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Full text of "Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens"

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Ribliotbelt der « 
^ Unterhaltung 
und des Wissens 





Zu der Erzählung „Trau ]da$ Scheidung“ von B. €. Kaslner. (S. 76) 
Origlnalzeicbnung von 0eorg Schübel, 



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ts 15 



Bibliothek 

der 

Unterhaltung 

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der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten 

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Jahrgang 1901 « Dritter Band 




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Der Rubin. Kriminalroman von Stiedrid) Jacobsen (Jort- 

seizung) . 7 

Trau Jdas Scheidung. Eine Ebegescbicbte von B. £. 

Kaslner 71 

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Wie der mensd) geflickt wird. Kulturbild aus der 
Gegenwart. Uon Ijans Scbarwerker 97 

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Zwei alte Hansestädte an der Ostsee. Reisebilder von 
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naturwissenschaftliche Betrachtung. Uon Dr. G. ltterker 183 
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eine Stimme aus dem Jenseits, ßovellelte von Z. Eysell- 



Kilburger 198 

Bttentate und Bttentätcr. Ein Beitrag zur Psychologie 
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6 



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I. Kettenaufzug für 51ossholz 232 

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II. üerbesserter Brenner für Glühstrümpfe . . . 234 

ITH! Illustration. 

Der Ceicbenbummler 235 

Kalifornische Riesenfrücbte 236 

mit giluilration. 

Gin Bittgesuch lDozarts 238 

Blonde Jrauen 239 

Zut Geschichte der Schattcnspielkunst 243 

Pferdedressur in Jtalien 244 

mit Jllustration. 

« Die gestohlene Königin 245 

Die Störche in Rolland 247 

Ein Edikt gegen den Cuxus der Dienstmädchen • • 247 

Sonderbare Rutschbahn 248 

Die erste Cuise 248 






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Der Rubin. 

Kriminalroman von Sriedrid) 3acob$en. 

(Tortsetzung.) ff (Pacbdrudi verboten.) 

rnS badete einen Slugenblicf nach, bann naljrn er 
Gbitf)3 §anb jwifchen feine Singer unb hielt 
fie bort feft. „2Benn irgenb ein gerichtliches 
Urteil auSgefprocfjen worben ift , (Sbith , bann 
beginnt feine rechtliche 2Birfung erft mit bent 
2lugenblidf, ba eine 2lbänberung nicht mehr möglidj ift. 
2Bir Suriften bezeichnen biefen geitpunft mit bem SEBorte 
„SlechtSfraft". 23evor alfo ein Urteil rechtsfräftig geroor» 
ben ift, ^at eS für bie Partei feine 33ebeutung, eS ift 
Qewiffermafjen gar nicht vorfjanben, eS änbert nidjts an 
bem bisherigen SBenigftenS gilt bas von @he= 

fdjeibungSurteilen, bie nic^t für „vorläufig ooQftredfbar" 
erflärt werben fönnen. 2)ie 2lbänberung eines Urteils ift 
aber immer möglich, folange bagegen ^Berufung eingelegt 
werben fann. Sftach 2tblauf eines fDfonatS ift nun allere 
bingS bie ^Berufung nicht mehr juläffig, unb baS Urteil 
wirb alSbann rechtsfräftig, aber biefer 3Ronat beginnt 
nicht mit bem GSrlafj bes Urteils, fonbern erft mit bem 
SEage, an bem es jugeftellt worben ift, ober, genau ge* 




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8 



Per Uubin. 



nommen, mit bem barauffolgenben £age. — Unter Au= 
ftellung verftebt man bie mit ^Beobachtung geroiffer formen 
erfolgte AuSl)änbigung beS getriebenen Urteils an bie 
Partei ; es genügt, wenn fte entmeber an ben Kläger ober 
an ben Söeflagten erfolgt ift. gür getuö^nlitf» erfolgt bie 
Aufteilung in ber SBeife, bafi bie eine Partei baS Urteil 
ber anbeten Partei auSl;änbigt, nadjbem fte es ficb vom 
©eridjt bat geben taffen ; in (SfjefdjeibungSprojeffen aber I;at 
bie Aufteilung von Amts rcegen ju erfolgen, baS Ijeijjt, 
baS (SJeric^t mujj felbft baS Urteil ben Parteien auS= 
l)änbigen. ©olange bieS nidjt gefcbeben ift, fann 33e-- 
rufung eingelegt merben, unb rocnn jel)n Aabre barüber 
vergeben foUten ; baS @l)efdjeibungSurteil bleibt bis baljin 
in ber ©cbroebe, es ift fo gut roie nicht vorbanben. — 
•Jlun fagft bu felbft, baff bu nichts ©efdbriebenes befommen 
baft, unb barauS redbtfertigt ficb ber ©d^Iufe, baff bein 
2Jlann ebenfotoenig eine Ausfertigung erbalten t)at. ©in 
bcrartigeS äktfeljen beS ©eridbtS märe an unb für ftcb faft 
unbenfbar, aber eS erflärt fidf) aus bem Umftanbe, baf} 
bie Alten burcb Seuer vernichtet roorben ftnb. SRun jiebe 
felbft beine ©dEjlüffe." 

@bitb b fl tte aufmerlfam jugebört. ©ie fdbien bie lange 
unb grüitblicbe AuSeinanberfefjung auch verftanben, aber 
bie allerlebte ^onfequenj noch nicht erfaßt ju haben, benn 
fte entgegnete nur jögernb: „danach märe alfo baS ©be s 
teibungSurteil noch nid^t recbtSfräftig?" 

„©anj redE)t — ober mit anberen Söorten: bu bi ft 
noch beute mit beinern -Kanne verheiratet!" 

SDaS mar bie nacfte, verftänblicbe X^atfad^e ohne 
juriftifdbeS Seiroerf, unb barauf fdbien ©bitb nidbt vor* 
bereitet ju fein, ©ie rifj ihre $anb los unb fd^rie laut auf. 

$aS Ungebeuerlidbe ber ©ntbecfung fjatte fie für einen 
Augenblicf völlig gelähmt; fie badete nur an jtdb felbft 
unb murmelte aHerbanb unverftänblicbe Söorte vor ficb bin. 



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Kriminalroman ro)t ,friebridj 3 a cobfeu. 9 

$ann aber fam ihr plöhlid) ein neuer ©ebanfe. ©ie 
richtete ftd^ auf unb ftrich bie wirren $aare aus ber 
©tim. 

„23aS bu ba fagft, baS fann nicht möglich fein. 2Jlein 

— 2Jiann ich meine er- — er Ijat ja wieber ge* 

heiratet!" 

$anS feufjte tief auf; er badjte foeben an bie aljnungS* 
lofe fföaggi. „Seiber, barin liegt ja gerabe baS (Entfefc* 
liehe. 35u felbft — bu Ijaft nur bein §erj oerfchenft, 
aber nid^t beine §anb. 3)aS ©efefc fann bir nichts an* 
haben, unb bie fehlenbe gorm wirb hoffentlich nad^uholen 
fein. $er 2lnwalt beineS ‘•ölanneS wirb no<h leben, er 
wirb wohl auch baS Urteil beft^en. (Er brauet es bir 
nur einjuljänbigen, unb nach Ablauf eines fDtonatS Bift 
bu frei. $er anbere — bein fDiann — brauet nicht 
einmal etwas baoon ju erfahren, aber er h«t tro^bem 
ein Verbrechen begangen, baS mit 3 U( $t§ aug beftraft 

wirb, ©eine jweite (Ehe »ft nichtig unb o, arme, 

arme !D?aggi, wenn ich baran benfe !" ' 

3n (EbithS fchönem ©efid)t ging eine Veränberung 
por, eS würbe plöjjlich h«*l unb lauernb. Vielleicht ftieg 
oor ihrer (Erinnerung jenes VUb auf, ba $anS unb 
fDlaggi in bem oerroilberten ©arten ftanben, unb ber 
SJlann fd^ü^enb feinen Slrm um baS blüljenbe 3Seib 
legte. 

$>ie ©eene gewann in ihren 2lugen eine anbere Ve* 
beutung. 

„2lrme •äJiaggU" wieberholte fte. „2ßie järtlidj bu 
baS fagft! Sföarum ift biefe — $rau benn fo fefjr ju 
Bebauern? §at fte nicht felbft ihr ©djicffal gewollt?" 

„Sftein," entgegnete ber 3lnwalt, „nein, fte nicht! 
©ie weih non nichts, fie ift baS Opfer eines SrrtumS ge* 
worben, unb nicht einmal eines VetrugeS. 2)enn auch 
ihr fUlann — bein 9J?ann, (Ebith, h^t fidj in bemfelben 



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10 



Per Hubtit. 



unfeügen SBa^nc befunben, in bem bu felbft Bis heute 
Befangen warft. @r Beging raof)l ein Unrecht, als et feine 
Vergangenheit tjerfc^roieg, aber ein Verbrechen hat er 
nimmermehr Begehen motten. Unb nun mujj er fo ^art 
für feine Siebe Beftraft rnerben!" 

©bithS ©eftcht mar immer fpifjer geroorben, ein un» 
fdjöner $ug ber Seibenfchaft oergerrte ihre Sippen, fo bafj 
bie fleinen 3äf)ne fid^tbar mürben. 

„©eine Siebe?" fagte fie leife. „(ix hatte ja gar lein 
Vedjt, feine Siebe gu oerf<henfen." 

Unb bann marf fie plöhlich mit einer rnilben Ve= 
megung ihre 2trme um ben Vacfen beS 9J?anneS, ber 
finfter brüienb an ihrer ©eite fafj. 

„§anS! $aS ift alles fo entfe^lich unb oerroorren! 
Safi unS fort oon hier, ich fürchte midf! 3$ bin i a reidj, 
mir fönnen leben, roo es flnS gefaßt. Verlauf mein 
@rbe, gieb beine VrajiS auf, tafj uns ins 2luSlanb 
gehen, irgenbroof)in! 2lber nur nicht hier — unter biefen 
fdE)tecf liehen Verhältniffen!" 

©ie hing an feiner Vruft unb fah ihn mit flehenben 
Slugen an; bie Slngft oerflärte mieber ihr ©eficht. ©ie 
mar fchöner als je. 

Unb er fpürte einen faft unroiberftehlidjen $rang, 
thöricht gu fein unb alles hinter fich gu roerfen. 

2lber bann löfte er plötzlich ihre Slrme oon feinem 
Vacfen unb brüdfte fie fanft in einen ©effel. 

©r fe^te ftd) mieber neben fie unb fagte ernft: „Sbitlj, 
bu h a ft ba ein fehr oerlocfenbeS Vilb auSgemalt, aber 
ber §intergrunb ift grau unb nüchtern. 3$ habe bir 
noch nicht alles mitgeteilt. Sßittft bu mir noch einmal 
geftatten, als 3urift mit bir gu reben?" 

„3uriftifche ®inge ftnb häßlich," entgegnete fte fchau* 
bernb, „mas giebt’S nodh mehr?" 

„3m VedjtSleben fnüpft fich immer eine $olge an 



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Kriminalroman non ^riebridj 3 ac °bf crt - 11 

bie anbere; wenn ba3 ^unbament unficfjer ift, bann bricht 
ber ganje Sau jufammen. Sergegenwärtige bir noch 
einmal bie 3:^atlad^e, bajj beine @he biä heute nic^t ge- 
fdEjieben ift, bafj bu in ben lebten fünf 3 a fj*e n ebenfo gut 
oerljeiratet warft, wie uor jener 3^it. Db na<h einigen 
Üüßodjen bie @fje gefchieben fein fann, tft für ba§, was 
id) fagen will, gleichgültig. ®enn ich fpredje je§t non 
einer unraieberbringüdEjen Sergangenljeit. Süorauf beruht 
bein Erbrecht an bem SRuhmannfcfjen ©runbftüd?" 

„$odh wohl auf ber Slboption burch 2llfreb SRufjmann," 
fagte fie unruhig. 

„^Richtig; gan^ allein auf biefer Slboption unb auf 
ihrer ©ültigfeit, benn in beinen 2lbern fließt fein tropfen 
non bem Stute ber gamitie Stuljmann. 9fun ift eä aber 
ein alter, allgemein gültiger ©runbfafc, bafj jebe SRechtä* 
banblung nach ben ©efefcen beSjenigen SanbeS beurteilt 
roerben muH, in bem fie oorgenommen roirb, unb baS ift 
in biefem $atle Srafitien. 3$ höbe mich heute früh mit 
bem brafilianifd&en $Red)te befd&äftigt unb babei feftgeftellt, 
bajj bie Slboption einer ©hefr au nur bann ©ültigfeit 
hat, roenn fie au3brüdlid& non bem ©bemann genehmigt 
roorben ift. $)eine Slboption ift alfo ungültig, benn bu 
warft jur 3eit berfelben noch (S^efrau." 
diesmal fc^rie (Sbith nicht auf. 

25ie 9fad)ricbt, bafj ihre @l)e noch nic^t gefchieben fei, 
hatte fie niedeid^t moraltfdj erfc^üttert, aber bie ©Eifienj 
rourbe baburch nicht gefährbet, mäfjrenb biefe neue §iob§s 
poft wie ein Äcutenfcf>lag auf iljr §aupt nieberfiel. Sie 
mar einen 2lugenblid ftumm, bann aber lehrte bie Ses 
finnung jurüd unb mit iljr eine wilbe (Energie. 

„Daö ift unmöglich !" fagte fie heftig. „Da§ märe 
eine ©raufamfeit ohnegleichen ! Sföaö höben biefe ttjörichten 
formen baniit ju fd^affen, wenn ein ebler SRann feiner 
2)anfbarfeit einen älusbrucf geben will? Unb glaubft bu 



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12 



Der Hubin. 



benn, bafj mein 2lboptiooaier btefeä ©efe^ nidjt gefannt 
haben foHte?" 

„©anj geroijj, ©bitl). 2lber bu ^aft ihn ja fclbft be* 
logen — oerjeih, ich meine, bu haft ifjn ja felbft in ben 
©tauben oerfe|t, bafj bu lebig feift unb oon feinem 
3J?enfc^en abljingeft." 

„3<h machte greifen lebig unb gefdjieben feinen Unter* 
fcf)ieb," entgegnete fie heftig, „ich ^atte ja feine Äinber, 
bie Vergangenheit mar auägelöfdfjt!" 

Unb bann leuchteten ihre Slugen plö^Iich auf. 

„2tber, mein ©ott, bie ganje ©adje ift ja fchliefelidj 
gleichgültig ! 3<h habe bie Slboption fdjrcarj auf roeifj, 
unb fein 2Jtenfch auf ber ganjen SBelt befi^t bauon 
Kenntnis, bafj fie raegen einer tf)örid)ten gorm oietteidjt 
ungültig ift." 

3Me Vlicfe ber beiben ruhten eine ©efunbe lang in* 
einanber. 

„2Beifj ich e3 nidjt?" frug §an3 gelaffen. 

„$u?" ftammelte fie erfdjroden. „$u bift ja bodj 
mein Verlobter—" 

„$ch merbe eS oieQeidjt einmal fein," erroiberte §nn3, 
„biä heute fleht noch eine ©chranfe smifchen bir unb mir. 
2lber aud) abgefehen baoon — bürfen mir baS ©efefc 
benn betrügen, ©bith?" 

©ie ballte ihr Safihentud) in ohnmächtigem 3orn ju* 
fammen. „28er mitb benn baburch gefdjäbigt?! 2öenn 
ich nicht ©rbe bin, bann tritt Hamburg an meine ©teile, 
baö grofie reiche Hamburg, bem eine halbe -äRitlion fo oiel 
gilt, roie bir unb mir ein elenber Pfennig ! 2öiHft bu 
benn einer Vettlerin beine $anb reichen?" 

$>a3 le^te Argument mar oon einem ungeheuren ©e* 
reicht. 

2We§, ma§ ©bith befafs, ftammte tljatfächlich oon 
fRuhmann her, ohne ihn mar fie ärmer alä bie erfte befte 



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Kriminalroman non ^riebrich 3acobfen. 13 

Stäherin in irgenb einem SBinfel Hamburgs. Unb §anS 
SDtarquarbfen füllte in biefem 2tugenblicf feljr flar, baß 
bie beabfidjtigte Verbinbung tnii Ebith jum großen Xeil 
auf praftifdjen Erwägungen beruhte. 

Er batte eS ja 2lgneS beutticb genug gefügt. 

SDtit ißr hätte er — nieHeidjt nicht ohne ©eufjen — 
einSeben »oll Entbehrungen ertragen tönnen; mit Ebith? 
— nein! 

Unb er brauchte nur ju fcfjweigen unb alles feinen 
©ang gehen ju taffen, um bie reid^c Erbin ju erroerben ; 
ob bie Stabt Hamburg eine halbe Million mehr ober 
weniger befaß, mar ihatfädjlich gleichgültig. 

freilich — eS blieb ein Unrecht. 

§anS SJtarquarbfen hatte nicht nur bie fjöchfte SUbung 
genoffen, bie einem SDtenfchen ju teil werben !ann, fonbern 
bie beftänbige Vefdjäfiigung mit juriftifdjen Gingen hatte 
naturgemäß feinen Sinn für Stecht unb Unrecht gefdjärft. 
Vielleicht nicht immer auf moralifdjem ©ebiet; §anS 
fonnte unter Umftänben feine $enntniffe ba&u oermenben, 
um ein ©efeij ju umgehen ; aber er märe nicht im ftanbe 
gemefen, eS j\u »erleben. 

Unb fo rang er mit fid(j felbft. 

Ebith, baS fluge, gewiffenlofere 2öeib, fah recht woljl 
biefen $ampf in feinen SDtienen, unb fie !am ißm auf 
bem natürlichen Söege ihres ©efchledjtS entgegen. 

Sie fchmiegte ft<h an ihn unb fagte leife: „2öir ge* 
hören jufammen, §anS, unb mein Schidfal liegt in 
beinen $änben; miHft bu mich »erlaffen?" 

Stein, baS wollte er nicht. 

„2Bir fönnen nietleicht eine glüdfidje Söfung finben," 
entgegnete er auSweidjenb. „^dj werbe fofort nach Söalbau 
reifen unb aunädjft Stachforfdjungen barüter anftellen, 
ob meine fchlimmften Vermutungen wirtlich begrünbet 
finb. ®aS anbere finbet fich bann fpäter." 



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14 



Der Xubttt. 



©o fdjob er bie ßntfdjeibung IjinauS, ober eS fdljien, 
als ob Gbitlj non einer neuen ©orge befallen würbe. 

„9J2u^ baS benn fein?" frug fie beflommen. 

„Unbebingt, ßbitlj. Sor allen Gingen fyanbelt e§ fidfj 
barum, bir baS ßfjefdjeibungSurteil jufteüen ju laffen. 
SBenn bu erft einmal frei bift, bann läfjt ficf) baS anbere 
fdjon mit meljr Siufje überlegen. 3™ fd)limmfien gaHe — " 

„2BaS benn? ©ag alles!" 

„3DaS müfjte freilich oot fRecljtSfraft beS Urteils ge* 
fdjeljen," fufjr er nad)benflidj fort. „3|cf) meine, wenn 
bein 2JJann nodj nadjträglidj bie ©eneljmigung jur 2lb* 
Option erteilte, fDioglidjerweife geljen bie ©eridljte barauf 
ein." 

Gbitl) faf) ifjren Scrlobtcn ftarr an. 

„Sieber wollte id) auf alles »ersten," fagte fie 
langfam. 



elftes Kapitel. 

ßS war bunfler geworben, unb bie Säume trieften 
budjftäblid) oont 9icbel. 

$urcf> ben bunftigen ©dreier fonnte man faum auf 
wenige ©dritte baS £id)t ber Saiernen erfennen. 2)ie 
bide Suft bämpfte ben ©d&all fo fefjr, bafj in ben »er* 
ftreut liegenben Sillen non ^aroefteljube ber größte Särm 
Ijätte ooHfüfirt werben fönncn, oljne bafj bie ©tragen* 
paffanten irgenb etwas Ijörten. 

©anj befonberS war bieS in ber Umgebung ber Sißa 
Seterfen ber $all, bie ofjneljin fdjon ju ben oorgefd^obenen 
Soften gehörte unb nacf) ber ©eite bes 9iuf)mannfcfjen 
©artenS überhaupt feine fRacfjbarfdjaft befaj}. 

$)ie alte ^ofep^a empfanb biefe einfame Sage ganj 
befonberS peinlid). 

©ie Ijatte oiele ^afjre auf ber ^acienba beS oer* 



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Kriminalroman con ^friebrid? 3' ac obfcrt. 15 

ftorbenen 2llfreb Sfuhmann jugebradEit unb bort aus» 
giebige ©elegenljeit gefunben, fich an ben fanget jeglicher 
■Jiadjbarfchaft ju geroöhnen. 55er furje Aufenthalt tu 
Hamburg ^atte fie aber bereits baruber belehrt, bafs bie 
SöübniS mitunter ber 9?ähe einer oolfreirfjen ©tabt oor» 
jujie^en ift. 

9Jtan las täglich in ben 3eitungen non 9iaub unb (Sin» 
brudfj, unb bie alte Wienerin mar baburdj fchlieftlich fo 
üerfdjudjtert morben, bafe fie in jebem uerfommen aus* 
feljenben -äJtenfdhen einen Räuber unb ÜWörber ju erblicfen 
glaubte. 

(SS mar ihr beSfjalb ganj angenehm geroefen, bajj 
(Sbith einen Wiener ins §auS nahm, aber bie Serfön» 
lid&feit beS tuürbigen Sohn ©teoenS gefiel ihr feineSroegS. 
55er SJienfch mochte ja non 55oftor -Biarquarbfen empfohlen 
roorben fein, aber baS hinberte 3ofepf>a feineSmegS, iljn 
mit fehr mifjtrauifchen Slicfen ju beobachten. 

Unb babei hatte fte eigentlich gar feinen oernünftigen 
©runb ju irgenb einem Argmohn. S°h n betrug fich 
burdjauS forreft unb anftänbig; er mar bienftroiUig unb 
ftetS nüchtern, unb fein glattrafierteS ©efidjjt geigte jeber» 
jeit ben AuSbrucf größter Sieberfeit. (Sr unterhielt ftch 
auch feh* häufig mit Sofepha in einer 2Beife, bie feine 
Teilnahme an ben ©chicffafen ber gemeinfamen Herrin 
burchblicfen liefe ; man hätte faft fagen fönnen, bafe er 
eine geroiffe Neugier für bie SermögenSoerhältniffe (SbitljS 
an ben £ag legte. 5)aS mar inbeffen bei 5>ienftboten 
nichts UngeroöhnlicheS. 

Auffälliger erfdjien ^ofepha ber Umftanb, bafj 3<>hn 
©teoenS mit 9iero in einem beftänbigen $rieg lebte. 5)ie 
55ogge mar aus Srafilien mit herübergefommen unb, ab» 
gefefeen »on ihrer 55reffur auf ben Sölann, uon ziemlich 
harmlofer 9tatur; aber fie jeigte gegen ben neuen 55iener 
eine ganj he^oorragenbe Abneigung, mäljrenb 3<>h n feiner» 



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16 



Der Rubin. 



feits alles mögliche tljat, um fich tu bie ©unft beS tiefem 
ftarfen f£iereS einjufdjmeicheln. 

©in $urift würbe ben ©rfolg mit einem „Verfuch am 
untauglichen Dbjeft" »erglidjen haben, ^ofep^a aber 50 g 
im geheimen noch ganj anbere ©djlüffe. 

@r ift fein guter ÜDlenfch, bachte fte. 

Unb nun war fie in biefer nebelfdjweren Hämmer« 
ftunbe mit ©teoenS allein in ben ßüdjenregionen. $>ie 
Aufwartefrau, welche tag§ über bie gröberen Arbeiten oer* 
richtete, hatte fid) entfernt, brinnen im ©aton rebete 
2 Jfarquarbfen mit (£bitlj. 

Sofepha war flug genug, um baS Verhältnis beS 
jungen RedjtSanwaltS mit ihrer $errin ju burdfjfchauen ; 
wenn bie beiben nicht fdjon miteinanber nerlobt waren, 
bann fam eS ftd^erlid^ heute jur AuSfpradje, unb eS war 
jebenfaßs norauSpfehen, bafj ber Bewerber jum Abenb> 
effen bleiben werbe. 

Sofeplja ging in ihre ©tube unb fam gleich barauf in 
§ut unb Regenmantel jurücf. „3ohn," Tagte fte, „baS 
gnäbige gräulein hat Vefuch, ber wahrfcheinlich bableiben 
wirb, unb bie ©peifefamtner ift leer. 3 <h mufj notwenbig 
in bie ©tobt. 2 Bir haben jefct halb ©ed)S, ich benfe, bis 
fteben Uhr fann ich wieber ba fein, ©eben ©ie im 
gwifchen gut acht, unb wenn baS gnäbige Fräulein nach 
mir fragt, bann fagen ©ie Vefcheib." 

,,©<hön, gräulein Sofepha," entgegnete 3 oh»t bienft* 
willig. „2SoUen ©ie mir einen ©efallen thun?" 

„2öaS benn?" 

„Rehmen ©ie baS Jrjunbcoieh mit." 

Qofepha ftufcte. „SBarum foU ich baS mit* 

nehmen? @S gehört ins §aus unb ift mir hinberlidj." 

„ 3 m ©egenteil, gräulein 3 ofepl)a. ©ie glauben gar 
nicht, wie feljr einjelne fDanten bei biefent nebligen 2 Better 
beläftigt werben. Unb bann — " 



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Kriminalroman non ^ricbricfj 3 aco ^ , ^ et, • 17 

„2 ßaä roeiter?" 

„34 fürchte mi4 »or bcr SBeftie," fagte 3<4n auf* 
richtig. „2öenn ©ie ba ftnb, bann tljut er mir nid)t§, 
aber unter oier Säugen mag idj nic^t mit iljm beifammen 
fein. 6r fönnte midj fteüen unb ©ott meife ma3." 

3ofep^a ba^te einen 2lugenblidE nacfj. 

©o unrecht featte ber Wiener nid^t , e§ mar mit 
bem §unbe merfmürbig. ©bitlj befanb fi4 ja au4 unter 
ber Dbfjut non SDoftor ÜJfarquarbfen, unb 3ofo4a felbft 
fürstete ft4 ein bijjdjen »or bem 2Bege. ,,©3 ift gut," 
fagte fte, „idj metbe 9?ero mitneljmen." 

©ie rief ben §unb unb »erliefe bie 93iHa. 3<4n 
©te»en§ Ijor4te iljr na4 ; baS ®eräuf4 non ber jufatten« 
ben ©artenpforte brang nur fetjr unbeutli4 an fein Dfer, 
e§ mar mirfti4 eine Suft, bie feinen Saut burdfjliefj. Unb 
babei biefer fiirdfjterlictje -Jfebel, ber alles »erfinfterte unb 
bie ©trafee einfam mad^te. 

9?a4 Verlauf einiger Minuten ^örte ©te»en§ an ber 
©alontljür fpred^en. ®oftor SDfarquarbfen oerabfc^tebete 
fi4 non (Sbitfj. 

Sefetere fagte: „Sälfo bu miffft mirflidj biefe SRad^t 
nodf) abreifen?" 

„©emife, um neun Ufer mit bem ßuriergug, ber na4 
3talien gefet. 34 benfe, in einigen £agen roirb bie 
.£jauptfa4e georbnet fein." 

©te»en§ fjord^tc angeftrengt, aber er fonnte nichts 
meiter feören. SDfarquarbfen »erliefe ba3 §au§, unb glekfe 
barauf ertönte bie ©4elle im ©alon jmeimal, ba§ ge* 
raöljnlicfje 3ei4en für 3ofepF»a. 

3ofen ging leife über ben Äorribor unb öffnete bie 
SEfeür; (Sbitfe ftanb mit bem SRücfen gegen biefe am fünfter 
unb fafj feinüber naefe bem 9tufemannf4en ©arten; e§ 
mar braufeen alles grau in grau unb faft fo bunfel, als 
ob fdjon bie ÜJiactjt feereingebro4en märe. 

1901. III. 2 



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18 



Der Hubttt. 



SteoenS war fo geräufchfoS eingetreten, baf? @bülj cS 
fchmerlidj ^atte hören fönnen, aber bie feinen unb er» 
regten fernen ber jungen grau fd)ienen bte fßähe beä 
Cannes inftinftio gu füllen. 

Sie roanbte ficb um unb fagte fd^arf : „2Ba§ roollen 
Sie, $ohn? 3$ Ijabe nach ^ofep^a gefdjeHt." 

„3ofep^a ift ausgegangen, gnäbigeS grciulein," ent* 
gegnete SteoenS leife. 

„2öoi)in?" 

„2tuf 23eforgungen, gnäbigeS gräulein; fte mirb in 
anberthalb Stunben gurüdfommen." 

„®ut. .günben Sie ben Kronleuchter an." 

@r gehorchte fdEjmeigenb, roäljrenb (Sbith mit oer» 
fchränlten Strmen am genfter lehnte. Seine robufte ©e- 
ftalt bercegte ftch geräufdjtoS über ben fEeppidj, aber er 
mar bteSmal ungefd)idt, unb eine ber KrpftaHquafien 
fiel mit letfem Klang auf ben gufcboben. 

„2BaS mar baS?" frug (Sbitt; gufammenfdjredenb. 

„fRidjtS; ich bitte um SSergeihung. " 

2lls ber Kronleudjtcr brannte, begann SteoenS bie 
Vorhänge an ben genftern niebergulaffen. @r !am babei 
nahe an Sbith, bie noch immer ihren alten $ßla| inne 
hatte, heran unb blieb abroartenb »or ihr flehen. 

Seine SUtgen fudjten babei ben Teppich, es mar, als 
ob er nid)t ben 9)lut habe, ihr in baS ©eficht gu bliden, 
aber er fchien ebenfomenig geneigt gu fein, bie einmal 
begonnene 2lrbeit gu unterbrechen. 

9?ach einigen Sefunben trat (Sbitl) oon felbft beifeite 
unb gab ba§ genfter frei. Sie fc§te fid} an ben Schreib» 
tifch, öffnete ein gad> unb legte ihre Srofdje hinein; als 
fte gleich barauf emporblidte, ftanb ber Wiener bidjt hinter 
ihr unb orbnete bie galten ber ©arbinen. 

2öenn biefe mechanifche Üljätigleit iljn nicht auSfchliejj« 
lieh in 2tnfprudj genommen h a i* e , bann mufcte er bie 



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Kriminalroman »on ^ricbridj 3 ac °bf crt - 



19 



Suroelenfaffette gefehen haben, bic in bent offenen gadje 
fianb unb burdj ihre funftoolle Arbeit einen roertoollen 
Snljalt oerriet. 

@bitt; üerfdjlojj etroaS Saftig ben ©dfreibtifch unb fagte 
ungebulbig: „Sinb ©ie benn noch nicht fertig? 2)aS 
bauert ja eine (Sroigjfeit!" 

„©leid», gnäbigeS gräulein — fo, jefct finb bie $enfter 
bicht." 

(SS roar fonberbar, bajj er biefe felbftoerftänbliche SEljai* 
fache betonte; man oerhüHt bodj ftetS bie genfter, um 
jeben (Sinblicf oon aujfen unmöglich gu machen, eS bient 
gur Erhöhung bes VehagenS unb ber Sicherheit. 

Slber (Sbith fühlte fich feineSroegS behaglich. 

©ie fajj jefjt oollftänbig roie in einem ©efängniS, 
jeber Verfehr mit ber Sluffenrcelt roar abgefchnitten ; roer 
irgenbroie auf ber Straffe oorüberging, ber fonnte nicht 
einmal menfchliche ©chatten hinter ben genfiern ber 33iUa 
entbecfen, benn -ftebel unb 33äume unb Vorhänge lagen 
roie ein breifacher ©Fleier groifchen feinem 3luge unb ben 
Vorgängen, bie ft<h brinnen abfpielten. 2öenn man benn 
überhaupt oon Vorgängen reben fonnte. 

„Sftufen ©ie ben §unb herein," fagte (Sbitlj plöhlicf». 

©teoenS fchlucfte ein paarmal, als ob ihm bie ßef)le 
trocfen geroorben roäre. 

„Sofeplja hat ben -Jfero mitgenommen, gnäbigeS 
gräulein." 

(Sbith antroortete nicht, ©ie fpürte ftatt beS big« 
fjerigen Unbehagens plö§lid) eine fonbetbare 3lngft, unb 
fte oermochte fid) bennoch über ben ©runb feine flare 
3iechenfd)aft gu geben, ©ie blidte nur bem ©iener ftumm 
in baS ©efidjt. 

Sohn hatte in bem gimmcr nichts mehr gu tljun. (Sr 
fah fich noch einmal um, machte eine Verbeugung unb 
fdjlich auf ben gufffpifcen hinaus. 



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20 



Der Hubin. 



2113 er bie Sl)ür hinter ftdj fiel ber non außen 

ftecfenbe ©cf)lüffel geräufcßtog auf ben Säufer beg 5torrt* 
borä ; er hob ihn auf, faß einen Moment barauf nieber 
unb fcfjob ifjn bann langfam in bie Safdlje. 

darauf ging er in bie ßüdje juriicf, günbete Sicht an 
unb blicfte auf bie Uljr. 

©g mar jefct gerabe ©ecßg, unb um Sieben rooIUe 
gofeplfa jurücffehren. 

©ine ©tunbe. 

Sie in ber fleinen 23ißa hcrrfdjenbe ©tiHe mar jeßt 
gerabeju bebrücfenb. Sie mürbe nur bann unb mann 
burcß ba§ klingeln ber ?5ferbebaf)n unterbrochen, aber 
biefeg ©eräufch erhöhte ben ©inbrudE ber ©infamfeit, 
benn eg Hang burch bie bicfe Slcbelluft fo fern unb ge* 
bämpft, alg ob groifcffen ©traße unb (harten nodh ein 
raciteg öbeg gelb gelegen hätte. 

gohn ©teoeng trat an ben ßüdjenfcfjranf unb brachte 
eine angebrodhene gfafche Slotraein gum SSorfcßein; er 
nahm fidfj nicht bie Seit, nach einem ©lafe ju fließen, 
fonbern jetjte bie glafcße an ben SJlunb unb tranf gierig 
in tiefen giigen. 

Sabei oerfdhüttete er einen Seil beg gnßaltg, unb 
bie rote gliiffigfeit rann auf bie roeifse Sedfe beg Erichen* 
fchranfg. Sie entftanbenen glecfen machten faft ben ©in* 
brucf, alg menn bort 23lut oergoffen märe, unb eg tropfte 
einige ©efunben lang in gleichmäßigem gaÜ auf ben 
gußbobcn nieber. 

günf Minuten nach ©ec|g. 

Ser 23lidf auf bie Ieife tidfcnbc ßüdßenuhr raecfte in 
©teoeng einen neuen ©ebanfen. „Um neun Uhr gel;t ber 
©djnetlgug nach Italien," hatte Softor SJtarquarbfen 
gefügt. 

2Senn irgenb ein 23eroohner $amburgg ben SBunfdh 
hegt, ohne Sluffeßen aug ber ©tabt unb oieKeicht aug 



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Kriminalroman non ^ricbridj 3 ac °bf eu - 21 

$eutfd&lanb ju oerfdfiwinben, bann Ijat er ben §afen feljr 
naf)e, unb bie beftänbig auälaufenben ©djiffe geben ü)tn 
bie befte ©elegenfjeit, feinen 93orfa§ auäjufüljren. 2lber 
wenn oiellcid&t bie Sßolijei babei in§ ©piel fommt, bann 
Ijanbeli er bennodfj unllug, biefen bequemen 2öeg ju wählen. 
fUenn bie Hamburger §afenpolijei ift mit Siedet in ber 
ganzen 2Belt gefürchtet ; fte fteljt i^rer -ftem porter $oßegin 
würbig gut ©eite. 

303er gefreit ift, ber geht auf ben 53aljnf)of unb fährt 
nacf) ©üben. 

3oljn ©teoenS roarf nodf) einen 23licf auf bie ftetig 
oorrüdfenbe Uljr unb begann bann eine fonberbare unb 
fcheinbar jroecHofe Sfjätigfeit. 

dt na^m au§ bem ^oljforb ein großes fdfjarffantigeS 
©dffeit, holte fein ftarfeS, im ©riff feftftefjenbeS 3Jieffer 
au§ ber Xafd^e unb begann an bem fcfjweren £olä Ijerum* 
gufd^ni^en. ®ie ©päne flogen* nadfj allen ©eiten, e§ ent» 
ftanb eine 2lrt ©riff, ber t>on einer fräftigen $auft mit 
Sequemlicfjfeit umfaßt werben fonnte. '• 

$a3 SDing fa| faft aus roie eine furje, wuchtige 
ßeule. 

günfjeljn Minuten nach ©ed;S. 

©teoenä mar fo emftg bei feiner 2lrbeit, bafj bie 
©dEjweifjtropfen iljm über bie ©tim rannen, unb bennodj) 
mar fein ©efidfit feljr bla|. 

Unb nun Ijob er plö^lidfj ben Äopf. 

SBar baö nicht ber Saut einer ©d&elle? 

®er 2on muffte aus bem ©alon gefommen fein, wo 
(Sbith fidfj nodb immer allein befanb ; bie §errin rief iljren 
Wiener herbei. 

©teuenä warf einen 33licf auf fein Sföerf; bie fonber-* 
bare 2lrbeit war noclj nicht gnnj fertig, ber ©riff lag nodj 
ni<ht ficher genug in ber §anb. 

SDer fUlann legte baS ©cljeit in ben Äorb jnriidf. (Sr 



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22 



Der Hubin. 



naf)tn ftdj nicht einmal bie 3eit, baS Keffer einjuflappen, 
fonbern ftedte eS offen in bie 23rufitafdje; bann ging er 
hinüber in ben ©alon. 

@bitfj fajj lefenb am Sifdj; fte blicfte erftaunt auf, 
al§ ber Wiener eintrat, unb erhob ftdh bann unwillig oon 
ihrem ©effel. 

„2BaS wollen ©ie fdjon roieber? §abe ich ©ie etwa 
gerufen?" 

„3a," entgegnete er fürs unb fjeifer. 

©ie beiben — §errin unb ©iener — ftanben ein« 
anber faum ptei ©djritte gegenüber, unb bie Haltung 
beS lederen tjatte fic§ auffällig »eränbert. 

@r fd^ob ben einen gufj oor, ftedfte feine redete $anb 
in bie Srufttafdhe unb mieberbolte: „Sowohl, ©ie ^aben 
mich gerufen — ich roeifj eS genau " 

@S fcljien faft, als ob er eine erregte 2lntroort Ijeroor» 
rufen, ober als ob er ftdh felbft in gorn oerfetjen wollte, 
um bann — , 

Slber ba* fam roieberum jener Saut bagtoifdljen, ber 
iljn oorljin oon feiner 2lrbeit aufgefdEjredt l)atte, bicS» 
mal ganj beutlicb bas furje fdjriHe 2tnfcljlagen ber elef* 
triften ©c^el Ie an ber Slorribortljür. 

(Sbitl) mürbe plötzlich ganj ruhig. 

©ie fonnte noch leine Sl^nung oon bem Ijaben, maS 
iljr oieHeidht in ber nädjften ©elunbe beoorftanb, fte fdfjob 
baS uneljrerbietige ^Benehmen bcs ©ienerS nur auf ben 
oorljin auSgefpro^enen ©abel, unb biefer ftcllte fidh jefjt 
als unbeteiligt heraus. 

„2Bir buben unS beibe geirrt," fagte fte. „@S ift 
jemattb braufjen, fef)en ©ie nadj." 

©teoenS oerliefj baS 3 *> nmcr - bem $orribor 
brannte eine mattgefd;Iiffenc Simpel, bie ben staunt nur 
notbiirftig erhellte, wäfjrenb baS 33cftibül burcf) einen ©aS* 
fartbelabcr beffer beleuchtet mürbe. Stuf biefe 2öeife mar 



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Kriminalroman oon ^riebridj 3 ac °bf en - 23 

eS möglidh, bie braufeen fteljenbe fßerfon genau gu er» 
fennen, roäferenb baS Umgefefjrte auSgefd^Ioffen blieb. 

2113 3ofen ©teoenS bie Csntreetfjür öffnete, praÖte er 
unroillfürlidh einen ©cferitt gurüd unb briicfte ficfj in bie 
bunfelfie @de. 

®iefe SBeroeguttg roar um fo auffälliger, als ber 9J?ann 
ba braufeen ifem fcferoerlidj befannt fein fonnte; aber oiel» 
leicfet machte gerabe in biefem 21ugenblid unb unter ben 
obroaltenben Umftänben bie fraftoolle ©eftalt be3 §rem» 
ben einen furdjterroecfenben (Jinbrud. 

@3 roar fDiaj §umberi, ber Juwelier oom Herren« 
graben. 

§umbert fcfeien ba3 fonberbare Senefemen be3 Wieners 
um fo roeniger gu beamten, als er feine ©eficfetSgüge nitijt 
gu erfennen oermodEjte. (Ex überreichte feine $arte, frug, 
ob baS gnäbige gräulein gu fprecfjen fei, unb fügte feingu, 
bafe er in ©efcfeäften fomme, unb bafeer bie etroaS un» 
gemöfenlidhe ©tunbe gu entfcfjulbigen bitte. 

©eine ©timme flang babei ooßfommen gelaffen, unb 
e3 roar Har, bafe er ficlj in einem gang fremben $aufe 
gu befinben glaubte, ©teoen bagegen befafe aHerbingS 
feine 2lf)nung oon bem roirHidjen ©acfeoerfealt, roofel aber 
oermutete er irgenb roelcfje gefeeimniSooHe Segieljungen 
groifdjen dbitfe unb §umbert. (Ex roagte eS bafeer nidfjt, ben 
unerroünfcfjten 33efudE) unter irgenb einem nichtigen $8or» 
roanb gurüdguroeifen. (Ex nafern roortloS bie ßarte ent» 
gegen unb begab fitf) in ben ©alon. 

@bitfe featte fidj ingroifcfeen roieber auf bem ©effel 
niebergelaffen unb baS 23udh gur $anb genommen; bie 
butdj eine ooHfommene (Sinfamfeit Ijeroorgerufene 23e» 
Hemmung roar oon ifer gereichen. ©ie füllte bie 
oon ÜJJienfcfeen unb bamit eine inftinftioe Scrufeigung. 

Unb in biefer ©timmung nafem fie bie $arte aus ber 
$anb beS Wieners entgegen. 



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24 



Der Rubin. 



(Sine $ette oon ^Begebenheiten, beren jebe einzelne ge* 
eignet ift, bas ©emüt ber ÜDlenfchen in Aufregung ju »er* 
■fe^en, roirft in ihrem Slbfchlujj je nach Sefdjaffenheit ber 
Sharaftere fehr »erfd)ieben. Siuljige unb p^legmatifd^e 
Naturen werben burch bie «Steigerung ber Slffefte er* 
fchüttert unb aus bem ©leidjgeroicbt gefcfileubert; ein ner* 
»öfeS Temperament toxrb im ©egenteil bisweilen nieber* 
gebrücft unb fällt ber 2lpatf)ie anheim. 

@bitf) nahm bie Äarte unb las ben tarnen, ber einft* 
malä ihr Eigentum gewefen war, ben fie »ieHeicht heute 
noch trug. 

«Sie liefj baS Heine Slättdjen auf ben Teppich fallen 
unb bliche ftumpf barauf nieber. Tann fügte fie mit 
einer fehr müben unb tonlofen ©timme: „3$ laffe ben 
§errn bitten, einjutreten. Tragen Sie bafür ©orge, 
bajj mir nicht geftört werben." 

Sohn ©teoenS ging wieber hinaus. Ter Suwelier 
hatte injwifchen ben $orribor betreten unb ftanb wartenb 
unter ber Simpel. 

@r war in tiefe ©ebanfen oerfunfen unb fah ben 
Tiener !aum an, ber ihm nur ftumm winhe, »orauä* 
gehenb bie ©alonthür öffnete unb ftch hinter ihr becfte. 

SKS bie Thür wieber ins ©chlofi fiel , fdjlüpfte 
©teoenä geräufchloS in ein anftofjenbeS bunfleS 3immer, 
baS nur burch eine portiere uon bem ©alon getrennt war. 

@in großer Dfenfchirm bot iljm bort ben willfommenften 
Saufcherpoften. 



Zwölftes Kapitel. 

§an§ fDlarquarbfen h«he fich non (Sbith unmittelbar 
in feine Söohnung am §erreiigraben begeben, um bort 
bie notwenbigen Vorbereitungen für feine ffteife ju treffen. 
@r wollte nur einige Tage abwefenb fein unb brauchte 



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Kriminalroman non ^riebridj ^acobfen. 25 

baffer nur einen fleinen §anbfoffer ju paden. 2)aS roar 
in einer halben ©tunbe abgemacht, unb er ging fobann 
in bie §umbertfdje 2Soffnung hinüber, um fidj bort ju 
oerabfdjieben. 

@r hatte babei nodj einen befonberen 3roecf im 2luge. 

2)ie Vermutung fpradj aEerbingS bafür, baff 2Raggi 
non ber Vergangenheit ihres VfanneS feine Kenntnis be= 
faff, aber ganj beftimmte Sffatfadjen für biefe Annahme 
lagen bis jefct nodj nicht nor. 9tun aber ergab fid) ganj 
non felbft bie ©elegenffeit, biefen mistigen $unft feft* 
§ufteEen. 

3Jfaggi mar allein, benn 4?umbert hatte ffcff bereits 
auf ben 2Beg nach $aroefteffube gemad;t; bie beiben 
3JZänner rcaren maffrfdjeinlidj aneinanber oorübergefommen. 

©ie ftidte an einer Vriefiafdje unb jagte ladjenb: 
„gcff badete fd)on, mein ÜJlann fämejurücf; baS ift nänt= 
Iidj ein ©efeffenf für feinen ©eburtstag, unb baoon barf 
er natürlich nichts roiffen." 

gffr hübfcheS mäbchenhafteS ©efiefft firafflte bei biefen 
Söorten; fie fühlte fid) offenbar fehr glücflicff unb ju* 
frieben im VoEbefiff beS ©eliebten, fie hatte i a feine 
Stfjnung oon bem Unroetter, baS fdjon über ihrem bfonben 
§aupte ftanb. 

Stuf bie 2lufforberung ber jungen grau nahm $anS 
$lah; er hatte fchon öfters ein Vüwberftünbchen gehalten; 
fie nahm mohl an, baff er auch heute §u biefem 3n>ecf 
gefommen fei. 

„gffr 2Rann ift alfo nidht ju £aufe, grau $umbert?" 

„Vein, benfen ©ie, er ift nach fjaroeftefjube ju gräu= 
lein fRuffmann roegen beS groffen $RubinS." 

3Jiarquarbfen erfdjraf. 2BaS gerabe oermieben merben 
folltc, baS bereitete fid) jefft oor, unb es fonnte ju einer 
ft'ataftropffe führen. Slber §anS tröftete fid) mit bem 
©ebanfen, baff ber gumelier fich jebenfaES anmelben 



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26 



Der Hubin. 



lalle, unb baff (Sbith ftc§ oor ihm oerleugnen laffen unb 
ihn nicht empfangen toerbe. 

,,©o?" fagte er möglidjft ruhig. „Sann tnu| idj mid) 
oon Offnen allein oerabfdjieben, grau #umbert; idf oer« 
reife nämlich auf einige Sage." 

„2ld&, wirflich? Söohin benn, wenn id) fragen barf?" 

„Slach Söalbau." 

Ser StechtSanroalt fpradj bas 2Bort langfam unb 
beutlidj aus unb betrachtete babei bie junge grau auf* 
merlfam. SSenn fie irgenb etwas oon ber erften @he 
ihres fDtanneS loufjte, bann muffte ber Drt ihr befannt 
fein. Slber fie fiidte ruhig weiter. 

„SBalbau? 2Bo liegt benn bas Steft?" 

„Sief unten in ©übbeutfdjlanb. " 

„Sich fo! 3« ber ©eograpljie bin ich immer ein 
biffdjen fchroadj geroefen. SaS ift geroiff eine fehr weite 
Steife?" 

„Ungefähr einen Sag, grau §umbert. Slber mir 2lm 
malte müffen bisweilen an ganj ferne ©ericfjte." 

„■Ka, eS ift ja hübfdj, menn gh« ^rajis fo junimmt," 
entgegnete fie freunblidj. 

Samit mar baS ©efpräch ju (Snbe, unb £anS hätte 
fich merabfdhieben fönnen, benn er muffte nun, was er 
roiffen wollte. Slber ihn feffelte noch ein anbereS $>|ntereffe 
an feinen fJJlafc. 

Sa faff fte neben ihm, bie junge blühenbe grau, bie 
in foliben 93ürgerfreifen aufgemachfen mar, in hergebrachten 
ehrmürbigen gormcn, welche gans befonberS heilig er* 
fchienen in ben Slugen eines SBeibeS. 23ietleicf)t mar eS 
bennodj nicht möglidj, fie oor einer bitteren Csrlenntnis ju 
bewahren, unb was mürbe fie bann fagen, menn bie gönn 
ber @he ä ertr ü mmc5: t t>or ihren güffen lag? 

£anS brach bie gortfe^ung ber Unterhaltung gleidjfam 
oom 3aun. 



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Kriminalroman non ^riebricfj ^acobfen. 27 

„3a, bic Vra^iS fjat rafcljer gugenommen, als ich er* 
warten burfte," entgegnete er nacfjbenflich. „2Jlein ©ott, 
was nicht alles burch meine §änbe geht! 2)enfen ©ie, 
ba hatte ich neulich einen gaÜ, ber ©ie intereffieren wirb. 
•Kamen barf ich natürlich nicht nennen, übrigens ift bie 
©ad&e nicht in Hamburg oorgefommen. 23a lebt irgenbroo 
ein glficflicheS 3)3aar, baS fdEjon mehrere 3ah*e verheiratet 
ift. Unb plötjlich fteHi fich fyerauS, baf& ber ©tanbcä* 
beamte einen gormfehler begangen hat, unb bajj infolge* 
beffen bie gange @h e null unb nichtig ift. 2öaS meinen 
©ie bagu?" 

•Blaggi legte bie ©ticferei in ben ©dfjojs unb fal) nach* 
benflid^ oor fich ^in. „$ann benn fo etwas überhaupt 
»orlommen, §err ®oftor?" 

„©ewij?, warum nicht? ©S gefehlt oielleid^t feiten, 
aber irren ift menfd^Udj. " 

„3ft benn baS SSerfe^en nicht roieber gutgumacljen?" 

„gür bie 3 u ^ un f* Qinfl’ö gewifj; es bebarf nur einer 
neuen ©hefchüejjung. 216er was bie Vergangenheit be* 
trifft — " 

3Kaggi nahm roieberum bie 2lrbeit gur §anb unb be* 
fd)äftigte fich angelegentlich mit ihr. 3« ih«n langen 
flieg ein gang feines 9iot auf, unb plöfcüch lachte fie leife. 

„2öaS biefe 3uriften hoch für nwnberliche üKenfcljen 
ftnb ! ©lauben ©ie benn roirflidj, $err $oftor, baff bie 
beiben fich grämen werben über bas, was fn nter ih ncn 
liegt?" 

„SSürben ©ie es nicht ifjun, grau £umbcrt?" 

„Slber ©ott bewahre! ©iner blofjen gorrn halber? 
SDian ift ja in fotzen gäHen bodfj fo gut wie verheiratet 
gewefen." Unb bann geriet fie ein Hein wenig in Ver* 
wirrung. ,,©S ift fchwer, fich in eine folche Sage gu oer* 
fe$en, befonberS für midh- — äüann reifen ©ie ab, 
£err 23oltor?" 



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28 



Der Hubin. 



Es mar ganz offenfunbig, bah fDlaggi bie Unterhaltung 
abzubred&en wünfdjte. ©ie fpracfjen bann noch einige 
gleichgültige 2Borte, unb als §anS fich oerabfdjiebete, fagte 
er wie non einer plöfclicben 2lh nu ng ergriffen: „2Benn 
irgenb etwas oorfommen foUte, grau £>umbert, bann 
fchiden ©ie nur in mein Sureau. geh fomme morgen 
früh * n äßalbau an unb werbe meine 21breffe fofort an 
ben Sureauoorfteher telegraphieren. Seben ©ie recht wohl. " 

Es wäre wohl noch 3eit gewefen, nach ©t. $auli 
hinauszufahren unb bort Stbfchieb gu nehmen. 2lber $anS 
fdjeute ftch, gerabe je^t mit 2lgneS jufammenjutreffen. ES 
lam ja häufig genug »or, bah er tagelang burdj ©efd&äfte 
»erl)inbert würbe, bie 2öof)nung feiner SJlutter aufzufuchen, 
unb es war fchliehlid) gleichgültig, ob er wäfjrenb eines 
folchen geitraumeS in Hamburg ober hunbert teilen füb= 
lieber weilte, es giebt ja heutzutage feine Entfernungen 
mehr. 

©o fdhrieb er nur eine furze 2lnweifung an feinen 
SBureauoorfteher ©chmibt, ah in ber erften beften 9fe* 
ftauration eine $leinigfeit zu Slbenb unb nahm bann eine 
SDrofdjfe nach bem Senloer Sahnhof. 

Er fam gerabe rechtzeitig an, um ftch eine gahrfarte 
für ben Schlafwagen löfen zu fönnen, unb zehn Minuten 
fpäter fuhr ber D*3ug aus ber büfteren £aße langfam 
ins greie. 

$aS Söetter war womöglich noch abfdieulicher ge* 
worben. 

Hamburg fteht befanntlidh in bem Stufe, nächft Son* 
bon oießeicht bie nebelreichfte ©tabt Europas z u fein, 
aber es fommt hoch oerhältniSmähig feiten oor, bah baS 
graue ©efpenft ber Storbfee fich mitten im ©ommer einfteßt. 

§eute aber war eS mit einer 2)lacf)t gefommen, bie 
etwas Unheimliches an fich hülfe unb felbft wetterharten 
Seuten zu aßerlei Semerfungen Slnlah gab. 



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Kriminalroman oott ^riebrid? ^acobfcit. 29 

2US $anS bcn $ug Bcftieg , unterhielten ftdj bie 
©djaffner untereinanber non biefem greulichen 9iebel. „3$ 
will froh fein, 11,6,10 wi* über bie nächften paar Kilometer 
hinaus ftnb," fagte ber eine. „San fann faum bie ©jg* 
nale erfennen, baS ift ja fchlimmer als im ©pätherbfi." 

„93effer auf ber ©irede als im ©ängeoiertel , " ent* 
gegnete fein $amerab. „(Ss ift ein ©pi§bubenroetter; 
öiefe 9Jacf)t tnirb roieber mancherlei in Hamburg paf* 
fteren." 

„33ei mir ju §aufe giebt eS nidjtS ju ftehlen." 

„Senn es bei bem ©tehlen bleibt — " 

Sarquarbfen machte ficf/S behaglich- 

(Sr rooHte bie 9iad)t gut fchlafen unb am nächften 
Sorgen im fonnigen ©üben aufroadjen; baS mar ein 
ganj netter 33orfa£. 

Slber als er fidj hinftredt®, famen ihm allerlei ©e= 
banfen. 

3unächft fiel ihm bie Unterhaltung ber beiben ©djaffner 
ein. Sie hatten roo h^ nur f° ^tngerebet, um ein paar 
müfjige ©efunben auSjufiitlen, aber in ihren Sorten lag 
hoch bie halb unbewußte Gfjarafteriftif ber Seltftabt, bie 
unter Stacht unb fftebel begraben liegt unb fo entfetjlidj 
niel unheimliche (Slemente in ihren büfteren ©affen birgt. 

Stuf ber bunflen ©trede, in bem bahinfaufenben $uge 
ift eS freierer als ba unten, roo baS Si^termeer §atn* 
burgS, im -ftebel oerfchroimmenb, roie eine blutrote Solfe 
über bem ©eroirr ber Sächer lagert. SaS hatten bie 
fd)lid)ten Sänner jurn SluSbrud gebraut. 

Sarquarbfen badjte an fein eigenes SBureau. 9?un, 
baS mar raoljl ficher genug oerfdjloffen, unb es enthielt 
faum etwas anbereS als Slften, bie wichtig genug fein 
modjten, aber bennodj für (Sinbredjer wenig SlnjiehungS* 
fraft befaßen. 2lber bann wanberten feine ©ebanfen weiter 
nach ben reichen, uornehmen 3SiHen, bie oor Hamburg in 



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30 



Der Hubin. 



ben ©arten »erftreut liegen, unb in benen §unberttaufenbe 
an ©elb unb ©elbeSroert aufgefjciuft finb. 

$Die meiften fiaben freilich ga^tretc^e Sienerfcljaft unb 
fmb audfj fonft gut beroafjrt, es wirb fo leidet feinem ©in* 
bredjer beifommen, gerabe bort feine Sfjätigfeit gu ent* 
falten, t»o man befonberS aufmerffam unb toadfjfam ift. 

2lber eS giebt aud; 2fuSnaljmen. 

§anS SJfarquarbfen legte fiel) auf bie anbere ©eite 
unb »erfudjte einjufdfjfafen; aber ba trat ein neues 23Üb 
»or feine gefdjloffenen 2fugen. 

2US er »orijin ben 3»9 Bcftieg, mar eine SDame an 
ifjm »orübergegangen unb in ber grauenabteUung ber 
erften klaffe »erfdjrounben ; er Ijattc if;r ©efidjt roegen 
eines bitten ©djleierS nid^t erfennen fönnen, aber ©e* 
ftalt unb 33et»egung mären iljm fo fonberbar befannt »or* 
gefommen. 

<E)er 3ug fjieft unb fufjr nadj einer Seile roeiter; 
£anS fonnte feine Siulje finben. ©r trat fjinauS in ben 
©ang beS ©cjjfaftoagenS unb fanb bort einen Sebien* 
fteten, mit bem er einige Ieife Sorte roedjfelte. ©r frug 
nad) ber gule^t paffierien Station unb erhielt bie 2luS* 
funft, baf? bie Safjn bort naefj ÜBerlin abjroeige. 

„3ft jernanb auSgeftiegen?" 

„■Jiur eine einjige 2)aine aus ber erften klaffe." 

„§aben Sie bas ©eftdjt gefefjen?" 

„9tein, bie $ame trug einen ©djleier. " 

„Sar fie jung?" 

$er Beamte fabelte. „3dE) benfe boefj, $err, naef) 
©eftalt unb 33eroegung ju urteilen." 

Sarquarbfen fteUte nod) eine grage, bie fein IebfjafteS 
^ntereffe »erriet. „§atte bie 2)ame fcfjroarje $aare?" 

„©eroifi, §err, baS mcif} id» beftimmt. Sfabenfcfjroarj, 
unb barum benfe id^ aucij, bafj fie jung geroefen ift." 

$anS (jätte gerne noef) 9iä(jereS erfahren, aber nebenan 



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Kriminalroman non ^riebridj 3 ac °bf en - 31 

begann jemanb über bie Störung p fdfjimpfen. So 
mußte ber Slnwalt abbrechen, aber er lag noch lange auf 
feinem Säger unb grübelte barüber nach, ob ba3 wohl 
wirlltch ©bitf) gewefen fein fönne, bie bei Siacßt unb 
Siebel allein in bie SSelt hinau3fuf)r. 

@in inftinftioeä ©efühl, eine innere Stimme beftätigte 

bie fonberbare Vermutung, aber anbererfeits wenn 

6bitß wirtlich Hamburg oerlaffen, roenn fte t>or ihrem 
erften SJianne flüchten wollte, warum bann fo plößlicß 
unb unter fo gehetmniSoollen llmfiänben? 

SSieHeid^t lag in biefem Stugenblicf fc^on ein 23rief auf 
feinem Schreibtifch, ber bie Sache aufflärte ; pnädjft 
mußte ba§ gragejeicfjen fielen bleiben. 

®er borgen hämmerte fcljon herauf, als §anö enblidj 
einen furzen unruhigen Schlummer fanb, unb in feinem 
Straum oermifcßte ficß ber Hamburger Siebet mit einer 
fdjwarjen ©eftalt, bie noch nebelhafter unb fdEjattenartiger 
einherföfjwebte. — 

3n ben SBormittagSftunben war SBalbau erreicht. 
•Dian mußte eine Siebenbahn benußen, um in ba§ ent» 
legene Siäbtchen p gelangen. ®iefe führte noch weiter 
bi§ in bie ßreiäftabt, wo ftd) ba3 Sanbgeridjt befanb; 
SJiarquarbfen aber ftieg oorläußg in SBalbau aus, benn 
bort follte ber Suftijrat ©erlach leben, unb oon biefem 
hoffte er bie befte 2lu3lunft in ©bitljS Slngetegenheit p 
erhalten. 

SJiit bem #otelwagen „3um golbenen ßreufl" fuhr er 
in ben Drt unb erhielt als feltener SBogel ba§ befte 
3immer beä ©aft^ofs ; e§ war baSfelbe, worin oor fünf 
fahren SJlr. SBurton gewohnt hotte. £an§ wußte natür* 
li<h nichts üon biefem eblen ßnglänber unb hotte noch 
weniger Kenntnis oon beffen S3ejiehungen p ber gamilie 
§umbert. 

Die erfte grage beS Slnwalts bejog ftdj natürlich auf 



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32 



Der Habin. 



ben ©erladj, unb ba er fich bereits mit 9?ame 

unb ©tanb eingefchrieben ^atte, fo fcf)ien felbft ber neu* 
gierige DberfeHner nichts barin gu finben, bafe ein ßoßege 
ben anberen auffucljte. 

(Sr gab bie 2luSfunft, bafj ber §err ^uftigrat braunen 
gwifchen ben SBeinbergen in einem eigenen Räuschen 
wohne; er ^abe ft<h fchon oor fahren non ber ^rapiS 
guriicfgegogen, fei feljr alt unb nehme nicht gerne 33e* 
fudje an. 

2) aS mar roenig ober oiel, mie man es nehmen wollte, 
unb jebenfaHS nicht fehr ermutigenb. ^nbeffen ein S5er= 
fuch rnufite immerhin gemalt werben. 

§anS begab fich gunädfjft auf bie $oft, telegraphierte 
feine 2lbreffe an ben Sureauoorftefier ©chtnibt in §am-- 
burg unb wanberte bann burdfj bie hügeligen ©affen beS 
©täbtchenS hinaus in bie SÖSeinberge. 

Unterwegs fam er auch an einem Suwelierlaben oor* 
über. (SS war wohl ber eingige am Drt, ein unbebeutenbeS 
©efchäft mit windigem ©cfjaufenfter. Ueber ber Xhür 
ftanb ein frember 5Rame, aber man fonnte feljen, baf$ 
baS ©chilb überftridben war, unb bajj früher eine anbere 
Sirma barunter geftanben h at ^ e ‘* ^r er ^ c 23uchftabe, 
ein war noch jiemlidh beutlidj gu erfennen. 

§anS betrat, einer plöfjlidjen ^bee folgenb, ben Saben 
unb taufte einen fehlsten ©olbreif, wie ihn Verlobte gu 
tragen pflegen. 

„$ür eine $ame," fagte er babei. 

„©oll idh bie tarnen gleich hineingraoieren?" frug 
ber Juwelier. 

„®ie tarnen?" 

„9?un ja; bie SSornamen ber ^Brautleute. $aS ift 
hier gu Sanbe fo ©itte." 

,,©ut. 2Ilfo gunächft ben üftatnen §anS." 

3) aS war in wenigen Minuten gefc^eljen. 



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Kriminalroman rort ^riebricfy 3acobfett. 33 

darauf blitfte ber Juwelier fragenb auf. „2öie Reifet 
benn bie $ame?" 

„@bith," entgegnete ber Nnroalt jöaernb, unb bann 
ftrecfte er plö^Iidj bie |>anb aus. „©eben Sie nur her; 
ber eine -Karne genügt, bie ©ebräudje ftnb nidjt überall 
gleich." 

$)amit roar baS ©efdjäft beenbet. 

Schon unter ber ^hür roanbte §anS jtdj aber noch 
einmal um unb frug: „Sinb Sie fdjon lange am Drte?" 

„Sünf SJafjre, mein £>err." 

„£iej$ Shr Vorgänger nidjt £umbert?" 

„Sa, fo h»efe er." 

„2öo mag ber SJlann roof)t hingelommen fein?" 

„$er ift oerfchoüen," fagte ber ^ujnelier finfter. 
„SBenn Sie etwa eine gorberung an ihn haben, bann 
fchreiben Sie es nur auf 3h r SSerluftconto ; ber Nlann 
fommt nicht mehr jutn 33orf<hein." 

®ie Nntroort flang fo rauf) unb bitter, bafj $aits 
füllte. „Sie ftnb roof;l nicht gut auf ihn ^u fprechen?" 

„(Sr hat mir perfönlidj nichts getfjan," entgegnete ber 
Suroelier. „2lber roenn man ein ©efchäft lauft, §err, 
bann lauft man auch bie $irma, ein guter Name ift 
©elb roert. 3$ nannte mich im erften 3jal)r „§umbertS 
Nachfolger", roie es bei ©efdjäftsleuten üblich ift; aber 
baS hätte mich faft mein Nettommee gelüftet. Seitbent 
ich ben Namen auSgeftridjen habe, geht es beffer, aber 
bie garbe ift burdjläfftg, ic^ muff noch einmal überpinfeln 
laffen. " 

Nlarquarbfen freute ftch, roeitere fragen $u fteHen, 
weil er Nerbadjt ju erregen fürchtete; aber es mürbe ihm 
flar, baff hier eine Shatfadje oorliegen müffe, bie ben 
Nuf §umbertS oernicf)tet hatte. 

@S roar laum anjuneljmen, baß bie Sdjeibung allein 
biefe Söirlung heroorrufeit fomtte, beim roaS hat eine (Sfje 

1901. III. . 3 



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34 



Der Hubiit. 



mit bem ©efdjäft ju tfjun? 23ießeidjt fonnte ber $uftis= 
rat ©erladj nähere 2Iu3funft erteilen. 

fßoftor fJJtarquarbfen mürbe non bem alten §errn alä 
College angenommen. 

Er traf einen fÖiann, ben bie 3af)re mitgenommen 
hatten, unb ber auä einem oieüeidjt urfprünglidh oor= 
fidjtigen unb oerfdjloffenen ^urrftcn ein gef<hroä$iger 
©reis geroorben mar. Siefe fofort Ijeroortretenbe Eigen* 
fdjaft mar infofern für -Diarquarbfcn förberlicf), als nicht 
SU befürchten ftanb, baff jener ftdj hinter ein ocrjäljrteä 
Slmtögeljeimnis oerfchanjen raerbe, unb §anä ging baljer 
gerabeSroegS auf fein 3*el lo§. 

„$dj fomme, $err Suftijrat," fagte er, „in ber 2ln* 
gelegenljeit meiner Klientin, ber gefd)iebenen grau Ebitl) 
§umbert. Sie haben bie Sache oor etma fünf fahren 
in |jänben gehabt." 

®er fguftijrat badete nach. „§umbert? Süchtig, baä 
mar eine meiner lebten Sadjen, beoor idh midh jur Siulje 
fetjte. 2lber idh hß&e ben 3 Jl<wn pertreten unb nidjt bie 
grau. " 

„$a3 ftimmt, §err ^juftijrat. bie Sdheibung 
rechtSfräftig geraorben?" 

®er alte §err lachte in feiner etroaS finbifdjen 2öeifc. 
„SJa, icf) follte bod) benfen, $err ftoßege, baff fo rcaS in 
fünf fahren 3ei* h ai < bie SRedjtSfraft su befdhreiten! 
2llfo grau <£ntmbert ift mirfUdj raieber aufgetaudjt? Sie 
galt für uerfdjoßen, ebenfo roie ber SJtann. llnb nun 
miß fie mohl mieber heiraten?" 

SJtarquarbfen antraortetc nidjt bireft auf biefe grage. 
„fDlödjten Sie mir nidjt bie näheren Umftänbe ber Sdjei* 
bung erjählen, .§err ^uftisrat?" 

