Novellen von der liebe
Edgar Allan Poe
Ivb Uumi
i
Blau Memorial Collection
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E. A. POE' 5
NOVELLEN
VON DER LIEBE
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VIRGINIA CLEMM
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NOVELLEN
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VON DER LIEBE |
DEUTSCH VCN
GISELA ETZE
1
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!!
MÜNCHEN UND LEIPZIG
BEI GEORG MÜLLER
Dieses werk wurde im auftrage von
georg Müller verlag in München in
einer einmaugen auflage von 1000 in
der presse numerierten exemplaren
IN DER BUCHDRUCKEREI M. MÜLLER & SOHN
IN MÜNCHEN HERGESTELLT. 50 EXEM-
PLARE WURDEN AUF BÜTTEN ABGEZOGEN
EXEMPLAR Nr.
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Leonainie
Ein erst neuerdings aufgefundenes Gedicht Poes,
das noch in keiner Poe-Ausgabe enthalten ist. Das
Manuskript trägt von des Dichters Hand die Be-
merkung: „Lines left by a wanderer at a wayside
house in lieu of cash for board and lodging one
night." (Zeilen, die ein Wanderer in einem Hause
an der Strasse zurückliess, an Stelle von Bezahlung
für ein Nachtlager und Kost.)
V
^V\^> 548763
Lconainie angels named her, and they took
the light
Of the laughing stars and framed her in a smile
of white.
And they made her hair of gloomy midnight and
her eyes of bloomy
Moonshine and they brought her to me in a solemn
night.
In a solemn night of summer, when my heart of
gloom
Blossomed up to great the comer like a rose in bloom.
All foreboding that distressed me I forgot as joy
caressed me
Lying joy that caught and pressed me in the
arms of doom.
Only spake the little lisper in the angel tongue
Yet I listening heard the whisper: „Songs are
only sung
Here below that they may grieve you, tales are
told you to deceive you
So must Leonainie leave yon while her love is young.
Then God smiled — and it was morning matchless
and supreme
Heavens glory seemed adorning earth with its
esteem.
Every heart but mine seemed gifted with a prayer
and was lifted
When my Leonainie drifted from me like a dream.
VI
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Leonainie — diesen Namen gaben Engel ihr,
Gaben Sternlicht ihr als Rahmen — lächelnd
weisse Zier,
Haare aus der Mittnacht Glühen, Augen aus des
Mondes Blühen;
Brachten sie im Sommersprühen hoher Nacht zu
mir —
Sommernachts, als hoch im süssen Blühn mein
Herz geloht,
Sie, die Kommende, zu grüssen, voll wie Rose
rot.
Trübes Ahnen, das mich schmerzte, schwieg, als
mich die Freude herzte,
Trügerische Freude herzte mit dem Arm voll Tod.
Sprach nur zarter Engelzungen kleines Lispeln:
„Hier
Werden Lieder nur gesungen, kund Geschichten
dir,
Dich zu trügen, dich zu trüben; so auch muss in
nichts zerstieben
Leonainie, wenn das Lieben jung noch ist in ihr."
Lachelt Gott — : ein Morgen glänzte, wie zuvor
wohl kaum,
Himmelsherrlichkeit umkränzte licht den Erden-
raum.
Jedes Herz erfand Gebete, nur aus meinem keines
flehte,
Meine Leonainie wehte von mir wie ein Traum.
VII
ELEONORA
Poe, Novellen von der Liebe
Sub conservatione formae
specificae salva anima.
Raymond Lully.
Ich entstamme einem Geschlecht, das da-
für bekannt ist, eine flammende Leiden-
schaftlichkeit und zügellose Phantasie zu
besitzen. Von mir sagt man, dass ich wahn-
sinnig sei; aber noch ist die Frage nicht
gelöst, ob Wahnsinn nicht etwa erhabenste
Erkenntnis ist, ob vieles, was herrlich, ob
alles, was vollkommen ist, nicht vielleicht
einer Krankhaftigkeit des Denkens ent-
springt, einer durch Oberanstrengung des
normalen Intellekts hervorgerufenen Reiz-
barkeit des Geistes. Alle, die bei Tage
träumen, wissen von vielen Dingen, die
denen entgehen, die nur den Traum der
Nacht kennen. Visionen lassen sie den
Glanz der Ewigkeiten schauen, und in ihr
Wachsein nehmen sie das erschütternde
Bewusstsein mit, an der Schwelle der Er-
kenntnis des grossen Rätsels gestanden zu
haben. Augenblicke offenbaren ihnen mit
Blitzesgrelle viel von der Weisheit des
Guten, mehr noch von der blossen Kennt-
nis des Bosen. Sie haben nicht Ruder
noch Kompass und dringen dennoch in
das unendliche Meer des ewigen Lichtes
vor — und ferner, gleich den Fahrten des
nubischen Geographen, bis ins Meer der
Schatten: „agressi sunt mare tenebrarum,
quid in esset exploraturi."
Nehmen wir also an, ich sei wahn-
sinnig. Ich gebe zum wenigsten zu, dass
mein Geistesleben aus zwei ganz ver-
schiedenen Zuständen besteht: dem Zu-
stand klarer, nicht anzuzweifelnder Ver-
nunft, der die Erinnerung an die Bege-
benheiten der ersten Epoche meines Lebens
umfasst, und einem Zustand voller Schatten
und Zweifel, dem die Gegenwart gehört
und die Erinnerung an die Geschehnisse
der zweiten grossen Epoche meines Lebens.
Darum könnt ihr dem, was ich von meinem
ersten Lebensabschnitt sagen werde, Glau-
ben schenken, von dem aber, was ich von
der späteren Zeit berichte, glaubt nur so
viel als euch glaubwürdig erscheint —
oder bezweifelt das Ganze. Doch falls ihr
nicht zweifeln könnt, so mögt ihr vor den
Rätseln meiner Seele den Odipus spielen.
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Sie, die ich in meiner Jugend liebte
und von der ich jetzt kühl und klar das
Folgende berichte, war die einzige Tochter
der einzigen Schwester meiner früh ver-
storbenen Mutter. Eleonora war der Name
meiner Cousine. Wir hatten immer zu-
sammengewohnt — im „Tale des vielfar-
bigen Grases" unter tropischer Sonne.
Kein fremder Fuss betrat jemals dies Tal,
denn es lag weit weit droben inmitten
gigantischer Berge, die es ragend um-
standen und seinen lieblichen Gründen
Schatten spendeten. Kein Pfad führte dort-
hin, und um in unser seliges Heim zu ge-
langen, hätte man das Gezweig von vieltau-
send Waldbäumen gewaltsam durchbrechen
und die Herrlichkeit von vielmillionen duf-
tenden Blumen zertreten müssen. So lebten
wir also ganz einsam und kannten nichts
von der Welt ausserhalb des Tales — ich
und meine Cousine und ihre Mutter.
Aus den nebelhaften Regionen der
höchsten Berge, die unser Reich um-
schlossen, kam ein Fluss daher, schmal
5
und tief, und seine Flut war glänzender
als alles — ausgenommen Eleonoras Augen.
Er wand sich in verstohlenen Krümmungen
durchs Tal und tauchte dann in eine dunkle
Schlucht, zwischen Bergen, die noch
düsterer und geheimnisvoller waren als
jene, aus denen er gekommen. Wir nannten
ihn den „Fluss des Schweigens", denn es
war, als ob sein Fluten alles beruhige
und stille mache. Kein Murmeln klang
aus seinen Tiefen, er ging so sanft dahin,
dass die beperlten Kiesel auf seinem Grunde,
die wir oft bewunderten, sich niemals
rührten — in regungsloser Ruhe lagen sie,
jeder funkelte ewig am alten Platz.
Das Ufer des Flusses und der vielen
glitzernden Bächlein, die ihm auf allerlei
Umwegen zuströmten, und ebenso alle
Flächen, die von den Ufern sich ins Wasser
bis zum Kieselgrund hinuntersenkten, waren
von kurzem dichtem gleichmässigem Rasen
bedeckt, der lieblich duftete. Und weiter
noch dehnte sich dieser sanfte grüne
Teppich — durchs ganze Tal, vom Fluss
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bis an den Fuss der Höhen, die es um-
gürteten. Diese wundervolle weite Gras-
fläche war über und über mit gelben Butter-
blumen, weissen Gänseblümchen, blauen
Veilchen und rubinroten Asphodelen be-
sprenkelt, und ihre unbeschreibliche Schön-
heit redete laut zu unseren Herzen von
der Liebe und der Herrlichkeit Gottes.
Und hier und da erhoben sich im
Grase wie seltsam verschlungene Traum-
gebilde Gruppen phantastischer Bäume,
deren Stämme nicht senkrecht aufragten,
sondern in anmutigen Biegungen dem
Licht entgegenstrebten, das um Mittag in
die Mitte des Tales hereinleuchtete. Ihre
Rinde war ebenholzschwarz und silbern
gefleckt und war zarter als alles — aus-
genommen' Eleonoras Wangen. Ja, man
hätte diese Bäume für gigantische Schlangen
halten können, die der Sonne, ihrer Gott-
heit, huldigten, wären nicht die glänzend
grünen grossen Blätter gewesen,die von ihren
Gipfeln in langen bebenden Reihen nieder-
hingen und mit dem Zephir tändelten.
Lange Jahre durchstreifte ich Hand in
Hand mit Eleonora das Tal, ehe die Liebe
in unsere Herzen einzog. Es war an einem
Abend in Eleonoras fünfzehntem und
meinem zwanzigsten Lebensjahre, da sassen
wir einander eng umschlungen haltend
unter den Schlangenbaumen und blickten
hinab in den Fluss des Schweigens und
auf unser Bild, das sich in seinen Wassern
spiegelte.
Wir sprachen nichts mehr an diesem
süssen Tage, und selbst am andern Morgen
fand unsere Rede nur wenige zitternde
Worte,
Wir hatten in den Wassern Gott Eros
gefunden und hatten ihn in uns aufge-
nommen, und wir fühlten nun, dass er
die feurigen Seelen unserer Vorfahren in
uns entzündet hatte. Alle Leidenschaft-
lichkeit und blühende Phantasie, die durch
Jahrhunderte unser Geschlecht ausge-
zeichnet, ergriff unsere Herzen wie ein
Rausch und hauchte in das Tal des viel-
farbigen Grases eine wahnsinnige Selig-
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keit. Alle Dinge veränderten sich. Die
Bäume, die nie vordem ein Blühen ge-
kannt, entfalteten seltsame sternförmige
strahlende Blüten. Das Grün des Rasen-
teppichs vertiefte sich, und als — eine
nach der andern — die weissen Gänse-
blümchen dahinschwanden, brachen an
ihren Orten rubinrote Asphodelen auf —
zu zehn auf einmal. Und Leben regte
sich auf unseren Pfaden, denn der hohe
schlanke Flamingo, den wir bis dahin
noch nie gesehen, entfaltete vor uns
sein scharlachfarbenes Gefieder, und mit
ihm kamen und glühten alle heiteren
Vögel. Gold- und Silberfische belebten
den Fluss, und aus seinen Tiefen hob
sich leise, doch lauter und lauter wer-
dend, ein Murmeln, das schliesslich zu
einer sanften erhabenen Melodie anschwoll,
—
erhabener als der Sang aus des Aolus
Harfe und süsser als alles — ausgenommen
Eleonoras Stimme.
Und eine schwere mächtige Wolke,
die wir seit langem in den Regionen des
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Abendsterns beobachtet hatten, setzte sich
gemächlich in Bewegung. Und durch und
durch karmin- und golderglänzend lagerte
sie sich über unser Tal und sank Tag um
Tag friedvoll tiefer und tiefer, bis ihre
Ränder auf den Gipfeln der Berge ruhten,
deren nebelhaftes Grau sie in Glanz und
Pracht verwandelte. Und sie lagerte über
uns und schloss uns ein wie in ein zauber-
haftes Gefängnis von seltsamer Herr-
lichkeit.
Der Liebreiz Eleonoras war der der
Seraphim; aber sie war so schlicht und
unschuldig wie das kurze Leben, das sie
inmitten der Blumen gelebt hatte. Keine
Arglist lehrte sie die Inbrunst, die ihr
Herz entflammte, zu verbergen, und während
wir miteinander im Tale des vielfarbigen
Grases wandelten und über all seine Ver-
änderungen sprachen, enthüllte sie mir
die geheimsten Tiefen ihrer Seele.
Und eines Tages sprach sie unter Tränen
von jener letzten traurigen Veränderung,
der alle Menschen unterworfen sind; und
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von nun an weilte sie nur bei diesem
einen schmerzvollen Thema, das sie in
jedes unserer Gespräche einflocht, so wie
die Sang- er von Schiras in ihren Liedern
dieselben Bilder wieder und wieder an-
wenden.
Sie hatte die Hand des Todes auf
ihrer Brust gefühlt, sie wusste, dass sie
in so vollkommener Schönheit erschaffen
worden war, nur um — gleich der Ein-
tagsfliege — früh zu sterben. Doch alle
Schrecken des Todes waren für sie in
dem einen Gedanken vereint, von dem
sie mir in abendlicher Dämmerstunde am
Fluss des Schweigens sprach. Es beküm-
merte sie zu denken, ich könne, nachdem
ich sie im Tale des vielfarbigen Grases
begraben, dessen selige Verborgenheit
verlassen und die Liebe, die jetzt ganz
ihr gehörte, irgend einem Mädchen der
Alltagswelt da draussen schenken. Und
damals und dort warf ich mich ohne Be-
sinnen Eleonora zu Füssen und tat ihr und
dem Himmel den Schwur, dass ich mich
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niemals mit einer Tochter der Welt in Ehe
verbinden — dass ich niemals ihrem ge-
liebten Andenken, dem Andenken der
innigen Zuneigung, mit der sie mich seg-
nete, untreu werden wollte. Und ich rief
den allmächtigen Herrn des Weltalls zum
Zeugen an für meines Schwurs aufrich-
tigen Ernst. Und der Fluch, den ich von
ihm und von ihr, der Heiligen im Para-
diese, für den Fall meines Treubruches
auf mich herabrief, schloss eine so ent-
setzliche Strafe in sich, dass ich hier nicht
davon sprechen kann.
Und die strahlenden Augen Eleonoras
erstrahlten noch heller bei meinen Worten.
Und sie seufzte, als sei eine tödliche Last
ihr vom Herzen genommen, und sie zitterte
und weinte bitterlich. Aber sie nahm
meinen Schwur an — denn was war
sie anderes als ein Kind — und er Hess
sie erleichtert dem Sterben entgegen-
sehn. Und als sie einige Tage später
friedvoll entschlief, sagte sie zu mir, sie
wolle um deswillen, was ich für den Frie-
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den ihrer Seele getan, mit dieser Seele
über mich wachen; sie wolle, sofern es
möglich sei, in den wachen Stunden der
Nacht mir sichtbarlich erscheinen. Wenn
aber dies ausserhalb der Macht der Seelen
im Paradiese läge, so wolle sie mir ihr
Gegenwärtigsein wenigstens durch aller-
lei Zeichen kundtun. Sie werde mit den
Abendwinden mich umkosen und die Luft
um mich her mit dem Duft der himm-
lischen Weihrauchschalen erfüllen. Mit die-
sen Worten auf den Lippen gab sie ihr
junges reines Leben auf, und mit ihr en-
dete die erste Epoche meines eigenen
Lebens.
