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CALVINS
FESTSCHRIFT
ZUM 400. GEBURTSTAGE JOHANN CALVINS
UNTER REDAKTION VON LIC. DR. BOHATEC
HERAUSGEGEBEN VON DER
REFORMIERTEN GEMEINDE ELBERFELD
MIT BEITRÄGEN VON
J. BOHATEC, W. HOLLWEG, W. KOLFHAUS, J. NEUENHAUS,
H. STRATHMANN, TH. WERDERMANN
Lbü R 10
LEIPZIG
VERLAG VON RUDOLF HAUPT
1909
W2
I9ö9
VORWORT
Zur Herausgabe der vorliegenden Sammlung hat sich unsere
Gemeinde, die größte reformierte Deutschlands, entschlossen,
nachdem ihr bekannt geworden war, daß keine ähnliche Festschrift
geplant wird. Die Abhandlungen, die fast alle aus der Feder
unserer Pfarrer und der ehemaligen Mitglieder unseres Kandidaten-
stiftes stammen, sollen eine Apologie des großen Organisators und
Vollenders des Protestantismus sein. Calvin würde zwar jede per-
sönliche Ehrenbezeugung ablehnen und vom Geschöpf auf den
Schöpfer hinweisen. Hat er sich aber immer für ein Werkzeug
Gottes gehalten und als solches seine Person und sein Werk ver-
teidigen müssen, so gedenken wir mit diesen bescheidenen Bei-
trägen Gott zu loben, zu dessen Ehre allein Calvin gedacht und
gelebt hat.
Elberfeld, im Juni 1909.
Lic. Dr. J. Bohatec.
INHALT
Seite
Johannes Neuenhaus: Calvin als Humanist i
W. Kolfhaus: Der Verkehr Calvins mit Bullinger ... 27
Dr. Walter Holl weg: Calvins Beziehungen zu den Rhein-
landen I25
Lic. theol. H. Strathmann: Die Entstehung der Lehre
Calvins von der Buße l87
cand. theol. Th. Werdermann: Calvins Lehre von der
Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung .... 246
Lic. Dr. J. Bohatec: Calvins Vorsehungslehre .... 339
Calvin als Humanist.
Dargestellt an seinem Bildungsgange und an seinem Wirken1
Johannes Neuenhans,
Pastor an der reformirten Gemeinde Elbcrfeld.
Motto :
Gott zumeist ist uns das Maß aller Dinge, viel-
mehr als , wie die Sophisten sagen , irgend ein
Mensch. Plato, in den Gesetzen 716c.
Der Einfluß des Humanismus auf die vier großen Refor-
matoren war doch ein sehr verschiedener. Empfänglich dafür finden
wir sie zuerst, vielleicht darf man sagen, alle gleichermaßen. Aber
ihre Naturen waren nicht gleichgeartet für das innerliche Ver-
arbeiten dieser mächtigen Geistesströmung ihrer Zeit. Schließlich
überwog bei ihrer jedem das religiös-kirchliche Interesse das an
der rein menschlichen Bildung. Doch zeigt sich auch hier Ver-
schiedenheit. Melanchthon in den trüben Tagen seines Verzagens
an der Kirchengestalt, seines Ärgernisses an den Theologen, neigt
stark zur Beschränkung auf klassisch-philologische Studien, so daß
Luther ihn nur mit Mühe von diesem Humanismus der Gelehr-
samkeit im Sinne eines Erasmus zurückhalten kann.2 Zwingli
gerät in rationalisierende Konzessionen an die Helden der Antike,-'5
gelegentlich auch in pantheisierende Spekulation,4 länger doch auch
mit Erasmus in vertrautem Verkehr als die andern.5 Luther zieht
mit genialem Instinkt aus dem Humanismus alles an sich, was sich
1) Vgl. Ref. Kztg. 1909 Nr. 1, 2.
2) Corp. Ref. I p. 606. 677. Vgl. Hase. Kgsch. n. Aufl. S. 372.
3) Zwinglii Christianae fidei hrevis et clara expositio Opp. IV p. 65.
4) Zwinglii Opp. IV p. 79 — 144. bes. p. 88.
5) Zwinglii Op. VII. S. 308. Vgl. Schweizer. Die protest. Zentral-
dogmen T. S. 76.
Calvinstudien.
Calvin als Humanist.
mit seinem reichen, weltoffenen Gemüt eint, ohne doch von dem
geistigen Zuge, der nach wissenschaftlichem Erkennen strebt,
durchaus ergriffen zu sein.1 Bewußt und groß, wie er war, hat er
diesen Mangel nie verhehlen wollen, vielmehr bei Auseinander-
setzungen mit Freund und Gegner sich mitunter derb, unbekümmert-
und eigensinnig-rückständig gezeigt.2 Calvin endlich, alle huma-
nistischen Bildungsstoffe in sich aufnehmend, hat diese seinem
starken Gottesbewußtsein dienstbar zu machen gesucht und die
von ihnen drohenden Gefahren kraftvoll gemieden. Dabei trat
griechischer Geist hinter christlichem mehr und mehr zurück, doch
hat er den in der Jugend erworbenen Ruhm eines ausgezeichneten
Humanisten 3 bis ans Ende behauptet.
Ein Nachweis darüber soll im folgenden versucht werden.
i.
In den bekannten launigen Versen hat Goethe seine Eigenart
auf die der Eltern zurückgeführt. Es wäre von großem Interesse,
wenn wir das bei allen andern bedeutenden Männern könnten.
Besonders psychologisch wertvoll wäre es, die feine Bemerkung
eines Pastoraltheologen bestätigt zu finden: ein Diener Christi
müsse wie Timotheus eines griechischen Vaters und einer jüdischen
Mutter Sohn sein. In gewissem Betracht läßt sich das wohl von
Calvin sagen. Der geistige Zug in ihm zum gelehrten Wissen
war väterliches Erbe, die religiöse Natur, die heilige Ehrfurcht vor
der beständigen Gegenwart Gottes, mütterliches.4 Bereits über seiner
Kindheit ist ein vorsehungsvolles Walten erkennbar. Der Vater,
Gerhard Cauvin, kirchlicher Justitiar, zugleich Sekretär des Bischofs
in Noyon, scheint trotz seiner amtlichen Stellung zu dem in der
Stadt zahlreich vertretenen Klerus in freundschaftlichen Be-
ziehungen nicht gestanden zu haben. Der schlaue Picarde hat
das anfänglich zu verbergen gewußt, um seinem Sohne Johann die
i) Vgl. Köstlin, Luthers Theologie I. S. 15 ff.
2) Brief an Mutian v. J. 1516. — Zimmermann, Geist aus Luthers
Schriften; Artikel: Erasmus und Melanchthon.
3) Mignet, Einführung der Reformation in Genf, übers, von Stolz
S. 91. Vgl. Schweizer. Die Glaubenslehre der Ev.-Ref. Kirche I. Bd. S. 29.
4) Die biographischen Skizzen lehnen sich an Stähelin, J. Calvin,
I. Bd. ; Kampschulte, J.Calvin, s. Kirche u. s. Staat, I. Bd. ; Doumergue,
Jean Calvin, les hommes et les choses de son temps, I. Bd.; Lefranc, la
jeunesse de Calvin; Bungener, Calvin, sein Leben, sein Wirken und
seine Schriften.
Von Johannes Neuenhaus.
Gunst und Unterstützung seitens der Kirche nicht zu entziehen.
Aber seine Absicht ging zumal für diesen begabtesten unter sein« n
Söhnen über die herkömmlichen kirchlichen .Schranken hinaus.
Er hatte ihn zum Studium der Theologie bestimmt, suchte jedoch
zugleich in ihm den Grund zu einer allgemeineren Bildung zu
legen. Und so emsig betrieb er diesen Plan, daß man vermuten
möchte, der umsichtige und vielkundige Mann sei von den Reak-
tionsbewegungen einer neuen Zeit gegen das unhaltbare Ansehen
einer alten, wie sie sich schon längst gerade in Laienkreisen
äußerten, ' beeinflußt worden. Ein sonderliches Band, das ihn an
die Kirche knüpfte, löste sich durch den Tod seiner Gattin. Sic
starb früh, aber zur rechten Zeit, wenn sie vor den tragischen
Verwicklungen, in welche Gatte und Söhne gezogen wurden, be-
wahrt bleiben sollte. Kaum dürfte sie bei ihrer ängstlich beob-
achteten katholischen Frömmigkeit die Wendung wider die Kirche
mit vollzogen haben. Als eine sainte beaute lebte sie noch nach
Jahrzehnten in der Erinnerung ihrer Mitbürger. Was ihr Sohn
Johann an ihr verlor, wüßten wir gern. Ihr Hingang war wenig-
stens insofern für ihn bedeutsam, als er den zarten, schüchternen,
darin eben wohl sehr nach der Mutter gearteten, Knaben nun ganz
unter die strenge Hand des Vaters brachte.
Halbwegs zwischen Noyon und Pont L'Eveque befand sich
ein kleines Pädagogium, worin etwa 20 Zöglinge Unterricht und
Unterhalt genossen. Dieses Institut besuchte Johann und zeich-
nete sich schon hier aus „durch lebhaften Geist, natürliche Fassungs-
gabe und Erfindung in dem Studium der menschlichen Wissen-
schaften" ; 2 die selbstredend über das Elementare nicht hinausgegan-
gen sein können. Unter seinen Mitschülern waren die Söhne eines in
der Nähe ansässigen Herrn von Mommor. Sei es, daß diese neben
der Schule häuslichen Unterricht empfingen, oder nachdem sie den
Kursus derselben absolviert hatten, genug, Gerhard wußte es durch
die Gunst seines Bischofs zu erreichen, daß sein Johann Aufnahme
in dem vornehmen und gebildeten Hause von Mommor fand und
in Gesellschaft der Kinder des Hauses erzogen wurde. Er paßte
ganz dahin und eignete sich in dieser adeligen Umgebung die
aristokratischen Formen an, die man später an ihm rühmte. Aber
er verdankte der edlen Familie ja noch viel mehr, wie er in der
1) Die niederländischen, von Gert Groot ausgehenden Kulturbestre-
bungen können wohl in die Picardie gedrungen sein.
2) Desmay, archives curieuses p. 388. Bei Douruergue a. a. O. S. 35
Calvin als Humanist.
Vorrede zu seinem Erstlingswerke,1 das er einem der Söhne Mom-
mors widmete, bekennt : „Die erste Anleitung zum rechten Wissen
und Leben." Dem Druck, von der Familie Mommor unterstützt
zu werden, entging er durch den Genuß einer Pfründe, die sein
Vater ihm zu verschaffen gewußt hatte. So wäre er nun aber doch
in eine seine freiere geistige Entwicklung hemmende Abhängigkeit
von der Kirche geraten, wenn nicht eine andre Gefahr ihn vor
dieser bewahrt hätte. Seine Vaterstadt wurde von der Pest heim-
gesucht. Gerhard, für das Leben des ohnedies schwächlichen
Knaben besorgt, beschloß, um so mehr, als er erfuhr, daß die
jungen Mommors zur Fortsetzung ihre Studien nach Paris gingen,
Johann ebendorthin ziehen zu lassen. Hoffnungsvoll durfte er
diesen Schritt wagen, denn dem 13 jährigen jungen Gelehrten
fehlte es weder an wissenschaftlicher noch sittlicher Reife.2
2.
Als der junge Abälard zum erstenmal über die Hügel stieg,
die Paris umgeben, machte sein Begleiter ihn aufmerksam auf die
schöne Stadt zu ihren Füßen. Abälard soll erwidert haben: eine
Handschrift des Evangeliums Matthäi sei ihm tausendmal lieber.3
Ähnlichen Sinnes mochte der Knabe sein, der von der Picardie
her in die große Stadt an der Seine einzog. Er sollte dort in
reichem Maße finden, was sein wissensdurstiger Geist suchte. Durch
ihre kriegerischen Begegnungen mit Italien hatten die Franzosen
eine friedliche Beute gewonnen. Die humanistischen Studien, mit
denen besonders die adelige französische Jugend in Padua, Florenz,
Bologna bekannt wurde, ließen sie bald erkennen, daß es noch einen
andern Ruhm gebe als den der Waffen. Franz I. selbst, sonst
leichtfertigem Sinnengenuß ergeben, war von der neuen geistigen
Strömung ergriffen und aufs eifrigste bemüht, den freien Künsten
und Wissenschaften in seinem Lande Eingang zu schaffen, vor
allem aber seine Residenz zu einem Sitz derselben zu machen.4
1) S. S. 12.
2) Die Nachrichten über C.'s erste Jugendjahre bleiben trotz der
wertvollen Beiträge seiner obengenannten Landsleute spärlich. Er hatte
eine natürliche Abneigung, viel von sich zu reden; oder wollte er auch in
diesem Stück vergessen, was dahinten lag? Wie interessant wäre aus seinem
Munde z. B. die Mitteilung, daß er als Siebenjähriger seinen König Franz I.
gesehen, der am 16. August 1516 mit Karl I. von Spanien (nachmals
Karl V.) in Noyon einen Vertrag schloß!
3) Henke (Marburg) im Kolleg über Kirchcngeschichte des M. A.
4) Baum, Th. Beza I.Teil S. 36«.
Von Johannes Neuenhaus.
Calvin sollte die ersten Früchte solcher Bemühungen genießen
dürfen. Die Veränderung seiner äußeren Lage mag er zunächst
nicht ganz leicht empfunden haben. Er war bei seinem Oheim
Richard Cauvin, einem Schmied, abgestiegen und hatte in dessen
Hause ein bescheidenes Zimmer bezogen. Den täglichen Verkehr
mit seinen Freunden in den herrschaftlichen Räumen, die Spazier
gänge im Park, die ländliche Stille, die Nähe der Heimatstadt wird
er vermißt haben, dafür wurde ihm aber neue geistige Nahrung
und Anregung in reichem Maße geboten. Wenige Tage nach seiner
Ankunft in Paris trat er in das College de la Marche, eine jener
freien Lehranstalten, die ihre Zöglinge zum selbständigen Studium
auf der Universität vorbereiteten und in Frankreich damals ziem-
lich verbreitet gewesen sein müssen. In dem Leiter dieses College,
Maturinus Cordier, fand er einen Vertreter der humanistischen
Richtung, die für ihn fortan die bestimmende sein sollte. Dieselbe
herzliche Zuneigung, die der ,Praeceptor Germaniae' später für den
Genfer Reformator empfand, zog den jungen Calvin zu dem Rektor
seines College. Cordier besaß ganz die glückliche Gabe Melanch-
thons, durch Liebe zur Jugend dieser die Liebe zur Wissenschaft
einzuflößen. Mit großer Gelehrsamkeit verband sich in ihm ein
sittlicher Charakter. Ohne beengende Methode führte er seine
Schüler in die üblichen Fächer des Wissens ein. Mit Literatur,
Philosophie, Geschichte wurde so Calvin bald vertraut, wenn auch
nur immer noch in propädeutischem Maße. Denn bei aller genialen
Anlage zum Gelehrten hatte er doch während der kurzen Zeit, die
er diese Anstalt besuchte, genug zu tun mit grammatikalischen
Studien. Bei Calvin bestätigt sich einmal wieder die Tatsache,
daß das Genie fleißig ist. Mit rühmlichem Zeugnis über seine Fort-
schritte wurde er in das College de Montaigu versetzt, das eine
höhere Stufe wissenschaftlicher Ausbildung gewährte. Hier scheint
er zum erstenmal mit der Philosophie der Scholastik bekannt ge-
worden zu sein und dadurch mit deren Theologie. Sein für das
scharfe Denken veranlagter Verstand erhielt unter einem nam-
haften, aber uns unbekannten, spanischen Gelehrten treffliche
Schulung. Besonders der Dialektiker in ihm wurde geweckt und
ausgebildet. Auf denselben Bänken saß etwa sieben Jahre später
Ignaz Loyola, von Irrfahrten heimgekehrt, von Leidenschaften
zerrissen, voll phantastischer Pläne. Das schroffe Gegenstück zu
dem jungen Calvin, der nur die Leidenschaft des Geistes kannte:
zu lernen.
Calvin als Humanist.
Nicht ohne Empfänglichkeit für das Schöne, wofür bereits
Cordier den Sinn seiner Schüler zu öffnen sich angelegen sein ließ,
suchte er es doch weniger in den Künsten als in der Klassizität
des Stils. Schreiben wie Cicero war damals der höchste Ruhm.1
Danach strebte der nun Sechzehnjährige. Er fand, daß dieser
römische Klassiker eine der französischen verwandte Art habe.
Dieser Wohllaut der Form, dieser durchsichtig- klare Aufbau der
Gedanken ergötzte und befriedigte ihm aufs höchste Ohr wie Geist.
Der schüchterne angehende Jüngling ahnte nicht, daß er in dieser
Zeit schon eifrig damit beschäftigt war, sich das Denkmal zu
setzen, das nicht lange danach aus der von ihm neugeprägten
französischen Schriftsprache aller Welt vor Augen trat. „Keiner
ging ihm darin voran, gut zu schreiben, und wenige haben seitdem
sich der Schönheit und Leichtigkeit der Sprache genähert, die er
besaß"; sagt einer seiner gelehrten Landsleute.2 Dieser bis in
seine Muttersprache neugestaltend sich geltend machende Einfluß
Ciceros war allerdings zum großen Teil Calvins eignes Verdienst,
die Frucht privater selbständiger Lektüre. Denn der sonst so
einflußreiche spanische Lehrer des College de Montaigu trug
schlechtes scholastisches Latein vor, auch von den andern Kathe-
dern bekam Calvin vorderhand nichts Besseres zu hören.3
In dieser Zeit seines Werdeganges zeigt sich an ihm ein
zurückgezogenes, herbes, strenges Wesen. Alle Biographien stim-
men darin überein, daß er ein unbequemer Kamerad gewesen sei.
Seine Mitschüler hätten ihn den „Accusativ" genannt. Kamp-
schulte 4 nimmt es mit diesem Spitznamen nicht so harmlos wie
andre Biographen. Es wird wohl was daran gewesen sein. Aber
man urteile doch billig. Der kleine Calvin überragte seine Ge-
nossen um mehr als Haupteslänge an wissenschaftlichem Können
und sittlichem Wollen. Fern von den Vergnügungen der Jugend,
nur auf das Wahre und Gute gerichtet, schwächlicher Gesundheit,
von chronischen Leiden heimgesucht, einsilbig im Verkehr, ganz
im Banne einer unjugendlichen, aber entschiedenen Richtung seines
Charakters : wie sollte er nicht unwillkürlich und unbewußt die
leitende Stellung eines Lehrers mit aller darin liegenden Aufsicht
und allem hervorgerufenen Tadel über seine Mitschüler sich an-
i) Baum a. a. O. S. 37.
2) Florimond de Raemond, L'histoire de la naissance, progres et
ilcnce de l'heresie de ce siecle; bei Bungener a. a. O. S. 16.
3) Bungener a. a. O. S. 17.
4) A. a. O. S. 225 Anm. Doumergue a. a. O. S. 73 ff.
Von Jobannes Neuenhaus.
geeignet haben! In Wahrheit ist doch wohl noch etwas anderes,
Rühmlicheres darin zu erkennen. Ein humanistischer Zug, dem
er seinem sonst freilich glücklicher gearteten Lehrer Cordier ab-
gesehen haben mochte. Der echt griechisch-philosophische Grund-
satz: mit der Tat auszudrücken, was er gelernt hatte. Das ist
schon der spätere Reformator, der existierend, vorbildlich kund-
gab, was er lehrte.
Ein dermaßen geförderter Scholast — er zählte nun 18 Jahre -
war reif für die Sorbonne. Da traf ihn ein unerwarteter Bescheid
des Vaters.
3-
Gerhard Cauvin, eigensinnig und eigenmächtig in der Aus-
übung seiner Rechtsbefugnisse, hatte mit dem Klerus Händel be-
kommen. Wir wissen darüber nichts Genaues. Sie müssen doch
sehr ernstlicher Natur gewesen sein, denn sie führten schließlich
zu seiner Exkommunikation.1 Man sollte denken, bereits die An-
fänge solcher Störungen seines Verhältnisses zur Kirche erklären
zur Genüge den Entschluß des Vaters, den Sohn ihrem Dienste zu
entziehen und ihn von der Theologie zur Rechtswissenschaft über-
gehen zu lassen. Calvin selbst vermeidet es, den Zerfall des Vaters
mit der Kirche zu berühren und bezeichnet in der Vorrede zu den
Psalmen als Grund des plötzlichen Wechsels die größeren Aus-
sichten, die dem Jünger der Rechtsgelehrsamkeit sich boten. Auch
diese werden ja mitgesprochen haben. Der Sohn gehorchte, wie-
wohl schweren Herzens. Doch sollte er die auch hier über ihm
waltende Hand der Vorsehung spüren.
In Orleans und in Bourges, wohin er bald nacheinander ging,
war er von dem neuen Studium gleich so hingenommen, daß der
väterliche Wille ihn nunmehr in die rechten Bahnen gelenkt zu
haben schien. Er hört die berühmtesten Rechtsgelehrten. In
Bourges 2 tut es ihm besonders Alciati an, von dem Bungener3
berichtet, er habe als Kind der italienischen Renaissance auf das
unfruchtbare Gebiet der Gesetze jenen poetischen Enthusiasmus
übertragen, mit welchem sein Vaterland ihn genährt hatte, und
Calvin, den die Poesie allein wahrscheinlich kalt gelassen haben
würde, sei durch dieses merkwürdige Gemisch bezwungen worden.
i) Doumergue a.a.O. S. 23 ff.
2) Hier, nicht in Orleans, wie ich in dem Art. der Ref. Kirchenztg.
irrig angebe.
3) A. a. O. S. 21. Vergl. Doumergue a. a. O. S. 143.
Q Calvin als Humanist-
Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob es eines solchen Gemisches
für den Studierenden der Rechte noch bedurfte. Sicher ist, daß
unter der freieren akademischen Muße, die ihm jetzt vergönnt
wurde, sein lebhafter Geist sich rast- und schrankenlos entfaltet.1
Mit Staunen beobachten die Kommilitonen, wie er nach ange-
strengter Tagesarbeit die halbe Nacht benutzt, um das Gehörte
selbständig zu verarbeiten in eleganter Sprache, mit schöngeistigem
Witz, gleich dem gewandtesten Gelehrten vom Fach. Er erntet
die verdiente Anerkennung seiner Lehrer, die ihn bereits ver-
tretungsweise die Bank des Hörers mit dem Katheder vertauschen
lassen. Daneben bleibt auch das bunte Treiben der Hochschule
nicht ohne Einfluß auf ihn. Er wird umgänglicher, Freunde ziehen
ihn in ihre Familienkreise. Freilich aus dem Banne der Gelehr-
samkeit lockt ihn keiner. Amicissima doctrina ! Doch findet er
einen Freund, der ihn dieser noch näher brachte. Es war doch
eine bedeutsame Fügung, daß ihm zu dieser Zeit seiner Lehrjahre
ein Meister gegeben wurde, der in noch höherem Maße als der
Pariser Cordier die Geistesart Melanchthons besaß. Melchior
Volmar, ein Schwabe, vertrat in Orleans und danach in Bourges
den deutschen Humanismus. 2 Schon in ersterem war Calvin diesem
Manne begegnet, wir hören jedoch näheres über ihre innigen Be-
ziehungen erst während ihres gemeinsamen Aufenthaltes in Bour-
ges. Wie sein großer Landsmann zog Volmar, teils aus materiellen
Gründen, mehr noch aus Neigung junge Leute von guter Familie
in sein Haus, die er in den Sprachen und schönen Wissenschaften
unterrichtete. Inzwischen gewährte er ihnen noch etwas anderes.
Den in Paris unter Lefevre d'Etaples und Wilhelm Bude in der
Stille gepflegten christlichen Reformbestrebungen war auch er zu-
getan und suchte nun in solchem Sinne auf die ihm anvertrauten
Jünglinge zu wirken. Unter diesen sah Calvin, in Volmars Hause
oft verkehrend, einen Knaben von ungewöhnlicher Anmut und
fühlte sich sogleich von seinem äußeren Wesen wie von seinen
geistigen Anlagen mächtig angezogen.3 Es war Theodor Beza.
Eine Freundschaft der beiden kam jetzt noch nicht zustande. Sie
wurden bald wieder getrennt. Indes ihre gemeinsame Begeiste-
rung für die humanistischen Studien rechtfertigt das Interesse, das
i) Stähelin a.a.O. S. n ff. Kampschulte a.a.O. S. 224 ff., besonders
S. 232 ff. Doumergue a. a. O. S. 180 ff.
2) Wir kommen Abschn. 9 auf diesen, näher eingehend, zurück.
3) Baum a. a. O. S. 17; Beze, Vrais Pourtraicts p. 149; Doumergue
a. a. O. S. 187.
Von Johannes Neuenhaus.
wir an ihrem ersten Begegnen nehmen. Sie waren doch zwei sehr
verschiedene Naturen. Das zeigte sich auch in ihren humanisti-
schen Neigungen. Der Sohn des Rechtsgelehrten fand in seinem
Berufsstudium kein Hindernis, mit Eifer sich den alten Sprachen
zu widmen. Wie mag er es in seinem Wissensdurst empfunden
haben, daß ihm bisher das Griechische noch fehlte. Zu den Füßen
Volmars hat er es bald nachgeholt. Dagegen war dem heiteren
Kinde aus dem Burgunderland die Rechtsgelehrsamkeit ein Greuel,
und weniger der strengen Wissenschaft als dem schönen Geiste der
Antike gab er sich in jenen Jahren akademischer Ungebundenheit
hin.1 Eine dichterische Ader, die dem nüchternen Picarden ganz
abging, schlug in Beza, und gewann ihm aller Herzen. Den Ge-
fahren solches ästhetischen Humanismus entging er mit Not. Doch
hat er, in schwerer Krankheit von Gewissensnöten geplagt, von den
ersten Schauern einer Wiedergeburt ergriffen, vieles von den leich-
ten Erzeugnissen seiner Muße verdammt, bis sein reines Gemüt
und fester Wille ihn dauernd dem mit sittlicher Frömmigkeit ver-
bundenen Humanismus der Gelehrsamkeit folgen ließ, dessen Zierde
er mit seinem großen Freunde und Mitarbeiter in Genf einst werden
sollte. 2
4-
Der Tod Gerhard Cauvins brachte für den weiteren Bildungs-
gang des Sohnes eine bedeutende Wendung. Ob er an das Sterbe-
bett geeilt, ob er der traurigen Pflicht seiner Brüder sich mit
unterzogen und vom Bischof ein Grab an geweihter Stätte für den
Exkommunizierten erbeten, wir können darüber kaum Vermutungen
äußern.3 Calvin ist hier so schweigsam wie über seine Kindheit.
Es liegt nahe, daß man in dem peinlichen Erlebnis einen Anlaß zu
seiner Abkehr von der römischen Kirche gesucht hat. Glücklicher-
weise deutet nichts darauf hin. Widerspruch gegen die Kirche
hätte er übrigens in demselben Maße in sich nähren können als er
sich dem Einfluß des Humanismus hingab. Gerade in Frankreich
galten die humanistischen Neulinge für ,,Lutheranisierer". Indes
ist er in dieser Zeit noch fern von einem Bruch mit der Kirche.
Hatte schon der Prozeß des Vaters mit dem Kapitel in Noyon ihn
veranlaßt, sich in den Mittelpunkt der Literatur und der Wissen-
schaften zu vertiefen, so bewirkte das erst recht des Vaters Tod.4
i) Baum a.a.O. S. 2"] ff.
2) Baum a. a. O. S. 62 ff.
3) Doumergue a. a. O. S. 194.
4) Doumergue a. a. O. S. 195 ff.
IO
Calvin als Humanist.
Gleich nach demselben, der am 26. Mai 1531 eintrat, finden wir
ihn in Paris. Endlich durfte er die Sorbonne besuchen und ohne
jede Bevormundung seinen Lieblingsstudien leben. So schnell er
sich in die Rechtswissenschaft gefunden, so glänzende Erfolge er
darin aufweisen konnte, sein Streben ging nach einer andern Rich-
tung. Das Sehnen des echten Gelehrten, nicht nach Ruhe, aber
nach Stille hat ihn immer erfüllt. Jetzt wollte er diese Stille ge-
nießen, aber auch auskaufen mit gründlicherer Vertiefung in die
Studien, darin ihm ein Reuchlin, Erasmus, Lefevre als Vorbilder
leuchteten. So sah man nun den Lizentiaten der Rechte in den
Hörsälen der Philosophen, Philologen, Theologen. Doch nicht die
alte Akademie, die Sorbonne, sollte ihn zu ihren treusten Besuchern
zählen. Unter dem Einfluß des „grand Bude" und Cops hatte
Franz I. ein Institut errichtet, wo man Sprachen lehrte, und dem
Humanismus ein Herd bereitet ward. In dieses College de France
zog es Calvin am meisten. Hier glänzte besonders Danes.1 Aus
alter einflußreicher Pariser Familie stammend, ein „grandseigneur",
ein Mann von enzyklopädischem Wissen, beliebt am Hofe, der ein
begeistertes Auditorium um sich sammelte. Darin finden wir
Calvin. Bei Danes setzt er die griechischen Studien fort, bei
Vatable hört er Hebräisch. Es war eine Epoche von unvergleich-
lichem Enthusiasmus und Hoffnungen. Der Schüler Cordiers und
Volmars bekam hier denn doch noch Größeres zu sehen und zu
hören als ihm Orleans und Bourges geboten. Hier konnte er in
der Tat alle Elemente humanistischer Bildung in sich sammeln,
und wir dürfen annehmen, er habe darin nichts versäumt. In dieser
Zeit ist er ganz einzuschätzen als Humanist. Es waren die an-
genehmsten und anregendsten Jahre seiner Jugend. Mit Hütten
mochte er sagen : ,,es ist eine Lust, zu leben !" Paris bildet seine
Leute. Das zeigte sich auch bald an dem vorher sich so gern nur
in seine Wissenschaft einspinnenden Gelehrten. Noch mehr als in
Bourges gelang es jetzt den Freunden, ihn in die Gesellschaft
hereinzuziehen. Und wir sind überrascht zu hören, wie man ihn
beurteilt. Kein Finsterling, sondern ein Mann von angenehmen
Umgangsformen, vielseitig gebildet, beliebt, gesucht, ja, seine Um-
gebung bezaubernd, daß man sich darum reißt, ihn zu beherbergen.
Seine Korrespondenz mit den Freunden hat den Charakter von
Kordialität und Freundlichkeit. Bei der Empfehlung eines jungen
Arztes äußert er das witzige Bedenken: „Ist das nicht, wie wenn
ii Doumergue a.a.O. S. 205.
Von Johannes Neuenhaus. I I
man einen Degen in die Hand eines Briganten legte? Denn man
sendet ihn, um Viele umzubringen. Freilich, dem Arzte ist es er-
laubt, ungestraft zu töten." ' Dabei lebt er selbst nicht etwa in
glänzenden Verhältnissen. Einmal gerät er in großer Angst,
Schulden machen zu müssen. Es fehlen ihm zwei Kronen. Für
den Gewissenhaften eine ziemliche Verlegenheit. Indes überheben
ihn die Freunde der Sorge. Die Stimmung und die Studien leiden
nicht unter der Enge. Auf seine wissenschaftliche Tätigkeit wirkt
auch der gesellige Verkehr nicht nachteilig. Es sind feine distin-
guierte Kreise, eine geistige Atmosphäre, darin er sich bewegt.
Vor allem pflegt er intimen Umgang mit der Familie Cop, wo ihn
der Sohn des Hauses als Freund eingeführt hat, und Alle ihm mit
großer Verehrung und Anhänglichkeit begegnen.
5-
Es war nun an der Zeit, daß man von solcher geistigen Reg-
samkeit und Empfänglichkeit, verbunden mit so andauerndem
Fleiß einen Beweis selbständigen gelehrten Schaffens erwarten
durfte. Calvins Feder hat sich indes auch später nie übereilt.
Streng in der Selbstbeurteilung, von angeborner Bedenklichkeit in
allem ernsthaften Beginnen, wird er den Plan lange bei sich er-
wogen haben. Endlich drängten die Freunde zur Ausführung.
Das Erstlingswerk war eine lateinische kommentarmäßige Ab-
handlung über Senecas Schrift ,de dementia'. - Er widmet sie in
der Vorrede seinem Jugendfreunde Claude d'Hangest Moramor,
Abt von St. Eloy. Die Veröffentlichung bewegt den Verfasser
sichtlich. Nicht nur der Eindruck, den sie hervorrufen wird, auch
die Sorge um Deckung der Kosten beschäftigte ihn aufs lebhafteste.
Doch ist er sich des Verdienstlichen in seiner Arbeit wie der ent-
scheidenden Bedeutung dieses ersten literarischen Schrittes wohl
bewußt. ,,Der Würfel ist gefallen!" Und er fiel für den Verfasser
nicht ungünstig. Die Schrift wurde allseitig gewürdigt und bestätigte
seinen Ruf als Gelehrter. Von weitertragender Bedeutung war sie
doch nicht. Man hat solche ihr beigelegt. Man hat in ihr einen
Appell an die Obrigkeit, Milde gegen die Ketzer zu üben, sehen
wollen. Wohl rügt sie öffentliche Zustände in der Regierung
und wendet sich freimütig an die Fürsten8 mit dem guten Rat.
i) Doumergue a. a. O. S. 198.
2) Kampschulte a.a.O. S. 237 ff. ; Doumergue a.a.O. S. 210 ff.
3) 1516 hatte Erasmus eine Institutio Principis christiani geschrieben,
die er dem König Karl zueignete (!). Ersch u. Gruber, Enzyklopädie,
t. Sekt. Teil 36. Art. Erasmus S. 160.
j 2 Calvin als Humanist.
ihre Macht nicht auf Roß und Reisige noch auf Reichtümer, son-
der auf Liebe und Treue ihres Volkes zu bauen ; allein das gab der
Zusammenhang mit dem Inhalt der Schrift Senecas von selbst.
Andrerseits wiegt das philologische Interesse im Kommentar der-
maßen vor, daß man doch nur gezwungen von einer reformierenden
Absicht auf politischem oder kirchlichem Gebiet darin reden kann.
Der Reformator war eben noch nicht erwacht. Calvin hatte aber
offenbar eine persönliche Sympathie für den römischen Philosophen
und Staatsmann. Und das erklärt sich nicht schwer. Seneca zeigt
manchen ihm verwandten Zug in Wesen und Bildung. Schwäch-
lichen Körpers, eine geistige, sittliche, stoische Natur, anfangs
Rechtsgelehrter, dann, diesen Beruf aufgebend, der Philosophie
und Rhetorik sich widmend : kein Wunder, wenn Calvins Gedanken
sich gern mit diesem Manne beschäftigen, gleichsam im Kultus
einer seelischen Freundschaft, und er nun die Gelegenheit ge-
kommen glaubt, wo er den Schatz seiner Kenntnisse vor der ge-
lehrten Welt dartun kann und soll. Letzterer lag, so zu sagen, der
klassische Autor durchaus ; darauf konnte der Erklärer rechnen.
Aber welche Fülle eigener Belesenheit bot nun wieder dieser ! Sein
schon von den ersten Lehrern gerühmtes Gedächtnis leistete ihm
hier glänzende Dienste, Homer, Horaz, Virgil, Cicero, Augustin,
ja, Schriftsteller, die wir nicht einmal dem Namen nach kennen,
sind mit Belegstellen ihm zur Hand. Dabei die Gedrungenheit des
Stils, um die ihn Fachgenossen aus viel späteren Jahrzehnten be-
neiden müßten. Die übrigens nicht umfangreiche Schrift x war nun
das erste und zugleich letzte rein humanistische Erzeugnis aus Cal-
vins Feder. 2 Mit ihr — so ist wohl das allgemeine Urteil — habe
er Abschied genommen von der bisher gepflegten Richtung; der
Humanist sei untergegangen im Reformator. Richtiger wäre in-
des zu sagen : übergegangen in den Reformator. Denn nie hat
dieser aufgehört Humanist zu sein.
i) Corp. Ref. Vol. V. I. p. 1—162.
2) Kampschulte a. a. O. S. 239; Doumergue a.a.O. S. 216 ff. Letzterer
urteilt sogar schließlich S. 222: En realite le Commentaire sur le de de-
mentia prouve, que notre jeune et brillant humaniste n'est pas seulement
un nomine des temps modernes, ni meine im nomine, dans le plein sens
du mot: il est augtistinien. Or l'aiigustinisme c'est le contraire de
rhumanisme. Demandez-le a Erasme, 011 plutöt, ä Luther, dont le
continuateur se forme et va bientöt se devoiler. — S. das weitere über
diesen Punkt in Absclin. 9 m. Aufsatzes.
Von Johannes Neuenhau*. I 3
6.
Der Kommentar erschien im April 1532. Hatte die Beschäf-
tigung mit dieser Arbeit Calvin vollauf in Anspruch genommen und
ihn vielleicht eine Zeitlang ausschließlich in sein Studierzimmer
gebannt, so mochte er nun wieder dem öffentlichen akademischen
Leben sich zuwenden. Darin ging es um diese Zeit unruhig her.
Die Sorbonne hatte die von irgend jemand verteidigte These: daß
die h. Schrift ohne Kenntnis des Hebräischen und Griechischen
nicht zu verstehen, und ebenso ein Prediger oder Ausleger ohne
diese beiden Sprachen nicht möglich sei: ,temeraria, scandalosa,
falsa, impia, perniciosa' genannt.1 Am 1. Januar 1533 erhob sie
förmlich Klage beim König über die zunehmende Ketzerei. Einer
ihrer Lehrer, Beda, fürchtet, daß durch Kenntnis der alten Sprachen
die Tradition der Kirche, besonders die offizielle Übersetzung der
h. Schrift Änderungen erfahren könnte, wie sie Erasmus, Lefevre
und andere hereingebracht hatten. So stand eine Partei der Auf-
klärung der alten scholastisch-kirchlichen gegenüber, und zwar zu-
gleich als Partei des Evangeliums. Die Sorbonne prägte Schimpf-
namen. „Ein Lutherischer" galt für verdächtig, „ein Grieche" für
„ein Ketzer". Die reformierende Bewegung drang indes unauf-
haltsam vor. Le Picard klagt : „das ist unsre Lage. Meine Kanzel
ist verlassen. Es bleiben mir nur einige alte Weiber. Jedermann
läuft nach dem Louvre".2 Vermutlich ließen in letzterem sich die
vom König angestellten Lehrer des College de France hören, die
alle stark zur Ketzerei neigten.
Unter solchen Eindrücken stand jetzt Calvin. Was er bereits
von Cordier und Volmar und neuerdings von Bude und Danes an
religiöser Anregung empfangen, was er in der Quelle, der h. Schrift
selbst, gefunden, das wurde in diesen Tagen erst recht lebendig in
ihm und bewegte ihn aufs tiefste. Dabei konnte ihm nicht ver-
borgen bleiben, daß die humanistischen Studien, denen er sich mit
so ausnehmendem Eifer hingegeben, ihm nur dazu gedient hatten,
in die Erkenntnis des Irrtums der Kirche und der Wahrheit des
Evangeliums zu dringen. Noch schwankte er in Unsicherheit, wie-
wohl er manchen seiner Freunde, darunter einen begüterten Kauf-
mann, de la Forge in Paris, entschieden Avn neuen Weg betreten
sah. Dr Gedanke hatte ihn wohl erfaßt : daß man an der Yerbessc-
1) Doumorgue a.a.O. S. 207.
2) Dounicrguc a. a. O. S. 20g.
14
Calvin als Humanist.
rung der Kirche arbeiten müsse; aber noch nicht der andre: los
von ihr ! Da tat ihm denn der Herr die Augen und das Herz auf.
„Erschrocken und unter Tränen mein früheres Leben verdammend,
begab ich mich, o Herr, auf deinen Weg!"1 Aber Gott tat noch
mehr. Er fügte es, daß der Neubekehrte vor den Vertretern der
Kirche ein Zeugnis ablegen mußte, ohne dabei seinen Mund auf-
zutun.
Sein junger Freund Nikolaus Cop, Rektor der Universität,
hielt am Allerheiligenfeste 1533 eine Rede „über die christliche
Philosophie", die Calvin ausgearbeitet hatte. Das vernichtende
Urteil über die Sorbonne wie über die ganze kirchliche Scholastik,
nicht minder das evangelische Zeugnis, das darin ausgesprochen
wurde, zwang die beiden Freunde alsbald zur Flucht aus der Stadt.2
7-
Die neue Wendung im Leben Calvins stellt uns vor die Auf-
gabe, den Spuren des Humanisten, die es nunmehr in der Wirk-
samkeit des Theologen, später des Reformators, aufzeigt, nach-
zugehen. Unter dem Pseudonym Charles d'Espeville3 finden wir
ihn zunächst in dem bei Angouleme gelegenen Dorfe Claix. Der
Pfarrer des Orts, Louis du Tillet, ein Studiengenosse, nahm ihn
auf. Seine Pfarre war für den Flüchtling ein wahres Eldorado.
Du Tillet, ein vielgereister, vielseitig gebildeter Gelehrter, besaß
eine große Bibliothek von drei- bis viertausend Bänden.4 Calvin,
glücklich, einen solchen Reichtum ungestört genießen zu dürfen,
vergalt die Gastfreundschaft durch Unterricht im Griechischen. Der
Ruf seiner Gelehrsamkeit drang bald zu allen benachbarten Geist-
lichen. Man soll ihn kurzweg „den Griechen" genannt haben. Am
liebsten wäre er nun hier geblieben, um wieder ganz der Wissen-
schaft zu leben. Vor jedem Ruf von außen her möchte er sich
verbergen. Vor der Stimme in seinem Gewissen kann er es nicht.
,Omnia manibus Dei !' mit dieser Losung schließt er den Blick in
die Zukunft. Gleich Paulus in Damaskus geht er in dieser Zeit
wie blind einher, unstet von einem Ort zum andern reisend, immer
wohl aufgenommen, mit Gebildeten im Austausch der Gedanken
über die evangelische Wahrheit, auch hin und wieder predigend,
1) An Sadolet; zu finden bei Stähelin a.a.O. S. 27.
2) Doumergue a. a. O. S. 352 ff.
3) Doumergue a. a. O. S. 36g, 566.
4) Doumergue a.a.O. S. 370; Kampschulte a.a.O. S. 247.
Von Johannes Neuenhaus. I 5
aber ohne festen Arbeitsplan. Der Trieb zu literarischer B
tigung verleitet ihn, eine Schrift über den Seelenschlaf l ZU vei
öffentlichen, die sich gegen die Sekte der \\ iedertäufer richtet, Ge-
lehrsamkeit verrät, aber zugleich auch zeigt, wie er letztere in den
I henst seiner biblischen Theologie stellt und Glaubenswerte an die
Stelle natürlicher .Menschenweisheit setzt. Capito hielt den Gegen-
stand für ungeeignet, riet indes vergeblich vom Druck der ihm vor-
gelegten Niederschrift ab.2 Immerhin beweist ihre Veröffent-
lichung die nun mehr und mehr sich geltend machende Neigung
Calvins, auf schriftstellerischem Wege zu reformieren. Um sich
dafür noch weiter zu rüsten, verläßt er Ende 1534 das durch Ver-
folgungen der Evangelischen unruhig und gefährlich gewordene
Frankreich und sucht „irgend einen verborgenen Winkel" in
Deutschland auf. Er findet ihn nach kurzem Aufenthalt in Straß-
burg endlich in Basel. Gewiß nicht zufällig begleitete sein gelehr-
ter Ereund du Tillet ihn auf dieser Reise. Die jetzt noch auf der
Höhe ihres Ruhmes stehende Universitätsstadt hatte nur zu viel
Verlockendes. Zwar der alternde und kranke Erasmus, wenn er
überhaupt damals von Freiburg wieder zurückgekehrt war, mochte
nicht mehr viel bieten. Wir hören auch nichts von einer per-
sönlichen Berührung zwischen ihm und Calvin. Dagegen trat
letzterer dem Philologen Simon Grynaeus freundschaftlich näher,
dem er auch nachher seinen Kommentar zum Römerbrief widmet.
Grynaeus zählte mit Bonifacius Amerbach zu Erasmus nächsten
Freunden,3 die ihm den Eingang bei dem großen Humanisten leicht
hätten erwirken können. Auch zu Amerbach hat er später noch Be-
ziehungen gehabt, wie ein Brief zeigt, in welchem er ihm einen
jungen Juristen empfiehlt.4 Alle humanistischen Studien, die er
jetzt treibt, dienen ihm nur zum Verständnis der h. Schrift, deren
Größe ihm immer mehr zum Bewußtsein kommt, und deren Besitz
er als unantastbares Recht aller suchenden Herzen fordert. Eifrig
bemüht er sich um ihre Verbreitung und schreibt noch in Basel
zwei Vorreden zu der von seinem Verwandten Olivetanus unter-
nommenen französischen Bibelübersetzung. Eine derselben ent-
hält einen genialen Aufriß der Heilsgeschichte, vielleicht das
Glänzendste, was Calvin überhaupt geschrieben hat.5
1) Corp. Ref. V. I. p. 165 — 232.
2) Corp. Ref. V. I. Proleg. p. XXXVI.
3) Baseler Chronik 1765 S. 654-
4) Corp. Ref. XIII. p. 564. 565 Nr. 1307.
5) Stähelin a. a. O. S. 90 fr.
Calvin als Humanist.
Dreißig Jahre später wohnte in demselben Hause, in welchem
er sein Logis gehabt, Petrus Ramus, ein humanistischer Gesinnungs-
genosse Calvins, dem dann die Hauswirtin, Frau Klein, viel Gutes
von dem fleißigen und sittsamen Herrn d Espeville erzählt hat.
Nun mochte sie an Hebräer 13, 2 denken. Wie ein Engel des
Zeugnisses sollte aber der stille Gelehrte noch im Frühjahr 1536
vor der Welt auftreten und zwar so wie es seiner innersten Neigung
entsprach, als Schriftsteller, als Theologe — als reformierender
schlechthin. Um die angegebene Zeit erschien nämlich Calvins
christliche Glaubenslehre, die Institutio.
8.
Der Eindruck, den die umgestaltete und erweiterte Ausgabe
von 1559 macht,1 ist der eines Niederschlages, nicht nur seiner
Glaubensüberzeugung, sondern ebenso der Fülle gelehrten Wissens,
wie es ein so außerordentlich zum systematischen Denken veran-
lagter Geist in sich aufgenommen. Ein Mann wie er, konnte nicht
wieder in das Geleise mittelalterlicher Theologie zurück. Der
Bruch mit der Scholastik war in ihm geistig und geistlich vollzogen.
Ein neuer wissenschaftlicher Zug drang mit ihm in die christliche
Lehre. Und dieser Zug war hervorgegangen aus humanistischem
Boden. Das klassische Schrifttum hatte zugleich den klassischen
Geist herübergebracht, der doppelt anziehend wirkte, indem er das
Natürlich-Menschliche vom Zwange menschlicher Satzungen be-
freite und andrerseits in neue angemessene Formen band. Der
Humanismus schafft keine Überzeugungen. Er ist nicht identisch
mit Rationalismus. Er bildet nur Anschauungen. So hat er die
reformirte Reformation bereits in ihrem Reformator bedingt und
bestimmt, ohne etwa die Grundquelle dieser Reformation zu sein.2
Calvin war ja nicht der erste, der eine Zusammenstellung der
christlichen Glaubenssätze herausgab, aber unter seiner Feder zu-
erst gestaltete diese Zusammenstellung sich zu einer wissenschaft-
lichen im strengen Sinne. Melanchthon in den Loci zeigt noch die
scholastische Methode, auch Zwingiis Schrift „Über die wahre und
falsche Religion" bewegt sich noch in den alten Formen.
Die Aufgabe, die der Verfasser der Institutio sich gestellt, er-
scheint uns erst recht groß, wenn wir den unendlichen Abstand er-
1) J. Köstlin, Calvins Institutio nach Form und Inhalt, in ihrer ge-
schieht!. Entwicklung:. Thcol. Studien und Kritiken, Jahrg. 1868 1. Heft.
2) Vergl. A. Schweizer a. a. O. S. 27.
Von Johannes Neuenhaus. I J
wägen, der für ihn zwischen Mensch und Gott besteht. „Die
Summe unsrer Weisheit * ist Gotteserkenntnis und Selbsterkennt-
nis". Calvin rührt nur soeben an die Frage : welche von beiden
aus der andern hervorgehe, und stellt beide sogleich unter den
praktisch-religiösen Gesichtspunkt. Die Erkenntnis Gottes ist uns
angeboren, aber die Sünde hat sie auf ein Minimum reduziert. In
Sachen des Heils ist der Mensch vollends blind und nichtig. Gott
alles — wir nichts ! Auf diesem unwandelbaren Grunde „schlecht-
hiniger Abhängigkeit" ruht Calvins ganze Theologie. Seine
Prädestinationslehre ist da nur folgerichtig. Sie mag ihm selbst
schaudererregend und dem Erasmus skandalös sein, er kann sie nie
aufgeben, ohne das ganze System mit in den Sturz zu ziehen. Die
Vernunft versagt hier. Aber was liegt daran? Sein System ist
weder philosophisch noch spekulativ, noch menschlich, es ist ein-
fach der Ratschluß Gottes selber, und die Gedanken dieses Systems
sind unverbrüchlich verbürgt in der Magna charta der h. Schrift.
Calvin ist absoluter Monarchist im Reiche Gottes. Des Königs
Wille ist ihm oberstes Gesetz. Dieser Wille steht ihm für die Ver-
nunft. Unter dieses Prinzip fühlt er sich gebannt. Aber unter
diesem Prinzip fühlt er sich dann auch wieder frei von jeder mensch-
lichen Schranke und Fessel, von Tradition und Kirche, von Ob-
servanz und Aberglauben. Und in dieser Freiheit verachtet er
nicht Vernunft und Wissenschaft. Er macht im Gegenteil von
ihnen den ausgiebigsten Gebrauch. Er legt doch schließlich an
jede Glaubenswahrheit, sobald er sie erkenntnismäßig darlegt, den
Maßstab logischen Denkens wie den der persönlichen Erfahrungs-
gewißheit. So verfährt er bei der Behandlung von Vorgängen des
innern Lebens wie z. B. bei der poenitentia,2 so bei der Lehre von
den Sakramenten! 3 Ruht nun auch die Erfahrungsgewillheit auf
der Erleuchtung durch demh. Geist, so ist sie doch wieder bedingt
durch die Mittel menschlicher Erkenntnis, ohne welche auch der
Schriftbeweis nicht erbracht werden kann. Bei diesem Verfahren
ruft er oft die Zeugen auf, die ihm die so vertraute klassisch-antike
Welt gewährt. Ihre Aussagen haben wenigstens den Wert von
i) Instit. I. i. i. In allen lateinischen Ausgaben: sapientiae; in der
französischen von 1541: sagesse. Der Ausdruck lehnt sich wohl an die
von den namhaftesten Humanisten Erasmus, Lefevre u. a. gebrauchte Be-
zeichnung der christlichen Lehre als philosophia.
2) Instit. Lib. III 3, 2. Vgl. Ritsch], Die christl. Lehre von der
Rechtfertigung und Versöhnung, I. Bd. S. 203.
3) Instit. Lib. IV 14. Vgl. Baur, Dogmengesch. III S. 10, 11.
Calvinstudien. 2
Calvin als Humatiist.
Wahrheiten wie sie der sensus communis besitzt, dem freilich die
geoffenbarte biblische Wahrheit völlig verborgen ist. Indes wie stellt
sich nun unser Humanist selbst zur Bibel ? l Luther bewegt sich auf
diesem Gebiet scheinbar so frei, daß noch die moderne Kritik sich
auf ihn beruft, während Calvin das heilige Instrument kaum an-
tastet. „Man soll nichts von ihm hinwegnehmen, noch hinzutun." 2
Das war nun wohl letztlich die Meinung aller Reformatoren. Auch
Luthers unbefangene Urteile sind als Gelegenheitsäußerungen nicht
so ernst zu nehmen. Gelegentlich spricht er sich doch wieder
anders aus. Aber nicht bloß kirchlich-ehrwürdig war ihnen der
Kanon ; sie sahen darin den Grund ihres Glaubens, den Schatz ihrer
Erkenntnis, die Quelle ihres Trostes, die Rüstkammer ihrer Waffen.
Darum ließen sie die Hände davon. Was hätten sie am Ende auch
anders tun können? Quellenforschung, Entwicklungsgedanke,
das ganze Handwerkszeug des Kritizismus waren für sie meist
noch fernliegende Dinge. Der einzige, der hier Pfadfinder und
Führer hätte sein können, Erasmus, versagte bald im Dienste der
Reformation. So hat allerdings Calvin zumal mit herbstem Kon-
servatismus am biblischen Bücherbestand festgehalten und auch
das kanonische Ansehen derjenigen nicht zu beanstanden gewagt,
über deren Verfasser selbst Kirchenväter ihre kritischen Bedenken
haben.3
Das hindert ihn nun aber nicht an einer freien Handhabung
des Schrift inhaltes. Im nüchternen grammatisch-historischen
Verfahren, im Vorwalten natürlicher, dogmatisch-voraussetzungs-
loser Auffassung des Textes bei allem tiefen religiösen Verständnis,
im Ablehnen herkömmlichen Allegorisierens, in glücklicher ge-
wandter Behandlung schwieriger Stellen zeigt sich der humanistisch
gebildete Meister, der neuen Most in neue Schläuche füllt. Sein
Schaffenstrieb gerade auf exegetischem Gebiet ist erstaunlich.
Mitten in den Unruhen der Straßburger und Genfer Zeit, in Stun-
den, die er tagsüber oder nachts sich rauben muß, unterbrochen
und von neuem anhebend, immer gesammelt, wissenschaftlich ge-
rüstet, voll Schriftgeist — so schreibt er Kommentare. Es ist
ein Wort Bezas,4 das aber ganz im Sinne Calvins lautet: „Das
Studium des Griechischen und Hebräischen sind vorbereitende
i) Instit. Lib. I Cap. VI, VII.
2) So im Genfer Katechism. Vgl. Bungener a. a. O. S. 129 u. ö.
3) Stähelin a. a. O. S. 192. Vgl. Tholuck, Lit. Anz. 1831 Nr. 42, 43.
4) Histoire ecclesiastique, I. p. 8; bei Doumergue a. a. O. S. 207.
Von Johannes Neuenhaus. I Q,
Dinge der großen Güte und Barmherzigkeit Gottes für ein großes
Werk." Beim Lesen der Kommentare Calvins, besonders in der
lateinischen Ausgabe, meint man etwas zu spüren von dem hoch-
gemuten, frommen Humanismus, der jene Männer beseelte.
Wir kommen noch einmal auf die Form der Institutio zurück.
„Es herrscht darin ein Ton der Unduldsamkeit und Schmähsucht, der
sich mit evangelischer Milde und christlicher Resignation nicht
verträgt." So urteilt der einsichtsvollste der Biographen Calvins
römischerseits, Kampschulte.1 Er mildert zwar selbst seinen Vor-
wurf durch die Bemerkung: „Doch der Geist des Reformations-
zeitalters war nicht der unsrer Zeit. Gerade was uns verletzt,
wurde von jenem Calvins Arbeit vielfach als Verdienst angerech-
net." Damit ist doch eigentlich alles erklärt. Der Humanist
wenigstens teilt den Vorwurf mit allen Genossen seiner Zunft.
Erasmus, Hütten, Luther, selbst Melanchthon haben im Schimpfen
auf die Gegner ihrer Feder immer freien Lauf gelassen. Das ge-
hörte zum Ton, und wenn es auch gewiß kein guter war, so ist
er doch nicht so schlimm zu nehmen wie er unseren Ohren klingt.
9-
Ein viel gewichtigeres Bedenken erhebt sich von andrer Seite.
In einer eingehenden Untersuchung 2 ist neuerdings der Nachweis
einer Beeinflussung Calvins durch Erasmus versucht worden, die
nicht nur seiner schriftstellerischen, sondern auch religiösen Ori-
ginalität erheblichen Abbruch zu tun scheint. Die angeführten
Belege 3 beanspruchen das ernstlichste Erwägen. Es handelt sich
dabei um die Gedanken beider Autoren über Weltverachtung und
Todessehnsucht; über deren Folgen für die Sittlichkeit, für die
Güter und Aufgaben des Erdenlebens; über den Glaubensbegriff;
über die Eschatologie. Die Ähnlichkeit der Ausführungen ist
unwiderleglich, die Behauptung der Abhängigkeit des Jüngeren
vom Älteren, scheinbar durchaus begründet. Wenn es auch nicht
im Rahmen dieser Arbeit liegt, in die Sache tiefer einzudringen, die
Frage darf doch nicht ganz unberührt bleiben : wie haben wir uns
dieses Verhältnis Calvins zu Erasmus zu erklären? Bewährte Cal-
vinforscher haben sich damit beschäftigt.4 Eine befriedigende
1) A. a. O. S. 277. Vgl. Köstlin a. a. O. S. 60, 61.
2) M. Schulze, Calvins Jenseits-Christentum in s. Verhältnis zu den
religiösen Schriften des Erasmus. Görlitz 1902.
3) Bei Calvin fast ausschließlich der Institutio entnommen.
4) A. Lang, Ref. Kztg. 1902 Nr. 5 S. 36, 37. Vgl. desselben „Die
Bekehrung J.Calvins"; sowie Doumergue a.a.O. S. 336 ff.
2*
20 Calvin als Humanist.
Lösung steht noch aus. Die Textunsicherheit der Schriften des
Erasmus läßt eine Erörterung des Gegenstandes noch nicht zu.1
Eins ergibt sich indes aus der Darlegung jenes Verhältnisses zwi-
schen Calvin und Erasmus schon jetzt und wird auch durch spätere
Nachweise nicht widerlegt werden können : die Institutio ist bis zu
ihrer letzten Umarbeitung unter starken humanistischen Ein-
wirkungen geschrieben worden. Gewiß, auch wenn zwei dasselbe
schreiben, ist es nicht dasselbe. Der innere Vorgang, der sich in
Calvin vollzog, blieb dem Humanisten par excellence fremd. Darum
ist es die treffendste Bemerkung, die über die religiöse Gesinnung
des Erasmus gemacht werden kann, wenn Hermelink 2 sagt : sein
sittliches Pathos sei stärker gewesen als seine Willenskraft. Plato,
Cicero, Christus lagen für ihn auf einer Linie. Für Calvin hebt mit
letzterem eine neue an. Allein die Terminologie, unter der Eras-
mus und alle von ihm beeinflußten Humanisten ihre neue Anschau-
ung vom christlichen Leben zum Ausdruck brachten, sie war der
Bann, dem sich auch der Verfasser der Institutio nicht entziehen
konnte. Platonisch-Erasmisch bestimmt waren eben auch jene Ver-
treter des deutschen Humanismus, zu deren Füßen Calvin gesessen.
Und alle waren durch dieselbe Schule gegangen, die Lefevre und
Erasmus durchlaufen hatten, und die in der sogenannten ,Via
antiqua' 3 ihre geschichtliche Gestalt gefunden hat. Auf dem Boden
der Quellenforschung, durch das Mittel der Sprachwissenschaft
hatte man eine selbständige Bildung erstrebt, die von der Bevor-
mundung der Kirche unabhängig, auch ein christliches Leben nach
den Geboten und dem Vorbilde Christi, ein „Bergpredigt-Christen-
tum", verwirklichen wollte. Luther hat diesen Weg kaum be-
schritten, je weniger er humanistisch beeinflußt war. Calvin ist auf
ihm von Christus ergriffen worden — und' von da an hatte er auch
mit Erasmus innerlich nichts mehr zu tun.4
i) Hermelink, Die religiösen Reformbe'strebungen des deutschen
Humanismus. Tübingen 1907. S. 2.
2) A. a. O. S. 24.
3) Siehe die interessanten Ausführungen bei Hermelink a. a. O.,
bes. S. 6 — 15. Vgl. Wernle, Die Renaissance des Christentums im 16. Jahr-
hundert. Tübingen und Leipzig 1904. — Tröltsch in ..Die Kultur der Gegen-
wart", herausgegeben von Hinneberg, I. 4. S. 271 ff.
4) Die Spuren Lefevres in Calvins Kommentar zum Römerbrief weiß
ich mir auch nicht anders wie den Einfluß des Erasmus zu erklären. Vgl.
übrigens dazu Doumergue a.a.O. S. 550 ff.
Von Johannes Neuenhaus. 2 I
IO.
Es sah Calvins immer noch schüchterner Natur ganz ähnlich,
daß er mit dem Aufsehen, das sein Werk erregte, sich nicht
selbst in die Öffentlichkeit ziehen ließ. Stille Gelehrtenarbeit
blieb es zunächst, woran sein Herz hing.1 So wollte er ferner-
hin wirken für die Ausbreitung des Evangeliums. Noch im
Frühjahr 1536 verläßt er Basel und begibt sich mit du Tillet
nach Ferrara. Die Herzogin Renata hielt dort einen Hof, der
an die Glanzzeit von Weimar erinnert. Hier hätte nun der Hu-
manist sein Licht leuchten lassen können. Aber hier war es, wo
er solche an ihn herantretende Versuchung mied, um der ebenso
frommen wie geistvollen Frau vielmehr seelsorgerisch nahe zu
treten. Flüchtigen Fußes nur weilt er in Italien. Wenn er je Rom,
Venedig und Padua besucht hat, so wahrscheinlich mit ebenso ge-
ringem geistigen Ertrag als einst Luther. Die Zeit war nah, wo
er nicht mehr sich selbst gehören sollte. Auf einem Umwege nach
Straßburg in Genf übernachtend, trifft er hier wieder mit du Tillet
zusammen, der den Aufenthalt des Gastes an Farel verrät. Dieser
beschwört ihn im Namen, ja, unter Androhung des Fluches Gottes,
im Falle seiner Weigerung, in Genf zu bleiben und der bedrängten
Gemeinde zu helfen. Calvin, durch das heftige Andringen des
Genfer Pfarrers erschüttert, sagt zu. In dieser bewegten Stunde
hat er die Weihe zum Reformator empfangen.
11.
Bei der mannigfaltigen Tätigkeit des Reformators versteht es
sich nun, daß wir dem Humanisten darin nicht mehr so häufig be-
gegnen wie bisher. Wir lassen deshalb den Faden seines Lebens-
ganges fallen und heben die sachlichen Punkte heraus, die unser
Thema angehen. Zwei Städte kommen für sein reformatorisches
Wirken in Betracht : Genf, Straßburg und wieder Genf. Überall
hat er das Amt eines akademischen Lehrers bekleidet. Es war
ihm also bis an sein Ende dauernd Gelegenheit geboten, seiner
Lieblingsneigung nachzugehn und die hervorragende Gabe seines
Geistes, zu lehren, wie seine reiche Gelehrsamkeit zu betätigen.
Der Zulauf von Studenten, dessen er sich immer erfreuen durfte,
1) Das Quellenmaterial für diese letzten Abschnitte: bei Stähelin
a. a. O. I. und II. Bd.; Doumergue a. a. O. II. Bd.; Bungener führe ich
mit Vorbehalt an, da er leider keine Belegstellen angibt; Wertvolles
bei Stricker, Johannes Calvin als erster Pfarrer der reformirten Gemeinde
zu Straßburg. Straßburg iSgo.
2 2 Calvin als Humanist.
bweist an sich schon, in welcher Weise er sein Wissen mitteilte.
Die Jugend war durchweg humanistisch gebildet und interessiert,
dem trocknen, verworrenen Wesen der Scholastik abhold. Calvin
trat ihr entgegen als einer, der in dem Kursus, den sie zu durch-
laufen hatte, nicht nur zu Hause war, sondern die darin gepflegte
Geistesrichtung mit der überlegenen Macht einer Autorität re-
präsentierte und fortwährend förderte. Calvin nicht zu hören, galt
für ungebildet, seine Schriften nicht zu kennen, für Unwissenheit.
Wenn seine Kommentare uns heute noch zuweilen ultima ratio
sind, wie mag damals ein Straßburger oder Genfer Student am
Munde des Meisters gehangen haben! Gleich Melanchthon und
seinen eignen Lehrern hatte auch er die Gewohnheit, junge Leute
in seinem Hause und an seinem Tische zu verpflegen. Bei allem
Ernst, mit dem er sie überwacht, hat er doch genug Verständnis
und Nachsicht für ihre Torheiten. „Einigen freien Raum müsse
man ihnen lassen für ihren Unverstand, und unrecht wäre es, die
Bande der Disziplin zu straff zu ziehen." Lateinische Komödien
von Schülern aufgeführt zu sehn, darin fand er nichts Anstößiges,1
weil es im Rahmen humanistischer Erziehung lag. Es gewährt
einen eigenen Reiz, bei dem sonst sogar bis zum Rigorismus
strengen Manne zu beobachten, wie ihn doch gelegentlich kluge
Einsicht zur Milde zwingt. Dann ist er sich immer bewußt, päda-
gogisch zu handeln. Interessant ist in dieser Hinsicht, was er am
3. Juli 1546 aus Genf an Farel schreibt: ,,Hier ist nichts Neues,
außer daß bereits die zweite Komödie in Szene gesetzt wird. Wir
haben nicht bis aufs letzte widerstehen wollen, weil Gefahr drohte,
daß wir unser Ansehn schwächten, wenn wir hartnäckig wider-
standen, und man schließlich darüber hinwegging. Ich sehe, daß
man den Leuten nicht alle Vergnügen versagen kann. Es genügt
mir, daß sie begreifen : man gewähre ihnen, was nicht geradezu
lasterhaft ist, indessen ohne unsre Zustimmung." 2
Ein besonders großes Verdienst hat er sich in beiden Städten,
zumal in Genf, um die Organisierung der höheren Lehranstalten
erworben. Mit freudigem Eifer arbeitete er die Studienpläne dazu
aus und legte im innigsten Zusammenwirken mit seinem Freunde
Beza alles Gewicht auf die Durchdringung der Wissenschaft mit der
göttlichen Wahrheit, die aber auch ohne jene nicht zu erkennen sei.
Am liebsten hätte er in Genf eine Universität errichten sehn und so
1) Slähelin a.a.O. I. Bd. S. 492.
2) C. R. Tom. Xll. Nr. 800.
Von Johannes Neuenhaus. 23
den ursprünglich-humanistischen Gedanken der Verselbständigung
der übrigen Wissenschaften gegenüber der Theologie verwirklicht;
allein die geringen Mittel des kleinen Staates erlaubten es nicht.
So mußte man sich auf eine theologische Akademie beschränken.
Ungeduldig sieht er dem Bau des Hauses entgegen. Krank läßt
er sich auf den Bauplatz tragen, um die Arbeiten zu verfolgen.
„Auf die Höhen des Balomier soll das Haus gestellt werden; von
Osten nach Westen sich hinziehend, in Winkelform, damit ein Platz
freigelassen sei, wo man sich in der frischen Luft ergehen könne.
Das Ganze werde so eine schöne Aussicht erhalten und luftig genug
sein, um den Studierenden einen gesunden und angenehmen Aufent-
halt zu bieten." Mit ähnlichen Wünschen geht er einmal in der
Stadt umher, um einem Freunde eine Wohnung auszusuchen, die
ihm den Blick auf den herrlichen See und die Berge gewähre. ( )der
er plant, wie Bungener zu berichten weiß, mit Behagen eine kleine
Ferienreise mit Viret, die dem Gaste zeigen soll, wie der mit Ge-
schäften überhäufte Mann doch auch gelegentlich das utile cum
dulei zu verbinden weiß.1
In einem Leben, in welchem die Rosen der Kunst nur spärlich
gedeihen, ist man auf jeden dahin gehörigen Zug aufmerksam.2
An Kunstsinn hat es Calvin in der Tat nicht gefehlt. „Er hatte",
wie einer seiner jüngsten Biographen treffend bemerkt, ,,von dem
Ganzen der Künste die Begriffe eines Theologen, der sich erinnert,
daß er ein Humanist gewesen ist, und nicht ganz aufgehört hat, es
zu sein." 3 Gegen die Abbildung der göttlichen Dinge wendet er
sich schon in der Institutio * mit einem Urteil, das nachher auch
Lessing im Laokoon ausspricht: Die bildenden Künste sollten in
ihren Darstellungen die Grenzen des Natürlichen nicht überschreiten.
Ein feines ästhetisches Empfinden zeigte uns bereits Calvins Stil.
Dieser ist es denn doch wenigstens, der seinem „Hymnus auf den
siegreichen Christus" 5 einigen Wert verleiht. Er selber äußert
sich darüber sehr bescheiden: „Was die Natur mir versagt, hat
mein frommer Eifer vollbracht."6 Wohl ohne besonderes Ver-
i) Brief Calvins aus Genf vom 22. Juli 1550; bei Bungener a. a. O.
S. 207.
2) Doumergue a. a. O. II. Bd. S. 479 ff-; Stähelin a. a. O. II. Bd. S. 398.
3) A. Bossert, Johann Calvin; deutsche Ausgabe von Kfollick.
Gießen 1908. S. 142.
4) I. XI. 12; lat. Ausg. von 1559.
5) Bei Doumergue erwähnt a. a. O. II. Bd. Append. VI.
6) Bei Bungener a. a. O. S. 185.
24
Calvin als Humanist.
ständnis für die Musik, hat er doch ihren Wert zu würdigen ge-
wußt, sorgfältig mit ihrer Stellung im öffentlichen Gottesdienst sich
beschäftigt, dabei ihr freilich eine keusche Zurückhaltung auferlegt,
immer nur den Zweck im Auge : daß Gott allein die Ehre zu
geben sei.
Wohin er kam, da predigte er nun auch. Man darf ihn hier
nicht mit Luther vergleichen. Eher sollte es unser Verwundern er-
regen, daß der Mann des systematischen Denkens, der nüchterne,
strenge Geist, der wenig Mitteilsame, der Phantasiearme über-
haupt die Gabe des Predigens besaß. Steinmeyer sagt einmal : Die
Predigt sei keine Gabe an den Einzelnen, sondern an die Gemeinde.
Ich habe eigentlich dieses Wort nie recht verstanden. An Calvin
geht mir darüber ein Licht auf. Als „ihn Gott von den Schafhürden
weggeholt hatte wie einst David," 1 als er an die Gemeinde sich ge-
bunden fühlte, da hat der Herr, der in der Kirche seine Gaben aus-
gießt durch den heiligen Geist, ihn mit der Gabe der Predigt be-
gnadet und ihm das brennende Herz und die feurige Zunge gegeben,
mit der er so Viele hinriß. Calvins Predigt ist wesentlich Glaubens-
zeugnis. Darin liegt ihre Gewalt. Sie ist der Mann selber. Seine
Beredsamkeit ist eine Beredsamkeit der Tatsachen, schlicht, aber
lapidar, nicht blendend, aber zwingend. Der Humanist spricht aus
ihr in denselben Vorzügen, die seine Schriftauslegung auszeichnen.
Calvin predigte in seiner Art ebenso natürlich wie Luther, er
äußerte sich auf der Kanzel ebenso unmittelbar und für die Hörer
seiner Zeit gewiß ebenso neu und überraschend, original und auf-
klärend.
Wir kommen zur intimsten literarischen Betätigung des Re-
formators. Wenn, nach einem Wort Goethes, Briefe zu den wich-
tigsten Denkmälern gehören, die der einzelne Mensch hinterlassen
kann, dann hat Calvin sich mit den seinen ein solches gesetzt. Er
hat, zumal in der späteren Zeit, eine äußerst lebhafte Korrespon-
denz geführt. Es war ein sehr dankenswertes Unternehmen, daß
man neuerdings etliches davon veröffentlicht hat.2 Die Auswahl
hätte viel reichlicher sein dürfen.3 Zum Glück sind ihrer sonst
i) Vorrede zu den Psalmen.
2) Calvin-Briefe. In Auswahl und Übersetzung von Maria von Born.
Mit einem Vorwort von Prof. K. Müller-Erlangen. Elberfeld 1902. Ref.
Schriftenverein.
3) J. Calvins Lebenswerk in, seinen Briefen. Eine Auswahl von
Briefen C.'s in deutscher Übersetzung von Rudolf Schwarz, mit Geleit-
worten von Prof. D. P. Wernle. 2 Bände. 1909. Tübingen (Mohr) —
hat obigem Wunsch inzwischen aufs befriedigendste entsprochen. Leider
erhielt ich die Sammlung nicht mehr vor Drucklegung dieses Mscrs.
Von Johannes Neuenhaus. 2 .S
genug bekannt. Von allen gilt, was in dem Vorwort der Sammlung
von M. v. Born gesagt ist : „Wahrscheinlich werden wir auch ent-
decken, daß der gefürchtete Mann ein menschliches Herz im Busen
trägt, voller Teilnahme für die Leiden der Brüder. Um Calvin
innerlich kennen zu lernen, und von ihm sich stärken zu lassen, ist
ein authentisches Mittel das Studium seiner Briefe. Ihnen hat er
selbst das Bild seines Charakters eingeprägt."1 Mag er den Vater
eines seiner jungen Hausgenossen in Straßburg, der samt seinem
Hofmeister von der Pest hinweggerafrt ist, trösten, oder an die
Herzogin von Ferrara in der Zeit ihrer Glaubensanfechtungen sich
wenden; mag er die von ihrem Gatten betrogene Königin von Na-
varra aufrichten, oder mit dem ihm taktlos seine Armut vorhalten-
den du Tillet sich auseinandersetzen ; mag er endlich mit dem
Berner Humanisten Zerkintes 1 Gedanken über Toleranz aus-
tauschen : immer steht man unter dem Eindruck eines Geistes, der
sich auf überlegener Höhe ohne alle Prätension behauptet, Weis-
heit von obenher mit natürlicher Klugheit, Frömmigkeit mit Bil-
dung, reiches Gemüt mit Festigkeit des Willens in sich vereinigt.
So konnte nur jemand sich allen menschlichen Lagen anpassen und
für alle das rechte Wort finden, der, wie in der Zucht des heiligen
Geistes, so auch zugleich in der Schule des Humanismus gereift war.
ii.
Wir wollen, am Schluß unseres versuchten Nachweises an-
gelangt, uns nicht noch auf das Unternehmen einlassen, den
schweren Schatten völlig zu heben, der für die Augen mancher ge-
rade auf dem Humanisten Calvin liegt in dem einen Namen:
Servet! Nur die Bemerkung möchten wir nicht unterdrücken:
Verdankt der humanistische Zug seine Entstehung dem klassischen
Altertum, dann täuschen wir uns wohl auch nicht, wenn wir auf
dieses den Sinn für das Gemeinwohl des Staates 2 zurückführen, der
Calvin wie den Rat von Genf in dem Augenblick beseelte, als dieser
das verhängnisvolle Urteil fällte. ,Ne quid detrimenti capiat res
publica !' Dieser Grundsatz, noch dazu gestellt unter den theo-
kratischen Gesichtspunkt der Ehre Gottes ! Das macht das Ver-
fahren für den modern-humanen Sinn allerdings nicht erträglicher.
i) C. R. Tom. XI. Nr. 2395. 2908, 3023 u. ö. Zerkintes (Zurkinden)
war Stadtschreiber von Bern, in seiner hochgebildeten Art erinnert er an
seinen späteren Kollegen, die moderne literarische Berühmtheit, in Zürich.
2) Vgl. Rothe, Thcol. Ethik. IV. §966 Anm.; und Kant. Kritik der
Urteilskr. S. 225.
2^ Calvin als Humanist.
aber es läßt verstehen, wie fast alle protestantischen Zeitgenossen
es billigen konnten. Soviel darf wohl gesagt werden : Dem Hu-
manisten Calvin tritt der Fall Servet nicht zu nahe.
Hundeshagen hat in glänzenden Apercus die Abwege, auf die
der Humanismus etliche seiner Vertreter führte, dargestellt.1 Er
erinnert, ohne Namen zu nennen, wohl daran, daß auch Calvin auf
einen derselben hätte geraten können. Es war der, dem Erasmus
verfiel. ,Scientia in tranquillitate animi' — „ein selbstvergnügtes
Sichabschließen in der gelehrten Intuition, ein Dahingegebensein
an die Amönitäten literarischer Beschäftigung, ein Ergötzen am
literarischen Ich und seinen Betreibungen, die feinste, schim-
merndste Gestalt des Egoismus". Nicht seine Bekehrung nur, erst
recht sein Beruf als Reformator haben Calvin davor bewahrt. Bei
der Begegnung in Regensburg soll Melanchthon sein Haupt an des
Genfer Freundes Brust gelehnt und Worte der innigsten Verständi-
gung mit ihm ausgetauscht haben.2 Diese bedeutsame Stunde
kennzeichnet Calvin als das, was er uns noch heute ist : der Zwil-
lingsbruder des Praeceptor Germaniae, der akademische Vertreter
des frommen Humanismus, der Theologe der Reformirten
Kirche.
i) Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit usw., beleuchtet
von einem deutschen Theologen. Frankfurt a. M. 1847. S. 20, 21.
2) Henry, Calw I. S. 244, 368, 375; angef. bei Hase a.a.O. S. 408.
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Von
W. Kolfhaus,
Pastor in Elberfeld.
Die Beziehungen zwischen Calvin und Bullinger zu-
sammenhängend darzustellen, ist die Absicht dieser Studie. Zur
Kenntnis des Chai akters der beiden hervorragenden Männer ist
es notwendig, den Verkehr zu beobachten, wie er sich zwischen diesen
so verschieden gearteten Naturen anbahnte und im Laufe der Jahre
zu immer treuerer Arbeits- und Herzensgemeinschaft gestaltete.
Calvin und Bullinger sind die Führer der Reformationsbewegung
in der Schweiz und der ganzen reformierten Welt, an den wich-
tigsten Brennpunkten des evangelischen Lebens an erster Stelle
wirksam und aufeinander angewiesen, vor die gewaltigsten gemein-
samen Aufgaben gestellt, in den Werken des Friedens wie des
Streites unzertrennliche Bundesgenossen. Noch den sterbenden
Genfer umgeben die Gebetsseufzer seines Bullinger, des großen
Antistes der Züricher Kirche, des weisen und tapferen Fort-
setzers und Begründers der jäh unterbrochenen Arbeit Zwingiis.
Kaum einen ernsthafteren Kampf hat Calvin bestanden ohne Bul-
lingers mehr oder weniger intensive Beteiligung, kaum eine
schwere Last hat sich auf seine Schultern gelegt, an der nicht der
Freund tröstend und helfend mitgetragen hätte. Des einen
Freunde sind dem andern teuer; beide fürchten nichts so sehr,
als daß irgend ein Mißton, irgend eine Heimlichkeit den zum Segen
der Kirche geschlossenen Bund stören möchte. Der Briefwechsel
der beiden ungefähr gleichaltrigen Genossen erstreckt sich über die
Zeit vom i. November 1537 an bis zum Tode Calvins. Er liefert
auch für die nachfolgende Studie den reichsten Stoff, um uns über
ihre theologischen, kirchenpolitischen und per-
sönlichen Beziehungen zu unterrichten, ihre Verhandlungen
über das Abendmahl und die Erwählung müssen naturgemäß am
meisten berücksichtigt werden.
2 3 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
I.
Anknüpfung ihrer Beziehungen im Streit Calvins mit Caroli.
Wie Bullinger in einem Schreiben vom 22. 5. 1557 Calvin er-
innerte, haben sie sich kennen gelernt in Basel i. J. 1536, als in den
ersten Februartagen Bullinger in Basel weilte, um mit den Ab-
gesandten der übrigen deutsch-schweizerischen evangelischen Kan-
tone im Augustinerkloster zu Basel das erste schweizerische Glau-
bensbekenntnis aufzustellen und zu unterschreiben. Damals war
Calvin noch der unbekannte junge Gelehrte, von dessen Bedeutung
für die reformierte Kirche und Theologie erst wenigen eine Ahnung
aus seiner eben erschienenen Institutio religionis Christianae auf-
gegangen war. Zu diesen wenigen gehörten die nächsten Glieder
des Bullingerschen Kreises. Pellikan schrieb an Vadian in
St. Gallen am 21. 4. 36: „Du siehst, was Johannes Calvin, ein
Franzose, dem französischen König schreibt; so klar und fest-
begründet sagt er die Wahrheit, daß sie nicht verachtet werden
kann." Und Leo Judae bemerkte im folgenden Jahr in der Vor-
rede zu seinem Katechismus : , Jon. Calvin, der tiefste Frömmigkeit
mit höchster Bildung verbindet, hat neulich einige Institutiones zu-
sammengestellt, die ich gelesen, und aus denen ich einige besonders
wichtige Abschnitte ausgezogen habe. Feiner, klarer und deut-
licher kann niemand reden."
Bullinger hat den nur fünf Jahre jüngeren Gefährten nach jener
ersten persönlichen Berührung nicht mehr aus den Augen verloren,
obgleich ihre briefliche Verbindung erst vom August des folgenden
Jahres an datiert. Es war die Gemeinschaft Bullingers mit den
Berner Predigern, die ihn mit Calvin wieder in Beziehung brachte.
Petrus Caroli, Virets Amtsgenosse in Lausanne, hatte in den
letzten Monaten 1536 und Anfang 1537 in Lausanne Unruhen er-
regt durch seine Behauptung, man müsse für die Verstorbenen
beten. Von Viret deswegen bekämpft, erhob er gegen Calvin und
die Seinigen die Anklage auf Arianismus, und es entbrannte der
bekannte Streit Calvins mit Caroli vor dem Schiedsgericht der
Berner Kirche. Die Berner Prediger und ihre Freunde in der
Schweiz waren gegen Calvin anfangs nicht sonderlich freundlich
gestimmt. Megander berichtete am 8. März 1537 an Bullinger,
Calvin sei nach Bern gekommen und habe dringend um Abhaltung
einer Synode gebeten, sei aber auf die Zeit nach Ostern vertröstet
wurden, und im Hinblick auf Calvin und die übrigen Franzosen
Von W. KoUhaui. 2 O
fügte er seinem Bericht den Stoßseufzer hinzu: „Sieh', welche La
uns jene unruhigen Franzosen noch bereiten werden!" Ja, Myko-
nius von Basel glaubte am 20. Mai 1537 Bullinger zum Eingreifen
auffordern zu müssen, weil ihm Calvin und Farel des Arianismus
verdächtig erschienen; er habe sogar gehört, daß sie dem schreck-
lichen Irrtum des Spaniers Servet anhingen. Während dann Me-
gander bald zu einer günstigen Beurteilung der Franzosen kam
und schon in einem Briefe vom 22. Mai 1537 Calvin und 1
,, fromme und gelehrte Männer" nannte, blieb Mykonius noch bei
seiner ablehnenden Stellung gegen Calvin; am 9. Juli 1537 beklagte
er sich bei Bullinger bitter über die gegen Caroli angewandte
Schärfe und äußerte abermals den Verdacht, daß Calvin in der
Trinitätslehre nicht ganz einwandfrei sei, sonst sei unbegreiflich,
weshalb er sich nicht ohne weiteres dem Gebrauch der Worte
„Trinität" und „Personen1' in seinem Bekenntnis auf der Lausanner
Synode anschließe, deren er sich doch in seinem Katechismus be-
diene. In seiner Antwort an den Basler Antistes vom 23. Juli 1537
ging Bullinger in seiner charakteristischen, ruhig überlegenden,
sachlichen Art auf die Bedenken des Freundes ein und gelangte zu
wesentlich anderen Schlüssen als dieser. In dem von den Genfern
eingereichten Bekenntnis sieht er nichts Befremdendes ; er glaubt
nicht, daß sie in verkehrter Absicht den Gebrauch der Worte „Sub-
stanz" und „Person" vermeiden und ist zufrieden damit, wenn man
in der Weise der Schrift einfach über diese Geheimnisse redet und
darauf verzichtet, mit spitzfindiger Gelehrsamkeit in sie einzu-
dringen. Über die persönlichen Angriffe Calvins gegen Caroli ent-
hält sich Bullinger des Urteils. Carolis Vorleben und niedriger
Charakter waren ihm damals offenbar noch unbekannt. Direkt
wurde Bullinger in den Streit hineingezogen durch ein Schreiben
der Genfer Prediger an die Züricher Kollegen vom 13. August 1537.
in dem Calvin im Namen der Seinigen den Verlauf des Streites mit
Caroli erzählt, hauptsächlich in der Absicht, sich von dem Ver-
dachte des Arianismus zu reinigen. Die Antwort Bullingers vom
1. November 1537, an Calvin und Farel gemeinsam gerichtet, be-
ginnt den nur von wenigen kurzen Pausen unterbrochenen Brief-
wechsel zwischen den beiden Männern, der immer inniger wird und
erst endet mit Calvins Tode. Bullinger bezeugte den Freunden in
diesem ersten Schreiben seine völlige Zustimmung zu ihrem Be-
kenntnis von der Trinität und versicherte ihnen persönlich, daß er
bisher nicht deshalb geschwiegen habe, weil er sie weniger liebe;
30
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
vielmehr habe er sie als treue Diener Christi stets geliebt und hoch-
geschätzt.
Es ist lehrreich, an dieser Stelle die Äußerungen Calvins und
Bullingers über die Geltung formulierter Bekenntnisse und die Zu-
stimmung zu den Bekenntnissen nebeneinander zu stellen. Als
Caroli von den Genfer Predigern die Unterzeichnung der altkirch-
lichen Symbole forderte, lehnten sie dies aufs bestimmteste ab,
nicht als ob sie diese Symbole an und für sich verwürfen, sondern
weil sie nicht geneigt seien, durch ihr Beispiel eine solche Tyrannei
in der Kirche einzuführen, daß einer schon darum für einen Ketzer
gelten müsse, nur weil er sich weigere, mit den Worten oder nach dem
Gefallen eines andern zu reden. Und als Caroli dagegen anführte,
daß es doch im Symbol des Athanasius heiße : „wer irgend selig
werden will, muß so von der Sache halten," scheute sich Calvin nicht,
geradeheraus zu erklären : „Eben dieses sei ein Grund, warum er
dieses Symbol nicht unterschreiben werde. Er und seine Freunde
hätten den Glauben an einen Gott beschworen und nicht den
Glauben dieses vermeintlichen Athanasius, dessen Sätze eine wahre
christliche Kirche nie genehmigt haben würde." * Wir begegnen
hier bei Calvin derselben Grundüberzeugung, die sich am Schlüsse
des von Bullinger, Mykonius und Grynäus verfaßten ersten schwei-
zerischen Bekenntnisses kundgibt : „Diese Artikel sind von uns
nicht in der Meinung aufgestellt, daß wir gerade dies allen Kirchen
aufdrängen und ihnen hiermit vorschreiben wollten, oder daß wir
jemand in Worten fangen und zu einer besonderen Art zu reden,
die den Kirchen unnütz und unverständlich, zwingen möchten, son-
dern daß wir nunmehr also unseren Glauben und Verstand christ-
licher wahrer Religion haben aussprechen, bekennen und gegen-
einander erklären wollen ; darum mögen wir auch wohl leiden, so
jemand sich anderer schriftmäßiger Worte bedient, als wir hier ge-
braucht haben, und heiterer, verständlicher und den Kirchen nütz-
licher hiervon reden und schreiben kann ; doch daß er in der
Substanz der Religion mit uns halte heiliger, biblischer
Schrift gemäß. Mit solchem wollten wir wohl zufrieden sein." 2
Weder Calvin noch Bullinger haben diese klare, evangelische
Stellung stets in der Praxis behauptet ; aber sie sind immer wieder
zu ihr zurückgekehrt. Gerade ihr Verkehr untereinander, der
manche dogmatische und kirchenrechtliche Differenzen zur Sprache
i) Stähelin, „Jörn Calvin" I p. 137.
2) Pestalozzi, „H. Bullinger" p. 186.
Von W. Kolfhaus. 3 1
brachte und vor sehr scharfen Aussprachen, besonders auf Calvins
Seite, nicht zurückschreckte, ohne daß je einer an dem Christen-
stand und der Redlichkeit des andern irre wurde, ist der Beweis
dafür, wie beide nie von dem Grundsatze ließen, daß Übereinstim-
mung im Glauben, „in der Substanz der Religion", etwas andres
ist, als Übereinstimmung in Worten.
Der eben erwähnte Brief Bullingers an Calvin vom i. November
1537 war zugleich ein Empfehlungsschreiben für drei fromme Eng-
länder, die Calvin und Farel besuchen wollten, nachdem sie sich
eine Zeitlang in Zürich aufgehalten hatten. Diese gegenseitigen
Empfehlungen von Freunden gehören mit zu den Fäden, die sich
von Genf nach Zürich und umgekehrt hinüberspannen und in einer
Darstellung des Verkehrs der beiden Männer kurz Erwähnung ver-
dienen. Bald hat Calvin seinen Freund um Fürsorge für Studenten
zu bitten, die in Zürich studieren möchten,1 bald erstattet Bullinger
Bericht über einen nach Genf gesandten Jüngling und bittet, ihm
die Auslagen zu erstatten.2 Oder Calvin ruft Zürichs Fürsprache
und Hilfe an für verfolgte Glaubensgenossen, so mehrfach für die
Waldenser und besonders für die gequälten Evangelischen in Frank-
reich, und wird nicht müde, durch Bullinger auf den Züricher Rat
einzuwirken. Jede Verfolgung in Frankreich findet ihren Wider-
hall in der Korrespondenz zwischen Zürich und Genf. Die aus
Frankreich, England und Italien verjagten Glaubensgenossen, die
in der Fremde eine neue Heimat suchten, waren sehr häufig die
Vermittler des gegenseitigen Austausches und wurden von dem
einen wie dem andern mit warmen Empfehlungen versehen. Aus
der reichen Fülle seien nur einige der vornehmsten Namen jener
Exulanten Christi genannt, die durch Bullinger mit Calvin oder
durch Calvin mit Bullinger in dauernde Verbindung kamen : Petrus
Martyr Vermilius, Coelius Secundus Curio, Bernhard Ochino, Ver-
gerius, Socinus aus Italien, Lismaninus aus Polen, Butler, Eliot,
Traheron, Hooper aus England, gar nicht zu reden von den vielen
Studenten, Kaufleuten und Handwerkern, die in Zürich oder Genf
mit Calvins oder Bullingers Hilfe ein geeignetes Unterkommen
suchten und meistens fanden.
Im Anschlüsse an die Erwähnung dieser im Briefwechsel der
beiden Reformatoren einen festen Platz einnehmenden Empfehlun-
gen sei hier auch des gegenseitigen Freundeskreises gedacht, der
1) C. R. Calw opera XI. p. 463.
2) C. R. XI. p. 708, 724 u. Calvins Antwort p. 744.
, 2 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
bald zu einem einzigen festen Freundschaftsbunde zusammenwuchs.
Als Fremdlinge standen Calvin und die Seinigen zunächst unter den
deutsch-schweizerischen Theologen da. Von dem Basler Aufent-
halt her besaß Calvin einige lose Beziehungen zu den Basler Ge-
lehrten. Simon Grynaeus in Basel, Johannes Gastius Brisiacensis,
Pastor an St. Martin in Basel, sind schon damals seine Freunde
geworden. Der weitere Kreis der tüchtigen Männer, die in der
deutschen Schweiz, vor allem in Zürich wirksam waren, wurde ihm
erst durch Bullinger zugänglich. Des letzteren nächste Freunde:
der gelehrte St. Galler Bürgermeister Vadian, die Züricher Rudolf
Gualther, Josias Simler und Lavater, Bullingers Schwiegersöhne,
Konrad Gesner, Pellikan, Martyr, Joh. Wolfius, Bullingers Züricher
Kollegen, Ambrosius Blaurer und Oswald Mykonius von Basel,
Johann Haller und W. Muskulus von Bern zählen ebenso zu Calvins
Freundeskreis, wie Bullinger einen Farel und Viret, einen Jonvil-
laeus und Beza als fratres und symmistae begrüßt, und wie Bullinger
Calvins Briefe im Freundes- und Kollegenkreis vorzulesen pflegte,
so waren Bullingers Briefe an Calvin Gemeingut von dessen
Freundeskreis.
II.
Ihre Stellung zu Zwingli und Luther.
Es war nicht von vornherein selbstverständlich, daß der Nach-
folger Zwingiis und der Reformator Genfs die Dioskuren der
schweizerischen Kirche wurden. Der Name eines gemeinsamen
Lehrers verband sie nicht, persönlich und theologisch nahmen sie
zu den ersten großen Lehrern der reformatorischen Kirche eine
voneinander sehr abweichende Stellung ein. Bullinger war der
begeisterte Schüler Zwingiis, der Fortsetzer seines Werkes, der
Verteidiger seines Andenkens gegen die römischen Gegner in der
Schweiz 1 und gegen Verunglimpfung durch Luther. Für Luthers
Genius hatte auch er ein Empfinden; mit großer Geduld und vor-
nehmer Mäßigung erwiderte er die immer heftiger werdenden Aus-
brüche Luthers; dem Landgrafen Philipp von Hessen bezeugte er
am 28. Juni 1546, daß er und die übrigen Diener seiner Kirche
Luthern nie auf den Kanzeln oder in den Vorlesungen als einen
Abgöttischen ausgegeben hätten, und an Melanchthon schrieb er
1) Bullinger, ,, Glimpfliche Verantwortung" gegen das Schmäh-
gedicht des Luzerner Gerichtsschreibers Johann Salat „Der Tanngrotz"
1532.
Von W. Kolfhaus. 33
am 1. April desselben Jahres: „Daß Dr. Luther, dieser gelehrte und
um die Kirche hochverdiente Mann, in seine Ruhe eingegangen ist,
freut mich herzlich, nicht etwa um des Streites willen, den wir mit-
einander auszufechten hatten — Gott weiß es! -- sondern darum,
weil er seinen Lauf glücklich vollendet hat. Hatte er auch nach der
Schwachheit des menschlichen Fleisches seine Fehler, so war ihm
ein ausgezeichnetes Maß ausharrender Statthaftigkeit beschieden."1
Allein bei aller Anerkennung der Persönlichkeit des Wittenberger
Helden stand doch zwischen ihnen beiden, von der nationalen
Schranke abgesehen, der Schatten Zwingiis.
Calvin hingegen wußte nichts von einer Anhänglichkeit an
Zwingli, dessen deutsche Schriften er gar nicht kannte und dessen
Abendmahls- und Prädestinationslehre ihn nie angezogen hatte.
Dem Prediger von Orbe, Zebedäus, gegenüber äußerte er den
Wunsch, Zwingli möchte ähnlich wie Butzer Retraktationen ge-
schrieben und seine falsche und verderbliche Meinung über das
Abendmahl zurückgezogen haben. Er habe, fügte Calvin hinzu,
schon früher, als er noch in Frankreich weilte, Zwingiis Meinung
bekämpft.2 Von Straßburg aus, am 26. Februar 1540, schrieb er
vertraulich an Farel über die Züricher : „Die guten Männer zürnen,
wenn jemand Luther Zwingli vorzuziehen wagt. Als ob uns damit
das Evangelium verloren ginge, wenn Zwingli etwas getadelt wird !
Und doch geschieht Zwingli damit nicht unrecht; Du weißt selbst,
wie sehr Luther neben Zwingli hervortritt. Daher gefällt mir
durchaus nicht das Gedicht des Zebedäus, in dem er Zwingli dadurch
gebührend zu loben glaubt, daß er sagt: Einen Größeren zu er-
hoffen, sei unrecht. Auch im Lob der Toten gibt es eine Grenze,
die hier weit überschritten ist. Ich wenigstens sehe schon jetzt
viele Größere, hoffe noch auf manche und wünsche, alle wären
größer als Zwingli." In einem Briefe an Viret vom 9. März 1542
heißt es : „Über Zwingiis Schriften magst Du denken, was Du willst.
Denn ich habe nicht alles gelesen. Vielleicht hat er auch später zu-
rückgenommen und verbessert, was ihm früher vorschnell entfahren
ist. Aus seinen früheren Schriften weiß ich noch, wie wenig an-
gemessen er über die Sakramente lehrte." So bestimmt sich Calvin
des Unterschiedes zwischen seiner und Luthers Abendmahlslehre
bewußt war, und so wenig er dessen Losbrechen gegen die Schwei-
zer billigte, so war doch seine Schätzung Luthers wesentlich höher,
1) Pestalozzi p. 237, Bullingcr an Thamer C. R. XII. p. 416.
2) C. R. X. pars post. p. 344-
Calvinstudien. *
■24 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
als wie Bullinger sie dem Gegner Zwingiis zuteil werden ließ. Als
die Züricher durch Luthers „Kleines Bekenntnis vom Abendmahl"
aufs tiefste entrüstet waren, wollte Calvin, wie er gegen Bullinger
äußerte, am 25. November 1544, nicht unter allen Umständen zum
Schweigen raten. „Aber daran wünsche ich euch zu erinnern : be-
denkt, welch ein Mann Luther ist, von welchen Gaben, von welcher
Tapferkeit und Standhaftigkeit, wie trefflich und machtvoll er bis-
her gegen das Reich des Antichrists gekämpft hat und die Lehre
des Heils verbreitet. Ich habe oft gesagt, selbst wenn er mich
einen Teufel nennen würde, würde ich ihm doch die Ehre erweisen,
ihn als einen ausgezeichneten Knecht Christi anzuerkennen. Aber
wie er durch große Tugenden glänzt, so leidet er an schweren
Fehlern. Hätte er nur mehr gelernt, seine Maßlosigkeit zu zügeln
und die ihm angeborene Heftigkeit gegen die Feinde der Wahrheit
zu kehren, statt gegen die Knechte Gottes !" „Dich und Deine
Kollegen bitte ich, ja nicht zu vergessen, daß ihr zu tun habt mit
einem der größten Knechte Christi, dem wir alle vieles verdanken !"
Mehr als einmal hatte Calvin in den dem Consensus Tigurinus vor-
angehenden Kämpfen unter dem Verdachte zu leiden, daß er ein
Anhänger Luthers sei, und seine Gegner in Bern machten sich ein
Vergnügen daraus, ihm seine Urteile über Zwingli später wieder
vorzuhalten. Diese verschiedene Beurteilung der beiden großen
Reformatoren, die sich auch in späteren Zeiten, in den Kämpfen
gegen die Nachfolger Luthers und in den Bemühungen um Einigung
mit den Lutheranern, immer wieder bemerken läßt, war eins der
Hindernisse, die Calvins und Bullingers Freundschaftsbund zu über-
winden hatte.1 Ebenso gefährlich war ihrem friedlichen Verhältnis der
stete Kampf des Berner Rates und einflußreicher Berner Prediger
wie Peter Kunz und Jodokus Kilchmeyer gegen Calvin. Es würde
hier zu weit führen, diesen teils politischen, teils kirchlichen Kampf
zwischen Bern und Genf zu schildern, wir werden in späterem Zu-
sammenhang darauf zurückkommen. Nur daran sei erinnert, daß
für Zürich und Bullinger sehr viel darauf ankam, die Einigkeit mit
Bern zu bewahren, und daß es nicht geringer Weisheit bedurfte, um
die Freundschaft mit Calvin nicht an den Klippen des Hasses der
Berner scheitern zu lassen.
1) A. Lang, „Luther u. Calvin", Deutsch-Evang. Blätter Jahrg. 21
P- 319 ff-
Von W. Kolfhaus. 35
III.
Bullinger gegenüber Calvins Kirchenzucht.
Calvin ist's gewesen, der die Verbindung mit ßullinger sucht*.'.
Wie er schon im August 1537 den Zürichern den Streit mit Caroli
dargelegt hatte, so veranlaßten ihn die kirchlichen Kämpfe in Genf
am 21. Februar des folgenden Jahres, sich aufs neue an Bullinger
zu wenden. Calvin mag dazu bewogen worden sein durch die oben
erwähnte freundliche Antwort Bullingers und vor allem durch den
dringenden Wunsch, sich in seinen heißen Kämpfen der Hilfe des
schon damals angesehensten schweizerischen Theologen zu ver-
sichern. Er klagte ihm den zerrissenen Zustand der Genfer Kirche
und sprach von der Notwendigkeit, durch Parochialeinteilung Über-
sicht über die große Genfer Gemeinde zu schaffen und durch Auf-
richtung der alten apostolischen Zucht die Reformation der Kirche
zu vollenden. Der einzige Weg dazu sei die Abhaltung einer
allgemeinen Synode, auf der gemeinsam das zur Erbauung der
Kirche Nötige beraten und beschlossen werde. Eine Erwiderung
Bullingers scheint nicht erfolgt zu sein. Aber soweit glaubten
die Genfer Prediger sich mit ihm und den Zürichern einig, daß sie
nach der Katastrophe am 22. — 23. April 1538 sofort persönlich an
die auf Ende April nach Zürich einberufene Versammlung der evan-
gelischen Kantone die Bitte richteten, ihre Sache zu prüfen und
sich um ihre Wiedereinsetzung in Genf zu bemühen. Sie übergaben
der Versammlung eine in 14 Artikeln abgefaßte Klarstellung dessen,
was sie um des Friedens willen zugeben und wobei sie beharren
wollten. Den Forderungen der Berner wegen der Taufsteine, des
ungesäuerten Brotes beim Abendmahl und der Annahme einiger
Feiertage außer den Sonntagen stimmten sie zu unter gewissen
Bedingungen ; von ihren Forderungen betreffend Parochialeintei-
lung, Vermehrung der Zahl der Prediger und Abendmahlszucht
durch eine besondere kirchliche Behörde ließen sie nichts nach.
Zwar machte sich die Synode den Inhalt ihrer Artikel nicht zu
eigen, aber sie schickte Botschaft nach Genf, die Prediger wieder
einzusetzen, und bat den Berner Rat, für die Prediger einzutreten
und auf ihre Aufnahme in Genf hinzuwirken. Wie Bullinger die
Angelegenheit betrachtete, geht hervor aus einem Billett an Niko-
laus von Wattenwyl, den vornehmen Berner Ratsherrn, durch
das er ihm die von der Züricher Synode zurückreisenden Genfer
Brüder empfahl. Er nannte Calvin und Farel „gelehrte, fromme
3*
->(y Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Männer, denen man vieles verzeihen müsse". „Sie haben einen
allzugroßen Eifer." „Nimm Dich ihrer an und hilf ihnen durch
Deine Fürsprache bei den Dir bekannten Senatoren." Sowohl
jener Synodalbescheid wie dieses Schreiben Bullingers bezeugen,
daß Calvins Persönlichkeit einen günstigen Eindruck hervorgerufen
hat ; über die Sache selbst schweigen sie. Stähelin, „Joh. Calvin" I
p. 156 fr. und Doumergue Bd. 2 seiner Biographie p. 286 nehmen
an, daß die Synode sich auch die sachlichen Forderungen der
Genfer Reformatoren zu eigen gemacht habe. Sie schließen dies aus
einer Bemerkung Calvins, der am 20. Mai vor seiner Reise mit den
Berner Gesandten nach Genf an Bullinger schrieb : „Der Berner
Rat hat in seinen Beschlüssen wenig Rücksicht genommen auf das,
was uns in Zürich unter allgemeiner Zustimmung eingeräumt wor-
den war." Einige Tage später, in einem Bericht an Bullinger über
die Verhandlungen mit dem den Genfern feindlichen Prediger Kunz
und die durch dessen Treulosigkeit gescheiterte Versöhnungsreise
nach Genf, redete er von „den Artikeln, die der Synode von uns
vorgelegt waren und so gefielen, daß nichts daran gestrichen
wurde." * Allein die Zustimmung der Synode kann sich nur auf den
Inhalt der Artikel im allgemeinen beziehen, speziell auf die den
Frieden mit Bern bezweckenden Vorschläge. Auch erkannte man
die Absicht Calvins an, mit den von ihm geplanten Einrichtungen
das Beste der Genfer Kirche zu suchen. Aber gerade in dem
Hauptpunkte, der Forderung einer Abendmahlszucht und einer
kirchlichen Zensurbehörde hat Bullinger Calvins Gedanken nie ver-
treten, sondern sich wie die ganze deutsche Schweiz mit der Aus-
übung der Sittenzucht durch die Staatsgewalt begnügt. Man ließ
die Artikel durchgehen, ohne über jeden einzelnen ein Urteil ab-
zugeben. Selbst wenn die Theologen sich Calvins Forderungen
hätten aneignen wollen, so würden sie sofort mit den regierenden
Geschlechtern von Zürich und Bern in Konflikt gekommen sein.
Aber Bullinger wollte auch gar nicht die Ideen des Genfers über-
nehmen, seine Gedanken lagen in diesem Stück weitab von Cal-
vin. Den entscheidenden Beweis für die Tatsache, daß die von
den Genfern gewünschte kirchliche Zensurbehörde von Bullinger
abgelehnt wurde, finden wir in einem Briefe der Züricher Pre-
diger an Farel vom 4. April 1541. In Zürich war das Gerücht
verbreitet, man gehe in Neuenburg damit um, eine schärfere
Abendmahlsdisziplin aufzurichten, so daß niemand zum Abend-
1) C. R. X. pars post. p. 203.
Von W. Kolfhausi
mahl zugelassen würde, der nicht vorher wegen seines Glaubens
geprüft wäre. Voll Verwunderung hatten die Züricher dies
Gerücht vernommen: ,,Du stellst uns viel zu hoch an Gelehr
samkeit und Lauterkeit, als daß wir Derartiges von Dir ver
muten, geschweige denn glauben könnten. Wenn wir die Torheit
so weit treiben wollten, daß wir niemanden zum Abendmahl zu-
lassen, er sei denn zuvor nach seinem Glauben gefragt, was wäre
das anders, mein Farel, als der Ohrenbeichtc des Papstes den
Weg bereiten? Wir müssen uns hüten, verehrter Farel, daß wir
nicht papistische Wege einschlagen, nachdem wir bisher alles nach
der heiligen Regel der Apostel eingerichtet haben." Mit Beziehung
auf die Bestrebungen Calvins, Farels und Virets wegen Einrichtung
der Exkommunikation heißt es in einem Briefe Bullingers an einen
uns unbekannten Pfarrer der romanischen Schweiz vom 22. Nov.
1543: „Ich bezweifle nicht, daß unsre lieben französischen Brüder
durch keinen bösen Sinn getrieben werden. Ich habe gelesen, was
Calvin in seiner Institutio über die Exkommunikation geschrieben
hat, und er wird nach meiner Überzeugung nicht leugnen, daß man
maßvoll unter Berücksichtigung der Verhältnisse vorgehen muß,
damit nicht der Friede der Kirche gestört wird, in der man vor
allem den Weizen schonen muß, damit er nicht zugleich mit dem
Unkraut ausgerottet werde. Unter den Feinden des Worts wünscht
mancher sehr, daß wir die Exkommunikation wieder einführen;
denn sie hoffen nicht ohne Grund, daß dann bald unsre Kirche in
zahllose Sekten zerfallen werde. Ich aber will lieber irgend eine
Kirche haben als gar keine." „Von der Prüfung vor dem Abend.
mahl kann icht nichts anderes sagen, als daß sie eine Vorbereitung
der Ohrenbeichte ist, .des verderblichsten Übels in der Kirche.
Man führe die Beichte wieder ein und ziehe solche Zäune um das
Abendmahl, daß künftig nur noch wenige Tischgenossen sich ein-
finden, und aus dem Mahl der Danksagung wird eine Quälerei der
Gewissen werden." x Wohl hat Bullinger bei Gelegenheit des
Kampfes Calvins mit Philibert Bcrthelier und Ami Perrin im Jahre
1553, als es sich um den ganzen Bestand des Genfer Reformations-
werkes handelte, für Bewahrung der Kirchenzucht in Gent sein
Wort eingelegt und den Rat von Zürich bewogen, in diesem Sinne
an den Genfer Rat zu schreiben; aber wenn er damals,1' die Genfer
Konsistorialgesetze „fromm und dem Worte Gottes gemäß" nannte.
1) Heirminjard ,,Correspondance des rcf. fr." IX. p. 116.
2) CR. XIV. p. 696.
2 g Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
so geschah das weniger, weil er ihnen innerlich zustimmte, als weil
er in Genf keine Neuerungen eingeführt wissen wollte, durch die
die Unruhen in der Kirche nur vermehrt worden wären. Ein
Widerspruch gegen Calvins Gemeindeideal hätte dessen Wirksam-
keit vernichtet, und das mußte Bullinger um jeden Preis vermeiden.
Wie er gesinnt und wie seine Zustimmung zu Calvin gemeint war,
bezeugte er in einem Schreiben an Joh. Haller vom 18. März 1553 :
„Eine Disziplin muß in der Kirche sein, aber nicht alle Kirchen
können die gleiche Form gebrauchen. Jede Kirche muß die Weise
haben, die ihrer Gewohnheit und ihrer Erbauung am meisten ent-
spricht." Noch 20 Jahre später am I. Juni 1570 beim Rückblick auf
diese Kämpfe Calvins legte er Dathenus seine Auffassung unver-
ändert so dar, wie er sie damals ausgesprochen hatte : ,, Zwischen
unserer und der Genfer Kirche war nie Streit über die Exkom-
munikation. Doch waren wir nicht so unverständig, die Genfer
Strenge nach hier zu übertragen. Denn als dort vor Jahren schwere
Kämpfe entbrannt und wir, zum Gutachten aufgefordert, in der
Lage waren, unsre Weise ihnen aufzudrängen oder wenigstens zu
empfehlen, haben wir den Weg des Friedens innegehalten. Daher
wollten wir die bei ihnen eingerichtete Zucht nicht hindern und so
den Gegnern zu noch heftigeren Unruhen Anlaß geben. Wir
wünschen keine Herrschaft über andre Kirchen auszuüben. Wenn
andre ohne Streit und Geschrei etliche vom Abendmahl aus-
schließen, stellen wir das ihrem Urteil und ihrer Aufrichtigkeit an-
heim. Wir jedoch lassen das Mahl des Herrn und die kirchliche
Disziplin unverworren, und wenn man uns fragt, sagen wir offen,
daß es uns besser erschiene, beides auseinanderzuhalten als zu ver-
binden, wenn nämlich die Gefahr der Verwirrung und Spaltung vor-
handen und dadurch für die Kirche mehr Schaden als Nutzen zu
erwarten sei." Der Gedanke einer unabhängig vom Staat die
Zucht ausübenden Kirche war den deutsch-schweizerischen Theo-
logen so fremd, daß sie die Begeisterung Calvins und der Seinigen
in dieser Sache gar nicht einmal verstanden. Sie waren stets in
der Meinung befangen, es handele sich für Calvin um strengere Be-
strafung der Sünder ; sie waren gegebenen Falles bereit, ihre
Magistrate zu ernsteren Maßregeln anzuhalten, und ahnten kaum,
daß der Calvinismus nicht ein Mehr oder Weniger an Strenge er-
strebte, sondern grundsätzlich Selbständigkeit der Kirche. Es sei
nur erinnert an den letzten Streit Virets mit Bern in den Jahren
^ 558 — 1559» als Viret die Lausanner Kirche nach dem Vorbild der
Von W. Kolfhaus. IQ
Genfer einzurichten suchte mit dem Erfolg, daß er seine alte Ge-
meinde verlassen mußte. Joh. Haller in Bern, der Viret persönlich
sehr nahe stand, erklärte ihm im November [558' : „Wenn die
Behörde nicht zugibt, von den Sakramenten auszuschließen, son-
dern deren Gebrauch freilassen will, so glaube ich noch nicht, <\<^
wegen die Verwaltung der Sakramente verweigern zu müssen. Mir
steht es frei, durch die Verkündigung des Wortes auszuschließen,
und dieser Weise der Exkommunikation bediene ich mich sorg
vor jedem Abendmahle, da mir eine andre bis jetzt nicht erlaubt
ist." „Daß alles nach dem Muster der apostolischen Kirche ein-
gerichtet wird, in der es noch keine bürgerliche Obrigkeit gab, ist
unmöglich und gegen die Ordnung." Wir hören hier die Stimme
eines der tüchtigsten Schüler und Freunde Bullingers, der sich in
seiner Überzeugung durchaus eins wußte mit seinem verehrten
Lehrer.- Wenn also Calvin sich nach der Züricher Synode 1538
darauf berief, dal.» man seinen Artikeln zugestimmt habe, so hat
er die Billigung seiner Sache im allgemeinen verwechselt mit der
Zustimmung zum Einzelnen. Gerade sein Hauptanliegen traf bei
Bullingcr und seinem Freundeskreis auf recht kühle Aufnahme oder
gar entschiedene Ablehnung.
Die Beziehungen Calvins zu Bullingcr trugen in diesen ersten
Jahren ihres Verkehrs zwar den Stempel persönlicher Wert-
schätzung und gegenseitiger Anerkennung ihrer Frömmigkeit und
Gelehrsamkeit, waren aber noch weit entfernt von der Herzlichkeit,
die später ihren Verkehr auszeichnete. Sie verloren einander auch
nach Calvins Übersiedelung nach Straßburg nicht aus den Augen.
Dafür waren schon die bisherigen Berührungen zu stark gewesen,
dafür sorgte insbesondere der fernere Gang der schweizerischen
und allgemeinen Reformationsgeschichte.
IV.
Die Rückkehr Calvins nach Genf.
Schon bald nach Calvins Anstellung in Straßburg empfing Bul-
linger von seinem Konstanzer Freunde Joh. Zwick die Nachricht .
daß Calvin dort Prediger an der französischen Gemeinde sei." Am
20. Oktober 1539 bat der Berner Ratschreiber Eberhard von Rum-
1) C. R. XVII. p. 368.
2) Bullinger an Viret C. R. XVII. p. 469.
3) CR. X. pars post p. 288. Der Brief enthält außer dieser Notiz die
interessante Nachricht, daß schon damals in Straßburg französische Psalmen
gesungen wurden.
aq Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
lang Bullinger, er möge wegen der Abendmahlstreitigkeiten an
Calvin schreiben und ihn durch seine Schriften stärken, „denn
diesen Mann dürfen wir ja nicht übergehen/' der in seiner Institutio
so vortrefflich sich über das Abendmahl geäußert und sich gegen
Luther gewendet habe, wenn auch ohne Namennennung. Daß man
Calvin in Zürich nicht vergessen, erhellt aus einem Brief des Kol-
legen Bullingers, Leo Jud, vom 28. Februar 1540, der Calvin mit-
teilte, daß er seine beiden Schriften „de fugiendis impiorum illicitis
sacris" und „de Christiani hominis officio in sacerdotiis papalis
ecclesiae vel administrandis vel abiciendis" ins Deutsche übersetzt,
und daß Joh. Zwick solche Freude an der zweiten habe, daß er um
die Erlaubnis nachsuchte, sie in Augsburg herausgeben zu dürfen.
Auf der andern Seite wurde Calvin durch die deutschen Verhält-
nisse, in die er in Straßburg einzügreifen berufen war, geradezu ge-
zwungen, seine Blicke immer wieder nach Zürich zu wenden. Sein
Freund Martin Butzer hatte sich durch Vermittlungsversuche
zwischen Luther und den Schweizern das größte Mißtrauen der
schweizerischen Theologen zugezogen. Calvin empfand diese Ent-
fremdung schmerzlich. Er billigte nicht alles, was Butzer tat, aber
er wollte anerkannt wissen, daß Butzer aus guter Meinung handle
und daß das Band des Friedens mit ihm nicht dürfe zerrissen wer-
den.1 Bis über Butzers Tod hinaus hat der Reformator den Schild
über ihn gehalten und ihn gegen die Verkennung der Berner und
Züricher als treuen Knecht Christi verteidigt. Um den Frieden wieder-
herzustellen, knüpfte Calvin am 12. März 1540 die eine Zeitlang unter-
brochene direkte Verbindung mit Bullinger wiederum an : „Was hätten
wir heutzutage, mein Bullinger, Dringenderes zu verhandeln, als daß
die brüderliche Freundschaft unter uns bewahrt und mit allen
Mitteln befestigt werde ?" rief er dem Freunde zu und bemühte sich,
dessen Mißtrauen gegen die Straßburger zu entkräften, für die er
sich verbürgte, daß sie allen Zwist haßten und die Gemeinschaft der
Schweizer begehrten auf der Grundlage der lauteren göttlichen
Wahrheit. Calvin selbst hatte noch nie ausführlich mit Bullinger
über das Verständnis des Abendmahls geredet; wenn jetzt noch,
heißt es in dem Brief, der vollen Einheit Hindernisse entgegen-
stünden, so hege er den lebhaften Wunsch, es möchte ihm Gelegen-
heit werden, einmal vertraulich mit Bullinger die strittige Frage zu
besprechen. Bis dahin solle er jedenfalls die Überzeugung haben,
daß sie, die Straßburger, allem Haß und Streit, ja dem geringsten
1) Calvin an Farel C. R. X. p. 347, XI. p. 23.
Von W. Kolfhaus. 4 1
kränkenden Schein von Herzen feind seien. Doch nicht nur Calvin
hatte das Bedürfnis empfunden, die Einigung mit Zürich und die
Gemeinschaft mit seinem Antistes zu erstreben, auch in ihren bei-
derseitigen Freundeskreisen wünschte man, die beiden Männer in
dauernder Verbindung zu sehen. Die Bitte Rumlangs an Bullinger
wurde bereits mitgeteilt. Calvin empfing Ende Juli dieselbe Auf-
forderung von dem Basler Grynäus, sobald als möglich nach Zürich
zu schreiben.
Inzwischen war in Genf der Sturz der Calvin feindlichen Partei,
der „Artichauts", erfolgt und am 10. Juni 1540 ihr Haupt, der
Generalkapitän Jean Philippe, hingerichtet. Sofort wurde der Ruf
laut, den Reformator in seine Gemeinde zurückzurufen. Nachdem
am 21. September Ami Perrin, der eifrige Gegner der Artichauts,
von dem Rat den Auftrag erhalten hatte, „Mittel ausfindig zu
machen, wie er Meister Calvin dahin bringen könne, nach Genf zu-
rückzukehren", wurde am 13. Februar beschlossen, an Calvin ein
Schreiben zu richten und ihn zu bitten, der Stadt zu helfen. Wenige
Tage nachher sollte Perrin als Gesandter mit einem Herold nach
Straßburg reisen, und zugleich wollte man die Städte Basel, Bern
und Straßburg um ihre Vermittelung ersuchen.1 Calvins Furcht
vor der Rückkehr nach Genf ist bekannt, es bedurfte der ganzen
Macht Farelscher Beredsamkeit und des Zuredens der angesehen-
sten schweizerischen Theologen, den Widerstrebenden umzustim-
men. Mit Freuden hatten auch die Züricher Farel versprochen,
alle Kraft anzustrengen, daß die Genfer Kirche ihren Hirten
wiederbekomme, und am gleichen Tag, an dem sie Farel Hilfe ge-
lobt, am 4. April 1541 sandten sie sowohl an die Straßburger Pre-
diger wie an Calvin selbst ein sehr warmes Schreiben ab. Von der
erwünschten Rückkehr nach Genf heißt es dort : „Daß Gott Dich
ruft, brauchen wir Dir nicht zu beweisen, da Dein Gewissen es
Dir bezeugt." Mit biblischen und sachlichen Gründen suchen sie
Calvin zu bestimmen und weisen endlich darauf hin: „Du weißt,
wie von Genf aus, an der Grenze Frankreichs, Italiens und Deutsch-
lands gelegen, das Evangelium sich weiter verbreiten muß in die
benachbarten Städte, und wie Du von dort aus Bahn machen kannst
durch Wort und Schrift dem Reiche Christi — das weißt Du besser
als wir." „Du wrcißt, wie wir Dich lieben und wegen der Dir von
Gott verliehenen herrlichen Gaben ehren. Als solche, die nach
1) F. W. Kampschulte, .Johann Calvin, seine Kirche u. sein Staat in
Genf" I p. 364 ff.
• 2 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
und Deinem guten Namen fragen und die Kirche und die Wahrheit
lieben, bitten wir Dich, unsern Freund und Bruder, um Christi willen !"
Unter solchen Auspizien durfte Calvin zurückkehren, gerufen von
seiner alten Gemeinde, aufs innigste bewillkommnet von den ersten
Männern der deutschen Schweiz ; er hatte wohl Ursache, in seinem
Dankschreiben nach Zürich am 31. Mai 1541 von Regensburg aus
die ausgestreckte Bruderhand froh zu ergreifen. Denn in den auf
ihn wartenden schweren theologischen und kirchlichen Kämpfen
hätte er nimmer aushalten hönnen ohne die tatkräftige Hilfe Bul-
lingers und der Seinen.
Wie wichtig für die Bestrebungen Calvins die Gemeinschaft
mit Bullinger war, zeigte sich gleich nach der Heimkehr des Re-
formators in dem Streite Farels mit einem Teil seiner Gemeinde
in Neuenburg um die kirchliche Disziplin. Obgleich diese An-
gelegenheit nicht Calvin direkt anging, verdient sie doch, hier er-
wähnt zu werden, weil sie ein neues Zeugnis ist für die enge Ge-
meinschaft des beiderseitigen Freundeskreises, und weil das Ver-
halten Zürichs, insbesondere Bullingers, Calvin mit der größten
Genugtuung und dem lebhaften Zutrauen in Bullingers Aufrichtig-
keit erfüllen mußte. Farel hatte eine vornehme Dame in Neuen-
burg wegen ihres sittenlosen Wandels vergeblich zurechtzuführen
gesucht. Auch seine Klage bei der Behörde fand taube Ohren.
Daraufhin hatte er auf der Kanzel das Verhalten des Rates bei
diesem Ärgernis heftig getadelt, aber nur den Zorn des von den
Vornehmen aufgereizten Volkes erregt, und war in einer stürmi-
schen Volksversammlung aus dem Amte entlassen worden. Die
Berner Obrigkeit, in deren Machtbereich Neuenburg gehörte, jeder
Regung kirchlicher Unabhängigkeit feind, ließ den Dingen freien
Lauf. Aber Farels Amtsgenossen begriffen, daß es sich hier um
mehr handele als um die Person Farels, der allerdings gegenüber
dem Berner Schultheißen Jakob von Wattenwyl seine herbe, heftige
Art nicht verleugnet hatte. Sie bestärkten Farel in seinem Entschluß,
im Amte zu beharren, bis ihn die rechtmäßige Gemeinde desselben
enthöbe, und riefen die Kirchen von Straßburg, Basel, Konstanz
und Zürich um Beistand an. Schon Mykonius aus Basel und
Blaurer aus Konstanz hatten Bullinger am 24. Oktober resp.
10. November 1541 auf den Streit aufmerksam gemacht und ihm
Farels Angelegenheit empfohlen. Gemeinsam mit den übrigen
Züricher Predigern richtete Bullinger dann am 15. November ein
ausführliches Schreiben an die Prediger, den Rat und das Volk von
Von W. Kolfhaus. 43
Neuenbürg, in dein er ohne Rückhalt Farel verteidigte und mahnte,
ihn als treuen Hirten aufzunehmen und die < >rdnungen und die
Zucht der Kirche wohl zu bewahren. „Nie haben wir, antworteten
die Neuenburger Prediger, ein Schreiben empfangen, das von uns
mit größerer Freude gehört und aufgenommen wurde, nie eins,
das mehr dazu diente, unsere Herzen zu erleichtern, zu trösten und
zu stärken." Auch auf Bern wurde von Zürich gewirkt ; Farel be-
hauptete seinen Platz.1
Der Schutz, den die Züricher Brüder Farel zuteil werden ließen,
war nicht das einzige freundliche Zeichen, das Calvin aus dem Bul-
linorerschen Freundeskreis nach der Rückkehr aus Straßburg ent-
o
gegenkam. In einem liebenswürdigen Schreiben vom 10. Februar
1542 2 knüpfte Bullingers Freund Oswald Mykonius den Verkehr
mit ihm an und holte seinen Rat darüber ein, wie er sich gegenüber
der Basler Staatsregierung verhalten solle, die die Herrschaft über
die Kirche für sich fordere. „Der Rat, sagen sie, ist die Kirche."
„Unsere Freiheit zu lehren und zu strafen möchten sie unter-
drücken, schon jetzt haben sie das ganze Recht der Exkommuni-
kation an sich gerissen. Sie behaupten, Moses habe als weltlicher
Fürst seinem Bruder Aaron in allem Vorschriften gegeben, und
David und andre fromme Könige hätten auch über die Priester ge-
herrscht. Du würdest mich verpflichten, wenn Du darauf gelegent-
lich antworten wolltest." In seiner Antwort erzählte Calvin von
seinen bisherigen Erlebnissen in Genf und setzte dem Freunde aus-
einander, wie weit sie die kirchliche Ordnung der Genfer Kirche
hätten fördern können. Jetzt hätten sie eine Art von Konsistorium
und eine der Schwachheit der Zeit angemessene Zuchtordnung, aber
auch dies wenige sei nur unter größter Anstrengung und stetem
Widerspruch der Feinde jeder Zucht erreicht worden. Wenn man
sich auf Moses und David berufe, so wünsche er, daß man ihm
solche Obrigkeiten gäbe, die den Geist der Prophetie besäßen und
durch Gottes ausdrückliche Berufung die weltlichen und geistlichen
Dinge geregelt hätten. Solchen wollte er gerne zugestehen, was
sie fordern.3
Auch der Verkehr mit Zürich selbst ließ sich freundlich an.
Konrad Pellikan, Bullingers Amtsgenosse, sandte ihm herzliclic
1) Pestalozzi. ..Bullinger" p. 247 ff. Mulot. „Wilh. Farel", theol. Stu
dien u. Kritiken Jahrg. 1908 IV p. 521 ff.
2) C. R. XI. p. 367, 369.
3) C. R. XL p. 376.
44 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Grüße x von Bullinger, Bibliander und Megander und empfahl ihm
den aus Italien geflüchteten Cölius Sekundus Curio. Oder als
Farel in Zürich verklatscht war, als hätte er von den Züricher Pre-
digern übel geredet und sie treulose und unlautere Lehrer genannt,
fragte Pellikan bei Calvin an, ob diesem Gerüchte Glauben beizu-
messen sei, und bat ihn, es offen zu sagen, wenn an ihrem Wandel
und ihrer Lehre etwas auszusetzen sei.2' Der Briefwechsel mit
Bullinger persönlich wurde von Calvin wieder aufgenommen durch
ein Schreiben vom 7. November 1542, in dem er den Tod von Leo
Jud, Grynäus und Capito beklagte und seine Freude aussprach über
den Eifer des Züricher Rats in der Förderung der Studien, während
sie in Genf zwar die Willigkeit, aber noch nicht die Mittel besäßen,
größere Wünsche wegen des Unterrichtswesens zu erfüllen.
Doch alles das ging noch nicht über die Linie gegenseitiger
Hochachtung und gelegentlicher Liebesdienste hinaus. Die Ge-
fahr, daß die beiden Männer durch ihre verschiedenen lokalen
Interessen einander entfremdet wurden, und daß sich in der Schweiz
zwei Zentren der Reformation bildeten mit mannigfachen Reibungs-
flächen, war erst dann überwunden, wenn in dem wichtigsten Lehr-
streit jener Jahre, dem Streit um das Verständnis des Abendmahls,
Genf mit Zürich und den übrigen Schweizer Kirchen eins wurde.
Die Verhandlungen über diese Einigung, die schließlich zum Con-
sensus Tigurinus führten, brachten nicht nur die beiden Refor-
matoren einander näher, sondern sind für die ganze Reformations-
geschichte von grundlegender Bedeutung. Sie verdienen darum
eine genauere Darstellung.
V.
Der Consensus Tigurinus.
Calvin ist sich seiner von Zwingli und Bullinger abweichenden
Auffassung des Abendmahls längst bewußt gewesen, ehe die Dis-
kussion darüber anfing. Er hatte an Zwingli schon 1539 getadelt,
daß sein ganzes Streben nur darauf gerichtet war, den Aberglauben der
fleischlichen Gegenwart Christi im Abendmahl zu zerstören, daß er
aber versäumt hatte, die rechte Kraft des Abendmahls ins Licht
zu stellen.3 Daher konnte Calvin den Schweizern in ihrer ein-
lachen Ablehnung jeder Vermittelung zwischen ihnen und Luther
nicht zustimmen, wenn er auch die durch Butzers Bemühungen in
1) C. R. XI. p. 426.
2) C. R. XI. p. 527.
3) Calvin an Zebedacus C. R. X. pars post. p. 344.
Von W. Kolfhaus. 45
der Wittenberger EConkordie von 1530 versuchte Einheitsformel
ebensowenig- billigte wie die meisten Schweizer, da sie einer Unter-
werfung unter die lutherische Auffassung gleichkam. Er mochte
dieser Konkordie gegenüber eine ähnliche Empfindung haben wie
Mykonius: ,,Die Wahrheit werde darin mit seltsamen Worten ge-
lehrt." Nur glaubte Calvin nicht, daß wegen dieser noch nicht
beglichenen Lehrdifferenz die evanglischen Theologen sich trennen
müßten. Er schrieb darüber an Zebedäus die schönen Worte:
„Nicht aus jeder Verschiedenheit muß sofort eine Trennung folgen.
Zwingt Dich Dein Gewissen, der Meinung des andern in irgend
einem Stücke zu widerstehen, sollen wir uns doch Mühe geben, das
Bruderband mit ihm zu bewahren. Angesichts einer Trennung
muß es Christi Dienern zumute sein, als würden ihnen die Ein-
geweide herausgerissen." Getreu diesem Programm hat dann Cal-
vin Zeit und Kraft geopfert, die Kluft zwischen Zwingli und Luther
zu überbrücken und unter Beiseitelassung ihrer Einseitigkeiten die
wahre Einheit herzustellen. So heißt es in einem Briefe an Richard
du Bois — (Sylvius) — den Prediger von Payerne Ende 1539: es
gelte, weder abzuirren zu dem Wahne der Papisten, noch die rechte
Art der Teilnahme an Christi Leib zu vergessen ; er habe sich
nie mit denen vereinigen können, die vor lauter Eifer, den Irrtum
der lokalen Gegenwart Christi zu bekämpfen, die Kraft seiner
wahren Gegenwart verkleinerten oder sie den Menschen durch
Schweigen davon gar nicht zum Bewußtsein brächten.
Andrerseits war auch in Zürich Calvins von Zwingli abweichen-
des und über die erste helvetische Konfession von 1536 hinaus-
gehendes Verständnis des Abendmahles nicht unbemerkt geblieben.
Leo Jud war es, Zwingiis alter Mitstreiter, der seine Bedenken aus-
sprach. Gegen Ende des Jahres 1539 schrieb er selbst an Calvin
und legte ihm nach Anerkennung seiner Arbeit einige Fragen über
das Abendmahl vor : ,,Daß die Sakramente den Glauben und die
Verheißungen besiegeln oder bestätigen, will mir auf keine Weise
einleuchten. Denn 1. glaube ich, daß es nur der Geist ist, der
unsere Herzen, sowie den Glauben und die Verheißung besiegelt,
und 2. daß ein geistliches Gut oder der Geist nicht durch etwas Leih-
liches, Kreatürliches versiegelt werden kann, daß 3. auch das äußer-
liche Wort dazu nicht imstande ist, geschweige denn die Sakra-
mente. Denn die Worte sind dazu da, uns über Gottes Willen und
Güte zu unterrichten. Doch wird jede Predigt vergeblich sein, wo
nicht der Geist das Herz erleuchtet. 4. Wenn Du die Versiegelung
4 6 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
von Urkunden ins Feld führst, so habe ich zweierlei dagegen zu
bemerken : a) Die Siegel, also zeitliche Dinge, bestätigen Urkunden,
also ebenfalls zeitliche Dinge. Die Sakramente hingegen sind
etwas Leibhaftiges, Greifbares, während die Verheißungen und der
Glaube geistliche und ewige Dinge sind, b) Siegel bestätigen jedes
Schriftstück, dem sie angehängt werden ; die Sakramente werden
aber von vielen nutzlos empfangen, ohne ihnen etwas zu bestätigen,
oder man müßte annehmen, in ihnen stecke eine gewisse Kraft, die
sie immer und überall ausüben, eine Meinung, die Du mit Recht
bestreitest. Endlich : Der Glaube bedarf immer neuen Wachstums
und gewisser Befestigung; diese Befestigung schreibe ich Christus
zu und nicht den Sakramenten." Die Überzeugung des echten Ge-
nossen Zwingiis läßt sich in diesen Vorhaltungen vernehmen, die
Abneigung gegen alle Annäherung von Kreatürlichem und Geist-
lichem, wie sie Zwingli ausgesprochen hatte in den Worten : ,,Die
Seele findet in keiner Kreatur Ruhe, denn allein in ihrem Schöpfer.
So nun die Substanz und Wesen des Glaubens ein solches Licht, eine
solche Sicherheit und Ruhe ist, und der Glaube mag von keiner
Kreatur kommen, sondern von dem ewigen, heiligen Geist, dem
Schöpfer und Leben aller Dinge, so ist gewiß, daß unser Glaube
von keiner Kreatur kommt, in keiner bloßen Kreatur besteht, in
keiner ungezweifelt ruhig und sicher ist und mit keiner Kreatur ge-
stärkt wird, so schwach er ist." * Weil darum nach Zwingli das
Sakrament den Glauben weder zu bewirken noch zu stärken ver-
mag, so kann die Bedeutung des Abendmahls nicht in einer persön-
lichen Wirkung auf den Einzelnen bestehen. „Das sakramentliche
Essen im wahren Sinne ist nichts andres als ein göttliches und
züchtiges Zusammenkommen des Volkes oder der Kirche Gottes
zum Leichnam Christi, d. i. zu der Danksagung des Todes Christi,
die darum sein Leib genannt wird, daß man darin seines Todes und
Leidens gedenkt und danksagt ; in welcher Danksagung man zu
mehrerer Urkunde seiner Liebe gegen uns und unsrer Liebe zum
Nächsten die Zeichen seines Leibes und Blutes herumträgt als ein
äußeres Zeichen seiner und unserer Liebe. Sehet, so ist der Leib
Christi sakramentlich da." „Aber ihn natürlich, wesentlich und leiblich
zu haben, ist sowenig möglich, als daß wir den Mond im Napf haben,
wenn er darin scheint." Hatte Zwingli früher noch im Abendmahl
eine Sicherung der Blöden und eine Stärkung des schwachen Glau-
bens erblickt, so trieb ihn die Polemik mit Luther dahin, seine Be-
0 „Von der Klarheit u. Gewißheit des Wortes Gottes." Stähelin,
,, Huldreich Zwingli" II p. 318.
Von W. Kolfhaus. 47
deutung später ganz auf die einer gemeinsamen Erinnerungs- und
Danksagungsfeier für das im Glauben bereits Empfangene zu be-
schränken. Dieser Gedankenkomplex Zwingiis lebte in seinen
Nachfolgern, trieb Leo Jud zu seinen Bedenken gegenüber Calvin
und ließ auch Bullinger nur schwer sich in die Vorstellungen
Calvins hineinfinden.
Wie bei Zwingli ist bei Bullinger der Grundgedanke der Sakra-
mentslehre, daß das Sakrament wesentlich religiöses Veranschau-
lichungs- und Anregungsmittel sei, nicht aber direktes Gnaden-
mittel, d. h. Kanal der Gnadenmitteilung. Er hat die Akte der
Sakramentsdarreichung und innerlichen Verwirklichung des
Gnadenheils als getrennte und geschiedene behandelt und ein Mit-
einander und Ineinander derselben nicht einmal als Ideal ange-
strebt. Beherrscht von dem Zwinglischen Dualismus hatte er nur
das Interesse, eine zwischen dem signum und der res sacramenti
bestehende Analogie hervorzuheben.1 An Calvins Verständnis des
manducare Christi carnem Joh. 6 nahm er Anstoß, wie er im Mai
1543 an Vadian schrieb, wenn ihm auch nicht entgangen war, daß
die Auffassung Calvins von der Luthers sehr verschieden war.
Gegen den aus Butzers und Calvins Gedanken stammenden Satz,
daß die Sakramente darreichen, was sie darstellen, hatte Bullinger
die ernstesten Bedenken. Er wollte lieber dabei bleiben, einfach zu
sagen „die Sakramente sind Zeugnisse dessen, was geschehen ist,
Darstellungen und Versiegelungen der evangelischen Predigt,
öffentliche Handlungen, durch die uns Gott seiner Wohltat, seiner
Gaben versichert und zur Gemeinschaft eines Leibes sammelt". -
Welche Empfindlichkeit die Züricher beseelte gegenüber jeder Ab-
weichung von Zwingli, erhellt aus der Mitteilung Sulzers an
Calvin,3 daß man in Zürich selbst den Mykonius des Lutheranis-
mus für verdächtig halte wegen zweier mit Zwingiis Formeln nicht
übereinstimmenden Predigten über das Abendmahl. Den in Basel
studierenden Jünglingen aus Zürich wurde sogar verboten, den
Predigten des Mykonius beizuwohnen.
Calvin nahm von Anfang an neben den Lutheranern und den
Schweizern eine selbständige Stellung ein im Verständnis des
Abendmahls ; bei ihm vereinte sich, wie A. Lang a. a. O. p. 320 be-
merkt, die exegetische Klarheit und Schärfe Zwingiis mit der reli-
1) Usteri „Vertiefung der Zwinglischen Sakraments- u. Tauflehre
bei Bullinger", Theol. Studien u. Kritiken 1883 IV p. 730 ff.
2) Bullinger an Muskulus C. R. XII. p. 288.
3) C. R. XI. p. 7C9.
43 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
giösen Tiefe und Innigkeit Luthers. Es würde hier zu weit führen,
den Spuren der Calvinschen Abendmahlslehre bei Ökolampad und
Butzer nachzugehen. Aber zur Verdeutlichung seiner Beziehungen
zu Bullinger ist es nötig, Calvins Abendmahlslehre in ihren Grund-
zügen eben aufzuzeichnen.
Die ersten religiösen Einwirkungen im evangelischen Sinne
waren durch Luther an Calvin gelangt ; als Pfarrer wirkte er fast
drei Jahre in einer zu den Angehörigen der Augsburger Konfession
gehörigen Stadt, unter den Theologen der deutschen Reformation
erschien er auf den Religionsgesprächen zu Worms und Regens-
burg, selbst ein Unterzeichner des Bekenntnisses von Augs-
burg. Auf der andern Seite war der Zwinglianer Farel sein erster
und treuster Genosse, sein ganzes Lebenswerk brachte ihn mit den
von Zwingli beeinflußten Kirchen in Verbindung, auf die Freund-
schaft der Schüler Zwingiis war er angewiesen. Beide Richtungen
der Reformation haben also auf ihn Einfluß ausgeübt. Aber er
wurde weder Lutheraner noch Zwinglianer, selbständig trat er an
die Seite seiner großen Vorgänger, keinem von beiden opferte er
von dem Seinen etwas auf. Er war sich bewußt, nicht innerhalb
der Parteien, sondern über ihnen zu stehen. Wir beobachten bei
der Abendmahlslehre Calvins das Eigentümliche, daß sie gleich in
seinem Erstlingswerk, der ersten Ausgabe der Institutio, so vor-
liegt, wie er sie stets vertreten hat. Seine Überzeugung geht
hervor aus folgenden Worten: „Obgleich er sein Fleisch von uns
weggenommen hat und leiblich in den Himmel gefahren ist, so
sitzt und herrscht er doch zur Rechten Gottes, d. h. in der Macht,
Majestät und Herrlichkeit des Vaters. Diese Herrschaft ist weder
räumlich begrenzt noch irgendwie umschrieben, so daß er seine
Macht, wenn er will, im Himmel und auf Erden ausübt, sich als
den wirksam und kräftig Gegenwärtigen darreicht, immer bei den
Seinen ist, in ihnen lebt, sie aufrecht erhält, stärkt, ernährt und
bewahrt, gerade als wäre er leiblich gegenwärtig." Mit Recht
hatte sich Zwingli gegen die Ubiquität und die daraus gefolgerte
räumliche Gegenwart Christi gesträubt, aber die Frage nicht beant-
wortet, ob nicht Christus auch ohne die Annahme der Ubiquität
sich uns doch real mitteilen könne. Für Luther wie für Zwingli
hing das Hauptinteresse daran, ob Christi verklärter Leib als um-
schrieben gedacht werden müsse oder nicht. Calvin erhob sich
über diesen Gegensatz, indem er zeigte, daß die Umschriebenheit
des verklärten Leibes Christi der realen Vereinigung keinen Ein-
Von W. Kolfhaus.
49
trag tue.1 Ebenso entschieden wie Calvin das lutherische Dogma
leugnete, daß Christi Leib als materielle Substanz uns mitgeteilt
werde, ebenso entschieden erklärte er gegenüber dem Zwinglianis-
mus, daß Brot und Wein nicht nur Zeichen seien, sondern Symbole
der Lebensvereinigung mit Christus : „Wie das Brot das Leben
unseres Leibes erhält, so ist Christi Leib die Speise und Ernährung
unseres geistigen Lebens"; oder wie es am Schluß der von Calvin,
Farel und Yiret 1537 aufgesetzten confessio fidei de Eucharistia heißt :
„Diese Gemeinschaft seines Leibes und Blutes bietet Christus und
reicht sie dar unter den Symbolen des Brotes und Weines allen,
die das Abendmahl recht feiern nach seiner wirklichen Einsetzung."
Das heilige Abendmahl ist also nicht bloß eine Erinnerung an
Christi Leiden für oder Christi Leben in uns, auch nicht nur ein
Pfand, daß Christus für uns gestorben sei, sondern es ist ein Akt,
in dem eine reale Erneuerung und Förderung der in den Gläubigen
vorhandenen Lebenseinheit mit Christus stattfindet.2
Veranlassung zu den Verhandlungen Calvins mit Bullinger
über die Abendmahlslehre war zunächst der mit Luthers Brief an
den Züricher Buchhändler Froschauer vom 31. August 1543 wieder
aufflammende alte Hader zwischen den Schweizern und den Deut-
schen, den die Wittenberger Konkordie von 1536 mit ihren luthe-
rischen Formeln und den besänftigenden, verhüllenden Erklärungen
Butzers nicht hatte aus der Welt schaffen können. In denselben
Tagen, in denen Bullinger an Melanchthon schrieb: „Gegrüßt sei
Dr. M. Luther, der herrliche Mann, samt der ganzen Reihe der
frommen und gelehrten Männer bei euch, denen du mich freund-
lich empfehlen mögest", hatte Luther in seinem Brief an Frosch-
auer verboten, ihm fernerhin Arbeiten der Züricher Prediger zu
übersenden, mit denen er und die Kirche Gottes keine Gemein-
schaft hätten, die mit ihren Werken verloren seien und das arme
Volk mit sich in die Verdammnis rissen. Der Brief weckte in
Zürich tiefe Entrüstung; allein um des Friedens willen wollte Bul-
linger ihn nicht öffentlich beantworten ; er betrachtete ihn als
Privatschrift und versicherte Butzer am 8. Dezember 1543: „Wenn
Luther nicht durch eine Druckschrift uns öffentlich zum Kampf
herausfordert, und uns so anficht, daß wir ohne Schaden der
Wahrheit und des Gewissens nicht schweigen dürfen, so werden
wir uns nie in einen Kampf mit ihm einlassen", oder wie es in
1) Ebrard, „Das Dogma vom heiligen Abendmahl" II p. 412 ff.
2) Loofs in Hauck R. E. s. v. „Abendmahl".
Calvinstudien. 4
cq Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
einem Briefe an einen uns unbekannten französischen Pfarrer heißt
am 22. November 1543: „Wir wollen nicht Böses mit Bösem ver-
gelten noch entgegen der Regel Christi die Schwachen ärgern." 1
Jedoch andere Angriffe Luthers folgten, bis endlich im August
1544 die maßloseste seiner Streitschriften gegen die Schweizer er-
schien, das „kurze Bekenntnis vom Abendmahl", die Bullinger ein
weiteres Schweigen unmöglich machte und ihn veranlaßte, zur Ver-
teidigung seiner Kirche das Bekenntnis der Züricher Prediger her-
auszugeben im März 1544.
Mit Trauer empfand Calvin den Ausbruch des bitteren Streites.
Mit beiden Parteien verknüpften ihn zu feste Bande, als daß er
nicht schmerzlichst hätte berührt werden müssen. Er suchte Me-
lanchthon zu ermuntern, daß er Luther von ferneren Angriffen
zurückhalte : „Bullinger hat sich bei mir beklagt, daß alle Züricher
von Dr. Luther schwer verletzt worden seien, und schickte mir ein
Exemplar des Briefes (an Froschauer), in dem auch ich die Mensch-
lichkeit vermisse. Ich beschwöre Dich, daß Du nach Kräften Dr.
Martinus hinderst, seiner Heftigkeit gegen jene Kirche nachzu-
geben. Vielleicht hat er Grund, ihnen zu zürnen ; aber fromme und
gelehrte Männer darf man nicht so behandeln." 2 Seine Ver-
ehrung für Luther und sein Gegensatz gegen die Abendmahlslehre
der Züricher hinderte Calvin nicht, Luther die Schuld an dem un-
seligen Hader zuzuschreiben. Dem Freunde Farel, der ihn auf-
gefordert hatte, in Zürich persönlich zum Frieden zu reden, er-
widerte er, daß solch ein Versuch unter den gegenwärtigen Um-
ständen nutzlos sei. „Denn nicht von jenen droht Gefahr, sondern
von Luther ; er müßte besänftigt werden. Oder werden die Züricher
zu bewegen sein, demütig Luther um Frieden zu bitten?"3 Als
Luther vollends in dem Bekenntnis vom Abendmahl seinem Grimm
Luft gemacht hatte, wagte auch Calvin nicht mehr, dem Züricher
Freunde Schweigen zu empfehlen, wie Butzer und Mykonius
wünschten, „weil es unbillig ist, Schuldlose so anzufallen und ihnen
keine Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben". Nur bat er
Bullinger, Luthers Person zu schonen, der durch Amsdorf und
andre Schmeichler aufgereizt sei.4 In demselben Sinne wandte
sich einige Wochen später auch Viret an Bullinger.5
1) Herminjard, „Correspondance des R6f fr." IX p. 116.
2) C. R. XI. p. 544.
3) C. R. XI. p. 754.
4) C. R. XI. p. 772.
5) C R. XII. p. 20.
Von W. Kolfhaus 5 I
Calvin war nicht ohne Grund besorgt vor den Folgen des
Angriffs Luthers, der alle Gefühle der Dankbarkeit und Pietät
gekränkt hatte, die in der Schweiz für Zwingiis Andenken vor
banden waren. In Hern entschied sich im Jahre 1546 der lange
Kampf zwischen dem zurückgedrängten Zwinglianismus und der
lutheranisierenden Partei eines Sulzer, Grynäus und Gering mit
deren Niederlage und Verbannung. Calvin selbst, der gegen
Zwingiis Abendmahlslehre die Berner Lutheraner begünstigt hatte
und sich offen und überall als Freund des wegen seiner Vermitt-
lungen verhaßten Butzer bekannte, wurde verdächtigt als Luthe-
raner. Seine ganze Wirksamkeit in Genf, wo zahlreiche Feinde
nur auf die Stunde warteten, seinen Einfluß zu beseitigen, und
ebenso im Waadtlande, dessen Prediger, theologisch Calvins Ge-
sinnungsgenossen, von dem Berner Rat abhängig waren, stand auf
dem Spiel, wenn es ihm nicht gelang, mit den Zürichern einig zu
werden, ohne seiner Überzeugung in der Abendmahlslehre etwas
zu vergeben. Persönliche wie kirchenpolitische Rücksichten be-
wogen ihn, alle Schritte zu versuchen, damit der neu entzündete
Brand nicht auch in der Schweiz um sich greife und alles verheere.
Eine schwere Aufgabe nahm er damit auf sich. Nur durch
unbedingte Offenheit und brüderliche Beharrlichkeit war sie zu
lösen. Denn Differenzen waren zwischen Bullinger und Calvin
vorhanden, Differenzen in der Stimmung und in der Sache selbst.
Calvin stand Luther mit einem ganz andern persönlichen Ver-
trauen gegenüber als die Wortführer in der Schweiz. Das deutsch
verfaßte Bekenntnis der Züricher Prediger hatte er selbst noch
nicht gelesen, als er mit Beziehung darauf gegen Ende Januar 1545
an Melanchthon schrieb, er habe gehört, daß eine heftige Schrift
ausgegeben sei, die wieder einen neuen Brand anzünden werde.
Am 26. März empfing er dann von Bullingers Schwiegersohn
Rudolf Walther mit einem freundlichen Briefe die lateinische Über-
setzung des Bekenntnisses der Züricher. Offen sprach er den
Brüdern in Zürich aus, als er zugunsten der verfolgten Waldenser
persönlich in Zürich wie in andern Schweizerstädten auf gemein-
sames Handeln drang, was ihm an ihrer Konfession nicht gefallen
habe. Welches diese Punkte waren, hat uns Pellikan in einem
Schreiben an den Emdener Prediger Gerhardus Kampius auf-
bewahrt: ,,Er redete mit uns von dem. das er an unserm Bekennt-
nis auszusetzen habe: 1. wir hätten Zwingiis Behauptung verteidigt
von der Seligkeit tugendhafter Heiden; 2. wir hätten nicht deut-
4*
e2 Der Verkehr Calvins mit. Bullinger.
lieh genug geredet von der durch das Abendmahl vermittelten
Gemeinschaft Christi mit uns ; 3. wir hätten Karlstadt entschuldigt
und 4. Luther lateinisch zu hart geantwortet.1 Zur Kennzeich-
nung der Vorsicht Calvins in der Wahrung guter Beziehungen zu
Bullinger mag hier erwähnt werden, daß er wohl in Zürich seine
Bedenken laut werden ließ, an andern Orten aber, die er auf seiner
Rundreise berührte, sorgsam verhehlte. So fragte Limpertus Vog-
tius aus Schaffhausen bei Bullinger an, ob er wisse, ob Calvin an
der Züricher Antwort etwas zu tadeln finde; in Schaffhausen habe
man aus ihm nichts herausbringen können.2 Die schärfste Äuße-
rung des Reformators über die Haltung der Züricher Prediger
finden wir in seinem Brief an Melanchthon vom 26. Juni 1545: „Die
Züricher haben berechtigte Ursache zum Schreiben gehabt, wenn
es so ist, wie sie sagen. Nur hätten sie anders erwidern oder
ganz schweigen sollen. Denn einmal ist das ganze Büchlein un-
bedeutend und unreif und zeugt von mehr Hartnäckigkeit als Ge-
lehrsamkeit ; dann entschuldigen sie ihren Zwingli in wenig feiner
Weise und rechnen Luther allerlei zu schwer an, und vor allem
in der Hauptsache greifen sie nach meinem Urteil unglücklich
daneben." „Euer Perikles aber, wie rast und blitzt er, während
doch seine Sache um nichts besser ist? Wahrlich, ich, der ich ihn
aufrichtig verehre, schäme mich seiner tief." 3 Dennoch, soviel
er an Form und Inhalt des Bullingerschen Werkes auszusetzen
hatte, hörte er nicht auf, sein Vorgehen zu entschuldigen 4 und
auf Vereinigung mit ihm zu hoffen. Daß die Züricher ihm nicht
zufielen, obgleich sie seine im Katechismus, in der Institutio und
in seinem Schriftchen über das Abendmahl ausgesprochene Über-
zeugung nicht offen zu verwerfen wagten, glaubte er darauf
zurückführen zu können, daß sie voreingenommen seien und an
ihren gewohnten Formeln so fest hingen, daß sie nichts Neues
zuließen, wie er an Veit Dietrich schrieb. In der diesem Korre-
spondenten gegenüber und auch sonst ausgesprochenen Hoffnung
allerdings, daß er mit Luther, dessen Tod er im März 1546 noch
nicht erfahren hatte, sich wohl würde verständigen, hat sich Calvin
getäuscht. Schon allein daran, daß er ebenso wie alle Schweizer
die Behauptung Luthers vom Empfang des Leibes und Blutes
1) C. R. XII. p. 81.
2) C. R. XII. P. 77.
3) C. R. XII. p. 98.
4) Calvin an Veit Dietrich in Nürnberg C. R. XII. p. 315.
Von W. Kolfhaus. 53
Christi durch die Ungläubigen abwies,1 wäre jede Konkordie ge-
scheitert, ganz abgesehen von andern Gegensätzen.
Konnte Calvin so der Lehre und der Kampfesweise der
Züricher keinen Beifall zollen, so galt auch er umgekehrt in Zürich
nicht als ganz einwandfrei, und Bullinger war vorerst noch weit
davon entfernt, Calvins Gedanken zu übernehmen. Am 18. August
1545 2 bat ihn Leonhard Soerinus aus Znaim, er möge ihm seine
Gedanken über Calvins Abendmahlslehre mitteilen ; er könne sich
nicht denken, daß Bullinger Calvins Auslegung von Joh. 6 billige
und so wie dieser von dem wirklichen und wesentlichen Essen des
Leibes Christi rede. Die Antwort Bullingers erfolgte schon am
18. September : „Du wünschest mein Urteil über die letzte Ausgabe
von Calvins Institutio. Ich habe sie nicht gelesen, nur die erste
Ausgabe habe ich mir vor mehreren Jahren angesehen, kann also
nichts sagen. Wie ich Joh. 6 verstehe, findet sich in meiner Aus-
legung des Johannesevangeliums, wo ich dargetan habe, daß Essen
dasselbe ist wie Glauben. Ich glaube, daß allerdings der Leib
unsers Herrn und zwar wesentlich von uns gegessen werde. Denn
den Gläubigen ist keine andre Speise gegeben als das wahre Fleisch
Christi. Wir essen aber, indem wir glauben, sein Fleisch sei für
uns dahingegeben. Ich glaube und lehre nicht, daß der wesent-
liche Leib des Herrn im Abendmahl gegenwärtig sei, denn ein
wirklicher menschlicher Leib kann nicht an mehreren Orten zu-
gleich sein. So hoch ich auch Calvin schätze, darin würde ich
ihm, wenn er wirklich so lehrte, nicht zustimmen. Die Wahrheit
ist mächtiger als Calvin. Nie werde ich zugeben, daß sein wahrer
Leib im Abendmahl wirklich gegenwärtig sei, dargereicht und ge-
nommen werde." 3 Mit der, wie er glaubte, neutralen Stellung
Butzers und Calvins war Bullinger durchaus nicht einverstanden ;
in dem Kampf mit den Lutheranern sei nur ein deutliches Ent-
weder — Oder möglich.4 Auch aus dem Freundeskreis hörte
Bullinger Stimmen, die sich mit Calvins Abendmahlslehre nicht
zufrieden erklärten. Der oben erwähnte Senior der Emdener Kirche
Gerhardus Kampius (G. ter Camp), zeigte am 31. August 1545
Bullinger an, daß Calvin den Friesen seinen Katechismus zuge-
schickt habe, aber seine frühere Meinung über das Sakrament habe
1) Calvin an Eberhard Schnepf in Stuttgart C. R. XI. p. 75L
2) C. R. XII. p. 140.
3) C. R. XII. p. 168.
4) Bullinger an Musculus C. R. XII. p. 288.
54
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
ihnen besser gefallen als die jetzige und sie bäten, er möge so
schreiben, daß die Einfältigeren inn verstehen könnten.1 Aus
Biel klagte ihm Leopold Fry, daß Farel und Viret durch Butzer
zu einer der bisherigen entgegengesetzten Abendmahlslehre ge-
bracht seien und behaupteten, der Leib des Herrn sei zwar räum-
lich im Himmel, aber in einer allen Verstand überragenden Weise
nähre er uns doch mit seinem gegenwärtigen Fleische und Blute,
und da Gott uns nicht täuscht, sei ihnen durch Wirkung des
heiligen Geistes der Leib Christi noch viel mehr gegenwärtig als
unsere eigenen Leiber.2
Wenn trotz der Verschiedenheiten und Mißverständnisse und
der sehr voneinander abweichenden Haltung Calvins und Bullingers
im Abendmahlsstreit die beiden Männer aneinander nicht irre
wurden, — denn beider Charakter war nicht dazu gemacht, ab-
weichende Auffassungen mit Worten zu verhüllen — so ist das
nicht nur zu erklären aus der politischen und kirchlichen Lage
ihrer Kantone, die freilich ein Zusammengehen dringend erheischte,
sondern es muß bei beiden die Grundüberzeugung vorhanden
gewesen sein, daß ihre Lehre sich nicht gegenseitig ausschlösse.
Calvin hatte schon am 25. November 1544 dieser Überzeugung
Ausdruck verliehen gegen den Freund in den schönen Worten:
„Was ich denke, sage ich offen und einfach und verberge nichts
um der Menschen willen. Ich glaube aber zu denken, wie Gottes
Wort lehrt. Dürften wir nur einen halben Tag miteinander reden,
so würden wir ohne Schwierigkeiten übereinkommen nicht nur in
der Sache selbst, sondern auch in den Worten. Inzwischen soll
uns dieser Anstoß nicht hindern, brüderliche Freundschaft im
Herzen zu halten." 3 Auch Bullinger hatte die Empfindung, daß
sie sich nicht so fern standen. Obgleich die Spannung zwischen
ihm und Calvins Freund Butzer gerade in den Jahren 1546 und
1547 so stark geworden war, daß die Züricher ihre Studenten Lud-
wig Lavater und Jakob Geßner aus Straßburg zurückriefen, weil
diese von den Straßburger Theologen unter Marbachs Führung
konfessionell beunruhigt wurden, überreichte Bullinger Calvin seine
Schrift: „Absoluta de Christi Domini et catholicae eius ecclesiae
sacramentis tractatio" vor ihrem öffentlichen Erscheinen zur Durch-
sicht und Beurteilung. Mit höchster Anteilnahme las Calvin die
1) CR. XII. p. 154.
2) C. R. XII. p. 349.
3) C. R. XI. p. 772.
Von W. KoHhaus. 55
Ausführungen des Freundes. Bevor er sie dem Verfasser zurück-
gab mit seinen Bemerkungen, rief er Farel herbei, mit ihm die
wichtige Sache zu besprechen. „Wenn Du hieher kommst, wäre
es der Mühe wert. Aber komme bald, ich habe jetzt etwas in
Händen, das ich in kurzem zurückgeben muß. Dies möchte ich
mit Dir gemeinsam verhandeln, und Du wirst sehen, daß mein
Wunsch nicht bedeutungslos war." • Die Antwort Calvins vom
25. Februar 1547, übrigens ein Meisterwerk calvinischer Stilistik
an Prägnanz und Klarheit des Gedankens, ging auf jeden Abschnitt
der Arbeit Bullingers kritisierend ein. Die vornehmste Differenz
sah Calvin darin, daß Bullinger die wirkliche Darreichung des im
Sakrament abgebildeten Gnadengutes leugnete und bekämpfte.
..Indem Christus mir Brot und Wein reicht, verheißt er mir seinen
Leib und sein Blut. Das Zeichen nehme ich; daß mir auch die
Sache gegeben werde, bestreitest Du. Ist das nicht Spielerei?
Denn Darreichen bedeutet mir hier nichts andres als zum Genuß
geben/' Hatte Bullinger den Gedanken Zwingiis vertreten: Die
Sakramente enthalten nicht Gottes Gnade, folglich reichen sie sie
nicht dar, so zog Calvin diese Folgerung nicht. Auch er be-
hauptete nicht, daß die Gnade im Sakramente eingeschlossen sei,
aber mit Hilfe des parallelen Gedankens, daß Christus doch auch
im Evangelium vorhanden sei, ging er weiter zu der Folgerung,
daß freilich die Sakramente die von ihnen verheißenen Gnaden-
gaben mitteilten, nicht per se, sondern durch Gottes Bestimmung,
durch Wirkung des heiligen Geistes. Ebenso war Calvin einver-
standen mit Bullingers These, daß die Sakramente nichts gäben,
was der Glaube nicht schon hat. Aber er führte Bullingers Ge-
danken weiter durch den Nachweis, daß die Sakramente zur Stär-
kung, Förderung und Erbauung des Glaubens dienen. „Das sicht-
bare Zeichen ist ein wahrhaftiges Zeugnis für das, das es abbildet,
die Seele wird durch Christi Fleisch genährt, wie der Leib durch
das Brot." Bullinger wünschte nicht, auf die Sakramente zu über-
tragen, was Sache des Geistes Gottes ist. Mit Recht erwiderte
Calvin: „Was die Schrift dem Geist zuschreibt, schließt nicht aus,
daß die Sakramente seine Organe sind, an sich tot und unnütz, bis
der Geist sie belebt."
Bullinger hatte offenbar eine andre Antwort erwartet; er fühlte
sich in dem Nerv seiner ganzen Abendmahlsauffassung getroffen,
in der Überzeugung, daß sinnliche Dinge keine himmlischen Güter
1) C. R. XII. p. 478.
c(j Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
vermittelten, und daß zwischen dem Wirken des heiligen Geistes
und dem Wirken der Sakramente reinlich zu scheiden sei, soweit
überhaupt auf seinem Standpunkt von letzterem zu reden noch
möglich war. Länger als ein halbes Jahr wartete er, bevor er
Calvin seine Erwiderung sandte, so daß Calvin sich bei ihm am
18. September über sein langes Schweigen beschwerte. Die durch
Calvins zum Teil recht scharfe Bemerkungen erzeugte Verstim-
mung Bullingers wurde verstärkt durch das Mißtrauen, das auch
bei Bullingers Freunden gegen den Genfer geäußert wurde und
alle Verhandlungen zwischen den beiden Männern bis zum glück-
lichen Abschluß des Consensus begleitete. Nicht nur ein Curio
klagte Calvin und Viret des Butzerianismus und Lutheranismus
bei Bullinger an.1 In der bittersten Weise fuhr einige Monate
nachher, am 22. Februar 1548, Beatus Comes in seinem Briefe an
die Züricher Prediger gegen Calvin und Viret los und suchte durch
die Erinnerung an Calvins abfälliges Urteil über Zwingiis Abend-
mahlslehre die Gemüter zu erregen.2 Eberhard von Rumlang
schrieb Bullinger in einem Bericht über den Sturz der Berner
Lutheraner : „Auch die Lausanner hatten, nicht ohne Calvins Ein-
wirkung, den Butzerianismus in ihre Akademie eingeführt.3
Derartige Stimmen trugen dazu bei, den Gang der Verhand-
lungen zu verlangsamen und Bullinger in seiner Zurückhaltung zu
bestärken. Seine Erwiderung auf jenes Schreiben Calvins besitzen
wir nicht. Nur aus einer Notiz Calvins an Viret 4 wissen wir, daß
sie abweisend lautete. „Hier hast Du den Brief Bullingers, in dem
Du einen erstaunlichen Eigensinn beobachtest. Ich sagte Dir
einmal von den Zürichern, daß sie stets eine Melodie singen."
