Skip to main content

Full text of "Novellen von der Liebe"

See other formats


Novellen von der liebe 



Edgar Allan Poe 




Ivb Uumi 



i 




Blau Memorial Collection 



Digitized by Google 



Digitized by Co )gle 



E. A. POE' 5 
NOVELLEN 
VON DER LIEBE 



Digitized by Google 



Digitized by Google 




VIRGINIA CLEMM 



Google 



NOVELLEN 



• ■ 



i 



VON DER LIEBE | 



DEUTSCH VCN 

GISELA ETZE 



1 




■ - 

!! 



MÜNCHEN UND LEIPZIG 
BEI GEORG MÜLLER 



Dieses werk wurde im auftrage von 
georg Müller verlag in München in 
einer einmaugen auflage von 1000 in 
der presse numerierten exemplaren 

IN DER BUCHDRUCKEREI M. MÜLLER & SOHN 
IN MÜNCHEN HERGESTELLT. 50 EXEM- 
PLARE WURDEN AUF BÜTTEN ABGEZOGEN 



EXEMPLAR Nr. 




Digitized by Google 



Leonainie 



Ein erst neuerdings aufgefundenes Gedicht Poes, 
das noch in keiner Poe-Ausgabe enthalten ist. Das 
Manuskript trägt von des Dichters Hand die Be- 
merkung: „Lines left by a wanderer at a wayside 
house in lieu of cash for board and lodging one 
night." (Zeilen, die ein Wanderer in einem Hause 
an der Strasse zurückliess, an Stelle von Bezahlung 
für ein Nachtlager und Kost.) 



V 



^V\^> 548763 



Lconainie angels named her, and they took 

the light 

Of the laughing stars and framed her in a smile 

of white. 

And they made her hair of gloomy midnight and 

her eyes of bloomy 
Moonshine and they brought her to me in a solemn 

night. 

In a solemn night of summer, when my heart of 

gloom 

Blossomed up to great the comer like a rose in bloom. 
All foreboding that distressed me I forgot as joy 

caressed me 

Lying joy that caught and pressed me in the 

arms of doom. 

Only spake the little lisper in the angel tongue 
Yet I listening heard the whisper: „Songs are 

only sung 

Here below that they may grieve you, tales are 

told you to deceive you 
So must Leonainie leave yon while her love is young. 

Then God smiled — and it was morning matchless 

and supreme 
Heavens glory seemed adorning earth with its 

esteem. 

Every heart but mine seemed gifted with a prayer 

and was lifted 
When my Leonainie drifted from me like a dream. 

VI 



Digitized by Google 



Leonainie — diesen Namen gaben Engel ihr, 
Gaben Sternlicht ihr als Rahmen — lächelnd 

weisse Zier, 

Haare aus der Mittnacht Glühen, Augen aus des 

Mondes Blühen; 
Brachten sie im Sommersprühen hoher Nacht zu 

mir — 

Sommernachts, als hoch im süssen Blühn mein 

Herz geloht, 
Sie, die Kommende, zu grüssen, voll wie Rose 

rot. 

Trübes Ahnen, das mich schmerzte, schwieg, als 

mich die Freude herzte, 
Trügerische Freude herzte mit dem Arm voll Tod. 

Sprach nur zarter Engelzungen kleines Lispeln: 

„Hier 

Werden Lieder nur gesungen, kund Geschichten 

dir, 

Dich zu trügen, dich zu trüben; so auch muss in 

nichts zerstieben 
Leonainie, wenn das Lieben jung noch ist in ihr." 

Lachelt Gott — : ein Morgen glänzte, wie zuvor 

wohl kaum, 

Himmelsherrlichkeit umkränzte licht den Erden- 
raum. 

Jedes Herz erfand Gebete, nur aus meinem keines 

flehte, 

Meine Leonainie wehte von mir wie ein Traum. 



VII 



ELEONORA 



Poe, Novellen von der Liebe 



Sub conservatione formae 
specificae salva anima. 

Raymond Lully. 



Ich entstamme einem Geschlecht, das da- 
für bekannt ist, eine flammende Leiden- 
schaftlichkeit und zügellose Phantasie zu 
besitzen. Von mir sagt man, dass ich wahn- 
sinnig sei; aber noch ist die Frage nicht 
gelöst, ob Wahnsinn nicht etwa erhabenste 
Erkenntnis ist, ob vieles, was herrlich, ob 
alles, was vollkommen ist, nicht vielleicht 
einer Krankhaftigkeit des Denkens ent- 
springt, einer durch Oberanstrengung des 
normalen Intellekts hervorgerufenen Reiz- 
barkeit des Geistes. Alle, die bei Tage 
träumen, wissen von vielen Dingen, die 
denen entgehen, die nur den Traum der 
Nacht kennen. Visionen lassen sie den 
Glanz der Ewigkeiten schauen, und in ihr 
Wachsein nehmen sie das erschütternde 
Bewusstsein mit, an der Schwelle der Er- 
kenntnis des grossen Rätsels gestanden zu 
haben. Augenblicke offenbaren ihnen mit 
Blitzesgrelle viel von der Weisheit des 
Guten, mehr noch von der blossen Kennt- 
nis des Bosen. Sie haben nicht Ruder 
noch Kompass und dringen dennoch in 



das unendliche Meer des ewigen Lichtes 
vor — und ferner, gleich den Fahrten des 
nubischen Geographen, bis ins Meer der 
Schatten: „agressi sunt mare tenebrarum, 
quid in esset exploraturi." 

Nehmen wir also an, ich sei wahn- 
sinnig. Ich gebe zum wenigsten zu, dass 
mein Geistesleben aus zwei ganz ver- 
schiedenen Zuständen besteht: dem Zu- 
stand klarer, nicht anzuzweifelnder Ver- 
nunft, der die Erinnerung an die Bege- 
benheiten der ersten Epoche meines Lebens 
umfasst, und einem Zustand voller Schatten 
und Zweifel, dem die Gegenwart gehört 
und die Erinnerung an die Geschehnisse 
der zweiten grossen Epoche meines Lebens. 
Darum könnt ihr dem, was ich von meinem 
ersten Lebensabschnitt sagen werde, Glau- 
ben schenken, von dem aber, was ich von 
der späteren Zeit berichte, glaubt nur so 
viel als euch glaubwürdig erscheint — 
oder bezweifelt das Ganze. Doch falls ihr 
nicht zweifeln könnt, so mögt ihr vor den 
Rätseln meiner Seele den Odipus spielen. 
4 



Digitized by Google 



Sie, die ich in meiner Jugend liebte 
und von der ich jetzt kühl und klar das 
Folgende berichte, war die einzige Tochter 
der einzigen Schwester meiner früh ver- 
storbenen Mutter. Eleonora war der Name 
meiner Cousine. Wir hatten immer zu- 
sammengewohnt — im „Tale des vielfar- 
bigen Grases" unter tropischer Sonne. 
Kein fremder Fuss betrat jemals dies Tal, 
denn es lag weit weit droben inmitten 
gigantischer Berge, die es ragend um- 
standen und seinen lieblichen Gründen 
Schatten spendeten. Kein Pfad führte dort- 
hin, und um in unser seliges Heim zu ge- 
langen, hätte man das Gezweig von vieltau- 
send Waldbäumen gewaltsam durchbrechen 
und die Herrlichkeit von vielmillionen duf- 
tenden Blumen zertreten müssen. So lebten 
wir also ganz einsam und kannten nichts 
von der Welt ausserhalb des Tales — ich 
und meine Cousine und ihre Mutter. 

Aus den nebelhaften Regionen der 
höchsten Berge, die unser Reich um- 
schlossen, kam ein Fluss daher, schmal 

5 



und tief, und seine Flut war glänzender 

als alles — ausgenommen Eleonoras Augen. 

Er wand sich in verstohlenen Krümmungen 

durchs Tal und tauchte dann in eine dunkle 

Schlucht, zwischen Bergen, die noch 

düsterer und geheimnisvoller waren als 

jene, aus denen er gekommen. Wir nannten 

ihn den „Fluss des Schweigens", denn es 

war, als ob sein Fluten alles beruhige 

und stille mache. Kein Murmeln klang 

aus seinen Tiefen, er ging so sanft dahin, 

dass die beperlten Kiesel auf seinem Grunde, 

die wir oft bewunderten, sich niemals 

rührten — in regungsloser Ruhe lagen sie, 

jeder funkelte ewig am alten Platz. 

Das Ufer des Flusses und der vielen 

glitzernden Bächlein, die ihm auf allerlei 

Umwegen zuströmten, und ebenso alle 

Flächen, die von den Ufern sich ins Wasser 

bis zum Kieselgrund hinuntersenkten, waren 

von kurzem dichtem gleichmässigem Rasen 

bedeckt, der lieblich duftete. Und weiter 

noch dehnte sich dieser sanfte grüne 

Teppich — durchs ganze Tal, vom Fluss 
6 



Digitized by Google 



bis an den Fuss der Höhen, die es um- 
gürteten. Diese wundervolle weite Gras- 
fläche war über und über mit gelben Butter- 
blumen, weissen Gänseblümchen, blauen 
Veilchen und rubinroten Asphodelen be- 
sprenkelt, und ihre unbeschreibliche Schön- 
heit redete laut zu unseren Herzen von 
der Liebe und der Herrlichkeit Gottes. 

Und hier und da erhoben sich im 
Grase wie seltsam verschlungene Traum- 
gebilde Gruppen phantastischer Bäume, 
deren Stämme nicht senkrecht aufragten, 
sondern in anmutigen Biegungen dem 
Licht entgegenstrebten, das um Mittag in 
die Mitte des Tales hereinleuchtete. Ihre 
Rinde war ebenholzschwarz und silbern 
gefleckt und war zarter als alles — aus- 
genommen' Eleonoras Wangen. Ja, man 
hätte diese Bäume für gigantische Schlangen 
halten können, die der Sonne, ihrer Gott- 
heit, huldigten, wären nicht die glänzend 
grünen grossen Blätter gewesen,die von ihren 
Gipfeln in langen bebenden Reihen nieder- 
hingen und mit dem Zephir tändelten. 



Lange Jahre durchstreifte ich Hand in 
Hand mit Eleonora das Tal, ehe die Liebe 
in unsere Herzen einzog. Es war an einem 
Abend in Eleonoras fünfzehntem und 
meinem zwanzigsten Lebensjahre, da sassen 
wir einander eng umschlungen haltend 
unter den Schlangenbaumen und blickten 
hinab in den Fluss des Schweigens und 
auf unser Bild, das sich in seinen Wassern 
spiegelte. 

Wir sprachen nichts mehr an diesem 
süssen Tage, und selbst am andern Morgen 
fand unsere Rede nur wenige zitternde 
Worte, 

Wir hatten in den Wassern Gott Eros 
gefunden und hatten ihn in uns aufge- 
nommen, und wir fühlten nun, dass er 
die feurigen Seelen unserer Vorfahren in 
uns entzündet hatte. Alle Leidenschaft- 
lichkeit und blühende Phantasie, die durch 
Jahrhunderte unser Geschlecht ausge- 
zeichnet, ergriff unsere Herzen wie ein 
Rausch und hauchte in das Tal des viel- 
farbigen Grases eine wahnsinnige Selig- 
8 



Digitized by Google 



keit. Alle Dinge veränderten sich. Die 
Bäume, die nie vordem ein Blühen ge- 
kannt, entfalteten seltsame sternförmige 
strahlende Blüten. Das Grün des Rasen- 
teppichs vertiefte sich, und als — eine 
nach der andern — die weissen Gänse- 
blümchen dahinschwanden, brachen an 
ihren Orten rubinrote Asphodelen auf — 
zu zehn auf einmal. Und Leben regte 
sich auf unseren Pfaden, denn der hohe 
schlanke Flamingo, den wir bis dahin 
noch nie gesehen, entfaltete vor uns 
sein scharlachfarbenes Gefieder, und mit 
ihm kamen und glühten alle heiteren 
Vögel. Gold- und Silberfische belebten 
den Fluss, und aus seinen Tiefen hob 
sich leise, doch lauter und lauter wer- 
dend, ein Murmeln, das schliesslich zu 
einer sanften erhabenen Melodie anschwoll, 

— 

erhabener als der Sang aus des Aolus 

Harfe und süsser als alles — ausgenommen 

Eleonoras Stimme. 

Und eine schwere mächtige Wolke, 

die wir seit langem in den Regionen des 

9 



Abendsterns beobachtet hatten, setzte sich 
gemächlich in Bewegung. Und durch und 
durch karmin- und golderglänzend lagerte 
sie sich über unser Tal und sank Tag um 
Tag friedvoll tiefer und tiefer, bis ihre 
Ränder auf den Gipfeln der Berge ruhten, 
deren nebelhaftes Grau sie in Glanz und 
Pracht verwandelte. Und sie lagerte über 
uns und schloss uns ein wie in ein zauber- 
haftes Gefängnis von seltsamer Herr- 
lichkeit. 

Der Liebreiz Eleonoras war der der 
Seraphim; aber sie war so schlicht und 
unschuldig wie das kurze Leben, das sie 
inmitten der Blumen gelebt hatte. Keine 
Arglist lehrte sie die Inbrunst, die ihr 
Herz entflammte, zu verbergen, und während 
wir miteinander im Tale des vielfarbigen 
Grases wandelten und über all seine Ver- 
änderungen sprachen, enthüllte sie mir 
die geheimsten Tiefen ihrer Seele. 

Und eines Tages sprach sie unter Tränen 

von jener letzten traurigen Veränderung, 

der alle Menschen unterworfen sind; und 
10 



Digitized by Google 



von nun an weilte sie nur bei diesem 
einen schmerzvollen Thema, das sie in 
jedes unserer Gespräche einflocht, so wie 
die Sang- er von Schiras in ihren Liedern 
dieselben Bilder wieder und wieder an- 
wenden. 

Sie hatte die Hand des Todes auf 
ihrer Brust gefühlt, sie wusste, dass sie 
in so vollkommener Schönheit erschaffen 
worden war, nur um — gleich der Ein- 
tagsfliege — früh zu sterben. Doch alle 
Schrecken des Todes waren für sie in 
dem einen Gedanken vereint, von dem 
sie mir in abendlicher Dämmerstunde am 
Fluss des Schweigens sprach. Es beküm- 
merte sie zu denken, ich könne, nachdem 
ich sie im Tale des vielfarbigen Grases 
begraben, dessen selige Verborgenheit 
verlassen und die Liebe, die jetzt ganz 
ihr gehörte, irgend einem Mädchen der 
Alltagswelt da draussen schenken. Und 
damals und dort warf ich mich ohne Be- 
sinnen Eleonora zu Füssen und tat ihr und 

dem Himmel den Schwur, dass ich mich 

11 



niemals mit einer Tochter der Welt in Ehe 
verbinden — dass ich niemals ihrem ge- 
liebten Andenken, dem Andenken der 
innigen Zuneigung, mit der sie mich seg- 
nete, untreu werden wollte. Und ich rief 
den allmächtigen Herrn des Weltalls zum 
Zeugen an für meines Schwurs aufrich- 
tigen Ernst. Und der Fluch, den ich von 
ihm und von ihr, der Heiligen im Para- 
diese, für den Fall meines Treubruches 
auf mich herabrief, schloss eine so ent- 
setzliche Strafe in sich, dass ich hier nicht 
davon sprechen kann. 

Und die strahlenden Augen Eleonoras 
erstrahlten noch heller bei meinen Worten. 
Und sie seufzte, als sei eine tödliche Last 
ihr vom Herzen genommen, und sie zitterte 
und weinte bitterlich. Aber sie nahm 
meinen Schwur an — denn was war 
sie anderes als ein Kind — und er Hess 
sie erleichtert dem Sterben entgegen- 
sehn. Und als sie einige Tage später 
friedvoll entschlief, sagte sie zu mir, sie 
wolle um deswillen, was ich für den Frie- 
12 



Digitized by Google 



den ihrer Seele getan, mit dieser Seele 
über mich wachen; sie wolle, sofern es 
möglich sei, in den wachen Stunden der 
Nacht mir sichtbarlich erscheinen. Wenn 
aber dies ausserhalb der Macht der Seelen 
im Paradiese läge, so wolle sie mir ihr 
Gegenwärtigsein wenigstens durch aller- 
lei Zeichen kundtun. Sie werde mit den 
Abendwinden mich umkosen und die Luft 
um mich her mit dem Duft der himm- 
lischen Weihrauchschalen erfüllen. Mit die- 
sen Worten auf den Lippen gab sie ihr 
junges reines Leben auf, und mit ihr en- 
dete die erste Epoche meines eigenen 
Lebens. 