Bis hierher habe ich wahrheitsgetreu
berichtet. Doch wenn mein Denken auf
dem Wege der Vergangenheit die Grenze,
die der Tod meiner Geliebten gezogen,
überschreitet und in die zweite Periode
meines Lebens eintritt, dann sammeln sich
Schatten um mein Hirn, und ich fühle,
dass ich an meinem gesunden Gedächtnis
zweifeln muss. Doch ich will fortfahren.
n
Die Jahre schleppten sich trage dahin,
und immer noch wohnte ich im Tale des
vielfarbigen Grases. Aber wiederum hatte
eine Veränderung alle Dinge befallen.
Die sternförmigen Blüten krochen zurück
in die Stämme der Bäume und kamen nie
wieder zum Vorschein. Das tiefe Grün
des Rasenteppichs verblasste, und die
rubinroten Asphodelen welkten hin, eine
nach der andern. Und an ihren Orten
brachen — zu zehn auf einmal — dunkle
blauäugige Veilchen auf, und ihre Augen
standen immer voll Tau und blickten
kummervoll. Und Leben entschwand von
unseren alten Pfaden; denn der hohe,
schlanke Flamingo entfaltete nie mehr
sein scharlachrotes Gefieder, trauernd flog
er aus unserm Tale fort den Bergen zu,
und mit ihm zogen alle heiteren Vögel,
die ihn begleitet hatten. Und die Gold-
und Silberfische schwammen davon durch
die Schlucht, die an der einen Seite unser
Reich begrenzte, und zierten nie wieder
den lieblichen Fluss. Und die sanfte Melo-
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die, die erhebender gewesen war als der
Sang aus des Aolus Harfe und süsser
als alles — ausgenommen Eleonoras
Stimme, sie sank wieder zu leisem Mur-
meln herab und wurde leiser und leiser,
bis sie erstarb und der Fluss wieder in
seinem einstigen feierlich-düsteren Schwei-
gen dahinfloss. Und dann — zuletzt —
hob sich die mächtige Wolke von den
Gipfeln der Berge, die wieder in ihr
nebelhaftes Grau zurücktauchten, und
schwamm gemächlich davon, den fernen
Regionen des Abendsternes zu, und mit
ihr verschwand das strahlende Gold und
alle die glänzende Pracht, mit der sie
das Tal des vielfarbigen Grases über-
schüttet hatte.
Jedoch was Eleonora versprochen hatte,
erfüllte sich. Denn ich hörte um mich
das Schwingen der himmlischen Weih-
rauchschalen, und Ströme himmlischer
Düfte durchfluteten immer und immer das
Tal. Und in einsamen Stunden, wenn
mein Herz in heftigem Pulsschlag erbebte,
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umschmeichelten sanfte Winde mit süssem
Seufzen meine Stirn. Die dunklen Nächte
füllte oft ein schwaches Flüstern, und ein-
mal — oh, einmal nur! — weckte mich aus
einem todähnlichen Schlafe der Kuss geister-
hafter Lippen, die meinen Mund berührten.
Aber all dies vermochte nicht die Leere
meines Herzens auszufüllen, und grenzen-
los war sein Verlangen nach jener Liebe,
von der es vordem so übervoll gewesen.
Und endlich kam es so weit, dass mir
das Tal des vielfarbigen Grases, durch
das mich die Erinnerungen hetzten, zur
Qual wurde, und ich vertauschte es für
immer gegen die Eitelkeiten und das friede-
lose Glück der Welt.
* *
Ich fand mich in einer fremden Stadt,
in der alle Dinge nur dazu dienten, die
Erinnerung an die süssen Träume, die ich
so lange Jahre im Tale des vielfarbigen
Grases geträumt, aus meinem Gedächtnis
auszulöschen. Ein prächtiges Hoflager mit
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Pomp und Festen, betäubendes Waffen-
geklirr und strahlende Frauenlieblichkeit
verwirrten und berauschten mein Hirn.
Doch bis jetzt war meine Seele ihrem
Schwur treu geblieben, und immer noch
verkündete mir Eleonora in den stillen
Stunden der Nacht ihr Gegenwärtigsein.
Plötzlich aber hörten diese Anzeichen
auf, und die Welt wurde schwarz vor
meinen Augen, und ich stand in atem-
losem Schreck vor dem glühenden Ge-
danken — der grauenhaften Versuchung,
die mich befallen hatten. Denn an den
fröhlichen Hof des Königs, dem ich diente,
kam aus irgend einem fernen, fernen un-
bekannten Lande ein Mädchen, von deren
Schönheit mein ganzes ruchloses Herz
entflammt und hingerissen ward — zu
deren Füssen ich mich ohne Sträuben
niederwarf in wehrloser abgöttischer Liebe.
Ach, wie armselig war die Leidenschaft,
die ich dem jungen Kinde im Tale des
vielfarbigen Grases geschenkt, wenn ich
sie mit der Glut und dem Wahnwitz und
Poe, Novellen von der Liebe 2 17
den beseligenden Ekstasen verglich, in
denen jetzt meine Anbetung emporjauchzte,
mit dem trunkenen Schluchzen, in dem
meine Seele zu Füssen der himmlischen
Ermengard dahinschmolz ! Oh, herrlich
war der Engel Ermengard ! Und vor dieser
Erkenntnis versank alles andere. — Oh,
göttlich war der Engel Ermengard! Und
ich ertrank im Blick ihrer unergründlichen
Augen und sah und suchte nur sie.
Ich vermählte mich mit Ermengard —
und fürchtete nicht den Fluch, den ich
auf mich herabgeschworen; und seine
Schrecken suchten mich nicht heim. Da
kam noch einmal — ein einziges Mal durch
das Schweigen der Nacht das süsse Seufzen
wieder zu mir, und es formte sich zu einer
wohlbekannten inbrünstigen Stimme:
„Schlafe in Frieden 1 Denn der Geist
der Liebe lebt und herrscht Und wenn du
glühenden Herzens Ermengard umarmst,
bist du — aus Gründen, die dir dereinst
im Himmel offenbar werden sollen —
deines Gelübdes an Eleonora entbunden."
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LIGEIA
2* 19
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Und es liegt darin der Wille,
der nicht stirbt. Wer kennt die
Geheimnisse des Willens und seine
Gewalt? Denn Gott ist nichts als
ein grosser Wille, der mit der ihm
eigenen Kraft alle Dinge durch-
dringt. Der Mensch uberliefert
sich den Engeln oder dem Nichts
einzig durch die Schwäche seines
schlaffen Willens.
Joseph Glanvill.
20
ei meiner Seele! ich kann mich nicht
U erinnern, wie, wann und wo ich die
erste Bekanntschaft machte — der Lady
Ligeia. Lange Jahre sind seitdem verflossen,
und mein Gedächtnis ist schwach geworden
durch vieles Leiden. Vielleicht auch kann
ich mich dieser Einzelheiten nur darum
nicht mehr erinnern, weil der Charakter
meiner Geliebten, ihr umfassendes Wissen,
ihre eigenartige und doch milde Schön-
heit und die überwältigende Beredsamkeit
ihrer sanft tönenden Stimme — weil dies
alles zusammen nur ganz allmählich und
verstohlen den Weg in mein Herz nahm,
zu allmählich, als dass ich daran gedacht
hätte, mir jene äusseren Umstände einzu-
prägen.
Ich habe jedoch das Empfinden, als
sei ich ihr zum erstenmal und hierauf
wiederholt in einer altertümlichen Stadt
am Rhein begegnet. Und eins weiss ich
bestimmt: sie erzählte mir von ihrer Familie,
die sehr alten Ursprungs war. — Ligeial
Ligeia! — Trotzdem ich in Studien ver-
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graben bin, deren Art mehr noch als alles
andere dazu angetan ist, mich von Welt
und Menschen abzusondern, genügt dies
eine süsse Wort „Ligeia", um vor meinen
Augen ihr Bild erstehen zu lassen — das
Bild von ihr, die nicht mehr ist. Und
jetzt, während ich schreibe, überfällt mich
urplötzlich das Bewusstsein, dass ich von
ihr, meiner Freundin und Verlobten, der
Gefährtin meiner Studien und dem Weib
meines Herzens, den Namen ihrer Familie
nie erfahren habe. War es ein schalk-
hafter Streich, den Ligeia mir gespielt?
War es ein Beweis meiner bedingungs-
losen Hingabe, dass ich nie eine dahin-
gehende Frage stellte? Oder war es
meinerseits eine Laune, ein romantisches
Opfer, das ich auf den Altar meiner leiden-
schaftlichen Ergebenheit niedergelegt?
Der blossen Tatsache sogar kann ich mich
nur unklar erinnern — was Wunder, dass
ich die Gründe dafür vollständig vergessen
habe! Und wirklich, wenn jemals der
romantische Geist der bleichen und nebel-
22
■
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beschwingten Ashtophet des götzengläu-
bigen Ägyptens, wie die Sage meldet,
über unglückliche Ehen geherrscht hat, so
ist es gewiss, dass er meine Ehe stiftete
und beherrschte.
Immerhin hat mich wenigstens in einem
Punkt meine Erinnerung nicht verlassen:
die Persönlichkeit Ligeias steht mir
heute noch klar vor Augen. Sie war von
hoher, schlanker Gestalt, in ihren letzten
Tagen sogar sehr hager. Vergebliches
Bemühen wäre es, wenn ich eine Be-
schreibung der Erhabenheit, der würde-
vollen Gelassenheit ihres Wesens oder
der unvergleichlichen Leichtigkeit und
Elastizität ihres Schreitens versuchen wollte.
Sie kam und ging wie ein Schatten. War
sie in mein Arbeitszimmer gekommen, so
bemerkte ich ihre Anwesenheit nicht eher,
als bis ich den lieben Wohlklang ihrer
sanften süssen Stimme vernahm oder ihre
marmorweisse Hand auf meiner Schulter
fühlte. Kein Weib auf Erden trug solche
Schönheit im Antlitz wie siel Strahlend
23
schön war sie wie die Erscheinung eines
Opiumtraumes, wie eine gottliche beseli-
gende Vision — göttlicher noch als die
Traumgebilde, die durch die schlafenden
Seelen der Töchter von Delos wehen.
Doch waren ihre Züge keineswegs von
jener Regelmässigkeit, wie sie die klassi-
schen Bildwerke des Heidentums aufweisen,
und die man mit Unrecht so übertrieben
bewundert. „Es gibt keine auserlesene
Schönheit," sagt Bacon Lord Verulam da,
wo er von allen Formen und Arten der
Schönheit spricht, „ohne eine gewisse
Seltsamkeit in der Proportion.' 4 Aber
wenn ich auch sah, dass die Züge Li-
geias nicht von klassischer Regelmässigkeit
waren, wenn ich auch feststellte, dass ihre
Schönheit in der Tat „auserlesen" war,
und fühlte, dass viel „Seltsamkeit" in
ihren Zügen lag, so habe ich doch ver-
gebens versucht, dieser Unregelmässigkeit
auf die Spur zu kommen und meine Fest-
stellung des „Seltsamen" zu begründen.
Ich prüfte die Kontur der hohen und
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bleichen Stirn — sie war fehlerlos. Wie
kalt klingt doch dies Wort für eine so
gottliche Majestät, für die wie reinstes
Elfenbein schimmernde Haut, die gebiete-
rische Breite und ruhevolle Harmonie
dieser Stirn, die sanfte Erhöhung über den
Schläfen, die eine üppige Fülle raben-
schwarzer glänzender Locken umschmiegte
— Locken, die das homerische Epitheton
„hyazinthen" so wunderbar erfüllten! —
Ich prüfte die feinen Linien der Nase:
nirgend anders als auf althebräischen
Medaillons hatte ich ebenso vollkommen
schönes gesehen; nur dort hatte ich eine
gleich wundervolle Zartheit und dieselbe
kaum wahrnehmbare Neigung zu sanfter
Krümmung dieselben harmonisch ge-
schweiften Nasenflügel, die einen freien
Geist verrieten, gefunden. — Ich betrachtete
den süssen Mund. Hier feierten alle
Himmelswonnen ihr triumphierendes Fest :
dieser entzückende Schwung der kurzen
Oberlippe, diese weiche wollüstige Ruhe
der Unterlippe, diese tändelnden Grübchen,
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diese lockende Farbe, diese schimmernden
Zähne, die jeden Strahl des heiligen Lichtes
widerspiegelten, mit dem ihr heiteres und
ruhevolles und gleichwohl frohlockendes
Lächeln sie blendend schmückte. — Ich
prüfte die Form des Kinnes und fand auch
hier in seiner sanften Breite Majestät, Fülle
und griechischen Geist — fand die Kontur,
die der Gott Apoll dem Kleomenes, dem
Sohn des Atheners, im Traume nur ent-
hüllte. — Und dann vertiefte ich mich in
Ligeias grosse Augen.
Für Augen finden wir im fernen Alter-
tum kein Vorbild. Es mochte sein, dass
eben hier — in den Augen meiner Ge-
liebten — das Geheimnis lag, von dem
Lord Verulam spricht. Sie schienen mir
weit grösser als sonst die Augen unserer
Rasse. Sie waren üppiger als selbst die
üppigsten Augen der Gazellen vom Stamme
des Tales Nourjahad. Doch war es nur
zu Zeiten — in Augenblicken tiefster Er-
regung, dass diese „Seltsamkeit", von der
ich vorhin sprach, deutlicher wahrnehmbar
26
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wurde bei ihr. Und in solchen Augen-
blicken war Ligeias Schönheit — vielleicht
kam es auch nur meiner erglühten Phan-
tasie so vor — die Schönheit von über-
irdischen oder unirdischen Wesen, die
Schönheit der sagenhaften Houri der
Türken. Von strahlendstem Schwarz waren
ihre Pupillen und waren tief beschattet
von sehr langen jettschwarzen Wimpern.
Die Brauen, deren Linien kaum merklich
unregelmässig waren, hatten die gleiche
Farbe. Die Seltsamkeit aber, die ich in
den Augen fand, lag nicht in Form, Farbe
oder Glanz, sie muss wohl in ihrem Aus-
druck gelegen haben. Ach, bedeutungs-
loses Wort! Leeres Wort, hinter dessen
blossem Klang wir uns mit unserer Un-
kenntnis alles Geistigen verschanzen!
Der Ausdruck von Ligeias Augen!
Oh, wie viele Stunden habe ich ihm nach-
gesonnen 1 Wie habe ich eine ganze Mitt-
sommernacht lang gerungen, ihn zu er-
gründen! Was war es, dies Etwas, das
tief innen in den Pupillen meiner Geliebten
27
verborgen lag, das unergründlicher war als
die Quelle des Demokritos? Was war es?
Ich war wie besessen von dem Verlangen,
es zu entdecken. Diese Augen! Diese
grossen, diese schimmernden, diese gött-
lichen Augen! Sie wurden für mich die
Zwillingssterne der Leda, und ich war ihr
andächtigster Astrologe.
Es gibt in der Psychologie viele un-
lösbare Rätsel, das unheimlichste aber und
aufregendste von allen erschien mir stets
die Tatsache — die übrigens von den
Psychologen kaum je erwähnt worden ist
— dass wir oft, wenn wir etwas längst
Vergessenes wieder in unser Gedächtnis
zurückrufen wollen, bis auf die Schwelle
des Erinnerns gelangen, ohne doch das,
was sozusagen schon vor uns steht, wirk-
lich festhalten zu können. Und wie oft,
wenn ich den Augen Ligeias nachsann,
fühlte ich mich der vollen Aufklärung über
die Bedeutung ihres Ausdrucks ganz nahe :
ich fühlte, sie war da — gleich, gleich
würde ich sie erfassen — und da ent-
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schwebte sie wieder, noch ehe ich sie
hatte festhalten können. Und — sonder-
bares, oh sonderbarstes Mysterium! — ich
fand in den gewöhnlichsten Dingen von
der Welt eine Reihe von Analogien zu
diesem Ausdruck. Ich will damit sagen:
nachdem Ligeias eigenartige Schönheit mir
bewusst geworden war und nun im Altar-
schrein meines Herzens ruhte, lösten viele
Erscheinungen der realen Welt dasselbe
Empfinden in mir aus wie der Blick aus
Ligeias grossen leuchtenden Augen. Trotz-
dem aber wollte es mir nicht gelingen,
dies Empfinden zu ergründen oder zu zer-
gliedern; auch überkam es mich nicht
stets in der gleichen Stärke. Um mich
näher zu erklären: jenes Gefühl erfüllte
mich zum Beispiel beim Anblick einer
schnell emporschiessenden Weinrebe, bei
der Betrachtung eines Nachtfalters, einer
Schmetterlingspuppe, eines eilig strömen-
den Wasserlaufes. Ich habe es im Ozean
gefunden und beim Fallen eines Meteors,
sogar im Blick ungewöhnlich alter Leute.