„Slber gerne, §crr Sfoßege, unter unö giebt eö ja 
bodj fein ©eljeimnis, unb bie Sadje mar fo merfroürbig, 
bafe fie mir nodj lebljaft in ber Erinnerung fteljt. Sllfo 



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Kriminalroman non ^friebridj 3 ac °bf cn - ‘35 

eineä Tages fommt §umBert gu mir mit einer @fje= 
fdfjeibungSflage. 2$ fage 3>h nen > war wie nor ben 
$opf gefcljfagen, benn id& fannte bie Sßer^ältniffe gang 
genau, bie Beiben Seutdjen lebten roie bie Turteltauben; 
fie Ratten ja freilich feine $inber, unb bie grau mar ein 
bifcdjen feljr auf Schmucf unb bergleidjen, aber barum 
läßt man fid) bodj nocfj nicht fdjeiben! Unb nun mit 
einemmal aus Weiterem §immel bie (S^efdbeibung wegen 
gegenfeitiger unüberminbli<her Abneigung! 3amol)I, §err 
College, baS mar eS ja gerabe: gegenseitig ! 3$ ging 
natürlich gunädjft gu ber grau unb machte it)r 33orl)alt, 
aber ba mar nichts auSguricljten, bie beiben waren fo 
einig über bie Scfjeibung, wie fie eS ein paar galjre 
früher über bie (Sfjefdfjliefjttng gewefen waren, ©rünbe 
würben nicht angegeben, bie liegen ja allemal in folgen 
Angelegenheiten ju tief, als bafc fte jemals an bie Ober* 
fläche fämen. 9Za, gut alfo, ber $rogcf$ nahm feinen 
Verlauf unb würbe im gweiten Termin beenbet, benn 
Semeife waren ja nicht gu erheben, unb bei gegenfeitiger 
Einwilligung unb finberlofer Ef) e wußten bie ©eridjte er* 
fennen, was 9led)tenS war. ©leid) nach ißerfünbung beS 
Urteils legte id) übrigens mein ^Jianbat nieber." 

„6ie legten es nieber?" frug §anS gefpannt unb be* 
flommen; ber alte Anwalt aber machte ein oerbriehlidjeS 
©eficht. 

„9iun ja, §err College, baS ift ja etwas ungewöhn* 
lid), man thut es fonft nid)t gern. Aber .fjumbert hatte 
mich fd|j(ed)t behanbelt, er war überhaupt ein etwas jäh* 
zorniger SJiann. ©eben Sie nur acht unb urteilen Sie 
felbft, ob ghnen nicht auch ber Aerger gu $opf geftiegen 
wäre. Ta bin id) alfo — baS war nodj »or Anftettung 
ber Eh e W e i^ ull 9 g ^age — wegen irgenb einer ^rogefjfadje 
in bem §umbertfchen Saben unb werbe gufädig 3euge 
einer giemlidj erregten SSerhanblung, bie gwifdjen bem 



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36 D er Kubin. 

guroelier unb einem fremben $errn ftattfanb. 33er 
gretnbe ^atte einige ,3«* poor einen fcfjr feltenen unb 
roertoollen Mithin pr gafjung übergeben unb behauptete 
nun, bah Kunibert ben ©tein mit einer mertlofen gmi* 
tation oertaufdjt habe. 33aS ©anje mar offenbar ein 
jiemlich plump angelegter ©rpreffungSoerfuch, benn ber 
9tubin, ben §umbert pr Raffung erhalten hotte, mar 
aUerbingö ed)t geroefen, unb ber je^ige mar faljdj, aber 
ber ©auner hotte fid) injroifdjen ©ott raeifj mo l) erums 
getrieben unb offenbar ben Umtaufch felbft beroirlt. 9Za, 
es gelang bann audj meinem $ajmifd)entreten, ben $o dy- 
ftapler einpfdf)üchtern unb pr 2lbreife p bemegen, aber 
es muh hoch moljt etmaS oon ber bummen ©efdjidjte unter 
bie Seute gefommen fein, benn §umbert behauptete plöh* 
lieh, bah man anfange fein ©efcE)äfi p meiben, unb bah 
ich nidjt reinen 9)lunb gehalten hätte, ©erabe an bem 
Vormittag, als bie ©dfjeibung auSgefprodjen mürbe, fagte 
er mir 'S in baS ©efi<ht, unb barauf legte idj natürlich 
mein 9Jlanbat nieber. — hätten ©ie baS nid^t auch ge* 
than, §err ^ottegeV" 

|>anS trat ber 2tnficf)t beS alten §errn natürlich bei, 
aber er that es in einer ^erftreuten unb befangenen SBeife. 

33ie foeben oernommene Cfrjählung hotte iljn mehr auf* 
geregt, als er oerraten mochte, unb eS foftete ihn 9Jlühe, 
auf ben eigentlidjen 3metf ber Unterrebung prüdp* 
fommen. 

„danach ift eS aüerbingS begreiflich," fagte er, „bah 
©ie bas @h e f<h c *bungSurteil ber grau .fjumbert nicht p* 
geftellt hoben." 

„^ch?" trug ©erladh oermunbert. „9^ein, §err College, 
ich befitje baS Urteil gar nicht, benn id) jeigte nod) an 
bemfelben Vormittag bie Weberlegung beS 9JtanbatS bei 
©eridjt an. 2lber bie (ShefdjeibungSurteüe merben ja bodh 
oon 2lmtS roegen pgefteQt." 



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Kriminalroman non ^riebridj 3 ac °bf c,t - 37 

„3ft bag Sanbgericfjtggebäube nidfjt oor einigen 
abgebrannt?" 

„5öaljrljaftig, ba haben Sie redjt!" entgegnete ber 
Suflijrat betroffen, „©erabe um jene 3eit mu^ bag ge* 
roefen fein, oieUeidjt adjt £age nadfj (Srlafe beg Urteils. 
3dj fefde inicfj gerabe j^ur 9lufje, bemt bie Sacfje §umbert 
gegen §umbert mar meine lefcte." 

„@g ift roofjl oiel oerbrannt?" 

„SDie ^rogeftaften, fooiel id(j roeife, aHe. Unb Sie 
meinen, bafi man bie SufteHung j, e g xirteilg oergeffen 
Ijat? SSafjrfcijeinlidj mar fte gar nidfjt mehr möglidj, 
benn mit ben SJlften ift natürlich audE) bag Urteil ner= 
brannt. Uebrigeng oerfcljroanben auch bie Parteien jiem= 
lidj rafdj aug bem Drte; aunädfjft bie $rau, bann natf) 
einem überftürgten Verlauf beg ©efdfjäfteg aud) ber 9)tann. 
2öer Ijatte ba benn nodf) ein ^ntereffe, fidjj um bie ©adfje 
ju befümmern?" 

greilidl), fo mufjte eg rooljl fein. 

Sftarquarbfett oerabfdfjiebete ftdfj mit fernerem $erjen 
unb lehrte langfam in bag ©täbtdjen jurüd. 

®a roaren jroei ®inge, bie iljn lebfjaft befcfjäftigten. 

3Benn fidb, roie roof)I faum ju bejroeifeln ftanb, bie 
Slngaben beg $uftijratg beftätigten, bann mar eg überhaupt 
nidjt meljr möglich, eine 9iedfjtgfraft beg (SljefcfjeibungS^ 
Urteils gu erlangen. 35enn ein Urteil, roeldjeg überhaupt 
nic§t melir oorljanben ift, fann audjj nidjt meljr jugeftellt 
merben ; bie gorm oernidfjtete Ijier, mie fo oft im 9tec!jtgs 
leben, ben 3 n ^ fl It. 

Unb bie golgett baoon roaren gerabegu unabfeljbar. 

93on einer §eirat groifcfjen $ang unb (Sbitlj fonnte 
natiirlidfj nicljt bie 5tebe fein, folange legiere nodj ge= 
bunben roar; eg muffte oielmefjr ein neueg (SfjefdEjeibungg* 
oerfa^ren eingeleitet roerben. 

IDann aber !am eg fyeraug, baff §umbert in einer 



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38 



Der Kubtn. 



ungültigen @fje lebte; er würbe unweigerlich wegen 53i* 
gatnie Beftraft, unb wenn bie ©eridjte aud) wegen ber 
eigentümlichen Sachlage milbernbe Umftänbc annaljmen, 
fo mujjte immerhin auf ©efängniö nicht unter fedjS 2Uo* 
naten erfannt werben. 

Slrme SJiaggü 

2ln Kunibert felbft badete SDlarquarbfen mit weniger 
93ebauern, benn bie Grjählung bes 3 u füJ rat - ©etlad^ 
hatte in ihm einen fjäfeltc^en 93erbad)t wachgerufen. 

2)er ^uroelicr befanb fi<h im 93efi§ eines feltenen unb 
bcfonberS wertnollen 9tubinS, $anS h atte baS $rad)tftüd 
mit eigenen 2lugen gefeljen unb non ber fachnerftänbigen 
fDlaggi gehört, bafj ber Stein unzweifelhaft echt fei. 
tiefer ©belftein würbe non $umbert in einer höchft auf* 
fälligen -ÜSeife gehütet unb fogar not ben 2lugen ber 
eigenen grau «erborgen gehalten; banad) lag bic 93er* 
mutung fel)r nahe, bafj jener llnbefannte barnalS tljatfäd)* 
lieh betrogen worben war, unb bajj er nur beSljalb bie 
©erichte nid)t angerufen hatte, weit er ben betrug nicht 
nachweifen fonnte. Senn er hatte noch ©erlad)S Sar* 
ftellung bie 93ertaufdjung ber Steine erft einige Sage 
fpäter bemerft, unb §umbert fonnte ihm baljer entgegen* 
halten, bafs er wohl ben Umtaufdj felbft norgenommen 
habe. 

„2lrme fJJJaggi!" fagte §anS nod) einmal, als er alle 
biefe ©vwägungen an feinem ©eifte oorüberziehen lief}. 

(Sr war auf bem 2Bege junt 93al)nhof, um nad; ber 
ßreisftabt ju fahren unb auf bem Sanbgeridjt 9?adj* 
forfchungen art^uftellen ; man fagte ihm inbeffen, baf} ber 
nächfte 3 U S erft i» einigen Stunben abgeben werbe. 

So fehrte er einftweilen in bas §otel jurüd unb 
würbe bort non einer neuen Iteberrafchung betroffen. 

Stuf bem Sifdj feines ^inrnterS lag eine 93enad)rid)ti* 
gung burch bas Selegrapbcnamt. Sie befagte, baf} bie 



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■Kriminalroman non ,friebrict> 3 aco ^f e,t - 39 

SDepefdEje, meldje §anS in ben GormittagSftunben an feinen 
Gureaucorfteljer ©djmibt abgefanbt ^attc, in Hamburg als 
unbefteßbar bcjeidjnet morben fei, ba ber Slbreffat cer-- 
fchrounben rccire. 

Gine ©iunbe fpöter fafj £anS im 3«S C unb ft*h r nach 
Hamburg jurüd. 



Dreizehntes Kapitel. 

25ie 2f)ür mürbe hinter 3Jiaj $umbert gcfdjloffen. GS 
ftanben fidf bie beiben SJienfdjen gegenüber, beren §erj(en 
einftmalö cor Sagten aneinanber gefdjlagen Ijatten, unb 
bie gerabe beSljalb ben SBunfch ^egen mußten, niemals 
roiebcr einer in beä anberen Singe feljen ju müffen. 

Gbith mar burdE) bie Gegebenheiten ber letjten 2 mge 
corbereitet unb cermodhte baljer menigftenS ben ©chein 
ber Raffung ju mähren. §umbert aber mürbe burd) bie 
unermartete Gegegnung fo coßfommen überroältigt, bafj 
er lautlos flehen blieb unb nur eine unraißfiirlidje Ge* 
roegung mit ber $anb nach ber ©tim machte. 

Gbith brach juerft baS ©djmeigen. 

„Sch &in eS mirflidj," fagte fie. „Kummer unb ©ram 
mögen mich fa fo fefjr oeränbert hfl&en, baff non ber 
alten Gbith nicht mehr ciel übrig geblieben ift, aber ich 
bin eS bennodj, eS ift nicht nur mein ©eift." 

Gr richtete fid) auf unb trat einen ©djritt cor. „2öaS 
miflft bu hier?" 

„Gin idj etma gu bir gefomtnen?" frug fie bitter. 
„®u fannft eS mir glauben, ich hätte eine Gegegnung 
mit bir gern cermieben, aber bieS ift tn ei n e SBohnung, 
unb bu bift 31 t mir gefommen. Gor fünf fahren haft 
bu mir bcine fEljür cerfdjloffen ; ich »iß nid;t ©leidjeS 
mit ©leidfem cergelten." 

,,Sd) muffte es nicht, Gbith," faßte er leife. 



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40 



Uer Kubtn. 



$aS SluSfpredjen beS -Kantens Ijatte eine feltfame 
2Birfung. $iefer eine Saut tnufete wohl Erinnerungen 
werfen, bie mastiger mären als @ram unb 3orn. 

Ebith fe|te fidj unb [tilgte ben $opf in bie §anb. 

„3dj glaube bir, 9Jfair, bajj bu es nicht geraubt baft. 
21 iS wir baS leiste 3)iat beifammen waren, fpradjft bu 
ben Sunfch aus, bafe wir uns in biefem Seben niemals 
wieberfeljen möchten. Unb bu fügteft noch etwas »on 
einer Ewigfeit was id) nicht wieberljolen will. 33u 

fiebft, baj$ wir nic^t einmal über baS $ieofeitS beftimmen 
füllen, benn eS giebt ein Verhängnis, bem wir uns unter= 
werfen müffen. 33ift bu mit biefer Erflärung jufrieben?" 

Er war injwifdjen noch näher be^angetrcten unb er= 
wiberte beflommen: „geh bin jufrieben, wenn bu mir 
bie Verfidjerung giebft, baf} bu nicht meinen ©puren ge-- 
folgt bift, um mich ju quälen." 

„9Ser non uns beiben ift juerft in bie grembe ge* 
gangen, SDiag?" 

Er fdbwieg. 

„SSenn ich bicb quälen wollte," fuhr fte fort, „fo 
fonnte ich in beiner 9iäbe bleiben; cS b^berte mich nichts, 
bir überallhin ju folgen wie bein ©djatten. ®aS wäre 
für mid) ebenfo peinooH gewefen wie für bid), Via?:, 
aber wenn eine grau ihren .fmf? befriebigen will, bann 
adjtet fte nid)t auf fid) felbft." 

„3llfo bu begft feinen §ajj gegen midiV" frug er weicher 
als guoor. 

Ebitb beutete mit einer jögcrnben §anbbeweguitg auf 
einen in ihrer Väfje ftebenben ©iuljl unb entgegnete: 
„2Senn wir fchon einmal beifammen finb, mag aud) biefer 
i)3unft erörtert werben, geh b fl be auf meinen Irrfahrten 
nieleS burdjgemadjt, unb wenn fef;r fdjwere Stunben über 
tnidj famen, bann madjte idj wohl ben Verfuch, bie ganje 
©djulb an meinem ©djidfal auf beine ©djultern j;u 



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Kriminalroman oott Jriebridj 3 ac °bf c n. 41 

rocilgen. SSenn ich bid^ roirflic^ hätte fjaffen tonnen, bann 
märe tdj roeniger unglüdEUch gcroefen. 2lber ich rnufcte mir 
immer roieber fagen, bafi bu nicht ungerecht gegen mich 
geljanbelt fonbern nur ijart." 

„9iur ^art!" roieberfiolte er leife. 

„$u roürbeft es heute üicUeicht nicht mehr fein," fuhr 
fte fort. „3)u lannteft bamals nur mich allein, unb bu 
roufjteft nidjts baoon, bafj nicht nur einjelne unfereS ©e* 
fdjledjtS, fonbern bafj bie 3Jie^rja^I ber grauen, bafj 
oielleicht äße, bie fcljön unb jung finb, fo leibenfdfjaftlidf) 
nach ©lanj unb ©df)mucf begehren, bafj fie barüber mit* 
unter ben Unterfdjieb j\roifdjen ÜRedfjt unb Unrecht »ergeffen. 
$eute roeifjt bu es, fölaj." 

„2Bie foll icf) baS roiffen?" frug er unfid;er. 

3n (SbitljS SÖIicf glomm ein feltfameS geuer auf. 
„©teile bid) nicht fo unerfahren," fagte fie heftig. „ s IBer 
ein jroeües SSSeib nimmt, ber ift roie einer, bem bie 2tugen 
aufgehen. -Dteinft bu, bafj idh meine 9ZadjfoIgerin nicht 
femte? ©laubft bu, bafj ich gleidhgültig an ihr oorübev 
gehen tann? 2ln ihr, bie jefjt beine Siebe befitjt? ^dj 
habe fie gefehen, ich ha&e mit ihr gefprodjen, meine §anb 
hat fte berührt, ©ie ift fd)ön, fchöner oielleicht, als id) 
heute bin, aber nid)t fdjöner, als ich bamals mar, 
bamalS, als bu mich oerbammteft ! ©ie hängt auch an 
bem ©lang beiner ocrfludhten ©teine, fo gut mie ich; 
fte fdhmüdt auch ihren roeifjen §alS gern mit Siaman* 
ten unb fRubinen , fo gut roie id) ; fie roirft aud) be* 
gehrenbe SSlirfe auf bie gleijjenbe Fracht, fo gut roie id); 
roenn bu m i ch barum uerftojjen rootltefi , bann fannft 
bu beine blonbe ©eliebte gleichfalls auf bie ©trajje jagen, 
fte ift nicht beffer, fie hat vielleicht nur roeniger IjeijjeS 
SBlut!" 

©ie waren beibe aufgefprungen unb ftanbcn je£t bidjt 
»oreinanber ; (übith mit flammenben 2lugen unb heftig 



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42 



Der Hubin. 



gepnbem SKtem, fdptter als fie jemals geroefen mar, ber 
9Jtann pd) aufgeriepet unb 3o™ im SSlitf. 

Unb bann gefd;afj etroas ©eltfameS. 

©bitl) breitete pliipid; bie Slrme auS unb roarf fie um 
ben SJiaden beffen, ben fie »ieUeidjt fep oft in biefer 
leibenfdjaftlicpn 9Beife geliebfoft ptte; aber eS mar fautn 
/(u unterfd;eiben, ob fie ipi an fid; preffen, ober ob fie 
it)n erroürgen rooHte. 

Unb tüäpenb er banad; ftrebte, fid) oon ip loSjureifjen, 
fltifierte fie mit fjeifjem 2ltent ein ©epimnis in fein Dp, 
fo bajj er plöpid) laut auffepie. 

©S mar fpät geroorben, unb SJlaggi rüftete fid; jur 
9iacprul;e. 

$aS ©epafeimmer ber (Seeleute ftiej? unmittelbar ans 
SSopgemad), unb bie junge grau maepe in bem letzteren 
ipe 9?acptoilette. 

©imnat trat fie an baS genfter, fcpb ben 3Sorl;ang 
ein rcenig beifeite unb lugte auf bie ©trafee. 

®er $errengraben mar roie geroöptlidj um biefe 3^it 
tot unb ftille. 

9)lan fonnte fauin baS Sic^t ber Saterne erfennen, 
beim ber üftebel mar mit bem ©intritt ber üftadjt noch 
bieper geroorben, unb bie ©asflamtnen flimmerten nur 
mie rote 33äHe burd) ben gleichförmigen grauen ©cPeier. 

Kunibert mar nod; nidjt nadj £>aufe gefomnten. 

®iefer Umftanb allein madjte s Htaggi nidp gerabe grojse 
©orge, bentt eS gefdjal; bisroeilen, baf* ip 2Jiann auf 
einem ©efdjäftSgange 33efannte traf unb fid) uon biefen 
^u einem SrunE oerlciten liep SSenn man aber in §am-- 
burg einmal fneipt, bann mirb eS geroöplid) ziemlich 
fpät. 

gn fold)en, übrigens feltenen gäüen lief? 9)laggi ein* 
fad; bie Santpe brennen unb legte fid) ins 33ett. ©ie 



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Kriminalroman oon ,friebricb ^acobfen. 43 

batte auch beute btefe 2(6fic^t, aber fie fonnte nicht redjt 
gur 9tube fommen. 

gunädjft brüdte fie ba§ ©efübl ber ©infamfeit. 

©onft mar 2)o!tor -Dtarquarbfen, nienn auch nidjt in 
unmittelbarer Stabe, fo bod) unter einem unb bemfclben 
$adje; aber ber fuhr in biefer unfreunblicben 9tad)t mit 
ber 33af)n nach ©üben, um irgenb ein gleichgültige^ ©e= 
fc^äft abgutticfeln. 

©obann bad)te SJiaggi mit einigem Unbehagen baran, 
bafi tbr Sftann geroiffertnaben ein Vermögen bei fiel) trug, 
©r batte bei feinem 23eggang nadj $artefteljube ben 
großen 3iubin gu fitfj gefteeft, benn eä mar bod) feine 2lb= 
fiebt geroefen, mit Fräulein Siubmann über baS ^ixmel gu 
oerbanbeln. Sßenn nun auch fein SJienfcb ton biefer 
IXbatfad^e $enntnid b a & en fonnte, fo fpielt ber .Sufall in 
folgen ®ingen boeb häufig eine abfonberlidje Stolle, unb 
eö mar gerabe beute eine Stacht, bie ba3 ©efinbel auä 
ben SfSinfeln locft. 

SJiaggi ftanb am fünfter un fc taufc^te. (Sinmal glaubte 
fie befannte ©djritte gu ternebmen ; fie marf ein 2ud) um 
unb öffnete ben genfterflügel. 

gingen aber nur gttei ^3oligeibeamte torüber. ©ie 
unterhielten fidj giemlid) laut über irgenb eine Gegeben-- 
beit, bie erft fürglid) gefaben fein muffte. 

User einefagte: ,,3d) mar gerabe auf ber $auptroacbe, 
fo groifeben Steun unb gebn. ®a§ $rauengimmer machte 
ein Samcnto, als ob ba3 gröfjte 3Kalfjcur paffiert märe, 
unb fcbliebüd) roeib man bodj noch gar nidjts ©e* 
triff eä." 

„Sta, oerbädjtig ift bie ©ad)e bod)," entgegnete ber 
anbere. „ßin SJtenfcb terfdjrainbet bod) nicht fo ohne 
mcitereä." 

füllen fogar gmei fein." 

„Um fo fdjlimmer. 3ft man fdjon braunen?" 



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44 



Der Hubitt. 



„3$ benfe, eä rourbe gleich telephoniert. Uebrigenä 
eine fdjeufelidje fRadjt." 

„3amohl; eä wirb mandjeä pafficren." 

$ie Beamten oerfchroanben um bie ©de, unb 5D?aggi 
fdjlofe baä Sanfter. 2Saä fie gehört hotte, mar nur baä 
unoerftänblidhe Sörud^ftücf einer Unterhaltung, bie zmifdjen 
©idjerheitäbeamten nichts Ungeroöljnlidjeä ift, aber gerabe 
baä ©eheimniäooHe ber Slnbeutungen regte unmiölürlid) 
auf, benn eä liefe ber -^hantafie einen unbegrenzten ©pi eU 
raum. 

$ie junge $rau ging in baä ©chlafzimmer hinüber 
unb legte ftd) zu 33ett. ©ie liefe bie 33erbinbungätf)ür 
meit offen, fo bafe bie Sampe einen ©<hein fmreinroarf 
unb baä ßifferblatt ber Ufer in 9)taggiä ©efidjtälreiä blieb. 

©o rootlte fte mach bleiben, biä fDlaj h e intlam. 2lber 
allmählich oerroirrten fich ihre ©ebanlen, unb ber ©cfelaf 
lam über fte. 3 n einem quälenben Sraurn falj fie ihren 
9)lann mit einer bunllen, unbefannten ©eftalt ringen, 
fte oernahm baä ©eräufdj oon $ufetritten unb hörte baä 
21echzen einer ©timme. 

Unb bann machte fte auf. 

2)ie Sampe brannte noch im 2ßol)nzimmer, aber eä 
fiel ein fdjroarzer ©chatten in ben heHen $reiä, unb ber 
©chatten bemcgte fid) leife hin nnb her; eä mufete irgenb 
jemanb in ber ©tube fein, ben SJlaggi oon ihrem Säger 
auä nicht jeljen tonnte, bort in ber ©de, roo ihr ©c^reib* 
tifdj ftanb. ©ie erfdjral heftig. 

äSenn baä §utnbert mar, bann märe er bocfj mol)! 
nach ber 2lrt fpät heimfehrettber ©hemänner leife in baä 
Schlafzimmer gelommen, um fich z ur ^ u h e $u begeben; 
er mar ja fonft fo folibe, bafe er in einem 2luänahmcfall 
leine 33orroürfe z« fürchten brauchte. 

9Jlaggi rief leife ben 9Zamett ifjreä 9Jlanneä. 

31Iä fie leine 21ntmort erhielt, unb ber ©(hatten plöfe* 



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Kriminalroman non ^friebricfj 3 aco ^f el, • 45 

lief) au3 feiner gleichförmigen Söeroegung in einen regungä* 
lofen $uftanb überging, fafete 3>2aggi fiel) ein §erj, 
fdfjlüpfte leife auä bem Seit imb fd^tic^ in biofeen ^iifeen 
an bie Sljür. 

Sßenn roirftich ein (Sinbrecljer ober fonfl eine unberufene 
ißerfon im ßimmer mar, bann batte fie noch 3eit, bie 
£ljür su oerriegeln, unb bann toolfte fie au§ bem $enfier 
um §üfe rufen. Slber fie blieb roie gebannt auf ber 
©dfjnjelle ftehen. 

2ln ihrem fleinen ©efereibtifeh rechts in ber (Scfe beä 
3immer§ fafe $umbert. (Sr hatte ben §ut nicht braufeen 
abgelegt, fonbern neben fiefj auf bie ®iele getoorfen ; feine 
beiben 2lrme lagen auf ber glatte be3 ÜDtöbelS, unb feine 
Slugen blidlten ftarr auf einen beftimmten fPunft. 

Scheinbar auf 5CRaggiö 33ilb, ba§ in einem Stafemen 
ben 2luffafe fdhmücfte unb bie junge $rau im 23rautfleib 
barfteHte. 

„Slber SJlann," fagte fDJaggi erfdjroden unb sugleicfe 
erfreut, „roa§ madbft bu benn ba mitten in ber fftacht?! 
(SS ift ein Ufer oorbei, raarutn gefeft bu nicht in§ S3ett?" 

(Sr brefete ben $opf nach ber ©eite unb fah fie an. 
„3jch badete, bu fcfeliefeft, SDlaggi." 

„$d; fjab’ auch gefc^Iafen, aber nur unruhig. Sßarum 
fommft bu nur fo fpät, ©cfjafe?" 

$as fleine ©chmoUen ging in einem ^örtlichen £on 
unter. 

•äJlaggi fcfjlüpfte in ihr 93ett j^urüdf unb rief: „3dj 
glaube roirflicfe, bu fjaft mein 33ilb angegueft ; mach lieber, 
bafe bu ins 33ett fommft!" 

■Jfacf) einer Sßeilc fam er roirflich- (Sr hatte eine 
$erje angejünbet, ftellte fie auf ben -Jiachttifch unb fe§te 
fid; auf einen ©tufel neben Maggis Säger. 

„©chlaf nur toieber ein, $inb, " fagte er fanft, „ich 
habe noch 5 U tfeun." 



Ä 



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46 Der Rubin. 

„3« tljun?" Sie junge grau ladjte unb jupfte iljren 
SOiann am 9iocfärmel. „-Hütten in ber fftadjt? Su ljaft 
roofjl einen fleinen SdjmipS, 9Jlänndjen?" 

2lber bann mürbe fie nadjbenflid). 

Er mar offenbar gar nidjt in ber Kneipe gemefen, feine 
SUeibung rocfj nidjt nadj SabafSraud) unb ber 2ltcm 
nidjt nadj Spirituofen. Sagegen mar ber 9locf ganj non 
geudjtigfeit burdjjogen, als menn er ftunbenlang betn 
fftebel auSgefetjt gemefen märe. 

„2öo marft bu benn?" Trug 2Haggi mit einem leifen 
fUHfitrauen. 

„3unädjff auf $aroefte!jubc, " entgegnete er jögernb, 
„unb bann — — im Sweater." 

Saä fonnte ja möglidj fein, obmoljl bas Sfjeater 
fdjon um elf Uljr ju Enbe ging, unb je£t mar eS ein 
Uf)r oorbei. 

2lbcr bie Erinnerung an fparoefteljube meefte -HlaggiS 
©efdjäftsfinn. 

„§aft bu ben 9iubin oerfauft?" frug fie unb ftüfcte 
ftd) gefpannt auf ben Ellenbogen. 

^umbert riidte bie $er-$e ein menig Ijinter bie 23ett* 
garbine, fo baf$ fie beibe im ©djatten roaren. „ga," ent= 
gegnete er leife, „idj l)abe iljn — Ijergegeben." 

„gür roieoiel, 9Jlar?" 

„Er fomrnt siemlid) teuer ju fteben." 

SJiaggi legte fiefj mit einem leifen Seufzer in bie SUffen 
jurücf. Sie mar eS ja gerooljnt, baf? iljr 9Jiann über 
alle ©efdjäftsangelegenfjeiten ein IjartnädigeS ©djrocigen 
bemafjrte, aber biefe Sadje ging iljr benn boc§ über ben 
Spajj. 

Unb al§ er nun aufftanb unb bie ßer$e ergriff, ba 
fagte fie etroaS fpöttifdj: „Su follft ben 9tubin rnoljl biefe 
■Jiadjt nodj faffen, maS?" 

„ga," entgegnete er tonlos. „Siefe üftadjt. " 



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Kriminalroman non ^riebridj 3 ac °bfcit. . 47 

Unb er ging roirtlidb, er liefe fie allein. SDRaggi hörte 
ifen bie Sreppe feinunterfieigen, naefe ber SSerfftatt gu. 

23ie junge $rau lag, bie §änbe unter ben fcfemereit 
blonben gledjten am ^interlopf gefaltet, in ihrem Bett 
unb bliefte naefe ber ICecfe be§ 3immer8 empor. Nebenan 
brannte noefe bie Sampe, $umfeert batte »ergeben, fxe 
auSgulöfdjen, unb baä rötlicfee Sicfet gitterte über Amoretten 
unb Sfofenguirlanben, bie eine roofelmeinenbe, aber giern* 
Hefe ungefefeidte $anb an ben ffUafotib beä ©cfelafgimmerS 
gemalt batte. 

®iefe pauSbädigen (SngelöEöpfe »aren fonft für SJtaggi 
ein 2lugentroft gemefen. 2öenn fie auch nadb einer oier= 
jährigen ©fee aHmäfelidf» bie Hoffnung aufgab, jemals 
einen fleinen, fliigellofen ©nget tfer eigen gu nennen, fo 
tröftete fie boc§ ber Slnblid ber Stjmbole mit bem ©e= 
banfen, bafe bie Siebe aud) ofene grüdjte Blüten über 
baS Seben ftreut, unb bafe fte für bie Safere beS 2llterS 
bie ©feegatten um fo fefter aneinanber fd;liefet. 

Unb nun trugen bie Slmoretten plöfelicfe ein feäfelicfeeS, 
oergerrteS Slntlife, unb bie Stofen batten eine roclfe, fränf-- 
licfee garbe. 

SDie fable, unfiefeere Beleuchtung mar mofel baran 
fcbulb. 

Slßmäfelid; uermanbelte fiefe baS Sidjt in einen raiber= 
märtigen, bunftigen Scfeein. ®aS Del in ber Sampe 
ging gu ©nbe, unb ber Xag fam herauf. ©r butte mofel 
ben Stebel oerfdjeudjt unb tonnte möglidjerroeife fd;ön 
«erben, aber fein Beginn mar feäfelicfe unb troftloS, benn 
er tlebte nod) an ber Stadjt, unb bie Stacfet mar ofene 
Sdjlaf gemefen. 

■äJtaggi ftanb auf unb büßte fidj in einen SJtorgenrod. 

Sie fror, unb eS mar bodj Sommer. 

So flieg fie bie kreppe hinunter unb betrat bie 2öert-- 
ftatt ihres SJtanneS. ÜDort ftanb ein fleiner fDiman, ben 



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48 



Per Hubitt. 



$umbert bisroeilert gu benuhen pflegte, roenn er mitten 
im Srang ber ©efdjäfte einige Minuten auSruhen roollte; 
fülaggi ^atte ihm felbft ein Riffen gefticft, unb er fagte 
öftere, baff es fidh gang befonberS gut auf biefem Riffen 
träumen laffe. SludE) jefct lag er auf bem Siroan unb 
fd)lief. # 

SaS ßiffen mar unter feinem $opfe gufammengeballt, 
unb er hatte bie bärtige 28ange feft f)ineingebrücft ; fein 
©efid&t mar blafe unb übernächtig, unb bie bunflen £aare 
fielen i(jm mirr in bie rceiffe ©tim, aber er fah hoch gut 
aus, unb mehr traurig als fdjulbbemujjt. 

2lber er hatte nicht gearbeitet. 

Sie SBerlgeuge lagen mohlgeorbnet auf ihrem fßtafj, 
unb ber befte 33emeiS bafür, baff ber ^uroelier feine 
SBerlftatt nur aufgefucht hotte, um bort gu fchlafen, fanb 
fidh auf bem lleinen Sifdjdjen am $opfenbe beS SimanS. 

Sort lagen, genau mie bieS fonft oben in bem (Sh®* 
gemach ber gatt mar, Uljr unb 33örfe unb ©djlüffel. 
fDlaggi nahm leife bie lederen unb ging in ben anftoffen* 
ben Saben. äöenn ihr 9Jlann bennoch oieHeid)t ben Siubin 
gefaxt hotte, bann muffte baS loftbare ©tücf fid) im 
'4-tretiofenfdjrant oorfinben, benn fDlaggi lannte gu genau 
bie peinliche ©orgfalt unb iBorfidjt £umbertS. 

2lber baS 2|uroel fanb fidh nicht im ©cf)ranfe oor ; auch 
baS ©eljeimfach mar leer. 

SRaggi lehrte mit fchmerem bergen in bie SBerlftatt 
gurücf. 

(SS mar gang Har, ihr fDlann hotte bie Arbeit nur 
gutn 33ormanb genommen. 

Unb füiaggi tniete plb^lidh neben ber einfamen Säger* 
ftatt nieber; fie neigte baS §aupt auf bie öruft beS 
(Schläfers, unb ihre blonbcn, aufgelöften §aare fielen mie 
ein ©chleier über fein Jpaupt. 



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Kriminalroman non (fricbridj 3 ac °bf en - 49 



Vierzehntes Kapitel. 

oergeht faum eine Vadjt in ber großen ©eeftabt, 
too nid^t bie Haupttoadje im ©tocfhaufe burdj irgenb eine 
Vad;rid)t alarmiert mirb. 23a roirb telepljonif<h ein ©in» 
bruch gemelbet, ober eine blutige «Schlägerei jtoifdjen 
Viatrofen unb Hafenarbeitern, ober oietteicht gar ein SJiorb. 

23a3 le^tere fommt jroar nicht jebe Stacht oor, aber 
bodj häufig genug. 23ie ^olijei ift gut organifiert unb 
toachfam, aber fie !ann e§ nid;t oerljinbern, bah #iel ©e* 
finbel aus aller Herren Sänber gerabe bort jufammenfommt, 
roo bie Veute fo rei<h ift unb bas ©ntrimten fo leicht. 

23ie 3Serbred|er oerfdjtoinben roie ©chatten in ben 
©affen beS ©ängeoiertelS unb im $ielraum ber Sd^iffe ; 
fie geben fidjj im Ie|teren gatte als entlaufene 3Jiatrofen 
aus unb merben oft abfidjtlidj oerborgen gehalten, roenn 
ber ©chiffsfüfjrer gerabe Mangel an Vlannfdjaft hat. 

Vis baS Verbrechen in ben gelungen fteht, ift baS 
Sdjiff in ©ee. 

23aß aber aus bem eleganteren Viertel Huuiburg§ 
ber Vetoofjner einer Villa urplößlid) unb fpurloS oer* 
fchroinbet, baS fommt iool)l äußer ft feiten oor. 3ft es 
ein Kaufherr, ber an ber Vörfe ungliidlidh fpefuliert f;at, 
bann fann man fidj'S allenfalls benfen. Ger ift eben 
über baS große 2Baffer gegangen, um feiner Verpflichtungen 
lebig 511 fein unb brüben eine neue ©jüftenj ju grünben; 
aber baS ©erücht geht aisbann fchon feinem Huubeln oor» 
auä, unb hinterbrein ift niemanb fid; über ben 3 ufammen* 
hang unflar. 

2lbcr eine Same — urplöfclidj unb ohne erfichtlidjen 
©runb — abenbS sroifd^ett 2ldjt unb Veutt! ©o roar 
baS Huuptpolijeiamt gegen l;al& S e h n Ul;r oon einer 
äßadjftation antelepl;oniert worben. Sie Vachricht fam 
oon ber Slujjenalfter, aus ber ©egenb oon Hutueftel;ube, 

1901. UL 4 



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50 



Der Xubiit. 



unb eä rourbe fofort ber ^olijeifommiffar Braun abge» 
orbnet, benn ber galt als ein ©pe^ialift für Borfommniffe 
in Dornef)men Käufern. 

2luf bem 9teoier fanb Braun eine ältliche $rau ooit 
frembartigem 2Iuöfef>en ; fie fd^ien ben bicnenben ©tän= 
ben anjugeljören, trug einen Bfarftforb unb befanb fid) 
in Begleitung einer großen filbergrauen $ogge. 

(Sä mar 3°fepba auä ber Billa Be^rfen, unb fie cr= 
jäljlte bem Bolij\eifommiffar folgenbeS. 

Um fjalb fed^ö Uljr fei fte in Begleitung beä £>unbeä 
nad) ber ©tabt gefahren, um (Sinfäufe ju madjen; in 
ber Billa mären ihre Herrin, gräulein 9luf)mann, unb 
ber Wiener jurüdgeblieben; erftere fjabe gerabe Befud) 
uon bem Stecfytäanroalt SDoftor 3Jlarquarbfcn gehabt. 

„3>dj mar roiÖenä," fuljr 3jofepf)a fort, „bereite um 
fieben Uljr jurüd ju fein, unb fjatte baä audj bem ®iener 
gefagt, benn ber £err Stedjtäanroalt ift mit meiner Herrin 
fef)r befreunbet, unb idf) badjte, er mürbe rooljl jum 
Slbenbeffen bableiben. 2lbcr ©ie miffcn ja, §err Hom= 
miffar, roie baä in folgen fällen gebt. 3$ uerfäumte 
midb unb !am fdjliefjlidfj obenbrein in bic 3rre, benn mir 
leben erft feit furjem in Hamburg, unb idj fenne midb 
in ben ©tragen nodb nic^t auä. ©o fam idb benn erft 
nadb adjt Ubr beim, unb meine ©eele badjte nidjt baran, 
baf? irgenb etroaä paffiert fein tonne, benn bie genfter 
maren ^eH mie geroöbnlid), unb bie .ftauätljür mar im 
©djlojj mie immer. 2lber als idb aufmadbte unb ben 
$orribor betrat, ba mar eä mir fdbon fo munberlidb &u 
9Jlute, benn eä regte fidfj feine 9Jtenfcf)enfeele, unb eä 
märe bodb in ber Drbnung gemefen, bafj ber 3oljn, unfer 
Wiener, mir entgegenfam unb mir bie ©acben abnaljm. 
(Sr mar aber nidbt in ber Slüdfje unb nidjt in feiner 
©tube unb nirgenbä. Unb alä -idj bann in ben ©alon 
Ijineinging, ba mar baä gnäbige gräulein aud) fort. 25er 



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Kriminalroman von ^riebridj 3 ac °kfen. 51 

Kronleuchter Brannte, unb bie Borl)änge waren zufamtnen* 
gezogen, es war alles fo orbentlicf) wie immer, aber feine 
ÜJfenfcfjcnfeele im ganzen §aufe — feine 9)lenfdjenfeele! 
Sa fjabc ich alles fielen unb liegen (affen unb bin auf 
bie $ßolisei gelaufen, benn fo was fann bodfj nicht mit 
rechten Singen sugetjen." 

^ofepljaS Bericht fatn unter ©todfen unb ©dhludjzen 
heraus unb machte ben Ginbrucf ber lauterften SBahrljeit; 
bie ungebilbete unb in einem fjalbgioilifierten Sanbe auf* 
geroadfffene Sienerin fdfjien unter bem Ginbrucf eines 
übernatürlichen GreigniffeS ju fteljen, nach ihrer Bor* 
fteßung hatte ja wol)l ber Seufel felbft bie ^nfaffeit bes 
.fjaufeS geholt, aber fie mar bennocfj im richtigen ^nfttnft 
auf bie ifJolijei gelaufen. 

Kommiffar Braun ging bennoch feljr uorfidjtig unb 
methobifdh oor. 

Gr telephonierte junädhft nach bem Hauptamt wegen 
ber Pfaffen ber Billa Beterfen; bie Bfelbebüdfer waren 
audh bei Badht zugänglich, unb eS fam alsbalb bie 2lnt= 
wort suriirf: „f$räulein Gbitl) Buhmann aus Brafilien 
nebft Sienerfcbaft, letztere beftehenb aus ber mitgebrachten 
Kammerfrau $ofepf)a unb bem erft in Hamburg enga* 
gierten Siener ^oh» SteoenS aus Hamburg, angeblich 
gebürtig in §ud, Gnglanb." 

Bad; biefer amtlichen fjeftftellung machte Braun fid; 
in Begleitung non ^ofeplja unb zwei Konftablern auf 
ben Sffieg nach ber Billa Beterfen. Sen Kriminalbeamten, 
welcher non fedjS bis neun Ul)r in .§aroeftel)ube ftationiert 
gewefen war, beftedte er an Drt unb ©teile. 

Unterwegs fragte Braun nad) ben ©ewohnheiten beS 
Fräuleins, inSbefonbere, ob fie niemals abenbs ausginge. 
GS war hoch immerhin bie fdjwadje 9JlÖglid)feit oorhan* 
ben, bafe bie Same einen bringenben 2öeg uorgehabt unb 
Zu ihrem Sdjubc ben Siener mitgenommen hatte. $ret* 



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52 



Der 2?ubin. 



lidj liefe man bodfe in folgern gaU nidjt alle Sinter brennen 
unb legte irgenb einen Zettel auf ben Sifcfe. 

Befanntfdfeaften befafe gräulein fRufemann ni(fet, roie 
er auf Befragen »on ber Wienerin erfuhr, mit 2luSnafeme 
be§ SfedjtSanmaltS Softor SRarquarbfen, ber ifer aucfe 
ben Wiener beforgt featte. Sagegen mufete 3jof e Pfea ein* 
räumen, bafe iljre §errin am Slbenb juuor auägegangen 
unb erft ftiemlidj fpät in einer Srofdfefe guriidfgefe^rt mar. 
2öo fie geroefen fei, fonnte nicfet angegeben roerben, Braun 
notierte inbeffen bie Sfeatfadje in feiner ©djreibtafel unb 
feiste aud) ben ifem befannten -Kamen beS 2lnmalt£ fein^u. 

Sann famen fie nadfe ber Billa. 

©S mar injmifdjen elf Ufer geroorben, unb bie ©trafee 
lag fcfemeigenb im bitten fRebel. Sie genfter be§ Kaufes 
fdfeimmerten trüb burdfe ben bunftigen ©(feleier, man fonnte 
glauben, bafe bort ©efeßfcfeaft fei ober fonft irgenb eine 
Beranlaffung, bie ben ©cfelaf oerjögerte, benn bie be* 
nacfebarten Villen maren bereite in Sunfel gefeüßt. 

Braun poftierte bie beiben ifonftabler im ©arten unb 
an ber ©trafee; er glaubte gnrnr oorberfeanb nicfet an ein 
Berbredfeen, aber roenn bennocfe ein folcfeeS oorliegen foöte, 
bann mar eS ratfam, äöadfeen auöjufteQen. Sie ©rfaferung 
lefert, bafe ein Berbredfeer faft regelmäfeig an ben Drt 
feiner Sfeat jurücffefert, um ju beobacfeten, ob bie ©pur 
fdfeon »erfolgt mirb. 

21(3 ber Äommiffar in 3ofepfea§ Begleitung bie »er* 
fdjloffene Billa betreten unb junadjft alle Släume burdfe* 
manbert featte, fam er bereits ju bem »orläufigen fHefultat, 
bafe ein Berbredjen nidfet begangen fein fönne, roenigftens 
nidjt ein Berbredfeen im geroöfenlicfeen ©inne. Senn nacfe 
einem foldfeen finbet man umgeftürjte SRöbel, erbrodfeene 
©dfeubfädfeer, Blutfpuren — ja, man finbet bodj »or allen 
Singen baS Opfer. 

Slber nicfets »on allebem mar ju entbecfen. 



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Kriminalroman ron ^ricöridj ^acobfcn. 53 

39raun faf) ftd^ in bie Söofjnung einer eleganten Same 
oerfejst, bie beit Sag über ihren 33efdjäftigungen nachge^ 
gangen ift, unb nun allmählich baran benft, bie 9iuhe 
aufgufuchen. Sa ftanb ein OeffeC an ben Sifdh gerügt, 
unb über feinem ©i§ ^ing ein feines, nadj SSetld^en 
buftenbeS ©pifjentafdjentudj ^alb gur @rbe; ba tag ein 
aufgefdjlageneä S3ud& ; ba tag enbUdj eine angefangene 
©tiderei, unb bie 9iabel mit bem roten ©eibenfaben 
ftecfte noch in bem bunten SKufter. 

Sie £uft beä gimmerS war etroaS bunftig, rote e§ 
ber f^aCt gu fein pflegt, roenn bei gefdjloffencn ^enftern 
unb gufammengegogenen Vorhängen eine ©aSfrone ftun* 
bentang brennt. 

Sraun lieft fidf) in baä ©djlafgimmer (sbiths führen. 

Sie roeifte, geftkfte Sede tag noch peinlich gtatt ge= 
firichen über bem 33ett, bie gierlidljen SKorgenfchuhe ftam 
ben baoor auf bem 2lngorafeH. 

3m aßafdjgefd)irr befanb fich etroaS ©eifenroaffer. 
2tber eS trug nicht bie geringfte ©pur jener unheimlichen 
rötlichen Färbung, nach ber bie Kriminalbeamten fo forg» 
faltig gu forfdjen pflegen, fonbern es roar bas s 2öafdh 5 
roaffer einer Same, beren garte .fjänbe faum eine trübe 
gärbung hinterlaffen. Sem Sett gegenüber ftanb ein 
grojjer Kleibcrfdfjran!, beffen Sfjür angelernt roar. 

Ser Kommiffar roanbte fid) an 3ofepl)a, bie blafß unb 
gitternb feine Unterfuchungen mit ben 2lugen »erfolgte. 

„©ie fennen natürlich gang genau bie Soilette 3h rer 
$errin?" 

„©eroijj." 

,,©ut; fehen ©ie im ©djranf nach, etwas fehlt." 

3ofeptja gehorchte unb fagte nad) einer ffieile: „3dj 
fann ben Hantel nicht finben, ben baS gnäbige gmttein 
bei fdjledjtem SBetter trug, unb bann ben roten Safcfjlif; 
bie ©adhen hängen fonft immer obenauf." 



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54 



Der Kubtn. 



,,9fatürlid), " entgegnete 33raun aufatmenb, „bie Sachen 
rcerben moljl fehlen." 

Er ging in ben Salon zurüd unb fc^te fich nadj= 
benflidj auf einen Stuhl. Sie Sogge roar ihm nicht non 
ber Seite geroidjen; fie fjatte ein paarmal gefnurrt, aber 
auf 3ofepf)a§ 3 ur cben fofort 9iuhe gegeben. 3iun ftredte fie 
fich mitten auf ben großen Smprnateppich unb roinfelte leife. 

„Sljr gräulein ^at bie 3Silla heimlich oerlaffen," fagte 
33raun enblich; „baö ift flar. Sie fommt auch Ijeute 
roof)l nidjt mehr zurüd, benn jefct ift e§ äraölf Uhr." 

Sann fiel fein 33Iicf auf ben §unb. 

„SfiJaä h ü * benn ba3 Sier?" 

„Eö fef;nt fid> nach feiner §errin," entgegnete ^ofepfja 
fdjludjzenb. 

„Sie hatten ben §unb mit fich genommen?" 

„Sjarooljl, $err ßommiffar." 

33raun ging in baä Schlafzimmer hinüber unb fehrte 
gleich barauf mit ben Morgenfrühen jurüd, bie oor 
Ebitlfä S3ett geftanben hatten. Er hielt bie zierlichen 
Singer, bie jebenfaUä häufig oon ber Eigentümerin be* 
nu§t mürben, ber Sogge unter bie 9iafe unb fagte babei 
aufmunternb: „Such — oerloren !" 

Es mar ein zweifelhaftes beginnen, benn ber Äom-- 
miffar mujjte red^t gut, baff bie Soggen im allgemeinen 
feinen befonberS auSgebilbeten Spürfinn befitjen, aber 
biefe hier feixen bodh eine 3Iu3nal)me oon ihrer Sippe 
ZU madjen. 

Sie nahm bie Spur auf unb burdjquerte ein paarmal 
baä 3i mm er, als fie in bie 9fäl)C ber S()ür fam, 
öffnete 23raun fie. Slber ber §unb betrat nicht ben $or* 
ribor, fonbern umfreifte mieberholt ben Seppid), ftredte 
fid) enblich auf bem früheren $Ia£ in ber 9iäf)c beä 
Kronleuchters nieber unb fdjarrte minfelnb mit ber 3>or* 
berpfote in bent meidjen Stoff. 



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Kriminalroman oon Jfriebrid) ^aeobfen- 55 

Sofepfea ^atte alle btefe Vorgänge ebenfo gefpannt 
beobachtet rote ber Kriminalbeamte; fie roufete ganjj genau, 
roorauf eS anfam, fie brauste nur an ifjre Sugenb j$u 
benfen, bamalS fe$te man in Srafilien auch bic §unbe 
auf 5Dienfd)enfährten, unb üieHeidjt roaren 9ieroS 3Sor= 
fahren noch su biefem 3«Jec£e oerroanbt roorben. 

„55er §unb hat bie Spur aufgenommen," fagte fie. 
„2lber bie Spur führt nicht aus biefem Zimmer h* nuu 8> 
mein ffräulein hat baS $auS alfo nicht tterlaffen." 

55ie Sfeorljeit biefer ^Behauptung lag auf ber §anb; 
bie 55ogge hatte feine feine Witterung, barin beruhte baS 
gan^e ©eljeimnis. 

2Iber fie roar jebenfallS treu. 

55enn als ber Komtniffar genauer unterfucfjte, roarunt 
ber §unb fo eifrig ben foftbaren Teppich äerfrafjie, ba 
fanb er in bem floefigen ©eroebe eine $aarnabel liegen, 
unb 3ofepha beftätigte auf ^Befragen, bafe fie ihrer -öerrin 
gehören muffe. 

SSenn baS ein corpus delicti roar, bann liefe firih 
jebenfallS nicht oiel barnit anfangen. 33raun fteefte bie 
fftabel fopfjcfeüttelnb in feine SBrieftafdje unb befolgte ba» 
mit mehr eine ©eroofenfeeit als eine beftimmte Slbficfet; 
er roar norläufig am ßnbe feines fJtadjbenfenS angelangt. 

55a fagte ^ofep^a im 2one tieffter lleber^eugung: 
„2Benn idj nur ben 9fero nidht mitgenommen hätte, bann 
roäre baS alles gan$ geroife nidjt paffiert. 3lber biefer 
unheimliche -JJlenfd), ber Stettens, rebete mir ja fo lange jju, 
bis id) es enblid) tl)at. @r fürchtete fid) oor bem §unbe." 

55er iBoIijeifommiffar fuhr mit bem Kopfe f) erum 
unb ftarrte bie 55ietterin an. Heber (SbitljS iBerfchroinben 
hatte er junäd)ft biefe jroeite ^erfon ganj oergeffett, bie 
unter Umftänben eine fefer roid)tige 9iolle fpielte. 

„3Ber roar biefer SteoenS?" frug er. 

„55aS fann niemanb fo genau fagen, §err Komntiffar. 



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56 



Der Kubin. 



©r wollte in ©nglanb gewefen fein bei feinen $errfcßaften, 
unb er war ja aueß, was man einen anteiligen SJtenfdjen 
nennt. Allein gräulein naßm il)n auf ©mpfeßlung bes 
§errn SDoftor SRarquarbfen an, unb baS war boeß gewiß 
eine juoerläffige Quelle, benn idß glaube, ber §err IDoftor 
war mit bem gräulein fo gut wie oerlobt." 

„2lber ©te nannten ißn foeben einen unßeünlidßen 
Btenfcßen?" 

^ofepßa würbe oerlegen. „2ldß ©ott, §err ^ommiffar, 
idß ßabe oieHeid^t ju oiel gejagt. 3<ß mochte ißn eben 
nießt, baS ift aEeS. " 

©iferfücßteleien jwifdßen ber SDienerfcßaft finb nichts 
Seltenes, baS wußte Braun aus ©rfaßrung. Unb bas 
Berfdßwinben beS Wieners war an unb für fidß nodß 
feineSwegS befonberS auffällig ; wenn ©bitß plößließ ab* 
gereift war, bann batte fie ben Wiener oieEeicßt mitge* 
nommen, wenn aud) nur bis an bie Baßn. Unb nun 
madßte er fidß eine luftige Stacßt. 

§ätte ber SJtenfdß einen Staub auSgefüßrt, bann mußte 
eS in ber BiEa anberS auSfeßen. 

3ur 39eftätigung feiner Slnfußt ließ Braun fidß in 
baS 3immer oon ©teoenS füßren. SD a war aEeS wie 

fonft, fämtlidße ©ffeften fanben fidß oor, nur bie gewöfjn* 
ließe Äopfbebecfung bes SienerS feßlte. 

Bon bort famen fie noeß einmal in bie $üdße. 

®ie oor bem Äüdßenfdjranf befinblidßen roten $lede 
madßten juerft ben Beamten ftußig; er faß ßier bie garbe, 
bie am ßäußgften in feiner oorlam, unb eilte 

barauf ju. 2lber bas war SBein, fein Blut. 

Bor bem §erbe lag nod) eine $anbooE ©päne. 
$aS gefdßärfte unb argwößnifcß geworbene 2luge beS Be» 
amten entbeefte biefen unauffäfiigen Umftanb fofort, unb 
nadß einigem Umßerfcßauen fanb Braun audß baS fonber* 
bar jugefdinittene ©dßeit im §oljforbe. 



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Kriminalroman non ^ricbridj 3 ac °J , f c,t - 57 

6r naljm eä in bic £anb unb prüfte jebe einjelne 
$afer; er fdjroang eä burdlj bie Suft unb führte batrtit 
einen pfeifenben $ieb, fo baff ^ofcpTja laut auffdjjrie unb 
iljn mit entfetten Slugen anftarrte. 

„25a§ nehmen mir mit," fagte SBraun. „2öer bie§ 
Sing jurec^t gemalt fjat, bem mar e3 nicf)t um eine 
müfjige ©pielerei ju tfjun ; idfj roeijj nid&t, rooju es benuijt 
roerben foßte, aber bas roirb fic^ IjerauSfteöen." 

$ann trat er oor bie fEljür ber 2Ma unb pfiff leife. 

SDer Giebel Ijatte fiel) etroaS gefegt, man faf) in ber 
fRacljbarfdEjaft einige Siebter, unb eine gemiffe Unruhe, 
bie rneljr geahnt als gefpürt merben fonnte, fdfjien fidj 
ber Umgebung bemädjtigt ju Ijaben. 33ietteic^t muffte 
man fefjon, baff bie fBolijei bei ber 2lrbeit fei, unb baff 
morgen ober oielmeljr Ijeute bie Teilungen einen fenfa* 
tionetten 3lrtifel bringen mürben. 

3u ben beiben im ©arten poftierten 5fonftablern ^atte 
fi$ injroifdfjen als britter ber ©cfiuljmann gefeilt, melier 
abenbs juoor oon fed&s bis neun Ul>r in §aroeftel)ube 
ftationiert geroefen mar. 

@r braute feine ^Beobachtungen in furjer gorm jur 
9Relbung. 

3roifdE)en fieben unb acf)t Uljt, genauer fonnte bie geit 
nidjt angegeben roerben, fyatte ein großer, fdjroarjbärtiger 
9Rann bie 33ißa fjleterfen oerlaffen. ®amals mar ber 
Beamte in ber fJfälje beS Kaufes gemefen; gleich barauf 
mar er roeitergegangen unb nicht mehr in jene ©egenb 
juriidgefehrt. Qnbeffen erfcljien bie »on ihm befunbete 
Sfjatfache bennodj oon größter 23ebeutung. 

Um ^alb fed&s Uf)r mar fDoftor SJfarquarbfen bei 
(Sbitfj gemefen, aber bie gefamte fßolijeimannfchaft fannte 
ben Slnroalt genau unb muffte, baß er meber befonberS 
grojf mar noch einen fdjtoarjen 33art trug; ^ohn ©teoenS 
mar nach SofepljaS Slngaben ooHftänbig bartlos; es mußte 



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58 



Per Hubin. 



ftdj beinnadj noch eine anbere -ßerfon bei (jsbith aufgehalten 
haben, unb roafjrjdjeinlidj ftanb fie in irgenb meldjen 
Beziehungen ju betn nodj ungelöften 9tätfel. 

$ommiffar ©raun hotte nunmehr eine hoppelte 2tuf* 
gäbe. 

@r muffte erftenö jenen Unbefannten mit bem fchroarzen 
Bart ermitteln, unb in biefcr Stiftung erfd)ien bie 2lu3* 
fic^t auf ©rfolg aufjerorbentlich gering; fobann galt e§, 
bie fßer[önlid)feit non 3>ohn ©teoenä ju beleuchten, unb 
hierfür mangelte eä nicht an ben erforberlid^en §ilf3* 
mitteln. 

3Jlit 2lnbrud) be§ fDlorgenö fe^te fich ber grofje Apparat 
in Beroegung. 

•äJian hatte, ba Sohn ©teoenä nicht zurüdgefehrt mar, 
feinen »erfchloffenen Koffer auf bie ^olijei fchaffen laffen 
unb martete mit feiner Dejfnung nur auf ben richterlichen 
SDurchfuchungäbefehl, ohne ben biefer Eingriff in frembe 
Stedjte nicht ftattfjaft mar. Snjmifdjen mürbe aus ben 
fDlelbebüchern feftgefteHt, baff ©teuenS oor feinem ®ienft* 
antritt bei 6bith in ©t. fßauli geroohnt unb mit feinem 
©tubennadjbarn, bem Bureauoorfteher ©dhmibt, Umgang 
gepflogen hotte. letztere ftanb natürlich nicht in 

ben Siften, aber bie aHmiffenbe Bolizei raubte e§ plötjlidj, 
benn ©teoenS mar je|t eine intereffante ifierfönlichfeit ge* 
roorben. 

Braun fuhr felbft nach ©t. Bouli. 

3uoor hotte er mit feinem (Shef eine Unterrebung 
megen be§ BianneS mit bem fdjmarzen Bart. 2)lan fal) 
bie Unmöglichfeit ein, auf ©runb biefeä unzulänglichen 
©ignalementS bie betreffenbe $erfönlid)feit unter ben 
fünfmaltjunberttaufenb Hamburgern herauä^ufinben, benn 
ba3 l)iejj ein Bfeizenforn in einem ©ad »oH ©preu fudjen. 

2Benn ber Unbefannte fein ©eroiffen in irgenb einer 
2Beife belaftet hotte, bann hütete er fich fidjerlid), feine 



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Kriminalroman non ^ricbridj 3 ac °t , f en - 59 

©pur $u perraten; roar er aber unfdjulbig, bann mufete 
er auf bie SBidjtigfeit feiner 2luSfage btngeroiefen rocrben. 

©o erfcbien benn in ben -JJiorgenftunben an ben 2lm 
fcblagSfäulen Hamburgs ein rotes ißlafat, rooburd) bie 
ijkrfon, roelcbe abenbs junor &roifcben fieben unb adjt 
ilbr bei gtäulein 9iubmann auf $aroeftei|ube einen 39e-- 
fuch gemalt f)aite, aufgeforbert rourbe, fid) ungefäumt 
bei ber Kriminalpolizei zu melben. 9Jlan fagte fidj felbft, 
baj? ber ©efudjte es roabrfdjeinlicb nicht tbun roerbe. 2tber 
roenn er bas ^lafat las, bann roujjte er roenigftenS, bafs 
man auf feiner ©pur fei, unb baS f)ierau§ entftefjenbc 
©efübl ber Unfidjerljeit mar für bie Polizei ein befferer 
SBunbeSgenoffe als ber finbigfte Kriminalbeamte, ben bie 
alte §anfefiabt aufzuroeifen Ijatte. 



fünfjebntes Kapitel. 

SBäljrenb jener geit non fedbS bis neun Ufjr abenbs, 
bie ber Hamburger ^oltgei fo au&erorbentlidj mistig unb 
gebeimniSooll erfchien, batte ber Sureauuorfteljer ©cijmibt 
mancherlei erlebt. 

äSenn zufällig mehr als gewöhnlich Z u tbun roar, bann 
blieb er juroeilen bis acht Uhr abenbS in ber ©spebition, 
unb gerabe beute butten fidj bie ©efdjäfte ganz befonberS 
get)äuft. ©o fam es, bajj ber ©Eprefjbote, burdj ben 
Softor 3Jlarquarbfen feine plöfclidje 2lbreife anzeigte, baS 
SBureau noch offen fanb unb bie SSifitenfarte mit ben 
roenigen flüchtigen SBorten beS Slnroalts an ben 3lbreffaten 
perfönlich abgeben fonnte. ©cbmibt roujjte ficb feinen 
rechten 93erS aus ber ©efchicbte zu madben, aber er be* 
regnete, bafc bie 2lbroefeuf)eit feines ßbefS minbeftenS 
zroei bis brei Sage roäbren fönne, unb traf banad; feine 
2)?ajjregeln. 



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60 



Per Kitbin. 



$urg juoor war non einem augwärtigen Klienten ein 
©elbbrief mit füitfbuitbert 3)iarf eingetroffen, unb bag 
©elb foHte orbnunggmäjjig in ben SErefor eingefdjloffen 
werben. 2X6er 5)oftor 9)iarquarbfen befanb fid) im 53cfit} 
beg ©djlüffelg, unb bag morfdje ©djreibpult mit bem 
lahmen ©d&fofj mar ein jiemlid) unfidjerer Slufbewafjrungg* 
ort. ©o ftedte ©djmibt furj entfdfjlofjen bag fünffadj ge* 
fiegelte Gouoert nebft gnljalt in feine eigene S3rufttafdje, 
um eg entweber in feiner ^ßrioatwoljnung aufjuljeben 
ober biä jur 9iüd!eljr beg 21nwaltg bei fid^ ju trogen. 
®ag (entere bünlte if)n fdjliefjHdj noch om ftdjjerften. 

@r tjerfdjlojj fobann bag S3ureou unb fuljr mit ber 
$ferbebaf)n nadj ©t. ^kuli. 21lg er bie kreppe nadE) 
feiner im $ofe belegenen Söoljnung emporftieg, fiel ifjm 
etwag ein; er lehrte um unb fcljellte im SSorbertjaufe bei 
grau -Ularquarbfen. Sie 2Bitwe öffnete ifjm felbft unb lub 
iljn guootfommenb ein, naiver ju treten. 

,,gcf) bin $war allein," jagte fte etwag anjüglicl), 
„meine 9iidE)te ift auggegangen, aber wenn ©ie mit einer 
alten grau oorlieb nehmen wollen — " 

©cf)mibi brüdte Ijöflidf) fein Sebauern au§, bafs er 
nic^t audj gräulein 2lgneg begrüben bürfte, im übrigen 
wollte er nur fragen, ob grau 9Jtarquarbfen oieHeidjt fagen 
lönnte, wie lange ber «§err Softor fortjubleiben gebenfe; 
eö fei nur wegen ber ©efefjäfte. 

grau 9)}arquarbfen wujtte gar nidljtg oon einer Steife 
i^reö Soljneg; fte war etwag betroffen, wollte bag 9iäljere 
erfahren, unb barüber fant ©djmibt in bie ©tube unb 
auf bag ©ofa. 

„SJtein ©oljn j^eigt fidt) jefjt fo feiten bei ung," flagte 
fte, „eö ift mitunter, alg ob wir gar nid)t oorljanben 
wären. 2Bag bie 21gneg anlangt, fo ift eg mir ja ganj 
redjt, aber iclj bin boclj bie fDlutter, bag muffen ©ie felbft 
einfeljen, §err ©d&mibt." 



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Kriminalroman r>ott ^riebncfy 3 aco ^f en - 61 

SDie gute grau empfanb nicht bag Saltlofc biefer 
Unterhaltung mit bem Untergebenen ilfreg ©ohneg, aber 
ber fdjlaue ©efchäftgmann fühlte fofort, roo er einfefcen 
lonnte. 

„3)ie ißrajig be§ §errn SDoltorg nimmt gu, " fagte 
er pertraulich, „eg finb hübfdje Klienten barunter." @r 
fchroieg einen SJloment, lächelte, rieb ftch bie $änbe unb 
fe^te i)ingu : „.fjübfdje Klientinnen märe richtiger gefagt. 
Sch glaube, perehrte grau 9Jfarquarbfen, bah n>ir bem* 
nädjft eine Verlobung haben merben." 

„21h mirllidj? ©ott fei 2)anl!" 

grau SJlarquarbfen fuhr bamit he ra u3, ohne eä 5 U 
rooüen, unb bann geriet fte hoch ein rcenig in 33erroirrung. 
2)er brennenbe iJöunfch, mehr gu erfahren, lämpfte mit 
bem itnllaren ©efüljl, bah biefeg Shema h°chft unpaffenb 
fei; aber ©chmibt f;alf ihr geroanbt barüber hinmeg. 

,,©ie merben eg alg 2ftutter natürlich guerft erfahren," 
fagte er bieber. „geh felbft erlaubte mir nur biefe 2ln* 
beutung, um ©ie auf beporftehenbe 23eränberungen hin* 
guroeifen. 21uch im ©efchäft — fogufagen. S<h gcbenle 
mich nämlich felbftänbig gu machen." 

„211g mag, §err ©chmibt?" 

„Sch h a ^ e ein bihehen hinter mich gebracht," fuhr er 
bebäebtig fort. „kleine bigfjerige ^hätiglcit perfchaffte 
mir auherbem fehr auggebehnte ÜSerbinbungen, unb fo 
hoffe ich benn als ©chiffgmafler eine folibe ©jifteng 
gtünben gu lönnen." 

grau SKarquarbfen ftrahlte über bag gange ©efidht. 
Sh* oerftorbener fDiann hatte ja auch biefeg ©efchäft be* 
trieben, unb fie muhte, bah cg einen bübfdfjen Grtrag ab* 
roerfen lonnte. ®ag mar hoch fdjliehlidj etroag anbereg 
alg SBureauoorfteher, unb roenn ©chmibt jefjt mit feiner 
Söeraerbung um 21gneg heraugrücite, bann lonnte er auf 
einen guten (Smpfang rechnen. 



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62 



Per Kubin. 



Sie fam ihm ein bi^djen entgegen unb bemerlte: 
„kleine 9iidjte toirb fidj feljr freuen, rcenn fie oon biefen 
ä>eränberungen erfährt, benn biö^er — " 

„2öir oerfteljen uns ooHfommen, " Ijalf ©djmibt ein. 
„gräulein 2lgneS ^at ganz red^t, bie Stellung eines freien 
9JlaitneS ift berjenigen eines 33ureaubeamten oorzuzieljen. 
■JZacfjbem ich bei Shnen, oereljrte grau 2Jlarquarbfen, ein 
fo freunblidjeS Gntgegenfommen gefunben habe, hoffe id) 
auch, bemnäd)ft bei bent ©egenftanb meiner Üöünfdje eines 
gleiten ©lüdS teilhaftig zu roerben." 

9fa<h biefer fd)ön gebredjfelten ^hrafe empfahl er fidj, 
benn es lag gar nicht in feinem -ftatureH, eine ©ad;e ju 
überhaften. 

grau SJiarquarbfen blidte iljm mit SUÜjrung nad). 
Gin netter 9Jiann, badete fie bei fidj, unb fo fein! geh 
mufe nur bie 31gneS heute abenb ins ©ebet nehmen; bu 
lieber ©ott, roaS märe baS für ein ©lüd, roenn gleich eine 
Doppelhochzeit gefeiert roerben fönnte! 

9iadj einer 3Beile begab fte fid) in ifjre ßüdfje, um 
nod) einiges ©efdjirr roegzuräumen; fie roarf babei einen 
Slid auf bie Uhr unb tounberte fief), roie fdjneß bie 3«it 
oergangen mar. 

GS ging fd)on auf jeljn Uljt- 

3Son ber $üdje aus fonnte man in ben §of unb auf 
baS .fjinterljauS bliden, roo ©chmibt feine Söoljnung hatte ; 
bie genfter ber legieren toaren I)cd unb beleuchteten auch 
ben §of, fo bajj man ungeachtet beS bitten 9?ebelS ztem= 
lieh genau erfennen fonnte, roaS ba unten oor fich ging. 

Unb gerabe roäljrenb grau -Diarquarbfen am Jüchens 
fenfter ftanb unb fjinunterfah, betrat ein -Diann ben §of 
unb ging quer burcf) iljn nach ©djmibtS SSohnung. Gr 
blieb in bem beleuchteten Deil einen SJioment ftehen unb 
blidte auf feine Uljr. grau 2)iarquarbfen aber jog fid; 
fopffchüttelnb oom genfter jurüd. 