Bis hierher habe ich wahrheitsgetreu 
berichtet. Doch wenn mein Denken auf 
dem Wege der Vergangenheit die Grenze, 
die der Tod meiner Geliebten gezogen, 
überschreitet und in die zweite Periode 
meines Lebens eintritt, dann sammeln sich 
Schatten um mein Hirn, und ich fühle, 
dass ich an meinem gesunden Gedächtnis 
zweifeln muss. Doch ich will fortfahren. 

n 



Die Jahre schleppten sich trage dahin, 
und immer noch wohnte ich im Tale des 
vielfarbigen Grases. Aber wiederum hatte 
eine Veränderung alle Dinge befallen. 
Die sternförmigen Blüten krochen zurück 
in die Stämme der Bäume und kamen nie 
wieder zum Vorschein. Das tiefe Grün 
des Rasenteppichs verblasste, und die 
rubinroten Asphodelen welkten hin, eine 
nach der andern. Und an ihren Orten 
brachen — zu zehn auf einmal — dunkle 
blauäugige Veilchen auf, und ihre Augen 
standen immer voll Tau und blickten 
kummervoll. Und Leben entschwand von 
unseren alten Pfaden; denn der hohe, 
schlanke Flamingo entfaltete nie mehr 
sein scharlachrotes Gefieder, trauernd flog 
er aus unserm Tale fort den Bergen zu, 
und mit ihm zogen alle heiteren Vögel, 
die ihn begleitet hatten. Und die Gold- 
und Silberfische schwammen davon durch 
die Schlucht, die an der einen Seite unser 
Reich begrenzte, und zierten nie wieder 
den lieblichen Fluss. Und die sanfte Melo- 
14 



Digitized by Google 



die, die erhebender gewesen war als der 
Sang aus des Aolus Harfe und süsser 
als alles — ausgenommen Eleonoras 
Stimme, sie sank wieder zu leisem Mur- 
meln herab und wurde leiser und leiser, 
bis sie erstarb und der Fluss wieder in 
seinem einstigen feierlich-düsteren Schwei- 
gen dahinfloss. Und dann — zuletzt — 
hob sich die mächtige Wolke von den 
Gipfeln der Berge, die wieder in ihr 
nebelhaftes Grau zurücktauchten, und 
schwamm gemächlich davon, den fernen 
Regionen des Abendsternes zu, und mit 
ihr verschwand das strahlende Gold und 
alle die glänzende Pracht, mit der sie 
das Tal des vielfarbigen Grases über- 
schüttet hatte. 

Jedoch was Eleonora versprochen hatte, 
erfüllte sich. Denn ich hörte um mich 
das Schwingen der himmlischen Weih- 
rauchschalen, und Ströme himmlischer 
Düfte durchfluteten immer und immer das 
Tal. Und in einsamen Stunden, wenn 

mein Herz in heftigem Pulsschlag erbebte, 

15 



umschmeichelten sanfte Winde mit süssem 
Seufzen meine Stirn. Die dunklen Nächte 
füllte oft ein schwaches Flüstern, und ein- 
mal — oh, einmal nur! — weckte mich aus 
einem todähnlichen Schlafe der Kuss geister- 
hafter Lippen, die meinen Mund berührten. 

Aber all dies vermochte nicht die Leere 
meines Herzens auszufüllen, und grenzen- 
los war sein Verlangen nach jener Liebe, 
von der es vordem so übervoll gewesen. 
Und endlich kam es so weit, dass mir 
das Tal des vielfarbigen Grases, durch 
das mich die Erinnerungen hetzten, zur 
Qual wurde, und ich vertauschte es für 
immer gegen die Eitelkeiten und das friede- 
lose Glück der Welt. 

* * 

Ich fand mich in einer fremden Stadt, 
in der alle Dinge nur dazu dienten, die 
Erinnerung an die süssen Träume, die ich 
so lange Jahre im Tale des vielfarbigen 
Grases geträumt, aus meinem Gedächtnis 
auszulöschen. Ein prächtiges Hoflager mit 
16 



Digitized by 



Pomp und Festen, betäubendes Waffen- 
geklirr und strahlende Frauenlieblichkeit 
verwirrten und berauschten mein Hirn. 
Doch bis jetzt war meine Seele ihrem 
Schwur treu geblieben, und immer noch 
verkündete mir Eleonora in den stillen 
Stunden der Nacht ihr Gegenwärtigsein. 

Plötzlich aber hörten diese Anzeichen 
auf, und die Welt wurde schwarz vor 
meinen Augen, und ich stand in atem- 
losem Schreck vor dem glühenden Ge- 
danken — der grauenhaften Versuchung, 
die mich befallen hatten. Denn an den 
fröhlichen Hof des Königs, dem ich diente, 
kam aus irgend einem fernen, fernen un- 
bekannten Lande ein Mädchen, von deren 
Schönheit mein ganzes ruchloses Herz 
entflammt und hingerissen ward — zu 
deren Füssen ich mich ohne Sträuben 
niederwarf in wehrloser abgöttischer Liebe. 
Ach, wie armselig war die Leidenschaft, 
die ich dem jungen Kinde im Tale des 
vielfarbigen Grases geschenkt, wenn ich 
sie mit der Glut und dem Wahnwitz und 

Poe, Novellen von der Liebe 2 17 



den beseligenden Ekstasen verglich, in 
denen jetzt meine Anbetung emporjauchzte, 
mit dem trunkenen Schluchzen, in dem 
meine Seele zu Füssen der himmlischen 
Ermengard dahinschmolz ! Oh, herrlich 
war der Engel Ermengard ! Und vor dieser 
Erkenntnis versank alles andere. — Oh, 
göttlich war der Engel Ermengard! Und 
ich ertrank im Blick ihrer unergründlichen 
Augen und sah und suchte nur sie. 

Ich vermählte mich mit Ermengard — 
und fürchtete nicht den Fluch, den ich 
auf mich herabgeschworen; und seine 
Schrecken suchten mich nicht heim. Da 
kam noch einmal — ein einziges Mal durch 
das Schweigen der Nacht das süsse Seufzen 
wieder zu mir, und es formte sich zu einer 
wohlbekannten inbrünstigen Stimme: 

„Schlafe in Frieden 1 Denn der Geist 
der Liebe lebt und herrscht Und wenn du 
glühenden Herzens Ermengard umarmst, 
bist du — aus Gründen, die dir dereinst 
im Himmel offenbar werden sollen — 

deines Gelübdes an Eleonora entbunden." 

18 



Digitized by Google 



LIGEIA 



2* 19 



Digitized by Google 



Und es liegt darin der Wille, 
der nicht stirbt. Wer kennt die 
Geheimnisse des Willens und seine 
Gewalt? Denn Gott ist nichts als 
ein grosser Wille, der mit der ihm 
eigenen Kraft alle Dinge durch- 
dringt. Der Mensch uberliefert 
sich den Engeln oder dem Nichts 
einzig durch die Schwäche seines 
schlaffen Willens. 

Joseph Glanvill. 



20 



ei meiner Seele! ich kann mich nicht 



U erinnern, wie, wann und wo ich die 
erste Bekanntschaft machte — der Lady 
Ligeia. Lange Jahre sind seitdem verflossen, 
und mein Gedächtnis ist schwach geworden 
durch vieles Leiden. Vielleicht auch kann 
ich mich dieser Einzelheiten nur darum 
nicht mehr erinnern, weil der Charakter 
meiner Geliebten, ihr umfassendes Wissen, 
ihre eigenartige und doch milde Schön- 
heit und die überwältigende Beredsamkeit 
ihrer sanft tönenden Stimme — weil dies 
alles zusammen nur ganz allmählich und 
verstohlen den Weg in mein Herz nahm, 
zu allmählich, als dass ich daran gedacht 
hätte, mir jene äusseren Umstände einzu- 
prägen. 

Ich habe jedoch das Empfinden, als 
sei ich ihr zum erstenmal und hierauf 
wiederholt in einer altertümlichen Stadt 
am Rhein begegnet. Und eins weiss ich 
bestimmt: sie erzählte mir von ihrer Familie, 
die sehr alten Ursprungs war. — Ligeial 
Ligeia! — Trotzdem ich in Studien ver- 




21 



Digitized by Google 



graben bin, deren Art mehr noch als alles 
andere dazu angetan ist, mich von Welt 
und Menschen abzusondern, genügt dies 
eine süsse Wort „Ligeia", um vor meinen 
Augen ihr Bild erstehen zu lassen — das 
Bild von ihr, die nicht mehr ist. Und 
jetzt, während ich schreibe, überfällt mich 
urplötzlich das Bewusstsein, dass ich von 
ihr, meiner Freundin und Verlobten, der 
Gefährtin meiner Studien und dem Weib 
meines Herzens, den Namen ihrer Familie 
nie erfahren habe. War es ein schalk- 
hafter Streich, den Ligeia mir gespielt? 
War es ein Beweis meiner bedingungs- 
losen Hingabe, dass ich nie eine dahin- 
gehende Frage stellte? Oder war es 
meinerseits eine Laune, ein romantisches 
Opfer, das ich auf den Altar meiner leiden- 
schaftlichen Ergebenheit niedergelegt? 
Der blossen Tatsache sogar kann ich mich 
nur unklar erinnern — was Wunder, dass 
ich die Gründe dafür vollständig vergessen 
habe! Und wirklich, wenn jemals der 
romantische Geist der bleichen und nebel- 
22 



■ 



Digitized by Google 



beschwingten Ashtophet des götzengläu- 
bigen Ägyptens, wie die Sage meldet, 
über unglückliche Ehen geherrscht hat, so 
ist es gewiss, dass er meine Ehe stiftete 
und beherrschte. 

Immerhin hat mich wenigstens in einem 
Punkt meine Erinnerung nicht verlassen: 
die Persönlichkeit Ligeias steht mir 
heute noch klar vor Augen. Sie war von 
hoher, schlanker Gestalt, in ihren letzten 
Tagen sogar sehr hager. Vergebliches 
Bemühen wäre es, wenn ich eine Be- 
schreibung der Erhabenheit, der würde- 
vollen Gelassenheit ihres Wesens oder 
der unvergleichlichen Leichtigkeit und 
Elastizität ihres Schreitens versuchen wollte. 
Sie kam und ging wie ein Schatten. War 
sie in mein Arbeitszimmer gekommen, so 
bemerkte ich ihre Anwesenheit nicht eher, 
als bis ich den lieben Wohlklang ihrer 
sanften süssen Stimme vernahm oder ihre 
marmorweisse Hand auf meiner Schulter 
fühlte. Kein Weib auf Erden trug solche 

Schönheit im Antlitz wie siel Strahlend 

23 



schön war sie wie die Erscheinung eines 
Opiumtraumes, wie eine gottliche beseli- 
gende Vision — göttlicher noch als die 
Traumgebilde, die durch die schlafenden 
Seelen der Töchter von Delos wehen. 
Doch waren ihre Züge keineswegs von 
jener Regelmässigkeit, wie sie die klassi- 
schen Bildwerke des Heidentums aufweisen, 
und die man mit Unrecht so übertrieben 
bewundert. „Es gibt keine auserlesene 
Schönheit," sagt Bacon Lord Verulam da, 
wo er von allen Formen und Arten der 
Schönheit spricht, „ohne eine gewisse 
Seltsamkeit in der Proportion.' 4 Aber 
wenn ich auch sah, dass die Züge Li- 
geias nicht von klassischer Regelmässigkeit 
waren, wenn ich auch feststellte, dass ihre 
Schönheit in der Tat „auserlesen" war, 
und fühlte, dass viel „Seltsamkeit" in 
ihren Zügen lag, so habe ich doch ver- 
gebens versucht, dieser Unregelmässigkeit 
auf die Spur zu kommen und meine Fest- 
stellung des „Seltsamen" zu begründen. 

Ich prüfte die Kontur der hohen und 
24 



Digitized by Google 



bleichen Stirn — sie war fehlerlos. Wie 
kalt klingt doch dies Wort für eine so 
gottliche Majestät, für die wie reinstes 
Elfenbein schimmernde Haut, die gebiete- 
rische Breite und ruhevolle Harmonie 
dieser Stirn, die sanfte Erhöhung über den 
Schläfen, die eine üppige Fülle raben- 
schwarzer glänzender Locken umschmiegte 
— Locken, die das homerische Epitheton 
„hyazinthen" so wunderbar erfüllten! — 
Ich prüfte die feinen Linien der Nase: 
nirgend anders als auf althebräischen 
Medaillons hatte ich ebenso vollkommen 
schönes gesehen; nur dort hatte ich eine 
gleich wundervolle Zartheit und dieselbe 
kaum wahrnehmbare Neigung zu sanfter 
Krümmung dieselben harmonisch ge- 
schweiften Nasenflügel, die einen freien 
Geist verrieten, gefunden. — Ich betrachtete 
den süssen Mund. Hier feierten alle 
Himmelswonnen ihr triumphierendes Fest : 
dieser entzückende Schwung der kurzen 
Oberlippe, diese weiche wollüstige Ruhe 

der Unterlippe, diese tändelnden Grübchen, 

25 



Digitized by Google 



diese lockende Farbe, diese schimmernden 
Zähne, die jeden Strahl des heiligen Lichtes 
widerspiegelten, mit dem ihr heiteres und 
ruhevolles und gleichwohl frohlockendes 
Lächeln sie blendend schmückte. — Ich 
prüfte die Form des Kinnes und fand auch 
hier in seiner sanften Breite Majestät, Fülle 
und griechischen Geist — fand die Kontur, 
die der Gott Apoll dem Kleomenes, dem 
Sohn des Atheners, im Traume nur ent- 
hüllte. — Und dann vertiefte ich mich in 
Ligeias grosse Augen. 

Für Augen finden wir im fernen Alter- 
tum kein Vorbild. Es mochte sein, dass 
eben hier — in den Augen meiner Ge- 
liebten — das Geheimnis lag, von dem 
Lord Verulam spricht. Sie schienen mir 
weit grösser als sonst die Augen unserer 
Rasse. Sie waren üppiger als selbst die 
üppigsten Augen der Gazellen vom Stamme 
des Tales Nourjahad. Doch war es nur 
zu Zeiten — in Augenblicken tiefster Er- 
regung, dass diese „Seltsamkeit", von der 

ich vorhin sprach, deutlicher wahrnehmbar 

26 



Digitized 



wurde bei ihr. Und in solchen Augen- 
blicken war Ligeias Schönheit — vielleicht 
kam es auch nur meiner erglühten Phan- 
tasie so vor — die Schönheit von über- 
irdischen oder unirdischen Wesen, die 
Schönheit der sagenhaften Houri der 
Türken. Von strahlendstem Schwarz waren 
ihre Pupillen und waren tief beschattet 
von sehr langen jettschwarzen Wimpern. 
Die Brauen, deren Linien kaum merklich 
unregelmässig waren, hatten die gleiche 
Farbe. Die Seltsamkeit aber, die ich in 
den Augen fand, lag nicht in Form, Farbe 
oder Glanz, sie muss wohl in ihrem Aus- 
druck gelegen haben. Ach, bedeutungs- 
loses Wort! Leeres Wort, hinter dessen 
blossem Klang wir uns mit unserer Un- 
kenntnis alles Geistigen verschanzen! 

Der Ausdruck von Ligeias Augen! 
Oh, wie viele Stunden habe ich ihm nach- 
gesonnen 1 Wie habe ich eine ganze Mitt- 
sommernacht lang gerungen, ihn zu er- 
gründen! Was war es, dies Etwas, das 

tief innen in den Pupillen meiner Geliebten 

27 



verborgen lag, das unergründlicher war als 
die Quelle des Demokritos? Was war es? 
Ich war wie besessen von dem Verlangen, 
es zu entdecken. Diese Augen! Diese 
grossen, diese schimmernden, diese gött- 
lichen Augen! Sie wurden für mich die 
Zwillingssterne der Leda, und ich war ihr 
andächtigster Astrologe. 