29
Und es gibt am Firmament ein paar Sterne,
vor allem ein veränderliches Doppelgestirn
sechster Grösse nahe beim grossen Stern
der Leier, bei deren Betrachtung durch
das Teleskop ich mich des nämlichen Ge-
fühls nicht erwehren konnte. Gewisse
Töne von Saiteninstrumenten und be-
stimmte Stellen in Büchern durchschauerten
mich ähnlich so. Unter zahllosen anderen
Beispielen erinnere ich mich besonders
eines Ausspruchs, den ich bei Joseph Glan-
vill fand und der — vielleicht nur wegen
seiner Wunderlichkeit — immer wieder
diese Stimmung in mir erweckte: „Und
es liegt darin der Wille, der nicht stirbt.
Wer kennt die Geheimnisse des Willens
und seine Gewalt? Denn Gott ist nichts
als ein grosser Wille, der mit der ihm
eigenen Kraft alle Dinge durchdringt. Der
Mensch überliefert sich den Engeln oder
dem Nichts einzig durch die Schwäche
seines schlaffen Willens."
Eifriges Nachdenken durch lange Jahre
hindurch hat mir nun wirklich gewisse
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leise Beziehungen gezeigt zwischen diesem
Ausspruch des englischen Philosophen und
einem Teil von Ligeias Wesen. Es lebte
in ihr ein unerhört starker Wille, der
während unseres langen Zusammenlebens
nie spontan zutage trat, sondern sich
nur in einer unglaublichen Anspannung
des Denkens, Tuns und Redens zu er-
kennen gab. Von allen Frauen, die ich
je gekannt, war sie, die äusserlich ruhe-
volle, die stets gelassen milde Ligeia, wie
keine andere die Beute der tobenden Geier
grausamster Leidenschaftlichkeit. Und diese
Leidenschaftlichkeit enthüllte sich mir nur
im wundervollen Strahlen ihrer Augen,
die mich gleichzeitig entzückten und ent-
setzten, in der fast zauberhaften Melodie,
Weichheit, Klarheit und Würde ihrer
sonoren Stimme und in der flammen-
den Energie, die in ihren seltsam ge-
wählten Worten lag und die im Kon-
trast mit der Ruhe, mit der diese ge-
sprochen wurden, doppelt wirkungs-
voll war.
31
Ich erwähnte schon das umfassende
Wissen Ligeias: ihre Kenntnisse waren
unermesslich — für eine Frau ganz uner-
hört. In allen klassischen Sprachen war
sie Meister, und auch in den modernen
Sprachen des Kontinents habe ich ihr, so-
weit ich selbst mit diesen Sprachen ver-
traut war, nie einen Fehler nachweisen
können. Und gab es denn überhaupt irgend
ein Thema aus den Gebieten der höchsten
und schwierigsten Wissenschaften, in dem
ich Ligeia jemals auf Unkenntnis oder
Irrtum ertappt hätte? Wie sonderbar, wie
schauerlich! Diese eine Seite nur vom
Wesen meiner Frau ist heute noch meinem
Gedächtnis erinnerlich. Ich sagte, an
Wissen überragte sie weit alle anderen
Frauen — doch wo lebt der Mann, der die
philosophische, physikalische und mathe-
matische Wissenschaft in ihrer ganzen un-
ermesslichen Ausdehnung so verständnis-
voll studiert hätte ? 1 Damals sah ich noch
nicht, was ich jetzt klar erkenne, dass dies
Wissen Ligeias unglaublich, dass es gigan-
32
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tisch war. Doch war ich mir ihrer unend-
lichen Überlegenheit genügend bewusst,
um mich mit kindlichem Vertrauen ihrer
Führung durch die chaotische Welt meta-
physischer Probleme, mit denen ich mich
während der ersten Jahre unserer Ehe
eifrig beschäftigte, zu überlassen. Mit
welch ungeheurem Triumph — mit welch
lebhaftem Entzücken — mit welch himm-
lischer Hoffnung konnte ich, wenn sie in
diesem so unbekannten, so wenig gepfleg-
ten Studium sich helfend zu mir neigte,
fühlen, wie vor mir der herrlichste Aus-
blick sich öffnete und ein in diese glän-
zenden Höhen führender langer köstlicher
und noch ganz unbetretener Pfad sichtbar
wurde, auf dem ich wohl endlich empor
ans Ziel einer Weisheit gelangen durfte,
die zu göttlich erhaben ist, um nicht ver-
boten zu sein!
Wie heftig musste da der Gram gewesen
sein, mit dem ich einige Jahre später meine
so festgegründeten Hoffnungen Flügel
nehmen und sich davonschwingen sah!
Poe, Novellen von der Liebe 3 33
Ohne Ligeia war ich nichts als ein durch
Dunkel tastendes Kind. Nur ihre Gegen-
wart, ihr Erklären brachte helles Licht in
die vielen Mysterien des Transcendentalen,
in die wir eingedrungen waren. Wenn
den golden züngelnden Schriftzeichen der
leuchtende Glanz ihrer Augen fehlte, wurden
sie matter als stumpfes Blei. Und seltener
und seltener fiel nun der Strahl dieser
Augen auf die Blätter, über deren Inhalt
ich brütete. Ligeia wurde krank. Die
herrlichen Augen strahlten in über-
natürlichen Flammen, die bleichen Hände
wurden wachsfarben wie bei einem Toten,
und die blauen Adern auf der hohen Stirn
hoben sich und pochten ungestüm bei der
geringsten Aufregung. Ich sah, dass sie
sterben musste — und mein Geist rang
verzweifelt mit dem grimmen Azrael.
Noch angestrengter als ich, rang —
zu meinem Erstaunen — das leidenschaft-
liche Weib. So manches in ihrer ernsten
Natur hatte in mir den Glauben gezeitigt,
dass für sie der Tod keine Schrecken
34
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haben werde — doch dem war nicht so.
Es gibt keine Worte, die auch nur an-
nähernd die Wildheit ihres Widerstandes
beschreiben könnten, den sie dem Schatten
Tod entgegensetzte. Ich stöhnte gequält
bei diesem mitleiderregenden Anblick.
Ich wollte besänftigen, aber gegenüber
der unheimlichen Gewalt, mit der sie nur
leben — nur leben — nichts als leben
wollte, schien Trost und Zuspruch unsäg-
lich albern. Aber trotzdem sich ihr feuriger
Geist so wild gebärdete, bewahrte sie die
Hoheit ihres äusseren Wesens bis zum
letzten Augenblick, dem Augenblick des
Todeskampfes. Ihre Stimme wurde noch
sanfter — wurde noch tiefer — dennoch
möchte ich jetzt bei dem grausigen Sinn
der Worte, die sie in aller Ruhe sprach,
nicht nachdenkend verweilen. Mein Geist,
der diesen überirdischen Tönen hingerissen
lauschte — diesem Hoffen und Ringen,
dieser gewaltigen Sehnsucht, wie nie zuvor
ein Sterblicher sie fühlte — taumelte und
verwirrte sich.
3* 35
Dass sie mich liebte, daran hatte ich
nie gezweifelt, auch konnte ich mir wohl
sagen, dass die Liebe eines solchen Her-
zens nicht mit gewöhnlichem Mass zu
messen sei. Aber erst in ihrem Sterben
erhielt ich den vollen Eindruck der wahren
Kraft ihrer Liebe. Lange Stunden hielt
sie meine Hand und schüttete vor mir aus
das Uberfluten eines Herzens, dessen mehr
als leidenschaftliche Ergebenheit an An-
betung grenzte. Wie hatte ich es ver-
dient, mit solchen Bekenntnissen gesegnet
zu werden? Und wie hatte ich es ver-
dient, verdammt zu werden durch den Ver-
lust der Geliebten — in der nämlichen
Stunde, da sie mir diese Bekenntnisse ge-
macht? Doch ich kann es nicht ertragen,
von diesen Dingen zu sprechen. Nur
eines lasst mich sagen: ich erkannte in
Ligeias mehr als weiblicher Hingabe an
eine Liebe, die ich, ach, gar so wenig ver-
diente, den wahren Grund für ihr so tiefes,
so wildes Begehren nach dem Leben —
dem Leben, das jetzt so eilend entfloh.
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Für dies wilde Sehnen, für diese Gier und
Gewalt des Verlangens nach Leben —
nur nach Leben — finde ich keine Aus-
drucksmöglichkeit; keine Worte gibt es,
die es sagen könnten.
In der Nacht ihres Scheidens Hess sie
mich nicht von ihrer Seite. In tiefster
Mitternachtstunde bat sie mich, ihr einige
Verse herzusagen, die sie selbst wenige
Tage vorher verfasst hatte. Ich gehorchte.
Hier sind sie:
O schaut, es ist festliche Nacht
Inmitten einsam letzter Tage!
Ein Engelchor, schluchzend in Flügelpracht
Und Schleierflor sieht zage
Im Schauspielhaus ein Schauspiel an
Von Hoffnung, Angst und Plage,
Derweil das Orchester dann und wann
Musik haucht: Sphärenklage.
Schauspieler, Gottes Ebenbilder,
Murmeln und brummein dumpf
Und hasten planlos, immer wilder,
Sind Puppen nur und folgen stumpf
Gewaltigen düsteren Dingen,
Die umziehn ohne Form und Rumpf
Und dunkles Weh aus Kondorschwingen
Schlagen voll Triumph.
37
Dies närrische Drama! — O fürwahr,
Nie wird's vergessen werden,
Nie sein Phantom, verfolgt für immerdar
Von wilder Rotte rasenden Gebärden,
Verfolgt umsonst — zum alten Fleck
Kehrt stets der Kreislauf neu zurück — ,
Und nie die Tollheit, die Sünde, der Schreck
Und das Grausen: die Seele vom Stück.
Doch sieh, in die mimende Runde
Drangt schleichend ein blutrot Ding
Hervor aus ödem Hintergrunde
Der Bühne — ein blutrot Ding.
Es windet sichl — windet sich in die Bahn
Der Mimen, die Angst schon tötet,
Die Engel schluchzen, da Wurmes Zahn
In Menschenblut sich rötet.
Aus — aus sind die Lichter — alle aus !
Vor jede zuckende Gestalt
Der Vorhang fallt mit Wetterbraus,
Ein Leichentuch finster und kalt
Die Engel schlagen die Schleier zurück,
Sind erbleicht und entschweben in Sturm,
„Mensch" nennen sie das tragische Stück,
Seinen Helden „Eroberer Wurm".
„O Gott!" schrie Ligeia, sprang vom
Bett auf und reckte die Arme empor.
„Gott! Gott! O göttlicher Vater! Muss
das immer unabänderlich so sein? Soll
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dieser Sieger nie, niemals besiegt werden ?
Sind wir nicht Teil und Teile von dir?
Wer — wer kennt die Geheimnisse des
Willens und seine Gewalt? Der Mensch
überliefert sich den Engeln oder dem
Nichts einzig durch die Schwäche seines
schlaffen Willens."
Und nun, wie von innerer Bewegung
überwältigt, Hess sie die weissen Arme
sinken und kehrte feierlich auf ihr Sterbe-
bett zurück. Und als sie die letzten Seufzer
hauchte, kam gleichzeitig ein leises Mur-
meln von ihren Lippen. Ich legte das
Ohr an ihren Mund und erkannte wieder
die Schlussworte des Glanvillschen Aus-
spruchs: „Der Mensch überliefert, sich
den Engeln oder dem Nichts einzig durch
die Schwäche seines schlaffen Willens."
Sie starb. Und ich, den der Gram
völlig zermalmt hatte, konnte nicht länger
die einsame Verlassenheit meiner Behau-
sung in der düsteren und verfallenen Stadt
am Rhein ertragen. Ich hatte keinen Mangel
an dem, was die Welt „Besitz" nennt;
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Ligeia hatte mir viel mehr, o sehr viel
mehr gebracht, als für gewöhnlich einem
Sterblichen zufällt. So kam es, dass ich
nach einigen Monaten planlosen und er-
müdenden Umherwanderns in einer der
wildesten und abgelegensten Gegenden
des schönen Englands eine alte Abtei,
deren Namen ich nicht nennen möchte,
käuflich erwarb und instand setzte. Die
düstere und traurige Majestät des Gebäu-
des, die unglaubliche Verwilderung der
Ländereien, die vielen melancholischen und
altehrwürdigen Erinnerungen, die sich an
beide knüpften, hatten viel gemein mit
dem Gefühl äusserster Verlassenheit, das
mich in jenen entlegenen und unwirtlichen
Teil des Landes hingetrieben hatte. An
dem Abteigebäude selbst mit seinem ver-
witterten, unter blühendem Grün verbor-
genen Mauerwerk nahm ich keine Ver-
änderungen vor, dagegen widmete ich mich
mit kindischem Eigensinn und wohl auch
in der schwachen Hoffnung, meinen Kum-
mer dadurch zu zerstreuen, der Ausstat-
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tung der Innenräume und entfaltete hier
eine ganz ungewöhnliche Pracht. Ich hatte
schon als Kind Geschmack an solchen
Torheiten gefunden, und jetzt, da mich
mein Kummer wieder hilflos gemacht hatte,
stellte sich jener kindliche Trieb von neuem
ein. Ach, ich fühle, wie viel Spuren von
Geistesverwirrung sogar in den prunk-
haften und phantastischen Draperien, in
den feierlichen ägyptischen Schnitzereien,
in den grotesken Möbeln, in den tollen
Mustern der goldgewirkten Teppiche zu
finden waren. Ich lag, ein gefesselter
Sklave, in den Banden des Opiums,
und meine Handlungen und Anordnungen
hatten den Charakter meiner Träume an-
genommen. Doch ich will nicht bei der
Beschreibung dieser Albernheiten ver-
weilen, lasst mich nur von jenem einen
verfluchten Gemach sprechen, in das
ich in einem Anfall von geistiger Um-
nachtung als mein angetrautes Weib —
als die Nachfolgerin der unvergessenen
Ligeia — führte: die blondhaarige und
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blauäugige Lady Rowena Trevanion of
Tremaine.
Selbst die unbedeutendste Einzelheit
in Architektur und Ausstattung dieses
Brautgemachs steht mir noch jetzt deutlich
vor Augen. Was dachten sich nur die
goldgierigen hochmütigen Angehörigen
meiner Braut, als sie einem so geliebten
Mädchen, einer so geliebten Tochter ge-
statteten, die Schwelle eines derart ge-
schmückten Brautgemachs zu überschreiten.
Trotzdem leider so manche tief bedeut-
same Dinge meinem Gedächtnis entschwun-
den sind, so sind mir doch, wie ich schon
sagte, die geringsten Einzelheiten dieses
Zimmers gegenwärtig; ich erinnere mich
ihrer, obgleich in diesem phantastischen
Prunk kein System, kein Halt war, daran
mein Erinnern sich hätte klammern können.
