Skip to main content

Full text of "Calvinstudien : Festschrift zum 400. Geburtstage Johann Calvins"

See other formats


m 


.  '  ;■ 


SJ& 


CALVINS 


FESTSCHRIFT 
ZUM  400.  GEBURTSTAGE  JOHANN  CALVINS 


UNTER  REDAKTION  VON  LIC.  DR.  BOHATEC 

HERAUSGEGEBEN  VON  DER 

REFORMIERTEN   GEMEINDE   ELBERFELD 

MIT  BEITRÄGEN  VON 

J.  BOHATEC,  W.  HOLLWEG,  W.  KOLFHAUS,  J.  NEUENHAUS, 
H.  STRATHMANN,  TH.  WERDERMANN 


Lbü      R 10 


LEIPZIG 
VERLAG  VON  RUDOLF  HAUPT 

1909 


W2 
I9ö9 


VORWORT 


Zur  Herausgabe  der  vorliegenden  Sammlung  hat  sich  unsere 
Gemeinde,  die  größte  reformierte  Deutschlands,  entschlossen, 
nachdem  ihr  bekannt  geworden  war,  daß  keine  ähnliche  Festschrift 
geplant  wird.  Die  Abhandlungen,  die  fast  alle  aus  der  Feder 
unserer  Pfarrer  und  der  ehemaligen  Mitglieder  unseres  Kandidaten- 
stiftes stammen,  sollen  eine  Apologie  des  großen  Organisators  und 
Vollenders  des  Protestantismus  sein.  Calvin  würde  zwar  jede  per- 
sönliche Ehrenbezeugung  ablehnen  und  vom  Geschöpf  auf  den 
Schöpfer  hinweisen.  Hat  er  sich  aber  immer  für  ein  Werkzeug 
Gottes  gehalten  und  als  solches  seine  Person  und  sein  Werk  ver- 
teidigen müssen,  so  gedenken  wir  mit  diesen  bescheidenen  Bei- 
trägen Gott  zu  loben,  zu  dessen  Ehre  allein  Calvin  gedacht  und 
gelebt  hat. 

Elberfeld,  im  Juni   1909. 

Lic.  Dr.  J.  Bohatec. 


INHALT 


Seite 

Johannes  Neuenhaus:  Calvin  als  Humanist i 

W.  Kolfhaus:  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger   ...       27 
Dr.  Walter  Holl weg:  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rhein- 
landen     I25 

Lic.  theol.   H.  Strathmann:   Die    Entstehung    der  Lehre 

Calvins  von  der  Buße l87 

cand.  theol.  Th.  Werdermann:   Calvins  Lehre   von  der 

Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  ....     246 
Lic.  Dr.  J.  Bohatec:  Calvins  Vorsehungslehre      ....     339 


Calvin  als  Humanist. 

Dargestellt  an  seinem  Bildungsgange  und  an  seinem  Wirken1 


Johannes  Neuenhans, 

Pastor  an  der  reformirten  Gemeinde  Elbcrfeld. 


Motto : 
Gott   zumeist  ist  uns  das  Maß   aller  Dinge,  viel- 
mehr   als ,    wie    die    Sophisten    sagen ,     irgend   ein 
Mensch.  Plato,  in  den  Gesetzen  716c. 

Der  Einfluß  des  Humanismus  auf  die  vier  großen  Refor- 
matoren war  doch  ein  sehr  verschiedener.  Empfänglich  dafür  finden 
wir  sie  zuerst,  vielleicht  darf  man  sagen,  alle  gleichermaßen.  Aber 
ihre  Naturen  waren  nicht  gleichgeartet  für  das  innerliche  Ver- 
arbeiten dieser  mächtigen  Geistesströmung  ihrer  Zeit.  Schließlich 
überwog  bei  ihrer  jedem  das  religiös-kirchliche  Interesse  das  an 
der  rein  menschlichen  Bildung.  Doch  zeigt  sich  auch  hier  Ver- 
schiedenheit. Melanchthon  in  den  trüben  Tagen  seines  Verzagens 
an  der  Kirchengestalt,  seines  Ärgernisses  an  den  Theologen,  neigt 
stark  zur  Beschränkung  auf  klassisch-philologische  Studien,  so  daß 
Luther  ihn  nur  mit  Mühe  von  diesem  Humanismus  der  Gelehr- 
samkeit im  Sinne  eines  Erasmus  zurückhalten  kann.2  Zwingli 
gerät  in  rationalisierende  Konzessionen  an  die  Helden  der  Antike,-'5 
gelegentlich  auch  in  pantheisierende  Spekulation,4  länger  doch  auch 
mit  Erasmus  in  vertrautem  Verkehr  als  die  andern.5  Luther  zieht 
mit  genialem  Instinkt  aus  dem  Humanismus  alles  an  sich,  was  sich 


1)  Vgl.    Ref.    Kztg.   1909  Nr.  1,  2. 

2)  Corp.  Ref.    I  p.  606.  677.     Vgl.  Hase.  Kgsch.   n.  Aufl.  S.  372. 

3)  Zwinglii   Christianae   fidei   hrevis   et   clara    expositio    Opp.  IV   p.  65. 

4)  Zwinglii  Opp.  IV  p.  79 — 144.  bes.  p.  88. 

5)  Zwinglii  Op.  VII.    S.  308.      Vgl.    Schweizer.    Die    protest.     Zentral- 
dogmen T.  S.  76. 

Calvinstudien. 


Calvin  als  Humanist. 


mit  seinem  reichen,  weltoffenen  Gemüt  eint,  ohne  doch  von  dem 
geistigen  Zuge,  der  nach  wissenschaftlichem  Erkennen  strebt, 
durchaus  ergriffen  zu  sein.1  Bewußt  und  groß,  wie  er  war,  hat  er 
diesen  Mangel  nie  verhehlen  wollen,  vielmehr  bei  Auseinander- 
setzungen mit  Freund  und  Gegner  sich  mitunter  derb,  unbekümmert- 
und  eigensinnig-rückständig  gezeigt.2  Calvin  endlich,  alle  huma- 
nistischen Bildungsstoffe  in  sich  aufnehmend,  hat  diese  seinem 
starken  Gottesbewußtsein  dienstbar  zu  machen  gesucht  und  die 
von  ihnen  drohenden  Gefahren  kraftvoll  gemieden.  Dabei  trat 
griechischer  Geist  hinter  christlichem  mehr  und  mehr  zurück,  doch 
hat  er  den  in  der  Jugend  erworbenen  Ruhm  eines  ausgezeichneten 
Humanisten  3  bis  ans  Ende  behauptet. 

Ein  Nachweis  darüber  soll  im  folgenden  versucht  werden. 

i. 

In  den  bekannten  launigen  Versen  hat  Goethe  seine  Eigenart 
auf  die  der  Eltern  zurückgeführt.  Es  wäre  von  großem  Interesse, 
wenn  wir  das  bei  allen  andern  bedeutenden  Männern  könnten. 
Besonders  psychologisch  wertvoll  wäre  es,  die  feine  Bemerkung 
eines  Pastoraltheologen  bestätigt  zu  finden:  ein  Diener  Christi 
müsse  wie  Timotheus  eines  griechischen  Vaters  und  einer  jüdischen 
Mutter  Sohn  sein.  In  gewissem  Betracht  läßt  sich  das  wohl  von 
Calvin  sagen.  Der  geistige  Zug  in  ihm  zum  gelehrten  Wissen 
war  väterliches  Erbe,  die  religiöse  Natur,  die  heilige  Ehrfurcht  vor 
der  beständigen  Gegenwart  Gottes,  mütterliches.4  Bereits  über  seiner 
Kindheit  ist  ein  vorsehungsvolles  Walten  erkennbar.  Der  Vater, 
Gerhard  Cauvin,  kirchlicher  Justitiar,  zugleich  Sekretär  des  Bischofs 
in  Noyon,  scheint  trotz  seiner  amtlichen  Stellung  zu  dem  in  der 
Stadt  zahlreich  vertretenen  Klerus  in  freundschaftlichen  Be- 
ziehungen nicht  gestanden  zu  haben.  Der  schlaue  Picarde  hat 
das  anfänglich  zu  verbergen  gewußt,  um  seinem  Sohne  Johann  die 


i)  Vgl.    Köstlin,   Luthers   Theologie    I.   S.  15  ff. 

2)  Brief  an  Mutian  v.  J.  1516.  —  Zimmermann,  Geist  aus  Luthers 
Schriften;  Artikel:   Erasmus  und  Melanchthon. 

3)  Mignet,  Einführung  der  Reformation  in  Genf,  übers,  von  Stolz 
S.  91.     Vgl.   Schweizer.  Die  Glaubenslehre  der  Ev.-Ref.   Kirche  I.  Bd.   S.  29. 

4)  Die  biographischen  Skizzen  lehnen  sich  an  Stähelin,  J.  Calvin, 
I.  Bd. ;  Kampschulte,  J.Calvin,  s.  Kirche  u.  s.  Staat,  I.  Bd. ;  Doumergue, 
Jean  Calvin,  les  hommes  et  les  choses  de  son  temps,  I.  Bd.;  Lefranc,  la 
jeunesse  de  Calvin;  Bungener,  Calvin,  sein  Leben,  sein  Wirken  und 
seine   Schriften. 


Von  Johannes  Neuenhaus. 


Gunst  und  Unterstützung  seitens  der  Kirche  nicht  zu  entziehen. 
Aber  seine  Absicht  ging  zumal  für  diesen  begabtesten  unter  sein«  n 
Söhnen  über  die  herkömmlichen  kirchlichen  .Schranken  hinaus. 
Er  hatte  ihn  zum  Studium  der  Theologie  bestimmt,  suchte  jedoch 
zugleich  in  ihm  den  Grund  zu  einer  allgemeineren  Bildung  zu 
legen.  Und  so  emsig  betrieb  er  diesen  Plan,  daß  man  vermuten 
möchte,  der  umsichtige  und  vielkundige  Mann  sei  von  den  Reak- 
tionsbewegungen einer  neuen  Zeit  gegen  das  unhaltbare  Ansehen 
einer  alten,  wie  sie  sich  schon  längst  gerade  in  Laienkreisen 
äußerten, '  beeinflußt  worden.  Ein  sonderliches  Band,  das  ihn  an 
die  Kirche  knüpfte,  löste  sich  durch  den  Tod  seiner  Gattin.  Sic 
starb  früh,  aber  zur  rechten  Zeit,  wenn  sie  vor  den  tragischen 
Verwicklungen,  in  welche  Gatte  und  Söhne  gezogen  wurden,  be- 
wahrt bleiben  sollte.  Kaum  dürfte  sie  bei  ihrer  ängstlich  beob- 
achteten katholischen  Frömmigkeit  die  Wendung  wider  die  Kirche 
mit  vollzogen  haben.  Als  eine  sainte  beaute  lebte  sie  noch  nach 
Jahrzehnten  in  der  Erinnerung  ihrer  Mitbürger.  Was  ihr  Sohn 
Johann  an  ihr  verlor,  wüßten  wir  gern.  Ihr  Hingang  war  wenig- 
stens insofern  für  ihn  bedeutsam,  als  er  den  zarten,  schüchternen, 
darin  eben  wohl  sehr  nach  der  Mutter  gearteten,  Knaben  nun  ganz 
unter  die  strenge  Hand  des  Vaters  brachte. 

Halbwegs  zwischen  Noyon  und  Pont  L'Eveque  befand  sich 
ein  kleines  Pädagogium,  worin  etwa  20  Zöglinge  Unterricht  und 
Unterhalt  genossen.  Dieses  Institut  besuchte  Johann  und  zeich- 
nete sich  schon  hier  aus  „durch  lebhaften  Geist,  natürliche  Fassungs- 
gabe und  Erfindung  in  dem  Studium  der  menschlichen  Wissen- 
schaften" ; 2  die  selbstredend  über  das  Elementare  nicht  hinausgegan- 
gen sein  können.  Unter  seinen  Mitschülern  waren  die  Söhne  eines  in 
der  Nähe  ansässigen  Herrn  von  Mommor.  Sei  es,  daß  diese  neben 
der  Schule  häuslichen  Unterricht  empfingen,  oder  nachdem  sie  den 
Kursus  derselben  absolviert  hatten,  genug,  Gerhard  wußte  es  durch 
die  Gunst  seines  Bischofs  zu  erreichen,  daß  sein  Johann  Aufnahme 
in  dem  vornehmen  und  gebildeten  Hause  von  Mommor  fand  und 
in  Gesellschaft  der  Kinder  des  Hauses  erzogen  wurde.  Er  paßte 
ganz  dahin  und  eignete  sich  in  dieser  adeligen  Umgebung  die 
aristokratischen  Formen  an,  die  man  später  an  ihm  rühmte.  Aber 
er  verdankte  der  edlen  Familie  ja  noch  viel  mehr,  wie  er  in  der 


1)  Die  niederländischen,   von    Gert   Groot    ausgehenden    Kulturbestre- 
bungen können  wohl  in  die   Picardie   gedrungen  sein. 

2)  Desmay,   archives  curieuses  p.  388.      Bei   Douruergue   a.  a.  O.    S.  35 


Calvin  als  Humanist. 


Vorrede  zu  seinem  Erstlingswerke,1  das  er  einem  der  Söhne  Mom- 
mors  widmete,  bekennt :  „Die  erste  Anleitung  zum  rechten  Wissen 
und  Leben."  Dem  Druck,  von  der  Familie  Mommor  unterstützt 
zu  werden,  entging  er  durch  den  Genuß  einer  Pfründe,  die  sein 
Vater  ihm  zu  verschaffen  gewußt  hatte.  So  wäre  er  nun  aber  doch 
in  eine  seine  freiere  geistige  Entwicklung  hemmende  Abhängigkeit 
von  der  Kirche  geraten,  wenn  nicht  eine  andre  Gefahr  ihn  vor 
dieser  bewahrt  hätte.  Seine  Vaterstadt  wurde  von  der  Pest  heim- 
gesucht. Gerhard,  für  das  Leben  des  ohnedies  schwächlichen 
Knaben  besorgt,  beschloß,  um  so  mehr,  als  er  erfuhr,  daß  die 
jungen  Mommors  zur  Fortsetzung  ihre  Studien  nach  Paris  gingen, 
Johann  ebendorthin  ziehen  zu  lassen.  Hoffnungsvoll  durfte  er 
diesen  Schritt  wagen,  denn  dem  13  jährigen  jungen  Gelehrten 
fehlte  es  weder  an  wissenschaftlicher  noch  sittlicher  Reife.2 

2. 

Als  der  junge  Abälard  zum  erstenmal  über  die  Hügel  stieg, 
die  Paris  umgeben,  machte  sein  Begleiter  ihn  aufmerksam  auf  die 
schöne  Stadt  zu  ihren  Füßen.  Abälard  soll  erwidert  haben:  eine 
Handschrift  des  Evangeliums  Matthäi  sei  ihm  tausendmal  lieber.3 
Ähnlichen  Sinnes  mochte  der  Knabe  sein,  der  von  der  Picardie 
her  in  die  große  Stadt  an  der  Seine  einzog.  Er  sollte  dort  in 
reichem  Maße  finden,  was  sein  wissensdurstiger  Geist  suchte.  Durch 
ihre  kriegerischen  Begegnungen  mit  Italien  hatten  die  Franzosen 
eine  friedliche  Beute  gewonnen.  Die  humanistischen  Studien,  mit 
denen  besonders  die  adelige  französische  Jugend  in  Padua,  Florenz, 
Bologna  bekannt  wurde,  ließen  sie  bald  erkennen,  daß  es  noch  einen 
andern  Ruhm  gebe  als  den  der  Waffen.  Franz  I.  selbst,  sonst 
leichtfertigem  Sinnengenuß  ergeben,  war  von  der  neuen  geistigen 
Strömung  ergriffen  und  aufs  eifrigste  bemüht,  den  freien  Künsten 
und  Wissenschaften  in  seinem  Lande  Eingang  zu  schaffen,  vor 
allem   aber   seine   Residenz   zu   einem   Sitz   derselben   zu   machen.4 


1)  S.  S.  12. 

2)  Die  Nachrichten  über  C.'s  erste  Jugendjahre  bleiben  trotz  der 
wertvollen  Beiträge  seiner  obengenannten  Landsleute  spärlich.  Er  hatte 
eine  natürliche  Abneigung,  viel  von  sich  zu  reden;  oder  wollte  er  auch  in 
diesem  Stück  vergessen,  was  dahinten  lag?  Wie  interessant  wäre  aus  seinem 
Munde  z.  B.  die  Mitteilung,  daß  er  als  Siebenjähriger  seinen  König  Franz  I. 
gesehen,  der  am  16.  August  1516  mit  Karl  I.  von  Spanien  (nachmals 
Karl  V.)   in  Noyon  einen  Vertrag  schloß! 

3)  Henke  (Marburg)  im   Kolleg  über  Kirchcngeschichte  des   M.  A. 

4)  Baum,  Th.  Beza  I.Teil  S.  36«. 


Von  Johannes  Neuenhaus. 


Calvin  sollte  die  ersten  Früchte  solcher  Bemühungen  genießen 
dürfen.  Die  Veränderung  seiner  äußeren  Lage  mag  er  zunächst 
nicht  ganz  leicht  empfunden  haben.  Er  war  bei  seinem  Oheim 
Richard  Cauvin,  einem  Schmied,  abgestiegen  und  hatte  in  dessen 
Hause  ein  bescheidenes  Zimmer  bezogen.  Den  täglichen  Verkehr 
mit  seinen  Freunden  in  den  herrschaftlichen  Räumen,  die  Spazier 
gänge  im  Park,  die  ländliche  Stille,  die  Nähe  der  Heimatstadt  wird 
er  vermißt  haben,  dafür  wurde  ihm  aber  neue  geistige  Nahrung 
und  Anregung  in  reichem  Maße  geboten.  Wenige  Tage  nach  seiner 
Ankunft  in  Paris  trat  er  in  das  College  de  la  Marche,  eine  jener 
freien  Lehranstalten,  die  ihre  Zöglinge  zum  selbständigen  Studium 
auf  der  Universität  vorbereiteten  und  in  Frankreich  damals  ziem- 
lich verbreitet  gewesen  sein  müssen.  In  dem  Leiter  dieses  College, 
Maturinus  Cordier,  fand  er  einen  Vertreter  der  humanistischen 
Richtung,  die  für  ihn  fortan  die  bestimmende  sein  sollte.  Dieselbe 
herzliche  Zuneigung,  die  der  ,Praeceptor  Germaniae'  später  für  den 
Genfer  Reformator  empfand,  zog  den  jungen  Calvin  zu  dem  Rektor 
seines  College.  Cordier  besaß  ganz  die  glückliche  Gabe  Melanch- 
thons,  durch  Liebe  zur  Jugend  dieser  die  Liebe  zur  Wissenschaft 
einzuflößen.  Mit  großer  Gelehrsamkeit  verband  sich  in  ihm  ein 
sittlicher  Charakter.  Ohne  beengende  Methode  führte  er  seine 
Schüler  in  die  üblichen  Fächer  des  Wissens  ein.  Mit  Literatur, 
Philosophie,  Geschichte  wurde  so  Calvin  bald  vertraut,  wenn  auch 
nur  immer  noch  in  propädeutischem  Maße.  Denn  bei  aller  genialen 
Anlage  zum  Gelehrten  hatte  er  doch  während  der  kurzen  Zeit,  die 
er  diese  Anstalt  besuchte,  genug  zu  tun  mit  grammatikalischen 
Studien.  Bei  Calvin  bestätigt  sich  einmal  wieder  die  Tatsache, 
daß  das  Genie  fleißig  ist.  Mit  rühmlichem  Zeugnis  über  seine  Fort- 
schritte wurde  er  in  das  College  de  Montaigu  versetzt,  das  eine 
höhere  Stufe  wissenschaftlicher  Ausbildung  gewährte.  Hier  scheint 
er  zum  erstenmal  mit  der  Philosophie  der  Scholastik  bekannt  ge- 
worden zu  sein  und  dadurch  mit  deren  Theologie.  Sein  für  das 
scharfe  Denken  veranlagter  Verstand  erhielt  unter  einem  nam- 
haften, aber  uns  unbekannten,  spanischen  Gelehrten  treffliche 
Schulung.  Besonders  der  Dialektiker  in  ihm  wurde  geweckt  und 
ausgebildet.  Auf  denselben  Bänken  saß  etwa  sieben  Jahre  später 
Ignaz  Loyola,  von  Irrfahrten  heimgekehrt,  von  Leidenschaften 
zerrissen,  voll  phantastischer  Pläne.  Das  schroffe  Gegenstück  zu 
dem  jungen  Calvin,  der  nur  die  Leidenschaft  des  Geistes  kannte: 
zu  lernen. 


Calvin  als  Humanist. 


Nicht  ohne  Empfänglichkeit  für  das  Schöne,  wofür  bereits 
Cordier  den  Sinn  seiner  Schüler  zu  öffnen  sich  angelegen  sein  ließ, 
suchte  er  es  doch  weniger  in  den  Künsten  als  in  der  Klassizität 
des  Stils.  Schreiben  wie  Cicero  war  damals  der  höchste  Ruhm.1 
Danach  strebte  der  nun  Sechzehnjährige.  Er  fand,  daß  dieser 
römische  Klassiker  eine  der  französischen  verwandte  Art  habe. 
Dieser  Wohllaut  der  Form,  dieser  durchsichtig-  klare  Aufbau  der 
Gedanken  ergötzte  und  befriedigte  ihm  aufs  höchste  Ohr  wie  Geist. 
Der  schüchterne  angehende  Jüngling  ahnte  nicht,  daß  er  in  dieser 
Zeit  schon  eifrig  damit  beschäftigt  war,  sich  das  Denkmal  zu 
setzen,  das  nicht  lange  danach  aus  der  von  ihm  neugeprägten 
französischen  Schriftsprache  aller  Welt  vor  Augen  trat.  „Keiner 
ging  ihm  darin  voran,  gut  zu  schreiben,  und  wenige  haben  seitdem 
sich  der  Schönheit  und  Leichtigkeit  der  Sprache  genähert,  die  er 
besaß";  sagt  einer  seiner  gelehrten  Landsleute.2  Dieser  bis  in 
seine  Muttersprache  neugestaltend  sich  geltend  machende  Einfluß 
Ciceros  war  allerdings  zum  großen  Teil  Calvins  eignes  Verdienst, 
die  Frucht  privater  selbständiger  Lektüre.  Denn  der  sonst  so 
einflußreiche  spanische  Lehrer  des  College  de  Montaigu  trug 
schlechtes  scholastisches  Latein  vor,  auch  von  den  andern  Kathe- 
dern bekam  Calvin  vorderhand  nichts  Besseres  zu  hören.3 

In  dieser  Zeit  seines  Werdeganges  zeigt  sich  an  ihm  ein 
zurückgezogenes,  herbes,  strenges  Wesen.  Alle  Biographien  stim- 
men darin  überein,  daß  er  ein  unbequemer  Kamerad  gewesen  sei. 
Seine  Mitschüler  hätten  ihn  den  „Accusativ"  genannt.  Kamp- 
schulte 4  nimmt  es  mit  diesem  Spitznamen  nicht  so  harmlos  wie 
andre  Biographen.  Es  wird  wohl  was  daran  gewesen  sein.  Aber 
man  urteile  doch  billig.  Der  kleine  Calvin  überragte  seine  Ge- 
nossen um  mehr  als  Haupteslänge  an  wissenschaftlichem  Können 
und  sittlichem  Wollen.  Fern  von  den  Vergnügungen  der  Jugend, 
nur  auf  das  Wahre  und  Gute  gerichtet,  schwächlicher  Gesundheit, 
von  chronischen  Leiden  heimgesucht,  einsilbig  im  Verkehr,  ganz 
im  Banne  einer  unjugendlichen,  aber  entschiedenen  Richtung  seines 
Charakters :  wie  sollte  er  nicht  unwillkürlich  und  unbewußt  die 
leitende  Stellung  eines  Lehrers  mit  aller  darin  liegenden  Aufsicht 
und  allem  hervorgerufenen  Tadel  über  seine  Mitschüler  sich  an- 

i)  Baum  a.  a.  O.   S.  37. 

2)  Florimond    de    Raemond,    L'histoire    de    la    naissance,    progres    et 
ilcnce  de  l'heresie   de  ce  siecle;  bei  Bungener  a.  a.  O.  S.  16. 

3)  Bungener  a.  a.  O.   S.  17. 

4)  A.  a.  O.   S.  225  Anm.     Doumergue  a.  a.  O.   S.  73  ff. 


Von  Jobannes  Neuenhaus. 


geeignet  haben!  In  Wahrheit  ist  doch  wohl  noch  etwas  anderes, 
Rühmlicheres  darin  zu  erkennen.  Ein  humanistischer  Zug,  dem 
er  seinem  sonst  freilich  glücklicher  gearteten  Lehrer  Cordier  ab- 
gesehen haben  mochte.  Der  echt  griechisch-philosophische  Grund- 
satz:  mit  der  Tat  auszudrücken,  was  er  gelernt  hatte.  Das  ist 
schon  der  spätere  Reformator,  der  existierend,  vorbildlich  kund- 
gab, was  er  lehrte. 

Ein  dermaßen  geförderter  Scholast  —  er  zählte  nun  18  Jahre  - 
war  reif  für  die  Sorbonne.     Da  traf  ihn  ein  unerwarteter  Bescheid 
des  Vaters. 

3- 

Gerhard  Cauvin,  eigensinnig  und  eigenmächtig  in  der  Aus- 
übung seiner  Rechtsbefugnisse,  hatte  mit  dem  Klerus  Händel  be- 
kommen. Wir  wissen  darüber  nichts  Genaues.  Sie  müssen  doch 
sehr  ernstlicher  Natur  gewesen  sein,  denn  sie  führten  schließlich 
zu  seiner  Exkommunikation.1  Man  sollte  denken,  bereits  die  An- 
fänge solcher  Störungen  seines  Verhältnisses  zur  Kirche  erklären 
zur  Genüge  den  Entschluß  des  Vaters,  den  Sohn  ihrem  Dienste  zu 
entziehen  und  ihn  von  der  Theologie  zur  Rechtswissenschaft  über- 
gehen zu  lassen.  Calvin  selbst  vermeidet  es,  den  Zerfall  des  Vaters 
mit  der  Kirche  zu  berühren  und  bezeichnet  in  der  Vorrede  zu  den 
Psalmen  als  Grund  des  plötzlichen  Wechsels  die  größeren  Aus- 
sichten, die  dem  Jünger  der  Rechtsgelehrsamkeit  sich  boten.  Auch 
diese  werden  ja  mitgesprochen  haben.  Der  Sohn  gehorchte,  wie- 
wohl schweren  Herzens.  Doch  sollte  er  die  auch  hier  über  ihm 
waltende  Hand  der  Vorsehung  spüren. 

In  Orleans  und  in  Bourges,  wohin  er  bald  nacheinander  ging, 
war  er  von  dem  neuen  Studium  gleich  so  hingenommen,  daß  der 
väterliche  Wille  ihn  nunmehr  in  die  rechten  Bahnen  gelenkt  zu 
haben  schien.  Er  hört  die  berühmtesten  Rechtsgelehrten.  In 
Bourges  2  tut  es  ihm  besonders  Alciati  an,  von  dem  Bungener3 
berichtet,  er  habe  als  Kind  der  italienischen  Renaissance  auf  das 
unfruchtbare  Gebiet  der  Gesetze  jenen  poetischen  Enthusiasmus 
übertragen,  mit  welchem  sein  Vaterland  ihn  genährt  hatte,  und 
Calvin,  den  die  Poesie  allein  wahrscheinlich  kalt  gelassen  haben 
würde,  sei  durch  dieses  merkwürdige  Gemisch  bezwungen  worden. 

i)   Doumergue  a.a.O.   S.  23  ff. 

2)  Hier,  nicht  in  Orleans,   wie  ich  in   dem  Art.  der  Ref.   Kirchenztg. 
irrig  angebe. 

3)  A.  a.  O.   S.  21.     Vergl.  Doumergue   a.  a.  O.   S.  143. 