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Kriminalroman non ^ricbricfc 3 ac °bf c u. 63 

„2Ba§ will benn ber f)ier?" murmelte fie unjiufrieben. 
„3d; bähte, feit feinem SBeggug Ijätte ber fBerfeljr aroifhen 
ben beiben aufgef)ört; ba3 ift bod) eigentlich feine paffenbe 
©efeUfdjaft für ben jufünftigen 3Jtann meiner fftidjte. " — 

©hmibt faj$ bei ber Sampe an feinem offenen ©djreibs 
fefretär. 

@r fjatte ben ©elbbrief mit ben fünfljunbert ÜJfarf 
vor fidj liegen unb überlegte, ob er ifjn einfdjliefien ober 
in feiner Srieftafdje auffjeben follte. Sa§ erftere mar 
hoch oiellcidjt fixerer, aber eä roiberftrebte bem oorfihtigen 
©efdjäftSmann, ben ©djein S u erroecfen, als ob er bie 
frembe ©adje in feinen 23efi§ Ijätte bringen roollen. 

Sa flopfte es an bie Sfjür, unb beoor ©hmibt bie 
klappe beS ©efretärö fließen fonnte, trat ^oljn ©teoenö 
in baS Zimmer. 

,,n’ 2lbenb, ©hmibt," fagte er. „How do you do? 1 * *) 

Ser Sureauoorftefjer erljob fid) unb ging feinem Söe* 
fudj entgegen. „28o gum Seufel fomnten ©ie benn ber, 
SteocnS?" 

„Salfutiere, oon .fjaroeftefjube." 

©teoenS fdjob bie .fjänbe nah feiner ©erooljnljeit in 
bie Safdjen unb ging ungeniert im Zimmer auf unb ab. 

„§abe enblidj mal ’n freien SUbenb," fufjr er fort 
unb blieb oor ber 3iQ arren ^f le fielen. „Sie 2abp ift 
abgercift, fomme bireft oom Sfafjnbof." 

,,©o plöfclih?" 

„Yes. Sljun ©ie bod) nid;t fo unfdjulbig; I^fjr §err 
ift ja audj abgereift." 

„Softor ÜDJarquarbfen?" frug ©hmibt »errounbert. 
„3a, ber ift allerbingS mit bem fJieunufjrgug fort." 

„Well, bie fiabp aud). Sonnen ©ie ftdj feinen 2?er3 
barauf mähen, alter ©hlauberger? @3 ging ein bifjdjen 



*) 2Bie geljt'ö Sfjnen? 



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64 



Der Kubin. 



heimlidh ju , DaS ift aßes ; morgen roirb roohl maS in 
ber Leitung fielen." 

©djmibt mar über bicfe unerroartete Nachricht fo be* 
ftürjt , bafj er ganj feinen ©elbbrief oergafj. $er an« 
bere hatte injroifd^en ungeniert eine Bigarre genommen 
unb ging nach ber 2ampe, um fie bort anjufteden. $ann 
ftufcte er plöfclitf) unb falj auf bie glatte beS Schreib« 
fefretärS. 

„Goddam, maS haben Sie ba für ©elb ^erumliegen !" 

„©3 ift nidfjt mein (Eigentum," entgegnete ©dfjmibt 
mechanifd), nafjm ba3 Souoert, ftecfte e3 nebft 3>nljalt in 
feine 23rieftafd;e unb barg bie letztere in ber inneren 
53ruftfeite feines 5Rode3. SSäfjrenb er nach ber ©emohn* 
Ejeit be3 ©rojjftäbterS ba§ $leibung3ftüd feft jufnöpfte, 
mad)te ©teoenS ben 33erfud), bie BtS arre anjujünben. 

$ie Btgarre brannte enblidf), unb ©tenenä fefste fiel) 
auf ba3 ©ofa. @r blicfte qualmenb oor fich f)in unb fuhr 
fort: „©o, nun feien ©ie nicht fchäbig, ©dfjmibt, rüden 
Sie mit 3h*w Gognacfiafdje fjerauS, id) Ejabe nodjj feinen 
tropfen genoffen unb fjabe einen nieberträdf)tigen $urft 
auf roaS ©djarfeS." 

©dpnibt f)olte fcfjroeigenb bie glafche nnb ein ©la3; 
er glaubte nidbt redfjt baran, bafj jener noch ganj nüchtern 
fei, benn ber ÜJiann mar ju aufgeregt, bie B'S arre ging 
ihm rcieberbolt aus. 3 u Ie^t marf er fie hin unb ftürjte 
ein grojjeS @IaS ßognac hinunter. 

„Goddam, baS tE)ut gut! Söiffen ©ie auch, alter 
^reunb, marum idh ju 3h ncn gelommen bin?" 

„9?un?" 

„Sie foßen mir ©elb borgen, ich bin clenb in ber 
klemme. " 

„9fcin," entgegnete ©chmibt jäh, „©elb befommen 
©ie nid;t oon mir, ©ie »erfaufen eS bod) nur." 

„§ahaha!" lachte ©teoenS unb mar f fid) in bie Sofa« 



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Kriminalroman oon ,friebrid? 3 ac °bf e n. 



65 



ede, baff bie gebern fragten. „9lichtig eingegangen, 
alter Sunge — ©ie haben alfo ©elb!" 

(Sr richtete fid) roieber auf, ftrich mit bem 2!afdE)entuch 
über bie ©tim unb fuhr fort: „5DaS mit bem Sorgen 
mar natürlich Unfinn, fo abgebrannt bin idf) noch nicht. 
2lber id(j möchte biefe 9lacht mal lumpen, man fommt fo 
feiten in bie greifet. Unb babei foUen ©ie mir helfen, 
benn allein ift baS langroeilig. ©ie haben ©elb, unb idj 
auch, freihalten rooßen mir einanber nicht. Slbgemadjt?" 

©dEfmibt mar fonft ein foliber, nüchterner 9Jlann, aber 
er mar Hamburger. Unb bie SJlebraaljl bet Hamburger 
macht bann unb mann „eine $af)rt" baS Sebürfnis baju 
liegt in ber Suft unb in ber angeftrengten 2lrbeit, baS 
bidfe Slut mufs biSroeilen in 2öaHung gebracht roerben. 

■äJlorgen gab eg nicht oiel ju tl)un, ba ber $err ab» 
raefenb mar, unb aufserbem mar ber Sureauoorfteher ge» 
fpannt, etmaS Näheres über bie geheimnisvolle 9leife ju 
hören, bie fein (Sljef mit gräulein fRuljmann unternommen 
haben foHte. „SDHr ift es redht," fagte er, „bei biefem 
fliebel fann ein Strun! nicht fdjaben. 2Bo moHen mir hin* 
gehen?" 

„Nehmen ©ie nur 3h ren Hantel; ich mache ben 
güljrer," entgegnete ©teoenS. 

Sluch einem geborenen Hamburger finb nid)t alle 
©dhlupfroinlel befannt, bereu fid) bie alte §anfeftabt trofj 
Sranb unb Saufpefulation erfreut, er müfjte benn pr 
(Slite ber Kriminalpolizei ober äur $efe beS Serbredjer» 
tumS gehören. 

©dhmibt mar unter bem Söaljrjeichen ber SDoppeltiirme 
aufgeroadhfen, unb man fonnte nicht behaupten, bafe er 
fein Sebtag bie aOerbefte ©efellfrfjaft aufgefudjt halle, aber 
als er am 2lrme feines SegleiterS eine äßeile burd; bie 
nebeligen ©trapen gemanbert mar, ba blieb er hoch ftefjen 
unb fah fid; etroas bebenflidh um. 

1901. III. 5 



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66 



Der Hubm. 



„9Bo finb wir benn, ©teoenS?" fagte er. „f£iaS ift 
ja eine oerteufette ©egenb, ^ier bin ich noch niemals ge= 
wefen." 

„fDtöglicb," entgegnete jener gemütlich; „baS wirb 
oielen fo gehen. Slber es ift h* ei ' irgenbroo h erum ein 
$lah, wo ber befte ^Borttncin in gang Hamburg gefdjenft 
wirb, «nb baS foll man bei biefem £unbewetter nid^t gu 
gering achten." 

„3Bie haben ©ie benn ben ißlais auSbatbowert?" 

„SBenn man wochenlang nichts gu tljun hat» bann 
fommt baS gang non felbft; unb aufjerbem bin id) non 
Sonbon her mit einer befonberen Neigung für alte ©tabt= 
teile behaftet. 3$ fag‘ Shnen, ©djmibt, fo ’ne 9lad)t 
quer burd) SB^itec^apet , baS ift bodj ein anbereS ®ing 
als in biefem galjmen jRrämernefi, ba ift man froh, 
raenn bie alte Uhr oon ben $oppe!türmen ber $irdje 
mieber burd) ben SRebel fdjimmert." 

®er Sureauoorfteljer mürbe immer einfilbiger. 

( Sr hatte oft genug non biefem roiiften ©tabtteil Som 
bonS gehört, roo es faum ein §auS, einen SBinlet ober 
einen Srüdenbogen giebt, ber nidjt oon irgenb einem 
Verbrechen Zeugnis abtegen fönnte, unb bie Erinnerung 
baran war ihm in biefem 2lugenblid äujjerft unbehaglich. 

Vor ihnen lag ein breites gleet, roie bie f leinen fdjifp 
baren Kanäle in Hamburg heilen, beffen fdjlammige §lui, 
mit atlerhanb Unrat bebedt, langfam gmifchen ben ßeljr* 
feiten hoher, fchroarger, baufälliger Käufer baf)ingog. ©ie 
fdjritten über eine uralte fteinerne Vrüde, bie, mit 
©raS beroadjfen, 3eugniS baoon abtegte, roie feiten bie 
oerlehrSreidje 2lrbeit biefen oerborgenen SBinfel auffudjte; 
fie entfernten ftdj immer weiter oon bem tröftlidjen Sicht 
ber Saternen unb tafteten fidh gleichfam in eine Sunfel* 
heit hinein, too jebeS Sauwerl unheimliche formen am 
nahm unb jebe ©eftalt in fdjattenfjafte Umriffe gerfloff. 



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Kriminalroman oon ^riebricfy 3 ac °bf e n. 67 

»3$ gehe nid^t roeiter," fagte ©djmibt plöfjlidh, „hier 
ift ntdjt einmal ein ßonftabler in ber 9iä(je." 

„28ir finb auch am 3iel," entgegnete ©teoenS ge= 
laffen. „2Ba§ roollcn Sie mit ben ßonftablern? ®ic 
Seute, bie f;ier rooljnen, mögen oietteidjt ein Biftc^en ärmer 
fein als anberSroo, aber ich falfuliere, bafj fie nidjt 
fdjledjter finb. Sßorroärtö, 9Jlann, bie hinter ftube im 
„SBIauen §ecljt" ift gerabe gut genug für biefe italienifdje 
fJtadfjt, unb ber Teufel foH midj holen, roenn mir roieber 
gerabe herauSfommen." 

SBenige Minuten fpäter fajjen fie in einem fleinen 
Sofal, beffen 2lu3ftattung nicht gerabe elegant, aber bocf) 
fjinreidjenb behaglich mar, um 9iebel unb ©unfelfjeit wer* 
geffen ju laffen. 

Ser SBirt Ijaite bie beiben ©äfte in ein befonbereS 
3tmtner geführt; er machte einen erträglich bicberen ©im 
brudE unb fdjien mit ©teoenS gut befannt ju fein, benn 
biefer nannte ihn „^jonaS" unb befteHte mit certrautichem 
2lugenjroinfern „bie benmfjte 9ftarfe". 

Ser 2Bein mar in ber gut, eine fernere, ölige 
©orte, bie jebenfatlS auf geheimnisoollem äßege ben 
greifjafen oerlaffen, aber baburch nicht an heimlichem 
geuer eingebüfet hatte. 2113 ©cljmibt einige ©läfer beä 
ungeroohnten ©etränfeS in $opf unb 9Jlagen fpiirte, fing 
er an, fich behaglidj ju fühlen, unb legte beibe 2lrme breit 
cor ftch auf ben Sifdj. 

,,©ie ftnb hoch ein oerteufelter $erl, ©teoenS," fagte 
er, „fo toaS ©uteS friegt man nidjt alle Sage. 23ei 3h r em 
gräulein in §aroeftehube giebt’3 ba3 roahrfdjcinlidj aud) 
nicht." 

„fJiein," entgegnete ©teoenS fürs unb ftürjte fein 
©la3 hinunter. 

„UebrigenS ein netter Wiener!" fuhr ©djmibt gemütlich 
fort. „Sa foUen ©ic bie ©chäfce in ber 23ißa hüten, 



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68 



Der Hubin. 



unb fityen ftatt beffen l^ier. 91a, profit! 3ft Fräulein 
Siuljmann bemt fo reich? $aben ©ie 3b 5 * Sin* 

manten fc§on mal gefeben?" 

©teoenS gab feine Slntwort, fonbern rief nach einer 
^weiten $lafcbe. darüber fam bas ©efpräcb ins ©tocfen, 
aber ©cbtnibt nahm eS roicber auf mit ber £artnäcfigfeit 
eines ÜJianneS, bem ber 2Bein bie ©ebanfen einjuengen 
beginnt. 

„$räulein Sfubmann wirb jebenfaHs in ber nädjften 
3eit fefjr reich werben," bemerfte er tieffinnig. ,,©S ift 
3bnen hoch befannt, bafs fte ben alten, wüften ©arten 
erbt?" 

,,©S gef)t bie Siebe baoon; idb befümmere mich nicht 
barum. " 

,,©ie b«t ib« Mer, fag’ i<$ Sbnen. Sen ©arten 
unb baS ©artenbauS. 9ia, wohnen wirb fie wobl fc|wer» 
lidb in bem alten ©erümpel, fte wäre wenigftens fcf)ön 
bumm." 

©dbmibt lachte über ben ©ebanfen unb begann im 
halben 9iauf<b cor ficb fjin §u fingen : „Summ — bumm, 
ftumm — ftumm!" 

©S war ein finnlofer 9ieim, ol)tte irgenb welchen 3u* 
fatnmenhang, aber ©teoenS fd^ien fich barüber ju ärgern. 
„2öaS brummen ©ie benn ba non „ftumm"? ©inb ©ie 
ftumm, ober bin idb es etwa?" 

Ser Süureauoorfteljer trnnf abermals fein grofeeS ©las 
leer, ©r war offenbar einer oon jenen Seuten, bie feiten, 
aber bann um fo Saftiger genießen unb infolgebeffen 
fdbnell abfaflen. ©r fam febon in baS ©tabium ber 9iiif;r* 
feligfeit. 

„5ßir werben einmal alle ftumm fein," fagte er 
fcblucfenb. ,,©ie unb idb unb gräulein Stubmann. Sie 
oielleicht gute^t, benn fie ift bie jüngfte oon uns breien. 
3d& gönne ihr ein langes Safein, benn fte fjat mir einen 



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Kriminalroman con ^liebrid? 3 dc °bf en - 69 

9H»aIen oom §alfe gerafft. Profit, ©teoenä ! ©tofjen ©ie 
mit mir an, gräulein 9luf>mann foll leben! §ocf}!" 

gofjn ©teoenS ftiefj nicfjt auf ben 2:rinffprud) an. 
6r fajj blofj mit gufammengeprefeten Sippen auf feinem 
©tuljle unb ftarrte unuerroanbt in eine finfiere 6cfe beö 
3immer3. 2Ba3 fein leiblid&eä ober geiftigeä 2luge bort 
falj, blieb ein ©eljeimniS, »ieKeidjt tiefer unb bunfler 
als bie 9lacfjt braufjen unb als ba3 Söaffer beS gleeteS. 

„©ie finb ein 9iarr," fagte er enblid) halblaut. „gdb 
bin ^ier mit gfincn jufamtnen, um luftig gu fein, unb 
nid^t um 2lltmeiberreben gu führen. $)ie glafcfje ift leer, 
idfj fjabe ®urft nad; einer britten." 

$iefe britte befteKte er felbft im üBorberginuner am 
Süffett. 

63 mar in ber oorgerüdten 9lacf>tftunbe fein ©aft 
meljr oorfjanben, aber bie 23erljanblung grotfdfien ©te»en3 
unb bem 2Birt mürbe bennodj im glüfterton geführt. 

„63 fann boc^ nichts barauS entfielen?" fagte gona3 
bebenflid;. „gdE) rnödjte ungern mit ber ^oligei gu fcljaffen 
Ijaben. ©ie roiffen, baf$ bie Herren mir oljnefjin auf bie 
ginger feljen." 

„9lidf)t3," entgegnete ©teoen3. „63 ift mir nur barunt 
gu tljun, ifjn für biefe 9iad)t auf gute 9Jlanier loö gu 
merben; c3 foH iljm fein §aar gefrümmt merben, idi 
bringe ifjn felbft auf ba3 gimmer unb tn3 23ett." 

darauf begann gonaS au3 bem gnljalt oon groei 
glafdljen eine britte gufammenguftctlen. Unb er mufote in 
biefer £ljäiigfeit moljl einige 6rfaljrung bcft^en, beim bie 
©ad;e nafjrn fcl;r rafdj iljren gortfdjritt, unb Steoenö 
feljrte befriebigt in ba3 ^rinfjimmer gurücf, mo ©djmibt 
ingroifcljen feinen 9lod au3gegogen Ijatte unb ungeadjtet 
ber feuchten Witterung auf bie „oerbammte ^ilje" fcfyiinpfte. 
$ie britte glafdfje braute ifjn gum ©d&reeigcn. 

6r fal) niefit meljr, bafj ©teoenS iljm allein einfdfjenfte 



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70 



Iler Hubin. 



unb felbft feinen tropfen meljr über bie Sippen Brachte, 
er fam aucf) nid;t über bie paar nädjften ©läfer hinaus, 
fonbern fanf in bie ©ofaede gurücf unb netfiel tn einen 
(Schlaf, ben fein facfjnerftänbiger ©efäljrte auf minbeftenS 
acht bi§ jeljn ©tunben SDauer fd)ät$te. 

©teoenS rief ben 2Strt herbei. 

„(5ä ift fo weit," fagte er. „Reifen ©ie mir, ihn 
ins Sctt ju legen." 

®ie beiben HJlänner mußten ben ©djlafenben tragen, 
©djmibt mar fo regungslos, bafj ber 2ßirt ängftliclj mürbe ; 
aber ber anbere beruhigte ihn mit einem fpöttifcfjcn 
Säckeln. 

„@r mirb morgen etmaS ^opfroeh haben, baS ift alles, 
©lauben ©ie, bajj idj ihn um bie (Me bringen miß? 
®aju bebarf eS nicfjt fo nieler Umftänbe, goddam, id) 
falfuliere, bafi Hamburg genug naffe (Men hat." 

3>n einem finfteren, nad) bent §ofe gehenben ©aft* 
jimmer legten fie ©d&mibt auf ein unfaubereS 33ett. 
©tenenS jog ihm bie ©tiefel aus unb bedte ihn mit beitt 
9lod ju; jutior aber nahm er aus bem leiteten eine 
S3rieftafdje, ftedte fie nor ben Slugen beS 2ßirteS ju fid) 
unb fagte: „ffiiffen ©ie, 2j° n a3, baS ift für alle gäHe 
beffer. ©ie fönnen ihm morgen fagen, baf$ ich baS SDing 
aufgehoben ^ätte ; eS ift bei mir fixerer als bei 3hnen." 

SDann mürbe alles ftiH unb bunfel. 

Oottje^unfl folflt.) 



% 



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frau 3 das Scheidung 



* Eine Ebegesebiebte 

von B. €. Kaslner. 



m 



mit 3llH$trationen 
von Geors scböbel. 

(ItacbdriKk verboten.) 

1. 

|it einem ©djerjroort fing eä an. Sie 
ganje 5£ifc^gefeHfd;aft lachte, als 
ba§ (Stjepaar $8ölfert ftc^ fo brollige 3Bal;r= 
Ijeiten über ben Sifdj gurief. fftietnanb badjte an ßrnfteä. 
fBtan mar hoch jur ©eburtötagöfeier unb nicht flum $anf 
eingelaben. 

Unb fo lächelten fie immer noch, bie Santen, bie 
33afen unb bie ©djroefter ber jungen grau, alä fdjon 
SBorte, fdjarf toie fftabelfpißen , b er n& er5 unb hinüber* 
flogen. 9lur 23urfharbt, ber ©d)trager be3 ©aftgeberS, 
lädjelte nidjt. ßr ärgerte fich- Siefer SSölfert mar ihm 
ein unangenehmer fDienfch; er mod;te ihn nid;t. Sljat 
fich immer trag ju gute auf feine afabemifdje 33ilbung, 
roie trenn ein Kaufmann, ein ©rofjhänbler, treniger ge* 
fdheit märe. Ser ^ro^! 3Bic hochmütig er bafafj unb 
feine lange 9lafe mit betn Kneifer in bie Suft ftredte. 





72 vfrau 3&as Sdjetbnng. 

s J?aefe Surffearbtä Meinung featte grau 3b« S a,1 ä 
redjt, reenn fie ftefe nid^t aße§ oon bem ^prannen ge* 
fallen Hefe, (Sr nidte ber feübfdfeen grau, bie p feiner 
fiinfen fafe, aufmunternb p : „Dtedfet feaft bu, 3^«, gieb’3 
ifem nur tücfetig. " 

SDiefe leife geflüfterte fDiafenung war aber gar nidfet 
nötig. ®ie grofeen, fdfetoarpn 2lugen ber jungen grau 
funfeiten ofenebieS oor SfampfeSluft. Unb al3 ber un* 
artige (Sfeemann nun gar noefe p behaupten reagte, baö 
©dfeönfeeitäibeal ber ©riedjen, bie 33enu§, fei blonb unb 
fdjlanf unb nic^t flein unb brünett geroefen wie fte, ba 
roar’3 mit iferer ©elbftbefeerrfefeung oorbei. fftodfe • einige 
fdfearfe SBorte fein unb feer, unb baö gefüllte ©eftglaä 
prfprang flirrenb, non 3ba tnütenb auf ben SHfcfe ge* 
ftofeen. 

Sftacfe furjem ©dfereetgen erfeoben fiefe alle unter ner* 
legenem Säcfeeln nom fEifcfe unb nerfudfeten, rociferenb fte 
in ben ©alon prüdfeferten, burdfe gleiefegültige 9feben3* 
arten über ben peinlidfeen SßorfatI feinroegpfommen. $ie 
erjürnte £au3frau aber pg fiefe mit iferem ©dfereager 
Surffearbt unb iferer ©dferoefter SJfarie in eine genfternifefee 
beä (Sfejimmerö prüd, reo lefeteve nerfudfeten, bic auf* 
geregt ©dfelucfejenbe p berufeigen. 

Dnfel ©tepfean, Softor 33ölfert§ 23ater3bruber , ein 
eingefleifdfeter gunggcfelle, featte ben (Sfeemann unter ben 
2Jrm genommen unb in ba§ 9fauefe5immer gefiifert, bamit 
er bort fein ©leiefegeroidfet raieberfenbe. (Sr fteHte fidfe nor 
ifett fein unb rieb fidfe ein bifedfeen fefeabenfrofe bie £änbe. 

„3a, ja, bic 2öeiber!" fagte er unb blieS ben 9taudfe 
feiner Starre oon fiefe. „9Jfein guter $an§, beine grau 
feat ben Teufel im Seibe." 

ift nidfet ntefer auöpfealten, " grollte ber junge 
©feemann. „2)iefe grau ift fo ftreitfüdjtig unb — roirf* 
lidfe, e£ ift nidfet mefer auöpfealten." 



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Don 8. €. Kafmer. ?3 

„Vielleicht nerftehft bu eS nicht, fie richtig gu Be» 
hanbeln," meinte Dnfel ©tephan unb ^ielt bann bem 
Neffen in feiner langfamen, pebantifchen Vebeweife einen 
furgen, aber einbringlidjen Vortrag über bie Veljanblung 
ber grauen. — 

drüben im ©alon waren bie weiblichen Sitglieber 
ber gamilie oerfammelt. (Srft hotte man feine Meinung 
nur burdj $opffchütteln unb eine berebte Stugenfpradje 
auSgetaufcht. 2lber als Tante gettdjen baS ©ignal gab, 
inbem fie uorfidjtig fagte: „gba war immer ein lebhaftes 
Sefen," ba gab ’S fein galten mehr. 3mar tcife flüfternb, 
aber um fo energifd^er würben Meinungen auSgetaufcht. 
©ie fannten ja gba fdjon lange, ga, freilich! 

@S war gut, bafj not ber Tf)ür beS ©alonS bicfe 
portieren angebracht waren. Ober eS war nielleicht 
nicht gut. Tenn hätte grau gba gehört, wie bie an* 
beren grauen fie beurteilten, oieHeidjt hätte fie »erfudjt, 
ihr aQgu lebhaftes Temperament ein wenig gu gügeln. 
2lber fie hörte eS nicht, hingegen laufchte fte mit ge* 
fpanntem Df)t ben Sorten VurfljarbtS, ber ihr auSein* 
anberfefjte, ba| ihre ©he non Anfang an nichts getaugt 
habe; biefer Senfdj, biefer Völfert, höbe immer einen 
unangenehmen, fpifjfinbigen ©fjotofter gehabt, hochmütig 
unb ironifcfj. ©r felbft — Vurfharbt — wiffe banon gu 
erzählen. 

©eine ©attin Sarie, bie ©anftmütige, hätte gar gu 
gern gum ©Uten gerebet, aber bie beiben achteten nicht 
auf fie. 

$arl SBurffjarbt war geuer unb glamme. ©r fühlte 
fidh- ©r war gang Verteibiger, gang Vefdjüfcer ber unter* 
brücften grau. Tiefe felbft hotte eS eigentlich noch nie 
fo recht etnpfunben, bah ih* Sann eine ©flanin aus ihr 
machen wolle, aber ber ©djwager, ber baS behauptete, 
mochte wohl recht hoben. 



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74 



<frau 3bas Sd?eibuncj. 



©ie fdjaute unter grünen banfbar ju ihm auf. $DaS 
roar fe^r nett non if)m, fo i^re Partei ju nehmen. §an3 
roar roirflid) unauSfteljlich, unb fte gan§ unb gar im 
Wedjt. 

Sjefct famen bie anberen, um ftd; ju oerabfchieben. 
Surfljarbt brühte, als er ging, bie $anb feiner ©djroä* 
gerin fo teilnafjmSoofl, baff fte biefen ritterlichen §änbe* 
brucf nod) nad) brei £agen fpürte. 



®ie ©heleute oerföhnten fidj übrigens tnieber. greilid) 
nidjt an bemfelben Slbeitb; fie mußten roahrfdjeinlid) nichts 
non jener alten grau, bie fünf Wlänner begraben unb 
mit jebent „roie im Fimmel" gelebt hatte. $iefe alte, 
im (Shelebcrt fo grünblich erfahrene grau pflegte ju be* 
haupten, es liefee fid) mit j e b e m Wfanne leben, ginge 
man nur feine Wad)t unoerföhnt ju Sette. 3>ba unb 
$anS Sölfert h a *ten offenbar feine 2th nun 9 non biefer 
2BeiSf)eit, benn fte toaren fdjon ju öfteren -Walen nicht 
nur unoerföhnt, fonbern heftig ftrcitenb fdjlafeit gegangen. 

Serföfjnung jroifdjen £iebeSleuten pflegt in ber Wegei 
fü& ju fein. Slber roemt oiele £age bagroiföhen liegen, 
wenn man ftd) roirflid) h arte oben beleibigenbe SBorte g e* 
fagt h«t, bann hot bie Serföljnung rneift einen geroiffen 
Setgefdjmacf, 

$)aS junge ©hepoar übertoanb bieSmal erft nach einer 
2öod)e feinen ©roß unb fdjaute ftd) aud) jejst nodh mifj* 
trauifd), beinahe fampfbereit an. 

2)aS hotte einen ganj befonberen ©runb. SiS ju 
ber benftoürbigen ©cburtStagSfeier mar es rneift §anS 
gemefett, ber mit einem ^oferoort fdjltefjlid) ben grieben 
mieberherfteßte. ^Diesmal aber mar er ftörrifdjer als 
fonft. 

Dnfel ©tephan hotte bamals bei ber oerunglücften 
Slbenbgefeßfdjaft nur menig gefprod^en ; aber roaS er ge* 



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Pott 8. €. Kaftner. 



?5 



fagt, mar nicht gut für 3ba gemefen. Gr mochte fte nicht 
recht, benn fte F»atte ihm feinen Neffen unb ©efellfcbafter 
genommen, mit bern er früher pfamnten gefneipt hatte. 
Gr freute ftdj jetst, bafc §anS fo für feine $ummf)eit ge: 
[traft mürbe. Unb fo träufelte er, roenn auch nidf;t in 
böfer 2l6)idjt, bern erzürnten Gljemann ©ift in bie 
Ohren. 

Gr benfe fidj ben SJlann als Grjie^er, erflärte er, baS 
Sßeib müffe gehorchen. Gin Gljemann, bern feine $rau 
roiberfpräclje in ©egenmart anberer, gelte oor ben Seuten 
als lächerlicher ©impel. 

$anS hielt eiet auf feinen Dnfel Stephan. Gin fo 
roeitgereifter unb oielbelefener 9Jlann mufjte bod^ bie 
SSeiber fennen. Unb fo befdjlojt er, feine gnw nun 
enblid) p ergeben. 

9lber er fing es nid^t gut an. Gr falj feine 3ba jefjt 
mit ben 2lugen feines Dnfels. 

GS giebt ciele fDlänner, bie fcljmach genug finb, ihre 
Gljeliebfien immer nach beut Urteil anberer p fdfjähen. 
©efäHt fte benen, berounbert man fte, fofort ift ein folcfjer 
SOlann rieftg oerliebt. $ört er bagegen ein mifjgünftigeS 
2Bort, gefällt bas 38eibdEjen nicht, gleich ummölft fid^ feine 
©tim, gleich fühlt er ftch unbehaglich unb betrachtet fte 
mit fritifdjen SÖIicfen. $anS 23ölfert, ber tro£ feiner 
breiten Schultern, feiner hohen ©eftalt unb feiner fühnen 
©eftdhtspge ein roenig unfelbftänbig mar, lieft fiel» eben* 
falls leicht beeinfluffen. 

93or jroei fahren freilich hotte auch Dnvel Stephan 
bie 2eibettfdf)aft für baS reijettbe s JJiäbd(jen nicht bei ihm 
unterbrüdE ert fönneit. 2(ber jroei 3 a h rc finb eine lange 
3eit, in ber oiel geuer gelöfcljt roirb. Unb fo mürbe 
$anS jefjt ungerecht gegen feine $ r au. £jatte fte etroaS 
in bent £auSl)alt allein beftimmt, gleich big §anS beit 
§errn beS Kaufes heraus. Seftt hörte man ihn bei ben 



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76 <$rau 3&as Sdjetimng. 

geringfügigen 2lnläffen fagcn: „34 will eS fo! — 
22arum gef4ieljt nic^t, was i4 befehle?" 

2US gtöu 3b« merfte, bafc ifyr §anS fxe roirflidj S« 
tgrannifieren anfing, ermatte all iljr $ro§. ©ie toiber- 
fprad; heftig, unb fo sanften fic ft4 faft täglich- .£ianS 
braute jeljt bie Slbenbe oft auswärts gu. fRief er oor 
bem Slbenbeffen bur4 bas Selepljon: „34 fomme erft 
fpäter na4 §aufe," fo eilte 3ba unoergiigIi4 gu ©4roager 
unb ©4roefter unb blieb oft bis fpät in bie 5Ra4t bort. 
5?am fte bann gurücf, fo war fte infolge ber ©ta4elreben 
SurfljarbtS gereifter gegen iljren ©atten als oorfjer. 

2 . 

„3ba," rief §anS am Dfterfonntag frülf, wäfjrenb er 
fi4 gerabe feine Sartbinbe umlegte, „3ba, fornrn mal 
herein!" 

©ie fam aus bem grüfiftücfSgimmer unb ftellte ft4 
unter bie SEfjür, roftg unb frif4 in bem f)übf4en fOiorgen* 
fleib. 

„$omm mal Ijer, 3b4 en ," begann §anS auf iljten 
fragenben SBlid; „nun wollen mir mal Ijeute vernünftig 
fein. $omm fje* unb gieb mir ’nen glufe!"*) 

„$Da bitte mi4 erft wegen geftern abenb um 33er« 
geitjung!" fagte 3ba f4nippif4- »Hub auf beine abf4eu* 
Ii4e Sartbinbc mag i4 bi4 fo wie fo ni4t füffen." 

„fRa, benn ni4t!" brummteer. „$u bift bo4 immer 
biefelbe. 2öiß man mal liebenSwlirbig gegen bi4 fein, 
glei4 Ifaft bu ’ne Siffigfeit. 5Ra4 uur, bafc bu wieber 
IjinauSfommft!" 

3ba funfeite iljn mit ben f4margen Slugen an. 
»Siffigfeiten? ©agft bu f4on wieber, i4 fei biffig? 34 
oerbitte mir baS ein für allemal!" 



*) ©iet;e bas Sitetbilb. 



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Don 8. <2. Kajhter. ?7 

„©o fei eä nicht, bann roerbe ich eS nid^t mehr 
fagen." 

„2tber idE) habe bodj gar nid)t§ gefagt," fchrie 3jba, 
in frönen auSbredfjenb. „$u $8erleumbcr, bu abfdheu'- 
lieber SBerleumber!" 

„$ängft bu nun roieber fo an?" brüllte §an§, jettf 
roütenb roerbenb. „2lber nein — ich miß nicht ftreiten, 
heut am Dfterfonntag miß ich nicht, miß ich nicht, miß 
ich nicht!" 

(Sr hielt ftdh bie Dhren ju unb rannte im Simmer 
umher. 

„$clj h^be nidht angefangen, bu haft angefangen," 
fdhludhjte 3ba. „Unb ßarl fagt, bah bu immer anfängft. 
Unb bafe bu ein ^rafeeler feifi." 

„Unb Dnfel ©tephan fagt," fdjrie ihr §an§ ins ©e= 
ftd^t, „bah bu eine Xanthippe bift, mit ber man nicht 
leben fann. Sebauern thut mich ber Dnfel ©tephan — 
jawohl, bebauern!" 

„Unb ber ßart hat gefagt, bie Seit fäme fdhon auch 
noch, wo bu beine lange 9iafe nicht inehr fo hoch tragen 
fönnteft, unb ich thät’ ihm leib, bah ich mit bir [eben 
mühte." 

„■Ka, ba fannft bu ja ju ihm gehen unb bei ihm 
bleiben, id) habe nichts bagegen." 

„üffierbe ich auch! $eine ©tunbe länger bleibe ich 
hier! D bu fEprann, bu graufamer!" 

„(Sr roirb halb genug an bir haben, roenn er bidj 
erft näher fennt." 

„2Saö? (Sr roirb halb genug an mir haben? 0 bu, 
bu, bu . . . bu Teufel !" 

$ba reefte fidj in bie ^ölje unb oerfe^te ihrem (Slje* 
gemahl mit ber fleinen Sauft e j nen tüdjtigen ißuff in bie 
©eite. SUs er fte etroaä unfanft abroehrte, fchvie fie laut 
auf: „(Sr fctjlägt mich, er hat mich gefchlagen!" 



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78 



^rau 3bas Sdjeibung. 



„©efdjlagen? 3<f> bid^?" 

$ang ladjte unb tackte immer lauter unb immer 
l)öljnifcl)er. Gr fte gefdfitagen?! Gr ein Sgrann?! ©e* 
Jungen! — Unb er lachte nod^ immer, alg mit lautem 
$radj bie ßorribortljür ing ©d&lofc fiel. 

2öag benn? SBar 3>ba etma fortgegangen ? ©oldfje 
®ummljeit! ®ag mar bodj nid>t möglich ! 3)iit einem 
©prung mar er am $enfter unb rijj eg auf. Slidfjtig, 
ba lief fie im 2l6enbmantel, mit ber ©d£)leppe beg neuen 
9Jiorgenrodg ben feuchten SBoben fegenb, ben $ut fcfjief 
auf bem $opf, bie ©trafic hinunter, ^ebenfalls in iljr 
jmeiteg |jeim, j$u 23urfljarbtg. 

§ang mar faffungglog. 9iad^bem er einigemal mie ein 
Siafenber burd) bie gimmcr gelaufen mar, bie if)m auf 
einmal nidjt mefjr fefttäglid) fjell unb gemütlicfj, fonbern 
büfter unb troftlog crfdjienen, fefcte er fid) an ben ©d;reib* 
tifdj. 

„Siebe 3ba!" fdjrieb er. ,,2»d) bitte ®ic^, fei oer* 
niinfiig unb lotnm fofort roieber nad) §aufe. 

5Dein §ang." 

9iad) einigen Minuten übergab er an ber nädfjften 
©trafecnede oen 33rief einem ®ienftmann; bann fefjrte 
er in lein $eitn ju*üd unb martete. 

ÜBergeblidj. $ba lam nidjt. 

Gin paar Stunben Ijairte er. ®ann naljm er feinen 
$ut unb ftürmte, bag §erj\ oofl bitterften ©roKeg, ba= 
non. • — 

Gg mar fpät nadjtg, alg er mieber Ijeimleljrte. $rot}= 
bem Sicljt brannte, ftolperte er bebenflid). 3ßo mar $ba 
unb bie moljluerbiente ©arbinenprebigt? 

Gr oermijjte leineg oon beiben. 

s DJtnna, bag SDleibdjen für aHeg, ftiefj aber am näd)fteit 
borgen, alg fie bie 2l)ür jum Gjjjimmer öffnete, um 
aufjutäumen, einen entfetten ©djrei aug unb fprang er* 



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Don 13. <£. Kaftuer. 



79 



fdjrocfen baoon. SDer §err lag, fyalb auSgegogen, lang 
auSgeftredt auf bem Sofa unb fcljnardjte gräjflidE). 

8 . 

3« ber befjaglidjen SBoljnung in Gljarlottenburg fafj 
man in aller ©emüttidjfeit beim griiljftüd. ©o ein 
Dftermorgen mit bem fein gebedten grüljftüdätifdj, mit 
ben »ielen guten ©adfjen, ba§ mar gang nadj bem ©e= 
fdjmad beS §auäljerrn. SBurltjarbt liebte eS, lange unb 
gut gu tafeln, grau fDlarie Ijatte fdjon in ben glitter-- 
roodjen mit weiblicher .^lugljeit IjerauSgefunben, baf} ber 
2Beg jum $ergen iljreS £errn ©emaljtä burdf) ben ÜJJagen 
fitns- 

•Jiadfjbem ifjrbiefeSrfenntniSaufgcbämmert mar, mürbe 
grau üERarie gang §au3frau, gang Sirtfd&afterin. ©ie 
gab ihre fleinen fDlaloerfudfje auf, ging aber felbft in bie 
2Jlarltljalte, um immer bie jüngften ©emüfe, bie frifdjeften 
gifclje, bie neueften 2)elifateffen eingufaufen. ©ie übte 
nicht mel)r Planier, bedte aber gu jeber 9M)lgeit eigcn-- 
hänbtg ben £ifdf>. 

SSuftte fte hoch nur allgu gut, bafs 5tarlS ©eficht fo* 
fort firahlte, menn ifjm ein blötenmeife gebedtcr, mit 
fiedereien unb Sölumen gefdjmiidter (Sfjtifch entgegen; 
leuchtete. 

©o audj heute am Dfterfonntag. ®anfbar unb gärt-- 
lich hatte ber gcinfdjmeder feine grau gefügt, efje er fidj 
in bem betjaglidjen 2eljnftul)l nicbcrliefj. ©eine Slugen 
funfelten oor 2öonne. 

„Wariedjen, baS fjaft bu mieber großartig gemadjt! 
Frager ©djinfen, felbft gebaden — famoS! Hub ba§ ift 
alfo geftampfter ÜÜlolfa? geineS 2lroma!" 

@r gojj fich ben nacf) arabifcfjer Slrt gubereiteten Kaffee 
ein unb begann ben uon ber Hausfrau felbft gebadeiten 
geftfuchen gu probieren, als plö&lid) bie elef trifche Klingel 



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80 ,frau 3bas Sdjcibung. 

fiürmtfdj ertönte. SDlarie, bie aufgefprungen war, ftiefj 
an ber SE^ür mit ihrer ©chwefier gufammen. 

„Um ©otteS wiflen," fragte fie entfett nach einem S3Iicf 
auf beren oerweinieS ©eftcht, „was ift gefdjehen?" 

„@r §at mich gefdfjlagen," fchlucljgte gba. 

ßarl Surffjarbt roürgte ungeftüm an feinem ©tüd 
buchen ; eS entftanb alfo eine Heine $aufe, elje er fragen 
fonnte: „Söirflich? §at er bir eine regelrechte Ohrfeige 
gegeben?" 

„ga, ben Äantm hat er mir in ben $opf hinein* 
geflogen, " fcljluchjte bie batwngelaufene grau unb taftete 
eifrig jroifdjjen ben welligen fchwarjen .§aarmaffen nach 
ber ©teile, mo eS ihr bodh eigentlidh weh tljun mufjte. 

„5fta, bann haben mir iljn ja enblidj!" rief $arl 
triumphieren^ ben lebten Siffen hinunterfcljludenb. „3:l)ät= 
liehe -Dlifehanblung ift ja ber fdjönfte ©djeibungSgrunb." 

gba betrachtete ihren ©cljmager erftaunt unb mit etwas 
unbehaglichen ©efühlen. 2öar eS ber ©djeibungSgrunb 
ober ÄarlS unäfthetifche 2Irt ju effen, genug, fie wanbte 
ftdh mißmutig ab unb fdfjaute trüben 33lideS jutn genfter 
hinaus. 

©ie feufjte tief. 2Sie, wenn fie hoch lieber reueooE 
umfehrte unb mit §anS grieben fdjlö&e? 

2Iber nur einen Slugenblid hielt bie gute Sfegung 
ftanb. $arl halte recht. 28eIöE)e Hoheit unb Sieblofig- 
feit gehörte bagu, um gegen ein fd)wacheS äöeib bie §anb 
gu erheben! 

2J!it blifcenben Sleuglein, rot oon ber 2lnftrengung, 
in einem 9ltem gut gu frühftiiefen unb gugleich feiner ©nt* 
rüftung £uft ju machen, fprubelte Söurfharbt feine 3ln= 
fcljulbigungen gegen ben »erhalten ©cljwager heroor. SDie 
fleine unterfe^te ©eftalt mit bem anfehnlidfjen 33äucf)Iein 
unb bem brohenb erhobenen 3lrm, bie ba im 3i |nmer 
umherftapfte, machte einen beinahe fomifchen ©inbrutf auf 



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Don 23. <£. Kaftucr. 



81 



gba. Xrofcbetn gingen ifjr jeine äßorte rote §onig ein. 
(Sine foldje grau fo ju befyaitbeln! 




2Ba§ rootfte er benn nodj, ber Unbanfbare? (Sin 
bliiljenbeS, jdjöneö 2Seib mit einem golbenen Wumor unb 
unnerjiegbarcr Weiterleit, Vermögen, gute gamilie — aß 
looi. in. u 



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82 ,frau 3^ as Sdfcibung. 

baS roar 33ölfert mit feiner §eirat in ben ©cfjofj gefallen. 
Unb al§ Danf für fo oiel ©lücf miß^anbelte er biefeS 
^uroel! üBarum tbat er baS? „2Barum? -Jöarum?" 
fcbrie Surf^arbt aufgeregt unb fdjüttelte, als ihm oon 
ben ©cbroeftern, bie bebrücft nebeneinanber auf bem ©ofa 
fajien, feine Slntroort marb, ben bicfen $opf. 

gür iljn roar all baS ein Sfätfel. 5Bic fonnte man 
fo mutwillig ben ftören? Unb am Dfterfonntag! 

33urff)arbt lief es falt über ben Siücfen bei bem ©ebanfen, 
bab er an Wolferts ©teile roäre. 2öaS roürbe ba aus 
feinem ©onntagSbraten, bem prächtigen $uter, ju bem 
SJlarie bie unoergleidjlidje güQung nach einem faiferlidjen 
^offüd^enresept bereiten rooHte? lieber fein runbeS ©e* 
ficht glitt einen -Bloment ein feligeS Säbeln, roie bie ©onne 
manchmal bei ©eroittern burcb 2Bolfen bricht. Dann aber 
feljrtc er gleich roieber ju feinem 2ieblingStl)ema, ju feines 
©djroagerS fdjänblicbem ^Benehmen, juriicf. 

©S hagelte nur fo oon ©d^ulbberoeifen gegen ben 
pflicf)t»ergeffenen ©bemann, fo bafi 3ba, noch ehe eS 
Slbenb geroorben, entfcf;loffen roar, ba if)r fo bitteres 
Unrecht gefdjeben, bem ©atten bieSmal ernftlich Drob ju 
bieten. 

„'Du läfjt bich fdjeiben, ^unftum !" h fl Ue 33urfbarbt 
erflärt. „ Hub bleibft bann bei uns. " 

Die fleine pifante ©cbroägerin gefiel ihm febr. ©chon 
bamalS, als er ftcb oerlobt IjnUe, gefiel fic iljm ganfl 
aufserorbentlid). 2lber geheiratet hatte er boeb bie anbere, 
bie ©title, ©anfte. @r hätte roäfjlen fönnen ; bie ©ebroe^ 
ftern waren noch Beibe frei geroefen, aber ihm b atte eS 
eben ‘SUlarie mit ben fanften Slugen unb ben ruhigen 
fleinen Rauben angetban, unb fo roar $ba feine ©cbroägerin 
geroorben. ©r fj Q Uc feine 28abl nie bereut unb fühlte 
ficb äufeerft sufrieben; aber eine grobe ©pmpatl)ie für 
bie ©cbroägerin roar ihm geblieben. 3&a brachte mit ihrer 



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Do» 23. <£. Kafütcr. 83 

auägelaffenen $röblid)leit ftetä „2eben in bic ©ube", roie 
©urfbarbt &u fageu pflegte. 

Sa, gan& unpermutct, Ijntte fic^ Soltor ©ölfert, ein 
©tjmnaftallebrer, um ba§ junge fDläbdjen beroorben, unb 
ohne ifjn, ©urlbarbt, audj nur ftu fragen, oerlobten firf) 
bie beiben. Sie alte Sante, bei roeldjer bie t>ertoaiften 
©djroeftern gelebt Ratten, mar gaitn einoerftanben mit ber 
„feinen ©artie". Ser ©dfjnjager fühlte fiel) übergangen, 
»erlebt. Sa*u !am noch, baff ©urfbarbt ftdj einbilbete, 
bie neuen ©erroanbten, ©ölfert unb Dnfel ©tepban, 
batten ein ^od;miitirteS, unnahbare^ 5Befen gegen ben 
Kaufmann, ben nidjt afabcinifd) ©ebilbeten. Sem mar 
aber fidjer nid)t fo. 2öenigftens lag ber ©runb i^rer etroa§ 
refermerten Haltung anber^roo. ©urfljarbts ©enebmen 
mar ju feiten, befonberS menn er ein ©laä Sßein ju »iel 
getrunfen batte, ein menig plebejifdj. 

2ll§ §anS unb 3ba §odbjcit madjten, fjnttc fidj bie3 
unliebfam gezeigt, ©urfbarbt, benebelt roie er mar, Ijatte 
ber jungen $ r£ w einige nidjt tnif?suücrftcfjenbe, fdjer.djaft 
fein foHenbe, aber ^öcfjft unfeine 2lnbcutungen gemad)t 
unb roar bafiir, jroar unauffällig unb leife, aber feljr 
energifdj, oon Soltor ©ölfert juiredjtgeroiefen roorben. 
Saä batte er biefem nie pcrjieben. (Sr feljntc ficb nadj 
einer Gelegenheit, il)m bieö Ijeimjusableu. 

Unb nun mar 3ba biev unb foUte l)ier bleiben; ba§ 
gelobte er fidj. 

4. 

©lit einem (Sifcr, ber einer befferen Sadje mert ge- 
roefen märe, betrieb ©urfljarbt in ber erften ^rcube bie 
Trennung ber ©ölfertfdjen (Slje. ©djoit einigemal mar 
er beäljölb bei feinem ©edjtöanroalt gemefen, ber ben in 
©efebäftsfadjen fonft fo praftifdjen Klienten mit einiger 
©errounberung anf)örte. Sa6 roar ja eine ganj feltfame 
Sölarotte, burdjauä bie erft jmeijabrige Gfjc einer ©er» 



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84 



^rait gbas Scfjcibitng. 



roanbten auflöfen p moßen, bie @be mit einem (Satten, 
ber i()m als ein liebenSroiirbiger, feiner föiann befannt 
mar. 21 ßp eilig betrieb ber $err SlecbtSanmalt bie ©ad[je 
nidjt. 23efonberS nid^t, als grau gba ficb roeigerte, bei 
iljm p erfebeinen. 

2lnfangS batte fich gba ganji gut in ber Stoße ber 
„mijjbanbelten" grau gefallen; bie SBerroanbten maren fo 
teilneljmenb, unb $anS oerbiente ©träfe. fftoeb einmal 
batte er gefebrieben. SBurfffarbt tjatte ben 23ricf mie ben 
erften ungeöffnet prüdfgeben laffen. 

9lun maren aber fdjon fünf SBocben feit Dftern ner* 
gangen, gba langmeilte ficb, fie füllte ficb neroöS unb 
abgefpannt. gb re§ <5d;roagerS lautes ©preßen, fein 
baftigeS (Sffen ftörten fie jetjt oft. ©ie fagte iE>m bieS 
gerabcp, nabtn überhaupt fein 23Iatt oor ben SJtunb. 
2lucb fant fie je^t oft ntürrifcb unb unfreunblidb p £ifcb, 
manchmal moljl auch gar nicht, manchmal p fpät. ®aS 
liebte ber fjausberr nicht. 2lnfangS febmieg er. 2US aber 
auch feine fonft fo pünftlicbe grau, roenn fie mit ihrer 
©dhmefter fpapren ging ober Söeforgungen machte, p 
fpät nach §aufe fam, ba mürbe er ärgerlich. 

Ueberfjaupt, S3urfharbt hatte fidh baS gemeinfantc 
fammenleben anberS oorgefteßt: heiter, fröhlich, ©tatt 
beffen gab eS finfterc (Seftdhter, bört e er abfällige 33e* 
merfungen. ©agte er feiner grau jefjt einen leifen f£abel, 
prompt ermiberte ftc: „2>u bift auch nicht anberS mie 
Sölfert!" Dbcr: „®u fagft hoch p gba, fie braudhe 
ftch nichts non ihrem fDlann gefaßen ju laffen. Söarutn 
foß ich es benn?" 

SDen StechtSanmalt fuchte 33urff;arbt nun nicht mehr 
auf. 6r hatte eS plötzlich gar nicht mehr eilig mit ber 
©djeibung. hingegen ging er häufig abenbS aßein in 
bie ©tammfneipe. 

23ci Sifdje mar eS gar nicht mehr gemütlich. ©S 



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Do» 23. <E. Kaftucr. S5 

roar il)in unbel)aglid), roenn er ein roenig laut feine Suppe 
fdjlüiftc ober mit bem 9Jieffer aji, unb es traf il)n ein 
halb erflaunter,' Ijalb ftrafenber ©lid aus ben großen 
fdfroarnen ütugen feiner Sdjroägerin. 

©racbte baS fDiäbdjen ©riefe in baS Siwwcr, f° f«gtc 
3>ba unfehlbar: „$ür midj nichts? Natürlich, »nenn man 
©riefe ungelefen fluuidfdjidt, oI)ne midj aud) nur flu 
fragen!" Söieber traf bann ben §auSf)errn ein ©lid, 
bieSmal ein oeriidjtlicher, oorrourfSuoller. 

GS mar eine fd)roadje Seite ©urfl)arbtS, baf, er früh 
morgens als erfter bie Rettung öffnete. Seit einiger 3«* 
aber befam er fie nur ftüdroeife aus $baS 3i ,nmev ' 
manchmal fanb er fie audj gar nic^t mehr. „3um föonner* 
roetter," fluchte er bann, „roer ift benn bi« §etr im 
£aufe?" 2lber Qba gegenüber mäßigte er fich nod). 

3ba begann allmählich feljr Iaunifdj unb unbered)en= 
bar au roerben. (Sineä Nachmittags in ber fDcimmerftunbe 
fafjen bie beiben Sdjroeftern in bem beljaglidjen 2öoljn = 
jimmer beifammen, mieber roie je|t fo oft in ein feljr 
aufgeregtes ©efprädj oertieft, Nlarie oerfdjroanb beinahe 
in bem großen £el)nftul)I, ben fie fid) möglidjft nabe an 
ben Dfen gerüdt ^atte ; es fröftelte fie tro§ ber grübjabrS* 
fonne, unb fie füllte fid) mübc unb äufjerft unbebaglid). 
3bre gönne Haltung briicfte bie angegriffene Stimmung 
aus, in bie ber NJenfch oerfäHt, roenn feine gäl)igfeit bcS 
3uf)örenS unb SJlitempfinbenS etroaS lange unb peinlich 
in Slnfprudj genommen morben ift. 

fDlit bem @efid)t nach unten lag nufammengefauert $ba 
auf einer bic^t baneben ftebenben (Sljaifelongue, tute ein 
bilflofeS ©ünbel. 3h r Safdjentuch, baS nur nod) ein 

naffer Knäuel roar, lag am ©oben, unb Tie roifdjte fid) 

jetjt bie 2lugen mit ber feibenen Schleife beS SofafiffenS, 
in baS fie ihr ©efid)t oergraben ^atte. Gin lautes 

Stöhnen erfdjütterte oon 3eit n u 3 e ^ ifj« ©eftalt. Sie 



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80 



t fran Sdjcibnmj 



bot tuirf lidj ein 23ilb roilbcn ^ammerö ; Ijeute »raren es 
jmei Sjaljre, bafj fie geheiratet l;atte. 

„9Jiein £ochieit3tag i" roieberljolte fie immer mieber. 
„3)?ein jmeiter .fjodjäeitStag!" 

ÜDlarie mujjte nidjts mehr ju fagen als: „5öeine bodj 
nidjt fo, gba; es fann ja alles nodj anberS merben!" 
Sie Ijatte fid^ fc^on noüftänbig erfdjöpft. 2Ille iljre ge* 
ringe SBeltmeiSljeit Ijatie fte bereite jum beften gegeben, 
um bie ©cfjmefter ju tröften. 

,.5lnberS rcerben?" rief biefe. „$8aS fotl benn anberS 
merben? Vorbei ift’S für immer!" 

3n ungeljeuerftetn ÜDiitleib mit ftc§ felbft unb i(jrem 
Unglüd marf fie fidj aufs neue auf bie Gfjuifelongue, 
unb baS frifdje STafchentud) war halb mieber burdjnäfjt 
oon einer unaufljaltfamen ä^ränenflut. 

®ie ©chraefter richtete fidj mit einem ©eufjer auf, 
magte aber nidjts metjr §u fagen. 3)ian niufjte fte fich 
ausmeinen laffen, ba beruhigte fie fidj am elften. — 

SlbenbS um STd^t tarn ber (Datte unb ©djmager nach 
.fjaufe. @r mar fdjledjtcr Saune. 2lnt 9?adjmittag Ijatte 
er im ©efdjäft einen Srief oon !gbaS SiedjtSnnmalt er= 
halten. ©ans furj unb biinbig lautete er: bantit bie 
©djeibungofadje beS ßljepaareö Sölfert uovmärts gelje, 
oadange er morgen eine 23efpredjung mit grau Möllert, 
©ie möge piinftlidj oormittagS elf Uhr auf feinem Sureau 
erfdjeinen. 

SDamit eS oormärtS gehe! ®aS ging bem §errn 
©djmager nidjt aus bem ^opf. 2BaS füllte baS fjeijjen? 
©afj fie binnen furjent gefdjieben mar unb bann enb* 
gültig . . . 9?a, ba Ijatte er fidj mirllid) eine nette ©uppe 
eingebrodt. s Jlun beljielt er fie am Gilbe lebenslänglich 
auf bem $alje! 

©o oermitrt mie Ijeutc Ijaticn bie Slngeftellten ihren 
(Sljef nodj nie gefeljen. SJiadjbenflidj unb unruljig im 



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V 




€in lautes Stöhnen erschütterte von Zelt zu Ztit ihre Gestalt. ($. $5) 



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SS ^ran 3bas Sdjcibniig. 

fjödjften Grab fam er nad; $aufe. gm Sforribor brannte 
fein Sidjt. SilgneS, baS 3Jläb<^en, erroiberte auf feine $8or= 
miirfe, bie kanten brinnen feien aud; nod; im ginfterit. 
(Sr trat ein — richtig, ftodbunfel! 

„3a, maS ift benn loS?" fragte er in baS $unfel 
hinein, worauf SDJarie mit erfdjöpfter ©timtne Ieife unb 
uornuirfSooll flüfterte: „3ba meint ben ganzen £ag, es 
ift ja ^eute il;r ^weiter §od)jieitStag." 

Surfljarbt oerftummte einen 2lugenblid oerbu^t. „9?a, 
jum $onncrwetter," fdjrie er bann grob, „barum fann 
bodj üidjt in meiner 2Bol)nung ange^ünbet rcevben, menn 
idj [jeimfomme! 22aS l;at benn ber ^od^eitStag mit 
meiner 53el)aglidjfeit ju tljun? üJiarfd), 2fgneS, bie Sainpen 
angeftedt!" 

(Sr ftür^te in baS (Stimmer nebenan. 2(uc§ fjier alles 
bunfel. 2llS baS ©aS aufflammte, ftiejj er einen ©djredenS; 
ruf aus. ®a mar ja nod) nicfit einmal gebedt! 5tein 2lbenb= 
brot Ijergeridjtct! Unb ifjm fiel beinahe ber Klagen IjerauS! 

(Sr wollte eben, faft fpradjloS nor (Stnpörung, in baS 
SBotjajimmer jurüd, als il;m bie beiben grauen entgegen* 
traten, beibe mit blaffen, müben ©efidjterit. 

(Sr fdjalt feine grau Ijeftig aus. gn folgen Gingen 
oerftanb er feinen ©pafj. ©ie flog infolgebeffen mie ein 
grrmifd) tjin unb f;er, nom 33üffett in bie ©peifefammer 
unb oon ba in bie itüdje, mo fic^ leiber feine grofsen 
Vorräte me^r oorfanben. SlgneS muffte erft um Sluffdjnitt 
roeggefdiidt merben, unb als nun enblicf) biefer unb brei 
nod; ungepu^te Söüdlinge auf bein 2ifdj ftanben, ner* 
finfterte fid) beS §auSljerru ©efidjt immer meljr. 2)aS 
liebte er gerabe — foldje falten 23roden! 

„äöarum fjaft bu benn nidjt für marmeS Slbenbbrot 
geforgt?" fragte er feine grau. 

„2ldj ©ott, ßarl, idj muffte gba tröften. 25u fjörft 
bodj, ’S ift it;r §ocl^eitStag." 



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Don 33. <£. Kaftucr. 



89 



SBäljrenb et mifjmutig laute, flaute er prüfenb halb 
feine grau, halb feine Schwägerin an. $5ie eine fdjlief 
beinahe ein, bie anbere geulte. 3a, fie geulte; bie 
Sfyränen liefen iljr auf ben verfallenen ©djinfen herunter. 

„5?a, 3*> a / fagte cr flereist, „madj mal ein freund 
lidjeS ©efidjt!" 

„$aS ift meine Sache!" fam bie biffige Antwort. 

„3dj fei)’ aber gern luftige ©efidjter, roenn ich effe. 
grüljer Ijaft bu bodj lachen lönnen. Ober war bas blofe 
SJerfteUung, baS gan^e ©etljue? £i<h lernt man woljl 
auch erft nach unb nach fennen." 

3ba fdjwieg, ftarr vor Empörung. 2ßaS erlaubte ftdj 
biefer SDfcnfcb jctjt auf einmal? (Sr butte ifjr bodj früher 
nur Iwdjacfjtung unb ©alanterie gejeigt. 2llleS, was fie 
tljat, Ijatte er red)t unb gut gefunben. ^unbertmal batte 
er fie ein 3uwel genannt. Slber nun, feit fie I;ier wobnte, 
fanb er immer etwas an it;r &u nergeln. 2Uar eS, weil 
fie vielleicht halb eine geriebene grau würbe, unb ibr 
£anS, ben er fürchtete, fie nicht mehr befchüfjte? 

Sie fdjauerte jufammen in b e 'B em Sdjred. Scheu 
ftreifte fie mit ben 2lugen ben Schwager, bie Sdjwefter, 
bie beibe fcbweigenb unb fi^tlidj mijjgeftimmt in iljren 
Kellern berumftodjerten. füllte fie bleiben als eine 

©ebulbete, wäbrenb fie in ihrem fcfjönen §eim bie Herrin 
war! 

„®a ift etwas, baS bicb intereffieren wirb," fagte 
Söurlbarbt fd^on jum jmeitenmal unb fcbob ifjr einen 
Sörief über ben £ifdj ju. 

2$on §anS, fdjofj eS 3&a burd& ben $opf. Slber fdjon 
erfannte fie iljren 3 r *tum. 23om 9ledjtSamvalt — „bamit 
bie ©djeibung fdjneüer vorwärts gelje". 

3brem Schwager einen finfteren 23lid ^uwerfenb, rief 
fie unwillig: „9ta, nun baft bu es ja erreidjt, nun bift 
bu woljl frolj!" 



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1 



90 ^rau 3t>as Sd?eibun<j. 

„SBiefo froh?" 

„29eil bu boc^ ftu biefetn 3mecf immer gebest ^aft. 
•Jfun ift meine @I;e glücflidb futfcl)." 

„3«, baS ift and} roirfUdj roafjr, bu ^aft gefjefct," 
ftimmte SSJZarie lebhaft ntt. 

„216er wenn es fo rccit fommt — ^ier bei eudb bleibe 
ich natiirlid; nicht, ihr braucht feine 2Ingft ju ^aben," 
fuhr gba fort. 

Surftjarbt flaute intereffiert auf. „Sßatum nicht?" 

„SGBeil gerabe fjier, mo id) fo tljöridfjt irar — " 

„Unb bann fann fie bid) nicht effen hören," ladjte 
fSJiaric. 

„UebrigenS," fagte gba fcbarf unb ftanb auf, „jum 
StedjtSanroalt gebe ich morgen allein. $idb gebt bie ganje 
Sadbe ja gar nichts an. freilich, breingemifcbt ^aft bu 
bid) genug. 5lber fdjliejflicb — " 

„9?a, roenn bu immer fommft unb rcie ’ne $oße über 
bcinen SOiann fchimpfft!" 

„Soßteft baS nicht eljer bu beforgt höben?" ermiberte 
3>ba fühl, nahm iljte Sdjroefter bei ber §anb unb flog 
fie pr £büt. 

„fDlarie, bu bleibft l)i er !" lief ber Gljemann. 2lber 
•äJJarie gef;ord;te bieSmal nicht. Sie murmelte etroaS unb 
lieg ihn, ^um erftenmal ungefjorfam, aßein fifjen. 

SJurfbarbt fdblug mit ber gauft auf ben Xifdt). 2)iefe 
gba! ®iefe auffdffige fßerfon! Unb feine grau ^atte 
ficb aud; fchon baoon anftecfen laffen. So tnaS non 
Saunenbaftigfeit ! £a mar nichts mehr non ber heiteren 
gröl)lid)feit unb bent luftigen Sadjen früherer geiten. 
•äJlit bem f5 am iti en ä u road^ä batte er mirflicb eine nette 
Suppe eingebrodt. 

(5r blieb noch ein SBeilchen einfam unb großenb in 
bem leeren (Sjjjimmer fitjen, bie Stirn in nacfjbenflic^e 
galten gesogen. ff]lö^lich aber nerflärte fid) fein runbeS, 



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bicfeä ©efidjt. (Sin ©ebanle war ihm geloinmen, ein au§= 
gejeid;neter ©ebanfe. 

5Dian brauste, wenn man fdfflau war, nicht «He Suppen 
augjueffen, bie man ftd; eingebrodt hatte. 2Bie eleftrifiert 
fprang er auf, eilte in fein gitnmer, fe^te fid^ an ben 
Schreibtifd; unb fchrieb: 

„$errn $>oftor Sßölfert. 

(Srfud;e Sie, morgen 2>ien§tag ißunft elf Uf)r im 
33ureau bes 9led)t3anroalt3 fDlüßer in mistiger Sadje ju 
er feinen." 

„So, Sbadjen," fcbmun^elte er, wäl;renb er bie Üepefdje, 
welche fofort auf baä iEelegraphenamt foHte, in feine 
S3rieftafdje legte. „So, ^badjen, nun marft bu fed;ä 
Söodjen bei u n ä , nun fann bid; bein 9J?ann wieber 
haben unb für immer befjalten." 

®ann nal;m er feinen §ut unb ging eilenbä fort. 

(Einige föiinuten oor elf tlljr trat ißölfert in baä 
23ureau be3 9led;t3anmaltä fDtüller. (Sr fal) bleid; unb 
finfter aus. 5Daö Ungel;euerlid;e fdjien nlfo wirflid; wal;r 
^u werben. 2Ba§ er all bie SBodjen nidjt faffen fonnte, 

nidjt für möglid) hielt i^ba, oon welcher er fid; 

trotj allem, trofj aller Streitfud;t unb Saunenljaftigfeit 
geliebt geglaubt hatte, beftanb auf ber Sdieibung. ©enn 
wop fonft biefe Unterrebung mit bem 9techt3anwalt? 
©ewif; wollte ber 9ted;tSoerbreljer il;n befd;wat 5 en, bafi 
er fid; alä ben fd;ulbigen ©eit belenne. 3hm uiar’S gleidj. 
Sieber bie fd;meralid;fte ©ewifjljeit, alä nod; langer bie 
^fein ber letzten Sßochen. 

9Jlit froftigem ©ruf? trat er ein, nachbem er feine 
Sifitenfarte oorauägefd;idt. ©er Anwalt erhob fid) er* 
ftaunt, grüfjte unb fal; il;n fragenb an. 

„2Ba§ führt Sie ju mir?" 

„3d; foinine auf 3h*e ©epefdje." 



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92 ,fra» 3bas Scfjcibung. 

„Das ift ein Irrtum, gdj Ija&e nicht an ©ie tc!c= 
grapljiert." 

„§ier ift fie." 

ÜJiüder las, unb ber ,3 u f tt m m e n h ön 9 fdjien i&m Har. 
Die ©attin l^atte ftd) anberS befonnen unb mit biefer 
Depefdje ben ©emahl ^ercitiert. Sin fchlaueS unb »er= 
nünftigcS Söeibchen. 

Gr 50 g bie Uf»r. Sloch fteben Minuten $eit, um ben 
Gfjemann aufaullären. Ctjne Umfcfjroeife madjte er iljn 
mit ber Sachlage befannt unb riet ihm, feine Aufregung 
ju betneiftern, fid) möglidjft referuiert »erhalten unb 
bie ©adje an fid; ^eranfommen 3 U (affen. — 

GtmaS »erfpätet fuFir ^ba in einer Drofdjfe ^um 
StedjtSanroalt. ©ie fah »ermeint, aber entfdjloffen aus. 
Die Begleitung beS ©djmagerS (jatte fie fd^roff abgelehnt. 
9iid)t länger rooKte fie fid) gängeln (affen. 28aS mar 
babei fjerauSgefommen? Die ©djeibung. 2luS nid^tö, auS 
einem SSortmedjfel mit ihrem lieben, guten $anS. SKIer« 
bingS, unfdjulbig füllte fie fid) nicht meljr; fdjon feit 
Dagen litt fie an heftigen ©eroiffenSbiffen. 2lnbere grauen 
maren bod) mof)l nidjt fo roie fie. 

2Bie lieb unb fanft fprad) ’ÜJiarie mit ihrem SJIann! 
2 £ie aufmertfam, ja gerabeju aufopfernb forgte fie für 
fein Belagen unb iiberfah all bie ©dimädjen, bie er hatte! 
Unb baS mar noch ein unangenehmer, anfprudjSüoUer 
ÜJiann. Dagegen mar iljr $anS baS reine Igbeal. Gr 
mailte nidjtä non il)r als ein roenig ©anftmut, ein menig 
3iad)giebigfeit. £mtte er nidjt red)t, menn er »erlangte, 
bah ihn beim §eimfommen »on feinem ferneren Beruf 
ein lädjelnbeS ©eficht, ein freunblidjeS 2i>ort begrüben 
foüte? Söic hatte fie immer barauf gepodjt, bah bie grau 
biefelben Siechte haben müffe mie ber fDlann! ©ie aber 
hatte bie ihren mibbraudjt, mar ted)tl)aberifd) unb ftreit= 
füdjtig gercefen. 



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93 



Ton V>. <£. Kajtncr. 



gel 3 t faf) fie e3 ein, aber nun nmr eS oiellei^t su 
fpät. glj* ©atte beftanb jefct auf ber ©Reibung, roar 
too[)I im ©runbe feines §erj\enS frolj, fie los j\u roerben. 