Das Zimmer lag in einem hohen Turm der
burgartig gebauten Abtei; es war ein
fünfeckiger Raum von beträchtlicher Grösse.
Die ganze Südseite des Fünfecks nahm
das einzige Fenster, eine riesige Scheibe
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ungebrochenen venezianischen Glases, ein,
das von bleifarbener Tönung war, sodass
Sonnenlicht wie Mondglanz über die
Gegenstände des Zimmers nur einen ge-
spensterhaften Schein gössen. Der obere
Teil dieser ungeheuren Fensterscheibe
wurde durch das Rankenwerk eines ur-
alten Weinstocks, der an den massigen
Mauern des Turmes emporgeklettert war,
dunkel beschattet. Das düstere Eichen-
holz der ausserordentlich hoch gewölbten
Zimmerdecke war mit Schnitzereien in
halb gotischem halb druidenhaftem Stil
überladen. Genau aus dem Mittelpunkte
dieser melancholischen Wölbung hing an
einer einzigen goldenen langgegliederten
Kette ein mächtiger goldener Kronleuchter
in Form eines Weihrauchbeckens, mit sara-
zenischem Bildwerk geschmückt. Dieser
Kronleuchter hatte rundum viele Offnun-
gen, aus denen wie lebhafte Schlangen fort-
während die buntesten Flammen züngelten.
Ein paar Ottomanen und goldene orien-
talische Kandelaber waren im Raum verteilt.
43
Und da war auch das Lager, das Braut-
bett! Es war nach einem indischen Mo-
dell gearbeitet; es war niedrig und aus
massivem Ebenholz geschnitzt und von
einem Baldachin, der einem Bahrtuch glich,
überdacht. In jeder Ecke des Zimmers
stand aufrecht ein riesiger schwarzgrani-
tener Sarkophag, den unsterbliche Skulp-
turen schmückten. Diese Sarkophage
stammten aus den Königsgräbern vonLuxor.
Aber noch mehr als in allem anderen
waltete meine unheimliche Phantasie in
der Wandverkleidung des Gemachs. Die
unverhältnismässig hohen Wände waren
von der Decke bis zum Fussboden mit
faltenreichem schwerem Goldstoff ver-
hangen — demselben Stoff, der als Fuss-
und Ottomanenteppich, als Bettdecke und
Baldachin, sowie als prunkhafter Uberhang
der einen Teil des Fensters überschatten-
den Vorhänge Verwendung gefunden hatte.
Dieser Goldstoff trug in unregelmässigen
Zwischenräumen arabeskenartige Figuren
von einem Fuss Durchmesser, die aus tief-
44
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schwarzem Stoff gearbeitet waren. Aber
*
nur von einer einzigen Stelle aus betrachtet
schienen diese Figuren nichts als Arabesken
zu sein. Infolge eines heute allgemein
bekannten Verfahrens, das man jedoch
schon im frühen Altertum anwendete, boten
sie dem Beschauer von jeder Seite ein
anderes Bild. Wenn man das Zimmer
betrat, erschienen sie einfach nur wie
Monstrositäten, je näher man aber an sie
herantrat, desto bestimmtere Bilder nahmen
sie an, und Schritt für Schritt, je nach
dem vom Beschauer gewählten Standpunkt,
sah man sich von einer wechselnden Pro-
zession gespensterhafter Wesen umringt,
wie etwa der Aberglaube der Normannen
sie ersonnen hat oder ein Mönch in ver-
brecherischem Traum sie erschauen mag.
Der gespenstische Eindruck wurde durch
einen auf künstlichem Wege hinter die
Draperien geführten, ununterbrochenen
Luftzug, der dem Ganzen eine unbehag-
liche und abscheuliche Lebendigkeit ver-
lieh, noch erheblich erhöht.
4S
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In solchem Raum also, in solchem Braut-
gemach, verlebte ich mit Lady Rowena
of Tremaine die gottlosen Stunden unseres
Honigmonds — ohne viel Aufregung. Dass
mein Weib vor meiner Ubellaunigkeit
Furcht hatte, dass sie mir aus dem Wege
ging und mir nur wenig Liebe entgegen-
brachte, konnte mir nicht entgehen, aber
gerade dies freute mich mehr, als wenn
es anders gewesen wäre. Ich verabscheute
sie, ich hasste sie — mit einer Inbrunst,
die geradezu teuflisch war. Mein Erinnern
floh — oh mit welch tiefem Leidgefühl
— zu Ligeia zurück, der Geliebten, der
Hehren, der Schönen, der Begrabenen!
Ich schwelgte im Gedenken ihrer Reinheit
und Weisheit, ihres erhabenen, ihres himm-
lischen Wesens, ihrer leidenschaftlichen,
ihrer anbetenden Liebe. Jetzt lohte in
meiner Seele noch wildere, noch heissere
Flamme, als sie in ihr, in Ligeia, gebrannt
hatte. In den Ekstasen meiner Opiumträume
— ich lag fast immer im Bann dieses
Giftes — rief ich wieder und wieder ihren
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Namen durch das Schweigen der Nacht
oder bei Tag durch die schattigen Schluch-
ten der Landschaft. Es war, als ob das
wilde Verlangen, die tiefernste Leiden-
schaft, das verzehrende Feuer meiner Sehn-
sucht nach der Dahingegangenen sie auf
den irdischen Pfad zurückzuführen ver-
suchte, den sie — ach, konnte es denn
für ewig sein? — verlassen hatte.
Gegen Beginn des zweiten Monats
unserer Ehe wurde Lady Rowena plötzlich
von einer Krankheit befallen, von der sie
nur langsam genas. Zehrendes Fieber
machte ihre Nächte unruhig, und in ihrem
aufgeregten Halbschlummer redete sie von
gespenstischen Lauten und Schatten, die
im Turmzimmer und in seiner nächsten
Umgebung sich vernehmen, sich sehen
Hessen. Ich hielt diese Äusserungen natür-
lich für Einbildungen einer kranken Phan-
tasie, die allerdings durch das unheimliche
Zimmer geweckt sein konnte. Sie erholte
sich schliesslich wieder — und genas end-
lich völlig. Doch nur für kurze Zeit;
47
denn bald warf ein zweiter heftigerer An-
fall sie von neuem auf das Krankenlager.
Und von diesem Rückfall erholte sie, die
ohnedies von zarter Gesundheit war, sich
nie mehr vollständig. Die Krankheits-
erscheinungen, die diesem zweiten Anfall
folgten, waren sehr beunruhigend und
spotteten aller Wissenschaft und allen Be-
mühungen der Ärzte. Mit dem An-
wachsen ihres chronischen Leidens, das
ersichtlich schon tiefer wurzelte, als dass
man ihm mit Medikamenten erfolgreich
hätte beikommen können, bemerkte ich
auch eine Steigerung ihrer nervösen Reiz-
barkeit und ihres schreckhaften Entsetzens
bei ganz nichtigen Anlässen. Sie sprach
wieder — und häufiger und hartnäckiger
jetzt — von den Lauten, den ganz
leisen Lauten, und von den seltsamen
Schatten, die sich an den Wänden regten.
In einer Nacht, es war gegen Ende
September, wies sie meine Aufmerksamkeit
mit mehr als gewöhnlichem Nachdruck
auf diese peinigenden Ängste hin. Sie
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war soeben aus unruhigem Schlummer er-
wacht, und ich hatte — halb in Besorgnis
und halb in Entsetzen — das Arbeiten
der Muskeln in ihrem abgemagerten Ge-
sicht beobachtet. Ich sass seitwärts von
ihrem Ebenholzbett auf einer der indischen
Ottomanen. Sie richtete sich halb auf und
sprach in eindringlichem leisem Flüstern
von Lauten, die sie jetzt vernahm, die ich
aber nicht hören konnte — von Bewe-
gungen, die sie jetzt sah, die ich aber nicht
wahrnehmen konnte. Der Wind wehte
hinter der Wandverkleidung in hastigen
Zügen, und ich hatte die Absicht, ihr zu
zeigen (was ich allerdings, wie ich be-
kenne, selbst nicht ganz glauben konnte),
dass dieses kaum vernehmbare Atmen, dass
diese ganz geringen Verschiebungen der
Gestalten an den Wänden nur die natür-
liche Folge des Luftzuges seien. Doch ein
tödliches Erbleichen ihrer Wangen Hess
mich einsehen, dass meine Bemühungen,
sie zu beruhigen, fruchtlos sein würden.
Sie schien ohnmächtig zu werden, und
Poe, Novellen von der Liebe 4 49
keiner der Dienstleute war in Rufnähe.
Da erinnerte ich mich einer Flasche leichten
Weines, den die Arzte ihr verordnet hatten,
und eilte quer durchs Zimmer, um sie zu
holen. Doch als ich unter den Flammen
des Weihrauchbeckens angekommen war,
erregten zwei sonderbare Umstände meine
Aufmerksamkeit Ich fühlte, dass ein un-
sichtbares, doch greifbares Etwas leicht
an mir vorbeistreifte, und ich sah, dass auf
dem goldenen Teppich, genau in der Mitte
des reichen Glanzes, den die Ampel da-
rauf niederwarf, ein Schatten — ein schwa-
cher, undeutlicher, geisterhafter Schatten
lag — : so zart war er, dass man ihn für
den Schatten eines Schattens hätte halten
können. Aber ich war infolge einer un-
gewöhnlich grossen Dosis Opium sehr
aufgeregt und achtete dieser Erscheinungen
kaum, erwähnte auch gegen Rowena nichts
von ihnen.
Ich fand den Wein, schritt quer durchs
Zimmer ans Bett zurück, füllte ein Kelch-
glas voll und brachte es an die Lippen
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der nahezu ohnmächtigen Kranken. Sie
hatte sich ein wenig erholt und ergriff
selbst das Glas ; ich sank auf die nächste
Ottomane und sah gespannt zu meinem
Weib hinüber. Da geschah es, dass ich
deutlich einen leisen Schritt über den
Teppich zum Lager hinschreiten hörte;
und eine Sekunde später, als Rowena den
Wein an die Lippen führte, sah ich —
oder träumte, dass ich es sah — wie aus
einer unsichtbaren Quelle in der Atmo-
sphäre des Zimmers kommend, drei oder
vier grosse Tropfen einer strahlenden,
rubinroten Flüssigkeit in den Kelch fallen.
Ich sah dies — Rowena sah es nicht.
Sie trank den Wein ohne Zögern, und ich
vermied es, ihr von einem Umstand zu
sprechen, der — wie ich mir nach reif-
licher Überlegung sagte — nichts anderes
gewesen sein konnte als eine Erscheinung
einer lebhaften Einbildungskraft — die
durch die Äusserungen der Leidenden,
durch das Opium und durch die späte
Nachtstunde krankhaft erregt sein musste.
4* 51
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Dennoch konnte ich mir nicht ver-
hehlen, dass die Krankheit meiner Frau,
nachdem diese den Becher geleert hatte,
eine rapide Wendung zum Schlimmsten
nahm. Und in der dritten Nacht darauf
kleideten die Dienerinnen Lady Rowena
in das Leichengewand — und in der vierten
Nacht sass ich allein bei ihrem Leichnam
in dem seltsamen Gemach, in das sie als
meine Braut eingetreten war.
Wilde Visionen, eine Folge des Opium-
genusses, umschwebten mich wie Schatten.
Meine Blicke musterten unruhig die in den
Ecken des Zimmers aufgestellten Sarko-
phage, die veränderlichen Gestalten des
Wandteppichs und die züngelnden, bunt-
farbigen Flammen des Weihrauchbeckens
mir zu Häupten. Ich erinnerte mich der
sonderbaren Erscheinungen jener Nacht,
die über Rowenas Leben entschieden hatte,
und blickte unwillkürlich auf die vom
Ampellicht bestrahlte Stelle des Teppichs,
wo ich damals den schwachen Schein eines
Schattens bemerkt hatte. Er war jedoch
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nicht mehr zu sehen, und ich wandte mich
aufatmend ab und heftete meine Blicke
auf das bleiche und starre Antlitz der
Aufgebahrten. Da überfielen mich tausend
liebe Erinnerungen an Ligeia, und über
mein Herz stürzte mit der Wucht eines
Giessbaches das ganze unsagbare Weh,
mit dem ich sie im Leichentuch gesehen
hatte. Die Stunden gingen, und immer
noch sass ich und starrte Rowena an, das
Herz geschwellt vom Gedenken an die
eine Einzige, die himmlisch Geliebte.
Es mochte gegen Mitternacht sein -
vielleicht etwas früher oder später, ich
hatte der Zeit nicht geachtet — als ein
leiser, zarter, aber deutlich wahrnehmbarer
Seufzer mich aus meinen Träumen auf-
schreckte. Ich fühlte, dass er vom Eben-
holzbett her kam — vom Totenbett.
Ich lauschte in angstvollem abergläubischem
Entsetzen — aber der Laut wiederholte
sich nicht. Ich strengte meine Augen an,
um irgend eine Bewegung des entseelten
Körpers wahrzunehmen, nicht die mindeste
53
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Regung war zu entdecken. Dennoch konnte
ich mich nicht getäuscht haben. Ich hatte
das Geräusch, wie schwach es auch ge-
wesen sein mochte, tatsächlich vernommen,
und meine Seele war erwacht und lauschte.
Ich heftete meine Augen durchdringend
und mit aller Willenskonzentration auf den
Totenleib. Viele Minuten vergingen, ehe
sich auch nur das geringste ereignete, das
Licht in dies Geheimnis bringen konnte.
Endlich sah ich ganz deutlich, dass ein
leiser, ein ganz schwacher und kaum wahr-
nehmbarer Hauch sowohl die Wangen
wie auch die eingesunkenen feinen Adern
der Augenlider gerötet hatte« Ein namen-
loses Grausen, eine wahnsinnige Furcht,
für die es keine Worte gibt, Hess mich
auf meinem Sitz zu Stein erstarren und
lähmte das Pulsen meines Herzens. Und
doch gab mir schliesslich ein gewisses
Pflichtgefühl meine Selbstbeherrschung
zurück. Ich konnte nicht länger daran
zweifeln, dass wir in unserm Vorgehen
allzu voreilig gewesen waren, ich konnte
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nicht länger daran zweifeln — dass Ro-
wena lebte. Man musste sofort Wieder-
belebungsversuche anstellen. Doch der
Turm lag ganz abseits von den anderen
Gebäuden, in denen die Dienerschaft
untergebracht war — keiner der Leute
befand sich in Hörweite — hätte ich sie
zu meiner Hilfe herbeiholen wollen, so
hätte ich das Zimmer auf viele Minuten
verlassen müssen — das aber durfte ich
nicht wagen. Ich bemühte mich daher
allein, die Seele, die noch nicht ganz ent-
flohen schien, wieder ins Leben zu rufen.
Aber schon nach kurzer Zeit war ersicht-
lich ein Rückfall eingetreten; die Farbe
verschwand von Wangen und Augenlidern,
die nun bleicher noch als Marmor er-
schienen. Die Lippen schrumpften ein
und kniffen sich zusammen und trugen
den grässlichen Ausdruck des Todes;
eine widerliche klebrige Kälte breitete
sich schnell über den ganzen Leib, der
überdies vollständig steif und starr wurde.
Schaudernd sank ich auf das Ruhebett
55
zurück, von dem ich in so fassungslosem
Schreck aufgescheucht worden war, und gab
mich von neuem leidenschaftlichen wachen
Visionen hin, in denen ich Ligeia vor
mir sah.
So war eine Stunde verstrichen, als
ich — konnte es möglich sein? — ein
zweites Mal von der Gegend des Bettes
her einen schwachen Laut vernahm. Ich
lauschte in höchstem Grauen. Der Ton
wiederholte sich — es war ein Seufzer.