„Jetzt siehst Du, daß Du Dich täuschtest, als Du meintest, mein
Brief würde etwas nützen, auf den er in einem Tone antwortet,
als hätte ich ihn zum Streite aufgefordert." Jedoch die gereizte
Antwort Bullingers hielt Calvin nicht ab, in einem brüderlichen
Schreiben aufs neue auf die Sache einzugehen und vor allem die
Schranke des persönlichen Mißtrauens wegzuräumen. 5 Je drohen-
der die Verhältnisse in Bern sich zuspitzten, so daß auch Viret in
Gefahr war, als Opfer der erzürnten Zwinglianer zu fallen, um so
dringender hielt es Calvin für geboten, durch Einigung mit Zürich
1) C. R. XII. p. 585, 696.
2) C. R. XII. p. 661.
3) C. R. XII. p. 690.
4) C. R. XII. P. 653.
5) C. R. XII. p. 665.
Von W. Kolfhaus. 57
den Sturm zu beschwichtigen. Ruhig, ohne Schärfe legte er dem
Freunde die Sachlage dar: „Deine lange Antwort, in der Du alle
meine Einwände zu widerlegen suchst, übergehe ich mit Schweigen.
Warum sollen wir uns miteinander zanken? Ich hatte in Deinem
Buche angestrichen, was mir nicht gefiel oder andern mißfallen
konnte, oder wovon ich nicht glaubte, daß fromme und gelehrte
Männer es billigen würden. Ich tat es auf Deine Bitte hin,
Freundespflicht erfüllend. Denkst Du anders, magst Du dies
halten, wie Du willst. Daß wir untereinander völlig einig werden,
gehört zu meinen innigsten Wünschen, doch wenn mir auch fest-
steht, daß wir im Sakrament eine engere Gemeinschaft mit Christus
haben, als Du mit Deinen Worten ausdrückst, so wollen wir des-
wegen doch nicht aufhören, denselben Christus zu haben und in
ihm eins zu sein. Vielleicht werden wir noch einmal in völliger
Einheit uns finden. Ich habe stets Klarheit geliebt, an Spitzfindig-
keiten freue ich mich nicht, und den Ruhm der Deutlichkeit teilen
mir alle zu, die andre wohl der Dunkelheit beschuldigen." „Ich
habe mich neulich in Basel über Deine Klage gewundert, die mir
von einem Freunde hinterbracht wurde, daß ich in meinen Kom-
mentaren anders gelehrt habe, als ich euch versprochen hätte. Ich
habe kurz und wahr erwidert, daß ich zu Zürich nicht anders rede
als zu Genf." Dieses männliche, klare Wort scheint auf Bullinger
seinen Eindruck nicht verfehlt zu haben, wenigstens ist sein
Schreiben an Calvin vom 28. Mai 1548 durchaus versöhnlich und
freundlich gehalten. In der Abendmahlsangelegenheit erklärt er
freilich, noch nicht andres Sinnes geworden zu sein. „Ich erkenne
an, daß sich Christus in seinem Geiste durch den Glauben uns ganz
mitteilt, soweit es für uns zum Erlangen des Heils und zum
frommen Leben nötig ist. Dies wird uns durch die Sakramente
dargestellt und versiegelt in der den Sakramenten eigentümlichen
Weise, sowie es uns durch das Wort verkündigt und durch Be-
zeugen eingeprägt wird." Bevor Calvin diesen Brief erhalten hatte.
war er persönlich mit Farel zu einem eiligen Besuch in Zürich, um
die Hilfe der Brüder für den von den Bernern hart angefochtenen
Viret zu erbitten und wenn möglich die Verständigung über das
Abendmahl zu fördern. Die Reise befriedigte ihn nicht. An
Sulzer in Basel, der eben wegen seiner Neigung zu lutherischen
Formeln aus Bern hatte weichen müssen, berichtete er über die
Reise: ,, anfangs trafen wir wenig freudige Gesichter, doch wurden
wir ehrenvoll und freundschaftlich aufgenommen. Das eine miß-
cß Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
fiel uns am meisten, daß sie uns erklärten, wenn ein Wort über die
Sache fallen sollte, es sei ihnen nicht angenehm und sie würden
nicht darauf eingehen. Trotzdem redeten wir das eine und andre,
konnten aber zu einer ernsthaften Unterredung nicht gelangen.
Wir unterließen nichts, uns williges Gehör zu verschaffen, doch
immer erfolgte dieselbe Antwort, es sei nach Billigkeit gehandelt,
wenn wir uns gegenseitig anerkennen würden." Bei Gelegenheit
dieses Besuches machte Calvin auch die für sein späteres Wirken
so wichtige Bekanntschaft des jungen Freundes Bullingers, Johann
Hallers, der gerade zur Ordnung der zerfahrenen Verhältnisse nach
Bern berufen war, und nahm von der flüchtigen Begegnung einen
günstigen Eindruck mit. * Da die mündliche Verhandlung mit den
Zürichern nicht zum Ziel gekommen war, mußte Calvin schriftlich
weiter versuchen, sich mit ihnen zu verständigen. Er verhehlte
Bullinger die in Zürich erlebte Enttäuschung nicht, ging dann aber
geduldig noch einmal auf die am schwersten wiegenden Differenzen
ein. • Einig sei er mit den Zürichern in der Überzeugung, daß die
Sakramente keine Heilsgewißheit begründen. Gott allein sei es,
der durch die Sakramente wirke ; sie nützten nur dann, wenn sie
uns zu Christus leiten, damit wir in ihm alle Güter suchen. Die
Verschiedenheit beginne mit seiner Behauptung, daß die Sakra-
mente Werkzeuge der Gnade Gottes seien, und daß die Erwählten
durch sie wirklich empfangen, was in ihnen abgebildet werde, weil
sonst Gott als Schauspieler erschiene : „So wenn einer mit wahrem
Glauben die Taufe empfängt, sagen wir, daß er Vergebung der
Sünden empfängt. Aber damit keiner die Ursache seiner Rettung
der Taufe zuschreibt, fügen wir erläuternd hinzu, jene Vergebung
gründe sich auf Christi Blut und werde nur insofern durch die Taufe
vermittelt, als sie ein Zeugnis jener Abwaschung ist, die uns der
Sohn Gottes durch sein am Kreuz vergossenes Blut erworben hat,
uns anbietet, damit wir sie durch den Glauben an sein Evangelium
genießen, und durch seinen Geist in unsern Herzen vollendet."
Ebenso könne er beim Abendmahl Zeichen und Sache nicht aus-
einanderreißen. „Wir essen Christi Leib und trinken sein Blut.
Indem wir so reden, machen wir nicht das Zeichen zur Sache selbst,
noch vermischen wir beides miteinander, noch schließen wir Christi
Leib in das Brot ein. Ihr sagt wie wir, daß Christus im Himmel
sei nach seiner menschlichen Natur. Ihr denkt bei dem Worte
i) C. R. XII. p. 720.
2) C R. XII. p. 726.
Von W. Kolfhaus. 5Q
„Himmel" an eine örtliche Trennung-; wir stimmen dem ohne wei-
teres zu, daß Christus räumlich von uns entfernt ist. Ihr leugnet,
daß Christi Leib unumschrieben sei; wir nicht minder. Ihr wollt
das Zeichen nicht mit der Sache vermischen; wir dringen ebenso
darauf, beides zu unterscheiden. Eurer Verurteilung der Im-
panation schließen wir uns an. Folgendes ist also unsre eigentliche
Meinung: wenn wir hier auf Erden Brot und Wein sehen, daß die
Herzen in den Himmel gehoben werden müssen, damit sie Christus
genießen, und daß uns dann Christus gegenwärtig ist, wenn wir
ihn suchen außer- und oberhalb alles Irdischen. Wir halten es für
unrecht zu tun, als sei Christus nicht wahrhaftig, und das würden
wir tun, wenn wir nicht dächten, daß mit dem Zeichen zugleich das
Verheißene wahrhaftig dargereicht wird. Auch ihr gesteht doch zu,
daß das Zeichen nicht inhalt- und bedeutungslos ist. Wir haben
nur klar zu sagen, was es in sich enthält. Und dann sagen wir
kurz: wir werden des Fleisches und Blutes Christi teilhaftig, so
daß er in uns wohnt und wir in ihm, und auf diese Weise empfangen
wir alle seine Güter. Was ist in diesen Worten, ich bitte Dich,
sinnlos oder dunkel? Besonders wenn wir noch ausdrücklich alle
irgendwie möglichen verkehrten Gedanken ausschließen? Und
doch werden wir getadelt, als wären wir von der einfachen und
lauteren Lehre des Evangeliums abgefallen. Ich möchte wissen,
was das für eine Einfachheit ist, die man von uns verlangt. Eben
dasselbe betonte ich neulich bei euch, aber wie Du wohl weißt, ohne
Antwort zu bekommen. Das alles sage ich nicht, um mit euch zu
streiten, sondern um zu bezeugen, daß wir ohne Ursache einigen
guten Männern verdächtig erscheinen."
Ein besonderer Anklagepunkt gegen Calvin, an den sich
immer wieder das Mißtrauen gegen seine Lauterkeit heftete, scheint
in Zürich Calvins Verkehr mit Butzer gewesen zu sein. „Warum,
fragte er Bullinger, sollten wir uns von Butzer trennen, da er dieses
unser dargelegtes Bekenntnis unterschreibt ? Ich will hier die
seltenen und mannigfachen Tugenden nicht rühmen, die jenen
Mann auszeichnen. Ich sage nur, daß ich der Kirche Gottes
schweres Unrecht zufügen würde, wollte ich ihn hassen oder ver-
achten, ganz zu schweigen davon, daß er sich um mich persönlich
verdient gemacht hat. Warum zürnen uns fromme Männer, wenn
wir Freundschaft pflegen mit einem, der mit Freuden erklärt, dal'.
er euch Freund und Bruder sein will?"
Wir haben in diesem Briefe Calvins an Bullinger eine
OO Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
wichtigsten Schriftstücke aus den langen Verhandlungen vor uns ;
denn er enthält kurz und bestimmt die Vorschläge, die er dem
Freunde als Grundlage der Konkordie über das Abendmahl zu
unterbreiten hatte, und die Bullinger auszog und mit seinen An-
merkungen versehen im November 1548 an Calvin zurücksandte.
Mit großer Bedachtsamkeit hat also Bullinger die ernste Sache
durchgearbeitet. Er war jedenfalls von Calvins Vorschlägen ange-
nehm berührt, wenn er sich auch noch immer nicht völlig mit
dessen Gedanken und Ausdrücken zu vereinigen vermochte. Zur
Befestigung seines Vertrauens in Calvins lautere Absichten, wenn
es einer solchen noch bedurfte, trug nicht wenig bei das freundliche
Verhältnis, in das Haller in Bern zu dem Genfer und seinen Freun-
den getreten war.1 Bevor Bullinger Calvins propositiones beant-
wortete, teilte er sie Haller zur Einsichtnahme mit.
In seiner Antwort besprach Bullinger jeden einzelnen Satz aus
dem obigen Schreiben Calvins und begründete ausführlich seinen
Widerspruch. Seine Bemerkungen zeigen, daß er seine Abneigung
gegen Calvins lutherisch klingende Formeln noch nicht fahren ließ
und immer noch von der Furcht beseelt war, es möchte den Sakra-
menten zuviel zugeschrieben und etwas abgedingt werden von der
ihm feststehenden Grundwahrheit : Gott allein wirkt unser Heil und
vermittelt den Erwählten die Gnade und jegliche Heilsgabe, und
zwar vermittelt und reicht er sie dar nicht durch die Zeichen, die
als Leblose geistliche Dinge nicht in sich schließen können, son-
dern durch den heiligen Geist und den Glauben. An diesem Kanon
gemessen erschienen ihm als vor allem anstößig die Behauptungen :
was in den Sakramenten vorgebildet ward, wird den Erwählten
wirklich dargereicht; die Sakramente sind Werkzeuge der Gnade
Gottes ; wir werden des Fleisches und Blutes Christi teilhaftig. Das
Einverständnis der beiden Männer zeigte sich vorerst nur in dem,
was Calvin in seinem Briefe negiert hatte. Die Hauptpunkte gerade
waren noch unerledigt, in denen die Eigentümlichkeit der Anschau-
ung Calvins gegenüber der Zwinglischen hervortrat.
Wie die Ausführungen und der Widerspruch Bullingers ge-
meint waren, läßt ein Schreiben erkennen, das er einige Tage später
nach Genf sandte mit einer Kopie des ersten, wreil er besorgte, sein
nster Brief möchte den Adressaten nicht erreicht haben und, was
uns im Briefwechsel Calvins mehrfach begegnet, von ungetreuen
1) Hallcr an Calvin C. R. XIII. p. 14. Hallcr an Bullinger C. R. XIII.
19. 51.
Von W. Kolfl
oder feindlichen Händen unterschlagen sein. „Ich antworte auf
jene Deine Vorschläge, nicht um sie zu bekämpfen, sondern um
Dir Gelegenheit zu geben, deutlicher J^« ine .Meinung darzulegen,
ob wir vielleicht dahin kommen, dasselbe zu denken und zu reden." :
Beide Briefe wurden Calvin in den ersten lagen des Januar
1549 zugestellt. Bullinger hatte seine Erwiderung auf Calvins
Sätze an Haller in Bern geschickt, damit sie durch diesen mit einem
zuverlässigen Boten nach Genf befördert werde. Ihm hatte sich
Beatus Comes, ein früherer Freund Calvins und Farels, zu dem
Dienst erboten, aber aus Nachlässigkeit hatte er den Dienst nicht
geleistet. Zufällig fand ein Freund Calvins, als er bei Comes nach
anderen Briefen suchte, dort auch Bullingers liegengebliebenen
Brief und nahm ihn mit für Calvin.
Sofort begab sich der Reformator an die Arbeit, die Bemer-
kungen zu seinen Sätzen zu prüfen und seine Gedanken noch näher
zu erläutern. Hatte Bullinger nicht zustimmen können, wenn Cal-
vin die Sakramente Werkzeuge der Gnade Gottes nannte, so hielt
dieser ihm entgegen : „Freilich ist es das Amt des Geistes, uns
Christi und aller seiner Güter teilhaftig zu machen; aber damit
reimt sich sehr wohl, daß er das, was er durch seine Kraft in uns
wirkt, auch durch die Sakramente als Werkzeuge wirkt. Der heilige
Geist ist das Siegel, das Gottes Verheißungen in unseren Herzen
versiegelt. Dasselbe sagt Paulus von der Beschneidung aus, ohne
doch dem Geist etwas zu nehmen. Denn wenn das eine dem an-
dern untergeordnet wird, ist kein Widerspruch da, der Geist i.-'
Urheber, das Sakrament das Werkzeug, dessen er sich bedient.''
„Wir müssen immer darauf sehen, nicht zu kleinlich zu sein im
Zurückweisen von Ausdrücken, die nichts Falsches, nichts Un-
passendes enthalten. Warum sollen wir leugnen, daß Gott durch
die Sakramente handelt, da Paulus bezeugt, wir würden gerettet
durch das Bad der Wiedergeburt? Wenn Du einwendest, er rede
von der Wiedergeburt durch den Geist, so ist das richtig, aber er
erwähnt doch auch das Zeichen. Was ist mehr Gottes Sache, als
uns zum geistlichen Leben wiederzugebären? Und doch tut er das
nach der Schrift durch den Dienst des Menschen." „Wenn Du in
den Sakramenten bloße Zeichen siehst, so weiche ich darin von Dir
ab, denn Brot und Wein und Wasser in den Sakramenten haben
1) CR. XIII. p. 115.
2) Haller an Bullinger C. R. XIII. p. 126. Calvin an Bullinger C. R.
XIII. p. 164.
6 2 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
dieselbe Bedeutung, wie das Metall bei den Münzen. Die Form,
nicht der Stoff macht doch die Münze. Bei den Sakramenten ist das
erste und allein Maßgebende die Wirksamkeit des Geistes und darf
darum nie übersehen werden, wenn es sich um die Frucht jener
handelt. Was den Ausdruck anbetrifft, so wollte Lukas ohne
Zweifel die Kraft des heiligen Geistes verbinden mit dem äußeren
Symbol, als er schrieb, daß der Geist gegeben wurde durch Auf-
legen der Hände."
Dem Widerspruch Bullingers gegen seine Behauptung, daß die
Sakramente darreichen, was sie darstellen, und daß wir des
Fleisches und Blutes Christi teilhaftig werden, gab er unter anderm
zu bedenken: „Mit Recht leugnest Du, daß Christus und seine
Gaben in den Zeichen enthalten wären wie in Gefäßen. Aber Du
hast keine Ursache, hinter meinen Worten solche Ungeheuerlich-
keit zu vermuten. Wir stimmen überein in dem Grundsatz, daß die
Zeichen nicht inhaltlos sind. Wir hätten dann nur noch die Kraft
und Wirkung der Zeichen zu bestimmen. Meine Antwort mißfällt
Dir wegen des Ausdrucks : ,,was das Zeichen in sich schließt". Aber
mir lag es fern, Christi Leib in das Brot einzuschließen. Was be-
deutet denn das Wort „enthalten", „in sich schließen" ? Die Taufe
enthält, sage ich, was sie darstellt, nicht weil sie etwa ein Behältnis
für die geistliche Gnade sei, sondern weil der Herr durch die Kraft
seines Geistes innerlich ausführt, was er durch das äußere Zeichen
bezeugt, so daß die Seele durch Christi Blut nicht weniger gereinigt
wird als der Körper durch das Wasser. Ebenso beim Abendmahl :
nicht ist in Brot und Wein Christi Leib und Blut enthalten, sondern
in diesem Symbol ist die Gemeinschaft der beiden ent-
halten, weil Christus sich ebenso wahrhaftig uns zu genießen gibt,
als der Diener Brot und Wein darreicht."
Von Zwingli und Luther her war die Aufmerksamkeit zu ein-
seitig auf die Einsetzungsworte und die Zeichen beim Abendmahl
gelenkt worden. Auch Bullinger hatte sich von dieser Einseitigkeit
noch nicht freigemacht. Calvin dagegen zog die ganze Handlung
in den Kreis seiner Gedanken und stellte Bullinger vor : „Das
Wesen des Abendmahls enthält zweierlei. Du übergehst das eine,
daß nämlich Christus, wie er einmal für uns hingegeben ist, so uns
täglich dargeboten wird, damit wir eins seien mit ihm. Natürlich
erkennst Du das als wahr an. Aber wenn es sich um die dar-
gestellte Sache handelt, muß beides klar betont werden : daß wir
einmal durch Christi Opfer erlöst sind, und daß derselbe Leib, in
Von W. Kolfhaus. 63
dem das Opfer gebracht ist, uns heule zur Speise sei, weil Christus
durch den Glauben in uns wohnt und uns der Gemeinschaft seines
Leibes einverleibt." x
Calvins stellenweise erregte und scharfe Erwiderung gab nichts
auf von den durch Bullinger gerügten Gedanken und Ausdrücken.2
Gerade weil er mit Bullinger einig war in dem Bestreben, nicht in
den Fehler Butzers zu geraten und Differenzen in der Sache hinter
vieldeutigen Formeln zu verbergen, konnte er sich nicht zu Kon-
zessionen gegen seine Überzeugung verstehen. Um zur Konkor-
die zu gelangen, war die einzige Möglichkeit die, den anderen zu
überzeugen und durch vollste Offenheit jedes Mißverständnis oder
halbe Mißverständnis zu entfernen.
Calvin begleitete am 21. Januar 1549 seine Responsio mit
einem Schreiben," in dem er um Bullingers Vertrauen in seine
Lauterkeit kämpfte : „Das kann ich von Dir mit Recht verlangen,
daß Du nicht leeren Vermutungen bei Dir Raum gewährst. An
vielem, das sonst gar keine Schwierigkeiten hat, stößt Du Dich
ohne Grund, weil Du den meisten meiner Ausführungen einen an-
deren Sinn gibst als nötig ist. Das macht Deine vorgefaßte Mei-
nung über mich, daß Du mir aufbürdest, woran ich nie gedacht
habe. Da Du ferner das einzige Ziel hast, Deine Meinung überall
zu wahren, legst Du bisweilen mehr auf das Wert, was mit ihr
stimmt, als auf das, was wahr ist. Wenn Du Einfachheit wünschest,
so liebe ich sicherlich keine Vertuschungen und Umschweife.
Wenn Du eine freie Aussprache der Wahrheit willst, so ist es mir
nie in den Sinn gekommen, auf der Menschen Beifall einzurichten,
was ich euch geschrieben habe. Wenn einige Luthern und andern
geschmeichelt haben, ich gehöre nicht zu ihnen. Muskulus weiß am
besten, daß ich frei war, als auch Beherzte sich fürchteten. Hätte
nicht bisher ein grundloses Mißtrauen geherrscht, so wäre schon
längst kaum noch ein Streitpunkt gewesen. Im übrigen berührt
unsere Meinungsverschiedenheit unser persönliches Verhältnis
nicht, ebenso wie ich bei aller Freiheit, von Butzer abzuweichen,
1) C. R. VII. p. 693, 701 ff.
2) Die Herausgeber der Calvini responsio ad annotationes Bul-
lingeri beschreiben in den Prolegomena C. R. VII p. XLVI die Responsio
als übermäßig scharf neben Bullingers bescheidenen Einwendungen. I1
Beschreibung trifft nicht zu. Die Responsio verläßt den Ton sachlicher
Erörterung nur an wenigen Stellen. Übrigens ermangeln auch Bullingers
Annotationes der Schärfe nicht.
3) C. R. XIII. p. 164.
£ a Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
mit ihm Freundschaft halte. Nur wenn Du in Deinem Briefe
bemerkst, die Sache werde wohl stehen, sobald ihr sähet, daß man
euch nicht für Feinde halte, so ist das nicht freundlich; ich weiß
auch nicht, woraufhin Du das vermutest. Ich wenigstens bin mir
bewußt, freundlich über euch zu denken und zu reden. Es kann
ja sein, daß ich in Privatbriefen an Freunde einzelnes getadelt, oder
wenn sie etwas tadelten, nicht verhehlt habe, daß es Tadel ver-
diene. Aber nie fehlte das Lob, das alle Bitterkeit mildern und von
einem aufrichtig zugeneigten Sinn Zeugnis geben sollte."
In der Tat hatte Bullingers Zurückhaltung darin ihren Grund,
daß er hinter Calvins Formeln mehr vermutete, als ihr Autor hin-
einlegen wollte. Je mehr er aus Calvins Erläuterungen diesen
Irrtum erkannte, desto bereiter wurde er, seinen Widerstand gegen
die Formeln Calvins aufzugeben. Zu der allmählichen Wendung
Bullingers hat vermutlich ein gutes Teil beigetragen das Glaubens-
bekenntnis über das Abendmahl, das sein Freund Muskulus vor
seiner hauptsächlich von ihm und Haller veranlaßten Berufung nach
Bern dem Berner Rat vorzulegen hatte, und das sehr in calvini-
schem Geist gehalten war.1
Von Gewicht war ihm auch das Zeugnis, das in dieser Zeit
der schwebenden Verhandlungen Haller ihm über Calvin schrieb.
Haller erzählte Bullinger von einem Besuch in Genf : „Calvin nahm
mich sehr freundlich bei sich auf und rief zugleich alle Brüder und
Prediger zusammen. Ich habe mit ihm vieles ganz freimütig ver-
handelt. Er wäre zur Synode — der damals bevorstehenden Synode
der Berner und Waadtländischen Geistlichkeit — gekommen. Aber
ich teilte ihm die Beschlüsse unsrer Obrigkeit mit. Es tat ihm
zwar leid, doch konnte er den Beschluß nicht ganz mißbilligen. Er
ist ein frommer und gelehrter Mann, der in Frankreich sehr viel
bedeutet, aber sehr unruhigen Geistes. Mit ihm wird man, wie es
scheint, dann am besten fertig, wenn man ihm frei heraussagt, was
uns an ihm gefällt und was nicht, und wieweit wir ihm zustimmen
können oder nicht. Er gibt sich im Verkehr freundlich und zu-
gänglich." 2
Was bei Bullinger am meisten gewirkt hat, Calvins freimütige,
klare Äußerungen oder Hallers treffende Charakterisierung des Re-
formators oder das mit Calvin harmonierende Bekenntnis des Mus-
kulus läßt sich nicht entscheiden. Jedenfalls war seine Tonart schon
i) C. R. XIII. p. 204.
2) C. R. XIII. p. 213.
Von W. Kolfhaus. fi^
im nächsten Brief vom 15. März 1549 eine wesentlich andere.
„Durch Deine Antwort hast Du die Sache bei mir einen großen
Schritt gefördert. Jetzt verstehe ich Dich aus Deinem letzten
Schreiben besser als bisher. Wundere Dich nicht darüber, daß ich
so derb an Dich geschrieben habe. Wir haben heutzutage hoch-
gelehrte Männer, die ihre Überzeugungen häufiger ändern als gut
ist. Ich meinte nicht, daß Du zu diesen zähltest, aber ich wollte mit
deutlichen Worten von Dir hören, was ich gehört habe. Übrigens
hege ich über Dich keine ungünstige Meinung, verzeihe mir meine
Derbheit. Ich suche meine Ansichten nur so weit zu behaupten als
sie wahr sind, und Du sagst auch nicht, daß sie falsch seien. Du
bemerkst, daß Dein Dissensus von uns kein Dissensus des Herzens
und der Gesinnung ist. Ich sehe gar nicht, warum Du überhaupt
von uns abweichst. Wenn Du meine Antwort gelesen hast, wirst
Du hoffentlich keinen Unterschied mehr finden." „Ich bin zu-
frieden damit, daß Du uns aufrichtig liebst. Möchten in Zukunft
alle Herausforderungen abgetan sein, und wir uns gegenseitig herz-
lich lieben und die Gemeinden erbauen." 1
Zugleich mit diesem Brief übergab Bullinger dem Freunde
seine Anmerkungen zu dessen Responsio, aus denen erhellt, daß er
seinen bisherigen Widerstand gegen Calvins Formulierungen
fahren ließ und übereinstimmend mit Calvin bezeugte : „In der
Abendmahlsfeier wirkt der Herr innerlich durch seines Geistes
Kraft, was er äußerlich durch das Symbol versiegelt. Im Herzen
gibt er sich uns zu genießen und erneut und beständigt unsere Ge-
meinschaft an ihm ; äußerlich bezeugt er uns das und stellt es dar." -
Bevor die Erwiderung Bullingers nach Genf gelangte, hatte
Calvin im Namen der Genfer Prediger ihr Bekenntnis über das
Abendmahl der im März 1549 zusammentretenden Berner Synode
überreicht in der Hoffnung, die Zustimmung derselben zu erlangen.
Dieses in 20 Sätzen zusammengefaßte Bekenntnis verdient be-
sondere Erwähnung, weil es — teilweise wörtlich — die Grundlage
des einige Wochen nachher zustande gebrachten Consensus mit
Zürich bildet. Es enthält die Sakramentslehre Calvins, wie sie uns
in den Verhandlungen mit Bullinger begegnete.3 Jon. Haller. das
vorsichtige Haupt der Berner Kirche, legte die Artikel Calvins der
Synode gar nicht vor, weil er bei dem gegen Calvin in Bern herr-
1) CR. XIII. P. 221.
2) C. R. VII. p. 709 ff.
3) CR. VIT. p. 717 ff., Proleg. p. XLVI.
Calvinstuclicn.
66 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
sehenden Haß nur größeren Streit durch Vorlage der Artikel be-
fürchtete, und weil er selbst sich nicht mit den Erklärungen Calvins
in allen Stücken befreunden konnte. Er schrieb Calvin, daß er
seine Lehre zwar nicht für verkehrt halte, aber etliche Ausdrücke
seien doch nicht so klar und einfach, daß man sie in seiner Berner
Kirche richtig verstehen werde.1
Hallers Bemerkungen zu Calvins Bekenntnis 2 verrieten keinen
grundsätzlichen Gegensatz, sondern nur die Sorge, daß einzelne
Ausdrücke bei der gegenwärtigen Stellung der Parteien in Bern zu
Mißverständnissen möchten Anlaß bieten. Calvins Urteil bezeich-
nete die Ausführungen Hallers als unbedeutend und unnütz.3 Weder
er noch Bullinger ließen sich durch solche Bedenken auf dem Weg
zum nahen Ziel aufhalten. Die in Bern erfahrene Abweisung machte
Calvin nur um so eifriger in dem Streben, endlich mit Zürich zum
Abschluß zu gelangen. Am 7. Mai drückte er Bullinger seine tiefe
Befriedigung aus über das gewonnene Resultat und kündigte ihm
an, daß er gerne durch eine persönliche Aussprache die letzten
Hindernisse wegräumen wolle. „Kaum je habe ich von Dir einen
erwünschteren Brief empfangen ; er hat nicht wenig dazu bei-
getragen, meinen großen Schmerz zu lindern, den mir der Tod
meiner Gattin ■ — -f- 6. April 1549 — zugefügt hat. Am meisten
freut es mich, daß wir nun auch in den Worten fast ganz überein-
stimmen. Wenn Du es für zweckmäßig hältst, will ich versuchen,
zu euch zu kommen, damit Du über alle meine Gedanken völlige
Klarheit erlangst." 4
Nur der nächste Freundeskreis Calvins wußte, wie weit die ver-
traulichen Verhandlungen mit Bullinger gediehen waren. Nicht
einmal als er am 20. Mai vom Genfer Rat Urlaub zu der Reise nach
Zürich erbat, teilte er den Hauptzweck seiner Reise mit, sondern
gab an, er wolle die Züricher Brüder bewegen, das von ihm im
Interesse der Evangelischen in Frankreich gewünschte Bündnis
Zürichs mit dem französischen König beim dortigen Rat zu befür-
worten.5 Ohne Bullingers Antwort abzuwarten, der von der Reise
abriet und lieber bei dem bisher so erfolgreichen Weg der brief-
lichen Auseinandersetzung bleiben wollte, brach er plötzlich von
1) C. R. XIII. p. 240.
2) C. R. VII. p. 723 ff.
3) Calvin an Vi.ret C. R. XIII. p. 263.
4) C. R. XIII. p. 266.
5) Calvin an Bullinger C. R XIII. p. 266. Bullinger an Calvin C. R.
XIII. p. 278.
Von W. Kolfhaus. 67
Genf auf und eilte in Farels Regleitung naeh Zürich. Nichl einmal
llaller in Bern wurde unterwegs begrüßt. Über diese Reise nach
Zürich und den Abschluß des Consensus besitzen wir den eigen-
händigen Bericht Calvins in einem Briefe an Mykonius in Basel
vom 26. November 1549. ' „Zwischen mir und Bullinger ist diese
Frage vertraulich hin und her erwogen worden. Dann drang Farel,
von der Hoffnung auf Einigung erfüllt, darauf, daß ich persönlich
in Zürich die Angelegenheit betreiben solle. Bei meiner zur
Furchtsamkeit neigenden Naturanlage gelangte ich erst zum Ent-
schluß, als sich wider Erwarten eine andere Veranlassung — das
oben erwähnte französische Bündnis — fand. Ich habe die Reise
plötzlich unternommen, zwei Tage zuvor dachte ich noch nicht
daran. Auf der Durchreise durch Neuenburg habe ich Farel mit
Mühe überredet, mit mir zu versuchen, ob wir zu einer heiligen
Einigung gelangen könnten. Gegen meine und auch der Züricher
Hoffnung segnete Gott unsere erste Zusammenkunft so, daß binnen
zwei Stunden die Vereinbarung fertig war." Nachdem man in der
Sache einig geworden war, und in längeren Besprechungen sich
über die wichtige Frage der Herausgabe, der Redaktion und Ver-
breitung des Consensus beraten hatte, schieden die beiden Reisen-
den hocherfreut darüber, daß nun die Einheit der schweizerischen
Kirchen vor aller Welt kundgetan sei.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei einer Übersicht und
Beurteilung des Consensus, dessen vollständiger Titel lautet :
„Gegenseitiges Einverständnis in betreff der Sakramente zwischen
den Dienern der Kirche zu Zürich und Johann Calvin, Diener der
Kirche zu Genf." - In 26 Artikeln ist der ganze Stoff abgehandelt.
Das Dokument beginnt mit der Erklärung, daß Christus das A und
O des Evangeliums ist. Demgemäß ist auch bei Feststellung der
Art, Kraft, Aufgabe und Frucht der Sakramente auszugehen von
Christus, dem Hohenpriester und König, Art. I — 4. Er teilt sich uns
mit, indem er durch seinen Geist in uns wohnt und die Gläubigen
aller seiner Güter teilhaftig macht. Uns dies zu bezeugen, ist uns
die Predigt des Worts und der Gebrauch der Sakramente ver-
ordnet, Art. 5 — 6. Der Zweck der Sakramente ist nicht nur, daß
1) C. R. XIII. p. 456.
2) Die Inhaltsangabe schließt sich an an den endgültig festgestellten
Text und läßt die verschiedenen Redaktionen außer Betracht. Eine klare
Übersicht über die Abänderungen und die endgültige Textgestaltung liefert
C. R. VII. p. 735 ff. mit den Anmerkungen.
5
(jg Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
sie Zeichen und Merkmale des christlichen Bekenntnisses und der
christlichen Gemeinschaft sind oder Übungen des Glaubens oder
Motive des Dankes oder Verpflichtungen zu einem frommen
Leben, sondern vor allem bezeugt, vergegenwärtigt und versiegelt
uns Gott durch sie seine Gnade. Was die Sakramente den Augen
und den anderen Sinnen darstellen, gewährt Gott innerlich durch
seinen Geist, so daß wir Christi teilhaftig werden als des Quells
aller guten Gaben, daß wir durch die Wohltat seines Todes Gott
versöhnt und durch den Geist zu einem heiligen Leben erneuert
werden, daß wir Gerechtigkeit und Heil erlangen und zugleich
Dank sagen für diese Wohltaten, die uns einst am Kreuz dar-
gereicht und durch den Glauben von uns empfangen sind und die
wir täglich durch den Glauben empfangen, Art. 7 — 8. So gewiß
also zwischen Zeichen und Sache zu unterscheiden ist, so wenig
dürfen sie auseinandergerissen werden. Die Zeichen und die Ver-
heißungen gehören zusammen. In dem Maße, als unser Glaube
die im Sakrament dargebotene Verheißung ergreift, beweist sich
die Kraft und Wirkung der Sakramente. Das Wasser, das Brot
und der Wein an sich bieten uns keineswegs Christus dar, noch
machen sie uns seiner geistlichen Gaben teilhaftig, vielmehr ist auf
die Verheißung zu achten, deren Aufgabe es ist, uns auf dem ge-
raden Weg des Glaubens zu Christus zu führen, Art. 9 — 10. Darum
hängt die Heilsgewißheit nicht an den äußeren Zeichen, die von
Christus getrennt nichts bedeuten. Was uns ferner die Sakramente
an Gütern vermitteln, tun sie nicht durch eine ihnen innewohnende
Kraft, sondern Gott allein handelt durch seinen Geist ; sie sind zwar
Organe, durch die Gott, was ihm gefällt, wirksam handelt, aber so,
daß das ganze Werk unserer Errettung ihm allein verdankt wird.
„Wir erklären also, daß allein Christus es ist, der uns innerlich
wahrhaft tauft, uns beim Abendmahl seiner teilhaftig macht und
erfüllt, was die Sakramente abbilden, und daß er sich dieser Hilfs-
mittel bedient, so daß die ganze Wirksamkeit Sache seines Geistes
ist", Art. 11 — 15. Ist aber die Gnade nicht an das Sakrament ge-
bunden, so folgt, daß die Wirkung der Sakramente sich nur auf
die Erwählten, die Gläubigen erstreckt. Der Glaube empfängt im
Sakrament zwar nichts, was er nicht auch sonst hat, aber er wird
durch die Sakramente befestigt und gemehrt, Art. 16 — 19. Be-
sonders stark zeigt sich der Calvinische Einschlag Art. 20 : „Der
Nutzen, den wir von den Sakramenten haben, darf nicht beschränkt
werden auf die Zeit, in der sie uns zugedient werden, als ob das
Von \v. Koin 6g
sichtbare Zeichen in demselben Augenblick, in dem es dargeb
wird, Gottes Gnade mitbrächte. Denn die in der frühesten ! indheil
Getauften werden von Gotl erst im Jünglings- oder gar im Greisen
alur wiedergeboren. So erstreckt sich der Nutzen der Taufe über
das ganze Leben, weil die in ihr vermittelte Verheißung allezeit in
Kraft bleibt. Ähnlich kann der Brauch des Abendmahls zunächst
bei der Handlung selbst wegen unserer Gedankenlosigkeit und
Lässigkeit uns zuweilen mir wenig nützen, bringt aber später seine
Frucht." Art. 21 — 26 endlich beschäftigen sich damit, die Lokal-
präsenz auszuschließen, die signifikative Bedeutung der Ein-
setzungsworte festzustellen, die Transsubstantiation, die Ubiquitäl
des Leibes Christi und die Anbetung der Zeichen abzuwehren.
Welche Bedeutung hat der Consensus Tignrinus für die refor-
mierte Kirche und Theologie? Kirchlich ist er das Einheitsband
für die deutschen und französischen und damit auch für die übrigen
reformierten Kirchen der Welt geworden; was auseinander zu gehen
drohte, hat er zusammengehalten. Theologisch bedeutete er den
grundsätzlichen Verzicht auf den hergebrachten Zwinglianismus.
Mit dem Zugeständnis der Züricher, daß in den Sakramenten ge
währt wird, was sie abbilden, war Zwingiis und auch Bullingers
These überwunden, daß sichtbare Dinge nie unsichtbare Güter zu
übermitteln vermöchten, und der wichtigsten Tendenz Calvins
Raum gegeben. Die alten Gedanken Zwingiis, daß z. B. das Abend-
mahl ein Bekenntnis- und Yerpflichtungszeichen sei, werden eben
erwähnt, treten aber völlig in den Hintergrund vor dem Haupt-
gedanken Calvins von der geistlichen Gemeinschaft mit Christus.'
Der neueste Biograph Bullingers, Gustav von Schultheß-Rechberg
sagt mit Recht: ., Calvin vermochte es, dem Abendmahl auf Grund
der symbolischen Fassung eine reichere religiöse Beziehung zu
geben, als es innerhalb der Zwinglischen Tradition möglich war.
Bullinger konnte zustimmen, da hier der geistige Charakter der
Religion, der ihm bei der lutherischen Lehre gefährdet schien, voll-
kommen gewahrt war." - Justus Heer :; behauptet zwar in seinem
Lebensabriß Bullingers unter Anführung einiger calvinisch lauten-
der Aussprüche seines Helden über das Abendmahl: „Nur Un-
kenntnis kann den Satz aussprechen, im Consensus Tignrinus habe
die deutsche Schweiz Calvins Abendmahlslehre ansrenommen." Aber
1) Hauck R. E. Christ s. v. „ Züricher Consensus".
2) Schriften dos Vereins für Reformationsgeschichte XXII p. 89fr»
3) Hauck R. E. J. Heer s. v. „Bullinger".
7o
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Calvins Eindruck war es nicht allein, daß seine Interessen an der
Abendmahlslehre zu gebührender Geltung gekommen seien, auch
seine Gegner in Bern und anderwärts hatten denselben Eindruck,
daß an Stelle des Zwinglianismus etwas Neues getreten sei.
Eine andere Frage ist die, ob die Consensusformel als ein
getreuer Ausdruck der Gedanken Calvins zu beurteilen ist, oder
ob diplomatische Rücksichten auf das notwendig zu erreichende
Ziel ihn veranlaßt haben, seine Abendmahlslehre hier und da den
Zürichern anzupassen. Die ursprüngliche, von keiner außer der
Sache liegenden Rücksicht bedingte Form des Denkens Calvins
haben wir vor uns im Genfer Katechismus von 1545. Nun zeigt
uns der Vergleich des Consensus mit dem Katechismus, daß in
den Grundzügen Calvin beide Male derselbe ist. Der Katechismus
definiert das Sakrament als „die äußere Bezeugung der göttlichen
Güte gegen uns, die geistliche Gaben durch ein sichtbares Zeichen
abbildet, um unseren Herzen Gottes Verheißungen zu versiegeln,
damit ihre Wahrheit besser bestätigt werde"; und auf die Frage,
ob die sichtbaren Zeichen die Heilsgewißheit des Gewissens be-
gründen können, wird geantwortet, daß sie diese Kraft nicht aus
sich bsitzen, sondern aus Gottes Anordnung, weil sie zu diesem
Zweck eingesetzt sind ; daß also die Kraft und Wirkung des Sakra-
ments nicht im äußeren Element eingeschlossen ist, sondern ganz
aus Gottes Geist stammt. Was speziell das Abendmahl anbetrifft,
so ist es dazu von Christus eingesetzt, uns zu lehren und uns
dessen gewiß zu machen, daß unsere Seelen durch die Gemein-
schaft seines Leibes und Blutes ernährt werden zum ewigen Leben ;
und ausdrücklich wird hinzugefügt, daß wir diese Gemeinschaft
ebenso im Wort haben, durch das Sakrament werde sie nur be-
festigt und vertieft.1 Im Katechismus begegnen uns also dieselben
Gedanken, die sich im Consensus durchgesetzt haben, in letzterem
nur mit Erklärungen versehen, die jedes Mißverständnis im luthe-
rischen Sinn entfernen. Beachtenswert ist jedoch, daß im Con-
sensus der Ausdruck „Substanz Christi" fehlt, den Calvin im Kate-
chismus unbedenklich gebraucht ; ebenso fehlt die Behauptung des
Katechismus, daß uns im Abendmahl die Auferstehung des Leibes
gleichsam durch ein Pfand zugesichert wird. Auch ist nicht zu
leugnen, daß im Katechismus viel unbefangener vom geistlichen
Essen Christi geredet wird als im Consensus. Dennoch darf der
1) E. F. Karl Müller. „Die Bekenntnisschriften der Reformierten
Kirche" p. 147 ff.
Von W. Knlfhaus.
Conscnsus nicht als ein abgeschwächter Calvinismus beurteilt
werden. Gerade der Vergleich der beiden Schriften läßt uns sehen,
daß die Grundgedanken Calvins ohne Subtraktion von Bullinger
übernommen sind. Calvin ließ beiseite, was ihm im Verhältnis
zur Hauptsache nebensächlich war. Er hing nicht an Worten,
soweit sie ihm nicht für das Verständnis des Wesens der Sache
unentbehrlich erschienen ; sein Auge verstand die Kunst, das Große,
Grundsätzliche herauszufinden ; er hatte die Entschlossenheit, zu-
frieden zu sein, wenn er das ihm Wesentliche im Verständnis des
Abendmahls, die geistliche Gemeinschaft an Christi Leib und Blut,
anerkannt sah. Was ihm als dies Wesentliche im Consensus ge-
wahrt zu sein dünkte, hat er in einem Brief an den Polen Susliga
formuliert, der ihm mitgeteilt hatte, daß manche ihm den Vorwurf
zu großer Nachgiebigkeit gegen die Züricher machten: Die An-
erkennung folgender drei Punkte sei ihm genug: I. daß die Sakra-
mente nicht nur äußere Zeichen des Bekenntnisses sind, sondern
auch Zeichen der göttlichen Gnade, Hilfsmittel zur Ernährung und
Befestigung des Glaubens, Siegel auf die göttlichen Verheißungen ;
2. daß sie in der Weise äußere Zeugnisse und Pfänder der geist-
lichen Gerechtigkeit und des Lebens sind, daß sie den Sinnen nichts
anderes vorstellen, als was Gott innerlich durch die Kraft des
Geistes gibt, daß sie also Werkzeuge sind, durch die der Geist seine
Kraft in den Erwählten beweist; 3. daß es ihr Zweck ist, uns zur
Gemeinschaft an Christus zu rufen.1
Welcher Art war die Beurteilung und Aufnahme des Consensus
in den übrigen Kantonen? Bern war die wichtigste der in Betracht
kommenden Städte. Die Berner Prediger erhielten sofort von
Zürich eine Abschrift des Dokuments mit der Bitte, sich zu äußern
und durch ihre Unterschrift die Übereinkunft zu bestätigen. Schon
am 2. Juni antworteten sie und bezeugten zu dem Inhalt der Ver-
einbarung ihre Zustimmung, weigerten sich aber, ihre Unterschrift
zu geben. Vor allem bewog sie zu ihrer Zurückhaltung die Furcht,
unter ihnen selbst möchte die starke, extrem zwinglisch gesinnte
Partei unter der Führung des einflußreichen und gewalttätigen
Berner Predigers Jodokus Kilchmeyer zum Kampf gereizt werden.
Dazu kam die Überzeugung, der Berner Rat werde bei seinem
Haß gegen Calvin und alles von Calvin Stammende ihnen die
Unterschrift unter das neue Bekenntnis verbieten. Die Berner
1) CR. XIII. p. 534-
7-
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Prediger hatten das nicht ganz unrichtige Empfinden, daß Calvin
im Consensus andere Formeln gebrauche also sonst. „Mögen die
Genfer bleiben bei der hier bezeugten Lehre und von jenen doppel-
sinnigen Redensarten ablassen, deren sie sich bisher bedient haben.
Mögen sie aufhören, unsere Lehre zu verleumden. Dadurch wird
unsere Übereinstimmung sicherer erklärt werden als durch baldige
Herausgabe eines Bekenntnisses, von dem es noch zweifelhaft ist,
ob jene sich in Wort und Schrift immer nach ihm richten werden." x
Selbst eine abermalige persönliche Verwendung Bullingers bei seinen
Freunden Haller und Muskulus vermochte nicht, sie von dem ein-
mal gefaßten Beschluß abzubringen. Wohl schrieb Muskulus : , Je
mehr ich die einzelnen Sätze der Übereinkunft lese und bedenke,
desto herzlicher danke ich Gott, daß nun aller Streit beendigt ist.
Ich möchte nichts geändert, hinzugetan und ausgelassen haben und
spreche Dir ausdrücklich diese meine Überzeugung aus" ; aber die
Veröffentlichung des Consensus widerriet auch er. Auch an Calvin
schrieb Haller und versicherte ihm, daß er für seine Person den
Consensus wohl unterschreiben könne, aber aus den bekannten
Gründen sei an die Unterschrift der Berner Kirche nicht zu denken.
Trotz eifrigster Bemühungen Bullingers und Calvins gelang es
nicht, den Widerstand zu beseitigen ; sie mußten sich mit der Er-
klärung begnügen, daß ihr Bekenntnis der Wahrheit gemäß sei,
und ohne Bern die Herausgabe vorbereiten.
Die Zustimmung der übrigen Kantone erfolgte ohne Schwierig-
keit. In Basel schien Mykonius anfangs Schwierigkeiten zu er-
heben, doch waren bei ihm nicht so sehr sachliche Gründe vor-
handen als der Ärger, daß Basel bei den Verhandlungen nicht
hinzugezogen war, wie er Bullinger klagte : „Uns tat wehe, daß
unsere Kirche übergangen wurde, als ginge sie die Wahrheit nicht
an. Unsere Kleinheit konnte verachtet werden, unser Eifer für
die Wahrheit hätte nicht verachtet werden dürfen." -
Prinzipielle Bedenken zwinglischer Tradition trug Coelius Se-
eundus Curio Bullinger vor : „An einigen Stellen habe ich fremden
Sauerteig bemerkt. Die Sakramente werden Anhängsel des Evan-
geliums, Siegel, Organe genannt ; sie sollen die Gemeinschaft mit
Christus befestigen, beständigen und erneuern. Es heißt, durch
sie würden gewisse Gaben vermittelt, Christus wachse gewisser-
maßen in uns, wenn wir sie gebrauchen; der Nutzen, der vielleicht
i) C. R. XIII. p. 287, 290, 303, 312, 315, 316.
2) CR. XIII. p. 385.
Von W. Kolfhaus. 73
beim Gebrauch des Sakraments noch nicht da ist, zeige sich in
irgend einer späteren Zeit."
Schaffhausen dagegen, St. Gallen, Neuenburg unterschrieben
sofort, zuletzt traten sämtliche Schweizerstädte nebst Graubünden
und Mühlhausen bei, und selbst Malier bezeugte Calvin im Namen
der Berner Kollegen : „Es ist uns nie in den Sinn gekommen, an
dem Lehrinhalt des Consensus zu tadeln; vielmehr danken wir der
Gnade Gottes, daß endlich zwischen euch, die ihr die berühmt«
Diener Gottes und der Kirche in unserer Zeit seid, jeder Z
spalt aufhört, und die beste Eintracht in diesem Lehrstück er-
reicht ist. Wir bitten Gott innigst, er möge solche Eintracht auch
den noch übrigen Kirchen gewähren." l In ähnlichem versöhn-
lichem Ton schrieb das Berner Ministerium nach Zürich.2
Am 30. September 1549 teilte Bullinger dem Genfer Freunde
das bis dahin gewonnene Resultat sehr erfreut mit und schlug ihm
vor, obwohl noch nicht sofort zum Druck zu schreiten sei, daß die
Brüder in Frankreich und andere hervorragende Männer von dem
Consensus Kenntnis bekommen sollten, ebenso wie er ihn ver-
traulich seinen deutschen und englischen Freunden znsenden wolle.
Von allen Seiten gelangten dann an Bnllinger und Calvin zu-
stimmende Schreiben. Besonders erfreut rief der alte lebensmüde
Butzer aus England seinem treuen Schildknappen in Genf zu ; „Ich
danke Gott sehr, daß ihr die drei wichtigsten Stücke über den
eigentlichen Gebrauch der Sakramente, über ihre Wirkung und
über das Essen Christi durch den Glauben durchgesetzt habt; ich
bin in der ganzen Sache mit euch einig."
Erst im Februar 1551 schritt man in Zürich und Genf zum
Druck und konnte im März die gedruckten Exemplare den Freun-
den überreichen. Dem sterbenden Vadian sandte Bullinger das
Büchlein mit den Worten : „Ich sende Dir unsre Vereinbarung mit
dem teuern Bruder Calvin und zweifle nicht, daß Du große Freude
daran haben wirst. Vor der Herausgabe hat eine Anzahl bedeu-
tender Männer in England, Preußen, Frankreich, Italien und Un-
garn sie gesehen und gebilligt. Jetzt endlich schien es uns an der
Zeit, sie herauszugeben, da unsere Gegner allerlei gegen uns
planen." 3 Die Hoffnung, die Bullinger an das gemeinsame Werk
1) CR. XIII. P. 3S5.
2) C. R. XIII. p. 391.
3) C R. XIV. p. 70.
JA Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
knüpfte, hat ihn nicht betrogen : „Ans vielen Zeichen schließe ich,
schrieb er dankbar an Calvin, daß die Herausgabe unserer Über-
einkunft reiche Frucht bringen wird." *
VI.
Bullinger in Calvins Kampf um die Prädestinationslehre.
Während der langen und mühsamen Verhandlungen hatte Bul-
linger Calvins Wert recht schätzen gelernt. Es war ihm aus der
Seele gesprochen, als der nüchterne und zurückhaltende Haller ihm
nach der Übersendung des Consensus über Calvin bemerkte : „Cal-
vin ist ein großer Mann, dem wir viel verdanken." 2 Doch nicht
nur die Hochachtung vor Calvins Tüchtigkeit war gewachsen, auch
persönlich wußte er sich ihm enger verbunden. „Wir wollen uns
untereinander lieben und helfen, mein Calvin!" rief er ihm nach
Vollendung des großen Werkes zu, Und in der Tat, die gegen-
seitige Hilfe und Liebe war nie so nötig als in den Kämpfen, die
in den nächsten Jahren auf Calvin warteten. Bullingers Treue und
Wahrhaftigkeit sind für ihn kostbare Stützen geworden.
Eine schwere Sorge für beide Männer bildeten für die kommen-
den Jahre die Verhältnisse im Waadtland, wo Viret
sich vergeblich des strammen Berner Staatskirchentums zu erwehren
versuchte. Noch während der Consensusverhandlungen war die
Lausanner Classis mit den regierenden Herren zu Bern in einen
schweren Konflikt geraten wegen des Befehls, die in Lausanne üb-
liche wöchentliche Zusammenkunft der Prediger nach Genfer Vor-
bild zur Schriftbetrachtung, Sittenzensur und Besprechung wich-
tiger kirchlicher Angelegenheiten nur einmal im Vierteljahr abzu-
halten, weil aus diesen Colloquien so mancher Zwiespalt entstanden
sei. Bullinger wurde sowohl von Viret wie von Haller um Hilfe
angerufen, auch Calvin legte ihm dringend die Bitte ans Herz, doch
vermittelnd einzugreifen.3 Freundlich versprach ihm Bullinger, zur
Milderung des Zwiespalts beizutragen, wenn er auch in der Sache
selbst das Vorgehen der Berner Regierung billigte und den Lau-
sannern riet, nicht hartnäckig bei ihrer Meinung zu bestehen, son-
dern sich zufrieden zu geben mit dem, was ihnen Bern schließlich
gewährte.4 Bullingers brüderliches, verständiges Zureden konnte
i) CR. XIV. p. 69.
2) CR. XTTI. p. 290.
3) CR. XIII. p. [68,
4) CR. XI II. p. 557.
Von W. Kolfhaus. 75
wohl in diesen und andern einzelnen Fällen dazu beitragen, das
bittere Ende des Streites zwischen Hern und Viret hinauszu-
schieben; die schließliche Katastrophe vermochte auch er nicht ab
zuwenden, die am Anfang des Jahres 1559 Viret endlich nötigte,
seine Gemeinde zu verlassen und nach Genf überzusiedeln. In
diesem Streit zwischen dem Kirchenideal Calvins und dem Staats-
kirchentum Zwingiis stand Bullinger selbst viel zu sehr innerhalb
der schweizerischen Tradition, als daß er das Gewicht seines Ein-
flusses für die von Calvin, Viret und Beza verfochtene Sache hätte
geltend machen können. Wie er über die ganze Frage der kirch-
lichen Freiheit dachte, wurde schon oben p. 35 ff. dargelegt. Er
hat aus sachlichen und politischen Rücksichten die Einrichtung der
Genfer Konsistorialdisziplin nicht für unevangelisch erklärt, aber
ihre Übertragung auf andere Gebiete der Schweiz wünschte er
nicht, weil er wie sein Joh. Fialler die geheime Furcht nicht los
wurde, es möchte eine neue Hierarchie aufkommen.
Die Viretschen Händel fanden in Zürich und Genf eine prin-
zipiell verschiedene Beurteilung; das Vertrauen der beiden Freunde
zueinander haben sie nicht erschüttert. Auch über die persönliche
Zwischenträgerei, die sich in solchen Kampfeszeiten gern breit
macht, waren sie erhaben. Wenn Bullinger über Calvin etwas zu-
getragen wurde, das ihn verdroß, schlug er den einfachsten Weg
ein, Klarheit zu erlangen : er erkundigte sich bei Calvin selbst. So
ging im Anfang des Jahres 1551 das Gerücht, in Genf wolle man
die kirchlichen Feiertage abschaffen und den Sonntag auf den
sechsten Tag verlegen. Sogleich fragte er bei Calvin an, ob an
dem seltsamen Gerücht etwas Wahres sei, und freute sich, aus der
Antwort Calvins zu ersehen, wie sich dessen Überzeugung in
solchen äußeren Dingen mit der seinigen deckte. „Ich weiß, daß
Du nie kleinlich gewesen bist in solchen Dingen, die zur Förderung
der Frömmigkeit wenig beitragen und nur viel Haß erwecken."
Wie tragfähig das gegenseitige Vertrauen Bullingers und Cal-
vins war, offenbart die schwere Belastungsprobe, die ihm der im
Mai 1551 beginnende Streit des Hieronymus Bolsec mit
Calvin über die Er w ählungslehre auferlegte, ein
Streit, der die Genfer und Berner Kirche tief aufwühlte und auf
Jahre hinaus schmerzliche Wunden hinterließ.- Zum öffentlichen
1) C. R. XIV. p. 117.
2) Über die Entstehung des Streites Stähelin ..Calvin" T p. 411, II
p. r.u: Choisy in Hauck R. E. s. v. „Bolsec"; Kampschultc, ,Joh. Calvin
usw." II p. 125 ff.
7 6 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Ausbruch gelangte der Zwist in der Kongregation der Genfer Pre-
diger am 16. Oktober 1551, wo Bolsec die Erwählungslehre Calvins
vor aller Ohren angriff und ihm vorwarf, die Schrift schlecht zu
verstehen. Der Rat zog die Sache vor sein Forum. Wenn er
Calvin unrecht gab, so hörte dieser auf, der zuverlässige und an-
erkannte Ausleger des Wortes Gottes für seine Gemeinde zu sein.
Auf dem vulkanischen Boden des Genfer Parteilebens konnte leicht
eine Erschütterung erfolgen, die Calvins Lebensarbeit vernichtet
hätte. Als vollends Bolsec Melanchthon, Brenz und Bullinger als
Kronzeugen für seine Meinung anrief, nahm der Rat den Vor-
schlag der Prediger an, daß die Fragen, Antworten und Rückant-
worten der zwei Parteien schriftlich aufgesetzt, ins Lateinische
übertragen und an die Schweizer Kirchen gesandt werden sollten,
um deren Ansicht zu hören. Noch ehe das offizielle Schreiben in
Zürich eintraf, wurde Bullinger durch Beza über die Lage unter-
richtet und gebeten, mit seiner Autorität zum Schutz der Wahrheit
einzutreten.1 Nur mit Widerstreben folgte Bullinger der Auf-
forderung des Genfer Rats und gab gemeinsam mit seinen Kollegen
am 27. November sein Gutachten. Seine Ansicht faßte er in einigen
kurzen Sätzen über die Prädestination zusammen, aus denen wir
das Wichtigste herausheben: „Gott, der Vater aller und derselbe
gegen alle ohne Ansehen der Person, will, daß alle Menschen er-
rettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, und es
ist sein ewiger Rat, die Menschen zu beglücken, zu rechtfertigen
und zu heiligen, nachdem ihnen die Sünden vergeben sind in dem
einigen Mittler Jesus Christus, dem eingeborenen Sohn, aus lauter
Gnade, um des Sohnes willen, der Mensch geworden ist, gelitten hat
und sterbend der ganzen Welt Sünde versöhnt hat, durch den Glau-
ben an den Namen Jesu, nicht durch Verdienst menschlicher Werke ;
die Ungläubigen aber zu verdammen wegen ihrer Sünde und
Schuld, weil sie den dargebotenen Retter nicht angenommen haben.
Auch diesen Glauben schenkt der himmlische Vater um seines lieben
Sohnes Avillen, damit niemand sich vor Gott rühme." „Wer also
gerettet wird, wird allein gerettet durch die Gnade des Herrn,
unseres Gottes und Heilandes. Wer aber verloren geht, geht nicht
verloren durch fatalistische Notwendigkeit, sondern weil er durch
eignen freien Willensentschluß die ihm in dem Sohn reichlich dar-
»otene Gnade Gottes des Vaters verachtet. Wenn nun unsere
1) CR. XIV. p. 191.
Von W. Kolfhaus. 77
teuren Brüder Job. Calvin und Hier. Bolsec und andere so denken,
stimmen sie in der Sache überein unter sich und mit uns, die wir
redlich und einhellig diesen Glauben bewahren; und es isl nur noch
ein Streit um Worte, von dem uns Christus so schnell als möglich
abzulassen befiehlt." '
Dazu machte Bullinger in einem Privatbriefe an Calvin noch
folgende Bemerkung: „Wenn Hieronymus das ganze Heil nur der
Gnade Gottes zuschriebe, nichts unserer Kraft, und wenn er nur
noch nicht mit der schweren und tiefen Frage nach der Verwerfung
fertig werden könnte, außerdem auch freundlicher urteilte über die
andern, die ebenso alles der göttlichen Gnade zuschreiben, so müßte
er nach meiner Meinung durch weises Maßhalten eurerseits an-
gezogen und vom Verderben errettet werden." - Noch schärfer
sprach er sich einige Tage nachher aus: „Glaube mir, daß manche
durch Deine Sätze über die Erwählung in der Institutio geärgert
sind und aus ihnen denselben Schluß ziehen wie Hieronymus aus
Zwingiis Buch de Providentia, nämlich daß Gott Urheber der Sünde
sei. Nach meiner Meinung haben die Apostel diese schwierige
Sache nur selten und nur gezwungen berührt und sie so maßvoll
behandelt, damit die Frommen nicht Anstoß nähmen,, sondern vor
allem erkennten, daß Gott allen Menschen gnädig sei und in
Christus das Heil darbiete, das sie, nicht durch ihre Kraft, sondern
durch das göttliche Geschenk des Glaubens annehmen können. Sie
sind also um Christi und seiner Gnade und nicht um ihrer selbst
willen erwählt ; die Verworfenen aber gehen zugrunde durch ihre
Schuld, nicht durch Gottes bösen Willen."3
Selten hat ein Brief Calvin so sehr verletzt als diese Antwort
Bullingers auf die Genfer Anfrage und das in den gleichen Ge-
danken sich bewegende Gutachten des Züricher Prcdigerkollegiums.
„Über die Basler habe ich mich neulich beklagt, mein Farel, schrieb
er entrüstet, aber neben den Zürichern verdienen sie das höchste
Lob, ich kann kaum sagen, wie ihre Grausamkeit mich schmerzt.
Herrscht denn unter uns weniger Menschlichkeit als unter den
wilden Tieren?"4 Seine ganze Erregung machte sich Luft in einer
Erwiderung an Bullinger selbst Ende Januar 1552, nachdem der
Streit zu Calvins Gunsten durch die Verbannung • ent-
1) CR. XIV. p. 209.
2) CR. XIV. p. 207.
3) C. R. XIV. p. 214.
4) C. R. XIV. p. 218.
78
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
schieden war: „Weil wir nicht ohne bitteren Schmerz erfahren
haben, daß auf euch weniger Verlaß war, als wir geglaubt hatten,
will ich mich lieber offen bei Dir darüber beklagen, als zu schweigen
versuchen und dadurch den Arger noch vermehren." „Wäre doch
Hieronymus ,kein schlechter* Mann, wie man ihn euch gerühmt
hat! Wenn er nur wirklich alles der Gnade Gottes zuschriebe,
wie Du an ihm bemerkt zu haben meinst ! Aber wie ihr den, der
eine ruhige Kirche in Aufruhr gebracht hat, der versuchte, uns
verderblichen Zwiespalt zu bringen, der ohne je im Geringsten be-
leidigt zu sein, uns mit allen möglichen Schmähungen überhäufte
und öffentlich beschuldigte, wir machten Gott zu einem Tyrannen,
ja wir hätten an Gottes Stelle den Zeus der heidnischen Dichter,
wie ihr den mit eurem Schutz decken könnt, ist mir mehr als un-
verständlich. Urteile selbst, ob man noch der Gnade Gottes alles
zuschreiben kann, wenn man verkündigt, allen werde dieselbe Gnade
angeboten, ob sie aber wirksam werde, hänge ab von dem freien
Willen eines jeden." „Ich war verwundert, in Deinem Brief zu
lesen, daß meine Lehrweise vielen guten Männern mißfalle, ähnlich
wie Hieronymus durch Zwingli geärgert werde. Ich bitte Dich,
wie kannst Du diesen Vergleich ziehen? Zwingiis Buch de Provi-
dentia ist, im Vertrauen gesagt, so voll von harten Paradoxien, daß
meine Mäßigung sehr davon absticht." x „Verzeihe, daß ich Dir
gegenüber mir meine Klage über eure Antwort vom Herzen her-
untergeredet habe. Daß ihr meine Erwartung getäuscht habt, will
ich gerne unserer Freundschaft zugute halten. Vor den andern
schweige ich, als wäre ich zufrieden mit euch."2 Um keine weiteren
Störungen zwischen Calvin und Zürich hervorzurufen, zeigte Bul-
linger diesen Brief den Kollegen nicht, wiederholte aber in einem
neuen Schreiben seine schon früher dargelegten Gedanken: „Die
Behauptung, daß Gott den Fall Adams nicht nur vorhergesehen,
sondern vorher bestimmt und festgesetzt habe, legt den Schluß
nahe, daß der Ursprung des Bösen und die Ursache der Sünde in
Gott als dem Urheber zu suchen ist. Es scheint mir hart zu sein,
zu erklären, daß Gott die, die er zum Verderben geschaffen hat,
i) Calvin an Socinus mit Bezug auf die Prädestinationslehre: „Wenn
einer, so war ich je ein Feind von Paradoxien und hasse Haarspaltereien.
Aber nichts soll mich je hindern, offen zu bekennen, was ich aus Gottes
Wort gelernt habe. In der Schule dieses Meisters wird nur Nützliches
mitgeteilt. Die einzige Regel der Weisheit ist und wird mir bleiben: bei
der einfachen Lehre des Worts zu verharren." C. R. XIV. p. 229.
2) C. R. XIV. p. 251.
Von W. Kolfhaus. 79
damit sie an ihr Ziel kommen, der Fähigkeit beraube, das Wort zu
hören, daß er sie durch die Predigt verblende, daß also die univer-
salen Verheißungen Gottes nur einige wenige angingen."1 Sach-
lich ging Calvin auf die Bedenken seines Freundes ein in seiner
Schrift de aeterna Dei praedestinatione, die er ihm am 13. Mär/.
1552 üherreichte, damit er ihm freimütig sein Urteil mitteile. Im
übrigen erklärte er : „Ich bin ganz damit einverstanden, daß be-
graben bleibt, was in unseren Briefen Ärgerliches und Kränkendes
enthalten war." 2
Diese Übersicht über den Verlauf des Streites läßt uns die be-
merkenswerte Tatsache erkennen, daß weder Calvin noch Bullinger
der Gedanke aufsteigt, daß sie in der Erwählungslehre voneinander
abweichen. Sie glauben beide ehrlich, sich auf demselben Boden
zu bewegen. Was Bullinger tadelt, sind harte Ausdrücke, die den
Anschein erwecken, als solle Gott Urheber der Sünde sein. Eben
das aber traut er Calvin nicht zu. Beide sind überzeugt, daß die
Gedanken Zwingiis — von Nebensächlichem abgesehen — und des
ganzen reformatorischen Kreises über die Erwählung mit der
Schriftwahrheit in Einklang sind, und daß sie das gleiche evangelische
Glaubensinteresse an der Rechtfertigung aus Gnade allein ver-
treten. Bolsec führte in seiner Verantwortung Melanchthon, Brenz
und Bullinger für sich an. Die Genfer Prediger erwiderten, er habe
Melanchthon gar nicht verstanden, da dieser nur behaupte, daß
man die Erwählung Gottes nicht betrachten dürfe mit Neugier und
Verwegenheit, um in seinen ewigen Rat einzudringen. Ebenso
wußten sie sich mit Brenz und Bullinger einig. Namentlich von
letzterem heißt es : „Meister Hieronymus tut Bullinger großes Un-
recht, denn zu Rom. 9 sagt er ausdrücklich, daß Gott habe zeigen
wollen, daß es in seiner Macht sei, zu töten und lebendig zu machen,
zu erwählen und zu verwerfen nach seinem Vorsatz und seiner
freien Wahl." „Die Prediger berufen sich nicht auf zwei oder drei,
sondern auf alle, soviele ihrer sind, deren sich Gott bedient hat,
unserer Zeit das Evangelium wiederzugeben."8 Man war ohne
weiteres überzeugt, daß hier eine gemeinsame Wahrheitserkenntnis
des Gesamtprotestantismus vorliege. Daher begriff Calvin gar
nicht, daß die Gutachten von Basel und Zürich sich nicht unum-
wunden gegen Bolsec äußerten. Dazu kam freilich die freundliche
1) CR. XIV. p. 289.
2) C. R. XIV. p. 302.
3) C. R. VIII. p. 163 ff.
80 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Beurteilung der Person Bolsecs seitens der Züricher, um Calvins
Zorn zu erwecken. Daß er von Bullinger gemeinsam mit seinem
Gegner als sehr geliebter Bruder angeredet wurde, daß man ihm
zumutete, brüderlich auf Bolsec einzuwirken, mußte Calvin empören,
der Bolsec durchschaut hatte und für einen unruhigen Wirrkopf
und einen niedrigen Charakter hielt. Das spätere Leben Bolsecs,
der schließlich auch seinen Schutzherrn in Bern durch stetes Un-
ruhestiften unerträglich wurde, zur römischen Kirche zurückkehrte
und in schnöden Verleumdungen seinen Haß gegen Calvin und
Beza befriedigte, beweist, daß Calvin mit seiner Schätzung des
Mannes recht hatte.1
Die Hauptfrage ist die, ob Calvin sich getäuscht hat, als er als
selbstverständlich annahm, Bullinger werde seine Erwählungslehre
gut heißen. In der Grundlehre des Protestantismus von dem Un-
vermögen des natürlichen Menschen und der allein wirksamen
Gnade Gottes waren beide jedenfalls einig. Schon die Aussprachen
über das Abendmahl ließen uns erkennen, wie ängstlich Bullinger
bemüht war, alles auszuschließen, was der Alleinwirksamkeit Gottes
irgendwie Eintrag tun konnte. Den Standpunkt, den er als Jüng-
ling im Jahre 1526 gegenüber dem liberum arbitrium des Erasmus
eingenommen, hat er mit Bewußtsein nie verlassen. Damals hatte
er das Buch des Erasmus „ein nicht nur gottloses, sondern wahr-
haft lästerliches Buch" genannt, sophistisch durch und durch, und
erklärt : „Wenn es eine Vorsehung gibt, gibt es keinen freien
Willen, denn sonst wäre Vorsehung nicht Vorsehung. Wie sehr
seine gottlose Vorstellung vom freien Willen die göttliche Natur
und Kraft verleugnet, läßt sich gar nicht sagen." 2
Das wichtigste Aktenstück aus der uns hier beschäftigenden
Epoche ist Bullingers Traktat „De Providentia Dei eiusdemque
praedestinatione electione ac reprobatione, deque libero arbitrio et
1) Die Schilderung des Handels mit Bolsec durch Kampschnlte
a. a. O. ist deshalb einseitig und irreführend, weil Kampschulte an die
Lauterkeit der Person Bolsecs glaubt und in ihm einen frommen Mann
sieht. Dann gibt er sich zu wenig Rechenschaft von dem evangelischen
Glaubensinteresse, das Calvin zum unerbittlichen Feind jeder Einmengung
römischen Sauerteigs im die reformatorische Gnadenlehre machte. Zieht
man diese beiden Momente in Betracht, so kann man die von Kampschulte
getadelten Fehler Calvins zugeben ohne in den Fehler Kampschultes zu
verfallen, der bei Calvin nur die eine Seite seines Wesens sieht, die theo-
logische Rechthaberei und kirchenpolitische Motive.
2) Schweizer, „Zentraldogmen" I p. 139.
Von W. Kolfli.u.s
öl
quod Deus non sit autor peccati" für den Engländer Bartholomaeus
Traheron im März 1553.1 Traheron hatte am 10. September 1552
in Zürich angefragt, wie man dort über die Vorsehung Gottes
denke. „Bei uns nämlich glauben manche, daß ihr zu sehr den
Spuren Melanchthons folgt. Die meisten von uns und ich auch
halten die Meinung Calvins für klar und für der heiligen Schrift
durchaus gemäß." Und mit Beziehung auf die Schrift Calvins über
die Prädestination gegen Pighius — „Defensio sanae et orthodoxae
doctrinae de Servitute et liberatione humani arbitrii adversus calum-
nias Alb. Pighii Campensis", Genevae 1545 — hieß es bei Traheron:
„Nach unserer Meinung hat er die ganze Sache so behandelt, daß
wir bisher nichts Gelehrteres und Einleuchtenderes gesehen haben.
Wir hoffen sehr, daß ihr von seiner trefflichen und gelehrten Mei-
nung nicht abweicht." 2 Zur Kennzeichnung der damaligen An-
sicht Bullingers sei auf folgende Sätze seiner Antwort hingewiesen :
„Nach dem Fall ist Intellekt und Wille dem Menschen nicht ge-
nommen, so daß er in einen Stein oder ein Tier verwandelt wäre,
sondern der Intellekt ist verdunkelt worden, so daß er aus seiner
Kraft nichts göttliches erkennen kann, wie es erkannt werden muß.
Der freie Wille ist zu einem verknechteten Willen geworden, so
daß der Mensch nicht mehr bloß zum Sündigen geneigt ist, sondern
verkauft und verhaftet unter die Sünde. In dieser Beziehung hat er
keinen freien Willen. Auf der anderen Seite hat er einen freien
Willen. Denn der Mensch vollbringt die Sünde nicht gezwungen,
sondern freiwillig." „Ferner, der Wiedergeborene hat freien Willen,
nur nicht aus natürlicher Kraft, sondern aus der Kraft der Gnade
Gottes. Denn durch Gottes Geist kann er das Gute erkennen, er-
wählen und tun." „Dabei darf nicht geleugnet werden, daß dem
freien Willen auch bei den Wiedergeborenen Schwachheit anhaftet.
Da in uns die Sünde wohnt und gegen den Geist kämpft, führen
die Freien nicht frei und ungehindert aus, was sie nach ihrer Ein-
sicht tun sollen, und wenn sie es tun, geschieht es nicht so, wie
es sollte." „Die ewige Erwählung Gottes ist der Entschluß, durch
den er die einen zum Leben erwählt hat, die andern zum Verderben.
Ursache der Erwählung oder Prädestination ist einzig der gute und
gerechte Wille Gottes, der die Erwählten rettet ohne ihr Verdienst,
aber die Verworfenen verdammt und verwirft, wie sie es verdienen."
„Den Glauben halten wir nicht für die Ursache der Erwählung, als
1) C. R. XIV. p. 480.
2) C. R. XIV. p. 359-
Calvinstudien.
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
ob Gott uns erwählt wegen des Glaubens, den er in uns vorher-
gesehen hat, sondern Erwählung und Rettung leiten wir aus der
Gnade Gottes her, dessen Geschenk auch der Glaube an Christus
ist. Denn Paulus sagt nicht, Gott habe uns erwählt, weil wir
künftig Glaubende waren, sondern damit wir glaubten." „Wir ver-
werfen die falsche Behauptung, jeder könne dem ihm gepredigten
Evangelium in Kraft des freien Willens glauben oder nicht. Wir
sagen : alle Glaubenden sind Erwählte und alle Glaubenden haben
von Gott den Glauben empfangen. Wir sagen sodann : die Un-
gläubigen sind Verworfene, und da nicht alle glauben, sind nicht
alle erwählt. Daß aber etliche nicht glauben und verloren gehen,
begründen wir nicht mit der Prädestination Gottes, sondern damit,
daß der Mensch selbst die Gnade Gottes zurückstößt und die himm-
lischen Gaben nicht annimmt." „Gibt es denn aber nicht doch im
Menschen eine Fähigkeit, das Wort Gottes anzunehmen oder abzu-
weisen? In jedem Falle wohnt in ihm eine angeborene Verderbnis,
die Gottes Wort verwirft ; nimmt er es aber auf, so liegt das an der
erleuchtenden Gnade. Wenn nun einige lehren, Gott habe gewisse
Menschen so von sich gestoßen, daß er sie auch jetzt gegen die
Wahrheit verhärte und nur einigen wenigen jenes Geschenk des
Glaubens verleihe, so schließe ich mich ihnen nicht an. Vielmehr
betonen wir jene universalen Verheißungen und heißen alle hoffen."
„Diese universalen Verheißungen sind in der Gemeinde zu betonen,
damit wir nicht durch spitzfindige Reden über die verborgenen
Urteile Gottes einen Stachel in die Herzen werfen, den wir dann
nicht mehr herausziehen können, woraus dann Haß gegen Gott
folgt, Verzweiflung und Lästerung, als ob Gott alle zu sich rufe,
aber seine Gaben doch nur wenigen gebe und die andern täusche."
Über seine Stellung zu Calvins Ausprägung dieses Lehrstücks
äußerte Bullinger am Schluß seines Traktats : „Wenn unser ver-
ehrter Bruder Calvin auf alle Weise die Reinheit der göttlichen
Gnade zu wahren sucht, wer möchte seinen heiligen Vorsatz tadeln ?
Wenn er den Seinen sagt, Gott habe nicht nur den Fall des ersten
Menschen und das Elend seiner Nachkommen vorausgesehen, son-
dern auch durch seinen Willen bestimmt ; oder : die, die er zum
Verderben geschaffen hat, beraube Gott auch, damit sie an ihr
Ziel gelangen, der Fähigkeit, das Wort zu hören; er verblende sie
noch mehr durch die Predigt, so sind das Ausführungen, die die
Alten nie anerkannt hätten. Ich wenigstens würde nicht wagen,
so zu reden, da ich glaube, daß die Reinheit der göttlichen Gnade
Von W. Kolfhaus. 83
auch verteidigt werden kann, ohne daß wir sagen : Gott schaffe den
Menschen zum Verderben und bringe ihn dahin durch Verhärtung
oder Verblendung. Wer aber wollte die Tatsache leugnen, daß
Calvin mit großen Gaben von Gott geschmückt ist?''
Bullinger hat diese Überzeugung von der Erwählung nicht
erst gewonnen in den wenigen Monaten zwischen dem Üolsecschen
Handel und der Abfassung seines Traktats, er spricht nur aus, was
er stets geglaubt hat. Die Genfer konnten also mit gutem Gewissen
Bolsec das Recht abstreiten, sich auf Bullinger zu berufen. In den
Hauptpunkten gerade waren Bolsec und Bullinger gegenteiliger
Ansicht: in der Frage nach dem freien Willen und ob die Erwäh-
lung durch den Glauben oder der Glaube durch die Erwählung be-
dingt sei. Was Bullinger von Calvin trennte, war im Fall Bolsec
speziell das günstige Vorurteil für dessen Persönlichkeit und vor
allem das seelsorgerliche Bedenken : die Erwählungslehre gereiche
nicht zur Erbauung. Er glaubte, ohne Calvins ihm hart erscheinenden
Ausdrücke auszukommen, und fürchtete den Streit, den das Ein-
dringen in Gottes Ratschlüsse zur Folge haben möchte. Er wider-
sprach Calvin in der Sache selbst nicht, sondern lehnte nur dessen
Äußerungen und Schlüsse ab, die über die Einfalt der Bibel hinaus-
griffen. Aus dieser Sorge heraus vor unbiblischen Redewendungen
warnte er noch vier Jahre später Calvin in dem Streit gegen den
Lutheraner Westphal, zu behaupten, daß Adam so geschaffen sei,
daß es ihm unmöglich war, nicht zu sündigen oder wer sündige, tue
es nach der Bestimmung Gottes. „Mir hat am besten gefallen, was
Du seinerzeit gegen die Libertiner schriebst, daß Gott nicht Ur-
heber der Sünde ist, und daß die evangelische Predigt und stoische
Notwendigkeit unvereinbar miteinander sind.''1 Ein wesentlicher
Unterschied ist nur darin zu erblicken, daß Bullinger eine Prädesti-
nation des Sündenfalls nicht annahm, also infralapsarisch lehrte.
Aber dieser Unterschied wurde auf Seiten Calvins und seiner
Freunde so wenig als trennend empfunden, daß Petrus Martyr in
Straßburg, Bullingers späterer Kollege, ein entschiedener Anhänger
der absoluten Prädestination, ihm schrieb : „Deine Schrift über die
Vorsehung habe ich mit großer Freude gelesen ; wie ich Dich
kenne, besorge ich nicht, daß Du über diese Lehre ein Zerwürfnis
veranlassen werdest, sondern ich weiß, daß Dein Ansehen ein
solches beseitigen würde, wenn andere es herbeiführen wollten." -
1) C. R. XV. p. 852. Calvin an Farcl C. R. XV. p. 860.
2) Schweizer, „Zentraldogmen" I p. 275.
6'
Qa Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Die Grundlagen des Bullinger sehen Denkens waren derartig, daß
er ohne Bruch mit seiner bisherigen Stellung fortschreiten konnte
zur klaren Bezeugung der absoluten, obwohl infralapsarisch ge-
dachten Prädestination in dem Züricher Gutachten für Zanchius
am 29. Dezember 1561 und in der zweiten Helvetischen Konfession
von 1564. Davon, daß er mit Bewußtsein Melanchthons Einbiegen
in die römisch-tridentinische Lehre mitgemacht habe, wie nach
Traherons Brief einige englische Freunde fürchteten, findet sich
bei ihm keine Spur. Ihm war die volle Zustimmung zu Calvins
Darlegungen damals noch nicht möglich, weil ihm dieser nicht
deutlich genug Gott gegen den Vorwurf zu schützen schien, der
Urheber der Sünde zu sein, und weil bei ihm praktisch seelsorger-
liche Erwägungen die Konsequenz des Denkens nach der Weise
Calvins kreuzten. Das dogmatische Fundament, auf dem sich die
Prädestinationslehre aufbaut, war bei beiden dasselbe.
VII.
Bullinger in dem Prozeß gegen Servet.
Weil Calvin mit Recht überzeugt war, daß Bullinger auf seine
und nicht auf Bolsecs Seite gehöre, konnte wohl sein Zorn über
die laue Unterstützung durch die Züricher aufflammen, aber das
Bruderband zerriß nicht, ihr gemeinsames Wirken wurde durch die
momentane Störung nicht gehindert. Beide beeilten sich, durch
offene Aussprache jedes Mißtrauen aus dem Wege zu räumen.
Bullinger hatte nach dem Bolsecschen Streit einige Monate nicht
geschrieben, weil er schwer erkrankt war. Sogleich nach seiner
Genesung teilte er dem Freunde den Grund seines Schweigens mit
und versicherte ihn seiner Treue. Ihm war nämlich erzählt wor-
den, daß Calvin an seiner Freundschaft zweifle, und er bemerkte
ihm darüber: „Wenn einer berichtet hat, daß Bullinger Calvins
Feind geworden sei, so hat er falsche Gerüchte verbreitet. Ob-
gleich ich in der Sache Bolsec nicht in allem Deinen Wünschen
entsprochen habe, bin ich deswegen doch nicht Dein Feind. Ich
schrieb damals, warum wir uns Dir nicht ohne weiteres an-
schlössen." : In seiner Antwort bezeugte ihm Calvin, daß er sich
durch niemanden irre machen lasse in seinem Vertrauen zu Bullinger
und den Zürichern, mit Ausnahme Biblianders, von dem er gehört
habe, daß er gegen seine Prädestinationslehre ein Buch schreiben
1) C. R. XIV. p. 510.
Von W. lvolfliaus. 8 '
wolle. ' Bullinger dankte alsbald für die freundlichen Erklärungen
und nahm Bibliandcr in Schutz : „Ich glaube nicht, daß unser Pro-
fessor Bibliander, ohne Zweifel ein frommer und gelehrter Mann,
! >ein Feind ist, obwohl ihm nicht alle Deine Ansichten zusagen.
Mir gefällt bei den Alten auch nicht alles, ohne daß ich sie deshalb
sofort für Feinde halte. Du schreibst mir ja selbst, daß wir Deine
Erwartung im Streit mit Bolsec nicht erfüllt hätten, daß aber da-
durch das Band der Einheit und Liebe nicht zerschnitten sei. Auch
glaube ich nicht, daß unser Bibliander gegen Dich ein Buch mun-
den Händen hat." 2 Es waren die letzten Nachwehen des bösen
Handels, die sich in diesen Äußerungen bekunden. Bald drängte
sich eine wichtigere Sache in den Vordergrund und ließ das Frühere
in Vergessenheit geraten : der Prozeß gegen Michael
S e r v e t.
Schon längst hatte der Name Servet in den Schweizer Kirchen
einen üblen Klang.3 Da sandte am 20. August 1553 Calvin an Farel
die Nachricht, daß der Spanier auf sein Betreiben hin während der
Durchreise durch Genf gefangen genommen sei : „Ich hoffe auf
ein Todesurteil, doch wünsche ich nicht, daß die härteste Strafe
angewendet wird." Kaum war durch Viret und Beza die wichtige
Kunde nach Zürich gedrungen,4 als Bullinger unmittelbar nach
Empfang der Nachricht erwiderte : „Was wird der Genfer Rat mit
jenem Lästerer Servet beginnen? Wenn er klug ist und seine
Pflicht tut, tötet er ihn, damit alle Welt sieht, daß Genf die Ehre
Christi zu verteidigen wünscht." Calvin befand sich zu jener Zeit
im heftigsten Kampf gegen seine zahlreichen kirchlichen und poli-
tischen Gegner in Genf selbst. Er schilderte Bullinger seine da-
malige Stellung in der Stadt mit den bitteren, aber nicht über-
triebenen Worten : „So weit ist ihre Torheit und Feindschaft ge-
kommen, daß ihnen alles verdächtig ist, was wir nur reden. Würde
ich sagen, am Mittag sei es hell, so würden sie sofort zu zweifeln
anfangen." In Bern ging sogar das Gerücht, er habe sein Amt
1) Über Bibliander und seinen Kampf gegen die Prädestination, der
am 8. Februar 1560 mit seiner Entlassung aus dem Amt endete, cf. Schweizer,
„Zentraldogmen" I p. 276 fr.
2) C. R. XIV. p. 533-
3) Über die früheren Berührungen Calvins mit Servet cf. Stähelin
..Calvin" I p. 429 ff.
4) Beza an Bullinger C. R. XIV. p. 600. ,,Fast hätte ich etwas über-
sehen, das dich bei allem sonstigen Elend erfreuen wird", — nämlich, dal.l
Servet gefangen ist.
g5 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
niedergelegt. Haller erzählte Bullinger: „Der Zustand Genfs ist
fast hoffnungslos. Calvin kämpft mit aller Kraft und ist für die
Erhaltung der kirchlichen Einrichtungen zu sterben bereit. Was
den Vornehmen unerträglich ist, und weshalb auch die Unsrigen
Calvin wenig günstig sind, ist dies, daß er sich nach ihrer Meinung
zu viel herausnimmt. Auch unsere Franzosen — sc. Viret, Beza und
die Ihrigen — glauben, daß ohne dieselbe Disziplin die Kirche nicht
existieren könne. Aber den Unsrigen würde diese Disziplin noch
viel unerträglicher sein als den Genfern." x Daher war es noch
gar nicht sicher, ob nicht die Oppositionspartei den Fall Servet
zum Sturz der Reformation Calvins benutzen werde. Für Calvin
lag also außerordentlich viel daran, daß sich überall die Führer der
schweizerischen Reformation auf seine Seite stellten. Ob die vom
Genfer Rat nach Basel, Bern und Zürich geschickte Gesandtschaft,
die die Meinung der befreundeten Städte über Servet erfragen
sollte, auf Calvins Anregung beschlossen wurde, läßt sich nicht mit
Bestimmtheit sagen. Er selbst leugnete es, aber nach Lage der
Dinge mußte ihm dieser Schritt hochwillkommen sein.2
Die einlaufenden Antworten und die Privatschreiben der
führenden Männer in den verschiedenen Städten konnten seine
Stellung nur stärken. Sulzer aus Basel rief ihm ermunternd zu :
„Wir freuen uns, daß Servet an einem Ort festgehalten wird, von
wo er nicht so leicht entfliehen kann zum noch größeren Schaden
für die gesunde Lehre." Die Gedanken der Berner zeigte eine
Äußerung Hallers zu Bullinger : „Der Mensch ist ein Erzketzer und
verdient es, daß die Kirche von ihm befreit wird." 3 Ähnlich war
die Stimmung bei Wolfgang Muskulus, der an Bullinger schrieb :
„Die Genfer Kirche wird sehr angefochten von den Dienern Sa-
tans, daher müssen wir ihre treuen Prediger durch unablässige
Gebete vor dem Herrn unterstützen. Michael Servet, der vor
zwanzig Jahren schon in Straßburg sein Gift auszustreuen suchte,
ist neulich nach Genf gekommen, um aus dem Haß Vorteil zu
ziehen, mit dem die Vornehmen dort Calvin verfolgen. Der Herr
unterdrücke diesen Satan und bewahre die Kirchen in der Reinheit
des Glaubens." 4 Muskulus war sonst gegen die Anwendung der
Todesstrafe wegen Irrlehre. In dem nach Servets Tode anheben-
i) C. R. XIV. p. 624.
2) CR. XIV. P. 611 n. 5.
.5) C. R. XIV. p. 627.
4) C. R. XIV. p. 628.
Von W. Kolfhaus. 87
den Streit um das Recht und tue Pflicht der Obrigkeit, Ketzer zu
bestrafen, erklärte er Ambrosius Blaurer in Biel: „Mir gefällt es
besser, wenn man Häretiker geduldig und maßvoll behandelt, so
daß nach der Mahnung des Apostels der Buße Raum gegeben wird,
die Wahrheit zu erkennen und den Stricken des Teufels zu entfliehen."
Daß jedoch Servet verbrannt wurde, hatte auch die Billigung dieses
milden Mannes. Nur hätte Muskulus lieber gesehen, wenn die \ er
urteilung nicht wegen Irrlehre, sondern wegen Gotteslästerung er-
folgt wäre.1 In demselben Sinne urteilte der gesamte Freundes-
kreis Bullingers: der Arzt Gratarolus in Basel, Blaurer in Biel,
Philippus Gallitius in Chur usw. Nur Vcrgerius in Chur warnte,
Servet zu töten; es sei besser, ihn in schwerster Kerkerhaft fest-
zuhalten.-
Das Gutachten der Züricher Kirche und ebenso der übrigen
Schweizer Kirchen fiel so aus, wie die oben mitgeteilte Bemerkung
ihres Antistes erwarten ließ. Servet wurde für einen Erzketzer
erklärt, und der Genfer Rat aufgefordert, seine Pflicht zu tun: „Wir
halten dafür, daß ihr mit viel Eifer und Sorgfalt gegen ihn ver-
fahren müßt, besonders da unsere Kirchen auswärts den üblen Ruf
haben, ketzerisch zu sein und die Ketzerei zu begünstigen. Jetzt
hat die heilige Vorsehung Gottes Gelegenheit gegeben, euch und
uns von diesem falschen Verdacht zu reinigen, wenn ihr nämlich
sorgsam und wachsam verhütet, daß dieses ansteckende Gift weiter
durch Servet verbreitet werde, und wir zweifeln nicht, daß ihr dies
tun werdet." :i Privatim schrieb Bullinger noch an Calvin, daß
auch der Züricher Rat den Rat von Genf ernstlich ermahnt habe,
„dieser Pest Einhalt zu tun".4 Ihm wie seinen Freunden war es
selbstverständliche Pflicht der Obrigkeit, Servet hinrichten zu
lassen, und es war nur in seinem Sinn geredet, als Sulzer sich
dagegen aussprach, daß „man aus verkehrter Milde oder aus Haß
gegen die Prediger der Gottlosigkeit Spielraum gewähre".5
Diesmal war Calvin mit dem Verhalten seines Freundes zu-
frieden und stattete ihm seinen aufrichtigen Dank ab: „Weil die
Gottlosen wissen, daß ich reizbar bin, suchen sie mich auf alle
Weise zu reizen und meine Geduld zu ermüden. Obwohl der
1) C. R. XV. p. 46.
2) C. R. XIV. p. 635.
3) C. R. VIII. p. 555 «•
1) CR. XIV. p. 642.
5) CR. XIV. p. 644.
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Kampf für mich schwer war, haben sie es doch nicht fertig ge-
bracht, daß ich von meinem Wege abwich. Auch bin ich schon
gegen alle ihre Stiche abgehärtet. Denn der Herr hat mich hier
in kurzer Zeit so geübt, daß ich aus vielfacher Erfahrung gelernt
habe, wie vieles Christi Diener zu tragen haben. Derselbe, der
mich bis heute erhalten hat, wird mich auch, wie ich hoffe, in
Zukunft mit nicht geringerer Tapferkeit ausrüsten. Im Vertrauen
auf seine Hilfe werde ich darum den Posten, auf den er mich ge-
stellt hat, niemals freiwillig verlassen." „Wie sehr diese Kirche
euch für eure treue Mühe und beherzte Antwort verpflichtet ist,
kann ich nicht mit Worten aussprechen." 1
Am 27. Oktober 1553 lohten die Flammen auf dem Champel
und verzehrten den unglücklichen Mann, trotz Calvins Versuch,
die Art der Todesstrafe zu mildern.2
Dennoch ging kein fröhliches Aufatmen durch den Freundes-
kreis wie sonst wohl nach einem mit der Waffe des Glaubens
erfochtenen Sieg. Nicht als ob man nur im geringsten das Gefühl
eines Unrechts gehabt hätte. Aber es drängte sich doch allent-
halben die ernste Frage auf, ob einer evangelischen Obrigkeit diese
dem Papsttum entlehnte Widerlegung der Ketzer durch den Henker
wohl anstehe. Es war nicht nur der Basler Humanistenkreis unter
Führung Castellios, der das Vorgehen Calvins und des Genfer Rats
verurteilte. Noch während der Prozeß schwebte, hatte Sulzer im
Hinblick auf diese Basler an Bullinger geschrieben : „Ich weiß, daß
es nicht an Männern fehlen wird, die Calvins Forderung und die
Willfährigkeit des Rats stark mißbilligen werden". Auch von dem
Professor der Theologie Cellarius, genannt Borrhaus in Basel hieß
es, daß er gegen die Todesstrafe bei Ketzern und auch bei Servet
gewesen sei.3 Über die Empfindungen eines Vergerius und Mus-
kulus haben wir bereits berichtet. Auch Calvins treuer Freund
Nikolaus Zerkintes in Bern stand auf seiten derer, die gegen die
Todesstrafe bei Irrlehrern waren. Calvin hatte ihm seine Anfang
Februar 1554 veröffentlichte Rechtfertigung der Behandlung Ser-
vets, die „Defensio orthodoxae fidei de sacra trinitate", zu-
geschickt. Zerkintes dankte zwar, sprach aber doch seine Meinung
dahin aus, daß niemand wegen Irrlehre hingerichtet werden solle ;
1) C. R. XIV. p. 654.
2) C. R. XIV. p. 656.
3) C. R. XIV. p. 642 n. 2.
Von W. Kolfhaus. 89
gegen die Bestrafung Servets wolle er nichts sagen, nur hätte er
eine andere Todesart gewünscht. '
Weder Calvin noch Bullinger freilich wurden durch die Be-
denken dieser Männer angefochten, sie glaubten, nach göttlichem
und menschlichem Recht verfahren zu haben. Als Calvin seineu
Freund von der Absicht benachrichtigte, sein Buch über den
Prozeß Servets herauszugeben, ermunterte Bullinger ihn und bat
ihn, in der zu erwartenden Schrift auch den Beweis dafür zu
liefern, daß Gotteslästerer und alle, die dem Servet ähnlich sind,
mit Recht die schwerste Strafe erdulden müssen, und ähnlich einige
Tage nachher : „Sieh zu, daß Du treu und sorgsam allen Frommen
die Gestalt Servets zeigst, damit alle vor dieser Bestie einen
Schrecken empfangen." 2 Nur den Wunsch legte Bullinger Calvin
ans Herz, er möge die Basler Dissidenten schonend behandeln :
„Ich weiß wohl, daß dort einige unruhige oder gar verderbliche
Köpfe sind, aber man darf die Schuld weniger nicht alle ent-
gelten lassen. Auch Basel hat, wie Du weißt, viele fromme und
gelehrte Männer, die der Frömmigkeit und Dir von Herzen zu-
getan sind. Auch glaube ich nicht, daß die Verkehrten es ver-
dienen, durch Dich unsterblich zu werden." Ohne Wanken nahm
er die Partei seines heftig angegriffenen Freundes, in seiner Über-
zeugung bestärkt durch die Mitteilung des Andreas Hyperius in
Marburg, daß auch Melanchthon, mit dem Hyperius in Naumburg
im Mai 1554 zusammengetroffen war, das Schriftchen Calvins durch-
aus billige.3 Bullinger tröstete Calvin wegen der gegen ihn ge-
schleuderten Vorwürfe: „Ich weiß und höre zuweilen, daß einige
lieber sähen, Du hättest jene Frage nicht behandelt. Aber es gibt
auch andere, die Dir für Deine Mühe danken, und zu ihnen ge-
liören auch ich und die Diener dieser Kirche. Wir erkennen, daß
es notwendig war, die Frage jetzt zu behandeln. Möge Dich also
die unternommene Arbeit nicht gereuen. Ich weiß, daß Du keinen
grausamen Sinn hast und keine Grausamkeit billigst. Gewiß ist
auch hierin Maß zu halten ; aber wie man Servet, diesen Ausbund
von Ketzereien und verstockten Menschen, hätte schonen können,
sehe ich nicht." 4 Bei allem Lob der Defensio versäumte Bullinger
jedoch nicht, Calvin zu sagen, was er an der Schrift zu tadeln
1) C. R. XV. p. 19.
2) CR. XIV. p. 68.^. 696.
3) C R. XV p. 234.
4) CR. XV p. 157.
9o
Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
fand: „Das Buch möchte vielen Einfältigeren, die der Wahrheit
und Dir innig anhängen, wenig gefallen wegen der Kürze und
ebenso wegen der Dunkelheit und Schwerfälligkeit der Behandlung.
Besonders in diesem Werk scheint mir Dein Stil nicht einfach
genug zu sein." Calvin gab den Tadel teilweise als berechtigt zu :
„Ich verhehle mir nicht, daß hier meine Schreibweise noch ge-
drängter ist als gewöhnlich."1 Für seine Person war Bullinger
zur Milde geneigt, aber grundsätzlich teilte er Calvins Überzeugung
vom Recht und der Pflicht der Obrigkeit, Irrlehrer auch mit dem
Schwert zu bestrafen, und berief sich wohl, z. B. in einem Brief
an Socinus vom Juli 1555 auf das Beispiel Augustins, der auch
endlich nach schweren Erfahrungen gelernt habe, daß es heilsam
sei, Ketzer mit Gewalt zu bändigen. Noch nach vielen Jahren,
am 21. August 1562, äußerte er sich im gleichen Sinne. Unter den
Gründen, weshalb er in Bern von einer Berufung des Basler Hu-
manisten Castellio auf eine Professur in Lausanne abriet, war auch
der, „daß Castellio keinen großen Gefallen daran gehabt habe, daß
man Servet in Genf mit Urteil und Recht als einen gottesläster-
lichen Verführer mit Feuer gestraft habe". 2
Übrigens war auch Calvin nur im äußersten Falle für An-
wendung der Todesstrafe. Es heißt darüber in seiner Defensio:
„Wenn wir die Obrigkeit Wächter und Beschützer der Religion
sein lassen, meinen wir nicht, ihr das Schwert zu schärfen, so daß
sie jeden Irrtum strafen und sogleich Blut vergießen dürfe. Nur
wo die Grundlagen der Religion zerstört und schreckliche Läste-
rungen gegen Gott ausgestoßen werden, wo durch gottlose und
verderbliche Lehren die Seelen verloren gehen und öffentlich der
Abfall von Gott und der reinen Lehre ins Werk gesetzt wird, muß
man zu jenem äußersten Mittel greifen, damit das tödliche Gift
nicht weiter schleiche.3
VIII.
Bullinger während der Kämpfe Genfs mit Bern.
Unersetzlich wurde für Calvin die Freundschaft Bullingers in
seinem Ringen um die Durchführung der Reformation in Genf
und in dem damit vielfach zusammenhängenden heftigen politischen
1) C. R. XV. p. 89. 123.
2) CR. XIX. p. 532.
3) CR. VIII. P. 477.
Von W. Kolfhaus. ' | I
Streit mit Bern. Zwar hatte Servet geendet. Aber die altgenfe-
rische Partei unter Führung von Phil. Berthelier, Perrin, Vandel,
Sept war entschlossen, sich der .Calvinischen Kirchenzucht nicht
zu beugen und Genf von dem verhaßten Franzosen zu befreien.
In anderem Zusammenhang haben wir bereits über den Streit
um das kirchliche Exkommunikationsrecht berichtet, in dem Zürich
den Bestrebungen des Reformators durch sein trotz der eignen
abweichenden Praxis ihm günstiges Gutachten zur Hilfe kam. Im
Anfang des Jahres 1555 war es endlich gelungen, die förmliche
Anerkennung dieses Rechtes nach langen Verhandlungen im
Kleinen und Großen Rat durchzusetzen und der Überzeugung
öffentliche Anerkennung zu verschaffen, daß die bürgerliche Obrig-
keit ebensowenig in die Verwaltung des Worts und der Sakramente
einzugreifen habe, wie die Diener der Kirche in die weltliche \ er-
waltung und Gerichtsbarkeit. Wie die Geistlichkeit selbst der
bürgerlichen Gewalt unterworfen sei, so hätten auch die Großen
der Welt unter das Wort und die Herrschaft Jesu Christi sich zu
beugen. „Endlich, schrieb Calvin an Bullinger, ist uns nach langen
Kämpfen das Exkommunikationsrecht bestätigt worden."
Dazu kam, um den Zorn der durch diesen Sieg Calvins er-
regten Gegner erst recht zu erwecken, der Sieg seiner Freunde bei
den allgemeinen Wahlen im Februar 1555. Den äußeren Anlaß
zum Widerstand gegen die siegreiche Partei boten die zahlreichen
Verleihungen des Bürgerrechts an die um des Glaubens willen aus
Frankreich und Italien nach Genf Geflüchteten, gegen die sich
längst der Groll der altgenferischen Patrioten als gegen die sicher-
sten Stützen des Systems Calvins gerichtet hatte, und auf die der
Reformator als auf das neue Genf vor allem seine Hoffnung baute.
Zu Tausenden waren die Fremden vor der Verfolgung in die Stadt
geflohen und hatten dort Aufenthalts- oder gar Bürgerrecht er-
langt, eine auserwählte Schar, nicht nur wegen ihrer bewährten
Gesinnung, sondern auch ausgezeichnet durch vornehme Geburt,
Bildung und Reichtum. Wir finden unter ihnen namhafte Gelehrte
wie die Budes und Colladons, hervorragende Edelleute wie die
Herren von Candolle und Trembley, hochgestellte Beamte wie <\vn
königlichen Lieutenant und Maire von Noyon Laurent von Nor-
mandie, vor allem Calvins vertrautesten Helfer in der italienischen
Flüchtlingsgemeinde, Galeazzo Caracciolo, Marquis de Vico, der
Calvin einen Ersatz bot für den Herrn von Falais und Breda, als
Q2 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
dieser auf Bolsces Seite trat, für Castellio Sympathien zeigte und
damit die Freundschaft Calvins verlor.1
Am 16. Mai 1555 brach der Aufstand gegen den Rat los, wurde
aber noch in derselben Nacht durch den der Mehrheit des Volks
sicheren Rat niedergeschlagen. Die Führer der Bewegung wurden
eingekerkert und zum Tode verurteilt oder flohen auf das Berner
Gebiet und wurden von der ohnehin gegen Calvin erbitterten
Schutzherrin Genfs willig aufgenommen. Ihretwegen nun ent- .
brannte zwischen den beiden Städten der heftigste Kampf, weil
Bern sich nicht damit begnügte, die Verbannten, an ihrer Spitze
Perrin und Vandel, der Milde ihrer Vaterstadt zu empfehlen, son-
dern ihre Wiederaufnahme forderte, von sich aus eine Unter-
suchung der Angelegenheit einleitete und selbst dann noch für die
Verbannten eintrat, als diese zu gewöhnlichen Straßenräubern
herabsanken, die bis vor die Tore Genfs ihre Plünderungen aus-
dehnten. Sogar das zwischen Bern und Genf bestehende Burg-
recht ließ Bern nach Ablauf des Vertrags verfallen, unbekümmert
um die schutzlose Lage, in die Genf dadurch gegenüber den
Herrschern von Frankreich und Savoyen geriet,2 und band die
Erneuerung des Vertrags an Forderungen, die die Freiheit Genfs
ungebührlich einschränkten und um der Würde des Staates willen
zurückgewiesen werden mußten.
Welchen Anteil hatte Bullinger an diesen Nöten, Leiden und
schließlichen Siegen seines Freundes? Über die Zustände in Genf
wurde er sowohl durch Haller und Muskulus in Bern wie durch
Calvin stetig auf dem Laufenden erhalten und sein Rat und seine
Vermittlung erbeten. So berichtete ihm Calvin am 25. Februar
1554 die Beilegung des Streites, der wegen der Ausschließung
Bertheliers vom Abendmahl getobt hatte und durch die uner-
wartete, unbeugsame Tapferkeit Calvins zu einem vorläufigen,
günstigen Ende gelangt war, ohne jedoch schon prinzipiell das
Recht des Konsistoriums sicher zu stellen. „Man hat wohl Frieden
geschlossen, aber die gesetzliche Ordnung, die einzige Bürgschaft
des Friedens, wurde hintangestellt. Vor den Rat gerufen erklärte
ich, meinerseits allen zu verzeihen, die aufrichtig bereuten, aber
ich sei nur ein einzelner aus dem Konsistorium und werde hundert-
1) Über den Bruch mit de Falais cf. Reformierte Kirchenzeitung 1909
p. 124 ,, Calvins Freundschaft".
2) Kampschulte, .Joh. Calvin usw." II p. 247 ff., 258 ff. Stähelin,
. Joh. Calvin" I p. 457 ff.
Von W. Kolfhaus. 93
mal lieber sterben, als mir etwas anzumaßen, das gemeinsame Sache
der Kirche sei. Satan wünscht nichts mehr, als dal» die Dinge in
der Schwebe bleiben und dadurch Gelegenheit geschaffen wird,
später wieder Unruhen zu erregen. Allein wir sind entschlossen,
vorzubeugen. Vielleicht werden die Feinde sich nicht mehr mit
derselben Gewalt erheben wie früher, aber zum Kampfe werden
wir bald wieder gezwungen sein." 1 Ähnlich schilderte er die
Situation einige Wochen später: Der Zustand der Stadt sei ruhig,
so weit das bei den noch unklaren Verhältnissen möglich sei, und
er versicherte, daß die persönlichen sehr schweren Beleidigungen
von ihm den Gegnern nicht nachgetragen würden, aber „von einer
Besserung ist auf jener Seite noch nichts zu bemerken." 2 Schärfer
schienen sich die Dinge schon zugespitzt zu haben im September
d. Js. „Infolge der Lässigkeit der Unsrigen dürfen die Gottlosen
frech und ungestraft höhnen. Dabei werde ich von unsern Nach-
barn — sc. den Bernern — mehr als grausam behandelt. Denn
im Berner Gebiet verkündigen einige Prediger, ich sei ein schlim-
merer Häretiker als alle Papisten. Je unverschämter einer gegen
mich wütet, desto mehr Gunst und Schutz erwirbt er. Da ich
genugsam erfahren habe, daß von unsern Brüdern nichts zu hoffen
ist, bleibe ich still und stumm." Wie lebhaft Bullinger an den
Klagen seines Genossen teilnahm, zeigt die Eile, mit der er sich
sofort bei Haller erkundigte, ob Calvin Grund zu seiner Be-
schwerde über die Berner habe. Er erhielt von Haller die be-
ruhigende Mitteilung, daß ihm von den Bernern niemand bekannt
sei, der Calvin der Irrlehre anklage. „Er ist zwar manchem von
uns ziemlich verhaßt, weil er ihnen zu vielgeschäftig erscheint.
Aber soviel an uns liegt, bemühen wir uns, ihre Rauheit zu mildern,
und lehren sie, gegen so große Männer mehr Ehrerbietung zu
haben." 3
So harmlos allerdings, wie Hauer es darstellte, erschien flcn
Genfern die Angelegenheit nicht. Alle Genfer Prediger reichten
dem Berner Rate eine feierliche Beschwerde ein wegen der ihnen
zugefügten Beleidigungen und verlangten, daß er gegen Bolsec
und Zebedaeus einschreite, die als die Haupttriebfedern angesehen
wurden. Auch an Bullinger wandte sich Calvin mit der Bitte, auf
Haller einzuwirken, daß er dem Haß der Gegner steuere. Haller
i) C. R. XV. p. 39-
2) C. R. XV. p. 93.
3) C. R. XV. p. 232, 238.
Q/l Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
hätte gern die Streitigkeiten beigelegt, richtete auch an Zebedaeus
die Mahnung zum Frieden, konnte aber des persönlichen Hasses
der Berner Magnaten und einzelner Prediger nicht Meister werden,
die in Calvin den Hauptvertreter der gegen Berns Herrschsucht
sich richtenden Genfer Politik sahen, und fragte wieder in Zürich
um Rat.1 Wohl erließen die Herren von Bern ein Rundschreiben
an die Prediger der französischen Klassen ihres Gebiets mit dem
Befehl, sich solcher Taten und Worte zu enthalten, die die Klagen
Genfs hervorgerufen hätten, und bezeugten auch dem Rat zu Genf
ihren Wunsch, den Frieden zu bewahren;2 aber die Hoffnung, die
Haller Bullinger aussprach, daß jetzt Ruhe eintreten werde „in
jenem Afrika", wie er den Genfer Kreis nannte, erfüllte sich noch
lange nicht. Weder die Genfer Prediger waren mit dem lahmen
Bescheid der Berner Regierung zufrieden und wurden auch nicht
durch eine freundliche Zuschrift Hallers beruhigt, noch schwiegen
die Feinde Calvins in Bern. Ja Bolsec, sein erbittertster Gegner,
dessen Ausweisung aus dem Berner Gebiet wegen seiner Schmäh-
ungen Calvins schon beschlossen war, erlangte die Erlaubnis zu
weiterem Aufenthalt, und der bekümmerte Haller ahnte neue,
schlimmere Stürme. Obschon Haller dem Rat ein für Bolsec sehr
ungünstiges Gutachten über den Handel zwischen diesem und
Calvin abgab,3 erließ der Rat das die Genfer so beleidigende Edikt,
daß niemand aus den Gemeinden seines Gebiets sich künftig zur
Abendmahlsfeier nach Genf begeben dürfe. Tiefverletzt klagte
Calvin Bullinger sein Leid : 4 In Genf selbst sei jetzt nach gesetz-
licher Anerkennung des Exkommunikationsrechts Ruhe eingekehrt,
die neugewählten Syndiks seien nach seinem Wunsch, aber ,, siehe
da, plötzlich erhebt sich aus unserer Nachbarschaft ein schwererer
Krieg. Die mich einen Häretiker gescholten, hat der Rat frei ge-
sprochen und ist gegen mich und diese Kirche mit noch größerer
Gewaltsamkeit aufgetreten. Wir, die wir so herbe Unbill erlitten,
werden angeklagt. Unser Rat wird gebeten, uns streng zurecht-
zuweisen". „Inzwischen verbieten sie ihren Untertanen durch
öffentliche Bekanntmachung, bei uns das Abendmahl zu empfangen."
Durch brüderliche Zuspräche suchte Bullinger den verärgerten und
durch den Vorwurf der Häresie in seiner und seiner Kirche Ehre
i) CR. XV. p. 267, 300.
2) C. R. XV. p. 311—313-
3) C. R. XV. p. 397-
4) C. R. XV. p. 449.
Von W. Kolfhaus. 95
tief gekränkten Mann aufzurichten, da er keine Hilfe mit der Tat
zu leisten imstande war. „Deinen mir so erwünschten Brief habe
ich mit groüer Betrübnis gelesen und fange nicht erst jetzt an,
bekümmert zu sein. Wohlan, mein teurer Bruder, laß uns geduldig
die Lasten tragen, die der Herr auferlegt hat. Wie ich höre, bin
auch ich von einigen mir unbekannten falschen Brüdern in Bern
verleumdet worden. Ich befehle das alles dem Herrn, seiner Gnade
gewiß. Ich ermahne auch Dich, ruhigen Herzens diese Anfech-
tungen zu dulden, Du weißt, was unserem Erlöser von seinem Volk
widerfuhr, und daß der Apostel sich über die Treulosigkeit falscher
Brüder heftiger beklagte als über das Unrecht der offenen Feinde.
Durch Ausharren und Geduld müssen wir siegen." „Die Wider-
sacher stürzen nicht selten unter ihrer eigenen Last, durch un^
gestüme Bekämpfung wird ihnen sehr oft geholfen. Wir müssen
an das Wort unseres Heilandes denken: siehe ich sende euch
mitten unter die WTölfe, seid klug wie die Schlangen und ohne
Falsch wie die Tauben. Laß uns fleißig beten und unerschrocken
auf dem Posten stehen, der Herr wird mit uns sein."1
Ebenso ergebnislos wie die schriftlichen Beschwerden des
Genfer Rats und Predigerkollegiums endete eine mündliche Ver-
handlung Calvins mit seinen Gegnern in Bern Ende März 1555.
Bolsec wurde zwar für immer aus dem Berner Gebiet verbannt, aber
über das Resultat der ganzen Verhandlung mußte Haller Bullinger
mitteilen: „Also stat die Sach übel und ist Calvinus je uszbutzt,
so ist er hie uszgfäget" ; „ich fürchte, daß noch Schlimmeres folgen
wird. Was uns angeht, — sc. Haller und die Kollegen — so haben
wir Calvin und die Seinigen freundlich aufgenommen, so daß er in
gutem Frieden von uns schied und wenigstens diesen einen Trost
mit sich nahm. Wenn Du einen Rat hast, teile ihn uns bitte
mit." - Kein Wunder, daß der „so uszgfäget" Calvin sich in
heftigem Zorn bei Bullinger beschwerte über die ihm durch den
Berner Rat zugefügte Behandlung. Den Berner Amtsbrüdern gab
er das Zeugnis, daß sie redlich ihre Pflicht erfüllt hätten und an
dem traurigen Ausgang keine Schuld trügen. Nun solle Bullinger
sich selbst ins Mittel legen und für die verletzte Ehre Calvins
eintreten.3
Während der persönliche Hader zwischen Calvin und den
1) C. R. XV. p. 471
2) CR. XV. p. 564
3) C. R. XV. p. 572.
q() Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Berner Gegnern noch seine Wellen warf, hatte sich das Schicksal
der ihm feindlichen Partei in Genf entschieden. Der in der Nacht
vom 15. auf den 16. Mai 1555 ausgebrochene Aufstand, schlecht
organisiert, von keiner Begeisterung getragen, scheiterte kläglich.
Die unter Berns Schutz geflüchteten Häupter der Verschwörung
wurden ein neues Element der Zwietracht zwischen den Schwester-
städten, und der Befehl Berns am 31. Mai, die Verurteilten wieder
aufzunehmen, ließ die Flammen des Streites heller auflodern als
je zuvor. Haller mochte ahnen, welch' ein Brand entzündet wor-
den war. Sofort gab er Bullinger über das Geschehene Nachricht.
Auch v( n Calvins Hand langte wenige Tage nachher eine authen-
tische Darstellung des Aufruhrs in Zürich an, die Bullinger mit
herzlichem Glückwunsch zu der überwundenen Gefahr und der
Bitte erwiderte, ihm den Verlauf der ganzen Angelegenheit noch
ausführlicher zu erzählen. Calvin erfüllte den Wunsch um so
bereitwilliger, weil es, wie er schrieb, sehr in ihrem Interesse liege,
daß die Sache in Zürich und bei den Nachbarn wahrheitsgetreu be-
kannt werde, daher möge Bullinger den Bericht auch seinem Rat
mitteilen sowie den Dienern der Kirche zu Schaffhausen, um allen
falschen Gerüchten von vornherein entgegenzutreten. Der Mah-
nung Bullingers, die Geduld zu bewahren, erwiderte er, daß er alle
ihm widerfahrenen Beleidigungen sanftmütig getragen habe, ohne
seine Feinde beschwichtigen zu können.1
Das strenge Gericht, das die Genfer Obrigkeit gegen die Em-
pörer und ihre Parteigenossen übte, und die entschiedene Ablehnung
der Berner Forderungen erbitterten dort noch mehr, und Haller
klagte Bullinger : „Calvin ist bei uns sehr verhaßt. Briefe von ihm
an Freunde, die von ihnen entweder unvorsichtig aufbewahrt wur-
den und gestohlen sind, oder bevor sie die Adressaten erreichten,
aufgefangen wurden, haben den Haß noch vermehrt. Unsere Ver-
teidigung Calvins hilft nichts. Calvin und Farel glauben, wir täten
zu wenig. Aber was sollen wir angesichts des wilden Meeres von
Unruhen und Mühen anderes tun als fest beim Steuerruder bleiben,
damit wir doch das Schiff unverletzt bewahren, wenn wir die Fluten
nicht stillen können !" - Es kam soweit, daß Haller nur noch selten
wagte, an Calvin zu schreiben, um sich keinem falschen Verdacht
auszusetzen. Er erzählte Bullinger, daß in Bern Calvin als Haupt-
treiber in dem Verfahren gegen die Verschworenen gelte, und daß
1) C. R. XV. p. 676.
2) C. R. XV. p. 765.
Von W. Kolfhaus 97
man von ihm behaupte, er sei sogar bei der peinlichen Befragung
der Verhafteten durch die Folter zugegen gewesen. Er selbst
glaube das freilich nicht.1
Bullinger schaute dem immer heißer entbrannten Streit eine
Zeitlang mit schweigender Sorge zu. Er fürchtete nicht nur für die
persönliche Stellung Calvins, auch der innere Friede der Eid-
genossenschaft war bedroht ; auswärtige Verwicklungen, z. B. mit
Frankreich standen manchem Patrioten vor der Seele. Von Basel
stellte Sulzer am 3. September 1555 Bullinger die Gefahr vor, daß
unter den gegenwärtigen Umständen der Bund zwischen Genf und
Bern sich lösen möchte ; am 8. September legte ihm Muskulus die
Lage dar und beschwor ihn, auf Calvin besänftigend einzu-
wirken. „Ich halte es für nötig, Deine Klugheit anzurufen in der
Genfer Angelegenheit, die täglich schlimmer wird, so daß wir
fürchten müssen, es werde aus diesem Streit der beiden Städte ein
Brand entstehen, zu dessen Unterdrückung ihr und die übrigen
Nachbarn mit aller Kraft beitragen solltet. Der Haß gegen den
Namen unseres im Herrn geliebten Bruders Calvin wächst durch
die Böswilligkeit einiger so, daß ich besorge, ihm werde bei dem
Ausbruch eines Streites alle Schuld zugeschoben werden. Daher
muß er nach meiner Meinung ermahnt werden, mit allem Eifer zu
verhüten, daß unsere beiden Städte voneinander getrennt werden.
Ich bin gewiß, wenn er die Seinigen veranlassen wollte, sich den
Bernern anzupassen, daß er dies leicht erreichen würde. Um so
mehr muß er darauf bedacht sein, als man ihm und seinen Franzosen
es zweifellos allein Schuld geben wird, wenn der Bund der Städte
sich löst." Noch dringender lautete die Klage des Muskulus eine
Woche später : ,, Wenn mich nicht alles täuscht, ist Calvin in diesen
Wirren nicht vorsichtig genug. Beherzte Männer müßten da-
zwischen treten, das wäre eure und der Basler Pflicht."2 Haller
befürchtete sogar, man werde bald zu offenen Angriffen kommen,
wenn nicht die Züricher und Basler durch eine gemeinsame Ge-
sandtschaft eingriffen oder wenigstens brieflich ihre Vermittlung
anböten. Noch bevor diese Aufforderung Hallers am 26. Septem-
ber nach Zürich gekommen war, hatte sich Bullinger der ihm von
Muskulus zugemuteten nicht leichten Aufgabe unterzogen. Am
28. September hielt er Calvin die Gerüchte vor, die über seine Grau-
samkeit gegen die Gefangenen und seine Feindschaft gegen Bern
1) CR. XV. p. 718.
2) C. R. XV. p. 753, 764.
Calvinstudien
q3 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
in Zürich verbreitet wurden. „Doch Du verstehst, daß ich nicht
meine, sondern die Gedanken anderer ausspreche; ich bin über-
zeugt, daß Du Dich in solche Dinge nicht einmischest, zu deren
Anführer und Urheber jene Dich machen. Wenn Dir befreundete
Männer der Regierung Dich nach Deiner Ansicht fragen, so weiß
ich, daß Du ihnen nur rätst, was der Frömmigkeit und dem Frieden
dient. Euer Bündnis mit Bern hat bisher Glück gebracht. Wunder-
bar ist die Genfer Kirche gewachsen. Sie war und ist bis heute das
Asyl der um Christi willen Geflüchteten. Von dort aus wird durch
ganz Frankreich die Botschaft von Jesus Christus verbreitet, von
andern Völkern nicht zu reden. Zwar kann Gottes Güte und Macht
auch ohne Bündnis eure Stadt erhalten. Doch da Gott nicht
immer auf wunderhafte Weise, sondern durch ordentliche Mittel
handelt und im allgemeinen menschliche Hilfsmittel nicht ver-
wirft, und da jener Bund euch bisher von Vorteil war, so meinen
verständige Männer, daß das Bündnis nicht zerrissen werden dürfe,
und daß ein Bruch nur zum Schaden der Frommen gereichen
könne. Die Sache beunruhigt mich sehr. Ich meine, in Dingen,
die nicht von besonderer Bedeutung sind, solle man den Bernern
etWas nachgeben, und andrerseits dürfen auch diese nicht zu hart
sein, damit der bisherige Bund verlängert werde, bis wir bessere
Zeiten erleben. Ich bitte und ermahne Dich, lieber Bruder, den
Deinigen zu raten, daß sie den Bernern den Willen tun ; denke dar-
auf, ich beschwöre Dich, was zum Frieden und zur Erbauung ge-
reicht." 1
Calvin wußte sehr wohl, welche Gerüchte über ihn rundgingen.
Ihn, den damals gerade schwer Erkrankten, mußten sie um so
schmerzlicher treffen. Nur gelegentlich hob er die Feder auf zur
Wahrung seiner angegriffenen Ehre. Wenn es möglich wäre,
schrieb er an Piperinus, würde er sich am liebsten alles schweigend
gefallen lassen. Piperinus hatte ihm — auch in dieser Kampfes-
zeit — Kenntnis gegeben von einem Gerücht, daß Calvin 4000
Kronen für sich gebraucht habe, die ihm von der Königin von Navarra
zur Verteilung an die Armen geschenkt wären, und ihm geraten,
derartige Verleumdungen öffentlich zurückzuweisen. Calvin
wünschte keine Verteidigung und tröstete sich : „Wenn ich im
Leben den Namen eines reichen Mannes tragen muß, so wird mich
doch endlich der Tod von diesem Vorwurf befreien."2 So wollte
1) C. R. XV. p. 797.
2) C. R. XV. p. 825.
Von W. Kolfhaus. 99
er auch bei Bullinger nicht alle bösen Gerüchte widerlegen, die über
ihn erzählt wurden. Nur über den Einfluß, den er nach den Ver-
leumdungen seiner Feinde auf den schwebenden Prozeß gegen Perrin
und Genossen und auf die Unterhandlungen über die Versöhnung mit
Bern ausüben sollte, suchte er Bullinger aufzuklären. Die Behaup-
tung, daß er der Tortur der Angeklagten beigewohnt oder ein '
ständnis von ihnen erpreßt habe, das sie nachher widerrufen bauen,
wies er weit von sich. Wohl sei er in das Gefängnis gegangen, aber
nur auf Bitten der Gefangenen selbst und mit behördlicher Erlaubnis.
Auch könne von einer grausamen Tortur keine Rede sein. Was die
Bundeserneuerung mit Bern betreffe, so stelle Genf keine uner-
hörten Forderungen, wolle sich aber auch nicht auf Gnade und Un-
gnade den Bernern preisgeben. Er für seine Person wisse wohl
den Nutzen des Bündnisses zu würdigen, und in Genf sei wohl-
bekannt, daß er treulich an dem Bund festhalte; er wünsche nur,
daß die Berner Brüder ebenso mäßigend auf die Ihrigen ein-
wirkten.1 In seinem Dankschreiben bezeugte ihm Bullinger, daß
er jetzt befriedigt sei und sich freue, die Wahrheit zu kennen, da-
mit er den Lügen entgegentreten könne. Er rief ihm zu: „Fahre
Du fort, auf Frieden und Eintracht zu dringen, dadurch wirst Du
Gott und allen Guten gefallen." Zugleich meldete er dem Freunde,
daß Zürich und Basel in vermittelndem Sinne nach Bern geschrieben
hätten, und riet ihm, den Genfer Rat zu veranlassen, die Geschichte
des Aufstandes so schnell und so kurz als möglich in deutscher
Sprache abzufassen und nach Zürich zu schicken, damit so die
Schritte Perrins und seiner Genossen durchkreuzt würden, die die
schweizerische Tagsatzung für sich gewinnen wollten. „Dies aber
sage ich Dir im Vertrauen als meinem besten Freunde, ohne daß
mich ein anderer dazu bewogen hat." 2
Inzwischen begann doch die Festigkeit Genfs und Calvins, mit
der sie allen Einschüchterungsversuchen Berns Trotz boten, lang-
sam Frucht zu tragen. Die Stimmung gegen Calvin in der Schweiz
schlug um zugunsten Genfs und seines Reformators. Schon am
18. Oktober 1555 hatte Sulzer erfreut an Bullinger geschrieben, daß
Calvins persönliche Ehrenhaftigkeit wieder mehr anerkannt werde,
und daß bei den Verständigeren in Bern eine friedlichere Stimmung
die Oberhand zu gewinnen scheine. Auch Haller ließ seinen väter-
lichen Freund wissen, er habe die Hoffnung, daß die Genfer Sache
1) C. R. XV. p. 829.
2) C. R. XV. p. 852.
IOO Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
sich zum Guten wende. Diese Hoffnung erfüllte sich damals zwar
noch nicht, es dauerte noch länger als zwei Jahre, ehe nach
mancherlei Zwischenfällen der Vertrag mit Genf unter liberalen
Bedingungen zustande kam. Aber Bern erkannte immer mehr,
daß es in seinem eigenen Interesse liege sowohl bezüglich seiner
auswärtigen Politik wie mit Rücksicht auf seine innerschweizerische
Stellung, den Bogen nicht zu straff zu spannen. Die angebotene
Vermittlung Zürichs lehnte es freilich zunächst stolz ab, da es
von sich aus ohne Vermittler mit Genf fertig werden wollte, mußte
es sich aber im folgenden Jahre, als nach Ablauf des alten Burg-
rechtvertrags offener Krieg auszubrechen drohte, doch gefallen
lassen, daß die Gesandten von Zürich, Basel und Schaffhausen in
Bern erschienen und zur Nachgiebigkeit mahnten. Alle Kräfte
strengte Bullinger an, beiden Teilen versöhnend, mildernd zuzu-
reden. Als im Januar 1556 die Berner abermals die Bitte Genfs
um Erneuerung der Freundschaft unerfüllt ließen, beauftragte der
Genfer Rat Calvin mit der Abfassung einer Geschichte der ver-
fahrenen Angelegenheit, um sie durch eine besondere Gesandtschaft
den übrigen befreundeten Kantonen zuzustellen. Bullinger reichte
selbst dem Züricher Bürgermeister Hans Haab ein Gutachten ein
zugunsten der bedrängten Stadt und versicherte Calvin, sein Rat
werde nicht ermüden, bis der Streit zu Ende gebracht sei. Ob-
gleich die Gesandten der Städte in Bern nicht erreichten, was sie
gewollt hatten, verlor er doch den Mut nicht und sprach auch Cal-
vin neuen Mut zu : „Die Gesandten haben uns nicht das mit-
gebracht, was wir alle erwarteten. Dennoch geben wir die Hoff-
nung nicht auf. Wir wollen den Herrn bitten, daß er diese Sache
führe. An den Unsrigen soll es nicht fehlen, was sie zur Ver-
söhnung tun können, werden sie leisten. Werde auch Du in Deinen
Bemühungen nicht müde, damit nicht die Deinigen im Zorn etwas
tun, was sie nachher reut." x Es bedurfte nicht erst der Angstrufe
eines Farel, Beza und schließlich auch Hallers, um Bullinger zu
immer wiederholten Bemühungen anzuspornen. Immer wieder er-
mahnte er Calvin zu Geduld und Hoffnung und half ihm mit prak-
tischen Ratschlägen, z. B. zur Vereitlung des Versuchs Perrins,
durch die eidgenössische Tagsatzung die Wiedereinführung in Genf
zu erzwingen. Sein großer Einfluß wirkte dazu mit, daß sich die
Sympathie der übrigen Kantone auf die Seite Genfs neigte, bis
1; CR. XVI. p. 65.
Von \V. Kolfhaus. IOI
er endlich die Genugtuung hatte, daß ihm Haller am 25. November
1557 berichten konnte: „Am vorigen Sonntag ist durch Gottes
Gnade das Bündnis mit Bern nicht nur für einige Jahre, sondern
für immer abgeschlossen worden."1
Bullinger war in dem langen Streit nicht vergebens der Mentor
seines feurigen, reizbaren Freundes gewesen. Er hatte ihn nicht
nur nach außen gedeckt mit dem Schild seines Ansehens, sondern
vor allem ihn von übereilten Schritten zurückgehalten und ihn auch
in den verzweifeltsten Situationen zu Geduld und verständigem Ein-
lenken bestimmt, ohne ihm zuzumuten, sein Ziel aufzugeben: die
Freiheit Genfs gegenüber Bern.
IX.
Calvin und Bullinger in der Verteidigung der reformierten
Abendmahlslehre gegen Westphal.
Gleichzeitig mit dem häuslichen kirchenpojitischen und poli-
tischen Streit der beiden Schwesterstädte war der alte theologische
Hader um die Abendmahlslehre in der protestantischen Welt wieder
erwacht. Hie Luther ! Hie Zwingli ! war abermals zum Feld-
geschrei geworden. Aber jetzt war es nicht mehr so, daß wie in dem
ersten Abendmahlsstreit mit Luther selbst die Führer der franzö-
sischen Reformation von den deutschen Schweizern mit Mißtrauen
betrachtet wurden; dank dem Consensus Tigurinns fand jetzt der
Angriff der Lutheraner die Reformierten geeinigt. Bullinger konnte
Calvin getrost die Verteidigung ihrer angefochtenen Lehre an-
vertrauen.
Veranlassung zu dem Streit, der übrigens für die Kultur- und
allgemeine Kirchengeschichte interessanter ist als für die Theo-
logie, gab der Hamburger Pastor Joachim Westphal durch seine
Schrift ,,Recta fides de coena Domini ex verbis apostoli Pauli et
evangelistarum" 1553, der schon 1552 die scharfe polemische
Schrift „Farrago confusanearum et inter se dissidentium opinionum
de coena Domini ex sacramentariorum libris congesta" voran-
gegangen war.2
1) CR. XVI. p. 711, 716. Über den Streit mit Bern besonders
Kampschulte. ,Joh. Calvin usw." II p. 294 ff.
2) Über Westphal und seinen Zusammenstoß mit den englischen
Flüchtlingen unter Lasky und Micronius siehe Dalton, .Johannes a Lasco"
p,. 437 ff., 447 ff. C.Hein, „Die Sakramentslehre des Joh. a Lasco" p. 167
Anm. G. Kawerau in Hauck R. E. s. v. Westphal.
jq2 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Westphals Alarmruf gegen die Sakramentierer wurde in der
Schweiz bekannt durch Lasky, der am 3. März 1554 den Predigern
von Zürich von dem Erscheinen der Farrago Mitteilung machte
und ihnen zugleich die Schrift Recta fides einschickte mit der Be-
merkung: „Ein Hamburger Pastor Joachim Westphal hat gegen
uns alle ein Buch verfaßt voll von Lügen und bösen Reden, ohne
indessen etwas zu sagen, das nicht schon von anderen besser ge-
sagt ist. Ich schicke es euch, ob ihm vielleicht einer von euch ant-
worten will. Ich habe jetzt keine Zeit dazu. Ich möchte sehr, daß
ihm geantwortet werde, nicht seinetwegen, sondern der anderen
wegen, die auf ihn hören." 1 Fast mit denselben Worten übergab
er das Buch den Genfern zur Kenntnisnahme. Schon am 17. März
zeigte Bullinger Lasky den Empfang seines Briefes an und sprach
die Hoffnung aus, Calvin werde der Recta fides Westphals ant-
worten, vielleicht auch Bibliander von Zürich ; ja Calvin habe selbst
schon an eine Gegenschrift gedacht.2 Calvin war im ersten Augen-
blick nicht abgeneigt, die Beantwortung zu übernehmen. Er fragte
bei Bullinger an, ob er zu einer Antwort rate, er wolle dann gern
einige Tage dieser Arbeit widmen. Dieser hatte unterdessen seine
Ansicht geändert und riet am 22. April Calvin ab, dem Angreifer
entgegenzutreten: „Wenn aber Du und andere fromme Männer
anders denken, möge geschehen, was der Erbauung am meisten
dient." Bevor das abratende Schreiben nach Genf gelangte, war
Calvin schon entschlossen zur Erwiderung, nur zweifelte er noch,
ob er für sich antworten sollte oder ob die Schweizer Kirchen sich
besser gemeinsam äußerten. Letzteres sei wohl vorzuziehen, werde
jedoch bei den anderen Kirchen auf Schwierigkeiten stoßen. Man
müsse zu einer Antwort schreiten, damit nicht derartige Verleum-
dungen auf die Fürsten Einfluß gewännen, und das traurige Beispiel
des dänischen Königs Nachahmer finde, der die zur Winterszeit an
seinen Küsten landenden Flüchtlinge aus England wieder auf das
Meer hinausgejagt hatte.3
1) CR. XV. p. 63, 82.
2) Woher Bullinger diese letztere Nachricht hatte, läßt sich nicht
feststellen. Calvins Briefe an Bullinger sprechen dagegen, daß er damals
bereits derartiges im Sinne hatte. C. R. IX. Prol. XL
3) C. R. XV. p. 123. — Kawerau a. a. O. behauptet unter Hinweis
auf diese Äußerung, es sei mehr aus kirchenpolitischen als aus dogmatischen
Motiven geschehen, daß Calvin gegen Westphal schrieb. Dogmatische
Motive finden wir allerdings bei Calvin nicht, Westphals Dogmatik hat
ihn nicht bewogen, sich mit dem Manne zu befassen. Statt „kirchenpoli-
Von \V. Kolfliaus. I O3
Schon bald kehrte Bullinger zu seinem ersten Gedanken zu-
rück. Er beklagte sich bei Calvin über die Erneuerung d< s Streites
durch die Lutheraner: „Ich überlege, ob wir zu ihren zornigen und
ungelehrten Schriften immer schweigen dürfen." Er wolle mit
Calvin beraten, was zu tun sei; unter Zurückdrängimg aller persön-
lichen Gereiztheit müsse man das unternehmen, was am meisten
erbaue. Calvin ging nur zögernd an das Werk. Noch am 23. Juni
schrieb er Viret, er überlasse ihm gern die Aufgabe, Westphal zu
antworten, zu der Haller Viret ermuntert hatte. Aber er war der
gegebene Führer, wenn einmal der aufgedrungene Kampf durch-
gefochten werden sollte. Aus einem Brief Bullingers an Beza hatte
Calvin gelesen, welcher Art Bullingers Gedanken waren, und trotz
seiner starken litterarischen Beschäftigung — er bereitete gerade
die Herausgabe der Evangelienharmonie vor — überwand er seine
Zurückhaltung und versprach, sobald er Zeit habe, die Sache in die
Hand zu nehmen. Er werde dann seine Arbeit früh genug nach
Zürich zur Prüfung einsenden.1
Was Calvin wollte, zeigt ein Brief an Sulzer: „Ich wünsche
nur durch ein kleines Schriftchen darzulegen, wieviel richtiger und
reiner unsere Kirchen denken, als jene uns nachsagen." Sein
Temperament und die weitere Entwicklung des Streites haben es
leider bei diesem Wunsch bleiben lassen. Unter Bullingers er-
mutigendem Zureden : „Der Herr schenke Dir seinen heiligen
Geist, damit dein Unternehmen zu seiner Ehre und dem Heil vieler
gereiche ; mit Sehnsucht erwarte ich Deine Arbeit", gab er sieh ans
Werk und konnte schon am 18. September 1554 die baldige Vol-
lendung seiner Verteidigung ihres Consensus den Zürichern in
Aussicht stellen. Am 6. Oktober sandte er das Buch nach Zürich
mit der Bitte, seine Arbeit zu prüfen und mit den übrigen Kan-
tonen wegen einer gemeinsamen Aktion zu verhandeln. Bevor
aber die Züricher Prediger sich mit der Veröffentlichung einver-
standen erklärten, wünschten sie allerlei geändert zu haben und
tische Motive" sagt man besser: Rücksicht auf Melanchthon und seinen
Kreis, dessen Bedeutung Calvin zwar überschätzte, mit dem er sich aber
brüderlich verbunden wußte, dem er den Rücken stärken wollte, und den
er gern zu einem offenen Wort gegen die Intransigenten veranlaßt hätte.
..Aus Melanchthons Briefen siehst du, wie schrecklich den ehrenwerten
Männorn, die aber nicht genug Mut besitzen, die Raserei jener ist. Wenn
von uns eine Antwort kommt, werden sie vielleicht etwas wagen." Calvin
an Bullinger CR. XV. p. 317.
1) CR. XV. p.207.
JO4 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
teilten Calvin freimütig ihre Bedenken mit. Sie nahmen Anstoß an
der scharfen Weise, in der die Person Westphals und seiner Gesin-
nungsgenossen behandelt war. „Wir erkennen an, daß jene eine
härtere Behandlung verdienen, aber nicht von Deiner oder unserer
Seite, denen Maßhalten besser ansteht. Luther hat es durch solche
bitteren Scheltreden dahin gebracht, daß viele nicht üble Männer
seine Bücher nicht mehr lesen wollten." Ferner machten die
Züricher Calvin darauf aufmerksam, daß er in seinem Entwurf die
Meinung Luthers über das Abendmahl viel günstiger wiedergebe
als sie in Wirklichkeit sei, und führten zum Beweise einzelne Aus-
sprüche Luthers an, die Calvin wegen seiner Unkenntnis des Deut-
schen fremd waren. Ebenso waren sie nicht zufrieden mit Calvins
Berufung auf die Augsburger Konfession, die von den Gegnern
ganz anders verstanden werde, sowie mit einzelnen Sätzen und
Ausdrücken, teils weil sie zu scharf wären, teils weil sie im luthe-
rischen Sinne aufgefaßt werden könnten. In seinem Begleit-
schreiben zu diesen Anmerkungen versprach Bullinger, die Zu-
stimmung der anderen Kirchen einzuholen, ein Gedanke, von dem
man wegen der Unmöglichkeit der Durchführung in jener Zeit des
brennendsten Streites zwischen Bern und Genf bald abließ.1
Calvin ging sehr freundlich auf die Wünsche der Züricher ein:
,,Es ist mir die größte Freude, daß ihr freimütig und ohne Hinter-
gedanken mit mir verhandelt, wie es sich unter Brüdern gehört."
Seine Scheltworte gegen Westphal wolle er mäßigen, die Berufung
auf Luther und die Augustana im Sinn der Züricher ändern. Ein-
zelheiten verteidigte er, so die den Brüdern verdächtigen Worte :
„unsere Vereinigung mit Christus ist unaussprechlich und unbegreif-
lich und höher als unser Verstand", mit der feinen Bemerkung: „gar
kein Geheimnis anerkennen, das hieße, die geheimnisvolle Kraft des
Geistes leugnen, die wir so oft preisen." Die umgearbeitete „Defensio
sanae et orthodoxae doctrinae de sacramentis eorumque vi, fine,
usu et fructu" gefiel Bullinger : „Wir sind alle damit einverstanden,
daß das Buch von Dir ausgegeben wird. Wir versprechen Dir
unsere Hilfe in der Verteidigung unseres Consensus und bekennen,
daß wir Dir vielen Dank schulden, der Du zuerst in der gemein-
samen Sache zu den Waffen gegriffen hast." Er halte es nicht für
nötig, der Defensio ein gemeinsames Schreiben der Züricher Pre-
diger und Professoren anzuhängen, wie beim Consensus seinerzeit
.0 CR. XV. p. 300. Haller an Bullinger.
Von W. Kolfhaus. 105
geschehen war, da dann andere zürnen würden, wie damals die
Basler, daß man sie übergangen habe. Calvin solle die Arbeit
möglichst schnell zum Druck befördern und den einzelnen Theo-
logen zustellen.1 Beinahe hätte jedoch Calvin seine Arbeit noch
selbst im Ärger vernichtet. Wir lesen darüber in einem Brief an
Farel: „Fast hätte ich die Schrift ins Feuer geworfen, denn als ich
sie dem Rat vorlegte, beschloß man, sie den Zensoren zu übergeben.
Ich war so erzürnt durch die empfangene Antwort, daß ich den vier
Syndiks versicherte, wenn ich noch iooo Jahre lebte, wurde ich
in dieser Stadt nichts mehr herausgeben. Gegen ihre Beleidigungen
bin ich längst unempfindlich geworden, aber das war mir zu arg,
daß man nach andern Zensoren suchte, obgleich ich die Briefe vor-
wies, durch die sich die Züricher feierlich verbürgen, und obgleich
alle Kollegen dasselbe versichert hatten. -
Ohne die Defensio vor ihrer endgültigen Herausgabe noch
einmal den Zürichern vorzulegen, ließ Calvin sie Anfangs Januar
1555 ausgehen und begnügte sich, da der Zeitersparnis wegen mit
den übrigen Kirchen keine langwierigen Verhandlungen über ihre
Zustimmung zu der Schrift gepflogen werden konnten, mit der
Bitte an Bullinger, die Schrift den Kirchen zu empfehlen. Wie die
Dankbriefe von Schaffhausen, St. Gallen und Chur beweisen, ist
Bullinger dieser Bitte treulich nachgekommen. Ja er sorgte dafür,
daß neben der Genfer Ausgabe des Robert Stephanus auch eine
bei Christoph Froschauer in Zürich erschien, und fügte dieser Aus-
gabe eine Empfehlung hinzu in Gestalt eines offenen Briefes an den
christlichen Leser.3
Calvin hoffte, durch sein Schriftchen Westphal zum Schweigen
gebracht zu haben. An Martin Seidermann, Professor in Erfurt,
schrieb er: „O, wenn doch Luther noch lebte! Seine gewiß zu
große Heftigkeit im Abendmahlsstreit war nichts neben der Maß
losigkeit und Raserei jener, die von Luthers Tugenden nichts
haben, und meinen, durch Schreien sich als seine rechten Jünger
zu beweisen." „Ich habe jetzt versucht, durch ein kurzes Schrift-
chen ihre Heftigkeit zu mildern. Wenn ich nichts erreicht haben
sollte, wird man wohl noch kräftiger kämpfen müssen/' Sulzer
und der unlängst aus der Schweiz nach Württemberg berufene
Vergerius sahen die Sache anders an und weissagten neue Kämpfe.
1) CR. XV. p. 303, 349-
2) C. R. XV. p. 356.
3) CR. IX Prol. p. IS, 37-
I 06 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
Noch im Jahre 1555 erschien Westphals „Adversus cuiusdam
sacramentarii falsain criminationem iusta defensio, in qua et eucha-
ristiae causa agitur". Die Herausgeber der Opera nehmen an,
Calvins herbe Art habe den Streit so bitter gemacht. Allein Gegner
wie Westphal waren überhaupt nicht zu besänftigen und zu brüder-
licher Verhandlung zu bewegen ; ihnen gegenüber half nur Unter-
werfung unter ihre Behauptungen oder Schweigen, und dies letztere
war Calvin um der Sache willen unmöglich. Abermals war es
Lasky, der die Schmähschrift Westphals Bullinger und Calvin mit-
teilte. Am 19. September schrieb er von Frankfurt aus an Bul-
linger : „Ich habe das Buch nur teilweise lesen können. Aber
solche, die es gelesen haben und Calvin lieben, halten es für un-
vermeidlich, daß Calvin jene Verleumdungen gelegentlich zurück-
weist, nicht in einem besonderen Buch, sondern indem er in
anderem Zusammenhang ohne Namennennung Westphals Schmäh-
ungen abwehrt, besonders da er mit Calvins eignen Worten Calvin
zu schlagen sucht." *
Der Streit war jetzt schon nicht mehr ein Zweikampf zwischen
Calvin und Westphal. Zur Unterstützung des letzteren hatte der
Bremer Lutheraner Joh. Timannus ebenfalls eine Farrago zusam-
mengestellt gegen die Sakramentierer. Diesem ersten Waffen-
träger Westphals schlössen sich nach und nach die hervorragendsten
Häupter der Lutheraner mit Erklärungen gegen Calvin an. Sogar
die oberdeutschen Theologen, die Calvin für verständiger hielt als
die niederdeutschen, und die mannigfache Beziehungen zur Schweiz
hatten, wählten gegen ihn Partei.2 Calvin wußte nicht recht, ob
er erwidern solle. In einem Brief an Farel vom 10. Oktober heißt
es : „Westphal hat ein grimmiges Buch gegen mich herausgegeben,
ich weiß nicht, ob eine Antwort Zweck hat. Einige Freunde bitten
darum ; nachdem ich es gelesen habe, wird der Herr Rat ver-
leihen." Zu diesen Freunden gesellte sich dann auch Farel, der
ihm aber riet, die Person des Gegners völlig aus dem Spiel zu
lassen und sich rein sachlich auf die Verteidigung der Abendmahls-
lehre zu beschränken. Das war auch Calvins Gedanke : „Der
Gegner verdient es gar nicht, mit ihm heftig zu streiten", schrieb
er an Bullinger und fragte ihn, was er tun solle. Wie Farel riet
auch Bullinger zu einer Antwort, nur möge er an sich halten und
sachlich bleiben und die Person und das ungehörige Betragen des
1) C. R. XV. p. 771, 772.
2) CR. IX Prol. p. is, 21.
Von W. Kolfhaus. IO7
Mannes übersehen. Er selbst denke ebenfalls daran, über die
Angelegenheit zu schreiben. „Nur um das eine bitte ich Dieb,
mein Bruder, wenn Du Westpbal weiter antwortest, daß es mit
möglichster Milde geschehe." * Ähnliche Aufforderungen kamen
von Wolf aus Zürich, von Martyr aus Straßburg. Ende des Jahres
1555 schrieb Calvin seine zweite, umfangreichere Schrift, in deren
Titel er schon Westphal als Verleumder bezeichnete: „Secunda
defensio piae et orthodoxae de sacramentis fidei contra Joachimi
Westphali calumnias." In einer merkwürdigen, durch falsche
Schätzung des Einflusses Melanchthons auf die lutherischen Theo-
logen veranlaßten Verkennung der Sachlage widmete er die Schrift
„allen Dienern Christi, die die lautere Lehre des Evangeliums in
den sächsischen Kirchen und in Niederdeutschland bekennen". So
oft auch Calvin sich über Melanchthons Zaghaftigkeit beklagte
und ihm ernst deswegen ins Gewissen redete, immer wieder und
immer vergebens hoffte er, dieser Mann werde nicht nur Tränen
vergießen können, sondern auch ein Wort gegen die Eiferer finden.
Calvin selbst hatte das Gefühl, in seiner Polemik zu scharf
gewesen zu sein. Er bekannte Bullinger : „Ich bin sehr neugierig,
Dein und anderer Urteil zu hören. Ich sehe, daß ich etwas heftiger
war als beabsichtigt. Ich weiß selbst nicht, wie ich während des
Diktierens die Gewalt über mich selbst verloren habe. Du wirst
mir freimütig sagen, wie Du denkst." Als Gegengabe überreichte
ihm Bullinger am 9. März seine „Apologetica expositio" : „Ich ver-
einige mich mit Dir im Kampfe, zwar nicht mit gleichen Kräften,
aber doch mit ganzem Herzen. Aber ich kämpfe bisher so, fügte
er mit treffender Kritik der Arbeit seines Freundes hinzu, daß ich
den Frieden nicht unmöglich mache." „Wie ich über Deine De-
fensio denke, wirst Du in meiner Expositio lesen." Über den Ein-
druck dieser zweiten Defensio schrieb Haller an Bullinger: „Welche
Stoßkraft ist in diesem Manne! welche Glut und Wucht der Worte,
welche Gewandheit im Kampfe ! Ich fürchte nur, daß er auch hier
nicht Maß hält und von der Leidenschaft weiter fortgerissen wird
als uns ansteht. Aber so ist sein Geist."2
Natürlich ruhte Westphal nun erst recht nicht : er setzte der
Verteidigungsschrift Calvins eine Sammlung von Zustimmungs-
erklärungen der vornehmsten niederdeutschen Kirchen zu seinem
Kampf entgegen mit einer entsprechenden Vorrede, die Calvin
1) CR. XV. p. 852.
2) C. R. XVI. p. 72.
I08 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
dann wieder beantwortete mit seiner „Ultima admonitio ad Joachi-
raum Westphalum, cui nisi obtemperet, eo loco posthac habendus
est, quo pertinaces haereticos haberi jubet Paulus. Refutantur
etiam hoc scripto superbae Magdeburgensium et aliorum censurae,
quibus coelum et terram obruere conati sunt", vom Sommer 1557.
Bullinger hatte ihn noch am 20. Juni gebeten, seine Antwort maß-
voll zu halten, dann werde sie keiner ihm übelnehmen ; ohne per-
sönliche Angriffe möge er zuerst die Beweise jener für die von
ihnen behauptete leibliche Gegenwart Christi widerlegen, dann seine
eignen Argumente verteidigen und nachweisen, daß die Antworten
der Gegner Sophismen seien.1 Allein ungeachtet der Warnung des
besorgten Kampfgefährten setzte Calvin in dieser seiner letzten
Schrift in dem zwecklosen Kampf von vornherein jede Schonung
beiseite. Er erklärte Farel : „Gegenüber Westphal und den Seinigen
war es schwer, Maß zu halten, wie Du geraten hast. Es würde
lächerlich sein, würden wir uns bei denen des Brudernamens be-
dienen, denen wir als die schlimmsten Ketzer gelten." Calvin war
sich dessen bewußt, daß er jede Hoffnung auf Versöhnung mit den
Lutheranern abschnitt. „Ich weiß, sagte er Bullinger, daß ich mir
den allgemeinen Haß zuziehe ; daher wird es mir ein großer Trost
sein, wenn euch wenigstens mein Dienst gefällt." Das mit Un-
geduld erwartete Urteil Bullingers lautete freundlicher als Calvin
selbst gehofft haben mochte. Bullinger für seine Person fand
nichts zu tadeln, doch verhehlte er ihm nicht, daß mancher wün-
schen werde, daß die Schrift in ruhigerem Geist gehalten wäre.2
Ein Nachspiel fand der Streit der Gnesiolutheraner mit den
Schweizern im Jahre 1560 durch die Wirren in der Pfalz, die dem
Übergang dieses Gebietes in das reformierte Lager vorangingen
und auch Bullinger und Calvin in ihre Kreise zogen. Der luthe-
rische Vorkämpfer Tileman Heßhnsius schrieb gegen die Refor-
mierten. Bullinger meinte: „Ich will meine freien Stunden besser
zubringen als mit der Widerlegung solcher Kindereien." Dagegen
regte er bei Calvin die Herausgabe der Briefe Melanchthons über
das Abendmahl an als schwersten Schlag gegen die Gegner (19. Ok-
tober und 15. November 1560). Calvin wies dieses Ansinnen zurück:
„Drei Gründe hindern mich, zu tun, was Du verlangst. Einmal
habe ich nicht viele Briefe, und diese wenigen sind vertraulich an
mich. Von unfreundlich Gesinnten könnten sie verspottet werden.
1) C. R. XVI. p. 514.
2) C. R. XVI. p. 616.
Von W. Kolfhaus.
von solchen aber, die uns nicht kennen, würden sie gar nicht ver-
standen werden. Ferner müssen wir Rücksicht nehmen auf den
Ruf des Verstorbenen, der nicht wenig verlästert würde, wenn be-
kannt wird, was er an mich schrieb. Endlich steht einiges darin,
dessen Veröffentlichung zwar für mich ehrenvoll wäre, aber Flacius
und Genossen Ursache zu Verleumdungen geben würde."1 Calvin
schrieb dann selbst eine Gegenschrift gegen Heßhusius.
Die Formen des theologischen Verkehrs zwischen Gegnern
waren in jenem Jahrhundert weniger urban als heute. Sonst wäre
unbegreiflich, wie Calvin trotz der überaus bitteren miteinander ge-
wechselten Schriften noch immer hoffen konnte, die Verständigen
unter den Lutheranern, namentlich die von Melanchthon Beein-
flußten und die Oberdeutschen würden für eine Einigung zu haben
sein. Den heftigen Verhandlungen mit Westphal parallel ging das
heiße Bemühen Calvins, ein neues Religionsgespräch mit den Luthe-
ranern zu stände zu bringen und die Schweizer zur Teilnahme daran
zu bewegen. Dieses Religionsgespräch ist im Briefwechsel Calvins
mit Bullinger in den Jahren 1556 — 1560 ein stets wiederkehrender
Gegenstand der Diskussion. Ihre verschieden gearteten Charaktere
traten hier in besonders scharfen Umrissen nebeneinander : der
bedächtige, das Einfache liebende Bullinger, der für Unmögliches
ein gutes Auge hatte und sich immer zuerst als Schweizer, als
Züricher wußte, neben Calvin, dessen Seele dürstete nach einer
gewaltigen Zusammenfassung des ganzen Protestantismus, ohne
allezeit das Gewicht der Widerstände recht abzuschätzen, dessen
geistige Heimat Frankreich, die Schweiz und Deutschland war.
Es lohnt sich daher, auch dieser Seite ihres Verkehrs hier kurz
zu gedenken.
Am 2. April 1556 meldete Lasky nach Genf, er hoffe, daß in
kurzem in Deutschland ein Religionsgespräch zusammenberufen
werde; er arbeite dahin, daß auch Calvin, Martyr und die Züricher
eingeladen würden. Über die Geneigtheit der Letzteren war Lasky
im Zweifel, daher möge Calvin auf die Züricher einwirken. Calvin
schrieb dann auch über die Angelegenheit an Bullinger, aber durch-
aus kühl und ohne Illusionen : „Ich hoffe von dem Konvent nichts,
den Lasky erstrebt, nicht nur weil die Sucht, etwas zu tun, oft die
nüchterne Besinnung raubt, sondern weil Vergerius, ein unzuver-
lässiger Mann, der vornehmste Veranstalter ist, soweit ich sehe.
Doch müssen wir stets dafür sorgen, daß wir nicht den Schein er-
1) C. R. XVIII. p. 223, 246. 254.
j j O Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
wecken, als scheuten wir das Licht, indem wir das Kolloquium
abschlagen." 1 Ganz einverstanden erwiderte Bullinger : „Auch ich
hoffe wenig oder nichts, fürchte sogar, aus einem kleinen Feuer
werde ein großer Brand entstehen. Diejenigen, mit denen wir zu
verhandeln haben, sind einerseits schroffe Lutheraner wie Schnepf,
Brenz, Westphal und zahllose andere derselben Art, andrerseits
gemäßigtere wie Philippus, Paceus und einige wenige, die aber
nach ihrer weichen Natur jene nicht vor den Kopf stoßen wollen."
„Manche versprechen sich etwas von dem mäßigenden Einfluß der
Fürsten, aber höre, wie ich hier die Dinge sehe. Wenn wir in
unserer Überzeugung nachgeben, oder was wir bisher klar lehrten,
irgendwie verhüllen, werden wir das Wohlwollen der Fürsten haben,
und die Eintrachtsformel wird die Augsburger Konfession sein.
Nehmen wir diese nicht an, wird man uns als Halsstarrige und
Stolze abweisen. Ich sage aber offen, daß ich jetzt die Augsburger
Konfession nicht annehmen kann, vor allem wegen der angehängten
Apologie, und weil wir eben erst von Westphal gehört haben, was
jene über das Augsburger Bekenntnis denken." Außerdem sei die
ganze politische Lage in Deutschland so, daß die Fürsten gar
nicht anders könnten, als sich auf das lutherische Bekenntnis zu
stellen.2 Ähnlich äußerte sich Bullinger gegen Lasky und nahm
somit die Haltung ein, die er ohne zu wanken, gegenüber den
Versuchen Calvins und Bezas behauptet hat, ihn einem Religions-
gespräch mit den Lutheranern günstig zu stimmen.
Denn bei Calvin hatte der Gedanke an ein Kolloquium bald
festere Wurzel gefaßt. Er wolle zwar, heißt es in einem Brief vom
18. Mai an Farel, sich nicht selbst um das Zustandekommen be-
mühen, aber wenn man ihn dazu rufe, werde er bereit sein. „Die
Züricher sind so dagegen, daß sie sich beleidigt fühlen, wenn ich
hingehe. Bullinger hat letzthin dringend gefordert, ich solle mich
auf nichts einlassen, aber ich bin entschlossen, nicht zu ge-
horchen." 3
i) C. R. XVI. p. 116.
2 ) Bullinger war ebenso wie Calvin nicht prinzipiell gegen die
Augustana. Als Garnerius, Prediger der französischen Gemeinde in Straß-
burg, ihn im Dezember 1554 fragte, wie er sich zu der Forderung der Ver-
pflichtung auf die Augustana stellen solle, schrieb ihm Bullinger: ,.Du
kannst antworten, daß du die Augustana im richtigen Sinn verstanden
annimmst, nur darf niemand Dich und die Gemeinde zu dem Bekenntnis
zwingen, Christi Leib sei gegenwärtig und sein Fleisch werde empfangen."
C. R. XV p. 355-
3) C. R. XVT. p. 146.
Von W. Kolfhaus. I I I
Ein zwischen Brenz und Lasky am 22. Mai zu Stuttgart im
Beisein des Herzogs veranstaltetes Gespräch,1 mit dem übrigens
auch Calvin nicht zufrieden war, weil Lasky es auf eigne Fausl
unternommen und die Sache nicht geschickt geführt hatte, bestärkte
Bullinger in seiner Abneigung. Warnend rief er Calvin zu: „Lasky
hat mit Brenz verhandelt, aber, wie ich höre, hat ihn zum Schluß
der Herzog ermahnt, das Augsburger Bekenntnis zu bekennen und
seine Fremdlingsgemeinde mit den deutschen Kirchen zu vereinigen.
Habe ich nicht gesagt, daß es so kommen werde? Wenn 1000 Ge-
spräche veranstaltet würden, würden wir ohne Resultat mit jenen
verhandeln." 2 Aus dem Versuch Laskys, in der Augsburger Kon-
fession die Meinung der Schweizer wiederzufinden, sah Bullinger
nur Unheil erwachsen; Lasky werde nur sich und seine Lehre da-
durch verdächtig machen. Aber trotz Bullingers Abwehr ging
Calvin aus seiner ursprünglichen abwartenden Stellung heraus und
drang sogar während einer Reise nach Frankfurt in Melanchthon,
er möge für ein Kolloquium eintreten: „Wir dürfen nicht warten,
bis viele sich mit uns vereinigen ; sobald Du das Zeichen gibst,
werden die zusammenkommen, denen die Ruhe der Kirche am
Herzen liegt."
Diese Bemerkung verrät wieder mit aller Deutlichkeit, was
Calvin gegen Hoffnung immer wieder hoffen ließ, obgleich er den
Gegengründen Bullingers nicht widersprechen konnte. Es war
sein Vertrauen zu Melanchthon, das Bewußtsein, mit ihm einig zu
sein, und der eigenartige Zug seines Wesens, daß er nie begriff,
wie einer schweigen konnte, wenn er von einer wirklichen Über-
zeugung durchdrungen war. Daher glaubte Calvin auch stets, es
werde ihm gelingen, Melanchthon zu tapferem Eingreifen zu be-
wegen. Vergebens gab ihm Bullinger zu erwägen : „Wir wissen,
daß Philippus von Herzen den Frieden sucht, aber auch, daß er mit
seinen wenigen nichts bei den übrigen ausrichtet. " Einer wieder-
holten Einladung Calvins, ihn in Genf zu besuchen, weil er durch
die Macht seiner Beredsamkeit die Bedenken des Freundes leichter
zu zerstreuen hoffte, ging er aus dem Wege und hielt dem An-
dringen Calvins unermüdlich und gleichmütig entgegen: „Ich sehe
in dieser verschiedenen Ansicht keine Ursache zum Streiten, aber
Du täuschst Dich über Philippus; ich fürchte aus guten Gründen.
daß dieses Kolloquium nicht die von Lasky erwartete Frucht haben
1) Dalton, „Joh. a Lasco'' p. 477 fi.
2) C. R. XVI. p. 238.
112 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
wird; Philippus wird sich nicht so erklären, daß jene sich nicht
doch als Sieger verkündigen werden/' So wertvoll auch ihm die
Einheit des Protestantismus erschien, sie war ihm zu teuer erkauft,
wenn an Stelle ihrer einfachen Lehre wieder doppelsinnige Formeln
treten sollten, die, wie Haller ihm bemerkte, früher so viel Streit
verursacht hätten.