Q  Calvin    als  Humanist- 


Wir  wollen  dahingestellt  sein  lassen,  ob  es  eines  solchen  Gemisches 
für  den  Studierenden  der  Rechte  noch  bedurfte.  Sicher  ist,  daß 
unter  der  freieren  akademischen  Muße,  die  ihm  jetzt  vergönnt 
wurde,  sein  lebhafter  Geist  sich  rast-  und  schrankenlos  entfaltet.1 
Mit  Staunen  beobachten  die  Kommilitonen,  wie  er  nach  ange- 
strengter Tagesarbeit  die  halbe  Nacht  benutzt,  um  das  Gehörte 
selbständig  zu  verarbeiten  in  eleganter  Sprache,  mit  schöngeistigem 
Witz,  gleich  dem  gewandtesten  Gelehrten  vom  Fach.  Er  erntet 
die  verdiente  Anerkennung  seiner  Lehrer,  die  ihn  bereits  ver- 
tretungsweise die  Bank  des  Hörers  mit  dem  Katheder  vertauschen 
lassen.  Daneben  bleibt  auch  das  bunte  Treiben  der  Hochschule 
nicht  ohne  Einfluß  auf  ihn.  Er  wird  umgänglicher,  Freunde  ziehen 
ihn  in  ihre  Familienkreise.  Freilich  aus  dem  Banne  der  Gelehr- 
samkeit lockt  ihn  keiner.  Amicissima  doctrina !  Doch  findet  er 
einen  Freund,  der  ihn  dieser  noch  näher  brachte.  Es  war  doch 
eine  bedeutsame  Fügung,  daß  ihm  zu  dieser  Zeit  seiner  Lehrjahre 
ein  Meister  gegeben  wurde,  der  in  noch  höherem  Maße  als  der 
Pariser  Cordier  die  Geistesart  Melanchthons  besaß.  Melchior 
Volmar,  ein  Schwabe,  vertrat  in  Orleans  und  danach  in  Bourges 
den  deutschen  Humanismus. 2  Schon  in  ersterem  war  Calvin  diesem 
Manne  begegnet,  wir  hören  jedoch  näheres  über  ihre  innigen  Be- 
ziehungen erst  während  ihres  gemeinsamen  Aufenthaltes  in  Bour- 
ges. Wie  sein  großer  Landsmann  zog  Volmar,  teils  aus  materiellen 
Gründen,  mehr  noch  aus  Neigung  junge  Leute  von  guter  Familie 
in  sein  Haus,  die  er  in  den  Sprachen  und  schönen  Wissenschaften 
unterrichtete.  Inzwischen  gewährte  er  ihnen  noch  etwas  anderes. 
Den  in  Paris  unter  Lefevre  d'Etaples  und  Wilhelm  Bude  in  der 
Stille  gepflegten  christlichen  Reformbestrebungen  war  auch  er  zu- 
getan und  suchte  nun  in  solchem  Sinne  auf  die  ihm  anvertrauten 
Jünglinge  zu  wirken.  Unter  diesen  sah  Calvin,  in  Volmars  Hause 
oft  verkehrend,  einen  Knaben  von  ungewöhnlicher  Anmut  und 
fühlte  sich  sogleich  von  seinem  äußeren  Wesen  wie  von  seinen 
geistigen  Anlagen  mächtig  angezogen.3  Es  war  Theodor  Beza. 
Eine  Freundschaft  der  beiden  kam  jetzt  noch  nicht  zustande.  Sie 
wurden  bald  wieder  getrennt.  Indes  ihre  gemeinsame  Begeiste- 
rung für  die  humanistischen  Studien  rechtfertigt  das  Interesse,  das 

i)  Stähelin  a.a.O.  S.  n  ff.     Kampschulte  a.a.O.  S.  224  ff.,  besonders 
S.  232  ff.     Doumergue  a.  a.  O.  S.  180  ff. 

2)  Wir  kommen  Abschn.  9  auf  diesen,  näher  eingehend,   zurück. 

3)  Baum   a.  a.  O.    S.  17;   Beze,  Vrais    Pourtraicts   p.    149;   Doumergue 
a.  a.  O.  S.  187. 


Von  Johannes  Neuenhaus. 


wir  an  ihrem  ersten  Begegnen  nehmen.  Sie  waren  doch  zwei  sehr 
verschiedene  Naturen.  Das  zeigte  sich  auch  in  ihren  humanisti- 
schen Neigungen.  Der  Sohn  des  Rechtsgelehrten  fand  in  seinem 
Berufsstudium  kein  Hindernis,  mit  Eifer  sich  den  alten  Sprachen 
zu  widmen.  Wie  mag  er  es  in  seinem  Wissensdurst  empfunden 
haben,  daß  ihm  bisher  das  Griechische  noch  fehlte.  Zu  den  Füßen 
Volmars  hat  er  es  bald  nachgeholt.  Dagegen  war  dem  heiteren 
Kinde  aus  dem  Burgunderland  die  Rechtsgelehrsamkeit  ein  Greuel, 
und  weniger  der  strengen  Wissenschaft  als  dem  schönen  Geiste  der 
Antike  gab  er  sich  in  jenen  Jahren  akademischer  Ungebundenheit 
hin.1  Eine  dichterische  Ader,  die  dem  nüchternen  Picarden  ganz 
abging,  schlug  in  Beza,  und  gewann  ihm  aller  Herzen.  Den  Ge- 
fahren solches  ästhetischen  Humanismus  entging  er  mit  Not.  Doch 
hat  er,  in  schwerer  Krankheit  von  Gewissensnöten  geplagt,  von  den 
ersten  Schauern  einer  Wiedergeburt  ergriffen,  vieles  von  den  leich- 
ten Erzeugnissen  seiner  Muße  verdammt,  bis  sein  reines  Gemüt 
und  fester  Wille  ihn  dauernd  dem  mit  sittlicher  Frömmigkeit  ver- 
bundenen Humanismus  der  Gelehrsamkeit  folgen  ließ,  dessen  Zierde 
er  mit  seinem  großen  Freunde  und  Mitarbeiter  in  Genf  einst  werden 
sollte. 2 

4- 
Der  Tod  Gerhard  Cauvins  brachte  für  den  weiteren  Bildungs- 
gang des  Sohnes  eine  bedeutende  Wendung.  Ob  er  an  das  Sterbe- 
bett geeilt,  ob  er  der  traurigen  Pflicht  seiner  Brüder  sich  mit 
unterzogen  und  vom  Bischof  ein  Grab  an  geweihter  Stätte  für  den 
Exkommunizierten  erbeten,  wir  können  darüber  kaum  Vermutungen 
äußern.3  Calvin  ist  hier  so  schweigsam  wie  über  seine  Kindheit. 
Es  liegt  nahe,  daß  man  in  dem  peinlichen  Erlebnis  einen  Anlaß  zu 
seiner  Abkehr  von  der  römischen  Kirche  gesucht  hat.  Glücklicher- 
weise deutet  nichts  darauf  hin.  Widerspruch  gegen  die  Kirche 
hätte  er  übrigens  in  demselben  Maße  in  sich  nähren  können  als  er 
sich  dem  Einfluß  des  Humanismus  hingab.  Gerade  in  Frankreich 
galten  die  humanistischen  Neulinge  für  ,,Lutheranisierer".  Indes 
ist  er  in  dieser  Zeit  noch  fern  von  einem  Bruch  mit  der  Kirche. 
Hatte  schon  der  Prozeß  des  Vaters  mit  dem  Kapitel  in  Noyon  ihn 
veranlaßt,  sich  in  den  Mittelpunkt  der  Literatur  und  der  Wissen- 
schaften zu  vertiefen,  so  bewirkte  das  erst   recht  des  Vaters  Tod.4 


i)  Baum   a.a.O.   S.  2"]  ff. 

2)  Baum  a.  a.  O.  S.  62  ff. 

3)  Doumergue  a.  a.  O.  S.  194. 

4)  Doumergue   a.  a.  O.   S.    195  ff. 


IO 


Calvin  als  Humanist. 


Gleich  nach  demselben,  der  am  26.  Mai  1531  eintrat,  finden  wir 
ihn  in  Paris.  Endlich  durfte  er  die  Sorbonne  besuchen  und  ohne 
jede  Bevormundung  seinen  Lieblingsstudien  leben.  So  schnell  er 
sich  in  die  Rechtswissenschaft  gefunden,  so  glänzende  Erfolge  er 
darin  aufweisen  konnte,  sein  Streben  ging  nach  einer  andern  Rich- 
tung. Das  Sehnen  des  echten  Gelehrten,  nicht  nach  Ruhe,  aber 
nach  Stille  hat  ihn  immer  erfüllt.  Jetzt  wollte  er  diese  Stille  ge- 
nießen, aber  auch  auskaufen  mit  gründlicherer  Vertiefung  in  die 
Studien,  darin  ihm  ein  Reuchlin,  Erasmus,  Lefevre  als  Vorbilder 
leuchteten.  So  sah  man  nun  den  Lizentiaten  der  Rechte  in  den 
Hörsälen  der  Philosophen,  Philologen,  Theologen.  Doch  nicht  die 
alte  Akademie,  die  Sorbonne,  sollte  ihn  zu  ihren  treusten  Besuchern 
zählen.  Unter  dem  Einfluß  des  „grand  Bude"  und  Cops  hatte 
Franz  I.  ein  Institut  errichtet,  wo  man  Sprachen  lehrte,  und  dem 
Humanismus  ein  Herd  bereitet  ward.  In  dieses  College  de  France 
zog  es  Calvin  am  meisten.  Hier  glänzte  besonders  Danes.1  Aus 
alter  einflußreicher  Pariser  Familie  stammend,  ein  „grandseigneur", 
ein  Mann  von  enzyklopädischem  Wissen,  beliebt  am  Hofe,  der  ein 
begeistertes  Auditorium  um  sich  sammelte.  Darin  finden  wir 
Calvin.  Bei  Danes  setzt  er  die  griechischen  Studien  fort,  bei 
Vatable  hört  er  Hebräisch.  Es  war  eine  Epoche  von  unvergleich- 
lichem Enthusiasmus  und  Hoffnungen.  Der  Schüler  Cordiers  und 
Volmars  bekam  hier  denn  doch  noch  Größeres  zu  sehen  und  zu 
hören  als  ihm  Orleans  und  Bourges  geboten.  Hier  konnte  er  in 
der  Tat  alle  Elemente  humanistischer  Bildung  in  sich  sammeln, 
und  wir  dürfen  annehmen,  er  habe  darin  nichts  versäumt.  In  dieser 
Zeit  ist  er  ganz  einzuschätzen  als  Humanist.  Es  waren  die  an- 
genehmsten und  anregendsten  Jahre  seiner  Jugend.  Mit  Hütten 
mochte  er  sagen :  ,,es  ist  eine  Lust,  zu  leben !"  Paris  bildet  seine 
Leute.  Das  zeigte  sich  auch  bald  an  dem  vorher  sich  so  gern  nur 
in  seine  Wissenschaft  einspinnenden  Gelehrten.  Noch  mehr  als  in 
Bourges  gelang  es  jetzt  den  Freunden,  ihn  in  die  Gesellschaft 
hereinzuziehen.  Und  wir  sind  überrascht  zu  hören,  wie  man  ihn 
beurteilt.  Kein  Finsterling,  sondern  ein  Mann  von  angenehmen 
Umgangsformen,  vielseitig  gebildet,  beliebt,  gesucht,  ja,  seine  Um- 
gebung bezaubernd,  daß  man  sich  darum  reißt,  ihn  zu  beherbergen. 
Seine  Korrespondenz  mit  den  Freunden  hat  den  Charakter  von 
Kordialität  und  Freundlichkeit.  Bei  der  Empfehlung  eines  jungen 
Arztes  äußert  er  das  witzige  Bedenken:  „Ist  das  nicht,  wie  wenn 

ii   Doumergue  a.a.O.   S.  205. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  I  I 


man  einen  Degen  in  die  Hand  eines  Briganten  legte?  Denn  man 
sendet  ihn,  um  Viele  umzubringen.  Freilich,  dem  Arzte  ist  es  er- 
laubt, ungestraft  zu  töten."  '  Dabei  lebt  er  selbst  nicht  etwa  in 
glänzenden  Verhältnissen.  Einmal  gerät  er  in  großer  Angst, 
Schulden  machen  zu  müssen.  Es  fehlen  ihm  zwei  Kronen.  Für 
den  Gewissenhaften  eine  ziemliche  Verlegenheit.  Indes  überheben 
ihn  die  Freunde  der  Sorge.  Die  Stimmung  und  die  Studien  leiden 
nicht  unter  der  Enge.  Auf  seine  wissenschaftliche  Tätigkeit  wirkt 
auch  der  gesellige  Verkehr  nicht  nachteilig.  Es  sind  feine  distin- 
guierte Kreise,  eine  geistige  Atmosphäre,  darin  er  sich  bewegt. 
Vor  allem  pflegt  er  intimen  Umgang  mit  der  Familie  Cop,  wo  ihn 
der  Sohn  des  Hauses  als  Freund  eingeführt  hat,  und  Alle  ihm  mit 
großer  Verehrung  und  Anhänglichkeit  begegnen. 

5- 

Es  war  nun  an  der  Zeit,  daß  man  von  solcher  geistigen  Reg- 
samkeit und  Empfänglichkeit,  verbunden  mit  so  andauerndem 
Fleiß  einen  Beweis  selbständigen  gelehrten  Schaffens  erwarten 
durfte.  Calvins  Feder  hat  sich  indes  auch  später  nie  übereilt. 
Streng  in  der  Selbstbeurteilung,  von  angeborner  Bedenklichkeit  in 
allem  ernsthaften  Beginnen,  wird  er  den  Plan  lange  bei  sich  er- 
wogen haben.     Endlich  drängten  die  Freunde  zur  Ausführung. 

Das  Erstlingswerk  war  eine  lateinische  kommentarmäßige  Ab- 
handlung über  Senecas  Schrift  ,de  dementia'.  -  Er  widmet  sie  in 
der  Vorrede  seinem  Jugendfreunde  Claude  d'Hangest  Moramor, 
Abt  von  St.  Eloy.  Die  Veröffentlichung  bewegt  den  Verfasser 
sichtlich.  Nicht  nur  der  Eindruck,  den  sie  hervorrufen  wird,  auch 
die  Sorge  um  Deckung  der  Kosten  beschäftigte  ihn  aufs  lebhafteste. 
Doch  ist  er  sich  des  Verdienstlichen  in  seiner  Arbeit  wie  der  ent- 
scheidenden Bedeutung  dieses  ersten  literarischen  Schrittes  wohl 
bewußt.  ,,Der  Würfel  ist  gefallen!"  Und  er  fiel  für  den  Verfasser 
nicht  ungünstig.  Die  Schrift  wurde  allseitig  gewürdigt  und  bestätigte 
seinen  Ruf  als  Gelehrter.  Von  weitertragender  Bedeutung  war  sie 
doch  nicht.  Man  hat  solche  ihr  beigelegt.  Man  hat  in  ihr  einen 
Appell  an  die  Obrigkeit,  Milde  gegen  die  Ketzer  zu  üben,  sehen 
wollen.  Wohl  rügt  sie  öffentliche  Zustände  in  der  Regierung 
und  wendet   sich   freimütig  an   die    Fürsten8    mit   dem   guten    Rat. 


i)   Doumergue  a.  a.  O.  S.  198. 

2)  Kampschulte  a.a.O.  S.  237  ff. ;    Doumergue   a.a.O.   S.   210  ff. 

3)  1516  hatte  Erasmus  eine  Institutio  Principis  christiani  geschrieben, 
die   er   dem    König   Karl   zueignete    (!).      Ersch    u.    Gruber,    Enzyklopädie, 

t.  Sekt.   Teil  36.     Art.    Erasmus   S.  160. 


j  2  Calvin  als  Humanist. 


ihre  Macht  nicht  auf  Roß  und  Reisige  noch  auf  Reichtümer,  son- 
der auf  Liebe  und  Treue  ihres  Volkes  zu  bauen ;  allein  das  gab  der 
Zusammenhang  mit  dem  Inhalt  der  Schrift  Senecas  von  selbst. 
Andrerseits  wiegt  das  philologische  Interesse  im  Kommentar  der- 
maßen vor,  daß  man  doch  nur  gezwungen  von  einer  reformierenden 
Absicht  auf  politischem  oder  kirchlichem  Gebiet  darin  reden  kann. 
Der  Reformator  war  eben  noch  nicht  erwacht.  Calvin  hatte  aber 
offenbar  eine  persönliche  Sympathie  für  den  römischen  Philosophen 
und  Staatsmann.  Und  das  erklärt  sich  nicht  schwer.  Seneca  zeigt 
manchen  ihm  verwandten  Zug  in  Wesen  und  Bildung.  Schwäch- 
lichen Körpers,  eine  geistige,  sittliche,  stoische  Natur,  anfangs 
Rechtsgelehrter,  dann,  diesen  Beruf  aufgebend,  der  Philosophie 
und  Rhetorik  sich  widmend :  kein  Wunder,  wenn  Calvins  Gedanken 
sich  gern  mit  diesem  Manne  beschäftigen,  gleichsam  im  Kultus 
einer  seelischen  Freundschaft,  und  er  nun  die  Gelegenheit  ge- 
kommen glaubt,  wo  er  den  Schatz  seiner  Kenntnisse  vor  der  ge- 
lehrten Welt  dartun  kann  und  soll.  Letzterer  lag,  so  zu  sagen,  der 
klassische  Autor  durchaus ;  darauf  konnte  der  Erklärer  rechnen. 
Aber  welche  Fülle  eigener  Belesenheit  bot  nun  wieder  dieser !  Sein 
schon  von  den  ersten  Lehrern  gerühmtes  Gedächtnis  leistete  ihm 
hier  glänzende  Dienste,  Homer,  Horaz,  Virgil,  Cicero,  Augustin, 
ja,  Schriftsteller,  die  wir  nicht  einmal  dem  Namen  nach  kennen, 
sind  mit  Belegstellen  ihm  zur  Hand.  Dabei  die  Gedrungenheit  des 
Stils,  um  die  ihn  Fachgenossen  aus  viel  späteren  Jahrzehnten  be- 
neiden müßten.  Die  übrigens  nicht  umfangreiche  Schrift x  war  nun 
das  erste  und  zugleich  letzte  rein  humanistische  Erzeugnis  aus  Cal- 
vins Feder. 2  Mit  ihr  —  so  ist  wohl  das  allgemeine  Urteil  —  habe 
er  Abschied  genommen  von  der  bisher  gepflegten  Richtung;  der 
Humanist  sei  untergegangen  im  Reformator.  Richtiger  wäre  in- 
des zu  sagen :  übergegangen  in  den  Reformator.  Denn  nie  hat 
dieser  aufgehört  Humanist  zu  sein. 


i)  Corp.  Ref.  Vol.  V.  I.  p.  1—162. 

2)  Kampschulte  a.  a.  O.  S.  239;  Doumergue  a.a.O.  S.  216  ff.  Letzterer 
urteilt  sogar  schließlich  S.  222:  En  realite  le  Commentaire  sur  le  de  de- 
mentia prouve,  que  notre  jeune  et  brillant  humaniste  n'est  pas  seulement 
un  nomine  des  temps  modernes,  ni  meine  im  nomine,  dans  le  plein  sens 
du  mot:  il  est  augtistinien.  Or  l'aiigustinisme  c'est  le  contraire  de 
rhumanisme.  Demandez-le  a  Erasme,  011  plutöt,  ä  Luther,  dont  le 
continuateur  se  forme  et  va  bientöt  se  devoiler.  —  S.  das  weitere  über 
diesen   Punkt   in   Absclin.  9  m.   Aufsatzes. 


Von  Johannes  Neuenhau*.  I  3 


6. 

Der  Kommentar  erschien  im  April  1532.  Hatte  die  Beschäf- 
tigung mit  dieser  Arbeit  Calvin  vollauf  in  Anspruch  genommen  und 
ihn  vielleicht  eine  Zeitlang  ausschließlich  in  sein  Studierzimmer 
gebannt,  so  mochte  er  nun  wieder  dem  öffentlichen  akademischen 
Leben  sich  zuwenden.  Darin  ging  es  um  diese  Zeit  unruhig  her. 
Die  Sorbonne  hatte  die  von  irgend  jemand  verteidigte  These:  daß 
die  h.  Schrift  ohne  Kenntnis  des  Hebräischen  und  Griechischen 
nicht  zu  verstehen,  und  ebenso  ein  Prediger  oder  Ausleger  ohne 
diese  beiden  Sprachen  nicht  möglich  sei:  ,temeraria,  scandalosa, 
falsa,  impia,  perniciosa'  genannt.1  Am  1.  Januar  1533  erhob  sie 
förmlich  Klage  beim  König  über  die  zunehmende  Ketzerei.  Einer 
ihrer  Lehrer,  Beda,  fürchtet,  daß  durch  Kenntnis  der  alten  Sprachen 
die  Tradition  der  Kirche,  besonders  die  offizielle  Übersetzung  der 
h.  Schrift  Änderungen  erfahren  könnte,  wie  sie  Erasmus,  Lefevre 
und  andere  hereingebracht  hatten.  So  stand  eine  Partei  der  Auf- 
klärung der  alten  scholastisch-kirchlichen  gegenüber,  und  zwar  zu- 
gleich als  Partei  des  Evangeliums.  Die  Sorbonne  prägte  Schimpf- 
namen. „Ein  Lutherischer"  galt  für  verdächtig,  „ein  Grieche"  für 
„ein  Ketzer".  Die  reformierende  Bewegung  drang  indes  unauf- 
haltsam vor.  Le  Picard  klagt :  „das  ist  unsre  Lage.  Meine  Kanzel 
ist  verlassen.  Es  bleiben  mir  nur  einige  alte  Weiber.  Jedermann 
läuft  nach  dem  Louvre".2  Vermutlich  ließen  in  letzterem  sich  die 
vom  König  angestellten  Lehrer  des  College  de  France  hören,  die 
alle  stark  zur  Ketzerei  neigten. 

Unter  solchen  Eindrücken  stand  jetzt  Calvin.  Was  er  bereits 
von  Cordier  und  Volmar  und  neuerdings  von  Bude  und  Danes  an 
religiöser  Anregung  empfangen,  was  er  in  der  Quelle,  der  h.  Schrift 
selbst,  gefunden,  das  wurde  in  diesen  Tagen  erst  recht  lebendig  in 
ihm  und  bewegte  ihn  aufs  tiefste.  Dabei  konnte  ihm  nicht  ver- 
borgen bleiben,  daß  die  humanistischen  Studien,  denen  er  sich  mit 
so  ausnehmendem  Eifer  hingegeben,  ihm  nur  dazu  gedient  hatten, 
in  die  Erkenntnis  des  Irrtums  der  Kirche  und  der  Wahrheit  des 
Evangeliums  zu  dringen.  Noch  schwankte  er  in  Unsicherheit,  wie- 
wohl er  manchen  seiner  Freunde,  darunter  einen  begüterten  Kauf- 
mann, de  la  Forge  in  Paris,  entschieden  Avn  neuen  Weg  betreten 
sah.    Dr  Gedanke  hatte  ihn  wohl  erfaßt :  daß  man  an  der  Yerbessc- 


1)  Doumorgue  a.a.O.   S.  207. 

2)  Dounicrguc  a.  a.  O.  S.  20g. 


14 


Calvin  als  Humanist. 


rung  der  Kirche  arbeiten  müsse;  aber  noch  nicht  der  andre:  los 
von  ihr !  Da  tat  ihm  denn  der  Herr  die  Augen  und  das  Herz  auf. 
„Erschrocken  und  unter  Tränen  mein  früheres  Leben  verdammend, 
begab  ich  mich,  o  Herr,  auf  deinen  Weg!"1  Aber  Gott  tat  noch 
mehr.  Er  fügte  es,  daß  der  Neubekehrte  vor  den  Vertretern  der 
Kirche  ein  Zeugnis  ablegen  mußte,  ohne  dabei  seinen  Mund  auf- 
zutun. 

Sein  junger  Freund  Nikolaus  Cop,  Rektor  der  Universität, 
hielt  am  Allerheiligenfeste  1533  eine  Rede  „über  die  christliche 
Philosophie",  die  Calvin  ausgearbeitet  hatte.  Das  vernichtende 
Urteil  über  die  Sorbonne  wie  über  die  ganze  kirchliche  Scholastik, 
nicht  minder  das  evangelische  Zeugnis,  das  darin  ausgesprochen 
wurde,  zwang  die  beiden  Freunde  alsbald  zur  Flucht  aus  der  Stadt.2 

7- 
Die  neue  Wendung  im  Leben  Calvins  stellt  uns  vor  die  Auf- 
gabe, den  Spuren  des  Humanisten,  die  es  nunmehr  in  der  Wirk- 
samkeit des  Theologen,  später  des  Reformators,  aufzeigt,  nach- 
zugehen. Unter  dem  Pseudonym  Charles  d'Espeville3  finden  wir 
ihn  zunächst  in  dem  bei  Angouleme  gelegenen  Dorfe  Claix.  Der 
Pfarrer  des  Orts,  Louis  du  Tillet,  ein  Studiengenosse,  nahm  ihn 
auf.  Seine  Pfarre  war  für  den  Flüchtling  ein  wahres  Eldorado. 
Du  Tillet,  ein  vielgereister,  vielseitig  gebildeter  Gelehrter,  besaß 
eine  große  Bibliothek  von  drei-  bis  viertausend  Bänden.4  Calvin, 
glücklich,  einen  solchen  Reichtum  ungestört  genießen  zu  dürfen, 
vergalt  die  Gastfreundschaft  durch  Unterricht  im  Griechischen.  Der 
Ruf  seiner  Gelehrsamkeit  drang  bald  zu  allen  benachbarten  Geist- 
lichen. Man  soll  ihn  kurzweg  „den  Griechen"  genannt  haben.  Am 
liebsten  wäre  er  nun  hier  geblieben,  um  wieder  ganz  der  Wissen- 
schaft zu  leben.  Vor  jedem  Ruf  von  außen  her  möchte  er  sich 
verbergen.  Vor  der  Stimme  in  seinem  Gewissen  kann  er  es  nicht. 
,Omnia  manibus  Dei !'  mit  dieser  Losung  schließt  er  den  Blick  in 
die  Zukunft.  Gleich  Paulus  in  Damaskus  geht  er  in  dieser  Zeit 
wie  blind  einher,  unstet  von  einem  Ort  zum  andern  reisend,  immer 
wohl  aufgenommen,  mit  Gebildeten  im  Austausch  der  Gedanken 
über  die  evangelische  Wahrheit,  auch   hin  und  wieder  predigend, 


1)  An  Sadolet;  zu  finden  bei  Stähelin  a.a.O.   S.  27. 

2)  Doumergue  a.  a.  O.   S.  352  ff. 

3)  Doumergue  a.  a.  O.   S.  36g,   566. 

4)  Doumergue   a.a.O.    S.  370;    Kampschulte    a.a.O.    S.  247. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  I  5 


aber   ohne   festen    Arbeitsplan.      Der   Trieb   zu    literarischer    B 
tigung   verleitet   ihn,   eine    Schrift   über   den    Seelenschlaf  l   ZU    vei 
öffentlichen,  die  sich  gegen  die  Sekte  der  \\  iedertäufer  richtet,  Ge- 
lehrsamkeit verrät,  aber  zugleich  auch  zeigt,  wie  er  letztere  in  den 
I  henst  seiner  biblischen  Theologie  stellt  und  Glaubenswerte  an  die 
Stelle  natürlicher  .Menschenweisheit  setzt.    Capito  hielt  den  Gegen- 
stand für  ungeeignet,  riet  indes  vergeblich  vom  Druck  der  ihm  vor- 
gelegten   Niederschrift    ab.2      Immerhin    beweist    ihre    Veröffent- 
lichung die  nun  mehr  und  mehr  sich  geltend   machende   Neigung 
Calvins,  auf  schriftstellerischem  Wege   zu   reformieren.     Um   sich 
dafür  noch  weiter  zu  rüsten,  verläßt  er  Ende  1534  das  durch  Ver- 
folgungen der   Evangelischen   unruhig  und   gefährlich   gewordene 
Frankreich    und    sucht    „irgend    einen    verborgenen    Winkel"    in 
Deutschland  auf.     Er  findet  ihn  nach  kurzem  Aufenthalt  in  Straß- 
burg endlich  in  Basel.     Gewiß  nicht  zufällig  begleitete  sein  gelehr- 
ter Ereund  du  Tillet  ihn  auf  dieser  Reise.     Die  jetzt  noch  auf  der 
Höhe  ihres   Ruhmes  stehende  Universitätsstadt  hatte  nur  zu  viel 
Verlockendes.     Zwar  der  alternde  und  kranke  Erasmus,  wenn  er 
überhaupt  damals  von  Freiburg  wieder  zurückgekehrt  war,  mochte 
nicht    mehr  viel   bieten.     Wir   hören   auch    nichts   von    einer   per- 
sönlichen   Berührung    zwischen    ihm    und    Calvin.      Dagegen    trat 
letzterer  dem  Philologen  Simon   Grynaeus  freundschaftlich  näher, 
dem  er  auch  nachher  seinen  Kommentar  zum  Römerbrief  widmet. 
Grynaeus  zählte   mit  Bonifacius   Amerbach  zu   Erasmus    nächsten 
Freunden,3  die  ihm  den  Eingang  bei  dem  großen  Humanisten  leicht 
hätten  erwirken  können.    Auch  zu  Amerbach  hat  er  später  noch  Be- 
ziehungen gehabt,  wie   ein   Brief  zeigt,   in   welchem   er   ihm   einen 
jungen  Juristen   empfiehlt.4    Alle   humanistischen   Studien,   die   er 
jetzt  treibt,  dienen  ihm  nur  zum  Verständnis  der  h.  Schrift,  deren 
Größe  ihm  immer  mehr  zum  Bewußtsein  kommt,  und  deren  Besitz 
er  als  unantastbares  Recht  aller  suchenden  Herzen  fordert.     Eifrig 
bemüht  er  sich  um  ihre  Verbreitung  und  schreibt  noch  in  Basel 
zwei  Vorreden  zu  der  von   seinem  Verwandten   Olivetanus   unter- 
nommenen  französischen    Bibelübersetzung.      Eine    derselben    ent- 
hält   einen    genialen    Aufriß    der    Heilsgeschichte,    vielleicht     das 
Glänzendste,  was  Calvin  überhaupt  geschrieben  hat.5 

1)  Corp.   Ref.  V.  I.  p.  165 — 232. 