Ich eilte zur Leiche hin und sah — sah
deutlich — dass die Lippen zitterten.
Eine Minute später öffneten sie sich und
legten eine Reihe perlenschöner Zähne
bloss. Zu der tiefen Furcht, die mich
bis jetzt gebannt hielt, gesellte sich nun
auch Bestürzung. Ich fühlte, wie es dunkel
wurde vor meinen Augen, wie meine Ge-
danken wanderten, und nur durch ganz
gewaltige Anstrengung gelang es mir,
mich für die Aufgabe, auf die mich die
Pflicht nun wiederum hinwies, zu stählen.
Sowohl auf der Stirn wie auf Wangen
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und Hals war jetzt ein sanftes Glühen zu
bemerken, eine fühlbare Wärme durch-
drang den ganzen Körper, am Herzen
war sogar ein leiser Pulsschlag zu spüren.
Die Tote lebte, und mit doppeltem Eifer
unterzog ich mich den Wiederbelebungs-
versuchen. Ich rieb und berührte die
Schläfen und die Hände und wendete
alles an, was Erfahrung und eine gute
Belesenheit in medizinischen Dingen er-
denken konnte. Doch vergeblich. Plötz-
lich verschwand die Farbe, der Pulsschlag
hörte auf, die Lippen nahmen wieder den
Ausdruck des Todes an, und einen Augen-
blick danach hatte der Körper die frostige
Eiseskälte, den bleiernen Farbton, die
vollkommene Starre, die eingesunkenen
Formen und all die widerlichen Eigen-
schaften dessen, der schon seit vielen Tagen
ein Bewohner der Grabes gewesen war.
Und wieder sank ich in Träume von
Ligeia — und wieder — was Wunder,
dass ich beim Schreiben jetzt noch schau-
dere — wieder drang vom Ebenholzbett
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her ein leiser Seufzer an mein Ohr. Aber
warum soll ich die unaussprechlichen
Schrecken jener Nacht in allen Einzel-
heiten schildern? Warum soll ich dar-
über nachsinnen, wie ich es schildern
sollte, dass bis zur Morgendämmerung dies
fürchterliche Drama des Wiederbelebens
und des Wiederabsterbens sich fortsetzte ;
wie jeder schreckliche Rückfall einen
tieferen unlöslicheren Tod bedeutete; wie
jede Agonie wie ein Ringen mit einem
unsichtbaren Feind erschien, und wie jeder
Kampf — ich weiss nicht was für eine gräss-
liche Veränderung in der Erscheinung des
Körpers nach sich zog? Lasst mich zum
Schluss eilen.
Der grössteTeil der furchtbaren Nacht
war dahingegangen, und sie, die tot ge-
wesen, rührte sich wieder. Und die Lebens-
zeichen waren jetzt kräftiger als bisher,
obgleich sie vordem in eine Auflösung
gesunken war, die grässlicher gewesen
als alle früheren. Ich hatte es schon
längst aufgegeben, mich zu bemühen, mich
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überhaupt noch zu rühren. Ich sass er-
starrt auf der Ottomane — eine hilflose
ßeute wilder Aufregungen, deren am wenig-
sten schreckliche, am wenigsten aufreibende
wohl eine masslose Angst war. Der Leich-
nam, ich wiederhole es, rührte sich, und
zwar lebhafter als bisher. Die Farben
des Lebens schössen mit unglaublicher
Energie ins Antlitz, die Glieder wurden
wieder beweglich; und wenn die Augen-
lider nicht noch immer fest geschlossen
gewesen wären, wenn der Leib nicht noch
immer still in seinen Grabtüchern und
Bändern dagelegen hätte, so hätte ich
glauben müssen, dass Rowena sich end-
gültig aus den Fesseln des Todes befreit
habe. Doch wenn bis dahin dieser Ge-
danke noch entschieden zurückgewiesen
werden musste, so schwanden alle Zweifel,
als nun das leichentuchumhüllte Wesen
vom Bette aufstand und schwankend, un-
sicheren Schrittes, mit geschlossenen Augen
und mit dem Gebaren eines Traum-
wesens, doch körperlich sichtbar und fühl-
59
bar, sich in die Mitte des Zimmers vor-
bewegte.
Ich zitterte nicht — ich rührte mich
nicht — denn ein Schwärm seltsamer Emp-
findungen, die sich an das Aussehen,
die Statur, die Bewegungen der Gestalt
knüpften, hatten mein Hirn überfallen und
mich zu Stein erstarrt. Ich rührte mich
nicht — doch meine Blicke hingen an der
Erscheinung. Meine Gedanken taumelten
wie im Wahnsinn — tobten und Hessen
sich nicht halten und bändigen. Konnte
das wirklich die lebende Rowena sein,
die mir da gegenüberstand? Konnte es
überhaupt Rowena sein — die blond-
haarige, blauäugige Lady Rowena Treva-
nion of Tremaine? Warum, warum sollte
ich es bezweifeln ? Die Binden umschlossen
fest den Mund — aber warum sollte es
nicht der Mund, der atmende Mund der
Lady of Tremaine sein ? Und die Wangen
— sie trugen Rosen wie im Mittag ihres
Lebens — ja, das waren wohl sicher die
schönen Wangen der lebenden Lady of
60
Tremaine. Und das Kinn, das Kinn mit
den Grübchen der Gesundheit, war es
nicht das ihre? — Aber war sie denn
in ihrer Krankheit gewachsen?
Welch unaussprechlicher Wahnsinn fasste
mich bei dem Gedanken? Ein Sprung,
und ich lag zu ihren Füssen! Sie wich
meiner Berührung aus, und die grässlichen
Leintücher, die den Kopf umschlossen
hatten, lösten sich und fielen nieder —
und in die wehende Atmosphäre des Ge-
machs strömten gewaltige Massen langen
freien Haares: es war schwärzer als
die Rabenschwingen der Mittnacht!
Und nun öffneten sich langsam die Augen
der Gestalt, die dicht vor mir stand.
„Hier, hier endlich", schrie ich laut, „kann
ich mich niemals — niemals irren: dies
sind die grossen und die schwarzen und
die wilden Augen — meiner verlorenen
Geliebten — die Augen der Lady — der
Lady Ligeia!"
61
MORELLA
63
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Auto koB' clvto fieß' avrov,
fioveides atei ov.
Plato, Symposion.
64
in Gefühl tiefer, jedoch höchst selt-
samer Zuneigung verband mich meiner
Freundin Morella. Ein Zufall war's, der
mich vor vielen Jahren mit ihr zusammen-
führte, aber seit unserer ersten Begeg-
nung brannte meine Seele in fremder
entfesselter Glut. Das war nicht die
Flamme des Eros, das war ein selt-
sam wilder Seelenbrand, und bitter und
qualvoll war meinem Geist die wachsende
Uberzeugung, dass ich das rätselhafte
Wesen dieser Gluten auf keine Weise
zu ergründen, noch ihr Aufflammen
und Niedersinken zu beherrschen ver-
mochte.
Und das Schicksal, das uns zueinander
geführt, band uns am Altar zusammen.
Doch sprach ich nie ein Wort, das Lei-
denschaft gewesen wäre, dachte nie einen
Gedanken, der Liebe bedeutet hätte.
Morella aber floh jede Geselligkeit und
schloss sich innig an mich an und machte
mich glücklich — denn Staunen und
Träumen ist Glück.
Poe, Novellen von der Liebe 5 65
Morellas Gelehrsamkeit war unergründ-
lich. Bei meinem Leben I Ihre vielseitige
Begabung war geradezu übernatürlich —
ihre Verstandeskräfte waren gigantisch!
Ich wusste das und wurde in vielen Dingen
ihr Schüler. Es begann damit, dass sie
mir eine Anzahl jener mystischen Schriften
vorlegte, die man gemeiniglich nur als den
Abschaum der frühen deutschen Lite-
ratur ansieht. Das Studium dieser Werke
bildete — aus mir unverständlichen Grün-
den — ihre liebste und ausdauerndste
Beschäftigung, und dass es auch die meine
wurde, ist einfach dem unwiderstehlichen
Einfluss von Beispiel und Gewohnheit zu-
zuschreiben.
Mit alledem hatte, wenn ich nicht
irre, mein Verstand wenig zu schaffen.
Soviel ich weiss, stimmte meine Welt-
anschauung durchaus nicht mit den Idealen
dieser Leute überein, und auch in meinem
Tun und Denken war keine Spur von
ihrem Mystizismus zu entdecken. Ich
wenigstens hatte diese Überzeugung und
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überliess mich daher ruhig und blindlings
der Führung meiner Frau, der ich uner-
schrocken in allen ihren Studien folgte.
Und dann — dann, wenn ich über geäch-
tete, verderbliche Blätter gebeugt fühlte,
wie ein verderblicher Geist sein Feuer in
mir entzündete, kam Morella und legte
ihre kalte Hand auf meine heisse Hand
und entfachte aus der Asche einer toten
Philosophie irgendwelche fast bedeutungs-
losen, doch eigentümlichen Worte, deren
seltsamer Sinn sich flammend in mein
Gedächtnis grub. Und dann — dann ging
ich Stunde um Stunde nicht von ihrer
Seite und berauschte mich am Wohlklang
ihrer Stimme, bis diese mir zum Über-
druss und schliesslich zum Entsetzen wurde
und schwarze Schatten sich auf meine
Seele lagerten, und bis ich erbleichte und
tief im Innern vor den fast überirdischen
Lauten schauderte. Und so ward plötz-
lich Glück und Freude zu Entsetzen
und namenlosem Abscheu, und Schön-
heit weckte Grauen, so wie einst aus
s* 67
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dem Tale Hinnom das Gehenna gewor-
den war.
Es ist unnötig, über die einzelnen Pro-
bleme, die jene alten Bücher in uns an-
regten und die lange, lange Zeit fast das
einzige Thema unserer Gespräche bildeten,
viel zu sagen. Alle die, welche etwas von
„theologischer Moral" verstehen, kennen
diese Fragen gut, und jene, die darin
unerfahren sind, würden mich sicherlich
kaum verstehen. Der wilde Pantheismus
Fichtes, die gemässigtere Lehre der Py-
thagoräer von der Wiederkunft und vor
allem die Identitätsdoktrinen, wie Send-
ling sie aufstellte, bildeten den hauptsäch-
lichsten Stoff für unsere Diskussionen und
schienen die phantasievolle Morella am
tiefsten und schönsten anzuregen. Jene
sogenannte persönliche Identität definiert
Locke, wie ich glaube, als das dauernde
Bestehen eines jeden vernunftbegabten
Daseins. Und da wir unter „Person" ein
intelligenz- und vernunftbegabtes Wesen
verstehen, und da alles Denken stets von
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ßewusstheit begleitet ist, so formt dies
beides gemeinsam unser „Ich" und unter-
scheidet uns durch Verleihung unserer
„persönlichen Identität" von anderen den-
kenden Wesen. Doch das „principium
individuationis", der Begriff dieser Identität,
die mit dem Tode verloren oder nicht
verloren geht, war mir stets ein Problem
von ausserordentlicher Bedeutung, nicht
allein wegen seiner verwirrenden und auf-
regenden Konsequenzen, sondern auch
wegen der sonderbaren und eifrigen Art
und Weise, in der Morella es behandelte.
Doch die Zeit war gekommen, in der
das Geheimnisvolle im Wesen meines
Weibes mich wie ein Alb, ein Zauber be-
drückte. Ich konnte die Berührung ihrer
bleichen Finger nicht ertragen, ich konnte
den sanften Klang ihrer tönenden Sprache,
den Glanz ihrer melancholischen Augen
nicht ertragen. Und sie wusste all dies
und hielt es mir doch niemals vor. Sie
schien meine Schwäche, meine Manie zu
kennen und nannte es lächelnd „Schicksal".
69
Selbst die mir unbekannte Ursache für
meine sich steigernde Abneigung schien
sie zu kennen, doch machte sie nie eine
Andeutung, die mir auf die Spur geholfen
hätte. Aber sie war Weib und härmte
sich und schwand hin und welkte von
Tag zu Tag. Mit der Zeit erschien und
blieb auf ihren Wangen eine bedeutungs-
volle Rote, und die blauen Adern auf ihrer
bleichen hohen Stirn schwollen an. Und
wenn mein Wesen für einen Augenblick
in Mitleid schmolz, so traf mich im näch-
sten das Aufleuchten ihrer bedeutsamen
Augen — und meine Seele entsetzte sich
und wurde von einem Schwindel ergriffen,
wie er uns befällt, wenn wir hinab in
einen grausig düsteren, unergründlichen
Abgrund spähen.
Muss ich noch sagen, dass ich mit
tiefem aufreibendem Verlangen die Stunde
von Morellas Ableben herbeiwünschte?
Ich tat es. Aber der schwache Geist
klammerte sich noch Tage, Wochen, Monate
an seine zerbrechliche Hülle ; und es kam
70
Digitized
so weit, dass meine gemarterten Nerven
Herrschaft gewannen über mich. Dies
Hinzögern machte mich rasend, und mein
teuflisches Herz verfluchte die Tage und
die Stunden und die bitteren Minuten,
die länger und länger zu werden schienen,
je mehr ihr zartes Leben dahinschmolz,
wie Schatten länger und länger werden
im sterbenden Tag.
Aber eines Herbstabends, als alle
Winde im Himmelsraum schliefen, rief
mich Morella an ihr Bett. Ein trüber
Nebel lagerte über der Erde und ein
warmer Glanz auf den Wassern, und die
Farben des herbstlichen Waldes glühten
so bunt, als sei ein Regenbogen vom
Firmament herabgefallen und in Millionen
bunte Scherben zersplittert.
„Dies ist der Tag der Tage* 4 , sagte
sie, als ich zu ihr trat. „Der Tag der
Tage — sei es zum leben oder sterben.
Ein schöner Tag für die Söhne der Erde
und des Lebens — ah, schöner noch für
die Töchter des Himmels und des Todes!"
71
Ich küsste sie auf die Stirn, und sie
fuhr fort:
„Ich sterbe, dennoch werde ich leben !"
„Morella!"
„Die Tage, da du mich lieben konntest,
sind nie gekommen — doch sie, die du
im Leben verabscheutest — im Tode sollst
du sie anbeten/'
„Morella!"
„Ich wiederhole es: — ich sterbe.
Doch in mir lebt ein Unterpfand der
Neigung, die du — ach wie gering! —
für mich, Morella, fühltest. Und wenn
mein Geist entflieht, wird das Kind leben —
dein Kind und meines, Morellas! Doch
deine Tage werden Tage der Sorge sein —
der Sorge, die beständiger ist als alles
andere, gleichwie die Zypresse ausdauern-
der ist als alle anderen Bäume. Denn
die Stunden deines Glückes sind vorüber,
und Freude erblüht nicht zweimal im
Leben, nicht zweimal, wie die Rosen von
Paestum zweimal blühen im Jahre. Rebe
und Myrte werden dir unbekannt sein,
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und du wirst, gleich den Moslemin in
Mekka, auf Erden schon dein Leichentuch
mit dir herumtragen."
„Morella!" schrie ich auf, „Morella!
Wie kannst du das wissen?"
Aber sie wendete das Gesicht ab,
und ein leises Zittern überlief ihre Glieder.
Sie starb, und ihre herrliche, ihre entsetz-
liche Stimme war tot.