2l(S grau $ba uor bein $aufe ausftieg, ucrfcljlucftc 
fie tapfer iljre Sljränen unb eilte hinauf. $cr fierr 
SDoftov crroartc fte bereits, berichtete ber 23ureauüor s 



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94 V fvau gbas Sdjeibiiitg. 

fieser, ber fie hineingeleitete. 2tdj, roie feierlich mar bie 3 
aüeä unb roie ernftOaft ! (Sine fold^e 2 lngft überfiel fie 
plöfclid), baff fie gitterte. 

fDoftor ÜJlüDfer fajj an feinem Sdjreibtifdj, als fte ein= 
trat. (Sine peinliche Vaufe trat ein. 

„Weljmen Sie ^la^, gniibige grau!" fagte et enblid), 
roäljrcnb er unentwegt rocitcrfdjricb. 

grau gba fal) fidf; geljorfam nadj einem Si£ um 
unb — 

„§anS!" rief fie mit erftiefter Stimme. 

ga, raaljrljaftig, ba ftanb ifjr ©ntte, bodjnufgcvid)tet, 
ftols, crnftljaft. (Sr verbeugte ftd) fdjrocigenb unb Ijöflid;, 
ganj, als rocirc fie eine greittbe. 

Sie roarf il)in einen fdjeuen, bittenben ©lief ju, ben 
er nicht fal). (Sr ftubierte baS ütapetenmufter. 

lieber trat eine peinlidje ^aufc ein. ®er WedjtS* 
anmalt fcfjrieb nod) immer. §atte er benn gar leine 
gbee banon, roie iljr au Wüte mar, baff fie beinahe er= 
ftidte oor Verlegenheit unb ^jerjllopfen? 

Wun enblid) roanbte er fiel) um. (Sin fdjnellcr Vlid 
flroifdjen il)m unb Völfert. fDann nahm er ein bideS 
Valet Slften in bie .§anb, puüte erft fein ^incenes in 
ber umftänblidjften Sßeife unb begann: „©niibige grau, 
ich Ijrtbe Sie ju mir gebeten, baniit Sie Oier in ©cgeiv 
roart ghreS ©atten Kar unb bcutlid) gljtcn beftimmten 
SBiflen funbtljun, fid) non bem gljnen oerljajjten Wanne 
fdjeiben 311 laffen. (Sr hat Sie alfo miffhanbelt?" 

„0 nein, baS nicht," fdjludjätc gba. 

„Wicht?" ÜDer WedjtSanroalt 30g feine Augenbrauen 
hod) unb mufterte fie erftaunt. „Wun, jebcnfallö moHen 
Sic fid) fdjeiben laffen. $aju müffen Sie bod) einen 
^ureidjenben ©runb hoben. Vitte alfo, biefen ju nennen. 
— Sie ro ollen fid) bod) feheiben laffen?" 

„Wein!" 



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Doit 2?. <£. Kaftncr. 95 

„•Kein? 2lber gnäbige grau, id) mufs hoch bitten, 
mid) Ijier nidjt beften flu galten. g()r $err ©emabl 
märtet »oll Ungebulb, ba& er roieber geben fann; unb 
ba er bie ©egenpartei ift, habe id) fein 9ied)t, ifjn nod) 
länger auf^ufjalten. " 

„2lber id) . . . ich" — grau gba jd)lud)Ste fdjmerslidj 
auf — „ich id i 1 1 hoch gar nidjt . . . o $an§ !" Sie Ijob 
beibe §änbc flefjenb gu ü)m auf. „fBcrjeif) mir bod)!" 

fBölfert, bcr nod) immer, als gebe il)n bie gan^e ©c- 
fdjidjte nichts an, bie SBänbc inufterte, liefe feine 2lugcn 
jerftreut auf iljr haften. 

„2öie? 3Baä fagteft bu?" 

„^erjeibe mir!" flüfterte fie fd)üd)tern. 

„2Barum foH ich bir Beleihen?" 

„2lch $anS, bu tneifet eS ja! 2lber ^?arl ift gan^ 
allein fcbulb. Ter mollte burdjauS, baff id) mid) fcbeibcn 
laffe," fd)ludj&te grau gba. 

®abei manfte fie fo, baf} er auS purem SKitleib bie 
2lrme um fie fcblnng. 

„§ätteft bu mir bie $epefchc nidjt gefdjidt, mürbe id) 
bir nicht Beleihen," flüfterte er ifer enblid) inS Dl)r. 
„9Beld)e 2>cpefdje?" 

„2lcb, ftell bid) nur niefet fo! 2)u rceifet fdjoit, 
rcelcbe!" Unb babei füfetc er fie. 

2llS baS ©cheibungSBerfabren fo meit gcbieljen mar, 
legte ber SDoftor bie 2lften beifeite, gn feinem ernfteit 
©efidjt pdte eS Bon Behaltenem 2ad;en. 

$iefer fßrojef) mar enbgültig oerlorcn. 

©S flopfte. $5er 33ureauoorftel)er glitt herein: ber 
£>crr ®oftor möge entfdjulbigen, aber cs fei ein ©ilbrief. 
$er fRecbtSanmalt öffnete unb lad: 

„©ehr geehrter $err £oftor! 
geh erftäre hiermit, baj$ ©ie auf mid) als gcugeti 
nicht rechnen fönnen. gd) nehme alles jurüd, ich b^e 



s ' 

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,f rau gbas Sdjeibimg. 



96 

mid) geirrt. 9Jlein ©djroager füll fid) mit feiner grau 
nur miebev »erföfjnen. 33ei ifjtn ift fie gut aufgehoben 
unb roof)I nerforgt. $ie $epefdje ift übrigens oon mir, 
unb id} Fjoffe, baft fie ihren gmed erfüllt. @r foU iljr 
allerbingS eine Ohrfeige gegeben Ijaben, aber roenn meine 
grau es mir f o madjte, ich gäbe if>r auch eine. 

§od)ad^tungS»oH 

$ a r l 93urlbarbt." 

EEoftor SÖIüUer unterbrüdte mit 9Jiül;e ein lautes 
Sadjen, als er ÜBöHert ben SBrief jum Sefen gab. ®iefer 
lieft il;n in feiner §Brufttafd;e oerfeftroinben. 2US er fich 
non bem Slnrcalt nerabfehiebete, ber ihm oerftänbnisinnig 
bic fpanb brüdte, lächelte er, aber in feinen Slugen bliftte 
ctroas auf, baS für bic Heine ftreitfüdjtige grau gba he- 
bcutungSuoK erfdjien. 

Slber fie mürben nach biefer ©türm* unb EDrangperiobe 
bennod) ein glüdlidjeS (Sfjcpaar. ©ie lernte Ufr fdjarfcS 
Jünglein bcherrfdjen, er, ftreng unb gütig zugleich j*u 
fein. $arl ©urffjarbt aber rieb fid) jeben -Düttag unb 
ülbenb »ergnügt bie §änbc. ®ie ©djroägerin, bie ihn 
nidjt effen hören fonnte, mar er toS, unb nie mieber in 
feinem 2eben gab er bem ©djroager unrecht. 




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die der fllenscb geflickt wird. 

Kulturbild aus der Gegenwart. Uon Raus Scbarwerker. 

? 

mit t Illustrationen. (Dadxlruck verboten.) 

D ie Kunft be§ fylicfcrtS unferer Körperfüllen ift jo alt 
wie baä 9!Jlenfd)engcfd)Iedjt. Db @oa fdjon geflidt 
fat, wirb jwar nidjt ausbrüeflid) berietet, aber e§ ift an» 
juneljmen, ba baö wenig faltbare fDlaterial ber erften 
„KleibungSftücfe" jebenfallä eine fäufige 2lu3befferung nötig 
madjte. dagegen ift gan§ ftefer, bab bie treue fßenclope, 
bie ©emaflin be§ eblen ®ulbcr§ Dbi)ffcu3, nieft nur 
fpann unb webte, fonbern audj ffirfte, unb unfere Urafnen, 
bie non Jacituö wegen ifjrer 2Birtfcfaftlid)feit gelobten 
germanifdjen grauen, tfaten beögleidjen. Unb wie mufften 
wir fodjjioilifierten Kinber beä 20. Sjafrfunbertö fclbft 
feute nodj ferumlaufen ofne bie gefdjicften §änbc ber 
fleißigen fjücferin unb beä efrfainen glidfd) ufterS ! 
fefaubert einem, nur baran j\u benfen. 

§at man alfo ba§ ^liefen beö äufferen SJlenfcfen, ber 
Kleibung, non jefer mit (Sifer geübt, fo ift bie Kunft, 
ben 3Kenfdfen felbft gu fUcfen, oerfältniSmäbig jungen 
Satumä. 2lu3 bem ädtertum wirb unä nur ein gad be- 
rietet. fßliniuS ber jüngere, bet im 1. ^afrfunbert 
nadj Gfrifto lebte, erjäflt non einem römifefen SRttter, 

1901. III. 7 



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98 n?ic ber ITtcnfctj geflitft rotrb. 

ber fid) eine §anb aus (Sifen machen liefr, aber nicht ein* 
mal ber Stelgfufj fdjeint befannt gemefen gu fein. -Jiidjt 
anberS ftanb eS in biefer Segieljung im ÜDlittelaltcr. @S 
lag and; banialS leine bringenbe fJlotroenbigfeit gur ©nt* 
roicfelung einer $unft ber 9Jlenjd)cnflicfcrei oor, beim in 
ben bamnligen Kriegen mad)te man grünblidjc Slrbeit 
mit Speer, $eule unb Sdjmert, unb Seute, benen ein 
©lieb abgetanen mürbe, oerbluteten fid) bei bem SRangel 
an red)tgeitiger §üfe faft ausnahmslos auf bem Sdjladjt= 
felbe. Son plafccnben Sampffcffeln, gufammenftofsenben 
Gifenbafjngügen unb ähnlichen mobernen Sorridjtungen 
gur Serftümmelung ber 9Jlenfdjen hatte man irid)t bie 
leifefte 3lljnung. f$ür fünftlidje ©lieber mar alfo fein 
bcfonberS großer Sebarf ba. 9?ur feljr menige Scifpiele 
eineö äufserft primitinen ©liebererfatjeS merben beridjtet, 
non benen baS befanntefte bie eiferne §anb beS SlitterS 
©öfj o. Serlidjingen ift, beffen Sieben unb SBirfen in bie 
erfte Hälfte beS 16. SafjrhunbertS faßt. 93on ba an aber 
mudjfen mit ber Serbefferung ber Sdjiefjroaffen bie 33er* 
fiümmelungen im Kriege, mit ber ©rfinbung ber fDlafdjinen 
bie im Trieben immer mehr, unb gugleid) entmidelte fid) 
bie ßunft ber fDtenfchenflicferei in einem ftaunenSroerten 
©rabe. 

©egenrcärtig ift baS rohe ^olgbein ober ber leberne 
Sotberarnt mit einem §afen ftatt ber .ffanb, biefe erften 
Serfudje auf bem neuen ©ebiete, nur nodj bei ben aßer= 
ärmften ^noaliben gu finben; bem ^Bemittelten bagegen 
roirb ein fo funftooßer ©rfafc für nerlorene ©liebmafjen 
geliefert, bafi man ben Söerluft ber natürlichen ©lieber 
gar nicht ober hoch faum bemerft. Unb nicht nur Slrme, 
Seine ober §änbe, nein, aud) 2lugen unb 9?afen merben 
bem UngHidlidjen, ber fie oerloren hat, mit foldjer 5Zatur* 
treue nachgemacht unb mit folcher ©efdjidlichfeit befeftigt, 
bah nur ber Äunbige ohne nähere Unterfuchung gewähr 



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Ton r ? ans Sdjarmcrfcr. 






mirb, fiatt einc§ gan» 
zen einen geflidten 
SWcnfdjcn oor fid; ju 
Oabcn. 

Sie Anfertigung 
fiin ft lieber ©liebma» 
ßen unb Körperteile 
ift eben ein bebcuten^ 
her 3nb»ftriejnieig ge= 
ivorbeti, mit bem mir 
uns jeßt etmaS näljer 
beschäftigen moITcn. 

Am midjtigften ift 
natürlid) ber 6rfa$ 
ocrlorcn gegangener 
Arme ober Seine, 
benn fjier ßanbelt eS 
fid; nidjt nur barum, 
einen ©djönljeitsfel)* 

(er 311 oerbeden, fon» 
bern baS fünftlidjc 
©lieb fofl aud) bie 
pßpfiologifdjen $unf» 
tionen beS mirflidjcn 
in bofjerem ober ge» 
ringerem ©rabe aus» 
üben. ®ie feberne 
Unterarmfjülfe, bie 
am ©tumpf beS Ober» 
armes befeftigt mürbe 
unb ftatt ber $anb 
nur einen §afen befaß, mie ftc als Armcrfafc nodj oor nidjt 
langer 3^it iiblid) mar, ift als oöllig unzeitgemäß unb wer» 
altet ju betradjtcn. heutzutage fall ein fünftlid;eS ©lieb 



Ehemaliger künstlicher Unterarm. 



100 



lÜtc ber Ificnfd) gcflicft tuirb. 

bequem fifsen, ben nollen 2lnfd;ein beS roirtlicben ^ben, 
bei möglicbft geringem ©eroidjt bod; feft, einfach unb bauer* 
baft fein unb fo fonftruiert, baff eS bie mannigfachen 
Verrichtungen auäjufüf)ren permag. 

©ine foldje VoHfommenbeit ju erreichen, mar befonber3 



Künstlicher Hrm neuester Konstruktion. 

bei 2lrm unb §anb feljr fdjmierig unb erft in jüngfter 
3eit möglich- $en erften befriebigenben Apparat biefer 
2lrt fteHte ber §oHänber nan ifieeterben bcr, ber fogar 
febon gingerbemegungen ermöglidjte. ©crabeju Verüljmt'- 
beit erlangt b«t ber tunftnoHe 2lrm beä franjöfifcbcn 
Xenoriftcn Sloger , ber jebe beliebige 93eugung unb 
©treefung ber Ringer, be§ $anbgelenf3 unb VorberarmeS 




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Don £70113 SdfartuerFcr. 



101 



geftattete. Sold) ein ßunftroer! foftet Ijeutjutagc 225 9Jlarf, 
einen gang brauchbaren 2(rm geringerer Sorte lauft man 
fertig fcfjon für 100 Üliarf, toäf)vcnb bie beftcn natürlich 




Ehemaliges künstliches Bein. 



eigenä für bie betreffenbe SfJerfon unb jmar genau nach 
bem füiufter beS noch oorhanbenen natürlichen 2Irme3 an» 
gefertigt roerben. ®ie tüeftanbteile finb Sinben» ober 
äßeibenholj, Seber, ßautfdjuf, Hartgummi, Slluminium; 



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102 2t>ic bcr ITtcnfdj gcflicft toirb. 

bic Semeglicbfeit iuirb burdj ftäljleine ftebern unb ®arm* 
faiten, bie bie ©teile bcr ©ebnen oertreten, crjeugt, bie 
©elenfe tocrben burcb ©djarniere nacbgeabmt. 

3» ganj glcidjer Steife oermag man heutzutage fünft* 
liebe Seine berjufteflen, bie intern Präger baS ©eben unb 
fogar einen fleincu ©prung geftatten. ©S mirb burcb 
©iirtcl unb ©djnaßcn am ©tumpf beS oerlorcnen Seines, 
an Jpüfte unb Üaific befcftigt unb fifjt bann fo natiirlid;, 
bajj niemanb aljnt, eS fei feinem Präger nur angcflidt. 
i£as frühere fünftlidjc Sein, baS aus fieber, einer ge* 
frümmten ©taljlfcfjiene unb Ijöljernem §uf$ beftanb unb 
feljr unooDfommen, fteif unb fcfjroerfäHig mar, iuirb !aum 
noch angefertigt, feit Sott in Gfjelfea für ben WarquiS 
o. Slnglefea ein fünftlicbeS Sein Ijerftedte, baS einen be* 
fonberen WedmniSmuS für bie Seugung beS Änie* unb 
gufsgelcnfs befafj. ©eitbent haben ütmerifaner, (gnglän* 
bcr unb iDeutfdjc bieS Sott=2lnglefcafdje Sein bebcutenb 
oerbeffert, jum Seifpicl ©clpbo in 9iero ?)orf, ber eine 
gerfenfeljne anbradjte, SouglaS Slp in 3lod)efter, ber bie 
Serocgungen nidjt burcb Wetaöfebern, fonbern burcb fom* 
primierten ßautfdjuf Ijcroorbringt unb beffen ©prunggelcnf 
auS einem freibciueqlidjen ©laSfugelgelenf befteljt. SDafür 
foffet freilich ein folcbeS Sein 700 Warf, mäbrenb baS 
fiinftlidbe Sein oon Stof- De. o. ©Sntard) in $iel mit finn* 
reidjctn ÄmegelcnfmedjaniSmuS, befonberer 3eberoorrid)tung 
für Seugung beS ßniegelenfS, ©tredung beS gufjgelenfS 
unb gebcnmccbaniSmuS bereits für 150 Warf ju haben ift. 

Obwohl größere ©efebäfte für Iünftlid;e ©Heber folcbe 
Seine in Sorrat haben, ift eS bod; ftctS geratener, fid> 
eines anmeffen ju laffen, ba nur bann eine ©ernähr für 
oollfommen guten unb bequemen ©if> unb gänjlicbe 
Uebereinftimtnung mit bem gefunbeit Seine gegeben ift. 
2?er Hiinftler, an ben ber $>»nualibe ficb roenbet, nimmt 
bann eine ©ipsform foroobl oon bem ©tumpfe beö per* 



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Don Raus Scbanrcrfer. 



103 




lorenen, wie oon 
bem anberen ge* 
funben 23eine. 

SDiefe Form wirb 
auägegoffen, unb 
fo ein DJJobetl bcS 
fünftlidjen 33ei» 
neä Ijergeftellt, 
nad) bem bie 
Sluöfüfjrung 
ftattfinbct. 21 5 enn 
man mit einem 
folrfien 23eine 
aud) feine SDauei* 
inär^e auSfülj» 
ren, ©djuljplatt» 
ler tanken ober 
Slabfaljren fann, 
fo crmöglidjt cö 
feinem Präger 
bodj eine leidste 
Fortbewegung 
unb erfüllt über» 

Ijaupt alle 2ln= 
forberungen, bie 
mau uernünfti» 
gerweife an ein 
lünftlidjcö ©lieb 
ftellen fann. 

Seine Grfillbung Künstliches Bein neu»**cr Konstruktion. 

ift, wie bie beä 

mobernen fünftlidjen 2Irme3, eine waljre 2Bol)ltljat für 
alle jene, b|c baö Unglüd Ijattcn, eines iljrcr ©liebmafcen 
j\u verlieren. 



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104 lt>ic ber ITTcnfdj geflicft toirb. 

2)aS weitaus oerbreitetfte unb am meifien benujjte 
aller fünftlidjen Organe ift baS fünftlid^e Sluge, baS 
„©laSauge", wie man im größeren ^ublifum fagt. ©S 
ift erftaunlidi, mie oiele Seute eS giebt, bie ein ©laSauge 
fjaben. ®iefe „©laSaugen" rnerben übrigens beutjutage 
nid)t met)r, wie aüerbingS im Slnfange biefer ^nbuftrie, 
aus ©las ober ^orjeHan angefertigt, fonbern aus ©mail, 
für iRinber audj auS ©eöuloib unb Bullanit. ©ie bienen 
allerbingS nidjt prn ©eljen — fo weit Ijat eS bie moberne 
Söiffenfdjaft leiber nodj nidjt gebracht — aber fie Reifen 
in oolltommener Bkife ber ©ntfteßung beS StntlifjeS ab, 
bie burd) baS $eljlen eines SlugcS unfehlbar entfielt. 

®aS lünftlidje Sluge ift ein länglidjeS Dtäpfdjen aus 
ben oben genannten ©toffen oon ber ©röfee beS oorberen, 
bei geöffneten Sibern fidjtbaren Teiles beS Slugapfels. 
$ie §ornljaut unb bie Slegenbogenljaut finb in ber bem 
gefunben Sluge genau entfpredjenben garbe barauf ange* 
bradjt, unb ein gutes lünftlidjeS Singe wirb oon bem &aien 
nidjt als foldjeS erfannt, ba eS felbft innerhalb gewiffer 
©rennen bie oon bem gefunben Sluge auSgefüljrten 33c* 
wegungen mitmadjt unb beim ©djliefjen ber Siber oon 
biefen oötlig oerbedt wirb. Sludj bereitet ein paffenbeS 
lünftlidjeS Sluge bei entfpredjcnber Sorgfalt in ber §anbs 
l)abung leine Unannefjmlidjleiten für ben ÜEräger, inbem 
ber anfänglich gefpürte ®rud fidj halb abftumpft unb 
unfüljlbar wirb. ®aS lünftlidje Sluge ift aber nidjt nur 
in äftljetifdjer, fonbern audj in gefunbljeitlidjcr <§infid)t 
äufjerft widjtig. ©S fdjüfjt bie leere .§öljlung ober ben 
oerlümmerten, sufammengefcbrumpften unb entjünbeten 
Sleft beS oerlorenen SlugeS gegen baS ©inbringen äußerer 
©djäblidjleiten (Stauch, ©taub), fowie gegen bie oft 
reijenben Bewegungen ber Süimpern. 

grüßet waren bie oon Boiffoncau in oerfertigten 
lünftlid^en Slugen bei weitem bie beften, feit 1850 aber 



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Don Raus Sdjam’crfer. 



105 




ifl ifjre Anfertigung 
butd) 3}?üHer in Sau: 
fdja (fEljüringen) in 
fDeutfd&lanb ju Ijoljer 
S3Iüte gelangt, unb 
befonberS SJiüHer in 
StfieSbaben, Dr. ßlau* 
nig in Seipjig unb 
^Mafenfa in 2>re3bcn 
macljen jeßt fünftlid)e 
klugen, bie bei glei* 
djer ©djönfyeit fjalt* 
barer, billiger unb 
praftifdjer finb, als 
bie ^arifer, baljer 
non Autoritäten biefe 
uorgejogen rocrben. 

Sold) ein fünft* 
lid)eS Auge braudjt 
SU feiner £erfteHung 
in ber Dtegel fünf bis 
fedjS 4Jerfonen. gu* 
crft :uirb aus Smail 
ber SlugenbaH in ber 
crforberlidjen ©röfje 
Oergeflcllt, raosu man 
fic^ entfpredjcnber 
gönnen bebient.2)ann 
beginnen bie 9Mer 
ifjr 2öerf ; bie ÜDfalerei 
mirb eingebrannt, unb 
sulefjt ber SlugenbaH 
Suredjtgefdjnitten unb poliert. UebrigcnS finb ftetS £aufenb< 
Poti fünftlicfjen Slugen «Her ©röfjen, gönnen unb garbett’ 



GIpsforni eines künstlidjcn Beines. 



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106 lUie bcr inciifd? gcflicft n>irb. 

fdjatticrungen fertig auf ü?agcr, benn bcr 33ebarf ift fort* 
laufenb bctriidjtlidj. (Sin fünftiidjeS Sluge fann nur etwa 



9 bis IjödjftenS 12 Monate 3)ienfte tljun, ba bie fdjarfe 
Sljränenflüffigfeit ben 0djmelj\ angreift. 2)ann muß es 
burdj ein neues erfeßt werben. 



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Doit fjaiis Sdjartrcrfcr. 107 

s )iirf)t befonberS jaljlreid), bod; immerhin jaljlreidjcr, 
als man gemöljnlid) annimmt, ftnb bic ^nljaber fiinftlidjcv 
SWafen. s U?an fann feine 9tafe auf mannigfadje Söeife 



Künstliche tlasen. 

nerlieren, fdjon als ©tubent bei bev Üllenfur, im Kriege, 
bei Unfällen, burd) ßranfljeit, befonberS ^rebö, unb il)t 
Mangel ift nodj oiel cntftellenber als ber eines 3lugeS. 
$)er Slnblicf eines ©efid)tcS ofjne 9?afe ift tfjatfädjlidj fo 
abfe^reefeub, ba| niemanb, ber feinen „öefidjtSerler" oer= 




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108 lüie ber lllcufcfj cjeflicft wirb. 

loren Ijat, heutzutage ohne fünftlidjen Grfat} fidj öffentlid) 
geigt, unb ift bie Siafe gut gcmadjt, fo wirb man fdjtoerlid) 
barauf aufmerffam, bafj fie nid;t ed)t ift. 9)ian formt 
fie fo, baff fie bem 93etrcffenben möglidjft »orteilhaft gu 
©efidjt fteht, unb giebt ihr beffen natürliche garbe. 3ur 
33cfeftigung benufjt man dritte ober Kneifer, bie fo an= 
gebradjt finb, baff fte baS lünftlidjc Drgan an ber richtigen 
©teile fefttjalten. 2US SJlaterial bient in ber Siegel Gellu= 
loib, gang feine 9?afen roerben neuerbingS aud; noch aus 
anbeten ©toffen Ijergeftellt, bie »reift ©eheimnis ber Gr* 
finber finb. 25aljer ift auch eine feine fünftlidfe Siafe »er* 
hältniSmäjjig teuer unb foftet beinahe fo »iel roie ein 
lünftlidjer 2lrm. 

ÜRatürlid) fteHt man aufjer gangen ©liebem unb Dt- 
ganen auch Heinere Xeile foldjer her, bod; ift ber 33ebarf 
banadj gering, unb es »ergehen 3<*h*e, elje eine gabrif 
tünftlidjer ©liebmafjen einmal eine 53efteHung auf 2ln= 
fertigung eines fünftlidjen gingergliebeS, eines halben 
fünftlichen DhreS ober gar einer &ippe befontmt. ©oldje 
£cile finb »erhältniSmäjjig fehr teuer unb bieten gang be= 
fonbere ©djroicrigfeiten für eine fixere SBefeftigung. 

3Jon fonftigen fünfilidjen Körperteilen, bie etira noch 
angefertigt roerben, fdjroeigt beö ©ängerS ^öflidjfeit. 
SDodj ift eS vielleicht nid;t überflüffig, ber populären 
üiegenbe entgegengutreten, bah Sängerinnen ober Slabfaljrcr 
fidj guroeilen falfdjer Söaben bebienten. ®ieS ift pure 
SJerleumbung. Gin ©lieb, baS man ernftlidj anftrengen 
muh, »erträgt leinerlei 

3ur 9)ienfd;enfliderei gu rechnen ift eigentlid) aud; baS 
Ginfefcen falfdjer gähne unb 9 an ä er ©ebiffe. ®och ift 
biefe 2lrt »on SluSbefferung ramponierter 93lenfchlid)feit 
heutzutage fo allgemein unb baljer febermann fo genau 
befannt, baff roir barauf nicht näher eingeben rooHen. 

M;l jebem, ber nidjt geflidt ift! 210er roie es helfet 



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Pon I71111S Sdjamu’rfcr. 



ion 




ift, einen fauberen SJIicfen als einen 9life am 9iocf j^u 
tragen, fo haben aud) jene, beren Unglücf e§ mar, ein 
©lieb j\u »erlieten, alle Urfadje, ber fortgeschrittenen 
STedjnif nnferer 
Xage banfbar 
fein, bie ihnen 
ermöglicht, ben 
33er luft mit 
ffiürbc unb »er» 

Ijältniömäfeiger 
Seicfetigfeit 
tragen. Unb un« 



fere gefehlten fJJienfdjenflider mögen ihrem guten Sterne 
banfbar fein, ber fie nicht jroeihunbert Safere früher ge« 
boren merben liefe, benn bann mären fte ohne B^eifef al§ 
^eEenmcifter auf bem Scheiterhaufen »erbrannt morben. 





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Künstliches U ordergl i cd eines Singers nebst fjerstcllungslorin. 




Huf crstan den. 

D o v eil c von UJoldemar Urban. 



1- (nadjdrudt verboten.) 

D er alte ©ennaro SombeUi, Don ©ennaro, wie er in 
SRefina atfgemein hiefj, roar ein ©rieSgram burch unb 
burdf). Die on ber 2Sanb ärgerte ihn, unb feitbem 
er nid^t meljr ©inbaco bc§ fleinen ©täbtchenS am $ufje 
bcS 33efuv8 mar, feitbem in bem ©emeinmefen nicht mehr 
alleö nach feinem Äopfe ging, glaubte er, es müffe alles 
*u ©runbe gehen. Daju famen mancherlei Seiben beS 
3llter8. Die 2Uemnot mürbe immer gröber, bie Seine 
moHten nicht mehr recht mit fort, unb bie Seroegungen 
HeS jiemlid) biefen alten §errn mürben immer ferner* 
fälliger, immer mühfamer unb hilflofer. 

„3hr merbet ju fett, Don ©ennaro,“ hotte ihm vor 
einiger 3eit fein 9Zachbar jugerufen, „3h* bürft feine 
fDiaccarotti mehr effen." 

Da mar Don ©ennaro feljr erfchrocfen unb fehr böfe 
gemorben. 2BaS blieb benn für ihn oom Seben noch übrig, 
menn er feine üDlaccaroni mehr effen burfte? 6r hotte 
bem vorlauten 9Zachbarn ein berbeS, echt neapolitanifcheS 
Schimpfmort an ben Älopf gemorfeit, roorauf bie beioen 



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ttopctle Dott IDolbcmar ilrbatt. 1 1 1 

fofi ((tuet 2age nicht mehr miteinanber gefprodljen unb ®on 
©ennaro fogar gu feinem Sohne, bem §errn ®oftor ÜJiicol« 
33ombeUi, gefügt hatte, man bürfe fid^ mit biefer 9Jienfchen* 
forte — con questa razza di gente, roie fich $on ©ennaro 
orrädjtlich auöbrücfte — nicht gu gemein matten. 2>ie Som* 
bellis gehörten gtr ber fRobleffe unb mufften auf fiel) halten. 

Gin 3ufaH hatte es gefügt, baff SDon ©ennaro feinen 
©eburtStag am gleichen £age hatte mie ber $önig §um* 
bert non Italien, unb obgleich man in Italien uon bem 
©eburtStag meniger StuffjebenS macht als oom Namenstag, 
fo mar Don ©ennaro hoch auf feinen ©eburtStag feljr ftolg 
unb behauptete, baff in allen befferen Familien beS San* 
beS ber ©eburtStag bie §auptfache fei, unb er feierte in* 
folgebeffen feinen ©eburtStag immer fe^r umftänblicb. 
©ang Siefina fannte ben ©eburtStag $on ©ennaroS, unb 
raer ihm rooljl moHte, gratulierte ihm bagu. Qnbeffen 
mürbe bem alten ^ppodjonber auch baS mit ber 3eit un* 
angenehm, unb als ihm bie freunbliche ®onna Sucia, bie 
aufmerffame SBirtin in ber „$accia JreSca", baS lef}te 
ÜRal gratulierte, hotte er unrairfdj erroibert: „SBelche ge* 
banfenlofe Slngemohnljeit ber Seute, jematib gum @e* 
burtStage gu gratulieren! 3BaS habe ich benn baoon, 
bah mieber ein 3 a h r oergangen ift? ®ajj mein Seben 
roieber um ein 3af)r lürger gemorben? 3ft bas nicht oiel* 
mehr ein ©runb gur Trauer unb gum 'äJlitleib? 3al)r 
für 3af)r berfelbe £ang. Unb menn fünfunbgroangig ober 
fünfzig Saljre oerfloffen, bann feiert tnan fogar Jubiläen, 
lacht unb freut fiel) mic oerrüdt, als ob man SBSunber n>aS 
auSgerichtet hätte, mo man hoch nur um fc mel feinem 
©rabe näher ift. GinfältigeS SSolf! Unb menn jemanb 
ftirbt, bann fleht man roeinenb unb llagenb an feiner 
Sahre, als ob etroaS gang UitnorhergefehcneS gefd;ehen 
fei, roo bo<h nur fommt, roaS fchliefflid) fommen mu&. 
Säuerliches äJolf, lächerlich unb ünbifch gugleich!" 



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112 



2Infcr|iaubcn. 



®onna Sucia batte ftdfj natürlich bei bern alten £errn 
entfdjulbigt fo gut eS ging. «Sie fjatte ihre befonberen 
Urfadjen, eS mit ihm nic^t gu oerberben, unb groar nicht 
nur, roeil er ihr eine f leine §t)potljef auf ihr Slnroefen 
oorgcftrccft batte. ®afiir befam ®on ©ennaro, ber auch 
nidjtä oerfchenfte, feine fedjS ißrogent $infen. ©leichrooljl 
mar ibr ba§ ©elb barnalS — oor neun fahren — febr 
roitlfommen geroefen unb fte batte bamit ein giemltcb 
großes unb auch roertooUeS Terrain begablt, bas an ibr 
©runbftüd anftiejj unb bas ibr heute einen prächtigen 
SÖein lieferte. 

2lber auch aufjerbem batte $onna Sucia ©runb, ben 
früheren Sinbaco oon 9tefina oor allen ihren ©äften auS= 
gugeicbnen, erftenS roeil er ein giemlid) anhänglicher unb 
treuer ©aft in ber „gaccia greSca" roar, bann aber auch 
feines <2obneS, beS 2)oltorS SRicola, rocgen, ber fid) fterb* 
lieb in ihre Locher, bie feböne Goncetta, oerliebt hotte. 

3)onna Sucia f;ätte biefe Sctbinbung febr gern ge* 
fef)en, benn ber junge Strgt roar ein gebilbeter, netter 
9Jlann aus guter, roohlbabenber f^omtlre, ber alfo alle 
©croäbr für baS ©lücf ihrer Xodjter bot. 2ludE> ®on 
Nicola unb nicht am roenigften bie bübfdje Goncetta fclbft 
roaren über bas Srojelt ooUftänbig einoerftanben, nur 
ber alte ®on ©ennaro machte aHerljanb Ginroenbungen, 
ol)ne bodj gerabegu nein gu fagen. 

®aS rooKte er offenbar ber gierlichen unb flinfen 
Goncetta guliebe nicht tfjun. 2lber er roanbte bod^ alle 
möglichen SDlittel an, um bie $eirat hinauSgufdjieben ober 
gu oerbinbern. Salb roar es bie nodj immer gu geringe 
^rastS feines ©obneS, bie als Sorroanb ber Sergögerung 
bevbalten muffte, halb bie unpaffenbe 3ab*eSgeit, balb bie 
eigene hinfällige Sefcbaffenljcit — !urg, er raubte immer 
etroaS, unb roenn ®on ©ennaro noch einige 3al)re jünger 
geroefen roäre, fo roürbe man gu ber Slnnabmc geneigt 



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Zloocllc ron lüolbemar Urban. 113 

gemefen fein, baf 3 er bie Ijü&fcfje ßoncetta feinem ©ohn 
nicht gönnte unb fte am liebften felber geheiratet hätte. 
®aS mar aber natürlich auSgefdjloffen, fchon (SoncettaS 
raegen, bie niemals auf etroaS begleichen eingegangen 
märe, unb fo blieb fdjliefelidj nichts anbereS übrig, als 
bafj bie ©rieSgrämlidhfeit beS alten §errn, bie eigentüm* 
liehe 33angig!eit unb 2lngft, baj$ fidf etroaS UnglüdlidjeS 
ereignen mödhte, bie ja bei alten Seuten nichts ©elteneS 
ift, ber einjige ©runb ber 33erjögerung mar. 

(SS mar im Dltober, ein prächtiger, llarer, menn aud) 
etroaS h e i&e* §crbfttag. ®ie ©rauben faxten in ber 

©onnenglut an ben Abhängen beS 33efuoS, unb ihr Saub 
färbte ftd) gelb unb rot. 

„®aS geht fo nicht mehr fort," fagte ®on Nicola ju 
feinem Sßater, „Goncctta h at recht. $ie Seute fangen 
an, uns ju bereben, unb bie ©adje muf} ein Gnbe nehmen, 
fo ober fo." 

„$m, hm!" machte ber alte ©on ©ennaro. (Sr 

roufjte fdjon, maS tommen foUte. 

„3$ fehe auch gar nidjt ein, auf maS mir noch 

märten foUen. Goncetta ift neunjehn, unb id£j bin fünf« 

unbjraanjig 3 a h re /“ fuhr ©on fJlicola fort. „GS ift oer* 
nünftigerroeife gar nichts bagegen einjuroenben. ©onna 
Sucia ift eine hochachtbare $ rau , Goncetta ift ein braoeS, 
fleißiges 2J?äbdhen, unb ihre Srilber finb orbentlidje 
3Jtenfdhen. ©er eine ift 2Bafferbauinfpeltor in Sieapel, 
ber anbere ift beim -Dlilitär. GS ift gegen bie Familie 
aud) nicht baS geringfte einjumenben, unb bu Ijoft felbft 
gefagt — " 

„33ah," meinte ®on ©ennaro mäfelnb unb baS ©e- 
fid)t etmaS »erädjtlidj »erjiehenb, „©onna Sucia lauft 
Stein in ©ragnano baS S3aril für achtzehn Sire, ben 
fie bann auf glafdjen füllt, auf bie fie (Stiletten mit „Vino 
di Falerno“ ober „Lacryraae Christi“ liebt, unb bann an 

1901. 111. 8 



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114 



2tnferjtanben. 



bie gremben, bie auf ben 33erg tjinauffaferen, für jwei 
Sire »erlauft." 

„2Ba§ will benn ba§ feeifeen?" fuljr ®on 9JicoIa heftig 
auf. „S)a8 tljun alle 2Birte, bie mit $remben ju tljun 
Ijaben. Sie gremben toiffen nidEjt, bafe Söeine mit foldjen 
Flamen nirgenbS wadfjfen, unb roenn fte bod^ 2Sein laufen 
wollen, ber fo feeifet, fo ift e§ immer nod^ beffer, man 
»erlauft iljnen guten ©ragnano für jwei Sire bie glafdjje 
als bie ©iftmifd&ereien auö Neapel für fünf unb fedj§ 
Sire. Su Ijaft felbft gefagt, fßapa, bafe Sontta Sucia 
eine l)od)acfjtbare grau ift, bie if;re ßittber ju guten unb 
orbentlid)en fDtenfdjen erjogen feat, waä für eine grau 
oljne 2J?ann gewife nidjts SeidfjteS ift. Su weifet felbft feljr 
gut unb beffer als idj, wa§ bie ©irtfd^aft früher war, 
ef)e Sonna Sucia fte fjaite, unb wa§ fte in ben jwölf 
Sauren, in benen Sonna Sucia fte bewirtfdjaftet, gewor* 
ben ift. 9fein, btt wittft nur einen SBorwanb Ijaben, um 
ju unferer §eirat nein ju fagen. Unb wenn Sonna 
Sucia aud) an bie gremben 2Sein ju jwei Sire bie glafclje 
»erlauft, fo tljut fte nur redjt baran, wenn fte ftdb einen 
fo guten SSerbienft nidjt entgegen läfet. Sie wäre bumnt, 
wenn fte e§ anberS madjte. Sie ift ba§ ftdj unb ifjrer 
gamilie fc§ulbig. @S ift an ber Familie gar nid^tS aus* 
pfe$en, unb nur beitte eigene ©rieSgräm licljleit, bie ©e* 
fpenfter am Ijellen lichten Sage fieljt, fudjt immer neue 
$inberniffe unb Sßinlelpge." 

„Su wirft fcljon nodf) fefjen, bafe icfe redjt feabe," warf 
Son ©enttaro, etwas in bie Ginge getrieben, ein. 

„■Jlein," entgegnete Son -Jikola, immer heftiger wer« 
benb, „baS werbe id) nicljt feljen, fßapa, aber wir werben 
feeiraten — nädjfien 3Jlonat fd^on, ganj gleichgültig, ob 
bu einwilligft ober nidjt." 

Sa3 ging bem Son ©ennaro offenbar p weit, @r 
pflanzte fidE) jiemliclj gewichtig unb broljenb cor feinem 



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ZTocdle oon tDoIbemar Urban. 115 

Soljn auf unb erwiberte mit erhobener Stimme: „So? 
$a3 wollen mir bodj einmal feljen ! $a§ märe mir wa3. 
SJlit beinen fünfzig Sire im SJfonat wiHft bu heiraten? 
33u fannft ja nodj nidjt einmal bie SJtiete für eine 2Boh ; 
nung für bidj unb beine grau bejahen, menn ich bicft 
auä meinem .§aufe ljinau3merfe." 
mirb fcfion beffer werben." 

„9Da3 fennen mir fdjon. heiraten unb bann auf bie 
Safere com Sitten liegen. Unb bu wißft t(ier grofte SBorte 
machen? „®anj gleichgültig, ob bu einwiHigft ober nicht" 
— ift ba§ eine Siebe für bidj? gdj miß bir fdjon bei* 
bringen, ma3 ficlj gehört, mein gunge. 93erlaft biclj brauf. 
So barf niemanb con meinen $inbern mit mir reben, 
bu nidjt unb auch bie anberen nidjt. Solange idj nodj 
auf ber 2ßelt bin, bin i dj §err in meinem §aufe unb 
in meiner gamilie. SJJcrfe bir ba§, Surfte, fonft foUft 
bu mid) fennen lernen!" — 

$a3 mar oormittagS geroefen. $um SDJittageffen mar 
®on Siicola nidjt etfdjienen. Sßatjrfcheinlich ^atte er in 
ber „gaccia grcSca" gefeffen unb babei mit (Soncetta ge* 
fprocfjen. ®em alten ®on ©ennaro mar etwas unljeimlidj 
ju 2Jiut. (Sr mar ein abgefagter geinb aller gefpannten 
Situationen ; Scenen, wie er fte mit feinem Soljn am 
Vormittag gehabt, roaren iljm im fjödjfien ©rab wiber» 
roärtig. @3 märe audj gewift nicht fo weit gefommen, 
wenn nidjt $Don Sficola feinen SSater burch feine eigene 
$eftigfeit prooojiert hätte. 

fftun ging ®on ©ennaro, zeitiger al§ gewöhnlich, 
puftenb, feudjenb bie Strafte gegen ben 33erg ju Ijinauf, 
nach ber „gaccia greSca", um bort feinen Schoppen ju 
trinfen. (Sr mar neugierig, wie moljl feine Scene mit 
Siicola bort aufgenommen worben war. 

(Eigentlich Ijatte ja fein Sofjn recht. @3 war wirflicf) 
nichts gegen $onna Sucia unb ihre gamilie einjumenben. 



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116 



lluferjlanben. 



mar im ©egenteil gu münden, baf} fiel) alle 2Bitmen, 
bie für fidj unb iljre ßinber forgen nutzen, an if»r ein 33ei* 
fpiel genommen tjätten. Don ©ennaro roujjte feljr rooljl, rcie 
Ijart unb forgenooll Donna Sucia im Slnfang Ijatte fämpfen 
muffen, als iljre ßinber nodj flein unb bie SBirtfcljaft 
fcfjledjt unb perlottert, mie fie fte übernommen, mar. 

2öie Ijatte fid) baS alles geänbert in ben jroölf galjren ! 
Die Slinber maren grofj, unb bie „gaccia greSca", fauber 
unb traulid) mit ^übfd^en SBeinlauben umgeben, etroaS ab* 
feits non ber ©trajje, bie nadj bem 23efup*Dbferpatorium 
Ijinauffüljrt, gehörte ju ben beliebteften ©aftljäufern in 
ber ganjen ©egenb. SSeber ber grau noclj ben beiben 
Dödjtern — ßoncetta Ijatte nodfj eine um einige galjre 
jüngere Sdjroefter 9?amenS Slffunta — fonnte man aucij 
nur baS geringfte nadjfagen. 

2ßo man non ber galjrftrafje abbiegt unb auf einem 
fleinen gufjpfab naclj ber „gaccia greSca" gelangt, blieb 
Don ©ennaro einen Slugcnblid, auf ben Stocf geftüljt, 
fteljen, um fidfj auS^uruljen unb baS ©aftljauS ju befeljen. 
2öie freunblicJj unb nett, mie einlabenb unb anljeintelnb 
baS alles auSfatj! hinter ben grünen -Eßeinlauben, aus 
benen bie fauber gebedten Difd&e ^eroorlugten, Ijinter ben 
alten Dlipen leuchtete baS §auS ber „gaccia greSca" f)er* 
por, braunrot, mit grünen genfterlaben, mit 9iofen unb 
ÜBeingeranf um bie Sallone; am ©iebel ftanb in meitljin 
lesbaren fcfjroarjen 33udjftaben: „Faccia Fresca“, bar« 
unter mar bie gaccia greSca*) abgebilbet, allerbingS in 
etroaS oermafcljenen garben, unb unter biefer ftanb roieber: 
„Locanda ed Osteria“. Sin baS §auS ftiefj ein großer, 
rooljlgepflegter ©arten mit Sßeinpflanjungen, geigen* unb 



*) Faccia Fresca (fprief) gattfefja) {jeijjt eigentlich „frifc^eS 
©eficfjt", beutfef) roiirbe man etwa fageit: ©aftfjauS jur fronen 
Saune ober äfjnücfj. 



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Zlooelle oon lüolbemar Urban. 



117 



Delbäumen, ^3firft<^en, ein §ü^nerI)of, ein neuerridjteteä 
•JBirtfdfjaftSgebäube. (Sä war ein Keines ißarabieS, baä 
ba in üppiger $rucf)tbarfeit aus bem alten, mehrtaufenb* 
jährigen SJaoaboben heroormucljs. 

2luf ber ©teintreppe, bie außerhalb beS Kaufes nach 
ber großen Soggia beS erften ©todeä ^inauffü^rte, ftanb 
ein jungeä frifdjjeä föläbchen mit lebhaften fdjmargen 
2lugen unb luftigen dienen, eine richtige gaccia $reSca, 
unb minfte bem 2)on ©ennaro übermütig lacfjenb ju. 

„Oh6, compare*) Geimaro, “ rief fie laut ^aHenb tjer* 
über, „obö oheeeeeee!“ 

$aä mar 2lffunta, bie ©cljroefter (SoncettaS. ©ie fdjien 
oon bem ©türm, ben $on ©ennaro angefacht, noch nichts 
gu miffen, benn fonft fjätte fie ihm roof)l nicht fo luftig 
gugerufen. bem 2lugenblicf that eS $)on ©ennaro leib, 
gar fo heftig mit feinem ©ohne gemorben gu fein. (Sr 
erfcf)ien ftch felbft als ©törenfrieb, als galliger, menfdjem 
unb befonberS jugenbfeinblicher ©rieägram. (Sr mar 
ärgerlich über ftch felbft, aber er fonnte bocf) nicht aus 
feiner $aut heraus. (Sr mar nun einmal fo. 

2lffunta mar mie immer oon einer flotten, flinfen 
9tührig!eit, nahm ihm ©todE unb §ut ab, fragte, roaS er 
trinfen moUte, mifcfjie ben ©tuljl mit ber ©djürge ab, 
pujjte ein ©las rein unb Ilapperte unerntüblidh mit ihren 
Keinen .fjäddhenpantoffeln über ben ©teinboben. 

„2Bo ift (Soncetta?" fragte 3)on ©ennaro. 

Dljne meitereä fchrie Slffunta mit ooÜen Sungen geHenb 
burdfj baä $auS nach ifjrer ©cfjroefter, unb als biefe nicht 
gleich antmortete, lief fie fort, um fie gu fudjen. 

(SS bauerte auch nicht lange, fo trat ©oncetta aus bem 
•ÖauS heraus auf bie Soggia. 



*) Compare (auS con padre) eigent(id) ^Jate, h> er «ber in 
ber weiteren SSebeutung oon ©eoatter gebraucht. 



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118 



Jlnferßcutben. 



Soncetta roar in ber eine ungetoö^nlid^e ©djön» 
heit. $>ie großen bunllen Slugen, baS reiche prädjtige 
§aar, iaS in tieffchroargen, leidet gemellten Waffen um 
baS ooale, roeic^ unb gart geformte ©efidjt fiel, ber 
bräunliche, fammetartige Xeint unb ber feingeglieberte, form» 
oollenbete 33au ihres Körpers mären eines ftarlen ©in» 
brudS ftdjer. Söei aßer SSeichheit unb 3ort^cit in ber 
gorm ging aber hoch auch eine geroiffe herbe ©trenge unb 
ein ruhiger ©rnft burch ihr 2Befen. 2ftan halte faft fagen 
. fönnen, fie habe etmas ^lafftfdjeS an fidj, jebenfafls ge» 
mahnte ihre ^opfbilbung unb ber ftnnenbe, träumerifche 
©rnft ihres SluSbrudS an bie -Jßeifterroerfe altheßenifdjer 
$unft, bie man noch heute im fOZufeum in Neapel be» 
munbern fann. 

SDaS junge -JJtäbdjen hatte offenbar gemeint unb mar 
nun in bem SBeftreben, fich oon bem SßorgefaUenen nidjtS 
merfen gu laffen, etroaS oerlegen. 

„3BaS befehlen ©ie, $on ©ennaro?" fragte fie gurüd» 
haltenb unb mit niebergefchlagenen Slugen. 

„Sich raaS, befehlen!" erroiberte ®on ©ennaro mürrifdj 
unb polternb, „bu meijjt roohl, bafj ich nidjt beS 33e» 
fehlenS megen hier bin. ©e$e bich h er ä« mir, ©oncetta. 
2öar fflicola hier?" 

©ie nidte ftumm unb fe§te fich fidjtlich bellommen 
unb ängftlidh auf einen ©tul)l. 

,,©r hat mich natürlich fchledjt gemacht, mie? $at er 
nidht auf mich gefchimpft?" 

„■Jlein, ®on ©ennaro. ©r hat nur ergählt, roaS groifdjen 
Shnen unb iljm oorgefaßen ift." 

„SDa haben mir’S. ^d) habe tnir’S gleich gebacht, bafj 
er aßeS brühmarm roeiterergählen roirb, maS mir in ber 
.fjifje herausgefahren ift. ©r ift aßein fdjulb baran. ©r 
ift ein oerroünfdjt ^t^tger unb heftiger SBurfche unb 
miß mit bem Äopf burch bie 2Sanb. 2>a giebt bann 



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ZTopeUe uoit lüolbemar Urban. 119 

ein 2Sort baä anbere. Sft’ä nidtjt fo? Sr ift ein toller 
3unge." 

Sr madjte eine $aufe unb ermattete tjietteid&t, baf} 
Soncetta etmaä fagen foUte. 2lber baS junge SDiäbdEjen 
fc^roieg. 2öar fte ju ftolj, üjn §u bitten? fragte er fidj. 

„heiraten," fuijr er enbliclj mürrifdj fort, „ba§ ift 
eine ftfjöne ©adEje, aber man mu| ben SSerftanb babei 
braudjen. $interljer ift bann alles ju fpät. §abe id) 
nid)t redjt, Soncetta?" 

„3a, ®on ©ennaro," fagte fie fütjl. ©onfi fjatte fte 
ifin auc§ immer mit bem oertraulidjeren „Sompare" an« 
gerebet, Ijeute aber oermieb fie baS offenbar, unb bem alten 
®on ©ennaro fiel baS auf, ebenfo mie if;re äuriidljaltenbe 
ßälte. 

„5Han lann bod) über folclje ©acljen rufjig unb oer« 
nünftig fpredjen. -iJluf} er gleiclj auffaljren mie ein 2Bil» 
ber unb mir ba§ 9Jleffer an bie $eljle fefjen? 2öaS fagft 
bu baju, Soncetta?" 

„9lidE)t3, ®on ©ennaro. 2öemt ©ie bie Beirat nidjt 
roünfcfyen, fo roerbe idj ©ie beö^alb gcroifi nic^t beläftigen," 
antmortete fte. 

„3dj l)abe ritc^t gefagt, baf} id) fte nicljt münfdfje," 
fuljr ®on ©ennaro polternb auf, „er lügt, toenu er be« 
Ijauptet, baf} idj baS gefagt l)ätte. 3$ weine nur, baft 
ba§ nid^t fo eilt. ÜJiufs benn baS nun auf einmal gleich 
näd^ften SJlonat fein, Soncetta?" 

©ie fjob ben 331id unb fal) ifjn fdjüctjiern an. ©ie 
modjte am £on feiner ©timme ober an feinem ganzen 
betragen nterfen, baf} er einlenlett motte unb jebenfallS bie 
Slngelegenljeit nocl) nidjt fo »erjroeifelt ftanb, mie fie nadfj 
ben Steuerungen SiicolaS glaubte anneljmen ju müffen. 

,,©ie Ijaben ju beftimmen, Son ©ennaro," fagte fie 
leife, aber roärnter unb inniger im £on. 

„®as läfjt fic^ Ijören," ermiberte Son ©ennaro unb 



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120 



2Juferfianben. 



nahm einen berben ©chlucf, „bas ift hoch ein 2Bort, über 
baS fid) reben läjjt. 2Benn man mir aber ins ©efid)t 
fd^reit : @s ift gang gleichgültig, ob bu einroiHigft ober 
nicht, geheiratet rcitb bod^ — baS geht bodj nicht! 2)aS 
mujjt bu bodj etnfehen, Goncetta?" 

„SJiicola hat eS gereift nid^t fo fchlimm gemeint," fagte 
fte befdjroichtigenb unb entfdjulbigenb. 

„3$ fage bir, er ift ein »erroünfdjt hifciß« öurfdfe, 
unb bu roirft noch einmal beine -Jiot mit ihm haben." 

Gine jähe 3töte fcfjoft ihr ins ©efidjt, unb fie fah ihn 
mit leuchtenben SBliden an. „Gompare — !" rief fte un* 
roißfürlich bittenb. 

„3dj fage, mir roerben barüber reben. — 2So ift beine 
9Jlutter, Goncetta?" fragte er plötzlich ablenlenb. 

,,©ie ift einfaufen gegangen, aber fie fann jeben 
SlugenblidE mieber gurüdfommen." 

„GiS eilt nicht. §eute ober morgen, ober einen oon 
biefen Sagen, ©o oiel ift gereift, nächften -Dtonat roirb 
es noch nichts, meine Siebe." 

„2llfo im Segember, Gotnpare," ftieft fie plöfclich mit 
fliegenbent Sltem unb fjodjroten SBangen h e *auS, „ober 

im Januar, ober o, fage mann, Gotnpare! ©age 

eine $eit, fei eS roelcfje eS fei." 

„§ui, roie baS in bie fpöhe loht!" erroiberte er roie* 
ber in feiner fonberbaren, polternben unb mürrifchen 
2lrt. „$annfi eS rooftl nicht erroarten? 2£ie bie Räbchen 
finb! 3cft fage, id) merbe mit beiner SJlutter reben, roie 
fich’S für oernünftige Seute gehört, unb eS roirb fich 
bann finben." 

„Gompare — !" begann Goncetta, tief errotenb. 

„©tili," unterbradj er fie, „bort fontmt $abre SJliufi 
non ©an Somenico bei $rati. Gr braucht noch nichts 
baoon gu roiffen. GS roirb fich fd^on alles finben, Goncetta. 
©ieb mir bie §anb." 



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Hobelte oon IPolbemar Urban. 121 

25amit reifte er ihr feine fleifdfjige $anb über ben 
$ifdj, unb ßoncetta brüdte rafd^ unb mit bem ganzen $euer 
ihres füblänbifdjen KaturellS einen haften $ufj barauf. 

®er ©eiftliclje, ber eben bie ©teintreppe nach ber 
Soggia ijerauffdjritt, merfte an bem glühenben ©eftdjt 
ßoncettaS unb an ihren aufgeregten leudjtenben Slugen, 
bafc etwas VefonbereS oorgegangen mar, unb brof)te fdfjon 
non weitem fcherjenb mit bem Ringer. 

„®on ©ennaro, $on ©ennaro!" meinte er Iädfjelnb, 
„3h* macht bod; nicht etwa böfe ©treidje?" 

„@i was, $abre ÜRiuft, id; wollte, Sure Vefürcljtung 
wäre noch am $la|e," erwiberte biefer, ärgerlich auf« 
feufjenb. 

Goncetta trat oon ber Soggia jurüdf in baS $auS, 
wäfjrenb ihre ©cfjwefter bie Vebienung ber ©äfte über* 
nahm. $urdh baS offene genfter hörte fte aber noch eine 
lange S^t auf baS ©efptä<h, baS Son ©ennaro mit bem 
Vabre fKiufi führte, ©ie intereffterte ftch aber nicht be* 
fonberS bafür. ®ie beiben alten Herren waren leiblich 
gute fjreunbe unb bebauerten beibe, bafs ®on ©ennaro 
nicht mehr ©inbaco fei, fpracijen oon ber judjtlofen neuen 
Seit, oon unorbentlicfjer Verwaltung, bem neuen Slrmen* 
haus unb ben guten alten Seiten, Goncetta wartete mit 
Ungebulb auf bie Küdfeljr ihrer -Kutter, in ber Hoffnung, 
baf[ fich bann für ®on ©ennaro ©elegenheit biete, mit 
ihr ju reben, „wie ftcfj’S für oernitnftige Seute gehört". 
2lber ihre SJlutter fam ewig nicht jurücf, unb enblicf) ging 
$>on ©ennaro wieber fort. 

ßaum fünf Minuten fpäter fam ®onna Sucia nad; 
§aufe unb fcljalt über ben jungen, ber il;r in einem 
großen $orbe bie oon ihr gemachten Ginfäufe nad;trug, 
weil er bie ijktroleumfanne, bie er in ber $anb tragen 
follte, mit in ben Äorb gepadft hatte, um ftch’S leidet ju 
machen. 



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122 



2Iuferjlant>en. 



„$aft bu Don ©ennaro gefe^en, 9Jiama?" fragte 
©oncetta aufgeregt. 

Donna Sucia fab fte prüfenb an. „3a. 3$ 6in iljm 
begegnet," antwortete fte bann. 

„Unb bat er nichts gefagt oon — non -Jlicola?" 

„•Kein. 2öaS foU er benn oon -Jlicola fagen?" 

©oncetta nmrbe rot unb oerlegen, futjr bann aber bodj 
mit einer geioiffen (Energie fort: ,,©r bat gefagt, baft er 
mit bir reben wollte, wie fidh'S für oernünftige Seute ge* 
t)ört." 

3b« 9Jiutter begriff fofort, um was eS fieft banbeite. 

„Du muftt bod) merlen, ©oncetta," fagte fie oertrau* 
lieft, „baft Don ©ennaro eine waljre 3Jleifterfcftaft barin 
bat, weber ja nodft nein ju fagen. 2öenn er ftötte mit 
mir reben wollen, ^ättc er fc^on lange baju $eit gehabt." 

„2lber — " begann ©oncetta beftürjt, inbem iljr bie 
Dftränen in bie 2lugen traten. 

„Sei nur ruljig, mein $inb," unterbrach fte ifjre 
ÜDlutter, „bat uns ber #immel fo weit geholfen, wirb er 
unä woftl auch nocft weiter Ijelfcn. — 2öaS ift baS ftier?" 

Damit griff fie Ijaftig unb mit einer eigentlich burdj 
nidbt§ begrünbeten erfeftreeften Aufregung nach einem 
SBrief, ber auf bem Difcft lag. Slber faum batte fie baS 

©ouoert in bie $anb genommen unb einen 33licf auf bie 
2lbreffe geworfen, als fie il)n aud; fdjon wieber fallen 
lieft unb mit ber §anb nad) bem §erjen fuhr. 

„0 heilige ;Dlabonna ba broben!" ädjjte fie jum Dobe 
crfChroden unb fiel in einen Stuftl. 

„2BaS ift bir, SDlammina?" fragte ©oncetta ängftliCb- 
„©in S3rief, ben ber ^oftbote oorftin brachte, ©r ift an 
bieft. 2BeSftalb erfdjridft bu fo?" 

Donna Sucia war eine fräftige $rau, bie ftd) burCh* 
aus nicht oon jeher ßleinigfeit umwerfen lieft. Sie er* 
bolte fieft auCh jeftt rafdh wieber, noftm ben S3rief mit 



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HoncHe Don IDoIbcmar Urban. 



123 



einer entfd&loffenen beroegung roieber auf unb ftecfte iljn 
in bie iEafdje. 

„GS ift nichts," fagte fie mit einer errungenen SRufje. 
,,©el), fiel) nad) bem Gffen, Goncctta. GS roirb ©ffenö* 
jeit." 

Goncetta mar ein überlegtes, ernftfjafteS Möbeln unb 
begriff fofort, bajj ifjre Mutter iljr etroaS oerbergen mollte. 
©ie machte &unäd(jft eine Ginroenbung, ging aber auf eine 
roiebevfjolte 2lufforberung ber SDonna Sucia enblidj fort, 
um in ber ßücfje ifjren Hantierungen objuliegen. 

2llS fie allein mar, naljm Honna Sucia mit aßen 
Seiten einer fjeftigcn Grregung ben ©rief roieber aus 
ber Hafdje, um iljn ju öffnen unb ju lefen. 

„2lllmäd)tiger ©ott," murmelte fie babei leife, „roaS 
nun fdjon roieber? ©oß idfj nie im Seben 9tu!je befommen 
oor biefem — biefent Unljeil?" 

Mit angefjaltenem 2ltem unb mit einer ängftlidjen 
Spannung, bie ftdj in ben meitaufgeriffenen Slugen unb 
leije bemegten Sippen auSfprad), las fie: 

„Siebes 2Beib! 

92odj einmal Ijat es ber Himmel in feiner 9Zad)ftdjt 
unb Siebe gefügt, bafj in meinem Seben eine Manbtung 
&um befferen eingetreten ift. H eute morgen ift mir oon 
ber bagnooerroaltung bie Mitteilung gemalt morben, 
bafj id) infolge meines ©efucljeS oor brei Sollen, befonberS 
aber infolge meines reumütigen betragenS unb meiner 
guten güljrung roäfjrenb ber fünfjeljn ^aljre meiner 
Strafhaft begnabigt morben bin, unb mir ber 9left meiner 
©träfe crlaffen ift. 

SDu fannft Hir roofjl fdjroerüclj oorfteßen, mit roeldEjen 
©cfiiljlen icf) biefe botfdjaft ju Rapier bringe, um fie 
Hir junädjft mitjuteilen. Gin lebenbig begrabener unb 
roieber Sluferftanbener Hopft an Heine Hf)iir, ein Mann, 
ber nadf) bem ©efe§ ben Hob oerbient, unb nur burdj 



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124 



2Inferjlanben. 



bie ©nabe ber ÜJlenfcfeen lebt, ftredt feine $anb bittenb 
j\u Sir, ju feinem 2öeibe empor: 33erjeifee aucfe Su mir! 
23ergife Unglücf unb Scfeanbe, bie icfe burcfe meine wilbe, 
unfinnige Sfeat über Sicfe unb unfere ßinber feerauf» 
befcfeworen, unb reiche mir Seine ^elfenbe §anb, bamit icfe, 
ein fo tief ©efaßener, wieber aufftefeen unb im Seben 
roieber ju einer Stellung gelangen fann. Senfe baran, 
bafe uns bie §anb beS fßriefterS an ^eiliger Stelle ge» 
fegnet, unb fei meine treue ©efäfertin auch in biefer 
fcfewerften Stunbe meines neuen SebenS. 

Sucia! 3$ weife wofei, bafe Sir an ber fRüdfefer 
eines im 3«<^t^aufe alt unb grau geworbenen -JRanneS, 
ber, wie ein $eftfranfer feine Sfranffeeit, nur Scbanbe 
unb Seferecfen um fidj feer oerbreitet, nic^t oiel gelegen 
fein fann. 3$ weife fefer wobl, bafe icb für meine eigenen 
$inber, bie miefe ja aucfe, wie alle 2öelt, für tot halten, 
jum 2lbfcfeeu geworben bin, oietleicbt läbmenb unb ab» 
fdjretfenb, oerpeftenb in ibr junges, faum begonnenes Seben 
trete. Slber icfe fcfewöre Sir, i<fe will weber Sir noch 
ihnen hinderlich fein, nur feben will icfe fie. 28eife 
mich niebt jurüd, Sucia, benn Su bift mein 2öeib, unb 
Seine ßinber finb auch meine Äinber! 

Su weifet nicfet, was biefe fünfzehn 3afere aus mir 
gemalt haben, geiftig unb förperlicfe. 2luS bem jungen, 
übermütigen, bis jum 23erbred;en jäfejornigen unb leidet* 
finnigen 9Rann, ber oor fünfjefen fahren in biefeS furdjt» 
bare §auS, in biefeS ©rab ber Sebenbigen eintrat, ift 
ein alter, müber unb gebrochener 2Rann geworben, beffen 
SebenSaufgabe nur noch fReue unb Süfene ift. 3$ will 
arbeiten, bafe mir bas 23lut aus ben Ringern fprifet, 
Sucia, ganj gleichgültig was, bie niebrigften, bemütigenbften 
Arbeiten, bie fein SDienfcfe oerricfeten mag, foUen mir will» 
fommen fein, idfe will Sir auch nicfet befdjwerlid) fallen, 
Sucia. So oiel ßraft habe icfe fcfeon nocfe, um arbeiten 



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ZToreUe oon tüolbemar Urban. - 125 

unb felbft oerbienen gu fönnen, roa§ ich braune. Sftur 
in ©einer üRälje lafs mich fein, nur bie Suft lafj mich 
atmen, bie meine ßinber atmen, bamit ich fte bod^ »oenigftenä 
oon 3 e 't i u 3 e ‘* feh en fann, roenn auch unerfannt. 

3<h befchroöre ©ich, Sucia, bei altem, ma§ e8 im 
Seben ber 9Jfenfchen £eilige8 unb @^rraurbige§ giebt, roeife 
midj nidht gurücf. 3dj fd^reibe ©ir oor^er, bamit ©u 
nicht gu feljr über mein (Xrfdjeinen erfchrecfen foUft. 3dh 
»oerbe morgen früh hier enttaffen, fann alfo oießeidjt fcljon 
am ©onnerätag abenb bort fein — toirft ©u härter, 
graufamer unb unerbittlicher fein al§ frembe fBienfdljen, 
bie mir oergiefjen unb mich begnabigt Ija&en? ©u unb 
bie $inber finb auf biefer 2BeIt meine einzige Hoffnung, 
mein einziger ©roft. 2öirft ©u mir ihn oertoeigern? 

3ch tnuj} fchliejjen. @8 ift fein SRarnn mehr, unb 
mir ift hoch ba8 $erg fo ooß, fo gum gerfpringen ooß! 
2ebe toofjt, Sucia, unb füffe bie $inber — unb »oenn e8 
audh nur im ©raum ift — für micf). ©ein unglücflidfjer 
©atte Seone ©porita." 

3n ber @de recht8 mar ba§ grofje ©iegel ber .ßucht'- 
hau8oer»oa!tung oon fyoggia, unter bem ba8 28ort ,,©e» 
feljen" unb ein unleferlidjer 9iame ftanb. 

„^eilige Jungfrau ba broben," murmelte ©onna 
Sucia Ieife, nad^bem fie gelefen, „toa8 foß ba8 merben?" 

§aftig oerbarg fie ba8 Schreiben rcieber, au8 gurdjt, 
e8 fönne fie jemanb überrafchen unb fie banach fragen. 
$eine ©eele in 9iefina foßte oon biefer unfeligen @e» 
fdfjidjte erfahren. Sfudh ihre Sünber nicht — biefe am 
aßermenigften. ©ie aßein moßte tragen, ma8 ©ott ihr 
aufbürbete, mie fie e8 ja biöfjer immer gethan. 

2 . 

@8 mar Stacht. 3m tiefen ©chmeigen ruhte bie ge» 
fegnete, üppig-frudjtbare ßampagna am gufje be8 5ßefuo8. 



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126 
nor 

(Sin leifer, fofenber 2ßinb fuhr burch bie ferneren 23aum= 
fronen, beren ffiaufchen fic^ mit bem Sollen ber SJleereS* 
branbung oermifchte, bie fich an ber Duaintauer non 
SReftna brach. 3” gewohnter ruhiger 2Beife fticfe ber 
SBerg feine fRaudjwolfen in bie fternheöe, flare ÜRadjt. 
92ur non $eit ju 3eit lohte unb brohte bunfelrotglühenb 
eine geuergarbe oom ©ipfel be§ PergeS in bie 2uft — 
baS einzige 3eicf)en in ruhigen 3 e iten oon ber anheim* 
liehen, ftet§ gefahrbrohenben fRachbarfchaft. 

fDonna Sucia fafj noch bei einer Petroleumlampe auf 
ber Soggia unb nähte. 

„SSoEfen mir benn noch nicht j$u S3ett gehen, 9Jiama?" 
fragte Goncetta au§ bem §aufe h er auä. tft fcfion 

fpät, unb e§ fommen heute bodj feine ©äfte mehr." 

,,©eh nur ju SBett. ®u muht morgen mieber früh 
herauf," antwortete ®onna Sucia, ohne oon ihrer 2lrbeit 
aufjufefjen. „3ch muh hi er noch fertig machen." 