Calvins Hoffnungen waren mächtig gestiegen, als Farel und
Beza im April 1557 als Gesandte der Schweiz nach Deutschland
reisten, um die Hilfe der deutschen Fürsten anzurufen für die
verfolgten Waldenser, und bei dieser Gelegenheit mit den luthe-
rischen Theologen in persönliche Verbindung kamen.1 Aber Haller
spottete nicht mit Unrecht: „Unsere beiden Freunde scheinen mir
allzu leichtgläubig zu sein, die daraus, daß man sie ein einzelnes
Mal freundlich aufgenommen hat, den Schluß ziehen, daß sich nun
eine allgemeine Einigung werde erzielen lassen." Die beiden Ab-
gesandten hatten sich bestimmen lassen, dem kurpfälzischen Hof-
prediger Michael Diller und dem Herzog Christof von Württem-
berg ihr Bekenntnis über das Abendmahl als das Bekenntnis der
schweizerischen und französischen Kirchen zu überreichen, und
waren darin aus politischen Gründen den Anschauungen der Luthe-
raner sehr weit entgegengekommen, um die Waldenser und fran-
zösischen Evangelischen als Verwandte der Augsburger Konfession
hinzustellen. Beza selbst hatte ein schlechtes Gewissen in der
Sache und suchte solange als möglich, den törichten Schritt zu
verheimlichen.2 Bullinger sah seine schlimmsten Befürchtungen
gerechtfertigt. Kaum war der Wortlaut des Bezaschen Bekennt-
nisses in Zürich und Bern bekannt geworden, als sich ein Sturm
des Unwillens erhob. Beza erfuhr von Bullinger ernsten Tadel, weil
er durch seine unklaren Formeln den Gegnern Waffen in die Hand
gegeben habe. Vergeblich suchte Calvin ihn zu entschuldigen mit
der Liebe zu den bedrängten Brüdern. „Jetzt siehst Du, mein
Bruder Calvin, klagte Bullinger, welche Verwirrung uns jene be-
reitet hätten, wenn es zum Kolloquium gekommen wäre. Denn
ich kann vor Gott und der Kirche ein solches Bekenntnis nicht
anerkennen. Wenn aber wir und noch viele andere widersprechen,
wird Westphal rufen : habe ich es nicht gesagt, daß jene unter
sich uneins sind?" „Je herzlicher ich Beza liebe, um so mehr
1) H. Heppe, „Theodor Beza" p. 42 ff.
2) Beza an Calvin C. R. XVI. p. 510.
Von W. Kollh.iu:.. 1 I S
wünschte ich, er hätte nichts Derartiges herausgegeben."1 Im
Herbst desselben Jahres begleitete Beza eine neue Gesandtschaft
nach Deutschland im Interesse der zu l?aris Überfallenen und zum
großen Teil eingekerkerten evangelischen Gemeinde. Auf der
Durchreise durch Zürich wurde durch mündliche Aussprache die
Mißhelligkeit beseitigt. Bullinger berichtete darüber an Calvin
am 26. September 1557: „Wir haben freundschaftlich über jenes
Bekenntnis verhandelt. Sic haben gelobt, in Zukunft Derartiges
zu vermeiden und außerdem ihre Meinungen vollständiger und
klarer darzulegen, wenn die Sachsen fortfahren würden, uns jenes
Bekenntnis vorzurücken. So schieden wir in herzlicher Eintracht. " 2
Noch manches Mal kam Calvin auf die ihm so wichtige
strittige Angelegenheit zurück mit der Versicherung, es sei Ehren-
sache, nicht auszuweichen, und ebenso fest beharrte Bullinger bei
seiner wohlüberlegten Weigerung, sich auf irgend etwas ein-
zulassen. Er schätzte die Gegner und die Freunde richtiger ein
als der Genfer Reformator. Ihm gebührt das Verdienst, Calvin
von einem Unternehmen abgehalten zu haben, das, wenn es über-
haupt zur Wirklichkeit geworden wäre, nur Kraftvergeudung be-
deutet und der einfachen Wahrheit nur Schaden gebracht hätte.
Es gelang ihm freilich nicht, Calvin zu überzeugen, unbeschadet
ihrer Freundschaft blieb die Meinungsverschiedenheit unaus-
geglichen. Ihre Differenz in diesem praktischen Einzelfall hat ihre
Wurzeln darin, daß ihre Persönlichkeit, ihre theologische Stim-
mung und ihre kirchliche Stellung verschieden waren. Calvin war
viel weniger als Bullinger dazu geneigt, vor geschichtlichen Ver-
hältnissen zurückzuweichen. Seine theologische Stimmung gegen-
über den Lutheranern war freier von Vorurteilen, weniger belastet
mit bitteren Erinnerungen ; in seiner kirchlichen Stellung als Führer
der französischen Reformation empfand er täglich die Marter seiner
Brüder und sah nur darin Hilfe, daß die deutschen Fürsten sich
mit den Evangelischen in Frankreich solidarisch erklärten, wäh-
rend Bullinger bei aller Anteilnahme an den Leiden der Verfolgten
ihren Schmerz doch nicht so als eigenen, persönlichen Druck
empfand wie Calvin. Ein schönes Zeugnis für die ungetrübte
Freundschaft der beiden Männer ist der letzte Brief, den Calvin
am 10. Mai 1560 in dieser Angelegenheit an Bullinger richtete, und
1) CR. XVI. p. 567, 57i-
2) C. R. XVI. p. 642. Über die zweite und dritte erfolglose Ge-
sandtschaftsreise Heppe a. a. O. p. 52, 63.
8
Calvinstudien.
IIA Der Verkehr Calvins mit Bullinger
der zugleich den tiefsten Grund seines Bestrebens enthüllte : „Damit
unter uns kein Streit entsteht, will ich den Dir so verhaßten
Gegenstand nicht mehr berühren. Wenn wir nur in der Haupt-
sache der Lehre einig sind, so darf in den anderen Dingen jedem
das Urteil frei bleiben. Was ich für richtig und nützlich hielt,
davon versuchte ich Dich zu überzeugen. Sobald daraus Ärger
kommt, ist es besser, aufzuhören. Nur auf eins will ich Dich noch
hinweisen: an Luthers Affen habe ich längst verzweifelt, und auch
auf Jakob Andreae und ähnliche läßt sich nicht viel bauen. Aber
das schmerzt mich tief, daß uns verbundene Brüder durch bar-
barische Gewalt unterdrückt und durch keine Hilfe erleichtert
werden. Wie viele mögen es wohl sein, die mit stillem Seufzen
warten, daß sich eine Hand ihnen entgegenstrecke, und die klagen,
daß sie von uns verlassen werden?"1
X.
Calvins und Bullingers gemeinsames Handeln zugunsten
verfolgter Evangelischer.
Zu den schönsten Zügen in Bullingers Leben gehört sein
treues, tapferes Eintreten für die so grausam verfolgte evangelische
Gemeinde in Locarno. Seine Umsicht und Güte, seine Beharr-
lichkeit und Unerschrockenheit hatte hier Gelegenheit, sich be-
sonders glänzend zu entfalten.2 Die in Locarno unter der Arbeit
des frommen Priesters und Schullehrers Giovanni Beccaria ent-
standene kleine evangelische Gemeinde war durch Beschluß der
eidgenössischen Tagsatzung mit ihrer römischen Majorität zur
Landesverweisung verurteilt worden. Außer Zürich hatten sogar
die evangelischen Kantone trotz des Protestes ihrer Prediger um
des Friedens willen kleinmütig zugestimmt. Schwer empfanden
Bullinger, Calvin, Haller und ihre Freunde diesen furchtsamen
Beschluß. Während noch hin und her verhandelt wurde, schüttete
Bullinger Calvin sein Herz aus : „Die Unsrigen sind wohl auf ihrem
Posten, aber täglich erfahre ich, daß die Bosheit der Feinde un-
überwindlich ist", und er versprach ihm, sobald gewisse Nachricht
von der Tagsatzung komme, unverzüglich Bescheid zu schicken.
Er muß also schon vorher das lebendige Interesse Calvins an
diesen Brüdern erfahren haben. Der Forderung der übrigen Kan-
i) CR. XVIII. p.83.
2) Pestalozzi a. a. O. p. 359 ff. Heer in Ilauck R. E. s. v. Bullinger.
Von W. Kolthaus. I I 5
tone, ebenfalls dem Ausweisungsbeschluß zuzustimmen, setzte
Zürich auf Bullingers Betreiben hin unbeugsamen Widerstand ent-
gegen.1 Calvin wie Bullinger sahen in dem Beschluß der refor-
mierten Kantone eine Verfolgung der eigenen Brüder und eine Ver-
leugnung des reinen Evangeliums. Auf's äußerste entrüstet schrieb
Calvin an Bullinger das heldenhafte Wort : „Die Sache der Lo-
carner Brüder ist für Dich und uns alle der herbste Schmerz.
Schon das war schändlich, daß sie von ihren Beschützern preis-
gegeben wurden. Aber das ist noch schändlicher, daß Bekenner
des Evangeliums es zulassen, daß in ihrem Namen Genossen ihres
Glaubens zu treuloser Verleugnung aufgefordert werden, dann
hätte man die frommen Brüder zehnmal besser dem Henker über-
liefern sollen. Denn es ist verkehrte Milde, aus Schonung gegen
die Menschen die heilige Wahrheit Gottes dem Spott auszusetzen.
Und so wenig schämen sich jene — sc. die übrigen evangelischen
Kantone — ihrer Schande, daß sie noch versuchten, die Tapfer-
keit Zürichs durch Schmähungen zu brechen. Möchte ich doch
bald hören, daß sie mit der gebührenden Strenge von den Eurigen
abgewiesen sind. Den armen Brüdern würde ich gern mit irgend
einem Trost zur Seite stehen, damit sie merken, daß wir um sie
sorgen." 2
Zürich konnte die Ausführung des schrecklichen Befehls nicht
hindern, sorgte aber durch seine Fürsprache dafür, daß den Ver-
triebenen zunächst die von ihnen erbetenen Wohnsitze im Tal von
Misox in Graubünden gegeben wurden, und als auch dort ihres
Bleibens nicht war, daß Zürich ihnen seine Tore öffnete, ihnen
die Peterskirche anwies und Bernhard Ochino zu ihrem Prediger
bestellte. Hocherfreut erzählte Bullinger Calvin, was der Rat
getan und welche Besoldung er für Ochino ausgesetzt, und daß die
Bürgerschaft die Vertriebenen in Liebe gastfreundlich empfangen
habe.3 Der Dank, den ihm Calvin zollte, war wohlverdient: seine
Briefe hatten die Armen aufgerichtet, sein Mut sie und die Züricher
gestärkt, seine Fürsorge der Gemeinde den neuen Wohnsitz be-
reitet. „Du hast, bezeugte ihm Calvin, die Pflicht erfüllt, die uns
allen oblag; ich meinesteils kann Dir nicht genug dafür danken."
Wo nur auf dem Kontinent die Bekenner des Evangeliums
Verfolgung erdulden mußten, sie hatten an den beiden Führern
1) C. R. XV. p. 349, 352. Bullinger an Calvin.
2) C. R. XV. p. US-
3) C. R. XV p. 655.
ll() Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
der Schweizer Kirchen rastlose Helfer und Fürsprecher. Die
Flüchtlinge, die aus England und Frankreich, aus den Nieder-
landen, aus Italien nach Zürich und Genf kamen, erfuhren wahr-
haft brüderliche Liebe. Nach dem Tode Eduards VI. von England,
am 6. Juli 1553, flohen die Bekenner des Glaubens scharenweise
vor dem Schwert der blutigen Maria. Andere schmachteten im
Gefängnis den Tod erwartend. Sobald Bullinger die ersten Nach-
richten über den Umschwung der englischen Verhältnisse erfahren
hatte, gab er Calvin davon Kenntnis, sandte ihm Briefe, die aus
dem Kerker in London an ihn gelangt waren, und fragte, ob er
etwas gehört habe über das Schicksal der Freunde Martyr, Lasky,
Ochino, Sidall u. a. Hand in Hand arbeiteten die beiden Männer,
um den in der Heimat Zurückgebliebenen Trost zuzusprechen und
das Schicksal der Geflüchteten erträglich zu gestalten. An zwölf
junge Engländer, die in Zürich durch Bullingers Fürsorge sich zum
Dienst am Evangelium in der Heimat vorbereiteten und nach Auf-
hören der Verfolgungen eine gesegnete Wirksamkeit in England
ausübten, richtete Calvin ein herrliches Trostschreiben,1 ja half
auch dazu, daß in Genf sich eine besondere englische Flüchtlings-
gemeinde bilden konnte, durch deren vornehmstes Glied, John
Knox, die Genfer Kirche zur Mutterkirche Schottlands wurde.2
Weit umfangreicher war der Dienst, den sie den Brüdern in
Frankreich leisten durften. Die ungeheure Last, die die steten
Verfolgungen dort auf Calvins Schultern legten, hat Bullinger treu-
lich mitgetragen. Auch hier galt es gerade so wie den verfolgten
Engländern, nur in weit höherem Maße, den Tausenden der Ge-
flüchteten Aufnahme zu verschaffen und für das Nötigste zu sorgen.
Aber Calvins Hilfe begnügte sich damit nicht. Sein Plan blieb
stets, durch Einwirkung der Schweiz vor allem und der deutschen
Fürsten auf den französischen König die Lage der bedrängten
Brüder zu erleichtern und diesen von der Schweiz aus durch Sen-
dung von Predigern, Büchern und Geldmitteln tatkräftige Hilfe zu
gewähren. Über die Art und Weise, wie man auf den König ein-
wirken solle, waren die beiden Freunde nicht immer einig. So
hätte Calvin es gern gesehen, wenn das mächtige Zürich mit Frank-
reich einen Bündnisvertrag abgeschlossen hätte, weil er hoffte, daß
dann der König seine evangelischen Untertanen als Glaubens-
genossen seiner Verbündeten mit größerer Milde behandeln werde.
1) C. R. XV. p. 161, besonders die Anmerkung.
2) Pestalozzi a.a.O. p. 445 ff. Stähelin ,Joh. Calvin" IT p. 50 ff.
Von W. Kolfhaus. 117
Sehr ausführlich, auf biblische und politische Erwägungen gestützt,
legte er am 7. Mai 1549 Bullinger sein Anliegen dar und suchte
ihn dem französischen Bündnis geneigt zu machen : „Wenn die
Eitrigen sich zu irgend einem Vertrag herbeilassen, so arbeite Du
dahin, daß sie ihrer Brüder gedenken in ihrer elenden und harten
Lage." Der Zorn des Königs werde um so heftiger entbrennen,
wenn die Züricher das Bündnis ablehnten. ' Das Bemühen Calvins
blieb fruchtlos. Als echter Schüler Zwingiis erwiderte ihm Bul-
linger am 21. Mai, seine Stadt werde sich mit keiner fremden Macht
verbinden. „Wir würden in wenigen Jahren das Evangelium ver-
lieren sowie alle Religion und wahre Zucht, wenn wir durch solche
Bündnisse fremden Kriegsdiensten wieder die Tür öffneten." Das
von ihm seiner Regierung eingereichte abratende Gutachten ließ
auch in Bern den Versuch scheitern, zu einem Bündnis zu gelangen.
Haller in Bern erklärte, gewiß müsse man sich der Verfolgten an-
nehmen, aber demütige und anhaltende Gebete zu dem König
Christus seien eine bessere Hilfe als jenes verhaßte Bündnis.
Handelte es sich dagegen um gemeinsame Gesandtschaften und
Bittschriften, sei es an den König von Frankreich selbst oder an die
deutschen Fürsten, damit diese für die Brüder ein gutes Wort
reden sollten, so versagte sich Bullinger dem unablässig drängen-
den Freunde nicht. Sein eigenes Herz blutete ja unter dem
Jammer der Zerstörung. Wenn er zuweilen eine Zeitlang keine
Nachrichten über Frankreich von Genf empfangen hatte, fragte er
an und ersuchte um sichere, ausführliche Kunde. „Wohl, lesen wir
in einem Schreiben an Calvin, bekomme ich von Freunden manche
Nachricht, aber ihre Nachrichten sind ziemlich unsicher. Die
Deinigen sind immer sicher." Als es sich 1561 darum handelte,
öffentlich vor dem französischen Hof und Klerus das Bekenntnis
des evangelischen Glaubens abzulegen, willigte Bullinger gerne
ein, daß sein Freund und Kollege Petrus Martyr Beza zur Seite
stand bei dem Gespräch von Poissy,2 und umgab nicht weniger als
Calvin die beiden Reisenden mit seiner Fürbitte. In Genf und
Zürich war die Sorge um die beiden tapferen Männer gleich groß.
Weil Bullinger lange Zeit ohne Nachricht blieb, fragte er bei
Calvin an und bat ihn dringend, seine Besorgnis zu lindern und
ihm zu schreiben, was er über die Ereignisse in Frankreich wisse.
Wie war er empört, als die deutschen Lutheraner in die franzö-
1) C. R. XIII. p. 266.
2) Heppe a. a. O. p. 101 ff.
j- j g Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
sischen Verhältnisse hineingezogen wurden und Zwiespalt unter
den Evangelischen zu erwecken suchten und dadurch die Stellung
der Gegner stärkten ! 1
Auch gegenüber den Verleumdungen Calvins, die sich an sein
Wirken für Frankreich hefteten, war Bullinger sein treuer Bundes-
genosse. In Bern und anderwärts wurde behauptet, die Genfer
seien an der Verschwörung von Ambosie, 16. März 1560, nicht un-
beteiligt.2 Bullinger wies dies Gerede von vornherein als Lüge
zurück. Dem französischen Gesandten Coignet, der bei ihm die
Genfer wegen ihrer Teilnahme an den Unruhen in Frankreich ver-
klagt hatte, erwiderte er: „Das Gerücht, daß die Genfer Prediger
die Gemüter in Frankreich aufwiegeln, erscheint mir unglaubhaft" ;
Calvin selbst habe ihm darüber geschrieben und von seinen Ver-
suchen erzählt, seine Brüder von Unruhen fernzuhalten. „Ich
schicke Dir hier ein Exemplar des Briefes Calvins unter der Be-
dingung, daß Du es mir zurückgibst. Du siehst daraus sofort, daß
die Genfer mit Unrecht so schwer verdächtigt werden, als handelten
die Urheber der Unruhen auf ihren Antrieb hin." Calvin dankte
ihm für seine Verteidigung und setzte ihm sein Verhalten in der
Sache auseinander : „Du konntest mit gutem Gewissen den Ver-
dacht wegen des französischen Aufstandes von uns abwehren. Als
vor acht Monaten diese Pläne zuerst erwogen wurden, habe ich
mein Ansehen aufgeboten, daß man sie nicht weiter verfolge. Zwar
tat ich das in aller Stille, weil ich fürchtete, allen Frommen den
Tod zu bringen, wenn die Feinde davon hörten." In Gegenwart
seiner Kollegen habe er den Führer des Aufstandes, Herrn de la
Renaudie, ernst gewarnt; dieser habe ihm selbst bezeugt, daß man
in Paris wohl wisse, daß er, Calvin, den Plänen ganz fernstehe.
„Öffentlich und privatim habe ich unverhohlen meinen Abscheu an
der Verschwörung ausgesprochen." 3 Um die Unruhen zu be-
schwichtigen, die nach Entdeckung der Verschwörung in Frank-
reich ausgebrochen waren, wurde Beza herübergeschickt. Trotz
der durch des letzteren Abwesenheit sehr vermehrten Arbeitslast
ließ es Calvin sich nicht nehmen, Bullinger über die Reise Bezas
sorgfältig zu unterrichten und ihm genaue Nachrichten über die
Entwicklung der Dinge zu verschaffen.4
1) CR. XIX. p. 93, 99. Heppe a.a.O. p. 150.
2) Haller an Bullinger C. R. XVIII. p. 76.
3) C. R. XVIII. p.83.
4) C. R. XVIII. p. 204.
Von W. Kolfhaüs. I I 9
Bullinger auf der anderen Seite versäumte nicht, Calvin zu 1"
nachrichtigen, sobald ihm wichtige Kunde kam. Unter dem Vor-
wand, die Aufrührer zu dämpfen, verlaugte der französische König
die Erlaubnis zu Truppenwerbungen in der Schweiz. ( )hne Zögern
wurde Calvin davon in Kenntnis gesetzt und ihm von Bullinger
versprochen, daß Zürich weder Geld noch Waffen geben werde,
wenn es sich darum handele, die Gläubigen zu unterdrücken, die
der Gewaltherrschaft und Rechtsberaubung widerstehen wollten.
Die Werbung unterblieb damals. Als aber im Frühjahr 1562 nach
der Bluttat von Vassy die Hugenotten aufs neue zu den Waffen
griffen, um die beschworenen Verträge und die freie Entschließung
des minderjährigen Karl IX. zu schützen, hatte auch Bullinger
nichts dagegen zu erinnern, daß schweizerische Hilfstruppen den
Reformierten zueilten; er beschwerte sich sogar bei Calvin darüber,
daß Conde nicht auch an die vier evangelischen Städte geschrieben
habe, während in den katholischen Gebieten Werbungen veran-
staltet würden. Er gab seinen Ratschlag, wie Conde in der Schweiz
verfahren müsse, um möglichst viele Truppen zu gewinnen, und
suchte zugleich, wenn auch vergeblich, die katholischen Kantone
von der Beteiligung am Kriege fernzuhalten.1 In Basel, Schaff-
hausen, St. Gallen und Graubünden machte er seinen Einfluß dahin
geltend, daß den Guisen keine Soldaten zugeführt würden. Calvin
war anfangs dagegen gewesen, daß die französischen Reformierten
auswärtige Hilfstruppen herbeiriefen. Erst das Vorgehen der
Feinde bewog ihn, seinen Widerstand aufzugeben und Bullinger
zu bitten, zu erwirken, daß die Freiwilligen aus Zürich zum Heere
stoßen dürften. Willig folgte Bullinger der Mahnung und war
nach Kräften dafür tätig, daß auch von Zürich einige Hilfe geleistet
wurde. Ein Brief nach dem andern ging in diesen Wochen nach
Genf ab, um zur Eile anzuspornen, auf Versäumnisse aufmerksam
zu machen und die nötigen Schritte zu empfehlen.2 Die trüben
Nachrichten, die im Anfang aus Frankreich einliefen, erregten
Bullinger aufs tiefste. Mit seiner Sorge flüchtete er an das Herz
des trotz aller Übeln Nachrichten in seinem Mut ungebrochenen
Freundes : ,,Der Herr erbarme sich über Frankreich und uns alle.
Nichts hat mich in meinem ganzen Leben so mitgenommen wie
diese Sache. Stündlich habe ich vor Augen, wie das unschuldige
Blut vergossen wird. Wie lange noch, o Herr? Bewahre, die
1) CR. XTX. p.39i, 392.
2) CR. XIX. p. 486.
120 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
deinen Namen anrufen." Nach der unentschiedenen Schlacht von
Dreux durfte Calvin ihm ein im ganzen nicht ungünstiges Bild der
Lage zeichnen und den Dankbrief Bullingers empfangen: „Wir
bitten unaufhörlich, daß der Herr fortfahre, die Unsrigen zu segnen,
die Feinde zu Boden zu schlagen und den blutigen Krieg durch
einen dauerhaften und günstigen Frieden zu beendigen." Der
Friede wurde dann zwar zu Amboise geschlossen, aber durch die
Treulosigkeit und den Leichtsinn der beiden bourbonischen Prinzen
unter überaus verderblichen Bedingungen, die Calvin sehr genau
Bullinger übermittelte.1 Bullinger, selbst erschreckt und betrübt
durch das Verhalten der hugenottischen Führer, tröstete ihn:
„Auch ich fürchte, der Friede werde nicht von Dauer sein. Da es
aber einmal so ist, wollen wir den Herrn bitten, daß er die durch
die Trägheit und Bosheit der Menschen verursachten Leiden heile.
Diese Sache ist des Herrn, ohne seinen Willen geschieht nichts.
Er will offenbar unseren Glauben und unsere Geduld prüfen."
Tröstend, mit Rat und Tat helfend, trug Bullinger dazu bei, daß
Calvin unverzagt seinen Dienst an der französischen Kirche vollen-
den konnte. Nie beklagte er sich, wenn er zu immer neuen Mühen
herangezogen wurde, und Calvin wußte, was er an seinem Bullinger
hatte. Noch der letzte Brief Calvins an Bullinger vom 6. April
1564 betraf die beiden so teure, von den Gebeten und der Arbeit
beider getragene Reformation in Frankreich.
XL
Calvins und Bullingers litterarischer und privater Verkehr.
Bullinger und Calvin waren verbunden durch die größten ge-
meinsamen Arbeiten zum Wohl der Kirche. Jeder nahm aber auch
teil an dem persönlichen Ergehen des andern, an seinen Studien,
seinen häuslichen Freuden und Leiden. Werfen wir zum Schluß
noch einen Blick in diese persönlichen Beziehungen im engsten
Sinne.
Schon mehrfach hatten wir Gelegenheit zu beobachten, wie
Bullinger sich nicht scheute, seinem reizbaren Freunde entgegen-
zutreten, sobald es die Sache erforderte. Aber ebenso suchte er,
wo er konnte, Ärger von ihm fernzuhalten. Nachdem Viret und
Beza ihre Stellungen an der Akademie zu Lausanne im Jahre 1559
verlassen hatten, dachte man in Bern daran, Castellio von Basel
1) C. R. XIX. p. 690.
Von W. Knlfhaus. I 2 I
zu berufen. Man hätte Calvin keinen heftigeren Verdruß bereiten
können als durch die Wahl des ihm so gründlich verhaßten Basler
Humanisten. In aller Eile fragte Haller bei Bullinger an, wie er
über diese Berufung denke, da, wie er höre, Castellio bei den
Genfern sehr verhaßt sei. Sofort antwortete Bullinger : „Was soll
ich sagen, mein Bruder? Mit Händen und Füßen sträube ich
mich gegen Castellios Berufung und rate ab mit aller Macht", nicht
nur um der Genfer willen, sondern auch weil der Mann selbst un-
geeignet sei und nur Zank stiften werde. Zugleich beruhigte er
Calvin, er glaube nicht, daß man Castellio nach Lausanne holen
werde, er habe die Freunde aufs ernstlichste gebeten, davon Ab-
stand zu nehmen. Ja, alsdann doch diese Berufung in bedenkliche
Nähe rückte, ließ es sich Bullinger nicht verdrießen, in einem
deutschen, zur Mitteilung in weiteren und einflußreichen Kreisen
bestimmten Brief an Haller noch einmal gegen Castellio sein Vo-
tum abzugeben und auf die bedenklichen Seiten dieses Gelehrten
hinzuweisen. Castellio lehnte übrigens selbst den Ruf ab.1
Und dann der litterarische Verkehr! Mit den Briefen trugen
die Boten sehr häufig auch die letzten Früchte der Feder Calvins
bezw. Bullingers dem Freunde zu. Bullinger schätzte Calvins
wissenschaftliche Kraft nach Gebühr. Aber auch dieser freute sich
über Bullingers theologische. Arbeiten. Schon sehr früh hatte er
von ihnen Kenntnis genommen. Während seines Aufenthaltes in
Straßburg verglich er in einem Brief an Grynäus die Kommentare
Melanchthons, Butzers und Bullingers über den Römerbrief mit-
einander und urteilte über Bullinger: ,,Er verdient das Lob, das
ihm gezollt ist. Denn bei ihm verbindet sich die rechte Lehre mit
einer angenehmen Form, und er hat sich dadurch als tüchtigen
Ausleger bewährt." 2 Ihre gegenseitigen häufigen Bücherdedika-
tionen waren von freundlichen, ermunternden Worten begleitet.
Als Bullinger den fünften Teil seiner Dekaden — um ein einzelnes
Beispiel herauszugreifen — Calvin übersandte, bemerkte er: „Ich
meine nicht, Dich belehren zu müssen, der ich so viel aus Deinen
Büchern zu lernen bekenne, sondern ich schicke sie Dir als Zeug-
nis meiner herzlichen Freundschaft. In der Behandlung der Sakra-
mente wird Dir nichts mißfallen, denn wovon Du sagtest, daß es
manchen frommen Männern mißfallen würde, das habe ich atis-
i) CR. XIX. p. 235. 243. 290, 496, 502.
2) C. R. X. p. 102.
122 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
gelassen/' In seinem Danke erklärte Calvin, daß auch er gern aus
den Büchern anderer lerne : „Das ist wahrhaft brüderliche Gemein-
schaft, wenn wir die unter uns verteilten Gaben des Geistes so an-
erkennen, daß niemand glaube, er könne allein etwas/' x Ein an-
deres Mal erhielt Calvin von Bullinger einen Band Predigten über
die rechtfertigende Gnade, die dem dänischen König gewidmet
waren, und er dankte besonders dafür, daß in dem Buch auch sein
Name mit Ehren genannt sei. Ebenso hatte umgekehrt Bullinger
immer wieder zu danken für Schriften, die Calvin ihm überreichen
ließ. Er war dann nicht sparsam mit seinen Lobsprüchen, sondern
erkannte stets gern die Überlegenheit seines Mitstreiters an, des
incomparabilis theologus, wie ihn Blaurer einmal in einem Brief
an Bullinger bezeichnete. Den Empfang des „Tractatus de vitan-
dis superstitionibus" z. B. bestätigte er mit den ehrenden Worten :
„Dein Buch über das Vermeiden abergläubischer Gebräuche haben
wir gelesen, im Herrn verehrter und geliebter Bruder Calvin. Es
hat nicht nur mir gefallen, sondern allen Frommen bei uns sowohl
wegen der außerordentlichen Gelehrsamkeit als wegen der Rein-
heit des Glaubens und Bekenntnisses/' „Wir bitten Gott, daß er
Dich für dein gutes Werk segne. Wir wissen wohl, daß Dir
manche Widersacher entgegen halten, Du ständest allein mit
Deiner Meinung. So mögen sie denn wissen, daß auch wir Deine
Gedanken billigen und mit Dir eins sind." 2 Als Calvin seine „Sup-
plex exhortatio ad Caesarem" im Jahre 1544 den Zürichern mit-
teilte, bezeugte ihm Bullinger, daß ihm seine Schriften stets sehr wert-
voll und angenehm seien. „Wegen der herrlichen Gaben Gottes
ehre und liebe ich Dich von Herzen. Der Herr bewahre Dich zum
Ruhm seines Namens, damit Du der Kirche durch Deine Schriften
möglichst reichen Nutzen bringest." Oder Bullinger bat ihn, ihm
seine neuesten Kommentare zu besorgen ; er verlange sie nicht um-
sonst, sondern wolle sie gern bezahlen. Recht hübsch war Calvins
Antwort, die uns sehen läßt, wie der Reformator an die geringsten
Kleinigkeiten dachte. Er besorgte Bullinger, was er an Ausgaben
seiner Kommentare besaß und schrieb dazu : er würde ihm seine
Bücher schon längst geschickt haben, wenn er nicht gefürchtet
hätte, das Porto möchte teurer sein als der Kaufpreis, den Bullinger
in Zürich selbst beim Buchhändler würde bezahlen müssen.3 Auch
1) CR. XIV. p.54, 74-
2) CR. XIII. p. 406.
.0 CR. XIII. p. 164.
Von W. Kollhaus. 123
über die Veröffentlichung neuer Bücher unterhielten sie sich und
besprachen ihre litterarischen Pläne miteinander, sei es, daß Bul-
linger Calvin anregte, ob er nicht eine Konkordanz des griechischen
Alten Testaments ins Auge fassen wolle, oder daß er im Abend-
mahlsstreit deutsch erschienene Schriften für Calvin übersetzen
ließ, damit dieser darauf antworte. Auch rief er wohl Calvins Ur-
teil an etwa über die Schrift des Jacobus Andreae „Kurtzer und
einfältiger Bericht von des Herrn Nachtmahl" und teilte ihm zur
Kenntnisnahme aus dem Inhalt des Buches das Wichtigste im
Auszug mit; oder er wollte seine Gedanken hören über ein von
ihm gerade geschriebenes Buch gegen Brenz. Dann wieder war
es ein Werk seines Schwiegersohnes Lavater über die Geschichte
des Sakramentsstreits oder die Leichenrede auf Petrus Martyr von
seinem andern Schwiegersohn Simler, die der Briefbote nach Genf
tragen mußte. Nur einiges konnten wir aus der Fülle der Notizen
im Briefwechsel hier erwähnen; es herrschte ein unabgebrochenes
Geben und Nehmen in der schriftstellerischen Arbeit.
Auch das Familienleben und das leibliche Wohlergehen hatte
im Verkehr der beiden Männer seine Stätte. Während der Verhand-
lungen über den Consensus Tigurinus starb Calvins Gattin. Er
zeigte den Todesfall Bullinger an mit den kurzen Worten : „Dein Brief
hat nicht wenig dazu beigetragen, mein häusliches Leid zu lindern,
das mir das Sterben meiner Gattin zugefügt hat"; worauf dieser
erwiderte : „Aus Deinem Brief ersah ich, daß Deine teure Gattin
zum Herrn heimgegangen ist. Es schmerzt mich, daß Du der Hilfe
und des Trostes der Genossin beraubt bist. Doch wiederum freue
ich mich, daß sie, befreit von den großen Beschwerden dieses
Lebens, sich schon freut mit Christus, dem sie geglaubt hat. Ich
bitte unterdessen den Herrn, Dich zu trösten und Deinen gerechten
Schmerz zu lindern. Du weißt : Er lebt, der für uns wacht, und
Du wohnst unter seiner Fürsorge und Hilfe. Du weißt auch, daß
sie nicht verloren, sondern nur voraufgeschickt ist."1 Calvins
Stieftochter Judith hatte sich einen schweren Fehltritt zuschulden
kommen lassen, über dessen Art wir nichts Genaueres wissen. Er
teilte Bullinger seinen Kummer mit und erzählte ihm, daß er durch
den Fall so angefaßt sei, daß er für mehrere Tage in die Einsamkeit
habe flüchten müssen. Bullinger tröstete ihn mit dem Hinweis mit"
die Schicksale Davids, des Mannes nach dem Herzen Gottes.2 Audi
c) C. R. XIII. P. 278.
2) CR. XIX. p.365.
124 Der Verkehr Calvins mit Bullinger.
die Lücken, die der Tod in den Freundeskreis riß, fanden in den
Briefen pietätvolle Erwähnung: Grynäus, Capito, Jud, Vadian,
Pellikan, Lasky, Melanchthon, Martyr, sie alle waren beiden
Männern wert gewesen und wurden gemeinsam betrauert. Wie
Bullinger besonders getroffen wurde durch Martyrs Heimgang, so
Calvin durch das Scheiden Butzers auf fremder Erde. Schon zu
dessen Lebzeiten hatte er oftmals seinen guten Ruf und seine
fromme Meinung bei den Zürichern gegen den Verdacht der Un-
zuverlässigkeit verteidigt und sich immer als dankbaren Freund
Butzers bekannt, der nie die brüderliche Aufnahme in Straßburg
vergaß, trotzdem ihm daraus bei vielen Unannehmlichkeiten und
Mißtrauen erwuchsen. Nach Butzers Tod am 28. Februar 1551
schrieb er an Bullinger : „Die Nachricht von Butzers Tod hat mich
sehr betrübt. Wir werden beide bald merken, welchen Schaden die
Kirche Gottes erlitten hat. So lange er lebte, habe ich seine großen
Gaben hoch geschätzt ; wie nützlich er uns jetzt sein würde, erkenne
ich jetzt noch besser, nachdem ich seiner beraubt bin." l
Ein Gegenstand beständiger Sorge war für Bullinger Calvins
häufige große Leibesschwachheit. Manches aufrichtende Wort
ließ er den Kranken hören und ermüdete nicht in der Fürbitte für
ihn. Wenn ihm Calvin wieder einmal schreiben mußte, daß Krank-
heit ihn niedergeworfen habe, versäumte Bullinger nicht, seine
herzliche Teilnahme und seine Wünsche zur Genesung auszu-
sprechen. „Wir bitten den Herrn, Dich wiederherzustellen und
noch lange zu erhalten. Denn zu unserem großen Schmerz haben
wir gehört, daß Du krank bist und in Deiner Arbeit so gehindert
wirst. Aber der Herr wird Dich stützen." Damit Bullinger über
sein Befinden stets unterrichtet sei, ließ ihm Calvin wohl durch
seinen Sekretär Joinvilliers oder durch Beza Nachricht zugehen.
Dankbar empfand Bullinger dieses treue Gedenken: „Ich sehe,
wie hoch Du mich schätzest, daß Du trotz der Last der Krankheit
fortfährst, vom Bette aus mir Kunde zu geben."2 Ihm gegenüber
schilderte der sonst darin so wortkarge Calvin gelegentlich seine
Krankheitszustände, wie z. B. noch im letzten Brief vom 6. April
1564. Mit gespanntester Teilnahme erwartete Bullinger jede neue
Nachricht aus Calvins Sterbezimmer. An Beza schrieb er am
12. Mai: „Dein Brief erneuert den tiefen Schmerz über Calvins
hoffnungslose Krankheit. Die ganze Kirche Christi erleidet durch
1) C. R. XIV. p. 104, 117.
2) CR. XX. p. 42.
Von W. Kolfhaus. 125
den Tod dieses einen Mannes einen unersetzlichen Verlust. Der
Herr möge uns durch seine Kraft aufrecht erhalten." Dann kam
die Nachricht, daß Calvin in die Ewigkeit abgerufen sei, und
schmerzbewegt reichte Bullinger dem Nachfolger des Freundes die
Hand teilnehmend und tröstend: „Wie traurig ich bin über den
Heimgang unseres verehrten Bruders Calvin, kann ich kaum sagen."
„Du trittst jetzt an den Platz des treuesten Knechtes Gottes;
mögest Du im Glauben, in der Wahrheit und Lauterkeit in seinen
Fußstapfen einhergehen."
Fast dreißig Jahre hindurch hat die Freundschaft Calvins und
Bullingers reiche Früchte getragen, bedeutsam für die ganze evan-
gelische Welt. Von Neid und Eifersucht ist sie nie getrübt wor-
den; sie konnten beide ungeduldig werden, Calvin ist mehr als
einmal im Zorn aufgefahren, aber trennen konnten sie sich nie.
Gottes Vorsehung hat sie nebeneinander gestellt, damit sie von-
einander lernend miteinander arbeiteten zur Erbauung der Kirche.
Neben Farel, Viret und Beza ist keiner aus Calvins großem Freun-
deskreis ihm so vertraut gewesen als Bullinger, von keinem hat
er sich williger beraten und schließlich auch gegebenenfalls zurecht-
weisen lassen. Keiner hat ihm wichtigere Dienste geleistet.
Ihrem Bund verdankt es die evangelische Kirche, daß der ganze
reformierte Protestantismus eine feste Phalanx bildete von der
Schweiz bis Schottland. Wenn Calvin mehr hervortritt als Bul-
linger in der großen Geschichte, wenn Calvins Einwirkungen auf
die evangelische Welt die stärkeren geworden sind, so hat Bul-
lingers Treue und Weisheit ihm geholfen, den Sieg zu gewinnen
über den Romanismus und die Zersplitterung im eigenen Lager
und nicht zum wenigsten über sein eigenes ungeduldiges, heißes
und reizbares Temperament. Wie er es dem Reformator von Genf
in den Tagen seiner schwersten Kämpfe zurief: „Durch Ausdauer
und Geduld werden wir siegen", so hat er es ihm durch sein treues
Ausharren, durch seine nie ablassende Freundschaft möglich ge-
macht, Ausdauer und Geduld zu bewahren. Man hat Calvin einen
Theologen der Diagonale genannt, er war es in der Tat ; und weil er
in Bullinger einen, an Begabung und Gelehrsamkeit ihm zwar nicht
gleichen, aber an großzügigem Charakter ihm ebenbürtigen Ge-
nossen fand, deshalb ertrug das Freundschafstband zwischen ihnen
alle Proben, ja unter den Prüfungen festigte es sich je länger je
mehr. Zu den schönsten und gesegnetsten Zügen in Calvins
Lebensgeschichte gehört sein Bund mit Bullinger.
Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Von
Dr. Walter Hollweg,
Pfarrer an der reformirten Gemeinde Gildehaus bei Beritheim.
Es gibt wenige deutsche Gebiete, die in ihrer Reformations-
geschichte dem Forscher ein so interessantes und buntes Bild
bieten, wie die Rheinlande. Durch einen ausgedehnten eigenen
Handel und durch bedeutenden Durchgangsverkehr standen
sie in Fühlung und enger Verbindung schon lange mit den
großen geistigen Bewegungen des ausgehenden Mittelalters. Ein
ausgesprochenes religiöses Interesse hatte dieselbe früh zu einer
Stätte angeregten geistigen Lebens und praktischer religiöser Be-
tätigung gemacht. Die auf Verinnerlichung und praktisches
Christentum zielenden Bestrebungen des ausgehenden Mittelalters,
die zum großen Teil ihren Ursprung in den benachbarten Nieder-
landen hatten, fanden hier namentlich in den Herzen der schlichten
Leute gute Aufnahme ; und der Humanismus, der in den Rhein-
landen zu hoher Bedeutung gelangte, zeitigte in den Kreisen der
Gebildeten ein tieferes Verständnis für die Schäden der Kirche und
weckte eine reformfreundliche Stimmung.
Als dann die Reformation einsetzte, da fanden Luthers
Gedanken in milder Gestalt bald begeisterte Anhänger und bildeten
die Grundlagen der ersten evangelischen Gemeindebildungen, auf
welche dann der Calvinismus stieß, von Norden aus den Nieder-
landen und von Süden aus der Pfalz seine Gedanken verbreitend.
Als Reaktion gegen den letzteren trat dann das orthodoxe
Luthertum auf. Neben diesen Strömungen fand aber auch das
Täufertum viele Freunde, die sich ihrerseits zu selbständigen Ge-
meinden zusammenschlössen.
So bunt wie die religiösen Strömungen, waren auch die poli-
tischen Verhältnisse der Rheinlande. Das Land zerfiel in eine
große Zahl freier, oder wenn nicht rechtlich, so doch faktisch freier
Von Dr. Walter Hollweg. I 2 7
Städte, geistlicher und weltlicher Herrschaften und Unterherr
schatten, die mit ihren landesherrlichen Befugnissen bestimmend
eingriffen in die religiöse und kirchliche Entwicklung der einzelnen
Territorien.
So war durch die Mannigfaltigkeit der sich kreuzenden reli-
giösen Ideen und die Vielgestaltigkeit der politischen Verhältnisse
auf relativ kleinem Boden die Möglichkeit zur Bildung der ver-
schiedenartigsten kirchlichen Gebilde gegeben. Aber als End-
ergebnis aller dieser miteinander und gegeneinander wirkenden
Kräfte finden wir dort, wo die Reformation siegreich durchdrang,
im wesentlichen ein in Lehre und Kultus von calvinischem Geiste
durchdrungenes Kirchentum.
Es ist eine schwierige und bisher noch ungelöste Aufgabe, in
diesem religiösen und politischen Wirrwarr die Fäden zu verfolgen,
die zu diesem Endziel geführt haben. Ich erinnere nur an die eine,
neuerdings von Walther Wolff des öfteren aufgeworfene Frage, ob
die Verbreitung calvinischer Gedanken im wesentlichen, wie bis-
her angenommen, von den Niederlanden, oder nicht vielmehr von
der Pfalz ausgegangen ist.1 Die folgende Arbeit soll diese Prob-
leme neu angreifen und zunächst eine Untersuchung bieten über
Calvins persönliche Beziehungen zu den Rheinlanden. Cal-
vins persönliche Beziehungen werden zunächst klar zu legen sein,
ehe man die Bedeutung des Calvinismus für die Rheinlande unter-
sucht. Das ist um so wichtiger, weil Calvin die Rheinlande und
die Rheinländer kannte, sogar genau kannte: das zeigen z. B.
wunderbar treffende Charakteristiken einzelner Persönlichkeiten.
Aber das nicht allein: Calvin hat persönlich eingegriffen in
rheinische Verhältnisse : Und das alles, obwohl sein Fuß nie auch
nur mit einem Schritt rheinischen Boden betreten hat.
Es seien nun im folgenden zunächst in einem ersten Abschnitt
untersucht Calvins persönliche Beziehungen zu reformatorischen
Bewegungen verschiedener rheinischer Territorien. Zu behandeln
wird hier sein Calvins Verhältnis zum Reformationsversuch des
Kölner Erzbischofs Hermann von Wried und zu den Anfängen
evangelischen Gemeindelebens in der Stadt Köln, ferner seine Be-
ziehungen zu Trier, Wesel und Aachen. Ein zweiter Abschnitt soll
dann dem Einflüsse nachgehen, den Calvin durch seine wissen-
i) Vgl. Theologische Arbeiten ans dem rheinischen wissenschaftlichen
Predigörverein X. F. VII. p. 70 A.nm. 1, VIII. p. 124 und: Monatsheft
Rheinische Kirchcngescliichte f. p. 14 f.
128 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
schaftliche, besonders seine schriftstellerische Tätigkeit zu seinen
Lebzeiten auf die Rheinlande ausgeübt hat.
I. Abschnitt.
a) Calvins Beziehungen zum Reformationsversuch Erzbischof
Hermanns von Wied und zu den Anfängen evangelischen Ge-
meindelebens in der Stadt Köln.
Zur Zeit von Luthers öffentlichem Auftreten saß auf dem
Kölner Bischofsstuhl Hermann von Wied.1 Seine persönliche Milde
und die Einflüsse, die von dem humanistisch gebildeten und inte-
ressierten Kreise seiner Umgebung auf ihn ausgegangen waren,
hatten ihn je länger je mehr von einer energischen Bekämpfung der
in seinem Gebiet früh einsetzenden reformatorischen Bewegung ab-
gehalten, hatten ihn im Gegenteil von der Notwendigkeit einer Besse-
rung der kirchlichen Angelegenheiten überzeugt. Seine Haltung
den Protestanten gegenüber war immer mehr eine freundliche
geworden. Diese Stellung des Erzbischofs war Calvin bereits
bekannt, noch ehe er mit ihm in nähere Beziehungen trat. Deshalb
konnte er Mitte Mai 1540 an Farel schreiben im Hinblick auf
etwaige kommende Verwicklungen zwischen dem Kaiser und den
Protestanten : ,,Drei Kurfürsten werden eine vermittelnde Stellung
einnehmen, der Pfälzer, Kölner und Trierer, und werden sich
eher mit uns verbinden, als daß sie unsere Unterdrückung
duldeten." 2 Die politische Lage zwang gerade damals den Kaiser,
allen Streit mit den protestantischen Fürsten zu meiden, im Gegen-
teil zum Vergleiche die Hand zu reichen. Eine nach Speier aus-
geschriebene, aber ansteckender Krankheit halber nach Hagenau
verlegte Versammlung trat zu diesem Zwecke im Juni 1540 zu-
sammen. Bekanntlich weilte hier auch Calvin : aus persönlichem
Interesse, nicht etwa als Vertreter einer protestantischen Macht.
Wie Butzer,3 so erhielt auch Calvin hier einen lebendigen persön-
lichen Eindruck von dem Ernste, mit dem Hermann eine Refor-
mation erstrebte und von der bei ihm zunehmenden Erkenntnis
von der Wahrheit der von den Protestanten vertretenen Position.
1) Für die folgenden Verhältnisse sei hier namentlich hingewiesen
auf C. Varrentrapp: Hermann von Wied und sein Reformationsversuch in
Köln, Leipzig 1878, und den Aufsatz von W. Rotscheidt: Calvin und Köln
in den Monatsheften f. Rh. K.-G. II. 1908 p. 257—266.
2) Calv. Opp. XI p. 39 Nr. 218.
3) Vgl. Varrentrapp p. 108.
Von Dr. Walter Hollweg. 129
Von Hagenaii nach Straßburg- zurückgekehrt schrieb Calvin an
du Taillv am 28. Juli : ,,Der Erzbischof von Köln gehört nicht
zu den schlechtesten. Denn er ist bisher der Ansicht, daß die
Kirche reformirt werden muß und sieht wohl, daß wir in der
Wahrheit überlegen sind." Diese Erkenntnis von dem Hin-
neigen des Erzbischofes zur evangelischen Wahrheit wurde Calvin
bestätigt durch die Stellung des Kölners, die dieser in Worms, wo
Calvin als Straßburgs Vertreter anwesend war, bei der Fortsetzung
des Hagenauer Gespräches einnahm, und gerade, als es sich um
den Zentralpunkt der evangelischen Lehre handelte : um die Recht-
fertigungslehre. Vorsichtig, aber doch sehr charakteristisch schreibt
er Ende Dezember: ,,Die Stellung der Clever und Kölner ist nicht
eine sehr ungünstige zu nennen." l Gerade daß Calvin Cleve und
Köln in dieser Zeit nebeneinander stellte, ist ein Zeugnis seines
scharfen Blickes und seiner feinen Beobachtungsgabe. Und als
dann nach abermaligem Abbruch der Verhandlungen die Be-
ratungen im April 1541 in Regensburg wiederum aufgenommen
wurden, da hat Calvin erneut den Eindruck gewonnen : der Kölner
Erzbischof und der Clever Herzog gehören derselben Gruppe an.
In einem Briefe an Farel charakterisiert er sie des näheren so :
„sie würden eine erträgliche Reformation sowohl in der Lehre
wie in der Kirchenzucht gerne zulassen ; aber weil sie sowohl noch
nicht auf den Standpunkt gekommen sind, daß sie die Sache gründ-
lich erkannt haben, als auch zu kleinmütig sind, als daß sie sich
als L'rheber eines solchen Planes zu bekennen wagten, verhalten
sie sich so, daß es scheint, sie wünschten nichts als die öffentliche
Ruhe".2 Beachtenswert ist auch, daß Calvin von den katholischen
Theologen, die mit Melanchthon, Butzer und Pistorius die Ver-
handlungen führten, den größten Eindruck gerade von dem ein-
flußreichsten Rate Hermanns von Wied bekam, dem Kölner Pro-
fessor Johann Gropper. Er stellt ihn weit über Eck, aber auch
über Pflug. Freilich sagt er zunächst: „Auch er gehört zu der
Klasse von Menschen, die, ich weiß nicht was für ein Mittelding
zwischen Christus und der Welt schaffen wollen." Aber er fährt
fort : „Dennoch ist er ein Mann, mit dem nicht ohne Frucht ver-
handelt werden kann." 3 Calvin hat den Reichstag vor dessen Ende
1) Calv. Opp. XI p. 138 Nr. 268.
2) Calv. Opp. XI p. 178 Nr. 290.
3) Calv. Opp. XI p. 203 f. Nr. 302. Brief an Farell. Regensburg, den
24. April 1541.
Calvinstiidien.
j oq Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
verlassen, wurde aber von Butzer über den Verlauf desselben
unterrichtet. Gerade von dem Kölner Erzbischof konnte er an
Calvin melden, daß er den Protestanten nicht ungünstig ge-
sinnt sei.1
Butzer hatte allerdings Grund, so an Calvin zu schreiben.
Bereits in Hagenau hatten zwischen Hermann von Wied und
Butzer vertrauliche Unterredungen über eine Reformation des
Erzstiftes begonnen. Und die Verhandlungen zwischen Butzer
und Gropper hatten zu einer starken Annäherung der beiden ge-
führt. Ja für den Februar 1542 ward eine Zusammenkunft beider
am erzbischöflichen Hofe zu Bonn vereinbart. Von diesen Dingen
scheint bald etwas in die Öffentlichkeit durchgedrungen zu sein.
Am 10. Februar 1542 schreibt Mykonius aus Basel an Calvin:
„Butzer ging zum Reichstag nach Speier, um von dort vielleicht
nach Köln zu reisen. Was er dort will, habe ich noch nicht er-
fahren." 2 Aber bereits am 8. April kann derselbe an Calvin mit-
teilen: „Endlich ist Butzer vom Kölner Erzbischof zurückgekehrt;
er sagt, daß er ganz auf unserer Seite sei, nur könne er nicht
sogleich alles durchsetzen derenthalben, denen er feind sei.
Dennoch wolle er etwas versuchen, das nicht schaden würde, wenn
es nur voranginge. Was das sei könne er einem Briefe nicht
anvertrauen." 3 Bereits am 17. April hat Calvin diesen Brief beant-
wortet: und es ist wunderbar, mit welch klarem Blick er die ganze
künftige Entwicklung vorauserkannt hat : „Ich fürchte, so schreibt
er, daß die Hoffnung, die Butzer in betreff des Bischofs gefaßt
hat, recht unsicher ist, wenn dieser nicht gerade jetzt etwas zu
unternehmen wagt, selbst gegen den Willen all der Seinen. Denn
wenn er wartet, bis die Kanoniker ihm bei der Kirchenreformation
zu Hilfe sind, dann wird er lange Zeit warten. Wenn er sich aber
jetzt aufrafft und auf jene nicht wartet, dann hat er, wie mir
scheint, die ganze Sache in der Hand. Denn die Civitas wird ent-
weder zustimmen oder keinen großen Widerstand leisten. Viel-
leicht wird sie auch die Fland dazu bieten. Solange er aber nichts
Bedeutenderes unternimmt, und doch bei der Gesinnung verharrt,
1) Vgl. Calv. Opp. XI p. 257 Nr. 338. Hier handelt es sich nicht
um eine Erwartung Calvins bei der Besprechung des Wormser Ger-
spräches, wie Rotscheidt p. 261 sagt.
2) Calv. Opp. XI p. 369 Nr. 386.
3) Calv. Opp. XI p. 383 Nr. 390.
Von Dr. Walter Ilollweg. 131
daß auch er in nichts schadet, wird er auch die Wut der anderen
solange besänftigen, bis ihn der Herr mehr erleuchtet."1
Wie recht er hatte, sollten ihm bald die Nachrichten seiner
Freunde bestätigen. Der Erzbischof versuchte es in der Tat zuerst
mit seinem Klerus. Und es geschah wie Calvin gesagt hatte. Im
Juli 1542 schreibt Farel an Calvin: „Aus Butzers Briefen werdet
ihr sehen, daß der Kölner Erzbischof langsamer vorwärts macht,
als wir glaubten." - Als dann aber der Erzbischof die Unzuver-
lässigkeit seines Klerus bei der Reformation erkannte, wandte er
sich entschlossen von ihm ab, um jetzt durch die Hilfe fremder
evangelischer Theologen sein Ziel zu erreichen, namentlich durch
Butzer. Mit Freuden berichtet Sulzer dies an Calvin. Man hofft,
daß Butzer hinziehen wird als „ein in Wahrheit heiliger Apostel
Christi."" 3 Und Butzer nahm in der Tat den Ruf an. Wohl sprach
er Calvin gegenüber die Besorgnis aus, daß die am Niederrhein
durch die geldrische Frage entstandenen Wirren das Reformations-
werk behindern würden.4 Aber dennoch kam er am 14. Dezember
1542 in Bonn beim Kurfürsten an. Das trieb den Klerus noch
mehr in Opposition, auch Gropper wurde sein Gegner — wie
richtig hatte ihn doch Calvin in Regensburg kennen gelernt; der
Erzbischof aber ging um so entschiedener die einmal betretene
Bahn weiter.5 Und dann kam es so, wie Calvin vorausgesagt
hatte : Die civitas zeigte sich zur Reformation willig bei heftiger
Opposition des Klerus und der unter Einfluß des Klerus und der
Universität stehenden Stadt Köln.6
Wesentliche Unterstützung fand das Reformationswerk durch
die Ankunft einer Reihe bedeutender Theologen in Bonn, nament-
lich Melanchthons (Anfang Mai 1543). Gerade die letzte Tatsache
war Calvin besonders erwünscht. Von der Mitte Januar 1543 be-
schlossenen Absicht einer Berufung Melanchthons ins Rheinland "
scheint er bald Kenntnis erhalten zu haben. Am 16. Februar
1) Calv. Opp. XI p. 384 Nr. 391.
2) Calv. Opp. XI p. 422 Nr. 44g.
3) Calv. Opp. XI p. 454 f. Nr. 429.
4) Calv. Opp. XI p. 456 Nr. 430.
5) Über die Gründe zu der Abschwenkung Groppers vgl. Varrentrapp
P- 131 "*•
6) Vgl. den Verlauf des Landtages vom März 1543 bei Varrentrapp
p. 150 ff.
7) Vgl. Varrentrapp p. 140 Anm. 2.
9*
j -i 2 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
schreibt er nämlich an Melanchthon nach einer Schilderung der
bedauerlichen Zustände in Deutschland: „Das richtet mich etwas
auf, daß sie sagen, der Kölner und einige andere hätten mit Ernst
ihren Sinn auf eine Reformation der Kirche gerichtet. Denn das
halte ich für keinen geringen Gewinn, daß die Bischöfe, aus deren
Stand bisher keiner sich zu Christo bekannt hat, jetzt mit dem
Abfall beginnen unter Verzicht eines Vorteiles von dem römischen
Idol. Nur müssen wir jetzt wachen und uns bemühen, daß wir
ihren Lauf fördern, ne ex dimidio Christo peius monstrum renas-
catur." 1
Calvins Wunsch fand, wie bereits gesagt, bald Erfüllung.
Gerade während Melanchthons Bonner Aufenthalt scheint die
Korrespondenz zwischen ihm und Calvin besonders lebhaft ge-
wesen zu sein, so daß Calvin über den Fortgang der rheinischen
Reformation jedenfalls stets auf dem Laufenden blieb. Melanch-
thon schrieb ihm aus Bonn am n. Mai,2 er wolle ihm öfter
schreiben, wenn er nur wisse, daß seine Briefe richtig überbracht
werden. Auf diesen Brief hin ist bald eine Antwort Calvins nach
Bonn gekommen. Joh. Sturm aus Straßburg überbrachte sie.
Leider ist sie verloren gegangen. Aber aus der Erwiderung Me-
lanchthons 3 können wir vermuten, daß er den Freund ermutigen
und aufrichten sollte. Wie konnte hier der starke Calvin dem
schwachen Melanchthon eine Stütze sein ,,in diesen Geschäften,
die, wie Du weißt, voller Kümmernis sind.", schreibt Melanchthon.
Zugleich empfiehlt er die Kirche der Fürbitte Calvins.
Dieser Brief erreichte Calvin in Straßburg. Voller Freude
über den Fortschritt der Reformation, schreibt er am 24. Juli 1543
an den Genfer Senat. : 4 ,,Der Erzbischof von Köln ist prächtig
fest, das Evangelium in seinem Lande durchzusetzen, und er hat
wahrhaftig einen ganz wunderbaren Eifer (un miracle de zele).
Denn welchen Widerstand er auch erfahren mag vom Klerus, der
Universität und der Stadt Köln, selbst bis zur offenen Drohung
der Absetzung, er läßt dennoch nicht ab auszuharren, lebhafter
denn je, und bittet die bei ihm anwesenden Prediger, keine Rück-
1) Calv. Opp. XI p. 516 Nr. 454.
2) Calv. Opp. XI p. 539 — 542 Nr. 467.
3) Bonn, 12. Juli. Calv. Opp. XI p. 594 f. Nr. 488. Vgl. C. Krafft:
Theol. Arb. III. p. 79. Elberfeld 1874.
4) Calv. Opp. XI p. 598 f. Nr. 491.
Von Dr. Walter Hollweg. I 33
sieht auf seine Person zu nehmen, auch nicht auf seine Lage, so
daß die Reformation sich dadurch nicht geradewegs durchgestalte
und so wie es sich gehört; desgleichen wie sein Gewissen ihn dazu
drängt, sich dieser Sache vor seinem Tode zu entledigen. Und
jetzt hat er die Stände des Landes versammelt, um eine Ordnung
und Aufsicht üher die Kirchen zu beschließen und das götzen-
dienerische Wesen zu bessern. Denn betreff der Predigt ist bereits
ein anderes Mal beschlossen worden, nämlich : Das ganze Land,
mit Ausnahme von Klerus und Stadt, haben angenommen, daß
das Evangelium überall gepredigt werde."
Wie wichtig ihm diese Entwicklung war, zeigt die Tatsache,
daß er noch am gleichen Tage einen ähnlichen Bericht an eine
Genfer Gesandtschaft in Bern sandte.1
Auch mit Butzer hat Calvin in dieser Zeit Korrespondenz
gepflegt; leider ist auch sie untergegangen.2
Der in Calvins Schreiben erwähnte Landtag verlief durchaus
zu Gunsten des Erzbischofs. Vergeblich waren die Anstrengungen
der Gegner, auch ihre Bemühungen, benachbarte katholische
Fürsten für ihre Gedanken zu benutzen. Für unsere Frage ist es
von Interesse, daß unter den Gegnern, die sich besonders hervor-
taten, auch ein Mann befand, der früher in Straßburg mit
Calvin in Verbindung gestanden hatte : Der Trierer Rat Bartho-
lomaeus Latomus. Von seiner früheren Verbindung mit Calvin
berichtet uns ein Brief Crucigers an Jonas vom 22. Juli 1540,3
dort schreibt Cruciger: „Sehr erwünscht war uns das Zusammen-
sein mit den sehr gelehrten und beredten jüngeren Leuten Jo-
hannes Sturm, Calvin, Bartholomäus Latomus." Bald darauf trat
Latomus in die Dienste des Trierer Erzbischofs Johanns IV. von
Hagen, als dessen Vertreter er mit Calvin in Worms und Regens-
burg zusammenkam. Aber in dieser Stellung schlug er bald Wege
ein, die ihn von seinen alten Freunden trennen mußten.4
Während so im Erzstift der Reformation alles günstig schien,
gab allen Hoffnungen der Protestanten der Ausgang des geldrischen
Krieges einen bedenklichen Stoß. Melanchthon, Butzer und Hedio
1) Vgl. Calw Opp. XI p. 601 Nr. 492.
2) Vgl. Butzers Brief an Hubert: Calv. Opp. XI p. 602 Nr. 493.
3) Corp. Ref. III. 1063.
4) Über ihn vgl. Allg. dtsch. Biogr. Bd. 14 p. 423. C. Krafft: Auf-
zeichnungen Bullingers p. 134 Anm. 1. Varrentrapp p. 200 f. 11. 251 f. Ney:
Reformation in Trier p. 111 Anm. 116.
17A Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
mußten weichen. Freilich trat an Butzers Stelle eine neue tüchtige
Kraft : Adalbert Rizäus Hardenberg.1
Calvin hat bald die traurige Wendung der Kölner Ereignisse
erfahren. Mykonius unterrichtet ihn am 23. November 1543 über
die Feindschaft des Kaisers gegen die Häretiker, kann aber
dennoch gleichzeitig die Nachricht bringen, daß der Erzbischof
rüstig an der Ausbreitung des Evangeliums fortarbeite.2 Etwa
ein Jahr später schreibt ihm über die Lage des Erzstiftes Pollanus.3
Wir merken es seinem Briefe an : Die Lage hat sich bedenklich
zu Hermanns Ungunsten gestaltet. Mit aller Anstrengung arbeitete
der Klerus im Dezember 1544 auf dem Bonner Landtag gegen
Hermann. Darüber hat Calvin an einen Unbekannten folgendes
mitgeteilt, — es ist die letzte uns bekannte Äußerung Calvins über
diese Bewegung; sie zeigt uns, mit welch innerer Anteilnahme er
die rheinischen Verhältnisse verfolgte: „Alles haben die Kölner
Kanoniker versucht, mit der ganzen Hefe der Kleriker, um den
Erzbischof von seiner Stellung zu stürzen. Sie beriefen einen
Landtag aller Stände, damit ihnen die Wahl eines anderen gestattet
würde. Es wurde abgeschlagen. Dasselbe forderten sie vom
Kaiser: er antwortete, er werde es nicht fehlen lassen, nur sollten
sie ihre Pflicht tun. Offen wollte er es ihnen nicht gestatten. Aber
aus jenen Zweideutigkeiten kann man erraten, daß er keineswegs
widersprechen werde, wenn sie irgend welche Wirren erregten :
wenn sie noch weiter hinaus fortgeschritten sein werden, ist der
Krieg gewiß, wodurch die ganze Lage Deutschlands entweder
wankend gemacht oder schwer erschüttert wird. Das ist mein
einziger Trost, daß der Tod einem Christenmenschen nicht traurig
sein kann. Unterdessen werde ich seufzen, wie ich muß, über der
Kirche Elend und ergriffen sein über der Frommen Los, doch so
daß ich nicht verzweifelt bin . . ." 4 Dies letzte uns bekannte Wort
Calvins über den Reformationsversuch Hermanns von Wied zeigt
klar, wie er die Verhältnisse beurteilt hat. Auch fernerhin ist er
von seinen Freunden genau über den Verlauf der Bewegung unter-
richtet worden. 5
1) Vgl. über ihn Varrentrapp an verschiedenen Stellen, Rutgers p. II,
32, 61, 103 ff., 234 f.
2) Calv. Opp. XI p. 649 f. Nr. 519.
3) Calv. Opp. XI p. 778 N>r. 587.
4) Calv. Opp. XII p. 24 f. Nr. 610.
5) Vgl. Calv. Opp. XII. Bucerus Calvino 29. Aug. 1545 Nr. 689
p. 152 f., von demselben: 8. Sept. 1545 Nr. 696 p. 162 f. Hedio Calvino
Von Dr. Walter Hollweg. I 35
Was die Bemühungen des Erzbischofes auf die Dauer immer
aussichtsloser machten, das war nicht allein die Feindschaft der
Gegner, es war die Verblendung und Uneinigkeit der übrigen Pro-
testanten; endlich war zeitweilig auch bedenklich eine wieder-
täuferische Propaganda.1 Für Hardenberg persönlich war eine
besondere Schwierigkeit die Abendmahlslehre, persönlich konnte
er noch nicht zu einer klaren dogmatischen Stellung in dieser
Frage gelangen. Als ihm aber in den Rheinlanden diese Frage
brennend wurde, da wandte er sich aus Bonn am 24. März 1543
an Calvin und bat ihn um Aufklärung.2 Wohl hat er, wie er
schreibt, Calvins Institutio und seinen Katechismus gelesen. Aber
dennoch ist ihm die Frage nach der Gegenwart des Leibes Christi
im Abendmahl dunkel. „Ich sehe nicht, auf welche Weise ich das
meinen Hörern vorlegen soll." Gleichfalls merken wir es dem
Briefe an, daß die täuferische Bewegung ihn beschäftigt. Er über-
sendet Calvin die soeben in Bonn erschienene Schrift a Laskos
gegen Menno, für deren Pierausgabe auf Hardenbergs Rat Erz-
bischof Hermann gesorgt hatte. Daß Calvin diesen Brief beant-
wortet hat, ist bei dem geschilderten Interesse, bei der persön-
lichen Anteilnahme, die er an den rheinischen Verhältnissen nahm,
wohl mit Gewißheit anzunehmen. Aber auch hier stehen wir vor
der traurigen Tatsache: der Brief ist verschollen.
Es ist dargelegt worden : Calvin ist an der Geschichte des
Kölner Reformationsversuches beteiligt gewesen. Aber die
Gegenreformation drang durch, und die führenden Persönlich-
keiten, mit denen Calvin in Verbindung stand, haben die Rhein-
lande bald verlassen müssen : Butzer ging zurück nach Straßburg,
bald darauf nach England, Melanchthon ging nach Sachsen, Har-
denberg nach Bremen. Ist es da wunderbar, daß ein großer Teil
ihrer Korrespondenzen verloren ging? Daß namentlich Calvins
Briefe an die auswärtigen Freunde zerstreut wurden?
Gewiß ! Der Reformationsversuch Hermanns von Wied schlug
fehl: wenn wir auf die Bewegung im großen und ganzen achten.
Aber er ging doch nicht vorüber, ohne Spuren im Erzbistum zu
hinterlassen, Spuren gerade auch in der Stadt Köln, trotz der
energischen Opposition seitens des Klerus, der Universität und
6. Jan. 1546 Nr. 74g p. 247. Diazius Calvino 19. Jan. 1546 Nr. 751 p. 254 f.
Theodoricus Calvino 3. Febr. 1546 Nr. 758 p. 266.
1) Vgl. Varrentrapp p. 247 f.
2) Calv. Opp. XII p. 48— 50 Nr. 624.
j-jß Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
des Kölner Rates. Gerade in diese Zeit fallen die ersten Spuren
eines evangelischen Gemeinde lebens in Köln. Und mit der
führenden Persönlichkeit dieses Kreises stand Calvin in enger
freundschaftlicher Beziehung. Es war dies Jacques de Bourgogne,
Seigneur de Falais et de Bredam, ein Verwandter Kaiser Karls V.,
der gerade auf Calvins Rat um seines Glaubens willen die Heimat
verlassen hatte und eine Zeitlang in Köln lebte.1 Hier ist für
uns von Wichtigkeit ein Brief Butzers aus London aus dem Jahre
1544.2 Er ist wahrscheinlich nach Köln gerichtet und erwähnt
glückwünschend und ermutigend eine dort bestehende Gemeinde.
Diese immerhin ungewisse Sache wird zur völligen Gewißheit er-
hoben durch eine meines Wissens bisher gänzlich übersehene Notiz
aus einem Briefe Butzers an Dryander vom 6. Juli 1547, 3 Butzer
schreibt dort: „Ich möchte wünschen, daß Herr Falais in seinem
Hause, wie erzu Kölngetan hat, eine Gemeinde sammelte
und für die Verwaltung der Sakramente sorgte.'" Mit Falais aber
stand Calvin in eifrigem brieflichen Verkehr seit der Zeit, als er
Heimat und Vaterland verlassen hatte. Wie Schwarz berichtet,
hatte ihm Calvin sogar einen evangelischen Pfarrer als geistlichen
Beistand und Reisemarschall gesandt.4 Daß Calvin gerade auch
in dieser Zeit direkte Verbindungen mit diesem Kreise unterhielt,
sagt eine Bemerkung aus einem Briefe des Pollanus,5 laut der er
Calvins Briefe erhalten und sogleich nach Köln besorgt hat. Frei-
lich hat sich Falais nicht sehr lange in Köln aufgehalten. Der
25. März 1545 ist das letzte nachweisbare Datum seines Kölner
Aufenthaltes.6 Und was in den folgenden Jahren aus dieser Ge-
meinde geworden ist, wissen wir nicht. Für uns ist es jedenfalls
1) Über die Beziehungen Calvins zu Falais vgl. R. Schwarz: Calvins
Freundschaft in der Ref. Kirchenzeitung 1909 p. 123 f. Rutgers p. 85—88.
Calv. Opp. X a p. 273—294.
2) Vgl. Ecclesiae-Londino Batavae Archivum tom II ed. J. H. Hesseis
Cantabr. 1889 p. 2. Simons: Niederrhein. Synodalleben p. 45. Leider
konnte ich Hesseis nicht selbst einsehen. Ich kann hier deshalb nur nach
Simons berichten.
3) Vgl. Calv. Opp. XII p. 549 Anm. 2.
4) Auf den letzteren bezieht sich vielleicht eine Notiz aus Hardenbergs
Brief an Calvin vom 24. März 1545: „Darüber wird Dir berichten Dein
Raimundus, der zu Köln ist bei dem sehr frommen Jacob von Burgund."
Calv. Opp. XII p. 50 Nr. 624.
5) Calv. Opp. XII p. 43 Nn. 620.
6) Vgl. Max Lenz: Briefwechsel Landgraf Philipps des Großmütigen
von Hessen mit Bucer Bd. II p. 348 Anm. 11. Leipzig 1887. Publ. aus d.
preuß. Staatsarchiven Bd. 48. Vgl. auch II. 456. Text und Anm. 11.
Von Dr. Walter Hollweg. I 3 7
von großem Interesse, daß die ersten Regungen evangelischen Ge-
meindelebens in Köln aufs engste mit Calvin verknüpft sind.
Etwa 20 Jahre nach dieser Zeit — während dieser 20 Jahre
wissen wir von einer Kölner Gemeinde nichts — leitete ebenfalls
ein direkter Schüler Calvins eine evangelische Gemeinde in Köln,
der Niederländer Petrus Colonius.1 Näheres wissen wir über seine
Arbeit in Köln nicht. Deshalb soll über ihn, der noch in anderer
Hinsicht für die Rheinlande bedeutend wurde, an anderer Stelle
berichtet werden.
b) Calvin und Trier.
Einen ebenso erfolglosen Verlauf, wie die Reformation Her-
manns von Wied nahm auch der reformatorische Versuch in der
Hauptstadt des zweiten rheinischen Erzbistums, in Trier.
Trier hatte sich im Laufe des ausgehenden Mittelalters eine
große Reihe wichtiger Rechte seinem Landesherren gegenüber
erworben, für deren Wahrung der Rat eifrig bedacht war. Nomi-
nell war die Stadt abhängig, faktisch aber unabhängig. Die Erz-
bischöfe lebten meist gar nicht in Trier ; Coblenz, Ehrenbreitstein,
Wittlich und andere Städte mehr bildeten ihre gewöhnlichen Resi-
denzen. Die religiösen und kirchlichen Verhältnisse der Stadt boten
dasselbe Bild wie in den meisten anderen größeren Städten : mit
äußerlichem Glanz und scheinbarem Geordnetsein verband sich
innere Hohlheit und Fäulnis. Deshalb waren Konflikte zwischen
der Stadt und dem Klerus unvermeidlich gewesen, und die Stellung
der Stadt zum Erzbischof, die natürlich durch solche Verhältnisse
mit berührt wurde, nicht gerade rosig zu nennen.2
Von den Trierer Erzbischöfen hatte Calvin persönlich kennen
gelernt Johann III. von Metzenhausen, 1540 auf dem Religions-
gespräch zu Hagenau. Über seine Stellung zu den kirchen-
politischen Fragen hat Calvin im Mai 1540 in einem Briefe an
Farel ein Urteil gefällt. Dort schreibt er, daß die Protestanten
sich keineswegs fürchten, obwohl die Papisten bestrebt sind, den
Kaiser in Dinge zu verwickeln, die ihn zum Vorgehen gegen sie
veranlassen. Und dann fährt er fort : ..Drei Kurfürsten werden
1) Vgl. die Worte aus dem Briefe des Petrus Dathenus an Beza:
Praefuit aliquamdiu Uli Ecclesiae Petrus Colonius. Brief vom 23. Mai 1570,
zitiert von K. Krafft. Theol. Arb. II. p. 120.
2) Über diese Verhältnisse vgl. Jul. Ney: Die Reformation in Trier
und ihre Unterdrückung, I. Heft. Der Reformationsversuch. Halle 1906,
p. 1 — 19. Schriften des Ver. f. Ref.-Gesch. 88.
13«
Calvins Beziehungen zu den Rhcinlanden.
eine vermittelnde Stellung einnehmen, der Pfälzer, Kölner und
Trierer und sich eher mit uns verbinden, als unsere Unterdrückung
dulden." 1 Der Verlauf des Hagenauer Gespräches hat dann Calvin
allerdings anders belehrt. In einem Briefe vom 28. Juli aus Straß-
burg — das heißt also wenige Tage nach Johanns III. Tode, der
ja zur Auflösung der Verhandlungen den Anlaß gab — schrieb er
an Herrn du Tailly : „Mainz und Trier Heben den Frieden und die
Freiheit des Landes, die sie herbeigeführt glauben, wenn der Kaiser
uns unterjocht hätte. Diese Gründe bewegen sie, dem zu wider-
stehen, daß man nur in friedlicher Verhandlung gegen uns vor-
geht, so wie wir sie fordern." 2
Ein anderes Urteil gewann Calvin wiederum über Triers Politik
in Regensburg 1541. Hier meint er: „Den Mainzer haben wir zum
Feind: Der Trierer nämlich wird sich Maß auflegen, sofern er es
zu seinem Vorteil können wird." s
Die beiden Nachfolger Johanns IV., nämlich Johann V. (seit
1547) und Johann VI. (seit 1556), hat Calvin nicht gekannt.
Letzterer war es, der in den im folgenden zu schildernden Be-
wegungen der Führer der Gegenreformation war.
Daß die große reformatorische Bewegung, die ganz Europa
bewegte, an den Bürgern Triers unbemerkt vorbeigegangen wäre,
ist von vornherein ausgeschlossen. Der umfangreiche deutsche
Handel sorgte schon allein genügend für die Verbreitung neuer
Ideen, und das überall vorhandene Bedürfnis nach Reform kam
diesen bereitwilligst entgegen. So gab es auch in Trier bald einen
Kreis reformatorisch gesinnter Männer, und zwar gehörten zu ihm
gerade solche Leute, die durch Achtung und Einfluß bei ihren
Mitbürgern hervorragten.
Ehe wir aber den Beginn und Verlauf der Reformation in
Trier verfolgen, und zwar mit besonderer Beachtung und Betonung
des Einflusses, den gerade Calvin bei diesen Ereignissen hatte,
müssen wir über zwei Männer im klaren sein, an die sich wesent-
lich die Reformation anknüpft, und durch die Calvin an derselben
beteiligt war, das sind Petrus Colonius und Caspar Olevianus.
Petrus Colonius, auch Pierre de Coulogne, Pieter van Keulen
oder Agrippa genannt,4 war Vlamländer. Er stammte aus Gent. Bei
1) Calv. Opp. XI p. 39 N'r. 218.
2) Calv. Opp. XI p. 66 Nr. 228.
3) Calv. Opp. XI p.2S7 Nr. 338.
4) Über ihn vgl. Haag: La France protestante : IV. 1884 p. 529 — 533.
Rutgers p. 12, 110 — 114. Calv. Opp. XVII p. 471 Anm. 1.
Von Dr. Walter Hollweg. I 3Q
seinen juristischen Studien in Paris trat er in Verbindung mit dem
durch Calvin angeregten Kreise des Buchdruckers Stephanus.
Stephanus war es auch, der ihn bewog Calvins halber nach Genf
zu gehen ; und der Einfluß Calvins auf Colonius war bald so groß,
daß er durch ihn bewogen wurde, Prediger zu werden. \ •
Amt verwaltete er zunächst in Metz, wohin ihn der Baron de
Coppet, Antoine de Clervant, aus Genf mitgenommen hatte.1 1561
wurde er gezwungen, Metz zu verlassen und wurde Prediger in
Heidelberg. Colonius war also direkter Schüler Calvins und blieb
auch nach seinem Weggang von Genf in lebhaftem brieflichen
Verkehr mit seinem Lehrer.
Das gleiche ist zu sagen von Caspar Olevianus aus Olewig
bei Trier.2 Bekanntlich kam er nach juristischen Studien in Paris,
Orleans und Bourges 1558 nach Genf, und ebenfalls wie Colonius
in enge persönliche Beziehungen zu Calvin.
Daß er bei diesem Verkehr seinem Lehrer auch die Verhält-
nisse seiner Heimatstadt schilderte, ist nicht verwunderlich.
Namentlich konnte Olevianus von zwei in der Stadt hervorragenden
Männern berichten, deren Herz innerlich bereits der Reformation
zugetan war, das war zunächst der Licentiat Petrus Sirk, einfluß-
reich sonderlich auch durch seine Verwandtschaft mit dem gleich-
falls reformfreundlichen Bürgermeister der Stadt Johann Steuß ;
der andere war Otto Seel, ein Mitglied des Rates.
Olevians Berichte, namentlich die Schilderung dieser beiden
Männer, interessierten Calvin derartig, daß er an beide am
29. August 1558 Briefe sandte.3 Von Olevian, so schreibt Calvin
an Lic. Petrus Sirk, hat er erfahren, daß er ein Verehrer Gottes
ist und mit Ernst und Treue bestrebt ist, Gottes Reich auszubreiten.
Aber die verworrenen Zustände in Trier, wie Olevian sie geschildert
hat, lassen einen harten Kampf erwarten. Deshalb mahnt er ihn,
gerüstet zu sein. Gunst und Freundschaft vieler wird er verlieren,
auf Bequemlichkeiten verzichten müssen, ja Drohungen und Ein-
schüchterungen zu erwarten haben, namentlich von der in Trier
ansässigen katholischen Geistlichkeit. Verdruß, Ungerechtigkeit,
Bedrängnis, vielleicht noch Schlimmeres wird er zu ertragen haben.
1) Vgl. Calv. Opp. XVII p. 326 Anm. 1, 360 Anm. 2. 471 Anm. 1
Nr. 2955, 2971, 3026.
2) Über ihn vgl. K. Sudhoff: C. Olevianus und Z. Ursinius. Elberfeld
1857. J. Ney Heft I p. 22 ff.
3) Calv. Opp. XVII. p. 314—317 Nr. 2947 f. Teilweise in deutscher
Übersetzung mitgeteilt bei Sudhoff p. 18 — 20.
I A O Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Aber das Bewußtsein, unter Christi Leitung zu streiten, wird un-
besiegbare Kraft verleihen. Sein ist gewißlich der Sieg. Zum
Vorwärtsschreiten zwingt ihn jetzt ein Doppeltes: einmal der ihm
von Gott gegebene Beruf, andere anzutreiben und zu ermutigen,
und dann der Anfang, in dem Gott sich als Führer bewährt hat.
Ähnlichen Inhaltes ist auch der Brief an Otto Seel. Mut will
er ihm machen zum Handeln. Die feindliche Macht soll ihn nicht
schrecken. Alle Anfänge des Reiches Gottes waren zuerst niedrig
und verachtet. Gott gab ihm eine geachtete, angesehene Stellung
in der Stadt. Der Größe dieser Gabe entspricht auch die Größe
der Aufgabe.
Auf diese Weise waren die ersten Verbindungen Calvins mit
Trier durch Olevian geschaffen. Durch Colonius sollten dieselben
verstärkt werden. Der Herr von Clervant, der, wie schon gesagt,
ein eifriger Förderer des Evangeliums in Metz war und deshalb
den Colonius aus Genf mit nach Metz genommen hatte, wandte
sein Interesse auch den schwachen evangelischen Regungen in
Trier zu. Auf seine Bitte, war Colonius am 4. Februar 1559 nach
Trier gekommen. Am 11. März berichtet er über seine Erfahrungen
an Calvin.1 ,,Ganz und gar matt ist dort die Verkündigung des
Evangeliums." Peter Sirk hat ihm mitgeteilt, daß die Zahl der
Gläubigen eine sehr geringe ist. Nach des Colonius Meinung ist
der Grund aller Schwäche dies, daß die Bewegung eines Predigers
oder Führers entbehrt. Deshalb schlägt er Calvin vor, den Olevian
nach Trier zu entsenden. Er schien ihm der geeignete Mann.
Darin stimmte auch Calvin mit ihm überein. In Übereinstimmung
mit Farel, Petrus Martyr und Viret riet er ihm, nach Trier zu
gehen, obwohl das Genfer Presbyterium zuerst daran gedacht hatte,
ihn zu einer Tätigkeit als Prediger in Metz zu bewegen.2 Wie
sehr Calvins Freundschaft und Rat Olevian wert gewesen ist, hat
er selbst in einem Briefe vom 6. Mai an Petrus Martyr bezeugt.3
Im Juni 1559 kam Olevian von Genf nach Trier zurück.
Hier wurde ihm zunächst auf seinen Wunsch hin eine Lehrer-
stelle übertragen mit der Verpflichtung, in der Burse über Melanch-
thons Dialektik und andere philosophische Disziplinen latei-
nische Vorlesungen zu halten. Bot ihm das schon manche Ge-
legenheit zur Verkündigung des Evangeliums, so suchte er dennoch
1) Calv. Opp. XVII p. 472 f. Nr. 3026.
2) Vgl. Ney I 26.
3) Vgl. Sudhoff p. 479 ff. im Auszug Calv. Opp. XVII p. 513 Nr. 3049.
Von Dr. Walter Hollweg. 141
einen weitgehenderen Einfluß zu gewinnen und kündigte am
9. August deutsche Predigten in der Burse an. Desgleichen begann
er mit deutscher Katechismuserklärung. Leider erfahren wir aus
dem Briefe des Colonius vom 9. September 1 5 5 < j , ' der über die
Trierer Verhältnisse Calvin genauen Bericht erstattete, nicht,
welchen Katechismus Olevian erklärte.
Durch diese Ereignisse entbrannte natürlich in der alten
Trierer Bischofsstadt der religiöse Kampf. Günstig war es für die
neue Bewegung, daß Erzbischof Johann zur Zeit auf dem Reichs-
tag zu Augsburg weilte, so daß nur des Kurfürsten Räte sich der
Bewegung entgegenstellen konnten. Olevian aber sammelte bald
um sich eine große Gemeinde, die auch im Rate ihre kräftigen
Stützen hatte. Sirk und Seel handelten ganz im Sinne und Geiste
der Ermahnungen Calvins. Bemerkt sei, daß die veränderte
Augsburgische Konfession, wie auch andererorts bei den Refor-
mirten, so auch hier bekenntnismäßigen Charakter hatte.
So war es wesentlich mit Calvins Verdienst, daß in Trier die
reformatorische Bewegung einsetzte. Aber gerade die Verbindung
der Bewegung mit Calvin sollte derselben verhängnisvoll werden.
Am 9. September 1559 schrieb Colonius an Calvin1: „Von den
Gegnern wird Kaspar hauptsächlich mit der Chikanc beschwert,
daß er ein Jahr lang freundschaftlich mit Dir zusammen gelebt
hat. Denn auf diese Weise glauben sie einen rechten Grund zu
seiner Verwerfung zu haben. Durch ein bestimmtes Augsburger
Dekret ist nämlich bestimmt, daß nur Bekenner der päpstlichen und
Augsburgischen Religion im Reiche geduldet werden, . . . ." Vir
können noch näher zeigen, wie richtig Colonius berichtete. Bei
einer Beratung des Domkapitels und der weitlichen kurfürstlichen
Räte über eine an den Trierer Rat zu gebende Mitteilung, betont
der Rat Flad ausdrücklich, man solle hervorheben, daß Olevian
ein Schüler Calvins sei.2 Desgleichen forderte ein kurfürstliches
Schreiben zur Verhaftung Olevians auf, der Calvinist und Auf-
rührer sei.3
Unterdessen kam der Kurfürst selbst mit einem bedeutenden
Zuge Bewaffneter nach Trier; am 16. September hielt er seinen Ein-
zug. Unter seinem Gefolge befand sich auch der bereits oben
charakterisierte Bekannte Calvins, Bartholomäus Latomus : er wird
1) Calv. Opp. XVII p. 625— 627 Nr. 3110.
2) Ney I. p. 50.
3) Sudhoff p. 24.
IA2 Calvins Bezithungen zu den Rfceinlanden.
jetzt im wesentlichen das treibende Element gegen die evangelische
Bewegung.1 Er meinte, Olevian sei „ein verdammter Sekten-
prediger wider die christliche Ordnung und die Augsburgische
Konfession".2 Jetzt entwickelten sich in Trier ausgedehnte Ver-
handlungen, von denen als charakteristisch herauszuheben ist, daß
der Kurfürst die Evangelischen kurz als Calvinisten behandelte.3
Einen calvinischen Prädikanten hätten sie angestellt und nicht einen
der Augsburgischen Konfession.4 Die Verhandlungen blieben
j'edoch erfolglos. Deshalb verließ der Kurfürst am 24. September
die Stadt und ritt zum nahen Pfalzel, um von dort die Stadt mit
Gewalt zu zwingen. Zunächst erließ der Kurfürst einen gehar-
nischten Erlaß, in dem als Grund seines Mißfallens ausdrücklich
betont wurde, daß die Stadt einen Laien, der sich Dr. Kaspar
nenne und zwei Jahre in Genf bei Calvin studiert habe, auf die
Kanzel gestellt habe.5 Die Stadt wurde dann eingeschlossen und
auf jede mögliche Weise bedrängte Das machte den katholischen
Teil der Bürgerschaft bald mürbe. Olevian und der evangelische
Teil des Rates wurden gefangen gesetzt, und am 26. Oktober hielt
der Erzbischof seinen Einzug.
Auf dem Wege der Kriminalklage wurde gegen die Evan-
gelischen vorgeschritten. Erreichte man es, Olevian als Cal-
vinisten hinzustellen, dann hatte man einen guten Grund zum Vor-
gehen gegen ihn und sein Anhänger. Aber ein dahinzielendes
Verhör und eine Untersuchung seiner Bibliothek ergaben nicht das
gewünschte Material.7
101 Anklageartikel wurden zusammengestellt. Und einer der
wichtigsten davon blieb dennoch, wie Olevian selbst an Calvin
schreibt, daß er ein calvinistischer Prediger sei : „Ein schismatischer
Rottenführer" wird er genannt. s Über sein Verhältnis zu Calvin
und seinen Aufenthalt in Genf hat Olevian im Verhör folgende Aus-
sage getan : „Ich bin nicht vor langer Zeit und vor Jahren, sondern
vor Monaten in Genf gewesen, und zwar vornehmlich, damit ich einen
1) So hat Olevian selbst später an Calvin berichtet, vgl. Calv. Opp.
XVIII p. 46—48 Nr. 3178.
2) Ney p. 75.
3) Ney p. 80 f.
4) Ney p. 84.
5) Ney II p. 3. Marx: Caspar Oleviantis etc. p. 51.
6) Vgl. darüber Olevianus Brief an Calvin. Calv. Opp. XVIII p. 47
Nr. 3178.
7) Ney II p. 29.
8) Ney IL p. 31.
Von Dr. Walter Hollweg. 143
Anfang der hebräischen Sprache machen möchte"; auch das Iran
zösische, das ihm geläufig sei, hätte ihn für Genf bestimmt,
bedachte, mich auch im französischen Predigen auszubilden, damit
dem Antichristentum und seinem Teufelsreich nicht einen geringen
Abbruch zu tun." Schon zu Paris habe er fleißig die französischen
Predigten und Disputationen gehört, ebenso zu Straßburg und
Genf.1
Das Prozeßverfahren gegen die Angeklagten nahm bald da-
durch eine günstige Wendung, daß sich ihrer eine Reihe pro-
testantischer Fürsten annahmen und nach einem Kolloquium in
Worms eine Gesandtschaft nach Trier sandten. Neben anderem hatte
sie auch den Erfolg, daß der Kurfürst das Verhältnis Olevians zu
Calvin, als ein Moment der Opposition gegen die Evangelischen,
fortab fallen ließ. Die Instruktion der Gesandten hatte einfach
erklärt, Olevians Lehre und Bekenntnis sei der Augsburgischen
Konfession gemäß.
Nach längeren Verhandlungen wurden die gefangenen Pro-
testanten nach beschworener Urfehde entlassen ; allen Protestanten
zusammen wurde eine Geldsumme von 3000 Mark auferlegt und
ihre Auswanderung auf Grund des Augsburger Religionsfriedens
angeordnet.
Über alle diese Verhältnisse war Calvin stets genau unter-
richtet worden durch Olevian 2 und seine Freunde.3 Leider sind
uns Urteile seinerseits über den Verlauf der Trierer Reformation
nicht vorhanden, obwohl es wohl wahrscheinlich ist, daß er nach
seinem ersten Eingreifen auch fernerhin seine Getreuen mit seinem
Rat und seinem Trost unterstützt hat.
Das Resultat dieses Abschnittes können wir dahin zusammen-
fassen, daß Calvins Einfluß auf die Trierer Reformation ein nicht
zu unterschätzender gewesen ist, einmal durch die geistige Aus-
rüstung, die er als Lehrer des Colonius und Olevian diesen mit
auf den Weg gab, dann aber auch durch seine Briefe an zwei der
führenden Persönlichkeiten auf seiten der Evangelischen. Auf der
anderen Seite aber läßt sich nicht verkennen, daß gerade die Ver-
1) Sudhoff p. 47.
2) Calv. Opp. XVIII p. 46— 49 Nr. 3178.
3) Calv. Opp. Colonius Calvino XVII p. 625—627 Nr. 3110; p. 699
Nr. 3143; XVIII p. 40 Nr. 3175; vgl. auch p. 48 Anm. 3 zu Nr. 3178.
Hotomanus Calvino XVII p. 705 Nr. 3147. Holbracus Calvino XVIII p. 4
Nr. 3152; vgl. XVII p. 701— 703 Nr. 3145.
IAA Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
bindung Calvins mit Olevian den Feinden der Reformation eine
starke Waffe wurde zur Unterdrückung der reformatorischen Be-
wegung.
c) Calvin und Wesel.
Die Reformation im Herzogtum Kleve gestaltete sich in ganz
andersartiger Weise als in Köln und Trier. Das hatte seinen Grund
in der besonderen kirchlichen und politischen Entwicklung des
Herzogtums im Laufe des ausgehenden Mittelalters. Im Klever
Herzogtum war der Einfluß der Kirchenfürsten ein sehr geringer:
daß der Herzog von Kleve Papst in seinen Territorien sei, sagte
ein geflügeltes Wort. In zäher zielbewußter Politik hatten sich
die Herzöge einen großen Teil der kirchenregimentlichen Befug-
nisse erworben. Die Kölner Erzbischöfe und Münsterer Bischöfe
waren hier ziemlich machtlos.1 Die wirklichen Machthaber aber,
die Landesfürsten, waren zur Reformation willig, und ihnen schloß
sich alles an, was durch Stand und Bildung hervorragte : Das war
der Einfluß des Humanismus. Zur Charakterisierung dieses Kreises
sei nur der eine Name genannt : Konrad von Heresbach.
Eine ähnlich unabhängige Stellung, wie sie im allgemeinen die
Herzöge in ihrem Gebiet hatten, hatte Wesel, die wichtigste Stadt
des Herzogtums, ihren Herzögen gegenüber und zwar sowohl nach
der landesherrlichen wie kirchenregimentlichen Seite hin. 2 Daß
dieser Boden für die Entstehung einer reformatorischen Bewegung
günstig war, liegt auf der Hand.
Nun war die offenbare Tendenz der Herzöge die : wohl Re-
formation, aber nicht Kirchentrennung. Daß eine solche Politik
gerade Wesel gegenüber undurchführbar war, sollte die Zukunft
bald lehren. Das halbe Entgegenkommen der Herzöge weckte
das Reformationsverlangen nur noch mehr, und die freiheitliche
Stellung der Stadt drängte zu selbständigem Vorgehen. So kam
es, daß sich Wesel in einer Zeit von etwa 20 Jahren (1525— 1545)
1) Vgl. O. Redlich: Jülich-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des
Mittelalters und in der Reformationszeit I. Bonn 1907. J. Hansen: West-
falen und Rheinland im 15. Jahrhundert Bd. I. Leipzig 1888. Publ. aus d.
preuß. Staatsarchiven Bd. 34 und J. Hashagen: Anfange des landesherr-
lichen Kirchenregiments am Niederrhein in: Monatshefte f. rhein. K.-G. II.
1908 p. I— 15.
2) Vgl. A. Wolters: Reformationsgeschichte der Stadt Wesel bis zur
Befestigung ihres reformierten Bekenntnisses durch die Weseler Synode.
Bonn 1868 p. 16 ff.
Von Dr. W. Hollweg. I 45
zu einer fast rein evangelischen Stadt entwickelte. In beiden
Kirchen, der Mathenakirche und der Wilibrordskirche wurde
deutsche evangelische Predigt gehalten, in letzterer Kirche auch
regelmäßig das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gefeiert. Super-
intendent über Prediger, Hilfsgeistliche und Schulen war Nikolaus
Buscoducensis. Der Bekenntnisstand der Gemeinde war ein milder
Melanchthonismus.1
Der Hoffnung einer Förderung der Reformation durch die
Klever Herzöge hatte sich Calvin nie ernstlich hingegeben. Wohl
hatte sich die Hoffnung in seinem Herzen geregt, als Herzog
Johann 1539 gestorben war, und Herzog Wilhelm ihm nachfolgte,
ein Schwager Kurfürst Johannes von Sachsen. Calvin sah es
klar, welche bedeutenden Konsequenzen ein Anschluß des Her-
zogs an die Partei der Protestanten haben würde. Als eine Zu-
sammenkunft des Klever Herzogs mit seinem Schwager bevor-
stand, in der über Wilhelms Anschluß an den Schmalkaldischen
Bund verhandelt werden sollte, da hat Calvin an Farel geschrieben :
.Wenn er (der Kurfürst) ihn zur Annahme der Reformation be-
wegen kann, so wird das für das Reich Christi ein großer Vorteil
sein.'' - Wie vergeblich allerdings diese Erwartungen waren, das
sollte Calvin bald persönlich erfahren. In Worms konnte er 1540
die kirchenpolitische und religiöse Stellung des Herzogs kennen
lernen. In einem Briefe aus dem Ende des Jahres 1540 berichtet
er speziell über die Stellung des Klevers zum protestantischen
Zentraldogma, der Rechtfertigungslehre, mit folgenden charakte-
ristischen Worten : ,,Die Stellung des Klevers und Kölners ist
nicht eine sehr ungünstige zu nennen." 3 Das war wieder die alte
bekannte Unentschiedenheit, die man bei Kleve gewohnt war. Auch
später, bei seinem Eingreifen in die Weseler Verhältnisse, hat Calvin
nie von einem eventuellen Einfluß der Herzöge etwas zu hoffen
gewagt, er hat, so weit wir sehen, nie daran gedacht.
Bald aber griffen in die reformatorische Bewegung von Wesel
zwei neue Faktoren ein, die notwendig zu Konflikten führen
mußten, und die tatsächlich eine gänzliche Umgestaltung der kirch-
lichen Verhältnisse in Wesel herbeiführten, eine Umgestaltung, die
über Wesel hinaus von der weittragendsten Bedeutung wurde : das
1) Vgl. Wolters p. 91, 96 f. Zeitschr. d. Berg. G. V. Bd. 26 1890
p. 213— <225.
2) Vgl. Calv. Opp. X b p. 330 Nr. 164. März IS39-
3) Vgl. Calv. Opp. XI p. 138 Nr. 208, vgl. auch p. 178 Nr. 290.
Calvinstudien.
ja() Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
war einmal die Einwanderung der Wallonen aus den Niederlanden
sowie der Reste der Londoner Fremdengemeinde und der Eng-
länder, was die Entstehung eines reformirten Elementes innerhalb
der Gemeinde bedeutete und das Eingreifen Calvins in die Schick-
sale der Gemeinde zur Folge hatte ; das war andererseits die Ent-
stehung einer mächtigen neulutherischen Partei.
Nirgendwo wurde mit solcher Gewalttätigkeit und Strenge
jede Regung reformatorischer Gedanken unterdrückt, wie in den
kaiserlichen Erblanden, vornehmlich in den dem Klever Herzog-
tum benachbarten Niederlanden, jedoch ohne daß auch hier die
lebendig einsetzende reformatorische Bewegung hätte unterdrückt
werden können. Vielmehr zogen es eine Reihe ernster und from-
mer Wallonen, meist Tuchweber, anfangs 1545 vor, Vaterland und
Heimat zu verlassen, und sich nach Wesel zu wenden, wo die Ver-
hältnisse bessere waren. Sie fanden dort freundliche Aufnahme.
Jedoch gewisse Konflikte mußten dieser Aufnahme notwendig
folgen. Ein Aufgehen der Fremden in der bestehenden Gemeinde
war durch die Verschiedenheit der Sprache ausgeschlossen und
hätte sich selbst bei Fehlen dieses Grundes durch die Verschieden-
heit des reformatorischen Bodens, aus dem beide Elemente er-
wachsen waren, als unmöglich erwiesen. Deshalb ist es erklär-
lich, daß die Weseler Gemeinde von den Fremdlingen ein Bekennt-
nis forderte. Es wurde von Nikolaus Buscoducensis verfaßt.1 Zu-
nächst bekennt es sich zum Inhalt der drei ökumenischen Symbole,
behandelt Taufe, Abendmahl und Stellung zur weltlichen Obrig-
keit (mit Erklärungen gegen Kommunismus und Weibergemein-
schaft der Anabaptisten). Antireformirt ist der Artikel vom Abend-
mahl : „Es wird wahrhaftig dargereicht und ausgeteilt der Leib
Christi unter oder in der Gestalt des Brotes und das Blut Christi
unter oder in der Gestalt des Weines." Charakteristisch für den
Bildungsgrad der Gemeinde, aber psychologisch völlig verständ-
lich, ist die Tatsache, daß die Fremden in der Lehre zurückweichen,
aber auf einem anderen Punkte hart waren und blieben : in der
Frage der äußeren Zeremonien. Und jetzt beginnt Calvins Ein-
greifen in diese Verhältnisse. In den Konflikt erhalten wir einen
Einblick aus einem Briefe an Calvin von der Hand des Valerandus
Pollanus, eines des Glaubens halber aus seinem Vaterlande ver-
1) Vgl. Z. B. G. V. 26 p. 221 Anm. 2. Abgedruckt Wolters p. 455.
Calv. Opp. XIX p. 622 — 627 Nr. 3893 bis.
Von Dr. Walter Hollweg. I47
triebenen französischen Edelmannes.1 Als es sich um die Annahme
gewisser Zeremonien beim Abendmahl handelte, brach die Oppo-
sition durch : Die Tracht der Liturgen scheint in Wesel noch ganz
die römische gewesen zu sein (casula, vestis alba, superpelliceum
nennt Pollanus). Dann waren die Gesänge andere. Die Wallonen
wandten sich in dieser Sache an die Straßburger. Hier kamen
Butzer, Petrus Martyr und Pollanus zu der Überzeugung, daß es
zweckmäßig sei, wenn Pollanus selbst nach Wesel reise, um dort
von Nikolaus Buscodecensis Vergünstigungen für die Fremden zu
erwirken. Als Butzers und Martyrs Meinung berichtet Pollanus an
Calvin : Die Weseler soll man inständig bitten, auf die Schwachen
Rücksicht zu nehmen ; die Unseren aber sollen sich in der Frei-
heit üben. Die ganze Situation schien aber dem Pollanus so
schwierig, daß er nicht gerne, ohne Calvins Ansicht gehört zu
haben, an die Durchführung seiner Aufgabe gehen wollte. Ja sie
war doppelt schwierig dadurch, daß die Gemeinde, wie Pollanus
Calvin mitteilt, selbst nicht einig und geschlossen war. Die einen
verwarfen alles, was die anderen als belanglos hinnehmen wollten,
während eine dritte Partei einen Mittelweg suchte. Was Pollanus
aber am meisten erzürnte, daß war das Zurückweichen der Fremden
in der Abendmahlslehre. Den Straßburger Theologen schien jedoch
die Angelegenheit zu wichtig, als daß Pollanus noch bis zu
Calvins Entscheid hätte warten dürfen. Er reiste schon vorher.
Wie wichtig ihm aber die Angelegenheit war, geht noch daraus hervor,
daß er in einer Nachschrift Calvin nochmals darum bittet, eine
Antwort nicht zu unterlassen, und daß er die Gemeinde seiner Für-
bitte empfiehlt (22. November 1545). Einige Tage später, am
3. Dezember, benutzt er nochmals die Gelegenheit eines nach Genf
abgehenden Botens, Calvin für die Angelegenheit zu erwärmen :
„Ich bitte Dich, es nicht zu unterlassen, Deine Meinung über diese
Sache zu schreiben. Ich hoffe nämlich, daß mir vor meiner Rück-
kehr von dort, überbracht werden kann, wenn Du etwas geschrieben
haben wirst." Er sendet ihm zugleich den Bericht eines gewissen
Eustathius. Dann sagt er nochmals : „Ich bitte Dich, daß Du die
Sache nicht vernachlässigst. Und wenn Du gerade schon etwas
geschrieben hast, es Dich nicht verdrießen zu lassen, deshalb ebenso
nochmals zu schreiben, was Dir gerade in den Sinn kommt nach
Einsicht des Schreibens unseres Eustathius."2
1) Calv. Opp. XII p. 214—218 Nr. 729. Vgl. Z. B. G. V. 26 1890 p. 217 f.
2) Calv. Opp. XII p. 225 Nr. 736.
10*
J A$ Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Einige Monate später, am 28. August, finden wir Pollanus in
Antwerpen ; seine Rückkehr nach Straßburg steht nahe bevor. Daß
er am Ende seiner Tätigkeit im Interesse der Wallonengemeinde
steht, ist gewiß. Wieder schreibt er an Calvin.1
Zunächst darf es nicht befremden, daß Pollanus in Antwerpen
ist. Die Gemeinden von Antwerpen und Wesel standen immer in
freundschaftlicher Beziehung zueinander. Was er im einzelnen
während seines Aufenthaltes am Niederrhein getan hat, schreibt
Pollanus nicht. Jedoch sehen wir, daß er außer in Wesel auch in
Aachen und in Bedburg beim Grafen von Neuenaar gewesen ist.
Es ist interessant zu beobachten, wie sich gleich im Anfang die
späteren Hauptelemente des niederrheinischen reformirten Pro-
testantismus zu verbinden beginnen.
Als Pollanus gerade diesen Brief an Calvin versiegelte, da
empfing er ein Briefbündel von Calvin, und in demselben befand
sich auch ein Brief an Wesel: „da jauchzte mein Herz. Ich werde
eifrig tun, wozu Du so väterlich und ernst mahnst." Dieser Brief
ist wahrscheinlich das Calv. Opp. XX 419 — 425 mitgeteilte un-
datierte Schreiben.2 Das von Beza hinzugefügte Datum 1560 ist
sicher falsch, völlig undenkbar. Wolters3 und die Editoren der
Briefe Calvins 4 setzen ihn etwa Ende 1553 oder Anfang 1554.
Dann ist der Brief nicht an die alte wallonische, sondern an die
Londoner Flüchtlingsgemeinde gerichtet. Diese Ansicht ist dis-
kutierbar. C. Krafft und Fr. W. Cuno,5 allerneuestens auch A. A.
van Schelven 6 setzen das Schreiben Anfang 1546, richtiger ist wohl
Mitte 1546.
Ehe das zu begründen ist, möge zunächst eine genaue Analyse
des Schreibens folgen.
Man merkt es dem ganzen Tone des Briefes an : Es ist dem
Reformator eine ernste und wichtige Sache, um die es sich handelt.
Wie Paulus im 1. Kapitel des Römerbriefes seine Leser begrüßt,
1) Calv. Opp. XII p. 375 ff. Nr. 823.
2) Es steht auch Bonnet II 353. In deutscher Übersetzung: Elber-
felder ref. Wochenblatt 1863 Nr. 19 p. 145—150.
3) p. 165 Anm. 1.
4) Calv. Opp.. XX p. 425 Anm. 8.
5) Geschichte der wallonisch- und französisch-reformierten Gemeinde
zu Wesel. Geschichtsblätter d. dtsch. Hugenottenvereins Zehnt V Heft
2 — 4. Magdeburg 1895 p. 6.
6) De nederduitsche Vluchtelingenkerken der i6e eeuw in Engeland
en Duitschland in hunne beteekenis voor de Reformatie in de Neder-
landen. s'Gravenhage 1908 p. 289 Anm. I.
Von Dr. \V. Hollweg. 149
die er ja nicht kennt, deren Heil ihm aber auf der Seele liegt, so
redet auch der Reformator zum Teil mit denselben paulinischen
Ausdrücken die Gemeinde an. Ob er gleich dem Leibe nach von
ihnen fern ist, so trägt er sie doch beständig auf dem Herzen und
sorgt sich um ihr Heil. „Erstlich danke ich meinem Gott dafür,
daß er euch, nachdem er zugelassen, daß ihr um des Zeugnisses
Christi willen aus eurem Vaterlande vertrieben wurdet, eine Zu-
flucht eröffnet hat, wo ihr ihm mit reinem Gewissen dienen könnt,
und daß er euch sogar wie in einem kleinen Neste zusammen-
geführt, damit ihr euch gegenseitig zum Trost sein möchtet. Aber
vor allem danke ich ihm für die Beständigkeit, die er euch ver-
liehen." Jetzt gilt's vor allem weiter ausharren und des Herrn
Schutz dazu erflehen. Sie sollen bedenken: Es war eine Gnade,
daß sie leiden durften. Jetzt fallen, würde doppelten Anstoß er-
regen. Vor allem aber ist not : gegenseitige tragende Liebe. Sonst
entstellt Zank und Streit und davor muß man sich hüten, wie vor
einer tödlichen Krankheit. Und dann entwickelt Calvin in klarer
und lichtvoller Weise, wie das Leben in rechter Einheit am sicher-
sten gegründet ist auf geordnetem kirchlichen Gemeindewesen, zu
dem nach seiner Anschauung die drei Stücke gehören: Wort,
Sakrament, Kirchenzucht (vgl. über diese Anschauung Calvins und
vieler reformirter Bekenntnisschriften Müller, Symbolik p. 501 f.).
Hauptsächliches Mittel zur Einheit ist fleißiger, gemeinsamer
Besuch des Gottesdienstes, „denn wie im Kriege alle sich um ein
Banner scharen, um dem Feinde standhaft zu widerstehen, so hat
auch der Herr gewollt, daß sein W ort uns ein Panier sei,
unter welchem wir zusammenkommen möchten''. ..Achtet es als
eine beondere Gnade Gottes, daß der Herr sein Wort euch pre-
digen läßt." „Wenn irgend etwas in der Lehre Schwierigkeiten
macht, so wendet euch an eure Prediger. Denn durch gütliche
Besprechung gelangen wir besser zu einem Resultat dessen, was
uns zweifelhaft erscheint." Es ist dünkelhaft, wenn man so kühn
seine Meinungen behauptet, daß es keine Zügel gibt, um uns zu-
rückzuhalten. Vor allem hütet euch, daß Satan euch die Einfach-
heit des Evangeliums nicht verleidet, um euch zu eitlen Sonder-
barkeiten hinzulenken. Gottes Wort zu Spitzfindigkeiten an-
wenden, heißt es mißbrauchen.
„Um allen Gefahren, die euch begegnen könnten, vorzubeugen,
und diejenigen, welche schon verirrt sein sollten, zurückzuführen,
wäre es gut, daß ihr irgend eine Einrichtung, daß heißt irgend eine
15°
Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Form der D i s z i p 1 i n hättet, um die, welche fehlen, zu erinnern,
die Aufrührerischen im Zaume zu halten und jeden zur Erfüllung
seiner Pflicht zu bringen." „Wenn ihr so eine passende Einrich-
tung hättet, würdet ihr nicht nur der Meinungsverschiedenheit vor-
beugen, sondern auch den Ärgernissen, Lastern und Ausschwei-
fungen Einhalt tun können, die im Leben begangen werden, und
Gott würde um so mehr durch euch verherrlicht werden."
Die Notwendigkeit einer kirchlichen Form fordert auch der
Gebrauch derSakrament e. Sie als überflüssige Dinge zu be-
trachten, wäre traurig. Durch seine unendliche Güte kommt Gott
unserer Mangelhaftigkeit so weit zu Hilfe, daß er uns Hilfsmittel
gegeben, die unserer Fassungskraft angemessen sind. Die einmal
empfangene Taufe : uns ein beständiges Zeichen der Gnade Gottes
und unserer Kindschaft ; aber sie genügt uns ohne das Abendmahl
nicht, das er uns zu neuer Befestigung und Stärkung gab. Vom
Satan verführt und verblendet ist der, welcher sich unter nichtigem
Vorwand vom Abendmahl zurückzieht.
In diesem Zusammenhang urteilt Calvin auch über den
Zeremonienstreit. Das kleinste Maß von Zeremonien ist
das beste, denn wir wissen, wie viel Gefahr vorhanden ist, daß sie
den Aberglauben erzeugen. Doch darf man darüber nie die Haupt-
sache vergessen, also : sich dadurch z. B. von der Teilnahme am
heiligen Abendmahl abwenden lassen. Unvollkommenheiten sind
so lange zu tragen, als sie Gottes Wort nicht zuwider sind. Wenn
sie aber irgend einen Schein von Abgötterei an sich trügen, so
müßtet ihr ihnen widerstehen bis zum Tode."
Seine Ermahnungen, so versichert Calvin am Schluß die Ge-
meinde, haben nur ihr Wohl und Heil im Auge. Daß Pollanus bei
der Lektüre eines solchen Briefes schreiben konnte : „Mein Herz
jauchzte", das können wir verstehen. Keine Spur harter Kritik
oder kleinlicher Kasuistik ist da: alles ist unter großem Gesichts-
punkte angeschaut. Was ist das gesunde Fundament eines neuen
jungen Gemeindelebens? Diese Frage seinen Freunden zu be-
antworten, ist Calvin das Wichtigste und der Streit um die Zere-
monien tritt davor ganz zurück.
Der Inhalt des Schreibens paßt nun recht gut in die Zeit der
Anfänge der wallonischen Gemeinde. Daß sich der Brief richtet
an eine ganz junge Gemeinde, ist evident. Vertrieben sind die
Fremdlinge „aus ihrem Vaterlande". Das paßt nicht auf die Lon-
doner Fremdengemeinde; Calvin würde gewiß sich in einem
Von Dr. W. II oll weg. I 5 I
Schreiben an sie bezogen haben auf die seit Jahren währende \ er-
folgung, die stets neu einsetzende Hetze. Ferner: schon längere
Zeit war Calvin von Freunden zum Schreiben an die Weseler er-
sucht worden (des Pollanus Brief stammt vom 5. Dezember 1545)-
Aber näher benachbarte Personen sind ihm zuvorgekommen. Sollte
sich das nicht auf Butzer und Petrus Martyr beziehen? Als er
dann erneut gehört hat, daß sein Brief noch erwünscht sei, da hat
er geschrieben. Zu Bedenken könnte allerdings die Tatsache An-
laß geben, daß Calvin über das Nachgeben der Gemeinde in der
Abendmahlslehre ganz schweigt. Aber sollte da nicht vielleicht
Pollanus den Fehler der Gemeinde korrigiert haben? Calvin hat
allerdings auch Anfang 1554 nach Wesel geschrieben, an die aus
England gekommenen Fremden. Auch hier war die Zeremonien-
frage brennend geworden. Dieser Brief ist dann verloren ge-
gangen.1
Welchen Erfolg hat nun Calvins Schreiben gehabt? In der Zere-
monienfrage hat der Magistrat scheinbar den Fremden nach-
gegeben. Sardemann schreibt 2 : „In der wallonischen Gemeinde
blieb die reformirte Art der Abendmahlsfeier unangefochten."
Treffend hat Wolters die Bedeutung dieser Gemeindegründung
charakterisiert: „Niemand ahnte damals, daß auf diesem armen
Haufen von Tuchwebern, auf der aus ihnen sich bildenden Flücht-
lingsgemeinde, die Zukunft der evangelischen Kirche von Wesel,
ja der evangelischen Kirche des Niederrheins beruhe." Daß es zu
solch fester Gemeindebildung kam, verdanken wir mit dem Ein-
flüsse Calvins und seines Schülers Pollanus.
Auch in den folgenden Jahren unterrichteten die Freunde
Calvins ihn über den Stand der Weseler Gemeinde. Als die Ge-
meinde 1547 durch die Treibereien eines Anabaptisten beunruhigt
wurde, und das Glaubensbekenntnis dieses Mannes von Wesel zu
Garnerius, dem Prediger der französischen Gemeinde in Straßburg
überbracht wurde, da sandte er es weiter an Calvin.3 „Das ist
überaus traurig, die Verstörung des wenigen, was in Wesel war",
schreibt Calvin kurze Zeit später4 an Herrn von Falais. „Ich
glaube, daß der Herr diesen übertriebenen Eigensinn bestrafen
will, der nicht sein kann ohne eine Verachtung seines Segens.
1) Vgl. Frankfurtische Religionshandlungen I. p. 279 Nr. 3.
2) Z. B. G. V. Bd. 4 P- 135.
3) Calv. Opp. XII p. 525 f. Nr. 910.
4) 16. Aug. 1547- Calv. Opp. XII p. 575 Nr. 937-
I t»2 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Dennoch hoffe ich, daß er nach Bestrafung der Phantasten, die die
Ursache des ganzen Übels gewesen sind, noch einmal die kleine
Schar, die ihm bleibt, aufrichten und ihr die Hand reichen wird,
um sie auf gutem Wege zu führen." Calvins Wünsche erfüllten
sich. Die Gemeinde überstand die scheinbar recht bedeutende
Krisis.
Von jetzt ab hören wir einige Jahre nichts über Beziehungen
Calvins zu Wesel. Diese entspannen sich aber sogleich, als das
reformirte Element in der Stadt eine wesentliche Stärkung
erhielt, als Engländer und die Reste der Londoner Fremden-
gemeinde in Wesel eine neue Heimat suchten. Mit der Thron-
besteigung Eduards VI. (1547) war England für die aus Europa
ihres Glaubens wegen Verfolgten ein Ruhe- und Sammelpunkt ge-
worden. In London hatte sich unter a Laskos Leitung eine große
Fremdengemeinde mit eigenem Glaubensbekenntnis und eigener
Kirchenordnung gebildet. Aber der Friede fand mit Eduards VI.
Tode und dem Regierungsantritt Maria Tudors (1553) sein Ende.1
Die Londoner Gemeinde zerstreute sich, um nach traurigsten Irr-
fahrten an verschiedenen Stellen neue Ruheplätze zu finden. Ein
Teil der Vertriebenen suchte seine Zuflucht in Wesel.
Für die Ereignisse der folgenden Zeit ist neben den Briefen
des Corp. Ref. die wichtigste Quelle der von den rheinischen
Historikern sehr vernachlässigte Bericht des Weseler Pfarrers
Franciscus Riverius, Perucellus : Historia de Wesaliensis Ecclesiae
dissipatione descripta a Francisco Riverio.2 Plätte Wolters diesen
Bericht benutzt, so wäre seine Darstellung in mancher Hinsicht
anders ausgefallen. Für unsere Untersuchung ist diese Arbeit aber
deshalb doppelt wichtig durch den Grund, der ihre Abfassung
veranlaßte. Nach seinem Fortgang von Wesel nach Frankfurt,
wurde Perucellus der Vorwurf gemacht, daß er die Gemeinde von
Wesel verstört habe, und als besonderer Vorwurf der genannt, daß
er zu diesem Zwecke die Ratschläge der Kirchen von Genf und
Lausanne verachtet habe.3 Wir können also voraussetzen, daß
Perucellus gerade auch auf seine Beziehungen zu Calvin resp. zu
Genf genau eingehen wird.
In den Jahren nach der Niederlassung der Wallonen in Wesel
1) Vgl. darüber Wolters p. 149 ff. Dalton: a Lasko p. 334 ff.
2) Frankfurtische Religionshandlungen I. 278 — 289. Frankfurt a. M.
1735-
3) Frankfurtische Religionshandlungen I, 278, vgl. p. 286 f.
Von Dr. W. Hollweg. I 53
(1545) waren innerhalb der Stadtgemeinde Verhältnisse im Werden,
die von weittragender Bedeutung für dieselben werden mußten,
und ohne deren Kenntnis das Verständnis der folgenden Entwick-
lung nicht möglich ist : das war die Bildung der neulutherischen
Partei. ,,Der streitbarste unter den Verfechtern des strengen
Luthertums im nachreformatorischen Zeitalter'', Tileman Heßhusius,
war selbst aus Wesel gebürtig und wußte, namentlich nach seiner
Heirat mit Anna Bert, als Schwiegersohn des Bürgermeisters und
Verwandter des einflußreichen Juristen Groen, einen Teil des
Magistrats, gerade seine einflußreichsten Glieder, für seine Ge-
danken zu gewinnen.1
Daß die Ankunft der Fremden die Neulutheraner erbittern
mußte, liegt auf der Hand. Doch wissen wir,2 daß der Rat die
Fremden zunächst freundlich aufnahm und ihnen die Erlaubnis zur
Gründung einer Gemeinde gab.
Jetzt wurde einem erneuten Einflüsse Calvins dadurch sofort
die Bahn frei, daß an die Spitze dieser Gemeinde zwei persönliche
Bekannte Calvins berufen wurden. Das waren Frangois de Morel,
Sr. de Coulanges oder de Cologne (Morellus, Morellanus) und
Francois de la Riviere, Perussel (Riverius, Perucellus). De Morel
war Franzose. Seines Glaubens halber verließ er sein Vaterland
und ging nach Genf. Namentlich mit Beza trat er hier in Ver-
bindung, aber auch bei Calvin und Farel war er hochgeschätzt.3
Vielleicht auf Bezas Veranlassung kam er nach Wesel.
Perucellus i war als Franziskanermönch in Paris für die Re-
formation gewonnen worden und daraufhin von der Sorbonne aus
der Fakultät ausgestoßen worden, trotzdem Kardinal du Bellay
und der Dauphin sich für ihn verwendet hatten. Der Verhaftung
entzog er sich durch die Flucht nach Basel und trat dort in die
Dienste des Herrn von Falais, was persönliche Bekanntschaft mit
Calvin zur Folge hatte.5 Aber gerade seine Tätigkeit in diesem
Kreise gestaltete Calvins Urteil über ihn anfangs wenig günstig.
Jedoch war er trotz mancher Fehler ein trefflicher, in vieler Hin-
n Über Hesshusius vgl. PRE3 VIII p. 8 — 14 und die dort verzeich-
nete Literatur.
2) Frankfurtische Religionshandlungen I. p. 278.
3) Vgl. Calv. Opp. XV p. 176 Nr. 1978, XVI p. 109 Nr. 2432 und öfter.
Ferner vgl. Haag: La France protestante ' VII p. 500. Cuno p. 8.
4) Über ihn vgl. Haag" VIII p. 202 II p. 452, 454. Wolters p. 153 f.
Cuno p. 8 und Calv. Opp. an vielen Stellen.
5) Vgl. Calv. Opp. XII p. 489 Nr. 881, p. 511 Nr. 924, p. 636 Nr. 979.
j SA Calvins Beziehungen xu den Rheinlanden.
sieht bewunderungswürdiger Charakter. Von Basel ging Peru-
cellus nach London an die Fremdengemeinde,1 von dort nach
Wesel.
Bald nach der Ankunft der beiden Prediger wurden die gerade
zur Ruhe gekommenen Fremden arg gestört. Der Rat forderte
nämlich gemeinsame Abendmahlsfeier der Fremden mit der Stadt-
gemeinde. An der Feier der Stadtgemeinde war den Fremden
jedoch ein Doppeltes anstößig, einmal der Gebrauch der deutschen
Sprache, die sie ja nicht verstanden, noch mehr aber die in Wesel
üblichen Zeremonien: Die weißen Gewänder, brennenden Kerzen
und die mit einem Kreuz gezeichneten Oblaten. Die Gemeinde
versammelte sich deshalb und kam zu dem gemeinsamen Beschluß :
Die Annahme der Zeremonien zu verweigern. Morellus wurde
beauftragt, einen neuen Platz zur Sammlung der Gemeinde zu
suchen, während unterdessen Perucellus zum Tröste der Brüder
mit ihnen bis dahin in Wesel ausharren sollte. Das war An-
fang 1554.
Kurze Zeit später traf in Wesel ein Schreiben Calvins und der
anderen Genfer Pastoren ein, das Perucellus in große Beunruhigung
versetzte.2 Die Frage um die Zeremonien hat den Brief ver-
anlaßt. Es ist nicht grundlos, schreibt Calvin, in diesem Punkt
Zweifel und Bedenken zu hegen. Das beste ist es, sich an die
reine Einfachheit zu halten, die wir vom Sohne Gottes haben,
dessen Anordnung darin zur reinen Richtschnur dienen soll. Jeder
kleinste menschliche Zusatz kann nur vom Verderben sein. Und
doch ! Die Lage der Fremden ist verschieden von der der Pastoren
und der Gemeinde Wesels. Daß diese letzteren nutzlose Dinge
beibehalten, die nichts sind, als Überbleibsel päpstlicher Irrtümer,
ist ein unverzeihlicher Fehler. Da die Fremden aber nicht eigent-
liche Glieder der Gemeinde sind, können sie nicht nur, sondern
sollen solche Schwachheiten mit Geduld tragen, die zu ver-
bessern ihnen nicht obliegt. So etwas in Genf zu dulden, wäre
1) Vgl. Southerden-Burn: Historie of foreign Protestant refugees.
London 1846 p. 34.
2) Calv. Opp. XV p. 78—81 Nr. 1929. Bonnet I. 418 — 22. Ins Deutsche
übertragen: Sardemann: Geschichte der ersten Weseler Klasse p. 68 — 71.
Elberf. ref. Wochenblatt 1863 Nr. 18 p. 78 — 81. Das richtige Datum ist
13. März 1554, nicht 13. März 1559 wie Sardemann und Elb. ref. Wochenblatt
p. 140 angeben. Dieser Brief ist nicht direkt als von Calvin, sondern von
den Genfer Pfarrern ausgehend bezeichnet. Daß aber Calvin der Schreiber
war, ist gewiß. Er bezieht sich später auf dies Schreiben als auf seinen
Brief, vgl. Calv. Opp. XV p. 218 Nr. 2002.
Von Dr. Walter Hollweg. I ;. S
Unrecht, für s i e aber darf es kein Grund sein, sich vom Ganzen
der Gemeinde zu trennen und sich des Gebrauches des Abend-
mahles zu berauben. „Es ist den Kindern Gottes wohl erlaubt
sich Dingen zu unterwerfen, die sie nicht billigen. Aber die
Hauptsache ist zu wissen, bis wohin eine solche Freiheit sich zu
erstrecken habe, und darin halten wir das für einen entschiedenen
Artikel, daß die einen den anderen sich in all den äußeren Ge-
bräuchen fügen dürfen, welche dem Bekenntnis unseres Glaubens
keinen Einspruch tun, damit die Einheit der Kirche nicht durch
unsere zu große Strenge und Verdrossenheit gestört werde. Wir
sind weit entfernt euch zu raten, des Unterschiedes der Zeremonien
wegen euch des Vorteils zu begeben, an jenem Ort eine christliche
Kirche zu haben. Die Hauptsache ist, daß ihr in dem Bekennt-
nisse eures Glaubens nicht weichet und völlig bleibet in der Lehre."
Wir sehen, wir haben auch in diesem Sendschreiben an Wesel eine
großzügige, echt christliche Beurteilung in religiösen Dingen ; welch
klarer Blick für Wesentliches und Unwesentliches; welche Freiheit
bei ganzer Gebundenheit ! Er, dem so oft „zu große Strenge und
Verdrossenheit" vorgeworfen wird, warnt im Gegenteil davor.
Einen Monat nach dem Genfer Schreiben sandten auch die
Prediger von Lausanne ein Schreiben nach Wesel, das sich in
gleichem Sinne aussprach, wie das Genfer (April 1554)- Dieses
Schreiben ist verloren.
Beide Briefe setzten Perucellus in nicht geringe Beunruhigung.
Unerwartet trafen sie ein und widersprachen in ihrem Inhalt den
Beschlüssen der Gemeinde. Freilich erhielt er eine Erklärung über
die Veranlassung zu diesem Schreiben : sie seien lange vor seiner
Ankunft von der Gemeinde erbeten worden. Aber wie sollte er
jetzt handeln? Einmal fürchtete er den Zorn der Weseler Fremden
für den Fall, daß er sich weigerte, dem Inhalt der Briefe nach-
zukommen, und das konnte er nicht mit gutem Gewissen ; auf der
anderen Seite fürchtete er für den Fall der Annahme, die Fremden-
gemeinden in Straßburg, Frankfurt und anderorts zu beleidigen,
die ihn in seiner Amtsführung stets korrekt handelnd gesehen
hatten und seine gemeinsame Tätigkeit mit a Lasko in England
kannten. In dieser Verlegenheit sandte er die Schreiben Calvins
und der Lausanner an a Lasko 1 und die Gemeinde von Ant-
werpen, um ihren Rat zu hören, a Lasko antwortete am 6. Juli,
1) Hiernach ist Dalton p. 456 zu korrigieren.
j (-5 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
die Antwerpener Gemeinde sandte schon vorher mündlichen Be-
scheid, später auch schriftlichen: im September 1554. Ersteres
Schreiben ist uns erhalten.1 Sein Inhalt lautet aber wesentlich
anders, als die Schreiben aus Genf und Lausanne. Doch eins
zeigt sich deutlich, a Lasko und die Emdener kannten die Weseler
Verhältnisse besser, sie blickten tiefer als der ferne und nur ungenau
unterrichtete Calvin, a Lasko sah es: in Wesel herrschte nicht
mehr der alte lebendige Reformationsgeist : er war bei den Führern
einem starren Orthodoxismus gewichen, der auf die Formel pochte
und für andere nur ein Verdammungsurteil kannte. Einen drei-
fachen Irrtum erkannte a Lasko in dem Schreiben Calvins und
seiner Freunde. Zunächst in dem Glauben, die Fremden und die
Städter seien in der Lehre eins, oder wo sie in der Lehre von-
einander abwichen, seien die Differenzen gegenseitig zu tragen.
Zweitens irren die Freunde in Genf und Lausanne in der Be-
urteilung der Zeremonienfrage : Sie meinten, man solle die Schwach-
heiten der Stadtgemeinde tragen. Aber das kann man nicht mehr
Schwachheit nennen, kein Kolloquium zu gestatten und dabei alle
anderen zu verachten und zu verfluchen, schreibt a Lasko. Endlich
scheint ihm auch die Beurteilung der rechtlichen Stellung der Ge-
meinde falsch, daß sie nämlich nach Gründung einer Gemeinde „für
private Glieder der dortigen gastlichen Gemeinde" zu betrachten
wären. Das alles zwingt a Lasko zu einem anderen Urteil : hier handelt
es sich nicht um Rücksichtnahme auf Schwache im Glauben. Der
Geist der Gegner ist ein prinzipiell anderer. Es wird nicht von
ungefähr gewesen sein, daß a Lasko seinem Briefe einige Exem-
plare seiner Schrift: De Christi communione beifügte, die, wie er
glaubt, ihnen auch dort zum Nutzen sein werden, a Lasko wird
es gewußt haben, daß die Annahme von Kerzen, Oblaten und
Meßgewändern für die Gegner nur eine Vorbereitung für das Auf-
drängen der lutherischen Abendmahlslehre sein sollte. Calvins
Sendschreiben an die Gemeinde ist uns ein unschätzbares Doku-
ment seines wahrhaft reformatorischen Geistes, obwohl es den
Weseler Verhältnissen nicht gerecht wird. a Lasko, der die
Situation besser durchschaute, urteilte richtiger. Wie er, urteilte
auch die Antwerpener Gemeinde.
Durch diese Antworten wurde Perucellus' Zweifel nur noch ver-
mehrt. Genf und Lausanne standen gegen Antwerpen und Emden.
1) Vgl. Frankf. Rel.-Handl. I. p. 290—293. Calv. Opp. XV p. 182—187
Nr. 1983. Kuyper: J. a Lasko Opp. II p. 703— 7°7-
Von Dr. Walter Hollweg. 157
In dieser Not wandte er sich selbst an Calvin und setzte ihm
seine Gewissenbedenken, sowie die Anschauungen der Antwerpener
und Emdener auseinander. Außerdem erbat er sich von Calvin
ein Empfehlungszeugnis, jedenfalls in der Absicht, seine Stellung
in den Parteien der Gemeinde durch Calvins Autorität zu decken.1
Calvins Antwort ist vorsichtig und zurückhaltend. Wohl bleibt
er auf seinem Standpunkt stehen und verweigert auch einen
Empfehlungsbrief für Perucellus. Auf ein Doppeltes soll er stets
bedacht sein, nicht mehr zu dulden, als der Aufbau der Gemeinde
verträgt und dann nichts zu übernehmen gegen das Urteil des
Gewissens. In der Zeremonienfrage solle er sich Mühe geben,
daß alle das erkennten, daß er alles Überflüssige mehr trage, als
billige. In dieser Zeit des Schwankens legte Perucellus den Frem-
den nochmals die Frage über die Zulassung der Zeremonien vor.
Die einen waren für, die andern gegen ihre Annahme. Ja letztere
stellten sogar ihr Fernbleiben vom Abendmahl in Aussicht. Für
Perucellus hatte diese Situation die unangenehme Folge, daß sich
weithin das Gerücht verbreitete, er sei vom alten Glauben ab-
gefallen. Selbst in der Weseler Fremdengemeinde fand dies Ge-
rücht nur zu willige Gläubige.
Bis in den September 1554 verhielt sich der Magistrat durchaus
ablehnend. Außerdem reizten die deutschen Prediger das Volk
gegen die Fremden, so daß sie sich zu Predigt und Gebet nicht
versammeln konnten, höchstens einige wenige und diese nur mit
Furcht. Das hatte zur Folge, daß eine Reihe der Fremden nach
Frankfurt auswanderte. Perucellus aber ging nach Antwerpen
und versprach nach Beratung mit der dortigen Gemeinde bis Ostern
des kommenden Jahres in Wesel bei dem Rest der Gemeinde aus-
zuharren. Alsdann sollte jeder im Frühling dahin ziehen, wohin
Gott ihn führe.
Ostern nahte, und Perucellus rüstete sich, um nach Genf zu
Calvin oder nach Emden zu a Lasko zu gehen. Da trat eine
Wendung ein, die die Gemeinde zunächst vor der Auflösung be-
wahrte. Zufällig kam nach Wesel Georg Cassander, der große
Ireniker: Er wirkte derartig auf den Magistrat und die Prediger,
1) Dieses Schreiben ist verloren gegangen. Doch können wir das
Angegebene als seinen Inhalt rekonstruieren aus den Angaben Perucells
in seiner Historia und aus der Antwort Calvins an ihn. Calv. Opp. XV
p. 218 f. Nr. 2002. Ins Deutsche übertragen Elberf. ref. Wochenblatt 1863
Nr. 18 p. 140.
j r§ Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
daß die Fremden Hoffnung bekamen zur Erlaubnis öffentlicher
Religionsübung. Das bewog die Gemeinde und Perucellus zum
Warten. Und wirklich übergab der Magistrat den französisch
redenden Fremden die Heiliggeistkapelle, den englisch redenden
die Augustinerkirche. Dort begannen sie Ende Oktober mit öffent-
licher Predigt. Aber eins konnten sie nicht erreichen, obwohl
Perucellus sich darum bemühte, seit ihm die Kirche geöffnet war
bis April 1556, nämlich ein Predigtamt ohne Zeremonien bei Taufe
und Abendmahl zu bekommen. Und das konnte sein Gewissen
nicht ertragen. Er bat deshalb die Gemeinde, ihn in drei oder vier
Monaten von seinem Amte zu entbinden. Doch diese war weit
davon entfernt. Er solle sich zunächst darüber mit Calvin in Ver-
bindung setzen, rieten ihm die Brüder von Antwerpen, und die
Weseler waren damit einverstanden. Jetzt begann Perucellus sich
zu rüsten, entweder einen Boten nach Genf zu senden oder selbst
dorthin zu reisen. Beides sollte sich als unnötig erweisen.
Während sich die Ereignisse in Wesel so entwickelt hatten,
war auch Calvin darüber durch seine Freunde unterrichtet worden.
Erst am 12. Februar 1556 hatte ihm Pollanus, der damals Pfarrer
in Frankfurt war, Botschaft zukommen lassen : „Über Wesei
schreibe ich nichts. Du wirst alles von diesem Bruder (d. h. dem
Überbringer des Briefes) erfahren." 1
Nun waren in gleicher Zeit in der Frankfurter Gemeinde große
Wirren ausgebrochen, sowohl zwischen den Gemeindegliedern
selbst, wie zwischen Gemeinde und Stadt, Wirren, die trotz der
Bemühungen Antwerpens und Emdens nicht beigelegt wurden.2
Deshalb veranlaßten die Gemeinden von Antwerpen, Emden, Wesel,
Tournay und Straßburg Calvin zu persönlichem Kommen nach
Frankfurt zur Beilegung der Zwistigkeiten.3 Calvin entschloß sich
in der Tat zu dieser Reise und trat sie im September 1556 an;
zur Frankfurter Messe wollte er dort sein.
Daher hatte sich Perucellus entschlossen, bis zum September
in Wesel auszuharren, um dann mit Calvin in Frankfurt persön-
liche Rücksprache zu nehmen. Auch a Lasko kam nach Frankfurt,
und hier haben die drei Männer die ganzen Verwicklungen be-
handelt. Das Ergebnis ihrer Verhandlungen können wir erkennen
1) Calv. Opp. XVI. p. 23 Nr. 2385.
2) Vgl. P. Henry: Das Leben Johann Calvins, III. Hamburg 1844,
p. 412 ff. i.i i
3) Calv. Opp. XVI p. 235 — 237 N-r. 2501 p. 243—245 Nr. 2506.
Von Dr. Walter Ilollwcg. 159
aus dem Schreiben Calvins, das Perucellus an die Weseler Ge-
meinde mitbrachte.1
Zunächst sehen wir, daß die persönliche Aussprache der beiden
Männer mit Calvin, bei letzterem doch die Betrachtung und Beurtei-
lung der Weseler Verhältnisse wesentlich modifiziert hatte. „Ver-
wirrt und zweifelhaft schwankte ich zunächst, was ich ihm haupt-
sächlich raten sollte", so beschreibt Calvin seine Stimmung nach
Anhören der Schilderung Perucellus über die Weseler Verhältnisse.
Zu folgender Ansicht ist er dann schließlich gelangt: es ist zu
trennen, was dem Pfarrer geziemt von dem, was der Gemeinde
geziemt. Für die letztere bleibt Calvin bei seinen bereits gegebenen
Ratschlägen. Einem Pfarrer aber ist weniger Freiheit gestattet.
Wenn er voranschreitet und dann zurück, dann entsteht Ärgernis
und das ist zu meiden. So würde auch Perucellus, wenn er jetzt
die Annahme der Zeremonien gestattete, von vielen als doppelzüngig
verschrieen werden und dazu auch eine Lösung zum Guten für die
Zukunft unmöglich machen. Deshalb lautet sein Rat an die Ge-
meinde, Perucellus ziehen zu lassen, selbst wenn es ihnen schwer
fällt bei einem Manne, der so redlich und treu ihnen gedient hat.
Dieser Stellung schloß sich auch a Lasko an.2
Durch diesen Bescheid Calvins war die Stellung Perucellus
bei allen Fremden wesentlich gestärkt worden, was ihm in den
folgenden Ereignissen sehr wichtig war.
Als die Weseler Calvins Gutachten empfangen hatten, da baten
sie ihren Pfarrer, noch einmal bei den deutschen Pfarrern mit ihren
Wünschen vorstellig zu werden. Das versprach Perucellus. Doch
hielt ihn davon zurück ein erneuter Vorstoß des neulutherischen
Rates, der zunächst die Annahme der Confessio Augustana fried-
lich zu erwirken suchte, und dann, als dies vergeblich, ein Be-
kenntnis, namentlich im Punkte der Abendmahlslehre einforderte.
Darauf überreichten die Engländer ihr Bekenntnis aus der Zeit
Eduards VI., Perucellus überreichte das Bekenntnis seiner Ge-
meinde und fügte hinzu, er habe die Überzeugung, daß dasselbe
von Philipp Melanchthon gebilligt werden würde.3 Dieser, so bat
i) Calw Opp. XVI p. 286—288 Nr. 2535. Frankf. Rel.-Handl. T. p. 294 f.
2) Sein Brief ist verloren gegangen.
3) Es liegt nicht in unserem Thema, auf diese interessanten Ver-
handlungen näher einzugehen. Man vergleiche dazu: Wolters p. 176, Calv.
Opp. XVI p. 312 f. Nr. 2544 und den Brief Ursins an Crato bei Sudhoff,
Olevian und Ursin p. 486. K. Benrath: Die Summa dei heiligen Schrift
I 6o Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
er, solle die Konfession beurteilen und über Bleiben oder Nicht-
bleiben der Fremden urteilen.
Mit diesem Vorschlage waren dann auch die englisch redenden
Fremden einverstanden. Die gemeinsame Not trieb auch zu ge-
meinsamem Handeln. Die lange anerkannte alte Wallonengemeinde
ließ man ganz aus dem Spiel. Natürlich war Perucellus Vorschlag
aus der Not heraus geboren. Eines Melanchthon, der doch in
großen Kreisen der Weseler Bevölkerung eine Autorität war,
konnte man sich noch bei weitem eines besseren versehen, als der
neulutherischen Eiferer. Deshalb schrieb Perucellus auch an Cal-
vin: „Die Notwendigkeit zwang uns zu solchem Tun", unter Hin-
weis auf das drohende Exil.
Die Einigung aller Fremden auf Perucellus Bekenntnis war
in dieser Zeit ein großer Segen und ist gewißlich mit eine Folge
der Frankfurter Besprechung mit Calvin, die Perucellus schwan-
kende Stellung in der Gemeinde energisch gestärkt hatte. Dies
hat Perucellus auch bereitwilligst anerkannt : „Es stärkte mich sehr
Deine Autorität", schrieb er an Calvin. Der Rat ging auf den
Vorschlag Perucellus' ein, und beauftragte ihn, an Melanchthon
zu schreiben. Der Brief ist vorsichtig, rein sachlich abgefaßt und
berichtet nach kurzer Einleitung nur das Bekenntnis zur Abend-
mahlslehre und anschließend noch einige Differenzpunkte in betreff
der Taufe und der Zeremonien. „Ich hätte anders an ihn ge-
schrieben, wenn nicht dem Senate die Briefe hätten vorgezeigt
werden müssen", schreibt er an Calvin. Aber er konnte nicht
anders. Das tat aber Hubert Languetus, der an Melanchthon und
andere Freunde im Interesse seiner Gemeinde schrieb.1 Der Rat
aber sandte Perucellus' Schreiben nach Wittenberg.
Wie traurig es unterdessen in Wesel um die Fremden stand,
zeigten Calvin Perucellus' Berichte. Ein Beispiel schreibt er : Eine
sterbende Frau verneint einem Pfarrer, daß in Brot und Wein der
wahre Leib Christi sei. Sie stirbt und wird ihrer Aussage halber
beim Galgen beerdigt.
Calvins ganze Erwartung richtete sich jetzt auf Melanchthon.
p. XXXVI. Leipzig 1880. Das Bekenntnis findet sich: Wolters p. 443 — 445.
Frankf. Rel.-Handl. I. p. 283 f. Calv. Opp. XVI, 307—309 Nr. 2543.
1) Über die Tätigkeit dieses Mannes m den Rheinlanden sind wir
noch ganz im Unklaren. Sein Brief an Melanchthon ist für die Weseler
Verhältnisse höchst interessant. Vgl. C. Krause, Melanchthoniana p. 146.
Über seine Tätigkeit in Wesel vgl. auch den bereits zitierten Brief Ursins
an Crato bei Sudhoff p. 486 f. und Frankf. Rel.-Handl. I. p. 283, 20.
Von Dr. Walter Hollweg'. IÖI
Der Streit um die Abendmahlslehre beunruhigte damals nicht nur
Wesel, sondern den ganzen deutschen Protestantismus. Und gerade
die Tatsache, daß Melanchthon trotz wiederholter gegenteiliger
Versprechungen mit seiner Stellung nicht offen hervorzutreten
wagte, verbitterte Calvin aufs höchste.1 In solcher Stimmung traf
ihn Perucellus' Brief mit der Nachricht über seine Appellation an
Melanchthon. Das schlimmste, eine Verdammung ihrer Abend-
mahlslehre, kann Calvin nicht glauben. ,,Wenn Philippus etwas
antwortet", schreibt er Perucellus „(wozu, wenn er es nicht freiwillig
tut, er aus Ehrenhaftigkeit wenigstens gezwungen ist), wird er es
nicht wagen, Deine Lehre zu mißbilligen ; ja ich werde mich wun-
dern, wenn er Deine Konfession nicht unterschreibt". Dann aber
fährt Calvin mit grimmiger Drohung fort : „Sollte er jedoch wider
sein Gewissen handeln, dann wird er merken, daß er es mit einem
grimmeren Feinde zu tun bekommen wird, als er bis jetzt er-
fahren hat/' 2
Von Wolters 3 ist gezeigt worden, wie durch den neuluthe-
rischen Rat versucht wurde, öffentlich und heimlich, eine den
Fremden günstige Antwort zu hintertreiben ; desgleichen auch, wie
sich Melanchthon dennoch nicht täuschen ließ. Am 13. November
1556 antwortete er bereits.4 Die Fremden aus den ihm mitgeteilten
Gründen aus Wesel zu vertreiben, würde hart sein, so meint er.
In Wesel würde weniger Streit sein, wenn die Fremden, wie in
Straßburg und Frankfurt ihre eigenen Versammlungen und Abend-
mahlsfeiern hätten. Dann bespricht er der Reihe nach die drei
Punkte : Zeremonien, Taufe, Abendmahl und kommt trotz anderer
Auffassung doch immer zu dem Ergebnis : Milde gegen die Frem-
den ist not.
Das war den Eiferern in Wesel natürlich sehr ungelegen. Aber
sie fanden auch hier den Weg. Perucellus hat den Verlauf der
Ereignisse genau Calvin geschildert. r> Er und Trihernus, ein ge-
lehrter Engländer, werden vor den Rat gerufen und nach einigem
Hin und Her wird ihnen eröffnet, daß sie alle bis zum I. März 1557
Wesel zu verlassen hätten. Die Bitte um Verlängerung des Ter-
1) Vgl. A. Lang: Melanchthon und Calvin, in der Ref. K. Z. 1897, be-
sonders p. 90.
2) Calv. Opp. XVI p. 342 Nr. 2546.
3) p. 180—186.
4) Frankf. Rel.-HandJ. I. p. 284 f. Mel. Opp. VIII p. 908 mit falschem
Datum. Wolters: Konrad von Heresbach p. 271 — 273.
5) Calv. Opp. XVI p. 395 — 397 Nr. 2588 vom 29. Januar 1557.
Calvinstudien. 1 I
102 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
mins bis Mai wurde schnöde abgewiesen, trotz des Hinweises auf
den Winter und die schwierige Rheinfahrt. Strafe verdienten sie
eigentlich. Die neulutherischen Prediger waren beglückt, sie
wiegelten das Volk auf, und es kam in der Tat zu Gewalttätig-
keiten.
Unterdessen aber war der Mann, der bisher bei den Frem-
den im Mittelpunkt der Bewegung gestanden hatte, Franciscus
Perucellus, bereits vom Schauplatz abgetreten. Einem aus Frank-
furt an ihn ergangenen Rufe an die dortige Fremdengemeinde
war er gefolgt, nachdem er ihn bereits einmal abgelehnt hatte. Diesem
Rufe zu folgen, war Perucellus deshalb doppelt schwer, weil auch
die Emdener Gemeinde seine Ankunft wünschte. In dieser Lage
wandte er sich, wie er das schon so oft getan hatte, an Calvin
nach Genf. Ohne seinen Rat wollte er nicht handeln. Und wenn
er auch infolge der Weseler Wirren in Übereinstimmung mit der
dortigen Gemeinde schon früher nach Frankfurt ging, als Calvins
Antwort eintraf, endgültig verpflichtete er sich nicht eher, als bis
Calvin sich zu seiner Umsiedelung nach Frankfurt geäußert hatte.1
Es wundert uns nicht, daß Calvin sein Mißfallen äußerte, daß die
Frankfurter Gemeinde in so schwerer Zeit der niederrheinischen
Gemeinde ihren geistigen Führer zu rauben suchte. „Weder ehren-
wert noch nützlich", so charakterisiert er diese Handlungsweise
dem Frankfurter Pastor Holbracus gegenüber.2 Und noch mit
schärferen Worten geißelte er Perucellus gegenüber diese Hand-
lungsweise: „Selbst gesetzt den Fall, daß keine Hoffnung gegeben
wird, die kleine Gemeinde dort zurückzuhalten, so ist dennoch
nichts schmählicher, als einen solchen Augenblick zu Deinem Fort-
gehen zu benutzen." Und daraus folgt sein Rat an Perucellus:
„Nie würde ich Dich zum Weggehen veranlassen, bis eine Ent-
scheidung gefallen ist." Von der Rückkehr des Boten an Me-
lanchthon und den sich darnach sicherlich so oder so klärenden
Verhältnissen muß sich die Entscheidung für ihn ergeben.3 Wir
sehen, wie sehr Calvin die rheinische Gemeinde am Herzen lag.
Ja noch mehr: Calvin erkannte, daß damals am Niederrhein ein
Kampf gefochten, der weit hinausgehend über die bloße Bedeutung
einer Lokalgeschichte, für die Christenheit von der größten Be-
deutung war. Deshalb schrieb er der Frankfurter Gemeinde 4 : „Ihr
i) Frankf. Rel.-Handl. I., 285.
2) Calv. Opp. XVI p. 340 f. Nr. 2563.
3) Calv. Opp. XVI p. 341 f. Nr. 2564.
4) Calv. Opp. XVI p. 344 Nr. 2566.
Von Dr. Walter Hollweg. I 63
wißt, daß jede Kirche nicht nur das Ihre suchen soll, sondern auch
das was des andern ist. . . . Nicht nur der kleinen Schar, die
dort versammelt ist, würdet ihr Unrecht tun, sondern der gesamten
Christenheit."
Wir sahen bereits, wie die Weseler Verhältnisse sich für die
Fremdengemeinde traurig gestalteten, was dann Perucellus Scheiden
von der Gemeinde ermöglichte. Er schied in vollem Einvernehmen
mit seiner Gemeinde. Ende Januar 1557 rinden wir ihn bereits in
Frankfurt.
Mit seinem Scheiden von Wesel waren für Perucellus noch
nicht alle Verbindungen mit der Gemeinde gelöst. Noch von
Frankfurt aus reiste er nach Wesel, um die Gemeinde zu trösten.
Desgleichen verfaßte er für die Gemeinde ein Schreiben an den
Magistrat, das den Standpunkt der Gemeinde klar legte und eine
Verlängerung des Auswanderungstermines um sechs Wochen er-
reichte.1 Auch diese Frist verstrich, und die Reste der Gemeinde
verließen Wesel, teils sich im Rheinland niederlassend, teils Peru-
cellus nach Frankfurt folgend.2 Tragisch in Perucellus Leben ist
es, daß seine aufopfernde Tätigkeit im Dienste der Weseler Ge-
meinde später arg verkannt wurde.'3
Nach dem Siege der neulutherischen Partei in Wesel durch die
Vertreibung der aus England eingewanderten Fremden hatten die
zurückgebliebenen Wallonen zunächst eine Zeitlang Ruhe. Die
Stellung der Partei war noch keine so absolut sichere, daß ein
sofortiges weiteres Vorgehen möglich gewesen wäre. Sogar änderte
sich die Lage mehr und mehr zu ihren Gunsten. Das Einwandern
einiger Wallonen 1561 gab erwünschte Gelegenheit zu einem neuen
Unternehmen der Neulutheraner. Das von den Fremden vorgelegte
alte wallonische Bekenntnis genügte nicht mehr, und die schon früher
1) Frankf. Rel.-Handl. I., 285.
2) Wolters p. 196 ff.
3) Es ist hier nicht der Platz, so verlockend es auch ist, das fernere
Leben dieses Mannes zu beleuchten, durch den Calvin hauptsächlich in die
Weseler Verhältnisse hineingezogen wurde. Doch sei es mir gestattet, für
einen etwaigen künftigen Biographen hier die mir bekannten Quellen noch
kurz zu nennen: Zu dem im Corpus Ref. enthaltenen Material — vgl. Index
historicus p. 421 — und den mit Vorsicht zu benutzenden Notizen bei
Wolters p. 153 f-: Frankf. Rel.-Handl. I. p. 277—295, IL, 115 — 117. J. F.
A. Gillet: Crato von Crafftheim, Frankfurt 1860, I. p. 349; IL p. 45.
A. Kluckhohn: Briefe Friedrichs des Frommen, Bd. I., Braunschweig 1868,
p. 228. Herminjard: Prospectus, Genüvc 1864 p. 27. Southerden - Burn:
History of foreign Protestant refugees, London 1846, p. 34. Zeitschrift
für histoT. Theologie 1870, p. 421.
11*
l()A Calvins Beziehungeen zu den Rheinlanden.
aufgetauchte Forderung einer für alle gültigen Konfession wurde
Parteiprogramm. Am 21. Oktober 1561 wurde der Beschluß gefaßt,
am 23. wurde der von einer Kommission geschaffene Entwurf dem
Rate vorgelegt und angenommen, und am 29. Oktober wurde er
von den deutschen Pfarrern unterschrieben.1
Das Bekenntnis ist das alte Wallonenbekenntnis vom 4. Fe-
bruar 1545, erweitert durch charakteristische Zusätze im Sinne der
neulutherischen Orthodoxie : so zu den Artikeln von der Taufe und
vom Abendmahl (hier neben dem Bekenntnis zur lutherischen Abend-
mahlslehre eine Verwerfung der reformirten Abendmahlslehre und
Verdammung der Gegner der Ubiquität). Der letzte Artikel be-
kennt sich zur Augsburgischen Konfession.
Was sollten die Wallonen zu diesem Bekenntnis sagen? Sie
wurden zur Unterschrift aufgefordert. Getreu ihrem Glauben
lehnten sie diese Forderung ab: 17. Februar 1562. Und die neu-
lutherische Majorität des Rates konnte trotz ihres Sieges inner-
halb des Rates dennoch nicht nach Belieben vorgehen, da die
Sympathien für die Wallonen in der Stadt groß waren und stetig
zunahmen. Gutachten der bedeutendsten Theologen sprachen sich
für (Wesenbeck, Brentz, Eber, Mörlin, Einhorn, Baier, Heßhusius)
oder wider (Heidelberger Fakultät und Pfarrer, A. Hyperius) die
Konfession aus.
Ist es wunderbar, daß in diesem Streit der Parteien, die kleine
Schar der schlichten Fremden gewaltig eingeschüchtert wurde?
Das Schicksal der Londoner Gemeinde mochte sie allzusehr
schrecken. Ja in ihrer Not meinten sie schließlich, in dem Be-
kenntnis finde sich nichts, das dem Worte Gottes geradezu ent-
gegen sei. Und doch ! Ohne Calvin, dessen besonnenes und klare?
Urteil Wesel schon so oft zum Segen gewesen war, wollten si<=
nichts unternehmen. An ihn wandten sie sich im August 1562,
sandten ihm ein Exemplar der Konfession, die, wie sie meinten,
dem Worte Gottes nicht geradezu entgegen sei, und erbaten
seinen Rat.
Calvins Antwort ist äußerst interessant.2 Gerade im Vergleich
mit seinem ersten Gutachten an die Wallonen.
1) Vgl. Wolters p. 233 ff. Das Bekenntnis steht gedruckt: Wolters
p. 456 — 458. Calv. Opp. XIX p. 623 — 625. Nr. 3893 bis. B. Elberf. ref.
Wochenblatt 1863 p. 155 — 157.
2) Vgl. Calv. Opp. XIX p. 619—622. Nr. 3893. Bonnet IL, 484 ff.
Elberf. ref. Wochenbl. 1863 p. 153 — 155.
Von Dr. Walter Hol I weg. 165
Damals handelte es sich um Äußerlichkeiten, und daher lautete
sein Rat: nachgehen. Jetzt wurde der Glaube angefochten, die
Konfession verstieß gegen die Schrift, und deshalb gab's nur eine
Möglichkeit : ablehnen. Früher hatte Calvin das Treiben der Geg-
ner, die zielbewußt mit Kleinem, den Zeremonien, begonnen hatten,
für Schwachheit im Glauben erklärt, die man tragen müsse (wir
sahen wie a Lasko bereits damals tiefer blickte), jetzt beurteilt er
ihr Handeln als Tun des Teufels, der nach allen Seiten hin Mittel
findet, sie zu ärgern und zu beschweren. Aber hier gilt's durch
die Tat zu beweisen, daß die Kinder Gottes Gäste und Fremdlinge
auf Erden sind. Und dann bittet er die Wallonen, wenn sie jetzt
eine kurze Zeit geschlafen haben, mit festem Vorsatz aufzustehen
vom Schlafe. Annahme des Bekenntnisses kommt ihm gleich mit
verstecktem Verzichten auf die Wahrheit Gottes. Sie mögen den
Inhalt der Schrift nennen, wie sie es für gut finden : Gott ist kein
Sophist und läßt sich durch solche Spitzfindigkeiten gewiß nicht
spotten. — Und dann folgen eine Reihe Änderungsvorschläge.
Dieses starke, mannhafte Auftreten Calvins, stärkte die Wal-
lonen gewaltig. Am 3. November 1563 reichten sie dem Rate eine
neue Konfession ein. Und eine wie gewaltige Autorität Calvin
der Gemeinde war, das zeigt sich daraus, daß die Konfession ent-
standen ist durch wörtliche Zufügung resp. wörtliche Änderung
gemäß den Anweisungen seines Schreibens. Nichts, gar nichts hat auch
nur eine andere äußere Form erhalten.1 Und wenn wir uns noch
einmal der beiden ersten Schreiben erinnern im Vergleich mit dem
letzten : Zeigt sich hier nicht Calvin als ein geradezu klassischer
Vertreter echter Toleranz. Weitgehende Rücksicht übt er da,
wo das Gewissen der Schwachen Anstoß nehmen könnte ; aber sein
Herz wird fest und unerbittlich, wenn ihm die heiligsten Güter
seines Glaubens angegriffen werden.
In Wesel bereiteten sich die Gegner Calvins gerade durch ihre
maßlose Intoleranz ihr eigenes Verderben. Der gesunde Sinn des
Volkes, auch der Ratsmitglieder, sträubte sich entschieden, als nun
der eifernde Heßhusius selbst nach Wesel kam, um die Konfession
1) Man stelle nebeneinander 1. das alte Wallonenbekenntnis vom
4. Febr. 1545: Wolters p. 455 f., Calv. Opp. XIX p. 622 t.; J. das durch den
neulutherischen Rat geänderte Bekenntnis vom 20. Okt. 1561: Wolters
p. 456 ff., Calv. Opp. XIX p. 623 — 625; 3. Calvins Brief mit seinen Anderungs-
vorschlägen vom 1. Januar 1563: Calv. Opp. XIX p. 619 — 622; 4. das
Wallonenbekenntnis vom 9. Nov. 1563: Wolters p. 458 — 460, Calv. Opp. XIX
p. 625 — 627.
I 66 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
von 1561 zu retten. Seine Polemik richtete sich zunächst nament-
lich gegen zwei gemäßigte Pfarrer der deutschen Gemeinde : Rollius
und Heitfeld. „Es sei denn, daß beide Pfarrer auf der Kanzel mit
klaren Worten Calvin und seine Anhänger etliche Mal verwerfen,
will noch kann ich sie nicht für rechte Lehrer, auch nicht für meine
Brüder erkennen.'"' x
Im Juli starb Heßhusens Gattin. Rollius sollte auf Bitten der
Verwandten die Verstorbene beerdigen. Da schrieb Heßhusius an
ihn: „Ich höre, daß Du zum Begräbnis meiner Frau gerufen
bist . . . will aber, daß Du vom Leichenbegängnis fern bleibst . . .
Niemand soll meinen, ich stimmte mit Dir überein. Solange Du
nicht öffentlich und mit Namen auf der Kanzel die Irrtümer Calvins
vom Abendmahl etc. verdammst, halte ich Dich für einen, der seiner
Sekte anhängt, oder für einen, der mit beiden Religionen seinen
Spott treibt." 2 So wurde seine Gattin ohne Geleit eines Pfarrers
beerdigt. Dieses Unwesen griff immer mehr um sich, bis endlich
der Rat, die Bürgerschaft und der Landesfürst seines Treibens
müde waren und ihn aus der Stadt wiesen. Damit wurde das
Weseler Bekenntnis von 1561 bedeutungslos. Nicht das Trennende,
das Gemeinsame betonte man. So zog Ruhe und Frieden in die
Gemeinde der Fremden. Im Todesjahre Calvins war das Bestehen
der reformirten Gemeinde in Wesel gesichert. Und als dann beim
Ausbruch der Niederländer Wirren Tausende von Protestanten
Vaterland und Heimat verließen, um in den Nachbarländern Schutz
und Ruhe zu finden, da war es gerade Wesel, das sich zu einem
Zentrum reformirter Vertriebener entwickelte. Bestand doch hier
schon eine Gemeinde von Brüdern, eines Vaterlandes und eines
Glaubens mit ihnen, unter einem Rate, der freundlich und wohl-
wollend die Fremden als Brüder aufnahm. Die deutsche Gemeinde
aber verband sich immer enger mit den Niederländern. In Kultus
und Verfassung wurden sie immer einiger. Die alten Streitfragen
aus den Tagen Calvins fanden immer mehr ihre Erledigung, und
zwar zugunsten reformirter Tradition.
Calvins Einfluß ist es gewesen, der Wesel für das reformirte
Bekenntnis rettete. Diese Tatsache aber ist von der größten Trag-
weite geworden, sowohl für die rheinische Kirche, wie für die
niederländische Kirche. In Wesel tagte bereits vier Jahre nach
Calvins Tode die berühmte Synode, die den Grund legte zu der
1) Wolters p. 257.
2) Wolters p. 258 f.
Von Dr. Walter Hollweg. I 67
presbyterialen Kirchenverfassung am Niederrhein. Und daß Wesel
auch hinaus über das kleine Gebiet des Niederrheins seine Bedeu-
tung hatte, das zeigt nichts besser als der Spruch aus dem 16. Jahr-
hundert: „Genff, Wesell und Rochelle seindt des Teuffcls andre
Hell."
d) Calvin und Aachen.
Unsere Kenntnis der Entstehung einer evangelischen Be-
wegung in der freien Reichsstadt Aachen verdanken wir den ein-
dringenden Untersuchungen des Aachener Pfarrers Walther Wolff.1
Seine Ergebnisse möchte ich mit folgenden drei Sätzen charakteri-
sieren, die seiner Untersuchung entnommen sind: i. „Alles was in
Aachen bis zum Jahre 1545 etwa an reformatorischen Bewegungen
hervortritt, ist, soweit es überhaupt faßbar ist, mit ziemlicher Sicher-
heit als täuferische Bewegung anzusprechen." - 2. „Einen ent-
scheidenden Einfluß in evangelisch kirchlichem Sinne hat erst die
Einwanderung der Fremden aus den Niederlanden gegeben." a
3. Jedoch: „Evangelische Bestrebungen sind in Aachen nicht erst
durch die Einwanderer hervorgerufen wrorden." 4
Die genannten Fremden aus den Niederlanden waren Glau-
bensbrüder und Heimatgenossen jener Wallonen, die um die gleiche
Zeit nach Wesel gekommen waren, in gleicher Weise fliehend vor
den Verfolgungen Karls V. Sie fanden in Aachen noch freund-
lichere Aufnahme, als ihre Brüder, die nach Wesel gewandert
waren, dort fanden. Ein sozialpolitisches Interesse, die Hebung
des Tuchgewerbes, veranlaßte den Rat, den Fremden nicht nur
Aufnahme in die Stadt zu gewähren und kostenlos ihnen Bürger-
recht zu verleihen, sondern ihnen auch noch anderweitige große Vor-
züge zukommen zu lassen. Wenn dem Rate nicht die religiöse
Stellung der Fremden bereits bei ihrem Kommen bekannt war,
dann hat er sicherlich bald davon Kenntnis erhalten. Denn die Ein-
gewanderten schlössen sich sogleich zu einer Gemeinde zusammen.
Das können wir erkennen aus den Beziehungen, in die Calvin bald
zu dieser Gemeinde trat.
1) Beiträge zu einer Reformationsgeschichte der Stadt Aachen: Theol.