Doch wie sie es vorausgesagt hatte,
geschah es. Ihr Kind, das sie sterbend
geboren und das den ersten Atemzug tat
als seine Mutter den letzten tat, dies Kind,
ein Mädchen, lebte. Und es entwickelte
sich geistig und körperlich ausserordent-
lich schnell und war das vollkommene
Ebenbild von ihr, die dahingeschieden
war, und ich liebte es mit einer Liebe,
deren Glut und Innigkeit mir oft wie eine
Kraft aus einer anderen Welt erschien.
Doch nicht lange, da verdunkelte sich
der Himmel dieser reinen Zuneigung, denn
Grausen und Kummer jagten wie ungeheure
verderbenbringende Wolken darüber hin.
73
Ich sagte schon, das Kind entwickelte sich
ausserordentlich früh an Körper und Geist.
Und in der Tat, sein schnelles leibliches
Wachstum war geradezu befremdend.
Aber schrecklich, oh! schrecklich waren
die tobenden Gedanken, die mich über-
stürzten, wenn ich des Kindes geistiger
Entwicklung folgte. Wie konnte es anders
sein? Entdeckte ich doch täglich in den
Vorstellungen der kindlichen Seele die
abnorme Begabung und das ausgereifte
Wissen des Weibes, vernahm aus dem kind-
lichen Munde diegenialsten Erfahrungssätze,
die Menschen jemals aufgestellt, und sah im
Auge des Kindes die Weisheit und Leiden-
schaftlichkeit vollkommener Reife glühen.
Als alle diese Erscheinungen meinen
erschreckten Sinnen offenbar wurden, als
meine Seele sie in sich aufgenommen
hatte — ist es da zu verwundern, dass
ein entsetzlicher Argwohn mich befiel
in der quälenden Erinnerung an die grau-
sigen Phantasien und unerhörten Theorien
■
der verstorbenen Morella?
74
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Und ich verbarg dies junge Wesen,
das ich anbetete, vor den Blicken und
Einflüssen der Welt, und in der vollstän-
digen Abgeschlossenheit meines Heims
wachte ich mit aufreibender Sorge über
alles, was dieses geliebte Wesen betraf.
Und wie die Jahre dahinflössen und
ich Tag um Tag in ihr heiliges und mildes
und beredtes Antlitz spähte und Tag um
Tag ihr Wachsen und Reifen bemerkte,
geschah es, dass ich Tag um Tag neue
Dinge fand, in denen die Tochter voll-
ständig ihrer Mutter — der schwermütigen
und toten — glich. Und stündlich ver-
dichteten sich diese Schatten einer un-
natürlichen Ähnlichkeit und wurden immer
tiefer und immer bestimmter und immer
beängstigender — und immer grauenvolle r
anzusehen. Dass ihr Lächeln dem Lächeln
ihrer Mutter vollkommen glich, das hätte
ich ertragen können; aber da, plötzlich,
schauderte ich, denn ihr Lächeln war nicht
nur dem Morellas gleich — es war mit
ihm i den tischt Dass ihre Augen den
75
Augen Morellas glichen, konnte ich hin-
nehmen, aber manchmal, oft, drang der
Tochter Blick in die Tiefen meiner Seele
mit einer verwirrenden Eindringlichkeit,
wie sie eben nur Morella eigen sein konnte.
Und in den Umrissen der hohen Stirn
und in den seidigen Locken ihres Haares,
in den bleichen Fingern, die mit diesen
Locken spielten, und in der klagenden
Musik ihrer Stimme, und vor allem —
oh, vor allem in den Redewendungen
der Toten, die von den Lippen der Leben-
den und Geliebten flössen, fand ich Nah-
rung für die aufreibendste Gedankenarbeit
und für das rastloseste Entsetzen, — für
den Wurm, der niemals sterben wollte!
So vergingen die ersten zehn Jahre
ihres Lebens, und noch immer hatte meine
Tochter keinen Taufnamen. „Mein Kind*
und „mein Liebling" sind ja übliche Be-
nennungen, wie Vaterliebe sie findet, und
die strenge Abgeschlossenheit, in der sie
lebte, schloss jeden weiteren Verkehr aus
und machte daher einen anderen Namen
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überflüssig. Morellas Name war mit ihr
gestorben. Ich hatte der Tochter niemals
von der Mutter gesprochen; es war un-
möglich, von ihr zu sprechen. Tatsächlich
hatte also das Kind in seinem jungen
Leben keine anderen Eindrücke emp-
fangen als diejenigen, die sich ihm in
den engen Grenzen unserer Zurückge-
zogenheit bieten konnten.
Doch schliesslich vermeinte mein ab-
gehetzter Geist durch die Zeremonie der
Taufe Erlösung zu finden. So führte ich
also das Kind zur Taufe. Und als ich
vor dem Taufbecken stand, suchte ich
nach einem Namen. Viele Namen voll
Weisheit und Schönheit, aus alter und
neuer Zeit, aus meiner Heimat und aus
fremden Ländern, drängten sich mir auf
die Lippen, und viele, viele Namen für
Sanftes und Frohes und Gutes. Was trieb
mich nur dazu an, die Ruhe der Toten
und Begrabenen zu stören? Welcher
Dämon veranlasste mich, jenen Namen zu
flüstern, bei dessen Erinnerung schon das
77
Blut mir stürmend zum Herzen schoss?
Welcher Unhold sprach aus den Tiefen
meiner Seele, als ich in schweigender
Nacht mitten im düsteren Kreuzgang in
das Ohr des heiligen Mannes die Silben
flüsterte: „Morella!" Und wer anders als
Satan selbst veranlasste mein Kind bei
diesem kaum vernehmbaren Laut zusam-
menzuschrecken, die verglasten Blicke gen
Himmel zu heben und mit zuckendem
Gesicht, auf dem die Schatten des Todes
kämpften, auf die schwarze Marmorplatte
unserer Familiengruft niederzusinken und
zu antworten: „Hier bin ich 1**
Klar, kalt und vollkommen deutlich
trafen diese einfachen Worte mein Ohr
und rollten von da wie geschmolzenes
Blei zischend in mein Gehirn. Jahr um
Jahr kann dahingehen, doch niemals die
Erinnerung an diesen Augenblick ! Wahr-
lich, noch wusste ich nichts von Blumen
und Reben — doch Zypresse und Schier-
ling umdrohten mich Tag und Nacht.
Und ich wusste nichts mehr vom Wan-
78
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del der Zeit, und der Stern meines
Schicksals losch aus am Firmament, und
die Erde verlor ihr Licht, und die Ge-
stalten, die sie belebten, glitten an mir
vorbei wie Schatten, und mitten unter
ihnen sah ich nur — Morella! Die himm-
lischen Winde atmeten nur einen Laut,
und die rieselnden Wellen der ewigen
Wasser murmelten immerfort — Morella!
Aber sie starb; und mit meinen eigenen
Händen trug ich sie zu Grab. Und ich
lachte ein langes, bitteres Lachen, als in
der Gruft, in die ich die zweite bettete,
nicht eine Spur zu finden war von der
ersten — Morella.
79
BERENICE
Poe, Novelle» von der Liebe 6 81
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Dicebant mihi sociales, si
sepulchrum amicae visitarem,
curas mcas aliquantulum f ore
levatas.
Ebn Zaiat
82
Mannigfach ist Trübsal und Not. Un-
glück und Gram sind vielgestaltig auf
Erden. Gleich dem Regenbogen spannt
sich das Unglück von Horizont zu Hori-
zont, und gleich den Farben des Regen-
bogens sind seine Farben vielfältig und
scharf abgegrenzt und dennoch miteinan-
der zusammenfliessend! Wie kommt es,
dass Schönheit mir zum Kummer wurde,
dass selbst aus Friedsamkeit ich nur Gram
zu schöpfen wusste? Doch wie die Ethik
lehrt, dass das Böse eine Konsequenz des
Guten sei, so lehrt uns das Leben, dass
die Freude die Trauer gebiert. Entweder
ist die Erinnerung vergangener Seligkeit
die Pein unseres gegenwärtigen Seins,
oder die Qualen, die sind, haben ihren
Ursprung in den Wonnen, die gewesen
sein könnten.
Mein Taufname ist Egäus, meinen
Familiennamen will ich verschweigen. Doch
gibt es keine Burg im Lande, die stolzer
und ehrwürdiger wäre, als mein Geburts-
haus mit seinen düsteren grauen Hallen.
6« 83
Man hat unser Geschlecht ein Geschlecht
von Hellsehern genannt. Und Beweise
für die Wahrheit dieser Annahme findet
man mehr als genug in allerlei seltsamen
Eigentümlichkeiten — im Baustil des
Herrenhauses, in den Fresken des Haupt-
saales, in den Wandteppichen der Schlaf-
gemächer, in den Ornamenten einiger Ge-
wölbepfeiler der Waffenhalle, besonders
aber in der Galerie alter Gemälde, in
Form und Ausstattung des Bibliothekzim-
mers und schliesslich auch in der selt-
samen Zusammensetzung des Bücher-
schatzes selbst.
Die Erinnerung an meine frühesten
Lebensjahre sind mit jenem Zimmer und
seinen Büchern, von denen ich nichts
Näheres mehr sagen will, innig verknüpft.
Hier starb meine Mutter. Hier wurde ich
geboren. Doch es ist überflüssig zu sagen,
ich hätte nicht schon früher gelebt, meine
Seele hätte kein früheres Dasein gehabt.
Ihr leugnet es? Nun, wir wollen nicht
streiten. Selbst überzeugt, suche ich nicht
84
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zu überzeugen. Jedoch — ich habe ein
Erinnern an luftzarte Gestalten, an geister-
hafte bedeutsame Augen, an harmonische,
doch trauervolle Laute; ein Erinnern, das
sich nicht bannen lässt, ein Erinnern, das
einem Schatten gleich sich nicht loslösen
lässt von meiner Vernunft, so lange deren
Sonnenlicht bestehen wird.
In jenem Zimmer also wurde ich ge-
boren. Da ich solcherweise aus der langen
Nacht des scheinbaren Nichts erwachend,
in ein wahres Märchenland eintrat, in einen
Palast von Vorstellungen und Träumen, in
die wunderlichen Reiche klosterlich ein-
samen Denkens und Wissens, so ist es
nicht erstaunlich, dass ich mit überrasch-
ten, brennenden Blicken in diese Welt
starrte, dass ich meine Knabenjahre im
Durchstöbern von Büchern vergeudete,
meine Jünglingszeit in Träumen verschwen-
dete. Erstaunlich aber ist es, welch ein
Stillstand über die sprudelnden Quellen
meines Lebens kam, als die Jahre dahin-
gingen und auch mein Mannesalter mich
85
noch im Stammhaus meiner Väter sah,
erstaunlich, welch vollständige Umwand-
lung mit meinem Wesen, mit meinem
ganzen Denken vor sich ging. Die Rea-
litäten des Lebens erschienen mir wie
Visionen und immer nur wie Visionen,
während die wunderlichen Ideen aus Traum-
landen nicht nur meinem täglichen Leben
Inhalt gaben, sondern ganz und gar zu
meinem täglichen Leben selber wurden.
* *
Berenice war meine Cousine, und wir
wuchsen zusammen in den Hallen meiner
Väter auf. Doch wir entwickelten uns
sehr verschieden: ich schwächlich von
Gesundheit und dem Trübsinn verfallen,
sie ausgelassen, anmutig und von über-
sprudelnder Lebenskraft; ihrer warteten
die spielenden Freuden draussen in freier
Natur, meiner die ernsten Studien in
klosterlicher Einsamkeit. Ich lauschte und
lebte nur meinem eigenen Herzen und
ergab mich mit Leib und Seele dem an-
gestrengtesten und qualvollsten Nach-
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denken; sie schlenderte sorglos durchs
Leben und achtete nicht der Schatten,
die auf ihren Weg fielen, und nicht der
rabenschwarzen Schwingen, mit denen die
Stunden schweigend entflohen. Berenice!
Ich beschwöre ihren Namen herauf — und
aus den grauen Trümmern des Gedenkens
erheben sich jäh tausend ungestüme Er-
innerungen! Ah, leibhaftig steht ihr Bild
jetzt vor mir, so wie in den jungen Tagen
ihrer Leichtherzigkeit und ihres Frohsinns!
Oh, wundervolle, himmlische Schönheit!
Oh Sylphe, die durch die Gebüsche Arn-
heims schwebte! Oh Najade, die seine
Quellen und Bäche belebte! Und weiter,
weiter wird alles grauenvolles Geheimnis,
wird zu seltsamer Spukgeschichte, die
verschwiegen werden sollte. Krankheit,
verhängnisvolle Krankheit befiel ihren
Körper; plötzlich — vor meinen Augen
fast — brach die Zerstörung über sie
herein, durchdrang ihren Geist, ihr Ge-
baren, ihren Charakter und vernichtete
mit schrecklicher unheimlicher Gründlich-
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kcit ihr ganzes Wesen, ihre ganze Per-
sönlichkeit! Weh! Der Zerstörer kam und
ging! Und das Opfer — wo blieb es?
Ich kannte es nicht mehr — erkannte
es nicht mehr als Berenice!
Unter der Gefolgschaft dieser ersten
verderbenbringenden Krankheit, die eine
so grässliche Umwandlung in Körper und
Seele meiner Cousine herbeiführte, ist als
quälendste und hartnäckigste Erscheinung
eine Art Epilepsie zu nennen, die nicht
selten in Starrsucht endete — in Starr-
sucht, die endgültiger Auflösung täuschend
ähnlich war. Das Erwachen aus diesem
Zustand war in den meisten Fällen ein
erschreckend jähes.
Inzwischen nahm meine eigene Erkran-
kung — denn als solche, sagte man mir,
sei mein Zustand anzusehen — mehr und
mehr Besitz von mir und entwickelte sich
zu einer neuartigen und äusserst seltsamen
Monomanie, die von Stunde zu Stunde an
Stärke zunahm und schliesslich unerhörte
Macht über mich gewann. Diese Mono-
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manie — wenn ich so sagen muss — be-
stand in einer krankhaften Reizbarkeit jener
geistigen Eigenschaft, die man mit Auf-
fassungsvermögen bezeichnet.
Es ist mehr als wahrscheinlich, dass
ich nicht verstanden werde; aber ich
fürchte in der Tat, dass es ganz unmög-
lich ist, dem Verständnis des Durchschnitts-
lesers einen auch nur annähernden Begriff
davon zu geben, mit welcher nervösen in-
teressierten Hingabe bei mir die
Kraft des Nachdenkens (um Fachausdrücke
zu vermeiden) sich eifrig betätigte, sich
verbiss und vergrub in die Betrachtung
sogar der allergewöhnlichsten Dinge von
der Welt:
Ich konnte stundenlang von der be-
langlosesten Textstelle oder Randglosse
eines Buches gefesselt werden ; ich konnte
den grössten Teil eines Sonnentages damit
zubringen, irgend einen schwachen Schatten
zu beobachten, der über eine Wand oder
den Fussboden hinzog; ich konnte eine
ganze Nacht lang das stille Lampenlicht
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betrachten oder dem Flammenspiel des
Kaminfeuers zuschauen; ganze Tage ver-
träumte ich über dem Duft einer Blüte,
oder ich sprach irgend ein monotones
Wort so lange vor mich hin, bis dieses
keinen Sinn mehr hatte und nur noch
Klang zu sein schien; ich verlor jedes
Bewusstsein meiner physischen Existenz,
indem ich mich vollkommener Ruhe hin-
gab, mich nicht rührte und regte und
halsstarrig stundenlang so verweilte. Dies
sind einige der häufigsten und harmlo-
sesten Grillen, die mich plagten — die
Folge eines Geisteszustandes, der vielleicht
gar nicht so selten ist, sicherlich aber jeder
Analyse oder Erklärung spottet.
