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Sarbarfc College Hibraru.
FR OM THE
RRICiHT LF/fACY.
Descendants of Henry Bricht, jr., who died at Water.
t-.wn, Mass., in 16S6, are cntitlccfto hold scholarships In
Harvard College, established in 1S80 under the will of
JONATHAN BROWN BRIGHT
ot Waltham, Mass., with one half the income of this
Lcgacy. Such descendants failing, other persons are
elitfible to the scholarships. The will requires that
this announcement shall be made in every book added
to the Library under its provisions.
Received
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Das Bibliothekwesen
in den Vereinigten Staaten.
Von
H. B «11 fort.
HAMBURG,
1 IKK MANN SKI IM MOL.
1890.
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r
iVIAY 17 1837
L
Unter allen Bildungsanstalten der Vereinigten
Staaten hat sich vielleicht keine selbständiger entwickelt
als die Bibliothek; auf keinem Gebiete seheint die Nach-
ahmung vorhandener europäischer Verhältnisse weniger
der Ausgangspunkt gewesen ZU sein als auf dem des
Bibliothekwesens. Nicht als oh die höht« Bedeutung
der alten Kultur und ganz besonders der gründlichen
und svstematischen Geistesarbeit der deutsehen Forseher
in Amerika unbeachtet und unbenutzt geblieben wäre; in
manchen Einzelheiten ist sie zur Grundlage dortiger
Hinrichtungen geworden. So z. B. sind die Amerikaner
stolz auf ihre Nachbildung der vor fünfzig Jahren von
Leopold Ranke geschaffenen tSeminarieu« und der
dazu erforderlichen Bibliotheken.
Sie haben kürzlieh den systematischen Katalog der
Universitätsbibliothek zu Halle der Neuordnung der
Bibliothek in Yale College. New Häven, Conn. zu
Grunde gelegt; die deutsche Bibliothekausstellung in
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Chicago hat von Seiten «Km- amerikanischen Fach-
Genossen die eingehendste Prüfung und lebhafteste
Anerkennung erfahren. Aber das amerikanische Biblio-
thekwesen als ( Tanzes ist dein heimischen Boden
entsprossen. Frei von den Hemmungen, welche der
Überkommenschaft vergangener Zeiten naturgemäss
anhaften, bringt es das Wesen einer starken, reichen.
Dach unbegrenztem Fortschritt und freiester Entwick-
lung des Individuums ringenden Nation zum Ausdruck.
Die Gesamtheit der Bibliotheken stellt eine Stutenfolge
dar, welche sich ebenso wie die Gesamtheit der Schulen
von der elementaren Volks- Bildungsanstalt bis zu der
Gelehrten -Anstalt erhebt. Ks kann kein Zweifel dar-
über herrschen, dass die ersten? an Zahl und Bedeutung,
an Vollständigkeit und Abrnndnng innerhalb ihres be-
sonderen Gebietes weit überwiegt. Wie sollte es auch
anders sein bei einer Nation, welche auf nur 150 Jahre
geistiger Entwicklung zurückblickt! Der praktische
Sinn der Amerikaner hätte sich verleugnen müssen,
hätten sie ihr Gebäude an der Spitze statt bei den
Fundamenten begonnen. Ein grossartiger, im edelsten
Sinne sozialistischer Gedanke und zugleich eine streng
praktische Erwägung liegen den Free Libraries, den
Volksbibliothekcn, zu Grunde, welche jedem, vom
Präsidenten bis zum Stiefelputzer unter gleichen Be-
dingungen völlig unentgeltlich Bücher liefern : Eine
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Gabe kann jeder Bürger vom Sumte verlangen: die
Mittel, sich selbst zu belehren, sich über die Stellung
hinaus zu lieben, in die ihn Zufall der Geburt oder
Ungunst der Verhältnisse gesetzt haben mag. Hier
sieht das Individuum seine höchsten Interessen durch
die Gesamtheit gefördert. — Die Massen lesen lehren
und sie dann, dieses zweischneidige Schwert in Händen,
sich selbst überlassen, ihren rohen Trieben, dem blindeil
Zufall, der ihnen Gift statt nährenden Brotes zuschiebt,
heisst die furchtbarsten Folgen freiwillig herauf-
beschwören. Hier sieht die Gesellschaft ihre Interessen
durch die Bibliothek geschützt. Diese beschützende,
abwehrende Macht reicht weiter, als man in einem so
grossen Gemeinwesen, bei so viel unbeschränkter Frei-
heit, selbst der .Jugend, vermuten sollte; sie zeigt sich
am deutlichsten in den kleineren Städten, wo glänzende
Bibliotheken und fast gar keine Sozialdemokraten exi-
stieren. Ihre vollendetste Entwicklung haben die Bib-
liotheken in Massachusetts erreicht. Geschmackvolle
Steingebäude; eine geräumige Lesehalle; bequeme Sitze
und Tische; Zeitungen und Zeitschriften wohlgeordnet
zur Hand; der Büchervorrat in den sog. stackrooms
nur bis zu erreichbarer Höhe aufgestapelt und mit
Hilfe des Kartenkatalogs, der in kleinen Schubfächern
alphabetarisch geordnet ist, jedem Leser zugänglich;
im ganzen Gebäude zweckmässige Heizung, Ventilation
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und Beleuchtung vom frühen Morgen bis /um späten
Abend. Sollte das nicht an und für sich eine An-
ziehungskraft ausüben, welche von der unwirtlichen
Strasse, dem lärmenden Markte, aus der Kintönigkeit
der engen Häuslichkeit zur Benutzung der hier ge-
botenen Bildungsmittcl lockt V Aber wer hält in der
Bibliothek Ordnung und Ruhe aufrecht ? Welche
Kegeln schützen den ernsten Leser vor Störung, die
Bücher vor Beschädigung V Fragen wir die Biblio-
thekarin, deren Erscheinung ruhige Sicherheit, ver-
ständige Aufmerksamkeit für die Wünsche des Biblio-
thekbesuchers, Klarheit und Schnelligkeit des Denkens
und Handelns ausspricht. Wie die Bibliothek selbst,
gewährt auch ihre Person einen freundlichen, ge-
winnenden Kindruck ; Sauberkeit und Sorgfalt ohne
Pedanterie, gediegenes Wissen und Können ohne Über-
hebung gelien ihr das Gepräge. Persönlich wie sach-
lich herrscht eine belebende Atmosphäre der Anregung,
des physischen und geistigen Behagens.
»Wir haben hier nicht viele Regeln«, sagt die
(iefragte. indem sie uns durch die Räume führt.
»Die haben wir mit der alten Bibliothek abgethan.
welche nur bestimmt schien, die Bücher vor Abnutzung
und das Lesezimmer vor dem Publikum zu schützen.
Wie für unser Haus eine allen Ständen bequem
erreichbare Stelle gewählt worden, so ist für die
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Anordnung der Hüchel- und Zeitschriften, für alle Biblio-
thekangelcgenheiten die Bequemlichkeit der Leser
erstes Gesetz. Die Meisten werden mit den Benutzungs-
einrichtungen und dem Kartenkatalog, der dem U'ser
das Kaufen oder Entleihen eines Ruchkatalogs erspart
und viel übersichtlicher ist als dieser, schnell vertraut.
Die Rüchcr sind auf den Borten so geordnet, dass
jeder leicht überblicken kann, was wir auf dem Gebiet,
das er studieren will, besitzen. Was am häufigsten
gefordert wird, steht dem Ausgabesehalter am nächsten;
binnen wenigen Minuten können wir mittels unseres
Registriersysteins von jedem Buch, jeder Brochüru
sagen: »verliehen oder vorhanden«. »Aber, kommen
nicht viele Leser, die garnicht wissen, was sie suchen V«
Meine Führerin lächelte. »Eben die sind oft unsere
besten Kunden; auf ihre Lektüre gewinnen wir den
stärksten Finfluss. Sehen Sie, dort stehen zwanzig
Bände, deren Inhalt sich auf die wichtigsten Fragen
bezieht, welche vorige Woche in den Zeitungen ver-
handelt wurden. Links auf dem Tische steht eine
Auswahl, welche den vor einigen Tagen gehaltenen
Vortrag des Prof. X. ergänzt.