Goncetta lehnte ftd) über bie $ en fterbrüftung heraus 
auf bie Soggia unb fah ju ihrer fJJlutter hin, befrembet, 
alä ob fte nicht recht Hug au§ bem oeränberten SBefcn 
werbe, „©oll ich bir helfen, 9Rama?" fragte fie. 

„fRein," erwiberte fßonna Sucia faft heftig. „3n3 
33ett foßft bu gehen. 2ßo ift Sfffunta?" 

„6ie fchläft fchon." 

„9fa alfo. ©o fdjfafe bu auch- ©ute -Rächt." 

■Roch immer jögerte Goncetta. Unwißfürlich braute 
fte bie abweifenbe 3urücfhaltung unb fonberbare, &er* 
ftreute fRachbenflichfeit ihrer 3Jiutter mit bem 23rief in 
3ufammenhang, bei beffen Gmpfattg fie fo erfchrocfen war. 
2Öa§ mochte ber S3rief enthalten hoben? fragte fidj Gon* 
cetta. 2Benn fte ihre füRutter um 2lu3funft gebeten hätte, 
fo würbe fie biefe oerweigert hoben, darüber war fidf 
Goncetta flar, unb beäljolb fragte fie auch gar nicht. 

Gnblidj trat fte aber hoch oom genfter jurücf, unb 



3tuferfianben. 



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Hopclle ron H?oJbcmat Urban. 127 

Tonna Sucia hörte, roie fte ein Sicht angünbete unb aus 
bet ©aftfiube hinauSging, mie fte meinte, in baS ©d)laf* 
gimtner. 

Tonna Sucia fd^rouBte bie Sampe etroaS ttiebriger 
unb Iaufcbte über bie Srüftung ber Soggia gebeugt hinaus 
ins greie. Giner ihrer §unbe fdhlug an. ©ie fuhr er* 
fdjroden gufammen. 2ßar er fdjon ba? fragte fte fidf 
©ie rief bem Tier leife gu, batnit eS ftch beruhige, unb 
in ber Tljat mürbe eS auch raieber ftitt. 91id;tS mar mehr 
gu cernehmen als baS fRaufdjcn beS SBinbeS in ben 
Dliocn unb ba§ halb ftärler, halb fdjrocicher h er ü& erj 
fdjatlenbe Stoßen ber Sranbung. Gin feiner, mürgiger 
Gampagnabuft hauchte iljr aus ber fRadjt entgegen, roie 
ber Tuft con Drangenbliiten, aber fie adjtete nicht auf 
bie leifen 3<mber ber füblidjen fRacht. Tie ©orge erbrüdte 
bie greube an einer glüdlidjen Statur. 

5öaS mürbe nun merben, menn ihr SRann gttrüd* 
fehrte? Stach fünfgehn Suhlen? ©in con 2Belt unb 

SRenfdjen Iängft Sßergeffener, Totgeglaubter, ben fie felbft 
hunbert* unb taufenbntal als tot begeidjnet, um bem 
neugierigen fragen unb müßigen ©cfdjmäß aus bem SÖege 
gu gehen. 2In ihrem ©eift gogeit bie fürdjterlichen 
feiten corüber, bie fie burdjgemadjt hatte, bamals cor 
fünfgehn fahren in Gampobaffo, einem fleinen Drt in 
Slpulien, unb bann audj fpäter auf ihren ^rrfnt)tten nach 
©alerno, ffJolicaftro unb enblich nach Steftna. $m ©treit, 
im milben Säljgorn hatte ihr SJtann feinen geinb, feinen 
itonfurrenien, ben SBeinhanbler Garufo, erftodjen unb fich 
bann ber ©träfe burd; bie glud)t entgiehen moßen. Gr 
mar aber faum eine Sffiodje nach ber Tljat gefangen unb 
gu gmangig fahren Sagno cerurteilt morben. Tie ©träfe 
mar hart, aber ber gaK mar ein fdjrcerer. Garufo hinter* 
lief} eine galjlreidje §amilie, unb bie öffentliche SJteinung 
mar gegen ben SJtörber. SJtan cerlangte, baj} ben un* 



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128 



Uuferjlanben. 



auffförlidjen ÜRefferaffairen enblidt) einmal cnergifdh gegen* 
übergetreten unb ein (Stempel ftatuiert mürbe. ©o mürbe 
©porita verurteilt, unb ®onna Sucia ftanb allein mit 
ihren oier deinen Stinbern in ber 2Belt. 3ßenn fte nur 
noch allein geroefen märe! 2)ann hätte fte ft<h viel- 
leicht helfen fönnen. Siber mit bent SSater ihrer Äinber 
im 3«(hthaufe ging eS nicht, menigften§ in (Eampobaffo 
nicht- Stein SDtenfdlj rooHte mit ifjr ju tf)un haben, fdheit 
unb ängftlich mich man ifjr in bem Keinen Drt au3 ober 
trat if)r rcoljl auch geljäffig in ben 2Seg, als ob fie ge* 
morbet hätte. 

©o oerfaufte fte benn aüe§, ma§ fie befah, unb jog 
einige ßeit im Sanbe hemm, halb hierhin, balb bortl;in, 
um bie ©puren beä SSerbre<henä, bie ihr roie ein f«hlei<hen* 
be§ ©efpenft folgten, ju »ermifdhen — mit oier Keinen 
Stmbern jog fie junächft nach ©alerno, non ba nach ^ßoli* 
caftro, oon ba nach ^ortici, Neapel unb enblich nach 
Slefina. Stein üöienfdh in Sieftna muhte etroaS attbereS, 
als bah ft« 2BUme, ihr SJlann längft tot fei. ©ie glaubte 
biefe Notlüge im ßntereffe ihrel eigenen gadfommenS 
unb beS ehrlichen 9tamen§ ihrer $inber ntadEjen ju tnüffen. 
©elbft ihre Stinbcr muhten nichts anbereä, als bah ihr 
23ater tot fei. 2Boju hätte fte ihnen mitteilen foHen, 
ma3 iljnen hoch nur Stummer unb ©orge verurfaefjt hätte? 

2Kit eiferner Slttäbauer unb (Energie, mit raftlofem 
gleifj h att e bie fdjroergeprüfte $rau e§ bann unternommen, 
auf ben Ruinen il;reS Gebens eine neue (Edftenj ju be= 
grünben, ihre Stinber ju orbentlidhen, braudhbaren -Uten* 
fdjen ju erjieljen, ihren Sßohlftanb ju mehren unb fiel) 
non ihrem tiefen unb unoerfchulbcten ßaH in ber Sichtung 
ber Seute roieber emporjuarbeiten — ftinfjehn fchrcere 
jahrelang! Unb nun, mo ihrem hdfjen 9iingen ein enb* 
lieber (Erfolg minfte, mo fte ihre ©ohne leiblich unter* 
gebracht unb auf bem beften 2Sege mar, auch ‘h re Töchter 



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Honette non lüolbemar Urban. 129 

ehrlich ju oerforgen, roo ihr ©efdjäft ein geortetes unb 
rentables roar, wo iljt gleiji unb unermüblidje SluSbauer 
enblidj jum 3iele i u führen nerfpradjen, traf fte mie ein 
®onnerfdjlag bie Slüdfeljr ihres SJlanneS. 

3m großen unb ganzen mar $)omta Sucia eine tljat* 
fräftige, refolute grau, bie fidj nicht leidet in ©entimenta* 
Iitäten unb ßopffjängereien »erlor. 3e£t ober fab fte 
fidj bodj in einer Sage, in ber fte nicht fofort muffte, 
roeldjeS »on ben ihr broljenben Hebeln fte als baS leister 
erträgliche mäblen foHte. ÜJlahm fte ihren 3Jlann auf, fo 
ging eS ibr mieber roie in dampobaffo. 2WeS mürbe 
ben Krebsgang geben, bie „gaccia greSca" mürbe »eröben, 
roeil fein SJlenfd) ntebr mit il)r ju ttjun hoben roollte, 
ifjre ©ohne mürben in ihrer Karriere bebrobt, unb doncetta 
mürbe bei ber fcbon ohnehin fchroierigen Sage gegenüber 
$on ©ennaro niemals bie grau beS ®ott Slicola — 
öießeicbt überhaupt nietnanbeS grau roerben. 

©ollte fie aber beShalb ihren 9Jlamt jurücfroeifen? 
dr mar unb blieb hoch immerhin ihr 2Rann, ber SBater 
ihrer Sfiitber, unb fte felbft feine einzige lefste §ilfe unb 
Rettung. $atte fie überhaupt baS moralifdje Siecht, ben 
SOater ihrer $inber ton ihrer ©djroeße ju meifett, mentt 
er fie betrat? 2öer fonnte miffen, mie ihre $inber, be= 
fonberS ihre ©öfjue, bie ftcfj roohl nodj auf ihren S3ater 
befinnett fonnten, barüber bauten? 2Ber fonnte miffen, 
mie fich ihr ©djicffal in gufunft geftaltete, unb ob bie 
$inber ihren 35ater nicht bod) nodj einmal brauchten? 
Unb ob nidjt einmal eine ©tunbe fommett mürbe, in ber 
ihre Hinber fte, bie SJlutter, für biefe §erjlofigfeit 3 ur 
Sledjenfdjaft jogen? SBar baS nicht noch fchredlidjer als 
alles, raaS entfielen fonnte, roeitn fte ber 2Baf)rheit bie 
@hrc gab unb ber 2Belt geftanb, mie alles roar? 

2luf alle biefe gragen muffte Sontta Sucia feine 2litt= 
rcort, trofjbem fte ftch alle fölöglichfeiten aufridjtig unb 

1901. III. » 



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130 



2tuferfeanben. 



einbringlidh tjorfiitjric. ©ie lauste ängftlicf), bei jebem gu< 
fälligen ©eräufdj gufammenfaljrenb, in bie 9iadE)t hinaus, 
ohne gu einem feften ©ntfcfelufe fommen gu fönnen. 

fßlöfelicfe Ijorte fte auf bem ©teingeröH beS 2BegeS, 
feer Jur „$accia $reSca" hinauffüljtte, einen fcferoerfäHigen, 
fdjleppenben ©cljritt. Sh* mar, als ob ihr oor ©dEjrecf 
bas §erg ftiflfteljen miiffc. ©ie nahm oorfidhtig unb Ieife 
feie Sampe uom SifdE) unb leuchtete bamit über bie Srüftung 
hinunter, ©ie erfannte ifjn fofort, als ob ifjr jemanb 
gugerufen hätte: $aS iftSeone, baS ift bein 9flann! $iefe 
gufammengefunfene, unheimliche ©eftalt, bie ftch im um 
geroiffen ©dhein ber Sampe aus bem SDunfel ber Stacht 
loSlöfie, fidh roie ein brofeenbeS, rätfelljafteS ©d^icffal ber 
„Saccia greSca" näherte, baS fonnte nur e r fein, ber £ot= 
gefagte unb Sluferftanbene. 

„Sucia!" flang feine roie oon frönen erftiefte ©timme 
gitternb unb bittenb gu ifjr empor. 

2)a ftanb fte auf, h a fü& wie unter bem Zwange einer 
unmittelbaren Erregung, in einem natürlichen 2luSbrucfe 
ihrer Snnerlidhfeit, unb eilte bie kreppe hinunter, ihm 
entgegen. 

„Seone, bift bu es?" rief fte ebenfalls leife. 

SDer 2ttann fdhiett fehr, feljr rnübe gu fein, benn faum 
hatte fte ihn erreicht, fo fafete er begierig, roie ein (Sr= 
trinfenber nadh einem ©trofehulni, ihre -§anb, brüdte mit 
einer fonmilftoifchen ©rregung feinen fDtunb barauf unb 
fiel oor ihr auf bie ßniee. 

„3^ein, nein, Seone, fnieen mufet bu nicht," [tiefe fte 
aufgeregt unb ebenfalls mit ÜEhtünen im 2luge herttor; 
„fomm nur, fomm hinauf!" 

„Safe mich nur liegen, Sucia," murmelte er gerfnirfd&t, 
„hier ift mein fßlafe!" 

2öie oiel unb roie lange h°tte fte über eine Söfung 
naefegefonnen, roie hatte fte fi<h alle 9Jlöglicl)feiten unb 



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ZTocefle Dort tüolbemar Urban. 131 

3ufäHe cergegenroärtigt, ohne einen 2lu§meg ju finben! 
3b* SSerftanb batte fie im ©ticb geladen, aber üjr §erj 
nid^t. 3b* §er^ fanb im erften 2lttgenblicf eine Söfung, 
bie wie ein ©efe£, mie eine ^eilige $flidjt über fte farn. 
©ie fonnte ihren fDlann nicht auf ber ©trafie liegen 
laffen. ©ie braute eä nidjt über ftdfj. 

©ie fafjte ihn f)elfenb unter ben 2lrm, um tfjn auf» 
äubeben, unb fagte: ,,©teb nur auf, Seone! $Du fannft 
nid^t hier liegen bleiben, ßomm nur. 3<b habe etraaä 
ju effen unb ju trtnfen bereit gefteUt. 3$ badete tcol)!, 
bafj bu fommen roürbeft." 

„33u baft meinen 33rief erhalten, Sucia?" 

„3a, lafj nur baS jefjt. 3$ n>eiB ja auch nicht, roie 
atle§ roerben foH. ©ott roirb un§ ja mol)l Reifen. 3^t 
fomm nur mit hinauf." 

2J?it iljrer §ilfe erhob er fidj unb ftieg bann langfam 
unb mübfam bie kreppe Ijinauf. ©ie fpradjen babei nichts, 
nur als fie beibe in bie ÜHcilje ber nod; auf bem Stifdje 
ftebenben Sarnpe gelangten unb beren ©dbein auf fein 
©eftd^t fiel, mich fie unrcillfürlid) cor ifjm jurüd unb er» 
fdjraf. ®a§ batte fte gang cergeffen, baft fünfjeF>n 3ab*e 
gucfjtbauä fidj audj äufterlicb auSprägen. 2lber roenn fte 
auch baran gebadjt, fo fürchterlich hätte fte eS ftdj bodb 
nicht corgcftellt. ®a3 bartlofe, ftoppelige ©efidjt batte 
einen ftumpfen, geiftlofen Slusbrud unb einen fdjmutjig» 
grauen Seint. ®ie 2lugett mären matt, tnübe, boffnungS» 
loS traurig, tiefe galten sogen fidj redjts unb linfS con 
ber 9?afe jum fDiunbe b^rab — ba§ mar fein SJiann 
mel)r, fonbern nur noch bie SRuine eines foldben. £)aS 
mar fcblimmer als ein com £obe Sluferftanbener, bie 
.gudjtljauSluft lag auf ihm unb batte ihn, mie eine 
iPflanje, ber man baS Sicht entzieht, cerroanbelt. 

@r bemerfte ihren erfdjrecften SQlicf fefjr mol)!, er fühlte 
ihn, aber er fagte audE) nichts. 2Bebmütig=trautig cer« 



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132 



2luferftanbcn. 



gog fid^ fein 2Jlunb etwas, wa§ wie ein Säbeln auSfalj, 
als ob er fagen wolle : Xa§ wirb ftch fdjon roieber machen. 
Silber eS war ein fo tobtraurigeS Sädjeln, baf} es au§» 
fal), a(S ob er felber nicht baran glaube. 

3)ann wollte er, mübe toie er war, ft<h am SEifdje 
auf ber Soggia fefcen, fte Ijinberte ifjn aber baran unb 
fliiftertc iT;in leife gu: „-Kein, nicht ^ier. ßommnurbort 
hinein. 2)ort fönnen roir alles berebcn, wie es werben 
foH. §ier Jönnten uns bie ßinber belaufdjen." 

„$ie ßinber!" wieberljolte er feufgenb. „2Benn ich 
fte nur einmal feljeit fönnte, Sucia!" 

„3fl bodj, je£t fomm nur. @3 roirb fic^ fc£>on machen, 
wenn idj auch nod) nid^t weift wie. SDu mufft auch an» 
bere Kleiber ^aben. $a3 geht fo nidjt. ©leicfj morgen 
früh merbe ich banadh gehen." 

„3dh begabte fte natürlich. $Jiein, ich will bas nicht, 
Sucia. Sch fjctbe ja ©elb, fiebenunbfechgig Sire unb breijjig 
ßentefimi, was fte mir aufgefpart ijaben — bort — bu 
roeifet ja rco. ©ie haben es mir bei meiner ßntlaffuna 
auöbegaljlt." 

„$)u wirft eS wohl noch braunen, fpäter, wenn bu 

erft 5$ h«&® baran gebadet, ob bu nicht etwa 

in Neapel ein Unterfommen fudhett lönnteft. Neapel ift 
eine grofje ©labt, wo ber eingelne nid^t fo fefjr auf* 
fällt. 2)enn fiehft bu, Seone, Ijier — ■ — es ift ber 
$ittber wegen. $omm nur. SdE) «gä^Ie bir bas alles ba 
brinnen." 

$amit führte fte ihn bie Soggia entlang unb trat am 
@nbe berfelbert in ein 3immer, baS fie gewöhnlich für 
©äfte bereit Ijielt, bie bei iljr übernachteten. $a5 fam 
nic|t häufig oor, aber an SCTlarfttagen unb an ^eiligen* 
feften war eS hoch immer befetjt, fo baff eS nicht befonberS 
auffallen fonnte, wenn fie auch einmal gu einer anberen 
3eit einen gremben beherbergte. 



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ZTooeHe oon tüolbemar Urban. 



133 



Sitte $eitlang blieb bie Soggia leer unb bunlel liegen, 
bis enblidh ber ©cljein einer Kerje burdj ein offen fielen- 
beS genfter aus ber ©chenlftube heraus auf bie Soggia 
fiel, unb gleich barauf trat Goncetta mit einem Sicht in 
ber §anb an baS offene genfter unb fah fid£j auf ber 
Soggia um. ©ie hotte fpredhen ^ören unb woßte nun 
nachfeljen, roaS loS mar. ©ie bemerlte aber nichts, bis 
enblidh ihre 9Rutter roieber aus bem grembenjimmer her* 
aus auf bie Soggia trat. 

„2Sar nic§t jemanb hie*, 3Jlama?" fragte Goncetta. 

$onna Sucia machte ftdj mit ber Sampe ju fdjaffen. 
Goncetta überragte fie, unb fte wufjte nicht gleidtj, nmS 
fie antworten fodte. 

„3a, eS ift ein 5D?ann gefommen, ber baS Bimmer 
mieten wifl,"' antwortete fie enblidh. 

„Gin $rember?" 

„3a, ein grember. Gr fommt aus Neapel. $er 2lermfte 
ift foeben erft aus bem Kranfenhaufe entlaffen morben 
unb foU nun in ber freien Gampagnaluft feine ©enefung 
erwarten, ©eine ©aefjen liegen noch auf bem Safjnljof. 
©ie foßen morgen früh geholt werben. " 

„Gin dränier, 3Jiama?" fagte Goncetta etwas ängftlich- 

„9fun, nicht gerabe ein Kranfer, benn fonft wäre er 
ja nicht entlaffen worben, aber boef) auch lein ©efunber. 
•äJiaclje nur rafefj etwas jtr effen, Goncetta, eine glatte 
SRaccaroni, ein wenig Kalbsbraten, oon bem wir noch 
haben, unb hole ein paar frifche feigen unb Drangen 
aus bem ©arten. Gine fjlafd&e oon bem alten ©ragnano 
fleht wohl noch brinnen auf bem Süffett." 

„93on bem alten, -Kama? 3)ie glafdhe ju jwei Sire?" 
fragte Goncetta erftaunt. 

„fRa ja hoch, ein 9le!onoaleScent wir biirfen 

eS mit bem Slermften nicht fo genau nehmen. SRidhte 
nur aßeS he*- 3$ trage eS bann felbft hinein." 



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134 



21nferfianben. 



2lfjnung§Io§ ging (Soncetta roieber baoon, um i^re 
Veforgungen auSguridhten, unb ©onna Sucia trat mieber 
in baS ffrembengimmer gurüdf. 

„§aft bu fie gefeljen?" fragte fie ihren -Kann, ber roie 
tergmeifelt am Xifd^e gufammengefunfen mar. 

„Qa," antroortete er tonlos, „burdhS ©dhlüffelloch. 
£5aS mar (Soncetta?" 

„3a. §aft bu fie nicht roieberertannt? ©ie mar 
bantals freilich erft vier 3 a hte." 

„2öie fc^ön fie gercorben ift! ©ang bein (Sbenbilb, 
mie bu fo alt marft." 

„9Jian nennt fie baS fdfjönfte üDiäbdjen non gang 
Kefina. " 

3f)r ÜBiann fah plöfclidh ftarr oor fic§ auf ben Voben 
unb ermiberte erft nach einer langen $paufe ferner unb 
gepreßt: „®u haft recht, Sucia, es geht nidfjt. @S ift 
meines VleibenS ^ier nicht. 3<h bin ein Verfluchter unb 
©egeichneter, ber fein Sfedfjt hat, feinen ßinbern in ben 
2Beg gu treten. -Kögen fie glücflidh merben, mie ich un* 
glücflidh bin ! 9Jlögen fie ruhig unb frieblich ihre Sehens« 
ftrafje giehen, mie ich ruljloS unb terbammt bie meine 
giehe!" ®ann fi<h plöhlich aufraffenb unb feine ©ad&en 
gufammennehmenb, fuhr er I;aftig fort: „gort, meg ton 
hier, bafi meine 2Inmefenheit nicht bein reines, glücflidheS 
§auS oerpeftet! ®ie ©ünbe roiH ich nicht auc h tiodh auf 
mich nehmen, bafj ich baS ©ffidf meiner 5linber gerfiört 
hätte. Kur fort, Iah mich nur hinaus, Sucia. 3$ 
tauge nicht unter bein ®ac(j." 

,,©ei hoch ftiö, Seone. @s fennt bidh ja niemanb. 
VIeibe nur. Korgen ober übermorgen merben mir ja 
roeiter fehen." 

©ie rebete ihm gu. 6r märe ja auf ber ©trajje gu= 
fammengebrochen, menn fie ihn hätte gehen laffen. Unb 
fo blieb er. 



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Houelle non JDolbemar Urban. 



135 



3. 

©S Jonnte nid&t auSbleiben, bafe ©oncetta in ungeroöf)n* 
Iidfjer 2Öeife auf ben fremben ©aft aufmerlfam unb neu* 
gierig rourbe, junädbft burcf) iljre 2)lutter felbft. $onna 
Sucia tljat gerabe fo, als ob es fid^ minbeftenS um einen 
©rafen ober bodf) einen feljr reifen #errn gefjanbelt fjätte. 
Iföidjt nur ber alte ©ragnano am Slbenb feiner 2ln!unft 
fprad) bafür, fonbern auch alles Spätere. 2lm nädEjften 
borgen mußten frifdfje ©ier unb Sutter für ben gremben 
bereit geftellt roerben, für bie „gaccia greSca", beren Herrin 
für ftd) felbft unb iljre gamilie feljr b«uSljälterifdf> mar, 
unerhörte $inge. 

„©r ift mof)l feljr reidj?" fragte ©oncetta ü>re üülutter. 

„SJiatürlicfj. ©r roirb uns fdjon bejaljlen," ermiberte 
biefe fHüd^tig, „aber oor allem ift er ein 9Jlann, ber fjter 
gefunb merben foU. S3erficl)ft bu? 2llfo nur immer baS 
33efte. ©r mag mofjl fe^r fernere Beiten burd^gemad^t 
Ijaben." 

•Katürlid) entftanb nun in ©oncetta ber SBunfclj, ben 
fremben auch einmal oon 2lngefidjt ju 2lngefid^t ju feljen, 
unb fte l)ielt fiel} beSljalb fef;r oiel auf ber Soggia auf, 
in ber Hoffnung, baff ber $rembe bodEj auch einmal Ijer* 
austreten mürbe, ba ja fein Bimwer an bie Soggia fiiefj. 
Slber biefe Hoffnung erfüllte fidj nidjt, unb ©oncetta mürbe 
junädjft burd) ein anbereS ©reigniS, baS iljr ungleich 
mistiger mar, mieber oon bem gremben abgelenft. 

3b« Butter mar nadj Neapel gefahren, um bie Sachen 
beS fjremben in Drbnung ju bringen, unb 2lffunta batte 
mit bem 93ie^ ju tfjun, als plö^Iidb unb unermartet $oftor 
•Jiicola SombeHt auf ber Soggia ber „gaccia greSca" er* 
fdjien. ©r überragte ©oncetta, bie gerabe auf einem 
Stubl ftanb, um einige SBeinranlen feftjubinben, fo feljr, 
bajj fie i^n erft bemerfte, als er fdjon Ijinter i^r ftanb, 



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136 



Uuferjtanbeu. 



fie um bie $üfte fafjte unb oom Stuhl Ijerunterjog — 
bireft in feine 2lrme. 

Sie t^ai furchtbar erfcf>rocfen unb oerteibigte ftc^ 
fdjeinbar mit grofser §eftigfeit, aber ohne befonberen @r* 
folg, benn fdjon im nächften Slugenblicf hotte f« auf bei= 
ben SBangen bie $üffe be3 ftürmifchen 3Jlebiginer8 ft$en. 

„SDu bift roof)l nicht recht ftug, fRicola," ganfte fie 
erregt unb errötenb, „hierauf ber offenen 2oggia! 2Benn 
un§ nun jemanb ftef)t!" 

Sie hotte feine SUjnung baoon, mie fdjarf fie beobachtet 
mürbe. 

„9iun, unb ma§ ift bann, menn un§ jemanb fie^t? 
fDann fieljt er glücflidje fDfenfchen, bie fich burch 
nichts in ber 2Belt ftören laffen," rief ber junge 2lrgt 
flott unb übermütig. „2lbcr meifit bu auch, me§holb ich 
heute fo geitig ln«* bin?" 

„2öa§ ift benn gesehen? $u bift fo aufgeregt unb 
fo — ungejogen mie nie!" 

„3ch ^abc auch ©runb baju. SDon ©ennaro ^ot Hein 
beigegeben." 

„3Bie? @r roiUigt ein?" fragte fte ftürmifch. 

„9Jicht mit Haren, bürren äBorten," erläuterte er, 
„bu roeifjt ja, mie er’S macht. @r fagt nie bireft ja ober 
nein. 2lber er hot ber alten Gicugga, bie im gmeiten 
Stocf unfcreS JpaufeS mohnt, bie 2Bol>nung gefünbigt." 

„Unb ba§ ift alles? 2öa§ h a * bas mit uns gu 
fchaffen?" 

„$aS fielet bu nicht? ®aS mirb unfere SBohnung, 
ßoncetta. 6r h«t gur Gicugga gejagt, bafs er bie 2öof)nung 
oom neuen ^oh* ob felbft brauche unb fie neu einrichten 
rnolle. $ür men foHte er fte benn einrichten, menn nicht 
für un§?" 

„®u hätteft ihn hoch erft fragen foHen, ehe bu fo 
jubelft. traue ber Sache hoch noch nicht fo recht." 



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noueUe »ott IPoI&emar Urbatt. 137 

„$u fannft bidlj batauf »erlaffen, Gonceita, es ift fo, 
t»ie icf) bir fage. 3$ fenne bodj meinen SSater. Gr 
fagt nicfjtä, aber er fieljt bie Greigniffe fommen unb richtet 
ftd) ruf)ig unb praftifdl) barauf ein. SJlein 2 ßort barauf, 
baff mir gum Sleujaljr heiraten. Unb nun fei luftig unb 
guter ®inge. 3 $ Ijabe bir aucfj etroaä mitgebradjt. $>a! 
Slimm." 

®abei reichte er iljr einige 33 ergijjmeinnid)t, noclj tau* 
frifdfj, offenbar foeben erft gepflücft. 

©ie nafjm bie Keinen, gierlidjen 33lumen in bie^anb, 
orbnete fie fauber unb ftifjte fie bann, Gigentümlid) ge* 
rüfjrt, roie eä fonft nidjt iljre 2 lrt mar, banfte fie if)in. 

„ 2 af$ nur," fuljr er flott fort. „(Sä ift ja nidjt ber 
Siebe wert. 3$ roeifj ja bodfj, bafj bu gerabe biefe blauen 
SBlumen feljr gern Ijaft. ®eäljalb braute idj fie mit." 

„SBeifjt bu audfj roarum?" fragte fie, träumerifdpgärt» 
Iidlj oor ftclj f)in blidenb. 

„SSeil fie bir gefallen, »ermutig," erroiberte er. 

„D nein, baä fjat einen gang befonberen ©runb, unb 
wenn bu fyübfdf) artig bift, Slicola, fo ergäbe ictj bir baS." 

„Grgäljle, ergäfjle. $omm, fefje bidfj unb ergäbe. 5Du 
meifjt bodfj, raie gern idlj bidj erjagen fyöre." 

®amit fe£te er ftclj auf einen ©tuf)l unb 50 g bie nur 
leidet SSiberftrebenbe auf feinen ©cljofj. Goncetta, beren 
offenem unb natürlidjein Söefen bie ^ßrüberie etroaä Un* 
befannteä mar, fe^te fiel) auf fein $nie unb falj mieber 
gerührt auf iljre SSIumen, bie fie noclj immer in ber .§anb 
fjielt. ©ie groinferte etroaä mit ben Slugen, als ob il)r 
bie Sfjränen ftd) roibermiHig Ijeroorbrängten, unb mifdjte 
mit ber §anb barüber l)in. 25ann begann fie einfad), 
mit einem leidsten ©eufger unb einer ‘meicljen Slüljrung: 
,, 3 d£) ntufj immer, roenn id) biefe Slutnen fefje, an meinen 
armen 33ater benlen, ber nun fd)on fo lange tot ift. 
©leicfpool)! befinne id) mid) nodf) feljr gut, alä id) noclj 



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138 



Unferjlanben. 



ein Heines Sinb war, mie er mich auf feinen ©dfjofj 
nahm, mir bie §anb auf ben ©Reitel legte unb mit 
flüfternber ©timme allerlei erjagte. @ineS 2lbenbS, baS 
mar noch in ßampobaffo, mo mir früher mo|nten, eS mar 
ein munberfyübfdjer ©ommerabenb, erzählte er auch- 
„2öeifjt bu roohl, Goncetta, marum man biefe fleinen 
blauen SBlumcn ba 33ergifjmeinnicf)t nennt?" — ©o fing 
er an." 

®ann ftch plöfclidj unterbred&enb, fah fie ihren -Jlicola 
an unb fuhr mit ueränberter ©timme fort: „Slber baS 
Iangroeilt bid& geroib, -Jlicola. 3h* 9Jlänner hobt ja feinen 
©inn für fold&e empfinbfame ©efchidhten." 

„(Stähle immerhin. SBenn bu erjählft, ift alles inter* 
effant," proteftierte er UebenSmürbig. 

„2llfo," fuhr fie mieber in ihrer traumverlorenen, 
meinen 2lrt fort, „ich mubte es nicht, marum man biefe 
blauen Slümchen SSergifimeinnicht *) nennt, unb iJSapa er* 
jählte roeiter: $ls ber Hebe ©ott bie SSelt gefdhaffen 
hatte unb alle feiere, S3ögel, -äJlenfdhen unb fPflangen, 
ba gab er auch jebem feinen 9?amen unb fagte: Sftun geht, 
fucht eudh einen hübfcljen $lab in ber neuen 2öelt aus 
unb »ergebt nicht, mie ihr 2lber faum maren fie 

fort, fo bajj ber liebe ©ott badjte, ftch nun etroaS aus* 
ruhen ju fönnen, ba fam audh fchon ein Heines, unfchein* 
bare§ 33lüm<hen mit bünnen Söeind^en jurüdl, lieb baS 
blaue Köpfchen betrübt hängen unb mifperte ängftUch: Sich, 
bu lieber ©ott, fei nur nicht böfe, bab ich meinen Flamen 
mieber »ergeffen höbe. 3$ ttJeifs ja nicht mehr, mie ich 
fjcibe. 2öaS foHen benn bie Seute oon mir benfen, menn 
ich nicht einmal roeib, mie ich h^ifee ! ®a antroortete ber 
liebe ©ott: Slber bu Heiner ©ebanfenfacf, mie fannft bu 



*) StoÜenifch: Non scordar di me, roaö genau berfelbe 
SluSbrudE ift mie im Seutfchen. 



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Hooeüe oon H?olbemar Urban. 139 

nur fogar beinen eigenen tarnen »ergeben? 3$ weifj 
if»n auch nicht mehr. — $a mar nun bie ÜRot grofj, unb 
baä Heine namenlofe Vlümdjen oergojj feine bitierften 
S^ränen, bis ber Hebe ©ott enblich fagie: 5Run, geh 
nur ^in unb fie^ ju, wie bu burch bie ©eit fommft, 
nur — oergife mein nicht! ®a fchlid) bie blaue 33lume 
befcheiben baoon, unb wenn eä bie Seute fragten: 2Bie 
hei&t bu benn? fo antwortete eä ängftlidh : traulich: 33er* 
gij} mein nicht." 

(Sä trat eine Heine $aufe in bem Ieifen ©eflüfter ein. 
5Der ©inb ftrich meid) unb wohlig über bie offene Soggia 
unb nahm ben ©djaU ihrer ©orte mit fort, fo bafj ber 
atemlofe Saufdier an ber Sljür jum grembenjimmcr roof)l 
fah, maä burch bas ©chlüffelloch ju fehen toar, aber nichts 
hörte. 

„3>ft bas nicht hübfdj?" fragte Soncetta enblit^ fanft 
unb fal) iljrem Verlobten fdjüchtern in bie 2lugen. 

,,©o hübfdj roiebu, Eoncetta," antwortete biefer unb 
Hißte fie göttlich auf ben ©unb. 

Slber fte blieb in ihrer träumerifch’traurigen, weiten 
SRüljrung unb fagte nach ein« neuen 33aufe: „^dj glaube, 
ich mürbe auch eher meinen eigenen fRamen oergeffen, ehe 
ich meinen Vater oergeffe." 

„$u thuft recht," erwiberte er innig, „wahre Siebe 
überbauert alles." 

Vlöfclid) öffnete fich bie $hür, f)i nter ber ®on Seone 
big bahin mit Hopfenbem $ergen gelaufoht, unb biefer trat 
heraus, fdjjeinbar ruhig unb gemeffen, aber bod) in einer 
tiefen Ergriffenheit unb getrieben oon bem unwiberfteh* 
liehen ©unfdj, noch einmal bie §anb auf ben ©cheitet 
feine JtinbeS gu legen unb ihm wie bamalä in fdiulb* 
lofer, glücHidjer 3eit in bie reinen SHnberaugen gu fehen. 
®ann wollte er gern ftch oon h‘ nnen ftehlen unb in 
tieffter Verborgenheit ben gludj feines SebenS weitertragen. 



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140 



2Iuferjlanbett. 



Unerfannt, als ein $rember, rooEte er an bem $eiligften, 
tnaS iljm auf biefer SSelt noch lebte, oorbeifchleidjen unb 
gleichfam im gluge einen 2lugenblid in bem feligen $a* 
rabieS leben, baS er auf immer oerloren. 

Soncetta ftanb fofort auf, als fie ben gebeugten, blei* 
djen -Kann auf bie Soggia treten fah, unb flüfterte betreten 
unb ihn fcheu anfetjenb: „Der $rembe!" 

„9Jfein liebes $inb," begann Don Seone mit einer 
fdjtnadjen, leidjt jitternben ©timme, ,,idfj bitte um k Ber* 
gebung, wenn ich ©ie einen Slugeitblid ftöre. iJlber ich 
habe einen nottnenbigen ©ang in bie ©tabt ju machen 
unb möchte ©ie bitten, mir bis ju meiner Eiüdfeljr biefe 
33rieftafdje — es finb fecfjjig Sire barin — auf jubernahren. " 

Damit trat er, bie SBrieftafdje öffnenb, näher an 
(Soncetta ^eran, bie ifjn mit tnadbfenbem ©rftaunen anfah 
unb feinen Süd non ber hinfälligen, gebriidten ©eftalt 
abmanbte. -Kedhanifd) griff fie nach ber Sörieftafdhe, mar 
aber nor ©taunen unb Ueberrafcfjung feines SöorteS fähig. 

Don Seone fuhr in feiner müben ©leichmäfjigfeit 
fort: „^dh hoffe ^f>re $rau 3Jlutter nodh ju fehen, roenn 

aber $m, roaS haben ©ie ba für fdjöne 33lumen?" 

unterbrach er fi<h plöhlicfj unb tnieS mit ber £anb auf ben 
f leinen Sergijjmeinnichtftraujs. 

„Non scordar di me!“ erroiberte Soncetta mit fdhroerer, 
ernfter Betonung unb ihn mit ihren grofjen bunflen 
2lugen noE anfeljenb, als ob fie mit biefen 2Borten nodh 
eine Siebenbebeutung, eine Mahnung nerbinben tnoEe. 

Don Seone ftanb je^t bidjt bei ihr, unb mie non 
einer geheimen ©eroalt, non einem überirbifchen 3 ß uber . 
getrieben, legte er feine redjte $anb leidet auf ihren 
©dheitel unb fal) fie einen furjen Sfugenblid innig an. 

„Söeifst bu tnohl, Soncetta," fagte er mit leifer, 
etmaS «ärmerer ©timme, „marum man biefe fleinen 
blauen Blumen 33ergi|meii>nidht nennt?" 



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Hooelle »on tPotbemar Urban. 141 

Unb al§ fxe oor mafjtofem ©taunen nodfj immer nicljt 
mufjte, ma§ fte fagen unb glauben foßte, fuljr er mit einer 
fonberbaren, roie jugenblicfjeren, glüdlicfjeren Betonung, 
rcie fte iljm »ieüeid^t noclj au§ langer 33ergangenl)eit et» 
innerlich mar, fort : „ 2 Hä ber liebe ©ott bie SEöelt gefdEjaffen 
Jjatte unb alle SCiere, 33ögel, DJienfdien unb $Pflanjen, 
ba gab er aud(j jebem — " 

©in erfcljütternber ©cf)rei burdfjljallte plö^Iid^ bie Soggia. 
Qm felben 2 lugenblid fdfjlang ©oncetta in einer leiben* 
fd^aftlid^en unb frampffiaften ©rregung il)rc Slrme um 
ben §al§ be§ fretnben SJlannei unb rief mit glüdf* 
liebem ©dfjlud&jen unb SBeinen: „93ater! SBater! Sieber 
SSater!" 

3 unäd)ft mar 2 )on Seone beftür^t unb erfdfjroden. ©§ 
mar offenbar nidjt fein SBiHe gemejen, fiel) il)r 5 « erfennen 
ju geben, ©in natürlich, unbeäminglidjeä ©efüfjl, burdfj 
bie lange unb Ijartc ©ntbeljrung uon SBeib unb Älirtb ju 
einer unmiberftel)lidjen ©emalt angemad^fen, fjatte iljn 
nerleitet, fidj ©oncetta ju nähern unb ben alten 3 <mlm r 
auf fidj mirfen ju laffen. §ätte er auclj nur entfernt 
geahnt, bafj iljn ©oncetta nadj fo langer 3 e ^ nrieber er* 
fennett mürbe, märe e§ freier nid^t gefcljefjen. 

„©ignorina," fagte er gögernb unb oerroirrt, ,,icf) meijj 

nidjt id» oerftelje nidjt ©ine jufäUige 2 Ieljn= 

lidEjfeit muff ©ie mof)l tauften, idj idfj Ijabe feine 

Ätnber. “ 

„© 0 ?" erraiberte ©oncetta, bie Söorte fjaftig Ijerauä» 
ftojjenb. „®u rciUft un§ oerleugnen? Un§ unb biclj felbft? 
Unb meäljalb, ißapa? D, fage nicljtS, aus ^unbert* 
taufenben Ijerauä mürbe idjj bid) erfennen in jeber $lei* 
bung unb unter allen Umftänben. ÜUeinft bu, id) fönnte 
beine 2 lugett, beinen Slid oergeffen, ober ben leidsten 
$rud ber §anb auf bem 5lopfe, ober bie ©efdjidjte »om 
33ergi|meinnid)t? D, nun oerftelje iclj, meöljalb e§ ber 



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142 



2Inferjtanben. 



Or4Ör«»4C>r4Ö 

alte ©ragnano unb weshalb alles frifc^ unb gut fein 
mufete. $er fflefonaaleScent, ber in ber „$accia greSca" 
ftcfj erholen wollte, war $apa. ©e£e bic^ ! 9lein, fage 

nichts. ®u fotlft bidj erholen. 9Q?ag gewefen fein, was 

mag. (Sä giebt auf ber 2Belt feinen befferen ^latj für 
bidj als bie „$accia $reSca". §abe idj nid^t recht, Nicola? 
©ief> iljn an. $aS ift mein $apa." 

„(Soncetta — " begann $on 9iicola. 

„©ei nur ftiU. $5u wiöft fagen, bafe er nicht recht 
präfentabel ift, bafe er nidjt niel rorfteltt ober fein ©taat 
mit if)tn gu madjen ift," fuhr fie immer eifriger unb ge* 
fchäftiger fort. „$aS lafe nur meine ©orge fein. Sdj 
will fdjon roieber gutmachen, was anbere nerborben hoben. 
$aft bu nidjt felbft oorhin gefagt, bie wahre Siebe über» 
roinbe alles? ©ie überminbet nicht nur alles, fie oerebelt 
unb erhebt auch aöeS, benn ber 9ttenfdj liebt nichts, raaS 
nidjt lieb unb wert ift." 

©ie mar in ihrer $reube unb in ihrer Aufregung gang 
geuer unb flamme. -EÖlehrcretnal nerfudjte ®on Seone fie 
gu unterbrechen, um ihr bie fdjraeren SSermidelungen flar 
gu madjen, benen fte im Segriff mar, fich auSgufctjen, 
aber fie liefe ifen gar nidjt gu 2Sorte fommen. 

„(SS ift mein SBater," rief fie in immer fteigenbem 
2Iffeft, als Ijötte fie gealjnt, welche ©chmierigfeiten man 
ifer bereiten wolle, „unb ich mödjte woljl wiffen, was 
gwifdjen Fimmel unb (Srbe bann noch heilig ift, menn 
nicht bem Äinbe fein SSater." 

„Siebes ßinb, Ijäre mir gu, was idj bir gu fagen 
Ijabe," begann SDon Seone enblich bringenb. 

„‘JSaS wiHft bu fagen, 33ater?" entgegnete fte geprefet, 
als ob fte fich gewaltfam gwingcn müffe, ruhig gugufjören. 

„Soncetta," fuhr ®on Seone leife unb mübe fort, 
„wenn wir beibe bie Sßelt auSmadjten, ober bodj alle 
SJienfchen fo bädjten wie wir gwei, fo wäre alles gut, unb 



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XToretle non IDolbemar Urban. 143 

wir lebten in einem Varabiefe. 2lber baS ift nicht ber 
gall, unb beSljalb ift es nötig unb in beinern roie in unfer 
aller ^ntereffe unbebingt erforberlicfj, bafj ich noch einige 
3eit fern non euch im Verborgenen lebe." 

„SBoju, Vater?" marf fie aufgebracht baflroifchen. 
„SBeShalb roie ein Tieb im Tunfein burch bie Vadfjt 
fchleic&en? ©teilt man bir nach?" 

„Vein, nein, niemanb ftellt mir mehr nadj, aber eS 
märe ein neues, unerhörtes Unrecht, bös idt) bir unb 
beinen ©efdfjroiftern gufügen mürbe, menn ich jefct auf 
einmal roieber als Totgeglaubter unb 2luferftanbener unter 
euch träte. Tie 9J?utier roeifj alles, ©ie rairb bir alles 
erjählen, unb bu wirft begreifen, bafj alles fo fein tttufj, 
roie ich fage. ©ei glücflidj, Goncetta, unb lebe roohl. 
3<h roiH gern ben 9teft meines SebenS unb meines ©lüdfeS 
opfern, um baS beine gu fidhern. Addio, mein liebes, 
liebes ßinb." 

Goncetta roar aufjer ftch unb meinte hefte Thränen. 
„Tu roiftft fort, Vater? ßranf unb elenb roie bu bift?" 

„2>ch ntufj, Goncetta. grage nur bie Vlutter, unb bu 
roirft alles begreifen." 

„ViemalS, niemals!" proteftierte fee heftig. „Ver* 
fpridh mir, bafj bu roieber fontmen roitlft, ober fage mir, 
roohin bu gehft." 

„3<h miU nach Neapel. TaS ift ja nicht roeit. Tu 
roirft alfo fdjon non mir hören." 

„©d&roöre eS mir, bafj bu mir fdjjreiben roiHft, roo ich 
bich finben lann," rief fte, ihn nodj immer fefthaltenb. 

„3ch fdjroöre es bir, Goncetta, fo roahr idj bid) liebe," 
fagte er feierlich unb roanbte ftch jum ®ef)en. 

2Bie t>erj\roeifelt roarf fte ftch roeinenb auf einen ©tuljl, 
roäljrenb ihr Vater langfam unb mühfam bie ©teintreppe 
hinunterftieg unb an einer Viegung bes felftgen gufjpfabeS 
tjerfdhroanb. 



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144 



3luferflintbcit. 



4. 

$ie folgen biefcr ErfennungSfcene fonnten nic^t aus« 
bleiben, unb fo gern $onna Sucia ba§ oermieben hätte, 
muhte fie Eoncetta auf beren ftürmifdjeS Verlangen fd^Iie^« 
lieh bodj bie gange SGBa^r^eit über SDon Seone mitteilen. 
©ie tFjat baS fo fdjonenb rate möglich- ©djulb unb ©üljne 
erhielten in ihrer IDarftellung ben mUberen ©<hein be§ 
Vergangenen, Entfernten. ®a8 Verbrechen felbft raurbe, 
wenn auch nicht entfdjulbigt, fo bodj menfcfilich erflärlid» 
burch bie Ieibenfchaftliche Erregung, beren Opfer 2)on 
Seone bamalS geraorben, unb auch ba§ Entehrenbe ber 
©träfe, baS furchtbare beS Vagno, beS .Suchlaufes, 
raurbe frauenhafter unb weniger beftimmt burch bie 
Entfernung non 3 ß it unb iHaurn, in ber Eoncetta baS 
aUcS fab;. 

©leichraohl trafen biefe 9Jlitteilungen baS junge 3J2äb* 
djen in ihrem fnnerften. SDie reine unb garte Erinnerung, 
bie fte au§ ihren $inbcrjaljren an ihren Vater im §ergen 
trug, unb bie im Saufe ber $dt nrabl blaffet unb uer- 
roifdüer, gleichzeitig aber auch ibealer unb fdjöner geraor* 
ben, litt unter bem Veraufjtfein, bah ihr Vater ein — 
Vlörber fei, gang entfehlidj- ©ie raeinte uiel. tagelang 
ging fie herum mit bleichen, ftarren Sügen, als ob baS 
junge, lebenSfrifdje ©efchöpf aHe Suft unb allen Viut gum 
Seben oerloren h«tte. 

2lber gerabe in ber ftarren ßurücfgegogenheit unb 
Einfamleit biefer 2)age feftigten unb bichteten fich in 
Eoncetta jene 2lnfid;ten unb Urteile über fich unb anbere, 
bie für ihr ferneres Verhalten auSfdjlaggebenb raurben. 

Vatürlid; entging bem SDon Vicola biefe Untroanblung 
beä jungen VläbchenS, bas er täglich fab, nicht, aber er 
glaubte, bah fie mit ber unbeftimmten Haltung 2)on 
©ennaroS gufammenhing, unb bah fie raieber fdjrainben 



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Hooelle oon tDolbemar Urban. . 145 

mürbe, rcenn $)on ©ennaro enblidfj feine ©nmiUigung 
jur ^od^jeit geben mürbe. 3« Sejug auf $Don Seone, 
beffen SBieberauftaudhen er ja mit angefehen, badete er 
fidh bie ©acfje nid^t fo fdjlimm, roie fie mar, unb tröftete 
ftch befonberS bamit, bab er ja mieber fort mar, alfo 
©runb ju meiterer Skunruljigung nicht bot. 

©o lag er benn gerabe ju jener 3«it feinem Sßater 
fortmäljrenb in ben Oljren, bod^ enblidh Klarheit ju 
fdjaffen unb beftimmt ju erflären, mann bie ^jochjeit ftati* 
finben foHte. @r felbft hatte auch baS SBarten fatt unb hielt 
ben guftanb, in bem fidh alle befanben, für unerträglich. 

35on ©ennaro fonnte fidj nicht mehr helfen. @r mubte 
bei bem drängen unb ben ungeftümen äluSeinanberfefcungen 
feines ©offnes fcfjlieblidj bodh einmal garbe befennen, 
moUte fidf) aber auch baS Vergnügen nidht entgehen laffen, 
bem jungen Räbchen juerft bie — mie er annahm — 
freubige SBotfcfjaft oon feiner ©inmißigung ju überbringen, 
unb fo fagte er ju feinem ©ohne: „ßein 2Bort meiter! 
5Du bift ein unoerniinfitger SUenfch, Nicola. 3dj merbe 
heute nadhmittag mit ßoncetta felbft reben. Sab mid) in 
5Ruhe. @S ift ja bodh fein oerfiänbigeS 2Bort mit bir ju 
reben. " 

SDon 9ficoIa falj fofort, bab er feinen 33ater enblidh 
bodh mürbe gemacht, unb lief in ber erften 2lufmaUung 
feines ©lücfeS ju ßoncetta, um ihr alles ju beridhten. 
■fiiiber (Srroarten mürbe biefe aber fefjr ernft. lieber il)r 
©eftcht flog ein trüber ©chatten, unb fie mehrte feine Sieb* 
fifungen mit einer fanften, aber feljr beftimmien S3e* 
roegung ab. 

„Sab baS," fagte fie. „©erabe menn bein S3ater je£t 
feine ©inroiUigung geben moUte, fo fegt mir baS bie 
Pflicht auf, bir aUeS ju fageit, maS idj auf bem §erjen 
habe, unb maS bu roiffen mubt, elje idj beine $anb an* 
nehmen barf. " 

1901. III. io 



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146 2tnferftanben. 

„2üag fjaft bu benn auf bem bergen?" fragte er er* 
ftaunt. 

„®u Ijaft meinen Vater ja neulich fjier auf ber Soggia 
gefehen." 

„2l<h, Iah bodj bag. 2 Bag §at bag mit ung ju thuit? 
Gr ift ja roieber fort." 

„Gr fommt aber roieber, unb bamit bu ober bein 
Vater mir nicht fpäter Vorroürfe matten fann, bafj idj 
etroag oerheimlidjt hätte — " 

„2lber bag Ijat bodh alleg 3eit big — nach ber §ocbgeit." 

„fftein," fünfte ^artnädig fort, „bag foöft bu jebem 
faßg jefct miffen." Unb fie erjäfjlte ihm bie ganje Sebeng; 
gefehlte ifjreg Vaterg, roie fie fte oon ihrer Viutter er- 
fahren, feufjenb unb roeinenb, aber mortgetreu. 

Gnblid) mar fie ftiH, unb eg entfianb eine fleine ißaufc. 
2lengftlicf) unb gefpannt faf) fie ihrem Verlobten ing ©c= 
ftdjt, alg ob fte oon ihm ein Urteil erroarte. Slber ÜJiicola 
fdhmieg gunäd^ft betroffen. $ie Sachlage mar hoch fc^Iitn* 
mer unb fdfjredlicher, rcie er gebadet. Ginen 3 n<hthäugler 
jum Sdhroiegeroater $u h a & e n erfd)ien auch ihm nicht 
oerlocfenb. Vefonberg aber glaubte er fidler 511 fein, bah 
$on ©ennaro nie unb nimmer feine Ginmilligung geben 
mürbe, menn er baoon erfuhr. Gr mar ftolj auf fid) 
unb feine gamilie, unb menn auch Nicola über etroag, 
bag „niemanb muhte", ein Sluge jugebrüdt höben mürbe, 
fo hätte bod) ®on ©ennaro bag niemalg getfjan. 

Sangfam ftanb Goncetta nach einer SGBetle auf unb trat 
etmag oott ihm jurüd. Sie fchien äuherlich ruhig unb 
genteffen, aber ffticola muhte fdljon, bah fich bei iljr hinter 
biefer ernften ÜRulje bie ganje unroiberftcfjlidje 2Bud)t unb 
Seibcnfchaftlichfeit ihrer Seele oerbarg. 

„$u meiht nun aHeg, Vicola," fagte fie leife, „unb 
lannft natürlich thun, mag bir beliebt. 2)u haft feinerlei 
Verpflichtungen gegen midh." 



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Hopclle ©on IDolbemar Urban. 147 

@r falj fie an. ©ie roar ungeroöhnlidh bleidj, unb um 
ihren gierigen, feinen 2Jiunb durfte eS leidet. 3h r ganjeS 
2Befen ftanb unter bem (Sinflufj eines feften, unerfchütter* 
licken ©ntfcljluffeS, bemjufotge fte lieber alles auf ber Sfßelt 
aufgab, um ihres 33aterS mitten. 

„Unb roo ift bein SBater jettf?" fragte er enbliclj. 

„3” Neapel bei meinem Sruber. @r ^at iljm eine 
33efd&äftigung als Hafenarbeiter uerfchafft. 3J?ein 33ater 
roottte es fo. Stber baS getjt natürlid) nicht. @r mürbe 
ftdE) bei biefer garten Arbeit, ber er in feinem 2llter unb 
in feiner ©ebrechHdjfeit ridjt gemachten ift, ju ©runbe 
rieten." 

„2lber roas fott benn mit ihm roerben?" 

„Sr fommt roieber fjierfjer," erraiberte fie fe ft unb be= 
ftimrnt. 

„Unb menn er nicht roitt?" 

„©o gehe ich flu iljm." 

„2lber bu oerbirbft bamit alles," fuhr er fjeftig auf. 
„©laubft bu, mein 23ater mürbe jemals in unfere 3?er= 
binbung einmittigen, menn er baoon hörte? @r barf ni<fjtS 
miffen, benn fonft märe fofort alles aus." 

,,©o roerbe i<h eben nie beine grau," jagte fie ent= 
fd^Ioffen. 

©leidh barauf fchludhäte fie aber, überroältigt »on ihrem 
©efüljl, f^merslicf) auf, unb als er rafdfj Ijinjutrat, fd^lug 
fie bie 2lrme um feinen §als unb meinte bitterlich- SDaS 
mar hoch baS §ärtefte, bie fdjmerfte Prüfung, bie fie fidj 
felbft auferlegte, benn fie fjing an -Jlicola mit jebem ©e* 
banfen, mit jeber gafer. 

3Diefe eine unroiüfürlidje Sercegung genügte, um bem 
jungen 2lrjt über fiel) felbft Klarheit unb @ntfd)loffenheit 
ju geben, unb menn er überhaupt fcljroanlenb gemorben 
roar, fo mar es jebenfatts in biefem 2lugenblicf bamit 
»orbei. @r roufite, roaS er an Soncetta hatte, er fühlte 



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148 



2luferftanben. 



m 



es aus jeber ihrer 23eroegungen, aus jebem 33lid ihrer 
2lugen. ©ie roar fein, mochte fommen, roaS ba rooöte. 

„$öre ju, Soncetta, rote roir’S madhen," flüfierte er 
Ietfe unb ^örtlich. „$u fagft einftroeilen noch feinem 
3Jienfd^en etroas, läßt beinen 3Jater noch in -Jieapel, bis 
hier alles »orbei ift, bis roir »erheiratet ftnb. fDann — " 

„■Kein, fRicola," rief fte heftig, „baS fann ich nicht. 
$a8 roäre fd^Ied^t unb betrügerifdj »on mir, fd^lec^t an 
meinem 23ater unb betrügerifch an ®on ©ennaro gehanbelt. 
3d) roiH nicht, bafj mein 23ater fcheu unb »erftecft in 
feinen alten SEagen burd) bie SSelt fdjleicht. Er fotl 
roiffen, baft er $inber unb eine gamilie bat, bie ihn auf* 
rietet unb hält, roenn alle 3Belt ihn »erläjjt unb »erachtet. " 

„Slber nur fo lange — " 

„9fein, -Jiicola, verlange nic^t, bafj ein ßinb feinen 
eigenen 23ater »erleugnen foH. fRicht eine ©tunbe. $)u 
roürbeft mich niemals mehr lieb haben fönnen, unb id? 
tnüjjte mich felbft »erachten, mich felbft cor mir fchämett, 
bafj ich meinen eigenen SSater im 2llter unb in ber §ilf= 
lofigfeit »erlaffen hätte, um eigenen Vorteils roillen. — 
©ei ftiH, fRicola! 35u roeifjt nicht, roaS bu fagft. 2Bemt 
es fidh um beinen Sßatcr hanbelte, roürbeft bu genau fo 
banbeln roie idj jc%t. 3<h fann nicht anberS. Es mag 
roerben, roaS roiQ." 

9Jlan fah ihr an, bafj fie nidjt anberS fonnte. fDiefe 
Erregtheit, biefe §i^e unb entfdjloffene $eftigfeit ihres 
©efüljls, baS fie hinrifj unb ftärfer roar als fte felbft, 
prägte ftch in jeber ©efte, in jebem 2ßort unb in jebem 
Slicf aus. ffticola roollte etroaS erroibern, aber in bem= 
felben Slugenblid, als fte noch tief unb heftig atmenb 
unb mit blifcenben Sfugett »or ihm ftanb, fnirfd;te ein 
Schritt in bem felftgen ©ritnb beS 2BegeS, ber jur 2öirt* 
fdjaft hinaufführte, unb als fich 9iicola »orfidEjtig umfah 
nach bem ©törenfrieb, bemerfte er feinen Später. 



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Horetle oon lUolbentar Urban. 



149 






„®on ©ennaro!" tief er überrafcßt unb .leife. „@r 
fommt woßl, um mit bir gu reben, ßoncetta. (Sr bringt 
bir baS Sßwort, alfo fei !Iug, nur jefst, nur in biefem 
äugenblid." 

„9lebe bu mit ißm," fernste fte, nocß immer außer 
ftcß, „icß fann eS nicßt. ©S ift mir unmöglich ©age 
ißm alles, Nicola. $örft bu? 2lHeS treu unb waßr, wie 
eS ift. ©onft muß idß eS tßun. Unb wenn er will, baß 
ißn feine ßinber einft aucß lieb ßaben füllen unb im 2Uter 
pflegen, fo wirb er midß unb bicß nicßt unglücflicß machen 
wollen, weil icß meinen Sater lieb ßabe." 

$)amii lief fie baoon, burdß baS §auS, bie SEreppe 
tjinauf in ißre Kammer, wo fie atemlos oor Aufregung 
unb fcßfucßgenb oor einem fleinen 9JluttergotteSbilb nieber* 
fiel. SDie #änbe feft auf ©cßläfe unb Dßren gepreßt, 
als ob fie nichts oon bem, was ftcß um fte ßerum er* 
eignete, ßören möge, lag fte lange $eit betenb fo ba. 
Unten auf ber Soggia ßanbelte es fiel) jeßt um ißr ganzes 
SebenSglüdf, um ißre irbifeße (Seligfeit, ©ie brauste fieß 
ja feinen Sorwurf gu madßen. ©ie ßatte geßanbelt, wie 
fte muffte, wie eS iFire ^fließt war unb wie es ißr £erj 
unb ©efüßl flar unb beutlicß, aber aucß unerbittlicß ftreng 
oorgefeßrieben. 9Benn nun aber boef; bie fremben SJlenfcßen 
ißr ©efüßl nicßt oerftanben? SBeitn fte in egoiftifdßer 
SUeinlidßfeit unb $urgficßtigfeit fie falt ißrem ©efüßl 
überließen, froß, baß fte mit foldßen raußett unb er* 
niebrigenben Situationen nichts gu feßaffen ßatten? 
rußiger , oerftänbiger SÖeltflugßeit ftcß oon ißr guriiefgogen 
unb mit ßlatfcßbafen unb Settern ben $aH breit traten 
unb ftcß, an ißre Sruft fcßlagenb, über ben armen ©ünber 
entfetten? 22ar eS bodß nur ißr Sater, wäßrenb jeber 
anbere ißtn gegenüber anberS fiißlte, füßl unb nücßtern 
badjte. 

'iSJfancßmal war es ißr, als ob fdßarfe, laute 2Borte 



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150 2Inferftanben. 

oon bet Soggia gu ihr heraufljaßien. Offenbar war Sfticola 
mit feinem Skter in (Streit geraten. Dann aber mürbe 
aßeS fiiß. ©o fehr fte auch ^ord^te unb laufchte, mar 
bocf) nichts mehr gu oernehmen. ©ie mürbe unruhig. 
2Bar eä entfliehen? 2Bar eä oorbei? 

©ie fprang roieber auf unb fünfte bie &f)ür etraaä 
auf, um fjinau§julaufcf)en, aber eä mar nichts mehr gu 
hören. $a§ gange §au§ lag ftiß. 

®a fcfjlich fie fadste hinunter, ©ie hielt eä nidtjt mehr 
auä. ©ie rooßte miffen, ob fie glücfüdf) ober unglüdflidj 
mar auf Sebensgeit. 

2lber auch unten mar aßeä ftiß unb leer. 2luf ber 
Soggia mar niemanb mehr. -Jficola mar mit feinem 
SSater fortgegangen, unb roenn ®on ©ennaro auch bie 
2lbftcljt gehabt hatte, ihr feine ©inraißigung heute mit* 
guteilen, fo fjatte er fidj hoch mieber anberä befonnen. 

3n fieberhafter Erregung unb Spannung beugte fidj 
©oncetta über bie 33rüftung ber Soggia hinunter inä 
greie, oießeid)t in ber Hoffnung, noch etraaä oom ©efprädf 
ber $aoongehenben gu oernehmen. Slber eä lief} ftdf) nichts 
hören, unb oergraeifelt fiel fte auf einen ©tul)l nieber. 

©§ mar au§! $on ©ennaro h at *e feinen ©ohn be* 
fcfjraaftf. ®aS echte ©olb beS mähren unb natürlichen 
©efüfjfä mar gurücfgemiefen, beifeite gefdfjoben, oerbunfelt 
burcfj ben gleifjenben ©dhimmer ber SSerfeltagäflugheit, 
bie eä oerftänbig unb geboten fanb, fich gurücfgugiehen 
oor ben fd^roeren Prüfungen beä SebenS. ©infam unb 
oerlaffen, gebemütigt unb befchämt faf$ Goncetta ba unb 
fafj trocfenen 2luge3 oor fich nieber. ©ie meinte nidjt 
unb ffagte auch nicht, aber es ging burdh ihr inneres 
mie ein 9üjj, unb eine troftlofe S3ergroeiflung bemächtigte 
ftdh ihrer, ©ie fühlte ftdh ocrle^t unb oon 2öelt unb 
SHenfchen gurüdfgeftoften, ba§ reiche, fchöne ©lücf ihres 
HeigenS gerfchmettert, bie garteften Hoffnungen oernichtet. 



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ZTonelle »on tPolbemar Urban. 151 

Unb roarum baS alles? 2Beü fie ihren 33ater liebte unb 
es unter i^rer Söürbe ^ielt, beit -äJtenfdhen zuliebe ihr 
©lücf ju erfdjleidben, ficb burch bie Verleugnung ihres 
VaterS ju erniebrigen. 



5. 

@S ging mit bem ©eljeimniä ber „gaccia greSca", roie 
es mit allen ©ebeimniffen einer fleinen ©tabt gebt. ©rfi 
fd^Iid^ eS leife unb nerftoblen non 2Kunb ju Vlunb, mit 
bocbgegogenen Vraucn unter bem ©iegel ber tiefften Ver* 
fchroiegenbeit tufdbelte eS einer bem anberen ins Dbt, bann 
trat eS immer lübner, frecher unb unoerfdbämter auf, ner* 
jerrt unb entfteßt ton ber ^latfcbfudjt ber Seute, bis eS 
fdjliejjlicb bie ©patjen auf ben ®äcbern pfiffen. ®aS un* 
menfcblidbe Opfer, baS ber alte $on Seone gebracht batte/ 
inbem er fid) felbft äcbtenb roieber non feiner gamilie, 
bem einzigen §ort, ber ibm noch auf ©rben blieb, ^uriich 
jog, mar nergebenS gebracht, ber 2luferftanbene mürbe 
immer lebenbiger in ber ßlatfcbfucbt ber £eute, unb baS 
Ergebnis mar, raie eS ®onna Sucia norauSgefeben. ®ie 
„gaccia greSca" neröbete mehr unb mehr, bie gamilie 
©porita fan! in ber 2ld)tung ber Seute, unb jeber §aber* 
lump glaubte, gerabe roeil er audh nichts galt, fie über 
bie Slcbfel anfeben gu bürfen. ®on ©ennaro batte feinen 
©oljn mit allen möglichen Verfprechungen nach Veapel 
gefanbt, mo er in einem ßranfenbaufe praftijierte, nur 
bamit erft über bie ©efchichte etroaS ©ras roadhfen unb 
Vicola baS VJäbcben, baS er ja nun bodj auf leinen galt 
heiraten fonnte — roie $on ©ennaro es anfab — ner* 
geffen foUte. 

^Darüber mar ber 2öinter nergangen, roenn man an 
ben Slbbängen beS VcfunS überhaupt non SBinter fpredjen 
!ann. @S mar gebruar geroorben, bie Vtanbelbäume 
blühten, unb bie fcböne h e ^e grüblingSfonne gli^erte über 



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1 52 2luferftoni>en. 

ben ©olf oon Neapel Bin. SDon ©ennaro faf$ oor feinet 
£auStBür unb war griesgrämiger als je. SaS ging 
i(jn ber ^tüBling an? @r Braute bie fliegen. 2)aS mar 
aUeä, was er oom gtiüjling Botte- war furjatmiger 
roie je. @in SarfcB non jmeiBunbert ©cBritt märe, wie 
er bacfjte, fein S£ob gemefen. 

„$>on ©ennaro, 3B r mtifjt ju Silber laffen," Botte iBm 
fein 9?adB6ar jugerufen, „3B* werbet ju fett." 

@S fehlte nic|t oiel, fo Botte iBm SDon ©ennaro als 
SDanE für biefen guten 9tat feinen ßrüdfioc! jwifdBen bie 
Seine geworfen. Sar ber SenfcB oerrürft? fragte er ftcB 
erBoft. $aS Bifjdjen SeBenSfaft, bas iBm nodB Blieb, foHte 
er aucB nodB burcf) bie aufgefd^nittene Siber laufen laffen? 

SJkbre Siuft oon ©an fDomenico bei $roti ging oorüBer, 
unb als er ben alten 3Don ©ennaro fo grämlicB unb wie 
oon ©ott oerlaffen in ber ©onne fi$en faB, naBm er fi<B 
einen ©tuBI unb fefcte fidB ju iBm. 

„Sie geBt’S, $on ©ennaro? SaS madBt ber SZicoIa?" 
fragte $abre Siuft. 

„@r ift ein oermünfdBter Surfte, fage icB (SudB, fpabrc 
Siufi, er märtet auf meinen S£ob." 

„3B r fcf)t ju fcBwarj, SDon ©ennaro. Ser roirb fo 
etmaS oon feinem ßinbe fagen!" 

M, man wirb gut tBun, auf feiner $ut $u fein. 
Sitte laufen fie fort, einer BierBin, ber anbere bort^in, unb 
micB alten ÜJiann laffen fie Iran! unb Bilfloä allein Bier 
fifjen. SftidfjtS ift gräfjticBer, Sßabre Siuft, als ber Äinber 
Unban!. " 

SDer ©eiftticBe faB ®on ©ennaro etwas aufmerffamer 
an unb Bemerltc mit einiger SeforgniS beffen Boftig*ängft= 
licBen, BWofen 33licf, wie iBn SlftBmateibenbe fo Böufig 
BaBen unb wie er bei 23on ©ennaro aus bem grau* 
faltigen, Bartlofen ©eficBt nodB mit Befonberer Sirfung 
oorBanben war. SDer alte ©inbaco ino^te bodB oielleicBt 



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Hocellc rort £>olbemar Urban. 153 

!tän!er unb fein ©nbe näher fein, als man allgemein 
glaubte. 

„2ßarum fommt 3h* nid^t mehr in bie „^accia greäca", 
$)on ©ennaro?" fuhr $abre 3Jliuft fort. „SDer Heine 
©ang wirb ©udh roohtihun, unb ein ©laS mit gutem 
alten ©ragnano ift bodfj auch nid^t ju Gerächten." 

®on ©ennaro feufjte unb fagte furj: „3h* roiht’S ja, 
ißabre 5Jliufi, roarum ich nicht mehr Ijinfommen fann." 

9li^tS Ijatte ben alten §errn fo fe§r mitgenommen, 
als bafj'er nid^t mehr, roie feit fo langen Sauren, in ge* 
roohnter Söeife nachmittags nach ber „$accia greSca" hin* 
fteuern unb ftdb bort unter bem Sßeingeranf ber Soggia 
ju feinem Schoppen Söein fe£en lonnte. 3*beSmal, wenn 
bie ©tunbe fatn, roaren bie fchmärjeften ©ebanlen in ihm 
aufgetaud&t, unb er toar feft überzeugt, bah bie fo jäh 
abgebrochene ©erooljnheit noch einmal fein £ob fein mürbe. 