Doch man darf mich nicht missver-
stehen. Die an so nichtige Dinge ge-
hängte, tief ernste, krankhaft übertriebene
Aufmerksamkeit ist nicht zu verwechseln
mit jenem Hang zu Grübeleien, den mehr
oder weniger wohl alle Menschen besitzen,
und der besonders Leuten von starker
Einbildungskraft eigentümlich ist. Es war
90
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nicht einmal, wie man leichthin hätte an-
nehmen können, ein besonders übertrie-
benes Stadium dieses Hinträumens, sondern
etwas ganz und gar anderes. Jene Träumer
und Phantasten, die von irgend einem
meist wirklich interessanten Gegenstande
angezogen werden, verlieren dieses, ihr
ursprüngliches Objekt, bald aus den Augen,
weil der Anblick desselben eine ganze
Gedankenkette in ihnen aufrollt und eine
Unzahl von Folgerungen und Betrachtungen
in ihnen erweckt; und wenn sie dann
aus solchen — meist angenehmen —
Träumereien erwachen, so ist der Gegen-
stand, der diese veranlasste, ihrem Be-
wusstsein völlig entschwunden. In meinem
Falle jedoch war es stets ein ganz nich-
tiger Gegenstand, an den meine Betrach-
tung sich knüpfte, wenngleich er infolge
meines krankhaft intensiven Anschauungs-
vermögens vielfältige und übertriebene
Bedeutsamkeit bekam. Meine Gedanken
schweiften nur wenig ab und kehrten stets
eigensinnig wieder zu ihrem Ausgangs-
91
punkt zurück. Diese Grübeleien waren
niemals angenehm, und wenn sie endeten,
so hatte der Gegenstand, von dem sie
ausgegangen, für mich ein unnatürlich ge-
steigertes Interesse bekommen, und eben
dies war es, was den charakteristischen
Zug meines Übels ausmachte. Kurz gesagt :
in meinem Fall handelte es sich um ein
abnorm konzentriertes Anschauungs-
vermögen, während das Wachträumen
normaler Menschen auf ein Analysieren
und Folgern hinausläuft.
Wenn auch die Bücher, mit denen
ich mich damals beschäftigte, diesen krank-
haften Zustand nicht gerade hervorgerufen
hatten, so trug ihr phantastischer und oft
unlogischer Inhalt immerhin viel dazu bei,
mein Leiden so eigenartig auszubilden.
Ich erinnere mich unter anderem gut der
Abhandlung des edlen Italieners Coelius
Secundus Curio „De Amplitudine Beati
Regni Dei", des grossen Werkes des heiligen
Augustinus „Die Stadt Gottes" und ferner
des Tertullian „De Carne Christi", in
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welchem der paradoxe Satz „Mortuus est
Dei filius; credibile est quia ineptum est;
et sepultus resurrexit; certum est quia im-
possibile est" mich zu tiefem fruchtlosen
Nachsinnen veranlasste und viele Wochen
lang meine Zeit gänzlich in Anspruch
nahm.
So konnte mein Verstand, den nur die
trivialsten Dinge aus dem Gleichgewicht
brachten, mit jenem Meeresfelsen ver-
glichen werden, von dem Ptolomäus
Hephästion sagt, dass er allen mensch-
lichen Angriffen widerstand, ja selbst der
heftigeren Wut von Wind und Wellen
trotzte, der aber erbebte, sobald er mit
der Blume Asphodelos berührt wurde.
Ein oberflächlicher Beurteiler möchte nun
wohl mit Bestimmtheit annehmen, dass
die Veränderung, die Berenices unglück-
selige Krankheit in ihrem Seelen- Zu-
stand hervorgerufen hatte, mir häufig Ge-
legenheit für dies intensive und anormale
Nachsinnen gegeben hätte, das ich soeben
nach bestem Können zu beschreiben ver-
93
sucht habe — aber nein, dies war in keinre
Weise der Fall. In meinen klaren Stunden
bereitete mir ihr Leiden allerdings Schmerz,
denn dieser völlige Zusammenbruch ihres
heiteren und edlen Lebens ging mir tief
zu Herzen, und ich fragte mich oft be-
kümmert, welch grauenhafte Mächte einen
so unerhörten Umsturz hatten herbeiführen
können. Aber solche Betrachtungen hatten
mit meiner Idiosynkrasie nichts zu schaffen,
sie waren ganz so, wie sie unter analogen
Umständen weitaus die meisten Menschen
angestellt haben würden. Es ist vielmehr
bezeichnend für die Eigenart meines Obels,
dass mich die unwichtigere, doch augen-
fälligere Wandlung in Berenices physi-
schem Zustand — diese sonderbare und
grauenhafte Vernichtung ihrer wirklichen,
sichtbarlichen Persönlichkeit — weit mehr
fesselte.
Sicherlich habe ich sie in den strahlen-
den Tagen ihrer unvergleichlichen Schön-
heit nie geliebt. Infolge meiner seltsamen
Anomalie waren meine Gefühle nie vom
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Herzen — waren meine Neigungen stets
vom Verstand ausgegangen. Im frühen
Morgengrau — im schattigen Gitterwerk
des mittäglichen Waldes — nächtens in
der Stille meines Studierzimmers — wann
und wo sie mir je vor Augen trat, immer
war es mir, als sei sie nicht die lebende,
atmende Berenice sondern eine Traum-
gestalt; sie erschien mir nicht als ein
irdisches Geschöpf sondern als die Ab-
straktion eines solchen — nicht als etwas,
das man bewundern, sondern als etwas,
dem man nachsinnen müsse — nicht als
ein Wesen zum Lieben sondern als ein
Thema zu tiefgründigem Erforschen. Und
jetzt — jetzt schauderte ich bei ihrem
Nahen und erbleichte bei ihrem Anblick.
Aber ich beklagte ihren Verfall bitter, und
ich erinnerte mich, dass sie mich seit
langem liebte, und so kam es, dass ich
ihr in einer schlimmen Stunde von Heirat
sprach.
Und als die Zeit nahte, da wir Hoch-
zeit halten sollten, sass ich an einem
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Winternachmittag eines jener wunderbar
warmen, stillen und umschleierten Tage,
die man die Amme des schonen Eisvogels
nennt,*) wie ich vermeinte ganz allein im
inneren Gemach der Bibliothek; aber als
ich aufblickte, sah ich Berenice vor mir
stehen.
War es meine eigene fiebernde Ein-
bildungskraft oder eine Wirkung der dun-
stigen Atmosphäre oder das trübe Dämmer-
licht im Zimmer oder der Faltenfluss ihres
grauen Gewandes, was ihr so verschwom-
mene Konturen gab ? Ich konnte es nicht
sagen. Sie sprach kein Wort; und ich —
nicht um alles in der Welt hätte ich ein
Wort hervorbringen können. Ein eisiger
Frost durchrieselte mich; eine unerträg-
liche Angst befiel mich; eine verzehrende
Neugier durchdrang meine Seele, ich sank
in meinen Sitz zurück und verharrte re-
gungslos und hielt den Atem an und
*) „Denn da Jupiter während der Winterzeit
zweimal sieben Tage Wärme schenkt, so haben die
Menschen diese milde und gemässigte Zeit die Amme
des schonen Eisvogels genannt" — Simonides.
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heftete meine Augen durchdringend auf
ihre Gestalt. Ach, sie war entsetzlich ab-
gemagert! Nicht eine einzige Linie, nicht
eine einzige Kontur verriet noch eine Spur
ihrer früheren Persönlichkeit. Meine bren-
nenden Blicke fielen schliesslich auf ihr
Antlitz.
Die Stirn war hoch und sehr bleich
und sonderbar starr und war über den
hohlen Schläfen von zahllosen Lockchen
des einst pechschwarzen Haares beschattet,
das jetzt von lebhaftem Gelb war und
dessen phantastische Ringel mit der sou-
veränen Melancholie des Antlitzes seltsam
kontrastierten. Die Augen waren ohne
Leben und ohne Glanz und anscheinend
ohne Pupillen; und ich schauderte unwill-
kürlich vor ihrem glasigen starren Aus-
druck zurück und wandte mich der Be-
trachtung der dünnen und eingesunkenen
Lippen zu. Sie teilten sich zu einem
sonderbar bedeutungsvollen Lächeln und
enthüllten meinem Blick langsam der ver-
änderten Berenice Zähne. Wollte Gott,
Poe, Novellen von der Liebe 7 97
dass ich sie nie gesehen hätte, oder dass
ich, nachdem ich sie sah, gestorben wäre!
*
Das Schliessen einer Tür schreckte
mich auf, und aufblickend bemerkte ich,
dass meine Cousine das Gemach verlassen
hatte. Aber in der wüsten Kammer meines
Gehirns war etwas zurückgeblieben: das
weisse Gespenstbild ihrer Zähne — und
dieses Hess sich nicht mehr vertreiben.
Das flüchtige Lächeln von Berenices Lippen
hatte genügt, jedes Schattenfleckchen auf
dem schimmernden Email, jede Einker-
bung der Schneiden — kurz jedes kleinste
Merkmal ihrer Zähne tief in mein Gedächt-
nis einzubrennen. Ich sah sie jetzt sogar
deutlicher als vorhin, da ich sie wirklich
vor Augen hatte. Die Zähne! — Die
Zähne! — Sie waren hier, waren dort,
waren überall — sichtbar und greifbar vor
mir; lang, schmal und übermässig weiss,
umwunden von den bleichen Lippen —
ganz so, wie in jenem Augenblick, da jenes
verhängnisvolle Lächeln sie zuerst enthüllte.
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Dann kam meine Monomanie mit voller
Wucht über mich, und ich wehrte mich
vergeblich gegen ihre unerklärliche, be-
zwingende Gewalt. Alle Gegenstände und
Ereignisse um mich her schienen zu ver-
sinken — ich hatte nur noch Gedanken
für diese Zähne. Nach ihnen trug ich ein
wahnsinniges Verlangen. Die Welt und
alles, was mich mit ihr verband, schwand
hin vor diesem einen einzigen Bild. Sie,
sie allein waren meinem geistigen Auge
gegenwärtig — und sie, in ihrer ausge-
sprochenen Individualität wurden zum ein-
zigen Gedanken meines Geistes. Ich hielt
sie in jede Beleuchtung. Ich betrachtete
sie von allen, allen Seiten. Ich studierte
ihren Charakter. Ich verweilte bei ihren
einzelnen Eigentümlichkeiten. Ich vertiefte
mich in die Ubereinstimmungen und Ab-
weichungen, die die Zähne in ihrer Form-
bildung aufwiesen. Ich entsetzte mich,
als ich ihnen in Gedanken die Fähigkeit
sinnlichen Empfindens und, auch ohne dass
die Lippen sie unterstützten, seelisches
7» 99
Ausdrucksvermögen zuschrieb. Von Made-
moiselle Salle hat man mit Recht gesagt:
„Que tous ses pas elaient des sentiments",
und von Berenice glaubte ich weit über-
zeugter: que tous ses dents etaient des
idees. Des idees! — ah, war dies der
idiotische Gedanke, der mich zugrunde
richten sollte? Des idees — ah, das
war es, weshalb ich diese Zähne so wahn-
sinnig begehrte! Ich fühlte, dass einzig
ihr Besitz mir Frieden bringen — mich
der Vernunft zurückgeben konnte.
Und so wurde es Abend — und Nacht
kam und verweilte und ging — und wieder
dämmerte der Tag — und die Nebel einer
zweiten Nacht sammelten sich rings —
und immer noch sass ich regungslos in
jenem einsamen Zimmer — und immer
noch sass ich in Betrachtungen vergraben
— und immer noch übte das Gespenst
der Zähne, das da mit lebhafter und gräss-
licher Deutlichkeit im Wechsel von Licht
und Schatten durchs Zimmer schwebte,
seine schreckliche Gewalt.
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Da brach in meine Traumversunkenheit
ein Ruf voll Grausen und Bestürzung; und
nach einer Pause vernahm ich Geräusch
banger Stimmen, untermischt mit Klage-
lauten des Schmerzes. Ich erhob mich
von meinem Sitz, und als ich die Tür zum
Vorzimmer aufwarf, fand ich dort eine
Magd, die mir in Tränen aufgelöst be-
richtete, dass Berenice nicht mehr sei!
Sie war am frühen Morgen einem Anfall
von Epilepsie erlegen, und jetzt, beim
Hereinbrechen der Nacht, wartete das Grab
auf seinen Bewohner ; alle Vorbereitungen
zur Bestattung waren beendet.
♦ *
*
Ich fand mich im Bibliothekzimmer
sitzend — und wieder allein dort sitzend.
Es schien, als sei ich wiederum aus einem
wirren und aufregenden Traum erwacht.
Ich wusste, dass jetzt Mitternacht war, und
ich wusste recht gut, dass man Berenice
bei Sonnenuntergang in die Erde gebettet
hatte. Doch von den nachfolgenden dunk-
len Stunden hatte ich keine bestimmte und
101
klare Erinnerung. Dennoch gedachte ich
ihrer voll Grauen — einem Grauen, das
um so entsetzlicher war, als ich es nicht
an bestimmte Vorgänge zu binden ver-
mochte. Es war in den Aufzeichnungen
meines Lebens das furchtbarste Blatt, über
und über mit dunklen, grässlichen und
unfassbaren Erinnerungen bekritzelt. Ich
versuchte, sie zu entziffern, aber es war
unmöglich, und zwischendurch — wie das
Gespenst eines verklungenen Rufes —
gellte hin und wieder der schrille und
durchdringende Schrei einer weiblichen
Stimme mir in die Ohren. Ich hatte irgend
etwas getan — was war es? Ich stellte
mir laut diese Frage, und die flüsternden
Echos des Zimmers antworteten mir —
„was war es?"
Auf dem Tisch neben mir brannte eine
Lampe, und daneben lag eine kleine
Schachtel. Sie hatte durchaus nichts auf-
fallendes, und ich hatte sie schon manch-
mal gesehen; denn sie war Eigentum des
Hausarztes; wie aber kam sie hier auf
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meinen Tisch, und warum schauderte ich,
wenn ich sie ansah ? Diese Fragen wollten
sich in keiner Weise beantworten lassen.
Meine Blicke fielen schliesslich auf den
unterstrichenen Satz eines offen vor mir
liegenden Buches. Es waren die sonder-
baren, doch einfachen Worte des Dichters
Ebn Zaiat: Dicebant mihi sodales, si
sepulchrum amicae visitarem, curas meas
aliquantulum fore levatas. — Warum nur
standen, mir die Haare zu Berge, als ich
dies las, warum erstarrte mir das Blut in
den Adern?
Es wurde leise an die Tür geklopft,
und bleich wie der Tod trat ein Diener
auf Zehenspitzen herein. Seine Blicke
waren voll wahnsinnigen Entsetzens, und
er sprach bebend zu mir mit gedämpfter,
heiserer Stimme. Was sagte er? Einige
abgerissene Sätze hörte ich. Er sprach
von einem wilden Schrei, der das Schweigen
der Nacht gebrochen habe — dass das
Hausgesinde zusammengeströmt sei —
dass man in der Richtung des Schreies
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auf Suche gegangen sei; und dann wurde
seine Stimme unheimlich deutlich, als er
von Grabschändung redete — von einem
aus dem Sarge gerissenen entstellten
Körper, der noch atmete - noch pulste
— noch lebte!
Er deutete auf meine Kleider; sie
waren von Erde beschmutzt und mit Blut
bespritzt. Ich sagte nichts, und er ergriff
sanft meine Hand : sie trug frische Kratz-
wunden von Fingernägeln. Er lenkte meine
Aufmerksamkeit auf einen an die Wand
gelehnten Gegenstand: es war ein Spaten.