Es gibt in der Psychologie viele un- 
lösbare Rätsel, das unheimlichste aber und 
aufregendste von allen erschien mir stets 
die Tatsache — die übrigens von den 
Psychologen kaum je erwähnt worden ist 
— dass wir oft, wenn wir etwas längst 
Vergessenes wieder in unser Gedächtnis 
zurückrufen wollen, bis auf die Schwelle 
des Erinnerns gelangen, ohne doch das, 
was sozusagen schon vor uns steht, wirk- 
lich festhalten zu können. Und wie oft, 
wenn ich den Augen Ligeias nachsann, 
fühlte ich mich der vollen Aufklärung über 
die Bedeutung ihres Ausdrucks ganz nahe : 
ich fühlte, sie war da — gleich, gleich 

würde ich sie erfassen — und da ent- 

28 



Digitized by Google 



schwebte sie wieder, noch ehe ich sie 
hatte festhalten können. Und — sonder- 
bares, oh sonderbarstes Mysterium! — ich 
fand in den gewöhnlichsten Dingen von 
der Welt eine Reihe von Analogien zu 
diesem Ausdruck. Ich will damit sagen: 
nachdem Ligeias eigenartige Schönheit mir 
bewusst geworden war und nun im Altar- 
schrein meines Herzens ruhte, lösten viele 
Erscheinungen der realen Welt dasselbe 
Empfinden in mir aus wie der Blick aus 
Ligeias grossen leuchtenden Augen. Trotz- 
dem aber wollte es mir nicht gelingen, 
dies Empfinden zu ergründen oder zu zer- 
gliedern; auch überkam es mich nicht 
stets in der gleichen Stärke. Um mich 
näher zu erklären: jenes Gefühl erfüllte 
mich zum Beispiel beim Anblick einer 
schnell emporschiessenden Weinrebe, bei 
der Betrachtung eines Nachtfalters, einer 
Schmetterlingspuppe, eines eilig strömen- 
den Wasserlaufes. Ich habe es im Ozean 
gefunden und beim Fallen eines Meteors, 

sogar im Blick ungewöhnlich alter Leute. 

29 



Und es gibt am Firmament ein paar Sterne, 
vor allem ein veränderliches Doppelgestirn 
sechster Grösse nahe beim grossen Stern 
der Leier, bei deren Betrachtung durch 
das Teleskop ich mich des nämlichen Ge- 
fühls nicht erwehren konnte. Gewisse 
Töne von Saiteninstrumenten und be- 
stimmte Stellen in Büchern durchschauerten 
mich ähnlich so. Unter zahllosen anderen 
Beispielen erinnere ich mich besonders 
eines Ausspruchs, den ich bei Joseph Glan- 
vill fand und der — vielleicht nur wegen 
seiner Wunderlichkeit — immer wieder 
diese Stimmung in mir erweckte: „Und 
es liegt darin der Wille, der nicht stirbt. 
Wer kennt die Geheimnisse des Willens 
und seine Gewalt? Denn Gott ist nichts 
als ein grosser Wille, der mit der ihm 
eigenen Kraft alle Dinge durchdringt. Der 
Mensch überliefert sich den Engeln oder 
dem Nichts einzig durch die Schwäche 
seines schlaffen Willens." 

Eifriges Nachdenken durch lange Jahre 

hindurch hat mir nun wirklich gewisse 
30 



Digitized by Google 



leise Beziehungen gezeigt zwischen diesem 
Ausspruch des englischen Philosophen und 
einem Teil von Ligeias Wesen. Es lebte 
in ihr ein unerhört starker Wille, der 
während unseres langen Zusammenlebens 
nie spontan zutage trat, sondern sich 
nur in einer unglaublichen Anspannung 
des Denkens, Tuns und Redens zu er- 
kennen gab. Von allen Frauen, die ich 
je gekannt, war sie, die äusserlich ruhe- 
volle, die stets gelassen milde Ligeia, wie 
keine andere die Beute der tobenden Geier 
grausamster Leidenschaftlichkeit. Und diese 
Leidenschaftlichkeit enthüllte sich mir nur 
im wundervollen Strahlen ihrer Augen, 
die mich gleichzeitig entzückten und ent- 
setzten, in der fast zauberhaften Melodie, 
Weichheit, Klarheit und Würde ihrer 
sonoren Stimme und in der flammen- 
den Energie, die in ihren seltsam ge- 
wählten Worten lag und die im Kon- 
trast mit der Ruhe, mit der diese ge- 
sprochen wurden, doppelt wirkungs- 
voll war. 

31 



Ich erwähnte schon das umfassende 
Wissen Ligeias: ihre Kenntnisse waren 
unermesslich — für eine Frau ganz uner- 
hört. In allen klassischen Sprachen war 
sie Meister, und auch in den modernen 
Sprachen des Kontinents habe ich ihr, so- 
weit ich selbst mit diesen Sprachen ver- 
traut war, nie einen Fehler nachweisen 
können. Und gab es denn überhaupt irgend 
ein Thema aus den Gebieten der höchsten 
und schwierigsten Wissenschaften, in dem 
ich Ligeia jemals auf Unkenntnis oder 
Irrtum ertappt hätte? Wie sonderbar, wie 
schauerlich! Diese eine Seite nur vom 
Wesen meiner Frau ist heute noch meinem 
Gedächtnis erinnerlich. Ich sagte, an 
Wissen überragte sie weit alle anderen 
Frauen — doch wo lebt der Mann, der die 
philosophische, physikalische und mathe- 
matische Wissenschaft in ihrer ganzen un- 
ermesslichen Ausdehnung so verständnis- 
voll studiert hätte ? 1 Damals sah ich noch 
nicht, was ich jetzt klar erkenne, dass dies 

Wissen Ligeias unglaublich, dass es gigan- 

32 



Digitized by 



tisch war. Doch war ich mir ihrer unend- 
lichen Überlegenheit genügend bewusst, 
um mich mit kindlichem Vertrauen ihrer 
Führung durch die chaotische Welt meta- 
physischer Probleme, mit denen ich mich 
während der ersten Jahre unserer Ehe 
eifrig beschäftigte, zu überlassen. Mit 
welch ungeheurem Triumph — mit welch 
lebhaftem Entzücken — mit welch himm- 
lischer Hoffnung konnte ich, wenn sie in 
diesem so unbekannten, so wenig gepfleg- 
ten Studium sich helfend zu mir neigte, 
fühlen, wie vor mir der herrlichste Aus- 
blick sich öffnete und ein in diese glän- 
zenden Höhen führender langer köstlicher 
und noch ganz unbetretener Pfad sichtbar 
wurde, auf dem ich wohl endlich empor 
ans Ziel einer Weisheit gelangen durfte, 
die zu göttlich erhaben ist, um nicht ver- 
boten zu sein! 

Wie heftig musste da der Gram gewesen 
sein, mit dem ich einige Jahre später meine 
so festgegründeten Hoffnungen Flügel 
nehmen und sich davonschwingen sah! 

Poe, Novellen von der Liebe 3 33 



Ohne Ligeia war ich nichts als ein durch 
Dunkel tastendes Kind. Nur ihre Gegen- 
wart, ihr Erklären brachte helles Licht in 
die vielen Mysterien des Transcendentalen, 
in die wir eingedrungen waren. Wenn 
den golden züngelnden Schriftzeichen der 
leuchtende Glanz ihrer Augen fehlte, wurden 
sie matter als stumpfes Blei. Und seltener 
und seltener fiel nun der Strahl dieser 
Augen auf die Blätter, über deren Inhalt 
ich brütete. Ligeia wurde krank. Die 
herrlichen Augen strahlten in über- 
natürlichen Flammen, die bleichen Hände 
wurden wachsfarben wie bei einem Toten, 
und die blauen Adern auf der hohen Stirn 
hoben sich und pochten ungestüm bei der 
geringsten Aufregung. Ich sah, dass sie 
sterben musste — und mein Geist rang 
verzweifelt mit dem grimmen Azrael. 

Noch angestrengter als ich, rang — 
zu meinem Erstaunen — das leidenschaft- 
liche Weib. So manches in ihrer ernsten 
Natur hatte in mir den Glauben gezeitigt, 

dass für sie der Tod keine Schrecken 
34 



Digitized 



haben werde — doch dem war nicht so. 
Es gibt keine Worte, die auch nur an- 
nähernd die Wildheit ihres Widerstandes 
beschreiben könnten, den sie dem Schatten 
Tod entgegensetzte. Ich stöhnte gequält 
bei diesem mitleiderregenden Anblick. 
Ich wollte besänftigen, aber gegenüber 
der unheimlichen Gewalt, mit der sie nur 
leben — nur leben — nichts als leben 
wollte, schien Trost und Zuspruch unsäg- 
lich albern. Aber trotzdem sich ihr feuriger 
Geist so wild gebärdete, bewahrte sie die 
Hoheit ihres äusseren Wesens bis zum 
letzten Augenblick, dem Augenblick des 
Todeskampfes. Ihre Stimme wurde noch 
sanfter — wurde noch tiefer — dennoch 
möchte ich jetzt bei dem grausigen Sinn 
der Worte, die sie in aller Ruhe sprach, 
nicht nachdenkend verweilen. Mein Geist, 
der diesen überirdischen Tönen hingerissen 
lauschte — diesem Hoffen und Ringen, 
dieser gewaltigen Sehnsucht, wie nie zuvor 
ein Sterblicher sie fühlte — taumelte und 

verwirrte sich. 

3* 35 



Dass sie mich liebte, daran hatte ich 
nie gezweifelt, auch konnte ich mir wohl 
sagen, dass die Liebe eines solchen Her- 
zens nicht mit gewöhnlichem Mass zu 
messen sei. Aber erst in ihrem Sterben 
erhielt ich den vollen Eindruck der wahren 
Kraft ihrer Liebe. Lange Stunden hielt 
sie meine Hand und schüttete vor mir aus 
das Uberfluten eines Herzens, dessen mehr 
als leidenschaftliche Ergebenheit an An- 
betung grenzte. Wie hatte ich es ver- 
dient, mit solchen Bekenntnissen gesegnet 
zu werden? Und wie hatte ich es ver- 
dient, verdammt zu werden durch den Ver- 
lust der Geliebten — in der nämlichen 
Stunde, da sie mir diese Bekenntnisse ge- 
macht? Doch ich kann es nicht ertragen, 
von diesen Dingen zu sprechen. Nur 
eines lasst mich sagen: ich erkannte in 
Ligeias mehr als weiblicher Hingabe an 
eine Liebe, die ich, ach, gar so wenig ver- 
diente, den wahren Grund für ihr so tiefes, 
so wildes Begehren nach dem Leben — 
dem Leben, das jetzt so eilend entfloh. 
36 



Digitized by Google 



Für dies wilde Sehnen, für diese Gier und 
Gewalt des Verlangens nach Leben — 
nur nach Leben — finde ich keine Aus- 
drucksmöglichkeit; keine Worte gibt es, 
die es sagen könnten. 

In der Nacht ihres Scheidens Hess sie 
mich nicht von ihrer Seite. In tiefster 
Mitternachtstunde bat sie mich, ihr einige 
Verse herzusagen, die sie selbst wenige 
Tage vorher verfasst hatte. Ich gehorchte. 
Hier sind sie: 

O schaut, es ist festliche Nacht 
Inmitten einsam letzter Tage! 
Ein Engelchor, schluchzend in Flügelpracht 
Und Schleierflor sieht zage 
Im Schauspielhaus ein Schauspiel an 
Von Hoffnung, Angst und Plage, 
Derweil das Orchester dann und wann 
Musik haucht: Sphärenklage. 

Schauspieler, Gottes Ebenbilder, 
Murmeln und brummein dumpf 
Und hasten planlos, immer wilder, 
Sind Puppen nur und folgen stumpf 
Gewaltigen düsteren Dingen, 
Die umziehn ohne Form und Rumpf 
Und dunkles Weh aus Kondorschwingen 
Schlagen voll Triumph. 

37 



Dies närrische Drama! — O fürwahr, 
Nie wird's vergessen werden, 
Nie sein Phantom, verfolgt für immerdar 
Von wilder Rotte rasenden Gebärden, 
Verfolgt umsonst — zum alten Fleck 
Kehrt stets der Kreislauf neu zurück — , 
Und nie die Tollheit, die Sünde, der Schreck 
Und das Grausen: die Seele vom Stück. 

Doch sieh, in die mimende Runde 
Drangt schleichend ein blutrot Ding 
Hervor aus ödem Hintergrunde 
Der Bühne — ein blutrot Ding. 
Es windet sichl — windet sich in die Bahn 
Der Mimen, die Angst schon tötet, 
Die Engel schluchzen, da Wurmes Zahn 
In Menschenblut sich rötet. 

Aus — aus sind die Lichter — alle aus ! 
Vor jede zuckende Gestalt 
Der Vorhang fallt mit Wetterbraus, 
Ein Leichentuch finster und kalt 
Die Engel schlagen die Schleier zurück, 
Sind erbleicht und entschweben in Sturm, 
„Mensch" nennen sie das tragische Stück, 
Seinen Helden „Eroberer Wurm". 

„O Gott!" schrie Ligeia, sprang vom 

Bett auf und reckte die Arme empor. 

„Gott! Gott! O göttlicher Vater! Muss 

das immer unabänderlich so sein? Soll 
38 



Digitized by Google 



dieser Sieger nie, niemals besiegt werden ? 
Sind wir nicht Teil und Teile von dir? 
Wer — wer kennt die Geheimnisse des 
Willens und seine Gewalt? Der Mensch 
überliefert sich den Engeln oder dem 
Nichts einzig durch die Schwäche seines 
schlaffen Willens." 

Und nun, wie von innerer Bewegung 
überwältigt, Hess sie die weissen Arme 
sinken und kehrte feierlich auf ihr Sterbe- 
bett zurück. Und als sie die letzten Seufzer 
hauchte, kam gleichzeitig ein leises Mur- 
meln von ihren Lippen. Ich legte das 
Ohr an ihren Mund und erkannte wieder 
die Schlussworte des Glanvillschen Aus- 
spruchs: „Der Mensch überliefert, sich 
den Engeln oder dem Nichts einzig durch 
die Schwäche seines schlaffen Willens." 

Sie starb. Und ich, den der Gram 
völlig zermalmt hatte, konnte nicht länger 
die einsame Verlassenheit meiner Behau- 
sung in der düsteren und verfallenen Stadt 
am Rhein ertragen. Ich hatte keinen Mangel 

an dem, was die Welt „Besitz" nennt; 

39 



Digitized by Google 



Ligeia hatte mir viel mehr, o sehr viel 
mehr gebracht, als für gewöhnlich einem 
Sterblichen zufällt. So kam es, dass ich 
nach einigen Monaten planlosen und er- 
müdenden Umherwanderns in einer der 
wildesten und abgelegensten Gegenden 
des schönen Englands eine alte Abtei, 
deren Namen ich nicht nennen möchte, 
käuflich erwarb und instand setzte. Die 
düstere und traurige Majestät des Gebäu- 
des, die unglaubliche Verwilderung der 
Ländereien, die vielen melancholischen und 
altehrwürdigen Erinnerungen, die sich an 
beide knüpften, hatten viel gemein mit 
dem Gefühl äusserster Verlassenheit, das 
mich in jenen entlegenen und unwirtlichen 
Teil des Landes hingetrieben hatte. An 
dem Abteigebäude selbst mit seinem ver- 
witterten, unter blühendem Grün verbor- 
genen Mauerwerk nahm ich keine Ver- 
änderungen vor, dagegen widmete ich mich 
mit kindischem Eigensinn und wohl auch 
in der schwachen Hoffnung, meinen Kum- 
mer dadurch zu zerstreuen, der Ausstat- 
40 



Digitized by Google 



tung der Innenräume und entfaltete hier 
eine ganz ungewöhnliche Pracht. Ich hatte 
schon als Kind Geschmack an solchen 
Torheiten gefunden, und jetzt, da mich 
mein Kummer wieder hilflos gemacht hatte, 
stellte sich jener kindliche Trieb von neuem 
ein. Ach, ich fühle, wie viel Spuren von 
Geistesverwirrung sogar in den prunk- 
haften und phantastischen Draperien, in 
den feierlichen ägyptischen Schnitzereien, 
in den grotesken Möbeln, in den tollen 
Mustern der goldgewirkten Teppiche zu 
finden waren. Ich lag, ein gefesselter 
Sklave, in den Banden des Opiums, 
und meine Handlungen und Anordnungen 
hatten den Charakter meiner Träume an- 
genommen. Doch ich will nicht bei der 
Beschreibung dieser Albernheiten ver- 
weilen, lasst mich nur von jenem einen 
verfluchten Gemach sprechen, in das 
ich in einem Anfall von geistiger Um- 
nachtung als mein angetrautes Weib — 
als die Nachfolgerin der unvergessenen 

Ligeia — führte: die blondhaarige und 

41 



Digitized by Google 



blauäugige Lady Rowena Trevanion of 
Tremaine. 

Selbst die unbedeutendste Einzelheit 
in Architektur und Ausstattung dieses 
Brautgemachs steht mir noch jetzt deutlich 
vor Augen. Was dachten sich nur die 
goldgierigen hochmütigen Angehörigen 
meiner Braut, als sie einem so geliebten 
Mädchen, einer so geliebten Tochter ge- 
statteten, die Schwelle eines derart ge- 
schmückten Brautgemachs zu überschreiten. 

