werben  oon  bem  breibimenfionalen  ©ebilbe  G,  baS  itad)  ber 
briiteit  2)imenfion  in  beliebige  Sntfentung  fid)  ausbeßnen  famt, 
niemals  eine  richtige  Slnfcßauitng  geioinnen.  Huf  meinem  ©tanb« 
punft  fann  id)  ben  Sdjlegel’fdjen  lluterfucßungcn  fein  weiteres 
Sntereffe  als  ein  analptifdjeS  eutgegenbringen. 

(625) 


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gür  mich  finb,  mie  bemerft,  bie  fogenannten  höheren  Säume 
bloße  anaftjtifäe  giftionen.  ©ie  fcfjeinen  mir  Sehnliche«  gu 
fein  im  ©ebiet  be«  groar  SJenfbaren,  aber  nid)t  33orftellbaren, 
wie  ber  Stetfier  ober  bie  Sltome  im  ©ebiet  be«  groar  $or- 
[teilbaren,  aber  nießt  2öaf)mef)mbaren.  Slud)  bie  Sttome  finb 
bod)  gunächft  bloße  gebanflidje  £ülf«mittel  gur  3U* 
fammenf af fung.  üötid)  ergreift  jebe«mat  eine  Strt  SBeljjnutlj, 
menn  id)  in  einem  populär»p^Qfifalifcfjen  93 ortrag  ben  ftaunen* 
ben  3uf)örern  mittßeilen  höre,  biefe  ober  jene  ©djidjt  g.  SB. 
einer  biinnen  ©eifeitblafe  fei  fo  ungemein  bünn,  bafe  ^öc^ft 
»oa^rf c^einlid)  nur  ein  eingige«  SJtolefül  neben  bem  anberen 
fidj  befinbet.  3Be«f)alb  nießt  ebenfogut  2 ober  17  7*  Stolefüle? 
Unb  wie  märe  e«,  menn  un«  bie  Staterie  gar  nicht  ben  ©e- 
fallen  tfjun  roollte,  au«  Sttomen  gu  befte^en?  933er  e«  unternimmt, 
über  bie  abfolute  ©röfee  ober  ba«  ®eroid)t  (nießt  bie  ©truftur) 
eine«  Stolefiil«  Unterfuc^ungeu  angufteflen,  oergifet,  bafe  mau  e«  hier 
mit  einem  biofeen  (Srgeugnife  unfere«  Sleitfen«  gu  tljun  |at, 
unb  gleidjt  einem  Stann,  ber  fo  lange  baoon  träumte,  roie 
fdjön  e«  für  ihn  märe,  an  einer  beftimmten  ©teile  feine«  Slder« 
einen  ©djafc  gu  finben,  bi«  er  in  ber  $hat  nad}  bem  ©chafce 
grub.  SBenn  jebem  Sßrobuft  unfere«  SBerftanbe«  ober  unfern 
^Sßantafic  eine  Sealität  entfprec^en  müfete,  fo  märe  bie  3# 
ber  @rfaf)rung«miffenfcbafteu  Legion;  bie  Su«bilbuitg  einer 
pßtjfifalifd^en  Söafteriologie  märe  in  naher  Stu«fid)t. 

©o  meit  ber  eine  matljematifdie  Xhc^-  ®en  Snroenbungen 
ber  S£fjeorie  Ijö^erer  Säume  auf  S£ranfcenbcntalph#f  unb 
2ranfcenbentalpft)d)ologie  fteße  id)  oöttig  ablehnenb  gegenüber. 
Sßie  ©djlufefotgerungen  3ößner«  über  bie  (£ n bließf ei t ober 
Unenblidjfeit  ber  Siaterie,  roeldje  gu  333iberfprüd)en  be« 
$>enfen«  führen  foflen,  leiben  an  mandjerlei  Stängeln.  U.  a. 
roirb  ben  theoretifchen  Unterfuchungen  ba«  SSariottcfdje  ©efetj 

gu  ©runbe  gelegt,  ©elbft  gugegeben,  bafe  mir  nach  ber  3.  regula 

(62«) 


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Gl 

philosophandi  9?ewtonS  bie  phhftfalifcheu  (Sigenfd^aften  (Tem- 
peratur, Sftaffe,  SluSbeßnung  ic.)  ber  uns  in  ber  9iäf)e  be* 
famtten  Körper  auf  bie  in  beliebiger  gerne  auf  un8  toirfenben 
mittelft  ber  Sinologie  übertragen  müffen,  fo  ift  bie  Slnwenbbarfeit 
jenes  ©efeßeS  bo<^  nicht  eine  unbefcßränfte;  baS  Sföariottefche 
©efeß  ift  ein  bloßes  iltäherungSgefeß  unferer  bisherigen  @r* 
fahrung;  fd)on  bei  bem  SDrud  oon  ißuloergafen  ift  eS  nicht 
mehr  in  aller  ©trengc  gültig.  Sllfo  auch  biefe  Srfahrutigen 
über  bie  Befchränftheit  ber  Slmoenbbarfeit  biefeS  ©efeßeS  müßten 
mittelft  Sinologie  übertragen  werben.  UebrigenS,  auch  wenn 
oom  ©üblichen  aufs  Uncnblicfje  gefchloffen  werben  bürfte,  als 
wäre  SeßtereS  eine  fefte,  beftimmte  ©röße,  wenn  alfo  jene  Söiber* 
fprüdje  in  ber  That  mit  jwingenber  ßlothwenbigfeit  fich  ergeben 
würben,  hätte  Zöllner  bie  SSarnung  Kants,  ben  er  fo  oft  $u 
fmlfe  ruft,  auch  h‘er  beherzigen  müffen.  gür  Kant  (Kriti!  ber 
reinen  Vernunft)  ift  baS  Unenbliche  eine  ber  Slntinotnien, 
oon  benen  ftets  eine  Behauptung  unb  ihr  ©egentheil  mit  ber* 
felben  SBahrfcheinlicfjfeit  fich  ergeben  unb  über  bie  ber  enblicfje 
ÜDfenfcf)  nicht  weiter  nachgrübeln  foHe,  ba  fie  für  unferen  Ber* 
ftanb  zu  groß  ober  zu  flein  feien. 

SBie  erwähnt,  betrachtet  3öflner  bie  ganze  ©rfcheinungSwelt 
als  ©chattenprojeftion  einer  realeren  oierbimenfionalen  SBelt,  unb 
in  einer  aflerbingS  weit  nüchterneren  Steife  hoffte  SRacf)  über 
gewiffe  ungelöftc  Probleme  ber  IßJjtjftf  burch  |>inzunahme  einer 
oierten  Timenfwn  Sicht  oerbreiten  zu  föntten.  ®S  ift  zuzugeben, 
baß  auf  ©runb  jener  gößnerfcßen  §tn^auung  mit  einiger 
^ßbantafie  fo  zi«ulidj  jeber  räthfelhafte  Slaturoorgang  erflärt 
werben  fann.  Slber  in  leßter  Snftanz  werben  auch  h*er  bie 
Schwierig  feiten  einfach  in  ein  anbereS  ©ebiet  zurücf* 
oerlegt;  ähnlich  wie  bei  ber  ©rflärung  ber  ©rfcfjeinungen  burch 
Sltome  ober  berjcnigen  ber  ©ntftehung  beS  SebenS  burch  lieber* 
tragung  oon  Keimen  in  Sßfeteorfteinen.  ©oß  ein  zweibimenfionaleS 

(627) 


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62 


23ifb  bie  ißrojeftion  eineö  räumlichen  ©egenftanbeS  fein,  fo  muß 
baS  VrojeftionScentrum  eine  beftimmte  £age  gegenüber  ber 
Vilbebene  befijjen,  eS  muß  in  SSe^iehung  auf  lejjtere  hinter 
bem  Objeft  liegen,  hierin  liegt  eine  mirflitfie  VorauSfefjung, 
unb  analog  ift  eS  bei  ber  3öH«erfchen  SlnfdjauungStoeife.  3e 
mehr  VorauSfehmtgen  jur  ©rflärung  eines  Vorgangs  miHfürlich 
eingeführt  tuerben,  befto  leichter  ift  felbftoerftänblich  bie  ,,@r« 
flärung". 

5Die  behaupteten  fpir itiftifchcn  ffiahrnehmungen  finb 
ooöenbS  nicht  ©adje  ber  9?aturmiffenfchaft.  Cber  beffer,  wenn 
'Jlaturerflärung  ju  befiniren  ift  als  möglidjft  einfache  Verreibung 
ber  SJiaturerfcheinuitgen,  fo  ift  baS  £ierauSbringen  beS  ©chrot- 
JornS  aitS  ber  gefdjtoffenen  ©laSfugel  bnreh  gemanbteS  Ver* 
taufcheu  ber  ©laSfugel  mit  einer  anberen,  ober  baS  ^reimerbeit 
einer  gebunbenen  ijSerfoit  burdj  2(nfpannung  ber  SDtuSfeln  toährenb 
beS  ViubenS  in  weit  einfadferer  ©eife  erf  lärt,  als  burch  Vor- 
gänge in  einem  mirflid}  ejiftirenbeit  oierbimenfionalen  SRaum. 

UebrigenS  toirb  baS  Treiben  ber  heutige«  ©piritiften  felbft 
phantaftifche  9taturforfchcr  nicht  leicht  »eranlaffen,  ihren  ©pe* 
fulationen  näher  ju  treten.  ®ie  SlnfchauungSroeifeit  3öß«erS 
unb  SJuprelS  hüben  menigftenS  ihren  guten  8 i n n ; im  übrigen 
aber  reiht  fich  eine  2he°rie  &eS  Spiritismus  an  bie  anbere, 
ohne  baß  ftetS  bie  ermähnte  Sigenfdjaft  Ijinjuträte.  ®a  ift  oon 
„Sreujung  oon  Sraftfd|mingungSrt)thmen",  oon  SluSftröm ungen 
beS  „ObS"  (eines  lejjten  räthfelhaften  gluibumS)  bie  9tebe; 
©chlagmorte,  toie  Sltom,  Slether,  Sraft,  merben,  unflar  erfaßt, 
auS  ber  9?aturmiffenfd)aft  herübergenommen  unb  unbarmherzig 
gehanbhabt.  3umal  bie  „Sraft"  ift  einigen  ©piritiften  ein 
cbenfo  geläufiger  Vegriff,  mie  einem  Vubcnbefifcer  beS  ßannftabter 
VolfSfeftcS  oon  1888,  ber  „Üiaturfräfte  aller  Slrt  um  ben  billigen 
VreiS  oon  25  Pfennigen"  Sebermamt  jum  Saufe  bot;  — fo 
geläufig,  baß  fdjeinbar  biefer  Vegriff  gar  nicht  mehr  ber 

C628) 


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63 


Definition  bebarf.  Der  ^rofeffor  an  ber  f.  f.  §ocf)fd)ule  für 
©obenfultur  in  SBien,  Sd)lefinger,  führt  au$:  „3eber  Körper 
befte^t  auä  einem  finnlidj  erfettnbaren  D^eii  unb  einem  ihn 
umgebenben  immateriellen  Kräftefpftem ; ein  ©latt  Rapier  wirb 
betrieben  eine  anbere  Kraftfphäre  befifcen,  als  toentt  eS 
unb efd) rieben  ift,  unb  eine  Somnambule  oermag  ben  Unter* 
fdjieb  biefer  Kraftfpljären  wahrzunehmen  nnb  bamit  ein  ge* 
fdjloffetteS  Rapier  ju  lefen."  (3u  bebauern  ift  nur,  bajj  baS 
befchriebene  Rapier  feine  ljöl)ere  Kraftfphäre  nidjt  in  ber  9iicf)tung 
geltenb  ju  machen  rocijj,  über  bie  manchmal  barauf  itieberge* 
legten  Säfte  beutlid)  feine  Ungebufb  erfennen  ju  geben.) 

S35er  ficf>  bie  9Kül)e  nimmt,  einige  Jahrgänge  ber  fpiritifti* 
fcfjen  geitfchrift  „Sp^inj"  burdjjulefen,  mit  all  ben  'äluffäften 
über  2Jitjfti!  unb  OffultiSmuS  Offenbarungen  über  baS  gort* 
leben  unb  ba$  QenfeitS,  Dlefromantie,  Räuberei  unb  Sßeiffagungett 
aller  Srt,  wirb  fich  in  bie  bunfelften  feiten  beS  SKittelalterS 
oerfeftt  füllen.  SBaljr^aft  erfrifd)enb  inmitten  biefer  bumpfen 
Sltmofphäre  oon  OffultiSmuS,  wirft  bie  iteulid)  in  ben  gedungen 
Berichtete  federe  Spifobe  oon  iRefau,  too  „eS"  fo  lange  unb 
intenfio  mit  Kartoffeln  unb  ©ratpfanuen  toarf,  oftne  felbft  bett 
©eiftlidjen  beS  Orts  ju  ocrfchonen,  bis  fid)  fdjliefslid)  bie  ©e* 
mopner  in  ihrer  Verlegenheit  an  ben  ^ß^Qftfer  fjelmholft  um 
9tatf)  manbten,  wie  einft  bie  Dclier  in  üfinlidjer  9?oth  au  baS 
Drafel  oon  Delphi;  ju  früh  för  bie  9lad)welt  würben  bie  natur» 
toiffeujchaftlichen  Stubien  ber  9tefauer  baburch  unterbrochen,  bajj 
„ei“  fid)  als  ein  $auSfnecht  entpuppte. 

Die  SBirfungen,  welche  fid)  Ulric  i 33  oon  ber  fpiritiftifdjen 
£ehre  für  bie  Kräftigung  beS  ©laubenS  an  eine  Ijöchfie  fittliche 
SSeltorbnung  unb  an  bie  Unfterblichfeit  ber  Seele  oerfpricht, 
bürften  fe^r  zweifelhafter  illatur  fein;  möge  und  ein  anbereS 
gortleben  nach  ^ent  $°b  befchieben  fein,  als  bie  fpiritiftijdjen 
Phänomene  es  funbgeben.  1)  „©hhfifd)  Qeratlien  bie  Seelen 

(029) 


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64 


unferer  Serftorbenen  — fagt  SBunbt31  — in  bie  Sflaberei 
gewiffer  lebcttber  SNeitfchen,  ber  fog.  SNebien.  ®iefc  Niebien 
ftnb,  gegenwärtig  wenigftenS,  nic£)t  feljr  oerbreitet  unb  feinen 
faft  auSfdjIießlic^  ber  amerifanifchen  Nationalität  anjugchörcn. 
*uf  öefehl  berfetben  führen  bie  Seelen  mechanifcfje  Seiftungeu 
auS,  weldje  burdhgängig  ben  Gtjarafter  ber  3wedlofigfeit  an 
fid£)  tragen,  fie  flopfen,  heben  Slifc^e  unb  Stühle,  bewegen 
Setten,  fpiefen  fwrmonitaS  jc.  2)  3ntelleftuell  öerfaHen  bie 
Seelen  in  einen  guftanb,  ber,  foweit  ihre  in  Schieferfchriften 
niebergelegten  Seiftungen  auf  ihn  fchliefjen  taffen,  nur  als  ein 
beflagenSwerther  bezeichnet  werben  tarnt.  35iefe  Schieferfdjrifteit 
gehören  burdjgängig  bem  ©ebiet  beS  höheren  ober  niebereu 
SlöbfinnS  an,  namentlidj  aber  bem  nieberen,  b.  h-  fie  finb 
ööflig  inhaltsleer.  3)  ?lm  retatio  günftigften  fcheint  ber  mo« 
ralifdje  3«fl<*nb  ber  Seele«  befdjaffen  ju  fein.  Nach  allen 
3eugniffen  läfct  fid)  ihnen  nämlich  ber  S^arafter  ber  §arm. 
lofigfeit  nicht  abfprechen.  gür  brutalere  §attblungen,  Wie  3.  ö. 
3erftörung  eines  SettfchirmS,  eittfdjulbigen  fich  bie  ©eifter  aufs 
höflichfte  . . ."  SBunbt  finbet  eine  entfittlichenbe  SSirfuug  beS 
Spiritismus  in  ber  ©ntfrembung  001t  einer  ernften,  bem  $$icitft 
ber  SSiffenfchaft  ober  eines  praftif<hen  SerufS  gewibnteten  Slrbeit. 
Nod;  höher  anjufchlagett  finb  bie  unwürbigen  Sorftellungeu 
bott  bem  3«ftanb  beS  ©eifteS  nach  bem  £ob;  am  oerberblichften 
erfcheint  baS  3errbilb,  welches  baS  fpiritiftifdje  Spftem  üon 
bem  SSalten  einer  höheren  SBeltorbnung  entwirft,  inbem  eS 
SNenfdjett  oon  minbeftenS  höchft  gewöhnlidjer  geiftiger  unb  fitt« 
»icher  Segabung  ju  auSerlefenen  SSertjeugeit  ber  33orfef)ung 
ftempelt. 

SDie  Serfuche,  theologifdje  fragen  mit  3«h«lfenahme 
naturwiffenfchaftlicher  Theorien,  fpecieH  ber  3ööuerfchen  Theorie 
mehrbimenfionaler  Näume,  ju  beantworten,  gehören  einem  glüd* 
licherweife  faft  überwunbenen  Stanbpunft  an.  9Jian  gewöhnt 

(630) 


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65 


fid)  mefjr  unb  meljr,  bie  Staturwiffenfdjaft  mtb  Xljeologie  als 
getrennte  SDiScipIinen  ju  betrauten,  bie  nidjtS  mitehtanber  ju 
ttjun  fabelt,  unb  non  betten  nidjt  bie  eine  ju  ber  an« 

beren  Dertoenbet  werben  barf. 

35ieS  fdjeint  eine  golge  ber  mobernen  SCefinirung  Don 
Staturerflärung.  So  lange  ntan  hoffte,  bie  SiaturDorgänge 
felbft  erflären,  b.  f}.  auf  iE>re  lebten  Urfadiett  prüdfüljren 
ju  fömtcn,  mufften  tljeologifdje  fragen  burd)  aßeS  angeregt 
»erben.  ®ie  brei  lefctDergangenen  Qafjrljunberte  weifen  eine  für 
unfere  jefcigen  Ülnfdjauungen  auffaßcnbe  t8ermifd)ung  Don 
Geologie  unb  Staturwiffenfdjaft  auf.  Steper,35  ber  ©rfinber 
ber  £ogaritt|men,  war  nebenbei  ein  eifriger  Xljeologe;  er  fdprieb 
eine  Auslegung  ber  Slpofaltjpfe  mit  ißropofitionett  unb  matlje* 
ntatifdjen  Seweifen.  Otto  ü.  ©uericfe,  ber  (Srfinber  ber  Suft» 
pumpe,  befd^äftigte  fidj  ju  Anfang  feine«  93ud)S  mit  bem  SBunber 
beS  Sofua,  weldjes  er  mit  bem  Slopentifanifdjen  Spftem  in 
(Sinflang  p bringen  fudjt,  unb  mitten  in  Unterfucfpngen  über 
ben  leeren  Siaum  unb  bie  Statur  ber  Suft  finben  fid}  fragen 
über  ben  Ort  beS  Rimmels  unb  ben  Crt  ber  fijöfle  erörtert. 
2DaS  fjSrinjip  ber  Ueinften  SSirfung,  baS  für  bie  Söfung  einiger 
fpeciefler  Aufgaben  gute  S5ienfte  teiftet,  würbe  p einem  fjalb 
tljeologifdjen,  — baS  Sidjt  Wäljlt  in  bemfelbett  ÜJtittel  bas 
SJtinimum  beS  SBegS,  beim  Uebergang  Don  einem  SJtittel  in  ein 
anbereS  baS  SJfinimunt  ber  $eit,  bet  Ätel  einer  geber  eines 
®ogelS  ift  ein  Sörper  fleinften  SBiberftanbeS  tc.  — Stad)  ber 
heutigen  SBorfteßung  bewegt  fid)  baS  £id)t  auf  allen  SBcgen, 
aber  nur  auf  ben  SBegen  fleinfter  3e**  Derftärfen  fid)  bie  £icf)t» 
roeßen  berart,  baff  ein  mcrflidjeS  Stefultat  p ftaube  fommt. 
2>aS  ißrinjip  ber  „Sparfamfeit  ber  Statur",  fagt  SJtad),  brüefen 
mir  lieber  weniger  ergaben,  aber  Diel  aufflärenber  unb  richtiger 
auS:  @S  gefdjiefjt  immer  nur  fo  Diel,  als  oerntöge  ber  Slräfte 

unb  Umftänbe  gefdjeljen  fattn.  2)ie  Stettenlinie  weift  beit  tiefften 


Sammtunfl.  3t.  g.  V.  112.  113. 


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66 


©chwerpunft  auf,  weit  nur  bei  bem  tiefften  ©djwerpunft  (ein 
weiteres  gaflett  ber  ßettengtieber  möglich  ift. 

Saplace  gab  Napoleon  auf  beffen  grage,  warum  in  feiner 
mecanique  celeste  nicht  wie  in  ben  ©griffen  9?ewton$  ber 
■Karne  ©otteS  oorfomme,  jur  Mntwort:  ,,Sire,  je  n’avais  pas 

besoin  de  cette  hypothese“,  unb  ben  ©tauben  9iewtonS  an 
einen  perfönlichen,  allmächtigen,  allgegenwärtigen  ©ott  fudjte  er 
bamit  ju  erftären,  baff  9lewton  bamals  nicht  bei  gefunben 
©innen  gewefen  fei.  Sener  Sluäfpruch  2aplace$  ift  geroife 
ein  friooleö  SBort,  baä  unter  §albgebilbeten  üiel  Unheil  ge> 
ftiftet  hat,  baä  aber  ber  UebergangSperiobe  trefflich  entfprieht. 

|jeutjutage  befiniren  wir  Katurerflärung  als  3er*e9un9 
ber  fomplijirten  Shatfadfen  in  mögtichft  wenige  unb 
möglichft  einfache;  eS  gilt  alfo,  erftenS  möglichft  tjiele  39e> 
obadjtuugen  in  einer  überfichtlichen  fjrorm  jufammenjufaffen  unb 
zweitens  bie  einjelnen  ^Beobachtungen  in  möglichft  einfache  ju 
jerlegen.  ©in  mal  müffen  Wir  biefe  3er*e9un9  einfteHen.  3ln 
welchem  Vunft  bieS  bergall  ift,  alfo  wann  wir  fagen  wollen, 
jefjt  fei  ein  Katuroorgang  auf  bie  ein  fach  ft  e SEBeife  beschrieben, 
bleibt  un$  iiberlaffen. 

®ie  Sltomtheorie  ober  bie  Theorie  beS  2letf)er$  finb  baher, 
wie  fchon  erwähnt,  nur  oorläufige  $ülf$mittel,  oou  unferem 
Verftanb  für  3*^*  ber  3ufainrnei1faffung  erfunbeit.  ©elbft 
wenn  eS  fchon  gelungen  wäre,  alle  phhfüalifchen  ©Meinungen 
ber  ©rauitation,  ber  ©leftricität,  beS  ÜKagnetiSmuS  rc.,  ja  felbft 
bie  feelifdjeu  Vorgänge  auf  ^Bewegungen  oon  Sltomen  ober 
auf  Stetherfcfjwingungen  jurüefjuführen,  — was  hätten  wir 
bamit  für  ein  anbereS  3'e*  erreicht,  als  Vereinfachung  beS 
5>enfenS;  irgenb  ein  thatfädjlicheS  ©eheimnifj  wäre  ber  Vatur 
nicht  abgetrofct ; nur  fompli jirtere  Väthfel  auf  einfachere  Siätljfel 
rebu^irt.  333er  anberS  betift,  oerwcchfelt  9iaturwiffenfcf)aft  mit 
naioer  Vewuuberung  ber  Triumphe  heutiger  gorfdpmg.  ©ehr 

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67 


oft  bringt  größere  ©rfenntnijj  größere  ©elbftbefcßränfmtg 
mit  ficß. 

demjenigen  Ulaturforfcßer,  welcßer  behauptet,  bie  IRicßtigfeit 
ber  materialiftifcßen  SBeltanfcßauung  baburcß  beweifen  ju  fönnen, 
bafj  er  ben  Söecßfel  ber  SRaturerfcßeinungen  in  ein  3ufatlgfpiel 
oon  SDiolefüIen  auflöft,  muß  twrßer  bie  Stufgabe  geftellt  werben, 
bie  Sjifteitj  ber  SNolefüle  ju  beweifen;  — eine  Aufgabe,  bie 
ftetS  ungelöft  bleiben  wirb,  ba  bag  fiepte,  wo«  hinter  ben  @r* 
fcßeinungen  liegt,  immer  nur  ©rjeugniß  unfereg  fubjeftioen 
deufeng  ift ; eg  ift  nicßt  auggefcßl offen,  baß  bie  jeßigen  p^gfifali* 
fdjen  £>iilfgöorftelIungen  einmal  buriß  anbere  würben  »erbringt 
werben. 

Unbeeinflußt  burcß  alle  tRefultate  ber  ejaften  gorfcßung 
finb  unb  bleiben  baßer  bie  tßeologifcßett  Slnficßten  Sebermanng 
^riöatfacße,  bie  er  freiließ  am  beften  nicßt  t»or  bie  Oeffeutlicßfeit 
bringt,  „die  ßöcßfte  Statur  -ißßilofopßie  ift,  eine  umwUeubete 
SSeltanfcßauung  ju  ertragen  unb  einer  fcßeinbar  abgefcßfoffenen, 
aber  unjureicßenbett  oorjujießen". 

die  9Zaturwiffenfcßaft  felbft  ßat  eg  nur  mit  ben  öeob- 
acßtunggtßatfacßen  ju  tßun,  unb  nur  burcß  bag  gehalten  an 
ben  dßatfacßen  wirb  ficß  biefelbe  entwicfeln.  ©eßen  wir  baßer 
oon  ©pefulationen  ab,  welcße,  nicßt  auf  bem  ©runb  ber  Gcmpirif 
rußenb,  ficß  ing  Stebelßafte  »edieren.  Sebermann  barf,  ja  foll 
ficß  bie  ßöcßften  3iele  ftecfen;  aber  aucß  für  ben  nücßternen 
ÜJiatßematifer  unb  Staturforfcßer  liegt  ein  weiteg  ©ebiet  frei 
unb  offen  nacß  allen  ©eiten  üor  — feßr  im  ©egenfaß  ju  mancß 
anberen  digciplinen  — , Probleme,  umfaffenb  genug,  bie  ernfte 
Strbeit  eineg  SDtenfcßenlebeng  ju  füllen. 


5*  (G33) 


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5lninctfunflcu. 

1 Stäpcrcö  f.  ©eeg.  ©pmnafialprograntm,  flauen  1888,  9tr  514. 

5 911$  Grgängung  ju  einer  ©emerfung  bon  «Dta<p,  ,,©ie  «Recpanif 
in  iprer  Gntroideluug,  piftorifcp • fritifcp  bargcflcQt",  1883  , 6.  465  9ln- 
mcrlung. 

3 Jpelmpolp,  ©opuläre  wiffenfcpaftlicpe  Sorträge,  4.  §eft:  „lieber 
ben  Urjprung  unb  bie  ©ebeutung  ber  geometrifepen  9ljiome." 

* ©gl.  hierüber  auep:  T>iltmanu,  „®ie  ©tatpematif,  bie  &adel- 
trägerin  einer  neuen  3'**-"  Stuttgart  1889,  foraie  eine  ©efpreepung  biefer 
©sprift  non  91.  ©d)mibt,  ©fatpem. «natum.  SRittpeilutigen,  perauSgegebett 
non  Dr.  0.  ©öflen,  ©anb  III.  1.  £>eft. 

6 3üHner  (f  1882  al$  ©rofeffor  an  ber  Uniöerfität  in  fieipjig, 
„lieber  bie  Statur  ber  S’ometcn“,  1872. 

9 lieber  ba$  folgenbc  ogl.  baö  ©erf  ©ilpelm  ©teper3,  bc*  be- 
fannten  aftroitomifcpen  3cuillctoniften,  „5>ie  Gntftepung  ber  Grbe  unb  b<4 
3rbifcpcn„,  1888. 

I 0lber3,  „lieber  bie  Tiircpficptigfcit  bc$  ©eltraum$“,  1826. 

8 ©gl.  barüber  g.  ©.  ©eprauep,  „$a8  ©ringip  »on  ber  Grpaltung 
ber  Gnergie  feit  Stöbert  ©ieper",  1885. 

9 ®icfe3  ©ringip  ift  nur  bie  Folgerung  au$  ber  Grfaprung$« 
tpatfaspe,  baß  bie  ©arme  niemals!  opne  fiompenfationen  Don  fiöipern 
niebercr  gu  foldjen  pöperer  Temperatur  übergepen  fann.  fonbern  nur  um- 
gefeprt,  barf  alfo  auep  niept  apobiftifepe  ©eroeiölraft  erpalten. 

19  SRiemann.  gefamm.  ©erfe  „lieber  bie  $>ppotpcfen,  bie  ber  ©eo 
metrie  gu  ©runbe  liegen." 

II  «Dl oft,  „«Reue  ©arleguttg  ber  abfoluten  Geometrie  unb  ©ecpatiif 
mit  ©erfidfieptigung  ber  grogc  nadj  ben  ©reuten  be$  ©eltraum$",  ©ro- 
grantm  1883. 

11  ©ceg,  SRisp.,  „lieber  bie  Guflibifspc  unb  niept • Gudibifdje  ©ec« 
metrie",  ©rogramm  1888,  ©.  12. 

13  ßöllner,  „©iffenfspaftlispe  9lbpanblung",  ©b.  1. 


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69 


“ Sant,  „Ponbem  erften  Unterfdjieb  ber  öegenben  im  iRaum"  1768. 
©efamm.  Werte  Sb.  V.  ©.  298  ff. 

15  Äant,  „Prolegomeua  311  jeber  fünftigen  9J?clapl)t)fif",  ®ef.  Serie 
Pb.  IH.  ©.  40  ff. 

19  3ötlncr,  „Siffenfdjaftlidje  Sbbaublungen",  Pb.  I.,  „lieber  Emil 
bu  Poiö  SHepmoitbÖ  ©reifen  beä  9?aturertenuenö".  Pgl.  audj  Saut. 
Sritif  ber  reinen  Vernunft,  ©.  366. 

17  ©artoriuö  non  SalterSbaufen,  „©ruß  jum  ®ebäd)tni&*,  Seipjig 
1856.  S.  81. 

19  Sladj,  „Tie  ©eft^ic^te  unb  bie  SBurjel  beö  ©apeö  non  ber  Er- 
haltung ber  Slrbeit".  1872. 

19  fKientann,  ®ef.  Serie,  „9leue  matbentatifdje  Prinsipien  ber 
Saturpbilofopbie". 

*®  „La  chimie  dans  l’espace“  non  nan’t  §off,  1875,  Porrebc 
non  3-  Siöliceituä. 

91  Sant,  „Träume  eine«  ©eifterjeberö,  erläutert  burdj  Träume  ber 
Pletapbpfif.“  1766,  ®cfam.  Serie,  'Pb.  VH.  ©.  32  ff. 

99  Saut,  „Porlcfungen  über  Pfpdjologie",  neu  beraubgegeben  unb 
mit  einer  längeren  (Einleitung  oerfeben  non  Sari  bu  prel. 

71  Sirdjner.  „Ter  ©piritiSmuö,  bie  Starrheit  unfereS  3e<*alterä"; 
„Teutfcbe  3«!’  unb  Streitfragen",  bernuSgegeben  »on  3r.  P.  ^olßcnborff, 
Jahrgang  XII.  §eft  186/187. 

94  (Setermann,  „©ejprädje  mit  ©oetlje",  III.  133—139. 

9i  Tu  Prel,  f.  befonberS  bie  ermähnte  Einleitung  „fiantö  mpftifebe 
Seltanfcbauung"  ju  SantS  Porlefungen  über  Pfucbologie,  fomie  nielc  9luf* 
fäfce  in  ber  „©pbinj".  SWonatöjdjrift  für  iiberjinnlidje  Seltanfdjauung, 
3.  'S.  3“brgang  1886,  Pprilbeft,  „Ter  Slftral • Seib".  U.  a.  $>aupt- 
oertreter  beä  inobcrucn  ©piritiöntu«:  Groofeö,  lllrici,  3-  £>•  3id)tc,  poff- 
mann,  Pertt),  SaHace,  Ptfalom,  bu  Prel,  Wellenbad),  Eb.  n.  .fiartmann, 
Peidjcubad),  !£>übbe-Sd)leiben,  Sicfetnettcr,  Staat 

99  lieber  bie  ©efeße  beö  3“iammenbangö,  ber  gegenfeitigeu  Üage  unb 
ber  Pufeinanberfolge  non  Putiften,  ijinien,  glädjen,  ftorpern  unb  iljrer 
Tbeilt  i"1  Paum  ngl.  Cotar  Simonp,  Si$ungöbcrid)te  ber  Saif.  ?lf. 
b.  Siff.  in  Sien,  Paitb  88,  Slblbl.  2,  ©.  967,  18811,  ferner  3 ob- 
Pen.  Sifting,  „Porftubien  jur  Topologie",  ©öttinger  ©tubien  1847, 
1.  Pbtbl-,  S.  814;  au$  ber  neueften  3e't;  Tingclbct),  „Topologiidje 
Stubien  über  bie  auö  ringförmig  gefebloffenen  Sänbern  burd)  gcroiffe  ©ebnilte 
erjeugbaren  ©ebilbe",  Seipjig,  Teubner  1890. 

97  £enrt)  Store,  „Enchiridium  metaphysicum“,  1671. 

99  Sfricferö  SJebenöbilb  non  Ebmaun,  Pfarrer  in  llnterjefingen 
(Sürttemberg). 

(635) 


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70 


19  ftr.  (£ fjr.  Detinger  (1702— 1782),  „DaSSbftem  §erm  griderS". 
CSinjelne  Stupitdübericbriften  finb  u.  a. : 3.  Bon  bem  ©enfrben  nad)  bet 
©eburt  beS  ©eifteS  auf  bie  mietbare  ©clt;  4.  oon  bcm  gro&en  ©eit« 
ipftem,  jo  .pimmcl  unb  ©rbe  begreift;  5.  bon  ber  Serfajfung  beS  öaitjen 
im  unftdjtbnren  ©etfterreid) ; 6.  pbiloiopbiidjer  Beweis,  baß  bie  Seele  fid) 
feilen  ober  trennen  unb  in  jmei  entfernten  Orten  jugleid)  fidj  befinben 
ober  mit  gmei  ocrfdjiebenen  materiellen  Umftänben  menigftenS  eine  8e«Ian8 
oerbunben  fein  fönnc  rc. 

50  3öHner,  3.  Banb  ber  „©iffenfibaftlirben  Sbbanblungen“.  Un- 
richtig biirfte  eS  fein,  roenn  3öÜner  folgenbe  Aeufjernng  oon  ©auf)  ben 
©ebanfen  an  oierbimenfionate  Säume  unterfebiebt:  „®S  giebt  fragen,  auf 
bereu  Beantwortung  id)  einen  unenb(id)  Diel  böseren  ©ertb  legen  würbe, 
als  auf  bie  matbematifdjen ; j.  B.  über  ©tbil,  über  unfer  Serbältnijj  ja 
©ott,  über  unfere  Beftimmung  unb  über  unfere  gufouf*-  '8  m>r 
gleichgültig,  ob  ber  Saturn  5 ober  7 Slonbe  bat,  — e8  giebt  etwas  ^>ö^ere4 
in  ber  ©eit.  Ob  bie  Seele  80  3al)re  »ber  80  Sliüionen  3abte  ,eM- 
wenn  fie  einmal  untergeben  foll,  fo  ift  biefer  3e>traum  bod;  nur  eine 
©algcnfrift;  cnblid)  würbe  eS  oorbei  fein  müffen.  9Ran  wirb  baber  ju 
ber  Anfidjt  gebrängt,  für  bie  ohne  eine  ftrengc  wiffenfdjaftlidje  Begrüitbung 
fo  oieles  anbere  joriebt,  bafj  neben  biefer  materiellen  ©eit  nodj 
eine  gmeite,  rein  geiftige  ©eltorbnu ng  ejiftirt,  mit  ebenfo 
oiel  ©annigfaltigfeit  als  bie.inber  mir  leben,—  ibr  folltn 
mir  tbeilbaftig  werben." 

81  © er  fen,  Programm  beS  SealgbmnafiumS  gu  Bfdeberg,  1886/87, 
Brogrammnummer  102,  1887.  „Die  p^itofop^ifc^en  ©runblagen  ber 
©atbematif.“ 

**  lieber  bie  neueren  ftorftbungen  Dgl.  befonberS  fiilliitg,  „Die  nidf! 
ßuflibijtben  Saumformen";  Stbur,  „Ucbcr  bie  Deformation  ber  Säume 
fonftanten  Siemannfdjen  ßriimmungSmafjeS"  SRatb-  Annalen  Bb.  27, 
S 170;  Brill,  «Salb-  Annalen,  Bb.  26.  S.  4;  S.  Bceg.  „lieber 
SKannigfaltigteiten  pö^ercr  Drbnuitg" , SJatb-  Annalen  Bb.  7,  ©.  392; 
S.  Beeg  1.  c. 

83  Sdjlegcl,  „lieber  ben  fogenannten  oierbimenfionalen  Saum“; 
'Allgemein  oerftänbl  naturwifjenjcbaftl.  Abbanblungen,  $eft  1,  Berlag  oon 
Ö.  Sicmann,  1888. 

31  lllrici,  „Der  iogenanntc  Spiritismus.  eine  mifienftbaftlieb* 
3ragc",  1889;  gntgegnung  barauf:  ©unbt,  „Der  Spiritismus,  eine  fo« 
genannte  miffenfcbaftlicbe  ftrage.“ 

“ lieber  baS  golgcnbe  ogl.  Blad),  „Die  SKeibanif  in  ihrer  ®nt« 
midelung  ^iftorifcf)  • fritifc^  bargcftetlt",  1883. 


(C3ö) 


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Jtrlagsunflolt  nn&  Prniferrri  |.=ß.  (normale  3.  #.  fiirijtn)  in  Saabarg. 


Bie  ©rßttym  ti?s  Jlra'finns. 

Bon 

Dr.  B.  (CullmT, 

Sorrefponbirenbcm  TOitglieb  bei  SocICtd  mÄ<lico-psycholo(flque  ju  ^actJ. 

Qn§  ®entfche  übertragen 

Don 

Dr.  med.  ffitto  Bornbliitl), 

gweitem  Strjte  bei  $toomjial'3rrenanftalt  Sreuj&urg  C.-3. 

@t.  8°  (VIII  unb  272  ©.).  5ßrei8  5 3JU-  eteg.  geh-,  6 Ulf.  eieg.  geh. 

Srfter  Slbfdjnitt.  ^rrefein,  ©rblic^feit,  geiftige  »nb  fittlidje  öntartungen. 

L 9Iatur  unb  Urfprung  be$  3rrefein$.  II.  Die  ©rennen  be?  3rre(ein«. 
HL  körperliche,  geiftige  unb  fittlicf)e  Seich™  ber  erblichen  Entartung. 

3njeiter  SIbfchnttt.  ®ie  3tt,an9:gäuft^n^e- 
L Die  ^Sta^angft-  II.  Die  S^bfelfucht  ober  ©riibeffucht.  m.  Die 
Serührungöfur^t.  IV.  Berfdjiebene  geiftige  3ro“ng3iuftänbe. 

^Dritter  Slbfifinitt.  ßranfhafte  Jriebe. 

I.  Selbftmorb*  unb  2Korbtrieb.  II.  Die  Dipfotnanie.  III.  Untciberftchlicher 
Irieb  jum  Stehlen,  ju  Einläufen,  jum  Spiel.  IV.  Die  Bpromanie  (ber 
BranbftiftungStrieb). 

Vierter  Slbfchnitt.  ®ie  Gycentrifd^en. 

I.  Unftetc,  Slbenteurer  II.  Ejciraoagante  unb  ©chmufcige.  HI.  f^od)1 
müthige  unb  Berfdjroenber.  IV.  Erfinber,  Dräumer  unb  Utopiften. 

fünfter  Slbfdfjnitt.  Verfolger. 

I.  Verfolgte  Verfolger.  II.  Ißrojefjfüihtige.  III.  Eiferfücfjtige. 

Sechster  Slbfdjnitt.  ©djttmrmer. 

I.  Eigentliche  Schtoärmer.  II.  ganatifer.  III.  Erotomanen  (Siebebroiitbige . 

(Siebenter  Slbfcfjnitt.  S?erberbte. 

I.  $bfierifche.  n.  Sügner.  III.  Simulanten.  IV.  Berbredjer. 

Sichter  2lbfcf)nitt.  @efd)Iecf)tltcfj  Slbttorme. 

I Slbtocichungen  beb  @eidjled)t3triebeS.  II  SBerfehrungen  ber  ©ejdjlechte- 
empfinbung.  III.  SInbere  gcjchledjtliche  Berirrungeu. 

SZeunter  2lbfcf;nitt.  fragen  ouö  bev  gerichtlichen  ÜKebijin. 

I.  Verbrechen  unb  Srrefein.  II.  llnterfdjeibenbe  Diognoflif.  III.  3U‘ 
rechnungbfähigfeit. 

Zehnter  Slbfchnitt.  Qrrefeiit  unb  Gibilifation. 

I.  Dal  3rrefein  in  ber  ©cfcpichte.  II.  Srrefein,  Talent  unb  @enie. 
DI.  Die  ißftjchopathologie  in  flitteratur  unb  kunft. 

fBrnn  ti  bem  Sucht  gelingt,  in  »eitere  «reife  tu  Dringen,  »ich  ti  manchen 

liuetu  ftiften  tonnen. 

Dr.  Frhr.  von  Banehmann  in  „SleS.-ßhir.  tHunbfchau”,  ÜBicn. 

3ebrnfaü8  barf  man  Dem  Uebcrfeber.  ber  in  gelungener  ffieiie  feiner  Hufgabe 

gerettet  geworben,  Xant  wifjrn.  baä  ebenio  iitteceffanle  aI4  brlchtenbe  Such  weiteren  Steifen 
tugdnglidj  gemocht  tu  heben,  unb  lünnen  wir  bie  Stettüre  beC-frlben  indbeionbere  ben  Srttlichen 
ÄoDcjcn  mit  allem  «runb  anempfehlen.  (geitfcfirift  für  ISftntiintrte.) 


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ürrlageanftult  uab  Oraibrrri  |.=0>.  (oormala  3.  f.  Sielet)  ia  fjamliri. 


m 

piblifdje  «nl>  profane  PEHmbertkäter.  ®on  2lmort 

bem  3üngetcn  1.60 

Pie  Por|teUunßen  von  ber  §ecle.  Sou  9Ibolf  ®aftian  1.— 
pctuegunga-  unb  pinncauorfteUungen  bce  |ttcn- 
fdjcn  in  iljren  pegieijungcn  ?u  feiner  ©rofj- 
kirnobcrflädjc.  ®on  Dr.  Earo.  SWtt  6 9lbbifbungcit  — —.80 

Per  3U p.  ®on  Dr.  Euba|d) —.75 

Pie  Pflege  bcrllrrenfanfi  unb  ici|t.  ®on  Dr. C.  EngeHjorn  — 60 
lieber  ©ciftceltörungcn  unb  ©etficakranke.  ®oii 

©et|.  SDleb.OHatf)  Dr.  6.  JJ.  Jlcmmiug —.60 

pdjlaf  unb  ®raum.  Sou  Dr.  grcnSbcrg —.60 

$piritientua  unb  pdjule,  ®on  Dr.  roed.  Rebler 1.— 

® räumen  unb  Renken.  2.  9lufl.  ®on  Dr.  3uliu$  3enfen  —.75 

STljun  unb  pattbcln.  ®on  Dr.  SuliuS  3enfen —.75 

Per  ppiritiamua.bieilarrkeit  unferca§eitalter*. 

®oii  Lie.  Dr.  Stinktier 2.— 

lieber  bic  pinneanmkrncljmungcn.  2.  2lufl.  2?on 

®rof.  Dr.  E.  2ct)ben —.60 

Per  Pppnotiamna.  ®on  ®rof.  Dr.  E.  9Rcnbel —.80 

lieber  pinucatäufdjungen.  ®on  ®rof.  Dr.  Hermann  SWeper  —.75 
Pie  gegenwärtige  ptlicberbclebung  bca  pcacen- 

glaubcna.  ®on  3-ricbricb  91ippolb 2.— 

lieber  bic  ©renjen  iwifdjen  pfxjdjifdjcr  ©cfunb- 

Ijcit  tntb  ©ei|tca|töruttg.  ®on  Dr.  'Uelmanu —.75 

QElgcorie  bca  glberglaubena.  ®on  Dr  ®fleiberer —.75 

lieber  ©mpftnbitngen.  2.  9lbj.  ®on  Dr.  28.  ®rct)cr — —.75 
lieber  Aberglauben  unb  gjtttjfKciantu»  in  ber 

|ttcbigin.  2.  Slufl.  ®on  ®rof.  Siegmunb  SKofenftein —.75 

©rinnerung  unb  ©cbädjtniff.  ®on  gerb,  ©djulfc —.60 

Paa  ©rautnleben  ber  pcclc.  ®on  ®rof.  Dr.  $.  Siebccf  —.75 
Pie  geitlidje  A**feinanberfolge  ber  ©ebanken. 

®on  ®rof.  fiubro.  Strümpell —.75 

pinncaroaljrnckntungcn  u.  piuueatäufdiungcn. 

®cm  Dr.  5».  ©ciibt —.60 

Pie  erften  gjätfc  ber  ©rkenntniff,  inabefonbere 
baa  ©efek  ber  llrfädjlidjkcit  unb  bie  |tHrk- 
lid)kcit  ber  Auncmoclt.  Son  Dr.  Ebriftian  2Biener  —.*50 


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jüietto  Atdiuo 

flla  §tammnat£r  öes  mkxm  gitterattntljunis. 


©ine  (Sfyirafterftubie 
nuä  bcr  itaüenifdjen  ^Henaiffaucc 


oon 

j»re.  'jtfmttfini) 

in  SJiündji'ii. 


Hamburg. 

$8edagSan|ta(t  tiub  35rucferei  31. ■($.  (öinmalS  3f.  5.  sJJicf)ter). 

1890. 


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®Q6  Siecht  bet  Uebcrfebung  in  frembe  ©brocken  wirb  norbebalten 


i'rurf  btr  SSttlagianfialt  unb  Srudtrtt  Scttai-SefcDfdpft 
(ttormaU  3.  3-  SRid^trr)  in  Qantburg. 


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Bu  ben  inteveffanteftcn,  freilich  nicht  gerabe  erfreulidjften 
(Srfcheinungen,  welche  bas  Zeitalter  ber  fRenaiffance  fjeröorgebrad^t, 
gehört  gweifellog  fßietro  ber  STretiner,  unb  nicht  mit  Unrecht  hat 
man  behauptet,  bafj  burd)  bag  Auftreten  biefeS  bämonifd|en 
2Renfd)en  bag  93ilb  jener  wiberfprudjgtollen  @pod)e  erft  ben 
lebten  ißinjelftrid)  ermatten  habe. 

2)er  ebenfo  begabte  mie  d)arafteriofe  ©djriftfteüer  fßietro 
Slretino,  ber  in  feinem  ©d)affen  bie  gange  Sßielfeitigfeit  ber  ba* 
maligen  italienifdjen  Sitteratur  ftreifte  unb  auf  bie  öffentliche 
Meinung  bie  einbringenbfte  SBirfung  augubte,  bern  feine  3eit‘ 
genoffen,  gefrönte  Häupter  unb  unfterblidje  Zünftler,  bie  ehren- 
ooflften  Seinamen  gaben,  fyofye  üBürben  »erliefen  unb  um 
gegärte  fReidjthümer  in  ben  @d>ofj  marfen,  ift  ung  gugleid)  ber 
nollgültigfte  SRepräfentant  jener  ßeit  ungezügelter  ©enufjfud)t, 
bie  in  ihm,  fann  man  fagen,  ihren  ^»iftoriograp^en  gefunben. 

©eine  ©Triften  finb  mie  fein  ©rab  nahegu  oergeffen,  fein 
'Jiame  gebranbmarft;  bie  £itteraturgefd)id)te  gwar  ermähnt  feiner, 
bocf)  wo  eg  gefd)iefjt,  ba  ift  bag  Urteil  über  ihn  ein  ftreng 
oerwerfenbes.  Sber  wenn  immer  ber  Äretiner  fold)  ruljmlofen 
Untergang  felbft  mitoerfdjulber  haben  mag,  für  ung,  ©öf)ne 
eineg  anberen  3af)rhunbertg,  eineg  anberen  ßanbeg,  mag  eg  nicht 
ohne  Sntereffe  fein,  beit  merfmürbigctt  SDiann  im  fRahmen  feiner 
3eit  betrachten  gu  biirfen. 

Sammlung.  fr.  V.  114.  . 1*  (G39) 


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4 


^ßietro  Stretino  tourbe  am  20.  Sprit  1492  im  Spital  ber 
fteinen  Stabt  Srejjo  geboren.  Sr  gilt  al«  ber  illegitime  Soljn 
eine«  Sbelmanne«  Suigi  ©acci  unb  einer  feiten  Xodjter  be« 
©täbtd)en«.  $ita,  bie  SJiutter  Pietro«,  bot  oielfadj  SWatern 
unb  Silbbauern  al«  9KobeH  gebient,  unb  noch  fte^t  man  über 
ber  jt^ilre  ber  ©t.  ©eter«fircbe  ju  Sre^jo  einen  bem  ihrigen 
naebgebitbeten  fföabonnenfopf.  ^ietro  befudjte  einige  Sabre  lang 
bie  ©ebuten  feiner  ©aterftabt,  rno  er  fid)  jeboeb  in  feiner  SBetfe 
au«zei(bnete  unb  in  gar  nicht«  ba«  Verfangen  betbätigte,  fiep 
Senntniffe  unb  Siffen  anzueignen,  miemobt  ihm  ffar  fein  muffte, 
baff  er,  ohne  Kamen,  ohne  gantilie,  obne  greunbe  unb  ©efibüfcer, 
einzig  unb  allein  auf  ftd)  felber  angeroiefen,  beit  933eg  butdj  bie 
28elt  ju  machen  hotte.  2Jiit  breijebn  fahren  beftabl  er  feine 
SKutter  unb  ftob  nach  ^ßerugia,  mofelbft  er  bei  einem  Sudfbinber 
in  bie  Sehre  trat  unb  bi«  zu  feinem  neunzehnten  Seben«jabre 
oerblieb.  Kacb  einer  anberen  Se«art  muffte  er  au«  Srejjo 
fliehen,  roeit  er  gegen  ben  Sblajs  ein  beiffenbe«  ©onett  gefd^riebeit. 

‘I)amal«  regierte  ißapft  Suliu«  II.  Sr  regierte  mit  bem 
|jelm  auf  bem  Raupte,  benn  e«  galt  bie  ©orgia«  zu  oertreiben, 
©ologna  zu  erobern,  ben  Herzog  oon  gerrara  in  ben  ©ann  zu 
thun,  ba«  empörte  glorenz  zur  Kühe  zu  bringen  unb  gegen  bie 
ftotje  Kepublif  ©enebig  mit  Saifer  SKajintilian  unb  Sönig 
Subioig  XIII.  oon  granfreicb  bie  Sigue  oon  Sambrap  zH 
fcplieffen.  ©o  perrfebte  in  Italien  allenthalben  bie  geöffte  Unruhe, 
ba«  ganze  Sanb  glich  einem  Heerlager,  in  roelcbem  e«  toenig 
Kaum  gab  für  bie  fünfte  be«  ^rieben«,  unb  wer  biefen  oblag, 
ber  fab  ficb  oft  genötigt,  oon  Stabt  zu  ©tabt  zu  jie^en, 
miihfam  fein  Scben  zu  friften  mit  Su«fübriutg  Meiner  Sufträge, 
bie  ipm  ba  unb  bort  zu  tbeil  mürben.  Sber  e«  maren  immerhin 
feiten,  roo  einem  fühnen  Sbenteurer  ba«  ©liicf  in  feinen  oer« 
lorfenbften  ©eftalten  roinfte.  2)ie  ^ßbautafte  be«  jungen  Such1 
binber«  Sretino,  genährt  burdj  eine  eifrige,  aber  ganz  regellose 

(640)  : 


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5 


2eftüre,  erwachte,  unb  er  befchlofj,  1511,  von  Perugia  auSju- 
wanbern.  ®r  machte  fich  auf  ben  Beg  of)ne  fReifebünbel,  ja 
offne  einen  $eßer  ©elb  in  ber  Dafdje.  DtichtS  als  feine  Reibung 
auf  bem  2eibe  befifcenb,  erreichte  er  vagabunbirenb  bie  ewige 
ffionta.  ©in  begüterter  Kaufmann,  ber  befannte  Sgoftino  ßf)igi, 
ber  in  ©omp  unb  2ujuS  eS  ben  dürften  gleichet,  nahm  ben 
abgeriffenen  Sanbftreidjer  unter  bie  $ahl  feinet  Wiener  auf. 
Der  Siretiner  entwenbete  eine  fifberne  Daffe  unb  entfloh  aus 
gurd)t  vor  ©träfe.  Äurje  $eit  fpäter  finben  wir  ihn  in  Dienften 
beS  ÄarbinalS  ©an  ©iovaitni,  Welker  verfpricht,  fich  bei 
SuliuS  II.  für  ihn  ju  verwenben.  Der  ©lan  fc^tägt  fehl  unb 
©ietro  burd^irrt  bie  2ombarbei.  @r  führt  ein  ziemlich  auS- 
fdfweifenbeS  2eben  unb  wirb  bann  in  fRavenna  Sfapujiner. 
Slber  er  vermag  bem  Slofterleben  feinen  ©cfdjmad  abjugewinnen, 
wirft  bie  töutte  ab  unb  befdfliefjt,  auf  gut  ©liid  fid)  wieberum 
nach  SRom  iSu  wenben.  Sin  bem  gliinjenben  §ofe  beS  neu- 
erwähnen  ©apfteS,  beS  geiftreidjen  zehnten  2eo,  wimmelt  eS  von 
SRalern,  ©ilbffauern,  Slrchiteften,  SDlufifern  unb  ©oeten.  fjeft 
reiht  fich  an  geft,  unb  für  Die,  bie  eS  verherrlichen  helfen,  für 
bie  Zünftler,  von  einem  SRafael  herab  bis  jum  lebten  ©uffone, 
fdjeint  fortan  eine  golbene  3e**  angebrochen  ju  fein,  Slretino 
in  bie  2ivree  eines  St'ammerbienerS  gefleibet,  verliert  fich  in  ber 
bunten  SJtenge  von  ©d)meid)fern  unb  ©chmarofcern,  Höflingen 
unb  galanten  grauen,  bie  fich  bamit  vergnügen,  gntriguen  an- 
^ujetteln,  ben  ©iebiceer  öffentlich  in  funftvoöen  ©onetten  $u  ver- 
herrlichen unb  insgeheim  fid)  in  boshaften  ©atiren  über  ihn 
luftig  ju  machen. 

DaS  war  bie  richtige  ©d)ule  für  einen  Slretino,  ber  alSbalb 
begriff,  weld)e  Bege  er  einsufchlagen  habe,  um  in  einer  foldjen 
Belt  fein  ©liid  ju  machen.  Slud)  er  begann  2eoS  2ob  ju 
fingen  in  paffabeln  ©ierjehnjeilern.  ©in  ©arafit  ju  werben  unb 
$h  fein,  baju  bebarf  eS  ja  feines  langen  ©tubiumS.  2eo  unb 

(641) 


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6 


mehr  nodj  fein  ©etter  Satin«,  ber  fpäter  al«  Siemen«  VII.  bert 
päpfttidjen  Stuf)t  beflieg,  belohnten  ben  ©oeten.  (Sr  burfte,  in 
ein  prächtige«  ©ewanb  gefleibet,  auf  ftolgem  Stoffe  fifceub,  fid) 
bem  gtängenbcn  ©efotge  anfchtiefjen,  aber  er  wollte  mehr  unb 
beffereS.  ©ietro  oerfchaffte  ficf)  Selb  unb  (Smpfel)lung«briefe, 
bann  machte  er  fid)  auf,  eine  Steife  gu  unternehmen,  bie  ihn 
nach  ©ologna  unb  ©ifa,  ja  bi«  SJtaitanb  führt.  Sn  einem 
©riefe  fdjilbert  er  bie  liberale  Aufnahme,  bie  er  allenthalben 
an  gürftenfjöfen  gefunben.  Steich  befd)enft,  ift  er  im  ©egriff, 
wieber  nach  Siom  gurüdgufeljren,  al«  er  unterwegs  ben  Job 
£eo«  oernimmt.  (Sin  harter  Schlag  für  unferen  ©ietro,  beffen 
tühne  Jräunte  oon  fünftigem  ©lüd  unb  Söohlleben  fich  in  eitet 
Junft  oerflüchtigen,  benn  am  §ofe  be«  nüchternen  unb  ftrengen 
$abrian  ift  fein  ©taft  mehr  für  ben  tofen  Schwarm  ber  ©aufter 
unb  Abenteurer.  Aber  ba«  Sdjidfal  will,  bafj  ber  neue  ©apft 
biergehn  Jage  nach  feiner  (Srwähtuttg  eine«  jähen  Jobe«  ftirbt; 
bie  Jiara  finft  auf  ba«  §aupt  be«  SDtebiceer«  Suliu«.  Jiefer 
war  gang  ein  SKann  nach  bem  bergen  Aretino«,  ber  ihn  al«balb 
in  fchtechten  ©erfen  befang,  an  welchen  nur  ber  Umftanb  er* 
wähnen«werth  fein  biirfte,  baf;  ber  Jicfyter  bon  fich  felbft  at«  bon 
einem  „göttlichen  ©oeten"  fpridjt,  wet<he  ©egeidjnung  fortan  immer 
wieberfehrt.  Aehntiche  Steimereien  wibmete  ber  Aretiner  Sari  V., 
grang  I.  unb  bem  ©orftanbe  ber  päpfttid)en  Sangtei,  unb  alle 
folcfjermafjen  ©erherrlidjteu  geigten  fich  banfbar,  inbem  fte  be« 
J)id)ter«  Jafdje  mit  ßedjiiten  füllten.  Aber  itod)  hatte  ©ietro 
bie  Stärfe  unb  (Srgiebigfeit  feine«  Jatente«  nicht  erfannt. 

©eriihmt  würbe  ber  Aretiner  erft  burch  bie  Sonette,  bie 
bem  Senner  italienifdjen  Schriftthum«  immer  al«  ein  intereffante« 
SBerfchen  erfcheinen  werben.  SSeil  aber  bie  Sitteraturgefdjichte 
fich  'n  ber  Sieget  begnügt,  ben  frechen  Satirifer  mit  einigen 
abfälligen  ©emerfungen  abguhanbeln,  fo  erfahren  wir  über  bie 
Sonetti  lussuriosi  nicht  mehr  at«  ba«  eine,  baff  e«  ein  fdjtedjte« 

(642) 


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Such  ift,  urfprünglich  ba$u  beftimmt,  ben  $ejt  3U  bringen  ju 
einer  Reiße  hödjft  öerwegener  Zeichnungen,  unb  &ic 
öffentlichung  beS  SBerfeS  bera  SQuftrator  fomohf  wie  bem 
dichter  fcßmere  Seftrafung  eingetragen  f)abe.  2)a  mir  ferner 
häufig  in  fonft  ganj  juoerläffigeit  ©ammelroerfen,  wenn  »01t 
Slretino  bie  Rebe  ift,  auf  ungenaue  unb  unrichtige  Angaben 
ftoßen,  fo  mag  eS  gerechtfertigt  erfcheinen,  wenn  an  biefer 
©teile  hier  ausführlicher  einer  litterarifchen  Seiftung  ©rmähnung 
gefcfjieht,  non  bereu  rein  poetifchem  SBertße  ein  für  allemal 
ftreng  abgefeßen  werben  muß. 

beginnen  wir  mit  furjer  SBieberßolung  mehr  ober  minber 
befannter  Jßatfacßen.  ®iuIio  Romano,  eigentlich  s-ßippi,  i>er 
größte  3ei$ner  unter  ben  Schülern  Rafaels,  ließ  oon  2Rarc 
SIntonio  Raimonbi  im  Saßre  1524  fechjeßtt  feiner  Zeichnungen, 
gemiffe  Stellungen  oorfüßrenb,  in  Äupfer  ftedjen.  3RafaetS  ehe* 
maliger  garbenreiber,  il  Baviera  genannt  (ba  er  oermuthlich 
aus  Saßern  ftammte),  ber  als  3unge  in  RafaetS  $auS  km 
unb  beS  SDiarc  Antonio  glatten  brucfte,  wirb  juoerläffig  aud) 
biefe  fechiehn  gebrucft  hoben.  GsS  mag  unentjcßieben  bleiben, 
ob  ©iulio  Romano  fecßjeßn  ©onette  SlretinoS  iduftrirte,  ober 
ob  fießterer  311  ben  »orhanbenen  Zeichnungen  ben  Stejrt  lieferte; 
ficher  ift  nur,  baß  ber  dichter  fomoßl  mit  bem  3RaIer,  als  mit 
bem  &upferftedjer  in  enger  greunbfcßaft  lebte,  wie  au«  bem  uns 
erhalten  gebliebenen  Sriefwecßfel  ßeroorgeßt.  Rocß  befißen  mir 
einen  oortrefflichen  ©tich  äRarc  SlntonioS  nach  SijianS  Silb, 
welches  uns  beu  Siretiner  oorführt  unb  bie  2)eoife  trägt : Petrus 
Aretinus  acerrimus  virtutum  ac  vitiorum  demonstrator. 

ÜRan  fann  nur  muthmaßen,  baß  biefe  fechjeßn  Slätter  in 
jebenfaßS  fehr  befdjränfter  Slttyaßl  unb  maßrfcßeinlich  in  Quer* 
folio  jur  SluSgabe  gefommen  finb,  benn  biefeS  gormat  ift  ben 
anberen  befannten  Stichen  3Rarc  SlntonioS  eigen.  Unter  jebem 
Statt  war  ein  ©onett  SlretiitoS  in  fiebjteßn  Zeiten  geftochen. 1 

(MS) 


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8 


XieS  fogt  SIretino  auSbriidtid)  in  feinem  93riefe  an  feen  röntifdfen 
SSunbargt  ©attifta  3atti,  bem  er  u.  3).  ©enebig  b.  19.  2)egember 
1537  bie  ©tid)e  überfenbet  unb  bagu  fdjreibt:  „SDu  wirft  einen 
©fid  auf  bie  ©onettc  werfen,  bie  fid)  am  guffe  Borfinben." 

©apft  Siemens  VII.  Ijatte  !aum  bie  Verausgabe  biefer 
©fätter  erfahren,  als  er  fofort  befaßt,  ben  2Harc  Äntonio  ge* 
fangen  gu  nehmen.  @8  ift  giemfid)  fidler  anguneljmen,  bafj  ber 
Sünftler  Bor  ben  ?lugen  be§  erzürnten  ^ßapfteS  bie  glatten  mit 
bem  ©ticf)el  t)abe  gerfrafcen  unb  Bernidften  müffen  unb  bafj  ber 
biebere  Supferftedjer  3ofIain  in  ©artS,  Bon  bem  wir  gteidj  reben 
wollen,  mefjr  afS  160  3aljre  fpäter  mit  anberen  Supferplntten 
betrogen  würbe. 

ÜRarc  Slntonio  !am  burcf)  gürfpradje  bcS  ©itbljauerS  ©accio 
©anbineHi,  oorndjm(ict)  aber  burd)  ©ermittefung  beS  SarbinalS 
Sppotito  be  9J?ebici  auf  freien  gujj.  Saum  begnabigt,  war  eS 
fein  erfteS,  ben  ©apft  wieberum  ficf)  geneigt  gu  matten.  ®r 
BoOenbete  bie  grofje  Supferpfatte  beS  ^eiligen  SaurentiuS,  bie  er 
nad)  ber  geidpiung  beS  ©accio  ©anbineöi  ftadj,  welche  Strbeit  itjtt 
auf«  neue  bei  Siemens  VII.  in  ®unft  fefcte.  ®iutio  fRomano 
War  bei  bem  Vcrgog  Bon  ÜJZantua  Bor  bem  3orne  beS  oberften 
Sirdfjenfürften  fieser,  gortan  lebte  ber  SWeifter  in  ber  atten 
3nfetftabt,  erbaute  bortfelbft  baS  unter  bem  tarnen  ©alaggo 
bi  %t  befannte  fiuftfdjlojj,  weites  er  aufs  reidjfte  mit  üppigen 
greSfen  fdjmiidte,  unter  beiten  befonberS  ber  ©turg  ber  ©iganten 
nad)  Ooib  eine  gewiffe  Serüfjmtf)eit  erlangte. 

©afari  fdjreibt  feljferfjaft,  bafj  eS  gwangig  ©lätter  9Rarc 
SlutonioS  gewefen.*  ©anbrart,  gontanini  unb  ©albinucci  t)aben 
biefeit  genfer  bem  ©erfaffer  nadjgefdjrieben,  unb  bod)  fprid)t 
SIretino  fetbft  in  bem  oben  citirteu  ©riefe  an  3att*  gang  be* 
ftimmt  Bon  fed)gefjit  ©tidjen  (XVI  modi  intngliati  in  rame). 

S3ie  ©onette  SlretinoS  waren  fowof)t  auf  ben  Stilen,  als 
and)  befonberS  gebnirft  gu  lefen.  3)ie  erfolgte  3nf)ibirung  biefer 

(644! 


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9 


erfteren  ^ßublifation  mar  mof|l  bie  alleinige  Urfache  feiner 
fchneffen  Abreife  aus  SRom.  2)er  dichter  flüchtete  erft  nach 
Strejjo,  feiner  Saterftabt,  fpäter  begab  er  fid)  in  baä  Säger 
©iooanni  beg  Üftebiceerä,  beS  berühmten  Anführer  8 ber  fdjmaraen 
Sanben.  3n  ber  golge  führte  Äönig  granj  I-  0011  ffranfreich 
eine  Au8jöljnung  beS  frechen  Spötters  mit  bem  ^ßapfte  herbei. 

©iammatteo  ©ibcrti,  nad>maligcr  Sifdfof  oon  Serona, 
3)atoriuS  unb  geheimer  3Rath  SllemenS  VII.,  ber  in  öiefen  gingen 
ftrenger  backte  als  fein  |jerr,  mar  einer  ber  eifrigsten  Verfolger 
SKarc  Antonios  unb  auch  bem  SJretino  fef)r  gehäffig,  mie  mir 
halb  hören  merben. 

MuS  SßietroS  Sriefmechfel  erhellt,  baff  er  einigemal  noch 
in  ber  Sage  geroefen  ift,  feinen  ©önnern  bie  Silber  famt  ben 
Sonetten  überfenben  311  fönnen.  ®ann  aber  begannen  bie  Stiche 
fo  feiten  ju  merben,  baß  fie  allmählich  gan$  uerfdjmanben  unb 
bie  reicfjften  Sammler  trofj  ber  ^öc^ften  Angebote  nicht  im  ftanbe 
maren,  anberc  als  t)a^  »erftiimmelte  ©jemplare  an  fid)  ju 
bringen.  333ir  börfen  babei  nicht  oergeffen,  baff  fromme  ©eelen 
es  für  ein  gottgefälliges  SBerf  hielten,  foldje  „SatanSfd)lingen" 
jn  befeitigen  (öter  devant  les  yeux  des  objets  qiii  sont  des 
pieges  que  l’Enfer  dresse  aux  ämes,  Reifet  e§  bei  S^eöiüier, 
ooit  bem  mir  a.  a.  C.  reben  merben).  ®a  mag  bemt  in  blinber 
SSntb  mit  oielem  anberen  ©djlecfyten  auch  manches  SBerf  non 
unerfefjlicfjem  SBert^e  burd)  Zelotenhanb  furjmeg  oernid)tet 
worben  fein.  Auch  fofl  baran  erinnert  merben,  baff  im  3af)re 
1Ü46  eine  SReorganifation  be§  SnftitutS  ber  Snquifition  ftattfanb. 

$>ie  gan3  aufferorbentliche  Seltenheit  ober  eigentlich  bie 
ÜJlichtejriftenj  ber  Slätter  be§  SDiarc  Antonio  mar  Attlafj,  baff 
Annibale  (Jarracci,  einer  hoch&erühmten  Sofognefcr  Äünftler» 
familie  angehörig,  ju  @nbc  beS  fechjehnten  SahrhunbertS  befd)Iofi, 
Zeichnungen  in  gorm  ber  untergegangenen  Slätter  nach  bem 
3nhalte  ber  fedjiehn  Sonette  StretinoS  anjufertigen.  35iefe 

(«451 


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10 


3eidjttungen  (amen  oon  Neapel,  bem  ©ntftehungSorte,  nach 
§oöanb,  rno  fie  auf  Shipferptatten  geäfct  mürben.3 

28ie  bie  edjten  Äupfertafeln  maren  auch  lange  ßeit  hinburcp 
bie  echten  Sonette  äufjerft  ferner  erfjaltficf).  Rur  mit  größter 
SKübe  gelang  eS  bem  gelehrten  Slfabemifer  De  la  ÜKonnape,  fid) 
fünfzehn  ber  Driginalfonette  ju  oerfdjaffen,  bie  er  in  lateinifcfje 
Diftichen  umbichtete.  Die  ehemalig  Vouhierfdje  Söibliot^ef  in 
Dijon  bemaf)rte  baS  9Jlatiuffript  biefer  Uebertragung,  bie  fpäter 
aud)  im  Drnd  erfdjien,  aber  menig  Verbreitung  faitb. 

Slnfnüpfenb  an  tie  Sonette,  fei  f)iet  eines  anberen  oiel- 
berufenen  erotifdjen  SSerfeS  gebaut,  baS  ebenfalls  ben  Sretiner 
jum  Verfaffer  fjat.  SBir  meinen  bie  Ragionamenti,  meift  citirt 
unter  bem  ÄoHeftiotitel : Ragionamenti  capricciosi  e piacevoli, 
bie,  menn  auch  reichlich  ein  3aljrjehnt  fpäter  erfchienen,  bod) 
mit  ben  Sonetten  in  einigem  3ufantmen^ang  fielen,  rneil  in  ben 
Sonetten  oielfac^enortS  tarnen  unb  fonftige  Iofale  Slnbeutungen 
fiel)  finben,  bie,  an  fich  oft  jicmlidj  nnoerftänblid),  ihre  ©rflärung 
in  bem  meit  breiter  gehaltenen  ‘pvofamerfe  finben. 

Diefe  Dialoghi,  roeldje  ber  Verfaffer  erft  Capricci  unb  bann 
Ragionamenti  nannte,  erfdjierteu  juerft  oereinjelt  unb  erft  fpäter 
gefammelt  u.  b.  3.  1535,  mahrfd^einlid)  in  Venebig.  ÄIS  bie 
gefchäfctefte  SluSgabe  gilt  bie  vom  Sahre  1584,  einen  ftarfen  Sanb 
deinen  gormatS  barftellenb.  4 

SDfan  hält«  Unredjt,  mollte  man  biefeS  3Ser!  feines  jügelloS 
frechen  Inhaltes  megen  oom  Stanbpunfte  reiner  Sittlichfeit  aus 
einfach  üetroerfenb  beurtheilen.  Das  3e*talter  ber  Renaiffauce 
fannte  eine  Rloral  nach  heutigen  Gegriffen  fchlechterbingS  nicht. 
Die  Ragionamenti  finb  in  geroiffem  Sinne  ein  getreues  Spiegel- 
bilb  ber  ©efeUfdjaft  jener  Dage,  unter  oiel  SSerthlofem  fanu 
ber  Sultnrhiftorifer  in  biefeu  |jetärengefprächen  manch  mertlp 
»ollen  gingerjeig  für  bie  ©eurtheilung  bamaliger  3uftänbe 
finben,  toenn  $lretino  auf  baS  Dreiben  an  geiftlichen  unb 

(646) 


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11 

weltlichen  $iifeu  bie  haften  Streiflichter  faßen  lägt.  ©em 
Renner  italienifdjen  Schrifttum«  erfcheint  auch  t>»£  Sraffung  be« 
SBerfe«  intereffant  genug:  bie  Dialoge  ftnb  ungemein  lebenbig, 
flar  unb  frifch  getrieben,  bie  erphlenben  ©h£tle  »erben  burdp 
weg  mit  größter  Anfdjaulichfeit  in  fnapp  bramatifcher  ©iftion 
öorgetragen,  unb  fo  bebeuten  bie  Sßagionamenti  einen  ©enfftein 
in  ber  Sntroicfelung  ber  italienifchen  Sprache,  fte  müffen  un« 
al«  ein  treffliche«  ÜJJufter  ber  bamaligen  lingua  parlata  gelten. 
Heber  biefen  rein  fprachlichen  SBertf)  be«  SBerfe«  hat  f£in  ®£s 
ringerer  al«  Alfieri  fid)  fe^r  anerfennenb  geäußert,  wenn  er  im 
achten  Rapitel  feiner  Autobiographie  bemerft:  „S<h  la«  bamal« 
(1770)  unter  oielem  anberen  bie  ©ialoge  be«  Aretiner«,  unb 
wenn  fchon  ihre  $ügellofigfeit  mich  anwiberte,  entjücften  fte  mich 
gleichwohl  burd)  bie  Urfprünglichfeit,  bie  SDiannigfaltigfeit  unb 
bie  Eigenart  ber  Au«bcücfe." 

Nehmen  wir  nach  biefer  Abfchweifung  ben  gaben  ber 
Schilberung  be«  äujjereu  ßeben«gange«  be«  Satirifer«  wieberum 
auf.  Aretino  entfloh  alfo,  bem  gorne  be«  ©apfte«  über  bie 
oeröffentlichten  Sonette,  bie  rajch  ein  bewunbernbe«  ©ublifum 
gefunbcit,  ju  entgehen,  au«  9lom.  Sr  hielt  [ich  öorübergehenb, 
wie  bereit«  bemerft,  in  Are^jo  auf,  bort  traf  ihn  ein  Schreiben 
be«  SDiebiceer«  Siouanni,  ber  ihn  ju  fich  in  ba«  ßager  bei 
gatto  befchieb.  Sn  biefem  fühnen  ©egen,  ben  feine  Sotbaten 
ben  großen  ©eufel,  Gran  diavolo  nannten,  fanb  ©ietro  einen 
neuen  Seither.  SGÖeil  bet  ©rief  fo  recht  geeignet  ift,  ba« 

^wifchen  biefen  beiben,  fonft  feljr  ocrfchiebenett  äKännent  be= 
ftehcnbe  greunbfd)aft«oerhältnijj  ju  fennjeichnen,  wollen  wir  ihn 
in  Ueberfefcung  h'£r  mittheifen:  „An  ben  wunberbarett  ißietro 
Aretino,  ben  wahren  greunbl  Sch  bitte  ©id),  baff  ©u  bei 
Smpfang  ©iefe«  oon  Arejjo  abreift,  um  hierher  gu  fommett  unb 
bei  mir  $u  bleiben;  ich  wiinfdje  e«  h££älith/  b£nn  »<h  wujj  e« 
mir  jum  ©orwurf  machen,  wiber  ©einen  Söitlen  ©ich  bort 

(647) 


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12 


gelaffen  311  fyaben,  bem  gra  Dlicolo,  bem  SBafoite  unterteilt, 
baff  ©iammatteo  2)ich  oerberben  fonnte;  aucf)  ben  ^ßapft  ^aft 
2)«  öerloren,  jo  baff  $u,  ber  2)it  ber  23elt  ©efefse  ju  geben 
wufjteft,  2)id)  ruinirt  haft,  aud)  ju  meinem  ©djaben : benn  wäreft 
5Du  in  9iom  am  §ofe  geblieben,  ^ätle  aud)  id)  gemanben  be* 
feffcn,  ber  ohne  ?Rü(ffic^t  bie  SBeweggrünbe  oertheibigt  hätte 
ad  beffen,  was  idj  getfjan  habe  unb  nodj  ju  tljun  gebenfe.  0tun 
erwarte  id)  2)id),  wofern  eS  gewifj  ift,  baff  2)u,  fei  eS  freiwillig, 
fei  eS  au#  anberer  Urfadie,  bie  ©renjen  oerfiefjeft:  id)  Witt  2)ir 
baS  2ob  erteilen,  baff  SlUe  mitunter  fönnen.  2rübfal  blafen, 
aber  niemals  2>u.  SluS  gatio,  ben  3.  Sluguft  1523. 

2)ein  ©iooanni  be  SDlebici." 

Sonnte  Slretino  einer  fofd)  warmen  unb  aufrichtig  gemeinten 
©inlabung  wiberftefjen?  diadj  bem  einftimmigeit  Urteile  Silier, 
bie  i^n  perfßnlic^  fannten,  war  er  jwar  trofc  all  feines  Ueber* 
mutf)eS  burd)auS  nicht  friegerifd)  beanlagt,  feine  gefürchtete  SSiaffe 
war  ja  bie  geber  unb  nicht  ba§  ©d)»ert,  unb  ihm  hätte  e§ 
beffer  gefallen  am  fwf  unter  feilen  @d)ran3eu  unb  üppigen 
grauen,  als  bort  aufjen  auf  freiem  gelbe  unter  rohen  ©olbaten. 
Slber  eS  blieb  ihm  oorerft  nicht  grofje  SluSwahl  übrig,  unb  er 
fuhr  benn  alSbalb  nach  3auo  ab.  3«  fßrofa  unb  in  Werfen, 
in  ©onetten  unb  in  ©tauben  fchilbert  ber  Slrctiner  ben  überaus 
warmen  Qrmpfang,  ber  ihm  oon  feiten  beS  Heerführers  unb 
feiner  perfönlichen  Umgebung  ju  theil  geworben,  ©iooanni  eilte, 
mit  feinen  Gruppen  jurn  Heere  gtanj  I-  ju  ftofjen,  ber  in 
Oberitalien  fid)  aufhielt,  gwar  war  ber  „ritterliche  König" 
burch  bie  9Uefeitfdjlad)t  oon  Sülarignano  Hcrr  Don  3R«ilanb, 
©cnun  unb  eines  2he<t3  ber  fiombarbei  geworben,  aber  er  burfte 
fiel)  beS  erlangten  SBortfjeileS  nicht  allju  lange  freuen,  benn  halb 
hielten  bie  Saiferlichen  Oberitalien  aufs  neue  befefet.  9tad) 
manchen  SBedjfelfäden  war  bann  baS  fran^öfifche  Hfer  öor  ijßaüia 

gerüdt.  $orf  trafen  ©iooanni  unb  Sretino  ben  König,  unb 

cei?) 


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13 


ber  SJfebiceer  »ermittelte  eine  perfönlidje  ©efanntfcbaft  jroifdjen 
tfranj  I.  unb  bem  fedfen  ©onettenbid)ter,  ber  in  feinem  ganzen 
Naturell  »iel  be#  Aiijiehenben  für  ben  geiftöoQen  gikften  ^aben 
mochte,  beim  granj  gefiel  ficf)  gleich  ©iooanni  itt  beffen  ®e> 
fellfd)aft  äufjerft  mohl  unb  »erfafj  beim  ©treiben  ben  Aretiner 
mit  öoHgemid)tigen  ®mpfeblung#}cf)reibert,  bie  itjm  in  Nom  nid)* 
nur  »olle  ©erjeihung,  fonbern  aud)  bie  befte  SSieberaufnabme 
fiebern  mußten.  SBie  ein  Der^iueifelter  ©pieler  fd)tie§[ic£)  üöe# 
auf  eine  ftarte  rnagt,  gebadete  ber  franpfifche  ßönig  bamal# 
mit  Aufbietung  aller  Jlräfte  fid)  in  ben  ©efifc  ber  fiarfen  ©tabt 
©aöia  p fejjen  unb  bamit  «lieber  in  Italien  feften  gu&  äu 
faffen.  Gr  foHte  ben  ganzen  @infa|  nerlieren,  alle#,  nur  bie 
GJjre  nicht,  roie  er  bemt  an  feine  SNutter,  bie  fd)öne  unb  geifb 
reiche  Suife  »on  ©aüopen,  fdjrieb,  unb  nun  burfte  Äarl  V.  fid) 
freuen  be#  Sriumpbe#,  ben  er  über  ben  ©egner  banongetragen. 

Unterbe#  mar  Aretino  nadf  sJiom  prüefgefehrt  unb,  faum 
bort  mieber  ^eimifcf)  gemorben,  in  heftiger  Siebe  entbrannt  pr 
reijettben  8öd)iu  feine#  früheren  ffreiitbe#,  be#  päpfttid)en  Satario 
©iberti.  Aber  Pietro  ^atte  an  bem  ©olognefer  Gbetmaun 

Ac^ifle  bella  ©olta  einen  gefährlichen  Nebenbuhler,  ben  er  burd) 
ein  beijjenbe#  $a#quiH  lächerlich  unb  bamit  unfdfäblicfj  p machen 
fudfte.  Ser  gefränfte  Nobile  fann  auf  Nadje.  Gelegentlich 
eine#  abenblid)en  ©paprgange#  am  Siberftranb  fab  fich  ber 
dichter  plöblidj  einer  üermummten  ©eftalt  gegenüber.  3m 
näcbften  SNoment  fdjon  liegt  er  p ©oben,  au#  fermeren  äöimbcit 
blutenb.  Nicht  roeniger  al#  fünfmal  ha*  Acbifle  jeinem  ©e» 

Ieibiger  beit  Solch  in  bie  ©ruft  geftofjcn,  ihn  fchmer  an  beit 
§änben  »erlebt  unb  mar  bann  entflohen.  Aretino  roarb,  bem 
Sobe  nahe,  aufgefunben  unb  heimgeftbafft.  Aber  feine  fraftige 
Sonftitution  fiegte,  unb  roiber  Grmarten  rafdh  erholte  er  fid)  oott 
ber  ferneren  ©ermunbuug;  bann  trat  er  bei  bem  fperrn  ber 
fd)önen  ßöchin  flagbar  gegen  ben  Gbelmanu  auf,  norgebenb, 

1649} 


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14 


bah  Sldjille  beüa  Solta  bie  ©eliebte  ebenfatt«  mit  bei».  lobe 
bebrofjt  ^itte.  ©iberti  oerweigerte  bie  3u|'tij  unb  ber  ?Ib« 
gewiefeite  griff  jornntuthig  jur  $eber  unb  fdjleuberte  Sonett 
auf  Sonett,  Snjurie  auf  Qtojurie  gegen  ben  ißapft  unb  feinen 
SRinifter  unb  jeigte  fo  jum  erftenmale  bie  ganje  Straft  feine« 
ftfllimmen  latente«  ber  ©erläfterung.  83erni,  ber  Sefretär 
©iberti«,  hob  ben  gehbehanbfdjuh  auf  unb  antwortete  auf  bieje 
Angriffe  in  einem  Sonett  mit  jwölf  Slnfyängfeln,  ©obe  genannt, 
wie  fie  in  ber  Jomifdjen  fßoefie  ber  Italiener  beliebt  finb.  @r 
bei§t  barin  ben  Strctiner  einen  feilen  Hunb  unb  ein  etjrlofe« 
Ungeheuer,  ©ine  Stelle  lautet  ungefähr  folgenbermahen:  „93iel> 
leidet  ftxrbft  bu  einft,  ©lenber,  an  ber  Seite  beiner  Sdjweftern, 
welche  beibe  in  Slrejjo  ber  freien  Siebe  leben."  25iefe  Stelle 
ift  merfroürbig  beS^alb,  weil  fie  in  getuiffem  Sinne  ben  trabi» 
tioneüen  ©eridjt  über  bie  £obe«art  Slretino«  jum  oorau«  giebt. 
©r  foQ  befanntlich  als  fünfunbfe^igjä^riger  ©rei«  über  bie 
if»m  fjinterbrac^te  ffaitbalöfe  Sluffiiljrung  feiner  beiben  Sdjweftent 
fo  fef)r  gelabt  haben,  bah  er  mit  bem  Stuhle,  auf  welchem  er  eben 
faß,  rücfling«  ju  SBobeit  geftürjt,  wobei  er  fid)  ba«  Hinterhaupt 
fo  fehler  oerle|te,  bah  nach  wenig  ©tunben  ber  Job  eintrat. 
— 2>er  berühmte  ÜJieifter  fffeuerbaef)  hat  biefen  9Roment  in  einer 
figurenreichen  Äompofition  mit  genialer  föraft  fijirt.  £a« 
ijaftum  felbft,  angeblich  im  3af)re  1557  eingetreten,  wirb  un§ 
aber  erft  oiel  fpäter  oon  einem  fieberen  Antonio  Sorenjini,  ber 
ju  ®eginn  be«  fiebjehnten  SahrfiunbertS  lebte,  mitgetheilt  in 
einem  fateinifch  gefchriebenen  SDialog  über  ba«  Sachen. 

®er  3reberfrieg  mit  be«  ®atario  gelehrtem  Schreiber  be* 
grünbete  in  gewiffer  Sejiehung  Slretino«  Stuf  in  ganj  Italien. 
SBieberum  oerlieh  er  9iom  unb  begab  fid)  oon  neuem  in  ba« 
Säger  ©iooanni«,  Slater  be«  fpäteren  Herjog«  ©ofimo  be« 
©ro§en  oon  glorenj.  ®er  3“hrer  ber  fchwarjeit  Sanbeit  nahm 
ben  frechen  Satiriler  wieberum  mit  offenen  Ärmen  auf  unb 

(650) 


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15 


tterfprach  in  jeber  Seife  ficfj  für  ifyit  gu  üermeubeit  unb 
feinen  greunb,  fofern  ©ott  unb  bag  gute  ©lücf  iljn  felber 
wohlbehalten  aug  bem  firiege  fyeröorgefjen  laffe,  mit  ber  ©tabt 
Sreggo  gu  belehnen.  Stber  eg  füllte  anberg  fommen.  3m  3af)re 
1526  war  ©iotianni  be  äRebici  ernftlicf)  bemüht,  bem  berühmten 
ftrieggmann  ©eorg  grunbgberg  ben  2Seg  nocf)  fRom  »erlegen. 
Sie  Saiferlichen  hotten  fid)  in  ©otternolo  bei  ©orgoforte,  gwifdjen 
SRontua  unb  ©erona,  oerfchangt  unb  ber  ©rofjfapitän  fd)idte 
ficfj  eben  an,  fein  ßager  gu  infpigiren,  alg  bag  ©efdjojj  einer 
feinblidjen  gelbfdjlange  ihm  bag  ©ein  gerfcfjmetterte.  Senige 
Sage  fpäter  ftarb  ber  3Webiceer  gu  SRantua  in  beg  Siretiner« 
Ernten.  Siefer  gog  fidj  1527  nad)  ©enebig  gurücf,  wo  ber 
Soge  ©ritti  ifjn  freunblidj  aufnahm  unb  iljm  ©djufc  »erfprach, 
wenn  er  gelobte,  eine  gortfefcung  ber  fdjmähenben  Sltigriffe  gu 
unterlaffen,  bie  SIretino  gegen  ben  bamalg  in  bet  ©ngelgburg 
gu  fRom  belagerten  fßapft  Älemeng  VII.  gerietet  hotte.  ©alb 
erfolgte  benn  aud)  bie  ooUftänbige  Slugfö^nung  mit  bem  Sirchen« 
überhaupt,  unb  ber  päpftlidje  fDiajorbomug,  9Ronfignor  bi  ©afone, 
©ifdjof  üon  ©iceuga,  würbe  beauftragt,  bem  ©atirifer  ein  ehren- 
t»o(l  lautenbeg  ©reoe  gu  überbringen. 

3n  ©enebig  ift  Äretino  mit  geringen  Unterbrechungen  big 
an  bag  ©nbe  feineg  fiebeng  geblieben,  $ier  fafj  er  wie  auf 
einem  fixeren  geig,  ober  um  ein  anbereg  gutreffenbeg  Silb  gu 
gebrauchen,  wie  eine  giftige  Äröte  frei  in  unnahbaren  ©ümpfen. 
©on  Iper  aug  burfte  er  ungefdjeut  feine  ©rpreffuitgen  augiiben, 
welche  ihm  ben  oon  ihm  felbft  hoch8efjoltwen  Seinamen  ber 
gürftengeifjel  eintrugen.  Surben  ja  hoch  fogar  SlRebaiflen  ge- 
prägt, bie  auf  ber  einen  ©eite  fein  ©ilbnijj  geigten  mit  bem 
3Rotto:  Divus  Petrus  Aretinus  Flagellum  principum  unb  auf 
ber  anberen  eine  cpnifche  gigur  mit  bem  9Rotto : Totus  in  toto 
et  totus  in  qualibet  parte.  Stuf  bem  Sitelbilb  feiner  ©ücher 
nennt  er  fid)  gumeift  divina  grazia  uomo  libero  — freier  8Ranu 

(651) 


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16 


oon  ©otteS  ©naben.  Sein  Silb  umgiebt  bann  meift  eine 
Sorbeerumlränjung  uitb  eine  überfchwengltchc  lateinifdje  SDeöifct 
Acerrimus  virtutum  ac  vitiorum  demonstrator,  ober:  Veritas 
odium  parit.  $>ie  Sejeichnung:  ©öttlicber  Jlretinuä,  dürften* 
geifiel,  ift  halb  tppifcb  geworben. 

Jlretino  bewohnte  in  Senebig  einen  jener  ftoljen  ^aläfte, 
bie  &afa  Solani,  am  großen  Kanal  unb  wußte  fich  fein  fürft- 
ticbeS  §eim  mit  erlefenem  ©efchmacfe  auöjuftatten.  3n  ben 
Sälen  unb  3*mmern  waren  bie  foftbarften  Stoffe  unb  ©erätfp 
fdjaften  auSgebreitet,  überall  gemabrte  man  ljerrlicf)e  Statuen, 
feine  eigene  Säfte  in  mehrfach  wieberbolter  Ausführung,  prächtige 
Silber  unb  Sfi^en  aus  ber  9Ö?eifterf|anb  eines  ©iorgione,  eines 
Xijian.  lieber  AretinoS  intime  Sejiebuttgen  ju  ben  größten 
Äünftlern  feiner  3eü  befißen  mir  bie  untrüglicbften  ®o!umente. 
@r  felbft  rühmt  ftcf» , baff  fRafael-eS  nicht  oerfcbmäbt  Ijabe, 
feinen  SRatb  ju  t)ören,  als  er  banialS  am  §ofe  2eo  X.  mit  ihm 
jufammengetroffen  mar.  3nt  Sabre  1527  mußte  Sebaftian  bei 
Siombo,  ber  ju  ben  oertrauteften  greunbett  beS  AretinerS  ge- 
hörte, ibn  im  tarnen  beS  ißapfteS  erfucßen,  bem  ftaifer  hoch 
ben  traurigen  3uftanb  SRomS  gu  ©emüt^e  ju  führen,  unö  woljl 
nicht  mit  Unrecht  ift  oermutbet  morben,  baß  bem  mächtigen  unb 
einflußreichen  Agenten  beS  bamaligen  §errtt  oon  Italien  bie 
Anfänge  ber  Besprechungen  gemacht  worben  finb,  auf  welche 
bin  er  fpäter  ftarbinal  gu  werben  hoffte.  üDlit  Saufooino,  mit 
Safari  ftatib  er  in  regftem  Serfebre.  $ie  Seiben  burften,  wie 
fo  oiele  Anbere,  in  fcbwierigen  Jäöeit  feines  SeiftanbeS  ftrfjer 
fein.  Solche  Serbältniffe  mit  ben  angefebeuften  Künftlern  trugen 
bem  Sdjriftftefler  oon  überall  ber  Silber , Sfiggen  unb  3ei$* 
nungen  ein,  bie  er  bann  feinerfeits  ben  Jürften,  welche  in 
anberer  SBeife  feine  Abnehmer  waren,  natürlich  nicht  ohne 
©egenleiftung  gu  erwarten,  anbot.  $er  ÜlJZeifterbanb  eines  Jigian 
oerbaufen  wir  mehrere  '.ßortraitS  beS  gefürchteten  SatiriferS; 

;«M) 


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17 


ju  ben  beften  berfelbett  gehört  baS  nunmehr  ber  ©alerte  ©itti 
in  ^florettj  einBerteibte  ©ilbitifj,  uon  roelc^em  jabflofe  Kopien 
tfiftiren.  Kretin u iiberfanbte  baS  Original  1545  an  Gofimo  I., 
erblichen  ©rofe^erjog  non  UoSfana,  ©of)n  beS  güljrerS  ber 
fdjroaräen  ©anben,  mit  einem  ©riefe,  in  meinem  es  Reifet: 
„2Bal)rf)aftig,  baS  ©ilb  lebt,  bie  Sßulfe  plagen,  ber  ©eift  be- 
wegt  eS,  gan$  mie  id)  im  Seben  gemefen,  unb  Ijätte  id)  bent 
£ijian  nod)  met)r  Xfialer  gegeben,  als  eS  in  SBa^r^eit  gefd)efjen 
ift,  fo  mürbe  and)  bie  ©eroanbung  mie  Sammet,  ©eibe  unb 
©rofat  leuchten." 

Sijiatt  mar  ein  marmer  greunb  unb  ©emunberer  be# 
SIretinerS,  unb  einzig  aus  bes  Sezieren  fflrieffd)aften  miffen  mir 
um  fo  manche  ©injelfjeit  auS  bem  Sebett  beS  großen  KünftlerS, 
bie  uns  aufjerbem  unbefannt  geblieben  märe.  3n  meinem  Sin* 
fef)en  Slretino  aud)  fpäterl)in  nod)  in  5Rom  ftanb,  föttnen  mir 
einem  Schreiben  Ji^ianS  entnehmen,  meines  biefer  im  3nf|re 
1548  non  bort  aus  nad)  Jfjaufe  fenbet:  „SlHemelt  fragt  mich 
l)ier  nach  Sud);  @ure  Meinung  mollen  fie  f)ier  Sille  miffen, 
3f)r  gebt  ben  £on  an." 

Ueber  SlretinoS  ©ejieljungeu  ju  ÜJlid)el  Slngelo  äujjert 
fid)  fp.  ©rimm  eingefjenb  in  feinem  SBerfe,  meld)eS  baS  Sebett 
unb  ©djaffen  biefeS  großen  9RantteS  be^anbelt.  $>ajj  ber  geniale 
SWetfter  in  einem  unrüfjmlidjen  Kampfe  bie  SB  affen  ftrecfen 
muffte  Bor  bem  fredjen  ©atirifer,  ift  eine  traurige  Hjatfadje, 
bie  fdjlagenber  als  alles  anbere  nod)  uns  beroeifen  muß,  meldj 
ein  geroaltiger  ©egner  ber  SOiann  mar,  ber  fid)  felber  einegürften- 
geifjel  genannt.  2Bir  merben  meiter  unten  ©eranlaffung  nehmen, 
auf  Urfadje  unb  Jolge  beS  bitteren  ©treiteS  juriitf^ufommett. 

©on  SlretinoS  §äuSlid)feit  in  ©enebig  geben  bie  Ber- 
fd)iebenften,  unS  erhalten  gebliebenen  ©eridjte  bou  geitgeuoffen 
anfd)nulid)e  ©djilberungett.  $eS  2)id|terS  ©iograpf),  ber  (Sonte 
3Kajjud)elIi , nennt  unS  als  bieSbegüglid)e  Ouellen:  bie  Korre- 

Sammlung  {fr.  V.  114  2 u>53) 


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18 


fponbenz  Sllbo  SDianujio«  beS  Süngeren,  bie  Sommentarien 
Oct.  CanbiS  über  Italiens  ©täbte  utib  anbere  ©djriften. 

Der  in  ber  Safa  ®olani  perrfdjenbe  Sott  ber  ©efeüigfeit 
fann  ber  feinftc  unmöglich  gewefen  fein,  aber  wir  bürfen  nidjt 
mit  bcm  SDtafje  ftrenger  ©ittlicpfeit  unb  unnacpficptiger  bürger- 
licher fföoral  an  baS  Zeitalter  bet  fRenaiffance  perantreten.  3w 
mitten  fcpwelgerifcper  fjefte,  wo  SujuS  unb  ungezügelte  ©rauft- 
fucpt  fdjamlofe  Orgien  feierten,  fpielte  eine  Sbplle  fich  ab,  »ic 
fie  in  foldjer  Umgebung  rüprenber  unb  ergreifenber  faum  gebaut 
werben  fann.  Unter  ben  „Siretinerinnen"  patte  ein  überaus 
jart  gebautes  Üftägbleiit  Slufnapme  gefunben,  bem  ißietro  fortan 
fcpier  auSfcplie&lid)  feine  ©unft  guroenbet,  mit  jeber  gib«-  feines 
.ÖerjenS  an  ber  iiberfcplanfen  ©eftalt  mit  ben  blaffen  giigen 
pangenb.  jOrei  Qapre  oerweilt  ißierina  fRiccia  in  bem  .paiiic 
beS  SIretinerS,  bann  oerfcpwinbet  fie  plöfclicp  aus  bemfclben  unb 
wirb  lange,  lange  nicht  mepr  gefepen.  ©nblicp  feprt  fie  toieber, 
ißietro  nimmt  fie  mit  offenen  Slrmen  auf,  aber  fie  ift  fränfer 
unb  leibenber  benn  je,  nicht  jene  bejaubernbe  SRorbibezza  mepr 
fpricht  aus  ben  lieblichen  3ügen,  nein,  baS  in  überirbifcpem  geuer 
erglänjenbe  Sluge,  ber  ergreifenbe  Slang  ber  ©ruftftimme  fünben 
eine  Sluflöfung  an,  bie  mit  jebem  Jage  neue  gortfdjritte  madjt. 
®iS  ju  iprem  im  Sapre  1545  erfolgten  föinfcpeiben  lägt  ißietro 
ipr  in  mepr  als  öäterlicher  SBeife  bie  zärtlicpfte,  aufopfembfte 
pflege  zu  tpeil  werben.  21uS  jener  3e*t  haben  fiel)  fünf  ©riefe 
erpalteu,  bie  er  an  ^ßierinaS  äRutter,  ÜRarietta  SRiccia,  gerichtet. 
Dort  fchreibt  er  einmal  f<hmerjcrfüüt : ,,3d)  f)abe  fie  geliebt, 
icp  liebe  fie  unb  werbe  fie  lieben  bis  am  jiingften  Dage,  wo 
über  unfere  (Jitelfeit  gerichtet  wirb." 

4*oit  ißenebig  aus  oerfidjert  Slretino  all  feinen  'Jteunben 
wieberpolt,  wie  wopl  er  fiep  fiible  als  freier  ÜRantt  oou  ©otteS 
©nabeit,  bcm  „ber  ©cpweife  feiner  Dintenfäffer  ©lürf  unb 
:Uupm  einbringt.  SRit  einer  5f^er  unb  einigen  tBlötterii 

(.A4) 


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19 


Rapier  jpotte  ich  ber  gangen  SBelt!"  — „Sie  nennen  mich  beu 
Soh»  einer  Äurtifane , mag  flimmert  eä  mich,  ber  icf)  fierg 
nnb  ©eift  eines  SiönigS  befi^e. " — „2)leinc  Webniflen  finb  aus 
Schrot  unb  &orn  jeher  Ülrt  geprägt,  mein  ©üb  prangt  an  ber 
ftront  ber  ißaläfte,  mein  $opf  giert  bie  Äämme,  bie  XeHer  unb 
glatten,  bie  ©den  ber  Spiegel  fo  gut  roie  ber  eines  Slefanber, 
eines  ßäfar,  eines  Scipio.  ffiitie  Sorte  oon  ftriftaflgläjern 
trägt  meinen  9iamett  unb  nach  mir  nennt  fid)  jene  fRaffe  non 
'pferben,  banon  ber  ißapft  mir  eines  gegeben.  2)er  ©ad),  ber 
einen  2§eÜ  meines  £>aujeS  befpült,  Reifet  ber  Äretiner,  unb 
?lretinerinnen  genannt  gu  werben,  ift  ber  Stolg  ber  iDfäbdjen, 
bie  mich  bebienen.  3a,  man  {priemt  gum  bitteren  3ngrimm 
aller  gehanten  non  einem  aretinifdjen  Stile." 

2ln  einen  3reuit&  fchreibt  er:  „So  niete  Herren  ftören 
mid)  beftänbig  mit  ihren  Sefuchen,  baß  meine  Ireppe  burd)  ben 
häufigen  stritt  ihrer  güfje  abgenu^t  wirb,  roie  baS  sJ$flafter  beS 
ÄapitolS  burd)  bie  Sftäber  ber  Triumphwagen.  9?ie,  glaube  ich, 
fah  SHom  eine  folche  ÜJiifchung  ber  ^Rationalitäten,  als  biejenige 
ift,  bie  in  mein  $auS  fommt : Türfen,  3uben,  3nber,  grangofen, 
Teutfche,  Spanier.  3d)  fd>eine  ba§  Orafel  ber  SBclt  geworben 
gu  fein,  3eber  fommt,  mir  gu  ergäben,  welch  Unrecht  ihm  oon 
biefem  dürften,  oott  jenem  Prälaten  roiberfa^ren  ift,  unb  fo  . 
bin  id)  ber  Sefretär  ber  gangen  SBelt."  Sin  anbermal  fchreibt 
er  an  feinen  ©coattermanu,  ben  ©udhhänbter  ÜRarcolini,  ber 
niele  feiner  ©iicher  neriegte:  „äBeun  bie  3Renge  ber  ©ejud)er 

mid)  allgu  fehr  beläftigt,  bann  flüchte  id)  in  ©uer  |>auS  unb 
in  baS  TigianS  ober  id)  oerbtinge  ben  SRorgeit  in  irgenb  einer 
elenbcn  Kammer  bei  Firmen,  roel<$e  ben  Fimmel  anflehctt  um 
beS  SKmofenS  einiger  geller  wegen,  bie  ich  ihnen  fd)enfe." 

Ter  ©riefwechfel,  welchen  Slretino  mit  ben  ©röfjen  feiner 
3eit:  dürften,  Slünftlern  unb  ©eletjrten  unterhielt,  füllt  mehrere 
©änbe.  SltS  befte  ?luSgabe  biefcS  jeitbem  neu  aufgelegten  für 

2*  (t«6) 


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20 


©eurtfeeilung  ber  .geit«  unb  ©ittengefdjidjte  gar  nicht  unwichtigen 
OueHenwerfeS  galt  lange  bie  ju  ©ariS  im  gafjre  1609  in  fed)* 
©änben  erfchienene  Sammlung. 

3n  ©enebig  fanb  Slretino,  ber  im  übrigen  aus  feiner  Un- 
roiffenljeit  gar  fein  $ef)l  machte,  im  ©egentheil  fidj  bamit  rühmte, 
fein  „gebaut"  ju  fein,  eö  bennoch  für  angejeigt,  ficf)  einen 
©efretär  ju  hatten  unb  faitb  einen  folgen  in  ber  ©erfon  bes 
9iiccoIö  granco  auS  ©eneoent , beffen  ©ertrautljeit  mit  ber 
griechifchen  unb  fateinifrf)en  fiitteratur  ihm,  bem  Slutobibaften, 
fefjr  ju  ftatten  fam.  Später  überroarfcn  fich  bie  ©eiben  uub 
befehbeten  fich  aufs  ^eftigfte  in  unfagbar  fchmufciger  SBeife. 
SMe  geinbfchaft  begann  1538,  brei  Safere  fpäter  liefe  granco 
in  Xurin  bie  „erhältlichen",  gegen  Slretino  gerichteten  „©riapea " 
mit  einem  Anhang  Don  270  Sonetten,  brucfen,  tooburd) 
er  feinem  oormaligen  $errn  jchtueren  Schaben  jufügte.  ©e* 
fanntlich  enbete  granco  1569  einer  beifeenben  Satire  auf 
©apft  ©aul  V.  wegen  am  ©algeu.  — $in  anbeter  fchlintmer 
©egner  war  bem  Siretiner  erftanben  in  ber  ©erfon  be$  granceSco 
2)oni,  ber,  lange  $eit  fein  warmer  Slnfeänger,  mit  bem  Satirifcr 
grünblich  gebrochen  unb  im  Safere  1556,  bem  Xobeäjafere  ©ietros, 
ein  ©uch  oeröffentlicht  hat  unter  bem  Jitel:  „(Srbbeben  (terre- 
moto)  be$  $oni  mit  bem  Untergang  eines  foloffal  grofeen 
beftialifchen  Sfntichriften  unfereä  .ßeitaltcrS,  gewibmet  bem  lafter- 
haften,  oerrucfeten,  jebeS  GSIenbS  GueH  unb  Urfprung:  ©ietro 
Slretino,  bem  unflätigen  9Ritglieb  ber  biabolifcfeen  galfcfefeeit, 
bem  wahren  Slnticferiften  unfereS  SafetfeunbertS."  Sn  bem  ©ucfee 
felbft  behauptet  35oni,  bem  Siretiner  für  baS  Safer  56  beit  $ob 
oorhergefagt  gn  haben,  weil  ber  freche  Spötter  oon  fich  be- 
hauptet, ein  Sohn  ber  SDJabonna  oon  Slreggo  felber  gu  feilt, 
anfpielenb  auf  bie  Sfeatfacfee,  bafe  feiner  SDiutter,  ber  lita, 
.Büge  bem  Silbfeauer  gum  SJfobeH  gebient  bei  ©djmücfung  beS 
©ortalS  am  ®ome  feiner  ©eburtSftabt.  — 2>oni  ift  in  oöüiger 

(650) 


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21 


©ergrffenßeit  geftorben  im  3alpre  1574,  oon  Kretin  o über  tu  i ff  eit 
wir  ou$  guoerläffigften  Quellen,  baß  er  am  21.  Oftober  1556 
im  $aufe  beS  ßionarbo  ®anbolo  am  Sana!  ©raube  eine« 
jäfjen  JobeS  am  ©ehirnfdjlage  ocrftorben  ift,  bis  jum  lebten 
läge  geachtet  uub  geehrt  oon  feinen  $eitgenoffen  unb  ben 
©roßen  feines  fianbeS,  l)atte  bocfj  ber  ©roßhergog  oon  gloreng 
fidf  aud)  bem  altemben  SDfanne  noch  ftetS  als  großmütiger 
|>err  erwiefen.  3m  2>ome  oon  Urbino  freilich  fonitte  er  nicht 
beigefeßt  werben,  feine  fterblichen  ©efte  naßm  bie  SufaSfirdje 
in  ©enebig  auf,  bie  ©rabftätte  felber  ift  aber  halb  in  OöQige 
©ergeffenßeit  gerätsen. 

@S  möchte  je^t  am  ©laße  fein,  oon  bcn  ÜluSgeicfinungen 
gu  reben,  bereu  Slretino  feitenS  feiner  fürftficfjen  ©önnet  fid)  gu 
rühmen  hotte.  $m  iiberfchwenglichften  fc^wärmte  woßl  Äarl  V. 
für  ben  ©ößen  beS  XageS.  (Sr  fc^icfte  ißm  eine  golbene  Jfette 
unb  bot  ißm  bie  ÄaoalierSwiirbe  an,  bie  ißietro  jebocf)  ausfällig, 
babei  eine  Stelle  aus  feinem  SBiareScalco  anfüßrenb : (Sin  Äaoalier 
ohne  ÜJüttel  ift  eine  SJiauer  oßne  SJreuj,  bie  jeber  §unb 
fdjimpfiren  barf.  — ©ei  feiner  ®urd)reife,  auf  ber  ©ücffehr  und) 
35eutfc^lanb,  e$  war  in  ißeScßiera,  unterhielt  ber  große  Äaifer 
fid)  ftunbenlang  oertraulid)  mit  Slretino  unb  ließ  ißm  für  ein 
bort  recitirtcS  ßobgebicßt  eine  große  Summe  auSgahlen.  ©or 
feiner  21breife  empfahl  er  ben  Ticßter  ber  Signoria  oon  ©enebig 
als  „baS  ißm  auf  (Srbe  3Tf>euerfte"  hödjft  angelegentlich. 

Slucß  bie  Saiferin  fcßicfte,  cS  bleibt  unentfcßieben,  ob  aus 
©ewunberung  ober  aus  gurcßt,  «ne  golbene  brei  ißfunb  fcßmere 
Äette.  (Sine  auberc  ilette,  im  SBert^e  oon  100  Scubi,  erhielt 
er  oom  3nfanten  unb  (Srgßergog  ©fj'tipp,  a!8  Äöitig  ber  gweite 
biefeS  ©amenS.  ©om  .ftergog  oon  Urbino  begog  Slretino  ein 
3ahrgelb  oon  200  Scubi.  (Sine  beträchtliche  Summe  ©elbeä, 
beren  ©etrag  nicht  angegeben,  ließ  ißm  ber  $oge  ßuigi  ©ritti, 
fein  ©ereßrer,  regelmäßig  auSgaßlen,  wofür  beitti  auch  ^ßietro 

(66T) 


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22 


bie  iRepublif  banfbarlicbft  befc^roieg.  ©elbft  beS  ®roßtürfeu 
©ultan  ©olimanS  Stbmiral,  |>at)rebbin  ©arbaroffa,  ^utbigte 
it)tn  mit  anfeljnlicfjen  ®efdjettfett.  ©er  fii^tic  Korfarenbauptling, 
ben  fpäter  befanntlicb  Karl  V.  mit  entliehenem  ®lüd  bcfriegte, 
fc^rieb  an  „ben  erfteit  ber  cfjciftlicfjeu  ©c^riftfteQer"  ißictro 
Äretino:  £at)rebbin  ©arbaroffa,  *ßafd)a,  Äbmiral  be$  ©ultanS 
©oliman,  König  non  SlgieT,  grüßt  ©ich  fßictro  Äretino,  ben 
herrlichen  unb  Unwichtigen.  gcß  metbe  ®ir  anmit,  baß  id) 
©ein  ©Üb,  in  ©über  getrieben,  erhalten  höbe,  jugleich  mit  bem 
©riefe,  ben  eS  ®ir  gefallen  bat,  mit  ju  fdjreiben.  Sicherlich 
fiebft  ®it  mehr  einem  |jeerfftl)rer  als  einem  ©dfriftfteller  gfeic^; 
ich  ^abe  noit  bem  SRubme  gehört,  ben  ©ein  ÜJame  in  ber  SBelt 
genießt,  unb  id)  ßabe  mehr  als  einmal  in  ©einem  ©etreff  meine 
genuefifdjett  unb  römifcßen  ©flaöen,  bie  ©ich  oon  SUnfebett 
fennen,  ausgefragt,  weil  eS  mid)  freute,  non  bem  SRutlje  ju 
nerne^men,  mit  bem  ®u  mein  2ob  ncrfünbigteft  unb  bie  ©apfer* 
feit  priefeft,  bie  mich  bei  ben  ©iirfeit  mie  bei  beit  granfett 
gleicßerweife  fcbäfcenSmertb  macht.  geh  wüufcbe  eines  ber  ©Über 
ju  fetjen,  bie  in  Italien  cirfulirett  unb  benen  man  nachfagt, 
baß  fie  mir  ähneln.  geh  ^abc  bem  ©efanbten  ber  ©ignoria 
»on  ©enebig  gefagt,  baß  er  mid)  entfdjulbige,  tnenn  id)  ®idj 
nicht  unüerjiiglid)  belohne,  weil  ber  ©roßberr  mir  befiehlt  in 
feinen  Mngelegenßeiten  abjuretfen;  aber  fobalb  ich  juriid  fein 
werbe,  miß  ich  nicht  ermangeln,  baS  ®ir  ©erfprocheite  ju  iiber= 
fenben.  Schrieben  in  Konftantinopel,  in  ber  9J?itte  beS  SRonatS 
SRamafan  im  gabre  949  nnfereS  großen  Propheten  2Hnf)ameb." 

SBir  wiffen,  baß  König  granj  feinem  Stioalen  Karl  V.  itt 
ber  £>eerfat)rt  gegen  bie  Korfaren  bie  ÜJHtßülfe  oerfagte,  ja  man 
bat  jogar  behauptet,  baß  haprebbitt  burcb  ben  gran^ofen  mit 
®efd)ü|)  oerfeben  worben  fei.  ©rwiefen  ift,  baß  ber  „aller* 
d)riftlicbfte  König"  ftetS  freunbfd)aftlid)e  ©ejiebungen  jur  Pforte 

unterhielt,  wennfcbott  er  aus  ©eben  uor  bem  Urtbeil  ber  SBelt 

(es») 


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23 


feinerfei  offene  Söuttbeögenoffenfcßaft  einging  mit  bem  erflärten 
„©rbfeinb  be«  cßriftlicßen  tarnen«".  ©o  barf  ei  un«  nießt  groß 
SBunber  nehmen,  ben  Slretiner  bie«mal  auf  ©eite  f5ranä  I- 
fielen  ju  feßett.  Stber  bie  öegeifterung  für  ben  Xürfen  ertofeß 
al«balb,  naeßbem  Karl  V.  ßeimgefeßrt  mar  oott  ber  fiegreitßen 
©innaßme  $uni«,  1535.  3eßt  galt  e«  toieberum  ben  gelben* 
mütßigett  SöefdEjirmer  ber  Gßriftenßeit  in  lobtriefenbett  Dßmnett 
ju  oerßerrlicßen.  3ntnterßin  aber  ift  ei  nießt  ganj  unroaßr* 
fcßeinlicß,  baß  Karl  V.  ben  2)lann,  beffen  ©pottluft  er  fo  feßr 
fürchtete,  abloßnte,  inbem  er  ißm  jutn  oorau«  für  fein  bie«- 
bcgüglicße«  ©ebießt  100  ©cubi  au«$aßlen  ließ.  2)latt  fattn  rooßl 
fagen,  baß  feit  ©regor  VII.  e«  feinen  SKann  in  Stalien  gegeben 
ßat,  oor  bem  Kaifer  unb  Könige  fo  gewittert,  mie  oor  Sßietro 
Slretiuo.  ®er  §erjog  ooit  vfjatma  bemüßte  fieß  fogar  bei  ^Sapft 
2$aul  III.  um  ben  Karbinal«ßut  für  ißn,  unb  ba«  fpätere  Kircßett- 
oberßaupt,  3uliu«  III.,  au«  Slre^o  gebürtig,  überfanbte  feinem 
fianb«manne  taufenb  ©olbfrouen  mit  bem  öanbe  be«  ülitter« 
oom  ßeil.  ©eifte.  3m  3aßre  1535  naßm  ber  ^erjog  oon 
Urbino,  ©eneral  ber  Gruppen  be«  Kircßenftaate«,  ben  Siretiner 
mit  fieß  naeß  9Iom,  rao  ißm  oon  bem  fßapfte,  bem  britten  3uliu«, 
oon  feilten  Karbittälen  unb  ber  ganjett  Seoölferung  ein  ©mpfattg 
ju  tßeit  mürbe,  mie  ißn  Könige  unb  ifaifer  bei  ißrem  ©injuge 
faum  erfuhren,  ©rraäßnt  foß  ßier  aueß  merbeit,  baß  berfelbe 
Süiann,  ber  fieß  gelegentlich  bamit  brüftete,  fein  „©cßutfucß«" 
ju  fein,  oon  ben  meiften  geteßrten  Slfabemien  feine«  Sanbe«  jum 
©ßreitmitglieb  ernannt  toarb.  gürtonßr  aueß  ein  Sßarafteriftifum 
für  ba«  Zeitalter  ber  Stenaiffance. 