2)  Corp.  Ref.  V.  I.  Proleg.  p.  XXXVI. 

3)  Baseler   Chronik  1765  S.  654- 

4)  Corp.   Ref.    XIII.  p.  564.  565   Nr.  1307. 

5)  Stähelin  a.  a.  O.  S.  90  fr. 


Calvin  als  Humanist. 


Dreißig  Jahre  später  wohnte  in  demselben  Hause,  in  welchem 
er  sein  Logis  gehabt,  Petrus  Ramus,  ein  humanistischer  Gesinnungs- 
genosse Calvins,  dem  dann  die  Hauswirtin,  Frau  Klein,  viel  Gutes 
von  dem  fleißigen  und  sittsamen  Herrn  d  Espeville  erzählt  hat. 
Nun  mochte  sie  an  Hebräer  13,  2  denken.  Wie  ein  Engel  des 
Zeugnisses  sollte  aber  der  stille  Gelehrte  noch  im  Frühjahr  1536 
vor  der  Welt  auftreten  und  zwar  so  wie  es  seiner  innersten  Neigung 
entsprach,  als  Schriftsteller,  als  Theologe  —  als  reformierender 
schlechthin.  Um  die  angegebene  Zeit  erschien  nämlich  Calvins 
christliche  Glaubenslehre,  die  Institutio. 

8. 

Der  Eindruck,  den  die  umgestaltete  und  erweiterte  Ausgabe 
von  1559  macht,1  ist  der  eines  Niederschlages,  nicht  nur  seiner 
Glaubensüberzeugung,  sondern  ebenso  der  Fülle  gelehrten  Wissens, 
wie  es  ein  so  außerordentlich  zum  systematischen  Denken  veran- 
lagter Geist  in  sich  aufgenommen.  Ein  Mann  wie  er,  konnte  nicht 
wieder  in  das  Geleise  mittelalterlicher  Theologie  zurück.  Der 
Bruch  mit  der  Scholastik  war  in  ihm  geistig  und  geistlich  vollzogen. 
Ein  neuer  wissenschaftlicher  Zug  drang  mit  ihm  in  die  christliche 
Lehre.  Und  dieser  Zug  war  hervorgegangen  aus  humanistischem 
Boden.  Das  klassische  Schrifttum  hatte  zugleich  den  klassischen 
Geist  herübergebracht,  der  doppelt  anziehend  wirkte,  indem  er  das 
Natürlich-Menschliche  vom  Zwange  menschlicher  Satzungen  be- 
freite und  andrerseits  in  neue  angemessene  Formen  band.  Der 
Humanismus  schafft  keine  Überzeugungen.  Er  ist  nicht  identisch 
mit  Rationalismus.  Er  bildet  nur  Anschauungen.  So  hat  er  die 
reformirte  Reformation  bereits  in  ihrem  Reformator  bedingt  und 
bestimmt,  ohne  etwa  die  Grundquelle  dieser  Reformation  zu  sein.2 

Calvin  war  ja  nicht  der  erste,  der  eine  Zusammenstellung  der 
christlichen  Glaubenssätze  herausgab,  aber  unter  seiner  Feder  zu- 
erst gestaltete  diese  Zusammenstellung  sich  zu  einer  wissenschaft- 
lichen im  strengen  Sinne.  Melanchthon  in  den  Loci  zeigt  noch  die 
scholastische  Methode,  auch  Zwingiis  Schrift  „Über  die  wahre  und 
falsche  Religion"  bewegt  sich  noch  in  den  alten  Formen. 

Die  Aufgabe,  die  der  Verfasser  der  Institutio  sich  gestellt,  er- 
scheint uns  erst  recht  groß,  wenn  wir  den  unendlichen  Abstand  er- 


1)  J.  Köstlin,    Calvins    Institutio   nach    Form   und    Inhalt,    in   ihrer   ge- 
schieht!.  Entwicklung:.     Thcol.   Studien   und    Kritiken,  Jahrg.  1868  1.  Heft. 

2)  Vergl.  A.  Schweizer  a.  a.  O.  S.  27. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  I  J 


wägen,  der  für  ihn  zwischen  Mensch  und  Gott  besteht.  „Die 
Summe  unsrer  Weisheit  *  ist  Gotteserkenntnis  und  Selbsterkennt- 
nis". Calvin  rührt  nur  soeben  an  die  Frage  :  welche  von  beiden 
aus  der  andern  hervorgehe,  und  stellt  beide  sogleich  unter  den 
praktisch-religiösen  Gesichtspunkt.  Die  Erkenntnis  Gottes  ist  uns 
angeboren,  aber  die  Sünde  hat  sie  auf  ein  Minimum  reduziert.  In 
Sachen  des  Heils  ist  der  Mensch  vollends  blind  und  nichtig.  Gott 
alles  —  wir  nichts !  Auf  diesem  unwandelbaren  Grunde  „schlecht- 
hiniger  Abhängigkeit"  ruht  Calvins  ganze  Theologie.  Seine 
Prädestinationslehre  ist  da  nur  folgerichtig.  Sie  mag  ihm  selbst 
schaudererregend  und  dem  Erasmus  skandalös  sein,  er  kann  sie  nie 
aufgeben,  ohne  das  ganze  System  mit  in  den  Sturz  zu  ziehen.  Die 
Vernunft  versagt  hier.  Aber  was  liegt  daran?  Sein  System  ist 
weder  philosophisch  noch  spekulativ,  noch  menschlich,  es  ist  ein- 
fach der  Ratschluß  Gottes  selber,  und  die  Gedanken  dieses  Systems 
sind  unverbrüchlich  verbürgt  in  der  Magna  charta  der  h.  Schrift. 
Calvin  ist  absoluter  Monarchist  im  Reiche  Gottes.  Des  Königs 
Wille  ist  ihm  oberstes  Gesetz.  Dieser  Wille  steht  ihm  für  die  Ver- 
nunft. Unter  dieses  Prinzip  fühlt  er  sich  gebannt.  Aber  unter 
diesem  Prinzip  fühlt  er  sich  dann  auch  wieder  frei  von  jeder  mensch- 
lichen Schranke  und  Fessel,  von  Tradition  und  Kirche,  von  Ob- 
servanz und  Aberglauben.  Und  in  dieser  Freiheit  verachtet  er 
nicht  Vernunft  und  Wissenschaft.  Er  macht  im  Gegenteil  von 
ihnen  den  ausgiebigsten  Gebrauch.  Er  legt  doch  schließlich  an 
jede  Glaubenswahrheit,  sobald  er  sie  erkenntnismäßig  darlegt,  den 
Maßstab  logischen  Denkens  wie  den  der  persönlichen  Erfahrungs- 
gewißheit. So  verfährt  er  bei  der  Behandlung  von  Vorgängen  des 
innern  Lebens  wie  z.  B.  bei  der  poenitentia,2  so  bei  der  Lehre  von 
den  Sakramenten!  3  Ruht  nun  auch  die  Erfahrungsgewillheit  auf 
der  Erleuchtung  durch  demh.  Geist,  so  ist  sie  doch  wieder  bedingt 
durch  die  Mittel  menschlicher  Erkenntnis,  ohne  welche  auch  der 
Schriftbeweis  nicht  erbracht  werden  kann.  Bei  diesem  Verfahren 
ruft  er  oft  die  Zeugen  auf,  die  ihm  die  so  vertraute  klassisch-antike 
Welt  gewährt.      Ihre   Aussagen   haben  wenigstens   den   Wert    von 

i)  Instit.  I.  i.  i.  In  allen  lateinischen  Ausgaben:  sapientiae;  in  der 
französischen  von  1541:  sagesse.  Der  Ausdruck  lehnt  sich  wohl  an  die 
von  den  namhaftesten  Humanisten  Erasmus,  Lefevre  u.  a.  gebrauchte  Be- 
zeichnung der  christlichen  Lehre  als  philosophia. 

2)  Instit.  Lib.  III  3,  2.  Vgl.  Ritsch],  Die  christl.  Lehre  von  der 
Rechtfertigung  und   Versöhnung,    I.  Bd.    S.  203. 

3)  Instit.    Lib.  IV    14.      Vgl.    Baur,    Dogmengesch.    III    S.  10,    11. 

Calvinstudien.  2 


Calvin  als  Humatiist. 


Wahrheiten  wie  sie  der  sensus  communis  besitzt,  dem  freilich  die 
geoffenbarte  biblische  Wahrheit  völlig  verborgen  ist.  Indes  wie  stellt 
sich  nun  unser  Humanist  selbst  zur  Bibel  ? l  Luther  bewegt  sich  auf 
diesem  Gebiet  scheinbar  so  frei,  daß  noch  die  moderne  Kritik  sich 
auf  ihn  beruft,  während  Calvin  das  heilige  Instrument  kaum  an- 
tastet. „Man  soll  nichts  von  ihm  hinwegnehmen,  noch  hinzutun."  2 
Das  war  nun  wohl  letztlich  die  Meinung  aller  Reformatoren.  Auch 
Luthers  unbefangene  Urteile  sind  als  Gelegenheitsäußerungen  nicht 
so  ernst  zu  nehmen.  Gelegentlich  spricht  er  sich  doch  wieder 
anders  aus.  Aber  nicht  bloß  kirchlich-ehrwürdig  war  ihnen  der 
Kanon ;  sie  sahen  darin  den  Grund  ihres  Glaubens,  den  Schatz  ihrer 
Erkenntnis,  die  Quelle  ihres  Trostes,  die  Rüstkammer  ihrer  Waffen. 
Darum  ließen  sie  die  Hände  davon.  Was  hätten  sie  am  Ende  auch 
anders  tun  können?  Quellenforschung,  Entwicklungsgedanke, 
das  ganze  Handwerkszeug  des  Kritizismus  waren  für  sie  meist 
noch  fernliegende  Dinge.  Der  einzige,  der  hier  Pfadfinder  und 
Führer  hätte  sein  können,  Erasmus,  versagte  bald  im  Dienste  der 
Reformation.  So  hat  allerdings  Calvin  zumal  mit  herbstem  Kon- 
servatismus am  biblischen  Bücherbestand  festgehalten  und  auch 
das  kanonische  Ansehen  derjenigen  nicht  zu  beanstanden  gewagt, 
über  deren  Verfasser  selbst  Kirchenväter  ihre  kritischen  Bedenken 
haben.3 

Das  hindert  ihn  nun  aber  nicht  an  einer  freien  Handhabung 
des  Schrift  inhaltes.  Im  nüchternen  grammatisch-historischen 
Verfahren,  im  Vorwalten  natürlicher,  dogmatisch-voraussetzungs- 
loser Auffassung  des  Textes  bei  allem  tiefen  religiösen  Verständnis, 
im  Ablehnen  herkömmlichen  Allegorisierens,  in  glücklicher  ge- 
wandter Behandlung  schwieriger  Stellen  zeigt  sich  der  humanistisch 
gebildete  Meister,  der  neuen  Most  in  neue  Schläuche  füllt.  Sein 
Schaffenstrieb  gerade  auf  exegetischem  Gebiet  ist  erstaunlich. 
Mitten  in  den  Unruhen  der  Straßburger  und  Genfer  Zeit,  in  Stun- 
den, die  er  tagsüber  oder  nachts  sich  rauben  muß,  unterbrochen 
und  von  neuem  anhebend,  immer  gesammelt,  wissenschaftlich  ge- 
rüstet, voll  Schriftgeist  —  so  schreibt  er  Kommentare.  Es  ist 
ein  Wort  Bezas,4  das  aber  ganz  im  Sinne  Calvins  lautet:  „Das 
Studium   des    Griechischen    und    Hebräischen    sind    vorbereitende 


i)  Instit.   Lib.  I  Cap.  VI,  VII. 

2)  So  im   Genfer  Katechism.     Vgl.   Bungener  a.  a.  O.   S.  129  u.  ö. 

3)  Stähelin   a.  a.  O.   S.  192.     Vgl.    Tholuck,    Lit.    Anz.    1831    Nr.  42,   43. 

4)  Histoire  ecclesiastique,  I.  p.  8;  bei  Doumergue  a.  a.  O.  S.  207. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  I Q, 


Dinge  der  großen  Güte  und  Barmherzigkeit  Gottes  für  ein  großes 
Werk."  Beim  Lesen  der  Kommentare  Calvins,  besonders  in  der 
lateinischen  Ausgabe,  meint  man  etwas  zu  spüren  von  dem  hoch- 
gemuten, frommen  Humanismus,  der  jene  Männer  beseelte. 

Wir  kommen  noch  einmal  auf  die  Form  der  Institutio  zurück. 
„Es  herrscht  darin  ein  Ton  der  Unduldsamkeit  und  Schmähsucht,  der 
sich  mit  evangelischer  Milde  und  christlicher  Resignation  nicht 
verträgt."  So  urteilt  der  einsichtsvollste  der  Biographen  Calvins 
römischerseits,  Kampschulte.1  Er  mildert  zwar  selbst  seinen  Vor- 
wurf durch  die  Bemerkung:  „Doch  der  Geist  des  Reformations- 
zeitalters war  nicht  der  unsrer  Zeit.  Gerade  was  uns  verletzt, 
wurde  von  jenem  Calvins  Arbeit  vielfach  als  Verdienst  angerech- 
net." Damit  ist  doch  eigentlich  alles  erklärt.  Der  Humanist 
wenigstens  teilt  den  Vorwurf  mit  allen  Genossen  seiner  Zunft. 
Erasmus,  Hütten,  Luther,  selbst  Melanchthon  haben  im  Schimpfen 
auf  die  Gegner  ihrer  Feder  immer  freien  Lauf  gelassen.  Das  ge- 
hörte zum  Ton,  und  wenn  es  auch  gewiß  kein  guter  war,  so  ist 
er  doch  nicht  so  schlimm  zu  nehmen  wie  er  unseren  Ohren  klingt. 

9- 

Ein  viel  gewichtigeres  Bedenken  erhebt  sich  von  andrer  Seite. 
In  einer  eingehenden  Untersuchung  2  ist  neuerdings  der  Nachweis 
einer  Beeinflussung  Calvins  durch  Erasmus  versucht  worden,  die 
nicht  nur  seiner  schriftstellerischen,  sondern  auch  religiösen  Ori- 
ginalität erheblichen  Abbruch  zu  tun  scheint.  Die  angeführten 
Belege  3  beanspruchen  das  ernstlichste  Erwägen.  Es  handelt  sich 
dabei  um  die  Gedanken  beider  Autoren  über  Weltverachtung  und 
Todessehnsucht;  über  deren  Folgen  für  die  Sittlichkeit,  für  die 
Güter  und  Aufgaben  des  Erdenlebens;  über  den  Glaubensbegriff; 
über  die  Eschatologie.  Die  Ähnlichkeit  der  Ausführungen  ist 
unwiderleglich,  die  Behauptung  der  Abhängigkeit  des  Jüngeren 
vom  Älteren,  scheinbar  durchaus  begründet.  Wenn  es  auch  nicht 
im  Rahmen  dieser  Arbeit  liegt,  in  die  Sache  tiefer  einzudringen,  die 
Frage  darf  doch  nicht  ganz  unberührt  bleiben  :  wie  haben  wir  uns 
dieses  Verhältnis  Calvins  zu  Erasmus  zu  erklären?  Bewährte  Cal- 
vinforscher   haben    sich    damit    beschäftigt.4      Eine    befriedigende 

1)  A.  a.  O.   S.  277.     Vgl.    Köstlin  a.  a.  O.   S.  60,  61. 

2)  M.  Schulze,    Calvins   Jenseits-Christentum    in   s.    Verhältnis   zu   den 
religiösen    Schriften   des    Erasmus.     Görlitz    1902. 

3)  Bei   Calvin  fast  ausschließlich  der  Institutio   entnommen. 

4)  A.  Lang,    Ref.    Kztg.    1902    Nr.  5    S.  36,    37.      Vgl.    desselben    „Die 
Bekehrung   J.Calvins";    sowie    Doumergue    a.a.O.    S.  336  ff. 

2* 


20  Calvin  als  Humanist. 


Lösung  steht  noch  aus.  Die  Textunsicherheit  der  Schriften  des 
Erasmus  läßt  eine  Erörterung  des  Gegenstandes  noch  nicht  zu.1 
Eins  ergibt  sich  indes  aus  der  Darlegung  jenes  Verhältnisses  zwi- 
schen Calvin  und  Erasmus  schon  jetzt  und  wird  auch  durch  spätere 
Nachweise  nicht  widerlegt  werden  können :  die  Institutio  ist  bis  zu 
ihrer  letzten  Umarbeitung  unter  starken  humanistischen  Ein- 
wirkungen geschrieben  worden.  Gewiß,  auch  wenn  zwei  dasselbe 
schreiben,  ist  es  nicht  dasselbe.  Der  innere  Vorgang,  der  sich  in 
Calvin  vollzog,  blieb  dem  Humanisten  par  excellence  fremd.  Darum 
ist  es  die  treffendste  Bemerkung,  die  über  die  religiöse  Gesinnung 
des  Erasmus  gemacht  werden  kann,  wenn  Hermelink  2  sagt :  sein 
sittliches  Pathos  sei  stärker  gewesen  als  seine  Willenskraft.  Plato, 
Cicero,  Christus  lagen  für  ihn  auf  einer  Linie.  Für  Calvin  hebt  mit 
letzterem  eine  neue  an.  Allein  die  Terminologie,  unter  der  Eras- 
mus und  alle  von  ihm  beeinflußten  Humanisten  ihre  neue  Anschau- 
ung vom  christlichen  Leben  zum  Ausdruck  brachten,  sie  war  der 
Bann,  dem  sich  auch  der  Verfasser  der  Institutio  nicht  entziehen 
konnte.  Platonisch-Erasmisch  bestimmt  waren  eben  auch  jene  Ver- 
treter des  deutschen  Humanismus,  zu  deren  Füßen  Calvin  gesessen. 
Und  alle  waren  durch  dieselbe  Schule  gegangen,  die  Lefevre  und 
Erasmus  durchlaufen  hatten,  und  die  in  der  sogenannten  ,Via 
antiqua' 3  ihre  geschichtliche  Gestalt  gefunden  hat.  Auf  dem  Boden 
der  Quellenforschung,  durch  das  Mittel  der  Sprachwissenschaft 
hatte  man  eine  selbständige  Bildung  erstrebt,  die  von  der  Bevor- 
mundung der  Kirche  unabhängig,  auch  ein  christliches  Leben  nach 
den  Geboten  und  dem  Vorbilde  Christi,  ein  „Bergpredigt-Christen- 
tum", verwirklichen  wollte.  Luther  hat  diesen  Weg  kaum  be- 
schritten, je  weniger  er  humanistisch  beeinflußt  war.  Calvin  ist  auf 
ihm  von  Christus  ergriffen  worden  —  und' von  da  an  hatte  er  auch 
mit  Erasmus  innerlich  nichts  mehr  zu  tun.4 


i)  Hermelink,  Die  religiösen  Reformbe'strebungen  des  deutschen 
Humanismus.    Tübingen  1907.    S.  2. 

2)  A.  a.  O.    S.  24. 

3)  Siehe  die  interessanten  Ausführungen  bei  Hermelink  a.  a.  O., 
bes.  S.  6 — 15.  Vgl.  Wernle,  Die  Renaissance  des  Christentums  im  16.  Jahr- 
hundert. Tübingen  und  Leipzig  1904.  —  Tröltsch  in  ..Die  Kultur  der  Gegen- 
wart", herausgegeben  von  Hinneberg,  I.  4.  S.  271  ff. 

4)  Die  Spuren  Lefevres  in  Calvins  Kommentar  zum  Römerbrief  weiß 
ich  mir  auch  nicht  anders  wie  den  Einfluß  des  Erasmus  zu  erklären.  Vgl. 
übrigens  dazu  Doumergue  a.a.O.   S.  550  ff. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  2  I 


IO. 

Es  sah  Calvins  immer  noch  schüchterner  Natur  ganz  ähnlich, 
daß  er  mit  dem  Aufsehen,  das  sein  Werk  erregte,  sich  nicht 
selbst  in  die  Öffentlichkeit  ziehen  ließ.  Stille  Gelehrtenarbeit 
blieb  es  zunächst,  woran  sein  Herz  hing.1  So  wollte  er  ferner- 
hin wirken  für  die  Ausbreitung  des  Evangeliums.  Noch  im 
Frühjahr  1536  verläßt  er  Basel  und  begibt  sich  mit  du  Tillet 
nach  Ferrara.  Die  Herzogin  Renata  hielt  dort  einen  Hof,  der 
an  die  Glanzzeit  von  Weimar  erinnert.  Hier  hätte  nun  der  Hu- 
manist sein  Licht  leuchten  lassen  können.  Aber  hier  war  es,  wo 
er  solche  an  ihn  herantretende  Versuchung  mied,  um  der  ebenso 
frommen  wie  geistvollen  Frau  vielmehr  seelsorgerisch  nahe  zu 
treten.  Flüchtigen  Fußes  nur  weilt  er  in  Italien.  Wenn  er  je  Rom, 
Venedig  und  Padua  besucht  hat,  so  wahrscheinlich  mit  ebenso  ge- 
ringem geistigen  Ertrag  als  einst  Luther.  Die  Zeit  war  nah,  wo 
er  nicht  mehr  sich  selbst  gehören  sollte.  Auf  einem  Umwege  nach 
Straßburg  in  Genf  übernachtend,  trifft  er  hier  wieder  mit  du  Tillet 
zusammen,  der  den  Aufenthalt  des  Gastes  an  Farel  verrät.  Dieser 
beschwört  ihn  im  Namen,  ja,  unter  Androhung  des  Fluches  Gottes, 
im  Falle  seiner  Weigerung,  in  Genf  zu  bleiben  und  der  bedrängten 
Gemeinde  zu  helfen.  Calvin,  durch  das  heftige  Andringen  des 
Genfer  Pfarrers  erschüttert,  sagt  zu.  In  dieser  bewegten  Stunde 
hat  er  die  Weihe  zum  Reformator  empfangen. 

11. 
Bei  der  mannigfaltigen  Tätigkeit  des  Reformators  versteht  es 
sich  nun,  daß  wir  dem  Humanisten  darin  nicht  mehr  so  häufig  be- 
gegnen wie  bisher.  Wir  lassen  deshalb  den  Faden  seines  Lebens- 
ganges fallen  und  heben  die  sachlichen  Punkte  heraus,  die  unser 
Thema  angehen.  Zwei  Städte  kommen  für  sein  reformatorisches 
Wirken  in  Betracht :  Genf,  Straßburg  und  wieder  Genf.  Überall 
hat  er  das  Amt  eines  akademischen  Lehrers  bekleidet.  Es  war 
ihm  also  bis  an  sein  Ende  dauernd  Gelegenheit  geboten,  seiner 
Lieblingsneigung  nachzugehn  und  die  hervorragende  Gabe  seines 
Geistes,  zu  lehren,  wie  seine  reiche  Gelehrsamkeit  zu  betätigen. 
Der  Zulauf  von  Studenten,  dessen  er  sich  immer  erfreuen  durfte, 

1)  Das  Quellenmaterial  für  diese  letzten  Abschnitte:  bei  Stähelin 
a.  a.  O.  I.  und  II.  Bd.;  Doumergue  a.  a.  O.  II.  Bd.;  Bungener  führe  ich 
mit  Vorbehalt  an,  da  er  leider  keine  Belegstellen  angibt;  Wertvolles 
bei  Stricker,  Johannes  Calvin  als  erster  Pfarrer  der  reformirten  Gemeinde 
zu  Straßburg.    Straßburg  iSgo. 


2  2  Calvin  als  Humanist. 


bweist  an  sich  schon,  in  welcher  Weise  er  sein  Wissen  mitteilte. 
Die  Jugend  war  durchweg  humanistisch  gebildet  und  interessiert, 
dem  trocknen,  verworrenen  Wesen  der  Scholastik  abhold.  Calvin 
trat  ihr  entgegen  als  einer,  der  in  dem  Kursus,  den  sie  zu  durch- 
laufen hatte,  nicht  nur  zu  Hause  war,  sondern  die  darin  gepflegte 
Geistesrichtung  mit  der  überlegenen  Macht  einer  Autorität  re- 
präsentierte und  fortwährend  förderte.  Calvin  nicht  zu  hören,  galt 
für  ungebildet,  seine  Schriften  nicht  zu  kennen,  für  Unwissenheit. 
Wenn  seine  Kommentare  uns  heute  noch  zuweilen  ultima  ratio 
sind,  wie  mag  damals  ein  Straßburger  oder  Genfer  Student  am 
Munde  des  Meisters  gehangen  haben!  Gleich  Melanchthon  und 
seinen  eignen  Lehrern  hatte  auch  er  die  Gewohnheit,  junge  Leute 
in  seinem  Hause  und  an  seinem  Tische  zu  verpflegen.  Bei  allem 
Ernst,  mit  dem  er  sie  überwacht,  hat  er  doch  genug  Verständnis 
und  Nachsicht  für  ihre  Torheiten.  „Einigen  freien  Raum  müsse 
man  ihnen  lassen  für  ihren  Unverstand,  und  unrecht  wäre  es,  die 
Bande  der  Disziplin  zu  straff  zu  ziehen."  Lateinische  Komödien 
von  Schülern  aufgeführt  zu  sehn,  darin  fand  er  nichts  Anstößiges,1 
weil  es  im  Rahmen  humanistischer  Erziehung  lag.  Es  gewährt 
einen  eigenen  Reiz,  bei  dem  sonst  sogar  bis  zum  Rigorismus 
strengen  Manne  zu  beobachten,  wie  ihn  doch  gelegentlich  kluge 
Einsicht  zur  Milde  zwingt.  Dann  ist  er  sich  immer  bewußt,  päda- 
gogisch zu  handeln.  Interessant  ist  in  dieser  Hinsicht,  was  er  am 
3.  Juli  1546  aus  Genf  an  Farel  schreibt:  ,,Hier  ist  nichts  Neues, 
außer  daß  bereits  die  zweite  Komödie  in  Szene  gesetzt  wird.  Wir 
haben  nicht  bis  aufs  letzte  widerstehen  wollen,  weil  Gefahr  drohte, 
daß  wir  unser  Ansehn  schwächten,  wenn  wir  hartnäckig  wider- 
standen, und  man  schließlich  darüber  hinwegging.  Ich  sehe,  daß 
man  den  Leuten  nicht  alle  Vergnügen  versagen  kann.  Es  genügt 
mir,  daß  sie  begreifen :  man  gewähre  ihnen,  was  nicht  geradezu 
lasterhaft  ist,  indessen  ohne  unsre  Zustimmung."  2 

Ein  besonders  großes  Verdienst  hat  er  sich  in  beiden  Städten, 
zumal  in  Genf,  um  die  Organisierung  der  höheren  Lehranstalten 
erworben.  Mit  freudigem  Eifer  arbeitete  er  die  Studienpläne  dazu 
aus  und  legte  im  innigsten  Zusammenwirken  mit  seinem  Freunde 
Beza  alles  Gewicht  auf  die  Durchdringung  der  Wissenschaft  mit  der 
göttlichen  Wahrheit,  die  aber  auch  ohne  jene  nicht  zu  erkennen  sei. 
Am  liebsten  hätte  er  in  Genf  eine  Universität  errichten  sehn  und  so 


1)  Slähelin  a.a.O.   I.  Bd.  S.  492. 