Trotzdem leider so manche tief bedeut- 
same Dinge meinem Gedächtnis entschwun- 
den sind, so sind mir doch, wie ich schon 
sagte, die geringsten Einzelheiten dieses 
Zimmers gegenwärtig; ich erinnere mich 
ihrer, obgleich in diesem phantastischen 
Prunk kein System, kein Halt war, daran 
mein Erinnern sich hätte klammern können. 
Das Zimmer lag in einem hohen Turm der 
burgartig gebauten Abtei; es war ein 
fünfeckiger Raum von beträchtlicher Grösse. 
Die ganze Südseite des Fünfecks nahm 

das einzige Fenster, eine riesige Scheibe 
42 



Digitized by Google 



ungebrochenen venezianischen Glases, ein, 
das von bleifarbener Tönung war, sodass 
Sonnenlicht wie Mondglanz über die 
Gegenstände des Zimmers nur einen ge- 
spensterhaften Schein gössen. Der obere 
Teil dieser ungeheuren Fensterscheibe 
wurde durch das Rankenwerk eines ur- 
alten Weinstocks, der an den massigen 
Mauern des Turmes emporgeklettert war, 
dunkel beschattet. Das düstere Eichen- 
holz der ausserordentlich hoch gewölbten 
Zimmerdecke war mit Schnitzereien in 
halb gotischem halb druidenhaftem Stil 
überladen. Genau aus dem Mittelpunkte 
dieser melancholischen Wölbung hing an 
einer einzigen goldenen langgegliederten 
Kette ein mächtiger goldener Kronleuchter 
in Form eines Weihrauchbeckens, mit sara- 
zenischem Bildwerk geschmückt. Dieser 
Kronleuchter hatte rundum viele Offnun- 
gen, aus denen wie lebhafte Schlangen fort- 
während die buntesten Flammen züngelten. 

Ein paar Ottomanen und goldene orien- 
talische Kandelaber waren im Raum verteilt. 

43 



Und da war auch das Lager, das Braut- 
bett! Es war nach einem indischen Mo- 
dell gearbeitet; es war niedrig und aus 
massivem Ebenholz geschnitzt und von 
einem Baldachin, der einem Bahrtuch glich, 
überdacht. In jeder Ecke des Zimmers 
stand aufrecht ein riesiger schwarzgrani- 
tener Sarkophag, den unsterbliche Skulp- 
turen schmückten. Diese Sarkophage 
stammten aus den Königsgräbern vonLuxor. 
Aber noch mehr als in allem anderen 
waltete meine unheimliche Phantasie in 
der Wandverkleidung des Gemachs. Die 
unverhältnismässig hohen Wände waren 
von der Decke bis zum Fussboden mit 
faltenreichem schwerem Goldstoff ver- 
hangen — demselben Stoff, der als Fuss- 
und Ottomanenteppich, als Bettdecke und 
Baldachin, sowie als prunkhafter Uberhang 
der einen Teil des Fensters überschatten- 
den Vorhänge Verwendung gefunden hatte. 
Dieser Goldstoff trug in unregelmässigen 
Zwischenräumen arabeskenartige Figuren 

von einem Fuss Durchmesser, die aus tief- 
44 



Digitized by Google 



schwarzem Stoff gearbeitet waren. Aber 

* 

nur von einer einzigen Stelle aus betrachtet 
schienen diese Figuren nichts als Arabesken 
zu sein. Infolge eines heute allgemein 
bekannten Verfahrens, das man jedoch 
schon im frühen Altertum anwendete, boten 
sie dem Beschauer von jeder Seite ein 
anderes Bild. Wenn man das Zimmer 
betrat, erschienen sie einfach nur wie 
Monstrositäten, je näher man aber an sie 
herantrat, desto bestimmtere Bilder nahmen 
sie an, und Schritt für Schritt, je nach 
dem vom Beschauer gewählten Standpunkt, 
sah man sich von einer wechselnden Pro- 
zession gespensterhafter Wesen umringt, 
wie etwa der Aberglaube der Normannen 
sie ersonnen hat oder ein Mönch in ver- 
brecherischem Traum sie erschauen mag. 
Der gespenstische Eindruck wurde durch 
einen auf künstlichem Wege hinter die 
Draperien geführten, ununterbrochenen 
Luftzug, der dem Ganzen eine unbehag- 
liche und abscheuliche Lebendigkeit ver- 
lieh, noch erheblich erhöht. 

4S 



Digitized by Google 



In solchem Raum also, in solchem Braut- 
gemach, verlebte ich mit Lady Rowena 
of Tremaine die gottlosen Stunden unseres 
Honigmonds — ohne viel Aufregung. Dass 
mein Weib vor meiner Ubellaunigkeit 
Furcht hatte, dass sie mir aus dem Wege 
ging und mir nur wenig Liebe entgegen- 
brachte, konnte mir nicht entgehen, aber 
gerade dies freute mich mehr, als wenn 
es anders gewesen wäre. Ich verabscheute 
sie, ich hasste sie — mit einer Inbrunst, 
die geradezu teuflisch war. Mein Erinnern 
floh — oh mit welch tiefem Leidgefühl 

— zu Ligeia zurück, der Geliebten, der 
Hehren, der Schönen, der Begrabenen! 
Ich schwelgte im Gedenken ihrer Reinheit 
und Weisheit, ihres erhabenen, ihres himm- 
lischen Wesens, ihrer leidenschaftlichen, 
ihrer anbetenden Liebe. Jetzt lohte in 
meiner Seele noch wildere, noch heissere 
Flamme, als sie in ihr, in Ligeia, gebrannt 
hatte. In den Ekstasen meiner Opiumträume 

— ich lag fast immer im Bann dieses 

Giftes — rief ich wieder und wieder ihren 
46 



Digitized by Google 



Namen durch das Schweigen der Nacht 
oder bei Tag durch die schattigen Schluch- 
ten der Landschaft. Es war, als ob das 
wilde Verlangen, die tiefernste Leiden- 
schaft, das verzehrende Feuer meiner Sehn- 
sucht nach der Dahingegangenen sie auf 
den irdischen Pfad zurückzuführen ver- 
suchte, den sie — ach, konnte es denn 
für ewig sein? — verlassen hatte. 

Gegen Beginn des zweiten Monats 
unserer Ehe wurde Lady Rowena plötzlich 
von einer Krankheit befallen, von der sie 
nur langsam genas. Zehrendes Fieber 
machte ihre Nächte unruhig, und in ihrem 
aufgeregten Halbschlummer redete sie von 
gespenstischen Lauten und Schatten, die 
im Turmzimmer und in seiner nächsten 
Umgebung sich vernehmen, sich sehen 
Hessen. Ich hielt diese Äusserungen natür- 
lich für Einbildungen einer kranken Phan- 
tasie, die allerdings durch das unheimliche 
Zimmer geweckt sein konnte. Sie erholte 
sich schliesslich wieder — und genas end- 
lich völlig. Doch nur für kurze Zeit; 

47 



denn bald warf ein zweiter heftigerer An- 
fall sie von neuem auf das Krankenlager. 
Und von diesem Rückfall erholte sie, die 
ohnedies von zarter Gesundheit war, sich 
nie mehr vollständig. Die Krankheits- 
erscheinungen, die diesem zweiten Anfall 
folgten, waren sehr beunruhigend und 
spotteten aller Wissenschaft und allen Be- 
mühungen der Ärzte. Mit dem An- 
wachsen ihres chronischen Leidens, das 
ersichtlich schon tiefer wurzelte, als dass 
man ihm mit Medikamenten erfolgreich 
hätte beikommen können, bemerkte ich 
auch eine Steigerung ihrer nervösen Reiz- 
barkeit und ihres schreckhaften Entsetzens 
bei ganz nichtigen Anlässen. Sie sprach 
wieder — und häufiger und hartnäckiger 
jetzt — von den Lauten, den ganz 
leisen Lauten, und von den seltsamen 
Schatten, die sich an den Wänden regten. 

In einer Nacht, es war gegen Ende 
September, wies sie meine Aufmerksamkeit 
mit mehr als gewöhnlichem Nachdruck 

auf diese peinigenden Ängste hin. Sie 
48 



Digitized by Google 



war soeben aus unruhigem Schlummer er- 
wacht, und ich hatte — halb in Besorgnis 
und halb in Entsetzen — das Arbeiten 
der Muskeln in ihrem abgemagerten Ge- 
sicht beobachtet. Ich sass seitwärts von 
ihrem Ebenholzbett auf einer der indischen 
Ottomanen. Sie richtete sich halb auf und 
sprach in eindringlichem leisem Flüstern 
von Lauten, die sie jetzt vernahm, die ich 
aber nicht hören konnte — von Bewe- 
gungen, die sie jetzt sah, die ich aber nicht 
wahrnehmen konnte. Der Wind wehte 
hinter der Wandverkleidung in hastigen 
Zügen, und ich hatte die Absicht, ihr zu 
zeigen (was ich allerdings, wie ich be- 
kenne, selbst nicht ganz glauben konnte), 
dass dieses kaum vernehmbare Atmen, dass 
diese ganz geringen Verschiebungen der 
Gestalten an den Wänden nur die natür- 
liche Folge des Luftzuges seien. Doch ein 
tödliches Erbleichen ihrer Wangen Hess 
mich einsehen, dass meine Bemühungen, 
sie zu beruhigen, fruchtlos sein würden. 
Sie schien ohnmächtig zu werden, und 

Poe, Novellen von der Liebe 4 49 



keiner der Dienstleute war in Rufnähe. 
Da erinnerte ich mich einer Flasche leichten 
Weines, den die Arzte ihr verordnet hatten, 
und eilte quer durchs Zimmer, um sie zu 
holen. Doch als ich unter den Flammen 
des Weihrauchbeckens angekommen war, 
erregten zwei sonderbare Umstände meine 
Aufmerksamkeit Ich fühlte, dass ein un- 
sichtbares, doch greifbares Etwas leicht 
an mir vorbeistreifte, und ich sah, dass auf 
dem goldenen Teppich, genau in der Mitte 
des reichen Glanzes, den die Ampel da- 
rauf niederwarf, ein Schatten — ein schwa- 
cher, undeutlicher, geisterhafter Schatten 
lag — : so zart war er, dass man ihn für 
den Schatten eines Schattens hätte halten 
können. Aber ich war infolge einer un- 
gewöhnlich grossen Dosis Opium sehr 
aufgeregt und achtete dieser Erscheinungen 
kaum, erwähnte auch gegen Rowena nichts 
von ihnen. 

Ich fand den Wein, schritt quer durchs 
Zimmer ans Bett zurück, füllte ein Kelch- 
glas voll und brachte es an die Lippen 
50 



Digitized by Google 



der nahezu ohnmächtigen Kranken. Sie 
hatte sich ein wenig erholt und ergriff 
selbst das Glas ; ich sank auf die nächste 
Ottomane und sah gespannt zu meinem 
Weib hinüber. Da geschah es, dass ich 
deutlich einen leisen Schritt über den 
Teppich zum Lager hinschreiten hörte; 
und eine Sekunde später, als Rowena den 
Wein an die Lippen führte, sah ich — 
oder träumte, dass ich es sah — wie aus 
einer unsichtbaren Quelle in der Atmo- 
sphäre des Zimmers kommend, drei oder 
vier grosse Tropfen einer strahlenden, 
rubinroten Flüssigkeit in den Kelch fallen. 
Ich sah dies — Rowena sah es nicht. 
Sie trank den Wein ohne Zögern, und ich 
vermied es, ihr von einem Umstand zu 
sprechen, der — wie ich mir nach reif- 
licher Überlegung sagte — nichts anderes 
gewesen sein konnte als eine Erscheinung 
einer lebhaften Einbildungskraft — die 
durch die Äusserungen der Leidenden, 
durch das Opium und durch die späte 
Nachtstunde krankhaft erregt sein musste. 
4* 51 



Digitized by Google 



Dennoch konnte ich mir nicht ver- 
hehlen, dass die Krankheit meiner Frau, 
nachdem diese den Becher geleert hatte, 
eine rapide Wendung zum Schlimmsten 
nahm. Und in der dritten Nacht darauf 
kleideten die Dienerinnen Lady Rowena 
in das Leichengewand — und in der vierten 
Nacht sass ich allein bei ihrem Leichnam 
in dem seltsamen Gemach, in das sie als 
meine Braut eingetreten war. 

Wilde Visionen, eine Folge des Opium- 
genusses, umschwebten mich wie Schatten. 
Meine Blicke musterten unruhig die in den 
Ecken des Zimmers aufgestellten Sarko- 
phage, die veränderlichen Gestalten des 
Wandteppichs und die züngelnden, bunt- 
farbigen Flammen des Weihrauchbeckens 
mir zu Häupten. Ich erinnerte mich der 
sonderbaren Erscheinungen jener Nacht, 
die über Rowenas Leben entschieden hatte, 
und blickte unwillkürlich auf die vom 
Ampellicht bestrahlte Stelle des Teppichs, 
wo ich damals den schwachen Schein eines 

Schattens bemerkt hatte. Er war jedoch 

52 



Digitized by Google 



nicht mehr zu sehen, und ich wandte mich 
aufatmend ab und heftete meine Blicke 
auf das bleiche und starre Antlitz der 
Aufgebahrten. Da überfielen mich tausend 
liebe Erinnerungen an Ligeia, und über 
mein Herz stürzte mit der Wucht eines 
Giessbaches das ganze unsagbare Weh, 
mit dem ich sie im Leichentuch gesehen 
hatte. Die Stunden gingen, und immer 
noch sass ich und starrte Rowena an, das 
Herz geschwellt vom Gedenken an die 
eine Einzige, die himmlisch Geliebte. 

Es mochte gegen Mitternacht sein - 
vielleicht etwas früher oder später, ich 
hatte der Zeit nicht geachtet — als ein 
leiser, zarter, aber deutlich wahrnehmbarer 
Seufzer mich aus meinen Träumen auf- 
schreckte. Ich fühlte, dass er vom Eben- 
holzbett her kam — vom Totenbett. 
Ich lauschte in angstvollem abergläubischem 
Entsetzen — aber der Laut wiederholte 
sich nicht. Ich strengte meine Augen an, 
um irgend eine Bewegung des entseelten 

Körpers wahrzunehmen, nicht die mindeste 

53 



Digitized by Google 



Regung war zu entdecken. Dennoch konnte 
ich mich nicht getäuscht haben. Ich hatte 
das Geräusch, wie schwach es auch ge- 
wesen sein mochte, tatsächlich vernommen, 
und meine Seele war erwacht und lauschte. 
Ich heftete meine Augen durchdringend 
und mit aller Willenskonzentration auf den 
Totenleib. Viele Minuten vergingen, ehe 
sich auch nur das geringste ereignete, das 
Licht in dies Geheimnis bringen konnte. 
Endlich sah ich ganz deutlich, dass ein 
leiser, ein ganz schwacher und kaum wahr- 
nehmbarer Hauch sowohl die Wangen 
wie auch die eingesunkenen feinen Adern 
der Augenlider gerötet hatte« Ein namen- 
loses Grausen, eine wahnsinnige Furcht, 
für die es keine Worte gibt, Hess mich 
auf meinem Sitz zu Stein erstarren und 
lähmte das Pulsen meines Herzens. Und 
doch gab mir schliesslich ein gewisses 
Pflichtgefühl meine Selbstbeherrschung 
zurück. Ich konnte nicht länger daran 
zweifeln, dass wir in unserm Vorgehen 

allzu voreilig gewesen waren, ich konnte 
54 



Digitized by Google 



nicht länger daran zweifeln — dass Ro- 
wena lebte. Man musste sofort Wieder- 
belebungsversuche anstellen. Doch der 
Turm lag ganz abseits von den anderen 
Gebäuden, in denen die Dienerschaft 
untergebracht war — keiner der Leute 
befand sich in Hörweite — hätte ich sie 
zu meiner Hilfe herbeiholen wollen, so 
hätte ich das Zimmer auf viele Minuten 
verlassen müssen — das aber durfte ich 
nicht wagen. Ich bemühte mich daher 
allein, die Seele, die noch nicht ganz ent- 
flohen schien, wieder ins Leben zu rufen. 
Aber schon nach kurzer Zeit war ersicht- 
lich ein Rückfall eingetreten; die Farbe 
verschwand von Wangen und Augenlidern, 
die nun bleicher noch als Marmor er- 
schienen. Die Lippen schrumpften ein 
und kniffen sich zusammen und trugen 
den grässlichen Ausdruck des Todes; 
eine widerliche klebrige Kälte breitete 
sich schnell über den ganzen Leib, der 
überdies vollständig steif und starr wurde. 

Schaudernd sank ich auf das Ruhebett 

55 



zurück, von dem ich in so fassungslosem 
Schreck aufgescheucht worden war, und gab 
mich von neuem leidenschaftlichen wachen 
Visionen hin, in denen ich Ligeia vor 
mir sah. 