Arb. N. F. VII p. 69—103, vgl. auch H. Fr. Macco: Die reformatorischen
Bewegungen während des 16. Jahrhunderts in der Reichsstadt Aachen,
Leipzig O. T. p. 3—24, und von demselben: Zur Reformationsgeschichte
Aachens während des 16. Jahrhunderts, Aachen 1907 p. 1 — 17.
2) p. 80 f.
3) P- 85.
4) P- 88,
j(58 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden,
Wie geschildert, waren in Wesel bald nach der Ankunft der
Wallonen Streitigkeiten in betreff der Zeremonien zwischen den
Fremden und der Stadtgemeinde ausgebrochen. Auf Butzers und
Martyrs Veranlassung ward Valerandus Polianus in dieser An-
gelegenheit von Straßburg nach Wesel geschickt. Es ist aber be-
reits bemerkt worden, wie er nicht nur in die Weseler Verhältnisse
eingriff, sondern in ausgedehnterer Weise mit der niederrheinischen
reformatorischen Bewegung in Beziehung trat, auch mit Aachen.
Wir müssen es beklagen, daß wir über diese ganzen Verhältnisse
nur durch eine einzige kleine Notiz Kenntnis haben. Sie ist uns
deshalb doppelt wertvoll. Mit dringendsten Bitten um Calvins Rat
hatte sich Polianus des öfteren nach Genf gewandt; und als seine
Aufgabe fast ganz vollendet ist, da trifft ein Briefbündel aus Genf
von Calvin ein : „Mein Herz jauchzte als ich die Briefe an die Ge-
meinden von Wesel und Aachen sah", so schreibt Polianus am
28. August 1546.1 Das ist die einzige Notiz über Calvins Be-
ziehungen zu Aachen in dieser Zeit. Der genannte Brief Calvins
ist verloren, und sein Inhalt auch anderweitig nicht zu erschließen
Aber bei der Dürftigkeit der Quellen zur älteren Aachener Ge-
meindegeschichte ist sie uns doppelt wertvoll.
Nicht um die Zeit von 1558, sondern bereits 1546 ist es in
Aachen zur Bildung einer Gemeinde gekommen. 2 Die Tat-
sache, daß Polianus in ihrem Interesse gearbeitet und Calvin sie
beraten hat, zeigt das unwiderleglich. Ferner wird die Frage, ob
das Bekenntnis der Fremden den lutherischen oder reformirten
Typus vertreten habe, zweifellos zugunsten des letzteren entschie-
den.3 Ja ich glaube, wir können noch mehr sagen : die Beziehungen
zwischen Aachen und Wesel lassen wohl vermuten, daß das Be-
kenntnis der Weseler Wallonen von 1545 auch die Anschauungen
der Aachener Brüder wiedergibt, wenn man von dem Artikel über
das Abendmahl absieht, der ja auch von Polianus als Abfall vom
Glauben bezeichnet wird.
Die Gemeinde hat vermutlich in aller Stille weiterbestanden
und sich entwickelt. Ob Calvin weitere Beziehungen zu ihr unter-
halten hat, ist für die nächsten zehn Jahre ungewiß. Er wird wohl
über sie unterrichtet worden sein. Gerade zehn Jahre später schreibt
1) Calv. Opp. XII p. 376 Nr. 823.
2) Vgl. Wolff p. 93, 98. Macco: Reformatorische Bewegungen p. 10 f.
3) Vgl. Wolff p. 94. Macco: Die ref. Bewegungen p. 8.
Von Dr. Walter Hol I weg.
derselbe Pollanus an Calvin : : „Über Aachen und Wesel schreibe
ich nichts. Du wirst alles von diesem Bruder (d. h. dem Über-
bringer des Briefes) erfahren." Es ist wohl nicht von ungefähr,
daß gerade in dieser Zeit Calvins Beziehungen zu Aachen wieder
deutlicher werden. Die Stellung der evangelischen Bürger Aachens
war mit der Zeit eine bei weitem schwierigere geworden. Ihre
Partei war durch Anhänger aus der Aachener Bürgerschaft und
durch neu angekommene flüchtige Protestanten aus den Nieder-
landen verstärkt worden, und der in der Bürgerschaft entstandene
religiöse Gegensatz war bis in den Rat der Stadt gedrungen.
Namentlich war Bürgermeister Adam von Zevel eine starke, mäch-
tige Stütze der Protestanten, ein Mann, der sich auch öffentlich zu
seinem Glauben bekannte. In solcher Lage war es für ernste
Protestanten schwierig, ihren Glauben zu bekennen und dabei den-
noch bei ihren katholischen Mitbürgern keinen unnützen Anstoß
zu erregen. Aus solchen Gewissensbedenken heraus schrieb am
16. Januar Goswin von Zevel, des genannten Bürgermeisters Sohn
an Calvin, und wir sind in der glücklichen Lage, sowohl Zevels
Brief wie Calvins Antwort zu besitzen.2 Dadurch haben wir den
doppelten Vorteil, einmal einen Blick zu tun in die religiöse Lage
Aachens und die Schwierigkeiten der Protestanten, dann aber auch
Calvin als Seelsorger kennen zu lernen.
Mit einer Anzahl von Freunden hatte Goswin von Zevel in
Bourges studiert. Sie hatten dann Calvin in Genf besucht, aber
wenig Zeit gefunden, mit ihm zu verkehren, da er mit Arbeit sehr
belastet war. Jetzt sind sie in Speier und werden in kurzer Zeit
in die Heimat zurückkehren, d. h. in eine katholische Umgebung.
Wie sollen sie dort leben? Sollen sie sofort widersprechen, wenn
man das Ave Maria betet, wenn man sich bekreuzt oder ähnliches
tut? Oder lieber einen oder zwei Tage warten, damit sie nicht zu
hitzköpfig erscheinen? Dazu haben sie sich in der Kirche von
Bourges zu vielem verpflichtet, so : keine katholische Kirche zu
betreten und keine katholische Predigt anzuhören. Dann ist
manches verboten: Karten- und Würfelspiel, Tanz. Teilnahme an
Gelagen der Papisten. Oder ist das doch nicht so streng und
wörtlich zu verstehen, wie manche sagen? L'nd wenn sie nach
i) Vgl. Calv. Opp. XVI p. 23 Xr.2385, 12. Febr. 1556.
2) Calv. Opp. XX p. 4571. Xr. 4188 und XVII p. 85—88 Xr. 2829. Vgl.
W. G. Goeters: Adrian von Haemstedes Wirksamkeit in Antwerpen und
Aachen. Theol. Arb. X. F. VIII p. 73 f.
I 70 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Hause kommen und Freunde und Verwandte sie zu Paten bitten,
wenn sie heiraten sollen? Luther gestattet wohl an einigen Stellen
die Beibehaltung katholischer Priester und die Exegese Calvins zu
Ps. 118, 22, scheint auch davor nicht zurückzuschrecken.1 Er
bittet dringend um Calvins Rat. „Denn wir werden bald dahin
kommen, wo uns viele Trübsale begegnen werden."
Bei oberflächlicher Betrachtung dieses Briefes könnte man den
Eindruck gewinnen, als ob aus dem Schreiben ein jugendlicher
Übereifer spräche. Das mag für einige Punkte der Fall sein. Doch
kann dies Urteil keineswegs für das ganze Schreiben gelten. Im
Gegenteil, wir schauen hier in Probleme, die nicht nur Zevel und
seine Freunde bewegten, sondern sämtliche Gemeinden, die in
Opposition zu katholischer Obrigkeit standen, Probleme, die selbst
den ernstesten Führern der Gemeinden — wir wissen es von Frank-
furt und Antwerpen — die schwersten Gewissensnöte machten.
Ist es recht, sich äußerlich den äußerlichen Institutionen der katho-
lischen Kirche zu fügen, die ja — das ist das Schwierige — zugleich
von der weittragendsten politisch-rechtlichen Bedeutung waren.
Petrus Dathenus hat sich kurze Zeit später in der gleichen Frage
an Calvin gewandt und die verzweifelte Lage der Protestanten im
nordwestlichen Deutschland folgendermaßen geschildert.2 „Sind
jene besonderen und privaten Versammlungen gut und richtig, und
tut der gilt, der solcher Versammlungen halber sich selbst, Weib
und Kind der Gefahr aussetzt? Diese an und für sich schwierige
Frage wird noch viel schwieriger durch die hinzutretenden Um-
stände : die Behörde duldet solche Versammlungen nicht, die ver-
räterischen Charakter haben. Ferner erkennt sie heimlich abge-
schlossene Ehen nicht an und betrachtet deren Nachkommenschaft
für illegitim. Dann duldet sie keine nächtlichen, heimlichen Be-
erdigungen, da viel Mord und Totschlag zugelassen werden könnte
unter jenem Vorwand, den römischen Kultus zu meiden. Eine an-
dere Frage ist die, ob es den Gläubigen erlaubt sei, ihre Kinder den
Papisten zur Taufe zu bringen, da ja ein anderer öffentlich an-
erkannter religiöser Kultus nicht da ist. Auch hier ist die Schwie-
rigkeit groß, wird ein Kind nicht getauft, so kommen die Eltern
i) Goswin Zevel denkt liier wohl an die Erläuterungen zu Mt. 21, 42
und 1. Petr. 2, 6, wo diese Psalmenstelle zitiert wird, vgl. Bd. II p. 215 und
Bd. VIII p. ig6 der Tholuekschen Ausgabe der Kommentare Calvins
zum N. T.
2) Vgl. Calv. Opp. XVII p. 345 f- Nr. 2963, Frankf. 20. Sept. 1558-
Von Dr. Walter Hollwcg. I 7 I
um einen besonderen Trost und geraten in den Verdacht der
Wiedertäuferei . . ." Wir sehen also, Zevels Anfrage berührte die
tiefsten Lebensinteressen der Gemeinde.1
Bereits am 14. März desselben Jahres 1558 beantwortete Cal-
vin diesen Brief, obwohl Seitenschmerzen, die ihn den ganzen Mo-
nat fast unbrauchbar gemacht haben, ihm das Diktieren des Briefes
fast unmöglich machen. Zunächst weist Calvin den Frager darauf
hin, daß er in keiner Weise sein Gelöbnis brechen darf. Dasselbe
hatte ja auch keinen anderen Zweck, als daß sie sich frei hielten
von alle dem, was sich mit einem strengen Bekenntnis zu Frömmig-
keit und Glauben nicht vereinigen läßt. Und dann bespricht Calvin
die einzelnen Punkte, über die Zevel ihn befragt hatte. In ein
katholisches Gotteshaus zu gehen befleckt nicht : aber die Absicht,
den Papisten dabei zu Gefallen zu sein, das ist gottlose und unent-
schuldbare Heuchelei. Im allgemeinen soll das unser Grundsatz
sein : aller Aberglaube soll fehlen, aber unsere Freiheit soll nie-
manden mit Fug und Recht beleidigen. Halten wir an solchen
Grundsätzen, dann sollen wir uns keine Skrupel machen, die uns
in unserer Arbeit hemmen. Was die Predigten betrifft, so muß
man sich vor einem doppelten Übel hüten, einmal, daß unser
Schweigen nicht den Schein von Zustimmung erweckt, wenn jene
Rabulisten mit vollen Backen die wahre Lehre zerspalten, dann,
daß wir nicht an abergläubischen Gebeten teilnehmen. Weit sicherer
ist's, fern zu bleiben. Über das Aussprechen von Tadeln wagt Cal-
vin kein festes Gesetz aufzustellen. Obwohl es wünschenswert, daß
es mehr im Brauch sei, und jeder sich der Pflicht bewußt sein muß.
Irrenden beizustehen, so ist dennoch Mißfallendes nicht sogleich und
ausnahmslos zu tadeln. Das müssen wir alle zeigen, daß wir unter dem
leiden, was dem Ruhm und dem Worte Gottes widerstreitet ; bietet
sich uns Gelegenheit, dann sollen wir unser Bemühen klar bezeugen:
sonderlich wenn Hoffnung auf Erfolg da ist. Die Furcht vor Un-
bequemlichkeiten ist unberechtigt. Aber besser Vorsicht im
Besuch von Gelagen ! Auch auf solchen nicht gleich beim ersten
Wort mit Tadel zufahren. Sehr feinsinnig sind auch Calvins
ethische Anweisungen über Tanz, Würfelspiel usw. Geht einer zur
1) Vgl. zu diesem Problem noch: Haenistedius Calvino, Antwerpen
26. Nov. 1558. Calv. Opp. XVII p. 388 f. Nr. 2987. Calvin ä l'Eglise fran-
qaise d'Anvers, Genf 21. Dez. 1556. Calv. Opp. XVI p. 336 — 339 Nr. 2561
und Calvin ä un gentilhomme de Provence, 6. Sept. 1554. Calv. Opp. XV
p. 226 — 228 Nr. 2007.
172 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Hochzeit, so enthalte er sich von Tanz und anderen Ausgelassen-
heiten. Des bloßen Zuschauens halber ist er nicht zu verdammen.
Dennoch soll er sich bemühen, daß sein Maßhalten anderen Scheu
einflößt, und eine ernste Zensur zur Verhinderung von Ausschrei-
tung wird. Dasselbe gilt vom Würfelspiel. Durch Spiel soll man
Geld nicht verschleudern, viel weniger sich damit bereichern.
Was nun die Stellung zum katholischen Kultus betrifft, wenn
ein Protestant durch Patenschaft oder ähnliches mit ihm in Be-
rührung kommt, so will Calvin nicht darüber streiten, was es für
eine traurige Sache ist, sich von Verwandten und Freunden zu
trennen ; hier handelt es sich allein darum, was Gott verbietet und
befiehlt. Und da kann er nicht anders, als davor warnen, durch
Teilnahme daran sich zu beflecken. Lieber auf alle Freund-
schaften verzichten, als sich durch solchen Gehorsam die Gunst
der ganzen Welt zu kaufen. Aber auch hier betont er nochmals
Mäßigung und Klugheit.
Gerade diese enge Verbindung von rechtem Maßhalten und voller
Entschiedenheit ist das charakteristische Merkmal dieses Gut-
achtens an die Aachener Freunde. Schon diese kurzen Bemer-
kungen aus dem langen Sendschreiben zeigen den feinen Takt und
das klare sittliche Unterscheidungsvermögen des Reformators.
Soweit unsere Kenntnis reicht, ist dies das letzte persönliche
Eingreifen Calvins in die Aachener Verhältnisse. Aber sein Geist
wurde dadurch in der Gemeinde wach gehalten, daß gerade in
dieser Zeit ein direkter Schüler und ein Geistesverwandter die
führenden Persönlichkeiten in Aachen wurden: das sind Johannes
Taffinus und Adrian van Ffaemstede. Taffinus hatte in Genf stu-
diert. Und er sowohl wie Haemstede standen mit Calvin in brief-
lichem Verkehr.1 Für Aachens Geschichte interessant ist es, daß
mit dem Kommen dieser beiden Prediger — ich vermute, daß sie
zu gleicher Zeit nach Aachen kamen ; beide waren in Antwerpen
Prediger, Taffinus an der Wallonengemeinde — es unter den Pro-
testanten zu einem Auseinanderfallen in eine wallonische Gemeinde
mit Taffinus und eine deutsche mit van Haemstede an der Spitze
kam. Unter dieser Voraussetzung erklärt sich ohne Schwierigkeit
eine von den Aachener Historikern bisher unbeachtete Notiz, aus
einem Bericht des damaligen Londoner Predigers Nicolaus Gala-
sius vom 12. August 1560, in der er Calvin Mitteilung macht über
1) Vgl. den Index Historicus zu Calvins Briefen.
Von Dr. Walter Hollweg. I 73
den traurigen Ausgang der in dieser Zeit wirksamen katholischen
Reaktion gerade mit Bezug auf die Wallonengemeinde. Sic lautet1:
,, Durch Holbracus bin ich unterrichtet worden, daß Johannes
Scaphinus, 2 der die Aachener Gemeinde gesammelt hatte (das be-
zieht sich also dann nicht auf die alte Wallonengemeinde, die bereits
1545 resp. 1546 bestand) und sie nach ihrer Vertreibung und Zer-
streuung wiederum in Friedberg zu sammeln suchte, dies nicht
habe erreichen können.'' Wie Taffinus, so ist auch Adrian van
Haemstede nur kurze Zeit in Aachen geblieben. Noch im Sommer
desselben Jahres ist er nach England gegangen. Aber wie gerade
durch ihn Gedanken Calvins in Aachen anerkannt wurden, das
hat Goeters 3 gezeigt durch den Nachweis der Bedeutung, die
Calvins Institutio bei der Abfassung der Confessio hatte, die van
Haemstede für seine Aachener Glaubensgenossen aufsetzte.
Mit van Haemstedes und Taffinus' Fortgehen hören die direk-
ten Beziehungen Calvins zu Aachen auf.
II. Abschnitt.
Calvins Einfluß durch seine wissenschaftliche, besonders
schriftstellerische Tätigkeit auf die Rheinlande.
Daß eine so gewaltige Persönlichkeit wie Calvin eine große
Zahl von Schülern an sich zog, ist nicht wunderbar.4 Wie viele
Rheinländer mögen zu seinen Füßen gesessen haben, die dann seine
Gedanken weiter hinaustrugen in die Heimat ! Schon lange, ehe
Calvin die Errichtung einer Hochschule in Genf durchgesetzt hatte,
— sie wurde am 5. Juni 1559 eröffnet5 — hat der Reformator
1) Calv. Opp. XVIII p. 164 Nr. 3233.
2) In einem anderen Briefe an Calvin vom 14. Okt. 1560 Calv. Opp.
XVIII p. 220 Nr. 3261 nennt er ihn Staphinus: beides ist sicherlich eine
falsche Namensform für Taffinus.
3) P- 81 f.
4) Es scheint mir nicht notwendig, wie Rutgers es bei seiner Arbeit
für die Niederlande getan hat, Calvins Beziehungen und Freundschaften zu
solchen Rheinländern zu erörtern, die für ihre Heimat nicht mehr von Be-
deutung wurden. Es würde sich hier namentlich um die beiden bedeutenden
Rheinländer aus Schieiden handeln: Johannes Sturm, der berühmte Straß-
burger Pädagoge, und Johannes Sleidanus, der Historiker (darüber, wie
für ihn das Studium Calvinischer Schriften entscheidend wurde, vgl. Hasen-
clever Sleidanstudien, Bonn 1905, p. 13 fr.). Ebenfalls bemerke ich, daß
sich die Untersuchungen dieses Abschnittes nur über den Zeitabschnitt des
Lebens Calvins erstrecken.
5) Vgl. Stähelin I p. 488.
I 7 A Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
theologische Vorlesungen gehalten. Nach Gründung der Hoch-
schule wurde dann in Genf auch eine Matrikel der Studierenden
geführt, wodurch uns die Namen der rheinischen Studenten er-
halten sind. Und gleich auf der ersten Seite der Matrikel1 finden
wir sechs Rheinländer. Da ist zunächst Antonius Olevianus aus
Trier, der Bruder des berühmten Caspar Olevianus. Dann sind
zwei Kölner vermerkt : Gerardus Goer und Johannes Stralen.
Beide stammten aus zwei bedeutenden Kölner Patrizierfamilien und
finden sich beide später als Mitglieder ihrer Heimatgemeinde in
den Konsistorialbüchern wieder.2 Aus Cleve sind uns genannt
Theodorus und Henricus Wierus, Söhne des durch seine Be-
kämpfung der Hexenprozesse bis heute berühmten Leibarztes
Herzog Wilhelms von Cleve : Johannes Wier oder Weyer.3 Beide
waren freilich nicht Theologen. Theodor war Jurist ; aber wir
werden vielleicht nicht fehl gehen, daß seine spätere Tätigkeit zu-
gunsten der kämpfenden Niederländer dem Einflüsse Calvins
zuzuschreiben ist. Sein Bruder Heinrich war Mediziner. An der
Kölner Universität hat er später durch seine fortschrittlichen Ge-
danken Aufsehen erregt.4 Weiter wird uns genannt Gerardus Wes-
hemius aus Geldern. Neben diesen sechsen sind zu Lebzeiten Cal-
vins noch drei weitere rheinische Studenten in die Matrikel ge-
kommen. Reuerus Goto aus Köln, Liffordus Bernigen aus Gennep
und Johannes Fontanus. Der zweite scheint, dem Namen nach zu
urteilen, Ausländer zu sein. Wir wissen, daß in Gennep sich früh
eine wallonische Flüchtlingsgemeinde gebildet hatte.5 Johannes
Fontanus endlich ist der berühmte erste Prediger von Arnheim,
namentlich bedeutend für die Geschichte der Niederlande. Er war
gebürtig aus Zoller im Herzogtum Jülich.0
Es ist klar, daß durch den Eindruck der Persönlichkeit des
Lehrers der Einfluß und die Verbreitung seiner Gedanken sich
i) Le Liv.re du Recteur p. 2.
2) Vgl. Simons: Kölner Konsistorialbeschlüsse p. 35, 140. Lau: Buch
Weinsberg III, 13.
3) Über ihn vgl. C. Binz: Doctor Johann Weyer, ein rheinischer Arzt,
der erste Bekämpfer des Hexenwahns, 2. Aufl., Berlin 1896.
4) Über beide vgl. Binz p. 174 — 177.
5) Vgl. Fr. W. Cuno: Gesch. der wallonischen und französisch-ref.
Flüchtlingsgemeinde in Wesel. Geschichtsblätter d. deutschen Hugenotten-
vereins, Zehnt V. Heft 2 p. 4. Magdeburg 1895.
6) Vgl. J. W. Straats EveTs: Johannes Fontanus, Arnhem's eerste
predicant 1577 — 1615 en zijn Tijd. Arnhem 1882, p. 10 ff.
Von Dr. Walter Hollweg. I 75
noch viel nachhaltiger gestalten mußte, als seine Schriften dies ver-
mochten.
Was nun die Frage betrifft nach dem Einfluß, den Calvin durch
seine S c h r i f t e n zu seinen Lebzeiten auf die Rheinlande ausgeübt
hat, so ist es von vornherein nicht wunderbar, daß eine Entschei-
dung in dieser Frage schwierig ist, da ja der Einfluß da, wo er
faßbar ist, meist mehr oder weniger durch gelegentliche Bemer-
kungen in Briefen usw. deutlich wird, d. h. mehr durch Zufällig-
keiten sichtbar wird. Aber auch das wenige vorhandene Material,
das im folgenden geboten werden soll, scheint mir folgendes er-
geben zu haben : Von bestimmendem Einfluß sind gewesen die Ge-
danken Calvins auf die gebildeten, sowohl katholischen, wie
namentlich humanistischen Kreise des Rheinlandes, während sie
die weiteren Kreise sowohl des Volkes, wie des Klerus unberührt
ließen. Hätte ein solcher auf den letzteren stattgefunden, so
würde er sich widerspiegeln in den sogenannten geistlichen Er-
kundigunsbüchern, die im Düsseldorfer Staatsarchiv aufbewahrt
werden. Denn in denselben sind auch die Bestände der Pfarr-
bibliotheken aufgeführt. Mit der Anfrage, ob sich eine Durch-
arbeitung derselben zu unserm Zweck lohnen würde, wandte
ich mich an den besten Kenner derselben, Herrn Archivrat Dr. O.
Redlich, der in liebenswürdiger Weise — ihm sei auch hier dafür
gedankt — mir mitteilte, daß in den Werken der Pfarrbibliotheken
Calvin nur einmal mit seiner Institutio (Breill, Kreis Geilen-
kirchen) erwähnt werde, und daß im übrigen hier und da sein
Name genannt werde, doch so, daß man keine bestimmten An-
haltspunkte habe.
Was die Vertreter des wissenschaftlich gebildeten rheinischen
Katholizismus betrifft, so ist von ihnen Calvins Bedeutung bald
erkannt worden. Das ist zunächst zu erkennen aus der scharfen
Überwachung des Buchhandels und den kirchlichen Bücherverboten.
In Köln war nicht nur der Erzbischof, sondern daneben auch
die Universität ein Hort kirchlicher Rechtgläubigkeit. Schon sehr
früh waren der letzteren die Anwendung kirchlicher Zensuren
gegen Drucker, Käufer und Leser häretischer Schriften gestattet
worden : 1479 durch Sixtus IV., neu bestätigt durch Alexander VI.
Und daß eine solche Zensur geübt wurde, zeigen eine Reihe theo-
logischer Bücher, die mit ihrem Imprimatur versehen sind.1 Dann
1) Vgl. Fr. H. Reusch: Der Index der verbotenen Bücher, Bd. I.
Bonn 1883, p. 56.
Ijß Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
hatte Hermann von Wied zu der Zeit, als er der reformatorischen
Bewegung noch ferner stand, 1536 auf einem Provinzialkonzil
Druck und Verkauf von Büchern von der Prüfung einer eigens
dazu bestimmten Kommission abhängig gemacht. x Sein Nachfolger
Adolf von Schauenberg hat dann auf der Provinzialsynode von
1549 einen Index aufgestellt, „weil einfältige und ungelehrte
Pfarrer, denen es nicht gegeben ist, Reines von Unreinem zu unter-
scheiden, Bücher über religiöse Dinge kaufen, wie sie ihnen eben
vorkommen, wenn sie solche Titel haben, wie die Predigten der
Gegner und ihre Kommentare zur heiligen Schrift". Auf diesem
Kölner Index stehen auch die Schriften Calvins.2 Ein ausführ-
licherer Katalog wurde in Aussicht gestellt. Dieser ist freilich nie
erschienen. Jedoch erließ die Diözesansynode des folgenden
Jahres, 1550, eine Instruktion für die Visitation der Erzdiözese,
und in derselben werden wiederum Calvins Schriften verurteilt.3
Die Väter des Tridentiner Konzils erließen dann im Todesjahre
Calvins einen großen Index, in dem natürlich seine sämtlichen
Schriften verurteilt wurden. Noch im gleichen Jahre wurde dieser
Index auch in Köln gedruckt: Index Librorum prohibitorum cum
Regulis confectis per Patres a Tridentino Synodo delectos, auctori-
tate S. D. N. Pii. IV. P. AI. comprobatus. Coloniae. Apud Ma-
ternum Cholinum 1564.4 Daß derartige Bücherverbote nötig
waren, zeigen auch die Edikte der benachbarten Niederlande, die
wohl Rückschlüsse auf die Zustände in den Rheinlanden gestatten.6
Neben diesen offiziellen Kundgebungen sind für uns wichtig
eine Reihe anderer Zeugnisse. Wir wissen, daß ein großer Teil der
Kölner Buchdrucker und Buchhändler, trotz aller Zensuren, mit
ketzerischen Büchern einen schwunghaften Handel trieben.6 Für
1) Vgl. Reusch I p. 85.
2) Vgl. Reusch p. 128 f. Der Text ist abgedruckt: Fr. H. Reusch:
Die Indices Librorum Prohibitorum des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1886,
p. 78 f. Bibliothek des litt. Vereins für Stuttgart Nr. 176 nach Hartzheim:
Concilia Germaniae VI p. S37-
3) Reusch Bd. I p. 128. Die Instruktion ist gedruckt Reusch: Die
Indices Libr. Proh, p. 80 f., nach Hartzheim: Concilia Germaniae VI p. 640.
4) Vgl. J. Petzholdt: Bibliotheca Bibliographica. Leipzig 1866, p. 140.
5) Vgl. Reusch I p. 113 ff., 248 ff., Chr. Sepp: Verbooden lectuur, Leiden
1889, besonders p. 33, 59, 142, 145, 201. Rutgers: Calvijns Invloed p. 17— 23
und 147 — 154-
6) Vgl. besonders Ennen: Geschichte der Stadt Köln Bd. IV, Köln und
Neuß 1875, p. 720 ff. Ferner: Simons, Kölner Konsistorialbeschlüsse p. 3, 10.
J. J. Merl'o: Beiträge zur Geschichte der Kölner Buchdrucker und Buch-
Von Dr. Walt, r II ] ~ J
unsern Zweck interessiert uns sonderlich die interessante Persön-
lichkeit des Buchhändlers und Verlegers, Johannes Birkmann.
„Vermöge seiner Kenntnisse stand er in hoher Achtung bei den
Gelehrten seiner Zeit. — Johanns Tätigkeit als Verleger ist eine
ganz bedeutende gewesen und hat einen großen Einfluß auf die
damaligen wissenschaftlichen, namentlich die medizinischen, natur-
wissenschaftlichen und theologischen Studien ausgeübt", so schreibt
sein Biograph in der Allgemeinen deutschen Biographie. ' Von
diesem Verleger besitzen wir zwei interessante Briefe an Bullinger.2
Aus dem ersten (Dezember 1545) interessiert uns der Satz: „Wir
erwarten Dein Buch und das Calvins." Und kurz darauf, am
18. Januar 1550 schreibt er ihm : „Mit Begierde erwarte ich Deine und
Calvins Übereinkunft, und sie wird von allen ernsten
Leuten erwartet. (Es handelt sich um den Conseusus Tigu-
rinus.) Das Buch Calvins : „Über die Vermeidung des abergläu-
bischen Wesens" ist bei mir schon nicht mehr vorhanden." Aus
diesen wenigen Notizen sehen wir, wie wichtig Calvins Schriften
für Birkmann, aber auch für viele Kölner Bürger waren. Um die
Interessiertheit der Birkmannschen Familie zu zeigen, sei hier
noch eine Notiz aus einem Briefe Sleidans an seinen Verwandten
Caspar von Nidbruck vom 23. April 1555 angeführt, kurz nach
dem Tode Franz Dryanders : „Den größten Teil der Bücher
Drvanders hat Arnold Birkmann erhalten, ein Kölner Buch-
händler." 3 Damit wird gewißlich wieder ein großer Teil calvi-
nischer Schriften nach Köln gekommen sein.
Alle Gewaltmaßregeln seitens des Rates, der Universität, des
Erzbischofs, des Kaisers, der Jesuiten hinderten doch nicht das
Eindringen calvinischer Bücher. So ist es nicht verwunderlich,
daß dies Eindringen nicht nur Gewaltmaßregeln, sondern auch die
theologische Polemik weckte.
Ennen 4 unterscheidet in der damaligen rheinischen katholisch-
theologischen Literatur zwei Hauptströmungen : eine papistisch-
händler des 15. und 16. Jahrhunderts, Annalen des bist. Vereins für den
Niederrhein Bd. 19 p. 61 — 75 und zu den genannten Buchhändlernamen die
betr. Artikel in der Allg. deutschen Biogr.
1) Bd. II p. 663 f. Vgl. auch Fr. Lau: Das Buch Weinsberg IV p. 56.
Bonn 1S98.
2) Vgl. Calw Opp. XIII p. 492 f. Nr. 1326 und p. 513 f. Nr. 1337.
3) Vgl. H. Baumgarten: Sleidans Briefwechsel, Straßburg-London 1881,
p. 274.
4) Bd. IV p. 725.
Calvinstudien. 1 2
j-^g Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
jesuitische und eine freisinnig-nationale. Aus beiden Lagern
heraus ist Calvin befehdet worden.
Im Jahre 1543 schrieb Calvin die Schrift: „Sehr nützlicher
Bericht über den großen Vorteil, der der Christenheit daraus er-
wüchse, wenn sie ein Inventar herstellte über alle heiligen Leiber
und Reliquien, welche in Italien sowohl wie in Frankreich, Deutsch-
land, Spanien und anderen Königreichen und Ländern sind." '
Von dieser Schrift sagt Stähelin 2 : „Unter allen polemischen
Schriften Calvins hat diese wohl den größten populären Erfolg ge-
habt. Allein in französischer Sprache ist sie bis Ende des Jahr-
hunderts fünf- bis sechsmal wieder aufgelegt worden; noch öfter
lateinisch, am allerhäufigsten in der deutschen Bearbeitung von
Jakob Eysenburg zu Wittenberg, die binnen drei Jahren an ver-
schiedenen Orten dreimal erschien, und dreißig Jahre später, von
J. Fischart mit Versen begleitet, einen literarischen Siegeszug an-
trat, der sich bis ins 17. Jahrhundert ausdehnte."
Gegen diese Schrift veröffentlichte eine Gegenschrift der
Kölner Theologe Alexander Candidus unter dem Titel : „Das Urteil
Johann Calvins über die Reliquien der Heiligen, zusammengestellt
mit der Meinung der orthodoxen Väter der heiligen katholischen
Kirche." 3 Der Karmelit Alexander Candidus, sein eigentlicher
Name ist Nikolaus Blanckardt,4 stammte aus Gent. In Köln wurde
er Professor der Theologie. Er starb 1555. Was veranlaßte ihn
wohl zu seiner Gegenschrift? Nun, zunächst wird das populäre
Schriftchen Calvins wohl auch in den Rheinlanden einen großen
Leserkreis gefunden haben. Hierzu kommt aber, daß dasselbe in
beachtenswerter Weise gerade auf rheinische Reliquien Bezug
nimmt. Das darf hier nicht übergangen werden.
Aus frommer Gesinnung heraus entstand die Reliquienver-
ehrung, sagt Calvin; aber der in solcher Frömmigkeit liegenden
1) Calv. Opp. VI p. 405—452.
2) Bd. II p. 255-
3) Der genaue Titel des lateinisch abgefaßten Büchleins lautet: Iu-
dicium Johannis Calvini de sanctorum reliquiis: collatum cum Orthodoxorum
sanctae Ecclesiae Catholicae Patrum sententia. Per D. Alexandrum Can-
didum, Carmelitam, Theolog. Colonien. Coloniae Apud Jasparem Genne-
paeum. Anno 1551. Ein Exemplar dieses Büchleins besitzt die Bibliothek
des bergischen Geschichtsvereins. Doch bemerke ich ausdrücklich, daß
dasselbe in dem gedruckten Katalog der Bibliothek p. 143 _ Nr» 16 falsch
katalogisiert ist, so daß man den Eindruck gewinnt, als ob eine lateinische
Übersetzung dieser Schrift Calvins 1551 in Köln erschienen wäre. Dort ist
angezeigt: Job. Calvin: Iudicium de sanctorum reliquiis. Köln 1551.
4) Vgl. über ihn Hartzheim: Bibliotheca Coloniensis p. 14 f- Wetzer
und Weite II2 p. 89g.
Von. Dr. Walter Hollweg. 179
Gefahr ist die Kirche erlegen. Und wie ein Übel meist nie allein
auftritt, so ging's auch hier: die Reliquienverehrung, die zum
Götzendienst ausgeartet war, wurde Veranlassung zu grobem Be-
trug. Hätte man genaue Kataloge über die Reliquien, dann würde
man erkennen, daß manche Apostel mehr als vier Leiber und
mancher Heilige wenigstens zwei oder drei hat. Durch Hinweis
auf die groben Täuschungen soll das Büchlein zum Nachdenken führen.
Hier zeigt uns nun Calvin eine große Kenntnis rheinischer
Reliquien. Von den Trierer Reliquien kennt er : das Messer,
womit der Herr beim Abendmahl das Passahlamm zerschnitt
(p. 418), den einen der Nägel vom Kreuz (p. 421), den heiligen
Rock (p. 423), einen der Würfel, mit dem das Los durch die Kriegs-
knechte geworfen wurde (p. 424)- das Schweißtuch, das dem Herrn
im Grabe aufs Haupt gelegt wurde (p. 424), einen Hut der heiligen
Jungfrau, im Kloster St. Maxim (p. 433), eine Träne des Herrn
(p.432), die Pantoffel des heiligen Joseph (p. 435), Petri Püger-
stab (p. 440), Knochen der Apostel Petrus und Paulus (p. 439)»
der Leib des heiligen Matthias (p. 440, Glieder des heiligen
Bartholomäus, Philippus, Jacobus, Matthäus (p. 441), das Haupt
der heiligen Anna (p. 442) und das Haupt des heiligen Lambert
(p. 448). Aus den Aachener Schätzen nennt er das Tuch, wo-
mit der Herr der Apostel Füße trocknete (p. 418), das Schweißtuch
des Grabes, das ja auch Trier besitzen will (p.424), ein Hemd der
heiligen Jungfrau (p. 433), das Leichentuch, das unter des Täufers
Leiche gebreitet wurde (p. 438).
Was die Kölner Reliquien betrifft, so nennt Calvin einen
Nagel vom Kreuz (p. 421), den Pilgerstab Petri (p. 440), die Leiber
der heiligen drei Könige (p. 443 f ■)> das Haupt der heiligen Helena
in St. Gereon (p. 447), das Haupt der heiligen Ursula (p. 447) "nd
von ihren Begleiterinnen, den 11 000 Jungfrauen, „hundert Karren
von Knochen" (p. 447)-
Ja Calvin weiß sogar, daß wie in Trier, so auch in dem kleinen
Düren, im Jülichschen, das Haupt der heiligen Anna bewahrt wird
(p. 442), desgleichen, daß dort in der Abtei der Wilhelmiten, eine
dem Zisterzienserorden verwandte Ordensgründung, das Haupt
des heiligen Wilhelm ist (p. 448).
Wahrhaft bewundernswert ist Calvins Gedächtnis, das eine solche
Arbeit leisten konnte. Schon von seinen Zeitgenossen ist dasselbe
angestaunt worden. Darüber sagt Beza : x „Sein Gedächtnis war
1) Vgl. Stähelin II p. 412.
j gQ Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
von der wunderbarsten Art, und sein Geist wurde nie geschwächt.
Wen er auch nur ein einziges Mal gesehen, kannte er für sein
ganzes Leben und erinnerte sich seiner auf der Stelle, wenn er ihn
wieder zu Gesicht bekam. . . . Nicht nur was die Genfer Kirche
anging, wußte er bis ins kleinste Detail auswendig, sondern auch
bei Vorgängen in Frankreich, Italien, Deutschland, auf welche die
Rede kam, nannte er alsbald die betreffenden Orte und Personen."
Wahrhaft kläglich gegenüber dieser geistreichen Schrift nimmt
sich die Gegenschrift des Kölner Professors aus. Nicht der ge-
ringste Versuch einer Entgegnung auf die ernsten Gedanken des
Reformators über Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit.
Keine Entgegnung auf die Fülle des gebotenen Tatsachenmaterials.
Eunomius, Vigilantius, Huß, Wicliff und zuletzt Calvin, so beginnt
er, haben alle aus einer Quelle das unruhige Wasser der Gottlosig-
keit geschlürft. Je ein Zitat der genannten folgt. „Jetzt erübrigt
es, daß wir blicken auf die wie in einer Schlachtreihe aufgestellten
heiligsten Führer unseres Glaubens." Es folgen Zitate aus Hiero-
nymus, Ambrosius, Augustin, Basilius, Eusebius, Gregor. Und
der Schluß lautet: „Du, frommer Leser, der du gleichsam als
Schiedsrichter zwischen die Parteien gestellt bist, wähle. . . . !"
Mehr wußte Candidus der vernichtenden Kritik Calvins nicht
entgegenzustellen. Interessant ist nur eine gelegentliche Bemer-
kung des Büchleins, aus der hervorgeht, wie auch dieser kleine
Geist sich vor der gewaltigen Größe des Reformators beugen
mußte. Er sagt an einer Stelle: „Hätte er sich mit den wahren
und christlichen Dingen abgegeben, so wäre das zweifellos zu
unsterblichem Ruhm, was vielleicht für die Ewigkeit mit Schande
verbunden sein wird."
Eine anderweitige direkte Polemik aus dieser rheinischen Theo-
logengruppe ist mir nicht bekannt. Zu erwähnen sind aber hier
noch drei andere Männer, die freilich nicht in den Rheinlanden
selbst wirkten, die aber zur Verbreitung calvinischer Gedanken
daselbst dadurch beitrugen, daß sie ihre Schriften in Köln im
Druck erscheinen ließen.
Gleich die erste Verteidigungsschrift seiner Prädestinations-
lehre richtete sich gegen einen Rheinländer, den aus Kempen ge-
bürtigen Albertus Pighius. Als Propst von Utrecht ließ er 1542
in Köln erscheinen: „Über den freien Willen, gegen Calvin",1
1) De libero arbitrio contra Calvinum. Coloniae 1542.
Von Dr. Walter Hollweg. I 8 I
gegen welche Schrift Calvin bereits 1543 sein Werk veröffentlichte:
„Verteidigung der gesunden und rechtmäßigen Lehre von der
Knechtschaft und Befreiung des menschlichen Willens gegen die
Ränke des Albertus Pighius."' x
Mit weiteren wesentlichen Stücken der Theologie Calvins
wurden die Rheinländer bekannt durch die Streitschrift eines ge-
wissen R. Smythacus, welcher 1563 in Köln in zweiter Auflage sein
in Löwen 1562 in erster Auflage erschienenes Werk herausgab:
„Über die Kindertaufe gegen J. Calvin und über die überverdienst-
lichen Werke und das Verdienst des Todes Christi."2
Endlich wurden die Rheinländer auf Calvins Bedeutung als
Exeget hingewiesen durch Wilhelm Damasus von Linda, den
Glaubensinquisitor von Holland und Friesland und darnach Inhaber
der Bischofsstühle von Roermond und Gent. Er veröffentlichte
1559 in Köln sein Werk: „Über die beste Art die Schrift zu er-
klären",3 das sich hauptsächlich gegen Erasmus, Valla, Robert
Estienne und Calvin richtete.4
Den Vertretern dieser kirchlich papistischen Richtung standen
gegenüber die Vertreter einer freisinnigen nationalen Richtung:
ihr Hauptvertreter war Georg Cassander.'5 Er war von Geburt
Niederländer, hat aber seit 1549 in Köln gelebt, von wo aus er im
Sommer, abgesehen von größeren Reisen, meist die Städte der
Umgegend besuchte : Düsseldorf, Xanten, Duisburg, Aachen, Bonn.
Cassanders Streben war darauf gerichtet, zwischen den entstandenen
kirchlichen Gegensätzen zu vermitteln. Treffend hat ihn Baum0
als den katholischen Melanchthon charakterisiert. Seine irenische
Tätigkeit war auch die Veranlassung seiner Beziehungen zu Calvin.
In Frankreich hatte seit dem Jahre 1559 der berühmte fran-
zösische Jurist Franciscus Balduinus7 dem Könige Anton von
1) Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de Servitute et Kberatione
humani arbitrii adversus calumnias Alberti Pighii Calw Opp. VI p. 224 — 404.
Über den Inhalt dieser Schriften, den hier auseinanderzusetzen zu weit
führen würde, vgl. Stähelin Bd. II p. 281 ff.
2) De infantium baptismo contra J. Calvinum ac de operibus superero-
gationis et merito mortis Christi. Coloniae 1562..
3) De optimo genere interpretandi scripturas.
4) Vgl. Wetzer und Weite2 Bd. VII p. 2062.
5) Über ihn vgl. Benrath in der P. R. E. 3 III p. 742 f. Meuser in
Bd. 3 und 4 von Dieringers kath. Zeitschrift. Hartzheim: Bibliotheca
Coloniensis p. 90 f. Wolters: Konrad von Heresbach p. 154. 170 f.
6) Theodor Beza Bd. II p. 374. Leipzig 1851.
7) Vgl. Allg. dtsch. Biogr. Bd. II p. 16. Wetzer und Weite 2 Bd. II
p. 2017—2020. Stähelin II p. 345 ff.
j32 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Navarra seine Dienste zu einer Vermittlung zwischen den streiten-
den Parteien angeboten. Balduinus ist ein wunderbarer, schwer
verständlicher Charakter. Sein früheres vertrautes Verhältnis zu
Calvin war durch Balduinus' Unlauterkeit zum Bruch gekommen.
Im Auftrage Anton von Navarras reiste er jetzt nach Deutsch-
land, um dort für seine Pläne Freunde zu gewinnen. Er kannte
bereits Cassander und seine Gedanken und war schon seit 1557
mit ihm in brieflichem Verkehr.1 Ihn veranlaßte er jetzt zur
Herausgabe einer kleinen Schrift, in der Cassander seine und Bal-
duinus' Grundgedanken entwickelte. Ohne Angabe von Verfasser
und Druckort erschien sie 1561 in Basel unter dem Titel: „Wie
ein frommer und wahrhaft friedliebender Mensch in den zur Zeit
schwebenden Religionszwisten sich halten solle." 2 Diese Schrift
legte Balduinus 1561 auf dem Rcligionsgespräch zu Poissy, das
eine Einigung der kirchlichen Parteien in Frankreich erstrebte,
vor. Aber bei Katholiken wie Protestanten fand die Schrift nur
Ablehnung. Beza sandte sie sofort an Calvin,3 damit auch sein
einflußreiches Wort sich gegen diese Tendenzen erhöbe. Noch
war Calvin die Autorschaft Cassanders unbekannt ; Balduinus hat
er im Verdacht.4 Wohl aber wußte er bereits über Balduinus Be-
ziehungen zu Cassander. Sehr verächtlich schreibt er am 10. Sep-
tember 1561 an Beza:5 „Jetzt soll er mit seinem Cassander irgend
ein Gift kochen." Aber eine Gegenschrift kündet er bereits in
diesem Briefe an. Und sie erschien noch im gleichen Jahre unter
dem Titel : „Antwort an einen gewissen wetterwendischen Ver-
mittler, der unter dem Scheine des Friedestiftens den geraden Lauf
des Evangeliums in Frankreich aufzuhalten sich bemüht."6 Hier
wies Calvin nach, welche prinzipiellen Unterschiede die beiden
Kirchen trennten, namentlich in der Rechtfertigungslehre. Auf
diese Schrift erwiderte Balduinus in einem schmählichen Pamphlet,
in dem er namentlich Calvin entwendete Privatbriefe gegen ihn
ausspielte, während Cassander 1562 eine dogmatische Erwiderung
Pseudonym erscheinen ließ : „Verteidigung der Tradition der alten
1) Vgl. Meuser in Dieringers kath. Zeitschr. II. Jahrg. Bd. IV p. 41 f.
2) De officio pii ac publicae tranquillitatis vere amantis viri in hoc
religionis dissiduo. Gedruckt: Cassandri opera omnia, Parisiis 1616 p. 789
bis 797.
3) Stähelin II, 348.
4) Vgl. Calv. Opp. XVIII p. 684 Nr. 3513.
5) Calv. Opp. XVIII p. 684 Nr. 3513.
6) Responsio ad versipellem Mediatorem, qui pacificandi specie rectum
Evangelii cursum in Gallia otnrumpere molitus est. Calv. Opp. Bd. IX.
Von Dr. Walter Hollweg, 183
Kirche und der heiligen Väter gegen die unverschämten Beschul-
digungen Johann Calvins." l Eine Antwort auf letztere Schrift hat
Calvin nicht gegeben. Andere katholische Polemik gegen Calvin
aus den Rheinlanden ist mir nicht bekannt.
Zu betrachten sind jetzt noch zwei Zentren des rheinischen
Humanismus, auf die Calvin natürlich von Wichtigkeit sein mußte :
das ist zunächst der klevische Hof, und das ist sodann Monheim
und seine Schule in Düsseldorf. Was den Klever Hof betrifft, so
ist bereits oben gesagt worden, daß zwei Söhne des berühmten
Leibarztes Herzog Wilhelms in Genf studierten. Von Konrad von
Heresbach, dem bedeutendsten Humanisten am Klever Hof, besitzt
der bergische Geschichtsverein ein Verzeichnis seiner Bibliothek.
Auch Calvins Schriften sind dort vertreten, p. 37 ist vermerkt:
Catechismus Genevensis ecclesiae Calvini. p. 34 lesen wir: Calvini
responsio ad Sadoletum. Ferner: Jo. Calvini Epistola de vita
Christiani hominis.2 Ferner: de praedestinatione, sowie: Acta
Synodi Tridentinae cum Antidoto Calvini und ein Titel, dessen
Entzifferung mir nicht möglich war. Seine Bibliothek wies also
bereits einen guten Bestand aus den wichtigsten und bedeutendsten
Werken Calvins auf. Auch der Kanzler Olisleger beschäftigte
sich mit der Lektüre Calvinscher Schriften. Noch im Todesjahre
Calvins, kurz nach dessen Ende, schrieb er an Andreas Masius :
Ich schicke Dir Calvins französische Kommentare zum Propheten
Daniel.3 Diese wenigen zerstreuten Notizen weisen auf eine nicht
zu unterschätzende Hochachtung, die Calvin in den Kreisen des
rheinischen Humanismus genoß. Zu einer Propaganda calvinischer
Gedanken seitens dieser Humanisten ist es bekanntlich nie ge-
kommen. Ja es hat nicht an Gegenmaßregeln seitens des Klever
Hofes gefehlt, besonders seit die Abhängigkeit von seiten des
Kaisers und der Jesuiten eine größere wurde. Am 10. Juni 1560
erließ der Herzog für Buchdrucker und Buchverkäufer ein Edikt,
das das Feilhalten oder den Verkauf von Schriften und Bildern
1) Traditiomtm veteris Ecclesiae et SS. Patrum Defensio adversus
Johannis Calvini importunas criminationes, auetore Veranio Modesto,
Pacimontano. Cassandri opera p. 798 — 879.
2) Das ist wohl eine etwas unglückliche Bezeichnung für die Institutio,
deren 6. Kapitel im 3. Buch die Überschrift hat: De vita Christani hominis.
3) Vgl. M. Lossen: Brie'e von Andreas Masius und seinen Freunden.
Leipzig 1886. Publ. der Ges. f. rhein. Geschichtskunde Bd. II p. 359- Die
französische Ausgabe des 1561 lateinisch erschienenen Kommentars ent-
stand 1562.
I 84 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
untersagte, die die Partei der „Sakramentierer und Wiedertäufer"
vertraten, und dieses Edikt wurde erneut am 25. Februar 1562.1
Eine viel wirksamere Verbreitung calvinischer Gedanken ging
aus von dem anderen Zentrum des rheinischen Humanismus, von
Düsseldorf. Dort bestand das blühende Gymnasium Johann Mon-
heims. Für Monheims persönliche Stellung ist die wesentlichste
Quelle sein bedeutendstes Werk, sein Katechismus. A. Lang
charakterisiert ihn folgendermaßen:2 „Sein Lehrgespräch in elf
Abschnitten behandelt die cognitio Dei et nostri und ist vielfach
aus der Institutio Calvins geschöpft, doch ist gleichzeitig auch
Luthers kleiner Katechismus benutzt und das Streben unverkenn-
bar, nicht bloß zwischen Genf und Wittenberg zu vermitteln, son-
dern auch gewisse katholische Überlieferungen festzuhalten." Aber
gerade der calvinische Einschlag in seinem Katechismus rief seitens
der Gegner einen Sturm hervor gegen denselben. Die Kölner und
Löwener Gelehrten, sowie Stanislaus Hosius, der Wiener Nuntius,
reichten Beschwerde in Rom ein, die nicht erfolglos blieb. Das
Buch kam auf den Index.3 Daß aber seine Schüler durch den Ein-
fluß calvinischer Schriften zum Teil zu entschiedenen Freunden
Calvins geworden, dafür zeugt uns zunächst ein schöner Brief eines
Schülers der Monheimschen Schule, Carl Fabricius, an Calvin
selbst.4 Aus Düsseldorf war er gebürtig und hatte die Schule
seiner Heimatstadt besucht. Wie er selbst mitteilt, hatte das
Studium der heiligen Schrift und der Väter, besonders aber auch
das Studium der Schriften Bullingers und Calvins die Grundlagen
seiner Theologie gelegt: er war ein begeisterter Anhänger Calvins
geworden, und aus seinen Anschauungen scheint er nicht im ge-
ringsten einen Hehl gemacht zu haben. Er erregte dadurch die
Mißbilligung Wilhelms von Kleve und seines Hofes, und ward zur
Auswanderung aus den Rheinlanden gezwungen. Sein Lehrer
1) Vgl. L. Keller: Die Gegenreformation in Westfalen und am Nieder-
rhein, Leipzig 1881, Bd. I p. 92 und 95. Publ. aus den Königl. Preuß. Staats-
archiven Bd. 9.
2) A. Lang: Der Heidelberger Katechismus und vier verwandte
Katechismen, Leipzig 1907, p. LIX. Quellenschriften zur Gesch. d. Pro-
testantismus Bd. III. Über Monheim ist besonders zu vergleichen Simons
in P. R. E.3 XIII p. 355 ff. Eine Neuausgabe des Katechismus besorgte
C. H. Sack. Bonn 1847.
3) Vgl. Lossen: Briefe von Andreas Masius p. 334 fr., 345. J. Hansen:
Rhein. Akten zur Gesch. d. Jesuitenordens p. 349, 355. Wolters: K. von
Heresbach p. 159 ff. Fr.. H. Reusch: Der Index der verbotenen Bücher
Bd. I p. 414 Anm. 3.
4) Vgl. Calv. Opp. XVIII p. 105— 108 Nr. 3213.
Von Dr. Walter Hollweg. I 85
Monheim erwirkte ihm eine Stellung- als Lehrer in der Pfalz.
Auch von dort mußte er 1559 weichen infolge eines Streites mit
den Lutheranern über die Ubiquität. Er ging nach Straßburg
und erhielt eine Stellung von dort in Reichenweyer.1 Als auch
dort die Reaktion ihn bedrohte, wandte er sich an Calvin mit der
Bitte um eine Stellung in Genf. Auch Petrus Marboef, ein
Elsässischer Geistlicher, der diese Bitte unterstützte, betonte be-
sonders des Fabricius Eifer und seine Begeisterung für Calvin.2
Und wie dem Fabricius wird es noch manchem anderen ergangen
sein. Dafür haben wir noch zwei Zeugnisse. 1561 klagte der
päpstliche Legat Commendone von Köln aus, daß die Söhne der an-
gesehensten Familien nach auswärts, namentlich auf die Düssel-
dorfer Schule geschickt würden. Gegen 500 Schüler habe diese,
und das seien alles Häretiker.3 Ein zweites Zeugnis ist dies: Als
Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz das reformirte Bekenntnis
seit 1559 in seinem Lande einführte, da brauchte er seine Theo-
logen nicht aus der Schweiz sich suchen. Dafür sorgte die Mon-
heimsche Schule in Düsseldorf.4
Wir sehen, auch durch seine literarische Arbeit hat Calvin
einen wichtigen Einfluß auf die Rheinlande ausgeübt.
Ich glaube, daß meine Ausführungen das dargetan haben, daß
der Einfluß Calvins auf die Rheinlande bereits zu seinen Lebzeiten
ein nicht zu unterschätzender gewesen ist. Das können war be-
haupten, trotzdem uns lange nicht das gesamte Material, das für
unsere Frage bedeutsam wrar, erhalten ist. Briefe sind z. T. ver-
loren gegangen, mündliche Meldungen haben oft die Briefe er-
gänzt oder auch ersetzt. Aber dennoch können wir seinen Ein-
fluß noch als einen recht bedeutenden erkennen. Gerade in den
Zeiten, wo sich reformirtes Gemeindeleben in den bedeutendsten
Städten der Rheinlande zu regen begann, da hat er eingegriffen
mit seinem weisen Rat, aller Engherzigkeit gegenüber zur Nach-
giebigkeit gemahnt und mit ganzem Ernst zum Festhalten am
1) Vgl. T. W. Röhrich: Gesch. der Ref. im Elsaß, bes. in Straßburg,
III. Teil, Straßburg 1832, p. 218 f.
2) Calv. Opp. XVIII p. 108— 113 Nr. 3214: vgl. Calvins Antworten
XVIII p. 168 — 170 Nr. 3236 und 3237.
3) Vgl. Reusch: Der Index der verbotenen Bücher Bd. I p. 4f4 Anm. 3.
4) Vgl. Göbel: Gesch. des christl. Lebens Bd. I p. 88.
Iö6 Calvins Beziehungen zu den Rheinlanden.
Bekenntnis aufgefordert, wo die Gemeinden in entscheidenden
Fragen wanken wollten. Von den verschiedensten Seiten lernten
wir Calvin kennen : als Seelsorger, als Dogmatiker, als Organi-
sator. Die mannigfaltigen Beziehungen, die ihn in Verbindung
mit den Rheinlanden brachten, geben in der Tat ein getreues
Abbild seines Charakters.
Wenn diese Zeilen dazu beitragen sollten, die Wertschätzung
und Achtung des leider noch so viel verkannten Reformators auch
in den Rheinlanden zu heben und zu stärken, dann würde der
Verfasser dieses Artikels seine Mühe reichlich belohnt sehen.
Die Entstehung der Lehre Calvins
von der Bulse.
Von
Lic. theol. H. Strathrnann.
Der Lehre Calvins von der Buße ist in der älteren dogmen-
geschichtlichen und verwandten Literatur keine besondere Auf-
merksamkeit gewidmet worden. Wird die Frage nach der Buß-
lehre überhaupt gestellt, so gelten die Gedanken der großen Re-
formatoren über diesen Punkt zumeist ohne weiteres als einheitlich.
Daß Calvin etwas anderes unter der Buße versteht, als Luther und
die lutherische Theologie, bemerkte zuerst Möhler.1 Denn nach
ihm haben zwar die Reformierten die lutherische Zweiteilung der
Buße in contritio und fides anerkannt, jedoch dafür mortificatio
und vivificatio gesetzt; und zwar verstanden sie unter jener das
Ablegen des alten, unter dieser das Anlegen des neuen Menschen,
„also etwas bedeutend anderes als unter dem lutherischen contritio
und fides".
Demnach mußte auch die Stellung der Buße zum Glauben eine
andere sein als in der lutherischen Theologie. Die Buße geht dem
Glauben nicht vorher; sie befaßt ihn auch nicht unter sich als
einen Teil; sie ist die auf Grund des Glaubens sich vollziehende
Neugestaltung des christlichen Lebens. Während daher in der
lutherischen Theologie die poenitentia rein oder vorwiegend passiv
gefaßt wird, trägt sie bei Calvin aktiven Charakter.2
Die einen fanden dann, daß dieser aktive Charakter der Buße
in der Selbstverleugnung, in der Askese, in geradezu mönchischer
i) Möhler, Symbolik 1828 p. 218 Anm. 2.
2) Schneckenburger, Vergleichende Darstellung usw., herausgegeben
von Güder, 1855. Teil 2, p. 117. — Schmidt, Handbuch der Symbolik. Berlin
1897, p. 437 f. — K. Müller, Symbolik, Erlangen 1896, p. 486.
Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Weltverneinung sich betätige,1 während nach dem Urteil anderer
gerade die Absicht auf positive Weltüberwindung, auf Welt-
beherrschung der ganzen calvinischen Sittlichkeit das Gepräge
gibt. ^
Ferner hat die ausgesprochen aktive Tendenz der calvinischen
Sittlichkeit, der calvinischen Buße in Verbindung mit der eigen-
tümlichen Stellung der Rechtfertigungslehre in dem Aufbau der
Institutio 3 zu der Meinung geführt, daß sich die reformierte Lehre
von der lutherischen unter anderem spezifisch dadurch unterscheide,
daß diese die Rechtfertigung als synthetisches, jene als analytisches
Urteil, als notwendige Konsequenz der unio cum Christo dar-
stelle.4— Gegen diese Auffassung hat sich dann heftigster Wider-
spruch erhoben. Daß nach Calvin die sündenvergebende Gnade
der wiedergebärenden ganz im Sinne der Lutheraner überzuordnen
sei, unterliege keinem Zweifel.5 Von anderer Seite aber hören wir
wieder, wenn schon nicht die objektive Rechtfertigung, so ergebe
sich doch nach Calvin das subjektive Rechtfertigungsbewußtsein
aus dem neuen Gehorsam der christlichen Buße. Man habe aus
der Lebenserneuerung, aus der poenitentia, seine Rechtfertigung
zu erschließen. 6 So finden wir in der einschlägigen Literatur über
die Bußlehre Calvins und das dazu Gehörige die verschiedensten
Auffassungen und Urteile.
Indessen — diese beziehen sich durchweg auf die spätere Buß-
lehre Calvins, wie sie z. B. in der Institutio seit der Ausgabe von
1539 sich findet. Die frühere Gestalt seiner Bußlehre wird davon
direkt nicht berührt.
Die theologischen Anschauungen Calvins nämlich haben sich,
seitdem er sich einmal der Reformation angeschlossen hatte, im
ganzen zwar so gut wie gar nicht geändert. Gewaltig ist die In-
1) Lobstein, „Die Ethik Calvins", Straßburg 1877, Kap. VI. — Lob-
stein, ,,Z. evang. Lebensideal in seiner luther. und ref. Ausprägung", Ab-
schnitt 4 (Theol. Abhandlungen, H. Holtzmann gewidmet, Tübingen 1902).
— M. Schulze, Meditatio futurae vitae etc. St. z. G. d. Th. u. K. 1901
p. 12. — Ders.: Calvins Jenseitschristentum. Görlitz 1902 p. 30.
2) Tröltsch, Protest. Christentum und Kirche in d. Neuzeit. Kultur
d. Gegenwart I, IV, 1 p. 356.
3) In Kap. 11 des 3. Buches, nach der Behandlung der fides in
Kap. 2 und der Buße in Kap. 3 — 10.
4) Schneckenburger a. a. O., Teil 2 §17, bes. p. 23, 55 f.
5) Ritschi, Rechtfertigung und Versöhnung, I2 p. 210 — 12. Cf. Müller,
Symbolik p. 463.
6) Lipsius, Luthers Lehre von der Buße, Braunschweig 1896 p. 148 f.
Von Lic. theol. II. Strathmann.
IÖ9
stitutio vom Jahre 1536, das kurze ; Büchlein, im Laufe der Jahre
angewachsen. Der Inhalt ist viel reicher geworden. Neue Pro-
bleme sind behandelt. Die Gedanken sind vielfach schärfer for-
muliert, gegenüber gegnerischen Anschauungen ausführlich be-
gründet. Eigentlich sachliche Wandlungen sind jedoch kaum fest-
zustellen.
Gerade in der Bußlehre jedoch hat man eine solche zu er-
kennen gemeint. Köstlin zuerst hat darauf hingewiesen : Die Aus-
gabe von 1539 steile das Verhältnis von Buße und Glaube so dar,
daß jene aus diesem hervorgehe, ohne doch der Zeit nach von ihm
getrennt zu sein. Die Ausgabe von 1536 lege dagegen teilweise
die entgegengesetzte Auffassung nahe, als ob die poenitentia der
fides voranginge. Mit Bestimmtheit sei Calvin auf das Verhältnis
beider jedoch nicht eingegangen.1
A. Ritschi - hat dann die von Köstlin mit Vorsicht und Vor-
behalt vertretene Annahme mit aller Bestimmtheit geltend gemacht.
Calvin habe 1536, wenn auch mit einer gewissen Unentschieden-
heit, die poenitentia in dem bloß negativen Sinn der mortificatio
gefaßt, die — wenn echt und wirksam — ihren Abschluß in der
fiducia erga dei promissiones finde. Und zwar leite Calvin, anders
als Luther und Melanchthon (wenigstens in späterer Zeit), die
erfolgreiche Buße nicht ab von der Predigt des Gesetzes, sondern
von der des Evangeliums, sofern dieses die Kreuzigung unseres
alten Menschen gemäß dem Kreuzestode Christi fordere. Die
Buße erstrecke sich sodann über das ganze Leben. Daß trotzdem
als Motiv nur die Furcht Gottes in Betracht komme, erkläre sich
aus der empirischen Erörterung der poenitentia. Denn Calvin
gehe aus von der poenitentia dessen, der sich erst bekehren will,
und dehne daraufhin dann die Aufgabe der poenitentia auf das
ganze Leben aus, ohne zu beachten, daß nun auch das subjektive
Motiv sich wandle.
Seit 1539 biete jedoch Calvin an Stelle der empirischen Dar-
stellung der Buße eine prinzipmäßig geordnete. Die Buße sei ihm
jetzt tota ad deum conversio. Der Glaube erscheine als Voraus-
setzung der poenitentia, jedoch zunächst nur in dem Sinn, daß aus
ihm sich die ernstliche Furcht vor Gott und speziell vor seinem
Gericht ergibt. Daraus erwüchsen dann Erkenntnis und Haß der
Sünde. Die Entwicklung finde jedoch erst durch die Teilnahme
1) Studien und Kritiken, 1868 p. 460 ff.
2) Rechtfertigung und Versöhnung. I 2 p. 203 ff., 210 — 16.
jqO Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
an Christus im speziellen Heilsglauben das zureichende Motiv zur
Vernichtung des alten Menschen und das wirksame Motiv der
Gemütsberuhigung und des Eifers um Lebenserneuerung. Die
wirkliche Abkehr des Gemütes und des Willens von der Sünde
— also die Buße — werde nicht schon durch die Spiegelung im
Gesetz, sondern erst durch den Zug zu dem in Christo erkannten
sittlichen Ideal erreicht. Darin nun, daß Calvin den zureichenden
Grund der poenitentia als der Gesamtaufgabe des christlichen
Lebens in dem speziellen Glauben an die Gnade Gottes in Christo
sehe, — was auch schon aus der Stoffanordnung im Eingang des
dritten Buches zu erkennen sei — komme die Unterordnung der
individuellen Heilsordnung unter den Begriff der Kirche zum Aus-
druck. Denn der Beginn der poenitentia des einzelnen werde
keineswegs immer durch die Erscheinungen der Furcht vor dem
Gericht und der Gewissensschrecken charakterisiert. — Die Voraus-
setzung dieser Auffassung Ritschis ist die Gleichsetzung der insitio
in Christum, die sich psychologisch in der Form der fides vollzieht,
mit der Aufnahme in die Gemeinde. Auf Grund dieser tritt dann
die Buße ein. Das ist das Normale. Daß man dagegen vor der
Teilnahme an Christus durch die Furcht vor Gott und seinem
Gericht geänstigt wird, ist nicht das Regelmäßige.
Was Ritschi betont, ist demnach folgendes :
i. 1539 ist die poenitentia nicht nur — wie 1536 — negativ
mortificatio, sondern positiv tota conversio ad deum. Hierbei
bilden die Abkehr des Willens von der Sünde und seine Hinkehr
zum Guten die Hauptmomente.
2. Während daher 1536 die poenitentia dem christlichen Glau-
ben vorangeht, folgt sie jetzt nicht nur dem allgemeinen Glauben
(timor dei als des Gesetzgebers), sondern setzt auch den speziellen
Glauben und in ihm den Zug zu dem in Christo erkannten sitt-
lichen Ideal voraus.
3. Damit ist die — genuin reformatorische — Überordnung
der Kirche über die individuelle Heilsordnung festgehalten, respek-
tive gegenüber 1536 neu gewonnen.
Die Ritschlsche Zeichnung der Entwickelung der calvinischen
Bußlehre hat sich Lobstein1 in allen Punkten angeeignet. Auch
Lipsius 2 und Sieffert 3 teilen seine Auffassung der früheren Buß-
1) Die Ethik Calvins, Straßburg 1877.
2) a. a. O.
3) Die neuesten theol. Forschungen über Buße und Glaube in ..Halte
was Du hast", 1896 p. 496 ff.
Von Lic. theol. II. Strathmann. ^9^
lehre des Reformators. Dagegen habe Ritschi dessen spätere
Bußlehre nicht richtig aufgefaßt. Calvin habe keineswegs die
insitio in Christum mit der Aufnahme in die Gemeinde gleich-
gesetzt. Von Überordnung der Kirche über die individuelle Heils-
ordnung sei keine Rede. Und die Wandlung in der Bußlehre
Calvins, so bemerkt speziell Sicffert, sei weniger eine solche der
sachlichen Anschauung, als vielmehr lediglich des Ausdrucks. Denn
auch nach dem späteren Calvin gelange man nur durch die Ge-
wissenserschütterung hin zum Glauben. Daß immerhin eine Wand-
lung in der Lehre Calvins von der poenitentia vorliege, nimmt
auch Sieffert an.
Fragen wir demnach nach der Entstehung der Lehre Calvins
von der Buße, so präzisiert sich die Aufgabe dahin, die Entstehung
der ursprünglichen Bußlehre Calvins zu untersuchen. Welche Ent-
wicklung sie später durchgemacht hat, ist eine Frage für sich.1
Die Aufgabe zerlegt sich von selbst in zwei Teile. Zunächst ist
die ursprüngliche Lehre des Reformators von der poenitentia zu
ermitteln, demnächst ihrer Genesis nachzuspüren.
Als Quelle für den ersten Teil der Aufgabe kommt lediglich
die Institutio vom Jahre 1536 in Betracht.
I.
Die ursprüngliche Lehre Calvins von der Buße.
Die erste prinzipielle Auseinandersetzung Calvins über die
Lehre von der Buße findet sich in Kap. V der Institutio vom Jahre
1536 De falsis sacramentis. Calvin bespricht hier zunächst, wenn
auch nicht ohne Anerkennung, so im ganzen doch ablehnend, zwei
von anderer Seite vertretene Auffassungen der Buße. Op. Calv. I
p. 147 f.:
1. Docti quidam viri haben in dem Bemühen um schlichte
und lautere Schriftgemäßheit in der poenitentia zwei Teile unter-
schieden: mortificatio und vivificatio. Unter jener verstehen sie
den animae dolor ac terror ex agnitione peccati et sensu iudicii
dei coneeptus. Wo nämlich jemand seine Sünde erkannt hat. tum
peccatum odisse et execrari ineipit, tum sibi ex animo displicet,
miserum se ac perditum fatetur et alium se esse optat. Dazu
1) Die spätere Bußlehre Calvins ist geschildert in den Theol. Stud.
u. Krit. 1909, 3. — Die Einleitung zu der dortigen Untersuchung berührt
sich, so weit es sich darum handelt, den Stand der Forschung zu zeichnen,
mehrfach mit der vorliegenden.
IQ 2 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
kommt dann noch infolge des sensus iudicii dei, der mit jenem
unmittelbar gegeben ist, daß der Mensch vere perculus ac con-
sternatus iacet . . tremit, animum despondet, desperat. Dieses
alles beschreibe die prior poenitentiae pars, die mortificatio, die
man gemeiniglich contritio nenne. Die vivificatio sei dagegen die
consolatio, quae ex fide nascitur. Da richte sich der Mensch aus
seiner Gewissensnot und dem Schrecken vor Gott im Blick auf die
Barmherzigkeit Gottes in Christo auf und kehre wie aus dem Tode
ins Leben zurück. — Poenitentia ist hier also gleich conversio, die
zweierlei umfaßt: einmal Haß gegen die Sünde, Schrecken des Ge-
wissens, Verzweiflung; sodann das Durchdringen zur Gewißheit
der Vergebung im Glauben.
2. Diese Anschauung lehnt Calvin ab, ebenso aber auch die
einer zweiten Gruppe, die er einfach mit alii bezeichnet. Die ,,alii"
glauben auf Grund der Beobachtung, daß die Schrift in verschie-
denem Sinne das Wort „Buße" gebrauche, zwei Formen der Buße
unterscheiden zu sollen : poenitentia legalis und poenitentia evan-
gelica. Bei jener bleibt der Sünder peccati cauterio vulneratus et
terrore irae dei attritus, in der perturbatio hängen. So Kain, Saul,
Judas. Diese poenitentia sei aber nur quoddam inferorum atrium,
quo iam in hac vita ingressi,, coeperunt a facie irae majestatis dei
poenas dare. Die zweite Art der Buße liege bei denen vor, qui
peccati aculeo apud se exulcerati, fiducia autem misericordiae dei
recreati, ad dominum conversi sunt. So erschrak Ezechias in-
folge der Todesansage, schöpfte aber dann im Gebet aus dem
Blick auf die Güte Gottes neue Zuversicht, 2. Kön. 20. — Was hier
evangelische Buße genannt wird, würde sich also mit dem decken,
was die docti viri schlechtweg Buße nannten. Sie wäre soviel wie
Bekehrung. Der Unterschied läge nur darin, daß neben die evange-
lische Buße noch eine andere gestellt wird, die aber resultatlos ist.
Dem gegenüber bemerkt Calvin, diese Beobachtungen seien
zwar sachlich alle zutreffend. Doch müsse nach der Schrift die
poenitentia anders gefaßt werden. Der Glaube sei nicht mit unter
die Buße zu rechnen. Denn Akt. 20, 21 zähle Paulus poenitentia
und fides als zwei verschiedene Dinge auf. Zwar könne wahre
Buße nicht bestehen ohne Glauben (citra fidem). Verum, etsi
separari non possunt, distingui tarnen debent. Wie Glaube nicht
sein kann ohne Hoffnung, und doch beides verschiedene Dinge sind,
so poenitentia et fides, quamquam perpetuo inter se vinculo cohae-
rent, magis tarnen coniungendae sunt, quam confundendae.
Von I-ic. theol. I[. Strathmann. IQ3
Darauf entwickelt Calvin positiv seine eigene Anschauung.
Er definiert die poenitentia als carnis nostrae veterisque hominis
mortificatio, quam in nobis efficit verus ac sincerus timor dei
(p. 149). Was Calvin dabei unter mortificatio versteht, zeigt der
Zusammenhang. Wenn Propheten und Apostel den Menschen
Buße predigten, so wollten sie, ut peccatis suis confusi et timore
dei compuncti coram domino prociderent et humiliarentur seque
in viam reciperent ac resipiscerent. So gebrauchen sie poeniten-
tiam agere und converti oder reverti ad deum promiscue. Und
,,der Buße würdige Früchte bringen" bedeutet: so leben, wie es
dieser resipiscentia und conversio entspricht. — Wenn Johannes
Buße predigt, so mahnt er, ut se peccatores agnoscerent suaque
omnia coram deo damnata, quo carnis suae mortificationem ac
novam in Spiritu regenerationem totis votis expeterent ; . . ut pecca-
torum mole pressi et fatigati ad dominum se converterent. — Buße
im Namen Christi wird nach Lk. 24, 46 f. gepredigt, cum per evan-
gelii doctrinam audiunt homines, suos affectus, sua studia corrupta
et vitiosa esse. Daher sei es nötig, ut renascantur, si volunt
ingredi in regnum dei. — Hier erscheint überall als das Wesent-
liche in der poenitentia das Erschrecken des Gewissens über die
Sünde angesichts des Urteils Gottes. Damit verbunden ist das
ernste Verlangen nach sittlicher Erneuerung. Doch ruht auf jenem
der Xachdruck. Der zusammenfassende Ausdruck ist mortificatio :
uno ergo verbo poenitentiam interpretor, mortificationem (p. 150).
Von dieser Buße sagt Calvin, sie öffne primum ad Christi Cogni-
tionen! ingressum, qui nullis se exhibet. nisi miseris et afflictis
peccatoribus. Diese Buße ist daher Voraussetzung des Glaubens.
Verwandten Gedanken begegnen wir schon in cap. I, de lege :
Das Gesetz bewirkt die Erkenntnis, omnes nos maledictione, iudicio,
morte demum aeterna dignos esse. Postquam in hanc humilitatem
ac submissionem descendimus, tum nobis dominus affulget seque
, . indulgentem exhibet (p. 30). Den Zustand des natürlichen Men-
schen charakterisieren die Wendungen: nondum se prosternere et
deicere deoque omnia dare ; . . nondum humilitas (p. 45). Die
Vernichtung dieser arrogantia und ambitio (p. 29), des stolide
adversus deum superbire oder gloriari (p. 45) ist die Voraussetzung
der Heilserfahrung. Denn nunquam deo satis confidimus, nisi de
•nobis penitus diffisi (p. 48). Auf diese dem Glauben vorausgehende
Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit wendet Calvin auch hier den
Namen poenitentia an (p. 31): Weil wir uns diese nostri nostraeque
Calvinstudien. '3
194
Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
inopiae et calamitatis cognitio nicht selbst geben können, eben-
sowenig wie die fides, quae nobis gustum praebet divinae bonitatis,
rogandus est deus, ut non simulata poenitentia inillamnostri,
et certa fide in h a n c suae mansuetudinis notitiam nos
adducat. — Ebenso ist p. 177 mit poenitentia diese dem Glauben
vorausgehende Zerknirschung gemeint: Aptissime . . dixeris, si
baptismum vocaveris poenitentiae sacramentum, cum in conso-
lationem iis datus sit, qui poenitentiam meditantur. — Die Buße
steht hier lediglich im Gegensatz zu der consolatio, die aus der
fides erwächst.
Jedoch ist schon in dieser Ausgabe der Institutio vom Jahre
1536 die poenitentia keineswegs auf die dem Glauben voraus-
gehende Selbsterkenntnis und den mit ihr verbundenen Sünden-
schmerz beschränkt. Vielmehr kennt Calvin schon hier eine poeni-
tentia, die ihrerseits den Glauben voraussetzt. Dieses tritt bereits
in dem speziell der Lehre von der Buße gewidmeten Abschnitt,
p. 147 ff., von dem wir ausgingen, hervor. Daß hier in den Aus-
sagen über die Buße ein reges Interesse für die sittliche Erneue-
rung hervortritt, erhellt schon aus den Ausdrücken in viam se
recipere, resipiscentia, fructus poenitentiae; noch deutlicher aus
der Umschreibung des Substantivs poenitentia durch das Verbum
renasci: man predigt Buße, indem man die Notwendigkeit des
renasci einschärft. Dieses renasci ist ethisch gemeint, wie die
folgenden Sätze beweisen. Daß es zur Beschreibung der poeni-
tentia, welche mortificatio ist, dient, geht daraus hervor, daß der
Vorgang des renasci mit lauter Ausdrücken geschildert wird, die
das Sterben bezeichnen. Leicht lassen sie sich unter mortificatio
zusammenfassen. Daß nun Calvin bei dieser als renasci gefaßten
poenitentia tatsächlich den Glauben als Voraussetzung annimmt,
geht daraus hervor, daß das renasci erst zustande kommt durch
die participatio in Christo, in cuius morte emoriuntur pravae cupi-
ditates, in cuius cruce vetus homo noster crucifigitur, in cuius
sepulcro sepelitur corpus peccati.1 Die participatio in Christo aber
vollzieht sich natürlich durch den Glauben. Die Richtigkeit dieser'
Auffassung ergibt sich auch aus der folgenden, demselben Zu-
sammenhang (p. 150) entnommenen, Stelle: Illum arbitror pluri-
1) Daß diese Auffassung des zitierten Satzes die richtige ist, geht
auch daraus hervor, daß er 1539 (I 694) aus diesem Zusammenhang ent-
fernt ist, weil er gegenüber dem Vorhergehenden wirklich etwas Neues,
einträgt.
Vod Lic. theo!. II. Stratbmann.
105
mum profccissc, qui sibi plurimum displicere didicit; non ut in hoc
luto haereat, sed magis ut ad deum festinet et suspiret, ut morti
Christi insertus, poenitentiam meditetur. Die Gegenüberstellung
von in luto haerere und poenitentiam meditari zeigt, daß bei
diesem an die Lebenserneuerung gedacht ist, nicht etwa an ein
durch die Teilnahme an Christus vertieftes Sündengefühl. Hier
schwebt Calvin über dieses Sündengefühl hinaus immer bereits
auch die wirkliche Korrektur des sittlichen Lebens vor.
Noch deutlicher ist das, was Calvin über die Buße in dem
cap. de sacramentis bei der Lehre von der Taufe, die er poeni-
tentiae sacramentnm nennt (p. 177), sagt. Die Taufe hat, ab-
gesehen von der Vergewisserung, wir seien so mit Christus ver-
einigt, ut omnium eins bonorum participes simus (p. 114), nach
Calvin für den Glauben eine doppelte Bedeutung. Einmal ist sie
uns gegeben als ein symbolnm nostrac purgationis ac documentum.
Sie ist wie ein Bote, durch den uns Gott versichert, peccata nostra
omnia sie deleta . . esse, ne unquam in conspectum suum veniant
(op. C. I 110). Sodann aber zeigt sie uns nostram in Christo morti-
ficationem . . et novam in eo vitam (p. in). Qui baptismum ea
qua debent fide aeeipiunt, vere efficaciam mortis Christi sentiunt
in mortificatione carnis suae, simul etiam resurrectionis in vivi-
ficatione spiritus. In diesem Sinn heißt die Taufe lavacrum rege-
nerationis et renovationis (Tit. 3, 5). So tauften Johannes und die
Apostel mit dem baptismus poenitentiae in remissionem peccato-
rum, poenitentiae verbo huius modi regenerationem
intelligentes. — Diese regeneratio, diese poenitentia folgt aus der
Teilnahme an Christus, setzt also den Glauben voraus. Der Aus-
druck ist beschränkt auf Erlebnisse dessen, der schon Christ ist.
Poenitentia gewinnt geradezu die Bedeutung des neuen christlich-
sittlichen Lebens. Der Ausdruck mortificatio bezeichnet hier nicht
bloß den Sündenschmerz, sondern die reale Loslösimg aus dem
Dienst der Sünde, wie auch p. 37 in der Auslegung zum vierten
Gebot : Si verbum illud toto animo imbibimus ac per ipsum morti-
ficamus hominis veteris opera etc. ; cf. auch p. 49. Freilich wird
hier wie sonst in dieser Ausgabe bei Beschreibung der poenitentia
der rein negative Ausdruck mortificatio bevorzugt. Aber
er ist an dieser Stelle ergänzt durch den positiven vivificatio und
sogar ersetzt durch regeneratio. Buße bezeichnet denselben Vor-
gang wie Wiedergeburt, und zwar nach seinen beiden Seiten.
positiv so gut wie negativ, obschon jenes im ganzen hinter diesem
13*
jq5 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
zurücktritt. Somit ist schließlich die gesamte positive christliche
Sittlichkeit hier in Betracht zu ziehen.
Nun ist zwar der Gedanke, daß die positive Neugestaltung
des christlichen Lebens zur poenitentia gehöre, 1536 noch nicht
herausgearbeitet. Auch finden sich zu einer christlichen Ethik
nur sehr geringe Ansätze (in Kap. VI). Doch sind die grund-
legenden Gesichtspunkte, die für die christlich-sittliche Lebens-
erneuerung in Betracht kommen, deutlich erkennbar. Obgleich
sich Calvin über die Richtung dieser Erneuerung in den Zusammen-
hängen über die Buße noch nicht ausdrücklich geäußert hat, so
tritt seine Meinung doch sonst klar hervor.
So kann der folgende Satz als für die ganze Richtung seiner
praktischen Frömmigkeit charakteristisch betrachtet werden : nos
. . santificamur (durch die gratiae spiritus) hoc est consecramur
domino in oranem vitae puritatem, cordibus nostris in obse-
quium formatis, ut haec sit una nostra voluntas, voluntati eius
servire ac eius duntaxat gloriam modis omnibus provehere (p. 49).
Dem göttlichen Willen gehorchen zur Förderung der gloria dei,
das ist die Aufgabe des christlich-sittlichen Lebens.
Dieser Gedanke der Ehre Gottes spielt ja überhaupt bei Calvin
eine sehr große Rolle. Wie alles Geschaffene allein da ist zur
Ehre Gottes (p. 2j), so wird Gott alle richten, qui alia (d. h. irgend
etwas anderes) cogitaverint, dixerint ac fecerint, quam quae ad
eius gloriam pertinent (ib.). Es ist die schöpfungsmäßige Aufgabe
des Menschen, eius honori et gloriae servire (p. 28). Deshalb ist
es Hauptforderung des ersten Gebotes, daß wir nichts zulassen,
nisi in quo honoretur ac colatur (deus) (p. 32). Wir sollen nur
schwören, wenn es Gottes Ruhm (oder der Brüder Wohl) erheischt.
Wir sollen nur bei Gott schwören. Denn es gehört zu seiner
Ehre, daß er der einzige Zeuge der Wahrheit sei (p. 35). Die
Ehre Gottes bildet unmittelbar den Inhalt der drei ersten Bitten
des Unser Vater. Aber auch wenn wir um unser täglich Brot
bitten : hie quoque dei gloriam quaerere praesertim debemus, ut
ne petituri quidem simus, nisi in dei gloriam verteret (p. 90).
Wenn wir um die Heiligung des göttlichen Namens bitten, nihil
tum de nostro commodo cogitandum est, sed eius gloria nobis
proponenda est, quam intentis oculis unam intueamur. Freilich
ergibt sich dabei auch unsere sanetificatio. Sed ad huiusmodi
utilitatem oculi nostri . . velut caecutire debent, ne in ipsam ullo
modo respiciant. Ut si omnis spes privati nostri boni praecisa
Von I.ic. thcol. H. Strathmann. IQ7
esset, haec tarnen sanctificatio (des Namens Gottes nämlich) et
alia, quae ad dei gloriam pertinent, a nobis et optari et precibus
postulari non desinant (p. 89 f.). Jeder Gedanke an «las eigene
Selbst hat zu verstummen gegenüber dem einen, gewaltigen, alles
überragenden, alle Kräfte anspannenden, den Menschen vielleicht
gar verzehrenden Lebensinhalt: gloria dei. Selbst der Gedanke
an das eigene Heil wird hier unterdrückt. Es gehe wie es gehe:
das ceterum censeo ist die Beförderung der gloria dei. Es li< gt
auf dieser Linie, wenn Calvin später sagt, auch die Verdammnis
der impii müsse der Ehre Gottes dienen (I, 873).
Der Eifer für die Ehre Gottes ist Merkmal seiner Kinder
(p. 95). Er soll alle Verhältnisse durchdringen. Auch die poli-
tischen. Konsequent steigt Calvin bis zu dem Satz empor, daß
nur der König den Namen eines Königs verdiene, qui in hoc
regnat, ut dei gloriae serviat. Anderenfalls: non regnum, sed
latrocinium exercet (I, p. II. Vorrede an Franzi.; cf. p. 230).
Man dient der Ehre Gottes durch Gehorsam. Weshalb letzt-
lich haben wir zu beten, wenn wir in Not sind? Aus Gehorsam.
Denn es hieße Gottes Gebot verachten, wollten wir in der Not ihn
nicht anrufen (p. 83). — Welches ist der durchschlagende Grund
für die Kindertaufe? Der Gehorsam. Der Herr hat es geboten,
die Kinder zu ihm zu bringen (p. 118). — Weshalb hat man auch
der Gewalttätigkeit einer tyrannischen Obrigkeit sich zu fügen?
Aus Gehorsam gegenüber dem Worte Gottes (p. 243).
Das sind Einzelheiten. Der Wille Gottes ist niedergelegt im
Gesetz, im Dckalog. E r ist zu beobachten. Die erste Tafel for-
dert, daß wir Gott lieben, ehren und fürchten; die zweite Liebe
zum Nächsten. Doch ist diese nicht etwa jenem gleichgeordnet.
Sondern die Nächstenliebe propter se nobis . . . mandat (deus)
(p. 3:). Sie hat keinen selbständigen Wert. Man hat sie zu üben
um des göttlichen Befehls willen. Nur daran haftet schließlich das
Interesse, nicht am Nächsten. Wie sehr das der Fall ist, zeigt sich
z. B. in der Auslegung der drei ersten Bitten des Unser Vater.
Calvin begnügt sich nicht mit dem Positiven, sondern bittet aus-
drücklich auch, ut omnis impietas . . pereat atque confundatur
(I, 93 — 95). Es würde dem Sinne Calvins nicht widersprechen,
wenn man für impietas sagte : impii.
Behält man diese unbedingte Unterordnung der Nächsten-
unter die Gottesliebe im Auge, so ist es richtig: man dient der
gloria dei, man gehorcht seinem Willen, indem man beides übt :
jng Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Gottes- und Nächstenliebe. Deren Übung aber setzt Verzicht auf
alles eigene Wesen und Wollen und Wünschen voraus. Daher
sagt Calvin: plane perspicuum est, non nostri ipsorum amorem,
sed dei et proximi observationem mandatorum esse, optimeque
ac sanctissime e u m vivere, qui quam m i n i m e fieri potest,
sibi vivit ac studet; neminem vero eo peius nee iniquius vivere,
qui sibi duntaxat vivit ac studet, suaque duntaxat cogit ac quaerit
(p. 42). — Auf sich verzichten, seinen Lebensinhalt suchen im
Dienste Gottes zu seiner Ehre, und um seinetwillen auch im
Dienste des Nächsten — das zuletzt ist mortifkatio ; das ist vivi-
ficatio ; das ist poenitentia. —
Die Institutio vom jähre 1536 kennt also sowohl eine dem
Glauben vorausgehende, wie eine ihrerseits den Glauben voraus-
setzende Buße. Nun wäre es falsch, wollte man sich das Ver-
hältnis beider so denken, daß die eine die andere ablöst. Das
gemere, laborare, oneratum esse, dolore et miseria tabescere über
die Sünde — so beschreibt Calvin die poenitentia, die primum ad
Christi cognitionem ingressum aperit — hört beim Christen nicht
etwa auf. Vielmehr ad hanc eniti, in hanc incuinbere, hanc
prosequi tota vita 110s oportet (p. 150). Nannte Plato das
Leben des Philosophen eine meditatio mortis — mit mehr Recht
könnte man sagen : vitam christiani hominis perpetuum esse Stu-
dium et exercitationem mortificandae carnis. Immer bleibt Un-
vollkommenheit zurück (p. 49). Immer findet das Gesetz etwas zu
verdammen (p. 47).
Ähnlich äußert sich Calvin bei dem Artikel des Symbols über
die Sündenvergebung. Die Vergebung der Sünden empfangen
(aeeipiunt, nicht aeeeperunt) die Gläubigen, die, qui in ecclesiae
corpus asciti et inserti sunt, cum peccatorum suorum conscientia
oppressi, afflicti et confusi, divini iudicii sensu consternantur, sibi-
que ipsis displicent et velut sub gravi pondere gemimt . . hoeque
peccati odio ac sui confusione carnem suam et quiequid ex se est,
mortificant. Atque ut hanc poenitentiam assidue . . illi q u a m -
d i u in carcere sui corporis degunt, prosequuntur, ita subinde
atque assidue illam remissionem obtinent etc. (I, 78). — Dieselben
Gedanken, dieselben Worte z. T., mit denen Calvin p. 150 die
poenitentia beschreibt, die erstmalig den Zugang zur Erkenntnis
Christi öffnet, verwendet er hier zur Darstellung des täglichen Er-
lebnisses des Gläubigen. Der Unterschied liegt nur darin, daß das,
was dort zeitlich, hier nur noch begrifflich vorangeht. „ Sub-
Von Lic. theol. H. Strathmann. IQQ
i n d c " hat der Gläubige die Vergebung. Sachlich liegt durchaus
dieselbe Erscheinung vor. Nur daß die Spannung zwischen un
Selbstbeurteilung als verlorener Sünder und unserer Beurteilung
durch Gott als Gerechtfertigter dort zumeist nur allmählich über-
wunden wird, je nachdem der Sünder die Gnade Gottes erfaßt,
während sie im Gläubigen schon im selben Augenblick überwunden
ist, wo sie auftaucht. Denn fidere ist constanti certitudine ac
solida securitate animum offirmare . . ut de bona dei erga
nos voluntate nihil dubitemus, so daß auch die bleibende Unvoll-
kommenheit nur eine verstärkte Veranlassung sein kann, fiduciam
omnem a nobis in illum semper traducere (p. 48, 56, 49). In
diesem Sinne ist dann auch das Gesetz beseitigt. Es droht und
schreckt nicht mehr, verdammt und zerrüttet nicht mehr die Ge-
wissen der Gläubigen (p. 50).
Aber der Glaube als Vertrauen auf die Vergebungsgnade
Gottes ist für Calvin doch nicht ein einmal erworbener Besitz, der
dann wie selbstverständlich bleibt, sondern er entsteht täglich neu
als die Überwindung jener Spannung.
Sofern also die dem Glauben vorangehende Buße im Gläubigen
ständig lebendig bleibt, zeigt sich ein Unterschied nur in dem
zeitlichen Verhältnis von Sündenschmerz und Vergebungs-
gewißheit.
Sachlich aber liegt ein Unterschied darin, daß man bei jener
Buße allein „im Schmutze stecken bleibt" (p. 150). Bei jener allein
kommt die mortificatio nicht zustande. Erst durch die Ein-
pflanzung in den Tod Christi wird es möglich, wirksam poeniten-
tiam meditari. Erst auf Grund der partieipatio in Christo wird
der alte Mensch wirklich gekreuzigt. Die dem Glauben vorher-
gehende Buße ist unvollkommen. Sie wird erst durch die aus dem
Glauben folgende wirksam, und diese zieht sich wiederum durch
das ganze Leben.
Deshalb und insofern kann Calvin beides sagen : einmal, daß
durch die poenitentia erst der Zugang zur Erkenntnis Christi,
d. h. zum Glauben, eröffnet werde ; und dann, daß vera poenitentia
nicht könne citra fidem consistere. Über die Möglichkeit, daß
jene anfängliche poenitentia nicht zum Ziele führe, reflektiert Cal-
vin weiter nicht.
Jedenfalls ist die Sache also nicht so zu fassen, als fände die
poenitentia im Glauben ihren Abschluß. So läge es. wenn die
mortificatio von Calvin lediglich im Sinne der von ihm abgewieseneu
200 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Auffassung vertanden wäre. Die poenitentia findet ihren Abschluß
im Glauben nur, insofern sie vermöge des Schuldgefühls, das immer
als ein Moment in ihr enthalten ist, die notwendige Vorbereitung
des Glaubens ist. Und auch dieser Abschluß ist ein solcher, der
immer wieder erreicht werden muß. Das aber ist eben nur ein
Moment in der poenitentia. In anderer Beziehung findet sie im
Glauben so wenig ihren Abschluß, daß sie nun erst recht beginnt.
Der Eindruck einer gewissen Unklarheit, dem man sich bei
der Zusammenstellung der Aussagen Calvins über die Buße zu-
nächst nicht entziehen kann, beruht darauf, daß Calvin zwischen
diesen beiden Arten der poenitentia, der, die dem Glauben voraus-
geht, und der, die ihn voraus setzt, nicht deutlich unterschieden
hat, insofern er nicht ausdrücklich die Unzulänglichkeit und sach-
liche Erfolglosigkeit jener hervorhebt. —
DieEntstehungder Buße. Die so verstandene poeni-
tentia kann der Mensch nicht aus sich erzeugen. In jedem Stadium
ist sie ein Geschenk Gottes, eine Wirkung Gottes in uns. Von
ihm stammen poenitentia und remissio. Das gilt von der spezi-
fischen Buße des Christen (cf. op. C. I p. in f.), aber auch von der
dem Glauben vorausgehenden Buße. Sie muß daher von Gott er-
beten werden (p. 31).
Darüber, wie sich bei dieser Erweckung der Buße im Menschen
durch Gott der göttliche Wille und die menschliche Selbsttätigkeit
zueinander verhalten, hat Calvin 1536 noch nicht reflektiert.
Jedenfalls hat er die letztere nicht ausschließen wollen. Das geht
schon daraus hervor, daß Gott nicht unmittelbar, sondern durch
geschichtliche Mittel zu Werke geht. Diese Mittel sind
Gesetz und Evangelium.
An der Stelle, von der die Untersuchung ausging, ist zwar nur
von einer Erweckung per Evangelii doctrinam die Rede. Wenn
jedoch daraus geschlossen wurde (Ritschi a. a. O.), daß Calvin die
erfolgreiche Buße nur von der Predigt des Evangeliums und nicht
von der des Gesetzes ableite, so beruhte das auf einem Irrtum.
Vielmehr hat Calvin (worauf schon Sieffert hingewiesen hat, a. a. O.)
im Hauptstück vom Gesetz auf dieses die zur Entstehung des Glau-
bens notwendige Sündenerkenntnis zurückgeführt. Es ist Aufgabe
des Gesetzes, und zwar des positiven Gesetzes — denn das in die
Herzen geschriebene Gesetz, das Gewissen, reicht dazu nicht aus —
ostendere, quam procul absimus a recta via (p. 29) ; das Ge-
setz ist speculum, in quo peccatum et maledictionem nostram
Von Lic. theol. II. Strathmann. 201
cernere . . Hceat; es soll accusare, arguere, convincere, damnare,
confundere (p. 44), pungere, mordere, percellere, consternere, con-
stringere (p. 47) — und wie die Wendungen alle lauten. Es soll
den Stolz und die Arroganz des Menschen brechen und ihn zur
humilitas führen (p. 49, 45).
Zwar haben die Römischen durch ihre famose Theorie von den
consilia dem Gesetz den Stachel ausgebrochen, da die Beobachtung
der consilia, die in Wirklichkeit praeeepta sind, dem Belieben des
einzelnen anheim gestellt ist (p. 43). Das ist indessen offenbare
Willkür und durchaus unstatthaft. Die Forderungen des Gesetzes
sind in ihrem vollen Ernste zu erfassen. Geschieht das, so muß
das Gesetz seinen Zweck um so sicherer erreichen, als es sich nicht
mit der Loyalität der äußeren Handlung begnügt, sondern sich an
die Gesinnung, an die Affekte wendet : lex spiritualis est, hoc est,
quae totam mentem, totam animam, totam voluntatem obsequen-
tem exigat (p. 43, cf. auch p. 28). Da diesen Ansprüchen keiner
genügt, so führt das Gesetz notwendig zur Selbterkenntnis, zur
poenitentia.
Wenn nun Calvin andererseits die Entstehung der Buße durch
das Evangelium vermittelt denkt, so darf man sich dadurch nicht
zu der Erwartung veranlaßt sehen, daß nun auch die Buße
als dem Glauben folgend gedacht werde (Ritschi a. a. O.).
Denn die Verkündigung des Evangeliums ist hier zuerst als
gesetzlich wirkend gedacht (Sieffert a. a. O.). Der Eintritt
in das Reich Gottes setzt gewisse Bedingungen voraus. Der
Mensch sieht, daß er sie nicht erfüllt. Eben deshalb bedarf er des
renasci. „Nicht aber wird jene Reue oder Sündenerkenntnis be-
gründet gedacht durch den Glauben an das Evangelium." Auch
eine Spannung zwischen beiden Gedanken Calvins liegt nicht vor,
da er gar nicht behauptet, diese Buße entstehe überall durch die
Predigt des Evangeliums. Calvin spricht p. 149 f. nur im Anschluß
an Luk. 24, 46 f. davon, wie poenitentia gepredigt werde ..im
Namen Jesu", ohne andere Methoden der Bußpredigt zu berück-
sichtigen, geschweige denn auszuschließen.
Dagegen könnte das Evangelium im eigentlichen Sinne Mittel
zur Erzeugung der Buße des Gläubigen heißen. Calvin drückt
sich so nicht aus. Aber diese Buße schöpft ja doch ihre Kraft aus
der insitio in Christum, aus der Gabe, die uns das Evangelium
bringt. Vermittelst der insitio in Christum schenkt uns Gott die
Lebenserneuerung (cf. ob. p. 196, op. C. I 30 f., 51). Diese insitio
202 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
in Christum ist ein rein individueller Vorgang und hat mit der Ein-
pflanzung in die Gemeinde nichts zu tun. Zwar ist der Christo
insertus natürlich auch Glied der Gemeinde, der Kirche. Aber diese
Kirche ist keine empirische Größe, sondern der numerus electorum.
Zu ihr gehört man entweder überhaupt nicht oder ewig. Aber die
Zugehörigkeit zu der Zahl der Erwählten wird durch vocatio und
iustificatio „manifestiert"'; Dominus, dum nos vocat, iustificat, glori-
ficat, nihil aliud quam aeternam suam electionem declarat (p. 73).
Dem justificare entspricht genau die Einpflanzung in Christus. Es
handelt sich um, freilich von Ewigkeit her bestimmte, geschichtliche
Akte. Die ewige Zugehörigkeit zur Kirche gelangt in der insitio
in Christum und deren logischer Folge, der iustificatio, zum ge-
schichtlichen Vollzuge, oder, psychologisch ausgedrückt : sie ge-
langt im Glauben zum Bewußtsein. Die Zugehörigkeit zur Kirche
ist nur erkennbar am Glauben. Deshalb kann auch eine „empiri-
sche" Beschreibung der Buße nicht zurückgreifen auf die Zu-
gehörigkeit zur Kirche, sondern nur auf den empirisch-psycholo-
gischen Vorgang des Glaubens, theologisch : der insitio in Christum.
Nur an dieses individuelle Widerfahrnis ist zu denken, wenn wir
im Sinne Calvins sagen, Gott benutze das Evangelium als Mittel
zur Erweckung der Buße, indem er den einzelnen in Christus ein-
pflanzt. Das Evangelium ist die Kraftquelle für die Buße des
Gläubigen.
Daneben kommt für Gott als Mittel das Gesetz in Betracht,
auch für den Gläubigen. Freilich nicht mehr in seiner erschüttern-
den Wirkung. Aber das Gesetz zeigt die Richtung, in der sich die
aus dem Evangelium geschöpfte Kraft zu betätigen hat : die Gläu-
bigen lernen aus ihm certius ac melius, qualis sit voluntas domini.
Überdies ist das Gesetz für das Fleisch ein flagrum, quo instar
ignavi inertisque asini stimuletur. Auch das exemplum Christi
kommt hier in Betracht (p. 52).
Als subjektives Motiv der poenitentia nennt Calvin den
verus ac sincerus timor dei, ohne einen Unterschied zu machen
zwischen den beiden Stufen der Buße. Und zwar handelt es sich
um die Furcht vor dem göttlichen Gericht (p. 149, 78). Daß dieses
gilt für die Buße, die zum Glauben führt, leuchtet ein. Auch hat
Calvin hieran zuerst gedacht, wie der Zusammenhang p. 149 f.
zeigt. Aber die Furcht spielt überhaupt in der Frömmigkeit Cal-
vins eine große Rolle, auch in der Motivierung des neuen Lebens
des Christen. Daß wir Gott deshalb zu fürchten und ihm zu dienen
Von Lic. theol. II. Strathmann. 20ß
haben, weil er unser Schöpfer und Herr ist, daß wir ihn einfach des-
halb zu verherrlichen haben (p. 28, 31 unt., 54 Mitte), bleibt natür-
lich auch für den Christen in Geltung (cf. oben p. 18 f.). Möchte
man dieses Verhalten auch vielleicht lieber als Ehrfurcht be-
zeichnen, so liegt doch auch dem Christen der Gedanke an das Ge-
richt keineswegs fern. Er weiß ja, daß der Herr kommen wird zu
richten, je nach dem sich ein jeder in seinen Werken als fidelis
infidelis erwiesen hat (p. 71).
Doch wird dadurch die securitas des Christen nicht gestört.
Ja, diese Heilszuversicht ist gerade die spezifisch christliche Vor-
aussetzung des sittlichen Strebens. Das entspricht dem, daß Gott
die Buße durch die Einpflanzung in Christus erzeugt. Der fröh-
liche Gehorsam aus freiem Antrieb des Herzens, den Gott fordert,
ist nur auf Grund der Heilsgewißheit möglich, weil nur dann der
Mensch die Zuversicht haben kann, daß sein Tun Gott gefällt.
Nicht um seiner selbst willen. Dem Menschen ist bei den guten
Werken immer nur das zuzuschreiben, daß er die guten Gaben, die
Gott ihm verlieh, sua impuritate polluit et contaminat (p. 52 unten).
Sondern nur um der Gemeinschaft mit Christus willen, dessen Voll-
kommenheit unsere Unvollkommenheit zudeckt (p. 49). Daher sagt
Calvin : neque haec fiducia partim nobis necesse est, sine qua
frustra omnia conabimur : si quidem nullo nostro opere se coli
reputat deus, nisi quod in eius eultum vere a nobis fiat. I d
autem, qui posset inter illos terrorcs, tibi
dubitatur, offendaturne deus nostro opere an
colatur? (p. 198 ; cf. auch p. 53 oben).
Dieser Glaube aber drängt zu dem praktischen eultus dei :
viva est fides . . otiosa certe esse non potest (p. 79). Weshalb kann
der Glaube nicht müßig sein? Hier kommt zunächst die Dank-
barkeit für die erfahrenen Wohltaten in Betracht (z. B. p. 32 ad
mand. I ob., p. 54 Mitte ad mand. X). Dieses Motiv wird noch
verstärkt durch die Erwägung, wie teuer Christus diese uns zuteil
werdenden Wohltaten zu stehen gekommen sind (p. 53). Haec
cum docentur, admonentur homines, se toties sacratissimum illum
sanguinem effundere, quoties peccant . . . Elaec qui atuliunt, si
quid dei habent, quomodo non horreant se in lutum provolvere, quo
huius fontis puritatem, quantum in se est, inquinent? Lavi pedes
meos, inquit fidelis anima apud Salomonen! (Cant. 5), quomodo
rursum inquinabo illos? (p. 53).
Ebenso wichtig wie die Dankbarkeit oder vielmehr das eigent-
)qzi Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
lieh durchschlagende Motiv ist jedoch, daß der Wille Gottes unsere
Heiligung ist (p. 54 oben). Vocati sumus, non ad immunditiam, sed
ut simus mundi (p. 51). In hoc filius dei apparuit, ut dissolvat
diaboli opera. E r w i 1 1 solche diseipulos, qui semetipsos abnegent
(P- 52). —
Schließlich ist noch der Ausblick auf die zukunftige Herrlich-
keit als Motiv zu erwähnen. Die Schrift spricht von „Lohn". Frei-
lich nur im uneigentlichen Sinn. Um Verdienst handelt es sich
jedenfalls nicht. Denn das Himmelreich ist nicht Sklavensold, son-
dern Kindeserbe (p. 54). Wohl aber dient der Ausblick auf das
Zukünftige, als auf eine compensatio (p. 55) für die in dieser Zeit
erlittenen Unbilden, dazu, die Erfüllung der göttlichen Aufgaben,
speziell die Selbst- und Weltverleugnung — der übrigens auch die
diseiplina crucis dient — zu erleichtern. —
Daß es sich bei alledem lediglich um formal-psychologische
Motivierungen handelt, ist klar. Materiale Direktiven sind hier-
aus nicht zu gewinnen. Daß das neue Leben inhaltlich allein durch
den Willen Gottes, wie er in der positiven Offenbarung vorliegt,
bestimmt ist, ist oben bereits gesagt worden (oben p. 19 f.). Der
Christ findet in sich nur die Motive zum Gehorsam gegenüber
diesem geoffenbarten Gotteswillen.
So hat Calvin die Notwendigkeit der poenitentia, nicht nur im
Sinne der Gewissenserschütterung, sondern ebenso im Sinne der
sittlichen Lebenserneuerung, der regeneratio, stark betont. Ist
daraus etwa zu schließen, daß er die iustificatio oder Sündenver-
gebung1 irgendwie bestimmt oder bedingt gedacht hat durch Be-
rücksichtigung des menschlichen Tuns von sehen Gottes? Wie
ist das Verhältnis von poenitentia und iustificatio zu denken?
Buße und Rechtfertigung. Diese Frage fühlt uns
auf Calvins Kritik des katholischen Bußsakraments. Denn die
Antwort, die er auf sie gibt, steht im Mittelpunkt dieser Kritik. Und
zwar kommt dieselbe hier n u r unter diesem Gesichtspunkt in Be-
tracht. Im übrigen ist für das Verständnis der calvinischen Buß-
lehre aus der Kritik der katholischen keine Förderung zu erwarten.
Was die Römischen Buße nennen, hat mit dem, was die Refor-
1) In der Institutio 1536 bildet, wie in Luthers kleinem Katechismus,
die Rechtfertigungslehre nicht den Gegenstand eines besonderen Ab-
schnittes, ist indessen aus der Gesamtdarstellung ohne Schwierigkeit zu
erheben. — Justificatio ist für Calvin stets gleich remissio. Cf. z. B. p. 52
und 196.
Von Lic. theol. II. Strathmann.
205
matoren so bezeichnen, kaum mehr als den Namen gemein. Es
geht das schon daraus hervor, daß es sich dort um ein kirchliches
Gnadeninstitut, hier dagegen lediglich um eine Bewegung des in-
dividuell-persönlichen Lebens handelt. Höchstens könnte man ge-
neigt sein, die reformatorische poenitentia in dem ersten Teil des
römischen Bußsakramentes, der contritio, wiederzufinden. Di
formatorische poenitentia schließt diese nun zwar ein, wertet sie
jedoch anders und greift jedenfalls weit darüber hinaus. Das
reformatorische Gegenstück zu der römischen Bußlehre ist nicht
die Lehre von der poenitentia, sondern die von der Rechtfertigung
aus dem Glauben. Denn wie der römische Christ aus jenem, so
gewinnt der evangelische aus dieser immer neu die Gewißheit
seines Gnadenstandes (nach Ritschi a.a.O. p. 159). Der Be-
rührungspunkt zwischen beiden Lehren liegt also nur da, wo es
sich um die Frage der Rechtfertigung handelt.
Der formale Grund des Widerspruchs Calvins gegen die katho-
lische Bußlehre ist, daß diese die Aussagen der Schrift gegen sich
hat (cf. z. B. p. 152 unt. ; p. 168). Deshalb setzt Calvin ihr entgegen,
quae de poenitentia didicimus ex scriptura (p. 147). Der materiale
Grund aber, und das ist die Hauptsache, ist, daß sie die Gewißheit
der Rechtfertigung oder Vergebung unmöglich macht. Calvin er-
eifert sich. Denn der Streit dreht sich nicht de asini umbra, son-
dern um das ernsteste Ding von der Welt, nempe de peccatorum
remissione. Wenn die notita, qua ratione . . obtineatur peccatorum
remissio, nicht perspicua certaque constat, nullam requicm habere
potest conscientia (p. 150).
Calvin verspottet die wissenschaftliche Qualifikation der scho-
lastici sophistae, die, um zur Definition der poenitentia zu gelangen,
willkürlich eine Anzahl dicteria veterum zusammenraffen, um dann
ebenso willkürlich die bekannte Dreiteilung der Buße aufzustellen,
wonach sie besteht aus compunctio oder contritio cordis, confessio
oris und satisfactio operis (p. 150 f.).
Zunächst ist die katholische Auffassung der contritio zu ver-
werfen. Denn sie verlangen eine contritio debita, i. e. iusta et
plena. Damit ist bereits die ganze Lehre vergiftet. Denn dieser
Zusatz lenkt das Auge des Menschen sofort wieder auf ihn selbst
und auf seine Leistung und führt ihn demgemäß zur Heuchelei oder
zur Verzweiflung (p. 152). Hier wird die poenitentia zur causa re-
missionis peccatorum, während sie doch nichts sein soll als reine
Empfänglichkeit. Peccatorem docuimus non in suam compunc-
2o6 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
tionem neque in suas lachrymas intneri, sed utrumque oculum in
solam domini misericordiam defigere (p. 152 f. ; cf. p. 48 Abs. 2).
Freilich ist Buße nötig. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied,
ob man den Sünder lehrt, emereri remissionem iusta et plena
contritione, oder ob man ihn anweist, esurire et sitire dei miseri-
cordiam per miseriae suae agnitionem, in sua humilitate dare deo
gloriam. — Ganz ähnlich wird p. 78 ausdrücklich jeder Gedanke
an die Verdienstlichkeit der poenitentia oder contritio von ferne
abgewiesen. Die Gläubigen erlangen die Vergebung auf Grund
der poenitentia, non quod ita poenitentia eorum mereatur ; sed
visum est domino, sese hominibus hoc o r d i n e exhibere. —
Genau so steht es bei der confessio oris. Calvin erwähnt zu-
nächt die zwischen canonistae und theologi scholastici ventilierte
Streitfrage, ob die confessio oris göttlichen oder bloß kirchlich
positiven Rechtes sei. Besonders scharfsinnige Leute seien dem
Dilemma durch den Ausweg entschlüpft, daß sie die „Substanz"
(quoad substantiam), d. h. das „daß" für göttlichen, die „Form"'
aber für menschlichen Rechts erklärten (p. 152 f.). Zwar, heißt es
dann weiter, auch die Schrift fordere das Bekenntnis der Sünde,
aber das vor Gott, aus wahrhaft zerbrochenem Herzen. Ein solcher
Mensch werde auch gerne, wo Zeit und Ort es fordern, vor jeder-
mann suam paupertatem et dei magnificentiam commemorare
(p. 156). Übrigens „billige" die Schrift zwei Formen der Privat-
beichte, eine unseretwegen, zu gegenseitigem Tröste (Jak. 5, 12);
eine des Nächsten wegen, ad ipsum placandum et nobis reconci-
liandum (Alt. 5, 23 ; p. 156 f.).1 Ein Schriftbeweis für die katholische
Auffassung läßt sich nicht führen (p. 153 f.) ; und wie wenig die alte
Kirche dieselbe geteilt hat, erhellt aus dem Bericht des Sozomenos
in der historia tripartita über die Abschaffung des poenitentiarius
in Constantinopel durch Nectarius (p. 155).
Trotzdem machen jene aus dem, was die Bibel als freien Brauch
erlaubt hat, ein Gesetz für die sakramentale Beichte : Statuunt,
ut omnes utriusque sexus, statim atque ad discretionis annos per-
venerint, semel ad minimum quotannis confiteantur omnia sua pec-
cata, proprio sacerdoti; nee peccatum dimitti, nisi confitendi votum
firmiter coneeptum fuerit. Bei versäumter Gelegenheit nullus patet
1) Guericke urteilte (Symbolik, 2. Aufl. 1846 p. 577). daß die refor-
mierte Kirche ebenso die katholische wie die lutherische Beichtweise eifrig
verpönt habe. — Für Calvin trifft das nicht zu. Er verurteilte nur den
Beicht z w a n g. Cf. Oehler, Symbolik, 2. Aufl. p. 669 f.
Von Lic. theoi. II. Strathmann. 207
paradisi ingressus (p. 157; cf. p. 158). Der Priester aber habe die
potestas clavium. Calvin zählt deren verschiedene Auffassungen
auf, hebt aber hervor, daß man wegen Jcs. 43, 11. 25 sich «loch
nicht zu der Behauptung verstiegen habe, daß der Priester einfach
die Sünde vergebe. Seine Funktion sei nur deklarativ. — An
letzter Stelle nennt Calvin d i e Auflassung der Schlüssel, wonach
diese sind autoritas discernendi, qua in definiendo uterentur und
die potestas, quam executione suae sententiae exercerent ; die scien-
tia aber trete hinzu als consiliarium (p. 157).
Die Kritik erstreckt sich darauf, daß auch hier wieder dasselbe
Elend vorliegt, wie bei der Forderung der contritio debita. In
mehr als grausamer Weise hat man mit dieser Folter die Gewissen
geplagt. Man hat die Sünden beobachtet, eingeteilt, untersucht
bis in die letzten Einzelheiten (p. 158 unt.) Und das Resultat?
Ubi longius progressi fuerant, coelum undique et undique pontus :
nullus portus, nulla statio (ibid.). Es bleibt kein anderer Ausgang
als die Verzweiflung. Auch die Mahnung „faciat quisque quod in
se est" (p. 159 ob.) führt nicht weiter. Denn immer wieder taucht
die Sorge auf: non satis temporis impendi; 11011 iusta opera ineubui ;
multa negligentia praeterii (ibid.) Jene lex ist simpliciter impossi-
bilis. Itaque non nisi perdere, damnare ... in ruinam et despe-
rationem conicere potest. Es sei denn, daß man in heuchlerischer
Selbsttäuschung über der Aufzählung der einzelnen Sünden (die
auch nicht einmal möglich ist) vergißt latentem vitiorum lernam,
die inferiores sordes. Vielmehr sollen wir zwar auch unserer ein-
zelnen Sünden vor Gott gedenken, dann aber tantam mali nostri
abyssum agnoscerc et fateri. quae sensum quoque nostrum superet
(p. 159 f.). Die einzelnen Forderungen des katholischen Bußsakra-
ments (Aufzählung aller Sünden, Beichte vor dem Priester usw.)
fallen dahin angesichts des Wortes Ez. 18, 21 f. : Quotiescunque
ingemuerit peccator, omnium iniquitatum eins non recordabor. —
So zerstört Calvins Verlangen nach Heilsgewißheit in Verbindung
mit einem tieferen Verständnis der Sünde auch den zweiten Teil
der katholischen Buße.
Schließlich wendet er sich gegen die Lehre von der satisfactio
operis. Diese setzt den Erlaß der culpa voraus. Doch behält sich
Gott danach noch eine Strafe vor. Die poena sei satisfactionibus
redimenda (p. 168). Diese Unterscheidung beachtet Calvin jedoch
zunächst nicht. Er betont einfach, daß wir nach der Schrift ledig-
lich nichts zu der Vergebung beizutragen haben. Wieder steht
2o8 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
der Trost des Gewissens auf dem Spiel. Quod, si de pacificanda
conscientia agitur, quae istaec erit pacificatio, si audiat peccata re-
dimi satisfactionibus? Quando tandem illi satisfactionis modus
constare poterit? Ergo semper dubitabit, an deum habeat pro-
prium (p. 169). Dabei ist die Unterscheidung von peccata venialia
und p. mortalia durchaus unzulässig. Die Sünden des Gläubigen sind
alle venialia, die des Ungläubigen alle mortalia (p. 170). — Wollte
man aber auch jene Unterscheidung zwischen culpa und poena
peccati zugeben, so widerstreitet doch die Forderung der Leistung
der Sündenstrafen durchaus den klaren Aussagen der heiligen
Schrift, nach der Christus peccatorum poenas sustinuit (Jes. 53).
Das letzte Motiv, weshalb Calvin auch gegen diesen Teil des
römischen Bußsakraments eifert, ist somit wiederum die Sorge um
die Heilsgewißheit. Diese steht auf dem Spiele, sobald an irgend
einem Punkte der Mensch auf sich selbst gewiesen wird. Das
eben ist nach Calvins Überzeugung der Grundfehler der römischen
Bußlehre, daß sie den Menschen immer wieder auf sein eigenes
Können weist, anstatt ihn anzuleiten, mit beiden Augen fest auf
Gott zu schauen, auf ihn allein. Denn dadurch stürzt sie ihn in
Verzweiflung.
Und eben dieses Motiv der Polemik Calvins war das, was uns
hier interessierte. Aus dem Gesagten erhellt, daß für Calvin die
Rechtfertigung oder Vergebung unabhängig ist von irgend welchen
Leistungen des Menschen. Die dem Glauben vorangehende con-
tritio kommt nicht in Betracht als gottwohlgefällige Leistung, son-
dern als vollkommene Negation irgend welchen eigenen Könnens.
Man denkt gar nicht an sich, sondern will alles von Gott empfan-
gen. Die Forderung, daß die contritio der fides vorangehen müsse,
beschreibt nur die göttliche Heilsordnung. — Aber auch die dem
Glauben nachfolgende Buße als Neugestaltung des sittlichen
Lebens — das ist schon mit der Abweisung des dritten Teils der
römischen Buße gegeben — hat nicht die entfernteste kausale Be-
ziehung zur Vergebung (cf. auch p. 49). Die Buße, nach ihrer
positiven Seite gefaßt, ist nicht Voraussetzung der Vergebung,
sondern deren Folge, oder vielmehr notwendige Begleiterschei-
nung. Daher freilich auch ihre Bewährung.
Von katholischer Seite nämlich mußte sich gegen diese Auf-
fassung des Verhältnisses von Buße und Rechtfertigung natürlich
sofort der Einwand erheben, daß sie die guten Werke zerstöre
(p. 52 f.). Calvin hielt dem entgegen : Iustificatio bonis operibus
Von Lio. theol. H. Strathn 20 )
detrahitur, nun ut nulla bona fiant opera, aut negentur bona opera
quae sunt, sed ne illis fidamus, . . ne salinem adscribamus (p. 51)«
Doch soll das ganze Christenleben sein quaedam pietatis meditatio.
Ecce non iustificamus hominem ex operibus coram deo; sed omnes,
qui ex deo sunt, dieimus regenerari et novam creaturam fieri, ut e
regno peccati transeant in regnum iustitiae (p. 52). Denn Christus,
wie er uns vom Vater dargereicht wird, ist nicht nur remissi >,
iustitia, pax et reconciliatio apud patrem, sed etiam sanetificatio et
fons aquae vivae (p. 80; cf. auch p. 56 unt, p. not'., 150). Sub
lege gratiae esse Christianos, non est effrenate sine lege vagari,
sed Christo insitos esse, cuius gratia a legis maledictione liberi sunt,
et cuius spiritu legem habeant inscriptam in cordibus (p. 44; cf.
p. 30 Abs. 2). Auf unsere Bitte erhalten wir von Gott 1. venia,
2. novum cor, quo velimus, novamque virtutem. qua valeamus eius
mandata exsequi. Beide Gaben sind in Christo vereinigt : Haec
omnia nobis a deo ofreruntur . . in Christo domino nostro (p. 30 ;
cf. p. 49). Und zwar ist bei der remissio die renovatio von Gott
sofort als Zweck mit ins Auge gefaßt. Yocati sumus non ad im-
munditiam . . sed ut simus mundi et immaculati in conspectu dei
nostri in caritate (p. 51 ; cf. überhaupt p. 51 ff. und oben p. 203 f.).
Beide Gaben sind in Christo durch den göttlichen Willen unlöslich
miteinander verbunden. Daraus ergibt sich auch für die Willens-
betätigung des Gläubigen das stärkste Motiv.
Eine iustificatio ohne regeneratio gibt es also nicht. Deshalb
kommt der poenitentia nach ihrer positiven Seite, d. h. der regene-
ratio, die Bedeutung einer Bewährung oder Bestätigung des Glau-
bens zu. Calvin sagt : hoc testimonio (durch den praktischen Über-
gang aus dem regnum peccati in das regnum iustitiae) certam facere
fideles suam vocationem (p. 52; cf. p. 173 zu Lk. 7, 47, p. 75 Abs. 2).
Nicht, als ob ihnen dadurch erst ihr Gnadenstand gewiß würde —
das wäre bei der bleibenden Unvollkommenheit der GeseUes-
erfüllung unmöglich (p. 49) — sondern, was ihnen schon vorher
feststand, enthält nachträglich von anderer Seite noch eine Stütze.
Damit sind die in den Bereich der Bußlehre gehörigen Ge-
danken der Institutio 1536 erschöpft.
Fassen wir das Ergebnis zusammen :
Der Begriff der poenitentia wird von Calvin zunächst auf den
dem Glauben vorausgehenden Sündenschmerz angewandt und in
diesem Sinn als mortificatio bezeichnet. Sofern darin das Schuld-
gefühl enthalten ist, findet die poenitentia in der fides einmal und
Calvinstudien. 4
2 I O Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
immer wieder ihren Abschluß. — Der Ausdruck bezeichnet jedoch
zugleich einen das ganze Christenleben durchziehenden Vorgang,
welcher negativ die erfolgreiche Fortsetzung jenes Sünden-
schmerzes in Abtötung des alten Menschen (mortificatio) und posi-
tiv die Neugestaltung des gesamten sittlichen Lebens umfaßt (vivi-
ficato, regeneratio). In jedem Stadium ist diese Buße ein Werk
Gottes. Als Mittel zu ihrer Erweckung benutzt er Gesetz und
Evangelium. Das Evangelium im eigentlichen Sinne kommt jedoch
nur für die Buße des Gläubigen in Betracht (insitio in Christum).
Zugleich dient ihm das Gesetz als Wegweiser für das neue Leben.
Das subjektive Motiv ist die Furcht Gottes, und zwar nicht nur für
die dem Glauben vorausgehende, sondern auch für die aus ihm
erwachsende Buße. Jedoch gewinnt der Christ den Mut zu
einem wirklich neuen Leben nur aus der Heilsgewißheit. Aus
dieser ergibt sich sogleich als weiteres Motiv die Dankbarkeit.
Hinzu kommt mit durchschlagender Bedeutung das Bewußtsein,
daß der Wille Gottes unsere Heiligung ist. Daneben auch der
Blick auf die zukünftige Herrlichkeit, doch unter Ausschluß jeden
Verdienstgedankens. Dem entspricht, daß auch im Verhältnis der
poenitentia zur Rechtfertigung jener an keinem Punkte irgend ein
verdienstlicher Charakter zukommt. Da jedoch die poenitentia
als Lebenserneuerung eine stets mit der iustificatio verbundene
Gabe Gottes und daher auch eine psychologisch notwendige Be-
gleiterscheinung des Glaubens ist, hat sie die Bedeutung einer
Bestätigung jener für den Glaubenden. Eine gewisse Unklarheit
ist in den Gedanken Calvins insofern zu erkennen, als er den
Unterschied zwischen der dem Glauben vorausgehenden und der
ihn voraussetzenden Buße nicht deutlich hervorgehoben hat. —
Vergleichen wir die calvinische Auffassung mit den von ihm
zurückgewiesenen Formeln über die Buße, so liegt der Unterschied
darin, daß sich bei diesen der Begriff ausschließlich bezieht auf
die Neugestaltung des religiösen Verhältnisses, während bei
Calvin der Begriff zugleich nach der Seite des Ethischen
hin orientiert ist. Deshalb tragen seine Aussagen über die Buße
ein Doppelgesicht, was nicht zur Vermehrung der Klarheit gedient
hat. Durch die Aufnahme dieses neuen Gesichtspunktes erhalten
bei Calvin dieselben Ausdrücke, die jene verwerten, einen anderen
Sinn. So bezeichnet conversio bei Calvin nicht mehr lediglich die
rein religiöse Hinwendung zu Gott (im Sinne unseres heutigen
„Bekehrung"), sondern oft zugleich die Hinwendung des sittlichen
Von Lic. theol. H. Stratbmann. 2 I I
Strebens auf Gott und seinen Willen, im Gegensatz zum vorher-
gehenden Dienst der Sünde. Die Wahl zwischen beiden Bedeu-
tungen ist nicht immer zu treffen (p. 148 fr.). Deutlicher noch ist
die Begriffswandlung bei den Worten mortificatio und vivificatio.
Mortificatio bedeutete dort die aus der Sündenerkenntnis ent-
stehende innere Depression und Verzweiflung. Ihr Inhalt war
bestimmt durch das Schuldgefühl, weshalb eben in der entstehen-
den Zuversicht zur Sündenvergebung die vivificatio bestand. Bei
Calvin dagegen ist zwar die mortificatio auch mit dem Schuld-
gefühl verbunden und bereitet eben insofern den Empfang der
Gnade vor. Doch ist der Begriff zugleich stark ethisch bestimmt
und zielt ab auf die das ganze Leben durchziehende praktische
Überwindung der Sünde. Unter vivificatio aber wird allein die
positive Entstehung des neuen Lebens verstanden. An keiner
Stelle jedoch wird bei Calvin die fides als zur poenitentia gehörig
bezeichnet. Die fides kommt nur in Betracht, sofern einmal die
Erkenntnis der Sünde die Voraussetzung der Erkenntnis der Gnade
ist ; sie löst die poenitentia als Schuldgefühl ab ; sodann, sofern sich
auf Grund der fides oder der in ihr gewonnenen partieipatio in
Christo die wirksame Abtötung des alten Menschen und die
Erneuerung vollzieht. So ist es gemeint, wenn Calvin sagt, poeni-
tentia und fides seien unlöslich miteinander verbunden, doch seien
sie magis coniungendae quam confundendae (p. 149 oben). —
Vergleichen wir ferner mit dem obigen Ergebnis die von
Ritschi usw. vertretene Auffassung der Bußlehre der Institutio
von 1536, so ergibt sich das Folgende:
Die Auffassung, nach der in der Institutio von 1536 poeni-
tentia nur den negativen Sinn von mortificatio hat und normaler-
weise im Glauben an die Vergebung ihren Abschluß findet, ist
ungenügend. Das ist nur eine Seite der Sache. Die poenitentia
bezeichnet aber zugleich die gesamte positive neue Lebensgestal-
tung und findet insofern im Glauben nicht ihren Abschluß, sondern
wird vielmehr durch ihn, resp. durch die so gewonnene Teilnahme
an Christus, erst ermöglicht und eingeleitet.
Diesen letzteren Gedanken deutete Ritschi dahin, daß die
Erkenntnis des sittlichen Ideals in Christo Voraussetzung der
Buße und daß die Lehre von der Kirche der individuellen Heils-
ordnung übergeordnet sei. Beide Gedanken nahm Ritschi frei-
lich erst für die spätere Lehre Calvins in Anspruch. Da die be-
treffenden Formeln sich indessen bereits 1536 finden, so ist sehen
14*
2 12 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
hier darauf hinzuweisen, daß wenigstens 1536 weder das eine noch
das andere in den Ausführungen Calvins einen Anhaltspunkt
findet. Von Erkenntnis des sittlichen Ideals in Christo spricht
Calvin nirgends. Das Beispiel Christi kommt nur als praktische
Veranschaulichung des Gotteswillens in Betracht, der im Gesetz
niedergelegt ist. Über die Bedeutung der participatio in Christo,
inwiefern mit dieser Formel etwas über die Aufnahme in die „Ge-
meinde" ausgesagt ist — ist bereits oben p. 201 f. das Nötige ge-
sagt worden.
Auch Lipsius knüpft die Unterscheidung zwischen objektiver
Rechtfertigung und subjektivem Rechtfertigungsbewußtsein erst
an die späteren Aussagen Calvins an. Da indessen der Bewäh-
rungsgedanke, der sachlich die Hauptstütze dieser Meinung bilden
würde. — Lipsius freilich hat sie nicht benutzt — schon 1536 vor-
liegt, so ist festzustellen, daß diese Ausgabe für die Lipsiussche
Unterscheidung keinen Anhaltspunkt bietet.
Der Mangel der Ritschlschen Darstellung erklärt sich aus
der unzureichenden Benutzung der Aussagen Calvins, da er seiner
Darstellung die Bemerkungen des Kap. V (op. C. I 1, 147 ff.) zu-
grunde legt,1 und auch diese nur unvollkommen, da, wie wir sahen,
auch dort deutlich die von Ritschi nicht beachtete Seite der Buß-
lehre Calvins durchblickt. Bereits Köstlin hatte darauf hinge-
wiesen, daß eine ,, Erörterung der Hauptmomente dieser Lehre"
sich schon durch die beiden ersten Kapitel hinziehe. Dazu kom-
men die sehr wichtigen Bemerkungen in Kap. IV gelegentlich
der Besprechung der Taufe.
II.
Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Für das Verständnis der Entwickelung Luthers ist es von
größter Bedeutung, zu wissen, welche Richtung der ausgehenden
Scholastik seinen theologischen Bildungsgang bestimmt hat, zu
wissen, daß er ein Schüler der via moderna, nicht der via anti-
qua war.2
Auch für Calvin wird es nicht bedeutungslos gewesen sein,
1) Rechtf. und Vers. 1 2 p. 213.
2) Cf. darüber H. Hermelin k , D. theol. Fakultät in Tübingen
vor d. Reform. 1477 — 1534, Tübingen 1906. Abschnitt 2: Die in Tübingen
gelehrte Theologie, bes. p, 126 f.
Von Lic. theol. H. Strathmann. 2 I 3
welcher Art die scholastici waren, mit denen t r sich auseinander-
gesetzt hat. Es ist daher zunächst zu untersuchen, aus welchen
Quellen Calvin seine Kenntnis der römischen Bußlehre ge-
schöpft hat.
Hier drängt sich nun zunächst von selbst die Erinnerung an
die Sentenzen des Lombarden auf. wenn diese doch in dem AI alle
die Grundlage für alle spätere theologische Arbeit der Scholastik
boten, daß noch bis ins 16. Jahrh. in Paris „jeder Baccalaureus in der
Theologie seine Probe für den Doktorat durch Erklärung der Sen-
tenzen machen mußte".' Auch Calvin kannte sie. Er hat den Lom-
barden häufiger genannt. Wenn er in den Ausführungen über die
Bußlehre von der „magistralis licentia" in der Begriffsbestimmung
der poenitentia spricht, spielt er auf ihn an (op. C. I, p. 151
Mitte). Einmal nennt er den ,, Lombarden" auch direkt. Er be-
zeichnet ihn als den coryphaeus veterum und spottet darüber,
daß er centones suos contexuit ex insulsis quorundam monacho-
rum deliriis, quae sub Ambrosii, Hieronymi et Chrysostomi no-
mine feruntur. In der Frage der Buße habe er alles genommen
aus dem Buche Augustins über die Buße, qui (über) a rhapsodo
aliquo inepte ex bonis pariter ac malis autoribus consarcinatus est.
Calvin hat also den Lombarden gelesen, wie das auch bereits in
den Anmerkungen 2 der Straßburger Ausgabe der Werke Calvins
hervorgehoben worden ist.
Aber die Skizze, die Calvin von der römischen Bußlehre gibt,
zeigt eine Reihe von Zügen, die sich in den Darlegungen des
Magisters nicht finden. Dahin gehört zunächst der canon „Omnis
1) Wetzer und Weite, Kirchenlexik. 2. Aufl. IX p. 1921 und
Herme link a.a.O. p. 31— 60, bes. 41 f., 45 f-
2) Einiges wäre noch nachzutragen: Der Satz, daß, wenn bei ge-
botener Gelegenheit das votum confitendi nicht eingelöst sei, nullus patet
paradisi nigressus (C. p. 157) findet sich bereits beim Lombarden: Sem. IV
D. 17 c. 3 (in Bonaventurae opera, edd. patres collegii S. Bonaventurae;
Ad ciaras Aquas [Quaracchi] Bd. IV 1889). — Ferner gibt Calvin mit dem
Satz: alii . . dnas claves recensuerunt: discretionem et potestatem (ib.)
die Meinung des Magister wieder, der die Schlüssel bestimmt als discer-
nendi scientia und potestas iudicandi (Sent. IV D 18 c. 2). — Ebenso ist
es der Magister, der unter Berufung auf Jes. 43 die Gleichstellung von
ligare et solvere mit peccata remittere et delere ablehnt (Calvin ibid.; S. IV
D 18 c. 4). — Es stimmt mit den Angaben Calvins überein. wenn der
Magister die potestas des Priesters beschreibt als die potestas o s t e 11 -
dendi homines ligatos vel absolutos; wenn er sagt, daß die Priester
lösen und binden, dum dimissa a deo vel retenta iudicant (peccata); daß
die Schlüssel dem Priester gegeben werden per ministerium episcopi in
promotione sacerdotii (Calw ibid. u. 158; Sent. IV D 18 c. 6 u. D 19 c. 1).
2 14 ^'e Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
utriusque" über die österliche Beichtpflicht vom 4. Laterankonzil
121 5. Dies ist wichtig, da gerade die gesetzliche Festlegung
der Beichtpflicht und die Forderung des Bekenntnisses aller
Sünden Calvins heftigste Entrüstung erregt hat. Auch der Streit
über das ins divinum der kirchlichen confessio weist in die Zeit
nach dem Lateranischen Konzil. — Die von Calvin an letzter
Stelle genannte Auffassung der Schlüssel (cf. oben p. 207) wird
vom Lombarden noch nicht diskutiert. — Theologisch interessanter
ist, daß dieser von einer contritio d e b i t a , i. e. iusta et plena,
nirgends spricht ; daß er zu dem Satze Calvins keine Parallele
bietet : man lehre emereri peccatorum remissionem iusta et
plena contritione ; daß seiner Theologie eine Verflachung des
Sündenbegrififs nicht vorgeworfen werden kann, denn „über die
Erbsünde lehrte er wesentlich augustinisch'' ;l daß er nicht von
quantitates, qualitates und circumstantiae der Sünde spricht : daß
er von dem Satze des Hieronymus : 2 si homo facit, quod in se
est, deus dat ei gratiam — keinen Gebrauch macht.
Calvin hat sich also nicht auf die Lektüre des Lombarden
beschränkt. Vielmehr hat er — so würden sich die Abweichungen
zugleich mit der weitgehenden Übereinstimmung erklären —
irgend einen Kommentar über den Lombarden benutzt. Davon
gibt es nun freilich mehrere Hunderte.3 Den Kommentar finden
zu wollen, den Calvin gerade benutzt hat, ist deshalb ein wenig
aussichtsvolles Bemühen, zumal durchaus nicht feststeht, ob er
sich auf einen einzigen beschränkt hat. Die drei Vitae *
Calvins, seine Korrespondenz und die Histoire ecclesiastique 5
Bezas geben hierüber keinerlei Auskunft. Auch Doumergue 6 hat
hierüber nichts gefunden. Jedoch wird sich vielleicht die theo-
logische Ri c h t u n g jenes Kommentars oder jener Kommentare
feststellen lassen.
Zunächst steht fest, daß Calvin kein thomistisches Werk über
den Lombarden benutzt hat. Sagt Calvin doch gerade, daß die
1) Loofs, Dogmengeschichte, 4. Aufl. p. 541.
2) Loofs a. a. O. p. 545.
3) Wetzer und Weite a. a. O.
4) C. opera XXI.
5) Histoire ecclesiastique des eglises reformees au royaume de France
(1521 — 83), edition nouvelle par Baum, et par Cunitz. T. I, Paris 1883,
p. 1 ff.
6) Jean Calvin, Les hommes et les choses de son temps par E. Dou-
mergue. T. I. La jeunesse de Calvin, Lausanne 1809.
Von Lic. thcol. H. Strathmann. 215
thomistische Ansicht, wonach der Prieser selbst die Sünde ver-
gibt, von den Widersachern nicht vertreten werde. Übrigens
würde auch das, was Calvin vom Verdienen der Gnade sagt, auf
Thomas nicht passen (Loofs, p. 551)-
Dagegen weist alles auf die von Occam abhängige Theo-
logie des späteren Mittelalters, als deren Hauptvertreter im enden-
den 15. Jahrhundert Gabriel Byel (-}- 1495) zu betrachten ist. Was
zunächst den oben berührten Punkt betrifft, so teilen Occam und
seine Anhänger durchaus die Ansicht des Lombarden, wonach
dem Absolutionswort des Priesters lediglich deklarative Be-
deutung zukommt.1 — Calvin selbst weist uns auf diese Spur,
indem er die Mahnung, ut faceret quisque quod in se est (op. C. I,
p. 159), in der Ausgabe von 1539 als „illud Occamicum" bezeichnet
(op. C. I, p. 343). Freilich fügt er hinzu : nisi fallor, so daß er
Occam selbst wohl nicht gelesen hat. Also einen späteren occa-
mistischen Sentenzenkommentar.
Für die occamistisch gerichtete Theologie war gerade das
zuletzt zitierte Wort in hohem Maße charakteristisch. Nahm Cal-
vin vor allem daran Anstoß, daß die katholischen Anweisungen
die Aufmerksamkeit des Sünders immer wieder auf sein eigenes
Tun lenkten, so traf dieser Vorwurf in erster Linie die occa-
mistisch gerichtete Theologie. War sie doch zu derartigen An-
weisungen durch ihr Interesse an der menschlichen Freiheit - im
besonderen Maße disponiert. Auf sie traf es zu, daß über der
Beobachtung der einzelnen Sünden die latens vitiorum lerna, die
interiores sordes vergessen wurden. Der Begriff der Erbsünde ist
hier völlig verflach t. Sie ist nicht aliquid positivum, sondern
carentia iustitiac originalis debitae, durch die aber im Menschen
nichts Wesentliches verändert wird.3 Durch die Sünde nihil corrum-
pitur nee tollitur in anirna (Occam a.a.O. sub C). Auch nach
dem Sündenfall ist der Mensch in puris naturalibus. Die rectitudo
. . naturalis voluntatis, . . sc. libertas, non corrumpitur per pecca-
tum ; illa enim est realiter ipsa voluntas nee ab ea separabilis
1) Occam, Super IV libr. sententiarum, Lyon 1495, 1. IV qu. 8 und 9
sub Q. — Byel, Collcctorium circa IV sententiarum libros, Ba>cl 1512,
1. IV. dist. 18, q. 1, arl. 2, sub J. K.
2) Ct. Hermelink a.a.O. p. 1141'!.
3) Cf. Altenstaig, Lexicon Theologicum, 2. Aufl., Venedig 1583; 1. Aufl.
nach f. 535 a vom Jahre 1525. Die Epistola nuneupatoria wie die Vorrede
an die Theologiae amatores vom Jahre 1517 — sub voce: peccatum ori-
ginis f. 351 b.
2 I 6 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
(Byel, 1. II D XXX, qu. i sub H). Wie denn auch der Tod nicht
erst durch die Sünde gekommen ist, in statu innocentiac nur
nicht poena, sondern conditio naturalis gewesen sein würde (ibid.).
Die Sünde wird nur in ihrer Vereinzelung be-
trachtet: peccatum mortale nihil aliud est, nisi aliquem com-
misisse vel omisisse actum, propter quem deus ordinavit ad
poenam aeternam (Occam a. a. O.).
Weil die menschliche Freiheit intakt geblieben ist, deshalb
konnte im Rahmen dieser Theologie der Gedanke: deus statuit
non deesse facienti quod in se est1 „bis zum Überdruß
wiederholt" und der ganze Heilsprozeß „unter den Gesichtspunkt
des Verdienstes'' gestellt werden.'2 Homo faciat, quod in
se est,1 d. h. er vollziehe die detestatio peccati. Das kann er.
Denn diese ist ein motus liberi arbitrii. Gott non iustificabit te
sine te. Er fordert von uns einen motus voluntatis respectu pec-
cati, prohibentis gratiae infusionem, d. h. die displicentia peccati.
Damit erwirbt man sich ein m e r i t u m de congruo für die iusti-
ficatio. Denn : anima . . obicis remotione ac bono motu in deum
ex arbitrii libertate elicito primum gratiam mereri potest de
congruo, quia actum facientis quod in se est deus acceptat ad
retribuendam gratiam primam.3
Diese displicentia peccati begründet ein solches meritum frei-
lich nur dann, wenn jene dispositio s u f f i c i e n s ist, d. h. d e -
b i t e circumstantionata circumstantiis omnibus inesse debitis. Die
displicentia muß sein de omnibus peccatis und secundum
o m n e s circumstantias requisitlas ad peccatorum
remissionem.4
Wo man so die displicentia oder contritio sufficiens bestimmte,
war es die notwendige Folge, daß man bis ins Einzelnste den
Charakter der Sünden untersuchte. So erörtert Byel mit großer
Gründlichkeit die Frage, welche circumstantiae von dem Beich-
tenden mit zu bekennen seien. 5 Dabei mußte dann die mühevolle
Unterscheidung zwischen peccata mortalia und venialia 6 und die
i) Byel, L. IV dist. 14 qu. 2 sub H.
2) Seeberg, Dogmengeschiehte 2, 186 f.
3) Altenstaig a.a.O. 289a. 1 nach Byel.
• 4) Byel. L. IV dist 14 qu. 2 sub H. — Altenstaig a. a. O. 105 a, I,
nach Byel.
5) Byel, L. IV dist. 17 qu. isub M. O. Cf. Altenstaig a.a.O. 73 b. 2 f.
6) Wie schwierig selbst dem katholischen Theologen diese Unter-
scheidung wurde, geht daraus hervor, daß Altenstaig nicht weniger als
Von Lic. theo!. H. Strathmann. 2 17
Frage nach der quantitas und qualitas der Sünde zu quälender
Gewissenserforschung führen.
Wie sehr dies alles der Schilderung Calvins entspricht, braucht
nicht ausgeführt zu werden. Hier finden wir die Züge, die beim
Magister fehlten (cf. oben p. 213 f.). Sic wird hier auch in Einzel-
heiten bestätigt. So rinden wir bei Byel1 z. 11. die von Calvin an
letzter Stelle genannte Auffassung der Schlüsselgewalt (die frei-
lich nach Op. C. I, p. 157 Anra.2 bereits auf Hugo zurückgeht);
ferner gehört Byel zu den „besonders Scharfsinnigen", die die
confessio zugleich göttlichen und menschlichen Rechts sein lassen 2
u. a. m. —
Alle die wichtigeren Züge, die Calvin in seiner Skizze der
römischen Bußlehre über den Lombarden hinaus bietet, finden
sich in der occamistischen Theologie des atisgehenden Mittelalters
wieder, als deren Zeugen wir Byel herangezogen haben. Nicht, als
ob Calvin gerade diesen benutzt hätte. Formelle Abweichungen
schließen das aus. Für die calvinische Formel contritio debita i. e.
iusta et plena z. B. bietet Byel regelmäßig displicentia oder dis-
positio debite circumstantionata, die freilich gleichen Sinnes ist.
— Aber es ist der Geist dieser Theologie, den Calvin straft.
Denn mehr als anderswo war man hier überzeugt von dem letzt-
lich ungebrochenen Vermögen des natürlichen Menschen, der aus
sich heraus sich aufrafft zur detestatio peccati ; der sich in eine
dispositio sufficiens versetzt für den Empfang der iustificatio ; es
entsprach ganz dem Sinn dieser in so hohem Maße für das mensch-
liche Vermögen interessierten Theologie, daß man mit größtem
Eifer auch die detaillierten Züge der einzelnen Sünden erforschte
und den Schmerz maß. anstatt mit beiden Augen auf die Barm-
herzigkeit Gottes zu schauen. Das raubte dem Menschen seine
Heilsgewißheit und Gott seine Ehre. Das erweckte den Eifer
Calvins. Denn etwas Höheres hatte er nicht zu verteidigen.
Wichtiger jedoch als diese Beziehungen zur katholisch-mittel-
alterlichen Theologie ist für das Verständnis Calvins die Frage,
welche Quellen positiv für die Bildung seiner eigenen Lehre maß-
gebend gewesen sind. Denn er hatte das evangelische Verständnis
des Christentum nicht mehr erst wieder zu entdecken. Es war
22 einzelne Regeln de cognitione peccati mortalis anzuführen für nöiig
hält, a. a. O. 355 b, 2 ff.
1) L. IV dist. iS qu. 1 sub e. D. — Altenstaig 75 b.
2) Cf. Hb. IV dist. 17 qu. 1.
2 i 8 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
bereits wiederentdeckt. Er hatte nur das Wiederentdeckte zu
lernen.
Als Fingerzeig zur Beantwortung der Frage kann uns die
andere dienen: Wer sind die docti quidam, die longe ante haec
tempora die von Calvin abgelehnte Auffassung der Buße vertreten
haben? Wer sind die alii, deren Unterscheidung zwischen poeni-
tentia legalis und evangelica Calvin ebenfalls zurückweist ? Beides
kann deshalb als Fingerzeig benutzt werden, weil Calvin die sach-
liche Richtigkeit der Beobachtung jener Männer ohne weiteres
zugibt und auch die Ablehnung in die anerkennendste Form
kleidet.
Könnte man hier nun zunächst an die um Faber Stapulensis
sich scharenden reformfreundlichen Kreise Frankreichs denken,
mit denen Calvin vieles verband l oder an oberdeutsche Theologen,
wie Zwingli, Bullinger, Capito u. a., so findet man die Formeln der
docti quidam viri und der alii hier doch nirgends. Man findet sie
dagegen bei Melanchthon und bei Bucer.
i) Doumergue speziell hat deren Bedeutung sehr hoch angeschlagen,
aber völlig falsch beurteilt (a. a. O. Bd. i, bes. cap. 2 0.78 ff.). Fabers be-
rühmter Evangelienkommentar erschien in Paris 1522. In diesem Werk
tritt die evangelische Erkenntnis doch sehr wenig hervor. Der G 1 a u -
bensbegriff ist durchaus katholisch. Credere und anteiligere stehen
echt scholastisch einander gegenüber. Credulitas ist die Vorstufe der
intelligentia und überragt diese in ihrem Umfang weit. Immensitas credeiv
dorum (!) ac maiestas humanam mentem opprimit (Vorrede fol. 4; — nach
einem Baseler Druck v. J. 1523 aus der Offizin Andr. Cratanders). Auch
die Rechtfertigungslehre ist katholisch. Die Iustificatio ist
sanatio; die sanitas aber ist die divinae voluntatis adimpletio (fol. 88 zu Mt.
20, 31; fol. 41 zu Mt. 11, 12 f.). Die Iustitia novae legis ist eine doppelte:
quaedam operum quam imitando Christum assequimur. Altera fidei. qua
a deo iustificamur . . . Haec charisma, illa habitus . . . Haec consummans
et perficiens; illa praeparans et incipiens (fol. 32 z. Mt. 6, 33). Die iustitia
fidei und die iustitia operum ergänzen einander. — Auch die Ethik verrät
katholische Stimmung, katholische Tendenzen. Er unterscheidet zwei
vitae: die vita activa, für die Masse. Auch diese ist fromm und gut. Und
die vita contemplativa, für wenige. Diese erwartet die copiosa merces
gratiae, quam inde (d. h. wegen ihres dein Seligpreisungen entsprechenden
Lebens) percepturi sunt, sed eo maxime, quod ipsius (d. h. Jesu) sunt imi-
tatores, qui haec omnia (was die Seligpreisungen sagen: pauper, mitis etc.)
in veritate erat (fol. 21 f. z. Mt. 5, 1 ff.; 84 z. Mt. 19, 12). — Faber vertritt
das Schriftprinzip. Aber das macht ihn nicht zum Protestanten. Occam
hatte es bekanntlich längst aufgestellt. Nur in Einzelheiten hat Faber
daraus kritische Folgerungen gezogen (cf. z. B. die Ablehnung der ponti-
ficia ligandi solvendique potestas, fol. 81 f. z. Mt. 16, 18). Sein Verständnis
des Christentums hat das Herkömmliche wesentlich nicht überschritten. — Von
Faber also konnte Calvin nicht viel lernen, jedenfalls keine irgendwie be-
deutenden Anregungen empfangen.
Von Lic. theol. H. Strathmann. 2 IQ
Die persönlichen Beziehungen zwischen Calvin und Melanch-
thon waren seit ihrem Zusammentreffen in Frankfurt im Februar
[539 recht lebhafte. Dem Bericht Calvins an FareP über diese
Begegnung merkt man die große Freude an, mit dem berühmten
Philippus gesprochen zu haben. Von Melanchthons Schriften
dürften die loci Calvin zuerst bekannt geworden sein. Später
kannte er sie jedenfalls und schätzte sie so hoch, daß er sie 1546
mit einem höchst anerkennenden Vorwort in französischer Sprache
herausgab. Der Name des Verfassers sei unter den gens de lettres
so berühmt, daß nur die französische Ausgabe des Werkes
das Vorwort Calvins dem Vorwurf der Anmaßung entziehe.2
Calvin hat aber bereits bei der ersten Ausarbeitung der In-
stitutio im Sommer 1535 die loci gekannt und gerade mit jenen
Sätzen über die docti quidam viri sich auf sie bezogen, und zwar
auf die loci in der Gestalt von 1521. Zwar wäre es der Zeit nach
nicht durchaus unmöglich, daß er die Ausgabe von 1535 bereits
benutzt hätte. Calvin schloß seine Institutio Mitte August ab.
Die Vorrede an den König Franz I. von Frankreich ist datiert
vom 23. August 1535. Die neue Ausgabe der loci iaber verließ
Ende April oder Anfang Mai die Presse.3 Sie könnte also Calvin
noch rechtzeitig zu Gesicht gekommen sein. Aber einmal würde
hierauf das longe ante haec tempora nicht passen. Sodann stim-
men die Sätze dieser Ausgabe auch inhaltlich nicht mehr zu den
Formeln der docti quidam viri. Denn es heißt dort nicht mehr,
die Buße bestehe aus mortificatio und vivificatio ; wir lesen viel-
mehr: Nos docendi causa partes duas poenitentiae facimus, con-
tritionem et fidem. Si quis vellet adderc tertiam (wie das Me-
lanchthon selbst später regelmäßig tat),4 quae tarnen effectus est,
videlicet totam novitatem vitae ac moruni, non repugno. 5 Hier
fehlen die charakteristischen Ausdrücke mortificatio und vivificatio.
Und die tertia pars fehlt bei Calvin.
Dagegen passen die Formeln der docti quidam viri bei Calvin
genau auf die loci vom Jahre 1521. Wir lesen dort folgendes6:
1) Br. v. 16. TU. 39 u. Endo März 39 u. Ende April 39 an Farel.
Herminjard V p. 247. 267. 289.
2) Opera Melanchthonis XXII p. 667. 674.
3) Mel. Br. an Lachmann vom 25. IV. 1536, Corp. Ref. 2 p. 871.
4) Ct. z.B. Corp. Ref. 23 p. 46; 24 p. 426; 25 p. 23. 61 f. u. oft.
5) Corp. Ref. XXI 10.489-
6) Ich zitiere nach der Ausgabe der Loci commune* von Plitt. in 3. A
v. Kolde. Leipzig 1900.
2 20 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
In iustificandis . . peccatoribus primum hoc opus dei est, revelare
peccatum nostrunr, confundere conscientiam etc. (p. 156). Dies
geschieht durch das Gesetz. Hie satis sit monuisse, hoc opus
legis initium esse poenitentiae . . . Iustificationem hominis . .
auspicatur mortificatio, iudicium, confusio, quae fit . . per legem
(p. 157). . . . Hie si credat afflieta conscientia promissioni gratiae
in Christo, fide resuscitatur et yivificatur (158). . . Iustificamur . .,
cum mortificati per legem resuscitamur verbo gratiae (164). Der
Abschnitt über die poenitentia faßt diese Gedanken zusammen:
Est . . poenitentia vetustatis nostrae mortificatio et renovatio
spiritus. . . Mortificatio fit per legem, ut supra dictum est. Nam
haec conscientiam terret et oeeidit. Vivificatio fit per evangelium
seu per absolutionem. . . . Ouod mortificationem nos vocamus,
scholastici contritionem voluerunt dici (p. 234). — Eben in diesem
Sinne bezeichnet die Taufe beides, mortificatio und vivificatio.
Nemo enim iustificatur, nisi qui ante mortificatus fuerit (252 f j).
Cf. auch p. 241 : poenitentiae partes duae sunt, mortificatio et vivi-
ficatio. Mortificatio fit, cum conscientia lege terretur, vivificatio,
cum per absolutionem erigeris et confirmaris.
Es sind genau dieselben Formeln, dieselben Gedanken, wie
bei den docti quidam viri Calvins. Die Übereinstimmung ist eine
vollkommene (cf. oben p. 191 f.). Alit den docti quidam viri ist
Melanchthon gemeint.
Calvin beanstandet die Formulierung, indessen nicht, ohne
seine sachliche Übereinstimmung hervorzuheben (Haec, quam-
quam omnia vera sunt etc., op. C. I, 148). Deshalb und bei der
erwähnten Hochschätzung der loci Melanchthons seitens Calvins
liegt die Annahme nahe, daß die Lektüre der loci doch nicht ohne
Einfluß auf ihn srewesen sein wird.
fe •
Die Vermutung bestätigt sich. Zum Beweise dessen führe ich
zunächst einige zum Teil mehr formelle Parallelen an, die die
Spuren der loci-Lektüre bei Calvin deutlich hervortreten lassen.
1. Calvin unterscheidet p. 56 einen doppelten Glaubensbegrifr,
rvvei fidei formae : altera est, si quis credit deum esse, historiam,
quae de Christo narratur, veram esse arbitretur. Diese fides sei
jedoch nullius momenti und verdiene den Namen nicht. Dieselben
Gedanken führt Melanchthon in dem Abschnitt de iustificatione
et fide aus: solcher Glaube sei frigida opinio, nicht fides (p. 166,
J78). Über den wahren Glauben heißt es dann
Von Lic. thi?ol. H. Str.ithm.inn. :: [
bei Calvin (p. 3 bei Mclanchton (p. 1721.
altera est, qua ... in deum cre- cor est erectum fiducia et gaudio
dimus et Christum . . . hoc est ... in deo, cum hanc unam fiduciam re-
spem omnem ac fiduciam in uno quirat deus . . . ne de bona volun-
deo ac Christo reponere hacque täte erga nos sua dubitemus, ut
cogitatione sie offirmatos esse, ut ponamus in deo spem nostram
de bona dei erga nos voluntate et non obliviscamur operum dei etc.
nihil dubitemus.
Calvin führt dann aus, daß man sich alles dessen, was uns not sei,
tum in animae, tum in corporis usus, von ihm versehen mü
Dem entspricht, was Melanchthon p. 173 über die Gut
sagt, die uns in geistlichen und leiblichen Nöten helfe. Calvin
erklärt, der Glaube erwarte alles, was uns von Gott verheißen ist
— ein bei [Melanchthon immer wiederkehrender Gedanke (cf. z. B.
p. 170, 173). Calvin erklärt: verbum . . dei objeetum est et scopus
fidei, in quem collimare debet (p. 57 oben). Melanchthon sagt im
selben Abschnitt: Quid igitur fides? Constanter assentiri omni
verbo dei. — Beide rechtfertigen den evangelischen Glaubens-
begriff an Hebr. 11, 1 (loci p. 174, Inst. p. 57).
2. Calvin sagt p. 50 über die Befreiung vom Gesetz : Multi,
cum vellent signiheare hanc a legis maledictione liberationem,
dixerunt. abrogatam esse legem fidelibus ; non quod non amplius
illis iubeat, quod rectum est, sed duntaxat ne sit illis, quod antea
erat, hoc est, ne eorum conscientias mortis nuncio confundat et
perterreat, ne damnet et perdat. — Das entspricht genau der
Meinung Melanchthons : Xecesse est . . fateri decalogum . . anti-
quatum esse. . . Est autem libertas in eo, quod ius omne legi
ereptum est aecusandi et damnandi nos (206). Abrogata lex est,
non, ut ne hat, sed ut et non facta non damnet et fieri possit
(210; cf. 213). Xec aliud est abrogatio legis, quam legi ad eum
modum ius esse ademptum per Christum, damnandi peccatores
(222). Auch für die Gläubigen kommt das Gesetz dauernd in
Betracht in mortificanda carne (220).
3. Die christliche Freiheit besteht nach Calvin darin, a) daß
man vom Fluch des Gesetzes, von der legis iustitia, frei ist ; b) daß
man das Gesetz aus innerem Antriebe erfüllt ; c) in dem freien
Gebrauch der res externae, der Adiaphora (p. 196 ff.). Genau so
besteht bei Melanchthon die Freiheit darin, a) daß das Gesetz
nicht verdammen kann, b) daß die, die in Christo sind, spiritu
trahuntur ad legem faciendam ; sie würden es tun aus innei
Antrieb, etiamsi nulla esset lex data (207 f.) ; c) die Freiheit gegen-
22 2 D'e Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
über dem res externae wird von Melanchthon nicht ausdrücklich
als drittes Stück genannt, aber in seinen Ausführungen überall
mit berücksichtigt (bes. p. 205 f., 135 ff.)- Denn mit der Freiheit
gegenüber den res externae meint auch Calvin die gegenüber den
Zeremonien (p. 198).
4. Beide bezeichnen die Taufe als sacramentum poenitentiae
(Inst. 177, loci 231 f., 234). Beide verwenden den Durchzug
Israels durchs rote Meer zur Illustration der Bedeutung der Taufe,
die in ihm „abgeschattet" ist (adumbrare ; loci p. 230, Inst. p. 112).
Beide bezeichnen die römische Bußlehre als carnificina (Inst. p. 158,
loci 138). Beide verwerten den Bericht der historia tripartita
über die Abschaffung des poenitentiarius durch Nectarius in Con-
stantinopel zur Kritik der römischen Bußlehre, zum Erweise dessen,
daß die Papisten sich nicht auf das votum der alten Kirche stützen
können (Inst. p. 155, loci p. 237 f.). Wie nach Calvin (p. 156), so
bestehen auch nach Melanchthon — abgesehen von dem not-
wendigen Bekenntnis der Sünden vor Gott, welches iuris divini
sei, zwei Formen der Privatbeichte zu Recht: primum illa, cum
privatim reconciliamus eos, quos offendimus, nach Mt. 5, 2^, worauf
auch Calvin sich beruft, und nach Jak. 5, 16, das Calvin für die
zweite Form verwertet, nämlich da,ß die, quorum conscientiae
angebantur aliqua de re, sanctos et peritos rerum spiritualium
consulerent et ab illis absolverentur. Diese letztere Form nennt
Melanchthon die kirchliche, ohne doch an kirchlich-gesetzmäßige
Regulierung zu denken (Melanchthon p. 239). — Bei der Be-
sprechung der Unterscheidung non peccata venialia und mortalia
sagt Calvin : Caeterum, fidelium peccata venialia esse,
non quia non mortem mereantur, sed quia dei misericordia
nulla est condemnatio iis qui sunt in Christo Iesu, quia non i m -
p u t a n t u r (p. 170). Bei Melanchthon lesen wir : Contra ve-
nialia peccata sunt omnia sanctorum o p e r a , nempe
quod per misericordiam dei credentibus condonentur. —
Diesen Einzelheiten ist nicht als nebensächlichste die hinzuzufügen,
daß Calvin wie Melanchthon zur Beschreibung der Buße die
Wörter mortificatio und vivificatio, wenn auch in anderem Sinne,
verwendet. Denn diese waren keineswegs eine allgemein übliche
Ausdrucksweise, wenigstens nicht in ihrer Zusammenstellung. —
Diese zahlreichen, z. T. mehr formalen, z. T. doch auch schon
tief in das materiale Verständnis des Christentums eingreifenden
Berührungen zwischen Calvin und Melanchthon, beleuchten deut-
Von Lic. theol. H. Strathmann. 22\
lieh die theologische Abhängigkeit der Institutio 1536 von den
loci 1521.
Dieses gilt, obwohl diese Berührungen nicht ausschließlich
unter dem Gesichtspunkt der Bußlehre zusammengestellt wurden,
doch auch für diese. Schon jene Berührungen stehen zu dieser
vielfach in nächster Beziehung. Gerade hier aber geht der sach-
liche Parallelismus viel weiter. Obwohl Calvin die melanchthonische
Formulierung ablehnt, so lassen sich seine Gedanken, von be-
stimmten Abweichungen abgesehen, doch fast alle aus Melanch-
thon belegen.