2)  C.  R.  Tom.  Xll.  Nr.  800. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  23 


den  ursprünglich-humanistischen  Gedanken  der  Verselbständigung 
der  übrigen  Wissenschaften  gegenüber  der  Theologie  verwirklicht; 
allein  die  geringen  Mittel  des  kleinen  Staates  erlaubten  es  nicht. 
So  mußte  man  sich  auf  eine  theologische  Akademie  beschränken. 
Ungeduldig  sieht  er  dem  Bau  des  Hauses  entgegen.  Krank  läßt 
er  sich  auf  den  Bauplatz  tragen,  um  die  Arbeiten  zu  verfolgen. 
„Auf  die  Höhen  des  Balomier  soll  das  Haus  gestellt  werden;  von 
Osten  nach  Westen  sich  hinziehend,  in  Winkelform,  damit  ein  Platz 
freigelassen  sei,  wo  man  sich  in  der  frischen  Luft  ergehen  könne. 
Das  Ganze  werde  so  eine  schöne  Aussicht  erhalten  und  luftig  genug 
sein,  um  den  Studierenden  einen  gesunden  und  angenehmen  Aufent- 
halt zu  bieten."  Mit  ähnlichen  Wünschen  geht  er  einmal  in  der 
Stadt  umher,  um  einem  Freunde  eine  Wohnung  auszusuchen,  die 
ihm  den  Blick  auf  den  herrlichen  See  und  die  Berge  gewähre.  ( )der 
er  plant,  wie  Bungener  zu  berichten  weiß,  mit  Behagen  eine  kleine 
Ferienreise  mit  Viret,  die  dem  Gaste  zeigen  soll,  wie  der  mit  Ge- 
schäften überhäufte  Mann  doch  auch  gelegentlich  das  utile  cum 
dulei  zu  verbinden  weiß.1 

In  einem  Leben,  in  welchem  die  Rosen  der  Kunst  nur  spärlich 
gedeihen,  ist  man  auf  jeden  dahin  gehörigen  Zug  aufmerksam.2 
An  Kunstsinn  hat  es  Calvin  in  der  Tat  nicht  gefehlt.  „Er  hatte", 
wie  einer  seiner  jüngsten  Biographen  treffend  bemerkt,  ,,von  dem 
Ganzen  der  Künste  die  Begriffe  eines  Theologen,  der  sich  erinnert, 
daß  er  ein  Humanist  gewesen  ist,  und  nicht  ganz  aufgehört  hat,  es 
zu  sein."  3  Gegen  die  Abbildung  der  göttlichen  Dinge  wendet  er 
sich  schon  in  der  Institutio  *  mit  einem  Urteil,  das  nachher  auch 
Lessing  im  Laokoon  ausspricht:  Die  bildenden  Künste  sollten  in 
ihren  Darstellungen  die  Grenzen  des  Natürlichen  nicht  überschreiten. 
Ein  feines  ästhetisches  Empfinden  zeigte  uns  bereits  Calvins  Stil. 
Dieser  ist  es  denn  doch  wenigstens,  der  seinem  „Hymnus  auf  den 
siegreichen  Christus" 5  einigen  Wert  verleiht.  Er  selber  äußert 
sich  darüber  sehr  bescheiden:  „Was  die  Natur  mir  versagt,  hat 
mein   frommer   Eifer  vollbracht."6     Wohl   ohne   besonderes    Ver- 


i)  Brief  Calvins   aus    Genf   vom   22.  Juli    1550;   bei    Bungener    a.  a.  O. 
S.  207. 

2)  Doumergue  a.  a.  O.  II.  Bd.  S.  479  ff-;  Stähelin  a.  a.  O.  II.  Bd.  S.  398. 

3)  A.  Bossert,     Johann     Calvin;     deutsche     Ausgabe     von     Kfollick. 
Gießen  1908.    S. 142. 

4)  I.  XI.  12;  lat.  Ausg.  von  1559. 

5)  Bei   Doumergue   erwähnt  a.  a.  O.   II.  Bd.   Append.  VI. 

6)  Bei  Bungener  a.  a.  O.  S.  185. 


24 


Calvin  als  Humanist. 


ständnis  für  die  Musik,  hat  er  doch  ihren  Wert  zu  würdigen  ge- 
wußt, sorgfältig  mit  ihrer  Stellung  im  öffentlichen  Gottesdienst  sich 
beschäftigt,  dabei  ihr  freilich  eine  keusche  Zurückhaltung  auferlegt, 
immer  nur  den  Zweck  im  Auge :  daß  Gott  allein  die  Ehre  zu 
geben  sei. 

Wohin  er  kam,  da  predigte  er  nun  auch.  Man  darf  ihn  hier 
nicht  mit  Luther  vergleichen.  Eher  sollte  es  unser  Verwundern  er- 
regen, daß  der  Mann  des  systematischen  Denkens,  der  nüchterne, 
strenge  Geist,  der  wenig  Mitteilsame,  der  Phantasiearme  über- 
haupt die  Gabe  des  Predigens  besaß.  Steinmeyer  sagt  einmal :  Die 
Predigt  sei  keine  Gabe  an  den  Einzelnen,  sondern  an  die  Gemeinde. 
Ich  habe  eigentlich  dieses  Wort  nie  recht  verstanden.  An  Calvin 
geht  mir  darüber  ein  Licht  auf.  Als  „ihn  Gott  von  den  Schafhürden 
weggeholt  hatte  wie  einst  David,"  1  als  er  an  die  Gemeinde  sich  ge- 
bunden fühlte,  da  hat  der  Herr,  der  in  der  Kirche  seine  Gaben  aus- 
gießt durch  den  heiligen  Geist,  ihn  mit  der  Gabe  der  Predigt  be- 
gnadet und  ihm  das  brennende  Herz  und  die  feurige  Zunge  gegeben, 
mit  der  er  so  Viele  hinriß.  Calvins  Predigt  ist  wesentlich  Glaubens- 
zeugnis.  Darin  liegt  ihre  Gewalt.  Sie  ist  der  Mann  selber.  Seine 
Beredsamkeit  ist  eine  Beredsamkeit  der  Tatsachen,  schlicht,  aber 
lapidar,  nicht  blendend,  aber  zwingend.  Der  Humanist  spricht  aus 
ihr  in  denselben  Vorzügen,  die  seine  Schriftauslegung  auszeichnen. 
Calvin  predigte  in  seiner  Art  ebenso  natürlich  wie  Luther,  er 
äußerte  sich  auf  der  Kanzel  ebenso  unmittelbar  und  für  die  Hörer 
seiner  Zeit  gewiß  ebenso  neu  und  überraschend,  original  und  auf- 
klärend. 

Wir  kommen  zur  intimsten  literarischen  Betätigung  des  Re- 
formators. Wenn,  nach  einem  Wort  Goethes,  Briefe  zu  den  wich- 
tigsten Denkmälern  gehören,  die  der  einzelne  Mensch  hinterlassen 
kann,  dann  hat  Calvin  sich  mit  den  seinen  ein  solches  gesetzt.  Er 
hat,  zumal  in  der  späteren  Zeit,  eine  äußerst  lebhafte  Korrespon- 
denz geführt.  Es  war  ein  sehr  dankenswertes  Unternehmen,  daß 
man  neuerdings  etliches  davon  veröffentlicht  hat.2  Die  Auswahl 
hätte  viel  reichlicher  sein   dürfen.3     Zum   Glück   sind  ihrer  sonst 

i)  Vorrede  zu  den  Psalmen. 

2)  Calvin-Briefe.  In  Auswahl  und  Übersetzung  von  Maria  von  Born. 
Mit  einem  Vorwort  von  Prof.  K.  Müller-Erlangen.  Elberfeld  1902.  Ref. 
Schriftenverein. 

3)  J.  Calvins  Lebenswerk  in,  seinen  Briefen.  Eine  Auswahl  von 
Briefen  C.'s  in  deutscher  Übersetzung  von  Rudolf  Schwarz,  mit  Geleit- 
worten  von  Prof.  D.  P.  Wernle.  2  Bände.  1909.  Tübingen  (Mohr)  — 
hat  obigem  Wunsch  inzwischen  aufs  befriedigendste  entsprochen.  Leider 
erhielt   ich  die   Sammlung  nicht  mehr  vor   Drucklegung  dieses   Mscrs. 


Von  Johannes  Neuenhaus.  2  .S 


genug  bekannt.  Von  allen  gilt,  was  in  dem  Vorwort  der  Sammlung 
von  M.  v.  Born  gesagt  ist :  „Wahrscheinlich  werden  wir  auch  ent- 
decken, daß  der  gefürchtete  Mann  ein  menschliches  Herz  im  Busen 
trägt,  voller  Teilnahme  für  die  Leiden  der  Brüder.  Um  Calvin 
innerlich  kennen  zu  lernen,  und  von  ihm  sich  stärken  zu  lassen,  ist 
ein  authentisches  Mittel  das  Studium  seiner  Briefe.  Ihnen  hat  er 
selbst  das  Bild  seines  Charakters  eingeprägt."1  Mag  er  den  Vater 
eines  seiner  jungen  Hausgenossen  in  Straßburg,  der  samt  seinem 
Hofmeister  von  der  Pest  hinweggerafrt  ist,  trösten,  oder  an  die 
Herzogin  von  Ferrara  in  der  Zeit  ihrer  Glaubensanfechtungen  sich 
wenden;  mag  er  die  von  ihrem  Gatten  betrogene  Königin  von  Na- 
varra  aufrichten,  oder  mit  dem  ihm  taktlos  seine  Armut  vorhalten- 
den du  Tillet  sich  auseinandersetzen ;  mag  er  endlich  mit  dem 
Berner  Humanisten  Zerkintes 1  Gedanken  über  Toleranz  aus- 
tauschen :  immer  steht  man  unter  dem  Eindruck  eines  Geistes,  der 
sich  auf  überlegener  Höhe  ohne  alle  Prätension  behauptet,  Weis- 
heit von  obenher  mit  natürlicher  Klugheit,  Frömmigkeit  mit  Bil- 
dung, reiches  Gemüt  mit  Festigkeit  des  Willens  in  sich  vereinigt. 
So  konnte  nur  jemand  sich  allen  menschlichen  Lagen  anpassen  und 
für  alle  das  rechte  Wort  finden,  der,  wie  in  der  Zucht  des  heiligen 
Geistes,  so  auch  zugleich  in  der  Schule  des  Humanismus  gereift  war. 

ii. 

Wir  wollen,  am  Schluß  unseres  versuchten  Nachweises  an- 
gelangt, uns  nicht  noch  auf  das  Unternehmen  einlassen,  den 
schweren  Schatten  völlig  zu  heben,  der  für  die  Augen  mancher  ge- 
rade auf  dem  Humanisten  Calvin  liegt  in  dem  einen  Namen: 
Servet!  Nur  die  Bemerkung  möchten  wir  nicht  unterdrücken: 
Verdankt  der  humanistische  Zug  seine  Entstehung  dem  klassischen 
Altertum,  dann  täuschen  wir  uns  wohl  auch  nicht,  wenn  wir  auf 
dieses  den  Sinn  für  das  Gemeinwohl  des  Staates  2  zurückführen,  der 
Calvin  wie  den  Rat  von  Genf  in  dem  Augenblick  beseelte,  als  dieser 
das  verhängnisvolle  Urteil  fällte.  ,Ne  quid  detrimenti  capiat  res 
publica !'  Dieser  Grundsatz,  noch  dazu  gestellt  unter  den  theo- 
kratischen  Gesichtspunkt  der  Ehre  Gottes !  Das  macht  das  Ver- 
fahren für  den  modern-humanen  Sinn  allerdings  nicht  erträglicher. 


i)  C.   R.  Tom.    XI.   Nr.  2395.  2908,   3023  u.  ö.     Zerkintes   (Zurkinden) 

war   Stadtschreiber  von   Bern,  in   seiner  hochgebildeten   Art   erinnert   er   an 
seinen  späteren  Kollegen,  die  moderne  literarische  Berühmtheit,  in  Zürich. 
2)   Vgl.    Rothe,    Thcol.   Ethik.    IV.   §966   Anm.;    und    Kant.   Kritik   der 
Urteilskr.  S.  225. 


2^  Calvin  als  Humanist. 


aber  es  läßt  verstehen,  wie  fast  alle  protestantischen  Zeitgenossen 
es  billigen  konnten.  Soviel  darf  wohl  gesagt  werden :  Dem  Hu- 
manisten Calvin  tritt  der  Fall  Servet  nicht  zu  nahe. 


Hundeshagen  hat  in  glänzenden  Apercus  die  Abwege,  auf  die 
der  Humanismus  etliche  seiner  Vertreter  führte,  dargestellt.1  Er 
erinnert,  ohne  Namen  zu  nennen,  wohl  daran,  daß  auch  Calvin  auf 
einen  derselben  hätte  geraten  können.  Es  war  der,  dem  Erasmus 
verfiel.  ,Scientia  in  tranquillitate  animi'  —  „ein  selbstvergnügtes 
Sichabschließen  in  der  gelehrten  Intuition,  ein  Dahingegebensein 
an  die  Amönitäten  literarischer  Beschäftigung,  ein  Ergötzen  am 
literarischen  Ich  und  seinen  Betreibungen,  die  feinste,  schim- 
merndste  Gestalt  des  Egoismus".  Nicht  seine  Bekehrung  nur,  erst 
recht  sein  Beruf  als  Reformator  haben  Calvin  davor  bewahrt.  Bei 
der  Begegnung  in  Regensburg  soll  Melanchthon  sein  Haupt  an  des 
Genfer  Freundes  Brust  gelehnt  und  Worte  der  innigsten  Verständi- 
gung mit  ihm  ausgetauscht  haben.2  Diese  bedeutsame  Stunde 
kennzeichnet  Calvin  als  das,  was  er  uns  noch  heute  ist :  der  Zwil- 
lingsbruder des  Praeceptor  Germaniae,  der  akademische  Vertreter 
des  frommen  Humanismus,  der  Theologe  der  Reformirten 
Kirche. 


i)  Der  deutsche  Protestantismus,  seine  Vergangenheit  usw.,  beleuchtet 
von  einem  deutschen  Theologen.    Frankfurt  a.  M.   1847.    S.  20,  21. 

2)  Henry,  Calw  I.  S.  244,  368,  375;  angef.  bei  Hase  a.a.O.  S.  408. 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

Von 

W.  Kolfhaus, 

Pastor  in  Elberfeld. 

Die  Beziehungen  zwischen  Calvin  und  Bullinger  zu- 
sammenhängend darzustellen,  ist  die  Absicht  dieser  Studie.  Zur 
Kenntnis  des  Chai  akters  der  beiden  hervorragenden  Männer  ist 
es  notwendig,  den  Verkehr  zu  beobachten,  wie  er  sich  zwischen  diesen 
so  verschieden  gearteten  Naturen  anbahnte  und  im  Laufe  der  Jahre 
zu  immer  treuerer  Arbeits-  und  Herzensgemeinschaft  gestaltete. 
Calvin  und  Bullinger  sind  die  Führer  der  Reformationsbewegung 
in  der  Schweiz  und  der  ganzen  reformierten  Welt,  an  den  wich- 
tigsten Brennpunkten  des  evangelischen  Lebens  an  erster  Stelle 
wirksam  und  aufeinander  angewiesen,  vor  die  gewaltigsten  gemein- 
samen Aufgaben  gestellt,  in  den  Werken  des  Friedens  wie  des 
Streites  unzertrennliche  Bundesgenossen.  Noch  den  sterbenden 
Genfer  umgeben  die  Gebetsseufzer  seines  Bullinger,  des  großen 
Antistes  der  Züricher  Kirche,  des  weisen  und  tapferen  Fort- 
setzers und  Begründers  der  jäh  unterbrochenen  Arbeit  Zwingiis. 
Kaum  einen  ernsthafteren  Kampf  hat  Calvin  bestanden  ohne  Bul- 
lingers  mehr  oder  weniger  intensive  Beteiligung,  kaum  eine 
schwere  Last  hat  sich  auf  seine  Schultern  gelegt,  an  der  nicht  der 
Freund  tröstend  und  helfend  mitgetragen  hätte.  Des  einen 
Freunde  sind  dem  andern  teuer;  beide  fürchten  nichts  so  sehr, 
als  daß  irgend  ein  Mißton,  irgend  eine  Heimlichkeit  den  zum  Segen 
der  Kirche  geschlossenen  Bund  stören  möchte.  Der  Briefwechsel 
der  beiden  ungefähr  gleichaltrigen  Genossen  erstreckt  sich  über  die 
Zeit  vom  i.  November  1537  an  bis  zum  Tode  Calvins.  Er  liefert 
auch  für  die  nachfolgende  Studie  den  reichsten  Stoff,  um  uns  über 
ihre  theologischen,  kirchenpolitischen  und  per- 
sönlichen Beziehungen  zu  unterrichten,  ihre  Verhandlungen 
über  das  Abendmahl  und  die  Erwählung  müssen  naturgemäß  am 
meisten  berücksichtigt  werden. 


2  3  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


I. 

Anknüpfung  ihrer  Beziehungen  im  Streit  Calvins  mit  Caroli. 

Wie  Bullinger  in  einem  Schreiben  vom  22.  5.  1557  Calvin  er- 
innerte, haben  sie  sich  kennen  gelernt  in  Basel  i.  J.  1536,  als  in  den 
ersten  Februartagen  Bullinger  in  Basel  weilte,  um  mit  den  Ab- 
gesandten der  übrigen  deutsch-schweizerischen  evangelischen  Kan- 
tone im  Augustinerkloster  zu  Basel  das  erste  schweizerische  Glau- 
bensbekenntnis aufzustellen  und  zu  unterschreiben.  Damals  war 
Calvin  noch  der  unbekannte  junge  Gelehrte,  von  dessen  Bedeutung 
für  die  reformierte  Kirche  und  Theologie  erst  wenigen  eine  Ahnung 
aus  seiner  eben  erschienenen  Institutio  religionis  Christianae  auf- 
gegangen war.  Zu  diesen  wenigen  gehörten  die  nächsten  Glieder 
des  Bullingerschen  Kreises.  Pellikan  schrieb  an  Vadian  in 
St.  Gallen  am  21.  4.  36:  „Du  siehst,  was  Johannes  Calvin,  ein 
Franzose,  dem  französischen  König  schreibt;  so  klar  und  fest- 
begründet sagt  er  die  Wahrheit,  daß  sie  nicht  verachtet  werden 
kann."  Und  Leo  Judae  bemerkte  im  folgenden  Jahr  in  der  Vor- 
rede zu  seinem  Katechismus :  , Jon.  Calvin,  der  tiefste  Frömmigkeit 
mit  höchster  Bildung  verbindet,  hat  neulich  einige  Institutiones  zu- 
sammengestellt, die  ich  gelesen,  und  aus  denen  ich  einige  besonders 
wichtige  Abschnitte  ausgezogen  habe.  Feiner,  klarer  und  deut- 
licher kann  niemand  reden." 

Bullinger  hat  den  nur  fünf  Jahre  jüngeren  Gefährten  nach  jener 
ersten  persönlichen  Berührung  nicht  mehr  aus  den  Augen  verloren, 
obgleich  ihre  briefliche  Verbindung  erst  vom  August  des  folgenden 
Jahres  an  datiert.  Es  war  die  Gemeinschaft  Bullingers  mit  den 
Berner  Predigern,  die  ihn  mit  Calvin  wieder  in  Beziehung  brachte. 
Petrus  Caroli,  Virets  Amtsgenosse  in  Lausanne,  hatte  in  den 
letzten  Monaten  1536  und  Anfang  1537  in  Lausanne  Unruhen  er- 
regt durch  seine  Behauptung,  man  müsse  für  die  Verstorbenen 
beten.  Von  Viret  deswegen  bekämpft,  erhob  er  gegen  Calvin  und 
die  Seinigen  die  Anklage  auf  Arianismus,  und  es  entbrannte  der 
bekannte  Streit  Calvins  mit  Caroli  vor  dem  Schiedsgericht  der 
Berner  Kirche.  Die  Berner  Prediger  und  ihre  Freunde  in  der 
Schweiz  waren  gegen  Calvin  anfangs  nicht  sonderlich  freundlich 
gestimmt.  Megander  berichtete  am  8.  März  1537  an  Bullinger, 
Calvin  sei  nach  Bern  gekommen  und  habe  dringend  um  Abhaltung 
einer  Synode  gebeten,  sei  aber  auf  die  Zeit  nach  Ostern  vertröstet 
wurden,   und   im  Hinblick  auf  Calvin  und   die   übrigen   Franzosen 


Von  W.  KoUhaui.  2  O 


fügte  er  seinem  Bericht  den  Stoßseufzer  hinzu:  „Sieh',  welche  La 
uns  jene  unruhigen  Franzosen  noch  bereiten  werden!"  Ja,  Myko- 
nius  von  Basel  glaubte  am  20.  Mai  1537  Bullinger  zum  Eingreifen 
auffordern  zu  müssen,  weil  ihm  Calvin  und  Farel  des  Arianismus 
verdächtig  erschienen;  er  habe  sogar  gehört,  daß  sie  dem  schreck- 
lichen Irrtum  des  Spaniers  Servet  anhingen.  Während  dann  Me- 
gander  bald  zu  einer  günstigen  Beurteilung  der  Franzosen  kam 
und  schon  in  einem  Briefe  vom  22.  Mai  1537  Calvin  und  1 
,, fromme  und  gelehrte  Männer"  nannte,  blieb  Mykonius  noch  bei 
seiner  ablehnenden  Stellung  gegen  Calvin;  am  9.  Juli  1537  beklagte 
er  sich  bei  Bullinger  bitter  über  die  gegen  Caroli  angewandte 
Schärfe  und  äußerte  abermals  den  Verdacht,  daß  Calvin  in  der 
Trinitätslehre  nicht  ganz  einwandfrei  sei,  sonst  sei  unbegreiflich, 
weshalb  er  sich  nicht  ohne  weiteres  dem  Gebrauch  der  Worte 
„Trinität"  und  „Personen1'  in  seinem  Bekenntnis  auf  der  Lausanner 
Synode  anschließe,  deren  er  sich  doch  in  seinem  Katechismus  be- 
diene. In  seiner  Antwort  an  den  Basler  Antistes  vom  23.  Juli  1537 
ging  Bullinger  in  seiner  charakteristischen,  ruhig  überlegenden, 
sachlichen  Art  auf  die  Bedenken  des  Freundes  ein  und  gelangte  zu 
wesentlich  anderen  Schlüssen  als  dieser.  In  dem  von  den  Genfern 
eingereichten  Bekenntnis  sieht  er  nichts  Befremdendes ;  er  glaubt 
nicht,  daß  sie  in  verkehrter  Absicht  den  Gebrauch  der  Worte  „Sub- 
stanz" und  „Person"  vermeiden  und  ist  zufrieden  damit,  wenn  man 
in  der  Weise  der  Schrift  einfach  über  diese  Geheimnisse  redet  und 
darauf  verzichtet,  mit  spitzfindiger  Gelehrsamkeit  in  sie  einzu- 
dringen. Über  die  persönlichen  Angriffe  Calvins  gegen  Caroli  ent- 
hält sich  Bullinger  des  Urteils.  Carolis  Vorleben  und  niedriger 
Charakter  waren  ihm  damals  offenbar  noch  unbekannt.  Direkt 
wurde  Bullinger  in  den  Streit  hineingezogen  durch  ein  Schreiben 
der  Genfer  Prediger  an  die  Züricher  Kollegen  vom  13.  August  1537. 
in  dem  Calvin  im  Namen  der  Seinigen  den  Verlauf  des  Streites  mit 
Caroli  erzählt,  hauptsächlich  in  der  Absicht,  sich  von  dem  Ver- 
dachte des  Arianismus  zu  reinigen.  Die  Antwort  Bullingers  vom 
1.  November  1537,  an  Calvin  und  Farel  gemeinsam  gerichtet,  be- 
ginnt den  nur  von  wenigen  kurzen  Pausen  unterbrochenen  Brief- 
wechsel zwischen  den  beiden  Männern,  der  immer  inniger  wird  und 
erst  endet  mit  Calvins  Tode.  Bullinger  bezeugte  den  Freunden  in 
diesem  ersten  Schreiben  seine  völlige  Zustimmung  zu  ihrem  Be- 
kenntnis von  der  Trinität  und  versicherte  ihnen  persönlich,  daß  er 
bisher  nicht  deshalb  geschwiegen  habe,  weil  er  sie  weniger  liebe; 


30 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


vielmehr  habe  er  sie  als  treue  Diener  Christi  stets  geliebt  und  hoch- 
geschätzt. 

Es  ist  lehrreich,  an  dieser  Stelle  die  Äußerungen  Calvins  und 
Bullingers  über  die  Geltung  formulierter  Bekenntnisse  und  die  Zu- 
stimmung zu  den  Bekenntnissen  nebeneinander  zu  stellen.  Als 
Caroli  von  den  Genfer  Predigern  die  Unterzeichnung  der  altkirch- 
lichen Symbole  forderte,  lehnten  sie  dies  aufs  bestimmteste  ab, 
nicht  als  ob  sie  diese  Symbole  an  und  für  sich  verwürfen,  sondern 
weil  sie  nicht  geneigt  seien,  durch  ihr  Beispiel  eine  solche  Tyrannei 
in  der  Kirche  einzuführen,  daß  einer  schon  darum  für  einen  Ketzer 
gelten  müsse,  nur  weil  er  sich  weigere,  mit  den  Worten  oder  nach  dem 
Gefallen  eines  andern  zu  reden.  Und  als  Caroli  dagegen  anführte, 
daß  es  doch  im  Symbol  des  Athanasius  heiße :  „wer  irgend  selig 
werden  will,  muß  so  von  der  Sache  halten,"  scheute  sich  Calvin  nicht, 
geradeheraus  zu  erklären :  „Eben  dieses  sei  ein  Grund,  warum  er 
dieses  Symbol  nicht  unterschreiben  werde.  Er  und  seine  Freunde 
hätten  den  Glauben  an  einen  Gott  beschworen  und  nicht  den 
Glauben  dieses  vermeintlichen  Athanasius,  dessen  Sätze  eine  wahre 
christliche  Kirche  nie  genehmigt  haben  würde."  *  Wir  begegnen 
hier  bei  Calvin  derselben  Grundüberzeugung,  die  sich  am  Schlüsse 
des  von  Bullinger,  Mykonius  und  Grynäus  verfaßten  ersten  schwei- 
zerischen Bekenntnisses  kundgibt :  „Diese  Artikel  sind  von  uns 
nicht  in  der  Meinung  aufgestellt,  daß  wir  gerade  dies  allen  Kirchen 
aufdrängen  und  ihnen  hiermit  vorschreiben  wollten,  oder  daß  wir 
jemand  in  Worten  fangen  und  zu  einer  besonderen  Art  zu  reden, 
die  den  Kirchen  unnütz  und  unverständlich,  zwingen  möchten,  son- 
dern daß  wir  nunmehr  also  unseren  Glauben  und  Verstand  christ- 
licher wahrer  Religion  haben  aussprechen,  bekennen  und  gegen- 
einander erklären  wollen ;  darum  mögen  wir  auch  wohl  leiden,  so 
jemand  sich  anderer  schriftmäßiger  Worte  bedient,  als  wir  hier  ge- 
braucht haben,  und  heiterer,  verständlicher  und  den  Kirchen  nütz- 
licher hiervon  reden  und  schreiben  kann ;  doch  daß  er  in  der 
Substanz  der  Religion  mit  uns  halte  heiliger,  biblischer 
Schrift  gemäß.  Mit  solchem  wollten  wir  wohl  zufrieden  sein."  2 
Weder  Calvin  noch  Bullinger  haben  diese  klare,  evangelische 
Stellung  stets  in  der  Praxis  behauptet ;  aber  sie  sind  immer  wieder 
zu  ihr  zurückgekehrt.  Gerade  ihr  Verkehr  untereinander,  der 
manche  dogmatische  und  kirchenrechtliche  Differenzen  zur  Sprache 

i)  Stähelin,   „Jörn   Calvin"  I  p.  137. 
2)  Pestalozzi,  „H.   Bullinger"  p.  186. 


Von  W.  Kolfhaus.  3  1 


brachte  und  vor  sehr  scharfen  Aussprachen,  besonders  auf  Calvins 
Seite,  nicht  zurückschreckte,  ohne  daß  je  einer  an  dem  Christen- 
stand und  der  Redlichkeit  des  andern  irre  wurde,  ist  der  Beweis 
dafür,  wie  beide  nie  von  dem  Grundsatze  ließen,  daß  Übereinstim- 
mung im  Glauben,  „in  der  Substanz  der  Religion",  etwas  andres 
ist,  als  Übereinstimmung  in  Worten. 

Der  eben  erwähnte  Brief  Bullingers  an  Calvin  vom  i.  November 
1537  war  zugleich  ein  Empfehlungsschreiben  für  drei  fromme  Eng- 
länder, die  Calvin  und  Farel  besuchen  wollten,  nachdem  sie  sich 
eine  Zeitlang  in  Zürich  aufgehalten  hatten.  Diese  gegenseitigen 
Empfehlungen  von  Freunden  gehören  mit  zu  den  Fäden,  die  sich 
von  Genf  nach  Zürich  und  umgekehrt  hinüberspannen  und  in  einer 
Darstellung  des  Verkehrs  der  beiden  Männer  kurz  Erwähnung  ver- 
dienen. Bald  hat  Calvin  seinen  Freund  um  Fürsorge  für  Studenten 
zu  bitten,  die  in  Zürich  studieren  möchten,1  bald  erstattet  Bullinger 
Bericht  über  einen  nach  Genf  gesandten  Jüngling  und  bittet,  ihm 
die  Auslagen  zu  erstatten.2  Oder  Calvin  ruft  Zürichs  Fürsprache 
und  Hilfe  an  für  verfolgte  Glaubensgenossen,  so  mehrfach  für  die 
Waldenser  und  besonders  für  die  gequälten  Evangelischen  in  Frank- 
reich, und  wird  nicht  müde,  durch  Bullinger  auf  den  Züricher  Rat 
einzuwirken.  Jede  Verfolgung  in  Frankreich  findet  ihren  Wider- 
hall in  der  Korrespondenz  zwischen  Zürich  und  Genf.  Die  aus 
Frankreich,  England  und  Italien  verjagten  Glaubensgenossen,  die 
in  der  Fremde  eine  neue  Heimat  suchten,  waren  sehr  häufig  die 
Vermittler  des  gegenseitigen  Austausches  und  wurden  von  dem 
einen  wie  dem  andern  mit  warmen  Empfehlungen  versehen.  Aus 
der  reichen  Fülle  seien  nur  einige  der  vornehmsten  Namen  jener 
Exulanten  Christi  genannt,  die  durch  Bullinger  mit  Calvin  oder 
durch  Calvin  mit  Bullinger  in  dauernde  Verbindung  kamen :  Petrus 
Martyr  Vermilius,  Coelius  Secundus  Curio,  Bernhard  Ochino,  Ver- 
gerius,  Socinus  aus  Italien,  Lismaninus  aus  Polen,  Butler,  Eliot, 
Traheron,  Hooper  aus  England,  gar  nicht  zu  reden  von  den  vielen 
Studenten,  Kaufleuten  und  Handwerkern,  die  in  Zürich  oder  Genf 
mit  Calvins  oder  Bullingers  Hilfe  ein  geeignetes  Unterkommen 
suchten  und  meistens  fanden. 