„3h* thut unrecljt, ®on ©ennaro," meinte ber ißriefier 
jurebenb unb gutmütig. 

„SfßaS?" braufte ®on ©ennaro auf. 

„3h* fetb ja natürlidh §err in ©urem §aufe, unb rcenn 
©ud(j bie £eirat ©ureS ©ofjneS mit ©oncetta nicht paht, 
fo habt 3h* ja auch bie 9Jlittel in ber §anb, um fie ju 
hintertreiben. ®as »erftef)t fich- 216er ich habe ©oncetta 
beobachtet all bie 3eit h c */ unb ich muh geftehen, baff 
3h* bem 5Jläb<hen unrecht gethan habt." 

„3dh?" fuh* ®on ©ennaro hifcifl auf. „3h* 93ater 
hat ihr unrecht gethan, aber nicht ich." 

„Saht baS gut fein. ©S fommt für ©oncetta nicht 
tnel bei bem ©treit barüber f)e*auS, mer ihr unrecht ge* 
than hat. $aburch mirb baS Unrecht nidf)t fleiner. ©o 
oiel fteht aber feft, bah *h* Später noch nicht ber ©dhledhtefte 
ift, unb menn man ihn begnabigt hat, fo mirb man roobl 
gemuht haben, roarum man baS gethan. ©inmal im Seben 
muh boch fchliehlich gcfühnt unb oergeffen fein. ©S jeigt 



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154 



Ztuferfianben. 



t>on nid^t oiel §erg urtb ©emüt, einen 2ßann mitfamt 
feiner gewiß ebenfo tüdjtigen wie unfdfjulbigen gamilie in 
aße ©migfeit gu ächten unb p oerbammen wegen einer 
einzigen unglüdlidjen unb wilben fEfjat. 28ir ftnb aße 
Sföenfdfjen, unb nur ©ott fteljt in§ ^cr^. 28er weiß, ob 
monier, ber fidE) je$t brüftet unb grojj i§ut, bie Prüfung 
auSgef)alten Ejätte, bie über SDon Seone unb feine Familie 
Ijereingebrodjen ift." 

„3fjt Ijabi mit ©oncetta gefprodjen, $abre fDliufi?" 
fragte ®on ©ennaro etwas ruhiger. 

,,2tatürIidE)." 

„28aS fagt fie? 2Bie fielft fie aus?" 

,,3dE) fuge ©udj, ®on ©ennaro," ermiberte ber ^Sriefter 
mit etwas erhobener ©timme, „idj wünfdfje jebem Stiften 
ein foldEjeS $inb. ©ie fäfyrt jebc SSod^e gmeimal nadfj 
Neapel mit bem DntnibuS, unb jebeSmal pacft fie »orfjer 
jufammen, was iljrem SSater nur irgenbmie ju ftatten 
fommen fönnte. ®onna Sucia läfft fie natürlich gewähren." 

„3$ weifi fdEjon. ©ie werben fidEj in Neapel treffen." 

„28er?" 

„ffticola unb ©oncetta." 

„9?un, unb wenn audj? 3df> &in überjeugt, bafi baS 
in aßen ©Ijren gefd)ieljt." 

„Unb 3^ wollt nodj behaupten, baj} fie nidEjt auf 
meinen £ob märten?" 

„28er ift benn fdEjulb, bafj fie barauf märten müffen?" 

„3^r Ijabt felbft gefagt, baß idj §crr in meinem §aufe 
bin unb machen fann, was id) miß." 

„Sowohl, baS fage idf) audj nodj, benn 3ljr tragt ja 
audj bie Verantwortung. ®aS ift’S. 2Benn bann 
aber einfant unb aßein im 2Uter, Iran! unb f)iIf!o§ oor 
©urer f£!jür fißt, fo feljt nur ju, woran baS liegt. 3f)r 
foßtet ©ud|j bod^ wenigftenS ben fölann, wegen beffen aß 
biefeö Zerwürfnis gefdEjeEjen — idf) meine ©oncettaS Vater 



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Hcmclle ron tüolbemar Urban. 



155 



— einmal anfehen. 2)a3 ift auch nid^t fchön, bah 3hr 
ungefefjen jemanb uerurteilt unb abroeift. ÜJlan hat natür* 
lid) feine Urfadfje, eine folc^e Vergangenheit unnötig an 
bie grofse ©lode Rängen, aber eine getilgte ©cfjulb ift 
getilgt. @3 Ijat niemanb ba3 Siedet, noch einmal ju 
tilgen, roo bie ©eredEjtigfeit ber 9Jlenfd(jen unb roohl auch 
bie be3 Rimmels iljre3 2lmte3 fdjon geroaltet." 

„Unb 3h r meint, bah ba3 ginge, Vabre -Dtiufi?" 

„©3 geljt aHe3 in ber SBelt, man muh e3 nur recht 
machen. 3h r fönnt auch nachmittags mieber in bie „gaccia 
gre3ca" fontmen. SBarum folt benn ba3 nicht gehen?" 
„2lber bie Beute roerben fagen, bah — " 

„Saht 3h r nur kie Seute fagen, nm3 fte roollen. 
®a3 ift ihr gutes fRecjjt. 2luf biefer 2Belt fdjroa^t jeber 
fo bumm, mie er mag. 2öa3 geht ba3 (Such an? üDiüfjt 
3Sh r (Such beSljalb (Sure alten SEage cergäUen?" 



3roei £age nach biefer Unterrebung hielt »or bem 
$aufe be3 Son ©ennaro ein fcljredlicheS Ungetüm oon 
einer alten ßutfcfje, roic fie fich nur bie älteften Beute, 
bie noch *>ie SJlarterfaften ber Sanbpoftfutfchen gefehen 
haben, oorftellen fönnen. 3« SRefina finb aber biefe SSe» 
hifel nodh an ber S£age3orbnung, unb ba3 Sßknberbare 
beftanb nur barin, baf? ®on ©ennaro in einer folgen 
Äutfdhe nadh Neapel fahren moQte. 

©djon lange, beoor bie Steife an&ing, ftanben bie 9Zach* 
barn unb mühigc Vaffanten in fleinen ©ruppen um ba3 
corfünbflutliche $ahtjjeug herum unb beratfchlagten, roa3 
wohl $on ©ennaro in Neapel tljun mode. Einige rcaren 
ber Meinung, bah er feinen ©ohn 9licola befudhen mode, 
anbere glaubten, er hätte eine (Srbfcljaft gemacht, mieber 
anbere muhten ganj genau, bah er fich operieren taffen 
molle unb mahrfcheinlich babei fterben merbe. SDaher fam 
e3 auch, b«h man fehr gerührt unb feljr mitleibig »on 



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156 



Jlnferftattbcn. 



$on ©ennaro 2tbfd^ieb naf)m, als bie SReife rotrflid^ be* 
gann, roie ton einem fdfjon halbtoten, unb beSfjalb mar 
man audjj etroaS unwillig überrafcljt, als man if)n gegen 
2lbenb triebet jurüdfommen fal), in berfelben $utfdf)e, ganj 
unb ^eil unb, roie eS fd^ien, fibeler roie feit langer 3eit. 

2lm näd&ften -Jiadbmittag, $unft tier Uljr, flieg SDon 
©ennaro roieber gum erftenmal feit faft tier -äJtonaten 
burdf) bie 33efutftrafje nadfj ber „gaccia greSca" hinauf. 3)a 
unb bort, roo er torüberging, fal) man if)m neugierig unb 
terrounbert nadj, aber ber alte $err fümmerte fidfj nidjt 
barum unb ging langfam unb bebädfjtig roeiter. ©r füfjlte 
fid) feister unb rooljler roie feit langer 3d*» unb als er 
enblidj bie freunblidf)e, mit Stanfrofen umroudferte Soggia 
ber w $accia greSca" erblidte, blieb er nadfj feiner alten @e* 
roofjnljeit ein roenig flehen, um fiel) auSjuruljen. ©o falj 
er fdjon ton weitem, roie Slffunta unb ©oncetta eifrig 
auf ber Soggia fjin unb fjer liefen, als ob man i^n fcljon 
längft entartet ficitte. 

„Oh6, compare Gennaro! Oheeee — !“ fcljrie ifjnt 
Slffunta in gewohnter 2lrt fdjon ton roeitem ju, unb ©on* 
cetta lief if)tn aufgeregt unb mit blifcenben 2lugen ent* 
gegen, ©erabe als er an ber fleinen ©teintreppe anfam, 
trafen fte jufammen, unb ©oncetta griff, ofjne ein 2Sort 
ju fagen, nacf) ber §anb ®on ©ennaroS. ®iefer bacfjte 
erft, fie wolle iljtn beim .fjinauffteigen ber kreppe befplf* 
lief) fein, bann füfjlte er aber, roie ©oncetta iljre Sippen 
Ijeifj unb innig auf feine §anb prefjte, unb roie bie SCljränen 
aus ifjren Slugen barauf fielen. 

©S rourbe iljm rounberlidj ju -äJlute, unb unberoufjt 
legte er feine anbere $anb leidjt auf iljren ©Reitel. ,,©S 
ift gut, ©oncetta," fagte er ernft unb rooljlmeinenb, 
„wenn bu midfj nur fjalb fo lieb f)aben roillft wie beinen 
SSater, fo roerbe id) ftets jufrieben fein mit bent, roaS iclj 
getban." 



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ZToreüe oott iüolbemar Urban. 15? 

„0, roie gut, tute gut ©ie finb," fcfeludfjjte ©oncetta 
leife, „unb icfe roerbe ©ie Heben, folange icfe lebe unb fo 
gut icfe fann, rote meinen eigenen 33ater!" 

„3<fe fann es braunen. 2)u fiefeft, icfe bin ein alter 
feilflofer 3Jiann, ber feinen grieben mit ben ßinbern 
macfeen mufe. 2öo ift beine füiutter? 9Jlorgen roerben 
bie 3Röbel «bgelaben. 3$ feabe fc^on alles mit SRicola 
in Neapel beforgt. ,gum erftett Slpril fommt er roieber 
nadfe fRefina juriicf, unb bann fönnt ifer heiraten, roann 
ifer rooQt. 3fe* toofent natürlich bei mir, unb bein 33ater 
fommt in bie „gaccia greSca", bamit beine SRutter einen 
©rfafe für bidfe feat. Safe nur gut fein, mein $inb. 
SJ3abre ÜRiufi feat recfet. 2BaS gefeen uns bie Seute an? 
@S fcferoafet jeber fo butnm er mag, unb mit ber $eit roer« 
ben fie ficfe fdfeon roieber baratt gewönnen." 

©oncetta fealf ifem, glüdlicfe lacfeenb, bie kreppe fein« 
auf unb rücfte ifem ben ©tufel äurecfet, roifdfete ben SCifdfe 
ab unb feolte bie gufebanf. $ann trat aucfe 2)onna Sucia 
auf bie Soggia unb beroißfommnete ®on ©ennaro aufs 
feerjlicfefte. 

„3cfe feabe eS fcfeon ju 3fe«m 9Ranne gefagt, SDonna 
Sucia, nädjjften ©onnabenb ift bie Verlobung. $a tmtfe 
er babei fein," fufer ®ott ©ennaro fort. „3cfe feätte ifen 
fdfeon geftern mitgebradfet, aber er rooHte nidfet. ©r fagte, 
er muffe ftcfe erft orbentlicfe feerauSmacfeen. $aS ginge 
nicfet fo fcfeneH." 

„$)on ©ennaro," fagte $onna Sucia, ifem gerüfert 
bie §änbe reicfeenb, „icfe roerbe nie im Seben oergeffen, 
roaS ©ie an uns getfean feaben. ©ic finb ber erfte, ber 
uns roieber als eferlidfee unb anftänbige Seute anerfennt, 
unb roie bie SJlenfcfeen einmal finb, braudfet eS nur eines 
folcfeen SeifpielS, um tu folgen." 

„$ein üßort baoon. 3<f) toufete fcfeon, roaS icfe tfeat. 2So 
ift ber SGBeitt? Sßorroärts, Slffunta. Unb bafe er gut ift!" 



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158 



21uferftanben. 



$ein Nlenfcb btefer SSelt ift jemals fo freunblidj unb 
luftig bebient roorben als ®ou ©ennaro an jenem £age 
in ber „gaccia greSca". 5)ie beiben jungen NMbchen mett* 
eiferten barin, bem „©ompare ©ennaro" ben 2lufentljalt 
fo angenehm unb gemütlich roie möglich gu madjen, unb 
man mu| bie flotte Seidjtigfeit ber Unteritaliener, mit 
ber fie fidj aus ben erfdjütternbften ©emütsftimmungen in 
bie herglidjfte, freubigfte Saune oerfehen, fennen, um gu 
wiffen, mit meinem (Srfolg baS gefcfjafj. — 

Slber SDon ©ennaro h^l* auch 23ort. 2lm barauf-- 
folgenben Sonnabenb mürbe auf ber Soggia ber „Caccia 
gresca" bie Verlobung beS SDoftorS Nicola SombeHi mit 
©oncetta Sporita gefeiert. ©S ging habet mit adern bei 
foldjen 2lnläffen üblichen $omp ^er. $onna Sucia 
batte eS fich nicht nehmen laffen, baS 50?af)I felbft gu be* 
reiten. ftöftlidj bampfenbe Nlaccaroni in rotbrauner ^3o* 
miborofauce, mie fie nur ber Neapolitaner hetguftellen unb 
gu mürbigen oermag, 93raten, ©eflügel, Dbft, fräftiger 
alter ©ragnano unb roürgiger Sigilianerroein gierten bie 
2!ifdje unb mürben mit einer SeiftungSfäbigfeit oertilgt, 
bie ben Silagen ber Slnmefenben baS befte Zeugnis au §. 
ftellte. f^rifd^e SBlumen, SBeildjen, Profus unb gelbe 
Nofen prangten überall auf ber Soggia. 3)ie fd^önfte 
3icr ber SEafelrunbe mar aber boch ©oncetta, bie glücf* 
lidje Sraut. Sie fab, menn fte überhaupt einmal rul)ig 
fab, groifchen ihrem Sater unb ihrem Bräutigam. ^h rc 
Slugett fprüljten, unb ihr ganges gierlidjeS ©efid)t leuchtete 
in jugenbfrifcher Neinheit unb Schönheit. 

2luch ^iabre -Bliufi mar ba unb gab bem gamilienfeft 
eine gemiffe ernfte SDBeihe, aber in allen — eS roaren 
natürlich bie beiben Familien ooügählig ba — gitterte baS 
erhebenbe, innige ©efüljl nach, bab burdj biefeS §eft nicht 
nur groei junge hoffnungSfreubige Sllcnfdjenfinber gu ge= 
meinfament ©lürf unb Seib fürs Seben miteinanber oer= 



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HoocBe »ort IPolbemar Urban. 159 

bunben rourben, fonbern bafi baburdj audj ein Stuf* 
erftanbener bem Sehen unb feiner gamilie rciebergegeben 
trurbe burdEj bie reine, fjeüige Siebe feines $infeeS. 

®on Seone n>ar ber ©tißfte unter aßen unb bodj ber 
©eroegtefte. @r füllte bie Säuterung, bie if)tn gefdEjeljen 
war burdj bie treue Slnljänglicbfeit ßoncettaS, fet)r roof)!, 
unb roenn er uon 3eit ju 3 e ^ gläcflid^ unb wehmütig 
lad^elrtb feine §anb auf ben ©Reitel feiner Xodftcr legte, 
fpradf es aus biefer ©eroegung, aus feinen 3üs en unb 
aus feinen ©liefen roie eine (Srlöfung, roie eine 2luf* 
erftefjung jum neuen, befferen Seben. 





Zwei alte 

Hansestädte an der Ostsee. 

Reisebilder von lllax Rollweg. 

mit ll Sllietratieae«. (IlaAdrudt verbeten.) 

'Qto ber Söeltoerleljr noch burdj bie Oftfee eine nüchtige 
J I ©traßc jog, ba gebieten bie hattfifchen ©iebelungen auf 
ber baitifdjen ßüfte ju hoher 33lüte unb erroarben @^re 
unb Steicljtum. ©obalb jeboeb £anbel unb SBerleljr neue 
33aljnen einfcßlugen, oerblieb ber ©lanjj, unb jene ©täbte 
mußten von ihrer einflußreichen Stellung jurüdtreten. 
$>iefeä ©cßidfal ift rveber ©tralfunb unb ©reif 8» 
roalb, benen mir im ©eifte einen Söefudj abftatten 
rooHen, noch Söiämar unb Stoftod unb anberen erfpart 
geblieben. 

3n ber heutigen $auptftabt be§ StegierungSbejirlS 
©tralfunb ber preußifcfjen Sßrooing Sommern haben fiel) 
»on bem ehemaligen Steidhtum unb ber großen Vergangen* 
heit noch fehr oielfagenbc 3«ugen unb zahlreiche dharalte* 
riftifdje 3^0« erhalten, bie ein 33ermeilen barin für ben 
gremben loljnenb madhen. £ie bcrrlicbett ßirdjen unb 
ßlöfter, baä ftolje StatßauS unb zahlreiche ftattlidhe, im 
eblen ©til erbaute öürgerljäufer unb bie feften iEfja*® 



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r-7 ' r '"" ' 



1901. III 



■ 



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162 



&me\ alte Jfanfeftabte an ber (Djtfce. 



geben ber ©tabt etroaS 2ntertümIidjeS unb ein malerifdjeS 
©eroanb. ©ie ift an bem 2, 5 Kilometer breiten ©trela- 
funbe ober ©tralfunber galjrtoaffer gelegen, ba§ bie 
2>nfel Siiigen nom geftlanbe fdjeibet, unb bilbct eine teils 




Das Knicpcrlbor in Slralsund. 



won ber ©ee, tcilö non jmei großen unb unter fidj nu« 
fammenljängenben Xcicf;en (granlen* unb Sinieperteid>) 
umgebene gnfel, bie mit bem feften Sanbe mittels breier 
®ämme (ßitieper*, Xriebfeer- unb granfenbamm) ju* 
fainmenljnngt. kleine Dampfer (für grojje ift bie .£>afcn* 



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Sdjills 6rab aul dem Knieperlriedbol. 



einfaljrt ju feidjt) unterhalten eine tägliche 33erbinbung 
jroijchen 9iügen unb ber (Stabt unb werben non ben 




V 

•» 




bortigen SBabegäften niel benufct. 2öenn man ftcf) mit 
einem biefer Dampfer ©tralfunb nähert, fo gemährt ber 
alte .fjafen aud; ohne bie einftigen flotten mit .fjunbcrtcn 



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164 ^ tuet alte ZfanfeftSbte an ber ©jifee. 

tmn haften mit ben baBinter aufragenben $äcBern uitb 
Stürmen ein ungemein ftimmungSooHeS Silb. 

$>ie natürlidje geftigfeit ber Sage non ©tralfunb, 
baä an ben Sinien Berlin — ©tralfunb, ©tratfunb — SPafe* 
roalf— 2tngermünbe, ©tralfunb— Grampaä— ©afjnijj unb 
©tralfunb— SRoftoc! ber preujjifdjen ©taatäbaBnen liegt 
unb mit SartB burdj «ne HleinbaBn uerBunben ift, mürbe 
norbem noch burcB anfeBnlicBe geftungSroerfe »ermeBrt. 
fDiefe gortijifationen mürben 1808 gereift, aber 1816 
nochmals roieberBergeftellt. 1873 ging ©tralfunb als 
geftung ein, blofs bie jur ©tabt gehörige, bicBt neBen 
ber granlenoorftabt im ©unbe gelegene l^nfel $)änBolm, 
bie bis ins 13. ^a^rBunbert ©trela ober ©tralo Bie&, 
Bat iBre Sefeftigungen BeBalten. 3>m übrigen frnb bie 
28äHe ju öffentlichen Anlagen umgefcfjaffen morben, t>on 
benen man in bie anmutige, abroechätungSreiche Hingebung 
ber ©tabt BtnauSblidt. 

£)ie ©rünbung oon ©tralfunb foH im 3aBre 1209 
burch ben dürften Saromir I. tmn 9tügen erfolgt fein, 
©eine Seroohner fcBloffen 1277 mit SüBecf, SBiSmar, 
Stoftocf, ©reifSmalb unb ©tettin einen Sunb, ber nachher 
bie ©runblage ber $anfa mürbe, melier bie ©tabt ebem 
falls beitrat. ©chon im 14. 3nB r B un bert trieb ©tralfunb 
auSgebreiteten £anbel unb eine roeitoerjraeigte ©djiffaBrt 
nach ber liolänbifchen Hüfte, 9?orogorob, bem baltifchen 
■Jtorben unb Sergen mie na<B (Snglanb unb ben flanbrifcBen 
©tcibten. 

1316 fcBlob $erjog @rich tmn ©acf)fen=Sauenburg 
©tralfunb mit feinem §eere ein, ein lühner SluSfaH ber 
Selagerten aber jerfprengte biefeS. SDer §er 5 og felbft 
mürbe mit oielen Gittern unb Hnappen gefangen im 
Triumphe in bie ©tabt gebracht, bie oon bem Söfegelb 
bas fRatBauS unb ben SlrtuShof erbaute. Sefcterer ftanb 
am 2llten 5DZarft auf ber ©teile ber jefjigen ^auptroadje, 



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Ton 2TTar ffollnrec;. 165 




Der TOarktplatz in Stralsund mit dem Ratbaus. 



fiel aber mit als Opfer ber geueräbrunft uon 1680, bie 
600 §äufer in 2Ifcf)e legte. 9fadj bem SluSfterben beS 



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166 <5n>ct alte RanfeftSbte an ber CDftfec. 

Slügenfdjen gürftenljaufcä !ant ©tralfunb an Sommern, 
beffen §ergöge bie ©tabtredjte nidft nur betätigten, fnn* 
bern fogar auf gang Sommern auSbefinten, roofür iljnen 
bie ©tabt gegen bie ©rbanfprüdje ber ©tedlenburger 
weder beiftanb. 

2leufjere unb innere Kämpfe erfüllten baS gange 
14. unb 15. 3<if)^unbert unb bauerten audj im 16. nodj 
fort. (Srft im Safjre 1615 machte ber bie Siebte unb 
^iflidjten beiber Xeile genau feftfetjenbe ©rboertrag ben 
langen ^roipifi^iten mit ben auf bie 9JZadjt ber ©tabt 
ciferfüdjtig geworbenen pommerfdfen §ergögen ein ©nbe, 
unb im folgenben fetjte audf ber Vürgeroertrag, 

ber bie Seilnaljme ber Vürgerfdjaft an ber ftäbiifdfen 
Verwaltung regelte, ben inneren ©treitigfeiten ein 3iel- 
2llS bann wieber neue 3e r, Bürfniffe ben .£>ergögen 
auSbradjen, würben biefe befeitigt burdj bie gemeinfante 
9iot, bie in bem traurigen SDreifngjäljrigen Kriege über 
baS gange Sanb fam. Vom 13. 2)Zai bis 24. $uli 1628 
würbe ©tralfunb burcf) Söattenftein uergeblid) belagert. 

9Zad;betn bie ©tabt im 2Beftfälif^en grieben mit gang 
Vorpommern unb SJlügen an ©djweben gefallen, muffte fie 
ftd; nadj einem heftigen Vombarbement im Dftobcr 1678 
bem ©roffen $urfürftcn ergeben, fiel aber im grieben »on 
©t. ©ermain an ©djwcben gurücf. 2lud) im 9Zorbifdjcn 
Kriege würbe ©tralfunb 1715 oon ben uerbünbeien ^reujfen, 
$änen unb ©adjfen eingenommen, jebod) 1720 gleidj* 
falls wicber an ©darneben abgetreten. V. { cif)renb ber 
9Zapoleonifcben Kriege würbe bie ©tabt beim ßinfaU ber 
grangofen in ©djwebifcb : Vommern im Sluguft 1807 burd; 
ben 3Jiarfd)aQ Vrune belagert unb gur Uebergabe ge* 
gwungen; gwei 3«l)re fpäter fpielte fidj l)ier bas tragifc^e 
önbe ber ödjiUfdien ©jpebition ab. 

9)lajor fyerbinanb o. ©dfill, ber $ommanbeur beS 2eib* 
IjufarenregimentS in Verlin, Ijatte im $rül)jaf)r 1809 ben 



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Oie Jakobikirdn in SlraUund. 



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168 5rr>ei alte Ifanfcjtäbte an ber ©jtfee. 

fßlan entworfen, 5kcuj$en burdj ein füfjneS Unternehmen 
3 um Kriege gegen Napoleon fortjureijjen. 2lm 28. 2lprit 
oerließ er mit feinem Regiment, bem noch eine (Sompagnie 
gufjjäger folgte, Serlin unb fe$te fid) gegen bie (Slbe in 
SRarfd), muffte fidf aber fdjliejjlidj, oon ben mit ben 
granjofen oerbiinbeten ^oUanbifd^en unb bänifdjen Gruppen 
bebrängt, nadj Stralfunb retten, beffen er fich am 25. SDlai 
burd) einen $anbffreid; bemächtigte. 2Wein fchon nach 
toenigen 2agcn erfdjienen bie oereinigten §oUänber unb 
hatten, 6000 SJtann ftarf, oor ber geftung. 3weimal 
fdjlug bie etwa 2300 ffflann nälflenbe S3efaßung ben feinb-- 
lidjen 2lnfturm ab; bem britten Sturm, ber am 31. 9Jiai 
erfolgte, muffte fie erliegen. 

2$or bem alten $nicpertf)or erfdjöpfte ftch ber Sleft 
ber tapferen SSerieibiger im Kampfe gegen ben überlegenen 
geinb, unb h^r foHte auch Sd)iH felbft ben $elbentob 
für bas sßaterlanb finben. SDen haßänbifd;en Dberften 
2)oHemann l)ieb er noch aus bem Sattel, bann bur<h s 
boljtte ihm felbft eine glintenlugel baS $aupt. (Sin in 
ben Söürgerfteig ber gä^rftrafee eittgelaffener Stein be= 
äeidjnet bie Stelle, wo er fiel ; an bem .§aufe Kummer 21 
ift fein 9M>aiHonbübniS angebradjt. Sein Seidjnam ruht 
auf bem ^nieperfriebljof , mo ihm ein ©rabbenlmal aus 
©ranit errichtet toorben ift, jebodf fehlt ber Seiche ber $opf. 
®iefer tourbe auf 23efel)l beS hoHänbifdjen ^ommanbanten 
oom Slumpfe getrennt, in Spiritus gefegt unb bann lange 
im üJlufeum ju Seiben aufbeioahrt. (Srft 1837 marb er nach 
23raunfd)roeig gebradjt unb bafelbft nebft einigen bort be= 
grabenen ^ameraben in einem befonberen 2Jlaufoleum bei* 
gefeßt. 

9iach bem mit Schweben abgefchloffenen groben !am 
Stralfunb 1810 mieberum an biefeS jurüd. 3mar mürbe 
bie Stabt nadjfjer noch einmal oon ben granjofen auf 
lurje geit befefjt, aber im 23efreiungstviege geräumt. 



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Poti War fjoUtrcij. 



169 




$urd) ben griebeit ju Jliel con 1814 fam fie nebft ganj 
SdjtDebifd)--^ommern an 2)änematf unb non biefem enb« 
lieb burdj ben 
Vertrag oom 
4. guli 1815 an 
fPreufjen. 

5öex einem 
©ange burd) bie 
Stabt machen 
mir junädjft auf 
bem fdjönen 
2llten 3)Jar!tp[a§ 

§alt , um ben 
1306 begönne« 
nen ^'radjtbau 
be§ StatOaufeS in 
feiner altertüm« 
licken 2öürbe ju 
bemuttbern. ®ie 
neuerbingS re» 
ftauriertc^affabe 
wirft burdj itjre 
fieben frei auf» 
ragenben, luftig 
burdjbrodjencn 
©iebel jnnfdjen 
fdjlanfen 2ürm« 
c^en ungemein 
ftatt(id). 2er bie 
ganj\e 23reite ber 
Saffabe einnebmenbe grofje 9tatsfaal ift mit ben IebenS« 
großen Porträts griebridj 2i$übelm3 III. f griebricb 28il« 
belmö IY. unb SBilljelmS I. gefdjmiidt ; aufjerbem enthält 
er noch bie Silbtüffe mehrerer fdjmebifdjer Könige unb 



Das Scmlowcrlbor in Stralsund. 



A 




v 



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170 §mci alte fjanfefläbte an bet Üftfcc. 

anbere mertooHe ©emälbe. ferner umfaßt baä SRat- 
Ijauä noch bie öffentliche Sibliotbef unb baä Sfeuoor* 
pommerfdje [Dfufeum mit intereffanten Altertümern unb 
Äunftgegenftänben. 

hinter bem SRatljauä feben mir bie ju @nbe beä 

13. ^^rliunbertä begonnene ^Jiifolaifirdje, baä fc^önfie 
©otteä^auä ber Stabt, mit jroei mäßigen türmen auf* 
ragen. Sjm inneren ift bemerlenämert ber Hochaltar, 
ein fdjöneä, 1856 reftaurierteä §olgfd)nif$n)er! auä bem 

14. 3>af)rtjunbert, bie Saffton barfteHenb, mehrere ge» 
fdjnifste glügelaltäre unb bie Sronjegrabplatte beä 1357 
geworbenen Sürgermeifterä §öoener. ferner meffingene 
$fron= unb üöanbleudjter unb bie SRefte eineä gotifdjen 
Saframentä^äuädjenä auä §o!j. 

An bem [Reuen SUiarlt, &u bem man oom Safjnljof 
über ben Sriebfeerbamm gelangt, liegt bie oon 1416 
biä 1473 erbaute fötarienfirdje, gleid^ ber -Rifolaifirdie 
eineä ber mädjtigften 2öerfe norbbeutfeber Sacfftein* 
ardjiteftur, in ihrem Aeufjeren ben unoerfennbaren Stern* 
pcl oon Äraft unb ©röfje tragenb. 3)ie 9Jiarienfird)e 
[teilt ein breifdjiffigeä Sang* unb Querljauä mit @bor* 
Umgang bar; jtoifeben ben Strebepfeilern liegen Kapellen* 
reiben. 3rcei 25 [Dieter fjolje fd^öne $enfter in ©laämaleret 
Ijat $önig $riebricb SSilljelm IV. ber $ird;e gefcbenlt. 
367 Stufen führen ^u ihrem Murine empor, oon bem man 
einen prädjtigen Auäblid über bie materifcb ringä oon 
•Kkffer umgebene Stabt unb einen großen Seil ber ^5nfel 
[Rügen l;at. 

Siiblidj oon ber [Rifolaifirdje erbebt ftd; bie Safobi* 
firdje, ein gotifdjer Sau mit brei Sdjiffen ungleidjer §öbe, 
an ber Dftfeite gerablinig abgefd)loffen; über ber SGBeft* 
front ragt ber Xurm mit reifer Seforation empor. 3m 
inneren finben mir beadjtenäroerte Sdjnifjaltäre unb fc^öne 
Säfelung in ber Safriftei. Ade Kirchen ber Stabt Ratten 



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Poii tTTar Pollweg. 171 

oorbem einen oiel reiferen ©cßmud bilbnerifcßer ßunft* 
werfe aufguweifen, bie leibet gum größten Seil ber »an* 
balifcßen Serwüftung ber Silberftürmer gum Opfer ge* 
faßen ftnb. 

9iocß ift gu ermahnen baS fRegierungSgebäube, ba§ 
3eugßau8, bas urfprünglicß eine Älofterfircße mar, unb 
bas SoßanniSllofter, jeßt großenteils SlrmenßauS. 2113 
SlranfenßauS bient bas 1407 oon gwei ©tralfunber Sür* 
gern gur Slufnaßme mittellofer unb Iranfer gremben ge* 
grünbete ©aftßauS, baä bem ßeiligen 2lntoniu3 geweißt war. 

Sei einem 9tunbgange burcß Die ©traßen faßen bem 
gremben nocß anberweitige Erinnerungen an bas ftäbtiftße 
Seben alter 3dt itt3 2luge. ©cßöne ©iebelbauten non 
Srioatßäufern fießt man emporragen, unb mit anfeßn* 
ließen ^auSfaffaben wecßfeln graue ßlofterbauten, bie wie 
träumenb unter feßattigem Saubbacß baliegen. 2lucß bie 
Slßore, neben bem feßon erwähnten ßniepertßor befonberS 
bas ©emlower* unb ba§ ^iiftertßor, fügen fuß ftimmungS* 
uoß in baS altertiimlicße ©tabtbilb ein. 

2lnt granfentßor befinbet fieß bie ftattlidße neue Sn* 
fanterielaferne ; gwifeßen bem ßnieperbamm unb ber 
©arnowftraße mit ißren ßübfcßen Sanbßäufern liegt bie 
anmutige Srunnenaue. 3” ben 2lnlagen oor bem Knieper* 
tßor ift auf einer früheren Saftion baS gotifeße ßrieger* 
benlmal erridßtet. SDie Saljn gießt fteß oom §auptbaßn* 
ßof füblicß um bie granfenoorftabt, bis gum §afen oon 
©tralfunb, wo wir, gum 2lu3gang8punfte gurüclgelangt, 
unfere SBanberung bur<ß bie intereffante ©tabt beenben. 



3n bem niebrigften ÜEeilc oon Sorpommern, 4 $ilo* 
meter unterßalb ber 9)iünbung beS feßiffbaren 9hjcfflüßcßen3 
in ben ©reifäwalber Sobben, liegt bie ftreisftabt © r e i f 3* 
w a I b , ber wir uns nunmeßr guwenben. 3ß*e 6nt* 
fteßung ßängt eng mit ber um baS 3aßr H99 geftifteten, 



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172 5>rc>ct alte fjanfejtäbte an her Oftfee. 

1638 non bcn Schieben jcrftörten (Siftercienferabtei £ilba 
ober ©Ibena gufammen. ^^re malerifdjen Ruinen liegen 
4 Kilometer öftlidj oon ©reifäroalb bei bem gleichnamigen 
SDorfe mit 33orroer!. £ier rourbe im 3ahre 1834 eine 




Ruine Eldena. 



mit ber ©reifotualber Unioerfität oerbunbene 21fabemie 
ber StaatSmirtfchaft unb Sanbroirtfdjaft erridjtet, an 
beren Stelle feit 1837 eine lanbnwtfchaftliche Schule ge* 
treten ift. 

3n bem ©ebiete be3 ^lofterS (Slbena befanbett [ich am 



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Don iTtar f^oürocg. 



173 




nörblicben Ufer beS bort bte ©renje jroifdjen bem dürften» 
tum 9tügen unb bem §erjogtum Sommern bübenben 
glüfjdjenä 
§ilba , baä 
erft fpäter 
9lectnifc,9tega 
ober 9ipd ge» 
nannt mürbe, 
ergiebige 
©aljquellen, 
bereu ^Betrieb 
fdjonll93er* 
mäbnt roirb, 
unb bortbin 
berief ber 2tbt 
»on ©Ibena, 
ben giirft 
Saromir oon 
9iügen im 
Sabre 1209 
baju ermädj» 
tigt batte, 
bänifdbe, 
beutfcbe unb 
flaroifcbe ßo» 
loniften. 

3)iefe 2ln» 
ftebler batten 
einmübfameS 
Äolonifie» 
rungSroer! an 
berüJtünbung 

be§ 9tycf ju ooübringcn, benn felbft bie mäjjigfte ©tauflut 
trieb anfangs ba3 fumpfige 2?affer IanbeinrcärtS. 3m 



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Dit Rydcmündung. 




174 



©tret alte Fjanfeftäbte an ber (Djlfec. 




^Ticebe fü^rertbe Sßaffevflra&e bilbet, in ftattlidjer 33reite 
unb non ©djiffen reid> belebt, ins SJleer. 



3lnfangS wohnten jene erften Slnftebler getrennt, halb 



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LiiuiJ g -i i ia*i ii J^mii Ju im 




176 Sroct alte IfanfcftSbte an bet <Dfifcc. 

r«rür^>40f40c^0r40f40r40f40r«r40r^^ 

aber oerbanben fte fidj unb grünbeten, nadhbem fie be* 
fonberä burdb (Sinwanberung aus bem aufblüljenben unb 
feinen £anbel bi§ borthin erftredenben Sübecf oerftärft 
worben waren, im Sahre 1241 einen SJiarltfledfen. 3« 
ber ©efdjjictjte taucht er juerft unter bem 9?amen „@riphi§* 
walb" auf; benn ber fctjäfjefjütenbe ©reif mar baS ge* 
meinfame ÜBappentier in ben Sannern unb ©gilben ber 
gürfien oon Siügen unb ber §erjöge non Sommern, nach 
bem ftcfj ledere felbft als ba3 „©efchledfjt ber ©reifen" 
ju bezeichnen pflegten. 1249 naljm Herzog 2Srati§lam III. 
non Sommern ben neuentftanbenen -Dlarftflecfen ©reifS* 
walb mit ber Sogtei oom $lofter $ilba ju Sehen unb 
»erlief feinen Bürgern am 14. 9Jiai 1250 baä Sfibifdje 
Siedet. 

SDer hiermit bem prangenben Oranje ber beutfd&en 
©täbte an ber Dftfee einoerleibte Drt roud^ä unb erftarfte 
rafdf) burdSj bic Setriebfamfeü unb ben ©emeinfinn feiner 
waeferen Bürger, ©reifSmafb fcljlof? ftd) im 3>nf) re 1281 
bem Sunbe ber beutfd^en §anfa an unb naljm tätigen 
älnteil an beren fiegreidben beimpfen gegen 9iorroegen 
unb £)änemarf. einträchtig fd^loffen ftd; ihre „Sergen* 
faljrer" unb bie „©dljonenfafjrer" ju einer „oberften" unb 
„unterften ßompagnie" jufammen, bie mit ihren eigen* 
tümlidben ©efefcen bis ind 18. 2»al;rhunbert hinein beftehen 
blieben. 

1325 ftarb bas ©efdjlecht ber dürften oon 9iügen au§; 
baö Siecht ber (Erbfolge ftanb nunmehr bem §erjog 
2Brati8lam IV. oon Sommern*SÖ3olgaft ju, mürbe ihm in* 
be)}en oom Äönig ßhriftopf) ®on $äne»tarf ftreitig ge* 
mad;t. 3 m nächften Sjafjr ftarb SBratiSlaw, nur un* 
inünbige ©ohne hinterlaffenb. $a nahmen bie Sürger 
©reifdmalbä ben älteften oon ihnen, ben jungen §erjog 
Sogiälam, bei ftch auf; fie gaben bic Sofuttg auS: „Sieber 
ben £ob als 2)äneinarf!" unb befchlofjen, mit ©ut unb 



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178 ä5®e« alte £fanfeft5t>te an ber ©ftfee. 

£eben für bie SSerteibigung beS fRedjteS ber „©reifen" 
auf bie rüaenfdje @rb}d)«ft eingufteljen. 33ei ©riebenoro 
unb SSöIfd^oro gefdjfagen , muffte £ergog §einrid) oon 
Sftedfcnburg unb Äönig CSrxd^ non fDänemarl am 27. ^uni 
1325 ben grieben oon SrobcrSborf fdjliefjen, burd) ben 
bie S^fel SRügen mit bem gugeljörigen feftlänbifdjen S3e= 
fi§ für immer mit Sommern oereint mürbe. $um ©C’ 
bädjtniä jener fjelbcnmütigen Kämpfe ftifteten bie ©reifö- 
malber 1331 eine jäfjrlidje „©iegeSmeffe" unb baS „gürftem 
ober SBedenfeft", bei bem Söier unb SSeifjbrot an bie 
Sinnen oerteilt mürbe. 5Ric^t minber tapfer beroäfjrten 
fidj bie ^Bürger ber (Stabt in bem gmeiten rügenden @rb= 
fotgefrieg oon 1351, fomie in bem großen Kampfe ber 
$anfa gegen $önig SBalbemar IV. Sitterbag oon SDänemarf, 
bem ber für festeren tief bemütigenbe griebe oon ©trat* 
funb am 24. SRai 1370 ein Csnbe machte. Sludj gegen 
bie gefürsteten ©eetäuber, bie unter bem -Kamen ber 
„S3italienbrüber" am ©djluffe jenes SaljrfjunbertS fo üben 
tnütig baS .§aupt erhoben, gogen bie ©reiföraalber gu 
gelbe, unb mieberum mar ba§ HriegSglüd ifjnen günftig. 

2)iefe §elbengeit ber ©tabt, bie ifjren Bürgern nid^t 
blofj SRuljm, fonbern audj reidje 33eute bradjte, f>at in 
■Monumentalbauten ifjren bfeibenbcn SluSbrud gefunben, 
bie nod) fjeute jeben SJefuSer oon ©reifSmalb entgüden. 
fDamafS finb bie brei fjerrlidjen ©iebelljäufer an ber Oft* 
feite beS ©rofjen SRarlteä cntftanben, oon benen unfere 
^Huftration auf ©. 174 eines gur füarfteUung bringt, 
gerner bie firdjlidjcn Neubauten in blüljenber ©otif : ber 
Gljor ber ^afobifirdje, ber £urm (100 ÜJleter) unb ber 
Sfjor ber Mifolaifirdje, fomie bie SEurmoorfjaHe unb bie 
füblicfje Kapelle ber fDlarienfirdje. Sludj gefjn Sinnen* 
Ijäufer mürben geftiftet, oon benen baä „2Saifen= unb 
SlrbeitsfjauS" unb groei fogenannte „ßonoenie" in ber 
Maforcerftrafje nodj fjeute beftefjen. 



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Don ITtaj £joün>cg. 



179 



2)a3 15. ! 3 af)fljunbert braute bie ©rünbung ber ©reifs* 
roalber Unioerfität, meldje bic ©tabt bem auch fonft um 
bie Drbnung ihrer 33erhältni|fe hocßoerbienten mannhaften 
©pnbifuS unb 33ürgermeifier Dr. £eintidh SRubenoro 311 
banfen hatte. SHudj bie UnioerfitötSbibliothef mürbe burdj 




9 

DU Universität in 6rciltW4ld. 



ihn gegrünbet. §erjog ©rnft Submig erbaute 1591 ein 
neues UnioerfitätSgebäube, unb 23ogiSlaro XIV. feßenfte 
ber §od)fchuIe im 3 a h* e 1634 einen großen £eit ber 
©üter beS aufgehobenen ßlofterS ©Ibcna, aus beren ©in* 
fünften fie noch jefct größtenteils ihren Unterhalt bezieht. 
fRacß feinem 1637 erfolgten £obe begünftigte bie Königin 
ßßriftine oon ©darneben bie ^ochfcßule gan§ befonberS. 



180 Q>n>ei alte fjanfejtäMe an ber ©ftfee. 

1750 mürbe t>on 2lnbrea3 ÜBJaper an ©teile ber alten ©e* 
bäube bie je^ige Unioerfttät im Sarodffiil errichtet, ©eit 
ber oierfjunbertjäljrigen Subelfeier im 18f>6 ftnb 

nod) ja^lreidbe ftattlicfje Sauten Ijinaugefommcn ; naclj 
1870 nmrbeit erbaut bie 2lnaiomie, baS Satljologijdje 
unb ßljemifcfie Snftitut, nad^ 1890 bie Sibliotl>ef naclj 6nt* 
rciirfen oon ©ropiuS unb ©cfjmieben, baS neue Sollegien* 
gebäube, baS Sfjpfiologifdje unb S^filalifd&e 
unb bie Slugenflinif, benen fiefj ein fppgieinifcIfeS Snftitut 
anfdiliejjt. Sem Segrünber ber $odf)fdfjule l)at man auf 
bem 9lubenotoplaf5e oor ber Unioerfttät ein non IjiibfdEjen 
Anlagen umgebenes, 14 2JJeter IfoljeS gotifdjeS Senlmal 
aus bronjiertem 3inf gefegt. Slufjer bem fReliefporträt 
SRubenomS befinben fidjj baran bie ©tatuen SöratiSlaroSlX., 
Sogislams XIV., griebridjS I. oon ©darneben, griebridf 
SffiilfjelmS IV. oon Sreufeen, Sugenf)agenS, 9JlemiuS’, 
SernbtS unb (Srnft 2)Zori^ 2lrnbtS. 

Gütige ^al;re oor ©rünbung ber Unioerfttät (1451) 
Ifatte ©reifSmalb burd) Sürgermeifter $einridj 3lubenora 
audj feine Serfaffung in 17 Statuten erhalten, bie 1651 
teilroeife überarbeitet unb ganj ins §od;beutfd)e übertragen, 
erft 1873 burdEj einen neuen ©tabtrecefj eine rccfentlidje 
Seränberung erfahren fiat. 

©djroereS muffte ©reifSmalb im Sreifjigjäfirigen Sriege 
erbulben, nadibem bie Saiferlicben unter bem Dberften 
Serufi eS eingenommen Ratten. Surdj Steuern unb Gin* 
quartierung mürbe es fo gefdjäbigt, baff bie 9lot in furdjt* 
barer Söeife flieg, unb man ÜJiünjen aus 3' nn mit ber 
Snfdjrift: „Necessitas Gripswaldiae“ (Sie 9lot ©reifS* 
malbS) prägen muffte. Sie §älfte aller §äufer in ber 
Stabt ftanb oeröbet ba, alle oor ben Sljoren gelegenen 
aber mürben famt Sirdjen unb fjofpitälern ^erftört. 2lm 
11. Sunt 1631 mürbe ffkrufi in einem ©efed)t oon fcfirne* 
bifdjeit Leitern erfdfoffen. Honig ©uftao Slbolf jog nun* 





Pou ITtar ßoütoeg. 181 

mef)r in bic Stabt ein, bie im 2Beftfälifdjen ^rieben mit 
ganj Vorpommern unter fc^roebifc^e §errfdjaft !am, ba 



Greifswald: tltarktplatz und Rathaus. 

Bereits 1637 baS pomtnerfdje §erjog3f)au3 mit BogiS* 
lato XIV. auSgeftorBen mar. 

äßeitereS Unljeil Brauten bie Beiben Belagerungen 
burcf) ben (Urofecn fturfürften (1659 unb 1678), fotoie 





182 d>u>ei alte Fjanfeftäbte an bet ©ftfee. 



ber ^Zorbifd^e Ärieg, in bem bie Stabt 1711 non Stufen, 
Violen unb Saufen befe^t mürbe, foroie bie oerljeerenbe 
geueräbrunft non 1713. 3n ben 3al)ren 1758 bi§ 1759 
würbe ©reiföwalb bann norübergeljenb non ben f)3reufjen, 
1807 bi§ 1810 non ben $ran$ofen befefjt. (Srft im 3 a h*e 
1815 !am bie Stabt burdj ben Söietter tnit ganj 

SSorpommern ju fjkeufjen unb mürbe bamit bem beutfdjen 
SBaterlanbe jurüdgeroonnen. 

33amalä jaulte bie alte, eljrenreiche §anfeftabt blojj 
nodj 7000 ©inwoljner, jefct jät)tt fie mehr al3 breimal 
fo niel. Sie macht mit ihren reinlichen Straften, ben 
Kum 2lcil noch altertümlich frönen Käufern, ftattlidjen 
Kirchen unb llnioerfitätägebäuben unb umgeben non ben 
fdjattigen, urfprünglich auf ben alten Stabtwällen an» 
gelegten, aber oielfad; erweiterten unb »erfdjönerten 2tn» 
lagen einen ungemein freunblidjen unb antjeimelnben ©in* 
brud. 




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Hus der mikroskopischen 
SHunderwelt des ölassers. 

naturwissenschaftliche Betrachtung. Uon Dr. 0. Itlerker. 

* 

Mit 6 Illustrationen. (nadjdrudc verboten. 

Sebermonn weife, bafe baS SGBoffer eine §auptqueffe beS 
pflanjlicfeen wie beS tierifcfeen Sebent borfteHt, unb bafe 
unjäfelbare 9Jliöionen belebter ©efcfeöpfe im flüffigen 
Element wofenen unb ifere -Jiaferung finben. $aS Seben 
ber ©ewäffer ift aber feineSwegS auf bie SJtpriaben Söefen 
befcferänft, bie baS unbewaffnete 2luge barin wafernimmt, 
benn mit 2lu8nafeme beS ganj reinen Quell* unb ^Brunnen* 
wafferS unb Ilarer, fcfeneU fliefeenber 33äcfee befeerbergen 
alle ©ewäffer ber (Srbe, fliefeenbe wie ftefeenbe, Süfewaffer 
wie baS faltige üDleerwaffer, autfe nodfe nafellofe windige 
©efcfeöpfe, bie erft unter bem üDiifroffop fidfetbar werben. 

2öenn man einen tropfen aus mit ^flan^en gefüllten 
SBaffergräben, Seicfeen unb Sümpfen ober ton -Kaffer, baS 
lange geftanben feat unb babei ber Suft auSgefe^t war, 
burdj ein gutes Wifroffop mit rtier* bis fiinffeunbertfacfeer 
SBergrßfeerung betracfetet, bann erfdfeliefet fidfe bem SBefcfeaucr 



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184 2lus ber mifroffopifcfjen tüunberroelt bes IDaffers. 

plöfjlid) eine gan^ neue, ungeahnte 2öelt, benn er erblidt 
barin oft £>unberte non »erfdjiebenartigen Vieren in 
»oEer Sebenöt^ätigfeit. 

SDer £oEänber Seeuroenljoef in SDelft war eS, ber im 
3aljre 1675 mit §ilfe beS neuerfunbenen -JJttfroffopS 
at§ ein anberer fiotumbuS uns biefe neue, bis balfin 
bem blofjen Stuge »erborgen gebliebene Söelt entljüEtc, 
bie an SSunbern ebenso reid^ unb nod) bei rceitent nteljr 
beoölfert ift, mie bie »or unferem 33lid offen ju Sage 
liegenbe. 

3uerft l)ielt ber genannte gorfdjer biefe roinjigen be* 
roeglicljen Körper ber mannigfaltigften 2trt unb ©eftalt, 
in ber ©röjje bis jum »iertaufenbften Seil einer Sinie 
fjerab, non benen einzelne 2trten fidj binnen »ier Sagen 
auf 140 Millionen »ermefjren fönnen, für bie lebenben 
„2ltome ber 2Belt", fpäter erfannte er Heine SierdEjen 
barin unb nannte fie bem cntfpredfjenb „2lnitnalfula". 

3m »origen Saljrljunbert !am für fte ber 9Zame 3° : 
fuforien ober 3 n fufionS*, bas fjeifjt älufgufjtiercfjen in 
Slufnaljme, ber barauf fiinbeutet, baji fte fid) maffenfjaft 
einfinben, roenn man bie »erfdjiebenartigften organifdfjen 
©ubftanjen mit Sßaffer übergiefst (infunbiert) unb fteffen 
läfjt. 5)tan glaubte babei an eine fogenannte Urzeugung, 
bas Reifet eine ©ntftefjung aus bem blofien Söaffer, offne 
bereits »orfjanbene Organismen äfjnlidjer 2lrt, bie aber 
»on ber fortfd;reitenben SBiffenfcfjaft feitbem als gabel 
nadfjgeroiefen mürbe. Ueberafl, roo man bisher ben ©nt* 
ftefjungSoorgang eines SeberoefenS roirflidf) bis ju feinem 
Anfang »erfolgen fonnte, falj man es immer aus bereits 
»orfjanbenen keimen entfielen, bie, foroeit nicbere ^flan^en 
unb Siere in fommen, faft ftets unb überaE in ber 
Suft unb im Söaffer gegenraärtig ju fein fdjeinen. 

Sem auSgejeidjneten -Jiaturforfdjer ©fjrenberg in 33er* 
lin, ber fein ganjeS Sieben bem ©tubium ber ntifroffopifdjen 



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Don Dr. <S. ITTerfcr. 



185 



©efdjöpfe niibmete, fyaben mir in erfier Sinie unfere gegen* 
njftvtige Kenntnis ber Jjnfuforien 3 U banlen. Stöeiti aucf) 




€in aud) von Räderlieren bewohnter UJassertropfen (stark vergrössen). 1 fest* 
gewachsene und m freilebende Infusorien, n Cuflblasen, o festgewaebsettes 
Rädertier (Floscularia) , p Rotifer, zeitweilig festsitzend, q gepanzerte Rota* 
torien, r ein wurmförmiges Rädertier der Ballung Callidina, s Apsilus lenti- 
formis, s' Bakterien, t Brachionus, u eine Jflge , v Pflanzenfaser , w ein 

Blaltstüdicben. 

er fajjte nodj, töte alle feine Vorgänger, ba§ ©ebiet in 
mel gu größer 9tu3bel)nung unb regnete gum Seifpiel bie 
bebeutenb ^öT;er entroicfelten fltäbertiere, bie jefjt gu beit 
•äBürntern geftelll werben, gu ben ^nfuforien. 




186 2tns ber mifroffopifdjen IDunberipelt bcs IPaffers. 



^Betrachten mir bie formenreiche 2öelt, roeldfje unä baS 
33ilb auf ©. 187 in einem SSÖafferiropfen oereinigt geigt, 
burdl) ba§ SDZifroffop genauer, fo geigt fid>, bah fich bort 
neben pflanglidjen ©cbilben Siere oereinigt haben, bie 
nur gum Seil eigentliche Snfuforien ftnb. Sie übrigen 
gehören einer ftch uon aßen anberen nieberen Sieren fdjarf 
jonbernben ©ruppe biefer mifroffopifch Beinen 93eroohner 
beS SöafferS an , nämlich ben Stäbertieren ober 
9t o t a t o r i e n , roeld&e mir nacfjftefjenb eingehenber gu 
fchilbcrn öerfudfjen rooßen. Shr Stame fommt oon einem 
aus einem ©aume feiner SBimperljaare beftehenben Näbers 
apparat her, ben fte am ßopfe tragen. 

Stuf unferem Söilbe fehen mir an einem fjalboerroeften 
ifjflangenfäferdhen (v) oerfdjiebene ^nfuforien (1) fcft* 
gemachten, roätjrenb anbere (m) frei im SBaffer umher* 
fchroimmen. ©ie befi^en gleichfalls -JBimpern, bodb ift 
beren Stnorbnung unb SBemegung berartig, bah ft« niemals 
ben ©cf)ein eines rotierenben Stabes Ijeroorbringen fönnen, 
mie baS bei ben Siäbertieren ber $aß ift. 

Studb letztere fdjmimmen teils frei umher, teils fi$en 
fie mit $ilfe ihres ©chroanganljangeS feft. 2luf ber 2tb* 
bilbung fehen mir bie burd) feljr lange Söimpern auffaßen* 
ben gloSfularien (o) an fdjroargen ©teindjen angeroachfen, 
wohingegen bie Stotiferen (p) nur geitraeilig ftch an einem 
Sllgenfaben (u) angeheftet höben, ©rohere unb Heinere, 
ben SBorifaten ober mit einem £autpanger belleibeten 
Stäbertieren angeljörige formen (q) madjen baS 83ilb 
auherorbentlidE) lebenbig. Söährenb bie Oallidina (r), ein 
nmrmförmigeS Stäberticr, unb bie an einem 23lättd)en (w) 
fi|enben (Sremplare oon Apsilus lentiformis (s) nur 
über fdjmadh entmidelte Siäberorgane oerfiigen, arbeitet ber 
feine @ier mit herumfdhleppenbe Braehionus (t) eifrig mit 
feinen gahlreidjett Gilien ober SBimpern. 

Stii^t gunt Sierreich, fonbern gu ben tilgen gehören 



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bte Salterien s'; n ftnb IjeHe Sufi* 
blafen in unferem SSaffertropfen, 
bie mit ihren fdljarfen, ftarf Iid)t= 
bredjenben unb beSljalb bunfel er= 
fcljeinenben 9länbern auf bem Silbe 
fcfyr in bie 2lugen fallen. 

$ie bereits furg d)ara!teri= 
fierten roingigen 9iäbertierd;en, bie 
nur in gang oereingelten gößen bie 
©röfje eines Millimeters erreichen, 
haben mit ben eigentlichen $nfu= 
forien nichts gemein als bie ßlein= 
heit, fonbern muffen, roie fcljon 
bemerlt, ihrer gangen Drganifation 
nach 5 U ^ en SBürtnern gegaljlt roer= 
ben. teuere Unterfuchungcn höben 
nämlich an biefen ebenfo ntannig= 
faltig roie gicrlidfj geftaltetcn fEier= 
chen eine oiel höhere Drganifation 
nacfjgeroiefen, als folche felbft bei 
ben ooUfommenften Snfuforien fid) 
finbet. $ie Siäbertiere oerfügen 
nicht allein über Munb unb 2lfter, 
SDarmfanal unb Magen, foroie einen 
mit förmlichen Söhnen bewaffneten 
©dfjlunbfopf, fonbern fie befi^en 
felbft ein roenngleidj nur äujjerft 
einfaches unb noch fel)r unooll* 
JommeneS Heroen* unb (Uefäfj* 
fpftem; fogar 2lugen ober bodj 
augenartige Organe finb oor* 
hanben. 

©ie finb über bie gange (Stbe 
oerbreitet unb finben fid) im 



Rotifer vulgaris (wirkliche 
Cänge: 0,2—0.« millimeter) : 
a fluge, b nervenzentrum, 
c Sdilund, d Kauer, e Ulanen, 
f Cnddarm , g Gxkrctions* 
ergane, li llluskeln, i Gierstock, 
k Drüsen. 



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188 2lus ber tmfroffopifdjen tüunberroelt bes IDajJers. 

fußen wie im faltigen SBaffer, jebocß oormiegenb in 
erfterem , in ber flaren Duelle mie im ftagnierenben 
Sumpfe, aber aucß an bem 2)JooS auf Sacßjiegeln, baS 
nur jeitroeife geucßtigfeit erhält, meift bagegen bem 
Sonnenbranbe auSgcfe§t ift. Sie Gtäbertiere befißen 
nämlicß, roie SpaÜanjani juerft nacßroieS, bie merfmürbige 
gäßigfeit beS äßieberauflebenS nacß bem Gintrocfnen, falls 
biefeS nicßt aHju intenfio erfolgt. 3Ran finbet biefe 
rcinjigen 2öefen ju allen SaßreSjeiten, einzelne Slrten 
felbft unter bem Gife; bie meiften SpecieS unb bie größte 
2J?enge non ißnen, bie mitunter baS 2Baffer gleicß einem 
milchigen Ueberjuge bebedt, tritt freilid^ im §ocßfommer 
an 2BafferpfTanjen ju Sage unb aroar in ©efeUfcßaft non 
3>nfeftenlaroen, Sfrebfen, 2Mrmern unb ^jnfuforien. 

Unterfucßt man eine berartige gunbfteHe regelmäßig 
längere $eit ßinbureß, fo fann man maßrneßmen, mie eine 
geftern noeß maffenßaft nertretene 2lrt ßeute plößließ ner= 
feßmunben feßeint, roäßrenb eine anbere, bie oorßer nur 
menige Gjremplare jäßlte, an ißre Stelle getreten ift. 
Giacß einigen Sagen ober Söocßen roirb biefe bann oiel* 
leießt oon einer britten erfeßt; es fann aber aucß nor» 
fommen, baß bie erfte wieber an ißre Stelle tritt, mäßrenb 
fte felbft ebettfo fcßnell oerfeßminbet, mie fie gefommen 
mar. Sroßbem aber barf man fie nicßt für auögefiorben 
galten : nur bie eine (Generation ift oorbei, mäßrenb be« 
reits eine neue in ben Giern ftedt, bie auf bem ©runbe 
beö SümpelS rußen ober au ber Dberflädße beS ©eroäfferS 
frei umßertreiben, rnenn fie nicßt non ben Sllten an ein 
£älmcßen ober Sllgenfäbcßen angeßeftet mürben. 

2luf bie 33erfcßiebenßeiten in ißrer äußeren ©eftalt, mie 
in ber SebenSroeife mürbe bereits ßingereiefen. Sie einen 
bleiben jeitlebenS an irgenb einer Unterlage feft ans 
geroaeßfen, anbere fitjen aueß moßl längere 3eit an einem 
§älmdßen unb bergleicßen angeßeftet, nermögen ißren 



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Pott Dr. <8. ITTetfcr. 



189 



3öofjnfi§ aber nadE> Selieben gu neränbern. Selbe Slrten 
geigen Ianggefiredte fcbmale formen, oft mit unoerljältnis* 
tnäjjig langen 2Bimpern jum Saften am Sorberenbe beS 




Brackionus urceolaris (wirkliche tätige: 0,2 millimeler): 
a Buge, b nervetizenlrum , c Schlund, d Kauer, e magert, 
f Enddarm , g Exkreiionsorgan, li Muskeln, i Eierstock, 
k Drüsen. 



^örperä ; hieran fdjUefjen fich bann gleichfalls fpinbelförmig 
fchtnale Söefen mit bebeutenb fiirjeren (Siliert ober 2Bimper= 
haaren, bic als gortberaegungSorgane bienen. 

3>n ber Seroegung feljen biefe £>aare aus roie groei 



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190 2(us ber mifroffopiff en lünnberroelt bes lüaffers. 

gu beiben ©eiten beä ffopfeä befinblife Staber, bic ftf 
mit grofjer ©fneQigfeit brehen. ©fon unter einem nur 
ffroaf »ergröfternben SJtifroffop ift biefe (Srffeinung gu 
geroahren, unb fte ^nt eben ber gangen SUaffc bie 33e* 
nennung Stäbertiere ober Stotaiorien »erliefen, roie auf 
bie guerft beobachtete gorm ben Starnen Rotifer erhielt. 
SDiefe ift gleif oielen anberen non einer mehr ober min* 
ber berben, jebof in galten gufammenlegbaren unb leid) t 
beroeglifen §aut umgeben, roährenb bie Sorifaten einen 
feften §autpanger aufguroeifen haben. (Sr ift halb glatt, 
halb geförnelt, in feltenen galten auf burf erhabene 
Seiften in polygonale gelber geteilt, fann oorn unb hinten 
mit fpifjen Bornen befefct ober oon einem geraben, 
höfftens etroa§ geffrociften Stanbe bcgrengt fein. 

2)ie größeren Sorifaten ffroimmen oerhältniSntäftig 
träge umher, roährenb bie Heineren gormen unabläffig 
in äufjerft lebhafter SBereegung ftnb. 3)?an fielet fte unter 
bem SJtifroffop nach allen Stiftungen in betn SSaffer* 
tropfen umherjagen, alles mit ben ftärferen Xaftborften 
be§ Stäberorganä unterfufenb unb mit ben auä roten 
ißigmentflecfen befteljenben Slugett betraf tenb. 3Me bisher 
genannten Slrten leben frei im SSaffer, e§ giebt jebof 
auf einzelne, rcelfc ein ©f maroherbafein führen. 

©o häuft beifpielSroeife Notommata parasitica in ben 
im SSaffer umhertreibenben kugeln oon Yolvox, einem 
©ebilbe, ba§ ben Sllgett nahefteht. (Sin anbereS Staber* 
tier ber gteidjen ©attung bagegen lebt nur geitmeife in 
ben Kolben einer Sllgc (Vauclicria) unb ffroimntt bann 
mieber frei umher. Stof anbere Stäbertiere bringen nif t 
in baä gnttere il)re§ Söirteä ein, fonbern behalten bie 
unumffränfte Drtäoeränberung bei, inbem fte ftf nur 
an ber äufseren §aut anberer 2icre anheften. SBenn fte 
junger oerfpüren, fo fteden fte ihre fpifjen liefern gum 
SJtunbe heraus unb bohren ftf bolfartig in bie Seibcö* 



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E>on Dr. < 5 . ITTerfer. 19l 

wanb beS 9Jäl)rtiereS, um -ftalirung aus berfelben z u 
faugen. 

3(lS bie beiben £aupttppen bet fRäbertiere fönnen 
Rotifer vulgaris unb Brachionus urceolaris betrautet 
werben, erftereä bie langgeftrecften weid)l)äutigen formen 
batfteHenb, baS anbere als djarafteriftifdjeS Söeifpiel eines 
gepanzerten fRäbertiereS. Sei beiben tft baS fRäberorgan 
nidjt voUftcinbig entfaltet, bocfj fönnen bie ftarfen SBorften 
barin, tcelc^e bie Safiempfinbung vermitteln, beutlidj 
roaljrgenommen werben. Siefe einen ©aunt bilbenben 
2Bimperljaare fdjlagen in beftänbiger 9teifjenfolge rafc^ auf 
unb nieber. 33ei einer beftimmten ©inftellung beS -üRifro* 
ffopS finb aber immer nur bie in einer gewiffen Sage be* 
finblidjen Sßßimpern ju feljen, bie alle ber 9ieifje nad) für 
einen 2Roment in richtiger ©eljweite erfdjeinen. Saljer 
fommt eS, bajj unfer 2luge baburdj einen äfjnlidjen @in* 
brucf erhält, wie von ben ©peidjen eines in fdjneUer 
Umbreljung befinblidjen SRabeS. Siefe Bewegung erzeugt 
in ber näd)ften Umgebung beS SiereS Heine ©trubel im 
2Baffer, bie fid) burdj fein verteilte $arbftoffe, wie 3nbigo* 
ober $arminlörnd)en, beutlidj ficf)tbar machen laffen, wie 
auf ©. 192 anfdjaulid) gemalt. $ier finb aber von ben 
fffiimperljaaren auf jeber ©eite blofj zwei gezeichnet, um 
bie 2)eutlid)feit nidjt zu beeinträchtigen. 

Surdj biefe ©trubel wirb baS SBaffer an ber Deffnung 
beS SRunbeS vorbeigetrieben, wobei ein Seil ber mit* 
geführten ^[nfuforien u. f. w., welche bie ÜRahrung ber 
Stäbertiere bilben, non ben Heineren 2)tunbmimpern feft* 
gehalten unb nach bem ©djtunbe beförbert wirb. Stuwer* 
bem bient baS 9täberorgan aber auch zur DrtSveränberung, 
ba alle ntdjt fefififcenben formen ber Stäbertiere fidj mit 
feiner §ilfe von ber ©teUe bewegen. Einzelne 2lrten, 
barunter ber fdjon genannte Rotifer vulgaris, vermögen 
ihren Aufenthaltsort inbeffen auch z« »eränbern, inbem 



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192 2Jns ber mifroffopifd?ett IDiuiberroelt bes HXiffers. 

fie nadj 21rt ber ©panner burdj 21uSftrecfen unb 2Sieber= 
einjieljen beS Hinteren KörperenbeS frieren. 

33ei aßen 9täbertieren ftnb bic 2lugen (a) lebhaft rot 
gefärbt, rooliingegen alle übrigen Körperteile feine 
gärbung aufjuroeifen Ijaben. $as Sluge liegt entroeber 
unmittelbar auf bem fJieroenjentrum (b), ober es ift burdj 




Die Strömungen, welche 
das Räderorgan erzeugt, 
werden durch Karmin* 
kürnchen sichtbar ge* 
macht. 



c Schlund, d Kauer 
(stark vergrössert). 



feine fReroenfafern mit iljm oerbunben. ®ie mittels bes 
$RäberorganS Ijerbeigeftrubelte ÜRaljrung gelangt junädjft 
in ben ©df)lunb (o), oon rao fie mittels ber Söimpern 
nadf) bem Kauer (d) raeiterbeförbert roirb. liefern, burdj 
fräftige SRuSfeln in 23emegung ju feljcnben Apparat fällt 
bie 2(ufgabe flu, bie fRaljrung grünblidf) ju bearbeiten, 
beoor fie in ben 3Ragen (e) gelangt. 2ßol)l finbet im 



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r>on Dr. <5. Werfer. 193 

flauen feine gerfleinerung bcrfel6en ftatt, tute baS bei 
ben ^nfefientaroen ober gar bei ben Säugetieren gefdjieljt, 
immerhin aber mirb bod) burdj feine häufige Seroegung 
bie SJialjrung »orljer mürbe gemalt, fo bafj fte für bie 
dinroirfung oerfdjiebener am 2>armfanal anfjängenber 
$riifen (k) beffer empfänglich ift. 

SDiefer ßauapparat jeigt oft eine ganj fomplijierte 3't 5 
fammenfehung; er beftefjt aus oerfchiebenen, burdj GJelenfe 
miteinanber nerbunbenen (Sfjitinfiüdfen.*) 3$ re Semegung 
geljt in ber SBeife oor fidj, bafj jroei »orbere, mit er* 
habenen SängSleiften uerfeljene glatten bie Nahrung 
faffen unb unter heftiger Semegung jroifdjen fidj burdj* 
preffeit. SDie auf S. 194 roiebergegebenen Steile ftcllen 
»ergröfjerte ßauapparate bar: a ben eines Rotifer non 
oben gefeljen, b benfelben oon ber Seite, unb c ben $auer 
eines gepanjetten Brachionus, befonberS ftarf oergröpert. 
$aj? bei ben fdjmarofcenben Sfäbertieren biefer ßauer fidj 
audj aus ber ÜDlunböffnung ^croorfd^ieben unb jum Stedjen 
benu^en läfjt, mürbe oben angeführt. 