Wenn Calvin sagt, daß der Mensch sich die Erkenntnis seines
Sündenelends von Gott zu erbitten habe, weil er es sich nicht selbst
geben kann (p. 31), so lesen wir bei Melanchthon : peculiare dei
opus est peccati in nobis cognitio et odium (p. 104; cf. 235). Auch
nach Melanchthon vollzieht sich dieses Werk durch das positive
Gesetz als Ergänzung der lex naturalis oder der conscientia
(p. 110, inj. Die Wirkung des Gesetzes beschreibt Melanchthon
ganz wie Calvin : es soll confundere conscientias, conterere et occi-
dere conscientiam, oeeidere et damnare, ostendere radicem peccati,
aperire vim rationemque peccati ; confundere, pavefacere, terrere
(p. 151 — 157). Superbia, tumor, pertinacia des Menschen, der
meint durch Werke sich rechtfertigen zu können, müssen gebrochen
werden (p. 150). Der Gedanke, daß das Gesetz dieses deshalb er-
reichen müsse, weil es sich nicht mit den äußeren Werken begnügt,
sondern an die tiefste Sinnesrichtung des Menschen sich wendet,
begegnet uns auch bei Melanchthon auf Schritt und Tritt (cf. den
Abschnitt: vis peccati et fruetus p. 85 — 110, 120 f., 149 ff.). Es
handelt sich um die Affekte, um die affectus cordis, die puritas cor-
dis, nicht um laudabilia in speciem opera. Wie Calvin, so weist
auch Melanchthon auf Rom. 7, 14 hin: Lex spiritualis est, i. e.
exigit spiritualia, veritatem, fidem glorifkantem deum, amorem
dei (p. 153; cf. Inst. op. C. I p. 43 ob.). Dem Umstand, daß Me-
lanchthon in den loci 1521 die Entstehung der Buße nicht auch auf
die Predigt des Evangeliums zurückführt, wird um so weniger Be-
deutung zuzumessen sein, als auch Calvin dabei nicht an eine spezi-
fisch , .evangelische" Wirkung des Evangeliums dachte (cf. oben
p. 200 f.), und im Sinne Calvins auch Melanchthon später von einer
Erweckung der Buße durch die Predigt des Evangeliums ge-
sprochen hat (cf. z.B. loci 1535 Corp. Ref. XXI p. 415».
Dem, daß die Buße im Menschen durch die Gesetzesforde-
2 2i\ Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
rungen Gottes erzeugt wird, entspricht, daß Melanchthon als sub-
jektives Motiv die Furcht angibt. Und zwar bleibt diese Furcht
auch im Gläubigen wegen der dauernd ihm anhaftenden Unvoll-
kommenheit. Non potest . . a fide timor separari, fides miseri-
cordiam dei solam intuitur, timor iudicium dei et opera nostra
(p. 199). Doch bleibt die securitas des Gläubigen dadurch unge-
trübt. Beides, das dauernde Erschrecken des Gewissens, die morti-
ficatio, und den ständigen Trost des Glaubens, die vivificatio, deutet
die Taufe an, die eben deshalb signum poenitentiae heißt (p. 231).
Die calvinische deutliche Nüancierung der Furcht als Re-
spekt vor dem himmlischen Herrn tritt bei Melanchthon zurück.
Auch für das neue Leben, das er zwar selbst nicht zur Buße
rechnet, bietet Melanchthon dem Calvin verwandte Ausführungen.
Notwendig bringt es der Geist Gottes im Menschen hervor. Gott
gibt neben der gratia auch das donum in gratia, den spiritus
sanctus mit seinen fructus (p. 163). Non potest non praestari deca-
logus effuso in corda spiritu (p. 212). Auch für den Gläubigen
kommt das Gesetz noch in Betracht, freilich nicht eigentlich als
Kanon des sittlichen Handelns. Ein solcher ist nicht notwendig;
aber weil der Geist gleichsam dem Dekalog inhaltlich kongenial
ist, ist das Resultat seiner Wirksamkeit die Erfüllung des Deka-
logs. Jedoch das Gesetz dient, quatenus caro sumus, zur Er-
tötung des Fleisches (p. 220; cf. oben p. 54). Aber auch psycho-
logisch betrachtet, kann der Glaube nicht anders, als neues Leben
erzeugen : fides non potest non eflundere se, quin in omnibus crea-
turis deo cupidissime serviat ; — non potest non redamare deum ac
gestire et velut gratitudinem suam mutuo aliquo officio pro tanta
misericordia testari. — Effundit se in proximos quoque (p. 189).
Die viva fides ist nunquam non parturiens bonos foetus (p. 194).
Vermittelt ist dieses non posse durch das Gefühl der Dankbarkeit.
Den Rekurs auf den Willen Gottes als durchschlagendes Motiv
bringt Melanchthon nicht.
Auch Melanchthon hebt hervor, daß allein der Glaube zu
einem Gott wohlgefälligem Leben befähigt, weil nur der Gläubige
die Zuversicht haben kann, daß sein Tun Gott wohlgefalle (Inst,
p. 198 ob., loci 169).
Inhaltlich* ist auch bei Melanchthon das neue Leben durch die
Liebe zu Gott und zu dem Nächsten bestimmt, freilich nicht als
Gehorsam, sondern auch inhaltlich als psychologischer Reflex der
Von Lic. thcol. H. Slrathmann. 2 25
Gottesliebe (p. 189). Der Gesichtspunkt der ßhre Gottes Eehlt fast
völlig.
Schließlich lehnt Melanchthon wie Calvin a limine den Ge-
danken ab, daß dem menschlichen Verhalten — auch seinem Sün-
denschmerze nicht — irgendwie eine kausale Bedeutung für die
Erlangung der Vergebung zukomme. Soli fidei wird die iustificatio
gegeben. Est enim credere nullo ullorum operum respectu fidere
divina misericordia (p. 184). Ouaqua te verteris, sive ad opera
praecedentia iustificationem, sive ad ea quae sequuntur iustifica-
tionem, nullus nostro merito locus est (p. 185). Nee dolore tuo
fidas, quasi ideo condonetur peccatum, quod doleat, sed potius . .
absolutione et verbo dei (235). Der Glaube, die Heilsgewißheit
schließt jeden Gedanken an die eigenen Werke aus (p. 164 ff. ;
cf. 169). Aber weil das neue Leben notwendig dem Glauben folgt,
deshalb werden auch von Melanchthon die „Werke" als indicia,
testimonia, signa des Geistbesitzes und somit des Gnadenstandes
gewertet (p. 189). —
So finden wir in den Grundzügen des fraglichen Gedanken-
komplexes einen völligen Parallelismus zwischen Calvin und Me-
lanchthon.
Da nun die zuerst angeführten nahen und auffälligen Be-
rührungen zwischen der Institutio von 1536 und den Loci von 1521
beweisen, daß Calvin damals die Loci gekannt und bei der Ab-
fassung seines Buches benutzt hat, auch bereits beweisen, daß er
an wichtigen Punkten (Glaubensbegriff, Abschaffung des Gesetzes,
christliche Freiheit) sachlich von den Loci abhängig ist, so ist auch
der weitgehende Parallelismus in den um die Lehre von der Buße
sich gruppierenden Gedanken auf diese Weise zu erklären ; und
zwar, obwohl Melanchthon in jenen Ausführungen nur der Dol-
metsch lutherscher Gedanken ist : Die religiöse Grundauffassung
Luthers ist Calvin wesentlich mit durch Melanchthons Loci von
1521 vermittelt worden. —
Natürlich ist die Abhängigkeit keine sklavische. Calvin ist
kein Nachbeter. Das zeigen bestimmte Unterschiede, die deutlich
hervortreten.
Ein solcher Unterschied zeigt sich zunächst in der Auf-
fassung des Bekehrungserlebnisses. Melanchthon
verweilt mehrfach bei der Möglichkeit, daß der Mensch längere
Zeit der niederschmetternden Wirkung des Gesetzes ganz über-
lassen bleibt. Er beschreibt die Empfindung des Menschen, der
Calvinstudien. '5
2 2Ö D'e Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
vom Gesetz zerbrochen wird, ohne noch die Gnade erkannt zu
haben, als odium dei (p. 202, Th. XVIII ; cf. p. 168 f.). Ein solcher
Mensch zürnt dem Urteil Gottes, weil er getan hat, was er
konnte, und doch den Forderungen des Gesetzes nicht gerecht zu
werden vermochte. In diesem odium dei bleibt er so lange be^
fangen, bis er lernt promissionem misericordiae dei contemplari
(p. 169). — Calvin rechnet mit einem solchen Zustand nicht. Er
rechnet nicht damit, da« die, die sich bekehren, Gott vorher lange
nur als ultor und iudex kennen. Er erwähnt nur, daß dieser Zu-
stand bei denen vorkomme, welche schon jetzt im Vorhof der
Hölle sind (p. 148 Mitte). Eine längere Dauer des conteri lege vor
dem erigi gratia nimmt er also nicht an. —
Sodann zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der begriff-
lichen Formulierung (cf. oben p. 210 f.).
Worin liegt die Bedeutung dieses Unterschiedes?
Obwohl Calvin den Begriff der poenitentia auch auf die ter-
rores conscientiae unter dem Gesichtspunkt der Vorbereitung des
Glaubens anwendet und insofern die rein religiöse Orientierung
des Begriffs nicht fehlt, so tritt doch in der Ausschaltung der fides
aus dem Begriff der poenitentia das Bemühen hervor, das Gebiet
des Religiösen und des Sittlichen begrifflich schärfer zu trennen.
Das ist zwar insofern noch nicht völlig gelungen, als jene Ge-
wissenserschütterung noch mit zur poenitentia gerechnet wird.
Darin zeigt sich eine Nachwirkung der melanchthonschen Formu-
lierung. Indessen wird doch die positive Seite der poenitentia, die
Erneuerung, rein auf das Sittliche bezogen. — Diese Beziehung
der poenitentia auf das Sittliche hat nun Melanchthon natürlich
nicht ausschalten wollen. Er denkt bei der mortificatio — obwohl
er zumeist (z. B. i m m e r in p. 231 — 36) nur die Erschütterung des
Gewissens im Auge hat — doch gelegentlich auch an die Ab-
tötung der sündlichen Triebe (z. B. p. 190, 220). Darin deutet sich
bereits seine spätere Dreiteilung der Buße in contritio. fides und
nova oboedientia an. Doch ist eben zu beachten, daß Melanchthon
weder hier noch dort sich um eine klare begriffliche Unterschei-
dung des Sittlichen vom Religiösen bemüht hat, während bei Cal-
vin beides schon 1536 deutlicher auseinandertritt.
Die schärfere begriffliche Trennung beider Gebiete bei Calvin
kommt auch darin zum Ausdruck, daß bei ihm die iustificatro
immer rein forensisch-imputativ gefaßt wird. Zwar war auch für
Melanchthon schon 1521 in der Auffassung dieses Begriffs die
Von Lic. theol. H. Strath mann. 22 7
Vergebung" durchaus das Primäre (p. loi, [64 f., [68, [84; bes. 23 j :
est enim iustificationis principium peccati cognitio et iudicii
divini metus, consummatio fides et pax conscientiae). Jedoch hat
Melanchthon solche Formulierungen nicht vermieden, die die
..effektive'' Auffassung nahelegten oder mindestens mit der foren-
sischen verbanden (p. 184: coepta enim iustificatio est, nondum con-
summata, weil nämlich auch die Werke der Gerechtfertigten im-
pura sind. p. 210: iustificari hie coepimus, non absolvimus). Diese
Unklarheit ist bei Calvin verschwunden. Deshalb erscheinen bei
ihm die Rechtfertigung und das neue Leben als zwei von ( !
einander nebengeordnete Gnadengaben, die zwar nicht vonein-
ander zu trennen, aber doch genau zu unterscheiden sind (cf. oben
p. 209). Nun unterscheidet zwar auch .Melanchthon von der gratia
das donum in gratia, nämlich den Geist mit seinen Früchten. Aber
eine klare Lehre hat er dadurch nicht erreicht. Denn er nennt als
Frucht des Geistes nicht nur Caritas und spes, sondern auch die
fides. die doch schon in der Yoranstellung der gratia vorausgesetzt
war (p. 163).
Wo es sich deshalb um die psychologische Ver-
k n ü p f u n g beider Gaben handelt, benutzt zwar auch e r den
nächstliegenden Begriff der Dankbarkeit. Aber stärker betont er,
daß die fruetus, die auch inhaltlich von innen heraus, nicht erst
durch die Gebote, bestimmt sind, gleichsam triebhaft aus dem
Glauben hervorbrechen. Calvin dagegen widmet der psycholo-
gischen Verknüpfung große Aufmerksamkeit. Das neue Leben
entfaltet sich, obwohl unbedingt notwendig, doch nicht triebhaft,
sondern durch Gründe bestimmt. Und weil Calvin nicht einsieht,
wie auch der Christ aus sich inhaltlich das Gute sollte finden
können,1 so spielt bei ihm die Rücksicht auf den göttlichen Herrn,
der allein bestimmt, was gut ist, eine große Rolle. Seine Ethik ist
positivistisch ; Sittlichkeit ist Gehorsam. —
Die schärfere begriffliche Trennung des Sittlichen und Reli-
giösen ermöglicht denn auch eine viel intensivere Betonung der
sittlichen Forderung, ohne daß der Rechtfertigungsgedanke da-
durch irgendwie gefährdet würde. Denn die Rechtfertigung war
ja im voraus völlig sichergestellt. Die Ansätze zu dieser
1) Für das Zutrauen, das Gute aus sich ermitteln zu können, ist
charakteristisch, daß Mel. wagte, Grundzüge eines Naturrechts, einer
natürlichen Sittlichkeit zu entwerfen, wenn er dabei auch teilweise auf die
Schrift zurückgreift (p. 110 — 115). Calvin lag dergleichen völlig fern.
IS*
2 2 8 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
stärkeren Hervorkehrung der sittlichen Forderung treten in der
Institutio von 1536 schon darin deutlich zutage, daß Calvin klar
den tertius usus legis lehrt, der sich bei Melanchthon erst in den
loci von 1535 findet.
Schließlich tritt auch in der inhaltlichen Bestimmung
des neuen Lebens ein Unterschied hervor, insofern bei Calvin die
Beziehung auf die gloria dei das schlechthin Maßgebende ist.
Man dient der gloria dei durch Gehorsam. Die Liebe zum Näch-
sten wird nur deshalb gefordert, weil sie von Gott geboten ist.
Ihre Verbindung mit dem Dienste Gottes ist nur eine formale. —
Bei Melanchthon erwächst aus der freien Liebe Gottes unmittel-
bar die freie Liebe zum Nächsten : ex amore dei nascitur et proximi
amor, cum deo simul in omnibus creaturis servire cupimus (p. 243).
Unmittelbar ist in der Gottesliebe die Nächstenliebe enthalten.
Auch begrifflich lassen sich beide eigentlich nicht trennen.
Diese Nuance ist nicht gleichgültig. In ihr liegen die Keime
eines praktisch verschiedenen Verhaltens. Die ständige unmittel-
bare Beziehung auf die gloria dei ermöglicht gegenüber der näch-
sten menschlichen Umgebung ein größeres Freiheits- und Selb-
ständigkeitsbewußtsein, eventuell auch größere Rücksichtslosigkeit
und Schroffheit, als sie dort sich finden konnten, wo die Gottes-
liebe inhaltlich alsbald durch die Nächstenliebe in weitem Maße
bestimmt wurde. —
Wie lassen diese Eigentümlichkeiten Calvins sich erklären?
Nicht durch ein Zurückgreifen auf Luther, ganz abgesehen
davon, daß Luther es ist, der in den loci Melanchthons redet.
Daß Calvin schon damals Luthersche Schriften kannte, ist
freilich unzweifelhaft. Dies ergibt sich zwar nicht aus der Rede
des Rektors der Pariser Universität, Cop, des Freundes Calvins,
vom Allerheiligentage 1533. Denn Calvin hat mit dieser Rede
nichts zu tun.1
Jedoch hat er den kleinen Katechismus Luthers bei der Ab-
fassung der Institutio v. J. 1536 gekannt und benutzt. Luther
berührt die Buße hier (wie auch im Großen Katechismus) nur ganz
kurz, gelegentlich der Taufe. Was Calvin bei der Taufe über die
Buße als die sittliche Umgestaltung im Christenleben sagt, ist
hierdurch bestimmt. — Von den übrigen Schriften Luthers dürfte
Calvin am ehesten de captivitate kennen gelernt haben. Deren
1) Lang, Die Bekehrung Joh. Calvins. 1897. St. z. G. d. Th. u. K. 2, r
p. I — 57 und K.Müller, Calvins Bekehrung p. 224 ff.
Von Lic. theol. H. Strathmann.
2 2')
Eingangssatz: „Velim nolim cogunt me adversarii in dies fieri
doctiorem" hat er mehrfach zitiert, zuerst 1543 in der Schrift über
den freien Willen gegen Pighius.1 Schwerlich hat er sie erst damals
kennen gelernt. De captivitate war die am schnellsten und weite-
sten verbreitete Schrift Luthers.- Doch läßt sich die Bekannt-
schaft Calvins mit dieser Schrift für das Jahr 1535 nicht direkt
beweisen.
Was Calvin über die Buße sagt, zeigt jedenfalls keine Beein-
flussung, von dieser Seite. Denn Luther hebt hier aufs stärkste
hervor, daß die Buße in jedem Sinne schlechterdings des Glaubens
Werk sei. Aus dem Glauben zugleich an die Wahrheit der
göttlichen Drohung und V erheißung folgt die contritio gleich-
zeitig mit der consolatio.3
Das ist nun nicht etwa eine vereinzelte Äußerung Luthers.
Vielmehr zeigt sich hierin die ganze Tiefe seiner Auffassung.
Das Gesetz mit seinem Drohen vermag nämlich wohl Furcht vor
der Strafe, nie aber Haß gegen die Sünde, nie die mutatio affectus
— auf die doch alles ankommt — zu erzeugen. Das Gesetz
allein führt zur Heuchelei oder zur Verzweiflung. Der Haß
gegen die Sünde entsteht nur aus dem amor iustitiae ; dieser
kommt nicht aus der Furcht vor Strafe ; er entsteht nur. wenn dem
durch Gesetz und Gerichtsdrohung Erschütterten sich zugleich
der Ausblick auf die göttliche Gnade öffnet. Der amor iustitiae
ist nicht nur Produkt einer jenseits unseres Bewußtseins sich voll-
ziehenden Gnadenwirkung, sondern er setzt auch empirisch das,
wenn auch nur anfangsweise, Ergreifen der Gnade im Glauben
voraus. Ohne diesen Ausblick auf die Gnade erzeugt das Gesetz
alsbald Haß Gottes. Dieser Gedanke spielt bei Luther eine noch
viel größere Rolle als bei Melanchthon. Weil das Gesetz allein
Haß Gottes erzeugt und nicht imstande ist, den Menschen wirklich
im Innersten zu beugen und zu gewinnen, weil dieses vielmehr
erst durch die Gnade erreicht wird, deshalb setzt die wahre Reue
nicht nur die fides minarum, sondern auch die fides promissionis
voraus.4
1) Op. C. VI p. 241: aus späterer Zeit op. C. IX 453 f., 552.
2) Charakteristisch ist dafür, was Glareanus am 4. Juli 1521 aus Paris
an Zwingli schreibt: Ego sane Lutheri fere nulla habeo, excepta una cap-
tivitate babylonica. Diese habe er von Anfang bis zu Ende dreimal durch-
gelesen, magna admiratione (Herminjard I p. 70 f.). — Cf. Lang, Deutsch-
evang. Blätter 21, p. 323.
3) De captivitate etc. W. A. VI p. 545.
4) Cf. Loofs. D. G. 4- A. p. 718 ff. Seeberg, D. G. II 220 t".
2 7. 0 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Noch viel deutlicher als bei Melanchthon tritt hier bei Luther
der Unterschied von Calvin in der Auffassung des Bekehrungs-
prozesses hervor.
Auch in den anderen Punkten erklären sich die Abweichungen
Calvins von Melanchthon nicht durch das Zurückgreifen auf Luther.
Eine klare begriffliche Unterscheidung des Sittlichen und Reli-
giösen findet man bei ihm nicht mehr als bei Melanchthon. Er
war kein Mann der begrifflichen Distinktionen. Sein Sprach-
gebrauch in betreff des Wortes poenitentia war nichts weniger als
konstant.1 Er vertrat nicht die rein forensisch-imputative Recht-
fertigungslehre.2 Das neue Leben ergibt sich unmittelbar, spontan
aus dem Glauben, auch inhaltlich.* Den tertius usus legis hat
Luther nie gelehrt.4 Daß man der gloria dei diene, ist für ihn so
wenig wie für Melanchthon der charakteristische Ausdruck zur
Bezeichnung des Inhalts des neuen Lebens.5
Nun ist neuerdings mehrfach — und es ist mit steigendem
Nachdruck geschehen — auf die Bedeutung hingewiesen worden,
die Bucer gerade auch für die Entwicklung des Luther und Me-
lanchthon gegenüber Eigentümlichen in der theologischen Kon-
zeption Calvins gehabt habe.6
Die Annahme eines derartigen Einflusses wird von vornherein
begünstigt durch die Tatsache, daß Bucer zu den reformfreund-
lichen Kreisen Frankreichs lebhafte persönliche, briefliche und
literarische Beziehungen unterhielt.7 Seit spätestens 1531 stand
1) Luther hat sowohl auf die durch das Gesetz bewirkte Gewissens-
erschütterung des noch nicht Bekehrten, wie auf die Reue zusammen mit
der fides, wie auf das aus dem Glauben entspringende neue Leben den
Ausdruck poenit. angewandt: cf. Seeberg, D. G. II 229 — 233. — ib. p.
224 Anm. 3. — Loofs, D. G. * 717.
2) Köstlin, Luthers Theologie 2. Aufl. II 174 ff- Seeberg, a.a.O.
214, 244 ff. Loofs, D. G. 4. A. p. 763 ff.
3) Seeberg a. a. O. p. 232 ob.; 242 f. Loofs a. a. O. 764. Köstlin a.a, O.
P 204.
4) Loofs a. a O. 777. Seeberg a. a. O. 242 ff.
5) Cf. Köstlin a.a.O. p. 204, 208, 290 f., 293, 301—303.
6)Köstlin, St. u. Kr. v. 1868, p. 428 f. — Usteri, St. u. Kr. v. 1884, p. 419.
— Scheibe, Calvins Prädestinationslehre. Halle 1897, p. 17 ff. u. 69 ff. —
Besonders Lang, Der Evangelienkomm. M. Bucers und die Grundzüge
seiner Theologie. St. z. G. d. Th. u. K. 1900. Heft 2.
7) Zur Illustration diene das Folgende: Lefevre u. Roussel fanden
1525, aus Paris flüchtig, bei Bucer u. Capito Aufnahme (K. Müller. Die
Bekehrung Calvins p. 195). Vorher bereits war Lambert v. Avignon in
Straßburg eingekehrt (Lang p. 21). 1534 wandte sich der flüchtige Rektor
der Pariser Universität, Cop, nach Straßburg (Müller p. 246). — Zu den
Von Lic. theo!. H. Strathmann.
231
Calvin diesen Kreisen nahe (ct. unten p. 81 ff.). — Sic wird ferner
begünstigt dadurch, daß ein junger Franzose, der sich 1528 aus
Noyon nach Straßburg in Bucers Schule begab, wahrscheinlich
Calvins Vetter Olivetan war.1 Hat Calvin trotzdem vor seiner
Übersiedelung nach Deutschland noch nicht mit Schriften Bucers
Bekanntschaft gemacht, so war der Aufenthalt in Straßburg \ er-
anlassung genug, sich in den Werken des produktiven Straßburger
Reformators umzusehen. In Frage kamen vor allem dessen
beiden Hauptwerke, der Psalmen- und der Evangelienkommentar.
Aus dem Brief Calvins an Bucer vom 12. Januar 1538 2 geht her-
vor, daß Calvin den Psalmenkommentar damals kannte. Vom
Evangelien kommentar schreibt Calvin 1555 im Argumentum
zu seinem Synoptikerkommentar: Buccrum praesertim, sanetae
memoriae virum et eximium ecclesiae dei doctorem, sum imitatus,
qui prae aliis non poenitendam hac in re operam meo iudicio
navavit — wie sich denn Calvin überhaupt häufig höchst aner-
kennend über Bucer geäußert hat.3 — Aber er hat den Kommen-
tar4 bereits 1535 gekannt und auf ihn bezieht er sich, wenn er von
'brieflichen; Beziehungen cf. die Briefe v. Joh. Sturm in Paris an
Bucer (Herminjard III p. J2, 93, 271, 362). — Literarisch suchte
B. die französische Reformbewegung zu fördern: Um sie den fratres dis-
persi per Gallias zugänglich zu machen, übersetzte er 1524 Luthers Aus-
legung zu den Briefen Petri und Judä, 1525 Luthers Kirchenpostille ins
Lateinische (Herminjard I 318 f. Lang p. 12 und 22). Bucers Synoptiker-
kommentar sollte unter anderen den rudioribus fratribus apud Gallos dienen
(Vorrede, abgedruckt bei Lang p. 380). 1529 widmet er gar unter dem
Pseudonym Aretius Felinus seinen Psalmenkommentar dem Dauphin.
1) Cf. Bucers Brief an Farel vom 1. 5. 1528: Herminjard 2, 131 ff.;
cf. 3, 41 ff (44 Anm. 20). — Dazu K. Müller a. a. O. p. 205 f. Doumergue
a.a.O. I 117 f. Der Brief Calvins an Bucer, der vom 4. Sept. . . . aus
Noyon datiert ist, ist nicht 1532 (op. C. X b 22) oder 1534 (Herminj. 3, 201 ff.,
204 Anm. 11), sondern wahrscheinlich erst 1538 geschrieben (cf. K. Müller
a. a. O. p. 245 — 253). Daher ist die Annahme der Bekanntschaft Calvins
mit Bucerschen Schriften vor seiner Übersiedelung nach Deutschland nur
eine Annahme.
2) Herminjard 4, 338 ff. p. 347.
3) Eine Reihe solcher Urteile hat Lang zusammengestellt: a.a.O.
p. 91.
4) Ich zitiere nach der Ausgabe von 1527, die sich in der Bonner
Universitätsbibliothek findet. Calvin hat jedoch die Ausgabe von 1530 be-
nutzt. Denn in dem erwähnten Briefe vom 12. I. 38. in dem er dem Bucer
die Mängel seines theologischen Standpunktes vorhält, speziell in der
Rechtfertigungslehre, beginnt er nicht mit dem Evangelienkommentar
(1527), sondern mit dem Psalmenkommentar (1529). Alles, was er seitdem
herausgegeben, habe aliquid faecis admixtum. Die Rechtfertigungslehre
des Evangelienkommentars ist aber genau dieselbe wie die des Psalmen-
2X2 Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
den alii spricht, die gesetzliche und evangelische Buße einander-
gegenüberstellen.
Unter den loci communes, die laut Titel Bucer der exegetischen
Erörterung eingestreut hat, befindet sich auch ein solcher de poeni-
tentia legali et evangelica (fol. 108 a — noa).
In dem Abschnitt über den Beginn der Predigttätigkeit Jesu
erinnert er zunächst an die Bußpredigt des Täufers. Mit ihren
zwei Polen enthielt sie die summa des Evangeliums. Der Täufer
deutete durch die Büß f orderung an, daß das Reich nur für die da
sei, qui sibi displicent et peccatores sese agnoscunt. — Das fiETavoeiTe,
so heißt es dann, entspreche dem prophetischen ^miä oder irrtzrri
i. e. convertimini, vel magis proprie resipiscite, redite in viam. Es
entspreche dagegen nicht dem behräischen ans, das ein poenitere
cum dolore bedeute: Jud. 21, 6. 15; Gen. 6, 6; 1. Sam. 15, II.
Christus aber fordere hier eine resipiscentia . . 11011 tarn . . cum
dolore peccatorum quae commissa erant, quam cum ingenti gaudio
ob gratiam, quae ultro offerebatur. Die Ankündigung des regnum
gratiae soll die causa sein für das resipiscere, das in viam redire,
das studia prava relinquere. Die wieder erwachte väterliche Liebe
lockt die verstoßenen Söhne zurück. Der Sinn von cn: würde der
Aufforderung Jesu die Bedeutung geben, als ob er zu einem Ge-
fangenen spräche : dole, discrucia te ipsum, quod tanta flagitia ad-
miseris. Advenit enim tempus, ut libereris. Vielmehr soll die
Freude über die Gnade den Schmerz über die Sünde absorbieren.
Der verlorene Sohn konnte nichts als gaudere et exultare, licet
plurimum illi sua commissa displicerent, ac prorsus in viam redire
vereque resipiscere cogitaret. Die poenitentia, u. z. die poeni-
tentia evangelica, ist demnach resipiscentia mundique ac
sui ipsius abnegatio amore domini et servatoris nostri Iesu Christi
ac oblatae gratiae delectatione gaudioque concepta. — Es gibt
aber auch eine poenitentia legalis, wie bei den Niniviten
und Manasse, qui nimirum ob commissa sua et i r a m d e i , propter
kommentars. — Jedoch unterscheidet sich die Ausgabe des Evangelien-
kommentars von 1530 von der des Jahres 1527 in dem uns hier beschäf-
tigenden Passus über die Buße, von wenigen völlig belanglosen Kleinig-
keiten abgesehen, nur in der Milderung der Polemik gegen die katholischen
Theologen: sie heißen jetzt nicht mehr sophistae, sondern recentiores qui-
dam; ihre Äußerungen waren früher fere nihil nisi nugae; jetzt sind sie
cum iudicio legenda. Früher kannten sie Christus überhaupt nicht. Jetzt
„scheint" Christi gloria plerisque illorum haud probe cognita fuisse
(Blatt 35).
Von Lic. theol. II. Stxathmann, 2 ) ]
illa ipsis imminentem, animo plurimun discruciabantur. Diese
empfanden auch die Juden Act. 2 auf Grund der Predigt Petri, als
sie compuncti corde zu ihm sprachen: Quid faciemus viri fratres?
Obwohl sie schon Buße empfanden, ermahnt Petrus sie nun doch
noch zur Buße; aber jenes war poenitentia legalis; hier handelt
es sich um poenitentia evangelica, d. h. spe salutis suscepta resi-
piscentia. Diese vitam cum hilaritate emendabat. Denn sie ist
nichts als die vitae innovatio, quam amore tarn propitii dei factae-
que gratiae exultatione sibi Christo iam credentes proponunt ad
eamque sese usque exercent. Die poenitentia legalis entspricht
der katholischen contritio ; die poenitentia evangelica der satis-
factio, die recht verstanden resipiscentia, vitae emendatio, Studium
sanctimoniae ist. —
Est ergo poenitentia legalis sive animi contritio,
odium et cum animi dolore ac compunctione detestatio, quae coori-
tur simulatque cognita lege dei peccatorum quoque agnita fuerit
abominatio. Et est i m p i i s cum p i i s c o m m unis, denn
auch Judas empfand sie. Evangelica autem poenitentia
est accepta gratia peccatorum per fidem in Christum, perpetuum
mortificandae carnis vitaeque ad voluntatem domini formandae
Studium, sed alacre, irremissaque sed lubens meditatio . . . Coori-
tur mox atque Christus fuerit cognitus und ist nur Sache der
Gläubigen. —
Entsprechen die Ausführungen Bucers dem, was Calvin über
die alii sagt?
Calvin sagt von der poenitentia legalis : qua peccator peccaü
cauterio vulneratus et terrore irae dei attritus in ea pertur-
batione constrictus haeret nee sc explicere potest ; sie ist ein
peccati sui gravitate agnita iram dei timere. — Diese Beschreibung
entspricht zwar nicht formell, wohl aber sachlich derjenigen Bucers.
Während jedoch nach diesem die poenitentia legalis sowohl bei
den pii (vor der Heilserkenntnis) wie bei den impii vorkommt, ge-
winnt man aus Calvin den Eindruck, sie komme nur bei denen vor,
deren definitives Verderben bereits besiegelt ist (cf. ob. p. 192.)
Nach dem Referat Calvins besteht die poenitentia evangelica
darin, daß der erschrockene Sünder altius tarnen emergit et
Christum vulneris sui medicinam, terroris consolationem, miseriae
portum apprehendit. Sie ist bei denen, qui peccati aculeo apud se
exuleerati, fiducia autem misericordiae dei erecti et recreati ad
dominium conversi sunt (oben p. 192). — Es fehlen charakteristische
2XA Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Ausdrücke Bucers : ingens gaudium, oblatae gratiae gaudium,
efusissima bonitas, mundi ac sui ipsius abnegatio u. a. m. — Vor
allem aber ist nach Bucer die poenitentia evangelica nicht das Er-
schrecken, das in der Tröstung des Glaubens zur Ruhe kommt,
sondern die auf Grund des Glaubenstrostes in voller Freude sich
vollziehende Lebenserneuerung.
Von den Beispielen Calvins für die poenitentia legalis
(Kam, Saul, Judas) findet sich bei Bucer nur Judas, daneben aber
die Niniviten, Manasse, die Juden Act. 2. Nach Calvin sind die
Niniviten gar ein Beispiel für die poenitentia evangelica. — Von
den Beispielen Calvins für die poenitentia evangelica (Ezechias,
Niniviten, David, Petrus, Juden Act. 2) benutzt Bucer nur die
Juden Act. 2; außerdem den verlorenen Sohn. —
Daß der Parallelismus zwischen den beiderseitigen Schilde-
rungen übermäßig groß wäre, kann man demnach nicht behaupten. Er
beschränkt sich in der Hauptsache fast auf die Formeln poenitentia
legalis und evangelica.
Trotzdem hat Calvin Bucer gemeint.
Das zeigen eben zunächst diese sonst nirgends gebrauchten
Begriffe.1
Weiter Calvins eigene Beschreibung der Buße.
Bucer bezeichnet das Täuferwort Mt. 3, 2 als s u m m a
totius praedicationis evangelicae (Bl. 45 a, 107 b). — Bei
Calvin lesen wir : tota autem e v a 11 g e 1 i i summa duabus
istis capitibus constat, poenitentia et peccatorum remissione, u. z.
ebenfalls im Anschluß an das Täuferwort Mt. 3, 2 (op. C. I p. 149).
Nach Bucer sagt Johannes durch die Bußforderung, daß das
Reich nur für die da sei, qui sibi displicent et peccatores
sese agnoscunt. Nach Calvin ermahnt er dadurch, ut s e
peccatores agnoscerent suaque omnia coram deo
damnata.
Bucer zieht das prophetische ?nffl,!)aiö ^ zur Erklärung des
fieiavoelv heran und umschreibt die poenitentia unter anderem
durch converti, resipiscere (siebenmal), in viam redire (dreimal),
reverti, vitae innovatio, carnis ac peccatorum mortificatio. — Auch
Calvin geht bei der Beschreibung der Buße aus von der prophe-
tischen Bußpredigt. Die genannten Wendungen kehren sämtlich
1) Luther, bei dem man sie am ehesten erwarten könnte, gebraucht
sie nie (cf. Lipsius, Luthers Lehre v. d. Buße p. 102). — Nicht einmal bei
Agrikola finden sie sich, soweit das aus Kawerau (J. Agrikola, Berlin 1881)
erkennbar ist.
Von Lic theol. II. Strathmann. 235
bei ihm wieder: für in viam redire sagt er in viam se reeipere; das
,.;ic peccatofüm" in der letzten Wendung läßt er ans oder ersetzt es
durch veteris hominis.
B u c e r sagt, die poenitentia sei p e r p e t u u m mortifi-
camlae carnis . . . Studium . . irremissaque . . m e d i -
t a t i o. Calvin: Dicebat Plato, vitam philosophi m e d i t a -
tionem esse mortis. Verius nobis dicere licet, vitam christiani
hominis, p e r p e t u u m esse s t u d i u m et exercitationem m o r -
tificandae carnis. — Das Wort meditatio, das er bei Bucer
fand, hat in ihm die Erinnerung an den platonischen Satz ausgelöst.
Bucer zieht zur Beschreibung der Buße aus dem X. T. die
Predigt des Taufers, die Predigt Jesu und Luk. 24, 46 heran (von
den Beispielen abgesehen). Dieselben drei Stellen, und nur sie,
benutzt auch Calvin. —
Es unterliegt demnach keinem Zweifel, daß Calvin Bucers
Kommentar in jenem Zusammenhang benutzt hat.
Freilich hat er Bucers Ansicht sehr ungenau wiedergegeben.
Einigermaßen mag dies dadurch entschuldigt werden, daß doch
auch Bucer schließlich als typisches Beispiel der poenitentia legalis
den Judas verwandt hatte. Auch wird Calvin den Text aus dem
Gedächtnis reproduziert haben.
Hat mithin Calvin Bucers Kommentar benutzt — erklären sich
dann vielleicht hieraus die Besonderheiten seiner Anschauung?
1. Xach Bucer erleben zw^ar auch die pii die poenitentia legalis.
Dennoch reflektiert auch er nicht über Zustände lang andauernder
Gewissensangst. Er bietet keine Ausführungen, die den Sätzen
Luthers entsprächen über das odium dei bei isolierter Gesetzes-
wirkung. Sein Interesse haftet überhaupt nicht an den p sycho-
logischen Vorgängen der Bekehrung.1 Doch ist es nicht nur
das. Die sachliche Auffassung ist auch eine andere. Was ihn zu
Christus treibt, ist weniger das Gefühl der Schuld, als das der Ohn-
macht. Jenes fehlt nicht (cf. fol. 105 — 108, 156 a). Aber dieses
überwiegt durchaus. Das Gesetz zeigt dem Menschen vor allem
sein Unvermögen, sich den Fesseln der Sünde zu entziehen, damit
er sich dann von Gott Kraft zu einem gerechten Leben erbitte.2
1) Of. Lang a.a.O. p, 117, 191. 205.
2) Fol. 156; cf. Lang a.a.O. p. 114. 116. — Aber selbst in d
Sinne wird die Notwendig k e i t der Gesetzeswirkung nicht hervor-
gehoben. Überhaupt hat der Gedanke der Alleinwirksamkeit Gottes
Bucers Interesse für die geschichtlichen Vermittelungen objektiver und
subjektiver Art geschwächt. Der Geist ist nicht an sie gebunden. Lang
p. 122, 164. 172.
Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
Bei der Frage der christlichen Freiheit gegenüber dem Gesetz ist
nicht die Rede von der Freiheit von dem Verdammungsurteil des
Gesetzes (Bl. 154 — 157). — Bei Calvin wird durch das den Glauben
vorbereitende Gesetz dem Menschen vor allem seine Schuld zum
Bewußtsein gebracht.
2. Bei Bucer tritt, wie schon die eben gestreiften Gedanken
beweisen, ein starkes ethisches Interesse hervor.1 Von diesem
zeugen auch seine Aussagen über die „evangelische Buße". Von
ihm hat Calvin die Beziehung der Buße auf das neue sittliche Leben,
so weit sie ihm nicht — bei der Beschreibung der Taufe — durch
Luthers Katechismus nahe gelegt war. Jedoch ist von einer klaren
Unterscheidung des Sittlichen und Religiösen bei ihm keine Rede.
Schon in der Beschreibung der poenitentia evangelica sind Aus-
sagen über die fides verwoben (bes. fol. 108 b). Vor allem aber
tritt das in der Rechtfertigungslehre hervor. Sah Bucer das Elend
des Unerlösten viel weniger in der Schuldverhaftung als in der
Unfähigkeit zum Guten, so mußte ihn im Stande des Erlösten natur-
gemäß besonders die sittliche Erneuerung interessieren. Dieses
Interesse bestimmte seine Rechtfertigungslehre. Hier vertritt er
die effektive Fassung.
Wie wenig Calvin mit dieser einverstanden war, zeigt sein
Brief vom 12. Januar 1538 an Bucer (cf. oben p. 231 Anm. 2). In
diesem Briefe macht Calvin Bucer bei aller Freundschaft Vorhal-
tungen über die Zweideutigkeit und Halbheit seiner Theologie, die
an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen : ubique videris
velle inter Christum et papam partiri medium quoddam regnum.
Dies gilt besonders von dem Psalmenkommentar von 1529. Es ist
unerträglich, quod fidei iustificationem a fundamentis evertebas.
Rem esse indignissimam, a tali evangelii praecone evangelium tot
involucris obscurari. Ouidquid postea edidisti, aliquid faecis ad-
mixtum habet. — Die Entrüstung Calvins über die Rechtfertigungs-
lehre des Psalmenkommentars ist in der Tat begreiflich. Denn
Bucer vertritt hier eine rein effektive Fassung: vera iustificatio
quid aliud est, quam bonis operibus ornari?2 Im Evangelien-
1) Daß ein solches zu beobachten ist, betont auch Lang wiederholt:
a.a.O. z. B. p. 110, 150 f., 205.
2) Psalmorum libr. V . . versi et . . elucidati per Aretium Felinum.
„Lugduni" 1529 Bl. 28 a. — Weil wir sola fide deum rite cognoscimus et ad
amandum eum rapimur, ita . . sola fide veram iustitiam et virtutes uni-
versas, quia ipsius dilectionem omnium parentem, consequimur . . iustitia
nostra nihil aliud est, quam omnium bonorum operum genere esse in-
stitutos (ibid.). Cf. auch Bl. 9 a, 27 a.
Von Lic. theol. H. Str.ithminn. 237
kommentar aber zeigte Bucer genau die gleiche Auffassung.
Besonders deutlich Blatt 156a und b: Bevor wir das Gesetz
erfüllen kennen, ist es nötig, daß die sündliche Neigung des
Menschen, dieser pestifer animi morbus, beseitigt werde; id
cum lex praestare nequeat, et sola gratia dei, donantis bonum
legisque amantem spiritum, nobis contingat, consequens est, nos
ex gratia et haud quaquam ex lege iustificari. — Ferner: Iustitia
. . dei, quid aliud fuerit, quam legi eius parcre? Es handelt sich
um die opera legis. Horum autem omnium radix fides est, qua
ut deo se humo penitus committit, . . ita, in eum quo trans-
formatur eiusque afflatus spiritu, deum in omnibus refert. Et
hinc est, quod nostri iustificatio fidei tribuitur etc.1 — Die Vor-
stellung Bucers ist die, daß man in der fides die Überzeugung von
der bonitas dei gewinnt (diesen allgemeinen Sinn hat der Begriff
der fides bei Bucer ; unter anderem tut sich diese bonitas auch
in der Sündenvergebung kund) ; aus dieser Überzeugung erwächst
dann wieder die Liebe zu Gott, der gute Affekt, resp. der
Geist erzeugt ihn auf diese Weise. So wird der Mensch befähigt
zu guten Werken und also gerecht.2 Hierauf ruht das Inter-
esse. So ergibt sich freilich ein leichter Übergang zu den guten
Werken (Lang, p. 110, 115). Jedoch nur deshalb, weil dem Glau-
ben die genuin reformatorische „grundlegende Beziehung zu der
Hinwegräumung der Schuld des Sünders'* (Lang p. 109) abgeht,
nur deshalb, weil „es fehlt an der Erkenntnis des wichtigsten und
grundlegenden Momentes in der Heilserfahrung, der Vergebung
der Sünden" (Lang p. 117).
1) Nach Lang a. a. O. p. 78 Anm. 2.
2) Lang p. 107 ff., 114. — Daß dieses die Auffassung Bucers ist, zeigt
besonders auch der Psalmenkommentar. Einige Stellen mögen das be-
weisen: Die Worte Ps. 25, 5 b beschreiben substantiam radicemque pietatis,
nempe pendere a deo, omnia . . a deo expeetare, aus der Überzeugung
heraus, wie es vorher heißt, daß Gott benignissime cum omnibus rebus
. . . maxime autem cum credentibus agit. Diese fides ist es, qua iustus
vivit (Bl. 140). — Es muß vor allem dei bonitas gepredigt werden. Hinc
namque fides amorque dei et nascitur et alitur, qui fons est omnium virtu-
tum (Bl. 146). — Fides ist die indubitata persuasio deum esse ut omnium
rerum autorem bonorumque fontem, ita et nostrum conditorem. serva-
torem ac aeternum beatorem. — Fides in Christum ist die certa persuasio,
eum nostrum esse redemptorern et instauratorem (Bl. 27). — Fides ist das
uno deo niti et fidere et in eo solo omne praesidium habere constitutum.
Daraus kommt dann alle iustitia (Bl. 371.). Andererseits ist der Un-,
glaube omnium flagitiorum fons (Bl. So) . . Cf. auch Bl. 22 zu Ps. 2; Bl. 145
zu Ps. 25; Bl. 185 zu Ps. 37, 3.
2 ? 8 Die Entstehung der Lehre Calvins von des Buße.
Es fehlen somit in der Auffassung Bucers durchaus die für
Calvin charakteristischen Züge. Zwar ist bei ihm das Interesse
für das Sittliche stark. Aber während bei den Wittenbergern das
lebhafte Interesse an der Sündenvergebung, diesem Zentrum der
Religion, die Aufmerksamkeit auf den Prozeß der sittlichen Er-
neuerung zurücktreten ließ, zeigt sich bei Bucer das Entgegen-
gesetzte : das Interesse am Sittlichen hat die Auffassung der Grund-
lage christlicher Frömmigkeit nachteilig beeinflußt. Calvin steht
in der Mitte. Beide Momente erfaßt er mit gleicher Schärfe,
scheidet sie begrifflich klar und verknüpft sie doch theologisch
und psychologisch unlöslich miteinander durch den Gedanken, daß
die sanetificatio bei der iustificatio das Ziel Gottes ist.
Dagegen ist Bucer in der Tat Calvin bereits in der starken
Betonung der Ehre Gottes als des Gesichtspunktes für das mensch-
liche Handeln vorangegangen. Schon bei ihm war der Dienst der
Ehre Gottes ein ,, umfassender Ausdruck für die sittlich-religiöse
Aufgabe des Christen" (Lang p. 198). Der Geist entzündet uns,
ut nihil prius habeamus, quam gloriam dei et gratiam nobis in
Christo faetam praedicare et promovere, nullius rei, ne vitae
quidem iactura deterriti.1 Schon Bucer beschreibt als wesentlichen
Inhalt des Gesetzes das deum magnificare (Bl. 152 b). Schon er
gestattet den Eid nur im Dienste der Ehre Gottes (Bl. 168 b).
Schon ihm ist die Förderung der Ehre Gottes wesentlicher Inhalt
der drei ersten Bitten des Unser Vater (Bl. 190 b, 191a). Schon
ihm bildet die Rücksicht auf die gloria dei den Maßstab für
alles Gebet (Lang 128 f.). Und auch er erhebt die gloria domini
(neben der salus proximorum) zum obersten Gesichtspunkt staat-
licher Gesetzgebung (Bl. 153 a). — Der Einfluß Bucers auf Calvin
ist hier unverkennbar (cf. oben p. 196 f.).
Auch Bucer sagt ferner schon, daß man der Ehre Gottes
diene durch Gehorsam gegenüber seinem Gesetz. Indessen hat
dieser Gedanke bei ihm nicht die Bedeutung wie bei Calvin. Denn
Bucer bedarf einer solchen Norm doch eigentlich nicht. Aus dem
Geist hat der Christ nicht nur die Kraft, sondern empfängt auch
von ihm inhaltlich völlig hinreichende Direktiven. Diese ent-
sprechen freilich tatsächlich dem Gesetz (Bl. 154 b). Jedoch ist
dieses nicht gegeben für den Gerechten, qui ultro et novit et
vult, quod iustum est et honestum (Bl. 155 a; cf. Lang p. 124, 129).
Man dient der Ehre Gottes durch Gehorsam gegen sein Gesetz ;
1) Bl. 79 b. Cf. Lang a.a.O. bes. p. 138, 164, 198, 179, 230 f. Anm. 3,
Von Lic. thcol. H. Strathmann.
im Zweifelsfalle aber dadurch, „daß man der Leitung des G<
folgt" (Lang- p. 199). Somit ist die Bindung des Gläubigen an das
Gesetz doch nicht absolut. Der Begriff des Gehorsams ist er-
weicht. Die ..Theologie des Geistes" (Lang p. 120) entwertet die
geschichtlichen Yermittelungen (cf. oben p. 235 Anm. 2). -- Calvin
dagegen weil.! nichts von unkontrollierbaren Wirkungen des
Geistes. Hei ihm bewährt sich der Christ tatsächlich durch I •
horsam, Gehorsam gegenüber dem in der Schrift geoffenba
( rotteswillen.
Demnach beschränkt sich — von den formellen Berührungen
abgesehen — der positive Einfluß Bucers auf Calvin wesentlich
darauf, daß er in den Hegriff der Buße das neue sittliche Leben
aufgenommen — soweit ihn nicht schon Luther dazu geführt hatte
— und dieses unter den Gesichtspunkt der gloria dei gestellt hat.
Im übrigen dagegen können die oben formulierten Eigentümlich-
keiten der calvinischen Konzeption nicht durch Bucersche Ein-
flüsse erklärt werden.
Wie sind sie denn aber zu erklären?
Calvin beruft sich dafür, daß die fides aus dem Begriff der
poenitentia auszuschalten sei, auf Act. 20., 21. Eine Erklärung
für diesen einen Punkt möchte man vielleicht darin sehen. In-
dessen ist es doch nicht zufällig, daß Calvin, nicht aber Melanch-
thon, das aus jener Stelle herauslas, was er herauslas. Eine
Distinktion hätte leicht über die Schwierigkeit hinweggeholfen.
Wir müssen also doch noch tiefer gehen.
Wie nun in Luthers Darstellung der Buße und des Bekeh-
rungsprozesses überhaupt sich deutlich sein eigenes Bekehrungs-
erlebnis widerspiegelt, so hat auch der Auffassung Calvins die
Art seines Bekehrungserlebnisses deutlich den Charakter auf-
gedrückt.
Wenn Luther von der Not und Verzweiflung des unter dem
Gesetz stehenden Sünders, von seiner Auflehnung, ja von seinem
Haß gegen Gott redet, so beschreibt er, was er erlebt hat, bevor
es ihm aufging, daß er nicht durch Möncherei, nicht durch mensch-
liche Leistung, nicht durch den actus elicitus des selbstgemachten
Sündenschmerzes sich bei Gott in Gnaden bringen könne noch
solle — daß wir vielmehr geschenkweise gerecht werden. Er
kannte einen Zustand, wo man unter dem Gesetz schmachtet, sich
quält und müht, um zuletzt doch immer wieder in seines Nichts
o aq Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
durchbohrendes Gefühl zurückzusinken. Er hat es erlebt, daß
seine Seele, wie gehöhnt in ihrer Ohnmacht, sich aufbäumt wider
den fordernden Gott, bis sie merkt, daß sein Wesen Erbarmen ist.
Diese Erkenntnis war ihm das Neue, das Erlösende. In dieser
Erkenntnis kam die Bewegung seines Gemütes zur Ruhe. In
dieser Erkenntnis erreicht der religiöse Prozeß seine Kulmination.
Und was daraus noch folgt für die Erneuerung des sittlichen
Lebens, erscheint mehr als eine mühelose organische Entfaltung,
als eine selbstverständliche Auswirkung, auf der nicht das Interesse
ruht, wie auf der Beruhigung des Gewissens. Der Glaube hat
gute Werke. Sie sind da. Von selbst, ohne besondere Reflexion
und Anstrengung, ob auch noch die caro lebt — indessen, sie wird
durch das Gesetz gebändigt.
Wie anders Calvin!
Dem jungen Schriftsteller, der nach literarischem Ruhme
trachtete,1 dem jungen Humanisten, dem Verehrer des Erasmus
und Budäus,2 lag nichts ferner als Möncherei.
Wie hat sich bei ihm der Umschwung vollzogen?
Begnügen wir uns, die sicheren Ergebnisse dieser in den
letzten Jahren öfters erörterten Frage 3 hervorzuheben.
i) Cf. darüber Brief an Daniel v. 22. IV. 1532. Op. C. X b, p. 19.
2) Cf. die Vorrede zum Kommentar über Senecas „de dementia".
Op. C. V, p. 6; ferner p. 54.
3) Doinel, Jean Calvin ä Orleans. Bulletin historique et lite-
raire 26, 174 ff. 1877. Lefranc, La jeunesse de Cavin. 1888. Le-
c o u 1 1 r e , La conversion de Calvin. Revue de theologie et de Philo-
sophie 23, 5 ff. 1890. A. Lang, Die Bekehrung Joh. Calvins. 1897. St.
z. G. d. Th. u. K. 2, 1 p. 1—57. K. Müller, Calvins Bekehrung. Nach-
richten der Kgl. Gesellsch. d. Wiss. z. Gott. Phil.-hist. Klasse 1905 p. 188
bis 255. E. Doumergue, Jean Calvin etc. T. I. Lausanne 1899 p. 327
bis 355. P. W e r n 1 e , Noch einmal die Bekehrung Calvins. Z. für K.-G.
von Brieger, Bd. 27 p. 84 — 99. 1906. — Das Verdienst der Untersuchung
Wernles besteht in der Beleuchtung der Beziehungen der drei Vitae Calvins
(von Beza und Colladon) zu den Bemerkungen Calvins über seine Be-
kehrung im Vorwort zu seinem Psalmenkommentar v. J. 1557. Indessen
unterschätzt W. doch die Bedeutung dessen, was K. Müller zum Erweise
der frühen Beziehungen zwischen Calvin und seinem Freundeskreise einer-
seits und dem Kreise der Anhänger Lefevre-Roussels andrerseits bei-
gebracht hat (Müller p. 202 ff.) .— - Cf. unten p. 241 f. — Die Untersuchung
von Müller gibt das Material am vollständigsten. Mehrere Punkte hat sie
endgültig der Diskussion entzogen, so den Brief Calvins an Bucer vom
4. September . . . (cf. oben p. 231 A 1) und die Rektoratsrede Cops vom
1. November 1533 (cf. oben p. 228). Dadurch ist namentlich die Arbeit von
Lang überholt, dessen Schlüsse darauf beruhen, daß Calvin Urheber dieser
Rede sei.
Von Lic. theol. H. Slrathmann. 24 i
1. In der Abwesenheit des Königs Franz I. hat Gerard
Roussel 1533 unter dem Schutz der Schwester des Königs, Mar-
garete von Navarra, in evangelischem Sinne unter großem Zulauf
gepredigt. Da die aufgebrachte Sorbonne den König nicht zum
Einschreiten zu bewegen vermochte, verhöhnte sie Margarete von
Navarra und Roussel in einer am i. Oktober im College de Navarre
aufgeführten Komödie. Zugleich verbot sie den Miroir de l'äme
pecheresse, eine 1531 anonym erschienene Schrift der Königin.
In einer vom König angeordneten Untersuchung wurde die Sor-
bonne von der Universität jedoch nicht gedeckt. Sie zog sich die
königliche Ungnade zu. Calvin steht in seinem Bericht von diesen
Ereignissen an seinen Freund Daniel in Orleans mit voller Sym-
pathie, ja „leidenschaftlich"', auf Seiten der Königin und Roussels.
Aus diesem Brief ergibt sich auch, daß Calvins Freunde in Orleans
zu dem Anhang Roussels gehörten.1
2. Daß im Freundeskreise Calvins schon 1532 biblisch-reli-
giöses Interesse herrschte, zeigt der Auftrag Daniels an Calvin,
ihm eine Bibel zu kaufen. 2
3. Daß aber bereits 1531 zwischen Calvin und seinen Freunden
(in Orleans und Bourges) einerseits und den Pariser Reform-
freunden auf der anderen Seite sympathische, ja freundschaftliche
Beziehungen bestanden, zeigt ein Brief Calvins an Daniel vom
27. Juni 15313, in dem der eben in Paris Angekommene berichtet,
daß „Cop" (ein reges Mitglied des Rousselschen Kreises) ihm seine
Begleitung angeboten zu einem Gang in ein Kloster, wo dem-
nächst Daniels Schwester Profeß tun wollte. Der Brief zeigt
wiederum, daß Cop auch den Freunden in Orleans eine wohl-
bekannte Persönlichkeit war.3 Da aber in dem Pariser Kreise,
der sich um Roussel scharte, neben humanistischen vor allem auch
biblisch-religiöse Interessen lebendig waren1 im Sinne der deut-
schen Reformation, nur ohne deren Entschiedenheit, so haben
Calvin und seine Freunde spätestens seit 1531 unter dem Einfluß
solcher Interessen gestanden.
1) Herminjard 3, 106 ff. — Müller p. 199.
2) Brief vom April 1532. — Herminjard 2, 418. — Cf. dazu Lang p. 21
und ihm gegenüber Müller p. 202.
3) Herminjard 2, 346. — Müller p. 203.
4) Diese letzteren sind jedoch von Doumergue I 78 ff. in ihrer Be-
deutung sehr überschätzt worden. Cf. oben p. 218, Anm. 1.
Calvinstudien. 1<J
242
Die Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
4. Seit wann diese Beziehungen Calvins und seiner Freunde
zu dem humanistisch-religiösen Pariser Reformkreise bestanden,
wissen wir nicht.1 Gewiß ist jedoch, daß Calvin bereits zu der Zeit, da
er sein juristisches Studium anfing, begonnen hatte, sich dem
alten Kirchentum zu entfremden. Das geht nicht hervor aus
der Vorrede Calvins zu seinem Psalmenkommentar von 1557 (op.
C. 31, 21 f.), wohl aber aus der Vita I des Beza (op. C. 21, 29).
Mag diese auch in weitgehendem Maße von jener Vorrede und
sogar auch von Calvins Vorrede zu Olivetans Bibelübersetzung
abhängig sein (Wernle) — aus der letzteren konnten Vermutungen
über die Beziehungen Calvins zu Olivetan geschöpft werden —
so konnte Beza doch keiner von beiden die Angabe entnehmen,
daß Calvin bereits damals, im Jahre 1527, ein ayant gouste
quelque chose de la pure religion war und commencoit ä se distraire
des superstitions papales (Gegen Wernle p. 88 ff.). Beza muß für
diese Behauptungen andere Gründe, wahrscheinlich persönliche
Erinnerungen aus seiner Studienzeit in Bourges (bei Wolmar),
gehabt haben. Demnach hat Calvin bereits früh, vor dem Über-
gang nach Orleans 1527 (Müller 191 f.) oder Anfang 1528 (Lang
p. 5), sich der evangelischen Erkenntnis zu erschließen begonnen.
Und diese Erkenntnis kann infolge des dauernden Verkehrs mit
den Pariser Reformfreunden und namentlich seit seiner erneuten
Übersiedelung nach Paris 1531 (Müller 190, Lang 8) nur ge-
wachsen sein.
5. Trotzdem hat er die Schwester Daniels vom Eintritt ins
Kloster nicht abgehalten (Herminj. II 346); ist in seinem Seneca-
kommentar von der neuen Erkenntnis wenig oder nichts zu spüren
(Lang p. 22— 29); hat er sich noch am 23. August 1533 in Noyon
an einer Kapitelsitzung beteiligt, in der man Gebete gegen die
Pest verordnete. Päpstliche superstitiones haben aber dabei sicher-
lich eine Rolle gespielt : d. h. Calvin ist damals noch nicht imstande
gewesen, die Konsequenzen aus seiner religiösen Erkenntnis zu
ziehen (Müller 213, Lang 38, Wernle 99).
6. Dagegen stand er zu der Zeit, da die herausfordernde
Rektoratsrede Cops die Männer der Sorbonne in Harnisch brachte,
so mit in der Bewegung, daß er in persönliche Gefahr geriet, seine
1) Die Vermutung K. Müllers (p. 203 f.), sie seien durch Wolmar,
den Freund und Lehrer Calvins im Griech. in Bourges vermittelt, ist an-
sprechend, aber eben nur Vermutung (p. 203 f.).
Von Lic. theol. H. Strathmann.
243
Papiere mit Beschlag belegt wurden, er selbst flüchten mußte :
d. h. er hatte sich damals von den Rücksichten, die ihn bisher
hinderten, seine Erkenntnis in die Praxis umzusetzen, freigemacht.
Nur auf dieses entschlossene Aufgeben aller Halbheit paßt
es, wenn Calvin in seinem Psalmenkommentar sagt : Ac primo
quidem, cum superstitionibus papatus magis pertinaciter addictus
essem, quam ut facile esset, e tarn profundo luto nie extrahi,
animum meuni, qui pro aetate nimis obduruerat, subita conver-
sione ad docilitatem subegit (deus).1 Seine Bekehrung war der Bruch
mit den superstitiones papatus. Es hat Mühe gekostet, bis es
dahin kam. Schließlich kam es auf einmal. Positiv war seine
Bekehrung ein subigi ad docilitatem, d. h. er lernte gehorchen.
Er lernte dem gehorchen, was er längst erkenntnismäßig als Willen
Gottes erfaßt hatte. Inhalt seiner Erkenntnis war also vor allem
die Verwerflichkeit der superstitiones papatus. Doch schloß sie
natürlich die evangelische Heilserkenntnis ein.- Aber in sie wuchs
er mühelos hinein. Für sein Empfinden lag deshalb nicht hierin
das Ausschlaggebende, das Neue, sondern in dem Entschluß zu
konsequentem Gehorsam gegenüber dem erkannten Gotteswillen.
Zutreffend hat deshalb Lecoultre seine Bekehrung also charakteri-
siert : „Die Bekehrung Calvins gab ihm nicht die Überzeugung
von der Wahrheit der protestantischen Dogmen, denn er besaß
sie schon; sie hauchte ihm auch nicht erst ein warmes Interesse
für die Dinge des Reiches Gottes ein, er war schon ganz davon
durchdrungen ; sie war vielmehr bloß der feste Entschluß seines
Herzens, fortan sein Verhalten mit ängstlicher Sorgfalt seinen
Überzeugungen anzupassen und jedwede Verbindung mit den Irr-
tümern zu brechen, die er im Grunde seines Herzens schon früher
abgeschworen hatte" (nach Müller 220).
Diesem Charakter der Bekehrung Calvins entsprechen die
Eigentümlichkeiten seiner Auffassung der Buße, die wir oben
hervorgehoben haben. Zwar ist Voraussetzung des Glaubens das
Aufgeben des eigenen Selbst, damit die Gnade allein gelte. Aber
das hat Calvin erkannt, ohne wie Luther durch das dunkle Tal
1) Op. C. 31, 21. Lang 36 f. Müller 206 f. Wernle 84 t'.
2) In diesem Sinne, indirekt, darf das von Stähelin (Joh. Calvin I
p. 25 ff.) noch, direkt verwertete Zeugnis Calvins aus der responsio ad
Sadoleti epistolam (op. V S. 411 ff.; cf. Lang. Bekehrung p. 31 ff.) auch
jetzt noch verwendet werden. Denn auch den Zustand anderer konnte er
nur so schildern, wenn er ihm aus eigener Erfahrung nicht unbekannt war.
16*
244 ^'e Entstehung der Lehre Calvins von der Buße.
der Gewissensangst hindurch zu müssen und ohne sich im Innersten
gegen den Gott des Gesetzes zu empören. In diese Erkenntnis
ist er hineingewachsen. Deshalb spielen jene Nöte in seiner Dar-
stellung keine Rolle.
Es entspricht somit dem. Charakter der Bekehrung Calvins,
daß das Sittliche von dem eigentlich Religiösen klar geschieden
wird. Denn die religiöse Erkenntnis, die in Luthers Leben den
Umschwung brachte, besaß er längst vor dem, was er seine Be-
kehrung nannte. Diese war ein Sichaufraffen der sittlichen Energie,
was als ein Neues, Zweites zu jenem Ersten hinzutrat. Deshalb
sieht Calvin nicht schon in der Heilsgewißheit des innersten Ge-
mütes den Kulminationspunkt des religiösen Prozesses erreicht.
Deshalb widmet er dem Sittlichen eine so große Aufmerksamkeit.
Es entspricht weiter seinem eigentümlichen Bekehrungs-
erlebnis, daß ihm fortan die Summe des praktischen Christentums
war : Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, oboedientia. Diesen
Gehorsam aber stellte er unter den von Bucer übernommenen
Gesichtspunkt der gloria dei.
Wir fassen das Ergebnis unserer Untersuchung über die
Entstehung der calvinischen Bußlehre zusammen :
Calvins Gedanken über die Buße und das, was damit zusam-
menhängt, sind negativ orientiert durch den Gegensatz gegen die
okkamistisch gerichtete Theologie des ausgehenden Mittelalters,
die er aus einem Sentenzenkommentar etwa des Typus Biels
kennen gelernt hat.
Positiv sind sie bestimmt durch die loci Melanchthons vom
Jahre 1521, Luthers kleinen Katechismus und den Evangelien-
kommentar Bucers vom Jahre 1530 (1527). An Melanchthon
lehnt er sich in weitgehendem Maße in der Auffassung und Dar-
stellung der fraglichen Vorgänge und Beziehungen an. Bucer
— neben Luther — gab ihm die Anregung zur Einbeziehung des
neuen sittlichen Lebens in den Bußbegriff. Ferner übernahm er
von ihm den Gesichtspunkt der gloria dei.
Beiden gegenüber treten bei Calvin deutlich bestimmte Eigen-
tümlichkeiten hervor.
Er rechnet nicht mit einem Zustand langer Gewissensangst
vor dem Glauben — ohne doch die Bedeutung der Sündenerkennt-
nis irgendwie zu kurz kommen zu lassen. Er unterscheidet schärfer
als Melanchthon und Bucer die religiöse und die sittliche Er-
Von Lic. theol. H. Strathmann. 245
neuerung. Erst in dieser kommt der Prozeß zu voller Auswirkung.
Aber eben die schärfere Unterscheidung ermöglicht es ihm, trotz-
dem auch jene unverkümmert aufzufassen. Das neue sittliche
Leben wird nicht unmittelbar triebhaft hervorgebracht, sondern
ist Gehorsam gegenüber dem geoffenbarten Gotteswillen.
Diese Züge, durch historische Beziehungen nicht zu erklären,
werden verständlich durch die Eigenart des calvinischen Be-
kehrungserlebnisses.
Calvins Lehre von der Kirche in ihrer
geschichtlichen Entwicklung.
Von
cand. theol. Th. Werdermann- Berlin.
Neben Luther ist sein Schüler * Calvin für die Geschichte der
protestantischen Theologie und Kirche und damit auch für unsere
ganze heutige religiöse und kulturelle Lage von höchster Be-
deutung.
Es wäre müßig, darüber zu streiten, ob Calvin den anderen
Reformatoren gleichzustellen oder als ein Mann der zweiten Gene-
ration, als „Epigone", zurückzuschieben sei. Wir brauchen ihn
nicht mit so übeitriebenen Worten zu erheben, wie es etwa Adolf
Zahn tut.2 Aber wir werden uns auch nicht der Erkenntnis seines
Wertes verschließen können, wenn wir die Erinnerung an die außer-
ordentlich hohe Wirkung in uns wachrufen, die für die äußere und
innere Geschichte des Protestantismus von ihm ausging. Der Cal-
vinismus war es wesentlich, der den schweren Kampf mit der
jesuitischen Gegenreformation durchführte. Er gab dem Denken
und dem Leben der Protestanten bestimmende Richtlinien und hat so
auch tief auf die allgemeine Geschichte der neueren Zeit und die
Gestaltung der Gegenwart eingewirkt. Um dem zuzustimmen, ist
es nicht nötig, daß man all den großzügigen Gedanken des für den
i) Calvin selbst hat Luther stets als seinen Lehlrer anerkannt. Vergl.
A. Lang, „Luther und Calvin". Deutsch-Evangelische Blätter 1896.
2) A. Zahn, Die beiden letzten Lebensjahre von J. Calvin. Leipzig
1895. S. 6. „Calvin ist in der Lehre fehlerlos: sein Bekenntnis ist die
Summe aller Ergebnisse der Reformation. — Über Calvin hinaus gibt es
keine Verbesserung, keinen Fortschritt. Er ist die Krone aller Lehrend
wicklung der christlichen Kirche." Vergl. schon ähnlich Beza, Opera Cal-
vini Bd. 21 S. 23.
Von cand. theol. Th. Werdennaan. 2J7
Calvinismus als Lebensprinzip so außerordentlich begeisterten
Abraham Kuyper ' folge. Wir linden diese Erkenntnis auch sonst
vertreten. Gerade in den letzten Jahren haben einige nichttheolo-
gischc Arbeiten auf den Calvinismus als den Mutterboden wichtiger
Bestandteile unserer gegenwärtigen Kultur geführt. Georg Jclli-
neck („Die Erklärung der Menschen- und Bürgerechte". 2. Aufl.
Leipzig 1904) glaubt, daß aus ihm der moderne Toleranzgedankc
erwachsen sei. Max Weber („Protestantismus und , Geist' des
Kapitalismus." Archiv f. Sozial-Wissenschaft und Sozial-Politik
XX und XXI) sieht in seiner zur weltoffenen Askese neigenden
Ethik die Voraussetzung zum ,, Geist" des modernen Kapitalismus.
Nun mag ja die Korrektur, die Ernst Troeltsch2 gibt, daß nämlich
hier doch sehr das Täufertum einwirke, in manchem richtig sein.3
Aber schon das ist sehr beachtenswert, daß diese Ideen gerade auf
calvinistischem Gebiet zuerst Fuß faßten. Und auch das ist sicher,
daß das Täufertum in Holland und England selbst wieder vom
Calvinismus stark beeinflußt worden ist.4 — Gegenwärtig machen
die vom Calvinismus direkt abhängigen außerlutherischen Kirchen-
gemeinschaften den bei weitem größten Teil des Protestantismus
aus, und gerade im letzten Jahrhundert hat sich auch das Luther-
tum selbst seiner Einwirkung immer weniger verschließen können.
Nun muß man sich freilich hüten, für alles, was wohl als Cal-
vinismus bezeichnet wird, Calvin selbst verantwortlich zu machen.
Er würde sich ohne Zweifel gegen manche Sätze, die Kuyper in
1) Vergl. unter seinen zahlreichen vielfach auch ins Deutsche über-
setzten Schriften besonders: „Reformation wider Revolution", übersetzt
von M. Jaeger, Gr. -Lichterfelde 1904. Zu Kuyper überhaupt: Römer, Eine
calvinistische Weltanschauung, in Evangelisches Gemeindeblatt für Rheinl.
und Westf. 1903 S. 77 ff.
2) Vergl. „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit",
in ..Kultur der Gegenwart" I, 4, 1. Berlin und Leipzig 1906, und: „Die
Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt".
Hist. Zeitschrift 1906.
3) Gegen eine direkte Ableitung der völligen Gewissensfreiheit auch
schon E. F. K. Müller. „Über religiöse Toleranz". Erlangen 1902.
4) Zur Frage nach der Bedeutung des Calvinismus für die heutige
Kultur, vergl. noch: L. Elster, J. Calvin als Staatsmann, Gesetzgeber und
Nationalökonom. Jahrb. f. Nationalök. und Statistik 1878. - - F. Cauer,
Die Reformation und die Arbeit. Reform. Kirchenzeit. 1902. — L. Car-
dauns, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die recht-
mäßige Obrigkeit, im Luthertum und im Calvinismus des 16. Jahrb.. Bonn
1903. — F. J. Schmidt. Kapitalismus und Protestantismus. Preuß. Jahrb.
1905 Bd. 122. — P. A. Diepenhorst, Calvijn en de economic Wageningen
1904.
2A$ Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
seinen gedankenreichen Vorlesungen über den Calvinismus aus-
spricht, gesträubt haben. Aber es ist nicht zu verkennen, daß seine
Einwirkung eine sehr nachhaltige und tiefgehende gewesen ist.
Sein Streben, auch sich selbst dem Worte Gottes zu unterwerfen,
und die außergewöhnliche Schärfe seines Geistes waren die Vor-
aussetzung dazu. Sein auf eifrigem Bibelstudium und umfassendem
Wissen beruhendes systematisches Werk, die Institutio religionis
christianae, erweitert durch seine zahlreichen Kommentare, erleich-
terte sehr ein gründliches Erfassen seiner Gedanken. Wie weit
hinaus diese aber durch seine Schüler und seine Briefe getragen
wurden, das sehen wir mit Staunen aus dem thesaurus epistolicus
der Braunschweiger Ausgabe seiner Werke.1 So ist also Calvin
selbst für all die verschiedenen Lebensbetätigungen, die man wohl
unter dem Sammelnamen des Calvinismus zusammenfaßt, von
grundlegender Bedeutung.
Dann aber ist das Gebiet, mit dem sich die vorliegende Arbeit
beschäftigt, für die Erkenntnis der dogmenhistorischen Stellung
von Calvins Theologie sowie für das Verständnis seiner Tätigkeit
und seiner Persönlichkeit besonders wichtig.
Schon Schleiermacher 2 wollte den Unterschied von Katholizis-
mus und Protestantismus aus der verschiedenen Bedeutung, die der
Kirche zugewiesen werde, herleiten. Er fand hierin manche Nach-
folger. So sagt z. B. Heppe : „Die Idee des evangelischen Pro-
testantismus vermag nur dann in ihrer vollen Wahrheit und Be-
rechtigung erkannt zu werden, wenn sie im Zusammenhange mit
dem Begriff der Kirche aufgefaßt wird." (Gesch. des deutschen
Protest, von 1558 — 1581 Bd. 1 ; 1852 S. 3.) A. Ritschi stimmt dem
völlig bei, ja betrachtet es als eine notwendig zu ziehende Folge-
rung, „daß auffallende Veränderungen im geschichtlichen Gange
des Protestantismus nur richtig dargestellt werden, wenn man sie
aus den begleitenden Veränderungen in dem Begriff der Kirche
1) Diese von Baum, Cunitz, Reuss in Straßburg begonnene Ausgabe
wird im folgenden mit O. C. zitiert, die Bände numeriert nach Calvins
Werken. Um die Bandzahlen des corpus reformatorum zu erhalten, braucht
man nur 28 zu addieren. Zu den Briefen findet man manche Korrekturen
bei Herminjard, Correspond. des reformateurs dans les pays de langue
flrangaise. Gen. 1866 — 1897. Ferner Zeitschr. f. Kirchengesch. 1901 S. 1 59 f . ,
485; 1903 S. 323 ff.; 1904 S. 157; 1905 S. 405, auch noch Kleinigkeiten in den
letzten Bänden. Ferner F. L. Rutgers, Calvijns invloed op de Reformatie
in de Nederlanden etc. 2. Aufl. Leiden 1901, der im Register S. 244 ein
Verzeichnis der notwendigen Zufügungen und Verbesserungen gibt.
a) „Der christliche Glaube", 2. Aufl. 1830 § 24.
Von cand. theol. Th. Werdormann.
249
versteht". (Die Entstehung der luth. Kirche. Ges. Aufsätze I 1893
S. 170.) Und m. E. mit Recht glaubt auch Fr. Sieffert den „refor-
matorischen Kirchenbegriff unter die Prinzipien des Protestantis-
mus" einreihen zu müssen. (Theolog. Arbeiten aus dem rhein.
wissensch. Predigerverein 1877 S. 26 ff.) So steht also zu erwarten,
daß wir bei der Untersuchung dieses speziellen Gebietes überhaupt
für die dogmenhistorische Stellung Calvins Aufschlüsse erhalten.
Aber auch wenn wir unseren Blick auf Calvin allein richten,
verspricht unsere Untersuchung Beiträge zu einer gerechten Wür-
digung seines Denkens und Tuns,1 weil hier zwei besonders hervor-
tretende Züge an ihm zusammentreffen: seine systematische und
seine praktische Begabung. Wie sehr Calvin immer bemüht war,
seine Darlegung der christlichen Lehre systematisch zu ordnen und
ineinander zu fügen, und wie weitgehend ihm das gelungen ist, das
zeigt uns die Geschichte seines Hauptwerkes, der institutio rel.
christ.2 Die erste Ausgabe von 1536 erreicht in der Geschlossenheit
ihres Aufbaues noch nicht die ursprüngliche Form von Melanch-
thons loci communes. Die letzte Ausgabe von 1559 aber ist dann
zu dem bewundernswert durchdachten und organisch entwickelten
Werk geworden, dem man darin wohl mit Recht in den folgenden
Jahrhunderten bis auf Schleiermachers „Glaube" kein Werk gleich-
stellen zu können meint.3
Und wie großartig ist seine praktische Tätigkeit gewesen, zu-
nächst schon in Genf! Er, der landesflüchtige Fremdling, der so
oft kranke, von Natur ängstliche Mann vermag es, eine Stadt wie
Genf so ganz umzuwandeln, durch so viele und schwere Kämpfe
hindurch den Zustand der vorher so wirren Stadt in diesem rohen
Zeitalter seinem Ideal anzunähern. Zeitweise war er in Wirklich-
1) F. W. Kampschulte. J. C. etc. I. Leipzig 1869 S. 265. ..Die Lehre
von der Kirche ist eine der wichtigsten und folgenreichsten in dem Cal-
vinischen System."
2) Vergl. die Proig. zu O. C. 1 und J. Köstlin. Calvins Inst, nach Form
und Inhalt in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Studien und Kritiken
1868. — Über die Methode Calvins auch J. Bohatcc. Die Methode der
reform. Dogmatik. St. u. Kr. 1908.
3) So müssen wir auch Krauss zustimmen, wenn er ..das protest.
Dogma von der unsichtb. Kirche" 1876 S. 42 sagt: ..In dogmatischer Ab-
hängigkeit von allen drei älteren Reformatoren steht Calvin, allen dreien
aber, wenn nicht an originalen Gedanken, so doch an dogmatischem Talent
überlegen." Yergl. W. Dilthey. Die Glaubenslehre der Reformatoren auf-
gefaßt in ihrem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang. Preuß. Jahrb.
Bd. 75 S. 74.
2 CO Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
keit, wenn auch nicht rechtlich und äußerlich, der Herrscher von
Genf. Auf seiner geistigen Überlegenheit und seinem aus inner-
stem Triebe erwachsenen Eifer für die Ehre Gottes beruhte sein
Einfluß. Noch größer aber muß uns Calvin in seiner Tätigkeit er-
scheinen, wenn wir auf sein Vaterland schauen.1 Wieviele hat er dort
durch seine Briefe ermahnt und angefeuert, getröstet und beraten !
Und wie versteht er es auf sein Ziel hinzuarbeiten, ohne doch
irgendwie sich in die unredlichen politischen Künste seiner Zeit ein-
zulassen! Welch ehrliches, für die Ausbreitung des Evangeliums
gerade auch in seinem Heimatlande glühendes Herz spricht nicht
aus seinen Briefen zu uns! So ist auch die Bildung der so opfer-
freudigen, tapferen Hugenotten-Kirche sein Werk.
Zu arbeiten für die Kirche Christi, das füllte Calvins Leben,
fast möchte man sagen, in einer großartigen Einseitigkeit aus.2
In seinem letzten Brief vom Mai 1564 an seinen alten Freund und
Mitkämpfer Farel, schreibt er: „Lebe wohl! bester, trefflichster
Bruder! Wenn Gott will, daß Du mich überlebst, so gedenke in
Deinem Leben an unsere Gemeinschaft. Soweit sie der Kirche
Gottes nützlich war, so weit wird uns ihre Frucht im Himmel
bleiben." 3 Von dem also nur, was er für die Kirche Nützliches hat
tun können, verspricht sich Calvin Frucht über den Tod hinaus.
Gerade auch dieser Zug hat überall, wohin sein Einfluß reichte,
nachgewirkt ; und auch wenn es Hundeshagen als ein grundlegender
Vorzug des reformierten Protestantismus dem lutherischen gegen-
über erscheint, daß er das soziale Moment im Christentum bewahre,
und wenn es nach ihm auch dem Reformiertentum eigentümlich ist,
daß es das Attribut der Heiligkeit bei der Kirche betone,4 so gilt
das beides eben schon von Calvin.
1) Vergl. Karl Müller, C. u. die Ansänge der Hugenotten Kirche.
Preuß. Jahrb. 1903 Bd. 114. E. Marcks, Coligny I, 1. Stuttgart 1892.
2) So nennt auch Scheibe (Calvins Prädestinationslehrc. Halle 1897
S. 77) Calvin einen „vor allem und letztlich von religiösen Gesichtspunkten
und kirchlichen Zwecken geleiteten Mann".
3) Vergl. auch ep. 3203 O. C. 18 S. 93- ego vero ex omnium memoria
deleri facile patiar, modo ne intereat laborum fructus, quos in ecclessias
utilitatem sincero rectoque studio hactenus impendi: a quo fine, qui mihi
semper fuit propositus, ut tantillum deflectam, nulla efficiet ingratitudo vcl
praevitas. Vergl. auch was Beza über Calvins Verhalten in seiner letzten
Krankheit sagt: Outre cela jamais il ne s'est espargne aux affaires des
Eglises, respondant et de bouche et palr escrit quand il en estoit besoin:
encores que de nostre part nous luy fissions remonstrances d'avoir plus
d'esgard ä soy. O. C. 21 S. 42.
4) Vergl. „Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchen-
politik insbesondere des Protestantismus" I. Wiesbaden 1864.
Von cand. theol. Th. Werdermann.
251
Nach all dem muß nun wohl eine Untersuchung des Gebietes
wichtig sein, auf dem sich Calvins systematische und praktische
Veranlagung treffen. Und wo ist das mehr der Fall als in seiner
Lehre von der Kirche? Hierhin zielt der ganze Aufbau der Ge-
danken in der Institutio von 1559. Die Kirche faßt in sich all die
externa media zusammen, vermittelst derer nach Gottes Willen die
Aneignung des Heils für die Menschen geschieht. Und all die
Darlegungen der drei ersten Bücher haben in der Institutio von
1559 nur insofern Wert, als sie auf die Aneignung des Heils hin-
führen. Diese nun in ihrer innerlich individuellen Art auch in ihrer
äußeren. Gott gewollten Ordnung den beiden Extremen des Katho-
lizismus und des Anabaptismus gegenüber zur Durchführung zu
bringen, dafür war der Ort in Calvins System eben bei seiner Lehre
von der Kirche gegeben. —
Bei der bedeutsamen Stellung, die Calvins Lehre von der
Kirche einnimmt, ist zu erwarten, daß sie häufiger schon beachtet
worden ist. In unserer deutschen Literatur ist jedoch dieses Thema
noch nicht besonders aufgenommen worden.1 Nur bei Gelegenheit
allgemeinerer Arbeiten über Calvin oder über die Lehre von der
Kirche wurde bei uns bisher auch Calvins Lehre von der Kirche
herangezogen. Dabei ist sie nicht zu ihrem Recht gekommen. Vor
allem fehlt, abgesehen von kleinen Bemerkungen (vergl. besonders
J. Köstlin a. a. CM, daß die historische Entfaltung dieser Lehre bei
Calvin selbst sowie auch ihre dogmenhistorische Bedingtheit be-
achtet worden wäre. Auch nimmt die systematische Beurteilung
selten — eigentlich findet man das nur bei J. Müller, Dogmat. Ab-
handlungen, Bremen 1870, angedeutet und bei Fr. Sieffert a. a. O.
recht betont ! — genug Rücksicht auf den großen Gedanken-
aufbau Calvins selbst. So seien hier nur einige der wichtigsten
Arbeiten kurz charakterisiert. Andere wird man im Fortgang der
Untersuchung noch erwähnt finden. Wertvoll sind die Arbeiten
Hundeshagens. Seine Schrift über „Die Konflikte des Zwingüanis-
mus, Luthertums und Calvinismus in der Bernischen Landeskirche
von 1532 — 1558", Bern 1842, ist nur eine Vorarbeit für das Ver-
ständnis des dauernden Kampfes, in den Calvin auch in Genf mit
den Verfechtern einer ganz anderen Anschauung über das Ver-
hältnis von Kirche und Staat, als er sie hatte, notwendig geraten
1) Der Artikel, der in der reformierten Kirchenzeitung 1880 unter
diesem Titel erschienen ist, enthält nur eine Übersetzung von Calvins Dar-
legungen in der Inst. 1535 (sie!).
2K2 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
mußte. Auch seine „Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte
und Kirchenpolitik, insbesondere des Protestantismus" I, Wies-
baden 1864, berücksichtigen vor allem diese Anwendung der Idee
von der Kirche, geben aber auch sonst wertvolle Winke. Albrecht
Ritschis verschiedene Arbeiten, die hier in Betracht kommen,1 legen
alle Zeugnis ab von der großen tiefdringenden Geistesschärfe dieses
Theologen. Aber gerade auf unserem Gebiete muß man ihm vor-
werfen, daß er zu sehr von seinen Gedanken aus seine Quellen liest
und daher ihnen nicht gerecht wird. Calvin stellt in seiner In-
stitutio von 1559 die Lehre von der Kirche dar unter dem Ge-
sichtspunkt der externa media vel adminicula, quibus deus in Christi
societatem nos invitat et in ea retinet. Das tritt bei Ritschi ganz
zurück. Die Entfaltung bei Calvin selbst beachtet er auch kaum.
Beides gilt weiter von den Ausführungen des eben hier in vielem
von Ritschi abhängigen R. Seeberg in seinen „Studien zur Ge-
schichte des Begriffes der Kirche mit besonderer Beziehung auf
die Lehre von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche" I, Er-
langen 1885. Seine nur ungefähr sieben Seiten umfassenden Be-
merkungen über Calvins Lehre gehen wesentlich darauf aus, zu
zeigen, daß Calvin nicht so sicher wie Luther und Melanchthon
die innere Verbindung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche
festgehalten habe. Die beiden obigen Ausstellungen treffen auch
die neueste Darlegung über unser Thema in Georg Hoffmann : „Die
Lehre von der fides implicita. II. Die Reformatoren", Leipzig 1906.
Im übrigen findet man da manche gute Beobachtungen besonders
betreffend die letztlich doch voluntaristische Fassung der fides bei
Calvin.2 Alfred Krauss, „Das protestantische Dogma von der un-
sichtbaren Kirche", Gotha 1876, meint wohl (S. 45), daß Calvin „das
Palladium der Reformation, die Unterscheidung zwischen Reich
Christi und Kirche" behalten habe, trägt aber auch nicht dazu bei,
die beiden vorher gerügten Mängel zu beseitigen. Vielmehr bringt
seine Gleichsetzung von Reich Gottes und unsichtbarer Kirche
1) Vor allem ,,Über die Begriffe sichtb. u. unsichtb. Kirche", St. u. Kr.
^59 (ges. Aufsätze I S. 68 ff.). Dann ..Die christl. Lehre von der Rechtf.
und Versöhnung". „Geschichte des Pietismus" I und verstreute Bemer-
kungen in manchen anderen Aufsätzen. Dazu vergl. S. 277 Anm. 2.
2) Der Glaubensbegriff Calvins ist hier doch viel zutreffender gezeich-
net als das bei Martin Schulze geschieht, der seine Darstellung nicht
vom rechten Gesichtspunkt aus orientiert. Vergl. „Meditatio futurae vitae,
ihr Begriff und ihre herrschende Stellung im System Calvins". Leipzig
1901 und „Calvins Jenseitschristentum in seinem Verhältnis zu den reli-
giösen Schriften des Erasmus". Görlitz 1902.
Von cand. theol. Th. Werdermann. ~ 53
einen fremden Gedanken an Calvins Lehre heran. Auf die Bio-
graphen Calvins, besonders Stähelin und Kampschulte, weise ich
nur hin. Der letztere katholische Forscher versteht es nicht, der
Lehre des Reformators gerecht zu werden, gibt vielmehr manch-
mal eine bedenklich schiefe Darstellung.
Eingehender ist unser Thema in der ausländischen Forschung
behandelt worden. Dort sind auch eine Anzahl Monographien vor-
handen. Begreiflicherweise sind es gerade die echt calvinistischen
Länder, die sich an dem Studium dieser Frage beteiligt haben : die
französische Schweiz, Frankreich und die Niederlande. Bei uns
sind diese Arbeiten fast völlig unbekannt.1 Ihr wissenschaftlicher
Wert ist teilweise nicht hoch ; sie alle fallen unter die beiden prinzi-
piellen Bedenken, die schon gegen die deutschen Arbeiten geltend
gemacht werden mußten. Am wenigsten wertvoll sind die Arbeiten
aus der Schweiz. Das Material, was sie verarbeiten, ist äußerst
gering. Man beschränkt sich fast ganz auf die Institutio von 1 5S9-
Auch ist der Blick der Untersuchenden getrübt durch ihre Partei-
stellung in den kirchenpolitischen Kämpfen der Schweiz. Das gilt
mehr oder weniger von : H. Farsat, L'Eglise d'apres Calvin. Geneve
1874. — Jean Favre, Expose critique des principes ecclesiastiques
de Calvin, et des institutions qui en deconlent. Lausanne 1864. —
H. Daulte, L'Eglise d'apres l'Institution chretienne de Calvin.
Lausanne 1885. — Uncl etwas weniger von C. Grosclaude, Exposi-
tion et critique de l'ecclesiologie de Calvin. Geneve 1896. Wissen-
schaftlich bedeutend höher stehen, behandeln aber nur eine Seite
unseres Themas: A. Roget, L'Eglise et letat ä Geneve du vivant
de Calvin in Bibliotheque universelle et Revue suisse. Geneve 1865 2
und E. Choisy, La theocratie ä Geneve au temps de Calvin. Gen.
1897. (Erwähnt sei hier noch der klare, einige gute Gesichtspunkte
bietende Aufsatz aus der deutschen Schweiz : J. Heiz, Calvins
kirchenrechtliche Ziele, aus theologische Zeitschrift aus der Schweiz.
Zürich 1893.) — Von den französischen Arbeiten ist sehr minder-
wertig: A. Mailhet, La notion de l'Eglise dans Calvin. Montauban
1881. Wertvoller sind dagegen die Arbeiten von C. Corbiere,
Theorie de l'Eglise d'apres Calvin. Strasbourg 1858 und A. Martin,
Calvin et les confessions de foi. Montauban 1885, welch letztere
ein interessantes Problem besonders herausgreift.
1) Ich habe sie nur mit großer Mühe und auch nicht vollzählig er-
halten. Nur die seien angeführt, die mir vorlagen.
2) Diese Arbeit war mir nur zugänglich in der Übersetzung von
Thdemann in „Evangel. -reform. Kirchenz." 1872.
254 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Wissenschaftlich wirklich tüchtig sind aber die holländischen
Schriften, vor allem die von Abraham Kuyper : Disquisitio histo-
rico-theologica exhibens J. Calvini et J. a Lasco de ecclesia senten-
tiarum inter se compositionem. Haag- und Amsterdam 1862. In
dieser seiner Erstlingsschrift zeigt sich schon die Klarheit, die
Schärfe und das große Wissen des späteren bedeutenden Theologen
und Staatsmannes. Die Schärfe der Disponierung geht schon zu
weit. Oft sind zusammengehörige Gedankengänge auseinand^r-
gerissen, und das Verständnis ist dadurch naturgemäß nicht ge-
fördert. Die ganze Amsterdamer Ausgabe von Calvins Werken
scheint verarbeitet zu sein, aber ohne daß die Werke etwa nach der
Zeit ihres Entstehens geordnet, oder nach ihrer besonderen Ab-
zweckung gewürdigt wären. Dazu kommt, daß Calvins leitender
Gesichtspunkt für seine Lehre von der Kirche ganz unbeachtet
bleibt. So besteht denn der Hauptwert dieser Arbeit in ihrer um-
fassenden Stellensammlung. Für das innere Verständnis von Cal-
vins Lehre trägt sie nicht viel bei. Vielmehr tritt ganz besonders
in der zusammenfassenden Gegenüberstellung der Lehre Calvins
und der a Laskos hervor, daß Calvin doch oft falsch beurteilt wird.
Diese Schrift ist ein interessantes Denkmal der liberalen Periode
Kuypers und schließt um so weniger eine Neubearbeitung ihres
Themas aus, da ja ihr Verfasser selbst bald solch bedeutenden
Umschwung in seiner Bewertung Calvins erlebte.1 Lange nicht
so gründlich wie Kuypers Schrift, aber doch bedeutend besser als
die meisten französischen Arbeiten sind die beiden letzten hollän-
dischen Dissertationen, die ich hier noch nennen will. Ganz ver-
worren erscheint Calvins Lehre von der Kirche nach J. A. Bruins,
Het leerstuk over de kerk volgens Luther, Zwingli en Calvijn.
Leiden 1869. Die Ursache davon liegt aber sicher nicht zum
geringsten Teil in Bruins selber, darin nämlich, daß ihm Calvin
als der Gründer der protestantischen Orthodoxie und diese wieder
als dem Protestantismus vollständig heterogen erscheint (S. 58, 64).
So bemüht sich Bruins von vornherein nicht sonderlich, Calvin zu
verstehen. (Ganz dieselbe Stellung nimmt auch A. Pierson in
seinen 1881, 1883, 1891 zu Amsterdam erschienenen Studien ein.
Der Kampf gegen Kuyper hindert ihn, Calvin gerecht zu werden.)
Die allgemein geäußerten Bedenken hat auch nicht überwunden
1) Über seinen theologischen Umschwung sptricht sich Kuyper selbst
aus in „Die moderne Theologie eine Fata Morgana auf christlichem Ge-
biete." Deutsch Zürich 1872 S. 46.
Von cand. theol. Th. Werdermann. 2 55
S. Schoch, Calvijn's beschouwing over kerk en Staat. Groningen
1902. Auch gibt er auf manche uns wichtige Fragen keine
Antwort. —
Im Hinblick auf all diese Arbeiten erscheint es mir für ein
rechtes Verständnis der Lehre Calvins von der Kirche zunächst
nötig, mehr historisch zu verfahren ; d. h. es müssen die dogmen-
historischen Verbindungen, soweit sie Calvin negativ und positiv
beeinflußt haben, beachtet werden. Ferner ist aber auch die Ent-
stehung und Entfaltung dieser Lehre bei Calvin selbst zu beob-
achten. Freilich ist ja etwas Wahres darin enthalten, wenn bald
tadelnd, bald lobend gesagt wird, Calvin habe seine theologischen
Anschauungen kaum geändert. Es ist richtig, daß Calvin am
wenigstens von allen Reformatoren das getan hat. x
Aber doch muß J. Köstlin, der diese Verhältnisse am ein-
gehendsten untersucht hat, sein Resultat in folgenden Worten zu-
sammenfassen : „Nach allem, was wir in dieser Darstellung aus-
gehoben haben, wird es keines weiteren Beleges dafür mehr be-
dürfen, daß auch bei Calvin und seiner Institutio trotz aller Festig-
keit seines ursprünglichen Standpunktes eine Entwicklung statt-
hatte" (a. a. O. S. 486). (Vergl. auch Marcks a. a. O. S. 290.) Die
Bestätigung dessen werden wir auch gerade auf unserem Gebiete
finden.2
1) Vergl. J. Köstlin a. a. O. — Auch die Herausgeber der O. C. im
corp. reform, sagen 22 S. 10: „Calvin a tout aussi peu change son style
que sa theologie. — Schon Beza, vita Calvini O. C. 21 S. 170.
2) Bei dieser historischen Untersuchung liegt aber die Gefahr vor,
daß wir den einheitlichen Überblick über Calvins Lehre verlieren. Deshalb
denken wir in einem zweiten Teil, der nächstens in den von der Elberfelder
ref. Gemeinde geplanten „Studien zufr reformirten Theologie" erscheinen
soll, an der Hand der doch wesentlich ans Ende der historischen Unter-
suchung zu stellenden abschließenden Ausgabe der Institutio von 1559 eine
systematische Darstellung und Würdigung von Calvins Lehre von der
Kirche zu geben unter Hinzuziehung der damit enger verbundenen und sie
bedingenden Gedankenkomplexe sowie mit Berücksichtigung der voraus-
gehenden historischen Arbeit. Hier wird auch, soweit das nicht schon in
dem historischen Teil geschehen mußte, am besten die Auseinandersetzung
mit abweichenden Darstellungen und Urteilen erfolgen.
2 c6 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Historische Untersuchung.
i. Kapitel:
Die Anfänge bis zur Institutio von 1536.
a) Bis zur Auswanderung aus Frankreich.
Johann Calvin ist niemals so sehr wie Luther in den Banden
der römischen Kirche gewesen (vergl. auch A. Lefranc, La jeunesse
de Calvin. Paris 1888 und E. Doumergue, Jean Calvin I, Lau-
sanne 1899). Freilich erhielt er schon mit zwölf Jahren seine erste
Pfründe. Auch zeigt schon der im Jahre 1532 erschienene Kom-
mentar zu Senecas Schrift de dementia, daß Calvin mit den Werken
einer großen Anzahl von Vätern gerade auch der katholischen
Kirche bekannt war; doch ist ihm die katholische Lehre niemals
solch eine Lebenswirklichkeit gewesen wie dem Mönch Luther in
Erfurt, wiewohl er in der Vorrede zum Psalmenkommentar
(O. C. 31 S. 21) sagt, daß er dem abergläubischen Wesen des Papst-
tums hartnäckig ergeben gewesen sei. Er stand der katholischen
Lehre viel kühler, ohne innerste Teilnahme gegenüber. Wir wissen
nichts davon, daß er die Frage: wie bekomme ich einen gnädigen
Gott? als ein Glied der römischen Kirche so ernst empfunden habe
wie der deutsche Reformator.
Wir sehen, daß dies sein Ziel war, ein bedeutender anerkannter
Gelehrter zu werden, von dem man rühmend spreche. Dazu
brauchte er Ruhe; auch seiner ganzen Anlage und Herkunft nach
war er ein Mann der Ordnung. Selbst nach dem gewaltsamen
Bruch mit der römischen Kirche betont er stets die Notwendigkeit
der Einheit in der Kirche. Da muß ihm der Gedanke der einen
katholischen Kirche von vornherein besonders wertvoll gewesen
sein. Die Unordnungen und Wrirren, die der Abfall von Rom mit
sich brachte, erschienen ihm als ein Greuel, auch schon deswegen,
weil er bei seinem ängstlichen Gemüt von Natur nicht in sie
hineinpaßte. (Vergl. Viguet, Etüde sur le caractere distinctif de
J. C. 1864. S. 22.) Darum geschieht es wohl aus eigener Erfah-
rung heraus, wenn er in seiner Antwort an Sadolet den evan-
gelischen Christen am jüngsten Tage vor Gottes Richterstuhl sagen
läßt, eins vor allem habe ihn zunächst von den Reformatoren
zurückgehalten: die Verehrung der Kirche (O. C. 5 S. 412).
Von cand. theol. Th. Werdirmann. 2 S7
Ein gutes Dokument für die innere Stellung Calvins in dieser
Zeit besitzen wir in seinem Erstlingswerk aus dem Jahre 1532:
L. Annaei Senecae libri de dementia cum J. Calvini commentario.
Freilich hebt Doumergue mit Recht hervor, wie stark Calvin schon
hier die Kirchenväter benutze, daß er sogar die Bibel einige Male
zitiere. Auch wenn dieser Biograph Calvins sagt (a. a. O. I
S. 218 f.), daß Calvin damals nicht ein echter Humanist, sondern
mehr eigentlich ein Augustinist gewesen sei, so mag er in ge-
wisser Weise recht haben. Aber doch ist es bezeichnend, daß so
treffliche Gelehrte, wie die letzten Herausgeber der O. C, der
Meinung sein konnten, daß im Senecakommentar ein rein huma-
nistisches Werk vor uns liege ohne eine Spur religiösen, theo-
logischen oder biblischen Inhaltes (O. C. 5 S. XXXII). Es ist in
der Tat eine philologische, von humanistischem Interesse aus ent-
standene Gelehrtenarbeit, die den Zweck hat, ihrem Verfasser als
Gelehrtem einen Namen zu machen. — Iutr unsere Untersuchung
bietet jedenfalls dieser Kommentar ebensowenig als die Briefe
und die praefatio in Nie. Chemini antapologiam (Ü. C. 9 S. 785 f.),
die aus der Zeit vor Mitte 1533 stammen.
Um diese Zeit trat in Calvins Leben die große Wendung, seine
Bekehrung, ein.1 WTir brauchen uns hier nicht auf die Frage ein-
zulassen, ob diese als Resultat einer langen Entwicklung oder als
ein plötzliches Ereignis zu denken sei. Für uns kommt es nur auf
eine inhaltliche Bestimmung der Bekehrung Calvins an, deshalb,
weil es wahrscheinlich ist, daß die Art seiner Bekehrung für seine
Frömmigkeit und seine Theologie, also auch seine Lehre von der
Kirche bedeutsam gewesen ist.
Nun sind die Nachrichten, die wir über dieses wichtigste Er-
eignis im Leben Calvins haben, sehr spärlich. Aber zweierlei
können wir doch darüber aussagen. Erstens : bei Calvin ist die
Bekehrung im tiefsten ebenso wie bei Luther die Erfahrung der
Befreiung von der Schuld durch die Gnade Gottes in Christo, d. h.
der persönliche Heilsglaube gewesen. Denn daß das Heil des
1) So nach K. Müller, „Die Bekehrung Calvins", in den Nachrichten
der Göttinger Akademie 1905. phil.-hist. Klasse S. 211. Nach A. Lang,
..Luther und Calvin". Deutsch-ev. Bl. 1896 S. 322. um die Wende des
Jahres 1532 und 1533. Nach demselben: „Bekehrung Calvins" 1397 S. 30
erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1533. Vergl. auch: H. Lecoultre, la
Conversion de Calvin, in Revue de theologie et de philosophie. 1890 S. 5 ff.
Wernle, Zeitschr. f. Kirchengeschichte 1906. Auch A. Lang, ..Die ältesten
theologischen Arbeiten Calvins", in Neue Jahrb. f. deutsche Theologie 2,
S. 273 f.
Calvinstudien. 1 7
2^8 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Menschen im Glauben liege, das ist von Anfang bis zu Ende bei
ihm die Grundlage. (Vergl. A. Lang, Bekehrung, S. 55.) Anderer-
seits aber ist seine Bekehrung spezifisch verschieden von der
Luthers und hierin dann auch gerade für die Eigenart seines
Christentums bedingend. In Luther war persönlich schon lange
die Frage nach einem gnädigen Gott lebendig. Seine Bekehrung
bestand darin, daß ihm in seiner Sündenangst „aus Rom. 1, 17 die
Gewißheit der Barmherzigkeit und Liebe seines Gottes als der Inhalt
der gesamten Schrift klar wurde". (K. Müller, Calvins Bekehrung
S. 220.) Von diesem Gnadenevangelium hatte Calvin schon länger
in seinem Freundeskreise hören können und sicher auch gehört.
Aber es war ihm nicht persönlich bedeutsam geworden. Er hatte
sein Herz an anderes gehängt. Nun war ihm die Erkenntnis seiner
Sünde, seiner Gottesferne aufgegangen. So wurde ihm zugleich
mit der Erfahrung der Gnade das zur Gewißheit, daß es nicht
anginge, ein Leben ohne Gott zu führen, daß er keine Kreatur
vergöttern dürfe, sondern sich ganz Gott hingeben müsse, ihm in
seinem Leben allein zu dienen. Von da aus kam er auch in seiner
Theologie zu einer stärkeren Betonung Gottes, seiner Majestät
und Ehre. Das führte ihn aber auch zugleich zu einer unbedingten
Beugung unter die Schrift, in der er Gottes Wahrheit und Willen
offenbart fand. — Die starke Theonomie seiner Gedanken wird
von hier aus verständlich. Und so schildert wohl Karl Müller die
Eigenart der Bekehrung Calvins richtig, wenn auch in der Ab-
lehnung des von uns an erster Stelle genannten Faktors einseitig:
„daß der Herrscherwille Gottes gebietend an seine Seele herantrat
und sie bezwang, daß vor seiner Majestät alle Ausflüchte zer-
gingen, das hat seine Bekehrung ausgemacht. Craindre Dieu, se
dedier du tout ä nostre Seigneur, das wird fortan die Triebkraft
seines Lebens. Und daß er es auch anderen gegenüber zum Inhalt
seiner Wirksamkeit erhoben hat, das hat ihn zum Reformator ge-
macht" (a. a. O. S. 220).1
Als erstes uns erhaltenes Zeugnis der reformatorischen Ge-
sinnung Calvins wurde trotz wiederholter Bestreitung bis vor
kurzem immer noch die Rektoratsrede oder vielmehr -predigt
eines Freundes des Reformators, Cop, über die Seligpreisungen
1) Im letzten Satz zeigt sich freilich besonders stark die Einseitigkeit
der These Müllers. Das erst macht Calvin inhaltlich zum Reformator,
daß er eben die Glaubensgerechtigkeit genau im Sinne Luthers predigte. —
Übrigens ist die von K. Müller richtig betonte Seite auch A. Lang nicht
entgangen. Vergl. A. Lang, Bekehrung S. 56 f.
Von cand. tlieol. Tli. Werdermann. -59
betrachtet. A. Lang zeigte, daß sie eine recht unselbständige Kom-
pilation aus zwei Quellen: einem Vorwort zu der mit Anmerkungen
versehenen Ausgabe des Neuen Testamentes von Erasmus und
einer Predigt Luthers über den gleichen Text in der Kirchen-
postille sei. Aber die eingehenden Untersuchungen, die K. Müller
angestellt hat, machen es unmöglich, sie weiterhin als ein Zeugnis
der theologischen Anfänge Calvins zu benutzen. Nur eins ist
daraus sicher, daß nämlich Luthers Schriften in dem Freundes-
kreise Calvins eifrig gelesen wurden.
Auch die Psychopannychia ist hier nicht zu verwerten, sondern
allein die im Jahre 1534 verfaßte Vorrede.1 Ebenso ist von den
beiden Vorreden, die Calvin im Jahre 1535 für die Bibelübersetzung
seines Vetters Olivetan geschrieben haben soll, nur die erste als
echt anzusehen.
In der Vorrede zur Psychopannychia sagt Calvin solchen
Leuten gegenüber, die, sobald man sie nur mit dem Finger an-
rührt, schreien, die Einheit der Kirche werde zerrissen, die Liebe
verletzt, daß er keine Einheit anerkenne als in Christo, keine Liebe,
bei der Christus nicht das Band sei. Hauptbedingung zur Er-
haltung der Liebe ist also, daß unter uns der Glaube heilig und
unverletzt bleibe (O. C. 5 S. 170 f.). In der Vorrede zu Olivetans
Bibelübersetzung aber legt er dagegen Verwahrung ein, daß er
etwa durch die Forderung des Bibellesens auch für das gewöhn-
liche Volk aus der Kirche die Ordnung des Lernens und Lehrens
beseitigen wolle. Diese sei vielmehr für eine bedeutsame Wohltat
Gottes zu halten, wenn sie von gottgesandten Propheten, Lehrern
und Auslegern recht verwaltet werde. Aber es sei nötig, daß das
gläubige Volk seinen Gott selbst sprechen höre (O. C. 9 S. 788).
Auch sagt Calvin, es sei falsch zu meinen, bei so vielen Häresien
werde das Volk besser durch Gehorsam als durch Lehre zusammen-
gehalten (S. 789).
Es sind also nur ganz gelegentliche Bemerkungen über die
Kirche, die uns bisher begegnet sind. Aber zwei zu beachtende
Züge treten schon in ihnen hervor. 1. Für Calvin ist die Ein-
heit der Kirche wichtig; aber sie ist ihm gegründet nur auf
Christus selbst. Es ist etwas emphatisch gesprochen, wenn Dou-
mergue (I, 468) gleich in dieser Stelle den ganzen Calvin finden
1) Vergl. gegen Kampsch. I S. 248 f. und O. C. 5 S. XXXIV f. schon
O. C. 10 b S. 38 f. und A. Lang, Die ältesten theol. Arb. C. s.
17*
2 ÖO Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
will. Aber hervorragend wichtig ist für ihn dieser Gedanke.
2. Calvin will die Ordnung der Lehrämter nicht umstoßen ; im
Gegenteil, das kirchliche Amt ist ihm eine große Wohltat Gottes
dann, wenn es recht ist, d. h. das Wort Gottes zur alleinigen und
wahrhaften Grundlage hat.
b) Institutio von 1536.
Eine zusammenfassende Darstellung seiner Anschauung vom
Christentum gibt uns Calvin schon sehr bald in der Sommer 1535
vollendeten und 1536 erschienenen ersten Ausgabe seiner inst,
rel. Christ.
Bekanntlich schließt sich diese Ausgabe in ihrem Aufbau zu-
nächst an den kleinen Katechismus Luthers an. Von den sechs
Kapiteln dieses kleinen Buches, wie Calvin selbst diese Ausgabe
später nennt, behandeln die vier ersten dem lutherischen Katechis-
mus folgend: 1. das Gesetz oder den Dekalog, 2. den Glauben
oder das apostolische Symbol, 3. das Gebet oder das Hcrrengebct
und 4. die Sakramente. Dann folgen, im Charakter der Ausfüh-
rung anders gehalten, Kapitel 5 : sacramenta non esse quinque reli -
qua und Kapitel 6: de libertate christiana, potestate ecclesiastica
et politica administratione. Daß in dieser Ausgabe nur erst eine
mangelhafte systematische Ordnung sich findet, sehen wir gerade
auch bei dem Gebiet, auf das unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist.
Die wichtigsten Ausführungen finden wir in dem zweiten Kapitel
bei der Behandlung des vierten Artikels des apostolischen Sym-
bols, wo Calvin sich ex officio über die Kirche äußert. Weiter ist
aber auch zu beachten im fünften Kapitel die Polemik gegen die
römische sakramentale Auffassung der ordines ecclesiastici und
dann so ziemlich das ganze sechste Kapitel. Es muß hier genügen,
die Darlegungen des zweiten Kapitels näher zu berücksichtigen
und die anderen Ausführungen nur charakterisierend zu über-
schauen mit Hervorhebung besonders wichtiger Punkte.
Calvin scheidet das Symbol in vier Teile. Die drei ersten sind
den drei Personen der Trinität zugewiesen. Der vierte legt dar,
quae ad nos ex ea in Deum fide redeant, quaeque expectanda sint
(O. C. 1 S. 58). Wir glauben nach ihm zunächst die heilige katho-
lische Kirche d. h. die Gesamtzahl der Erwählten, seien es Engel
oder Menschen, Tote oder Lebendige und mögen sie in noch so
fernen Ländern und Völkern zerstreut sein. Und zwar glauben
wir sie als die eine Kirche und Gemeinschaft, als das eine Volk
Von cand. theol. Th. Werdermann. 20 1
Gottes, dessen Führer und einziges Haupt Christus, unser Herr,
ist. Denn gerade in ihm sind jene durch Gottes Güte vor Grund-
legung der Welt erwählt, damit sie alle dem Reich Gottes bei-
gesellt würden. Weil also die Erwählten in Christus zu einem
Leib geeint sind, darum ist ihre societas die catholica, id est,
universalis (S. 72). Und heilig ist sie, weil alle, die von Gottes
ewiger Vorsehung erwählt wurden zu Gliedern der Kirche, vom
Herrn geheiligt werden (S. 73). Hier werden nun, was für die
erste Ausgabe bezeichnend ist, Bemerkungen über die Erwählung
eingeschoben. Diese wird nach Paulus verwirklicht in Berufung,
Rechtfertigung und Verherrlichung. Und zwar vollzieht und be-
zeugt Gott ohne alle Ausnahme auf diese Weise seine Erwählung.
Daher werden von der Schrift unter das Volk Gottes oft nur die
gerechnet, bei denen die Erwählung durch Berufung und Recht-
fertigung schon offenbar geworden ist. Aber auch nur die Er-
wählten gehören zum Volk Gottes. — Der Zweck aber, weshalb
diese Erörterungen hierhergestellt sind, tritt klar in folgendem
Satze heraus : Cum autem ecclesia sit populus electorum dei, fieri
non potest ut qui vere eius sunt membra tandem pereant, aut
malo exitio perdantur (S. 73). ,,Die Erwählungsidee ist konsti-
tuierend für den Kirchenbegriff. Der Wert des Glaubens an die
Kirche wird durch sie festgestellt, indem sich als Inhalt dieses
Glaubens die Überzeugung, des Heils nie verlustig zu gehen, er-
gibt'', so sagt Max Scheibe mit Recht (C. Prädestinationslehre,
Halle 1897 S. 9). Darum führt auch Calvin weiterhin aus, daß
Gott und Christus, den Erwählten für die Sicherheit ihres Heils
einstünden (S. 73). Und da es auch nie eine Zeit gegeben hat und
nie eine geben wird, wo Gott nicht seine Kirche auf der Erde hat
(S. 74), so ist auch das, was zuletzt das Bekenntnis zum Glauben
an die Kirche enthalten soll, und ihm die Bedeutung für uns gibt,
möglich, daß wir nämlich im Vertrauen auf die göttliche Güce
gewiß sind, daß auch wir zur Kirche gehören, und erwarten, daß
wir mit den anderen Erwählten Gottes, mit denen wir berufen
und schon zum Teil gerechtfertigt sind, völlig gerechtfertigt und
geheiligt werden. Ohne diesen persönlichen Glauben aber ist, wie
Calvin etwas weiter unten (S. 74/75) nochmals betont, der Glaube
an die allgemeine Kirche ganz nutzlos.
In das Geheimnis Gottes in bezug auf die Frage, wer denn
erwählt und wer verstoßen sei, sollen wir nicht eindringen wollen.
Das ist für unseren Glauben nicht nötig. Der stützt sich allein
2Ö2 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
auf die Verheißung, daß Gottes Kind sei, wer seinen Sohn an-
genommen hat (S. 74).
Auch die Schlüsselgewalt (S. 75), die Christus den Dienern
seines Wortes übergeben hat, bedeutet nicht, daß wir bei den ein-
zelnen erkennen könnten, wer zur Kirche gehöre und wer nicht.
Sondern sie verspricht nur, daß von dem Hören und gläubigen
Annehmen des Evangeliums hier auf Erden das Urteil Gottes im
Himmel abhängen werde.
Nun aber greift Calvin auf die Bemerkung (S. 73) zurück, daß
die Schrift in Anpassung an unser Verständnis nur die Berufenen
und zum Teil Gerechtfertigten als Erwählte bezeichne. Da eine
Glaubensgewißheit über die Erwählung der einzelnen nicht mög-
lich ist, so hat das Liebesurteil einzusetzen. In ihm müssen uns
alle die als Erwählte und Glieder der Kirche gelten, die erstens
durch Bekenntnis des Glaubens, zweitens durch das Beispiel ihres
Lebens und drittens durch die Teilnahme an den Sakramenten mit
uns denselben Gott und Christus bekennen. Gewisse Unvoll-
kommenheiten ihres sittlichen Lebens, sofern sie sich nur nicht
darin gefallen, können das nicht hindern. Denn die Schrift hat
uns diese Erkennungszeichen der (wahren) Kirche Gottes gegeben
(S. 75). — Alle aber, die mit uns nicht denselben Glauben teilen
oder trotz des Bekenntnisses ihres Mundes durch ihre Werke das
Gegenteil beweisen, geben sich dadurch als solche zu erkennen,
die gegenwärtig nicht Glieder der Kirche sind. — Da soll nun die
Exkommunikation von der Gemeinschaft der Gläubigen alle ab-
scheiden, die den Glauben an Christus nur vorspiegeln, aber durch
ihr leichtfertiges Leben und Sündigen der Kirche ein Ärgernis
geben und also unwürdig sind, mit Christi Namen sich zu
schmücken. Drei Abzielungen hat die Exkommunikation: 1. sie
soll hindern, daß Gottes Ehre verletzt werde ; 2. sie soll verhüten,
daß das schlechte Beispiel verderblich wirke, 3. sie soll durch
Scham zur Besinnung und Reue führen (S. 76). — Bezeichnend
ist, daß die Ehre Gottes voransteht ! Die anderen Gesichtspunkte
sind von pädagogischem Interesse eingegeben.
Was bedeutet aber die Exkommunikation? Man darf an dem
Ausgeschlossenen nicht verzweifeln (S. 76/77). Er könnte ja doch
zu den Erwählten gehören, und die Erfahrung zeigt uns, daß oft
ganz Fernstehende der Kirche zugesellt werden. Worauf es für
uns in der Gemeinschaft mit den anderen ankommt, ist, daß wir
in gegenseitiger Aufrichtigkeit voneinander möglichst gut denken.
Von cand. theol. Tli. Werdermann. 2G~K
So dürfen wir auch bei den Exkommunizierten die Person selbst
nicht verwerfen, nur ihre von Gottes Gesetz verurteilten Werke.
Zwar verbietet es die Kirchenzucht mit jenen vertrauten Umgang
zu pflegen. Aber auf alle Weise müssen wir doch, durch Ermah-
nungen und Belehrungen, durch Milde und Güte und durch unsere
Gebete sie zu besserem Leben zu bekehren suchen, damit sie sich
der Gemeinschaft und Einheit der Kirche zugesellen. Das gilt
überhaupt von allen Feinden der wahren Religion. Daß man mit
äußerem Zwang gegen sie vorgeht, ist gar nicht zu billigen (S. 77).
— Diese Ausführungen sind besonders zu beachten, gerade auch
dem Verfahren gegenüber, das Calvin selbst später einschlug.
Wenn man also bei den Einzelnen nicht bestimmt feststellen kann,
ob sie zur Kirche gehören, so ist das doch sicher, daß überall, wo
Gottes Wort mit Ernst gepredigt und gehört wird, wo die Sakra-
mente nach Christi Einsetzung verwaltet werden, etwas von Gottes
Kirche sei ; denn seine Verheißung kann nicht trügen. Gewissere
Kenntnis von der Kirche gibt es hier nicht. Auch hier muß der
Glaube einsetzen. Denn was man nicht sieht, das glauben wir ja
eben im Vertrauen auf die Verheißung Gottes. Wenn wir also
die Kirche glauben, so sagen wir damit zugleich, daß sie nicht
eine res carnalis sei, quae sensibus nostris subiiei, aut certo spatio
circumscribi, aut in sede aliqua figi debeat (S. yy).
Im Bekenntnis zur communio sanetorum sagen wir unseren
Glauben dazu aus, daß in der allgemeinen Kirche unter allen Er-
wählten gegenseitige Gemeinschaft und Teilnahme an allen Gütern
herrsche, ohne daß dadurch Verschiedenheiten der Gaben und be-
sonderer Besitz ausgeschlossen wäre. Vielmehr jeder hat seine
besonderen Gaben und Aufgaben; aber alle haben in gegenseitiger
Liebe teil an dem, was ein Glied hat, weil sie zu eine m Körper
gehören. Haec est ecclesia catholica, corpus Christi mysticum
(S. 78). Also soll die Formel communio sanetorum als nähere
Bestimmung zu ecclesia erklären, wie beschaffen wir die Kirche
glauben.
Auf Vergebung der Sünde aber bezieht sich unser Glaube,
weil uns, die wir Glieder des ecclesiae corpus sind, Sündenver-
gebung zuteil wird, die sonst nirgends und auf keine Weise zu
finden ist (S. 78). Aber auch die Kirche selbst ruht eben auf der
Vergebung der Sünde als auf ihrem Fundament. Denn durch die
Vergebung der Sünde kommen wir zu Gott, und wird er uns
264 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
geneigt; sie öffnet also auch allein für uns den Eingang in die
Kirche ; sie hält und schützt uns in ihr.
Damit schließen die Ausführungen über die Kirche ab. Die
Erläuterungen der beiden letzten Begriffe des Symbols: Auf-
erstehung des Fleisches und Ewiges Leben, berücksichtigen nicht
unmittelbar die Kirche. Doch bevor wir uns über die Bedeutung
des bisher Analysierten Rechenschaft geben, wollen wir noch auf
die späteren, mit unserem Thema in Verbindung stehenden Be-
merkungen der Institutio von 1536 einen Blick werfen.
Bei der Besprechung des Abendmahles sagt Calvin wieder,
daß die Christen ein Leib seien (S. 126). Überall fällt das Ge-
wicht auf die Verbindung der Kirche mit Christus, im Anschluß
an Eph. 5 wird bei der Zurückweisung des Ehesakramentes der
römischen Kirche die Kirche als Braut Christi bezeichnet (S. 193 f.,
vergl. S. 110, 214). Sie heißt auch Reich Christi (S. 204). Sie
wird weiterhin als die Trägerin all der großen Verheißungen Gottes
betrachtet (S. 181, 214 f.).
Aber in diesen späteren Ausführungen findet sich niemals mehr
die Kirche als der universus praedestinatorum numerus bestimmt.
Vielmehr tritt jetzt der Begriff der Gläubigen in den Vorder-
grund,1 d. h. die Kirche wird jetzt betrachtet unter der dem mensch-
lichen Verstände angepaßten Form der Schriftaussagen. Auch
wird nun häufiger der Plural gebraucht und also auch die Einzel-
gemeinde als Kirche bezeichnet. (Vergl. S. 185, 225, 227 singulae
ecclesiae. S. 163 ut in singulis locis aut provinciis constitui eccle-
siae possunt.) Jetzt hören wir Calvin sprechen von der ecclesia
orientalis und occidentalis (S. 155, 218), der ecclesia constantino-
politana (S. 155).
Gerade in der Verschiebung der Betrachtungsweise kommt
die Eigenart der beiden letzten Kapitel, denen diese Darlegungen
angehören, zum Ausdruck. Sie ist dadurch bewirkt, daß neben
der ideellen Bestimmung der Kirche als Gesamtzahl der Prädesti-
nierten jetzt die äußere sichtbare Seite der Kirche mehr hervor-
tritt. Gegen einzelne Ordnungen der römischen Kirche richtet
sich hier Calvin. Aber er argumentiert selbst auch von der äußer-
lich sichtbaren Kirche aus, für die er rechte Ordnungen ebenso
und mehr als für jede menschliche Gemeinschaft als nötig erkennt
(S. 225, vergl. S. 87). Die gesetzlichen Ordnungen nennt daher
1) S. I.3S fideüum ecclesia (S. 208, 214), S. 139 coetus fidelium (S. 226).
S. 163 coetus fidelis populi.
Von rand thcol. Th. Werdermann. 2t>5
Calvin wohl gar die Nerven der Kirche (S. 225). So mußte er
eben hier gerade auf die äußere Seite der Kirche eingehen. Da-
durch wird die grundlegende Bedeutung der früheren Ausfüh-
rungen nicht aufgehoben.
Zunächst wendet Calvin sich gegen die Usurpation der Herr-
schaft in der Kirche durch den römischen Klerus, die ihren deut-
lichen Ausdruck in dem falschen Sakrament des ordo gefunden
hat. Die Kirche muß Christi Reich bleiben (S. 204). — Wohl hat
dieser, wie Calvin schon bei Besprechung des Bußsakramentes
(S. 126) ausführt, seiner Kirche die Schlüsselgewalt übergeben,
aber diese ist mehr ein Dienst als eine Gewalt; denn nicht den
Menschen, sondern seinem Worte hat Christus sie bestimmt. Die
Exkommunikation aber steht nach Mt. 18 der Kirche zu (S. 163) ; und
als solche bezeichnet Christus nicht paueulos tonsos, rasos, linigeros,
sed coetum fidelis populi in nomine sno coactum. — Der Name
Kleriker (S. 181) nimmt schon fälschlich für einen Teil in Anspruch,
was dem Ganzen gehört; denn die ganze Kirche ist Christo zum
Eigentum übergeben, der ganzen Kirche gilt das Wort aus
1. Petr. 2. So will Calvin auch beide, Bischöfe wie Priester, nnr
Diener der Kirche nennen (S. 185). Andere Diener der Kirche
aber anzuerkennen als Prediger des Wortes Gottes, ist gegen die
Wahrheit der Schrift (S. 186).
Eigentlich sollten diese nun gewählt werden von der Gemeinde
unter ratendem und leitendem Beistand guter Bischöfe aus der
Nähe.1 Dafür führt Calvin auch das Beispiel des Cyprian an. Ob
aber in einer Zusammenkunft der ganzen Kirche oder nur durch
Abstimmung weniger Beauftragter oder schließlich auch durch- die
Obrigkeit die Bischöfe gewählt werden sollen, dafür kann nach
Calvin kein bestimmtes Gesetz aufgestellt werden. Das muß sich
nach den jeweiligen Verhältnissen richten (S. 187). Calvin selbst
ist dem allgemeinen Stimmrecht dabei eben nicht zugeneigt ; es
halte zu schwer, so viele Köpfe gut unter einen Hut zu bringen.
Daher sagt er schließlich, ihm scheine es gut, wenn man vel magi-
stratum, vel senatum, vel seniores mit der Wahl beauftrage unter
Hinzuziehung von einigen Bischöfen. Calvin ist in dieser Frage
recht weitherzig; den Fürsten und freien Städten überläßt er die
1) Vergl. S. 187 atque ita quidem factum oportuit, si ecclesias stare in-
columes voluissent, penes quos rerum arbitrium erat, ut ecclesia quae de
eligendo ministro deliberatura erat, antequam in consilium ivisset, advo-
casset e vicina unum aut duos episcopos, cum quibus agitasset, quis
potissimum assumendus fuisset.
2 66 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Entscheidung je nach den Verhältnissen (S. 188). Er gibt sogar
zu, daß selbst die verkehrte Praxis der römischen Kirche seinerzeit
ein wahres Heilmittel gewesen sein könnte (S. 187 f.). — Zu be-
achten ist jedenfalls, daß Calvin nicht von vornherein eine Mit-
wirkung der staatlichen Behörde bei der Pfarrwahl ausschließt.
Wer hier mit den seniores gemeint ist, wird nicht klar. Doch ist
es wahrscheinlich, daß diese Bemerkung auf die Ältesteneinrich-
tung Oekolampads in Basel geht, in dessen Nähe ja gerade diese
Abschnitte der Institutio vollendet wurden.
Über die Bedeutung des Pastorenamtes handelt Calvin ein-
gehender bei der Besprechung der potestas ecclesiastica. Diese ist
nicht etwa ohne Bedeutung, ist aber zur Auferbauung, nicht zur
Zerstörung gegeben. Wer sie verwaltet, darf sich deshalb nicht
höher schätzen als andere. Denn er ist nur ein Diener Christi.
Die Macht und Würde, die in der Schrift den Trägern des Amtes
beigelegt wird, kommt nicht ihrer Person zu, sondern allein ihrem
Dienst, allein dem Worte (S. 205 f., vergl. 208 f.). Deshalb ist
auch zurückzuweisen, was die Römischen lehren, daß die Kirche
Glaubensartikel aufstellen könne, also in ihrem Ansehen der Schrift
gleich stehe, daß nur der ein Christ sein könne, der alle ihre
Glaubenssätze annehme (S. 209 f.). Auch das ist verkehrt, daß die
Konzile als Repräsentationen der Kirche nicht irren könnten
(S. 210 f.). Das allein ist für die Gültigkeit ihrer Beschlüsse ent-
scheidend, ob sie dem Worte Gottes entsprechen (S. 212); denn
Christus übt seine Königsherrschaft nur durch sein Wort aus
(S. 215). Wo man darüber hinausgeht, da ist eben die Kirche
nicht (S. 212). — All die reichen Versprechungen aber richten sich
nicht nur auf die Kirche im ganzen, so daß man sie nur durch
diese erhalten könnte, sondern sie sind vor allem den einzelnen
Gläubigen bestimmt, so daß direkt die Verbindung der einzelnen
mit Gott hergestellt ist (S. 213). Christus allein ist der Lehrer der
Kirche (S. 215 f.).
Nur kurz wollen wir einige Hauptgedanken über das Verhält-
nis der weltlichen Macht zur Kirche erwähnen. Christi geistliches
Reich und die bürgerliche Ordnung sind ganz verschiedene Dinge
(S. 228). Aber solange wir sterbliche Menschen sind, dürfen sie
auch nicht als miteinander in absolutem Widerspruch stehend auf-
gefaßt werden (S. 229). Vielmehr ist auch das eine Aufgabe der
Obrigkeit, dafür zu sorgen, daß unter ihr kein Götzendienst, keine
Verletzung und Schmähung des Namens Gottes stattfinde (S. 230).
Von cand. theol. Th. Werderraann. 267
Auch in der glänzend geschriebenen epistola nuncupatoria an
Franz I. von Frankreich finden sich einige Bemerkungen über die
Kirche. Wenn von Calvins Gegnern ihm entgegengehalten wird
(O. C. 1 S. 14), daß nach seiner Auffassung es doch in den letzt-
vergangenen Jahrhunderten keine Kirche habe geben können, so
weist Calvin das zurück und stellt dem den Glaubenssatz entgegen,
daß, solange Christus herrscht, auch seine Kirche leben werde
(S. 20). Zu dieser Kirche gehört auch er und seine Glaubens-
genossen. Vorzüglich klar tritt hier auch hervor, daß gerade in
der Anschauung von der Kirche ein Hauptstreitpunkt mit der
Kirche Roms lag. In bis cardinibus, so sagt Calvin, controversia
nostra vertitur : primum, quod ecclesiae formam semper apparere
et spectabilem esse contendunt, deinde quod formam ipsam in
sede romanae ecclesiae et praesulum ordine constituunt. Dem setzt
Calvin entgegen : et ecclesiam nulla apparente forma coustare
posse, nee formam externo illo splendore, quem stulte admirantur,
sed longe alia nota contineri, nempe : pura verbi dei praedicatione
et legitima sacramentorum administratione (S. 20 f.). Auch die zweiten
Gegner Calvins, die Wiedertäufer oder, wie er sie nennt, Katabap-
tisten, werden hier angeführt (S. 23 f.). Sie sind ihm mit ihren
Ideen und Streitereien das Unkraut, das Satan unter den
Weizen sät.
Vergegenwärtigen wir uns die ganzen Aussagen der Institutio
von 1536, so sehen wir, wie Calvin noch verhältnismäßig in einheit-
licher Frontstellung kämpft. Durch seine Gegner ist seine Position
stark bestimmt. Diese aber sind hier wesentlich die Römischen.
\\ ohl hat er auch schon seine Anschauung im Gegensatz zu den
Anabaptisten aufgestellt. Gegen ihren Spiritualismus und Sub-
jektivismus richten sich die Feststellungen, daß jetzt die Kirche
noch nicht heilig sein könne, ferner die Ausführungen darüber,
daß in der Kirche auch Ordnungen nötig seien, zumal das Amt des
Minister verbi, und weiter die Bemerkungen gegen die Verachtung
der Obrigkeit und äußerlichen Herrschaft. Aber das ist eigentlich
nur durch die Verleumdungen veranlaßt, daß die französischen
Protestanten Schwärmer seien; durchschlagend für seine Dar-
legungen ist nur die Stellung gegen Rom. Auch steht Calvin noch
nicht in den Kämpfen des praktischen Kirchendienstes und ver-
teidigt also nicht nach den verschiedensten Riehtungen hin die be-
stehende Ordnung der evangelischen Kirchengemeinschaft. Durch
all diese Momente bedingt, wird seine Darlegung hier, zumal im
2 68 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
dritten Kapitel, wo er noch ungestörter ist, denn nachher, innerlich
und geschlossen.
Von hier aus ist es zu verstehen, daß die Kirche hier vor
allem als die Schar der Prädestinierten betrachtet wird, als die
innerliche nur mit den Augen des Glaubens erfaßbare Gemein-
schaft. So ist die Bedeutung der Kirche eine große, sie ist eben
das einheitliche heilige Corpus Christi. Darum muß auch Gott in
Christus allein ihr Herrscher sein. Gerade diese Verbindung mit
Christus ist stark betont. Wenn daher A. Lang (Reform. Kirchenz.
1899) auch in seiner Besprechung von Riecker, Grundsätze refor-
mirter Kirchenverfassung. Leipzig 1899, damit recht hat, daß noch
nicht die ausgesprochene Christokratie mit ihrer äußeren Durch-
führung hier gefordert werde, so ist doch zu beachten, daß in dem
eben hervorgehobenen Zug wenigstens eine direkte Anbahnung der
späteren Weiterbildung vorhanden ist. — Im Blick auf die Glieder
bezeichnet die Kirche am besten der Ausdruck numerus praedesti-
natorum. Das gemeinschaftliche Moment, das auch durch die
attributive Auffassung der communicatio sanctorum aufgenommen
wird, kommt hier stärker als später zum Ausdruck. Wenn nach
Calvin der einzelne Prädestinierte zur persönlichen Heilsgewißheit
gelangen kann, dann ist er ja letztlich nicht durch irgend etwas,
auch nicht durch eine anstaltliche Kirche von seinem Gott ge-
trennt. Wenn aber so auch, wie wir schon oben mit M. Scheibe
sagten, der Prädestinationsgedanke für Calvins Lehre von der
Kirche konstituierend ist, so ist doch zu beachten, daß er für
Calvin nicht die Bedeutung der Gnadenmittel, eben als Mittel nach
Gottes Willen, herabsetzt, und daß er auch durchaus nicht den
Versuch überflüssig macht, mit Ermahnung und Belehrung, Milde
und Gebet die Irrenden auf den rechten Weg zu bringen. Alles
durchdringend ist der Prädestinationsgedanke auch hier nicht. Die
religiöse Abzielung desselben aber, die Heilsgewißheit in Gott zu
verankern, ist klar zu erkennen.
Also als Glaubensobjekt, nicht wie später als externum medium
salutis, wird jetzt noch die Kirche von Calvin behandelt. Er
scheidet auch gar nicht zwischen einer unsichtbaren und einer
sichtbaren Kirche, so sehr ist ihm zunächst das innere geistliche
Wesen die Hauptsache. — Den Menschen warnt er, vorwitzig zu
weit in Gottes Geheimnisse eindringen zu wollen. Doch stellt er
eine Anpassung der Schrift an unser menschliches Verständnis fest.
Und dem entsprechend gibt auch er für den Glauben und das
Von canJ. theol. lli. Werdermann. 2ÖQ
Liebesurteil Zeichen des Vorhandenseins der Kirche an : Wort und
Sakrament. Das Fehlen der Kirchenzucht unter diesen notae ist
um so bemerkenswerter, weil er vom Einzelnen auch jetzt schon
Bewährung in einem guten Leben fordert, wenn anders er für ein
Glied der Kirche gehalten werden soll.
Nachdem er so das Wesen der Kirche und ihre Erkennbarkeit
auf dem Glauben gegründet hat, schließt er durch seine Bestim-
mung der Exkommunikation menschliche Tyrannei aus.
Das müssen wir wohl sagen, daß es Calvin gelungen ist, der
katholischen Kirche gegenüber seinen Standpunkt herauszuarbeiten
und sich sowie seinen Glaubensgenossen die Gliedschaft an der
Kirche Christi sicher zu stellen.
Doch wie steht es nun mit der sichtbaren Erscheinung der
Kirche? Daß auch diese ihre Bedeutung hat, drückt allein schon
die Forderung der Exkommunikation aus. Auch sahen wir ja
schon, daß sie in den späteren Kapiteln ganz entschieden in den
Vordergrund tritt. Hat er sie in ihrer Bedeutung nun recht ge-
würdigt? hat er die Verbindung von dem innerlichen, geistlichen
Wesen der Kirche zu ihrer äußeren Erscheinung recht hergestellt?
Beides erscheint wohl angebahnt und ermöglicht ; der erste Punkt
zum Beispiel in der Forderung, daß auch in der äußeren Erschei-
nung nicht Gottes Ehre verletzt werde ; der zweite in mannig-
facher Beziehung, besonders durch die recht verstandenen notae
des Wortes und der Sakramente. Aber deutlich herausgearbeitet
sind sie nicht.
Auf eine weitere Wertung der einzelnen Aussagen dieser Kapitel
wollen wir uns hier nicht einlassen. Soweit sie nicht schon er-
folgt ist, wird sie später ihren Platz erhalten. Xur auf eins soll
noch kurz hingewiesen werden. Bemerkenswert ist, daß Calvin
auch jetzt schon, das Recht und die Pflicht der Obrigkeit vertritt,
für rechte Gottesverehrung zu sorgen. Also nicht erst, als die
Obrigkeit für ihn günstig gesinnt war, sondern auch als er selbst
unter den Folgen des Grundsatzes zu leiden hatte, sein Vaterland
verlassen mußte, trat er für ihn ein.
2. Kapitel.
Untersuchungen der dogmenhistori sehen Zusammenhänge.
a) Stellung zum katholischen Kirchenbegriff.
Im vorigen wurde schon gesagt, daß Calvins Lehre von der
Kirche im wesentlichen gegen den katholischen Kirchenbegriff
2 70 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
ausgearbeitet wurde. Wenn wir nun dazu übergehen wollen, die
Stellung von Calvins Lehre nach der Institutio von 1536 in der
Dogmengeschichte zu untersuchen, wird es gut sein, diesen Gegen-
satz klarer zu erfassen. Dazu wollen wir uns kurz die Entstehung
und den Bestand des katholischen Kirchenbegriffes vergegen-
wärtigen.
Holtzmann (Neutestamentliche Theologie II, 280) meint schon
in den Pastoralbriefen die ganze Katholizität eben auch beim
Kirchenbegriff finden zu können. Ansätze dazu mögen vorhanden
sein. Aber die gefährliche Betonung des Anstaltlichen, Äußeren
bei der Kirche, die dann schließlich dazu führte, daß nach der
offiziellen Lehre wenigstens die Kirche mit all ihrem äußerlichen
Apparat sich zwischen Gott und die Seele drängt, hat sich doch
erst in der weiteren geschichtlichen Entwicklung herausgebildet.1
Sehr bald freilich wird die reine Lehre als konstituierend für die
Kirche gefordert; und als Träger derselben werden die Inhaber der
Ämter hervorgehoben. Das verengert sich allmählich dahin, daß
die Träger des von den Aposteln eingesetzten Episkopates die
Wahrheit verbürgen. Doch findet man in der nachapostolischen
Zeit noch nicht ein derartiges Zurückdrängen der Gemeinde, daß
die Kirche als eine hierarchische bezeichnet werden könnte. Die
Einheit beruht noch auf dem einen waltenden Geist und dem einen
Bekenntnis. Darin aber, daß Glaubensregel, bischöfliches Amt und
Kanon immer fester als Kriterium zur Beurteilung der Kirche auf-
gestellt werden, wird die eine Kirche des Herrn eine empirisch ab-
grenzbare Größe. Indem nun an sie das Heil gebunden wird, wird
sie zur Heilsanstalt. Zugleich aber versteht man die Kirche immer
noch als das heilige Gottesvolk, das von Befleckung rein erhalten
werden muß. — Aber indem nun einerseits die Zucht sich immer
mehr lockert und andererseits der Gnosis gegenüber immer mehr
das Episkopat und besonders die Apostolizität betont wird, geht
die Entwicklung hin zu Cyprian, bei dem der große Umschwung
evident ist. Richtig scheint mir Loofs (D. G. S. 209) die Haupt-
eigentümlichkeiten seiner Lehre in folgenden drei Punkten zu-
sammenzufassen. 1. Die empirische katholische Kirche ist die eine
1) Vergl. zu der folgenden kurzen Entwicklung die Dogmengeschichten
von A. Harnack, F. Loofs, R. Seeberg. Ferner Ad. Krauss, Das protestan-
tische Dogma von der unsichtbaren Kirche. Gotha 1S76. — R. Seeberg,
Studien usw. — W. Hoenig, Der katholische und der protestantische
Kirchenbegriff in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Berlin 1894. Auch
den Art. „Kirche'"', in P. R. E. 3. Aufl. von Köstlin.
Von cand. theol. Th. Werdermann. 271
unumgängliche Heilsanstalt, deren Segnungen, damit dem Urteil
Gottes nicht vorgegriffen werde, auch den lapsis nicht vorent-
halten werden dürfen. 2. Als Heilsanstalt ruht die Kirche auf
dem Episkopat, den Bischöfen als der Apostel Nachfolgern ; an
sie hat der Laie sich anzuschließen. 3. Auf der Einheit des Epi-
skopats beruht die Einheit der Kirche. — Hierin ist die entschei-
dende Wendung zum Katholizismus hin vollzogen. Die Kirche ist
nicht mehr das an Christus glaubende heilige Volk Gottes. Sondern
sie ist die Menge derjenigen, die den Bischöfen gehorchen, und
zwar nicht mehr deshalb, weil diese die Wahrheit verbürgen, son-
dern weil sie von Gott zu Vorgesetzten der Gemeinde geordnet
sind. Ihre Gesamtheit hat die Kirche zu leiten. Die Heiligkeit
der Kirche beruht nicht mehr auf den Einzelnen, sondern auf ihren
Institutionen. Diese ganze Wandlung im Begriff der Kirche von
der Gemeinschaft des Heils hin zu der äußerlichen Heilsanstalt ist
tief begründet in einer Änderung der ganzen religiösen oder doch
wenigstens theologischen Anschauungen. Das Evangelium wird
als neues Gesetz verstanden, der Glaube als Fürwahrhalten. Die
Gnade ist nicht mehr die Gesinnung Gottes gegen die Menschen,
sondern sie ist zu einer magischen Einwirkung Gottes geworden,
die als solche für den Einzelnen durch die hierarchische Kirche
vermittelt werden muß. Die Sakramente erhalten eine magische
Wirkung, die allein durch das äußerlich formgerechte Geschehen
hervorgerufen wird. Und indem sich der katholische Priester- und
Opferbegriff hiermit verbindet und teils auch schon hierin sich
auswirkt, wird der Charakter dieser altkatholischen Kirche noch
klarer herausgearbeitet.
Doch laufen neben dieser Entwicklung noch andere Strömun-
gen her. Augustin (vergl. H. Reuter, Augustinische Studien.
Gotha 1887) war es, der „das Gesamterbe der bisherigen Ent-
wicklung in sich aufnahm"", nicht ohne daß es zu inneren Wider-
sprüchen kam. Am schärfsten zeigt sich dieses innere Auseinander-
fallen in der Fassung der Kirche einerseits als des numerus prae-
destinatorum, andererseits als der äußerlichen empirischen, katho-
lischen Kirche. In der ersten prägt sich seine neuplatonische
Gottesidee, mehr aber sein eigenes inneres Glaubensleben aus,
nach dem das Heil nur auf Gott gegründet sein konnte. Daß die
Kirche himmlisch sei, uranfänglich, die Gemeinschaft der an
Christus Glaubenden, unter der Wirkung seines Todes Stehenden,
das sind die Hauptzüge dieser Seite, in der Augustin sich über den
2 72 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
vulgären Katholizismus erhebt. Doch da er kein äußeres Krite-
rium für die Feststellung dieser Kirche hat, auch kein inneres für
den Einzelnen, ob er selbst zu ihr gehöre, so kann neben dieser
Auffassung der Kirche die andere ruhig bestehen bleiben und
praktisch das Übergewicht erhalten. Hiernach gehören zu ihr alle,
die von der hierarchischen Kirche umfaßt sind, auch die mali ;
demgemäß ist der Glaube für ihn hier nur Autoritätsglaube. Das
Prädikat der Katholizität faßt er in zweierlei Bedeutungen. Den
Donatisten gegenüber verweist er auf die weite Ausdehnung der
„katholischen" Kirche. Sonst aber sieht er wohl auch in dem
„katholisch" einen Hinweis auf den Liebesgeist und erlangt damit
eine Begründung der Notwendigkeit des zweiten Kirchenbegriffes
auch neben dem ersten. So kann auch ein praedestinatus außer-
halb der Kirche sein Heil nicht erlangen. — An jener ersten inner-
lichen Gedankenreihe fanden die gegen das offizielle Kirchentum
opponierenden Elemente bis in die Reformationszeit hinein will-
kommene Belege für ihre Aufstellungen. An die zweite Auffassung
der Kirche aber mußte die nächste weitere Bildung anknüpfen, da
sie selbst ja bei Augustin die Ausbildung der herrschenden Vor-
stellung war. Die anderen Gedanken wurden zwar auch in der
katholischen Kirche nie ganz vergessen, aber sie übten keinerlei
Wirkung aus. Bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts läßt
sich eine ausgebildete Lehre von der Kirche nicht verfolgen. Das
ist charakteristisch : eine Lehre von der Kirche war nicht nötig.
Die Kirche selbst mit ihrer Macht ist die Grundlage des ganzen
Systems. Nach zwei Seiten aber geschah dann noch im Mittel-
alter die weitere Bildung wenn nicht der Lehre so doch des die
Lehre bestimmenden Zustandes der Kirche. Zunächst wurde
wieder stärker, als es bei Augustin geschah, die Hierarchie betont.
Die Kirche wurde identifiziert mit dem Klerus, an dessen Spitze
immer mehr der Papst gestellt wurde. So sah man allmählich im
Bekenntnis zur Suprematie des einen Papstes die Einheit der Kirche
gewährleistet. Thomas ist es besonders, der die hierarchischen
Ansprüche zu Glaubensartikeln stempelt. Zwar kämpften noch im
Reformationszeitalter und weiterhin Episkopalismus und Kurialis-
mus ; aber diese Frage war für die Beurteilung des Wesens der
Kirche von minderer Bedeutung und fällt schon mehr unter die
zweite Entwicklungsreihe : die weitere Durchbildung der juristi-
schen Seite der Kirche. Durch all das wurde die äußere Kirche so
stark betont, daß es dann richtig katholisch dem Protestantismus
Von cand. theol Tb. Werdermann. 2 73
gegenüber von Bellarmin als ein spezifischer Vorzug der römischen
Lvirche gepriesen werden konnte, daß sie nur eine sichtbare Kirche
kenne, eine Gemeinschaft von Menschen, die so sichtbar sei wie
die römische Volksgemeinde, wie das Königreich Frankreich oder
die Republik Venedig.
Gegen diese Veräußerlichung der Kirche und die damit zu-
sammenhängende Tyrannisierung der Gewissen wandten sich alle
Reformatoren und, wie wir schon sahen, auch Calvin. Er hebt das
innerliche in Gott ruhende Wesen der Kirche hervor. Wenn die
römische Kirche mit all ihrem äußeren Betriebe sich als notwendige
Heilsanstalt zwischen Gott und den Menschen drängt, so macht da-
gegen Calvin den einzelnen frei, stellt ihm den freien Zugang zu
Gott wieder her, gibt ihm das allgemeine Priestertum zurück, vor
allem den Glauben, der persönliches Vertrauen und Heilsgewißheit
ist, nicht Fürwahrhalten auf irgend eine äußerliche Autorität hin.
So bringt er dem dinglichen Anstaltscharakter der römischen
Kirche gegenüber ihr primäres Wesen als persönliche Gemeinschaft
zu seinem Recht. Der geforderten Autorität der Kirche stellt er
die Autorität Gottes in seinem Wort gegenüber, der Anmaßung der
Herrschaft in der Kirche durch die Menschen die unbedingte Herr-
schaft Gottes und Christi. Während jene die wunderbare Bedeu-
tung der Kirche dahin verlegt, daß sie die Verwalterin der magisch
wirkenden Sakramente sei, führt Calvin sie auf den lebendigen Gott
selbst zurück, auf Christus, der als der Erhöhte mit ihr in inniger,
mystischer Gemeinschaft steht. — Wenn so Calvin gegen die katho-
lische Lehre ankämpft, ist damit nicht ausgeschlossen, daß er vieles
auch noch von ihr übernimmt. Er will ja sich selbst und seinen
Glaubensgenossen die Gliedschaft an der ecclesia catholica wahren.
Er betont ihre hohe Bedeutung, ihr Begründetsein in göttlicher
Stiftung, ihre Notwendigkeit, ihre Einheit, Allgemeinheit, Heilig-
keit, fordert Ordnung und Zucht in ihr, stellt sie über den Staat,
dem er die Aufgabe zuweist, ihr zu dienen. In all dem bleibt er der
Form nach auf dem Boden der katholischen Lehre; inhaltlich aber,
das sahen wir schon, bestimmt er die Begriffe und Gedanken an-
ders. Doch überhaupt ist nicht, wie es oft geschieht, alles, was die
katholische Kirche besitzt, gleich als unchristlich zu betrachten.
Jedenfalls wenn E. Troeltsch gerade auch im „Supranaturalismus
der Kirchenstiftung" (Kultur der Gegenw. I, 4 S. 253 ff.) eine innere
Verwandtschaft der Reformation mit dem Mittelalter feststellen
zu müssen glaubt, so scheint er mir darin nicht gerade das Wesent-
Calvinstudien. l8
2 7A Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
liehe des katholischen Kirchenbegriffes aufgestellt zu haben. Das
ist vielmehr etwas allgemein Christliches. Darum kann der Satz:
„Die Reformation ist wesentlich ein Bruch mit dem katholischen
Kirchenbegriff" (Hoenig a. a. O. S. 43), doch seine, wenn auch ein-
seitig formulierte Richtigkeit haben.
b) Verhältnis zur mittelalterlichen Opposition.
Welcher Art ist nun das Verhältnis dieses Bruches mit der
katholischen Lehre, wie er sich uns bei Calvin zeigt, zu der Oppo-
sition, wie sie aus dem Schoß der römischen Kirche selbst erstanden
ist? Der bedeutendste Geist unter den sogen. Vorreformatoren ist
der Engländer Wiclif. Sich in seinem Kampf gegen die macht-
volle Hierarchie und die begüterten Mönche selbst auf Sätze des
Thomas von Aquino stützend, wurde er doch zuletzt zum Bruch
mit dem Papsttum getrieben. Dabei ging er soweit, daß er er-
klärte, die römische Kirche könne in Glaubensartikeln irren, und
schon die formale Autorität der Schrift allein behauptete. Auch
er weist im Gegensatz zu der menschlichen Herrschaft in der römi-
schen Kirche darauf hin, daß in der wahren Kirche Christus allein
Herrscher sei. Aber wenn er so, wie Loofs sagt, auch schon die
Negationen des Protestantismus antizipiert hat, so finden sich doch
die Positionen bei ihm nicht. Heilsgewißheit kennt er nur in
seltenen Fällen ; Glaube und Evangelium sind bei ihm noch ganz
katholisch bestimmt. So kann er eigentlich auch nicht vom katho-
lischen Kirchenbegriff loskommen. Nun ist auch Wiclif für die
Reformatoren direkt kaum von Bedeutung gewesen. Ich habe ihn
bei Calvin nur einmal und in ganz anderem Zusammenhang zitiert
gefunden (O. C. 6 S. 350). Er hat auf die Reformation wesentlich
durch Vermittlung von Hus eingewirkt. Dieser war freilich nur
ein „konservativer Wiclifit" (Loofs a. a. O. S. 654) ; aber weil gerade
seine Anschauung von der Kirche den Reformatoren bekannt
geworden ist, soll er hier berücksichtigt werden. Auch er wurde
durch seinen Gegensatz zur Hierarchie im Anschluß an Wiclif zu
Aussagen über die Kirche geführt, die denen Luthers so ähnlich
klingen, daß selbst dieser erstaunt war, hier seine eigene Ansicht
wiederzufinden, als er im Oktober 15 19 Hus' Traktat de ecclesia
erhielt. Diese scheinbar enge Verwandtschaft zeigt sich z. B. auch
darin, daß ihm die empirische Kirchengemeinschaft nur darum
1) A. Ritschi, Über die Begriffe sichtb. und unsichtb. Kirche S. 345 f.
— J. Gottschick, Hus', Luthers und Zwingiis Lehre von der Kirche. Zeit-
schrift f. Kirchengesch. 1886 S. 345 ff.
Von cand. theo]. Th. Werdermann. 2 75
Kirche ist, weil sie die Mittel handhabt, durch welche die Prädesti-
nation an den Einzelnen wirksam wird, die Sakramente und ins
besondere das Gesetz Christi. Aber hierin liegt zugleich der große
Unterschied den Reformatoren gegenüber verborgen, der ihn auf
der Stufe der römischen Kirche stehend zeigt. Das Evangelium
ist ihm wie den Scholastikern die nova lex. Die Sakramente sind
ihm in ihrer magischen Wirkung gebunden an den katholischen
Priester. Darum fordert auch er Unterordnung unter die hierar-
chische Kirche. Den gegenwärtigen Klerus greift er nur wegen
seiner Verderbtheit an. Hus hat wesentlich nur die falsche
Schätzung der kirchlichen Rechtsordnung zerstört. Daß es nicht
nötig ist, wegen ähnlicher Negationen bei einem Reformator direkte
oder indirekte Abhängigkeit zu postulieren, zeigt das Beispiel
Luthers. Die Ähnlichkeit erklärt sich ungezwungen aus der Gleich-
heit der Stellung einer verrotteten Hierarchie gegenüber. Bei
Calvin findet sich auch nur dreimal Hus erwähnt, und zwar stets
mit Hinblick auf die römische Gewalttat, der er zum Opfer fiel.
(O. C. 5. 494- 503 ; 7> 287.)
Es seien hier noch einige Bemerkungen besprochen, die
R. Scholz in einem Aufsatz : „Marsilius von Padua und die
Idee der Demokratie" (Zeitschr. f. Politik I, i 1907) über das Ver-
hältnis der Gedanken des Marsilius zu denen Calvins macht. Jener
unterwarf nach ihm die geistliche und die weltliche Gewalt der
Autorität des Volkes. Dann sagt Scholz S. 90 „der souveräne
Wille der Gemeinde entscheidet bei (Calvin), wie bei Marsilius über
alle Angelegenheiten der Kirche". — „Alle Geistlichen sind Diener
der Gemeinde, des Volkes." Das ist unrichtig. Calvin vertritt
nicht die Souveränität des Volkes, der Gemeinde in der Kirche,
sondern die Souveränität Gottes, Christi. Gewiß betont Calvin
auch der Anmaßung des katholischen Klerus gegenüber das Recht
der Gemeinde. Und es wäre nicht ausgeschlossen, daß Calvin ( re-
danken des Marsilius aus dessen gerade in den zwanziger Jahren
in Frankreich verlegten Werken oder auch indirekt aufgenommen
hätte. Aber zunächst erklärt sich sein Hervorheben der Gemeinde
besser und einfacher aus seiner ganzen Situation und aus der durch
Luthers Vermittlung ihm aufgegangenen Forderung (\(.< allge-
meinen Priestertums. Vor allem aber wird man sich hüten müssen,
den oben angedeuteten und z. B. auch in der Stellung der ministri
verbi divini durchgeführten Unterschied von Calvins Gedanken den
allgemein demokratischen gegenüber zu verwischen.
18*
2 70 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
c) Verhältnis zu den Humanisten.
Über der sicher vorliegenden Verbindung mit Augustin dürfen
wir nicht vergessen, daß Calvin auch ein Humanist war, freilich
sicher in manchem anders gefärbt als Erasmus, der Verehrer des
Hieronymus. Aber achten wir nun besonders auf die Möglichkeit,
daß Calvins Lehre von der Kirche durch Erasmus beeinflußt sei,
so ist zunächst festzustellen, daß des letzteren Anschauung hier
sehr unklar, seine Stellung gebrochen ist.1 Das eine Mal äußert
er sich in recht demokratischer Weise über die Kirche : nicht die
Priester, die Hierarchie, sondern das Christenvolk sind die Kirche
(vergl. Erasmi epistolae. Lugduni Batavorum 1706 I S. 395 C).
Das andere Mal erhebt er die Hierarchie, vor allem das Papsttum
in den Himmel. Bald stellt er als höchste Autorität die Bibel hin,
will unter den Satzungen der Kirche eine Verschiedenheit statuieren
und sagt sogar, daß die Kirche hier und da irren könne ; bald for-
dert er wieder Unterwerfung unter die Autorität der Kirche, des
Papstes (vergl. a. a. O. I S. 487 C). Eine Reform der Kirche will
er jedenfalls nur mit Hilfe des Papstes. Nun ist es natürlich nicht
ausgeschlossen, daß Erasmus hier in gewisser Weise auf Calvin
eingewirkt habe. Sicher ist das durch seinen Ruf : zurück zu
Christus ! ad fontes ! geschehen. Aber das ist doch überhaupt nur
die allgemeine Einwirkung des Humanismus auf die Reformation.
Dahingegen ist Erasmus durch einen tiefen Graben von dem refor-
matorischen Verständnis des Heils und des Glaubens getrennt.
Wernle sagt : „Paulus war für Erasmus eine verschlossene Welt."
— Darnach wäre es verkehrt, wenn wir an diesem Punkt, in der
Lehre von der Kirche, eine Einwirkung des Erasmus bei Calvin
feststellen wollten, wenn sich die Form der Lehre auch aus dem
Einfluß derjenigen erklären läßt, die zu der entscheidenden Wand-
lung in Calvins Leben und Gedanken mitgewirkt haben. Das gilt
zumal auch deswegen, weil vor dem entscheidenden Eingriff in
Calvins Leben uns eine Abweichung von der katholischen Lehre
nicht bekannt ist.
Dasselbe würde bei Le Fevre d'Etaples in Betracht kommen.
Es ließe sich natürlich denken, ,,daß für die Art wie sich bei Calvin
die evangelischen Überzeugungen gehalten, die Fabersche Rich-
tung von Einfluß war." (Scheibe a. a. O. S. 123.) Aber zunächst
1) Vergl. Stichart, Erasmus von Rotterdam. Seine Stellung zu der
Kirche und zu den kirchlichen Bewegungen seiner Zeit. Leipzig 1870. —
P. Wernle, Die Renaissance des Christentums im 16. Jahrh. Tübingen 1904.
Von cand. theo] Th. Werdermann. -77
habe ich bei einer Durchsicht des Faberschen Kommentars zu den
raulinen von 1512, der doch am meisten unter seinen Schriften
reformatorischc Gesinnung verrät,1 nichts gefunden, was einen Ge-
danken Calvins in seiner Lehre von der Kirche bestimmt haben
könnte ; es sei denn, daß man solches in der Bezeichnung der Kirche
als der Braut Christi und der Begründung der Einheit der Kirche
durch die Einheit des Leibes Christi (S. 125 b) sehen wollte, zwei
Gedanken, die sich aber ohne Schwierigkeit bei Calvin aus seiner
Abhängigkeit von der Schrift erklären lassen. Vielmehr will es
mir an einzelnen Stellen scheinen, als ob bei Le Fevre Gedanken
vorlägen, die gar nicht auf Calvins Anschauung hinführten. Z. B.
zu Eph. 4, n f. (S. 168 b): mirabilis et diligibilis corporis Christi
(ut sie dicam) aedificatrix et architectrix charitas non nostra sed
dei, non reflexa sed direeta. Jedenfalls war Le Fevre in den zwan-
ziger Jahren und den folgenden, während deren eine Einwirkung
auf Calvin hätte stattfinden können, in seinen Äußerungen zurück-
haltend geworden. In seinem Kreise aber wurden die Schriften
Luthers, Melanchthons, Butzers gelesen.
d) Verhältnis zu den anderen Reformatoren.
Das führt uns von selbst dazu, die Wurzeln auch von Calvins
Lehre von der Kirche bei den deutschen Reformatoren zu suchen.
Zunächst gilt es da, auf die Verbindung mit Luther zu achten.
— Sahen wir bisher, wie in der katholischen Kirche immer mehr
das ursprüngliche Verhältnis zwischen Gott und dem einzelnen
Menschen durch das Dazwischendrängen der Kirche verschoben
wurde, wie stark dabei allmählich das Gewicht auf die äußerliche,
rechtlich verfaßte Kirche gelegt wird, so tritt in der Reformation
unter Luthers Führung die Loslösung von dieser Knechtschaft
und die grundlegende Selbständigmachung des Einzelnen in seinem
Verhältnis zu Gott ein.2 Bei Luther vor allem ist das allmähliche
Erwachsen eines neuen Kirchenbegriffes aus seiner Erkenntnis des
1) Doumergue I, S. 81 sagt von ihm: en un sens, ce livre peut etre
appele: le premier livre Protestant. Zurückhaltender sieht Herminjard I
S. 239 in ihm nur le preMude bien imparfait de „la manifestation de l'Evan
2) Außer der schon angeführten Literatur vergl. A. Ritschi, Entstehung
der lutherischen Kirche. Zeitschr. f. K.-G. 1877 und Begründung des
Kirchenrechts im evang. Begriff von der Kirche. Zeitschrift für Kirchen-
recht 1869. — A. Krauss a. a. O. — F. Sieffert a. a. O. — E. Rietschel,
Luthers Anschauung von der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit der Kirche,
St. u. Kr. 1900. — P. Drews, Luthers Stellung z. Landeskirchentum. Zeit-
schrift f. Theol. u. K. 1908. — R. Sohm, Kirchenrecht I, 1892. — J. Köstlin,
Luthers Theologie. _\ Aufl. Stuttgart 1901.
278 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Heils und des Glaubens zu verstehen. Der ihm aufgedrängte
Kampf gegen die römische Hierarchie ließ ihn dann zu größerer
Klarheit kommen. Was er der katholischen Lehre gegenüber als
entscheidend erkennt, vereinigt sich darin, daß ihm die äußerlich
verfaßte Kirche nicht die unbedingte Heilsanstalt ist. Ihm ist die
Kirche vielmehr zunächst das Volk der Gotteskinder, die im evan-
gelischen Sinn Gläubigen, auch wohl die universitas pracdestina-
torum, eine Gemeinschaft zunächst, ohne daß der anstaltliche
Charakter ganz abgestoßen wäre. Er kennt im eigentlichen Sinn
nur die eine Kirche, die sowohl sichtbar ist (doch den Ausdruck
hat er gar nicht !) als unsichtbar. Unsichtbar, weil sie und die sie
begründende innere Wirkung der Gnadenmittel nur für den Glauben
erkennbar ist ; aber doch zugleich sichtbar, weil die Betätigung
ihrer geistlichen Gemeinschaft, in der eben ihr Wesen besteht, an
die äußeren Gnadenmittel, Wort und Sakrament gebunden ist.
Aber auch so ist sie nur für den Gläubigen sichtbar. Wort und
Sakrament sind daher die notae der wahren Kirche. Indem nun
Luther dem Ritus der Sakramente eine eigene Bedeutung verlieh,
die freilich nur den Gläubigen zum Heil gereicht ; indem er sie
wesentlich nicht als Bekenntnisakte der Gemeinde, sondern als
eine Spende von Gott durch den Verwalter derselben betrachtete,
lag die später verderblich gewordene Gefahr vor, daß durch die
Betonung des Amtsbegriffs wieder das anstaltliche Moment in der
Auffassung der Kirche das Übergewicht gewann. — Zur wahren
Kirche gehören nach Luther nicht die mali. Sie sind nur Glieder
der äußeren Christenheit, die aber Luther eigentlich nicht Kirche
nennen will. Es ist in der Tat zunächst nur der von Ritschi als
der dogmatische bezeichnete Begriff der Kirche, was für ihn
Kirche ist, und dazu der ethische, sofern unter ihm verstanden
wird, daß die Gläubigen untereinander in Liebe verbunden sich
gegenseitig dienen. Diese Kirche will er auch äußerlich darzu-
stellen versuchen. Erst als seine Hoffnung auf die Fürsten und die
Obrigkeiten, die als wahre Christen die Kirche recht einzurichten
imternehmen sollten, zu schänden geworden war, und ebenso auch
die Hoffnung auf die Gemeinden selbst, erst da gab er dies Streben
auf und suchte nun durch Fürstengewalt wenigstens eine erziehende
Staatskirche durchzusetzen. Die äußere Einrichtung derselben
überläßt er ganz den Fürsten, die von Gott gesetzt sind, das
Äußere zu ordnen. In den gleichen Bahnen geht Melanchthon in
den Schriften, die bis zur Institutio von 1536 auf Calvin wirksam
werden konnten.