Im  Anschlüsse  an  die  Erwähnung  dieser  im  Briefwechsel  der 
beiden  Reformatoren  einen  festen  Platz  einnehmenden  Empfehlun- 
gen sei  hier  auch  des  gegenseitigen   Freundeskreises   gedacht,  der 


1)  C.  R.  Calw  opera  XI.  p.  463. 

2)  C.  R.  XI.  p.  708,  724  u.  Calvins  Antwort  p.  744. 


,  2  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


bald  zu  einem  einzigen  festen  Freundschaftsbunde  zusammenwuchs. 
Als  Fremdlinge  standen  Calvin  und  die  Seinigen  zunächst  unter  den 
deutsch-schweizerischen  Theologen  da.  Von  dem  Basler  Aufent- 
halt her  besaß  Calvin  einige  lose  Beziehungen  zu  den  Basler  Ge- 
lehrten. Simon  Grynaeus  in  Basel,  Johannes  Gastius  Brisiacensis, 
Pastor  an  St.  Martin  in  Basel,  sind  schon  damals  seine  Freunde 
geworden.  Der  weitere  Kreis  der  tüchtigen  Männer,  die  in  der 
deutschen  Schweiz,  vor  allem  in  Zürich  wirksam  waren,  wurde  ihm 
erst  durch  Bullinger  zugänglich.  Des  letzteren  nächste  Freunde: 
der  gelehrte  St.  Galler  Bürgermeister  Vadian,  die  Züricher  Rudolf 
Gualther,  Josias  Simler  und  Lavater,  Bullingers  Schwiegersöhne, 
Konrad  Gesner,  Pellikan,  Martyr,  Joh.  Wolfius,  Bullingers  Züricher 
Kollegen,  Ambrosius  Blaurer  und  Oswald  Mykonius  von  Basel, 
Johann  Haller  und  W.  Muskulus  von  Bern  zählen  ebenso  zu  Calvins 
Freundeskreis,  wie  Bullinger  einen  Farel  und  Viret,  einen  Jonvil- 
laeus  und  Beza  als  fratres  und  symmistae  begrüßt,  und  wie  Bullinger 
Calvins  Briefe  im  Freundes-  und  Kollegenkreis  vorzulesen  pflegte, 
so  waren  Bullingers  Briefe  an  Calvin  Gemeingut  von  dessen 
Freundeskreis. 

II. 
Ihre  Stellung  zu  Zwingli  und  Luther. 

Es  war  nicht  von  vornherein  selbstverständlich,  daß  der  Nach- 
folger Zwingiis  und  der  Reformator  Genfs  die  Dioskuren  der 
schweizerischen  Kirche  wurden.  Der  Name  eines  gemeinsamen 
Lehrers  verband  sie  nicht,  persönlich  und  theologisch  nahmen  sie 
zu  den  ersten  großen  Lehrern  der  reformatorischen  Kirche  eine 
voneinander  sehr  abweichende  Stellung  ein.  Bullinger  war  der 
begeisterte  Schüler  Zwingiis,  der  Fortsetzer  seines  Werkes,  der 
Verteidiger  seines  Andenkens  gegen  die  römischen  Gegner  in  der 
Schweiz  1  und  gegen  Verunglimpfung  durch  Luther.  Für  Luthers 
Genius  hatte  auch  er  ein  Empfinden;  mit  großer  Geduld  und  vor- 
nehmer Mäßigung  erwiderte  er  die  immer  heftiger  werdenden  Aus- 
brüche Luthers;  dem  Landgrafen  Philipp  von  Hessen  bezeugte  er 
am  28.  Juni  1546,  daß  er  und  die  übrigen  Diener  seiner  Kirche 
Luthern  nie  auf  den  Kanzeln  oder  in  den  Vorlesungen  als  einen 
Abgöttischen  ausgegeben  hätten,  und  an  Melanchthon  schrieb  er 


1)  Bullinger,  ,, Glimpfliche  Verantwortung"  gegen  das  Schmäh- 
gedicht  des  Luzerner  Gerichtsschreibers  Johann  Salat  „Der  Tanngrotz" 
1532. 


Von  W.  Kolfhaus.  33 


am  1.  April  desselben  Jahres:  „Daß  Dr.  Luther,  dieser  gelehrte  und 
um  die  Kirche  hochverdiente  Mann,  in  seine  Ruhe  eingegangen  ist, 
freut  mich  herzlich,  nicht  etwa  um  des  Streites  willen,  den  wir  mit- 
einander auszufechten  hatten  —  Gott  weiß  es!  --  sondern  darum, 
weil  er  seinen  Lauf  glücklich  vollendet  hat.  Hatte  er  auch  nach  der 
Schwachheit  des  menschlichen  Fleisches  seine  Fehler,  so  war  ihm 
ein  ausgezeichnetes  Maß  ausharrender  Statthaftigkeit  beschieden."1 
Allein  bei  aller  Anerkennung  der  Persönlichkeit  des  Wittenberger 
Helden  stand  doch  zwischen  ihnen  beiden,  von  der  nationalen 
Schranke  abgesehen,  der  Schatten  Zwingiis. 

Calvin  hingegen  wußte  nichts  von  einer  Anhänglichkeit  an 
Zwingli,  dessen  deutsche  Schriften  er  gar  nicht  kannte  und  dessen 
Abendmahls-  und  Prädestinationslehre  ihn  nie  angezogen  hatte. 
Dem  Prediger  von  Orbe,  Zebedäus,  gegenüber  äußerte  er  den 
Wunsch,  Zwingli  möchte  ähnlich  wie  Butzer  Retraktationen  ge- 
schrieben und  seine  falsche  und  verderbliche  Meinung  über  das 
Abendmahl  zurückgezogen  haben.  Er  habe,  fügte  Calvin  hinzu, 
schon  früher,  als  er  noch  in  Frankreich  weilte,  Zwingiis  Meinung 
bekämpft.2  Von  Straßburg  aus,  am  26.  Februar  1540,  schrieb  er 
vertraulich  an  Farel  über  die  Züricher :  „Die  guten  Männer  zürnen, 
wenn  jemand  Luther  Zwingli  vorzuziehen  wagt.  Als  ob  uns  damit 
das  Evangelium  verloren  ginge,  wenn  Zwingli  etwas  getadelt  wird ! 
Und  doch  geschieht  Zwingli  damit  nicht  unrecht;  Du  weißt  selbst, 
wie  sehr  Luther  neben  Zwingli  hervortritt.  Daher  gefällt  mir 
durchaus  nicht  das  Gedicht  des  Zebedäus,  in  dem  er  Zwingli  dadurch 
gebührend  zu  loben  glaubt,  daß  er  sagt:  Einen  Größeren  zu  er- 
hoffen, sei  unrecht.  Auch  im  Lob  der  Toten  gibt  es  eine  Grenze, 
die  hier  weit  überschritten  ist.  Ich  wenigstens  sehe  schon  jetzt 
viele  Größere,  hoffe  noch  auf  manche  und  wünsche,  alle  wären 
größer  als  Zwingli."  In  einem  Briefe  an  Viret  vom  9.  März  1542 
heißt  es :  „Über  Zwingiis  Schriften  magst  Du  denken,  was  Du  willst. 
Denn  ich  habe  nicht  alles  gelesen.  Vielleicht  hat  er  auch  später  zu- 
rückgenommen und  verbessert,  was  ihm  früher  vorschnell  entfahren 
ist.  Aus  seinen  früheren  Schriften  weiß  ich  noch,  wie  wenig  an- 
gemessen er  über  die  Sakramente  lehrte."  So  bestimmt  sich  Calvin 
des  Unterschiedes  zwischen  seiner  und  Luthers  Abendmahlslehre 
bewußt  war,  und  so  wenig  er  dessen  Losbrechen  gegen  die  Schwei- 
zer billigte,  so  war  doch  seine  Schätzung  Luthers  wesentlich  höher, 


1)  Pestalozzi  p.  237,  Bullingcr  an  Thamer  C.  R.   XII.  p.  416. 

2)  C.  R.  X.  pars  post.    p.  344- 

Calvinstudien.  * 


■24  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


als  wie  Bullinger  sie  dem  Gegner  Zwingiis  zuteil  werden  ließ.  Als 
die  Züricher  durch  Luthers  „Kleines  Bekenntnis  vom  Abendmahl" 
aufs  tiefste  entrüstet  waren,  wollte  Calvin,  wie  er  gegen  Bullinger 
äußerte,  am  25.  November  1544,  nicht  unter  allen  Umständen  zum 
Schweigen  raten.  „Aber  daran  wünsche  ich  euch  zu  erinnern :  be- 
denkt, welch  ein  Mann  Luther  ist,  von  welchen  Gaben,  von  welcher 
Tapferkeit  und  Standhaftigkeit,  wie  trefflich  und  machtvoll  er  bis- 
her gegen  das  Reich  des  Antichrists  gekämpft  hat  und  die  Lehre 
des  Heils  verbreitet.  Ich  habe  oft  gesagt,  selbst  wenn  er  mich 
einen  Teufel  nennen  würde,  würde  ich  ihm  doch  die  Ehre  erweisen, 
ihn  als  einen  ausgezeichneten  Knecht  Christi  anzuerkennen.  Aber 
wie  er  durch  große  Tugenden  glänzt,  so  leidet  er  an  schweren 
Fehlern.  Hätte  er  nur  mehr  gelernt,  seine  Maßlosigkeit  zu  zügeln 
und  die  ihm  angeborene  Heftigkeit  gegen  die  Feinde  der  Wahrheit 
zu  kehren,  statt  gegen  die  Knechte  Gottes !"  „Dich  und  Deine 
Kollegen  bitte  ich,  ja  nicht  zu  vergessen,  daß  ihr  zu  tun  habt  mit 
einem  der  größten  Knechte  Christi,  dem  wir  alle  vieles  verdanken !" 
Mehr  als  einmal  hatte  Calvin  in  den  dem  Consensus  Tigurinus  vor- 
angehenden Kämpfen  unter  dem  Verdachte  zu  leiden,  daß  er  ein 
Anhänger  Luthers  sei,  und  seine  Gegner  in  Bern  machten  sich  ein 
Vergnügen  daraus,  ihm  seine  Urteile  über  Zwingli  später  wieder 
vorzuhalten.  Diese  verschiedene  Beurteilung  der  beiden  großen 
Reformatoren,  die  sich  auch  in  späteren  Zeiten,  in  den  Kämpfen 
gegen  die  Nachfolger  Luthers  und  in  den  Bemühungen  um  Einigung 
mit  den  Lutheranern,  immer  wieder  bemerken  läßt,  war  eins  der 
Hindernisse,  die  Calvins  und  Bullingers  Freundschaftsbund  zu  über- 
winden hatte.1  Ebenso  gefährlich  war  ihrem  friedlichen  Verhältnis  der 
stete  Kampf  des  Berner  Rates  und  einflußreicher  Berner  Prediger 
wie  Peter  Kunz  und  Jodokus  Kilchmeyer  gegen  Calvin.  Es  würde 
hier  zu  weit  führen,  diesen  teils  politischen,  teils  kirchlichen  Kampf 
zwischen  Bern  und  Genf  zu  schildern,  wir  werden  in  späterem  Zu- 
sammenhang darauf  zurückkommen.  Nur  daran  sei  erinnert,  daß 
für  Zürich  und  Bullinger  sehr  viel  darauf  ankam,  die  Einigkeit  mit 
Bern  zu  bewahren,  und  daß  es  nicht  geringer  Weisheit  bedurfte,  um 
die  Freundschaft  mit  Calvin  nicht  an  den  Klippen  des  Hasses  der 
Berner  scheitern  zu  lassen. 


1)  A.  Lang,    „Luther    u.    Calvin",    Deutsch-Evang.     Blätter    Jahrg.  21 
P- 319  ff- 


Von  W.  Kolfhaus.  35 


III. 

Bullinger  gegenüber  Calvins  Kirchenzucht. 

Calvin  ist's  gewesen,  der  die  Verbindung  mit  ßullinger  sucht*.'. 
Wie  er  schon  im  August  1537  den  Zürichern  den  Streit  mit  Caroli 
dargelegt  hatte,  so  veranlaßten  ihn  die  kirchlichen  Kämpfe  in  Genf 
am  21.  Februar  des  folgenden  Jahres,  sich  aufs  neue  an  Bullinger 
zu  wenden.  Calvin  mag  dazu  bewogen  worden  sein  durch  die  oben 
erwähnte  freundliche  Antwort  Bullingers  und  vor  allem  durch  den 
dringenden  Wunsch,  sich  in  seinen  heißen  Kämpfen  der  Hilfe  des 
schon  damals  angesehensten  schweizerischen  Theologen  zu  ver- 
sichern. Er  klagte  ihm  den  zerrissenen  Zustand  der  Genfer  Kirche 
und  sprach  von  der  Notwendigkeit,  durch  Parochialeinteilung  Über- 
sicht über  die  große  Genfer  Gemeinde  zu  schaffen  und  durch  Auf- 
richtung der  alten  apostolischen  Zucht  die  Reformation  der  Kirche 
zu  vollenden.  Der  einzige  Weg  dazu  sei  die  Abhaltung  einer 
allgemeinen  Synode,  auf  der  gemeinsam  das  zur  Erbauung  der 
Kirche  Nötige  beraten  und  beschlossen  werde.  Eine  Erwiderung 
Bullingers  scheint  nicht  erfolgt  zu  sein.  Aber  soweit  glaubten 
die  Genfer  Prediger  sich  mit  ihm  und  den  Zürichern  einig,  daß  sie 
nach  der  Katastrophe  am  22. — 23.  April  1538  sofort  persönlich  an 
die  auf  Ende  April  nach  Zürich  einberufene  Versammlung  der  evan- 
gelischen Kantone  die  Bitte  richteten,  ihre  Sache  zu  prüfen  und 
sich  um  ihre  Wiedereinsetzung  in  Genf  zu  bemühen.  Sie  übergaben 
der  Versammlung  eine  in  14  Artikeln  abgefaßte  Klarstellung  dessen, 
was  sie  um  des  Friedens  willen  zugeben  und  wobei  sie  beharren 
wollten.  Den  Forderungen  der  Berner  wegen  der  Taufsteine,  des 
ungesäuerten  Brotes  beim  Abendmahl  und  der  Annahme  einiger 
Feiertage  außer  den  Sonntagen  stimmten  sie  zu  unter  gewissen 
Bedingungen ;  von  ihren  Forderungen  betreffend  Parochialeintei- 
lung, Vermehrung  der  Zahl  der  Prediger  und  Abendmahlszucht 
durch  eine  besondere  kirchliche  Behörde  ließen  sie  nichts  nach. 
Zwar  machte  sich  die  Synode  den  Inhalt  ihrer  Artikel  nicht  zu 
eigen,  aber  sie  schickte  Botschaft  nach  Genf,  die  Prediger  wieder 
einzusetzen,  und  bat  den  Berner  Rat,  für  die  Prediger  einzutreten 
und  auf  ihre  Aufnahme  in  Genf  hinzuwirken.  Wie  Bullinger  die 
Angelegenheit  betrachtete,  geht  hervor  aus  einem  Billett  an  Niko- 
laus von  Wattenwyl,  den  vornehmen  Berner  Ratsherrn,  durch 
das  er  ihm  die  von  der  Züricher  Synode  zurückreisenden  Genfer 
Brüder  empfahl.     Er  nannte  Calvin  und  Farel   „gelehrte,   fromme 

3* 


->(y  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


Männer,  denen  man  vieles  verzeihen  müsse".  „Sie  haben  einen 
allzugroßen  Eifer."  „Nimm  Dich  ihrer  an  und  hilf  ihnen  durch 
Deine  Fürsprache  bei  den  Dir  bekannten  Senatoren."  Sowohl 
jener  Synodalbescheid  wie  dieses  Schreiben  Bullingers  bezeugen, 
daß  Calvins  Persönlichkeit  einen  günstigen  Eindruck  hervorgerufen 
hat ;  über  die  Sache  selbst  schweigen  sie.  Stähelin,  „Joh.  Calvin"  I 
p.  156  fr.  und  Doumergue  Bd.  2  seiner  Biographie  p.  286  nehmen 
an,  daß  die  Synode  sich  auch  die  sachlichen  Forderungen  der 
Genfer  Reformatoren  zu  eigen  gemacht  habe.  Sie  schließen  dies  aus 
einer  Bemerkung  Calvins,  der  am  20.  Mai  vor  seiner  Reise  mit  den 
Berner  Gesandten  nach  Genf  an  Bullinger  schrieb :  „Der  Berner 
Rat  hat  in  seinen  Beschlüssen  wenig  Rücksicht  genommen  auf  das, 
was  uns  in  Zürich  unter  allgemeiner  Zustimmung  eingeräumt  wor- 
den war."  Einige  Tage  später,  in  einem  Bericht  an  Bullinger  über 
die  Verhandlungen  mit  dem  den  Genfern  feindlichen  Prediger  Kunz 
und  die  durch  dessen  Treulosigkeit  gescheiterte  Versöhnungsreise 
nach  Genf,  redete  er  von  „den  Artikeln,  die  der  Synode  von  uns 
vorgelegt  waren  und  so  gefielen,  daß  nichts  daran  gestrichen 
wurde."  *  Allein  die  Zustimmung  der  Synode  kann  sich  nur  auf  den 
Inhalt  der  Artikel  im  allgemeinen  beziehen,  speziell  auf  die  den 
Frieden  mit  Bern  bezweckenden  Vorschläge.  Auch  erkannte  man 
die  Absicht  Calvins  an,  mit  den  von  ihm  geplanten  Einrichtungen 
das  Beste  der  Genfer  Kirche  zu  suchen.  Aber  gerade  in  dem 
Hauptpunkte,  der  Forderung  einer  Abendmahlszucht  und  einer 
kirchlichen  Zensurbehörde  hat  Bullinger  Calvins  Gedanken  nie  ver- 
treten, sondern  sich  wie  die  ganze  deutsche  Schweiz  mit  der  Aus- 
übung der  Sittenzucht  durch  die  Staatsgewalt  begnügt.  Man  ließ 
die  Artikel  durchgehen,  ohne  über  jeden  einzelnen  ein  Urteil  ab- 
zugeben. Selbst  wenn  die  Theologen  sich  Calvins  Forderungen 
hätten  aneignen  wollen,  so  würden  sie  sofort  mit  den  regierenden 
Geschlechtern  von  Zürich  und  Bern  in  Konflikt  gekommen  sein. 
Aber  Bullinger  wollte  auch  gar  nicht  die  Ideen  des  Genfers  über- 
nehmen, seine  Gedanken  lagen  in  diesem  Stück  weitab  von  Cal- 
vin. Den  entscheidenden  Beweis  für  die  Tatsache,  daß  die  von 
den  Genfern  gewünschte  kirchliche  Zensurbehörde  von  Bullinger 
abgelehnt  wurde,  finden  wir  in  einem  Briefe  der  Züricher  Pre- 
diger an  Farel  vom  4.  April  1541.  In  Zürich  war  das  Gerücht 
verbreitet,  man  gehe  in  Neuenburg  damit  um,  eine  schärfere 
Abendmahlsdisziplin   aufzurichten,    so    daß    niemand    zum   Abend- 


1)  C.  R.  X.  pars  post.  p.  203. 


Von  W.  Kolfhausi 


mahl  zugelassen  würde,  der  nicht  vorher  wegen  seines  Glaubens 
geprüft  wäre.  Voll  Verwunderung  hatten  die  Züricher  dies 
Gerücht  vernommen:  ,,Du  stellst  uns  viel  zu  hoch  an  Gelehr 
samkeit  und  Lauterkeit,  als  daß  wir  Derartiges  von  Dir  ver 
muten,  geschweige  denn  glauben  könnten.  Wenn  wir  die  Torheit 
so  weit  treiben  wollten,  daß  wir  niemanden  zum  Abendmahl  zu- 
lassen, er  sei  denn  zuvor  nach  seinem  Glauben  gefragt,  was  wäre 
das  anders,  mein  Farel,  als  der  Ohrenbeichtc  des  Papstes  den 
Weg  bereiten?  Wir  müssen  uns  hüten,  verehrter  Farel,  daß  wir 
nicht  papistische  Wege  einschlagen,  nachdem  wir  bisher  alles  nach 
der  heiligen  Regel  der  Apostel  eingerichtet  haben."  Mit  Beziehung 
auf  die  Bestrebungen  Calvins,  Farels  und  Virets  wegen  Einrichtung 
der  Exkommunikation  heißt  es  in  einem  Briefe  Bullingers  an  einen 
uns  unbekannten  Pfarrer  der  romanischen  Schweiz  vom  22.  Nov. 
1543:  „Ich  bezweifle  nicht,  daß  unsre  lieben  französischen  Brüder 
durch  keinen  bösen  Sinn  getrieben  werden.  Ich  habe  gelesen,  was 
Calvin  in  seiner  Institutio  über  die  Exkommunikation  geschrieben 
hat,  und  er  wird  nach  meiner  Überzeugung  nicht  leugnen,  daß  man 
maßvoll  unter  Berücksichtigung  der  Verhältnisse  vorgehen  muß, 
damit  nicht  der  Friede  der  Kirche  gestört  wird,  in  der  man  vor 
allem  den  Weizen  schonen  muß,  damit  er  nicht  zugleich  mit  dem 
Unkraut  ausgerottet  werde.  Unter  den  Feinden  des  Worts  wünscht 
mancher  sehr,  daß  wir  die  Exkommunikation  wieder  einführen; 
denn  sie  hoffen  nicht  ohne  Grund,  daß  dann  bald  unsre  Kirche  in 
zahllose  Sekten  zerfallen  werde.  Ich  aber  will  lieber  irgend  eine 
Kirche  haben  als  gar  keine."  „Von  der  Prüfung  vor  dem  Abend. 
mahl  kann  icht  nichts  anderes  sagen,  als  daß  sie  eine  Vorbereitung 
der  Ohrenbeichte  ist,  .des  verderblichsten  Übels  in  der  Kirche. 
Man  führe  die  Beichte  wieder  ein  und  ziehe  solche  Zäune  um  das 
Abendmahl,  daß  künftig  nur  noch  wenige  Tischgenossen  sich  ein- 
finden, und  aus  dem  Mahl  der  Danksagung  wird  eine  Quälerei  der 
Gewissen  werden." x  Wohl  hat  Bullinger  bei  Gelegenheit  des 
Kampfes  Calvins  mit  Philibert  Bcrthelier  und  Ami  Perrin  im  Jahre 
1553,  als  es  sich  um  den  ganzen  Bestand  des  Genfer  Reformations- 
werkes  handelte,  für  Bewahrung  der  Kirchenzucht  in  Gent  sein 
Wort  eingelegt  und  den  Rat  von  Zürich  bewogen,  in  diesem  Sinne 
an  den  Genfer  Rat  zu  schreiben;  aber  wenn  er  damals,1'  die  Genfer 
Konsistorialgesetze  „fromm  und  dem  Worte  Gottes  gemäß"  nannte. 


1)  Heirminjard  ,,Correspondance  des  rcf.  fr."  IX.  p.  116. 

2)  CR.  XIV.  p.  696. 


2  g  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

so  geschah  das  weniger,  weil  er  ihnen  innerlich  zustimmte,  als  weil 
er  in  Genf  keine  Neuerungen  eingeführt  wissen  wollte,  durch  die 
die  Unruhen  in  der  Kirche  nur  vermehrt  worden  wären.  Ein 
Widerspruch  gegen  Calvins  Gemeindeideal  hätte  dessen  Wirksam- 
keit vernichtet,  und  das  mußte  Bullinger  um  jeden  Preis  vermeiden. 
Wie  er  gesinnt  und  wie  seine  Zustimmung  zu  Calvin  gemeint  war, 
bezeugte  er  in  einem  Schreiben  an  Joh.  Haller  vom  18.  März  1553 : 
„Eine  Disziplin  muß  in  der  Kirche  sein,  aber  nicht  alle  Kirchen 
können  die  gleiche  Form  gebrauchen.  Jede  Kirche  muß  die  Weise 
haben,  die  ihrer  Gewohnheit  und  ihrer  Erbauung  am  meisten  ent- 
spricht." Noch  20  Jahre  später  am  I.  Juni  1570  beim  Rückblick  auf 
diese  Kämpfe  Calvins  legte  er  Dathenus  seine  Auffassung  unver- 
ändert so  dar,  wie  er  sie  damals  ausgesprochen  hatte :  ,, Zwischen 
unserer  und  der  Genfer  Kirche  war  nie  Streit  über  die  Exkom- 
munikation. Doch  waren  wir  nicht  so  unverständig,  die  Genfer 
Strenge  nach  hier  zu  übertragen.  Denn  als  dort  vor  Jahren  schwere 
Kämpfe  entbrannt  und  wir,  zum  Gutachten  aufgefordert,  in  der 
Lage  waren,  unsre  Weise  ihnen  aufzudrängen  oder  wenigstens  zu 
empfehlen,  haben  wir  den  Weg  des  Friedens  innegehalten.  Daher 
wollten  wir  die  bei  ihnen  eingerichtete  Zucht  nicht  hindern  und  so 
den  Gegnern  zu  noch  heftigeren  Unruhen  Anlaß  geben.  Wir 
wünschen  keine  Herrschaft  über  andre  Kirchen  auszuüben.  Wenn 
andre  ohne  Streit  und  Geschrei  etliche  vom  Abendmahl  aus- 
schließen, stellen  wir  das  ihrem  Urteil  und  ihrer  Aufrichtigkeit  an- 
heim.  Wir  jedoch  lassen  das  Mahl  des  Herrn  und  die  kirchliche 
Disziplin  unverworren,  und  wenn  man  uns  fragt,  sagen  wir  offen, 
daß  es  uns  besser  erschiene,  beides  auseinanderzuhalten  als  zu  ver- 
binden, wenn  nämlich  die  Gefahr  der  Verwirrung  und  Spaltung  vor- 
handen und  dadurch  für  die  Kirche  mehr  Schaden  als  Nutzen  zu 
erwarten  sei."  Der  Gedanke  einer  unabhängig  vom  Staat  die 
Zucht  ausübenden  Kirche  war  den  deutsch-schweizerischen  Theo- 
logen so  fremd,  daß  sie  die  Begeisterung  Calvins  und  der  Seinigen 
in  dieser  Sache  gar  nicht  einmal  verstanden.  Sie  waren  stets  in 
der  Meinung  befangen,  es  handele  sich  für  Calvin  um  strengere  Be- 
strafung der  Sünder ;  sie  waren  gegebenen  Falles  bereit,  ihre 
Magistrate  zu  ernsteren  Maßregeln  anzuhalten,  und  ahnten  kaum, 
daß  der  Calvinismus  nicht  ein  Mehr  oder  Weniger  an  Strenge  er- 
strebte, sondern  grundsätzlich  Selbständigkeit  der  Kirche.  Es  sei 
nur  erinnert  an  den  letzten  Streit  Virets  mit  Bern  in  den  Jahren 
^ 558 — 1559»  als  Viret  die  Lausanner  Kirche  nach  dem  Vorbild  der 


Von   W.    Kolfhaus.  IQ 


Genfer  einzurichten  suchte  mit  dem  Erfolg,  daß  er  seine  alte  Ge- 
meinde verlassen  mußte.    Joh.  Haller  in  Bern,  der  Viret  persönlich 

sehr  nahe  stand,  erklärte  ihm  im  November  [558'  :  „Wenn  die 
Behörde  nicht  zugibt,  von  den  Sakramenten  auszuschließen,  son- 
dern deren  Gebrauch  freilassen  will,  so  glaube  ich  noch  nicht,  <\<^ 
wegen  die  Verwaltung  der  Sakramente  verweigern  zu  müssen.  Mir 
steht  es  frei,  durch  die  Verkündigung  des  Wortes  auszuschließen, 
und  dieser  Weise  der  Exkommunikation  bediene  ich  mich  sorg 
vor  jedem  Abendmahle,  da  mir  eine  andre  bis  jetzt  nicht  erlaubt 
ist."  „Daß  alles  nach  dem  Muster  der  apostolischen  Kirche  ein- 
gerichtet wird,  in  der  es  noch  keine  bürgerliche  Obrigkeit  gab,  ist 
unmöglich  und  gegen  die  Ordnung."  Wir  hören  hier  die  Stimme 
eines  der  tüchtigsten  Schüler  und  Freunde  Bullingers,  der  sich  in 
seiner  Überzeugung  durchaus  eins  wußte  mit  seinem  verehrten 
Lehrer.-  Wenn  also  Calvin  sich  nach  der  Züricher  Synode  1538 
darauf  berief,  dal.»  man  seinen  Artikeln  zugestimmt  habe,  so  hat 
er  die  Billigung  seiner  Sache  im  allgemeinen  verwechselt  mit  der 
Zustimmung  zum  Einzelnen.  Gerade  sein  Hauptanliegen  traf  bei 
Bullingcr  und  seinem  Freundeskreis  auf  recht  kühle  Aufnahme  oder 
gar  entschiedene  Ablehnung. 