So war eine Stunde verstrichen, als 
ich — konnte es möglich sein? — ein 
zweites Mal von der Gegend des Bettes 
her einen schwachen Laut vernahm. Ich 
lauschte in höchstem Grauen. Der Ton 
wiederholte sich — es war ein Seufzer. 
Ich eilte zur Leiche hin und sah — sah 
deutlich — dass die Lippen zitterten. 
Eine Minute später öffneten sie sich und 
legten eine Reihe perlenschöner Zähne 
bloss. Zu der tiefen Furcht, die mich 
bis jetzt gebannt hielt, gesellte sich nun 
auch Bestürzung. Ich fühlte, wie es dunkel 
wurde vor meinen Augen, wie meine Ge- 
danken wanderten, und nur durch ganz 
gewaltige Anstrengung gelang es mir, 
mich für die Aufgabe, auf die mich die 
Pflicht nun wiederum hinwies, zu stählen. 
Sowohl auf der Stirn wie auf Wangen 
56 



Digitized by Google 



und Hals war jetzt ein sanftes Glühen zu 
bemerken, eine fühlbare Wärme durch- 
drang den ganzen Körper, am Herzen 
war sogar ein leiser Pulsschlag zu spüren. 
Die Tote lebte, und mit doppeltem Eifer 
unterzog ich mich den Wiederbelebungs- 
versuchen. Ich rieb und berührte die 
Schläfen und die Hände und wendete 
alles an, was Erfahrung und eine gute 
Belesenheit in medizinischen Dingen er- 
denken konnte. Doch vergeblich. Plötz- 
lich verschwand die Farbe, der Pulsschlag 
hörte auf, die Lippen nahmen wieder den 
Ausdruck des Todes an, und einen Augen- 
blick danach hatte der Körper die frostige 
Eiseskälte, den bleiernen Farbton, die 
vollkommene Starre, die eingesunkenen 
Formen und all die widerlichen Eigen- 
schaften dessen, der schon seit vielen Tagen 
ein Bewohner der Grabes gewesen war. 

Und wieder sank ich in Träume von 
Ligeia — und wieder — was Wunder, 
dass ich beim Schreiben jetzt noch schau- 
dere — wieder drang vom Ebenholzbett 

57 



her ein leiser Seufzer an mein Ohr. Aber 
warum soll ich die unaussprechlichen 
Schrecken jener Nacht in allen Einzel- 
heiten schildern? Warum soll ich dar- 
über nachsinnen, wie ich es schildern 
sollte, dass bis zur Morgendämmerung dies 
fürchterliche Drama des Wiederbelebens 
und des Wiederabsterbens sich fortsetzte ; 
wie jeder schreckliche Rückfall einen 
tieferen unlöslicheren Tod bedeutete; wie 
jede Agonie wie ein Ringen mit einem 
unsichtbaren Feind erschien, und wie jeder 
Kampf — ich weiss nicht was für eine gräss- 
liche Veränderung in der Erscheinung des 
Körpers nach sich zog? Lasst mich zum 
Schluss eilen. 

Der grössteTeil der furchtbaren Nacht 
war dahingegangen, und sie, die tot ge- 
wesen, rührte sich wieder. Und die Lebens- 
zeichen waren jetzt kräftiger als bisher, 
obgleich sie vordem in eine Auflösung 
gesunken war, die grässlicher gewesen 
als alle früheren. Ich hatte es schon 

längst aufgegeben, mich zu bemühen, mich 

58 



Digitized by Google 



überhaupt noch zu rühren. Ich sass er- 
starrt auf der Ottomane — eine hilflose 
ßeute wilder Aufregungen, deren am wenig- 
sten schreckliche, am wenigsten aufreibende 
wohl eine masslose Angst war. Der Leich- 
nam, ich wiederhole es, rührte sich, und 
zwar lebhafter als bisher. Die Farben 
des Lebens schössen mit unglaublicher 
Energie ins Antlitz, die Glieder wurden 
wieder beweglich; und wenn die Augen- 
lider nicht noch immer fest geschlossen 
gewesen wären, wenn der Leib nicht noch 
immer still in seinen Grabtüchern und 
Bändern dagelegen hätte, so hätte ich 
glauben müssen, dass Rowena sich end- 
gültig aus den Fesseln des Todes befreit 
habe. Doch wenn bis dahin dieser Ge- 
danke noch entschieden zurückgewiesen 
werden musste, so schwanden alle Zweifel, 
als nun das leichentuchumhüllte Wesen 
vom Bette aufstand und schwankend, un- 
sicheren Schrittes, mit geschlossenen Augen 
und mit dem Gebaren eines Traum- 
wesens, doch körperlich sichtbar und fühl- 

59 



bar, sich in die Mitte des Zimmers vor- 
bewegte. 

Ich zitterte nicht — ich rührte mich 
nicht — denn ein Schwärm seltsamer Emp- 
findungen, die sich an das Aussehen, 
die Statur, die Bewegungen der Gestalt 
knüpften, hatten mein Hirn überfallen und 
mich zu Stein erstarrt. Ich rührte mich 
nicht — doch meine Blicke hingen an der 
Erscheinung. Meine Gedanken taumelten 
wie im Wahnsinn — tobten und Hessen 
sich nicht halten und bändigen. Konnte 
das wirklich die lebende Rowena sein, 
die mir da gegenüberstand? Konnte es 
überhaupt Rowena sein — die blond- 
haarige, blauäugige Lady Rowena Treva- 
nion of Tremaine? Warum, warum sollte 
ich es bezweifeln ? Die Binden umschlossen 
fest den Mund — aber warum sollte es 
nicht der Mund, der atmende Mund der 
Lady of Tremaine sein ? Und die Wangen 
— sie trugen Rosen wie im Mittag ihres 
Lebens — ja, das waren wohl sicher die 
schönen Wangen der lebenden Lady of 
60 



Tremaine. Und das Kinn, das Kinn mit 
den Grübchen der Gesundheit, war es 
nicht das ihre? — Aber war sie denn 
in ihrer Krankheit gewachsen? 
Welch unaussprechlicher Wahnsinn fasste 
mich bei dem Gedanken? Ein Sprung, 
und ich lag zu ihren Füssen! Sie wich 
meiner Berührung aus, und die grässlichen 
Leintücher, die den Kopf umschlossen 
hatten, lösten sich und fielen nieder — 
und in die wehende Atmosphäre des Ge- 
machs strömten gewaltige Massen langen 
freien Haares: es war schwärzer als 
die Rabenschwingen der Mittnacht! 
Und nun öffneten sich langsam die Augen 
der Gestalt, die dicht vor mir stand. 
„Hier, hier endlich", schrie ich laut, „kann 
ich mich niemals — niemals irren: dies 
sind die grossen und die schwarzen und 
die wilden Augen — meiner verlorenen 
Geliebten — die Augen der Lady — der 
Lady Ligeia!" 



61 



MORELLA 



63 



Digitized by Google 



Auto koB' clvto fieß' avrov, 
fioveides atei ov. 

Plato, Symposion. 



64 



in Gefühl tiefer, jedoch höchst selt- 



samer Zuneigung verband mich meiner 
Freundin Morella. Ein Zufall war's, der 
mich vor vielen Jahren mit ihr zusammen- 
führte, aber seit unserer ersten Begeg- 
nung brannte meine Seele in fremder 
entfesselter Glut. Das war nicht die 
Flamme des Eros, das war ein selt- 
sam wilder Seelenbrand, und bitter und 
qualvoll war meinem Geist die wachsende 
Uberzeugung, dass ich das rätselhafte 
Wesen dieser Gluten auf keine Weise 
zu ergründen, noch ihr Aufflammen 
und Niedersinken zu beherrschen ver- 
mochte. 

Und das Schicksal, das uns zueinander 
geführt, band uns am Altar zusammen. 
Doch sprach ich nie ein Wort, das Lei- 
denschaft gewesen wäre, dachte nie einen 
Gedanken, der Liebe bedeutet hätte. 
Morella aber floh jede Geselligkeit und 
schloss sich innig an mich an und machte 
mich glücklich — denn Staunen und 
Träumen ist Glück. 

Poe, Novellen von der Liebe 5 65 




Morellas Gelehrsamkeit war unergründ- 
lich. Bei meinem Leben I Ihre vielseitige 
Begabung war geradezu übernatürlich — 
ihre Verstandeskräfte waren gigantisch! 
Ich wusste das und wurde in vielen Dingen 
ihr Schüler. Es begann damit, dass sie 
mir eine Anzahl jener mystischen Schriften 
vorlegte, die man gemeiniglich nur als den 
Abschaum der frühen deutschen Lite- 
ratur ansieht. Das Studium dieser Werke 
bildete — aus mir unverständlichen Grün- 
den — ihre liebste und ausdauerndste 
Beschäftigung, und dass es auch die meine 
wurde, ist einfach dem unwiderstehlichen 
Einfluss von Beispiel und Gewohnheit zu- 
zuschreiben. 

Mit alledem hatte, wenn ich nicht 
irre, mein Verstand wenig zu schaffen. 
Soviel ich weiss, stimmte meine Welt- 
anschauung durchaus nicht mit den Idealen 
dieser Leute überein, und auch in meinem 
Tun und Denken war keine Spur von 
ihrem Mystizismus zu entdecken. Ich 

wenigstens hatte diese Überzeugung und 

66 



Digitized by Google 



überliess mich daher ruhig und blindlings 
der Führung meiner Frau, der ich uner- 
schrocken in allen ihren Studien folgte. 
Und dann — dann, wenn ich über geäch- 
tete, verderbliche Blätter gebeugt fühlte, 
wie ein verderblicher Geist sein Feuer in 
mir entzündete, kam Morella und legte 
ihre kalte Hand auf meine heisse Hand 
und entfachte aus der Asche einer toten 
Philosophie irgendwelche fast bedeutungs- 
losen, doch eigentümlichen Worte, deren 
seltsamer Sinn sich flammend in mein 
Gedächtnis grub. Und dann — dann ging 
ich Stunde um Stunde nicht von ihrer 
Seite und berauschte mich am Wohlklang 
ihrer Stimme, bis diese mir zum Über- 
druss und schliesslich zum Entsetzen wurde 
und schwarze Schatten sich auf meine 
Seele lagerten, und bis ich erbleichte und 
tief im Innern vor den fast überirdischen 
Lauten schauderte. Und so ward plötz- 
lich Glück und Freude zu Entsetzen 
und namenlosem Abscheu, und Schön- 
heit weckte Grauen, so wie einst aus 
s* 67 



Digitized by Google 



dem Tale Hinnom das Gehenna gewor- 
den war. 

Es ist unnötig, über die einzelnen Pro- 
bleme, die jene alten Bücher in uns an- 
regten und die lange, lange Zeit fast das 
einzige Thema unserer Gespräche bildeten, 
viel zu sagen. Alle die, welche etwas von 
„theologischer Moral" verstehen, kennen 
diese Fragen gut, und jene, die darin 
unerfahren sind, würden mich sicherlich 
kaum verstehen. Der wilde Pantheismus 
Fichtes, die gemässigtere Lehre der Py- 
thagoräer von der Wiederkunft und vor 
allem die Identitätsdoktrinen, wie Send- 
ling sie aufstellte, bildeten den hauptsäch- 
lichsten Stoff für unsere Diskussionen und 
schienen die phantasievolle Morella am 
tiefsten und schönsten anzuregen. Jene 
sogenannte persönliche Identität definiert 
Locke, wie ich glaube, als das dauernde 
Bestehen eines jeden vernunftbegabten 
Daseins. Und da wir unter „Person" ein 
intelligenz- und vernunftbegabtes Wesen 
verstehen, und da alles Denken stets von 
68 



Digitized by Google 



ßewusstheit begleitet ist, so formt dies 
beides gemeinsam unser „Ich" und unter- 
scheidet uns durch Verleihung unserer 
„persönlichen Identität" von anderen den- 
kenden Wesen. Doch das „principium 
individuationis", der Begriff dieser Identität, 
die mit dem Tode verloren oder nicht 
verloren geht, war mir stets ein Problem 
von ausserordentlicher Bedeutung, nicht 
allein wegen seiner verwirrenden und auf- 
regenden Konsequenzen, sondern auch 
wegen der sonderbaren und eifrigen Art 
und Weise, in der Morella es behandelte. 

Doch die Zeit war gekommen, in der 
das Geheimnisvolle im Wesen meines 
Weibes mich wie ein Alb, ein Zauber be- 
drückte. Ich konnte die Berührung ihrer 
bleichen Finger nicht ertragen, ich konnte 
den sanften Klang ihrer tönenden Sprache, 
den Glanz ihrer melancholischen Augen 
nicht ertragen. Und sie wusste all dies 
und hielt es mir doch niemals vor. Sie 
schien meine Schwäche, meine Manie zu 

kennen und nannte es lächelnd „Schicksal". 

69 



Selbst die mir unbekannte Ursache für 
meine sich steigernde Abneigung schien 
sie zu kennen, doch machte sie nie eine 
Andeutung, die mir auf die Spur geholfen 
hätte. Aber sie war Weib und härmte 
sich und schwand hin und welkte von 
Tag zu Tag. Mit der Zeit erschien und 
blieb auf ihren Wangen eine bedeutungs- 
volle Rote, und die blauen Adern auf ihrer 
bleichen hohen Stirn schwollen an. Und 
wenn mein Wesen für einen Augenblick 
in Mitleid schmolz, so traf mich im näch- 
sten das Aufleuchten ihrer bedeutsamen 
Augen — und meine Seele entsetzte sich 
und wurde von einem Schwindel ergriffen, 
wie er uns befällt, wenn wir hinab in 
einen grausig düsteren, unergründlichen 
Abgrund spähen. 

Muss ich noch sagen, dass ich mit 
tiefem aufreibendem Verlangen die Stunde 
von Morellas Ableben herbeiwünschte? 
Ich tat es. Aber der schwache Geist 
klammerte sich noch Tage, Wochen, Monate 

an seine zerbrechliche Hülle ; und es kam 

70 



Digitized 



so weit, dass meine gemarterten Nerven 
Herrschaft gewannen über mich. Dies 
Hinzögern machte mich rasend, und mein 
teuflisches Herz verfluchte die Tage und 
die Stunden und die bitteren Minuten, 
die länger und länger zu werden schienen, 
je mehr ihr zartes Leben dahinschmolz, 
wie Schatten länger und länger werden 
im sterbenden Tag. 

Aber eines Herbstabends, als alle 
Winde im Himmelsraum schliefen, rief 
mich Morella an ihr Bett. Ein trüber 
Nebel lagerte über der Erde und ein 
warmer Glanz auf den Wassern, und die 
Farben des herbstlichen Waldes glühten 
so bunt, als sei ein Regenbogen vom 
Firmament herabgefallen und in Millionen 
bunte Scherben zersplittert. 

„Dies ist der Tag der Tage* 4 , sagte 

sie, als ich zu ihr trat. „Der Tag der 

Tage — sei es zum leben oder sterben. 

Ein schöner Tag für die Söhne der Erde 

und des Lebens — ah, schöner noch für 

die Töchter des Himmels und des Todes!" 

71 



Ich küsste sie auf die Stirn, und sie 
fuhr fort: 

„Ich sterbe, dennoch werde ich leben !" 
„Morella!" 

„Die Tage, da du mich lieben konntest, 
sind nie gekommen — doch sie, die du 
im Leben verabscheutest — im Tode sollst 
du sie anbeten/' 

„Morella!" 

„Ich wiederhole es: — ich sterbe. 
Doch in mir lebt ein Unterpfand der 
Neigung, die du — ach wie gering! — 
für mich, Morella, fühltest. Und wenn 
mein Geist entflieht, wird das Kind leben — 
dein Kind und meines, Morellas! Doch 
deine Tage werden Tage der Sorge sein — 
der Sorge, die beständiger ist als alles 
andere, gleichwie die Zypresse ausdauern- 
der ist als alle anderen Bäume. Denn 
die Stunden deines Glückes sind vorüber, 
und Freude erblüht nicht zweimal im 
Leben, nicht zweimal, wie die Rosen von 
Paestum zweimal blühen im Jahre. Rebe 

und Myrte werden dir unbekannt sein, 
72 



Digitized by Google 



und du wirst, gleich den Moslemin in 
Mekka, auf Erden schon dein Leichentuch 
mit dir herumtragen." 

„Morella!" schrie ich auf, „Morella! 
Wie kannst du das wissen?" 

Aber sie wendete das Gesicht ab, 
und ein leises Zittern überlief ihre Glieder. 
Sie starb, und ihre herrliche, ihre entsetz- 
liche Stimme war tot. 