Von cand. theol. Th. Werderraann. 2^Q
Wenn wir uns nun wieder der dargestellten Lehre Calvins er-
innern, so wird uns sogleich die große Verwandtschaft mit Luther
entgegentreten. Auch Calvin kennt nur eine Kirche. Diese ist, was
er den Römischen gegenüber als den Angelpunkt ihres Zwistes
bezeichnet, eine unsichtbare, geistliche Gemeinschaft. Sie ist ihm
die Gemeinschaft der Gläubigen gerade auch im evangelischen
Sinne. Und wenn Calvin die Kirche als die Schar der Prädesti-
nierten zu bezeichnen liebt, so ist der Ausdruck auch Luther nicht
fremd. Auch für Calvin ist diese unsichtbare Kirche zugleich
sichtbar, sofern eben ihre notae die rechte Verwaltung des Wortes
Gottes und der Sakramente sind. Und auch nur dem Glauben ist
sie sichtbar. Wie Luther, so legt auch Calvin auf das Wort und
seine Verkündigung ein besonderes Gewicht, wie jener, so hält
auch er keine priesterliche Vermittlung für nötig, sieht vielmehr in
jedem Christen einen Priester, der frei vor Gottes Angesicht treten
kann. Wie jener, zumal in den ersten Jahren des Kampfes, will
er von der Gemeinde aus die Kirche aufbauen, fordert ebenso wie
jener zu dessen Durchführung rechte Zucht.
Freilich bemerken wir dabei auch sogleich, daß der Jüngere
manche von den ursprünglichen Positionen des älteren Meisters
festgehalten hat, die dieser später anderen gegenüber zurücktreten
ließ. Es ist so, wie E. F. K. Müller in seiner Symbolik sagt, daß
Calvin (und nach ihm die Reformierten überhaupt !) einige ur-
sprünglich reformatorische Gedanken Luthers rettete, die bei
diesem selbst später gefährdet wurden und bei den Lutheranern
dann teilweise ganz verloren gingen. Das ist vor allem bei der
Auffassung der Kirche als Gemeinschaft und als Gemeinde der
Gläubigen der Fall. Wir wiesen schon darauf hin, wie diese bei
Luther anderen Gedanken gegenüber zurücktrat. Bei Melanch-
thon und den Lutheranern ist sie dann durch das Verständnis der
Kirche als schola und die Betonung des Amtes ganz in den Hinter-
grund gedrängt worden. Das machte sich auch darin geltend, daß
Luther und die Lutheraner darauf verzichteten, von der Gemeinde
aus die Kirche zur Darstellung zu bringen, und auch gerade als die
heilige, sie durch von der Gemeinde geübte Sittenzucht zu erhalten.
Der starken Abhängigkeit von Luther gegenüber, auch in dem
Festhalten an ursprünglichen Gedanken desselben, muß doch die
Eigenart in Calvins Lehre wohl beachtet werden. Er stellt doch
enger, als Luther es tut, die Kirche in Verbindung mit der Prä-
destination. Bei Luther findet dieser Gedanke sich hier nur vor-
2 80 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwirklung.
übergehend, nicht in so gewichtiger Ausführung als bei Calvin.
Und wenn wir vorhin auch schon das Moment, das am meisten die
Prädestinationslehre Calvins bedingt, nannten : die Sicherung des
Heils, so glaube ich doch nicht fehl zu gehen, wenn ich in dieser
starken Betonung des alleinigen Wirkens Gottes bei der Bestim-
mung derer, die zur Kirche gehören, noch einen spezifischen Zug
der Frömmigkeit Calvins wirksam finde : seine Beugung vor der
Ehre Gottes. Sie tritt uns ja auch sonst oft genug entgegen.
Auch wenn der Obrigkeit neben anderen Aufgaben die zuge-
schrieben wird, dafür zu sorgen, daß Gott recht verehrt werde,
zeigt sich derselbe Zug. In Verbindung damit steht dann die
stärkere Forderung eines sittlich guten Lebens bei den Gliedern
der Kirche und die Hervorhebung der Autorität der Schrift bei
der Ordnung der Gemeinde, nur daß er sich nicht scheut, hier je
nach den Verhältnissen auch Abänderungen gutzuheißen.
Wie erklären sich diese Abweichungen von Luther? Könnte
darin sich etwa der Einfluß der anderen Reformatoren zeigen? Als
erster käme da Zwingli in Betracht. Seine Anschauung von der
Kirche nun ist einerseits in sich nicht völlig einheitlich, anderer-
seits aber auch nicht sich gleichbleibend (vergl. A. Baur, Zwingiis
Theol. 2. Bd., Halle 1885 und 1889. — R. Stähelin, Huldreich
Zwingli. Basel 1895 und 1897). In der früheren Fassung, ebenso
wie in der späteren findet sich bei ihm eine dreifache Anwendung
des Begriffes ,, Kirche", nur daß sie später in eine andere Stellung
zueinander gebracht werden. Obenan steht ihm die Kirche als
Gegenstand des Glaubens, die Gemeinde der Prädestinierten. Das
Wesen der Kirche in dieser ersten Fassung ist ihm Versammlung ;
in ihrer Gesamtheit ist sie unsichtbar. Konstitutiv für diese Kirche
ist das Wort Gottes. Die Sakramente sind ihm nur Darstellungen
der Reinheit der Gemeinde. Aber auch das Wort wirkt nach ihm
nur als „inneres Wort".1 — Als eine zweite Seite von Zwingiis
Kirchenbegrifr tritt uns dann entgegen die einzelne ,,Kilchhöre",
die auch den Bann zu üben von Christo Vollmacht hat. Diese
„Kilchhören" stehen nach der älteren Auffassung nicht neben der
wahren Kirche, sondern sind Glieder derselben. — Die dritte Seite
des Kirchenbegriffes ist die, nach der sie die Gesamtheit derer ist,
1) Doch vergl. Gottschick a. a. O. S. 582 f. In gewisser Beziehung ist
aber sicherlich Seebergs Vorwurf a. a. O. S. 83 f. berechtigt, auch ebenso,
daß C. v. Kügelgen, Ethik Zwingiis S. 98 bei Zwingli einen stark spirituali-
sierenden Zug findet.
Von cand ther] Th Werdermann. 2 ■"> I
die sich zu Christo bekennen. Diese letztere empirische Kirche ist
als solche nicht Gegenstand des Glaubens. — In späteren Jahren
veranlaßten Zwingli äußere Verhältnisse zu einer Änderung, wo-
durch die zweite Fassung des Kirchenbegriffes eine andere Stellung
erhielt und als Teilbegriff unter die dritte rückte. Zur Wertung
von Zwingiis Lehre sei nur noch erwähnt, daß sich hier wirklich
die beiden Hauptseiten des Kirchenbegriffes, die Kirche als Ge-
meinschaft und die Kirche als Anstalt, voneinander gelöst haken.
Dadurch aber hat er zwar die systematische Einheitlichkeit nicht
gefördert, indessen dafür das katholisierende .Moment in Luthers
Sakramentslehre vermieden. Auch darf der Unterschied von
Luther nicht zu groß gefaßt werden ; er beruht zum größten Teil
nur auf abweichenden Formulierungen (vergl. Gottschick S. 616
und Loofs S. 806). — Achten wir nun auf das Verhältnis der Lehre
Calvins zu der Zwingiis, so ist zunächst zu sagen, daß da, wo Luther
und Zwingli zusammengehen, für Calvin die Abhängigkeit von
Luther näher liegt. Es ist überhaupt recht unsicher, ob Calvin den
Züricher Reformator im Jahre 1535 schon näher kannte. Sicher
ist, daß dieser niemals besonders hoch in seiner Achtung gestanden
hat. Das hat ihn ja mehr denn einmal den deutschen Schweizern
verdächtig gemacht (vergl. Hundeshagen, Konflikte S. 321). Schon
deswegen ist es nicht wahrscheinlich, daß bei dem einzigen
Punkte, in dem man eine Abhängigkeit Calvins von Zwingli ver-
muten könnte, bei der stärkeren Hervorhebung der Prädestinations-
lehre, wirklich dieser Einfluß wirksam ist. Das könnte höchstens
wohl indirekt durch Martin Outzer geschehen sein.
Bevor wir aber auf diesen eingehen, wollen wir noch einen
Blick auf Oekolampad in Basel werfen. Wir wiesen schon oben
auf den Punkt hin, der da besonders zu beachten ist. Oekolampad1
hatte schon Sittenzucht und zwar unter Heranziehung von Laien-
ältesten eingeführt. Eine volle Durchführung seiner Grundsätze
wurde freilich auch in Basel selbst unmöglich gemacht durch den
heftigen Widerspruch der Berner und Züricher auf dem läge zu
Aarau 1530, besonders gegen die Forderung der Scheidung von
weltlicher und geistlicher Gewalt, vor allen bei der Kirchenzucht.
Es wäre nicht unmöglich, daß in diesen Punkten eine Beeinflußung
1 ) Vergl. Herzog. Leben Oekol.'s. Basel 1843. — Th. Burkhardt, Über
Oekol.'s. Person und Wirksamkeit. Theol. Zeitschr. a. d. Schweiz 1893
S. 27 ff, 81 ff.
2ö2 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Calvins stattgefunden hätte, während er in Basel im Bezirk der
direkten Nachwirkungen des Reformators sich befand.
Doch müssen wir noch vor allem überlegen, ob nicht von
Butzer aus direktere Abhängigkeit sich nachweisen läßt. Dieser
hat jedenfalls neben Luther auf die theologischen Anfänge Calvins
am meisten eingewirkt (vergl. Usteri, Calvins Sakraments- und
Tauflehre. St. und Kr. 1884. — R- Seeberg, D. G. — Anrieh, Die
Straßburger Reformation nach ihrer religiösen Eigenart und ihre
Bedeutung für den Gesamtprotestantismus. Christi. Welt 1905).
A. Lang hat in seiner Arbeit über den „Evangelienkommentar
Butzers und die Grundzüge seiner Theologie'*, Leipzig 1900, durch
seine gründliche Untersuchung der Gedanken Butzers die Vor-
arbeit für eine nähere Bestimmung dieses Verhältnisses und zu-
gleich sehr wertvolle Hinweise gegeben. Für uns ist hier seine
Bemerkung (S. 47) sehr wichtig: „Calvin hat jedenfalls, als er in
der Institutio von 1536 das damals noch kleine und für ungelehrte
Leute bestimmte Handbuch christlicher Lehre entwarf, den Evan-
gelienkommentar reichlich benutzt, während dagegen eine Ein-
wirkung der anderen Kommentare — mag er sie damals auch
schon gekannt haben — an keiner Stelle mit Sicherheit zu er-
kennen ist/' Vergleichen wir nun Butzers Lehre von der Kirche
in ihrer früheren im Evangelienkommentar vorliegenden Gestalt
(A. Lang a. a. O. S. 176 ff.), so zeigen sich doch auch manche be-
deutsame Differenzen. Die wichtigste ist die starke Spirituali-
sierung der Kirche bei Butzer, die in der Konsequenz ihn z. B.
dazu führt zu erklären, daß eine gültige Berufung ins Predigeramt
nur von Gott, nicht von einer menschlichen Behörde oder Gemein-
schaft geschehen könne. Wir haben bei Calvin festgestellt, daß
nach ihm Gott gerade durch die menschlichen Vermittlungen die
Diener an seinem Wort beruft. Derselbe Zug zeigt sich auch an
anderen Punkten, so wenn Butzer in der Kirche das gemeinschaft-
liche so stark betont, daß er darüber das anstaltliche Moment ganz
vernachlässigt. Dies geschieht durch eine subjektivistische Her-
vorhebung der Definition der Kirche als numerus electorum, wo-
durch bedingt wird, daß nach ihm die Sakramente ebensowenig
wie die äußere Wortverkündigung den Bestand der wahren Kirche
verbürgen. Bei Calvin fanden wir auch die Kirche als Anstalt
wohl gewürdigt und die Gefahr, die für einen einheitlichen Begriff
von der Kirche in einer einseitigen Betonung der Erwählung liegt,
war vermieden, eben durch die Anerkennung von Wort und
Von cand. theol. Th. Werclermann. 2 83
Sakramenten als notae der wahren Kirche. — Aber eben hierin
schon erkennen wir auch die Verwandtschaft der Auffassung beider
Männer. Bei Calvin sahen wir ja auch, daß der Gedanke der Ge-
meinschaft ihm für die Kirche sehr wichtig war. Wenn nun „diese
Geistes- und Liebesgemeinschaft der Erwählten untereinander und
unter ihrem Haupte Christus ein Lieblingsgedanke Butzers ist,
den er sehr oft berührt, und bei dem er stets mit seinem I lerzen
verweilt" (Lang a. a. O. S. 177), so ist es wohl wahrscheinlich, daß
von ihm auch auf Calvin die Erkenntnis der Wichtigkeit dieses
Gedankens übergegangen ist. Noch sicherer ist das für die be-
deutsame Stellung der Prädestination in Calvins Lehre von der
Kirche, die wir ja eben auch bei Butzer finden. Hier ist der Ein-
fluß des Straßburgers deshalb so einleuchtend, weil, worauf Scheibe
und A. Lang schon hingewiesen haben, gerade auch in der be-
sonderen Art der Prädestinationslehre bei Calvin eine Verwandt-
schaft mit Butzers Gedanken vorliegt.
Mit diesen Punkten ist die Verwandtschaft der beiden Lehr-
arten noch nicht abgeschlossen. Auch der bei Calvin freilich jetzt
erst angebahnte und erst später fruchtbar gemachte Gedanke der
Christokratie findet sich bei Butzer, und vor allem dann auch die
nachdrückliche Forderung rechter Zucht in der Kirche. Von letz-
terem gerade kann A. Lang sagen (S. 185 f.): „damit ist prinzipiell
die Notwendigkeit, die Aufgabe und das Ziel der Kirchenzucht in
einer Weise festgestellt, der Calvin später nicht allzuviel Neues
hinzuzufügen brauchte".
Doch zeigt sich gerade in dem Neuen wieder die Eigenart
Calvins. Zu den zwei Gründen, die Butzer für die Notwendigkeit
der Exkommunikation angibt: 1. daß die Sünder dadurch zur
Scham geführt, und 2. daß die anderen vor der Verderbnis be-
wahrt werden sollten, fügt Calvin einen dritten und bezeichnender-
weise an erster Stelle hinzu, daß Gottes Ehre gewahrt werden
müsse. Die Reflexion auf die Ehre Gottes finden wir freilich auch
bei Butzer (Lang a. a. O. S. 198). Aber zu beachten ist doch sicher-
lich, daß Calvin diesen Gesichtspunkt auch hier und gleich so stark
betont. Das weist uns darauf hin, daß wir doch nicht nnterlassen
dürfen, für die theologische Eigenart Calvins auch auf unserem
Gebiete die bestimmte Färbung seiner Frömmigkeit zu beachten,
die durch die Besonderheit ihrer Begründung, seiner Bekehrung,
hervorgerufen worden ist. Als der Lebendige war Gott ihm per-
sönlich bedeutsam geworden, dessen durch die Gnade in Christo
284 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
bestimmter Herrschaft es sich zu unterwerfen gelte. Deshalb ent-
brannte er von Eifer, der Ehre Gottes zu dienen. Der Blick auf
sie mußte auch seine Theologie bestimmen. Auf diesem Boden
konnten auch manche Gedanken wachsen, sei es nun, daß sie hier
selbständig entstanden oder, von außen hereingetragen, Wurzel
fassen konnten. Das wird sich oft nicht entscheiden lassen. Ich
möchte hierher vor allem folgende Gedankenkomplexe rechnen :
Autorität der Schrift auch für die Gestaltung der äußeren Kirche ;
Forderung der Christokratie ; prinzipielle Trennung von geistlicher
und weltlicher Macht besonders bei der Ausübung der Zucht. Für
alle diese Punkte werden sich Vorbereitungen bei anderen Theo-
logen nachweisen lassen, aber ich glaube, es hieße das persönliche
Moment unterschätzen, wenn wir, zumal bei solch bedeutendem
Geiste wie Calvin, alles aus historischen Verbindungen erklären
wollten.
Ich fasse also das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zu-
sammen : Calvins Lehre von der Kirche, so wie sie uns in der
ersten Ausgabe seiner Institutio entgegentritt, schließt sich haupt-
sächlich Luthers Auffassung an. Außerdem macht sich besonders
der Einfluß Martin Butzers geltend. Das Ganze aber erhält seine
bestimmte Färbung durch die Eigenart der Frömmigkeit Calvins.
3. Kapitel:
Die Zeit der ersten praktischen Anwendung.
a) Praktische Tätigkeit.
In der Institutio von 1536 sehen wir Calvins Lehre von der
Kirche vor uns, wie sie sich ihm aus seinen Studien und seiner
inneren Frömmigkeit gestaltet hatte, ohne daß er dabei durch weit-
gehende Erfahrung auf dem Gebiete des kirchlichen Lebens ge-
leitet worden wäre. Fast möchte man sich wundern, daß in ihr
überhaupt schon so viel von der äußeren Gestaltung der Kirche
geredet wird. Bald aber sollte Calvin Gelegenheit finden, in der
Härte des Lebens seine Grundsätze zu erproben und weitei zubilden.
Es muß interessant sein festzustellen, wie er sich da verhalten hat,
er, der harte, rücksichtslose Mann, wie er so gern geschildert
wird, den ,, keine irdische Gewalt — zu einem Akkord mit den
irdischen Verhältnissen zu bewegen" vermochte (Hundeshagen,
Konflikte S. 51). Es wird zu untersuchen sein, ob etwa seine Lehre
von der Kirche durch die Einwirkungen des praktischen Lebens
Modifikationen erfahren hat.
Von cand. tlieol. Tli. W 28^
Wie waren die Verhältnisse in Genf, als er dorthin kam.'
Durch Farel war die Reformation zum Siege gekommen. Farel
selbst hat ziemlich ausschließlich auf die Vernichtung des Papismus
und auf innere Auferbauung der Gemeinde hingearbeitet. Die
Organisation des Kirchenwesens war inzwischen vom Staat allein
in die Hand genommen worden. Der Beschluß der allgemeinen
Bürgerversammlung vom 21. Mai 1536 hatte die neue Kirche zur
Staatskirche erhoben und den Katholizismus aus Genf aus-
geschlossen (vergl. Ratsprotokoll O. C. 21 S. 201). Der Rat nahm
die Rechte des alten Kirchenregiments an sich und sorgte für die
Durchführung der Beschlüsse der allgemeinen Bürgerversammlung.
Die kirchliche Gerichtsbarkeit und die Verwaltung der kirchlichen
Güter nahm er in die Hand. Er setzte die neuen Prediger ein.
Er vertrieb die Anhänger der alten Kirche, ging gegen den Aber-
glauben, gegen die Messen vor. Es ist klar wohin diese Ent-
wicklung gehen mußte. Sie führte zu dem Zustand, wie wir ihn in
den evangelischen Städten der deutschen Schweiz finden : zur voll-
ständigen Abhängigkeit der Kirche vom Staate.
Es scheint, als ob Earel, solange er allein stand, nichts gegen
ein solches Resultat einzuwenden hatte.- Ihm lag vor allem an
einer klaren Scheidung von der Verderbnis der römischen Kirche.
Hierin stimmte Calvin ganz mit ihm überein. Aber er hatte seine
Gedanken über die Kirche selbst weiter ausgebaut. Zu diesen
wollten die Zustände in Genf durchaus nicht passen.
Ihm erschien es vor allem nötig, daß die rechte Kirche nicht
Gott, ihrem Herrn, Unehre bereite. Ihm war es immer ein Greuel,
wenn man durch Berufung auf die evangelische Freiheit sittliche
1) Yergl. C. A. Cornelius, Historische Arbeiten vornehmlich zur Re-
formationszeit. Leipzig 1899. — Choisy a. a. O. S. 11. — A. Roget. histoire
du peuple de Gen. depuis la reforme jusqu'ä l'Escalade. Gen. 1870 — 1885.
2) Daß Farel auf Calvins Lehre von der Kirche einen Einfluß ausgeübt
habe, ist uns sehr unwahrscheinlich. Ich konnte nur Farels sommaire von
1534 einsehen. Da ist aber die Lehre von der Kirche in einem ganz von
Calvin abweichenden Tenor gehalten; die unsichtbare Kirche, die aber so
nicht genannt wird, tritt allein hervor. Klarheit herrscht nicht. Calvins
Entwicklung in seiner Lehre von der Kirche nach seinem Bekanntwerden
mit Fare! hat gerade in entgegengesetzter Richtung stattgefunden. Daß
Farel in seinem sommaire auch das Pastorenamt behandelt, kann unmöglich
von Einfluß auf Calvin gewesen sein. Farel denkt bei seinen Ausführungen
hierüber nicht an eine bestimmte Organisation. — Die Bedeutung Christi
wird von Farel für die Kirche sehr betont, doch findet sich bei ihm nicht
die spätere eigenartige Ausgestaltung der Christokratie wie bei Butzer
und Calvin. Auch hier ist keine Verbindung herzustellen.
2 86 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Ausschweifung decken wollte. Daß die Kirche, soweit sie in Er-
scheinung tritt, auch die grundlegend in Christus erworbene und
von ihm immer mehr bewirkte Heiligkeit möglichst zur Darstel-
lung bringe, das war praktisch für ihn ein Hauptziel. Dem aber
entsprachen die Verhältnisse in Genf gar nicht. Selbst Kamp-
schulte muß zugeben, Calvin habe wohl ein Recht gehabt, hier auf
Sittenzucht besonders zu dringen. Außerdem konnte auch die
ganze Richtung, welche die Organisation der Kirche bisher in Genf
eingeschlagen hatte, Calvin durchaus nicht gefallen. Er konnte
nicht so ruhig wie Farel dem zusehen, wie die weltliche Obrigkeit
die Kirche ganz unter ihre Gewalt brachte. Gerade auch darin
mußte Gottes Ehre gewahrt werden, daß in der Kirche nicht
menschliche Interessen die Oberhand gewinnen. Wenn daher Cal-
vin auch dem Staate das Recht und die Pflicht gab, die Ausübung
der Religion zu überwachen, so mußte ihm doch die Cäsareopapie,
wie sie tatsächlich in Genf herrschte, zuwider sein. — Es ist vor-
auszusehen, daß es gerade an diesen beiden Punkten zu erbittertem
Kampf kommen mußte.
Zunächst freilich hielt sich Calvin zurück.1 Das Haupt der
Kirche blieb Farel. Am 10. November 1536 legte dieser eine
Kirchenordnung vor, die uns nicht erhalten ist. Daran schlössen
sich weitere Verhandlungen, bei denen nun auch Calvin mitwirkte.
Gerade darin, daß die Geistlichen sich in ihrer Tätigkeit nicht auf
die Predigt beschränkt wissen wollten, sondern sich auch darüber
hinaus verantwortlich fühlten, erkennen wir Calvins Geist (O. C. 5
S. 319). Ein Punkt war es vor allem, an dem Calvin Anstoß nahm:
die Entweihung des Herrenmahls. Er selbst schreibt davon in der
ein Jahr später erschienenen Vorrede zur lateinischen Ausgabe des
Katechismus von 1538: si quando autem alias nos anxios habebat
haec sollicitudo, tum vero acerrime urebat ac discruciabat, quoties
distribuenda erat domini coena (O. C. 5 S. 319). So sind denn
auch die ganz unter Calvins Einfluß stehenden Artikel, welche die
Geistlichen am 16. Januar 1537 im Rat vorlegten, eigentlich eine
neue Abendmahlsordnung. Nur da kann ja eine gut geordnete
und geregelte Kirche sein, wo das Herrenmahl oft und würdig
1) Vergl. G. Weber, Gesch. Darst. d. Calvinismus i. Verhält, z. Staat
in Genf 11. Frankreich. Heidelberg 1836. — G. Galli, Die lutherisch, und
calv. Kirchenstrafen usw. Breslau 1879. — A. Roget a. a. O. — J. Gaberei,
hist. de l'Eg. de Gen. Gen. 1S58. — E. Bloesch, Gesch. d. schw. ref. K.
Bern 1898. — Fleury, hist. de l'eg. de Gen. 1880. 2. Bd.
Vdii cand. theol. 111. Werdennann. 287
genossen wird (O. C. 10 S. 5 f.). Mit Berufung auf Gottes Wort
stützt er seine Forderung; nach ihm muß man sich ja vor .
richten, als nach der gewissen Regel jeder Regierung und Ver-
waltung, besonders aber des Kirchenrcgimentes (S. 7). So sollen
also zunächst alle Gemeindeglieder monatlich einmal zum Abend-
mahl gehen. Um aber zu verhüten, daß das .Mahl unwürdig ge-
feiert werde, ist es nötig, die Kirchenzucht mit der Exkommuni-
kation einzuführen. Denn wichtig ist, daß bei diesem Mahl der
Gemeinschaft des Leibes Christi diejenigen ausgeschlossen bleiben,
die offen zeigen, daß sie nicht zu Christus gehören; sonst wird
Gott entehrt (S. 8). Ohne diese Ordnung kann eine Kirche nicht
den rechten Stand einnehmen (S. 10). Sie einzuführen ist Sache
der Obrigkeit (S. 8). Sie soll Personen von gutem Lebenswandel
und von gutem Zeugnis unter den Gläubigen erwählen, die über
die ganze Stadt verteilt auf das Leben der Einzelnen ihr Augen-
merk zu richten haben. Dann aber soll man in der Kirche die
Entscheidung treffen. Die Exkommunikation ist als eine aus-
schließlich kirchliche Handlung gedacht.
Wir sehen wie sich hier ganz die Grundsätze der Institutio
geltend machen. Gerade im praktischen Leben kommt der spezi-
fische Zug in der Frömmigkeit Calvins, die Betonung der Ehre
Gottes, stark zum Ausdruck. Auch bei dem Aufbau der Kirche
finden wir die Punkte hervorgehoben, die nach der Institutio als
Kennzeichen der Glieder der Kirche von der Schrift aufgestellt
sind. Teilnahme an den Sakramenten wird gefordert. Für das
zweite Merkmal, das eines ordentlichen Lebenswandels, soll die
Kirchenzucht sorgen. Hier werden wir auch bei dem Einzelnen
stets an die Institutio erinnert. Das dritte in der Institutio ge-
forderte Zeichen wird nicht vergessen: Das Bekenntnis des Glau-
bens. Es wird nämlich schließlich auch verlangt, daß alle Bürger
ein Bekenntnis ablegen sollen.
Wir sehen hier also gleich zu Anfang einen Versuch Calvins,
die Grundsätze seiner Institutio gerade in der Lehre von der Kirche
zu verwirklichen. Sofort aber erheben sich die beiden Schwierig-
keiten, mit denen wir Calvin weiterhin stets werden ringen sehen :
1. die einzelnen Bürger wollen sich unter die strenge Sittenzucht
nicht beugen ; 2. der Staat will sich seine durch die erste Refor-
mation gewonnene Macht nicht nehmen lassen. Dieser erste Ver-
such Calvins scheiterte im wesentlichen.
Nur der Antrag auf Abnahme eines Glaubensbekenntnisses
wurde vom Rat angenommen und sogar dahin verschärft, daß von
2 88 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
jedem Einzelnen ein Glaubenseid verlangt werden solle. Nur
Schwierigkeiten und Verbitterungen entstanden dadurch.
Erneutes Drängen der Prediger auf Einführen der Kirchen-
zucht führte schließlich zu einem Resultat, das nicht nach ihren und
besonders nicht nach Calvins Wünschen war. Am 27. Juli 1537 faßt der
Kleine Rat einen Beschluß, der Anzeige und Bestrafung der Sünder
für die weltliche Obrigkeit in Anspruch nimmt. Die Zweihundert
bestimmen sogar am 29. Juli, daß den Bezirksvorstehern Auftrag
gegeben werden soll, auf ihre Bezirksgenossen zu achten. Sie
sollen die Sünder erst allein, dann im Beisein von zwei bis drei
anderen ermahnen, dann der Obrigkeit anzeigen, und die Obrigkeit
soll nach Befund der Sache bis zur Verbannung schreiten. An
Stelle der frommen Männer sind also weltliche Beamte, an Stelle
der Exkommunikation die Strafe der Verbannung getreten ; nicht
Kirchenzucht, sondern Ausdehnung der Polizeigewalt auf die Sün-
den der Bürger ist der Inhalt des neuen Gesetzes. Das ist sicher-
lich wenig nach dem Sinne Calvins gewesen, der ja gerade in
diesem Punkte die Kirche selbständig wissen wollte. So hören
wir ihn denn auch Februar 1538 in einem Briefe an Bullinger
hauptsächlich darüber klagen, daß es noch keine Kirchenzucht
gäbe, während doch nach seiner Ansicht eine Gewähr dauernden
Bestehen der Kirche nur in der Wiederherstellung jener alten, das
ist apostolischen Disziplin zu finden ist. — Nicht ebenso wird es
Calvin als eine Überschreitung der Befugnisse der weltlichen Ge-
walt haben erscheinen können, wenn der Staat auch bei Lehr-
streitigkeiten für sich die letzte Entscheidung in Anspruch nahm,
so z. B. als im März 1537 Anabaptisten nach Genf kamen, die die
Schrift besser zu verstehen vorgaben als die Prediger und sich
weigerten, mit den anderen zu beten (vergl. Ratsprotokoll vom
18. März 1537). Zwar steht ja nach Calvin die Entscheidung über
Wahr und Falsch nur bei der Schrift. In einer Rede, die Calvin
auf einem Kolloquium zu Lausanne am 5. Oktober 1536 hält (O. C. 9
S. 877), heißt es so ganz der Institutio entsprechend, daß die Be-
rufung auf die Väter die Autorität der Schrift nicht irgendwie be-
schränken dürfe. Denn Gott übt seine Herrschaft nur durch sein
Wort aus (S. 878). — Aber die Obrigkeit muß doch entscheiden,
wann sie eingreifen und jemandem zum Gehorsam gegen die
Schrift zwingen muß.
All die Reformen, die ihm für die Kirche nötig erschienen,
hätte Calvin gern auf dem Wege gemeinsamen Strebens der auf
Von cand. theol. Th. Werdennanit. 289
einer Synode vereinigten Einzelgemeinden gefördert gesehen. Es
ist ganz recht, wenn Cornelius meint, Calvin habe eine ,, inter-
nationale Garantie der evangelischen Einzelkirchen" erstrebt.
Leider sollte ihm das nicht gelingen. Vielmehr trug gerade der
Zwist mit der Berner Nachbarkirche dazu bei, es zwischen der
Genfer Bürgerschaft und den Predigern zum offenen Konflikt zu
bringen. — Vergeblich bemühte sich Calvin gerade mit der Berner
Kirche zur Einigkeit zu kommen. Nur nach Beratungen mitein-
ander solle man Neuerungen vorbringen, so schreibt er Februar
1537 an einen Prediger zu Bern (O. C. 10 b S. 85. Herminj. 4
S. 187). Auf diese Weise würde Uneinigkeit zwischen den Kirchen
zu vermeiden sein. — Aber was er erstrebte, das war Einigkeit im
Geist, nicht in Äußerlichkeiten. So kann er am Schluß des Vor-
wortes des Katechimus von 1538 seinen Amtsbrüdern Frieden
anraten und doch zugleich das Drängen auf Gleichheit des Ritus
tadeln. Erst recht lehnt Calvin es ab, daß einer seine Formeln in
der Kirche anderen tyrannisch aufzwingen könne. Das trat be-
sonders im Streite mit Caroli zutage (vergl. O. C. 10 b S. 119.
Herminj. 4 S. 281 ff.). Deshalb lehnt er auch das Athanasianische
Symbol ab, weil es von keiner legitima ecclesia approbiert sei
(O. C. 10 b S. 84. Herminj. 4 S. 183 ff.).
Wenn wir dies beachten und zugleich, daß den Genfer Predi-
gern ein weiteres Nachgeben dem Staate gegenüber für die Kirche
gefährlich erschien, so wird es uns verständlich, wie es überhaupt
bei einer verhältnismäßig so unwichtigen Frage wie die der Berner
Bräuche zur Katastrophe kommen konnte. Die Genfer und zumal
Calvin betonten eben die Freiheit der Einzelgemeinde. Dazu kam
noch, daß die weltliche Obrigkeit die Ehre der Kirche verletzte.
Und so glaubten nun die Prediger nicht nachgeben zu können.
Denn das war es gerade, wofür Calvin besonders besorgt war, daß
er nicht die Ehre der Kirche und damit die Gottes preisgäbe.
Deshalb forderte er eine Synode der eidgenössischen evangelischen
Theologen. Dem Urteil dieser als einer kirchlichen Autorität
wollte er sich unterwerfen, nicht dem Eigensinn einer Nachbar-
kirche oder dem Zwang der weltlichen Obrigkeit.
Da man in Genf den Einspruch der Prediger nicht beachtete,
so erklärten Farel und Calvin am 21. April 1538, als das Abend-
mahl auf Befehl des Rates nach dem neuen Ritus ausgeteilt wer-
den sollte, „sie würden das Abendmahl nicht austeilen und zwar
nicht um des Brotes Willen, denn das sei eine gleichgültige Sache,
Cilvinstudien.
19
2QO Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
die in der Freiheit der Kirche stehe, sondern weil sie, solange das
Volk nicht besser disponiert sei, das heilige Mysterium profanieren
würden" (Ratsprotokoll vom 20. und 21. April O. C. 21). Darüber
kam es zum Bruch. Auch in Genf behielten zunächst die kirchen-
politischen Grundsätze, wie sie in der deutschen Schweiz gehand-
habt wurden, den Sieg.
Die Vertriebenen suchten auch jetzt durch Vermittlung der
übrigen Schweizer Kirchen ihre Wiederherstellung zu erreichen.
Die Artikel, die sie als Grundlage einer Verständigung der am
28. April in Zürich zusammentretenden Synode überreichten, be-
tonen, daß die Kirche zuletzt in ihrem Urteil frei bleiben müsse
(Herminj. 5 S. 3). Vor allem fordern sie dann, daß für Kirchen-
zucht gesorgt werde. — Wir sehen also auch hier diese beiden
Punkte, Unabhängigkeit der Kirche und Kirchenzucht, zusammen
hervortreten. In bezug auf die letztere heißt es : „in dieser Hin-
sicht beschränken wir uns jetzt auf die allernotwendigsten Forde-
rungen. 1. Einteilung der Stadt in Pfarren. 2. Hinreichende Ver-
mehrung der Zahl der Geistlichen. 3. Wiederherstellung des
richtigen Gebrauches der Exkommunikation, in der Weise wie
wir es früher angegeben haben, nämlich, daß der Rat für die ein-
zelnen Stadtquartiere tüchtige Männer ernenne, die mit uns ge-
meinsam diese Sorge übernehmen. 4. Daß bei der Berufung der
Diener des Wortes nicht die Handauflegung, welche den Geist-
lichen zusteht, durch die Obrigkeit beiseite geschoben werde" (vergl.
Cornelius a. a. O. S. 182 f.). Auch in diesen Einzelforderungen
spiegeln sich klar die beiden oben aufgewiesenen Tendenzen.
Beachtenswert ist auch, daß gerade bei der Einführung der Pre-
diger die Kirche Selbständigkeit besitzen soll. — Aber wie voraus-
zusehen, scheiterten die Verhandlungen. Calvin sollte erst in der
kleinen Fremdengemeinde zu Straßburg eine vortreffliche prak-
tische Schule durchmachen, ehe es ihm gelang, auch die Genfer
Kirche mehr nach seinem Ideal zu gestalten. Bevor wir zu einer
zusammenfassenden Besprechung der eben behandelten Zeit über-
gehen können, müssen wir noch einiges von bisher nicht be-
handelten literarischen Dokumenten aus dieser ersten Genfer Zeit
nachholen.
b) Literarisches aus jener Zeit.
Wahrscheinlich ins Jahr 1536 (oder 1537) gehören zwei Briefe,
die Calvin besonders herausgegeben hat (O. C. 5 S. 239 ff.). Im
ersten spricht er sich darüber aus, wie sich ein Christ, der zur
Von cand. theol. Th Werdermann.
29i
Erkenntnis der Wahrheit des Evangeliums gekommen ist und unter
Anhängern der römischen Kirche wohnt, zu verhalten habe. Die-
jenigen, die zum Dienst am Wort berufen sind, müssen öffentlich
laut Zeugnis ablegen (S. 244). Die anderen sollen zwar sich zurück-
halten, müssen aber durch ihr ganzes Leben deutlich kundwerden
lassen, daß sie Christen sind. So soll jede christliche Familie in
sich eine kleine Kirche darstellen (S. 260). In dem zweiten Briefe
handelt er davon, ob ein Christ in der priesterlichen Papstkirche
ein Amt bekleiden könne. Er betont dabei die hohe Würde des
Amtes. Aber auch hier zeigt sich, daß diese Würde nur in der
Verwaltung des Wortes liegt (S. 285). Indem er hier Würde, Auf-
gabe und Verantwortung des minister so sehr hervorhebt, beab-
sichtigt Calvin den evangelisch gesinnten Bischöfen in Frankreich
das Gewissen zu schärfen, daß sie mit der götzendienerischen Papst-
kirche brechen und ihre ihnen anvertrauten Gemeinden zu Christus
führen (S. 295). Das ist unbedingt nötig, da die Gemeinden sich
jetzt im Rachen von Wölfen befinden. In der römischen Kirche
ist das der größte Schaden, daß man zuläßt, daß das Volk auf
alles mögliche sein Vertrauen setze, während dies doch ganz allein
auf Christus gerichtet sein muß. Atqui istaec erant prima exordia,
quibus ecclesiam inchoare, prima fundamenta, quae ad eam aedi-
ficandam iacere debuerant (S. 298). — Diese beiden Briefe geben
also Winke für die Stellung des minister sowie für die Beurteilung
der römischen Kirche.
Das wichtigste literarische Erzeugnis dieser Jahre ist aber der
wohl im letzten Drittel von 1536 verfaßte, Anfang 1537 gedruckte
Katechismus.1 In ihm ist die Stellung der Prädestinationslehre
nicht mehr diejenige der Institutio von 1536, sondern die der
späteren Auflagen. Also ist die Lehre von der Kirche nicht mehr
so eng mit ihr verbunden als früher. Daß dadurch aber nicht aus-
geschlossen ist, daß die Prädestination eine wichtige Voraussetzung
für die Lehre von der Kirche bleibt, zeigt schon der Umstand, daß
-sie auch hier in diesem Zusammenhange hervortritt. Der Glaube
an die Kirche soll uns das Vertrauen geben, daß alle Erwählren
1) Das seit langem vermißte franz. Original des Katechismus von 1537
wurde durch H. Bordier gefunden und 1877 von Rilliet und Dufour heraus-
gegeben. Von ihnen ist der Text O. C. 22 S. 25 ff. abgedruckt. Dazu ge-
hört im ganzen als ein Auszug das Glaubensbekenntnis O. C. 22 S. 85 ff.
Die Herausgeber der Opera glauben (22 S. 13 f.), daß der Grundtext des
Bekenntnisses von Farel herrühre. Die lateinischen Texte sind bei beiden
Übersetzungen Calvins, die sehr genau gearbeitet sind.
19*
2Q2 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
durch das Glaubensband verbunden sind zu einer Kirche und Ge-
meinschaft, zu einem Volk Gottes, dessen Führer, Herrscher und
Haupt Jesus Christus ist. Heilig ist die Kirche, weil alle, die
durch Gottes ewige Vorsehung erwählt sind, dazu, daß sie Glieder
der Kirche würden, vom Herrn durch die geistliche Wiedergeburt
geheiligt sind (S. 57). Der Zusatz la communion des saincts wird
ausdrücklich als eine sehr klare Erläuterung dessen bezeichnet,
was die Kirche sei. In der Erklärung tritt aber ohne weiteres an
seine Stelle einfach der Ausdruck communion des fideles. Das ist
bezeichnend dafür, daß es Calvin hierin nicht auf eine Betonung
der Heiligkeit, sondern der Gemeinschaft ankommt. Im ganzen
sind die Ausführungen dem Sinne nach gleich denen der Institutio
von 1536. Deshalb möge hier nur noch erwähnt werden, wie sehr
Calvin es betont (S. 70 f.), daß nach Gottes Willen WTort und
Sakramente durch die ministeri, durch menschlichen Dienst ver-
waltet werden müssen. Ceulx qui mesprisent ceste discipline et
cest ordre sont iniurieux non seulement aux hommes mais a Dieu,
et mesme corame heretiques se retirent de la societe de l'Eglise,
laquelle nullement ne peut consister sans tel ministre. Es ist wohl
mit Sicherheit anzunehmen, daß diese Hervorhebung der Not-
wendigkeit des Amtes hier gerade durch die Verhältnisse in Genf
bedingt ist, gerade auch durch das oben schon erwähnte Auftreten
der Täufer. — Es fällt uns auf, wieviel Material Calvin in diese
einfache Darlegung der christlichen Lehre hineingebracht hat,
zumal daß die Exkommunikation so ausführlich behandelt wird.
Dies wird noch bemerkenswerter, wenn wir darauf achten, wieviel
— sicherlich nicht gegen Calvins Willen — in das von den Gen-
fern zu beschwörende Bekenntnis aufgenommen ist.
Fragen wir uns nun, was die Untersuchung der Zeit des ersten
Genfer Aufenthalts für die Erkenntnis der Lehre Calvins von der
Kirche eingetragen hat, so sind es wesentlich folgende Punkte.
1. Calvin betont den Gemeinschaftscharakter der Kirche. Und
zwar ist sie zunächst eine Gemeinschaft des Glaubens. Darum
fordert Calvin von jedem Einzelnen das Bekenntnis und ebenso
auch gemeinsame Abendmahlsfeier. Dann aber ist die Kirche auch
eine Gemeinschaft des sittlichen Lebens. Um dies in möglichster
Reinheit zur Durchführung zu bringen, fordert Calvin energisch
die Kirchenzucht.
2. Wichtig ist ihm der Gedanke der Einheit für die Kirche.
Sie soll aber im Glauben und in der Liebe bestehen, nicht etwa in
Von cand. theol. Th. Werdermnnn. 2Q3
äußerer Uniformität. Darum will er einen Zusammenschluß der
verschiedenen Einzelkirchen zu einer Synode. Diese hat in Lehr-
st reit i^keiten nach der Schrift ihr Urteil abzugeben; hesonders
aber soll sie den Einzelgemeinden bei ihren Kämpfen einen Rück-
halt geben. Doch soll nicht eine Gemeinde durch die anderen
tyrannisiert werden. Calvin betont die Selbständigkeit der ein-
zelnen Gemeinden den anderen gegenüber. Nur Gott ist unbedingt
herrschend, nicht eine menschliche Autorität. Darum begrüßt er
es auch in einem Brief an Butzer vom Januar 1538 (O. C. 10 b
S. 138 f. Herrn. 4 S. 338 ff.) freudig, daß Luther auch sie zu seinem
Bekenntnis heranziehen wolle, sagt aber dabei zugleich, daß man
in der Kirche nicht allein auf Luther schauen dürfe. — Die Einzel-
kirche muß innerlich geordnet sein ; vor allem hat sie das ministe-
rium verbi nötig. In der Stellung der Träger dieses Amtes tritt
auch das anstaltliche Moment in der Kirche hervor.
3. Das wird noch verstärkt durch die Aufgabe, die Calvin dem
Staate gegenüber der Kirche zuweist. Die weltliche Behörde hat
auch für die Übung der wahren Religion zu sorgen. Darum for-
dert er, daß der Rat allen Bürgern das Glaubensbekenntnis ab-
nehme, daß er zur Ausübung der Kirchenzucht Deputierte be-
stimme. Auf diese Weise erhält die zu verwirklichende Kirche
starken anstaltlichen Charakter. Jeder Genfer Bürger muß zu ihr
gehören. Zugleich erhält das ganze Genfer Gemeinwesen die Fär-
bung der Theokratie, nicht freilich insofern, als ob die Prediger
die Herrschaft in Händen haben sollten. Die Theokratie, wie sie
Calvin verstand, war die, daß auch die Obrigkeit sich durch Gottes
Wort als das oberste Gesetz leiten lasse, ja daß sie mit der ihr
verliehenen Macht Gott und seiner Kirche diene. Darauf ging die
Obrigkeit von Anfang an grundsätzlich ein. Aber in Wirklichkeit
wurde es bald anders. Es ist ja auch zu natürlich, daß sich die
Leiter des Staates nicht durch Rücksicht auf Gottes Ehre und
Gesetz bestimmen ließen, sondern durch egoistische, rein irdische
Interessen. So wurde ihr Herschenwollen für Calvin um so un-
erträglicher, je mehr sie der dem Staat gestellten Aufgabe gemäß sich
anschickten, in alle kirchlichen Verhältnisse entscheidend einzu-
greifen. Denn hier kreuzte sich ihr Streben mit der Forderung
Calvins, daß die Kirche in der Beurteilung dessen, was wider Gottes
Ehre sei, frei sein müsse : darum forderte Calvin Selbständigkeit
der Kirche der Obrigkeit gegenüber bei der Übung der Kirchen-
zucht und ebenso bei der entscheidenden Bestimmung derjenigen,
2Q4 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
die Gottes Wort auszulegen haben, d. h. bei der Handauflegung zur
Einführung in das Predigeramt. Mit beiden Forderungen ver-
mochte er nicht durchzudringen.
Fragen wir uns nun, wie sich das, was wir aus diesen Unter-
suchungen über Calvins Auffassung von der Kirche in diesen
Jahren des ersten Aufenthaltes in Genf erkannt haben, zu seinen
Darlegungen in der Institutio von 1536 verhält, so sehen wir zu-
nächst, daß Calvin sein dort aufgestelltes Ideal in die Wirklichkeit
umzusetzen suchte. Wir konnten in seiner Praxis kein Abweichen
von seiner Theorie feststellen. Notgedrungen muß er freilich
Konzessionen machen. Aber gerade der persönlichste Inhalt seiner
Lehre, die stete Rücksicht auf die Ehre Gottes, tritt beherrschend
auch in seinem Tun hervor. Wenn nun die sichtbare Seite der
Kirche hier stark betont wird, so liegt darin nicht etwa eine Ände-
rung seiner Lehre. Denn gleichzeitig finden wir ja dort, wo sich
ihm Gelegenheit bot, im Katechismus und Bekenntnis, die Kirche
als numerus praedestinatorum in derselben Weise gewürdigt wie
früher. Es ist sehr verständlich, daß hier in dem Kampf um die
Ausgestaltung der sichtbaren Kirche mehr denn früher das Gewicht
auf die äußere Seite der Kirche fällt.
4. Kapitel.
Die Zeit des Aufenthaltes in Deutschland.
Mit einer völlig gescheiterten Hoffnung im Herzen kam Cal-
vin nach Straßburg. Die Zeit seines dortigen Aufenthaltes aber
wurde ihm wohl die glücklichste seines Lebens. Hier fand er
Gelegenheit zu reichlichem Austausch und freundschaftlichem Ver-
kehr mit den bedeutenden Straßburger Gelehrten. Hier hatte er
eine kleine Gemeinde, die er in verhältnismäßig großer Ruhe und
Freiheit nach seinem Ideal ausgestalten konnte. Hier fand er auch
die von ihm so sehr ersehnte Muße zu wissenschaftlicher Arbeit.
Durch die Beteiligung an den Religionsgesprächen zu Frankfurt,
Hagenau, Worms und Regensburg weitete sich sein Blick und seine
Erfahrung, so daß diese Jahre wirklich sehr fruchtbar für ihn
wurden. „Calvin war ein anderer geworden, als er sich nach drei
Jahren von der deutschen Reichsstadt verabschiedete", sagt Kamp-
schulte a. a. O. 1, S. 323, der aber kurz darauf feststellt: „er war —
in seiner Grundrichtung befestigt". Es muß von Wert sein, fest-
zustellen, ob diese Einflüsse auch auf seine Lehre von der Kirche
Von cand. theol. Th. Werdermann. 2') 5
gewirkt haben, und ob er etwa mit einer neuen theoretischen Grund-
lage zum zweiten Male dann in Genf an die Arbeil ging.
Zunächst ist wichtig für uns seine Tätigkeit als Pfarrer der
französischen Emigrantengemeinde.1 Als J lutzer ihn in diese
Stelle berief, lehnte er erst ab mit der Begründung, Gott habe ihm
gezeigt, daß er zu solch einem Amte nicht fähig sei. Bald aber
sollte es sich herausstellen, daß er hier wirklieh an den rechten
Platz gekommen war. Die Verhältnisse waren sehr günstig. Die
Gemeinde war gut zu übersehen. Die Obrigkeit ließ ihm in der
fremden Gemeinde fast freie Hand. In der Gemeinde selbst hatte
er nicht mit alten Parteien zu kämpfen, vielmehr bestand sie weit-
aus zum größten Teil aus Männern, die es mit dem evangelischen
Glauben ernst nahmen, die um seinetwillen selbst die Heimat ver-
lassen hatten. Da konnte er also leicht die Forderungen, mit denen
er in Genf gescheitert war, zur Durchführung bringen, allen voraus
die Kirchenzucht. Beachtenswert ist da, daß in einem aus dem
Jahre 1539 stammenden Protokoll über die Verhandlungen in
Straßburg mit Garoly (O. G. 10 b S. 374 ff.), das auch von Butzer
und Calvin unterschrieben ist, unter die Zeichen der wahren Kirche
als drittes auch die Zucht aufgenommen ist. Es würde freilich
zu weit gehen, wenn wir daraus zwingende Schlüsse für Calvins
Anschauung ziehen wollten. Aber wir sahen ja auch sonst schon,
wie er nicht so fern von dieser Position war. Es ist wohl ver-
ständlich, wie er seine Unterschrift dazu geben konnte. — Auch
die in Genf unerfüllt gebliebene Forderung der monatlichen all-
gemeinen Feier des Abendmahls führte er in Straßburg durch.
Wieviel ihm daran lag, gerade beim Herrenmahl die Ehre Gottes
nicht mit Füßen treten zu lassen, erkennen wir aus der Einrichtung
der Einzelanmeldung beim Seelsorger.2 Wer sich dem nicht unter-
zog, ward ausgeschlossen. Wohl lehnten sich einige Studenten
gegen diesen „papistischen" Zwang auf. Aber Calvin blieb fest.
„Ich möchte lieber, daß sie alle von hier fortgingen, als daß sie
blieben und die Disziplin dadurch gefährdet würde", so schreibt er
einmal im März 1540 (O. C. 11 S. 31. Herrn. 6 S. 198 ff.).
1) Vcrgl. A. Erichson, l'Eglise fran<,aisc de Strasbourg etc. Paris 1886
u. D. calv. u. d. altstraßburg. Gottesdienstord. Straßburg 1894. — E. Stricker.
J. (.". als 1. Pfarrer d. ref. Gem. zu Straßb. 1890.
2) Calvin gibt dafür (O. C. n. S. 41 Herrn. 6 S. 215 fr.) drei Gründe
an: 1. noch Unwissende zu unterrichten. 2. Die besonderer Ermahnung
Bedürftigen so bei sich zu haben. 3. Die im Gewissen Geängstigten zu
trösten.
2 OD Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Dabei fand er nicht nur die Unterstützung der Obrigkeit, sondern
auch die seiner Gemeinde, besonders die seiner trefflichen Dia-
konen. Ein reges religiöses Leben entwickelte sich. In Armen-
und Krankenpflege, besonders auch in der Abendmahlsfeier be-
tätigte sich die Gemeinschaft. Der sittliche Zustand war dazu an-
getan, dem Herrn der Kirche Ehre zu machen. Wir merken es
Calvin an, wie es ihn erhob, daß er hier die Durchführbarkeit und
Vortrefflichkeit seiner Vorstellung von der Kirche erkannte. Wir
sehen aber auch, wie Calvins Theorie am besten für eine Freikirche
paßte. Denn das war eigentlich die Straßburger Fremdengemeinde ;
wie sich die Obrigkeit nicht in die inneren Angelegenheiten mischte,
sagten wir schon ; von den Gemeindegliedern aber konnte jeder
weiter wandern, dem es hier nicht paßte. Jeder trat persönlich der
Gemeinde bei ; nicht wurde man einfach schon durch Staats-
zugehörigkeit zu ihrem Mitglied. Gerade jetzt verfocht Calvin
auch mit besonderem Eifer das Recht der Kirche den Wieder-
täufern gegenüber, die mit Mißachtung aller äußeren Vermittlungen
auch für die Ordnung der Gemeinde das freie Wirken des Geistes
betonten.
Wichtig sind für unser Thema auch seine Briefe aus der Straß-
burger Zeit, die uns seine Stellung zur Genfer Kirche zeigen.
Zunächst wollte er in Genf überhaupt keine Kirche mehr an-
erkennen (vergl. O. C. 10 b S. 247). Seine Anhänger dort sind „die
Überbleibsel aus der Zerstreuung der Genfer Kirche". Ganz be-
sonders richtete sich sein und Farels Groll gegen die in Genf zu-
rückgebliebenen und die neu berufenen Pfarrer. Zu diesen mußten
so ihre Anhänger in scharfen Gegensatz geraten. Es kam soweit,
daß diese beabsichtigten, die Abendmahlsgemeinschaft mit ihren
Mitbürgern grundsätzlich aufzuheben. Dadurch wurde dann offen
ein Schisma erklärt. Vor der Ausführung aber fragten sie bei den
vertriebenen Reformatoren um Rat an. Farels Haltung war un-
bestimmt. Calvin aber erklärte sich jetzt in Übereinstimmung mit
Capito für die Aufrechterhaltung der Abendmahlsgemeinschaft,
war jedoch dagegen, daß einer seiner Anhänger, der Schulleiter
Saunier, eine Pfarrstelle neben den „falschen Hirten" übernehme.
Der Brief wurde von seinen Anhängern nicht gerade mit Zu-
stimmung aufgenommen und verhinderte es nicht, daß diese am
Weihnachtsfest des Jahres 1538 sich vom gemeinsamen Abendmahl
fernhielten. Dadurch wurde die Lage in Genf sehr kritisch. Jeden-
falls erkannten jetzt Farel und Calvin, daß es sehr nötig sei, in der
Von cand. theol. Th . Werdermann. 2()"]
Genfer Gemeinde zur Einheit zu raten. So geht durch all di<-
Briefe, die Calvin dann in dieser Angelegenheil noch geschrieben
hat, besonders deutlich die Warnung vor Abtrennung von der einen
Kirche hindurch. Wohl ist erst da die reine Gestalt der Kirche,
wo der Geist Christi so herrscht, daü nur Reines und Heiliges von
dort ausgeht (O. C. iob S. 308. Herrn. 5 S. 211 ff.). Aber wenn
nun auch die Glieder mit Krankheit und Fehlern behaftet sind, so
Kann der Leib selbst doch seine Gesundheit bewahren. Dann aber
muß man mit dieser Kirche so vereint bleiben, daß man ihr Urteil
als das Gottes verehrt. Calvin möchte niemals die Veranlassung
sein, daß man sich von einer Kirche lostrennte, solange dort noch Gott
recht verehrt und sein Wort gepredigl wird (S. 310). — Und ebenso
schreibt er an Farel (O. C. iob S.323. Herrn. 5 S. 247 ff.). Wir ersehen
hier klar, daß dasjenige, was das Festhalten an einer Kirchengemein-
schaft erfordert, vor allem die Verkündigung der grundlegenden
Lehre ist. So sagt Calvin auch in dem vorhin angezogenen Briefe
(O.C. iob S. 309) : dico igitur illic esse ecclesiam, ubi praedicatur
doctrina qua velut fundamento suffulta sustinetur. Utcunque etiam
naevis aspersa sit praedicatio, mihi satis est salvam et illibatam
habere fundamentalem doctrinam, quantum ad stabiliendum eccle-
siae nomen, Wenn wir hierbei zugleich beachten, daß Calvin auf
derselben Seite fordert, daß die Gläubigen dem Evangelium Christi
und seinen Mysterien Ehrfurcht erweisen und sich zu der Kirche
halten sollen, wo beides noch zu finden ist, so erhalten wir dadurch
zugleich eine nicht zu übersehende Inhaltsbestimmung der grund-
legenden Lehre. — Eben weil Predigt der rechten Lehre und
Sakramentsverwaltung in Genf noch vorhanden ist, ist Calvin davon
überzeugt, daß dort noch die Kirche sei, und warnt die für ihn und
Farel Eifernden vor einem Schisma (O. C. iob S. 354. Herrn. 5
S. 336 ff.). In demselben Briefe klagt er daher, daß ihn nach der
großen Katastrophe nichts so sehr betrübt habe, als die Kunde von
den Zerwürfnissen mit seinen Nachfolgern. Ja, jetzt ist es ihm auch
klar, daß die Berufung der jetzigen Prediger nicht ohne Gottes
Willen geschehen sei, der Genf auch nach der Vertreibung der
rechten Hirten nicht dem Antichristen wieder zufallen lassen wollte.
Auch rindet er bei ihrer Berufung jetzt die äußere Ordnung ge-
wahrt, da sie ja von den Pastoren der umliegenden Gemeinden ge-
billigt worden sei.
Er verlangt nun nicht etwa, daß die Gläubigen die Schäden
der Kirche übersehen sollten. Auch er selbst würde jetzt noch
2ö8 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
ebenso wie früher urteilen, daß er nicht ohne Schändung des Sakra-
mentes das Abendmahl unter den Genfern austeilen könne. Aber
deshalb dürfen sich doch die Frommen nicht von der Gemeinschaft
zurückziehen (O. C. lob S. 309. Herrn. 5, 211 ff.). Für die Ent-
ehrung Gottes dabei tragen nicht sie, sondern die Pfarrer und die
Unwürdigen die Verantwortung; überhaupt ist da eine Scheidung
zwischen Pfarrer und Gemeinde zu machen. Jener hat bei der
Verwaltung des Sakramentes auf eigene Verantwortung zu handeln
und nach der Würdigkeit der Empfangenden zu fragen, nicht so
das einzelne Glied der Gemeinde. — Diese Scheidung wurde Calvin
zum Vorwurf gemacht. Er sagt selbst, das habe seine Anhänger
in Genf besonders verstimmt (O. C. 10 b S. 323. Herrn. 5 S. 247 ff.).
Leider können wir nicht den mündlichen Verhandlungen lauschen,
in denen er seinem Freunde Farel diesen Punkt leicht erklären
wollte. Wir können nur feststellen, daß er hohe Ehre von Gott
denen zugewiesen sein läßt, die er in seiner Kirche als Hirten und
Diener am Wort eingesetzt hat (O. C. 10 b S. 352. Herrn. 5
S. 336 ff.). Wohl hat nun die Gemeinde das Recht, die Pastoren
zu prüfen und über sie zu urteilen (S. 353). Aber vor allem wenn
gegen Lehre und Leben der ministri ein Vorwurf erhoben wird,
gilt es mit aller Vorsicht zu urteilen. Wo aber von den Predigern
die grundlegende Lehre verkündet und die Sakramente verwaltet
werden, illic et substantia ipsa ministerii a domino Jesu Christo
ordinati viget, et legitima dignitas et observantia illi ministerio est
deferenda (O. C. 10 b S. 351). Deshalb erscheinen Calvin die
jetzigen Streitigkeiten in Genf besonders schlimm, weil dadurch
nicht nur die Kirche dort ganz offen zerrissen, sondern auch das
kirchliche ministerium selbst Schmähungen ausgesetzt sei (O. C.
10 b S. 351. Herrn. 5 S. 336 ff.).
Wir sehen, wie Calvin durch die Macht der Verhältnisse ge-
drängt wird, das ministerium zu betonen. Es geschieht das nicht
im Gegensatz zu seiner uns schon bekannten Auffassung von der
Kirche. Vielmehr erkennen wir auch hier die Grundsätze der Inst.
— Selbst bei der Scheidung der Pfarrer von den anderen Gemeinde-
gliedern ist das der Fall. Und durch die besonderen Verhältnisse
in Genf läßt sich die stärkere Betonung und weitere Ausbildung
dieses Gedankens wohl erklären.
Das Interesse für seine frühere Gemeinde zu betätigen, sollte
Calvin bald noch besondere Gelegenheit erhalten. Im Frühjahr
1539 richtete der Kardinal Sadolet an Rat und Bürgerschaft von
Von cand. theol. Th. Werdermann. 2QQ
Genf ein Sendschreiben, durch das er sie unter Hinweis auf die seit
dem Abfall von der römischen Kirche in Genf entstandenen Un-
ruhen zur Umkehr ermahnte (Ü. G. 5 S. 365 ff.). Er betonte hierin
die Sicherheit des Heils für die Glieder der katholischen Kirche,
während eine falsche Relig'ion nur Verderben mit sich bringe. Er
gesteht zu, daß wohl starke sittliche Verderbnis in der römischen
Kirche zn finden sei ; aber die Lehre werde dadurch nicht verletzt.
Keinen Unterschied will er auf dem Gebiet der Lehre zwischen
der gegenwärtigen Kirche und der der ersten Jahrhunderte gelten
lassen. — Wenn Sadolet sich auf das Ansehen der Kirche stützte,
so stellt ihm Calvin in seiner Gegenschrift Gottes Wort und die reine
Kirche der ersten Jahrhunderte entgegen (O. C. 5 S. 393). Zwei
Feinde, so sagt er, sehe er sich gegenüber, den Papst und die
Wiedertäufer. Bei der scheinbar so großen Verschiedenheit wäre
es doch beiden gemeinsam, daß sie sich über das Wort Gottes, das
der lydius lapis für die Bewährung aller echten Lehre sei, hin-
wegsetzten. Wenn daher Sadolet von der Kirche sagt, sie sei
omni anteacto tempore, ut hodierno, omni in regione terrarum, in
Christo una et consentiens, uno Christi spiritu ubique et semper
direeta (S. 392), so vermißt Calvin darin die Erwähnung des Wortes
Gottes. Darum gibt er im folgenden Satz eine bessere Definition :
Nunc si definitionem ecclesiae tua veriorem reeipere sustines, die
posthac, societatem esse sanetorum omnium, quae per totum orbem
diffusa, per omnes aetates dispersa, una tarnen Christi doctrina et
uno spiritu colligata, unitatem fidei ac fraternam concordiam colit
atque observat. Gerade bei dieser Bestimmung ist zu beachten,
wie der katholischen Lehre gegenüber klar und sicher das evan-
gelische Verständnis der Kirche als einer Gemeinschaft heraus-
tritt. Die innere Seite der Kirche wird hier w-ieder stärker hervor-
gehoben. Wir sehen also auch jetzt, wie diese Seite der Lehre
Calvins nicht etwa unterdrückt, sondern höchstens in den Aussagen,
die durch die Beziehung auf eine zu errichtende und zu erhaltende
äußere Kirche bedingt sind, zurückgestellt worden ist. Aber auch
das verdient beachtet zu werden, daß die Darlegungen nicht etwa
von dem Gesichtspunkt der Unterscheidung von sichtbarer und un-
sichtbarer Kirche aus orientiert sind. — Mit jener Kirche nun, so
erklärt Calvin, sind die Protestanten nicht zerfallen, vielmehr be-
trachten sie dieselbe als ihre Mutter. Wenn Sadolet ihnen da die
Kirche seit 1500 Jahren entgegenhält, so hat er sehr unrecht;
denn die Reformatoren wollen ja nichts anderes, als endlich die
3°° Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
wahre Gestalt jener alten Kirche wiederherstellen. Calvin will
sich sogar des Vorteils begeben, die apostolische Kirche gegen
seine Feinde anzuführen, die eigentlich allein das Beispiel einer
wahren Kirche ist. Schon wenn man nur auf die Kirche der folgen-
den Jahrhunderte schaut und dabei auf die Punkte achtet, in denen
die Unverletzlichkeit der Kirche besteht: i. Lehre, 2. Zucht,
3. Sakramente und vielleicht sogar 4. die Zeremonien, die das Volk
in den frommen Pflichten üben, so meint Calvin doch für sich und
seine Glaubensgenossen überall mehr den Anspruch erheben zu
können, daß sie die wahre Kirche seien. Das hindern auch nicht
die Änderungen, die von ihnen angenommen sind. Denn bei den
Sakramenten führen sie nur zur Reinheit zurück. Bei den Zere-
monien sind sie nötig, und bei der Disziplin können sie ihnen von
den Römischen nicht vorgeworfen werden (S. 395). Den Mangel
in der letzteren bedauert Calvin selbst sehr. Disciplina enim non
secus ac nervis, corpus ecclesiae, ut bene cohaerent, necesse est
colligari (S.406). — Man könnte hier darüber stutzig werden, daß
neben Lehre und Sakramenten als ein für die Kirche wesentliches
Moment auch die Disziplin aufgestellt ist, und daß halb sogar noch
gewisse Zeremonien als ein solches gerechnet werden. Jedoch ist
diese Stelle zu einer solchen Bestimmung gar nicht heranzuziehen ;
denn sie ist ganz durch die Polemik gegen die römische Anschau-
ung bestimmt und versetzt sich auf den Standpunkt des Gegners.
— Als wichtig muß hier noch hervorgehoben werden, daß für Cal-
vin die apostolische Kirche als maßgebend gilt, während die Kirche
der ersten Jahrhunderte nur sekundäre Bedeutung hat. Das ganze
Schreiben Calvins aber schließt mit den Worten: Faxit Dominus,
Sadolete, ut tu ac reliqui omnes tui aliquando intelligatis, non
aliud esse ecclesiasticae unitatis vinculum, quam si Christus Do-
minus, qui nos deo patri reconciliavit, in corporis sui societatem
nos ab ipsa dissipatione recolligat : ut ita uno eius verbo ac spiritu
in cor unum et animam unam coalescamus. Sehr deutlich wird
hier die Einheit der Kirche auf die Gemeinschaft mit Christus zu-
rückgeführt.
Aus ungefähr derselben Zeit haben wir auch wieder eine mehr
systematische Darstellung von Calvins Lehre in der 1539 erschie-
nenen zweiten Ausgabe seiner Institutio.
In der Anordnung ist jetzt zu erkennen, daß die Institutio auf
dem Wege ist, sich zu dem systematischen Meisterwerk zu ent-
wickeln, das sie in ihrer letzten Gestalt darstellt. Zunächst freilich
Von cand. theol. Tb. Werderin. um. 301
wird sie dadurch unübersichtlicher. — Uei der Erklärung des vierten
Artikels will Calvin jetzt nur berühren, quae fides in consolationis
nostrae usuni proprie speculari debet (O. C. i S. 537 f. ). Die Prä-
destinationwird auch hier jetzt besonders behandelt. Wir bemerkten
aber schon, daß eine Beeinflussung des uns vorliegenden locus
durch jene Lehre deshalb nicht ausgeschlossen ist. Von der syste-
matisierenden Weiterarbeit Calvins zeugt es, wenn er sagt, bisher
sei die materia salutis und die causa efficiens (S. 538) dargelegt
worden, im folgenden sei enthalten effectus ordine suo, quo modo
salus — in hominibus impleatur, opus, quod in nobis est. So wird
die Kirche als das Mittel der Heilsaneignung gewürdigt. Es ist das
erste Mal, daß dieser für Calvins Lehre von der Kirche so wichtige
Gesichtspunkt deutlich auftritt, zunächst ohne viel weiter durch-
geführt zu werden.
Nun wird auch begründet, warum man richtig sage : credere
ecclesiam nicht in ecclesiam; die Kirche ist eben nicht in derselben
Weise wie Gott Gegenstand des Vertrauens. Sie glauben, heißt
vertrauen auf die Einigung aller Erwählten in einem Leibe unter
dem Haupte Christus (S. 539). Sie ist die Mutter aller, die zum
ewigen Leben eingehen ; sowohl das renasci als auch das conser-
vari geschieht in ihr. Gottes Wille hat alle diese Schätze bei ihr
niedergelegt. Solchen Schwärmern gegenüber,1 die das saneta
schon jetzt verwirklicht wissen wollen, zeigt Calvin, daß die Heilig-
keit der Kirche erst in der Entwicklung stehe (S. 540). Jene sind
in der Gefahr, die Kirche numeris omnibus absolutam und daher
überhaupt keine zu behalten (S. 540 f.). Nach der Hervorhebung
der sanetorum communicatio faßt Calvin dann zusammen, was uns
der Glaube an die Einheit der Kirche und an unsere Zugehörigkeit
zu ihr gebe. Tantum potest ecclesiae partieipatio, ut nos in dei
societate contineat. Die Kirche ist ja electa segregataque, cor-
pus et plenitudo Christi, columna et firmamentum veritatis, perpe-
tuum habitaculum dei vivi. Daß sich unser Glaube auf die Kirche
als incognita richtet, setzt seinen Wert nicht herab.
Hier zuerst tritt dann auch klar die ecclesia visibilis hervor
(S. 542). Davon, wie wir über sie zu urteilen haben, will Calvin
jetzt reden. Gott hat nämlich certis notis et quasi symbolis seine
1) Demnach ist Köstlins Bemerkung (St. u. Kr. a. a. O. S. 36), daß Calvin
durch die Kämpfe mit den Anabaptisten in der Ausgabe von 1539 zur Be-
tonung der Heiligkeit der Kirche gedrängt werde, nur insofern richtig, als
er jenen gegenüber das richtige Verständnis der Heiligkeit betont. Die
starke Forderung der Heiligkeit war ja bei Calvin selbst angelegt.
^02 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Kirche bezeichnet, quatenus ipsam agnoscere nostra est. Die Sicht-
barkeit wird zunächst in der schon bekannten Weise eingeschränkt
(S. 543) ; dann aber kommt es freudig heraus : hinc nascitur nobis
et emergit conspicua oculis nostris ecclesiae facies. Rechte Predigt
des Evangeliums und rechte Sakramentsverwaltung sind die notae
ipsius corporis, d. h. des Leibes Christi. In der Treue Gottes, der
seine Verheißung erfüllen wird, liegt die Verbindung zwischen der
unsichtbaren und sichtbaren Seite der Kirche. In zwei Stufen will
Calvin bei der Bestimmung der sichtbaren Kirche vorgehen. Zu
oberst steht ihm die universa ecclesia, die gesammelt ist aus allen
Völkern und in der einen Wahrheit der göttlichen Lehre überein-
stimmt. Es muß hier die große christliche Kirche abgesehen von
allen Lehreigentümlichkeiten gemeint sein, die den obengenannten
notis entspricht (S. 544). Unter dieser universa ecclesia aber stehen
als ihre Teile die singulae ecclesiae, quae oppidatim et vicatim, pro
necessitatis humanae ratione, dispositae sunt. Und una quaeque
nomen et autoritatem ecclesiae jure obtineat. Zu diesen gehören
alle die einzelnen Menschen, die pietatis professione dazu gerechnet
werden, auch die, welche in der Tat der Kirche fremd sind, bis sie
durch öffentliches Urteil ausgeschlossen werden. Hier spiegelt
sich deutlich Calvins Stellung zur Genfer Kirche, besonders wenn
er fortfährt, eine Gemeinschaft müsse man jedenfalls für eine Kirche
halten, wenn sie den Dienst am Worte und die Verwaltung der
Sakramente noch habe. Auch die Hervorhebung des ministerium
können wir erst von seiner ganzen Situation aus verstehen.
Hier sei nur noch das angeführt, was er jetzt über die Lehr-
einheit sagt. Als doctrinae capita, die nicht erschüttert werden
dürfen, bezeichnet er: unum esse deum, Christum deum esse, ac
dei filium ; in dei misericordia salutem nobis consistere et similia
(S. 545). Man solle sich nicht leichtfertig von einer Kirche trennen,
in der diese für die Frömmigkeit grundlegende Lehre noch ver-
kündet werde. Dadurch ist nicht etwa untersagt, daß man das, was
sonst in Lehre und Leben als unrichtig erscheint, zu beseitigen
suche. Doch solle man da geziemend und der Ordnung nach ver-
fahren, d. h. man soll nicht auf die Gemeinschaft der Kirche ver-
zichten oder in ihr Ordnung und Zucht stören.
Selbstverständlich ist es, daß die disciplina wieder mit Nach-
druck als notwendig bezeichnet wird (S. 550). Wenn nun Calvin
sagt : Sine hoc disciplinae vinculo qui diu stare posse ecclesias con-
fidnnt, opinione falluntur, so zeigt dieser Satz gut die Stellung der
Von cand. theol. Th. Werdermann. 3*^3
diseiplina dem Wort und Sakrament gegenüber. Fehlen diese,
dann ist die Kirche überhaupt nicht mehr da. Fehlt jene, so ist
sie nur gefährdet. — Weiterhin sind die Gedanken der ersten Aus-
gabe nur ausgeführt und biblisch mehr begründet. Wir erkennen
hierin einerseits den Reflex davon, daß gerade auch das Problem
der Zucht in den Zwischenjahren an Calvin praktisch herangetreten
ist, und andererseits die Frucht seines fortgesetzten Studiums.
An die besprochenen Schreiben der Zwischenzeit werden wir
auch erinnert, wenn dann Calvin Scheidung vom römischen Papis-
mus verlangt, weil er das Wort unterdrückt und aus den Sakra-
menten Götzendienst macht. Ein Vergleich mit dem israelitischen
Volk soll nachweisen, daß in den römischen coetus nur profana
conventicula nicht aber die Kirche sei (S. 557). Und doch wie einst
dem jüdischen Volk, so sind auch der römischen Kirche vestigia
ecclesiae von Gott gelassen, nimirum foedus domini, quod est in-
violabilc, et baptismum, sacramentum foederis (S. 560). Zugleich
ersehen wir hieraus wieder, daß die Kirche auch als vor Christi
Erscheinen auf der Erde vorhanden gedacht wird. Calvin sagt ein-
mal später: patrum omnium foedus adeo substantia et re ipsa nihil
a nostro difrert, ut unum prorsus atque idem sit ; administratio tarnen
variat (S. 802). Dieses Verständnis des alten Bundes war aber nur
möglich, weil Calvin auch in ihm schon die Wirksamkeit Christi
und die Erkenntnis seiner Versöhnerstellung voraussetzte (S. 630
und 803).
In den Ausführungen de potestate ecclesiastica weist er zunächst
mit denselben Gedanken wie 1536 die römische Tyrannei zurück.
Dann aber muß er solchen gegenüber, die gar keine Ordnung haben
wollen, die nötige Ordnung auch für die Kirche verteidigen. Wie
in jeder menschlichen Gemeinschaft, so ist auch besonders in der
Kirche Ordnung nötig (S. 1063). Wer diese ihr raubt, nimmt ihr
den Nerv. Doch muß man in bezug auf die der Ordnung dienen-
den kirchlichen Einrichtungen beachten, daß man sie nicht zum
Heile notwendig erachte oder die Frömmigkeit in ihre Beobach-
tung verlege. Dies eben bildet den entscheidenden Unterschied
gegen die gottwidrigen Festsetzungen der römischen Kirche.
Auch in den Abschnitten de ordine ecclesiastico ist der Gegen-
satz zu Rom vorherrschend (S. 1081 ff.). Zu vermerken wäre höch-
stens der fromme Wunsch, der Calvin entfährt: hätte doch heute
noch die Kirche solche Diakonen, denen man jene heilige Aufgabe
(der Armenpflege) übertragen könnte (S. 1095).
3O4 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Zum Schluß seien aus früheren Abschnitten dieser Ausgabe
nur noch einige Bemerkungen über das Verhältnis von Schrift und
Kirche angeführt, die sich auch gegen die römische Auffassung
richten. Falsch sei es, daß der Schrift erst durch die Kirche ihr
Ansehen verliehen werde (S. 292 f.) Si fundamentum est ecclesiae
profetica et apostolica doctrina, suain huic certitudinem ante con-
stare oportet quam illa exstare incipiat. — Vanissimum est igitur
commentum, scripturae judicandae potestatem esse penes ecclesiam
(S. 294). Damit soll aber nicht abgelehnt sein, daß der consensus
ecclesiae doch auch seine Bedeutung für die Auslegung der Schrift
hat (S. 299).
Überschauen wir die ganzen Ausführungen der Institutio von
1539 zu unserem Thema, so finden wir den Inhalt und die Form
in Bewegung. Es sind sicher wesentlich dieselben Gedanken, die
wir schon in der ersten Ausgabe fanden. Ich wüßte keine Stelle
anzugeben, die nicht mit dieser in Einklang gebracht werden
könnte. Aber doch ist eine gewisse Verschiebung eingetreten.
Allein schon durch die Loslösung der Erwählungslehre, die ja be-
sonders für die innere Seite der Kirche wichtig ist, tritt diese selbst
etwas zurück. Das wird dann noch verstärkt durch die große Zu-
nahme des Materials gerade für die sichtbare Kirche, wie wir es
durch die ganzen äußeren Verhältnisse Calvins bedingt fanden.
Von hier aus ist es auch verständlich, daß Calvin die Bedeutung
der sichtbaren Kirche an sich stark hervorhob, wodurch dann auch
die klare Scheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche ver-
anlaßt wurde. Nicht aber werden beide voneinander losgelöst;
beide Seiten gehören vielmehr stets zusammen. Doch wird jetzt
klarer der Unterschied festgestellt und vor allem das Recht oder
die Notwendigkeit der sichtbaren Kirche mehr gesichert. Die
nähere Besprechung des Verhältnisses soll bei der systematischen
Darstellung der Lehre Calvins stattfinden.
Es steigt uns dabei noch die Frage auf, ob sich bei der Ver-
schiebung in Calvins Lehre nicht auch der Einfluß der Theologen
geltend gemacht hat, deren Umgang er in Straßburg genoß. Es
kommt hauptsächlich Butzer in Betracht. Dieser hatte seit den
Jahren, für die wir ihn früher schon ins Auge faßten, in seiner
Theologie und gerade auch in seiner Lehre von der Kirche eine
bedeutsame Wandlung durchgemacht (vergl. A. Lang, Evangelien-
komm. S. 289 ff.). Von seiner Sakramentslehre aus war diese Um-
wälzung vor sich gegangen, deren Ergebnis wir im Kommentar
Von < am], theol. Th. Wcrdermann. 2)®5
zum Römerbrief vor uns sehen. Die Sakramente und ebenso das
Wort Gottes sind ihm jetzt zu Gnadenmitteln geworden. Dadurch
mußte sich auch seine frühere Anschauung von der Kirche ändern.
Sie konnte nicht mehr eine bloße Gemeinschaft bleiben, sondern
wurde zu einer Anstalt zur Erziehung des christlichen Volkes. Es
ist verständlich, daß jetzt das Amt eine ganz andere Bedeutung
erhält als früher. Doch will Butzer selbstverständlich nicht etwa
eine Pastorenherrschaft aufrichten. Darum stellt er eine Reihe
von Kautelen auf, die ein gefährliches Überwiegen des Amtes hin-
dern sollen (vergl. Lang S. 301 ff.). I. Es gibt nicht nur ein Amt
in der Gemeinde, sondern verschiedene entsprechend der Verschie-
denheit der Geistesgaben. 2. Wenn das reine Evangelium gepredigt
wird, so ist es ausgeschlossen, daß irgend ein Amtsträger es sich
zuschreibe, daß er das Heil wirke. 3. Auch sine hominum ministerio
kann Gott ausnahmsweise Menschen zu sich ziehen. Also ist das
Amt nicht unbedingt notwendig. 4. Die Tätigkeit des Ministers
hat für sich allein keinen Erfolg zu erwarten. Dieser hängt viel-
mehr allein von dem inneren Wirken Gottes ab. 5. Die ministri
bedürfen auch jetzt noch einer besonderen göttlichen Berufung. —
Durch all diese Bestimmungen wird aber doch nicht gehindert, daß
die Macht des ministeriums jetzt bedeutend stärker hervortritt, so
z. B. bei der Sündenvergebung durch die Kirche (Lang S. 304 f.).
Auch die mit Nachdruck geforderte Kirchenzucht soll den Geist-
lichen eine stärkere Einwirkung auf die Gemeinde ermöglichen
(Lang S. 307, vgl. S. 312).
Nun ist es ja möglich, daß für die Betonung des Amtes bei
Calvin auf Butzers Einfluß zurückzugehen wäre. Doch sahen wir
ja gerade dieses Moment bei Calvin selbst wohl begründet. Und in
der Abzielung der Zucht auf eine Verstärkung der seelsorgerlichen
Einwirkung der ministri folgte Calvin dem Straßburger Reformator
nicht ; ihm galt sie auch weiterhin als eine Gemeindeordnung zur
Aufrechterhaltung der Ehre des Herrn.
In einem Streben aber war Calvin vor allem eines Sinnes mit
Butzer. Dieser ist ja fast berüchtigt durch seine Vermittlerstellung,
in der er mit Aufopferung für eine Einigung besonders der evan-
gelischen Kirchen untereinander eintrat. In der Fähigkeit, seine
Anschauung auch zu wandeln, um eine Einigung zustande zu
bringen, war Calvin ihm freilich nicht gleich, um so mehr aber in
dem aufrichtigen Streben nach Einheit. Das zu zeigen, fand er
während seines Aufenthaltes in Deutschland immer wieder Ge-
Calvinstudien.
-3 OÖ Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
legenheit, vor allem auch bei seiner Beteiligung an den Religions-
gesprächen.
In diesen Zusammenhang gehört auch Calvins Schrift: Con-
silium admodum paternum Pauli III etc. (O. C. 5 S. 253 ff.). Frei-
lich ist da die Betonung der Herrscherstellung Christi in der Kirche
durch den Gegensatz zum Papsttum bedingt, doch gilt sie ohne
Zweifel auch abgesehen von diesem Gegensatz. Jedenfalls liegt für
Calvin jetzt hier der Hauptpunkt des Streites mit der römischen
Kirche. Christusne an pontitex romanus supremum caput ecclesiae,
summus princeps, sapientia justitia spesque unica salutis haberi
debeat, id caput est omnium controversiarum (S. 474). Calvin er-
klärt es als die Hauptsache, daß die Christen Christo insiti seien.
Von da aus, daß Christus in allem herrschen solle, wird sich das
übrige von selbst regeln. Denselben Gedanken der Herrschaft
Christi in der Kirche finden wir hier noch oft, z. B. S. 476, 488.
Eben darin liegt ihm auch die Möglichkeit der Einheit der Kirche
(S. 474, vergl. 470). — Auch die Forderung der Zucht, und zwar
unter Beteiligung von Laienältesten an ihrer Ausübung wird nicht
vergessen. Monstrum erit, si disciplinam erigant Germani — . in
hunc usum ministros et seniores habeat ecclesia (S. 493).
Bei den verschiedenen Religionsgesprächen ist Calvin auch
längere Zeit mit Melanchthon zusammengewesen und ihm dabei
sehr nahe gekommen (vergl. A. Lang, Melanchthon und Calvin.
Reform. Kirchenz. 1897 und Doumergue Bd. 2). Ein Einfluß
Melanchthons gerade auf Calvins Lehre von der Kirche wäre be-
sonders deshalb bedeutsam, weil in jenen Jahren 1537 — 1540 eine
weitere Entwicklung von Melanchthons Lehre eben auch mit Be-
zug auf die Kirche vor sich ging. Melanchthon litt sehr unter der
Zersplitterung der Kirche; so kehrte er all dem Subjektivismus
gegenüber, der sich ihm vor allem bei den Anabaptisten und Frei-
geistern wie gerade auch bei Servet entgegenstellte, die anstaltliche
Bedeutung der Kirche hervor. Die doctrina als theologischer
Lehrbegriff wird zu einem wesentlichen Merkmal der wahren Kirche.
Neben dem Worte Gottes wird auch der Kirche besonders für die
Auslegung der Schrift eine Autorität zugewiesen. Und schließlich
wird der Begriff der unsichtbaren Kirche vollständig verworfen und
nur eine sichtbare anerkannt (vergl. A. Ritschi, Entstehung der
lutherisch. Kirche. Ges. Aufs. I S. 170 ff.). Nun könnte man
meinen, daß in der später uns noch häufiger begegnenden Betonung
der doctrina und ebenso in der Bezeichnung der Kirche als einer
Von cand. theol. Th. Werdermann. $07
schola bei Calvin sich die Nachwirkung Melanchthons zeige-. Aber
das erste finden wir schon früher bei Calvin, und das zweite ei
sich zu leicht von einer Hervorhebung der doctrina her, wobei noch
zu beachten ist, daß Calvin die Kirche besonders als schola Christ i
kennt. So glaube ich nicht, daß wir hierin Einwirkungen Melanch-
thons erblicken müssen, zumal nicht, wenn wir, wie bei der syste-
matischen Untersuchung gezeigt werden soll, bei Calvin doch eine
andere Wertung von beiden finden als bei Melanchthon.
Der Römerbrief kommentar von 1540 und der Traicte de la
sainte cene von 1541, die auch noch der Straßburger Zeit an-
gehören, bieten für unser Thema nichts besonders Beachtenswertes.
Überschauen wir diese ganze Epoche, so erkennen wir, wie
die frühere Lehre Calvins von der Kirche sich weiter entwickelt
und zwar besonders mit Rücksicht auf die äußere Seite der Kirche.
Die ganzen Verhältnisse, in denen Calvin stand, drängten ihn
dahin. Die Gedanken über die unsichtbare Seite der Kirche treten
zurück, bleiben aber als wichtige Grundlage bestehen. Die Ent-
wicklung, in der sich die Lehre von der Kirche befindet, hat aber
einen klaren Abschluß noch nicht erreicht. Gerade für die prak-
tische Gestaltung der sichtbaren Kirche finden wir manchen wich-
tigen Gesichtspunkt wohl aufgestellt, aber noch nicht durchgeführt.
Dafür sehen wir uns auf die Zeit des Neuaufbaues der Genfer
Kirche verwiesen.
5. Kapitel.
Die Zeit des Neuaufbaues der Genfer Kirche.
Calvin hat es zur Bedingung seiner Rückkehr nach Genf ge-
macht, daß eine neue Kirchenordnung eingeführt werde. Am
liebsten hätte er die Neuordnung der Genfer Gemeinde mit Unter-
stützung der Nachbarkirchen vorgenommen. So wäre dieses Werk
als ein von der Gemeinschaft der Kirche ausgehendes charakteri-
siert gewesen und hätte dem Staate gegenüber eine größere Selb-
ständigkeit und eine Gewähr für die Zukunft erhalten. Vergl.
O. C. 11 S. 231, Herrn. 7 S. 137 ff. Das konnte Calvin jedoch
nicht durchsetzen. Aber am 13. September 1541 sogleich, als er
zum ersten Male wieder vor den Genfer Rat trat, forderte er nun
die Einsetzung eines Ratausschusses, der in Gemeinschaft mit den
Geistlichen eine Kirchenordnung entwerfe. Darüber schreibt er
selbst wenige Tage hernach an Farel : Ubi operam meam senatui
detuli, exposui non posse consistere ecclesiam, nisi certum regimen
20*
oo8 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
constitueretur, quäle ex verbo dei nobis praescriptum est, et in
veteri ecclesia fuit observatum (O. C. n S. 281 f., Herrn. 7 S. 249 f.).
II y a quatre ordres d'offices que nostre Seigneur a institue
pour le gouvernement de son eglise, so beginnt der am 26. Sep-
tember dem Rat vorgelegte Entwurf (O. C. 10 a S. 15). Es handelt
sich um die Bestimmungen über die Leitung der Kirche. Da ist es
verständlich und darf nicht zu weitgehenden Schlüssen veranlassen,
wenn mit der Bezeichnung der Leiter begonnen wird, wie es weiter-
hin natürlich ist, daß unter den vier Klassen derselben die Pastoren
an erster Stelle stehen. Außer ihnen werden Doktoren, Älteste
und Diakonen aufgezählt (S. 16). Die Aufgabe der Pastoren wird
dann dahin bestimmt, daß sie das Wort Gottes zu verkündigen,
die Sakramente zu verwalten und außerdem brüderliche Ermah-
nungen in Gemeinschaft mit den Ältesten vorzunehmen haben
(S. 17). Sie müssen regelrecht berufen werden ; dazu gehört das
Examen der Lehre und des Lebens, die Einsetzung, die nach dem
Brauch der alten Kirche durch die Prediger geschehen, durch den
Rat bestätigt und durch die Gemeinde gutgeheißen werden muß.
Um Reinheit und Einheit der Lehre zu bewahren, sollen allwöchent-
lich Konferenzen stattfinden. Bei Meinungsverschiedenheiten unter
den Pastoren sind zunächst die Ältesten hinzuzuziehen. Im Not-
falle muß die Sache vor den Rat gebracht werden (S. 18). Die
Sittenzucht gegen einen Pfarrer soll durch die Kollegen und die
Ältesten geschehen, vom Rat bestätigt und ausgeführt werden
(S. 19 f.).
Die Wahl der doctores soll nicht ohne die Einwilligung der
Pastoren durch den Rat geschehen. Die Aufgabe der Ältesten
beschränkt sich auf die in Gemeinschaft mit den Predigern zu
geschehende Ausübung der Zucht. Bestimmt werden sollen sie
vom Rat nach Anhörung der Prediger. Das Amt der Diakonen
wird mit den städtischen Ämtern zur Armen- und Krankenpflege
identifiziert. Es folgen dann Bestimmungen über die Sakramente,
die Ehe, das Begräbnis, Besuch von Kranken und Gefangenen,
Unterricht der Kinder und schließlich über die Zucht in der Ge-
meinde. Diese richtet sich hier wie bei den Predigern auf Glaube
und Leben, wird von Predigern und Ältesten ausgeübt und führt
nötigenfalls zu einer Anzeige an den Rat.
Vergegenwärtigen wir uns, was Calvin während seines ersten
Aufenthaltes in Genf im Jahre 1537 und dann im Frühjahr 1538
bei den Verhandlungen der Züricher Synode forderte, und auch.
Von cand. thcol. Th. Werdennann. 3^*9
das, was er inzwischen besonders in der Inslitntio von 1539 als für
eine rechte Kirche notwendig aufstellte, so scheint es ihm jetzt
zu gelingen, das Wesentliche seiner Forderungen durchzusetzen.
Vor allem die heißerstrebte Kirchenzucht ist aufgenommen. Frei-
lich ist die Art, wie sie eingeführt werden soll, eine andere ge-
worden, als sie vor vier Jahren gefordert wurde. Der Entwurf
von 1537 zeigte gerade hier, daß sein Verfasser noch wenig prak-
tische Erfahrung besaß. Die Zuchtgehilfen waren als unselb-
ständige persönliche Helfer eines Pfarrers gedacht, wobei auch
unbestimmt blieb, wer eigentlich die Exkommunikation auszu-
sprechen habe. Jetzt soll ein aus Predigern und Ältesten zusam-
mengesetztes Kollegium das Recht der Zucht und im besonderen
auch der Exkommunikation erhalten. Gerade hierin zeigt sich
auch ein Ertrag seines Aufenthaltes in Deutschland. In Ulm war
schon 1531 unter Butzers Einfluß die Zuchtübung durch ein Kol-
legium von zwei Predigern und vier Ratsherren eingeführt worden.
Melanchthon beantragte im Sommer 1541 auf dem Reichstage zu
Regensburg, wo ja auch Butzer und Calvin zugegen waren, es
sollten in den deutschen Bistümern Richterkollegien aus Geist-
lichen und Weltlichen gebildet werden, welche die kirchlichen
Angelegenheiten beaufsichtigen und besonders die Exkommuni-
kation ausüben sollten. Bei Calvin sehen wir deutlich diesen Ein-
fluß schon in der S. 254 angeführten Stelle aus dem consilium ad-
modum paternum etc.
Ein Punkt aber, den Calvin bei der Züricher Synode ausdrück-
lich betonte, ist in den Entwurf von 1541 gar nicht aufgenommen:
die Forderung, daß die Prediger durch die Handauflegung in ihr
Amt eingeführt werden sollen. Es wird im Entwurf anerkannt,
daß das ein Brauch der ersten Kirche gewesen sei. Wegen der
Gefahr des Aberglaubens aber soll er jetzt nicht eingeführt werden.
Vielmehr ist der Prediger nach seinem der Obrigkeit geleisteten
Schwur im Besitz seines Amtes. Diese Begründung kann nicht
von Calvin herrühren ; denn er fordert in seinen Schriften, wie
vorher so auch nachher, weiter die Handauflegung. Sie muß also
wohl durch die Ratsmitglieder in der Kommission hineingebracht
worden sein. Aber die Begründung verfängt auch eigentlich nicht.
Durch Farel war in Neuenburg schon die Handauflegung ein-
geführt. Zudem was hätten durch die Handauflegung für aber-
gläubische Vorstellungen geweckt werden können? Doch wohl
nur solche, durch die das Ansehen der Prediger gehoben worden
•2 I o Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
wäre. Wahrscheinlich ist bei der Ablehnung der Handauflegung
das Bestreben der Obrigkeit wirksam gewesen, die Kirche mög-
lichst abhängig von sich zu halten.
Schon der Entwurf zeugt an manchen Stellen davon, wie eifrig
die Obrigkeit über die Macht, die sie auch in kirchlichen Angelegen-
heiten sich angeeignet hatte, wachte. Noch klarer aber erkennen
wir das aus den Abänderungen, die dann am Entwurf noch vor-
genommen wurden. Alle, mit Ausnahme einer, die der Ordnung
der Abendmahlsfeier galt, beziehen sich auf die Frage des Ver-
hältnisses zwischen Kirche und Staat. Calvin wollte der Kirche
möglichst große Selbständigkeit geben. Dem entgegen war das
Bestreben der staatlichen Gewalt gerichtet. Klar ersichtlich ist
diese Tendenz auch darin, daß der Rat im Entwurf hinter der Be-
zeichnung Älteste stets „Verordnete des Rats" einsetzte. Die ein-
schneidendste und für die Zukunft wichtigste Bedeutung hatte aber
die Änderung bei dem Artikel über die Disziplin. Dort wurde
ohne sonstige Streichungen und Zusätze am Schluß einfach hinzu-
gefügt : Item nous avons ordonne que lesdictz ministres nayent a ce
atribuy nulle juridiction, mes seullement doybjent aoyr les parties
et fere les remonstrances susdictes. Et sus leur relation pourrons
adviser de fere le jugement selon lexigence du cas (O. C. ioa S. 29
Anm. 8). Der Entwurf hatte unzweifelhaft der Zuchtbehörde das
Urteil zugeschrieben. Durch den Zusatz des Rates kam ein Wider-
spruch in die Bestimmungen, weil die Obrigkeit sich hier selbst
das Urteil vorbehielt. Das war natürlich gerade am entscheiden-
den Punkt der Meinung Calvins entgegen. Kein Wunder, daß sich
Calvin dem entgegenstellte und in der schließlich angenommenen
Fassung, in der sonst an mehreren Punkten das Recht der Obrig-
keit wieder noch mehr betont wird, gerade hier seine Auffassung
durchsetzte. Der obige Schlußsatz wird jetzt durch folgende Aus-
führungen ersetzt: Et que tout cela se face en teile sorte que les
ministres naient nulle iurisdiction civile et ne usent sinon du glaive
spirituel de la parolle de Dieu comme sainct Paul leur ordonne,
et que par ce consistoire ne soit en rien derogue a l'auctorite de
la seigneurie ne a la iustice ordinaire. Mais que la puissance civile
demeure en son entier. Et mesmes 011 il sera besoing de faire
quelque punition ou contraindre les parties, que les ministres avec
le consistoire aiant ouy les parties et faict les remonstrances et
admonitions telles que bon sera, ayent a raporter au conseil le tout,
lequel sur leur relation advisera den ordonner et faire iugement
Von cand. throl. Th. Werdormann. T. \ I
selon lexigence du cas (( >. C. ioa S. 30 Anm. 1). Diese Sätze
enthalten eine Verwahrung gegen einen Eingriff des Konsistoriums,
welcher Name übrigens hier zuerst auftaucht, in die ordentliche
Gerichtsbarkeit der Obrigkeit. Nicht aber sind in ihnen die vor-
hergehenden Bestimmungen aufgehoben. So hat sie Calvin immer
wohl mit Recht verstanden. Aber klar war dieser Abschnitt nicht.
Besonders die letzten Worte konnten von der Obrigkeit leicht
weiter ausgedehnt werden, als sie gemeint waren. Und das ge-
schah auch recht bald.
Sein Ideal ganz durchzusetzen, ist Calvin nicht gelungen.
Einigemal wird hervorgehoben, daß die vorliegenden Bestimmungen
nur wegen der gegenwärtigen Verhältnisse so erlassen würden.
Calvin schreibt einmal an seinen Freund Farel : Yaleat proverbium,
quando non fit quod volumus, velimus quod possumus (O. C. 1 1
S. 348 ff., Herrn. 7 S. 357 ff. Vergl. auch O. C. 11 S. 363 ff., Herrn. 7
S. 408 ff.). Zur Charakteristik Calvins ist das zu beachten. Wir
sehen, wie er sich anch in Zeiten des Triumphes selbst an solchen
Punkten, die für ihn wichtig waren, bescheiden konnte. — Freilich
war ihm ja viel zu gewinnen gelungen. Die Sittenzucht war be-
schlossen. Gerade hier an der wichtigsten Stelle sollte die Kirche
selbständig sein. Auch sonst waren der Kirche manche Rechte
zugestanden, so daß vor allen Dingen kein Prediger ihr wider ihren
Willen aufgezwungen werden konnte.
In den Ordonnances tritt uns eigentlich nur die äußere Seite
der Kirche entgegen. Doch versteht sich das bei dem Zweck der
Ordonnances von selbst.
Bevor wir auf die Institutio von 1543 eingehen, haben wir
wesentlich noch auf den Katechismus von 1542 zu achten. Einige
andere kleine literarische Überreste jener Zeit übergehen wir, da
sie nichts Wichtiges für unser Thema beibringen. Der Katechismus
liegt uns freilich auch in der wahrscheinlich ursprünglichen fran-
zösischen Fassung nur in einer Ausgabe von 1545 vor. Aber wir
dürfen ihn wohl schon hier heranziehen, da die späteren Ausgaben
kaum geändert sind, und es daher wohl gestattet ist. darauf zu
schließen, daß anch der von 1545 ein unveränderter Abdruck ist.
Hier wird gesagt, daß der vierte Teil des Glaubensbekennt-
nisses handele de l'Eglise, et des graces de Dien envers icelle
(O. C. 6 S. 13). Später wird dann die Kirche definiert als la com-
pagnie des fkleles que Dien a ordonne et eleu a la vie eternelle
(S. 39). Dieser Artikel muß notwendig geglaubt werden, si nous
312 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
ne voulons faire la mort de Jesus Christ oysive, et tout ce qui a
desia este recite : car le fruict qui en procede, est l'Eglise. Bisher
war gesprochen worden von der Ursache und dem Grund des
Heils, jetzt handelt es sich um 1'efret et l'accomplissement de tout
cela, pour en donner meilleure certitude. Die Kirche ist also das
Ziel der ganzen Heilsveranstaltung. Über unser persönliches Heil
hinaus führt uns der Glaube zur Heilsgemeinde. Nicht etwa als
eine vor den Einzelnen bestehende Institution ist hier die Kirche
gefaßt. Nur im Glauben an das Heil des Einzelnen ist auch der
Glaube an die Kirche ermöglicht. Das gemeinschaftliche Moment
ist natürlich auch besonders betont bei der Erläuterung der „Ge-
meinschaft der Heiligen" (S. 39). — Die Erklärung des „heilig"'
sehen wir auch hier auf Gottes und Christi Ehre abzielen.
Die Kirche nun, von welcher diese Aussagen gemacht werden,
wird nicht schlechtweg als unsichtbar bezeichnet. Aber ohne
Zweifel ist hier diese Seite des Begriffes gemeint, die das innere
Wesen der Kirche ins Auge faßt. Das geht deutlich hervor aus
folgendem Satz: II y a bien Eglise de Dieu visible, selon qu'il
nous a donne les enseignes pour la cognoistre : mais il est icy
parle proprement de la compaignie de ceux que Dieu a eleu pour
les sauver : laquelle ne se peut pas pleinement voir ä l'oeil (S. 41).
Aus dieser Stelle geht auch deutlich hervor, daß es nach Calvin
eine schlechthin unsichtbare Kirche nicht gibt, höchstens eine, die
nicht ganz sichtbar ist. Diese aber, die ihrem Wesen nach eine
compaignie ist, ist besonders Gegenstand des Glaubensbekennt-
nisses. — Sehr zu beachten ist das, was Calvin hier von dem Be-
kenntnis zur „Vergebung der Sünden" sagt. Dieses stehe hinter
dem zur Kirche, pource que nul n'obtient pardon de ses pechez,
que premierement il ne soit incorpore au peuple de Dieu, et per-
severe en unite et communion avec le corps de Christ : et ainsi
qu'il soit vray membre de l'Eglise. Klingt das nicht ganz so, als
stehe über dem Einzelnen diese Institution der Kirche, der sich
eben der Einzelne unterwerfen muß, wenn er anders an dem Heil
teilhaben will ? Gewiß ! Nur darf man das nicht so verstehen,
als werde den Menschen durch eine über ihnen stehende von ihnen
abtrennbare Anstalt das Heil vermittelt. Was ist denn diese Kirche
anders als die Gemeinschaft der Erwählten? Mißverständlich ist
der obige Satz meines Erachtens nur wegen des Wortes premiere-
ment. Wenn man das preßt, so könnte es scheinen, als ob es
nach Calvin vorher eine Zugehörigkeit zum Leib Christi gebe und
Von cand. theol. Th. Werdermann. 3^3
dann erst irgendwie später die Aneignung der Vergebung der
Sünde. Das würde aber verkehrt sein. Der Ausdruck premiere-
ment ist sicherlich durch polemische Rücksicht auf solche, die sich
irgendwie von der Kirche abtrennen, hierher geraten. Das müssen
wir bei der später zu erfolgenden zusammenfassenden Erörterung
dieser und ähnlicher Stellen beachten. — Dafür, daß man auch bei
Calvin nicht einzelne Ausdrücke und Bilder pressen darf, sei darauf
hingewiesen, daß gerade hier im Katechismus die Bezeichnung
entree in der Kirche oder ins Himmelreich einmal (S. 107) für das
Wort Gottes und ein anderes Mal (S. 115) wieder für die Taufe
gebraucht wird.
Nicht lange nachdem Calvin die Genfer Kirche neu geordnet
hatte, erchien auch wieder eine stark umgearbeitete Ausgabe seiner
Institutio. Diese Ausgabe von 1543 zieht gewissermaßen das Re-
sultat aus den Arbeiten und Kämpfen der letzten Jahre und ist
für unser Thema von großer Wichtigkeit,
Das achte Kapitel, in dem enthalten ist quartae partis symboli
expositio ubi de ecclesia, beginnt jetzt mit dem Satze: Primum ea
breviter dicemus quae ad simplicem verborum enarrationem facere
videbuntur, quae scilicet fides in consolationis nostrae fruetum
proprie speculari debet : deinde pleniorem de ecclesia disputationem
ordiemur (O. C. 1 S. 537 Anm. 2). Wir sehen aus diesem Satze,
daß sich also Calvin selbst dessen wohl bewußt war, daß die ersten
Ausführungen über die Seite der Lehre von der Kirche, die all
dem Niederdrückenden der Wirklichkeit gegenüber Trost geben
könnte, d. h. über die „unsichtbare" Kirche nur recht kurz sind,
zumal im Verhältnis zu den weitläufigen Abschnitten, die von der
Gestaltung der sichtbaren Kirche handeln. Aber nichtsdestoweniger
fällt doch nach Calvin für den Glauben eben hierauf das Haupt-
gewicht. Daß diese Seite der Kirche es zunächst nur ist, auf die
der Glaube sich bezieht, die andere aber nicht in gleichem Maße,
sondern nur abgeleitet, das ersehen wir auch aus dem größeren
Zusatz, den Calvin jetzt beim Übergang auf die sichtbare Kirche
einfügt (S. 542). Hier stellt er zunächst klar einen zweifachen
Sprachgebrauch der Heiligen Schrift nebeneinander. Zunächst
versteht sie nämlich unter Kirche diejenige, quae revera est coram
deo, zu der nur filii dei, nur vera Christi membra gehören. Dann
greift sie über die jetzt Lebenden zurück bis zum Anfang der
Welt. — Oft aber bezeichnet die Schrift auch als Kirche universam
hominum multitudinem in orbe diffusam, quae unum se deum et
3 I 4 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Christum colere profitetur. Hierbei richtet sich also der Blick auf
die jetzt lebenden Menschen und ihr Bekenntnis. Nachdem Calvin
dann noch in kurzen Zügen diese charakterisiert hat, sagt er zum
Schluß: quemadmodum ergo nobis invisibilem, solius dei oculis
conspicuam ecclesiam credere necesse est, ita hanc, quae respectu
hominum ecclesia dicitur, observare, eiusque commuionem colere
iubemur. Für die sichtbare Kirche wird also nur gefordert, daß
man sie achte und ihre Gemeinschaft pflege. Hier finde ich auch
zuerst den Ausdruck ecclesia invisibilis, der gleich erläutert wird
durch den Zusatz : solius dei oculis conspicua. — Wichtig ist auch,
daß, wie aus dem jetzigen Anfang und Schluß des folgenden Ab-
schnittes (S. 542, 9) hervergeht, die notae als Zeichen des Leibes
Christi, nicht nur als solche der wahren sichtbaren Kirche an-
gesehen werden. — Dafür daß auch in der sichtbaren Kirche das
Moment der Gemeinschaft notwendig ist, geben die Zusätze auf
Seite 547 ff. einen Beweis, in denen Calvin solchen gegenüber, die
die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen herstellen wollen, auf
die Gemeinschaft gerade auch beim Abendmahl den Ton
legt. Das Recht der Trennung von der römischen Kirche aber
begründet er damit, daß in ihr nicht mehr Gottes Wort gehört
werde und infolgedessen auch Christus nicht mehr der Herr sei
(S. 554 ff-)-
Im weiteren redet Calvin von der Ordnung, wie nach Gottes
Willen die Kirche regiert werden soll (S. 561 ff.). Das ministerium
hat Gott dazu eingesetzt als vicaria opera, als instrumentum.
Warum er gerade menschliche Vermittlung braucht, dafür gibt
Calvin eine Reihe von Gründen an. Es liegen nämlich darin für
uns 1. eine Anerkennung der Würde der Menschheit; 2. ein
Beweis unserer göttlichen Bestimmung; 3. eine Übung unserer
Demut und 4. ein Ansporn zur Liebe und Einigkeit. Das führt zu
einer hohen Wertung des ministeriums : es ist der praeeipuus ner-
vus, quo fideles in i.ino corpore cohaereant (S. 562).
Jetzt rinden wir die verschiedenen Ämter nach Paulus auf-
gezählt, d. h. zunächst nur die Diener am Wort (S. 563 f.). Von
diesen sind drei, Apostel, Propheten, Evangelisten, nur für die
Anfangszeit der Kirche, zwei dagegen, Pastoren und Doktoren, auf
die Dauer gegeben. Die Aufgabe der Pastoren wird in der be-
kannten Weise bestimmt. Ihre Verantwortung ist eine sehr große.
Die Inhaber des ministeriums aber nennt Calvin mit der Schrift
episcopos, et presbyteros, et pastores, et ministros (S. 566).
Von cand. theol. Th. "Werdermann. 3^5
Im Römerbrief und im i. Brief an die Corinthcr führe der
Apostel aber noch andere Ämter an, ut potestates, donum sana-
tionum, interpretationem, gubernationem, pauperum, curationem.
Die nur für Zeit gegebenen Ämter lälit er beiseite und spricht nur
von der gubernatio et cura pauperum. Die erstere ist den aus
dem Volk erwählten Ältesten übertragen, qui censurae morum et
exercendae diseiplinae una cum episcopis praeessent. Die cura
pauperum steht den diaconis zu, die in zwei Klassen zerfallen,
solchen, die die Almosen verwalten, und solchen, die Arme und
Kranke pflegen (S. 567).
Da nun besonders in sacro coetu alles ordentlich zugehen muß,
so muß der minister vor allem rite vocatus sein. Die arcana
vocatio ist vorausgesetzt. Für die solemnis vocatio der äußeren
Kirche gibt es keine feste Vorschrift ex apostolorum institutione.
Aber doch kommt Calvin zu dem Schluß : habemus ergo, esse haue
ex verbo dei legitimam ministri vocationem ubi ex populi con-
sensu et approbatione creantur, qui visi fuerint idonei (S. 571). —
Der Ritus ordinandi schließlich ist nach dem Vorbilde der ersten
Kirche die Handauflegung.
Im weiteren wendet sich Calvin auf dem Grunde geschicht-
licher Untersuchungen gegen die Ansprüche des Papsttums
(S. 571 ff.). Ihm gegenüber weist er darauf hin, daß Christus allein
das Haupt der Kirche sei (S. 601). — Auch die römische Auf-
fassung der potestas ecclesiae verwirft er. Soweit sie die Lehre
angeht, faßt er seine Meinung darüber in folgendem Satz zu-
sammen : porro aedificandac ecclesiae una haec ratio est : si ministri
ipsi suam Christo autoritatem conservare Student, quae salva
aliter esse 11011 potest quam si id ei relinquatur, quod a patre
aeeepit : nempe ut sit unicus ecclesiae magister (S. 628). So ist
also die Macht der Kirche auch auf diesem Gebiete verfaßt in dem
Worte Gottes (S. 630). Christus ist unser Lehrer (S. 632). Und
wenn die Römischen sagen, der Kirche an sich stehe solche Macht
zu, weil sie nie von Christus ihrem Bräutigam verlassen werde, so
gilt das ebenso von jedem Einzelnen (S. 634). Eben deshalb hat
sie ja auch nur all diese Gaben, weil die Einzelnen sie halten.
(S. 635). Auch Konzile will Christus allein leiten, ohne einen
Menschen an dieser Ehre teilnehmen zu lassen. Tunc autem
demum praesidere dico, ubi totum consensum verbo et spiritu suo
moderatur ('S. 639). Doch ist eine Synode wahrer Bischöfe das
beste Mittel, um bei Streitigkeiten über die Auslegung der Schrift
■2 I 6 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
zu einer Einigung zu kommen. — Sodann spricht Calvin von dem
zweiten und wichtigsten Teil der kirchlichen Gewalt, der jurisdictio
oder morum disciplina (S. 647). Wie jede Stadt Obrigkeit und
Ordnung haben muß, so muß auch die Kirche Gottes ihre geist-
liche politia haben. Diese ist aber von der bürgerlichen gänzlich
verschieden, hindert und mindert diese nicht, stützt und fördert
sie vielmehr. Jetzt findet Calvin in I.Tim. 5, 17 zweierlei Pres-
byter erwähnt, solche, die am Worte dienen, und solche, die ohne
Wortverkündigung die Kirche leiten (S. 648). — Wenn Calvin sich
dabei gegen solche wendet, die meinen, daß diese Einrichtung nur
solange Zweck gehabt habe, als die Obrigkeit keine christliche
gewesen sei, und diesen gänzliche Verkennung des Unterschiedes
zwischen beiden Gewalten der kirchlichen und der bürgerlichen
vorwirft, so scheint er sich damit gegen Lutheraner und Zwing-
lianer, vielleicht auch gegen Widersacher in Genf zu wenden. Die
Kirche hat keine Zwangsmittel, sondern erstrebt nur, ut volimtaria
castigatione poenitentiam profiteatur (S. 648). Auch erklärt es
Calvin nicht für natürlich, daß die Kirche diejenigen, welche ihren
Ermahnungen nicht folgen wollen, dem Magistrat mitteilte. Das
wäre aber der Fall, wenn der Staat an die Stelle der Kirche trete
(S. 649). Vielmehr müsse die Kirche ihre spiritualis iurisdictio
stets behalten ; darauf komme es an, daß sie die weltliche nicht be-
schränke oder sich mit ihr vermische. Zu einer richtigen Durch-
führung der iurisdicitio aber sind zwei Bedingungen aufzustellen :
1. sie darf nicht mit der obrigkeitlichen Strafgewalt vermischt wer-
den ; 2. sie soll nicht durch einen Einzelnen, sondern durch ein
gesetzliches Kollegium ausgeübt werden. — Bei all diesen Aus-
führungen sehen wir klar die Genfer Verhältnisse vor uns und er-
kennen auch, daß wir oben richtig die Punkte herausgestellt haben,
auf die es Calvin vor allem ankam. — Für die Ausübung der
disciplina nun teilt Calvin die Kirche in duos ordines praecipuos :
clerum scilicet et plebem. Daß hinter der Bezeichnung clerus
nicht etwa irgend eine katholische Exemption oder Betonung des
Amtscharakters sich versteckt, sagt gleich der nächste Satz :
Clericos appello usitato nomine, qui publico ministerio in ecclesia
funguntur (S. 658). Für sie wird die Zucht noch verschärft (S. 671).
— Über die allgemeine Zucht heißt es nun, wie die rettende Lehre
Christi die Seele der Kirche sei, so sei die Zucht gleich den Nerven,
die bewirken, daß die Glieder richtig untereinander zusammen-
hängen. Sie wird von Calvin auch bezeichnet als fraenum. stimu-
Von cand. thcol. Th. Werdermann. 0^7
lus, paterna ferula (S. 658). In ihrer ganzen Ausgestaltung ist die
Zucht optimum — et sanitatis subsidium et fundamentum ordinis
et vinculum imitatis (S. 659). Für ihre Ausübung aber erscheint
es ihm nach des Paulus Worten richtig, wenn nicht die Ältesten
allein vorgehen, sondern mit Zustimmung und Wissen des Volkes :
in eum scilicet modum, ut plebis multitudo non regat actionem,
sed observet ut testis et custos, ne quid per libidinem a paucis
geratur (S. 662). Aber wie überhaupt in der Kirche, so soll auch
hier Liebe herrschen (S. 662 f.). Wie sehr Calvin aber auch vor-
her die Notwendigkeit der Zucht betont hat, so fordert er doch
wieder, daß weder ein Glied sich von einer Kirche trenne, noch
auch ein Pfarrer sein Amt aufgebe, weil in der Gemeinde die Zucht
nicht durchgeführt werde.
Wenn wir diese Ausgabe der Institutio mit der vorhergehen-
den vergleichen, so fällt uns vor allem auf, wie stark jetzt die
sichtbare Kirche der nur kurz erwähnten unsichtbaren gegenüber
in den Vordergrund tritt. Wrir haben schon oben darauf hinge-
wiesen, wie das nicht etwa als ein Maßstab für die Wartung beider
Seiten für Calvin verwandt werden dürfe. Wie es kommt, daß er
jetzt die sichtbare Kirche so stark berücksichtigt, ist uns wohl ver-
ständlich. Man könnte höchstens darüber verwundert sein, daß er
in seinen Auseinandersetzungen mit der römischen Kirche nicht
mehr von dem Gedanken der unsichtbaren Kirche ausgeht. Aber
zunächst liegt das doch oft unausgesprochen zugrunde ; dann aber
handelt es sich hier doch eben darum, das Recht einer sichtbaren
Kirche im Gegensatz zur römischen darzutun.
Jetzt wird auch öfter als früher zur Begründung für die äußere
Organisation der Kirche auf die Bibel und die erste Gemeinde ver-
wiesen. Wenn aber Kattenbusch einmal sagt (J. C. Jahrb. f.
deutsche Theol. 1878 S. 364 f.), daß Calvin durch „die scharfe Aus-
prägung der Lehre von der Schrift, in der die Schrift gewisser-
maßen als ein Codex betrachtet wird — am meisten zu seiner
mechanischen Auffassung von der Vorbildlichkeit der alttestament-
lichen Theokratie und besonders auch der apostolischen Gemeinde
gekommen" sei. ,,die sein Verhalten als praktischer Reformator
so wesentlich bestimmt hat", so wird genauere Beobachtung zeigen,
daß nicht das Schriftprinzip Calvin zu seinen praktischen, organisa-
torischen Forderungen brachte, sondern vielmehr das praktische
Leben selbst. Die Begründung durch die Schrift kam erst später
als Stütze dazu. Daß dem wirklich so ist, dafür finden wir gerade
■i j g Calvin* Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
jetzt ein deutliches Beispiel. In der Ausgabe von 1536 ist das In-
stitut der Laienältesten nicht besprochen, höchstens mit einem
Worte erwähnt. Auch noch in der Ausgabe von 1539 meint Calvin
den Ausdruck presbyterium in 1. Tim. 4, 14 besser vom ministerium
verbi als von einem coetus seniorum verstehen zu müssen, obgleich
er selbst inzwischen in Genf die Einrichtung der Ältesten ge-
fordert hatte. 1541 war in Genf durch die ordonnances das consi-
stoire eingerichtet mit den vom Rat bestimmten Ältesten. Und
jetzt findet sich auch in der Institutio von 1543 eine biblische Be-
gründung dieser Einrichtung. Die Besprechung der Stelle 1, Tim.
4, 14 fällt fort. Auch faßt Calvin nochmals Bischöfe, Presbyter,
Pastoren und ministri als gleichbedeutend zusammen, um dann aber
mit Berufung auf Rom. 12, 8 und I. Cor. 12, 28, die seniores, die
aus dem Volke erwählt werden und die Sittenzucht mit den
Bischöfen ausführen sollen, als nötig und in der alten Kirche von
jeher bestehend zu betonen. Daß Calvin erst später aus der
Schrift heraus die Notwendigkeit der Ältesten erkannt habe, ist
nach dem ganzen Sachverhalt ausgeschlossen. Wir haben hier
ein deutliches Beispiel dafür, wie ihm ein Schriftwort erst von dem
praktischen Leben aus den Sinn gewann, durch den er dann seine
Forderungen stützte. — Gerade wenn wir das Verhältnis der Inst,
von 1543 zu den ordonnances von 1541 beachten, erkennen wir,
daß auch bei Calvin das zutrifft, was Harnack einmal für die Ent-
wicklung der Lehre von der Kirche im allgemeinen sagt, daß die
Theorie immer erst der Praxis nachfolge.
An die Institutio von 1543 wollen wir kurz noch einige kleinere
Schriften anreihen, die sich wesentlich mit der Institutio decken.
Den Kommentar zum Judasbrief von 1542 können wir ganz über-
gehen. — In der defensio sanae et orthodoxae doctrinae de Servi-
tute et liberatione humani arbitrii adversus calumnias A. Pighii
Compensis 1543 bestreitet Calvin, daß sich die Protestanten um
der Mißbräuche und schlechten Sitten der Kleriker willen von der
Kirche getrennt hätten (O. C. 6 S. 241 f.). Denn der Mangel einer
rechten Zucht ist ja nicht ein unbedingtes Hindernis der Einheit.
— Für die Gesamtcharakteristik der äußeren Kirche und des
Amtes ist zu bemerken, daß Calvin ausdrücküch sagt, Gott allein
wirke alles, sed quia spiritus sui virtutem quodammodo in evangelii
praedicatione inclusam esse voluit, non vana neque inutilis est
nostra opera, quae eius providentiae servit (S. 254). Die Kirche
steht nicht etwa über der Schrift und der Lehre (S. 270 fr., 326),
Von cand. theol. Th. Werdermann. 3*9
sondern nur das ist eine Kirche, die fida esl custos verbi dei. Auf
der Doctrina als ihrem Fundament ist die Kirche gebaut. Von
der Doctrina sagt Calvin: Hoc vinculum est, hie nexus sacri con-
iugii, quo sibi ecclesiam Christus copulavit (S. 326, vergl. S. 243).
Diese Stellen sind wichtig für eine Bestimmung dessen, was Calvin
unter doctrina versteht. Sie ist nicht der kirchlich h
Lehrbegriff, sondern der ewige Inhalt des Wortes Gottes, den
Calvin oft genug auch einfach als Evangelium Christi bezeichnet.
(Von hier aus wird es auch verständlich, daß Calvins brau kurz
vor ihrem Tode erklärte, auf diese Lehre wolle sie ruhig sterben.
An der Lehre hing eben ihre Seligkeit.)
Ausführlich handelt Calvin dann wieder über die rechte Ar:
der Kirche in Supplex exhortatio ad Caesarem Carolum Ouintum
etc. 1543. Wir brauchen nur auf wenige Punkte hinzuweisen. Als
das, womit das Christentum stehe und falle, wird zweierlei be-
zeichnet : ut rite colatur deus, ut unde salus sibi petenda sit, 110-
verint homines. Hierauf folgen erst Sacramenta und gubernatio,
die zur Erhaltung der Doctrina gesetzt sind, unter letzterer faßt
er nämlich die beiden wesentlichen Erfordernisse zusammen. So
kann er auch erklären, daß das regimen in ecclesia zusammen-
gefaßt mit den Sakramenten als der Leib, die Doctrina aber als
die Seele der Kirche zu bezeichnen sei (O. C. 6 S. 459). — Sonst
finden wir hier wesentlich nur die Gedanken der Institutio. Ebenso
auch in dem traicte des rehques 1543 (O. C. 6 S. 405 ff.).
So ist in diesen Anfangsjahren seines zweiten Genfer Aufent-
haltes in Calvins Lehre von der Kirche die Bewegung zum Ab-
schluß gekommen, die wir in der Zeit seines Aufenthaltes in
Deutschland sich von verschiedenen Seiten anbahnen und schon
beginnen sahen. Stark fällt jetzt das Gewicht auf die äußere
Kirche. Die ganzen Ausführungen über die Ordnung der Kirche
werden jetzt bei der Erklärung des Symbols und zwar weitläufig
gegeben. Das ministerium wird stark betont, aber eigentlich doch
nicht mehr als in der früheren Epoche schon angelegt war. Hier
ist das Charakteristische für unsere Zeit viel mehr, daß in der aus-
geführten Organisation mit Heranziehung der ganzen Gemeinde,
besonders der Laienältesten, vor allem aber in der stetigen Be-
tonung und Durchführung des Grundsatzes, daß Christus allein
das Haupt der Kirche sei und überall herrschen müsse, der Gefahr
einer Überschätzung des Amtes vorgebeugt wird. Dem dient auch
die Hervorhebung dessen, daß Gott seine Macht und Ehre nicht
320
CaWins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
an das ministerium abgetreten habe, daß vielmehr die Mittel des
Amtes, Wort und Sakrament, nur wirken, wenn Gott selbst in
ihnen tätig ist, oder daß das Amt mehr ein Dienst als eine Macht
sei, daß es gar nichts bedeute, sobald es über das Wort Gottes
hinausgreife. Eventuell soll selbst die Obrigkeit einen Mißbrauch
des Amtes hindern. Dieser gegenüber wird aber vielmehr geltend
gemacht, daß sie nicht in das eigene Gebiet der Kirche zumal bei
der Zucht übergreifen dürfe. In der Praxis gelang es Calvin nicht
überall sein Ziel zu erreichen. Auch jetzt aber zeigt sich über
und in allem wirksam der eigenartige Zug in Calvins Frömmig-
keit, die Beugung vor der Majestät Gottes.
6. Kapitel.
Die Zeit bis zum völligen Siege Calvins in Genf.
Riecker sagt a. a. O. S. 7 richtig, daß in Calvins Institutio von
1543 sich sein Verfassungsideal abgeschlossen finde. Mit gleichem
Recht kann man das auch von seiner Lehre von der Kirche sagen.
1543 liegt sie in den wesentlichen Zügen vor. Sie wird späterhin
nur noch mehr ausgeführt, systematisch in Zusammenhang gestellt
und aufgebaut. Dadurch freilich tritt dann ein wichtiger Gesichts-
punkt, den wir in der Institutio von 1559 die ganze Darstellung
beherrschend finden, erst klar hervor. Weil aber eigentlich die
Lehre sachlich unverändert bleibt, so können wir die noch übrig
bleibenden Untersuchungen in einigen Längsschnitten durchführen.
Wir werden zuerst Calvins praktische Tätigkeit beobachten und
zwar zunächst in Genf, dann über dessen Grenzen hinaus. Schließ-
lich werden wir seine schriftstellerische Produktion in jener Zeit
betrachten.
a) Die praktische Tätigkeit.
In Genf war als Grundlage des gesamten Lebens von Rat und
Bürgerschaft die Bibel anerkannt. Sie zu sichern war eins der
wichtigsten Ziele für Calvin in den Kämpfen der nächsten Jahre.
Deshalb vor allem lehnte er an der Spitze der übrigen Pfarrer es
ab, als 1544 der Rat dem Castellion, dem Rektor der Schule, eine
Pfarrstellen überweisen wollte (vergl. auch F. Bouisson, S. Castel-
lion. Paris 1892). Die beiden Punkte der Schrift, an denen dieser
Zweifel äußerte, wurden auch von Calvin nicht zu hoch gewertet ;
doch wollte er kein gefährliches Beispiel geben. Die Bibel sollte
unangetastet bleiben, damit sie eine sichere Grundlage der Ein-
Von cand. theol. Th. Werdermanu. $2 l
heit in der Kirche sei. Um die vorurteilslose Auslegung derselben
sicher zu stellen, sollten auch bei der Bestimmung der Pfarrer
iceine anderen Interessen, zumal nicht die Machtinteressen der
Obrigkeit sich geltend machen. Deshalb wachte Calvin eifersüchtig
darüber, daß die Kirche stets den Ausschlag bei der Ptarrcnvahl
gab. So wurde auch Trolliet, den der Rat gerne als Pfarrer ge-
sehen hätte, zurückgewiesen. — Doch blieb Calvins Lehre nicht
unangefochten. Mit persönlichen Angriffen gegen ihn. verknüpf!
sich auch meist solche gegen seine Lehre, z. B. bei dem Ratsherrn
Pierre Ameaux (vergl. Ratsprotokoll vom 4. und 17. März 1546
O. C. 21). Gefährlich aber wurde dieser Kampf erst, als die Obrig-
keit zu Calvin eine stark feindliche Stellung einnahm, und im
Jahre 1551 der Arzt Bolsec sich gegen die Richtigkeit des Schritt -
Verständnisses Calvins richtete. Gerade gegen die Lehre von der
Prädestination, die mit Calvins besonderer Frömmigkeit so eng
verknüpft war, trat er auf. Auch seine Ablehnung derselben
glaubte er aus der Schrift begründen zu können. Calvin machte
es ihm vor allem auch zum Vorwurf, daß er die Ruhe der Kirche
störe (O. C. 14 S. 252). Dies mußte auch der Obrigkeit bedenk-
lich erscheinen ; und da auch die von den anderen schweizerischen
Kirchen eingeholten Urteile für den Bestreiter der Prädestination
ungünstig ausfielen, so mußte dieser als „durch die heiligen
Schriften besiegt'' erklärt werden. Calvin wurde, wie Choisy a. a. O.
S. 119 sagt, durch das ergangene LTrteil als l'interprete de la Parole
de Dieu dans l'Eglise genevoise anerkannt. Aber dadurch, daß
der Rat überhaupt Verhandlungen über seine Lehre zugelassen
hatte, war doch von vornherein seine Stellung erschüttert. Und
die Angriffe gegen seine Lehre gingen fort. Zum vollen Siege
kam Calvin auf diesem Gebiet dadurch, daß einige extreme Geister
Angriffe gegen ihn richteten, die in jener Zeit ganz unerträglich
waren : Gruet und besonders Servet. Der letztere warf bei den
verschiedenen Anklage- und Verteidigungsschriften, die hin und
her gewechselt wurden, Calvin auch vor, daß er Heidentum, Juden-
tum und Christentum nicht recht auseinanderhalte (O. C. 8 S. 684) ;
und dann kommt er auch darauf zu sprechen, daß Calvin über die
Gewalt der Kirche streite, an sit eius. vel scripturae, autoritas
maior in dogmatum discussione? et an perpetuo duret ecclesia?
Dagegen sagt Servet : Ecclesiam autem aeeipi oportet, non ut
speetatur ab hominibus, sed ut agnoscitur a Christo, qui medius
est inter suos congregatos. Er macht es also Calvin zum Vor-
Calvinstudien. 21
X22 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
wurf, daß der nicht genug von Christus aus seine Gedanken über
die Kirche aufbaue, zuviel Wert auf die Kirche nach ihrer äußeren
Gestalt lege. Für ihn gibt es nur ein Kennzeichen der Kirche:
den Geist (O. C. 8 S. 686). Das zeigt sich auch darin, daß er er-
klärt: die Kirche ist vor der Schrift da; sie hat über sie geurteilt
und noch zu urteilen. — Calvins andere Stellung gerade auch zur
sichtbaren Kirche hat dagegen in der von ihm verfaßten und von
allen Genfer Predigern unterschriebenen refutatio errorum Michae-
lis Serveti ihren Ausdruck gefunden. Hier (O. C. 8 S. 639 f.) wendet
er sich gegen dessen Meinung, daß seit 1260 Jahren die Kirche
aus der Welt entflohen sei, ut coelum illi exsilium fuerit. Non
enim frustra, so sagt er, dicitur ecclesia eius complementum : nee
ea quidem angelica vel coelestis, sed quam in hac mundi pere-
grinatione fovet, ac praesidio suo tuetur. — Auch in dieser Sache
rief Calvin wieder das Urteil der übrigen Schweizer Kirchen an.
Und dieses zwang den widerstrebenden Rat auch jetzt wieder
Calvins Auffassung der Schrift als die richtige anzuerkennen. —
Nicht persönliche Gründe trieben Calvin hauptsächlich in diesen
Kampf um seine Schriftauffassung, sondern das Bestreben, die
Wahrheit und Ehre Gottes in seinem Worte und damit die Ein-
heit und Reinheit der Kirche aufrecht zu erhalten.
Neben diesen Kämpfen her ging fortwährend das Ringen um
die Zucht. Wir haben oben festgestellt, daß gerade in den diese
betreffenden Bestimmungen der ordonnances der Keim zu weiteren
Zwistigkeiten lag. Selbstverständlich war es, daß stets von leicht-
fertigen Leuten gegen die harte Zucht opponiert wurde. Ohne
persönliche Rücksichten suchte Calvin diesen gegenüber die Ehre
der Kirche zu wahren. Selbst der Generalkapitän Perrin, mit dem
Calvin zunächst eng befreundet war, und seine Verwandten mußten
sich darunter beugen. — Solange die Obrigkeit ihre Pflicht tat,
prallten alle Angriffe ab. Bald aber wurde diese in der Durch-
führung der Zucht lässig, ja suchte immer mehr die Entscheidung
in ihre Hand zu bringen. Besonders schlimm war der Kampf im
Jahre 1552 und den folgenden. Der Rat forderte, daß er die Ent-
scheidung über die Exkommunikation zu treffen habe (vergl. Rats-
protokoll vom 23. Dezember 1552 O. C. 21). Damit legte er die
Hand an das Calvin am wichtigsten erscheinende Recht des Kon-
sistoriums. Der Ausschluß vom Abendmahl sollte dazu dienen,
Gottes Ehre in der Heiligkeit der Kirche besonders beim Herren-
mahl nach Möglichkeit zu wahren. Hier durften keinerlei poli-
Von cand. theol. Th. Werdermann. 3^3
tische Rücksichten eingreifen. Darum verlangte Calvin besonders
an diesem Punkte die Selbständigkeit der Kirche in ihrem Kon-
sistorium gegenüber dem Staate. Jeder Angriff hierauf schien ihm
direkt die Zerstörung der Kirche zu bezwecken. Er sah die Kirche
selbst in größter Gefahr und widersetzt sich daher mit aller Kraft,
als der Rat befiehlt, den vom Abendmahl ausgeschlossenen, nicht
bußfertigen Bertellier wieder zuzulassen (vergl. O. C. 14 cp. 1781
und ep. 1838 S. 655). Dem Rat gegenüber weist er darauf hin,
daß dieser doch schon bei der bestehenden Praxis sehr starken
Einfluß auf die Zuchtübung genieße. Aber das machte auf den
Rat keinen Eindruck. Es hatte sich gezeigt, daß der moralische
Einfluß der Prediger und vor allem Calvins in der Zuchtbehörde
doch ausschlaggebend war. Der Rat aber wollte selbst herrschen,
den Ausschlag geben auch in allen Angelegenheiten der Kirche.
Der Kampf um diese Frage wurde erst zur Entscheidung gebracht,
als im Mai 1555 die dem Reformator gegnerische Partei ganz
machtlos geworden und durch die Verleihung des Bürgerrechtes
an viele Emigranten die Zahl der unbedingten Anhänger Calvins
sehr gewachsen war.
Der Rat verschärfte jetzt bereitwillig auf Verlangen der Pre-
diger die Zuchtbestimmungen. Die Staatsgewalt lieh der kirch-
lichen immer mehr ihren Arm. Auch auf dem Gebiete der Lehr-
streitigkeiten griff sie jetzt schneller und entschiedener ein. Der
von Calvin erläuterten Schrift durfte niemand widersprechen. Das
Konsistorium gewann immer mehr Achtung und übte unbestritten
das Exkommunikationsrecht aus.
Bezeichnend dafür, wie Calvins Bestreben auch weiter darauf
ging, die innere Selbständigkeit der Kirche, besonders auf dem
Gebiete der Zucht zu erhalten, und wie er jetzt von der Obrigkeit
dabei nuterstützt wurde, ist, daß die von Calvin am 30. Januar 1560
beantragten Änderungen der ordonnances im wesentlichen an-
genommen wurden. Vier Punkte waren es besonders, die von den
Predigern gewünscht wurden: 1. bessere Trennung der kirchlichen
Gewalt des Konsistoriums von der weltlichen Rechtsprechung,
2. Wahl der Konsistoriumsmitglieder in Gegenwart aller Prediger,
nicht nur wie bisher in der Calvins allein, 3. eine öffentliche Buße
in der Kirche für die, auf welche die Exkommunikation nicht Acn
erwarteten Eindruck machte, 4. Bekanntmachung der zu wählen-
den Prediger vor der Gemeinde an drei Sonntagen.
In seiner Genfer praktischen Tätigkeit sehen wir also Calvin
■2 24 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
gerade für die beiden Punkte eintreten, die wir schon früher als
für ihn sehr wichtig erkannten : Die Zucht und die innere Selb-
ständigkeit der Kirche. Darin ließ er nicht nach, weil es sich ihm
hier ganz besonders um die Ehre Gottes zu handeln schien. Wie
früher, so legt Calvin auch hier starkes Gewicht auf die äußere
Verfassung der Kirche, fordert und betätigt Einigkeit und Zu-
sammenschluß auch mit den anderen Kirchen. Gottes Wort ist
die Grundlage der Kirche sowie des ganzen Lebens. In seiner
Herrschaft besteht die Christokratie, die deshalb auch nicht mit
Unrecht von E. Choisy Bibliokratie genannt wird. —
Die Größe und Macht von Calvins Persönlichkeit zeigt sich
uns erst im reinsten Lichte, wenn wir ihn in seiner Tätigkeit außer-
halb Genfs beobachten. Schon in Genf hatte er bei seinem Kampf
für eine möglichst große Vollkommenheit der Kirche auch das im
Auge, daß das Genfer Vorbild auch für die übrigen Evangelischen
ein Sporn zur Nacheiferung sein könne (O. C. 16 S. 594). Deshalb
wurde auch im November 1561 vom Genfer Magistrat beschlossen,
die ordonnances drucken zu lassen, „damit sie zur Unterweisung
anderer Völker und zum Zeugnis unserer Reformation dienen".
Den Kirchen in der deutschen Schweiz und in Deutschland
gegenüber (vergl. Schütte, Calvins Einfluß auf die deutsche Re-
formation. Deutsch-evangel. Blätter 1907 S. 145 ff.) machte sich
vor allem sein Bestreben nach Einheit geltend. Man wird Calvin
zugestehen müssen, daß er nach seinem März 1557 geschriebenen
Wort gehandelt hat : semperque dabo operam, ne mea culpa scin-
dantur et distrahantur ecclesiae (O. C. 16 S. 429). Er hat stets
gestrebt nach der concordia, in qua consistit ecclesiae salus
(O. C. 18 S. 158). Auch jetzt wieder können wir in einem Brief
an Bullinger finden, daß man wohl auch verschiedene Meinungen
in der Kirche vertragen müsse ; die Einheit solle eben in der Zu-
gehörigkeit zu Christus ihren Grund haben (O C. 12 S. 666, vergl.
O. C. 16 S. 464, O. C. 20 S. 424). Er wendet sich dagegen, daß
man eine Gleichmäßigkeit in den Zeremonien fordere (O. C. 15
S. 80). — So sucht er zwischen Lutheranern und Reformierten
Frieden zu schaffen. Deshalb dringt er so oft auf ein Kolloquium
der Schweizer mit den Lutheranern. Er beklagt es sehr, daß
zwischen den Kirchen, die doch fast das gleiche Bekenntnis hätten,
keine Abendmahlsgemeinschaft stattfinde (O. C. 12 S. 729). Atqui
coena sanctae inter filios dei unitatis est symbolum (O. C. 20
S. 200). — Freilich, wenn es nötig ist, wie dem Interim und auch
Von cand. thcol. Tli. Werdermann, 3^5
den Eiferern gegenüber, die die Kirche zerspalten, nimmt er die
Fehde auf. Aber auch im Dedikationsbrief zur zweiten defensio
contra Westphalum betont er, daß Einheit zwischen Lutheranern
und Reformierten sein solle (O. C. 9 S. 49). — Daneben aber be-
tont er auch den auswärtigen Kirchen gegenüber stark die disci-
plina und die doctrina als notwendig (vergl. O. C. 20 S. 115; 18
S. 159; 14, S. 333). Als er im Oktober 1562 Vorschläge für eine
Kirchenverfassung in der Pfalz macht, da fordert er auf alle Fälle
die Disziplin (O. C. 19 S. 564, vergl. auch O. C. 17 S. 451 ff.; 18
S. 235 ff.). — In Deutschland lagen Calvin noch besonders die
Fremdlingsgemeinden zu Frankfurt und Wesel am Herzen. Auch
bei ihnen rät er zur Einigkeit (O. C. 16 S. 344), zum Zurückstellen
auch von äußerlichen Unterschieden etwa bei den Zeremonien
(O. C. 15 S. 79 f., 394) und auch zur Beugung einer Minorität unter
die Majorität besonders bei Wahlen (O. C. 16 S. 209). —
Weitaus am meisten beschäftigten aber Calvin die Verhält-
nisse in seiner Heimat Frankreich.1 Seit ungefähr 1545 wurde
Calvins Einfluß unter den protestantisch gesinnten Franzosen herr-
schend. Eine Frage beschäftigte Calvin sehr bald und sehr oft :
Wie soll sich ein allein in römischer Umgebung lebender Protestant
zum römischen Kultus verhalten ? Calvin stellte da scharf ein
Entweder — Oder auf. Der Protestant soll sich entweder allen
falschen Gottesdienstes enthalten, oder er soll auswandern. In der
Folge dieser Forderung Calvins erwuchs nun aber eine neue
Schwierigkeit. Die kleinen Häuflein von Protestanten, die sich
hin und her in Frankreich bildeten, besaßen keinen ordnungsmäßig
berufenen Diener am Wort. Und wenn Calvin wohl erklärte, daß
das Wort ein "jeder aus der Gemeinde verkünden könne, so glaubte
er doch, die Austeilung der Sakramente nur dann als richtig be-
finden zu können, wenn sich eine regelrechte Gemeinde mit der
notwendigen Ordnung gebildet habe. Besonders sei es nötig, daß
geordnete Prediger eingesetzt würden (O. C. 14 S. 638). Das er-
fordert aber wieder, daß man sich dauernd zu einer Gemeinde
1) Vergl. besonders E. Marcks, Colingy I Stuttgart 1892 u. K. Müller,
Calvin u. d. Anfänge der franz. Hugenottenkirche. Preuß. Jahrb. 114, i9°3-
Ferner G. Weber, Geschichtl. Darstellung d. Calvinism. im Verhältnis zum
Staat. Heidelberg 1836. — Polenz, Gesch. d. franz. Calvinism. ftotha 1857-
L. Ranke, Franz. Geschichte. Stuttgart 1852. — M. Goebel, Gesch. des
christl. Lebens in der Rhein. -Westf. Kirche I. Coblenz 1S49 — Lechler,
Geschichte der Presbyterialverfassung. Leiden 1854. Auch H. Edler von
Hoffmann, Kirchenverfassungsrecht der niederl. Reform. Leipzig 1902.
■2 2 6 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
zusammenschließe (O. C. 15 S. 174). — Drückend wurde diese Lage
mit Hinblick auf die Taufe, zumal Calvin erklärte, daß jeder, der
sein Kind in der römischen Kirche taufen lasse, dieses beflecke
(O. C. 17 S. 712). Durch diese Stellungnahme trieb er die fran-
zösischen Protestanten dazu, feste Gemeinden zu gründen, Prediger
und Älteste zu wählen und die Zucht einzuführen. — Als in ein-
zelnen Gemeinden Zwistigkeiten ausbrachen, versammelten sich
1559 in Paris die Abgesandten der französischen Gemeinden, um
ein gemeinsames Bekenntnis und eine gemeinsame Kirchenord-
nung aufzustellen. Die beiden Abgesandten, die Calvin für diese
Pariser Versammlung bestimmt hatte, langten zu spät an. Aber
eigentlich waren alle dort Anwesenden seine Schüler ; so ist es
natürlich, daß die Beschlüsse ganz von calvinischem Geiste erfüllt
sind. Ja es ist wohl nicht unrichtig, wenn Choisy (a. a. O. S. 207) in
Genf zwar den Typus der calvinistischen Theokratie, d'une societe
gouvernee tout entiere par l'autorite de la loi divine findet, von
der französischen Kirche aber sagt : L'organisation des Eglises de
France repond merae mieux que l'organisation de l'Eglise de
Geneve ä l'ideal ecclesiastique de Calvin. Er findet hier also le
type authentique de l'Eglise calviniste. Darum müssen wir auf das
französische Bekenntnis und die Kirchenordnung noch etwas näher
eingehen.
Die confessio gallicana unterscheidet nur zwischen wahrer und
falscher Kirche. Von der ersteren sagt sie dem Worte Gottes
folgend aus, daß es la compagnie des fideles sei, die das ganze
Leben hindurch dem Worte Gottes folgen wollen, dabei stets
wachsen in der Furcht Gottes und doch nur auf die Vergebung
der Sünden bauen (E. F. K. Müller, Reform. Bekenntnisschriften
1903 S. 228). Zum Gehorsam gegen das Wort Gottes gehört ins-
besondere auch der rechte Gebrauch der Sakramente. Der wahren
Kirche sind zwar auch Heuchler beigemischt, aber sie vermögen
nicht „effacer le tiltre de l'eglise" (S. 228). Es ist zu beachten,
daß hier eine sichtbare und eine unsichtbare Kirche gar nicht
unterschieden werden. Es sind nur zwei sichtbare Kirchen, die
wahre und die falsche , einander gegenübergestellt. Das geht auch
daraus hervor, daß kurz vorher gesagt wird, keiner der Gläubigen
dürfe sich absondern, wenn nur eine sichtbare Kirche an ihrem
Orte von Gott eingerichtet sei. Doch ist gerade in der Form, in
der dann die wahre Kirche bestimmt wird, durchaus nicht aus-
geschlossen, daß ihr wesentlicher Teil unsichtbar sei. Jedenfalls
Von cand. theol Th. Werdermann. 3^7
liegt kein irgendwie zwingender Grund vor anzunehmen, daß wir
hier einige von den wenigen Abänderungen zu finden hätten, welche
die Pariser Versammlung an dein von Calvin übersandten Be-
kenntnis vornahm. Diese Gedanken sind ebenso calvinisch, als wenn
die gallicana fordert, que l'ordre de l'Eglise qui a este establie en son
authorite, doit estre sacre et inviolable (Müller S. 227 ; vergl. S. 229),
Echt calvinisch ist auch die Bezeichnung Christi als seul chef, seul
- »uverain et seul universel Evesque der Kirche (Müller S. 229), ferner
die Forderung der verschiedenen Ämter und deren Begründung
aus der Schrift. Auch wenn trotz der Gleichstellung der Pastoren
doch Superintendenten erwähnt werden (Müller S. 229), so ist das
nicht wider Calvin. Der Superintendenten Aufgabe ist es, die
ganze Kirche so zu leiten, daß sie nicht von den Anordnungen
Jesu Christi abweiche. Das hindert nicht, daß an jedem Ort wieder
besondere Bestimmungen getroffen werden. Menschliche Erfin-
dungen werden abgewiesen, und es wird nur anerkannt, was dazu
dient, Einheit zu schaffen und jeden vom ersten bis zum letzten
in Gehorsam zu halten. Dazu soll auch die vom Herrn befohlene
Exkommunikation dienen. Diese wird verhängt durch das Pres-
byterium, dem aber hier anders als in Genf auch die Diakonen
angehören.
Überhaupt brachte die Praxis in Frankreich manche Ände-
rungen den Genfer Zuständen gegenüber mit sich. Das erkennen
wir aus der „Discipline ecclesiastique*' (über die uns erhaltenen
Bruchstücke der ältesten Redaktion von 1559 vergl. v. Hoff mann
a. a. O. -S. 14 ff.). Die Hinzuziehung der Diakonen zum Konsisto-
rium erwähnten wir schon ; sie nehmen hier überhaupt eine höhere
Stellung ein als in Genf. Auch das Konsistorium hat größere
Machtvollkommenheit. Es ergänzt sich selbst durch Kooptation,
wählt von sich aus die Pfarrer, übt auch in Ehesachen das Spruch-
recht. Die Gemeinde an sich hat dagegen wenig Rechte, auch bei
der Pfarrwahl nur das des Einspruchs. Die große Zahl der Ge-
meinden forderte einen weiteren organischen Aufbau. Sie wurden
zunächst- zu Provinzialsynoden, die regelmäßig zusammentraten
und verwaltende und richtende Funktionen ausübten, dann weiter
zur Generalsynode zusammengeschlossen, die faktisch wenigstens
gesetzgebende Gewalt ausübte. Hier ist nun besonders wichtig,
daß im Unterschied zu Calvins Praxis und Vorschlägen auch die
Ältesten und Diakonen zu den Synoden hinzugezogen wurden.
Zwischen Kirche und Staat besteht nach der diseipline keinerlei
^2 8 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Band. Der Staat verfolgte ja in Frankreich die Gemeinden. So
mußten diese hier ihre Angelegenheiten ganz selbständig regeln.
Calvins Grundsätze bestimmen im großen und ganzen auch die
Festsetzungen der Discipline ecclesiastique. Auch die eben ange-
führten Abweichungen von der Genfer Ordnung widersprechen
ihnen nicht, sie sind im wesentlichen durch die Verschiedenheit
der Verhältnisse bedingt. Die grundlegend aristokratische Ge-
staltung des Kirchenregimentes und die damit zusammenhängende
Beschränkung der Gemeinderechte war dem Genfer Reformator
nur genehm. Die größere Macht des Konsistoriums in eherecht-
lichen Fragen und bei Pfarrwahlen ist ihm sicherlich erwünscht
gewesen, ebenso wie die Selbständigkeit in der Zuchtübung. Gerade
die feindselige Stellung der Obrigkeit ließ hier gelingen, was in
Genf, wo es auf die befreundete Obrigkeit immer Rücksicht zu
nehmen galt, nicht durchzusetzen war. Die leitenden Instanzen
der Kirche entstanden und verwalteten ihr Amt in völliger Selb-
ständigkeit dem Staate gegenüber. Dies machte sich besonders
günstig bemerkbar bei der Handhabung der Zucht. Ebenso be-
wirkte sie im Verein mit Calvins Drängen auf Einigkeit in der
Kirche den weiteren Zusammenschluß in den Synoden. Letztere
haben wir ja auch von Calvin vorgeschlagen gefunden. Freilich
hörten wir da nur von Synoden der Pfarrer. Aber auch die Heran-
ziehung der Ältesten und Diakonen ist von Calvins Standpunkt
aus wohl erklärlich : in Genf übte ja das „Laien"element durch die
Regierung des Staates auf die Kirche einen starken Einfluß aus.
Es war nicht mehr als billig, daß in Frankreich auch den ,, Laien"
— notgedrungen auf eine andere Weise — dieser Einfluß zu-
gestanden wurde. Das war ja zugleich ein Schutzmittel gegen
Ansprüche der Pastoren, welche die Herrschaft Christi bedrohen
könnten. Sucht man doch für diese starke Beteiligung des „Laien"-
elements an der Regierung der Kirche eine andere Herleitung, so
lassen sich da Verbindungslinien mit allgemein politischen Be-
strebungen im damaligen Frankreich ziehen oder noch eher mit
a Lasko, der mit seinen für die Londoner Fremdengemeinden
besonders entwickelten Anschauungen von der Kirche auf die
Niederlande und weiterhin einwirkte (vergl. Kuyper, Disquisitio
etc. — K. Hein, Sakramentslehre a Laskos. Berlin 1904). Doch
hat uns das hier nicht weiter zu beschäftigen. Hier sei nur noch
zusammenfassend festgestellt, daß wir bei Calvin auch in seiner auf
die französische Kirche sich beziehenden Tätigkeit seine uns schon
Von rand. theol. Th. Werdermanu. 3 "9
bekannten Gedanken xon der Kirche sich auswirken sehen, und
daß die Gestaltung der französischen Hugenottenkirche uns zeigt,
wie Calvins Ideen sich bei einer Selbständigkeit der Kirche dem
Staate gegenüber in einzelnen Punkten klarer durchsetzen können.
Einen kurzen Blick nur wollen wir noch auf die weitere Wirk-
samkeit Calvins außerhalb Genfs werfen. Für Calvin und Knox,
der Schottland mit calvinischen Gedanken erfüllte (vergl. Fr. Bran-
des, John Knox. Elberfeld 1862. — Ch. Martin, De la genese des
doctrinis politiques de J. Knox. Bulletin de la soc. etc. 1907
S. 193 ff.), ist eine Stelle aus einem Briefe Calvins an diesen be-
zeichnend (O. C. 18 S. 434). Calvin will wohl, daß die Kirche von
allem Verkehrten gereinigt werde ; den heftigen Knox aber mahnt
er zur Mäßigung. Aus der confessio Scoticana, in der sich gerade
auch bei der Lehre von der Kirche die Gedanken der Institutio
wiederfinden, sei nur noch hervorgehoben, daß hier neben den
zwei von Calvin stets angeführten Zeichen der wahren Kirche als
drittes die ecclesiasticae diseiplinae severa observatio angegeben
wird (Müller a. a. O. S. 257).
Auch nach England richtete Calvin manche Briefe. Gläubige
Fürsten und Staatsleiter müssen gerade auch für den rechten
Gottesdienst in ihrem Lande sorgen (O. C. 13 S. 66). Um die
Reform durchführen zu können, ist besonders für solche, die ein
kirchliches Amt inne haben, eine kurze verpflichtende Glaubens-
summe nötig. Darum soll ein Katechismus aufgestellt werden.
Croyez, Monseigneur, que iamais l'Eglise de Dieu ne se conservera
saus Catechism (O. C. 13 S. 71). Doch soll sich der Katechismus
nicht vor das Evangelium drängen. Neben der rechten Lehre ist
aber auch die Zucht nötig (O. C. 13 S. 76). — In einem Briefe an
Cranmer lobt er, daß dieser die Reformation durch eine gemein-
same Beratung tüchtiger und frommer Männer fördern will und
beklagt bitter die Uneinigkeit der Kirche (O. C. 14 S. 312).
Auch sonst sehen wir nur die uns bekannten Gedanken Cal-
vins wirksam werden, sei es, daß er in einem Dedikationsbrief an
König Christian von Dänemark die Herrscherstellung Christi und
die Notwendigkeit der evangelii sui doctrina für die Kirche betont
(O. C. 14 S. 294 f.), oder daß er den Polen gegenüber, die ihm viel
Mühe und Sorgen machten, neben der Einheit des Glaubens auch
brüderliche Eintracht fordert.
-j-^O Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
b) Literarisches.
Wenn wir uns nun zum Schluß unserer historischen Unter-
suchung noch den überaus zahlreichen Früchten der schriftstelle-
rischen Tätigkeit Calvins in den letzten zwanzig Jahren seines
Lebens zuwenden müssen, so ist es natürlich nicht angängig, hier
das ganze Material vorzulegen. Wir werden uns darauf be-
schränken, nur das Ergebnis der Untersuchung darzustellen. Die
Belege werden wir vor allem aus den 15 ersten Jahren des zweiten
Aufenthaltes Calvins in Genf nehmen, d. h. den Jahren, wo eine
Rückwirkung der äußeren historischen Verhältnisse auf die Lehre
Calvins am leichtesten möglich war.
In den exegetica und homiletica sehen wir jene unsichtbare
Seite der Kirche, die bei Calvin seit langem schon sehr in den
Hintergrund geschoben wurde, wieder stärker hervortreten. Das
geschieht vor allem im Zusammenhang mit Gedanken, die zur
unio mystica der Kirche mit Christus hinführen. Ganz besonders
wird das betont bei der Besprechung von 1. Cor. 12, 12 (O. C. 49
S. 501, vergl. S. 308, 313). Die Christen sind ganz anders ein corpus,
als man dies wohl von einer menschlichen Gemeinschaft sagen kann.
Sie bilden nicht nur eine politische Körperschaft, sed sunt spirituale
et arcanum Christi corpus. Ja : Christi nomen in locum ecclesiae
substituitur. Das muß für die Kirche ein ganz besonderer Trost
sein : hoc enim honore nos dignatur Christus, ut nolit tantum in
se, sed etiam in membris suis censeri et recognosci. Deshalb ist
ja nach Eph. 1, 23 die ecclesia auch Christi complementum, ac si
divisus a suis membris, quodammodo mutilus foret. Dieselben
Gedanken werden dann an der Stelle im Eph.-Kommentar aus-
geführt (O. C. 51 S. 159) und noch mehr zur Erklärung von
Eph. 5, 29 (S. 225) verwandt, wo die Verbindung zwischen Christus
und der Kirche der Einheit in der Ehe gleichgestellt wird. Hierzu
sagt Calvin : est locus insignis de mystica communicatione quam
habemus cum Christo. Wir sind Christi Fleisch und Blut. So
wie für Paulus, so ist auch für Calvin das Geheimnis zwischen
Christus und der Gemeinde zu groß, als daß er es in Worte fassen
könnte (S. 226 f., vergl. O. C. 52 S. 93). Bei all diesen hohen
Worten steht ihm ohne Zweifel die Kirche als die Gemeinschaft
der Erwählten vor Augen. Es ist auch bezeichnend wie hier im
Zusammenhang stets das Moment der Gemeinschaft hervortritt.
Das ist also hieraus klar zu erkennen, daß auch jetzt, wo die
sichtbare Gestalt der Kirche so stark das Interesse Calvins in
Von cand. tbeol. Th. "Wcrdcrni.mn. 33 I
Anspruch nimmt, doch ihr unsichtbares in Christo verborgenes
Wesen die Grundlage bleibt. Darum verweilt er auch stets mit
Liebe bei diesem Gedanken. — Zugleich aber richtet Calvin auch
seinen Blick sehr auf die sichtbare Seile der Kirche. Was von
dem inneren Wesen der Kirche gilt, wird auf die sichtbare Gestalt
angewandt und für sie gefordert. Christus ist das fundamentum,
auf dem die Kirche allein ruht — auch nach ihrer sichtbaren Ge-
stalt. Gerade für die letztere wird die Verwirklichung dessen ver-
langt (O. ('. 51 S. 175, 52 S. 113). Christus soll allein herrschen.
Und es ist falsch, wenn die Papisten meinen, ohne ein irdisches
Haupt sei die Kirche ihres Hauptes beraubt, {axe(paXov O. C. ,52)
S. 86 f.). Vielmehr ist das die summa, Christum nimm crescere
oportet, oranes autem minui, ut bene composita sit ecclesia (O. C.
kratie jetzt fordert. Gerade im Hinblick auf Servets Vorwurf, daß
Calvin in seiner Lehre von der Kirche nicht genug von Christus
ausgehe, sei aber hier noch hervorgehoben, daß in den exege-
Schriften Calvins sich unendlich oft diese Verbindung hergestellt
51 S. 202, vergl. 50 S. 115). Wir sehen, wie stark Calvin die Christo-
findet — nicht nur für die innerliche Seite der Kirche, sondern
auch für die äußere Organisation.
A\ ie leicht bei Calvin diese beiden Seiten ineinander übergehen.
was übrigens schon die Tatsache zeigt, daß Calvin in den exege-
tischen Schriften sich niemals veranlaßt sieht, die Scheidung
zwischen beiden aufzustellen, sehen wir auch aus einer Stelle des
Eph.-Kommentares, wo er über die Heiligkeit der Kirche spricht.
Wenn er da zuerst sagt (O. C. 51 S. 224) : nam sicut formae ele-
gantia in uxore causa est amoris, ita Christus ecclesiam sponsam
suam ornat sanetitate, ut sit hoc benevolentiae pignus, so denkt
er da an die durch Christus erworbene innere Gerechtigkeit und
Heiligkeit. Dahingegen führen die kurz darauf folgenden Worte:
hie ergo verus est ecclesiae decor, haec pudicitia conjugalis, nempe
sanetitas et innocentia, gleich wieder zur sichtbaren Gestaltung
der Kirche über.
Noch deutlicher aber wird dieses Ineinandergreifen der beiden
Seiten bei der Bestimmung und Forderung der Einheit. Ihr letzter
Grund liegt darin, daß die Kirche das corpus Christi ist. So ist
selbstverständlich ihre innerliche Seite von vornherein einheitlich
(O. C. 49 S. 505). Aber bei dem unum corpus wird auch gleich
die Notwendigkeit der unitas Christianorum betont (O. C. 51
S. 190). Und so gilt es denn auch gerade für die sichtbare vielfache
557 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Gestaltung der Kirche : symmetria eeclesiae multiplici (ut ita loquar)
unitate constat : hoc est, dum varietas donorum ad unum scopum
tendit : sicut in symphonia varii sunt cantus, sed tali proportione
inter se temperati, ut unum efficiant concertum : ergo et distincta
esse tarn dona quam officia convenit : et omnia tarnen in unum
reduci (O. C. 49 S. 497). So stellt also Calvin fest : in distinctione
esse unitatem (O. C 51 S. 196). Das hat vor allem Bedeutung für
die Berechtigung des ministeriums in der Kirche. Aber auch hier-
bei ist ihm die Einigkeit besonders wichtig. Hoc enim praecipuum
est religionis nostrae caput, ut inter nos simus concordes : hoc
etiam consensu stat et subnixa est salus eeclesiae (O. C. 49 S. 314).
Sie soll sich äußern in der Gemeinschaft auch des Gebetes. Darum
fordert Calvin im November 1545 einen Gebetstag für die be-
drängten Glaubensbrüder (O. C. 32 S. 460 f.).
Diese Einheit aber wird am besten gewahrt, wenn man sich
zur gemeinsamen rechten Lehre hält, quasi ad ducis vexillum (O. C.
51 S. 199). Denn wenn auch Christus das einzige Fundament der
Kirche ist, so ist sie doch in ihm gegründet durch die Predigt der
Lehre (O. C. 51 S. 175). Und so kann auch gesagt werden, daß
ihr Grund in apostolorum et prophetarum doctrina liege (S. 174).
Deshalb hat man an der rechten Lehre auch einen Maßstab zur
Unterscheidung von wahrer und falscher Kirche (vergl. auch O. C. S
S. 373, 426 t'. und 51 S. 224). Dabei zeigt uns der Umstand, daß
der doctrina und dem Worte Gottes dieselbe Bedeutung zuge-
schrieben wird, daß sie im wesentlichen identifiziert werden. Ja
die doctrina erhält noch eine nähere Bestimmung, insofern sie
auch als doctrina evangelii bezeichnet wird. Die genaueste Be-
stimmung dessen, was das Unentbehrliche, das Konstituierende bei
der doctrina ist, finden wir einmal im Kommentar zum 1. Cor.
(O. C. 49 S. 307). Dort wird gesagt, auch in Corinth sei trotz
großer Mängel der Lehre und des Lebens noch eine Kirche ge-
wesen, von der man sich nicht hätte trennen dürfen : retinebant fun-
damentalem doctrinam, deus unus adorabatur apud eos et in-
vocabatur in Christi nomine, fiduciam salutis in Christo collocabant,
habebant ministerium non penitus corruptum : ideo simul manebat
ecclesia. Also wo noch der einige Gott in Christi Namen an-
gerufen wird, wo man Heilsglauben auf Christus richtet, ist die
grundlegende Lehre noch vorhanden ! Wesentlich dasselbe sagt
eine andere Stelle aus demselben Kommentar (S. 354) : haec porrO'
est doctrina funclamentalis, quam labefaetari nefas est, ut Christum
Von cand. theol. Th. Werdermann. } ^ ^
discamus. — Qui — Christum didicit, in tota coelesti doctrina iam
est absolutus.
Das äußere Wort au sich hat nach Calvin keine erfolgreiche
Wirksamkeit. Es ist dazu unbedingt notwendig, daß Gott durch
seinen Geist eingreift. So sagt Calvin zu 2. Cor. 3, 6 nam literae
nomine significat externam praedicationem quae cor non attingat :
per spiritum vero doctrinam vivam. quae efficaciter operetur in
animis per gratiam spiritus (O. C. 50 S. 39). Darum heißt es auch:
verbum-spirituale est semen, eo nostras animas regen erat solus
deus sua virtute (O. C. 49 S. 373). Und diese Wiedergeburt isl
dann der eigentliche Eintritt in die Kirche : transitus in ecclesia
ist seeunda nativitas (O. C. 31 S. 803). So kann Calvin dann auch
an dieser Stelle fortfahren : et certe non aliter renaseimur in coe-
lestem vitam, quam per ecclesiae ministerium. Und dasselbe will
es bedeuten, wenn an dem obigen Satz, daß Gott allein durch das
geistliche Wrort unsere Herzen regiere, unmittelbar angeschlossen
wird : sed ministrorum operam non exeludit. Wohl hält Calvin das
aufrecht, daß Gott in seinem Wirken nicht unbedingt an die
äußeren Zeichen, Wort und Sakrament, gebunden ist. Aber es ist
doch sein ordre perpetuel qu'il a mis en son egiise ; wenn er anders
verfährt, so geschieht das nur extraordinairement comme miracle
(O. C. 8 S. 414, vergl. O. C. 49 S. 375 f.).