üftießt  aßeitt  bureß  §pmnett  unb  Sonette,  bie  an  au«- 
feßmeifenbett  fiobe«preifungen  äße«  biSßer  ®agetoefette  meit  über- 
trafen,  fueßte  Slretino  fieß  freigebige  ©önner  ju  fießern,  nein, 
ber  merftoürbige  2)1  antt  ift  aueß  SBerfaffer  oerfeßiebetter  ©üeßer 

rein  religiöfen  3nßatt«,  bie  er  bann  ßoßen  SBürbenträgern 

(66») 


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Sueignet.  So  wibmet  er  bie  'ißarapßrafeu  ber  fieben  Sußpjalmen 
DaoibS  (1534)  bem  ^erjog  oon  fieoa  gegen  ein  beftimmteS 
Qaßrgelb,  bie  brei  ©ücßer  ber  SDienfcßßeit  ßßrifti  (1535)  bem 
fOiarquiS  be  (a  Stampa,  baS  fieben  ber  Jungfrau  Statßarina 
(1540)  bem  9Äarcßefe  bei  Sßofto  unb  baS  fieben  ber  gungftau 
9)iaria  (1540)  ber  ÜJiarquife,  feiner  ©emaßlin,  bie  ©enefis  mit 
ber  SUifioit  9Joaß3  (1541)  bem  ßeiligen  Sßater  guliuS  III. 

Scip.  Slmmirata  ßat  beregnet,  baß  Slretino  an  ^enfionen 
jäßrlicß  tanfenb  Scubi  be^og,  an  ©ratififationeu  im  Verlaufe  allein 
oon  acßtjeßn  gaßren  über  25  000  Scubi  oereinnaßmte,  unb 
fomit  läßt  ficß  woßl  behaupten,  baß  er  nacß  heutiger  Scßafcung 
woßl  eine  runbe  9)fiflion  oon  granfen  unb  barüber  fid)  erwarb, 
wobei  freilief)  baS  trioiale  äöort  galt:  SBie  gewonnen,  jo  jerronnen. 

§Xf«  Sttufter  eines  iDiaßnbriefeS  jei  ßier  ein  Schreiben 
ÜlretinoS  eingcfdjaltet , baS  er  am  9.  Januar  1538  au  bie 
SJiarcßcfa  bi  ißeöcara  gerietet,  bic  ißn  wegen  feiner  religiöfen 
Schriften  beglüdwünfeßt  unb  ißn  oufgeforbert,  auf  biefer  93aßit 
ju  »erharren.  Der  freeße  Spötter  antwortet:  „gcß  befenne,  baß 
id)  mieß  ber  SBclt  weniger  nüßließ  uttb  ßßrifti  weniger  wertß 
erweife,  inbem  id)  meine  Stubien  auf  erbießteten  Danb  unb  nießt 
auf  SBerfe  ber  SBaßrßeit  oerwenbe.  allein  bie  Sinnenluft  ber 
'ütuberen  unb  meine  eigenen  SBebürfniffe  finb  bie  Urfadje  jenes 
UebelS;  beim  wenn  bic  gürften  ebenfo  bigott  wären,  wie  icß 
bebürftig.  fo  würbe  id)  mit  meiner  geber  nur  äßiferere  nieber* 
feßreibeit.  SBereßrte  grau,  uid)t  Sillen  ift  bie  ©nabe  ber  gött* 
ließen  gufpiration  ju  tßeil  geworben,  bie  änberen  werben  un* 
abläffig  oon  ber  Segierbe  oerjeßrt,  wäßrenb  in  @mß  baS  ßimm= 
Iifd)e  geuer  lobert,  unb  ©otteSbienft  unb  ißrebigten  finb  für 
@ucß  basfelbe,  was  für  gene  SPtufif  unb  £omöbien  finb.  — 
Da  wibmet  mein  greunb  ©ruciolo  bem  aflercßrifUicßfteti  Äönig 
(gran$  I.  Oon  granfreieß)  feine  Sibel  unb  ßat  nacß  fünf  gaßren 
feine  Antwort  erßalten  Deäßalb  fönnte  meine  Äomöbie:  La 

(6fi0) 


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25 


Cortigiana,  roelcße  mir  uoit  feiten  besS  ÄönigS  bie  große  ©ßren* 
fette  eintrug  (ber  giirft  ßatte  ben  geiftreidjen  ©infafl,  ißm  eine 
Äette  gu  fdjenfen,  beren  gungenförmige  ©lieber  an  ben  ©pifjen 
gefärbt  toaren,  gleicfffam  als  ob  fie  in  ©ift  getauft  mären,  baS 
Atleinob  geigte  bie  Sluffcßrift:  lingua  eius  loquetur  mendatium, 
feine  3unge  wirb  fiiigen  fpredfen),  bem  alten  leftamente  ©pott 
bieten,  raemt  bieS  nicßt  ungegiemeitb  märe.  3d)  muß  aber  ent» 
fcßulbigt  merben,  roenn  id>  nicßt  aus  boSßeit,  foitbem  um  leben 
gu  fönnen,  mid>  mit  Sfcanb  befdjäftige.  SRöge  ber  |>err  @udj 
erleudjten,  baß  3ßr  ©ebaftiano  ba  ißefaro  oeranlaffet,  mir  ben 
SReft  ber  ©umme  gu  fdpden,  auf  melcße  idß  bereits  breißig  ©cubi 
erßalten  ßabe,  unb  id)  befenne  mid)  @ud)  fcßon  gum  oorauS 
bafiir  oerbunben." 

bismeilen  ermeifeit  fid)  beS  SretinerS  bemiißungen  ©elb 
gu  erpreffen,  mag  er  ©d)meid)elei  ober  ©pott  oerfdßroenben,  als 
oergeblicße,  unb  bann  bricßt  feine  SButß  in  ein  mitbeS  ©eßeut 
ans.  bemeiS  hierfür  ift  bie  djarafteriftifd)  gefaßte  ©piftel,  bie 
ber  ©nttäufdjte  an  ben  dürften  üon  Salerno  richtete,  ber  eine 
geitlang  «ßenfioit  begaßlt,  eine  SBeiterleiftung  jebocß  oerroeigcrt 
ßatte.  2)eSgIeidjen  apoftropßirt  ber  enttäufdjte  2)id)ter  ben 
fcßrecf (icßcn  Sßier  Suigi  garnefe,  ffergog  oon  ^arma , als  biefer 
ade  $lufforberungen  gu  fdjenfen  beharrlich  ignorirte,  mit  ben 
öfters  citirten  berfen,  beren  ©inn  ungefähr  biefer  ift:  „be- 
fleißige hieß  boc^ , »erfommener  per  Suigi,  bu  SJreißeQer- 
fjcrgöglein,  ber  ©emoßnßeiten  eines  fo  ßod)  geehrten  ÄönigS 
(grang  I.  oou  ^ranfrcid)  ift  ßier  gemeint).  gebet,  ber  über 
breißig  bauern  unb  ein  öerfafletieS  ©emäuer  gebietet,  miß  bodj 
fonft  bie  ©ßren  einer  göttlichen  berefjrung  fid>  anmaßen."  9iun 
füßlte  fid),  roie  gebermann  roeiß,  per  fiuigi  leiber!  über  febe 
üble  SRndfrebe  foldjer  ©attung  feßr  erßaben. 

SDJitunter  erfußr  petro  beloßnungen  fonberbarer  Ülrt;  bie 

Oberfläche  feines  JRörperS,  fagt  boccalitti,  glicß  einer  fdjraffirtcn 

(«61  >• 


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©eefarte.  Söeit  Äretiuo  einen  tapferen  Kapitän  ©ier  ©trojji 
in  burle«fen  ©einten  feart  mitgenommen  unb  biefer  ifem  ben 
Untergang  gefcfeworen  featte,  roagte  ber  Sinter,  nacfebem  er  er= 
fahren,  bafe  ber  fffforentiner  ficfe  in  ©ettebig  auffeatte,  wodjenlang 
fein  ftau«  nicfet  ju  oerfaffen;  ein  gaftum  freitidj,  welche«  ber 
neuefte  ©iograpfe  be«  ©atirifer«,  ©inigaglia,  gerne  aus  ber 
SBett  fcfeaffen  möcfete.  — ,§einricfe  VIII. , König  oon  ©nglanb, 
featte  bem  Sretiner  eine  Sßenfion  oon  300  ©cubi  oerfprocfeen, 
unb  ba  bie  ?Iu«äafetung  ber  ©umme  ficfe  oergögerte,  befcfeulbigte 
ber  ©efcfeäbigte  ben  engtifcfeen  ©efanbten  in  ©enebig , ©ir 
©igiämunb  föowet,  feinterriid«  bet  Uuterfcfetagutig.  $5er  ©rite 
rächte  fid)  roegen  biefer  ©erteuntbung,  inbem  er  bem  freefeen 
Säfterer  burdf  fieben  bewaffnete  2Jiänner  auflauern  utib  ifen 
graufam  burcfepriigetn  liefe.  2>a«  SDferfwiirbige  an  biefer  ©e= 
fcfeicfete  ift  nicfet  etwa  ber  Umftanb,  bafe  ber  Stretiner,  „bewegt 
oon  cferiftticfeeit  ober  moralifdjeit  ©efüfelen",  biefe  fcfewere  ^eim- 
fucfeung  gebulbig  über  fid)  ergeben  liefe,  fonbern  bafe  ber  eitglifcfee 
©efanbte  ficfe  förmfidjft  ob  feine«  3rrtfeum«  entfdfeutbigte,  al« 
ber  ©ertreter  Karl«  V.  ficfe  erbot  im  Flamen  feine«  $errn  bie 
fragliche  ©umme  ju  jafeten.  3)ama(«,  im  3uli  1548,  war 
®on  $iego  £mrtabo  be  2Wenboja,  ber  angebticfee  Serfaffer  be« 
erften  ©cfeetmenroman«  ber  ©panier,  Sajarillo  be  lorme«, 
faiferticfeer  fiegat  in  ©enebig,  bann  itt  ©om.  ®er  berüfemte 
©taat«mann  unb  fpätere  ©efcfeicfet«fcfereiber , befanntlicfe  ein 
feiner  Kenner  ber  itatienifcfeen  Sitteratur,  featte  mefermal«  ©e^ 
riifernngen  mit  bem  Stretiner,  bem  er,  at«  e«  galt,  be«  SMcfeter« 
Xocfjter  Äbria  ju  oerfeeiratfeen,  im  tarnen  be«  Kaifer«  100  ©cubi 
Überreste.  $u  ^er  Mitgift  im  ©efamtbetrage  oon  1000 2)ufaten, 
featte  ber  ©rofefeerjog  oon  f^torenj  300,  ber  Karbinal  oon 
©aoeitna  200  ©cubi  beigefteuert. 

2)er  alte  ©iicfeet  ?tngeto,  ber  einige  feiner  fcfemeufelerifcfeen 
©riefe  unbeantwortet  getaffen,  follte  c«  bitter  büfeen,  bafe  er 

(Wtt) 


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27 


fid)  burdj  fofcfje  Unterlaffung  einen  Stretino  jum  ausgefprocfjenen 
©egner  gemalt.  Sie  erfte  ?Innä^erung  be«  jubringlidjen 
3JZanne«,  ber  in  ganj  Italien  Sob  unb  Scßanbe  auäjutheilen 
ftcf)  Dermal  fanb  im  3aßre  1538  ftatt.  9lretino  ^attc  au 
Subooico  Solei  über  ben  guten  unb  fd)ted)ten  Stil  gefcßrieben 
unb  bei  biefer  Gelegenheit  SWidhel  Ängelo«  ermähnt,  al«  er  ben 
Uuterfcßieb  gwifcßen  garbe  unb  3eic^nun9  betonte.  „Sdjöne 
Farben  ohne  geichnitng,"  heißt  eS  bort,  „mit  beuen  allerlei  bunte« 
geug  ohne  richtige  Umriffe  ju  ftanbe  gebraut  wirb,  welche  @{jre 
erwerben  bie?  Ser  wahre  3tuljm  ber  garbe  liegt  in  ben 
ißinfelftridfcn,  wie  fie  SKicßel  Sngelo  gu  führen  weiß,  ber  9latur 
unb  Shmft  fo  oöflig  inne  h<ü,  baß  fie  felbft  nicht  wiffen,  ob  fie 
»on  ißm  ober  er  »on  ihnen  ju  lernen  habe.  (Sin  guter  SWaler 
muß  metjr  oerfteljen  al«  einen  Sammetpelj  ober  eine  Gürtet» 
fcfptalle  gut  nachjuntnchen."  — Sann  manbte  er  fid)  an  bett 
großen  SDZeifter  felbft,  ben  er  in  ben  überfchwcnglidjften  gönnen 
alfo  anrebet:  „3dj,  ber  id)  burd)  Sob  unb  Sabel  fo  oicl  oermag, 
baß  faft  alle«,  wa«  an  Änerfennung  fowoßl  al«  an  ©ering- 
ftf)ä^ung  ?Inberen  ju  theil  geworben,  burcf)  meine  $anb  oer- 
liefen  würbe,  id),  bennodj  feljr  wenig  unb  fojufagen  nichts,  be- 
grüße (Sudj.  SBagcn  würbe  id)  eS  nicht,  hätte  burd)  bie  Ächtung, 
bie  fein  Älang  jebem  gürften  einflößt,  mein  ÜRamc  nicht  fd)ott 
fo  oiel  oon  feiner  Unwiirbigfcit  oerloren  Unb  hoch , Sud) 
gegenüber  bleibt  mir  nichts  als  @ljrfurd)t!  Stönige  giebt  es 
genug  in  ber  SBelt,  aber  nur  einen  SHidjel  Slngelo!  Sßeld)  ein 
SBunber,  baß  bie  SZatur,  bie  nid)tS  fo  ergaben  fdjaffett  fann, 
baß  3ßr  eS  nicht  erreichtet,  ihren  eigenen  SBerfen  ben  Stempel 
hoßer  äßajeftät  nicht  aufjuprägen  oermag,  ben  bie  ungeheure 
SDZadjt  (SureS  Griffeln  in  fid)  trägt!  ißfjibia«,  SlpeöeS  unb 
58itruoiuS  fteßeu  im  Schatten  neben  (Sud)!"  — Sann  legt 
?lretino  mit  einem  ungeheuren  Slufmanb  oott  atlegorifd)  poetifcßen 
S3orfteUungen  bar,  wie  er  felbft  fid)  bie  fiompofition  beS 

(663) 


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28 


„jüngften  ©erstes"  gebaut  unb  giebt  bie  ©erftdjerung, 

bah  et  gwar  einen  Schwur  gethan,  nie  wteber  nach  SRom  ju 
fommen,  SfRidjel  2lngeIo«  SEBerf  aber  werbe  ihn  fich  felbft  treulo« 
machen.  Uebrigen«  möge  er  fic^  öon  feiner  brenneitben  ©ehnfudjt 
»öllig  überzeugt  galten,  ber  SSelt  fein  ßob  gu  oerfiinben.  — 
$>er  folcfjermnfjen  ©efeierte  antwortete  auf  biefeS  halb  befcheiben» 
bemütljige,  halb  fredpanmahtidje  Schreiben  mit  feinfter  Sronie, 
inbem  er  bebauert,  baff,  weit  bereit«  ein  fo  grofjer  Iljeil  be« 
©emälbe«  fertig  ift,  er  feine,  Äretiito«,  ©ebanfen,  leiber  niefit 
mehr  benufcen  !aun.  SBörtlid)  ^ei|t  e«  bann:  ,,2Ba«  ©uer  än= 
erbieten  anbetrifft,  über  mich  gu  fdjreiben,  fo  macht  e«  mir  nicht 
nur  Vergnügen,  fonbern  ba  ftaifer  unb  Äönige  e«  für  bie  hödjfie 
©nabe  erachten,  wenn  ©urc  geber  fie  nennt,  bitte  ich  barum. 
Sollte  ©uch  in  ©egug  bnrauf  irgenb  etwa«,  wa«  in  meinem 
Öefifee  ift,  erwiinfcht  unb  angenehm  fein,  fo  offerirc  ich  & 
mit  ber  größten  ©ereitwilligfeit." 

Slretino,  ber  ben  eigentlichen  $wecf  feiner  lobrebnerifchen 
©piftel  nunmehr  erreicht  glaubte,  bat  um  ein  ©tiicf  ^anbgeichnung, 
„wie  er  (ÜJiirf>eI  Slngelo)  e«  in«  $euer  gu  werfen  pflege". 
$od)  ber  SReifter  ^ntte  fein  ©eripredjen  fo  »oQftänbig  »ergeffen, 
bafe  er  fogar  auf  wieberfjolte«  ÜRahnen  unb  ©rinnern  ?tretino« 
nid)t«  fdfidte,  bi«  enblich  nach  fahren  burd)  ©enöenuto  ©eflini 
bem  3ub**ngtichen  eine  ©nbe  wirb,  bie  einer  ©erfpottung  mehr 
at«  einer  ©efchenfuitg  gleicbfommt.  2)er  alfo  ©nttäufihte  Der» 
langt  bcffere«,  aber  ber  grofje  äReifter  hat  für  fofd^e  jfrorberungen 
nur  ba«  Schweigen  ber  ©erachtung.  3efct  aber  reiht  bem 
©enetianer  ber  ©ebulbfaben  grünblich  unb  er  fenbet  an  9Ridjel 
Slngelo  einen  ©rief,  ber  al«  SReifterwerf  au«gefuchter  Shtfamie 
in  ber  SBeltlitteratur  faum  feine«  gleichen  finben  bürfte.  2>a« 
ben  gangen  SRann  Stretino  fo  oöüig  c^aratterifirenbe  Schriftftücf 
beginnt:  „Signore!  iRachbem  ich  nun  bie  gange  Sompofitiou 
©ure«  füngften  ©erichte«  gefehen  f>abe,  erfenne  idj  bann,  wa« 

(664) 


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29 


bie  ©djönbeit  ber  ftompofition  anlangt,  bie  berühmte  ©ragie 
fRafaelS  roieber;  als  ein  ßbrift  aber,  ber  bie  Ijeil.  Saufe  empfing, 
fdjäme  ich  mich  ber  gügelfofen  Jrecf^eit,  mit  ber  ©uer  ©eift 
bie  Sarfteüung  beffen  gewagt  bat,  wo«  basi  ©nbgiel  all  unferer 
gläubigen  ©efiible  bilbet. 

Siefer  SHicßel  Sugelo  alfo,  fo  gewaltig  burd)  feinen  Üiutjnt, 
biefer  SJlicbel  Sngelo,  fo  berühmt  burdj  feinen  ©eift,  biefer 
SKic^el  Sngelo,  ben  wir  2We  bewunbem,  bat  ben  fieuten  geigen 
wollen,  baß  ihm  in  ebcnfo  hohem  ©rabe  grömmigfeit  uitb  SHeligion 
abgeben,  als  er  in  feiner  Slunft  »ollenbet  haftest.  Jft  eS  möglidt, 
baß  3br/  t>»e  3b*  Such  @uter  ©öttlic^fcit  wegen  3um  ©erfebr 
mit  gewöhnlichen  iDlenfcben  gar  nicht  berablaßt,  bergleid^en  in 
ben  böcbften  Sempel  ©otteä  ^ineingebrac^t  bubt?  lieber  bem 
erften  ÖUar  ßbtifti,  in  ber  erften  ÄapeUe  ber  Sßelt,  wo  bie 
großen  ifarbinäle  ber  Äirdje,  bie  ebrwürbigeit  ©riefter,  wo  ber 
«Statthalter  ©brifti  in  heiligen  Zeremonien  unb  in  göttlichen 
SBJortcn  feinen  üeib,  fein  ©lut  uub  fein  gleifd)  befcitnen  unb 
anbetenb  betrachten. 

SEBäre  ei  nicht  faft  ein  ©erbrechen,  ben  ©«gleich  herbei* 
jufübren,  fo  würbe  ich  mid)  beffen  hier  rühmen,  waS  mir  in  meiner 
ÜRanna  gelungen  ift,  wo  ich,  ftatt  wie  Jbr  auf  unerträgliche 
Srt  bie  Singe  bloß  gu  legen,  mit  oernünftiger  ©orfiebt  beu 
ungüdbtigften,  üppigften  Stoff  in  garten,  gefitteten  SBorten  be- 
banbeit  habe.  Unb  Jbr'  &ei  einem  i°  erhabenen  ©orwurf, 
laßt  bie  (Sngel  ohne  ihre  bintmlifcbe  ©rächt  unb  bie  ^»eiligen  ohne 
eine  ©pur  irbifdber  ©erfdfämtbeit  erfcheinett?  §aben  boef)  bie 
Reiben  felber  bie  Siana  in  ©ewänbern  oerbüllt,  unb  wenn  fie 
eine  nadte  ©enu£  meißelten,  fie  bureb  ©teüung  unb  $anb> 
bewegung  faft  alö  befleibet  erfebeinen  laffen.  Unb  3br,  ber 

3bt  ein  ©b^ft  feib,  orbnet  ben  ©tauben  fo  febr  ber  ttunft 
unter,  baß  Jb*  bei  beu  äHärtprem  uub  heiligen  Jungfrauen  bie 
©erleßung  ber  ©d)ambaftigfeit  gu  einem  ©cßaufpiel  arrangirt 

(865) 


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30 


habt,  bas  mau  in  iibelberüd)tigten  Käufern  jelbet  nur  mit  ab' 
gewanbten  ©liefen  gu  betrachten  wagte.  3n  ein  üppiges  Sabe> 
gimmer,  nicht  in  ben  Shot  ber  höchften  Kapelle  bürfte  bergleichen 
gemalt  werben.  Söahrhaftig  beffer  wäre  eS  gewesen,  3hr  gehörtet 
gu  ben  Ungläubigen,  als  in  biefer  SBeife,  gu  ben  ©läubigen  ge- 
hörig, ben  ©lauben  Anbeter  angutaften.  Slber  fo  weit  wirb 
ber  Fimmel  nicht  gehen,  baff  er  bie  auherorbentlidje  Kühnheit 
SureS  SöunberwerfeS  unbestraft  ließe.  SS  wirb,  um  fo  wunber- 
barer  eS  bafteht,  um  jo  Sicherer  baS  ®rab  SureS  9iuhmeS  fein." 

3n  biejem  moralifirenben  Sone  geht  eS  noch  weiter,  bann 
aber  fommt  Slretino  auf  fid)  felber  gu  Sprechen  utib  fährt  fort: 

,,©ut  wäre  eS  allerbingS  gewefen,  wenn  3hr  mit  aller 
Sorgfalt  Suer  '-üerfprechen  erfüllt  hättet,  wäre  eS  auch  nur  um 
ben  böfeu  3ungen  Schweigen  gu  gebieten,  bie  ba  behaupten, 
nur  ein  ©herarbo  °^er  Sommafo  wüßten  ©efälligfeiten  aus 
Such  herauSgulotfen.  Slbet  freilich,  wenn  bie  Raufen  ®otbeS, 
bie  Such  ©apft  ®iulio  ^interlaffen  ^at,  bamit  feine  irbifchen 
Ueberrefte  in  einem  oon  Such  gearbeiteten  ©arfophag  ruhen, 
wenn  Such  fo  Diel  ®elb  nicht  gum  3nneh«lten  Surer  SJer* 
fpreepungen  oermögen  fonnte,  toorauf  fonnte  ba  ein  SDtann  wie 
cd)  Sich  Rechnung  machen?  freilich  nicht  Suer  ©eig  unb  Sure 
Unbanfbarfeit,  o großer  SWeifter,  finb  baran  Schulb,  bah  ®iulioS 
®ebeine  in  einem  einfachen  Sarge  fdjlafen,  fonbern  ©iulioS 
©erbienfte  felber:  ©ott  wollte,  baff  ein  folcher  ißapft  nur  burch 
fich  fei,  waS  er  ift  unb  nidjt  burch  ein  fltofjmächtigeS  Sauwerl 
erft,  baS  3hr  aufführtet,  etwas  gu  werben  Schiene,  Stoßbein 
aber  habt  3hr  nicht  gethan,  waS  3hr  Solltet,  unb  baS  nennt 
man  ftef)len. 

.'pättet  3hr  Such  bei  ber  ftompofition  SureS  ©emälbes  au 
bas  halten  wollen,  was  in  meinem  ©riefe,  ben  bie  gange  SBelt 
leimt,  an  wiffenfdjaftlicher  Unterweifung  über  Fimmel,  ipöüe 
unb  'fkrabieS  enthalten  war,  bann,  ich  wage  eS  gu  Sagen, 


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31 


würbe  bic  'JJatur  ftcf)  jefct  nicht  fd)ämen  muffen,  fo  grobe« 
Talent  in  t^ucfj  gelegt  ju  haben,  bah  3hr  felber  wie  ein  ©öfcew 
bilb  be«  Stünftlerthum«  haftest.  3m  ©egentheil,  e«  würbe  bie 
Vorfehung  (£uer  2öerf  befcf|üfcen,  fo  lange  bie  SBelt  fteht." 

Serbitore  ?lretin  o. 

Diejem  Schreiben  jdjicfte  ifjietro,  tiadjbent  er  reblich  bafür 
geforgt,  bafs  beffen  3nljalt  in  ben  weiteren  Streifen  Verbreitung 
gefunben,  ein  begütigenbe«  'ißoftffriptum  nach,  worin  e«  hei&t: 
„9?uit,  ba  meine  2Butf)  gegen  bie  ©raufamfeit,  mit  ber  3br 
meine  ehrerbietige  Unterwerfung  erwibert  habt,  ein  wenig  ber* 
raucht  ift  unb  ba  ich  Such,  wie  mir  fcheint,  ben  Vewei«  geliefert 
habe,  bah,  menn  3hr  di-vino  feib,  ich  auch  nicht  bon  Söaffer 
(deir  acqua)  bin,  jerreifet  biefe«  Schreiben,  wie  ich  gethan, 
unb  fommt  jur  ©rfenntnih,  bah  ich  aüerbing«  banach  fei,  um  bon 
Königen  unb  ftaifern  Antwort  auf  meine  Vriefe  ju  erhalten." 

Slretino,  als  er  biefett  Vrief  berfanbte,  burfte  jum  borau« 
be«  Veifall«  fid)er  fein,  ben  fein  boshaftes  SBortfpiel:  SBeiit 
nnb  SSaffer  bei  Vuonarotti«  geinben  finben  würbe,  unb  e«  fatm 
nicht  geleugnet  werben,  bah  e«  bem  frechen  Spötter  in  ber  Dljat 
gelungen  ift,  bem  groben  'JJameu  SJiichel  Slngefo«  einen  ÜJiafel 
aiijuhängen,  ber  bi«  in  feine  lebten  fieben«jahre  an  ihm  haften 
geblieben;  beim  mit  allem  ©rutib  nannte  ber  greife  ÜMeifter  ba« 
©rabmal,  an  welchem  er,  mit  Unterbrechungen  allerbing«,  oierjig 
3at>re  gearbeitet,  bie  Dragöbie  feine«  Seben«.  Die  erhaltenen 
Vejahlungen  hatten  nicht  einmal  be«  ÜWeifter«  9lu«lagen  gebccft ! 

3öeit  leichter  unb  oergnuglicher  in  ber  D£)at  muhte  Ülretino 
fiel)  ju  oerfchaffeu,  wa«  er  jur  Veftreitung  feine«  auf  fürftlichem 
Jufje  eingerichteten  Haushalte«  beburfte.  Damal«,  al«  fein 
warmer  ©önner,  ©iobanni  be  ÜJlebici,  ber  mit  ihm  Difcf)  unb 
99ett  getheilt  hatte,  geftorben  war,  befchloh  er,  fortan  iit  feine« 
ÜMenfcfjen  Dienft  mehr  ^u  treten  unb  al«  „freier  Diautt  oon 

(««7) 


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32 


©otteS  ©naben"  zu  leben.  SBie  fd)on  bemerft,  ftofjen  wir 
allerorts  in  feinen  ©riefen  auf  ©teilen,  bie  feiner  ooUen  ©e- 
friebigung  mit  ben  felbftgefdjaffenen  ©erhältniffen  berebten  SIuS‘ 
brucf  »erleiden. 

Slretino  war  im  ©runbe  genommen,  wie  man  oon  jeher 
richtig  über  ihn  urtfjeilte,  nichts  weiter  als  ©cfyriftfteller , aber 
ein  ©chriftfteßer  oon  eminenteftec  ©egabuitg.  SlfS  folc^er  bat 
er,  fogar  einzig  als  ©tilift  betrachtet,  eine  gewiffe  Originalität 
ju  beattfpruchen , benn  er  ignorirt  aus  reiner  Unfenntnijj  ben 
trabitioneflen  Formalismus  unb  SRechaniSmuS  ber  Sprache, 
oerböbnt  alles  ©egelwerf  als  pure  ©ebanterie  unb  gebt  fo,  aus 
ber  ©otb  eine  Xugenb  macbenb,  feine  eigenen  SBege.  ©ein 
Talent  ber  ungezwungenen  leichten  ®arfteßung,  beS  mühelos 
raffen  Schaffens  würbe  ihm,  nach  bent  ÄuSfpruch  eines  be- 
fannten  ©eiehrten,  zu  allen  feiten  ©ebeutung  gefiebert  haben, 
im  Zeitalter  ©utenbergS  machte  eS  ihn  zum  ©ater  ber  Sountaliftif, 
jutn  Äonbottiere  ber  SJitteratur,  wie  Tizian  ihn  nennt. 

Um  biefe  $eit  wufjte  bie  ftolje  ©epublif  ©enebig  fich  noch 
fübn  zu  behaupten  auf  bem  $öfjepunft  ihrer  politifchen  ©eite. 
Stöemt  auch  fchon,  bebingt  burch  bie  ©ntbecfung  beS  ©eewegS 
nach  Oftinbieit  unb  bie  ©ntbeefung  SlmerifaS,  ein  allmählicher 
©erfaß  beS  $anbelS  begann,  war  eS  immerhin  ein  reicher  Staat 
mit  ftrafffter  Politiker  Sicherheit,  in  beffeit  Schuh  ber  Siretiner 
fich  begeben.  Unb  wo  hätte  fich  bamaligen  Italien  eine 
Stabt  auffinben  laffen,  bie  eS  ©enebig  gleich  thun  fontite  in 
jenem  heiteren  ©enufjlcben,  baS  fo  herrlich  oerflärt  war  burcf) 
eine  hohe  Sßerthfcbäjjung  ber  in  jener  $eit  flßeS  bebeutenben 
ftunft?  ®ort  fühlte  ©ietro  fich  benn  auch  *u  feinem  ©lemente, 
ber  ©lafc  war  mehr  als  jeber  anberer  geeignet  zur  ©ntfaltung 
feiner  publiciftifdjen  Talente.  2Bir  wiffen,  ba§  juft  in  ©enebig 
bie  erften  Slnfänge  beS  .ßeitungSwefenS  zu  fuchen  finb.  Um  bie 

9Ritte  beS  fechzehuteu  3ahrhunberts,  wohf  auch  fchon  früher 
(668) 


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33 


legte  bie  fRepubüf  bon  3eit  äu  3ei*  an  öffentlichen  Drten  ge« 
fchrtebene  ßindjridjten  (notizie  scritte)  au$,  bie  man  gegen  83e* 
jn^tung  einer  Meinen  Scbeibemünje  (gazette)  fefen  formte,  unb 
oon  biefer  fDJünje  erhielten  bie  9?euigfeit8blätter  bann  ben  9iamen 
gazzette,  in  granfreid)  gazette. 

3u  Slretinoä  3eiten  tobte  *n  ben  Greifen  ber  italienifchert 
©rammatifer  unb  Satiniften  am  beifieften  ein  Sfampf,  ber  bie 
Schaffung  einer  einheitlichen  SHationalfpracbe  jum  ©egenftanb 
batte.  3m  3abre  1525  mar  be8  $arbinal8  Sembo  bialogiftrter 
Straftat  nach  cicerotiijtbem  ßftufter  unter  bem  ü£itel:  Prose  di 
Pietro  Beinbo  nelle  quali  si  ragiona  della  vulgär  Lingua 
erfchienen,  moriit  behauptet  roirb,  baf$  ba8  loSfanifcbe  bie  attifche 
Sprache  3talien$  fei.  darunter  öerftcbt  93embo  bie  alte 
Sprache  ber  3rIorentinif<ben  ftlajfifer,  ber  fogenannten  Trecentiften: 
$ante,  Petrarca,  ^Boccaccio.  2>ie  ©riinbung  ber  floreittinifchen 
Slfabemie  faßt  in  ba8  3abr  1540,  ben  oft  citirten  ßiamen  ber 
Crusca  nahm  bie  ©efeßfcbaft  erfl  fpäter  an,  bie  erfte  2tu8gabe 
be«  SBörterbucheS  erfcbien  jmar  erft  1612,  aber  bie  ©rammatifer 
fuchten  tmn  allem  Anfang  an  ben  SRegeln,  bie  fie  auffteßten, 
aßgemeitte  ©elturtg  ju  t»erfchnffen. 

Solch  ftreng  tbeoretifd)en  SBeftrebungen  gegenüber  ermie3 
ficb  Äretino  al8  reiner  9?aturalift,  ber  fidj  eine  eigene  Sprache 
erfchuf,  mie  fie  ihm  al8  bie  paffenbfte  erfcbien,  feinen  ©ebatifen 
einen  möglichft  ettergifchen  2tu$brucf  ju  oerleibett.  So  gilt  er 
in  ber  ©efchidjte  ber  italienif^cn  Sprache  als  Vertretet  ber 
lingua  parlata  beS  uso  vivente.  Älfieri,  ber  im  gereiften 
2)ianne»after  erft  begann  grünblich  bn8  3talienifdje  ju  erlernen, 
oerftchert  im$,  mie  mir  gehört  in  feiner  fo  anjiebenb  gefchriebenen 
Sutobiograpbte,  bah  er  aus  ben  dialoghi  be8  Slretinerä  oieleö  gelernt. 

Slretino  felbft  bot  oon  feinem  latente  nlä  Schriftfteßer,  beffer 
noch  als  Stilift  bie  aßergiinftigfte  Meinung:  „3$  mache  mich  nie 
jum  Sflaoen  ber  gehanten.  21ian  fiebt  mich  nie  ben  Spuren 

Sammlung.  9!.  g.  V.  1X4.  3 (669) 


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34 


Petrarcas  ober  Soccacciog  folgen,  mir  genügt  mein  eigener, 
unabhängiger  @ei[i.  3 cf)  laffe  Slnbere  oon  Feinheit  beg  ©tilg, 
$iefe  ber  ©ebanfen  fchwafcen.  3cl)  fomme  oorwärtg  ohne  Selber, 
ohne  Slnleitung,  ohne  Rührer,  ohne  ßeudhte,  unb  ber  ©chweijj 
meiner  5£intenfäffer  (il  sudore  de  miei  inchiostri,  ein  oft  ge= 
brauner  Slugbrud)  bringt  mir  ©lücf  unb  SRuhm." 

Sin  ben  oerbienftooHen  Sernarbo  Üaffo,  beg  Xorquato 
Sater,  fchreibt  er:  „3m  Sriefftil  bift  ®u  nicht  g alg  mein 
Nachahmer,  ber  hinter  mir  barfujj  einherfdjreitet.  $$u  oermagft 
roeber  bie  Seidjtigfeit  meiner  Sh™fe/  noch  beit  ©lanj  meiner 
Silber  ju  erreichen."  — freilich  ift  »iel  gefcheheit,  in  Slretino 
biefe  ungeheure  ©elbftöerherrlichung  grofjjujiehen,  benn  fein 
(geringerer  alg  Slrioft  ift  eg,  ber  in  feinem  rounberbaren  @pog, 
in  ber  14.  ©trophe  beg  46.  ©efangeg  unter  bem  ©efolge  beg 
$arneferg  Sllejanber  „bie  gürftengeifjel,  ben  göttlichen  ißietro 
Slretino"  beg  SBegeg  bahingiehen  läfjt. 

®er  ßitterarhiftorifer  Älein  fällt  in  feiner  ©efchid)te  be» 
italienifdjen  $ramag  über  ben  Slretino  ein  burdjweg  oerroerfenbeg 
Urtheil;  anberg  berichten  über  ihn  §wei  gmnjofen.  ®er  be- 
famtte  ^ßhilarete  Shagleg  fchreibt  in  feinem  SBerfe:  Moeurs, 
Drames  du  XVI  siede:  Slretino  erinnere  lebhafter  alg  iKrioft 
unb  felbft  SJiacchiaüefli  an  bie  ariftophanifche  Stomöbie.  Sind) 
©inguenö  in  feiner  Hist.  litt.  d’Italie  VI.  ©.  225  nennt  ihn 
einen  wahrhaft  aufjerorbentlichen  uttb  genialen  ÜHiattn , ben 
oieHeidjt  nur  jwei  §inberniffe,  feine  Unroiffcnheit  unb  feine 
Safter,  barau  hinberteu,  fich  jur  hödhften  £>1%  ju  erheben. 

freilich  finb  nicht  Sille,  fo  wie  Slretino  felbft,  mit  feinem 
©tile  jufrieben.  logcanetli,  wie  5D?a$juchelli  ung  berietet, 
wirft  ihm  ©djwulft  unb  Unnatur  oor.  ©uarini  tabelt  bag 
§hperbolifd)e  ber  ^3brQfe>  dg  ob  nicht  Seber,  ber  Slretino  je 
gelefcn,  ohne  weitereg  wiffen  mufj,  baff  juft  bie  §pperbel  feine 
eigentliche  ©tärfc  gewefen.  ©ogar  einer  feiner  Siographen, 

(<IVO) 


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35 


be  S9oi«preauj,  nennt  feine  Schreibweife  einen  unoerftänblidien 
3atgon,  ber  einen  nbgenußten  ©ebanfen  burcfj  bunfte  unb  ge» 
gierte  SBenbungen  aufftufcen  miß,  bergeftalt,  baß  ein  SDtenfch 
non  ©efcßmacf  bie  Sangeweile  einer  fo  wiberwärtigen  Seftüre 
nic^t  ertragen  fann. 

$iefe«  Urteil  fann  im  ganzen  woßl  ©eltung  tjaben  für 
Slretino«  ©rieffiil,  für  feine  religiöfen  unb  erotifdjen  Schriften, 
Jueit  weniger  jebodj  für  bie  Sprache  feiner  Sufifpiele;  benn 
auef)  al§  ®ramatifer  fjaben  wir  ben  merfwürbigen  ÜJtenfchen  $u 
betrachten  unb  feine  ftomöbien  finb  e«  eigentlich  nur,  bie  ihm 
einen  immerhin  bemerfenäwerthen  $Ia|  in  ber  ©efdjichte  ber 
italienifcßen  Sitteratur  anweifen. 

SBir  befifeen  Bon  Slretino  fünf  Äomöbien:  II  Marescalco 
(1533  in  2)rud  erfchieneit),  La  Cortigiana  (1534),  La  Talanta 
(1542),  L’Ipocrito  (1542),  II  Filosofo  (1546),  außerbem  eine 
^Eragöbie : L’Orazia,  in  reimlofen  ©Iffüßlent  gebichtet  unb  ben 
befannten  ft'ampf  ber  ^oratier  mit  ben  ©uriatiern  behanbelnb. 

©iorgio  ©inigaglia,  ber  jüngfte  unter  ben  ffliograpßen  be« 
©atirifer«,  hot  fein«  Stubie  über  Pietro  Slretino,  erfd)ienen 
ju  9Iom  1882,  unebirte  Schriften  unb  3) of umente  beigefügt, 
unter  anberem  eine  fatirifche  Somöbie  in  5 Sitten,  betitelt 
Fortunio.  Der  Herausgeber  bemerft,  baß  ©amerini  biefe«  SBerf 
entweber  nicht  fannte,  al«  er  feine  Sammlung  ber  fünf  oben 
genannten  Äomöbien  ebirte,  ober  3roeifel  an  ber  ©djtßeit  ^egte. 
Sinigaglia,  befjen  mit  großem  gleiße  ausgearbeitete  „Stubie 
über  Slretino"  $u  ben  fogenanuten  ©ßrenrettungen  gehört,  äußert 
felber  jiemlid)  naiB,  baß  er  nicht  fießer  fei,  ob  bie  Bon  ißm 
jum  erftenmale  an«  Sicht  gezogene  Momöbie  nicht  als  ba«  SBerf 
eine«  3c*tgenoffen  betrachtet  werben  bürfe,  ber  bie  beiben  echten 
Äomöbien:  ben  Marescalco  unb  bie  Cortigiana  jufammengefaßt 
unb  barau«  ein  neue«  Stüd  gemadjt.  ©in  enbgiiltige«  Urtljeil 
barüber  abgegeben,  müffe  einem  ©eleßrteren  unb  ©rfahttteren 

3*  (C71) 


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36 


als  et  fei,  überlaffen  »erben.  — @8  liegt  auf  bet  fpanb,  baß 
mit  ®ntbecf  ungen  fold)  jmeifelljafter  Slrt  bet  Sitteraturgcfchichte 
nichts  gebient  fein  fann.  Siretino  »ar  ein  äufjerft  fruchtbarer 
Sutor,  aber  nur  ein  relatio  Meiner  $heil  feiner  ©<^t-iften  »er* 
bient  e$,  bafj  bie  Bladjroelt  noch  barüber  erfahre.  28aS  frommen 
unS  feine  Rinnen,  feine  Segenben,  feine  non  miberwärtigem 
fiobe  triefenben  Debifationen  in  ißrofa  nnb  in  Sßerfen?  Soffen 
Wir  fie  in  »ohtoerbienter  ©ergeffenheit  ruhen.  SBahrlidj,  Stretino 
bürfte  faum  ber  ©ater  ber  Sournaliftif  genannt  »erben,  hätte 
er  nicht  »ie  fein  Slnberer  oor  ihm  aus  bcm  ©runbe  eS  oer> 
ftanben,  unauSgefefct  mit  feinen  ©ublifationen  bem  ©ebürfniß 
beS  lageS  entgegensufommen,  immer  non  neuem  oon  fich  rebeit 
ju  machen,  ftets  bie  grofje  SPfenge  auf  feiner  ©eite  $u  hoben. 
SBenn  mir  aber  feinen  reichen  latenten  bie  ooBfte  Stnerfennung 
joflen,  mit  feinem  rein  menfcfjlichen  ßljoraftcr  fönnen  »ir  uns 
nie  befreunben;  alles  in  aflem  bleibt  ber  Siretiner  für  feben 
Slpologeten  eine  äufjerft  unbanfbare  Perfon. 

Slbgefchen  non  ber  Sragöbie,  bie  unter  ftrenger  ©eobadjtung 
ber  brei  @int}eiten  aufgebaut  ift,  fomit  als  ein  im  ftaffifchen 
©inne  »erfaßtes  ©tücf  ju  gelten  hot,  fo  müffen  »ir  SlretinoS 
Suftfpiete  ber  Commedia  dell’  arte  befählen.  ©efanntlich  unter* 
fcheiben  bie  Italiener  jiemlid}  fdjarf  jwifchen  gelehrter  unb 
DolfSthiimlichcr  Äomöbie.  SSir  »iffen,  ba&  bie  Suftfpiete  ber 
römifchen  dichter  ptautuS  unb  Xerenj  oon  jeher  oielfach  in 
fRom  au  ben  $öfen  unb  Sfabemien  in  ber  Urfprache  jur  Stuf* 
führung  gelangten,  unb  cS  bemühten  fich  gelehrte  Prälaten  unb 
fiarbinäle  unter  ber  ftubirenben  Sugenb  geeignete  fträfte  ju 
»ürbiger  ®arfteflung  ber  antifen  ßharaftere  $u  finben.  55a$ 
©eifpiel  fanb  9iad)ahmung,  bodj  üerfiel  man  halb  barauf,  bie 
Sieben  ber  Slgirenben  in  itatienifcher  ©erfion  ju  geben,  bie 
Ueberfeßungen  »anbelten  fich  aflmählich  in  freie  Siachbilbuttgen; 
jeitgenöffifche  ®harftttere,  beftimmte  ©orfäfle,  ©ittetibilber  »urben 

(672) 


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37 


bett  3ufd)auem  oorgefüfjrt,  meift  Ijanbelte  eg  ficf)  um  pifante 
Sfanbafgefcf>i(f)ten,  aber  bie  3>ramatifirungen  bewegten  ficf)  gang 
in  pfautinifcfjcn  unb  terengifdjen  gormen  unb  fo  entmicfelte  ficf) 
bie  fogenannte  Commedia  erudita,  bie  befonberg  am  ^tofe  gu 
gerrara  unter  bett  3Iufpicien  be§  fiergogg  Grcole  I.  rafd)  in 
©lütfje  fam.  Sflg  bebeutenbe  f)öfifcf)e  £id)ter  galten  non  je  ber 
ß'arbinal  Sibbiena  uttb  ülrioft,  aud)  SKacfjiaüefli  oerbient  feiner 
oft  citirten  äRanbragota  wegen  f)iet  Grmäfjnung. 

3m  fdEjarfen  ©egenfaf}  gur  gelehrten  Äomöbie  fteljt  nun 
bie  Boffgtf)ümticf)e  Äomöbie,  bie  Commedia  dell’  arte,  impro» 
oifirte  ober  Stcgreiffomöbie  genannt.  Sllg  Grfinber,  beffer 
Sultioator,  berfelbeit  nennt  bie  £itteraturgcfd)icf)te  ben  ©iinftling 
unb  Siebfiitggfomifer  Sieog  X.,  grancegco  Stereo.  2)ie  Stegreif« 
fomöbie  mürbe  ni<f)t  nacfj  einem  fcfjriftlidjen  Dialoge  memorirt, 
fonbent  au«  bem  Stegreife  nad)  einem  Borger  entworfenen 
Scenariumplane  gefprodfen.  3)em  latente  beg  Scfjaufpieferg, 
unb  bie  3tafiener  Ratten  ja  befanntfidj  Bon  jef)er  bie  beftett 
Smprooifatoren,  war  bort  ein  reicher  2tn(a&  gegeben  gu  brifliren, 
3eber  burfte  in  Bößig  freier  SBeife  feinem  fjan ge  gu  berbem 
Spaß  unb  gu  bcifjeuber  Satire  bie  3ö9ef  fließen  Iaffen.  S)ie 
SBerbinbuttgen  ber  tiicfen^afteit  Stellen  Bermittelte  ber  Mrtedjino, 
wof)f  einer  ber  micf)tigften  unter  ben  feftftefjenben  ober  Gfjarafter« 
tppen  ber  italiettifcfjeu  Äomöbie,  gu  benen  unter  anberett  nocf) 
gehörten:  ber  $ottove,  ber  Sßantafone,  ber  Scaramuggo  ober 
©ramarbag,  bie  Golombine  atg  ©etiebte  ^ßufcineflog. 

Sfretino,  fo  urteilte  $fein,  fonnte  berufen  fdjeinen,  ber 
flaffifcfjen  itatienifdjen  ^offomöbie  bie  SBotfgfomöbie  ober  bag 
nationalbiirgerlicfje  Suftfpief  eittgegengufefcen,  wenn  berber,  fati* 
riit^er,  oft  unfauberer  2Bi|  unb  bialogifcfje  gertigfeit  im  Vereine 
mit  Unmiffenffeit  unb  Unbilbung  gu  einem  folgen  Suftfpiele 
f)inreicf)ten.  Seine  ftomöbien  tjabcn  Bott  ber  fpoffomöbic  bie 
Unfittlicf)feit  unb  ben  fd)mu&igen  Sfanbaf  gu  eigen,  mäfprenb  fie 

(67») 


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38 


Bon  ber  Commedia  dell'  arte,  weld)e,  burd)  Sohnfpieter  bar« 
geftettt,  gleichzeitig  neben  ber  Waffifdjen,  ton  oornefjmeit  ©ttettanten 
gefpietten  Komöbie  als  ©olfSfomöbie  einljerging,  ben  «Stegreif* 
djarafter  in  ber  3erfa^ren^eit  ber  $anblung  unb  in  ber  epifobifdjen 
©untijeit  ber  ©cenenfotge  jur  Schau  tragen. 

@8  tft  hier  nicht  ber  Ort,  eine  eingeljenbe  Stnalpfe  ju 
bringen  über  jebe  ber  fünf  ftomöbien  SlretinoS,  welche  in  neuer 
SluSgabe  ben  fünften  Saitb  bitben  ber  SDtaitänber  Biblioteca 
classica  economica,  mithin  feineSwegö  $u  ben  bibliograpljifdjen 
Seltenheiten  gehören.  ®ie  ftüdjtigfte  ßeftüre  fann  baS  überein« 
ftimmenbe  Urteil  ber  ftrengften  Kritifer,  weiche  über  ben  Stretiner 
ju  ©ericht  fafjen,  beftätigen,  bemgemäfj  biefer  merfwürbige  2J?antt 
über  eine  tiefe  Kenntnijj  bc8  menfchiichen  ^ersen8  unb  rafche 
©rfaffung  ber  oerfchiebenftcn  ©hara1ftereigenthümli(hfciten  Ber« 
fügte,  ©eine  ffiguren  finb  fämtlich  lebenbig  unb  wahr,  fie 
Zeichnen  fid)  fdjarf  unb  beutiid)  erfennbar  ab  unter  ber  bunten 
(fülle  ber  ^anblung,  fie  beherrfdjen  bie  ©eene  unb  fdjaffen 
müheioö  bie  broßigften  Situationen.  SSir  fehen  ben  ttretiner 
fo  recht  in  feinem  ©lemente,  wenn  er  ben  Kinbern  feiner  frohen 
Saune  bie  toHften  ©infälle,  bie  biffigften  ©pigramme,  bie  ge« 
wagteften  Sieben  in  ben  SDiunb  legt.  3n  feinen  Komöbien  mehr 
noch  Bieüeicht  aI8  in  feinen  anberen  «Schriften  erwetft  fid)  ^ietro 
als  furchtbarer  ©atirifer.  3m  9J?are8catco,  im  gilofofo,  in 
bem  |>etärenftücfe  ©alanta  fpiegelt  fich  &ie  ©efeflfehaft  bee 
fechjehnten  3ahrf)unbert8  in  ihrer  ganzen  Korruption,  ber 
©h«I°f0Ph  ^latariftotile  ift  eine  Karifatur  ber  ©tatonifer  ba> 
maliger  3e*C  fein  Spocrito  gab  ben  Änftofj  jur  Schaffung  jenes 
©artuffe,  ben  wir  Siße  fennen.  Slm  beften  freilich  getingen  ihm 
bie  Kurtifanen.  Sie  bitben  nach  be8  KritiferS  be  ©anctiS 
ilrtheit  fein  SieblingSthema.  „®ie§  ift  bie  Komöbie,  welche 
Bon  biefem  Sahrhunbert  hetöorgebeodjt  werben  foimte,  ber  lefjte 
«ft  beS  ©eenmerone,  eine  fchamtofe  unb  cpnifche  SBelt,  bereu 

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39 


gelben  ^offcfiranjen  unb  Äurtifanen  finb  unb  bereit  SRittel* 
punft  ber  päpftlidje  $of  bilbet,  ba3  gietobjeft  für  bic 
©eifjelbiebe  bc§  SRanneS,  ber  ftd)  in  feinem  |>ort  non  33enebig 
bie  ©traftofigfeit  gefiebert  batte  " — $>ie  Italiener  rühmen, 
bafj  ?tretino3  2Rare3ca(co  einen  9iabelai3,  einen  <S^afefpeare 
3U  infpiriren  oermoebte.  (Sein  SReffer  9Raco,  ber  auä  ©iena 
!ommt  unb  nach  SRom  gebt  in  ber  Stbficfjt,  bort  ^arbinal  ju 
»erben,  foll  ber  $bpu$  gewefen  fein,  nach  »elcbem  SRotiferc 
feinen  2Ronfieur  be  ^ßourceaugnac  gefebaffen,  jenen  bieberen 
limoftnifdben  Sanbjunfer,  ber  un3  fo  febr  ergibt  als  ein  SRufter 
liebenSroürbtger  SJefcbränftbcit  unb  Seicfjtgtciubigfeit.  Ob  unb 
»ie  lange  2Roliere  bei  einem  Slretino  in  bie  Üebre  gegangen, 
wäre  wobt  erft  notb  naebiumeifen,  aber  bie  ^Behauptung  biirfen 
wir  wagen,  baff  bie  realiftifcb*natnraliftifcbe  ©(bitte  beS  neun* 
jebnten  SabibantKrtS  oon  Hretiuo  fo  manches  ficb  angeeignet  bat, 
ob  wiffentticb  ober  rein  inftinftio,  fott  hier  nicht  entfebieben  werben. 

SlretinoS  ganje  ^erfönti^feit,  bie  fdjeittbaren  SBiberfprüdje 
in  feinem  Gbarafter  bieten  einen  braftifdjen  99eteg  für  bie 
.fpppotbefe  oon  ber  Vererbung  beS  Stuten.  Som  SSater  batte 
er  bie  ißroebttiebe  geerbt},  bie  ©u<bt  in  oornebmen  Greifen  3U 
glönjen,  eS  ben  ©rofjcn  in  aßen  ©tiiefen  gleich  ju  tbun,  oon 
ber  SRutter  (benn  ad) ! gutmiitbig  finb  fie  ja  Me,  fagt  be* 
fanntticb  „2Rajor"  gerbinanb)  ben  §ang  }u  braoer  Äameraberie, 
bie  ihn  brängt  unb  treibt,  baS  Grworbene  rebticb  mit  ben 
nieberen  fiuftgenoffen  ju  tbeiten.  Ganteritti,  ber  jüngfte  feiner 
Gbitoren,  finbet  SlretinoS  ®oppet(barafter  am  prägnanteren  auS- 
gebrüeft  in  einer  oon  Sitterarbiftorifern  gern  citirten  ©eene  ber 
„Gortigiana".  2)ie  ftupplerin  Stlöigia  fuebt  bie  SBäcferSfrau 
$ogna  311  einem  ebebreeberifeben  ©teßbicbein  mit  bem  ©eefen 
Sßarabolano  311  Überreben  unb  mifebt,  in  lebhaftem  ©eptauber 
gleichzeitig  ihre  ©ebete  oerriebtenb,  SBrucbftücfe  auS  bem  ?loe 
SRaria  unb  bem  ißaternofter  in  ihre  fcbänbticben  Socfungen. 

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40 


gamerini  bemerft  hiergu,  bafj  in  ber  fRenaiffance  biefe  9J?ifc§ung 
»on  grömmigfeit  unb  fiüftemheit,  non  ©feptigiSmuS  unb  SIbcr* 
glaube  häufig  war;  Wir  aber  »er mögen  in  biefer  ©eene,  fo 
»errudjt  ihre  £arfteflung  immerhin  bleibt,  nichts  gu  erbliden 
als  einen  bem  gemeinen  Alltagsleben  aufs  atlergetreuefte  ab- 
getauften  $ug,  benn  gut-fromme  ©eelen,  bem  ©taube  ber 
Aluigia  angehörenb,  hat  eS  in  {üblichen  fiänbern  »on  jeher  ge- 
geben, biefe  Art  ift  auch  heufe  bort  no<h  nicht  auSgeftorben. 
Söemerft  fei  noch,  bafj  bie  „gortigiana"  bem  ©rojjfarbinal  t>on 
Orient  gugeeignet  ift. 

93iüig  werben  wir  unS  fragen  müffen,  wie  unb  burdj  welche 
fDlittel  eS  Aretino,  bem  Jjeimatt)-  unb  »aterlofen  Abenteurer  ge- 
lungen ift,  fich  in  fo  furger  3eit  iu  folc^er  Söebeutung  empor« 
gufchwingen,  wiefo  eS  möglich  war,  bafj  er,  bem  ja  bie  glemente 
ber  gelehrten  Silbung  fehlten,  in  einem  hodjgebilbeteit  3flhr‘ 
hunbert  ein  langes  SDlenfcfjenalter  ^inburc^  fich  behaupten  fonnte 
auf  fdjwinbelnber  £jöl)e  als  intimer  greunb  ber  größten  Stiinftler, 
als  gefdiäjjteS  Süiitglieb  ber  angefeheuften  Afabemien. 

9Hcht  etwa  in  bem  gauber  feiner  einnehmenben  fßerföulich* 
feit,  in  bem  feffelnben  fJieig  feiner  wihfprüljenben  Unterhaltung, 
in  feinem  feinen  ©erftänbnijj  ber  bamalS  alles  bebeutenben  Slunft 
allein  bürfen  wir  ben  ©cfjlüffel  fudjen  gu  bem  fKäthfel  fold) 
großartiger  grfolge.  SBahr  ift  eS,  bafj  bie  SJiebiceer,  ein  grang  I., 
ein  ftarl  V.  feinen  Umgang  fudjten,  ihn  f>oc^fc^ä^ten  als  geift- 
reichen  ©efenfdjafter , als  buon  compagno,  wahr  ift  eS,  baff 
bie  grofjett  3)teifter  feinen  9iatf)  oft  »erlangten,  wahr  ift  eS, 
bafj  fclbft  ein  Xigian  in  ihm  eine  fongeniale  SRatur  erblicfte, 
ber  er  bie  werthooflfteit  Anregungen  für  fein  fünftlerifdjeS 
©djaffen  gu  bauten  hatte,  weil  ber  ®id)ter  mit  berebten  SSorten 
baS  gum  oorauS  gu  fchilberit  wufjte,  was  er  felber  bann  mit 
glühenben  garben  für  bie  9lacf)welt  gum  bauernben  ©ebächtnifj 
auf  bie  Seinwanb  gu  übertragen  berufen  war. 

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41 


3um  ©emeiS  bcffen  lieben  bie  £itterarl)iftorifer  ein  ©Treiben 
angufüßren,  welches  Slretino  im  ÜJZai  1544  an  ben  SWeifter  beS 
ßoluritS  richtete  unb  meines  bemeifen  foß,  mit  meid}  feinem 
$ünftleroerftänbniß  er  gu  beobachten  mußte. 

@r  blicfte  nadf  eingenommener  äKaßlgeit,  on  eine«  ber 
genfter  feine«  am  großen  Äanal  befinbtic^en  ißalafteS  gelernt, 
in  trüber  ©timmung  hinab  in  baS  bunte  Treiben,  baS  ißm  fo 
oertraut  ift.  SBie  immer  fcbießen  im  rafdjen  durdjeinanber  bie 
©onbelit  baljin  auf  ber  trägen,  trüben  gfatf),  ber  gifdjmarft 
unb  bie  angrengenbeti  Uferftraßen  fiub  belebt  oon  ÜJienfctjen. 
Slber  maS  i§n  fonft  erfreute,  oermag  beu*e  fließt  iß«  *>em 
bumpfen  ©innen  gu  entreißen.  ©r  ^at  einen  ferneren  lieber- 
atifall  überftanben  unb  mibcr  feine  ©emohnßeit  ^eute  allein 
gefpeift.  da  menbet  er  feinen  ©lid  nadj  oben  unb  genießt  nun 
ein  ©djaufpiel,  baS  ißn  mit  einemmal  aß  feine  fleineit  Seiben 
oergeffen  läßt.  ©r  fdjilbert:  „ffiäßrenb  bie  ©olfSmenge  ^eiteren 
SDiutheS  unb  lärmenb  baßinftrömte,  roenbe  idj,  mic  ein  üJZann, 
ber,  fid)  felbft  gum  Ueberbruffe,  nießt  meiß,  maS  er  mit  feinen 
©ebanfen  anfangen  foß,  bie  Slugen  gum  $immel,  ber,  feitbem 
©ott  ißn  erfeßaffen  ßat,  niemals  bureß  ein  fo  anmutige«  ©e« 
mälbe  oon  ©Ratten  unb  fiießtern  oerfdjönt  mar.  die  Suft  mar 
gerabe  fo,  mie  fie  diejenigen  barfteßen  möchten,  melcße  dieß 
betteiben,  meil  fie  nießt  du  fein  fönnett.  2BaS  nimmft  du  bentt 
nun  aber  maßr:  gunädjft  bie  großen  ©ebäubc,  bie  obgleich  fie 
oon  ©tein  finb,  aus  einem  lünftlicßen  äJiaterial  angefertigt  gu 
fein  fdjicnen.  du  blidft  bann  in  bie  £uft,  bie  mir  ßier  rein 
unb  flar,  bort  aber  trüb  unb  biifter  oorfam."  — dann  mirb 
uns  baS  mecßfelnbe  garbeitfpicl  ber  Söolfen  oor  Slugeit  geführt. 
SSenn  bie  uäßer  befinblidjeit  in  ßefler  ©onuenglutß  flammten, 
ßeißt  eS:  „geigten  einige  ©teßen  eine  grünblaue  gärbung,  anbere 
mieberum  ein  ©laugrün,  baS  in  ber  $ßat  oon  ber  Sanne  ber 
Siatur,  biefer  Söieifterin  ber  SJieifter,  gemifeßt  mar.  ÜJiit  ißrem 

(«77) 


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42 

§eD  unb  ihrem  Sunfel  oertiefte  unb  hob  fte  Terror,  was  fte 
für  notfjwenbig  f)ieft,  fo  baß  idj;  ber  id)  weiß,  wie  in  deinem 
ißtnfef  ©eift  oon  ißrem  ©eifte  waltet,  ju  brei*  unb  tiermalen 
auSrief:  „Sijian,  wo  Weilft  Su  nun?"  SBürbeft  Su  bod),  auf 
mein  Sßort,  falls  Su  ba$,  wog  id)  Sir  beriete,  gemalt  ^ätteft, 
bie  333elt  in  baSfelbe  ©rftaunen  terfejd  ^aben,  welche#  mtd) 
oerwirrte." 

Stber  Äretino  war,  wir  muffen  es  wiebertjolen,  im  ©runbe 
genommen  bod)  nid^ts  weiter  als  ©cfjriftftefler;  ben  gewaltigen 
©iufluß,  ben  er  auf  bie  öffentliche  ÜKeinung  auSübte,  richtig 
ju  begreifen,  ift  eS  notl)roenbig,  bie  3e*t/  *n  &er  er  lebte,  fctbft 
einigermaßen  31t  oerfteßen.  SJfit  bem  HuSgange  beS  fünfjeljnten 
OaßrhunbertS  war  bie  3Beltgefd)id)te  in  eine  neue  *ßßafe  9e* 
treten,  baS  fiegreidjc  Vorbringen  ber  Deformation  bebeutete  bett 
Diebergang  beS  römifd)  • beutfcßen  KaifertljumS,  unb  an  ©teile 
biefer  abgelebten  3nftitution  trat  baS  ^ßrinjip  00m  politifdjm 
©leicßgemichte  ber  Nationen;  eine  töHig  neue  3e‘t  faßte  here'n’ 
bred)en.  Jroß  ber  gewaltigften  Vlnftrengungen  gelang  eS  Karl  V. 
nicht  mehr  feinen  Sraum  ber  Schöpfung  einer  Unioerfalmonarchie 
ju  oerwirflichen , ben  SBiberftanb,  ben  fein  oon  ihm  befiegter 
©egner  ffranj  I.  leiftete,  enbgültig  3U  bredjen.  Saß  biefer 
SBiberftanb  gerabe  in  Italien  am  ^artnäcfigften  fein  mußte, 
ergiebt  fich  aus  ber  Vefchaffenljcit  biefeS  SanbeS  felbft.  SRußte 
hoch  bort  bie  Vielheit  ber  Serritorien,  bie  ©paltung  ^wifchcn 
Vürgern  unb  Spnaftien,  jwifdjcn  üeßnSherreu  unb  Vafallen, 
baS  oerwaßrlofte  §eerwefeit  unter  ben  §änben  unfähiger  ffüljrer, 
bie  geloderte  Vfanne^ucht,  bie  fdjledjte  Vewaffnung  ber  oer> 
wilberten  Kriegerbanben,  bie  ganje  Kriegführung  enblich,  wie  fie  in 
JaffoniS:  Secchia  rapita  fo  göttlich  flegei^elt  wirb,  ben  gransofen 
bie  beften  ©rfolge  terfpred)en.  3n  Italien  alfo  üotljog  fich 
juerft  ber  Vrud)  mit  ben  h^förnmlidjen  formen  beS  ÜJiittel* 
alterS,  üon  bort,  wo  bie  Srabitionett  aus  bem  flaffifcßen  ?llterthum 

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43 


jwar  fange  fdjlummernb  lagen,  aber  nie  untergegangen  waren, 
ging  für  bie  übrigen  Sufturoölfer  ©uropaS  bie  SRorgenrötlje 
einer  neuen  3^*  aus.  ®er  Öafjr^unberte  fjinburd)  baucrnbe 

Äarnpf  jwifd)en  ißapftthum  uttb  ^aifertljum  gebar  eine  ©iclfieit 
politifdjer  ©eftaltungen , 9tepublifen  nnb  Sprannien,  unb  in 
biefern  Umftanb  liegt,  wenn  nidjt  ber  einzige,  fo  bodj  ber 
mädjtigfte  ©rnnb  ber  frühzeitigen  HuSbilbung  beS  QtalienerS 
jum  mobernett  ÜRenfcf)en.  Sie  tfjeologifdj’et^ifdje  SHnfdjauungS- 
weife  beS  SJfittelalterS  ftiefj,  angefommen  auf  bem  ©ipfel  if)reS 
wiberfpruchsooßen  SafeinS,  part  gegen  ben  ißofitioiSmuS,  wie 
ein  ©olitifer,  2Jtadjiaoeüi,  ein  |)iftorifer,  ©uicciarbini,  ipn  ju 
bilbeit  fith  oermafjen,  nacfjbem  furj  oorper  ein  franaöfifcper 
Staatsmann,  ©omineS,  bie  neue  Sepre  Oon  ber  pöcpften  politifdjen 
SBeiSpeit  oorgetrageit  hatte,  als  er  in  feinen  Senfwiirbigfeiten 
bie  ffuge  ©taatsfunft  eines  elften  Snbwig  in  überfcpwenglicpfter 
SBeife  gepriefen.  Unter  erbitterten  Kämpfen  noßäiept  fidh  bie 
©Raffung  einer  rein  menfcplidjen  unb  natürlichen  SSelt,  beren 
SRittefpunft  ber  inbioibueße  ©goiSmuS  ift,  bem  afle  moralifcpen, 
gefeCffchoftlichen  ©ejiepungeu  fich  wißenloS  unterjuorOnen  paben. 
guerft  entwideft  eine  foldje  ©ewaltperrfcpaft  bie  Snbimbualität 
beS  Sprattnen,  beS  Sonbottiere  felbft  im  pöcpften  ©rabe,  fobann 
biejenige  beS  non  ipm  protegirten  aber  aucp  rüdficptSloS  auS= 
genügten  SalenteS  beS  ©epeimfcpreiberS,  SicpterS,  ©efeßfcpafterS. 
ffiir  biefe  ©epauptung  liefert  bie  politifcpe  fowopl  als  bie 
Sitteraturgefcpicpte  jener  3e*ten  unS  93erege  in  japllofer 
grüße.  ©S  ift  napeju  geroifj,  bafj  ißietro  ber  Slretiuer  afS  ge- 
heimer politifcher  fßgent  jebem  ber  brei  finalen  biente,  ffranj  I. 
fo  gut,  wie  $arl  V.  unb  $einrid)  VIII.  non  ©nglanb,  bafj  er 
eS  nerftanben  pat,  firf)  jebem  biefer  gewaltigen  §erren  gegenüber 
in  SRefpeft  ju  fepen  unb  bafj  bie  ffeineren  dürften  StalienS 
mit  geringen  MuSnapmen  ihn  gerabeju  fürchteten.  Hub  fo  ift  er, 
ber  fcpamlofc  ©ettler,  ber  niebrige  ©cpmeicpler,  ber  breifte 

(679) 


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44 


©rpreffer  baS  tebenbige  ßonterfei  jener  Söelt  ber  nadten  ©elbftfudjt 
in  ihrer  «erworfenften  gorm. 

2Bir  befifcen  aus  beS  befannten  SitterarbiftoriferS  be  ©aitctiS 
geber  eine  ^öc^ft  geiftreicbe  ©tubie  über  ißietro  Äretino,  bie  itt 
ebenfo  feiner  als  fdjarf  jutreffenber  SBeife  ben  6§arafter  biefeS 
merfwürbigen  SDianneS  anatpfirt.  ®ort  wirb  er  baS  bewußte 
©itb  feines  gafyrljunberts  genannt,  welche«  ihn  grojj  gemalt 
bat.  Senn  Sßiacbiaöefli  unb  ©uicciarbini  ben  junger,  baS 
©etüfte  als  ben  ^>ebe(  ber  SSelt  bezeichnen,  fo  ift  eS  SIretino,  ber 
biefe  Jtjeorie  in  ©rayis  umfefct.  Unb  feinen  ©elüften  entfpredjen 
«oflfommen  bie  pbbfifd)eit  Strafte,  ein  eifemer  Störper,  ©nergie 
beS  SBißenS,  ÜJJenfe^enfenntniß  unb  3Jienfcben«erad)tung  unb 
jenes  wunberbare  ©ermögen,  welches  ©uicciarbini  bie  „2Bitte* 
rung"  — il  fiuto  — nennt,  fein  unfehlbares  ©pürtolent. 
®ie  ©efriebigung  feiner  ©elüfte  bilbet  beim  aud)  ben  3™^ 
jeineS  SebenS.  tpierju  taugen  alle  Sföittel,  nur  finb  fie  nach 
©erfd)iebenfjeit  beS  gaßeS  auch  immer  anberc.  ©alb  ift  Kretin« 
ein  Heuchler,  halb  ein  Un«erfd|ämter,  batb  friedjenb,  halb  frec^, 
halb  fcbmeicbelt,  halb  «erleumbet  er.  Seichtgläubigfeit,  gurdjt, 
©rojjmutb  finb  in  feiner  $aitb  Sftauerbrecber,  mit  benen  er  bie 
gewaltigften  ©reffen  legt.  9}idjt  »on  Statur  aus  ift  er  ein 
©öfemicbt,  er  wirb  ein  fofdjer  aus  ©erecfinung,  getrieben  burdj 
baS  ©ebürfnijj.  @r  war  böfe  aus  logifdjtn  ©rünben  unb  gut 
aus  ©itclfeit.  ©ie(e  woßtett,  «erführt  burdj  fein  ©lüd,  eS  ihm 
gleidjtbun,  aber  aß  feinen  Stadjabmern  fehlte  feine  ginbigfeit, 
feine  SRübrigfeit,  fein  ©djarffiun,  feine  ©eweglicbfeit,  fein  SSifc. 
Siner  ganzen  SJteHfdjenflaffc,  fredtjen  ©tüdSrittern  jener  $age 
galt  er  als  ein  gürft,  ein  SWufter  unb  ©orbitb.  ©icberlid)  ift 
bie  ©erjönlidjfeit  beS  KretinerS  einer  eingebenben  ©etraebtung 
nicht  unwertb,  beim  ein  fotcbeS  ©tubium  erschließt  uns  bie 
©ebeimniffe  ber  italienifcben  ©efeflfebaft  beS  {ersehnten  3abr> 

bunberts,  welches  in  ihm  ganj  unb  «oß  311m  KuSbrud  gelangt 

(680) 


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45 


in  jener  nmnberbaren  ÜRifdjung  moralifcher  Sßcrfommenheit, 
inteHeftutßer  Straft  unb  fiinftferifrfjer  Smpfinbung. 

Surdljarbt,  ber  in  feiner  „Stultur  ber  9tenaiffance"  bem 
Siretiner  ein  Stapitel  wibmet,  bemerft,  e3  fei  baS  befte  3e^en 
be«  heutigen  italienifchen  ©eifteS,  baß  ein  foldjer  S^araftcr  unb 
eine  folcfye  23irfung$weife  taufenbmal  unmöglich  geworben  finb. 
SBir  fönnen  biefem  $>iftum  nur  bebingungSweife  unfere  3U’ 
ftimmng  geben.  Un8  erfcheint  ißietro  Slretino  in  allen  ©tuden 
alä  ein  inoberner  iDtenfch,  ber,  bie  Sterförperung  be§  inbiüibueßen, 
feine  fRüdfic^t  fennenben  (SgoiämuS  feiner  3e*t  aß  bie  groß* 
artigen  ©rrungenfehaften  ber  fpätereit  Statjrljunberte,  $u  benen 
wir  norab  ba§  ungeheure  SRedjt  ber  ißerfon  ^äßlen,  fchlanfweg 
für  fiel)  felber  anticipirt.  Sin  foldjer  ülftann  macf)t  gewiß  ©djule 
unb  wenn  and»  unter  gan$  öeränberten  ÜBerljältniffen  feiner 
feiner  Sünger  unb  Snfel  in  feinem  Sanbe  auch  nur  entfernt 
meßr  jene  Sebeutung  wiebcrerlangte,  bie  öorbem  ben  „göttlichen" 
Sföeifter  als  gürftengeißel  gefürchtet  gemacht,  fo  ift  hoch  nicht 
ju  leugnen,  baß  in  ber  politifchen  XageSpreffe  unferer  3eitett 
noch  immer  ab  unb  ju  jene  fogenannten  Vertreter  ber  öffent- 
lichen SJteiuung  auftauchen,  bie  in  ihrem  ganzen  Ihim  u>ib 
©ebaßren  auf  ba$  lebhaftere  erinnern  an  ^ietro  Slretino,  ben 
©tammoater  be$  mobernen  SitteratenthumS. 


(tisl) 


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Shtmerfuitßen. 

1 $ie  Sonette,  mit  ber  (Einleitung  im  gangen  17  $id)tungen.  geigen 
im  allgemeinen  forrelten  Äuffsau;  am  Ijäufigften  fommt  bet  toeiblicfje  Seim 
rima  piana,  feltener  bet  männlidje,  rima  tronca,  gur  91moenbung.  $ie 
93crfe  finb  elffitbig,  ber  endecastlabo  ift  ja  befanntlidj  im  3tol*cnifd)en 
ber  Serl  aller  größeren  S)idjtung8arten.  3)ie  trabitionelfc  öiergeljngeilige 
Sonettenftropbe  ^at  einen  9(nfjang  coda  befommen,  inbem  auf  ben  legten 
SSerl  ein  Siebenfttber,  scttenario,  reimt  unb  baä  ©ange  bann  mieberum 
mit  einem  elffitbigen  Serjepaar  reimenb  fdjliefjf.  Solche  Spielereien  finben 
ficfj  Ijaufig  in  ber  fomij^en  ißoefie  ber  Jftatiencr.  ®ie  SJiergeiler  finb  rime 
cbiuse,  umarmenbe  SReime,  bie  $reigeiler  rime  alteniate,  gefreugte  Seime, 
fo  bafj  für  ben  ganzen  Sufbau  fi dj  folgenbel  Sdjema  ergiebt:  abba  abba 
< d cd  cd  d c c. 

* Fece  Giulio  Romano  in  venti  fogli  intagliarc  da  Marcantonio, 
in  quanti  diversi  m(»di,  attitudini  e positure  giacciono  i disoneati  nomini 
con  le  donne  e che  fu  peggio,  a ciascum  modo  fece  Messer  Pietro 
Aretino  un  disonestissimo  sonetto,  in  tanto,  che  io  non  so  quäl  fasse 
piii  brutto  o lo  spettacolo  dei  disegui  di  Giulio  all’  occhio  o le  parole 
dell’  Aretino  agli  oreclii.  Vasari  (Vite  de  Pittori,  Firenze  1772.  IV.,  282). 

3 5>er  befanntc  SdjriftfteHer  unb  ifjolßbifior  (T^r.  ©ottl.  o.  SRurr, 
alö  SBagamtmann  i.  3 1811  in  Nürnberg  oerftorben,  giebt  uni  in  feinem 
„Journal  gur  fiunftgejtbidjte  unb  gur  allgemeinen  Sittcratur"  9).  XIV.  eine 
ausführliche  ®efd)reibung  ber  Sujetl  ber  einzelnen  Slätter.  Sie  mären 
(in  Ouerfolio  elf  Soll  breit  unb  fieben  Soll  bodj)  ber  ©üdjerfammlung  bei 
iRatfjöfonfulenten  unb  95rotanj(erS  tfeuerlein  einoerleibt,  bortfetbft  befanben 
fid)  aud)  ülretinoö  Sonette  tjm>&ld)riftIicÖ  unb  gebrueft. 

(äRurr  oermutbet  roof)l  mit  allem  SRcdjt,  baß  biefe  fjJlatten  mären, 
ioeld)c  ber  biebere  ßupferftidjftänbler  3otlain  in  ißaril  gegen  Enbe  bei 
fiebgefaiten  ^abrljunbertä  gu  oeniidjten  glaubte,  toie  mir  lefen  bei  SbeeiÜier. 
Origine  de  l’Imprimerie  de  Paris  1694,  p.  124,  mo  cl  t)eifjt:  Nous  ne 
<levons  point  taire  la  belle  action  d’un  graveur  ä Paris  (Mr.  Jollain, 

(6S2) 


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47 


marchand  de  la  Rue  St.  Jafcques).  II  sut  oii  il  y avait  de  ces  planches 
infames  qui  representaicnt  ces  dessins  abominahles  de  Jules  et  de  ces 
''onnets  impurs  de  1’  Aretin.  II  y alla  en  offrir  une  somme  considerable 
et  les  acheta  100  ecus  dans  le  dessin  de  les  detruire  entierement  et 
d’empecher  par  ce  moyen  qu’  on  n’en  tire  plus  aucune  estampe.  — 
Senn  gheöillier  hin^ufe^t.  bag  Sollaiu  immer  geglaubt  hat,  baf;  e«  bie 
oon  911010  Antonio  geftodjenen  Qriginalplatten  gewefcn  feien , bie  er  Der- 
nietet,  fo  bärfeit  mir  benuod)  mit  meit  mehr  Sahrftheintidjfeit  annehmeu. 
bag  bie  urfprünglic^cn  glatten  überhaupt  fefjon  längft  ueruicfjtet  waren. 
Wad)  SWurr  ejiftirten  oon  ben  Sonetten  Slretino«  felbft  mehrere  91u«gaben. 

911«  Editio  princeps  erfefjeint  ein  Südjlein  in  12°,  23  Seiten  um- 
jaffenb,  toeldjeiS  ben  einfache it  Xitel  trägt:  Sonetti  lusstiriosi  di  Pietro 
Areiino.  9Rit  Ülusnahtnc  beS  frechen  Xitelbilbe«  mar  biefe  9(u«gabe  ohne 
Silber.  Öleidjjcitig  mit  biefer  cirfulirte  wohl  auch  eine  'Aufgabe  mit 
Silbern  für  Amateur«,  roie  mir  fagen  mürben.  Später  tarnen  noch  anbere 
binju,  nach  tjanbfc^riftticfjen  Sammlungen  hrrauegegeben.  So  erfahren 
mir,  baß  roahrfcheinlich  Mretino  felbft,  nach  bem  Xobe  be«  Wiccolo  franco, 
feinet  langjährigen  Selretär«,  1554  eine  folche  oeranftaliete  mit  20  Sonetten. 

Xie  meiften  ber  grögeren  Sücgereien  befifcen  nur  oft  recht  fehleroofle 
?lu«gaben  nach  $ronbfci)riften , faft  fämtlich  an«  englifchen  Xrudereien 
heroorgegangeu,  bann  finb  jumeift  bie  fogenannten  Dubbii  amorosi  (amt 
Risoluzioni  beigegeben,  roie  in  bem  ber  Wündjener  ÄgI.  $of-  unb  Staat«- 
bibliothef  einoerltibten  Sücglein,  mclche«  26  Sonette  enthaltend  ohne 
3ahre«iahl,  auf  bem  Xitelblatt  bie  Hingabe  enthält:  Nella  Stamperia  del 
Forno  alla  Corona  de’  Cazzi.  Sie  auch  biefer  9lu«gabe  angefügten  Dubbii 
amorosi  mit  Risoluzioni,  ein  5rQ8e'  »nb  füntroortfpiel,  finb  jmeifello« 
unecht.  911«  SHeimereien  oon  höchft  unfauberem  Sngalte  einmal  in  17, 
bej.  34  Quartinen,  bann  in  31,  bej.  62  Cttaoe  Wimen  gefagt,  gehören  fie 
ganj  beftimmt  einer  jpäteren  3*it  an,  roa«  fchon  äRajgudjeOi  in  feiner  Vita 
di  Aretino  (Padova  1741,  p.  259)  fonftatirte:  Fra  queste  (opere  senza 
fondmnento  a lui  attribuite)  si  puö  contare  un  libretto  in  8®  senza 
alcuna  nota  di  anno,  luogo  e stampatore,  ma  che  sembrn  d’  impressione 
oltramontana  e pare  fatta  sul  principio  del  1600,  nel  cui  frontispizio  si 
legge:  Dubbii  amorosi  di  Pietro  Aretino. 

3n  (Raffung  unb  3nhflH  erinnern  bie  Dubbii  mit  ihren  Risoluzioni 
in  etwa«  an  bie  Urtgeil«fprüche  ber  altproöentalifchcit  9Winnef)öfe.  mir  ift 
bie  gaya  ciencia  im  Saufe  ber  3ahrhunberte  fegr  tief  fjeruntergeftiegen. 
23ig  unb  leidjte  .fjanbhabung  ber  Sprache  wollen  mir  biefen  Jüngern  be* 
„göttlichen"  Hlretino  inbe«  nicht  oötlig  abfprecfjen. 

4 Xie  TOünchencr  Äönigl.  §of-  unb  Staat«bibliothet  ift  im  Sefifjc 
biefer  oon  SRajjucheüt  al«  „fehr  fchön  unb  feiten"  beyeichneteu  Hluegabc. 

(683) 


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48 


Xer  Banb  enthält  bie  jtuet  arbeite  ber  Wagionantenti,  je  brei  XageSjeiten 
(giornate)  umfaffenb.  At§  Anhang  geroiffermafsen  folgt  ein  britter  Xheil: 
ein  Wagionameuto,  in  meinem  grate  goppi'io  f><h  ntil  Snbooico  über  ba« 
fieben  nnb  bie  ©enealogie  ber  Äurtifanen  WomS  unterhält  Xem  Buche 
finb  außerbem  fonberbarertoeife  nodj  beigefügt  Annibal  GaroS  „8ob  ber 
geigen",  Commento  delle  Fiche,  unb  bie  ftficrj^afte  Webe  auf  bie  große 
Wafe  beS  Afabemiepräfibenteu  fieoni,  Diceria  de'  Nasi. 

geben  ber  fed)S  „Xoge"  füüt  ein  längeres  ©efprädj  nuS  jioOchen  jtoei 
(fpäter  Serben  eS  oier)  grauen  beftimmter  Cualität;  über  baS  fieben  ber 
SWöncfje,  ber  ©^eleute,  ber  fiurtifanen,  einer  Wooijin  werben  praftifche 
SBinfe  ert^eilt  unb  anbereS  mehr.  — Xer  Ausgabe  ber  Wagionantenti  non 
1600:  Stampati  in  (’osniopoli  ift  beigegeben:  La  puttaua  errante,  eine 
in  Xialogform  gefaxte  Abßanblung  über  bie  ars  amandi,  bie  trielfadje 
Uebertragungen  in  anbere  Sprachen  gefunben.  gnS  Sateiniiche  überfejjte 
ber  befannte  Bielfdpreiber  fiaepar  o.  Barth  biefelbe  unter  bem  bejeiebnenben 
Xitel:  Pornodidascalos.  GS  ejiftirt  auch  eine  in  Württberg  i.  g.  1627 
crfdjienene  beutfehe  Bearbeitung.  — Außer  ben  eben  genannten  beiben  Aus- 
gaben ber  Wagionantenti  befi^t  bie  SRündjener  $gl  #of-  unb  Staats- 
bibtiotfjef  noch  ein  Büchlein  mit  bem  Xitel:  Ragionamento  nel  quäle  M. 
Pietro  Aretino  figura  quattro  suoi  amici  que  favellano  de  le  corti  del 
Mondo  e di  quella  del  cielo.  MDXXXIX.  Xie  jtoet  ibeile  biefeS  XraltatS 
über  baS  Xreiben  an  ben  italienijdjen  .feofen,  baS  er  auS  eigener  An- 
fehauung  ictjilbern  fonnte,  füllen  110  ©eiten.  Xiefe  Abßanblung  beS 
AretinerS  unb  eine  anbere  über  baS  ©piel,  beren  lIRajjuchelli  Grroäßnung 
tbut,  hoben  bei  weitem  nicht  bie  Berbreitung  gefunben,  tute  bie  eigentlichen 
Ragionamenti  capricciosi  e piacevoli 

Bemerft  fei  ^ier , baff  noch  ein  SBerf  ejiftirt  mit  bem  Xitel:  La 
puttana  errante  in  3 ©efättgen,  jtifammen  138  Dttabe  Wimen.  Xer  Ber- 
faffer  mar  AretinoS  greunb:  Sorenjo  Beniero,  BolfSbichter  au«  Benebig 
Xie  Editio  princeps  erjehien  im  gahre  1531  in  Benebig. 


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Heber  Me 


JUIjmunjBotipie  kr  ©jiete. 

So» 

»nmnofioHf^m  an  brr  »$fini(d)fn  »ittcr.«fab«nt{  ju  8ebb«t|. 

SNit  brri  abbilbunjfn. 


Hamburg. 

SBertagSanftatt  unb  ©rucferei  St..©,  (öorntnl«  3.  g.  <Rid)ter). 

1890. 


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$!<jg  9icd)t  bfr  Uebtricpung  in  frembe  Spradjen  roirb  oorbe batten. 


Trud  bet  BcrtagSonftalt  unb  Üruderci  tktirn.«efe[ticl)aft 
(eonnalt  3 3.  Siebter)  in  Hamburg. 


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Unter  ben  Organen,  reelle  bie  Erhaltung  beS  @in$el- 
inbioibuumS  ber  Jfjierroclt  bejroecfen,  nehmen  bie  21 thmungS« 
organe  eine  nicht  geringe  (Stellung  ein.  SBie  bie  ©erbauungS« 
orgnne,  fo  finb  auch  fie  beftimmt,  bem  tljierifchen  Organismus 
9iäf)rftoffe  jujufüljren;  boch  befcfjränft  fic^  ihre  ÜT^ätigJeit  jum 
Unterfchiebe  bon  jenen  nur  auf  gasförmige  SRährftoffe.  Ser 
roidjtigfte  gasförmige  9Mf)rftoff  ift  nun  ber  ©auerftoff.  Er 
ift  „ber  grofje  2luSfel)rer  beS  |>auShaltS",  wie  ißn  ber  englifdje 
3oologe  (pujletj  {epr  bejeidjnenb  nennt.  Surcp  baS  ©lut,  in 
welches  er  aufgenommen  ift,  wirb  ber  ©auerftoff  in  alle  SEBinfel 
beS  Organismus  eingefüprt;  auf  biefem  SBege  erfaßt  er  äße 
organifdjen  Xheilcpen,  bie  frei  finb,  bemächtigt  fiep  ihrer  Se* 
ftanbtheile  unb  fept  mit  ihnen  bie  einfacheren  formen:  SBaffer, 
ftoplenfäure  unb  ^jarnftoff  jufammen.  Surcp  biefen  fort- 
währenben  ©roje§  unb  bie  bamit  oerbunbene  nothwenbige  2lb- 
fcheibung  ber  gebilbeten  ißrobufte,  befonberS  ber  für  btn  thierifcheu 
Störper  unbrauchbaren  Äoplenfäure,  ift  natürlich  eine  bamit 
£>anb  in  §anb  gehenbe  Aufnahme  neuer  ©toffe  bebingt.  3n 
biejer  Slbfcfjeibung  ber  unbrauchbaren  Äoplenfäure  unb  in  ber 
Slufnapme  neuen  ©auerftoffs  aus  ber  SJuft  befielt  nun  baS 

Sammlung.  ».  5.  V.  115.  1*  («7) 


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4 


SBefen  ber  Sttßmung.  ©ie  finbet  fid^  bei  öden  X^iercn  mit 
HuSnaßme  ber  in  anberen  Sßieren  lebenbett  ©arafiten,  welche 
ja  »ott  biefen  fdjon  geatßmete  Siäßrflüffigfeit  begießen.  ©ber 
nicßt  ade  Spiere  ßaben  befonbere  SltßmungSorgane.  3)eren 
Sftotßweubigfeit  riißrt  nur  oon  quantitatioen  SSer^äftniffen  ßer, 
unb  »erben  ficfj  baßer  ©röße,  ©norbnung  unb  ©efcßaffenßeit, 
ja  fogar  baS  ffiorßanbenfein  befottberer  fätßmungSorgane  nacß 
ber  SKenge  beS  ©auerftoffS  ricßten,  ber  gur  SluSgleicßung  ber 
abgegebenen  Soßtenfäure  erforberlicß  ift.  2)a  nun  aber  beibe 
©aSarten,  fowoßl  ber  ©auerftoff  als  aueß  bie  Soßlenfäure, 
üorgugSwcife  bem  ©lute  beigemifeßt  finb,  fo  muß  ber  ©tßmungS- 
apparat  fo  eingerichtet  fein,  baß  er  im  ftanbe  ift,  baS  auS  ben 
eingelnen  Ißeilen  beS  SörperS  gurücf  feßrenbe , an  ©auerftoff 
arme,  aber  an  Soßlenfäure  reieße  ©tut  (begw.  bie  fieß  äßnticß 
»erßaltenbe  (SrnäßrungSflüffigfeit  ber  nieberen  SEßiere)  mit  einem 
an  ©auerftoff  reießeren,  aber  an  Soßlenfäure  ärmeren  3Kebium 
in  SBecßfelwirfung  gu  bringen.  3)iefe  SBecßfelwirfung  muß 
mögließft  leießt  ftattfinben,  eS  muß  mittetft  eines  einfachen  ©aS- 
auStaufcßeS  bem  ©lute  ber  mattgelnbe  ©auerftoff  gugefüßrt  unb 
bie  iiberfcßüffige  Soßlenfäure  abgeuommen  werben  fönuett.  3e 
naeß  ber  ©efeßaffeußeit  beS  SJZebiumS,  in  welcßem  baS  £ßier 
lebt,  ob  eS  alfo  ben  ©auerftoff  auS  ber  Suft  felbft  ober  aus  ber 
in  bem  SBaffer  oertßeilten  atmofpßärifcßen  Suft  aufneßmen  muß, 
finb  nun  bie  ©tßmungSorgane,  wenn  überhaupt  welcße  oor* 
ßattben  finb,  Derfcßieben,  unb  fo  unterfeßeibet  man  bentt  Organe 
ber  Suftatß mutig  (Sungen  unb  Xracßeen)  unb  Organe  ber 
SBafferatßmung  (Kiemen  unb  SBaffergefäße).  ©inb  feine  be* 
fottberen  SltßmuugSorgaue  oorßanben,  unb  bieS  ift  bei  maneßen 
niebereu  £ßieren  ber  gad,  fo  wirb  ber  ©aSauStaufcß  bureß  bie & örper- 
ßaut  beforgt.  |>eute  fodeS  nun  meine  Aufgabe  fein,  ben  Sau  unb  bie 
SBirffamfeit  ber  ©tßmuugSorgane,  alfo  ber  Sungen  unb  EEratßeen, 

fowie  ber  Siemen  unb  ©Jaffergefäße,  in  Sürge  oorgufüßren. 

(688) 


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$8etrad)ten  wir  gunächft  bie  Slthmung  burch  £ ungen. 
X>a  ber  Qmd  ber  fiungen  bei  allen  lungenathmenben 
liieren  berfetbe  ift  unb  fomit  auch  im  wefentlichen  U)r  Sau 
ein  gleicher  jein  muß,  biefer  aber  beim  äRenfdjen  am  ooH- 
fommenften  ift,  fo  wirb  eS  gwedmäßig  fein,  bie  menfchlidje  ßunge 
als  SluSgangSpuntt  gu  nehmen.  Offenbar  tjängt  bie  Soll* 
fommenheit  beS  ÄtljmungSapparateS  oon  ber  ©röße  feiner  Ober* 
flärfje  ab,  ba  baburd»  ja  bie  Stenge  be£  neuerfrifcfjten  SluteS 
bebingt  wirb.  Slußerbem  aber  wirb  gwecfmäßig  auch  eine  möglichft 
große  Oberfläche  auf  einen  Meinen  Sftaurn  gu  fongentriren  fein, 
bamit  in  ihrer  Umgebung  fiuft  unb  Slut  ungeßinbert  ftrömen 
fönnen.  liefen  beibeit  Sebingungen  genügt  bie  ßunge  be3 
SJtenfchen  am  ooHfommenften.  Seoor  ich  jebod}  näher  barauf 
tingehe,  fei  e3  mir  geftattet,  gum  befferen  Serftänbniß  beS 
folgenben  ^ier  einiges  übet  baS  Slut  unb  ben  im  3ahre  1619 
oon  bem  englifchen  Slrgte  ^aroep  entbecften  SlutfreiSlauf  ein* 
gufchalten.  2)aS  Slut  ift  bie  ©rnäljrungSflüjfigfeit  beS  thierifchen 
StörperS.  ®ie  in  Speife  unb  Iran!  enthaltenen  SafjrungSftoffe 
»erben  in  bie  £>aargefäßft)fteme  beS  StagenS  unb  beS  2)armS 
aufgefaugt,  aisbann  burch  bie  fogenannten  ShhluSgefäße  gum 
SRil^bruftgange  geführt;  biefer  ergießt  feinen  3nf)alt  in  eine 
Slutaber,  bie  Iittfe  Schlüffelbeinoene,  unb  wirb  fo  baS  burch 
ben  SebenSproAeß  gefcßmächte  Slut  toieber  erneuert.  3»  lebenben 
Jförper  ift  baS  Slut  nun  in  beftänbiger  Setoegung  begriffen;  ci 
betoegt  fid)  burch  gefc^loffene  ©efäße,  Slbern;  äWittelpunft  biefe« 
fianalfhftemS  ift  baS  £>crg,  burch  beffen  rhhtljmifche  Semegungen 
bie  Strömung  beS  SluteS  hcrtwrflerufcn  Wirt».  2tu3  bem  |>ergen 
entfpringen  bie  Arterien,  ÜßulS*  ober  Schlagabern,  in 
»eichen  ba«  Slut  gu  ben  eingelnen  Sörperorganen  ^inflicgt, 
bann  aber  auch  bie  Senen  ober  Slutabern,  burch  welche  eS 
ttieber  gum  bergen  gurücffehrt.  2)aS  menfd)lid)e  §erg,  etioa 
fauftgroß,  liegt  in  ber  ÜJiitte  ber  SrufthÖljle,  nidjt  wie  bielfach 


6 


irrig  angenommen  wirb,  in  ber  linfen  Seite  berfetben ; feine 
finge  ift.  jebod)  idjief,  fo  bafj  ber  fiängäburthmeffer  oon  oben 
rechts  nach  unten  linf®  gebt.  $ie  Höhle  be®  Herren«  ift  burch 
Ouermänbe  in  4 Kammern  geteilt,  in  smei  ©ortammern  unb 

jmei  §erjfammern.  8u® 
ber  linfen  Jperjfammer 
gelangt  ba®  ^eürot^e, 
arterielle  ©lut  burd) 
bie  grofje  &örperpul®aber 
ober  Slorta  in  ben  Sörper; 
bie  feinften  ©er,$tüeigun> 
gen,  bie  Haargefäße 
ber  Gloria,  leiten  in  bie 
nominellen  über,  mefcbe 
nunmehr  ba®  bunfelrotlje, 
oenöfe,  meniger  fauer* 
ftoffreic^e,  bafür  aber  mehr 
foblenfäurebaltige  ©lut 
ju  ber  rechten  ©orfamtner 
führen;  auf  biefem  Sfiege 
bat  ba®  ©lut  alfo  einen 

S<lifmfllti(l)rJ)arftflIunflbM*lutttti«!aiiff«bi’iin®i(nid)cn.  Qj-pfign  ^ jg  buftfl  Pen 

Tas  artfrifDr  Shit  tft  ~5,  bne  »rtt&[c  V\\A\'  ßf^eirfmet  " D ^ 

ftörper,  ben  fog.  großen 
Sö lutfreiölauf,  jurücfgelegt.  3lu®  ber  rechten  ©orfammer  gebt 
ba®  ©lut  in  bie  rechte  Her^amraer  unb  oon  ba  burch  bie 
finngenarterie  jur  fiunge.  §ier  fommt,  mie  mir  noch  näher 
feben  toerben,  ba®  oenöfe  ©lut  mit  ber  atmofphärifchen  fiuft  in 
©erührung,  e®  giebt  bie  untaugliche  Äohlenfäure  ab,  nimmt 
Sauerftoff  auf  unb  mirb  fo  mieber  in  ernäbrungäfäbige®,  arterielle® 
©lut  umgewanbelt.  $lu§  ber  fiunge  geht  biefe®  bann  burd)  bie 
fiungenoenen  in  bie  littfe  ©orfammer  be®  HecScn^»  — oon 
ber  redfteu  ©orfammer  burch  bie  fiungen  bi®  jur  linfen  ©or> 

(690) 


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7 


fammer  Ijat  bas  ©lut  ben  f leinen  Kreislauf  jurüdgefegt. 
25ie  SDauer  beö  ganzen  SlutfreiSlaufS  hat  man  auf  ungefähr 
23  ©efunbett  feftgefteflt.  &'ef)ren  mir  nun  jur  ©efdjreibung  ber 
menfd)Ii(^en  2unge  guriicf.  ©ie  ift  eine  traubenförmige  $)rüfe, 
bereit  fjotjte  ©erjmeigungen  nach  innen  gehen.  $>ie  ©erjmei- 
gungeit  tragen  an  ihren  Snben  bie  fogenannten  Sungen-  ober 
2Ifalpigl)ifd)en  ©löschen,  auch  Suftjellen  genannt,  blinbe 
Srmeiterungen,  roeld)e  im  Sitter  »ielfacf)  miteinanber  fommuni- 
^iren,  in  ber  Sugenb  aber  nur  burd)  bünne  f>äutd)cn  »oneinanbet 
getrennt  finb.  3bre  3a^  beträgt  itad)  fwfd)fc  1800  »Dtiflionen, 
ihre  atljmenbe  gläche  2000  Ouabratfuß.  933ä^rcitb  nun  im 
inneren  biefer  93Iä§rfjen  bie  Oberfläche  burd)  galten  noch  mehr 
»ergrößert  mirb,  ift  bie  Slußeitfläche  bicht  mit  Haargefäßen,  bem 
fogenannten  refpiratorifdjen  ©efäßneß  bebedt.  gn  biefe  feinen 
©efäße  ergießen  bie  leßten  ©erjmeigungen  ber  Sungenarterie  ba? 
au#  bem  ftörper  fommenbe  oenöfe  Sölut.  ®a  nun  aber  bie 
2ungenblä3d)en  nur  burd)  fehr  bünne  Häutchen  ooneiitanber  ge 
trennt  finb,  fo  ift  ein  bequemer  SluStaufd)  jroifdjen  ben  gafigen 
©eftanbtljeilen  be$  ©luteS  unb  bem  ©auerftoff  ber  2uft  burd) 
biefe  Häutdjeit  b>»burcb  ermöglicht.  ®iefer  SluStaufd)  mürbe 
jeboeb  fab*  fcbneU  eine  Sättigung  ber  2uft  in  ben  fiuttgen  mit 
Soblenfäure  unb  einen  2Äangel  an  ©auerftoff  berbeifiibren,  meint 
nicht  biefe  Äohlenfäure  abgefdjieben  unb  neuer  ©auerftoff  jngefiibrt 
mürbe.  2eßtere§  gcfdjieht  nun  burd)  bie  ©emegungen,  roelche 
mir  Gcin>unbSlu«atf)mung  nennen  (Inspiratio  unb  Exspirntio), 
unb  bie  ihren  ©runb  in  regelmäßigen  ©erengerungeit  unb  Sr- 
roeiterungeit  beS  SöruftfaftenS  ba&en-  2)ie  2uttge.  metche  ber 
©ruftroanb  oorne  anliegt,  muß  biefett  ©emegungen  folgen 
Eeljnt  fie,  alfo  auch  bie  2ungenblä£chen  fid)  au«,  fo  bringt 
äußere  2nft  burd)  bie  2uftröhre  in  biefelben  ein,  um  baS  burd) 
biefe  Sfu§bet)nung  geftörte  ©leicßgemid)t  jmifchcn  2utigenluft  unb 
Sltmofpbäre  hetjufleflen.  fm  fid)  jufammen,  fo  mirb  ein 

(691) 


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8 


$l)eil  ber  in  ben  SungenbläScheit  enthaltenen  Suft  au«  biefen 
unb  folglich  mich  auS  ber  Sunge  auSgeprefjt  unb  burch  bie 
Suftröhre  fjinciuSgetrieben.  SBöhrenb  aber  bei  ber  ©inathmung 
bie  ©rweiterung  beS  BruftfaftenS  eine  fjofgc  ber  X^ötigfeit  ber 
fog.  3nfpirationSmuSfeln  ober  Snfpiratoren  ift,  ju  benen 
baS  bie  Sruft»  unb  Bauchhöhle  boneinanber  trennenbe  gtoerihfell, 
fowie  bie  3l°ifc^enr*PPenmu®^eIn  norjugSweife  ju  rechnen  finb, 
erfolgt  bie  StuSatljmung  ohne  aftioe  9JiuSfetbetheiIigung;  fte  ift 
öietmehr  nur  eine  gofge  ber  ©laftijität  ber  fog.  ©jpiratoren, 
baS  finb  SRippen*  unb  fRippenfnorpet , baS  Sungengewebe  unb 
bie  Saudjeingeroeibe.  Die  ©laftijität  fotnmt  bann  jur  ©eltung, 
wenn  nach  erfolgter  ©inathmung  bie  SnfpirationSmuSfeln  er* 
fchtaffen.  Sei  tiefer  ©inathmung,  foioie  bei  tiefer  SluSathmung 
treten  aüerbingS  auch  noch  anbere  Organe  in  Dfjätigfeit;  fo  bei 
erfterer  SRuSfetn  beS  §alfeS,  ber  Bruft,  fetbft  ber  Slrme  unb 
Seine,  bei  [euerer  bie  SRuSfetn  ber  Saudjwanb.  — Die  3aht 
ber  Sungen  beträgt  beim  SRenfdjen  jwei;  fie  liegen  in  ber  Bruft* 
höhle  ju  beiben  ©eiten  beS  £erjenS.  Die  rechte  Sunge  ober 
ber  rechte  Suttgenpgel  ift  etwas  größer  als  bie  tinfe  unb  toirb 
burch  3we»  Sinfchnitte  in  brei,  bie  Iiufe  Sunge  burch  einen  ©in* 
fchnitt  in  jwei  Sappen  getheitt.  Betrachten  wir  nun  noch  bie 
SBege,  auf  welchen  bie  Suft  in  bie  Sungen  unb  aus  benfelben 
geführt  wirb,  etwas  genauer.  3U  biefen  Suftwegen  gehören 
bie  SRafenhöfjte,  ber  ©djtunbfopf,  ber  fehtfopf  unb  bie  Suft* 
röhre.  SBährenb  bie  brei  erfteren  auch  noch  unb  jwar  uorjügfidj 
ju  anberen  3n>ecfen  bienen,  ift  bie  Suftröhre  auSfdjliefjtich  für 
ben  SthmungSprojefj  beftimmt.  ©ie  jieht  fich  gerabe  »or  ber 
©peiferöhre  am  $alfe  bi«  jur  Brufthöhle  hin,  ift  faft  ganj 
runb  (nur  an  ber  hinteren  ©eite  etwas  abgeplattet),  oorn  unb 
feitlicf)  non  burch  ftnorpelrinqe  gebilbeten  SBänben  umfchloffen, 
hinten  aber  mit  einem  muSfuföfen  Serfd)lufj  oerfehen.  Bor  bem 

britten  Bruftroirbel  theilt  fiih  bie  Suftröhre  in  jwei  Äefte, 
(*»2) 


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9 

Sronchien,  roeldje  in  bie  beiben  Sungen  gefeit,  fiel)  bort 
baumförmig  in  immer  feinere  Stefte  Berjtoeigen,  bis  fte  in  bie 
genannten  SungenbläSdjeit  enbigen. 

Sungen  finben  fidj  nun  bei  allen  liieren  ber  Bier  oberen 
SEBirbelthierflaffen,  alfo  bei  ben  ©äugetljieren,  Sögeln,  Reptilien 
unb  Amphibien,  bann  aber  auch  bei  ben  fog.  Sungenfifdjen, 
welche,  ba  fte  Bielfad)  in  ©chlamm  unb  ©ümpfen  leben,  ebenfalls 
ber  fiuftatfjmung  bebürfett,  unb  ferner  nocfj  bei  einigen  ©dptecfen. 
Sei  ben  ©äugettjieren  haben  bie  Sungen  biefelbe  Sefdiaffenheit 
roie  beim  ÜJtenfchen,  finb  auch  h»er  meift  gelappt,  wenn  auch 
bie  3a^I  ber  Sappen  Bariirt.  Unter  ben  jahlreichen  Serfdf)ieben« 
feiten,  welche  bie  Suftröhre  ber  ©äugethiere  Bon  ber  beS 
SJienfchett  jeigt,  ift  wof)l  als  widjtigfte  anjufül)ren,  bajj  fte  fid)  bei 
bett  SEBieberfäuern,  ©chweinen  unb  SGßalfifc^en  in  brei  Slefte  t^eilt, 
oou  benen  jebod)  ber  britte  Heiner  ift  unb  noch  in  bie  rechte  Sunge 
führt.  35ie  Sungen  ber  Sögel  geigen  im  allgemeinen  ebenfalls 
einen  mit  ber  beS  9JJenfdjen  übereinftimmenben  Sau,  bod)  finb  fie 
ftetS  ungelappt  unb  liegen  an  ber  hinteren  SBanb  beS  Sruft« 
faftenS  an;  auch  finb  bie  beiben  Sungen  gleich  grofj.  Slufjerbent 
aber  finben  mir  hier  noch  eine  befonbere  (Einrichtung.  ®ie  (Enben 
ber  in  ben  Sungen  ftch  Berjtneigenben  Slefte  ber  meift  Biclfach 
gefrümmten  Suftröhre  ftehen  burch  Oeffnungen  an  ber  Oberfläche 
ber  Sungen  mit  bünnf)äutigen  ©öden  (Suftfäden),  beren  3al)l 
9 beträgt,  in  Serbinbung.  ®iefe  Suftfäde  liegen  in  ben  (Ein- 
gern  eiben  eingebettet;  burch  befonbere  Oeffnungen  ftehen  fie  mit 
ben  hohim  $nod)en  ber  Sögel  in  Serbinbung.  güHen  fith  bie 
Sungen  beim  (Einatljmen  mit  Suft,  fo  tuirb  auch  ein  EJljed  ber- 
felben  in  bie  Suftfäde  unb  aus  biefen  in  bie  Ättochen  gelangen, 
fo  baff  oiele  Knochen  ber  Sögel  mit  Suft  gefüllt,  pneumatifdj, 
finb.  2)iefe  (Einrichtung  hat  offenbar  als  ^auptjwed,  ben 
Körper  ber  Sögel  burch  &ie  baburch  bebingte  fpecififcfje  Seichtigfeit 
|um  fliegen  geeigneter  ju  machen.  $er  berühmte  <ßhhfi°loge 

(«»*> 


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10 


$u{jtt  glaubt  aber,  bafj  aufjerbem  ba«  Stthembebürfnife  mährenb 
beä  fliegen«  baburch  tierminbert  roerbe;  burd)  Füllung  ber  ©äcfe 
mit  atmofp£|ärifcher  2uft  mürben  nämlich  bie  meiften  Organe  bes 
Stumpfe«  gemiffermafjcn  oon  ber  Suft  umfpült  unb  müffe  bie« 
uon  ©influfj  auf  bie  Organe'  unb  ba«  Sörut  fein,  melc^e«  in  ben 
an  ber  Oberfläche  gelegenen  ©efäjjen  cirfulire.  Such  bürfien 
biefe  Suftfäde  moljl,  mie  Stülpt  meint,  al«  Suf tbefjälter 
bienen,  non  beren  Sorratfj  an  Suft  für  bie  eigentliche  Sungen- 
athmung  mährenb  be«  ^luge«  8eS«hrt  »»erben  fann.  Unter  ben 
Reptilien  ober  Striechthicren  haben  bie  Sungen  ber  Strofobife 
unb  ©d)ilbfröten  bie  meifte  Stefjntic^feit  mit  ben  menfchtichen. 
3)ic  Sungen  ber  ©drangen  unb  (Sibechfeu  hingegen  foniie  bie 
ber  Amphibien,  alfo  ber  gröfdje  unb  SDtoldje,  finb  nur  ein- 
fache hohie  ©äde,  meift  glatt,  fettener  mehr  ober  meniger  mit 
gellen  unb  galten  auf  ber  Innenfläche  befefct.  8ie  finb  ftetö 
ungelappt  itub  meift  gleich  grofj;  nur  ift  bei  ben  ©drangen  bie 
linfe,  bei  ben  fujjlofen,  fchlangenähnlichen  ©ibechfen  bagegen, 
5.  58.  bei  ber  SBtinbfdjleidje,  bie  rechte  Heiner  unb  fürjer.  ®ei 
ber  in  ©iibnmerifa  unb  Oftinbien  ein^eimifcfjen  Slinbwühle, 
jomie  bei  einigen  Schlangen,  j.  58.  ben  58ipern,  fiubet  fich  nur 
„eine"  üolttotnmeu  auSgebilbete  Suitge,  bie  anberc  ift  faft  galt} 
oerfiimmert.  Slufjerbem  aber  finben  fich  an  ben  Sungen  mancher 
©drangen  noch  jellenlofe,  blafige  $lnf)änge,  benen  Stuljn  eine 
ähnliche  58ebeutung  mie  ben  Suftfäden  ber  58ögel  beilegt.  5Bon 
ber  in  ihnen  angefammelten  Suft  foOett  bie  ©chlaugen  mährenb 
ber  Aufnahme  eine«  umfangreichen  JBiffett«,  beffen  hinunter* 
roiirgen  oft  ©tunben  in  Slnfprudj  nimmt,  für  bie  Unterhaltung 
ber  Slthmung  jehrcn  fönnen.  2Ba«  bie  Suftröhre  anbetrifft,  fo  ift 
fie  meift  gaitj  cplinbrifch  unb  natürlich  ba,  roo  nur  eine  Sunge 
oorhanben  ift,  ungetheilt;  bei  ben  fyröfdjen  unb  ftröten  fehlt 
bie  Suftröhre  ganj.  $ie  Sungen  ber  Sungenfifche  finb  auch  nur 
hohle,  einfache  ©äde;  ebenfo  biejenigen  ber  Sititgenf chneden, 

(694) 


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11 


bei  weldjen  biejelbeu  burd)  ein  meift  rechte  ober  ItufS  neben 
bem  Elfter  naße  beim  fi'opfe  gelegenes  Socf)  (Slthemlocf))  nad) 
außen  münben.  3)ie  mannen  ©pinnen  unb  ©forpionen 
$ugeSd)riebencn  Snngen  finb  feine  Sungen,  ba  ihnen  baS  charafte» 
riftifche  refpiratorifc^e  ©efäßnefc  fehlt,  welches  fich  an  ber  inneren 
Sßattbung  ber  Sungen  auSbreitct.  @S  finb  oielmehr  Tracheen,  ju 
beren  Betrachtung  idj  nunmehr  übergehen  miß.  ®iefe  jweite  $lrt 
oon  Organen  ber  Suftathmung  finbet  fich  bei  ben  ©liebertf)ieren, 
unb  jwar  oorjugSwcife  bei  ben  Snfeften,  jtaufenbfiißcru  unb 
©pinnen.  $ie  £rad)een  ober  SuftathmungSgefäße  finb  Böhren, 
weldje  ben  Äörper  burchjiefien,  elaftifch  finb,  fich  baumartig 
oerjweigen  unb  babei  in  oielen  Oeffnungen,  ©tigmeit  ober 
&thetnlöd)er  genannt,  nach  außen  münben,  um  bie  burch  biefe 
eingeführte  Suft  bireft  mit  bem  fie  umgebcttben  Blute  in  Be» 
rührung  ju  bringen,  ©ie  »ermitteln  fo,  inbem  fie  fid)  bis  in 
bie  ©ewebe  h'aeinoerbreiten,  bie  ülthmung  ober  Befpiration 
unmittelbar  unb  jmar  in  ber  SBeife,  baß  bie  auSjuatf)menbe 
fiuft  in  ben  feinen  $rad)eenäften  auf  bemfelben  Sßcge  gurüd» 
fehren  muß,  auf  welchem  bie  eiugeathmete  £uft  cingcbrungen 
ift.  Oft  ober  auch  bilben  bie  Tracheen  ein  gefchloffetteS  ©hftem, 
inbem  feine  Oeffnungen  nach  außen  führen.  2)ie  in  ben  Tracheen 
»orhanbette  2uft  wirb  bann  nicht  unmittelbar  »on  außen  in 
biefelbe  gelangen,  fonbern,  ba  folche  2:h*ere  weift  SBaffer 
leben,  aus  Ie{5terem  iubireft  jugefüfjrt  werben.  biefem  groeefe 
befißen  biefe  Xh>ere  fog.  STradjeenfiemen  ober  ftiemen* 
tracheen,  fabenförntige  ober  blattartige  gortfäße  ber  Körper  haut, 
welche  burd)  ihre  Ülnjaljl  ober  Slrt  ber  Snorbnung  eine  große 
Oberfläche  barbieten,  burd)  ihre  Bewegung  einen  ftarfen  Sßedjfel 
beS  fie  umgebenben  SSafferS  herüorrufen/  u>ib  in  welche  bie 
Tracheen  einmünben  unb  ficf)  oer^weigen.  ©olche  Üradjecnfiemen 
ftttben  fich  bei  ben  im  SBaffer  lebenbcn  Sarocn  ber  grühlingS» 
unb  Eintagsfliegen.  Bei  ben  Sarnen  ber  SBafferjungfern  finben 

(695 


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12 


ficf>  bie  Xradjeenfiemen  nad)  SiöaumurS  ©ntbedung  im  3nnern, 
im  ÜJlaftbarme,  unb  wirb  benfelben  burch  ^Bewegungen  ber  mit 
einer  ftlappüorrid)tung  nerfefjenen  Slfteröffnung  Sßaffer  behufs 
Slufnahme  ber  barin  abforbirten  £uft  beftänbig  ju«  unb  weg- 
geführt. Hnbere,  fo  namentlich  bie  Sarnen  mancher  SBafferfäfer, 
haben  bie  ©ewohnljeit,  befonbere  SIthemröhren  (©ipfjonen), 
bie  fich  am  HinterleibSenbe  befinben  unb  meifi  mit  einem  Slranje 
Don  paaren  ober  gefieberten  fflorften  umgeben  finb,  über  ba$ 
SBaffer  ju  erheben  unb  bie  baburch  aufgenommene  Suft  in  bie 
Tracheen,  mit  benen  fie  in  Serbinbung  ftehen,  einjuführen. 
Üöieber  anbere  Stafetten,  fo  bie  SBafferfäfer  felbft  unb  bie 
Sßafferwanjen,  nehmen  unter  ben  glügelbeden  einen  X^eit  Suft 
mit  in«  Sßaffer  unb  ermöglichen  fo  ben  ©aSwedjfel  burch  bie 
unter  ben  klügeln  gelegenen  Ät^emlöd^er.  35iefe  ?lrt  Slefpira- 
tionSprojefj  wirb  meift  noch  baburch  begünftigt,  bafj  bei  Dielen 
biefer  Snfeften  bie  Tracheen  im  inneren  fadartige  Anhänge 
tragen,  welche,  wenn  baS  Snfeft  jur  Sufterneuerung  an  ben 
SEBafferfpiegel  fommt,  fchnell  Dollgepumpt  werben.  Sei  ben  Suft* 
infeften  hingegen  fcheinen  biefe  Suftreferooire  oorjugSweife  baju 
ju  bienen,  ben  Körper  beS  SnfeftS  fpecififch  leister  ju  machen 
unb  fo  baS  glugoermögen  ju  oergröfjern.  2113  SBeifpiel  hierfür 
erwähne  ich  ben  SJlaifäfer,  ber  befanntlich  Dor  bem  Sluffliegen 
burch  öftere  ^Bewegung  ber  glügelbeden  bie  atmofphärifche  fiuft 
burch  bie  auf  ber  Oberfeite  be3  Hinterleibes  gelegenen  Sthem* 
lödjer  einpumpt,  (ßählen  beS  SDtaifäferS!)  ßeljren  wir  nun 
ju  ben  Tracheen,  bie  mit  befonberen  Oeffnungen  (Stigmen)  nach 
aufjen  miinben,  jurüd.  3n  ber  Siegel  finb  bie  Htfjemlöcher 
ober  Stigmen  an  beiben  Seiten  beS  SörperS  Dorhanben,  ihre 
Slnjahl  ift  Derfchieben  unb  fchwantt  jwifchen  1 unb  10  ißaaren. 
SJleift  liegen  bie  Stigmen  an  ber  Seite  beS  Hinterleiber,  bei 
einigen  Halbflüglern  aber  an  ber  SBaudjfeite,  bei  manchen  fiäfern, 
j.  33.  SRaifäfer,  ©elbranb  unb  anberen  auf  bem  Stüden,  bei 

(«M) 


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13 


Smynthurus,  einer  §Irt  ©pringjdjwanj,  fogar  an  ber  Unterfeite 
be«  Stopfe«,  unmittelbar  unter  ben  3rüf)lent.  3n  ber  Segel 
geht  oon  jebem  ©tigma  nur  ein  einjiger  Tracheen  fta  mm  au«, 
ber  entroeber  fid>  felbft  oerjroeigenb  feine  Serbinbung  mit  ben 
übrigen  Sradjeenftämmen  eingeht  ober  aber  mit  ihnen  fommuni^irt. 
11m  ben  Slthmung«pro3efj  3U  ermöglidjen,  finb  bie  ©tigma  oer- 
fd)lief}bar  unb  jmar  bilben  entweber  bie  Sänber  ber  Dehnungen 
felbft  ober  bie  SSanbungen  be«  bauen  au«gehenben  Xradjeen« 
ftamme«  ben  Serfcfjlußapparat.  £erfelbe  ift  mit  einem  2Ku«fel 
oerfehen,  burdf  beffen  ßufammenjiehung  bie  Oeffnung  gefdjloffen 
unb  fo  bie  Serbinbung  mit  ber  äujjeren  fiuft  abgefperrt  merben 
fann.  @in»  unb  21u«athmung  mirb  meift  burd)  Serengerung 
unb  Hu«behnung  be«  §interleibe«  beforgt,  oft  aber  aud)  burch 
(Sin*  unb  2lu«fchieben  ber  $interleib3abfdjnitte.  33ei  ber  Ser» 
gröfjerung  ber  ^interleibö^ö^le  ftrömt  fiuft  ein,  bei  ber  Ser» 
engerung  tritt  bie  fiuft  au«.  — ®a«  Iradjccnfpftem  ber  Sauf  enb» 
füget  ift  toefentlidj  baSfclbe  toie  bei  ben  3nfeften.  Sei  ben 
©folopenbren  befinben  fid)  bie  ©tigma  an  ber  ©eite,  bei  ben 
eigentlichen  Xaufeubfügern  auf  ber  Sauchflädje  be«  fieibe«. 
Unter  ben  Ie|teren  bcfi&t  ber  in  ®eutfd)lanb  häufiß  oorfommenbe 
©anbtaufenbfufj  mit  cirfa  90  Seinpaaren  ba«  einfacfjfte  $rad)een> 
fpftem.  5)ie  Tracheen  entspringen  oon  ben  einjelnen  ©tigmen 
in  Süffeln,  au«  melden  bie  fiuftröhren,  ohne  ju  oeräfteln, 
leroorgehen,  um,  immer  bünner  unb  biinner  werbenb,  bie  oer» 
fdjiebenen  Organe  31t  umfpinnen.  2)a«  $racheenft)ftem  ber 
©pinnentljiere,  »03U  bie  ©forpione,  eigentlichen  ©pinnen  unb 
SHilben  geredjnet  toerben,  3eigt  bebeutenbe  $lbioeid)ungen  oon 
bem  ber  Snfeften.  §lm  ähnlichften  ift  eS  noch  bei  bem  in 
Sibliothefen  unb  Herbarien  häufig  an3utreffenben,  jeboch  nicht 
fdjäblichen  Siidjerfforpton,  fotoie  bei  ben  ülfterfpinncn  nnb 
SJHlben.  ©an3  ohne  Sracfjeen,  überhaupt  ohne  $lthmung«organe, 
ift  bie  Ärähmilbe  be«  SDienfdjen.  Sei  ben  ©lorpionen  unb 

(6»7; 


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14 


eigentlichen  ©pinnen  bleiben  bie  Xracheeit  feine  einfachen  Söhren 
mehr,  fonbern  ber  oon  einem  ©tigma  auSgefjenbe  Xracheenftamm 
erweitert  fiel)  balb  311  blattartigen , breiten  SameHen,  bie  wie 
bie  Slätter  eine«  83ucf)eg  aneinonber  gelegt  finb  unb  3Wifcf)en  benen 
bnS  Slut  cirfulirt,  fo  baff  man  biefelbeit,  wie  ich  fdjon  erwähnte, 
früher  als  Sungeit  gebeutet  bat,  obfd)ou  if)tien  ein  refpiratorifche« 
©efäfenefe  fehlt.  Xa  man  fie  aber  als  UebergangSformen  $u  ben 
Snngen  betrachten  fann,  hat  man  fie  neuerbingS  wohl  mit  Siecht 
Xracheenluitgen  genannt.  X>ie  ©forpionen  befipen  8 folcher 
Xracheenluugen,  oon  benen  jebe  ungefähr  20  SameHen  tragt; 
bie  Xaranteln  hingegen  nur  4,  oon  benen  jebe  einzelne  mit  80 
folcher  fiungenplatten  befept  ift.  Unter  ben  eigentlichen  ©pinnen 
befipt  bie  befannte  amerifanifche  Sogelfpinne,  fowie  bie  in  ©üb- 
franfreich  unb  ©iibfpanien  lebenbe  Xapejierfpinne  2 Saar 
Xracheenlungen,  währenb  alle  übrigen  nur  mit  einem  fßaar  aus- 
geftattet  finb.  Sei  einigen,  3.  S.  ber  3eHenfpinne,  ber  Söhren- 
fpinne  unb  ber  in  uitferen  Xeichen  oorfommenbeit  SEBafferfpinne, 
ift  baS  3Weite  hintere  S°ar  burefi  Xradjeenbüfchel  erfept,  bie 
fich  unöeräftelt  unb  ohne  ©piralfäben  burch  ben  galten  Körper 
oerbreiten.  Xie  übrigen  ©pinnen  befipen  außer  bem  einen  Saar 
Xracheenlungen  noch  ein  Xracfjeenpaar,  alfo  fein  Xradheenbüfchel, 
welkes  fich  aus  wenigen  einfachen  glatten  Söhren  3ufammenfept. 
@rwähnen3werth  ift  noch,  baß  man  bei  Peripatus,  einem  auf  ben 
Antillen  lebenben  unb  bisher  3U  beit  ©lieberwürmern  gewählten 
Xpiere,  ein  Xracheertfpftem  entbeeft  hat  unb  ^jufletj  ihn  beSpalb 
ju  ben  ©lieberfüfjern  fteüt. 