Doch wie sie es vorausgesagt hatte, 
geschah es. Ihr Kind, das sie sterbend 
geboren und das den ersten Atemzug tat 
als seine Mutter den letzten tat, dies Kind, 
ein Mädchen, lebte. Und es entwickelte 
sich geistig und körperlich ausserordent- 
lich schnell und war das vollkommene 
Ebenbild von ihr, die dahingeschieden 
war, und ich liebte es mit einer Liebe, 
deren Glut und Innigkeit mir oft wie eine 
Kraft aus einer anderen Welt erschien. 

Doch nicht lange, da verdunkelte sich 

der Himmel dieser reinen Zuneigung, denn 

Grausen und Kummer jagten wie ungeheure 

verderbenbringende Wolken darüber hin. 

73 



Ich sagte schon, das Kind entwickelte sich 
ausserordentlich früh an Körper und Geist. 
Und in der Tat, sein schnelles leibliches 
Wachstum war geradezu befremdend. 
Aber schrecklich, oh! schrecklich waren 
die tobenden Gedanken, die mich über- 
stürzten, wenn ich des Kindes geistiger 
Entwicklung folgte. Wie konnte es anders 
sein? Entdeckte ich doch täglich in den 
Vorstellungen der kindlichen Seele die 
abnorme Begabung und das ausgereifte 
Wissen des Weibes, vernahm aus dem kind- 
lichen Munde diegenialsten Erfahrungssätze, 
die Menschen jemals aufgestellt, und sah im 
Auge des Kindes die Weisheit und Leiden- 
schaftlichkeit vollkommener Reife glühen. 

Als alle diese Erscheinungen meinen 
erschreckten Sinnen offenbar wurden, als 
meine Seele sie in sich aufgenommen 
hatte — ist es da zu verwundern, dass 
ein entsetzlicher Argwohn mich befiel 
in der quälenden Erinnerung an die grau- 
sigen Phantasien und unerhörten Theorien 

■ 

der verstorbenen Morella? 
74 



Digitized by Google 



Und ich verbarg dies junge Wesen, 
das ich anbetete, vor den Blicken und 
Einflüssen der Welt, und in der vollstän- 
digen Abgeschlossenheit meines Heims 
wachte ich mit aufreibender Sorge über 
alles, was dieses geliebte Wesen betraf. 

Und wie die Jahre dahinflössen und 
ich Tag um Tag in ihr heiliges und mildes 
und beredtes Antlitz spähte und Tag um 
Tag ihr Wachsen und Reifen bemerkte, 
geschah es, dass ich Tag um Tag neue 
Dinge fand, in denen die Tochter voll- 
ständig ihrer Mutter — der schwermütigen 
und toten — glich. Und stündlich ver- 
dichteten sich diese Schatten einer un- 
natürlichen Ähnlichkeit und wurden immer 
tiefer und immer bestimmter und immer 
beängstigender — und immer grauenvolle r 
anzusehen. Dass ihr Lächeln dem Lächeln 
ihrer Mutter vollkommen glich, das hätte 
ich ertragen können; aber da, plötzlich, 
schauderte ich, denn ihr Lächeln war nicht 
nur dem Morellas gleich — es war mit 

ihm i den tischt Dass ihre Augen den 

75 



Augen Morellas glichen, konnte ich hin- 
nehmen, aber manchmal, oft, drang der 
Tochter Blick in die Tiefen meiner Seele 
mit einer verwirrenden Eindringlichkeit, 
wie sie eben nur Morella eigen sein konnte. 
Und in den Umrissen der hohen Stirn 
und in den seidigen Locken ihres Haares, 
in den bleichen Fingern, die mit diesen 
Locken spielten, und in der klagenden 
Musik ihrer Stimme, und vor allem — 
oh, vor allem in den Redewendungen 
der Toten, die von den Lippen der Leben- 
den und Geliebten flössen, fand ich Nah- 
rung für die aufreibendste Gedankenarbeit 
und für das rastloseste Entsetzen, — für 
den Wurm, der niemals sterben wollte! 

So vergingen die ersten zehn Jahre 
ihres Lebens, und noch immer hatte meine 
Tochter keinen Taufnamen. „Mein Kind* 
und „mein Liebling" sind ja übliche Be- 
nennungen, wie Vaterliebe sie findet, und 
die strenge Abgeschlossenheit, in der sie 
lebte, schloss jeden weiteren Verkehr aus 

und machte daher einen anderen Namen 

76 



Digitized 



überflüssig. Morellas Name war mit ihr 
gestorben. Ich hatte der Tochter niemals 
von der Mutter gesprochen; es war un- 
möglich, von ihr zu sprechen. Tatsächlich 
hatte also das Kind in seinem jungen 
Leben keine anderen Eindrücke emp- 
fangen als diejenigen, die sich ihm in 
den engen Grenzen unserer Zurückge- 
zogenheit bieten konnten. 

Doch schliesslich vermeinte mein ab- 
gehetzter Geist durch die Zeremonie der 
Taufe Erlösung zu finden. So führte ich 
also das Kind zur Taufe. Und als ich 
vor dem Taufbecken stand, suchte ich 
nach einem Namen. Viele Namen voll 
Weisheit und Schönheit, aus alter und 
neuer Zeit, aus meiner Heimat und aus 
fremden Ländern, drängten sich mir auf 
die Lippen, und viele, viele Namen für 
Sanftes und Frohes und Gutes. Was trieb 
mich nur dazu an, die Ruhe der Toten 
und Begrabenen zu stören? Welcher 
Dämon veranlasste mich, jenen Namen zu 

flüstern, bei dessen Erinnerung schon das 

77 



Blut mir stürmend zum Herzen schoss? 
Welcher Unhold sprach aus den Tiefen 
meiner Seele, als ich in schweigender 
Nacht mitten im düsteren Kreuzgang in 
das Ohr des heiligen Mannes die Silben 
flüsterte: „Morella!" Und wer anders als 
Satan selbst veranlasste mein Kind bei 
diesem kaum vernehmbaren Laut zusam- 
menzuschrecken, die verglasten Blicke gen 
Himmel zu heben und mit zuckendem 
Gesicht, auf dem die Schatten des Todes 
kämpften, auf die schwarze Marmorplatte 
unserer Familiengruft niederzusinken und 
zu antworten: „Hier bin ich 1** 

Klar, kalt und vollkommen deutlich 
trafen diese einfachen Worte mein Ohr 
und rollten von da wie geschmolzenes 
Blei zischend in mein Gehirn. Jahr um 
Jahr kann dahingehen, doch niemals die 
Erinnerung an diesen Augenblick ! Wahr- 
lich, noch wusste ich nichts von Blumen 
und Reben — doch Zypresse und Schier- 
ling umdrohten mich Tag und Nacht. 

Und ich wusste nichts mehr vom Wan- 

78 



Digitized 



del der Zeit, und der Stern meines 
Schicksals losch aus am Firmament, und 
die Erde verlor ihr Licht, und die Ge- 
stalten, die sie belebten, glitten an mir 
vorbei wie Schatten, und mitten unter 
ihnen sah ich nur — Morella! Die himm- 
lischen Winde atmeten nur einen Laut, 
und die rieselnden Wellen der ewigen 
Wasser murmelten immerfort — Morella! 
Aber sie starb; und mit meinen eigenen 
Händen trug ich sie zu Grab. Und ich 
lachte ein langes, bitteres Lachen, als in 
der Gruft, in die ich die zweite bettete, 
nicht eine Spur zu finden war von der 
ersten — Morella. 



79 



BERENICE 



Poe, Novelle» von der Liebe 6 81 



Digitized by Google 



Dicebant mihi sociales, si 
sepulchrum amicae visitarem, 
curas mcas aliquantulum f ore 
levatas. 

Ebn Zaiat 



82 



Mannigfach ist Trübsal und Not. Un- 
glück und Gram sind vielgestaltig auf 
Erden. Gleich dem Regenbogen spannt 
sich das Unglück von Horizont zu Hori- 
zont, und gleich den Farben des Regen- 
bogens sind seine Farben vielfältig und 
scharf abgegrenzt und dennoch miteinan- 
der zusammenfliessend! Wie kommt es, 
dass Schönheit mir zum Kummer wurde, 
dass selbst aus Friedsamkeit ich nur Gram 
zu schöpfen wusste? Doch wie die Ethik 
lehrt, dass das Böse eine Konsequenz des 
Guten sei, so lehrt uns das Leben, dass 
die Freude die Trauer gebiert. Entweder 
ist die Erinnerung vergangener Seligkeit 
die Pein unseres gegenwärtigen Seins, 
oder die Qualen, die sind, haben ihren 
Ursprung in den Wonnen, die gewesen 
sein könnten. 

Mein Taufname ist Egäus, meinen 
Familiennamen will ich verschweigen. Doch 
gibt es keine Burg im Lande, die stolzer 
und ehrwürdiger wäre, als mein Geburts- 
haus mit seinen düsteren grauen Hallen. 
6« 83 



Man hat unser Geschlecht ein Geschlecht 
von Hellsehern genannt. Und Beweise 
für die Wahrheit dieser Annahme findet 
man mehr als genug in allerlei seltsamen 
Eigentümlichkeiten — im Baustil des 
Herrenhauses, in den Fresken des Haupt- 
saales, in den Wandteppichen der Schlaf- 
gemächer, in den Ornamenten einiger Ge- 
wölbepfeiler der Waffenhalle, besonders 
aber in der Galerie alter Gemälde, in 
Form und Ausstattung des Bibliothekzim- 
mers und schliesslich auch in der selt- 
samen Zusammensetzung des Bücher- 
schatzes selbst. 

Die Erinnerung an meine frühesten 
Lebensjahre sind mit jenem Zimmer und 
seinen Büchern, von denen ich nichts 
Näheres mehr sagen will, innig verknüpft. 
Hier starb meine Mutter. Hier wurde ich 
geboren. Doch es ist überflüssig zu sagen, 
ich hätte nicht schon früher gelebt, meine 
Seele hätte kein früheres Dasein gehabt. 
Ihr leugnet es? Nun, wir wollen nicht 

streiten. Selbst überzeugt, suche ich nicht 
84 



Digitized by Google 



zu überzeugen. Jedoch — ich habe ein 
Erinnern an luftzarte Gestalten, an geister- 
hafte bedeutsame Augen, an harmonische, 
doch trauervolle Laute; ein Erinnern, das 
sich nicht bannen lässt, ein Erinnern, das 
einem Schatten gleich sich nicht loslösen 
lässt von meiner Vernunft, so lange deren 
Sonnenlicht bestehen wird. 

In jenem Zimmer also wurde ich ge- 
boren. Da ich solcherweise aus der langen 
Nacht des scheinbaren Nichts erwachend, 
in ein wahres Märchenland eintrat, in einen 
Palast von Vorstellungen und Träumen, in 
die wunderlichen Reiche klosterlich ein- 
samen Denkens und Wissens, so ist es 
nicht erstaunlich, dass ich mit überrasch- 
ten, brennenden Blicken in diese Welt 
starrte, dass ich meine Knabenjahre im 
Durchstöbern von Büchern vergeudete, 
meine Jünglingszeit in Träumen verschwen- 
dete. Erstaunlich aber ist es, welch ein 
Stillstand über die sprudelnden Quellen 
meines Lebens kam, als die Jahre dahin- 
gingen und auch mein Mannesalter mich 

85 



noch im Stammhaus meiner Väter sah, 
erstaunlich, welch vollständige Umwand- 
lung mit meinem Wesen, mit meinem 
ganzen Denken vor sich ging. Die Rea- 
litäten des Lebens erschienen mir wie 
Visionen und immer nur wie Visionen, 
während die wunderlichen Ideen aus Traum- 
landen nicht nur meinem täglichen Leben 
Inhalt gaben, sondern ganz und gar zu 

meinem täglichen Leben selber wurden. 

* * 

Berenice war meine Cousine, und wir 
wuchsen zusammen in den Hallen meiner 
Väter auf. Doch wir entwickelten uns 
sehr verschieden: ich schwächlich von 
Gesundheit und dem Trübsinn verfallen, 
sie ausgelassen, anmutig und von über- 
sprudelnder Lebenskraft; ihrer warteten 
die spielenden Freuden draussen in freier 
Natur, meiner die ernsten Studien in 
klosterlicher Einsamkeit. Ich lauschte und 
lebte nur meinem eigenen Herzen und 
ergab mich mit Leib und Seele dem an- 
gestrengtesten und qualvollsten Nach- 
86 



Digitized by Google 



denken; sie schlenderte sorglos durchs 
Leben und achtete nicht der Schatten, 
die auf ihren Weg fielen, und nicht der 
rabenschwarzen Schwingen, mit denen die 
Stunden schweigend entflohen. Berenice! 
Ich beschwöre ihren Namen herauf — und 
aus den grauen Trümmern des Gedenkens 
erheben sich jäh tausend ungestüme Er- 
innerungen! Ah, leibhaftig steht ihr Bild 
jetzt vor mir, so wie in den jungen Tagen 
ihrer Leichtherzigkeit und ihres Frohsinns! 
Oh, wundervolle, himmlische Schönheit! 
Oh Sylphe, die durch die Gebüsche Arn- 
heims schwebte! Oh Najade, die seine 
Quellen und Bäche belebte! Und weiter, 
weiter wird alles grauenvolles Geheimnis, 
wird zu seltsamer Spukgeschichte, die 
verschwiegen werden sollte. Krankheit, 
verhängnisvolle Krankheit befiel ihren 
Körper; plötzlich — vor meinen Augen 
fast — brach die Zerstörung über sie 
herein, durchdrang ihren Geist, ihr Ge- 
baren, ihren Charakter und vernichtete 
mit schrecklicher unheimlicher Gründlich- 

87 



Digitized by Google 



kcit ihr ganzes Wesen, ihre ganze Per- 
sönlichkeit! Weh! Der Zerstörer kam und 
ging! Und das Opfer — wo blieb es? 
Ich kannte es nicht mehr — erkannte 
es nicht mehr als Berenice! 

Unter der Gefolgschaft dieser ersten 
verderbenbringenden Krankheit, die eine 
so grässliche Umwandlung in Körper und 
Seele meiner Cousine herbeiführte, ist als 
quälendste und hartnäckigste Erscheinung 
eine Art Epilepsie zu nennen, die nicht 
selten in Starrsucht endete — in Starr- 
sucht, die endgültiger Auflösung täuschend 
ähnlich war. Das Erwachen aus diesem 
Zustand war in den meisten Fällen ein 
erschreckend jähes. 

Inzwischen nahm meine eigene Erkran- 
kung — denn als solche, sagte man mir, 
sei mein Zustand anzusehen — mehr und 
mehr Besitz von mir und entwickelte sich 
zu einer neuartigen und äusserst seltsamen 
Monomanie, die von Stunde zu Stunde an 
Stärke zunahm und schliesslich unerhörte 
Macht über mich gewann. Diese Mono- 
88 



Digitized by Google 



manie — wenn ich so sagen muss — be- 
stand in einer krankhaften Reizbarkeit jener 
geistigen Eigenschaft, die man mit Auf- 
fassungsvermögen bezeichnet. 

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass 
ich nicht verstanden werde; aber ich 
fürchte in der Tat, dass es ganz unmög- 
lich ist, dem Verständnis des Durchschnitts- 
lesers einen auch nur annähernden Begriff 
davon zu geben, mit welcher nervösen in- 
teressierten Hingabe bei mir die 
Kraft des Nachdenkens (um Fachausdrücke 
zu vermeiden) sich eifrig betätigte, sich 
verbiss und vergrub in die Betrachtung 
sogar der allergewöhnlichsten Dinge von 
der Welt: 

Ich konnte stundenlang von der be- 
langlosesten Textstelle oder Randglosse 
eines Buches gefesselt werden ; ich konnte 
den grössten Teil eines Sonnentages damit 
zubringen, irgend einen schwachen Schatten 
zu beobachten, der über eine Wand oder 
den Fussboden hinzog; ich konnte eine 

ganze Nacht lang das stille Lampenlicht 

89 



Digitized by Google 



betrachten oder dem Flammenspiel des 
Kaminfeuers zuschauen; ganze Tage ver- 
träumte ich über dem Duft einer Blüte, 
oder ich sprach irgend ein monotones 
Wort so lange vor mich hin, bis dieses 
keinen Sinn mehr hatte und nur noch 
Klang zu sein schien; ich verlor jedes 
Bewusstsein meiner physischen Existenz, 
indem ich mich vollkommener Ruhe hin- 
gab, mich nicht rührte und regte und 
halsstarrig stundenlang so verweilte. Dies 
sind einige der häufigsten und harmlo- 
sesten Grillen, die mich plagten — die 
Folge eines Geisteszustandes, der vielleicht 
gar nicht so selten ist, sicherlich aber jeder 
Analyse oder Erklärung spottet. 