$urdj einen engen Sdjlunb gelangt bie -JWjtung bann 
in ben fragen, ber balb fugeiförmig aufgeblafen, halb 
fchlauchförmig ift. 5Dafj in iljnt eine djemifdje Sleaftion 
ber ermähnten Prüfen ftattfinbet, bemeift beutlidj bie Ser* 
änberung ber garbe beS SpeifebreieS, beffen meift grüne 
Teilchen balb eine graugelbe Färbung gewähren laffen. 
2tn ben fKagen fc^liefet ftdj unterhalb ber dnbbarm (f), 
ber fich jettmeife burch Fjeftige 3ufammenjiefjungen ent* 
leert. ©leidjjeitig mit ihm münben auch bie dsfrctionS* 
ober 2IbfonberungSorgane (g), bie man ihrer gunftion 



*) Efjitin fjci&t jene Subftanä, bie bei SBürmern, Ärebfen, 
©pinnen unb Säften ebenfo häufig auftrüt, tuie bei Sßflansen 
bie GeHutofe, unb auS ber alte häutigen unb härteren Seite ber 
ueifcfjiebenen Organe biefer Siere beftefjen. 

1901. 111. 1J 



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194 2I»s &er mifroffopifchcn IthtubcrtrcU bcs IDaficrs. 



nach mit ben Stieren Dergleichen lann. 3n bet £aupt* 
fadfje hefteten fte aus einet grojjen, gufammengiel)baren 
SÖIafe, oon bet ftdj groei, oft »ielfach öerfd&lungene Ka* 
näle abgroeigen. $iefe giefjen fich auf beiben Seiten bcS 
Körpers bis gutn Kopfe hin, nehmen mittels bedherförntiger 
Organe bie oerbrauchten (Säfte auf unb leiten fte jener 
33lafe gu, bie fich non 3«»* iu 3^» burch feine SJtuSfeln 
gufaininengefcljnürt, in ben ©nbbarm entleert. fDem 33lute 

bet tjö^eren 
ütiere entfpricljt 
eine fatblofe, 
frei in ber Sei* 
beShöfjle girlu* 
lierenbe glüf* 
figleit. ©in be* 
fonberer 2lt* 
ntungSapparat 
ift nid£jt vor« 
Ijanben unb 
wirb burth bie 
§aut erfefct. 

$aS untere ober Hintere Körpetenbe wirb meift gufe 
genannt unb befteljt aus einzelnen ©liebem, bie nadfj 
Slrt eines gernroljrS ineinanbergefcljoben unb mieber oor* 
geftredlt werben fönnen. $a8 leiste ift gugleidj baS 

bünnfte unb trägt gwei, auch woljl brei 3*h en r reelle 
bur<hbof)rt ftnb. fCurch fte mänbet ber 3luSfüljrungS* 
lanal einer paarig im gujje oorfjanbenen ®rüfe aus, 
bie burch jene 3eh® eine glüffigfeit abfonbert, bie als 
Klebmittel gum 2lnljeften beS gufjeS an irgenb einen 
©egenftanb bient. 2lujjerbem enthält baS Körperenbe 
noch SJluSfeln, bie burch ihre 3wfammcngicf)ungen bie 
SBewegungen ber oerfchiebetten ©lieber beroirfen. 

5lujjer biefen $uj}niuSfeln 'fl noch ein n&e* ben 




b 



UergrSsserl« Kauapparat« der Rädertier«. 
a Rotifer, von oben, b Rotifer von der Seile, 
o Brachionus (stark vergrSssert). 



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Don Dr. ( 5 . lITcrfer. J95 




ganjen Körper fiel) 
evftrecfenbeö 9Jet$ 
oon 2Jlu§feIn (h) 
»orljanben, bie ju« 
mal bei ben unge* 
panjerten SHäber* 
tieren rooljl au§* 
gebilbet finb. 3>ljre 
einzelnen gafern 
üben je nad) i^rcr 
Sage nerfdjjiebene 
gunftionen auö ; 
bie einen beroegen 
baS Siäberorgan, 
anbere ben gufj, 
unb mieber anbere 
jdjnüren als foge= 
nannte §autmu§* 
fein ben ßörper 
einmal eng jufam* 
men, um il)n bann 
burd) -Jiacljgeben 
eine meljr fugcl- 
förmige ©eftalt an* 
nehmen ju laffen. 
3)iefe ÜWuSfeln finb 
an ifjrer beutlidj 
roaljrneljmbaren 
Duerftreifung leidet 
ju erfennen. SDer 
©ierftod (i) roie bie 
Prüfen (k) jeigen 
beibe ein fefjr fein= 
lörnigeä 2lu§feljen. 




Jortscbreitcndc Zellcntvilung (Jig. I bis 5) bei der 
Eicntwidtclung eines Räderlieres. Sig. 6 und 7: 
Rädertier. €i mit fast völlig entvv irkeltetn Embryo. 
QJirklicbe Cänge: 0,04 tnillimeter. 



196 2lns ber mifroffopifrfjcn lüunberroett bes ITaffers. 

^öcljft merfroütbig ift bie auffällige Serfdjiebenhcit ber 
©efd^Iecfiter bei ben Stäbertieren, inbent bie oiel Heineren 
SJtännehen Schlunb unb ®armfanal nottflänbig entbehren. 
Sie oerlaffen oöflig auägebilbet ba§ Gi, nehmen feine 
Stahrung ein unb leben nur furje 3 e it- Sei liefen 
Stabertierarten ^at man aber bisher gar feine 2Jtänncfjen 
entbeefen fönnen; bei ihnen fd^eint baf)er immer eine 
partfjenogenetifche, ba§ ^ei^t ohne uorljerige Sefrudjtung 
ber Gier erfolgenbe gortpflanjung ftattjufinben. 3tn 
übrigen legen bie 2Seibcf)en bünnfd&alige Sommereier, 
bie ftdj wahrfdjeinlich ebenfalls partfjenogenetifch entwicfeln 
unb aus benen bie SJtänncfjen fjeruorgefjen, unb hart» 
fchalige, befruchtete SSintereier. fDie Gntwicfelung geht 
ohne Serwanblung oor fidj. 

3lus ben Sommereiern fdjlüpfen fchon nach wenigen 
Stunben bie jungen Stäbertierdjen au§, wäfjrenb bie 
SHnter? ober ©auereier einer längeren Siuhejeit oor ber 
Gntmicfelung bebürfen. Son oielen Slrten werben bie 
Gier, am hinteren ßötperenbe befeftigt, mit herumgetragen, 
wie ba§ ja auch manche ßrebfe thun; bei anberen Staber* 
tieren geht bie Gntwidelung im inneren oor fief). 

2öie äße Gier, entwicfeln ftdh auch feie feer Stäbertiere 
burch ben fogenannten gurcfjungSoorgang, inbem fiel) in 
bem oorher burdEjweg gleichartigen Gi an einer Stelle eine 
furche jeigt. fDiefe bilbet ba§ äußerliche 3ei<hen einer 
im Smwren entftanbenen Scheibewanb, bie baä urfpriing* 
lieh einhellige Gi in jwei 3eßen geteilt l)<ü- Salb folgt 
eine jmeite unb brüte gurdje al§ 2lu3brucf ber im 3«* 
iteren fortfehreitenben 3 e ßenteilung. So geht ba§ weiter, 
big ba§ fogenannte SJtaulbeerftabium eingetreten ift, in 
bem bie jahlreich oorhanbenen g ur d)unggfugeln an bie 
©eftalt einer SJtaulbeere erinnern. SDie aisbann ge* 
bilbeten 3eßen, bie immer noch an 3 fl hl junehmen, 
liegen in jwei Schichten georbnet, beren innere Gntobernt 



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Don Dr. <5. IHcrfer. 



197 



unb bcren äußere Gltoberm genannt wirb. #utcßt bilbet 
ficß nod; eine britte, baS 3Hefoberm, unb aus ißnen ent= 
fteßen nun burdß immer roeitergeßenbe gedenteilung unb 
llmbilbung bie eingelnen Körperteile. Stuf ©. 195 »en 
anfeßauließen bie Figuren 1 bis 5 bie fortfdßreitenbe gelten: 
teitung, roäßrenb bie Figuren 6 unb 7 bereits bie äßim* 
pern bes gufünftigen SiäberorganS gewaßren Iaffen. 

©en 9läbertiercßen einigermaßen äßnlicß finb bie 
gleichfalls mifroffopifeßen Särentiercßen, gur klaffe ber 
fpinnenartigen Stiere ober Slracßnoibeit gehörig unb in 
ber $eud)tigfeit beS SJloofeS unb im ©cßlamtn Iebenb. 
©ie ßaben teils geglieberte, teils ungeglieberte nmrrn* ober 
blutegelförmige Körper mit fußartigen Rödern am Saud;, 
bie mit IraUenförmigen Sorfien befe^t finb. $cr nid;t 
beutlicß oom Körper abgegrengte, mitunter feßnaugenförmige 
Stopf geigt gmei ober meßr Slugen. ©ie pflangen ficß teils 
bureß Gier fort, teils inbem fte lebenbige Sunge gebären. 

3)lit ben Släbertieren, Särentiercßen unb 3nfuforien 
ift aber bie mifroffopifeße Stiermelt ber ©eroäffer nod; bei 
weitem nießt erfeßöpft ; befonbers bas ÜDteer bietet nod; eine 
gange s JNenge oon formen, bie nießt gu biefen ©ruppen 
geßören. ®aS oorfteßenb 9)litgeteiltc wirb inbeffen ge- 
nügen, ben nterfwürbigen unb ßöcßft finnreießen Sau biefer 
mingigen Scbcroefen erlennen gu Iaffen unb bargutßuu, 
baß jeber tropfen Söaffer maßte aSunberircrle ber 
©cßöpfung birgt. 




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Sine Stimme aus 

dem 7 er, seits. 

Dovellette von 0. CysclI-Hilburger. 

¥ 

(Hactjdrutk verboten.) 

n un aber bag 2lllerbefte. fommt bag $auptftücf 

beiner ©eburtgtaggüberrafd&ungen. " 

„■Jiocb etroag, Üurt? @3 ift ja fo rote fo fdljon viel 
ju viel, bu fottft mich bodb nicht fo verroöbnen." 

„2Ü3 roenn fol<b ^rinjefjdEjen roie bu, bag von Sugenb 
an fdfjon alleg gehabt bat/ roag bag §erj begehrt, über* 
fjaupt ttodb j\u verroöbnen toäre! gür bi<b mufj eg fd^on 
etroag ganj 33efonbereg fein. ^$afj auf!" 

Unter feinen §änben finft ba§ Such von einem unförrn* 
litten ©ebilbe. (sine ftarfe $oljplatte, eine biefe 2öalje, 
ein Sridfjter, ber feinen Siacbett gerabeju beraugforbernb 
gegen bie junge %tau auffperrt. „§errgott, roag ift bentt 
bag? <2cbön fief)t e3 roa^r^aftig nidjt aus," verrounberte 
fie fteb. 

„Sag ift autf; nicht nötig, ßinb, auf bie inneren S3or* 
güge fommt eg an. 2öag bag ift? §aft bu nodb feinen 
Phonographen gefeben?" 

„3fcb, ift bag roirflicb einer? 93or brei ober vier fahren, 



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Don <Z. <2yfdl»KUbur<jcr. 



199 



idj tour bamalä gerabe fonfirmieri, I^abe idj 'mal einen 
in einer 23orftetIung gehört, ober ich fafj ju weit ab, um 
ihn richtig fel;en ju fömten. $atnalS mar e§ no<h etroaä 
gang 9ieue3. Unb biefen hier foU ich wirflidh ^aben? 
9?ein, ift baS fomifdj!" ©ie lacht. @3 ift ein filberneS, 
helles 9Jläbdjenladf)en, oon betn [ie n?ei^, bafs eä allerliebft 
ift. ©ie geljt beSljalb auch nicht eben fparfam bamit um. 
„Safj mich fefjen, erfläre ihn mir genau." 

®er 9JJann Iä§t ben Apparat funftionieren. Sine 
frembe ©timme roünfcht ihr ©Uten borgen unb erfunbigt 
ftc§ nach ihrem 33efinben. fRatürlidh ift bas mieber „furdjt* 
bar fomifch", unb $rau 3™™ mufj uon neuem lacfjen. 
„®aS ift ja eigentlich gräflich, ba fann man ja gar 
nicht meljr baö ©cfüht h«^ n > allein i u fein, eS ift ia, 
als hätten mir nun einen ©eift im gimmer." 

„®ann foll e§ wenigftenS ein guter ©eift fein, ber 
bir aUejeit etroaS Siebes fagen fann," erroiberte ihr ©atte 
gut gelaunt. „2Sa3 idh je$t in ben STridjter fpred^en 
merbe, bleibt bir, bu fannft eS immer mieber hören." 

@r baftelt an bem Apparat, nimmt etraaS heraus, fe£t 
ctmaS hinein, unb fpricfjt nun in ben Trichter: „3jrma, 
mein Siebling, ich liebe bich über alles. S3Ieib mir 
treu!" ®ann brücft er auf einen ßnopf, unb nun fcljallen 
aus bem Trichter biefelben Söorte gurüdE. ®em 51lang 
ift etmaS beigemifcht, aber es ift bodh $urts ©timme, um 
uerfennbar, felbft feine fleinen SDialefteigentümlidjfeiten 
fommeit gur ©eltung. SÖenn bie ülugen fdjliefjt, 

fann fie fidf) reirflich einbilben, iljr fDlann fpräd^e gu iljr. 

Smmer mieber muff $urt ben Phonographen gum 
©predjen bringen. 

„®a§ bleibt nun roirflidj fo für immer?" fragt fte 
ungläubig. 

,,©ereif 3 , bu fannft eS bir fo oft mieberholcn laffen, 
bis bu es gar nicht mehr hören mngft." 



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200 «Eine Stimme aus bem 3cufcits. 

„D, baljin mirb’3 nie fommen. @3 finb ja fo liebe 
9©orte — menigftenS bie erften. Söarutn fjaft bu aber 
ba§ bumme „23leib mir treu!" Ijinjugefügt? 2)u meijjt 
bod^, bafj idj bir treu bin, bir ftetä treu bleiben merbe." 

„3sdEj fönnte ja aber bodj eines frönen £agcS fterben, 
mie märe es bann?" 

$Da faßt fie ifjm um ben §alS unb müljlt iljr ©e- 
fidjtcljen an feiner bärtigen SSange feft, unb bie Xljräncn, 
bie ftetS fo gern iljr Stinberladjjen abtöfen, rinnen iljr über 
bie 2Bangen. „$a3 foßft bu nidjt fagen, audfj nidjt im 
©djerj, überhaupt nie! 3^ miß nidjt baran benfen, bafi 
baS möglich fein fann, ba müjjte idjj ja gleidj mit bir 
fterben." 

Siun muß er fte tröften, iljr oerfpredjen, lange, fefjr 
lange ju leben, momöglidj emig, unb nodj immer toieber* 
Ijolt fie fdjludjjenb : „SDaS überlebte idj ja nidjt, ba mödjte 

idj gleidj mit bir fterben." 

* * 

* 

SDennodj ftarb fie nidjt mit iljtn, fonbern lebte meiter, 
als ber ©djlag mirflid) fam. 

2lm SJtorgen mar er frifdj unb frö^lid^ aus bem §aufe 
gegangen, Steine 2lfjnung burd^jitterte fie bei feinem 2lb* 
fdtjiebsfujj, baß eS ber leßte gemefen fein fönne. Unb 
nadj brei ©tunben fam bie Siacljricfjt, baß Sturt oon ber 
eleftrifdjen ©traßenbafjn überfahren unb getötet morben fei. 
©ine Unoorfidjjtigteit oon feiner ©eite, ein ungliidlidjcr 
geljltritt auf bem oon Stegen unb ©dfjmuß glatten 2l3pljalt, 
ein elenber .gufaß, baß nicljt bodj noeß im lebten Moment 
ber SBagen ^um ©tefjen gebracht mürbe — hatte im Stu 
ein junges 9)tenfdjenleben ooßer straft unb Söoüen oer* 
nichtet. 

2DaS mar nicht $u faßen, nidjt auSjubenfen. 3?idht 
einmal bie oerftümmelten Stelle hatte bie blutjunge SBitroe 
fe r jen bürfen, oon bent ©ntfeßlicfjen mar nichts über ifjre 



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Don <£. <£\’feU*KiIburgcr. 



201 



©djweHe gefommen, unb nur Bei ber £rauerfeier in ber 
SeicBenljaHe hatte fte betn, ber ihr bas Siebfte auf ber 
Seit gewefen, auf eine 33iertelftunbe nahe fein bürfen. 
$iefe ßranje unb 23lumcn, unter benen ber ©arg »er* 
fdEjwanb, waren ba§ lefcte, ba§ man für ihren Siebften 
getljan fjatte. ©otlte er tnirflic^ barunter ruhen — fü^l- 
Io3, eine graufige, jerftücfte Saffe? 

3ln biefem fünfte tafteten i^re ©ebanfen wieber unb 
wieber ^erunt. ©ab e§ überhaupt eine Söglicfjfeit, biefeä 
©ntfehlidje ficfj »orjuftellen? 

„2lber fo weine bodj, $inb, e3 ift fa unnatürlich, bafj 
bu fo ftarr baftehft," flüfterte ihr bie Sutter ju, bie neben 
ihr ftanb unb in frönen jerflofe. 2lBer Qrma weinte 
nid^t. 9tid)t als ber ©arg aufgehoben unb in bie ©ruft 
gefenft würbe, nicht als Sefannte unb SJerwanbte famen, 
um ihre Teilnahme au§jufprecf)en. ©rft Sodjen fpciter, 
als in ihrem elterlichen $aufe, in ba3 fie jurüefgefehrt 
war, baä Seben fdfjon Begann, in baä gewohnte ©eleifc 
einjulenfen, famen ihr bie barmherzigen Xhränen. 

San nahm zu §aufe jebe Stücfftcht auf fie, pflegte 
unb oerzog fie wie ein franfeS 5?inb, aber auf bie $auer 
»ermocfjte man hoch nicht, bie Sraueratmofphäre feftzu= 
halten. gab ba junge ©dEjweftern unb flotte Sßrüber, 
bie ihr SeBen geniefjen wollten, unb wenn fie auch in ber 
oerwitroeten ©chwefter ©egenwart ihrer Suftigfeit Bügel 
anlegten, fo merfte biefe hoch ben Broang unb empfanb 
eä peinlich, bie berechtigte Sebenäfreubigfeit ber 3h rei1 
ju ftören. 

©ie oerfudfjte eä nun halb fo, halb fo, fich bas Seben 
einjurichten. Sit 23erroanbten war fie ein fjalbe8 3 a h r 
hinburch auf Steifen, bann lebte fie in einer berliner 
^enfion, bann wieber ein Seildhen am ©enfer ©ee, um 
ihr granjöfifch aufjufrifdEjen, zulefct mietete fie fidh — eä 
waren injwif^en nahezu fünf $ahre »ergangen, in Berlin 



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202 <Eine Stimme aus bem 3 e,I f«' ts - 

eine Söoljnung, liefe ftd) ifere feiibfc^en SJJöbel fehiefen unb 
nahm eine ältere ©efeUfdjafterin ju fidj. 2 )abei war e§, 
als wenn bei jebem 2öed)fel iferer SebenSgeroofenfeeiten fid^ 
eine SJiauer jroifdien fie unb baS ©raufen ber Vergangen* 
feeit fcfeöbe. SKit oierunbaroanjig galjren oermag auch 
ber tieffte ©djmera baS Seben nicht ganj auSjufüKen. 

92atürlicfe mußte grma in Berlin irgenb etwas oor» 
nehmen, alle tfere Sefannten trieben irgenb etwas, ÜRufif, 
Malerei, SBitbfeauerei ober mären litterarifch tljätig. öin 
Stalentdjen ift ja fo halb ju entbeefen, wenn man bie 
föiittel jur SluSbilbung beftfjt. 

©djon in ihrer 3Räbc§enjeit unb fpäter als junge 
grau fjatte grma waefer in allen möglichen Siebfeaber- 
fünften gefünbigt unb namentlich in bet SJialerei nach Slugs 
fage aller greunbe unb Sefannten, bie mit ihren Söerfen 
grofemütig bebaut mürben, §eroorragenbeS geleiftet. gn 
ihrer elterlichen SBoljnung unb auch in ihrem eigenen 
^Berliner $eim mar jebe freie ©teile ber 2Banb mit ihren 
©tillleben unb Sanbfdjaftsfopien bebedt. 

9?un mürbe fie Schülerin eines berühmten Sanbfdjafters 
unb malte in beffen Sltelier mit einem $u|enb anberer 
mehr ober minber jungen, aber nur ben beften berliner 
Greifen angef)örigen ®amen pfammen. gm Sßintcr fo» 
pierte man bie Silber bcS 9)leifterS, im ©ommer 50 g man 
mit ihm an beftimmten Stagen ins gteie unb malte nad; 
ber fftatur greilicfetftubien. 

gm geheimen pflegte ber ^rofeffor weiblich auf fein 
„$amenatelier" ju fchimpfen, baS ihm bie befte Slrbcits* 
jeit ftehle. 23aS h‘ n ^ erte aber nicht, bah er gegen bie 
3)amen felbft oon oerbinblidjfter Siebensmürbigfeit mar, 
namentlich aber gegen grma. 

(Sinft featte er einen großen SluSfpruch gethan, ber 
nodj in ben oerfdjiebenften ©djülerinnengenerationen fol» 
portiert mürbe: entweber hätten bie Schülerinnen Talent, 



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l?on <£. <2yfelI*KUt>urgcr. 



203 



bann aber wären fte fo Ijäfflidj, baff man fidj nidjt gern 
mit ifjnen befdjäftige; ober fie feien f)übfdj, unb bann fo 
talentlos, baff eS roieberum nid^t »erlogne. 

grau grma mar mibcrfprud)SloS Ijübfdj, meljr fogar 
als baS, unb in ber talentlos. Sennod) oerloljnte 
es, fic§ mit iljr ju befdjäftigen. ©S mar jebeSmal wie 
ein Wunber, wenn ber Weifter auf if)rem Seffeldjen fßlajj 
naljm, Statur unb S3ilb oerglid) unb bann mit einem 
Keinen Seufaer unb einer leifen Unfdjlüffigfeit begann, 
bie garbeti ju mifdjen unb mit feden Striaen auf baS 
Sübdjen ju fe£en. (Sofort jeigte eS ein ganj anbereS 
(Seftdjt, bie ßorreftur war eben „mit Siebe" beforgt mor* 
ben, wie alle mufften. SlUerliebft war es bann, wie bie 
Keine Witwe oor greube unb Stola errötete; es ift bodj 
etwas, twn einem fo berühmten Wann auSgeaeidjnet au 
werben, unb gerabe inmitten eines SdjülerinnenfreifeS 
wiegt bieS hoppelt fdjwer. 

Unb wieber bei einem folgen Walausflug ins greic 
ereignete eS ftdj, baff bie $orreftur befonberS lange 3eit 
in Slnfprudj naljm. ©er Waler Ijatte für grau 3*»na 
einen $lats etwas abgefonbert oon ben übrigen auSgefudjt, 
es war ein wunberljübfdjeS Wotio, baS entfliehen wie* 
ber „mit Siebe" beljanbelt werben muffte. 

2llS ber ^rofeffor au feinen anberen Sdjülcrinncn 
aurüdfcljrte, fiel eS auf, baff feine §anb etwas unfidjer 
war. SDie junge Witwe aber fdjien Ijeute gana il)r Wählern 
ladjen oerlernt a u fjaben , baS ifjr fonft nodj ebenfo 
natürlich ftanb wie oor fünf Salden, ©ie beiben wed)felten 
fein Wort mel)r, nur beim 2lbfd;ieb fanb ber Waler Seit, 

Sjrma anjuflüftern : „Sllfo fjeute abenb bei bir, Siebfte!" 

* * 

* 

(Sana faffungSloS fam 3rma a« -öaufe an, unb gog 
fid), ^opffdjmeraen oorfdiü^enb, auf iljr gimmer aurüd. 

Was Ijatte fie getljan! IJfjr gegeben! War 



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204 



(Sine Stimme ans betn ^enfeits. 



es nid;t übereilt geroefen, Ijatte fte ftd) beim nidjt l;in* 
reijjen lafferr, als ber -iÖtann , ber »ielumroorbene ÄünfiH 
ler, Iiebeljeifdjenb t>or iljr ftanb? 2SaS roar in iljr ge» 
fdjtncicbelie Gitelfeit, roaS Siebe? Siebte fie if)tt beim 
roirflidj? 

Gin füfjeS, fd^üd^ierneä ©efüljl, baS in if)r aufquoll, 
roollte mit 3a antroorten. ©ie liebte iljn. 3ln ber roarnten 
Grregung, bie über fie fam, fobalb er in iljre fftälje trat 
ober gar iljre $anb erfaßte, fpiirte fie eS. ©ein 2Bcfen 
in feiner Ijerrifdjen ©idjerljeit, burdj baS aber fo oiel 
2BeidjeS flimmerte, roenn er mit i^r fpradj, unterjochte 
fie. ©ie lädjelte unb errötete, als fie fiel) feine Söorte 
ins ©ebädjtniS jurüdrief, bie er biefen borgen ju iljr 
gefprodjen — ja fie liebte iljn. 

flann man aber sroeimal Heben? ©ie hatte ja boch 
itjren -filann geliebt mit bein erften unb ausfdjlieftlidjen 
©efüljl iljrer 3>ugenb, hatte geglaubt, feinen ü£ob nidjt 
überleben ju föntten. Unb nun füllte fie einen anberen 
lieb Ijaben? 

GS mar uiiht bas erfte 2Ual, bajj iljr ber ©ebanfe 
an eine 2Sieberoerf)eiratung naljegelcgt mürbe, bisfjer 
hatte fie iljn aber ohne ©djroanfen uon ftdj gemiefeti, unb 
je£t fjatte fie $a gefagt, unb roieberum, oljne bafr es fie 
eine Ueberlegung gefoftet fjätte. ©ie mar nod) fo jung, 
ein ganjeS Seben fjinburd) lonnte fie bod) fchliefeUch nicht 
allein bleiben. Unb mer fonnte miffen, maS bie 3 u ^ un ft 
ihr nod) an ©lüd oorbeljalten hatte. 

Ser ©ebanfe crfd)ien iltr aber bod) roieber mie eine 
Sreulofigfeit gegen ihren erften ©atten. Sas ^örtliche 
©efüfjl, baS fte jefst für einen anberen erfüllte, trieb fie, 
fid) nun erft noch einmal fo recht in ben ©ebanfen an 
ihre erfte Siebe ju oerfenfen. GS mar, als roenn fie 
$urt bamit eine Gntfcfjcibigung bieten molle. 2Öenn fte 
iljn je£t um 3lat fragen fönnte, mettn er il;r fagte, roaS 



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Port €. (EyfcII'Kilbitrger. 



205 



bas Siedjte fei ! SB3enn fie nod) einmal feine liebe Stimme 
hören fönntc, mie in früheren SEagen! 

2)a bli^te ein ©ebanfe burch üjr $irn: fie fonnte e§ 
ja, fie bcfafj ja nodj bcn ^Ijonograpljen, ifjre Butter 
hatte ihn erft fürjltdj mit anberen Sachen ihr gefenbet. 
Sie hatte ben Slpparat mit leifem ©Raubet rafdj in ber 
©arberobefamnter untergebrad)t, mie etroaS ju intern oer* 
ftotbenen ©lüde ©etjörigcä, ba§ eigentlich hätte mit be* 
graben merben muffen. Unter ben Stoßen in jenem 
haften fpradjen eine Slnja^l bie Sprache be3 SEoten niel 
unmittelbarer al§ jene glühenben 33räutigam§briefe, bie 
fie in einer nerjmeifetten Stunbe ihm nadjgefanbt, inbem 
fie fte ben flammen übergeben ^atte. 

3efct lieft fie ber ©ebanfe nidjt loö, biefe Spraye gu 
hören. @in roaljnroijtiger ©ebanfe, unb fie ahnte im oor* 
aus, mie fie ba§ auftegen mürbe. Sie fühlte jefct fchon 
etroaä non jenem ©rauen, ba8 eine vermeintliche ©eifter* 
erfcheinung einflöfjt. Sie zaubert, fdjleidjt mie ein ®ieb 
in bie ©arberobefammer, miH umfehren unb fann nicht. 

2tdj, benft fte, meid) ein Unftnn, eS ift ja feine 
Stimme, feine liebe Stimme 

Unb fie fdileppt erft ben Apparat, bann ben haften 
in ihr Schlafzimmer. Stiemanb roirb fie ftören, bie ©e> 
feflfdjafterin ift einfaufen gegangen, ba§ fDläbdjen hat in 
ber SUidje zu tljun. Stun ift ba3 SDing aufgefteHt, ihr 
$8lid fudjt in betn haften: ba ift jene Stoße mit bem 
blauen Sänbdjen, jene SRoUe — ach, f ic roeifj, roa§ fte ba 
hören mirb, unb fte fefct hoch gerabe biefe Stoße ein, 
taftet mit jitternben $änben nach bem ßnopf, unb hält 
ba3 Dhr an ben Sdjaßtrichter. 

„3rtna, mein Sieblittg, idj liebe bich über afleö. 
SBleib mir treu!" ertönt e§. ($8 padt ihr .§erz mie mit 

ciölalten .ffänbeit, fie läfjt loS unb finft mit einem 2öel) s 
laut auf ben $eppid;, birgt baä ©efidjt in ben £anben, 



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20G (Eine Stimme aus bem 3 c,I f c 'ts. 

liegt unb mag ficlj nicht rühren unb hält fid; bie Dljren 
J» 

„3dj liebe bidj über alles — bleib mir treu!" 

$ern im Sforribor fdjaflt bie ©locfe, eä fomnit jemanb. 
fjaftig rafft fie fidj auf. 9iur er fall baS tiidjt fein, nur 
er nid;t! 

Slber fchon ^ört fie feinen Schritt nebenan im SBoljn* 
jimmer. ®a§ ift lein fDlattn, ber gebulbig wartet, ober 
fid^ meUeidjt gar wieber wegfdjicfen läpt. 

<5ie tritt iljm entgegen unb lächelt ihn mit erblaßten 
Sippen an, aber bie 3unge ift iljr wie oerborrt, fte «er* 
mag fein 2Bort Ijeruorjubringen. 

25er ftumme (Smpfang «erlept iljn, biöljer hat man 
iljn nur afljufeljr oerwöljnt. „3öaS folt bas, 3*ma? 
üöetdjer ßmpfang! 3ft bi* etwa bein Söort oon heute 
morgen leib geworben?" 

3l)r2ßort! 3«/ f»e hat eS gegeben, unb fte tritt iljm 
nun beinahe bemütig näher. „Skrjeiljen Sie mir — mir 
ift nid)t ganj wol)l." 

2)a fieljt er, in meinem jämmerlichen 3ufianbe fie fich 
befinbet, unb nun gewinnt eine füfje 3ärtlichfeit ben Sieg 
über feine 93erftimmung. „3rma, mein $inb, mein Sieb, 
bu bift franf. 2öaljrfdjcinlidj bie fjipe con heute morgen, 
ftoinm, ruhe bidj aus, bu fleißige fleine Schülerin bu, 
unb jugleidj meine §errin — " unb er jieljt fte mit fich 
an einen laubigen genfterplafj unb bettet ihren ßopf 
forgfatit an feine Schulter unb flüftert ihr eine giitle oott 
füfjen, beraufdjenben Siebeäraorten inä Dljr. 

3h* ©efidjt gewinnt roieber garbe, bie Sippen lädjeln 
nun ganj natürlich, fte hört nur noch bie Söorte be3 
Sebenbigett. 3a, fie liebt ihn — o wie feljr! 

9?ad)bem er gegangen ift, «erharrt fie nodj ein Söeildhen 
in einer glüdlidjen, jitternbeu 9?ad)empftnbung bc3 (Sr* 
lebten. Sie fühlt feine $üffe noch auf ihren Sippen, 



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£>ott <£. (EyfcK-Ktlbtirgcr. 



207 



jebeä feiner ©djincicftehoorte Ijört fie nod) im DIjre flingen. 
llnb bann erinnert fie fidj plö^lidlj an ben Spul ttott 
oorljin. 

@3 fafjt fte mit einer pridelnben fReugierbe. fRodj 
einmal tuitt fie Ijören, miß ergriinben, ob iljr bie Sföorte 
ttod; ben gleiten entfefclidjen (Einbtud madfjen. 2Iber nein, 
jc£t ift fte ja gefeit — anbere 2öorte liegen iljr im 
Dfjr. 

Sie t;at eine fcfjledjte ÜRacljt, in ber bie Stimme beS 
Sebenben unb be§ f£oten abtoedjfelnb mit iljr fpredjen. 
2öie geräbert ermaßt fte unb fann ftdj nidjt beftnnen, rca§ 
mit i^r oorgegangen. £a faßt if>r 33lid auf ben ^fjono* 
grapsen, unb toieber fricdjt üjr ber ^nfelid^e Sd)auber 
über ben Slitden. 211s gelte c3 bie SBerüfjrung mit etroa§ 
©räfjlidEjetn, fafjt fte ben Apparat, unb ftcflt iljn hinter 
einen 33orljnng. 

grüfj fomntt iljr Verlobter, unb bennod) fcljon un* 
gebulbig. (Er bringt iljr 33lumen, fein ftegljaftcS Herren* 
roefen burcpridfjt ben 53ann, unter bem fte fteljt, feine 
ßüffe fdjjeucljen bie lefcte (Erinnerung an baä ©räfjlidfie 
fjinroeg. 

9?utt fommen gliidlidfje f£age, ein füfecS, innerlidjeS 
Sidljfinben, ba§ jefct erft bie ©enmfjr giebt, bafj bie rafefje 
Verlobung feine übereilte geroefen ift. §unbert fteine 
entjüdfenbe Schönheiten, bie ber fßrofeffor an 3rma, bnn« 
bert bebeutenbe unb liebenSrcerte (Sigcnfdjaften, bie Srnta 
an bem fßrofeffor entbedt. Unb baju aße bie 2lufmerf* 
famfeiten unb Ucberrafdjungen, unb uor adern ber be* 
fonbere SReij be3 geheimen! (Es ift 3rma§ ßBunfclj, bie 
SSerlobung nod) ein 23eilöfjen geheim ju halten, unb 
ferner giebt iC;r roiberfirebenb barin nadfj. 3 1 ® 0 * ift 
lange fdjon oen feinem ©cljeimniS mehr bie Siebe, ber 
gan^e 23efanntenfreiS famt aßen Sdjülerinnen beö ?Jro- 
fcfforö toeijj, nmö ftd) ereignet (jat, aber aße finb liebenä* 



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208 CEtnc Stimme aus bem ^enfcits. 

mürbig genug, bie 9Kasfe ber Unbefangenheit weiter ju 
tragen. 

3n bett erften Sagen lebt 3rnta wie in einem Sau* 
tnel, roährenb beS ganzen SageS giebt eS faunt eine 2JIi* 
nute, bie i(jr gehört , unb abenbS finft fte tobmübe ins 
S3ett unb fd^Iäft traumloS bis jum borgen. 

Slßmählicfe aber beginnt fte roieber, ftdfe innerlich 9iedjen* 
fchaft abjulegen, unb mieber fommt ihr ber jroingenbe 
SBunfch, ficf) mit bern oerftorbenen (Hatten in Sßerbinbung 
ju fefcen. ©ie weift ben ©ebanlen non ftdh- iffioju auch? 
$?aS fattn er ihr jefet nodfe fagen, ba fte hoch glüdflidh ift ! 
2(ber fte ertappt ftdh babei, bafe ihre 33Iidfe bie ©teile 
fudhen, mo ber Vorhang fiel; ein roenig über bem ^hon° s 
graphen hebt, bafe ihr gufe unroißfürlich bie SRid^tung 
baraufhin einfefelägt. 

©ie fann ihn ja fortfdhaffen laffen, irgenbmoljin, mo 
fte ihn nicht fleht, nießeiefet ganj aus bem $aufe. 2Iber 
baS ift baS 2BunberIi<he: es geht eine biabolifcfje ©eroalt 
non bem S^ftrument au§, eS ift mie etroaS SebenbigcS, 
ein Ungetüm, not bem fte ftdh fürdhtet, unb baS fte bennoch 
an fidh todt. ©ie roagt eS nidht ju berühren, aber ihre 
Überresten ©inne arbeiten : es ift ihr, als höre fte 

3a fte hört, ohne ben Apparat nur anjufaffen, fte hört, 
fobalb fte in feine 9?ähe fommt, unb eine grauftge 9Jlacht 
reifet fte immer roieber bortfein. 

„3rma, mein Siebling, ich liebe bidh über alles. Sßleib 
mir treu!" Siefe ©timme fefeeint ftdh in fte felbft ge* 
flüchtet ju hoben, fte flüftert in ihr, fte gellt, fte quält fie mit 
SobeSgraufen. Sie ©timme ihres ©cmiffenS, fdheittt fie ifer. 

SBofel fomnten ber jungen $rau Momente, in betten 
fte bie §errfdhaft über fiel) felbft jurüefgeroinnt, in Denen 
es ihr gelingt, bie gefpenftifefje ©timme jum ©chroeigen 
ju bringen; aber bann ift fie plöfclich toieber ba, unb 
fpriefet lauter als jttror. 



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Pott <£. (Eyfell'Kilburger. 



209 



gmtner fonberbarer roirb SfrmaS Verhalten gegen ben 
Verlobten, ©ie liebt ihn noch, mefer metteicljt als puor, 
aber eS ift etroaS, baS jmifchen ihm unb if)r aufroäcfeft, 
als roenn eine gefpenftifche §anb fidf> aus bem ©rabe 
aufrichte. 

$er Sßrofeffor »erftefet baS «ercinberte Söefen feiner 
Sraut nicht, unb feine 2lrt ift eS nicht, lange bariibcr ju 
rätfeln. @r bringt auf SeröffentUdjung bcr Verlobung 
unb auf balbige fjocbaeit; fo glaubt er, alles 2Xbfonber® 
liehe am einfachen ins rechte ©eleife *u bringen. 

®a fteljt ihn Srmaaus entfetten Slugen an, als fei 
ihr etroaS gürdfjterlicbeS jugemutet morben, iljre ganje 
©eftalt jittert: „Safe mir .Seit, ich bitte bicfe, SSBerner." 

Baff mir «Seit! $aS hat « in ber lebten SBodfje ptn 
Ueberbrufe gehört, alle feine Sorfcfjläge finb bamit ab- 
gefdbnitten morben. fDaS 2Bott reijt if;n auf, er hat 
genug baoon. ,,©ut, ich roerbe bir 3 e ü taffen, aber 
nur bi§ morgen, 3rtna. Sebem vernünftigen ©runbe gebe 
ich nach, bu aber Ijaft überhaupt feinen ©runb für beine 
Steigerung anjugeben. SDu mufft eS roiffen, roaS bu mir 

mit beinern -Jägern jumuteft." 

* * 

* 

2lm anberen SDlorgen, als 3*nta ihren Verlobten er* 
märtet, padft eS fie übermächtig. SRur noch ein einziges 
• Söial bie ©timme ihres ©atten hören ! SieHeicfet baff, 
roenn fte ihr nod& einmal entgegentönt, fie jene innere 
©timme jum ©cbmeigen bringt. 

©ie jaubert nodh, aber es reifet fie hi»; nun finft fie 
in bie ßniee, hodft oor bem Ungetüm, unb ihre ginger 
fucfien ben 9Jlecf)aniSmuS. „grrna, mein Siebling, ich liebe 
bid& über alles. SBleib mir treu!" 

$ie 2Borte bröhnen iljr entgegen unb roül)len ihr 
inneres auf, taffen ihre §änbe roie in groft erftarren unb 
ihre §aare ^u Serge fteigen. ©S halt fte roie gebannt, 

1901. III. u 



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210 <Etttc Stimme aus bem 3etifcits. 

eg ift eine magifdE)e ©eroalt, bie i^re Ringer immer non 
neuem auf ben 3Jiec^aniömu§ briieft. Sie SÖorte folgen 
ftd^ fdjneHer unb fdjneHer, fie oerbinben fidj ju einem 
unljeintlidjen ©eifterdfjor. „Sileib mir treu — bleib mir 
treu!" Sa§ ift ja nidjt augjuljalten, feine fernen er* 
tragen bag, barüber mufe man ja nerrüeft roerben. 

©o finbet fie ber ijkofeffor. 

©ie Ijat iljn abroeifen laffen, fönne if;n nid^t feljen, 
fte fei nidjt rooljl, Ijat fie ber ©efetlfdjjafterin gefagt, bie 
fc^iicfjtern mit ber üDielbung bei ifjr eintrat. (Sr aber Ijat 
bie Same einfadj jur ©eite geflohen unb Ija* fidjj beit 
Sintritt erjmungen. 

,,©inb bag Saunen, %vm a, ober bebeutet eg ben 33rudj? 
(Srfläre mir, mag idj »on beinern 23eneljmen ju galten Ijabe. 
Spielen laffe idj nid^t mit mir." 

Sag ift nidjt bie ©timme eineg järtlid^en Siebfjaber§, 
fonbern bie beg Seljrerg, beg $errn, ber eine Ungehörig* 
feit rügt, ©ein SJlunb ift jufammengesogen, feine ©tim 
nerfdjattet. 

„Saft mid), id) — idj fann nic^t !" 

(Sr glaubt nidjt redjt geljört ju tjaben. „Su fannft 
nicljt? ©o gieb mir roenigfteng eine (Srflcirung. äöarum 
fannft bu nid^t?" ©djmerjljaft fafjt er fte beim §anb- 
gelenf unb blieft iljr in bie Slugen. 

©ie aber neigt bag §aupt: „grage midfj nicljt," fagt 
fte mit erlöfcfjenber ©timme, „eg ift unmöglidj." 

Sa fiefjt er bie 33eränberung , bie mit iljrem reijen* 
ben ©cfidfjt oorgegangen ift, bie eittgefunfenen 2lugcn, 
ben entftellten 3)lunb, unb anftatt ju geljen, mie er 
fidj im Slugenblicf oorgenomtnen, jieljt er fte an fidE). 
„SSerjeilj mir, idj mar Ijeftig, aber idEj benfe, alleg roirb 
fidj aufflären. 3 rma , mein Siebling, id^ liebe bic^ ja 
über alles !" 

Siefelbcn äßortc, bie iljr aug beut Slpparat entgegen* 



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i 

Don €. €yfelt‘Kilbunjer. 21 1 

gefdjailt finb. Ser SCotc unb ber Sebenbige [preßen bic 
gleite Sprache! 

3itternb löft fie ftdj aus iljreS SSerlobten 2lrmen, 
ftürgt an ben Apparat unb läfjt ben SedjaniSmuS fpielen. 
„Sa, I)ör eS felbft! Sic Stimme meines oerftorbenen 
©atten!" Unb es tönt burd) ba§3* mmer: »S^ma, mein 
Siebling, idj liebe bidj über alles. Söleib mir treu!" 

3 m erften Slugenblid oerfteljt bet Saler ben 3 “ ; 
fanttnenljang nid)t. „Sas ift baS? Slüljrt biefe Sad»S= 
rolle mirllidj oon beinern erften Sann l)er?" 

Unb als fie nur ftumm nidt unb roeinenb bie §änbe 
oor baS ©efidjt fc^lägt, rebet er ifjr gut gu: „2lber $inb, 
biefer Spul neranlafjt bidj, mir ben 2tbfd»ieb 5 U geben? 
Sei bod) oerftänbig. Sie ift es benn möglidj, bafi eine 
fo liebe, fluge, fleine 3 * au ftdj fo unerhört ttjörid^t be= 
nimmt? @S fann bir bodj nidjt im @rnft in ben Sinn 
lammen, biefer Stimme audj nur bie aUergeringfte Se* 
beutung beijumeffen? Senn bein erfter Sann bidj mir!* 
lieb fo geliebt Ijat, fo mürbe er, falls er ju bir fpredjen 
lönnte, bir freier fagen, b afj er bir jebeS ©lüd gönnt. 
Siel)ft bu baS nid;t ein, mein Sieb?" 

©emijj, fie fielet es ein, aber fie ftef)t nocfj ju feljr 
unter bem ßinbrud beS ©raufenS, als bafe U;r 23erftanb 
fpredjen lönnte. „Sie lann idj baS? @S ift bodj nun 
einmal ba, es fpridjt ju mir. Sie lönnte id> barüber 
Ijinroeglommen !" 

„3tnta, baS ift ja 23errüdtljeit, nimm bid; bodj ju» 
fammen!" ruft er Ijeftig. 

„3dj lann es nidjt, eS ift mie eine Stimme aus bem 
3enfeitS," ftammelt fie. 

Sa erfaßt ben Saler ein geroaltiger 3°™ über biefe 
unerfjörte Sljorfjeit, bie fein ganjeS ©lüd in grage ftellt. 
Seine Iräftigen $änbe greifen in ben Apparat, fie jer= 
briiden Sricfjter unb Salden, als mären fie IfSappe, ein 



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212 (Elfte Stimme ans bem 3 cn feits. 

«^=3<^Or4ör~»=cJEPr-»Or-*^r-ür-fcOr4C3«-4ör 40i«><5r«3<JOr«3rlO 

f^aitftfd^lag oollenbet baö SSSert ber Betörung. @S ift 
eine ganj inftirtftioe Stegung geroefen, nun fie^t er mit 
jorniger 23efriebigung baoor unb roenbet ben ßopf jtt 
grma. $)ie J)at aufgefdjrieen, bie §änbe mte fcfjüfcenb 
auSgeftrecft, mit entfetten 2lugen. 

„ ©o , mein ßinb," fügt er aufatmenb, „non je£t ab 
roirb feine Stimme aus bem IJenfeiiS bid^ mehr bettm 
ruhigen. ©S fommt je^t nur auf bidj an, ob bu ter= 
nünftig fein roiHft." 

Sie betrachtet ihn ganj oerftört. „$>u roeiftt nidjt, 
roa§ bu mir bamit genommen ^aft, " fagt fte mit blaffen, 
bebenben Sippen. Sie möchte ihm jürnen, ihm erbitterte 
28orte fagen, aber feine riidftchtslofe $raft lähmt fte, 
biefe fchlagbereite 9Jiännlid)feit, bie feinen Söiberfprudj 
bulbet. Sie fteljt fo lange unb fo füjj fd)on unter ihrem 
2)rud. 

Unb fte roeijj es ja, tief innerlich fühlt fte’S: bieö ift 
ihre (Srlöfung. 

@r faflt: „3<h tttetfe baS nid^t? 58iel beffer, als bu, 
thörichte grau. $ie ©eijjel h abe ich bir genommen, mit 
ber bu bich roie eine mittelalterliche glageHantin blutig 
gepeitfeht h«ft- SSerhegt bift bu gemefen, unb id) h a & e 
ben buntmen B^uber serfdjlagen. geh h a & e ein Siech t 
baju, benn je£t bift bu mein, unb roehe bem, ber bidj 
mir nehmen roiH. Sieh mir ins Sluge, 3rma, fefter, 
freier: roiHft bu nun glüdlidj rcerben? SBiHft bu?" 

„3$ w»Q eS roenigftenS oerfuchen," ermibert fte 
fdjüd)tern, unb bie Spänen rinnen ihr noch über bie 
SBangen. — 

SDajj ber SBerfudj gelungen ift, roeifj alle 2Selt. SDie 
@he beö berühmten ÜJZalerä gilt als eine ber glüdlidhftett 
ber 3^eich§^auptftabt. 



<-«> 



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f 



Attentate und Attentäter. 

6in Beitrag zur Psychologie des Uerbrecbers. 
üon Otto haussier. 

* 

Htit IX JllMtratima. (Dacbdrudt verboten.) 

D er abyd^eultdhe -Dteuchetmorb, bem $önig £umbert oon 
Italien jum Opfer gefallen ift, unb ber bas (Snt* 
fefcen ber ganzen 233elt erregt hot, bietet uns ben 2lnlnfi 
ju einer allgemeinen Beleuchtung ber Attentate auf ge* 
frönte §äupter unb StaatSlenfer, um bie SSerüber biefer 
Untaten vom pfpdjologifchen ©tanbpunfte aus einer 
näheren Prüfung zu unterziehen. 

@3 giebt befanntUdh eine moberne Stiftung in ber 
Äriminalpfpdjologie, bie in bem Verbrecher in erfter Sinie 
einen geiftig franfen, anormalen, mangelhaft entroicfelten, 
begenerierten ober um Saljrhunberte hinter ber Seit zu* 
rütfgebliebenen SDlenfchentppuS fielet, unb befonberS ber 
Italiener Sombrofo unb feine Schule h«&en fich bemüht, 
bis ins genauefte auch bie förperlidjen SDlerfmale auf* 
Zufudjen unb feftzuftellen, bie ihrer Meinung nad) ben 
geborenen Verbredjer t>om ehrlichen ÜRenfdjen ober bem 
©elegenheitSoerbrecfjer unterfdjeiben. Schienen nun auch 
ihre Behauptungen ohne S^eifel weit über baS Siet 



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214 



Attentate uiib Attentäter. 




Dit Ermordung Wilhelms I. von Oranitn durch B. ßdard am 10. Juli I5$4. 

ftimmt ju fein feinen ; unb e3 giebt anbererfeitä getoiffe 
33erbred)en, bie fein 9)ienfdj oon normaler geiftiger 33er* 
anlagung begeht. 

3u biefen gehören in elfter JJleifje eben bie Attentate, 



^inauä, fo liegt ifjnen boc^ eine gewiffe SBafjrljeit ju 
©runbe. @3 giebt in ber Sfjat 9Jfenfd)en, bie oermöge 
ifjrer ©eljirnbefdjaffenfjeit, ifjrer pljpfifdjen unb moralifdjeit 

Slcranlagung ge* 
rabe^u oon bem 
©djidfal jum 
93crbredjcr be: 



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2ir> 



Don 0tfo Rangier. 

oon benen nadtfteljenb bic 
Siebe fein foß. ©djliefjen 
mir gunädfjft jene aus, bie 
aus perfönlidfjer Slac§fud;t 
oerübt mürben unb alfo 
unter ben ^Begriff beS ge* 
meinen 9JlorbeS faßen; 
ridjten mir unferen SÖIicf 
oielmefjr auf Attentate, 
bic aus unperfönlidjen 9)Jo* 
tioen erfolgten, fo finben 
mir, baff if;re herüber in 
ifjrer geiftigen 33erfaffung 
beftimmte -äJlerfmate gemeinfam Ijaben. Ser ed)te Sitten* 
täter ift faft burdjmeg ein junger unreifer 33urfd;c, ber 
nod; iiic^t bie SebenSmitte erreicht fjat; ein fanatifdjer, über* 
fpannter ßljarafter, oft oifionär oeranlagt, oon äufeerft 
engem ©efidjtsfreis unb geringem eigenen UrteilSnermögen, 
©uggeftionen äufjerft gugcinglid) , baljer burclj 23üd(jer 
ober ©enoffen leidet »erführt, ©r I)ängt pljantaftifdjen 
•JBeltbeglüdungSibeen, feien fte nun politifdjer, fogialer 

unb ift meift fo barin 
uerrannt, baff er nichts 
anbereS fiel)t. ©roffmamts* 
fudjt unb ber Sricb, fid) 
auf ben fölärtprcr IjinauS* 
jufpielen, fidfj für feine 
Sbeen ju opfern, baljer er 
auefj ftets äße ©djutb auf 
fidf) aßein gu neunten unb 
feine ©enoffen, begiefjungS* 
meife Slnftifter, unter fei* 
nen Umftänben gu oerraten 
pflegt, machen baS Süilb 



ober religiöfer Slatur , nadj, 




Trancois Ravaillac. 




f)«inricb IV. von Jrankreicl), 
ermordet 14. TDai 1010. 



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216 



Attentate mtb Uttentdtcr. 



ä 





George Uilliers, Herzog von Buckingham, 
ermordet 23. August 102$. 



eineä foldjen typifdjen Sitten» 
täterö ooUftänbig. 

Obwohl er in feinem en» 
gen ^beenlreife ganj\ folge» 
richtig ben!t unb rebet, ift er 
bodfj als ein SJlenfd) oon anor- 
maler ©eifteSbefdjaffenfjeit an» 
äufehen , als ein oon einer 
fijen 3bee Söefeffener. 9lur 
bie Stiftung, bie fein 33er» 
bredljertrieb nimmt, ift eine 
golge ber äußeren Umftänbe 
unb ber ©inwirlung feiner Umgebung. 

^Betrachten mir in biefer 33eleudf;tung eine Anjaf)l ge» 
fchidjtlid; berühmter Attentate unb Attentäter, fo roerben 
wir baS ©efagte faft ausnahmslos beftätigt finben. 

ßiner ber beften dürften unb ebelften Sljaratterc ber 
©efchicfjte, ber ber 5?ugel eines fanatifd^en Üftenfchen flutn 
Opfer fiel, war 28ilfjelm oon Slaffau, ^irinj oon Dnnien, 
genannt ber Schweiger, ber ©rünber ber nieberlänbifdjcn 
Unabl)ängig!eit. ©eboren am 14. April 1533 in $illen» 
bürg, heroorragenb als Krieger wie als Staatsmann, 
oon auSgejeidjnetem Gharalter, oereljvt oon feinem SSolfe, 
bem er in langen Kämpfen 
bie Unabhängigfeit oom 
fpanifd^en 2»oc^e unb bie 
religiöfe Freiheit errungen 
hatte, trennte ifjn nur noch 
ein «Schritt oon ber ßrlan» 
gung ber ßrone bes burdh 
itjn gefefjaffenen unabljängi» 
gen Staates ber Aieberlanbe, 
als er am 10. 3>uli 1584 
burd; 9)ieudhelmorb enbete. 3obn JeIton 



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Don 0tto liäujjlcr. 



21? 





2)er Sittentäter, 

Söalt^afar ©6» 
rarb aus Villa* 
fanS in Vur* 
gunb,roarl562 
geboren, alfo 
erft 22 
alt. ®er fana* 
lifd^e 93urfd^e 
liefe ficfj burcfj 
fpanifdje Ver* 
fchroörer , bie 
ihm feine £lj fl t 
als religiös 

IjÖdjftoerbienfts König flutUvIH. von Schweden, ermordet 16. mörz 1792. 

lieh ^infleUten, 

bis jum 2öaf)nfinn erfjifcen. 35iefe Hintermänner, unter 
benen auch ber Herzog oon ^jJarma mar , tragen bie 
eigentliche ©djulb an bem Verbrechen, ©erarb felbft hielt 

fich für einen 



Sftärtprer. 
ben ©ommer* 
tagen beS ^al;* 
reS 1584 roeilte 
äßilheltn I. in 
berftiUen©tabt 
SDelft. SllS er 
am 10. Quli 
mit feiner ©c= 
mahlin unb ei« 
nigenfjreunben 
nach bem Silit* 
tagSmahle aus 

bem Sf'W““ 1 



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218 Attentate uub Attentäter. 



Ermordung des englischen Premierministers Spencer Perceval am II. mai ISI2. 

feines §aufeS !am uub fid) in ben jmeiten Stocf begeben 
moHte, trat ©6rarb auf iljn ju mit ber Söitte um einen 
fJteifepaff, ^og gleichzeitig eine ^iftofe unter feinem fDiantel 
Ijeroor unb feuerte fie auf bie ii3ru|t beö DranierS ab. 






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Don Otto £}iiu9lcr. 219 

tiefer fliirjtc ju Soben unb rief: „Slein ©ott, mein 
©ott, erbarme bid; meiner unb meines armen SolfeS!" 
SBenige Minuten barauf oerfdjieb er. ©erarb mürbe 
ergriffen. 6r geftanb fein SBerbredfjen offen ein, baS 
er für eine eble unb gottgefällige Sljat crllärte. 3iadj 
ber graufamen Vuftij ber bamaligen $eit mürbe er 
auf tnarterooHe 2Beife Eingerichtet, ©r ging mit ber 




Spencer Perceval. ]obn Bellingbam. 



SJliene eines Slärtprerä in ben £ob. fDafj flönig $f;i* 
lipp 11. oon ©panien bie gamilie beS SDiörberä für bie 
„löbliche unb hocf)finnige" Sljat in ben 2lbelftanb erhob, 
fei als Seitrag ju ber Kultur jener Seit nur nebenbei 
bemerft. 

©benfo überlegt mar bie ©rmorbung §einridf)ä IV. 
oon granlreid;, unb abermals mar ber SJiörber ein nod; 
im jüngeren 5JlanneSalter ftefjenber ganatifer, ber für 
feine 2f)at leinerlei perfönlidje Semeggriinbe Ijatte. 21m 
14. 2J?ai 1610, alä £einrid) IV., ber befte Slönig, ben 
Vranfreidj je befeffen , burdj bie engen ©tragen oon 
Saris fufjr, um betn franfen §erjog oon ©uKp einen 
Sefud) ju madfjen, mufjte ber Söagen in ber 9lue be la 
Verronnene galten, ba Pie ®urdjfal)rt oon ein paar $ar= 
ten perfperrt mürbe. 35a ftieg ein 9Jlann auf eines ber 



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220 



Attentate uttb Attentäter. 




£interräber unb ftiefj betn Könige burdf) eines ber offenen 
genfter ein Sftefjer in bie 33ruft. „3ldlj bin oerrounbet!" 
rief Heinrich IV. 3 n betnfelben Slugenblicf traf ihn ein 
jroeiter ©tofj, ber il)n tötete. $er Korber lief} fich, ohne 
Sßiberftanb ju leiften, ergreifen. (Sr fjiefi gramjois 9ta* 
oaiUac, war 32 gahre alt, aus Slngouleme gebürtig, unb 
erft ©Treiber, bann ©djultefyrer geroefen. 2öegen ©dhul* 
ben fam er ins ©efangniS. SBäfjrenb feiner §aft oerfiel 



gut gelang. @r behauptete, leine SDlitfdjulbigen ju haben, 
ertrug äße Dualen ber göltet ftanbljaft unb warb am 
27. 2)lai auf bent ©reoepla^ hingerichtet, inbetn man ihn 
nach abermaliger oorhergehenber golterung oon gerben 
jerreijjen lief}. 

Söie fehr bie franfhafte ©emütSftimmung unb ©eifteS* 
richtung bei ben Sittentätern bas eigentlich SluSfcfjIag* 
gebenbe ift, unb roie gering ber äufjere Slnlaf} fein fann, 
ber ihrem exaltierten güljlen unb SBoHen ein 3iel gte^t, 
jeigt fich befonberS beutlicf; bei ber ßrmorbung bes £er* 




er in religiöfe 
Schwärmerei, 
hatte fßifionen 
unb fafjte nach 
feiner ©ntlaf* 
jung, aufgereijt 



Hugusl v. Kolzebue, ermord« 23. TDärz IS19. 



burdh einige 
Schriften , bie 
ben ßönigSmorb 
prebigten , ben 
©ntfdhlufj, §ein= 
ridh IV. ju töten. 
Sange jögerte er 
mit ber SluSfüh« 
rung, bie iljm 
enblidh nur ju 



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Die Ermordung des Präsidenten Cincoln am 14. April IS65. 

3af)re 1627, bie fläglidj fdjeiterte, teilgenommen, unb fia; 
gut geführt. 2llS er nidjt, roie er hoffte, beförbert mürbe, 
fteigerte ftc^ fein f£rübflnn immer rneljr ins franfTjaftc. 
(Sr gab ben SDienft auf unb nerboljrte fic^, beeinflußt 
burd) bie bamals meitnerbreitete, bem §erjog feinblidje 
SBoIfSftimmung, in ben ©ebanfen, ber §erjog non 
Söudingßam fei baS größte #inberniS ber $Sol;lfal)rt Gng* 



Don ®tto f^anßlcr. 



jogS non Sudingßam. tiefer aHmäcßtigc ©ünftling 
gafobs I. unb ßarls I. non Gnglanb fiel unter ber $anb 
3joljn gettonä, eines nerabfdjiebeten SeutnantS, als er ficfi 
in ifSortSmoutl) am 23. Sluguft 1628 jum Gntfafc non 
2a 9tod)eUe einfdjiffen rooHte. $elton mar non ©eburt 
Srlänber unb non meland)olifd)er ©emütSart. Gr fjatte 
anberGEpe* 
bition nad) 

Sa 9tod)elIe 
unb ber 3n* 
fei 916 im 



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Attentate unb 2Ittcutätcr. 



1 



222 



lanbS, unb ifjn ju töten eine preiSroerte EEljat, bie ifjrem 
BoHbringer ben ®anf ber 9JJit= unb fJtadjroelt fidjern 
rnerbe. Sr taufte fidEj ein geroöfjnlidjeS 3Jteffer für einen 
©cfjiHing unb ftiefe es bem §erjog, als biefer fidj gerabe 
in BortSmoutlj non feinen Begleitern nerabfdjiebetc, in 
bie Bruft. Budfingljam ful)r mit ber $anb naclj bem 
©djroertgriff unb fdjrie: „©otteS SJßunber, ber Sdjuft Ijat 
miöfj geflogen !" $ann jog er fidEj baS Keffer felbft Ijer* 
aus, fan! aber gleicf) barauf nieber unb ftarb eine Biertel* 




Jtbrabam tincoln. OJIlket Boolb. 



flunbe fpäter. 30 ^ $elton mürbe ergriffen unb ging 
ber über itjn oerfjängten XobeSftrafe mit ber finfteren 
Gntfdjloffenfjeit beS ^anatifevö entgegen, bie mir bereits 
bei feinen uor ifjm genannten ©eifteSoerroanbten fennen 
gelernt fjaben. Stuf bie grage twdjj SJtüfdjuIbigen fagte 
er, baS Berbienft unb ber Siuljm ber EEljat lomme ü)m 
allein ju. Slufjeicfjnungen, bie man in feiner Sßofjnung 
fanb, gaben 3eugniS, bafj er ber feften Ueberjeugung 
mar, cS fei feine Bflicfjt gegen ©ott unb baS Baterlanb, 
ben §erjog als geinb beS ©taateS ju töten. 

SBenigcr ©d)märmer unb ^Sfjantaft , aber ein ent= 
fliehen ucrbredjerifdj ocranlagter Gljarafter mar 3o^ann 
3afob n. Slntfarftröm, ber Btörbcr Stönig ©uftaoS ITT. non 



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r 




Don 0tto ßaiijjlcr. 223 

Sdjroeben. ©eboren 17G2 als ©oljn eines DberftleutnantS, 
rourbe er 5ßage am löniglidjen §ofe, bann gäljnrid; bei 
ber Seibgarbe, nafjm aber bereits 1783 feinen 2lbfd)ieb. 
(Sr roirb als ein SJienfd) non abftofjenbem Gfjarafter ge» 
fdjilbert, noller 23ermeffenljeit unb ariftofratifdjen ©tolgeS, 
ben baS Streben beS Königs nad) unbefdjränfter ©eioalt 
unb bie öefdjränfung beS aUgu anmajjenben 2lbelS mit 
finfterem $afi 
erfüllten. 1791 
nerbanb er fid) 
mit mehreren 
anberen ungu* 
friebcnen 
2lbeligen gu 
einer äkrfdjroö* 
rung gegen ben 
Jlönig, er felbft 
erbot fidj, iljn 
gu ermorben. 

Sange fudjte er 
oergeblid) nacf) 
einer günfttgen 
©elegen^eit, Präsident Jame» fl. flarlitld. 

baS Attentat 

auSgufiiljren ; enblid) am 16. SJtärg 1792 gelang e§ il)m, 
auf einem -DtaSfenbatl im Dpcvnljaufe gu ©todljolm, in 
bie Stälie beS Königs gu fontmcn unb il)n burd) einen 
2ßiftolenfdljuf} töblid; gu oerwunben. SJtan ftelltc ifjn brci 
2Eage lang öffentlid) am Pranger auS unb peitfdjte iljn 
mit Stuten, aber er oerweigerte ftanbljaft, feine 3Jiit* 
fdjulbigen gu nennen unb erlitt am 27. Slpril ofjne 
geicljen non Steue ben §en!crstob. 

2Bo nid;t religiöfe, politifdjc ober fogialc Ültotine nor» 
liegen, ift eS meift gcfränltcS Stcdjtsberoujjtfein, baS bei 



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224 



Attentate unb JlttcnKitcr. 




baju ueranlagten, leibenfdjaftlidjen unb melandjolifdfen 
(Sfjarafteren ju Attentaten füljrt. SEgpifd) für biefe Art 
non Attentaten ift baS, roeldjem ber englifdje Premier* 
minifter ©pencer ^ercetial am 11. 9Jlai 1812 jum Dpfer 
fiel. Alö biefer an bem bejeidjneten £age bie SßorfjaUe 
beS AbgeorbnetenljaufeS betrat, fdjofj eine unbelannte 
$}}erfönlidjfeit ein $iftol auf il)n ab unb traf if)n töblid). 



gleichen Augenblid trat ein 2Rann Ijernor unb fagte: 
,,3d) bin ber Unglüdlidje. 9Jlein 9?ame ift SeQingljam. 
©3 Ijanbelt fid) um eine ^rinatangelegenljeit. 35ie 9tegie* 
rmtg l)at mir mein 9tedjt nerroeigert — id) roeif}, roa3 
id) gctljan fjabe." ®ie 3üge be§ Attentäters geigen beut* 
Ud) ben SMandjolifer. ®er 93erteibiger plaibierte auf 
UnjuredjnungSfäljigfeit, aber ber ©eridftsljof nerroarf baS. 
®er Attentäter mürbe am 18. 9Jtai geljcnft. 

Als ©egenfat) ju biefem gafl, näntlid) als £t)p beS 
au§ reiner überfpannter ^uflenbfd^ruärmerei unb bis jum 




Cbark* aulkau. 



35er Attentäter 
fjätte fidj in ber 
entfteljenben 
allgemeinen 
Verminung 
leidjt retten 
fönnen , net' 
fd)tnäl)te aber 
bieS ju tfjun. 
©iner ber Ab* 
georbneten, bie 
fidjumbenfter* 
benben 9Jtini* 
fter bemühten, 
rief aus : „2öel* 
c^er ©lenbe Ijat 
baS getljan!" 



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Don 0tto ^änßlcr. 



225 




ganatiämuä gefteigerten greif)eitäbrange8 Ijeroorgegangenen 
21ttentate8, fann bic ©rmorbung ßofcebueä burcfj ©anb 
gehen. 3n ben 3eiten ber 9leaftion, bie ben 33efreiungä* 
ftiegen folgten, mar eä befonberä ber ruffifd^e ©taatSrat 
unb $idjter 2luguft o. ßofcebue, ber burdfj feine Seridjte, 
toie burcfj feine ©cfjriften, in benen er ba3 Treiben ber 
jugenblicfjen 28eltoerbefferer mit bem giftigften ©pott über* 
fd)üttete, ben 



fern „ruffifd&en 

©pion" unb „Verräter am SBaterlanbe", ju befreien. 6r 
nafjte ficfj am 23. 2Jiärj 1819 bem 2lrgIofen in -Dtannfjeim 
mit einem Söriefe unb burcijboljrte ifjn mäfjrenb beä Sefenä 
mit einem im 28am§ oerborgen gehaltenen Solide, inbem 
er rief: „§ier, bu Verräter beS 93aterlanbeä!" 3n ber 
eintretenben Serroirrung oon niemanb gefjinbert, ging 
©anb bie Xreppe t)inab, trat oor bie Xfjür, rief: ,,§odf) 
lebe mein beutfdf)e§ Skterlanb!" fniete nieber unb ftiefj ficfj 
mit ben SSorten: „^dj banfe bir, ©ott, für biefen ©ieg!" 
felbft ben ®olcf), aber oljne ficfj lebcnSgefäfjrlicfj ju oerlefcen, 

19)1. III. 15 



§afj ber beut* 
fcfjen ©tuben* 
ten erregte. 
$er ©tubent 
ßarl Subtoig 
©anb, ein 
überfpannter 
unb oon (Sitel* 
feit befjerrfcfj 5 
ter junger 
•Dfenfdj, fafjte 
.ben 33orfa$, 
ba§ beutfdbe 



33olf oon 
ßofcebue, bie* 




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226 



Attentate uttb Attentäter. 




mehrmals in bie 39ruft. 3Jian Raffte ifjn inS ^ofpital 
unb braute ifyn non bort am 5. 2lpril ins 3ud|jthau8. 
SaS 9Kannf)eimer §ofgeridE)t fprod) am 5. 2Jtai 1820 baS 
SobeSurteil über iljn auS, baS bann am 20. 3Jlai mit 
bem ©cfjroert ooHjogen mürbe. 