3ch  gehe  nunmehr  über  3ur  Setrachtung  ber  SB  a f f e r* 
athmuugöorgane,  ber  Kiemen  unb  ber  SBaffergefä  jje. 

2Säl)renb  bei  ben  Sungen  bie  Sersweigungen  nach  innen 
gerichtet  finb,  menbeit  fich  bei  ben  Kiemen  bie  Se^weigungen 
nach  außen.  Sin  beiben  ©eiten  eine!  bogenförmigen  Knochens, 

(698) 


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15 


beS  Kiemenbogenä,  befiitbeit  fidj  eine  SRei^e  einfacher  ober 
»eräftelter  Slättdjen,  in  melden  fid)  ba§  refpiratorifdje  ©efäjjneh 
in  gorm  oon  Haargefäßen  auSbreitet.  ®ie  Kiemenbogen  finb 
am  Zungenbeine  befeftigt  unb  liegen  mit  ben  Riemen  in  einer 
Höhle,  ber  Kiemenljöhle,  welche  oon  ber  Kiemenhaut  unb 
einem  auö  4 Knochenftücfen  beftehenben  Kieme nbecfel  gebilbet 
roirb.  $)ie  Kiemenf)öhle  münbet  meift  burd)  nur  einen  ©palt 
(äußere  Kiemenfpalte)  und)  außen  unb  burd)  fünf  jtoi}cf;en  ben 
Kiemenbogen  gelegene  Oeffnungen  (innere  Kiemenfpalten)  in 
bie  3Äunbl)öhle.  ®ie  ßaljl  ber  Kiemen  ift  meift  4.  ®a3  burd) 
ben  üDiunb  aufgenommene  SSaffer  tritt  burch  bie  inneren  Siemen- 
fpalten  in  bie  Siemenhöhle  ein,  ftreid^t  an  ben  Kiemenblättchen  oor- 
bei  unb  giebt  babei  ben  ©auerftoff  ber  in  ihm  fuSpenbirten  £uft  an 
ba3  in  ben  Kiemenblättchen  enthaltene  33lut  ab  unb  tritt  bann 
burd)  bie  äußere  Kiemenfpalte  tuieber  nach  aufjeti.  ®ie  inneren 
Kiemenfpalten  tragen,  um  baS  Sittbringen  »ou  9lahrung3ftoffeu 
in  bie  Kiemenhöhle  ju  üerf)iubern,  einen  gitterartigen  SJerfdjluß. 
Kiemen  befißen  oor  allem  bie  gifd)e,  bann  aber  auch  Kiemen- 
molche (»noju  ber  in  ben  unterirbifchen  ©eroäffent  KrainS  lebenbe 
Olm  gehört),  bie  Sarnen  ber  gröfdje  uttb  Kröten,  fotoie  bie 
Krebfe,  bie  iRingelroürmer  mit  Ausnahme  ber  Qtrbwürmer  unb 
@gel,  bann  bie  2Beid)thiere,  b.  f.  SJtufcheln,  ©chneden  unb  unter 
ben  Stachelhäutern  bie  Holothurien  — ober  ©eetoaljen  — , toenn 
auch  aQe  in  »ergebener  öilbung.  ©elbft  für  bie  gifcf)e  ift 
bie  uorhin  gegebene  Sefdjreibung  ber  Kiemen  nid)t  immer  ju< 
treffenb.  ©o  befißen  einige  Knochettfifche  an  ben  Kiemenbogeu 
nur  eine  5Reil)e  oon  ®lättd)eu;  auch  ber  Kiemen 

fdjnmnft  jroifchen  2 unb  4.  SBieber  anbere,  fo  bie  ©alme, 
befißen  noch  f°S-  Slebenfienten,  fiemenähnfiche  Söilbungen  am 
®runbe  beä  SientenbedelS,  meld)e  mohl  ba$u  bienen  mögen, 
bie  Kiemen  feucht  $u  halten,  für  ben  SlthmungSprojefj  jeboch 
ohne  SSebeutung  finb,  ba  ihnen  ein  refpiratorifd)eg  ©efäjjneß 

(699) 


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16 


feßlt.  ®ie  fiabprintßfifcße,  woju  ber  oftinbifc^c  Äiettcrfifd) 
gehört,  ßaben  fonberbar  geftaltete  ©djlutibfnocßen.  $iefelben 
bcfteljcit  aus  feltfam  gewuubenen  Slättcßen,  wdcfje  Meine  fRäume 
bilben,  in  benen  ba«  SBaffer  jurüdgeßalten  werben  fann.  2>ie$ 
madjt  bie  gifcße  fäßig,  Seiche  unb  glüffe  iu  »ertaffen  unb 
längere  $eit  auf  bem  Xrodenen  umßerjufriecßfn.  Sludj  bie 
Siemenfpalten,  befonberä  bie  äußeren,  geigen  mancße  Serfcfjieben* 
feiten.  Sei  ben  fKalen  ift  bie  äußere  Siemenfpalte  feßr  öerengt; 
bei  bem  in  ©urinant  lebenben  aalartigen  Symbranchus  bilben 
äußere  uttb  innere  Siemenfpalten  nur  eine  einzige  unter  ber 
Seßle  gelegene  Oeffnung.  Unter  ben  ©anoibfifcßen  ober 
©cßmeljfcßuppern  befißt  ber  woßl  uon  2UIen  wegen  feiner 
als  „Saoiar"  befannten  Sier  ßocßoereßrte  ©tör  eine  SRebenfieme, 
außerbem  aber  nocß  eine  fog.  Siemenbedelf  ieme,  welche  ein 
refpiratorifcßeS  ©efaßneß  befißt  unb  baßer  als  wirMidje  Sieme 
fungirt.  Sei  ben  Ä'norpelf ifcßen,  ju  welcßen  bie  §aififdje 
unb  3<Merroc^en  gehören,  ftrömt  baS  SEBaffer  nicßt  burd)  bie 
fWunbßößle  in  bie  Siemenßßßle  unb  aus  biefer  burd)  bie  äußere 
Siemenfpalte  wicber  ßerauS,  fonberu  geßt  meift  in  umgefeßrter 
SRicßtung,  unb  finb  baßer  aucß  bie  Siemen  anberS  gebaut. 
$wifcßen  ben  Siemenbogen  füßren  gwar  wie  bei  ben  übrigen 
gifcßett  5 innere  Siemenfpalten  gu  ben  Siemen,  aber  oon  jebem 
Siemenbogen  füßrt  eine  ßäutige  ifSQtte/  an  ^erCH  beiben  ©eiten 
bie  Siemenblättcßeu  angewacbfen  finb,  bis  jur  äußeren  Söanb 
ber  Siemenßßßle,  tßeilt  baburrß  ledere  in  5 fog.  Siemen* 
tafcßen,  bie  jebe  nacß  außen  bun$  eine  eigene  Oeffnung 
münbet,  fo  baß  ftatt  einer  äußeren  Siemenfpalte  beren  5 
öorßanbett  finb.  2)ie  in  ben  glüffen  SuropaS,  and)  im  fRßeine, 
uorfommenbe  ißrife  ober  gemeines  9ieunauge  befißt  fieben 
beutelförmige  Siemen  oßne  Siemenbogen,  welcße  nicßt  einfach  in 
bie  SIÄunbßößle  münben,  fonbern  mit  einem  gemeinfamen  unter 
biefer  gelegenen,  blinb  enbigenben  Sanal,  ber  nad)  öorne  in  bie 

(700) 


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17 


SHunbgögle  übergebt  unb  bort  einen  Happenartigen  ©erfcglug 
befifct,  in  ©erbinbung  fielen;  uon  biefen  7 Kiemenbeuteln  führen 
Kiemengänge  bireft  nacg  äugen.  Slucg  will  icg  gier  nicgt  un« 
erroägnt  (affen,  bag  bie  ftgon  angefügrten  fog.  Sungenfifcge 
aufjer  ben  fiungen  eigentliche  Kiemen  unb  fogar  nocg  Sieben» 
fiemeit  befigen,  moburcg  biefe  gifcge  alfo  im  ftanbe  finb,  fomogl 
in  ber  Suft  als  aucg  im  Baffer  gu  atgmen.  ©iegröfcge  «nb 
Kröten  gaben  befaitntlicg  im  fiaroenguftanbe  ebenfalls  Siemen, 
bem  ooHfommenen  agiere  feglen  biefelben  jebocg.  2)ie  Kiemen» 
molcge  begatten  aber  neben  ben  £ungeit  nocg  nacg  ber  ÜJteta» 
morpgofe  äugere,  büfcgelförmige  Kiemen,  melcge,  an  fnorpeligen 
Kientenbögen  befeftigt,  neben  ben  Kiemenfpalten  an  ben  ©eiten 
be3  HalfeS  gerabgängen.  ®ie  Kruftentgiere  ober  Krebfe 
befifjen  faft  alle  (einige  Slffeln  unb  bie  fog.  gifcgläufe  aus» 
genommen)  Kiemen  »on  blattförmiger  ober  ctjlinbrifcger  ©eftalt. 
©ie  figen  meift  am  ©runbe  ber  oorberen  magren  giige  unb 
bitben  entroeber  äugere  Körperangänge  ober  liegen  mie  bei  ben 
Krabben  unb  glugfrebfeu  in  einer  befonberen  Kiemengögte, 
melcge  burcg  2 ©palten  nacg  äugen  münbet.  $urcg  bie  eine 
am  ©runbe  ber  güjje  gelegene  Oeffnung  tritt  baS  Baffer  in 
bie  Kiemengögle  ein  unb  burcg  bie  anberc  an  ben  gregmer!» 
geugen  gelegene  ©palte  toieber  gerauS,  eine  ©trömung,  melcge 
ber  meift  rücfgäitgigen  ©eroegung  ber  Krebfe  angepagt  ift.  $ie 
ßagl  ber  Kiemen  bei  ben  Krebfen  fcgroanlt  gmtfcgen  6 unb  21. 
©ei  beit  Slffeln,  öon  benen  mogl  bie  ÜJtaueraffel,  KeKeraffel 
ober  KeQerefel  unb  Stodaffel  belannt  fein  biirften,  finb  bie  fünf 
Sßaar  Slfterbeine  beS  Hinterleibes  in  bacggtegelartig  übereinanber» 
gelagerte  Kiemenlamellen  umgemanbelt;  babei  bilbet  gemögnlicg 
baS  oorberfte  ©aar  einen  SDecfelapparat,  beffen  beibe  Klappen 
eine  förmlicge  Ätgemgögle  umfcgltegen;  in  biefer  befinbet  ficg 
fiuft,  melcge  burcg  ©palten  nacg  äugen  entroeicgen  fann.  S)en 
an  gifcgen  fcgmarogenben  gifcgläufen  feglen  meift  befonbere 

Sammlung.  #.  {$.  V.  115.  2 (701) 


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18 


SlthmungSorgane,  fo  baß  bei  ihnen  woßl  bie  Siefpiration  burd) 
bie  Sörperßaut  beforgt  n>irb.  Sie  SRingelwür mer  athmen 
mit  §tuänabme  ber  (Srbwürmer  unb  @gel,  wie  id)  fdjon  an- 
führte,  burd)  dienten.  Ser  Siemenapparat  befteßt  entweber 
au§  um  baS  Sopfenbe  gefteßten  tentafelförmigen  Mntjängen  ober 
au0  blattförmigen,  gefieberten,  meift  auf  bem  SRüden  befinb- 
liefert  Sn^ängen,  beren  Oberfläche  mit  einem  garten  fjlimmer- 
epithelium  überzogen  ift.  graft  äße  9Roltu8fen  ober  SB  ei  dp 
thiere  finb  mit  wirtlichen  Siemen  öerfeßen,  bie  enttoeber  in  einer 
SRantelhöhle  ober  in  einer  burch  Ummanblung  ber  lederen 
entftanbenen  fpöfjle  liegen  unb  entmeber  gefiebert,  blattförmig 
ober  fogar  fadförmig  finb.  ©o  befifcen  g.  93.  bie  ÜJtufcheln 
meift  4 blattförmige  Siemen,  bie  paarweife  mit  bem  einen 
ÜRanbe  am  ßtiiefen  feftfifcen,  wäbrenb  ber  anbere  9tanb  frei  nach 
unten  gelehrt  ift,  fo  baß  baburdj  eine  Slrt  Safdfe  gebilbet  wirb. 
Sabei  finb  fie  mit  oieten  SBimpern  toerfefjeti  unb  burch  Jfl&l* 
reiche  Ceffnungen  fiebartig  burchbrodfen.  Sa8  SBaffer  gelangt 
gu  ben  Siemen  burch  einen  uon  beit  bie  Siemen  bebeefenben 
SRantelblättern  beg  SßiereS  gebilbeten  ©palt  ober  auch  burch 
gwei  ooit  biefen  burch  SSerwadjfung  gebilbete  Röhren  (©iphonen) 
unb  wirb  auch  burch  biefelben  Oeffnungen  wieber,  nadjbem  e« 
bie  Siemen  befpnlt,  nach  außen  entleert.  Ser  SBechfel  bes  die- 
fpirationäwafferä  wirb  burch  bie  wahrfd)einli<h  »an  bem  SBißen 
ber  Jh*ere  unabhängige  Bewegung  ber  SBimpern  beforgt.  Sei 
ben  Sunitaten  ober  SDZantelthieren,  wogu  bie  im  SKeere 
lebenben  ©eefcheiben  unb  ©alpen  gehören,  finb  bie  Siemen  nicht 
mehr  frei,  fonbern  meift  gu  einem  ooflftänbigen  Siemenfad 
oerwachfen.  Sie  ßftantelblätter  be3  Shtere«  finb  bis  auf  gwei 
Oeffnungen  miteinanber  oereinigt.  Surch  bie  eine  berfelben,  bie 
ÜDtunböffnung , gelangt  ba8  Stefpirationöwaffer  in  ben  Siemenfad 
unb  burch  bie  anbere,  bie  Sloafenöffnung,  nebft  ben  abgefon- 
berten  (Sjfrementen  nach  außen.  Sie  Siemenhaut  ift  auf  ber 

(702) 


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19 


inneren  glätte  mit  rcdjtnnnfelig  ficfj  freujenben  Seiften  bnrd)* 
^ogen,  bie  beiberfeitö  mit  einer  Steiße  glimmercilien  befeßt  finb, 
toefdje  bie  regelmäßige  SBafferftrömung  unterhalten.  2)ie  Äieme 
erljält  bnburd)  baS  EluSfeßen  eines  SteßeS,  burcß  beffett  üDtafdjen, 
ftiemenfpalten,  baS  burcß  ben  SRunb  aufgenommene  SEBaffer 
ßinbnrdjgetrieben  wirb  unb  bort  ben  ©auerftoff  an  baS  58lut 
abgiebt,  weldfeS  in  ben  ßmifcßcnräumen  ber  ©palten  cirfulirt. 
93ei  einigen  ©alpen  bilbet  bie  ftieme  eine  ben  Körper  faft  ber 
ganjen  Sänge  nodf  quer  burcf)$ief)enbe  ©eßeibewanb , fo  3,  58. 


Sulp»  maxiinn.  (iHaiört.  ®r8ät.  mtn  ber  Seite  gtfrtru.) 


. HundaffnttaQ 


ti’  ii ktnSfjnt/tig 


fiatftMwdt 

ballen 


jf>  t 1 j . #on  wcldtcm  bie  triffnartigfit  Vtbevn  rnifptingrn , in  bet  'Jinix 
bei  t iii:  reu  fiRbrn  fidt  tu-  burdt  rnvallrtc  Slrtitic  angebniteten  ÜJtuMrln.  inelitie  bie 
Sufammrnjlc^mig  brü  Sörperb  bewirten 


bei  Salpa  maxima.  58ei  ben  ©eßneefen  atßmen  alle,  nur 
bie  fdjon  ju  Einfang  be§  StortragS  ermähnten  Sungenfdjtteden 
ausgenommen,  burdj  Äiemen.  5)iefelben  finb  meift  famm>  ober 
feberförmig  unb  liegen  enttoeber  auf  bem  Stiicfen  frei  ober  in 
eine  Siemenßößle  eingebettet;  manchmal  finb  fie  ringö  um  ben 
ganjen  Körper  ober  nur  freiSförmig  um  ben  ganjen  Elfter  ge* 
(teilt;  toicber  bei  anberen  finb  bie  Stiemen  in  jroei  Steißen  att 
ben  ©eiten  be$  Körpers  angebracht,  Ueberßaupt  ift  Elnorbnung 
unb  ©eftalt  ber  Stiemen  bei  ben  ©dpteefen  äußerft  mannigfaltig; 

2*  (70S) 


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ber  fRaum  erlaubt  mir  näher  barauf  eiujnge^en;  jubem  ift 
aber  auch  biefe  Skrfchieben&eit  nur  für  ben  ©pftematifer  Don 
befonberer  Sebeutung.  SDie  3al)l  ber  Stiemen  ift  faft  ftet#  2. 
S)ie  Sopffiißer  ober  Xintenfifdje  befreit  unberoimperte, 
tfjeil#  blattartige,  tfjeil#  al#  §autfa(ten  auf  Stiemenbogen  er- 
fdjeineube  Stiemen,  beren  bei  ben  eigentlichen  Jintenfifc^en 
unb  bem  ißapiernautilu#  2,  bei  bem  gemeinen  ©cf)iff#boot  ba- 
gegen  4 beträgt.  $urd)  Sßermacbfung  jmeicr  mu#fulöfer  Sappen 
entfielt  eine  mehr  ober  minber  ootlfommene  SRöljre  (Jridjter), 
bereit  offene#  ©nbe  gtuifdjen  ber  ^interflädje  be#  Stör  per#  unb 
ber  9Ratttelmanb  bet  Siemenhöf)le  belegen  ift.  ®a,  wie  gejagt, 
bie  Stiemen  unbetoimpert  finb,  fo  mirb  ber  2Sed)fel  be#  Sie* 
fpiration#waffer#  burd)  bie  5lthembewegungen  be#  X^iere#  be- 
forgt,  inbem  ba#  ©eewaffer  burd)  ben  geöffneten  ÜJiantelranb 
ju  beiben  ©eiten  be#  Trichter#  in  bie  Siemenhöljle  eiitbringt 
unb,  nad)bem  e#  bie  Siemen  befpült,  burd)  ba#  3uf a m nt  ertlichen 
be#  ÜRantel#  unb  Jxidjter#  bei  gefdjloffenent  9Rantelranb  burd) 
ben  Iridper  wiebev  au#geftoßeti  wirb.  Ob  bie  £>olotl)urien 
ober  ©e entölen  nur  burcß  bie  äußere  $aut  ober  and)  außer- 
bem  nod)  burd)  Siemen  atfjmen,  ift  noch  nid)t  entfliehen. 
Merbing#  fefjen  bie  meiften  iRaturforfdjer  bie  früher  al# 
„SBafferlutigen"  bejeidjneten  unb  jwifcf)en  ben  SEBinbungcn  be# 
25armfanal#  gelegenen,  röhrenförmig  oeräftelteti  ober  unoer- 
äftelteu  Organe,  welche  oereinigt  in  bie  Sloafe  be#  3Jfaft- 
barm#  miinben,  al#  innere  Siemen  an;  bod)  bürfte  nach 
üRußn  eine  ejrfretorifche  $ßätigfeit  berfelben  nicht  au#ge- 
fchloffen  fein , währenb  ber  englifche  Zoologe  §ttylet)  fte 
auäfdjließlicf)  nur  al#  @yfretion#organe  betrachtet  roiffen 
will. 

3)ie  jweite  $lrt  öon  Organen  ber  üöafferathmung  ift  ba# 
SIBaffergefäßfhftem.  Slnalog  ben  Tracheen  befteht  ba#jelbe 
au#  röhrenförmigen  Organen,  welche  burd)  Ceffnungen  ba#  bett 

(704) 


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21 


Äörper  umgebenbe  SEBoffcr  in  baS  innere  beSfelben  einzufüßren 
im  ftanbe  finb,  um  e§  bort  in  meift  jat)lreicfjen  ©eräftelungen 
mit  ber  ©äbrfliiffigfeit  beS  £ßiere$  in  ©erüßrung  ju  bringen. 

finbet  ftcß  baßer  nur  bei  im  SBaffer  lebenben  Spieren, 
unb  jmar  unter  ben  SBürmerit  bei  ben  ©äbertßiercßen,  ben 
©trubelroürmern  unb  einigen  ©ingelmiirmern,  j.  ©.  ben  ©egen* 
Würmern  unb  ©lutegeln,  hat  jeboeß  foft  bei  allen  außerbem 


Sdianatijrfir  Tarfitllung  6ti  egafttrgcfäSfBfltaiü  eint*  3ff[ternrt 

So*  öaflrt  gelangt  bunt)  beit  Stunt)  in  ben  Hiingtanal.  »on  bort  bunt)  bic  ®ef4fcft4mtne 
in  bie  3augfüftdini,  allbann  ntieber  \imicf  in  ben  SHtnglanal  unb  bie  $oli|cben  Wlajcn 
unb  biirdi  bereu  Sujammemiebnug  bunt)  ben  Minglanal  in  ben  Strinfanal,  ber  bunt) 
'bie  fog.  Wabreporcnplatte  mit  ber  «uSenmelt  in  Serbinbung  ftebt. 

noeß  bie  ©olle  eines  ©jfretionSorganS  mit  ju  übernehmen, 
roäßrenb  eS  bei  ben  ©tacßelßäutern  eine  Hauptrolle  für  bie 
Fortbewegung  beS  5£^tereS  fpielt.  ©ei  ben  mifroffopifcß  Keinen, 
nur  feiten  1 mm  großen,  früher  ben  Fnfufotien  jugejählten 
©äbertßiercßen  liegt  an  beiben  ©eiten  beS  ftörperS  ein  mel» 
gewunbener,  gefäßreicher  Äanal,  ber  bureß  ©eitengefäße  frei  in 
baS  innere  ber  ßeibeSßößle  führt  unb  fieß  in  zahlreichen  Keinen 
Äeften  in  bie  ©äberfeßeibe  naeß  außen  oerjweigt.  3m  3nneren 

(70ö) 


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miinben  bie  beibeit  Kanäle  in  eine  gemeinfame,  bor  ber  ßloafe 
gelegene,  jufammenjiefjbare,  fontraftile  ölafe,  burd)  beren  Äon- 
!ra!tion  ba$  unbrauchbar  geworbene  SBaffer  burcfj  bie  $(oafe 
auSgetrieben  toirb.  SBielfadj  finb  an  ben  freien  @nben  ber 
©eitengefäjje,  fowie  and}  in  beit  Kanälen  felbft,  lange  SBimpern 
angebracht,  bie  burd)  ihre  beftänbige  Bewegung  einen  2Bed)fel 
be§  SiefpirationSwafferä  beförbern.  Die  int  ©feere  lebenben 
©trubelwurmer  beft^eit  etn  bem  ber  ©äberthierdjen  ähnliches 
Söafjergefäjjjhftem,  bod)  fe^tt  bie  fontraftile  93lafe,  unb  wirb 
baber  bon  bielen  Zoologen  beit  ©trubelwürmern  nur  eine  ©aut» 
atljmung  jugefcbrieben.  Die  SBlutegel  bcfifcen  eine  Stnja^I 
Äanäle,  bie  nadj  au^en  auf  ber  33aud)jeite  miinben  unb  als 
SBaffergefäfjfpftem  gebeutet  werben.  Sei  ben  Siegenwürmern 
finben  fidj  oielfac©  gewuttbette  Kanäle,  welche  burd)  eine  mit 
SBimpern  berjeljene  weite  Oeffnung  in  bie  ßeibeSljöble,  burd) 
eine  enge  Oeffnung  nad)  aufjen  miinben.  Die  ©augwürmer, 
ju  welken  baS  an  ben  Äiemeit  ber  Äarpfett  lebenbe  Doppel- 
bier unb  ber  bejonberS  in  Snglanb  weit  berbreitete  fieberegel, 
welcher  bie  unter  bem  ©amen  Seberfäule  ober  ©ngelfeuche 
befannte  Sranfbeit  ber  SBicberfäuer  ^eroorruft,  gehören,  befiften 
ein  gut  entwidelteS  SBaffergefäjjfbftem,  welches  entweber  auS  einer 
fontraftifen,  nach  aufjen  fic©  öffnenben  Sölafe  ober  auS  SängS* 
gefaben  mit  fontraftifen,  aber  wimperlofen  SBanbungen  beftefp, 
bon  benen  bann  mit  SBimpern  berjeljene  Slefte  attSgeben,  welche 
ben  ganzen  fiörper  burd)jieben  unb  wafjrfdjeinlid)  offen  enbigen. 

SBaS  nun  bie  ©tadjelljäuter  ober  ©c^inobermen  an» 
betrifft,  jo  beftfcen  biejelben  alle,  bie  fcfjon  befprodjenen  ©olotburien 
ober  ©eewaljen  natürlich  ausgenommen,  ein  SBaffergefäfjfpftem, 
wenn  and)  in  betriebener  SluSbilbung.  Slm  boQfommenften  ift  es 
bei  ben  ©eeigeln  unb  ©eefternen  entwicfelt,  mätjrenb  eS  bei  ben 
©aarfteraen  unb  ©d^langenfterntn  unboHfommetter,  ja  bei 
manchen  nur  jpurweife  oorbanben  ift.  Sun  einem  hinter  bem 

'70«) 


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23 


SRunbe  gelegenen  fRingfnnale  gefjeit  meift  fünf  ©efäjjftämme  ab, 
welche  burdj  feitliche  bergweiguugen  in  bie  gur  Fortbewegung 
beS  X^iereö  bienenbeu  ©augfüfsdjen  ober  fog.  Stmbulafral* 
fügten  münben.  Slufjerbem  befinben  fich  an  bem  SRinge  einige 
fontraftile  blafen,  bie  ißotifdjen  blafen,  welche  man  als  Zentral» 
Organe  beS  ganzen  ©efäfcfhftemS  anfe^en  !ann.  ©ie  ftellen 
nämlich  behälter  bar,  in  welchen  baS  oon  ben  ?lmbulafral» 
fügten  gunt  SRingfanale  gurücfftrömenbe  SEBaffer  fid)  anfammeln 
unb  aus  melden  eS  burcf)  bie  Montraftion  ihrer  SBänbe  mieber 
in  ben  iRingfanal  auSgetrieben  werben  fann.  ®er  ®^fiofoge 
3tu^n  nennt  fie  baljer  auch  ißropulfionSorgane.  3)er  9ting- 
fanal  ftet)t  burcf)  ben  fog.  (Steinfanal,  einen  meift  falfigeit 
©cf)(aud),  ber  fid)  burd)  bie  SDfitte  beS  Körpers  hingiefjt,  mit 
ber  Slufjenwett  in  berbinbung.  ®er  SBechfel  beS  JRefpirationS- 
roafferS  wirb  burd)  bie  Bewegung  beS  bie  Fnnenwanb  {amt- 
licher Kanäle  übergiefjenben  F^mn,erefJ*t^e^utng  beforgt.  bei 
ben  ^paarfternen  finb  bie  2ltl)mungSorgane  fjöc^ft  unooH* 
fommen  auSgebilbet.  9tad)  Eirofdjel  foü  bie  innen  längSge- 
faltete  ?lfterröf)re  bie  {Refpiratioit  mitbeforgen;  nad)  ©reef  aber 
folfen  bie  auf  ber  Oberfläche  befinblichen  ®oreit  mit  »erbicften 
geüwänben  in  wimpernbe  Kanäle  führen,  welche  in  bie  fieibeS- 
höhle  münben  unb  leicht  fjlüffigfcit  aus-  unb  eintreten  taffen. 
Stuf  biefe  Sfrt  fönnte  bann  leicht  bem  HthmungSbebürfnifj  ©enüge 
geleiftet  werben. 

betrachten  wir  nun  noch  3um  ©d)luffe  bie  ^>autatl)mung, 
welche  man  gum  Uitterfcfjiebe  oon  ber  eigentlichen  9tefpiration 
auch  wohl  ißerfpiration  nennt,  ©ie  befteljt  ebenfalls  in  lieber- 
gang  oon  ©auerftoff  auS  ber  Siuft  in  baS  blut  unb  in  Slbgabe 
oon  Mohlenfäure  unb  SEBafferbampf  auS  bem  Körper.  3)ie  £>aut- 
athmung  fpielt  in  ber  9latur  eine  größere  SRolle,  als  man  nach 
bem,  was  ich  bisher  angeführt,  glauben  möchte.  @S  ift  wohl 
angunehmen,  bafj  fie  bei  allen  gieren  oorfommt,  wenn  fie 

(707) 


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natürlich  auch  bei  beit  mit  SlthmungSorganen  »erfeheiten  öon  ge« 
ringerer  Sebeutung  ift.  ©elbft  beim  SKeitfdjett,  ber  bod)  bas 
bollfommenfte  Organ  befiel,  finbet  ein  ©aSWedjfel  burdf  bie 
§aut  be«  Körper«  ftatt.  Sei  ber  eigentlichen  Öthmung  beträgt 
bie  in  einer  ©tunbe  au«  ber  atmofpljärifchen  Suft  aufgenommene 
©auerftoff menge  23  Siter  ober  34  ©ramm,  bie  gleichzeitig  au8« 
gefdjiebcne  Kohlenfäure  etwa  40  ©ramm  unb  ber  au«gehaud)te 
SBafferbampf  20  ©ramm.  Sei  ber  .fpautathmung  aber  überroiegt 
bie  Abgabe  ber  SBaffermenge;  biefetbe  füll  in  24  ©tunben 
500—800  ©ramm,  alfo  etwa  20—33  ©ramm  in  ber  ©tunbe 
betragen,  ein  Quantum,  gegen  roelche«  bie  ©auerftoff*  unb 
K'of)lenfäuremenge  faum  in  Setracfjt  fommeit  famt.  Unb  boch 
ift  befannt,  bafc,  tuenn  zwei  drittel  ber  .§aut  be«  menfc^fic^en 
Körper«  etwa  burd)  Serbrennen  oerfcfjt  worben,  ber  Sföeufch 
fterben  muff,  ba  ba«  übrigbleibenbe  drittel  nicht  genügt.  $aut« 
athmung  allein  wirb  meift  nur  foldjen  $l)ieren  zufommen, 
welche  ein  geringe«  Slthembebürfnifj  hüben  unb  beren  |»aut  im 
ftanbe  ift,  einen  ©aSauStaufdj  zlD‘f^en  bfr  inneren  SRähr« 
flüffigfeit  unb  bem  umgebenben  SRebium,  fei  e«  nun  Suft  ober 
SBaffer,  zu  ermöglichen.  SDaher  finbet  fie  fich  benn  auch  aufc« 
bei  ben  im  Serlaufe  meine«  Sortrag«  gelegentlich  erwähnten 
Xhicren  bei  ben  meiften  SBiirmern,  fowie  bei  ben  Sölenteraten 
ober  barmlofen  $h<eren/  &•  f.  Quallen,  Korallen  unb  Schwämme, 
fowie  bei  ben  tßrotojoeu  ober  Urtieren,  zu  welchen  bie  niebrigften 
Organismen  unter  anberen  bie  Snfuforien,  gehören.  SehufS 
SBedjfel  be«  zur  ißerfpiration  bienenben  SBaffer«  finben  mir 
nun  tierfdjiebene  ©inrichtungen;  fo  wirb  bei  folgen,  bie  feiner 
Ortsbewegung  fähig  finb,  z-  s-8-  &e'  ben  feftgewachienen 
Schwämmen,  biefe  er(e$t  burch  bie  burch  ben  ganzen  Organismus 
gehenbe  SBafferftrömung  unb  burch  bie  Sewegung  be«  bie 
K'analmänbe  bebeefenben  f^(immerepit{)eld ; bei  ben  Qfnfuforien 
mögen  bie  SBimperbaare,  welche  »orzugSweife  zwar  SewegungS* 

(708) 


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25 


organe  finb,  ben  3Becf)feI  be$  SRefpirationSWafferS  förbern. 
Ob  bie  bei  ben  3nfuforien  oorhanbeuen  fontraftifen  ©tafen 
(Safuoten)  wirtlich  eine  3ioße  bei  bem  KthmungSproaefj  fpielen, 
ift  noch  nicht  entfliehen,  ©ie  finb  jwar  im  ftanbe,  fid)  mit 
SBaffer  ja  füllen  unb  baSfelfae  wieber  burdj  bie  gufammen» 
jiet)ung  be£  umgebenben  'ißrotopIaSmaS  nad)  aufjen  ju  entleeren. 

2Benn  nun  burd)  bie  ?lt^mung,  fowofß  burch  bie  Suff-, 
wie  auch  SBaffer-  unb  §autntf)mung,  ber  atmofpharifchen  Suft 
fortnmhrenb  ©auerftoff  entzogen  unb  Äoljlenfäure  jugeführt  wirb, 
wirb  bann  nicht,  fo  tuirb  oiefleicht  ber  Sine  ober  Slnbete  fragen, 
im  Saufe  ber  $eiten  eine  Sättigung  ber  Suft  mit  ber  für  ben 
thieriftfjen  Organismus  unbrauchbaren  Äoljtenffiure  unb  ein 
3JiangeI  an  ©auerftoff  eintreten?  ©ewifj  würbe  bicS  ber  gaß 
fein,  wenn  nicht  bie  ®flanjen  für  ben  Aufbau  ihre«  ÄorperS 
beS  StohtenftoffS  bebürften;  burd)  bie  in  ben  SBIättern  befinb* 
liehen  ©paltöffuungcn  nehmen  fie  bie  ilohlenfäure  ber  Suft  auf, 
jerlegett  biefelbe  mit  £iilfe  beS  SidjteS  in  ihre  Seftanbtheile, 
Äo^fenftoff  unb  ©auerftoff,  unb  geben  atsbann  ben  für  fie  un* 
tauglichen  ©auerftoff  wieber  ab.  ©o  wirb  baS  nöthige  ©leid}* 
gewidjt  in  ber  atmofphäriichen  Suft  wieber  hergeftetlt.  $hiere 
unb  ®flan$en  finb,  wie  in  fo  oiclen  anberen  Beziehungen,  alfo 
auch  bei  ber  Slthmung,  gegeufeitig  ooneinanbet  abhängig.  3a, 
wahrlid)  gro&  unb  wunberbar  ift  baS  Buch  ber  'Jiatur;  man 
mufj  nur  oerftehen,  barin  zu  lefenl! 


ow> 


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ttaffenmifdjung 

im 

Jubentljm 


Sou 

Dr.  $So«!  Jlfsfierg 

in 


9Rit  brei  Slbbilbungen. 


Hamburg. 

IBerlagganftalt  unb  55rucferei  $!.•©.  (üortnalS  3-  3-  Stifter). 

1891. 


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£>a«  9ied;t  ber  Ueberfefcung  in  frembe  ©praßen  wirb  corbcbaltea. 


trmt  brr  SertagJanftalt  nnb  $ rudern  Vcttrn-VtfeQftbaft 
Normal»  3.  g.  Sidjtrr)  ln  Hamburg 


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vor  furjem  war  bie  Steinßeit  ber  jübifcßen  fRaffe  ein 
faft  unbeftritteneg  SDogma;  beim  nicfjt  nur  in  £aien!rctfen, 
jonbern  and)  unter  ben  Stntßropologen  war  bie  Stnfidjt  ^iemtic^ 
allgemein  verbreitet,  baß  bie  Kinber  3$raelg  ben  t»on  ißnen 
vertretenen  femitifdjcit  $ppug  von  SSermifcßnng  mit  anberen 
etßniftf)en  (Slementen  frei  erhalten  unb  baß  biefdbett  vermöge 
ber  3aßrtaufenbe  ßinburd)  fortgefeßten  Sfoliruttg  unb  2lb= 
gefdjfoffenßeit  biefe  ©tammegreinßeit  big  auf  ben  heutigen  lag 
bewaßrt  ßätten.  5n  feiner  verbienftvoKen  Slbljaublung:  „gur 
Solfgfnnbe  ber  Suben"1  erlennt  SHidjarb  Slnbree  jwar  bie 
Sßatfacße  an,  baß  itt  ben  ölteften  $eiten  ÜJliftßuitgen  ber  3uben 
mit  anberen  Söllern  ftattgefunben  fjabeit;  ber  befagte  ?lutor 
fpricßt  aber  jugleid)  feine  Stnfidjt  baßin  au«,  „baß  biefe  Sei« 
mifcßungen  von  bem  unverwüftficß  fcßeinenbett  Stamme  völlig 
überwuttben  unb  bcrart  aufgefcßliirft  worben  feien,  baß  ba$ 
allgemeine  ßomogene  ©efüge  barunter  nidjt  litt  unb  ber  monu* 
mentale  |>ebräertppug  in  Körper  unb  ®eift  ftetS  fiegreidj  wieber 
aug  ber  2ftifdjung  ßervorging".  SSeiterfjin  bemerft  ber  nämlicße 
©eletjrte:  ®ie  fämtlicßen  äJlifdßungen  mit  ßeibnifdfen  SQSeibern, 
welcße  in  ben  ölteften  $eiten  in  Sorberafiett  ftattfanben,  fonnten 
in  Sejug  auf  ben  förderlichen  ^jabituS  ber  Suben  um  begwillen 
leine  feßr  wefeutlidje  Slenberung  ßervorbringeit,  weil  eß  meift 

Sammlung.  91.  g.  V.  116.  1*  (713) 


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4 


Semitinnen  anberer  Stämme  waren,  welche  bie  3uben  ju 
SBeibern  genommen  patten".  — Soweit  fRicparb  Anbree.  3)a§ 
aber  bie  in  festerem  Sitat  au«gefprocpene  2tnficf>t  heutzutage 
nicht  mehr  aufrecht  erhalten  werben  fann,  bag  fcpon  oor 
3aprtaufenben  in  ^aläftina  unb  ©orberafien  eine 
intenfioe  ©ermifcpung  be«  jübifchen  Stamme«  mit 
einem  inbogermanifcpen  ©otfe  unb  waprfcpeinlich  auch 
mit  Angehörigen  ber  mottgolifchen  SRaffe  ftattgefunben 
hat,  bag  bemnach  bie  heutigen  3uben  feine«weg«  al« 
jener  reine  SRaffentppu«  angefehen  werben  bürfen, 
al«  welche  man  fie  gewöhnlich  betrachtet,  — ju  biefem 
Scpluffe  brängeti  gewiffe  neuere  gorfcpungen,  bie  un«  im  nach1 
fotgenben  befchäftigen  werben. 

3)ag  im  heutigen  ^ßatäftina  bie  ©eoölfcrung  eine  gemifchte 
ift,  hierüber  taffen  bie  Berichte  ber  SReifenben  unb  gorfcper,  bie 
innerhalb  ber  lepten  Saprzehnte  ba«  heilige  2anb  befuept  paben, 
feinen  ^weifet  beftehen.  3)er  befannte  Oyforber  (gelehrte,  ©rof. 
A.  Sapce  bemerft,  * bag  er  fcpon  bei  feinem  erften  ©efuepe 
in  ißaläftina  überrafcht  war  burep  bie  beträchtliche  Anjapl  oon 
blauäugigen  unb  btonbpaarigen  Sfinbern  mit  peller  Hautfarbe, 
benen  er  in  ben  Stäbten  unb  Ortfcpaften,  in«befonbere  im 
gebirgigen  Xpeife  be«  Sanbe«,  begegnete.  5Diefe  btonben  ©olf«- 
elemente  be«  heutigen  ©aläftina«  galten  bi«  oor  furjem  noch 
für  SRacpfommeu  oon  91  orbeuropäern,  bie  burep  bie  ßteujjüge 
ober  ähnliche  (Sreigniffe  im  SJiittelalter  naep  bem  heiligen  Sanbe 
oerfcplagen  würben.  @in  ganz  neue«  fiiept  ift  inbeffen  über 
biefe  btonbe  ©eoötferung  ißaläftina«  oerbreitet  worben  burep 
bie  oon  ben  (Snglänbern  C«burne  unb  glinber«  ©etrie  in 
Aegppteit  angefteHten  etpnologifcpen  Unterfucpungen.  Scpon  oor 
mehreren  gapren  patte  ber  juerft  erwäpnte  gorfeper  auf  bie 
Spatfacpe  pingeioiefen,  bag  auf  ben  Abbilbungcn  ber  Tempel- 
unb  egräberbauten  au«  ber  geit  SRamfe«  II.,  wie  fie  ju  Abu 

C714) 


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o 


©imbel  un«  erhalten  fiitb , bie  ©djafa  ton  Äanana  (ftanaan) 
mit  blauen  Augen,  rötblicb  blonbem  §auptbaar  unb  ebenso 
gefärbtem  ©arte  unb  Augenbrauen,  unb  bie  Amaur  (Amar) 
ebenfalls  mit  blauen  Augen,  rötf)ticf)em  fmuptbaar,  ©art  unb 
Augenbrauen  §ur  ®arfteflung  gebraut  finb.  $>a  aber  — fo 
folgerte  Oiburne  bann  weiter  — nach  ben  SDlittbeilungen  ber 
3nf<briften,  beim,  ber  ©appru«,  bie  ©cbafu  ton  Ranana  etwa« 
füblict)  ton  Hebron  wohnten,  wäbreitb  bie  Amaur  ^njeifefSotjue 


Öittitrr. 


ibentifcb  finb  mit  ben  Amoritern  be$  alten  leftaments,  fo  unter« 
liegt  e8  feinem  8rce‘M/  bafj  bereits  im  14.  Saljrbunbert 
tor  bem  ©eginne  unferer  3eittecbnung  in  ©aläftina 
eine  ©etölferung  ton  inbogermanifdjer  (atifcber) 
Abfunft  gelebt  bat.  Auch  finb  bie  im  torbergebenben  er« 
wäbnteit  ©cbläffe  burcb  bie  ton  glinberS  fßetrie  neuerbingS 
angefteHten  Unterteilungen8  in  toüftem  Umfange  beftätigt 
worben,  ©on  ber  britifcben  Affociation  ber  Söiffenfdjaften  ba« 
mit  beauftragt,  ^ßb0t09raPbten  unb  Abgüffe  bcrjufteüen  ton  ben 
etbnologifeben  ®ppen,  welche  auf  altägpptifcben  ®enfmälent  uns 

(715) 


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6 


entgegentreten,  fanb  er,  baß  auf  bem  SBanbgemätbe  eine« 
tfjebanifcßeu  ©rabeS  ber  Herrfdjer  non  ftabefd)  am  OronteS  mit 
meißer  Haut  nnb  f)eßem  rötl)lid)-braunem  Haar  gur  3>arfteßung 
gebraut  ift.  9?un  mar  fiabefd)  bie  fiibtidje  $auptftabt  ber 
Hittiter  (ßbittiter  ober  S^eta),  nac^bem  biefeS  93oIf  Serien  er- 
obert {>atte;  aber  bie  altägpptifdjen  3nfd)riften  bejeidjnen  biefe 
©tabt  als  „im  £anbe  Joon  Slmaur  gelegen",  unb  baß  ber  in 
bem  kbefagteu  ©rabe  .bargefteßte  Herrfdjer  oon  ftabefdj  oon 
amoritifdjer  ^»erfunft  geroefen  fein  muß:,  biefer  ©djluß  ergiebt 


ülmoritrr. 


fiel)  aus  ber  $f)atfad)e,  baß  bie  Hittiter  auf  ben  SBanbgemälben 
SUtägtjptenS  mit  gelber  ober  orangefarbiger  Haut,  bunflem  Haar 
unb  bunflen  Slugen,  foroie  mit  häßlichen  ©efidjtSgügen  unb 
anberen  fogleicf)  gu  erörternben  6igentf)ümlid)feiten  bargefteßt 
finb.  3m  ©egenfaß  gu  ber  foeben  ermähnten  ©rfdjeiuung  ber 
Hittiter  treten  unS  bie  Slmaitr  (Slmoriter)  auf  ben  oon  glinberS 
Metrie  reprobugirten  SBanbgemälben  unb  ©fulpturen  als  ein 
burct)  förperlicße  ©cßön^eit  fid|  auSgeidjnenbeS  ®ot?  mit  fub> 
aquilinen  9iafen  unb  nad)  unten  fpijjgulaufenbem  Äinnbart 
entgegen.  Söart  unb  Hauptfjaar  finb  röttßidjbraun;  bie  Haut- 
farbe ift  nad)  bem  [e§termäf)nten  ©elefjrten  ein  auf  bie  ©inroirfung 

(716) 


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lgkj 


7 


ber  ©onne  guriicfguführenbe«  Stofarotß,4  unter  bem  jebod)  ber 
bette  ©runbton  ber  |iautfärbung  beutlicß  ^croortritt.  ®ie  in 
9lebe  ftetjenben  $arftetlungen  taffen  auch  bie  h<>he  ©tatur, 
ba«  regelmäßige  Sßrofit  (cfjarafterifirt  in«befonbere  baburdj, 
baß  ber  SJtafenrücfen  at«  eine  gortfejjung  ber  etrna«  fcßräg 
nach  oorn  abfaflenben  ©tim  erfc^eint)  unb  bie  überau« 
energifcfjen  unb  martialifcßen  3üge  biefer  Seoölferuttg  beutlid) 
erfenneu. 

Stach  ben  obigen  geftftellungen  unterliegt  e«  alfo  feinem 
.ßroeifel,  baß,  eße  noch  bie  S^raetiten  ißatäftina  in 
SBefiß  genommen  hatten,  ein  Sttjeil  biefe«£aube«  »on 
einer  burcß  ßetten  eint,  rötfjlidje«  $art»  unb  |jaupt= 
haar  unb  blaue  Singen  gefenngeicßneten  Seoötfer ung, 
— alfo  einer  Stoffe,  roeldje  bie  djarafteriftifchen 
©igenttjümtichfeiten  be«  gerntanifdjen  gmeige«  ber 
großen  arifcßen  SSötferfamilie  auftoie«  — bemoßnt 
mar.  2)ie  ®enfmäter  unb  Stufgeicßnungen  Slltäghpten«  lehren 
un«  aber  ferner,  baß  biefe  roeiße,  oon  ber  femitifdjen  ©eoötferung 
be«  Zeitigen  Sanbe«  ftcfj  roefentlid)  unterfdjeibenbe  Staffe  auch 
nad)  ber  Sroberung  fßatäftina«  burd)  bie  3«raelitcn  bafetbft 
meiter  ejiftirte.  $)ie  auf  einem  äghptifdjen  SBanbgemätbe  au« 
ber  Spodje  ber  22.  SDpnaftie  gur  ©arftettung  gebrachten  ftrieger, 
melcße  ©ßifhaf  gur  ßeit  Steßobeam«  in  feinem  Stiege  mit  ben 
©täbten  3uba«  gu  ©efangenen  gemacht  hat,  haben  nicht  fübifcße, 
fonbern  amoritifcße  ©efidßgüge.  ©ie  haben  burdjau«  nicht« 
gemein  mit  jenen,  auf  bem  fcßmargen  Obeli«!  oon  Stimrub  mit 
beutlid)  auägefprodjener  jübifcßer  ^ßßfiognomie  bargefteßten 
SDtännern,  toeldje  ben  Tribut  3eßu«  überbringen.  @«  muß  alfo 
nocß  im  10.  Sahrhuubert  ber  Oorcßriftlichen  Slera  ba«  ®ro«  ber 
ffieoötferung  im  fübtidjen  Subäa  ooit  amoritifcßer  b.  i.  inbo- 
germanifcßer  Hbfunft  geroefen  fein,  unb  ift  e«  unter  fotdjen 
Umftänben  leicht  erftärlid),  baß,  mie  oben  bemerft,  noch  heutgutage 

(717) 


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8 


in  gemiffen  ©egenben  ißalöftinaS  SRefte  biefer  blonbcit  IBeoölferung 
nachgewiefen  werben  fönnen. 

SBir  wollen  an  btefer  Stelle  einfchalten,  baß  ber  SRachmeiS 
»on  bem  ehemaligen  ffiorhanbenfein  eine«  .gweigeS  &«  in&o» 
germanifchen  SRaffe  im  ^eiligen  Sanbe  für  bie  anthropologifdj» 
urgefchid)tlicbe  gorfchung  auch  infofern  oon  hohem  Sntereffe  ift, 
als  burd)  biefelbe  für  gemiffe  Uhotfadjen,  bie  man  fich  bisher 
nicht  recht  ju  erflären  mußte,  eine  ©rflärung  geliefert  wirb. 
3ene  weiße  9iaffe  beS  alten  ißaläftina  fteht,  mie  Satjce  hersor- 
hebt,5  im  engften  gufammenhang  mit  jener,  ehebem  in  9torb* 
afrifa  weit  oerbreiteten  weißen  Seoölferung,  als  beren  Ueberrefte 
jufolge  ben  SDtittljeilungen  oon  namhaften  franjöfifchen  ©eiehrten 
bie  Sabtjlenftcimme  SllgerienS  ju  betrachten  finb.  Sßährenb 
man  noch  oor  einigen  Sahren  bie  burd)  h°he  Statur  unb  hellen 
Seint,  fowie  burd)  ihren  perfönlichen  SJiuth  unb  ihre  Sorliebe 
für  Freiheit  unb  ftaatliche  Orbnung  fich  auSjeichnenben,  im  lief* 
Ianb  weniger  gut,  als  in  ben  ©ebirgSgegenben  gebeihenben 
$abt)len  als  9tad)fommen  ber  über  bie  iberifdje  ^albinfel  nach 
SRorbafrifa  eingewanberten  93anbalen  betrachtete,  fyaben  neuere 
Unterfuchungen  eS  wahrfcheinlich  gemacht,  baß  jene  weiße  93e» 
oölferung  9lorbafrif aS , beren  leßte  9iefte  uns  in  ben  Sabplen» 
ftämmen  entgegentreten,  bereits  feit  ben  fpäteren  Äbfdjnitten  ber 
neolithifdjen  ißeriobe  (jüngeren  Steinjeit)  bie  füblichen  Säften» 
länber  beS  SRittelmeereS  bewohnt.  Satjce  hält  bie  befagte  23e* 
oölferung  für  ibentifd)  mit  ben  Sibpern  beS  SUtertljumS,  währenb 
glinberS  ißetrie  auf  bie  Uebereinftimmung  hinweift,  welche  bie 
auf  altägtjptifchen  Sfulpturen  unb  ©emälben  jur  ®arftetlung 
gebrachten  £f)al)ennu  oon  SRorbafrifa  hinfichtlich  ihr«  ©efichtS* 
$üge  mit  ben  Slmoritern  ju  erfennen  geben.  3)urch  ben  SRachmeiS 
oon  bem  ehemaligen  S3orljanbenfein  einer  ben  Snbogermanen 
ftammoerwanbten  Seoölferung  in  Üiorbafrifa  erflart  ftch  auch 
aufs  ungejwungenfte  bie  oon  mehreren  ^orfdjent  feftgeftellte 

(718) 


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9 


Xfjatfocfie,  bah  bie  ©uanchen,  jene  auSgeftorbene  Seoölferung 
ber  fanarifdien  3nfeln,  welche  gegenwärtig  nur  noch  oermifdjt 
mit  onberen  etljnifchen  ©lementen  in  ben  heutigen  ©ewohnern 
ber  Sonoren  fortlebt  unb  beren  ©felettreftc  auö  ben  §ö^len  oon 
©ran  ©anaria  unb  Teneriffa  $u  Jage  geförbert  werben,  — bah 
biefe  ©uandjen  ^infid)tlid)  ihrer  ©d}äbelbilbung,  ©tatur  unb 
anberer  förperlicher  @igenthümlid)feiten  eine  bemerfenötoertfie 
Uebereinftimmung  mit  ben  ©ermanen  aufweifen.  3ene  ehemalige 
Weiße  ©eoölferung  fftorbafrifaö,  als  beren  5Refte  bie  Kabplen* 
ftämme  ju  betrachten  finb,  hot  fic^  — fo  muh  jeßt  als  hödjft 
wahrfdjeinlid)  angenommen  werben  — entlang  bem  SRorbranbe 
beS  Kontinents  nad)  SBeften  auSgebreitet  unb  hat  auch,  00n  ber 
2Beft!üfte  beS  heut'Sen  3Horoffo  nach  ben  Kanaren  iiberfe^enb, 
biefe  3nfeln  in  ©efifc  genommen,  ©ine  ganj  befonbere  ©ließe 
erhält  bie  Jhe°rie  oon  bem  ehemaligen  SBorljanbenfein  einer 
weiten,  ben  Qnbogermanen  nahe  oerwanbten  ©affe  in  9iorb* 
afrifa  unb  ©aläftina  ferner  noch  burdj  bie  ©erbreitung  gewiffer 
twrgefchidjtlidjer  ©rabbenfmäler  in  ben  befagteu  ©ebieten.  3ene 
unter  bem  Flamen  ber  „Jolmen"  allgemein  befannten,  aus  brei 
ober  mehr  mächtigen  ©teinplatten,  bie  entweber  jur  gorm  einer 
©rabfammer  ober  eines  ©teintifc^cS  (Menhir)  jufammengeftellt, 
mitunter  auch  „©teinfreife"  (Cromlech)  placirt  finb,  be* 
ftehenben  prähiftorifchen  ©rabmonumente  finben  fich  überein* 
ftimmenb  in  SRorbafrifa  unb  ißaläftina,  unb  jwar  in  festerem 
Sanbe  houptfächlid)  öftlid)  »om  Sorban,  alfo  in  jenem  ©ebiete, 
wo  bie  oon  Smoritern  begrünbeten  Königreiche  ©afan  unb 
^efchbon  einft  beftanben  hoben.  Sind)  ift  im  ^jinblitf  auf  bie 
oon  gaibfjerbe  unb  Slnberen  nachgewiefene  JhatM)e'  bah  eine 
jufammenhängenbe  SReihe  biefer  merfwürbigen  prähiftorifchen 
SRonumente  oon  ben  britifdjen  Qnfelit  über  granfreid)  (wo  fie 
inSbefonbere  in  ber  ©retagne  in  großer  Slnjahl  oertreten  finb) 
burch  ©panien,  SRaroffo,  Algerien,  Junis  unb  JripoliS  bis 

(71») 


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10 

nad)  (Serien  unb  paläftina  fich  — im  |>inblicf  auf 

biefe  Sfjatfadjc  ift  fcfjon  bor  mehreren  Sohren,  e^e  man  iiod) 
non  bem  ehemaligen  Sorhanbenfeitt  einer  inbogermanifdjeit  93e* 
bölferung  in  Norbafrifa  unb  ißaläftina  auch  nur  &*e  seringfte 
3bee  hotte,  bon  feiten  namhafter  gorfdjer  bie  Sermnthung 
auSgefprochcn  worben,  bafj  bie  ©emeinfamfeit  unb  bemerfenä* 
werthe  Uebereinftimmung  in  ber  Äonftruftion  biefer  ©rabbenf* 
mäler  auf  berwanbtfchaftliche  ©ejiehungett  jwijchen  ber  Se* 
bölferung  biefer  ©ebiete  hinbeute. 

2Baö  fpeciell  bie  SBohnfi^e  anlangt,  welche  bie  inbogerma* 
nifche  Seoölferuitg  im  alten  Paläftina  iune  hotte,  fo  lehren 
uns  bie  im  alten  Steftamente  enthaltenen  Nachrichten,  bag  bie 
Slmoriter  3U  einer  gewiffen  $eit  jene  ©ebirgögegenb  bewohnten, 
welche  oon  Slabefch  im  Norben  bis  an  ben  Nanb  ber  füblich 
oon  Snbäa  gelegenen  SSiifte  ficf)  erftrecft,  unb  bafj  biefelben 
öftlich  bom  Sorban  bie  juoor  erwähnten  Königreiche  Safan 
unb  £>efd}boit  gegrünbet  hoben.  ©he  fk  nach  Paläftina  ge* 
langten,  fcheinen  fie  ihre  SBohnfifce  in  ber  ©uphratebene  gehabt 
ju  haben;  bie  in  ben  affprifdjen  fteilfchriften  unS  überlieferten 
Namen  ber  weftlich  bom  ©uphrat  gelegenen  Ortfdjaften  Seth* 
SlmmariS  unb  $lp*2lmmariS  finb  nach  ©apce  auf  bie  Slmoriter 
jurücf^ufiihren.  Nach  XomfinS6  finb  fowohl  bie  ©ibeoniter, 
wie  bie  Slnafim  beS  alten  SfceftamentS,  als  $meige  ^ großen 
fümoriterftammeS  auf^uf affen.  2)ie  ^errfchaft  beS  lefjteren  fcheint 
fid)  ju  einer  gewiffen  3e*t  über  ben  größten  $hetf  PaläftinaS 
erftrecft  ju  hoben;  fpäter  würben  bie  Slmoriter  burch  bie  bor* 
bringenben  ©tämme  ber  SNoabiter,  Slmraoniter  unb  ©bomiter 
auö  bem  größeren  X^eile  beS  oon  ihnen  befe^ten  ©ebieteS  ber* 
trieben.  3>er  Name  „§oriter",  weldjet  ihnen  itt  ©bom  bei* 
gelegt  würbe,  wirb  bon  ©apce  alä  „weifje  Scanner"  iiberfefet. 
©ine  ©teile  im  Pentateuch  (Numeri  XIII.,  29)  befagt  aus* 
brüdlich,  bafj,  ehe  noch  bie  Söraeliten  baS  gelobte  Sanb  in 

(720) 


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11 


SBefijj  nahmen,  ba«  Äüftengebiet  utib  ba«  X^af  be«  3orban« 
im  ©efifce  ber  Saitaaniter,  ba«  unmittelbar  angrenjenbe  ©ebirg«- 
lanb  aber  im  Söefi^e  ber  |>ittiter  unb  3ebufiter  — welche  ledere 
ltatb  einer  ©teile  im  ®ucf)e  @jed)iel  al«  eine  au«  ber  Shreuiung 
oon  ^>ittitern  unb  Slmoritern  ^ernorgegangcne  SDiifdiraffe  auf« 
jufaffen  finb  — fid)  bcfunben  bat.  Segen  ber  Ijofyen  ©tatur, 
bie  fie  mit  anberen  ^Ungehörigen  ber  inbogermanifcben  9taffe 
gemein  haben  unb  bie,  wie  bereit«  erwähnt,  auch  auf  beit  alt* 
ägtjptifcbeti  Saitbgemälben  unb  ©fulpturwerfeit  äur  ©eltung 
fommt,  werben  bie  Slmoritcr  oon  ben  3uben  mit  bent  Sud)fe  ber 
Geber  oerglidjcit,  unb  c«  wirb  bemerft,  baß  neben  ihnen  bie  SSölfer 
»on  femitifdjem  ©ebliit  „unanfehnlidj  wie  ^eufc^recfen"  er* 
feinen.  Xer  wegen  feiner  Körper  länge  berühmte  Sinnig  0g 
oon  ©afait  barf  wobt  al«  ber  edjte  Siepräfentant  be«  burd) 
feinen  fjoljcn  Sud)«  imponirenben  inbogermanifcben  Xppu«  be- 
trautet werben. 

3m  oorgebettben  würbe  bereit«  ber  fiittiter  gebaut,  be- 
jiiglicb  bereit  bie  ^eroorragenbften  Slutoritäten  auf  bem  ©ebiete 
ber  ägpptologifcfien  unb  affbriologifdjen  $orfd)ung  in  ber  Knfidjt 
übereinftimmen,  baß  bie  $beta  ber  altägpptifdjen  3nfdjriften, 
bie  ft^atti  ber  affprifdjen  fteilfdjriften  unb  bie  f>ittiter  ober 
©öbtte  oon  .§etß  ber  23ibel  ein  unb  ba«felbe  Soll  bezeichnen. 
Xiefelben  werben  in  ber  ^eiligen  ©d)rift  al«  bie  Söewoljner  be« 
füblicß  oon  .fpamaf)  gelegenen  .fpebron,  in  ben  affprift^en  Steil* 
{Triften  aber  al«  ein  nid)t  unbebeutenbe«  SBolf,  ba«  bi«  an  ben 
Gupbrat  faß,  bejeidinet.  3n  gcl^tüättbe  eingebauene  ©fulpturen, 
welche  ben  .fpittitern  gugefcßrieben  werben,  finb  an  öerfdjiebenett 
fünften  ftleinafien«  unb  ©grien«,  fo  oor  allem  im  Gngpaffe 
oon  Äarabel,  in  ©iaur*Äaleffi  (^ß^rpgien),  $u  Söogbaz-ftöi  (im 
alten  Sappabocien),  unweit  Xfcberabi«  unb  nabe  bem  3uoor, 
erwähnten  fiamab  aufgefunben  worben.  3)ie  $auptftabt  ber 
^ittiter  war  Stardjemifd),  beffen  ©tätte  man  bei  bem  foebeti 

(721) 


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12 


genannten  5Dfd)erabiS  toieber  aufgefunbeit  hat.  2>er  ^3^arao 
SljutmofiS  III.  f|at  um  1600  tor  S^r.  bie  $ittiter  unb  ihre 
©tammeägenoffen  in  langwierigen  Kümpfen  unterworfen  unb  auch 
Ethutmofi«  IV.  hat  fie  befriegt.  2Iuf  bem  ©ipfel  ihrer  ÜJtadjt 
aber  feinen  biefelben  um  1370  gur  3c*t  Sfantfe«  II.  geftanben 
gu  haben,  gegen  ben  fie  fid)  unter  ber  Rührung  ihre«  gürften 
ßljtafar  mit  einer  Angahl  oerwanbter  ©tömme  oerbauben. 
Obwohl  bie  ©chlacfjt  an  ben  Ufern  be«  Oronte«  fchliefclicf)  eine 
für  bie  Aegppter  günftige  ©ntfdjeibung  herbeiführte,  fo  fdjeint 
ber  Krieg  bod)  halb  oon  neuem  entbrannt  gu  fein,  unb  erft  im 
21.  Sahre  ber  Regierung  Siantfe«  II.  fam  e«  gu  einem  benf* 
reürbigen  {JriebenSfcfjIuffe,  über  ben  eine  hochwichtige  Urfunbe 
im  Sempel  gu  Karnal  erhalten  ift.  — 23a«  bie  Abftammung 
unb  Slaffcngugehörigfeit  be«  in  Siebe  ftehenben  ©olfe«  anlangt,  — 
ein  fßunft,  ber  uti«  gang  befonber«  intereffirt,  ba  er  für  bie 
un«  befchäftigenbe  grage  nach  bet  9iaffenmifcf)ung  im  Subra« 
thum  non  SBicfjtigfeit  ift,  — fo  würbe  bereit«  im  oorfjergehenben 
barauf  f)tngett>iefeu , bah  gufolge  ben  tteuerbiug«  üon  glinber« 
Metrie  angeftetlten  Unterfuchungen  bie  Kheta  auf  &en  altäghptifdjen 
SBanbgemälben  mit  gelbbrauner  Hautfarbe,  butiflen  Augen  unb 
fchwarjent  ober  bunfelbraunem  Haupthaar  borgefteflt  finb.  $ie 
gu  ÜJIebinet-^abu  fich  finbenbe  SJarfteßung  eine«  oon  SRamfeS  UI. 
gum  ©efangenen  gemachten  ^ittiter-^ürften,  ebenfo  wie  gwei  gu 
£el  el  2)ehubi  unweit  |>eliopoli«  aufgefunbene,  gegenwärtig  im 
britifchen  SRufeum  gu  fionbon  aufbewahrte  Sleliefplatten,  welche 
einen  £>ittiter>gürfteu  unb  eine  ^ittiter-gürftin  gur  3)arfteflung 
bringen,  geigen  eine  mtoerfennbare  Annäherung  an  ben 
mongolifchen  SE tjpu S,  bie  fich  iitSbefonbere  burch  bie  ©reite 
unb  ba«  $eroortreten  ber  bem  Obetliefer  unb  ben  SEBangen« 
beinen  entfprechenben  ©efidjtspartie  gu  erfennen  giebt.  3U 
©unften  ber  Theorie  oon  ber  mongolifchen  Abftammung  ber 
.fjittiter  fann  auch  ber  geringe  ©artwudj«  unb  bie  eigentümliche 

(722) 


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13 


4jaartrad)t  biefeS  SßolfeS  (ßufammenfaffen  be$  IjaupttjaareS  gu 
einem  ober  mehreren  $öpfen,  bie  im  SJiacfen  ljerabt)ängen)  ge* 
beutet  werben.  SBenn  auch  gewiffe  Grigenthüratichfeiten,  roie  fie 
bie  altägpptifchen  ®arfteHungen  oon  $ittitern  aufweifen,  wie  g.  83. 
bieniebrige  „fliefjenbe"  ©tim,  bie  oerftältnigmä^ig  grofje,  gefrümmte 
SRafe  unb  bas  gurücftretenbe  Sinn,  einen  nicht  unwefentlichen 
Unterfdjieb  gwifchen  bem  in  tRebe  ftetjenben  SSolfe  uitb  bem  un* 
oermifchten  mongolifdjen  SEppuS  gu  erfennen  geben,  fo  fte^t  boch 
£omfin£7  nicht  an,  bie  auf  ben  altägpptifchen  $enfmätern  gur 
S)arfte£lung  gebrachten  &heta  hinfid)tlid>  ihrer  dufferen  @r= 
fdjeittung  mit  ben  Rannen  gu  oergleichen.  25aff  wir  bie  fnttiter 
at$  ein  SBolf  oon  mongotifcher  Sibfunft,  bcgw.  als  eine  auS  ber 
Sßermifchung  oon  5Jfongoten  unb  inbogermanifchen  (amoritifchen) 
ober  femitifchen  ©tämmeit  fjeroorgegangene  Seoölferung,  gu  be» 
trachten  hoben,  — biefe  Sinnahme  erhält  noch  eine  bejonbere 
©tü$e  burch  ben  Nachweis  ber  jEhatfache/  baß  fchon  im  früljeften 
Sllterthume  SSölfer  oon  mongotifcher  Slbftammung  in  ber  Siachbar- 
fcljaft  beS  bon  ben  |>ittitern  befeuert  ©ebieteS  anfäffig  gewefeit 
finb.  SBenn  wir  uns  baran  erinnern,  baff  gufolge  ber  @rgeb> 
niffe,  ber  neueren  affpriologifchen  gorfchung  jene,  unter  bem 
SRamen  bet  ©umero-Slffaber  befannte  Urbeoötferung  S3abptonienS 
— nach  ben  in  ben  Sfeilfchriften  unS  erhaltenen  ©pradjreften  gu 
urtheilen  — oon  turanifiher,  alfo  mongotifcher  Sibfunft  gewefen 
ift  unb  bah  nach  Senormant  auch  bie  attmebifche  Sprache,  fowie 
biejenige  beS  alten  ©ufiana  auf  baS  ehemalige  S3ort)anbenfein 
eines  S3olfeS  oon  turanifcher  Slbftammung  in  ben  betreffenbeit 
©ebieten  hinbeuten,  wenn  wir  ferner  ben  Umftanb  in  öetradjt 
gietjen,  bafj  eine  Slngaf)!  oon  ©enfmälern  aus  ber  lipffoSperiobe 
SlltägpptenS,  wie  g.  83.  ber  oon  SRub.  93irchow8  untängft  ge* 
meffene  unb  befchriebene  ©phinj  oon  £anis  unb  eine  neuerbingS 
gu  33ubaftiS  auSgegrabene  ©tatue,  burch  ben  oon  ihnen  gur 
3)arftetlung  gebrachten  ÜRongolentppuS 9 ben  befagten  Slbfchnitt 

(723) 


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14 


ber  altäghptifchen  ©efd)id)te  af«  eine  jeitweifigc  Dccupation  be« 
^fjornonenfanbe«  burd)  ©öfter  non  mongolifcher  Sfbftammung 
erfcheinen  faffen,  — wenn  wir  affe«  biefe«  in  ©etrad|t  gieren, 
fo  Ijat  e«  in  ber  2f)at  nichts  fflefrembenbe«,  wenn  wir  aud)  in 
©aläftina  eine  ©enölferung  antreffen,  bie  fid)  burd)  ifjre  äujjere 
@rfd)einung  af«  ein  mongolifcher  Stamm,  bejw.  af«  eine  ÜJtifd)ung 
non  ÜJiongoleit  mit  fremben  (affophplen)  SRaffenefementen,  ju  er* 


el’tiini;  Bon  lani»  (SSonumfnt  ber  t>i)f[o«periobf  mit  mongoIiMjrr  ®cfl<6täf>übung.) 

fennen  giebt. 10  2Ba$  ben  fefcterwäfjnten  ißunft  anfangt,  fo  ift 
bie  ©ermifd)ung  non  SImoritern  unb  $ittitern,  wie  wir  oben 
bemerften,  an«  ber  SBibel  mit  Sicherheit  jn  erweifen;  biefe 
Annahme  erhält  ferner  noch  eine  befonbere  Stä^e  burch  bie 
®hQMa£§e/  bo§  auf  bem  oben  erwähnten  tljebanifchen  SBanb- 
gemälbe  ber  hittitifche  £>errfd)er  non  Äabefcf)  mit  weiter  £>aut 
unb  hcßem  röthfich-braunem  fiaar  — alfo  mit  beit  Störper* 
merfmafen  ber  Slmoriter  — jur  ®arftellung  gebracht  ift,  fowie 

(724) 


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15 

aud)  burd)  ben  llmftanb,  bafj  nach  ber  gewöhnlichen  Sfnnahme 
bie  .fjittiter  in  Äobcfcf)  eine  Slrt  grembherrfchaft  ou#geübt  haben 
(analog  beteiligen,  weldje  bi#  üor  furjem  bie  dürfen  auf  ber 
Salfanfjalbinfef  über  inbogermanifche  Sölfer  behaupteten),  uiib 
baf?  biefe  grembherrfchaft  mit  Sicherheit  barauf  fdjliejjen  läfjt, 
bafj  ben  ^jittitern  Sßeiber  oon  amoritifdjer  unb  femitifcher  §er» 
halft  al#  grauen  «ab  ft'onfubinen  ^ur  Verfügung  geftanben  haben. 

Sßeldjen  ©itiffufj  haben  aber  — biefe  grage  ift  nun  junächft 
ju  beantworten  — jene,  im  oorljergehenben  namhaft  gemachten 
nichtfemitifchen  Söffer  auf  bie  femitifdje  Seoöfferuitg  paläftina# 
au#geübt?  3)afj  bie  3#raeliten  im  alten  Paläftina  mit  ben 
bafelbft  lebeitben  md)ti#raelitifdjen  Solf#elementen  fid)  häufig 
oerniifdjt  haben,  wirb  felbft  Don  jenen  ©thnologen  jugeftanbeti, 
bie,  wie  9t.  Stibree,  für  bie  refatioe  9teinheit  ber  jübifchen  SRaffe 
eintreten.  SBäreit  efjelidje  unb  uneheliche  Serbinbuiigen  ber 
Sfinber  3#rael#  mit  ben  nichtiSraelitifdjen  unb  jum  $he>t  aud) 
nichtfemitifchen  Sölfern  Paläftina#  nicht  ein  häufige#  Sor- 
fomnmijj  gewefen,  fo  hätten  jene  Sibelftellcit  gar  feinen  Sinn, 
in  benen  bie  3#raeliten  oor  ber  Sermifchung  mit  ben  fremben 
^Söffern  gewarnt  werben.  So  heifjt  e#  im  5.  Such  9Jtofe,  ftap.  7, 
nachbem  unmittelbar  oorfjer  ber  §ittiter,  9lmoriter,  ©irgofiter, 
Äanaaniter,  Pherefiter,  ^eoiter  unb  Sebufiter  ©rwähniuig  ge« 
fcheheit  ift:  „®u  follft  bich  nicht  mit  ihnen  befreunben;  eure 
Töchter  foflt  ihr  nicht  geben  ihren  Söhnen  unb  ihre  Xödjter 
follt  ihr  nid)t  nehmen  euren  Söhnen."  Sind)  haben,  wa#  bie 
Sermifdjung  ber  guben  mit  fremben  Sölferit  anlangt,  bereit# 
bie  Patriarchen  ben  fpäleren  ©enerationen  ein  Seifpiel  gegeben. 
§agar,  bie  üJtagb  Sfbraham#,  bie  bemfelbeit  feinen  älteftcn  Sohn 
3#maef  gebar,  war  oon  äghptifdjer  Slbfunft;  3faaf  unb  3afob 
waren  mit  aramäifchen  grauen,  gofeph  mit  einer  Sfeghpterin 
oerheirathet  unb  SBtofe#  wirb  getabelt,  weif  er  eine  SJtibianiterin 
jttr  grau  genommen  hatte.  ®aoib  ift  ein  9tad)fomme  ber 

(725) 


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16 


SRoabiterin  SRutp,  unb  Bon  ©afomo,  bem  ©opne  ber  ftittiterin 
©atpfeba,  bemerft  bic  peilige  ©cprift  (1.  ©ucp  Könige  Sap.  1), 
„baß  er  Biele  auStänbifcpe  SBeiber,  bie  Xocpter  ^SparaoS  unb 
moabitifcpe  unb  ammonitifcpe,  ebomitifdje,  gibonitiftpe  unb 
pittitiftpe  grauen  liebte".  Slucp  ift  jenes  „Biele,  ©öbeloolf“, 
meines  bie  aus  Äepppten  auSgiepenben  gSraeliteu  begleitet  pat, 
wopt  auf  ägpptifcpe  grauen,  mit  benen  bie  ©tämme  gSraelS 
im  fianbe  ©ofen  epelicpe  ©erbinbungett  eingegangen  waren,  gu 
beuten.  25afj  ferner  bie  Sitte,  nicptiSraelitifcpe  SBeiber  gu 
grauen  gu  nehmen,  auep  natp  ber  SRüdfepr  auS  ber  babploniftpen 
©efangenfcpaft  bei  ben  guben  nocp  fortgebauert  pat,  biejer 
©cplufj  ergiebt  fiep  auS  ©teilen  in  ben  ©üepern  @fran  unb 
SRepemia. l*  2ÜS  (Srfterer  im  gapre  458  B.  Spr.  Ängepörige 
ber  ©tämme  guba  unb  ©enjamin  natp  gerufalem  gurüeffüprte, 
fanb  er  bafelbft  eine  SRifepung  Bon  gSraeliten  mit  ^ittitern, 
Kanaanitern,  ©perefitent,  gebufitern,  Simmonitern,  SKoabitern, 
Hegpptern  unb  SImoritern  Bor.  ©owopt  ©fra,11  wie  SRepemia 
eiferten  gegen  bie  ©ermifcpung  beS  ©olfeS  gSraet  mit  fremben 
©ölterit,  unb  bie  ^äufigfeit  ber  bamalS  üblicpen  StRifcpepen  er« 
giebt  fiep  aus  ben  SBorten  beS  Septeren:  „gep  fap  auep  gu  ber 
$eit  guben,  bie  SBeiber  napmen  Bon  SlSbob,  Ämmon  unb  äRoab 
Unb  ipre  Kinber  lonnten  niept  jübifcp  reben,  fonbern  naep  ber 
©praepe  eines  jegtiepen  ©olfeS  u.  f.  m."  ©tarl  müffen  au<p 
bie  fremben  ©eimifepungen  gum  jübiftpen  ©tamrne  in  ber  lepten 
3eit  Bor  bem  Untergange  beS  jübiftpen  ©taateS  gewefen  fein, 
gene  „gremben"  unb  „zeitweilig  im  Sanbe  ftep  Slufpaltenben", 
über  bie  unS  berieptet  wirb,  paben  gur  ©ermifcpung  oerfepie« 
bener  etpnifcper  ©lemente  im  jübiftpen  ©otfe  bamalS  fepr  er« 
pebiiep  beigetragen.  ©aSfelbe  gilt  auep  Bon  jenen  SlnberS« 
gläubigen,  bie  natp  SBieberaufbau  beS  Tempels  aus  ©prien, 
©riecpettlanb,  ©almtjra  u.  f.  W.  natp  ©aiäftina  gogen  unb  bie, 
um  gübinnen  peiratpen  gu  föntten,  baS  iSraelitiftpe  ©efenntnijj 

(72«) 


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17 


cmtafjmen.  ®roß  mar  bamalS  auch  bie  3°hi  ber  jnm  jübifdjen 
©lauben  übergetretenen  fßerfonen,  bie  am  |>ofe  ber  jübifd)en 
gürften  eine  einflußreiche  ©tefluug  eintiahmen;  biefelben  roerben 
im  Salmub  als  „fßrofelhten  ber  föitiglichen  Safel"  begeidjnet.18 
Um  hier  fogleid)  einige  ©emerfungen  über  baS  ©erhalten  ber 
3uben  in  einer  fpätercu  ©poche  — nämlich  gur  3?^  mo  fic 
unter  römifdjer  ^errfcfjaft  ftanben  — angufnüpfen,  fo  öerbanfeit 
mir  gofepfpiS  ausführliche  SDiittheilungen  über  bie  ^äufigfeit 
beS  UebertrittS  gum  gubeitthum  gur  3e*t  brr  ©ömerherrfchaft. 
Unter  SiberiuS  bot  ber  Uebertritt  einer  oornehmeu  SRömerin 
ben  Slulaß  gur  erften  3nbenoerfolgung.u  2)ie  grauen,  melche 
fich  feiner  ©efchneibung  gu  unterroerfen  hattfn,  neigten  am 
meiften  gum  3ubenthum,  unb  ebenfo,  mie  in  2>amaSfuS  gahl* 
reiche  ^eibinnen  gum  fübifchen  ©efenntniß  übertraten,  gab  eS 
auch  in  SRom  in  allen  ©Richten  Slnhängerinnen  biefeS  ©laubenS. 
SlnbererfeitS  bemeifen  bie  ©bifte,  melche  gegen  bie  ©efchneibung 
»on  SRichtjuben  erlaffen  mürben,  baß  auch  SRäitner  übergetreteu 
maren.  3m  ^inblitf  auf  bie  foeben  ermähnten  Shotfachen  ift 
<S  jebenfaüs  cum  grano  salis  gu  nehmen,  menn  ber  römifdie 
©efchidjtSfdjreiber  SocituS  bemerft,  baß  bie  3uben  beS  römifchen 
SReidjeS  fich  nicht  mit  anbereit  ©ölfern  »erniifcht  gälten  nnb 
hingufe^t:  Alienarum  concubitu  abstinent.  3>aß  ein  3ube  ein 
ÜJfäbchen  heibnifchen  ©laubenS  gur  grau  nahm  ober  umgefehrt, 
fam  ailerbingS  nid)t  oor;  fobalb  aber  baS  betreffenbe  SJiäbchen 
ober  ber  betreffenbe  3Raitit  gum  gubenthum  übergetreten  mar, 
maS  nach  ben  gefdjichtlichcn  3engniffen  fehr  tjäufig  ftattgefunbeu 
hat,  fo  mar  bamit  baS  in  SRebe  ftehenbe  ©hehinberniß  befeitigt. 
2Rit  ©echt  meift  auch  3-  ©eubauer15  barauf  hin,  baß  bie  in 
ben  ©chriften  ber  Wpoftel  fidj  finbenben  ©itate  aus  bem  alten 
Seftamente,  infofern  fic  bei  ben  ©mpfängern  ber  ©pifteln  eine 
gemiffe  ©ibelfenntniß  oorauSfe&en,  baranf  hinbeuten,  baß  beim 
©eginne  uitferer  3eürechnung  bie  ©eoölferung  SfleinafienS  unb 

Sammlung.  91.  8-  V.  116.  2 (727) 


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18 

©riedjenlanbä  mit  jübijdjeu  ©olf«eIementen  ftart  burc^fe^t  mar. 
Sette  in  Siebe  ftetjenbe  äJiifdjung  oerfdjtebener  Siaffeit  im  Suben* 
thutn  mirb  aud)  burd)  eine  ©teile  im  lolmub  betätigt,  in 
melier  gejagt  mirb,  baß  bie  im  römifdjett  Sieidje  gerftreut 
lebenbe  jiibifche  ©eoölferuttg  ju  berjenigen  Subäa«  fid)  fo  »er- 
halte, mie  ein  $eig,  ber  au«  mit  itleie  oermifchtem  jOteljl  Ijer» 
geftellt  mirb,  ju  einem  au«  reinem  Sütel)!  hergefteflten  leig, 
woran«  ficf)  alfo  ergiebt,  baß  im  beften  gatle  bie  jübifc^e  ©e* 
Dölferung  immer  noch  «I«  ein  Jeig  b.  i.  al«  eine  au«  öerfcßiebenen 
©eftanbtßeilen  äitjammengejeßte  iDiaffe  be^eic^net  werben  muß. 

SSSa«  jpeciell  bie  ©erntijdjuttg  ber  guben  mit  altgried)ijd)en 
©o(f«elementen  anlangt,  jo  mürben  im  Slltertljum  fdjöite  heflenijche 
grauen  unb  Snaben  burd)  ben  p^önijijdjen  £anbel  nad)  Sßaläftina 
eingejüßrt.  „®ie  ßebräijdje  ©prache  hat,"  jo  bemcrft  SR.  ?lnbree,‘6 
„ein  merfmürbige«  3eugniß  aufbercaljrt,  welche«  ebenjoje^r  ba« 
fyolje  Sllter  al«  ben  großen  Umfang  bieje«  §attbel«  bejeugt. 
Xie  SJtebenmeiber,  mcld)e  meiften«  getaufte  ©flaoinnett  waren, 
führen  nämlich  ben  fdjou  in  beit  etljnograp^ijdjen  ©ettealogien 
uorfommenbeu  SRamen:  „pilegesh“,  we!d)c«  genau  ba«  griecfjifdje 
naXXuxtt;  ijt,  au«  bein  aud)  ba«  lateinijdje  pellex  jtammt.  3m 
ßomerijdjen  .geitalter  werben  jo  bie  erfauften  ober  frieg«gejangenen 
©flaoinuen,  meldjc  SJtebenmeiber  waren,  genannt;  e«  ijt  mithin 
Ijier  ber  gewöhnliche  gaH,  baß  mit  ber  au«  ber  grembe 
tommenbcu  SEBare  aud)  bie  ©e^eicßnung  berjelbeit  aufgenommen 
mirb.  Unb  bie  Hebräer,  bereit  Uroäter  jcßoit  iiacfj  ber  ©trtefi« 
ißre  ©Hauen  um  ©elb  auftauften,  hoben  alfo  im  SSegc  be« 
§anbel«  jene  ©ejeidjttung  oon  ben  ^ßtjoni^ieru  erhalten.  2)amit 
ijt  eine  Süiifdjung  aud)  mit  griedjijchem  ©lute  bargethan." 

Um  h'er  nod)  einiger  anberer  Jhatfadjen  äu  gebeuten,  bie 
für  bie  utt«  bejd)äftigenbe  gragc  »oit  ©ebeutung  finb,  jo  haben 
aud)  in  ben  erfteu  gahrhunberten  ber  chriftlidjen  Slerä  Ueber- 
tritte  jttm  3ubentl)um  nicht  ju  ben  ©eltenheiten  gehört.  Söährcnb 

(723) 


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19 


bie  im  3.  3af)rf)unbert  unferer  Zeitrechnung  im  füblicßen  $^eile 
oon  3)ie|'opotamien  wobnenben  Suben  fid)  oon  jeber  SBermifcßung 
mit  fremben  ©lemeuten  frei  erhalten  hoben,  bot  fidj  bie  jübifcße 
Seoölferung  ber  füböftlicfj  oon  Sabpfonien  gelegenen  perfifcßen 
ijSrooing  ß^ufiftan  bermaßen  mit  ber  bort  ciitbeimifcben  23e* 
oölferung  oermifd)t,  baß  fromme  Raufer  ber  jübifd)*babtjlonifcbeu 
ißrooinjen  fich  freuten,  mit  djufiftifcßen  Sdibiiutcn  ein  ©pe« 
bünbniß  einjuge^en.  ©beufo  fam  e£  auch  in  ber  am  XigriS 
gelegenen  ©tabt  ÜJiadjuja  ju  einer  intenfioeit  üflifcßung  ber  bort 
wopnenben  3uben  mit  ber  einfjeimifdjen  Seoölferung.  ®aß  im 
ß.  unb  7.  3aßrbunbert  unferer  ßfitrf^nung  oor  bent  Auftreten 
3D?of)ammeb8  arabifepe  dürften  unb  ga^lreidje  ^imjariten  jum 
3ubeutf|ume  übertraten,  ift  beSpolb  oon  geringerer  SBicßtigfeit, 
toeil  ein  ben  3uben  fo  naße  oerwaubteS  öolteefement,  wie  ba§ 
arabifeße,  auf  bie  förperlidjen  ©igentljümficbfcitcn  ber  3ubcn 
woßI  fanm  einen  umgeftaltenben  ©ittfluß  auöiuüben  im  ftanbe 
war;  bagegen  war  eS  für  bie  iRaffenmifcßung  im  Subenttjume 
jebenfaüs  oon  einiger  Sebeutung,  baß  im  8.  Soßrbunbert  ®ulan, 
ber  gürft  ber  ©bofaren,  §um  Subentßum  fich  befriste,  was  jur 
golge  hatte,  baß  e£  ju  einer  9Kifd)ung  ber  3uben  mit  bem 
befagten  türfifd)»finnifd)en  ©tamme  fam.  ©nblicß  fei  hier  noch 
erwähnt,  baß  in  Ungarn  oom  11.  bis  jum  13.  Soßrhunbert 
eheliche  SSerbinbuitgen  jwifeßen  SRagparen  unb  3»ben  eilt 
häufiges  SSorfommniß  waren.  Söenn  ftönig  EabiSlauS  ber 
^eilige  oon  Ungarn  bureß  ©efeß  oom  3aßte  1092  bie  ©beH 
äwijcßen  Sßriften  unb  3uben  oerbietet,  fo  hatte  eine  foldje 
gefefjlicße  Seftimmung  nur  bann  einen  ©iitn,  wenn  berartige 
©ßebünbniffe  überhaupt  oorfanieu.  9iod)  im  13.  3ahrbunbert 
ift  nach  einem  ©eridjte,  ben  ber  Grjbifdjof  Siobert  oon  ©ran 
bem  ißapfte  erftattete,  bie  $af)l  ber  in  Ungarn  jwifdjett  ben 
©efennern  bcS  dpriftlidjen  unb  jübifeßen  ©faubenS  abgefdjfoffetten 
©ßen  eine  feßr  beträchtliche  gewefeu.17 

2*  (720) 


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20 


2luS  unferett  Dorlfergeljenbeu  Setra<f|tungen  bürftc  alfo  jur 
©eniige  Iferoorgeljen,  baff  bie  3uben  eine  äKifdjraffe,  ein 
auä  oerfd)iebenartigen  etljnifcfjen  23  eftanbtljeilen  bunt 
gufam  mengemürfelteS  23olfStljum  barftellen,  baß  bie* 
felben  ein  Konglomerat  bilben,  an  meinem  neben  bem 
präponbetirettbeit  femitifdjen  ßlement  baS  inbo* 
germanifdje  unb  mal)rfcf)einlid)  aud)  baS  mongolifdje 
einen  nicfyt  unroefentlidjen  Slittljeil  Ijat.  2BaS  fpeciell 
bie  23ejiel)ungen  ber  3uben  ju  bet  inbogermanifd)en  23eoölferong 
beS  alten  ^3a(äftinaS  (Slmoriter)  unb  ju  ben  ®ried>en  beS 
ÄltertljumS  anlangt,  fo  mürben  auch  mir,  menn  bie  im  oorfjergeljen* 
ben  ermähnten  biblifdjen,  fjiftorifdfen  unb  fprad)lid)en  23elege  für 
bie  2$ermifd)ung  ber  33raeliten  mit  Slmoritern  unb  Hellenen  nidjt 
üorfjanben  mären,  auf  baS  fjäufige  Sorfommen  ehelicher  2$er* 
binbungen  jmifdjeit  Snbogermanen  unb  3uben  im  Slltertljum, 
bejm.  auf  augerefjelic^en  gefd)ledjtlid}en  SBerfefjr  jroifdjen  ben 
befagten  SSölfern,  aus  bem  Umftanbe  fd)liefeen  bürfen,  bafj  blonbe 
unb  blauäugige  3uoen  in  ben  entfegenften  SBeltgegenben  fomoljl 
in  Storbafrifa,  Portugal,  SRufjlanb,  Kleittafien,  Sßerfien,  Kurbtftan, 
roie  faft  im  ganzen  Orient  angetroffen  metben,  unb  bafe  fpeciell 
bie  unter  fRubolf  SirdjomS  Seitung  oorgenommenen  ftaüftifdjen 
©rbebuitgen18  über  bie  garbe  ber  ülugen  unb  fjaare  ber  ©djul* 
finber  2)eutfd)IanbS  einen  2)urd}fdjnitt  oon  11,2  fßrojent  bloitb* 
paariger  unb  blauäugiger  Subenfinber,  bie  jiemlid)  gleichmäßig 
über  baS  ganje  ®eutfd)e  fReidj  »erteilt  finb,  ergeben  Ijaben. 
ßieljen  mir  in  (Jrroägung,  bafj  nad)  ber  23ird)orofd)en  ©tatiftif 
bie  3)urd)fdjnittSäiffer  ber  ©lottben  in  ganj  SDeutfdjlanb 
31,8  fßrojent  beträgt,  fo  mufj  bie  foebett  ermähnte  Serljältnifj* 
jal)l  ber  blonben  3uben  als  eine  relati»  bebeutenbe  bezeichnet 
merben.  3)aS  23orfommen  oon  23lonben  beim  jübifchen  SBoIfe 
glaubt  nun  3.  ß.  fßric^arb19  auf  bie  ßinmirtung  ber  fRatur- 
Umgebung  jurüdfiihren  ju  foQen.  ®r  nimmt  an,  bafj  bie  3uben 

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21 


infolge  ber  flimatifcheu  Berljältniffe  unb  ber  fonftigen  ©jiftenj» 
bebingungen  in  ben  fühleren  fiänbern  SJlorbeuropa«  jum  Streif 
blonbhanrig  unb  blauäugig  geworben  feien,  wäfjrenb  fie  in 
Sänbern  mit  wärmerem  Sflima  bie  ihnen  eigentümliche  bunfle 
Haarfarbe,  fowie  bie  bunfle  Färbung  ber  9lugcn  unb  ber  |)aut 
au«nahm«lo«  bewahrt  gälten,  ©an$  abgefehen  aber  baoon,  bnfj 
bie  ledere  Behauptung  nicht  jutrifft,  iubem  blonbhaarige  unb 
blauäugige  3ubeu,  wie  wir  fogleidj  feiert  werben,  auch  in 
Sänbern  mit  tropifefjem  ober  fubtropifcfjem  Slima  oorfommen, 
biirfte  bie  obige  S^eorie,  foweit  fie  fid)  auf  bie  umgeftaltenbe 
Straft  ber  SRaturumgcbung  ftüfct,  aud)  be«halb  nicht  faltbar 
fein,  weil  e«  feinem  3roc*fei  unterliegt,  baß  bie  Qriuflüffe  be« 
Stlinia«  unb  ber  fonftigen  Seben«bebingungen,  weint  fie  überhaupt 
eine  Umgeftaltung  ethnifcfjer  (Sfjaraftere  fjerbeijufiiljren  oermögen, 
tiefe  SBirfuug  nur  innerhalb  aufjerorbentlicf)  langer  3eiträume 
auäjuüben  im  ftanbe  finb,  — innerhalb  eine«  3eitraumeS/  im 
Vergleich  ju  bem  bie  4000  bi«  5000  Qahre  ber  ^iftorifc^en 
ffintwicfelung  ber  3J?enfchheit  nur  af«  eine  winjige  Spanne  3e*t 
crfcheinen.  ®ie  oon  ißricharb  aufgefteüte  Behauptung,  baß  bie 
Blonbheit  ber  3ubeit  erft  feit  ihrer  Sinwanberung  in  norbifc^c 
©egenben  infolge  ber  Grinwirfung  ber  flimatifc^en  unb  fonftigen 
Berljältniffe  fich  h^raug3ebilöet  h^e,  biirfte  fich  baher  wohl 
faurn  aufrecht  erhalten  laffen.  SBenn  man  ferner  erwägt,  bafj 
mit  ben  oben  erwähnten  2lu«nahmen  bie  Quben  feit  bem  Be« 
ginne  ber  djriftlichen  Slera  unter  ben  Bölferit  Europa«  eine 
ifolirte  Stellung  eingenommen  h^en  unb  bajjj  erft  innerhalb 
ber  lefcten  ^ahrjehnte  bie  3Qh*  ber  SDfifchc^en  eine  etwa«  gröfjere 
geworben  ift,  — wenn  man  biefe  Umftänbe  in  Betracht  jieht, 
bürfte  e«  wohl  faum  geftattet  fein,  bie  oben  erwähnten  11  ißrojent 
blonber  3ubenfinber  auf  gefc^lecfjtliche  Bermifchungcn,  bie  etwa 
in  neuerer  3 eit  ftattgefunben  haben,  juriicfjufiihren,  unb  e« 
bleibt  fomit  nicht«  anbere«  übrig,  al«  ba«  relatio  häufige 

(731) 


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22 


Auftreten  ber  ©lonbljaarigteit  unb  ©lauäugigfeit 
unter  beit  heutigen  Subett  jener  ©ermifd)ung  beS 
jübifcfjen  ©olfeS  mit  Sttbogerntatten,  wie  f i e nad) 
uitferen  obigen  SluSeittanberfejsungen  im  SUtertljume 
ftattgefunben  Ijat,  jujujc^reiben.  Mttdj  tuirb  eS  uns 
fattin  in  Srftnuneit  »erfcpen,  tuenn  mir  fefjen,  bajj  eine  Stoffen* 
mifdjuttg,  bie  »or  Sa^rtanjenben  fid^  »otljogen  Ijat,  nocf)  bei 
beit  heutigen  3ubett  in  it)ren  folgen  ©eltung  fommt,  ba, 
mie  oben  bemerft,  bie  etljnifdjen  ©^arattere  fid)  mit  aufjer* 
orbentlidjer  ju  erhalten  pflegen,  nnb  ba  geroiffe 

©igenfcfjaften  bcr  ©orfafyrett,  bie  anfdjeineitb  bei  ben  5Radj- 
fommeti  längft  erlofdjen  finb,  fetbft  ttad)  3a^rtaufenbeit  als 
„ataoiftijdje  Srjdjeinuitgen"  roieber  311  Jage  treten. 

Um  auf  bie  grage  nacf)  ber  ©erbreitung  beS  bloitben 
jübifdjeit  JppuS  juriicfjufomtnen,  fo  mürbe  bereits  ermähnt, 
bajj  bloitbe  unb  blauäugige  3ttbett  jn  fon  oerfdpebettften  Säubern 
unb  Slimaten  angetroffen  merben.  ©djon  im  »origen  3»f)r‘ 
fiunbert  l)at  Sempriere,  ein  fratt^öfifc^er  Slr^t,  ber  längere  3e>1 
in  ÜJiaroffo  lebte,  bie  |>äitfigfeit  beS  blonben  $aareS,  ber  blauen 
?iugen  uitb  beS  ^eüen  JeintS  unter  ben  3ubeit  biefeS  ©ebieteS 
^eroorgetjoben,  unb  bei  ben  3ubett  Algeriens  pabett  Stoßet,  ©orp 
be  ©t.  ©incent  unb  ©roca,  bei  benjettigen  ber  ÜRegentfdmft 
Junis  f)at  SSilbe  bie  nämliche  Jl)atjad)e  fonftatirt.20  Stadj 
©lafeSlep  ift  bei  ben  3uben  ber  norbafrifanifdjett  Süftenlänber 
mit  bem  blonben  fpaare,  beit  blauen  Slugen  unb  ber  gellen 
Hautfarbe  tiidjt  feiten  eine  gerabe  Stafe  unb  ein  faft  gerab- 
linigeS  profil  tombinirt.  Sin  bem  guftanbefommen  beS  le$teren 
l)at  bie  gornt  beS  Sinnes,  roeldjeS  »on  bem  gurücftretenbeii 
Sinne  ber  3ubeit  anberer  Säuber  fid)  mefent(id)  untcrfdjeibet, 
einen  gemiffen  Mntjjeil.  Slud)  jofl  ttad)  ©lafeSlep  bie  gerabe 
Stafe  uitb  baS  gerablinige  profil  bei  beit  3uben  SiorbafrifaS 
um  fo  häufiger  »orfommen,  je  roeiter  man  »01t  SUgier  aus  in 

(732) 


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ber  9iicf)tutig  nad)  Ofien  fortfcbreitet.31  ©eine  Seobadjtungen 
über  bie  förperlidjen  Sigcntt)üm(icf)feiten  ber  3ubeu  bei  Orient! 
faßt  ber  englifdje  ©elebrte  ©.  SBilfinfon  iit  folgeube  ©ä^e  ju* 
fanttnen:  „3$  »utQ  hier  ttodj  beit  bemerfenlroertfjen  Umftanb 
ermähnen,  bafj  unter  ben  3uben  bei  Orient!  rötblidjel  £>aar 
uitb  blaue  Singen,  fombinirt  mit  einer  feinmobellirten  geraben 
Sfafe,  febr  häufig  »orfommen;  burcb  biefe  ®igeittbiimlid)feiten 
uitterfdjeiben  fie  ficb  »oit  ber  übcriuiegenben  SDle^rja^l  ihrer 
europäifdjen  ©laubenlgen offen.  $)ie  ftinber  im  heutigen  3eru* 
falem  fallen  auf  burd)  i^ren  bellen  rofigen  leint  . . . 2)ie  ge* 
fritmmte  SJafe,  bie  bei  ben  3ubeit  bei  Occibcutl  bie  Siegel 
bilbet  uttb  bie  im  allgemeinen  auch  ein  (Sbarafteriftifum  ber 
nidjtilraelitifcben  93e»ölferuitg  bei  l)entigen  ©pricnl  barftellt, 
ift  ben  beut$utage  in  3ubäa  mobnenbett  3uben  fremb  unb 
fdjeittt  auch  in  alter  3e*1  bort  nicht  allju  bünfifl  öorgefommen 
jn  fein."3*  35ie  ©efidjtljüge  bei  ^eilaitbl,  mie  fie  in  ber  mittel* 
alterlidjen  Äunft  fidf  eingebürgert  buben,  fiub  nad)  SSilfiitfon 
gurürf^ufübren  auf  jenen  jiibifcben  $bpul,  mie  er  im  4.  3abr, 
bunbert  unferer  3e*tre4)MUnS  — nl$  man  juerft  beit  (Srlöfer 
bilblidb  barpftellen  uerfudjte  — in  Serufalent  tiorberrfdjenb  mar. 
SBlonbe  3»ben  — um  biefe!  nod)  JU  ermäbnen  — fattb  ißidering 
tn  SIben,  Söebboe  iit  Sruffa,  Äonftantinopel,  an  ben  2>arbaiteflen, 
foroie  in  ©mprna,  unb  ißruner  Söep  fortftatirte  bal  SBorfommen 
be!  bloitben  jübiftbeit  Xbpnl  in  fturbiftatt.  Söenn  and)  bie 
unter  ben  portugiefifcf)  * fpanifcfjen  3uben  — ben  fogenannten 
©bepbarbim  — gar  nicht  feiten  auftreteube  SBIonbbeit  möglicher* 
roeife  auf  jene  Siaffenmijcbuttg  juritcfjufübren  ift,  mie  fie  unter 
ber  meftgotbifeben  ^errfebaft  unb  aud)  fpäter  noch  amifdjen  beit 
Slttbängern  bei  jübifdjen  unb  d>riftlicf)eit  ©efenntniffel  auf  ber 
fßtjrenäenbalbinfel  ficb  notljogen  bat,  f°  berechtigt  bod)  uicbtl 
ju  ber  Slnnobme,  bafj  bie  unter  bett  3ubcn  be!  Orieiitl  ficb 
finbenbe  ©lauäugigfeit  unb  93lonbbaarigfeit  auf  einer  mäbrenb 


24 


be«  SDlittelalter«  ober  gor  erft  in  neuerer  $eit  ftattgebabten 
SSermifcbung  oerfcbiebeiter  etbnifdjer  Slemente  beruhe,  öielmetjr 
beulen,  wie  bereits  erwähnt,  olle  Umftänbe  barauf  b«n,  baß  jene 
81offenmifd)uug,  auf  welche  bie  Slonb^aarigfeit  unb  ©lauäugig, 
feit  ber  3ubeti  im  Orient  mit  größter  2Babrjcf)einlid)feit  jurüd* 
^ufü^ren  ift,  im  wefentlicben  noch  Dor  bem  beginne  ber  djrift» 
lidjeit  Slera  ju  einer  3«t,  wo  bie  3uben  ein  felbftänbige«  Staat«* 
toefen  bilbeten,  fid)  uoft^ogen  bat. 

SJiit  ber  Äuffaffung  ber  heutigen  3uben  al«  einer  au«  Der* 
fd)iebeiten  etbnifdjen  (Elementen  fid)  jufammenfe&enben  2Jtifdi)raffe 
fte^t  bie  Sfjatfadje  im  ffiinflang, . bafj,  abgefebeti  Don  ber  im 
Dorbergefjenben  befprodjenen  £)aar>,  Äugen*  unb  Hautfarbe,  aud> 
binfidjtlid)  anberer  förperlidier  @igentt)ürnIid)feiteH  nidjt  nur 
unter  ben  3uben  Derfd)iebener  fiänber,  fonbern  auch  unter  ben* 
jenigen,  weldje  ein  unb  ba«felbe  ©ebiet  bewohnen,  nicf)t  un* 
erhebliche  ©erfcbiebenbeiten  uacbgewiefeit  werben  fönnen.  So 
weifen  Don  ben  67  3uben  be«  ruffifdjen  ©ouoernement«  9)Jin«f, 
bei  benen  SB.  $bbow«fb  antbropologifdje  ÜJieffungen  Dorgenommen 
bat,  19,3  ©rojent  bie  Sangfdjäbelform  (3)olicbofepbalie),  26,9 
Prozent  bie  mittellange  S^äbetform  (üftefofepbalie)  unb  53,8 
projent  bie  Äurifcbäbelform  (©racbpfepbalie)  auf,43  wäbrenb 
3.  SDtajer  unb  3.  Äopernitfi  au«  ben  Don  ihnen  bei  316 
galijifdjen  3uben  oorgenontmenen  Sdjäbelmeffungen  oöflig  ab* 
weicbenbe  3'ffert1,  nämlicb  nur  4,6  Prozent  bolidjofepbale, 
10,8  Prozent  mefofepbafe  unb  84,9  Prozent  bracbpfepbale 
Scbäöel  beredten. 41  3>en  Don  9Jiajer  unb  fiopernicfi  Dorge* 
nommenen  9Jfeffungeit  fteben  b>nfid)tticb  tbrcr  ©rgebniffe  bie* 
jenigen  nabe,  weldje  33.  ©lecbmann43  auf  Änregung  2.  Stieba« 
an  100  Dorwiegenb  au«  Bitbauen,  Siolanb  unb  Äurlanb 
ftammenben  3uben  Dorgenommen  bat-  Unter  benfelben  ift  bie 
fur^e  Sd)äbelform  mit  86  Projent,  bie  mittellange  mit  11 
'Prozent  unb  bie  lange  nur  mit  3 projeut  Dertrcten.  ®a« 

(734) 


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25 

Sorfommen  fowoßl  ber  bradjpfepßalen,  wie  ber  bolidjofepljalen 
@d)äbelfornt  bei  ben  oon  $t)bow3fi  gemeffeneit  Suben  wirb 
non  Stieba  al$  golge  etljnifdßen  2J?ifd)uug  betrachtet; 
inSbefonbere  foll  aud)  ber  Umftanb,  baß  unter  beu  befagtett 
Subett  neben  Äurjföpfen  unb  Sangföpfen  eine  beträchtliche  SInjot)t 
non  mittellangen  (mefofepfjalen)  ©djäbeln  fid)  finbet,  auf  „eine 
fcßon  lang  anbauernbe  nnb  erfolgreiche  93ermifd)itng 
beiber  $t)pen  untereinanber"  beuten.  Vlud)  bie  $al)len 
WajerS  unb  SlopernitftS  ntüffett  fo  aufgefaßt  werben,  baß  e3 
fich  um  bie  Sermenguug  jweier  oerfcßiebener  $t)pen  ßanbelt; 
bod)  ift  offenbar  unter  beit  3uben  ®alijieit§  bie  numerifdje 
Ueberfegenheit  beg  bradjtjfepßalen  über  ben  bolidjofcpl)afen  JppuS 
eine  weit  bebeutenbere,  alä  bei  ben  3ubeit  be3  ©ouoernements 
ÜJlinSf.  $ie  lefcterwäljnten  gorfdjer  jieljen  auä  ber  non  iljuen 
aufgefteHten  Jabelle  nicßt  allein  ben  Schluß,  baß  unter  beit 
non  ißnen  gemeffenen  gali^ifcßeit  Sttben  jwei  nerfchiebette  Jtjpen 
oertreten  finb,  foubern  fie  geben  aud)  an,  baß  bie  !nrj* 
fopfigen  (bradjtjfepfjalen)  3nben  im  allgemeinen 
brünett,  bie  Iangföpfigen  (bolicßofepß a len)  3uben  ge» 
roöfptlidjblonb  feien 48  — eine  Äoincibenj,  bie,  wenn  fie  burd) 
fernere  antßropologifdje  Unterfucßungen  beftätigt  werben  {oflte, 
für  bie  (Srtjaltung  beä  inbogermanifdjen  (SlementeS  im  jübifcßcn 
SBolfe  einen  weiteren  ®e(eg  abgeben  würbe.  2BaS  lederen  fßunft 
anlangt,  fo  bürfett  wir  bei  unferett  Sefern  wofjl  als  befannt 
oorauSfe$en,  baß  bie  mit  fflfonbßaarigfeit,  ®lauäugigfeit  unb 
heller  £aut  fombinirte  Sangföpfigfeit  jiemlid)  allgemein  als 
charafteriftifche  (Sigentfjümlicfjfeit  be£  germanifdjen  gweigeS  ber 
großen  arifcßen  Sßölferfamilie  betradjtet  wirb.  ®beufo,  wie  äNajer 
unb  Sfopernicfi,  gelangt  and)  Sl.  2Bei$bad)  *u  bent  ©djtuffe,  baß 
im  jübifdjen  ®olfe  jwei  oerfdjiebetie  fRaffentppen  nertretcn  finb. 
J)ie  (grgebniffe  ber  non  ißm  an  19  lebenben  3 üben  nnb  an 
einer  9lnjal)l  non  3ubeitfd)äbeln  auSgefiißrten  SDleffuitgett,  fowie 

t735j 


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26 


bie  aus  ber  SBergleidjung  ber  oon  anbereit  äntljropologen  oor* 
genommenen  Unterfndjungen  gemonnenen  fRefultate  faßt  SBeiSbadj 
in  bie  Söorte  jufammen:  unterliegt  feinem  greife!,  baß 

fidj  unter  ben  europäifdjen  3uben  jtoei  oerfdjiebeuc  Sdjäbelttjpen 
oorfinben,  nämlid)  ein  bolidjofepfjaler  (langföpfiger)  mit  fdjmalem 
©efid)t,  mit  fdjmafer,  im  ganzen  großer  9?afe  unb  biinnen  Sippen, 
unb  ein  bracfpjfepfjaler  (fnrjföpfiger)  mit  breitem  ©efid)t,  niebrigfr 
breiter  unb  Meiner  Sttafe  unb  biden  Sippen."*7  ©benfo,  toie 
Sökisbad)  erfetmt  Jiarl  Sßogt  groei  5£t)pen  bei  ben  3uben  an. 
2)erfelbe  bemerft:  „ÜÄan  finbet  Ijauptfäd)lid}  im  9forben,  in 
fRufjlanb,  ißolett,  55)eatfc^fanb  unb  Säumen  einen  jübifdjen 
Stamm  mit  oft  rotfjen  paaren,  furjem  33art,  etwas  aufgeworfener 
Stumpfnafe,  Meinen  grauen  liftigen  Singen  unb  oon  meljr  ge* 
brungenem  Körperbau,  mit  runbem  ©efidjt  unb  meift  breiten 
öadenfnod)«»,  ber  mit  mand)en  flaoifdjen  Stämmen,  namenttid) 
beS  fftorbeitS,  oie!  Slefjnlicfjfeit  fjat.  3m  Orient  bagegen  unb 
in  ber  Umgebung  beS  SDiittelmeereS,  fomie  oon  bort  fpoAuä 
nach  §oOanb  oerbreitet,  erblideu  toir  jenen  femitifdjen  Stamm 
mit  langem  fdjioarjem  £aar  unb  93art,  großen  manbelförmig 
gefdjlißten  fdjwarjen  Slugeit  mcIand)olifd)en  SluSbrudS,  mit 
länglidjen  ©efidjteru  unb  erhabener  9?ofe,  fur$  jenen  $ppuS, 
wie  toir  ilpt  in  ffiembranbts  ißortraitS  toieberfittben."  ($ergl. 
Jfarl  93ogt,  SJorlefungen  über  ben  ÜHenfdjen  II.,  238).  — 15)e r 
Umftanb,  baß  oon  getoiffett  Unterfudjerit  ber  jiibifdje  Sd)äbel 
als  langföpfig,  ooit  Slnberen  Wieberum  als  ejtrem  furjföpfig 
befefirieben  toirb,  — baß  3.  ö.  nad)  ©ebboe  bie  in  ber  lürfei 
toofjnenben  3nben  burd;  bie  Sänge  unb  Scfjmalfjeit  ifjrer  Scfjäbel 
oon  allen  im  ©ereidje  ber  oSmanifdjen  |»errfd)aft  fomoljl  in 
©uropa  »oie  in  Slfiett  lebcnbeit  Sßölferu  fidj  unterfdjeiben  foüen, 
toäbrenb  anbere  ©ttjnologeu,  »oie  3.  ©.  £>amilton  Smitfj,  ben 
jübifdjen  Sdjäbcl  als  einen  naljeju  fugclförtnigen  (fpljerical) 
bejeidjnen,  *“  — biefer  SSiberftreit  ber  Meinungen  ift  am 

(730) 


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27 


ungezroungenften  barauf  giiriidjufit^ren,  baß  je  nach  ber  ©er* 
fdjiebenheit  ber  fRaf fenmifdjung  unter  ben  Qubett  oer. 
fdjiebener  ©ebiete  balb  bie  langf öpfige,  bolb  bie  furz* 
föpfige  ©djäbelform  oorßerrfcht. 