Hechts Huden die Gymnasiasten den Stoff zur
Vorbereitung für ihre Disputation ; der Lehrer schickt
mir Sonnabends das Thema, und Montags stehen die
Bücher bereit. — Hier, in der Mitte des Saales sind
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die neuesten Erscheinungen ausgelegt « . »Sie geben
sich wahrlieh mehr Mühe mit Ihren Lesern als mancher
Kaufmann mit seinen Kunden«. »Selbstverständlich!
wem gehören denn die Bücher? mir, oder dem Publi-
kum? Meine Gehilfinnen und ich haben es den Leuten
völlig klar gemacht dass wir nur ihr Eigentum ver-
walten, daher werden auch kaum Bücher durch Mut-
willen oder Unvorsichtigkeit beschädigt; von den 8000
Bänden, die im letzten Jahr im Lesesaal standen, ist
keiner verloren worden, und der Verlust bei den
ausgeliehenen betrügt ein Buch auf 25000«. In «liesein
Augenblick wurden hinter uns Stimmen laut; zwei
Männer unterhielten sieh in einem allzu hörbaren
Flüsterton. Sofort trat eine der Bibliotheksgehilfinnen
zu ihnen und ersuchte höflich um Schweigen. Wie
viel leichter und gewandter bringt eine Krau solche
Mahnung vor. wie viel bereitwilliger fügt man sich
ihr, als es bei einein Manne der Kall sein würde!
Miss James, die Bibliothekarin des IVople's Palace in
London, die jahrelang mit den rohesten Elementen des
östlichen London zu thun gehabt hat. versicherte mir.
dass die Disziplin ihr kaum jemals Schwierigkeiten
gemacht habe. Ihr Bericht über die freilich anstren-
gende, alter auch überaus lohnende W irksamkeit, welche
sie im IVople's Palace entfaltet hat. ist anziehend und
ermutigend für die Frauen, welche es in Europa mit
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dem Beruf der Bibliothekarin wagen möchten. Die
Free Library in Nordamerika darf übrigens nicht für
gleichbedeutend mit der Bibliothek des Reople's Palace,
ja. auch nicht für identisch mit den Berliner Volks-
bihliotheken gehalten werden. Sie gehören dem all-
gemeinen Publikum; man tindet in ihren Lesesälen,
einer Rinrichtung, welche der Berliner Volksbibliothek
fehlt, sowie an ihren Ausgabeschaltern ebenso viele
Gebildete als Ungebildete, ebenso viele Frauen sowie
Schüler und Schülerinnen der mittleren und höheren
Lehranstalten als Männer. Ganz besonders in den
kleineren Städten macht ihr Publikum einen vor-
nehmen Lindruck, so dass der Gedanke, die Forderung
unentgeltlicher Lektüre gehöre den unteren Ständen
an. völlig ausgeschlossen ist. Früher haben die Free
Libraries ebenso, wie es leider jetzt noch bei den Ber-
liner Volksbibliotheken der Fall ist, in Verbindung
mit den öffentlichen Elementarschulen gestanden; sie
waren wie jene in den Schulhäusern untergebracht und
wurden von dem Rektor oder den Lehrkräften ver-
waltet. Selbstverständlich ist in diesem Falle der für
die Bibliothek verfügbare Raum unzureichend; der
Lehrer kann ihr nur einen geringen Teil seiner Zeit.
Kraft und geistigen Frische widmen ; er wird selten
mehr thun können als für die rechtzeitige Rücklieferung
der entliehenen Rücher zu sorgen ; von einer wirksamen
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Förderung der öffentlichen Bildung und Gesittung kann
unter solchen Umständen kaum die Hede sein. Während
die Stadt Worcester in Massachusetts hei ca. 80 000
Einwohnern für ihre seit 35 .Jahren bestellende Free
Library 100 000 Mark jährlich ausgieht, verwendet die
Hauptstadt des deutschen Reiches /Air Zeit 36 000 Mark
jährlich auf ihre 27 Volksbibliotheken, welche bereits
auf eine mehr als vierzigjährige Entwicklung zurück-
blicken, sich aber bei so geringen Geldmitteln un-
möglich zu einiger Leistungsfähigkeit erheben können.
In Amerika werden die Bibliotheken aus Gemeinde»
nütteln unter Heihilfe des Staates unterhalten, was bei
uns ebenso gut ausführbar wäre. Sie entsprechen den
Bedürfnissen der verschiedensten ( resellschaftsklasscn.
Während Unterhaltungslektüre einen hervor-
ragenden Bestandteil bildet, weiden doch auch die
klassischen Dichter sowie populär wissenschaftliche
Werke, Memoiren und Reisebeschreibungen, Originale
und Übersetzungen aus den wichtigsten europäischen
Litteraturen eifrig gelesen. Manche Bibliotheken ver-
leihen als Zugabe zu jedem Band Unterhaltungslektüre,
der gefordert wird, einen Band ernsteren Inhalts. Die
zahlreichen Lese- und Disputationsklubs der reiferen
•Jugend und in kleineren Städten auch der Erwachsenen
geben fortwährend Anregung zur Benutzung der wert-
volleren Bücher, deren Zahl, wie aus der Statistik
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vieler Bibliotheken hervorgeht, gegen <lie der Romane
fortwährend zunimmt. In Chicago ging von 1875 his
1X95 der Anteil der ans der Stadtbibliothek entliehenen
Romane und Jugendschriften um ein Fünftel zurück,
während (Geographie und Geschichte, Reisen und Bio-
graphieen um ein starkes Drittel stiegen. Ed. Rcyer
giebt in seinem lesenswerten Buche > Entwicklung
und Organisation der Volksbihliotheken« interessante
Zusammenstellungen über die Benutzung dieser An-
stalten in deutschen, englischen und amerikanischen
Städten und weist auffeilende Übereinstimmung in
der Wahl der Lektüre für die verschiedenen Länder
nach. In Amerika gelten gute Romane mit Recht als
ein wertvolles Bildimgsmittel ; man legt dabei auch
nicht etwa den höchsten litterarisch -kritischen Mass-
stab an und würde z. B. der Konmüssion nicht bei-
stimmen, welche bei der Auswahl für die Berliner
Volksbibliotheken gegen Eberssche und Dahn'sche
Romane Bedenken erhob, weil diese nicht zu den
bestell Werken unserer Xationallitteratur gehören.
Dieser Standpunkt ist der des Literarhistorikers; die
Leute, welche Geschmack daran rinden, ihre Musse-
stunden in Gesellschaft der ägyptischen Königstochter
oder der gothischen Helden zu verleben, entnehmen
dieser Gesellschaft eine Fülle unschuldigen Vergnügens
und zugleich fruchtbare Bildungselemente. Wer sich
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an sie einmal gewöhnt luvt, ist der Versuchung nicht
zugänglich, welche die sog. Hintertreppenromane un-
serer grossstädtisehen Bevölkerung ins Haus tragen.
l'nd wer in der öffentlichen Bibliothek eine stattliche
Auswahl von volkswirtschaftlichen Schriften ver-
schiedener Richtungen zu seiner Verfügung sieht, der
wird nicht mehr bereit sein, «ich der sozialdemo-
kratischen Tendenzlittcratur auf Gnade oder Ungnade
zu ergehen. Kill überflutender Vorrat gehaltloser und
»ogar gemeinschädlieher Schriften wird heutzutage in
«Heil Ländern zu lächerlich niedrigen Preisen auf den
Markt geworfen, nichts anderes kann ihrer Macht ent-
gegenwirken als der Umstand, dass bessere Bücher
unentgeltlich und unter den angenehmsten Bedingungen
für .hing und Alt bereit stellen. Das Bedürfnis für
eine öffentliche Bibliothek und ihre Bedeutung für die
Gebildeten und besitzenden Klassen steigt in Amerika
ganz ausserordentlich infolge der Thatsache. dass der
Buchhändler hier seinen Kunden nur ausnahmsweise
Bücher zur Ansicht schickt; wer kaufen will, wird
daher gern die Gelegenheit ergreifen, sich von dem
Wert eines Buches zu überzeugen, ehe er es anschafft.