Die  Beziehungen  Calvins  zu  Bullingcr  trugen  in  diesen  ersten 
Jahren  ihres  Verkehrs  zwar  den  Stempel  persönlicher  Wert- 
schätzung und  gegenseitiger  Anerkennung  ihrer  Frömmigkeit  und 
Gelehrsamkeit,  waren  aber  noch  weit  entfernt  von  der  Herzlichkeit, 
die  später  ihren  Verkehr  auszeichnete.  Sie  verloren  einander  auch 
nach  Calvins  Übersiedelung  nach  Straßburg  nicht  aus  den  Augen. 
Dafür  waren  schon  die  bisherigen  Berührungen  zu  stark  gewesen, 
dafür  sorgte  insbesondere  der  fernere  Gang  der  schweizerischen 
und  allgemeinen  Reformationsgeschichte. 

IV. 

Die  Rückkehr  Calvins  nach  Genf. 

Schon  bald  nach  Calvins  Anstellung  in  Straßburg  empfing  Bul- 

linger  von  seinem   Konstanzer  Freunde  Joh.  Zwick  die  Nachricht . 

daß  Calvin  dort  Prediger  an  der  französischen  Gemeinde  sei."     Am 

20.  Oktober  1539  bat  der  Berner  Ratschreiber  Eberhard  von  Rum- 


1)  C.  R.  XVII.  p.  368. 

2)  Bullinger  an  Viret  C.  R.  XVII.  p.  469. 

3)  CR.  X.  pars  post  p.  288.  Der  Brief  enthält  außer  dieser  Notiz  die 
interessante  Nachricht,  daß  schon  damals  in  Straßburg  französische  Psalmen 
gesungen  wurden. 


aq  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


lang   Bullinger,   er   möge   wegen   der   Abendmahlstreitigkeiten   an 
Calvin   schreiben   und   ihn   durch    seine    Schriften   stärken,    „denn 
diesen  Mann  dürfen  wir  ja  nicht  übergehen/'  der  in  seiner  Institutio 
so  vortrefflich  sich  über  das  Abendmahl  geäußert  und  sich  gegen 
Luther  gewendet  habe,  wenn  auch  ohne  Namennennung.    Daß  man 
Calvin  in  Zürich  nicht  vergessen,  erhellt  aus  einem  Brief  des  Kol- 
legen Bullingers,  Leo  Jud,  vom  28.  Februar  1540,  der  Calvin  mit- 
teilte, daß  er  seine  beiden  Schriften  „de  fugiendis  impiorum  illicitis 
sacris"   und   „de    Christiani   hominis    officio   in   sacerdotiis    papalis 
ecclesiae  vel  administrandis  vel  abiciendis"  ins  Deutsche  übersetzt, 
und  daß  Joh.  Zwick  solche  Freude  an  der  zweiten  habe,  daß  er  um 
die  Erlaubnis  nachsuchte,  sie  in  Augsburg  herausgeben  zu  dürfen. 
Auf  der  andern  Seite  wurde  Calvin  durch  die  deutschen  Verhält- 
nisse, in  die  er  in  Straßburg  einzügreifen  berufen  war,  geradezu  ge- 
zwungen, seine  Blicke  immer  wieder  nach  Zürich  zu  wenden.    Sein 
Freund    Martin    Butzer    hatte    sich    durch    Vermittlungsversuche 
zwischen  Luther  und   den  Schweizern  das   größte  Mißtrauen   der 
schweizerischen  Theologen  zugezogen.     Calvin  empfand  diese  Ent- 
fremdung schmerzlich.    Er  billigte  nicht  alles,  was  Butzer  tat,  aber 
er  wollte  anerkannt  wissen,  daß  Butzer  aus  guter  Meinung  handle 
und  daß  das  Band  des  Friedens  mit  ihm  nicht  dürfe  zerrissen  wer- 
den.1   Bis  über  Butzers  Tod  hinaus  hat  der  Reformator  den  Schild 
über  ihn  gehalten  und  ihn  gegen  die  Verkennung  der  Berner  und 
Züricher  als  treuen  Knecht  Christi  verteidigt.  Um  den  Frieden  wieder- 
herzustellen, knüpfte  Calvin  am  12.  März  1540  die  eine  Zeitlang  unter- 
brochene direkte  Verbindung  mit  Bullinger  wiederum  an :  „Was  hätten 
wir  heutzutage,  mein  Bullinger,  Dringenderes  zu  verhandeln,  als  daß 
die    brüderliche    Freundschaft   unter   uns    bewahrt    und   mit    allen 
Mitteln  befestigt  werde  ?"  rief  er  dem  Freunde  zu  und  bemühte  sich, 
dessen  Mißtrauen  gegen  die  Straßburger  zu  entkräften,  für  die  er 
sich  verbürgte,  daß  sie  allen  Zwist  haßten  und  die  Gemeinschaft  der 
Schweizer   begehrten  auf   der   Grundlage    der   lauteren   göttlichen 
Wahrheit.     Calvin  selbst  hatte  noch  nie  ausführlich  mit  Bullinger 
über  das  Verständnis  des  Abendmahls  geredet;  wenn  jetzt  noch, 
heißt  es  in  dem  Brief,  der  vollen  Einheit  Hindernisse  entgegen- 
stünden, so  hege  er  den  lebhaften  Wunsch,  es  möchte  ihm  Gelegen- 
heit werden,  einmal  vertraulich  mit  Bullinger  die  strittige  Frage  zu 
besprechen.     Bis  dahin  solle  er  jedenfalls  die  Überzeugung  haben, 
daß  sie,  die  Straßburger,  allem  Haß  und  Streit,  ja  dem  geringsten 

1)  Calvin  an  Farel  C.  R.  X.  p.  347,  XI.  p.  23. 


Von  W.  Kolfhaus.  4  1 


kränkenden  Schein  von  Herzen  feind  seien.  Doch  nicht  nur  Calvin 
hatte  das  Bedürfnis  empfunden,  die  Einigung  mit  Zürich  und  die 
Gemeinschaft  mit  seinem  Antistes  zu  erstreben,  auch  in  ihren  bei- 
derseitigen Freundeskreisen  wünschte  man,  die  beiden  Männer  in 
dauernder  Verbindung  zu  sehen.  Die  Bitte  Rumlangs  an  Bullinger 
wurde  bereits  mitgeteilt.  Calvin  empfing  Ende  Juli  dieselbe  Auf- 
forderung von  dem  Basler  Grynäus,  sobald  als  möglich  nach  Zürich 
zu  schreiben. 

Inzwischen  war  in  Genf  der  Sturz  der  Calvin  feindlichen  Partei, 
der  „Artichauts",  erfolgt  und  am  10.  Juni  1540  ihr  Haupt,  der 
Generalkapitän  Jean  Philippe,  hingerichtet.  Sofort  wurde  der  Ruf 
laut,  den  Reformator  in  seine  Gemeinde  zurückzurufen.  Nachdem 
am  21.  September  Ami  Perrin,  der  eifrige  Gegner  der  Artichauts, 
von  dem  Rat  den  Auftrag  erhalten  hatte,  „Mittel  ausfindig  zu 
machen,  wie  er  Meister  Calvin  dahin  bringen  könne,  nach  Genf  zu- 
rückzukehren", wurde  am  13.  Februar  beschlossen,  an  Calvin  ein 
Schreiben  zu  richten  und  ihn  zu  bitten,  der  Stadt  zu  helfen.  Wenige 
Tage  nachher  sollte  Perrin  als  Gesandter  mit  einem  Herold  nach 
Straßburg  reisen,  und  zugleich  wollte  man  die  Städte  Basel,  Bern 
und  Straßburg  um  ihre  Vermittelung  ersuchen.1  Calvins  Furcht 
vor  der  Rückkehr  nach  Genf  ist  bekannt,  es  bedurfte  der  ganzen 
Macht  Farelscher  Beredsamkeit  und  des  Zuredens  der  angesehen- 
sten schweizerischen  Theologen,  den  Widerstrebenden  umzustim- 
men. Mit  Freuden  hatten  auch  die  Züricher  Farel  versprochen, 
alle  Kraft  anzustrengen,  daß  die  Genfer  Kirche  ihren  Hirten 
wiederbekomme,  und  am  gleichen  Tag,  an  dem  sie  Farel  Hilfe  ge- 
lobt, am  4.  April  1541  sandten  sie  sowohl  an  die  Straßburger  Pre- 
diger wie  an  Calvin  selbst  ein  sehr  warmes  Schreiben  ab.  Von  der 
erwünschten  Rückkehr  nach  Genf  heißt  es  dort :  „Daß  Gott  Dich 
ruft,  brauchen  wir  Dir  nicht  zu  beweisen,  da  Dein  Gewissen  es 
Dir  bezeugt."  Mit  biblischen  und  sachlichen  Gründen  suchen  sie 
Calvin  zu  bestimmen  und  weisen  endlich  darauf  hin:  „Du  weißt, 
wie  von  Genf  aus,  an  der  Grenze  Frankreichs,  Italiens  und  Deutsch- 
lands gelegen,  das  Evangelium  sich  weiter  verbreiten  muß  in  die 
benachbarten  Städte,  und  wie  Du  von  dort  aus  Bahn  machen  kannst 
durch  Wort  und  Schrift  dem  Reiche  Christi  —  das  weißt  Du  besser 
als  wir."  „Du  wrcißt,  wie  wir  Dich  lieben  und  wegen  der  Dir  von 
Gott  verliehenen  herrlichen  Gaben  ehren.     Als  solche,  die  nach 


1)   F.  W.  Kampschulte,   .Johann  Calvin,  seine   Kirche  u.  sein   Staat   in 
Genf"  I  p.  364  ff. 


•  2  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


und  Deinem  guten  Namen  fragen  und  die  Kirche  und  die  Wahrheit 
lieben,  bitten  wir  Dich,  unsern  Freund  und  Bruder,  um  Christi  willen !" 
Unter  solchen  Auspizien  durfte  Calvin  zurückkehren,  gerufen  von 
seiner  alten  Gemeinde,  aufs  innigste  bewillkommnet  von  den  ersten 
Männern  der  deutschen  Schweiz ;  er  hatte  wohl  Ursache,  in  seinem 
Dankschreiben  nach  Zürich  am  31.  Mai  1541  von  Regensburg  aus 
die  ausgestreckte  Bruderhand  froh  zu  ergreifen.  Denn  in  den  auf 
ihn  wartenden  schweren  theologischen  und  kirchlichen  Kämpfen 
hätte  er  nimmer  aushalten  hönnen  ohne  die  tatkräftige  Hilfe  Bul- 
lingers  und  der  Seinen. 

Wie  wichtig  für  die  Bestrebungen  Calvins  die  Gemeinschaft 
mit  Bullinger  war,  zeigte  sich  gleich  nach  der  Heimkehr  des  Re- 
formators in  dem  Streite  Farels  mit  einem  Teil  seiner  Gemeinde 
in  Neuenburg  um  die  kirchliche  Disziplin.  Obgleich  diese  An- 
gelegenheit nicht  Calvin  direkt  anging,  verdient  sie  doch,  hier  er- 
wähnt zu  werden,  weil  sie  ein  neues  Zeugnis  ist  für  die  enge  Ge- 
meinschaft des  beiderseitigen  Freundeskreises,  und  weil  das  Ver- 
halten Zürichs,  insbesondere  Bullingers,  Calvin  mit  der  größten 
Genugtuung  und  dem  lebhaften  Zutrauen  in  Bullingers  Aufrichtig- 
keit erfüllen  mußte.  Farel  hatte  eine  vornehme  Dame  in  Neuen- 
burg wegen  ihres  sittenlosen  Wandels  vergeblich  zurechtzuführen 
gesucht.  Auch  seine  Klage  bei  der  Behörde  fand  taube  Ohren. 
Daraufhin  hatte  er  auf  der  Kanzel  das  Verhalten  des  Rates  bei 
diesem  Ärgernis  heftig  getadelt,  aber  nur  den  Zorn  des  von  den 
Vornehmen  aufgereizten  Volkes  erregt,  und  war  in  einer  stürmi- 
schen Volksversammlung  aus  dem  Amte  entlassen  worden.  Die 
Berner  Obrigkeit,  in  deren  Machtbereich  Neuenburg  gehörte,  jeder 
Regung  kirchlicher  Unabhängigkeit  feind,  ließ  den  Dingen  freien 
Lauf.  Aber  Farels  Amtsgenossen  begriffen,  daß  es  sich  hier  um 
mehr  handele  als  um  die  Person  Farels,  der  allerdings  gegenüber 
dem  Berner  Schultheißen  Jakob  von  Wattenwyl  seine  herbe,  heftige 
Art  nicht  verleugnet  hatte.  Sie  bestärkten  Farel  in  seinem  Entschluß, 
im  Amte  zu  beharren,  bis  ihn  die  rechtmäßige  Gemeinde  desselben 
enthöbe,  und  riefen  die  Kirchen  von  Straßburg,  Basel,  Konstanz 
und  Zürich  um  Beistand  an.  Schon  Mykonius  aus  Basel  und 
Blaurer  aus  Konstanz  hatten  Bullinger  am  24.  Oktober  resp. 
10.  November  1541  auf  den  Streit  aufmerksam  gemacht  und  ihm 
Farels  Angelegenheit  empfohlen.  Gemeinsam  mit  den  übrigen 
Züricher  Predigern  richtete  Bullinger  dann  am  15.  November  ein 
ausführliches  Schreiben  an  die  Prediger,  den  Rat  und  das  Volk  von 


Von  W.   Kolfhaus.  43 


Neuenbürg,  in  dein  er  ohne  Rückhalt  Farel  verteidigte  und  mahnte, 
ihn  als  treuen  Hirten  aufzunehmen  und  die  <  >rdnungen  und  die 
Zucht  der  Kirche  wohl  zu  bewahren.  „Nie  haben  wir,  antworteten 
die  Neuenburger  Prediger,  ein  Schreiben  empfangen,  das  von  uns 
mit  größerer  Freude  gehört  und  aufgenommen  wurde,  nie  eins, 
das  mehr  dazu  diente,  unsere  Herzen  zu  erleichtern,  zu  trösten  und 
zu  stärken."  Auch  auf  Bern  wurde  von  Zürich  gewirkt ;  Farel  be- 
hauptete seinen  Platz.1 

Der  Schutz,  den  die  Züricher  Brüder  Farel  zuteil  werden  ließen, 
war  nicht  das  einzige  freundliche  Zeichen,  das  Calvin  aus  dem  Bul- 
linorerschen  Freundeskreis  nach  der  Rückkehr  aus  Straßburg  ent- 

o 

gegenkam.  In  einem  liebenswürdigen  Schreiben  vom  10.  Februar 
1542  2  knüpfte  Bullingers  Freund  Oswald  Mykonius  den  Verkehr 
mit  ihm  an  und  holte  seinen  Rat  darüber  ein,  wie  er  sich  gegenüber 
der  Basler  Staatsregierung  verhalten  solle,  die  die  Herrschaft  über 
die  Kirche  für  sich  fordere.  „Der  Rat,  sagen  sie,  ist  die  Kirche." 
„Unsere  Freiheit  zu  lehren  und  zu  strafen  möchten  sie  unter- 
drücken, schon  jetzt  haben  sie  das  ganze  Recht  der  Exkommuni- 
kation an  sich  gerissen.  Sie  behaupten,  Moses  habe  als  weltlicher 
Fürst  seinem  Bruder  Aaron  in  allem  Vorschriften  gegeben,  und 
David  und  andre  fromme  Könige  hätten  auch  über  die  Priester  ge- 
herrscht. Du  würdest  mich  verpflichten,  wenn  Du  darauf  gelegent- 
lich antworten  wolltest."  In  seiner  Antwort  erzählte  Calvin  von 
seinen  bisherigen  Erlebnissen  in  Genf  und  setzte  dem  Freunde  aus- 
einander, wie  weit  sie  die  kirchliche  Ordnung  der  Genfer  Kirche 
hätten  fördern  können.  Jetzt  hätten  sie  eine  Art  von  Konsistorium 
und  eine  der  Schwachheit  der  Zeit  angemessene  Zuchtordnung,  aber 
auch  dies  wenige  sei  nur  unter  größter  Anstrengung  und  stetem 
Widerspruch  der  Feinde  jeder  Zucht  erreicht  worden.  Wenn  man 
sich  auf  Moses  und  David  berufe,  so  wünsche  er,  daß  man  ihm 
solche  Obrigkeiten  gäbe,  die  den  Geist  der  Prophetie  besäßen  und 
durch  Gottes  ausdrückliche  Berufung  die  weltlichen  und  geistlichen 
Dinge  geregelt  hätten.  Solchen  wollte  er  gerne  zugestehen,  was 
sie  fordern.3 

Auch  der  Verkehr  mit  Zürich  selbst  ließ  sich  freundlich  an. 
Konrad    Pellikan,    Bullingers    Amtsgenosse,    sandte    ihm    herzliclic 


1)  Pestalozzi.  ..Bullinger"  p.  247  ff.     Mulot.  „Wilh.  Farel",  theol.   Stu 
dien  u.    Kritiken  Jahrg.  1908   IV   p.  521  ff. 

2)  C.  R.  XI.  p.  367,  369. 

3)  C.  R.  XL  p.  376. 


44  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

Grüße  x  von  Bullinger,  Bibliander  und  Megander  und  empfahl  ihm 
den  aus  Italien  geflüchteten  Cölius  Sekundus  Curio.  Oder  als 
Farel  in  Zürich  verklatscht  war,  als  hätte  er  von  den  Züricher  Pre- 
digern übel  geredet  und  sie  treulose  und  unlautere  Lehrer  genannt, 
fragte  Pellikan  bei  Calvin  an,  ob  diesem  Gerüchte  Glauben  beizu- 
messen sei,  und  bat  ihn,  es  offen  zu  sagen,  wenn  an  ihrem  Wandel 
und  ihrer  Lehre  etwas  auszusetzen  sei.2'  Der  Briefwechsel  mit 
Bullinger  persönlich  wurde  von  Calvin  wieder  aufgenommen  durch 
ein  Schreiben  vom  7.  November  1542,  in  dem  er  den  Tod  von  Leo 
Jud,  Grynäus  und  Capito  beklagte  und  seine  Freude  aussprach  über 
den  Eifer  des  Züricher  Rats  in  der  Förderung  der  Studien,  während 
sie  in  Genf  zwar  die  Willigkeit,  aber  noch  nicht  die  Mittel  besäßen, 
größere  Wünsche  wegen  des  Unterrichtswesens  zu  erfüllen. 

Doch  alles  das  ging  noch  nicht  über  die  Linie  gegenseitiger 
Hochachtung  und  gelegentlicher  Liebesdienste  hinaus.  Die  Ge- 
fahr, daß  die  beiden  Männer  durch  ihre  verschiedenen  lokalen 
Interessen  einander  entfremdet  wurden,  und  daß  sich  in  der  Schweiz 
zwei  Zentren  der  Reformation  bildeten  mit  mannigfachen  Reibungs- 
flächen, war  erst  dann  überwunden,  wenn  in  dem  wichtigsten  Lehr- 
streit jener  Jahre,  dem  Streit  um  das  Verständnis  des  Abendmahls, 
Genf  mit  Zürich  und  den  übrigen  Schweizer  Kirchen  eins  wurde. 
Die  Verhandlungen  über  diese  Einigung,  die  schließlich  zum  Con- 
sensus  Tigurinus  führten,  brachten  nicht  nur  die  beiden  Refor- 
matoren einander  näher,  sondern  sind  für  die  ganze  Reformations- 
geschichte von  grundlegender  Bedeutung.  Sie  verdienen  darum 
eine  genauere   Darstellung. 

V. 
Der  Consensus  Tigurinus. 

Calvin  ist  sich  seiner  von  Zwingli  und  Bullinger  abweichenden 
Auffassung  des  Abendmahls  längst  bewußt  gewesen,  ehe  die  Dis- 
kussion darüber  anfing.  Er  hatte  an  Zwingli  schon  1539  getadelt, 
daß  sein  ganzes  Streben  nur  darauf  gerichtet  war,  den  Aberglauben  der 
fleischlichen  Gegenwart  Christi  im  Abendmahl  zu  zerstören,  daß  er 
aber  versäumt  hatte,  die  rechte  Kraft  des  Abendmahls  ins  Licht 
zu  stellen.3  Daher  konnte  Calvin  den  Schweizern  in  ihrer  ein- 
lachen Ablehnung  jeder  Vermittelung  zwischen  ihnen  und  Luther 
nicht  zustimmen,  wenn  er  auch  die  durch  Butzers  Bemühungen  in 

1)  C.  R.  XI.  p.  426. 

2)  C.  R.  XI.  p.  527. 

3)  Calvin  an  Zebedacus  C.  R.  X.  pars  post.  p.  344. 


Von  W.  Kolfhaus.  45 


der   Wittenberger    EConkordie   von    1530   versuchte    Einheitsformel 

ebensowenig-  billigte  wie  die  meisten  Schweizer,  da  sie  einer  Unter- 
werfung unter  die  lutherische  Auffassung  gleichkam.  Er  mochte 
dieser  Konkordie  gegenüber  eine  ähnliche  Empfindung  haben  wie 
Mykonius:  ,,Die  Wahrheit  werde  darin  mit  seltsamen  Worten  ge- 
lehrt." Nur  glaubte  Calvin  nicht,  daß  wegen  dieser  noch  nicht 
beglichenen  Lehrdifferenz  die  evanglischen  Theologen  sich  trennen 
müßten.  Er  schrieb  darüber  an  Zebedäus  die  schönen  Worte: 
„Nicht  aus  jeder  Verschiedenheit  muß  sofort  eine  Trennung  folgen. 
Zwingt  Dich  Dein  Gewissen,  der  Meinung  des  andern  in  irgend 
einem  Stücke  zu  widerstehen,  sollen  wir  uns  doch  Mühe  geben,  das 
Bruderband  mit  ihm  zu  bewahren.  Angesichts  einer  Trennung 
muß  es  Christi  Dienern  zumute  sein,  als  würden  ihnen  die  Ein- 
geweide herausgerissen."  Getreu  diesem  Programm  hat  dann  Cal- 
vin Zeit  und  Kraft  geopfert,  die  Kluft  zwischen  Zwingli  und  Luther 
zu  überbrücken  und  unter  Beiseitelassung  ihrer  Einseitigkeiten  die 
wahre  Einheit  herzustellen.  So  heißt  es  in  einem  Briefe  an  Richard 
du  Bois  —  (Sylvius)  —  den  Prediger  von  Payerne  Ende  1539:  es 
gelte,  weder  abzuirren  zu  dem  Wahne  der  Papisten,  noch  die  rechte 
Art  der  Teilnahme  an  Christi  Leib  zu  vergessen ;  er  habe  sich 
nie  mit  denen  vereinigen  können,  die  vor  lauter  Eifer,  den  Irrtum 
der  lokalen  Gegenwart  Christi  zu  bekämpfen,  die  Kraft  seiner 
wahren  Gegenwart  verkleinerten  oder  sie  den  Menschen  durch 
Schweigen  davon  gar   nicht  zum   Bewußtsein   brächten. 

Andrerseits  war  auch  in  Zürich  Calvins  von  Zwingli  abweichen- 
des und  über  die  erste  helvetische  Konfession  von  1536  hinaus- 
gehendes Verständnis  des  Abendmahles  nicht  unbemerkt  geblieben. 
Leo  Jud  war  es,  Zwingiis  alter  Mitstreiter,  der  seine  Bedenken  aus- 
sprach. Gegen  Ende  des  Jahres  1539  schrieb  er  selbst  an  Calvin 
und  legte  ihm  nach  Anerkennung  seiner  Arbeit  einige  Fragen  über 
das  Abendmahl  vor :  ,,Daß  die  Sakramente  den  Glauben  und  die 
Verheißungen  besiegeln  oder  bestätigen,  will  mir  auf  keine  Weise 
einleuchten.  Denn  1.  glaube  ich,  daß  es  nur  der  Geist  ist,  der 
unsere  Herzen,  sowie  den  Glauben  und  die  Verheißung  besiegelt, 
und  2.  daß  ein  geistliches  Gut  oder  der  Geist  nicht  durch  etwas  Leih- 
liches, Kreatürliches  versiegelt  werden  kann,  daß  3.  auch  das  äußer- 
liche Wort  dazu  nicht  imstande  ist,  geschweige  denn  die  Sakra- 
mente. Denn  die  Worte  sind  dazu  da,  uns  über  Gottes  Willen  und 
Güte  zu  unterrichten.  Doch  wird  jede  Predigt  vergeblich  sein,  wo 
nicht  der  Geist  das  Herz  erleuchtet.    4.  Wenn  Du  die  Versiegelung 


4  6  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


von  Urkunden  ins  Feld  führst,  so  habe  ich  zweierlei  dagegen  zu 
bemerken :  a)  Die  Siegel,  also  zeitliche  Dinge,  bestätigen  Urkunden, 
also  ebenfalls  zeitliche  Dinge.  Die  Sakramente  hingegen  sind 
etwas  Leibhaftiges,  Greifbares,  während  die  Verheißungen  und  der 
Glaube  geistliche  und  ewige  Dinge  sind,  b)  Siegel  bestätigen  jedes 
Schriftstück,  dem  sie  angehängt  werden ;  die  Sakramente  werden 
aber  von  vielen  nutzlos  empfangen,  ohne  ihnen  etwas  zu  bestätigen, 
oder  man  müßte  annehmen,  in  ihnen  stecke  eine  gewisse  Kraft,  die 
sie  immer  und  überall  ausüben,  eine  Meinung,  die  Du  mit  Recht 
bestreitest.  Endlich :  Der  Glaube  bedarf  immer  neuen  Wachstums 
und  gewisser  Befestigung;  diese  Befestigung  schreibe  ich  Christus 
zu  und  nicht  den  Sakramenten."  Die  Überzeugung  des  echten  Ge- 
nossen Zwingiis  läßt  sich  in  diesen  Vorhaltungen  vernehmen,  die 
Abneigung  gegen  alle  Annäherung  von  Kreatürlichem  und  Geist- 
lichem, wie  sie  Zwingli  ausgesprochen  hatte  in  den  Worten :  ,,Die 
Seele  findet  in  keiner  Kreatur  Ruhe,  denn  allein  in  ihrem  Schöpfer. 
So  nun  die  Substanz  und  Wesen  des  Glaubens  ein  solches  Licht,  eine 
solche  Sicherheit  und  Ruhe  ist,  und  der  Glaube  mag  von  keiner 
Kreatur  kommen,  sondern  von  dem  ewigen,  heiligen  Geist,  dem 
Schöpfer  und  Leben  aller  Dinge,  so  ist  gewiß,  daß  unser  Glaube 
von  keiner  Kreatur  kommt,  in  keiner  bloßen  Kreatur  besteht,  in 
keiner  ungezweifelt  ruhig  und  sicher  ist  und  mit  keiner  Kreatur  ge- 
stärkt wird,  so  schwach  er  ist."  *  Weil  darum  nach  Zwingli  das 
Sakrament  den  Glauben  weder  zu  bewirken  noch  zu  stärken  ver- 
mag, so  kann  die  Bedeutung  des  Abendmahls  nicht  in  einer  persön- 
lichen Wirkung  auf  den  Einzelnen  bestehen.  „Das  sakramentliche 
Essen  im  wahren  Sinne  ist  nichts  andres  als  ein  göttliches  und 
züchtiges  Zusammenkommen  des  Volkes  oder  der  Kirche  Gottes 
zum  Leichnam  Christi,  d.  i.  zu  der  Danksagung  des  Todes  Christi, 
die  darum  sein  Leib  genannt  wird,  daß  man  darin  seines  Todes  und 
Leidens  gedenkt  und  danksagt ;  in  welcher  Danksagung  man  zu 
mehrerer  Urkunde  seiner  Liebe  gegen  uns  und  unsrer  Liebe  zum 
Nächsten  die  Zeichen  seines  Leibes  und  Blutes  herumträgt  als  ein 
äußeres  Zeichen  seiner  und  unserer  Liebe.  Sehet,  so  ist  der  Leib 
Christi  sakramentlich  da."  „Aber  ihn  natürlich,  wesentlich  und  leiblich 
zu  haben,  ist  sowenig  möglich,  als  daß  wir  den  Mond  im  Napf  haben, 
wenn  er  darin  scheint."  Hatte  Zwingli  früher  noch  im  Abendmahl 
eine  Sicherung  der  Blöden  und  eine  Stärkung  des  schwachen  Glau- 
bens erblickt,  so  trieb  ihn  die  Polemik  mit  Luther  dahin,  seine  Be- 

0  „Von    der    Klarheit    u.    Gewißheit    des    Wortes    Gottes."      Stähelin, 
,, Huldreich  Zwingli"   II  p.  318. 