$aß  mir  im  heutigen  3ubcnthum  eine  9J?ifc^ung  oerfcßiebener 
Rippen  ober  Staffen  oor  un«  hoben,  — ju  ©unften  biefer  An> 
nafjme  fpridjt  ferner  ber  Umftanb,  baß,  abgefehen  oon  ben  foeben 
ermähnten  ©erfcßiebenheiten  ber  ©chäbelform,  bie  Angehörigen 
be«  QubenthumS  aud;  hiiifichtltch  onberer  ©igeuthümlichfeiteit 
ber  ©(höbet,  unb  ©efic^tdbilbuug  fehr  erheblich  ooneinanber  ab* 
roeidjen.  ©o  finb  j.  93.  bie  oon  ®gbom«fi  unb  2Bei«bad)  für 
bie  §öße  unb  ©reite  ber  ©tim  ber  oon  ihnen  gemeffenen  Stuben 
gegebenen  Ziffern  erheblich  größer  al«  biejenigen,  metcße  93(ech» 
mann  burch  feine  SDteffungen  fonftatirt  hat.  ©o  meidjen  auch 
bie  gaßlen,  rneldje  bie  befagten  Anthropologen  als  SDtaße  für 
ben  unteren  2hert  ©efic^te«  unb  bie  llntcrfieferregion 
(©iftanj  oon  ber  Stafemourzel  bi«  jum  Äinnftadjel,  Abftanb  ber 
Unterfiefenoinfel  ooneinauber  unb  Sänge  be«  UnterfieferS)  au« 
geben,  ferner  bie  $iffern,  meldje  ben  Abftanb  ber  SBangenbeiu* 
höder  ooneinauber  unb  boburd)  bie  ©reite  ber  mittleren  ©efid)t«* 
Partie  bezeichnen,  fehr  erheblich  ooneinanber  ab.  2)ie  ©er* 
fdjiebenheit  in  bem  Abftanb  ber  SBangenbeinhöder,  mie  fie  au« 
ben  oon  93led)mann  unb  3Sei«bad)  einerfeit«,  oon  SDhboro«fi 
unb  Stopernidi  anbererfeit«  angegebenen  .ßiffern  ftd)  ergiebt,  ift 
barauf  zuriidzufiihren,  baß  bie  beiben  erftgenannten  Unterfucher 
oormiegenb  breitgefidjtige  Stuben,  bie  beibett  letztgenannten  gorfdjer 
bagegen  Snbioibueit  mit  langen  unb  ooalen  ©efid)t«zügcn  ge< 
meffen  ha&en.  Sticht  unerheblid)  finb  auch  bie  ©erfc^iebenheiten, 
mie  fie  bejüglid)  ber  ©reite  ber  §iifteu,  ber  Stlaftcrmeite  (@nt> 
fernung  ber  SDtittelfingerfpijzen  ooneinanber  bei  horizontal  au«, 
geftredten  Armen)*9  unb  h*nfid)tlich  ber  bie  Sänge  be«  Ober« 
unb  Unterarm«  unb  bie  Dberfrfjenfelläiige  bezeid)uenbcn  Sütaße 

(7S7) 


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28 


bei  3ubeu  feftgeftellt  würben.  3U  crwäßneit  ift  ferner,  baß 
and)  bejügrirf)  ber  Körperlänge  ber  Suben  bie  Angaben  bcr 
Unterfucßer  crßeblicß  ooneinanber  abweicßen.  2>aß  bie  Silben 
im  allgemeinen  als  ein  HJolf  non  niebriger  Statur  bejeießnet 
werben  müffen,  unterliegt  aüerbingS  feinem  3weifel.  SIS  SDtaß 
ber  burcßfcßnittlicßen  Körpergröße  ber  Suben  ßat  Scßulf}30  1 637  mm, 
SBeiSbacß31  1632  mm,  ©eßeiber,32  Kopernitfi  unb  SDtajer53 
1633mm,  ©nigirew34  fogar  nur  1611  bis  1612mm  berechnet. 
SöeiSbad)  fanb  aueß,  baß  unter  ben  im  33ereicße  ber  öfterreicßifcß* 
ungarifeßen  Üftonarcßie  oertretenen  Nationalitäten  näcßft  ben 
SDiagpareu  bie  Subeit  bie  niebrigfte  ©tatur  aufweifen,  unb 
@.  Scßulß  ftetlie  bei  ©elegenßeit  feiner  an  Sngeßörigen  oer* 
feßiebener  ruffifeßer  göltet  oorgenommenen  SNeffungeit  feft,  baf» 
bie  oon  ißm  gemeffenen  ruffifeßen  Suben  fowoßl  ßinter  ber 
flaoißßen  Seoölferung  beS  rufftfeßen  NeicßeS,  wie  ßinter  ben 
Sfcßerfeffen,  Setten,  ©ftßen  unb  Jfcßuwafcßen  ßinficßtlicß  ber 
Körpergröße  feßr  crßeblicß  jurüdfteßen.  Sßenn  aber  aud)  bie 
Suben  im  großen  unb  ganzen  bureß  niebrige  ©tatur  fidj  anS> 
jeießnen,  fo  gehören  boeß  foldje  oon  ßoßem  SSitcßS,  wie  fieß 
Sebermann  täglicß  überzeugen  fann,  burdjauS  nießt  31t  ben 
©eltenßeiten.  ©0  bemerft  j.  ©.  ber  englifeße  ©tßnologe  SnweS,35 
baß  fpecied  unter  ben  Suben  SBolßßnienS  große  ßagere  ©eftalten 
ßäufig  oorfommen,  unb  aneß  Koßl  fprießt  non  ber  langen  unb 
ßageren  Jigur  ber  3uben  in  gewiffen  Xßeilen  ber  öfterreießifeßen 
SNonarcßie.  ®aß  eS  fpecied  bie  Naffenmifcßung  ift,  welcße  auf 
bie  äußere  ©rfeßeinung  unb  bie  förperlicßett  ©igentßiimlicßfeiten 
ber  Suben  einen  beftimmenben  ©influß  auSübt,  wirb  aueß  bureß 
jene  ©efcßreibuug  beftätigt,  bie  ©.  Kocß30  oon  ben  Suben  ber 
Krim,  ben  fogenannten  „Karaim",  liefert.  ®ie  Suben  biefeS 
©ebieteS,  wo  nacßweiSIicß  eine  $ermifd)ung  beS  jübifeßen 
©lementeS  mit  einem  türfifeß-fmnifeßen  SoIfSftamme  (Kßafaren) 
ftattgefunben  ßat,  unterfeßeiben  fieß  in  meßrfadjer  fjinfießt  oon 

<73H) 


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29 


benjenigen  onberer  Sönber.  ©ie  Ijnben  eine  flcine  unb  gcrabe 
9ßa?e,  bereit  dürfen  mit  bem  profil  ber  ©tim  eine  gcrabe  2inie 
bilbet,  fo  bafj  ber  ©eftcbtSfontur  au  benjenigen  griec^ifcfjer  ©tatuen 
erinnert.  VcmerfenSwertb  ift  aud)  ba«  wenig  prominirenbe 
Äinn,  bie  ©lanjlofigfeit  ber  Singen  unb  ber  geringe  Vartwud)« 
ber  in  ber  Sirim  lebenben  3uben,  bereu  ©efi<ht«iüge  in  gemiffer 
h>infid)t  an  bie  ®efirf)t«bitbuitg  ber  Jartaren  erinnern.  ©benfo 
roie  bie  3uben  ber  Jfrim,  finb  and)  biejenigen  anberer  ©egenbeu 
burd)  bie  ©eringfiigigfeit  be«  Vartwudjfe«  gefennjeiebnet,  wäfjrenb 
allerbing«  bei  ber  iiberwiegenben  3Jle^rja^I  ber  3ubeu  bie  Ueppig- 
feit  be«  Vartwucbfe«  auffällt. 

Söenn  wir  im  5Borl)ergef)enben  gewiffe  förperlidte  ©igen- 
t^ümlicbleiten  bei*  3ubenal«  bebingt  bureb  bie  9taffenmifd}ung,  wie 
fie  nachweislich  fc^on  nor  3abrtaufenben  »n  fßaläftina  unb 
23orberafien  ftattgefunben  b3t/  bezeichnet  bQ&en/  1°  wäre  cd 
anbererfeit«  bodj  unjutreffenb,  wenn  man  alle  Gfjaraftere  bes 
heutigen  Subentbum«  auf  bie  Vermifcbung  uerfcfjiebener  fRaffen- 
elemente  zurüdfübren  wollte.  @$  unterliegt  unfere«  ©radRen« 
üielmebr  feinem  Zweifel,  taff  gewiffe  förderliche  ©igentbümlidp 
feiten  uub  Vefonberbeiten  ber  Drgauifation,  welche  un«  bei  ben 
heutigen  3 üben  entgegentreten,  feineSweg«  als  eigentbümlidje 
fRnffendjaraftere  auf  zuf  affen,  fonbern  öielmebr  im  wefentlidjen 
ouf  bie  fokalen  Verbältniffe,  auf  bie  ifolirte  ©tellung,  in  ber 
fich  bie  3uben  33brf)unberte  b'n&urd)  befunben  f)£,t|en^  unb  auf 
ben  ÜDrucf,  ber  fo  lange  auf  ihnen  lüftete,  jurüdjufübren 
finb.  3encr  eigentümlich  ftedjenbe  Slid,  wie  er  fid)  bei  Dielen 
3uben  finbet,  fann  nach  3acobS3T  febr  wobl  als  eine  SRemi- 
niScenz  an  jene  3e'ten  beS  $)rudeS  unb  ber  Verfolgung  ge- 
beutet werben,  wo  bie  3uben  fortwäbrcnb  nicht  nur  für  ihre 
habe,  fonbern  auch  für  ihr  unb  ihrer  Slngebörigen  Seben  beforgt 
fein  mufften.  Sßenn  wir  au«  ben  biblifdjen  unb  biflorifcben 
Senaten  entnehmen,  baß  bie  3uben  beS  SlltertbumS  unter  ber 

(739) 


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30 


gühruttg  ber  3Kaffabäer  ben  Sffhrern  wieberhoft  SRieberlageu  be» 
reitet  unb  baß  biefelben  fogar  ben  fieggeroohntcn  römifd)en 
feeren  burd)  ißre  firiegStücfjtigfeit  feßr  oiel  gu  fd)affen  gemacht 
^abeit,  mtb  wenn  mir  aug  ben  Söeric^ten  ber  IReifenDen  erfetjeit, 
baß  bie  alg  58iehgüd)ter,  Sltferbaucr  unb  |>anbmerfer  tätigen 
Suben  oon  Renten  (Arabien)  unb  iturbiftan  burd)  Körpergröße, 
einen  wohlentwirfelten  SJruftfaften  unb  eine  fräftige  SDiugfulatur 
oor  ihren  europäifdjen  ©laubenggenoffen  fid)  auggeichnen,  Jo  be* 
barf  eg  feines  SöemeifeS,  baß  jene  int  allgemeinen  niebrige 
Statur  unb  ber  relatio  geringe  Sruftumfang,  wie  ihn  bie  auf 
bie  Unterteilungen  ÜJiilirärpflichtiger  fid)  ftüfcenben  ftatiftifc^en 
Erhebungen  für  bie  heutige  jübifeße  SJeoölferung  $eutfchlanbg, 
OefterreicfjS  unb  einiger  anberer  europäifcher  £änber  ergeben 
haben,  im  wefentlicßen  auf  bie  gefunbheitlicf)en  Slachtheile  beg 
©ßettolebeng,  beffen  Ginwtrfung  felbft  bei  ben  unter  günftigeren 
SBerfjältniffeu  lebenben  Gnfeln  mtb  Urenfeln  ber  foldjen  Ein« 
flüffen  auSgefehtett  Suben  noch  gur  ©eltung  fommt,  — gurücf« 
gufiibren  finb.30  Sßag  ben  lefcterwähnten  ißunft  anlangt,  fo  ge« 
nügt  eg,  an  bie,  allen  fanitären  Sßorfdjriften  fw*}nfpredE)enbe  93e* 
fchoffenheit  ber  alter  Subenquartiere  gu  erinnern,  fo  g.  58.  an 
bie  Ihatfaehe,  baß  in  bem  Subenoiertel  »on  5J3rag  178G  burd)« 
fcßnittüch  29  bis  30  ^erfonen,  1843  nod)  20  big  21  ißer« 
foneu  auf  ein  fleineg  |>aug  famen,  unb  baß  in  granffurt  a.  2Ji. 
im  3ahrc  1811  oon  ben,  eine  gang  geringe  @runbfläd)e  be* 
bedenben  uttb  gugleid)  niebrigen  Raufern  ber  Subengaffe  ein 
jebeg  burdjfchnittlid)  14  ißerfonen  beherbergte,  f$ür  bie  füm* 
merlidje  Gntwirfelung,  alg  welche  bie  im  allgemeinen  niebrige 
Statur  unb  ber  geringe  Sruftumfang  ber  heutigen  Suben  5Deutfdj« 
lanbg,  Oefterreichg  unb  SRußlanbg  aufgufaffen  finb,  muß  oder» 
bittgg  audj  big  gu  einem  gemiffen  ©rabe  ber  Umftanb  oerant« 
wortlid)  gemacht  werben,  baß  bie  Sefettner  beg  mofaifchen 
©laubeug  in  ben  befagten  fiänbern  oerhältnißmäßig  häuPß  >n 

(740) 


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31 


bie  Sermanbtfchaft  heiraten.  SU!  eine  gofge  ber  ©inmirfung 
f o^ialer  $erf)ä(tmffe  ift  eS  mohl  ourf)  ju  betrachten,  trenn  bie 
in  »ergebenen  europäifdjen  Säubern  angefteflten  ftatiftifcßen  ©r* 
Hebungen  ergeben  hoben,  baß  bie  guben  burchfcßnittlich  in  jün- 
gerem Sebensafter  h^irathen,  at!  ihre  djriftlichcn  fDlitbiirger,  ttnb 
baß  uneheliche  ©eburten  uub  ©elbftmorbe  bei  benfelben  außer* 
orbentlidj  wie!  jettener  oorfommen,  al!  bei  bett  cßriftlichen  93iir* 
gern  be!  nämlichen  Staate!.39  $er  größere  ßinberfegen  ber 
j übifcfjen  Sf)en  beruht  einerfeits  auf  ber  foeben  ermähnten  frühen 
SJerheirathuug,  anbererfeit!  auf  ber  relatiö  geringen  «Sterblichfeit 
ber  au!  jübifcfjcn  ©hen  hfroorgegangenen  Äinber.  SBeun  bie  in 
^ßreußen  mtb  in  anberen  beuifdjen  Staaten  ungeteilten  ftatifti* 
fcßen  ©rhebungen  für  bie  groifcfjen  3ubeu  uttb  (Shtiftinnen, 
fornie  für  bie  jmifcf|en  ©hriften  unb  Sübinnen  abgefchloffenen 
@hcn  eine  geringere  bunhfdjnittüche  ßinberjabi  ergeben  hoben, 
al!  für  biejenigen,  mo  fomohl  ber  2Rann  mie  bie  grau  bem 
3ubentf)um  angehören,  fo  fleht  biefe  $hot?ochc  anfcheinenb  in 
SBiberfpntcf)  mit  ber  »on  beu  h^öorrogeubften  ©eiehrten  ge- 
machten ^Beobachtung,  ber  jufofge  bei  'Jiaffeufreitjung  in  ber  fRegel 
eine  jahlreiche  fRadjfommenfchaft  erjiett  rnirb.  3)ie  in  fRebe 
ftehenbc  geringe  grucßtbarfeit  ber  befagten  gemifdjten  (Sh«*  finbet 
aber  mohl  barin  ihre  ©rflärung,  baß  infolge  jener  fokalen  £>in» 
berniffe,  meldje  fich  bem  Slbfcßließen  einer  ©he  jmifdjen  Steiften 
unb  Sübinnen,  fomie  jroifchen  3uben  unb  ©hriftinnen  entgegen* 
[teilen,  entmeber  einer  ber  beiben  @hefontraf)enten  ober  beibc  jur 
3eit,  roo  fie  heirathen,  in  ber  fRcgel  feßon  in  oorgeriieftem  Sllter 
ftehen,  unb  baß  bementfprechenb  bie  geringe  Slujahl  ber  au!  ben 
betreffenben  ©hen  heroorgehenben  Äinber  nicht  auf  ber  SRaffen* 
üerfdjiebenheit  ber  <5hef°ntra^entcn / fonberu  auf  bem  relatiö 
hohen  Sitter  be!  SlRanne!,  ber  grau  ober  beiber  beruht.  — ®ie 
größere  burchfchnittlicße  2eben!bauer  ber  gubeu,  mie  fie  für  ©ng> 
laitb,  ®eutfchlanb  unb  55eutjch*Oefterreich  ftatiftifcß*  feftgefteflt 

(741) 


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32 


würbe,  ift  feineSweg«  als  eine  bet  jübifdjen  93eoölferung  ju 
foniinenbe  9inffeneigcntf|ümlid)feit  ju  betrauten,  fie  beruht  üiel« 
meljr  barauf,  ba&  bie  3uben  beS  weftlidfen  ©uropa«  nur  feiten 
öefdjaftigungeu  fid)  wibmen,  Weldje  bie  ©efunbljeit  fcf)äbigen  ober 
burd)  Unfälle  baS  2eben  in  ®efal)r  bringen.  ©in  Unterzieh 
jJüifdjen  ber  SebenSbauer  ber  3uben  unb  ber  cf)riftfidjen  Söeoöl- 
ferung  lägt  fid)  in  fold;en  fiänbern  nid)t  itadjroeifen,  wo  — wie 
j.  93.  in  ©alijien  unb  in  gewiffen  $l)eilen  9iufjlanbS  — bie 
3uben  ein  erljeblidjeS  Kontingent  juni  Slrbeiterftanb  ftetlen.40 
©iiten  gewiffen  9littl)eil  an  ber  für  SBcfteuropa  nad)gewiefenen 
längeren  SebenSbauer  ber  3ubeit  mag  wot>I  aud)  ber  Umftanb 
fjaben,  baff  fiebere  baS  23ebürfuiS  jum  ©etiufj  geiftiger  ®e* 
träufe  weniger  empfiuben,  als  il)re  djriftlic^en  Mitbürger.  — £a« 
fiir,  baß  ^willingS«  unb  2!riningSgeburten  bei  ben  3uben  weit 
felteuer  oorfommen,  als  bei  ©fjriften,  fefjlt  eS  bi«  jeßt  nod)  an 
einer  jureidjenben  ©rtlärung.  ®ie  geringere  ©terblicf)feit  ber 
SBödjnerinnen  unb  ber  Sinber  unter  5 3af)ren,  wie  fie  für  bie 
jiibifdje  öeoölferuug  ©nglanbS  unb  2)eutfd)lanbS  uadjgemiefen 
ift,  erflärt  fid;  auf 3 ungezwungene  burd)  bie  befonberS  liebe- 
volle gürforge  unb  Slufmerffamteit,  weld)e  bie,  burd)  einen  f)od)« 
entwidelten  gamilienfinn  fiefj  auSzeid;ttenbcu  ©atten  unb  SBäter 
jübifdjen  ©laubettS  ifyreit  Slnget)örigen  juwenben.  ®ie  foeben 
erwähnte  f)od>grabige  ©ntwidelung  beS  gamilienftnne«  ift  aber 
il)rerfeitS  wieberum  ein  ©rgebnifj  früherer  fojialer  guftänbe;  ber 
in  ^ebrüefung  lebenbe,  »om  ©taatSleben  faft  ooflftanbig  aus« 
gefdjloffene  3ube  »ergangener  3af)rl)unberte  fnd)te  natürlich  im 
Äreife  feiner  gamilie  bie  greuben,  bie  if)m  außerhalb  berfelben 
oerfagt  blieben.  — 2BaS  fpecieH  bie  jübifd)en  grauen  anlangt, 
fo  mag  bie  ftrenge  Regelung  ber  gefd)led)tlid)en  ^Beziehungen 
burd)  baS  jübifdje  ©efeß  bi«  ju  einem  gewiffen  ©rabe  baju  bei« 
tragen,  biefclben  in  guter  ©efunbljeit  zu  erhalten,  ©ben  barauf 
beruht  eS  tooljl  auch,  baß  nur  ein  fet)r  geringer  ißrozentfaf}  oon 

(742) 


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33 


jübifäen  Äinbern  tobtgeboren  wirb.  — SBährenb,  wie  Soeben  be- 
merft,  ben  auf  bie  ^Regelung  ber  ©efchlechtSoerhältniffe  fi<h  be- 
giehenben  ©eftimmungen  beS  jübifdjen  ©efegeS  eine  bbQientfdje 
Sebeutung  nicht  abgefprodjen  werben  fann,  ift  ben  biätetifdjen 
©orfcßriften  ber  jübifdjen  iReligion  — wenigftenS  fo  weit  $eutfch‘ 
lanb  in  grage  fommt  — eine  erhebliche  ©ebeutnng  nicht  gugu- 
erfennen,  ba  bie  auS  bern  ©enuffe  beS  SchweinefleifdjeS  [ich 
ergebenben  ©efahren  burch  bie  in  ben  bcutfchen  Staaten  gefeg- 
lieh  oorgefdjriebene  gleifchfchau  unb  bie  Unterfnchnng  auf  Trichinen 
auSgefchtoffen  werben. 

SSenn  man  früher  eine  oermeintliche  Smmunität  ber  3uben 
gegen  gewiffe  Sranfheiten  unter  ben  SRaffencharafteren  beS  heu' 
tigen  3ubenthumS  aufgegählt  bat/  wenn  j-  hier  unb  b«  &*• 
hanptet  würbe,  baß  bie  Quben  non  ©h°*era  unb  Sungenfcßwinb* 
fucht  faft  regelmäßig  üerfdjont  bleiben,  fo  haben  bie  in  neuerer 
3eit  auf  ©runb  ber  SterblidjfeitSregifter  angefteHten  ftatiftifeßen 
©rhebungen  bie  Unrichtigfeit  biefer  ©ehauptung  gur  ©oibeng 
bargethan.  ©benfo,  wie  bie  3uben  ©uropaS  im  SRittelalter 
bureß  ben  „fdjwargen  $ob"  gu  Xaufenben  weggerafft  würben, 
unb  ebenfo,  wie  bie  3uben  beS  Orients  beim  Auftreten  ber  ©eft 
in  ben  »on  ihnen  bewohnten  Sänbern  niemals  oerjeßont  bleiben, 
ebenfo  haben  bic  3uben  $eutfcßlanbS,  OefterreichS,  fJranfreicßS 
unb  anberer  europäifcher  Staaten  bei  ©elegenheit  ber  währenb 
ber  legten  3aßrgehnte  >n  ben  betreffenben  Säubern  graffirenben 
©holeraepibemien  oon  biefer  Seuche  nicht  weniger  gu  leiben  ge- 
habt, als  ihre  chriftlichen  ÜRitbürger.41  $aß  ferner  auch  bie 
Snngenfchwinbfucht  unter  ben  3uben  feßr  gaßlreicße  Opfer  forbert, 
hierfür  fehlt  eS  ebenfalls  nicht  au  ftatiftifchen  ©elegen.  3n 
SRuffifcß<©olen  finb  beifpielSweife  in  ben  3aßren  1877—1880 
t»on  ben  bortigen  fRelruten  mofaifdjett  ©laubenS  nicht  weniger 
als  4 ©rogent  wegen  Juberfulofe  für  militäruntauglich  befunben 
worben.4*.  SDaß  jtaubftummheit  unb  garbenblinbßeit  bei  3uben 

Sammlung.  Sf.  8.  V.  116.  3 (743) 


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34 


häufiger  oorfommcn,  als  bei  ©briften,  — bie«  ift  mit  ^öcfjfter 
S53Q^rj(^einIid)!eit  auf  baS  oben  ermähnte  häufige  §eiratben  in 
bie  Verwanbtfdjaft  guriicfgufübren,  wäbrenb  ber  bei  3ubeit  fidj 
finbenbe  febr  bobe  ^ßrogentfab  oon  ©eiftcSfranfbeiten  wenigftenS 
gum  Streit  auf  ^Rechnung  jener  geiftigen  Anftrengungen  unb 
Aufregungen  gu  fefcen  ift,  welche  bei  bem  leicfjt  erregbaren  jübi* 
fcben  ^Temperament  mir  gu  leicht  baS  feelifcbe  ©leichgewicht 
ftöreit. 

Raffen  wir  bie  ©rgebniffe  ber  oorbergebenben  Setrachtungen 
noch  einmal  furg  gufammen,  fo  ift  eS  wobl  nicht  allgugewagt, 
wenn  wir  behaupten,  bajjbaSVolfSSraelSfein  heutiges 
©epräge  einerfeit«  ber  fdjott  öor  Sahrtaufenben 
ftattgeba bte n SRaffenmifdjung,  anbererfeitS  ber  ©in* 
wirfung  ber  fogialen  Serbältniffe  unb  ber3ubrhun' 
berte  hindurch  fortgefeßten  Sfolirung  einer  fpäteren 
©poche  oerban  ft.  Auch  möchten  wir  gum  ©djluffe  noch  bar* 
auf  b'tiroeifen,  bajj  bie  Sermifchung  beS  femitifchen  mit  bem 
inbogermanifchen  ©(ementc,  wie  fie  gufolge  unferer  obigen  Aus* 
einanberfe^ungen  fchon  1500  Sabre  oor  bem  Seginne  unferer 
ßeitredjnung  in  <ßaläftina  ftattgefunben  bot,  nicht  nur  anf  bie 
förperlid)e  Sefchaffenbeit  ber  SuDeit,  fonbern  adern  Anfdjein  nach 
auch  auf  bie  Sitten  berfelbcn  einen  gewiffen  ©inffujj  auSgeübt  bot. 
SBenn  wir  bemerfen,  baß  bei  beu  Suben,  wie  bei  ben  weiften 
orientalifcben  Sölfern,  urfprünglid)  bie  ©olpgamie  allgemein  ge* 
brüuchlidj  war,  baß  aber  fpäter  an  bie  Stelle  ber  Vielweiberei 
allmählich  bie  SJfonogamie  getreten  ift,  unb  wenn  wir  erfahren, 
baß  bie  oon  babtjlonifcben  Äoloniften  nach  bem  entoölferten 
3«rael  übertragene  Sitte  ber  Xödjterbütten  (Sukkoth-Benoth)*8 
oon  ben  3uben  oerabfebeut  würbe,  fo  ift  biefe  Sittenreinbeit,  wie 
fie  bie  SSraeliten  in  fchroffetit  ©egenfab  gu  ihren  babplonif^en 
Stamnwerwanbten  an  ben  lag  legten,  mit  großer  Sßabrfchein» 
lid)teit  auf  beu  ©influf?  beS  fchon  im  bantaligen  3ubentbum 

(744) 


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35 


enthaltenen  inbogermanifdhen  SotfSelementeS  auriicfjuführen.  Die 
SlRonogamie,  bie  befanntlich  fcf>on  in  fetjr  früher  geit  eine  oon 
ber  arifchen  SBötferfamilie  hodjflehaftene  gnftitution  bitbete,  bie 
Stuffaffung  beS  SBeibeS  als  einer  bent  SKanne  gleichberechtigten 
fßerföntichfeit,  atS  feiner  treuen  ©efätjrtin  in  ©tücf  unb  Unglücf, 
— biefe  fpecififd)  inbogermanifche  Stnfdjauung  tja*  auch  in  baS 
jübifche  Sotfäthum  infofern  ©ingang  gefunben,  als  fetbft  31t 
einer  geit,  wo  bie  Sßottjgamie  bei  ben  Sinbern  gSraetS  noch 
allgemein  oerbreitet  war,  bodj  ftet§  nur  eine  grau  atS  bie 
^perrfrfjecin  im  £»aufe  galt  nnb  jmifcfjdi  biefer  einen  bcoorjugten 
grau  unb  ben  fiiebliitgen  beS  ÜRanneS  aus  ber  Staffe  ber  tjanS* 
geborenen  unb  marftgefauften  Dienerinnen  eine  tiefe  Stuft  be* 
ftanb.44  üluch  bebeuten  bie  in  beseitigen  Schrift  (Deuter.  24,  1 ff.) 
enthaltenen  öeftimmungen,  welche  bie  jübifche  ©hefdjcibung  be* 
treffen,  jebenfatts  einen  wichtigen  gortfcßritt  im  Vergleich  ju 
ber  unter  ben  SBötfern  beS  Orients  jiemticf)  allgemein  oerbreiteten 
Änfdjauung,  bie  bem  Spanne  ein  uneingefdhränfteS  SBefi^*  unb 
ffieräufjerungSrecht  über  baS  SBcib  einräumt,  — ein  gortfchritt 
im  Detifen  unb  Hanbetn,  ben  man  woht  auf  ben  bei  ben  guben 
jur  ©eltung  fontmenben  inbogermanifchen  ©inftufj  jurücfführen 
barf.  9tuf  jener  ethnifcfjcn  SD?ifdjung  ber  guben  mit  inbogerma* 
nifchen  SßotfSetementen,  wie  fie  nach  unferen  obigen  9luSeiuanber* 
fe^ungen  in  oord;rifttic^er  ftattgefunben  hat  beruhen  auch 
Woht  gewiffe  Uebereinftimntuugen  in  ben  retigiöfcn  Uebertiefe* 
rungcn,  auf  bie  man  erft  in  neuerer  geit  aufmerffam  geworben 
ift.  ©0  bilbet  nach  3.  Rippert45  ber  inbifdje  Jama  (iranifcf): 
Jima)  nur  eine  fßaraßete  ju  ber  ©otteSgcftatt  beS  Slbraham, 
wie  fie  bie  guben  ber  üorjaphiftifcf)en  ^Religion  (b.  i.  jener  9fe* 
ligion,  welche  bem  auSfchliefjlichen  gehooabienft  bei  ben  guben 
oorauSgegangeit  ift)  gefannt  haben,  ©benfo,  wie  gnma  atS  „gürft 
ber  Seligen",  als  ber  „Sonig  ber  Heimgegangenen  unb  93er> 

fammter  ber  3Renfchen  im  genfeitS"  bezeichnet  wirb,  ebettfo  finben 

«• 

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36 


toir  aucf)  in  bcr  Sibel  bte  SorfteQung,  baß  bie  9tad)fomtnm 
SlbrafjatnS  in  feinen  Sdjofj  jurücffefjren.  2lucfj  bilben  bie  £eu* 
tung  beS  9iamen$:  „fttbraffam"  als  „Sönig  ber  |>öl)e",44  fowie 
bie  in  ber  SBibel  mehrfach  erwäfinten  Sranbopfer  auf  Sergen/7 
eine  fReminiöcen^  an  ben  unter  ben  Snbogermanen  roeitoer» 
breiteten  „$ö{)entu(tu8"  b.  i.  bie  Sitte,  ber  ©ottfjeit  auf  Sergeä* 
fjöfjen  ju  opfern,  bej«.  bie  auf  33erge8f)öf)en  errichteten  @rab- 
benfmäter  al8  ?Utäre  ju  benufcen. 


s)lumcrfuitgcn. 

1 Sötetefelb  unb  Seidig.  Berlag  oon  Belagen  k filafing  1881. 

5 SJergl.  bie  Abhanblung:  „The  white  race  of  Palestine“  in  ber 
englifdjen  3eitfd>rift  „Nature“  9ir.  979  Vol.  38  (2.  Augufl  1888). 

3 „Racial  Photographs  from  the  Egyptian  Monuments“.  Sonbon 
1888  Bergt  ferner  Srlinber«  Betrie«  Artifel:  „The  earliest  racial  portraits“ 
in  „Nature“  SRr.  997  Vol.  39  (6.  ®ejember  1888). 

4 $a§  bie  rothe  §autfärbung  nid)!  etwa  auf  ber  Ablagerung  eine« 
befonberen  Pigment«,  fonbern  auf  bem  ®urd)fcf)intmern  ber  im  guftanbe 
ber  Blutüberfüllung  befinblidjen  ©efäßc  ber  Seberljaut  burd)  bie  ober- 
fläd)lidjfte  #autfcf)icbt  beruht,  hat  Bubolf  Birdjoto  in  feiner  Abhanblung 
„®ie  Anthropologie  Aegtjpten«"  (Äorrefponbenjblatt  ber  beutfd)en  ßJefeO- 
fchaft  für  Anthropologie,  (Ethnologie  unb  Urgefchidjtc  1888  9h:*  10  ®-  105  ff-1 
heroorgehoben. 

* Ä.  a.  D. 

6 Bergt.  „Remarks  on  Mr.  Flinders  Petrie’s  Collection  of  Ethno- 
graphie Types  from  the  monuments  of  Egypt.“  Journal  of  the  Anthro- 
pological  Institute  of  Great  Britain  and  Ireland.  1889.  p.  224  unb  225. 

7 A.  a.  D. 

8 Bergt,  bie  Abhanblung : „®ie  BJumien  ber  Könige  im  SRufeum  ju 
Bulaq".  (Sitzungsbericht  bcr  Berliner  Atabemie  ber  ffifffenfdjaften  oom 
12.  3uli  1888.) 

• ®aß  ber  ©phinj  oon  ®ani«  ebenfo,  roie  eine  unlängft  oon  SiaoiHe 
ju  Bubafti«  au«gegrabene  ©tatue,  ben  3Rongolentt)pu«  jur  2>arftedung 
bringen,  hält  SHubotf  Birchoro  (a.  a.  O.)  für  nicht  untoahrfcheinlith.  3n 
Uebercinftimmung  hiermit  jirht  ber  engtifche  Anthropologe  (£.  $.  ftfotoer 
au«  ber  Breite  ber  mittleren  ®efid)t«partie  unb  bem  Borfpringen  ber 
SBangenbeine  bei  ben  in  Siebe  fteljenben  ©tatuen  ben  ©d)luß,  baß  SKongolen 

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als  ©lobefle  für  biefelben  gebient  tjaben.  ®a  nun  bie  befagten  Xenfmäler 
unzweifelhaft  ber  £tbffoS-5ßeriobe  ?HtägflptcnS  angeboren  unb  ba  auf  ber 
ju  SubaftiS  aufgefunbenen  Statue  ber  ©ame  unb  Xitel  eines  ftttlfoS-ftönigeS 
nadjgeroiefen  rourbe,  fo  erhält  fjierburcfi  jene  9lnfid)t  eine  ftarle  Stufte, 
ber  zufolge  bie  3nöafion  unb  Groberuuq  beS  $ftaraonenlonbeS  burd)  bie 
£irtenlönige  (fttjffoS)  als  einer  jener  GroberungSzüge  aufzufaffen  ift.  wie 
fie  bie  ©longolenoöller  oon  3^*  Zu  3«*  «“4  tBeften  unb  Süben  unter- 
nommen ftaben.  GS  mürbe  bemnad)  bie  ^ujlfoS-gnBafion  eine  parallele 
barfteüen  tu  benGroberungSzügcnAttilaS.  SjdjingiS-Gh  an$  unbXimurS,  aus 
benen  bie  heutigen  ©ieberlaffungen  ber  ©tagbaren,  ginnen  unb  Xürlen  in 
Guropa  fterporgegangen  ftnb.  9lnbererfeitS  ift  jener  fi'ampf,  welcher  in 
©aläftina  unb  Serien  jtoifcften  ben  Semiten  (gSraeliten)  unb  ben  Stämmen 
öon  mongolifcßer  Äbfunft  (§ittiter  unb  biefen  oermanbte  Stämme)  geführt 
mürbe,  rooftl  nur  als  eine  Xfteilerfdjeinung  jener  Sämp’e  aufzufaffen, 
welche  überall  ba  ftattgefunben  ftaben,  roo  biefe,  bezüglich  ihrer  Sulturent- 
micfelung  fo  feftr  aufeinanber  angeroiefenen  unb  bod)  feinbticft  ftdj  gegen- 
Überfteftenben  Staffen  aufeinanber  trafen.  Sergl.  Journal  of  the  Antbro- 
pological  Institut  of  Great  Britain  and  Ireland  Vol.  XVI.  p.  377 

10  ©ad)  IBrigbt  (Empire  of  the  Hittites,  flonbon  1885)  roeifen  bie 
auf  ben  gelSilulpturen  Bon  ÄardjemiS  pr  XarftcDung  gebrachten  fßerfonen 
in  iftren  ©efichtSjögen  neben  femttifdjen  Gharafteren  geroiffe  Gigenthümlicf)- 
feiten  ber  mongolifdjeu  ©affe  auf.  Xpler  hat  bara»f  aufmertiam  gemacht,  baß 
auf  geroiffen,  im  ©ritifcften  ©tufeum  ju  Sonbon  aufberoahrten  Sfulpturen, 
welche  ben  .£>ittitern  pgeicftrieben  roerben,  jroei  Bericfjiebenc  Xppen  bargefteHt 
finb,  bon  benen  ber  eine  burcf)  mongolifcfte  ©efidjtSzüge  unb  eine  Art  oon 
Gftinefenppf  ebarafterifirt  ift,  roährcnb  ber  anbere  bie  gewöhnliche  femitifcfte 
©eficfttebilbung  aufiueift.  ®aS  leftterroähnte  Soll  betrachtet  ber  befagte 
©eiehrte  als  bie  SBafaflcn  beS  mongotifcften  SolfeS.  — ®ie  Annahme,  baß 
bie  #ittiter  (Kheta)  oon  mongofifcfter  Ablun't  finb,  glaubt  ber  englifche 
©eiehrte  6.  9t.  Gonber  auch  mit  iprachlicften  ©rünben  belegen  ju  fönnen. 
SBenn  auch  bie  bisrogltiphijcbcn  gnfcfjriften  auf  jenen  tleinafiatifchen  gelten- 
benfmälern,  bie  mit  größter  äBahrfcheinlicftfeit  ben  ßittitern  jugefdjriebcn 
merben,  noch  nicht  entziffert  mürben  unb  fomit  ein  genauerer  Ginblicf  in 
bie  Sprache,  roelche  oon  biefem  frühgeichichtlichen  Solle  gefprochen  rourbe, 
jur  3«<t  »och  nicht  ermöglicht  ift,  fo  geftatten  bod)  bie  in  a(tägt)pti{cften 
Aufzeichnungen  uns  erhaltenen  Gigennamen  gemiffer,  ehebcm  oon  |>ittitern 
beroohnter  Drtfchaften,  foroie  bie  in  altägpptifchen  gnfchriften  oerzeicftneten 
©amen  hittitijcher  gurften  einen  allgemeinen  Schluß  betreffenb  ben  Gharafter 
ber  Sprache,  bie  Bon  bie'ent  Solle  gefprochen  mürbe.  GftabaS  unb  anbere 
©etehrte  ftimmen  in  ber  Anjicf)l  überein,  baß  bie  ©amen  ber  hcttitijchen 
(Könige  meber  einer  femitifchen  noch  einer  arifchen  Sprache  angchören. 


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38 


ferner  weift  Eonber  bnrouF  ljin,  bofj  unter  ben  betagten  .'petrfchernatntn 
Sorte  fid)  finben,  bie  and;  in  Der  affabijdjen  unb  alimebifchcn  Sprache  — 
alfo  in  3*>'0uien  oon  turanifdjer  Stbhinft  — oorfommen  unb  in  biefen 
©praßen  alä  ©ejeidpiungen  für  ben  dürften  figuriren,  unb  baß  einer 
ber  tjittitifdjen  §crr[d)ernamen  im  Etruafifcfjen,  baä  ttad)  bcr  änfidjt  ge- 
miffer  Sprachgelchrter  ju  ben  turanijchen  Sprayen  in  naben  ©ejiehungcn 
fielen  folt,  fid)  roieberfinbet.  Seiterhiu  wirb  ber  Umftanb.  baff  in  ber 
Sprache  bcr  ipittiter  ber  QJcnitio  bem  jugeljörigcn  SRominatio  nicht  fetten 
oorangeht,  — eine  Sonftruftiou,  bie  in  ben  femitifefjen  Sprpchen  nicht  nor* 
fommt,  — bon  Eonber  aliS  ein  ©eroeiü  für  bie  3ugel)örigleit  ber  hittitiidjen 
Sprache  jum  turanijchen  Spradjenfoftem  betrachtet.  2lud)  bie  religiöfen 
2Jnfd)auungen  ber  $>ittiter,  bezüglich  beren  bie  oben  ermähnten  tJtlöifulp- 
turen  gemiffc  2Iufjd)lüffe  liefern,  fprechen  ju  ©unfien  ber  3:t)ct>rie  oon  ber 
turanifchen  (mongolijehen)  2lbftammnng  beS  betagten  ©olfeP.  Gnbtich  werben 
auch  flcwiffe  Sigentt)ümlicf)feiten  ber  hittitifdjen  Iradjt  — fo  tuebefonberr 
jene  ©chuhe  mit  aufgerichtetem  Schnabel,  welche  auf  ben  bic  fcittiter  jur 
3>arfteflung  bringenben  SDenfmälern  fich  finben,  — oon  Eonber  aW  ©eroeife 
für  bie  mongolifebe  9lbfunft  biefeä  ©olfeS  angeführt.  ©ergl.  herüber  bie 
ütbhanbtung  Eonberä:  „Hittite  Ethnology“  im  Journal  of  the  Antbropo- 
logical  Institute  of  Great  llritain  aud  Ireland  Vol.  XVII.  1888  p.  137  ff.) 

11  ©ergl.  Sdra  fiap.  10,  10—12. 

11  ©ergl.  ©ehemia  llap.  13,  23  unb  24. 

13  ©ergl.  21.  URcubauer  „Notes  on  the  Racctypes  of  the  Jews“  im 
Journal  of  the  Anthropological  Institute  of  Great  Britain  and  Ireland, 
Vol.  XV.  188«  p.  17  ff. 

" ©ergl.  3t.  Slnbrce  a.  a.  SD.  ©.  öl. 

16  21.  a.  SD.  ©.  18. 

10  21.  a.  D.  ©.  49  unb  50. 

17  fDafj  auf  ber  ©prenäenhalbinfel  infolge  beS  gewaltfamen  trvdtZ, 

ber  auf  bie  bafelbft  wohnenben  3uben  auügeiibt  würbe,  ein  ber 

Sefcteren  gum  Ehriftenthum  übergetreten  ift,  unb  baß  in  Spanien  bie  ein- 
heimifche  ©eoölferung  biü  in  bie  hödjften  ffreife  eine  intenfioe  SRifdiung 
mit  jübifchem  ©lute  erfahren  hat,  ift  allgemein  befannt.  3?ie  getauften 
3ubcn  (SRaranuen)  jählten  in  Eaftiltcn  unb  2lrragonien  im  15.  3ahrbunbert 
nad)  §unbcrttaufenben;  fie  brangen  in  bic  hüchften  Staatäämter  ein  unb 
erlangten  burd)  ihre  SReichthümcr  großen  Einfluß ; ja  e$  gab  in  ben  be- 
tagten ©tobinjen  nur  wenige  angefeljene  gamilien,  bic  nicht  etwa« 
jübifche«  ©lut  in  ihren  2lbcrn  gehabt  hätten.  (©ergl.  ©rne^,  ©efchichte 
ber  3ubeu  VIII.  301).  Sbenjo,  wie  bie  Spanier,  hüben  auch  bie  ®a*!en 
unb  ©ortugiejen  eine  5DUfd)ung  mit  jübifchem  ©lute  erlitten.  ¥lud)  auf  ben 
©alearen  h«t  eine  intenfioe  9Rijd)ung  be$  jübifchcn  mit  bem  eingeborenen 

(748) 


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39 


Slentente  ftntfgefunben.  $>iefe  gnfeln  bilbeten  bereits  unter  §abriait  baö 
giel  einroanbernber  guben,  bie  im  14.  gaprpunbert  alöbann  jur  Annapme 
bcS  SpriftentbuntS  gejmungeit  würben  unb  bcn  Slamen  „Aittiufim"  führten. 
(Sergl.  9t.  Anbree  a.  q.  D.  ©.  55.) 

18  Sergl.  ben  ©efamtbericpt  über  bie  garbe  ber  Augen,  ber  .'paare 
unb  ber  $aut  ber  ©cpullinber  in  3>eutfcplanb“  im  „fiorrefponbenjblatt 
ber  fßeutfcpen  ©efeflicpnft  für  Anthropologie.  Stpnologie  unb  Urgefcpicptc", 
gaprgang  1885  ©.  89  ff  9lacp  ben  oon  Sircporo  in  ber  „geitfcprift  für 
Stpnologie“  (gaprgang  1876  ©.  17  ff.)  gemachten  Slittpeilungcn  weifen,  wenn 
man  bie  garbe  ber  Augen,  beS  Haares  unb  ber  fjaut  gefonbert  betrachtet,  18,7 
fßroaent  ber  in  Sreupen  unterfuchten  ©cpullinber  jübifcper  fionfcffion  blaue, 
18,8fßro,^ent  graue  unb  53,5  Srojent  braune  Augen  auf  (im  ©egcnfap  ju  43 
Ißro^ent  blauer  Augen,  32,7  fgro.tent  grauer  Augen  unb  24.3  ißrojcnt  brauner 
Augen  bei  cpriftlicpen  Scpullinbern  in  fßreufjen),  währenb  32,4  ^Srojcnt 
jübifcher  ©dmlfinber  in  fßreupen  blonbeS  £>aar,  55.5  ^rojent  braunes  £aar, 
10,1  Srosent  fcpmarjeS  $aar  unb  0,5  ffärojcnt  rotpeS  $aar  (int  ©egcnfap 
ju  72.2  Srojent  biottbeS  §aar,  26,1  S^ent  braur.eS  $>aar,  1,2  ffSrojent 
fcpwarjcS  .'paar  bei  cpriftlicpen  Scpullinbern  in  Sreupcit)  befipen. 

10  Sergl.  bie  Abhanblung  Don  gopn  Sebboe:  r0n  the  phjsical 
charaeteristics  of  the  Jews“  in  ben  Transactions  of  the  Ethnological 
Society  of  London,  Vol.  I.  New  Series  p.  222  ff. 

30  Sbenbafelbft  S.  227. 

Sbenbafelbft  S.  227  unb  228. 

**  (Sbenbafelbft  ©.  228  unb  229. 

83  Sergl.  bie  Abhanblung  Submig  ©tiebaS:  „Sin  Seitrag  jur  Anthro- 
pologie ber  guben"  im  „Arcpio  für  Anthropologie"  Sb.  XV,  ©.  61  ff. 

34  Sbenbafelbft  ©.  69. 

16  „Sin  Seitrag  jur  Anthropologie  ber  guben.“  gnauguralbiflertation 
non  Sernparb  Slecpmann.  $orpat  1882. 

,8  Sergl.  bie  obenermähnte  Abhanblung  ©tiebaS  ©.  69. 

37  Sbenbafelbft  ©.  70. 

38  Sergl.  bie  obenerwähnte  Abhanblung  SebboeS  ©.  223.  $ie  pocp- 
grabige  Saugföpfigleit  ber  in  ber  ftürlei  lebenben  guben  (Spagnuoli;  wirb 
auep  oon  ©eisbaep  (a.  a.  D.)  peroorgeboben. 

3*  2) ic  Jftaftermeite  ber  guben  beträgt  naep  ©cpulp  101,27  fßrojent, 
naep  Slechntann  103,27  fßrojent  ber  Sflrperlänge,  wäprenb  biefclbc  bei 
anberen  Söllern  erpeblicp  gröper  ift  unb  bei  Siiolänbcrn  104.5  fßrojent,  bei 
Sftpen  unb  Setten  napeju  107  fßro,ieut  ber  Körpergröpe  auSmadjt. 

30  Bulletins  de  la  ('lasse  physico  • mathematique  de  I’Academie  de 
St.  Petersburg  T.  IV.  9tr.  15  unb  16. 

049) 


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40 


31  fiörpcrmeffungen  üerfcpiebener  3J?enfcpenraffen,"  8ettf<brift  für 
(Ethnologie  1877  Supplement  S.  214. 

” Unterfucpungen  über  ben  mittleren  ©Suchst  beS  SKenfcpen  in  Ungarn, 
©ubapeft  1885. 

53  Sergt.  bie  obenerroaljnte  fHbpanblung  StiebaS  S.  70. 

M S3ergl.  „SRaterial  jur  mebijinifepen  Statiftit  unb  ©eograppie 
JRufjtanbS"  im  faiferl.  rufftfe^en  mifitärmebizinifepen  3ournal  1878  unb  1879. 

56  ©ergl.  Sebboe  a.  a.  0. 

36  $ie  firim  unb  Dbeffa.  Seipjig  1854. 

37  ©crgl.  „On  the  raci&l  characteristics  of  modern  Jews*  im 
Journal  of  the  Anthropological  Institute  of  Great  Britain  and  Ireland, 
©b.  XV.  p.  39  ff. 

38  Saß  bie  nitbrige  Statur  unb  ber  geringe  ©rufiumfang,  roie  er 
bei  ben  3uben  bie  Siegel  bilbet,  bis  ju  geroiffem  ©rabe  auf  burep  unge> 
nügenbe  Ernährung  unb  fonftige  ungünftige  ©erpältnifje  bebingte  Stängel* 
paftigfeit  ber  Gntroidclung  juriidjufübren  ift,  — btejer  Schluß  erhält  eine 
Stühe  bureb  bie  non  ©Icdjmann  (a.  a.  £.)  mitgetheilte  ©eobadjtung.  nu« 
ber  peroorgept,  baß  bie  rufftfehen  3uben  im  alter  oon  20  3ahrm  attent- 
halben  uitgenügenb  entroidelt  unb  baper  fepr  häufig  militäruntauglicb  ftnb,  unb 
baß  anbererfeitS  mit  ber  3“»>ahroe  beS  SUterS  bei  benjelben  foroohl  ber  ©rab 
ber  Gntroidelung  zunimmt,  roie  auch  bie  ruffiiepen  3uben  bezüglich  ber 
Stilitärtauglicpfcit  in  etroaS  höherem  SebenSalter  günftigere  Kcfultate 
liefern,  als  im  20.  ScbcnSjapre. 

• 39  ©ergl.  3ocob4  a.  a.  D.  S.  26. 

40  Gbenbaielbft  S.  28. 

41  Gbenbafelbft  S.  30. 

43  Gbenbafelbft  S.  31. 

43  ©ergt.  2.  ©uep  ber  fiönige  fiap.  17,  30;  foroie  3-  Sippert,  Äultur» 
gcfcpicptc  ber  Stenfcppeit.  Stuttgart  1887.  ©b.  n,  @.  15.  5)ie  Sitte  ber 
„Üöcpterbütien"  ober  „©rauthülten"  — oon  ben  Gingeborenen  ber  portn* 
giefifepen  Senkungen  35?eftafrifaö  a<$  Casas  das  tintas  bezeichnet  — roirb 
noch  heutzutage  oon 'zahlreichen  Siaturoölfern  aufrecht  erhalten.  Diefelbe 
befiehl  barin.  baß  bie  ©raut  an  ihrem  Hochzeitstage  in  einer  befonberen 
Hütte  untergebracht  roirb  unb  fiep  bort  jebem  Stanne  ipreS  Stammes,  ber 
mit  einem  ©efepenf  um  ipre  ©unft  roirbt,  preisgeben  muß. 

44  ©crgl.  3-  Sippert  a.  a.  0.  S.  109. 

43  Gbenbafelbft  S.  2G0. 

48  Gbenbafelbft  S-  261. 

47  ©crgl.  j.  ©■  1.  ©mp  Stofe  fiap.  22,  2. 


(7S0) 


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grnnlft,  Ptinj  aott  länrntatk. 


Sou 


$ujta»  Jiiiuff.  f 

Ufarrfr  in  4itimbacb 


Hamburg. 

iyprlagsanftalt  unb  3)rucferei  (oormalS  3.  SKicfjter). 

1891. 


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2>a$  8iedit  ber  Ueberfc&uiifl  in  frernbe  ©praßen  wirb  oorbtljalten. 


Tnirf  Du  ®rrIog»an(toIt  unb  Irudcrei  'ürtipu-«B^feISfd)nft 
(bormalt  3.  3.  Sid)tu)  in  Hamburg. 


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(Sfyafefpeare  unb  fein  @nbe  — hantlet  uitb  fein  @nbe. 
2Bo  ©bafefpeare  genannt  wirb,  benft  man  gleidj  an  fein  be- 
rübmtefte«  unb  genialfte«  2Berf,  an  fiamlet.  ®ie«  gilt  nid)t 
aßein  oon  ben  (Snglänbern  unb  3}eutfc^en,  fonbern  aud)  ton 
ben  granjofen.  3ejjt  nocf)  bringt  faft  jebeS  3abr  eine  ©djrift 
über  Hamlet,  benn  e«  ^anbeft  fid)  §ier  nicht  aßein  um  bie 
äftbetifäe  SBürbigung,  fonbern  — unb  bie«  ift  ba«  Sebenfticfje  — 
noch  tiel  mef)r  um  ben  ©inn  unb  Snfjalt  be«  ©ebicbte«  in 
Sinjeln^eiten  unb  im  ©anjen.  ©djreiber  biefe«  f>at  in  $ßrub’ 
3)eutfd}em  SOfufeum  1867,  5.  6 unb  1866,  5 feine  Sluffaffung 
biefe«  ©tücf«  entroicfelt  unb  gegen  ©inroenbnngett  gefiebert.  2)a« 
ßtacbfolgenbe  enthält  eine  burebau«  neue  unb  termebrte  ®e- 
arbeitung  jener  Suffäfce,  an  beren  ©runbgebanfen  id)  jefct  noch 
feftbalte. 

©bafefpeare  bat  im  $amlet,  rote  in  feinen  anberen  ©tücfen, 
ficb  an  eine  frembe  (Srjä^lung  angefc^Ioffen,  aber  biefe,  fo  febr 
er  ibr  in  mannen  fünften  treu  geblieben  ift,  in  $infid)t  auf 
beit  @barafter  feine«  gelben  unb  ben  ?lu«gang  be«  ©tücf« 
roefentlicb  umgeftaltet,  fo  umgeftaltet,  roie  roir  bie«  bei  feinem 
feiner  übrigen  ©tücfe  finben.  2)ie  urfprünglicbe  §amletfage 
finbet  ficb  britten  93ucb  ber  bättifeben  ©efebiebte  be«  ©ajo 
©rammatifu«,  eine«  geitgenoffen  g^ebricb  gfjotbbart«.  ®er 

Sammlung.  9t.  8.  V.  117.  1*  (758) 


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4 


gratijofe  BeHeforeft  bearbeitete  bie  ®ejc§id)te  in  bem  mora« 
lifireubem  @efd)mntfe  feiner  3eit  unb  lieft  fie  unter  ber  ?luf» 
fdjrift  „Avec  quelle  ruse  Amleth,  qui  depuis  fut  roi  de 
Dannemark,  vengea  la  mort  de  son  pere  Horvendille,  occis 
par  Fengon  so»  frere“  im  fünften  Banbe  feiner  SJloneHen  1564 
erfdfeinen.  3<h  glaube  nicht,  bafj  ©^afefpeare  ben  lateinifdfen 
Xejt  beS  ©ajo  gefannt  l)at;  roaljrfcheintich  hot  er  Belief  oreft« 
97o»elIenfammlung  oor  ficfj  gehabt.  Die  englifdfe  Ueberfefcung 
biefer  ÜJlooetlen  erfd)ien  erft  1608,  nach  bem  ©fjafefpearefdjen 
Drama.  SDiefeS  hat  »erfdfiebene  SBanblungen  burchgemacht. 
®d)on  1587  roirb  eine  $amlet  betitelte  Dragöbie  ermähnt,  bie 
(Stnige  bem  X^oma«  Äpb  jufchreibeu,  Slnbere  für  eine  Sugenb» 
arbeit  ©fjafefpeareS  galten;  jebenfaUS  ift  fte  fpurloS  öerfdjrounben. 
3m  3o^re  1598  roirb  ferner  eine  Dragöbie  „£>amlet"  als  ein 
SBerf  ©halefpeareS  erwähnt.  „Unfere  3ugenb,"  fdjreibt  ©eorg 
|>arqep,  ein  greunb  unfercS  Did)terS,  1598,  „ift  ganj  entjüdt 
»on  ©halefpeareS  BenuS  unb  9lboniS;  allein  feine  Sucrejia 
unb  feine  Dragöbie  oom  Dänenprinjen  ftamlet  gefallen  ben 
füigeren  unb  ernfteren  Leuten  mehr."  2tuS  biefer  älteften  Be- 
arbeitung mögen  einjelne  ©tüde,  roenn  auch  oerberbt  unb  »er- 
ftiimmelt,  in  bie  uns  erlfalten  gebliebene  OuartauSgabe  »on  1603 
aufgenommen  roorbcn  fein.  3tn  3aljre  1604  erfc^ien  eine  öielfacf) 
»erbefferte  SluSgabe  beS  ©tüdS.  ßu  ben  roefentlitfjen  Berän- 
bcruitgen  rechnet  Bobenftebt  nid}t  nur  bie  Umroanblung  »er- 
fdpebener  Flamen,  fonberit  namentlich  bie  feinere  Durcharbeitung 
unb  oollftänbigere  Sntroidelung  beS  ^auptcharafterS,  bie  Um- 
fteflung  bebeutertber  Auftritte  unb  enblid)  bie  beffernbe  £anb, 
roeldje  burch  baS  ©anje  geht. 

Betrachten  roir  nun  ©halefpeareS  Duelle,  bie  in  allem 
roef entliehen  mit  ©afo  iibereinftimmenbe  Stählung  beS  Belle» 
foreft  im  SluSjuge. 

£ror»enbill,  ein  ©tatthalter  »on  Sütlanb,  macht  fich  burch 

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o 


feine  fühnen  fRaub$üge  jur  ©ee  fo  gefürchtet,  baß  ber  auf 
feinen  9iuf)m  eiferfüdjtige  ßöitig  Voller  non  fRorwegeit  auSjieht, 
i^n  ju  faefämpfen.  ®ie  beibeit  Reiben  treffen  fid)  bei  einer 
lieblichen  Snfel,  fteigen  ans  2anb  unb  oerabreben  einen 
fampf  (j^olmgang)  unter  ber  ©ebingung,  baff  ber  ©ieger  alles 
Sanb  beS  ©efiegten  gewinnen  unb  biefen  ehreitooH  beftatten 
fülle,  fwroenbill  bleibt  ©ieger,  unb  ber  Honig  non  2)änemarf, 
SRorif,  giebt  ihm  feine  2odjter  ©erutf)a  jur  ©emahlin,  weil  er 
ihm  burch  Abtretung  eines  anfehnlichen  2he*k3  ber  ®eute  feine 
fchufbige  ©hrerbietung  ermiefett  hotte.  SluS  biefer  ©he  ging 
Hamlet  heroor.  — ©fjafefpeore  »erlegt  ben  ©chauplafc  nach 
©eelanb  unb  macht  Hamlet  jum  ©ohne  beS  gleichnamigen  Königs 
oon  ®änemarf. 

fJtach  ber  ©age  wirb  |>orDenbill  oon  feinem  ©ruber  gengo 
umgebracht,  ber  baburch  Meintjerrfcher  SütlanbS  wirb.  ©r 
befchönigt  fein  ©erbrechen  burch  ben  ©orwanb,  bah  er  ^oroenbitl 
nur  getöbtet  f)obe/  um  beffen  fcfjöne  ©emahlin  ©ertrub  oor 
feinen  graufamen  ÜJtihhonblungen  ju  retten,  unb  oermählt  fich 
mit  biefer,  welche  um  ben  HönigSmorb  gemufft  hotte.  fjier  ift 
nun  ber  grofje  Unterfchieb  jwifchen  ber  ©age  bei  ©ajo  unb 
noch  wehr  bei  ©elleforeft  einerfeitS  unb  ©hafefpeare  anbererfeitS, 
bah  nach  ®«fem  baS  ©erbrechen  bem  Solle  ganj  unbefannt, 
'nach  3euem  allgemein  befannt  ift;  hot  boch  nach  bem  9iooeIIiften 
gengo  feinen  ©ruber  mit  einem  2lnf)ang,  ben  er  fich  Su  öer’ 
fchoffen  gemuht,  bei  einem  geftgelage  iiberrafcht  unb  gemorbet 
unb  biefe  21)01  nachher  auf  bie  oben  angegebene  SBeife  be* 
ichönigt.  ©ei  ©hafefpeare  träufelt  ©laubiuS,  wie  er  ben  gengo 
umgetauft  hot,  feinem  fchlafenben  ©ruber  ©ift  inS  Ohr/  unb 
nur  ©ertrub  weih  um  ben  2Rorb.  deswegen  braucht  ©hafefpeare 
einen  ©eift,  um  ben  fmmlet  in  baS  ©eheimnifj  einjumeihen  unb 
ihn  jur  fRache  ju  ftacfaeln.  ©ben  bamit  ift  aber  bem  ©ohn 
biefer  Stuftrag  wefentlich  erfchwert.  2)er  Hamlet  ber  ©age  hätte 

(755) 


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6 


nämlitß,  wenn  er  blinb  magßerjig  gemefeti  märe,  ebenfalls  fo* 
gleicß  nacß  ber  ©rmorbutig  feine«  SSnter«  einen  Änßang  um  fidj 
fammeln  unb  ben  ßönig  töbten  ober  botfj  abfeßen  unb  aug  bem 
fReicße  tiertreiben  Können.  Sber  bag  Huffcßieben  unb  3aubem 
oon  ©ßafefpeareg  |>amlet  finben  mir  fc^on  in  bem  geiftig  ge» 
funben  fpamlet  ber  ©age  tiorgebifbet.  Slmletß,  mie  er  in  ber 
©age  ßeißt,  fteflt  ficß  maßitfinnig;  benn,  mie  er  ju  feiner  Sülutter 
fpäter  fagt,  er  meiß,  baß  fein  Oßeim,  bet  flmletßg  S3ater  ge* 
morbet,  aucß  oor  ber  ©rmorbung  beg  Steffen  nicßt  jurütffcßeuen 
roerbe,  beffen  fRacße  er  fürsten  müffe,  meil  fie  uon  ber  SRatur 
geboten  erfcßeine.  „Unb  SRacße  miß  icß  aucß  neunten  unb  in 
einem  ÜJiaße,  mie  fie  in  biefem  Sanbe  big  jeßt  nicßt  erhört 
morben  ift  — menn  ßßon  icß  bie  3e't  unb  bie  ®elegenßeit 
ba^u  erft  noch  reifen  taffen  muß."  greilicß  ift  jroifcßen  bem 
Slmletß  ber  ©oge,  ber  nicßtg  tion  fßßilofopßie  unb  fßeffimigmug 
meiß  unb  bem  melancßolifcß-tierrücften,  geiftreicß  pßilofopßirenben 
®änenprinjen  ©ßafefpeareg  ein  großer  Unterfcßieb.  91  ber  man 

borf  biefen  Unterfcßieb  nicßt  übertreiben.  35ie  $amletfage  ift 
nicßt  fo  roß  unb  bürftig,  mie  fie  oft  genannt  mirb;  fie  tierbient 
biefe  SBeracßtung  fo  menig  ober  nocß  meniger,  alg  bie  ©agen 
oon  ©rutug  unb  ^efl.1  ®er  Slmletß  ber  ©age  jeigt  einen 
fünftlicß  oerfcßluitgenen  ©ßarafter.  Sörutug  gilt  allgemein  für 
bumm;  ßinter  Slmletßg  Treiben  mittern  fcßärfere  Seobacßter 
berecßnenbe  Sßerfcßmißtßeit.  Sörutug  entßüflt  fein  maßreg  SEBefen 
erft  beim  ©intreten  ber  ft'atoftropße;  Stmletß  unb  §ainlet  fegen 
bie  ÜJiagfe  ber  ©eiftegftörung,  nacßbeni  fie  biefelbe,  mie  um  ißre 
Umgebung  ju  necfen,  oon  3e't  3U  gelüftet  ßatten,  einmal 
in  uollem  ©rnfte  gattj  ab,  nänilicß  im  SWeinfein  mit  ber  2Jiutter, 
unb  jmar  tßun  fie  bieg  nicßt  aug  fRacße  ober  aug  Uebermutß, 
fonbern  aug  gefränftem  ©ittlicßfeitggefüßl.  3)ie  jmeibeutigen, 
finnooö  unfinnigen  fRätßfel,  bie  ber  f>elb  augfprubelt,  roaren 
für  ben  norbifcßen  ©efcßmacf  ein  ^auptreij.  SEBie  man  Hamlets 

(756) 


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7 


Unternehmen,  [ich  wafjnfinnig  ju  [teilen,  erflären  ntog,  jebenfaßg 
liegt  bariit  ein  gewiffer  $rofc  gegen  bag  ©chidfal,  eine  $eraug< 
forberung  aßer  möglichen  folgen;  er  lüe'6/  l)a6  er  auf  unter* 
ßö^Item  ©oben  wanbeit,  aber  er  wanbeit  auf  bent  gefahrtwßen 
2Beg  fort  big  ang  Snbe.  ©benfo  ift  fcfeon  ber  Slmletf)  ber  Sage 
fein  ruhig  bleibettber,  jurüdge^ogenet,  eiitfamer  9JIenfch,  toie 
©rutug  ober  £efl,  foitbern  mit  einer  SIrt  norbifcfeer  STapferfeit 
unb  Xobegoeracbtung  begiebt  er  fitf)  mitten  in  bag  Treiben  beg 
-fjofeg,  rei^t  gefliffentlid)  bie  fßeugierbe  ber  Stufpaffer  unb  weife 
fie  bod)  jchliefelich  auf  eine  faljdje  gäfjrte  5U  loden,  ©orfidjt 
unb  Sfedljeit  finb  bei  ©eiben  merfwürbig  oerbunben.  SKatt  fann 
nic^t  mit  ©ifdjer  fagen,  bie  alte  ©age  wiberfprecfee  ficfe  felbft; 
fie  woße  verborgenen  Xieffinn  fdjilbent  unb  benfe  nicht  baran, 
bafe  fie  ihren  gelben  jwedroibrig  honbeln  laffe,  inbem  er  ihn 
oerratfee.  5)ie  alte  ©age  f)at  oielmefer  eine  innerliche  greube 
an  bem  ©piel,  bag  ber  Dermeintlicfje  Sölpet  mit  feinen  ftärferen 
©egnern  fpiett;  fie  fpannt  ben  ©egenfafc  jwifchen  ©eiben  ab* 
ficfetlicfj  aufg  feöchfte;  fie  weife  ja  überbieg  mit  ihrem  gelben, 
bafe  »on  Anfang  an  bem  ÜDiörber  unb  feinem  Vlnfeang  Job  unb 
©erberben  bereitet  ift,  mag  auch  bie  ©träfe  lange  auf  ficfe 
warten  laffen.  Slmleth  ift  wie  ßfjriemfjilb,  wie  ber  ©ermane 
überhaupt  „laucräche";  erträgt  bie  9iadje  fange  in  [ich  heru,n, 
lacfet  innerlich  *>'e  5einbe  aug,  unb  plöfelich  ift  bag  ©achewerf 
ooßenbet. 

gettgo  glaubt  ebenfowenig  afg  ©hafefpeareg  ©laubiug  an 
ben  SBahnfinn  Slmlethg.  @r  ftiftet  baher  ein  ©iäbchen  an, 
bafe  fie  oertrauten  Umgang  mit  Slmfeth  fucfee  unb  babei  er* 
forfcfee,  ob  ber  SBahnfinn  wirflich  ober  oerftedt  fei.  ®ag 
SRäbcfeen,  aug  bem  bei  ©hafefpeare  Ophelia  geworben  ift, 
oerräth  nicfetg.  gengo  fc^lägt  nun  einen  anberen  2Beg  ein. 
©eine  ÜDiutter  mufe  währenb  ber  angeblichen  Slbwefenfeeit  ifjreg 
©emafefg  ihn  augforfdjen,  wobei  ein  Höfling  ihn  belaufcht,  aber 

(757) 


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8 


ooii  bem  mifetrauifdjen  ©ringen  auSgefpätjt  unb  ermorbet  wirb. 
$>ie  Sage  giebt  biefem  Sauger  feinen  9famen;  er  ift  beS 
Urbitb  ton  SlfafefpeareS  ©otoniuS. 

Stmtetf)  ^ält  nun  feiner  ÜJiutter  eine  ergreifenbe  Siebe, 
entbectt  ihr  feine  ©erftettung,  rührt  iljr  ©ewiffen  unb  terfidjert 
fich  ihres  StillfchweigenS  in  ©etreff  feine«  fRadjeplanS.  &18 
Sengo  oergebenS  nach  bem  ©rmorbeten  forfcht,  geigt  ihm  ttmtetfe 
im  angenommenen  Sßaljnfinn  ben  Ort,  roo  bie  Seiche  liegt, 
gengo  befcljliefet  nun  ben  ©ringen  mit  gmei  ©egleitern  nach 
önglaitb  gu  fctjiden,  um  iljn  bort  fraft  einer  SSeifnng  in  9funen» 
fdjrift  burch  ben  König  enthaupten  gu  taffen.  Unterwegs  aber 
bemächtigt  fich  Ülmteth  ^eimlic^  ber  ^olgtafel  mit  ber  SRunew 
fcfjrift,  terwifdft  baS  Original  unb  erfe^t  eS  burd)  eine  Stuf* 
forberung  an  ben  König  ton  Sngfanb,  feine  ©egteiter  ^inric^ten 
gu  taffen,  ihm  fetbft  aber  bie  Königstochter  gur  ©emahtin  gu 
geben.  ©eibeS  gedieht.  Slmteth  gewinnt  burch  feine  inftinftioe 
Schlauheit  unb  Sehergabe,  womit  er  terborgene  ®inge  erfpäht, 
bie  ©unft  beS  Königs  unb  fehrt  nach  einem  3ahre  nach  Süttanb 
gurücf,  wo  man,  ihn  tobt  wäfjnenb,  eben  feine  fieichenfeier  hält. 
@r  fpiett  wieber  ben  SBafenfinnigen,  betäubt  bie  ©äfte  als 
SJlunbfchenf  burch  SBein,  günbet  ben  ©ataft  an  unb  ermorbet 
bett  König  gengo.  9?ach  biefer  Stachethat  hält  fid)  ftmteth 
guerft  terborgeit,  tritt  aber,  atS  er  fich  überzeugt,  bafe  bie 
Stimmung  beS  ©olfeS  ihm  günftig  fei,  auS  feinem  ©erftecf 
hertor,  crgähtt  ben  Hergang  ber  Sache  unb  weife  burch  feine 
Siebe  bie  ©emüther  bergeftatt  für  fich  eingunehmen,  bafe  er  ein» 
ftimmig  gum  Könige  gewählt  wirb.  ®r  regiert  lange  unb 
gtüdlid),  gieht  fpäter  noch  einmal  nach  @nglanb,  befiehl  bort 
merfwiirbige  öbenteuer  unb  fällt  gulefct  in  einem  ßmeifampf. 

©ei  alter  Slefentichfeit  tritt  aber  bie  ©erfchiebenheit  ungleich 
ftärfer  hemor.  Sfl£oS  Slmteth  ift  geiftig  gefunb  unb  über  $wecf 
unb  SDiittel  fich  gang  ftar;  StjafefpeareS  |>amlet  franf,  innerlich 

(7M> 


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9 


gebrochen,  uerftört ; er  will  ba«  Verbrechen  rächen,  aber  weife 
nicht,  wann  unb  wie;  nur  gezwungen  räd)t  er  gulefct  feine« 
Vater«  Srmorbnng  am  9Äörber,  richtet  ein  unnüfce«  Vlutbab 
an,  gefjt  babei  felbft  unter  unb  feinterfäfet  al«  Äönig  auf  bem 
Xljron,  ben  er  hätte  befteigeu  follen,  einen  gremben,  ben  Nor- 
weger gortinbra«.  Sott  einem  eigentlich  tröftlic^en  ©djlufe, 
oon  ber  2lu«ficht  in  eine  beffere  $ufunft  fann  feine  Nebe  fein. 
Seine  einzige  Sleufeerung  im  ©tiicf  weift  barauf  f)in-  Sifc^er 
fagt  gwar,  ©hafefpeare  entlaffe  un«  mit  ber  8lu«ficfet,  bafe  eine 
neue  gefunbe  Orbnung  oon  bem  „intaften"  gortinbra«  auf  bem 
oerwilberten  Voben  gefäet  werbe.  3cfe  fann  bie«  nicfet  finben. 
Stucfj  über  bie  3u*unft  be«  Sanbe«  ift  ber  fReft  ©cfeweigen,  ein 
gragegeidjen.  2)afe  gortinbra«  nicht,  wie  behauptet  worben  ift, 
rechtliche  Hnfpriicfee  auf  ®änemarf  hotte,  geigt  fdjon-'ber  Slnfattg 
be«  ©tücf«.  SEBo  ein  ©taat  feine  Freiheit  unb  ©elbftänbigfeit 
an  ein  Meid)  oerliert,  mit  bem  er  früher  fchon  manchmal  im 
Sumpfe  gelegen,  ba  fann  oon  einem  lichten  $lu«blicf  in  bie 
3ufunft  nicht  gefprocheu  werben.  2>er  ©chlufe  ift  Ijfrb  unb 
büfter,  wie  ba«  gange  ©tücf. 

Sin  ißunft  barf  nicht  oergeffen  werben,  'ämletlj  oollbringt 
ba«  Machewerf  allein,  ohne  burch  Veifpiele,  maffig  wie  ber 
Grrbball,  bagu  geftad)elt  gu  werben.  „3d)  allein",  fagt  er  bei 
Sajo  mit  Medjt,  „höbe  ba«  SBerf  oollbracht,  ba«  ebenfogut  auch 
euren  $änben  gulam.  Miemanb  leiftete  mir  bei  ber  rühmlichen 
$hat  Veiftanb.  3nJar  bin  i(h  übergeugt,  bafe  ifer  mir  eure 
Üfeeilnahme  nicht  oerfagt  haben  würbet,  wenn  ich  barum  gebeten 
hätte,  ba  ich  eurer  $«ue  gegen  ben  ehemaligen  Sönig,  wie 
eurer  Slnljänglichfeit  an  ben  angeftammten  dürften  ooHfommen 
oertraue.  Siber  e«  gefiel  mir,  ohne  bie  ©efafer  für  euch  bie 
©cfeulbigen  gu  beftrafen,  weil  ich  ftembe  ©chultern  nicht  mit 
einer  Saft  beloben  wollte,  ber  ich  allein  gewachfen  gu  fein 
glaubte."  9Ran  fieht  au«  biefen  SBorten,  bie  Slmleth  nach 

(75*). 


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10 


gelungener  $ßat  ju  bem  üerfammelten  SSolfe  fpricßt,  bajj  £reue 
unb  ©lauben  im  fianbe  nodj  nießt  au«geftorben  unb  nießt  afled 
faul  mar  in  $änemarf;  man  fießt  barau«  jugleicß,  bafj  Slmletß 
ber  mörbige  ©oßn  eine«  ^eroifd^eit  3«talter«  war.  ©anj  anber« 
fteßt  fidj  ©ßafefpeare«  fandet  bar.  @r  ift  eon  bem  Semujjtfein 
burcßbrungen,  bafj  auf  feine  ©cßultern  eine  $u  fermere  2a  ft 
gelegt  fei.  „©emießen  ift  bie  3«!  au«  ben  ©elenfen;  meß’  mir, 
bafj  icß  geboren  rnarb , fte  einjurenfen"  — (I,  5)  bie«  ift  ba« 
Sterna  be«  ©tüd«.  ^aarfeßarf  unterfeßeibet  fieß  babureß  fandet 
oom  ftönig  Slaubtu«.  $5änemar!  mar  naeß  ber  SRebe  be« 
Äönig«  I,  2 bureß  ba«  Ärieg«gelüfte  be«  ©efaßr, 

au«  ben  trugen  ju  geßen;  aber  Slaubiu«  meifj  bureß  feine 
©efanbten  ben  ©taat,  ben  fJortinbraS  bureß  ben  Xßronmedjfel 
oerrenft  glaubte,  »or  S^trümmerung  ju  bewahren.  Slu«  3)äne- 
marf  madjt  fandet,  ber  al«  Sbealift  alle«  oeraflgemeinert,  bie 
3eit,  bie  ganje  bamalige  ÜRenfcßßeit;  er  fießt  nießt  ein,  bajj 
feine  Aufgabe  nießt  mar,  bie  3“*/  fonbern  nur  ba«  Meine 
®änemarf  mieber  einaurießten.  @r  mar  aßerbing«  nießt  ber 
3Raitn,  ba«  iRacßemerf  allein  ju  ooßfüßren.  @r  ßätte  baßer, 

menn  eine  ju  fernere  £aft  auf  feine  ©eßultern  gelegt  mar, 

feine  greunbe  in«  Vertrauen  jießeit  foßen;  meißt  boeß  aueß 
Obßffeu«,  eße  er  bie  fRacße  ooflfüßrt,  feinen  ©oßn  Xelemacß 
unb  jroei  Wirten  in«  ©eßeimnifj  ein ; ber  juriief  feßrenbe  Orefte« 
maeßt  bie  ©Ieftra  ju  feiner  Vertrauten.  ,,®a«  Unmöglicße  roirb 
oon  fandet  geforbert,"  fagt  ©oetße,  „nießt  ba«  Unmöglicße  an 
fieß,  fonbern  ba«,  maS  ißm  unmöglicß  ift"  — aßerbing«,  roa« 
ißm  aber  nießt  ju  feßmer  märe,  menn  er  e«  rießtig  auffafjte  unb 
praftifcß  angriffe.  ©eine  Slufgabe  mar  nießt  fo  feßmer,  roie  bie 
be«  Orefte«,  mit  bem  fandet  feßon  fo  oft  oergließen  morben 
ift.  Sin  ber  ÜRutter  SRacße  ju  neßmen,  mürbe  »on  Orefte« 

oerlangt ; fandet  foßte  bem  Sluftrag  be«  ©eifte«  gemäß  feine 

äJlutter  fcßoneit  unb  nur  feinen  Oßeim  ftrafen;  feine  SDlutter 

(760) 


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11 


war  ja  nicht  Slnftifterin,  fottbent  nur  SJiitwifferin  um  bcn 
Üflorb  gewefen.  Slufeerbem  hatte  fani  ber  ©eift  nic^t  oerboten, 
ba«  ©eljeimnife  ülnberen  mitgutbeilen  ltnb  mit  ihrer  §ülfe  ben 
SRadjeauftrag  gu  ooflgieben.  $a«  „©djwört!"  be«  ©eifteö  famt 
nur  barauf  geben,  fie  b.  b-  |>oratio  unb  ÜJJarcetluS  fallen  ba«  ©e« 
beimitife  ber  nächtlichen  ©rfdjeinung  für  fith  behalten,  hingegen 
mar  e«  bem  £>amlet  non  bem  ©eift  auäbriicflid)  freigefteßt,  wie 
er  bie  Untfjat  rächen  mofle  — offenbar  auch  in  bent  ©inn, 
ob  er  fie  aflein  ober  in  ©efeßfchaft  oon  einigen  2Jiitwiffern  gu 
ftrafen  gebenfe.  9?un  aber  fchmeigt  er  oom  Snbalt  unb  bem 
Auftrag  ber  ©rfcöeinung  gegen  Obermann,  auch  gegen  feinen 
beften  greuitb  ^oratio  unb  ftöfet  biefeit  baburch  fo  fehr  oon 
ftdj  gurüd,  bafe  e«  un«  begreiflich  mirb,  toarum  ^oratio  erft 
fo  fpät  roieber  auftritt  unb  nie  felbftthätig  in  bie  £>aitblung 
eingreift. 

Ueberfjaupt  ift  über  bem  gangen  ©tücf  bie  bunftige  ©djwüle 
eine«  aflgemeitiett  äJiifetrauen«  auSgebreitet.  $ie  ©age  athmet 
neben  aflem  furchtbaren  ©ruft  hoch  gugleicb  eine  getoiffe  fomifche 
fieiterfeit,  bie  un«  h'e  nnb  &a  e'n  ßächeln  abnüfaigt.  Sei 
©hafefpeare  weht  un«  überafl  ein  ©rabgeruch  unb  Seichenbuft 
entgegen;  faum  am  ©dßufe  fönnen  wir  leichter  aufathmen, 
wiewohl,  wie  fdjon  bemerft,  bie  üüu«ficbt  in  bie  gufunft  nerbedt 
bleibt.  Slinleth  traut,  wie  man  au«  feiner  9tebe  an  bie  oer> 
fammelte  SDJenge  erfieht,  auch  nicht  recht  feinen  SanbSleuten; 
aber  er  ift  feiner  Aufgabe  gewachfen,  weife  fie  mit  2Bife  unb 
£ju::tor  gu  töfen  unb  ift  überaß  ber  90?ann  auf  bem  *ßla&. 
Mein  bei  ©hafefpeare  ift  ba«  Sßiifetrauen  bie  ©eele  be«  ©tüd«. 
^ßoloniu«  mifetraut  bem  Saerte«  unb  fenbet  ihm  einen  Slufpaffer 
uad).  Saerie«  mifetraut  feiner  ©chwefter  unb  giebt  ihr  baher 
Sehren  ber  $ugenb  unb  Slugbeit,  bie  fte  ihm  in  ihren  @r> 
mabnuitgen  guriidgiebt;  beim  fie  traut  ihm  fo  Wenig,  al«  er 
ihr.  Jpamlet  ift  oon  oornberein  mit  9JJifetranen  erfüllt,  ob  bei 

(761) 


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12 


bem  fRegierung«roedjfel  äße«  mit  redeten  ®ingen  gugegangen 
fei;  er  mißtraut  leiber  audß  bem  Jfjoratio  lange  3^1,  bi«  gur 
Sluffüßrung  be«  ©c^aufpielS ; gleichwie  anbererfeit«  fmratio  bem 
©eift  nicßt  traut  unb  meint,  er  fönnte  ben  §amlet  in  2eben«> 
gefaßt  ftürgen.  SRocß  roeit  meßr  al«  |»oratio  ift  fandet  im 
Verlauf  ber  3e>t  gegen  ben  roaßren  Sßarafter  be«  ißm  tx- 
fcßienenen  ©eifteS  mifjtrauifcß;  er  meint,  raöglicßerroeife  fei  er 
ein  böfer  ©eift,  ein  «ertappter  Üeufel.  2)ie  ©rfaßrung,  bie  er 
an  feiner  SRutter  madjt,  oerleitet  ißn  gum  SRifjtrauen  gegen  ba« 
gange  toeiblicße  ©efcßledjt,  aucß  gegen  Dpßelia.  SRijjtrauifcß  ift 
er  gegen  bie  3eitutnftftni>e,  wenn  biefe  aucß  ber  ©oßfiißrung 
be«  fRacßemerfe«  nocß  fo  günftig  ftnb;  mifjtrauifcß  unb  groeifleriftß 
ift  er  aucß  in  ber  fReligion  — benn  ©ein  ober  fRicßtfein  nadj 
bem  $obes  ift  ißm  eine  grage;  mifjtrauifcß  ift  er  natürlich  nocß 
uielmeßr  al«  gegen  feine  greunbe  in  feinem  ©erßältnifj  gu 
Glaubiu«,  bem  er  oon  Slnfang  an  nicßt  getraut  ßatte,  bann 
gegen  ©oloniu«,  2aerte«,  fRofenfrang  unb  ©iilbenftern,  unb 
biefe«  äRifjtrauen  ergeugt  roieber  ÜRifjtrauen;  am  menigften  traut 
er  ficß  felbft,  unb  gerabe,  meil  er  ficß  felbft  nicßt  gutraut,  ber 
$ßat  gemadjfen  gu  fein,  gerabe  be«roegen  ift  er  ißr  nidjt  ge> 
roacßfen.  @r,  ber  geiftreicße  'Ißeoretifer,  beffen  Jßatfraft  burcß 
3meifeln  unb  9Jiijjtrauen  geläßmt  ift,  taitn  freilich  bie  au«  ben 
gugen  gegangene  bänifdje  Sßelt  nicßt  einrenfen.  fiätte  er  meßr 
9Rutß,  3UO£rftd>t/  ©tauben,  3utrauen  gu  ficß  felbft  unb  gu 
ätnberen,  fo  märe  bie  ißm  gefteßte  Aufgabe  nicßt  gu  fcßmer. 
füjamlet  aber  benft  mit  bem  fßropßeten:  „(Sin  Seglicßer  ßüte 
ficß  oor  feinem  gminbe  Unb  traue  aucß  feinem  ©ruber  nicßt; 
benn  ein  ©ruber  unterbot cft  ben  Slnberen  unb  ein  ftreunb  oerrätß 
ben  fttnberen."  Qerem.  9,  4,  unb  mieberum  SRicßa  7,  6: 
„SRiemanb  glaube  feinem  iRäcßften  unb  oertaffe  ficß  auf  dürften; 
bemaßre  bie  £ßür  beine«  SRunbe«  oor  ber,  bie  in  beinen  Slrmen 
fcßläft."  ?lber  fo  «ergmeifelt  fcßlecßt  mie  im  jübifcßett  ©olle 


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18 


ftanb  eS  nicht  iit  Dem  $5änemarf  ber  ©age  inib  nicht  einmal 
in  bem  unseres  XrauerfpielS. 

3)er  Slmletb  ber  ©age  oerfejjt  uns  nämlich  in  bie  oor> 
cfjriftlicbe,  altffanbinaDifcfje  ^eroenjeit,  unb  ©bafefpeareS  fandet  ? 
Sine  beftimmte  S«t  ift  nicht  angegeben,  (Snglanb  ift  im  ©trief 
bem  Äönigreid)  5Dänemarf  jinSpflicbtig;  ba$  wiefe  alfo  auf  baS 
9.  Sa^r^unbert  fjin;  an  jene  ^eroenjeit  erinnert  ferner  ber 
|>olmgang  jwifihen  $amlet8  $ater  unb  bem  Könige  uon  9tor* 
wegen.  $ann  ift  wieber  oom  fjegefeuer,  eon  ber  Seifte  unb 
ber  festen  Oelung  bie  Siebe.  3n  bie  proteftantifdje  ßeit  uerfe^t 
unä  bie  fReflejion  beS  gelben,  ber  mit  |>oratio  in  SBittenberg 
ftubirt  t)at,  feine  pbilofopbifdje,  äftbetifche  unb  bramaturgifebe 
öilbung,  fein  Sweifelit  an  beu  lebten  unb  ^öc^ften  fragen  bee 
®afeinS.  |)ier  finb  nur  gwei  Slttnabmen  möglich:  Sntweber 
bat  fid)  ©bafefpeare  gang  unb  gar  oergeicf)net;  er  fonnte  nicht, 
wie  ©eröinuS  meint,  einen  focialen  ßbarafter  ber  neueren  Se*1 
malen,  ber  aus  ber  §eroenfitte  beS  SfaturjeitalterS  ^erau^ftrebt; 
ein  fbafefpearifdjer  |>amlet  in  ber  ffanbinaoifeben  £>eroengeit  ift 
ein  ©elbftmiberfprud).  ©o  betrachtet  hätte  ©bafefpeare  einen 
großen  Rebler  begangen.  @8  ift  aber  noch  eine  anbere  Slntwort 
möglich,  nämlich:  ©bafefpeare  b<tt  bie  gefchichtliche  ©runblage 
beS  ©agenftoffeS  gelaffen,  ift  aber  bann  unoermerft  oon  ber 
heibnif^en  Sei*  in  bie  chriftliche,  pbilofopbifcbe,  proteftantifebe 
Seit,  in  ber  er  felbft  lebte,  binübergegangen  unb  hat  iiberwiegenb 
biefe  bargefteüt.  SJlan  fiefjt  bie  urfprünglichen  garbeu  bei 
genauerer  93efid)tigung  noch  burebfehimmern,  währenb  fie  bod) 
im  wefentticben  übermalt  finb.  ÜJlan  fann  baher  nur  ratben: 
Sefieh’  baS  bramatif^e  Oemälbe  nicht  ju  febr  in  ber  Stäbe; 
bann  wirft  bu  beit  altbeibnifchen  Untergrunb  weniger  gewahren. 
2>er  fritifch  genutete  üefer  unb  Suf^auer  witb  freilich  finbeit, 
baß  bie  ftreng  gefchloffeite  Einheit  unter  biefem  2)oppeIcharafter 
beS  ©tücfeS  einigermaßen  gelitten  E>at.  ®aS  ©tücf  fott  im  alten 

(703' 


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14 


J)änemarf  fpielen;  aber  Jtänemarf  ift  nur  ein  oorgefchobener 
9tame  für  ©nglanb.  „ J>er  gange  Jon  ber  Sprache,"  fagt  ^riefen, 
„ift  ber  ber  bamaligen  englifcf)en  SBelt  in  ben  t)ödjften  Steifen 
ber  ©efeflfehaft;  bie  ©ebräuche,  bie  ©ewohnfjeiten,  bie  Aufnahme 
ber  ©cfjanfpieler  unb  aßeg,  wag  in  ben  ©eenen  gwifchen  biefen  unb 
bem  bringen  öerfjanbelt  wirb,  ift  nur  nach  englifdjen  Sitten 
unb  SBerhältniffen  aug  ©hafefpeareg  3e’4  3U  erflfiren.  3n 
aßem,  wag  wir  fehen  unb  f)ören,  liegt  bie  Slbficht  gu  Jage, 
ben  fiiftorijdjen  S^arafter  üößig  aufgufjeben  nnb  jebe  grage 
nach  Ort  unb  3ett  unbeachtet  gu  laffen."  SBir  haben  nicht  blofj, 
wie  in  anberen  Jramen,  eingelne  Slnfpietungen,  ber  SBerfaffer 
wiß  oielmehr  ein  peffimiftifcheg  Silb  beg  englifchen  ©taateg  gu 
feiner  3eit  überhaupt  entwerfen,  wiewohl  auch  ber  aßgemeine 
Sßeltfdjmerg  nicht  leer  auggeht.  Jier  Sljarafter  be3  S3olfg  war 
fo  hecabgefommen,  bafs  fchon  1603  ber  frangöfifdje  ©efanbte 
öenumont  aug  fo  oielem  oerfchiebetten  ©amen  oon  Sranfheiten, 
aug  fo  oielem,  wag  in  ber  ©tiße  brütet,  prophegeite,  oon  je£t 
auf  ein  Sahrfjunbert  werbe  ©nglanb  oon  feinem  ©lüefe  fchwerlich 
einen  anberen  9J?if?brauch  machen,  alg  gu  feinem  ©chaben. 
|>amlet  nnb  2ear  faßen  in  bie  oorlefcte,  Jimon  fäßt  in  bie 
le&te  ißeriobe  oon  ©hafefpeareg  SGBerfen,  unb  wir  fönnen  aug 
biefen  ©tücfen  leicht  auf  trübe  (Erfahrungen  unb  eine  peffimiftifche 
^Betrachtung  oon  SBelt  unb  3e»4  fc^lic^cn.  Sßie  gang  anberg 
©oetheg  aug  bem  Sßeffimignmg  mit  ©lücf  gum  Optimigmug 
fortringenbe  unb  fortbringenbe,  gu  immer  reinerer  Harmonie  mit 
ficfj,  mit  ©ott  unb  ber  SBelt  fich  entwicfelnbe  SBeltanfchauung 
unb  weitoergweigte  2;^ätigfeit!  — Sßie  griefen  berichtet,  hat 
fchon  1794  ein  ©nglänber,  Sßameng  $lumptree,  ben  fiamlet 
alg  ein  aflegorifdjeg  Jenbengftücf  betrachtet  unb  nachguweijen 
oerfucht,  ©fjafefpeare  habe  mit  biefer  Jragöbie  einen  inbiretten 
Jabel  gegen  Sftaria  ©tuart  auggefprochen.  3n  unferer  3e*{ 
hat  ©überfrag  im  ßßorgenblatt  (1860,  46.  48)  ©rwünfehteg 

(764) 


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15 


in  bicfer  ©egief)ung  beigebrad)t.  @r  erinnert  an  bie  Srmorbung 
beS  Königs  Jarnlet)  burcf)  ©othwell,  ber  Qenem  wenigftenS 
förperlid)  ebenfofehr  itachftanb,  als  Staubio  bem  ©ater  |>amletS; 
fowie  an  bie  übereilte  $ciratf)  beS  äRörberS  mit  ber  SEBitwe, 
SRaria  ©tuart.  3a!ob  mar  frei  lief)  bamals  noch  feljr  jung 
unb  ©otfjwell  war  batb  nach  ©erübung  beS  ©erbrechen«  im 
Kerfer  als  Sßaljnfinniger  geftorben.  Snbeffen  machte  3afob  aud) 
fpäter  feinen  ©erfud),  bie  Srmorbung  feines  ©aterS  $u  rächen. 
Ueberfjaupt  war  et  ein  fdjlaffer,  fraftlofer  S|arafter.  £>ume 
fagt  oon  ihm:  „©eine  gä^igfeit  war  grofj,  aber  er  war  ge- 
riefter, über  allgemeine  9ftafjregeln  ju  Bernünfteln,  als  eine 
Berworrene  ©adje  auSjufüfjren;  feine  Äbfic^ten  waren  billig, 
aber  fte  fehieften  fief)  beffer  für  ein  ^ßrinatleben,  als  für  bie 
Regierung  eines  Königreichs.  @S  fehlte  ihm  gänjlid)  an  politifdjer 
£er$f)aftigfeit."  J)ieS  trifft  wörtlich  auf  §amlet  ju.  Äujjerbem 
war  3afob,  wie  ^jamlet,  ©önner  unb  Kenner  beS  JheflterroefenS. 
SaerteS  erinnert  an  8llejanber  unb  3of)anu  fRutfjoen,  Sairbs 
Bon  ©omrie  in  ©chottlanb.  3ener  war  als  gewanbter  Kaoalier 
in  allen  ritterlichen  Hebungen,  befonberS  im  5cd)tcn  auch  in 
©aris  befannt.  SEBäfjrenb  er  fich  in  granfreief)  unb  3talien 
aufhielt,  hatten  ihm,  als  feine  ©üter  noch  fonfiSjirt  waren, 
bie  ßefjnSleute  feines  wegen  ©etheiliguug  an  einem  gegen  3afobS 
^Regierung  gerichteten  SlufftanbeS  Hingerichteten  ©aterS  burcf) 
einen  treuen  Wiener  SRhpnb  (©hafefpeareS  SReinholb)  wieberholt 
Unterftüfcung  gefchicft.  ^llejanber  unb  3of)n  machten  nun  einen 
9Jiorbanfcf)lag  auf  König  3afob;  babei  fam  eS  ju  einem  SRing- 
fampf,  worin  3oljn  SRuthoen  beit  König  an  ber  Kehle  paefte; 
aber  ©eibe  würben  julefct,  Bon  bet  herbeigeeilten  ©egleitung  beS 
Königs  niebergeftofjen.  SlleyanberS  ©raut  war  eine  ®nna  SJiargareta 
JouglaS;  man  glaubte,  fie  fei  Born  Könige  geliebt;  fie  ftarb 
im  SEBahnfinn  aus  ©chmerj  über  ben  Job  beS  ©räutiganiS  unb 
mag  (neben  bem  üRäbchen  ber  ©age)  ©fjafefpeareS  ©orbilb  für 

(785) 


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16 


Ophelia  unb  ipr  ©cpicffal  gewefen  {ein.  — ißotoniu#  ift,  wie 
£fcpifcpwip  gejeigt  pat,  au#  ^ßoliinnio  (ißolpppmntu#)  entftanben, 
bem  gelehrten  ißebanten,  ©cpwäper  unb  Sßprafenpelben  in  S3ruito# 
ßuftfpiet  „il  candelajo“.  1586—88  lehrte  ©iorbano  SJruno 
in  SEßittenberg;  optie  .ftmeifet  folgten  ipm  junge  SJtänner  au# 
befreunbeten  ßonboner  Steifen.  SBom  3apr  1590—92  ftubirten 
nacpmei#licp  meutere  ©Rotten  unb  ©nglänber  in  SBittenberg; 
Bon  1590—1600  tuar  nacp  $fdjifcpmi|  bie  fwdjfcpule  uon 
$änen  au#  bem  pöcpften  Äbel  japlreitp  befucpt.  ©o  erftärt 
fiep  benn  fandet  in  SBittenberg  Bon  felbft;  barin  liegt  feine 
SJejießung  auf  ßutper  unb  bie  Deformation,  bie  „ben  ÜKenfepen 
auf  fein  innere#  Berweife",  fonbern  auf  ben  unfircpliepen, 
moniftifcpen,  pantpeifirenben,  wenn  niept  pantßeiftifepen  fßpilo* 
foppen  au#  Dola,  ber  eine  geiftige  Derbinbung  jwifcpen  ©ngtanb 
unb  ber  beutfcpen  $ocpfcpule  bewirft  patte.  SWögliep,  baß 
©pafefpeare  ben  fßpilofoppen  1586,  wo  beiöe  SJiänner  in  Bonbon 
waren,  perfönliep  fennen  lernte.3  — Slepnlicpe  ©reuet,  wie  im 
|)au#  ©tuart,  patten  fiep  neun  3npre  fpäter  in  ber  gantilie 
©ffej:  abgefpielt.  (Sffej  war  fcpneU  in  Dublin  geftorben  unb 
gwar,  wie  bepauptet  würbe,  an  ©ift.  SBenige  Jage  pernaep 
peiratpete  feine  SBitme  ben  ©rafen  ßeicefter,  mit  bem  fte  fepon 
Borper  in  einem  unerlaubten  SSerpältniffe  geftanben  patte, 
©omit  wäre  @ffey  fandet,  ßeicefter  ßfaubiu#  unb  ^oratio 
ßffej  greuitb  ©outpampton.  ßeicefter  pielt  ben  ©ffej  unter 
bem  SSorwanb  Bäterlicper  greunbfepaft  auf  bem  ßanbe  ober 
im  SoHeg;  er  mißtraute  ipm  unb  entfernte  ipn  oon  feiner 
SDiutter  — er  füreptet  ipn  offenbar,  unb  ebenfo  wie  ©ertrube 
ihren  fandet,  fürchtete  biefe  SWutter  ipren  ©opn,  ben  fte  nie 
mit  feinem  ©tiefoater  au#föpnen  fonnte.  ©pafefpeare  mag 
immerpin  einige  güge  au#  @ffe£  in  ben  fandet  aufgenommen 
paben  — im  allgemeinen  ift  an  ber  ©ejießuitg  ju  3afob  feft« 
jupalten.  fandet  patte  fepon  in  feinem  Sleußereit  weit  mepr 

(766) 


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17 


oou  bem  fettleibigen  unb  furptbtnigeit  3afob,  al«  uott  Sffej:, 
ber  ungeachtet  eine«  gewiffen  .jpange«  p fcfjtoermüt^igem  ©rübeltt 
bod)  eine  glatt  jenbe,  ritterliche,  friegerifche  ^Perjönlichfeit  war. 

SBa«  Eättemarf  betrifft,  fo  fommt  bie«  ßanb  in  ber  eng- 
lifdfjen  ©efchichte  jener  mehrfach  oor.  3afob«  Stiefuater, 
SothweQ,  warb  uon  ben  Einten  gefangen  genommen.  ©lifabeth 
ftanb  mit  Eänemarf  in  freuttbfchaftlichem  Serfehr.  Sauter 
©lemente,  au«  betten  fi<h  <S^afefpeare§  Hamlet  in  feiner  jc^igeti 
©eftalt  bilben  fonnte.  Eafj  itn  ©rttttb  ©nglattb  ber  Sd)aupla& 
be«  Stüde«  fei,  liegt  in  ben  SBorten  V,  1 : 

ipamlet:  ,,©i  fol  Sßarunt  hoben  fie  ihn  beim  ttad)  ©nglanb 
gefchkft? 

©rfter  Eobteitgräber:  „9htn,  weil  er  toll  war.  ©r  fofl 
feinen  Serftanb  ba  wieber  triegen,  unb  wenn  er  ihn  nicht  wieber* 
friegt,  fo  thut«  ba  nicht  oiel." 

fiamlet:  „Söarunt?" 

©rfter  Eobtengrctber:  „9Kan  wirb«  ihm  ba  nicht  oiel  att= 
werfen.  Eie  ßeute  finb  ba  ebenfo  toO  wie  er." 

©benfo  ift  ba«  66.  Sonett  be«  Eichter«  fchott  oft  al« 
Seitenftüd  p |>amlet  angeführt  worben,  ein  Sonett,  in  bem 
fid)  Shafefpeare  über  ben  Verfall  ber  Sitten  unb  fünfte  bitter 
beflogt. 

Een  Schluß  be«  Erauerfpiel«  erfläre  ich  mir  au«  @haft’' 
fpeare«  banger  gurcfjt,  ©nglanb  möchte  infolge  be«  immer  mehr 
einreifjenben  Serberben«  plefct  wohl  gar  bie  Seute  eine«  fremben 
©roberer«  werben. 

Eiefe  nicht  wegjuleugnenben  geitbephungen  merben  nun 
uott  Sielen  al«  nebenfädjlich  betrachtet  unb,  wenn  überhaupt,  fo 
nur  im  Sorbeigehen  ober  gegen  ben  Schluß  angeführt.  9111er« 
bing«  foflte  freilich  jebe«  Stiid  fidj  felbft  erflären;  wenn  aber 
bie«  nicht  ber  gall  ift,  wa«  bann?  Sei  feinem  anberen  Erama 
gehen  bie  Slnfichten  ber  ©rflcirer  tueiter  au«einauber,  al«  bei 

Sammlung.  91.  3.  V.  117.  2 1767) 


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18 


tarntet.  SJlan  mujj  fid)  ein  $erj  faffeit  unb  fagen:  ber  geiler 
liegt  am  Jrama.  |>ätte  ©hafefpeare  bie  Sage  einheitlich  ge« 
jeidjnet,  bie  Gegebenheiten  wol)l  motioirt  unb  bie  Gljaraftcre 
mit  feften  Sinien  umriffen,  fo  wäre  bie  ÜJienge  verriebener  @r« 
flärungen  gar  nicht  möglich-  vielen  Süden,  bie  maitgel, 
haften  SJlotivirungen,  bie  fchwanfenben  ©eftalten  unb  $eitver« 
ftöjje  beS  ©tüdeS  erflären  fich  leicht,  wenn  wir  baS  ©an^e  als 
Jenbenjftüd  nehmen,  als  Älage  über  bie  Slotlj  unb  ben  GerfaH 
ber  $eit  uni»  eine  SEBarnungStafel  für  Safob  1.  211S  Jenbenj« 

bramatiler  burfte  ©halefpeare  nicht  alles  hrrouSfogen,  ich011 
weil  bie  £>auptperfon,  bie  er  im  ©inne  hotte,  noch  lebte;  er 
muffte  bie  Slbfid)ten  unb  fßlätte  ber  honbelnben  ißerfonen  öer- 
fchleiern,  ben  Jabel  burch  ibealifirenbeS  Sob  milbern,  ©egenwart 
unb  Gergangenheit  burcheinanber  mifchen,  baS  ffanbinaoifcpe 
Zeitalter  als  ©runblage  ftehen  laffen,  aber  boch  auf  biefer 
©runblage  einen  Gau  aufführen,  ber  feinen  ^eitgenoffen  befaitm 
erfchien,  bem  ißublihtm  Släthfel  aufgeben  — bieS  alles  freilich 
auf  Äoften  ber  ftreng  gefcploffenen  Sinheit  unb  Jeutlichfeit  beS 
©tüdeS. 

Sölan  !ann  hier  freilich  ju  weit  gehen,  wie  bieS  SRümelin  be« 
gegnet  ift.  2tlS  ^auptjwed  unb  Hauptinhalt  beS  ©tüdee  faßt 
er,  ben  tiefen  ©inn  unb  bie  verborgene  SBeiSfjeit  in  bie  gorm 
fcheinbar  irrfinniger  Sieben  unb  Honblungen  ju  legen;  bet  Jüdjter 
wollte  fein  Sicht  leuchten,  feinen  ©eift  unb  2Bi{s  in  neuen 
formen  fpielen  laffen ; er  wollte  aufferbem  bie  hinter  irrfinnigeu 
Sieben  öerftedte  SBeiSheit  ber  eigenen  SebenSerfahrung  entnehmen, 
bem  fßublifum  in  frember  unb  ungeahnter  ©eftalt  eigene  Stim- 
mungen unb  ©ebanfen  oorführen,  feiner  peffimiftifchen  SBelt» 
unb  .geitanfcfjauung  einen  berebten  StuSbrud  geben.  @r  benupte 
nun  bie  Hmnletfage  als  ©efäfj,  in  baS  er  feine  ©timmung  unb 
SBeltanfchauung,  feinen  Berger  unb  Gerbrujj,  feine  ©rillen  unb 
Saunen  hineinlegte ; aber  ber  bänifc^e  Hamlet,  ber  norbifdje  H^b 

<768) 


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19 


unb  blutige  Siädjer  einer  blutigen  $f)at;  eignete  ficf)  nicf)t  jum 
Präger  fofcfjer  3been  unb  Stimmungen;  bie  SJtelaudjoIie,  ber 
uibrirenbe  (Steift  unb  SBifc  oon  ©Ijafefpeareg  eigener  2>id)terfeelc 
finb  bem  mtjtljifdjen  Slmtett)  fern  unb  fremb.  ©d  finbet  beim 
Stumelin  feine  (Sinßeit  in  biefem  ©tüd;  er  Betrachtet  eg  alg  eine 
Steiße  oon  ©emälben,  oon  benen  jebeg  für  fid)  feßr  anfprecßeitb 
ift,  bk  ober  feinen  jufammenftimmenben  3nßalt  ßaben  unb  baßer 
feine»  beftimmten  ©efamteinbrud  machen  fönuen.  83e$eicßnenb 
ift  hefonberg,  wie  ficß  Stümelin  über  bie  beiben  ©eenen  äußert, 
in  benen  ber  junge  gortinbrag  auf  tritt,  „ßein  ÜJtenjcß  würbe 

etwag  oermiffen,  wenn  bie  beiben  ©eenen  weggeblieben  wären. 
9)tan  fönnte  ßödjfteng  fagen,  baß  in  ber  lebten  ©eene  3emon^ 
ba  fein  mußte,  ber  ein  oerfößnenbeg  unb  erläuternbeg  ©djlußr 


wort  fprießt  unb  ben  gortbeftanb  ber  ftaatlicßeu  Drbnung  oer- 
bürgt. ©iefe  Stolle  ßätte  and)  bem  ^oratio  jugetßeilt  werben 
fönnen."  3m  entfdjiebenften  ©egenfaß  gegen  biefe  Sluffaffung  be- 
ßoupte  kß,  baß  gerabe  bie  beiben  gortinbrag,  bie  ber  ‘JJicßter 
mit  meifer  »ereeßnung  jebegmal  jur  redjten  3eit  in  baS  $rama 


oerfliißt,  ba«  ganje  ©tücf  oom  Slnfang  big  jum  gnbe  gu- 
-fantmeHßalten,  binben  unb  bünben.  Stumeling  «uffaffung,  bte 
St-  Senebiy  £itm  ^errbilb  weiter  entwidelt,  ift  in  bie  weitoetj« 
bläu,,  b„i  allgemeine  gebiibett  -jeitbetoufjtfein  ouibrMenbe 
„SUgemetue  »eageft^te  oon  D.  ®eorg  Weber« 

3n  ber  genaueren,  Hein  gebrudten  »u8fü$tiing  (SbatefOMre' 

ma"  “*»“<  >«  **». 

Settf^enbet  Sütffcf|u»,  Wnfitle,  grübetnbe,  unentfcf|iof[„„  5b0. 

rottet  be«  «nnjen  oon  Snnemart,  melier  ben  lob  feine»  »<„,L 

an  bem  Sümge,  feinem  Mürber,  ja  rochen  bo6e  ober  f,thf,  t. 

Uber  ju  ®runbe  gebe,  fei  «egenftonb  unaWffiger  sLi  ^ 

unb  ffleobacfjtung  ber  fiunftfritifer  gemorben  unb  bof  f,,,  ™"® 

(Unter  $umor,  3ronie  unb  loü&eit  oerMteierte  tBa.n  , ? ” ' 

«*-»  •*  * i«  ÄSK 

2*  (769; 


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20 


gefunben.  — Sllfo  Junior,  Sronie  unb  Soflfjeit  ift  nicht  allef  ? ef 
liegt  noch  ein  Dätfjfel  bahinter.  9Kan  fie^t,  wie  ber  ©efchichtf« 
fc^reifaer,  ber  übrigens!  über  bie  Sragöbie  feinen  Sabel  auf- 
fpricfjt,  fie  oielmehr  als  „ooüenbctef  ÜNeifterwerf"  betrachtet,  [ich 
über  ben  roefentlidjen  Inhalt  biefeS  SJleifterwerfef  nicht  flar  ge* 
worben  ift.  Uebrigenf  möchte  ich  fragen,  ob  ei  ein  £ob  für 
ein  ©eiftefwerf  ift,  wenn  ef  fo  gang  tterfdjieben  aufgelegt  toirb 
wie  Hamlet. 