Sßolitifdjer Fanatismus braute am ®nbe beS großen 
amerifanifcijen SöürgerfriegeS bem trefflichen ißräfibenten 



bei. SOBährenb beS britten 2l!teS !am ein junger SJiann 
in baS Sljeater, ber ben $räftbenten in mistiger 2ln* 
gelegenst fpredjen &u müffen erflärte unb fidjj baburdfj 
ßinlajj in beffeit Soge oerfdjaffte. Pöfclidj fiel ein 
©cf)ujj in ber Soge, ber F*«mk« brängte ftdj jmifd^en 
ben beiben Samen burdfj unb fprang über bie SSrüftung 
auf bie SBüljne. Sort fd^raang er mit fomöbiantenljafter 
Haltung einen Solch unb einen 9teooloer unb rief, 
auf ben jufammengefunfenen ^räfibenten beutenb: »Sic 
semper tyrannis!“ (©o ergebe eS aßen Sprannen!) 




Kaiserin Elisabeth von Oesterreich, ermordet am 
10. September 1898. 



ber Union, 
Slbraham Sin» 
coln, ben Sob. 
21m Slbenb beS 
14. 2Xpril 1865 
rooljnte Sincoln 
mit feinet ©at* 
tin, einer biefer 
befreunbeten 
Same unb bem 
ÜDiajor Stath» 
bone in einer 
SßrofceniumS* 
löge oon ForbS 
Sweater ju 
2öafhington 
ber SSorfteßung 



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Don ©tto ffänjjler. 



227 



Sincoln uetfdjieb in ber Morgenfrühe. Ser Mörber, ein 
©dfjaufpieler Namens Sohn 2Bil*eS Sooth, ein 33ruber 
beS gefeierten Sragöben ©broin 39ootf), roar in ber aH= 
gemeinen SSerroirrung entfommen. (Sr roar ein fanatifcher 
Slnljänger beS SübenS unb geiftig nicht mehr gang nor* 
mal. 2ttS er bis ©areitS garm bei söoroling in Virginia 
gelangt mar, holten ihn bie Verfolger ein. SBooth t>er* 
teibigte fid) mie ein Nafenber in einer Scheune, in ber 
er ftch oerbarrilabiert hotte, bis ihn eine Äuget nieber* 
ftredte. 

3Son SincotnS Nachfolgern mürbe auch SarneS Stbram 
©arftelb baS Dpfer eines MeucljelmörberS. 21m 2. $uli 
1881 mürbe er auf bem Söaljnhofe ber Sattimore^otomac* 
©ifenbahn gu 2Bafl)ington oon einem ehemaligen Stbnofaten, 
Charles ©uiteau, ber gu jener 3eit ein brottofer Stellen* 
jäger roar, burdj groei Neooloerfchüffe fchroer »errounbet. 
Nach langen qualuollen Seiben ftarb ©arfielb am 19. Sep* 
tember 1881. Ser Mörber behauptete, nicht aus eigenem 
Antriebe, fonbern infolge eines befonberen göttliihen 2luf* 
träges auf ben fßraftbenten gefdjoffen gu hoben, unb fein 
Serteibiger fudjte ihn als oerrücft fjingufteHen, rcährenb 
er in SBirHichfeit ein frecher feuchter mar. (Sr mürbe 
gum Sobe »erurteilt unb am 30. S«ni 1882 im ©efängnis 
gu SSafhington gehängt. 

SaS gleiche ©efdfjid mie feine beiben amerüanifdjen 
Äotlegen traf ben fßräfibenten ber frangöfifdjen Nepublü, 
Marie $ran$oiS Sabi Carnot. Cr mürbe am 24. Suni 
1894, furg »or bem Slblauf feiner fßräfibentfd)aftSperiobe, 
bei bem SBefuch einer Äunft* unb ©emerbeauSfteHung in 
Sgon auf ber galjrt nach bem Shcater oon einem jungen 
italienifchen Slnardjiften , Santo Caferio , burdh einen 
Solchftoh töblid^ oerrounbet unb ftarb menige Stunben 
barauf am Morgen beS 25. Quni. Ser Mörber befannte 
ftch in bem am 3. 2luguft gegen ihn oerljanbelten fßrogeffe 



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228 



Attentate ntib Attentäter. 



als SCnardjift unb leugnete beharrlich, Vlitfchulbige ju 
haben. ©aferio würbe jum Sobe oerurteilt; er bewies 
bei feiner Einrichtung in Spon am 16. 2luguft burdjauS 
nicht einen SJiut, ber feinem freien Benehmen oor ©e* 
ridjt entfprodjen hätte. 

2Bir fommen mit biefem fDleudhelmörber ju einer 
Kategorie oon 2lttentäiern, bie burdj eine ganje 9leihe 
ebenfo graufamer als jiellofer ÜÖlorbthaten ben allgemeinen 
2lbfdjeu wachgerufen haben unb beren Vrutftatte gerabe 
Italien ju fein fdjeint. 

(Sin italienifcher 2lnardjift ift auch Suigi Succfjeni, ber 
am 10. September 1898 ju ©enf bie Kaiferin (Slifabetl) 
oon Defterreidj erftad), obwohl bie hohe grau ber ffiolitif 
rollig fern ftanb. 2öol)l burfte Kaifer granj gofeph in 
ber Sanffagung an feine Völfer für ihre warme Seil* 
nähme fagen, ber 9)iörber habe ftd) „gegen bie ebelfte ber 
grauen erhoben unb in blinbent, giellofem §affe baS 
§erj getroffen, baS feinen Eafj gefannt unb nur für baS 
©ute gefchlagen f;abe". ®er Viörber, ber feine Untljat 
im ©efängnis büjjt, rühmte ftch ihrer noch nachher; auf 
bem ^olijeipoften erflärte er, er fei Slnardjift unb ohne 
Vrot, unb er hoffe bie Reichen, (Sr gehört ju jenen tief* 
gefunfenen Naturen, bie unter bem traurigen (Sinftufj 
fdhranfenlofer Verhefung jeben moralifchen Ealt oerlieren 
unb fo jum urteilslofen Söerfjeug für Verbrechen werben, 
beren ftch bie 9Jlenfchheit ju fchämen ^at. 

tilllein im oerfloffenen gafjrljunbert finb burdj ÜJlörber* 
hanb gefallen: 9 Vräfibenten oon greiftaaten, 2 Kaifer, 
1 König, 2 gürften, 2 Sultane, 1 Schah unb 1 Kaiferiit. 

' * » 



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{fiannigfaltiges. 



pie j^frfdjwörung. — Nach bem ©einamen be§ ehemaligen 
$önig§ Ströme von SBeftfalen „Äönig Sufticf" foUte man fchliefjen, 
bafj man an bem £ofe biefeö SchattenfönigS nichts als eitel £uft 
unb greube gelaunt hätte, höcfjftenä vielleicht, bafs h* n unb 
rnieber ein enetgifcher ©efeht beö faiferlicf;en ©ruberä eine vor* 
übergeljenbe ©erftitnmuttg hervorrief. 3ebod) ift e§ vielmehr al§ 
5Eh at T at ^ e 3 U betrachten, bafj bie luftigen fjranjofen auf einem 
©ulfan tanjten, bafj bie fnorrigen Reffen unb 3Beftfalen burdj* 
au3 nicht gern ba§ 3och ber grembljerrfchaft trugen, unb bafi 
fie ftetä bereit roareit, mit ber SBaffe in ber §anb bie ©inbring* 
linge ju vertreiben. 

2)iefe Stimmung ber ©evölferung ivar bem „Äönig Sufticf" 
unb feiner Regierung nicht nur uid^t unbelannt, fonberit man 
mar im fraitjöfifchen Säger fogar geneigt, viel fchroärjer ju fehen, 
alä e<3 nötig gerocfen märe. Ueberall mitterte man ©mpörung 
unb ©erfchroörung; unb nicht genug, bah ntan ba§ Sanb mit 
einem Nefc eigener politifcfjer Spionage umgeben hntlf/ fo rech* 
nete man auch noch auf bie 2lngeberei ber Sanbeäfinber felbft, 
unb für bie geringfte ®enunjiation, bie auf eine ©erfdjtvörung 
hinmieä, ober für bie Namhaftmachung eines ©erfchroörerS mürbe 
eine h°h e Belohnung auSgefetjt. 

25urct) bie Steuern unb ©rpreffungen ber granjofen mar 
baS Sanb auägefogen, unb namentlich unter ber Sanbbevölferung 
mar mancher an ben ©ettclftab gebracht morben. Sluch jmei 
©rüber, melche gemeinfchaftlich ein ihnen von ben alten noch 



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230 



ITlannigfaltiges. 



lebenben Gltern übergebeneg Fleineg ©ut bemirtfcfafteten, fa^en 
mit Sidferfjeit bem fommenbert Suin entgegen. Sie Ratten 
leinen geller im §aufe, unb wenn fie nicft in ben näcfften 
Sagen bie fälligen 3 ‘ n fe» 3«flen Fonnteit, füllte ifjr ©nt unter 
ben Jammer Fomnten. 

SBäfrenb fte ratlog baftanben unb oergebeng einen 2lugmeg 
fudjten, 30g ein franjöfifc^er Sambour mit einer Meinen Solbaten= 
abteilung oorüber unb machte mit lauter Stimme beFannt, bafr 
bie Regierung für jebe Senunsiation bem 2lngeber tjunbert Sfaler 
3 a 0Ie- 

$ie Srüber beamteten bie 2 lufforberung fautn, aber alg bie 
Solbaten oorüber waren, fprang plöfclidj Äafpar, ber 2 leltere, 
auf unb rief: ,,3d) fab’g! 2Bir werben gerettet werben. SBruber 
Seit — für bie Senunsiation eineg Serfcfmörerg werben fun= 
bert Sfaler ge3aflt, eine finreidEjenbe Summe, um und »01t 
ber näcfften ©efaljr, bie unä unb unfer ©ut bebroft, 3U be= 
freien." 

„Xu willft bod) nic^t — ?" fragte ber Sruber entfett. 

,,3d) nicljt, aber bu! 2>u wirft feute nod; nadj Äaffel fahren, 
in bag Slinifterium gefeit unb rnief alg Serfcfroörer beseidfnen. 
2>u weifjt, bajj bu bamit nieft bie tlnwafrfeit fpriefft, benn 
icf fabe tnief feit bem Seftefen biefeg fogenannten Äönigreicf eg 
Sßeftfalen bemüht, unfere Säuern 3U einem etwaigen Äampfe 
gegen bie fteinbe bereit 311 galten." 

„Wentalg, Äafpar," braufte ber jüngere auf, „niemalg wirft 
bu mief 3U biefem hoppelten ScfurFenftreicfe bereit finben!" 

Äafpar liefe erft ben Sruber augtoben, bann fefte er iftu 
mit ruhiger Stimme feine ©rünbe augeinanber, unter benen 
ber fcfmerwiegenbfte, bafe fie ifre alten Gltern nieft barbenb 
unb bettelnb aug bem £>aufe jagen laffen bürften, ben 2lug= 
fcflag gab. 

9 lur ein SebettFen machte Seit noef geltenb. „SBcttn fie 
bief ergreifen, werben fie bief alg Serfcfroörer filtrierten." 

„©laubft bu benn, icf mürbe ein 3 iarr fein unb ttoef einen 
2 lugenblict fier länger oerweilen? 2 öir werben ben Gltern 
ersäflen, bafe wir beibe ttaef oerfefiebenett Jlicftungen fiit 
ftreunbe auffuef eit wollen, um bag nötige ©elb 3U leifen. 2)ann 



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mannigfaltiges. 



231 



fäljrft bu nadj Äaffet, roäfjrenb id) jenfeitd bcr ©renje »er-- 
fdjroinbe." 

©o gcft^a^ ed. Seit fufjr auf feinem Sldferfufjrroer! nad) 
Raffet, ftellte jened in eine Sudfpannung unb machte fid^ auf 
ben 2ßeg nad) bem ©d)loffe. 2lld er einen Sorübergefjenben 
nadj bem SBegc fragte, blieb biefer ftefjen unb ftarrte ifjn an. 

„33ift bu ed roirflid), Seit?" 

25iefer, näfjer Ijinfcfjauenb, erfannte einen früheren Änedjt. 
„Sa, ©örge, icfj bin ed." 

„Unb road treibt bidj Ijierljer nac§ Äaffel?" 

„3cf) miß einen Serfdjroörer anjeigen." 

„Unb ©elb bafür einnetpnen?" 

„SatürlidEj." 

„35ann fannft bu roieber getroft nad) Jjjaufe gefjeit. Son 
benen ba oben friegft bu nicfjt einen Safcen f)eraud." 

„2)a irrft bu," entgegncte Seit, „id) t)örte nod) geftern bie 
SelanntmadEjung, bafj jeher ^unbert £f)ater erhält, ber — " 

„darüber braud[)ft bu mid) nidjt ju belehren, ©o fcfjlau roie 
bu roar id£) längft. 2 lber ber fiönig Sufticf braudjt fclbft ©elb 
genug für feine Sergnügungen. ©ie tjaben ficfi bafjer einen 
©treidj auägebad^t, um bie 2 )enun 3 iationdgebül)ren 31 t fparen. 
2 Bäf)renb ber 2 tngeber nämlicf) feine ©efcfjidjte erjä^lt, fifet ein 
©direiber fjinter einer fpanifdjen SBanb unb fdjreibt alled nad). 
Sft man bann mit feiner ©efd)id)te fertig, fo fieifjt ed: „®ad 
mußten mir fdjon längft," unb fte fjalten einem bann bad Sud) 
»or bie Safe, in meinem alled auf gef Trieben ift." 

25iefe Sßorte trafen Seit roie ein $omterfd)lag, unb ald er 
fid) oon ©örge getrennt Ijatte, taumelte er roie finnlod burd) bie 
©tragen. 9llfo fotltc bie $lud)t bed Sruberd »ergebend geroefen 
fein, unb er felbft mit leeren $änben roieber 3 urücf fefjren ? 

IßlöfcUcl) fam i§m aber ein ©ebanfe, unb mutiger fdEjritt er 
roieber feinem 3* e l e i u - Sabbern er bem »or bem üJiinifterium 
ftefjenben SDiener fein Snliegen mitgeteilt Ijatte, rourbe er »or 
ben 2 )ire!tor bed ©pionageroefend geführt, bem er mit lauter 
©timme ben Sauernfoljn Äafpar ©cfjmibt atd Serfcfjroörer 
benun 3 ierte. 

2 Bad@örge »oraudgefagt fjatte, traf ein. @d rourbe fogleid) 



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232 



ITtannigfaltigcs. 



ein Sudf) prbeigebraep, in weitem bie eben »erjeidpete SIuS* 
fage 33eitö bereite »erjeidjnet ftanb. 

„SaS wunbert midj um fo mep," fagte biefer Iädjelnb, „als 
id| einen 33auernfopt ÜRamenS Äafpar Scpnibt gar nicfjt fenne. 
3dj pbe biefen tarnen nur »orgefepben , weil mir ein guter 
ijreunb riet, juerft biefe 2tuefage ju machen unb erft fpäter ben 
richtigen Stamen ju nennen." 

„Sann werben wir alfo jefjt ben richtigen Flamen ju pren 
befommen?" fragte ber Beamte. 

„3a, wenn mir baS ©elb beftimmt »erfprocpti wirb." 

SaS gefdptj, unb 2kit nannte ben richtigen ÜRamen feines 
SBruberS. Ser Sireftor tfjat, als wolle er nun baS ©elb prbeu 
pleit, wanbte fief) aber plöpidl) um unb fagte: „333er bürgt 
mir aber nun bafür, bajj ber je^t genannte 92ame ber richtige 
ift ?" 

SSeit erwiberte nadEj längerem $ögern: „Sdf) fann mief) mit 
papieren über meine 33erfon auSweifen, unb berjenige, ben id) 
angegeben pbe — ift mein SSruber." 

„Um fo näpr liegt eS, bafj audj bu ein S3erfcpt)örcr bift," 
fagte ber Sireftor, „unb idj »erpfte bid) im 9iamen beS ÄönigS." 

Srofc aller Beteuerungen würbe Beit inS ©efängniS geführt. 
Sn einem fpäteren Berpr befannte er bann bie ganje 333ap= 
pit, unb bie ©efepepe machte ein folcpS 2luffepn, bafs fie 
audj ju Dpen beS ÄönigS fam. Siefer amüfierte fic^ fo über 
biefe „Berfcliwörung", baji er »erfügte, man foüe jebem ber 
beiben oerfc^worenen Sriibcr pnbert Spier jaulen. Sie Summe 
genügte, um baS ©ut ben Brübern ju erplten, unb Äafpar, 
ber fiel; barauf gefajjt gemalt ptte, nidjt epr jurüdjufepen, 
alö bis bie granjofenprrfepft ein ©nbe erreicht ptte, gelangte 
unbeplligt wieber in bie ^eiinat jurüdf. 

Bon nun an aber würben bie „SenunäiationSgelber" auf* 
gepben. 9Jt. §. 

Ileue {pfhtbuttgett. I. Äettenaufjug für gflojjfjolj. 
— SEBo friipr grunblofe SBege unb fepoere Saften baS Sugtier: 
material angriffeit, wie aucf) ein grofjeS Sßerfonal an BebienungS; 
mannhaften erforberlid) war, ba treten jefct mep unb mep bie 
meepnifepn SranSporteinridjtungen mit iper Suoerläffigfeit 



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mannigfaltiges. 233 




incd)anisd)C transportcinricbtung für Cangbolz an der UJolga. 

unb Jtegelmäfjigleit ein unb bieten ben größten SJorteit, ba ju 
iljver 23ebienung nur roenige Seute erforberltct) finb. ben 
mciften $äHen machen fid) bernrtige 2Intagen burdj bie eijielten 



234 



mannigfaltiges. 



4e=>i~»S3 



©rfparniffe fc^on int elften Saljre faft oollftänbig bejötjtt. — 
ttnfer Silb geigt eine berartige fyörberbaljn, nämlich einen 
Jlettenaufjug für glofsholj, meiner oon bet Jirma 2lrtf)ur Äoppel, 
bje in biefer Sejiehung grofje (Erfahrungen unb reichhaltiges 
SERateviat hat, erbaut routbe. Ter Äettenaufgug bient baju, 
Sangholjftämme auS bet 2Bolga bis ju bem ca. 420 Bieter ent: 
fetnten unb ca. 63 Bieter fyod) gelegenen ©tapelplafc ju förbern. 
Tie Blafchinenftation ift, um einen geringeren ßettenjug ju et: 
galten, in bie 3J?itte bet ©trede gelegt unb biefe mittels eines 
Tunnels unter ber am Ufer laufenben (Sifenbafjn hinmeggeführt 
worben. 3n 9tnbetracht beS ca. 12 Bieter wechfelnben 
roafferbeftanbeS ift bie ©trede oom Tunneleingang bis 3 um 
SBafferfpiegel transportabel auSgeführt unb !ann, bem Sßaffer: 
ftanb eutfprechenb, oerfürgt ober uerlängert, ober bei ein: 
tretenbem ©iägange oermöge oor bem Tunnel angeorbnetem 
Sauffrane ganj ausgefallen unb beifeite gefegt werben. Ueber 
jroeiljunbert Sangljoljftämme roetben in einer ©tunbe beförbert 
Blan lann ficfj ba^er einen Segriff oon ber SeiftungSfähigfeit 
machen, welche biefe TranSportmethobe gegenüber jeber anberen 
aufweift. 

II. Serbefferter S r e n n e t für © l ü h ft rümpfe. — 
Selanntlid) entwideln bie ©aSglühftrümpfe eine um fo größere 
£euif)tfraft, je höher bie Temperatur ber glamme ift, auf ber fte 
angebracht finb. Blit bem gewöhnlichen Sunfenbrenner mirb nun 
aber baS Blajimunt ber Temperatur nicht entfernt erreicht, unb 
jmar hauptfädjlich beSroegen nicht, toeil bei ihm fich baS ©aS 
nicht innig genug mit ber atmofphärifchen Suft oermifdjt. Sei 
einem nerbefferten Srenner (©pfteni ©aint^aul), ben unfere 
Bbbilbung oeranfchaulicht, mirb baS ©aS bereits heijj gemacht, 
beoor eS in ben Sehälter gelangt, wo eS mit ber Suft in Se: 
rührung tritt. 3« biefem 3'*>edf befinbet fich ber ßranj H, ju 
bem baS ©aS mit ber §auptröhre G burch eine Heine 3»®eig: 
röhre gelangt, nachbem ber §ahn R geöffnet ift, in bem mit 
Söchern »erfehenen Sehälter E unb bilbet eine 2Irt oon Sor-- 
wärmer, ben man anjünbet, um bie in G eingelaffette BletaH: 
fcheibe M möglichft heifs werben gu laffen. 2Beitn bann baS 
©aS bei P ausftrömt unb fich mit &ei C unb D in ben 



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mannigfaltiges. 



235 



unteren Teil ber fonifdjen Stöbre B einfliefjenben atmofpbä= 
rifdjen £uft mifebt, fo befi^t e§ eine Temperatur, bie nach ben 
ungeteilten Stcrfuc^en eine oollftänbige ©leicbmäjjigfeit beS ©e* 
mengeä geroäbrleiflet. TiefeS ftrönit nun 
aufroürtö unb roirb am oberen ßnbe »on 
B angegünbet, um ben Strumpf A gum 
©lüben gu bringen. TaS ©aä erreicht ba; 
bei eine §ifce oon ungefähr 1800° ©elfiuS, 
unb ber Strumpf entroicfclt eine erheblich 
floriere £eucf)tfraft als bei ben gerobbte 
liefen Srennetn. gr. 3i. 

Jer ^eidjenßummfer mar uor etroa 
acbtjig Sauren eine aübefannte ^erfönlicb= 
feit SBienS. ßr Ijatte früher eine niebere 
Seamtenftelle unb mürbe mit einem iäf)r= 
lieben Stubegebalt »ott 85 ©ulben pettfio= 
niert. Vermögen befafj er nicht, ba§ Stube= 
gebalt reichte für bie befcbeibenfien £eben§= 
anjprücbe nicht aus, unb boeb hotte ihm ber 
2lrgt eine fraftige Äoft unb täglich ntinbe- 
ftenä ein ©laä SBein oerorbnet. Slrbeiten 
unb enterben tonnte er nicht mehr. 2Bie 
nun gu tröftiger 5toft unb einem ©lafe 
SBein lomtnen? T)aS mar bie fyrage, bie 
feine Seele fort unb fort bemegte. Ta tarn 
ihm eine§ TageS ein 3 e rtungsblatt in bie 
§anb, er laS unb — plöfclicb bellte ficf) 
feine trübe SJiiene auf, benn er hotte ge= 
funben, roaS er fo lange »ergeblicb gefudjt, 
täglich eine fräftige ifoft unb ein ©laS 
SBein. Sofort eilte er feiner SBohmlttg gu; 
hier angelangt, fudEjte er b a ftig ouS bem 
geringen Sorrat an fieibmäf^e ein neugefteifteS ffiorbembdjen, 
legte bie etmaö fabenfeheinigen fcfjroargen geiertagSbeintleiber 
unb ben nid^t oiel tröftlicberen graef an unb trabte bann ber 
Stabtgegcnb gu, in meiner ber rooblfjobenbe SJJittelftanb »or= 
nehinlich fein Quartier aufgefchlagen. £ier tarn er oor ein 



M-. 



»WoO- 

Uerbe*$erler Brenner 
(System SainuPaul) 
tiir 6lübstrUmpf e. 



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236 mannigfaltiges. 

§au§, »or meinem Xrauerlutfchen gelten, machte fid) mit 
3iegenfdf)irm unb ßllettbogen burdj baö §eer ber ©affet- ©aljn 
uttb trat: 

„’ne X^rätt’ im Slug’, 

3m §ergen aber froh," 

unter bie trauernben ©erroanbten, bie bem Seligen bie lefjte 
ßfjre geben rooHteit unb ftd) bagu eben burch einen Meinen 3™ s 
bijj ftärflen. 3 roar richtete fit^ mancher fragenbe ©lief auf beit 
unbefannten SJtann mit ber heftigen Führung, aber berfelbe 
meinte ju fd)ön unb natürlich unb hatte burdjaud richtig falfu- 
liert, man roerbe bei foldjer ©elegenfjeit, jeben ßflat uermeibenb, 
auch bem fretnben Seibtragenben ein ftiUeä ©läfcdjen gönnen, 
jumal ja in ber Xobeöanjeige uon ben jaljlreidjen 3*eunben 
bed ©erftorbenen bie 9tebe mar unb botf) niemanb miffeit fonnte, 
„ma§ i(jm ber £ote geroefen". Kurj, bet ©raue griff in bitterer 
Xrübfal roaefer ju unb lieft ben genoffenen ©lein ali I^ränett 
rcieber über bie abgehärmten ©langen hinabbeftiUieren. Sie 
Kutfd)er fuhren uor, man flieg ein, auch unfer ^>elb erlangte eine 
mollige SBagenecfe, unb ald er nun fo bahingef^aufelt mürbe 
auf ben meinen ©olftern, ba fam bie freubige ©eroifiheit über 
ihn, fo unb nur fo fönne er bie ©orfdjrift beä ©rjteö befolgen. 

Seit jenem erften glücflidjen Sebüt mar er ber eifvigfte Sefer 
ber Sotenlifte; roo ein feinem 3n>ed entfprechenbed 2eichen= 
begängnisl ftattfanb, mo „ben gasreichen fyreunben unb ©er: 
ehrern beö Sahingefdjiebenen" angejeigt mürbe, baft bie ©e= 
erbigung uotn Urauerfjaufe au§, um bie unb bie Stunbe er: 
folge — unb fold^er jmecfentfpredjenben Seidjenbegängniffe gab 
e§ in ber ©rofsftabt täglich roenigftend groei ober brei — ba falj 
man ihn unbebingt unter ben Seibtragenben. SBaS fümmerte 
eä ihn, bafj einjelne hämifche Leiber, benen ja auch ßrnftefte 
nicht heilig ift, ihm ben Spottnamen „Seidjenbumntler" gaben? 
— er trauerte riiftig meiter um bie »erblichenen ©rüber unb 
Schmeftern. ©alb begannen fich feine hohlen ©Bangen ju runben, 
unb feine 9iafe befam einen lieblichen 2lnflug uon ©urpur. ßr 
brachte fein Seben faft an bie adjtjig 3 a ^e. e %. 

«Äafifornlfe^e gtiefettfrüdjte. — Saö ©olblanb Kalifornien 
gehört uuftreitig ju ben gefegnetften Säubern ber ßrbe. 3 1Dnr 



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Mannigfaltiges 



237 




fann tnan feine ©olbflumpen mefjr mit bet ©Raufet auS bem 
33oben graben, aber bem Spaten unb Pfluge beS 2lcferbauerS ge= 
fingt eS, falls fiinftlicße Sleroäfferung begafft roirb, bem bürren 
23oben n>afjrl)aft erftaunlicße ©rnten »on allen 9tafjrungSpflanjen 
bet gemäßigten unb wärmeren 3 one S u entlocfen. ftitronen. 
Drangen, Satteln, Dlioen, Srauben warfen neben ben beften 



5lepfeln, 93irnen, 2lprifofen unb ^firficßen; baju Baut man mit 
größtem ßrfolge alle ©etreibe?, ©emüfe: unb Söeerenarten in 
norjüglicßer ©orte. greilicß ^ roaffer= unb regenarme 
©übfalifornien für ben fleinen garnter nirf;tä ; bie 9?otroenbig= 
feit foftfpieliger 23eu)äfferungSanlagen giebt nur bem begüterten 
2lnfieblet 2luSficl)t, bovt fortjufommen. ©ut gelegenes unb be; 
mäfferteS 2anb ftef) f , felbft wenn nocf> oölHg roüft, ßorf) im greife. 
Slbcr bereits »erforgt Kalifornien ganj 9torbnmerir« mit Dbft 
unb füfjrt fogar in immer fteigenben Stengen nad) Guropa auS. 




Kalifornisdx RitsenrunkcIrQben. 



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238 



mannigfaltiges. 



Seit jeljei haben bie talifornifchen Miefenfrüchte, bie ein ©erociS 
für bie erftaunlitffe gruchtbarfeit unb Ulährlraft beS ©obenS ftnb, 
bie Serounberung berer erregt, bie fie faljen. 2Jlan !ann fic^ 
fauin einen $ureid)enben Begriff baoon machen, roaS ber falü 
fornifdje ©oben in biefer 2lrt TOonftröfeS (jeroorbringt. ©on 3««* 
p Seit roerben in ben amerüanifchen 3 eit « n 9 e « Schiebungen 
riefen^after falifornifcfjer Irauben, Slepfel, Äartoffeln, ßrbbeeren 
ober Äohlföpfe veröffentlicht. 2Bir führen unferen Sefern — nad) 
einer Sßhotograpljie — jroei ©iefenrunfelrüben »or Slugen, bie auf 
einem laliformfdjen gelbe ju ber foloffalen ©röfse emporgerouchcrt 
finb, rote unfer SUb fie jeigt. 3Jlan Ijat fie ftüfcen müffen, b a- 
mit fie nicht burdj ihre eigene Schwere umbredjen. 5. 3 
#tn |3iftgefud) gSojarts. — 3m ©eftfc ber gamilie 
URenbelöfohnsSartljolbp befinbet fich ein merfroürbigeS Original* 
fdjriftfiiicf HJlojartS, ein Sittgefud) an ben Stabtmagiftrat ju 
SBieit. 2luf ber ©ufsenfeite fteht in brei SRefpeftabfäfcen: 

„Stabt magiftrat! untertäniges Sitten SBoIfgang 2lmabe 
SJlojartS, Ä. Ä. £ofcompofitorS, um betn Ijicfigen .§m. ÄapeH* 
2JJeifter an ber St. StephanS^omfirche abjungirt ju roerben." 

2>aS Schreiben felbft, oon SWojartS eigener $anb auf einem 
Stempelbogen gefdjrieben, lautet: 

,,§odjlöblid) §od)ioeifer Sßieiterifcher Stabtmagiftrat ! ©nä* 
bige sperren ! 211S §err Äapellmeifter £offmann fran! lag, rooltte id) 
mir bie greifet neunten, um beffen Stelle $u bitten, ba meine 
9Hufifalifd)en Talente unb SQBerfe, foroie meine 2bnfunft im 2luS* 
lanbe befannt fmb, man überall meinen SRanten einiger 5Rü<fftct|t 
roürbiget, unb ich felbft am fjieftgen §öcf)ften §ofe als ©ompofitor 
angefteüt ju fein feit mehreren 3 a *) rett bie ©nabe habe; fioffe 
id) biefer Stelle nicht unroertlj ju fein, unb eines Ipochroeifen 
StabtmagiftratS ©eroogenheit ju oerbienen. — SlUein Äapeß: 
meifter hoffmann roarb roieber ©efunb, unb bei biefem Umftanbe, 
ba id) ihm bie friftung feines SebenS oon §erjen gönne, unb 
roünfche, habe ich gebaut eS bürfte vielleicht bem 2)ienfte ber 
25omfird)e unb meinen gnäbigen Herren jum oortheile gereichen, 
roenn id) bem fdion älter geroorbenen §rn. fapellmeifter für jefct 
nur unentgeltlid; abjungirt roürbe, unb baburdj bie ©elegen^eit 
erhielte, biefem ©edjtfcfjaffenen fflianne in feinem 2>ienfte an bie 



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UTannigfaltiges.- 



239 



$anb p geben, unb eines fiodbweifen ©tabt*MagiftratS 9tücffidjt 
burcb reirtlicbe Sienfte mir ju erwerben, bie idb burcb meine aud) 
im fircbenfhjt auSgebilbeten fänntniffe p reiften »or attbern midj 
fähig galten barf. Untertbänigfier Siener Sßolfgang Slmabe 
Moprt, St. St. £ofcompofitor." 

Sie Unterfdbrift fte^t benot ganj unten. SaS Saturn fehlt, 
Mojart b a * eS »ergeffen. ©S roirb aber mit großer 2Baf)r= 
fcbeinlicbfeit anpnebmen fein, bafj baS Schreiben in ben 
testen Qa^ren feines SebenS abgefafit roorben ift. ©ielleidji 
nicht lange benor iijn ber Sob baoon befreite, feine Sienfte 
bem fbocbroeifen ©tabtmagiftrat non fflien umfonft anbieten p 
miiffen. c. ep 

JSfonbe ^trauen. — ®S ift eine ^atfad^e, baft oon jeher 
bie bfonbe ©diönfjeit bei ben Äulturoölfern bie beoorpgte mar. 
Sei ben alten ©riechen mar fie ohne grage bie Schönheit fd^led^t: 
bin, baS gebt fdjjon auS ber Mptfjologie Ijeroor. 

Sie brei ©rajien waren blonb unb golb^aarig bie Sipittp^en 
Slurora unb bie fdjaumgeborene ©öttin ber Siebe, 2lpljrobite, 
werben als lichte, rofige ©ottljeiten bargeftetlt, bie burcb ihren 
Siebreij bie MenfdEjenftnber pr 2lnbetung ^inriffen. 

SaS 3beal ber grauenfcf>önl)eit mar alfo bapmat baS ©lonb, 
unb beS ißariS Urteil nur baS Urteil beS ganjen 2lltertumS. 
Corner rühmt an ber Helena baS reiche, golbblonbe §aar, baS 
in gleichmäßigen SBellen bie 'prten Schultern umflog. Unb 
feitbem haben bie Sinter nicht aufgeljört, bie fdjimmernbe ©olbs 
ftut beS §aareS p ner^errlid^en. SaS glänjenbe ©elocf ber 
©erenife mürbe unter bie ©ternbilber »erfefct, unb ein einjigeS 
blonbeS ©olb^aar ber Sfolbe, um ben g-lügel einer ©cbroalöe 
geklungen, erroecfte SriftanS Siebe unb entjünbete bie Seiben* 
fd^aft beS alten ßönigS 2Jlarfe. 

Sie blonbe ^fjrgne mar eS, reelle bie beiben größten 
ßünftler ©riecbettlanbS begeifterte, ben Silbljauer ^rajiteleä 
unb ben Maler 2lpeßeS. §ora 3 , ißroperj unb anbere Siebter 
fdjroärmten für blonbeS §aa r, unb blonb roaren auch bie §ulbs 
geftalten ber großen italienifdjen Siebter beS Mittelalters. ©or 
allen bie ©eatrice beS Sante unb SaffoS $elbin in feinem 
„©efreiten Serufalem". SaS Porträt 2lnnibaS mar, roie man 



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240 mannigfaltiges. 

annimmt, bag ber blonben ©leonore oon ©fte. Slrioft prieg bie 
blonbe 2lngelifa. ©g mar in bem 3eitalter, bag unter bem 
©influfj biefer 3>id^ter ftanb, alg Ph‘Kpp ber ©ute, §ergog non 
Surgunb, ben Drben beg ©olbenen Sliejjeg ftiftete, feiner blon= 
ben ©emahlin gu ©Ijren. 

3Hargarete oon Saloig, bie Sdjmefter beg ritterlichen Äönigg 
grang I., roar aUerbingg brünett unb ebenfo SDlagbalene, bie 
Tochter beg Äönigg. Slber felbft ein §ofpoet wie ©lement 
SJlarot (1495—1544) fonnte nicht umhin, im §ochgeitggebicht 
auf bie lefctere gu fagen: „Brünette eile est, mais pourtant 
eile est belle!“ (Sie ift brünett unb ben noch fchön!) ©in 
Seroeiö, mie fel)r bie Segriffe grauenfchönfjeit unb blonbeg §aar 
alg gleichbebeutenb betrachtet mürben. Sie cntgüdenben grauem 
föpfe Sigiang hoben blonbeg §aar, unb bie garten Slonbinen 
mit ber rofigett, burchficfjtigen Hautfarbe, mie SRubeng fie ge= 
malt hot, feffeln ung ebenfofehr, wie bie herrlichen golbfjaarigen 
grauengeftalten beg Paolo Seronefe, ©iorgione, Sintoretto unb 
Palma Sectio. SBenn roir bie güHe ber ung aug jener 3 e *t 
erhalten gebliebenen Slabonnenbilber betrachten, fo mufj ung 
bag Sorfjerrfehen ber lichten Haarfarbe auffallen. 

Sag blonbe §aar mar befonberg in Senebig auf bag höchfte 
geflöht. Sn feinem Suche „Von ber oollfommenen grauem 
fchönljeit" bemertt ber glorentiner Slgnolo girenguola: „SBiffet, 
bafj für roirflich fdjöneg §aar Stonb bie eingig roaljre garbe 
ift"; unb SUoiug fdjrieb einen Sloman gur Verherrlichung ber 
blonben grauen. 3luch ejiftiert ein Such: „La Pauleographie“, 
melcheg gum greife einer Same oon Souloufe, genannt La belle 
Paule, gefchrteben unb in Spon gebrudft roorben ift. Von biefer 
Schönheit ift belannt, bafj fie, im ©egenfafc gu ben Souloufe: 
rinnen im allgemeinen, blonbe Soden gehabt habe, unb ber Ver= 
faffer ber pauleographie erflärt gang offen, eg fönne bei einer 
grau überhaupt nur bann oon Schönheit bie Siebe fein, menn 
jene Sebingung — blonbeg §aar — erfüllt merbe. 

Sie fchönfte grau ihrer 3eit roar eine Slonbine, eine oene; 
tianifche ©rafin, genannt Sa Sionbina. ©ang Senebig fchroärmte 
für fie, folange bie Sionbina „in ber Stabt ber hunbert 3« : 
fein" lebte. 



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Mannigfaltiges. 24 1 

Söerüljmte SBlonbinen toareit nad) ben „ÄoSmetifdien @tu= 
bien" non ©djultfjeifj bie fdEjöne unb geiftoolle 9ölard)efa n. 
SSafto, bie liebliche goljanna non 2lragonien, beren 3 ü 9 e und 
SiaffaelS Ißinfel oereroigt, unb Sucrejia 33orgia, beren Sob unä 
2lriofto oerfünbet. Unter anberen blonben Serüljtntljeiten tner* 
ben 2lnna non Defterreicf) , SSarie non SBourboit, bie §er}ogin 
non ©fjeoreufe unb enblicfj aucfj bie fcfjöne §erjogin non Songue: 
»ille genannt. 2lucf) 2lgne§ ©orel, bie greuttbin ÄartS VII. non 
granfreid), toar blonb; 2>iana n. ^SoitierS, ©abrieHe b’CSftreeä 
unb 2Jfaria ©tuart Ijntten blonbeS §aar. ©in 3 e itS en °ff e ^ er 
Königin, ber §iftorifer Srantöme, ber „bie golbenen Soden 
9Jlaria3 über ben 9iid>tbtod toallen läfjt", oergijjt allerbingS 
hierbei jener gorfdjung, toeldje biefeS ©olbgelod als eine Ißerüde 
fjinfteßt. $ 0 $ mag lefctereS audj SBafjrfjeit fein, fo jeigt eS 
nur, inie fefjr felbft bie Ijödiftgcftellten grauen jur noUenbeten 
©cfjönfjeit blonbeS Jpaar für nötig hielten. 

33on ber frönen 9finon be l'ßnclod, bie nod) in iljrem fieb= 
jigften SebenSjafjre bie 2Jiänttenoelt ju feffeln toufste, toirb ge= 
fagt, bafs ifjr §aar tnie gewonnenes ©olb glätte. 

ÜJtabame be ©enignö unb gräuletn be la 93aHi&re erfanben 
eine neue £aartracfjt für 23lonbinen. 2Rabante be la gatjette 
unb 2Jtabatne be SJtaintenon bejauberten iljre 3 e i t 9 er *offen burdj 
ifjr tounberoolleS Sölonbljaar. SBou jarteftem SBlottb toar bie 
fdjöne Kaiferin ber grattäofen, ©ugenie, unb ber §erjogin non 
SDtoucfjt) „golbene SBelle", ber SJtarquife n. ©allifet „leudjtenbeS 
§aar" toar in aller 2)!unb. Db rotblonb, golbblonb ober afd) = 
blonb — biefeS fdjimmernbe §aar fjat unleugbar eine ganj 
eigenartige 2lnjieljung3fraft. 

„2Ba3 idj SieffteS, 3 ar * e f* e ^ empfunben, 

Söcir’ an biefeä blonbe £aupt gebuitbett — " 
fingt Äonrab gerbinanb SDleper itt feiner Uleifepfjantafie, unb 
eine nmnbemolle ©erettata beS ©tecdjetti, non SOlaScagiti in 
SDtufif gefegt, lautet: 

„25ein blonbeS §aupt, auf fanftett Sßfüfjl gefuitfen, 
©Iüfjt tnie bie 3lofe, non SrautneSfüfje trunfen. 

Sicfjt, tnie bie blonben Socfett bidj umfäumen, 

Sädjelft bu lieblid; beinett SBottneträumen." 

1901. m. 16 



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242 



mannigfaltiges. 



25eutfdje Stomanfdjriftfteller gieren über iljre blonben §el= 
binnen allen ©lanj beS JpimmelS unb ber ©rbe auS, benn ber 
germanifcfjen 3Rptf)ologie nach finb bie blauäugigen unb blonben 
SRenfdjen Äinber SBotanS, Äinber ber ©onne, bie bunletfarbigen 
unb brünetten ftammen »on ben Silben ab. Stlfo: inaS bie 
grauen anbetrifft, fo mürbe bie Slonbe bem Fimmel, bie 8rü= 
nette ber ©rbe angeboren. 

Socfy eben nur ber ©age nadj. gn SBirflidEtfeit ift bie 
blonbe Haarfarbe feineSroegS baS Slbjeidjen eines ©ngelS ober 
eines fanften iEäubdfenS. ©S roirb jroar im allgemeinen be* 
Rauptet, Slonbiiten feien jarter, fanfter unb meiner als bie 
Srünetten, in beren Slbern bas Slut Reiftet rolle, aber eine 
foltf)e Seljauptung fte^t auf feljt fdjmadjen güfjen. „Srägt bie 
engelgleidfe ©ebulb immer nur go!b= ober afdjblonbeS £>aar?" 
ruft ein 3roeifler auS. „©iebt eS nidjt audj blonbe $ej:lein unb 
golb^aarige $eufeld)en ?" 

Slud) ipeinridj §eine l)at bie ©rfaljrung gemalt, bafj felbft 
blonbe grauen falfd; unb treulos fein fömten, aber trofcbem 
tragen all feine §immelSföniginnen, ©ngel unb SRabonnen 
©olblocfenroellen. 

©ine neue ©rfcfjeinuttg in ber Stoman* unb SBütjnenlitteratur 
ift bie blonbe grau „mit bem ©irenenlädjeln unb ber Samppr* 
natur". Sei iEurgenjero finbet fid) biefer iEppuS in faft fünft* 
lerifd;er Sollenbung ausgeprägt, unb biefe blonben 3)ämonen 
finb bie fcfilimmften, roeil man furdjtloS unb unbebingt in iljre 
Stefce geljt. 

£ljatfad)e ift eS, bafj eS metjr Srünetten in ber SDBelt giebt 
als Slonbinen; bafs biefe aber mit ber 3 e *t ganj auSfterben 
roerben, fanit idj nicfjt glauben. 2)odj blonb ober brünett — 
bie iß er fön lief)! eit ift im ©runbe baS allein 2Bid)tige. SDer 
roeiblidEjen ©üte, Slnmut unb SiebenSroürbigfeit gebührt bie 
Äronc, unb biefe ©igenfefjaften finb auf Slonb unb Sraun gleid) 
»erteilt, ©in SJtäbdjen ober eine grau fann brünett fein unb 
bod) in i^rer ©eele bie ganje roeiblidje 3 ar ^ e ü bergen, bie 
man l;auptfädjli(§ ber Slonben anbicfytet. 35aS SBunber ber 
Siebe beroirft ber golbene ©onnenfdjein im ^erjen, nicf)t nur 
ber ©onnenfunlen , ber auf blonben Sotfen flimmert. 2lud> ift 



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.mannigfaltiges. 



243 



ber ©efdjmac! ber Siebter, ber fich gu ©unften bet Slottben 
auSfpricht, burdjauS nicht ber ber Allgemeinheit, unb bie 5Blon= 
ben ^aben roohl nur burdf) ihre oerhältniämähige Seltenheit 
etwas »or ben SBraunen oorauS. ®enn baS Seltene reigt auch 
bann, wenn ihm fonft leine anberen SBorgüge gur Seite ftehen. 

ö. Bticcaub. 

<?ur fäpcfdjt ä)ie ber .Sdjattenfptefftuufl. — mar in 

erften Hälfte beS 18. SahrljunbertS, als in SBrünn ein ÜJtann 
9tamenä Ä^ünet lebte, ber mit nieten anberen Starren feiner 
$eit ben Stein ber SBeifen fuchte unb als ©olbntadjer in feinem 
Saboratorium fo lange braute unb lochte, bis er fein Vermögen 
unb §auS unb !pof bagu glüdlich burch ben Schlot unb in alle 
SEBinbe gejagt h“tt c » ohne babei, wie fein College SSöttger in 
3J?ciheit, roenigftenS eine anbere rentable ©rfinbung gu machen. 
2 lber er roar trofcbem gum Srfinber geboren. ®enn als er eines 
StbenbS oergroeiflungeooH frierenb unb tjungernb burch fein latjteä 
3 immer rannte unb bie mageren §änbe gen £immel ftveefte, 
non beut er Jjjilfe erhoffte, ba gewährte er gufällig bie eigen: 
tümtiche gigur, welche ber Schatten feiner gerungenen §änbe 
auf bie roeifie SBanb toarf. @r ^ie(t bie gigur feft, ftarrte, 
ftaunte, wie ein 23lifc burchfuhr eS fein ©efjirn — unb bie 
SdEjattenfpiellunft roar erfunben. Äljünel oerättberte nun bie 
Sage feiner £änbe, nahm bie ginger 3 U §ilfe, probte unb ftu= 
bierte unb fanb attmähtich eine 2 J?enge lomifdjer, origineller 
giguren, bie ihn felbft in Staunen festen. 23alb lieg er fich 
mit feiner Äunft öffentlich fefjen: fie faub Seifatt, unb ber @r: 
finber erntete gotbenen Sohn. 3tun blieb er nicht in Sörüttn, 
fonbern trat eine ftunftreife an, bie fich immer roeiter erftreefte, 
je mehr bie neue ßunft in Stuf latn. Sieh hoch nicht nur ißrinj 
©ugen oon Saoopeit, ber grojje gelbtjerr , beit Sdjattenfpieler 
oor fiel) unb feinem Stabe auftreten, fonbern auch Jtaifer $arl VI. 
überhäufte ben Ä'ünftler mit 23eifali, ber überall, wohin er laut, 
3ulauf unb Serounberung fanb. 2lucf) ber Äurfürft oon Sachfen 
unb griebrief) ber ©rohe liehen ben Schattenfpieler an ihren 
ßöfen feine $unft geigen , unb fo h oc h geehrt rourbe berfelbc, 
bah er in SBcrlin foroof;l als in SreSben 31 t ben §oftafeln ge: 
3 ogen rourbe. lij. 



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I 



244 mannigfaltiges. 

$ 

jPferbebreflfat in $taften. — Sie italienifcfjcn Äauaüerie.- 
offijiere finb berühmt alä Leiter unb oerüben ganj merfrotirbige 
§ufarenftii(fcf)en, ju benen fie ficf> felbft rote if)te Ererbe plans 
mäfsig trainieren. $n ben großen ®tilitärfd)ulen 3 U üJtailanb, 
Surin, 5Hom u. f. ro. üben bie Offnere ficf> aufä eifrigfte be= 




Jltis der tnililärreilsdiule in Rom. 



fonberä im §od); unb SBeitfprung über öinbernis ober ©rnbett. 
Unfev 33Üb jeigt einen Dffijier in ber Sföilitörreitfd)ule 3 U 9tom, 
ber fein 5ßferb abridjtet, ein §inberniä oljitc Sleiter ju nehmen. 
Sies ift eine laitgroierige unb feine leichte, fefjott an bie 3irbi€= 
breffur erintternbe 2 (ufgabe. Ser ^fjotograpl) [jat ben Vorgang 
gerabe in bem 2 fugenblicf aufgenommen, in bent baö ipferb auf 
Sßeifung feines SteiterS über bie Sdjraitfe fefct. Sa er aber tior 
berfelben ftanb, £)at baS Stbbilb beS brauen SiereS infolge ber 



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mannigfaltiges. 



245 



Perlür^ung eine fettfame, faft ungeheuerliche ©eftalt angenommen. 
SaS Pilb ift hoppelt roertöoll: erftenS als 2)arftetlung eines an 
fich intereffanten, tfjatfächlichen PorgangS, unb äroeitenS als ein 
PeroeiS bafür, roie feljr bie Photographie, bereu 9taturtreue man 
fo ju rühmen geroöhnt ift, unter Umfiänben bie ©ntfernungen, 
©röfsen unb Perfjältniffe fälfdjt unb »erserrt. &. 3 

5>ie geßofifene .Äönigin. — Äönig Subrojg XV. »on granH 
reich ein höcfjft tunftreidjeS unb merlroürbigeS ©djachfpiel 
au3 Perglrpftall mit frönen ©olb; unb ©ilbernerjierungen, 
angeblich bie 3lrbeit eines fprifdjen ÄünftlerS auS bem 
14. Sahrfjunbert. g-ür ben Äönig felbft hotte baS fchöne 
Äunftroert lein fonberlidheS Qntereffe, ba er, ber jebem ernften 
2)enlen abholb mar, jum ©chadjfpielen nicht bie minbefte ©e= 
neigtheit »erfpürte, befto mehr aber für feinen ©nlcl, ben jugettbs 
liehen SouiS ©taniSlauS Sanier ©rafen »on prooettce. $iefer 
junge Prin$, ber fich eifrig mit flafftftfjen unb anberen ©tubien 
befchäftigte , überhaupt etroaS SehrhafteS unb pebantifcheS in 
feinem SBefen hotte, mar auch bem eblen ©chachfpiel ^olb. 
©ineS XageS berounberte er baS -äJleifterroerl beS alten fprifchen 
ÄünftlerS unb prieS eS ganj entfjufiaftifch , ba fagte fein ©rojj: 
»ater mit gleichgültigem ©ahnen $u ihm: „Sßenn eS bir fo gut 
gefällt, SouiS, fo nimm eS hin. ©S fei bein!" hocherfreut be= 
banfte fich ber prinj für baS fchöne ©efdjenl. 

Subroig XV. ftarb halb barauf. ©ein ältefter ©ntel tarn als 
Subroig XVI. auf ben 2h ron unb enbete fpäter unter bem gaUs 
beil ber ©uillotine, roorauf beffeit Pruber, ber im 2tuölanbe be= 
finbliche ©raf »on prooence, ben ÄönigStitel annahm unb fich 
Subroig XVIII. nannte. Ser fiebjeljnte Subroig roar nämlich 
ber im ©efängniS beS Sentple geftorbene Heine ©ohn beS 
guillotinierten ÄönigS. Sem ©rafen »on prooence roar es ge= 
Jungen, »or ben blutigen ©cfjredniffen ber Peoolution fich ä» 
flüchten; als ©nglänber »erlleibet enttarn er über bie ©renje. 
©r begab fich juerft nach Prüfjet , bann nach Äoblenj, fpäter 
nach Perona, auch nach Sillingen in ©chroaben, nach Planten: 
bürg im h Qr J/ «och Sölitau unb fpäter nach ©nglanb, roo er baS 
©cl)tof5 hortroeU beroohnte, in roeldjem er fich jiemlidj ficher 
fühlen burfte. Senn roährenb feines UmherirrenS unb flüchtend 



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246 



mannigfaltiges. 



oor ben republifanifchen Solbaten unb nachher oor ben fieg= 
reifen KriegSfdjaren beS SBelterobererS Napoleon roar er mef)^ 
malS in ernfttiche SebenSgefahr geraten. (Einmal, rote er an 
einem offenen genfter ftanb, fchofj ein — jebenfaUS ju ber %f)at 
gehangener — Steuctjelmörber auf ihn, aber bie Äuget ftreifte 
nur ganj roenig unb ungefährlich feine Jpaare, roeil ein junger 
Wiener ihn noch eben jur rechten geit oom fjenfter roegrif. 3n 
ber golgejeit roar er biefem Wiener fehr jugethan unb erroieS 
ihm oiet ©uteS. 

211S SßapoteonS ©lüdfsftern untergegangen roar, gelangte enb: 
lieh ber ehemalige ®raf »on ©rooence als Subroig XVIII. auf 
ben franaöfifdjen 2hron. 3?ebft anberen Äoftbarfeiten !am auch 
ba§ alte fprifche Sdjachfpiet roieber in feinen ©eft^. Subroig 
fteHte eg in einem feiner ©emächer auf, jur befonberen 
3terbe begfelben. SineS £ageS aber, als er eS anfah, entbeefte 
er ju feinem ©erbruffe, bafj eine ffigur fehlte, unb jroar bie 
Königin. ®r lieft fogleich Slachforfcljungen anfteßen, bie aber 
oergeblich blieben, Snblich rourbe auch bie $oliaei baoon be-. 
nachridjtigt. 

35iefe brachte halb ben Sadjoerhalt heraus. Sin föniglidjer 
2)iener hotte biefe gigur, bie in mehrere Stiicfe aerbrochen ge* 
roefen fei, bei einem Quroelier a« oerfaufen oerfucht, roelcher aber 
bie Sache »erbächtig gefunben unb ben 2lnfauf abgetehnt höbe. 
SBeitere Ermittelungen führten a« bem überrafchettben 9iefultat, 
baf ber 3)ieb jener 2)iener roar, ber einft feinem ©ebieter baS 
Seben gerettet hotte. 35ieS fchmerate Subroig XVIII. tief, unb 
ernftlicf) nahm er ben SJtiffethäter felbft inS ©erhör. 2)iefer ge= 
ftanb reumütig, er höbe auS ©erfehen bie fjigur aerbrochen unb 
bann, roeil er bie ©ruchftücfe für recht roertoolt gehalten, bie= 
felben au oerfaufen oerfucht, als ihm baS aber nicht gelungen, 
habe er bie Stücfe in bie Seine geroorfen. -Der König tief feinen 
ehemaligen SebenSretter nicht beftrafen, entfernte ihn jebodj auS 
feinem ©alafte unb gab ihm eine ©nfteltung in ber ©rooina. 
2(n bem fijrifdjen Sdjachfpiel fanb er nun feine f^reube mehr, 
benn eS erinnerte ihn beftänbig an ben fcfjlechten Streich jenes 
5Renfchen, oon bem er bis bahin eine fo überaus gute Meinung 
gehabt hotte. 2)eSholb oerfchenfte er baS alte mevfiuürbige Schadj= 



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mannigfaltiges. 247 

fpiel, welches fpäter in baS ^iftorifc^e Sftufeum im §otel Glunp 
ju IßariS fam, wo eS jeft nod) wegen feinet Schönheit oon ben 
fchauluftigen Vefuchem oiel bewunbert wirb. (§3 ift oollftänbig, 
bis auf bie feljlenbe Königin, welche g-igur nicht wieber hat er» 
fehl werben fönnen, weil bie Slrbeit oon fo eigentümlicher 2lrt 
ift, bafj fiel) heutzutage niemanb mehr barauf oerfteht. 5- u. 

SHe Störche in .ÄolTanb. — 3BaS in £ollanb befonberS 
auffällt, finb bie zahlreichen Störche. SBährenb fein Hier in 
fcollanb fo erbittert oerfolgt wirb wie bie ©pinne, hot ber Storch, 
faft abgöttifch oereffrt, wie ber 3biä im alten Sleggpten, bei ben 
§oUänbern baS frieblichfte unb behaglichfte Hafein. Sticht bloß 
auf Hürmen unb ©djornfteinen ber ©täbte unb Hörfer macht 
man ihm SBohnpIäfe zurecht; man pflanzt auch allenthalben auf 
ben SBiefen h<>h c ©langen mit Stabfränjen auf, um ihm ben 
Vau beS Stefteö recht bequem ju machen, unb umfchlieft bie= 
felben fogar mit fchönen ©polteren, bamit fich baS weibenbe 
Vieh nicht baran reibe unb bie Stulje beS SieblingSoogelS ftöre. 
©inen §oHänber, ber fich bie Hötung eines Storches ju fchulbett 
fontmen tiefte, würbe allgemeine Verachtung treffen. 

Her überall fo graoitätifd) einherfchreitenbe g-rofchoertilger 
oerbanft biefe hohe Verehrung in §oIIanb nicht blofs feiner 
Slüfclichfeit, fonbern auch bem ruhmreichen Veifpiele oon Sltutterj 
liebe, welches eine ©törchin bei ber grofjen g-euerSbrunft ju 
Helft (1536) gab, bie fich, unoermögenb ihre jungen ju retten, 
lieber als Seidjentuch barüber beefte unb mit oerbrannte, ftatt 
bie teure Vrut ju oertaffen unb ohne biefelbe ben flammen zu 
entgehen. tt. %. 

(bin (bbißt gegen ben ^uxus ber pienfttnäbdjen. — König 
griebrich SBilhelm I., ber ftrengfte aller ^obenjoüernfürften, <r= 
lief im Stooember 1731 folgenbeS ©efefc: „äßir fyriebrich 2Bill)clm 
oon ©otteS ©naben König in ifkeufen u. St. m. tl)un funb unb fügen 
hiermit ju wiffen: 9lacf)bem Sßir auffällig angemerfet, baf bie 
HienftsSJägbe, fotoohl in ben Stabten, wie auch auf bem fianbe, 
feibene Gamiföler, Stöcfe oon ©amrnet unb 2äfe gar häufig 
tragen, fold)e3 aber nicht allein bem Hebit ber bem ganzen Sanbe 
fo fehr erfprieftlichen 2BolI=SJtanufacturen hinberlich, fonbern auch 
ben bereits oorljer ergangenen Verorbnungen entgegen ift; alfo 



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mannigfaltiges. 



3Bir ber 'Jiotburft ju fein erachtet, folgern ünroefen burcf) bie3« 
felbige3 6 bict ju fteuern. 2 ßir fefcen, orbnen unb roollen bem« 
noch ^iemit, baß nach Verlauf fed)§ fföonate nach bieffeö $ubli= 
fation bicffelben 6bict3 feine Sienft=2Mgbe ferner feibene (Santi« 
föler, 9iöde ober Sähe, auch nicht au3 Sammet tragen, fonbern 
mofem fte nach Slblauf folt^er gefegten $eit bennoch melche ba« 
mit betreffen Iaffen mürben, benenfelben foldje feibene unb fammete 
Äleibung öffentlich auf ben Straffen abgenommen merben fott. 
©egeben ju Berlin. SBilhelm." Jb- 

.Sonberßatf 3SLitfdjß«8n. — 3m 3«h r « 1863 erfd)ien in 
Nürnberg eine Brofd)üre über ben „Bau mohlfeiler ©Öffnungen". 
Sarin Reifet eS unter attberem allen 6 rnfte 8 : „Sa ber Baugrunb 
in ben großen Stabten ju teuer ift, fo errichte man aufferljalb 
berfelben 2lr beiterb ör f er unb oerbinbe Sorf unb Stabt burd) 
eine Straffe, beren Läufer platte Sädjer haben. 2ln bent einen 
©nbe ber Straffe merben bie Käufer fef)r hoch gebaut unb bi3 
jur Stabt merben fie immer niebriger. 2luf ben Sachern legt 
man eine fHutfdjbahn an, auf meldjer bie Sorfberoohner morgen^ 
in bie Stabt jur ülrbeit fahren. Sie 5 roeite Läuferreihe ift in 
ber entgegengefefcten Stidjtung geneigt unb auf biefet fahren bie 
Seutc abenb3 nach Laufe." 2luf bie Beurteilung biefer originellen 
Jiutfchbahn folgt noch ein 2lnfd)lag ber Äoften für ben Betrieb 
einer fold)en SRutfdjbahn jroifchen Nürnberg unb 3 -ürtl). ®- 

?ie erde ^utfe. — 3?och im 3“^e 1851 lebte in ÜDlann« 
heim eine alte penfionierte Schaufpielerin, bie ©itroe be3 Äapelt« 
meifterä Witter. Sie hatte bie Suife in „Äabale unb Siebe" junt 
erftenmal gefpielt unb erinnerte fich mit finblicher fyreube 
ftet3, roie Schiller ihr gebanft. 2113 er fie abenb3 nach ber 
erften Borftellung nach Laufe begleitete, brüefte er ihr beim 2(b= 
fchieb etmaS in bie L Q nb. 63 mar ein ganj fleines Porträt 
oon ihm felbft, unb bie alte Same bemahrte e3 bi3 an ihr 6 ttbe 
al3 ein L e »K 0 tum. Samal3 aber hatte fie e3 unfchliiffig be« 
trachtet unb ben Biihnenbichter fcfjliefilid) gefragt: ,,©a3 foll ich 
bamit?" 

Ser junge Sichter aber hatte erroibert: „3a, felje Se, ba3 
fann i 3() ne feiber net fage." 6 - 2 - 



— ■ < «•■ > 

UNIV. OF MICHIGAN, 



JUL ln 1812 



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Bif gliidtftdint guten 

in $afdjcn T 3 ortljDgäbtfdjcr §etlanftalt in $cffau 

^abcn bcu Dorjüglidien {Ruf biejeS nor nuit bolb 14 Sabren gegrünbeten fD!ufler.3nftitut? 
längft aud) jenfettS be! Cjcan! in bet mirtjamften Steife oerbreitet. Denn Sßafdjen betont mt 
icbon (eit 3al)ten außer feinen jablreicben beutfehen Patienten ßranle itid)t nur au! älalien, 
'Jiuölanb, granlttid) !t., fonbern autb au! Amerila, Afrita unb Aficu, unb bie faft aQ jäl)r> 
lid) ootgenommenen Sergrößerungen bet AnftaltSgebäube haben fid) immer niieber als un» 
3urtid)cnb erwiejen. Durd) oerjebiebene Meubauten präditiafter unb origiitellfter Art. bie fid) 
burd) ben Vlnfauf eines grojjeit 9iad)bargrunbitüdeS ermöglichen lieben , ift in bieiem 3aljrc 
Sorjorge getroffen motbeit , iobaf; jeßt faft bie hoppelte Anjabt Seibenber SRaum finbet unb 
fidi tro., betn and) bie oerwöbnteften Patienten bort in jeber ©ejiebuttg luie ju .{iaujc füllten 
tonnen. Gs loitb ben Sefer interejfteren . ju erfobten, was eigentlich bei UMdjeti in Defiau 
gebeilt wirb, ‘title Abnormitäten bis SidgratS. Sabmuugen. gufjlciben. Rlumpiüße, Sliid n> 
marfidnoädie ic. ! Aatürlid) Überlauf! ben Unlunbigen iofort eine ©änfebaut ; beim et fiebt 
im ©eilte einen großen OperationSjaal mit tcuflifd) blißenben 'Bieffern. blutigen ‘lüdjeut unb 
anberen grufeligen Gingen ; ober er erinnert fi<b gar ber Wotij über ba! ©erfahren be! 
Dr Gallot in Sßatis, ber armen Sudligen frifet) uitb fröhlich bie Söirbelfäule mit ©ewalt 
einbriidt. um fie in bie normale fja^on ju bringen. Au bcrglcidien Sachen ift jebod) in ber 
Safcbcn’icben Anftalt gar nidit }u beulen! Ohne Operationen, obite ©eloaltmittel, ohne 
©ipsoetbänbe , ohne Stredbctt, nur burd) eigen! für jebtn einjelm n i5-a0 genau fonftruierte 
©elentapparate ober ßorietts, perbunben mit pernüiiftigcr Scbcnsweifc, Sorgfältig geregelter 
fuodienbiiocnbct Diät, (DJafiagen, Gleftriftetungen , Sübcr, Hebungen an 2urn< unb öanb» 
apparaten jc. erjielt ber gewiffenbafte unb reich erfabtene Seiler be! Deffau'itbcn SnfiitutS 
feine oft wpnberbaten Grfolge. fBiittels SRöntgenapparat! wirb ©iß unb Matur be! Seihen! 
junädjit feftgefteUt , unb alSbalo gebt es an bie yerfteQung be! nötigen aut- Seberhiilicn, 
©tablichiencn. Solfterungen-, lomplijierten Gbarnieren ic. juiammeugebauten SRüftjeugs, ba! 
ben Patienten fofoit in ben ©tanh ietjt, ba“ giedienlagcr uertafjen unb, ohne ©chmetjen 
ju empfinben, fid) frei bewegen ju tonnen! SBeldj wonnige Gntpfinbuttg burchftrömt bie 
Stuft ioltbe! Armen , ber bie iioffnung fdjou aufgegeben batte , je wieber ©ebraud) pon 
feinen ©liebmafjen machen ju föniien ! Sott 3al)t ju 3abr fteigert fid) bie 3“bl ber gliid-- 
tidi ©ebeilten , bie ihrem Metier uicbt Demi genug Ju fagen Wiffcu für bie überra dienbe 

t ilfe, bie ihnen hier eitblid) ju teil geworben. Seinbrüchige, bie bisher ju monatelangem 
ieienlager oerurteilt waren, erlangen mit Anlegung be! Ai-parat! f fort bie ffäbigleit. 
Wieber 311 geben; Müdenmarföleibenbe , bie jahrelang im SRoflftubt juaebraebt haben, ge. 
Winnen burd) ba! ©foliojenlorfctt Wiebet tjalt im ftötper; fiinber, bie an Serfrümmung n 
leiben unb burd) bie Stredbettbebanblung febr beruntergetommen linb, erbolcit fid) hier fdnteU, 
ba üe fid) mit ihrem Apparat bewegen, im Sari tummeln tonnen unb baburd) Appetit unb 
Slutjirlulation haben. 

Saichrn’s §eilanftalt liegt in geiunber gartenreidier ©egenb unb bod) nod) int 
SQeidjbitbe ber ©labt Dcfiau. Der große Stomplej oon ©ebäuoen enibält neben fomfortabel 
eingerid)tcten S'obnräuwen für bie Patienten bie Arbettsräume bes lireftor! nebft ben 
ÜDerfftättcn feiner 'Mitarbeiter ; fobann einen großen mit aUtn möglidieir lurnaiparaten, 
Dreiräbern )c. auSgeftatteten Jurniaal, einen brillant eingeriittcten Sefeialou , Spcife. unb 
Gmpfaigsräume, Sabtjimmcr. ferner ba! burd) beu Mcubau entfianbene ©ontienlurbauS, 
einen tlcinen ©laSpalaft mit ben ptädjtigften ftinbern ‘er iii lieben fflota auSgeftattel , fotnie 
ein in feintr ganjeit Ginrtdjtuug böebit praltiid) angelegte! ©diulgebäiibe, in bem bie (leinen 
Patienten auf allen nur müniebruSwertcn Giebieten burd) eigene S hrlräfte weiter geförbert 
werben. Die Erwärmung ber fHäume g‘id)iebi burd) G.'iitral.HBarmwaif. r Anlage; bie Se« 
leuebtunjf burd) Glelirijität Der bie Anftalt utngebeube ©arten ift parlartig unb nur für 
bie Patienten beftimmt Die SBege oarin ftnb ben Seibeuben enlfpredienb uorjiiglieb gehalten. 
Sei fd)led)tem Uüetter bietet eine berrlid) belorierte 'Jßanbelballt ©elegeiibcit jum fronte, 
nieten Uebctall betriebt unter ben Patienten ffiöbliditeit , nirgenbo fiebt man oerbriefe. 
lid)e ©efidjter , niemals Pernimmt mau Aeufecrungen be! ©dimerje! Gs fühlt fteb eben 
jeber bür wähl unb geborgen, iröftliiber £ilfe ftdjcr, woju ba! mufterbaft gcjd)ultc Serfonat 
niibt juleßt beiträgt. 

Aud) ärjtlid)e Autoritäten, wie Stofeffor oon Bergmann, Srof r .ü ot oon Sepben, 
ber Perftorbcne Solliitann-öallc )c. haben bie Grjolgc Saidjcn’s oerfebiebetttlid) unb rüdbatts. 
Io! anerlannt. Da! 3nftitut fei habet athn, bie für bie obengenannten Seihen ©efieruitg 
uub ©eneiutig fudjeit, mit ber 'JJtabnung empfohlen, ba! was fie ibun wollen, balb ju ibun. 
3e früher man gerabe bei bieieu Rranlbeiten oor bie rechte 6d)titiebc gebt, je fieberet 
barf man auch auf Grfolg rechnen. a;^ o6oc ©.inert. 



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Jahrhundert überragende Beldengestalt uns und den kommenden Generationen in 
QJort und Bild dauernd fcstzuhalten. üon allen Bildern des Altreichskanzlers, 
so schreibt ein Uerebrer desselben, dürfen die AI I ers' sehen den grössten An- 
spruch auf lebendige Aebnlichkeit machen. Bans Kraemer erzählt uns, bald 
anmutig plaudernd, bald erhebend und begeisternd, aus alten und jungen Cagen 
des eisernen Kanzlers. Das BJerk schildert den fürsten gemütvoll im Kreise seiner 
familie und seiner freunde und gestattet manchen Einblick in Jntimitälen, mit 
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