Ks kann nicht ausbleiben, dass die bessere Klasse der
Leser einen massgebenden Kinfiuss auf die Bibliothek
sowie direkt und indirekt selbst auf die tiefer stehenden
Elemente unter den Besuchern ausübt ; die glänzendsten
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Möglichkeiten in dieser Hinsicht hat natürlich der
Bibliothekar seihst, welcher in Amerika fast immer
eine Bibliothekarin ist. Sie hat als ihr Berufsfeld die
ganze Bewohnerschaft einer kleinen Stadt oder die
dichte Bevölkerung grossstädtischer Distrikte vor sich,
nicht wie der Lehrer nur in den Jahren der Unreife,
nicht wie der Prediger nur in langen Zwischenräumen
und auf eine kurze Stunde, sondern tagein, tagaus,
jahrelang, sofern sie die geistigen Interessen ihrer
Gemeinde zu befriedigen, allmählich zu steigern und
auf eine höhere Stufe zu heben bemüht ist. Mag man
in Deutschland gegen das Lesen entliehener Bücher
eifern und einwenden, dass sie nur einer Reisebekannt-
schaft gleichen, nie den nachhaltigen Einfluss eines
Hausfreundes ersetzen können, die öffentliche Biblio-
thek ist (iie unentbehrliche Ergänzung der öffentlichen
Schule ; sie erfüllt eine hochwichtige Mission in dem
Leben einer Nation : Für das Volk ist sie notwendig,
für die Gebildeten noch notwendiger. Nicht alle Bücher,
die man mit Nutzen liest, sind es darum wert, an-
geschafft zu werden; eine Bibliothek, welche nicht auf
die niederen Triebe ihrer Leser zu rechnen braucht,
um sich Zahler zu sichern, welche mit rein idealen
Zielen die höchste praktische Vervollkommnung des
Apparates verbindet, trägt mehr zur segensreichen Jvö-
sung sozialer Fragen und Gegensätze, zur Verbreitung
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von Verständnis und Liebhaberei für Bücher und zur
Erhöhung des allgemeinen geistigen und sittlichen
Standpunktes bei als irgend eine andere Veranstaltung.
Freilich, mit dem Bibliothekar der alten Schule, dem
engherzigen Hüter der Bücher,, und mit seinen Ge-
hilfen, deren Leistung sich darauf beschränkt, Bücher
von den Borten herabzuholen und allen Kragen der
Leser eine Unwissenheit und einen Gleichmut entgegen
zu setzen, welche jedes derartigt' Ansinnen im Keim
ersticken, mit ihnen lässt sich eine höhere Aufgabe
nicht lösen. Das Allerwichtigste für jede Bibliothek ist
der Bibliothekar. Die Zeiten sollten vorbei sein, da
der Leiter einer Öffentlichen Bibliothek sich dem
Publikum gegenüber so geben durfte, als sei nicht
dessen Interesse, sondern die Vollständigkeit der Biblio-
thek oder ein derartiges imaginäres Ziel seine^iiehtschnur.
Aber wie selten sind noch bei uns in Deutschland die
Herren, welche gleich dem Leiter der Stadtbibliothek
in Mainz eine wissenschaftliche Sammlung den Bedürf-
nissen des grösseren Publikums dienstbar machen wollen I
Man würde irren, wenn man aus dem Gesagten
folgerte, dass für den gelehrten Mann, für den tiefer
angelegten Forscher und Denker, welcher naturgemäss
dem Eindringen der Menge in seine Bücherei abgeneigt
und zu dem täglichen Verkehr mit dem allgemeinen
Publikum nicht aufgelegt ist, dem das Verständnis für
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seine Bedürfnisse und die persönliche Beeinflussung des
einzelnen Lesers fern liegt, dass für ihn in dem Biblio-
thekwesen Amerikas kein Raum sei. Die Uni-
versitätsbibliotheken dieses Landes sammeln streng
wissenschaftliche Werke — man erinnere sich dessen,
dass die Büchersammlungen von Ranke, Zarncke und
Lagarde hierher gewandert sind. Mit den europäischen
Universitätsammlungen lassen sie sich freilich noch
nicht vergleichen, abgesehen von ihrem Bestände, auch
bezüglich des Planes und Zieles nicht. Sie entsprechen
dem Range der amerikanischen Hochschulen seihst,
welche eine Fortsetzung des höheren Schulwesens dar-
stellen und sich erst allmählich, Johns Hopkins, Har-
vard und Yale voran, die neue Universität Chicago
mit Riesenschritten nacheilend, zu Anstalten für wissen-
schaftliche Forschung entwickeln. Aber eben weil hier
noch alles zu leisten ist. und ein unermessliches Feld
der Wirksamkeit sich vor dem Bibliothekverwalter
aufthut. ziehen diese Stellen Männer an. welche in sich
vereinigen, was bei dem Congress der Bibliothekare in
( 'hicago als Ideal aufgestellt wurde : die Eigenschaften
des Geschäftsmannes, des Gelehrten und des Gentleman.
Sie verfügen unter Mitwirkung einer Kommission über
Summen wie die drei Millionen Dollars, welche Walter
Newberry zur Ausstattung einer Bibliothek in Chicago
geschenkt hat, Mrs. Fiske's anderthalb Millionen Dollars
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für Comell Umversity, ütika N. Y., Enoch Pratt's
gleiche Schenkung für Baltimore und zahlreiche ähnliche
Stiftungen. Ks sind in den letzten Jahren wöchent-
lich zwei bis drei neue Bibliotheken in Amerika ent-
standen, und die Benutzungsbcstimmimgen haben sieh
immer liberaler gestaltet, hi den Gelehrtenbibliotheken
braucht der Student keine Minute Zeit zu verlieren,
weil etwa ein Feiertag im Kalender steht oder der
Bibliothekar seine Mittagspause hält ; mehr und mehr
wird das Princip durchgeführt, dem Leser und be-
sonders dem Studenten den ganzen Büchervorrat un-
beschränkt zugänglich zu machen. Natürlich bringt
eine starke Benutzung starken Verbrauch mit sich ;
die früher allgemein üblichen Leinwand- oder Papier-
hüllen der Bücher werden als unschön und unpraktisch
jetzt fast durchweg verworfen. In der Volksbibliothek
in Boston wird eine Menge von Büchern alle sechs
Wochen neu eingebunden; dies gilt nicht für ein Übel,
sondern für einen willkommenen Beweis dessen, dass
die Anstalt ihren Zweck erfüllt. Die Lenox Library
in New -York, welche bei ihrer Eröffnung vor einigen
Jahren mit allerlei beschränkenden Benutzungsbestim-
mungen versehen war, »red tape«, wie so etwas in
Amerika genannt wird, blieb infolge dessen völlig un-
benutzt, und es erhob sieh ein solcher Kntrüstungs-
Sturm im Publikum und in der Presse gegen eine
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Anstalt, die verwaltet werde, als oh sie nicht «1er Leser
wegen, sondern die Leser ihretwegen da seien, dass
die ursprüngliche Anordnung bald von ({rund aus um-
gewandelt wurde.
Die Stellung des Kihliothekars an wissenschaft-
lichen Bibliotheken hat neuerdings auch in Amerika
den Hang einer laiiversitätsprofessur erlangt ; in Co-
lumbia College, Xew-York, ist die erste Professur für
Bibliothekökonomie . Library föconomy . gegründet
worden; das Bibliothekgebäude dieser Universität hat
400 000 Dollars gekostet. Von Jahr zu Jahr schwinden
die Lehrbücher mehr aus diesen Sammlungen und
machen Werken Platz, welche der wissenschaftlichen
Forschung dienen. Jeder neue Jahrgang der akade-
mischen Jugend lernt erfolgreicher, diese Sehätze
sei) »ständig auszubeuten. Die Universität«- und Staats-
bibliotheken wirken in dieser Hinsicht auf das weit-
gehendste durch die Anstellung eines Beamten, welcher
den Titel Keference Librarian führt. »Wandelndes
Lexikon« könnte man ihn auch nennen. Mr. Johnston,
der Ueference Librarian der Bibliothek des Staates
New -York in Albany, ist ein ebenso liebenswürdiges
als charakteristisches Beispiel dieser Menschengattung.