Doch man darf mich nicht missver- 
stehen. Die an so nichtige Dinge ge- 
hängte, tief ernste, krankhaft übertriebene 
Aufmerksamkeit ist nicht zu verwechseln 
mit jenem Hang zu Grübeleien, den mehr 
oder weniger wohl alle Menschen besitzen, 
und der besonders Leuten von starker 

Einbildungskraft eigentümlich ist. Es war 
90 



Digitized by 



nicht einmal, wie man leichthin hätte an- 
nehmen können, ein besonders übertrie- 
benes Stadium dieses Hinträumens, sondern 
etwas ganz und gar anderes. Jene Träumer 
und Phantasten, die von irgend einem 
meist wirklich interessanten Gegenstande 
angezogen werden, verlieren dieses, ihr 
ursprüngliches Objekt, bald aus den Augen, 
weil der Anblick desselben eine ganze 
Gedankenkette in ihnen aufrollt und eine 
Unzahl von Folgerungen und Betrachtungen 
in ihnen erweckt; und wenn sie dann 
aus solchen — meist angenehmen — 
Träumereien erwachen, so ist der Gegen- 
stand, der diese veranlasste, ihrem Be- 
wusstsein völlig entschwunden. In meinem 
Falle jedoch war es stets ein ganz nich- 
tiger Gegenstand, an den meine Betrach- 
tung sich knüpfte, wenngleich er infolge 
meines krankhaft intensiven Anschauungs- 
vermögens vielfältige und übertriebene 
Bedeutsamkeit bekam. Meine Gedanken 
schweiften nur wenig ab und kehrten stets 
eigensinnig wieder zu ihrem Ausgangs- 

91 



punkt zurück. Diese Grübeleien waren 
niemals angenehm, und wenn sie endeten, 
so hatte der Gegenstand, von dem sie 
ausgegangen, für mich ein unnatürlich ge- 
steigertes Interesse bekommen, und eben 
dies war es, was den charakteristischen 
Zug meines Übels ausmachte. Kurz gesagt : 
in meinem Fall handelte es sich um ein 
abnorm konzentriertes Anschauungs- 
vermögen, während das Wachträumen 
normaler Menschen auf ein Analysieren 
und Folgern hinausläuft. 

Wenn auch die Bücher, mit denen 
ich mich damals beschäftigte, diesen krank- 
haften Zustand nicht gerade hervorgerufen 
hatten, so trug ihr phantastischer und oft 
unlogischer Inhalt immerhin viel dazu bei, 
mein Leiden so eigenartig auszubilden. 
Ich erinnere mich unter anderem gut der 
Abhandlung des edlen Italieners Coelius 
Secundus Curio „De Amplitudine Beati 
Regni Dei", des grossen Werkes des heiligen 
Augustinus „Die Stadt Gottes" und ferner 

des Tertullian „De Carne Christi", in 
92 



Digitized by 



welchem der paradoxe Satz „Mortuus est 
Dei filius; credibile est quia ineptum est; 
et sepultus resurrexit; certum est quia im- 
possibile est" mich zu tiefem fruchtlosen 
Nachsinnen veranlasste und viele Wochen 
lang meine Zeit gänzlich in Anspruch 
nahm. 

So konnte mein Verstand, den nur die 
trivialsten Dinge aus dem Gleichgewicht 
brachten, mit jenem Meeresfelsen ver- 
glichen werden, von dem Ptolomäus 
Hephästion sagt, dass er allen mensch- 
lichen Angriffen widerstand, ja selbst der 
heftigeren Wut von Wind und Wellen 
trotzte, der aber erbebte, sobald er mit 
der Blume Asphodelos berührt wurde. 
Ein oberflächlicher Beurteiler möchte nun 
wohl mit Bestimmtheit annehmen, dass 
die Veränderung, die Berenices unglück- 
selige Krankheit in ihrem Seelen- Zu- 
stand hervorgerufen hatte, mir häufig Ge- 
legenheit für dies intensive und anormale 
Nachsinnen gegeben hätte, das ich soeben 

nach bestem Können zu beschreiben ver- 

93 



sucht habe — aber nein, dies war in keinre 
Weise der Fall. In meinen klaren Stunden 
bereitete mir ihr Leiden allerdings Schmerz, 
denn dieser völlige Zusammenbruch ihres 
heiteren und edlen Lebens ging mir tief 
zu Herzen, und ich fragte mich oft be- 
kümmert, welch grauenhafte Mächte einen 
so unerhörten Umsturz hatten herbeiführen 
können. Aber solche Betrachtungen hatten 
mit meiner Idiosynkrasie nichts zu schaffen, 
sie waren ganz so, wie sie unter analogen 
Umständen weitaus die meisten Menschen 
angestellt haben würden. Es ist vielmehr 
bezeichnend für die Eigenart meines Obels, 
dass mich die unwichtigere, doch augen- 
fälligere Wandlung in Berenices physi- 
schem Zustand — diese sonderbare und 
grauenhafte Vernichtung ihrer wirklichen, 
sichtbarlichen Persönlichkeit — weit mehr 
fesselte. 

Sicherlich habe ich sie in den strahlen- 
den Tagen ihrer unvergleichlichen Schön- 
heit nie geliebt. Infolge meiner seltsamen 

Anomalie waren meine Gefühle nie vom 
94 



Digitized by Google 



Herzen — waren meine Neigungen stets 
vom Verstand ausgegangen. Im frühen 
Morgengrau — im schattigen Gitterwerk 
des mittäglichen Waldes — nächtens in 
der Stille meines Studierzimmers — wann 
und wo sie mir je vor Augen trat, immer 
war es mir, als sei sie nicht die lebende, 
atmende Berenice sondern eine Traum- 
gestalt; sie erschien mir nicht als ein 
irdisches Geschöpf sondern als die Ab- 
straktion eines solchen — nicht als etwas, 
das man bewundern, sondern als etwas, 
dem man nachsinnen müsse — nicht als 
ein Wesen zum Lieben sondern als ein 
Thema zu tiefgründigem Erforschen. Und 
jetzt — jetzt schauderte ich bei ihrem 
Nahen und erbleichte bei ihrem Anblick. 
Aber ich beklagte ihren Verfall bitter, und 
ich erinnerte mich, dass sie mich seit 
langem liebte, und so kam es, dass ich 
ihr in einer schlimmen Stunde von Heirat 
sprach. 

Und als die Zeit nahte, da wir Hoch- 
zeit halten sollten, sass ich an einem 

95 



Winternachmittag eines jener wunderbar 
warmen, stillen und umschleierten Tage, 
die man die Amme des schonen Eisvogels 
nennt,*) wie ich vermeinte ganz allein im 
inneren Gemach der Bibliothek; aber als 
ich aufblickte, sah ich Berenice vor mir 
stehen. 

War es meine eigene fiebernde Ein- 
bildungskraft oder eine Wirkung der dun- 
stigen Atmosphäre oder das trübe Dämmer- 
licht im Zimmer oder der Faltenfluss ihres 
grauen Gewandes, was ihr so verschwom- 
mene Konturen gab ? Ich konnte es nicht 
sagen. Sie sprach kein Wort; und ich — 
nicht um alles in der Welt hätte ich ein 
Wort hervorbringen können. Ein eisiger 
Frost durchrieselte mich; eine unerträg- 
liche Angst befiel mich; eine verzehrende 
Neugier durchdrang meine Seele, ich sank 
in meinen Sitz zurück und verharrte re- 
gungslos und hielt den Atem an und 

*) „Denn da Jupiter während der Winterzeit 
zweimal sieben Tage Wärme schenkt, so haben die 
Menschen diese milde und gemässigte Zeit die Amme 
des schonen Eisvogels genannt" — Simonides. 

96 



Digitized by 



heftete meine Augen durchdringend auf 
ihre Gestalt. Ach, sie war entsetzlich ab- 
gemagert! Nicht eine einzige Linie, nicht 
eine einzige Kontur verriet noch eine Spur 
ihrer früheren Persönlichkeit. Meine bren- 
nenden Blicke fielen schliesslich auf ihr 
Antlitz. 

Die Stirn war hoch und sehr bleich 
und sonderbar starr und war über den 
hohlen Schläfen von zahllosen Lockchen 
des einst pechschwarzen Haares beschattet, 
das jetzt von lebhaftem Gelb war und 
dessen phantastische Ringel mit der sou- 
veränen Melancholie des Antlitzes seltsam 
kontrastierten. Die Augen waren ohne 
Leben und ohne Glanz und anscheinend 
ohne Pupillen; und ich schauderte unwill- 
kürlich vor ihrem glasigen starren Aus- 
druck zurück und wandte mich der Be- 
trachtung der dünnen und eingesunkenen 
Lippen zu. Sie teilten sich zu einem 
sonderbar bedeutungsvollen Lächeln und 
enthüllten meinem Blick langsam der ver- 
änderten Berenice Zähne. Wollte Gott, 

Poe, Novellen von der Liebe 7 97 



dass ich sie nie gesehen hätte, oder dass 
ich, nachdem ich sie sah, gestorben wäre! 

* 

Das Schliessen einer Tür schreckte 
mich auf, und aufblickend bemerkte ich, 
dass meine Cousine das Gemach verlassen 
hatte. Aber in der wüsten Kammer meines 
Gehirns war etwas zurückgeblieben: das 
weisse Gespenstbild ihrer Zähne — und 
dieses Hess sich nicht mehr vertreiben. 
Das flüchtige Lächeln von Berenices Lippen 
hatte genügt, jedes Schattenfleckchen auf 
dem schimmernden Email, jede Einker- 
bung der Schneiden — kurz jedes kleinste 
Merkmal ihrer Zähne tief in mein Gedächt- 
nis einzubrennen. Ich sah sie jetzt sogar 
deutlicher als vorhin, da ich sie wirklich 
vor Augen hatte. Die Zähne! — Die 
Zähne! — Sie waren hier, waren dort, 
waren überall — sichtbar und greifbar vor 
mir; lang, schmal und übermässig weiss, 
umwunden von den bleichen Lippen — 
ganz so, wie in jenem Augenblick, da jenes 

verhängnisvolle Lächeln sie zuerst enthüllte. 
98 



Digitized by 



Dann kam meine Monomanie mit voller 
Wucht über mich, und ich wehrte mich 
vergeblich gegen ihre unerklärliche, be- 
zwingende Gewalt. Alle Gegenstände und 
Ereignisse um mich her schienen zu ver- 
sinken — ich hatte nur noch Gedanken 
für diese Zähne. Nach ihnen trug ich ein 
wahnsinniges Verlangen. Die Welt und 
alles, was mich mit ihr verband, schwand 
hin vor diesem einen einzigen Bild. Sie, 
sie allein waren meinem geistigen Auge 
gegenwärtig — und sie, in ihrer ausge- 
sprochenen Individualität wurden zum ein- 
zigen Gedanken meines Geistes. Ich hielt 
sie in jede Beleuchtung. Ich betrachtete 
sie von allen, allen Seiten. Ich studierte 
ihren Charakter. Ich verweilte bei ihren 
einzelnen Eigentümlichkeiten. Ich vertiefte 
mich in die Ubereinstimmungen und Ab- 
weichungen, die die Zähne in ihrer Form- 
bildung aufwiesen. Ich entsetzte mich, 
als ich ihnen in Gedanken die Fähigkeit 
sinnlichen Empfindens und, auch ohne dass 
die Lippen sie unterstützten, seelisches 
7» 99 



Ausdrucksvermögen zuschrieb. Von Made- 
moiselle Salle hat man mit Recht gesagt: 
„Que tous ses pas elaient des sentiments", 
und von Berenice glaubte ich weit über- 
zeugter: que tous ses dents etaient des 
idees. Des idees! — ah, war dies der 
idiotische Gedanke, der mich zugrunde 
richten sollte? Des idees — ah, das 
war es, weshalb ich diese Zähne so wahn- 
sinnig begehrte! Ich fühlte, dass einzig 
ihr Besitz mir Frieden bringen — mich 
der Vernunft zurückgeben konnte. 

Und so wurde es Abend — und Nacht 
kam und verweilte und ging — und wieder 
dämmerte der Tag — und die Nebel einer 
zweiten Nacht sammelten sich rings — 
und immer noch sass ich regungslos in 
jenem einsamen Zimmer — und immer 
noch sass ich in Betrachtungen vergraben 
— und immer noch übte das Gespenst 
der Zähne, das da mit lebhafter und gräss- 
licher Deutlichkeit im Wechsel von Licht 
und Schatten durchs Zimmer schwebte, 

seine schreckliche Gewalt. 
100 



Digitized by Google 



Da brach in meine Traumversunkenheit 
ein Ruf voll Grausen und Bestürzung; und 
nach einer Pause vernahm ich Geräusch 
banger Stimmen, untermischt mit Klage- 
lauten des Schmerzes. Ich erhob mich 
von meinem Sitz, und als ich die Tür zum 
Vorzimmer aufwarf, fand ich dort eine 
Magd, die mir in Tränen aufgelöst be- 
richtete, dass Berenice nicht mehr sei! 
Sie war am frühen Morgen einem Anfall 
von Epilepsie erlegen, und jetzt, beim 
Hereinbrechen der Nacht, wartete das Grab 
auf seinen Bewohner ; alle Vorbereitungen 

zur Bestattung waren beendet. 

♦ * 
* 

Ich fand mich im Bibliothekzimmer 
sitzend — und wieder allein dort sitzend. 
Es schien, als sei ich wiederum aus einem 
wirren und aufregenden Traum erwacht. 
Ich wusste, dass jetzt Mitternacht war, und 
ich wusste recht gut, dass man Berenice 
bei Sonnenuntergang in die Erde gebettet 
hatte. Doch von den nachfolgenden dunk- 
len Stunden hatte ich keine bestimmte und 

101 



klare Erinnerung. Dennoch gedachte ich 
ihrer voll Grauen — einem Grauen, das 
um so entsetzlicher war, als ich es nicht 
an bestimmte Vorgänge zu binden ver- 
mochte. Es war in den Aufzeichnungen 
meines Lebens das furchtbarste Blatt, über 
und über mit dunklen, grässlichen und 
unfassbaren Erinnerungen bekritzelt. Ich 
versuchte, sie zu entziffern, aber es war 
unmöglich, und zwischendurch — wie das 
Gespenst eines verklungenen Rufes — 
gellte hin und wieder der schrille und 
durchdringende Schrei einer weiblichen 
Stimme mir in die Ohren. Ich hatte irgend 
etwas getan — was war es? Ich stellte 
mir laut diese Frage, und die flüsternden 
Echos des Zimmers antworteten mir — 
„was war es?" 

Auf dem Tisch neben mir brannte eine 
Lampe, und daneben lag eine kleine 
Schachtel. Sie hatte durchaus nichts auf- 
fallendes, und ich hatte sie schon manch- 
mal gesehen; denn sie war Eigentum des 

Hausarztes; wie aber kam sie hier auf 
102 



Digitized by Google 



meinen Tisch, und warum schauderte ich, 
wenn ich sie ansah ? Diese Fragen wollten 
sich in keiner Weise beantworten lassen. 
Meine Blicke fielen schliesslich auf den 
unterstrichenen Satz eines offen vor mir 
liegenden Buches. Es waren die sonder- 
baren, doch einfachen Worte des Dichters 
Ebn Zaiat: Dicebant mihi sodales, si 
sepulchrum amicae visitarem, curas meas 
aliquantulum fore levatas. — Warum nur 
standen, mir die Haare zu Berge, als ich 
dies las, warum erstarrte mir das Blut in 
den Adern? 

Es wurde leise an die Tür geklopft, 
und bleich wie der Tod trat ein Diener 
auf Zehenspitzen herein. Seine Blicke 
waren voll wahnsinnigen Entsetzens, und 
er sprach bebend zu mir mit gedämpfter, 
heiserer Stimme. Was sagte er? Einige 
abgerissene Sätze hörte ich. Er sprach 
von einem wilden Schrei, der das Schweigen 
der Nacht gebrochen habe — dass das 
Hausgesinde zusammengeströmt sei — 

dass man in der Richtung des Schreies 

103 



Digitized by Google 



auf Suche gegangen sei; und dann wurde 
seine Stimme unheimlich deutlich, als er 
von Grabschändung redete — von einem 
aus dem Sarge gerissenen entstellten 
Körper, der noch atmete - noch pulste 
— noch lebte! 

Er deutete auf meine Kleider; sie 
waren von Erde beschmutzt und mit Blut 
bespritzt. Ich sagte nichts, und er ergriff 
sanft meine Hand : sie trug frische Kratz- 
wunden von Fingernägeln. Er lenkte meine 
Aufmerksamkeit auf einen an die Wand 
gelehnten Gegenstand: es war ein Spaten. 
Mit schrillem Aufschrei sprang ich an den 
Tisch und riss die Schachtel an mich, die 
dort lag. Aber es wollte mir nicht ge- 
lingen, sie zu offnen. Und sie entglitt 
meinen zitternden Händen und schlug hart 
zu Boden und sprang in Stücke. Und 
heraus rollten klappernd zahnärztliche In- 
strumente und zweiunddreissig kleine weisse 
elfenbeinschimmernde Dinger und ver- 
streuten sich rings auf den Fussboden . . 