Für einen rechten Lehrer der Kirche wird zuerst verlangt, daß
er von Gott berufen sei (O. C. 49 S. 305). Sein Amt ist aber auch
für die Kirche nötig (O. C. 51 S. 198). Darum wendet sich Calvin
heftig gegen die Fanatiker, die geheime eigene Geistesoffen-
barungen vorgeben und hochmütig meinen, des Predigers und
seiner Verkündigung nicht zu bedürfen (O. C. 51 S. 199 f., vergl.
52 S. 42, 316). Die Frediger aber sind nur Säeleute ; das Gedeihen
gibt allein Gott. Ja eigentlich ist Christus der einzige Lehrer der
Kirche (O. C. 49 S. 316). Des Predigers Wort hat nur Wert,
wenn es sich ganz an Christi Lehre anschließt. Nur eine Kirche,
die dieses ganz tut, ist die columna veritatis. Auf Gottes Ehre soll
in ihr allein hingearbeitet werden ; sowie sie ja auch eine plantatio
in laudem dei genannt wird (O. C. 2,2 S. 31 und 71). Das Amt des
Predigers ist ein ministerium Gott und der Kirche gegenüber.
Wenn also auch Calvin die Notwendigkeit und die Wrürde des
Amtes stark unterstreicht, so betont er gerade auch jetzt die Ab-
hängigkeit des ganzen Seins und Wrirkens der ministri von dem
Herrn der Kirche.
•i 3 4 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
Ein praktisch wirksamer Schutz gegen eine Pastorenherr-
schaft, abgesehen von der Bindung an die Schrift und der Fest-
stellung, daß sie untereinander pares et socii seien (O. C. 51 S. 198),
ist dann noch dadurch gegeben, daß ihnen andere Ämter in der
Kirche an die Seite gestellt sind. Noch nicht freilich, indem neben
den pastores auch die doctores als notwendig bezeichnet werden.
Diese haben, sofern sie nicht überhaupt zugleich Pastoren waren,
neben diesen eine sie beschränkende Rolle nicht gespielt. Mehr
war das der Fall bei den Ältesten, denn vor der auch in ihrer
Hand liegenden, sich auf Leben und Lehre beziehenden Disziplin
hatten auch die Pastoren sich zu beugen. Wenn als presbyteri zu-
nächst auch die Pastoren bezeichnet werden, so gilt dieser Name
doch speziell für die Ältesten, die aus dem Volke erwählt sein sollen
(O. C. 52 S. 315). — Wenn die ministri auch prinzipiell gleichgestellt
sind, so will Calvin damit nicht für ausgeschlossen erklären, daß
einer eine gewisse Leitung ausübt: sicuti popuhis carere pastore
nequit : ita singuli pastorum coetus moderatorem aliquem desi-
derant. Verum semper valeat illud, ut, qui omnium est primus,
sit tanquam minister (O. C. 50 S. 190). Und so finden wir noch
mancherlei Bestimmungen über die Organisation der Kirche, z. B.
auch über die Art, wie diejenigen, welche eine theologiche Bildung
erhalten haben, vor der Übertragung eines Amtes sich bereitwillig
und ohne Jagd nach einem Amte in Gottes Dienst stellen sollen
(O. C. 52 S. 280) ; oder daß die Frauen kein Amt erhalten sollen,
wobei jedoch Ausnahmen statuiert werden (O. C. 52 S. 276). Nach
allem müssen wir sagen, daß auch in den exegetischen Schriften
die äußere Seite der Kirche stark hervortritt. Aber hierauf darf
nicht das Gewicht fallen. Bedeutsamer ist, daß hier wieder mehr
als in der Praxis Calvins das innerliche Wesen der Kirche betont
wird, weniger, wie leicht verständlich ist, in den Pastoralbriefen als
in denen an die Epheser und Kolosser.
Dies läßt sich auch bei dem sehr geringen Stoff systematischen
Charakters feststellen. Wenn in der Vorrede zur lateinischen Aus-
gabe des Katechismus von 1545 als Zeichen davon, daß der con-
sensus in pietatis doctrina in den evangelischen Kirchen vorhanden
sei, die Katechismen hingestellt werden, so weist Calvin doch auch
hier darauf hin, daß wahre Einheit nur in Christus zu finden sei
(O. C. 6 S. 1 ff.). — Und in den Zusätzen, die wir in der Ausgabe
der Institutio von 1550 finden, hören wir ebenso von der Einigung,
in der wir mit Christo zu einem Leibe zusammenwachsen (O. C. 1
S. 991 Anm. 2).
Von cand. theol. Th. AVordermann. 335
In den polemischen Charakter tragenden Schriften jener
Epoche wird auch der römischen Lehre gegenüber zunächst ge-
sagt, daß in Christus allein die Einheit der Kirche liege (O. C. 7
S. 259), dali Christus allein das allgemeine Episkopat in Händen
habe (O. C. 7 S. 395), ja daß in ihm allein die allgemeine Kirche
zu erblicken sei. In einer Schrift gegen die Pariser theologische
Fakultät, die [544 ohne Namen ausgegangen ist, aber ohne Zweifel
Calvin zum Verfasser hat, heiüt es nach der Feststellung, daß
wohl alle darin einig seien : ecclesiam universalem esse et misse ab
initio mundi, et fore usque in finem, es handle sich schließlich
darum, wie denn die Kirche zu erkennen sei. Und dann stellt
Calvin als seine Meinung auf: eum (sc. aspectum ecclesiae) con-
stituimus in verbo dei. Vel, si quis malit, quum Christus eius sit
caput : quemadmodtim agnoscitur homo ex facie, ita illam in Christo
intuendam esse dieimus (O. C. 7 S. 30). Also gerade der katholischen
Lehre gegenüber tritt hier wieder der Gedanke, der unsichtbaren
Kirche hervor. Doch wird auch hier nicht eine sichtbare und eine un-
sichtbare Kirche geschieden, sondern einfach gesagt, die Kirche sei
eine Zeit lang unsichtbar gewesen. Auch hier wird als das Wesens-
zeichen der Kirche Christus genannt : Statuamus ergo, videri ecclesiam
ubi apparet Christus, ubi verbum eius auditur (S. 31). Zugleich erhält
hier das zweite Zeichen, das immer neben Christus gestellt wird,
das Wort und die ihm gleich gesetzte doctrina veritatis, eine nähere
Bestimmung. Der wesentliche Inhalt wird mit Christus zusammen-
gefaßt. — Im ganzen aber erkennen wir auch eine Zurückstellung
der Sichtbarkeit der Kirche ihrem vielleicht auch nicht zu sehenden
inneren Wesen gegenüber. Und dasselbe finden wir auch weiter-
hin, in der zuletzt angeführten Schrift, wie in den sonstigen \ er-
öfrentlichungen gegen die Römischen, — so gleich schon in den
näheren Ausführungen über das Verständnis des verbum dei.
Gewiß soll man bei entstandener Uneinigkeit das Urteil eines even-
tuell auch durch den Kaiser zu berufenden Konzils nicht gering
achten (O. C. 7 S. 32, 261 f., 265, 380). Aber man darf die Ent-
scheidung nicht solcher menschlichen Versammlung, überhaupt
nicht der sichtbaren Gestalt der Kirche übertragen (O. C. S. 32,
380). Dann läuft man Gefahr, die Wahrheit zu verlassen. Diese
ist allein bei Gott zu finden. Es kommt darauf an. daß das Konzil
durch den heiligen Geist geleitet werde (O. C. 7 S. 35, 382). Die
Wahrheit Gottes aber erkennen wir in der Schrift (O. C. 7 S. 32 f.,
5o6), _ Auch bei der Zucht, im besonderen der Exkommunikation
2 2 6 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
liegt allein bei der sichtbaren Kirche, der externa ecciesiae facies,
die Gefahr vor, daß man zu Unrecht von ihr ausgeschlossen werde.
Bei der wahren Kirche ist das nicht zu befürchten. Und nur der
Ausschluß von dieser läßt uns des Heils verlustig gehen (O. C. 7
S. 33 f.)-
Auch in Calvins Polemik gegen das Interim, das gerade auch
an diesen Punkten katholisierte, zeigt sich die Betonung der inner-
lichen Seite der Kirche. Das Interim stellte fest, daß die Kirche
die echten biblischen Schriften bestimmt und so auch die Macht
habe, sie auszulegen. Sie sei ja auch im Besitz der Tradition von
Jesus und den Aposteln her. Sie habe das Recht, Gesetze zu geben
und zu strafen (O. C. 7 S. 563). Dagegen wendet sich Calvin in
seiner Schrift : Vera christianae ecciesiae pacificationis et ecciesiae
reformandae ratio. Die drei im Interim aufgestellten notae für die
Erkenntnis der Kirche will er wohl anerkennen: puram doctrinam,
rectum sacramentorum usum et sanctam, quae inde pendet uni-
tatem (O. C. 7 S. 610). Aber er kann nicht in der continua episco-
porum successio die Gewähr für das Bewahren der rechten Lehre
sehen. Ihm liegt sie vielmehr in der Verheißung Gottes, daß die
Kirche Christi nie aufhören werde (S. 610 f.). So will Calvin bei
der Bestimmung der Kirche von ihrem Haupte Christus ausgehen.
Cur ergo in consideranda ecclesia, non ab ipso capite incipimus,
praesertim quum eo nos Christus ipse revocet ? — Ouare si in
certam ecciesiae unitatem coalescere libet, in veritatem Christi
tantum consentiamus (S. 612). Dem Interim macht er zum Vor-
wurf, daß es bei seiner Bestimmung der Autorität der Kirche
schließlich nicht auf Gottes Wort, sondern auf der Menschen Ge-
fallen ankomme. So lehnt er es auch ab, daß die Kirche über die
Schrift zu urteilen, sie auszulegen und neue Lehren festzusetzen
habe. Wohl muß die Kirche die wahren Schriften von falschen
unterscheiden. Aber nur wie die Schafe auf ihres Hirten Stimme
hören und der eines Fremden nicht folgen (S. 612). Die Auslegung
kommt der Kirche nur zu, sofern sie Gottes Geist hat (S. 613). —
Interessant ist es, daß Calvin eine Handauflegung als Konfirmation
der Kinder für wünschenswert hält. Nos quoque eins modi ritum
ubique restitutum merito optaremus, quo offerantur deo pueri, post
editam fidei suae confessionem (S. 628). Er will diese Handauf-
legung jedoch nicht als ein Sakrament anerkennen, während er
nichts dagegen hat, daß die bei der Einführung eines ministers so
genannt werde (S. 632). Wenn Calvin hierbei auf die äußere
Von cand. theol. Th. Wcrderm.inn. 337
Ordnung der Kirche großen Wert legte, so erklärt er dann doch
auch wieder: Latet-intertum ecclesia, fugitque hominum oculos,
ut frustra externum in ea regimen aut principatus quispiam requi-
ratur (S. 636).
Daß die Kirche das spirituale Christi regnum ist, wird auch
denen gegenüber ausgeführt, welche die Wahrheit des Evangeliums
wohl erkannt haben, aber durch mancherlei Gründe, besonders
durch Furcht vor Verfolgung und Not gehindert werden, sich offen
dazu bekennen (O. C. 8 S. 24). Auch hier erklärt Calvin, dal\ die
Kirche bei aller Ehrfurcht, die ihr gebühre, sich unter Gottes Wort
beugen müsse ; nur dann sei sie columna veritatis (O. C. 8 S. 78 f.). —
Wie hoch aber doch die äußere Ordnung der Kirche zu schätzen
sei, sagt er auch gerade diesen „Nicodemiten" gegenüber in einer
anderen Schrift, wo er es als eine Strafe Gottes bezeichnet, wenn
in einem Lande nicht eine geordnete Kirche sei (O. C. 6 S. 612). —
In der Natur der Sache liegt es denn auch, wenn Calvin in den
Streitschriften gegen die Schwärmer stark das Gewicht auf die
äußere sichtbare Seite der Kirche legt. Nicht freilich ist das darin
zu finden, wenn er die Kindertaufe damit rechtfertigt, naß einem
Menschen, der en la compagnie des fideles sei, nicht nur für seine
Person, sondern auch für seine Kinder die Heilsverheißung gelte
(O. C. 7 S. 58). Aber vor allem fordert er stark den Anschluß an
die organisierte sichtbare Kirche, wo er auf den Vorwurf der Ana-
baptisten zu sprechen kommt, daß in der evangelischen Kirche nicht
rechte Zucht geübt werde (S. 68, yf). Eine Scheidung von der
Kirche wird als eine Mißachtung von Gottes Wort und Sakrament
bezeichnet (S. 67 f.). — Eben das ist es auch, was er den Liber-
tinern, deren Lehre ihm ein Labyrinth von Irrtümern ist, im all-
gemeinen vorwirft, daß sie sich nicht unter die Schrift beugen,
sondern in vielfacher Weise sich auf den Geist berufen, den sie
aber stets mißbrauchen (O. C. S. 174 ff.).
Damit schließen wir unsere historische Untersuchung ab.
Mit den Jahren 1559/60 steht Calvins Theologie und Praxis in
ihrer endgültigen Form vor uns als notwendiges, durch die bis-
herige Entwicklung festliegendes Resultat. Das Material dieser
Jahre ist also am besten bei der zusammenfassenden systematischen
Arbeit zu verwerten.
Wir haben Calvins Lehre von der Kirche beobachtet in ihrer
Entstehung und weiteren Entfaltung, in ihrer dogmenhistorischen
Bedingtheit und in ihrer Eigenart. Wir hielten es für wichtig,
Calvinstudien.
■5^8 Calvins Lehre von der Kirche in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
nicht nur die theoretischen Aussagen, sondern auch die praktischen
Betätigungen heranzuziehen, und beides aus einem gegenseitigen
Ineinandergreifen und Sichbestimmen zu verstehen. — Wenn wir
nun Calvin in seiner Praxis gerade einige Züge seiner Anschauung
von der Kirche immer aufs stärkste unterstreichen sehen, die ihm
eigentümlich sind; und wenn wir dann weiter gerade diese Züge
begründet finden in der spezifischen Färbung seiner in der Be-
kehrung geweckten Frömmigkeit, so liegt es doch wohl am näch-
sten, die Eigenart seiner Lehre von der Kirche wie auch die ihrer
Anwendung und Umsetzung in die Wirklichkeit eben aus seiner
bestimmten Frömmigkeit abzuleiten. Dazu ist man eigentlich
schon von vornherein verpflichtet bei einem Menschen, der ein
so starkes Innenleben mit Gott führt wie Calvin und dabei
zugleich vom Bestreben erfüllt ist, mit seinem ganzen Sein
und Tun Gott zu dienen. Daß bei Calvin die Beugung vor
Gottes Ehre gerade auch in seiner Lehre von der Kirche bestim-
mend ist, muß aber jenen Versuchen gegenüber betont werden,
die ihre Eigenart darauf zurückführen wollen, daß Calvin ein Wel-
scher oder ein Jurist gewesen sei.
Calvins Vorsehungslehre.
Von
Lic. Dr. J. Bohatec,
Inspektor des reformierten Kandidatenstifts in Elberfeld.
Die Vorsehungslehre Calvins ist bisher nie selbständig behan-
delt worden. Wurde sie von der Forschung beachtet, so geschah
dies vorwiegend in Verbindung mit der Prädestinationslehre, wobei
hauptsächlich die Frage der Überordnung der einen Lehre über
die andere erwogen wurde. Diese Frage ist in Fluß gekommen,
als Alexander Schweizer die These ausgesprochen hatte, Calvin
wäre bei der Betonung der gemeinsamen protestantischen Dogmen
(servum arbitrium und Prädestination) geleitet von der Idee der
ewigen Ratschlüsse, im Unterschiede von Zwingli, bei dem die
absolute Gottheit und Vorsehung, und von Luther, bei dem der
verknechtete Wille in den Erörterungen der Prädestinationslehre
mehr in den Vordergrund treten. Hat Schweizer somit die Prä-
destination als Calvins Zentraldogma im strengsten Sinne des
Wortes bezeichnet, so beherrscht sie nach Albr. Ritschi nicht das
System Calvins, sondern ist ein für ihn wegen der Autorität des
Paulus immerhin sehr wichtiges Anhängsel seiner Lehre von der
Erlösung; sie ist für Calvins Lehrbegriff, ebenso wie für Luthers
Theologie eine Lehre sekundären Wertes. Seine Stammlehre ist
nach Ritschi die von Gottes Allwirksamkeit durchdrungene, auf die
Gemeinde der Erwählten gerichtete Providenz, die als durchgehen-
der Gottesbriff — im Gegensatz zu der Prädestinationslehre — die
allgemeine Güte, Gnade und Liebe voraussetzt und nach der auch
die Lehren vom Gesetz und Erlösung bemessen sind.
Eine abweichende Stellung hat M. Scheibe1 eingenommen. Er
betont Schweizer gegenüber, daß innerhalb des theologischen
Systems und der religiösen Gesamtanschauung Calvins die Lehre
i) Calvins Prädestinationslehre. 1897.
34Q
Calvins Vorsehun^slehre.
von der praedestinatio duplex nicht die Zentrallehre sei (S. 99, 103),
da ihr die Lehren vom Werke Christi und der Rechtfertigung
ziemlich selbständig gegenüberstehen. Wenn sie in ihrer reifen
Ausgestaltung als ein wesentlicher und selbständiger Bestand-
teil der religiösen und theologischen Überzeugung Calvins ver-
treten werde, so liege der Grund darin, daß die Idee der gött-
lichen Machtvollkommenheit und Alleinursächlichkeit ein wesent-
liches Moment der Religiosität Calvins bilde und sein theologisches
System durchziehe (S. 124). — Ritschi gegenüber weist Scheibe
nach, daß zwischen der Vorsehungslehre und Prädestinationslehre
insofern eine Diskrepanz bestehe, als der Gottesbegriff beider
Lehren wesentlich identisch sei. Scheibe schließt sich R. Seeberg 1
an, während A. Lang 2 an der Prädestination als Zentraldogma fest-
halten will, wenn er auch neben ihr ein anderes religiös gleich-
wertiges Zentrum, das in der Heilslehre wurzelnde, von Luther
durch Butzer überkommene Erbgut, anzunehmen sich gedrungen
fühlt.
Scheibes reichhaltige Darlegungen leiden an zwei Mängeln:
Erstens hat er unterlassen zu untersuchen, ob Ritschis These,
daß die Providenz Calvins Stammlehre sei, den Quellen entspreche.
Er beschränkt sich im wesentlichen nur auf den Nachweis der
Übereinstimmung, die inbezug auf den Gottesbegriff zwischen der
Prädestinationslehre und Vorsehungslehre herrscht. Zweitens hat
er die Frage, ob die Prädestinationslehre Calvins Zentrallehre sei,
mit Unrecht verneint, weil er das objektive, wenn auch religiös
motivierte Prinzip der Allwirksamkeit und Souveränität Gottes
von dem allen Reformatoren gemeinsamen subjektiven Heils-
prinzip bei Calvin nicht deutlich genug, wie wir sehen werden,
unterschieden hat.
Um das beiderseitige Verhältnis der Lehren von der Providenz
und Prädestination, sowie die Stellung beider im System Calvins
bestimmen zu können, ist eine genaue Charakteristik ihres reli-
giösen Gehaltes unerläßlich. Zwar ist Scheibe zuzustimmen, daß
,, innerhalb der historischen Forschung über Calvins Lehre von der
Prädestination, soweit es sich einfach um deren theologische
Formulierung handelt, Übereinstimmung herrscht" ; zwar ist es
Scheibe gelungen, nachzuweisen, daß die Idee Gottes als des all-
wirkenden und auf Verherrlichung seiner Wesensfülle bedachten
1) Dogmengesch. II, 397.
2) Der Evangelienkommentar M. Butzers und die Grundzüge seiner
Theologie S. 6, 365 f.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 341
Souveräns neben dem Gedanken des auf das Ziel der Menschen
gerichteten Liebewillens ein wesentliches Moment im Gottesbegriff
und in der Religiosität Calvins bildet. Hinsichtlich der Vor-
sehungslehre sind aber die, beim Mangel an eingehender Be-
handlung dieser Lehre allerdings nur sporadisch und gelegentlich
aufgeworfenen, Urteile nicht einheitlich. Während z. B. Schweizer
die Providenz zu der theologia naturalis (articuli mixti) rechnet
und E. W. Mayer ' in ihr. wie in der Gotteslehre überhaupt, vom
Christusglauben abstrahieren will, findet Ritschi,2 daß die christliche
Idee der Versöhnung alle Beziehungen der Vorsehungslehre be-
herrscht, obwohl sie nach ihrer Stellung — vor der Erlösungslehre
— scheinbar eine neutrale Haltung gegen die Versöhnungslehre
einnimmt. Mit Ritschi stimmt Lobstein 3 überein. Für die ed. 1539
nimmt K ö s 1 1 i n 4 eine Abhängigkeit der Vorsehungslehre von
der Heilslehre insofern an, als die in der Vorsehungslehre dar-
gelegte Auffassung von dem Verhältnisse Gottes zur Welt über-
haupt durch dasjenige, was wir als Christen aus der Heilswirksam-
keit Gottes über sein Verhältnis zu uns erfahren, bestimmt werde.
Scheibe (a.a.O. 110) modifiziert diese Behauptung dahin, daß Cal-
vin die Aufgabe, das Problem der Anwendung des Gedankens von
der götlichen Allwirksamkeit auf das Weltgeschehen genauer zu
verfolgen, im Zusammenhange und im Gefolge seiner Bemühungen,
die Prädestination zu sichern, entgegengetreten ist.
Nimmt die vorliegende Untersuchung alle erwähnten, seit
Schweizer aufgeworfenen Fragen wieder auf, um sie, wenn mög-
lich, einer allseitigen Beantwortung zuzuführen, so beansprucht die
Vorsehungslehre Calvins an sich, ohne Rücksicht auf ihre Stellung
im System, eine eingehendere Würdigung nicht bloß wegen der in
ihr enthaltenen beachtenswerten Freiheitslehre, sondern auch wegen
des charakteristischen Gepräges der Frömmigkeit Calvins, das vor-
züglich in ihr zum Audruck kommt und gewöhnlich übersehen
oder mißdeutet wird.
Als Quelle11 kommen für uns in Betracht :
1. Die Erstlingsschrift Calvins: Kommentar zu Senecas Werk
„de dementia" enthält wertvolle Charakteristik der stoischen Vor-
sehungslehre imd Lebensanschauuna:.
1) Das christliche Gottvertrauen und der Glaube an Christus. 1899.
_') Rechtf. u. Vers.1 III. 146.
$) P. R. E. ' Bd. 20, S. 574.
4) Stud. u. Kr. 1868, 426 ff.
5 ) Wir zitieren die Bände der Schriften Calvins nach der Reihenfolge
der im CR enthaltenen Opera Calvini, nicht nach der Reihenfolge des
'XA2 Calvins Vorsehungslehre.
2. Die Institutio von 1536 behandelt die Vorsehungslehre nur
sporadisch. Im Kapitel de lege et fide (Op. 1, 60) wird die difncilis
et involuta quaestio berührt, an Dens autor sit peccati, an malum
Deo sit imputandum, an iniustitia opus eins censeri debeat. Zer-
streute Gedanken finden sich bei der Auslegung der oratio Domini
(die Erklärung des pater noster, qui es in coelis S. 90; 7. Bitte
S. 95 ; Doxologie S. 99).1 Die Providenz wird einfach mit der Prä-
destination identifiziert : Dei ,, Providentia" electi sunt ; „immutabi-
lis Providentia" (S. 73). Am längsten verweilt Calvin bei der Pro-
videnzlehre in der Auslegung des 1. Glaubensartikels, die fast
wörtlich von Luthers kleinem Katechismus abhängig ist.
3. Wesentlich erweitert sind diese Gedanken in der Auslegung
desselben Artikels in der ed. 1539 — 1554. Neu hinzugekommen
sind hier namentlich drei Abschnitte, die dann fast unverändert in
die Institutio von 1559 herübergenommen worden sind. Der erste
handelt von der aus dem Vorsehungsglauben fließenden consolatio
(Op. 1, 496 = Op. 2, 146. 147) ; 2 der zweite von dem Verhältnis des
göttlichen Allmachtwirkens zum Wirken der creaturae ; 3 endlich
der dritte, offenbar von Melanchthon abhängige (cf. C. R. 21, 271)
von dem Unterschied des glaubensmäßigen Erfassens der Vor-
sehung von dem vernunftmäßigen (Op. 1, 511 = 2, 144). Sonst
weist die Institutio von 1539 eine größere zusammenhängende Dar-
legung der Providenzlehre in ihrem VIII. Kapitel (in der ed. 1543
Kap. IV): De praedestinatione et Providentia Dei (Op. 1, 862 — 902;
über die Providenz S. 889 ff.),4 welche den Grundstock der Aus-
führungen in der ed. 1559 bildet.
4. Zwischen diesen beiden Hauptgestalten der Institutio liegen
wichtige apologetisch-polemische, exegetische, homiletische Schrif-
ten, die davon zeugen, wie die Providenzgedanken den Reformator
bewegten, mit welch einer Mühe und Freude er ihre tiefsten Pro-
bleme theoretisch löste, praktisch verwertete und gegen Angriffe
verteidigte. Unter den ersteren ist neben den Apologien der Prä-
CR selbst; wo die Zitate mit I und den beigefügten arabischen Ziffern
angeführt sind, ist immer das erste Buch mit seinen Kapiteln und Ab-
schnitten in der Institutio 1559 gemeint.
1) Dieselben fast wörtlich in der ed. 1539, S. 926, 929 ff.
2) Dies ist von den Straßburger Herausgebern übersehen worden.
3) Die Institutio 1555 druckt statt creature: res inanimatae, 1, 510
= 2, 145. 146.
4) Der Abschnitt ist noch 1550 in Genf von einem Anonymus (wohl
Crispinus) herausgegeben worden.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 343
destinationslehre 1 namentlich zu erwähnen die 1549 erschienene
Polemik gegen die Astrologie : Advertissement contre l'astrologie
qu'on apelle judiciaire et autres curiosites qui regnent aujourd'huy
au monde (Op. 7, 514 — 542). Sie wurde vermutlich schon 1548 ver-
faßt und 1549 französisch herausgegeben. Unter den exegeticis
muß der Psalmenkommentar (Op. 31 und 32) hervorgehoben wer-
den. Denn, so erklärt Calvin in der Vorrede (S. 19, 31), nusquam
magis luculenta tum singularis erga ecclesiam Dei benefkentiae,
tum minium eius operum praeconia leguntur, nusqua m tot nar-
rantur liberationes, vel tarn splendide ornantur paternae erga nos
ipsius providentiae et curae documenta: nusquam
denique vel Dei laudandi plenior traditur ratio, vel ad praestandum
hoc pietatis officium acrius stimulamur . . . praecique tarnen nos ad
c r u c i s tolcrantiam instituet : quae vera est oboedientiae
probatio, ubi propriis affectibus valere iussis Deo nos subiieimus
patimurque eius a r b i t r i o v i t a m nostram gubernari,
ut quae nobis acerbissimae sunt aerumnae, quia ab ipso proficis-
euntur, dulcescant. Er ist besonders wichtig, da in ihm keine
Theorie vorgetragen, sondern gewissermaßen die Konfession des
Reformators mit Wärme uns vor den Augen entrollt wird; seine
Erkenntnisse werden hier zu Bekenntnissen. Calvin, der sein
ganzes Leben von der Providenz geleitet wußte, erkannte in den
Erlebnissen des Psalmisten seine Lebensführungen wieder: et
agnoscent lectores, nisi fallor, ubi intimos tarn Davidis quam
aliorum sensus explico, non secus ac de rebus familiariter com-
pertis disserere (ib. S. 33).
5. Am ausführlichsten und systematisch wird die Providenz
behandelt in der Institutio von 1559 (Lib. I, cap. 16 — 18; Op. 2, 144
bis 174), wobei Kapitel VIII, das im Kerne die Argumente der
früheren polemischen Schriften wiedergibt nebst einigen kleineren,
1) 1. Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de Servitute et liberatione
humani arbitrii adversus calumnias Alberti Pighii Campcnsis Op. 6, 225
bis 404 — eine Verteidigung gegen die sechs ersten Bücher des Werkes
Pighius': De libero hominis arbitrio et divina gratia libri decem; 2. Con-
sensus Genevensis [De aeterna Dei praedestinatione, qua in salutem alios
ex hominibus elegit, alios suo exitio reliquit: item de Providentia qua res
humanas gubernat, consensus pastorum Genevensis ecclesiae le Jo. Calvino
expositus] Op. 8, 249 — 366; 3. zwei polemische Schriften gegen Castellio,
[Brevis responsio ad diluendas nebulonis cuiusdam calumnia quibus doc-
trinam de aeterna Dei praedestinatione foedare conatus est 1557; Calum-
niae rebulonis cuiusdam quibus odio et imidia gravare conatus est doctri-
nam de aeterna Dei Providentia et ad easdem responsio 1558; beide Op. 9,
253—266] .
344 Calvins Vorsehungslehre.
die Akkusität des göttlichen Vorsehungswaltens und den speziell
christlichen Charakter der Vorsehungslehre hervorhebenden Ab-
schnitten neu ausgearbeitet worden ist.
I. Kapitel.
Inhalt und Art der Vorsekungslehre Calvins.
1. Die scholastische Vorsehungslehre und die religiöse
Stimmung um die Zeit Calvins.
Um die Eigenart und Bedeutung der Vorsehungslehre Calvins
sowie ihre polemischen Wendungen gebührend begreifen zu können,
müssen wir einen Rückblick tun auf die traditionelle scholastische
Lehre und die Stimmung, die sich aus ihr, besser neben ihr ent-
wickelt.
Die Vorsehungslehre der Scholastik diente ausschließlich der
rationalen Natur- und Welterklärung ; sie war ein wesentlicher Teil
der aristotelischen Naturphilosophie. Es handelt sich ihr vor-
nehmlich um die Frage : Wie verhält sich die göttliche Welt-
erhaltung und -regierung zu dem großen System der Ursachen und
Zwecke? Wie fängt es Gott, die causa prima, das Prinzip sowohl
des Bestehens als auch der Wirksamkeit der Dinge, der absolute
Beweger, an, die causae mediae (intermediae, inferiores) zu be-
einflussen und bewegen, den großen Bestand der Sphären und
Intelligenzen, der den Dingen inhärierenden Formen und Kräfte zu
erhalten? Das Urteil über die Art des Grundverhältnisses Gottes
zu dem Universum und zu dem Einzelnen hing ab von der Auf-
fassung und Bestimmung einzelner Teile des Weltganzen und der
Normierung der gegenseitigen Beziehungen derselben ; es tauchten
auf verschiedene Modifikationen der aristotelischen Grundanschau-
ung, die, namentlich durch arabische und jüdische Philosophie
scharf ausgeprägt, in die christliche Systematik durch Thomas von
Aquino und Albertus Magnus eingedrungen ist. — Die Oberherr-
schaft in der Geisterwelt führte aber zur Zeit Calvins der okka-
mistische Nominalismus. Sein Grundzug ist der Terminismus:
Gott kann von uns nur durch einen Begriff erkannt werden ;
reden wir von seinen Beziehungen zur Welt, seiner Schöpfung
und Erhaltung, so ist es nur Akkomodation an unsere zeitliche
und konkrete Betrachtungsweise. Damit ist der Begriffsformalis-
mus auf den Schulen zur Blüte gediehen. Namentlich scheint in
dieser Zeit Calvins Heimatuniversität, Sorbonne, unter diesem
Vun Lic. Dr. J. Bot 345
Bann gestanden zu haben.1 Es macht sich aber eine Reaktion
geltend. Die via antiqua, auch via Scoti genannt,- kämpft gegen die
terministischen Sophisten: Sophismata vestra contemnimus, de ter-
minis nun curamus, nos imus ad res. Im Kreise der via antiqua,
namentlich durch den Einfluß Erasmus', entsteht ein ..Laien-
christentum", das, alle scholastischen Spitzfindigkeiten verachtend,
den reinen, einfachen Jesusglauben der Bergpredigt, Vorsehungs-
glauben, Lebensernst und Jenseitshoffnung kultivieren will,8 wobei
man sich von den Gelehrten trennt und in die Arme der Kirche
wirft, welche die Bürgschaft der jenseitigen Belohnung in sich
trägt. Theoretisch-kosmologisch begründet, wird der Vorsehungs-
glaube zum Glauben an die Kirche. —
Versprach die Kirche die Befriedigung für das Jenseits, so
eröffneten die Sterne den Blick in die dunkle Zukunft des Dies-
seits — die Astrologie war d i e Wissenschaft. Sie stand
damals in voller Blüte, ' obwohl das Licht der wiedergeboren n
Wissenschaften am Anfang des 16. Jahrhunderts, der Zeit der
Enquecentisten, schien. Selbst der gelehrteste der Humanisten,
Erasmus, steht in ihrem Bann, Luther, Melanchthon und Beza
konnten sich von ihr nicht völlig emanzipieren. Viele Universi-
täten öffneten ihr die Tore ; die ältesten in Bologna und Padua
haben für sie Lehrstühle errichtet. Über die Pariser alma mater
schreibt der größte Gegner der Astrologie, Picus Mirandula :5
1) So schreibt 1518 der spätere Gegner Calvins, Albertus Pighius,
(Astrologiae defensio adversus prognosticatorum vulgus, qui annuas prae-
dicationes edunt et se astrologos mentiuntur, ad Aug. Nimphum Paris
1518): In hac autem civitate (Parisiaca) ab antiquo sophiae Studium fuit,
celebrum admodum: sed nescio quo tarn diro lato omnes diseiplinae me-
liores, ipsum quoque verum theologicum Studium (quod super omnes
terrarum nationes rigere apud se gloriantur) tarn longo tempore, a tarn
frequenti tamque nobili studio exolavere et sola sophismata et nugarissimae
carillationes subrepsere in locum earundem. Quibus tot praeclara ingenia
tarn male perduntur: qui ex toto terrarum orbe huc veluti ad sapientiae
Studium coneurrunt nihil praeter inanes contentiones ad patriam repor-
tantes. Qui se tunc existimant ad summum philosophiae et diseiplinarum
omnium pervenisse immo et theologos esse insignes: cum inextricabiles
aliquos verborum nodos seiverint involvere.
2) Hermelink, Die religiösen Reformbestrebungen des deutschen
Humanismus S. II.
3) Troeltsch, Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. IV, 271; Hermelink
a.a.O. S. 18 ff.
4) Vgl. Friedrich, J.. Astrologie und Reformation (S. 16 ff.). Calvin
läßt Friedrich unberücksichtigt.
5)In seinen Disputationes adversus astrologos Hb. XII Cap. VII (Opp.
Venet. 1557, 150 b).
■2 4 6 Calvins Vorsehungslehre.
tibi vero in Academia Parisiensi primitus apparuit (astrologia)
vix impetratum a curiosis quin internitioni data sub ignibns debi-
tesceret: cumque aliquot post annos honestare eam Rogerius
Baccon et alii quidam conarentur: resisterunt eis viri doctissimi
Guilelmus Alvernius episcopus Parisiensis et post eum Nicolaus
Oresmus mathematicus excellens et Henricus ex Asia et Jo-
hannes Caton et Brenlalius Britannus astrologiam non solum
qua parte laedit religionem sed plane totam ut vanam falsamque
delestantes, quare non ita unquam artis nomen obtinuit, ut in
praescriptum obierit. Nam semper aliquis veritatis patronus ob-
nunciavit. — Die Astrologie war Ratgeberin für Gelehrte und
Ungelehrte. Der päpstliche Stuhl lauschte der Zeichensprache der
Gestirne. Als die Sonnenfinsternis auf eine gefahrvolle Zukunft
hinzuweisen schien, bebte Nikolaus V. und vermehrte sein Kardi-
nalkollegium um gelehrte Kardinäle (Nicolas von Pisa) und ordnete
Litaneien an, um die heranbrechende Flut abzuwehren, Calixtus III.
ließ Glocken läuten zur Abwendung des Zornes Gottes.1 Paulus II.
mußte sich vom Kardinal von Padua den schweren Vorwurf ge-
fallen lassen : War es nicht genug, daß er (Paulus IL) während
seines Kardinalats mit dieser Note der Astrologie behaftet war?
Muß er auch noch fortfahren das oberhirtliche Amt lächerlich zu
machen? Sieht der Unglückliche nicht ein, welch ein schlimmes
Beispiel und wie Gott mißfällig das sei? Auch der humanistisch
gesinnte Leo X. beschäftigte sich mit Prognostika, nicht minder
Paulus III. und Pius IV. Der Klerus freute und ärgerte sich
unter dem Druck der Astrologie, die ihnen das Wohl und Unglück,
Gunst und Ungunst seitens der Päpste prophezeite. Die Astro-
logie griff mächtig auch in die Politik hinein, die regierenden
Fürsten schrieben die großen geschichtlichen Wendungen dem
Einfluß der Kometen zu und richteten nach dem Stande derselben
ihre Lebensweise ein. Sie graben ihr und ihrer Länder Schicksal
i) Hottinger, Historiae ecclesiasticae saeculum XV. Tom. i, Sect. i,
S. 3: „A. Ch. 1456 Cometae bini hoc anno apparuerunt, ut habent annales
Turcici, et alii; posterior fuit mense Junio, procera cauda: quibus papa
Calixtus territus, ad avertendam Dei iram aliquot dierum supplicationes
iidixit constituitque in urbibus, ut in meridie campanae pulsarentur, ut
omnes de precibus, contra Turcarum tyrannidem fundendis admonerentur."
Hottinger führt noch eine charakteristische' Notiz aus dem ungedruckten
Registrum querelae eines D. Fei. Maltius an: „Totus mundus laborat,
aedificat, construit et congregat. tamquam firmiter credat, quod mundus
cum ornatu suo perpetuo permaneat. Videmus patenter multorum sancto-
rum virorum vaticinia, scripturis et verbis concordantia, quod Anti-
christi tempora breviter sint Ventura.
Von Lic. Dr. J. Bol 347
der Willkür ihrer Astrologen blindlings preis. Jeder neue Komet
erweckte viele Propheten. Beim Anblick des flammenden Gestirns
ging's wie schwüle Angst vor einejm grandiosen Weltgewitter
durch die Völker. Alle hörten das Klirren zerbrochener ! fronen
und das Krachen gestürzter Reiche, alle weissagten neue Kriege
und ungeheure Menschenhekatomben; aber auch ein leises Ahnen
zog durch die Gemüter der Geknechteten und Knirschenden, eine
letzte Hoffnung, daß Gott, der solange drein gesehen, endlich
dreinschlage und das schwere Weltgewitter zum gerechten Welt-
gerichte werde.
Den Weg zum Volke bahnte sich die Manie der magischen
Mantik durch ihre enge Verknüpfung mit der Medizin. Wie eng
das beiderseitige Verhältnis dieser „Wissenschaft" war, ist ersicht-
lich an dem ehemals gangbaren Spruch: ,,Wenn die Anatomie das
rechte Auge der Medizin ist, so ist die Astrologie ihr linkes."
Die Kräuter wurden unter planetarischen Einfluß gestellt, die
Medikamente, damit sie recht kräftig wären, unter solchem Einfluß
zubereitet ; die verschiedenen Körperteile, namentlich die inneren,
standen unter der Regierung je eines der Planten. Herrschende
Krankheiten wurden planetarischen Ursachen zugeschrieben; jeder
Planet hatte sein eigenes Metall, dessen übereinkommende An-
wendung bei der Heilung versucht wurde. Daher kommt es, daß
so viele Astrologen vom Fach Mediziner gewesen sind ; die ganze
Therapie richtete sich nach dem Zeitpunkt der Nativität, dem
Stande des Horoskops. König Franz I. entließ seinen Leibarzt,
weil er nicht genug Kenntnisse auf dem astrologischen Gebiet auf-
zuweisen hatte. Auch die geistreiche, Calvin so wohlwollende
Renata ließ sich in die Geheimnisse der allmächtigen Pseudowissen-
schaft einweihen. Die damalige Zeit zitterte vor dem Himmel.
Treffender kann die Stimmung nicht charakterisiert werden als
mit den Worten Calvins (Op. 2, 147) : Mundi gubernationem a
Deo ad astra transferant infideles, suam vel felicitatem vel mise-
riam ab astrorum decretis et praesagiis, non autem a Dei voluntate
pendere fingunt ; ita fit, ut timor eorum ab uno illo, quem r
cere debebant, ad Stellas et cometas abstrahatur.
Während die Gelehrten im stillen Gemach das vertraute Ge-
setz in des Zufalls grausenden Wundern und den ruhenden Pol in
der Erscheinungen Flucht suchen, wird die von den abstrakten
Distinktionen angeekelte Seele zwischen Furcht und Sehnsucht,
zwischen Wissenwollen und Enttäuschung umhergetrieben. Nur
•348 Calvins Vorsehungslehre.'
in einem Punkt berührt sich die Praxis mit der Theorie. Diese
hat seit Thomas von Aquino die ganze Vorsehungslehre um die
Lehre von den Engeln und ihren mannigfaltigen phantastisch aus-
gemalten Tätigkeiten gruppiert; das religiöse Leben bewegt sich
demnach im Glauben an die Engel, die Heiligen. Dieser Glaube ist
aber eigentlich nur kirchliches Korrelat zu dem weltlichen Stcrne-
glauben. So beherrscht die Vorsehungslehre der damaligen Zeit,
soweit diese von den Strahlen der Reformation noch nicht erfaßt
wurde, der Intellektualismus, der Paganismus, Resignation und
Furcht. —
2. Der Charakter der Vorsehungslehre Calvins im Allgemeinen.
(Vorsehung und Glaube.)
Calvin tritt entschieden gegen den spekulativen Intellektualis-
mus, die frigida speculatio der Scholastik auf. Wie jede wahre
Gotteserkenntnis subjektiv und praktisch ist — denn was hülfe
uns ein Gott, mit dem wir nichts zu schaffen hätten,1 so auch die
Erkenntnis der göttlichen Vorsehung (Parum prodesset, quod de
perpetuitate consilii Dei dictum fuit, tenere, nisi ad nos pertineat
Op- 3X> 33°; Ps- 23> 2)- Daher will Calvin alle philosophischen
Hilfslinien, die z. B. Zwingli zum Zweck der Erklärung des
göttlichen Wal'tens gezogen hatte, als den Vorsehung'sglauben
störend, ja auflösend, beseitigen. In den Theodizeefragen gilt es
nicht disputare philosophico more et concinno artificio (Ps. 73, 1 ;
31, 674). Ratiociuando wird man nie begreifen, quomodo
inter tantas perturbationes Deus mundum gubernet (Ps. 73, 16;
31, 682). So tat es der rationalisicrend-humanisierende Castellio,
der sich bei den entscheidenden Fragen der Providenz auf den
sensus communis berief: „Nihil probabile esse concedis, nisi cuius
ille (sensus) communis, sit aestimator ac arbiter" — wirft ihm
Calvin vor. Tu quidquid divinum esse negas, nisi quod propria
ratione metiri queas (Op. 9, 299 ff ., 310 ff.). Es gilt ein für
allemal : Neque humano modo vel naturae sensu in nostris miseriis
agnoscimus Deo nostri esse curam ; sed f i d e invisibilem eius
1) Quid juvat deum cognoscere, quocum nihil est nobis negotii
Op. 2, 34; veram Dei notitiam semper ad fidei sensum referri debere: quia
non vult occulta sua essentia investigari, sed quatenus se nobis communicat
Ps. 103, 8 (Op. 32, 78). Dei notitiam intelligo, qua non modo concipimus
aliquem esse deum, sed etiam tenemus quod de eo scire nostra refert,
quod utile est ad eius gloriam, quod denique expedit (Op. 2, 34 — I, 2, 1).
— Alles offenbar Luthers Gedanken, vgl. Köstlin, Luthers Theol. 2. Aufl,
II, 248 u. A.
Von Lic. l>r. J. Bohatec. 3 | <)
providentiam apprehendimus : Op. 31, 132 (Ps. 13, 2). Die Pro-
videnz ist aber nicht Sache der Doktrin, sondern sie ist Tat, virtus,
qua nos iulcit ac praesidium quo nos conservat (Ps. 17, 5; 31, 162).
Daß wir an die L'rovidenz nicht glauben, daran ist nicht so sehr
die ratio, sondern unser schwacher Wille schuld (31, 303; Ps.
31, 5). Es ist eben die natura et vis des Glaubens, daß wir in-
mitten der curarum et molestiarum onera doch freie Geister sind
(Op. 31, 225; Ps. 22, 9).
Zwar zieht uns der naturae sensus zu Gott hin (Op. 32, 137;
Ps. 107, 6); zwar wohnt in unserer Seele der sensus divinitatis
(Op. 2, 37 = I, 3, 3), sie bringen uns aber nicht vorwärts. Auch
die Philosophen haben eine Ahnung von der göttlichen Allmacht
und Providenz ; ihre Vernunft ist für sie aber nur verhängnisvoll,
ein Labyrinth (Op. 2, 49 = 1, 5, 12), denn sie sind von Blindheit
geschlagen und träumen nur vom Zufall und einem untätigen Gott
(Op. 2, 39 = I, 4, 2). Durch unseren Egoismus und dem uns von
Natur innewohnenden Trotz ist uns die wahre Erkenntnis Gottes
vereitelt (Op. 2, 38. 43. 49) ; es fehlt uns die naturalis facultas,
zu einer Erkenntnis Gottes zu dringen (Op. 2, 52). Umsonst
strahlen in dem Gebäude der Welt brennende Fackeln ad illu-
strandam autoris gloriam ; sie erwecken zwar einige Funken, aber
diese werden erstickt, ehe sie ein volles Licht geben (Op. 2, 51, 52).
— Unter dem überwältigenden Eindruck des Naturganzen wird
schon der natürliche Mensch sagen müssen : Dieses Weltgebäude,
wie es dasteht, mit seiner staunenerregenden Regelmäßigkeit,
seiner alles, das Kleinste wie das Größte, umfassenden Ordnung,
mit seiner unaufhörlich neues Leben erzeugenden Kraft kann nicht
aus sich sein, muß eine causa haben ; vielleicht wird er sogar zu
einer Anerkennung und Bewunderung der Weisheit, Macht und
Güte dieses auetor kommen : „Carnis sensus, ubi Dei virtutem semel
in ipsa creatione sibi proposuit, illic subsistit ; et quum longissime
procedit, nihil aliud quam in edendo tali opificio auctoris sapien-
tiam et potentiam et bonitatem . . . expendit et considerat. Aber
der wahren göttlichen Providentia kann er auf diesem Wege nie
gewiß werden. Nicht die ratio, nicht der sensus carnis kann uns
Wegweiser sein, sondern nur die fides. Der Glaube bleibt bei der
Schöpfung nicht stehen. Er nimmt an, daß die Welt, wie sie von
Gott geschaffen ist, so auch in ihrem Fortbestand und Verlauf
schlechthin von ihm abhängig ist ; denn Deum facere momentareum
creatorem, qui simul dumtaxat opus suum absolverit, frigidum
•2 cq Calvins Vorsehungslehre.
esset ac ieiimum : atque in hoc praecipue nos a profanis hominibus
differre convenit, ut non minus in perpetuo mundi statu quam in
prima eius origine praesentia divinae virtutis nobis illuceat (I, 16, 1 ;
Op. 2, 144) : Fides altius penetrare debet, nempe ut quem
omnium creatorem esse didicit, statim quoque perpetuum mode-
ratorem et conservatorem esse colligat. Für den Glauben ge-
hören Schöpfung und Vorsehung notwendig zusammen: Nisi ad
providentiam Dei usque transimus, nondum rite capimus, quid hoc
valeat esse creatorem. Quum creatorem esse didicit fides, statim
quoque moderatorem et conservatorem esse colligit (I, 16, 2;
Opp.31, 327 [Ps.33, 6]; 32, 312 [Ps. 124, 8]).
Die letzteren Gedanken hat Calvin von Melanchthon (Loci
1533, C. R. 21, 271: Haec praesentia Dei in rebus seu conservatio
rerum non cernitur ratione sed fide cerni debet. Atque ita nos
scriptura docet non solum de conditione rerum, sed de perpetua
conservatione. Neque intelligitur recte creatio nisi etiam credamus
perpetuo res sustentari et conservari, suppeditari motum et vitam
rebus a Deo). Dieser hat aber nicht mit derselben Entschieden-
heit die Erkenntnis der göttlichen Vorsehung glaubensmäßig be-
gründet und entwickelt. Eben Melanchthon war es, dem Calvin
den Vorwurf nicht ersparen konnte, daß er nimis philosophice in
Sachen des göttlichen Allwaltens gelehrt hat (Op. 14, 417)- Der
o-roße Humanist, der die Macht der Vernunft aus der von ihm so
hochgeschätzten Antike kannte und liebgewann, hat trotz der
scharfen Pointierung des Gegensatzes zwischen Vernunft und
Offenbarung, Gesetz und Evangelium diesen gerade bei der Vor-
sehungslehre nicht aufrecht erhalten können. Er hat die Vor-
sehungslehre in die initia doctrinae physicae (C. R. 13, 203 ff.) ein-
gereiht, auf sie den Maßstab der notitia naturalis (legis ; ib. S. 198)
und nicht der ausschließlichen notitia evangelii angewendet:
„Erudita physica confirmat honestas opiniones in bonis mentibus
de Deo et de Providentia, ideoque Epicureos prorsus sustulisse
providentiam apparet, quia veram et eruditam physicam aspernati
sunt et furenter finxerunt confusionem atomorum . . . Hie deplo-
randa est humanae mentis coecitas, quod cum praecipue condita sit
ad agnitionem Dei, et Dens ordinem et multa alia de se testi-
monia in tota rerum natura proposuerit, tarnen multorum mentes
excuti sibi prorsus assensionem de Providentia sinunt. Physicorum
doctrina . . confirmatur in bonis mentibus assensio statuens esse
Deum, mentem architeetatricem et conservatricem rerum (ib. S. 191).
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 35
Die Physik ist magna ex parte aufgebaut auf der Erfahrung (ib.
S. 194), trotzdem schließt sie den apriorischen, spekulativen Y\ eg,
den Plato im Timäus gegangen ist, nicht aus; ja dieser scheint
gangbarer zu sein, da sich an Gott als der causa prima auch der
andere ordo orientiert. Inhaltlich entsprechen diesen Sätzen auch
die Ausführungen in Loci 1535 (C. R. 21, 370 ff.). Nun glaubt aller-
dings Melanchthon, daß die notitia naturalis propädeutischen Wert
hat, da wir durch sie zur Überzeugung von der Notwendigkeit
einer offenbarungsmäßigen Selbstausteilung Gottes gelangen.
(Cum consideramus, quousque progredi humana ratio possit, in-
quirens Deum, magis intelligemus, cur praeter hanc naturalem
noticiam, Dens tanquam ex arcana sede prodiens, tradiderit nobis
et suam quandam doctrinam de sua essentia et voluntate, ac pate-
fecerit se illustribus et certis testimoniis, . . . . ut non solum con-
firment nos de Providentia, sed etiam doceant nos de promissione
divina. . . . Sed tarnen prodest conferre doctrinam physicam ad
revelatam divinitus et collatio utrique generi aliquid lucis addit
et declarat sententiam Pauli, quae exstat in primo capite ad Ro-
manos, cum ait gentes veritatem Dei tenuisse captivam in iniustitia,
: . . (C. R. 13, 198). Aber die Abgrenzung der natürlich gesetz-
lichen Sphäre gegenüber der offenbarungsmäßigen wird nur in
dem Abschnitt de deo (Gottes Wesen, Eigenschaften und Gottes-
beweise ib. S. T98— 202), (vgl. bes. S. 199: teneatur ergo definitio
in e c c 1 e s i a illustrior ; S. 200 : etsi enim in e c c 1 e s i a illius
. . . testimonia proposita sunt) durchgeführt ; die Providenzlehre
steht aber auf rationaler Basis (S. 213), das Theodizeeproblem wird
mit Yernunftgründen gelöst, der Beweis für die Providentia ist
empirisch gewonnen.
Ist die Erkenntnis der göttlichen Vorsehung Glaube, so ist
es selbstverständlich, daß man ihrer Wahrheit nur auf dem Wege
der geschichtlichen Offenbarung im Worte Gottes gewiß wird :
Sane de Providentia Dei neminem fateor recte iudicare, nisi qui
supra terram conscendit (Op. 31, 682). Ingredi statuaria posuit
(David) pro accedere ad Dei scholam, aesi diceret : donec sit Heus
mihi magister et ex eins verbo discam quod alioqui mens mea non
capit in reputanda mundi gubernatione deficio (Op. 31, 682).
Calvins ganze Darstellung der Providenzlehre ist mit einem
ausführlichen Schriftbeweis versehen ; dazu betont er wiederholt
die Schrift als die eine unbedingte Gewißheit der Vorsehung ab-
gebende Norm unseres Lebens : Providentia Dei, qualis traditur
ß 5 2 Calvins Vorsehungslehre.
in scriptura sacra (I, 16, 2). Itaquae in quem finem omnia divini-
tus ordinari scriptura doceat, breviter hie attingere expediet.
Providentia adeo certis clarisque scripturae testimoniis asseritur,
ut nimirum sit potuisse de ea quempiam dubitare (I, 16, 4). In
Gesetz und Propheten wie durch Jesus und seine Apostel hat
Gott die Menschheit seiner fürsorglichen Wirksamkeit verge-
wissert. Wer sich nicht auf das Zeugnis der Schrift, in welcher
Gott seinen Willen offenbart (17, 5) verläßt, der will Gott nicht
die ihm zukommende Ehre geben, der will seine ratio zur Norm
für den göttlichen Willen und sein Wirken erheben. Die Zeug-
nisse der heiligen Schrift sind so klar, daß jeder Zweifel daran als
menschlicher Eigensinn erscheint (17, 2).
Durch die biblische Begründung der Vorsehungslehre hat
Calvin den geschichtlichen Charakter des Vorsehungsglaubens in
diesem wichtigen Punkte gewahrt. In einer geschichtlichen Offen-
barung erschließt sich uns der allmächtige Gott als der fürsorgende
Vater, aber derselbe Gott führt uns durch seinen heiligen Geist,
also durch persönliche Berührung, zu seinem geschichtlichen Wort,
damit wir ihn selbst und seinen Willen darin finden (I, 17, 3). Die
Wirkungsweise der geschichtlichen und doch übergeschichtlichen
Offenbarung der göttlichen Vorsehung muß ausdrücklich auf die
heilige Schrift bezogen werden. Es geht nicht an, Gott und die
heilige Schrift derartig gegenüberzustellen, daßi wir etwa Gott
gegen die Schrift ausspielen könnten, denn wir haben den für-
sorgenden Gott gar nicht ohne die Schrift. Wollen wir die Offen-
barung Gottes mit sittlich religiöser Gewißheit gefunden haben
(I, 16, 1), so ist das nicht eine Idee unserer ratio, nicht eine Gottes-
idee unkontrollierbaren Ursprungs, sondern der fürsorgende Gott
des Wortes.
Die Art dieses Vorsehungsglaubens wird erhellen, nachdem
wir seinen Inhalt erörtert haben.
3. Der Glaube an die allmächtige Welterhaltung und seine Abgrenzung
gegen die philosophischen Spekulationen.
Die göttliche Providentia ist nach Calvin eine persönliche,
alles Sein und Geschehen in sich fassende Kraft, ein durch alle
Mittelursachen durchgehender, sie bewahrender und regierender
Akt. Sie kann daher unter dem kausalen Gesichtspunkt Erhaltung
(conservatio), unter dem teleologischen Leitung (gnbernatio, mode-
ratio) genannt werden.1 Der Gedanke der Vorsehung als con-
1) Op. 1, 864.
Von Lic. Dr. J. Boliatcc. 353
servatio ist Konsequenz des Allmachtsgedankens (Op. i, 51*1).
Man darf sie deshalb nicht bloß als Auswirkung der göttlichen All-
wissenheit betrachten.1 Gottes Hand ist nicht minder tätig als
sein Auge (I, 16, 4; Op. 2, 147; Op. 8, 347). Zwar reden wir auch
von einer Präscienz Gottes : Praescientiam quum tribuimus Deo,
significamus omnia semper fuisse ac perpetuo mancre sub eius
oculis : ut eius notitiae nihil futurum ac praeteritum, sed omnia
sint praesentia. Et sie quidem praesentia, ut non ex ideis tantum
imaginetur, qualiter nobis observantur ea, quorum memoriam mens
nostra retinet ; sed tanquam ante se posita vere intueatur ac cernat.
Atque haec praescientia ad Universum mundi ambitum et omnes
ereaturas extenditur (Op. I, 865). Aber diese Präscienz ist zu-
gleich Wille, Tat : Praescientia in actu locatur (Op. 2, 147). Daher
ist die nuda praescientia zu verwerfen (ib.).2 In bezug auf die
O b j e k t e der göttlichen Vorsehung kennt Calvin schon die
traditionelle Unterscheidung zwischen der Providentia universalis,
specialis und specialissima.3 Die göttliche Providenz umfaßt den
großen Bestand der Welt und der unpersönlichen Natur, sie er-
streckt sich auf alles Einzelne — kindisch wäre es, einzelne Fälle
ausnehmen zu wollen (16, 5; 17, 6), und bezieht das unbedeutendste
Kreaturwesen in sich.4
Es läßt sich allerdings nicht ermitteln, wie Gott, die causa
praeeipua, auf die Mittelursachen (causae seeundae, mediae wirkt.
Gibt es überhaupt causae seeundae? Calvin will keineswegs die
endlichen Ursachen für nichtig erklären — er redet von den causae
inferiores (Op. 2, 157. 159. 162 = I 17, 4. 6. 9. 11; Op. 31, 177),
aber sie sind nicht selbständige Ursachen neben ihm, sondern nur in,
unter ihm, so daß er in ihnen und durch sie, aber auch ohne und
gegen sie wirkt : Nunc mediis interpositis operatur Dens, nunc sine
mediis, nuc contra omnia media (I, 17). Schon hier tritt ein
•charakteristischer Zug der Theologie Calvins, das Streben nach
Vermittelungen in den Vordergrund. Ich möchte daher
Calvin Theologen der Diagonale nennen.
i) So Schweizer, Glaubenslehre der ref. Kirche I, S. 265 ff.
2) Die Behauptung von Gass (Gesch. d. prot. Dogm. I, S. 117). daß
4as Vorherwissen sich auf alles weltliche Dasein überhaupt, das Vorher-
verordnen nur auf das sittliche Leben der Menschen beziehe, ist demnach
unrichtig.
3) Die Glieder dieser Stufe sind, wie wir noch sehen werden, aller-
dings nicht koordiniert.
4) 16, 4. 5. Op. 8, 348; vgl. Op. 28, 104 (Sermon sur le Deuteronome
Pars III), Op. 29, 241 (Homil in lib. I. Samuel.) Op. 42, 62 (Sermons sur
le livre de Job Pars I. Op. 32, 359; Op. 36, 22; Op. 7, 186 ff.
Calvinstudien. 2 2
■2 CA Calvins Vorsehungslehre.
Unter den Gesichtspunkt der causae mediae rücken die Lehren
von den Engeln1 und vom Wunder.
Die Engellehre darf nie spekulativ aufgebaut werden ;
über die Anzahl und Ordnungen der Engel zu entscheiden, wie es
namentlich Thomas v. Aquino getan hat, ist eine müßige Sache
(Op. 2, 123). Sie muß praktisch gehandhabt werden. Die Engel
sind nur Mittel, deren sich Gott bedient, um seine Ratschlüsse aus-
zuführen. Sie sind internuntii zwecks der Offenbarung Gottes an
die Menschen, instrumenta der den Menschen sich offenbarenden
Kraft. Als solche haben sie Wert, den man ihnen raubt, wenn
man sie nur als Symbole der psychologischen Vorgänge in den
Menschen betrachtet (ib.). Weil sie aber nur Werkzeuge sind, so
braucht sich Gott an sie nicht zu binden, er vollbringt sein Werk
ohne sie, durch seinen Wink und Willen (Op. 2, 125), um uns zu
zeigen, daß wir unser Vertrauen nicht zwischen ihn und die Engel
teilen dürfen (ib. 126; Op. 40, 639; Comm. zu Dan.).2
Wirkt Gott auch „sine mediis", so ist das Wunder selbstver-
ständlich. Calvin empfindet das moderne Wunderproblem gar
nicht. Die Wunder haben für ihn praktische Bedeutung. Notatur
miraculorum utilitas, quod viam doctrinae sternunt : nam faciunt,.
ut Christus reverentiam obtineat (Op. 47, 99). Quum legimus
biduo solem substitisse in uno gradu ad preces Josuae, in gratiam
Ezechiae umbram eins retrocessisse per decem gradus, paucis illis.
miraculis testatus est Deus, non sie quotidie caeco naturae instinetu
solem oriri et oeeidere, quin ipse, ad renovandam paterni erga nos
favoris memoriam, cursum eius gubernet (Op. 2, 146 = I, 16, 2).
Duplex miraculorum fruetus, ut praeparent ad fidem, deinde ut eam
ex verbo coneeptam melius confirment (Op. 47, 53). Sie stützen
den Glauben (subserviunt fidei, alios praeparando, alios confirmando
(Op. 48, 102), ohne ihn zu wecken (Op. 40, 643). Sie offenbaren
die Allmacht und Gnade Gottes (Op. 48, 317). Alles Tun Gottes
ist eigentlich Wunder, so die Ernährung der ganzen Welt ; aber
wir empfinden es nicht als Wunder, quia usu et assiduite nobis
vileseunt naturae miracula (Op. 47, 133 = Joh. 6. 12).3
Nur an einer Stelle versucht Calvin eine theoretische Lösung
der Frage, ob die Wunder als übernatürliche Geschehnisse sich in
den Naturgang einordnen lassen, bei der Erklärung der Windes-
1) Über die Teufel wird später S. 377 ff. die Rede sein.
2) Auch hier entfernen sich seine Darlegungen nicht von denen
Luthers; cf. Köstlin a.a.O. II, 344, 345.
3) Vgl. denselben Gedanken bei Luther, Köstlin II, S. 349.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. SSS
erscheinung im Wunder Jonas (Jona 4, 6; Op. 43, 274. 275). Wir
wissen, daß Gott, wenn er auch praeter ordinem naturae wirkt, doch
über die Grenzen der Natur nicht hinausgeht. Als er in der Wüste,
um seinem Volk die Speise zu verschaffen, die Wachteln aussandte,
benutzte er den Ostwind. Der ganze Vorgang- war wunderbar und
doch so einfach natürlich, weil alles durch den W i n d geschah.
Gott benutzt die Ursachen in der Natur, damit es klar werde, daß
die Natur nicht einem blinden motus, sondern nach dem arbitrium
Dei sich richtenden Gesetzen unterworfen ist. Nur unsere Be-
griffsbildung ist daran schuld, daß wir die Erscheinungen, welche
aequali cursu fluunt, normal, diejenigen aber, bei welchen Gott den
gewöhnlichen Gang verändert, Wunder nennen. Beiderlei ge-
schieht aber durch Gott. Er kann mit seiner starken Hand die
Gesetze durchbrechen, wenn er will. Und nicht bloß in der Natur,
sondern auch in den Regionen des Geistes, den tiefsten innerlich-
sten Prozessen, bei der Erwählung und Wiedergeburt, verfährt Gott
gar zu oft „sans s'aider des moyens ordinaires" (Op. 7, 521).
Wie uns allerdings die ratio und causa des Weltgeschehens
oft verborgen bleiben, so können wir auch nicht spekulativ er-
mitteln, wie Gott, die causa prima, es anfängt die Welt zu schaffen
und zu erhalten. Daran ist aber immerhin festzuhalten, daß bei
allen unseren Werturteilen über das göttliche Wirken auf den
Weltbestand sowohl die Transscendenz als auch die Immanenz
Gottes bewahrt bleibt. Die erstere betont die Selbständigkeit und
Überweltlichkeit Gottes, die letztere die kreatürliche Abhängigkeit.
Daher bekämpft Calvin die extremen Richtungen : den Deismus der
Epikuräer und des Aristoteles und den naturalistischen Pantheismus
der Stoa. Man raubt sich den Trost und dem allmächtigen Gott
die Ehre, wenn man 1. mit den Epikuräern von einem otiosus
inersque Dens träumt, der einmal seiner Welt eine Ordnung ge-
geben hat, und seitdem entweder in lässiger Ruhe vom Himmel
herabsieht oder nur über die mittleren Sphären herrschend die
weiteren den Zufall preisgibt (cf. Op. 31, 100. 117. 124. 608. -<>^;
Op- 32> 3°°) oder wenn man 2. mit den Stoikern die Providentia
Dei mit einer gewissen Bewegungskraft zusammenfallen läßt, seine
gubernatio in die engen Schranken des influxus naturae bannt,
wenn man sich sein Walten unversali quadam motione tarn orbis
machinam quam singulas eius partes agitare denkt, wenn man von
einer necessitas ex perpetuo causarum nexu und inplicita quaedam
series quae in naturae continetur träumt (I, 16, 8).
•2 c^ Calvins Vorsehungslehre.
Mit der Verwerfung des stoischen Notwendigkeitsfanatismus
und -fatalismus ergibt sich für Calvin auch eine gegensätzliche
Stellung zur Astrologie. (Stoicos hodie imitantur astrologi,
quibus fatalis ex stellarum positu dependet rerum necessitas. Op. 8,
353.) Die Verbindungslinie zwischen dem Fatalismus und der
Astrologie ist keine willkürlich von Calvin konstruierte ; denn man
verstand unter dem sogen, fatum physicum allgemein die Stellung
der Gestirne, die einen bestimmten Einfluß auf die Veränderungen
der Qualitäten der Elemente und Organismen hatte (vgl. Melanch-
thon C. R. 13, 331 : Aug. lib. V, cap. 8 : Fatum physicum vocari stella-
rum positum, qui vel in elementis vel in animantium corporibus causa
est ceterarum qualitatum). Calvin unterscheidet die wahre l von
der magischen. Die erstere ist „cognoissance de Vordre naturel
et disposition que Dieu a mise aux Estoilles et Barettes, pour
juger de leur office, propriete et vertu et reduire le tout ä sa fin
et a son usage; sie fragt nach den Ursachen der Naturerschei-
nungen, wobei sie allerdings feststellen muß, daß ein unbestreitbarer
Zusammenhang, „Sympathie", (ein in der Astrologie immer wieder-
kehrender Ausdruck) zwischen den Gestirnen und dem Naturlauf
besteht. Dagegen ist die sogenannte iudiciaria astrologia (astro-
logie iudiciaire) 2 eine superstition diabolique. Sie geht über die
natürlichen Zusammenhänge hinaus und will im voraus über die
Taten, Gedanken und die sich daraus ergebenden Eventualitäten
entscheiden. Es ist nicht zu leugnen, daß die Gestirne Einfluß auf
die Gestaltung der menschlichen Qualitäten haben ; dieser ist aber
nicht so sehr in der Geburtsstunde, sondern mehr bei der Konzep-
tion bestimmend, — die letztere läßt sich aber nicht gut fixieren.
Es kommt vor, daß Menschen, die unter demselben Horoskop ge-
boren wurden, in ihren Natur- und Charakteranlagen so eigenartig
abweichen, daß hier offenbar die Beschaffenheiten der Eltern mehr
bestimmend waren als die der Gestirne. Es führt zu Absurdi-
täten, wenn man sich erdreistet, die Todesstunde aus den Sternen
1) Er nennt sie auch astrologie naturelle und versteht darunter un-
gefähr dasselbe wie unsere Astronomie; für Melanchthon ist die natürliche
Astrologie mehr die aufs praktische Leben angewendete Mathematik und
Geometrie.
2) Die Pfleger dieser ,, Wissenschaft" werden von C. auch. Chaldaei,
Babylonii, genethliaci — der Ausdruck kommt zum erstenmal in Augustin.
Conf. lib. 4, c. 3 vor — genannt. — Die Bezeichnung Astrologia iudiciaria
(beurteilende Astrologie) ist synonym mit der von Aristoteles gebildeten
uaToo).oyi(( unoTtXiauKTiy.ri (bestimmende Astrologie); den Ausdruck astr.
iudiciaire haben sämtliche romanische Sprachen beibehalten. So gebraucht
Calvin auch den Ausdruck astrologie judiciaire.
Von Lic. Dr. J. Bol ^S7
bestimmen zu wollen. In einer Schlacht fielen so oft 60000 Men-
schen, die doch unmöglich unter demselben Horoskop geboren
sind.1
Dieses Argument trennt Calvin auch von Melanchthon. Mer
lanchthon glaubt an den Zusammenhang der Nativität mit dem
gestirnten Himmel und hält die astrologischen Ratschläge in
diesem Punkte für sehr praktisch. Mit Kenntnis der Nativität
kann man die Krankheiten vermeiden, die Berufswahl und die Nei-
gungen des Zöglings regulieren, ja sogar quaedam oeconomica et
politica prospici C. R. XIII, 342 ff. Viel wichtiger ist aber eine
andere Differenz, welche mit der prinzipiellen Anschauung Me-
lanchthons von der Wirkung der causa prima und der causae
seeundae zusammenhängt. Während Calvin hervorhebt, daß Gott
nicht nur mit den causae seeundae zusammenwirkt, sondern daß
er ohne sie wirken kann, scheinen nach Melanchthon Tätigkeiten
der causae seeundae (Engel, Teufel, mali et boni Spiritus, tempera-
menta et stellae) der göttlichen Tätigkeit koordiniert zu sein.
Zwar behauptet er wie Calvin, daß deus non removendus a guber-
natione propter astra (C. R. XIII, 327), daß man in Gott causam
praeeipuam liberrimae ceteras moderantem suchen muß. Nun be-
weist aber die allzu ausführliche Beschreibung der Wirkungsweise
der Sterne (namentlich ihres Verhältnisses zu den menschlichen
temperamenta), sowie auch die tradionelle Unterscheidung des
fatum proprium (divinam fortunam significans) von dem fatum phy-
sicum (ib. 331), ferner die charakteristische Aufstellung des Pro-
blems: an omnis observatio motuum et effectionum coelestium a
deo prohibita sit (335) deutlich, daß Melanchthon viel freier als
1) Ob diese Widerlegung der Astrologie selbständig ist oder nicht,
ist eine nebensächliche Frage. Einiges spricht dafür, daß Calvins Aus-
führungen sich mit denen Augustins decken, so z. B. die entschiedene Be-
tonung der Providentia Dei im Gegensatz zu den Aspirationen der Astro-
logen, nach welchen die Sterne die potestas haben, die menschlichen Ge-
schicke zu beeinflussen (vgl. Augustin: de civitate dei lib. V. cap. 1) : ferner
die Betonung der Tatsache, daß Menschen verschiedenen Charakters unter
demselben Horoskop geboren werden (Augustin a. a. O. cap. 6). Calvin
verfährt hier im wesentlichen selbständig. Manche von ihm angeführten
Einzelheiten (so z. B. die Erzählung des Vorfalls zwischen Domitian und
dem Mathematicus Ascletario, zwischen Julius Caesar und dem Mather
maticus Spurina) sowie ein Zitat aus Persius finden sich aber in Augustin
nicht. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Calvin die Arbeiten von Posidonius so-
wie anderen Stoikern benutzt hat. Denn die obige Widerlegung ist die bekannte
der Stoiker (Sextus, adver. astrol. 91, 92. Cicero, de divin. II, 98. Favorin
bei Gellius XIV 1, 27 — 29). Die berühmteste Widerlegung der Astro-
logen von Picus de Mirandula ist zur Zeit der Abfassung dieser Schrift
gegen die Astrologie noch nicht erschienen.
■J ? 8 Calvins Vorsehungslehre.
Calvin die Mittelursachen von der göttlichen Verursachung" zwar
nicht geschieden, aber doch unterschieden hat, daß er das speku-
lativ-theoretische Interesse für die Erklärung des Kausalzusammen-
hanges viel lebhafter empfunden hat, als es Calvin für nützlich und
möglich hielt. In der Tat hat für Melanchthon die Astrologie —
darauf kommt es bei der ganzen Frage an — mehr Lebensinter-
esse als für andere Reformatoren.
Sonst aber weiß sich Calvin mit Melanchthon einig in der
Verurteilung der Mantik, des Glaubens an das außerhalb und inner-
halb der Natur sich vollziehende Fatum, die Unheil bringende
Anschauung, welche aus bloßer Furcht und den durch die Furcht
aufgeregten Vorstellungen entstanden ist. Beide verurteilen die
Wunder der Mantik, während sie sich nicht scheuen, mit dem Glau-
ben an die Notwendigkeit auch den Glauben an die Brauchbarkeit
der Vorraussage beizubehalten.1 Die Mantiker beriefen sich darauf,
daß die Propheten oft die Gestirne Zeichen nennen, also die Deu-
tung nicht untersagen, ja, daß Gott die Sterne zu diesem Zwecke
auch geschaffen hat. Gott hat allerdings, sagt Calvin, die himm-
lischen Körper geschaffen, damit sie uns die Jahreszeiten angeben,
nicht aber, damit sie uns anleiten, ob wir ein neues Kleid tragen
sollen oder nicht. Übrigens verstehen die Propheten oft unter den
Zeichen die phantastische Deuterei der Astrologen. Diese falsche
Astrologie ist heidnisch und von den genethliaci selbst als solche
bezeichnet worden. Sie betrügt uns, weil sie ohnmächtig und un-
wissend ist ; sie hindert uns an der hoffnungsvollen Zuversicht zu
den Verheißungen Gottes, an der ernsten und nüchternen Selbst-
beobachtung und Selbstbeurteilung (527) ; sie verringert die Ehre
Gottes (derogant ä son honeur et entreprennant sur sa Majeste), sie
verweichlicht den Charakter und beseitigt die Furcht Gottes. Die
Astrologen bewegen sich in den Wolken und erreichen daher weder
den Himmel noch die Erde.
Die Warnung vor der falschen Astrologie schließt die heil-
same Himmelsbetrachtung nicht aus. Es ist eine merkwürdige
Sache, wie wenig die Menschen im allgemeinen von dem Himmel
wissen. Und doch ist er der Teil der Schöpfung, in dem der All-
mächtige mehr zu den Menschen redet, als in irgend einem arideren
seiner Werke — die Himmel rühmen ja des Allmächtigen Ehre —
und er ist gerade der Teil, in dem wir am wenigsten acht auf den
1) Für Melanchthon ist die Voraussage des eventus aus den causae
sogar auf dem Gebiete der Geschichte möglich, obwohl er sonst streng die
Teleologie der Geschichte hervorhebt.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 359
Allmächtigen geben. Es gibt keinen Augenblick eines unserer
Lebenstage, in welchem Gott nicht Szene auf Szene, Bild auf
Bild, eine Herrlichkeit nach der anderen hervorbrächte, und immer
nach so erlesenen, unveränderlichen Grundregeln der vollkommen-
sten Schönheit, daß es ganz sicher ist, es geschehe alles um unsert-
willen und sei zu unserer beständigen Freude bestimmt. Die edel-
sten Szenerien der Erde können nur wenige sehen, vornehmlich
deshalb, weil der Mensch das Gefühl für sie verloren hat (Op. 31,
194 f- 327)-
Den beiden großen Extremen, dem stoischen Naturpantheis-
mus und dem aristotelisch-epikuräischen Deismus, die nicht einmal
die Hemisphäre des Glaubens berühren, gegenüber ist zu betonen :
Gottes Walten ist vigilis, efficax, operosa et in continuo actu ver-
satur.1 Ideo censetur omnipotens, non quod possit quidem facere,
cessetamen interim et dessideat, vel quem praefixit naturae ordi-
nem, generali instinetu continuet: sed quia sua providentiam coeium
et terram gubernans sie omnia moderatur, ut nihil nisi eiuscon-
s i 1 i o aeeidat (16, 3). Providentiam vocari, non qua deus e coelo
otiosus speculetur, quae in mundo fiunt, sed veluti clavum tenens
omnes eventus moderatur (1, 16, 4). Die allgemeine Vorsehung ist nur
unter der Bedingung zu billigen, daß man zugibt, daß Gott da-
durch nicht nur seine einmal festgesetzte Ordnung beschützt, son-
dern in seiner Vaterliebe für jedes einzelne und jeden einzelnen
persönlich sorgt (ib. Comm. in Hb. Isajae I Op. 36, 289). Sein
Walten ist nicht konfus, sondern machtvolle Ausführung seines
ewigen weisen Weltplanes. Pro sua sapientia ab ultima aeterni-
tate decrevit, quod facturus esset, et nunc sua potentia, quae decre-
vit, exsequitur (I, 16, 8).
Das Walten Gottes ist uns freilich nicht klar; dem sensus
carnis entspricht es, daß er dann geneigt ist, das Geschehen in
der Welt, zumal das ihn persönlich treffende dem Zufall zuzu-
schreiben, dadurch wird allerdings der Vorsehungsglaube be-
graben.2 Der Glaube aber tröstet sich mit der Zusage, daß nichts
ohne Gottes Vorherbestimmung geschieht und daß alles ihm unter-
worfen ist, mag es uns zufällig scheinen oder nicht.3 Was nennen
1) Ein platonisierendcr Zug, wohl den Kirchenvätern entnommen.
2) Providentia dei fortunae et casibus fortuitis opponitur. Iam quum
vulgo persuasum fuerit omnibus saeculis, ut eadem opinio eunetos fere
mortales hodie quoque oecupat, fortuito contingere omnia: quod de Pro-
videntia tenendum erat, non modo hac prava opinione obnubilari, sed fere
saepeliri certum est (I 16, 2).
3) Quid enim magis ad casus referras, quam dum praeter eundem
viatorem defractus ex arbore ramus interficit? At longe aliter dominus,
■2 (5o Calvins Vorsehungslehre.
wir zufällig? Nach Augustin das, dessen ratio et causa uns ver-
borgen ist. Da die Beschränktheit unseres Geistes tief unter der
Erhabenheit des göttlichen Vorsehungswaltens liegt, begreifen
wir nicht die Ordnung, den Grund, das Ziel und die Not-
wendigeit des Geschehens. Trotzdem aber sollen wir die Zuver-
sicht haben, daß auch hier die Vorsehung tätig war und diesen
vermeintlichen Fall zum besten bewußter Ziele leitete.
Diese praktisch religiösen Glaubensgedanken bilden so eine
goldene Brücke zwischen der necessitas und fortuna (fortuitum).
Calvin bemüht sich, dies auch theoretisch zu begründen. Er kann
nämlich die scholastische Distinktion der necessitas consequentiae
und necessitas consequentis, oder der necessitas absoluta und
necessitas secundum quid, die Luther verhöhnt hatte,1 nicht ohne
weiteres ablehnen, wonach, wenn Gott etwas will, sein Tun not-
wendig ist, das aber, was er will, das zu geschehende factum seinem
Wesen nach nicht notwendig zu sein brauche. Da Christus einen dem
unsrigen ähnlichen Leib angenommen, so wird kein Verständiger
leugnen, daß seine Gebeine gebrechlich waren; doch war es un-
möglich sie zu brechen. Gott hat die Gebeine seines Sohnes,
welche er dem Bruch entzogen hatte, der Brechlichkeit unter-
worfen, und also, was natürlicherweise zufällig war, unter die
necessitas seines Ratschlusses restringiert (Op. 2, 153; 8, 354).
Diese Begründung, so fügt er ausdrücklich hinzu, geschieht nicht
aus Interesse an den sophistischen Formeln, sondern da sie ihm
nicht gezwungen und ad vitae usum aecomodatum scheint (Op. 8, 354)-
4. Das Verhältnis des göttlichen Vorsehungswaltens zu den
menschlichen freien Handlungen überhaupt.
Gibt es aber bei einer solchen Abhängigkeit alles Seins und
Geschehens noch eine Freiheit des Individuums? Lassen sich die
menschlichen Handlungen dem göttlichen Vorsehungswalten als
freie einordnen?
Wir finden Calvins Anschauungen über das vorliegende Pro-
blem am schärfsten und klarsten formuliert in I, 18, 2 finis : Summa
haec sit, cum dei voluntas dicitur rerum omnium esse causa, provi-
qui se fatetur eum tradidisse in manum occisoris. Sortes similiter, quis
non fortunae caecitati permittat? Verum dominus non patitur, qui sibi
vindicat earum iudicium. Vergl. Praelect. in Dan. proph. Op. 40, 577;
Op. 32, 138.
1) Sudaverunt hie sophistae iam multis annis et tandem victi coacti
sunt concedere, omnia quidem necessario fieri, necessitate consequentiae
(ut dieunt), sed non necessitate consequentis; sie eluserunt violentiam
istius quaestionis, verum et se ipsos illuserunt. E. A. 135.
Von Lic. Dr. J. Bi 3^1
dentiam eius statui moderatricem in cunctis hominium consiliis et
operibus, ut non tantum vim suam exscrat in electis, qui Spiritu
sancto reguntur, sed etiam reprobos in obsequium cogat. Gott als
der arbiter et moderator omnium hat in seinem eigenen v.
Ratschluß die ganze Weltentwickelung beschlossen; durch seine All-
macht bringt er diesen Ratschluß zur Ausführung. Diesem Rat-
schluß untersteht nicht nur die äußere Kreatur, sondern vor allem
die consilia et voluntates hominum. Der Mensch wird mit seinem
ganzen Sein, Denken und Handeln von der Providenz gelenkt, weil
üer göttliche Wille eben die prima et summa omnium causa ist.
Die [Menschen sind ministri dieses Willens (I, 17, 3) wie die Engel.
Durch den im ewigen Ratschluß begründeten Willen sind die arcani
motus cordis wie die actiones bestimmt (Op. 28, 447 ; 40, 166).
Quantum ad arcanos motus spectat, quod de corde regis praedicat
Salomo, flecti huc vel illuc, prout deo visum est, ad totum certe
humanuni genus extenditur, tantumdemque valet aesi dixisset,
quidquid animis coneipimus, arcana dei inspiratione ad suum finem
dirigi (I, 18, 2). In unseren guten Handlungen, der erhaltenden
Sorge für unser eigenes Leben wie für das der Mitmenschen, voll-
ziehen wir den göttlichen Willen.
Die Ratschlüsse Gottes stehen für Calvin von der Ewigkeit her
fest. So wenig es sich denken läßt, daß sich das göttliche Wissen,
gleich dem menschlichen, allmählich mittels zunehmender Er-
fahrung erzeugen sollte, ebensowenig läßt sich dies von den gott-
lichen Ratschlüssen annehmen, da Gott nicht gezwungen werden
darf, sich in seinem Tun nach Umständen und Ereignissen richten zu
müssen, die ohne sein Wessen und Wollen einträten, da überhaupt
eine successive Entstehung seiner Entschließungen ihn in die ganze
Endlichkeit seines Zeitlebens verflechten würde. Es muß vielmehr
die Gesamtheit der göttlichen Wirkungen im göttlichen W7illen wie
im göttlichen Selbstbewußtsein von Ewigkeit her unveränderlich
vorhanden sein : consilium firrnum et stabile, non pro rerum dis-
positione mutabile (17, 12 ; vergl. Praelect. in XII proph.: Op. 44, 203).
Welche Konsequenzen lassen sich aus dieser Darstellung
ziehen? Ist der gesamte Weltplan von Ewigkeit her bestimmt, so
scheint für die Freiheit der Geschöpfe kein Spielraum übrig zu
bleiben, da die göttlichen Ratschlüsse im einzelnen wie im ganzen
unfehlbar eintreffen müssen, mit der ewigen Yorherbestimmung
daher jede Wahlfreiheit abgeschnitten ist. Sollen die menschlichen
Handlungen wirklich frei sein, so müssen sie in jedem Augenblick
362
Calvins Vorsehung-slehre.
ebensowohl so als auch anders ausfallen können. Sieht dagegen
Gott dieselben mit untrüglicher Gewißheit in seinen ewigen Rat-
schlüssen vorher, so ist es unmöglich, daß sie anders ausfallen als
so, wie sie im göttlichen Ratschluß bestimmt sind.
Das göttliche Wissen ist ein schlechthin sicheres. Es erhält
diese seine Gewißheit nach Calvin nicht erst durch die Anschauung
des Gegenstandes als eines wirklich gewordenen, sondern ohne
eine solche durch sich selbst ; es ist also kein empirisches, sondern
ein apriorisches Wissen. Was aber a priori mit untrüglicher Sicher-
heit gewußt werden kann, das ist notwendig. Nun könnte mau
sagen: Wenn es unmöglich ist, daß Gott nicht allmächtig ist —
denn seine untrüglichen Ratschlüsse führt er kraft seiner potentia
aus — t so ist es unmöglich, daß die Menschen anders handeln, a!s
er sie in seiner ewigen Anschauung handeln sieht. Wenn es un-
möglich ist, daß sie anders handeln, so sind ihre Handlungen
schlechthin notwendig; was aber schlechthin notwendig ist, das
ist nicht Sache der Freiheit. Also scheint durch die göttliche
Vorherbestimmung die Freiheit ausgeschlossen zu sein (Op. 1, 873;
8, 354). Diese Folgerungen zieht aber Calvin nicht, aus dem
einfachen Grunde, weil es sich ihm nicht um eine theoretische Auf-
stellung und Lösung eines solchen metaphysischen, mit Kausali-
tätsbegriffen operierenden Problems der Willensfreiheit handelt.
Charakteristisch für diese Frage ist der Satz Calvins: Aeternis
decretis minime impediri quominus sub eius voluntate et
prospiciamus et omnia nostra dispensemus. Neque id manifesta
caret ratione. Namque is, qui vitam nostram suis terminis limi-
tavit, eius simul curam apud nos deposuit. : eius conservandae
rationibus subsidiisque instruxit: periculorum quoque praescios
fecit: ne incautos opprimerent, cautiones ac remedia suggessit,
Nunc perspicuum est, quid sit nostri officii : nempe, si vitarn nobis
nostram tutandam commisit dominus, ut eam tueamur: si subsidia
offert, ut iis utamur : si pericula praemonstrat, ne temere irrua-
mus: si remedia suppeditat, ne negligamus. Atqui periculum
nulluni oberit, nisi fatale: quod ineluctabile est remediis omnibus.
Quid autem, si ideo fatalia non sunt discrimina, quia iis propul-
sandis ac superandis remedia tibi dominus assignavit? Vide, quo
modo tuae ratiocinationi cum ordine divinae dispensationis con-
veniat. Tu cavendum non esse periculum colligis, quia, fatale
quum non sit, simus etiam citra cautionem evasuri : dominus autem
ideo ut caveas iniungit, quia fatale tibi esse nolit (I, 17, 4). Calvin
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 363
will offenbar sagen : Trotzdem Gott kraft seiner Ratschlüsse alles
regiert, hat er doch dem Menschen Mittel und Möglich-
keit gegeben, selbständig zu handeln. Man sieht, daß
Calvin in diesen Beispielen nur einen praktisch religiösen Er-
fahrungssatz ausspricht. Den ganzen Gedankengang beherrscht
hier nur das Interesse, der Allmacht Gottes Ehre zu geben, der
gegenüber sich die menschlichen Handlungen in ihrem Fortgang
als Mittel zur Erreichung ihrer Ziele erweisen (vergl. I, 16, 3 fin. ;
16, 9; 17, 7. 8; 18, 1 ff.). Diese Auffassung bestätigt eine direkte
Aussage Calvins in seiner Verteidigung gegen Pighius (Op. 6, 257),
der behauptet hatte, daß Calvin in seiner Lehre alle Religion be-
seitige und die Menschen in Vieh und Ungeheuer verwandle: „Wir
sagen, der Mensch könne nichts Gutes tun oder auch nicht denken.
Das sagen wir, damit er seine Abhängigkeit von Gott er-
kennend an sich selbst verzweifle und ganz an ihn sich hingebe
(Op. 6, 257).
Die gewöhnliche Charakteristik der Lehre Calvins von der
Freiheit lautet: Sie ist deterministisch. So sagt Ernest Martin:1
Les doctrines deterministes de Calvin, Celles de la providence et
d'election, sont issues du sentiment qu'il a de la souverainete de
Dien ; seulement la souverainete morale de Dien n'est pas distin-
guee de sa souverainete metaphysique. La premiere exige que
la volonte de Dien soit accomplie librement par la volonte
humaine, 011 que, si la liberte humaine resiste, justice soit fait de
desobeissance. La seconde empörte que rien n'arrive qui ne soit
le resultat direct de la volonte expresse de Dieu, qui ne soit seule-
ment tolere, mais voulu par lui. Die moralische Souveränität im
Sinne Martins hat Calvin nie gelehrt und nie lehren können ; denn
nach seinen Prämissen würde die Beeinflussung des göttlichen
"Willens durch den menschlichen einen Defekt des ersteren bedeuten.
Calvin hat bewußt den psychologischen Freiheitsbegriff von
dem ethischen unterschieden, wenn der erstere nach Windelband 2
die Tatsache einer zwanglosen Betätigung der Persönlichkeit in
ihrem Wählen und Handeln,3 und der letztere die Herrschaft der
Vernunft über das natürliche Gefühl- und Triebsystem des Men-
schen zum Ausdruck bringft. Der erstere Betriff ist rein formal.
1) Revue de theologie et de philosophie 1880, S. 117.
2) Über Willensfreiheit S. 94 ff.).
3) Vgl. Wundt, Vorlesungen S. 464: Die (psychol.) Freiheit ist Ab-
wesenheit von Zwang, nicht aber die von den Ursachen, und: Locke, Ver-
such über den menschlichen Verstand Bd. I. Buch II, Kap. 21, § 30.
•3 6.1 Calvins Vorsehungslehre.
der letztere normativ.1 Die ideale Freiheit, die ihren Ausdruck
im Urzustände des Menschen gefunden hat, besteht nach Calvin
in der willigen Unterwerfung des wählenden Willens unter die
Normen der Vernunft; die letztere leuchtet und leitet, der erstere
wählt und gehorcht. Mit den Scholastikern bekennt nämlich Cal-
vin nullam esse liberi arbitrii actionem, nisi se ratio vertit ad
opposita; liberi arbitrii vis besteht nicht in appetitu, nicht in
dem naturalis instinctus, sondern in mentis deliberatione (Über-
legung der Vernunft). Es hat keine Beziehung auf die Freiheit
des Willens, daß der Mensch von Natur nach dem Guten verlangt ;
diesen Instinkt haben auch die Tiere. Dazu ist vielmehr erforder-
lich, daß er das Gute mit richtiger Einsicht unterscheide, das
erkannte Gute wähle und das erwählte Gute erstrebe. Ein appe-
titus ist non proprius voluntatis motus, sed naturalis inclinatio.
Kurz: die ideale Freiheit besteht in der Beherrschung der Sinn-
lichkeit durch die Vernunft.
Calvin sprach dem menschlichen Willen nach dem Fall, wo
die ideale Freiheit in Trümmer ging, seinem Streben nach gutem
Werken, also nach sittlicher Betätigung allerdings von vorn-
herein alle Freiheit ab. „Es wird kein Streit mehr darüber sein, daß
dem Menschen zu guten Werken der freie Wille fehle, wenn er
nicht durch die Gnade unterstützt wird und zwar durch die be-
sondere Gnade, welche die electi soli durch die Wiedergeburt er-
halten" (Op. 2, 190). Er tadelt daher, daß die älteren Kirchenlehrer,
so namentlich Chrysostomus und Hieronymus, die menschlichen
Kräfte nach dem Sündenfall so hochgehalten haben, um durch
das Bekenntnis des gänzlichen menschlichen Unvermögens teils
nicht das Gelächter der Philosophen zu erregen, mit denen sie
damals im Streite lagen, teils um dem an sich selbst schon zum
Guten allzu trägen Fleische nicht von neuem Vorwand zu mutloser
Untätigkeit zu geben (Op. 2, 188). Wenn nichts Gutes in uns,
vielmehr der Mensch vom Haupt bis zur Ferse Sünder ist, wenn
er nicht einmal versuchen kann, was der Wrille vermag: Wie
könnte zwischen Gott und dem Menschen der Ruhm guter Werke
geteilt werden? So hat er das ganze III. Kapitel des zweiten
1) Windelband bemerkt mit Recht a.a.O. S.97: Wir können nicht
nur von der Wahlfreiheit reden, wo wir die sittliche Freiheit für aus-
geschlossen halten .... Unsere geläufige Ausdrucksweise ist darin eigen-
tümlich befangen und zeigt damit gerade, wie sie den Gedanken an die
sittliche Freiheit im Hintergrunde hat, wenn sie von Wahlfreiheit in
psychologischem Sinne zu reden scheint.
Von Lic. Dr. J. Bohatec, 365
Buches dem positiven Beweis gewidmet, daß aus der verderbten
Natur nur Sündliches und Verwerfliches hervorgehe, als auch
negativ im V. Kapitel die Wiederholung der ,, gewöhnlichen" Be-
weise für die Freiheit des menschlichen Willens unternommen.
Er behauptet, daß es dem Menschen nach dem Sündenfall un-
möglich sei, das Heil zu ergreifen, da er in sich einen absoluten
Hang zum Sündigen spüre. Bei diesem Urteil bleibt er aber nicht
stehen, sondern er macht den Versuch, die formale Freiheit zu
retten. Denn die Konsequenzen, die man aus der totalen Leug-
nung der Freiheit gezogen hatte, der Mensch sei ein truneus und
lapis, will er nicht ziehen.1 Er nimmt die psychologische Frei-
heit des Menschen an. Dies kommt in seiner Unterscheidung
zwischen necessitas und coactio zum Vorschein. Demnach sündigt
der Mensch mit Willen, nicht mit Zwang oder Widerwillen, nach
einer überwiegenden Neigung des Herzens, nicht aber durch ge-
waltsamen Zwang seiner Lust, noch durch einen äußeren Zwang;
aber wegen der Verderbtheit seiner Natur kann er nur mit Not-
wendigkeit (necessitate) zum Bösen geleitet werden (Op. 2, 214;
II, cap. 3, 5). — Dem Menschen nämlich, so spricht es Calvin
deutlich aus, mag immerhin freier Wille zugeschrieben werden,
nicht weil er die freie Wahl des Guten und Bösen hat, sondern
weil er es mit seinem Willen und nicht aus Zwang tut (male
voluntate agit, non coactione). Die Vernunft, mit welcher der
Mensch Gutes und Böses unterscheidet, konnte, da sie eine natür-
liche Gabe ist, nicht gänzlich vertilgt werden (S. 196). Der Wille
ging nicht verloren, weil er von der Menschennatur unzertrenn-
lich ist (S. 196). Der Wille wird aufgehoben, nicht insofern er
Wille ist, indem er bei der Bekehrung des Menschen dasjenige
bleibt, was seiner Natur ursprünglich angehört (S. 215). Es bleibt
nach dem Fall der Wille, der mit überwiegender Lust eilfertig
zum Sündigen neigt; denn nicht den Willen verlor der Mensch,
sondern die Gesundheit des Willens (Op. 52, 32). Nicht unpassend
sage Bernhard, das Wollen sei in uns allen, aber Gutes wollen sei
ein Fortschritt (profectus), Böses wollen ein Rückschritt (defectus),
einfaches Wollen sei des Menschen, böses Wollen der verderbten
Natur, gutes Wollen der Gnade (S. 213). Man solle, so sagt Calvin
1) Op. 2, 235: Sed cui, aiunt, veri^imile fuit, Dominum truncis ac
lapidibus legem destinasse? Neque id quisquam persuadere molitur. Non
enim aut impii saxa sunt aut stipites, dum adversari Deo suas libidines
per legem edocti, suo ipsorum testimonio rei fiunt; aut pii, dum suae
impotentiae admoniti, ad gratiam confugiunt.
■JOO Calvins Vorsehungslehre.
im Anschluß an Augustins Argumentationen (S. 214) folgende
Unterscheidung bemerken : Der Mensch, seit er durch den Fall
verderbt ist, sündigt mit Willen, nicht wider Willen und ge-
zwungen ; nach einer überwiegenden Neigung des Herzens, nicht
aber durch gewaltsamen Zwang seiner Lust oder durch einen
äußeren Zwang.
Den bisherigen Ausführungen scheint aber eine andere Stelle
(Op. 2, 228) zu widersprechen. Hier behandelt Calvin nämlich die
Frage, ob bei den indifferenten Handlungen, die mehr das Leib-
liche als das Geistige betreffen, dem Menschen eine freie Wahl zu-
gestanden werden darf. Auch dieses Gebiet will er der allmächtigen
Wirksamkeit Gottes keineswegs entreißen, sondern behauptet ent-
schieden, daß Gott, um seiner Vorsehung den Weg zu bahnen,
auch in irdischen Dingen die Gesinnungen der Menschen leitet,
und daß von seinem Willen ihre Wahl abhängt : Ego vero 1 suffi-
cienter iis (sc. Beispiele aus der Schrift) probari, quod contendo,
Deum, quoties viam facere vult suae providentiae, etiam in rebus
externis hominum voluntates flectere et versare nee ita esse libe-
ram ipsorum electionem, quin eius libertati Dei arbitrium domi-
netur (C. R. 2, 228). Scheibe (a. a. O. S. 106 f.) führt diesen Satz
als Beweis für den absoluten metaphysischen Determinismus Cal-
vins an. Aber hier vertritt Calvin nicht den metaphysischen Deter-
minismus. Dieser muß, um konsequent zu bleiben, nicht bloß die
Möglichkeit der selbständigen Wahl für jede einzelne Handlung,
d. h. die Freiheit zu tun, was man will, sondern auch die Freiheit
des Handelns überhaupt leugnen. Die Handlungen sind ja nach
ihm schlechthin notwendig, also nicht Sache der Freiheit. Calvin
verwirft den metaphysischen Determinismus, indem er die Freiheit
des Handelns zugibt : In liberi arbitrii disputatione non hoc quae-
ritur, san homini, quaeeunque animo deliberarit, perficere et
exsequi per externa impedimenta liceat, sed an in re qualibet
liberam habeat et iudicii electionem et voluntatis affectionem.
— Meminerint lectores, ab eventu rerum non esse aestiman«lam
humani arbitrii facultatem . . Facultas ista . . non ab extraneo
successu metienda. Es ist allerdings zuzugeben, daß Calvin die
sittlich indifferenten menschlichen Handlungen, welche vom sensus
noster ohne Zweifel (nil dubitabimus) dem freien Entschluß des
Subjektes überlassen werden, der specialis motio Dei unterwirft,
1) Die Aussage richtet sich gegen diejenigen, welche dem mensch-
lichen Willen eine libera electio auf dem fraglichen Gebiete zugestehen.
Von Lic. Dr. J. Bohatec.
aber sie sind vom göttlichen Willen nicht absolut determiniert.
Sehr bezeichnend sagt ja Calvin: Eorum animi Domino magis
subeant, quam a se ipsis regebantnr (ib. S. 2281. Vgl. auch den
charakteristischen Satz: Op. 52, 34 (Philip. 2, 13): (Paulum) non
disputare, quousque s e facultas nostra extendet,
sed simpliciter docere, Deum ita agere in nobis, ut non tarnen
sinat nos pigrescere, sed arcano instinctu impulsos strenue exer-
ceat. Der Satz beweist m. E. deutlich, daß Calvin alle Erklärung
des Ursprungs der Freiheit des spekulativ-metaphysischen Deter-
minismus fremd ist, oder besser gesagt, daß er auf sie kein Ge-
wicht legt.
Es ist allerdings eine andere Frage, ob sich die psychologische
Freiheit und die ethische Unfreiheit so trennen lassen, daß sie
beide zusammen einen Moment im Selbstbewußtsein ausfüllen können.
Ist es nicht widerspruchsvoll, wenn Calvin behauptet, daß der
Mensch mit Willen sündige und dabei in einem Atem sagt, daß
er infolge seiner verderbten Natur nur das Böse tun kann? Schon
Pighius hat Calvin vorgeworfen, daß die beiden Begriffe necessi-
tas und voluntas kontradiktorisch sind. Calvin verneint dies
(Op. 6, 333 f.), indem er sich darauf beruft, daß Gott notwendig
gut ist und dadurch sein freier Wille nicht aufgehoben ist, eben-
falls wie der Teufel notwendig böse ist, ohne daß dadurch aus-
geschlossen wäre, daß er mit Willen sündigt. Diesen Begriff der
freien Notwendigkeit hat Calvin, wie er selbst bekennt, von Bernhard
v. Clairvaux übernommen. Er führt des letzteren Sätze an : Anima
miro quodam et malo modo sub hac voluntaria quadam ac male
libera necessitate et ancilla tenetur et libera. . . Nescio quo pravo
et miro modo ipsa sibi voluntas peccato quidem in deterius mutata,
necessitatem facit, ut nee necessitas (quum voluntaria sit) excusare
valeat voluntatem, nee voluntas quum sit illecta exeludere po-
testatem (Op. 2, 214). Daß dadurch die ganze Frage nur dialektisch
verdunkelt ist, braucht wohl nicht hinzugefügt zu werden. Eine
theoretische Lösung der Frage, wie es doch möglich sei, daß neben
der göttlichen Vorherbestimmung der Mensch doch selbständig
handeln kann, hat Calvin nicht gegeben, auch nicht geben können.
Er hat sich, wie wir gesehen haben, mit der rein praktischen Be-
hauptung begnügt, daß wir neben den göttlichen Ratschlüssen und
trotz dieser Mittel und Möglichkeit haben, selbständig zu handeln
Wo er auch über diese praktischen Motivationen hinausging.
hat er die beiden extremen Klippen, den naturhaften Determinis-
3 68 Calvins Vorsehungslehre.
mus und den pelagianischen Indeterminismus zu vermeiden ver-
sucht. Jeder Versuch, das W i e des Verhältnisses der vollen
Realität des individuellen Lebens und Handelns zu dem alles
beherrschenden Vorsehungswalten Gottes und seinem höchsten
Willen auf theoretischer Grundlage entscheiden zu wollen, muß
an den Grenzen unseres Vernunfterkennens wie an dem Wesen des
Glaubens scheitern. Der Gedanke der causa prima wie der mensch-
lichen Freiheit sind nur Grenzgedanken, und dadurch ist es un-
möglich zu entscheiden — am wenigsten schon nach der Kategorie
von Ursache und Wirkung — , wie jenes Verhältnis auf dem Boden
der Metaphysik besteht. Durch jeglichen Lösungsversuch würde
einer der beiden Begriffe Einbuße erleiden. Sehen wir im Men-
schen nur absolut selbstlose Kreatur, so gelangen wir schließlich
zu einem naturhaften Determinismus, und umgekehrt : schränken
wir Gottes Allwirksamkeit ein zugunsten der Freiheit, so kommt
unser Vorsehungsglaube zu kurz. Für die Frömmigkeit ist die
ganze Schwierigkeit nicht vorhanden. Denn die Frömmigkeit ruht
auf der Erfahrung des Zusammenwirkens beider Faktoren und
empfindet die Freiheit als „von Gott getrieben werden", die Wir-
kung Gottes in uns als Freiheit. Auch die heilige Schrift hat
nirgendwo die Frage aufgestellt, wie sich Gottes Wirkung mit
der menschlichen Freiheit vertrage, noch weniger hat sie dieselbe
gelöst.
Ist diese Auffassung der Willensfreiheit eigenartig? Wir
fragen somit nach den Quellen der calvinischen Freiheitslehre.
i. Es ist zunächst merkwürdig, daß der Versuch, die Rat-
schlüsse Gottes mit der menschlichen Freiheit zu versöhnen,
stoisch klingt. Die Stoiker 1 haben gegen die aristotelische An-
schauung, daß unsere Selbsttätigkeit (cd fifjn' f^ilf) bloß in unserer
Wahl (7CQoaiQeoic) liege, die These verfochten, daß unsere Selbst-
tätigkeit durch das Fatum regiert werde (rö Iq? i)fuv eivat rb dC
fjfilv vrcb zfjg s'iQuaQutv^g yevouErov). Sie fühlen aber ganz gut,
daß hier eine Antimonie vorliegt, und diese zu beseitigen haben
sie, so Chrysipp und Cicero, unterschieden zwischen dem, was
einfach (cmfaog) im Fatum enthalten ist, d. h. was ohne alle Ver-
mittelungen, so wie es im Fatum vorherbestimmt ist, eintritt, und
zwischen dem, was mit dem unmittelbar durch das Fatum Be-
i) Vergl. H. v. Arnim, Die stoische Lehre vom Fatum und Willens-
freiheit in ,,Wissenschaftl. Beilage zum 18. Jahresbericht der philos. Gesell-
schaft an der Universität zu Wien" S. 12 ff.
Von Lic. Dr. J. Bob 3&Q
stimmten so notwendig verbunden ist, daß es infolgedessen — also
mittelbar — in die ewige notwendige Ursachenverkettung hinein-
gezogen, daher ovyY.a&eiQiAaf.ttva (confatalia) genannt wird. Der
sogenannte aQyög Xöyog, das Hauptargument gegen die stoische
Lehre, das die Unvereinbarkeit der Notwendigkeit des Schicksals
mit dem menschlichen freitätigen Handeln betonte, lautete : „Wenn
es dir vom Schicksal bestimmt ist, von deiner Krankheit zu ge-
nesen, so wirst du, ob du nun einen Arzt rufest oder nicht, jeden-
falls genesen ; und wenn es dir nicht vom Schicksal bestimmt ist,
von deiner Krankheit zu genesen, so wirst du, ob du nun einen
Arzt rufest oder nicht, keinesfalls genesen. Nun ist es dir aber
entweder bestimmt zu genesen oder es ist dir bestimmt, nicht zu
genesen ; also ist es vergeblich, den Arzt zu rufen." x An dem
und dem Tage wird Sokrates sterben, Sokrates mag tun, was
er will, diesen vorherbestimmten Tag wird er nicht abwenden
können (Cicero, de fato 13, 30). Die Stoiker antworten, dal.'»
dieses Beispiel sich auf das Gebiet der ovyxa&EiQ/Aafieva nicht
anwenden läßt. Diese sind nämlich der Art, daß sie nicht ein-
treten, wenn wir nicht wollen und mit aller Energie nach ihrer
Verwirklichung trachten. Ist jemandem vom fatum vorher-
bestimmt, daß er unverletzt den Kampfplatz verlassen wird, wenn er
tapfer kämpft, so ist diese Bedingung des Erfolgs jedenfalls mit der
Selbsttätigkeit des Menschen verknüpft ; sie ist aber auch, weil ein
Mittel zur Verwirklichung des Beschlossenen, notwendig. Es sei
nicht schlechthin bestimmt, so lehrte Chrysipp im 2. Buche neql
UQua^ihr^,- daß dieser Soldat aus der Hand der Feinde gerettet
werde, sondern es gehöre dazu, daß er fliehe ; es sei nicht schlecht-
hin bestimmt, daß der Fechter heiler Haut aus dem Kampfe gehe,
sondern es gehöre dazu, daß er fechte. Auf diese Weise würde
ohne unser Mühen und Zutun vieles nicht geschehen. Daher sei
es unrichtig, aus der Vorausbestimmung zu folgern, daß die Welt
gehe, wie sie solle und der Mensch die Hände in den Schoß legen
könne — eine Ungereimtheit, auf die der eben genannte Gegen-
beweis der Gegner, der äoyög Xoyoc, hinausführte.
Es ist interessant, daß Calvin unter den das Vorsehungs-
problem erläuternden Beispielen auch das von Stoikern gebrauchte
von Arzt und Tod verwertet. Man solle nicht behaupten, sagt er,
1) Arnim a. a. O. S. 12.
2) Vergl. den Auszug aus dem Peripatetiker Diogenianus bei Euse-
bius, praep. evang. VI, 8 und Cicero, de fato cap. 13.
Calvinstudien. 2±
"3 70 Calvins Vorsehungslehre.
der uns bestimmte Tod werde eintreten, mögen wir einen Arzt
konsultieren oder nicht. Die nähere Ausführung des Beweises für
die Inkorrektheit dieser Behauptung ist aber bei Calvin nicht die
gleiche wie bei den Stoikern. Zwar wird von beiden behauptet, daß
die Hinzuziehung des Arztes eine Selbsttat des Menschen sei.
Während aber die Stoiker diese Selbsttat als ein respectu des not-
wendigen finis notwendiges Mittel betrachten und durch diese Dia-
lektik ihre ganze Deduktion ad absurdum führen, — die Gegner
haben ihnen mit Recht vorgeworfen: Wie kann frei gleichzeitig
notwendig sein? — , so sind nach Calvin diese Mittel zwar von Gott
gegeben, deren Verwendung aber dem Menschen anheimgestellt,
ihr Effekt von seinem Vermögen „sich zu beraten und sich zu
hüten" abhängig. Diese ohne alle Dialektik rein praktisch ver-
fahrende Argumentation Calvins läßt nicht auf eine direkte Be-
nutzung der stoischen Quellen schließen. Calvin scheint sie viel-
mehr aus Butzer entnommen zu haben, der sie in ähnlichem
Zusammenhang verwertet.1
2. Da Calvin Augustin öfter zitiert, läge die Behauptung nahe,
daß die Freiheitslehre des ersteren das charakteristische Gepräge
dieses reformatorischen Kirchenvaters tragen könnte. Für Augustin
faßt sich aber die fragliche Problemstellung in die Frage zu-
sammen: inifabiliter rae movet, quo modo fieri possit, ut et deus
praescius sit ömnium futurorum et nos nulla necessitate peccemus.2
Bei ihm steht also das Verhältnis des göttlichen Vorher-
wissens zu den menschlichen freien Handlungen im Vorder-
grund. Das zu lösende Problem ist für ihn wie für Cicero : si prae-
scivit deus futuram voluntatem meam, quoniam nihil aliter potest fieri
quam praescivit, necesse est, ut velim, quod ille praescivit : si autem
necesse est, non iam voluntate sed necessitate id nie velle fatendum
est.3 Die Lösung findet er bekanntlich in der Behauptung, daß
das göttliche Vorherwissen zum Willen des Menschen nicht in
einem irgendwie nötigenden Verhältnisse steht, sondern daß Gott
den sich selbst bestimmenden Willen4 nur voraussieht. Der Wille
bleibt Wille, weil Gott ihn vorausgesehen hat.5 Weil Calvin die
nuda praescientia Gottes nicht anerkennt, existiert für ihn diese
i) Cf. Lang a. a. O. S. 343.
2) De libero arbitrio III 2, 4.
3) Ibidem.
4) Voluntas nostra nee voluntas esset, nisi esset in nostra potestate,
de lib. arb. III 3, 8.
5) Vergl. Gangauf, Die metaphysische Psychologie Augustins II, S. 340.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 37 I
Fragestellung Ciceros und die Lösung Augustins nicht. Frustra
de praescientia lis movetur, ubi constat, ordinatione potius et nutu
omnia evenire Op. 2, 704. Trotzdem beruft er sieh auf Augustin.
Loofs * bemerkt dazu, daß Augustin zwischen dem göttlichen
Wirken und dem göttlichen Zulassen einen ernstlicheren Unterschied
mache als Calvin. Nun läßt sich zu Calvins Entschuldigung an-
führen, daß August in in diesem Problem es nicht an Zweideutig-
keit fehlen läßt und es daher begreiflich ist, daß sich Calvin wie
Luther für seine gegen die Präscienz sich richtenden Gedanken
auf Augustin als seinen Gewährsmann ohne Bedenken berufen
konnte.2 So sagt Augustin z. B. in der Auseinandersetzung mit
Cicero über unser Problem de civ. dei 5, 9 : voluntates nostrae tan-
tum valent, quantum deus eas valere v o 1 u i t et praeseivit : et
ideo, quidquid valent, certissime valent et quod facturae sunt ipsae,
omnino facturae sunt : quia valituras atque facturas ille praeseivit,
cuius praescientia falli non potest. Wäre es demnach möglich,
daß Calvin diese, wenn auch von ihm mißverstandenen Darlegungen
Augustins benutzt hat,3 so findet sich die charakteristische Zu-
sammenfassung des ganzen Problems in die Formel : necessitate,
non coactione agere bei Augustin nicht. Er definiert zwar den
Willen als animi motus ad aliquid non amittendum vel adipiscen-
dum co gente nullo, (de duab. anim. XII, 16), aber diese
coactio ist mit der necessitas identisch und steht der voluntas, dem
über motus animi gegenüber.4
3. Damit sind auch diejenigen Autoren als Quellen unseres
Reformators auszuschalten, welche im Sinne des augustinischen
Indeterminismus oder sogar des Semipelagianismus lehren. Zu
den ersteren gehören vor allem die späteren Auflagen der loci Me-
lanchthons, welche zwar die duplex necessitas annehmen, aber
doch lehren, daß die praevisio non affert necessitatem nee mutat
in voluntate hominis modum agendi, deus sustentat naturam (C. R.
XXI, 647). Secundae (causae) non possunt agere sine prima,
scilicet conservante posteriores seu viin posteriorum, quam con-
servat, qualis est condita . . . vim humanae voluntatis servat, ut
1) Dogmengeschichte1 887.
2) Dies wird ihm und Luther von Gangauf (a. a. O. 345) übelgenommen.
3) Er beruft sich auf Augustin Op. 9, 294: Certe haec non mea, sed
Augustini est ratiocinatio: si praevidit deus. quod fieri nolebat, non tenere
summiim Imperium, itaque statuisse, quid futurum esset, quia nihil fieri
potuit quam eo volente.
4) De catech. rudibus XIII. 30; de vera relig. XIV, 27.
24*
■2 7 2 Calvins Vorsehungslehre.
agat liberae (C. R. XIII, 210). Es gibt eine contingentia : voluntates
per sese et propria voluntate discedunt a regula divina . . . liber-
tatem aliquam poni voluntatum et deinde actionum, quae a vo-
luntatibus hominum oriuntur (ib. 211).
Der die calvinische Gedankenwelt sonst beeinflussende Faber
Stapulensis denkt im Grunde semipelagianisch. Gott wirkt zwar
in uns, seinen Werkzeugen, aber wir können seinem Willen wider-
stehen. Gott will, daß wir gut seien und er hilft uns oft dazu.1
4. Da für Calvin das göttliche Wollen grundlegend ist für
das in den Dekreten Gottes befaßte Wissen, werden wir zu den
streng voluntaristischen Typen des Reformationszeitalters geführt,
die die tätige Persönlichkeit in allem ihren Wirken nicht bloß vom
absoluten Wissen, sondern von dem absoluten Willen Gottes als
dem Heilsgrunde getragen wissen wollen. Calvin hat zwar öfter
wie Luther auf Laurentius Valla, den er sonst nicht zu hoch
schätzte (homo alioqui in sacris non admodum exercitatus Op.
2, 703), hingewiesen als denjenigen, der nicht die Präszienz, son-
dern die Aktuosität Gottes als den Hauptbestand seines Wesens
hervortreten ließ. Weil Laurentius Valla sonst nirgends von Cal-
vin erwähnt wird, so ist wohl anzunehmen, daß ihn Calvin aus den
Schriften Luthers oder Melanchthons kannte. Dagegen scheint er
in diesem Punkte von Luther abhängig zu sein. Die Unterscheidung
von coactio und necessitas ist Luther mit Calvin gemeinsam,2 doch
bleibt Luther dieser Unterscheidung nicht ganz treu. Die Wen-
dung: faciamus necessitate ist mit der Wendung: faciamus coacti
identisch. Während nach ihm der Mensch gezogen wird (rapitur)
wie eine Säge oder ein Beil (E. A. 241, fit totus 239), handelt er
nach Calvin spontan: ultro se flectit, quocumque ducitur, non
autem rapitur aut trahitur invito. Besteht Luther auf der Unver-
einbarkeit der göttlichen Vorsehung mit dem freien Willen (E. A.
133), — das Dasein der Vorsehung sei der beste Beweis, daß wir
gar keine Freiheit haben — und widerlegt er daher alle Versuche,
sie zu harmonieren,3 besteht für Calvin dieser Dualismus gar nicht.
1) Graf, Jacob Faber Stapulensis in Zeitschr. f. hist. Theol. 1852, S. 77&.
2) Luther gebraucht parallele Ausdrücke: necessitas ad tempus opp.
necessitas violenter, necessario non coacte, necessitas immutabilitatis non
coactionis E. A. VII, 155 ff.
3) Wider Erasmus' Klage, wie ungemein schwer das Verhältnis der
göttlichen Vorsehung zur menschlichen Freiheit zu bestimmen sei, ent-
gegnet Luther, nichts sei leichter zu erledigen, nämlich gar nicht
ließen sich beide vereinigen.
Von Lic. Dr. J. Bohatcc. 373
Daher darf seine Theorie auch nicht mit dem absoluten Deter-
minismus Zwingiis identifiziert werden, dessen Hauptsatz lautet:
Providentia dei tolluntur et liberum arbitrium et meritum (Zwingli
Op. III, 283; IV, 116). Zwingli schreckt überdies vor dem coactum
des menschlichen Willens nicht zurück. (Predigt von der Kl. und
Gew. des Wortes Gottes I, 63.)
Viel näher steht Calvin Butzer, der die Wahlfreiheit mit der
Allwirksamkeit Gottes zu vereinigen sucht (causa prima non ex-
cludit actionem causarum seeundarum), der den Menschen frei
wählen läßt (nemine cogente), der die Unterscheidung von neces-
sitas und coactio annimmt, der von einem freien und notwendig
guten Gott redet.1 Bei Butzcr findet sich aber eine leichte Ab-
biegung zu der materialen Freiheit : innerhalb des ordo, welchen
Gott beschlossen hat, können wir der göttlichen Allmacht mithelfen
zu unserem Heil ; innerhalb der göttlichen Allwirksamkeit muß
dem Menschen ein gewisser Raum der Selbstbetätigung gelassen
werden.2
Calvin hat, das bleibt sein Verdienst, einen Schritt über die
schroffe deterministische Einengung Luthers hinausgetan, ohne auf
die Bahn der zur materialen Freiheit neigenden Butzer und Me-
lanchthon zu geraten. Er hat den Versuch einer wissenschaft-
lichen Vermittelung gewagt, wenn auch nicht durchgeführt ; auch
hier ist er Theologe der Diagonale. Das ist sein Ver-
dienst, aber, wie bei allen diagonalen Versuchen nicht anders mög-
lich ist, auch seine Schwäche. In seinem angestrengten Bestreiten.
wenigstens den Schein der Freiheit zu retten, hat er das Bedürfnis
nach ihrer Wahrheit ausgedrückt.
5. Das Verhältnis des göttlichen Vorsehungswaltens zu den sündigen
Handlungen des Menschen.
Die Schwierigkeiten vermehren sich, wenn wir die Beziehung
der sündigen Handlungen der Menschen zum göttlichen Vor-
sehungswalten, die wir schon im vorigen Paragraph gelegentlich
haben berühren müssen, ins Auge fassen. Wenn das ganze mensch-
liche Leben durch den göttlichen Willen bestimmt ist, sind dann
auch die sündigen Handlungen eine Vollziehung und Verwirklichung
des göttlichen Willens? Calvin bejaht die Frage. Voluntas Dei
non corrigenda est. Auch die flagitia und der Satan müssen dazu
1) Lang a. a. O. 342 ff.
2) Lang a. a. O. 328.
"2 71 Calvins Vorsehungslehre.
dienen, das zur Ausführung zu bringen, was a Domino provisum
et ordinatum erat. Wird aber dann die Strafe nicht in sich hin-
fällig? Keineswegs. Die Menschen dienen mit ihren sündigen
Handlungen in Wirklichkeit gar nicht dem göttlichen Willen ; sie
leisten nicht Gott, sondern ihren Leidenschaften einen Dienst.
Gehorsam gegen Gott ist Erfüllung des in der Schrift geoffen-
barten Willens. Jedes Handeln gegen die praecepta Dei ist con-
tumacia gegen dieselben. Aber Gott gebraucht die bösen Hand-
lungen als instrumenta, um seine iudicia zu verwirklichen. Deus
flectit reprobos omnes suo arbitrio. Er lenkt auch die consilia et
affectus reproborum. Er führt durch die impii seinen geheimen
Ratschluß aus ; aber durch die Verletzung des göttlichen prae-
ceptum verschulden sich jene doch ihm gegenüber.
Nirgends im System Calvins bemerken wir ein so mühe-
volles Ringen mit dem System wie gerade bei dieser Bestimmung
des Verhältnisses des göttlichen Allwaltens zur menschlichen
Sünde. Die Sünden werden von den Menschen selbst begangen.
Dies bezeugt das tiefe Selbstbewußtsein, welches sich in Gewissens-
anklagen äußert (I, 17, 5). Und dennoch geschehen alle durch
göttliche Verordnung, ja Gott erregt sogar die bösen Entschei-
dungen (cap. 18).
An einigen Stellen scheint allerdings dieses Problem be-
friedigend gelöst zu sein : Die Verstockung Pharaos führt Calvin
sowohl auf die Anordnung Gottes als auch auf seine Verschuldung
zurück und faßt hier, wie die älteren Theologen, die Verstockung
als ein Gericht Gottes auf (I, 17, 2). Die daraus sich ergebende
Antinomie sucht er Op. 9, 306, 307 auszugleichen : Atqui non
aliunde petenda est mihi solutio : quia si Deo voluntas summa
est, vel remota indurationis causa, homo ipse cor suum indurans
sibi proprior causa est. Primam causam a m e d i i s et
propinquis ubique distinguo . . . Iam vides, quamvis
obduret suo modo corda Deus, merito tarnen suam cuique duri-
tiem imputari, quia se quisque obdurat propria malitia.1 Die
j.~) Diese Regel wird aber bei den electis durchbrochen: In flectendis
ad Dei obsequium cordibus a 1 i a ratio est. Nam ut natura ad contuma-
ciam propensi sumus omnes, nemo bene agere cupiet nisi agatur: et
tarnen quum scriptura dicit praeparari a Deo corda et fideles se praeparare,
ut voluntarium Deo cultum exhibeant, non pugnat ipsa secum, sed distincte
ostendit Dei cultores sponte et voluntario cordis affectu praestare officium:
neque tarnen hoc obstare. quominus suas partes Deus arcano Spiritus
motu impleat. Obdurationis, ut iam dixi, alia est ratio, quia reprobos
Von Lic. Dr. J. Bohater.
Greuel der im heidnischen Lehen ausgearteten Lust (Rom. i, 24 ff.)
sind eine von Gott verhängte Rache (iustae suae vindietae prae-
cipuus est autor). Allerdings muß man zugehen, dal! er bei dieser
Stelle außer Acht läßt, als Ursache dieser göttlichen Rache die
von Paulus betonte sittliche Zurechnung sowie die in ihrer Abi-
wendung von Gott liegende Verschuldung nachdrücklich hervor-
zuheben ; wir können aber aus dem Ausdruck „Rache" schließen,
daß Calvin nach Augustins Vorbild die göttliche Rache als Strafe
der Sünde durch die Sünde aufgefaßt hat (Op. 49> 27 H-V
Ist dann aber Gott nicht Urheber der Sünde? Calvin ver-
wahrt sich - entschieden gegen diese Konsequenz, welche Zwingli 3
offen bekennt, nämlich daß Gott alles, jede Bewegung, auch die
sündige Tat im Menschen, verrichte, freilich so, daß es für ihn
keine Sünde ist.
Dieser schweren Konsequenz sucht Calvin aus dem Wege zu
gehen durch Unterscheidung von Gebot (praeeeptum) und volun-
tas. Doch wird auch dieser Unterschied nicht immer festgehalten.
In den Vorlesungen über Daniel (Op. 40, 576) sagt er: Ergo
tenemus sie mundum administrari arcana Dei Providentia, ut nihil
aeeidat nisi quod iussit et decrevit. Op. 9, 306: Etsi enim nihil
ficte praeeipit Dens, sed serio quae vult et probat ostendit, a'.io
tarnen modo oboedientiam sibi praestari vult a suis electis, quas
efficaciter ad obsequium suum flectit, quam a reprobis, quos externa
voce ad se trahere non dignatur. Er erhärtet dies an Beispielen:
Obgleich Gott, als Absalom seines Vaters Weiber entehrte, den
Ehebruch Davids strafen wollte, so hatte er doch damit dem frevel-
haften Sohn nicht geboten, die Blutschande zu begehen. Bei Judas'
Verrat wird es ebensowenig erlaubt sein, die Schuld des \ er-
brechens Gott beizulegen, der selbst wollte, daß sein Sohn sollte
dem Tode übergeben werden, und ihn in den Tod gab, als dem
Dens non gubernat regenerationis spiritu. sed diabolo maneipat et addicit
arcanoque suo iudicio pravas coruin voluntates ita moderatur, ut nihil agant,
nisi quod decrevit (Op. 9, 3<J/)-
1) In dieser Auffassung berührt sich Calvin mit Bullinger. siehe
Schweizer. Prot. Centraldogmen I, 274.
2) Kap. 18, vgl. auch Defensio doctrinae de Servitute humani arbitni
contra A. Pighium Op. 6, 25S: Responsio ad nebulonis calumnias Op. 9. ^59.
Prael. in Daniel Op. 40, 563; Comm. in Hb. Psal. 32, 84; Sermons sur le
livre de Job IL Op. 34. »3; III 35- 69; Comm. in lib. Jesaiae. Op. 37- 1341
Sermons sur les huit derniers chapitres de Daniel I Op. 39, 589; Sermons
de la Pentecoste Op. 48, 662; Comm. in ep. Petri II Op. 55, 461.
3) Opp. ed. Schuler et Schuethes IV, 104. 107, 112.
ß7Ö Calvins Vorsehungslehre.
Judas die Ehre der Erlösung beizulegen. Wenn es heißt, daß
Simei auf Gottes Befehl David fluchte, so soll damit keineswegs
des ersteren Gehorsam gelobt werden, als ob er Gottes Geboten
folgte, sondern indem David dessen Zunge als Gottes Geißel er-
kennt, läßt er sich geduldig züchtigen. Die Gottlosen, durch welche
Gott seine verborgenen Ratschlüsse ausführt, sind nicht zu ent-
schuldigen, als ob sie einem Gebote gehorchten, welches sie ab-
sichtlich und nach eigener Lust verletzen (I, 18, 4). Dabei stützt
sich Calvin auf Augustin, der behauptet, daß der Mensch zuweilen
mit gutem Willen wolle, was Gott nicht will ; wie wenn ein guter
Sohn will, daß sein Vater leben möge, indes Gott will, daß er
sterbe. Umgekehrt sei es möglich, daß der Mensch dasselbe mit
bösem Willen wolle, was Gott mit gutem Willen will, wie wenn
ein böser Sohn will, daß sein Vater sterbe und Gott dasselbe will.
Also jener will, was Gott nicht will, dieser aber will, was auch
Gott will. So groß ist der Unterschied zwischen dem, was dem
Menschen und was Gott zu wollen geziemt, und auf welchen
Zweck sich jedes Wille beziehe, um gebilligt oder mißbilligt zu
werden (I, 18, 3). Kurz: Der Gebotswille fordert das Sittlichgute
und der im ewigen Ratschluß verfügende Wille ordnet die mensch-
lichen Handlungen.
Ist durch die erwähnte Distinktion die Antinomie gelöst?
Es fragt sich, wie das Wollen und Handeln des Menschen sich zu
dem hervorbringenden Willen verhalte. Ist der göttliche Wille
absolut, so ist er von dem praeceptum nicht verschieden. Das
Gesetz als gebietender Wille Gottes an den Menschen ist
dann unverständlich. WTenn Gott alles bestimmt, wie kann es
etwas geben, das doch dem im Gesetze enthaltenen Willen Gottes
widerspricht? Und weiter: Besteht in dieser Unterscheidung selbst
nicht ein Widerspruch? Bereits Calvin selbst gegenüber ist der Vor-
wurf gemacht worden : Sind denn nicht in deo duae contrariae
voluntates, quia occulto consilio decernat, quae lege sua palam
vetuit (I, 18, 3; Op. 9, 302). Calvin antwortet: Wenn nur unserem
Verstände die Weisheit Gottes als eine mannigfaltige erscheint,
müssen wir denn deshalb eine Verschiedenheit in Gott selbst an-
nehmen, als ob er seinen Ratschluß änderte oder nicht mit sich
selbst übereinstimmte? Daß diese Erklärung nur ein Ausweg ist,
braucht wohl nicht hinzugefügt zu werden.
Um die obige Schwierigkeit zu überwinden, hat man vielfach
mit dem Begriff der permissio operiert. Mit diesem Begriff setzt
Von Lic. Dr. J. Boli.it... ^77
sich Calvin ausführlich auseinander (cap. 18; vgl. auch Op. 9, 264).
Auf die Frage: Wie kann Gott die Verbrechen zur Ausführung
seiner Gerichte gebrauchen, geben Calvins Gegner die Antwort:
Dei tantuni permissu, non etiam voluntate hoc fieri. Dem hält
Calvin entgegen : Ein lächerlicher Herrscher wäre der, der nur
zuließe, aber nicht befähle, was er haben möchte, Wenn er
voraussah, was er nicht wollte, so könnte er es ja hindern ; was
er nicht hindert, das will er also.1
Ist die bloße Zulassung unmöglich und die absolute Ver-
anlassung der Sünde durch Gott widersinnig, so flüchtet sich Cal-
vin zu einem Hilfsgedanken, dem des Teufels. Er bezieht sich
auf eine Stelle in Augustin (Praef. in 31. et 33. Psal.), wo dieser
den menschlichen Willen mit einem Pferde vergleicht, das den
Wink seines Gebieters erwartet, und Gott und den Teufel mit
solchen Gebietern. Wenn gesagt wird, daß der Wille des natür-
lichen Menschen der Herrschaft und Leitung des Teufels unter-
worfen sei, so heißt das nicht, daß er, sich sträubend, zum Ge-
horsam gezwungen werde, sondern daß er, verblendet durch die
schmeichlerische Stimme des Satans, notwendig zu seinem Dienste
sich willfährig und bereit erweise. Denn alle, welche der Herr
der Leitung seines Geistes nicht würdigt, übergibt er nach einem
gerechten Ratschuß der Herrschaft des Satans.2 Die Verblen-
dung der Gottlosen und alle daraus entspringenden Laster werden
Werke des Satans genannt, deren Grund jedoch nicht außer dem
menschlichen Willen zu suchen, dieser vielmehr die Quelle alles
Bösen ist.
Zu diesen beiden Faktoren tritt aber noch das göttliche Wirken
hinzu. Wie ist jedoch die gemeinsame Tätigkeit der drei Mächte
vorzustellen? Calvin erläutert dies an dem Unglück, das durch die
Chaldäer über Hiob kam. Wir müssen dabei die Absicht,
womit, und die Art, wie die vereinigten Gewalten hier wirken, im
Auge behalten. Gott will seinen Knecht durch Unglück in der
1) Ähnlich Schleiermacher (WW. I. Abth. II. Bd. S. 447): Was Gott nur
zuließe, das müßte seinen positiven Bestimmungsgrund anderwärts haben. Hat
es ihn nun in einem anderen von Gott vorherbestimmten Etwas, so ist es mit
diesem ja zugleich wirklich vorherbestimmt; hat es ihn aber nicht in einem
solchen, so ist es auch wirklich außerhalb des göttlichen Willens gestellt: die
Zulassung geht von einer anderen Seite weiter in die Vorherbestimmung
zurück, wenn sie als ein Nichtverhindernwollen erklärt wird und die Kraft,
welche nicht verhindert wird, doch selbst von der göttlichen Anordnung
abhängig gemacht ist.
2) Calvin merkt nicht, wie hier der von ihm abgelehnte Begriff der
Zulassung wieder durch die Hintertür zurückkehrt.
Calvins Vorsehungslehre.
Geduld üben, der Satan Hiob zur Verzweiflung bringen, die Chal-
däer wollen sich widerrechtlich bereichern. Gott erlaubt dem
Satan das Unglück zu bringen, dieser reizt die Chaldäer zur bösen
Tat, welche von den Chaldäern ausgeführt wird. Dabei bleibt die
Gerechtigkeit Gottes in Ehren und nur die Bosheit des Satans
und der Menschen tun sich hier kund. Daß Calvin sich hier in
eine Aporie verwickelt hat, beweist ein Satz, den er in diesem
Zusammenhange gebraucht, nämlich daß auch Gott ein Anteil an
dieser Sünde beigemessen werden muß, weil der Satan, als das
Werkzeug seines Zornes, auf seinen Wink und Befehl tätig
ist, seine gerechten Gerichte zu vollziehen.
Nur wenn man den Anteil eines Irrtums an der Wahrheit zu
suchen und zu finden bereit ist, darf man ihn rügen. Das setzt
dann auch in diesem Falle schlechterdings voraus, daß man Calvin
vor allem zugestehe, daß er sich in allen den Augenblicken, wo
er vor der harten Konsequenz seines Systems (Deus causa peccati)
selbst zurückschreckte und sich lieber vor der großen Paradoxie
beugte, als daß er mit dem Lichte des sich in alle Schlupfwinkel
der Kontingenz und Freiheit zurückziehenden Pelagianismus liefe,
von einem machtvollen religiösen Interesse geleitet war.
Das Calvinsche System, wie das seines großen Lehrers Augustin1
besteht aus zwei wesentlichen Bestandteilen : dem antipelagianischen
und dem antimanichäischen. Der erste zeigt sich darin, daß wir von
der Gnade abhängig sind und daher uns nichts beimessen dürfen,
wenn wir den Zusammenhang mit Gott nicht auflösen wollen. Der
zweite äußert sich darin, daß wir mit allem unbedingt in
gleichem Maße abhängig sind von dem höchsten Willen
unseres Gottes. Hat Calvin das pelagianische Extrem vermieden,
— denn die Annahme einer bloßen Zulassung erscheint ihm als
Schwächung der göttlichen Allmacht — , so ist es ihm gleich wie
Augustin nicht gelungen nachzuweisen, wie Gott nicht Urheber
der Sünde sein kann. Das Interesse für die Heiligkeit Gottes
hat es aber verursacht, daß Calvin nicht gewagt hat, die Kausalität
Gottes in bezus: auf die Sünde zu betonen.2
i) Vgl. a. a. O. S. 449.
2) Im Interesse derselben Heiligkeit Gottes hat Beza, der allergewalt-
samste, zu unbedingten Konsequenzen tendierende Interpret der Dogmen
Calvins, das ,.homo suo vitio cadit" so sehr urgiert, daß bei ihm die Prä-
destination bald in Praevison , bald in etwas Hypothetisches überzugehen
scheint (Aegidius Hunnius, Articuli de Providentia Dei, p. 203 ff.).
Von Lic. Dr. J. Bol 379
Erstens also darf Calvin seiner Lehre halber nicht als böser
Mensch, als Teufelsprophet, wie ihn schon Castellio genannt hat, be-
handelt werden, denn er hat sich offenbar gegen den sittlichen
Indifferentismus entrüstet gezeigt und es ist ihm nicht in den
Sinn gekommen, von der Heiligkeit Gottes und des ( Gesetzes
etwas nachzulassen. Zweitens darf Calvin wegen seiner Paradoxien
nicht als gedankenloser Mann angesehen werden; denn er dachte
wirklich in Regionen, wo den meisten das Denken vergeht. Er
dachte etwas, wenn er voluntas vom praeeeptum unterschied, er
dachte etwas, wenn er das Böse als ein Gott Dienstbares mit dem
Guten gewissermaßen indifferenzierte. Folgt man ihm in seinem
Denken nicht, so sucht man die Ursache seines Irrtums in allem
Möglichen, nur nicht da, wo sie sich findet. Es war der religiösen
Spekulation schon oft widerfahren, daß sie, wenn sich in der an-
genommenen Wirklichkeit Anstöße gegen die Endursachen vor-
gefunden haben, z. B. ewige Verdammnis, diese entweder ver-
nichtet oder durch Zurückgehen auf Gott als bewirkende Ursache
diesen Endursachen selbst eine neue Bestimmung gegeben hatte.
Dem Bösen einen bloß privativen Charakter zuzusprechen, war
Calvin vermöge seines Lehrgrundes nicht möglich ; daher behauptet
er. das alles widerspreche dem Willen des heiligen Gottes so
wenig, daß es ihm vielmehr einzig entspricht, und unternahm in
diesem Interesse den nicht zulässigen, dialektisch-metaphysischen
Schnitt in den einheitlichen Willen Gottes.
6. Der Glaube an Gottes zweckvolle Weltregierung.
Alles Sein und Geschehen abhängig von der göttlichen volun-
tas — so lautet der bis jetzt entwickelte Satz. Dieser göttliche
Wille wirkt aber nicht bloß kraft der Gott eignenden omnipotentia.
Nicht schon die Idee des allmächtigen Willens befriedigt das
Herzensbedürfnis. Notwendig muß hinzukommen der ethische
Charakter dieses Willens. Die iustitia ist von der potentia nicht
zu trennen wie die Nominalisten wollten. Haec sit sobrietatis ac
modestiae lex, acquiescero summo eins imperio, ut eins voluntas
nobis sit iustissima causa rerum omnium. Non illa quidem abso-
luta voluntas, de qua garriunt sophistae, impio profanoque
dissidio separantes eins iustitiam a potentia:
illa moderatrix rerum omnium Providentia, a qua nihil nisi rectum
manat, quamvis nobis absconditae sint rationes iL 17. 2) . . .
Passim Calvinus commentum de absoluta Dei potentia, quod
Calvins VorsenungfsI<>hre.
in scholis suis ventilant sophistae, acriter repudiat, et detestabile
esse asserit, quia ab aeterna Dei sapientia et institia non
separari debeat potestas.1 Diejenige Vorsehung ist erst die höchste
und in sich allein wahre, die ein Ziel verfolgt. Dies führt uns auf
den Zweckgedanken. Gott lenkt alles durch seine unbe-
greifliche Weisheit und ordnet ad suum finem. Er fügt und wirkt
alles ad destinatum scopum (I, 16, 7. 8).
Worin besteht dieser göttliche Zweck? In der Institutio von
1559 antwortet Calvin direkt: im bonum ac salus der Gläubigen:
singularem dei providentiain ad se conservandum excubare non
dubitabit, quae nihil evenire passura sit, quam quod bono ac saluti
sibi vertat. Singularem dei providentiam in salutem ndelium ex-
cubare plurimae sunt et lucurendissimae promissiones. Durch die
Führungen unseres Lebens, in denen wir stets Gottes beste Ab-
sichten erkennen sollen, will er uns erziehen zu unserer salus. Die
glücklichen Vorfälle des Lebens sollen uns zur Dankbarkeit gegen
ihn treiben. Wo die Wohltaten des Lebens uns vermittelt sind, wir
sie von unserem Nächsten empfangen, soll uns die Dankbarkeit
gegen Gott auch zur Ehrung und Liebe gegen unsere Mitmenschen,
die nach Gottes Willen uns solches tun, treiben. Wir sollen daraus
lernen, was Gott von uns will. Täglich und stündlich ist der
Mensch von Gefahren umgeben. Wo Gott uns beschützt, will er
uns zu der Anerkennung, zu dem freudigen freien Bekenntnis
führen, daß wir ohne ihn nichts sind. Unter den Gesichtspunkt
der salus rücken auch die Leiden dieser Welt ; indem wir in ihnen
Gottes Ordnung sehen, glauben wir, daß er sie uns nur zu unserem
Besten schickt. Da wir in der Welt keine Hilfe finden, lernen wir
es, uns von ihr lossagen und alles auf unseren himmlischen
Vater werfen. So wird der Gläubige zu einer continua dei invo-
catio gebracht (I, 17, 9 finis. Op. 31, 334). So wird die Sorge, die
1) Brevis responsio ad diluendas nebulonis cuiusdam calumnias, Op. 9,
259; vgl. Consensus Genev. Op. 8, 361, Ps. 38, 4 (Op. 31, 387); Ps. 39, 16
(Op. 31, 402); Op. 34, 336. 340 (Sermons sur le livre de Job. II); Op. 39, 436
(Praelect. in lib. Jeremiae). Es ist aber zu bemerken, daß Calvin an zahl-
reichen Stellen diese iustitia im Sinne der vergeltenden Gerech-
tigkeit und gesetzlicher Norm streng von der iustitia als Treue im
Schutze und Milde unterscheidet: Op. 32, 82 (Ps. 103, 17): ,, Bonität!
subiicit iustitiam, qua voce iam saepius diximus notari Dei praesi-
dium, quo suos tuetur ac conservat. Dens iustus est: non quia unum-
quemque remunerat prout dignus fuerit sed quia f i d e 1 i t e r cum
suis agit, eos manu sua protegendo. Vgl. u. a.: Op. 31, 69. 70. 301. 247.
255. 364. 409. 411. 479. 658. 703.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 38 I
Angst, die Furcht überwunden und der wahre timor dei erzieh.1
Damit wird auch die Furcht vor dem Tode überwunden (( >p. 31, 76).
Die Überwindung besteht nicht in der immunitas ab Omnibus in-
commodis, sondern in der Befreiung von ihnen (Op. 31, 375). Da-
mit soll nicht gesagt werden, daß der Glaube die Furcht an-
schalten sollte ; sie muß da sein, um die carnis securitas und die
aus ihr fließende superbia (Op. 52, 31 — Phil. 2, 12) zu beherrschen
und zur precatio anzuspornen. Dieser wahre timor verwirrt den
tranquillus conscientiae Status und tilgt das Vertrauen nicht, son-
dern stärkt es geradezu (Op. 52, 33). Wenn aber der Gläubige von
der Furcht ganz beherrscht ist, so daß er inmitten der procellae
den Frieden verliert (Op. 32, 116), stellt der Vorsehungsglaube
das Gleichgewicht her, indem er die Furcht überwindet.2 Darin
liegt der größte Triumph des Glaubens, daß wir unverwirrt uns
flüchten zu Gott, es möge geschehen, was wolle (Op. 32, 2). Dies
ist die religiöse Seite des finis.
Davon ist nicht zu trennen die sittliche: durch die Leiden
sollen wir sittlich reifen. Die Übel, deren causae so oft dem
Menschen verborgen sind, schickt Gott nur, vel ut suos erudiat ad
tolerantiam, vel ut corrigat pravos hominum affectus et laseiviam
dornet, vel ad sui abnegationem subigat, vel expergefaciat tor-
porem, vel ut prosternat superbos (I, 17, 1). Hier erkennen wir die
ganze Weisheit der göttlichen Weltordnung, da wir ohne das Übel
nie lernen würden, unsere Gedanken ganz auf Gott zu richten. Die
Übel werden so zu Gütern umgewertet (Inst. III, 8, 7 = Op. 2,
519). Doch gilt es für jeden einzelnen, dies Verständnis an dem
Leid, das ihn selbst trifft, durchzuführen und selbst in ihm von
der unendlichen göttlichen cura kostend sich durchzuringen und
triumphierend zu erheben zu dem Bekenntnis : der Herr hat's
gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei ge-
lobt! (I, 17, 8). Durch die äußeren Lebensverhältnisse, in die wir
gestellt werden und in denen wir Gottes Ordnung sehen sollen,
1) Quo modo et in quem finem consideranda sit dei Providentia:
prior finis est, ut nos temeraria confidentia exutos, dum in dei t i m o r e
contineat, dum ad invocationem experge faciat. Alter vero. ut sedatis
tranquillisque animis in deum recumbere, et quae nos circumstant pericula
nobisque assidue centum mortes minantur, secure fortiterque contemnere
doceat (Op. 8, 350). Ubi lux divinae providentiae semel homini pio affulsit,
iam non extrema modo, qua ante premebatur, a n x i e t a t e et f o r m i -
dine, sed omni cura relevatur ac solvitur (Op. 2, 163).
2) Op. 55. 212: Ita pellitur, ut non turbet neque impediat pacejn
nostram, quam fide obtinemus.
■2 52 Calvins Vorsehungslehre.
sollen wir dazu geführt werden, uns vertrauend der einen göttlichen
Macht hinzugeben und den göttlichen Willen, der unser Bestes
will,1 zum höchsten Richtpunkt unseres Lebens zu machen.
Durch die Not gewinnt der einzelne an Charakterfestigkeit, er
lernt Geduld üben, und gelangt, soweit ihn Schuld trifft, zur tiefsten
Selbsterkenntnis. Er lernt allen natürlichen Hochmut überwinden
und demütig sich ergeben in den göttlichen Willen (Inst. III, 7, 10).
Diesem finis Gottes sind nicht nur die Führungen des Men-
schen, die durch den Zusammenstoß mit der Natur entstehen,
sondern auch die Welt und ihre Ordnungen selbst unterworfen.
Jenem Gedanken, daß die WTelt von Gott abhängig ist, ordnet sich
der Gedanke bei, daß sie nicht Selbstzweck, sondern Mittel für den
Gotteszweck ist. Die res inanimatae sind nur instrumenta in der
Hand Gottes, mit deren Benutzung er den Menschen zu seiner
Bestimmung führt. Ad renovandam paterni erga nos sui favoris
memoriam cursum solis gubernat (I, 6, 2). Non tantum generalis
eius Providentia viget in creaturis, sed in certum et proprium
finem aptatur admirabili eius consilio (I, 16, 7). Der religiöse
und sittliche Zweck gehören zusammen : Expressius adhuc nobis
commendat Dei providentiam . . . Quo magis in hanc medi-
tationen (der göttlichen Providenz) incumbere nos oportet Deum
habere curam nostri : primum ut pax nobis interne constet, deinde
ut erga homines modesti mansuetique simus (Op. 55, 288; 1. Pet.
5.- 7)-
Dadurch werden die irdisch weltlichen Verhältnisse und Ge-
schehnisse keineswegs vergleichgültigt. Im Gegenteil : sie ge-
winnen die höchste Bedeutung und Weihe. Als gottgeordnete
Mittel und Wege zu unserer salus ordnen sie sich diesem einen
Ziele unter. Der bleibende Wert aller Dinge und Vorgänge in
der Welt besteht lediglich darin, daß sie uns zur Freiheit der Welt
gegenüber und zum Leben in Gott führen sollen.
Es ist nun freilich nicht so, als ob beides, Abhängigkeit alles
Seins vom göttlichen Willen und der alles in sich beziehende gött-
liche Zweckgedanke, die wir jetzt in zusammenfassender Dar-
stellung der Gedankengänge Calvins voneinander getrennt haben,
zweierlei seien ; sie stellen beide ein einheitliches Verhältnis Gottes
zur Welt dar, das in ihnen nur von verschiedenen Seiten beleuchtet
wird. Der vernünftige Wille ist von seinem Zwecke unabtrennbar,
sonst ist er eben nicht Wille, sondern Laune, Willkür. Die innige
1) Voluntas iustissima causa omnium rerum (I, 1;, 2; vergl. Op. 29, 186).
Von Lio. Dr. J. Bol 383
Verbundenheil beider Gesichtspunkte ist von Calvin überall inne-
gehalten, die teleologischen Gedankenreihen sind durchaus prak-
tisch religiös gehalten, entsprechend dem Grundcharakter des Vor-
sehungsglaubens.
Es giht aber noch einen anderen Zweck, den Gott bei seinem
\ orsehungswalten verfolgt, einen Zweck, der über dem der salns
steht und deren Voraussetzung ist — nämlich die gloria Dci.
Da dieser Zweck in der 3. Auflage der Institutio nicht direkt
als der höchste bezeichnet wird, hat wohl Ritschi denselben über-
sehen und als den alleinigen Zweck des göttlichen Yorsehungs-
waltens die auf das Heil der [Menschen gerichtete Güte hervor-
gehoben. Scheibe (Calvins Prädestinationslehre S. 115) hat im An-
schluß an andere Forscher an vielen Stellen aus anderen Schriften
Calvins nachgewiesen, daß Gott bei seinem Yorsehungswalten die
Absicht verfolgt, als der Allmächtige, als derjenige, dem allein
eigentlich alle Wirkungen zuzuschreiben sind, geehrt zu werden,
sich in der Mannigfaltigkeit seiner Eigenschaften zu offenbaren
und damit zu deren Preise Anlaß zu geben. Ritschi stützt sich
aber namentlich auf die Ausführungen in der 3. Auflage der In-
stitutio. Wir müssen also prüfen, ob hier der höchste Zweck der
Bestimmung Ritschis entspricht. In der Tat führt da Calvin klare
Beweise dafür an, daß der Zweck Gottes keineswegs nur indivi-
dualstischem Seligkeitsinteresse dienen soll : Der Glaube ist sich
dessen vollkommen bewußt, daß Gottes Allmachtswirken zunächst
zu seiner Ehre geschieht. Den Anlaß zur Ehre Gottes bietet schon
die Schöpfung: „Kein Geschöpf besitzt wunderbarere und auf-
fallendere Kraft als die Sonne . . ." Aber der Herr, um zu be-
zeugen, daß ihm allein in allen diesen Dingen die Ehre gebühre,
wollte, daß eher das Licht entstehen und die Erde mit allen Arten
von Pflanzen und Früchten erfüllt sein sollte, bevor er die Welt
erschuf (II, 16, 2). Der Glaube sieht aber nicht nur in der
Schöpfung (peculiarem modum habet fides, quo solidam creaturiis
laudem assignet I, 16, 1), sondern auch in der Erhaltung der Welt
Gottes Majestät und Kraft1 und bringt ihm dafür Ehre dar. Xec
vero magis Denn: sua gloria fraudant, qui Dei providentiam ccarc-
tant tarn angustis finibus, aesi libero cursu seeundnm perpetuam
naturae legem fieri omnia sineret. Auch in den schwierigen Fällen,
1) In hoc praeeipue nos a profanis hominibus differre convenit. ut
non minus in perpetuo mundi statu quam pimu eins origine praesentia
divinae virtutis nobis illuceat (ib.).
3Ö4 Calvins Vorsehungslehre.
wo der menschliche Geist z. B. die göttlichen Strafen nicht be-
greifen kann, auch in diesem „spectaculis fulgere gloriam patris
sui testatur Christus (I, 17, 1).
Die gloria Dei steht aber mit der salus keineswegs im Wider-
spruch, sondern in einer harmonischen Einheit. Indem Gott seine
Allmacht im Vorsehungswalten manifestiert und von den Menschen
dafür Lob und Ehre verlangt, will er damit nur des Menschen
Bestes. Klar ist das Verhältnis der beiden Zwecke (I, 16, 3) zum
Ausdruck gebracht : Quivero Dei omnipotentiae ius-
t a m laudem tribuunt, duplicem inde percipiunt fructum,
quod satis ampla benefaciendi facultas penes ipsum sit, in cuius
possessione sunt coelum et terra, et cuius nutum respiciunt omnes
creaturae, ut se in obsequium addicant ; deinde quod secure
in eins protection e quiescere licet, cuius arbitro omnes
subiacent, quae alicunde timeri possunt noxae, cuius imperio non
secus ac freno coercetur Satan cum omnibus suis furiis totoque
apparatu, a cuius nutu pendent quidquid saluti nostrae
adversatur. Itaque nulla erit animis tranquillitas, donec persuasi
erimus vitam nostram probe munitam esse, quia eam Dominus
manu virtuteque sua tuetur ... Et certe non aliter Deo iustus
defertur h o n o r , nisi dum eius ope freti de certa s a 1 u t e gloriari
audemus (Op. 31,271). Die Abhängigkeit von Gott ist Erweis der Ehre
Gottes (31, 279 tribuere deo honorem, ut ab eo pendeamus). (David)
testatur se tantum honoris tribuere Dei providentiae, ut suas
omnes curas in eam exoneret (Op. 31, 302). — Colligere licet,
quam cara sit Deo nostra salus, quod eam cum iustitiae suae laude
coniungit (Op. 31, 237). Legitimo honore tribuitur officium pasto-
ris Deo, uti persuasi sumus unicam eius providentiam nobis sufficere
(3T> 239 ; Ps- 23)- Non tribuimus (Deo) suum honorem, nisi in eo solo
acquiescimus (Ps. 44, 20; Op. 31, 445). — Qui confuse imaginantur
mundum a Deo regi nee statuunt unumquemque piorum peculiari
eius cara foveri, suspensos relinquunt animos et continua inquie-
tudine ipsi fluetuant (Op. 32, 300). Nihil magis esse consultum,
quam a Domino pendere: atque hanc esse optimam pruden-
tiam, quamvis simus afflicti, quiescere in salute ab eo promissa
(Op. 31, 141).
Wir werden diesen vielverkannten Zweckbegriff Calvins recht
würdigen können, wenn wir ihn mit dem Zwingiis vergleichen.
Für Zwingli ist der absolute innerste Zweck des göttlichen
Arbeitens die salus. Zwingli will, wie Augustin, Gott nur
Von Lic. Dr. J. Bohatw . 385
genießen und nur als Mittel des Genusses ist ihm die Erkennt-
nis Gottes notwendig : Sic largus ac sui prodigus (Deus) in usum
ipso f r u e n t iu m, ut ab omnibus auferri, teneri, possideri gau-
deat (Zw. opp. Jll, 165). Ad hoc unum (homines) genuit, ut
liberalitate sua fruerentur . . . Nisi enim voluisset Deus, ut
opera sua se f r u e r e n t u r , nunquam ea de nihilo vocasset: non
enim fruitur eis deus: Cuius ergo causa creavit ipsa? Ut creatore
suo ipsa fruerentur (opp. III, 163 ; vergl. auch III, 98, 99). Der
Calvinische Gedanke, daß die Geschöpfe schlechthin von Gott be-
stimmt sind, daß ihre wahre Gotteserkenntnis mit der Erkenntnis
der Abhängigkeit von ihm identisch ist, ist für Zwingli nur die
Form der Selbstoffenbarung Gottes. „Die Anerkennung der gloria
Dei ist nur die Bedingung, unter welcher der Zweck der Welt, die
Seligkeit der Menschen allein sich realisieren kann",1 während um-
gekehrt bei Calvin der absolute Zweck die Ehre Gottes ist, aus
dem dann der andere, das Heil der Menschen, folgt. Man wird
wohl nicht lange schwanken müssen, welcher von den beiden Auf-
fassungen man den Vorzug geben soll. Denn wenn der christliche
Vorsehungsglaube in Gott viel mehr sieht als ein Gespenst und
Gebilde, welches jeder nach Lust sich gestaltet, nicht einen Gott
für die „menschliche Narrheit" (I, 43), mehr als ein Mittel zur Er-
reichung der vergänglichen Zwecke, mehr als einen Lückenbüßer
für die Mängel im Weltlauf und im eigenen Geschick, welcher nur
das Unerreichbare und Unbegreifliche in der Natur und Welt dem
geschichtlichen und individuellen Leben erklären und begründen
soll — so wird man zugeben müssen, daß diesem Interesse des
christlichen Glaubens die Calvinsche Fassung mehr entspricht als
die Zwinglische. Bezeichnet man nämlich als den absoluten Zweck
das Seligkeitsinteresse des Menschen und die gloria Dei nur als
eine Bedingung, unter der dieser Zweck sich realisieren läßt, so
lassen sich diese Sätze dahin mißverstehen, daß Gott nur zum
Träger der menschlichen selbstgemachten, unentbehrlichen Ideale
wird, zu einem solchen, durch den diese Ideale erst zu ihrer \ er-
wirklichung gelangen.
Der Gefahr einer solchen Mißdeutung ist die Calvinsche
Zweckbestimmung nicht ausgesetzt. Nach Calvin steht Gott in
hoher Majestät der Welt und den Menschen gegenüber. Er, der
Erhabene, läßt sich nicht entthronen und zu einem Postulate
machen. Die Calvinsche Ansicht steht im unversöhnlichen Wider-
1) Sigwart, Ulrich Zwingli, S. 227.
CalviDstudien. *5
7. 8 6 Calvins Vorsehungslehre.
spruch zu jedem Anthropozentrismus, in welchem alles, auch Gott,
Mittel zum Zwecke ist. Mit großer Entschiedenheit behauptet
Calvin : der Mensch und das Endliche überhaupt muß Gott gegen-
über nur als Mittel beurteilt werden. Der große Gedanke, den
Jesus so mächtig akzentuiert hatte, daß nur Gott die Ehre gebührt
und daß die Kreatur nur dazu da ist, ihm zu dienen, ihn zu ver-
herrlichen, kehrt bei Calvin wieder. Gott will als der Allmäch-
tige erkannt werden und die Kreatur soll zu der Überzeugung ge-
langen, daß sie ihr bonum ac salus nur in seiner Allmacht finden
könne und ihn deshalb verherrlichen müsse.
Man darf sich aber nach der Darstellung Calvins Gott gar
nicht egoistisch denken ; er behauptet ja, daß Gott mit dem Zwecke,
seine Ehre durchzusetzen, das Heil der Menschen im Auge hat.
Der Gedanke ist ganz biblisch. Selbst wenn das Wachen Gottes
über seine Ehre in einer Weise geschildert wird, die man bei Men-
schen Eifersucht nennen würde, wie Jesaia 48, 11, so ist doch zu
bemerken, daß Gott nicht in unendlicher Selbstgenügsamkeit ver-
harrt, sondern eine Welt schafft, regiert, erlöst, erneuert und darin
also seine auf das Heil der Menschen gerichteten Gedanken be-
folgt ; indem er sein Licht leuchten läßt in die Kreatur, macht er
diese selbst selig; „das ist das ewige Leben, daß sie Gott erkennen".
Die Calvinsche Zweckbestimmung ist der prägnanteste Aus-
druck der Beugung unter den Willen des Allerhöchsten, wobei diese
allerdings nicht naturhaft, sondern personalistisch ist. Dabei denkt
Calvin an die demütige Anbetung Gottes, die der Seele Ruhe
bringen soll, nicht an ein Zittern vor dem Tyrannen. Die Be-
tonung der Ehre Gottes geschieht zum heilscrzieherischen Zwecke,
die Demut zu erzeugen und der Kreatur jede ungebührliche An-
maßung zu nehmen. Tribuere deo laudem, quam maior pars
mundi sacrilega audacia sibi arrogat, Deus autem ostendit sibi
esse propriam (Op. 68, S79)-1
1) Sie wendet sich — wenn es hier gestattet ist, moderne Gegen-
sätze anzuführen — gegen die Bedeutenden Goethes, gegen die vornehmen
Seelen Paul Heyses, die besonders kräftig Organisierten, die Adelsmen-
schen des modernen Pessimismus, gegen die Übermenschen Nietzsches,
gegen diejenigen, deren Religion den Zweck der Schöpfung eines höheren
Typus Mensch verfolgt und deren Wirklichkeit das Ich ist, das Ich, das im
realen schöpferischen Kampf der Wollungen und Gefühle, der versuche-
rischen niederen und der offenbarenden höheren Instinkte und Kräfte zu
wachsen sucht; gegen das Ich, das nicht spiegelt und spiegelficht, sondern
wertet und überwindet. Sie kehrt sich gegen die modernen Stoiker, welche
Gott ausgraben wollen, den Brunnen im Tränenland; es kehrt sich gegen
erträumte Menschen der Kraft, sehr freie, sehr starke, zuchtvolle, geseg-
Von Lic. Dr. J. Bob. an ig 7
7. Die Art des Vorsehungsglaubens.
Ist der Vorsehungsglaube mehr als Glaube an einen Lücken-
büßer für die Mängel im Weltlauf, so tritt er nicht erst da ein, wo
wir mit uns seihst und unseren Idealen nicht fertig werden können,
sondern er ist eine alle unsere Wollungen, Entscheidungen und
Entbehrungen durchziehende und begründende Macht. Handel!
es sich in dem Vorsehungsglauben darum, ut nos totos reieimus
in eius tutelam et proieimus in ipsum omnes nostras sollicitu-
dines (Op. 40, 632), so folgt daraus, daß nur derjenige, der sich
vollständig Gott ergiht und auf seine eigene Erkenntnis verzichtet.
kurz, der sich als ein von der Gnade getragenes und abhän-
giges Kind Gottes weiß, diesen Glauben recht verstehen und be-
tätigen kann. Die Providenzlehre Calvins ist keine allgemein
religiöse, sondern trägt einen spezifisch christlichen Charakter.
Zwar scheint dem der Umstand zu widersprechen, daß Calvin die
Vorsehungslehre in der allgemeinen Gotteslehre behandelt, wo er
von der ,, ersten und einfachsten Kenntnis reden will, zu welcher
uns in ihrer einfachen Ordnung die Natur selbst hinführen würde,
wenn Adam unbefleckt geblieben wäre". Es ist, so sagt hier Calvin,
etwas anderes einzusehen, daß Gott, unser Schöpfer, mit seiner Macht
uns trägt, mit seiner Vorsehung regiert, mit seiner Güte uns pflegt,
mit seinen Segnungen uns ganz erfüllt und begleitet — und was
anderes wieder die Gnade der Versöhnung zu umfassen, die uns
in Christo dargeboten wird. Es ist G. Hoffmann 1 zuzustimmen,
wenn er gegen E. W. Mayer, der in dieser Aussage Calvins eine
Scheidung zwischen der Gotteserkenntnis und Christuserkenntnis
sehen wollte,2 betont, daß in diesen Ausführungen Calvins mehr
die kunstvolle Rhetorik als die logische Gedankenentwicklung zu
bewundern ist, und daß seine Anschauung von der natürlichen
Theologie und der darin enthaltenen Vorsehungslehre doch wesent-
lich am Christentum und dessen Gottesanschauung orientiert
ist.3 In diesem Zusammenhange betont auch Calvin, daß man
Gott als Urquell und Ursprung alles Guten erkennen müsse, erst
dann werde man sich im Glauben ihm ergeben. Weil der Gläubige
nete, sehr selige und sehr gottvolle Menschen; sie wendet sich gegen alle
Lüsternheiten nach menschlichen Höhen. Das ruhige majestätische, tiefe
Gefühl für die Ehre Gottes kehrt sich gegen die Krämpfe der Ehrgeizigen,
welche die Sterne zwingen wollen, sich um sie zu drehen.
1) Die Lehre von der fides implicita Bd. 2, S. 200.
2) a. a. O. 56.
3) Diese Anerkennung erfolgt allerdings nicht seitens der Gemeinde,
wie Hoffmann will, sondern seitens jedes einzelnen Gläubigen.
25*
Calvins Vorsehungslehre.
von Gottes Güte und Barmherzigkeit überzeugt ist, so nimmt er
daher Ruhe und sichere Zuversicht und zweifelt nicht, daß seine
Milde für alle Übel Heilmittel haben wird. Der wahren gött-
lichen Providenz kann sich nur der erfreuen, der die gratia Dei
gekostet hat,1 Op. 31, 673: nos vero quam tenuiter gustaverimus
Dei providentiam, experientia demonstrat. Fatemur omnes mun-
dum divinitus regi : sed si cordibus nostris id vere esset in-
fixum, longe alia esset fidei nostrae constantia ad superandas res
adversas. Nur die fideles soli oculati sunt ad eam (providentiam)
speculandam (31, 89). Nur sie können den paternus favor kosten.