Noch jugendlich, in seinem körperlichen und geistigen
Gepräge hervorragend elastisch, steht er jedem Besucher
der Bibliothekräume zur Verfügung und giebt durch
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is
eine unpersönlich gefärbte, scheinbar unbewusstc Ver-
bindliclikeit dorn Fragor das Gefühl, dass dieser durch
.seine Erkundigung nach uralten Büchern oder Brochüren,
(»der nach der allerneuesten Veröffentlichung auf einem
fernliegenden Gebiete dein Manne zur befriedigenden
Ausübung seines Berufes verhelfe. Welch' unschätzbare
Hilfe für die Benutzung der Bibliothek, für Privat-
studien oder schriftstellerische Arbeiten ist die Gegen-
wart eines Mannes, dessen umfassende Belesenheit, zur
höchsten Leistungsfähigkeit entwickeltes Gedächtnis
und absolute Beherrschung des bibliographischen Nach
Schlageapparates ihn instandsetzen, jede Trage mit
dem denkbar geringsten Zeitaufwand zu beant-
worten! Welch' segensreiche Entlastung zugleich für
die übrigen Bibliothekbeamten! Carter ihnen sind
Männer wie z. B. der Archivist der Staatsbibliothek in
Albanv. Mr. Ilowell, der sein Leben unter den Hand-
schriften und »Amcrikana« zubringt und in demselben
Masse abgeneigt ist. sich in seiner Arbeit stören zu
lassen, in dem Mr. JohllStOll dazu bereit ist. Vollends
unschätzbar ist die Persönlichkeit des Rcfcrence Libra-
rian für alle die, welche schriftliche Anfragen an die
Bibliothek richten, in einem Lande, dessen ungeheure
Entfernungen es gewaltig erschweren, etwa einzelne
Stellen in einem seltenen Werke persönlich nachzu-
schlagen oder Auszüge zu machen. Die Arbeit weniger
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1!»
Stunden müsstc oft mit einer Reist' von mehreren Tagen
erkauft werden, wäre nicht eine wissenschaftlich geschulte
Persönlichkeit "vorhanden, welche jede briefliche An-
frage von bekannten oder unbekannten Schreibern, von
bedeutendem oder unbedeutendem Inhalt umgehend
beantwortet und Auszüge anfertigen lässt ; für diese
letzteren hat der Empfänger nur geringfügige Schreiber-
gebühren zu entrichten. Dass der gesamte schriftliche
Verkehr der Bibliotheken und ihrer Beamten mittels
der Schreibmaschine, also durch ein Minimum von
Kraft- und Gehlaufwand besorgt wird, bedarf kaum
der Erwähnung.
Einen Bibliothekar völlig anderer (bittung findet
man in den sog. Reference Libraries grösserei- und
kleinerer Städte, den Sammlungen, welche die Bücher
nicht ausleihen, und die sich gewöhnlich Vollständigkeit
auf einem begrenzten Gebiete zur besonderen Aufgabe
machen. So die durch ihre Räume und ihren Bücher-
gehalt glänzend ausgestatteten Lenox und Astor Biblio-
theken in Xew-York und zahlreiche ähnliche Stiftungen
reicher Privatleute in kleineren Orten, wie z. B. die
Watkinson Bibliothek in Hartford. Conn., deren Ver-
walter, Mr. Gay, das Urbild eines feinsinnigen, vor-
nehmen' Forschers und Sammlers ist. Obgleich auch
diese Bibliothek zur unbeschränkten Benutzung frei-
gegeben ist. weigert er sich mit einer völlig luidemo-
2*
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kräuselten, ulier äusserst l >«*r«'c*l it ij_rtt'i> Entrüstung, Leser
mit unsauberen Händen uml schlechten Manieren ein-
zulassen und ilux ii die kostbaren illustrierten Werke,
Itadierungen un<l Costiunbilder preiszugeben, in «leren
Besitz seine Bibliothek mit eleu schönsten europäischen
Sammlungen wetteifert. Mit der Wärme des begeisterten
Sammlers und zugleich mit dem Schwung des ideal
angelegten Menschen spricht er von dem anregenden
EinHuss, den die Watkinson Bibliothek auf «las geistige
Leiten und die Bestrebungen der höheren Stünde in
Hartford ausübt, von den Erfolgen der Sonderausstel-
lungen, welche er bei jedem sieh bietenden Anlass.
oft mit grosser Mühe, stets mit liebevoller Sorgfalt aus
seinen Büchern und Bildcrwcrkcii zusammenstellt. Die-
selben erfahren den eifrigsten Besuch und werden zum
besten der tagsüber beschäftigten Beamten. Lehrer und
Arzte bis zehn Uir abends offengehalten. Die Stadt
Hartford, welche vier grossartige Bibliotheken ver-
schiedener Kategorien besitzt, hat für zwei derselben
ein gemeinsames prachtiges Gebäude errichtet. Hie
Bibliotheken und Räume des theologischen Seminars
und des Trinity College stehen freilich zunächst in dem
Dienste dieser beiden < tclehrtenanstalten, kommen aber
doch auch der Stadt zugute. In zentraler Lage erbebt
sieh das städtische Uibliotbeks-Gehäude, mit allen Ein-
richtungen versehen, welche die neueste Bibliothcks-
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21
Wissenschaft ersonnen hat. Im oberen Stock hat
Mr. (?ay sein Ucich in der gelehrten und vornehmen
Atmosphäre der Watkinson Library, während im Erd-
gesehoss und Keller eine der tüchtigsten, energischsten
und von freudigster Schaffenslust erfüllten Biblio-
thekarinnen unter dem gemischten Publikum der Free
Library waltet. Zwei gänzlich verschiedene Welten
sind hier unter einem Dache vereinigt und beide in
der Lage, sich nach ihren eigensten Bedürfnissen aus-
zuleben und zugleich die andere' auf das glücklichste
zu ergänzen.
II.
So verschieden die Beschaffenheit und Wirksam-
keit der gelehrten Bibliotheken von derjenigen der
Volksbibliotheken ist, so grosse Übereinstimmung zeigt
trotzdem die allgemeine Verwaltung dieser Anstalten.
Das Bestreben, das Technische zu vervollkommnen und
Arbeit zu sparen, zeigt sich überall und erklärt sich
nicht am letzten aus dem hohen Preise menschlicher
Arbeitskraft in Amerika und aus dem Bedürfnis
des Einzelnen nach Selbständigkeit und Unabhängig-
keit bei der Benutzung der öffentlichen Anstalten.
2>
Die relative ( lleiohmässigkeit der Hinrichtungen setzt
den Leser in Stand, sich heute in einer kleinen, innigen
in einer grossen Bibliothek, bald in New -York, bald
in San Franzisko zurechtzufinden, was bei »lein un-
ablässigen Aufenthaltsweehsel der amerikanischen Be-
völkerung doppelt wertvoll ist. Diese Gleichmäßigkeit
der Einrichtungen ist grösstenteils durch die Wirksam-
keit der American Librarv Association, der A. L. A.
•
wie der geschäftige Bibliothekar sie kurzweg nennt, her-
beigeführt worden ; sie bat den Zusammensehlnss der
Bcrnfsgenosscn bewirkt und die Organisation des ge-
meinsamen Arbeitens, der »Cooperation«, zur Folge
gehabt. In Deutschland haben Bedenken verschiedener
Art bisher die Gründung einer derartigen Organisation
im Bibliothekwesen verhindert; es ist leicht begreiflich,
dass dort, wo die vornehmsten Anstalten auf jahr-
hundertelange, im beeinträchtigte Selbständigkeit zurück-
blicken, und wo die Zahl der anlehnungsbedürftigen
Bibliotheken geringer ist. mehr Gründe gegen als für
einen Verband geltend gemacht werden. Allein früher
oder später wird die Nützlichkeit, ja Notwendigkeit
einer derartigen Verbindung, wie sie in England und
Amerika besteht, zweifellos in Deutschland anerkannt
werden, und der dann entstehende Verband deutscher
Bibliothekare wird dem wohlvorbereiteten Boden reiche
Früchte entlocken. Zu diesen Früchten könnte in
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erster Linie die Heranziehung der Frauen zu einer
höchst erspriesslichen Thätigkeit gehören. Die Frauen
seihst müssen natürlich die vorbereitenden Sehritte
dazu thun. und es scheint, als sei grade der richtige
Zeitpunkt hierfür gekommen, zumal man chen jetzt
in Deutschland die Loslösung der Volksbibliothek von
dem Schulhause nachdrücklich ins Werk zu setzen
beginnt. In Breslau z. B. ist kürzlieh die viert«' Volks-
hihliothek eröffnet worden und soll demnächst ein
Lesesaal in dem nämlichen Hause mit einer Muster-
Volksküche von seiten des Magistrats eingerichtet
werden. Der Hilfsverein für weibliche Angestellte in
Berlin hat eine Bibliothekarin angestellt, welche das
Bibliothekwesel] in Deutschland und England studiert
hat. Sie verwaltet zugleich die Volkslesehalle der Ue-
Seilschaft für Ethische Kultur, welche in den ersten
vier Monaten ihres Bestehens 2133!* Besucher zählte
und sich einer fortwährend wachsenden Fre<|ucnz er-
freut. — Die Stadt Leipzig geht energisch an die Ver-
mehrung ihrer Volksbibliotheken, deren die innere
Stadt sechs besitzt Sobald derartige Anstalten, be-
sonders für die Vorstftdte der (irossstadt. sich schnell
mehren, niuss der Bedarf für weihliche Bibliothek-
verwalter steigen. Ein Blick auf die Thätigkeit und
Stellung der Frauen im amerikanischen und englischen
Bibliothekwesen wird wertvolle Anhaltspunkte für die
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Beurteilung ihrer Aussichten in Deutschland ergeben.