3Bir  ftetleu  nun  ben  ©ah  auf:  Hamlet  ift  ein  geitgenöf- 
fifcheS  Senbengftücf,  aber  ef  ift  jugleid)  mehr  alf  bieS ; eine  »ofl- 
fommene  ©inheit  ift  nicht  oorhauben,  aber  bie  relatioe  »erleugnet 
fich  nicht.  befonberf  burd)  |>amletf  SDionologe  hot  ber  Sichter 
unf  einen  Slriabnefaben  in  bie  §anb  gegeben,  an  bem  wir  unf 
burch  baf  Sabprinth  feiner  Sichtung  fidler  hinburchfinben. 

betrachten  wir,  um  unf  junt  ©ingelnett  ju  wenben,  bie  @r- 
fcheinuitg  beSi  ©eifteS  in  ihrer  grunblegenben  bebeutung.  Sa 
hat  1879  ©hr.  ©emler  in  einem  ©chriftchen  über  Hamlet  hct‘ 
aufgebracht,  ber  ©eift  fei  ein  armer  Äauj,  ber  lange  jammere 
unb  gar  oielef  rebe,  fchliefclich  aber  über  bem  ©erebe  unb  ben 
groteffen  bilbern  auf  bem  Senfeitf  baf  Sieffeitf  oergeffe,  näm- 
lich ben  ©hr9e'ä  be3  bringen  gu  entgünbeit  unb  ihm  feine  Än* 
wartfchaft  auf  ben  Shron  oor  Stugen  gu  hotten.  SEBaf  nun  bie 
bilber  auf  bem  Senfeitf  betrifft,  fo  bienen  fie  natürlich  nicht 
gur  ßharafteriftif  bef  oerftorbenen  Stönigf;  ©hafefpeare  felbft 
fpridjt  im  ©inne  bef  fatpolifchen  ©laubenf,  ber,  obgleich  bie 
Deformation  eingeführt  war,  immer  noch  nachwirfte.  2lber  bifcher 
hat  gang  Ded)t,  wenn  er  fagt : Siefe  namenlofen  Cualen  foD  em 
SRantt  leiben,  ber  an  Söürbe,  an  gelben-,  Degenten-  unb  äRenfcpen- 
tugenbeit  einzig  im  Sieben  baftanb;  warum?  weil  er  nach  Stich, 
im  berbauungfguftanb,  ohne  beichte  unb  Slbfolution  geftorben 
ift.  (Sf  reichte  gang  ^in,  bef  ©etftef  ©ehnfucht  nach  ©rlöfung 
nur  barin  gu  fe^en,  bajj  er  nicht  ruhen  barf,  fonbern  umgehen 

1770; 


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21 


muff,  lote  bieg  ja  im  ©eifterglauben  überall  unb  »on  jeher  bie 
ftehenbe  Annahme  gewefen  ift.  ©hafefpeare  hQt  über  @rfor> 
bernifj  »on  bem  ©einigen,  »on  feinem  Aberglauben  ^injuget^an. 
Bifcher  führt  nod)  eine  ©teile  äug  2Kafj  für  SDlafj  an:  III,  1. 
Senn  fich  aber  ber  dichter  felbft  mit  foldjen  Bhantafieit  trug, 
wie  reimt  ficf)  bamit  Sßifdberö  in  bemfelben  freft  ber  fritifc^en 
©änge  enthaltene  Behauptung,  ©hafefpeare  toiffe  fo  gar  nicf)tg 
»on  einer  Sranfcenbenj,  bafj  er  fich  an  bie  ©pifje  ber  wahren 
mDbernen  2Beltanfid)t  fteHe;  er  fei  niemalg  unb  immer  religiög, 
burch  uitb  burch  ^ßant^eift  ? SMefe  Aeufjerung  finbet  fich  iroQr  *n 
bem  1844  getriebenen  Auffafc:  ©hafefpeare  in  feinem  93er* 
hflltnijjj  jur  beutfcheu  fßoefie,  ingbefonbere  jur  politifcfjen,  unb 
ber  Auffafc  über  framlet  mag  fünfzehn  3afjre  fpäter  entftanben 
fein;  immerhin  aber  hätte  Bifcher  fich  in  ber  Borrebe,  wie  über 
anbere,  fo  auch  über  biefen  fßunft  bericfjtigenb  äufjern  foQen. 

Sag  ben  ^weiten  fßunft  betrifft,  fo  muffen  wir  fageit:  Sie 
eg  fich  mit  ber  ^hronf°tSe  in  3>änemarf  »erhält,  erfahren  wir 
tiirgenbg  im  ©tücf.  3ft  framletg  Bater  geftorben,  fo  ift  ber 
/lOjährige  framlet  reif  genug,  fein  fRachfolger  ju  werben;  hatte 
ber  ©ohn  ein  9te<ht  auf  ben  $hron/  f®  brauchte  beg  Baterg 
©eift  ihm  bieg  nicht  lange  ju  fageit.  SDer  ÜÄörber  wirb  ohne 
weitereg  $önig;  bag  ift  eine  »oüenbete  $h®tf®<he-  35afj  framlet, 
ber  nur  ein  paarmal  »on  ber  9}iöglicf)feit,  SDänettfönig  ju 
toerben,  rebet,  fich  f®  gleichgültig  ju  biefer  fjrage  ftcHt,  mag 
man  in  feinem  unpolitifdjen  unb  thatfcheuen  Sefen  begriinbet 
finben  unb  biefen  $ug  J®  feiner  6f)arafteriftif  bernt^en.  Sarum 
unterrichtet  ung  aber  ©hafefpeare  nicht  genau  über  bie  Berljältniffe 
ber  3eit  unb  beg  Ortg,  über  bie  Berfaffung  beg  bänifchen  ©taatg, 
über  Bot®™®8’  »®b  feiner  gamilie  frühereg  Berhältuij?  jum 
Könige?  $>ie  ©ypofition  ift  mit  einem  Sort  mangelhaft. 
3ief)en  wir  wieber  bie  Oreftie  beg  Aefcfjhlug  gur  Bergleichung 
heran,  .frier  ift  alleg,  bie  BorgefcfjiChte,  ber  Ort,  bie  $eit  flar 

(771) 


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22 


unb  bestimmt  ge^eic^net.  $)ie§  fyängt  freilich  bamit  zufammen, 
bafj  bie  Oreftie  eine  Trilogie  bilbet,  |>amlet  hingegen  »wie  ein 
©rudjftücf,  ba«  nur  mit  fich  felber  zu  Dergleichen  ift , tot  un« 
liegt,  halb  Störchen,  halb  ©taatSaftion.  3n  ber  Siebe  beö 
£önig§  I.  2,  roo  ©ertrub  bie  hohe  SBitroe  unb  @rbin  biefeö 
fricgerifchen  Staat«  genannt  mirb,  bezeichnet  „©rbin"  (jointress) 
nach  ^>euffi  ba«  Anrecht  ber  Königin  auf  ben  Xljron,  um  ba« 
an  fiamlet  begangene  Unrecht,  bafj  er  non  ber  $hronf°i8e  au«> 
gefchloffen  morbeit,  ju  befchönigen.  8nbere  Stellen  feinen  für 
ein  Zahlreich  ju  fprechen.  „8m  meiften  hQt  bie  Annahme 
für  fleh,  eS  habe  überhaupt  eine  ftreng  georbnete  ©rbfolge  gar 
nicht  beftanben;  ©laubiu«  hQbe  faftifdj  bie  erlebigte  König«* 
gemalt  ergriffen  unb  fei  burch  nachträgliche  3uftimmung  ober 
Söahl  be«  Siolf«  ober  beö  8bef«  bariit  beftätigt  roorben.  ®« 
tritt  aber  im  ganzen  Stücf  feine  biefer  oetfehtebenen  Huffaffuugen 
flar  unb  entfehieben  Ijeröor,  obgleich  jebe  berfelben  ber 
ganzen  ^anblung  ein  anbere«  gunbament  leiht." 
(Siimelin).  Sicht«  fann  treffenber  fein  al«  biefe  ©emerfung. 

©ine  meitere  grage  ift:  SSelche  8rt  oon  Sache  mirb  bem 
.jjjamlet  auferlegt?  allgemein  mirb  geantroortet:  bie  ©lutradje. 
8ber  ber  ©eift  lägt  bem  Sohne  bie  8rt  ber  Sache  ober  Strafe 
ganz  frei  („mie  bu  immer  bie  $hat  betreibft"),  unb  ba  finb  nun 
oerfdjiebene  gaße  möglich-  81«  ber  König  bei  bet  8uffüljrung 
be«  Schaufpiel«  zitterte  unb  erblafjte,  fonnte  hantlet,  menn  er 
bie  Sache  nicht  früher  ooflzieljen  moHte,  oor  oerfammettem 
©olfe  auf  ihn  loSgehen,  ihn  öffentlich  aufforbem,  feine  Schulb 
Zu  befemten,  ihn  nach  erfolgtem  ©eftänbnifj  öffentlich  abfefcen, 
Zeitleben«  einfperreit  ober  auf  eine  öbe  gnfel  oerbannen  laffen. 
©egnügt  fich  hoch  auch  bie  ©rutu«fage  mit  ber  ©ertreibung  ber 
larquinier  unb  mürbe  bod)  in  ber  neueren  $eit  ©hrißtön  II. 
für  feine  Stjrannei  mit  lebenslänglichem  ©efängnifj  beftraft.  SBir 
benfen  bei  Sache  gar  zu  gern  an  ©lutrache,  unb  meil  ©hafe= 

(772) 


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23 


fpeare#  .jpamlet,  rote  ber  ?lmletfe  ber  ©age,  ©lutracfee  übt,  fo 
faffen  bie  ©rflärer  ben  Auftrag  be#  ©eifte#  oon  ber  ©fticfet  ber 
©lutradje.  ®er  $ejt  nötigt  nicfet  baju;  ja,  roemt  tarntet  bem 
Auftrag  be#  ©eifte#  gemäfe  feine  3Rutter  fronen  follte,  fo  tonnte 
bie#  am  efeeften  burcfe  eine  fRacfee  unblutiger  9lrt  an  iferem  ©e« 
mafel  gefcfeefeen.  fRacfe  ©rimm#  SBörterbudj  unter  „SRacfee"  bleibt 
fogar  bei  ber  SeraÜgemeinerung  be#  ©egriff#  oott  fRadje  immer 
bie  ©orfteOung  be#  Sertreiben#  unb  ©erfolgen#  im  ^intergrunb, 
bie  ttacfe  bem  alten,  gemein-germanifcfeen  fRecfet#begriff  in  ber  an« 
geführten  milberen  ober  in  ber  ftrengeren  g°rm/  wonach  ber 
©cfeulbige  für  oogelfrei  erflärt  rourbe,  ftattfinbeu  tonnte.  Äucfe 
biefc  ftrengere  Slrt  oon  fRacfee  tiefe  ficfe  anroenben,  fall#  ber 
üJJörber  ficfe  oott  feiner  @emütfe#erfcfeütterung  erholt,  bie  3Riffetfeat 
geleugnet  unb  mit  feinen  SInfeängent  ben  ©piefe  gegen  |>amlet 
unb  £amlet#  Slnfeattg  geteert  feätte.  gfreilicfe,  „wer  bi«  folgen 
ängftlid)  juoor  erroagt,  ber  beugt  ficfe,  roo  bie  ©eroalt  ficfe  regt". 
S)ie  „füfene  $feat"  tennt  er  nicfet.  Hamlet  erroagt  ju  genau  ben 
Slu#gang,  roie  er  felbft  fagt,  unb  fo  jeigte  ficfe  benn,  bafe  ber 
neroö#-gefüfelfame  ißfeilofopfe  be#  SBelt«  unb  3e*tfc^)mei;äcS, 
©ofen  eine#  gebilbeten  3aferfeunbert#  eben  baburcfe,  bafe  er  nicfet 
ficfe  entfcfeliefeeu  fann,  eine  milbere  Slrt  ber  SRacfee  $u  üben,  junt 
fünffacfeen  3)1  ör ber  roirb. 

©ine  weitere  2lrt  ber  fRacfee  roar  ba#  @otte#urtfeeil  eine# 
groeifampfe#,  ba#  Hamlet  ober  einer  oon  feiner  Partei  mit  bem 
Könige  auf  ficfe  genommen  feätte.  ©itten  Irolmgattg  oon  ent« 
fcfeeibenber  SBirfuttg  tennt  ja  fcfeon  bie  ©age  oott  Slmletfe#  ©ater 
£>oroenbill. 

I'ie  jeitgenöffifcfeen  ©ejiefeuttgen  roollen  feier  nicfet  recfet  ju« 
treffen.  3Raria  ©tuart,  ©ertrube#  ©cgenbilb,  roirb  juerft  ge- 
fangen gefefet,  entfliefet,  roirb  lange  3afere  nacfefeer  toegett  eine# 
anberen  ©erbrecfeett#,  beffen  fie  befcfeutbigt  roirb,  feingericfetet. 
©otferoeü,  ba#  ©egenbilb  be#  Slaubiu#,  roirb  toegett  ©eeräuberei 

(773) 


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24 


gefangen  gefegt  unb  $mar  uon  einem  fremben,  bem  bänifd)en 
Solle.  ®r  ftirbt  mabnfinnig  im  Setler.  Sei  ber  Sejiebung 
auf  Seicefter  unb  ©ffef  lägt  unS  bie  Sergleidjung  o^nebies  gan$ 
im  ©tidj. 

ÜRit  biefer  Sluffaffuitg  ber  bem  fandet  aufgetrageneu  fRadje 
als  einer  Slutradje  bängt  ein  anbereS  folgenfcbmeress  aRijjoer* 
ftänbnifj  jufammen,  baS  ficb  ^auptfäc^Iii^  in  t^eologifc^en  ober 
bejcbränlt  religiöfen  Greifen  eingeniftet  unb  leiber  fcf)on  Berber 
in  feinem  Sluffafc:  „SEBilbelm  ©balefpeare"  jum  Sl^n^errn  bat- 
Slud)  .fperber,  beffen  $luffafc  mir  rafd)  bingemorfen  fcbeint  unb  an 
manchen  $>unfelbciten  leibet,  meint,  ber  gequälte  ©eift  forbere 
oom  ©ohne  fRube  unb  SRadje,  Slutracbe,  unb  fie^t  in  bem 
©cbluh  be$  ®rama3  baS  SBert  beS  ©djidfalS  ober  Serbäng- 
niffeS,  baS  bie  5Ratf)e  beroirlt  b abe  mit  unbefledten  |jänben 
beffen,  bem  fie  aufgetragen  mar.  @r  finbet  in  ibnt  ben  utnge- 
lehrten  OrefteS  unb  ruft  bei  bem  Auftritt  mit  ber  ÜRutter  aus : 
„SUo  ftebt  ibr  bei  biefem  Auftritt,  OrefteS,  (Sleftra,  JÜIqtämueftra! 
„$en  guten  Hamlet  lonnte  trofc  aller  Sorfcbritte  felbft  feinet 
SaterS  ©eift  aus  feinem  Sbaralter  nicht  treiben."  2)ann  mar 
am  ©nbe  biefer  ©eift,  roenn  er  bem  fandet  etmaS  UnfittlidjeS 
auftrug,  eine  böüifcbe  Srfcbeinung,  roofiir  ihn  fandet  eine  geit» 
lang  ^ielt.  £erber  mar  ber  ebenfo  jartfüblenbe  als  nad)ben« 
lenbe,  aüeö  mie  auS  einer  ©eiftermelt  betracbtenbe,  uon  meta« 
pbbfifcben  unb  ©emiffeiiSffrupeln  erfüllte  unb  auS  biefem  ©runbe 
bie  Stutracbe  unterlaffenbe  ®änenprin$  gan$  fbmpatbifcb-  ©r 
fanb  in  ihm  ©eift  uon  ©balefpeareS  unb  uon  feinem  (|>erbcrS) 
eigenen  ©eift.  ©cbt  brrberifch  ift  auch  bie  Äbbängigfeit  uon 
aufjerorbentlicben,  fonberbaren  ßufäHen,  bie  fReigung,  ficb  oom 
©cbidfal  beftimmen  ju  laffen.  SDiefeS  ©cbidfal  tritt  nach  Berber 
bei  fandet  ein,  fobalb  er  uon  ber  oerunglücften  ©enbung  nach 
©uglanb  jurüdgelebrt  ift.  Slebnlicb  fagt  Ulrici:  „$>et  natür- 
liche ÜRenfcb  in  fandet  fpornt  ihn  an  jur  $b°t  unb  br- 

i774» 


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25 


id)ulbigt  if)tt  ber  firaftlofigfeit  unb  Feigheit:  ber  dfriftlidie  Sinn, 
mehr  ©efül)l  alg  flnreg  ©ewufjtfein,  hält  ihn  unwißfürlid) 
jnrücf."  SDarnad)  wäre  eg  ^amletg  SSerbienft,  bie  fRadje  $u 
unterlaffen,  nicht  ju  Raubein.  $ieg  Reifet  aber,  wie  Vifcher 
mit  fRecht  bemerft,  bie  Jragöbie  umfehren,  an  ihrer  Voraug* 
fe|ung  rütteln.  3ft  benn  ber  ©eift  nicht  ort^oboj  djriftlid)? 
3ft  eg  benn  nicht  btefer  dfriftliche  Später,  ber  bem  fandet  jn> 
ruft:  räcfje  mid)?  ^amletg  gaubern  if*  aßerbingg  eine  golge 
beg  ©rübelng,  ©rwägeng,  fRefleftireng.  SEBo  aber  im  ganjett 
©tüd  zweifelt  tarntet  an  ber  SRedjtmäfjigfeit  ber  ihm  auferlegten 
fRad)e?  $u  fetter  nimmt  er  bie  Sache,  wie  er  fid)  felbftoor* 
hält,  unb  am  glüdlidjen  Sluggang  beg  Unternehmeng  jweifelt  er, 
aber  für  unfittlid),  uitchriftlich  Ifält  er  fie  nicht.  ©r  meint,  ber 
©eift  fönnte  ein  Xeufel  unb  bie  sJlad)rid)t  oon  ber  ©rmorbung 
feineg  Vaterg  eine  tiößifdje  fiüge  gewefen  fein;  fobalb  er  fid) 
aber  burd)  bie  Sluffüfjrung  beg  @d)aufpielg  »öflig  flar  geworben 
ift,  befd)äftigt  er  fid)  wieber  mit  bem  SRacheplan.  ®iefe  dfrift* 
lidpgefiunten  ©rflärer  fc^einen  mir  bie  Vegriffe  ©träfe  uttb 
fRad)e  fid)  nicht  flar  gemacht  ju  haben.  Schon  im  Sprach1 
gebrauch  bebeutet  (oergl.  ©rimmg  SBörterbudj  unter  fRadje)  JRadje 
nicht  feiten  Vergeltuug  eineg  Unrechteg  burch  ÜRenfcfjen  unter 
göttlicher  ^Billigung  unb  $ülfe,  fo  namentlich  im  Sllten  £efta* 
mente;  auch  noch  bie  neuere  ©prad)e  rebet  oon  ber  fRadfe  ber 
©efefoe,  oon  gerechter  SRacfje,  wofür  jwei  ©teßen  aug  ©chißerg  mehr* 
fach  an  ^autlet  erinnernbem  „SBilhelm  SEeß"  angeführt  werben 
(II.  2;  V.  1).  Sollte  benn  bag  bie  fiehre  beg  ©^riftent^umS 
fein,  mau  Jolle  bie  öeftrafung  eineg  empörettben  Verbrecheng  ber 
©ntwidelung  ber  3*>tumftänbe  unb  bem  ©ingreifen  ber  göttlichen 
Vorfeffung  überlaffen?  Verbiente  SRacbethg  Verbrechen  nicht 
gerächt,  geftraft  ju  werben?  3a,  wenn  §amlet  wirflich  mit  ber 
fRadje  ©rnft  gemacht  hätte,  fo  hätte  eg  wie  im  „ÜRacbeth"  jum 
Vürgerfrieg  fontmen  fönnen,  unb  ber  Sluggang  wäre  ohne  gweifel 

(775) 


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26 


gewesen,  roie  in  biefem  »erföljnenb  abfcfjliehenben  Xrauerfpiel.  Auch 
3Duncan«  ©öfjne  Ratten  einen  Vntermorb  $u  rächen,  unb  SRalrolnt 
unb  üJfacbuff  haben  bie«  getljan,  offne  jur  Vlutradje  ju  fd)reiten. 
Au«  biefem  $rama  fann  man  erfelfen,  roie  Vedft  (IV.  3)  unb 
fRadje  (V.  2)  einanber  nicfjt  au«fchliefjen  unD  roie  e«  auch  eine 
eble  9tad)e  giebt,  bie  ba«  Sicfjt  ber  Ceffentlidjfeit  auffudü  unb 
ba«  Sntereffe  be«  ^Sriöatmanneg  mit  bem  $ßatf|o8  be«  für  9iecf>t 
unb  Freiheit  ftreitenben  Vaterlanb«freunbe«  oerbinbet.  — fRacfje 
ift  oft  bloß  ber  patffetifche  ober  pathologifdfe  Au«brucf  für 
©träfe,  Vergeltung.  SBie  oft  ertönt  ber  fRai^eruf  in  ben  Ärieg«- 
gefängeu  au«  ben  Vefreiung«friegen,  namentlich  bei  Sörner! 

ffiine  Siicfe  in  ber  ®i<f)tung  fehe  ich  barin,  bafj  fi<h  ©hate< 
fpeare  nicht  genauer  über  bie  2Irt  ber  fRadfe  au«fpridft.  Von  Saerte« 
(IV.  5)  fönnte  man  fagen,  hätte  tarntet,  menn  e«  nidjt  $u  fpat 
gerocfen  roitre,  lernen  fönnen,  roie  er  gegen  ben  Vatermörber 
auftreten  muffte.  gieljen  wir  nochmal«  ben  SHacbetl)  jur  Ver- 
gleichung h^r.  2Bar  e«  nicht  ihre«  Vater«  ©eift,  ber  2>uncan« 
©öhnen  eingab,  fich  oor  bem  ÜRörber  $u  flüchten  unb  ihn  mit 
Ärieg  $u  überziehen?  SDfit  einiger  ^?hantaf*e  fann  man  ft<h  bie 
©rfcheinung  be«  gemorbeten  Äönig«  »orftetlen,  ber  feinen  ©öhnen 
ben  $hQtbefianb  enthüllt  unb  fie  jur  Sftac^e  b.  h-  äl*m  $luf* 
ftanb  gegen  ben  $hronräuber  ermahnt.  SRacbetf),  SDfacbuff, 
ÜKalcolm  finb  ©öhne  einer  friegerifchcn  ^eroenjeit,  bie  nicht« 
oon  SBeltfchmerj,  $heater  unb  fßffilofophie  roeiff.  5)ie  jeitgenöf- 
fifchen  Vejiehungen  finb  Har  unb  brauchen  feine  Vefdfönigung. 
3n  Hamlet  aber  ift  ba«  ©igenthümlid)e,  bah  ein  philofophirenber 
Vrinj  immer  mit  VadfepIäHen  umgeht,  ohne  fid)  bie  Art  unb 
SBeife  be«  Vorgehen«  (modus  proeedendi)  Har  ju  machen.  *@« 
fragt  fich:  roa«  ift  ©hafefpeare«  eigene  Ueberjeugung  gerocfen? 
SBeitn  bod)  in  ber  langen  3eit  jroifcfjen  ber  ©rfcheinung  be« 
©eifte«  unb  ber  Aufführung  be«  ©chaufpiel«  (III.  2)  öamlet 
ben  ^oratio  in«  Vertrauen  gezogen  hat  ober  ihn  eben  jefct 

(776) 


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27 


ootlenb«  in«  Süertrauen  jiept,  warum  wirb  ber  üon  .fpamtet  fo  be* 
geiftert  gepriefene,  befonnene  unb  iiberlegenbe  ^oratio  nic^t  ber 
öeratper  be«  unpraftifcp-ejcentrifcpett  Däitenprinjen  ? SBarum 
fagt  er  ipm  nicpt,  baft,  ttacpbem  burtp  beit  grfolg  be«  ©cpau* 
fpief«  ber  ©acpüerpalt  fiep  flar  perau«gefteDt  pat,  ba«  Sefte 
wäre,  ben  fiof  ju  oerlaffen,  ein  §eer  ju  fammeln,  ben  Stönig 
ju  befriegen  unb  ipm  bie  Ärone  oom  Raupte  ju  reiften?  |>amtet 
fönnte  bann  immerhin  panbeln  ober  nicpt  panbeltt;  ba«  Drama 
fönnte  feinen  ©ang  weiter  gepen  unb  fcplieften,  wie  e«  jeftt 
fcplieftt ; aber  ©pafefpeare  pätte  burcp  einen  einigen  Dialog  mit 
|joratio  ben  ©rflärern  öiele  SJtüpe  erfpart  unb  grobe  SJtiftoer- 
ftänbniffe  jum  oorau«  abgefdjnitten.  SSir  miiftten  bann : |>antlet 
pat  fiep  mit  fRecpt,  aber  er  pat  fic^  nicpt  fo  geraept,  wie  er  fiep 
pätte  räcpen  foHen.  ©cpweigen  ift  nicpt  bloft  ber  SReft,  fonberit 
beperrfept  ba«  ganje  ©tücf. 

Die  fRacpe  al«  SBlutracpe  aufgefaftt  lenft  auep  ©rflärer,  bie 
oon  aller  religiöfen  Sefangenpeit  fern  finb,  au«  ber  reepten 
Safttt.  @o  tabelt  ©erbinu«  mit  berebten  SBorten  |>ainlet«  Utt» 
entfcploffenpeit  unb  Slengftlicpfeit,  bie  ipn  pinbern,  ben  Auftrag 
feine«  S3ater«  ju  erfüllen.  Sluf  einmal  aber  fpriept  er  au« 
einem  gan$  anberen  Don,  fo  baft  ber  Sluffäger  bie  SRolIe  be« 
Sßertpeibiger«  übernimmt:  „3n  ber  Slufgabe.  bie  fiamlet  auf* 
erlegt  ift,  tpeilt  ipn  ein  innerer  3wiefpalt  in  fiep  felbft,  ber  «Streit 
eine«  pöperett  ©efefce«  mit  bem  iRaturgefeft  ber  SRacpe,  ber 
feineren,  fittliepen  ©efiiple  mit  bem  gnftinft  be«  SBlut«.  ©einen 
Zweifel  an  ber  ©ieperpeit  ber  Dpatfacpe  unb  an  ber  9tecpt* 
mäftigfeit  ber  SRacpe,  bie  ©anftpeit  feiner  ©eele,  bie  fiep  unbe* 
wuftt  gegen  bie  SDZittel  ber  Stacpe  fträubt,  ben  fiang  feine« 
©eifte«,  bie  fRatur  unb  golgett  feiner  Dpat  ju  iiberbenfett  unb 
baburep  feine  panbelnben  Kräfte  ju  läpmen;  alle  biefe  ©frupel 
ju  genauer  Srwägung  be«  ?lu«gang«  nennt  er  felbft  im  (Sifer 
be«  ©elbfttabel«  ju  brei  SSiertpeilen  geigpeit  unb  ju  einem  Viertel 

(TH) 


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28 


2Bei$Ijeit.  ©^afefpeore  ^at  ober  bie  üJtifcf)ung  fo  öortrefflicf) 
abgewogen,  baß  wir,  gegen  $amlets  eigene  fßarteilidjfeit  wiber 
fi d)  felbft,  ber  äBeiS^eit  gum  minbcfien  bie  frnlfte  gufdjreiben 
werben.  3)em  £>amlet  raubt  ein  Ueberfdfuh  an  ©ewiffenfjaftig* 
feit,  Sanftmut!),  traucrnbem  ©ram  feine  Ifjatfraft."  3)a  hätten 
wir  affo  einen  3ufummenftoh  oon  ^Sflic^tcn,  unb  wenn  bas 
fpätere,  gebilbete  unb  humane  3f»talter  offenbar  ^ö^cr  ftef)t  als 
bie  'Jiaturfitte  beS  ^eroengeitalterS,  fo  muff  bnä  9taturgefefc  ber 
9facf)e  mit  feiner  blof?  re!atit>en  '-Berechtigung  jurit  cf  treten  oor 
bem  hüheteu  ©efefc  ber  „ SBeiö^eit,  Jugenb  unb  Sanftmut!)". 
®amit  nimmt  ©erüittug  ben  Stabe!  gegen  Hamlet  wieber  gurücf. 
folgerichtig  muffte  ©eroiuuS  weiter  fagen,  |>amlet  geige  in 
feinem  3flubern  brei  Viertel  2Bei8t)eit  unb  Ijöchfteng  ein  SBiertel 
feigheit.  SBer  wollte  eine  Sntigone  tabein,  wenn  fie  bem  fitt« 
liehen  ®efe|  ber  ©efdjwifterliebe  folgt  unb  nid)t  bem  rachfüdj* 
tigen  Söefehl  StreonS?  ?lber  auch  bei  93tfcher  fließen  trofc  alleg 
fßroteftes  ber  bänifrfje  unb  ber  englifd)e,  ber  ^eroifc^e  unb  ber 
reflcftirenbe  fandet  fo  ineinanber,  bah  ber  erfte  oon  bem 
gweiten  bebeutenb  beeinträchtigt  wirb.  SSifcher  hält  gwar  an  ber 
9iadjepfUcht  §amletä,  bie  er  natürlich  uh*  Slutradje  fafft,  feft; 
bah  über  fandet  bie  Shat  hinau8fd)iebt,  bah  er  fie  genau  unter» 
fuchen  unb  ber  Sache  auf  ben  ©runb  fommen  will,  bah  er 
namentlich  gweifelt,  ob  ber  ©eift  nicht  ein  »ertappter  Xeufel  ge* 
rnefett,  bieä  wirb  oon  Sßifcher  entfchulbigt.  9?ad)  ihm  barf 
.pamlet  gaubern,  feinem  3uubern  liegt,  gum  £h«l  wenigfteng, 
ein  ibealer  Segriff  oon  2öal)rheit  unb  ©erechtigfeit  gu  ©runbe. 
„Ipamlet  gweifelt  an  bem,  wag  unmittelbar  oorliegt,  unb  bie 
Xeufelgoorfteöung  ift  nur  baö  ©ewanb  ber  3eitbegriffe,  in  bie 
er  fid)  f leibet ; 3weifel  b.  f).  3meifel,  ob  genügenber  SBemeig 
oorhanben  fei.  Neigung  gum  3meifel  überhaupt  liegt  fo  gewih  im 
$intergrunbe,  alg  fie  oon  fpamletg  9iatur  ungertrennlich  ift,  im 
Sorbergruttb  aber  liegt  biefer  beftimmte  3meifet  unb  biefer  ift 

(778) 


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29 


nid)t  gu  tabeln."  Ta  fommt  mir  ein  (Sinfaß  oon  ungefähr:  jo 
hätte  ich’ 3 gemalt,  wenn  id)  ©hatejpeare«  |jamlet  gercefen  märe ! 
Tafj  boc^  bie  Srflärer  ißr  eigene«  fubjeftioe«  Urt^eif,  mie  e«  in  ihrem 
Temperament,  in  ihrer  ©emütß««  unb  ©eijteöridjtuiig  murgelt,  jo 
ferner  oerleugnen  tönnen ! @8  fjanbelt  fid)  einzig  unb  allein  um  bie 
grage,  mie  ©hatejpeare  bie  ©adje  beurteilt,  unb  ba  fiitb  utt« 
bie  ßJionologe  be«  gelben  unjere«  ©tücf«  oott  grunbfegcnber 
Söebeutung.  SBenn  mir  bieje  SDZonoIoge  nicf)t  mehr  gu  feiner 
Sharafteriftif  gebrauten  bürfen,  morauf  moflen  mir  bie  Stuf* 
faffuitg  feines  ßfjarafterä  griinben?  SBon  Stnfang  bi«  gum 
©djlup  tabelt  |jamlet  jein  gaubem.  @r  hat  ein  prophetifche« 
©emütt)  (I.  5);  jcf)on  oor  ber  ÜJlittfjeitung  be«  ©eifte«  Ijatte  er 
„etmaS  oon  argen  Stänten"  oermutpet ; ja,  fd)on  nach  ber  Slubieiig 
jpridjt  er  beit  tiefjten  ©eelettjdpnerg  au«  über  bie  blutjdjänbe« 
rijc^e  fjeirath  jeiner  ßKutter.  Ta«  ©ejpräch  mit  bem  ©eijte 
tarnt  auf  alle  bieje  33orgeichett  nur  ba«  ©iegel  brücfen,  unb 
menn  nun  tarntet  gmei  fDiouale  nachher  biejen  ©eift,  in  bem 
er  bocf)  jeinen  Sßater  ertannt  hat,  biejen  ©eijt,  ber  it|m  bod) 
nic^t  im  Traume  erj^ienen,  joitbertt  leibhaftig  it)m  gegenüber 
geftanben  ijt,  jür  einen  Teufel  holten  tann,  fo  ift  bie«  fDiijj- 
trauen  im  ©intte  be«  Tidjter«  unb  nach  ber  gangen  Anlage  be« 
©ebicht«  nur  eine  eitle,  grunböerfe hrte  ©elbftbejd)öitigung  Hamlet«. 
Ter  SÄonolog  (II.  2)  geht  oon  ber  83orau«fe{sung  au«,  bafj  fein 
3$ater  ermorbet  roorben  fei.  SBie  fattn  §amlet  in  einem  Sltljem 
biefe  Thatfache  bejahen  uttb  begmeifeltt,  menn  e«  ihm  nicht  oiel> 
mehr  um  einen  SSormattb  für  bie  Söefriebigung  jeiner  äfthetifdijen 
Liebhaberei  al«  um  bie  ©rmittelung  be«  Thatbeftanbe«  gu  th»n 
ift?  Tie  ßftoitologe  geigen  un«,  mie  fandet  fich  gu  feinem  ®e* 
roijfen  fteflt.  @r  toill  mehrmal«  fich  fctbft  anlügen,  fein  gm*' 
bem  jehött  anjtreicheu,  allein  bie  ©prache  be«  anflagenben,  gür* 
nenben,  ftrafenbett  ©emifjett«  bricht  burd)  alle  biefe  ©cheittgrünte 
fiegenb  burd).  Ta«  jRidjtige  märe,  metttt  ftamlet  eitt  ©chaujpiel 

(779) 


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30 


aufführen  läßt,  nicht  um  ficß  oon  ber  SBaßrßeit  ober  Unmaßr* 
^eit  ber  SluSfage  beS  ©eifteS  zu  überzeugen,  foitbern  um  ben 
Äönig,  wenn  biefer,  mie  Dorau$zufeßen  njar,  bei  ber  Sluffüßrung 
bes  ©tücfS  fein  böfeS  ©emiffen  oerratßen  hätte,  oor  bem  oer* 
fammelten  Voll  jur  Siebe  zu  [teilen  unb  auf  irgenb  eine  ffieife 
ben  hoppelten  Verbrecher  zu  [trafen.  £>ier  hoben  mir  ben 
SSenbepunft  beS  ®ramaS,  hier  war  eS  noch  möglich,  bem  ©tüd 
einen  glücf liehen  SluSgang  zu  geben ; aber  §amlet  ift  fchon  lange 
bem  oerzeßrenben  auSßößlenben  3roeifrl  DerfaHen,  unb  eS  geht 
je$t  immer  mehr  mit  ihm  abmärtS;  beim  er  hot  ben  günftigen 
Slugenblicf  nicht  benußt,  bie  ©elegenheit  nicht  beim  Schopfe 
erfaßt. 

2)ie  ©ntfcßulbigung  bes  gtoeifelnben  unb  zaubernben  Prinzen 
fommt  zum  Jßeil  ouf  bie  [Rechnung  beS  19.  SoßrßunbertS,  baS 
felbft  oom  3®eifel  unb  oou  ber  [Reflexion  burchbrungen  unb 
baburch  im  §anbeln  gelähmt  ift,  anbererfeitS  aber  biefen  SJtangel 
burch  fo  manche  Vorzüge  oergeffen  läßt,  ©enau  betrachtet  ift 
freilich  fchon  bei  ©^ofefpeare  |>amletS  ©ßarafter  ztoeifeitig  unb 
Zmeibeutig.  ©erabe  barin  liegt  baS  2)ämonifcße  beS  ©tücfS, 
baß  ©ßafefpeare  ber  trägen,  unentfcßloffenen  Statur  beS  Prinzen 
bie  reizenbe  Jolie  eines  feinfüßlenben  unb  fpefulatioen  3bealiften 
untergelegt  hat.  @r  hat  ben  bänifeßen  [ßrinzen  mit  fo  Dielen 
liebenSroiitbigen  3ü8en  auSgeftattet,  ißn  als  geiftreieß,  roißig, 
gelehrt,  empfinbfam,  pietätsooll  gegen  feine  SKutter  gefcßilbert, 
baß  ber  ©rflärer  oerfueßt  roirb,  bie  ffanbinaDifcße  Urzeit,  in  ber 
ein  fotdjer  (Sßarafter  gar  meßt  möglich  mar,  zu  oergeffen,  Hamlet 
iibermiegenb  als  ®oßn  ber  neueren  3ftt,  ber  er  felbft  angehört. 
Zu  faffen  unb  ißn  möglichft  zu  entfcßulbigen.  £>amlet  ermeeft 
unfer  fDUtleib  unb  geminnt  unfere  ©ßmpatßie;  er  ift  burch  eine 
Saune  beS  ©efeßiefö  in  einer  roßen,  ^ugleid)  barbarifeßen  unb 
oerberbten  3e^  aufgeroaeßfen;  eS  ift  ißm  eine  zu  feßroere  Saft 
auferlegt,  mobei  tiberfeßen  mirb,  baß  biefe  Saft  nießt  gerabe  in 

V780; 


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31 


ber  Vlutrache  befielt,  roieroohl  ©Ijafefpeare  biefen  fßunft  aller« 
bing«  beutlicher  heroorheben  burfte,  unb  baß  Knbere,  namentlich 
|>oratio,  mit  fRnth  unb  $l|at  i^m  bie  Saft  tragen  helfe«  fonnten. 
3)ie  Zeichnung  feine«  ©harafter«  nähert  fiel)  nun  immer  mehr 
ben  3«den  ber  mobernen  3e*t?  ift  fei«  3aubem  in  zwei  gälleu 
gerechtfertigt,  fo  geht  man  meiter  unb  finbet  ihn  mit  Slöftlin* 
im  SJiorgenblatt  nicht  thatlo«,  weil  ja  poratio  felbft  am 
©chiufe  oon  2:hatet!-  Sobten  unb  fßlänen  rebe,  fonbern  nur  utt« 
praltifch-  ÜJtan  finbet  mit  SRümelin,  .pamlet  fei  nicht  feige,  nicht 
unentfcbloffen,  er  tobte  brei  fßerfonen,  trete  bem  ©eift  entgegen, 
entere  ein  ©dfjiff,  fechte  mit  Saerte«,  er  fei  (gegen  feilte  eigene 
(Srflärung)  fein  £an«  ber  Träumer;  er  roähle  nur  falfcße  ÜRittel 
für  ferne  3wecfe,  feine  Jpanblungen  feien  fonfu«  unb  unjmerf« 
mäßig.  2)ie  Sluffaffung  feine«  (Sharafter«  hängt  freilich  mit  ber 
Sluffaffnng  attberer  (£f)araftere  jufammeit,  be«  Saerte«,  fßoloniu«, 
ber  Ophelia,  be«  fRofenfranz  unb  ©ülbenftern.  „Unfcßulbig," 
fagt  Vifcher,  „ftirbt  nur  Ophelia.  Sille  Slnberen  büßen  ihre 
©djulb  mit  bem  lobe."  pamlet  felbft  ift  nach  Vifcher  „fchulbig* 
unfchulbig,  unglücflich*g(ücflich ; fein  fRadjeftreich  erhält,  ba  ein 
neue«  Verbrechen  be«  Stonig«  oor  3eu9en  fonftatirt  unb  ba« 
erfte  Verbrechen  baburch  beftätigt  mirb,  bie  Vebeutung  eine« 
öffentlichen  fRichteraft«".  2Jlan  fieht,  wie  ber  £on  hier  Don  ber 
©djnlb  hinweg  auf  bie  Unfchulb  fich  neigt,  |>amlet  erfcßeint 
überrciegenb  al«  ein  Opfer  be«  ©chicffal«,  al«  ein  ©erlogener 
be«  |>errn. 

Vefonber«  wichtig  ift  bann  bie  grage  nach  ber  3ufunft 
2>änemarf«,  roooon  fchon  oben  bie  fRebe  mar.  3)er  Verluft  ber 
politifchen  ©elbftänbigfeit  an  einen  anberen,  früher  befiegten  unb 
um  einen  Jheh  feine«  ©ebiet«  oerringerten  ©taat  ift  ein  fehr 
Zweifelhafter  ©eroinn  fogar  in  bem  galt,  baß  ber  neue  £>errfct)er 
bem  oon  Vifcher  gezeichneten  Vilbe  entfpräche.  Von  löblichen 
(Sigenfdjaften  bei  gortinbra«  ^ebt  ©hafefpeare  uur  Xapferfeit, 

(781) 


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32 


$hatetibrang,  politifdjeu  ©brgeiz,  Streben  nach  ÜJiadjterweiterung 
hertwr.  Ob  biefe  $üge  in  feinem  Sljarafter  aud)  bem  unglütflichen, 
innerlich  oerfaulten  Staate  $>änemarf  zu  gute  fommen  werben,  weih 
fein  ÜJienfcf).  „Hamlet"  unterfcheibet  fidj  baburdj  wefentlich  non 
„Siidjarblll.",  „ßear",  „Üftacbetl)",  roo  aQerbingö  nach  fo  öielen  unb 
tiefen  ©rfd)ütterungcn  eine  tröftlidie  StfiluhauSficht  eröffnet  wirb, 
wie  $ifcf)er  mit  9fecht  bemerft.  Sott  Anfang  an,  mit  ber 
Stlpronrebe  beS  ©laubiuS,  wirb  biefe  politifche  Stimmung  in  uns 
erweeft;  bie  @efat)r,  an  Norwegen  baS  restlich  gewonnene  ©ebiet 
ju  »erlieren,  wirb  oon  bem  praftifc^en  ©laubiuS  abgemanbt; 
gortinbraS  hat  ober  im  eierten  Slufjug  ©elegenheit,  fid)  eon 
bem  zerrütteten  #nftanb  $änemarfS  perfönlid)  ju  überzeugen,  er 
febrt  im  entfdjeibenben  ?lugenblid  zurücf,  unb  nicht  nur  ein  $heil, 
wie  er  im  Anfang  gehofft  hatte,  fonbern  baS  ganze  ßanb  $äne» 
marf  fällt  ihm  als  Seute  zu.  £>ier  ift  Klarheit,  Ueberfidjtlid}' 
feit  unb  3ufammenhang. 

SDlag  auch  &ie  tnehr  ober  minber  optimiftifdje  Äuffaffung, 
bie  feimrzeit  in  ber  SDarfteHung  eon  Sogumil  3)awifon  ihren 
^»öhepunft  erreichte,  burcf)  bie  Jragöbie  felbft  eine  ^Berechtigung 
Zu  erhalten  fdjeinen,  mögen  wir  uns  eon  Hamlets  urfprüuglid) 
eblem  unb  geiftreidjem  SBefen  noch  fo  fehr  angezogen  fühlen,  fo 
muh  matt  boch  namentlich  im  ängeficht  ber  ÜJfonologe,  wo  alle 
iüerfteHung  aufhört,  fagen,  bah  Sljafefpeare  baS  Hauptgewicht 
auf  bie  Schattenfeite  legt,  bah  w zeigen  wiß/  täte  bie  eortreff* 
lichften  ©igenfehaften  beS  ©eifteS  unb  Herzen*  burch  träumerifche 
Uneutfchloffenheit  eergiftet  werben,  wie  für  ben  ©inzelnen  unb 
baS  ©anze  Serberben  unb  Untergang  barauS  entfteht.  Hantlet 
hat  feine  Aufgabe  grunbeerfehrt  gelöft.  Seine  ©httter,  bie  er 
fronen  füllte,  tobtet  er  burch  feine  Uneutfchloffenheit;  ebenfo 
ben  ^olottiuS,  ßaerteS,  bie  Ophelia,  jruei  Sdjulfreunbe  liefert 
er  in  oermeintlicher  Slothwehr  unb  übel  angebrachter  SRadje  ans 
ÜReffer;  er  wirb,  je  nadjbcm  man  zählt,  unb  ben  ©egriff  ÜJiorb 

(782) 


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33 


weiter  ober  enger  fajjt,  ein  breifacher,  fünffacher,  fiebenfacher 
SRörber;  er  felbft  fommt  ira  Stachewerf  um  unb  ber  Staat 
fällt  an  SJlorwegen;  (Snglanb  wirb  nun  in  3ufuilft  bent  *>er= 
einigten  S)änemarf»iRorwegen  ainapflicfjtig  werben.  ©ine  Sie r* 
föfjnung  liegt  nur  barin,  baß  Hamlet  mit  feiner  SERutter  unb 
Saerte«  oerföhnt  ftirbt.  3cfj  finbe  in  bem  Schluffe  bie  herbe 
Sehre,  baß  Unentfchtoffenheit  unb  f>albt)eit  bie  fchlimmften  gehler 
eine«  gürften  finb  unb  fich  am  fchwerften  beftrafen 

®ie  genannte,  mehr  ober  weniger  optimiftifche  Sluffaffutig 
oon  fmmlet«  ßfjarafter  war  befonberl  in  ben  50er  unb  noch  *n 
ben  60er  fahren  unfere«  gahrhunbertS  oerbreitet  — unb  jwar 
wahrfcheintich,  weil  ber  2)eutf<he,  ber  in  bem  nicht  thatenlofen, 
aber  thattofen  $amlet  fich  felbft  bargefteKt  fah,  burch  bie  ein- 
feitige  §eroorhebung  oon  £>amlet«  SBorjügen  fich  über  fich  fetbft 
tröften  wollte,  gnbeffen  wirb  auch  <<l  3u^unff  ber  fprichwörtlid) 
geworbene  Immletdjarafter  feine  93ebeutung  beibehalten.  3)er 
fprichwörtliche  fiamlet  ift  ein  geiftreicher,  philofophifch  gebilbeter 
SJtann,  ber  aber  oor  lauter  (Grübeln,  Ueberlegen,  3TDe*fefn  unb 
ßaubern  nicht  jum  Raubein  fommt,  unpraftifch  ift  unb  bleibt, 
feine  Stufgabe  nicht  löft,  feiner  Stellung  nicht  gewachfen  ift. 
S3on  feinem  3l°eifeln  ftnb  auch  häufig  feine  grflärer  angeftecft. 
$a  foll  ber  Uebergang  oom  $enfeu  $ur  2hat  irrational  fein, 
in  eine  unenbliche  Sinie  führen;  eine  anbere,  blinb  wirfenbe  unb 
oorwärtStreibenbc  Straft  muß  ba  eintreten;  an  biefer  jroeiten  firaft 
fehlt  eS  bem  Hamlet  — aßerbing«,  wie  nun  einmal  fein  $enfen 
befchaffen  ift;  e«  giebt  aber  auch  ein  önbere«  ®enfen,  ba«  nicht 
ewig  in  fich  f^tber  freift,  fonbern  oon  felbft  jur  $hat  brängt ; 
ber  abftraftefte  unter  ben  beutfchen  2)enfern,  ber  ißh*lDf°Ph 
gicfjte,  befaß  biefe«  ®enfen,  e«  trieb  ihn  jur  Ihat»  feine  fReben 
an  bie  beutjche  Nation  waren  eine  $hat  unb  bie  Vorläufer 
anberer  entfprechenber  $aublungen.  SDafj  £>amlet  biefe«  fein 
eigentümliche«  ®enfeu  hegt  unb  pflegt,  an  feinem  3u>eifeln  eine 

Sammlung.  'Ji.  g.  V.  117.  3 (7s:i) 


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34 


greube  fjat,  Slubere  necft,  fierauäforbert  unb  ihnen  entgeht,  in 
einem  $ltf)em  ffä  fämefäelt  unb  fällt,  im  ©djöntfjun  mit  ben 
SKöglfäfeiten  einer  SRachetfjat  nicht  einmal  bie  Slrt  unb  SSeife, 
roie  biefe  $hot  ju  ooQführen  märe,  in«  Sluge  fajjt  — ba«  ift 
jein  geiler,  feine  ©cfjulb.  3)a«  ©chicffat  bietet  i^m  mehrmals 
güti jtige  ©elegenheiten  jur  ?lu«führung  ber  SRadje  bar ; aber  un* 
bejonnener  al«  jener  $önig,  bem  bie  fibhüinifäen  93ü<her  ange« 
tragen  mürben,  lägt  er  fie  alle  unbenufct,  bi«  e«  julefct  f)ei§t: 
Fata  uolenteni  trahunt.  @r  rfätet  julejjt  ein  „nufcloje«  Ölut» 
bab"  an,  mie  ©eroinu«  jagt,  unb  begräbt  bie  ©röfje  unb  greiijeit 
be«  ©tant«  in  feinem  gaH. 

SRünteliu«  ©fjatefpeare»©tubien  merben  immer  epifäemacfjenb 
in  ber  ©hafefpeare»2itteratur  bleiben,  unb  mir  müfjen  be«roegen 
genauer  auf  feine  barin  enthaltene  Sefprec^ung  be«  Hamlet  ein* 
gehen.  ®ar  nie!  Xreffenbe«  bringt  ber  nüchterne  Sritifer  tytv 
oor,  aber,  mie  mir  oben  gefeheit  hoben,  er  übertreibt  ben  SWangel 
an  ©inheit  im  ©tücf;  er  fagt  auch  $amlet«  ©ho™^  einfeitig, 
unb  mie  oon  Slnbereit  immer  bie  „geigheit"  £>amlet«  betont 
mürbe,  fo  follte  man  nach  Sftümelin«  SDarfteflung  meinen,  ber 
3>änenprinj  fei  ein  ÜJtufter  oon  SERuth  unb  ©ntfäloffenheit. 
Allein  bie  ifjaten  -&amlet«,  auf  bie  ffä  SRümelin  beruft,  ge» 
fäehen  fojufagen  in  neroöfer  S3erjrceiflung,  mie  bie«  S3ifäer  gut 
au«geführt  hat;  fonft  aber  ift  offenbar  gemohnheitämäfjige  tapfer» 
feit,  bejonnener  ÜJtutf)  feine  ©acf)e  nicht.  9Bie  überall,  fo  auch 
hier  fämanlt  er  jmifäen  jmei  ©jtremen:  geigheit  unb  2Bag< 
halfigfcit.  SQ3a«  aber  ba«  ©ntern  be«  ©djiffe«  betrifft,  fo  be 
merft  ©ilberfchlag  mit  Siecht,  ©hatefpeare  h°&e  burd)  &ie  ®rt 
feiner  Siiicffehr  bem  |>amlet  jebe  abfichtlic^e  3Biüen«beftimmung 
nehmen  unb  ihn  in  feiner  llnfälüffigfeit  al«  ©pielbaÜ  be« 
©cf)icf fal«  barfteöen  rcollen.  SBeiter  bemerft  SRümelin,  ber 
©runb  oon  Hamlet«  fonfufem,  unjmecfmäjügem  $anbeln  fei  nicht, 
bnjj  ©hatefpeare  ihn  fo  barfteüen  mollte;  jmeefmibrige«  Raubein 

(784> 


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35 


habe  nur  im  Suftfpiet,  nicht  in  ber  SEragöbie  Staunt ; non  einem 
bramatijdjen  gelben  erwarten  mir  fo  oiel  Snteßigenj,  bafj  er 
für  feine  $wecfe  tan  unpraftifcfjeS  SJiittel  wähle;  unmöglich 
fönne  baS  bie  Abficht  ©hafefpeareS  gewefen  fein,  eine  bloße  Un> 
plänglicßtat,  baS  auSpführeit,  real  man  eigentlich  miß,  p 
fcfjilbern ; fcfjon  AriftoteleS  nennt  unter  allen  fjäflen  einer  bra« 
matifctjen  ^anblung  benjenigen  ben  unbrauchbaren  für  ben  tra- 
giften  dichter,  in  welchem  bie  tragifc^e  ^?er}on  ben  Vorfa£ 
habe,  etwa!  p thun,  ihn  aber  nicht  ausführe.  Aflein  Hamlet 
führt  ja  ben  Vorfafc,  etwas  p thun  b.  h-  baS  Verbrechen  p 
rächen,  anS;  er  tßut  fogar  mehr  als  er  thun  fotltc.  3>aS  gmecf- 
reibrige  befte^t  alfo  bei  ihm  barin,  baß  er  nicht  p rechter  ßeit 
b.  h-  fogleich,  eine  fpanblung  fonbern  p Unrechter  3£ß  b.  h-  p 
fpät  ju  oiele  ^anblungen  ootlbringt.  gwecfmibrig  honbelt  in 
geroiffer  Seife  auch  her  tragifcße  §elb,  ein  OebipuS,  ein  SJiac* 
betß;  fie  hnnbeln  aber  in  einer  Seife,  baß  fie  bas  3ta,  nach 
bem  fie  trachten,  oerfeßlen;  bie  tragifcße  3roetfn>ibrigfeit  wirb 
unfere  gurdjt  unb  unfer  SDiitleib,  bie  fomifcße  unfer  Sachen  er- 
regen. |mmfet  greift  p SJiaßregeln,  um  feinen  3roeä  iu  £r" 
reichen;  f)taher  gehört  ber  uerfteßte  Saßnfinn,  bie  Aufführung 
beS  ©cßaufpielS,  baS  ©efprädj  mit  ber  SJiutter,  ber  gegen  fjio- 
loniuS  geführte  ©toß,  ber  bem  Sönige  galt.  Aber  biefe  SJiittel 
finb  bem  3ntecf  nicht  ooflfommen,  fonbern  nur  halb  entfprechenb ; 
bie  rechten  SJiittel  läßt  er  bei  ©eite,  unb  jwar  aus  SJlißtrauen, 
Sßtenfchenfcheu  unb  SJlenfchenoerachtung,  gurdjt  oor  einer  rafch 
abfcßließenben  Shat-  läßeiter  lefen  wir:  „2)ie  retarbirenben 
(prücfbrättgenben)  SJtomente  finb  für  eine  Sragöbie  fo  unerläß- 
lich bie  Hemmung  für  eine  gute  Uhr.  Senn  fandet  gleich 
nach  ffirfcheinung  beS  ©eifteS  ben  Alt  ber  Stäche  ttoßpge, 
fo  wäre  baS  ©tüd  in  ber  jweiten  ©ceite  p @nbe."  3n  ber 
Ühot  ^anbe(t  Hamlet  ununterbrochen  im  ©tücf.  ©eine  wieber- 

holten  ©elbftanflagen  jeigen  nur,  Wie  fctjr  ihn  ber  ©ebanfe  an 

3*  (7»5j 


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36 


feine  Aufgabe  erfülle;  barau«  biirfe  man  nicht  auf  fjcig^cit 
fchliejjen,  fo  wenig,  als  au«  ben  ©elbftanflagen  ober 

SDielchthal«  — bie  aber,  müffen  tüir  bemerfen,  im  Unterfcfjieb 
oon  fandet«  fortwährenben  ©elbftanflagen  gnn$  oerein/selt  ba= 
fielen  unb  Vorboten  be«  ^anbeln«  finb.  SBenn  ©hafefpeare 
nicht  eineu  unentfchloffenen  S^araftcr  zeichnen  wollte,  warum  ift 
er  beuit  oon  feiner  Quelle  abgewichen?  SBarum  ^at  er  nicht 
ähnlich  wie  im  „Blacbeth"  bie  (Jrmorbung  oon  fandet«  Bater 
felbft  unb  ihre  geregte  Beftrafung  nach  Ueberwiubung  ber  ent> 
gegeuftebenbeu  ^inberniffe  bramatifd)  bargefteHt?  ®ie  jurüd> 
brängenben  Momente  liegen  eben  in  fandet«  innerem;  $ur  ©träfe 
bafür,  bafj  er  bie  Umftänbe  nid)t  benufct,  oerftridt  er  fich  immer 
fefter  felbft  in  ba«  SJiefc  unb  geht  mit  ben  Slnberen  unter. 

Hamlets  $aubern  fü^rt  un«  jur  Betrachtung  feine«  oer- 
fteUten  SBaffnfimt«.  ^ätte  er  nicht  oon  $au«  au«  ftarfe  Än> 
läge  jum  SSahnfinn,  SBahnwifc,  ju  ftiflem,  brütenbem  ©chwer= 
muth  gehabt,  fo  wäre  er  auf  biefe«  Sßittel  gar  nicht  oerfaüen. 
Bei  ihm  war  biefeö  äJiittel  jwedwibrig,  weil  er  nicht,  wie 
ber  Slmleth  ber  ©age,  oon  ben  SRadjitellungen  feine«  Ch^im« 
bebroht  war.  Unter  ber  3Jia«!e  be«  SBahnfinn«,  fagt  man, 
hofft  er,  ben  SRacheplan  entwerfen  ju  fönnen.  Mein  fchon  ber 
Slmleth  ber  ©age  erregt  burch  fein  närrifche«  SBefen  bie  Stuf* 
merffamfcit  unb  ba«  3Jii|3trauen  feiner  Umgebung,  ©hafefpeare« 
fandet  trägt  einen  SBahnfinn  jur  ©chau,  ber  nicht,  wie  ber  oon 
©ajo«  Slmleth,  einen  fomifchen,  bie  üachluft  reijenben,  fonbern 
einen  überwiegenb  oerfchloffeneit,  innerlich  brütenben,  oerbiffeneu 
unb  bebrohlichen  Sljarafter  ha^  oob  «ben  be«wegen  muff  er  eher 
feinem  Borhaben  fdjaben.  ©ilberfchlag  finbet  ben  ©runb  in 
Hamlet«  SBunfcfj,  al«  ein  2Baf)nfinniger  oom  §of  unb  feinen 
geften  wegbleiben  gu  bürfen.  3?aoon  fteht  aber  im  Üejt  nicht« ; 
im  ©egentheil  geht  fandet  abfichtlid)  oft  unb  Diel  mit  bem 
Äönig«paar  unb  ben  Röfleuten  um  unb  hat  feine  grenbe  baran, 

(786) 


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37 


fie  necfeit,  fo  bah  fic  gar  nicht  wiffen,  wie  fie  mit  ihm  baran 
finb,  unb  eben  biefeö  Siecffpiel,  biefeS  ^änfefnbe  Slnbeuteit  foü 
liiert  nur  bie  eigentliche  Stocke  oorbereiten,  fonbern  fefbft  bie 
Stelle  ber  Stäche  oertreten,  vmb  je  länger  biefeS  Spiel  be$ 
SBahnwifceö  bauert,  um  jo  mehr  muh  eS  als  eine  Slrt  @rfah  für  bie 
Stäche  felbft  gelten.  Sßäre  eS  nicht  jo,  jo  wäre  eö  unbegreiflich, 
ba§  fpantlet  nie  über  bie  Slrt  ber  Stäche  nachbenft  ober  mit 
^oratio  jich  befpricht. 

freilich  erhebt  fich  Iper  bie  $ra0c/  °b  fmmlet  nicht  wirf- 
lieh  mahnfinnig  fei,  eine  jjrrage,  bie  nicht  fo  thöricht  ift,  roic  fie 
SJtanchem  erjdjeint.  ©eroinuS  jagt : „tarntet«  Söahnfinn  ift  nur 
ber  Scheinroahn jinu ; er  ift  oöllig  bei  Sinnen."  Völlig  bei 
Sinnen  ift  Sayos  Slmleth,  aber  nicht  SljafefpeareS  §elb.  9$or 
bem  3n,e>fan,Pf  mit  SaerteS  jagt  fwmlet,  er  jei  oon  jich  felbft 
gefchieben  unb  oon  fernerem  Slrübfiun  geplagt  gewefen;  breimal 
gebraucht  er  oon  biefem  .guftanb  ben  SluSbrucf  „SSafjnfinn".  $>ie 
Dlöglichfeit  beS  $obeS  oor  Slugen,  pflegt  ber  SJlenfd)  nicht  ju 
fügen;  fpamlet  befinbet  fich  nie  in  eigentlichem  SBahnfinu,  100hl 
aber  häufig  in  einem  bem  SBaljnfinn  ähnlichen  3uftaitbe.  2öer 
Wochen*  unb  monatelang  (baö  gaitje  Stücf  mag  brei  bis  oicr 
SJtonate  faffett)  ben  SBahttfinnigen  fpielt,  ber  muh  fich  immer 
mehr  in  einen  mahnfinnähnlidjen  3uftan^  hineinarbeiten,  gerabe 
toie  £er,  ber  immerfort  lügt,  feine  fiügen  unb  Slufjchneibercien 
jule^t  jelbft,  wenigftenS  halb  äu  glauben,  für  wahrfcfjeinlich  ju 
halten  genöthigt  wirb.  Hamlet  wanbeit  an  fchmaler  $ante  beS 
SßahnfinnS  bahin,  entfett  fich  immerfort  oor  ber  (Gefahr,  feine 
ilüge  möchte  jur  2Birflid)feit  werben  unb  wirb  in  biefem  über» 
reiften,  franfhaft  gefteigerten  ©eifteS«  unb  ©emüthSjuftanb  oon 
einem  Sleuherften  jum  anberen  getrieben. 

^ebenfalls  hat  $ifd)er  Siecht,  wenn  er  behauptet,  Shafefpeare 
hätte  hier  mehr  motioiren  folleit.  (Sin  SKouolog,  in  bem  .£>amlet 
ben  S3orfafj  faht,  fich  wahnfiuttig  ju  ftelten  unb  biefeu  ißorfatj 

(787) 


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38 


in  feiner  SBeife  begrünbet,  Ejätte  erwünfcßteS  2i<f)t  über  feinen 
ßtjarafter  unb  über  ben  .ßufammenhang  be8  ©tüdeä  oerbreitet. 

SBifrfjer  meint  freilich,  fpamtet  fei  ebenfo  oerrücft  wie  alle 
genialen  SDienfchen,  bie  e8  nicht  baljin  bringen,  baß  ihnen  ade« 
fo  fdjrecflicf)  flar  fei,  tote  orbinären  Köpfen,  fo  oerrücft,  toie  alte 
tieferen  Naturen,  bei  benen  einzelne  Kräfte  ftcf)  ju  fotcfjer  ©tärfe 
enttoideln,  baß  bie  Harmonie  geftört  toerbe,  unb  er  »iffe  ba§ 
unb  fönne  e8  bocß  nicht  attbero  machen,  aber  barum  fei  er  nicht 
toll  im  ©inne  ber  fßfpchiatrie  unb  SKebijin,  fonbern  miffe 
uneublich  mehr  oon  fidf,  al8  fo  mancher  Kritifer,  ber  ihm 
^ter^en  unb  Vieren  prüfe;  in  biefem  ©inne  gelte  oon  ihm:  er 
fpielt  ben  Slarren,  weit  er  einer  ift.  $ier  ift  bad  jtoeimalige 
„alle"  angugreifen;  rein  hanttonifche  Naturen,  bei  benen  ade 
Kräfte  gleichmäßig  entroicfelt  ftnb,  ©erftanb  unb  ©hontafie'  ®Ci 
bäcßtniß  unb  ©charffittn,  finb  ja  feßr  feiten.  @8  giebt  aber  auch 
närrifche  ßeute,  bie  bloß  periobifd)  oon  ©innen  finb.  @o  weit 
ift  e8  gottlob  noch  nicht  gefommett,  baß  jeber  geniale  SHenfcf) 
fiep  wie  Hamlet  beträgt  unb  ^attbelt.  ©ott  behüte  un8  oor 
folcßer  ©enialität!  $ie8  gilt  auch  gegen  2ied  in  feinem  ©chrift« 
tfjen:  §amlet  ein  ©enie.  2118  ©enie,  meint  Siecf,  benfe  er  nicht 
an  fein  Siecht,  auch  nicht  an  fein  Siecht  jur  $hronfolge;  immer 
faffe  er  nur  ba8  füdgemeine  in8  21uge  unb  oemachläffige  bar- 
über  ba8  Snbioibuede.  Sehnlich  fage  CS^riftuS  a!8  religiöfer 
©eniu8:  „SBeib,  wa8  habe  ich  wit  bir  $u  fcßaffen?"  unb  wieber: 
„SBer  ©ater  ober  ÜJlutter  mehr  liebt  af8  mich,  ber  ift  meiner 
nicßt  wertß."  @8  giebt  aber  gottlob  auch  h°rm°nifche  ®enic8, 
wie  ©oethe;  e8  giebt  fenter  praftifcße  ®enie8,  geniale  ©taat8- 
männer  mit  einem  frfjarfen  ©lid  fürs  ©ingelne  Wie  für8  ©anje. 
©in  ©enie  im  eigentlichen  ©inne  ift  oljnebie8  fpamlet  nicßt; 
ißm  eignet  nur  bie  fprittgettbe  unb  abfpringettbe,  ^erfahrene  @e= 
nialität,  bie  e8  ju  nichts  ©anjent  bringt.  9iid)t  einmal  fein 
waßnwibigartiger  guftanb  ift  einheitlicher  Strt.  ©r  lebt  in  einer 

C788) 


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39 


Slrt  ®eifte«bämmerung,  bie  mit  |jetlfeljen  roecbfelt.  Taff  er,  ben 
ftopf  über  feine  ©cbulter  aurücfgebrebt,  non  Ophelia  jur  Thür 
binauSgebt  unb  ohne  §ülfe  ber  Äugen  beit  SBeg  finben  fann, 
erinnert  an  ba«  ©cbamanentbum  be«  SRorbett«.  3n  folgern  3U' 
ftanbe  ber  Dämmerung  unb  be«  fiellfeben«,  be«  ©eben«  auf  ber 
ftante  be«  SBatjnfinnS,  tourjelt  auch  ba«  Söfi^artige  ber  9tebe, 
ba«  Vermögen,  burdf  bie  Äntroort  auf  eine  fffrage  ben  f$ra* 
genben  $u  oernicbten,  inbem  biefer  ihren  ©inn  nicfjt  faffen  fann 
unb  erft  3«*  ^bett  mufj,  ihr  nacbjubenfen.  Tiefer  3uftanb 
läßt  ihn  aber  aud)  bie  Änfc^Iäge  feiner  fjembe  inftinftartig 
burdjfdjauen  unb  rafdj  bie  treffenbften  ©egenmafjregeln  ergreifen; 
baburd)  ift  er  jaubemb  unb  fidf  felbft  iiberftürjenb,  jart  unb 
roh,  getuiffenbaft  unb  geroiffenlo«,  !amt  ben  betenben  SJater* 
mürber  nicht  tobten  unb  liefert  ohne  fflebenfen  9tofenfranj  unb 
©iilbenftern  an«  SJieffer.  Tiefe«  Traumleben,  biefer  halbe  SBa^n- 
toi|,  biefer  fortrcäbrenb  ebbenbe  unb  ftutbenbe  ©eelenjuftanb  läfjt 
ihn  nicht  jur  2lu«fübrwtg  feine«  eigentlichen  Vorhaben«  fommen, 
bi«  ihn  bie  Umftänbe  baju  jtoingen;  in  biefem  3wiefpalt  aber 
gebt  er  felbft  unter. 

2Ber  über  gemiffe  Tinge  ben  Sßerftanb  nicht  oerlieren  fann, 
lefeit  mir  bei  fieffing,  ber  bat  feinen  ju  oerlieren.  3um 
toerben  mar,  roa«  fiamlet  am  Änfang  erleben  mußte;  aber  eine 
Ärt  SBabnroih,  eine  fije  3bee  gehörte  fchon  ba§u,  baff  fmmlet 
fidj  bie  eitle  ©cbeimoclt,  in  ber  er  lebt,  noch  fdjtoärjer  au«* 
mall,  al«  fie  ift  unb  barum  feinem  beftcn  greunbe,  bem  eblen 
^oratio,  fein  3utraaen  fchenft.  Tiefe  franf^afte  ©emütb«* 
ftimmung  ift  nad)  unferer  Äitficht  ber  ©cblüffel  ju  bem  oer* 
micfelten,  rätbfelooHen  SBefett  be«  ißrinjen.  Änbere,  wie  Sßifdjer, 
finben  ben  ©cblüffel  jum  §amleträtbfel  im  ©etoiffen  nach  bem 
SKottoIog  III.  1:  „fo  macht  ©etoiffen  geige  au«  un«  Ällenic." 
Tabei  rnirb  ©oetbe«  Slu«fpruch  angeführt:  „9Iur  ber  Setrach* 
tenbc  bat  ©etoiffen,  ber  |>anbelnbe  ift  immer  getuiffenlo«.  3m 

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40 


tpaubeln  fann  ein  praftifc^eS  ©enie  e8  nicht  Men  recht  machen ; 
ei  mufj  b'e  linb  ba  ein  fRed)t  »erlebt  »erben,  »emt  ein  fjotjer 
3med  erreicht  »erben  fotl;  »er  mitten  im  |>anbeln  brin  ift,  ber 
»irb  »on  einer  I^at  jur  onberen  unwiberftebtich  fortgetrieben; 
er  fann  ba  nicht  lange  unterfucben,  ob  ba8,  wa8  er  t^ut,  immer 
in  genauer  Uebereinftimmung  mit  ben  ©orfcbrifteit  ber  Sitten- 
lehre  ift.  ©bett  be8wegen,  liege  fid)  fagen,  mag  fid)  |>amtet 
nicht  in  ben  Strom  ber  $attblung  ftürjen,  fonbern  gebt  am 
Ufer  bin  unb  fyr,  gebanfenooH  erroägenb,  ob  nicht  ber  Strom, 
»enrt  er  ficb  ihm  anöertraute,  it)n  unb  mit  ihm  auch  Stnbere  mit 
fort  unb  in8  ©erberben  reifjen  fönnte.  @8  ift  ihm  eine  ®e- 
miffen8fathe,  ben  M8gang  genau  ju  erwägen;  ja  er  weifj,  baß 
er  i^u  ju  genau  erwägt.  Mer  in  ber  Stelle  UI.  1 ift  ba8 
SSort  conscience,  ba8  St.  SB.  Sd)leget  mit  ©ewiffett  überfcfct, 
wohl  eher  mit  ©obenftebt  burch  ©ewufjtfein  (fReflejion,  9Jadj- 
benfen)  ju  geben;  e8  ift  ba8  auf  ben  Selbftmorb  angewanbte 
retigiöfe  fflebenfett  in  ©ctreff  ber  ©ergeltung  nach  bem  2obe. 
Sbafefpeare  glaubte  ja  unb  lägt,  wie  oben  bemerft,  auch  ben 
Däneuprinjen  an  fpötle  unb  $immef  glauben;  batr.it  ber  oerbredie- 
rifdjc  Stonig  nicht  im  ©ebet  511m  Fimmel  eingebe,  frfjont  er  it)it. 
$er  ©taube  an  ba8  3enfeit8  bätt  ibn  alfo  öom  Selbftmorb  unb  von 
ber  ©lutradje  ab.  SBie  pafjt  aber  ber  SÄonolog : Sein  ober  9iid)t« 
fein  ju  biefem  ©tauben  ? SBie  fann  2>er,  bem  erft  üor  ein  paar 
ÜK onateit  ein  ©aft  au8  ber  anberen  Söelt  erfdjienen  ift,  fotcbe  3,ÜCÜel 
an  einem  Sieben  nach  bem  lobe  an8fprecben?  £>ier  ben  ^amlct 
attcb  nur  in  bie  notbbürftigfte  Harmonie  mit  fid)  fetbft  ju 
bringen  ift  faunt  möglich;  man  müfcte  beim  annebmen,  er  fei 
ein  eingefteifchter  Zweifler  gewefett,  ähnlich  jenem  Sfeptifei,  ber 
betete:  „O  ©ott,  wenn  e8  einen  gicbt,  erbarme  bich  meiner 
Seele,  wenn  id)  eine  ^abc,  unb  mache  mich  einmal  ewig  fetig, 
wenn  anber8  mit  bem  $obe  nicht  atte8  au8  ift." 

2>ie8  führt  un8  ju  ber  grage  oon  f>amtet8  ©tauben  att  eine 

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41 


göttliche  SBorfehuitg  3«:  mehr  eS  bent  @nbe  gugef)t,  um  fo  mehr 
rebet  er  »on  ber  Sorfeljung,  bie  unfere  3wetfe  (affo  auch  feinen 
3tnec!(  mentt  er  einen  folgen  flar  »erfolgt)  forme  nnb  über  ben 
gaQ  eines  ©perlingS  mache.  S3on  jeher  mürbe  »on  millenS« 
fchmadjen  ißerfonen  ber  93orfef)ung8gIaube  ins  ©piel  gezogen 
nnb,  menn  bie  ©inge  nicht  ben  gemünfdjten  SBerlauf  nahmen, 
baS  ©chidfal  bafür  »erantmortlich  gemocht.  5Run  f)at  jo  nad) 
Berbers  unb  Süitberer  Sluffaffung  ber  |jelb  eben,  inbem  er  baS 
©cfjidjal  malten  liefe,  baS  SRacheroer!  mit  unbefledten  fjänben 
»ollgogen;  baS  ©djidfal  l)Qt  ifjm  baS  SRadjefchmert  in  bie  £atib 
gebriidt.  iBifcfeer  rebet  ebenfalls  »om  ©d)idfal,  löfet  gmar  ben 
frnmlet  fcfeulbig  merben,  aber  nid)t  fein  ©chidfal  fcfeafft  fid) 
ielbft  ber  ÜJlenfd),  fonbern  2Renfch  unb  ©djidfalSmadjt  mirfen 
gufammen  unb  bringen  bie  ©ragöbie  gu  ftanbe.  ©em  fandet 
märe  aber  ftatt  ber  „SBorfeljung"  »ielmeljr  bie  ÜRemefiS,  bie  »er« 
geltenbe  ©eredjtigfeit  entgegenguhaltcn,  ber  IRiemanb  entgeht. 
SBir  fönnen  nur  mit  ©eroinuS  unb  fRötfdjer  annehmen,  bafe  im 
©inne  beS  ©idjterS  biefe  Berufung  auf  bie  SSorfefenng  ober  baS 
©chidfal  gut  rceiteren  ßfearafteriftif  beS  t^atlofcn  unb  feine 
©hatlofigfeit  in  ber  ^auptfadje,  mie  feine  einzelnen  ©baten,  bem 
©djidjal  gurecbnenben  bringen  bienen,  ©o  betrachtet  er  ficfj 
benn  als  bliubeS  SBerfgeug  ber  ©d)idfafSmacht;  im  ©lauben, 
biefe  ÜDiacfet  merbe  bocb  giriert  baS  Sefte  tfeun,  tjartbelt  er,  mo 
er  b^nbelt,  mit  einer  Slrt  dolus  eventualis;  für  ben  SluSgang 
macht  er  bie  ffiorfehung  »erantmortlid).  gäHt  feinem  tollen 
Vorgehen  ein  fcfjulblofeS  Opfer,  fo  läfet  fid)  baS  ber  gbealift, 
ber  in  bem  mirflid)eit  SBeltguftanb  nur  eine  ©atire  auf  feine 
Qbealmelt  fe^en  fann,  menig  fümmern;  ift  bie  SBelt  ein  miifter 
©arten,  »on  »ermorfenen  Untrnut  »ötlig  erfüllt,  fo  mufe  tiefes 
natürlich  auSgerottet  merben.  2luS  biefer  ÜRenidjenoerachtung 
erflärt  fich  feine  ©raufamfeit  gegen  ben  tobten  ißoloniuS,  gegen 
Ophelia,  iRofeufrang  unb  ©ülbenftern.  ©ine  anbere  ©rflärung 

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42 


behauptet  freilich,  ©hafefpeare  habe  feinen  blutfrohen  unb  neran- 
ftarfen  3ufäaumt  in  e<f)t  englifchem,  graufamem  ©efdjmacf,  wie 
im  „Äönig  Seat"  unb  fonft,  fid)  gefällig  erweifen  wollen  unb 
baljer  biefe  3üfle  aus  ber  ©age  unteränbert  herübergenommen, 
obgleich  fte  ju  bem  übrigen  ©horafter  beS  gelben,  ju  feiner 
jartfüf)lenben  Statur,  feinem  ©eift  unb  SBifc  nicf>t  paffen.  „SBir 
befommen  ungefähr  einen  (Sinbrucf,  wie  wenn  Iphigenie  bei 
©oetbe  einmal  in  einem  3üufd)enaft  als  ^Sriefterin  ein  paar  ©e- 
fangene  auf  bem  Sitar  ber  ®iana  $u  fchladjten  hätte."  3clj  haIte 
biefe  Vergleichung  SRümelin«  für  unglüdlid).  3n  ber  3pbigenie 
geht  eS  non  ber  Stadst  $um  Sicht,  oon  ber  fRoheit  $ur  ©efit- 
tung,  nom  ©rab  jum  Seben;  im  „|jamlet"  oom  ©rab  jum  ©rab, 
jur  Stacht,  jur  Verroefung ; Wir  fönnen  !aum  freubig  aufathmen ; 
faft  alles  ift  faul,  auch  bie  äufcere  Vübung;  bie  feinen  9Jta- 
nieren  in  biefer  £>ofgefchithte  finb  meiftenS  uur  angetünchte  Un- 
natur, ©emeinheit,  oerworfene  Sdjfelträgerei.  3)aS  fogcnannte 
chriftliche  ober  proteftantifche  3eitalter  fann  biefen  Xhatbeftonb 
nicht  änbern;  man  barf  nur  an  bie  fReligionSterfolgungen,  bie 
fieser-  unb  |>e;cenhinrichtungen , an  ben  meifjen  unb  rothen 
©cfjrecfen  ber  franjöfifchen  SReoolution  erinnern.  ®ie  gebilbetften 
Stationen  hoben  fich  fchon  mit  ben  abfcheulichften  Unthaten 
beflecft,  unb  bei  Völfern,  bie  non  ber  Shiltur  faum  belecft  finb, 
finben  fich  eble,  fittU<h  benfenbe  unb  hanbelnbe  SJtenfchen.  ©in 
fßublifum,  baS  im  Xheoter  fich  on  ber  ®arftellung  oon  blu- 
tigen, graufamen  Suftritten  weibet,  ift  im  ftanbe,  felbft  folche 
$hoten  ju  begehen.  SJlan  fann  alfo  bcibe  ©rfläruitgen,  bah 
©hafefpeare  fich  bem  rohen  ©efchmacf  ber  3uf<houer  attbequeml 
unb  bah  er  bie  3üge  ton  ©raufamfeit  mit  ©lücf  in  |>amlrt3 
(Sharafter  begriinbct  höbe,  mit  einanber  terbinben.  ©ertinus 
erinnert  noch  baran,  bah  baS  beutfche  Volf,  ber  moberne  fandet, 
tro§  feiner  philofophifchen  unb  äftfjetifchen  Vilbung  in  ber  3«* 
feines  trügerifcfjett  nationalen  SuffdjwungS  (1848/49)  fich  mit 

("92! 


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43 


SBIut  unb  SKorb  befledt  habe.  SIber  fdjon  im  englifcfjen  93olfS> 
cparafter  liegt  eine  große  SdjonungS*  unb  SRiicffic^tSlofigfeit. 
Tiefe  meltoerachtenbe  Stimmung  Hamlets  bürfte  ber  ©runb  fein, 
toorum  er,  ber  eben  auch  gur  933elt  gehört,  fein  eigenes  Seben 
mehrmals  in  bie  Spange  fdffägt.  Tie  gonge  SBelt  ift  in  feinen 
Slugen  nur  mertf),  baß  fie  gu  ©runbe  geht,  unb  menn  er  gu 
Ophelia  fagt:  „Sch  foge,  mir  moOen  nichts  mehr  oom  |>eiratfjen 
roiffen;  mer  fc^on  oerheiratljet  ift,  Sille  außer  ©ittem,  foQ  baS 
Seben  bemalten,  bie  Uebrigen  foQen  bleiben,  mie  fie  finb,"  fo 
erinnert  bieS  gong  an  ®.  o.  jpartmannS  'iß^antafie  oon  bem 
gleidjgeitigen,  gemeinfamen  SBefcfjluß  ber  SKenfc^^eit,  baS  SBotleu 
aufguheben  unb  ber  9Renfd)f)eit$gefd)i<§te  ein  @nbe  gu  machen. 

^amletS  Temperament  ift  offenbar  baS  melandmlifdje  mit 
einem  bebeutenben  gufafc  ®on  fß^tegma;  oom  Sanguiuifer  hat 
er  feljr  menig;  baS  ©fjolerifc^e  lauert  im  ^intergrunbe  unb 
bricht,  menn  ihn  bie  Umftänbe  oormärtS  brängen,  in  raffen  unb 
itberrafd)enben  Stößen  ^eroor.  TaS  ift  baS  ©efälfrlicfje  in 
feinem  SBefen,  beffen  er  gegen  SaerteS  ermähnt.  SB aS  fein 
^fjfegma  betrifft,  baS  ficfj  in  ißm  mit  bem  |>ang  gur  Schmer 
mmb  oerfchmiftert,  fo  fönnte  man  mit  ifjnt  unfern  Sdjubart 
oerg feigen,  ber  in  beu  midjtigften  SebenSoerhältniffen  fid)  oon 
gufätligfeiten  beftimmen,  millenloS  fich  in  bie  ©efangenfdjaft 
führen  unb  auch  auf  bem  SlSperg  bie  ©elegenfjeiten  unbenußt 
ließ,  aus  feinem  ©efangniß  gu  entfliegen.  9iur  oon  Sdjubarts 
Seidjtfinn  muffen  mir  §amlet  freifpredje«.  TieS  hängt  freiltdj 
bamit  gufammen,  baß  mir  über  fein  Seben  eor  feinem  breißigften 
Saßr,  fo  alt  ift  er  im  Trama,  gar  nidjtS  erfahren.  SBäre  baS 
Stüd  gleichmäßiger  burdjgearbeitet,  fo  mürbe  SBittenberg  unb 
.^amletS  Thun  unb  Treiben  bafelbft  ein  IjerTlidjeS  ©egenftüd 
gu  SaerteS  Slufenttjalt  in  ^ßaris  bilben,  ben  mir  uns  nach  feines 
S3atcrS  ©rmahnungen  unb  nach  ber  Stbfenbung  beS  SpäßerS 
Sieinfjolb  leicht  auSmalen  fönnen.  Tie  SBorte  „@r  ift  fett  unb 

<793) 


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44 


furjeit  9ltt)era8"  foBen  fid)  auf  ben  ©djaufpieler  Surbabge  be- 
ziehen, ber  |>amfeta  Soße  gab;  fic  gehören  aber  $ur  S^arafterifti! 
fjamletS.  ®a$  Süchtige  finbet  fid)  f($on  bei  ©oethe  SB.  SReifter 
V , 6.  $ur  S3ergleid)ung  bient  ber  fjagere  SaffiuS,  twn  bem 
liäfar  in  bem  nad)  ©eroinuS  gleichzeitig  mit  unferem  £rauerfpiel 
entftanbenen  „3uliuS  Säfar''  beS  ®id)terS  wünfdjt:  „SBär  er 
nur  fetter!  3d)  lernte  SRiemanb,  ber  ihn  efjer  miebe,  al«  biefer 
lagere  ©ajfiuS", — eine  ©teile,  auf  bie  fid)  ©d)iHer  in  feiner 
£f)arafterfd)ilberung  3Bill)elm3  non  Oranien  bejiel)t. 

©o  ftef)t  Hamlet  oor  unS,  nicht  ein  ooßenbeter  äRattn, 
mie  fein  SBater,  fonbern  ein  fd)Wermüthiger,  in  unausgeglichenen 
SBiberfprüchen  fid)  abarbeitenber  Süngling  im  Uebergang  zum 
SRanneSalter,  bafj  ihm,  inenn  er  feine  ©chweße  überfchritten 
hätte,  nur  neue  ©äfjrung,  aber  feine  ftlärung  hätte  bringen 
fönnen;  ein  genialer  fßebant,  ber  fRebenperfonett  opfert  unb  bie 
§auptperfon  bis  jule^t  »erfd)ont,  ber  öor  lauter  Säumen  ben 
ÜBafb  ni^t  fieht  unb  oor  bem  Sluägang  auf  ©rben  unb  ber 
3ufunft  in  einer  anberen  SBelt  jurüdbebt;  ein  ©orgengriibler 
HfQinroyQovitaryi;,  SlriftophaneS),  ber  über  ber  ^ufuttft  b*e 
©egenwart  oerfäumt;  ein  geiftreicher  $l)eoretifer,  ber  nicht  &en 
SBeg  zum  Jfjanbeln  finbet.  gortinbraS  fa9t  5»ar/  er  f)ätte, 
märe  er  auf  ben  Sh™11  flelangt,  unfehlbar  fich  hödjft  föniglich 
bewährt  — ja  wohl,  in  ruhigen,  aber  nicht  in  ftürmifd)  be- 
wegten, unruhigen  feiten.  91  n unb  für  fich  taugte  er  eher 

zum  fßrofeffor  in  SBittenberg,  als  jum  ftönig  uon  $änemarf, 
ber  er  nad)  »oBbrad)ter  SRache  unfehlbar  geworben  wäre. 

fabelt  wir  fo  jugeftanben,  bafj  ©hafefpeare  wegen  ber 
9lnjpielungen  auf  ^eitöerljältniffe,  politifdfe  guftänbe,  Seit- 
genoffen  unb  auS  fRüdficfjt  auf  baS  nad)  SÜiwedjfelung  i»er- 
langenbe  ^heaterpublifum  bie  hierher  gehörenben  fßartien  mit 
aßjugrofjer  Sorliebe  behanbelt  unb  bariibcr  bie  ftrcng  gefchloffeue 
©inbeit  beS  ©tiids  oerfäumt  hat,  fo  müffen  wir  boch  behaupten, 

(794) 


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45 


baß  bie  Sßerfon  beg  |>auptbetben,  in  beffen  ßbarafter  ber  £etb 
ber  Sage,  Äönig  Safob,  ©ffej,  ©batefpeare  felbft  nach  einem 
Steile  feines  SBefeng  äufammengeffoffen  finb , ftdj  recht  mobb 
wenn  man  nur  genau  ficb  an  ben  £ejt  ^ält,  ftatt  ihn  ju 
meiftern,  alg  eine  tebengwabre,  gerichtlich  unb  pfpcbologifd) 
mögliche  ißerjönlicbfeit  auffaffen  läjjt.  ®ie  SEBelt  ift  ja  »oller 
fBiberfprudj  unb  eg  giebt  in  ihr  eine  SDtenge  wiberfprucbgoofler 
S^araftere,  wie  j.  93.  eben  unfer  ©cf)ubart.  3a,  eg  taffen  fiel) 
noch  wiberfprucbgtwßere  ß^araftere  benfen,  alg  ber  ®änenprinj. 
ßg  fommt  nur  barauf  an,  baf}  man  bie  einzelnen  ß^arafterjüge 
aus*  einer  gemeinsamen  Cueße  ableitet.  35iefe  ift  bei  Ramtel 
ber  ^>ang  jum  Zweifeln  unb  ©rübeln,  bag  franfbafte  Süiijjtraueu 
gegen  ©ott  unb  bie  SBelt.  ,§ier  ift  freilich  ber  Sßlangel  einer  tlaren 
ß^pofition,  eineg  feften  Unterbaueg  fe^r  ju  bebauern.  Jgiamlet 
ift,  wie  er  ift;  wie  er  aber  fo  geworben  ift,  erfahren  wir 
nicht. 

3ft  fo  bie  fjauptfacbe  gerettet,  fo  tonnen  mir  mandje 
fölättgel  in  ber  ÜJiotioirung  unb  in  ber  Zeichnung  ber  anberen 
ßbataftere  sugeben  unb  bie  ßtflärer  ruhig  ftreiten  laffen.  Sei 
Öpbelia5  weift  ©ifdjer  mit  ©lüd  nad),  baß  bie  ÜDiotioirung 
oon  |>amletg  ^Benehmen  gegen  fie  mangelhaft  ift.  Sßäre  bie 
äJtotioirung  genauer,  fo  wäre  auch  ihr  SBefen  burcfjfitfjtiger, 
würbe  fie  nid)t  oon  bem  ßinen  atg  fdjulbig,  oon  bem  Anberen 
atg  unftbulbig,  balb  alg  fJlatur,  halb  atg  JRofette,  batb  atg 
üßeildjen,  batb  alg  gtubenbe  ©idjtrofe  gefafjt.  2lu<b  über  fic 
werben  bie  Sitten  nicht  fo  balb  gefdjloffen  fein;  ihre  Sluffaffung 
bängt  »on  ber  ßrtlärung  ber  Sffiorte  eineg  launenhaften,  ^alb 
wabnwißigen  fßrinjen  ab  unb  fie  felbft  wirb  oor  ©cbmerj 
wabnfinnig.  ÜJiöcbte  eg  boeb  ©batefpeare  beliebt  haben,  müffen 
mir  mit  Sif^er  wünfeben,  ung  bur<b  einen  SDtonotog  Ophelias 
ober  /pamletg  aug  ber  Serlegenbeit  ju  Reifen.  9?ad)  meiner 
Slnficbt  woßte  ber  ^Dichter  Cpbetia  alg  förperticb  unb  geiftig 

(795) 


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46 


fcßulblog,  alg  reineä  SJlöbcßen  ßinfteßen.  S33ie  bei  aßen  gingen 
fo  muß  man  audj  beim  ©rama  auf  ben  Stnggang  feßen.  Slug 
ben  Sieben  beg  fünften  Slufaugg  oon  ber  unbefledten  §üße  ber 
fitßen  Ophelia  geßt  bieg  Har  ßeroor,  unb  fmmfetg  SBorte  non 
ber  ©ocßter  3epßtag  erfcßeinen  nun  alg  bloße  Siederei  gegen 
ißren  Sßater.  Slucß  bariiber  wirb  geftritten,  ob  §amlet  bie 
Ophelia  geliebt  ßabe  ober  nicßt;  aber  aucß  ßier  mirb  ber  Streit 
burcß  §amletg  Slugruf  bei  ißrer  93eerbigung  entfcßieben,  er  ßabe 
fie  meßr  geliebt,  alg  oierjigtaufenb  Sriiber  fie  ßätten  lieben 
fönnen.  3'e^en  öon  bem  ftarfen  Slugbrud  nocß  fo  biel 
ab,  fo  bleibt  eg  bocß  geroiß,  baß  |jamlet  fie  geliebt  ßat,  roenn 
er  audf  auf  bem  ©runb  ber  mit  feiner  SJiutter  gemachten  traurigen 
(Jrfaßruttg,  roie  an  ber  roeiblicßen  ©ugenb  überhaupt,  fo  audj 
an  ißrer  Sleinßeit  gejroeifelt  ßat.  ©er  obengenannte  ftarfe 
$ugbrud  erinnert  an  feine  Sleußerungen  über  ficß  felbft,  in  benen 
er  fidß  gerabe  roie  feinen  Dßeim  alg  einen  Scßurfen  unb  niebrigcn 
Sflaoen  bejeicßnet.  ©ie  Selbftaitflage  bleibt  fteßen  unb  ßat 
im  Sinne  beg  ©icßterg  recfjt,  fo  oiel  aucß  oon  ißrer  gorm  auf 
bie  Siecßttung  ber  augenblidlicßen  Stimmung  gefeßt  werben  mag. 
©ie  fcßlüpferigen  Sieben  unb  leisten  SBergcßen,  roelcße  bie  SBaßtt> 
finnige  ßörett  läßt,  bie  fidß  mit  ©obeggebanfen  trägt,  erflären 
ficß  aug  ber  oerbor betten  $ofluft,  bie  fie  eingeatßmet  bat, 
»ießeicßt  aber  auch  jugleicß  aug  ber  befannten  ©ßatfacße,  baß 
bie  gefcßlecßtlicß  reinften  SJienfcßen  bei  Seucßen  ober  im  SGBaßnfinn 
bie  fcßlüpfrigften  Sieben  füßren  unb  gelegentlich  ficß  ben  roilbeften 
Slugfcßroeifungett  ßingeben.  Soccacciog  ©efamcron  berußt  auf 
ooßfommen  pfpcßologifcßem  ©runbe;  mitten  in  ber  ißeftjeit 
werben  bie  üppigften  ©efcßicßten  er^äßlt.  Sßafefpeare  ober  in 
feinem  Slamen  fiamlet  ßätte  alfo  feinem  SBeltfcßmerj  aucß  bet 
Opßeliag  3e*£^nu,1S  2uft  gemacßt,  inbem  er  fagen  rooßte,  baß 
felbft  in  ber  reinften  „Jungfrau  Scßamerrötßen  geßeime  Suft 
begehrlich  gittert"  (|jeine),  baß  eg  feine  troßfommene  roeiblicße 

U96) 


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47 


Jugenb  giebt,  bafj  aud)  bei  ber  reinften  ber  oerborgene  un* 
reine  |>ergenggrunb  gelegentlich  an  ben  Jag  tritt. 

(Sine  ber  widpigften  ©emerfungen  SRümeling  ift  bie,  bafj 
©hafefpeare  mehr  fcenenweife,  alg  im  tpinblicf  auf  genauen 
ßufammenhang  beg  ©angen  gearbeitet  habe.  ©ie  trifft  beim 
fmmlet  big  gu  einem  getuiffen  ©rabe  gu.  Ja  ift  ber  alte 
©oloniug,  ben  ©fjafefpeare  offenbar  immer  fo  gejeic^net  hat, 
wie  er  ihn  gerabe  brauchte.  SBir  oergid):en  barauf,  ein  eirtfjeit* 
licheg  Sharafterbilb  biefeg  ÜRanneg  gu  geidjnen,  ber  oon  bein 
Einen  gu  hoch,  oon  bem  Slnberen  gu  niebrig  gcftetlt  wirb, 
unb  bemerfen  nur,  bafj  er  atg  cfjarafterlofer  $ofmann,  alg  eitler 
Schwäger,  alg  überoorfichtiger , wohlbienerifcher  ®ed  erfcf>eint, 
beffen  ^auptweigheit  im  Mijjtrauen  unb  in  ber  Erregung  oon 
Mifjtrauen  bei  Slnberen  befteht  unb  baß  burd)  feinen  Job  bie 
SBelt  nicht  üiel  oerloren  hat-  Eigentlich  boghaft  ift  er  nicht, 
planmäfjigeg  $anbeln  liegt  ihm  fern  unb  eg  ift  bie  fcltfamfte 
©djrulle,  wenn  glathe  meint,  ©oloniug  unb  feine  gange  gamilie 
trachte  nach  her  Äöniggwürbe,  Ophelia  fei  $amletg  ©eliebte 
geworben,  um  einft  feine  ©emafjlin  unb  alg  folche  Königin  gu 
werben,  unb  fie  ertränle  fid),  nacpbem  burd;  ben  Job  ihreg 
©aterg  unb  ^amletg  Jreulofigfeit  unb  SEBahnfinu  ihre  Hoffnung 
gerronnen  war.  2BeId)e  fßhflntafien  beg  Äritiferg! 

Jie  übrigen  Eharaftere  fiab  Je^t  iu  »erftehen:  Jer  ge« 
wiffenlofe,  biplomatifch  fdjlaue,  um  fein  Mittel,  bag  gum  ^3iele 
führen  fann,  oerlegene  Äönig,  bie  fd;wache,  finnliche  ftönigin, 
SRofenfrang  unb  ©ülbcnftern,  |>amletg  3ugenbfreunbe,  aber  gu> 
gleid;  Jfjofleute,  ihrem  Äöitig  blinblingg  ergeben,  oon  Epamlet 
genedt  unb  gefoppt  unb  gulefjt  auf  perfibe  SEBeife  in  einen  ge« 
waltfamen  Job  gejd)idt,  ba  fie  hoch  oon  bem  eigentlichen  groed 
ihrer  ©enbung  nach  Englanb  nichtg  wußten  unb  hantlet  fich 
baburch  hinreid>enb  fiebern  fonnte,  bafj  er  ben  ihnen  übergebenen 
©rief  beg  Äönigg  oernidjtete. 

(7»«: 


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48 


ßaerteS  ift  urfprünglich  ebenfalls  Hamlets  greunb;  g»vifc^en 
©eiben  maltet  aber  baS  entfdjiebenfte  SRihtrauen;  fie  gieren 
ftcf)  ooneinanber  gurücf  unb  bie  Grmorbung  beS  ^ßofoniuS  burcb 
fandet  nährt  biefeö  SKihtrauen  immer  mehr  unb  befeftigt  eine 
uttauSfüllbare  Äluft  gmifchen  ©eiben ; ßaerteS  ift  ebenfo  jefuitifch 
gefinnt  mie  SlaubiuS  unb  im  Slugenblicf  ber  fjödjften  Gefahr 
Hamlet  felbft:  er  greift  gum  uerrudjteften  üftittel,  um  feinen 
Gegner  aus  bem  SGßege  gu  räumen,  ©ei  biefer  Gelegenheit 
erfahren  mir,  bah  tarntet  fich,  fo  lange  ßaerteS  in  ißariS  mar, 
beftänbig  im  Gebrauch  beS  SRapierS  geübt  hui-  buchte  er 
oieHeidjt  an  bie  SDlöglidjfeit  eines  3,l>eitampfeS  — nicht  mit 
ßaerteS,  jonbern  mit  bem  Könige,  um  auf  biefe  Sßeife  fich  an 
ihm  gu  rächen? 

2Bir  müffen  noch  einmal  gu  fRümeliu  gurücf.  @r  meint  — 
unb  9i.  ©enebij  übertreibt  biefe  ©ehauptung  ins  Abenteuer* 
liehe  — , bie  ^Dialoge  beS  fubjeftioeit  |>amlet  ha&fU  f°  ®i«I 
SRaum  eingenommen,  bah  baburd)  aflguftarf  gurücfbräitgenbe 
Momente  in  bie  ^anblung  ^ineirtfamen.  „3>er  ©agen-$amlet 
mu&te  fid)  baher  felbft  oon  3e't  gu  3e>1  ber  ©äumttih  unb 
Unthätigleit  anflagen  unb  eS  fdiob  fich  f°  oermittelnbee 
3mifd)englieb  frembartiger  (Slemente  bie  ffiorfteßung  beS  geift- 
ooüen,  unfchlüffigen  ©äumerS  unb  Träumers  ^tnetti.  SDieje 
erregt  bann  h<n  unb  roieber  ben  ©djem,  als  ob  baS  Gange 
hoch  in  einem  Guffe  gebacht  märe  unb  oeranlafjte  jene  mancherlei 
fünftlichen  Deutungen,  bie  fich  fchliefelich  als  unburchführbar 
ermeifen."  ®amit  rcirb  ber  Grunbcharafter  beS  gelben,  bie 
Gruttbibee  unb  baS  3*c*  ber  gangen  Sragöbie  aufgehoben. 
|>amlet  muhte  feine  Unentfdjloffenheit  in  ben  »erfchiebenften 
ßagen  unb  3ei^üuften  au  ben  Xag  legen;  er  finbet  fein  Gegen- 
bilb  nicht  bloß  in  ßaerteS,  (SlaubiuS  unb  f5°rtinbraS,  fonbern 
fd)on  in  bem  ©chaufpieler,  ber  bie  Defuba  fpielt  unb  oon  einem 

(798) 


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40 


fremben  unb  uralten  ©chmer$  mehr  erregt  wirb,  als  tarntet 
öou  ber  traurigfteu  felbfterlebten  (Erfahrung,  bie  itjn  mir  üon 
3eit  gu  3c»4  aufrüttelt,  um  if|n  bann  bem  alten  träumerifchen 
SBefen,  bem  trüben  Sriiten  unb  ©innen  offne  3iel  unb  3wecf 
anheimfallen  ju  laffen.  35ie  3e*1  nrnfete  baffer  auSgebefjnt 
werben,  unb  fo  Iäfjt  fidf  beim  bie  bunte,  abwechfefungSreichc 
^anblung  beS  ©tiicfeS,  namentlich  bie  fReife  beS  SaerteS  nach 
ißaris,  ber  ©urchmarfch  beS  gortinbraS,  bie  ©enbung  Hamlets 
nach  ®nglanb,  bie  nur  furjc  3e*f  einnimmt,  weil  fie  gar  nicht 
jum  3>ele  lam,  bieS  alles  lägt  fich  recht  wohl  mit  bem  ©runb* 
gebanfen  bei  ©tücfeS  in  3ufammenf)nng  bringen.  2Bir  fchliefjen 
biefen  2£bfchnitt  mit  ber  richtigen  SSenterfung  SBobenftebtö : 
„$aS  ©chicffal  jerreifet  feinen  SebeitSfaben  unb  macht  ihn 
fterbenb  noch  ^um  SBerfyeug  feiner  ißläne,  inbem  ei  ihn  gleichfam 
blinblingS  bie  SRachepflidijt  oolljiehcn  läfjt,  welche  er  mit  flarem 
Sluge  unb  gellem  SSewufjtfein  niemals  »oH^ogen  haben  würbe. 
Sber  eben  burch  bie  lange  Serjügcrung  ber  äufjeren  ©träfe, 
beS  SlbfdjfuffeS  burch  ben  $ob,  wirb  ber  fchulbige  König  innerlich 
weit  einbringlicher  geftraft,  als  wenn  ihn  ber  rädfeitbe  ©tahl 
gleich  getroffen  hätte,  unb  hierin  liegt  bie  tragifdfe  ©uffne  unb 
©crechtigfeit"  — wiewohl  er  auch  als  abgefe^ter,  oertriebener, 
lebenslang  gefangen  gehaltener  König  bie  rächenbe  SRemefiS  im 
oollften  aiiafj  erfahren  hätte. 

®S  fragt  fich  iulejjt,  ju  welcher  Klaffe  oon  ©hafefpearcS 
33ramen  fein  Hamlet  gehöre.  3ch  nehme  ihn  jiunächft  mit 
SD?acbeth,  2ear  unb  Shmbeline  jufammen,  bie  wie  £amlet 
politifch • nationalen  ©eljalt  haben,  aber  in  bie  »orgefchichtliche 
3eit  gurücfreichen.  3m  SRacbetf)  wirb  ein  fchottifcher  König«* 
mürber,  im  Spnibeline  ein  römifcfjeS,  im  2ear  ein  franjöfifd)eS 
^jeer,  baS  in  Sngtanb  gelanbet  ift,  oom  englifchen  |)eer  ge* 
fdjlagen.  3m  |>amlet  aber  ift  ©itglanb  bem  bänifchen  ©taat 

Sammlung  91.  5.  V.  117.  4 C799) 


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gintyfKcfjtifl,  baS  Soll,  baS  t)iex  auftritt,  tft  ganj  üerborben; 
uub  biefeS  Solt  ift  befanntlid)  int  Oruttbe  baS  englifdje  Solt, 
nic^t  bas  bättifche.  ®er  .ftaupthelb  ift  gänjlid}  unpolitifdj  — 
reelle  StuSfidjt  für  bie  guhutft  eröffnet  fic^  ba?  HJtacbeth, 
2ear,  (Stjntbeline  oerfefcten  ihren  ©toff  in  bie  Sergangenheit; 
tarntet  fpielt,  wenn  aud)  nicht  bem  SRamen,  fo  boef)  ber  £(jat 
ttad)  in  ©IjafefpeareS  geit. 

(5S  hat  fdjon  mannen  fandet  auf  bem  $Ijrone  gegeben. 
Sor  ^unbert  Sauren  fa&  auf  bem  SEljrone  granfreichs  e’n 
SJiantt,  ber  bie  fratijöfifcf)e  SBelt  nid)t  einrenten  tonnte,  ein 
*ßt)tegmatifer,  oom  Seite  ber  ©djloffer  genannt,  aber  leiber 
nid)t  im  ftanbe,  baS  uerfprengte  unb  ocrbreljte  ©d)lof5  beS  fran* 
jöfifdjett  ©taatSmefenS  einjuridjten.  Slm  betannteften  ift  bie 
Sergleidjung  bei?  beutfe^en  SolfeS  mit  hantlet.  3m  3ahr  1840 
beftieg  beit  preufjifdjen  2§ron  griebrid)  SJilhelm  IV.  ©djon 
ber  unterfefete  Körperbau,  bann  ber  £>aug  jum  dtefleftircn  unb 
Uhrologifirett,  fein  verfahrenes  unb  abfpringenbeS  Siefen,  feine 
Oeiftreidjigteit,  fein  jtoifchen  äBoQen  unb  9?id)ttu  ollen  fd)tuan« 
tenbeS  SBerfjältnifj  jur  beutfdjen  (Sintjeit,  feine  ©djeu  oor  einer 
rafdjen,  entfe^iebenen  unb  entfe^eibenben  £f)at  — baS  alles 
ftempelte  iljn  mehr  jum  3)änenprinjen  auf  bem  $hrone  3rriebridjS 
beS  ©reffen,  als  jum  SRomantitcr  auf  bem  throne  ber  Cfäfaren. 
„©ine  Saifertrone  toirb  nur  auf  bem  ©c^lac^tfefbe  geholt"  fagte 
er  mit  9ted)t.  9tun  — baS  ©djlachtfelb  hätte  fid)  gefunben. 
griebridj  ber  ©rojje  hätte  ohne  weiteres  jugegriffen,  unb 
hätte  griebridj  SBilljelm  IV.  ebenfo  gehanbelt,  fo  hätten  toir 
Jftöitiggrä^  unb  ©eban  20  3ahre  früher  ha&e«  können.  @r 
fürchtete  aber,  bie  Hnnaljme  ber  Äaiferfrotte  tonnte  ihn  in  einen 
$rieg  mit  Cefterreid)  oerwicfeln.  .Qule^t  nmrbe  er  ganj 
ißeffimift.  ©eltfame  Rügung  beS  ©djidfalS,  baff  unter  feinet 

^Regierung  3)eutf^lanb  bem  tleinen  üDänemarf  gegenüber  eine 
(800) 


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51 

^amletroße  fpielte!  2)er  fßreujjenfönig  mit  feinen  »ielfac^en 
liebenSnnirbigen  Sigenfcfjaften  be§  ©elftes  unb  ^serjenö  mar 
eigentlich  baS  »erperföulichte,  nach  ©töße  unb  Einheit  ftrebenbe, 
aber  über  bie  SSege  unb  ÜJiittel  ju  biefem  hohen  ©Ute  uttficher 
hin«  unb  hertoftenbe  ®eutfchlanb.  Serühmt  ift  greiligratf)3 
©ebicht  Hamlet  ans  bem  3af)re  1844,  baS  ich,  Sielen 

nnbefannt  ift,  herfe^en  min. 

Deutfdjlanb  ift  Hamlet!  — ©ruft  unb  ftunim 
3«  feinen  lt)orcn  jebe  'Jtad)t 
@efit  bie  bcgrab'ne  Sreibeit  um, 

Unb  luinft  ben  SDtäuncrn  auf  ber  SBadjt- 
3)a  ftefjt  bie  ^otje,  blanfbetuebrt, 

Unb  jagt  bem  ßaubrer,  ber  noch  jtueifelt 
„Sei  mir  ein  'Jiäcber,  jieb’  bein  CSc^roert ! 

Wan  bat  mir  ©ift  in£  Dbr  geträufelt." 

©r  forebt  mit  jitternbem  ©cbein, 

©iä  ibm  bie  SSJabrbcit  fcbrccflicb  tagt; 

SSoti  Stunb’  au  will  er  ÜHädjcr  jein.  — 

Cb  er  ei  enblid)  tuirflid)  roagti' 
irr  finnt  unb  träumt  unb  meifi  nicht  iHatlj ; 
kein  IKittcl,  baä  bie  greift  ibm  ftäblct 
3u  einer  frijeben  mutb'gcn  Xbflt, 

JebU  «btn  bie  frifdje,  ntutb’ge  Seele. 

Xaä  mad)t,  er  bat  ju  uiel  geboeft; 

Irr  tag  unb  lag  ju  uiel  im  ©ett. 

@r  tuutbe,  weil  baä  ©lut  ibm  ftoeft, 
vfu  furj  uon  Vltbem  unb  ju  fett. 

(Sr  fpann  ju  uiel  gelehrten  3Öerg, 

Sein  befteä  Xbun  ift  eben  ®enfcn ; 

(Sr  ftaf  ju  lang’  in  Sßittenberg, 

3m  §ßrfaal  ober  in  beu  Scheuten. 

Xrum  fehlt  iljm  bie  ©ntfdjloffcubeit ; 
kommt  3rit,  tommt  SRatb  — er  ftetlt  fidj  toO, 

.fiält  SJionologe  lang  unb  breit, 

Unb  bringt  in  SSerfc  feinen  ©roll. 

Stuft  ihn  jur  ©antomime  ju, 

Unb  fäüt’d  ihm  einmal  ein  ju  fechten, 

4 4 (¥01, 


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»2 

So  inu&  5ßoloniub-Ko|}ebne 

35en  «tidj  empfangen  flalt  beb  Siechten. 

So  trägt  er  träumerifd)  fein  38eb\ 

©erböbnt  ficb  fetber  inbgebeim  , 

SiäBt  fid)  oerfebiefen  über  See 
Unb  fctjrt  mit  Stictjelreben  beim; 

'■Bericfjiefjt  ein  tftrfenal  non  Spott, 

Spricht  »on  gcflidtcn  Siumpenfön’gen  — 
2)odj  eine  Ibat?  ©cl)üte  ©ott! 

Sie  bot  er  eine  ju  bejcbön’gen ! 

©ib  cnbtidb  er  bie  filinge  paeft, 

Gruft  jtt  erfüllen  feinen  Scbrour; 

$ocb  acb  — bab  ift  im  lejjten  9lft, 
llnb  ftretft  ifjit  felbft  ju  ©oben  nur! 

©ei  ben  Grfcblagnen,  bie  fein  $afj 
©reib  gab  ber  Schmach  unb  bem  ©erberbcu 
Miegt  er  entfeelt,  unb  {Jortinbrab 
Siücft  flirrenb  ein,  bab  SKcicf)  ju  erben. 

©ottlob,  nodj  finb  toir  nicht  fo  weit ; 

©ier  Sitte  fabn  mir  jpielen  erft! 
froh’  Siebt,  .i-ttlb,  ba&  bie  Äebnlicbfeit 
'Jiid)t  auch  im  fünften  bu  bcroäbrft! 

2Bir  boffen  früb,  mir  hoffen  ipät: 

D raff’  bicb  auf  unb  fomm’  ju  Streiche, 

Unb  hilf  cntfcbloffen,  rocil  eb  gebt, 

3u  ihrem  SHecbt  ber  fleh’ üben  Üeicfjc. 

9)tad)  ben  SRoment  ju  9Jufje  bir! 

3?ocb  ift  cb  3C*1  ~ brein  mit  bem  Scbmert, 
61)  mit  franjiBftfcbem  Siapier 
2)id)  fcbnöb’  oergiftet  ein  Sacrt ! 

Gb’  raffelnb  nabt  ein  rujjifcb’  £>ecr, 

®afj  eb  für  ficb  bie  Grbfcbaft  nehme! 

0 fieb’  bicb  »or  — ich  jiocifle  feljr, 

Cb  biebmal  eb  aub  92oriocg’  fäme. 

'Jiur  ein  Gnifcblufj!  Stuf  ftebt  bie  Sahn  - 
Iritt  in  bie  Scbranten  fübn  unb  breift! 
Tenf’  an  ben  Scbrour,  ben  bu  getban 
Unb  räche  beineb  ©aterb  Seift! 

CWJ) 


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SBoju  bie«  ©rübeln  für  unb  für? 

$0$  — barf  i$  jdjeltcn,  aller  Sräumer? 

)8in  i$  ja  jelüft  ein  ©tiicf  üon  bir, 

25u  ero’ger  Qauberer  mib  Säumer! 

3)a8  ®ebid)t  leibet,  mie  alle  Vergleichungen,  an  einer  ge- 
miffett  Halbheit.  $ie  beutfdje  Freiheit  — »ott  ber  ©inheit  ift 
feine  Siebe  — ift  gemorbet,  fie  fteigt  bei  Stacht  aug  bem  ©rabe 
unb  »erlangt  »on  — nun  wer  ift  ber  beutfche  Hamlet?  H'er 
ift  eine  Unflarljeit.  Unb  ebenfomenig  begreift  man,  mie  bie 

heimlich  oergiftete  Freiheit  biefeg  ©eheimnifj,  bag  boef)  ju  fetter 
3eit  bag  £ageggefpräch  mar,  beit  beutfehen  Üftarineru,  bann 
mieber  bent  jmeifelnben  $auberer  N.  N.  anöertraut  unb  »on 
ihm  9iacf>e  »erlangt.  ißolouiug-Äohebue  muß  bett  ©tich  empfangen 
ftatt  beS  Siechten.  2öer  ift  beim  biefer  „Siechte"?  SBeldje 

^erfon  ift  bentt  ba  gemeint?  ?luf  men  märe  Slaubittg  ju 
beuten?  3m  übrigen  ift  bie  Sluffaffung  »ott  Hamletg  ©harafter 
burchaug  geiftreich  unb  gelungen  unb  eg  ift  ein  Verneig  für  bie 
Südftigfeit  unferer  (gemäßigt  peffimiftifdjen)  SBürbigung  beg 
©titefeg,  bah  rin  bem  englifchcn  ©eifte  fo  mahl»ermanbter  nnb 
ber  englifchcn  Sprache  unb  Sitteratur  fo  funbiger  dichter  mie 
greiligratfj  Sfjafefpeareg  räthfelooflfte  Dichtung  fo  gebeutet  hat, 
mie  fie  fid)  bem  einfachen,  unoerfünftelten,  »on  ber  ^ppothefen- 
fettche  nicht  angeftecftcti  ©inn  barfteUt. 

©echg  3ahre  nach  bem  genannten  ©ebidft,  im  3ahre  1850, 
erfchien  ©eroinug  SBerf  über  ©hafefpeare.  2)er  ©d|iffbruch  ber 
nationalen  Hoffnungen  legte  ihm  bie  Vergleichung  mit  Hamlet 
nahe  unb  bei  ber  Vefprechung  beg  $>ramag  fagt  er  mit  Sin- 
fniipfung  an  greiligrathg  ©ebicht:  „©iner  unferer  neueren 
dichter  hat  ein  ©ebicht  mit  bett  SSortett  begonnen:  ®eutfchlanb 
ift  Hamlet.  Unb  biefer  Slugfprud)  ift  in  ber  $hat  c*n  Qeift* 
reicheg  ©piel  mit  SBortcn  ober  »erroorrenett  VorfteHungen. 
SDenn  gatt$  fo  mie  Hamlet  fiitb  mir  ja  big  $u  biefer  testen  .geit 


54 


bin  jtüifdjeit  einer  ^art  an  unS  rücfenben  Aufgabe  rein  praftifcber 
SRatur  unb  einer  bekömmlichen  Qrntroöfjnung  »on  I^un  unb 
^onbeln  entwöhnt  gewefen"  u.  f.  in. 

©eien  wir  froh,  bafj  ber  beutle  @eniu8  tior  bem  lebten 
Slfte  beS  SrauerfpielS  ficf)  noch  aufraffte  unb  an  3>eutfd}lanb3 
©pifce  ein  geborener  Äaifer  trat,  nicht  f)alb  fo  gelehrt  unb 
geiftreich,  wie  fein  Vorgänger,  aber  ber  SJtann  auf  bem  $la^, 
ber  f>errfdjer,  nach  bem  bie  3eü  feuf^te.  fiamlet  mögt  unb 
wägt,  aber  er  wagt  nicht;  erft  wäg’ä,  bann  wag’«  — war 
2öilbelm8  I.  SSablfpruch,  bem  er  im  griebcn  unb  in  brei  Kriegen, 
barunter  einer  mit  bem  3rocrg  Jtönemarf,  Sfjre  machte. 
Statürlid)  fonnte  ©bafefpeare  bei  feinem  ^amlet  nicht  an  ®eutfcb 
lanb  benfen;  beim  bis  jum  30 jährigen  Shrieg,  ben  er  ja  nicht 
mehr  ertebte,  waren  wir  ein  SSolf  ootl  SJebenSmutb  unb  Sebent 
frifc^e,  ftolj  unb  felbftbewufjt,  rafcb  jur  $bat/  gefürchtet  unb 
geachtet  in  ganj  Suropa.  ©päter  würbe  e3  anber3.  £od) 
warum  alte  Söunben  aufreifjen?  ©ott  fcbüpe  un8  »or  bamletfcber 
©enialität  unb  ©eifteSricbtung.  ®r  gebe  uns  recht  Diele  SRänner 
wie  Sötlhelm  1.  unb  fein  gnfel,  ber  ba  ift  ein  Säfar  auf  bem 
Simone  ber  Gäfaren. 