Indem nun Calvin den favor als paternus bezeichnet, ihn also von
der Vaterstellung Gottes ableitet, bringt er den Vorsehungs-
glauben in Beziehung zu der Erlösung in Christo, denn nur durch
ihn haben wir Gott als Vater: Simul ergo in Deum se attolit
fides, patris loco illum tenet. Non enim eum apprehen-
dere potest sine filio, per quem tanti boni communicatio
ad nos derivatur (Op. 1, 495). Ex quo patrem vocamus Deum,
nomen certe Christi praetendimus (Op. 2, 000).
Damit hängt zusammen, daß die adoptio als Grundlage dieses
Vorsehungsglaubens erscheint : Nam quod salutis nostrae curam
suscipere, fovere nos sub alis suis, necessitatibus prospicere, opem
auxiliumque in periculis ferre dignatur, hoc totum ex eius adop-
tione pendet (Op. 31, 330). . . . Misere eos vagari in scriptura,
qui in aere suspensum relinquunt quidquid de potentia Dei prae-
dicatur nee statuunt sibi fore in patrem, eo quod sint ex grege
eius et adoptionis partieipes (Op. 31, 464). Als Korrelat zur adoptio
erscheint vielfach die reconciliatio, propitiatio und Deus propitius.
Die Idee der Rechtfertigung fehlt. Es wäre aber nicht richtig,
wollte man hierin eine Abbiegung von den reformatorischen Ge-
danken, namentlich Luthers sehen ; denn nach Calvin ist iusti-
ficatio, die von der regeneratio unterschieden werden muß (Op. 2,
537, 542), 2 identisch mit der reconciliatio (S. 536), peccatorum
remissio (S. 535) und adoptio.3 Logisch geht das Rechtfertigungs-
bewußtsein dem Sohnschaftsbewußtsein voraus : Plana res est non
aliter nos posse in Dei iudicium intrepidos venire, quam si certo
persuasi simus eum nobis esse patrem : quod fieri nequit quin iusti
coram eo censeamur (Op. 7, 595).
1) I, 16, 1; vgl. Op. 31, 271. 280.
2) Nur an einer Stelle sind die spiritu dei regeniti als Träger des
echten Vorsehungsglaubens den profani homines entgegenstellt. Op. 31, 673.
3) Vgl. Op. 7, 596: (Gratuita iustitia) in remissione peccatorum conti-
netur mit (32, 80) : Gratuita adoptio Deum peccatis nostris assidue propitiat.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. *8o
Über diesen Kategorien des subjektiv geschichtlichen Heils-
prozesses steht aber die der vor- und überzeitlichen Erwählung.
Calvin hat beide Lehren immer in dem engsten Zusammenhang
behandelt. In der ersten Auflage der [nstitutio wird die praedesti-
natio mit der Providentia identifiziert, in der [nstitutio von [539
treten sie für die dogmatische Betrachtung auseinander und zwar so,
daß die Prädestinationslehre grundlegend bleibt. < >p. S, 86] : De emo-
tione et praedestinatione constitutum habeant piae mentes, quod
teuere convenit. Hie autem locus duobus membris continetur.
Prius enim expediendum, qualiter intelligi debeat, quod hominum
alii ad damnationem praedestinantur. Deinde quum aeterna quo-
que rerum omnium dispensatio ex Dei ordinatione pendeat, quo-
modo Providentia illius regatur hie mundus, declarandum. Nach
der Darstellung des Consensus Genevensis (Op. 8, 348, 349), er-
gibt sich mit der gesteigert sich offenbarenden Weisheit in den
Religionsführungen eine gesteigerte Providenz kund, die darum
specialissima heißt : In Providentia, quae curandis singulis Dei operi-
bus privatim exeubat, certos ac distinetos gratus statuere con-
venit . . . Praecipuo in generis humani regimine . . .
Ceterum hie rursum digerendi sunt gradus. Quamvis enim sc toti
liumano generi et patrem et iudicem deus ostendit, quia tarnen
ecclesia sanetuarium est, in quo residet, illic clarioribus documentis
praesentiam suam exserit, illic officium facit patris familias et eam
proprie adspectu, ut sie loquar, dignatur. Referta est eiusmodi
testimoniis scriptura, quae deum pro suis fidelibus intentiores agere
exeubias affirmant. . . Itaque ut pro captu rudium crasse aga-
mus, primo loco statuenda est ante oculos generalis mundi
gubernatio . . . Tum p e e u 1 i a r i s generis humani
cura . . . Ultimo praesidium v e r e paternum, quo
ecclesiam suam tenetur,1 cui praestantissima dei ipsius
virtus annexa est. — Die Frage, ob Calvin als Gegenstand der
specialissima cura mehr die ecclesia schlechthin oder die ein-
zelnen Gläubigen in ihr betrachtet, läßt sich nicht entscheiden,
da sich Calvin dieselbe nie vorgelegt hat. Op. 31, 333 = Psalm
33, 20 scheint er aber die auf die Kirche sich beziehende Vor-
sehung von der auf die einzelnen Gläubigen gerichteten zu unter-
scheiden.2 Quidquid hactenus de Providentia Dei, ac prasertim
fideli, qua suos tuetur, custodia, disseruit, non tarn a se ipso
1) Vergl. Op. 31, 237t. 333. 463. 464 47& 604. 612. 618. 641. 'T5: 1. 17. "
2) Es ist daher nicht richtig, wenn Ritschi die Providentia specialissima
sich nur auf die Gemeinde beziehen laßt.
2QO Calvins Vorsehungslehre.
protulit ... Nunc vero in persona totius eccle-
s i a e succinit, nihil esse melius quam salutem nostram Deo com-
mittere. Sie lassen sich aber nicht scheiden : Ita videmus fructum
superioris doctrinae cunctis fidelibus proponi . . . Nam hac de
causa nihil privatim de se propheta testatur, sed sibi pios omnes
adiungit in eiusdem fidei consensum.
Die Unterordnung der Providentia universalis unter die spe-
cialissima wird je später um so mehr hervorgehoben (vgl. Op. 8, 348 ;
31, 88. 95. 176. 235. 243. 333. 362 ff., 699 ff.). Die meisten von
den in der Institutio 1559 hinzugefügten Ergänzungen enthalten
eben die Betonung dieser Unterordnung. Das Verständnis
der Providentia specialis bildet auch den Schlüssel für das Ver-
ständnis der Providentia universalis. Das darf allerdings nicht
so verstanden werden, als ob Calvin die Weckung des Glaubens-
motivs durch die Natur oder Geschichte etwa im Sinne Ritschis
ausschließen wollte. Im Gegenteil : Meminerimus ergo, quoties
quisque naturam suam considerat, unum esse deum, qui sie guber-
nat omnes naturas, ut velit nos in se respicere, fidem nostram in
se erigi (S. 242). Aber der Prädestinationsgedanke ist so mächtig,
daß er auch bei der Naturbetrachtung hervorbricht : Nam in ad-
ministranda hominum societate ita providentiam suam temperat,
ut quum sit erga omnes innumeris modis benignus ac beneficus,
apertis tarnen ac quotidianis indieiis suam piis clementiam, im-
probis ac seleratis severitatem declaret. Daher ist auch die cog-
nitio naturalis bei ihm von der sittlichen Beschaffenheit des Geistes
abhängig. Er muß. zwar zugeben, daß ein Same der Gottes-
erkenntnis uns aus den wundervollen Werken der Natur zufließt,
daß die Gottesidee unserem Geiste immanent ist ; er ist aber über-
zeugt, daß die Gestaltung einer, wenn auch dunklen, natürlichen
Gotteserkenntnis von der sittlichen Beschaffenheit beeinfluß wird,
welche freilich die Gottesidee und -erkenntnis nicht ausrotten, wohl
aber ihren richtigen Ausdruck verdunkeln und ihre Bedeutung
strittig machen kann (I, 5, it. 12. 15). Andererseits soll die Natur-
betrachtung helfen, das Grübeln über die Geheimnisse der gött-
lichen Providenz aufzugeben (Op. 3, 48).
Calvin gibt dadurch dem Vorsehungsglauben eine echt christ-
liche Begründung. Sind wir von Ewigkeit erwählt und schon
in der Zeit für die Ewigkeit mit ihm versöhnt, so gelten uns seine
Verheißungen, deren Gegenstand nur Liebe ist, die uns von
Christus bestätigt und bekräftigt werden. Werden wir von Gott
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 3 g I
durch Christum geliebt, so verschwinden alle Lebensgefahren, und
von seiner benevolentia plena est felicitas ; aus der Gnade Gottes
fließen dann universae bonorum species (Op. 2, 424 ff.) : In
summa, vere fldelis non est, nisi qui solida persuasione Deum sibi
propitium benevolumque patrem esse persuasus de eins benigni-
tate omnia sibi pollicetur (Op. 2, 411). Deo nobis reconciliato
nihil manere periculi, quin omnia bene succedant (Op. 2, 420 =
III ,2, 28). Daher steht für Calvin im Vordergrunde des Vor-
sehungsglaubens die Person Jesu, der selbst die Gewißheit gelehrl
und gelebt hat, daß Gottes zweckentsprechende Leitung nicht nur
dqm einzelnen dient, sondern auch das allereinzelnste betrifft.
Christus macht uns dessen gewiß, daß Gott mit seiner Allmacht
und Liebe über der ganzen Welt waltet; durch Christi Mund
müssen wir uns belehren lassen, wenn wir Gottes Allwirksamkeit
in ihrer Vollkommenheit erkennen wollen (16, 2).
Sind diese Grundgedanken über die Vorsehungslehre allgemein
reformatorisch oder kommt in ihnen doch eine selbständige Seite
der Calvinschen Theologie zum Vorschein? Wir wollen daher
noch ganz kurz die Hauptideen der beiden Grundtypen der Re-
formation mit denen Calvins vergleichen:
I. Calvin hat, wie wir mehrfach gesehen haben, die praktisch
religiösen Ideen Luthers verwertet und systematisch verarbeitet.
Wie oft und wie praktisch redet doch Luther über die Vorsehung:
„Wer da Gottes Wort hat und glaubet, der hat die zwei Stücke
gewiß, das erste, wo er mangelt und nicht hat, sondern muß Hunger
leiden, so wird ihm dasselbige ebensowohl erhalten, daß er nicht
Hungers stirbet oder verdirbet, als wenn er vollauf zu essen hätte ;
denn das Wort, das er hat im Herzen, nähret und erhält ihn auch
ohne Essen und Trinken. . . Das andere Stück, daß gewißlich
zuletzt das Brot sich finden wird, es komme auch, woher es wolle,
und sollte es vom Himmel regnen. . . Solches alles möchte man
wohl an täglicher Erfahrung haben. Denn das hält man, und ich
glaube es auch wohl, daß nicht so viel Garben wachsen, als Men-
schen leben, sondern Gott täglich das Korn im Sacke, das Mehl
im Troge, das Brot über dem Tische und im Staub segne und
mehre. . . Wir dürfen uns nicht äugst en und bekümmern, auf
welche Weise oder Gestalt die Königreiche und Herrschaften der
Welt regiert werden, sondern wir sollen Gott dafür danken daß
wir wissen, daß er so genau für uns sorgt.''1 — Dabei hebt Luther
n \V\V. ed. Walch, Th. 11 S. 753.
3Q2 Calvins Vorsehungslehre.
so nachdrücklich wie Calvin hervor, daß dabei unsere Selbständig-
keit nicht ausgeschlossen ist. „Wiewohl wir dessen gewiß sind,
daß Gott für uns sorget, sollen wir doch wissen, daß man gleich-
wohl dabei der Dinge und Mittel gebrauchen soll, die Gott ver-
ordnet hat, auf daß wir Gott nicht versuchen. Wir sollen nicht
hineinplumpen und sagen : Ei, es muß wohl geschehen, dieweil ich
die Verheißung habe von Gott ; darum will ich mich nur mitten
unter die Löwen und Wölfe dringen, sintemal mir Gott verheißen
hat, daß er mich erhalten wolle. Ich will nicht essen, denn Gott
will mich sonst wohl ernähren. Ja Gott will haben, daß wir der
Hilfe gebrauchen sollen, so zur Erhaltung und Regierung dieses
Lebens geschaffen ist, und wenn wir damit nichts ausrichten, soll
man alsdenn noch darum nicht verzagen, sondern sich selbst an
Gottes Hilfe festhalten." 1
Die Abhängigkeit von Luther ist oft wörtlich.2 Calvin grün-
det wie Luther den Vorsehungsglauben auf das Bewußtsein der
Erlösung durch Christum.
Fehlen bei Zwingli diese Grundlinien nicht, spricht er von
praktischer Abzielung des Vorsehungsglaubens 3 und gewinnt er
aus dem Verhältnis zu Gott als Vater die Sicherheit des Selbst-
gefühls im Wechsel der Dinge und im Kontrast mit den Übeln,4
so treten diese Züge ganz erheblich hinter den metaphysisch-
spekulativen Hilfsmitteln, die er zur Gewinnung der Vorsehungs-
gedanken anwendet, zurück.
Zwar beginnt er sein Sermonis de Providentia Dei anamnema
i) Ib. Th. 2 S. 2609.
2) Neben der S. 342 erwähnten eklatanten Parallele sei hier noch auf
die Stelle Op. 2, 161 hingewiesen, wo Calvin über die von Gott durch die
Menschen uns vermittelten Wohltaten redet: Denique deum in acceptis
bonis reverebitur et praedicabit ut praecipuum autorem, sed homines ut
eius ministros honorabit . . . Quaecunque commendare sibi alique possunt
creaturae, ipsas tarn quam legitima divinae providentiae instru-
menta ad usum applicabit . . . Eadem cognitio temeritate et prava
confidentia exutos ad continuam Dei invocationem nos impellet. Dazu
vergl. Luther in Catech. maior I. Pars 26, ed. Haase 409 (Erklärung des
1. Gebots): Quamquam alioqui multis bonis cumulemur et efficiamur ab
hominibus omnia tarnen a Deo data et concessa dicuntur . . . Siquidem
creaturae tantum manus sunt, canales, media et Organa, quorum opera et
adminiculo Deus omnia largitur hominibus . . . Quamobrem et haec
media, videlicet per creaturas bona percipiendi, non sunt respuenda, neque
temeraria praesumptione aliae rationes et viae investigandae . . .
3) Op. IV, 140 f.: ut breviter providentiam recte agnovisse piis ac deum
reverentibus maximum sit adversus prospera et adversa praestantissi-
mumque antidotum.
4) Ritschi, Rechtf. u. V.1, III, 151.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 3Q3
mit dem Begriff summum bonum, der scheinbar ethisch klingt ; aber
die folgende spekulativ-aprioristisehe Begriffsentwicklung bew<
daß der Begriff summum bonum der platonisch gefärbte meta-
physische Seinsbegriff ist,1 wonach auch die ethischen Eigen
Schäften (Güte, Weisheit, Gerechtigkeit) bemessen sind.
2. Alle drei Reformatoren bestimmen als Grundzug des
Gottesbegriffs die lebendige Aktuosität Gottes im Gegensatz zur
bloßen Präscienz; während alter nach Zwingli die Wirksamkeil
Gottes die Selbsttätigkeit und die Wirkungen der causae seeundae
aufhebt, so daß sogar Gott als Urheber des Bösen erscheint,
während ferner Luther das Böse in seiner ganzen Totalität und
Realität anerkennt und dessen \ erursachung von Gott krampf-
haft entfernt, um sie in fast manichäisierender Weise auf die zweite
Kausalität, den Teufel, zurückzuführen: geht Calvin den diagonalen
Weg, indem er die Kausalität des Bösen zwar Gott abspricht, den
Teufel aber als Werkzeug zur Ausführung des o h n e seine Rat-
schlüsse jedenfalls nicht zustande gekommenen Bösen ansieht.
3. Der teleologische Gesichtspunkt ist bei allen drei Refor-
matoren verschieden: Luther kennt keinen allgemeinen, einheit-
lichen Zweck der göttlichen Vorsehung; nach ihm hat Gott
,, Zwecke, aber nicht einen Zweck".2 Daher erscheint die gött-
liche Wirkung bei ihm vorwiegend als kausal orientiert, mecha-
nisch zwingend, naturhaft. Dies gilt auch für Zwingli, bei dem aller-
dings die teleologischen Züge viel schärfer, präziser und einheit-
licher sind als bei Luther,3 aber nicht an die Teleologie Calvins
heranreichen, da sie stark eudämonistisch gefärbt sind. Calvin
macht, wie wir gesehen haben, die ernstesten Versuche, die Gefahr
des deterministisch hausierenden Gottesbegriffs als auch den Eudä-
monismus zu beseitigen. Als echter Theologe der Diagonale, der
Kanten und unausgeglichene Extreme mied, konnte sich Calvin
mit den Paradoxien Zwingiis nicht befreunden. Bekannt ist seine
Kritik des Zwinglischen Anamnema : Zwinglii libellus, ut familia-
riter inter nos loquamur, tarn duris paradoxis refertus est, ut
longissime ab ea, quam adhibui, moderatione distet (Op. 13, 253).
1) Cf. da> Nähere darüber in Staub, Das Verhältnis der mensch-
lichen Willensfreiheit zur Gotteslehre bei M. Luther und Ul. Zwingli.
S. 50 ff.
2) Kattenbusch, Luthers Lehre vom unfreien Willen 1875. S. 15.
3) S. darüber Ritschi, Jahrbb. f. d. Th. S. 96 ff.
394 Calvins Vorsehungslehre.
II. Kapitel.
Die Stellung der Providenzlehre im System Calvins.
Die Entstehung der Vorsehungslehre hat uns gezeigt, daß'
die Vorsehngslehre mit der Prädestinationslehre im engsten Zu-
sammenhange steht. Während dies die meisten Forscher zugeben
und die Vorsehungslehre Calvins als theologische Unterlage
für seine Prädestinationslehre betrachten — was allerdings
für die Institutio von 1559 gelten darf — ohne sich näher auf
den Zusammenhang beider Lehren einzulassen,1 bespricht den
letzteren eingehender Ritschi,2 der sich bemüht, ihn als ziemlich
locker darzustellen, und Scheibe.3 Obwohl wir den Ausführungen
des letzteren gegen Ritschi im ganzen zustimmen müssen, werden
wir dieselben als noch der näheren Ausführung bedürftig, er-
gänzen und namentlich die Frage beantworten : was sich aus dem
Zusammenhange beider Lehren und ihrer Stellung zu anderen
Hauptlehren Calvins für die Erledigung der Frage nach der Zen-
trallehre Calvins gewinnen läßt.
In der der Institutio von 1559 angehörenden Lehre von der
Providenz wird, so meint Ritschi, keine vorschauende Rücksicht
auf die doppelte Prädestination genommen. In dieser Lehre (von
der Prädestination) fehle jede Unterordnung unter die Lehre von
der Providenz. Beide verhalten sich gleichgültig gegeneinander,
als nicht in beiden der Gedanke der kausalen 4 Allwirksamkeit
Gottes durchgeführt wird. Diese Behauptung Ritschis scheitert
an einem wohl ganz deutlichen Satze (I, 17, 2): Summa haec sit,
quum Dei voluntas dicitur rerum omnium esse causa, providen-
tiam eius statui moderatricem in cunctis hominum consiliis et
operibus, ut non tantum vim sam exserat in electis, qui spiritu
sancto reguntur, sed etiam reprobos in obsequium cogat (vergl.
auch I, 17, 1 (Anfang); Op. 32, 137 [Ps. 107, 6]).
Auch in der Bestimmung des Zweckes stimmt die Prädesti-
1) Gass: Geschichte der protestantischen Dogmatik I, 106; Köstlin
a.a.O. S. 427; Seeberg a.a.O. II, 386.
2) Jahrbücher f. deutsche Theol. XIII S. 98 ff.
3) a. a. O. S. 113 ff.
4) Nach dem Zusammenhang soll es wohl heißen: teleologischen;
sonst würde dieser Satz überdies dem auf S. 108 angeführten widersprechen:
Sie (Prädestinationslehre) behauptet eine nahe Analogie zu seiner Stamm-
lehre von der Providenz durch den auf beide Gebiete angewandten Begriff
der causalen Alleinwirksamkeit.
Von Lic. Dr. J Bol ßQ5
nationslehre mit der Vorsehungslehre überein: a) Calvin will in
erster Reihe die objektiven Taten Gottes (Gnade und Gerechtig-
keit) beschreiben. Wenn er auch nicht gerade so argumentiert :
Weil Gott sowohl gnädig als auch gerecht ist, muß es sowohl
Erwählte als auch Verdammte gehen, so leitet er doch beid< .
die Erwählung und Verdammung, aus der Gottesidee ab. Das
höchste ist ihm die voluntas oder arbitrium dei ; in diesem ist
sowohl die Gnade als auch die Gerechtigkeit Gottes enthalten.
Wenn er auch nicht sagt : Auch Verdammte muß es geben, weil
Gott sonst seine Eigenschaft der Gerechtigkeit nicht offenbaren
könnte, so sagt er doch: Es gibt Verdammte, weil Gott vermöge
seines Willens nicht bloß gnädig, sondern auch gerecht sein will.
Im Willen Gottes ist beides auf gleiche Weise enthalten, sowohl
die Seligkeit als auch die Verdammnis ; und wenn man auch
darum nicht die Kategorie der Notwendigkeit, sondern nur die
der Möglichkeit anwenden kann, so gleicht sich in der Wirklich-
keit beides dadurch aus, daß es keine Verdammten geben könnte,
wenn nicht auch sie dazu dienten, den höchsten Zweck, die gloria
dei, zu verherrlichen. Praedestinatio nihil aliud est, quam divinae
iustitiae oecultae quidem sed inculpatae, dispensatio ; quia non
indignos fuisse certum est, qui in eam sortem praedestinarentur,
iustissimum quoque esse interritum, quem ex praedestinatione
subeunt, aeque certum est. Ad hoc, sie est dei praedestinatione,
pendet eorum perditio. ut causa et materia in ipsis reperiatur.
Lapsus et enim primus homo quia dominus ita expedire censuerat ;
cur censuerit, latet. Certum tarnen est, non aliter censuisse, nisi
quia v i d e b a t , n o m i n i s s u i gloria mj i n d e merito
illustrari. Ubi mentionem gloriae dei audis, illic iustitiam
cogita. Iustum enim esse oportet, quod laude meretur (Institutio
III, 23, 8; vergl. III, 22, 6. 10. 11 ; 23, 10. 13. 23; Op. 1, t86 ff.)-
b) Neben diesem objektiven Zweck Gottes steht, wie in der Vor-
sehungslehre, der subjektive, die salus hominum (Inst. III, 21. 7;
24, 3. 5). Neben dem warmen Bestreben, den majestätischen
Gott in seiner Allwirksamkeit aufzuzeigen, geht der große echt
reformatorische Zug. die certitudo salutis, durch die Sätze Calvins
hindurch: der majestätsvolle Objektivismus wird durch den zu-
versichtlichen Subjektivismus ergänzt. Es war sehr ungerecht,
wenn Einige behauptet hatten, dal.) für Calvin die ernste Frage,
wodurch für den Menschen die Eleilsgewißheit erlangt wird, gar
nicht existiere. Unde tibi salus nisi ex dei electione (Inst. III,
3 OD Calvins Vorsehungslehre.
24, 4 ; Op. 8, 1 14) . Tunc enim demum certa est nobis nostra salus,
quum in dei pectore causam reperimus (Op. 8, 260). Ouorsum
electio pertinet, nisi ut in filiorum locum a coelesti Patre coop-
tati, eius favore salutem obtineamus (vergl. Op. 28, 557).
Ist das aber nicht Willkür, wenn Gott die einen erwählt, die
anderen verdammt, um seine gloria in beiden Fällen zu demon-
strieren ? Ritschi 1 bejaht dies ; denn „ willkürlich ist der Wille,
der keinen konkreten Endzweck erkennen läßt, der vielmehr seinen
in sich geschlossenen Selbstzweck (gloria dei) durch die entgegen-
gesetzten Mittel der Election und Reprobation befriedigt". Indem
also Ritschi dem Gottesbegriff der Prädestinationslehre das Merk-
mal der Willkür aufprägt, stellt er dann folgerichtig diesen
Begriff in Gegensatz zu dem der Vorsehungslehre ; denn in der
letzteren ist nach seiner Behauptung nur die Güte das konsti-
tuierende Merkmal des Gottesbegriffs. Ist aber, so fragen wir,
der im Gottebegriff der Prädestinationslehre herrschende Zug die
Willkür?
Der Begriff der Ehre Gottes bei Calvin ist nach Ritschi
kein konkreter Endzweck, sondern ein nackter, formaler Selbst-
zweck, der ihm als einem Momente des Willens überhaupt zweifel-
los zukommt, wodurch aber ein konkretes Motiv des Willens nicht
verbürgt, sondern vielmehr ausgeschlossen ist. Nun ist von vorn-
herein festzustellen, daß Ritschis Begriffsbestimmungen in diesem
. . . nicht einheitlich sind. Einmal sagt er nämlich, der Begriff der
Ehre sei streng zu fassen „als der sittliche Wert einer Person,
sofern er durch das Urteil anderer bezeugt und festgestellt wird".
Danach wäre es der Fehler Calvins gewesen, daß er in dem Begriff
der Ehre Gottes nur einen rein formalen Selbstzweck ohne Rück-
sicht auf seine Anerkennung seitens der Menschen im Auge gehabt
hätte. Derselbe Ritschi sagt aber - über Jesu sittliches Handeln :
„Die Grundbedingung für die ethische Beurteilung Jesu ist darin
enthalten, daß er, was er überhaupt war und gewirkt hat, in erster
Linie für sich war. Jedes geistige Leben verläuft in dem
Schema des persönlichen Selbstzweckes". Und
ferner: „Das Handeln tritt aus der ethischen Betrachtungsweise
heraus, wenn es für den Handelnden überhaupt nicht Zweck
an sich, sondern wenn es von ihm aus bloß! als Mittel zum
Zweck ausgeübt wird."3 Aber bleiben wir bei der Bestimmung
1) a. a. O. S. 104.
2) In ..Rechtfertigung und Versöhnung" ' III S. 385.
3) Ib. S.383.
Von Lic. Dr. J. Bohatoc, 3Q7
des Ehrenbegriffes in den „Jahrbüchern". Wie steht es in dieser
Hinsicht bei Calvin?
Calvin bestimmt als Endzweck die gloria Dei. Bestünde diese
nur darin, daß Gott sich als den unbedingten Willen an «Irin
Bedingten und Endlichen betätige, und zwar den Gegensatz des
Guten und Bösen, der salus und damnatio, korrespondierend den
Eigenschaften der Gnade und Gerechtigkeit, hervorbringe — so
wäre es freilich richtig und erschöpfend, zu sagen, daß hier ein
nackter formaler Selbstzweck den Bestand hat, oder
um die Hegeische Formel zu gebrauchen, daß sich in dem Resultat
des Weltprozesses (salus et damnatio), als dem Prozeß der Be-
tätigung des absoluten Willens, dieser absolute Wille zur Einheit
wieder mit sich zusammenschließt. Wenn man in diesem Sinne
die gloria Dei auffassen wollte, dann müßte man C. H. Weiße zu-
stimmen, der * klagt : „Wenn von irgend einem Begriffe gesagt
werden kann, daß er unter den Händen des kirchlichen Dogmatis-
mus entseelt und ertötet worden ist, so ist es der durch die Worte
Doxa und Kabod ausgedrückte." Nicht der Umstand, daß Gott
sich offenbart, macht seine gloria aus ; denn Gott könnte, wenn
er nur den Selbstzweck befolgen wollte, kraft seiner absoluten
Sufficienz sich betätigen, ohne sich an dem Menschen oder etwas
Endlichem zu offenbaren ; vergl. Op. 2, 266 (die Erklärung der
ersten Bitte). Nicht darin, daß er sich als der Gnädige und Ge-
rechte offenbart, besteht die gloria Dei, sondern daß er als der
sich so Betätigende erkannt wird : Si deo pretiosum est nomen
suum, non vulgare est fidei pignus, dum audimus ipsam virtutis
suae magnitudinem in ecclesiae suae salute velle cognosci.
Experiemur haud dubie quoties opus fuerit, nos sub eius pro-
tectione salvos ac tutos esse. (Op. 31, 706; Ps. 76, 2). Diese Er-
kenntnis seiner selbst kann dem Allgenugsamen (I, 14, 3) und
Selbstgenugsamen nichts geben. Er bedarf der gloria nicht, seine
gloria ist ihm nicht Selbstzweck. Er gibt vielmehr in seiner Offen-
barung dem Menschen die Gemeinschaft mit sich, weil er, der
Selbstgenugsame, auch der Allgenugsame ist. Es ist nämlich ein
großer Unterschied zwischen dem Egoismus und dem Personalis-
mus : Der erstere will etwas haben, der letztere will etwas
sein. Das Ziel der Führung Gottes ist, daß der Mensch voll-
kommen auf sein Verdienst verzichtet, daß er zur Gewißheit ge-
1) In seiner „Philosophischen Dogmatik" I S. 617.
tq8 Calvins Vorsehungslebre.
langt, er sei allein aus Gnaden erwählt, und dies erkennend sich
abhängig fühlt von dem, der sowohl gerecht als auch barmherzig
ist. Daraus folgt dann naturgemäß die gloria Dei, der in dem
calvinischen System so mächtig betonte Passus der Dankbar-
keit. Wir sind Gott geweiht, daher können wir nichts tun und
nichts denken als zu seiner Ehre !
Dadurch, daß Calvin die gloria Dei nicht als eine sich selbst
bespiegelnde Ehrfurcht in Gott auffaßt, sondern sie in das Gebiet
der Offenbarung herunterzieht, ihr also eine h e i 1 s ö k o -
noraische Bedeutung gibt, verliert dieser Begriff jeden ab-
strakten Zug. Der Schein des Egoismus fällt weg, denn der
Endzweck Gottes dient dem Heil der Menschen.
Muß man aber nicht in der Art der Durchführung
dieses Endzweckes „durch die entgegengesetzten Mittel der Elec-
tion und Reprobation" Willkür sehen? Ist es nicht grundlose
Handlung, wenn Gott die einen zur Seligkeit, die anderen zur
Verdammnis verordnet, oder, mit Ritschi zu reden, seinen Selbst-
zweck „durch die entgegengesetzten Mittel der Election und
Reprobation" befriedigt? Schon Schleiermacher1 hat versucht,
den Vorwurf der Willkür von dem Gottesbegriffe Calvins ab-
zuwenden. Gegen den Verdacht einer blajßen Willkür, meint
Schleiermacher, könne sich niemand stärker erklären als Calvin
selbst.2 Er weist mit Recht darauf hin, daß der freilich sehr
mißverständliche, aber doch einer sehr richtigen Deutung fähige
Ausdruck, der göttliche Ratschluß der Erwählung sei ein abso-
lutum decretum, in der Institutio gar nicht vorkommt, sondern
erst im Streit zugewachsen ist. Wenn nun doch nach der
sonstigen Anschauung Calvins Gott den Glauben selbst schenken
müsse und die Predigt, aus der er allein entstehen kann, nicht
allen unter gleich günstigen Umständen angedeihen lasse : so bleibe,
folgert Schleiermacher mit Recht, nichts anderes übrig als eine
solche göttliche Entscheidung. Nach Schleiermacher kann diese
Entscheidung Gottes, wie sie Calvin auffaßt, niemandem ungereimt
und grundlos vorkommen. Nämlich : Sind wir einmal überzeugt,
daß, damit die Welt vollständig sei, auch das menschliche Ge-
schlecht da sein mußte : so können wir unmöglich mehr sagen, es
sei eine grundlose Willkür, daß Gott das menschliche Geschlecht,
i) a. a. O. S. 453 ff.
2) Vergl. S. 379 unserer Abhandlung I, 17. 2 (Op. 2, 199).
Von Lic. Dr. J. Br.li.it,-, ^gg
— obgleich er vorausgesehen hatte, daß es sündigen und fallen
werde — , erschaffen hat, da es ja notwendig mit eingeschlossen
ist in die eine alles umfassende göttliche Tal der Weltschöpfung.
Fragen wir aber, warum Gott gerade uns zu Menschen und nicht
zu Engeln gemacht hat. so vergessen wir, daß \vi> ebensogut
fragen könnten, warum er uns zu Menschen und nicht zu Tieren
gemacht hat. Schleiermacher wendet sich dabei gegen den mög-
lichen Einwand, diese Darstellung rechtfertige mehr die ursprüng-
liche geistige und leibliche Verschiedenheit als die religiöse, welche
bei allen Menschen, die Protoplasten ausgenommen, keine ur-
sprüngliche ist — indem sie ja alle durch den Fall gleich ge-
worden sind — sondern nur durch die göttliche Bestimmung enl
steht, welche dem einen den Glauben gibt, dem andern aber ver-
sagt, und eben diese Bestimmung erscheine eigentlich als eine
grundlose Willkür. — Dem Einwand, daß dies alles die ursprüng-
liche geistige und leibliche und nicht die religiöse Verschiedenheit
rechtfertige, welche bei allen Menschen keine ursprüngliche sei, in-
dem ja alle durch den Fall gleichgeworden sind, weicht Schleier-
macher aus : „Wenn wir nun darin, daß Gott aus dieser gefallenen
Gesamtmasse einige erwählt und andere nicht, eine Willkür sehen
wollen, so können wir das nur mit demselben Recht, mit welchem wir
es als willkürlich bezeichnen könnten, daß Gott von der Gesamtheit
aller menschlichen Keime einige belebt und Personen werden läßt,
andere nicht, und einige wirklich ans Licht führt, andere hingegen
schon im Mutterleibe oder gleich bei der Geburt wieder dem Tode
zurückgibt. Bei einer solchen Betrachtung also erscheint die gött-
liche Willkür in der Erwählung und Verwerfung gar nicht als eine
andere oder größere als die bei der Schöpfung.
Diese Verteidigung berührt sich allerdings wesentlich mit den
Gedanken, mit denen Calvin selbst seine Lehre verteidigt hatte.
Er hat i. öfter auf die Parallele zwischen der Schöpfung und der
Prädestination hingewiesen, so z. B. Op. 2, 687 = Inst. III, 22, 1 :
respondeant, cur homines sint magis quam boves et asini, quum
in manus Dei esset canes ipsos fingere, ad imaginem suam for-
mavit. Concedentne brutis animalibus de sua sorte cum deo
expostulare, quasi iniustum sit discrimen. — 2. Wie Schleier-
macher hat auch Calvin die Frage nach dem Grunde des so
gearteten Schöpfungsdekretes als unberechtigt abgewiesen (vergl.
seine Verteidigung gegen Castellio : nunc cum eo (deo) ex-
postula, quod ab ultima aeternitate se uno contentus virtutem suam
400 Calvins Vorsehungslehre.
quasi sterilem continnerit ; d. h. warum er überhaupt die Welt er-
schaffen hat).
Schleiermacher vergißt aber, daß der springende Punkt nicht
in der Frage liegt, warum Gott aus der geschichtlichen
massa die einen erwählt und die anderen verwirft.1 Das Problem
ist brennend und schwierig, weil sich die ganze Sache um das
vorzeitige Dekret und um die vorgeschichtliche Auslese dreht.
Da muß man allerdings, um die Parallele mit der Schöpfung zu
bewahren, einfach hier wie dort auf die Antwort verzichten. So
wie wir es nicht ergründen können, warum Gott beschlossen hat,
aus der Vorzeitlichkeit in die Zeitlichkeit herunter zu steigen,
d. h. die Welt zu schaffen, ebensowenig können wir begreifen,
warum Gott vor der Zeit die doppelte Prädestination angeordnet
hat. Man darf darauf nicht hinweisen, daß das Objekt der prä-
destiniernden Akte die Menschheit als die massa corrupta bildet;
denn auch der Sündenfall Adams und die hiermit zusammen-
hängende Verderbtheit der Menschheit sind von Gott beschlossen
worden. Calvin selbst nimmt an, daß es nicht genüge, die Ver-
werfung aus dem freien Willen des Menschen ohne das Dazwischen-
treten des decretum Dei erklären zu wollen, da hier die Gefahr
entstehen würde, daß die Erwählung nach dem meritum des zu
Erlösenden sich gerichtet hätte.2
Wenn sich Calvin sowohl bezüglich des Sündenfalles als auch
der Prädestination auf die abscondita voluntas Gottes als den letzten
Grund beruft, der keine alia prior causa über sich hat, Gott daher
in dieser Beziehung sich selbst Gesetz ist, so sieht Ritschi eben in
diesem unergründlichen und unbegründeten Willensakte Gottes
die Willkür.
i) Dabei ist es unrichtig, wenn Schleiermacher den Akt der Er-
wählung mit dem der Einverleibung in ovile Christi oder der insitio in
Christum identifiziert. Die electio geht ja diesen Akten logisch und zeit-
lich voraus: electi dicunter fuisse patris, quam eos donaret unigenito filio
(Inst. III, 22, 7). Si fidei origo est donatio ista (seil: der Erwählten an
den Sohn), et eam ordine ac tempore praecedit electio (Op. 47, 361).
Peraeque naturalis est omnibus contumacia et pravitas, ut nemo ad susci-
piendum iugum voluntarius sit ac docilis. Aliis promittit spiritum oboer
dientiae, alios in sua pravitate relinquit. Diese promissio wird aber nur
denen zuteil, die schon erwählt sind. Op. 9, 306.
2) Dieser Gedanke wird mit großem Nachdruck in Cons. Gen. (Op.
8, 305), dann hauptsächlich von Bolsec (Act. du proces interte par Calvin et
les autres ministres des Geneves ä Gerome Bolsec de Paris 155, 1; Op. 28,
141 — 248) vertreten.
Von Lic. Dr. |. Bo 401
Ritschi registriert nämlich zwar die von uns bereits erwähnte
Ablehnung der nominalistischen absoluta voluntas und absoluta
potentia, bemerkt aber dabei, daß es Calvin im Zusammenhang der
Prädestinationslehre nicht gelungen sei, diese Ablehnung ernsl
durchzuführen ; denn er bleibe der Zwinglischep Deutung des
Satzes, daß Gott sich selbst Gesetz sei, ferne: dieser Satz habe
nur dann einen wirklichen Sinn, wenn man ihn mit Zwingli dahin
verstehe, daß die stetige Gesinnung des Guten Gott notwendig in
einer für uns erkennbaren und deshalb der Aneignung fähigen
Richtung bestimmt. Daß hingegen Calvin in der gleichlautenden
Behauptung nur ein leeres und folgcloses Wort gesprochen habe,
erprobe sich daran, daß er in der Institutio hinzufüge, der Begriff
des Gesetzes sei nur da anwendbar, wo es, wie bei den Menschen,
Leidenschaften gegenüber gestellt sei. Denn daraus folge als um-
gekehrte Wahrheit für Gott, daß derselbe in jeder Hinsicht außer
Beziehung zum Begriff Gesetz stehe. Überdies könne ein Verhalten
Gottes zu sich, das dem Begriff des Gesetzes auch nur analog
wäre, als wertvolle Erkenntnis nicht ausgesprochen werden, wenn
man nicht einen stetigen Grund für sein Handeln zulasse, und nicht
eine Richtung seiner Selbstbestimmung zum konkreten Endzweck
der Weltleitung für erkennbar halte.
Calvins Satz : Gott ist sich selbst Gesetz, will besagen : Wäre
Gott an das uns bindende Gesetz gebunden, so müßte seine Vor-
sehung anders handeln als sie wirklich handelt. Da man aber bei
Gott unmöglich annehmen kann, daß er zwar diesem Sittengesetze
entsprechend handeln will, aber nicht kann, da er also wider
Willen und ohne Willen, nicht mit bloßer Zulassung und nackter
Präscienz oder aus Mangel an Macht, sondern bestimmend den
Sündenfall und die Verwerfung eines Teiles der Menschen will:
so müssen wir eine uns noch unbekannte Gerechtigkeit in diesem
göttlichen Wollen und Tun voraussetzen und an sie glauben.
Aber diese Gerechtigkeit ist eben Gerechtigkeit, weil sein Wille
regula est optimae rectitudinis, in optima ratione summaque
aequitate fundata. Daher verfährt sie nicht willkürlich.
dem nach dem notwendigen Maßstab der aequitäs gerade
so, wie Gott notwendig gut ist (vgl. oben S. 367). Zu der Be-
hauptung, daß Gott nicht an die den Kreaturen gegebenen Ge
setze gebunden ist, leitet Calvin das Interesse an der göttlichen
Souveränität, die nicht dulden kann, daß ihr die Kreatur etwas
vorschreibe, und an der göttlichen Freiheit, die in der Mitte steht
Calvinstudien. 26
AQ2 Calvins Vorsehungslehre.
zwischen der naturhaft wirkenden Allmacht und der absoluten
Laune (Op. 9, 288 f., 295). 1
Würde von den angeführten Gründen jeder für sich schon
ausreichend sein, die Annahme einer absoluten Willkür bei
Calvin als unrichtig zu beweisen, so führen uns einige, wenn
auch spärliche Gedanken Calvins zur Eruierung der Tatsache,
daß für ihn trotz der Unerkennbarkeit des göttlichen Willens — die
unbekannten Ursachen werden uns allerdings einmal (ultimo die)
in ihrer vollen Klarheit offenbar werden (Op. 9, 286) — die Reali-
sierung des göttlichen Zweckes in einer für uns doch erkennbaren
Richtung sich bewegt. Das ist bei der Frage nach dem Zwecke
der Verwerfung der Fall. Dient sie vielleicht nicht auch der salus
hominum? So müssen wir fragen, wenn wir die volle Koncinnität
der Prädestinationslehre mit den Erörterungen über den Zweck
der Vorsehung bewahren wollen. In der letzteren ordnet, wie wir
sahen, Gott alles so, daß schließlich dabei die salus der Seinigen
herauskommt. Ritschi, der den Zusammenhang beider Lehren in
dieser Hinsicht leugnet,2 muß selber zugeben, daß in Cons. Gen.
die Reprobation dem Zweck der salus der Erwählten dient :
in utilitatem nascuntur (reprobi) electorum. Es ist andererseits
Ritschi zuzugeben, daß die Erklärung dieses Gedankens „in
dieser Fassung" nicht sonst ausgesprochen worden ist. Aber
wir finden den Gedanken in der Institutio doch. Calvin
betont hier, Gott fasse das decretum reprobationis nicht nur, um
zu verdammen, sondern weil electi ex gratia nicht gewollt werden
können, ohne daß reprobi mit gewollt sind ; wenigstens würden
die electi sonst nicht erkennen, daß sie aus Gnaden erwählt sind.
Daß Gott im Evangelium allen das Heil anbietet und alle zu sich
einladet, während er nur den Erwählten den Glauben schenkt, das
geschieht dazu, damit die Erwählten desto gewissere Zuversicht
haben, daß auch die größten Sünder angenommen werden, wenn
sie nur glauben, den Verworfenen aber alle Entschuldigung um
so mehr abgeschnitten werde, wenn sie sich bewußt werden müssen,
daß sie das Dargebotene undankbar verschmäht haben. Sed cur
omnes nominat? Nempe quo tutius piorum conscientiae acquie-
1) In dieser Beziehung hat Scheibe a. a. O. S. 114 entschieden recht,
wenn er den Unterschied der calvinischen Freiheit von der skotistischen
Willkür hervorhebt; recht namentlich auch gegen Seeberg. Dogmengesch. II
397, der in der calvinischen Gedankenbildung einen skotistischen Ein-
schlag wahrnimmt.
2) a. a. O. S. 103.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. .)<)?,
scant, dum intelligant nullam esse peccatorum differentiam, modo
adsit fides, impii autcm non causentur sibi deesse asylum, quo se
a peccati Servitute rccipiant, dum oblatum sibi ingratitudine sua
respuunt (III, 24, 17). Der Gedanke der göttlichen Prädestination
ist für die Verworfenen völlig ausgelöscht durch das Gefühl d< r
persönlichen Schuld, das die göttliche Gerechtigkeit bezeugt, wäh-
rend den Erwählten ihre unverdiente und als unverdient an dem
Gegensatze der Verworfenen empfundenen Seligkeit überschweng-
lich zu erleben gibt, was sie in der ewigen Wahl sich aus Gnaden
zugedacht sahen.1
1) Ob diese Erklärung des Zweckes des decretum horribile eine Be-
friedigung für das religiöse Bewußtsein enthält, ist allerdings eine Frage
für sich. Es ist einer der Versuche, den Dualismus der Seligen und Ver-
dammten dem denkenden religiösen Bewußtsein als notwendige Konse-
quenz des höchsten Interesses, welches die religiöse Persönlichkeit hat,
nämlich die Wahrung der Souveränität Gottes und der Heilsgewißheit der
einzelnen. Bekanntlich suchte schon Augustin in diesen Abyssus Licht
fallen zu lassen. Die göttliche Gerechtigkeit erhält nach ihm Genug-
tuung dadurch, daß die Bösen nach ' Verdienst behandelt und dort unter-
gebracht werden, wo ihnen zu sein gebührt. Ja, Augustin verteidigt diesen
Dualismus nicht allein als ethisch, sondern auch als ästhetisch notwendig.
Wenn der Weltlauf mit der ewigen Verdammnis der Vielen endet, so
könnte es scheinen, als führte dieses eine Unvollkommenheit des defini-
tiven Zustandes des Daseins herbei; aber, so sagt Augustin. was vom
Standpunkte des einzelnen Teiles gesehen unvollkommen ist. und Abscheu
erregt, kann vom Standpunkte der Totalität sehr wohl eine Vollkommen-
heit sein, indem zur Harmonie nur erforderlich ist, daß alles seinen rechten
Platz erhält und indem gerade der Gegensatz der Religion und der Ver-
dammten dazu dient, die Schönheit des Ganzen zu vermehren (Omnes ita
ordinantur ... in pulchritudinem universitatis ut, quod horremus in parte,
si cum toto consideremus plurimum placeat: de vera relig. 40 — 41; vergl.
Retractiones I. 7: de civ. Dei XXI. 17). Für Calvin war es nicht zweifel-
haft, daß Gottes Seligkeit und Ehre sich mit jenem Dualismus vereinigen
lassen, diesen sogar erfordern. Ebensowenig bereitet es ihm Schwierig-
keiten, wie wenige Menschen selig sein können, wenn sie wissen, daß
nicht alle selig sind. Sein Versuch, diese Tatsache zu erklären, er-
innert entfernt an die Gedanken Thomas v. Aquinos. Dieser hebt näm-
lich ausdrücklich hervor, wie die Seligkeit der Erlösten wegen des Kon-
trastes mit dem Leiden der Verdammten um so stärker gefühlt werde:
Quum contraria iuxta se posita. magis elucescant. beati in regno coelesti
videbunt poenas damnatorum. ut beatitudo illis magis complaceat (Summa
theol. III Suppl. IV, 1). Umgekehrt werden die Leiden der Verdammten
dadurch vermehrt, daß sie erst (vor dem jüngsten Gericht) dieser Freude
eingedenk sind (ib. 89. 9). Daß ein einziger Mensch selig werden könne,
selbst wenn alle anderen nicht selig werden, begründet Thomas auf folgende
Weise: homo habet totam plenitudinem suae perfectionis in deo . . .
perfectio caritatis essentialis beatitudini quantum ad dilectionem dei. non
quantum ad dilectionem proximi. Unde si es-uu una sola anima fruens
deo, beata esset non habens proximum, quem diligere (Summa theol.
pars II quaest. 4 Art. 8).
26*
A.OA Calvins Vorsehungslehre.
Werden wir demnach im Gottesbegriff der Prädestination eine
zwecklose Willkür nicht finden, und daher in dieser Beziehung
keine Diskrepanz mit dem Gottesbegriff der Vorsehungslehre an-
nehmen können, so dürfen wir uns doch nicht verhehlen, daß der
Begriff der Güte, der in der Vorsehungslehre wohl oft x vorkam,
in der Prädestinationslehre nur untergeordnet ist. Die Sache läßt
sich mit der Verschiedenheit der Interessen, die Calvin bei der
Darstellung beider Lehren im Auge hat, motivieren. Die Ten-
denz, Gottes zweckvolle Allmacht aufzuzeigen und dadurch die
Menschen zum Lob zu veranlassen, ist beiden Lehren gemeinsam.
Aber in der Vorsehungsiehre tritt der große Gegensatz der Er-
wählten und Verworfenen nicht so unmittelbar in den Vorder-
grund des Interesses. Hier handelt es sich vielmehr darum, neben
der gloria Dei den suavissimus fructus des allmächtigen Wartens
Gottes für die Erwählten aufzuzeigen. Diese sollen des paternus
favor in allen Lagen ihres Lebens gewiß sein. Daher zieht ein
warmer Hauch der Liebe durch die ganze Darstellung.
Anders in der Prädestinationslehre. Hier steht der empirisch
gegebene Gegensatz der e 1 e c t i und r e p r o b i unmittelbar
vor Calvins Augen als das große Problem, das zu lösen gerade die
Prädestinationslehre zur Aufgabe hat, soweit es allerdings mög-
lich ist. (Denn daß sich uns in diesem decretum horribile ein
dunkles Gebiet aufschließt, gibt Calvin unumwunden zu.) Über
dem treibenden Interesse, die gratia Dei den Erwählten und die
iustitia den Verworfenen gegenüber zu betonen, vermeidet er es,
im göttlichen Ratschluß den Willen der Liebe zu finden.
Es darf wohl als angenommen gelten, daß die unbedingte Prä-
destination Calvins nicht dem spekulativen Interesse entsprungen ist,
sondern dem tief religiösen, nämlich das Heilsbewußtsein zu
gründen und zu stärken. Es ist ihm zu tun i. um die Betonung
der unbedingten Unverlaßtheit der göttlichen Zuwendung zu dem
Ganzen und zu dem Einzelnen, wobei der personalistisch ver-
fahrende Gott von dem Menschen absolut geehrt werden muß.
Gottes Wille allein setzt die Welt aus sich heraus, auch die Objekte
seiner Liebe, sonst wäre er nur eine in die Schranken der
Präscienz sich zurückziehende und nur darin sich betätigende, da-
her im Grunde ohnmächtige Macht. In Gott ist alles zunächst
i) Daß er allerdings rieht der durchgehende Gottesbegriff in Calvins
Lehre von der Vorsehung ist, wie Ritschi will, hat Scheibe (a. a. O. S. 115 f.)
nachgewiesen.
Von Lic. Dr. J. Bohatec.
405
Gedanke, Vernunftgedanke, Ratschluß; die Menschheit ist also
auch Gottes Gedanke, ein Gegenstand, mit dem sich Gottes I >enken
beschäftigt. Aber seine Gedanken sind von der Tat nicht zu
trennen, Gottes Gedanke ist zugleich Wille, der RatschluLi identisch
mit dessen Ausführung. 2. hebt er den unbedingten Werl der er-
wählten Menschenseele hervor, — ein echt christlicher Individualis-
mus, der eine positive Kehrseite ist zu dem in der Vorsehungs-
lehre so scharf präzisierten Gedanken, daß das Menschenleben nicht
verflochten werden kann in den unvernünftigen ncxns rerum.
Die Menschen, die nicht erwählt sind, haben nur ihr Weltverhält-
nis. Sündenverhältnis, Tenfelsverhältnis. Der Objektivismus (Her-
vorhebung der göttlichen Allwirksamkeit im Gnadenlehen, Ehre
Gottes usw.) ist allerdings mit dem Subjektivismus (Individualis-
mus) in der Prädestinationslehre wie in der Vorsehnngslehre innig
verbunden. In der Vorsehnngslehre hat er es ja ausgesagt, daß
die Weltregierung schließlich die Reichsregierung ist. Die Lei-
tung der Welt, in welcher Gott seine Gnade und Gerechtigkeit
am Einzelnen und in Einheit hiermit seine Weisheit, Liebe
und Gerechtigkeit am Ganzen erweist, worin also das Interesse
des Schöpfers, seine Ehre in diesen Eigenschaften zu zeigen und
sich dadurch an der Menschheit zu verklären, und das Interesse
des Geschöpfes, selig zu werden, absolut vereinigt sind, kommt in
beiden Lehren wesentlich übereinstimmend zum Ausdruck.
Nun ist aber verhängnisvoll, daß Calvin nicht streng zu unter-
scheiden wußte zwischen der geschichtlichen Wcltleitung
und den auf die Einzelnen sich beziehenden Erwählungsakten.
Er hat vergessen, daß Rom. 9 nicht von Einzelnen handelt, son-
dern eine Geschichtsphilosophie darstellt, nach der die Menschen
nur als Werkzeuge, nicht als Gegenstände des göttlichen Liebes-
willens, als Kinder in Betracht kommen. Die Idee der göttlichen
Allwirksamkeit verleitet ihn, den empirischen Tatbestand,
daß einige glauben und die anderen im Unglauben verharren, von
der göttlichen Verursachung abzuleiten; in der Überzeugung, daß
dem Effekt auch der Affekt entsprechen muß, statuiert er
einen doppelten Ratschluß (der Erwählung und Verwerfung) im
vorzeitlichen Willen Gottes, den er an die Eigenschaften der
Gnade und Gerechtigkeit verteilt. Diesen Dualismus projiziert
er dann wieder in die Wirklichkeit zurück, indem er die Aus-
führung des Dekretes nach diesen beiden Gesichtspunkten be-
schreibt. So tritt bei ihm die Unbedingtheit der Liebeserwählunsr
AoG Calvins Vorsehungslehre.
in Spannung mit der Unbedingtheit der Machtäußerung; die
Elektion wird hinter die Prädestination gestellt. Die göttlichen
Ratschlüsse sind vom Schöpferwillen (Allmachtswillen), nicht vom
Heilswillen geleitet. Mit Recht sagt daher Dorner,1 der Grund-
fehler der Prädestinationslehre Calvins bestehe darin, daß ihm
über dem Dualismus der göttlichen Gerechtigkeit und der gött-
lichen Liebe noch eine Macht steht, welche über die Wirksamkeit
dieser beiden Eigenschaften, ja über die Verteilung ihrer Offen-
barung an verschiedene Subjekte entscheidet. Damit hängt noch
eine Antinomie zusammen, die sich aber als eine scheinbare
erweist.
Wie oft hat Calvin es ausgesprochen, daß das, was wir beob-
achten, nicht Ausdruck des göttlichen Willens zu sein braucht, daß
wir von unserer Geschichtsbetrachtung nicht auf die geheimnisvollen
Gedanken Gottes zu schließen haben! Das Ewige sehen wir nicht,
an den Ewigen glauben wir und wissen, daß dieser Gott, der in
der Geschichte wandelt und handelt, mehr ist als die Geschichte,
daß die innerweltliche Weisheit nicht ohne weiteres identisch ist
mit der innergöttlichen. Und doch hat er diesen Grundsatz immer
wieder übertreten. Einerseits verweist er uns auf den vorzeit-
lichen Ratschluß Gottes, andererseits sucht er Trostbedürftige
von der Betrachtung dieses Ratschlusses abzuziehen und sich ein-
fach an die in Christo geschichtlich erschienene Gnade Gottes
zu halten. In Christo sind wir alle erwählt. Nur wer mit ihm in
Gemeinschaft steht, erhält das ewige Leben.2
Man könnte diesen Dualismus in der Betrachtung Calvins
wirklich befremdend finden, wenn Calvin der Meinung gewesen
wäre, daß das Heilsbewußtsein sich nur auf die Kenntnis des ver-
borgenen Erwählungsratschlusses stützen müsse. Dagegen erklärt
Calvin mit unzweideutiger Klarheit, daß — das sei noch einmal
besonders hervorgehoben — wenn wir unternehmen wollten, in
die ewige Verordnung Gotts einzudringen, uns dieser Abgrund
i) Gesch. der protest. Theol. S. 393.
2) Christus ist der einzige Quell des Lebens und der Anker des
Heiles. (Unus vitae fons et salutis anchora, et rerum coelorum haeres.)
Quos deus sibi filios assumpsit, non in ipsis eos dicitur elegisse, sed in
Christo suo, quia non nisi in eo amare illos poterat. Quod si in eo
sumus electi, non in nobis ipsis reperiemus electionis nostrae certitudinem,
a c n e in d e o quidem p a t r e , si nudum illum absque filio imagina-
mur. Christus ergo speculum est, in quo electionem nostram contemplari
convenit (Inst. III, 24, 5). Christus ist die in der Zeit erschienene gött-
liche Liebe, Gott in seinem geoffenbarten, nicht in seinem absoluten Wesen.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 407
verschlingen würde. In der Institutio wird die göttliche Vorher-
bestimmung aber nirgends in Gegensatz gebracht zu den geschicht-
lichen Vermittelungen, von denen das ganze IV. Buch redet.
Calvin wendet sich gegen diejenige Ansicht, nach welcher Gott
unmittelbar auf das Innere der Erwählten wirkt, um an ihm
durch Mitteilung des heiligen Geistes und des ewigen Lebens seinen
ewigen Ratschluß zu vollziehen, und gegen die supranaturalisti
Anschauung, nach der die Einzelnen mit ihrem Verlangen nach
dem Besitz des Heiles nicht an solche von Gott verordnete Ver-
mittelungen, sondern unmittelbar an den ewigen Ratschluß, und
dessen Mitteilung an das innere Bewußtsein verwiesen werden.1
Andererseits will er von der römischen Überschätzung der Ver-
mittelungen, die magisch die Rechtfertigung und Gnade wirken,
nichts wissen. Seine Anschauung bewegt sich hier in der Mitte
zwischen beiden Extremen. Auch hier erweist er sich als Theo-
loge der Diagonale. Er war einmal ein zu scharfer
Denker, als daß ihm die Mittelursachen an sich hätten irgendwie
Schranken sein können für die Wirksamkeit der höchsten und
allgemeinen Ursache. Vielmehr sind sie dem Willen Gottes ganz
Untertan und dienstbar, und zwar nicht so, daß er selbst nach
Weise einer endlichen Ursache bald hier, bald dort beschränkend,
ergänzend, ändernd, berichtigend in ihre Wirksamkeit eingriffe,
sondern so, daß er allbeherrschend und alldurchdringend dieselben
auf jedem Punkte ganz in seiner Gewalt hat, so daß sie schlechthin
nichts anderes wirken als was er beschlossen hat. Es begegnet
uns hier auf dem Heilsgebiete dieselbe Erscheinung, wie wir sie
in der Yorsehungslehre beobachtet haben, ein System von causa
prima und causae seeundae. Letzteres wird auch von Seel
hervorgehoben: „Die Anwendung dieser Gedanken (der Vorsehung)
auf das religiöse Gebiet 3 ergibt die Vorstellung der doppelten Er-
wählung. Und zwar so, daß der göttliche Wille die Erwählten
dadurch, daß bestimmte Mittel auf sie bestimmungsmäßig wirksam
1) Es ist z. B. nicht zu leugnen, daß Zwingiis Prädestiriationsbegriffe
eine Neigung haben zu dieser, die .Mittelursachen verringernden Auffassung
der Prädestination, wie sie sich namentlich in seinen Äußerungen über die
Seligkeit der Heiden kundgibt. In spiritualistischem Sinn ist die Prä-
destinationslehre häufig von dem schwärmerischen Anabaptismus und ahnr
liehen von Calvin lebhaft bekämpften Sekten ausgebeutet worden: auch
Ökolampads Auffassung ist nicht frei von spiritualistischen Elementen.
2) \.a. O. II. 386 ff.
3) Besser wohl Heilsgebiete. Denn daß die Gedanken der Vorsehungs-
lehre mehr als allgemein religiös sind, haben wir oben gesehen.
40Ö Calvins Vorsehuugslehre.
werden, an ihr Ziel führt. Die Erwählten sterben demnach nicht,
bevor sie durch den Geist wiedergeboren und geheiligt werden.
Es liegt also ein konsequent durchgeführter religiöser Determinis-
mus, ähnlich wie bei Thomas oder Zwingli vor. Die Weltbewegung
wird von Gott gesetzt als ein auf die Realisierung ihres Zweckes
innerlich bezogener Komplex von Mittel n. So angesehen kann
die vernunftgemäße Notwendigkeit gerade dieser Mittel behauptet
werden, oder, wenn Erwählung ist, sind die Erlösung durch
Christus, die Kirche und ihre Gnadenmittel als notwendige Mittel
eingesetzt. Aus dieser Betrachtung versteht sich die Energie in
der Durchsetzung des kirchlichen Lebens mit seinen Heilsmitteln
und seiner Sittlichkeit, denn das sind die Mittel zur Durchführung
des göttlichen Willens, in ihnen realisiert er sich. Nun wird aber,
wie in Luthers Schrift vom unfreien Willen, auch bei Calvin dieser
Gedankenzusammenhang scheinbar gefestigt, in Wirklichkeit
aber gelockert durch die Einführung der skotistischen Idee
von der göttlichen Willkür. Der Grund zu dieser Einführung ist
bei Luther wie bei Calvin leicht zu finden. Durch die Bindung
des göttlichen Willens in ein System innerweltlicher Mittel scheint
die absolute Freiheit des göttlichen Willens und seine Erhabenheit
über die Welt gefährdet zu sein. Daher wird die innere Not-
wendigkeit dieser Mittel in Frage gestellt, ihre Ver-
wendung zwar als Regel angesehen, aber ihre Wahl als zufällig
und die eventuelle Möglichkeit anderer Mittel resp. die Aufhebung
aller Mittel zugestanden." Trotz der letzten Sätze muß aber See-
berg ähnlich wie Scheibe l feststellen, daß die Prädestinationslehre
nicht ein das System beherrschendes Dogma ist, da die Lehren
von der Rechtfertigung und Erlösung neben ihr eine ganz selb-
ständige Bedeutung haben. Denn sonst müßten Rechtfertigung
und Erlösung als Mittel der Ausführung des Prädestinationsrat-
schlusses betrachtet werden. Nach dieser Sachlage erscheint das
System unharmonisch und zerrissen.
Und doch ist dem nicht so. Man muß nur die verschiedenen
Perspektiven betrachten, von denen aus der Reformator seinen
Gedankengang entworfen und geregelt hat.
i. Handelt es sich nämlich um die Ordnung der Ursachen,
um das objektive Interesse der göttlichen Allwirksamkeit, so ver-
steht es sich von selbst, daß auf den göttlichen Willen zurückzu-
i) a. a. O. S. 91 ff.. 99 ff.
Ven Lic. Dr. J. Bohator.
gehen ist als den obersten und alles bestimmenden Grund, über
welchen auf keine Weise hinausgegangen werden darf und
dem sich auch die Rechtfertigung und Erlösung als ein
mitten in die Zeit eintretender Vorgang unterordnen. So
muß das Prädestinationsdekret als zeitlich und logisch
stes Prinzip in den Vordergrund gerückt, die Prädestinations-
lehre also als Zentrallehre betrachtet werden. Allerdings nicht
so (wie Schweizer will), daß sie zum grundlegenden Ausgangs-
p u n k t der dogmatischen Erörterung (etwa im Sinn der späteren
reformierten Dogmatik) gemacht würde. Dazu konnte sich Calvin
nicht entschließen, was ihm von Köstlin (a. a. O. S. 473 ff.) als
Inkonsequenz ausgelegt wird. Nach seinen Prämissen durfte es
Calvin nicht tun. Die Erwählungslehre gehört ja nach ihm nicht
zu der allgemeinen Gotteserkenntnis, sondern zu der Heilserkennt-
nis. Hat er nun in der Institutio als den modus recte docendi
bezeichnet, zunächst von der allgemeinen cognitio dei zu handeln,
so war es nur konsequent, daß er eben die Lehren vorangestellt
hat, die sich mit dieser beschäftigen, also die Lehre von der
Schöpfung und Vorsehung.1 Es ist interessant, daß der Gang der
Institutio im wesentlichen an die Einteilung der Sentenzen
Lombards erinnert. Dieser redet nämlich zunächst de inexplicabili
mysterio sanetae trinitatis, dann von dem cognitionis rerum ordo
hominisque lapsus, ferner de eius reparatione per gratiam media-
toris dei et hominis praestita atque humanae redemptionis sacra-
mentis, quibus contritiones hominis alligantur.- In diesem Sinne
bildet dann die Vorsehungslehre mit ihrem entwickelten System
der L'rsachen und Zwecke die dogmatische Grundlage für die
Prädestinationslehre. Diese Behauptung darf allerdings wiederum
nicht so verstanden werden, als ob der in der Vorsehungslehre
ausgesprochene Grundsatz für die kausale Wirksamkeit Gottes :
nunc mediis interpositis operatur deus, nunc sine mediis, nunc
contra omnia media (siehe oben S. 353), auch unbedingt für das
1) Hier ist die Frage am Ort. was ihn zu diesem ..modus docendi".
also zur Trennung der Vorsehungslehre von der Prädestinationslehre und
zur Voranstellung der ersteren vor die letztere veranlaßt hat. Ich glauhe
nicht fehl zu gehen, wenn ich behaupte, daß für ihn die traditionelle
Methode der Scholastik leitend war. Nach dieser wird die Providenzlehre
definiert respectu omnium (seil, rerum): praedestinatio vero et reprobatio.
quae ad haec consequuntur, respectu hominum specialiter in ordine ad
aeternam salutem. (Thomas von Aquino. Summa theol. 1
_•) Allerdings wird die Eschatologie. die von Lombard am Schluß
des IV. Buches in der dist. 43 — 70 behandelt wird, von Calvin in einem
anderen Zusammenhang erörtert.
A I O Calvins Vorsehungslehre.
Gebiet der Heilslehren seine Geltung hätte. Denn hier wird von
Galvin nachdrücklich betont, daß die Wirkung Gottes durch
die media der Ordinarius modus ist (Inst. IV, 16, 19).1
2. Handelt es sich aber um die Heilsgewißheit (Inter-
esse der Seligkeit), so sucht Calvin diese in der Zuversicht, daß
man in der unmittelbaren Ergreifung Christi (also nicht erst durch
das Zurückgehen auf den vorzeitlichen Ratschluß) das ewige Leben
und die selige Gemeinschaft Gottes sicher erlangen und besitzen
könne.
Diese Unterscheidung zwischen dem Interesse an einem ob-
jektiven Zentralprinzip und dem Interesse an dem subjektiven
zentralen Glaubensprinzip, welch letzteres alle Reformatoren
hervorkehrten, hat Calvin bewußt oder unbewußt gefühlt. Den
besten Beweis dafür liefert namentlich die Behandlung des
Problems, ob Christus nur ein instrumentum et minister salutis,
non autem et princeps sei in einem Abschnitt, der ursprünglich
als Antwort an Laelius Socinus geschrieben war 2 und dann in
die Institutio von 1559 aufgenommen wurde. Laelius fragte näm-
lich Calvin, wie Gott durch ein Verdienst Christi bestimmt worden
sein sollte, wenn er doch mit seinem eigenen freien Willen die
Menschen gerecht zu machen beschlossen habe.3 Calvin antwortet:
Es gibt einige, die zwar zugestehen, daß wir die Seligkeit durch
Christum erlangen, aber das Wort Verdienst nicht gelten lassen,
weil durch dasselbe, wie sie meinen, die Gnade Gottes verdunkelt
werde, und die also Christum nur als ein instrumentum oder einen
minister, nicht aber als den Gründer des Heiles oder Fürsten des
Lebens anerkennen. Wollte man freilich Christum ohne weiteres
dem Gerichte Gottes entgegenstellen, so kann nicht von einem
Verdienste die Rede sein, weil in keinem Menschen eine solche
Würdigkeit angetroffen wird, die bei Gott etwas zu verdienen
vermag. Cum ergo de Christo merito a g i t u r , non
statuitur in e o p r i n c i p i u m , s e d conscendimus
ad dei Ordination em, quae prima causa est; quia
mero beneplacito mediatorem statuit, qui nobis salutem aquireret.
Atque ita inscite: opponitur Christi meritum misericordiae dei.
1) Diese Modifikation ist, wie wir unten sehen werden, durch den
positivistischen Sinn, den Calvin für die Heilstatsachen als solche hatte,
veranlaßt worden.
2) Responsio D. Calvini ad aliquot L. Socini Senensis quaestiones.
Genevae 1555.
3) Vgl. Illgen, vita Laelii Socini p. 39 ff., bei Köstlin a.a.O. 449.
Von Lic. Dr. J. Bohal | 1 I
Regula enim vulgaris est, quae s u b a 1 1 e r n a sunt,
nou pugnare; ideoque nihil obstat, quominus gratuita si1 ho
minum iustificatio ex mcra dei misericordia et simul interveniat
Christi meritum, quod dei misericordiae subicitur. Nostris autem
operibus apte opponitur tarn gratuitus dei Eavor quam Christi
oboedieutia, suo online utrumque. . . I faec distinctio
gitur ex plurimis scripturae locis. . . Videmus, ut priorem Lo<
teneat dei dilectio tamquam summa causa vel origo:
quatur fides in Christum tamquam causa secunda et pro-
p i o r. . . Ceterum haec distinctio etiam notatur. . .
Aus den letzteren Sätzen kann man auch ersehen, daß es
selbstverständlich ein rein religiöses Motiv ist, warum Calvin sich auf
die causa prima bezieht und nicht ein metaphysisches, obwohl die
Ausdrücke (causa, subalternum) metaphysisch klingen. Wäre das
Problem ein metaphysisches, so hätte Calvin alle Vermittlungen,
ähnlich wie Zwingli, indifferenzieren müssen. Die göttliche \ orher-
bestimmung und ihre Bedeutung wird nicht der Vermittelung
Heiles in Christo), sondern überall unsren Werken, Verdiei
und unsrer Würdigkeit gegenübergestellt: Christus non nisi ex
dei beneplacito quidquam mereri potuit ; sed quia ad hoc destinatus
erat, ut iram dei sacrificio suo placaret suaque oboedientia delerel
transgressiones nostras, in summa, quando ex sola dei gratia . .
dependet meritum Christi non minus ab te quam illa h u m a n i s
o m n i b 11 s iustitiis opponitur.
Es ist Calvins Überzeugung, daß die freie Gnade Gottes über
allem Verdienste und Erlösungswerk Christi steht als das schlecht-
hin entscheidende Prinzip. Er schreitet daher gemäß seinem
Grundsatz von der absoluten Ursächlichkeit göttlicher Gedanken
und Ratschlüsse im Verhältnisse zu allen Willensakten des Ge-
schöpfes von der Abstraktion der erfahrenen Wirklichkeit der
Sünde und Erlösung zur Aufnahme der Erlösung und Sünde als
Bedingung der Erlösung in den göttlichen Ratschluß selbst. Ob-
wohl von da aus gesehen das Verdienst, die Vermittelung. < Ge-
nugtuung und Erlösung Christi in der Zeit nicht die causa prima,
sondern die causa secunda, d.h. Ausführung eines schon gefaßten
Beschlusses ist, so ist dennoch die Ausführung der frei be-
schlossenen Erlösung ein reelles, wahres und notwendige- \\ erk ;
die Begnadigung ist nur durch Christus verwirklicht, d. h. mani-
festiert und dargeboten worden; der Gottmensch ist dazu aus-
ersehen worden, damit wir uns gründlich auf die göttliche Gnade
412 Calvins Vorsehungslehre.
verlassen. Hier bricht nämlich das Interesse an dem Zentral-
prinzip des Heiles, der Sinn für das geschichtliche Werk Jesu
durch. In diesem Zusammenhang polemisiert Calvin gegen die
Ansicht, die in Christus nur ein Werkzeug, nur einen Heilsdiener
sieht (iy, i), welche die Kraft Christi vermindern will (17, 2) und
in ihm nur formalis causa des Heiles anerkennt. In diesem Zu-
sammenhang ist Christus Urheber und Grund des Heiles (16, 1 ;
17, 2), Quelle der Gnade (17, 1) ; in diesem Zusammenhang heißt
es, daß wir uns direkt an Christum halten müssen, nicht an den
Ratschluß Gottes,1 wir sollen Christum so aufnehmen, wie er uns
vom Vater dargeboten wurde, nämlich bekleidet mit seinem Evan-
gelium.2 Wir können zusammenfassend sagen, Calvin ist in seiner
Lehre vom Werke Christi von dem Seligkeitsinteresse, Selig-
keitsprinzip beseelt; er sieht in dem Verdienst Christi, seiner
Genugtuung und Erlösung kein bloß formales und ideelles, son-
dern materiales und reales Mittel der Gnade Gottes. In diesem
Sinne steht die Lehre vom Werke Christi selbständig da.
Wo er aber dieses Mittel dem beneplacitum oder der misericordia
und gratia dei, also dem auf unsre Erlösung sich beziehenden
göttlichen Willen als der causa prima in objektiv dogmatischem
Interesse unterordnet, tut er dies mit der Absicht, die Gnade
Gottes unsern Werken gegenüber zu stellen, also nicht in meta-
physisch-spekulativem Interesse.
Ähnlich verhält es sich mit der Rechtfertigungslehre. Als
solche hat sie keine selbständige Bedeutung, sondern wird aus der
Erwählung abgeleitet; sie wird zunächst definiert als declaratio
divinae electionis . . (op. 1, 540), als deren symbolum (op. 1, 165).
als Folge der auf die Erwählung basierenden adoptio.3 Auch die
Ableitung aus der Erwählungslehre geschieht unter dem Gesichts-
punkt der series (op. 2, 578) und ordo (op. 1. 539). Der Grund der
Heilsgewißheit aber wird — und hiermit gebe ich Scheibe (a. a. O.
S. 101) vollständig recht — in der „geschichtlich zustande gekom-
menen Vereinigung mit Christo", in dem ,, Bewußtsein der Recht-
fertigung" gesucht.
1) Neque ego sane ad arcanam dei electionem homines ablego, ut inde
salutem hiantes exspectent. sed recta ad Christum pergere iubeo, in
quo nobis proposita est salus.
2) Die Erkenntnis, daß die ewige Erwählung sich allein in Christo
und im Glauben an das Evangelium realisiere, ist unstreitig ein Haupt-
grund, weshalb Calvin alle Gemeinschaft mit dem genus doctrinae Zwinglii
in der Prädestinationsfrage ablehnt; vgl. Hess. Bullingers Leben II, 45.
3) Brief der Genfer Geistlichen an die Züricher Op. 8, 207.
Von Lic. Dr. J. B<>:
Kurz: Handelt es sich um das (subjektive) Seligkeitsinter»
so sucht Calvin die Heilsgewißheit in dem Erlösungswerk Christi;
handelt es sich ihm um die Wahrung der göttlichen Allwirksamkeit,
um die objektive Begründung dieses Heilsbewußtseins, so geht
er zurück auf den göttlichen Ratschluß als die logisch und zeitlich
höchste causa. Bei dem ersteren kommt mehr der uni-
tarische, bei dem letzteren mehr der diagonale Charakter
des calvinischen Denkens zum Vorschein. Für diese objektive
Betrachtung nimmt die Prädestinationslehre entschieden die Stelle
der Zentrallehre ein. Die Providenzlehre, in der die allgemeine
göttliche Allwirksamkeit beschrieben wird, bildet für die dog-
matische Betrachtung1 die Grundlage der Prädestinationslehre.
Die Vorsehungslehre enthält ferner mit ihrer Betonung des
Zusammenhanges von Ursache und Mitteln allgemeine Grundlagen
für die Lehren vom G e setz und den Gnadenmitteln.
Als der Allgenugsame, Selbstgenugsame und Alleinwirkende
ist Gott an ein Gesetz nicht gebunden, denn er ist sich selbst
Gesetz; aber dennoch ist das Gesetz ein notwendiges Mittel der
göttlichen Pädagogik. Indem es die Gerechtigkeit Gottes dar-
stellt, die allein vor Gott gilt, so erinnert es zuvörderst einen jeg-
lichen an seine Ungerechtigkeit, überführt und verurteilt ihn
(Inst. II, 6, 7, 8). Es hält ferner diejenigen, welche sich nur ge-
zwungen des Guten befleißigen, durch Furcht vor den in denselben
gedrohten Strafen in gehörigen Schranken. Das Gesetz ist ein
Mittel (nach dem Apostel), die wilden und sonst unmäßig aus-
schweifenden, sündigen Lüste zu bezähmen (Inst. II, 7, 10). Denn
wo der Geist Gottes nicht regiert, da werden die Begierden oft
so heftig, daß der ihnen unterworfene menschliche Geist in Gefahr
steht, Gott zu vergessen und zu verachten, was sicher geschehen
würde, wenn der Herr es nicht durch dieses Mittel verhinderte.
Die zum Erbe seines Reiches Auserwählten erhält er, wenn er sie
nicht augenblicklich erneuert, bis zu ihrer Fleimführung durch des
Gesetzes Werk in seiner Furcht (2. 7. 1 ij. Das Gesetz führt
endlich die Gläubigen allmählich zu einer immer gründlicheren
Kenntnis des göttlichen Willens und befestigt sie in derselben
(III, 7, «).
Die Prinzipien der Gnadenmittellehre bringt Calvin selbst mit
1) Aber nur für die dogmatisch-systematische ktung; denn wir
haben bereits gesehen, daß die Begründung des Vorsehungs g 1 a u b e n s
aus dem Bewußtsein der Erwählung (resp. Versöhnung) abgeleitet wird.
414
Calvins Vorsehungslehre.
den allgemeinen Prinzipien der Vorsehungslehre betreffs der causa
prima und causae secundae in Zusammenhang.1 Die Wirksamkeit
des Wortes und der Sakramente wird auf die Ursächlichkeit des
Geistes Gottes resp. Christi zurückgeführt, aber ihr Wert als fidei
adiumenta und testimonia gratiae dei und ihr Genuß als heilsam
gegen die Schwärmer und Anabaptisten hervorgehoben: quia etsi
externis mediis alligata non est dei virtus, nos tarnen ordi-
när i o docendi modo alligavit : quem dum recusant temere
fanatici homines, multis se exitialibus laquaeis involvunt. Deus
(exercitium) sua institutione monstravit esse necessarium (Inst.
41, 5). (Gratiae pignus) non apprehenditur nisi ab his, qui verbum
et sacramenta certa fide accipiunt (Inst. IV, 14, 7). Gott hält sich
bei seiner Heilswirkung modo ordinario an sie (ordinaria
dispensatio (Inst. 14, 16, 9; op. 49, 205). Wenn dabei auf die
absolute Wirksamkeit des heiligen Geistes rekurriert wird, so ge-
schieht es, um die göttliche Souveränität zu wahren (non autem
perpetuam ei regulam praestituere ne alia uti ratione possit (Inst.
4, 16, 19). So kommt auch der Satz vor: itaque sie inter spiritum
sacramentaque patior, at penes illum argendi virtus resideat, his
ministerium duntaxat relinquatur (Inst. 4, 19, 9).2
Fassen wir zusammen : die Prädestinationslehre ist die Zentral-
lehre Calvins; aber nicht im Sinne des dogmatischen Ausgangs-
prinzips. Demgegenüber kann die Vorsehungslehre als Stamm-
lehre bezeichnet werden, indem in ihr die allgemeinen Voraust-
setzungen für die Lehre von der Prädestination, vom Gesetz, von
dem Werke Christi und den Gnadenmitteln enthalten sind.
1) Vgl. die beiden Ausführungen Inst. I, 16. 2 mit IV, 14- 12.
2) Unbegründet ist demnach die Behauptung Ritschis (Jahrb. f. d. Th.
a. a. O. S. 108 f.) : Der Abstand zwischen Calvins und Luthers Theologie,
namentlich in den Lehren von der Person Christi und den Sakramenten,
gründet sich . . . darauf, daß Calvin mit Zwingli den causalen Einschlag
der Allwirksamkeit Gottes durch die Reihe seiner providentionellen Zwecke,
also auch seiner Mittel zur Erlösung hierdurch in der Form geltend^ macht,
daß die oberste Ursache die Mittelursachen an Fülle überbietet,
während Luther auf dem Höhepunkte der zweckvollen Weltleitung durch Gott
in der Person Christi die Fülle der göttlichen Wesensoffenbarung als den
allgemein gültigen Maßstab ergreift, dessen Glanz ihn gegen das positive
Gewicht der göttlichen Allwirksamkeit gleichgültig macht und dessen
vollen Wert er durch seine Deutung der Sakramente zu verbürgen sich
gedrungen fühlt.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. ; [ <t
III. Kapitel.
Der Charakter der Frömmigkeit Calvins iu seiner Vorsehungslehre.
Wie nach der Eigenart der Calvinschen Denkweise, so
hat man auch nach dem Grundzug der Frömmigkeit Calvins ge-
fragt. Hatte man seinen alles bestimmenden Ratschluß im Auge,
so charakterisierte man seine Theologie als eine wesentlich fata-
listisch gefärbte. .Andererseits führten die sehr oft bei Calvin vor-
kommenden eschatologischen Aussagen zu der Annahme, seine
Theologie und Frömmigkeit sei vorzüglich Jenseitschristentum.
Der Vorwurf des Fatalismus ist so alt wie die Theologie
Calvins selbst. Er ist ihm nicht bloß von Feinden (Pighius, Tile-
mann Hesshusius, S. Castellio und Bolsec),1 sondern auch von
Freunden gemacht worden. Unter den letzteren war es nament-
lich Melanchthon, der im Hinblick auf die Behandlung Bolsecs
schrieb : Vide saeculi furores, certamina allobrogica de stoica
necessitate tanta sunt, ut carceri inclusus sit quidam, quia a Zenone
(gemeint ist Calvin) dissentit (C. R. VII, 930). In der neuesten
Zeit hat M. Scheibe (a. a. O. 123) behauptet, daß Calvin in der
Betonung der göttlichen Allwirksamkeit, insbesondere auch hin-
sichtlich der menschlichen Handlungen und Geschicke im Sinne
des Determinismus von Seneca beeinflußt worden ist. Märten-
s e n 2 konstatiert, daß sich in Calvins Persönlichkeit ein Element
des Stoizismus regt, welches in seine tiefste Lebensanschauung
aufgenommen war und mit seiner dogmatischen Anschauung,
namentlich seiner Prädestinationslehre zusammenhing. W i n d e 1 -
band 3 charakterisiert die Lebensauffassung Calvins als eine harte
und düstere. „Weit mehr als wenn in naturalistischen Weltvor-
stellungen das Schicksal oder der Xaturmechanismus als alles
Geschehen bestimmende und alle endlichen Dinge erzeugende
einheitliche Ursache aufgefaßt werden, .... hat die theologische
Prädestinationslehre etwas Quälendes an sich, wogegen sich das
menschliche Gefühl als gegen die grausamste Art des Fatums
gesträubt hat." Xoch entschiedener als Luther sollen sich nach
dem Verfasser des Artikels „Fatum" in Wetzers und Weites
Kirchenlexikon"' IV S. 1276 Zwingli und Calvin zum ..sittlichen
Fatalismus" bekannt haben. — Martin Schulze4 hat in der
1) Vgl. Bezas Apologie in Bezae traetat. theol. ed II tom. I p. 313 ff.
2) Die christl. Ethik6 S. 436.
3) A.a.O. 171 f.
4) In seinen Schriften ..Meditatio futurae vitae" in Studien zur Gesch.
d. Theol. u. d. Ki. Bd. VI Heft 4, 1001 und ..Calvins Jenseits-Christentum
in seinem Verhältnis zu den religiösen Schriften des Erasmus" 1902.
a \ (3 Calvins Vorsehungslehre.;
Theologie Calvins eine entschiedene und anhaltende Richtung des
Willens und Gefühls auf das jenseitige Lebensziel wahrzunehmen
geglaubt, deren Kehrseite die gründliche Verachtung des gegen-
wärtigen Lebens, ein Pessimismus und eine asketische Sittlichkeit
ist. Mit Schulze stimmt Kattenbusch1 überein.
Was uns im Rahmen dieser Arbeit interessieren kann, ist die
Frage, ob wir in der Vorsehungslehre die beiden
Charakterzüge finden. Beherrscht den Vorsehungsglauben der
fatalistische Zug der blinden Ergebung oder der eschatologische
der Sehnsucht?
i.
Calvin ist kein Stoiker, kein Fatalist. Man
hat sich zu dieser Meinung wohl hauptsächlich durch den äußeren
Umstand verleiten lassen, daß Calvin in der Jugend viel mit
Seneca beschäftigt, dessen Traktat ,,de dementia" in seiner Erstlings-
schrift ausgelegt und den letzteren gegen einige Vorwürfe von
Quintilian und Gellius verteidigt hatte.2 Es ist zwar zuzugeben,
daß sich Calvin, wie seine Landsleute überhaupt,3 zu Seneca hin-
gezogen fühlte. Man darf aber der Meinung Scheibes nicht zu-
stimmen, daß Calvin von Seneca in der Betonung der göttlichen
Allleitung, insbesondere auch hinsichtlich der menschlichen Hand-
lungen und Geschicke im Sinne des Determinismus von Seneca
beeinflußt worden sei. Wir haben schon oben eine Parallele der
calvinschen Freiheitslehre mit der stoischen konstatieren können.
Sie bezieht sich aber nicht, wie Scheibe will, auf den unbedingten
Determinismus, wie man überhaupt von einem solchen in der Stoa
nicht reden kann. In der stoischen Physik, dem Stamm der Lehre,
herrscht allerdings nur die Notwendigkeit. Aber die Ethik, die
Blüte und Frucht, bedarf der Freiheit: Denn ohne sie scheint sie
unmöglich oder unnütz zu sein. Dieser Dualismus äußert sich
namentlich in der Psychologie; von der physischen Seite weist
sie den Zug zur unbedingten Notwendigkeit, von der ethischen
zur Freiheit.
Soweit ist Calvin nicht gegangen, daß er, wie Antonius
Muretus 4 Senecas Vorsehungslehre verherrlicht hätte.5 Auch
i) In P. R. E.3 Bd. XVI, S. 170.
2) Op. 5, 6 ff.; vgl. Beza, Vita Calvini, p. 5.
3) Niebuhr, Vorträge über röm. Gesch. III, 185; Gerlach, histor.
Studien p. 285.
4) In einer Rede zu Rom am 3. Juni 1557.
5) Nach Seneca sind ja Gott, die Natur und das Fatum identisch.
Nee natura sine Deo et nee Deus sine natura, sed idem est utrumque.
Von Lic. Dr. I 4 17
das Urteil der Herausgeber des C. R.,1 daß wir von dem
theologischen, religiösen und biblischen Charakter, den wir bei
dem späteren Calvin bemerken, in diesem Kommentar nichts spuren
und höchstens die Eleganz der Sprache bewundern müssen, ist von
Doumergue 2 als unrichtig erwiesen worden. Nicht bloß führt
Calvin hier Belege aus der Bibel und patristischen Literatur an,
sondern er polemisiert im Namen der nostra religio ; namentlich
gegen die individualistische inhumane Ethik Senecas und der
Stoiker überhaupt. In den sonstigen Schriften finden wir keine
Stelle, wo Calvin mit den Ansichten Senecas einverstanden wäre. '
Naturam voca, fatum, fortunam, omnia eiusdem Dei nomina sunt varie
utentis sua potentia Benef. IV, 8, 2. — Fatum nihil alienum sit quam
series implexa omnium causarum, ex qua ceterae pendent Benef. IV, 7, 2.
— Vis illum fatum vocare? Non errabis. Hie est, ex quo suspensa sunt
omnia, causa causarum (Naturalium quaestionum II, 4, 1). Die Vor-
sehung führt Seneca auf die Verkettung der natürlichen Ursachen zurück.
Verberat nos et lacerat fortuna (de prov. IV, 12); fata nos dueunt . . .
causa pendet ex causa (ib. V, 7). Quid est boni viri? Praebere se fato,
grande solatium est, cum universo rapi. Auch die Götter sind dem fatum
unterworfen: Quidquid est, quod nos sie vivere sie mori iussit, eadem
necessitate et deos alligat. Irrevocabilis humana pariter ac divina cursus
vehit. Ille ipse omnium conditor et rector scripsit quidam fata, sed
sequitur. Semper paret, semel iussit.
i) Op. 5, XXII.
2) Jean Calvin I, 216 ff.
3) Op. 5, 112.
4) Übrigens wird Seneca — die obengenannte Erstlingsschrift aus-
genommen — von Calvin sonst nur an fünf Stellen erwähnt (an vier von
diesen genannt), die aber nicht im mindesten die Vorschungslehre Senecas
berühren und keine Begeisterung Calvins für ihn an den Tag legen. 1. In
der Auslegung des 2. Gebotes (Inst. I, 12. 2 = Op. 1, 385) weist Calvin
darauf hin, daß der heilige Geist seine Donnerstimme so gewaltig gegen
die figuras quae ad Deum figurandum eriguntur erschallen läßt, daß sogar
,, elende und blinde Bilderverehrer" unter den Heiden gegen die Götzen-
bilder sich erklären müssen, und führt als Beispiel die von Augustin (de
civitate Dei 10) zitierten Worte Senecas an: Sacros, inquit, immortales
inviolabilesque deos in materia vilissima atque immobili dedicant illisque
hominum et ferarum habitus induunt. — Alan sieht, daß hier kein be-
sonderes Lob Seneca, einem der Blinden und Elenden, ausgesprochen wer-
den soll; wenn hier überhaupt von einem Lob die Rede sein darf, so muß
dieses dem heiligen Geist und nicht Seneca gelten. 2. Tadel und nicht Lob
kann man in dem Inst. II. 2. 3 angeführten Sätzen finden: Quia etiam eo
licentiae quidam eorum proruperunt, ut iaetarint deorum quidem esse
munus, quod vivimus, nostrum vero quod bene saneteque vivimus. (Unter
quidam wird Calvin Seneca und Alex. Aphrodisiensis gemeint haben; nach
dem ersteren verdankt der Mensch nur sein Sein Gott; sein S o s e in resp.
sein gutes Sosein und die damit verbundene Seligkeit hat er selbst erworben
[Epp. XX, XXI, LIII, CXXIV]; nach dem letzteren ist der Mensch nur
tu ä&tdipoQtt den Göttern schuldig; die Götter sind andererseits verpflichtet,
Calvinstudicn.
A I 8 Calvins Vorsehungslehre.
Bei der Erörterung des Vorsehungsglaubens führt er Beleg-
stellen nur aus Augustin und Basilius Magnus an.
Der Reformator wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen
alle Vorwürfe, die seine Anschauung als fatalistisch brandmarken
wollen (I, 16, 8. 9, Op. 34, 257; Op. 44, 203). Er verwirft den
Ausdruck „fatum" gänzlich,1 insofern darin die Lehre von einer
blinden Notwendigkeit, die aus dem großen Ursachenverband im
Sein und Geschehen abgeleitet wird, enthalten sein soll. Denn es sei
eins von den Worten, deren profane Neuigkeiten uns Paulus fliehen
heißt ; es sei ein verhaßtes Wort, durch dessen Verwendung man die
göttliche Wahrheit beeinträchtige, und, wie das ihm verwandte Wort
nachdem sie die Gesamtheit und die Menschheit darin geschaffen haben,
für sie zu sorgen.) Diese Aussage führt Calvin an als die extremste Konse-
quenz der philosophischen These, daß die „Tugenden und Fehler in unserer
Macht sind", da wir die ratio, welche die Leidenschaften frei beherrschen
kann, besitzen. Daß Calvin mit diesem Satze Senecas nicht einverstanden
ist, geht sowohl aus dem Ausdruck ,,eo licentiae" als daraus hervor, daß
er in dem nächsten Abschnitt die kirchlichen Schriftsteller rügt, daß sie
diesen philosophischen Anschauungen zu viel Konzessionen gemacht hatten.
3. In Praelectiones in Ezech. proph. in der Erklärung des 4. Verses des
1. Kap. (Op. 40, 33) lesen wir: Refert Seneca de quodam morione, qui apud
socrum eius fuerat: confectus senio perdiderat usum oculorum; clamabat, se
nihil tale esse promeritum, ut coniectus esset in tenebras: putabat solem non
amplius lucere in mundo, ipse autem erat caecus. Diese Erzählung führt
Calvin nun, an, um von derselben Anwendung auf die analoge Erscheinung auf
dem religiösen Gebiet zu machen: ,,Idem et nobis contingit; caecuti-
mus, quem ad modum dixi. et interea volumus reiicere caecitatis nostrae
causam in ipsum Deum. Keineswegs ist hier aber die Tendenz Seneca
irgendwie zu verherrlichen. Es sei nebenbei bemerkt, daß Calvin hier
Seneca ungenau, wohl aus dem Gedächtnis zitiert hat. Denn in der Stelle
Senecas, die offenbar Calvin vorschwebte (Epist. X, 20 — Senecae opp.
ed. Haase S. 102), ist nicht von einem Narr (morio), sondern einer
Blödsinnigen (fatua) und nicht von der Schwiegermutter (socrus), sondern
der Frau Senecas die Rede. 4. Die Stelle in Op. 52, 66 (Erklärung des
22. Verses des 4. Kap. des Philipperbriefes) kommt für uns gar nicht in
Betracht; denn da polemisiert Calvin nur gegen die falsche Exegese, daß
unter den fratres, die mit Paulus die Philipper grüßen, sich auch Seneca
befinde, denn dieser „neque ullo unquam se christianum esse probavit.
5. Op. 2, 517 erwähnt Calvin nur ein auch von Seneca zitiertes, von den
Alten oft angeführtes Sprichwort: Deum sequere.
1) Wenn Maresius und lutherische Theologen, wie Hollaz, die von
Thomas v. Aquino gebrauchte Bezeichnung der Vorsehung als eines fatum
christianum billigen, so steht es allerdings nicht im Widerspruch mit Cal-
vin. Calvin nimmt fatum im schlimmen Sinne als Gegensatz gegen die be-
wußte Providenz und leugnet ein blindes fatum. Die erwähnten Dog-
matiker nehmen fatum im relativ guten Sinn als Gegensatz gegen den Zu-
fall und behaupten in diesem Sinn ein fatum christianum (Maresius, Syst.
theol. § 13. 6 f.). Doch ist dieser Gebrauch ein mißlicher, irreführender, und
man muß Calvin recht geben, wenn er den Ausdruck gänzlich verwirft.
Von Lic. Dr. J. Bohatec. 4 I 0
Zufall (fortuna), nur ein heidnischer Ausdruck. Die Lehre der
Stoiker schiebe man ihm mit Unrecht unter, denn diese wollen
nur aus dem kausalen Zusammenhang im Sein und Geschehen
Notwendigkeit ableiten, suchen also die Ursächlichkeit in
unvernünftigen nexus rerum und nicht in dem intelligenten Gott.
Die Stoiker ..weben ihr fatum zusammen aus den gordischen Ui
Sachenverkettungen", in die sie auch ihren Gott verstricken :
schmieden goldene Ketten, mit denen sie Gott fesseln, um ihn den
geringen Ursachen zu unterwerfen (Op. 8, 359; vgl. Op. 1, 190.
6, 257: 21, 023; 32, 107; 34, 257; 40, 33, 414; 45. 289). Seh m
dieses schroffe Urteil über die Stoiker, welches in dieser Allgemein-
heit sogar übertreibt — denn bei Seneca und der späteren Stoa
wird der Gottesgedanke im großen und ganzen vorwiegend als ein
geistiger und sittlicher gefaßt und unter den Begriff der Vorsehung
gerückt1 — könnte einzig genügen. Damit wäre aber das Hai
problem nicht erschöpft, sondern umgangen, denn man könnte
noch von einer stoischen Stirn m u n g in der Frömmigkeit Cal-
vins reden, einem Grundzug seines Denkens, der sich seiner
empfänglichen Seele als Frucht der eifrig betriebenen humanisti-
schen Studien eingeprägt hat. Das Problem wird erst dann g< '
wenn der Nachweis gelingt, daß Calvin innerlich mit dem stoischen
Grundprinzip nichts zu tun hat, ja zu ihm in ausgesprocln
Gegensatz steht. Dieser Gegensatz geht, um es kurz zu sagen,
zurück bis in den tiefsten Zwiespalt zwischen dem antiken und dem
christlichen Geiste. Der Calvinismus ist Theokratismus, d. h. hier
ist Gott allein der unbedingte Herrscher; der Stoizismus predigt
1) Zeller: Die Philosophie der Griechen. III. Aufl. III. I, S. 702 ff .
Gott ist der erhabene Vater Marens magnificus), die Menschen seine Ab-
kömmlinge (vera progenies). Er hat den Sinn eines Vaters gegen die
Menschen (patrium deus habet animum) : wir werden wie Lieblinge von
ihm geliebt (usque in delicias amamur) und dürfen ihn nicht anders als
einen Vater verehren (De prov. 1. 5; 2. 6. De benef. IV. 5. 1; 19. 3
auch die von Zeller angeführten Beweisstellen: Benef. I, 5—7. 9: IV 3—9-
25. 28). Di omnium rerum optimi autores qui beneficia ignoranti dare
ineipiunt ingratis perseverant. Morc optimorum parentum. qui maledictis
suorum infantium adrident. non cessant di beneficia congerere (Benef. VII.
31, 2. 4). Deo sat est qui colitur et amatur (Ep. 47. 1S1. Intcr 1
viros ac deos amicitia est . — Amicitiam dico immo etiam necessitu
similitudo quoniam quidem bonus tempore tantum a deo differt. diseipulus
eius aemulatorque et vera progenies (r. 5). — Die Vorsehung wir
eine intelligente und sittliche, als weise Erzieherin gedacht (De prov. .
Hos itaque deus quos probat, quos amat. indurat, recognoscit, exercet.
Alle Dinge dauern fort, nicht weil sie ewig sind, sondern weil die -
des Weltregenten sie vor dem Untergange bewahrt.
27*
A20 Calvins Vorsehungslehre.
die Selbstgenügsamkeit des durch die Tugend gereiften Weisen,
mit einem Wort : den Tugendaristokratismus.1
Aristokratisch steht der stoische Weise dem Schicksal gegen-
über. Er beugt sich nicht unter die eiserne Notwendigkeit, er wird
nicht kleinmütig. Im Gegenteil, das Verhängnisvolle, Unan-
genehme, die Aporien des Lebens hält er für wünschenswert ; denn
erst in ihnen zeigt er seinen Mut und schärft seinen Willen. Sie
sind für ihn Maßstab für die Kräftigkeit seines Selbstbewußtseins.
Als kämpfender Heros erweckt er die Bewunderung der Götter;
er ist Schauspiel für sie. „Was hat wahrlich Juppiter Schöneres,
sagt Seneca, als daß er den Cato sieht, der, obwohl seine
Partei gebrochen wurde, dennoch unter den Ruinen des Staates
aufrecht steht." Es ist demnach mit einem Worte Cato das Ideal
der stoischen Vollkommenheit. Calvin zitiert in seinem Psalm-
kommentar (Ps. 46), den Vers von Horaz : Si fractus illabatur orbis
inpavidum ferient ruinae, und fügt hinzu : „Es scheint ein schöner
Gedanke zu sein, aber da noch nie so ein Mann gefunden worden
ist, den Horaz hier schildert, so redet er ein leeres Geschwätz.
Die wahre Geistesgröße ruht nach mir in dem Schoß Gottes allein.
Hier allein ist man nicht bloß furchtlos, sondern auch sicher, wenn
die Trümmer die ganze Welt verschütten." Kann es eine größere
Disharmonie zwischen Theorie und Praxis geben, als die stoische
Verzweiflung am Leben, die sogar zu einem Selbstmord führt?
Eine durchgreifende Charakteristik dieser stoischen Weisen gibt
uns Calvin in seinem Psalmenkommentar (Op. 32, 679) : „Wir
kennen, sagt er, einige Philosophen, welche von der göttlichen
Vorsehung geredet haben, aber die Erfahrung hat gezeigt, daß
sie ihr Bekenntnis mit der Tat nicht bekräftigt haben. Wir haben
ein merkwürdiges Beispiel davon an Brutus. Man kann sich keinen
tapfereren Mann denken als ihn. Seine Genossen haben ihm
dasselbe Zeugnis ausgestellt. Er, der Stoiker, predigte herrlich
die Tugend und Vorsehung; nachdem er aber von Antonius besiegt
worden war, ruft er aus : Was ich von der Tugend geglaubt habe,
ist lauter Täuschung, und das Trachten nach der richtigen Lebens-
weise ist nur Lug und Trug, weil der Zufall in den menschlichen
Dingen herrscht. So ist der Mann mit heroischer Brust, der in
seiner Person die wunderbare Standhaftigkeit darstellte, unter
Verzicht auf die Tugend und, unter ihrem Namen Gott lästernd
1) Vgl. zum Folgenden namentlich Baur, Seneca und Paulus in der
Zeitschrift für wiss. Theol. 1, S. 161 ff.
Von Lic. Dr. J. Bohatcc. 42 1
mit Schanden ans der Welt geschieden." So wird der Glaube an das
fatnm zum Glauben an die Ohnmacht. Merkwürdig: Er entsteht
mit dem Glauben des Stolzes an sich selbst und ist mir seine andere
Seite. Das fatnm wurzelt als blinde Notwendigkeit außer nnd
über der Natur in den Affekten der Menschen nnd nirgend anders.
Wir haben hier die Notwendigkeit der Furcht neben der krank-
haften Überhebimg; der großmütige Weise wird zu einem feigen
Neinsager zum Leben, zu einer erbärmlichen Kreatur.
Und der Gegensatz geht weiter. Der Weise setzt sich über
diese unangenehmen Lebenslagen hinweg, indem er diese so be-
trachtet, als ob sie nicht existierten. Er mahnt den Menschen, er
solle sich die Trübsalblasen und alle Pöbeltraurigkeit verlernen.
Der Wreise ist apathisch; er braucht keine Geduld, er ist über die
Geduld erhaben (supra patientiam), damit ist er geradezu größer
als Gott, der nur außerhalb der Geduld ist (extra patientiam). Er
t r ä g t sein Kreuz nicht, sondern er s c h 1 e p p t es, weil er es eben
tun muß. Der Vorzug des Weisen vor anderen besteht darin, daß er
nicht so vielfach wie sie gekreuzigt ist ; wenn er aber gekreuzigt
ist, so fühlt er die Nägel nicht, die ihn durchbohrten. — Eine Härte
(durities animi), für die Calvin nicht genug Worte der Verurteilung
rinden kann. Der Stoiker ist ein kalter eiserner Geist. — Bei
seiner Apathie ist er aber höchst ungeduldig ; er nimmt die- bevor-
stehende Zukunft in die Gegenwart voraus. Er ist ein Himmels-
stürmer, der dem Himmelreich Gewalt antut. Er antizipiert den
Seelenzustand der Befreiung von allem Übel. Daher lebt er im
Leben, als lebte er nicht darin. Der Stoiker ist ein antiker
Mönch : er bedarf des Lebens nicht, er ist über dessen Bedürf-
nisse erhaben. Nichts zu bedürfen ist göttlich ; daher kommt mög-
lichst wenig zu bedürfen der göttlichen Vollkommenheit am
nächsten. Der Weise sieht den Frieden nicht in der zweckvollen
Leitung Gottes; er will nicht in Gott ausruhen, er ruht immer in
sich allein. Er lebt, als ob er nicht lebte. Schon Diogenes lobte
die, welche Im Begriffe zu heiraten, nicht heirateten, welche im
Begriffe zur See zu gehen, nicht zur See gingen, indem er für das
Beste im Leben die Freiheit erklärte. In allen diesem wird an-
genommen, daß die Freiheit oder die Selbstüberwindung, welche
über dem Leben steht, eben durchaus immer sogleich zur Voll-
kommenheit und Glückseligkeit führe. Es wird angenommen, daß
in dem Maße, daß man die Zufuhren zum äußeren Glücke ver-
stopft, sogleich die Quellen des inneren Glückes reichlicher zu
A22 Calvins Vorsehungslehre.
fließen beginnen, ähnlich wie bei Untergang der Sonne die Sterne
hervorgehen. Daher kann auch das Glück nicht durch Schmerzen
getrübt werden. Denn wovon ich abstrahieren kann, das ist für
mich nicht vorhanden. Für den Geist ist nur das vorhanden,
wovon er will, daß es für ihn vorhanden sei. So ist denn der
Weise in seiner Stumpfheit selig, selig schon in der Gegenwart.
Das Gute selbst ist das Vollkommene ; das Gute kann aber nicht
geteilt werden. Wer darin ist, ist ganz darin. Wer nur zum Teil
darin ist, ist gar nicht darin, wer eine Meile und wer hundert
Meilen von Kanoppus ist, sind beide nicht in Kanoppus, pflegte
Zeno zu sagen. Wie könnte nun aber wohl ein so vollkommen in
sich befriedigter Mann irgend etwas Irdisches für an sich selbst
erstrebenswert, oder für ein wirkliches Gut halten, sei es nur Ver-
mögen oder Ehre oder Gesundheit oder Schönheit oder Körper-
stärke oder adelige Geburt. Alle diese sogenannten Lebensgüter
sind nichts anderes, als bloße auf Täuschung beruhende Blend-
werke. Überhaupt wird der Weise, als ein Verächter sinnlicher
Freuden, ein jedes Hilfsmittel für willkommen heißen, was ciafür
abstumpft und die Lust daran verdirbt. Das einzige wirkliche
Übel unseres Lebenszustandes besteht darin, daß wir in Illusionen
leben, welche uns das als Güter vorspiegeln, was lauter gleich-
gültige Gegenstände sind. Sobald wir nur allein das für ein Gut
erkennen, was wirklich ein solches ist, so verschwinden diese Ver-
suchungen und Verlockungen von selbst und beruhigen uns nicht
mehr.
Wir finden diese ganze Seelenstimmung des Stoikers genau
geschildert in folgenden Worten des Boetius : Flieh das Ver-
gnügen, treibe die Furcht aus, lasse die Hoffnung, tilge die
Schmerzen. Blind und gefesselt, schmachtet der Geist, wo diese
regieren.
Die Weltverachtung und die Einkehr in sich hat schwere
Folgen für die Gestaltung der Lebensanschauung. Wo man
in dem geschichtlichen und persönlichen Leben keine Teleo-
logie anerkennt, so erscheint diese Welt nur als eine im argen
liegende, die gar keine Hoffnung auf Verbesserung erweckt. Ein
düsterer Pessimismus, eine dumpfe Resignation breitet sich über
der Welt der Stoiker aus: „Es war", so sagt Seneca, „die Klage
unserer Voreltern, es ist unsere Klage, es wird die Klage der
Nachwelt sein, daß die Sitten verkehrt seien, daß Verdorbenheit
herrsche und daß die' Menschheit sich verschlimmere und alles
Von L:c. Dr. J. Bi j j ^
Heilige in Verfall gerate. Allein dies ist und wird immer dasselbe
sein, nur von Zeit zu Zeit wird es mehr dahin oder dorthin neigen,
wie Meereswogen, die die eintretende Flut immer weiter hinaus-
treibt, die Ebbe mehr im Innern der Ufergrenzen halt. Das (ine
Mal werden mehr ehebrecherische Sünden begangen werden, als
andere, und es wird die Züchtigkeit die Zügel zerreißen, das an-
dere Mal wird . . . die Wut der Küche herrschen, das eine Mal über-
triebene Putzsucht und Eitelkeit, wobei die Seele um so mehr ver-
wahrlost wird. Das andere Mal wird Mißbrauch der Freiheit in
Mutwillen und Keckheit ausarten." So können wir im Stoizismus
keine absolute Teleologie wahrnehmen weil die Weltentwicklung
sein festes Ziel hat, ist die ganze Welt nur Summe von Aggregaten,
deren einzelnes sich für sich selbst und zu sich selbst bewegt ;
keine hinaufsteigende Reihe, sondern nur ein ewiges Anfangen
auf derselben Stufe, und damit die Gefahr, in sich selbst zu ver-
sinken.
Der Vorsehungsglaube soll und, wenn er echt ist, muß die
Furcht überwinden, so ruft Calvin den stoischen Fatalisten zu.
Die Furcht wird überwunden, wenn man in Gott nicht eine ding-
liche Notwendigkeit, nicht eine in das Sein verflüchtigte Allkraft,
sondern die mächtige Hand des allweisen Vaters erkennt, als solche
anerkennt, ihm dafür Ehre gibt und seine eigene Tugend fahren
läßt. Gott, dem unbedingten Herrscher, muß man unbedingt ver-
trauen, obwohl, ja weil uns das Geschehen in der Welt unverständ-
lich ist. Das Vertrauen als bewußter Wille richtet sich auf das
bewußte Objekt. Es ist keine blinde Resignation. Es äußert sich
1. als Demut, wenn wir die Ratschlüsse und Wege Gottes nicht
verstehen, und 2. als Geduld, wenn wir unseren Lebensgang
durch Leidenserfahrungen gehemmt sehen.
1. Als Demut: Zwar sind wir nach Calvin besser daran als die
Stoiker, die das Weltgeschehen und das Leben des einzelnen als
Realitäten hinnehmen und sich über die Unebenheiten mit dem
zweifelhaften Trost hinwegtäuschen, daß es so notwendig ist. \ or
unseren Augen steht der große Weltzweck : durch unser bonum ac
salus geht die Entwicklung der Vollentfaltung der gloria dei zu.
Aber wir bewegen uns in Unvolikommenheiten bezüglich des Ver-
ständnisses der Einzelzwecke und ihrer Unterordnung unter den
absoluten Zweck; wir können nicht begreifen, „wie es geschehen
kann, daß Gott, wenn er die Welt anschaut, in so ungeordneten
Verhältnissen nicht mit seiner Hilfe kommt" (Op. 31. 680). Es
A2A Calvins Vorsehungslehre.
sind Täuschungen und Trübungen unseres Gemüts, wenn wir die
Dinge nicht in richtiger Weise abzumessen und abzuschätzen ver-
stehen. Es überfällt uns „eine schwere und schädliche Versuchung,
wo wir nicht bloß still mit Gott hadern, daß er die Dinge nicht in
Ordnung bringt, sondern wo wir sogar die Zügel lockern, um keck
sündigen zu können (Op. 31, 675); es stürmen Zweifel auf uns ein,
wenn wir an die Theodizeefragen herantreten oder wenn es uns
scheint, daß Gott mit den Welt- und Menschheitsgeschicken wie
mit Bällen sein Spiel treibt (I, 17, 1). Sind uns die Wege zur
Lösung der peinlichsten und wichtigsten Rätsel verborgen, so
dürfen wir uns nicht rein apathisch mit der Wirklichkeit ab-
finden, sondern wir müssen die prudentia haben, bescheiden unser
Urteil zurückzuhalten x und die geheimen Wege als in Gott ver-
borgen zu denken. Denn es gibt im Gesetz und Evangelium Ge-
heimnisse (occulta Providentia, abscondita iudicia), die weit über
unser Verständnis (sensus) hinausreichen ; aber da Gott die Seinigen
mit dem Geiste der Erkenntnis erleuchtet, damit sie die in seinen
Worten uns gnädig geoffenbarten Geheimnisse fassen, so ist hier
kein Abgrund (abyssus), sondern ein Weg, auf dem wir sicher
wandeln, eine Leuchte unseres Fußes, ein Licht des Lebens und
eine Schule sicherer und heller Wahrheit. Während dem Fleisch
die göttlichen mysteria nur paradox sind (Praelect. in XII proph.
pars I : Op. 42, 489 ; 49, 49) und es sie daher nicht als wahr gelten
läßt, so sei es für uns ein Gesetz der Demut, auszuruhen in seiner
höchsten Herrschaft und sich nicht in den Abgrund zu stürzen
(Op. 31, 680).
Die vollste Äußerung der Demut ist aber die Anbetung
(adoratio) der Geheimnisse Gottes,3 während es für den Stoiker jen-
seits der Grenze des Verstehens nur Furcht vor den Göttern gibt.
Calvin will sich dabei lieber den Vorwurf der Unwissenschaftlich-
keit zuziehen, als mit kecker Vernunft in mysteria Dei zu dringen.
1) Ad tempus suspendere indicia: Op. 31, 221; ut discamus iudicium
suspendere, sie non statim exsequitur deus, quod hactenus doeuit (Op. 31,
385; vgl. ib. 371; 601; hac uti m o d e s t i a , ut iudicium suspendere mali-
mus, quam notam temeritatis ineurrere (Op. 2, 154).
2) Quum sibi mundi regendi vindicet deus nobis incognitum, haec sit
sobrietatis ac modestiae lex acquiescere summo eins iudicio, ut eius
voluntas nobis sit unica iustitae regula. Dei providentiam recte et utiliter
nemo expendet, nisi qui sibi cum fictore suo mundique opifice negotium
esse reputans, ad metum et reverentiam, qua decet humilitate se submiserit
(I, 17, 2); vgl. Op. 43, 535: 44. 513-
3) Adorari et mirari sublimes vias Dei: Op. 31, 7l&-
Von Lie. Dr. J. Bohafc.
Wenn er zwischen der gelehrten Ignoranz und der nichtwissenden
Gelehrtheit wählen soll, so zieht er die erstere vor: Eorum,
quae scire nee datur nee fas est, doeta est ignorantia,
scientiae appetentia insaniae species (Op. 2, 7051. Dies alles wider-
legt hinreichend die These Brunetieres, der x in der Religion
Calvins als eine vernunftmäßige, wohldurchdachte, rationelle
Frömmigkeit sieht, die im wesentlichen fast ausschließlich in der
Anhängerschaft der Vernunft an fast bewiesene Wahrheiten
stehe.2 Ist nur „die logische Unbestreitbarkeit" das leitende
Motiv seines Denkens, warum schreckt er, „der Kartesianer vor
Kartesius", zurück, wenn ihn die „rationelle Augenscheinlichkeit"
dazu drängen sollte, das tiefste religiöse Bewußtsein zu verletzen,
vor der Konsequenz des Gedankens (vgl.: „Deus causa peccati")?
2. Calvin unterscheidet selbst seine Auffassung der Geduld
von der stoischen. Die wahre Geduld ist immer Wille, kein
leidentlicher Verzicht; sie ist Gehorsam, als tolerantia Ausdauer
und Ausharren, und nicht Stupor und duritics. Den Zustand
des Stoikers (extra patientiam, supra patientiam) kennt Calvin
nicht. Auch die Auffassung des Stoikers von magnaminitas billigt
er nicht. Er gebraucht zwar oft diesen Ausdruck (animi magni-
tudo Op. 31, 265, 462. aequus et modestus animus ib. 104; suspen-
siv animus ib 67), aequo et modesto animo crucem sibi imposi-
tam ferre; aequo animo ferre (283). Diese magnaminitas ist aber
ganz verschieden von der stoischen (Op. 5, 52) ; sie ist eine virtus,
mit der wir alles Schicksal getrost tragen lernen, und zwar so. daß
wir uns weder im Glück überheben noch im Unglück verzagen und
den Mut verlieren; daher sind die ungesunden Auswüchse der
Großmütigkeit die inflatio animi und elatio ad excessum, abjeetio
1) Chr. Welt 1902, S. 299.
2) „Diese Rel., die sich beweist, eine vernunftgemäße Religion, eine
intellektuelle Religion ist keine Religion, sie ist nur Philosophie, denn es
fehlt ihr das Geheimnis, das Unerkennbare, das Gefühl alles
dessen, was uns entgeht, das Gefühl unserer Unzulänglichkeit, mit einem
Wort : die Liebe. Wo wir aufhören zu verstehen, haben wir
ein Recht nicht mehr zu glauben. Calvin hätte fast ge-
sagt, die Pflicht dazu! Für ihn als Kartesianer vor Kartesius be-
deutet die rationelle Augenscheinlichkeit, die logische Unbestreitbarkeit das
untrügliche Zeichen oder den Beweis für die Wahrheit. Er würde
nicht glauben, wenn sich sein Glaube nicht formell auf
einen Syllogismus stützen könnte! Inmitten von alledem
vergißt er nur eins: wenn die Vernunft oder die Urteilskraft hinreichend
wären, um uns über das Problem unseres Daseins aufzuklären ,so würde
ja das Bedürfnis nach einer Religion nicht vorhanden sein."
A2Ö Calvins Vorsehungslehre.
et pusillanimitas ad effectum. In diesen extrema magnaminitatis
besteht aber nach Calvin das Wesen der stoischen magnaminitas
Er verurteilt daher (ib.) Cicero Tuscul. IV,1 der den hochherzigen
Mann also beschreibt: constantem volumus quendam sedatum,
gravem, humana omnia prementem, illum esse, quem magnanimum
et fortem virum dicimus. Diese Hochherzigkeit, meint Calvin,
ziemt sich einem Menschen vom niedrigsten und verwerflichsten
Charakter, einem Manne postremae ignobilitatis. Die stoische
Geduld ist nur ein steinernes Phantom, weil sie alle Menschlichkeit
beiseite läßt (exuta humanitate); dagegen will Calvin aber nicht
der mollities, der Weichlichkeit, das Wort reden. Er verurteilt
jeden Weltschmerz, jede Leidensscheu, die nicht tragen und
kämpfen, nicht überwinden will, jede Trägheit, die nur ein Ver-
langen ist nach Befreiung von zeitlichen Leiden, die nur Kreuzes-
flucht ist und nicht Himmelssehnsucht. Die wahre Geduld bewegt
sich in der Mitte zwischen der durities und mollities. Sie handelt,
indem sie leidet.
Die wahre Geduld 2 ist Gehorsam. Die Stoiker wollen zwar auch
gehorsame Geduld in den Trübsalen, aber, weil es so notwendig
ist (quia ita necesse est). Hiermit sagt der Stoiker weiter nichts,
als daß man Gott weichen müsse, weil man sich vergebens bemüht
hat, ihm zu widerstreben. „Wenn wir Gott allein darum gehor-
sam sind, weil wir es tun müssen, so werden wir aufhören zu ge-
horchen, wenn wir entrinnen können." Die Motivation der christ-
lichen Geduld ist eine andere: „Wenn uns Armut plagt oder Exil
oder Gefägnis oder Schmach oder Krankheit, so ist zu bedenken,
daß dies alles nur auf Wink der göttlichen Providenz und nach der
allein richtigen Ordnung (iustissimo ordine) geschieht. Darnach
ist der „frigida cantio" der Stoiker: „Es ist zu weichen, weil es not-
wendig ist", die lebendige und kraftvolle Maxime gegenüber zu
stellen: Es ist zu gehorchen, weil es ein „nefas" wäre, zu wider-
streben (Op. 2,522). So gestaltet sich die Geduld zum absoluten
Gehorsam, der aber willig und freudig geschieht. (Quod si salu-
tares nobis tribulationes esse constat, cur 11011 grato placidoque
animo eas susciperemus? Quare eas patienter ferrendo non suc-
cumbimus necessitati, sed bono nostro acquiescimus. Istae
1) Die Stelle findet sich Kap. 28, Abschn. 26.
2) Op. 31, 100. 161. 217. 220. 232. 251. 265. 283. 342. 357- 369 (=silere)
384; 395 (fons patientiae = gratiae Dei confidere) 405, 424; 477 ff- 4§i ff.
570. 585- 588. 590. 597- 6371.; Op. 32, 298. 314; Op. 50, 59. 64.
Von Lic. Dr. J. Bohatoc. .} 2 J
inquam cogitationes faciuni, ut quantum animi nostri contrahuntur
in cruce, naturali acerbitatis sensu, tanturn spirituali laetitia diffun-
danttir, Op. 2, 523). Dieser Zustand ist der Höhepunkl der wahren
Geduld, welche darin ihre Nährkraft hat, daß der Mensch in Gotl
den gerechten, um sein Heil bekümmerten, die promissiones ihm
vorhaltenden Gott erkennt und anerkennt. Diesen Höhepunkt
der Geduld hat Calvin im Auge, wenn er schreibt: Sanctis enim
tolerantiae laudem defert scriptura, dum ita malorum duritia afflic-
tantur, ut non frangantur nee coneidant, ita amaritudine pungun-
tur, ut simul perfantur spirituali gaudio. Diese Geduld fließt aber
nur aus der Erfahrung- der Trübsal (sensus aerumnarum), aus der
Traurigkeit (amaritudo) : * Quod . . . dicit (Paulus) sanetos in tribu-
lationibus gloriari non ita est: intelligendum, ac si res adversas
non extimescerent et refugerent, vel nulla earum acerbitate preme-
rentur, ubi ineidunt, nam nee patientia i n de na s c e r e t u r,
nsi esset amaritudinis sensus. Das heißt: der Christ muß Augen-
blicke erleben, wo er von Gott sich so verlassen und durch Trübsale
so gedemütigt fühlt, daß er kaum aufatmen kann (Op. 49> 9°)- Es
ist daher nicht richtig, wenn Herrmann (P. R.:; Bd. VI S. 410) an-
zunehmen scheint, daß es nach Calvin nicht Momente geben kann,
in welchen er nur Schmerz fühlt und die geistige Freude fahren
läßt. Das gaudium spirituale erlebt der Mensch, nachdem ihm
dieses von Gott eingepflanzt worden ist (Op. 49- 91)- Die Geduld
als solche schließt also nicht das Erleben des Überwindens in sich,
sondern: in eo se exserit patientia, si acriter exstimulatus timore
tarnen dei refraenatur, ne in aliquam intemperiem erumpat (Op. 2,
520). Daß die Geduld ein freiwilliger Gehorsam ist, ist also kein
analytisches, sondern synthetisches Urteil. Rom. 5, 3 hat nicht
einen einheitlichen Zustand im Auge, sondern Paulus gebraucht
hier nach Calvin eine „elegante Gradation", die damit abschließt,
daß alle die Trübsale, die wir erleiden, uns zum Heile ausschlagen
(ib. 90). Noch systematischer ist diese Steigerung in der Institutio
selber durchgeführt. Sic hebt mit der Erde an und endet im
Himmel: das Kreuz leitet zur Hoffnung an (Op. 2, 517).
2.
Das führt uns zu dem von M. Schulze als zentraler Ge-
danke der calvinistischen Theologie und Frömmigkeit bezeich -
1) Ib. 521.
42 ö Calvins Vorsehungslehre.
neten Idee der meditatio futurae vitae. Im Zusammen-
hange der Providenzlehre erscheint dieser Gedanke nicht als
eine zentrale, sondern nur als eine zur Vorsehung hinzutretende
Hilfsidee. Der Jenseitsgedanke wird immer nur da angewendet,
wo dem zweifelnden Gemüt die Aussicht auf Klarheit, dem
entbehrenden Herzen die Hoffnung auf Kompensation für das
Leiden und Weh dieser Welt eröffnet werden sollen, kurz, wo die
Theodizeefragen nicht restlos gelöst werden können. „Die Er-
kenntnis der Vorsehung Gottes muß uns nicht blos zur Verehrung
Gottes ermuntern, sondern auch zur Hoffnung eines künftigen
Lebens erheben, denn wenn wir sehen, daß die Erweise der Güte
und des Ernstes, welche der Herr uns gibt, nur Beginn und An-
fang sind, so dürfen wir nicht zweifeln, daß er dadurch auf größere
hindeutet, deren Offenbarung und Vollendung er einem andern
Leben vorbehielt. Wiederum, wenn wir sehen, wie die Frommen
von den Gottlosen gedrückt, gekränkt, mit Schimpf und Schmach
verlästert werden, während Frevler im blühendsten Wohlstande
Ruhe und Ehre genießen . . . müssen wir dann nicht schließen,
daß ein anderes Leben bevorsteht, in welchem dem Laster seine
Strafe und der Gerechtigkeit ihr Lohn bewahrt wird? (I, 5. 10). Wo-
hin die Gläubigen auch ihre Augen richten mögen, soweit diese
Welt offen vor ihnen liegt, so bietet sich ihnen nichts weiter als
das Bild dumpfer Verzweiflung dar. Damit sie nun in diesen so
großen Bedrängnissen und Ängsten nicht abfallen, so steht ihnen
der Herr hilfreich zur Seite mit der Ermahnung, sie sollten das
Haupt höher tragen und ihre Blicke weiter gerichtet sein lassen;
die Glückseligkeit, die sie in dieser Welt nicht sehen, würden sie
bei ihm finden. Diese Glückseligkeit nennt er Lohn, Vergeltung
und Wiedererstattung . . . um damit anzudeuten, es werde eine
compensatio geben für ihre Leiden" (Op. 1, 55). Wenn die Gläu-
bigen von Theodizeezweifeln geplagt werden, sollen sie wissen,
daß die salus der Gottlosen hinieden nur flüchtig ist (Op. 31, 366;
vgl. auch Op. 31, 379: Op. 2, 527. 528).
Diese Gedankengänge werden aber vielfach durchbrochen.
Das gegenwärtige Leben wird, weil in ihm der Heilsbesitz erreicht
werden kann, lebenswert, und die volle Ruhe in den WiderWertig-
keiten des Seins schon hier möglich. Denn die salus Gottes ist
unbeweglich und will in allen Nichtigkeiten der gegenwärtigen
Welt ergriffen und festgehalten werden. Daher ist das menschliche
Leben nicht eine Summe von Surrogaten, nicht ein Oszillieren
Von Lic. Dr. J. Bc .\2<>
zwischen Hoffnung und Zweifeln, zwischen pessimistischem Wirk-
lichkeitssinn und überspannten Zukunftserwartungen, sondern es
ergibt sich, weil der scheinbar ferne Gott uns immer gegenwärtig
ist, die Kontinuität und Totalitat seines Schützt,-. Der Perseveranz-
gedanke ist von dem continuus gratiae progressus untrennbar.1
So wird dann der volle Nachdruck auf die Gegenwart gelegt,
das Bejahen der Gegenwart wird absolut : summa est, si cupimus
dei manu protegi dandam imprimis esse operam, ut intcr nos
habitet : quia ex sola eius praesentia pendet spes salutis.
Ipse autem non aliam ob causam inter nos habitat, nisi ut ii"s
praestet incolumes (Op. 31, 463). Nunc vero ipsum (Deum)
quasi in exeubiis sedentem inducit, ut fidelibus prospiciat, non est
cur quisque amplius trepidet ac secum diseeptet de praesenl i
dei auxilio certus, modo sub eius Providentia quietus maneat (il>.
332). Hoc uno tutos et salvos esse fideles, si dominus eos respi-
cit . . . (ib. 310. 311) haec optima patientiac fultura, dum persuasi
sumus nos a deo respici (ib. 342). Docemur non posse vitam
nostram recte institui nisi semper nobis in mentem veniat dei
praesentia, ut sciamus nos esse sub eius oculis et nihil esse
ei absconditum . . . propheta hie demonstrat finem providentiar
dei, cur deus habeat apertos oculos, nempe ut tandem ad tribunal
suum vocet hominum dieta et facta (Op. 49, 16).
In diesem Zusammenhang werden die eschatologischen Be-
griffe unmerklich umgebildet : sperare in salutem dei tantundem
valet ac recumbere in paternam eius providentiam, ut
sufficientia nostra penes eum tota resideat (Op. 31, 729). Die
salus ist im Zusammenhange der Vorsehungslehre nicht eschato-
logisch, sondern identisch mit auxilium. welches in der Gegenwart
eintritt (31, 645. 646) und als solche von der salus ac remissio
peccatorum unterschieden (Op. 52, 19). Die Stellen, die sonst
eschatologisch gedeutet werden, werden auf die Gegenwart be-
zogen (so Psalm 17, 15; Ps. 31, 19; Ps. 37, 33; Ps. 7$, 29). Die
typische Formel meditatio futurae vitae wechselt hier mit der
Wendung: meditatio providentiae (Op. 2, 158; 31, 673) und medi-
tatio promissionum Dei (Op. 31, 429 f.).
1) Certe misera esset conditio, in -ingula momenta trepidare ac si de
contimio gratiae progre-<u nihil nobis exstaret (op. 31. 155) . . . Sccurus
ergo est ab omni discrimine et sibi certam salutem promittit. quia deum
fidei oculis quasi praesentem intuetur. Atque ita nos a deo pendere
convenit, ut certo statuamus, etiam quum longissi eum
nobis propinquum esse (ibidem).
4}0 Calvins Vorsehungslehre.
Der Vorsehungsgedanke wendet den Blick von der Betrach-
tung der Vergangenheit und Zukunft ab und wird so zum Gegen-
wartsgedanken. In ihm liegt die Zuversicht sowohl der Ver-
gangenheit als auch der Zukunft gegenüber. Wenn uns unsere
memoria plagt, daß das Gesehene nur Folge eines unabänderlichen
Fatums ist, so ruht die Seele aus in dem Trost, daß darin Gottes
guter Wille im Spiele war. Die Furcht vor der Zukunft mit ihren
Sorgen und Gefahren wird durch das unbedingte Vertrauen auf
die promissiones Dei überwunden : Tarn in p r a e t e r i t u m quam
in f u t u r u m consideranda est Dei Providentia (Op. 8, 351).
Das Gottesvertrauen hat notwendig den inneren Frieden
(tranquillitas interior: Op. 31, 155. 371; quietudo ib. 265; tacita
quiete in promissionum eius auxilium recumbere ib. 255 ; quies
ib. 374) zur Folge, dem als innere Sammlung der Wechsel und die
Unruhe der Zeit gegenübersteht ; der Mensch soll den Schmerz
und die afflictiones stille tragen (Op. 2, 160; Op. 31, 477. 590).
Zum Frieden gesellt sich die Heiterkeit (hilaritas), die bei
allem Lebensernst zu der unvergleichlichen Frucht des Vorsehungs-
glaubens gehört : incomparabilis fidei fruetus, quod non modo
tranquilli, sed etiam laeti et hilares sub eius praesidio degimus
(Op. 31, 155). Daher das schöne Oxymoron: patienter flere in
Dei risu (ib. 372).
Die innere Stille ist aber kein mystisches Quiescieren, son-
dern ein Korrelat des Gehorsams (pacatus sub quieta oboedientia :
ib. 252). Sie kommt inmitten der Kämpfe des Lebens und an-
strengender Arbeit zur wahren Geltung: Primum ergo est, ut nos
placide in Dei fidem et tutelam tradamus, ac bonitatis * eius gustus
sensus omnes nostros retineat. Deinde ut firma constantia et
infatigabili virtute instrueti subinde ad n o v a proelia stemus
accineti (ib. 313). Die männliche Tapferkeit (virilis fortitudo) be-
steht im festen Sichverlassen auf Gott (firma fide in Deum recum-
bere Op. 49, 571). Hiernach ist der Grundzug der calvinischen
Frömmigkeit die eigenartige Synthese des Gefühls, in Gott aus-
geruht zu haben, mit dem gestählten, zur Überwindung der Welt
immer bereiten Willen.2
1) Die Herausgeber der C. R. drucken fälschlich: bonitas.
2) Daraus ergibt sich auch in diesem Zusammenhang, daß Brunetieres
These, daß Calvin die Religion intellektualisiert habe, unzutreffend ist.
Gegen den letzteren vgl.: Doumergue, L'art et le sentiment dans l'oeuvre
de Calvin, der die Gefühlsseite bei Calvin betont und in seiner Bio-
graphie III, 553 — 563 einen besonderen Abschnitt über das Herz in der
Theologie Calvins (Le coeur dans la theologie de Calvin) schreibt.
Von Lic. Dr. T- B..I
Calvin will die Welt beherrschen, überwinden, sie aber nicht
asketisch fliehen. Er spricht allerdings öfter von Elend und
Verachtung der Weh.1 Aber er verurteilt nicht die Weit an sich,
sondern nur, sofern sie mit der Sünde und „tierischen Leidenschaften"
erfüllt ist: Odio certe non habenda nunquam est, nisi quatenu
peccato tenet obnoxios : q u a m q u a m n e i 1 1 u d <| u i d e m
o d i u m p r o p r i e in i p s a m c o n v e r t e n d u m est (O]
526). Die Welt ist nicht an sich elend, sondern wir werden in ihr
durch unsere eigene Schuld elend: Colligimus non nisi nostra
culpa in mundo esse miseros (üp. 31, 494)"'
Das Leben ist zwar der Güter höchstes nicht,3 aber es muß
1) Es kann hier nicht des näheren untersucht werdein, woher der
eschatologische Zug in der Theologie Calvins stamme. Es soll in einer
späteren Arbeit geschehen. Es ist nicht zu leugnen, daß er vorwiegend auf
den Einfluß der Schrift zurückzuführen ist, nicht so sehr auf den Einfluß
Erasmus', der mir mehr formaler Natur zu sein scheint. Nicht unerwähnt
möchte ich hier lassen den bisher nicht beachteten Umstand, daß m. E.
die äußere Veranlassung namentlich im Gegensatz zur Diesseitigkeitsreligion
Servets und der Libertiner gesucht werden muß (vgl. Op. 8, 490; 7. 222 ff. >.
2) Diese Stelle scheint mir für diese Frage sehr charakteristisch zu
sein, wie der ganze Zusammenhang (die Erklärung v. Ps. 49. 21): Es seien
hier noch folgende Sätze besonders akzentuiert: Quoniam prius videri
poterat 11 i m i s c o n t e m p t i m loquutus esse de praesenti vita,
quae si per se aestimetur, singulare est Dei beneficium, speciem correc-
tionis . . . Invehitur ... in perversum abusum. ubi sine ullo
pietatis gustu absorbent profani homines quidquid bonorum in eos Deus
confert . . . Si bona nostra agnosceremus quibus nos prosequitur Deus.
illisque rite uteremur, iam hie emicarent quaedam futurae beatitudinis
scintillae.
3) Aus dieser Anschauung ergibt sich auch die anscheinend stoisch
klingende Lebensregel: hoc mundo ita utendum esse, quasi non utamur:
eodem animo emendas esse possessiones quo venduntur; qui uxores dueunt
ac si non ducerent. Die Stoiker zogen daraus den Schluß, daß das, wovon
ich abstrahieren kann, für mich nicht existiert. Dasselbe tut auch Schulze
(a.a.O. S. 32) in bezug auf Calvin: Wenn einen der Gebrauch usw. nicht
anders affizieren oder berühren soll als der Nichtgebrauch usw., dann soll
einen eben keines von beiden wirklich berühren, und das eben
darum nicht, weil damit schon ein Band zwischen uns und den Dingen ge-
geben wäre, welches das Hängen an dem zukünftigen Leben beeinträch-
tigen müßte. So weit geht Calvin n i c h t. Er will dadurch der ungezügel-
ten laseivia vorbeugen. Alles, was zum Gebrauch des gegen wäi
Lebens dient, ist ein heiliges Geschenk Gotte.-: und wir verunreinigen
es, indem wir es mißbrauchen (49. 420). De saneto coniug >ncio-
natur, ut eorum laseiviam reprimat, qui dum uxores duxerunt, nihil nisi
carnis delicias cogitant. Gegen den spiritualisierend mönchischen
wurf: si coniugio semper adhaerent vitiosae sollicitudines et damnatae, qui
fieri potest, ut coniugati pura conscientia Deum invocent eique serviant?
antwortet er nüchtern: Respondeo tres esse species sollicitudinum:
enim per se malae sunt et impiae, quia ex diffidentia naseuntur . . . Aliae
AX2 Calvins Vorsehungslehre.
doch unter die nicht zu verachtenden Segnungen Gottes gerechnet
werden, und als solche ist es Motiv zur Dankbarkeit gegen Gott
(Inst. III, 9, 3). Die Pflicht, sich von der Sünde in der Welt zu
trennen, die abnegatio sui und die mortificatio zu üben, schließt
die andere nicht aus, in unerschrockener Arbeit auf Grundlage
dieser Welt das Reich Christi für die Ehre Gottes auszugestalten.
Das negativ asketische Moment der abnegatio ist nur Kehrseite
eines positiv wertvollen Lebens und Schaffens : aus der Schwach-
heit wächst die Kraft (Op. 50, 141), die Geduld wird zur Ausdauer
(constantia) : Op. 52, 82. Somit steht neben, ja über der modificatio
die positive Betätigung des Gehorsams im Gott geordneten Be-
ruf (Inst. III, 10, 6; IV, 13, 12), in der Ehre, Familie, im wissen-
schaftlichen und künstlerischen Streben (vgl. Lobstein, Die Ethik
Calvins noff.), — ein Streben nach dem Fortschritt (profiscendi
Studium), welches die höchste Lebensvollkommenheit darstellt.1
Das ganze Leben ist ein zusammenhängender Fortschritt in der
Wiederherstellung des Ebenbildes Christi (Op. 50, 47). Die Krone
des Ganzen ist die Liebe als omnium operum regula et omnium
actionum, ad quam quidquid non exigitur, vitiosum est, qualem-
cunque alioqui splendorem habeat (Op. 49, 571 ; 52, 123).
Dabei sollen wir allerdings der himmlischen Heimat nicht
vergessen (Op. 49, 256). Wir wandern in ihr, aber nicht so, als
ob wir uns um sie nicht zu kümmern brauchten, sondern so, daß
wir uns in jedem Moment dieses Lebens vor die Augen des all-
necessariae sunt, neque Deo displicent: ut patrem familias pro
uxore et liberis sollicitum esse decet: neque Deus vult nos esse s t i p i t e s.
quin quisque sui curam habeat. Tertiae missae sunt ex illis duabus: dum
scilicet curamus, quae officii nostri est curare, sed propter innatam nobis
intemperantiam nimium ardemus. Tales igitur per se nequaquam
sunt malae, sed propter uraZiav hoc est immoderatum exces-
s u m pravae fiunt. Et apostolus non tantum vitia hie notari voluit, quibus
reatum contrahimus coram Deo: sed in Universum optat ut avocamentis
omnibus soluti toti Deo vacemus (422). Kurz: Summa est christiani
hominis animum rebus terrenis non debere oecuppari nee in illis c o n -
quiescere (420). Caeterum hie non praeeipit apostolus christianis
possessiones abicere, sed tantum hoc requirit, ne animi eorum posses-
sionibus infixi sint (420, 421).
1) Nos vero cum Paulo agnoscamus domum esse gratiae dei, non
tantum quod coepimus bene currere, sed quod progredimur: non tantum
quod renati sumus, sed quod in dies magis augemus (Op. 51, 223): die Voll-
kommenheit und Seligkeit besteht in dem Tragen des Bildes Gottes (Op.
52, 121).
Von Lic. Dr. J. Bol n -i
wissenden Gottes stellen müssen.1 Hier findet auch das große
Geheimnis seine Erklärung, daß die calvinistischen Determini
trotz der Abhängigkeit von den göttlichen Ratschlüssen eine an
den Heroismus grenzende Lebensenergic entwickelt haben. Man
meint, diese sei nur eine von außen in das System eingekeilte Ahm
malie. Im Gegenteil. Eben in dieser Gebundenheit an die Rat-
schlüsse Gottes, der alles sieht, so daß niemand seiner Hand ent-
rinnen kann, der selbst die reinste Energie und Aktuosität ist, und
nicht dulden kann, daß seine Erwählten müßig die Hand in den
Schoß legen, birgt sich die Quelle des drastischen Wirkens. Auch
die Moral Calvins ist keineswegs die Pygmalion-Umarmung eines
Steinbildes, keine unvermittelt neben den göttlichen Ratschlüssen
laufendes, sondern unter dem erwähnten Gesichtspunkte innerlich
begründetes Lebensgebiet.
Die Gewißheit der Nähe und Gegenwart der göttlichen Provi-
denz holt sich der Mensch von Gott im Gebet. Xon abs re est
profecto, quod coelestis pater unicum in sui nominis invocatione
salutis praesidium esse testatur, qua scilicet praesentiam et
providentiam eins, per quam rebus nostris curandis advigilet,
et virtutis, per quam nos sustineat inbecilles et probe deficientes,
et bonitatis, per quam misere peccatis oneratos in gratiam recipiat,
advocamus : qua denique totum ipsum, ut se nobis praesentem
exhibeat accersimus (Op. 2, 626). Providentiam animis nostris
pro imbecillitatis nostrae modo usus ipse et experimentum con-
firmet, dum intelligimus ipsum non modo polliceri, se numquam
nobis defuturum . . . sed manum semper habere extentam ad suos
iuvandos, nee lactare eos verbis, sed praesenti ope tueri (Op.
2, 627). Dadurch wird der Friede und die Ruhe begründet und
bekräftigt (Op. 2, 626). Denn, obwohl die Gläubigen überzeugt sind,
daß Gott mit ihnen versöhnt ist, so werden sie doch das Angst-
gefühl nicht los; sie seufzen unter der gravitas praesentium malo-
rum. Diese sind aber ein von Gott gewolltes Mittel zum Suchen
nach ihm. Tritt zur Sehnsucht auch die Gewißheit der Hilfe
Gottes hinzu, dann können sie ruhig, velut ex specula, auf Gottes
1) Docemur... non posse vitam nostram recte institui. nisi semper
nobis in mentem veniat dei praesentia, ut en sciamus nos esse sub eius
oculis, et nihil esse ei absconditum . . . Propheta (Jeremias) ergo hie
demonstrat finem providentiae Dei. cur Deus habcat apertos oculos. nenipe
ut tandem ad tribuna! suum vocet omnia hominum dieta et facta, inimo
etiam cogitationes (39 16; Jeremia 32, 16).
Calvinsturiien. 28
4? 4 Calvins Vorsehungslehre.
Verheißungen warten ; nur dieses demütige und zugleich zuver-
sichtliche Gebet hat die Zusage der Erhörung.1
So ist denn der Vorsehungsglaube eine ununterbrochene An-
betung Gottes und eine unendliche Zuversicht : Si animis in hanc
oboedientiam compositis, providentiae divinae legibus nos regi
patimur, facile discemus in oratione perseverare ac suspensis desi-
deriis patienter expectare dominum : certi, etiamsi minime appa-
ret, nobis tarnen semper adesse (Op. 2, 677). Ut deficiant omnia,
Deus tarnen nunquam nos destituet, qui exspectationem ac patien-
tiam suorum frustrari non potest. Erit enim ipse pro omnibus
(Op. 2, 678).
Ein männlicher Friede, welchen die göttliche Vorsehung ins
Herz gießt und mitten in Kampf und Not erhält, die Demut, welche
sich in aller Verworrenheit der irdischen Dinge von den göttlichen
Ratschlüssen geduldig und zu Ehren des unbedingten Herrschers
leiten läßt, das Gebet, welches den erhabenen, ewigen Gott als
den gegenwärtigen mit heiligen Banden umschlingt — und alles
das ein Vorgeschmack des ewigen Lebens, welches der Mensch
hinieden bereits wesentlich, ob auch verborgen und im Keime in
sich trägt und auf dessen herrliche Offenbarung im Jenseits er
sehnend hofft — das ist der Grundzug der Frömmigkeit Calvins
nach seiner Vorsehungslehre.
Finden sich, wie wir sehen konnten, alle diese Momente im
Psalmenkommentar, in den Calvin nach seiner Aussage seine intim-
sten Erfahrungen und Gefühle niedergelegt hat, so läßt sie diese
Charakteristik wohl auf die ganze Frömmigkeit Calvins darüber
ausdehnen. Man müßte die meisten seiner Briefe wörtlich aus-
schreiben, um zu zeigen, wie die Vorsehungsgedanken den Refor-
mator bewegten und gelegentlich zum Ausdruck gebracht worden
sind. Schon die beiden Tatsachen, daß Calvin sich als Werkzeug
1) Dies beweist, daß nach Calvin als Motiv zum Gebet nicht die
Freude, die keine Wünsche kennt, bezeichnet werden kann, wie Ritschi
(Rechtfertigung u. Vers.1 III, 571) meint. Für Calvin ist der Glaube nicht
bloß Ergebung, sondern zugleich Spannung auf Gottes Verheißungen hin;
daher ist für ihn die Bitte als ein wesentliches Glied des Gebetes unent-
behrlich. Mit der Bitte verbindet er aber auch den Dank. Auch dieser ist
absolut. Die Ehre Gottes erfordert ihn. Beide Formen des Gebetes
sind aber innerlich verbunden: der Dank ruft immer die Bitte hervor, die
um so kräftiger sich gestaltet, je intensiver die Anerkennung der Wohl-
taten Gottes ist (sancti patres, quo dei beneficia apud se et alios confiden-
tius iactarunt, eo acrius ad precandum fuerunt incitati Op. 2, 626) ; bitten
wir Gott, so bekennen wir damit unsere Abhängigkeit von ihm und er-
weisen ihm somit die Ehre (Op. 2, 654 f.; 31, 503).
Von Lic. Dr. J. Bi ,\ $ ^
Gottes fühlte. In einem Brief an du Tillet schreibt er: Ich weiß,
daß ich von ihm, dem Herrn, berufen bin; ich weiß, daß es nicht
mein Eigenwille ist, dem ich folge, und mein eigenes Werk, das
ich treibe.) und die Zuversicht, daß er vor Gott und den Engeln,
die uns sehen, steht, sind ja die Grundpfeiler seiner Vorsehungs-
lehre.
Es ist jedenfalls keine unrichtige Beobachtung, die Brunetiere,
der sonst wenig Verständnis für Calvins Werk zeigt, gemacht
hat : l Einer, der Calvin gelesen und wieder gelesen hat, ist
der Verfasser der Histoire des Variations, Bossuet. Um uns
davon zu überzeugen, brauchen wir nur ihn selbst zu lesen, und
wenn ich ihn, ich glaube mit einiger Berechtigung, den „Theo-
logen der Vorsehung" genannt habe, wer hat in französischer
Sprache vor Bossuet besser von der Vorsehung gesprochen als
Calvin? Weder in den Predigten noch in den Grabreden noch
auch in seinem Discours sur l'Histoire universelle hat Bossuet
Machtvolleres oder in anderer Weise von der Vorsehung ge-
sprochen als Calvin."
Eine frische Lebenskraft weht uns aus dieser Gedankenwelt
Calvins entgegen. Mit Schärfe werden alle Versuche, sich eine
andere Lebensphilosophie zu konstruieren, abgewiesen. Wendet
sich der Mensch an die Kreatur, so krönt er zwar deren auf-
steigende Reihe, aber das Gefühl der Schwäche, welches er nicht
loswerden kann, drückt ihn herab, und sein Elend übertrifft das
ihrige. Man erforscht und analysiert zu sehr das Elend und den
Schmerz in allen ihren Verquickungen nur ätiologisch empirisch.
Wendet sich der Mensch an das Gesetz in dem Geschehen, so
vernichtet die Verkettung der Ursachen und Wirkungen seine
menschliche Würde, denn er fühlt, daß er frei ist; wendet er sich
aber an die Freiheit, so würde diese ihn befreien können, falls er
nicht selbst in jene Ursachenkette verflochten wäre. Wendet er
sich an seine ratio, so hebt ihn diese hoch über das Universum,
von dem er Besitz nimmt, aber es schlägt ihn nieder, da das
Denken seine tiefsten Geheimnisse nicht zu erreichen vermag.
Alles verweigert dem Menschen die Antwort auf seine Fragen
i ) A. a. O. S. 319.
28*
A3Ö Calvins Vorsehungslehre.
nach dem Inhalt und Zweck des Vorsehungswaltens, alles wankt
und schwankt vor ihm. Wohin er sich wendet, er findet nirgends
die ihm gebührende Stelle. So viel Widersprüche erdrücken ihn;
er fühlt sich bald als ohnmächtiges Nichts, bald als mächtiges
Wesen, bald als höchstes Ziel des ganzen Geschehens, bald als
erbärmliches verstecktes Atom. So bleibt er das sich selbst un-
verständliche Geschöpf. Er hat eben seine Norm in Verhältnissen
gesucht, die seinem wahren Wesen fremd sind; er hat vergessen,
daß er ein instrumentum Dei ist, das Geschöpf des allmächtigen
Gottes, der allein die Lösung ist und gibt.
Calvin hat auch uns Modernen viel zu sagen. Gegenüber
dem antiken und modernen Kausalitätsschein steht der persön-
liche Gott ; gegenüber der Skepsis, welche das Vorsehungswalten
leugnet, da das Denken die Gegensätze aus ihm nicht entfernen
und nicht immer in eine Weltformel zusammenfassen kann, steht
der Glaube an den allwissenden und allweisen Vater, der seine
mysteria gnädig seinen Erwählten offenbart (I, 17, 2; Op. 73, 358),
gegenüber dem modernen Monismus, der doch diese Weltformel
gefunden zu haben meint, dabei aber bei der Oberfläche oder
— mit Nietzsche zu reden — der Falte, der Haut des Gedankens,
der Form bleibt, den Schein anbetet, ja an den ganzen Olymp des
Scheins glaubt und dadurch aus Tiefe oberflächlich wird, steht
der Gott, der nicht mit der Welt verflüchtigt werden darf, son-
dern dieselbe in der Abhängigkeit von sich erhält und dabei ihre
Selbständigkeit nicht aufhebt, immer wach, in kontinuierlicher
Aktion und Energie, durch alle causae secundae wirkend; gegen-
über der äußeren, fatalistischen Ursachenverkettung und verhäng-
nisvollen Naturnotwendigkeit, die den Wert des Individuums er-
würgt, steht der himmlische Vater, der jedes einzelne, auch das
kleinste, regiert, so daß Sünde und Leid nicht als eine notwendige
Last, sondern als Mittel zum bonum ac salus der Seinen erscheinen.
Was die Gedanken der Vorsehungslehre besonders charakte-
risiert, ist die kraftvolle eigentümliche Ei n h e i t , die durch
den überwiegend theozentrischen Charakter seiner Lehre gegeben
ist. Gott ist weder eine absolute Willkür, die nur zersplitterte,
zufällige Zwecke verfolgt, noch eine fatalistische naturhafte Not-
wendigkeit, sondern ein notwendig freier Wille x und als
solcher eine einheitliche in bestimmter Richtuno- und auf
1) Siehe S. 367.
Von Lic. Dr. J. Bobatec. -M 7
sichere Zwecke hin ununterbrochen wirkende Energie. — \>
Gottesenergie entspricht die Lebensenergie seiner Erwählten.
Eine Bewegung aller Kräfte drängt und treibt zur Einheit, die
ihren prägnantesten Ausdruck in der unmittelbaren und unbedingten
Beziehung alles Seins und Geschehens auf Gott gefunden hat :
„Wir sind Gott geheiligt und geweiht, und daher können wir
nichts denken, reden und handeln als zu seiner Ehre. Denn das
ihm Geweihte kann ohne starkes Unrecht gegen ihn zu profanem
Gebrauch verwendet werden. Wir gehören dem Herrn; daher
müssen auf ihn als den einzigen legitimen Zweck alle Teile unseres
Lebens sich beziehen; alle unsere actiones muß seine Weisheit
und sein Wille beherrschen (Inst. III, 7, 1). Die tragende Kraft
des calvinistischen Systems ist das Bewußtsein von dem i m m e r
nahen, nie ruhenden, kraftvoll wirkenden Gott. Darauf gründet
sich sowohl die Überzeugung, fest in der Welt zu stehen, als auch
die Perseveranz der Gott Geweihten und der Glaube an den con-
tinuus gratiae progressus. Daher ist die Lebensanschauung voll
von Aktivität : keine Askese, keine Flucht vor der Wirklichkeit,
Feigheit vor der Realität des Bösen, sondern ein Aufschwung des
Gemütes, eine Begeisterung der Handlung, des Kampfes, des
Todes für Gott und seine Ehre : „Es ist uns bestimmt die Ehre
Gottes höher zu schätzen als tausend Leben und alles das, was
uns der Sinn des Fleisches suggeriert" (Op. 40, 635). In diesem
Bewußtsein haben wir die Kraft, die Schmerzen dieser Erde zu
leiden, um sie auf ihr und in uns zu überwinden ; aller Zorn gegen
das Böse und der so entstandene contemptus mundi (die Welt
des Bösen) steht in der Kraft jenes Heilsgottes, durch dessen
Willen das Böse zwar nicht schlechthin, wohl aber zum Zwecke
des Wachstums des Guten, das Gute als das Seinsollende schlecht-
hin gesetzt wird.
In der Unterordnung des Lebens unter Gott und in der
Bindung desselben an ihn erleben wir aber die Steigerung der
Werte des Lebens und aller Lebensfähigkeiten. Das Errungene
im Leben erscheint als etwas Empfangenes, freier Gnade Ent-
sprungenes. Selbst die Freiheit des Menschen bedeutet hier nicht
ein von Gott unabhängiges Vermögen, sondern etwas durch ihn
Gesetztes und immerfort aus ihm Quellendes. So erscheint auch
die höchste Leistung des Menschen nicht als ein Verdienst,
dem als eine freie Gabe des höchsten Gottes. ..Wir sagen, der
Mensch könne nichts Gutes tun oder auch nicht denken. Das
4^8 Calvins Vorsehungslehre.
sagen wir, damit Er seine Abhängigkeit von Gott erkennend an
sich selbst verzweifle und ganz an ihn sich hingebe" — ein tiefer,
fruchtbarer, dem religiösen Pragmatismus der Bibel entsprechen-
der Gedanke. Der göttliche Wille eine Macht — ihr auch der
Mensch mit seinem Leben und Handeln unterworfen. Nur in
Gott vermag der Mensch dauernden Frieden zu finden. In der
Beziehung seines Lebens, seiner Gedanken, seiner Willensrich-
tungen mit ihren Auswirkungen auf den Gott, der da ist und
bleibt, gewinnt er den sicheren Halt, der allein ihn über den
Naturzusammenhang erhebt und ihn nicht wie einmal sich hebende,
dann wieder fallende Welle der natürlichen Lebensprozesse ver-
sinken läßt. „Einige liegen im Staube, einige kommen zu Ehren,
nicht von Anfang noch vom Untergang, noch von der Wüste
kommen Erhöhungen, denn Gott ist Richter, der diesen erhöht,
jenen erniedrigt . ." Ein furchtbar großer und doch beseligender
Gedanke! Denn wenn wir nach der Art des modernen Indi-
vidualismus die Handlungen der Menschen von der göttlichen
Vorsehung ausnehmen wollten, so würde jeder Trost schwinden.
Hat Gott seine Ratschlüsse mit der Menschheit, so dürfen diese
von der unbedingten Freiheit des Menschen nicht durchkreuzt
werden. Wenn andererseits die Vorsehung der Überwindung der
Furcht und Sorge und zur Gewinnung eines unendlichen Trostes
dient, so wäre dies alles illusorisch, wenn eine geringe außergött-
liche Macht die Pläne Gottes durchbrechen könnte. Das Teilen
zwischen Gott und Menschen (I, 16, 4) würde eine Kette von
Zufälligkeiten ergeben, deren jede imstande wäre, uns die religiöse
Zuversicht zu rauben; denn das ist das Verhängnisvolle am Zu-
fallsglauben, daß auch ihm aus den kleinsten Ursachen die schwie-
rigsten und wichtigsten Folgen hervorgehen können. In dieser
Sursumcordafrömmigkeit sind Größe und Kleinheit aufeinander
bezogen: Gott und Mensch Korrelatbegriffe.
Das Bewußtsein, in Gottes Vorsehung ausgeruht zu haben,
bewirkt das Selbstbewußtsein und die Freiheit den anderen Per-
sonen und Sachen gegenüber. Der Mensch ist zwar ein instru-
mentum Dei, ein fictile in der Hand des figulus ; in der lebendigsten
Bezogenheit auf ihn treten dann Wesen und Wert des Menschen
nicht auseinander, sondern sie verschmelzen sich zur inneren Ein-
heit. Man ist hier minister Dei, sacer Dei, filius Dei; es stehen
schlechthin wertvolle Größen, die Erwählten da — ein gesunder
Individualismus verbindet sich mit dem unbedingten Abhängig-
Von Lic. Dr. J. Bol 439
keitsgefühl. Alles Streben erhält dann Richtung zur Einheit, zum
großen Ganzen; durch den zentralen Begriff der Ehr
erhält alles Sinnen und Trachten eine beseligende Richtung
nach oben.
Deshalb darf man sich nicht wundern, daß diesen größten
Systematiker untei den Reformatoren der klare Zug zur Einheit
auch auf dem religiös praktischen und dem ganzen Kulturgebiet
geleitet hat. Das Streben nach Einheit ruft den Zusammenhang
aller Geheiligten, aller Erwählten, aller wahren Mitglieder der
Kirche hervor: Die Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen,
ein majestätischer Komplex, eine mystische Einheit, die aber,
äußerlich organisiert, als Spiegel der Ordnungen Gottes in der
Welt dasteht. Als solche bietet sie Trotz den Feinden des Reiches
Gottes : Calvin hat mit seinem Organisationstrieb den Gesamt-
protestantismus gegen Loyola gerettet — eine Binsenwahrheit der
Geschichte für alle, die wissen, wie es unter den Protestanten
aussah, ehe Calvin auftrat, und welche Folgen es hätte haben
können, wenn die ohnehin so mannigfach gesonderten, ohne jeden
äußeren Zusammenhang untereinander stehenden, oft so be-
drängten Territorialkirchen des konservativen und oft so ge-
duldigen Luthertums sich innerlich so fern, fremd und gleichgültig
geblieben wären. Calvin ist die bindende Persönlichkeit des Pro-
testantismus. Es muß immer wieder hervorgehoben werden, daß
er der erste große Unionsmann des Protestantismus war : ,.Es
ist das eine große Gut, dem wir mit Leib und Seele und der Hin-
gabe des innersten Herzblutes nachzustreben haben, daß die Kirche
zur Einheit und zum Frieden komme. Länder und Meere möchte
ich durchschiffen, um sie zu holen, meinen Hals darbieten, um sie
zu erkaufen! Ich wollte, alle Kirchen Christi würden durch so
viele Einigkeit verbunden, daß uns die Engel herab ihre Har-
monien dazu sängen !" 1
Der Einheitsdrang beseelte Calvin auf dem ganzen Kultur-
gebiet.2 Da Calvin das ganze Leben unmittelbar unter die
göttliche Vorsehung stellt, hat er seinerseits mächtig dazu ge-
holfen, den Dualismus zwischen der vita saecularis et religiosa
zu durchbrechen und somit auch der W issenschaft als Ob-
jekt das ganze Lebensgebiet wiederzugeben. Er erkannte weiter,
i) Vgl. Stähelin. Joh. Calvin II, 189 ff.
2) Darauf hat namentlich Kuyper: ..Reformation wider Revolution'1
hingewiesen.
J.J.O Calvins Vorsehungslehre.
daß das Wesen der Wissenschaft im Einheitstriebe, ihre
Aufgabe nicht bloß in der Klassifikation der Einzelnen, sondern
in der Unterordnung des Speziellen unter das Allgemeine und
dieser wieder unter das allgemeinste Prinzip ruhe. Seine Forde-
rung einer philosophia christiana ist charakteristisch. Hier kam
ihm das Dogma von der alles umfassenden und durchdringenden
göttlichen Vorsehung wesentlich zu Hilfe.
Mit der Betonung des Gedankens, daß die ganze Welt uns
die Ordnungen und die unendliche Schönheit Gottes offenbart,
daß Gott nicht bloß für das Einzelne, auch das Kleinste, sorgt,
sondern demselben einige Strahlen seiner Majestät mitgeteilt hat,
hat er das Verständnis nicht bloß für die Beobachtung, sondern
auch künstlerische Darstellung und Veredelung aller Einzelheiten
geweckt. l Überall ist Calvin Theologe der Einheit.
Dadurch ist er selbst zum instrumentum Dei geworden,
wie ihn Butzer in seinem Empfehlungsschreiben bezeichnet hatte,
ein Werkzeug derjenigen Vorsehung, an die er so warm glaubte.
Und dieses Bewußtsein, ein Werkzeug Gottes zu sein, hat er
selbst, wie wir schon bemerkt haben, in sich getragen. Doumergue
(a. a. O. S. 712) gibt richtig die Quelle dieses Selbstbewußtseins
an : „Dieu lui dit : Tu es mon instrument." Wenn er in der Vor-
sehungslehre, wie wir sahen, mit großer Entschiedenheit betonte,
daß der Mensch für Gott, und Gott im Menschen seinem Werk-
zeug wirkt, daß la force de Dieu remplagant la faiblesse de
rhomme", dann sind diese Worte aus der Tiefe seiner persönlichen
Überzeugung heraus gesprochen. Dieser Überzeugung lebend,
vollkommen seinem Gott ergeben — cor mactatum in sacrificium
offero — betrachtete Calvin seine Sache als Gottes Sache 2 und
ging daher mit so unerbittlicher Strenge gegen die Feinde Gottes
vor. „Bellt doch ein Hund, wenn man seinen Herrn angreift, und
ich sollte meinen Mund verschließen, wenn Gottes Wahrheit an-
getastet wird" (Brief an die Königin von Navarra).
Calvins Vorsehungslehre ist erlebt. Darin liegt das Eigen-
1) Vgl. das Nähere bei Kuyper.
2) Gegen Castellios Verleumdungen schreibt er: Mihi te ad eius
(Gottes) tribunal provocare liceat, ut suo tempore appareat suae doctrinae
vindex, quam in persona mea furiose oppugnas. , .Tausendmal lieber will
ich", so schreibt er an Petrus Faber, „daß mich die Erde verschlinge, als
daß ich nicht horchen sollte auf das, was mir der Geist Gottes durch den
Mund des Propheten sagt und gebietet, damit nicht der Schimpf, womit
Gottes Majestät befleckt wird, auf mein Haupt zurückfalle."
^___ Von i ■ Di
tümlichste seiner Lehre. Man kann B die platoi
von der Persönlichkeit Plato lostrennen, und
dabei, indem ihre Wahrheiten, losgetrennt von der sie I
Person, nur in einem um so ungetrübteren Glänze leuchten. Mit
der Lehre Calvins ist es anders. Ihr Wen und ihre Bedeutung
begreift sich nur, wenn man sie im engen Zusammenhang
trachtet mit seiner Person.1 Denn die Art der Ausübung gibt
einer Lehre oft ihren besonderen Geschmack, ja sie kann manch-
mal durch Energie des Willens Unvollkommenheiten der 1 i.
zudecken, wie es in der Tat z.B. in der Lehre Calvins von
Freiheit der Fall ist.
Calvin ist Theologe der Vorsehung geworden, da er V.
zeug der Vorsehung sein durfte.
i) In diesem Sinne hat Maimbourg recht: Calvin a fabrique une reli-
gion tute seche et toute conforme ä son temperament (Doumergue, L'art
et le sentiment dans l'oeuvre de Calvin S. 9).
Buchdruckerei des Waisenhauses in Halle a d. S.
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