Diese Thätigkcit steht i 1 1 engem Zusammenhange mit
der Entwicklung der Bibliotheken seihst. Schon im
Jahre 1*76' gab es deren in den Vereinigten Stauten
fünftausend mit einem Bestände von je dreihundert
Händen. Die männliche Arbeitskraft steht in diesem
Lande so hoch im Preise, dass sie für die bescheidenen
Mittel der meisten Bibliotheken unerschwinglich war:
so wurde dem weiblichen Wettbewerb von Anfang an
Baum gcgel>en. Beide Geschlechter traten ihre Thätig-
keit ohne besondere [Berufsbildung, nur auf Unuul
der allgemeinen Sehnlerxichung an und waren daher
den höheren Aufgaben ihres Berufes nur /.um Teil
gewachsen. Die Notwendigkeit, eine Anstalt zu sehalVen.
welche den Bibliothekaren, ähnliche Vorbildung gc-
währen würde, wie die Seminare den Lehrern, wurde
jahrelang allseitig anerkannt. Aber die Ausführung
stiess auf viele Schwierigkeiten. Erst seit Mclvil Dewey,
die stärkste treibende Kraft im Bibliothekwesen dieses
Landes, bei der Confercnz der Amerikanischen Biblio-
thekare in Philadelphia 1*76 seine organisatorische
Thätigkeit begonnen und die Angelegenheit in lebhaften
Fluss gebracht hat. ist sie in jsielbewusstor Entwicklung
von Jahr zu Jahr fortgeschritten. Von Anfang an
nahmen Frauen und Männer gleichen Anteil an der
Vertiefung der Arbeit, an der Nutzbarmachung der
25
IVihlinthek Tür die höchsten Aufgaben der nationalen
Erziehung. Wie schwierig und wie wichtig diese Aul'
gaben in einem neuen Lande sind, davon macht sieh
der Europäer, der von Kindheit an die Elemente einer
uralten Kultur auf Sehritt und Tritt fast unbcwusst
aufnimmt, kaum eine Vorstellung. Nachdem in Phila-
delphia die A. L, A. gegründet und die nationale
Organisation des Bibliothekwesens als ihre erste Auf-
gabe festgestellt war. wurde hei dem Internationalen
Congress in London 1877 ein ähnlicher Verband für
< Jrosshritannien geschalten. Library Association of the
United Kingdom. L. A. U. K. Seitdem haben die
Bibliothekare heider Englisch sprechenden Völker in
regelmässigen ( onferenzen fruchtbringenden Austausch
gcpllogen und einen in idealer wie in praktischer Min-
sieht unschätzbaren Standesgeist grossgezogen. In
Amerika halten bei diesen Zusammenkünften die Frauen
ihre rechtschaffene Hälfte zu der Summe allgemeinen
Wirkens beigetragen, ja, sie bildeten oft die Mehrzahl,
während sie bei den Versammlungen der L. A. [7. K.
in England bedeutend in der Minderzahl blieben.
Doch gemessen sie auch dort die volle Achtung und
Anerkennung ihrer männlichen Berufsgenossen und
nehmen hin und wieder eine hochangesehene Aus-
nahmestellung ein. wie es z. B. mit Miss .James, der
Bibliothekarin des I'eople's Palacc in London, der Fall
ist. Ihr Vortrug über weibliche Bibliothekare, vor
der Konferenz der L A. l T . K. in Paris 1892 gehalten
und hei John Haie <fc Sons. London, als Sonderdruck
erschienen, giebt »-in vorzüglich klares und sachgemässes
Bild der Fraucnthätigkcit auf diesem Gebiet in Gross-
britannien.
Die origanisatorische Thätigkeit der A. L. A.
veranlasste bald das National Bureau ot Edueation.
das amerikanische Kiiltusnünisteriuin, das Bibliothek-
wesen zu einer seiner wichtigsten Sectionen zu erheben
und einen besonderen Beamten mit seiner Pflege zu
betrauen.
Schon 1*77 au!" der Conferenz in London machte
die Britische Gesellschaft die von der A L. A. heraus-
gegebene Monatschrift »Library Journal« auch zu ihrem
offiziellen Organ; dasselbe hat seitdem eine bedeutsame
Thätigkeit entfaltet ; zwanzig hervorragende Bibliothekare
bilden seine Redaktion; kein Umstand von Wichtigkeit
für die Entwicklung der Bibliothek entgeht ihrer Be-
achtung. Allein je weiteren Umfang die »( o -Operation«,
welche den Grund- und Eckstein der ganzen A. L. A.
bildet, gewann, um so mehr wurde der Mangel einer
Person oder Gruppe von Personen empfunden, welche
die gesamte Technik der Bibliothekarbeiten beherrschen
und sie dem Einzelnen gegen ein Minimum von Gcld-
und Zeitaufwand zugänglich machen würde. Ein mit
27
dieser Aufgabe betrautes (Wnitc hat sich allmälig zu
einer besonderen Anstalt, dem Library Bureau, aus-
gewachsen, welches seinen Sitz in Boston und Zweig
anstalten in verschiedenen amerikanischen (rrossstädten
hat. Hier wird die l T n/ahl aller Formulare, Jahres-
verzeichnisse. Arten und Können der Kataloge, aller
Büchergestelle, Arbeitstische, kurz, der tausend und ein
Vorrichtungen, welche im Bibliothekwesen zur An-
wendung kommen, geprüft; ihre grössere oder geringere
Zweckmässigkeit wird durch statistische Erhebungen
ermittelt; die Benutzer werden veranlasst, dem Bureau
Verl K'sserungsvorsch läge mitzuteilen, wenn sich solche
aus dem (iebrauch ergeben; die Erfahrungen vieler
werden verglichen und den Bestellungen zu Grunde
gelegt, bei welchen man für «Ii«- grossen Quantitäten
natürlich ungleich günstigere Bedingungen erlangt, als
es dein Einzelnen möglich sein würde. Dieser spart
Zeit und Kraft, während die gesamte Technik eine
*
Ausbildung und Annäherung an die Vollkommenheit
erfährt, welche ohne die Zentralstelle in absehbarer
Zeit nicht zu erreichen wäre. Heute schreibt die mit
Einrichtung einer neuen oder Reorganisation einer
alten Bibliothek betraute Persönlichkeit dem Library
Bureau und macht die nötigen Mitteilungen über Ziele
und Mittel der betr. Anstalt. Morgen erhält sie den
illustrierten Katalog von 186 Seiten gr. 8°. der vom
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Papierblock his zum Sehreibpult allt-s utnfasst, was
eine Bibliothek braucht; reiche Auswahl, tadellose Aus
Führung und billige Preise erleichtern <li<' Aufgabe des
Wählenden. Selbst den Kartwakatalog kann er vom
Library Bureau Iwziehen, welches geübte Katalog-
arbeiterinnen Fort während beschäftigt, Bs veröffentlichl
Publikationen, welche dein BibHotliekwescn dienen,
sich aber nicht hinreichenil bezahlen, um anderweitig
Verleger zu linden. Last not K äst. vermittelt «las Bureau
■
Verbindungen zwischen Arl>eitgebern und -Xelunem
<l<r verschiedensten Kategorien innerhalb seines («V-
bietes« Doss durch «Ii* 1 vielseitige |H<r>tfinliche Wirk-
samkeit des Präsidenten der A. L. A.. Mr. Melvil Dowcy,
auch «las Bureau Für Masse uii<1 (gewichte sowie die
Gesellschaft Für verbesserte lieehtsehreibung, denen
I >eiden er angehört, in «lein Uclwiude des Libniry Bureau
in Boston ihr Hauptquartier aufgeschlagen haben, zeigt,
einer wie vielseitig verzweigten {Entwicklung «lies«' ur-
sprüglich rein praktische Anstalt Fähig ist.