104 



Digitized by Google 



DAS OVALE PORTRAT 



Egli e vivo c parierebbe se 
non osservasse la rigola del 
silentio. 

Inschrift unter einem Gemälde von St Bruno. 



106 



Digitized by Google 



Ich hatte in einem ausserordentlich hef- 
tigen und langandauernden Fieber ge- 
legen. Alle Heilmittel, die in dieser un- 
wirtlichen Gegend der Apenninen aufzu- 
treiben gewesen, waren erfolglos angewen- 
det worden, und schliesslich hatten sie 
sich erschöpft. Was war nun zu tun? 
Mein Diener und einziger Gefährte in dem 
verlassenen Schloss war zu unbedacht und 
zu ungeschickt, um mir zur Ader lassen zu 
können; überdies hatte ich in der Schlägerei 
mit den Banditen schon allzuviel Blut ver- 
loren. Auch konnte ich meinen Knecht nicht 
nach fremder Hilfe ausschicken und selbst 
allein und hilflos hier zurückbleiben. Da er- 
innerte ich mich endlich eines Päckchens 
Opium, das sich bei meinem Rauchtabak 
und der Huhkapfeife befinden musste; 
ich hatte nämlich in Konstantinopel die 
Gewohnheit angenommen, den Tabak mit 
dem Gift gemischt zu rauchen. 

Pedro reichte mir die Tabaksbüchse. 

Ich suchte und fand das Narkotikum. Doch 

107 



Digitized by Google 



als ich ein Stück abschneiden wollte, fühlte 
ich, dass hier erst überlegt werden müsse. 
Beim Rauchen war es ziemlich belanglos, 
wie viel Opium dem Tabak beigemengt 
wurde Für gewöhnlich hatte ich den 
Pfeifenkopf zur Hälfte mit einem Gemisch 
von Opium und geschnittenem Tabak ge- 
füllt, von beidem gleich viel. Zuweilen 
konnte ich diese Mischung ganz aufrauchen, 
ohne irgendwie besondere Folgen zu ver- 
spüren; zu andern Zeiten hatte ich kaum 
zwei Drittel dieser Dosis geraucht, als ich 
schon beunruhigende Anzeichen geistiger 
Verwirrung verspürte, die mich warnten, 
weiterzurauchen. Aber die Wirkung des 
Giftes nahm stets nur gradweise und all- 
mählich zu, und so konnte ich, indem ich 
jener ersten Warnung folgte, jede ernst- 
liche Gefahr vermeiden. 

Hier jedoch lag der Fall anders. Ich 
hatte nie vorher Opium geschluckt. Lau- 
danum und Morphium hatte ich gelegent- 
lich schon genommen, und diesen Mitteln 
gegenüber hätte ich keine Ursache gehabt 
108 



Digitized by Google 



zu zögern. Konzentriertes Opium aber 
hatte ich noch nie angewendet. Pedro 
wusste ebensowenig wie ich, welche Dosis 
genommen werden musste; und so war 
ich in diesem dringenden und wichtigen 
Fall ganz und gar meinen Mutmassungen 
überlassen. Trotzdem empfand ich keine 
sonderliche Unruhe, denn ich hatte be- 
schlossen, in der Anwendung dieses Medi- 
kaments gradweise vorzugehen. Zunächst 
wollte ich eine sehr kleine Dosis nehmen; 
sollte diese sich wirkungslos erweisen, so 
würde ich die zweite gleich grosse Portion 
folgen lassen — und so weiter, bis ich ein 
Nachlassen des Fiebers verspüren oder 
den so dringend notwendigen Schlaf finden 
würde, dessen Segen meine taumelnden 
Sinne nun schon fast eine Woche nicht 
genossen hatten. 

Ohne Zweifel war eben diese Sinn- 
Verwirrung — war das dumpfe Delirium, 
das schon auf mir lastete, die Ursache, 
dass ich meine Schlussfolgerung nicht als 
falsch erkannte, sondern so blind war, 

109 



hier, wo doch kein Normalmass mir als 
Anhaltspunkt dienen konnte, irgend etwas 
für gross oder klein anzusehen. Ich hatte 
in jenem Augenblick nicht die leiseste 
Ahnung davon, dass das, was ich für ein 
ausserordentlich geringes Quantum von 
Opium hielt, in Wirklichkeit ein über- 
mässig grosses sei. Im Gegenteil, ich 
erinnere mich gut, dass ich das Stückchen, 
das ich nehmen wollte, einfach nach seinem 
Grössenverhältnis zu dem ganzen Klumpen 
abschätzte, den ich in der Hand hielt, 
und bei diesem Vergleich war die Portion, 
die ich also schluckte — tatsächlich nur 
ein sehr kleiner Teil. 

Das Schloss, in das mein Diener ein- 
zudringen gewagt hatte, um mich, der ich 
arg verwundet und in trostlosem Zustand 
war, nicht die Nacht unter freiem Himmel 
zubringen zu lassen, war ein grandioser, 
düsterer Bau, der wohl schon lange grimmig 
in die Berge starrte. Allem Anschein nach 
war er für einige Zeit, und zwar erst kürz- 
lich, verlassen worden. Wir hatten uns 
110 



Digitized by Google 



in einem Zimmer eines vom Hauptgebäude 
etwas abgelegenen Turmes eingerichtet. 
Die Ausstattung des Raumes war reich, 
jedoch alt und verschlissen. Die Wände 
waren mit Teppichen behangen und mit 
zahlreichen und mannigfaltigen kriege- 
rischen Trophäen sowie mit einer grossen 
Reihe lebensvoller Gemälde in reichorna- 
mentierten goldenen Rahmen überladen. 

Diese Bilder, die nicht nur an den 
vier Wänden, sondern auch in all den 
Ecken und Nischen hingen, welche die 
bizarre Architektur des Schlossturmes be- 
dingt hatte — diese Bilder interessierten 
mich aufs lebhafteste: wahrscheinlich in- 
folge meines beginnenden Deliriums. Ich 
bat daher Pedro, die schweren Fenster- 
laden zu schliessen — denn es war schon 
Nacht — die Lichter eines hohen Kande- 
labers, der am Kopfende meines Bettes 
stand, anzuzünden und die befransten Vor- 
hänge aus schwarzem Sammet, die das 
Bett umschlossen, weit zurückzuziehen. 
Ich ordnete das alles an, um mich, wenn 

111 



schon nicht dem Schlaf, so wenigstens 
der Betrachtung dieser Bilder und der 
Lektüre eines kleinen Büchleins hinzuge- 
ben, das ich auf dem Bettkissen gefunden, 
und das eine Beschreibung und Würdigung 
der Bilder enthielt. 

Lange, lange las ich, und andächtig 
schaute ich. Die herrlichen Stunden flohen, 
und tiefe Mitternacht nahte. Ich wollte 
dem Kandelaber eine etwas andere Stellung 
geben, und um meinen schlummernden 
Diener nicht zu wecken, streckte ich selbst 
die Hand aus, und stellte den Leuchter 
so, dass seine Strahlen voll auf mein Buch 
fielen. 

Diese Veränderung hatte aber einen 
ganz unerwarteten Erfolg. Die Strahlen 
der zahlreichen Kerzen trafen jetzt in 
eine Nische des Zimmers, die bislang im 
tiefen Schatten eines mächtigen Bett- 
pfostens gelegen hatte. So sah ich nun ein 
mir bisher entgangenes Bild plötzlich in 
vollstem Lichte. Es war das Porträt eines 
jungen, zum Weibe reifenden Mädchens. 
112 



Digitized by Google 



Ich blickte hastig auf das Bild und 
schloss dann die Augen. Es war mir selbst 
zunächst nicht verständlich, weshalb ich 
das tat. Aber während ich die Lider ge- 
schlossen hielt, dachte ich über die Ur- 
sache hierfür nach. Es war eine ganz 
impulsive Bewegung gewesen, um Zeit 
zum Nachsinnen zu gewinnen — um die 
feste Überzeugung zu gewinnen, dass meine 
Blicke mich nicht betrogen hatten — um 
meine Gedanken, ehe ich einen prüfen- 
deren, bedeutsameren Blick wagen würde, 
zunächst zu sammeln und zu beruhigen. 
Einen Moment später sah ich also offen 
und scharf auf das Bild hin. 

Ich konnte nun nicht mehr daran zwei- 
feln, dass ich wach und völlig bei Sinnen 
war: denn schon vorhin, als der erste 
flackernde Schein der Kerzen auf diese 
Leinwand fiel, war ich aus der traum- 
haften Benommenheit, die meine Sinne 
beschlichen hatte, jäh erwacht. 

Das Bild war, wie ich schon sagte, 
das Porträt eines jungen Mädchens. Das 

Poe, Novellen von der Liebe 8 113 



in der Medaillonform der beliebten Por- 
träts von Sully ausgeführte Gemälde zeigte 
nur Kopf und Schultern. Die Arme, der 
Busen und das strahlende Haar ver- 
schmolzen unmerklich mit den unbestimm- 
ten, doch tiefen Schatten, die den Hinter- 
grund des Ganzen bildeten. Der ovale 
Rahmen bestand aus reich vergoldetem 
Schnitzwerk. Dies Gemälde war ein be- 
wunderungswürdiges Kunstwerk. Aber 
weder die hervorragende Ausführung des 
Bildes noch die überirdische Schönheit 
des Porträtkopfes konnten mich so un- 
erwartet und tief ergriffen haben. Noch 
weniger berechtigt war die Annahme, 
meine so plötzlich aus dem Schlummer 
geweckte Phantasie habe diesen Kopf 
da für das Antlitz eines lebenden 
Menschen angesehen. Ich sah sofort, 
dass sowohl die Zeichnung selbst wie 
auch ihre Einrahmung solchen Gedanken 
augenblicklich zerstreuen musste — ja, 
ihn überhaupt nicht aufkommen lassen 

konnte. 
114 



Digitized by Google 



Ich versank in Nachdenken über diese 
Fragen und lag wohl eine Stunde so da, 
halb aufgerichtet, die Blicke auf das Bild 
geheftet. Endlich, als ich das wahre Ge- 
heimnis seiner seltsamen Wirkung gefunden 
zu haben meinte, sank ich in die Kissen 
zurück. Der Zauber dieses eigenartigen 
Bildes schien mir in einer absoluten 
Lebensechtheit des Ausdrucks zu 
liegen — des Ausdrucks, der mich zuerst 
überrascht hatte, mich dann verwirrte, 
erschreckte und überwältigte. 

Voll tiefer ehrfürchtiger Scheu schob 
ich den Kandelaber an seinen früheren 
Platz zurück. Und nachdem nun der Gegen- 
stand meiner Unruhe meinen Blicken ent- 
zogen war, griff ich begierig nach dem 
Büchlein, das die Gemälde und ihre Ge- 
schichte behandelte. Ich schlug die Nummer 
auf, welche das ovale Porträt führte und 
las dort die wunderlichen Worte: — 

„Sie war ein Mädchen von seltenster 
Schönheit und ebenso heiter und lebens- 
durstig wie liebreizend. Und übel war 
8* 115 



die Stunde, da sie den Maler sah und 
liebte — den sie heiratete. Er: leiden- 
schaftlich, gelehrt, ernst und finster, seiner 
Kunst wie einer Geliebten zugetan; sie: 
ein Mädchen von seltenster Schönheit und 
ebenso heiter und lebensdurstig wie lieb- 
reizend; ganz wie ein junges Reh nur 
Licht und Lächeln und spielende Heiter- 
keit, liebte sie alle Dinge, liebkoste alle 
Dinge und hasste nur die Kunst, ihre 
Rivalin, verabscheute nur Palette und 
Pinsel und alle die Dinge, die ihr die 
Neigung des Geliebten streitig machten. 

Schrecklich war es für sie, als der Maler 
den Wunsch aussprach, sogar sie, sein 
junges Weib, porträtieren zu wollen. Aber 
sie war demütig und gehorsam und sass 
geduldig viele Wochen lang im hohen 
dunklen Turmzimmer, in das nur von oben 
her ein bleiches Licht hereinkroch. Er, 
der Maler, trank Seligkeit aus seinem 
Werk, das fortschritt von Stunde zu Stunde 
und von Tag zu Tag. Und er war ein 

leidenschaftlicher und wunderlicher und 
116 



Digitized by Google 



launischer Mann, der sich in Phantasien 
ganz verlieren konnte. Und er wollte nicht 
sehen, dass der gespenstische Lichtschein 
in dem alten einsamen Turm Gesundheit und 
Lebenswillen seiner jungen Frau aufzehrte. 

Sie siechte hin, doch sie lächelte noch 
immer — und immer ohne zu klagen ; denn 
sie sah, dass ihr Maler, dieser berühmte 
Mann, eine glühende, eine unsagbare Freude 
aus seiner Arbeit schöpfte und Tag und 
Nacht danach rang, das Bild zu vollen- 
den — das Bild von ihr, die ihn hingebend 
liebte und täglich teilnahmloser und 
schwächer wurde. Und in Wahrheit: man- 
cher, der das Porträt sah, rühmte in leisen 
Worten seine Ähnlichkeit — und es war, 
als rede man von einem seltsamen, macht- 
vollen Wunder, das ein Beweis sei sowohl 
für das Können des Malers wie für seine 
tiefe Liebe zu ihr, die er so über die Massen 
gut getroffen habe. Aber schliesslich, als 
die Arbeit ihrer Vollendung näher rückte, 
wurde niemand mehr im Turmzimmer vor- 
gelassen; denn der Maler war fast toll vor 

117 



Digitized by Google 



brünstigem Arbeitseif er und wandte nur sel- 
ten die Augen ab von der Leinwand und sah 
selbst seinem Weib nur selten noch ins 
Antlitz. Und er wollte nicht sehen, dass die 
blühenden Farben, die er auf die Leinwand 
strich, den Wangen der Geliebten, die neben 
ihm sass, entzogen wurden. Und als viele 
Wochen vergangen waren und nur noch 
wenig zu tun übrig blieb, nur noch ein 
Pinselstrich am Mund, ein Glanzlicht am 
Auge, da flackerte das Lebensverlangen 
des jungen Weibes noch einmal auf, so 
wie die Flamme in der erloschenden Lampe 
noch einmal aufflackert. Und dann war der 
Pinselstrich gemacht und das Glanzlicht an- 
gebracht; und einen Augenblick stand der 
Maler entrückt vor dem Werk, das er ge- 
schaffen. Im nächsten Augenblick aber be- 
gann er zu zittern und erbleichte und rang 
nach Atem, und ohne den Blick von seinem 
Werke abzuwenden, schrie er laut auf: 
Wahrlich, das ist das lebendige Leben 
selber! Und er wandte sich um, um seine 
Geliebte anzusehen. — Sie war tot! 
118 * 



Digitized by Google 




- 



Die vorliegenden fünf Novellen sind 
hier zum erstenmal in geschlossener Samm- 
lung vereinigt. Der umrahmende Titel 
wurde gewählt, weil diese fünf Erzählungen 
die einzigen sind, in denen der Dichter 
den Problemen der Liebe nachgeht, und 
jede ist ein Spiegel des grossen Ewigkeits- 
gedankens, den Poe in der Liebe rindet. 
Sie sagen von der Unwandelbarkeit, von 
der Unsterblichkeit, von der Sehnsucht, 
von der Tollheit, von der Hingabe der 
Liebe. Ober allen könnte Nietzsches 
Zarathustrawort stehen: „Es ist immer 
etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber 
immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn/' 

Den Novellen ist ein erst in jüngster 
Zeit aufgefundenes Liebe-Gedicht voran- 
gesetzt, das noch in keiner Poe-Ausgabe 
enthalten ist. Die deutsche Fassung dieses 

Gedichtes wie auch des Gedichtes der 

119 



Digitized by Google 



Ligeia wurde der noch unveröffentlichten 
Übertragung der Gedichte Poes von 
Theodor Etzel entnommen. 

Dem Büchlein wurde das Porträt von 
Poes jungem Weibe, seiner Cousine Vir- 
ginia Clemm, beigegeben ; und dies darum, 
weil anzunehmen ist, dass das zarte schöne 
Weib, dessen Leben nichts als ein lang- 
sames Sterben war — dass die schmerz- 
liche Liebe zu ihr dem Dichter die Visionen 
gab, denen wir die Novellen von der Liebe 
verdanken. G. E. 



120 



Digitized by 




Digitized by Google