Mit schrillem Aufschrei sprang ich an den
Tisch und riss die Schachtel an mich, die
dort lag. Aber es wollte mir nicht ge-
lingen, sie zu offnen. Und sie entglitt
meinen zitternden Händen und schlug hart
zu Boden und sprang in Stücke. Und
heraus rollten klappernd zahnärztliche In-
strumente und zweiunddreissig kleine weisse
elfenbeinschimmernde Dinger und ver-
streuten sich rings auf den Fussboden . .
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DAS OVALE PORTRAT
Egli e vivo c parierebbe se
non osservasse la rigola del
silentio.
Inschrift unter einem Gemälde von St Bruno.
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Ich hatte in einem ausserordentlich hef-
tigen und langandauernden Fieber ge-
legen. Alle Heilmittel, die in dieser un-
wirtlichen Gegend der Apenninen aufzu-
treiben gewesen, waren erfolglos angewen-
det worden, und schliesslich hatten sie
sich erschöpft. Was war nun zu tun?
Mein Diener und einziger Gefährte in dem
verlassenen Schloss war zu unbedacht und
zu ungeschickt, um mir zur Ader lassen zu
können; überdies hatte ich in der Schlägerei
mit den Banditen schon allzuviel Blut ver-
loren. Auch konnte ich meinen Knecht nicht
nach fremder Hilfe ausschicken und selbst
allein und hilflos hier zurückbleiben. Da er-
innerte ich mich endlich eines Päckchens
Opium, das sich bei meinem Rauchtabak
und der Huhkapfeife befinden musste;
ich hatte nämlich in Konstantinopel die
Gewohnheit angenommen, den Tabak mit
dem Gift gemischt zu rauchen.
Pedro reichte mir die Tabaksbüchse.
Ich suchte und fand das Narkotikum. Doch
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als ich ein Stück abschneiden wollte, fühlte
ich, dass hier erst überlegt werden müsse.
Beim Rauchen war es ziemlich belanglos,
wie viel Opium dem Tabak beigemengt
wurde Für gewöhnlich hatte ich den
Pfeifenkopf zur Hälfte mit einem Gemisch
von Opium und geschnittenem Tabak ge-
füllt, von beidem gleich viel. Zuweilen
konnte ich diese Mischung ganz aufrauchen,
ohne irgendwie besondere Folgen zu ver-
spüren; zu andern Zeiten hatte ich kaum
zwei Drittel dieser Dosis geraucht, als ich
schon beunruhigende Anzeichen geistiger
Verwirrung verspürte, die mich warnten,
weiterzurauchen. Aber die Wirkung des
Giftes nahm stets nur gradweise und all-
mählich zu, und so konnte ich, indem ich
jener ersten Warnung folgte, jede ernst-
liche Gefahr vermeiden.
Hier jedoch lag der Fall anders. Ich
hatte nie vorher Opium geschluckt. Lau-
danum und Morphium hatte ich gelegent-
lich schon genommen, und diesen Mitteln
gegenüber hätte ich keine Ursache gehabt
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zu zögern. Konzentriertes Opium aber
hatte ich noch nie angewendet. Pedro
wusste ebensowenig wie ich, welche Dosis
genommen werden musste; und so war
ich in diesem dringenden und wichtigen
Fall ganz und gar meinen Mutmassungen
überlassen. Trotzdem empfand ich keine
sonderliche Unruhe, denn ich hatte be-
schlossen, in der Anwendung dieses Medi-
kaments gradweise vorzugehen. Zunächst
wollte ich eine sehr kleine Dosis nehmen;
sollte diese sich wirkungslos erweisen, so
würde ich die zweite gleich grosse Portion
folgen lassen — und so weiter, bis ich ein
Nachlassen des Fiebers verspüren oder
den so dringend notwendigen Schlaf finden
würde, dessen Segen meine taumelnden
Sinne nun schon fast eine Woche nicht
genossen hatten.
Ohne Zweifel war eben diese Sinn-
Verwirrung — war das dumpfe Delirium,
das schon auf mir lastete, die Ursache,
dass ich meine Schlussfolgerung nicht als
falsch erkannte, sondern so blind war,
109
hier, wo doch kein Normalmass mir als
Anhaltspunkt dienen konnte, irgend etwas
für gross oder klein anzusehen. Ich hatte
in jenem Augenblick nicht die leiseste
Ahnung davon, dass das, was ich für ein
ausserordentlich geringes Quantum von
Opium hielt, in Wirklichkeit ein über-
mässig grosses sei. Im Gegenteil, ich
erinnere mich gut, dass ich das Stückchen,
das ich nehmen wollte, einfach nach seinem
Grössenverhältnis zu dem ganzen Klumpen
abschätzte, den ich in der Hand hielt,
und bei diesem Vergleich war die Portion,
die ich also schluckte — tatsächlich nur
ein sehr kleiner Teil.
Das Schloss, in das mein Diener ein-
zudringen gewagt hatte, um mich, der ich
arg verwundet und in trostlosem Zustand
war, nicht die Nacht unter freiem Himmel
zubringen zu lassen, war ein grandioser,
düsterer Bau, der wohl schon lange grimmig
in die Berge starrte. Allem Anschein nach
war er für einige Zeit, und zwar erst kürz-
lich, verlassen worden. Wir hatten uns
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in einem Zimmer eines vom Hauptgebäude
etwas abgelegenen Turmes eingerichtet.
Die Ausstattung des Raumes war reich,
jedoch alt und verschlissen. Die Wände
waren mit Teppichen behangen und mit
zahlreichen und mannigfaltigen kriege-
rischen Trophäen sowie mit einer grossen
Reihe lebensvoller Gemälde in reichorna-
mentierten goldenen Rahmen überladen.
Diese Bilder, die nicht nur an den
vier Wänden, sondern auch in all den
Ecken und Nischen hingen, welche die
bizarre Architektur des Schlossturmes be-
dingt hatte — diese Bilder interessierten
mich aufs lebhafteste: wahrscheinlich in-
folge meines beginnenden Deliriums. Ich
bat daher Pedro, die schweren Fenster-
laden zu schliessen — denn es war schon
Nacht — die Lichter eines hohen Kande-
labers, der am Kopfende meines Bettes
stand, anzuzünden und die befransten Vor-
hänge aus schwarzem Sammet, die das
Bett umschlossen, weit zurückzuziehen.
Ich ordnete das alles an, um mich, wenn
111
schon nicht dem Schlaf, so wenigstens
der Betrachtung dieser Bilder und der
Lektüre eines kleinen Büchleins hinzuge-
ben, das ich auf dem Bettkissen gefunden,
und das eine Beschreibung und Würdigung
der Bilder enthielt.
Lange, lange las ich, und andächtig
schaute ich. Die herrlichen Stunden flohen,
und tiefe Mitternacht nahte. Ich wollte
dem Kandelaber eine etwas andere Stellung
geben, und um meinen schlummernden
Diener nicht zu wecken, streckte ich selbst
die Hand aus, und stellte den Leuchter
so, dass seine Strahlen voll auf mein Buch
fielen.
Diese Veränderung hatte aber einen
ganz unerwarteten Erfolg. Die Strahlen
der zahlreichen Kerzen trafen jetzt in
eine Nische des Zimmers, die bislang im
tiefen Schatten eines mächtigen Bett-
pfostens gelegen hatte. So sah ich nun ein
mir bisher entgangenes Bild plötzlich in
vollstem Lichte. Es war das Porträt eines
jungen, zum Weibe reifenden Mädchens.
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Ich blickte hastig auf das Bild und
schloss dann die Augen. Es war mir selbst
zunächst nicht verständlich, weshalb ich
das tat. Aber während ich die Lider ge-
schlossen hielt, dachte ich über die Ur-
sache hierfür nach. Es war eine ganz
impulsive Bewegung gewesen, um Zeit
zum Nachsinnen zu gewinnen — um die
feste Überzeugung zu gewinnen, dass meine
Blicke mich nicht betrogen hatten — um
meine Gedanken, ehe ich einen prüfen-
deren, bedeutsameren Blick wagen würde,
zunächst zu sammeln und zu beruhigen.
Einen Moment später sah ich also offen
und scharf auf das Bild hin.
Ich konnte nun nicht mehr daran zwei-
feln, dass ich wach und völlig bei Sinnen
war: denn schon vorhin, als der erste
flackernde Schein der Kerzen auf diese
Leinwand fiel, war ich aus der traum-
haften Benommenheit, die meine Sinne
beschlichen hatte, jäh erwacht.
Das Bild war, wie ich schon sagte,
das Porträt eines jungen Mädchens. Das
Poe, Novellen von der Liebe 8 113
in der Medaillonform der beliebten Por-
träts von Sully ausgeführte Gemälde zeigte
nur Kopf und Schultern. Die Arme, der
Busen und das strahlende Haar ver-
schmolzen unmerklich mit den unbestimm-
ten, doch tiefen Schatten, die den Hinter-
grund des Ganzen bildeten. Der ovale
Rahmen bestand aus reich vergoldetem
Schnitzwerk. Dies Gemälde war ein be-
wunderungswürdiges Kunstwerk. Aber
weder die hervorragende Ausführung des
Bildes noch die überirdische Schönheit
des Porträtkopfes konnten mich so un-
erwartet und tief ergriffen haben. Noch
weniger berechtigt war die Annahme,
meine so plötzlich aus dem Schlummer
geweckte Phantasie habe diesen Kopf
da für das Antlitz eines lebenden
Menschen angesehen. Ich sah sofort,
dass sowohl die Zeichnung selbst wie
auch ihre Einrahmung solchen Gedanken
augenblicklich zerstreuen musste — ja,
ihn überhaupt nicht aufkommen lassen
konnte.
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Ich versank in Nachdenken über diese
Fragen und lag wohl eine Stunde so da,
halb aufgerichtet, die Blicke auf das Bild
geheftet. Endlich, als ich das wahre Ge-
heimnis seiner seltsamen Wirkung gefunden
zu haben meinte, sank ich in die Kissen
zurück. Der Zauber dieses eigenartigen
Bildes schien mir in einer absoluten
Lebensechtheit des Ausdrucks zu
liegen — des Ausdrucks, der mich zuerst
überrascht hatte, mich dann verwirrte,
erschreckte und überwältigte.
Voll tiefer ehrfürchtiger Scheu schob
ich den Kandelaber an seinen früheren
Platz zurück. Und nachdem nun der Gegen-
stand meiner Unruhe meinen Blicken ent-
zogen war, griff ich begierig nach dem
Büchlein, das die Gemälde und ihre Ge-
schichte behandelte. Ich schlug die Nummer
auf, welche das ovale Porträt führte und
las dort die wunderlichen Worte: —
„Sie war ein Mädchen von seltenster
Schönheit und ebenso heiter und lebens-
durstig wie liebreizend. Und übel war
8* 115
die Stunde, da sie den Maler sah und
liebte — den sie heiratete. Er: leiden-
schaftlich, gelehrt, ernst und finster, seiner
Kunst wie einer Geliebten zugetan; sie:
ein Mädchen von seltenster Schönheit und
ebenso heiter und lebensdurstig wie lieb-
reizend; ganz wie ein junges Reh nur
Licht und Lächeln und spielende Heiter-
keit, liebte sie alle Dinge, liebkoste alle
Dinge und hasste nur die Kunst, ihre
Rivalin, verabscheute nur Palette und
Pinsel und alle die Dinge, die ihr die
Neigung des Geliebten streitig machten.
Schrecklich war es für sie, als der Maler
den Wunsch aussprach, sogar sie, sein
junges Weib, porträtieren zu wollen. Aber
sie war demütig und gehorsam und sass
geduldig viele Wochen lang im hohen
dunklen Turmzimmer, in das nur von oben
her ein bleiches Licht hereinkroch. Er,
der Maler, trank Seligkeit aus seinem
Werk, das fortschritt von Stunde zu Stunde
und von Tag zu Tag. Und er war ein
leidenschaftlicher und wunderlicher und
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launischer Mann, der sich in Phantasien
ganz verlieren konnte. Und er wollte nicht
sehen, dass der gespenstische Lichtschein
in dem alten einsamen Turm Gesundheit und
Lebenswillen seiner jungen Frau aufzehrte.
Sie siechte hin, doch sie lächelte noch
immer — und immer ohne zu klagen ; denn
sie sah, dass ihr Maler, dieser berühmte
Mann, eine glühende, eine unsagbare Freude
aus seiner Arbeit schöpfte und Tag und
Nacht danach rang, das Bild zu vollen-
den — das Bild von ihr, die ihn hingebend
liebte und täglich teilnahmloser und
schwächer wurde. Und in Wahrheit: man-
cher, der das Porträt sah, rühmte in leisen
Worten seine Ähnlichkeit — und es war,
als rede man von einem seltsamen, macht-
vollen Wunder, das ein Beweis sei sowohl
für das Können des Malers wie für seine
tiefe Liebe zu ihr, die er so über die Massen
gut getroffen habe. Aber schliesslich, als
die Arbeit ihrer Vollendung näher rückte,
wurde niemand mehr im Turmzimmer vor-
gelassen; denn der Maler war fast toll vor
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brünstigem Arbeitseif er und wandte nur sel-
ten die Augen ab von der Leinwand und sah
selbst seinem Weib nur selten noch ins
Antlitz. Und er wollte nicht sehen, dass die
blühenden Farben, die er auf die Leinwand
strich, den Wangen der Geliebten, die neben
ihm sass, entzogen wurden. Und als viele
Wochen vergangen waren und nur noch
wenig zu tun übrig blieb, nur noch ein
Pinselstrich am Mund, ein Glanzlicht am
Auge, da flackerte das Lebensverlangen
des jungen Weibes noch einmal auf, so
wie die Flamme in der erloschenden Lampe
noch einmal aufflackert. Und dann war der
Pinselstrich gemacht und das Glanzlicht an-
gebracht; und einen Augenblick stand der
Maler entrückt vor dem Werk, das er ge-
schaffen. Im nächsten Augenblick aber be-
gann er zu zittern und erbleichte und rang
nach Atem, und ohne den Blick von seinem
Werke abzuwenden, schrie er laut auf:
Wahrlich, das ist das lebendige Leben
selber! Und er wandte sich um, um seine
Geliebte anzusehen. — Sie war tot!
118 *
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-
Die vorliegenden fünf Novellen sind
hier zum erstenmal in geschlossener Samm-
lung vereinigt. Der umrahmende Titel
wurde gewählt, weil diese fünf Erzählungen
die einzigen sind, in denen der Dichter
den Problemen der Liebe nachgeht, und
jede ist ein Spiegel des grossen Ewigkeits-
gedankens, den Poe in der Liebe rindet.
Sie sagen von der Unwandelbarkeit, von
der Unsterblichkeit, von der Sehnsucht,
von der Tollheit, von der Hingabe der
Liebe. Ober allen könnte Nietzsches
Zarathustrawort stehen: „Es ist immer
etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber
immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn/'
Den Novellen ist ein erst in jüngster
Zeit aufgefundenes Liebe-Gedicht voran-
gesetzt, das noch in keiner Poe-Ausgabe
enthalten ist. Die deutsche Fassung dieses
Gedichtes wie auch des Gedichtes der
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Ligeia wurde der noch unveröffentlichten
Übertragung der Gedichte Poes von
Theodor Etzel entnommen.
Dem Büchlein wurde das Porträt von
Poes jungem Weibe, seiner Cousine Vir-
ginia Clemm, beigegeben ; und dies darum,
weil anzunehmen ist, dass das zarte schöne
Weib, dessen Leben nichts als ein lang-
sames Sterben war — dass die schmerz-
liche Liebe zu ihr dem Dichter die Visionen
gab, denen wir die Novellen von der Liebe
verdanken. G. E.
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