Schon lange hat mau in Bugland den Mangel
einer Ilmlichen Anstalt, welche durch krin noch s«»
gilt geführtes Privatgcscliäftsunternelunen ersetzt werden
kann, schmerzlich empfunden, ohne ihm aber bisher
abzuhelfen. Infolgedessen planten «lie Leiter <les Library
Bureau in Boston die Gründung einer ähnlichen An
stnlt in London, und als bei dem VVeltcongress der
29
Bibliothekare in Chicago 1893 Mary Et. S. James, die
schon erwähnte Bibliothekarin des IVople's Palace, sieh
durch ihr Auftreten das allgemeine Vertrauen ihrer
amerikanischen Berufsgenossen erwarb, wurde ihr die
Leitung des neuen Unternehmen« übertrafen. Miss
James verbindet natürliche Anmut und Wärme der
Gesinnung mit hervorragend klarem, praktischem Wesen,
Befähigung für Organisation mit gründlicher Kenntnis
der Fachverhältnisse in England und Amerika ; sie
besitzt endlich Gewandtheit und Sicherlich im Verkehr
mit den verschiedenartigsten Persönlichkeiten. Miss
James wird ihre ganze Kraft dem Library Bureau in
London widmen und hofft, dort eine echte Central-
stelle für Bibliothekleben zu schaffen, in praktischer
und geistiger Hinsicht anregend zu wirken und leistungs-
fähige Frauen zu einer erspriesslichen und auch ma-
teriell lohnenden Tbätigkeit heranzuziehen. Ks bedarf
kaum der Erwähnung, dass in dem Londoner Library
Bureau unter solcher Leitung glänzende Möglichkeiten
für die tüchtigen Frauen des europäischen k ontinentes
liegen, ganz besonders für die deutschen, welche meistens
durch ihre allgemeine Bildung und die Beherrschung
der neueren Sprachen gegenüber den Engländerinnen
und Amerikanerinnen im Vorteil sind.
Als krönendes Glied in der Entwicklung der
Bibliothek in Amerika trat nach langem Bemühen
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wieder durch Melvil Dewey's unerschöpfliche Kraft und
Ausdauer 1HSS die Bibliothckschule ins Leben. Ihr
Gründer war in seinem Amte als Direktor der Staats-
bibliothek damals in New -York ansässig; die Schule
wurde als eine Zweiganstalt der l'niversität von Ncw-
York, Columbia-College, eröffnet ; der t'nterrieht bestand
zunächst ans einem Kursus von zwölf Wochen, an
welchem fünf bis zehn Studenten teilnahmen. Nach
zwei .Jahren umfasstc er ein zweijähriges Studium mit
vierzig Studierenden. L T m diese Zeit wurde die Staats-
bibliothek nach Albanv. «lern Regierungssitz des Staates
New-York, verlegt. Mit ihrem obersten Leiter über-
siedelte die Bibliothekschule in die herrlichen Räume
des Kapitols, dessen mächtig hohe Fenster den reiz-
vollen Ausblick auf die hügeligen Strassen von Albanv,
den schlangenwandelnden Hndsonliuss und die Kats-
killberge gewähren und in dem deutschen Besucher
ein«' leise Erinnerung an den Ausblick vom Heidel-
berger Schlosse herab wachrufen. Hier, in der denkbar
günstigsten Hingebung, wo Kaum. Luft, Mehl und
Ruhe die Arbeit fördern, und unter der ausgezeichneten
Leitung der Yice-Directorin, Miss Mary S. ('ntler. führt
die Bibliothekschule des Staates New-York das er-
spricssliehste Dasein. Das Prilicip der Gleichstellung
beider Geschlechter ist streng durchgeführt Voraus-
setzung für den Eintritt ist seit IKlU die Yollendnng
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31
des zwanzigsten Lehensjahres nn<l Absolvierung einer
höheren Schult?; den ersten Anspruch auf Annahme
haben Bewerber, welche den vierjährigen (.Wiege Kursus
durchgemacht halten. Da fast immer fünf Mal so
viele Hewerber zum Eintritt vorgemerkt sind, als Auf-
nahme finden können, so hat in den letzten Jahren der
t T 8US die College Vorbildung so gut wie obligatorisch
gemacht. Der zweijährige Kursus der Library School
umfasst Vorlesungen der tüchtigsten männlichen und
weibliehen Beamten der Staatsbibliothek sowie hervor-
ragender auswärtiger Bibliothekare, mündliche und
schriftliehe Übungen, »Seminaricn« und reichliche
praktische Übung in allen wissenschaftlichen und tech-
nischen Arbeiten, welche der künftige Beruf von den
Studierenden fordern wird. Als Aetjuivalent für die
von den ersten Kräften des Staates erteilte Unterweisung
leisten die Studenten ausser dem geringen Honorar
von 30 Dollars per Jahr unter fachmännischer Ober-
aufsicht ein bestimmtes Mass von Arbeit in der Staats-
bibliothek. Diese Übung nimmt anfangs eine, später
vier Stunden täglich und im zweiten Studienjahre zwei
Stunden täglich in Anspruch. Sie bezieht sich auf alle
Zweige der Bibliothekarbeit, im letzten Jahre über-
wiegend auf das Katalogisieren; begabten und Heissigen
Studenten macht sie es möglich, schon im zweiten
Studienjahre Privataufträge im Katalogisieren und Ordnen
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kleinerer Bibliotheken befriedigend auszuführen, wäh-
rend sie alle instandsetzt, beim Austritt aus der Schule
durchaus selbständig, wenngleich natürlich nicht zuerst
in leitender Stellung zu w irken. Wer schon im Biblio-
thekfach praktisch thätig war und seine theoretische
Ausbildung auf einzelnen Gebieten nachholen oder
ergänzen will, findet in Albany jederzeit Aufnahme
unter den günstigsten Bedingungen. Wer andrerseits
praktische Übung noch nicht gehabt hat und sich
ausser Stande sieht, Zeit und Geld für den zweijährigen
Kursus aufzuwenden, der rindet schnellere, natürlich
auch weniger gründliche Ausinidung in den Bibliothek-
klassen der grossen Gewerbeschulen: Pratt Institute m
Brooklyn, Drexel Institute in Chicago und an anderen
Orten. Diese Klassen werden sämtlich von ehemaligen
Studenten der Schule in Albany geleitet.
Fragen wir nach den Früchten, welche diese An-
stalt bisher gezeitigt hat. Nichts ist lehrreicher, als
die Reden und Brochüren zu durchblättern, durch
welche Präsident Dewey jahraus, jahrein für die Be-
gründung einer Bibliotheksschule gekämpft hat. Fs
heisst dort u. A. : »Die besten Köpfe unseres Lande*
sind einig in der Erkenntnis, dass Bücher an und für
sich keine Bibliothek sind, sondern nur das Roh-
material zu einer solchen, dass durch Beherrschung
der besten Methoden und Anwendung der Summe
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53
allgemeiner Erfahrungen mittels einer gegebenen Menge
(leides oder Anzahl von Bänden genau «las Doppelte
dessen bewirkt werden kann, was ohne jene Faktoren
erreichbar ist. Sie sind einig darüber, dass eine wohl-
organisierte, facl in lässige Ausbildung allein leistungs-
fähige Bibliothekare schaffen kann. Von allen Seiten
ertönt der Huf nach solchen ; dem Bewerber um offene
Stellen sehreit man zu: »bleib aus dem Wasser, bis du
schwimmen kannst . Schliesst er sieh dem Stabe einer
grossen Bibliothek an, um es zu lernen, so stellen sieh
ihm dräuende Löwen in den Weg. Auf zehntausend
Bibliotheken kommen zehn vollausgebildete Biblio-
thekare. Kine Bibliothek ohne Leben ist wie der
Glaube ohne Werke, zwecklos. Die meisten unserer
(Y>1 legen sind der Meinung, dass ihre Bibliothek den
höchsten Ansprüchen genügt ; wenige wissen und ver-
stehen, wie viel grösser die Wichtigkeit des Mannes
als die der Maschine ist. Wenn der Bibliothekar dem
Leser, der seine Hille sucht, Anregung und Anleitung
in Fülle gewährt, dann ist seine Bibliothek eine Uni-
versität; die kleinste Bibliothek inuss die höchsten
Ideale der grossen sowie ihre besten Bücher umfassen.