(804) 


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oo 


^nmcrfuttgen. 

1 'Jiad)  ©clfdjom«  Kommentar  ju  ©ajo  ©ramaticu«  bcbcutct  „Slmlctt)" 
ober  „SImleb"  im  3«Iänbifcbeti  einen  tbi)ri<btcn,  uiipraftiidjcn  Üieujdjen. 
Sud)  fcbroebijcb  ift  nach  Selfcboro  amloda  = Jummfopf.  Jer  SBegfaQ  be«  h 
finbet  fid)  bei  ©ajo  aucf)  fonfi  in  (Eigennamen,  ©hafefpeare  batte  einen 
Sotjn  #amnet,  ber  1596  fiarb.  (Einige  (Erflärer  jagen,  ba3  3intcrcffc. 
roel<bc«  ©hafefpeare  jt^on  früh  an  ber  §amletfage  genommen,  fei  ©erau- 
lajjung  gemejen,  feinen  ©opn  bavnad)  $u  benennen  unb  ber  ©cbmer*  über 
beffeu  frühen  Job  ^abe  ber  tiefftnnigen  Jragöbie  bie  büftcrc  Stimmung 
gegeben,  in  ber  ftc  beginnt  unb  aultlingt  tote  ein  ftlagegefang  über  bie 
©ergänglicbfeit. 

* To  be  or  not  to  be  (©ein  ober  üiidjtfcin)  mären  bie  testen  ©orte 
SBielanb«,  be«  ©erfaffer«  ber  Sutbanafta. 

s ®a§  ©ritno«  ißbilofopbie  auf  ©hafefpeare«  .yamlet  eingemirft  bQbe, 
roirb  bon  Xfcbifebroib,  Äönig,  Sobenftebt  behauptet,  oon  Dlaj;  Äocb  unb 
SH.  ©etjer«borff  (Programm  be«  öpmuaftum«  in  DIbenburg  1889)  ge- 
leugnet. 3$  glaube,  bafj  ©eperSborff  ju  meit  gebt  unb  balle  namentlich 
bie  (Entftebung  be«  kanten«  ©olotiiu«  an«  ©otiinnio  für  gefledert. 

4 Äöftlin  bat  ben  ^amlet  jmeirnat,  juerft  im  SKorgenblatt  1860, 
46.  47  jiemlicb  optimifiifcb,  bann  im  Jeutfdjen  STOufeum  1867,  29.  30 
mehr  in  oermittelnbem  ©inn  befprodjen. 

s ©onberbarerroeife  fommt  in  ®ffejr  ©efdjicbte  her  Sßamc  Ophelia 
oor.  $ume  jagt:  „(Effej  marfebirte,  um  feinen  fieuten  3*it  Ju  lieben,  fi<b 
oon  ihrer  Äranfbeit  unb  (Ermattung  ju  erholen,  mit  1500  9Kann  nach  ber 
©raffebaft  Ophelia  (in  3rlanb  — im  3ahr  1599). 


(SO.V 


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Der 

^ujtattb  ks  (Erkttnent. 

Sou 

Dr.  Samtes  ^eterfen 

in  Qambutj) 


Hamburg. 

Srrlag^anflntt  uitb  ®rutferei  (normal«  3.  g.  fRic^ter). 

1891. 


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S'oS  9icd)t  ber  Uebtrfffcung  in  frtmbe  Sprayen  wirb  oorbtpalten. 


Irud  btr  SetlagtanftoH  unb  ®ru4mi 

(sorntoK  3 Jf  Kidjtrt)  (n  4>a*iburg. 


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gr öfter  bie  Sebeutung  ber  ^hpotftefe  als  eine«  $ülfs* 
mittels  ber  wiffenfcftaftlichen  gorfcftung  ift,  um  fo  mehr  muft 
man  fic^  ftiiten,  biefelbe  für  mehr  $u  galten,  als  fie  ift.  3)ie 
Serfennung  ihres  SftaralterS  als  einer  |>ppothefe  unb  bie  Set* 
wechfelung  mit  X^atfac^en,  wie  fie  gelegentlich  eorfommt,  birgt 
ftets  eine  ernfte  ©efaljr  für  ben  gortfcftritt  ber  Sßiffenfcfjaft  in  ficf). 

SBir  finben  faft  immer,  wenn  ein  neuer,  grofter  ©ebanfe 
juerft  in  gorm  einer  ^pppotljefe  auftrat,  einen  lebhaften  Stuf» 
fcftwung  ber  betreffenben  SBiffenfdjaft.  3ah^e^e  gorfcfter 
werben  neu  angeregt,  3eber  nimmt  ju  ber  betreffenben  Meinung 
perfönlid)  Stellung,  ber  ßampf  gegen  biefelbe  unb  bie  Huf* 
fuchung  üoit  Stüfcett  für  biefelbe  fönnett  ftets  nur  ber  SEBiffenfchaft 
förberlich  fein.  SDian  fann  fagen,  baft  eine  geiftreiche  |>tjpothefe 
auf  eine  SBiffenfcftaft  einwirft,  wie  ein  erfrifcftenber  Segen  auf 
ein  oeröbeteS  Hderfelb.  Hit  Stelle  beS  oorher  fpärlich  unb 
fümmerlich  auftretenben  ißflanjenwuchfeS  tritt  plö&lidjeS  ©ebeihen, 
neues  ©rgrünen  unb  Slüljen. 

Unb  biefeti  ©influft  bemerfen  wir  bei  einer  §ppothefe  oft 
auch  bann,  wenn  biefelbe  fpäter  als  falfch  bei  Seite  gefdjoben 
wirb. 

©in  Slid  auf  bie  ©efdjichte  ber  Saturwiffenfchaften  be* 
ftätigt  baS  ©efagte. 

SammlunB.  91.  8-  V.  11H.  1*  (809) 


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4 


Stuf  bem  ©ebiet  ber  ßootogie  würbe  ©unier  einer  ber 
einflnfjreidfjften  ©elehrten,  inbent  er  jwei  neue  Prinzipien  auf* 
fteflte:  UaS  ber  Korrelation  ber  Organe,  nad)  welchem 
jeber  Organismus  ein  einiges  gefdjIoffeneS  ©anjeS  bitbet,  in 
welchem  einzelne  X^eile  nid}t  abänbern  tonnen,  otjne  in  aßen 
übrigen  I^eiten  Steuerungen  erfdjeinen  ju  taffen  — , foroie 
baS  anbere  Prinzip  ber  „Saupläne,  nach  benen  bie  zugehörigen 
Utpere  mobeßirt  ju  fein  fdjeinen,  unb  beren  einzelne  Unter* 
abtljeitungen  nur  leichte,  auf  bie  (Sntwictelung  ober  baS  §inju* 
treten  eines  UpeilS  gegrünbete  ÜJtobififationen  finb,  in  benen 
aber  an  ber  SBefentjeit  beS  planes  nichts  geänbert  ift". 

3)iefe  beiben  Prinzipien  gaben  Stnregung  ju  einer  großen 
Saht  oon  oergleichenb*anatomifchen  Arbeiten,  inbem  eine  große 
ÜDienge  oon  gorfcfjerit  bie  9tid)tigfeit  ber  Prinzipien  im  einzelnen 
nachzuweifen  üerfuchte. 

StnbererfeitS  wanbte  ftch  ©eoffrop  ©aint*§ilaire  gegen 
©uoier,  inbem  er  im  ©egenfafc  zu  ben  oerfcpiebenen  fc^arf 
getrennten  Uppen  bie  Stnfidjt  auSfprach,  alte  Uhiere  feien  nach 
einem  einheitlichen  plane  gebaut.  @r  würbe  fo  ber  Sorgänger 
beS  in  Sezug  auf  bie  non  ihm  auSgehenbe  Stnregung  unb 
görberung  unerreicht  baftehenben  Sh°rieS  Uarwin. 

Stlfo  obgleich  oon  ©runb  auS  üerfdjieben,  förberten  hoch 
bie  beiben  genannten  fippotpefen  bie  Qoologie  in  ganz  öeroor* 
ragenber  SBeife, 

3n  ber  SDiineralogie  unb  ©eologie  wirb  ber  Stame  SBerner 
ftets  als  einer  ber  ©rften  genannt  werben,  wenn  auch  feine 
Stnfidjten  über  bie  Silbung  ber  ©efteine  heute  iiberwunben  finb, 
weil  gerabe  feine  3been  zu  einer  ©mfigteit  beS  ©tubiumS  an* 
regten,  baß  oon  ipm  au  eine  ganz  ueue  Spocpe  ber  SBiffenfdjaft 
geregnet  werben  tarnt.  Unb  wenn  ^jumbolbt  unb  £.  o.  Such 
SBerner  heftig  befämpften,  inbem  fie  feinen  £jppothefen  ber 

©ebirgSbilbuttg  entgegengefe|te,  heute  ebenfowenig  anerfannte 
(810) 


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5 


SReinungen  gegenüberfteDten,  fo  müffen  auch  fie  mit  ju  ben 
Tätern  ber  ©eologie  geregnet  werben,  ba  gerabe  ber  Äampf 
jwifchen  ben  Schülern  SöernerS,  ben  SReptuniften , unb  ben 
Anhängern  o.  S3ucf)8,  ben  putoniften,  SJeranlaffung  ju  einer 
großen  ,3flh*  t>on  heut  nod)  gültigen  ^Beobachtungen  würbe  unb 
ben  ©runb  ju  ben  jefct  noch  geltenben  S^eorien  legte. 

@3  ift  unnötig,  noch  mehr  gaüe  aufaujählen,  wo  §tjpo* 
tiefen,  auch  wenn  fie  falfd)  waren,  befrucf)tenb  eingewirft  haben. 
Sluf  Stritt  unb  $ritt  begegnen  wir  ben  SBetoeifen  für  bie  auf* 
gefteHte  ^Behauptung,  wenn  wir  bie  ©efdpchte  ber  ÜRaturwiffen* 
fdjaften  burchblättern. 

ÄnbererfeitS  ift  nicht  ju  oerfennen,  baf?  eine  ©efalft  für 
ben  wahren  tJortfdjritt  unferer  SRaturerfenntnifj  barin  liegt, 
wenn  §ppothefen  infolge  ber  Jtuffinbung  jahlreidjer  bamit  in 
Sinftang  fte^enber  XE)atfad)en  ober  aucf)  nur  gewiffermajjen  burd) 
ben  täglichen  Umgang  mit  benfelben  allmählich  im  ©emufjtfein 
be3  gorfcherS  aufhören,  |jppotl)efen  ju  fein.  2)a3  Operiren  mit 
folgen  ^ppotljefen  wie  mit  Sljatfadjen,  ihre  Serwenbung  jur 
Segrünbung  neuer  $ppotf)efen  fann  bie  SCÖiffenfd^aft  ebenfo  febr 
jurücJbringen,  wie  fie  fie  anfangs  förberte.  ®a  führen  bie 
93erfucf)e,  alle  ©rfcheinungen  mit  ber  als  £fjatfad)e  angefeljenen 
^»ppot^efe  in  Sinffang  ju  fefjett,  oft  ju  ben  abenteuerlic^ften 
^Behauptungen  unb  wunberlichfteu  SBorftellungen.  3ebe  ^ppot^efe 
foH  nur  baS  fein  unb  fein  wollen,  was  fie  ift,  ein  (SrflärungS* 
oerfud)  für  eine  Steife  oon  @rfcf)einungen,  bie  gufammenfaffung 
mehrerer  ©injelthatfachen  unter  eine  gemeinfame,  nicht  nn* 
mittelbar  beobachtete  ober  beobachtbare  Urfadje.  Säfjt  fidf 
eine  neu  gefunbene  $ljatfad)e  ber  früher  gebilbeten  £>hpotf)efe 
nicht  unterorbnen,  fo  ift  eS  Sache  beS  gewiffenhaften  SrbeiterS 
auf  wiffenfchaftlichem  ©ebiet,  nicht  bie  ^Beobachtung  oon  ber 
|)ppothefe  aus  $u  fritifiren,  wie  eS  gelegentlich  gefchietjt,  fonbern 

oon  ber  beobachteten  X^atfad)e  aus  bie  ^bpotfjefe  $u  prüfen 

(811) 


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6 


unb,  fad«  biefelben  fiep  nicpt  in  ©inflang  bringen  taffen,  gu 
oerfudjen,  eine  beffere,  neue  ^ppotpefe  an  ©teile  ber  alten  gu 
fepen. 

©ang  befonbere  Sorfidjt  ift  bei  ber  Serroenbung  non 
|>9potf)efen  gur  Segriinbung  anberer  gu  beobachten.  iRicht  feiten 
wirb  baburcp  ein  ^irfelfdjlufj  tjerbeigefii^rt.  Um  ein  Seifpiel 
hierfür  angufüljren,  wirb  in  ber  2)arwin*2)ana,fchen  2hcor’c 
ber  SoraBenbauten  gu  ©rflärung  berfelben  angenommen,  bafj 
ber  SReeregboben  an  ben  Orten,  tuo  ficf)  foldje  ©auten  finben, 
fiep  in  ©enluug  befinbe,  ober  genauer,  eine  pofitioe  Ser* 
fdjiebung  ber  ©tranblinie  ftattfinbe.  SInbererfeit«  wirb  oft  bas 
Sorpanbenfein  oon  Storaßenbauten  als  Seweig  für  bie  ©etifung 
eintö  ©ebieteg  angeführt.  SDer  ©cpluf?  ift  unrichtig:  bag,  was 
im  testen  ©a{j  alg  beroiefen  gilt,  mar  für  ben  erften  ©a& 
Soraugfefjung,  Sinnahme.  SBie  gefährlich  ein  folget  ffehlfchluß 
fein  fann,  geigt  ber  $inweig  auf  bie  neuerbingg  oon  ©emper 
unb  SRurrap  aufgefteüte  Iheor*e/  tüelrfje  gerabe  negatioe 
Serfcpiebnng  ber  ©tranblinie  alg  ©ebingung  für  bag  Sorpanben* 
fein  oon  SoraHenbauten  in  manchen  ©egenben  ooraugfefct,  unb  nach 
welcher  man  mit  bemfelben  fRecpte  folgern  fönnte,  bafj  g.  S.  bie 
©egenb  ber  ©elew*3nfeln  ein  ©ebiet  ton  Hebungen  beg  2J?eereS* 
grunbeg  fei.  @g  ift  hier  nicht  ber  Ort,  gu  entfcpeiben,  weldje  ber 
beiben  Ipeorien  bie  größere  Söafjrfcheinlichfeit  hat,  nur  barauf  fei 
pingewiefen,  baß  aug  bem  Sorfommen  Oon  ftoraßenbauten  allein 
auf  pofitioe  ober  negatioe  Setfcpiebung  ber  ©tranblinie  fein 
©chlufj  geftattet  ift,  fo  lange  nicpt  eine  ber  beiben  fwpotpefen 
burcp  ben  unmittelbaren  fRacpweiS  ber  Hebung  ober  ©enfung 
alg  bie  alleingültige  nachgewiefen  ift. 

2)er  $wec!  beg  tDrliegenben  Sortrageg  ift  ber  fRacpweig,  bafj 
bie  ton  oielen  gorf ehern  oertpeibigte,  oon  gabireichen  ©ebilbeten 
angenommene  3Reinung,  bag  innere  ber  ©rbe  fei  flüffig, 

eine  |>ppotbefe  ift,  gegen  welche  fiep  fchwerwiegenbe 
'*!») 


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7 


(Sinmönbe  geltenb  machen  taffen,  baß  bie  (Srfcheinungen, 
auf  reelle  bie  ^ppottjefe  fid)  grünbet,  aud)  mit  ber  Annahme, 
bie  @rbe  fei  feft,  oereinbar  finb,  — bafj  fogar,  nach  bem 
heutigen  Staube  ber  SBiffenfdjaft,  manche  (Srfdjeinungen  mit 
ber  $lrtnaf)me  be«  ftiiffigeu  (Srbfern«  unoereinbar  finb.1 

(Sine  (Sn tf Reibung,  ob  ber  (Srbfern  flüffig  ober  feft  ift,  bie 
Deutung  alter  einfdjtngigen  (Srfcheinuttgen  unb  ifjre  ©rflärung 
burcf)  eine  ber  beiben  äHöglidjfeiten,  biirfte  jur  $eit  noch  nicht 
möglich  fein.  SDian  fann  bi«  jeßt  nur  mit  größerer  ober  ge» 
ringerer  2öafjrfc£)einlicf)feit  ein  Urtßeit  abgeben. 

SBoöte  man  aber  barum  bie  %xaqe  nad)  bem  ßuftaub  be« 
(Srbinnern  überhaupt  für  eine  müßige  erftären,  fo  ginge 
man  ju  rceit.  Sluch  bie  ©petulation  ßat  ißre  ^Berechtigung  in 
ber  SRaturroiffenfchaft , fobatb  bie  S8eobnd)tung  oerfagt.  9lur 
bürfen  bie  beobachteten  unb  bie  erfdjtoffenen  ^fjatfadjen  nicht 
gleidjmerthig  nebeneinanber  geftetlt,  bejietjungSmeife  oermedjfelt 
merben. 

®a«,  roa«  mir  oom  guftanbe  be«  ©rbitmern  thatfächlid) 
miffen,  ift  recht  menig.  3ft  e«  hoch  bi«  jefct  nur  gelungen, 
bi«  ju  ganj  aufjerorbentlidj  geringen  Xiefeu  in  ba«  innere  ber 
(Srbe  oorjubringen.  2)ie  tiefften  ©ergmerfe  erftrecfen  fidj  nur 
menig  über  1000  SReter  in  bie  liefe;  in  ©ohrtöcfjern  ßat  man 
in  bem  bi«  jejjt  tiefften,  bei  ©chtabebadj,  1748  üKeter  erreicht, 
ba«  oon  fiietf)  bei  (Slnt«horn  mar  mit  1330  SD?eter  mehrere 

Sah«  hindurch  ba«  tieffte,  ba«  bei  Sperenberg,  berühmt  megett 

ber  in  bemfetben  angefteflten  Jemperaturbeobachtungen,  geht 
1293  2Jieter  tief.  Nehmen  mir  tjinju,  baß  bie  Sotjrföcher  meift 
nur  eine  ober  roenige  Formationen  burchteufen,  — fo  h<d  ba« 
oon  ßiettj  einen  rothen  ©anbftein  nicht  burdjfunfen,  ba«  oon 
Sperenberg  ift  innerhalb  be«  Steinfalje«  beenbet  morben,  fo 

mögen  biefe  menigen  Eingaben  genügen,  um  ju  jeigen,  baß  bie 
inneren  Jhe'^e  ber  (Srbe  ber  ©eobacßtung  faft  gar  nicht  jti» 

(»IS) 


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8 


gänglich  getuefeit  fittb.  Die  angegebenen  Xiefen  fpielen  im 
SBerljältniß  gum  Xurchmeffer  |ber  ©rbe  gar  feine  SR  olle.  Da« 

©perenberger  SSohrlod)  (mit  1293  SReter)  nimmt  nur  ungefähr 
ben  gehntaufenbften  Xljeil  beg  ^rbburdjmefferg  (mit 
12712  Kilometer)  ein,  ift  alfo  fo  unbebeutenb,  baß  eg  fid)  auf 
einem  ©lobug  uon  getuöljnlidjen  ©rößenuerljältniffen  gar  nid)t 
gur  Darfteflung  bringen  ließe. 

Daher  barf  eg  ung  nicht  munbern,  baß  bie  grage  nach  ber 
©ubftang  beg  ©rbinnern  burth  ben  Soßrer  ihrer  Söfung 
nicht  näh«  geführt  mürbe.  Diefelben  Schichten,  biefelben  ®e* 
fteine,  welche  bon  ber  Oberfläche  h«  befannt  finb,  hat  « auch 
in  ben  Xiefen  attgelroffen.  2Bir  finb  baher  bezüglich  ber  ©toffe, 
bie  ben  ©rbfern  bilben,  lebiglich  auf  fflermuthungen  befchränft, 
unb  müffen,  moßen  mir  überhaupt  ber  grage  näher  treten,  uon 
einer  ^ppotlfefe,  ber  $£ant*£aplacefchen  Xheorie  »on  ber  ©ntftehung 
ber  Sßlanetenfpfteme,  auggefjen.  SRehmen  mir  berfelben  ent» 
fprechenb  an,  baß  bie  ©rbe  fid)  aug  einem  anfangg  gagförmigen, 
bann  glühenb  fliiffigen,  rotirenben  Körper  entmidelt  habe,  fo 
fönnen  mir,  ben  ©efeßen  ber  SRechanif  entfpredjenb,  behaupten, 
baß  fich  bie  Stoffe  im  großen  unb  gangen  nach  ihrem  fpegififchen 
©eroicht  georbnet  haben,  inbem  bie  fchroereren  bem  Zentrum  beg 
rotirenben  Körperg  guftrebten,  bie  leichteren  bie  peripljerifchen 
Xheile  einnohmen.  Xiefc  SReihenfoIge  mirb  burch  bie  ®eob* 
achtung  in  ben  ung  gugänglidjen  Xheilen  ber  ©rbrinbe  beftätigt 
Die  leichteften  ©ubftangen  umgeben  alg  fiuftßüße  ben  feften 
ßrbförper,  barauf  folgt  bie  SBaffermaffe  mit  bem  fpecififchen 
©emicht  uon  ungefähr  1,  bann  bie  feften  ©efteine.  Huch  biefe 
finb,  uon  einigen  Unregelmäßigfeiten  abgefeljen,  (fo  müffen  bie 
hochgrabig  ueränberten  echten  ©ebimentärgefteine  außer  Hcßt 
bleiben)  oberflächlich  im  allgemeinen  leichter,  alg  in  ber  Xiefe. 
©g  ift  giemlich  fidler  erroiefen,  baß  bie  fogenannten  fauren 
©ruptiugefteine,  mie  g.  ©.  bie  ©ranite  unb  ähnlichen  ©efteine, 

(814) 


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9 


welche  ein  fpegififdjeS  ©ewidjt  oon  2,6— 2,8  fjaben,  geringeren 
Xiefen  entflammen,  als  bie  bafifrfjen,  baf altartigen  ©efteine  mit 
bem  ©ernidjt  oon  et»a  3.  Unterfudjungen  beS  fpegififdjen  ©e. 
»idjts  beS  ©efamtförperS  ber  ©rbe  nad)  ben  oerfdjiebenften 
SDietfjoben  Ijaben  — ton  Keinen  Slb»eid)ungen  abgefefjen  — ba£ 
übereinftimmenbe  fRefuttat  5,6  ergeben.  X>a  nun  bie  gefamte  un£ 
befannte  $üße  ber  @rbe  leichter  als  5,6  ift,  muß  bie  £jaupt» 
maffe  ber  @rbe  ein  größeres  ©ewidjt  — nad)  giemtid)  allgemein 
angenommener  ©djöfcung  ungefähr  7 — Ijaben.  SOian  f)at,  biefer 
$a§l  entfprc($enb,  nidelfjaltigeS  ©ifen  als  Äernfubftang  ber 
©rbe  angenommen.  X5iefe  ©ermutljuug  Ijat  roegen  ber  $äufigfeit 
eifenfjaltiger  »Stoffe  in  allen  feilen  ber  @rbe  manches  für  fidj, 
fie  »irb  beftätigt  burdj  baS  üßorfommen  metaflifdjen  ffiifenS  an 
mehreren  Orten  in  bafifcfien,  alfo  öermutljfid)  großen  Xiefen 
entftammenbeu  ©efteinen.  Sieben  bem  @ifen  führen  biefe  @e> 
fteine  — Söafalte  — fdjmere  SJiineralien,  unter  anberen  Olibin, 
eilten  Äörper,  ber  ben  leichteren  ©efteinen  feljlt,  in  ber  Xiefe  aber 
aller  3EBaf)r}d)einlid)teit  nach  fet)r  oerbreitet  ift.  fflefonberS  wirb 
bie  Slitfidjt,  baß  ber  Äern  ber  ©rbe  aus  @ifen  befiele,  burdj 
bie  Analogie  mit  ben  SJleteoriten  beftätigt.  Xiefelben  be» 
flehen  gum  großen  Xfjeil  aus  nicfel^aftigem  ©ifeit,  oergefell* 
fdjaftet  mit  oorgugSmeife  bafifrfjen  ferneren  ©ilifatmineralien. 
X>aS  ©ifett  ber  SDieteoriten  geigt  biefelbe  3ufammenfc^unS  unb 
©truftur,  »oie  bas  ber  Srbe  entftammenbe.  Xa  oiele  ©rünbe 
bafür  fpredjeit,  baß  bie  SJieteoriten  ©rudjftütfe  größerer  Planeten 
finb,  fo  läßt  fid)  gegen  bie  ^erangieljung  biefer  Slaturförper 
gum  ©ergleid)  mit  ben  ©cftanbtfjeifen  ber  Srbe  roofjl  !aum 
etmaS  einmenben. 

Xie  gange  oorfteljenbe  SluSfüljrung  ift  rein  b^P^t^etifch- 
3£|r  Srgebniß  fann  nidjt  beanfprudjen  als  Xljatfadje  angefe^en 
gu  »erben.  Slußer  Ädjt  gelaffen  ift  babei  bie  SDiöglid)feit,  baß 
ber  fjolje  Xrud,  »eldjem  bie  inneren  Xljeile  ber  ®rbe  auSgefefct 

' (815) 


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10 


finb,  bai  fpejiftfche  ©erntet  ber  Körper  im  Qntiern  berart 
»eränbert,  bah  ein  ßörper,  ber  am  Srbmittelpuitft  mit  bem 
©ewicht  7 erfcheint,  an  ber  ©rboberfläche,  unter  bem  Trucf  »on 
nur  einer  Sltmofpfjare,  bebeutenb  leister  ift.  $oung*  null 

gefunben  haben,  baff  SBaffer  in  einer  Tiefe  non  HO  geographifchen 
SJteilen  bai  ©ewicht  bei  Quecffilberi  habe,  bah  ©tal)I  int  @rb* 
mittelpunft  bai  ©ewicht  28,  unb  fteinige  ©ubftan^en  etwa  20 
befipen.  Tie  3af)len  finb  gefunben  worben  unter  ber  Sßoraui* 
fefcung,  bah  ber  (Sinfluh  bei  Trucfi  in  berfelben  Söeife  ju* 
nimmt,  wie  ei  innerhalb  enger  ©retten  experimentell  beobachtet 
werben  fonnte.  SBir  biirfen  jiemlich  fieser  annehmen,  bah  biei 
nicht  ber  gafl  ift.  SSatjrfcfjeinlich  wächft  bie  3nfammenbrücfbar= 
feit  ber  Körper  nicht  proportional  bem  Trucf.  Slu&erbem  fanti 
man  einwenben,  bah  bie  mit  ber  Tiefe  fteigenbe  Temperatur 
bei  ©rbinnern  bem  Trucf  entgegenwirft,  inbem  fie  bai  fpejififche 
©ewicht  ber  ©nbftanjen  erniebrigt.  3n  welcher  Sßeife  unb  in 
welchem  ©rabe  aber  Trucf  unb  Temperatur  einanber  gegen* 
feitig  beeinfluffen,  weldjei  ©ewicht  bie  ©ubftanjen  unter  ihrem 
hoppelten  ©influjj  in  irgenb  einer  Tiefe  haben,  bai  entjieht  fich 
bii  jefct  üotlftänbig  unferer  ßunbe.  Tai  ©jperiment  hat  baräber 
noch  nichti  ergeben.  §at  ?)oung  Stecht,  fo  finb  wir  gezwungen, 
noch  dichtere  ©ubftanjen,  ali  bie,  welche  bie  Stinbe  ber  ©rbe 
bilben,  ali  ©eftanbtheile  bei  ©rbferni  anjunehmen,  alfo  etwa  ©afe. 

Tie  meiften  ©eologen  halten  bii  je^t  noch,  — foweit  wir  über* 
fjaupt  Sleufjerungen  über  bie  ©ubftanj  bei  ©rbinttern  finben,  — 
bai  Sorljanbenfein  ooit  ©ifenmaffen  für  bai  2Bahrfd)einlichfte. 

Söenit  nun  auch  bie  SBofjrungen  bezüglich  ber  ©ubftanjen, 
aui  benen  bai  ©rbinnere  befteht,  fein  SRefultat  ergeben  haben, 
fo  finb  fie  boch  in  anbercr  SBejiefjung  für  unfere  ßenntitifj  ber 
®rbe  hochwichtig  gewefen  — unb  werben  ei  immer  bleiben,  — 
nämlich  in  iöejug  auf  bie  SBärmeoerhältniffe.  Sie  haben 

eine  früher  fdjon  oft  auigefprochene  SBermuthung  überall  beftätigt, 

(816) 


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LJ 


bajj  bie  SBärme  nach  bem  Jnnern  ber  (Srbe  hin  all- 
mählich junimmt. 

Ter  ©rab  ber  Zunahme  ift  allerbmgS  foiuo^I  in  beit  Der« 
fdjiebenen  ©egenbeit  ber  Grrbe,  af«  aud)  in  »ergebenen  liefen 
recht  berfdjieben. 

©in  SÖIicf  auf  bie  untenfteljenbe  3wfammenftellung  ber  geo- 
ttjermifdjen  Tiefenftufen  jeigt  bieä.  (Unter  geottjermifc^er 
Tiefenftufe  üerfteljt  matt  bett  burcfjfdjnittlidjen  ^Betrag,  um 
welchen  man  ficf)  bem  ©rbmittelpunfte  nähern  muß,  um  eine 
3una^me  ber  Temperatur  um  1°C  jtt  beobachten). 

©eiläufig  ermähnt  fei  hier  nur,  bafj  ba«  Slnwadjfen  ber 
Temperatur  erft  Don  einer  gemtffen  Tiefe  an  ftattfinbet.  Jn 
bett  alleräufjerften  ©«hinten  ber  ©rbe  mechfelt  bie  SBärme  mit 
bett  3ahre«$eiten.  3Kit  bem  ©inbringen  in  bie  ©rbe  nimmt  ber 
Unterfchieb  jroifchen  ben  fälteften  unb  wärmften  ©raben  ab,  bi« 
in  einer  Tiefe  bott  ca.  20  9ftetem  bei  uit«  (an  anberen  Orten  ift 
bie  Tiefe  etwa«  anber«)  bie  Temperatur  jahrein,  jahrau«  bie- 
felbe  ift,  fo  jwar,  bajj  fie  ber  mittleren  Jahrestemperatur  be«  Ort« 
an  ber  Oberfläche  ber  ©rbe  entfpricht.  ©rft  twtt  biefem  fünfte 
an,  bi«  ju  welchem  bie  non  ber  ©otttte  herrührenben  SBärme- 
fdjwanfungen  nicht  mehr  hinabreichen , macht  fich  ber  ©ittflujj 
eine«  im  Jnnem  ber  ©rbe  befittblichen  SBärmeljerbeS  bemerfbar. 


I.  ©eothennifdjc  Tiefettftufeit.3 

n.  ©ergwerfe. 


'Btapmum 

9Jitmnutm 

iurcbidjTtitt 

SJreufccn 

115.3 

15,5 

54,3  m 

6adjfen 

— 

— 

41,8  * 

Sdjemni«  (Ungarn) 

51,1 

30,3 

41,4  „ 

CEornroall 



— 

19  , 

‘JtemcafKe 

— 

33  „ 

Stanefjefter 

— 

39  „ 

Belgien 

— 

— 

94  , 

■Änjiit  (Sranfreicb) 

1545 

21,09  „ 

SWinaeä  QleraeS 

— 

8Ö  „ 

(S17) 

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12 


b.  Soljrlödjer. 


lutdxcbn’.t: 

9tüber4borf 

. 30 

m 

9?eu|aljrocrf  

. . 29,2 

n 

SRonborjf  (SJuyembutg)  

. . 31,04 

n 

ißi&büljl  bei  TOagbeburg 

. . 26,5 

* 

Örtern  (Springen) . . . . 

..  40 

*> 

S?a  SRodjelle 

. . 20.1 

6t.  9lnbre  

. . 30,95 

*T 

Ui&erpool  

..  86 

T 

yjeuffen  

..  11 

•t- 

SJtonte  3Ra(fi  (Soüfana) 

. . 13.7 

Jf 

Sdjlabebad; 



. . 35,7 

n 

Sperenberq 

. . 32,51 

rr 

II.  Slufccrgewöfinlitfic  Jentvcraturtn. 

'Deraroerlr 

Tiefe 

®ärme  btr  Saft 

Gomftotf  Sang  (Sierra  'Jleoaba) 

610  ni 

40°  C 

$rjibram  (®öl)men) 

88!)  „ 

17  * 

III.  Sofyruttfl  öon  Sdjlabcbad)  bei  iicipjig.* 


»r. 

Tieft 

Temper.  R. 

dunafimr 

1 *Rr. 

Tiefe 

Temper.  R. 

3unal>me 

1 

36  m 

8,8° 

0 

| 19 

576  m 

20,6  0 

0.8  0 

2 

66  , 

9.6  , 

0,8  B 

; 20 

606  , 

21.1, 

0.5, 

3 

96  „ 

10-3  , 

OJ  „ 

21 

636  , 

21.3, 

0,2  , 

4 

126  , 

10,9  , 

0,6  „ 

22 

666  , 

22.0, 

0,7  , 

5 

156  , 

11,3  , 

0.4  „ 

23 

696  , 

22.9  „ 

0,9  „ 

6 

186  , 

12.2  , 

0,9  „ 

24 

726  , 

23,3  , 

0.4  , 

7 

216  , 

13.0  „ 

0,8  , 

25 

756  , 

23,9  „ 

0,6  „ 

8 

246  , 

13,6  , 

0.6, 

26 

786  , 

24,8  , 

0.9  , 

9 

276  „ 

14.3  , 

0,7, 

27 

816  , 

25,2  , 

0.4  . 

10 

306  „ 

14.5  , 

0,2, 

28 

846  , 

26,3, 

1.1  , 

11 

336  , 

15.2  , 

0.7,  , 

29 

876  , 

27.2, 

0.9  „ 

12 

366  , 

15.4  „ 

o,2,  : 

30 

906  „ 

27,8  , 

0,6  „ 

13 

396  , 

16,6  , 

1.2,  ! 

31 

936  , 

28,5  , 

0.7  , 

14 

426  , 

17,1  „ 

0,5 , ; 

32 

966  „ 

29,3  , 

0,8  „ 

15 

456  , 

17,7  „ 

0.6, 

33 

996  , 

29.8, 

0.5  , 

16 

486  , 

18.3  , 

0,6, 

34 

1026  , 

30.1, 

0,3  » 

17 

516  , 

19,0  „ 

0,7, 

36 

1056  , 

30,4, 

0,3  „ 

18 

546  , 

19,8  „ 

0,8  , 

36 

1086  , 

31,3, 

0.9  „ 

(Klh) 


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13 


»r. 

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Irmprr.  R 

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K 3una(imr 

37 

1116  m 

32,2  0 

0,9  0 

48 

1446  m 

40,9 

° 0.5  * 

38 

1146  „ 

32,7  „ 

0,5  „ 

49 

1476  p 

41,5 

0,6  „ 

39 

1176  „ 

33.7  , 

1,0P 

50 

1506  . 

42,3 

, 0.8  „ 

40 

1206  „ 

34.4 

0.7  p 

51 

1536  r 

42,5 

p 0,2  „ 

41 

1236  „ 

35,2  p 

0,8  „ 

52 

1566  p 

42,8 

0,3  „ 

42 

1266  „ 

36,2 

1,0  . 

53 

1596  p 

43,6 

p 0.8 

43 

1296  . 

36,9  „ 

0,7  „ 

54 

1626  „ 

44.0 

p 0,4  „ 

44 

1326  „ 

37,7  „ 

0,8  p 

55 

1656  , 

44.4 

r 04  p 

45 

1356  „ 

38,8  „ 

1,1  „ 

56 

1686  n 

45,2 

p 0.8  „ 

46 

1386  „ 

39.7. 

0,9 

57 

1716  r 

453 

p 0.1  n 

47 

1416  „ 

40.4 

0,7  p 

IV.  ®ohrung 

non  Sperenbcrg  bei  Berlin. 

»r. 

»*ft 

©drmf  C. 

3unafim? 

lirfenflufr 

1 

220  m 

21,58° 

0 

— m 

2 

283  B 

23.47  , 

1,89  „ 

33,40  „ 

3 

345  T 

26,43  „ 

2,96  r 

21.30  p 

4 

408  „ 

26,88  „ 

0,45  r 

140,00  p 

5 

471  r 

29.08  p 

2.20  „ 

28,70  „ 

6 

534  . 

30,92  r 

1,84  „ 

34,20  p 

7 

597  r 

33,12  r 

2,20  ,, 

28,70  p 

8 

660  „ 

35.83  r 

2.71  r 

23,30  „ 

9 

1064  . 

46.55  „ 

10,72  r 

37.75  „ 

10 

1269  „ 

48,10  p 

1.55  p 

132,00  p 

fionftante  ®obentemperatur 

in  20 

Bieter 

9,75°. 

Äuf  1249  SDieter  fanb  eine  Temperaturerhöhung  non 
38,35°  ftatt,  alfo  beträgt  bie  mittlere  geothermifche=Tiefenftufe 
32,51  Söieter. 


V. 

Temperaturbeobachtungen,  weld)e  non  ©tapff  im  ©ottharb* 
tunnel  norgenommen  würben,  h°^n  eine  allmähliche  gunahme 
i>er  SEBärme  auf  ber  horizontalen  ©trede  nach  ^em  Snnern  be§ 
burchftochenen  SBergeö  ju  ergeben.  Tie  non  ©tapff  neröffent- 
lichten  Profile  zeigen,  baß  bie  SEBärme  im  Tunnel  non  ber  Tiefe 
i>eS  betrcffenben  £rte$  unterhalb  ber  Oberfläche  be§  SöergeS 

(»19) 


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14 


abhängt,  fo  baß  auch  biefe  beobacßtungen  bie  fonft  beobachtete 
SBärmejunahme  mit  junehmenber  ©ntfernung  ton  ber  ©rbober* 
fläche  jeigen. 

betrachten  mir  nun  bie  oorfteßenben  3ah^en  etwas  genauer, 
fo  fehen  mir  auf  ben  erften  blief,  baß  oon  irgenb  me[cher 
©leichförmigfeit  in  ber  3u«ahme  ber  Söärme  nichts 
in  benfelben  ju  erfennen  ift.  Tie  3a^en  feßwanfen  in 
ber  auffaHenbften  SGßeife.  gür  jaßtreiche  Unregelmäßigfeiten  hat 
man  genügenbe  Urfachen  ßerauSgefunben.  ©o  j.  b.  nimmt  bie 
SBärnte  in  Sohlenbergmerfeit  oerhältnißmäßig  rafch  ju  infolge 
chemifcher  borgänge  in  ber  ©teinfohfe.  Tie  oben  angegebene 
geringe  Tiefenftufe  beS  ÜJionte  SKaffi  erffärt  fich  aus  ber  fRäße 
heißer  CueHen.  giir  &»e  Unregelmäßigfeiten  ber  ÜJfeffungen  oon 
©perenberg  unb  ©cßlabebacß  bagegen  fehlt  uns  jegliche  ©rflärung. 

©S  ift  oerfucht  morben,  bie  SBärntejunaßme  innerhalb  eine« 
unb  beSfelben  boßrlocßs  burch  eine  allgemeine  gormel  auSju* 
brüefen.  gür  ©perenberg  j.  b.  mar  eine  gormet  aufgeftetlt 
roorben,  melche  innerhalb  geroiffer  liefen  eine  einigermaßen  gute 
Uebereinftimmung  jmifdjen  ben  berechneten  unb  beobachteten 
Temperaturen  ergab,  ©ine  berallgemeinerung  berfelben  über 
bie  ber  beobaeßtung  jugänglicße  Tiefe  oon  1300  ÜJfeter 
hinaus  hätte  aber  bon  14  000  SJieter  abmär tS  eine  Temperatur 
beS  ©rbinnem  unter  0 0 ergeben,  — ein  gewiß  unannehmbare« 
Sfefultat. 

Tie  SDfeffuitgen  oon  ©cßlabebacß  haben  ebenfalls  jur  Sluf* 
fteüung  eines  ©efefceS,  nach  bem  bie  Temperaturjunaßme  er* 
folgen  follte,  geführt,  bei  ben  Sbmeicßungen  aber,  melche  auch 
in  biefem  gatle  fich  jWifcßen  ben  bem  ©efefce  entfprechenben  unb 
ben  roirflich  beobachteten  SBärmegraben  herauSftellten  (biefelben 
betragen  jum  Theil  einen  ©rab),  überhaupt  fchon  angefichtS  ber 
Unregelmäßigfeit  in  ber  Slufeinanberfolge  ber  3öhIen,  melche  bie 

(8J0) 


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15 

Temperaturäunahme  bezeichnen,  bürfen  wir  folgen  ©efefcett  nid^t 
aHjuoiel  SEBertf)  beifegen.  Sßir  bürfen  eg  immerhin  fdjott  alg 
ein  wertf)t?olIeg  ©rgebttifj  betrachten,  wenn  bie  mit  aller  Sorfidjt 
auggeführten  SDieffuitgen  oon  ©chlabebach  geigen,  bafj  innerhalb 
ber  Xiefe  big  ju  1500  SWeter  ein  ungefähr  gleichmäjjigeg 
gu  nehmen  ber  Temperatur  ftattfinbet.5 

@d)on  bie  ©chwierigfeiten,  welche  ber  ^Beobachtung  in  Sohr* 
löchern  entgegenftehen,  machen  bie  Serwertf)ung  ber  SRefultate 
gu  allgemein  gültigen  ©cfjlufjfolgerungen  unmöglich.  Tag 
©inbringen  ber  Oberflächengewäffer,  burch  weicheg  bie  SBärme 
ber  ©efteine  erniebrigt  wirb,  ift  nicht  ju  oerhinbent;  chemifche 
Vorgänge,  burch  ben  .gutritt  oon  2uft  ober  SEBaffer  heroorgerufen, 
fönnen  bie  Temperatur  erhöhen;  ©palten,  welche  unterirbifche 
©eroäffer  hinaufführen,  ntüffen  an  ber  ©teile,  wo  ber  23 obrer 
fie  burcljfchneibet,  eine  lofale  Temperaturerhöhung  anjeigen. 
Ta  immer  einige  geit  »erläuft,  big  bag  Thermometer  an  bie 
erbofjrtc  ©teile  gebracht  werben  fann,  fpielt  auch  noch  bie  SEBärnte« 
fapajität,  be$m.  ßeitunggfäf)igfeit  beg  ©efteing  eine  wichtige 
SÄofle.  gaffen  wir  alle  biefe  ÜHomente,  bereit  Sorhanbenfein 
bie  SDieffunggergebniffe  öerbunfelt,  ing  2luge,  fo  müffen  wir 
jugeben,  baß  wir  !aum  Slugficht  fyaben,  jemalg  $ur  Silbung 
eineg  allgemein  gültigen  ©efefjeg  für  bie  SSärmejunahme  ju 
gelangen.  Sßir  werben  ung  wohl  mit  bem  bigljer  gefunbenen 
TurchfchnittgergebniS  begnügen  müffen,  mit  ber  Angabe, 
bafe  bie  SEBärme  auf  je  30  äJieter  um  1°C.  junimmt. 

@her  könnte  man  fchon  aug  beit  äßeffungen  in  23ergwerfen, 
in  welchen  bag  Thermometer  fid)  in  frifch  gefchlagenen  Sohr* 
löchern  anbringen  läfjt,  genaue  SRefuItate  erhoffen. 

Unter  ber  Soraugfefcung,  bafj  bie  SEBärnte  in  ber  Tiefe 
ähnlich  junimmt,  wie  in  ber  Sßäf)e  ber  ©rboberfläche,  hat  man 
aug  ben  ©chlabebacher  Temperaturbeobachtungen  bie  Tiefe 

berechnet,  in  welcher  1600°,  bie  Schmelzwärme  ber  Saoen, 

(821) 


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16 


angetroffen  wirb,  unb  bafür  9,6  ©teilen  gefunben.  ÄeineSwegS 
ober  ift  bamit  gejagt,  — wie  weiter  unten  ausführlicher  gezeigt 
werben  joll  — ba§  in  biejer  Tiefe  thatfächlich  2aoen  im 
©chmeljftuh  befinbtid)  finb;  eS  ift  alfo  bamit  feineSwegS  etwa 
eine  Tiefe  ber  ©rbtrufte  oon  10  ©teilen  berechnet. 

Son  Bielen  ©eiten,  namentlich  ber  ©eptuniften,  würben 
bie  ©teffungen  Bon  ©perenberg  benufct,  um  felbft  baS  ©orhanben* 
fein  eine«  he>6en  ©rbfernS  ju  leugnen.  Tie  Hnnahme  eines 
heifjcn  (SrbfernS,  für  welche  noch  anberweitige,  unten  ju  er* 
örtembe  Seobaijtungen  fprecheit,  iftburchauS  nothwenbig,  unb  wirb 
auch  burch  bie  *n  ©chlabebad)  gefuitbenen  3ah^en  nicht  wibtr* 
legt.  Sagt  man  aber,  ber  (Srbfern  fei  flüffig,  fo  geht  man 
entfchieben  ju  weit,  noch  mehr,  wenn  man  auf  irgenb  eine  SBeife 
bie  Tiefe  ber  ©rbfrufte  mit  |)ülfe  ber  eben  befprodjenen  ©e- 
obachtungen  berechnen  wollte.  3Bir  toiffen  wenig  genaues  über 
bie  ©röfje  beS  GrinfluffeS,  ben  ber  Trucf  ber  nach  ©erflüffigung 
ber  ©toffe  ftrebenben  SBärme  entgegenfefct.  Später  wirb  biefe 
©eite  ber  grage  näher  beleuchtet  werben,  nur  fooiel  mag  hier 
fchon  gefagt  fein,  bafj  berUinfluh  beSTrucfS  hödjft  wahr* 
fdjeinlich  ben  ber  Temperatur  bebeutenb  überwiegt, 
bafe  alfo  gerabe  bie  Temperaturbeobachtungen  für  einen  feften 
©rbfern  ju  fprechen  fcfjeinen. 

Such  eine  ©erwerthung  ber  ©ohrrefultate  für  bie  SllterS- 
beftimmung  ber  ©rbe  ift  auSgefchloffen.  "Sine  folche  ©eredj- 
nuitg,  welche  oon  ©eiten  Bieter  ©eologen  mit  greuben  begrübt 
würbe,  hat  ber  englifche  ißhhfi^er  wnb  ©eolog  SBilliamThomfon 
angeftellt.  @r  ging  non  ber  ÄanPSaplacef^en  fjbpottjefe  aus, 
bah  bie  @rbe  fidf  einft  in  glühenb  • flüffigem  3uftanbe  befunben 
habe,  unb  berechnete  bie  bie  feit  ber  ©ilbung  einer  feften 
ÄTufte  Bcrfloffeit  fein  foD.  ©eine  ©erechnungen  grünbeten  fich 
auf  brei  ffraftoren:  bie  Temperatur  ber  ©rbe  bei  ©eginn  ber  @r* 

ftarrung,  bie  geothermifchen  Tiefenftufen  unb  bie  SeitungSfäljigfeit 

(822) 


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17 


ber  ©efteine.  Sei  ber  Serfdjiebentjeit  ber  SOßert^e,  bie  für  jeben 
ber  brei  genannten  gaftoren  möglich  finb,  barf  ei  uni  nicht  über* 
raffen,  baß  bai  ©rgebniß  feiner  ^Rechnungen  fid)  innerhalb 
rec^t  weiter  ©rengen  bewegt;  er  fanb  ali  SKagimum  400,  ali 
SWinimum  20  3Rißioneit  gaßre,  ati  waljrfcheinlichfte  gaßl  werben 
90—  2002Rißionen  gaßre  angegeben.  §lbgefeßen  oon  ben  gehlern, 
benen  bie  ©cßäßung  ber  Slnfangitemperatur  unterworfen  fein 
map,  läßt  fid),  wie  9? eu m a Qr  in  feiner  „©rbgefeßiehte"  richtig 
erwähnt,  gegen  bie  Senußung  ber  geothermifcheit  Tiefenftufen 
ber  ffiinwanb  erheben,  baß  aße  Soßrungen,  beren  ©rgebniffe 
benußt  würben,  fich  nicht  in  ©efteinen  bewegten,  welche  ali 
Seftanbtßeile  ber  urfprüngtießen  ©rftarrungäfrufte  angefehen 
werben  fönnen.  Tie  ©teinfalglager  Don  ©perenberg  g.  S.  haben 
ja  nicht  bie  Temperatur,  bie  ihnen  aui  ber  $e\l  ber  erften  2lb« 
lüßlung  gufommt,  fonbem  fie  finb  Hbfäßc  einei  3Keerei,  bie 
erft  nachträglich  wieber  Don  unten  her  burchwärmt  würben, 
©i  liegt  auf  ber  $anb,  baß  feßon  in  biefer  einen  Tßatfacfje 
ein  unüberfteigbarei  |)inberniß  liegt,  bie  nahe  ber  ©rboberflädje 
gewonnenen  ©rgebniffe  auf  bie  gange  üRaffe  ber  ©rbe  gu  über« 
tragen.  Slußerbem  würbe  Don  Tßomfon  nid)t  beachtet,  baß  burch 
bie  mit  ber  fortfchrcitenben  ©rftarrung  gunehmenbe  gufammen* 
gießung  ber  ©rbe  SBärme  frei  werben  müßte,  welche  beit  Sorgang 
ber  ©rfaltung  wefentlich  Dergögerte.  SBcnn  auch  bie  ©röße  ber 
fo  entftanbenen  SBärmemenge  fid)  Dorläufig  ber  gahlenmäßigen 
geftfteflung  entgießt,  fo  barf  man  hoch  mit  Sicherheit  behaupten, 
baß  TßomfonS  gnßfen  gu  gering  finb,  baß  fomit  auch  bie  ©in« 
wäitbe,  welche  gegen  bie  Theorien  TarwiitS  uitb  Stjeßi,  welche 
ja  ungeheure  Zeiträume  in  SInfpruch  nehmen,  mit  $ülfe  biefer 
3 a ^ 1 e n gemadjt  würben,  hinfäßig  finb. 

T>ie  burch  bie  Söärmemeffungen  gefuitbene  Tßatfadße,  baß 
im  ©rbinuern  höhere  Temperaturen  ßerrfeßen,  ift  feßon  burch 
bie  einfache  Tßatfacße  be$  SorfommenS  heißer  Cueßen  unb 

Sammlung.  * R.  V.  US.  2 (S23) 


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18 


glühenber  Satten  gweifetlof  feftgefteHt.  Taff  ©ewäffer  »on 
©iebehifce,  baff  gefchmolgene  ©efteine  Bon  über  1000°  SBärme 
bem  ©rbimtern  entfteigen,  beweift,  bah  bort  E)oE)e  Temperaturen 
herrfchen.  Taf  allgemeine  SBorfontmen  in  ben  üerfcf)iebenften 
©egenben  ber  Srbe,  in  ber  91älje  ber  ißole,  mie  am  Ülequator, 
macht  bie  fttmtahme  mancher  ©eologen  Bon  örtlichen  SSärme* 
quellen  unttmfirfdjeinticf). 

©oId)e  lofale  SBarmeherbe  finb  in  großer  ,gaht  Qn* 
gegeben  worben.6  Ungefähr  jeber  chemifdje  unb  mecf)anifc§e 
Vorgang/  ber  fid)  gelegentlich  in  ber  ©rbe  abfpielt,  foQ  imftanbe 
fein,  bie  ©efteine  gu  fdjmefgen  ober  ©eroäffer  gu  erbten.  ©o 
ift  bie  Oypbation  oon  $ieflagern  alf  Urfache  ber  ©chmel* 
gung  ber  Satten  begeidjnet  worben,  ©teinfoblenbränbe  finb 
für  bie  befagten  Sßärmeerfcheinungen  tterantwortlüh  gemacht. 
@ap  Suffac  benufct  bie  äßafferaufnabme  tton  waffer* 
freien  ©hIoril)en/  bie  ÖEbbation  Bon  ÜJietalleu, 
namentlich  StlfalimetaHen  gur  ©rflärung  ber  ©rf^einungen.  Toch 
fönnen  bie  angegebenen  chemifdjen  Urfachen  auf  gwei  ©rünben 
nid)t  angenommen  werben.  ©rftenf  müßten  biefe  Vorgänge  in 
gang  aufjerorbentlid)  großem  SDta&ftabe  ftattfinben,  einem  9Jiah* 
ftabe,  wie  er  nie  auch  nur  annähernb  beobachtet  würbe ; fobann 
wäre  bod)  gu  erwarten,  bah  bie  aufgeworfenen  Sattamaffen  gang 
Borwiegenb  mit  auf  ben  bie  SBärme  ergeugenben  SDiaffen  beftehen, 
— auch  bafür  fehlt  jegliche  ^Beobachtung. 

2Benn  SDtaltet7  unb  anbere  gorfcher  ber  neptuniftifchen 
®d)ule  befonberf  mechanifdje  SEBärmequeQen  angeben,  fo  finb  fie 
nicht  glüdlicher.  ©owobl  bie  galtung  unb  ßufammenfchiebung, 
alf  and)  bie  3crtrnmtnerung  ber  ©efteine  müffen  SBärme  er* 
geugen,  bagegen  läßt  ficf)  nicht«  einwenben.  ÜJlau  wufete  nach 
ben  Unterfud)ungen  tton  3-  Thomfon,8  bah  ber  ©djntelgpunlt 
bef  ©ifef  burch  Trucf  erniebrigt  wirb.  Taffelbe  würbe  für  bie 
erbbilbenben  ©efteine  angenommen ; ef  würbe  behauptet,  bah  &e' 

(824) 


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19 


bem  enormen  35rucf  innerhalb  ber  @rbe  eine  geringe  SBärme« 
fteigerung  ©dpneljung  ^erbeifütjren  miiffe.  ©päter  wirb  gezeigt 
»erben,  bajj  ber  Sergleid)  ber  ©efteine  mit  ©iS  unjutäffig  ift, 
inbem  fi<$  biefelben  gerabe  entgegengefept  »erhalten.  35er  35rnc! 
erfjöt)t  bie  ©cfjmeläwärme  berfelben.  Slufjerbem  madjt  9tepers 
mit  Diedjt  bie  Semerfnng,  bajj  aus  beit  angegebenen  Sljeorien 
bas  Sorfommen  ton  ernptioen  Äalffteinen,  Ouarjiten  u.  f.  tu. 
iiotfjwenbig  gefolgert  werben  miiffe,  ba  ja  audj  biefe  ©efteine  einen 
ganj  bebeutenben  Slnttjeil  an  bem  Sau  ber  ©rbrinbe  fjaben. 

SU«  Urfadje  ber  galtung  unb  ©tauung,  überhaupt  ber 
med)anifd)en  Sorgänge  in  ber  ©rbrinbe,  — Sorgänge,  für  welche 
man  tjeute  nieiftenS  bie  3ufammenjief)ung  beS  erfaltenben  ©rb* 
batls  terantwortlicp  map,  — bejeidinen  bie  9teptuniften  allein  bie 
©cuttere.  Welche  fid)  geltenb  map,  wenn  bcn  @d)idjten  bie  fefte 
Unterlage  burd)  ©rofion  entjogen  wirb,  ©o  märe  pier  in  lebtet 
Sinie  bie  ©onnenroärme,  welche  ben  Kreislauf  beS  SBafferS  be- 
wirft, Urfadje  ber  ©djmeljung  ber  ©efteine. 9 

35ie  Sertreter  ber  Ijeute  nod)  jiemlid)  oerbreiteten  SInfidjt, 
bie  ©rbe  fei  im  mefentlidjen  flüffig,  ftüfcen  fid)  jum  2pü 
auf  bie  $antfdje  |>9potf)efe  ber  ^laneienbilbmtg.  2luö  berfelben 
d)eint  unmittelbar  unb  notfjmenbig  ju  folgen,  baff  bie  einft 
ganj  pffige  ©rbe  fid)  bei  ber  ©rfaltung  mit  einer  feften  Ärufte 
umgeben  Ijabe,  bafj  ba«  innere  nod)  flüffig  fei.  3pile  biefeö 
fliiffigen  Srbinnern  werben  burdj  bie  Sultane  an  bie  ©rbober- 
fläche  beförbert.  35amit  aber  eine  fold)e  Seförberung  mögfid) 
fei,  mufj  bie  firufte  terfjältmfjmäfjig  bünn  fein,  fonft  würbe 
bie  2ata  auf  i^rem  weiten  SBege  burd)  baS  ©eftein  unterwegs 
erhärten.  35ie  ©tärfe  ber  feften  Strafte  wirb  terfdjieben  an- 
genommen, oft  finbet  man  bie  ®ide  ton  etwa  5 2Jieilen  ange- 
geben. 35ieS  mit  wenig  ^Sorten  bie  Stnfic^t  einer  ganjen  3af)l  ton 
gorfcfjern,  bie  fid)  nod)  in  tielen  £ef|rbüd)ern  ber  ©eograpfjie  unb 
©eologie  pbet,  bie  aud)  ton  ja^treicfjen  ®cbilbeten  geteilt  wirb. 

2*  C825) 


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20 


gnbeffen  hat  öon  jeffer  — neben  beit  fcfjon  genannten  SBiber* 
Jagern  — eine  grof?e  ©egnerfdbaft  gegen  biefe  fphpotl)efe  beftanben, 
welche  aul  aftronomifchen  unb  phhfifalifdjen  ©rünben  biefelbe  für 
unhaltbar  erflärte. 

Unter  erfteren  würbe  bie  ißräjeffion  unb  Mutation  ber  @rb- 
achfe,  ber  ©etrag  biefer  ©rfcheiitung  jum  9?a<fjroei3  bafür  benufct, 
baß  bie  §auptmaffe  ber  ©rbe  f e ft  fei. 

®ie  Steife  ber  ©rbe  bemalt  im  Saufe  ber  3af)re  nicht 
immer  biefelbe  Sage  im  SQJeltenraum  bei,  fonbern  fie  befdjreibt 
um  bie  Stcfjfe  ihrer  ©ahn  um  bie  Sonne,  ber  ©fliptif,  einen 
Kegelmantel,  wie  bie  Slc^fe  eine«  umfaHenben  KreifeB.  ©iefe 
Schwanfung  ber  ©rbacf)fe  ift  eine  golge  ber  unregelmäßigen 
©eftalt  ber  ©rbe.  ©ie  Snjiebung,  welche  (Sonne  unb  3JZonb 
auf  ben  äquatorialen  Söulft  aulüben,  ftrebt  bie  ©rbachfe  fenfrec^t 
ju  i^rer  ©ahn  ju  ftellen.  ®a  aber  bie  ©rbe  um  iljre  9l<hfe 
rotirt,  fo  refultirt  baraul  bie  ©rehung  ber  ©rbachfe  um  bie 
Slcljfe  ber  ©fliptif.  ©iefe  @rfd)einung  würbe  oon  fpopfinl10 
benagt,  um  ben  ©rab  twn  Starrheit  ju  beregnen,  ben  bie  ©rbe 
hefigen  muß.  @r  behauptete,  baß  bie  Mutation  einen  anberen 
©etrag  hoben  müffe,  wenn  bie  ©rbe  ber  §auptfacf)e  nach  flüffi»?, 
all  wenn  fie  mehr  ober  weniger  feft  fei.  @r  berechnete  bie 
SBirfung  ber  genannten  Stnjiehunglfraft  auf  Körper  oon  oer< 
fchiebenem  Sau.  So  legte  er  einen  flüffigen  Körper  mit  fefter 
Schale,  ben  bamnligen  Slnfcfjauungen  entfprechenb,  feiner  SRecfj- 
nuiig  ju  ©runbe,  nahm  erft  eine  homogene  glüffigfeit  in 
homogener  Schale,  bann  eine  ungleichförmige  glüffigfeit  in 
ungleichförmiger  Schale  an,  unD  gelangte  ju  bem  ©rgebniß, 
bajj  bie  ©rbfrufte  eine  ©iefe  »on  miitbeftenl  200  Steilen  — alfo 
einem  ©iertel  bB  günftel  bei  ©rbrabiul  — haben  müffe,  baß 
aber  auch  eine  burcf)au3  ftarre  ©rbe  ben  tfjatfächlichen  ©er> 
hältniffen  entspräche. 

®ie  ©iefe  ber  Krufte,  welche  fpopfml  fanb,  übertraf 

(S26) 


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21 


weitaus  baSjenige  ÜJiafc,  welches  man  iljr  Borger  auf  ©runb 
geologifdfer  J^atfac^en  gegeben  fjatte.  @r  falf  fofort  ein,  bafj 
bic  Sauen,  welche  man  als  Beftanbtheile  beS  flüffigcn  SrbfernS 
betrachtet,  unmöglich  einen  23 eg  BDn  200  Steilen  burd)  bie  Stufte 
gurüdlegeit  fönnten,  offne  gu  erftarren,  unb  nahm  beSljalb,  um 
bie  ©ruption  ffiiffiger  Sauen  gu  erflaren,  an,  baß  unterhalb  bet 
Bulfane  eingelite  ^o^fräume  mit  fcfjmetgenben  «Stoffen  innerhalb 
ber  feften  ©rbrinbe  befinbfidj  feien. 

fpopfinS  fanb  gahlreidje  ©egner.  15  Sieben  folgen,  welche 
feine  Berechnungen  nicht  anerfennen  wollten,  weil  ihnen  fein 
©rflärungSuerfud)  ber  uulfanifdjen  ©ruptionen  nicht  genügte, 
fugten  Slnbere11  bie  ©rgebniffe  feiner  fRedjnung  unglaubhaft  gu 
machen,  inbern  fie  ihn  uom  phhfifalifdjen  Stanbpunfte  aus  angriffen. 
Sie  geigten,  bafj  baS  ©rbinnere  feineSroegS  eine  uotlfommene 
glüffigfeit  fein  fönne,  wie  £>op!iitS  annahm,  fonbern  gälje  fein 
miiffe,  fowie  ferner,  baff  bie  Sieibung  beS  fliiffigen  fiernS  gegen 
bie  fefte  Schale  non  erheblichem  ©influjj  fei,  welchen  ©influjj 
JgwpfinS  ucrnachfäffigt  hatte- 

SS.  Tfjomfon,12  ber  ein  bem  ©ebiete  ber  fßhhftf  tnie  ber 
©eologie  hochberühmter  gorfdjer,  nahm  bie  Berechnungen  £>opfinS 
wieber  auf,  inbem  er  bic  fehler  feines  BorgängerS  gu  uermeiben 
fuchte.  @r  berechnete  bie  ©röjje  ber  ^rägeffton  utib  Slutation 
für  einen  Körper  auS  einer  homogenen,  nichtgufammenbrüdbaren 
fflüffigfeit,  beweglich  wie  SBaffer,  oon  einer  biinnen  Schale 
umgeben,  fowie  für  ein  gähfliiffigeS,  ungleichförmiges  SunereS. 
@r  berechnete  einen  ©rab  ber  Starrheit,  welcher  ben  beS  ©lafeS 
übertrifft  unb  ungefähr  bem  gleidjfommt,  als  tuenn  bie  gange  ©rbe 
aus  Stahl  beftänbe.  Tie  erften  Beröffentlichungen  ThomfonS 
erfdjienen  in  ben  fedjgiger  3kihren-  Sftitte  ber  fiebengiger  3af)re 
nahm  er  bie  eben  bargeftellte  Begritnbuug13  feiner  Behauptung, 
bie  ©rbe  fei  ftarr,  guriid,  an  feiner  Behauptung  hielt  er  trofcbcnt  feft 
auf  ©runb  feiner  Betrachtung  ber  ©bbe*  unb  Jlut&erfdjeinungen.14 

(»27) 


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22 


Tenfelben  SluSgangSpunft  roä^ften  ißotffon,  Slmpöre15 
uitb  ©eo.  Tarwin16  für  ißre  ^Berechnungen.  (SS  würbe  $u  weit 
führen,  ben  StuSfüßrungen  biefer  gorfdjer  genauer  ju  folgen. 
Ter  Kentpunft  ißrer  Unterfucßungett  befteßt  in  bem  ©ebanfen, 
baß  bie  (Srbe,  wenn  ber  ^jauptfacße  nach  flüfftg,  infolge  ber 
SDionbaitjießung  gewaltige  glutßroellen  werfen  müßte.  TaS 
Sorßanbenfein  fotd^er  glutßwellen  würbe  non  ben  erftgenannten 
5ßßßfifern  geleugnet.  51:  ^ o m f o « gab  ju,  baß  bie  (Srbe 
felbft  glutßweöen  wirft.  (Sr  berechnete,  baß  bie  oceanifcße  glutl}* 
welle  größer  fein  müffe,  als  fie  ift,  wenn  bie  (Srbe  nicht  auch 
ber  Hnjtehung  beS  ÜJionbeS  folgte.  Snbem  er  nun  bie  Tifferenj 
jwifchen  ber  theoretifch  abgeleiteten  unb  ber  tßatfädjlicß  beobachteten 
glutßßöße  beS  OceanS  feftfteßte,  fanb  er,  baß  biefe  Tifferenj,  — 
neranlaßt  burd}  bie  glutßbewegung  beS  feften  (SrbförperS  felbft  — , 
einen  Setrag  jeige,  ber  ber  glutßßöße  eines  ganj  auS  ©taßl 
befteßenben  Körpers  gleicßfäme.  (Sbenfo  fanb  ®eo.  Tarwin, 
baß  bie  (Srbe  einen  bebeutenben  ©rab  non  Starrheit  befißen 
müffe.  (Sr  legte  einen  etwas  anberS  fonftruirten  (Srbförper  ber 
Rechnung  ju  ©runbe,  als  Tßomfon,  um  ben  Sorwürfen, 
welche  fiefctercm,  wie  fchon  oben  gefagt,  gemacht  würben,  ju 
entgehen.  Racß  Slnficßt  oon  Tarwin  würbe  bie  RieereSflutß, 
wenn  bie  (Srbe  nur  fo  ftarr  wäre,  Wie  5ßeth^  nicht  bemerfbar 
fein,  weil  bann  bie  Oberfläche  beS  (SrbförperS  fo  ftarf  oeränbert 
werben  würbe,  baß  fie  fid)  ber  Oberfläche  beS  in  glutßbewegung 
befiitblichen  OceanS  parallel  fteHett  würbe. 

Stilen  biefen  Rechnungen  würbe  neben  ben  fchon  bejeidjneten 
noch  ber  Sorwurf  gemacht,  j.  S.  oon  Sßabswortß,“  baß  fte 
fid)  auf  einen  irgenbwie  ßppotßetifcß  fonftruirten  Körper  beließen, 
ben  man  nicht  ber  (Srbe  glei<hfeßett  bürfe.  Ter  (Siitwanb  ßat 
infofern  feine  ^Berechtigung,  als  wir  jugeben  müffen,  baß  wir 
über  bie  Sefcßaffenßeit  beS  (Srbinnern  nidjts  SeftimmteS  wiffen. 
Tod}  ift  ju  beachten,  baß  ungefähr  alle  Riöglicßfeiten  in  Sctracßt 
(882) 


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23 


gezogen  finb,  — homogene  urtb  nicht  homogene,  gäbe  unb  elaftifche 
Subftangen,  gleichförmige  unb  ungleichförmige  Rinbe,  — alfo 
gerabe  foldje  Sefdjaffen^eitcn,  wie  fie  oon  ben  Verfechtern  beg 
flüffigen  (Srbinnern  behauptet  würben,  ferner  ift  gewiß  be« 
merlengwerth,  bah  alle  Rechnungen,  glett^oie I oon 
welcher  ©ruitblage  auggehenb,  bagfelbe  Grrgebnih 
haben,  nämlidj,  baß  bie  @rbe  ihrer  §auptmaffe  nach 
ftarr  ift. 

Reben  ben  befprochenen  Betrachtungen,  welche  non  ben 
drfcfjeinungen  ber  ©rbe  in  ihrer  Begiehung  gu  anberen  §immelg» 
förpern  auggingen,  ift  eine  Reihe  non  Arbeiten,  gum  Jßeil  ber» 
felbett  gorfcher,  bie  oben  genannt  würben,  gu  beriicffichtigen, 
welche  fich  im  wefentlichen  mit  ber  grage  befchäftigen:  233  ie 
mu§  bie  @rbe  erftarrt  fein,  oon  innen  her  ober  oon 
ber  Peripherie  aug? 

§opfing  hatte  fich  für  bie  «ftere  2lrt  unb  SBeife  erflärt. 
©r  meinte,  ba§  infolge  ber  Äbfü&lung  bie  ®ichtigfeit  ber  ein» 
gelnen  ber  ©rbe  oermehrt  werbe  unb  biefelben  fo  bem 
(Zentrum  berfelben  guftrebten,  bah  bag  Sentrum  guerft  erftarrt 
fei  unb  bann  auch  bie  peripherifdjen  $heüe  fefte  gorrn  an* 
genommen  hätten.  @r  legte  babei  bie  $ant»£aplacefche  §ppothefe 
oon  ber  einft  glühenb  flüffigen  Befcfjaffenljeit  beg  ©rbförperg  gu 
©runbe.  fjjenneffp11  nahm  auch  biefe  Befdjaffenheit  in  einem 
früheren  3uftflnb  ber  ©rbe  als  gegeben.  @t  führte  aug,  bah 
fich  in  bem  gang  pfiffigen  Spljäroib  bie  Steile  nach  ihrem  ©emidjt 
orbnen  muhten:  bie  fchtoereren  nahmen  bag  Zentrum  ein,  bie 
leichteren  lagerten  fich  nm  bagfelbe  herum,  big  ein  ©leichgewichtg» 
guftanb  herbeigeführt  würbe.  3n  biefem  muhte  ber  ©rbförper 
aug  einer  Reihe  fongentrifcf)er  Schalen  beftehen,  in  welcher  jebe 
Schale  in  fich  ein  gleichmäßige^,  oon  bem  jeber  höheren  ober 
tieferen  Schale  oerfdjiebeneg  fpegififcheg  ©ewicfjt  hafte.  ®ie 
äuheren  Schalen,  welche  guerft  ihre  SBärrne  abgaben,  erfuhren 

(829) 


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24 


baburch  eine  3unahme  ihrer  ®id)te,  mußten  alfo  ju  finfen 
[treten.  Sßärmere  $heite  famen  fo  mit  ben  abgefüßtten  in 
©erüßrung,  moburdj  teuere  mieber  ermärmt  mürben,  a([o  auf» 
ftiegen.  3)ie  tiefer  (iegenben  ©dfjalen  Ratten  SBärme  abgegeben, 
ftrcbten  ju  finfen,  trafen  aber  auf  fpejififd)  fcfjmerere  ©ubftanjen, 
bie  bieg  Derljinberteit.  §ttfo  immer  mußten  bie  anfangs  mefleidjt 
finfenben  2ßeile  ber  erftcn  (SrftarrungSfrufte  megen  ber  @r» 
märmung  »ott  unten  her  unb  megen  bei  höheren  ©eroicßtS  ber 
tiefer  liegenbeti  Jßeife  mieber  auffteigen.  ©o  fcßtießt  $eneff tj, 
entgegengefeßt  $opfiuS,  eine  (Srftarrung  »on  ber  5ßeri» 
pßerie  her.  (Sr  giebt  als  ©rcnjmerthe  für  bie  35icfe  ber 

prüfte  4 SäWeilen  im  SKinimum  unb  150  Streiten  im  SJZafimum  an. 

2)er  non  $ennefftj  betretene  2Heg  mürbe  fpäter  non  nieten 
Slnberen  mciter  nerfotgt.  @ße  inbeffen  mit  Hoffnung  auf  fixere 
(Srgebniffe  an  ber  Söfung  ber  grage  meiter  gearbeitet  merben 
tonnte,  mußte  baS  ©erhalten  ber  SJtaterie,  fpe^ieü  ber  erb» 
bitbenben  ©ubftanjen,  gegen  SBärme,  befonberS  aber  auch  gegen 
®rucf,  genauer  ftubirt  merben.  SBenn  mir  bei  £enneffp  unb 
fpoptinS  namentlich  eine  genauere  SSürbigung  beS  Ie|tge» 
nannten  gaftorS  »ermiffen,  fo  liegt  bicS  baran,  baß  bie  Unter» 
fucfjungen,  rnetcße  baS  ©erhalten  ber  Körper  beim  Uebergang 
aus  bem  ftüffigen  in  ben  fefteu  3uftanb  genauer  fennen  lehrten, 
jumeift  in  eine  fpätere  3eit  falten.  (SS  mußte  befonberS  genau 
unterfucßt  merben,  ob  bie  Körper  beim  (Srftarren  [ich  auSbeßnen 
ober  ficß  jufammenjiehen,  mit  anberen  ©Sorten,  ob  baS  fpe$ififcße 
©emicßt  berfetben  erniebrigt  ober  erhöht  mirb.  daneben  mußte 
baS  hiermit  eng  gufammenhängenbe  ©erhalten  gegen  ®rucf  näher 
geprüft  merben.  ©5enn  erfattete  ©chtacfenmaffen  oon  ber  0ber» 
fläche  ber  ßrbe  her  in  ben  ©lutßball  einfanfen,  fo  famen  fie 
unter  oeräuberte  25rutfoerhältniffe.  35er  erhöhte  35rucf 
tonnte  oerfeftigenb  ober  ocrftüffigenb  auf  biefetben  einmirfen. 
|)opfinS  fjatte  bie  ©ebeutung  biefeS  gaftorS  crfannt,  ohne 

(830) 


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25 


inbeS  benfelben  in  feine  Betrachtung  einführen  3U  fönnen,  ba 
ihm  bie  nötigen  Taten  über  bal  Verhalten  ber  einzelnen  Sörper 
fehlten.  Erfagt,  bah  bal  Erbinnere  mehr  ober  weniger 
fl üffig  fein  muffe,  wenn  bal  Beftreben  ber  Semper atur, 
bie  SRaffen  ju  oerflüf figen,  fchneller  junehme,  all 
ber  Sinflufj  bei  Trudl,  welcher  fie  oerfeftigt,  baff  aber 
umgefehrt  bal  Erbinnere  feft  fei,  wenn  ber  Trudfid) 
ftärfer  geltenb  mache,  all  bie  Temperatur,  mit  attberen 
SBorten:  ob  bie  Erbe  feft  ift  ober  flüffig,  hängt  oon  ber  re» 
latioen  gunahme  ber  Temperatur  unb  bei  Trudel  ab,  foroie 
oon  bem  Bcrhalten  ber  erbbilbenben  ©toffe  gegen  Trud  unb 
SBärme. 

fpopfinl  machte,  ebenfo  mie  Bunfen,”  einige  Berfudje 
bezüglich  bei  julehtgeuannten  fünftel.  Er  faitb,  baff  ber 
©djmelgpunft  oon  Sßachl,  ©djwefel,  ©tearin  burch  fteigcnben 
Trud  erhöh1  tüirb,  bafj  bie  Erhöhung  ber  ©chmclgwärme  aber 
nicht  proportional  bem  Trud  ftattfinbet,  fonbern  mit  fteigenbem 
Trud  geringer  wirb,  gür  metallifdie  Segierungeit  fonnte  er  über- 
haupt feine  ©chmelgpnnftlerhöhung  bei  gunehmcnbem  Trud  be» 
obadjten.  |>opfiul  felbft  legte  feinen  Berfuchen  feinen  entfchei» 
benben  SSertf)  bei,  ba  bie  unterfudjten  ©ubftangen  all  Beftanbtheile 
ber  Erbe  uidjt  ober  nur  in  gan3  untergeorbneter  SOfenge  in 
Betracht  fommen.  Bezüglich  ber  mineralifchen  ©toffe  ftanben 
ihm  feine  Taten  ju  ©ebote. 

©päter  behaubeite  2B.  Thomfon  benfelben  ©egenftanb. 
©ein  Bruber  3.  Thomfoit  hatte  bal  ©efefc  aufgefteüt,  bah 
für  alle  ©ubftanjen,  tu e f cf) c fid)  beim  Erftarren  gu« 
fammenjiehen,  Trud  ben  ©cf)melgpunft  erhöht, 
mährenb  bei  ben  Körpern,  welche  beim  ©efrieren 
Bolnmoermehruitg  erfahren,  ber  ©dfmelgpunft  burch 
Trud  erniebrigt  wirb.  gier  2Baffer  hat  Thontfon  bal 
©efe$  efperimentcQ  beftätigt.  Eil  fdjmilgt  unter  erhöhtem  Trud, 

C831) 


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26 


felbft  bei  Temperaturen  unter  0°,  weil  SBaffer  befanntlid)  beim 
Gefrieren  ftch  auSbeljnt. 

3n  ©ejug  auf  bie  ©efteine  galten  iljm  SifchofS  ©erfudje 
als  mafjgebenb.  Tiefelben  Ratten  ergeben,  bah  bie  fteinigen 
Subftanjen  beim  ©rftarren  eine  ftoutraftion  bis  ju  25  °/0  er> 
fahren.  Sei  biefen  Stoffen  muff  alfo  Trucf  ben  Schmelgpunft 
erhöhen.  Ta  nun  in  ber  ©rbe  ber  Trucf  bei  je  100  gujj 
um  etwa  9 Sltmofphären,  (in  ber  Tiefe  nod)  ^ö^er!)  bie  SSärrae 
nur  um  1°  junimmt,  fo  fcfjlofj  Tljomfon,  baff  bie  ©rbe  im 
Zentrum  ftarr  fei. 

Tod)  würben  ©ifdfofs  ©erfudje  oon  manchen  Seiten  nicht 
anertannt;  man  warf  ihm  oor,  baff  fie  nicht  unter  ©eobacfjtung 
aller  ©orfidjtSmahregeln  angefteHt  feien.  Namentlich  wenbet 
fich  gorbeS19  gegen  biefelben. 

©ifdjof  hatte  folgenbe  ©olumenoerhfiltniffe  gefunben: 


gfWmotjf# 

»afalt. . . . 1000  Sfjeite 

SEradmt...  1000  „ 

©ranit  . . . 1000  , 


fllaflfl  erftarrt 

963  Steile 
888  „ 

888  „ 


fiBitaUiniidj 

896  Steile 
818  „ 
748  „ 


gor b es  wieberfjotte  bie  ©erfuche  unb  fanb  felbft  3ufam- 
mengiefjung,  jeboch  nicht  in  fo  grobem  ÜJtahftabe,  wie  ©ifchofS 
fahlen  geigen. 

Trog  biefeS  ©rgebniffeS  hielt  er  feine  eigenen  ©erfudje  für 
ungenügenb.  @r  lieh  bie  grage,  ob  bei  ben  genannten  ©efteinen 
Äontraftion  ftattfinbe,  offen,  weil  ihm  bie  ©eobachtung  ber 
natürlichen  ©orlommniffe  ben  burch  baS  ©fperiment  gefunbenen 
©rgebniffen  gu  wiberfprechen  fcfjien.  ©r  fagte,  bah  bie  ©eob= 
adjtung  oon  ©efteinen  in  ©ang>  unb  fiagerform  immer  eine 
fdjarfe  Mbgrengmtg  gegen  baS  Nebengeftein  erfennen  taffe,  bah 
bort  oon  einer  ftontraftion  nichts  gu  fehen  fei.  Stbgefehen  baoon, 
bah  ©finge  oon  ©ruptiogefteinen  hoch  fehr  oft,  wenn  auch  nicht 
gerabe  an  ber  ©erührungSftetle  mit  bem  Nebengeftein,  fo  boch 
(8*2) 


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27 


im  Snnern  beS  ©ange«  felbft,  (Sprünge  jeigen,  bie  fid)  febr 
wohl  als  ÄontraftionSriffe  beuten  taffen,  fdjeint  Jorbe«  gatij 
außer  Seht  gelaffen  ju  haben,  baß  an  ber  ©rboberflädje  er* 
ftarrte  ©efteine,  Safalt  3.  58.,  eigentlich  immer  ÄontraftionS* 
erfcheiitungen  jeigen.  Später  wirb  biefer  ißunft  nod)  eiumat 
ausführlicher  be^anbeft  werben. 

?Iußer  ^orbeS  ha&en  Slnbere19  experimentell  gejeigt,  baß 
©ilifate  ju  ben  ©ubftanjen  gehören,  welche  fich  beim 
©rftarren  jufammenjiehen,  welche  alfo  burch  2>rurf 
oerfeftigt  werben. 

Sieben  ben  ©ilifatgefteinen  oerbient  noch  baS  58erhatten  beS 
(SifenS,  bejw.  ber  SDletaHe,  oon  benen  oben  gefügt  würbe,  baß 
fie  oieQeid)t  einen  großen  $he*l  beS  ©rbimtern  auSmachen, 
SBeachtung.  Such  hierüber  liegen  jahlreichc  tßerfuche  oor. 
SDlaltet,*0  ber  aud)  ©itifate  unterfuchte,  fanb  für  gcfchmoljctteS 
©chmiebeeifen  hoc h über  ber  ©chmefjtemperatur  baS  fpejififche  ©e* 
wicht  6,65,  für  baSfelbe  (Sifen  fatt  7,17,  fo  baß  hiernach  ©ifen  ju 
berfetben  klaffe  non  ©ubftanjen  gehören  würbe,  toie  bie  ©itifate. 
2>ie  SBerfudje  würben  auf  anbere  ©ubftanjen  auSgebefjnt,  unb 
bejüglidj  beS  ©ifenS  wieberhott.*1  ©taht  unb  ©djmiebeeifen, 
SReffiitg,  ©Über  fanfen  in  fattem  3uftanbe  in  bem  gefdjntotjenen 
äRateriaf  oon  gleicher  3ufQwmenfehung  unter.  SBejügtich  beS 
©cßmiebeeifenS  fteflten  f>annat)  unb  Stnberfon28  nochmalige 
Serfuche  an,  inbem  eine  Sauget  biefeS  äftaterialS  in  eine  ge* 
fchmotjene  ÜJlaffe  beSfelben  eingetaucht  würbe.  5DaS  ge* 
fdpnotjene  Sifen  war  bem  ©rftarrungSpunft  mögtichft  nahe. 
Söenn  bie  Äugeln  fall  waren,  fanfen  fie,  mit  ber  Erwärmung 
tauchten  fie  empor,  unb  fliegen,  je  wärmer  fie  waren,  befto 
höher.  Sie  genannten  fjorfcher  faitben,  baß  gcfdjmotjcne«  ©ifen 
fich  SDlomcnt  beS  geftwerbenS  um  etwa  6%  auSbeljnt. 
5RobertS  unb  SShtigtfon3*  fanben  biefetbe  Qafyl,  fteflten 
aber  feft,  baß  biefe  SluSbehnutig  nur  in  bem  llebergangSaugen* 

(SSS ; 


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28 


blicf  aus  bent  fliifftgen  in  ben  feften  3uftanb  gilt,  al  jo 
gewiffermaßen  im  plaftifchen  3uftanbe,  baß  ober  bei  ber  geft* 
Werbung  eine  ^ufammengiebuitg  um  7%  ftattfinbet.  fRieS  unb 
Söinlelmaitn*1  unterrichten  3™*/  SBiSmuth,  Sintimott, 
©ifett  unb  Stupfer  in  feftem  unb  flüffigen  3uftanb  bei  Tempe» 
raturen,  bie  bem  ©djmelspunft  möglichft  nahe  tagen. 
Ta§  ©rgebitiß  war,  baß  biefe  ©ubftangen,  wenn  t)eiß,  im 
feften  3uftattbe  leichter,  als  im  fliiffigen  finb.  Ttutf  würbe 
biefelben  atfo,  wie  (5iS,  bei  nieberer  Temperatur 
flüffig  machen  fönnen.  SBollte  man  aber  biefe  Serfudje 
ba^u  benu^en,  um  ju  beweifen,  baß  bie  SDietalle  im  ©rbinneren 
in  ftüffigem  3uf*anbe  oorhanben  finb,  fo  ift  bem  entgegenju- 
galten,  baß  bieS  nur  bei  Temperaturen  gilt,  bie  bem  ©dpnefp 
punft  nafje  liegen.  Sei  ffiifeit  tjatte  3.  ©.  ber  Serfudj  ergeben, 
baß  bei  ber  ge  ft  Werbung  ppcl)  ejne  ^ontraftion  ftattfinbet. 
Smmerhin  ift  jitjugeben,  baß  einer  Serwertßung  ber  ©rgebniffe 
ju  ©unften  ber  Slnficfjt,  bie  @rbe  fei  feft,  aud)  ©ebenfen 
eutgegenfteßen,  ba  wir  eben  über  bie  Temperaturen  beS  @rb- 
ittnern  nicßt  genau  genug  unterrichtet  finb. 

Tie  Uebertraguttg  ber  im  Saboratorium  gewonnenen  ©r* 
gebniffe  auf  bie  in  ber  SRatur  ftattfiubenben  Serhältniffe  barf 
überhaupt  immer  nur  mit  äußerfter  Sorficßt  gefcßehcn.  ©o  ^at 
man  thatfädjlich  bie  fRichtigfeit  ber  ejperintentell  gewonnenen 
Sluffcßlüffe  über  baS  Verhalten  ber  Körper  bei  ber  ©rftarruug 
beftritten.  Cben  würbe  mitgetheilt,  baß  28ach8  unb  Schwefel 
ju  ben  Slürpcrit  gehören,  bei  betten  Trucf  bett  ©chmeljpunft 
erhöht,  welche  alfo  im  Gentruin  jiterft  ftarr  werben  miiffen. 
gorbeS  fagt  3.  ©.,  „baß  Diicmattb  jemals  eine  Sttaffe  0011 
gefcl)tttol3eitem  fDietaH  ober  ©chwcfel  juerft  im  Ämtern  höbe 
Irpftallifiren  ober  erftarren  fehett,  ba  baS  innere  folcfjer  Üßaffen, 
wie  woßl  befannl  ift,  flüffig  bleibt,  ttachbem  fich  auf  ber  Cbcr* 
fläche  eine  itrufte  gebilbet  hat/  unb  weiter,  baß  bie  ftrufle 

(»84} 


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29 


immer  an  ber  Oberfläche  bleibt  unb  nicht  finft".  ßbenfo 
bemerft  er,  „baß  eine  Stufte  tom  ©eroidjt  2,65  nicht  tief  in 
bie  flüffige  SJiaffe  ber  Srbfugel  mit  ber  mittleren  didjtigfeit 
6on  5,3  einfinfen  fönne." 

Me  ißerfucfje,  bie  mir  im  Saboratorium  oornefjmen  fönnen, 
feiben  an  bem  Uebelftanbe,  baß  fie  in  oief  ju  Meinem  SOiaßftabe 
gegenüber  ben  natürlich  gegebenen  SSerßättniffen  oorgenoramen 
werben  miiffen.  SBeber  fönnen  mir  mit  großen  9J2affen,  nod) 
unter  ßojjen  dritd»  ober  Xcmperaturoerljäftniffen  arbeiten, 
wenigftenS  nicht  annäßernb  unter  ben  in  ber  Siatur  oorfom- 
menben.  SSenn  j.  58.  eine  ©djmefefmaffe  im  Saboratorium  oon 
ber  Oberfläche  ßer  erftarrt,  fo  liegt  ba§  moljf  meift  an  ben 
Meinen  diraenfioiten  be3  ©efäßeS,  an  beffen  SBanbungen  bie 
juerft  gebilbeten  feften  Tljeile  abfjciriren  unb  fo  am  ©infen  wer- 
fjinbert  merben.  dann  aber  ift  aucß  bie  demperaturoertfjeilung 
eine  anbere,  a(3  in  ber  Srbe,  unb  fcfjließlid)  fpielt  bie  drutf« 
bifferenj  jroifdien  ben  im  Innern  be8  ©djmefjtiegefS  befinb* 
liehen  ÜJiaffen  unb  ben  an  ber  Oberfläche  liegenben  dfjeifcn  beS 
©d)mehfluffc§  feine  fRoHe.  Sin  meiterer  Uebelftanb,  ber  faum 
$u  befeitigen  ift,  ift  ber,  baß  gerabe  bie  dfjeile,  meldje  bem 
höchften  dritcf  untermorfen  fittb,  bie  am  58oben  be$  ©efäßeS 
befinbli^en,  jugleicf)  ben  höchften  Temperaturen  burd)  bie  oon 
unten  f)er  ermärmenbe  gtamme  au§gefe$t  finb.  — daß  bie 
.gäfjigfeit  beg  erftarrenben  ©djinefjffuffeS,  meldje  baS  Sinfinfen 
ber  an  ber  Cberflädje  gebilbeten  feften  ftrufte  in  ba§  innere 
erfdjmert,  bei  ben  fleinen  dimeitfionen  beS  @d)me4fluffe3  im 
Saboratorium  einen  größeren  Sinfluß  haben  roirb,  al§  bei  ber 
erftarrenben  Srbe,  liegt  auf  ber  §anb. 

da8  Sßerfjalteti  ber  SDictafie  ift  für  bie  Sntfdjeibung  ber 
grage,  ob  bie  Srbe  feft  ober  fliiffig  fei,  nicht  oon  fo  erheblicher 
SBebeutung,  mie  ba»  Verhalten  ber  ©ilifate.  diejenigen,  roeldje 
einen  feuerfliiffigeit  Sern  ber  Srbe  anneijmen,  tf)un  bieS  ijaiipt« 

(83:.) 


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30 


fädjlidj,  weil  bie  Sulfane  feuerflüffigeg  SWateriaf  liefern.  SBeitn 
fich  nun  aber  nadjroeifen  lägt,  bafj  bie  ©ilifate  ju  ben 
Stoffen  gehören,  bei  benen  fyotyt  ®rucf  bie  Serfeftigung  be- 
günftigt,  welche  alfo  fjöcf)ft  wahrfdjeinlich  in  ber  Xief e 
in  feftem  ßuftanb  oorhanben  finb,  fo  ift  ein  |>aupt- 
argument  ju  ©unften  beg  flöffigen  ©rbinnern  feiner  roic^tigften 
©tü$e  beraubt.  SDie  Sulfane  beförbern  ja  befanntlicfj  »orjugä* 
weife  ©ilifate  au  bie  ©rboberfläcfje,  SDfetaHe  (@ifen)  wenn  auch 
an  oerfcfjiebenen  Orten,  hoch  nur  immerhin  feiten. 

grüner  würbe  gefagt,  baf}  für  ©efteine  ber  ejperimenteße 
iKadfroeiS  geliefert  würbe,  baff  fte  bei  ber  ©rftarrung  Son> 
traftion  erleiben.  ©g  beburfte  faum  beg  mühfamen  ©jperimentg, 
um  bieä  ju  jeigen.  2)ie  SRatur  felbft  beweift  ung  bie  S^atfac^e : 
bie  ©jperimente  fönnen  angefodjten  werben,  bie  natürlichen 
2hatfachen  nicpt. 

% orbeg  hatte,  wie  oben  gefagt,  geleugnet,  baff  ©änge 
unb  Säger  oon  ©ruptiogefteinen  Stontraftiongerfcljemungen  jeigen. 
SSie  gleich  gejeigt  werben  foH,  hohen  hei  biefen  aller  SBahr* 
fcheinlichfeit  nach  hefonbere  Serpältniffe  mitgefpielt.  Sei  Suppen 
unb  Oberflächenergüffen  ift  bie  ©rfcheinung,  baff  bie  augge« 
worfelten  Sßiaffen  bei  ber  ©rftarrung  Sontraftion  erfuhren,  eine 
recht  häufige.  Sefonberg  augenfällig  finb  bie  feit  alterg  befannten 
fäulenförmigen  Slbfonberunggformen  ber  Safalte  unb  Ouarj* 
porphhre,  fowie  bie  neuerbingg  erft  befannt  geworbenen  Säulen 
beg  Obfibian.®5  Cuargporphpre  unb  $ßhon°ftrt)e  jcigcn  oft 
plattige  Slbfonberung.  SBarum  in  einem  gafle  bie  Sontraftiong* 
riffe  paraflel,  im  anberen  gaße  fenfrecht  jur  Sbfühlunggfläche 
gebilbet  würben,  biefe  ©rfcheinung  bebarf  noch  her  ©rflärung; 
bafj  aber  eine  Sontraftion  in  allen  biefen  gälten  ftatt» 
fanb,  ift  f ich  er.  SSenn  ©änge  unb  Säger  bie  Sontraftiong* 
erfcpeinungcn  oft  ocrmiffen  laffen,  fo  mag  bag  an  ihrer  Silbung 
liegen.  SSenn  burcp  einen  Srater  gluthflüffigeg  SOiaterial  aug- 

(836) 


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31 


geworfen  war,  fo  mußte  bie  innerhalb  beS  Sraterä  befinblidie  ÜHaffe 
— ber  ©ang  — lange  glü^enb  bleiben,  ba  burcf)  bie  iiberlagernbe 
SDede  gefdjmolgener  Saoa  unb  bie  burd)  ben  Transport  ber  ©lutb» 
niaffe  erbeten  ©eitenwanbe  beä  ©angeS  eine  rafd)e  Slbfüblung 
oerßinbert  würbe.  fjaitb  a^er  *>od)  ©rfaltung  unb  bamit  Äon- 
traftion  ftatt,  fo  ift  nidjt  unwabrfdjeintid),  baß  bie  jwar  im  So» 
lumen  oerringerte,  aber  boc^  nod)  gäbe9ttaffeburcb3ufammenfinfen 
in  fic§  felbft,  bejiebungSweife  9tadjfd)ub  ton  unten,  wieber  ben 
©eitenwänben  beS  ÄraterS  angefdjmiegt  würbe,  fo  baß  ber  ohnehin 
nicßt  bebeutenbe  Setrag  ber  Sfontraftion,  ber  bei  ber  enbgültigen 
geftwerbung  entfte^en  mußte,  fidj  ber  Seobadjtung  leicht  ent- 
heben fann.  $anbelt  e£  fid|  bod),  wenn  audj  bie  Silbung  oon 
SontraftionSriffen  ftattfinbet,  immer  nur  um  jiemlidj  geringe 
Srogentfäße  ber  ©efteinSmaffe  bei  ber  3tfantmengief)un3-  ©ei 
einem  oljnefjin  fcßmalen  ©ang  wirb  fid)  ein  ÄontraftionSriß,  ber 
oieHeidjt  1%  ber  ©angmaffe  beträgt,  fcßwcr  beobachten  laffcn. 
©inen  fo  großen  Setrag  ber  Äontraftion,  wie  ißn  SifdjofS  Ser- 
fuche  ergeben  batten,  weift  bie  Seobadjtung  in  ber  ÜRatur  nicßt 
auf,  unb  barin  fönnen  wir  goebeS  fRecßt  geben,  baß  er  bie 
©röße  biefer  3ab*eit  angreift.  Sei  ben  Sägern  ton  ©ruptio» 
gefteinen,  welcße  nach  Slnfidft  jaf>lreid)cr  ©eologen  jum  großen 
fogenannte  „intrufioe"  ©ruptiogefteine  finb  (b.  b-  folthe, 
bie  gwifdjen  aitbere  ©efteine  eingepreßt  würben),  berrfd)ett 
ähnliche  Serbältitiffe,  wie  in  ben  ©ängen.  Seftätigt  werben 
bie  oorftebenben  2lu$füf)rungen  baburcß,  baß  bie  inneren  Ibe*k 
mächtiger  Safaltmaffen  g.  S.,  weldje  oberflächlich  ©äulen* 
abfottberung  geigen,  biefe  ©rfcßeinung  nicht  aufweifen. 

Süden  wir  nod)  einmal  guriid.  ®ie  Setradjtung  ber 
Srägef  f i on$- unb  SlutationSerf  Meinung,  fo  wie  ber  ©bbe* 
unb  glutbböbe  finb  gu  ©unften  eines  foliben  ©rbinnern 
beutbar.  ®ie  Unterfudjuitgen  ber  ©rftarrungSerfcßei* 
nungen  laffen  fid)  begüglid)  ber  SKetalle  oielleicßt 

<#S7) 


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begüglidj  ber  Silifatgefteine  jebcnfallS  gu  ©unften 
ber  Vlnficht,  bie  ©rbe  fei  feft,  oermerthen.  SBenn  wir  uns 
bemnadj  gu  biefer  Snficht  befettuen  wollen,  jo  liegt  unS  nodj  ob, 
gu  prüfen,  wie  vertragen  fich  bie  oulfanifchen  Srfdjeinungen  mit 
ber  behaupteten  Starrheit  ber  ©rbe?  Stuf  ben  erften  SSticf 
fdjeint  ja  bie  einfache  Jhnifa^K/  bnjj  gluthflüffige  SKaffen  bem 
Srbinnern  entfteigen,  unfere  Slnfic^t  ooQftänbig  gu  entfräften. 

Son  §opf  ins  würbe  fchon  oben  mitgetljeilt,  bafj  er,  nach* 
bem  er  fid)  für  bie  Starrheit  ber  ©rbe  entfchieben  hnlle,  gnr 
©rflärung  beS  SulfaniSmuS  eingelne  .pohlräume,  mit  flüffigen 
Saöen  gefüllt,  unterhalb  ber  Sultane  annahm. 

3u  berfelben  Slnfic^t  fam  auch  SB.  Ihomf°n*  b«<hte  fi<h 
ben  ©rftarrungSoorgang  folgenbermajjen : „Sobalb  bie  Oberfläche 
anfing,  gu  erftarren,  unb  in  fo  großer  äWenge  erftarrt  mar,  ba§ 
fte  nicht  mehr  fchwimmen  fonute,  fanf  bie  Dflaffe  gegen  baS  ßentrum 
hinab,  ©rneute  ©rftarrung  an  ber  Oberfläche  erfolgte.  Such 
baS  9ieuoerfeftigte  fanf,  utib  baSfelbe  mieberljolte  fich  wieber  unb 
wieber.  SRadj  unb  nach  würbe  eine  Srt  oon  wabenförmigem, 
feftem  ©erüft  gebilbet.  SS  entftanb  ein  Sfelet  ober  SJtahmen 
burd)  bie  gange  SOfaffe,  in  welcher  fich  fßfeiler  bis  gur  Ober* 
fläche  erhoben.  Sn  ben  gnufd^mmunien  jmifchen  biefeit  fßfeilern 
entftanben,  wenn  fie  nahe  genug  beieinanber  ftanben,  aus  ben 
erftarrten  Saoen  Sriicfen  ton  feftem  ©eftein,  bie  im  SerpältniB 
gu  ihrer  Sreite  bicf  genug  waren,  um  nicht  einguftürgen  uub 
gu  fiufen.  . . . flfach  unb  nach  würbe  bie  wabenartige  ÜJiaffe 
nafjegu  feft  mit  nur  unbebeutenbeit  3eöeu  oon  flüffiger  Saoa." 
(StwaS  gefiirgte  Ueberfefcung  ber  betreffenben  Stelle  bei  Xhom)°n  ) 

SDiefclbe  Snfidjt  wirb  auch  in  ben  berühmten  Principles 
of  Geology  Speü’S  angenommen.  3a^re*^en  ©eologen  fchcint 
inbeS  biefer  28eg  ber  Sereinbarung  ber  ©rgebuiffe  phpfifaltfchcr 
^Berechnung  unb  geologifcher  Seobadpung  nicht  paffenb.  Sn 
einer  großen  3afü  twn  Sehrbüchern  wirb  entweber  unter  Sgno- 

.'838) 


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33 


riruiig  ber  oben  befprod^etteit  ^Berechnungen  ben  Suffanen  ju 
Siebe  an  bem  flüfftgen  guftanb  ber  ©rbe  feftgeljalten,  ober  bie 
grage  nach  ber  £>erfunft  ber  Saoen  al*  eine  offene  be< 
hanbeft. 

©in  ganj  befonbere*  Verbienft,  bie  non  ben  ^S^ftfent  be- 
hauptete Starrheit  ber  ©rbe  mit  ben  ©rgebniffen  gcoIogifcEjer 
gorfdjungen  in  Uebereinftimmung  p bringen,  hat  fich  9t e per 
erworben,*6  inbem  er  über^eugenb  nachgewiefen  hat,  baß  felbft 
ftarre  ©efteinc  unter  geeigneten  Umftänben  inffüffige 
Saoen  über  geführt  unb  fo  jur  Eruption  gefangen  fönnen. 

3n  fofgenbem  wirb  gezeigt  toerben,  wie  bie  ©ruption  fefter 
SWagmeit  möglich  ift,  unb  baß  gewiffe  ThQtfachen  ber  ©eftein** 
lehre,  bie  ba*  ntifroffopifc^e  Stubium  ber  garten  offenbart 
hat,  fich  am  einfachem  erffären  faffen  burch  bie  öon  SRe per 
behauptete  Starrheit  aller  Saoen  in  ber  Tiefe. 

Ta  bie  Sififate  p ben  Subftanjen  gehören,  mefche  bei 
bem  ©rftarren  fi(h  pfammenjiehen,  muß  ber  Trucf  auf  biefelben 
oerfeftigenb  toirfen.  Tie  üßofefüfe  berfelben  haben  bur<h  bie  hohe 
Temperatur  ba*  Veftreben,  fich  ooneinanber  p entfernen,  toefche 
Bewegung  aber  burdh  ben  bie  Sftolefüfe  einanber  näherttben  Trucf 
aufgehoben  Wirb,  ©in  pjeite*  ÜJioment,  welche*  berücffichtigt 
werben  muß,  befteht  in  ber  mehrfach  beobachteten  Thatfadje, 
baß  ba«  9Jtagma  oon  $füffigf eiten  burchtränft  ift. 
3n  ph^^n  ©efteinen  hflt  man  burd)  mifroffopifche  Unter» 
fudjung  @infcf)füffe  oon  fj^fftgfeiten,  Saljföfungen,  SBaffer  unb 
fefbft  ffüffiger  Sohfenfäure  unter  foldjen  SSerhältniffen  entbecft, 
baß  an  ein  nachträgliche*  fjjineingefangen  berfefben  nicht  p 
benfen  unb  an  ber  Urfprünglichfeit  ihre*  Vorfommen*  im 
©eftein  nicht  p zweifeln  ift.  daneben  aber  enthält  ba«  ©e* 
ftein*magma  noch  große  ÜJtengen  oon  ©afen,  welche  pnt 
Tf)eil  in  ben  ©emengtfjeifen  ber  gegarten  ebenfo  Wie  bie 
Jlüffigfeiten,  _ bie  man  bei  Sfnwenbung  ftarfer  Vergrößerungen 

Sammlung,  SR.  g.  V.  118.  3 (839) 


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34 


erfemtt,  — eingefchloffen  finb,  $um  aber  auch  bei  jeber  <Srup> 
tion  in  großer  ÜJienge  ben  Kratern  unb  ben  fiaoafirömen  entfteigen. 

Tie  2RögIid)feit,  baß  fidj  glüffigfeiten  imb  ©afe  mit  bem 
ÜJiagma  in  ber  liefe  mifcfjen,  ift  burd)  ben  Trucf,  unter  bem 
fie  ftcfj  befinben,  gegeben.  @8  ift  experimentell  feftgefteßt  morbcn, 
baß  ©ubftanjcn,  bie  fic£|  unter  gemöhnlid)en  ©erljältniffen  nid)t 
mit  SBaffer  mifdjen,  bie«  unter  l)opem  Trucf  tlptn,  roie  ebenfo 
aud)  bie  gefteigerte  £ö$lid)feit  ber  ©afe  unter  Trutf  längft 
befannt  ift. 

2Sir  haben  un8  alfo  ba8  SJlagma  in  ber  SEiefe  heiß,  mit 
glüffigfeiten  unb  ©afen  gemifi^t,  aber  infolge  be§  über 
bemfelben  laftenben  3)rud8  ber  überlagernben  ©efteine  feft  oor» 
jufteßen. 

SBirb  Paraffin  in  einem  gugefdjmolgenen  SRoljre  ertoärmt, 
felbft  meit  über  feinen  ©djmeljpunft,  fo  bleibt  eS  ftarr,  weil 
ber  in  bem  gefdjtoffenen  SRoljr  entftefjenbe  Trud  bie  ©erflüffigung 
»erhinbert.  SBirb  baä  Ütof)r  geöffnet,  ber  Trud  oerminbert,  fo 
tritt  faft  augeitblidlid)  ©d)meljung  ein. 

SBirb  ber  Trud  über  bem  ©efteinSmagma  ber 
Tiefe  »erringert,  ma8  $.  83.  burd)  SBerfdjiebung , ©paltem 
bilbung,  ©tauung  in  ben  überlagernben  ©efteinen  gefdjepen  !ann, 
fo  tritt  in  bem  SDiagm«,  ba$  infolge  bcS  35 r u cf S feft  mar, 
ganj  ober  tpeilmeife  ©erflüffigung  ein.  Ter  ©rab  ber 
©djmeljung  mirb  ein  mehr  ober  meniger  öoßfommener  fein. 

@2  merben,  faßs  bie  Trudoerminberung  fich  bis  in  große 
liefen  mit  po^en  Temperaturen  erftrcdt,  mit  anberen  SBorten  ein 
erheblicher  ©palt  bie  ©rbrinbe  burchfeßt,  felbft  bie  am  fchmerften 
fdjmeljbaren  ©eftanbtheile  be8  SDiagma  mit  »erflüfftgt  merben. 

3n  anberen  gäßen,  mo  bie  Trudoerminberung  meniger  bebeutenb 
ift,  mirb  bie  SBärme  öiefleidjt  nur  au8reid)en,  um  einen  Tljfil 
ber  in  bem  intrateflurifchen  ©eftein  befinblidjen  ©toffe  in  flüffige 
gorm  ju  bringen. 

(840) 

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35 


$>ie  2)rucfoerminberung  ift  inbeffett  nid)t  nur  Ur}adje  ber 
SJerflüffigung,  fonbeni  fic  oeranlafjt  aud),  bafe  bie  ©afe,  welche 
burd)  ben  2)rucf  bem  ÜÄagma  beigefeßt  waren,  plö&lidj  ent- 
weichen. ©o  erfrört  e8  fich,  baf}  bei  jeber  ©ruption  ÜJtaffen  öon 
Söafferbampf,  ©Ejtorwafferftoff  unb  anbercti  ©afen  bem  ftrater 
entftrömen.  3)ie  ©afe  finb  aber  auch  mit  Urfache  beS  Muf- 

fteigenS  ber  Sana  im  ©cf)lot  beö  33ulfan3.  3)er  $rutf,  ben  bie 
überlagembeit  OfclSmaffen  auf  bie  oerflüffigte  Sana  ausüben, 
würbe  nicht  genügen,  um  biefelbe  hohe  33erge  h‘naufäutreiben. 
2)a3  ift  bie  Seiftung  ber  ©afe,  bie  fich  plö&lich  au8  ber  £aoa 
entbinben.  9teper  oergleicht  ben  Vorgang  treffenb  mit  bem 

Muffteigen  foljlenfauren  SBafferg  in  einem  Siphon.  2)urd)  ben 
$rud  beä  gefchtoffenen  ©efäjjeg  ift  bie  ftohtenfäure  in  bem 
SBaffer  gelöft.  ©obalb  burd;  Deffnen  beS  Sßentilß  ber  $>rud 
oerminbert  wirb,  treibt  bie  aus  ber  glüjfigfeit  freiwerbenbe 
fiohlenfäure  ba3  SEBaffer  in  bie  |>öf)e  unb  jerftäubt  esi.  ©erabe 
fo  jerftäuben  bie  ©afe  beö  2Jtagma3  bie  £aoa  ju  Mfche  unb 
$uff.  ©3  braucht  wohl  faum  befottberö  betont  ju  werben,  bafj 
bie  eben  mitgetheilte  Mnfidjt  fich  njcfentlicf)  oon  ber  älteren 
93ulfantheorie,  bie  heute  af$  gänjlich  iiberwunben  gelten  fann, 
unterfcheibet.  früher  nahm  man  an,  bafj  bie  ©pannung  ber 
im  ©rbinnem  gebilbeten  ©afe,  ihr  ®rucf  gegen  bie  ©rbfrufte, 
Urfache  ber  ©eben,  fowie  beS  MuftriebS  be$  flüfftgen  ©rbinnem 
in  ben  ftratern  fei.  ÜRad)  biefer  älteren  Theorie  waren  bie 
Sßulfane  bie  ©idjerheitäoentile  ber  ©rbe,  welche  oon  ben  ©afen 
geöffnet  würben,  wenn  ber  2)rud  einen  gewiffen  ©rab  iiberftieg. 

SBoflte  man  bie  alten  Theorien  mit  bem  im  ©iphon  ftatt- 
finbenben  Sßorgange  oergleichen,  fo  würbe  bie  Mehnlid)feit  her* 
gefteßt  fein,  wenn  bie  ftotjlenfäure  baS  iBentil  ber  glafche 
felbftthätig  öffnete.  ^^atfad^Iic^  ^at  fie  ba$u  nicht  bie  genügenbe 
©pannfraft,  ebenfowenig  wie  bie  ©afe  be3  ©rbinnem  ben 
Sfraterweg  freimachen  fönnett.  ®a$  ©a3  im  ©iphoit  fommt 

3*  (841) 


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36 


jur  Sßirfung  baburdj,  bafj  bic  f>anb  ba3  Sentit  öffnet,  ©ei 
ben  Sultanen  fpielett  bie  burdj  Kontraftion  bei  (Srbrinbe 
entftehenben  ©palten  bie  Solle  bet  baS  Sentil  öffnenben 
£anb. 

Sora  phpfifalifchen  ©tanbpuitft  lägt  fidj  gegen  bie  oor* 
gebraute  Deutung  ber  oulfanifchett  (Srfcfjeinungen  wohl  fchwerlich 
ein  ©inrnanb  ergeben,  e§  fei  bentt,  baß  man  leugnen  wollte, 
baß  bie  ©ilifate  ju  beit  ©ubftanjen  gehören,  bei  betten  Ttutf 
oerfeftigenb  wirft.  SBoHte  man  aber  biefelben  ju  ber  Klaffe 
oon  Körpern  regnen,  auf  welche  ber  Trucf,  wie  auf  Siä,  oer* 
flüffigenb  einwirft,  fo  wäre  eine  Sruption  überhaupt  unmöglich- 
SBirb  Si£  ftarf  fomprimirt,  fo  fdjtnilgt  e$  felbft  bei  nieberen 
Temperaturen.  Sach  Äufhören  beä  Trucfeö  muß  baö  ®i3,  wenn 
auch  oorübergehenb,  feft  werben.  Söürben  alfo  bie  erbbilbenben 
©ubftangen  bie  (Sigenfdjaft  mit  bem  SBaffet  tfjeilen,  baß  fie  beim 
(Srftarren  Sluöbeßnung  erleiben,  fo  müßte  ein  ©palt  in  ber 
©rbfrufte  bie  im  Snnertt  oieüeicfjt  flüffigen  ©ubfianjen  jur 
Serfeftigung  bringen.  Ter  bie  Trucfoerminberung  oeranlaffenbe 
©palt  wirb  oon  einem  ßaoapfropf  oerfchloffen,  welcher  ba3  alte 
Trucfoertjältnifj  wieberherftellt. 

Sllfo,  furj  jufammengefagt:  bie  ©ilifate  müffen  ju  ben 
©ubftanjen  gerechnet  werben,  welche  Trucf,  felbft  oberhalb  ihre« 
©chmeljpunfteä,  oerfeftigt,  benn  nur  unter  biefett  Umftänben  ift 
Eruption  berfelben  möglich-  ®er  ®*ncf  nimmt  in  ber  Tiefe 
ganj  enorm  gu,  bie  Temperatur  relatio  langfam;  mit  aller- 
größter Sßahrfcheiitlichfeit  alfo  behält  elfterer  über  bie  lefctere 
bie  Dberfjanb,  unb  bie  Stagmen  finb  in  ber  Tiefe  ftarr. 

fieptere  Sehauptung  wirb  noch  burch  eine  gan^e  ülnjahl 
oon  Seobachtuitgen  an  ©ruptiogefteinen  geftüjjt. 

Stau  fieht  in  ben  Tünnfcßliffen  nicht  feiten  |>omblenbe, 
©limmer  unb  anbete  bafijdje  ©emeitgtheile  am  Sanbe  eigen* 
thümlich  angefreffen,  forrobirt  ober  mit  einem  ©aume  oon 

tM2> 


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37 


SJiineralneubilbungen  umgeben.  3)afj  biefe  @rfd)einungen  nicf}t 
ber  berroüterung  jugefdjrieben  merbeit  bürfen,  geE>t  au«  ihrem 
83orfommen  in  ganj  frifdjen  ©efteinen  §ert>or.  3Jian  fonnte 
fünftlid)  biefclbeit  Srfdjeinungeit  herftetlen,  wenn  man  KrtjftaUe 
bet  betreffenbeu  ©ubftanjen  in  ©cfjmeläflüffe  non  ©ilifaten  ein- 
taudjte.  SDfatt  fann  bemnadj  bie  betriebenen  borfommniffe 
fo  erftären,  baf?  man  annimmt,  ^ornblenbe  unb  ©limmer  be« 
ftanben  jcfjon  in  ber  $iefe  in  einem  ©eftein , welche«  oor 
feiner  ©ruption  nid}t  eoUftänbig  oerflüffigt  mürbe,  aber  ba« 
pm  Ztjeit  oerflüffigte  ÜJiagma  griff  bie  ungefdjmol jenen  Seftcnb- 
t^eite  an.  3Jian  fönnte  aud>  uerfucfjen,  foldje  ©rfdfeittungen  fo 
ju  erftären,  baf?  man  bie  forrobirten  SKineratien  at«  erfte  2lu«« 
fdjeibuitgen  au«  bem  ©d)meljflufj  anfiefjt,  mdd)e  fpäter  mieber 
burd)  ba«  ÜKagnta  tlpitroeife  gelöft  mürben.  £ann  miijjte  aber 
jmifdjen  ber  erften  öilbung  biefer  SRineralien  unb  bereu  fpäterer 
Sßieberanflöfung  eine  d)cmifd)e  Ummanblung  in  bem  ©chmetjftufj 
fid>  ooltjogen  ^abett  I SEBotjer  fotlte  biefe  ftantmen? 