Von  W.  Kolfhaus.  47 


deutung  später  ganz  auf  die  einer  gemeinsamen   Erinnerungs-  und 

Danksagungsfeier  für  das  im  Glauben  bereits  Empfangene  zu  be- 
schränken. Dieser  Gedankenkomplex  Zwingiis  lebte  in  seinen 
Nachfolgern,  trieb  Leo  Jud  zu  seinen  Bedenken  gegenüber  Calvin 
und  ließ  auch  Bullinger  nur  schwer  sich  in  die  Vorstellungen 
Calvins  hineinfinden. 

Wie  bei  Zwingli  ist  bei  Bullinger  der  Grundgedanke  der  Sakra- 
mentslehre, daß  das  Sakrament  wesentlich  religiöses  Veranschau- 
lichungs-  und  Anregungsmittel  sei,  nicht  aber  direktes  Gnaden- 
mittel, d.  h.  Kanal  der  Gnadenmitteilung.  Er  hat  die  Akte  der 
Sakramentsdarreichung  und  innerlichen  Verwirklichung  des 
Gnadenheils  als  getrennte  und  geschiedene  behandelt  und  ein  Mit- 
einander und  Ineinander  derselben  nicht  einmal  als  Ideal  ange- 
strebt. Beherrscht  von  dem  Zwinglischen  Dualismus  hatte  er  nur 
das  Interesse,  eine  zwischen  dem  signum  und  der  res  sacramenti 
bestehende  Analogie  hervorzuheben.1  An  Calvins  Verständnis  des 
manducare  Christi  carnem  Joh.  6  nahm  er  Anstoß,  wie  er  im  Mai 
1543  an  Vadian  schrieb,  wenn  ihm  auch  nicht  entgangen  war,  daß 
die  Auffassung  Calvins  von  der  Luthers  sehr  verschieden  war. 
Gegen  den  aus  Butzers  und  Calvins  Gedanken  stammenden  Satz, 
daß  die  Sakramente  darreichen,  was  sie  darstellen,  hatte  Bullinger 
die  ernstesten  Bedenken.  Er  wollte  lieber  dabei  bleiben,  einfach  zu 
sagen  „die  Sakramente  sind  Zeugnisse  dessen,  was  geschehen  ist, 
Darstellungen  und  Versiegelungen  der  evangelischen  Predigt, 
öffentliche  Handlungen,  durch  die  uns  Gott  seiner  Wohltat,  seiner 
Gaben  versichert  und  zur  Gemeinschaft  eines  Leibes  sammelt".  - 
Welche  Empfindlichkeit  die  Züricher  beseelte  gegenüber  jeder  Ab- 
weichung von  Zwingli,  erhellt  aus  der  Mitteilung  Sulzers  an 
Calvin,3  daß  man  in  Zürich  selbst  den  Mykonius  des  Lutheranis- 
mus für  verdächtig  halte  wegen  zweier  mit  Zwingiis  Formeln  nicht 
übereinstimmenden  Predigten  über  das  Abendmahl.  Den  in  Basel 
studierenden  Jünglingen  aus  Zürich  wurde  sogar  verboten,  den 
Predigten  des  Mykonius  beizuwohnen. 

Calvin  nahm  von  Anfang  an  neben  den  Lutheranern  und  den 
Schweizern  eine  selbständige  Stellung  ein  im  Verständnis  des 
Abendmahls ;  bei  ihm  vereinte  sich,  wie  A.  Lang  a.  a.  O.  p.  320  be- 
merkt, die  exegetische  Klarheit  und  Schärfe  Zwingiis  mit  der  reli- 


1)  Usteri    „Vertiefung    der    Zwinglischen    Sakraments-    u.    Tauflehre 
bei  Bullinger",  Theol.  Studien  u.  Kritiken   1883  IV  p.  730  ff. 

2)  Bullinger  an  Muskulus  C.  R.  XII.  p.  288. 

3)  C.  R.  XI.  p.  7C9. 


43  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


giösen  Tiefe  und  Innigkeit  Luthers.  Es  würde  hier  zu  weit  führen, 
den  Spuren  der  Calvinschen  Abendmahlslehre  bei  Ökolampad  und 
Butzer  nachzugehen.  Aber  zur  Verdeutlichung  seiner  Beziehungen 
zu  Bullinger  ist  es  nötig,  Calvins  Abendmahlslehre  in  ihren  Grund- 
zügen eben  aufzuzeichnen. 

Die  ersten  religiösen  Einwirkungen  im  evangelischen  Sinne 
waren  durch  Luther  an  Calvin  gelangt ;  als  Pfarrer  wirkte  er  fast 
drei  Jahre  in  einer  zu  den  Angehörigen  der  Augsburger  Konfession 
gehörigen  Stadt,  unter  den  Theologen  der  deutschen  Reformation 
erschien  er  auf  den  Religionsgesprächen  zu  Worms  und  Regens- 
burg, selbst  ein  Unterzeichner  des  Bekenntnisses  von  Augs- 
burg. Auf  der  andern  Seite  war  der  Zwinglianer  Farel  sein  erster 
und  treuster  Genosse,  sein  ganzes  Lebenswerk  brachte  ihn  mit  den 
von  Zwingli  beeinflußten  Kirchen  in  Verbindung,  auf  die  Freund- 
schaft der  Schüler  Zwingiis  war  er  angewiesen.  Beide  Richtungen 
der  Reformation  haben  also  auf  ihn  Einfluß  ausgeübt.  Aber  er 
wurde  weder  Lutheraner  noch  Zwinglianer,  selbständig  trat  er  an 
die  Seite  seiner  großen  Vorgänger,  keinem  von  beiden  opferte  er 
von  dem  Seinen  etwas  auf.  Er  war  sich  bewußt,  nicht  innerhalb 
der  Parteien,  sondern  über  ihnen  zu  stehen.  Wir  beobachten  bei 
der  Abendmahlslehre  Calvins  das  Eigentümliche,  daß  sie  gleich  in 
seinem  Erstlingswerk,  der  ersten  Ausgabe  der  Institutio,  so  vor- 
liegt, wie  er  sie  stets  vertreten  hat.  Seine  Überzeugung  geht 
hervor  aus  folgenden  Worten:  „Obgleich  er  sein  Fleisch  von  uns 
weggenommen  hat  und  leiblich  in  den  Himmel  gefahren  ist,  so 
sitzt  und  herrscht  er  doch  zur  Rechten  Gottes,  d.  h.  in  der  Macht, 
Majestät  und  Herrlichkeit  des  Vaters.  Diese  Herrschaft  ist  weder 
räumlich  begrenzt  noch  irgendwie  umschrieben,  so  daß  er  seine 
Macht,  wenn  er  will,  im  Himmel  und  auf  Erden  ausübt,  sich  als 
den  wirksam  und  kräftig  Gegenwärtigen  darreicht,  immer  bei  den 
Seinen  ist,  in  ihnen  lebt,  sie  aufrecht  erhält,  stärkt,  ernährt  und 
bewahrt,  gerade  als  wäre  er  leiblich  gegenwärtig."  Mit  Recht 
hatte  sich  Zwingli  gegen  die  Ubiquität  und  die  daraus  gefolgerte 
räumliche  Gegenwart  Christi  gesträubt,  aber  die  Frage  nicht  beant- 
wortet, ob  nicht  Christus  auch  ohne  die  Annahme  der  Ubiquität 
sich  uns  doch  real  mitteilen  könne.  Für  Luther  wie  für  Zwingli 
hing  das  Hauptinteresse  daran,  ob  Christi  verklärter  Leib  als  um- 
schrieben gedacht  werden  müsse  oder  nicht.  Calvin  erhob  sich 
über  diesen  Gegensatz,  indem  er  zeigte,  daß  die  Umschriebenheit 
des  verklärten  Leibes  Christi  der  realen  Vereinigung  keinen  Ein- 


Von  W.  Kolfhaus. 


49 


trag  tue.1  Ebenso  entschieden  wie  Calvin  das  lutherische  Dogma 
leugnete,  daß  Christi  Leib  als  materielle  Substanz  uns  mitgeteilt 
werde,  ebenso  entschieden  erklärte  er  gegenüber  dem  Zwinglianis- 
mus,  daß  Brot  und  Wein  nicht  nur  Zeichen  seien,  sondern  Symbole 
der  Lebensvereinigung  mit  Christus :  „Wie  das  Brot  das  Leben 
unseres  Leibes  erhält,  so  ist  Christi  Leib  die  Speise  und  Ernährung 
unseres  geistigen  Lebens";  oder  wie  es  am  Schluß  der  von  Calvin, 
Farel  und  Yiret  1537  aufgesetzten  confessio  fidei  de  Eucharistia  heißt : 
„Diese  Gemeinschaft  seines  Leibes  und  Blutes  bietet  Christus  und 
reicht  sie  dar  unter  den  Symbolen  des  Brotes  und  Weines  allen, 
die  das  Abendmahl  recht  feiern  nach  seiner  wirklichen  Einsetzung." 
Das  heilige  Abendmahl  ist  also  nicht  bloß  eine  Erinnerung  an 
Christi  Leiden  für  oder  Christi  Leben  in  uns,  auch  nicht  nur  ein 
Pfand,  daß  Christus  für  uns  gestorben  sei,  sondern  es  ist  ein  Akt, 
in  dem  eine  reale  Erneuerung  und  Förderung  der  in  den  Gläubigen 
vorhandenen  Lebenseinheit  mit  Christus  stattfindet.2 

Veranlassung  zu  den  Verhandlungen  Calvins  mit  Bullinger 
über  die  Abendmahlslehre  war  zunächst  der  mit  Luthers  Brief  an 
den  Züricher  Buchhändler  Froschauer  vom  31.  August  1543  wieder 
aufflammende  alte  Hader  zwischen  den  Schweizern  und  den  Deut- 
schen, den  die  Wittenberger  Konkordie  von  1536  mit  ihren  luthe- 
rischen Formeln  und  den  besänftigenden,  verhüllenden  Erklärungen 
Butzers  nicht  hatte  aus  der  Welt  schaffen  können.  In  denselben 
Tagen,  in  denen  Bullinger  an  Melanchthon  schrieb:  „Gegrüßt  sei 
Dr.  M.  Luther,  der  herrliche  Mann,  samt  der  ganzen  Reihe  der 
frommen  und  gelehrten  Männer  bei  euch,  denen  du  mich  freund- 
lich empfehlen  mögest",  hatte  Luther  in  seinem  Brief  an  Frosch- 
auer verboten,  ihm  fernerhin  Arbeiten  der  Züricher  Prediger  zu 
übersenden,  mit  denen  er  und  die  Kirche  Gottes  keine  Gemein- 
schaft hätten,  die  mit  ihren  Werken  verloren  seien  und  das  arme 
Volk  mit  sich  in  die  Verdammnis  rissen.  Der  Brief  weckte  in 
Zürich  tiefe  Entrüstung;  allein  um  des  Friedens  willen  wollte  Bul- 
linger ihn  nicht  öffentlich  beantworten ;  er  betrachtete  ihn  als 
Privatschrift  und  versicherte  Butzer  am  8.  Dezember  1543:  „Wenn 
Luther  nicht  durch  eine  Druckschrift  uns  öffentlich  zum  Kampf 
herausfordert,  und  uns  so  anficht,  daß  wir  ohne  Schaden  der 
Wahrheit  und  des  Gewissens  nicht  schweigen  dürfen,  so  werden 
wir  uns  nie  in   einen    Kampf  mit   ihm   einlassen",   oder  wie   es   in 


1)  Ebrard,   „Das   Dogma  vom  heiligen  Abendmahl"   II  p.  412  ff. 

2)  Loofs  in  Hauck  R.  E.  s.  v.  „Abendmahl". 

Calvinstudien.  4 


cq  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

einem  Briefe  an  einen  uns  unbekannten  französischen  Pfarrer  heißt 
am  22.  November  1543:  „Wir  wollen  nicht  Böses  mit  Bösem  ver- 
gelten noch  entgegen  der  Regel  Christi  die  Schwachen  ärgern."  1 
Jedoch  andere  Angriffe  Luthers  folgten,  bis  endlich  im  August 
1544  die  maßloseste  seiner  Streitschriften  gegen  die  Schweizer  er- 
schien, das  „kurze  Bekenntnis  vom  Abendmahl",  die  Bullinger  ein 
weiteres  Schweigen  unmöglich  machte  und  ihn  veranlaßte,  zur  Ver- 
teidigung seiner  Kirche  das  Bekenntnis  der  Züricher  Prediger  her- 
auszugeben im  März  1544. 

Mit  Trauer  empfand  Calvin  den  Ausbruch  des  bitteren  Streites. 
Mit  beiden  Parteien  verknüpften  ihn  zu  feste  Bande,  als  daß  er 
nicht  schmerzlichst  hätte  berührt  werden  müssen.  Er  suchte  Me- 
lanchthon  zu  ermuntern,  daß  er  Luther  von  ferneren  Angriffen 
zurückhalte :  „Bullinger  hat  sich  bei  mir  beklagt,  daß  alle  Züricher 
von  Dr.  Luther  schwer  verletzt  worden  seien,  und  schickte  mir  ein 
Exemplar  des  Briefes  (an  Froschauer),  in  dem  auch  ich  die  Mensch- 
lichkeit vermisse.  Ich  beschwöre  Dich,  daß  Du  nach  Kräften  Dr. 
Martinus  hinderst,  seiner  Heftigkeit  gegen  jene  Kirche  nachzu- 
geben. Vielleicht  hat  er  Grund,  ihnen  zu  zürnen ;  aber  fromme  und 
gelehrte  Männer  darf  man  nicht  so  behandeln."  2  Seine  Ver- 
ehrung für  Luther  und  sein  Gegensatz  gegen  die  Abendmahlslehre 
der  Züricher  hinderte  Calvin  nicht,  Luther  die  Schuld  an  dem  un- 
seligen Hader  zuzuschreiben.  Dem  Freunde  Farel,  der  ihn  auf- 
gefordert hatte,  in  Zürich  persönlich  zum  Frieden  zu  reden,  er- 
widerte er,  daß  solch  ein  Versuch  unter  den  gegenwärtigen  Um- 
ständen nutzlos  sei.  „Denn  nicht  von  jenen  droht  Gefahr,  sondern 
von  Luther ;  er  müßte  besänftigt  werden.  Oder  werden  die  Züricher 
zu  bewegen  sein,  demütig  Luther  um  Frieden  zu  bitten?"3  Als 
Luther  vollends  in  dem  Bekenntnis  vom  Abendmahl  seinem  Grimm 
Luft  gemacht  hatte,  wagte  auch  Calvin  nicht  mehr,  dem  Züricher 
Freunde  Schweigen  zu  empfehlen,  wie  Butzer  und  Mykonius 
wünschten,  „weil  es  unbillig  ist,  Schuldlose  so  anzufallen  und  ihnen 
keine  Gelegenheit  zur  Rechtfertigung  zu  geben".  Nur  bat  er 
Bullinger,  Luthers  Person  zu  schonen,  der  durch  Amsdorf  und 
andre  Schmeichler  aufgereizt  sei.4  In  demselben  Sinne  wandte 
sich  einige  Wochen  später  auch  Viret  an  Bullinger.5 


1)  Herminjard,   „Correspondance   des    R6f  fr."    IX    p.  116. 

2)  C.  R.  XI.  p.  544. 

3)  C.  R.  XI.  p.  754. 

4)  C.  R.  XI.  p.  772. 

5)  C  R.  XII.  p.  20. 


Von  W.  Kolfhaus  5  I 


Calvin  war  nicht  ohne  Grund  besorgt  vor  den  Folgen  des 
Angriffs  Luthers,  der  alle  Gefühle  der  Dankbarkeit  und  Pietät 
gekränkt  hatte,  die  in  der  Schweiz  für  Zwingiis  Andenken  vor 
banden  waren.  In  Hern  entschied  sich  im  Jahre  1546  der  lange 
Kampf  zwischen  dem  zurückgedrängten  Zwinglianismus  und  der 
lutheranisierenden  Partei  eines  Sulzer,  Grynäus  und  Gering  mit 
deren  Niederlage  und  Verbannung.  Calvin  selbst,  der  gegen 
Zwingiis  Abendmahlslehre  die  Berner  Lutheraner  begünstigt  hatte 
und  sich  offen  und  überall  als  Freund  des  wegen  seiner  Vermitt- 
lungen verhaßten  Butzer  bekannte,  wurde  verdächtigt  als  Luthe- 
raner. Seine  ganze  Wirksamkeit  in  Genf,  wo  zahlreiche  Feinde 
nur  auf  die  Stunde  warteten,  seinen  Einfluß  zu  beseitigen,  und 
ebenso  im  Waadtlande,  dessen  Prediger,  theologisch  Calvins  Ge- 
sinnungsgenossen, von  dem  Berner  Rat  abhängig  waren,  stand  auf 
dem  Spiel,  wenn  es  ihm  nicht  gelang,  mit  den  Zürichern  einig  zu 
werden,  ohne  seiner  Überzeugung  in  der  Abendmahlslehre  etwas 
zu  vergeben.  Persönliche  wie  kirchenpolitische  Rücksichten  be- 
wogen ihn,  alle  Schritte  zu  versuchen,  damit  der  neu  entzündete 
Brand  nicht  auch  in  der  Schweiz  um  sich  greife  und  alles  verheere. 

Eine  schwere  Aufgabe  nahm  er  damit  auf  sich.  Nur  durch 
unbedingte  Offenheit  und  brüderliche  Beharrlichkeit  war  sie  zu 
lösen.  Denn  Differenzen  waren  zwischen  Bullinger  und  Calvin 
vorhanden,  Differenzen  in  der  Stimmung  und  in  der  Sache  selbst. 
Calvin  stand  Luther  mit  einem  ganz  andern  persönlichen  Ver- 
trauen gegenüber  als  die  Wortführer  in  der  Schweiz.  Das  deutsch 
verfaßte  Bekenntnis  der  Züricher  Prediger  hatte  er  selbst  noch 
nicht  gelesen,  als  er  mit  Beziehung  darauf  gegen  Ende  Januar  1545 
an  Melanchthon  schrieb,  er  habe  gehört,  daß  eine  heftige  Schrift 
ausgegeben  sei,  die  wieder  einen  neuen  Brand  anzünden  werde. 
Am  26.  März  empfing  er  dann  von  Bullingers  Schwiegersohn 
Rudolf  Walther  mit  einem  freundlichen  Briefe  die  lateinische  Über- 
setzung des  Bekenntnisses  der  Züricher.  Offen  sprach  er  den 
Brüdern  in  Zürich  aus,  als  er  zugunsten  der  verfolgten  Waldenser 
persönlich  in  Zürich  wie  in  andern  Schweizerstädten  auf  gemein- 
sames Handeln  drang,  was  ihm  an  ihrer  Konfession  nicht  gefallen 
habe.  Welches  diese  Punkte  waren,  hat  uns  Pellikan  in  einem 
Schreiben  an  den  Emdener  Prediger  Gerhardus  Kampius  auf- 
bewahrt: ,,Er  redete  mit  uns  von  dem.  das  er  an  unserm  Bekennt- 
nis auszusetzen  habe:  1.  wir  hätten  Zwingiis  Behauptung  verteidigt 
von  der  Seligkeit  tugendhafter  Heiden;  2.  wir  hätten  nicht  deut- 

4* 


e2  Der  Verkehr  Calvins  mit. Bullinger. 


lieh   genug   geredet   von    der    durch    das   Abendmahl    vermittelten 
Gemeinschaft  Christi  mit  uns ;  3.  wir  hätten  Karlstadt  entschuldigt 
und  4.   Luther  lateinisch  zu  hart  geantwortet.1      Zur   Kennzeich- 
nung der  Vorsicht  Calvins  in  der  Wahrung  guter  Beziehungen  zu 
Bullinger  mag  hier  erwähnt  werden,  daß  er  wohl  in  Zürich  seine 
Bedenken  laut  werden  ließ,  an  andern  Orten  aber,  die  er  auf  seiner 
Rundreise  berührte,  sorgsam  verhehlte.    So  fragte  Limpertus  Vog- 
tius  aus  Schaffhausen  bei  Bullinger  an,  ob  er  wisse,  ob  Calvin  an 
der  Züricher  Antwort  etwas  zu  tadeln  finde;  in  Schaffhausen  habe 
man  aus  ihm  nichts  herausbringen  können.2      Die  schärfste  Äuße- 
rung des   Reformators   über  die   Haltung  der  Züricher   Prediger 
finden  wir  in  seinem  Brief  an  Melanchthon  vom  26.  Juni  1545:  „Die 
Züricher  haben  berechtigte  Ursache  zum  Schreiben  gehabt,  wenn 
es  so  ist,  wie  sie   sagen.     Nur   hätten   sie  anders   erwidern   oder 
ganz  schweigen  sollen.     Denn  einmal  ist  das  ganze  Büchlein  un- 
bedeutend und  unreif  und  zeugt  von  mehr  Hartnäckigkeit  als  Ge- 
lehrsamkeit ;  dann  entschuldigen  sie  ihren  Zwingli  in  wenig  feiner 
Weise  und  rechnen  Luther  allerlei  zu  schwer  an,  und  vor  allem 
in    der   Hauptsache   greifen   sie   nach   meinem   Urteil    unglücklich 
daneben."     „Euer  Perikles  aber,  wie  rast  und  blitzt  er,  während 
doch  seine  Sache  um  nichts  besser  ist?    Wahrlich,  ich,  der  ich  ihn 
aufrichtig  verehre,  schäme   mich   seiner  tief." 3       Dennoch,   soviel 
er  an   Form  und   Inhalt  des   Bullingerschen  Werkes   auszusetzen 
hatte,  hörte  er  nicht  auf,  sein  Vorgehen  zu  entschuldigen  4    und 
auf  Vereinigung  mit  ihm  zu  hoffen.     Daß  die  Züricher  ihm  nicht 
zufielen,  obgleich  sie  seine  im  Katechismus,  in  der  Institutio  und 
in  seinem  Schriftchen  über  das  Abendmahl  ausgesprochene  Über- 
zeugung   nicht    offen    zu    verwerfen    wagten,    glaubte    er    darauf 
zurückführen  zu   können,   daß   sie   voreingenommen   seien   und  an 
ihren  gewohnten   Formeln   so   fest   hingen,   daß    sie   nichts   Neues 
zuließen,  wie  er  an  Veit  Dietrich  schrieb.     In  der  diesem  Korre- 
spondenten gegenüber  und  auch  sonst  ausgesprochenen  Hoffnung 
allerdings,  daß  er  mit  Luther,  dessen  Tod  er  im  März  1546  noch 
nicht  erfahren  hatte,  sich  wohl  würde  verständigen,  hat  sich  Calvin 
getäuscht.     Schon  allein  daran,  daß  er  ebenso  wie  alle  Schweizer 
die    Behauptung   Luthers   vom    Empfang   des    Leibes    und    Blutes 


1)  C.  R.  XII.  p.  81. 

2)  C.  R.  XII.  P.  77. 

3)  C.  R.  XII.  p.  98. 

4)  Calvin  an  Veit  Dietrich  in  Nürnberg  C.  R.  XII.  p.  315. 


Von  W.   Kolfhaus.  53 


Christi  durch  die  Ungläubigen  abwies,1    wäre  jede  Konkordie  ge- 
scheitert, ganz  abgesehen  von  andern  Gegensätzen. 

Konnte  Calvin  so  der  Lehre  und  der  Kampfesweise  der 
Züricher  keinen  Beifall  zollen,  so  galt  auch  er  umgekehrt  in  Zürich 
nicht  als  ganz  einwandfrei,  und  Bullinger  war  vorerst  noch  weit 
davon  entfernt,  Calvins  Gedanken  zu  übernehmen.  Am  18.  August 
1545 2  bat  ihn  Leonhard  Soerinus  aus  Znaim,  er  möge  ihm  seine 
Gedanken  über  Calvins  Abendmahlslehre  mitteilen ;  er  könne  sich 
nicht  denken,  daß  Bullinger  Calvins  Auslegung  von  Joh.  6  billige 
und  so  wie  dieser  von  dem  wirklichen  und  wesentlichen  Essen  des 
Leibes  Christi  rede.  Die  Antwort  Bullingers  erfolgte  schon  am 
18.  September :  „Du  wünschest  mein  Urteil  über  die  letzte  Ausgabe 
von  Calvins  Institutio.  Ich  habe  sie  nicht  gelesen,  nur  die  erste 
Ausgabe  habe  ich  mir  vor  mehreren  Jahren  angesehen,  kann  also 
nichts  sagen.  Wie  ich  Joh.  6  verstehe,  findet  sich  in  meiner  Aus- 
legung des  Johannesevangeliums,  wo  ich  dargetan  habe,  daß  Essen 
dasselbe  ist  wie  Glauben.  Ich  glaube,  daß  allerdings  der  Leib 
unsers  Herrn  und  zwar  wesentlich  von  uns  gegessen  werde.  Denn 
den  Gläubigen  ist  keine  andre  Speise  gegeben  als  das  wahre  Fleisch 
Christi.  Wir  essen  aber,  indem  wir  glauben,  sein  Fleisch  sei  für 
uns  dahingegeben.  Ich  glaube  und  lehre  nicht,  daß  der  wesent- 
liche Leib  des  Herrn  im  Abendmahl  gegenwärtig  sei,  denn  ein 
wirklicher  menschlicher  Leib  kann  nicht  an  mehreren  Orten  zu- 
gleich sein.  So  hoch  ich  auch  Calvin  schätze,  darin  würde  ich 
ihm,  wenn  er  wirklich  so  lehrte,  nicht  zustimmen.  Die  Wahrheit 
ist  mächtiger  als  Calvin.  Nie  werde  ich  zugeben,  daß  sein  wahrer 
Leib  im  Abendmahl  wirklich  gegenwärtig  sei,  dargereicht  und  ge- 
nommen werde." 3  Mit  der,  wie  er  glaubte,  neutralen  Stellung 
Butzers  und  Calvins  war  Bullinger  durchaus  nicht  einverstanden ; 
in  dem  Kampf  mit  den  Lutheranern  sei  nur  ein  deutliches  Ent- 
weder —  Oder  möglich.4  Auch  aus  dem  Freundeskreis  hörte 
Bullinger  Stimmen,  die  sich  mit  Calvins  Abendmahlslehre  nicht 
zufrieden  erklärten.  Der  oben  erwähnte  Senior  der  Emdener  Kirche 
Gerhardus  Kampius  (G.  ter  Camp),  zeigte  am  31.  August  1545 
Bullinger  an,  daß  Calvin  den  Friesen  seinen  Katechismus  zuge- 
schickt habe,  aber  seine  frühere  Meinung  über  das  Sakrament  habe 


1)  Calvin  an  Eberhard  Schnepf  in  Stuttgart  C.  R.  XI.  p.   75L 

2)  C.  R.  XII.  p.   140. 

3)  C.  R.  XII.  p.  168. 

4)  Bullinger  an  Musculus   C.  R.  XII.  p.  288. 


54 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


ihnen  besser  gefallen  als  die  jetzige  und  sie  bäten,  er  möge  so 
schreiben,  daß  die  Einfältigeren  inn  verstehen  könnten.1  Aus 
Biel  klagte  ihm  Leopold  Fry,  daß  Farel  und  Viret  durch  Butzer 
zu  einer  der  bisherigen  entgegengesetzten  Abendmahlslehre  ge- 
bracht seien  und  behaupteten,  der  Leib  des  Herrn  sei  zwar  räum- 
lich im  Himmel,  aber  in  einer  allen  Verstand  überragenden  Weise 
nähre  er  uns  doch  mit  seinem  gegenwärtigen  Fleische  und  Blute, 
und  da  Gott  uns  nicht  täuscht,  sei  ihnen  durch  Wirkung  des 
heiligen  Geistes  der  Leib  Christi  noch  viel  mehr  gegenwärtig  als 
unsere  eigenen  Leiber.2 

Wenn  trotz  der  Verschiedenheiten  und  Mißverständnisse  und 
der  sehr  voneinander  abweichenden  Haltung  Calvins  und  Bullingers 
im  Abendmahlsstreit  die  beiden  Männer  aneinander  nicht  irre 
wurden,  —  denn  beider  Charakter  war  nicht  dazu  gemacht,  ab- 
weichende Auffassungen  mit  Worten  zu  verhüllen  —  so  ist  das 
nicht  nur  zu  erklären  aus  der  politischen  und  kirchlichen  Lage 
ihrer  Kantone,  die  freilich  ein  Zusammengehen  dringend  erheischte, 
sondern  es  muß  bei  beiden  die  Grundüberzeugung  vorhanden 
gewesen  sein,  daß  ihre  Lehre  sich  nicht  gegenseitig  ausschlösse. 
Calvin  hatte  schon  am  25.  November  1544  dieser  Überzeugung 
Ausdruck  verliehen  gegen  den  Freund  in  den  schönen  Worten: 
„Was  ich  denke,  sage  ich  offen  und  einfach  und  verberge  nichts 
um  der  Menschen  willen.  Ich  glaube  aber  zu  denken,  wie  Gottes 
Wort  lehrt.  Dürften  wir  nur  einen  halben  Tag  miteinander  reden, 
so  würden  wir  ohne  Schwierigkeiten  übereinkommen  nicht  nur  in 
der  Sache  selbst,  sondern  auch  in  den  Worten.  Inzwischen  soll 
uns  dieser  Anstoß  nicht  hindern,  brüderliche  Freundschaft  im 
Herzen  zu  halten."  3  Auch  Bullinger  hatte  die  Empfindung,  daß 
sie  sich  nicht  so  fern  standen.  Obgleich  die  Spannung  zwischen 
ihm  und  Calvins  Freund  Butzer  gerade  in  den  Jahren  1546  und 
1547  so  stark  geworden  war,  daß  die  Züricher  ihre  Studenten  Lud- 
wig Lavater  und  Jakob  Geßner  aus  Straßburg  zurückriefen,  weil 
diese  von  den  Straßburger  Theologen  unter  Marbachs  Führung 
konfessionell  beunruhigt  wurden,  überreichte  Bullinger  Calvin  seine 
Schrift:  „Absoluta  de  Christi  Domini  et  catholicae  eius  ecclesiae 
sacramentis  tractatio"  vor  ihrem  öffentlichen  Erscheinen  zur  Durch- 
sicht und  Beurteilung.     Mit  höchster  Anteilnahme  las  Calvin  die 

1)  CR.  XII.  p.  154. 