In der wissenschaftlichen Bibliothek kommt es
darauf an. den Studenten zur Beherrschung des
Büchervorrats zu führen; wenn er dahin gelangt ist.
einen grossen bibliographischen Apparat geschickt zu
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34 _
benutzen, ihm schnell und sicher zu entnehmen, was*
sein Studium Fordert, dann hat er eine gute Bildung
erworben, und die Bibliothek hat wirklich ihren /wi rk
erfüllt. Dif Bibliothek ist dir rnivorsitüt der Zukunft
sowohl jfflr das Volk als Für den < relehrten. I>a/.u aber
gehört vorallen Dingen der richtige Bibliothekar.« I>rr
seilte Organisator sa^t au anderer Strllr: »l>ir Bihlio-
thckschule hat ili dcil Verflossenen sieben .lahlell
virlr Bewerber ausgebildet. Welche sämtlich sofort An-
stellung geFuüdetl lialirn. I >as (ichalt. welches sir
fordern können, ist in dieser Zeit um 50 Prozent ^r
stiegen. Hierin liegt der Beweis l'Of dir ötVrutlirhr
Anerkenntnis der Bedeutung, welche drr von Fort-
schrittlichem Geiste erfüllte Bibliothekar für das Volks
lcU*M hat. drr Beweis dafür, dass dir Bibliothekschuk'
ihre Zöglinge mit dem echten idealen Geist erfüllt und
sie /.Ullrich mit eminent praktischer Befähigung aus-
stattet«.
W ie mag diese Verbindung idealer und praktischer
( iesiehtsjnmkte unseren Bibliothekaren drr altrn Schule
Vorkommen, welche ihre geistige Höhe umgekehrt da-
nach taxieren, oh sie das Publikum in ehrfurchtsvoller
[Entfernung und unter der Herrschaft beseh Winkender
Bestimmungen zu halten vermögen ! lVm vorurteils-
losen Besucher europäischer und amerikanischer Biblio-
theken wird drr umsichtige, geistvolle, rastlos Ihätige
tt-br Google*
35
Dcwev bedeutend mehr Hochachtung abgewinnen als
mancher I« ichbetitelte und von seiner Würde und
Wichtigkeit überzeugte Berufsgenosse.
Die Bibliothekschule in Alhanv kennt in ihren
Statuten sowie in der Praxis keinen rntersehied zwischen
der Behandlung ihrer männlichen und ihrer weihliehen
Studenten. Präsident Melvil Dewcy ist ihr oberster
Vorstand, der stets liebenswürdige und anregende, aber
tausendfältig in Anspruch genommene und daher selten
zugangliche Leiter. Hauptlehrkraft und unbeschränkte
Autorität in allen Einzelheiten der Arbeit und Ver-
waltung ist Miss Mary S. ('utler. die mit der stillen
Würde und Zurückhaltung der echten NYw-Lngland
woman eine schier unerschöpfliche Arbeitskraft, pein-
lichste Sorgfalt der Leistung und eine hohe geistige
Bedeutung verbindet, welche sie mehr zu verbergen
als an den Tag ZU legen geneigt ist. Sie ist die Ver-
fasserin der »Bibliography of ( 'atalog Rules«, einer
überaus wichtigen und sorgsamen Arbeit; unter ihrer
Leitung wurde die Bibliothekausstellung der A. L. A.
für Chicago in der Bibliothekschule zusammen-
gestellt und der wichtigste Bestandteil derselben,
ein 5000 Bände umfassender Musterkatalog, ausge-
arbeitet. Dieser giebt die Titel zweimal in systematischer
Ordnung, nach Pcwey's und (. 'utler' s Systemen und
ist mit einem Sachregister versehen; er wird auf Kosten
36
di r Bundesregierung in Tausenden von Exemplaren
unentgeltlich verteilt. Intcr Miss (Hitlers Leitung;
findet jährlich eine zehntägige Ueise der Bibliotliek-
NC'liulc statt, welche bestimmt ist, «lic Studenten mit
allen Einzelheiten der Bibliothekverwaltung in den
wichtigsten Anstalten von Ncw-York, Boston und deren
rmgegend durch eigne Ansei itiuung vertraut zu machen.
Ohne die geringste Schwierigkeit in Autoritätfragen
— Autorität spielt freilich hier eine bedeutend geringen»
llollü als die vernünftige Selhstregierung des Einzelnen
— waltet Miss (Hitler bei diesen Reisen ebenso wie
bei der regelmässigen Arbeit in Albany ihres Amtes
unter etwa dreissig Studierenden im Alter von zwanzig
bis vierzig Jahren. Nur etwa ein Viertel bis höchstens
ein Drittel dieser Zahl sind Männer. Warum? Weil
untüchtige Männer in der Bibliothckearriere gegen ih n
Wettbewerb der Krauen nicht autkommen, Männer mit
mehr als Durchschnittbegabung aber Lohnenderen Er-
werb linden können. Ks bleiben also nur diejenigen
Männer für die Bibliothekarbeit übrig, welche einen
tiefen inneren Beruf dafür haben und sich also zu
leitenden Stellungen eignen. Seit die Bibliothck-
earriere in Amerika eine höhere Bedeutung erlangt hat.
ist der Xudrang von Bewerbern beider Geschlechter
gross geworden ; aber schon die kurze Zeit seit Er-
ölYnung der Schule in Albany hat zu der Erkenntnis
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31
geführt, das» unter zehn Berufenen nicht immer ein
Auserwählter ist, dass es sich hier nicht um einen be-
liebigen Hrwcrbzweig, sondern um einen Beruf handelt,
der nur «lern rechten Manne oder Weihe die rechten
Früchte trügt. Von dem (leiste, in welchem die Arbeit
gethan wird, hängt es ah, ob sie Lohnarbeit oder Be-
rufarheit genannt zu werden verdient; das aber stellt
fest : es lässt sich auf diesem ( Jebiete die beste Arbeit
nur aus dem rein idealen (»eiste heraus schaffen. Hierin
liegt ein bedeutender Vorteil für die Frauen im Wett-
bewerb um Bibliothekstellen. Durch natürliche Sinnes-
richtung sowie durch jahrtausendelange Beschränkung
auf die idealen Lebensinteressen besitzen sie im hohen
(trade die Fähigkeit, in ihrer Arbeit aufzugehen, sieh
rückhaltlos, mit Leih und Seele einer geistig und mo-
ralisch wirkenden Thätigkeit hinzugehen und in eben
dieser Wirkung den besten Teil ihres Lohnes zu er-
blicken. Mr. Dewev sowohl als Miss .James sind nach
jahrelanger Beobachtung der Ansicht, dass Frauen sich
vorzüglich zu Bibliothekarinnen eignen und zwar eben-
sowohl in den Public Libraries als in den Seholars'
Libraries. Mr. Dewey sagt darüber: »In jeder Biblio-
thek gieht es eine Menge rein mechanischer Arbeit,
welche von jedem gewissenhaften Schreiber verrichtet
und nicht hoch bezahlt werden kann. Diese Seite der
Arbeit hat eine höhere Bedeutung nur insofern, als
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3«
sie bisweilen Gelegenheit giebt. die Iwsseren und wert-
volleren Elemente unter den Arbeitsuchenden zu ent-
«lecken. Für Krauen von Durchschnittbegabung aber
sind diese Stellen mit kleinem Gehalt immerhin ein
ebenso befriedigender und passender Broterwerb als
der ihnen sonst zugänglich sein dürfte; die Schnellig- ■
keit der Frauen im Denken und ihre geschickten Finger
machen sie liier brauchbarer als die Männer, welche
Für den gleichen Lohn zu haben sind. Aber die
wichtige Frage ist die nach Frauen in höheren und
höchsten Stellungen. Iiier ist Kaum für diejenigen,
welche eine höhere, wissenschaftliche Bildung erworben
haben. Es giebt wenige Arbeitsgebiete, auf denen die
Aussichten für beide Geschlechter so nahezu gleich-
stehen. Die höheren Zweige der Bibliothekarbeit ent-
halten kaum irgend etwas, das die Frau nicht ebenso
gut zu leisten vermöchte als der Mann von gleicher
Ausbildung und l'hung. Finc bedeutende Anzahl von
Bibliotheken ist nach den bisherigen Frfahrungen be-
reit, Frauenarbeit und Männerarbeit gleich zu bezahlen c.