Stet)nlid)  bürfte  bie  ©rftärung  für  bie  fo  häufig  bei  ben 
Cuarjen  ber  Cuarjporp^tjre,  Siparite  unb  3it)i)oIitt)e  ange- 
troffene ©rfdjeinung,  (roetd)e  übrigen«  aucf)  bei  anbcren  SJfine- 
ralien  gefunben  mirb)  ber  abgerunbeten  Kanten  unb  ©inbudftungeti 
ju  geben  fein.  ®a«  Stuöfe^en  ber  Krpftalle  beutet  barauf  ^in, 
bafj  biefetben  in  einem  früheren  ^uftanbe  be«  ©eftein«  beftauben 
haben,  bann  aber  tfjeilmeife  gelöft  mürben.  3)ajj  fid)  ein  Krt)ftatl 
oon  freier  Kiefelfäure  au«  bem  SUtagma  nod)  oor  ben  fpäter 
au«gefchiebenen  mehr  bafifcfyen  Sütineratien  gebitbet  tjaben  fottte, 
ftef)t  nicfjt  mit  unferen  c^emifdjen  ?lnfd)auungen  in  ©inftang. 

©«  taffen  fidj  ttodj  mehr  beifpiete  anfütjren.  SRur  eine« 
oon  befonberer  bemei«fraft  fei  noch  genannt.  3n  ben  ber- 
einigten ©taaten  oon  Stmerifa  mürben  in  ben  testen  fahren 
mehrfach  bafatte*7  aufgefunben,  meiere  neben  Olioin  freie 
Kiefetfäure  in  f5orm  öon  Ouarj  enthielten.  @«  mar  bi«  baf)in 

(MJj 


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38 

unerhört,  baß  in  einem  ©eftein,  wie  SBafatt,  Ouarj  neben 
Olioin  öorfommen  fönne.  Stad)  aßen  früheren  ©rfaljrungen 
fonnte  Ouatj  neben  bem  bafifdjen  Olioin  nicfjt  hefteten,  fonbern 
eä  mar  ju  ermarten,  baß  bie  fötejelfäure  mit  ben  ©lementen  bes 
Olioing  ein  faurereg  ©ilifat,  etma  ber  ^projenreilje,  bilbete. 
SSäten  äße  ©ubftanjen,  bie  ben  Söafalt  jufammenfefcen,  gleich’ 
jeitig  in  gefchmoljenem  guftanbe  borfjanben  gemefen  unb  an 
ber  Oberfläche  ber  ©rbe  erftarrt,  fo  hätte  fich  nach  aßen  ©rfah* 
rungen  feine  freie  Äiefelfäure  neben  ober  oor  bem  Olioin  augfdjei« 
ben  fönnen.  2)enn  aßem  Snfdjein  nach  ift  *>er  Ouarj  ber  ältefte 
©emengtheil.  Sßoflte  man  bagegen  behaupten,  baß  in  ber  $iefe 
anberechemifche  Sffociationggefehe  für  bie  SBerbinbungen  herrfcfjten, 
unb  bemgemäß  bie  Silbung  beg  Ouarjeg  oiefleidjt  in  bie  Xiefe, 
bie  ber  aitbcren  ©emengtheile  an  bie  Oberfläche  ju  oerlegen,  fo 
märe  bag  eine  ^Behauptung,  melche  aßen  anberen  ©rfahruitgen 
jumiber,  biefem  einen  gaße  Su  Siebe  fonftruirt  märe.  2öir  finb 
ja,  mie  ^gegeben  roerben  muh,  noch  roenig  über  bie  Vorgänge 
in  ber  liefe  orientirt,  befonberg  auch  nicht  über  bie  Stoße,  melche 
ber  2)rucf  bei  chemifchen  Steaftionen  fpielt.  2)och  fann  ber  3>rucf 
entfchieben  nur  in  bem  ©inne  bie  Steaftionen  beeinfluffen,  baß 
er  ©lemente,  melche  an  ber  Oberfläche  menig  Steigung  ju 
d)emi jeher  ^Bereinigung  geigen,  oerbinbet.  ©ine  biffociirenbe 
SEBirfung  ift  faum  benfbar. 

Such  ber  Sugmeg,  bie  Ouarjfrpftaße  aug  burdjbrochenen 
©efteinen,  Duarjiten  ober  ähnlichen  gelgarten  ^erguleiten,  ift 
burch  bag  Sugfehen  ber  fraglichen  $rt)ftafle  unmöglich  gemacht, 
©ie  hoben  ganj  bag  Snfehen  urfprünglicher  ©emengtheile,  nicht 
bagjenige  frember  ©inßhlüffe.  Stoch  baju  finben  fie  fich  in  f° 
gleichmäßiger  SBertheilung  innerhalb  beg  ©efteing  unb  in  fo 
gleichartiger  ©röße,  baß  biefer  ©rflärunggoerfuch  entfchieben  alg 
oerfehlt  angejeljen  merben  muß. 

Stehmen  mir  aber  an,  baß  bag  ÜJtagma  in  ber  liefe  feft 

CSU) 


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39 


mar,  fo  fc^tuinben  bamit  aQe  ©chmierigfeiten.  35ie  themifchen 
Änafyfen  ber  betreffenben  ©afatte  jeigteit  (nach  »erjcfjiebenen 
gunborten  »erfc^iebe«)  52 — 57%  Äiefelfäure.  9iun  flieht  eS 
©efteine  mit  üuarj,  ©ranit  unb  Duarjbiorite  mit  49—52  % 
Äiefelfäure.  Sn  biefen  bat  baS  ©orfommen  beS  OuarjeS  nichts 
ÄuffaHenbeS.  demnach  fonnte  baS  ©afaltmagma  in  ber  $iefe 
in  ähnlicher  gorm,  »nie  e‘n  folc^e«  ©eftein,  ganj  gut  hefteten, 
fflenn  nun  burd)  Aufhebung  beS  3)rucfS  eine  ©erflüffigung  beS 
©efteinSntagmaS  in  ber  ©Seife  eintrat,  baß  bie  leichter  fdjmelj* 
baren  ©eftanbtlfeile  in  flüffiger  gorm  erfd^ienen , ber  fernerer 
fcbmel^bare  Quarj  aber  feft  blieb,  fo  muffte  ber  flüffige 
beS  äWagmaS,  nach  Slbjug  ber  als  fefter  Duarj  c^emifd^  uit- 
roirffam  gemorbenen  ßiefelfäure,  oerhältnißmäßig  bafifd)  fein, 
fonnte  alfo  auch  bafifdtje  9ttineralien,  mie  beit  Olibin,  jur  2luS* 
fc^eibung  gefangen  faffen. 

©Sollten  mir  baS  SKagma  beS  quargfiibrenben  SBafaftd  als 
©eftanbtheil  eines  pffigen  ©rbfernS  anfef)en,  fo  mürbe  baS 
©eftein,  obmoljl  tljatfächlich  epftirenb,  tom  c^emifc^en  ©tanb» 
punfte  eine  Unmöglichfeit  fein. 

©liefen  mir  noch  einmal  jurücf.  gür  bie  ©eantmortung 
ber  grage  na<h  bem  Hggregatjuftanbe  beS  ©rbinnern  maren  bie 
@rfd(einungen  ber  ©ra^effion  unb  Mutation  ju  ©unften  einer  im 
mef entließen  feften  Srbe  »ermert^bar.  ©benfo  bie  ©bbe  unb 
gluth.  SBurbe  bie  Söfung  ber  $rage  nerfud)t  unter  3ugrunbe» 
fegung  ber  Slnna^me,  bie  ©rbe  fei  ein  ft  ganj  ffüffig  gemefen, 
unb  betrachtet  bie  ©rftarrungSoorgänge,  fo  ergab  fid)  mit  SSaljr» 
fcheinfi<hfeit  bie  geftigfeit  beS  ©rbinnern,  inbem  mir  fanbett, 
baß  ber  $rucf  menigftenS  für  bie  bie  ©rbfrufte  bifbenben  ©ub* 
ftanjen  bie  ©rftarruitg  begünftigt,  Diel  leicht  auch  für  bie  ©e* 
ftanbtheife  beS  ©rbinnern.  Schließlich  mürbe  gejeigt,  baß  bie 
uulfanifchen  ©ruptionen  feineSmegS  nur  möglich  finb  unter  2ln- 
nähme  eines  flüjfigen  ©rbinnern , fonbern  fehr  mof)l  mit  ber 

(846) 


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40 


•Starrheit  ber  @rbe  tiereinbar  finb.  ferner  würben  einige 
Tßatfadjen  ber  ©eftein«Iefjre  ßerangejogen,  um  nadjjutoeifen, 
baß  wenigften«  uiele  Sauen  in  einem  früheren  .guftanbe  feft 
gewesen  fein  müffen. 

SBir  buben  un«  auf  einem  bunflen  ©ebiet  bewegt..  Tie 
unmittelbare  ©eobadftung  uerfagte  jumeift.  SBir  mußten  @r- 
fabrungen,  bie  im  Saboratorium  gcmadjt  waten,  auf  SSerßätt- 
niffe  übertragen,  bie  un«  im  großen  unb  ganzen  fremb  finb. 
SBir  wiffen  nichts  über  ben  Trud  unb  bie  Temperatur  in  grofjen 
Tiefen.  Oft  mußten  wir  un«  mit  SPföglicfjfeiten  unb  SBaßr* 

fdjeinlidjfeiten  begnügen. 

SBoIIeu  wir  un«  bemnacb  bod)  ber  Slnfidjt  anfdjließen, 
bie  @rbe  fei  ftarr,  fo  föniteit  wir  fagen,  nach  bem  heutigen 
Stanbpunft  unferer  Senntniffe  bQt  biefc  Slnfidjt  bie  größere 
SBafjrfdjeinlidjfeit  für  fidj.  Slnbererfeit«  jWingt  feine  entgegen- 
fteßenbe  ^Beobachtung  gerabeju  jur  Hnnafjme  eine«  flüffigen 
©rbinnern.  SBir  bürfett  aber  nie  oergeffen,  baß  unfere  Snfidjt  nidjt« 
weiter  ift  al«  eine  |>  p p o t b e f e , eine  ^ppotßefe,  bie  aüerbing« 
^Berechtigung  befifct,  bie  aber  bod)  eine«  Tage«  burd)  überrafcbenbe 
SSeobacßtuugen  erfdjüttert  werben  fann. 


^ntncrfungcn. 

1 Unter  allen  geologifcben  §t)potljefen,  j.  S.  bezüglich  ber  Sultane, 
ßrbbeben,  @e6irg«bilbung  ift  benjenigen  ber  Sorjug  ju  geben,  roeld)c 
überbauet  »on  ber  (frage,  ob  ber  Srbfern  flüffig  ober  feft  ift,  unabhängig 
finb.  2>ie  befannte  ffalbfiße  ©rbbebentbeorie  grünbet  fltf)  auf  bie 
Jpbpotbefe  oont  flüffigen  (irbinnern.  galb  nimmt  ben  flüffigen  ßrbtern 
ata  gegeben  an,  unb  fue^t  feine  Theorie  befoitberS  burd)  ben  ftatiftiidjen 
9lad)toeifi  be£  3l|fammentreffcn8  oon  (Srbbeben  mit  gemiffen  Sonftetlationen 
ber  ©onne  unb  be«  Sftonbe«  $u  ftü|en.  fBiH  galb  feine  Sbeorie  burd)- 
führen,  fo  ift  ti  in  aHererfter  Sinie  feine  ©a<be,  nadjjutoeifen  ober  audj 
nur  roabritbeinficb  ju  mailen,  baß  bie  Grbe  toirllidj  flüffig  ift,  bann  mag 
audj  ^gegeben  werben,  baß  ©bbe  unb  fflutberfdjeinungen  be«  ©rbinnern 
©rbbeben  erzeugen  tönnen,  baß  oulfanififje  (Eruptionen  unb  Srbbeben  ben 
(84«) 


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41 


Auftrieb  bet  flüfflflcn  Waffe  in  Spalten,  bcjiehuugemeife  miterirbifrijc  £>oöl- 
räume  ifjre  ©ntftchuug  uerbanfeu  fömieu.  3»  bent  SSJerf  „Xie  Umwälzungen 
im  SSeltatl"  (SBien  1890)  wirb  nur  an  zwei  Stellen  ganz  !nrj  gejagt,  bnß 
bic  ©rbe  fliiffig  fei,  weil  mehrere  Autoritäten  fidi  ju  (fünften  biefer  Anficht 
äußern,  oljite  zu  erwähnen,  bafj  immer  eine  größere  ober  geringere  öegner- 
feßaft  bagegen  beftanben  ßat.  Allein  ein  ft a t i ft i f rf) e r 'Jtacßwciä  bei? 
Zeitlichen  3u.famme ntref fenä  beweift  nod)  feinen  urjächlidjcn  3U‘ 
jammenßang.  Xen  '-Berjudjcu,  baö  3ufammentreffen  Don  ©rbbeben  mit 
gewiffen  fionftcKatioueu,  unabbängig  oom  fläffigen  ©rbfern.  ju  erflären, 
ift  au$  bem  ©runbe  ber  Vorzug  zu  geben,  weil  fic  einfadjer  finb,  als 
bic  ffalbfdje  .^ppotfjcfe  unb  fidj  nicht  auf  anbere  .fitjpotfjeien  ftüßcn. 

* 9iad)  fitjell,  Principles  of  Geology  1872,  II.  pan.  203. 

3 Xie  3al)len  finb  tl}eiI3  ben  Criginnlnblmnblungeit.  tbciw  3Ieu- 
matprä  ßrbgefchidjtc  unb  Dapparentä  Traite  de  Geologie  entnommen. 

4 X uh  der,  9i.  3oh*f>-  SBiett,  1889  I. 

5 Seioubcres  wichtig  ift,  baß  ba$  früher  behauptete  Anroa  äffen  ber 
gcotbermiidien  Xicfenftufen  mit  fteigenber  liefe,  weldjeet  man 
in  Spcrenberg  unb  ©rcncUe  beobachtet  haben  wollte,  in  Sdjlabebach  nidjt 
beobachtet  würbe.  Achnlidje  ©rgebuiffe  haben,  nad)  einer  münblidten  9)tit> 
theilung  uon  .fjerrn  Xr.  ©etliche  in  £>nmburg,  bie  in  fiieth  bei  ©Imbhorn 
oorgenommenen  IReffungen  gehabt. 

6 Tie  bieobe^üglidjen  fütteraturangaben  fichc  in  Slctier,  Xheoretifche 
©cologie.  Stuttgart,  Koch,  S.  20c;  ff. 

7 Philos.  transactions.  fionbou,  1872,  1873. 

* l’hilos.  transactions.  ©biuburg  1849,  XIV. 

* 9)1  oßr,  ©cid)id)te  ber  ©rbe.  3)onu,  1860,  S.  293  ff. 

10  .fiopfinä,  Philos.  transactions.  Sonbon,  1839,  1840  1842.  — 
Reports  Hrit.  Assoc.  1847,  1854,  1857,  1858. 

11  Jpeuuefji),  l’hilos.  transactions.  Ponbou  1851.  Nature  1872  V. 
— Xelaunap,  Geolog.  Magazine,  1808.  — ä3ab$roertf).  American 
Naturalist  1884. 

11  9B.  Xhomjon,  Trans.  Roy.  Soc.  Kdinlmrg  1804,  XXIII.  — 
l’hilos.  Mag.  1803,  XXV.  — Philos.  Irans.  Monbon  1863.  — Trans. 
Geol.  Soc.  ©laSgoW,  1878,  VI.  — Nature  1872  V.—  Xßomfon  unb 
Xaite  Natural  I’hilosophy  1807  I. 

13  Xhomfon,  Rep.  Hrit.  Assoc.  1870.  XLVI. 

14  9Ü.  Xhomfon.  l’roc.  Roy.  Soc.  London  1802,  1863.  — Phil. 
Magazine  1803. 

15  $oijf on  unb  Ampere,  Coinptes  Ilendus  1808  LXVI. 

10  0eo.  Xarwiu,  Philos.  trans.  London  1880CLXX,  1882  CLXXII. 

17  ®unien,  'Rogg.  Ann  1850.  — Phil.  Mag.  1853. 

(S 17) 


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42 


,s  Sor&tiS-  Pop.  Sei.  Rov.  1869  VIII.  — Gcol.  Map.  1867  IV. — 
Chemical  News  1868  VIII.  — 91.  Sialjrb.  Silin  1841,  184:5.  — Gool. 
Map.  1870  VII. 

19  tiallorf,  Amor.  Journal  of  Science  1887.  — Pagorio,  Tfdjer- 
ntafb  min.  petr.  311.  1887  VIII. 

s"  äJlallct,  Philos.  Trans.  1872.  — Proceeil.  Roy.  Soc.  ßonboii' 
1874  XII,  1875  XIII,  Nature  1874  X. 

Sl  (Sentncr,  Sllillcr,  ©fjitnet),  Nature  1877  XV,  1878  XVIII. 
— IKobcrtb,  I’ror.  Roy.  Soc.  Bonbon  1875  XIII. 

**  Proc.  Roy.  Soc.  (Sbinüiirg,  1879  X. 

,5  l’hilos.  Map.  1881  XI. 

*4  ©i^tutflSbcr.  'JC fab.  SHiindjen  1881. 

^bbiiiqä,  Obsidian  Cliff.  Yellowstone  Park.  Rep.  II.  S.  Geol. 
Snrvey.  Seventh  ann.  rep. 

a“  Thcorct.  ©cologie  S.  200. 

i:  3bbingS,  Amer.  Journal  1888,  XXXVI.  — Silier,  Amer. 
Journal  1887,  XXXV. 

Tie  öorfteljenb  angeführte  ilitteratur  ift  gröjitenthcilö  bircR  be- 
nutzt worben,  tljcilmeifc  finb  Slefcrate  ber  Criginalabljanblungen  oerweubet. 


(848) 


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Der 


(Befdjidltfilimiirr  (Contflius  Mus. 


S3on 

98.  W4 

USumnaiialproieftot  in  Vdlbroitn. 


Hamburg. 

3>er[ogoonfiatt  unb  Drutferet  'S.-®,  (tiormals  5.  9ficf)tev). 

1891. 


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2)a£  iHedjl  ber  Ueberjefcung  in  frembe  Spradjtn  roirb  uorbttjalten. 


Xrui  itx  8cc!ao«anftaU'unb  Studcrei  8cti«i-akfeB)(bafl 
.normal?  3.  5.  Sidjift)  in  Hamburg. 


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£)as  Staifcrreich  ift  ber  griebe  — biefcS  für  feinen 
Urheber  fo  wenig  gutreffenbe  23ort,  womit  Napoleon  IU.  feine 
£errfchaft  empfahl  unb  rechtfertigte,  war  auch  bas  SofungSmort 
beS  römifchen  ßaiferthumS,  gumal  feines  ©egrünberS  SluguftuS. 
©o,  atS  ber  griebenSfürft,  ber  bie  empörten  23 o gen  ber  ©ürger. 
friege  geglättet,  ber  bie  ©türme,  welche  Italien  unb  bie  gange 
abenblänbifche  SGBelt  aufguroühlen  unb  über  ben  Raufen  gu  werfen 
gebroht  hotten,  befchwichtigt,  als  ber  ©ringer  beS  §eilS,  ber 
göttliche  unb  menfd)liche  Orbnung  in  ber  23elt  wieber  tyex- 
gefteflt,  wirb  ÜtuguftuS,  unb  gewiff  im  ©inne  ber  Mehrheit 
feiner  ßeitgenoffen,  oon  §orag  befungen.  Slber  um  welchen 
©reis  war  ber  griebe  erfauft?  Um  ben  ©reis  ber  Freiheit 
unb  ber  Sürgertugenb.  ÜJtit  bem  Sßetteifer  bet  freien 
©ürger  um  bie  @hre  unb  SDfacht  im  ©emeinwefen  war  eigentlich 
bem  fRömerthum  fein  Snljalt  genommen;  nicht  mehr  baS  ©ange, 
ber  ©taat,  bie  ©efamtheit,  mar  eS,  bem  baS  23ir!en  beS  ©in* 
gelnen  galt,  fonbern  ein  SKenfcfj,  ber  wohl  biefen  ©egriff 
beS  ©taatS,  bie  ©efamtheit  beS  ©ürgerS,  ben  9teid)Sgebanfen, 
oerlörperte,  aber  ein  SRenfcf),  hinaufgehoben  über  äße  Slnberen, 
bie  wohl  unter  fid;  gleich,  aber  auch  gleich  waren  in  ber 
Änecffifchaft. 

2)en  ©chmerg  barüber,  um  welchen  ©reis  bie  einheitliche 
Orbnung  beS  9teicf|S,  bie  ©efriebung  ber  2Selt  erlangt  war, 

Camatiing.  9t  fj.  V.  11».  1*  (851) 


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beit  Schmerj  um  bie  oerloreue  greiljeit  uub  SRömertugenb  ^at 
SRiemanb  tiefer  gefüllt  uitb  Berber  an«gefprodjen  al«  bet  ©e» 
fdhi<ht«fchreiber  ßorneliu«  Xacitu«,  ben  mir  roofjl,  roie  man 
SBrutu«  unb  Saffiu«  bie  lebten  Slömer  be«  93ürgerthum«  genannt 
hat,  ben  lebten  3tömer  in  ber  2itteraturgefdjicf>te  nennen  bürfen. 

X)er  große  2tuff(^mutig  ber  @efchichl«forfchung  nnb  ©e- 
fc^ic^tSfc^reibung  in  ben  lebten  3afjrje£)nten  Ijat  auch  auf  bie 
römifche  $aifer$eit  uub  ihren  ©ef<hicht«fchreiber  Xacitu«  bie 
Äufmerffamfeit  mieber  in  ^ö§erem  ©rabe  gelenft,  unb  nie  fiub 
über  iljn  unb  feine  SBerfe,  roie  über  bie  Xiuge  unb  ißerfonen, 
uon  »eichen  er  fjanbelt,  umfaffenbere  Stubien  gemalt,  ent> 
fdjiebenere  unb  auSeinanbergehenbere  Urteile  auSgefprodjen 
worben,  fo  baß  mir  nicht  bloß  auf  benjettigen  Äaifer,  welchem 
ein  großer  unb  ber  berüljmtefte  Xfjeil  feiner  @efchicht«bücher 
geroibmet  ift,  Xiberiu«,  fonbern  aud)  auf  Xacitu«  felbft  ba« 
SBort  anwenben  tönnen:  83  on  ber  Parteien  ©unft  unb  £aß 
berroirrt,  fc^roaitft  fein  S^arafterbilb  in  ber  ©efdjidjte. 

£jören  mir,  ohne  ber  fpäteren  2lu«einanberfeßung  oorju- 
greifen,  junädjft,  roa«  md)t  ein  iß^itotoge  roie  83ern^arbp  unb 
Xeuffel,  fonbern  ein  fo  unioerfaler  ©eift  roie  SRaufe  über  Xacitu« 
fagt:  „©eine  Schriften  jeigen  (gegenüber  auberen  Quellen 
ber  IJeügefäicfjte)  einen  burdjau«  Ijiftorifdjen  ß^arafter:  roir 
fönnen  feine  Xarfteöuug  in  einzelnen  Partien  fritifiren,  aber 
wir  werben  iljn  überall  berounbern"  — unb  bann  (nac^bem  er 
einige  fünfte  berart  auSgeführt  f)at):  „boch  ich  bin  e«  mübe, 
&u«fteflungen  an  ben  Sßerfert  eine«  Söleifter«  ju  machen,  ben 
idj  berounbere  unb  oere^re"  — fo  werben  roir  es  rooljl  ber 
2Jiühe  wert!)  finben,  bie  8ßerfönlidj!eit  unb  bie  SBerfe  unfere« 
©efdjidjtSfc^reiberS  eingebenber  ju  betrachten. 

Xacitu«  theilt  mit  fo  oiefen  berühmten  sJiamen  au«  ber 
alten  fiitteratur  ba«  £oo«,  baß  roir  über  feine  perfönlicßen 
83erf)ältniffe  wenig  Sichere«  roiffen.  2Bir  fennen  roeber  feine 

C8&2) 


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5 


gamilie  unb  feinen  @eburt«ort,  noch  ba«  3<>hr  feiner  ©eburt  ober 
feine«  £obe«.  SRur  fo  öiel  fte^t  feft,  baff  fein  Sehen  oon  ber 
SRitte  be«  1 . Saljrljunbert«  n.  Ghr-  bi«  in  bie  lebten  3«iten  be« 
Saifer«  Jrajan  fidj  erftrecfte.  2>afj  et  au«  einem  angefeljenen 
unb  roof|If)abenben  $aufe  ftammte,  lägt  fein  Sifbungggang  unb 
feine  ftaatliche  Saufbahn,  fomie  feine  SBejie^ung  ju  ber  gamilie 
be«  Slonful«  Ägricofa  fdjliefjen,  unb  e«  fteljt  nid}t«  im  Söege, 
feinen  SSater  in  bem  fRitter  Sorneliu«  Sacitu«  ju  fefjen,  melcher 
nach  ^Iiniit«’  Angabe  ba«  SRechnungSmejen  in  ber  ißrooinj  ©allien 
beforgte.  grüh  bilbete  er  fidj,  roa«  nod)  immer  bie  ©d)ule 
be«  Staatsmann«  mar,  jum  fRebner  au«,  unb  meiere«  ber  ©ang 
biefe«  ©tubium«  mar,  fdjilbert  er  felbft  in  bem  ©efprädj  über 
ben  SRebner  in  anfchaulidjer  SBeife.  81«  feine  Sehrer  nennt  er 
ben  ÜRa  reu«  Slper  unb  Quliu«  ©ecunbu«,  bie  beiben  ^auptoer» 
treter  ber  bamaligen  mobernen  üerfünftelten  fRebemeife.  ®afj  er 
auch  ben  Unterricht  be«  Ouintitian  genofj,  ber  oon  SBefpafian 
al«  ißrofeffor  ber  Söerebtfamfeit  angeftetlt  mürbe  unb  bie  be« 
rütjmtefte  ©dfule  hotte,  ift  mahrfcbeinlid),  menn  auch  nicht  be» 
fonber«  bejeugt.  8ber  mit  biefer  theoretifchen  Anleitung  fonnte 
ein  9Jiann,  ber  bie  frühere  alte  ©itte  angehenber  fRebner,  fi<h 
an  bebeutenbe  öffentliche  fRebiter  anjujd)fiehen,  fo  fehr  preift, 
nicht  jufrieben  fein,  er  fuchte  auch  aufjerhafb  ber  ©chule  Um- 
gang unb  SBerfehr  mit  ben  bebeutenbften  SRebnem,  ©taatSmän» 
neru  unb  ©chriftgefehrten  feiner  3fit,  nnb  fein  jüngerer  3e't* 
genoffe  fßliniu«  bezeugt  in  feinen  Briefen,  morunter  mehrere  an 
lacitu«  gerichtete,  bah  beffen  9?ame  ein  gefeierter  mar,  bah  er 
umbrängt  mar  oon  Schülern  unb  Sehrern  ber  SRebetunft  unb 
über  anjuftellenbe  fRebelehrer  af«  Autorität  befragt  mürbe, 
©eine  iReberoeife  mirb  oon  ißliniu«  htrj  unb  treffenb  mit  bem 
?lu«brud  atfivoq  bezeichnet : feine  ©erebfamfeit  mar  eine  ge« 
maltige  unb  trug  ba«  ©epräge  be«  gehobenen.  S)ah  er  auch 
bie  anberen  äöiffenfchaften  be«  Staatsmann«,  ba«  fRe<ht  unb  bie 

(863) 


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6 


©efcbicbte,  ftubirte,  ift  felbftoerftänbfic^.  &udj  mit  ber  ©b'lO” 
fopbie  mar  er  tiertraut ; bodj  fagt  er  felbft,  baf?  eine  fingern* 
bere  ©efc^äftigung  bamit  binau«gebe  über  ba«,  mag  einem 
Körner  unb  (Senator  geftattet  fei. 

3m  Älter  non  etlichen  unb  20  3af)ren  mürbe  iljm  bie  ßbre 
in  tbeil,  bn§  er  eine  ©attin  au«  oornebmem  $aufe  ^eimfü^rte, 
bie  Softer  be«  Äottful«  Suliu«  ÜTgricoIa,  be«  ©efieget«  oott 
©ritannien,  meinem  er  in  ber  ihm  gemibmeten  Schrift  ein  berr» 
liebe«  Senfmal  ber  ©erebrung  unb  2iebe  gefefjt  bat.  ^ierbureb  mar 
er  in  ben  Ärei«  ber  haften  gamilien  aufgenommen,  in  benen 
noch  ©ömerftotj  unb  ©omertugenb  febte,  roelcbe  unter  Somitian 
in  fo  heftige  Kämpfe  mit  ber  |>errfcbergemalt  oermicfelt  mürben. 
$ocb  ift  nicht  befannt,  bafj  Sacitu«  felbft  fernerer  betroffen 
morben  fei.  SBie  meit  bie  Änfpielung  im  Slgricola,  mo  Sacitu« 
ton  ben  lebten  feiten  Domitian«  fpriebt,  ba  biefer  nicht  mehr 
in  ^mifebenräumen,  fonbern  in  einem  fort  mutete  uitb  gleicbfam 
mit  einem  Streich  ba«  öffentliche  ßeben  nieberfeblug,  unb  fort- 
fährt:  „Unfere  $änbe  fcbleppten  einen  ^elöibiu«  ©rifeu«  in« 
©efättgnifj,  un«  übergofj  Senecio  mit  feinem  ©lut"  — inmieroeit 
biefe  Slnfpielungett  auf  bie  perjönticbe,  gelungene  SDlitmirfung 
be«  Sacitu«  ober  blofj  auf  bie  Wu«fübrung  ber  ttjramtifcben 
üüJafjregeln  bureb  ben  Senat  überhaupt  ficb  bejieben,  läfjt  ficb  nicht 
mohl  entfebetben. 

©on  feiner  öffentlichen  fiaufbabn  fpriebt  Sacitu«  felbft  in 
ben  ^iftorien,  bafj  ©efpafian  ihm  bie  ©ahn  ber  ®brc,t  unb 
Slemter  eröffnet,  Situ«  ihn  beförbert  unb  Somitian  noch  böher 
erhoben  habe,  b.  b-  er  befleibete  unter  bem  erften  Saifer  ba« 
Smt  eine«  Duäftor«,  unter  Situ«  bie  Debilität  ober  ba«  Sri* 
bunat,  unter  Somitian  bie  ©ratur  zugleich  mit  einer  ber  haften 
©rieftermiirben.  ©ach  feiner  ©rätur  mar  er  brei  bi«  öier  3ahre 
oon  9iom  ferne  unb  mit  feiner  ©attin,  al«  bereit  ©ater  im 
Sabre  93  ftarb,  noch  abmefenb,  ob  al«  faiferlicber  ©eamter  in 

<«M) 


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7 


einet  Prooinj  ober  als  ^Befehlshaber  bei  einem  ©ren^eer,  ift 
unfidjer.  BefctereS  nimmt  man  gerne  an,  um  ihn  an  ben  9tt>eiu 
ju  cerfefcen,  mo  er  Gelegenheit  gefunben  habe  $u  ben  gorf^ungen 
über  ®eutfchlanb,  welche  er  in  feiner  ©ermania  nieberlegte. 

SRach  ®omitianS  ©djrecfenSregiment,  beffen  ganje  Regierung 
er  als  eine  fünfzehnjährige  Unterbriicfung  aller  ebleren  Strebungen 
unb  Regungen  branbmarft,  atmete  er  mit  flterbaS  Iljron« 
er^ebung  auf  mtb  ging  fofort  baran,  gerichtliche  SBerfe  ju 
fcfireiben.  Unter  SRerba  erlangte  er  bie  höchfte  SBürbe,  bie  beS  Jton- 
fulats.  (Er  hielt  in  folt^er  (Eigenfdjaft  bie  fieid^enrebe  auf  S3ir* 
giniuS  SRufuS,  einen  äÄann  uom  alten  fRuf  unb  alten  ©djlage, 
ber  unter  SRero  ben  äufftanb  beS  3uliuS  Sinbey  in  ©aUien 
niebergetnorfen  unb  bie  ihm  angebotene  Äaifertoürbe  aus  Patrio- 
tismus auSgefdjlagen  hatte.  ®ett  tReft  feines  Bebens  bis  jum 
ffinbe  non  SrajanS  «Regierung  »nibmete  er  feinen  gefdjicfjtlidjen 
©tubien  unb  ber  Stbfaffung  feiner  ©efchichtsmerfe,  nachbem  er 
ein  Beben  reich  an  ©rfa^rung  unb  eine  $eit  non  gewaltigen 
(Einbrücfen  hinter  fich  hatte  Ueber  bie  $eit  unb  bie  Ärt  feines 
®obeS  haben  mir  feine  Äenntnifj. 

®ie  uns  erhaltenen  Schriften  beS  ®acituS  finb  ber  3e>tfolge 
nach  biefe:  erftenS  ber  SMaloguS  ober  baS  ©efpräcf)  über  bie 
SRebner,  jebenfalls  feine  frühefte  Schrift,  welche  noch  bor  Domi- 
tian ober  in  bie  erfien  ßeiten  feiner  ^Regierung  fällt;  fobann  bie 
$wei  fleineren  hiftorifchen  Schriften  Slgricola  unb  ©ermania  auS 
ben  fahren  98  unb  99;  hinauf  bie  jmei  grofjen  ©efchichtSwerfe, 
bie  ^iftorien  unb  bie  Ännalett,  welche  bie  ©efchichte  beS  julifchen 
unb  flaöifchen  SlaiferhaufeS  jufammen  in  breiig  93ii^em  behan- 
beln,  mobon  bier$ehn  ben  fpiftorien  unb  fedfjSjehn  ben  Snnalen 
angehören.  Son  ben  ^iftorien,  welche  früher  berfajjt  finb,  aber  bie 
fpätere  3eit  bom  3ahre  69  bis  jum  (Enbe  ®omitianS  i.  Q.  96  behan- 
beiten,  haben  wir  nur  bie  erften  fünf  23ü<f)er  unb  jwar  nicht  ganj 
boDftänbig.  Son  ben  ?litnalen,  welche  bie  3«it  oon  ?luguftuS’  ®obe 

(S55) 


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8 


bis  SRero  erzählen,  finb  bie  erften  fünf  bis  fechS  unb  bk  festen 
fechS  ©üdjer,  beibemal  aber  auch  nicht  ganjnoflftänbig,  erhalten. 

&)t  mir  an  eine  eingeljenbere  ©etradjtung  ber  Üadtrifchetr 
SBerfe  gehen,  wirb  eS  nicht  ungeeignet  erfdjeinen,  einen  ©tief 
auf  bie  3eitnerhältniffe  unb  bie  3uftänbe  ju  werfen,  wie  eS  im 
öffentlichen,  gefellfcf)aft[i<fjen  unb  litterarifcfjen  2eben  SRomS  in 
ber  jweiten  ^älfte  beS  1.  galjrhunbertg  auSfal}. 

3)aS  römifche  9Rei<h  erreichte  eben  ju  XacituS’  .geit  feine 
höchfte  2Racf)tentfaltung  unter  Irojan,  welcher  burch  fiegreiche 
Kriege  mit  ben  Ladern  unb  Northern  bie  unteren  Jionaulänber 
mit  Siebenbürgen  unb  bie  Uuphratlänber  h’njufügte,  ein  SR  eich 
mit  einer  fflenölferung  non  100  SRiHionen  Einwohnern.  $>er 
SRittelpunft  unb  bie  $auptftabt  bicfeS  SReidjeS  war  9Rom  mit 
einer  ©eoölferung  non  etwa  2 SORiflionen,  eine  Stabt,  bie  ihres» 
gleichen  auf  ber  SBett  nicht  hotte,  ooüenbS  nachbem  unter  SRero 
jwei  drittel  ber  Stabt  umgebaut  unb  non  ber  alten  Stabt  unb 
ihrem  ungleichartigen  SluSfeljen  nor  ber  ©rächt  ber  ÜRarmot* 
paläfte  Wenig  mehr  ju  fehen  war.  3U  9taoS  ©rachtbauten  hotte 
©efpafian  ben  griebenStempel,  er  unb  UituS  ben  SRiefenbau  beS 
5ioloffeum8  hinjugefügt,  XituS  unb  2)omitian  aufjerbem  präch- 
tige $hermen/  einen  neuen  tapitolinifchen  Xempel  unb  baS  fog. 
gorum  beS  SRerna  gebaut;  hierzu  !am  enblich  baS  gorum  Xra- 
janS  mit  ber  Siegesfäule,  baS  noch  JuifonftantinS  3eit  als  un» 
oergleichlich  gepriefen  würbe.  3>iefe  £iäu  ferm  affe  war  burchwoben 
unb  umranft  non  retjenben  ©arten,  belebt  unb  erfrifcht  burch 
Jaufenbe  prachtnoller  ©runnen  unb  SBafferwerfe.  guflkith  a^er 
war  biefe  SRiefenftabt  belebt  non  einem  ©ewüf|l  non  ÜRenfchen 
aus  aller  Herren  Sänbern,  ber  äRittelpunft  beS  oerwirrenben 
SBettnerfehrS,  ber  gufammcnflufj  non  Sßaren  unb  3Rerfwürbig« 
feiten,  inSbefonbere  Äunft  werfen  beS  ganjen  ErbfreifcS,  eine- 
SBeltherberge,  wie  fie  fchon  bamalS  genannt  würbe,  eine  SBelt 
im  SluSjug,  compendium  mundi. 

(856) 


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9 


Unb  biefe  einzige  ©tobt  gehorchte  einem  SEBillen,  ein  £err 
unb  ©ott,  wie  fich  Galigula  unb  Domitian  nennen  ließen,  gebot 
über  biefe  SRiflioneu.  aber  er  nidjt  allein,  mit  ihm  fein  §of, 
ber  im  fiaufe  be«  SafjrljunbertS  eine  immer  weitere  au«behnung, 
immer  tiefer  greifenben  ©influf?  gewonnen  Ijatte.  3c  größer  ber 
Umfang  ber  ©efdjäfte,  je  höher  bie  Stellung  be«  dürften  war, 
befto  jaljlreidjere  £änbe  ^atte  ber  £>errfd)er  nötfjig.  filiert  bloß 
jur  ©ebienung  feiner  ißerfon  unb  feine«  $aufe«,  fonbern  auch 
al«  ©ehülfen  feiner  Slrbeit  unb  ©ertreter  in  ber  ©erwaltung 
ber  @efd)äfte  hatte  ber  ßaifer  ein  |>eer  oon  ©flaoen  unb  grei- 
gelöffelten.  So  bilbete  fidj  eine  £>ofbeamtenfchaft,  bie  halb  eine 
tljatfä{f}lid)e  SDGacht  würbe,  unb  welche  bie  Unterfd^iebe  ber  ©tänbe 
ber  früheren  ©efellfchaft  wefentlidj  auSjugleichen  geeignet  war. 
fieröorragenbeit  (Einfluß  Ratten  namentlich  bie  brei  ^ofbeamten : 
ber  @ef)eimjd)reiber,  ber  ©orfteher  be«  amte«  ber  ©ittfdhriften 
unb  ber  ©ermalter  ber  £>offaffe.  SBenn  auch  abwedjfelung«» 
weife  ju  folgen  Slemtern  römifefje  Witter  herbeigejogen  würben, 
fo  behaupteten  fich  boch  immer  wieber  bie  greigelaffenen,  in 
welchen  Dacitu«  eine  folche  fianbplage  erblicft,  baß  er  e«  al« 
ein  befonbere«  ©lütf  unb  beneiben«werthe«  ®ut  bei  ben  ©er* 
manen  preift,  baß  bort  ßreigelaffene  feine  höhere  ©olle  al« 
©flaoen  fpielen.  3hrc  Ohnmacht  ift  ihm  ein  ©ewei«  oon  Freiheit. 
?luch  ißliniu«  fagt:  „©roße  greigelaffene  finb  ein  ^auptmerfmal 
eine«  nicht  großen  dürften."  9Bie  biefe  greigelaffenen  ihr 
©chäfchen  ju  fcheeren  oerftanben,  baoon  ift  ein  ©ewei«,  baß  ber 
unter  ©laubiu«  allmächtige  SRarjiffu«  400,  fßafla«  300  SDliHionen 
©efterjien,  bie  größten  ©ermögen  ber  alten  SEBelt,  befaß.  ®nt* 
fprechenb  ihrem  ©ermögen  war  natürlich  auch  ihre  ©roßtljuerei 
unb  ©erfchwenbung.  Die  ©aber  ber  ßreigelaffenen  waren 
^-fprüchwörtlich  wegen  ihre«  ungewöhnlichen  ©runf«. 

©egenüber  unb  neben  biefem  f>of  mit  feinen  ©eamten  unb 
abhängigen  Leuten  ftanben  nun  bie  alten  ©tänbe  ber  Senatoren 

(857) 


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10 


unb  fRitter.  Stoch  mar  ber  Senat  bie  oberfte  Söe^örbe  bes 
SteidjS,  ber  eigentliche  StaatSrath;  alle  SlegierungSgefchäfte 
waren  in  ihm  oereinigt.  Selbftänbige  SRegierungSgewalt  freilich 
hatte  bie  Körperhaft  feine  mehr,  aber  immer  noch  hatt«  ft« 
ben  Schein,  bie  föerrfdjaft  mit  bem  Kaifer  ja  theilen,  fofem 
ihre  93erathungen  unb  ®ef<hlüffe  bem  SöiHen  be$  gürften  bie 
gefefcliche  gornt  berliehen.  ©rft  ®omitian  erniebrigt  auch 
äußerlich  ben  Senat  jur  ooflen  Siufl  unb  beanfprucht  bie  ®e* 
richtsbarfeit  über  benfelben  fraft  feiner  angemaßten  ÜJtachtfüfle 
als  |jerr  unb  ©ott.  Slber  unter  Sterna  unb  Trojan  mürbe  bie 
JBürbe  ber  Kurie  mieberhergefteöt ; jener  mar  felbft  ein  Senator, 
®rajan  ein  gütiger  fperr,  beffen  ^clbenfinti  ganj  anbere  3>efe 
hatte,  als  bie  ©efdjlechter  in  9tom  ju  unterbrücfen.  ®aS 
SBidjtigfte  aber  an  ber  ©ebeutuitg  beS  Senats  mar,  unb  mürbe 
eS  mit  ber  StuSbeljnung  beS  SteicheS  immer  mehr,  baß  biefe« 
Kollegium  bie  eigentliche  Schule  ber  ^Beamten  mar,  unb  h'er 
eine  giitle  oon  (Erfahrung  unb  ©ewanbtheit  in  ben  ©efdjäften 
ber  gefamten  sJteicf)Snerroaltung  fid)  jufammenfanb.  3e  mehr 
aber  biefeS  ©efchäftSmäßige  übermog,  jumal  ba  unter  ben 
Kaifem  bie  ©efolbung  ber  Äemter  unter  oerfchiebenen  Titeln 
unb  Staaten  fich  immer  weiter  auSbehnte,  um  fo  weniger  war 
biefe  SSerfammlung  noch  wie  in  alter  ßeit  ein  Stath  oon  über» 
jeugungStreuen,  ber  SBürbe  ihrer  Stellung  fich  bewußten  SJtannent, 
Oielmehr  SBerfjeug  beffen,  ber  fie  berief  unb  ihre  Sifcungen 
leitete.  ®ie  2)t  ehr  heit  hulbigte  ber  SJtadjt,  ftürjte  fich,  mie 
SacituS  fagt,  in  bie  Sfnechtfdjaft,  unb  fcßon  unter  XiberiuS 
erreichte  biefe  Selbftentwürbigung  beS  Senats,  welche  fich  9an$ 
befonberS  in  ber  Sngeberei  unb  SBerurtheilung  hrroorragenber 
ober  mißliebiger  SDtitglieber  auSfprach,  einen  folchen  ©rab,  baß 
biefen  Kaifer,  ber  boch  ein  freies  Staatsleben  nicht  wollte,  eine  - 
fo  nieberträchtige  ©ebulb  ber  Unterwürfigfeit  unb  Kriecherei  an» 
efelte.  ®em  Senatorenftanb  an  Vermögen  unb  ÄuSficfjten  auf 

(SW) 


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1.1 


@f)ren  unb  (Sinfluß  ftanben  am  nächften  bie  bittet ; mit  ihnen 
mürben  hauptfädjlich  bie  @erid)te  befefet,  unb  außerbem  wucf}fen 
fie  immer  mehr  in  bie  Remter  ber  äußeren  Verwaltung,  ber 
4?ofgefdjäfte  unb  Offijierftellen  hinein. 

2Bar  aber  unter  bem  taiferlidhen  Regiment  ba«  öffentliche 
£eben  in  9iom  erfticft,  ober  wenigften«  bod)  in  bie  ÜJfauern  ber 
Surie  eingefdjloffen,  fo  tonnte  alle«,  wa«  an  bie  äußere  ober 
innere  fßolitif  ftreifte,  fid)  unter  bem  2)rud  be«  .£>ofe«  nur  febr 
oorfidjtig  unb  ängftlicfj  bewegen,  unb  alles  geben  würbe  um  fo 
mehr  in  bie  prioaten  greife  unb  ©efeöfchaften  jurüdgebrättgt. 
$ier  bilbete  fid)  eine  neue  Ärt  oon  öffentlicher  Meinung.  Um  fo 
weniger  aber  tonnte  ben  Äaifern  auch  biefer  Verfefjr  gleichgültig 
erfcheinen,  unb  je  mehr  er  gepflogen  würbe,  befto  mehr  würbe 
er  überwacht.  ÄUe«  war  oon  ©pähern  umgeben,  bie  harmlo« 
hingeworfene  SBorte,  Äeußeruttgen  ber  SBeinlaune  notirten,  ja 
fie  felbft  hnau«lodten,  um  fie  §u  Verbrechen  ju  ftempeln  unb 
anjujeigen.  S)ie«  gab  ben  ©toff  für  bie  oerberblichfte  ©orte 
oon  SOtenfdjen,  bie  $elatoren,  welche  wieber  eine  Üttenge  oon 
Zuträgern  an  ber  §anb  hatten,  bie  in  alle  Steife  hineinreichten, 
Seute,  wie  ein  ©efchidjtäfdjreiber  jener  $eit  fagt,  „welche  au« 
gemeinen  ©rünben  anjeigen,  au«  §aß  ober  um  erhaltene«  ©elb, 
ober  weil  fte  teine«  erhalten,  unb  berichten  nicht  bloß  über  ba« 
wa«  einer  gethan,  fonbern  auch  gefagt,  unb  ob  ber  eine  ober  anbere 
barüber  gefchwiegen  ober  gelacht  ober  gemeint  habe."  „Sauter 
Äugen  unb  Ohren,"  fagt  ein  anberer,  „ftttb  in  9iom  auf  ba«,  wa« 
ift  unb  wa«  nicht  ift,  gerichtet."  SBenn  nun  auch  unter  milbereu 
Siegenten  bie  2Jiad)t  biefer  geheimen  ©päljer  befchräntt  war,  fo 
tonnten  hoch  freiere  ©efprädje,  oollenb«  an  öffentlichen  Orten,  — 
unb  ba  war  eben  neben  ben  ©aftmählern  in  ben  Käufern  ber 
ÜKittelpuntt  ber  ©efeUigfeit  — in  ben  Sirculi  b.  h-  Steifen  oon 
Vetannten,  bie  fich  irgettbmo  treffen,  im  £heater/  in  ben  Väbern, 


in  beu  fallen  unb  SEBanbelgängen  — nicht  ohne  ©efahr  ftattfinben. 


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12 


Um  fo  mehr  muffte  fif  bie  Unterhaltung  auf  harwlofere 
©ebiete  werfen,  auf  $age8«  unb  ©tabtneuigfeiten,  eigentlichen 
Slatff  über  prioate  SBerljältniffe,  befonbetS  über  'ißerfonen, 
welche  in  ber  ©tobe  waren,  unb  beren  gab  eS  ja  bei  ber  SWaffe 
ton  öffentlichen  Suftbarfeiten,  SBettrennen,  gechtcrfpieleit, 
hefcen,  Sühnenaufführungen  immer  reif  lifen  Sorraf.  daneben 
aber  ift  nif  t ju  berfennen  unb  burf  juberläffige  ©ewährSmänner, 
namentlich  ben  jüngeren  ißliniu«  wirb  ei  bezeugt,  bafj  in  ben 
höheren  Streifen  auf  geiftiger  ©eljalt  unb  Sntereffe  für  feinere 
Unterhaltung,  befonberS  bei  ©aftmäljlern,  weit  berbreitet  war. 
fragen  ber  Sßiffenffaft  unb  Shmft  würben  erörtert,  Uebungeu 
be$  ©farffinnS  in  Staffel«  unb  SBifcfragen  angefteQt.  2)ie 
Unterhaltung  war  überhaupt  weit  mehr,  als  ei  heut3uta9e  ber 
gaü  ift,  ba$  ^»auptmittel  fif  fflilbung  anjueignen. 

Ueber  bie  fittlifen  3ttfiünbe  beö  Saiferreif i finb  befannt« 
lif  unfere  SorfteHungen  fehr  ungünftige,  unb  Klagen  über  @nt« 
artung  naf  allen  Stiftungen  finb  ff on  unter  ben  3eitgenoffeu 
allgemein.  $ie  hauptfäflifften  Uebel,  an  weifen  bie  ©efell* 
ff aft  Iranft,  ftnb  erften«  bie  SluSffweifungen  ber  ©imtliffeit, 
inöbefonbere  bie,  wenn  wir  ben  ©ittenff  ilberungen  eines  Subenal 
glauben  bürfen,  ganj  entfefjlife  ©ittenlofigfeit  ber  grauen  unb 
bie  bamit  gegebene  Serwifberung  beS  gamilienlebenS,  jweitenS 
ber  mafjlofe  SujuS  in  allen  ©ebieten  be«  ©enufjlebenS.  Snbeffen 
bat  £.  grieblänber  in  feiner  ©ittengeffifte  ber  römiffen 
Saiferjeit  fif  bie  Derbienftlif e ÜJlühe  gegeben,  biefe  SorfteHungen 
auf  ein  riftigereö  ©taff  gurütfjuführen.  @r  erinnert  erftenS 
baran,  wie  biefe  Stage  ff  on  hunbert  unb  mehrere  3<fre  früher 
erhoben  unb  baS  Sieb  Don  bet  guten  alten  $eit  Don  jeher  unb 
überall  auf  Soften  ber  ©egenwart  gefungen  würbe,  fobann  ba§ 
bie  namhaft  gemaf  ten  Seifpiele  eben  bof  nur  bie  auffaüenbften, 
baS  äufjerfte  Uebermafj,  fowie  bafj  bie  2>arfteHungen  oielfaf 

fehr  übertrieben  finb.  Snbrerfeits  tybt  er  heroor,  wie  in  |»infif  t 

roc O) 


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13 

auf  ben  erften  ^Sunft  baneben  hoch  auch  jafjlreiche  Veifpiele 
ton  mufterljaften  fifjeit,  ton  hodjftnnigen,  fittenreinen  grauen 
au«  ben  ^öc^ften  Steifen  nicht  fehlen,  au«  ben  mittleren  unb 
nieberen  Stänben  aber  in  ben  Snfcfjriften  fiel)  erfjebenb  tiete 
geugniffe  finben,  welche  beroeifen,  wie  grauentugenb,  Sitten- 
reinheit, Irene,  Sanftmut!),  gewiffenhafte  (Erfüllung  ber  SKutter- 
pflichten  feine  Seltenheit  unb  ttie  fie  gefdjäfct  unb  geachtet 
waren.  2Ba«  aber  ben  fiuju«  betrifft,  fo  ftefjt  tor  allem  feft. 
Wie  Xacitu«  ausbrücflich  bemerft,  baß  feit  ber  (Erhebung  ber 
flatifchen  Ipnaftie  unter  Vefpafian  ein  ganj  bebeutenber 
Umfthlag  jurn  befferen  ftattgefunben : ton  ben  reifen  gamilien 
waren  eine  ÜRenge  theil«  burch  Verfdjwenbung  terarmt,  theil« 
burch  bie  gräulichen  Verheerungen  bet  Vürgerfriege  be«  3al)re8  69 
auSgeftorben  ober  in  ihren  Vcrhältniffen  jerrüttet ; anbererfeit« 
waren  fowohl  au«  ben  italienifc^en  Sanbftäbten  al«  au«  ben 
Vrotinjen  mächtige  gujüge  in  bie  ^auptftabt  erfolgt  ton  Ver- 
tonen unb  gamilien,  welche  ihre  häßliche  (Eiufachheit  unb 
ÜJtäßigfeit  mitbrachten  unb  beibehielten ; enblid)  h<*l  Vefpafian 
felbft  burch  fein  Veifpiel  einfacher,  nüchterner  unb  fparfamer 
£eben«meife  mehr  gewirft  al«  Strafen  unb  ©efejje.  Sobattn 
macht  auch  h'er  grieblänber  barauf  aufmerffam,.  wie  burch  bie 
Vergleichung  mit  anberen  feiten  bie  VorfteHung  ton  ben  ba- 
maligen  ßuftänben  eine  wefentlid)e  Sinfchränfung  erleiben  müffe, 
wie  in«befonbere  ber  2uju«  in  ber  |>auptftabt  bamal«  beöwegen 
fo  ungeheuer  erfchienen  fei,  weif  er  in  ber  bamaligen  äSelt  eben 
ohne  weitere«  Seifpief  war.  (Ebenfo  bürfe  man  ba«  Oute, 
welche«  bie  Verfeinerung  ber  2ebett«weife  gehabt,  nicht  außer 
Seht  laffen;  bie  greube  an  Oärten  unb  fianbgütern,  an  ferner 
8u8ftattung  ber  SBohnräume  h°&e  aU£h  eine  gefunbe  Seite, 
unb  toflenb«  fei  bie  große  Sorgfalt  für  alle  möglichen  2ln- 
ftalten  ber  fReinlichfeit,  SBaffertterfe  unb  Väber,  nicht  ju  unter- 
fchäfcen.  9iicht  ju  tergeffen  feien  auch  bie  große  greigebigfeit  im 

(*U) 


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14 


©auen  unb  ©cpenfen,  Stiftungen  aller  91  rt  für  gememnüpige 
unb  mopltpätige  3*°^  bie  Speifungen  für  Srme  bei  ben 
geften  ber  garailien,  bie  Uneigennüpigfeit,  roomit  bem  ©olf 
aller  Stänbe  Unterhaltung  unb  greube  gemährt  mürbe. 

@r  fcpliefjt  feine  Sbpanblung  über  biefen  ©egenftanb  mit 
ben  ©Sorten:  „(ES  ift  fieper,  bafj  bie  Kultur  ber  römifepen 
Äaiferjeit  eine  fepr  Pope  unb  reiche  mar:  nerfeinerter  SebenS- 
genufj,  SEBoplftanb  nnb  bie  materiellen  Sebingungen  eine«  ge> 
funben  SujuS  maren  meit  unb  allgemein  oerbreitet.  Such  für 
fpätere  3e*t  pßt  biefer  öielgefepmäpte  fiujuS  manchen  ©egen 
gemirft  unb  baS  öeben  in  (Europa  menfepenmürbiger  gemacht. 
Unb  fo  bemäprt  fich  auep  pier  baS  SGBort  ÜJiommfenS,  bafj  bie 
Äaiferjeit  mepr  gefepmäpt  al«  gefannt  fei." 

3u  biefer  Verfeinerung  beS  fiebenS  unb  beS  SebenSgenuffeS 
gepört  inSbefonbere  auep  bie  Sitteratur  unb  in  biefer  felbft  bie 
pope  SBertpfcpäpung  unb  bie  allgemeine  Sfeimtnijj  unb  SuS» 
Übung  ber  Dicptfunft. 

3BaS  fcpnn  |>ora^  oon  feiner  3«*/  naep  feiner  SEBeife  mipig 
übertreibenb  fagt:  „mir  glüpen  alle  oon  einem  (Eifer,  ©erfe  ja 
maepen",  baS  gilt  auep  oon  ben  folgenben  Stittn,  unb  um  f° 
mepr,  je  meniger  bei  gunepmenbem  Despotismus  anbere  ©ebiete 
ber  Sitteratur,  mie  ©ereb jamfeit  unb  ©efepieptfepreibung  opne  ®e> 
fapr  unb  Snftofj  maren.  2Rit  biefem  oieten  Dicpten  maren  auep 
japlreicpe  ©orlefungen  oerbunben,  melcpe  einem  fo  gemiffenpaften 
©ereprer  ber  eblen  Sfunft  mie  ©tiniuö  oft  ganje  läge  fofteten. 
©ejeiepnenb  ift,  baff  unter  ben  graufamen  Dptamten  9?ero  unb 
Domitian  poetifepe  SBettfämpfe  angeftetlt  mürben,  roobei  mit» 
unter  fogar  12 — löjäprige  Änaben  ben  ©iegerfranj  erpielteu. 
©on  ben  Dicptern,  melcpe  in  bie  3«!  &eS  DacituS  fallen,  finb 
pauptfäcplicp  SiliuS  3ta!icuS,  ©tatiuS,  SWartialiS  unb  Suoenalis 
$u  nennen,  deiner  oon  biefen  Dicptern  aber  erpob  fiep  $ur 
eepten  ©oefie.  ©iliuS  pat  in  feiner  ©efepiepte  beS  punifepen 

C862) 


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15 


Kriege«  jwor  einen  ooterlänbifd^en  ©toff  bebanbelt,  aber  mehr 
rebnerifcb  unb  beflamatorifcb  als  poetifd),  oljne  gefcfyicfjtlidje* 
Serftänbnijj  unb  ohne  felbftänbige  ©rfinbung,  nach  Römers  unb 
Virgils  Stejepten.  ©tatiuS  unb  SRartial  finb  ©elegenbeitS* 
bitter,  ÜJlartial  ber  ©Töpfer  beS  lateinifcben  ©pigrammS, 
wifcig  unb  fein,  aber  ofjne  würbige  ©toffe  unb  oljne  ©cbam 
unb  3o>rtgefü^l,'  inbem  er  ftcb  in  wiberlicbfter  Sßeife  in  fcbmupigen 
lüftemen  Silbern  ergebt,  aufjerbem  ein  Schmeichler  beS  f)ofS 
unb  beS  ÄaiferS,  Settier  um  ©unfi  unb  ©efcbenfe.  ©tatiuS 
ift  toürbeooQer  unb  anftänbiger,  nic^t  ohne  ©emütb  unb  SBärme 
beS  ©efüblS;  feine  rafcf)  bmgeworfenen  ©rgüffe  beS  improöifi» 
renben  Talents  (Silvae)  fiub  {ebenfalls  mehr  wertb  als  fein 
©poS  X^ebaiS,  weites  in  pbrafenbafter  Stbetorif  einen  ©toff 
aus  ber  griecf|ifcf)en  Sagengefcbicbte  aufpupt.  Siel  bebeutenber 
ift  ber  ©atirifer  3uuenal,  welcher  bie  fiafter  feiner  $eit  in 
mehr  gräfjlidjen  als  wi&igen  Silbern  geifjelt,  mit  ernfter  fittlid)er 
©ntrüftung;  aber  eS  fehlt  ifjm  ganj  bie  heitere  Saune  eines 
fwraj:  er  trägt  mit  ben  bicfften  färben  beS  Realismus  auf 
unb  tljut  ber  2Bir!nng  feiner  ©ittengemälbe  felbft  burd)  bie 
ermübenbe  ©intönigfeit  feines  fßeffimiSmuS  unb  feiner  lieber* 
treibung  ©intrag. 

Son  ben  Sßrofaifern  nerbienen  Quintilian,  ber  jüngere 
SliniuS  unb  ©uetoniuS  genannt  ju  werben.  Quintilian  ift  ein 
ftödjft  fdjä^barer  ©c^riftftefler ; feine  „ Unterweif ung  jitm  fRebner" 
ift  ein  nortrefflitbeS  Such  oon  grofjem  gleifj,  gutem  ©ejcbmacf 
unb  gefunbem  Urteil,  ©ein  ÜRufter  unb  Sorbilb  ift  ©icero, 
bocb  ohne  bajj  er  ihn  fflaöifd)  nacbabmt.  ©r  Iäfjt  ben  teueren 
ihr  Siecht  wiberfabren,  fängt  aber  bereits  an  bie  im  folgenbeit 
3abrbunbert  berrfrfjenbe  Stiftung  auf  baS  Ältertbümlidje  oorju* 
bereiten,  ©ine  liebenSwürbige  ©eftalt  ift  SliniuS  ber  jüngere, 
beffen  Srieffammlung  uns  ein  aujjerorbentlich  öielfeitigeS  Silb 
non  ben  gefedfc^aftlidjen  unb  litterarifcben  ßuftänben  ber  traja* 

(843) 


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16 


nifchen  3eit  barbietet.  @r  jeigt  fich  barin  als  eine  eble,  nicht 
b(og  für  baS  ©ute  unb  Schöne  begeifterte,  {onbern  audj  tütrf 
farn  tätige  ißerfönlidjfeit,  wenn  er  audj  etwa«  felbftgefäßig 
unb  nicht  frei  non  (Sitelfeit  ift.  Sftocfj  näher  als  biefe  beiben 
fte^t  bem  Xacitud  ©uetoniuS  IranquißuS,  welcher  ebenfalls 
bie  ßaifergefchichte  beS  1.  SafjrljunbertS  beljanbelt  bat  in  Sebent 
befcbreibungen  fämtlicher  Äaifer  non  ©äfar  bis  Domitian,  ©ein 
8Berf  ift  oon  reichem  Inhalt  unb  bietet  eine  SJZenge  non  gericht- 
lichen SRotijen,  Hnefboten  unb  (Eharafterjügen  ber  einjelnen 
©erfönlicf)feiten;  aber  eS  fehlt  ihm  bie  funftmäfjige  Änorbnung, 
er  giebt  mehr  ftücfweife  Anhäufung  non  Stoff,  ohne  uns  in 
ben  glujj  ber  gerichtlichen  ^Bewegung  hineinjufteßen. 

(Snblid)  müffen  wir  in  einer  3e>t,  wo  bereits  feit  jwei 
ÜRenfchenaltern  baS  Sljriftenthum  feinen  ©egenSgang  in  ber  äBelt 
angetreten  hatte,  auch  auf  bie  religiöfen  3uftänbe  ber  bamaligen 
römifchen  Söelt  einen  ©lief  werfen.  (ES  ift  eine  nerbreitete  Än- 
fchauung,  als  ob  jur  3eit  bet  (Entfteljung  unb  erften  (fntwicfelung 
beS  ©briftentljums  baS  £eibenthum  bereits  im  größten  ©erfaß 
unb  in  förmlicher  fluflöfung  fich  befunben  habe.  Sluch  hier  hat 
grieblänber  in  feiner  oben  erwähnten  ©ittengefchrte  baS  ©er- 
bienft,  bie  hergebrachten  ©orfteßungen  berichtigt  ju  haben,  (fr 
beweift,  mit  wie  tiefen  SBurjeln  noch  bie  2Jtenge  ber  römifchen 
©eoölferung  im  glten  ©lauben  ftanb,  wie  befonberS  auS  ben 
jahlreichen  3nfchriften  uns  noch  ein  lebenbiger  ©laubenSgeift 
entgegentritt.  SuS  benfelben  geht  heroor,  bafj  man  immer 
noch  00n  &en  ©öttern  afleS  ©Ute  unb  bie  Äbwenbung  aßeS 
UebelS  erflehte  unb  bafür  banfte,  bafj  alfo  bie  grofje  ffllehrheit 
in  biefem  ©lauben  an  bie  baS  ßeben  ber  SQBelt  unb  ber  2Renfchen 
lenfenbe  ©orfehung  ber  ©ötter  Ir  oft  unb  Hoffnung  in  SRoth 
unb  Irübfal  fanb,  unb  wenn  man  hierin  nur  eine  Slnbequemung 
an  bie  tjerrfchenben  formen  baS  fReligion  fehen  woßte,  fo  wäre 
baS  eben  wieber  ein  ©eweiS  bafür,  bajj  biefe  bei  ber  SRehrbett 

(S«4) 


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17 


itodj  ifjre  t>oße  ©eltuitg  hotte.  3ur  Spaltung  unb  ©tärlung 
biefeS  ©olf«glauben«  biente  ber  mit  @ifer  unterhaltene  unb  ge* 
pflegte  Tempel*  unb  Söilberbienft.  Reu  geftärft  mar  biefer 
©ötterglaube  burd)  bie  in  ber  griecf)if<hen  SBelt  öofljogene  Üluf* 
frifchung  burch  orientalifc^e  Qsinflüffe,  femitifche,  perfifdje  unb 
ägpptifche  35ienfte,  «eiche  namentlich  eine  ©erimterlichuug  be« 
religiösen  fieben«  in  ©iijjungen  unb  Reinigungen  bemirften. 
?tud>  bie  ^S^ifofop^ic  unb  ihre  Süufflärung  ^atte  bem  alten 
©tauben  noch  feine«meg«  ben  ©oben  entzogen;  ben  eigentlichen 
?lthei«mu«  lehrte  feine«  ber  philofophifdjcn  ©pfteme,  ber  ©fep* 
ti$i«mu«  leugnete  bloß,  baff  ba«  25afein  ber  ©öfter  [ich  be- 
wegen laffe,  ber  @pifurei«mu«  blofj  ihre  gürforge  für  bie 
SBelt.  $er  ©toijiSmu«  aber,  ba«  im  1.  unb  2.  galjrhunbert 
oerbreitetfte  ber  philofophifd)en  ©pfteme,  erftrebte  unb  erreichte 
fogar  eine  ©erföljnung  $«ifchen  ©ernunft  unb  ©lauben.  $er 
höchfte  ©ott  ift  freilich  nur  einer,  aber  bie  Sleufjerungen  unb 
äöirfungen  feiner  aßbeherrfdjenben,  göttlichen  Kraft  «erben  al« 
Untergötter,  al«  Dämonen  oerförpert,  eine  Slnfchauung,  «eiche 
im  Slnf<htufj  an  bie  platonifche  ^beenlehre  befonber«  ber  frucht- 
bare ©cf)riftftefler  ißlutard)  unter  |>abrian  au«gebilbet  hQt- 
Offenbarungen  biefer  göttlichen  SRächte  burd)  ©orjeichen  unb 
Drafel  «erben  überall  anerfannt  unb  gefeiert,  ber  ^h^ofoph 
auf  bem  Simone,  SRarc  ülurel,  miß  nicht  leben  in  einer  Söelt 
ohne  ©öfter.  f>iernad)  finb  auch  &*e  Mnfcfiauungen  ber  9Ref)r= 
jahl  ber  ©ebilbeten  feine8«eg«  atheiftifd),  fonbern  nur  fritifch 
gerichtet  gegen  bie  unmittelbare  gor«  ber  ©ötterwelt. 

Sigenthiimlicf)  unb  auffaflenb  erfcheint  bei  ber  ermähnten 
Änpaffung  unb  ©erfd)tnc4ung  ber  griechifch-römifchen  ©ötterroelt 
mit  fremben  Äulten  bie  ©teßung  ju  beit  jmei  monotheiftifchen 
Religionen,  bem  Subenthum  unb  (Shriftemhum.  |>ier  ift  ftrenge 
Hbfdjliejjung,  feine  ©pur  oon  Slnnäherung.  2Bie  bie  ©efemter 
be«  einen  bilblofen  ©otte«  in  ben  heibnifd)en  ©ötlern  nur  ©öfcen 

Sammlung.  5.  V.  11#.  2 (S66) 


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I 


18 


unb  böje  ©eifter  jähen,  fo  mußten  ^Römern  unb  ©riechen,  roeld^c 
baS  ©örtliche  nur  in  einer  giiHe  oon  ©öttergeftalten  erfaßen 
fonnten,  jene  als  fieugner  beS  ©örtlichen  überhaupt,  als  ©ott* 
lofe  erfreuten.  ®a^er  würben  in  SRom  bei  ben  Verfolgungen 
nach  bem  neronifchen  ©ranbe  bie  ©giften  als  bie  geeigneten 
Opfer  ber  VolfSwuth  Ijingeftellt,  weil  fie,  Reifet  es  bei  JacituS, 
allgemein  oerhafjt  waren  wegen  ber  ihnen  angebicfjteten  ©räuel, 
obwohl  fie  gröjjtentheilS  nur  beS  allgemeinen  SRenfchenhaffeS 
überführt  würben:  fo  würbe  ber  ©egenfafc,  in  welchen  fleh 
baS  S^riftent^um  jur  SBelt  fteHte,  oon  ben  ^cibnifc^en  Siömern 
empfunben.  Solche  Steuerungen  bei  $acituS  unb  ähnliche  bei 
VliniuS  jeigen  immerbin,  baff  in  2rajanS  geit  &ie  Seite  &er 
(S^riften  noch  nicht  fo  weit  bie  Slufmerffamfeit  ber  ^ö^eren 
Streife  erregt  ^atte,  baß  man  es  ber  SNühe  merth  gefunbett  butt« 
ficb  genauer  über  fie  ju  unterrichten. 

Äebren  mir  nach  biefem  abfchweifeuben  8luS-  unb  Umblicf 
ju  unferem  ©efchichtjchreiber  jurürf  unb  betrachten  wir  feine 
unS  erhaltenen  SBerfe  beS  Näheren.  2)ie  erfte  Schrift,  ber 
Dialogus  ober  baS  ©efpräch  über  bie  jRebner,  bebanbelt  in 
einer  nach  ©icero  gebilbeten  eblen  unb  gewählten  Sprache  baS 
Sterna:  SBarum  bie  jefcige  ßett  — baS  ©efpräch  wirb  in 
bie  ^Regierung  beS  Vefpafiatt  gefegt  — oon  bem  iRubm  ber 
©erebjamleit  oerlaffen,  warum  bie  ©erebfamfeit  in  ben  120 
3aljren  feit  ©icero  foweit  juriicfgefommen  fei.  2Jiit  begeiftertem 
@ifer  werben  bie  Sitten  ber  guten  alten  3eit  gejdfjilbert,  oor  allem 
bie  tüchtige  ©rjiehung  ber  Sugenb,  welche  in  ebler  Sitte  unb 
©efdjeibenheit,  in  $urücff)altung  unb  ©Ijterbietung  oor  ben  Sitten 
erftartte  unb  heranreifte.  2Rit  Schmerj  unb  Unwillen  aber  be= 
flagt  ber  ©erfaffer  bie  ättobe  feiner  3eit,  wo  alles  auf  ©enujj 
unb  auf  ©itelfeit,  auf  Schein  unb  Schau  jugefchliffen  unb  jugefpi&t 
wirb,  wo  nicht  ber  SRann  als  öffentlicher  ©harQ^er,  fonbern 
ber  iRebefünftler  gefdjä^t  mtb  gefucht  ift,  wo  nicht  grünbltche 
(866) 


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19 


Arbeit  itnb  pflidjlmöffige  Eingebung,  fonbern  Slbridjtung  unb 
felbftfüchtige  ober  gennmifüdjtige  ©treberei  bie  SDlittel  finb  um 
Stellung,  Slnfeljen  unb  BermÖgeit  ju  erwerben.  3)ie  Bereb- 
famfeit  aber,  wie  alle  ed)te  Shinft,  gebeizt  nur  in  ber  greiheit, 
wo  ber  äRenfch  jeberjeit  Jeine  Perfon  einje^en,  unb  ben  2Jlamt, 
nicht  blofj  ben  Zünftler  jeigen  mufj. 

3ft  bie  Sef)nfud)t  nach  ber  greiheit  in  biefer  erften  Schrift 
mehr  ba«  Srgebniß  einer  litterargefdjic§tlicf)en  Betrachtung, 
in  welcher  aber  bie  SBärme  be«  Patrioten  überall  burchglüht, 
fo  (teilt  un«  bie  nächfte  Schrift,  ber  Slgricola,  ba«  SBilb 
eine«  2ftanne«  au«  jener  $eit  oor  Slugen,  an  bem  altrötnifche 
Xugenb,  pflichttreue  unb  Sapferfeit  gepaart  mit  Befonnenheit 
un«  Bewunberung  abnöthigt,  ba«  Bilb  feine«  ©chwiegeroater« 
Slgricola.  gern  oon  ben  Socfungeit  ber  ^auptftabt  war  er 
aufgewachfen,  wie  c«  in  guten  alten  geiten  brauch  war,  unter 
ber  Obhut  feiner  SDlutter,  welche  ebenfofehr  feine  geiftige  Bil* 
bung  förberte,  al«  ihn  auf«  praftifche  unb  tljätige  £cben  hin* 
wie«.  3n  ben  $rieg«bienft  eingetreten,  folgte  er  nicht  bem  Bei« 
fpiel  ber  jungen  Herren,  welche  ben  w3Üienft  in  ÜWutwißen  »er* 
lehren  unb  ben  Offigier«rang  al«  einen  greibrief  ju  Urlaub  unb 
SWüffiggang  ober  jur  Unwiffenheit  anfehen",  fonbern  burch  dienen 
unb  ©ehorchen  lernte  er  befehlen  unb  gebieten.  Schon  unter 
9?ero  jeigte  er  feine  befonnene  Klugheit,  inbem  er  al«  Prätor 
jwifcfjen  Kargheit  unb  Berfchwenbung  bie  äWitte  fyelt,  ber 
Ueppigfeit  ferne,  bem  guten  3Suf  näher.  SDer  Berfuchung  einer 
reichen  prooinj  unb  eine«  nachfichtigen  Borgefefcten  wiberftanb 
er  tapfer.  SBeber  bie  Seutfeligfeit  fchabete  feinem  Slnfefjen,  noch 
bie  Strenge  feiner  Beliebtheit.  9?ie  überhob  er  fid)  feiner  ®r« 
folge.  ®urch  feine  mafjooHe  Haltung  jwang  er  felbft  einen  fo 
menfchenfeinblichen,  argwöhnifchen,  ber  Slnerlennung  be«  Ber« 
bienfte«  fo  wiberftrebenben  Äaifer  wie  ®omitian  $ur  gurütfhal» 
tung,  weil  er  nicht  burch  $rofc  unb  eitle«  prahlen  mit  greiheit  bie 

2*  (867) 


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20 


öffentliche  SDfeinung  unb  bamit  ba«  Scßicffal  ßerau«forberte.  Unb 
ebenfo  wie  feine  9D?anne«tugcnben  rühmt  Jacitu«  bie  Steinbeit 
unb  Jiefe  feine«  ®emütß«leben« : wie  fchwer  wiegen  in  einer 
ßeit,  wo  eheliche  Jreue,  ßäu«licßer  Sinn,  gamilienglüd  feiten 
geworben  waren,  bie  Wenigen  SSorte:  „Jie  ©atten  lebten  in 
wunberbarer  ©intracßt,  in  gegenfeitiger  Siebe,  ein«  ba«  anbere 
höher  fteHenb,  nur  baß  ba«  Sob  ber  guten  ©attin  um  fo  größer 
ift,  je  größer  bie  Sdjulb  bei  einer  fcßtedjten."  SD?it  rüßrenbem 
Scßmeri  beflagte  er  ben  Job  feiner  SRutter;  ben  Berluft  be« 
Sohne«  ertrug  er  rneber  mit  erfünftelter  Saite,  wie  fo  Diele  tapfere 
SDiänner,  noch  aber  auch  nach  äBeiberart  flagenb  nnb  jammemb : 
in  feiner  grauer  biente  ihm  bie  Pflicht  be«  Slmte«  al«  Heilmittel. 
3n  ergreifenben  Söorten  beflagt  Jncitu«  ben  Hingang  eine«  folcfien 
2Jianne«,  unb  wie  erhaben  finb  bie  3bfcßieb«worte,  bie  er  bem 
BoQenbeten  nachruft:  „Stuße  fanft  unb  weife  un«  unb  bem 
Hau«  Don  fcßwächlicßer  Seßnfucßt  unb  weichlichen  Jßränen  jur 
Betrachtung  beiner  Jugenben!  Jmrcß  Bewnnberung  unb  unfterb* 
liehe«  Sob,  unb  wenn  unfere  Jage  ausreießen,  burd)  Sleßnlicßfeit 
be«  SBanbel«  woßett  wir  hieß  ehren.  ©wig  ift  bie  Schönheit 
be«  ©eifte«,  bie  man  nicht  burd)  fremben  Stoff  unb  Sunft, 
fonbern  burch  ben  eigenen  Sfjarafter  Jur  $arfteßung  bringen 
fann." 

©in  trefflicße«  Seitenftüd  ju  bem  £eben«bilb  be«  Stömer« 
Ägricola  ift  bie  folgenbe  Schrift  über  ben  Urfprung  unb  ffioßn’ 
fiß,  bie  Sitten  unb  Bölferfcßaften  ber  ©ermanen,  ober,  wie  fie  furj 
genannt  wirb,  bie  ©ermania.  J)er  fcharfe  Blicf  be«  SDtenfcßen* 
unb  ©efeßießtöfenner«  fießt,  baß  ba«  gtömertßum  bie  Höße 
feiner  Blütße  überfeßritten  habe,  baß  ba«  Berßängniß  brängt. 
Unb  wo  finb  bie  ffeinbe,  Don  benen  ber  gewaltige  Bau  be«  rö> 
mifeßen  Steicße«  erfeßüttert  ju  werben  füreßten  fonnte?  ©«  finb 
im  0ften  bie  ißartßer,  im  Storben  bie  ©ermanen.  Sber,  fagt 
Jacitu«,  nießt  fo  gefäßrlicß  ift  bie  Sönigsmadjt  ber  ißartßer, 

(S69), 


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21 


wie  bie  greift  ber  ©ermanen.  So  lange,  ruft  er  auS  bei 
ber  Srimterung  an  bie  über  200  gahre  prücfliegenben  Sin* 
fälle  ber  Simbern  unb  Jeutonen,  folange  fiegen  wir  über 
©ermanien,  b.  h-  arbeiten  wir  an  ber  ©efiegung  ber  ©er- 
manen.  ©on  biefem  ©olf  feinen  3e't9cuoffen  nähere  Kenntnifj 
ju  »ermitteln  tjielt  JacituS  ber  SDiühe  wert!)  unb  ebenfo  für  ein 
patriotifcf)eS  unb  litterarifdjeS  ©erbienft,  unb  er  l)at  bamit 
äuglcid}  uns,  bcn  9ladf)fommen  jener  ©arbaren,  ein  unfd)ä&bareS 
SDenfmal  unferer  Sinnen  hinterlaffen,  welches,  wenn  auch  in  Sinjel- 
feiten  raifjoerftanbenc  unb  mifwerftänblidje  ©otijen  entfjaltenb, 
bocf)  im  ganjen,  ba»on  überzeugt  uns  alles,  waS  bie  Sllter* 
tt|um$forfcf)ung  ans  £icf)t  gebraut  hat,  burd)au3  ^utreffenb  unb 
wahrheitsgemäß  ift. 

Sr  erfennt  »or  allem  bie  Sigenart  ber  ©ermanen  als  eines 
unoermifchten,  nur  fid)  felbft  gleiten  ©olteS  an,  beffen  ©e«  , 
rüfjrungen  mit  ©om  aÜerbingS  feit  Säfar  »ielfacfjcr  geworben 
finb.  2öaS  am  weiften  bie  Slufmerffamteit  beS  ©ömerS  an- 
jie^t,  ift  natürlich  baS  ÄriegSwefen  ber  ©ermanen,  ihre  ©e- 
waffnung,  bie  Srt  ber  SluffteHung  in  ber  Sdjlacht,  bie  SuS- 
Hebung  ber  ©lannfchaften,  bann  bie  Leitung  beS  Krieges,  bie 
Einführung  ber  .peere,  bie  Stellung  ber  gührer,  ©rafett,  §er« 
jöge  unb  Könige,  ihre  Siechte  unb  Sljren,  weiter  ihre  ftaat- 
licken  Einrichtungen  unb  ©ebräudje,  bie  ©ol!S»erfammlungeit  ju 
5Rath  unb  ©eridjt.  greiheit  unb  Japferleit  unb  Jreue,  baS  finb 
bie  ©runblagen,  anf  betien  bie  Kraft  unb  bie  SBiirbe  beS  ©olfeS 
beruht.  SnSbefonbere  ift  JacituS  »on  ©ewunberung  unb  Staunen 
erfüllt  über  bie  geftigfeit,  womit  ÜDianneSwort  unb  Jreue  ge- 
halten wirb.  J>ie  Freiheit  ift  ihr  Slement,  in  ber  greiheit 
warfen  bie  Kinber  auf  ohne  Uuterfchieb  ber  Stänbe.  3>ie 
Künfte  unb  ßafter  ber  feinen  ©efittung,  ©erführung  unb  Un- 
natur fenneu  fie  nicht.  JaS  ßeben  in  ber  gamilie,  fo  einfach  unb 
roh  flcgenüber  römifcher  ©erfeinerung,  ift  rein  unb  gefunb  unb 

(*«*) 


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22 


fein  Stücf  ihrer  Sitten  mehr  ju  toben  als  bie  ^eilighaltung 
ber  ©he/  ju  Wetter  2Rann  unb  SBeib  nicht  in  frühem,  unreifem 
Älter  jufammengegeben  werben;  nicht  nach  fRücfficht  auf  ©etb 
unb  ®ut  unb  äufjere  ©ortheile,  fonbent  in  ooHer  fReife,  einanber 
gleich  an  ftattlidfem  äBudjS  unb  riiftigen  ©liebmafjen,  werben  fie 
gepaart,  unb  in  ben  Äinbern  ftellt  ficf)  bie  Staft  ber  ©Itern  bar. 

ÄnbererfeitS  freilich  oerfennt  ber  fcf)arfficf)tige  ^Beobachter 
auch  nich*  bie  Schattenfeiten  unb  Safter,  baS  träge  £>erumliegen, 
bie  Jrunf*  unb  Spielfucht,  bie  Unbotmäfjigfeit  unb  ben  Jro$; 
baS  Uebermafj  ber  Freiheit  bebingt  einen  URangel  an  ©emeittgeift, 
fo  baff  fie  fich  fortwährenb  befel>ben,  fowoljl  einzelne  ©efdjledjter 
innerhalb  beS  Stammes  als  auch  ©tamm  gegen  Stamm,  unb 
gerabe  biefe  SuSwüchfe  ber  Freiheit  finb  eS,  auf  welche  ber 
fRömer  faft  bie  einzige  Hoffnung  fe§t,  wenn  er  an  ben  3U’ 
, fammenftofj  germanifcher  fRaturfraft  unb  beS  an  SUterSfchwäche 
leibenben  fRömerthumS  benft:  „2Röge  hoch  — ruft  er  aus  — 
möge  hoch  ben  Stammen,  wenn  nicht  bie  3unc*Öun9  Su  unS, 
bodh  ber  |iafj  gegen  einanber  bleiben,  fintemal  bei  bem  brängenben 
Serhängnife  beS  Reiches  uns  baS  ©lücf  nichts  ©röfjereS  ge* 
währen  famt  als  bie  3w‘etracht  ber  geinbe!" 

SRach  biefer  Ueberfchau  über  bie  brei  Heineren  Schriften  finb 
Wir  nun  begierig  auf  bie  beiben  grofjen  ©efchichtöwerfe,  bie  £>ifto* 
rien  unb  bie  Ülnnalen.  Unter  bem  ©efüf)t  beS  freien  fiuft^ugeS, 
welcher  unter  $Reroa  uttb  Jrajan  baS  öffentliche  fieben  bnrch* 
brang,  fchtägt  JacituS  in  ben  £>iftorien  ben  ooHen  epifchen  Jon 
an,  um  bie  Vorgänge  jwifchen  ÜReroS  Job  unb  ber  ©rhebung 
beS  ©efpafian  ju  fchilbern.  3uerft  Ieffn  mvc>  wie  ber  hQrte 
unb  ftrenge  Solbatenfaifer  SeroiuS  ©alba,  oon  ber  ©unft 
beS  nach  fReroS  Seicfjtlebigfeit  fich  jurücffehnenben  SSolfeS  unb  ber 
Slnhängfidjfeit  ber  burd)  bie  ©eljanblung  einzelner  Rührer  unb 
Jtuppenförper  oerftimmten  Solbaten  oerlaffen,  burch  ben  SSüft* 
ling  Ctfjo,  einen  ©enoffen  oon  fReroS  Stusfchweifnngen,  geftürjt 

(Ä70) 


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23 


mürbe,  mie  bann  0tf)o,  |>err  in  ber  §auptftabt,  mit  ben  Segioneit 
am  9?hein,  bie  auf  eigene  gauft  »ott  ©alba  abgefaßen  mären, 
in  Sßiberftreit  geriet^  unb,  nadjbem  er  ben  Vorgänger  befeitigt, 
nod)  elje  er  felbft  auf  bem  Jtjrone  feftfajj,  mieber  einen  SReben* 
buhler  in  bem  Schlemmer  unb  ißraffer  ViteßiuS  erlieft.  3n 
ausführlicher  ©rjählung  merben  bie  Vorgänge  in  SRom  bis  ju 
OthoS  ÄuSgang  nach  ber  »erhängnihöoßen  ©flacht  bei  Ve* 
briacum  bargefteßt,  baS  ©ünftlingSregiment  ber  Vertrauten  beS 
©alba,  bie  SEBithlereien  unter  ben  ©arbefolbaten  gegen  bettfelben. 
2Bir  erfdjrecfen  über  bie  ©emalttßätigfeiten  ber  germauifchen 
Segionen,  ihre  Unbotmäfeigfeit  gegen  bie  ^elbherren  unb  bie  Ver* 
roüberung  »on  $ucht  nnb  ©itte;  mir  »erfolgen  mit  gefpannter 
Äufmerffamfeit  bie  SRärfche  ber  $eere,  bie  Umtriebe  ber  gührer, 
bie  Änftrengungen  ber  Parteien,  unb  ftaunen  über  bie  Saunen 
beS  ©efchicfeS,  roeldjeS  einem  ÄuSrourf  ber  3Renfd)hrit  mie  Vi- 
teßiuS ohne  jebe  eigene  Slrbeit  bie  Krone  in  ben  ©djooh  marf; 
merben  fpngeriffen  »ott  ber  Verebfamfeit,  momit  SacituS  biefe 
©egenfä$e  ber  ungebulbigen  SRüßrigfeit  unb  Kampfluft  ber  ®ol* 
baten  unb  beS  trögen  ©enujjmenfcben  ViteßiuS  auSmalt,  beffen 
Verhalten  bis  jur  ©renje  menfchlicher  (Sntmürbigung  geht,  ber, 
roährenb  um  bie  Regierung  ber  SEBelt  Ströme  »on  Vlut  für  ihn 
»ergoffen  merben,  in  ben  fchattigen  Sauben  feiner  ©ärten  »erfteeft 
regungslos  baliegt,  mie  ein  faules  $hi*ri  baS  fich  D°Q  gefreffen 
hat,  Vergangenheit,  ©egenmart  unb  3ufanft  gleic^emtaßen  »er* 
geffenb,  ber  in  folgen  ©tumpffinn  im  entfeheibenben  Äugen* 
blicJe  »erfunfen  tft,  bah,  menn  nicht  Änbere  fich  beffen  erinnerten, 
er  felbft  »ergeffen  hätte,  bah  er  Kaifer  fei.  ®ann  mieber  über* 
mannt  ben  Veridjterftatter  an  biefer  felben  ißerfönlichfeit  bie  9tüh* 
ruitg : „Keiner,"  ßei§t  eS,  „mar  fo  gleichgültig  gegen  SWenfdjen* 
gefdjicf,  bah  ihn  nicht  biefer  Änblicf  im  Snnerften  erfchüttert  hätte, 
mie  ber  fierr  ber  äöelt  feinen  fßalaft  »erlaffeitb  burch  bie  ©tabt 
hinausging,  aber  »on  ber  fich  ißnt  in  ben  SGBeg  roerfenben  Veoölfe* 

CS7U 


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24 


rung  genötigt  »urbe,  »ieber  jurücf jufe^ren,  »on  nun  an  nidjt 
mef)r  Äaifer,  fonbern  nur  bic  Urfadje  »eiteren  ©lutoergiefjenS,  »ie 
er  enblidj,  als  alles  »erloren,  in  wafjnfinniger  Ängft  unb  Unfid)er« 
^cit  alles  fürcf)tenb,  an  »erfcf)loffenen  J^üren  probirenb,  »or  bem 
fieeren  jurücffdjrecfenb,  fid)  in  einem  fdjmäf)lidjen  Söinfel  »erbirgt, 
bis  er  heroorgejogen  nnb  burdj  bie  Stabt  geführt  »irb,  ohne 
bafe  Qemanb  eine  S^räne  um  ihn  »eint:  bie  Srbärmlichfeit 
feines  SluSgaitgeS  ^atte  baS  (Srbarmen  erftidt." 

Unb  gegenüber  biefem  »üfteu  ©e»irre  entfeffelter  fieiben* 
fünften  unb  roljer  ©egierben  baS  eble  ©ilb  beS  jungen  $itnS, 
bem  Sd)önf)eitSbienft  unb  fiebenSluft  fein  |>inberni&  finb,  »o  eS 
gilt,  Süchtiges  ju  »irfen,  unb  neben  biefer  liebenSroürbigen 
Sugenbgeftalt  ber  alte,  ernfte  ©efpafian,  ein  SDiufter  altrömifcber 
■8ud)t  nnb  Strenge,  noQ  ©efonnenheit  unb  äßürbe,  ifpn  $ur 
Seite  fein  gelbljerr  ÜDtucianuS,  ftattlid)  unb  »orneljm  im  Auf- 
treten, oljne  bocf)  bie  @I)rerbietung  9e9en  &«n  Sßürbigeren  ju 
»ergeffen. 

Unb  »enn  beit  Patrioten  bei  ben  ©räueln  beS  ©ürger« 
friegeS  ber  Sd)mer$  unb  bie  (Sntriiftung  ergreift  über  ben  greoel, 
bafj  römifd)e  Solbaten,  als  ob  fie  einen  Sultan  oom  ©artljer« 
tf|ron  ju  ftofjen  gingen,  unb  nicf)t  ihren  eigenen  wehrlofen  alten 
gührer  nieberjubouen,  mit  trufcigen  SSaffen  auf  eilenben  Stoffen 
auf  baS  gorum  hereinbred)en,  unb  nid)t  ber  Anblicf  beS  ragenben 
ßapitors  unb  bie  £>eiligfeit  ber  ehrroürbigften  Jempel  fie  ab« 
fdjrecft:  mit  meiner  Sttnerfennung  für  greiljeitSfinn  unb  tapfer» 
feit  »erfolgt  ber  Scfyriftfteller  anbererfeits  beit  Aufftanb  ber 
©ataoer  unter  ßioiliS,  »ie  »irb  bie  natur»ücf)fige  ftraft  unb 
bie  Unermüblitf)feit  biefer  ©arbaren  unb  iljreS  Siegeslaufes  ge« 
$eid)net;  unb  »ieberum  mit  »eifern  ^odjgefüljl  beS  SRömer« 
ftoljeS  »irb  bie  pflichttreue  unb  einfichtSüoöe  güfjrung  beS  6e* 
realiS  heworgehoben,  bem  JacituS  bie  grofjen  äSorte  in  ben 
SJiunb  legt:  „Syenit  aber  bie  Stömer  gefc^Iagen  finb,  »aS  ift 

(872) 


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25 


bann  übrig  als  ein  ftrieg  Sitter  gegen  Sitte  ? $urd)  baS  ©liicf 
unb  bie  Crbnung  oon  adft  3o^rf)unberteit  ift  biefer  Sau  beS 
Sieic^eÄ  jufammengewachfen,  unb  er  fann  nicht  jertrümmert  werben 
ohne  ben  Untergang  J'erer,  welche  ilpt  jerfchlagen!" 

Unb  wie  lebenbig  treten  auS  ber  SOiaffe  beS  Stoffes  ©injel* 
bilber  heraus,  wenn  ber  ©rjähler  unS  batb  einen  ©enturio  oor« 
führt,  ber  allein,  um  feinen  gelbherrn  gu  retten,  ben  wütfjenben 
Prätorianern  entgegentritt,  halb  eine  ©eene  wie  jwifc^en  £ilbe* 
branb  unb  feinem  ©o^n  Jpabubranb  auSmalt,  wie  ein  CegionSfolbat 
auS  Spanien  in  bem  mörberifchen  nächtlichen  ßampf  um  6re> 
mono  mit  feinem  ©of)n  jufammentrifft,  ben  er  als  unmünbigen 
Ä naben  in  feiner  §eimath  jurüdgelaffen  hat  unb  jefct,  nachbem 
berfelbe  ertoachfen  unb  ju  ©albaS  Gruppen  ausgehoben  war,  als 
feinen  ©egner  oor  fich  fic£>t.  $er  ©ohn  oerwunbet  ben  Pater 
unb  wirft  ihn  nieber;  fchon  will  er  ben  ©efatleneu  burchfuefjen, 
ba  erfettnen  fie  fich,  er  he^  ben  ©terbenöen  auf  unb  gräbt  ihm 
fein  ©rab:  unb  Sitte  werben  ergriffen  mitten  im  ftampfgewühl 
»on  bem  entfefclichen  ©efcf)icf  unb  oerwünfehen  ben  ^eillofen 
Sirieg.  Unb  als  ©egenftnef  baju  fehlt  eS  auch  nicht  an  einer 
heiteren  ©pifobe  wie  bie  Sapujinabe  in  „SBaHenfteinS  fiager". 
Unter  ben  äbgeorbneten  bcS  Senats,  welche  ben  anrüefenben 
PiteHianern  entgegengefdjicft  werben,  ift  ein  ftoifcher  pijilofoph 
PiufoniuS  fRufuS,  ber  fich  unter  bie  blutgierigen,  fdjlachten» 
ergrauten  Krieger  mifcht  uttb  ihnen  in  wohlgefefcter  $Rebe  Pre- 
bigten  hält  über  baS  ©lücf  unb  bie  ©üter  beS  griebenS  unp 
bie  jährlich  leiten  beS  ftriegeS.  Piele  halten  eS  für  ©pott,  bie 
Piehrjafjl  für  fchulmeifterliche  Slbgefc^macftheit,  unb  nur  baS 
®ajwifchentreten  ber  OrbnungSliebenben  rettet  ben  Pienfchen  oor 
fchlimmer  Pergeltung  feiner  unjeitigen  SSeiSheit. 

5Doch  nicht  blofe  ftriegSbilber  unb  Sampffcenen  weife  JacituS 
hinreifeenb  ju  fchilbern,  er  führt  nnS  auch  nach  bem  ©ieg  ber 
Pefpafianifchett  Gruppen  in  ben  Senat,  wo  $eloibiuS  priScuS, 

(8TJ) 


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26 


ber  Schwiegerfoljn  be«  ißätu«  Jfjrafea,  be«  SJtärtprer«  ber  greiheit 
unter  9?ero,  feine  üReinung  abgiebt  mit  eljrenber  Slnerfennung 
be«  neuen  Saifer«,  ober  ohne  Schmeichelei,  wie  er  ben  ßJiarceßu« 
Gpriu«,  eine«  ber  ^eroorragenbften  SB  erzeuge  be«  ®e«poti«mit« 
unter  ßfero,  nieberbonnert  unb  ben  Senat  oufforbert,  gegen  äße, 
bie  fid)  ber  Slugeberei  fdptlbig  gemacht  unb  bie  Söiirbe  be«  Senat« 
erniebrigt  haben,  fräftig  einpfd)reiten,  unb  wie  er  halb,  im  geuer- 
eifer  be«  Bewufjtfein«  fenatorifdjer  SBürbe,  ohne  auf  ben  Äaifer 
p warten,  ba«  f>eft  felbft  in  bie  fpanb  p nehmen  beantragt, 
ein  Auftreten,  welchem  $acitu«,  auf  fünftige  Berwicfelungcn  oor- 
au«beutenb,  bie  Bewertung  beifügt:  (, tiefer  $ag  war  für  i^n 
ber  Slnfang  großen  SInftofje«  wie  grofjen  fRuhme«." 

SBenn  Wir  ^ier  nur  am  Sdjluf?  ber  erhaltenen  Partien  ber 
|)iftorien  einen  §inwei«  auf  Sümpfe  im  Innern,  auf  3ufammen= 
ftöfje  jwifchen  ber  faiferfic^en  ©ewalt  unb  bem  freien  Bürger* 
tbum  befommen,  fo  bewegen  fid)  bagegen  bie  Stnnalen  non 
Slnfang  an  ganj  auf  biefem  ©oben  ber  inneren  Streitigfeiten 
jwifcfjen  ber  fperrfdjergeroalt  unb  ber  Freiheit.  3e  au«gebehnter 
ber  Stoff  ift,  oom  gahre  14  bi«  68,  befto  mehr  ift  bie  ©arftcl* 
lung  gebrängt  unb  pgefpifct.  ÜRit  ernfter  gurüdbaltung,  ein 
fdjarfer  Beobachter,  nicht  blo§  oergangener  ßnftänbe  unb  Bor- 
gänge, fonbent  auch  ihre8  3ufammen^anSeS  un^>  ihrer  Urfachen, 
fifct  ber  ©efdjichtgfchreiber  p ©eridjt  über  ba«  ßäfarenthum. 

gwar  wirb  bie  SBeltlage  nicht  aufjer  ad)t  gelaffen.  SBir 
werben  an  ben  Bljein,  nach  ©aßien,  ©ermanieit,  Britannien,  p 
ben  pannonifchen  Segionen  an  ber  55onau  unb  in  bie  thrafifdjen 
Sänber,  nach  SIfien  an  bie  armenifdppartifdje  ©renje  geführt  unb 
feljen  römifche  SBaffen  unb  römifdje  Beamte  aßer  Slrten  bemüht, 
bem  Imperium  feine  Sf)w  3U  wahren.  SBir  fehen  ©efanbt- 
fchaften  au«  aßer  SBelt,  ©efangene,  dürften  unb  grauen  nach 
Born  fomnten,  um  ihr  Urteil  unb  ihr  Schitffal  bort  p holen 
3n«befonbere  finben  wir  auch  h>er  mit  refler  Xheilnabme  in  au«> 

(874) 


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27 

fiiljrlidfjer  $arfteQung  bic  Vorgänge  bei  unferen  germanifchen 
93 erfahren  uttb  bie  wechfelnben  ©efefiide  ihrer  ©ölfer  unb  dürften 
befproc^en : wir  fchaubern  mit  ben  römifdjen  Segionen  auf  bem 
Seidjenfefb  ber  SSaruSfcfjIac^t,  wir  burchwanbeln  mit  ©ermanieug 
unb  2>rufuS  bie  Sagetgaffen  ber  Segionen,  wir  höre«  bie  ©rüber 
Ärminiuä  unb  glaoiug  ßwiefprad)  halfen  unb  einanber  93errat() 
am  ©aterlanb  ober  2;hor§eü  unb  ©erblenbung  beg  Xrofeeg 
gegen  bie  2Beltmacf)t  SRontg  Dorwerfen,  wir  fef>en  bie  beiben 
©unbegfürften  Srminiug  unb  SDiarbob  bie  Leihen  ihrer  Krieger 
burthfliegen  unb  um  Freiheit  ober  ^»errfc^aft  fämpfen,  wir  lefen  mit 
tiefer  Bewegung  bie  ebfen  unb  grofjen  SBorte  über  Slrming  Ghtbe : 
„9?ach  Slbjug  ber  Stömer  unb  9tieberwerfung  9Jfarbobg  nach  ber 
Königgmacht  ftrebenb,  fanb  er  an  ber  Freiheit  feiner  ©olfggenoffen 
SBiberftanb;  mit  SBaffengewalt  angegriffen,  fiel  er  nach  wech* 
felnben  Stampfen  burd)  bie  ärgtift  feiner  ©erwanbten,  entfliehen 
ber  ©efreier  ©ermanieng,  ber  nicht  9iom  in  feinen  Anfängen, 
wie  anbere  Könige  unb  Heerführer,  fonbern  in  ber  Ejöchften 
©tüthe  feiner  3J?acht  befämpft  hot,  in  Schlachten  unentfcfjieben, 
im  Kriege  nicht  befiegt.  9?och  wirb  fein  SRame  in  Siebern  bei 
ben  ©arbaren  befungen,  ben  griechifchen  ßhronifen  unbefannt, 
Don  ben  ©ömern  nicht  gebührenb  gefeiert,  inbem  wir  bie  alten 
©rohen  erheben,  um  SReueg  unbefümmert." 

Kann  eg  ein  grojjartigereg  geugnifj  Don  bem  weltgefchidü- 
liehen  ©lief,  bem  unparteiifcfjen  Urtheil  beg  fRömerg  geben? 

Solche  ©über  aug  ber  allgemeinen  SBeltlage  fehlen,  Wie 
^efagt,  nicht,  unb  mitunter  erholt  ber  SchriftfteDer  gerne  fich 
felbft  unb  feine  Sefer  burch  folche  ©pifoben  Don  bem  nieber- 
brücfenben  Irauerfpiel  ber  untergehenben  Freiheit  in  8tom,  unb 
freut  fidj  ebler  ©efinnung  unb  2hat,  wo  immer  er  fie  finbet, 
bei  SRömern  unb  ©arbaren,  bei  Solbaten  unb  Beamten,  3Rän< 
nern  unb  grauen.  9lber  bie  treibenben  ÜRächte  finb  in  9tom, 
im  Kaifer  unb  feiner  Umgebung  fon^entrirt.  3h*  ©Piel  W eä, 

(875) 


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28 


welches  JacituS  mit  unbarmherzigem  ©riffel  in  ergreifenbcr 
©chitberuitg  ber  breiunbztoanzig  3a^re  beS  StiberiuS,  ber  fieben 
legten  beS  StaubiuS  unb  ber  zwölf  erften  non  9?ero3  fjterrfchaft 
enthüllt.  |>ier  ift  ber  @efd)id)t$färeiber  auf  ber  $öhe  feiner 
ftunft,  ber  SWenfchen  ©efdjicfe  unb  ber  3Jienfc^cn  ©eeten  ju  er= 
forfdjen.  2Sir  werben  hineingeführt  in  baS  Treiben  ber  Parteien 
am  $of  unb  im  faiferlidjen  |>aufe  fetbft,  roie  in  bie  SBerljanb* 
Jungen  be$  ©enatS,  in  bett  SBettftreit  ber  Schmeichelei  unb 
©treberei  jtoifcfjen  feinen  9J?itgtiebern,  in  bie  unmürbigen  $ßro- 
Zeffe  wegen  SRajeftätSoerbrccheii,  in  ben  Stampf  ber  Sift  unb 
©ewalt  gegen  bie  Freiheit  unb  bie  Jugenb. 

3uerft  ift  eS  in  ber  fRegieruttg  beS  £iberiu§  ber  ©egenfag 
ZWifdjett  bem  Staifer  unb  feinem  SReffen  ©ermanicuS,  bem  jugenb* 
licken  5trieg$helben,  bem  Sieblittg  be$  93oIfeS  unb  beS  $eere$, 
ber  uuS  eutgegentritt.  ®in  ©olbatenaufftanb  in  ben  germanifchen 
feeren  am  SRf)ein  giebt  bem  getb^errn  ben  Slntrieb,  bie  un« 
ruhigen  ÜDiaffen  burch  Ärieg  ju  befchäftigen,  unb  baS  t^ut  er  in  ben 
meifterhaft  gefdjilberten  genügen  in  baS  norbweftlidje  ®eutfch’ 
Ianb  mit  gewaltigen  ©flachten,  »erluftnolten  ÜKärfchen  unb 
SRücfjügen.  Stber  biefe  Kriege  finb  nicht  itad)  bem  ©inn  beS 
ftaiferS,  meldet  tueitgefjenbe  Unternehmungen  im  SluStanbe  meibet 
unb  fürstet;  baher  wirb  ©crmanicuS  abberufen  unb  in  ben 
Orient  gefehlt,  roo  ba£  Stufehen  beS  2;^ronfoIgcrS  Unorbnungen 
beilegen  unb  unsere  $uftänbe  befeitigen  foH.  $abei  finbet  er, 
burd)  ben  ihm  untergeorbneten,  aber  wieberfpenftigen  unb  an- 
majjenben  ©tatt^atter  $ifo  fortroährenb  beffinbert  unb  geärgert, 
einen  frühzeitigen  2ob.  ®r  ftirbt  unter  »erbäc^tigen  Umftäitben 
in  ©prien;  feine  greunbe  aber  unb  feine  SSitwe  Slgrippina 
nehmen  als  fein  SSermädjtnif}  ben  9$orfag  mit  nach  fftom,  ben 
S3erftorbcnen  zu  rächen  an  betten,  welchen  fic  bie  Urfache  feine# 
2obe$  jufdhreiben. 

Unterbeffen  hot  fiel)  SiberiuS  in  5Rom  bie  thatfächtich,  aber 

i&'ej 


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29 


nicht  rechtlich  unb  gefefjfich  auf  itjn  übergegangene  ÜRadjt  ge- 
fiebert in  fdjlauem  Spiel  gegenüber  bem  Senat.  9Rit  Älugfjeit 
unb  Sift  — ©erfteflung  ober  .^euc^elei  nennt  el  Xacitul  — 
ge[jt  er  $u  ©Jerfe,  um  bem  Senat  ben  Schein  ber  üRitregierung 
ja  laffen  unb  boch  bie  wirflidje  ÜJiad^t  in  feiner  $anb  ju  oer- 
einigen  unb  alle  ©etüfte  bei  SSiberftanbel  non  Seiten  ber  alten 
<Sefd)Ied)ter  nieber^ufc^ragen,  unb  bie  ÜJiefjrfyeit  bei  Senatl  fommt 
ihm  mit  Schmeichelei  unb  flned|tfinn  bereitwillig  entgegen. 

Unter  ben  Rathgebern  nnb  ©ef)ülfen  ber  Regierung  fpielt  fd)on 
frühe  eine  ißcrfönfichfeit  eine  Rolle,  welche  in  liberiul  Re- 
gierung ben  SBenbepunft  jur  fchtimmften  Entfaltung  feinel 
menfchenfeinblichen,  harten  unb  graufamen  ßharaftcrl  hCT&e'’ 
führt,  ber  93efc^r«^abcr  ber  ©arbetruppen  Sejanul.  3hm  wirb 
hauptfächlidj  bie  Slufhejjung  bei  ftaiferl  gegen  bie  gamifie  bei 
©ermanicul,  beffen  SBitwe  Mgrippina  unb  ihre  Söhne  juge- 
fchrieben;  er  fdjiirt  ben  4?nfj  gegen  bie  feinem  Einffufj  wiber- 
ftrebenben  ißerfonen  unb  umgarnt  burdj  ben  Slrgwoffn,  ben  er 
fortroährenb  in  ihm  erregt  unb  mach  erhält,  ben  gürften  immer 
mehr,  bil  er  ft<b  in  bie  gamifie  ber  (Säfaren  eingefchfidjen  hat; 
ßuerft  oerfangt  er  für  feinen  Sohn  bie  |>anb  einer  Xod>ter  bei 
nachmaligen  Äaiferl  Slaubiul,  ©ermanicul’  ©ruberl ; fobann  Der- 
führt  er  bie  ©attin  ooit  2iberiul’  eigenem  Sohne  $)ruful  unb 
oergiftet  mit  ihrer  Riithülfe  ben  fßrinjen.  Sber  nachbem  ber 
nächfte  Thronerbe  befeitigt  ift,  hat  bal  §aul  ber  tfgrippina  nur 
neue  2fulfid)ten  gewonnen.  2)arum  mufj  ber  Söfewicht  jefct 
feine  fpebel  in  ©ewegung  fefcen,  um  fie  unb  ihre  Söhne  ju  Der- 
berben. Seine  ©erbünbete  2ioia  unb  bie  5taiferin-2Rutter  müffen 
bie  SBitwe  bei  ©ermanicul,  ihren  ftofjcn,  trofcigen  ©inn,  beim 
Äaifer  oerHageit,  fie  fefbft  wirb  burch  beftodjeue  fieute  ju  ^ef* 
tigen  Reben  heraulgeforbert,  auch  ihre  ©öfjne  Rero  unb  $)ruful 
werben  attgefchufbigt,  überhaupt  bem  Äaifer  ber  ©erbad)t  jur 
©ewifchrtt  gebracht,  el  gebe  eine  förmliche  Partei  ber  Sgrip- 

1877) 


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30 


pina,  welche  ben  Staat  ju  fpalten  brohe.  2)er  alte  Äaifer,  auf« 
fchwerfte  betroffen  burd)  ben  Berluft  be«  einzigen  Sohne«  wirb 
immer  menfchenfeinblidjer  unb  härter,  ein  Eremutiu«  Sorbu«  wegen 
einer  fiobrebe  auf  Brutu«  unb  Saffiu«,  ben  er  ben  lebten  Körner  ge* 
nannt,  angef  lagt,  muff,  ba  er  feine  SluSfidjt  auf  ©nabe  hat,  fidj  felbft 
ben  Job  geben,  feine  SBücfjer  werben  oerbrannt.  gmmer  oerlocfenber 
wirb  bem  Jiberiu«  oon  Sejan  ber  Entfchlufj  nahe  gelegt,  fid)  oon 
ber  Stabt  mit  ihren  traurigen  Erinnerungen,  ben  wiberwärtigen 
Erfahrungen  oon  Seiten  ber  nädjften  Angehörigen,  wie  ber  feiub* 
feligeit  Beoölferung  in  h°hen  unb  nieberen  Greifen  — bei  ben 
lederen  war  er  unbeliebt,  weil  er  fein  greunb  oon  Suftbar* 
feiten  unb  nicht  freigebig  mit  Spielen  unb  Schaugeprängen  mar  — 
juräcfjujiehen  in  einen  frönen  Sanbaufenthalt.  Enblich  tft  Jiber 
baju  bewogen,  fich  nach  Eampanien  ju  begeben,  unb  balb  nimmt 
er  feinen  ftänbigen  Aufenthalt  auf  ber  gelfeninfel  Eapri,  wo 
ihn  Jacitu«  ganj  in  bie  graufamen  Saunen  eine«  menfchen* 
feinblichen  SSütljerich«  unb  in  oerborgene  Süfte  öerfinfen  lägt. 

Sennoch  hat  Jacitu«  nicht  unterlaffen,  bie  guten  Seiten 
be«  Jiberiu«  al«  Kegenten  gebührenb  heroorjuheben,  unb  nicht 
blof?  au«  feinen  erften  acht  Saljren,  benett  er  Sob  fpenbet,  fon* 
bern  auch  bi«  in  feine  legten  feiten  berichtet  er  oon  feiner  um* 
fichtigen,  raftlofcn  SJhätigFeit  für  bie  Crbnung  unb  Bermaltung 
be«  Keiche«,  wie  er  frei  oon  ©eminnjucht  unb  Habgier  bie 
mohlthätigften  Kiagregeln  für  bie  Ernährung  be«  Bolfe«,  bie 
Schonung  ber  ißroohtjen  anorbnet,  Kecht  unb  ©erechtigfeit  hanb* 
habt,  ben  Staat  oor  jeglicher  Beeinträchtigung  wahrt,  ben  un* 
heilooHen  golgen  be«  SBudher«  fteuert,  bei  öffentlichem  Unglüd 
freigebig  Unterftügung  gewährt.  Er  hat  eine  greube  batan, 
©elb  für  ehrenhafte  gmede  au«jugeben,  er  oerbirbt  nicht  bie 
ÜJienge  burd)  bie  rohen  ged)terfpiele,  er  lägt  oerbiente  SRänner 
unangefochten  in  b°hen  Aemtern,  er  ehrt  treue  anhängliche 
greunbe,  unb  weih  fogar  bei  ©egnern,  bei  Anhängern  be« 

(878) 


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31 


geftürjten  ©ejan,  ioldje  ©efinnung  ju  fdjä&en,  er  läfjt  perf  online 
Sränfungen  urb  freimütige  Süeufjerungen  über  feine  $erfon  un* 
geahnbet,  er  üerabfcfjeut  niebrige  Schmeichelei,  er  fpric^t  große 
unb  »ürbige  ©runbfäfce  au« : oon  ber  ©e»alt  bürfe  man  feinen 
©ebraucf)  machen,  roo  man  gefe&lid)  oerfahren  fönne,  ©efeße 
Reifen  nicfjtS  gegen  fc^lec^te  Sitten.  @r  »eifj,  bafj  er  ein  Sterb- 
licher ift  unb  menfdjliche  ^ßflittfn  erfüllt,  er  ift  jufrieben,  wenn 
er  ber  Aufgabe  besS  oberften  Beamten  genügt.  äJtenfchen  fiitb 
fterblich,  aber  ber  Staat  ift  ewig. 

SRad)  Jiber«  ©ntfernung  au«  ber  Stabt  gefjt  ba«  oon 
Sejan  gefdjürte  föeßen  unb  Verfolgen  »etter,  allgemeine  Un- 
fidjertjeit  unb  Ülngft  bemächtigt  fid)  ber  ©emiither;  immer  eigen- 
mächtiger unb  gemalthätiger  tritt  ©ejan  auf,  bie  &b»efenheit 
be«  ÄaiferS  benujjettb,  um  feine  Stellung  unb  URacht  immer 
fefter  ju  begriinben.  SDie  Äataftrophe  ober,  »eiche  biefe«  fein 
©ebahren  l)eraufbefd)»ört,  unb  ben  Sturz  be«  ©ejan  erfahren 
roir  au«  $acitu«  felbft  nicht;  hier  ift  in  unferem  $ejt  eine 
größere  2üde.  3m  Snfang  be«  fed)«ten  Suche«  »erben  »ir  in 
bie  3eit  nach  biejern  ©reignifj  hineinüerje&t.  2)urcf)  be«  allmäch- 
tigen ©ünftling«  Serrath  in  tieffter  Seele  oermunbet  unb  alle« 
©laubeit«  an  äHenfchen  unb  Xreue  beraubt,  »ütljet  nun  Xiber 
gegen  alle«,  »a«  mit  ©ejan  im  Sunbe  gemefen  »ar  ober  bafür 
galt,  mit  unbarmherziger  $anb.  @r  fpridjt  in  einem  Schreiben 
an  ben  Senat  bie  entfefclichen  Sßorte:  „3Me  ©ötter  follen  mich 
ärger  oerberben,  al«  ich  mich  täglich  oerberben  fühle,  »eitn  ich 
»eifj,  »a«  ober  »ie  icfi  Such  fdjreiben  ober  nicht  fchreiben  fofl." 
2>er  üprann  ift  fertig,  ein  Silb  be«  3ommer«,  fotoie  ^lato  ihn 
betreibt,  gerriffen  unb  gemartert  oon  bem  Semufjtfein  feine« 
inneren  Slenbe«.  Sl(«  leßte«  Opfer  oon  £iber«  SBütljeii  gegen 
bie  gamilie  be«  ©ermanicu«,  nachbem  Slgrippina  felbft  unb  ihr 
ältefter  Sohn  9?ero  umgefommen  finb,  fällt  Drufu«,  nach  lungern 
©efängnifj  einem  unmürbigen  $obe  burd)  gemeine  Söädjter  über* 

(879) 


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32 


liefert,  ©infamer  wirb  e3  um  ben  greifen  Jfjerrfdjer,  fein  lang* 
jähriger  ^Begleiter  iReroa,  non  3Drn  unb  ^urdjt  gezwungen,  fo 
lange  er  nodj  unangefochten  war,  einen  eblen  $ob  ju  fudjeit,  nimmt 
fich  freiwillig  baS  fieben.  ©ine  SRanie  be£  Selbftmorbe$  greift 
unter  ben  Ueberreften  ber  eblen  @efd}led)ter  in  5Rom  um  ftd).  liber 
aber  bewahrt  bi«  aw3  ©nbe  bie  Befonnenheit  unb  bie  'Bestellung, 
noch  in  feinen  lebten  Slugenblicfen  ber  Schretfen  feiner  Umgebung. 