Ebenso spricht Miss James; sie sowie Mr. Dcwev
betonen wieder und wieder die reiche geistige und
moralische Befriedigung, welche die Bibliothekarbeit
den Frauen gewährt. »Der Bibliothekarin«, sagt Miss
.James, »sind grossartige Möglichkeiten gegeben ; ihre
Arbeit ist unerschöpflich«. — Aber einig sind diese
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beiden Autoritäten ebenfalls über die Hindernisse,
welche den Kranen auf diesem Gebiete entgegenstehen
und über die Gefahr, welche ihrem endgültigen Erfolge
droht. Das Haupthindernis ist die l T nerfahrenheit und
Ungeübtheit im Geschäftsverkehr und seineu Gesetzen.
Der Knabe entwickelt und übt seinen Gesehäftsinn
von den Selm] jähren an. wenn er zuerst Taschenmesser
oder I'ostmarken verhandelt. Aber die Fraa? was
weiss sie von Kauf. Tausch, Buchführung, Annoncen-
wesen, Goldverkohr, von den tausend kleinen Zügen
im Goschäftsleben, die an und für sich so geringfügig
sind, dass niemand sich die Mühe giebt, sie ausein-
anderzusetzen ; man lernt sie eben auf den ersten Stufen
des < icschäftblcbcng. Mr. Dcwev erkennt ausdrücklieh
an. dass dieser Manuel nur Folge der Verhältnisse sei.
dass diejenigen Frauen, welche sieh ausnahmsweise
< ieschäftskenntnis selbständig erworben haben, es den
Männern in systematischer Verwaltung völlig gleich
thun. Also; elementare Ausbildung auf dem geschäft-
lichen Gebiete womöglich für alle Frauen! — Ferner:
wer in dem Bibliothekboruf etwas Tüchtiges und Ganzes
erreichen will, der mnss sich ihm früh widmen und
mit der Absicht, ihm fürs Lehen treu zu bleiben. Wer
erst darangeht, nachdem andere Pläne und Versuche
fehlgeschlagen sind, oder in der Meinung, für ein paar
Jahre sei dies eine befriedigende Thätigkeit, eine
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ehrenvolle vorläufige Y< rsorgung. »In- wird wider für
seine Person noch für den Beruf etwas Hechtes zu
Wege bringen.
Die grösstc < Jefahr aber liegt in der Selbsttäuschung
solcher Frauen, welehe die Bibliothekarbeit wählen,
um sieh ein Taschengeld zn verdienen und weil sie
diese Hesel läftigung für leicht halten. Mit Teuer und
Schwert ziehen die ernsten Kämpfer gegen diese Ein-
dringlinge zu Fehl. Leicht ist die Bibliothekarbeit
nicht; seihst hei der gründlichsten Vorbildung, hei
umfassender Belesenheit, kräftigem Körper und willigem
(leiste stellt sie unaufhörlich die höchsten Ansprüche
an die Leistungsfähigkeit, und der Tüchtigste und Beste
bleibt am Ende hinter seinen eigenen Idealen und den
Möglichkeiten des Berufes zurück. Fm sehnöden .Mam-
mons willen, ohne den starken Zug des Herzens lohnt
es sich für Frauen ganz gewiss nicht, sieh diesem
mühevollen Beruf zu unterziehen; denn wo die Arbeit
darin wirklich leicht ist, ist die Bezahlung erst recht
»leicht«; wo aber eine hohe und lohnende Stellung,
lohnend in jedem Sinne, erreicht werden soll, da muss
auch das höchste Mass von Können und Wollen ein-
gesetzt werden.
In Amerika wird von dem Bibliothekar durch-
schnittlich eine Arbeitsleistung von zehn Monaten im
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41
.Jahr zu zweihundert Stunden per Monat gefordert;
dafür erhalten Frauen im ersten Jahre selten mehr als
500 Dollars, das Anfangsgehalt einer Lehrerin. Dies
Steigt allmälig auf 1000 Dollars, (eintausend) hei reifer
Erfahrung auf zwölf- his fünfzehnhundert. Nur Frauen
von solchen Ausnahnicfähigkeitcn wie Miss Cutler in
Albany weiden noch höher bezahlt und den besten
Männern des Landes gleichgeachtet. Die Hälfte der
hundert grössten Public Libraries haben weibliche Oher-
hibUothekare, und die Gesamtzahl der jetzt in amerika-
nischen Bibliotheken beschäftigten Frauen ist sehr
bedeutend. Bei dem Congress in Chicago haben sie
durch ihre lebhafte Teilnahme an den Verhandlungen
die gemeinsame Arbeit auf das erfreulichste gefördert
und auch dem dort anwesenden Vertreter des deutschen
Bibliothekwesens durch die Kürze und Sachlichkeit
ihrer Beiträge lebhafte Anerkennung abgewonnen.
*) Dr. Nörrenberg, dem das weil »liehe Element unter den
Berufgenossen jedenfalls neu war. äussert sich in seinem
Berichte u. and. dahin, hei den geselligen Zusanunen-
*) Ausser in seinem offiziellen Bericht hat Dr. Oongt. Nörren-
berg, Bibliothekar in Kiel, seine Beobachtungen des amerikanischen
Bibliothekwesens und seine Vorschläge für Deutschland auf dem-
selben Gebiet in der höchst lesenswerten Brochure niedergelegt:
»Die Volksbibliothek, ihre Aufgabe, ihre Reform«. Kiel. 1896.
Preis 40 Pf.
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kühlten in Chicago habe er eine neue Sein- der That-
sache schätzen gelernt, das* in der amerikanischen
Sprache das Wort Assistant Librariun meist feniinini
generis sei.
Er stärkt dadurch die in unseni 'Pagen von den
Besten beider Geschlechter gehegte Meinung. dass über-
all, auch in den gelehrten Berufsarten, wo Männer und
Frauen unter gleichen Bedingungen in edlem Wettstreit
zusammenwirken, sie einander hei Arbeit und Erholung
gegenseitig fördern und auf das erspri esslichste beein-
flussen, so das« Person und Stand gleichennassen
dabei gewinnen. —
In England hat sieh die Bibliothekarbeit für
Frauen bisher nicht so gut wie in Amerika bezahlt ;
sie verdienen nur £ 40 las £ 100, das gewöhnliche
Lehrerinnengehalt. Immerhin gab es schon 1893 in
England 21 weibliche Leiterinnen von Bibliotheken;
zahlreiche männliche Bibliothekare äussern sich mit
rückhaltloser Anerkennung über ihre gleichwertigen
Leistungen.
Gleichviel von welchem Standpunkt man die Ent-
wicklung des amerikanischen Bibliothekwesens be-
trachten mag, wird man sich der Überzeugung nicht
verschliessen können, dass dies junge Kulturvolk in
der Ausbildung desselben eine tiefgehende Erkenntnis
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ihm! eine höchst bedeutsame schöpferische Kraft be-
kundet hat. Seine Leistungen auf diesem für die gesamte
Bildung und Gesittung der Nationen hochwichtigen
Gebiete lassen sich nicht durch den Hinweis auf den
Reichtum des Landes allein erklären. Auch in seinen
politischen Gesetzen, welche Bildung für den Wähler
zur Notwendigkeit machen, liegt die erschöpfende Er-
klärung nicht ; wir haben es hier mit einer mächtigen
Offenbarung idealen Lebens und Strebens in dem Lande
des Dollars zu thun. Man lese zur Bestätigung für
diese Behauptung die Schritt des grossen Kisenindu-
striellen Andrew Carnegie: »Die Pflichten des Reich-
tums«. Leipzig, Mobbing 1894. Preis 60 Pf. Wie der
deutsche Schulmeister, so hat der amerikanische Biblio-
thekar lange im stillen gearbeitet, rastlos und aufopfernd,
obgleich die Mühe gross und der I^ohn bescheiden
war. In unermüdlichem Wirken hat er neue Formen
und Systeme für seine Arbeit ersonnen und erprobt,
Ulli endlich die öffentliche Achtung für sein Werk zu
erringen. Ausgestattet mit den Millionen, welche seit
zwei Jahrzehnten der Einzelne und der Staat wett-
eifernd in seine 1 fände legen, verhilft er nun der lange
im Verborgenen gepflegten Idee zum Siege, durch die
Macht des Geistigen und Ewigen die Massen hinaus-
hebend über den \Ä\rm und das Gewühl des engen
Tages.
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Buropa aber wird nicht achtlos an den Ergeb-
nissen dieser Arbeit vorübergehen können und wollen:
viele ideale Bestrebungen können einen mächtigen
Bundesgenossen in der Bibliothek gewinnen, wenn sie
ihre Aulgabe so tief erfasst, ihre Mittel und Wege so
zweckmässig gestaltet, als es in Amerika geschieht.
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