2öir  haben  bie  ©efrfjic^te  beS  Siaiferä  $iberiu«  auSführlidier 
behanbelt,  weil  biefe  Partie  t>on  jeher  al$  ba3  fWeifterftütf  beS 
SacituS  gegolten  hat.  Ülber  auch  We  ©5efcf)ichte  bet  $wei  folgenben 
^Regierungen,  welker  bie  fedj$  lebten  Bücher  ber  Ülnnafen  gewibmet 
finb,  beä  SlaubiuS  unb  SRero,  reiht  fich  würbig  an  jene  an. 
©laubiuS,  ben  ber  $ohn  beS  ©efchtdcS  auf  ben  römifchen  $hrtm 
gefefct  hat,  ift  ein  fläglidjeS  Beifpiel  ber  Schwäche  be8  ©ha* 
rafter«,  unb  jeigt,  wie  oerberblid)  biefe  bem  Staat  würbe.  Bon 
SBeibern  unb  (SünfttingeH  abhängig,  ein  Spielball  ihrer  Begehr- 
lidjfeiten  unb  fRänfe,  macht  ©laubiuS  mehr  ben  ©inbrud  be$ 
SJlitleibä  unb  ber  Betastung  als  ben  beS  SdjredenS.  2lber  ent- 
fefclidj  ftnb  baS  Eafterleben  unb  bie  B erbrechen,  womit  SDieffa* 
lina  ben  $hron/  unb  bie  ®ünftlingS^errfchaft  ber  Jreigelaffenen 
baS  SRömerthum  entwürbigt,  unheimlich  bie  fRänfe  unb  bie  grenzen- 
lofe  ^errfchgier  ber  jüngeren  Slgrippina,  um  bie  Ijerrfdjaft  an  fich 
nnb  ihren  Sohn  ÜRero  ju  bringen,  ergreifenb  ber  Sluägang  beS  ©lau» 
biuS,  welchen  bie  Ungebulb  ber  Slgrippina  oergiftet.  BJobltbuenb 
unb  erhebenb  wirft  baneben  bie  ©rjäf)lung  öon  ben  ftriegSthaten  in 
Britannien,  wo  ebenfo  ber  ®lanj  ber  römifchen  SBaffen  unter 
tüchtigen  $elbf)erren,  wie  ber  ^elbenmutlj  ber  für  ihre  3rc*heU 
fämpfenben  Barbaren  bem  ©emütl)  ©rholung  oon  ben  ©räueln 
unb  Sd)änblid)feiten  in  ber  $auptftabt  gewährt. 

iRodj  erfchütternber  ift,  wa§  wir  oon  9te ro$  Regierung 
lefen.  28ir  begleiten  junächft  mit  freubiger  $he*fnahme  bie 
erften  3ahre  be§  jungen  giirften  unter  ber  oerftänbigen  unb 

(S80) 


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33 


tüchtigen  fieitung  eine«  ©eneca  unb  SurruS;  mit  Sefriebigung 
»erfolgen  mir  bie  ßriegStljaten  beS  eblen  wadferen  Sorbulo,  ber 
ben  Sömernamen  bei  ben  Völfern  im  SSorgenlanbe  wieber  ju 
(Ehren  bringt,  gein  ift  bie  geicfjnung  ber  jugenblidjen  fieiben* 
fdjaft  SeroS  für  bie  fchöne  SUte,  gräjjlich  bie  (Erjäljlung  »on 
ber  (Ermorbung  beS  SritannicuS,  SlaubiuS’  ©ohneS,  entfeijlid)  er* 
greifenb  baS  Singen  um  bie  ^errfc^aft  jwifchen  ber  für  ihren 
Ginflufj  fürdjtenben  ÜJtutter  unb  bem  jur  ©elbftänbigfeit  er* 
wachten  ©oljn.  Slber  bie  unbänbige  ©innlidjfeit  beS  jungen 
fiaiferS  wirb  baS  Opfer  ber  Sänfe  eines  anberen  SEBeibS: 
ißoppäa  ©abina,  bie  ft^önfte  grau  »on  Som,  fd)lingt  ihre  Sefce 
um  Sero,  unb  iljr  ©emahl  Otho  überläfjt  bie  ©attin,  um  für 
ficf)  (Sinflufj  ju  gewinnen,  ber  fiüfternljeit  beS  £>errfcherS.  Sun 
jcrbric^t  baS  fiafter  alle  Sanbe  ber  Satur,  ber  @oljn  wirb  $um 
SSuttermßrber.  ©o  auf  ber  93a  fjn  ber  fieibenfcfjaft  unb  beS 
Verbrechens  fortgetrieben,  »ergifjt  Sero  ganj  bie  Söürbe  unb 
Slufgabe  beS  ^errfcherS  unb  h»t  nur  noch  ©inn  für  ©enufj  unb 
©innenluft,  für  ©piel  unb  (Eitelfeit.  (Er  tritt  als  githerfpieler 
unb  SBagenlenfer  »or  baS  ißublifum  unb  jroingt  bie  ©ohne 
»ornehmer  ©efchlecffter  jur  gleichen  (Sntwürbigung  beS  Sömer* 
namens.  Unb  wie  bie  Stänner,  fo  werben  auch  Srauen 
ber  höhnen  ©tänbe  burdj  bie  SluSfchweifungen  beS  SaiferS 
grunbfä&lich  »erfuhrt  unb  »erberbt. 

Slber  neben  ben  abfchrecfenben,  ben  Sefer  mit  ©chmerj  unb 
Unwillen  erfüHenben  ©chledjtigfeiten  am  ©ifje  ber  Ijerrfdjaft 
fehlt  eS  auch  hto  nicht  an  eblen  unb  erfreulichen  Silbern  »on 
SSännem  unb  $haten  auf  bem  gelbe  ber  (Eljre.  3n  Sritaunien 
lämpft  ©uetoniuS  ißnnlnS  mit  gleichen  (Ehren  ®ie  (Eorbulo  im 
Orient,  gelben  unb  £>elbinnen  finben  warme  ^heilnaljme  unb 
Slnerfettnung  beS  ©efchichtSfchreiberS  im  Stampf  um  grei^eit  unb 
VolfSthum.  gn  Som  aber  erhebt  fich  enblich  bie  ©timme  ber 
erniebrigten  Sienfchheit,  eine  Seihe  »on  SRännern  bieten  bem 

Sammlung  9».  3.  V.  11«.  3 (8*1) 


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SBütljen  beä  greoelä  Jrofc.  ©in  ißätuä  Jljrafea  bricht  ben 
Änedjtfinn  ber  Uebrigen,  ein  ©eneca  Ijält  Steben  ooß  f)ober 
©ebanfen  unb  würbenofler  ©efinnung  unb  giel)t  fiel)  gurücf  oon 
bem  entarteten  Zögling  unb  ber  Verantwortlidjfeit  biefe«  Jreiben«. 
aber  baä  fiafter  auf  bem  Jljrone  fdjrecft  »or  feiner  SJZiebertradji 
nnb  ©ünbe  me|r  guriidf,  bie  SJiajeftätägefepe  werben  wieber 
Ijeroorgeljolt,  anflagen,  ©eridjte  unb  Vluturtljeile  folgen  eim 
anber.  Ja«  Verbienft  unb  bie  SEBeiSljeit  unb  Jugenb  muß  in 
Vurruä  unb  ©eneca,  bie  Unfdjulb  in  ber  jungen  Äaiferin 
Oftaüia  fterben. 

3n  biefen  3ammer  ber  ©cfjanbe,  beren  Veifpiel  ber  £)ot 
gur  ©djau  trägt,  fällt  nun  bie  ©ntfeffelung  ber  Slemente,  ber 
üertjeerenbe  Vranb  ber  ©tabt  Vorn.  ßum  Unglücf  fommt  noch 
bie  ©raufamfeit;  bie  ©d^ulb  beS  baä  Volf  gur  SButl)  unb 
Vergweiflung  treibenben  geuerä  wirb  auf  bie  Suben  unb  ©Triften 
abgelaben  unb  eine  SDtenge  unfdjutbiger  frieblid>er  9Jtenfcf)en  bem 
Jobe  unter  $oljn  unb  ÜJtartern  preiägegeben,  fo  ba&  bie  SButlj 
beä  Volfä  fefbft  in  fDtitleib  umfdjlägt,  alä  man  fieljt,  bafj  fie 
nic^t  bem  allgemeinen  Seften , fonbern  ber  ©raufamfeit  eine* 
©ingigen  gum  Opfer  gefaßen  finb. 

$>er  Verheerung  ber  §auptftabt  folgt  ein  Stauben  unb 
Vlünbern  im  gangen  Steicfj  gur  Vefdjaffung  ber  SJtittel  für  ben 
SBieberaufbau.  aber  nun  regt  fid}  aud)  bie  Vergeltung.  Si 
wirb  eine  Verfdjwörung  geplant  gum  ©turg  beä  Üprannen, 
beren  anftifter  ißifo,  ein  oorneljmer  burd)  gäf)igfeiten  Ijcrtor- 
ragenber  SDtann,  bei  aßen  beliebt,  wenn  audj  oljne  ©ittenftrenge 
unb  mafellofen  ffiljarafter,  in  aßen  ©tänben  J^eilne^mer  unb 
©euoffen  finbet.  aber  bie  aflgu  weite  Vergweigung  ber  Ver- 
fdjwörung  ^inbert  iljre  ©efjeimhaltung,  ber  anfdjlag  wirb  oer 
ratzen  unb  nun  wütfjen  graufamc  Verfolgungen  unb  ^inricfjtungen 
in  äJtafjen.  2)em  genfer  guoorfommenb,  befdjliefjen  ga^lreiibe 

äNänner  unb  grauen  burd)  felbftgewäljlten  Job  bem  nur  itodj) 

(8*2) 


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35 


alg  eine  üaft  gefüllten  Seben  ein  ©nbe  gu  machen  mtb  fterben 
freubig  unb  gefaßt  beit  Job  beg  ©eifen. 

Jie  großartigfte  ©eftalt  in  biefen  blutigen  Jragöbiett  ift 
ißätug  Jßrafea,  in  welchem  SRcro  bie  Jugenb  unb  ©eigfjeit 
felbft  umgubringeit  trautet.  2öaö  bie  Hnflage  gegen  bettfelben 
»orbringt,  bag  oergeichttet  bie  ©efdjichte  alg  bie  Jugenben  beg 
tapferen  unb  weifen  SOtanneg,  er  oerbietet  feinen  Jreunben  für 
ißn  unterftüßenb  eingutreten  unb  wartet  rußig  ab,  wag  über 
ißn  »erhängt  wirb.  Hlg  ber  Söeamte  fommt  unb  ben  öefetjt 
beg  ©enatg  überbringt,  er  foße  feinen  Job  wählen,  öffnet  er 
fict)  bie  SIbern  unb  ftirbt  mit  ben  ©orten:  „J5er  greifjeit  bringe 
id)  bieg  SÖIut  gum  Opfer  bar."  — hiermit  fließen  bie  Hnnalen, 
auch  fo  in  ifjrer  unooüenbeten  ©eftalt  einen  unauglöfdjlichen 
©inbrucf  in  ber  Seele  beg  Seferg  gurücflaffenb. 

©ucfjen  wir  nun  nacf)  biefem  Ueberblitf  über  ben  3nßalt 
ber  Jaciteife^en  ©erfe  bie  ©igentljümtichfeiten  unb  Sorgüge 
ißreg  Urfjeberg  gu  einem  ©efamtbilb  gufammcngufaffen,  fo  wollen 
wir  ißm  guerft  felbft  bag  ©ort  geben,  wag  er  fidj  alg  ©efcpit^tg* 
jcfjreiber  für  eine  Hufgabe  geftellt  ßat.  @c  ßat  fid>  entfcploffen, 
oßne  ÜÄenfdjenfurdjt  unb  9Kenfcßenßaß,  oßne  ©unft  ober  Hbgunft 
nicf)t  bloß  bie  ©reigniffe,  jonbern  auch  ben  gufammenhang  ober, 
wie  ber  lateinifcße  Hugbrucf  treffenb  fagt,  bie  Vernunft  in  ben 
J)ingen  unb  bie  Urfacpen  berfelben  gu  berichten.  @r  fpricßt  eg 
alg  feinen  $wecf  aug,  baß  bie  äWenfcßen,  ba  bie  SKehrgaßl  nicßt 
aug  eigener  ©inficht  bag  ©bie  unb  SRüfcliche  oom  3d)lecf)ten 
unb  ©djäblichen  gu  unterftßeiben  »erflehe,  burcß  Hnberer  ®e* 
ßhicfe  belehrt  werben,  ©ag  er  geben  Witt,  ift  barum  nicht  eine 
©fjronif  oon  ©ingelßeiten,  9?euigfeiten  gleichgültiger  Ärt,  auf 
bie  Unterhaltunggfu^t  ber  Seute  berechnet,  fottbern  eg  finb  be< 
beutenbe  ©reigniffe,  res  illustres. 

©ag  gunächft  bag  Jßatfächliche  betrifft,  fo  legt  Jacitug 
nicht  gang  neue  ©runblagen  für  bie  Senntniß  unb  JarfteHung 

3*  («83) 


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36 


ber  Sreigniffe,  er  ruht  auf  ben  oorhanbeiien  Queßen  uHb  folgt 
ber  IDJefjrljeit  ber  ©djriftfleßer,  welche  er  tor  fich  hat;  wo  bie* 
felben  ooneinanber  abweichen,  roäljlt  er  jwifdjen  ben  lieber* 
liefetungen  unb  giebt  feine  wohlerwogenen  ©rünbe  an,  warum 
etwa«  nid^t  fo  gewefen  fein  fann  nach  Sllafjgabe  ber  Umftänbe 
unb  beg  SfjarafterS  ber  fwnbelnben  Verfonen;  wo  bie  Ueber* 
lieferung  gar  $u  unfidjer  ift,  beleihet  er  ftef»,  bie  oerfcfjiebenen 
Angaben,  welche  er  oorfinbet,  ju  nennen,  aber  er  wifl  nicht 
blofj  bie  Jhatfadjen  ber  Steilje  nach  berichten,  fonbertt  fein 
^auptoerbienft  ift,  fie  in  einen  urfädjlichen  gufammenhang  ju 
bringen  unb  ingbefonbere  überall  bie  Veweggrünbe  ber  ^an« 
belnben  ißerfonen  aufjubeefen.  Sr  ift  nicht  blofj  objeftioer  3u* 
fchauer,  er  ift  Slömer  burch  unb  burch,  ein  ernfthafter  politischer 
Sharafter,  ber  eutfehieben  Partei  nimmt,  aber  Partei  für  bag 
©ute  unb  Rechte;  er  miß  eble  ©efinnung  unb  Xf)at  nicht  oer* 
fchweigen,  bag  Schlechte  branbinarfen,  wo  er  eg  finbet.  ©ein 
Urtheil  fpricht  er  aber  nicht  immer  unmittelbar  au8,  fonbem 
befonberg  gerne  fo,  bajj  er  bie  Sinbrücfe,  welche  bie  Sreiguijfe 
unb  Vorgänge  auf  bie  augenjeugen  unb  bie  Vetfjeiligten  machen, 
angiebt  ober,  wie  bie  nteiften  alten  ^iftorifer,  ben  §anbeluben 
Sieben  in  ben  SJlunb  legt,  worin  ber  ©chriftfteßer  bie  ißerfonen 
feine  eigenen  Smpfinbungen  unb  ©ebanfen  augfprechen  lögt,  ©o 
jeigt  er  bag  innere  Seben  in  ben  Vorgängen  unb  Sreigniffen  auf 
unb  jieljt  ung  mit  hinein  in  ben  glufj  ber  gerichtlichen  Bewegung. 
3n  biefer  $urcf)bringung  beg  ©toffeg  mit  perfönlichem  fieben 
offenbart  er  bie  Xiefe  feiner  SDtenfchenfenntnijj,  er  lieft  in  ben  ©eelen 
bet  hanbelnben  ^ßerfonen,  uub  ganj  befonberg  bag  Verbrecher if che 
unb  Vöfe  oerfolgt  et  in  feine  oerborgenften  liefen,  ©o  wirb  er, 
wie  Slanfe  fagt,  jum  ^ßf^cgologeti  beg  Verbrecheng.  33abei  picht 
er  an  paffenben  ©teflen  in  ben  ©ang  ber  S)arfteßung  inhaltfchwere 
©entenjen  ein,  welche  bie  SBelterfahrung  unb  Sebengweigheit 
ihm  an  bie  §anb  geben. 

(S84) 


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37 


$iefe  fubjeftioe  Färbung  nun,  welche  Xacitu«  feiner  £ar» 
fteQung  terleifjt,  rooburcf)  er  ben  2efer  fo  gewaltig  ergreift  unb 
mit  fortreifjt,  ift  neuerbing«  oielfad)  angefoc^ten,  unb  e«  ift 
gerabeju  ÜJiobe  geworben  bei  gewiffen  ©eiehrten,  (namentlich 
Ä.  ©taffr,  Ä.  greptag,  ©filier),  an  Jacitu«  ju  mäfeln 
unb  ihn  hcr^ufelen  «inen  oerbiffenen  ^arteimann  ton 
befchränftem  SBlicf,  ohne  öerftänbnifj  für  bie  SGÖirflic^feit, 
ohne  ©elbftänbigfeit  ber  gorfchung  unb  ohne  fidjere«  Unheil, 
erfüllt  oon  rhetorifchem  ^BaUjo«.  Namentlich  feine  3>ar» 
fteQung  be«  Xiberiu^,  fagen  fie,  leibe  fehr  an  aüen  biefen 
SNängelti.  hierauf  mögen  nach  unferer  eingeheitben  Darlegung 
be«  3nhalt§  unb  be«  ©ang«  feiner  ©efdjichtäwerfe  noch  folgeube 
©emerfungen  geftattet  fein.  £acitu«  wiQ  erften«  nicht  ©efdjicht«* 
forfcher,  fonbern  ©efcfjichtäfchreibet  fein;  er  fchreibt  ferner  nicht 
Sulturgefchühte,  fonbern  politifdje  @cjd)id)te.  2Ba«  au«  bem 
Nömerthum  geworben  ift,  ba«  wiQ  er  feinen  3eitgenoffen  unb 
ber  Nachwelt  jeigen.  Unb  wenn  er  in  feiner  Äunft,  bie  »er* 
borgenen  ©eweggrünbe  ber  ^anbelnben  ju  erforfcheit,  manchmal 
$u  weit  geführt  worben  ift,  fo  giebt  er  anbererfeit«  in  beut 
©efdjichtSftoff,  ben  er  un«  oorlegt,  ooQftänbig  ba«  SNaterial  an 
bie  $anb,  falfdje  Zuffaffmtg  unb  übertriebene  Urteile  jurecht> 
julegen  (Nanfe).  S35a«  insSbefonbere  ba«  Sharafterbilb  be« 
Jiberin«  betrifft,  fo  müffen  wir  jugeben,  bafs  h*er  manche«  nicht 
jufammenftimmt.  SBenn  wir  bie  lebten  fchlimmen  feiten  biefe« 
Staifer«,  bie  oielen  ©luturtheile  gegen  Niänner  ber  alten  ©efdjlechter 
unb  bie  Zugehörigen  be«  ©ertnanicu«  betrachten,  fo  fönnen  wir 
bie  menfchenfeinbliche  graufame  Natur  be«  $errfcf)er«  nicht 
oerfemten.  2Benn  aber  lacitu«  anbererfeit«  in  feiner  früheren 
Negierung  biefe  böfen  ©eiten  nicht  fo  h«oortreten  fie^t,  wenn 
er  Söbliche«  unb  Süchtige«  an  ihm  anerfennt,  fo  finbet  er  nur 
einen  SSeg,  beibe«  in  einer  ißerfon  ju  erflären,  batnit  nämlich, 
baff  biefer  Negent  oott  Znfattg  an  ein  ooQenbeter  Heuchler 

(885) 


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38 


gewefen  fei,  unb  oon  biefem  ©efichtlpunft  aug  beutet  er  nun 
aflerbingg  mancheg,  mag  unanfechtbar  ift,  ing  ©glimme  unb 
wirb  bem  SJZann  nicht  ganj  geregt,  oon  bem  Stanfe  fagt:  ein 
grofjer  ÜJZann  tnar  er  nicht,  aber  ein  geborener  ^errfdjer. 

fragen  mir  nad)  ber  potitifchen  ©efinnung  beg  Xacitug,  fo  ift 
er  feinegmegg,  wie  man  wegen  feineg  Jtjrannenfjaffeä  annehmen 
möchte,  $emofrat,  fonbern  ein  Sereljrer  ber  attrömifdjen  Ärifto* 
fratie,  welche  lugenb  unb  @^re  mit  SBeiSfjeit  gepaart  $ur  Sticht* 
fchnur  nimmt  unb  aHeiu  ben  Stufen  beg  ©emeinwefeng  im  Huge  hat. 
3wat  haben  bie  3C* tocr^ä I tn iff e bie  SJZonarchie  jur  Stothwenbig* 
feit  gemacht;  eg  lag  im  Sntereffe  beg  griebeng,  fagt  er,  bafj  bie 
SJtacht  (Sinent  übertragen  mürbe.  2t ber  immer  ift  bie  greiljeit  eine 
SRacht,  mit  welcher  bie  ©ewatt  ju  rechnen  hat.  Sn  bem  ÜBiberftreit 
beiber  wirb  ber  Sbte  unb  Stedjtfchaffene  jmifchen  fchroffer 
SEBiberfpenftigfeit  unb  würbelofer  Untermürfigfeit  bie  rechte  SRitte 
finben  müffen;  er  wirb  bag  ßwecfmäfjige  mit  bem  (Shrenljaften 
oereinigen,  in  2tmt  unb  Seruf  bag  befte  wirfen,  bem  ©chicffat 
nicht  in  ben  2lrm  greifen,  bag  Stab  ber  $eit  nicht  jurücfbrehen 
motten,  aber  wenn  bie  ©ettatt  ihn  bie  gerabe  Sahn  nicht  mehr 
wanbeln  lägt,  mit  ®hren  $u  fterben  wiffen. 

®iefe  Stefignation  ift  eg  auch,  welche  Xacitug  in  Sejiehung  auf 
ben  ©ang  ber  2)inge  in  ber  SBelt  beobachtet,  auf  welche  feine  SGBelt* 
anfchauung  hinaugfomntt.  (Sr  fann  fich  beg  ©angeg,  ben  bie  römi* 
fchen  (Dinge  genommen  haben,  nicht  freuen,  eg  finb  büftere  trübe 
Silber,  welche  bag  2luge  beg  Patrioten  ju  fehen  befommt,  unb  eine 
befriebigenbe  Söettanfchauung,  ein  freubigeg  Sertrauen  auf  eine 
gütige  Sorfehung  ift  hierbei  faum  möglich.  @g  hat  ihm  niete 
ÜJtühe  gemacht,  ben  testen  ©runb  ber  ®inge  unb  ber  ffint* 
wicfelung  ber  üJtenfchengef Richte,  bie  SJiögtichfeit  eineg  % ©in» 
greifeng  ber  ©ötter  in  bie  ©reigniffe  ju  begreifen.  @r  fragt 
fich,  ein  Serhängnifj  unb  eine  unabänberliche  Stothwenbigfeit 
ober  ber  gufatt  bie  SBelt  bewege.  @r  fennt  bie  fiehre  ©pifurg 

iMO) 


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39 


unb  bie  ftoifche  ^g^ilofop^ie,  bon  welcher  jene  bie  ©ötter  in 
feliger  SRufje,  unbefümmert  um  ben  SBeltlauf  in  unerreichter 
$öf)e  thronen  läfjt,  biefe  bie  ©ottheit  als  bie  SBernunft  in  ben 
gingen  begreift,  aber  er  befennt  fidj  ju  feiner  bon  beiben  aus- 
brücflich,  er  bleibt  auf  bem  ©oben  ber  heimifdjeit  ^Religion  fteljen, 
er  (eitet  ©reigniffe  bon  SBidjtigfeit  unmittelbar  bon  ben  ©Ottern 
her,  er  fpridjt  bon  ihrem  $om  unb  ihrer  9ftadje.  SSenn  er  aber 
auch  ber  öolfSthümlid)en  Meinung  folgt,  bafj  bei  ber  ©eburt  einem 
Seben  fein  SebenSweg  beftimmt  fei,  bie  ©ötter  alfo  eigentlich  bie 
SoHgieher  be$  gatum  finb,  fo  miß  er  hoch  bie  Serantwortlichfeit 
ber  menfdjlichen  $anblungen  nicht  leugnen:  mo  bliebe  fonft  baS 
Serbienft  ber  Jugenb?  ©eine  ganje  ©efchichtfchreibung  läuft 
bielmehr  auf  ben  ©a$  h*nQUg:  bie  SBeltgefdjichte  ift  baS  SBelt* 
gericht.  3)ie  SBerfehrung  ber  natürlichen  Orbnung  unter  ben 
äRenfchen  ^at  bie  ©chale  be$  göttlichen  3orneg  öoß  gemacht, 
bie  Seichen  ber  $eit  weifen  hin  auf  baS  brängenbe  Serhängnifj 
beS  Reiches.  ®iefe  3eühen  3“  beuten  unb  bamit  feiner  3e*t 
unb  fommenben  ©efchlechtem  eine  SBarnung  3U  geben,  wie  fie 
bem  jufiinftigen  30rn  entrinnen  foflen,  baS  ift  ber  fwh e 23eruf 
bee  ©efdjichtSfchreiberS. 

©nblich  bleibt  uns  noch  übrig,  bon  ber  $orm  ber  2)ar> 
fteßung  unb  bem  ©til  beS  StacituS  ju  reben.  Sbgefehen  bon 
feiner  ©rftlingSarbeit,  bem  3)ialoguS,  haben  feine  Schriften  eine 
gan$  auSgefprochene  ©igenart,  mit  ber  ©infchränfung,  bafj  bie 
boßenbete  SReifterfchaft  in  bem  fpäteften  SBerfe,  ben  Annalen,  am 
reifften  fich  funbgiebt.  @8  ift  im  aflgemeinen  ber  ©h^after  beS 
ffirhabenen,  welcher  feine  Schreibart  auSjeichnet,  nicht  bie  fchlichte 
einfache  Srt  ber  ©rjäljlung,  fonbern  bie  gewählte,  rebnerifche  unb 
poetifch  gefärbte  3)arfteflung.  @r  geht  überaß  in  bie  Xiefe,  er  fchlägt 
überaß  ben  boßen  STon  ber  ernften  ©ebanfen  unb  ber  moralifchen 
©mpfinbung  an.  @r  wiß  nicht  ergäben  unb  unterhalten,  er  wiß  be* 
lehren  unb  ergreifen,  jur  Söewunberung  unb  3um  Unwißett  hinreifjen. 

(897) 


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40 


Auch  im  ©ingelnen  oerm  eibet  er  alles  ©eroöhnliche  unb 
Alltägliche,  er  fudjt  forgfältig  bie  ©orte  unb  ©ortoerbinbungen. 
©r  ^at  uiele  neue  ©Örter  befonberS  aus  ber  3)ic£)terfpra<f)e  auf- 
genommen;  anberen  giebt  er  neue  inhaltooGere  Sebeutung.  @r 
ift  reich  an  bilblichen  AuSbrüden  unb  ©enbungen,  welche  bem 
Sortrage  ©chwung  unb  ©arme  »erleiden.  JhinftDoO  ift  bie 
©ruppirung  ber  ©lieber  ber  Siebe,  eine  befonbere  ©tärfe  bot 
er  barin,  bie  ©egenfäpe  hertwrgupeben  unb  aufeinanberftofjen 
gu  laffen.  @r  ift  ein  geinb  ber  Siebfeligfeit,  Diele  ©orte  macht 
er  nicht,  eher  gu  wenig,  ©ie  feine  ©ebanfen  ernft  unb  Doll 
unb  tief  finb,  fo  foOen  fte  auch  mit  ber  inhaltooOen  ©ucfjt 
fnapper,  gebrängter  friirge  pacfen.  Um  gefällige  SBerbinbungen 
ber  ©apglieber  unb  ber  ©ä|e  ift  eS  ihm  nicht  gu  tbun,  er  läfjt 
SBinbeglieber  unb  leicht  gu  ergängenbe  Xbeife  beS  ©ajjeS  gerne 
au4,  er  gebraucht  gerne  für  mehrere  ©apglieber  unb  Derfchiebene 
©ubjette  baS  gleiche  ^Bräbifat,  er  brängt  in  ein  ©ort  eine  ®e* 
bantenoerbinbung  gufammen,  bie  mehrere  ©orte  erforberte.  ©r 
!ann  fchwierig,  hart  unb  bunfel  fein,  aber  er  ift  nie  langweilig 
unb  gewöhnlich- 

©o  erfcfjeint  uns  ber  ©efc^ic^tft^reiber,  auch  wenn  wir  ihn 
in  bie  ©erlftatt  feiner  Arbeit  begleiten  unb  in  ber  Ausarbeitung 
beS  ©ingelnen  beobachten,  burchauS  als  eine  Dolle  eingigartige 
Sßerfönlidjfeit,  unb  wir  fönnen  nicht  beffer  fcf)Iiefjen  als  mit  ben 
©orten  SRanfeS:  „@r  behanbelt  baS  überlieferte  ÜKaterial  wie  ber 
Hünftler  feinen  ©toff,  unb  über  baS  ©ange  ergiegt  er  ben  ©trom 
feiner  SBerebfamfeit,  welche  alles  gu  einer  geiftnährenben  ©e> 
ftaltung  umfdjafft,  er  ift  ebenfo  unabhängig  Don  feinen  93or- 
bilbern,  als  unnachahmlich,  ein  SRufter  AOer,  bie  oor  ihm  unb 
nach  ihm  gefchrieben  hoben." 


lS8*i 


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fntfl  fflorilj  Arnbt. 


S3on 

Dr.  gaßoß  laouer 

tu  fRainj. 


.Hamburg. 

SSerlagöanftaft  uttb  5Driitferei  (üormalS  3-  g.  SRidjter). 

1891. 


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2>a3  9?ed)t  ber  Ueberfefcung  in  frembe  ©proben  wirb  »orbe^alten. 


Xrud  brr  SBrrlagianftalt  unb  Xrutfrrei  flcIim-VrfrQMaft 
(boroiatb  3.  Sinter)  in  (lamtmrg. 


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Dorf)  wie  fid)  auch  gfftaltcn  im  £tben  mag  bir  3fit, 

3)u  iolfft  mit  nicht  ocralttn,  o Itaum  ber  <jmlid)ftit. 

36t  Sttrne  leib  mit  StUflfn.  bie  ruhig  nithrrfdjau’n : 

„4ikini  allf  Stilbet  fchmtigtn  unb  faljctjcn  (höben  trau’n, 
3d)  min  mein  ffiort  nicht  brechen,  nicht  Silben  metben  gleich. 
Still  prebigen  unb  fprechen  uon  liatfer  unb  bon  Seich! 

(Sebenfenborf.) 

2Öenn  mir,  gliidlidje  ©pigonen,  Dor  unferem  geiftigen 
Stuge  bie  erljebenbe  $eit  ^er  ©efreiungSfriege  »orüberjte^en 
laffeit  unb  fid)  bann  im  leucfjtenben  $intergrunbe  bie  erhabenen 
§elbengeftalten  abljeben,  bie  bamalS  mit  intern  93Iute  für  $eutfd)- 
laitbs  ®inf)eit  unb  greiljeit  eintraten,  bann  gebenfcit  mir  aud) 
gerne  unb  mit  banferfiifltem  fjjerjen  jener  mutigen  Serfecfjter, 
bie  in  SBort  unb  ©d)rift  fiif)n  gegen  ben  fremben  Jpramten 
auftraten  unb  burdj  i^re  begeifterten  ©efänge  bie  ©emütljer 
beutfdjer  3«nglinge  unb  2Wänner  jur  33ertl)eibigung  beS  tljeuren 
$8aterlanbeS  entflammten.  SBir  gebenfen  itjrer  mit  einem  ©efüfjle 
ber  Sßietät  unb  SRüfjrung  um  fo  mef)r,  als  eS  if)neit  nidjt  Der- 
gönnt  mar,  bie  grüßte  ifjrer  Slnftrengungen,  il)rer  |>elbenfämpfe 
ju  flauen,  ©ie  ftetjen  Dor  uns  mie  SDiärtprer  einer  heiligen 
©ad)e,  umfloffen  Don  ber  ©loriofe  unDergänglidien  .fjelbentfjumS, 
als  bie  tapferen,  utterjdjrodenen  Sorfampfer  berjenigen  ©üter, 
bie  mir  nad)  langem  ©eilten  unb  $arren,  nach  langem  SRingen 
unb  Stümpfen  enbtidj  ermorbeit  babeit.  Unb  fo  merben  bie 
9tamen  eine«  Strnbt,  eines  ©djenfenborf,  Xljeobor  Äörner, 

Sammlung.  S.  g.  V.  120.  1*  (891) 


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4 


fRüdert  imb  Ußlanb  unfterblidj  fein,  folange  noch  ein  ^eutfcßer 
ftcß  beutfcß  fühlt,  ficf)  bonfbar  erinnert  feiner  großen  ©efcßichte 
unb  ber  gelben,  bie  cS  ermöglicht,  baß  mir  im  Sorbeerfdjatten 
eines  großen,  herrlichen,  einigen  ®eutfdjen  SleicßeS  wohnen  unter 
bem  ©cepter  eines  mächtigen  ©cßufc  unb  $ruf}  gewappneten 
KaiferS,  beS  berufjigcitben  |>orteS  gefegneten  griebenS. 

2Rit  erhöhtem  ©tol^e,  mit  gehoppelter  greube  blidect  wir 
jeßt  wieber  auf  2)eutfchlanbS  feßönften  ©trom,  ben  ber  beutfdje 
Slrtn  aufs  neue  mannhaft  befdjirmt,  aufs  neue  ben  gierigen 
Krallen  beS  weiften  SlblerS  entriffen..  ,,©ie  foßen  ifjn  nicht 
haben,  ben  freien  beutfdjen  Schein !"  fo  feßoß  eS  aus  ber  Keßle 
eines  einfachen  ©eridjtfcßreiberS  SRüofauS  SSecfer  1840,  ben 
(SroberungSgelüften  granfreicßS  gegenüber,  unb : „geft  fteßt  unb 
treu  bie  SSacßt  am  fRßeinl"  brauftc  eS  im  einftimmigen  ©cßlacht= 
gefang  im  rußmooßen  gaßre  1870. 

SDocß  öergeffen  mir  babei  meßt  beS  treueften  „SBädßterS  am 
fRßein",  beSjenigen  waderen  SaterlanbSfreunbeS,  ber  juerft  in 
einer  füßnen  Schrift  ju  3e*ten  öon  ©eutfcßlanbS  tieffter  @r> 
niebrigung  betonte,  baß  ber  fRßein  25eutfcßIanbS  ©trom,  nicht 
SDeutfcßlanbS  ©renje  fei,  — oergeffeit  mir  nicht  beS  oerförperten 
beutfehen  2RanneSibealS  in  — ©rnft  3Rori|  Ülritbt. 

Kein  wahrhaft  ®eutfcßgefinnter  wirb  baffer  ben  herrlichen 
©trom  befahren  fönnen,  ohne  ooß  2)anfbarfeit  unb  fRüßrung 
ben  ©oben  ju  betreten,  ben  bie  gußtapfen  biefeS  ©iebermanneS 
geheiligt;  benn  nach  beS  ®icßtreS  ÜluSfprucß  ift  „bie  Stätte, 
bie  ein  ebler  fßienfcß  betrat,  geweiht",  ©o  laßt  mtS  benn 
junäcßft  in  ber  freunblichen  SRufenftabt  ©omt  baS  einfache 
©artenßäuScßen  befueßen,  barinnen  ber  flßrtaeuS  beutfeßer  grei- 
ßeitSlieber  gewohnt.  ÜJiit  ©ßrfureßt  wanbeln  wir  in  ben  fleinen 
fRäumen,  bie  einen  großen  2Rann  mit  einer  SBelt  großer  ©e- 
banfen  unb  heiliger  ©efüßle  beherbergten.  Unfer  ©lid  faßt  auf 
beS  hoßen  ©erblichenen  ÜobtenmaSfe , auf  feine  ©ppsbüfte;  ju 

(892) 


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5 


ben  fröftigen  marfigeit  3ügf«  paßt  ber  berbe  ßnotenftocf,  ber 
ben  riiftigen  SBanberer,  ber  ©äbel,  ber  ben  mutigen  ©ater* 
lanbSoertßeibiger  uergegenrocirtigt.  daneben  gewähren  roir  bie 
rooßlbefamtte  fräftige  |>anbfcßrift  in  einer  fleinen  ©ammlung 
oon  ©riefen.  ©ecßt«  in  ber  @cfe  fteßt  ein  alter  ©effel,  auf 
bem  fein  befter  greunb  greißerr  ».  ©tein  feine  eble  ©eele 
auSgeßaucßt,  — eine  tßeure  Reliquie ! 9?ocß  einen  SBlict  roerfen 
roir  »om  ©alfon  auf  bei  $icßter8  SieblingSftrom.  ©obann 
brängt  e§  uitö,  bem  ©tanbbilbe  VlrnbtS  auf  bem  „alten 
3oÜ"  einen  ©efucß  abjuftatten.  üöiit  einem  ©efüßl  ber  ßöcßften 
©ereßrung  rußt  unfer  ©lief  auf  ber  aus  @r$  nacß  SlfingerS 
SKobell  gegoffenen,  gebrungeuen  ©eftalt  im  beutfcßeit  fRocf  mit 
ben  jufammengepreßten  Sippen  unb  ber  geballten  Sauft,  bie  auf 
einem  Sicßenftamm  rußt,  roäßrenb  bie  recßte  §anb  auf  feinen 
Sieblingäftrom,  ben  ©ßein,  ßinmeift.  9ll£  gnfeßrift  lieft  man 
außer  feinem  9?amen  bie  SBorte:  „®er  Üißein  ®eutfcßlanb3 
©trom  unb  nicßt  ®eutfeßlanb§  ©reuje!" — unb  au§  feinem 
ßerrlicßen  ©atcrlanbSlieb:  „3)er  (Sott , ber  Sifen  macßfen  ließ, 
ber  rooHte  feine  Äneeßte!" 

Sträumenb  unb  finnenb  ftcßen  roir  ßier  am  ©tanbbilbe  beS 
beutfcßeften  aller  beutftßen  SUiänner  unb  blicfen  ßinab  auf  bie 
griinlicß  feßimmcrnben  SBogen  be£  SRßeinS.  ©or  uns  liegen  im 
blänlicßen  ®ufte  bie  romantifcßen  „fiebert  ©erge",  oott  freunb* 
licßem  Sicßte  ber  milben  £>erbftfonne  beftraßlt;  fiißn  erßebt  ber 
$racßenfel8  fein  jerriffeneö  |>aupt,  um  baS  bie  fernen  tlbler 
freifett,  recßts  romft  ©obeSberg  unb  in  ber  gerne  jRolanbäecf 
unb  fcßaut  roeßmiitßig  roie  ein  ©cßatten  »ergangener  ©itterjeit, 
»om  ©tßimmer  ber  ©age  umrooben,  ßinab  auf  bie  3uflucßt8« 
ftätte  »errounbeter  ©eelen,  auf  bie  ItebooH  »on  ben  Firmen  be§ 
SRßeinftrom3  umfcßlungene  frieblicße  3nfel  9tonnenroertß.  ftier, 
roenit  unfere  trunfenen  ©liefe  über  bie  ßerrlicßen  beutfeßen  Sanbe 
feßroeifen,  bie  ber  ftarfe  beutfeße  Slrnt  auf^  neue  »or  ben 

(893) 


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6 


(SroberuugSgeliiften  beS  neibifdjen,  weiften  StadjbarS  befc^ii^t 
hat,  hier  gebeuten  wir  gerne  unb  uoU  bantbarer  S3eref)rung  beS 
großen  SJtanneS,  beffeu  fdjönfter  ,3utunftStraum  bie  33erwirf* 
lidjung  ber  fi'aiferibee,  beffen  3beal  bie  Sinfjeit  unb  ©röße  beS 
beutf^en  StkterlanbeS  war.  0 wenn  fein  feliger  ©eift  je|t 
fjerabfdjauen  fönnte  aus  ben  SBolfen  auf  baS  einige,  große  unb 
mächtige  23eutfd)lanb,  ba  würbe  nidjt  mc!jr  fdjmerilidj  fein 
ÜTCottjruf  erfüllen,  ber  fich  ifjm  in  ber  3e*fc  bet  größten  3err*ffen* 
^cit  unb  Zerfahrenheit  ber  beutfcfjen  Station  entrang,  ber  Siottjruf : 
„2BaS  ift  beS  SDeutfdjen  SBaterlaub?" — Sioch  ift  freilich 
nicht  alles  erreicht,  was  ber  Säuger  begeiftert  auSruft,  bod) 
fommen  wirb  einft  ber  $ag,  wo  alle  Sanbe  beS  ißartitulariSmuS 
fallen,  wo  alle  eigennüfcigen  Sonberintereffen  fdjwinben,  wo  fidj 
alle  beutfdjeit  SBolfSftämme  wie  Sörüber  an  baS  $erj  ftnfen. 
SDaitu  wirb  eS  ertönen  in  braufenbeu  SIccorben  oom  Stljein  bis 
3um  fernen  SDtemelfluß,  an  ber  SJtorb-  unb  Oftfee: 

©o  »eit  bie  bcutfdje  3un8e  Hingt 
Unb  ©ott  im  $>immet  Sieber  fingt; 

880  ßibe  frfjroört  ein  3)rucf  ber  |>anb, 

880  Sreue  tjeß  oom  Äuge  bfifct 
Unb  Siebe  »arm  im  feigen  fifct; 

3Bo  3orn  oertilgt  ben  metfdjen  £anb, 

38o  jeber  granjmann  Ijeißct  fjeinb, 

8B0  jeber  ©cntfdje  tjeifjet  ftfreunb,  — 

3>aS  foB  e«  fein,  baS  joU  eS  fein, 

33 aS  ganje  3)eutfd)tanb  foB  e8  fcinl  — 

®ieS  Sieb  f)at  wunberbar  in  allen  beutfdjen  $erjen  gejünbet, 
eS  ift  jum  Politiken  ©laubenSbetenntniß  geworben  unb  wirb 
immer  wieber  mit  neuer  öegeifterung  gefungen:  „S3JaS  ift  beS 
®eutfdjen  SSatertanb?" — 3a  wir  wiffen  eS  jefjt,  wir  flauen 
nidjt  rneljr  auf  ber  ftarte  ein  buntes  ©ewirr  oon  Staaten  unb 
Stätdjen,  wir  fe^en,  wie  eine  garbe  bie  ©renjlinie  oon  ber 
SJtofel  bis  jum  SJtemel,  oon  ben  Sllpenfetten  bis  jum  SBelt  um= 

giebt,  ein  ßerrlidjeS  Sanb  mit  einer  giiHe  prächtiger  Stromgebiete 

(8M) 


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7 


mit  rei*enben,  lacfjenben  Ufern,  ein  £anb,  baS  eine  reiche  rühm* 
öoKe  ©cfchichte  hat,  citt  £anb,  baS  trofc  ber  SDfannigfaltigfeit 
ber  $ialefte  unb  Sitten  fid)  eins  fühlt  in  bem  hohen  ©ebanfen 
ber  ©inljeit  unter  bem  fräftigen  Scepter  eines  jugenbticfjen 
ftaiferS,  bem  mannhaften  Schiifcer  unb  Schirmer  ber  NeidjS* 
grenzen,  — ein  £anb,  beffen  SBewohner  in  ßeiten  ber  ÄriegSnoif) 
roie  ein  ÜJiann  jufammenfteljen,  ein  £anb,  baS  im  grieben  bie 
grüdjte  eblen  ©ewerbfleipeS,  beS  |>anbelS  unb  ber  ftuitft  jeitigt, 
wie  fein  anbereS,  ein  £anb  enblitfj,  in  bem  mir  öod  S3e-- 
geifterung  unb  fiiebe  unfere  £>eimatf)  erfennen.  ®atum  ^inmeg 
mit  allen  ffeinlic^en  Nörgeleien,  ^tnmeg  mit  adern  SORifjtrauen 
unb  Slrgwohn,  — fobalb  eS  fid)  barum  fjanbelt,  garbe  ju  be= 
fennen,  rufen  mir  wie  aus  einem  SDtunbe: 

3>a8  ganje  Seuticblanb  fotl  e$  fein!  — 

D Sott  »om  glimmet  fiel)'  borcin 
Unb  gicb  un3  rechten,  beutfcben  2Ruth, 

®aß  mir  e§  lieben  treu  unb  gut. 

®a$  fotl  e$  fein,  ba3  fott  e$  fein, 

®a8  ganje  ®eutfd)fanb  fotl  e8  fein! 

(Sr n ft  SBtorifc  Slrnbt  würbe  am  2.  SßeihnachtStage  176£ 
in  Sdforifc  auf  ber  bamalS  fc^webifc^ett  gnfel  fRügen  geboren, 
in  bemfelben  gahre,  als  ber  ftolge  itorfe,  fein  größter  ©egner 
Wä£)renb  feines  ganzen  fiebenS,  baS  £icht  ber  SBeft  erblicfte. 
Sein  Sßater,  ein  waeferer  2Rann  Don  altem  Schrot  unb  Sforn, 
war  eigentlich  ein  greigelaffener  beS  ©rafen  ißutbuS  unb  ©uts* 
Verwalter.  Seine  Söiutter  fcfjilbert  ber  dichter  mit  folgenben 
Werfen: 

Unb  in  beS  §aufe$  ®bnn  ftanb 
ffiiit  SBeib  roie  her  au8  fernem  £anb; 

9Kit  blauen  2lugen  gleich  §intmel8fd)ein 
©d)aut’3  in  ba$  Senjgemimmel  hinein, 

<3ab  freunbüd)  au?  unb  gar  betreiben, 

SBie  ©ngel  fid)  in  ®emulh  fleiben, 

Cft  auch  bie  läctjelnbe  ©eberbe 
Sie  fenfte  halb  jur  grünen  @rbe. 

(895) 


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8 


©o  wu<h«  unfer  Arnbt  aus  einem  urgefunben  beutfchen 
$ünengefd)te(^te  in  ber  forgfameit  ©rjiefjung  brauer  unb  ge* 
bilbeter  @ltern,  umgeben  oon  ber  fc^orfett  Sörifc  norbifcher 
-Seeluft  al«  ba«  jweite  »on  ad)t  Kinbern  hera»  unb  geben?! 
nocf)  im  h°he»  Alter  mit  ©ärme  feiner  ungebunbenen,  glücf* 
fielen  3ugenb.  3n  feinem  fiebenten  Saljre  fam  er  in  ba«  nahe* 
gelegene  Eumfewifc,  wo  fid^  fein  Vater  ein  Sauerngut  gepachtet 
hatte.  fpier  erteilten  bie  (Sltern  bem  Knaben  ben  erften  Unterricht, 
beim  eine  ©dfule  gab  e«  ba  nicht.  fpier  würben  bie  jungen 
tüchtig  gegen  ©inb  unb  ©etter  abgehärtet,  mufften  ^atb  naeft 
bie  ißferbe  in  bie  ©chwemme  reiten,  faßen  be«  ©intern  leicht* 
betreibet  in  ©glitten,  unb  warf  ber  Vater  abfichtlich  ben  ©dritten 
um,  bann  mufften  fich  bie  Knaben  ladfenb  au«  bem  ©chnee 
hertwrarbeiten.  ®a«  war  alfo  echte  fpartanifche  Streifung, 
©pater  erhielt  (Srnft  £au«Iehrer,  unb  bann  fam  er  in  bie 
©cfjule  ju  ©tralfunb,  in  beffen  ÜJiä^e  fich  fei»  $ater  ttieberliefj. 
£>ier  erhielt  fich  ber  unoerborbenc  3unge  inmitten  ber  Ver- 
fügungen locferer  Kameraben,  bie  ih»  wegen  feiner  länblichen 
Vlöbigfeit  »erfochten,  bie  Unfchnlb  unb  Unentweihtheit  feiner 
©eele.  0ft  jügelte  er  feine  jugenblidf  feurige  ^ß^antofie  burch 
förperliche  ©rmübungen  in  ©alb  unb  ^lur,  am  ©tranb  unb 
in  beu  ©ogen  be«  9J2eere8.  Sion  eiiiem  unbeftimmten,  aber 
buch  unwiberftehlichen  ©anbertrieb  in  einer  3eit  »on  AbfcE)ieb«- 
feierlichfeit  mehrerer  Abiturienten  urplöfclich  ergriffen,  wie  wenn 
er  einem  Seben  üoH  Summefei  unb  Verweichlichung  mit  aller 
©ewalt  entrinnen  wollte,  ergriff  er  einft  beit  ©anberftab  unb 
marfdfirte  rüftig  auf«  ©eratljewohl  in  bie  ©eit  hlinein.  3)ie 
erfte  9lad)t  fchlief  er  auf  bem  fieuboben  eine«  ©chäfer«  unb 
wanberte  am  anbereu  Sföorgen  läng«  ber  'ijkene  hi»-  Auf  allen 
fftitterfijjen  uub  ^ßachthöfen  bot  er  fich  »13  ©etretär  an,  bi« 
fich  ein  menfcheufreunblither  ©ufolferr  für  ihn  lebhaft  intereffirte 
uub  feine  |>eimfehr  oermittelte.  £ort  warb  er  ohne  Vorwurf 

(996) 


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9 


empfangen  unb  bereitete  fic§  in  ber  ©tiöe  jum  ©tubium  oor. 
3nt  3af)re  1791  bejog  er  bie  Unioerfität  ©reifSwalb,  bann 
3ena,  um  Dljeologie  ju  ftubiren.  Dodj  fonnte  ißn  ber  bamalige 
nüchterne  Xon  biefer  SBiffenfdjaft  nicf)t  erwärmen.  Obmofjt  er 
fein  ©jameit  gut  beftanbeu  unb  mit  ®rfolg  geprebigt  fjatte, 
jog  er  ein  Sßanberleben  einer  fetten  ißfrünbe,  bie  iljn  ju  Sügen 
erwartete,  oor.  @r  jog  gu  guß,  ju  ©ciff  unb  Söagen  burdj 
bie  SSelt,  lernte  Ungarn,  Cefterreidj,  3talien,  Söelgieit  unb 
fwllanb  fennen  unb  fefjrte  nad)  l1/*  Sauren  in  bie  Jfpeimatlj 
juriicf. 

3m  3af|re  1803  finben  wir  ißn  in  ©reifSwalb,  wo  ißm  baS 
©djicffal  ein  treues  äßeib,  bie  Dodjter  eines  bortigen  ißrofefforS, 
belieb  unb  halb  barauf  eine  ißrofeffur  ber  @efcf)idjte.  Seiber 
genoß  er  nid)t  lange  fein  IfäuSIidjeS  ©lüd;  unerbitterlidj  riß 
ifjm  ber  lob  bie  geliebte  ©attin  oon  ber  ©eite,  nacf)bem  fie 
if)ti  mit  einem  ©oljne  befd)enft  ßatte. 

Snjwifcßen  war  eine  fdfwere  $eit  über  ®eutfd)lanb  an* 
gebrochen.  2lrnbt  hatte  auf  feinen  Seifen  bie  ©djladjtfelber  ber 
fiegreidjett  franzöfifdjen  SeootutionSf)eere  unb  bie  ber  erften 
föelbentljaten  SonaparteS  gefcfjaut.  Surj  nad)  feiner  Slbreife 
oon  ^SariS  war  bort  ber  leudpenbe  ©tern  beS  führten  ftonfulS 
unb  SaiferS  aufgegangen. 

Obwohl  ficß  2lrnbt  ber  SBewunberung  für  biefen  großen 
gelbßerrn  nidjt  oerfctyließen  fonnte,  fo  fjaßte  er  bod)  ju  fefjr 
ben  Despotismus,  unb  barum  waren  feine  erften  feilen  S«  feinet 
Scfämpfung  beftimmt.  Unb  war  er  beit  ^ranjofett  fcfyoti  früher 
gram  ißrer  SÖiorbbrennereiett  wegen,  bie  fie  in  ber  ißfalz  oerübt 
Ratten,  fo  erfaßte  ifjn  ein  tiefer  ©roß  gegen  ben  Dtjrannen, 
ber  über  Deutfdjlaitb  bie  größte  ©dpnadj  oerljättgte.  SllS  er 
nun  gar  mit  Ijöljnifdjer  DeufefSfauft  bie  alte  £>errlidjfeit  beS 
Deutfdjeu  SeidjeS  zertrümmerte,  ba  faunte  fein  ßorn  feine  ©renjeit 
me^r  gegen  bie  übermütigen,  f}abfüd)tigen  Unterbrücfer,  bie 

(897) 


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10 


feit  3afjrf)unberten  an  ber  ßerftiicfefung  mtb  Schwächung  unferes 
beutfdjen  ©aterfanbe#  fpftematifch  arbeiteten.  Unerfchrocfen  unb 
offne  ©djeu  ^ieft  er  ber  beutfdjen  Nation,  ein  groeiter  3>e- 
mofthene#,  bonnernbe  ©trafprebigteu.  ©or  feiner  erften  ©chrift : 
„lieber  bie  greifjeit  ber  alten  SRepublifaner"  ftanb  bas(  (au# 
©opboffe#  entlehnte)  ÜJiotto:  „SBem  gurdjt  öor  3eraanb  feine 
3unge  fcfjfieht,  ber  bünft  ntid;  ber  ©d)litnmfte  nun  unb  immer!" 
3n  feiner  brei  Sahre  fpäter,  1803,  erfdjicneneti  ©djrift:  „©erfucf) 
einer  ©efchidjte  ber  ficibeigenfc^aft  in  Üßommern  unb  SRiigen", 
prebigte  er  gegen  bie  ungerechten  ©ebriicfungen  ber  Sunfer,  bie, 
wie  er  an  ber  fjaub  ber  ©efchidjte  nachmie#,  in  ben  lebten  Safjr- 
hunberten  immer  mehr  jugenommen  hotten.  SDaburch  oerbiente  er 
ficb  bei  ben  ©bedeuten  feinen  5)anf,  im  ©egeutheif,  fie  nannten 
ihn  einen  £euteoerberber  unb  Sauentaufhejjer,  ja  fie  oerflagten 
ihn  fogar  bei  bem  Äönig  ©uftao  IV.  oott  ©djweben,  bah  er  in 
majeftät#befeibigenber  SBeife  beffen  ©orgänger  oerunglimpft  habe. 
Qnfofgebeffen  warb  Slrnbt,  ber  ©erfaffer,  oon  bem  ©eneral- 
gouoertteur  oon  Sommern  §ur  ©erantmortung  nach  ©tralfunb 
gefaben,  $ier  rechtfertigte  er  feine  Steuerungen  mit  SBafjr* 
heitsbeweifen  berart,  bah  ber  Äönig  fefbft  jugeftanb : „3a,  wenn 
bem  fo  ift,  fo  hat  ber  ÜJlann  recht!"  — Unb  e#  mürbe  bem 
fühnen  ÜJlann  nidjt  nur  fein  §aar  gefrümmt,  fonbern  er  erlebte 
fogar  bie  ©enugtfjuung,  bah  ber  Sfönig  halb  barauf  bie  Seite* 
cigenfchaft  aufhob. 

3n  bemfelben  Qahre  erfchien  auch  feine  ©d^rift : „©er- 
manien  unb  ©uropa",  worin  er  SRapofeon  unb  bie  fjranjofen 
af#  bie  Urheber  aller  ®rangfat  in  ©uropa  h>nfteßtc,  ein  ©or* 
bote  feine«  gewaltigen  SÖSerfeS : „®eift  ber  3eit." 

3njwifchen  oerbüfterte  unb  bebrohte  ber  länberöerfdjfingenbe 
Sprache  immer  mehr  ben  europäifchen  fporigont.  SRapofeon  hatte 
fidj  bereit#  auf  ben  Staifertfjrou  ffranfreich#  gefegt  unb  mit  ben 
frechen  ©Sorten  fich  bie  eifertte  Steone  Stalien#  hin3u9cfbgt- 

(898) 


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11 


„®ott  hat  fie  mir  gegeben:  mef)e  bem,  ber  fie  antaftet!"  — 
Unb  in  hünbifdjer  llntermiirfigfeit  famen  (Jitropal  dürften  ge> 
frodjeit  unb  überhäuften  if)tt  mit  unmürbigen  ©dmieidjefeien  unb 
3)eforationen.  SBcld)  entehrenbel  ©chaufpief!  ©o  füjjt  matt  bie 
Jpanb  bei  Unterbrücferl.  3n  fchamfofer  £>eud)efei  trat  ber 
grofje  ©djaufpiefer  all  93ölfcrbefreier  unb  (Srlöfer  auf  bie  2Beft- 
bühne,  um  bie  noch  allenthalben  blühenben  Seheitloerhältniffe 
aufjuheben,  — bie  »erblenbeten  SDienfchen  Oerehrten  ihn  mie 
einen  Slbgott,  fie  fahen  nicht,  bafj  er  fie  non  „hänfenen  geffelu 
befreite,  um  ihnen  fchtuererbrüdenbe  eiferne  Setten"  aufjuerlegen. 
©chon  fange  mar  bal  Slnfehen  bei  faijerfichen  Slameul  unter- 
graben, nicht  ohne  Sßerfchufben  ber  £>ab!burger,  bie  mehr  an 
bie  Sergröfjerung  ihrer  ^aulmacht,  all  an  bie  SSohlfaljrt  bei 
S)eutfd;en  fReidjel  buchten.  Diel  machte  el  einem  Slapoleon 
leicht,  bie  oöHige  Sluflöfung  bei  Deutfdjen  iJieidjel  herbeiju- 
führen.  ÜJiun  benufcte  ber  fdjlaue  9iän!efchmieb  einen  nrgliftig 
gegen  Deutfchlanb  bei  SIbfchfufj  bei  breiffigjährigen  Sriegel  ge- 
planten f^affftricf,  — bie  Freiheit  nämlich  einzelnen  bcutfchen 
gürften  mit  aulmärtigen  Mächten  ©ünbniffe  abjufdjliefjen,  unb 
brachte  beti  oerrätherifdjen  SRhctnbunb  unter  feinem  ©djube  ju 
ftanbe.  Grtmal  SRieberträchtigerel  fennt  fauin  bie  2Beltgefdjid)te 
all  bie  Schmach,  mie  bie  beutfchen  Sanbelöerräther  ihren  3ubal> 
lohn  in  Diteloerleihungen  unb  ©ebietlermeiterungen  aul  ber 
§anb  bei  granjofenfaiferl  empfingen.  ÜÖJit  fchneibenbem  §ohn 
fonnte  bicfer  jefct  fagen,  bafj  er  ein  Deutfchel  fReich  nicht  mehr 
fenne.  3U  ©efterreichl  Demütigung  trat  nod)  feine  oöCfige 
Sefiegung  1805  hinju.  9?u n galt  el  s$reufjen. 

§ier  fafj  ein  mtlber  Sönig,  fjrtebrich  SBilhelm  III.,  ber 
aber  einftn  SRapoleott  nicht  gemadjfen  mar.  Sieben  ihm  ftrahlte 
unb  feuchtete  ein  SBeib  uoEf  feftcner  £)ofjeit,  Königin  üuife. 
Doch  alte  oerrottete  .guftänbe  im  Srieglmefen,  föeoorjugung  bei 
2lbef!  unb  Qrntrcöhnung  öon  friegerifchen  ©trapajen  führten 

C8»9) 


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12 


Preußen«  gaü  bei  Sena  unb  Sluerftäbt  herbei,  unb  mit  iljm 
lag  $eutfcf)!anb  gefnedjtet  ju  be«  Torfen  güßen. 

3njwifd)en  war  Slrnbt  nadj  ©reifswalb  jurüdgefehrt , wo 
ifjni  ein  ®ueü  mit  einem  ftfjroebifchen  Offizier,  melier  non  ben 
$seutfd)en  oeräd)ttich  gerebet  ^attc,  beinahe  ba«  2eben  gefoftet 
hätte.  Sftod)  mehr  Kühnheit  aber  bewie«  er  burdj  bie  $erauS- 
gäbe  be«  mit  glammenbuchftaben  getriebenen  SSerfe«:  „©eift 
ber  3e>i",  worin  er  bem  fremben  Unterbrüder  ben  ffrehbehanbfchuf) 
fjinfdjleuberte,  fowie  feiner  eigenen  gefned)teten  Nation  ben  (Spiegel 
ihrer  Schmach  unb  (Sdjanbe  oor^iett.  Hber  nic^t  nur  al«  „patri* 
otifd>er  ©ußprcbiger"  trat  er  auf,  fonbern  auch  als  begeifterter 
'-Prophet,  ber  ben  batbigen  Sturj  beS  franjöfifdjeu  Kaiferreid)« 
unb  bie  2Jiorgenrött)e  ber  beutfd^en  Freiheit  oorijerfagte. 

®iefe  Schrift  bewies  in  einer  3e*t,  too  Btapoleon  ben 
öud)£)änbler  Sßalm  wegen  S3erfanbS  einer  gegen  tf)n  gerichteten 
Schrift  unb  in  einem  ©renjlanb  ben  uttglüdfidjen  ^rinjen  »on 
©nghien  hatte  erfdjießett  Iaffen,  oon  $lrnbt  bie  größte  Kühnheit, 
Junta!  ein  geheime«  9ieh  ber  Spionage  fid)  ttm  ganj  JJeutfdjlanb 
fchlattg.  ®en  beutfchen  dürften  wirft  er  ihre  Kriecherei  unb  ihren 
Sanbeöoerrath,  allen  Stäuben  ihre  Siinben  oor  unb  prebigt  ©n* 
fef)r  in  fich  fetbft.  ®ie  fcheinbaren  Sßölferbcfreiungen  ber  granjofen 
unter  bem  2>edmantel  ber  Humanität,  in  SBafjrheit  aber  ihre  »am- 
pprartigen  SluSfaugimgen  eutlarote  er  auf  baS  ScfjonungSlofefte. 

„3h*  alfo/'  rebet  er  bie  fffranjofen  an,  „ihr  feib  baS 
würbige  S3olf,  ihr,  bie  ihr  @uropa  um  feine  fdjönften  $off* 
nungen  betrogen  habt,  ihr  wollt  bie  öeglüder  unb  Herren 
Slnberer  fein,  bie  ihr  wieber  bie  friedjenbften  unb  efenbeften 
Sffaoen  eine«  Sinjigen  geworben  feib,  ber  euch  burch  feine 
ebleren  Künfte  befjerrfdjt,  als  burdj  gemeine  2ift  unb  prunfenbe 
Slefferei?  3hr  nennt  euch  baS  große  $olf!  SEBenit  Sänber 
auSgeplünbert,  Staaten  umgefehrt,  freie  SSölfer  unterjocht,  alle 
Sugenb  unb  @hrc  für  ©olb  feit  haben,  groß  ift,  fo  finb 

(900) 


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13 


»wenig  größere  ©ölfer  gewefen.  SBeitn  ober  5R e b I i cf; f eit, 
Xreue  unb  ©erecßtigfeit  uitb  SJfäßigfeit  ben  SDfenfdjett  unb 
baS  ©olf  groß  machen,  fo  fagt  eucß  felbft,  wie  flein  ißr  feib." 

25iefe  ©pradje  läßt  an  ®eutlidjfeit  nichts  $u  wünfdjcn 
übrig;  bocfj  er  fäfjrt  in  biefem  £one  fort  unb  wirft  ißneit  ifjre 
©arbarei,  ben  firniß  ißrer  fogenannten  ©Übung,  ißre  SBittb* 
beutefei  unb  Seidjtfertigfeit  oor.  @r  nennt  fie  fümmcrlidje 
SRittelbinger,  beiten  bie  öolle  {übliche  9taturfraft  ebenfofeßr  feßle, 
wie  bie  fcßmärmerifdje  ttorbifdje  ©emütßStiefe;  ißr  fünblidfeS 
Shrüppelwefen  offenbare  ficf)  in  ißrer  Älunft,  bie  ben  Slffen, 
aber  nicßt  ben  freien  3)2 e n f e u barftelle.  „SRidßtS  als  leerer 
©djein,"  fäßrt  er  in  geuereifer  fort,  „nicßts  als  ber  feinblicße 
©djlangenglaita  oon  jEugenben,  oon  welkem  ber  unüerborbene 
SDienfd)  ficf)  mit  Slbfcßeu  unb  ©djrecfen  abwenbet.  0ßne  Sie* 
ligion,  oßne  o ef ie,  oßtte  SEßaßrßeit,  $u  fcßwad),  eud) 
ju  beffern,  $u  gebilbet,  eures  UrtßeilS  inne  ju  werben, 
tretet  ißr  ftolg  ßitt,  unb  fräßet  uns  Slnberen  mit  einer  beifpiel- 
lofen  Unoerfdfämtßeit  oor,  baß  mir  ungefcßliffene  ©cfellen  unb 
©arbaren  feien.  SeicßtfertigeS,  unOerbefferlidjeS  ©efinbel,  baS 
fcßwaßt,  wo  Slnbere  füfjlen,  baS  ßüpft,  wo  Slnbere  fteßen, 
baS  fid)  einbilbet  ju  fein,  wo  Slnbere  finb  — ißr  ßabt  Dielen 
fdjönen  ©djeiit,  ben  wir  aber  oerabfcßeuen  müffett,  weil  er 
oßne  SSirflidjfeit  ift.  ©in  ©olf,  baS  alle  Sugenben  in 
bloße  2öor t e überfpielt,  baS  ficf),  Wo  Slnbere  ßabeit,  empfinbeti, 
genießen,  mit  leeren  ©cßatten  ber  25inge  begnügt,  ein  fo 
»ounberbar  betßörteS  unb  betßörenbeS  ©olf  als  bie  gran* 
jofen  fann  feinen  frifcßen,  freubigen  ©tod  auf  bie  Süfenfcßßeit 
feßett;  eS  ift  ju  weit  über  alle  ÜDienf djlicßfeit  ßinauS." 

$atte  je  ein  ®emoftßeneS  füßner  unb  offener  gefprocßen, 
als  ber  liftige  ^ßßilipp  oon  ÜJfacebonien  um  ©riecfjenlattb  baS 
©am  fefter  unb  fefter  30g,  ßatte  je  ein  (iicero  mädjtiger  unb 
oermegener  gebomtert  gegen  ©atilina,  ben  ©erfdjwörer,  unb 

(901) 


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14 


Antoniu«?  — ®och  bie  (Spraye  wirb  nod)  breifter,  al«  feine 
Angriffe  fiefj  gegen  ben  allmächtigen  Äorfen  felbft  rieten.  ®ie 
liftige,  faltberedjnenbe,  graufame  ®e«potenuatur  biefe«  uer« 
wegenften  oder  Ipranneit  enthüllt  er  in  erf<hrecfenber  fRadtljeit. 
©r  jeigt,  wie  er  nur  jutn  ©djeine  einige  krümmer  ber  fRe* 
publif  bemalet , bie  eitlen  granjofen  mit  äußerem  ©lanje  ge» 
bienbet  unb  fä^rt  fort:  „<£r  trägt  ba«  ©epräge  eine«  außer» 
orbeutlid)en  ÜRenfd)en,  eine«  erhabenen  Ungeheuer«, 
ba«  noch  ungeheurer  fdjeint,  weil  e«  über  unb  unter  ben 
aRenfcßen  bjerrfd^et  unb  wirft,  welchen  e«  nicht  augehört.  ©e* 
mttnberung  unb  gurcht  jeugt  ber  ©ulfan  unb  ba«  ®otmerwetter 
unb  jebe  feltene  ÜRaturfraft,  unb  fie  fatut  man  auch  ©onaparte 
nicht  oerfagen. . „2)ie  ernfte  Haftung,  be«  ©üben«  tief  oer» 
fteefte«  geuer,  ba«  ftrenge,  erbarmung«tofe  ©emiith  be«  forfifchen 
gnfulaner«  mit  |>interlift  gemifdjt,  eiferner  ©inn,  ber  furcht- 
barer fein  wirb  im  Unglücf  al«  im  ©lücf,  innen  tiefer  Abgrunb 
unb  ©crfchloffenheit,  außen  ©emegung  unb  ©lißesfchnelle;  baju 
ba«  bunfle  ©erfjängniß  ber  eigenen  ©ruft,  ber  große  Aberglaube 
be«  großen  SRenfchen  an  feine  ißarje  unb  an  fein  ©lücf,  ben 
er  fo  auffallenb  jeigt."  Al«bann  oergleicht  er  ihn  mit  bent 
alle«  oerfchfingenben  SBeltmeer,  mit  ben  mämter»  unb  oölfer» 
morbenbeu  SBüt^ericfjen  2)f<hingi«han  unb  Attila. 

35aß  ©eutfchlanb  biefem  9Ranne  unterlag,  fam  einzig  unb 
allein  baher,  baß  e«  fich  felbft  unb  feiner  t)<oi)en  Aufgabe  un* 
treu  warb,  gürften  unb  Solf  fjß&en  fi<h  gegenfeitig  befchimpft 
unb  oerrathen  unb  ju  Unechten  entiebrigt.  25arum  appeüirt  er 
an  ihr  @hr9ef“^  unb  rüttelt  fie  au«  ihrer  ©rftarrung  unb 
Abgeftorbenheit  auf.  „$t)rannen  unb  Könige  werben  ©taub,"  — 
fo  fdfließt  bie  ©trafprebigt,  — ißhramiben  unb  Äoloffeen  jer* 
bröcfeln,  ©rbbeben,  ©ulfane,  geuer  unb  ©djwert  tljun  ihr  Amt, 
ba«  ©roßte  oerßhwinbet;  nur  eine  Unfterblicßfeit  lebt  ewig, 
bie  SÖahrheit.  äöahrheit  unb  greißeit  ftnb  ba«  reine 

(902) 


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15 


Element  bea  Sebena  bea  göttlichen  äRenfdjeit , burdj  fic  i ft  er, 
ohne  fie  nidjta.  3ft  nicht  alles  SB  ahn,  waa  mir  feheit  unb 
empfinbeu,  treiben  nicht  bie  Söeften  bethört  mit  ber  bethörten 
3eit  bahin,  fann  ber  treue  SBitle  nicht  öerwunben,  fo  ^at  baa 
tüljnfte  Söort  jeine  ©erfölptung.  3d)  liebe  bie  ÜRenfchen." 

®iefe  Schrift  Slrttbta  gehört  nach  bem  Urtheite  ^äuffera 
gu  bem  Straf tigften  unb  Ermed  uugareichften,  waa  je 
eine  beutjdje  geber  getrieben. 

$ah  biefe  fiihne  unb  gefährliche  «Sprache  fRapoleona  I)öcf)fteu 
©rimm  erregen  muffte,  ift  Kar,  unb  Slrnbt  fühlte  fich  auf 
beutfchem  ©oben  nicht  ficfjer.  Sr  ging  bealjalb  nach  Schweben, 
mo  er  fortfuhr,  in  allen  möglichen  glugfdpriften  baa  beutfche 
©olf  jur  Erhebung  anguftadjeln.  Sr  lieh  feinem  „©eift  ber 
3eit"  einen  gweiten  $heil  nachfolgen,  ber  bem  erften  an  Kühn- 
heit nichta  nachgab.  $ier  gog  er  gegen  bie  feige  ©efügigfeit 
unb  Ergebenheit  in  bie  SSer^ältuiffe  fchonuugaloa  gu  gelbe. 
Er  ereifert  fich  9eßm  bie  gefinnungälofen  Klüglinge,  fd)ift  fie 
„fieifetreter,  ümnftföpfe  unb  kröpfe,  feige  unb  gemeine 
Knechte  ohne  Sinn  für  baa  ©rofje  unb  ohne  ©efühl  für  baa 
95olf  unb  feine  Ehre."  Er  warnt  oor  jebem  fonfeffioneflen 
£>aber.  „Saht  alle  bie  Meinen  ^Religionen,"  ruft  er,  „unb  thut 
bie  grofje  Pflicht  ber  eingig  hoch  ft  eit,  unb  ^ocf;  über  bem 
Zapfte  unb  2utf)er  bereinigt  euch  gu  Einem  ©lauben.  35aa 
ift  bie  hödjfie  fReligion,  gu  fiegen  ober  gu  fterben  für  bie 
@ere<htig!eit  unb  äBahrheit,  gu  fiegen  ober  gu  fterben  für 
bie  heilige  Sache  ber  SRenfchheit,  bie  burcf)  alle  Iprannei  in 
Saftern  unb  Schauben  untergeht.  $aa  ift  bie  höchfte  Religion, 
baa  ©aterlanb  lieber  gu  hoben  ala  Herren  unbgürften, 
ala  ©ater  unb  2Rutter,  ala  Söeiber  unb  Kinber.  ®aa 
ift  bie  höchfte  fReligion,  feinem  Enfel  einen  ehrlichen  fRamen, 
ein  freiea  Sanb,  einen  ftolgen  Sinn  gu  ^interlaffen.  3)aa 
ift  bie  höchfte  fReligion,  mit  bem  theuerften  ©lute  gu 

(903) 


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16 


bewahren,  mag  burcf)  ba«  tljeuerfte,  freicftc  33lut  ber 
®äter  erworben  Warb.  35iefe«  ^eilige  ftreug  ber  SBelterlöfung, 
biefe  ewige  fReligion  ber  ©emeinfchaft  unb  §errlichfeit,  bie  euch 
S^riftuä  geprebigt  hat,  macht  gu  eurem  Sanner!"  — Unb  an 
einer  anberen  ©teile  fogt  er:  ,,3cf)  liebe  bie  Unfterblidjfeit. 
®arum  lieb  id^  Freiheit,  Sicht  unb  ©efefc...,  gebt  mir  ein 
freie«,  glorreiche«  SJaterlanb,  unb  nie  mag  mein  SRame 
genannt  werben,  al«  in  meinem  |>aufe  unb  bei  meinem  fRadjbar; 
gebt  mir  nur  ein  ^ßlä&djeu  in  ©ermania,  wo  bie  Serdje  über 
mir  fingen  barf,  ohne  bafj  fie  ein  grangofe  h^^fc^ie^c,  gebt 
mir  ein  $äu«chen  mit  einem  ©artensaune,  wo  mein  frnhn 
frühen  barf,  ohne  bafj  ein  grangofe  ihn  bei  ben  gittichen 
faffe  unb  in  feinen  $opf  ftecfe,  unb  ich  wiß  fröhlich  fingen  wie 
bie  Serdje  unb  frühen  Wie  ber  ^paffn,  wenn  auch  ein  deinen* 
fittel  meinen  Seib  bebeeft."  . . . „gahre  benn  hin,  Sftidjtigfeit,  unb 
©tärfe  lebe!  fpafj  befeele,  $orn  entflamme,  SRache  bewaffne 
nn«!  Safjt  un«  oorgehen  für  unfer  Sanb  unb  unfere  Freiheit, 
auf  bafj  unfere  Kinber  ein  freie«  Sanb  bewohnen.  SDlänner  auf! 
unb  feib  gerüftet!  3hr  bürft  nicht  leben  al«  ©flauen!" 

®iefe  SEBorte  fcf)leuberte  Mrnbt  wie  SBranbrafeten  in  bie 
Söelt  gu  einer  $eit,  al«  ^ßreuffen  burch  ben  Vertrag  gu  Xilfit 
feine  größte  2)emüthigung  befiegelt  ^atte.  $)ie  SRotf)  oergröfjerie 
fich  noch,  al«  ber  ftaifer  Sllejanber  oon  Siufjlanb  feinen  früheren 
33unbe«genoffen  ffriebrich  Söilhelm  treulo«  im  ©tiche  ließ  unb 
fidh  Napoleon  guwanbte,  aKerbiug«  oorläufig  gegen  ©nglanb. 
2>och  faft  $He  fahen  bie  folgen  für  ®eutfcf)lanb  oorau«  unb 
liefjen  bie  Köpfe  hangen;  nur  Strnbt  oergagte  nicht.  Unb  feine 
SDlahnworte  fattbeit  SBiberhaü  in  gleichgefinnten  $ergen.  92od) 
war  ba«  beutfehe  SBaterlanb  nicht  aQer  eblen  Männer  bar. 
3n  Söerlin  liefen  fich  Sicht*/  ©djleiermacher  unb  3ah« 
oernehmen;  in  ber  Serwaltung  ergriffen  ba«  oerlorene  9tuber 
ein  ©tein  unb  ©djarnhorft.  Oefterreidj  „an  ©h^n  unö 

(9W> 


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17 


an  Stegen  reich",  ermannte  fidj  noch  einmal,  ber  h?lbenmüthige 
§ er  sog  non  ©rauttfchweig  brattg  mit  feinet  „©djwarjen 
©djar"  »on  ©Öhmen  bi«  gur  ßtorbfee,  ©djill  erneuerte  in 
Preußen,  Börnberg  in  Reffen  beit  Srieg.  Sßarett  aud) 
biefe  ©emühuttgen  nod)  nicht  non  ©rfolg  gefrönt,  — mußte 
auch  ©tein  geädjtet  fließen  unb  ber  braöe  Hnbrea«  |)ofer 
feine  ©rfjebung  mit  bem  ©lute  bejahten,  — eS  waren  bod)  bic 
©orboten  eine«  neuen  ©eifte«,  ber  über  ESeutfchlanb  fam. 

3efct  bulbete  eS  aud)  unferen  Hrnbt  nicht  mcßr  in  ber 
gfrembe.  Unter  bem  97amen  eine«  ©prachmeifter«  Hßmann 
fe^rte  ber  »on  bem  ©tarfchaß  ©outt  feine«  Hmte«  @ntfe|te  unb 
©eädjtete  nad)  ©erlitt  unb  f pater  nach  ©reifSwalb  gurficf. 
§ier  fonnte  er  feinen  acht  Safjre  alten  ©o^n  att«  ©aterherg 
brücfen,  aber  feine  ©Item  traf  er  nicht  meßr  am  £eben  an. 
3n  ©erlin  fanb  er  ba«  ©olf  in  großer  Hufregung  unb  bereit 
gu  ben  größten  Opfern.  3m  Saßre  1811  lernte  er  in  Sre«lau 
„©ater  ©lücßer"  fennen,  mit  bem  er  fidj,  wie  mit  ©d)arn» 
fjorft  unb  ©neifenau,  über  bie  Slot!)  be«  ©aterlanbe«  befpradj. 
©on  ba  reifte  er  mit  bem  f5euer  eine«  Jüngling«,  obwohl  be- 
reit«  ein  ©iergiger,  unter  mannigfachen  Hbenteuern  nach  Peters- 
burg, woßin  il)n  ©tein  berufen  hatte,  ber  ißn  au«  feinem  „©eift 
ber  3eit"  fennett  unb  lieben  gelernt  hatte. 

Sngwifchen  war  ber  Saifer  oon  fRußlanb  mit  Napoleon  ger- 
faßen  unb  ber  Stieg  gwifchen  ©eiben  erflärt.  Saifer  Hleyanber 
berief  nun  ben  auf  ©eranlaffung  ©onaparte«  oon  griebrich 
SEBilhelm  entlaffenen  früheren  preußifchett  SJiinifter  greiherrn 
oon  ©tein  an  feinen  £>of.  ©iefer  badjte  fofort  an  Hrttbt,  unb 
fo  fanbett  fich  gwei  gtoar  äußerlich  oerfchiebene,  aber  in  ihrem 
Streben  unb  SBoßett  gleichgefinnte  SRänner. 

2Bie  ein  fieufdjrecfenfchwarm  überfluthete  bie  große  Hrmee 
ben  Often,  um,  wie  Napoleon  in  wahnfinniger  ©erblenbuttg 
auSrief,  ,,be«  ©cßicfjalS  SBißen  gu  erfiißen  unb  fRußfanb  bar- 

Sammlung  9t.  3.  V.  120.  2 (905) 


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18 


nieberguwerfen".  Sltlein  eS  fam  anberS.  Vluf  ©tein»  ©etreiben 
locfte  man  baS  grofee  $eer  weit  ins  £anb  hinein,  um  an 
.^ungerSnotfe,  groft  unb  ©eueren  mächtige  ©unbesgenoffen  gu 
gewinnen.  $er  SluSgang  ift  befannt. 

Sftacfe  bem  ©ranbe  oon  ÜJfoSfau  war  eS  Wieberum  ©tein, 
ber  einen  angebotenen  billigen  grieben  SRapoleonS  oerfeinberte. 
9lun  erfolgte  ber  jammeroofle  fRüdgug  unb  liefe  eine  wafere 
fieiefeenftrafee  guriid.  5Der  graufame,  feerglofc  Sgoift  überliefe 
feine  treue  Slrmee  bem  @Ienb  unb  entflog  auf  einem  ©auern» 
fcfelitten.  Sftacfe  feiner  ülnfunft  in  'ißariS  liefe  et  ben  granjofen 
oerfünben:  „QDie  ©efuitbfeeit  ©r.  fföajeftät  war  nie  beffer!" 

Slrnbi,  ber  ftferiftfteHerifcfe  fefer  tfeätig  gewefen  war,  be- 
gleitete ben  greifeerrn  oon  ©tein  naefe  ©reufeen,  um  feier  bie 
gafene  ber  ©rfeebung  allentfealben  aufgupflangeit.  Unterwegs 
fefeauten  fie  bie  jammerooüen  Ueberrefte  ber  grofeen  Srmee. 
©o  fanben  fie  oft  fealböerfofelte  fieiefeen  oon  ©oltfeen,  bie,  um 
bem  grofte  gu  entrinnen,  bem  geuer  gu  nafee  gefommen  waren; 
in  einem  floftercifeulicfeen  ©ebäube  erblitften  fie  bie  Eeicfeen  bis 
gum  ^weiten  ©todwerf  gefefeiefetet.  gn  Königsberg  traf  Slrubt 
mit  Dorf  gufammen,  jenem  „eifernen  SKanne",  ber  baS  ©e= 
freiungSbanner  fefewang  unb  gu  ben  SRuffen  überging,  gefet 
regten  fiefe  ber  eblen  ©eifter  tiele,  unb  Ufeeobor  Körner  fonnte 
begeiftert  fingen: 

JaS  Sott  ftetjt  auf,  bet  Sturm  bridjt  toS! 

Slber  auefe  ?lrnbt  biefetete  jefet  feine  fcfeönften  Kriegs»  unb 
greifeätSlicber.  $a  flang  eS  wie  trompeten-  unb  ©ofaunen- 
fcfeall: 

Jer  Sott,  ber  (iifen  toacf)fen  lieb,  ber  tuothe  feine  Äuec^te, 

Jrum  gab  er  Säbet,  Sdjroert  unb  Spieß  bem  3)tann  in  feine  JKedjtr, 
2>rum  gab  er  if)m  ben  füfjnen  fWutfy,  beu  gorn  ber  freien  Sieb«, 

®afe  er  beftänbe  bis  aufs  ®tut,  bis  auf  ben  Job  bie  tJet)be. 

(906) 


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19 


D®eutfd)lanb,Ijetr(ieSi8aterlaiib!obcutfffje8tcb’itnbIrcue! 
$u  Ijofjeä  Satib,  bu  fd)öne$  2anb,  bir  fcfooören  wir  auf#  neue: 

S'eni  ©üben  unb  bem  $ned)t  bie  ?ld)t!  $er  fpeife  firätj’n  unb  Staben! 

©o  jictjn  wir  au#  ftur  .fjermanngfdjlacfjt  unb  wollen  Städte  Ijaben. 

Saßt  braufcu,  wa#  nur  braufen  lann,  in  fjeüen  lidjteu  flammen ! 

3ßr  Xeutfdjen  alle,  2)tann  für  Wann,  für#  Satcrlanb  jufammen' 

Unb  (jebt  bie  ^erjcn  fyimmelau  unb  himmelan  bfe  $änbc, 

llnb  rufet  alle  Wann  für  Wann:  $ie  finecf)tfdjaft  bat  ein  ©nbe! 

StriegSmutljiger,  opferfrcttbiger,  oaterfanbs« 
liebenber,  begeifteruber  tonnte  (ein  3)idjtcr  bie  fReiheit 
ber  Streiter  gur  fJreiheitSfchladjt  entflammen. 

SHs  (flaufewife  nad)  Sdjarnfiotfts  Sbeen  eine  Sanbmehr« 
orbnnng  ausarbeitete  unb  bie  Schöpfung  unter  Steinl  Leitung 
erft  fo  rccfeteS  Seben  gewann , fdjrieb  Sftrnbt  im  ®ienfte  ber 
Sad)e:  „2öaS  bebentet  Sanbmetjr  nnb  fiattbfturm?"  — 
9iun  erfolgte  aud)  ber  günbenbe  „Slufruf  an  mein  2$  oft" 
beS  ft'ötiigS  oon  'ißreufeen.  — Slufeer  mehreren  Meinen  Sdjriften 
liefe  Slrnbt  feinem  „©eift  ber  3eit"  einen  britten  Jljeil  folgen. 
(Sine  aflgu  garte  denforfeele  in  Söcrlin  ftiefe  fidj  an  9(rnbt§ 
fräftigen  2luSbriiden  unb  tuänfefete  für  „Stjrattn  unb  frembe 
genfer"  bie  SluSbrüde  „fperrfcher"  unb  „frembe  gr- 
öberer". Ülber  fttrnbt  gab  nicht  naefe,  nnb  auch  wir  feoffen, 
wenn  wir  ben  ferttigen,  berbett  3Jtann  in  feinen  bamalS  gewife 
berechtigten  bitteren  StuSfätlen  gegen  bie  Unterbriider  2)eutfcfe- 
lanbS  wahrheitsgetreu  wiebergegeben  ha&en,  nic^t  bei  fuper« 
humanen  unb  bem  2luSlanbe  gegenüber  atlgu  oorfidftig  auf« 
tretenben  Leuten  2lnftofe  gu  erregen.  fBir  tonnten  wenigftenS 
gur  Gtrwiberung  beit  oietleicht  nicht  unbegrünbeten  SBerbadft 
auSfprecfeen,  folcfee  Gabler  mikfeten  wofel  nicht  gut  patriotifdi 
gefinnt  fein.  So  oorficfetig  waren  auch  bie  fonft  f°  belifaten 
unb  höflichen  |jerren  $rangofen  uns  gegenüber  nicht,  wenn  fie 
oon  uns  als  bett  „barbares  allemands“  fpreefecn.  28ir  führen 
alfo  ofene  Scheu  noch  einige  charafteriftijd)c  Scifce  uttfereS  Strnbt  an : 

2*  (907) 


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20 


„333er  % ^ rannen  befämpft,  ift  ein  fjeiliger  SKann,  unb 
werUebermuth  fteuert,  t^ut  ©ottegbienft"!  — „$ag  hohe 
giel  beg  Kriegeg  ift:  Srringung  eineg  großen,  gemein* 
famen  93aterlanbeg.  Slfle,  bie  fid)  jum  Kampfe  gegen  bie 
.gwingherrfchaft  ergeben,  foßen  fich  alg  35eutfd)e  füllen!" 

Napoleon  oeranftaltete  eine  Slugljebung  ooti  350  000 
2Jfamt  unb  hoffte  bie  Kuffen  in  zwei  @chlad)ten  aufg  £>aupt 
ju  fragen.  93on  Defterreich  fürchtete  er  nic^tg;  hotte  er  bod) 
nach  f^nöber  93erftofjung  feiner  erften  ©emahlin  Sofefine  fich 
mit  einer  öfterreidjifdjen  Prinzejfin,  9Karie*£uife,  oermählt; 
nur  »on  Preujjen  beforgte  er  SBiberftanb.  Unb  hier  rüftete 
man  fi dj  in  erhabener  fflegeifterung  roie  ju  einem  Kreuzzug. 
„@g  entftanb/'  fagt  ©pbel,  „in  Preujjen  ein  $eer,  wie  cg 
fein  zweiteg  in  ber  ©efdjichte  giebt.  Sin  herein  grauer  33ete* 
ranen  unb  unbärtiger  Jünglinge  mit  ber  beften  Kfannegfraft 
ber  Kation,  folbatifchcr  Ungezwungenheit  unb  Derbheit  mit 
relifliöfem  ©djwunge  unb  gewiffenljafter  Sitte,  braufenber 
greif>eitgliebe  mit  ftreitgem  Pflichtgefühl  unb  treuem  Untertan* 
fittn.  @g  enthielt  bie  Keime  ju  aßen  echten  gortfdjritten,  bie 
feitbem  in  bem  Politiken  Beben  preufjeng  gefcheljen  finb,  ju 
bem  unaugtilgbaren  ©treben  nach  Politiker  SEBiebergeburt,  bag 
»on  bort  in  äße  beutfdje  ©aue  getragen  worben  ift."  93on  je 
neunzehn  Sinwohnern  — grauen,  Kinber  unb  ©reife  mit  ein- 
gerechnet — fteßte  Preufjen  je  einen  SKann  zum  greiheitg* 
friege.  ©0  wuchg  bag  |>eer  big  zu  247  000  SKann.  daraufhin 
hob  Kapoleon  noch  einmal  180000  9Kann  in  granfreich  aug. 

SBahrenb  ber  gefinttungglofe  öfterreichifche  ©taatgfanzler 
ajiette mich  «och  eine  zweibeutige  Haltung  beobachtete,  traten 
Preujjen  unb  Kujjlanb  in  ein  engeg  ISünbnijj.  Srft  nach  Jtoei 
©djlachten,  in  benen  zt®ar  Kapoleon  bag  gelb  behauptete,  aber 
mit  größeren  93er lüften  alg  feine  ©egner,  trat  Cefterreich  ber 
heiligen  Mianz  bei. 

CJ08j 


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21 


So  fam  eS  ju  ber  ewig  benftüiirbigen,  breitägigen  Sßötfer* 
fcf)lac§t  bei  Seipjig,  in  ber  Napoleon  gänglidj  geflogen  roarb. 

ffient  warb  ber  ©ieg  in  bem  Jarlen  ©treit, 

©er  griff  ben  IßreiS  mit  ber  ©fenfyanb? 

$>ie  ©elften  (jat  ©ott  wie  bie  ©preu  jerftreut, 

®ie  ©elften  pat  ©ott  bermept  wie  ben  ©anb; 

SJiel  Xaufenb  bedften  ben  grünen  9tafen, 

2>ie  Uebriggebliebenen  entflogen  wie  §afen 
Napoleon  mit, 

0 Seipjig,  freunblirfje  Sinbenftabt, 

®ir  warb  ein  leudjtenb  ©prenmal: 

©o  lange  roQet  ber  Safjre  9iab, 

So  lange  fd?eint  ber  ©onne  ®tral>l, 

@o  lange  bie  ©tröme  jum  SJieerc  reifen, 

©irb  tiocp  ber  fpätefte  ©nfel  preifen 
3>ie  Seipjiger  cf) la db t.  . . . 

§ier  »erfaßte  Strnbt  auch  bie  «Schrift : „2)a8  preufjifche 
SBolf  unb  $eer  im  galjre  1813",  weiche  3eu9n*6  abtegt  Don 
ber  echt  beutfcf)en  ©efinnung  unb  bem  frommen  ©ottDertrauen 
be$  Serfafferl.  2)arin  rebet  er  bie  SDeutfchen  an  at8  2Ränner, 
bie  „baS  SSatertaub  lieber  haben  als  ©otb  unb  benen  bie  beutfdje 
greiheit  toert^er  ift  als  baS  Seben  unb  bie  gottgefällige  Xugenb 
teurer  als  irbifc^e  ©üter. 

§ier  erfdjien  auch  feine  berühmte  Schrift:  „2)er  fR^eiit, 
Eeutfd^tanbä  Strom,  aber  nicht  SDeutfchlanbS  ©renje."  ®arin 
betonte  er  bie  ©pradjgrenje  als  bie  alleinig  berechtigte  gmifcheu 
granfreich  unb  ®eutfd)tanb  unb  forberte  taut  unb  nachbrucfäDotl 
bie  Sflücfgabe  ehebem  beutfcfjer  fßrooinjen,  fchou  um  ben  beute« 
füchtigen  Machbar  fern  Dom  frönen  beutfcfjen  Schein  ju  hatten. 
Seiber  fcheiterte  fein  ec^tbeutfcheS  Streben  an  ber  boppetjüngigen 
SJietternichfchen  fßotitif.  3a  Stein  nannte  fie  gerabeju  um 
moralifd),  93 1 ii  ch  e r fchimpfte  über  bie  „biptomatifcfjen  geberfudjfer 
unb  $intenflecffer,  über  bie  Schufte,  bie  ben  ©algen  Derbienen". 
2>ie  patriotifch  gefinnten  SWänner,  wie  Stein  unb  fStrnbt, 

(909) 


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22 


festen  menigftenä  in  granffurt  a.  SW.  burcp,  SJJapofeon  im 
eigenen  Sanbe  nnjugreifen. 

©o  marfdjirte  ber  ade  33  lücpe  r in  ber  SReujapränacpt  1814 
bei  Äaub  über  beit  SRpein,  fcpfug  SJtapoIeon  in  zwei  ©cpladjten 
nnb  riicfte  auf  Sßari3  lo§. 

Trum  blafet,  iljr  Trompeten,  |>uforen  perau«! 

Tu  reite,  £>crr  fffelbmarfdiatl,  im  fliegenben  Saug, 

Tem  Siege  entgegen  jutn  Stpeht  unb  iiber’n  SRpein, 

Tu  alter  tapferer  Tegen, 

Unb  ®ott  fott  mit  bir  fein! 

©r  fe^te  e§  burcp,  baff  „ber  Äerl  herunter  muffte",  er 
bewirfte  SRapoleonS  Sübfepttng.  $lber  leiber  fonnten  bie  guten 
Sßatrioteu  bamalä  nicfft  bie  SRürfgabe  ton  @[faf?*Cotpringeti  burcp* 
fepen.  Sfticpt  einmal  eine  ßrieggfteuer  warb  graitfreicp  auf* 
erlegt,  bie  geraubten  Äunftftpüfce  tturben  ipneit  aufjer  ber  oom 
33raitbettburger  Spore  geraubten  33iftoria  beiaffen,  ja  ipr  ©ebiet 
fogar  am  Oberrpein  uttb  in  ©atopen  um  150  Duabratmeiteu 
erweitert.  3! ber  ©teilt  prophezeite  ber  „unterfcpämten  Waffe" 

eine  Slbredjmtng  für  bie  gufunft,  attd)  33lüd)er  fap  ttad)  biefem 
„unterantmortlicpen  ^riebensfcplufj"  einen  batbigeit  33rucp  tornu«. 
SWettentidp  mar  fpiiter  in  SSieit  befonberS  barauf  bebadjt, 
Sßrcufjeit,  ba§  bie  Hauptarbeit  getpan  patte,  um  feinen  ter* 
bienten  2opn  ju  bringen. 

Sa  fcpoll  plöplicp  bie  Sfunbe  burcp  ©uropa,  SRapoIeon  pabe 
feinen  Sßerbaititung^ort  ©Iba  terlaffeit  uttb  fei  in  ffrattfreicp 
gelanbet.  SWit  Subei  warb  er  ton  ben  ttanfelmütpigen  gran* 
jofett  begrüfjt.  Sa  mar  e3  mieber  Sßreufjen,  unb  befonber§ 
ber  alte  SWarfcpaH  „33orwcirt8",  ber  „mit  eifernem  33efen  ba8 
Sanb  reingemacpt".  SRapoIeon  warb  auf  bie  öbe  Sufel  ©t.  ^cl cna 
terbanitt,  unb  e3  gab  33iele,  bie  mit  ipm  SWitleib  empfauben, 
mit  ipm,  ber  in  jepn  Sfapren  brei  SWißionen  granjofett,  im 
afrifanifcpcn  ©anbe,  an  ben  Ufern  be§  ©uabalquitir  unb  Sajo, 

(910) 


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23 


i 


au  ber  SEBeidjfel  unb  in  ben  ruffifdjen  ©iSfelbern  erbarmungslos 
feinem  ©Ijrgeij  geopfert  fjatte. 

Sßieberum  warb  fßreujjen  burd;  bie  raffinirten  Umtriebe 
ÜJlctternidbfcber  ^ßolitif  um  feinen  iuot)loerbienten  2ot)n  gebracht. 
ÜRan  gab  it)m  eine  fo  unoort^eiltjafte  ©renglinie,  tote  nur 
möglich,  unb  eS  hätte  fdjon  bainatS  mit  bem  Schwerte  gegen 
Ccfterreidb  fein  91cd;t  erfochten,  wenn  biefeS  nicf)t  im  ©etein 
mit  ben  übrigen  europäifdjen  2)iäd;ten  gebrobt  ^ätte,  ^ßreufjen 
gu  zertrümmern,  ©o  fügte  eS  firfj  unb  wartete  beffere  3eit  «b. 

Strubt  mar  nun  freilich  mit  ber  ©iiwerlcibung  ooit  ©d;mebifd;* 
Sommern  unb  ber  3ufel  SHiigen  ein  fßreujjc  geworben,  mie  er  eS  fc^ou 
längft  im  §erzen  mar,  aber  noch  fab  er  feinen  .gufunftStraum, 
fßreufjen  an  ber  ©pifce  33eutfchIanbS  gu  feiert,  liiert  oermirflidjt. 

SBir  finben  ihn  im  3abre  1815  in  &öltt  als  Herausgeber 
ber  geitfehrift:  „53er  Sßädjter",  er  wollte  ein  treuer  3Bäd)ter 
fein  am  SRfjein.  ©alb  barauf  warb  er  ooit  ber  preuffifdjen 
Regierung  gurn  3ßrofeffor  ber  ©efchidjte  in  ©onn  ernannt. 
®ort  oerheiratljele  er  fid;  mit  ber  ^palbfdjroefter  ©cbleicrmachers 
unb  grünbete  fid;  ein  neue«  Heini,  Sr  blieb,  was  er  mar,  ein 
warmer  Jreuttb  beS  ©olfeS  unb  oertbeibigte  bie  berechtigten 
gorberungen  beSfelben  in  ber  ©d;rift:  „lieber  bie  fünftige» 
ftänbifeben  ©erfaff ungen  in  23eutfd;Ianb".  53ieS  gab  einigen 
bämifdjett  unb  niebriggefinnten  ©peid;eflecfern  ©eranlaffung,  bie 
freie  ©eDe  beS  SiebermanneS  bei  ber  ^Regierung  gu  oerbädjtigen. 
©on  fold;en  ©cbweifweblern  fagt  Slrnbt  felbft: 
gucböjeit  ift  jt&t. 

SSebelnber  ©cbrcaitj 
SBirbt  fid)  jule^t 
Streidjelub  ben  Mranj; 

Sdjmeidjeln  unb  beudjetn, 

99iibetn  unb  3Rcudjetn 
2)?u&t  bu  oetftc^en, 

SBenn  bu  roitlft  ftetjen 
SSorberft  im  Janj. 

(#U) 


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24 


Stfjarf  unb  ohne  ©cpeu  fteHte  er  bie  tafcenbuctelnben 
Süemterjäger  in  feinem  oierteit  J^eil  oon  „(Seift  ber  Seit"  an 
ben  fßranger  unb  erflart  ihnen,  wie  einem  „jweiten  Napoleon" 
ben  Sfrieg.  ®a  tonnte  eS  benn  nicf)t  festen,  bog  feine  geinbe 
an  feinem  ©turje  arbeiteten.  @r  erhielt  eine  SHiige  unb  SBar* 
ttung  non  ber  Regierung,  wenn  er  im  ©inne  feines  „©eifteS 
ber  Seit"  roeiter  mirfe.  ®odj  feine  ©egner  waren  bamit  nicht 
jufrieben;  feile  ©pürnafen,  täufliche  ©ptophanten  belauerten 
iptt  ringsum,  ißlöfelicf)  warb  er  oerhaftet,  feine  Rapiere  ton- 
fiSjirt  unb  eine  ßriminalunterfudjung  gegen  ipn  eingeleitet. 
9Kan  ftöbertc  in  feinen  SBrieffcpaften  nadf  StnhaltSpunften,  warf 
ihm  bie  Slufpejjung  ber  bamalS  aufrührerifchen  afabemifchen 
3ugenb  oor,  ja  man  machte  ihm  fogar  ein  Verbrechen  barauS, 
bag  er  fid)  einft,  um  ben  |>äf<hern  Napoleons  ju  entgegen, 
eines  fallen  ißaffeS  bcbient  hätte.  Slm  meiften  ft^merjte  ben 
alten  üßann  ber  ungerechte  Vorwurf,  er  habe  bie  gugenb  oer« 
führt.  Obwohl  man  ihm  nichts  ©djtimmeS  nachweifen  tonnte, 
blieb  er  bod)  feines  SlmteS  entfett.  Jrofcbent  warb  er  nicht 
»erbittert,  hielt  an  feiner  ^eimatlj  feft  unb  oerlor  fein  (Sott* 
oertrauen  nicht. 

SJcutfdjeS  §erj,  berjage  nidjt! 

3rtju,  roast  bet«  ©croiffen  ipridjt, 

2>ie|er  Strahl  bcS  $mnmel31id)tg: 

Jfyue  red)t  unb  fßrdjte  liidjtg. 

SJiugtc  er  fiep  auch  fehr  einfdjränten,  waren  ihm  auch  bie 
gittiepe  feines  freien  ©eifteS  etwas  gelähmt,  er  oerlor  baS 
2Bopl  unb  SSepe  feines  VaterlanbeS  nicht  auS  beit  Hugen.  3m 
Sabre  1830  oeröffentlichte  er  bei  ber  Verfügung  beS  fiönigS 
oon  grantreich  eine  ©chrift:  „®ie  grage  über  bie  9tieberlanbe 
unb  fRpeinlanbc",  worin  er  aufs  neue  auf  bie  $u  regulirenbe 
©prachgrcnje  hmmeift.  ®iefe  ©eprift  erfreute  feinen  alten 
greunb  unb  ©önner  ©tein  in  hohem  SJtage. 

(912) 


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25 


Salb  barauf  fcßlug  ißm  ba«  ©cßicffal  eine  fcßrocre  SEBunbe, 
bie  nie  oernarbte:  einer  feiner  ©ößne,  auf  ben  er  bie  fcßönften 
Hoffnungen  gefegt,  ertranf  im  SRßeine.  3«  mehreren  feiner 
fiieber  flogt  ba«  Saterßerg  um  ben  oerlorenen  Siebling: 

28enn  bie  Ieifcn  ©ädjtein  raufeben, 

©äufetit  burd)  bie  ©(älter  bebt, 

2Rufj  icf)  boreben,  muff  idj  (aufeben, 

Db  ber  Siebfte  nieberfebioebt. 

©efränfte  ©ßre,  irb  if  cf)  e materielle  Serlufte 
mürben  ißm  erfefct;  boeß  biefe  Seere  blieb  unau«gefüHt.  3m 
3aßre  1840  feßte  fjriebricß  SBilßelm  IV.  Slrnbt  mieber  in  fein 
SImt  ein,  unb  erft  jeßt  erhielt  er  feine  SRanuffripte  mieber. 
Obrooßl  feßon  ein  ©iebgiger,  moüte  er  feinen  gütigen  SKoitarcßen 
nicht  burd)  eine  Steigerung  »erleben;  feine  Stollegen  ehrten  ihn 
burd)  bie  Sßaßl  gum  SReftor  ber  Uninerfität.  SDlit  SRfißrung 
begrüßte  er  in  einer  fernigen  SRebe  bie  alten,  liebgemonnenen 
SRäume,  bebauerte  nicht  mehr  jünger  gu  fein  unb  ermahnte  bie 
3ugenb  gut  pflege  beutfeher  ©itten.  Sber  noch  geigte  eiV  baß 
eine  jugenbliche  ©eele  in  feinem  alten  Störper  mohnte.  SRüßrig 
unb  rüftig  arbeitete  er  meiter  an  feinen  hohen  Sbealen,  beutfeßen 
©inn  gu  pflegen  unb  beutfdje  3Bacßt  gu  ßalten  am  SRßeine. 

3m  3ußre  1848  roählten  öier  SEBaßlförper  ben  neununb* 
fiebgigjährigen  ©rei«  in  bie  beutfehe  Kationaloerfammfung. 
2>ort  erfeßien  er  auf  ber  SRebnertribüne  „mie  ein  gute«  altes 
beutfehe«  ©emiffen"  unb  marb  oon  ber  SÜienge  jauchgenb  be- 
grüßt. f)ier  mie«  er  befonber«  auf  eine  einheitliche  Serfaffung 
unter  ißreußen«  güßrung  ßin,  mährenb  er  Defterreicß«  Unfähig« 
feit  flarthat.  SU«  ftef)  griebrid)  SBilßelm  IV.  meigerte,  bie 
angebotene  $rone  angunehmen,  bat  unb  befißroor  ißn  Slrnbt 
in  einem  Sriöatfcßreiben,  boeß  bem  Kufe  ber  Kation  gu  folgen. 
$ocß  ber  Stönig  oerßielt  fi<ß  ableßnenb.  ®ie«  erfüllte  Slrnbt« 
©eele  mit  tiefem  ©eßmerg,  er  legte  fein  SJtanbot  nieber,  feßrte 

(913) 


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26 


nacß  23oitn  jurücf,  öerlor  aber  nicßt  gattj  bie  Hoffnung.  „Sin 
SJolf,  baS  fo  Diel  ÜJfutß  unb  ©eift  ßot  als  bie  Deutfcßen," 
jagte  er,  „!aim  als  ein  fRaub  fcßlecßterer  S3ölfer  nicßt  unter- 
geben;  bie  ©eßnfucßt  eine«  großen  93otfe«  nach  ©ßre,  ®facßt 
unb  SRajeftät  ruirb  ben  Dag  i^rer  ©rfüßung  erleben.  ©laubet 
nur,  haltet  feft  unb  jufammen ! 

Docß  marb  ibm  trofc  feine«  feltenen  SlltcrS  nicht  bie  greube 
jit  tbeil,  feinen  fc^önften  Draum  erfüßt  ju  feben.  Slm 
26.  Dezember  1859  feierte  er  feinen  neunjigften  ©eburtStag. 
SluS  aßen  Streiten  DeutfdjlanbS  tuurben  ibm  ©Iücfnmnfcße  unb 
finnige  Sßjrengaben  tbeil,  ibm  bem  „SBater  Slrnbt",  bem 
Webling  ber  Nation.  Der  Ißrina-fRegent  oon  Preußen  fanbte 
ibm  in  Slnerfettitung  feiner  großen  SSerbienfte  ben  rotben  SIbler* 
ovben.  Slm  Slbenb  oorßer  batte  man  tßm  fe*n  Sßreitlieb: 
„SöaS  ift  beS  Deutfcßen  SSaterlanb?"  al«  ©tänbeßen  gefungen, 
Deputationen  ber  Unioerfität,  beS  3JiagiftratS  unb  afler  Korpo- 
rationen beglücftoünfcßten  ibn,  bie  ©tabt  Köln  fanbte  ißm  baS 
©brenbürgerreeßt.  Dtefe  Ueberbäufungen  oon  ©ßrenbejeugungen 
aller  Slrt  regten  ben  ebrtoiirbigen  ©reis  fo  auf,  baß  er  mitten 
im  SSeftrebeu,  Slßen  ju  bauten,  mit  ben  SBorten  ftarb:  „Saß 
mir  bie  Slugen  jufaßen!"  — ©ein  DobeStag  ift  ber  29. 
Sanuar  1860. 

©o  war  fein  @nbe  ein  feligeS.  $atte  er  aueß  nicßt  bie 
SBermirflicßung  feines  feßönften  gufunftStraumeS  erlebt,  bie  aß- 
gemeine Siebe  unb  Sichtung  beS  beutfeßen  93olfeS  bemieS  ißm, 
baß  ber  ©ame,  ben  er  gefäet,  aufgegangen  war  ju  taufenb- 
fältiger  grueßt.  Die  Sßereßrung  ber  beutfeßen  Sugenb  bot  ißm 
bie  SSürgfcßaft,  baß  ein  ©efcßlecßt  ßeranmacßfe,  mannßaft  unb 
beutfeßgefinnt  genug,  fein  gbeal  gu  »erroirf  ließen.  Unb  fo  gefcßab’S. 

Süßer  Slrnbt  oerfteßen  miß,  muß  feine  $eit  oerfteßen.  ©ein 
granjofenßaß  ift  fein  2Renfcßen>  unb  fRaffenßaß  an 
unb  für  fieß.  ©ein  ©roß  toenbet  fteß  gegen  bie  Unterbrücfer 

(914) 


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27 


feineg  SBoIfeS,  madjt  ihn  aber  nid)t  blinb  gegen  bie  SBorjüge 
biefer  Nation,  feine  ißreußenliebe  wurgelt  nidjt  in  einer  ein» 
feitigen  (Singeitommenheit  gegen  Defterreid),  fte  wurgelt  in  ber 
feften  Ueberjeugung,  baff  ju  ber  bamaligcn  3e^  nur  ißreußen 
berufen  war,  bie  ©inljeit  unb  ©röße  2)cutfd)Ianbg  fjerbeiguführen. 
$arum  war  Ärabt  ein  beutfcßer  SÄann  im  ooHften  ©inne 
beS  SBorteS,  beutfd)  in  2Bort  unb  £f>at,  — ein  leuchteitbeS 
2$orbilb  ber  3ugenb. 

Slrnbt  war  fein  Sflaffifer  in  ©djrift  unb  5orm/  cr 
fein  großer  ©elefjrter  unb  Staatsmann,  — er  war  ein 
warmer  greunb  beS  beutfcffen  SBolfeS,  ein  begeifterter 
ißropßet  ed^t  beutfdjen  SBefenS,  ein  ernfter,  uner» 
fdjrocfener  SQiahner  in  ber  3e^  ber  SRotf)  unb  93ergagtf)eit, 
ber  tobeSmutljigc  93efämpfer  jebcr  £prannei,  ber 
tapfere  Sorfedjter  beutfcfjer  SBolfSfreiheit  unb  @!)re, 
ein  SDfärtprer  ber  $emag ogenriedjerei,  ber  333 affen* 
fcfjmieb  in  ben  iJrei^eiSfämpfeii,  ber  unerntiibliche  33e* 
förberer  beutf^er  ©inbeit.  $aju  gefeilte  ficf)  eine  waffre, 
ttn  geheuchelte  grömmigfeit,  ein  unerfd)ütterlicbeS,  felfenfefteS 
©ottüertrauen.  35ocf)  feine  lammSfromme  ©ottergebenbeit 
im  ©inne  weichlicher  Unt^ätigfeit  unb  beS  trägen  ©ebenfaffenS 
prebigte  er,  — nein,  bie  SBaffen  ju  ergreifen  im  Vertrauen 
auf  ©otteS  §iilfe.  ®urcf)  alle  feine  Sieber  webt  ein  ^eiliger 
3orn  gegen  alles  ©emeine  unb  Unbeutfdje,  eine  93 e* 
geifterung  unb  Siebe  ju  feinem  Sßolfe,  baß  fte,  getragen 
oon  ben  fräftigen  ÜJielobien,  ju  beiten  er  oft  felbft  bie  Anregung 
gab,  nie  ihre  SSirfung  oer fei) fett  werben. 

©o  finb  feine  fräftigen  Sßeifen  nodj  ßeutc  bie  SieblingS» 
lieber  ber  beutfdjen  Sfugenb.  SBo  ficb  bie  lebensfrohen  ©tubenten 
gnm  Sfomtnerfe  oereinen,  ba  ertönt  fein  ®unbeSlieb:  ,,©inb  wir 
oereint  jur  guten  ©tunbe",  — beim  ©ettuffe  beS  ebfen  Sieben» 
fafteS  fein  herrliches  ffenerlieb:  „SlttS  geuer  warb  ber  ©eift 

(915) 


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28 


gefdjaffen,  brum  fc^enft  mit  fiijjeä  geuer  ein!"  — in  3eiten 
nationaler  (Srfyebung : „5)er  ®ott,  ber  ®ifen  roacEjfen  ließ , ber 
wollte  feine  5?itecf>te",  — inmitten  beS  SBaffcngeflirrS : „SBaS 
blafen  bie  Xrompeten?  ^ufaren  f)erau8l"  — in  3c*ten  b«  2Je» 
brängnifj:  „SBer  ift  ein  9)iann?  SB  er  beten  fann  unb  ®ott 
bem  £>errn  oertraut." 

Saturn,  beutfdjeS  S3olf  unb  befonberö  o beutfcf>e 
Sugenb,  ber  eS  Oergönnt  war,  ®lorreid)e3  ju  erleben,  er* 
wäge  unb  befferjige  ftets  unfereS  üDeutfcfjeften  aller  35entfd)en 
SB  orte: 

5)eutfdje  ftreibeit,  beutfdjer  ©ott,  heutiger  ©taube  ohne  6pott, 
SJeutfdjeS  $erg  unb  beutfdjer  @tapi  ftnb  oier  gelben  attjuinal. 
3>iefe  ftelj’n  wie  Jetfenburg,  biefe  festen  alle-i  burcf). 

2>iefe  galten  tapfer  au«  in  ©efatjr  unb  2obeSbrauS. 

®rum,  o #crj,  »erjage  nicht,  tpu,  ma«  bein  ©eroiffen  fpricf|t; 

5>ie$  beinfiidjt,  bein  2Beg,  bein  $ort,  hält  bem  Sapfern  ewig  Säort!  — 


.(916) 


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19  1947 

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n 21-100m  ia.,46(A2012.16)412 


ANH6* 

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Endlicher 


Wissensoha  ftxi 


IJov.  12*13 


)CT  22  1917 


JAM  13 1920 

APR  7 13X1 


SH-is 


STORAGE 

(ANNEX 


25m  5/13 

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