2)  C.  R.  XII.  p.  349. 

3)  C.  R.  XI.  p.  772. 


Von  W.   KoHhaus.  55 


Ausführungen  des  Freundes.  Bevor  er  sie  dem  Verfasser  zurück- 
gab mit  seinen  Bemerkungen,  rief  er  Farel  herbei,  mit  ihm  die 
wichtige  Sache  zu  besprechen.  „Wenn  Du  hieher  kommst,  wäre 
es  der  Mühe  wert.  Aber  komme  bald,  ich  habe  jetzt  etwas  in 
Händen,  das  ich  in  kurzem  zurückgeben  muß.  Dies  möchte  ich 
mit  Dir  gemeinsam  verhandeln,  und  Du  wirst  sehen,  daß  mein 
Wunsch  nicht  bedeutungslos  war."  •  Die  Antwort  Calvins  vom 
25.  Februar  1547,  übrigens  ein  Meisterwerk  calvinischer  Stilistik 
an  Prägnanz  und  Klarheit  des  Gedankens,  ging  auf  jeden  Abschnitt 
der  Arbeit  Bullingers  kritisierend  ein.  Die  vornehmste  Differenz 
sah  Calvin  darin,  daß  Bullinger  die  wirkliche  Darreichung  des  im 
Sakrament  abgebildeten  Gnadengutes  leugnete  und  bekämpfte. 
..Indem  Christus  mir  Brot  und  Wein  reicht,  verheißt  er  mir  seinen 
Leib  und  sein  Blut.  Das  Zeichen  nehme  ich;  daß  mir  auch  die 
Sache  gegeben  werde,  bestreitest  Du.  Ist  das  nicht  Spielerei? 
Denn  Darreichen  bedeutet  mir  hier  nichts  andres  als  zum  Genuß 
geben/'  Hatte  Bullinger  den  Gedanken  Zwingiis  vertreten:  Die 
Sakramente  enthalten  nicht  Gottes  Gnade,  folglich  reichen  sie  sie 
nicht  dar,  so  zog  Calvin  diese  Folgerung  nicht.  Auch  er  be- 
hauptete nicht,  daß  die  Gnade  im  Sakramente  eingeschlossen  sei, 
aber  mit  Hilfe  des  parallelen  Gedankens,  daß  Christus  doch  auch 
im  Evangelium  vorhanden  sei,  ging  er  weiter  zu  der  Folgerung, 
daß  freilich  die  Sakramente  die  von  ihnen  verheißenen  Gnaden- 
gaben  mitteilten,  nicht  per  se,  sondern  durch  Gottes  Bestimmung, 
durch  Wirkung  des  heiligen  Geistes.  Ebenso  war  Calvin  einver- 
standen mit  Bullingers  These,  daß  die  Sakramente  nichts  gäben, 
was  der  Glaube  nicht  schon  hat.  Aber  er  führte  Bullingers  Ge- 
danken weiter  durch  den  Nachweis,  daß  die  Sakramente  zur  Stär- 
kung, Förderung  und  Erbauung  des  Glaubens  dienen.  „Das  sicht- 
bare Zeichen  ist  ein  wahrhaftiges  Zeugnis  für  das,  das  es  abbildet, 
die  Seele  wird  durch  Christi  Fleisch  genährt,  wie  der  Leib  durch 
das  Brot."  Bullinger  wünschte  nicht,  auf  die  Sakramente  zu  über- 
tragen, was  Sache  des  Geistes  Gottes  ist.  Mit  Recht  erwiderte 
Calvin:  „Was  die  Schrift  dem  Geist  zuschreibt,  schließt  nicht  aus, 
daß  die  Sakramente  seine  Organe  sind,  an  sich  tot  und  unnütz,  bis 
der  Geist  sie  belebt." 

Bullinger  hatte  offenbar  eine  andre  Antwort  erwartet;  er  fühlte 
sich  in  dem  Nerv  seiner  ganzen  Abendmahlsauffassung  getroffen, 
in  der  Überzeugung,  daß  sinnliche  Dinge  keine  himmlischen  Güter 


1)  C.  R.  XII.  p.  478. 


c(j  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


vermittelten,  und  daß  zwischen  dem  Wirken  des  heiligen  Geistes 
und  dem  Wirken  der  Sakramente  reinlich  zu  scheiden  sei,  soweit 
überhaupt  auf  seinem  Standpunkt  von  letzterem  zu  reden  noch 
möglich  war.  Länger  als  ein  halbes  Jahr  wartete  er,  bevor  er 
Calvin  seine  Erwiderung  sandte,  so  daß  Calvin  sich  bei  ihm  am 
18.  September  über  sein  langes  Schweigen  beschwerte.  Die  durch 
Calvins  zum  Teil  recht  scharfe  Bemerkungen  erzeugte  Verstim- 
mung Bullingers  wurde  verstärkt  durch  das  Mißtrauen,  das  auch 
bei  Bullingers  Freunden  gegen  den  Genfer  geäußert  wurde  und 
alle  Verhandlungen  zwischen  den  beiden  Männern  bis  zum  glück- 
lichen Abschluß  des  Consensus  begleitete.  Nicht  nur  ein  Curio 
klagte  Calvin  und  Viret  des  Butzerianismus  und  Lutheranismus 
bei  Bullinger  an.1  In  der  bittersten  Weise  fuhr  einige  Monate 
nachher,  am  22.  Februar  1548,  Beatus  Comes  in  seinem  Briefe  an 
die  Züricher  Prediger  gegen  Calvin  und  Viret  los  und  suchte  durch 
die  Erinnerung  an  Calvins  abfälliges  Urteil  über  Zwingiis  Abend- 
mahlslehre die  Gemüter  zu  erregen.2  Eberhard  von  Rumlang 
schrieb  Bullinger  in  einem  Bericht  über  den  Sturz  der  Berner 
Lutheraner :  „Auch  die  Lausanner  hatten,  nicht  ohne  Calvins  Ein- 
wirkung, den   Butzerianismus   in   ihre   Akademie   eingeführt.3 

Derartige  Stimmen  trugen  dazu  bei,  den  Gang  der  Verhand- 
lungen zu  verlangsamen  und  Bullinger  in  seiner  Zurückhaltung  zu 
bestärken.  Seine  Erwiderung  auf  jenes  Schreiben  Calvins  besitzen 
wir  nicht.  Nur  aus  einer  Notiz  Calvins  an  Viret  4  wissen  wir,  daß 
sie  abweisend  lautete.  „Hier  hast  Du  den  Brief  Bullingers,  in  dem 
Du  einen  erstaunlichen  Eigensinn  beobachtest.  Ich  sagte  Dir 
einmal  von  den  Zürichern,  daß  sie  stets  eine  Melodie  singen." 
„Jetzt  siehst  Du,  daß  Du  Dich  täuschtest,  als  Du  meintest,  mein 
Brief  würde  etwas  nützen,  auf  den  er  in  einem  Tone  antwortet, 
als  hätte  ich  ihn  zum  Streite  aufgefordert."  Jedoch  die  gereizte 
Antwort  Bullingers  hielt  Calvin  nicht  ab,  in  einem  brüderlichen 
Schreiben  aufs  neue  auf  die  Sache  einzugehen  und  vor  allem  die 
Schranke  des  persönlichen  Mißtrauens  wegzuräumen. 5  Je  drohen- 
der die  Verhältnisse  in  Bern  sich  zuspitzten,  so  daß  auch  Viret  in 
Gefahr  war,  als  Opfer  der  erzürnten  Zwinglianer  zu  fallen,  um  so 
dringender  hielt  es  Calvin  für  geboten,  durch  Einigung  mit  Zürich 

1)  C.  R.  XII.  p.  585,  696. 

2)  C.  R.  XII.  p.  661. 

3)  C.  R.  XII.  p.  690. 

4)  C.  R.  XII.  P.  653. 

5)  C.  R.  XII.  p.  665. 


Von  W.   Kolfhaus.  57 


den  Sturm  zu  beschwichtigen.     Ruhig,  ohne  Schärfe  legte  er  dem 

Freunde  die  Sachlage  dar:  „Deine  lange  Antwort,  in  der   Du  alle 
meine  Einwände  zu  widerlegen  suchst,  übergehe  ich  mit  Schweigen. 
Warum  sollen  wir  uns  miteinander  zanken?     Ich  hatte  in   Deinem 
Buche  angestrichen,   was   mir   nicht   gefiel   oder  andern   mißfallen 
konnte,  oder  wovon  ich   nicht  glaubte,  daß   fromme   und  gelehrte 
Männer    es    billigen    würden.      Ich    tat    es    auf    Deine    Bitte    hin, 
Freundespflicht    erfüllend.      Denkst    Du    anders,    magst    Du    dies 
halten,  wie  Du  willst.     Daß  wir  untereinander  völlig  einig  werden, 
gehört  zu  meinen  innigsten  Wünschen,  doch  wenn  mir  auch  fest- 
steht, daß  wir  im  Sakrament  eine  engere  Gemeinschaft  mit  Christus 
haben,  als  Du  mit  Deinen  Worten  ausdrückst,  so  wollen  wir  des- 
wegen doch   nicht  aufhören,  denselben   Christus  zu   haben  und  in 
ihm  eins  zu   sein.     Vielleicht   werden  wir  noch   einmal  in  völliger 
Einheit  uns  finden.     Ich  habe  stets  Klarheit  geliebt,  an  Spitzfindig- 
keiten freue  ich  mich  nicht,  und  den  Ruhm  der  Deutlichkeit  teilen 
mir  alle  zu,  die   andre   wohl   der  Dunkelheit  beschuldigen."     „Ich 
habe  mich  neulich  in  Basel  über  Deine  Klage  gewundert,  die  mir 
von  einem  Freunde  hinterbracht  wurde,  daß  ich  in  meinen   Kom- 
mentaren anders  gelehrt  habe,  als  ich  euch  versprochen  hätte.     Ich 
habe  kurz  und  wahr  erwidert,  daß  ich  zu  Zürich  nicht  anders  rede 
als  zu  Genf."     Dieses  männliche,  klare  Wort  scheint  auf  Bullinger 
seinen    Eindruck    nicht    verfehlt    zu    haben,    wenigstens    ist    sein 
Schreiben  an  Calvin  vom  28.  Mai   1548  durchaus  versöhnlich  und 
freundlich  gehalten.     In   der  Abendmahlsangelegenheit   erklärt   er 
freilich,  noch  nicht  andres  Sinnes  geworden  zu  sein.     „Ich  erkenne 
an,  daß  sich  Christus  in  seinem  Geiste  durch  den  Glauben  uns  ganz 
mitteilt,    soweit    es    für    uns    zum    Erlangen    des    Heils    und    zum 
frommen  Leben  nötig  ist.     Dies  wird  uns  durch  die  Sakramente 
dargestellt  und  versiegelt  in  der  den  Sakramenten  eigentümlichen 
Weise,  sowie  es   uns  durch  das   Wort  verkündigt   und  durch   Be- 
zeugen eingeprägt  wird."     Bevor  Calvin  diesen  Brief  erhalten  hatte. 
war  er  persönlich  mit  Farel  zu  einem  eiligen  Besuch  in  Zürich,  um 
die  Hilfe  der  Brüder  für  den  von  den  Bernern  hart  angefochtenen 
Viret  zu  erbitten  und  wenn  möglich  die  Verständigung  über  das 
Abendmahl    zu    fördern.      Die    Reise    befriedigte    ihn    nicht.      An 
Sulzer  in   Basel,  der  eben  wegen   seiner  Neigung  zu   lutherischen 
Formeln   aus   Bern   hatte   weichen   müssen,   berichtete    er   über   die 
Reise:  ,,  anfangs  trafen  wir  wenig  freudige  Gesichter,  doch  wurden 
wir  ehrenvoll   und  freundschaftlich  aufgenommen.     Das   eine  miß- 


cß  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

fiel  uns  am  meisten,  daß  sie  uns  erklärten,  wenn  ein  Wort  über  die 
Sache  fallen  sollte,  es  sei  ihnen  nicht  angenehm  und  sie  würden 
nicht  darauf  eingehen.  Trotzdem  redeten  wir  das  eine  und  andre, 
konnten  aber  zu  einer  ernsthaften  Unterredung  nicht  gelangen. 
Wir  unterließen  nichts,  uns  williges  Gehör  zu  verschaffen,  doch 
immer  erfolgte  dieselbe  Antwort,  es  sei  nach  Billigkeit  gehandelt, 
wenn  wir  uns  gegenseitig  anerkennen  würden."  Bei  Gelegenheit 
dieses  Besuches  machte  Calvin  auch  die  für  sein  späteres  Wirken 
so  wichtige  Bekanntschaft  des  jungen  Freundes  Bullingers,  Johann 
Hallers,  der  gerade  zur  Ordnung  der  zerfahrenen  Verhältnisse  nach 
Bern  berufen  war,  und  nahm  von  der  flüchtigen  Begegnung  einen 
günstigen  Eindruck  mit.  *  Da  die  mündliche  Verhandlung  mit  den 
Zürichern  nicht  zum  Ziel  gekommen  war,  mußte  Calvin  schriftlich 
weiter  versuchen,  sich  mit  ihnen  zu  verständigen.  Er  verhehlte 
Bullinger  die  in  Zürich  erlebte  Enttäuschung  nicht,  ging  dann  aber 
geduldig  noch  einmal  auf  die  am  schwersten  wiegenden  Differenzen 
ein.  •  Einig  sei  er  mit  den  Zürichern  in  der  Überzeugung,  daß  die 
Sakramente  keine  Heilsgewißheit  begründen.  Gott  allein  sei  es, 
der  durch  die  Sakramente  wirke ;  sie  nützten  nur  dann,  wenn  sie 
uns  zu  Christus  leiten,  damit  wir  in  ihm  alle  Güter  suchen.  Die 
Verschiedenheit  beginne  mit  seiner  Behauptung,  daß  die  Sakra- 
mente Werkzeuge  der  Gnade  Gottes  seien,  und  daß  die  Erwählten 
durch  sie  wirklich  empfangen,  was  in  ihnen  abgebildet  werde,  weil 
sonst  Gott  als  Schauspieler  erschiene :  „So  wenn  einer  mit  wahrem 
Glauben  die  Taufe  empfängt,  sagen  wir,  daß  er  Vergebung  der 
Sünden  empfängt.  Aber  damit  keiner  die  Ursache  seiner  Rettung 
der  Taufe  zuschreibt,  fügen  wir  erläuternd  hinzu,  jene  Vergebung 
gründe  sich  auf  Christi  Blut  und  werde  nur  insofern  durch  die  Taufe 
vermittelt,  als  sie  ein  Zeugnis  jener  Abwaschung  ist,  die  uns  der 
Sohn  Gottes  durch  sein  am  Kreuz  vergossenes  Blut  erworben  hat, 
uns  anbietet,  damit  wir  sie  durch  den  Glauben  an  sein  Evangelium 
genießen,  und  durch  seinen  Geist  in  unsern  Herzen  vollendet." 
Ebenso  könne  er  beim  Abendmahl  Zeichen  und  Sache  nicht  aus- 
einanderreißen. „Wir  essen  Christi  Leib  und  trinken  sein  Blut. 
Indem  wir  so  reden,  machen  wir  nicht  das  Zeichen  zur  Sache  selbst, 
noch  vermischen  wir  beides  miteinander,  noch  schließen  wir  Christi 
Leib  in  das  Brot  ein.  Ihr  sagt  wie  wir,  daß  Christus  im  Himmel 
sei  nach  seiner  menschlichen  Natur.     Ihr  denkt  bei  dem  Worte 


i)  C.  R.  XII.  p.  720. 
2)  C  R.  XII.  p.  726. 


Von  W.  Kolfhaus.  5Q 


„Himmel"  an  eine  örtliche  Trennung-;  wir  stimmen  dem  ohne  wei- 
teres zu,  daß  Christus  räumlich  von  uns  entfernt  ist.  Ihr  leugnet, 
daß  Christi  Leib  unumschrieben  sei;  wir  nicht  minder.  Ihr  wollt 
das  Zeichen  nicht  mit  der  Sache  vermischen;  wir  dringen  ebenso 
darauf,  beides  zu  unterscheiden.  Eurer  Verurteilung  der  Im- 
panation  schließen  wir  uns  an.  Folgendes  ist  also  unsre  eigentliche 
Meinung:  wenn  wir  hier  auf  Erden  Brot  und  Wein  sehen,  daß  die 
Herzen  in  den  Himmel  gehoben  werden  müssen,  damit  sie  Christus 
genießen,  und  daß  uns  dann  Christus  gegenwärtig  ist,  wenn  wir 
ihn  suchen  außer-  und  oberhalb  alles  Irdischen.  Wir  halten  es  für 
unrecht  zu  tun,  als  sei  Christus  nicht  wahrhaftig,  und  das  würden 
wir  tun,  wenn  wir  nicht  dächten,  daß  mit  dem  Zeichen  zugleich  das 
Verheißene  wahrhaftig  dargereicht  wird.  Auch  ihr  gesteht  doch  zu, 
daß  das  Zeichen  nicht  inhalt-  und  bedeutungslos  ist.  Wir  haben 
nur  klar  zu  sagen,  was  es  in  sich  enthält.  Und  dann  sagen  wir 
kurz:  wir  werden  des  Fleisches  und  Blutes  Christi  teilhaftig,  so 
daß  er  in  uns  wohnt  und  wir  in  ihm,  und  auf  diese  Weise  empfangen 
wir  alle  seine  Güter.  Was  ist  in  diesen  Worten,  ich  bitte  Dich, 
sinnlos  oder  dunkel?  Besonders  wenn  wir  noch  ausdrücklich  alle 
irgendwie  möglichen  verkehrten  Gedanken  ausschließen?  Und 
doch  werden  wir  getadelt,  als  wären  wir  von  der  einfachen  und 
lauteren  Lehre  des  Evangeliums  abgefallen.  Ich  möchte  wissen, 
was  das  für  eine  Einfachheit  ist,  die  man  von  uns  verlangt.  Eben 
dasselbe  betonte  ich  neulich  bei  euch,  aber  wie  Du  wohl  weißt,  ohne 
Antwort  zu  bekommen.  Das  alles  sage  ich  nicht,  um  mit  euch  zu 
streiten,  sondern  um  zu  bezeugen,  daß  wir  ohne  Ursache  einigen 
guten  Männern  verdächtig  erscheinen." 

Ein  besonderer  Anklagepunkt  gegen  Calvin,  an  den  sich 
immer  wieder  das  Mißtrauen  gegen  seine  Lauterkeit  heftete,  scheint 
in  Zürich  Calvins  Verkehr  mit  Butzer  gewesen  zu  sein.  „Warum, 
fragte  er  Bullinger,  sollten  wir  uns  von  Butzer  trennen,  da  er  dieses 
unser  dargelegtes  Bekenntnis  unterschreibt  ?  Ich  will  hier  die 
seltenen  und  mannigfachen  Tugenden  nicht  rühmen,  die  jenen 
Mann  auszeichnen.  Ich  sage  nur,  daß  ich  der  Kirche  Gottes 
schweres  Unrecht  zufügen  würde,  wollte  ich  ihn  hassen  oder  ver- 
achten, ganz  zu  schweigen  davon,  daß  er  sich  um  mich  persönlich 
verdient  gemacht  hat.  Warum  zürnen  uns  fromme  Männer,  wenn 
wir  Freundschaft  pflegen  mit  einem,  der  mit  Freuden  erklärt,  dal'. 
er  euch  Freund  und  Bruder  sein  will?" 

Wir  haben   in   diesem   Briefe    Calvins   an    Bullinger   eine 


OO  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

wichtigsten  Schriftstücke  aus  den  langen  Verhandlungen  vor  uns ; 
denn  er  enthält  kurz  und  bestimmt  die  Vorschläge,  die  er  dem 
Freunde  als  Grundlage  der  Konkordie  über  das  Abendmahl  zu 
unterbreiten  hatte,  und  die  Bullinger  auszog  und  mit  seinen  An- 
merkungen versehen  im  November  1548  an  Calvin  zurücksandte. 
Mit  großer  Bedachtsamkeit  hat  also  Bullinger  die  ernste  Sache 
durchgearbeitet.  Er  war  jedenfalls  von  Calvins  Vorschlägen  ange- 
nehm berührt,  wenn  er  sich  auch  noch  immer  nicht  völlig  mit 
dessen  Gedanken  und  Ausdrücken  zu  vereinigen  vermochte.  Zur 
Befestigung  seines  Vertrauens  in  Calvins  lautere  Absichten,  wenn 
es  einer  solchen  noch  bedurfte,  trug  nicht  wenig  bei  das  freundliche 
Verhältnis,  in  das  Haller  in  Bern  zu  dem  Genfer  und  seinen  Freun- 
den getreten  war.1  Bevor  Bullinger  Calvins  propositiones  beant- 
wortete, teilte  er  sie  Haller  zur  Einsichtnahme  mit. 

In  seiner  Antwort  besprach  Bullinger  jeden  einzelnen  Satz  aus 
dem  obigen  Schreiben  Calvins  und  begründete  ausführlich  seinen 
Widerspruch.  Seine  Bemerkungen  zeigen,  daß  er  seine  Abneigung 
gegen  Calvins  lutherisch  klingende  Formeln  noch  nicht  fahren  ließ 
und  immer  noch  von  der  Furcht  beseelt  war,  es  möchte  den  Sakra- 
menten zuviel  zugeschrieben  und  etwas  abgedingt  werden  von  der 
ihm  feststehenden  Grundwahrheit :  Gott  allein  wirkt  unser  Heil  und 
vermittelt  den  Erwählten  die  Gnade  und  jegliche  Heilsgabe,  und 
zwar  vermittelt  und  reicht  er  sie  dar  nicht  durch  die  Zeichen,  die 
als  Leblose  geistliche  Dinge  nicht  in  sich  schließen  können,  son- 
dern durch  den  heiligen  Geist  und  den  Glauben.  An  diesem  Kanon 
gemessen  erschienen  ihm  als  vor  allem  anstößig  die  Behauptungen : 
was  in  den  Sakramenten  vorgebildet  ward,  wird  den  Erwählten 
wirklich  dargereicht;  die  Sakramente  sind  Werkzeuge  der  Gnade 
Gottes ;  wir  werden  des  Fleisches  und  Blutes  Christi  teilhaftig.  Das 
Einverständnis  der  beiden  Männer  zeigte  sich  vorerst  nur  in  dem, 
was  Calvin  in  seinem  Briefe  negiert  hatte.  Die  Hauptpunkte  gerade 
waren  noch  unerledigt,  in  denen  die  Eigentümlichkeit  der  Anschau- 
ung Calvins  gegenüber  der  Zwinglischen  hervortrat. 

Wie  die  Ausführungen  und  der  Widerspruch  Bullingers  ge- 
meint waren,  läßt  ein  Schreiben  erkennen,  das  er  einige  Tage  später 
nach  Genf  sandte  mit  einer  Kopie  des  ersten,  wreil  er  besorgte,  sein 
nster  Brief  möchte  den  Adressaten  nicht  erreicht  haben  und,  was 
uns  im   Briefwechsel   Calvins   mehrfach  begegnet,  von  ungetreuen 


1)  Hallcr  an  Calvin  C.  R.  XIII.  p.  14.    Hallcr  an  Bullinger  C.  R.  XIII. 
19.  51. 


Von  W.   Kolfl 


oder  feindlichen  Händen  unterschlagen  sein.  „Ich  antworte  auf 
jene  Deine  Vorschläge,  nicht  um  sie  zu  bekämpfen,  sondern  um 
Dir  Gelegenheit  zu  geben,  deutlicher  J^«  ine   .Meinung  darzulegen, 

ob  wir  vielleicht  dahin  kommen,  dasselbe  zu  denken  und  zu  reden."  : 
Beide  Briefe  wurden  Calvin  in  den  ersten  lagen  des  Januar 
1549  zugestellt.  Bullinger  hatte  seine  Erwiderung  auf  Calvins 
Sätze  an  Haller  in  Bern  geschickt,  damit  sie  durch  diesen  mit  einem 
zuverlässigen  Boten  nach  Genf  befördert  werde.  Ihm  hatte  sich 
Beatus  Comes,  ein  früherer  Freund  Calvins  und  Farels,  zu  dem 
Dienst  erboten,  aber  aus  Nachlässigkeit  hatte  er  den  Dienst  nicht 
geleistet.  Zufällig  fand  ein  Freund  Calvins,  als  er  bei  Comes  nach 
anderen  Briefen  suchte,  dort  auch  Bullingers  liegengebliebenen 
Brief  und  nahm   ihn   mit  für  Calvin. 

Sofort  begab  sich  der  Reformator  an  die  Arbeit,  die  Bemer- 
kungen zu  seinen  Sätzen  zu  prüfen  und  seine  Gedanken  noch  näher 
zu  erläutern.  Hatte  Bullinger  nicht  zustimmen  können,  wenn  Cal- 
vin die  Sakramente  Werkzeuge  der  Gnade  Gottes  nannte,  so  hielt 
dieser  ihm  entgegen :  „Freilich  ist  es  das  Amt  des  Geistes,  uns 
Christi  und  aller  seiner  Güter  teilhaftig  zu  machen;  aber  damit 
reimt  sich  sehr  wohl,  daß  er  das,  was  er  durch  seine  Kraft  in  uns 
wirkt,  auch  durch  die  Sakramente  als  Werkzeuge  wirkt.  Der  heilige 
Geist  ist  das  Siegel,  das  Gottes  Verheißungen  in  unseren  Herzen 
versiegelt.  Dasselbe  sagt  Paulus  von  der  Beschneidung  aus,  ohne 
doch  dem  Geist  etwas  zu  nehmen.  Denn  wenn  das  eine  dem  an- 
dern untergeordnet  wird,  ist  kein  Widerspruch  da,  der  Geist  i.-' 
Urheber,  das  Sakrament  das  Werkzeug,  dessen  er  sich  bedient.'' 
„Wir  müssen  immer  darauf  sehen,  nicht  zu  kleinlich  zu  sein  im 
Zurückweisen  von  Ausdrücken,  die  nichts  Falsches,  nichts  Un- 
passendes enthalten.  Warum  sollen  wir  leugnen,  daß  Gott  durch 
die  Sakramente  handelt,  da  Paulus  bezeugt,  wir  würden  gerettet 
durch  das  Bad  der  Wiedergeburt?  Wenn  Du  einwendest,  er  rede 
von  der  Wiedergeburt  durch  den  Geist,  so  ist  das  richtig,  aber  er 
erwähnt  doch  auch  das  Zeichen.  Was  ist  mehr  Gottes  Sache,  als 
uns  zum  geistlichen  Leben  wiederzugebären?  Und  doch  tut  er  das 
nach  der  Schrift  durch  den  Dienst  des  Menschen."  „Wenn  Du  in 
den  Sakramenten  bloße  Zeichen  siehst,  so  weiche  ich  darin  von  Dir 
ab,  denn  Brot  und  Wein  und  Wasser  in  den  Sakramenten  haben 


1)  CR.  XIII.  p.  115. 

2)  Haller  an   Bullinger  C.  R.   XIII.  p.   126.     Calvin  an  Bullinger   C.  R. 
XIII.  p.  164. 


6 2  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


dieselbe  Bedeutung,  wie  das  Metall  bei  den  Münzen.  Die  Form, 
nicht  der  Stoff  macht  doch  die  Münze.  Bei  den  Sakramenten  ist  das 
erste  und  allein  Maßgebende  die  Wirksamkeit  des  Geistes  und  darf 
darum  nie  übersehen  werden,  wenn  es  sich  um  die  Frucht  jener 
handelt.  Was  den  Ausdruck  anbetrifft,  so  wollte  Lukas  ohne 
Zweifel  die  Kraft  des  heiligen  Geistes  verbinden  mit  dem  äußeren 
Symbol,  als  er  schrieb,  daß  der  Geist  gegeben  wurde  durch  Auf- 
legen der  Hände." 

Dem  Widerspruch  Bullingers  gegen  seine  Behauptung,  daß  die 
Sakramente  darreichen,  was  sie  darstellen,  und  daß  wir  des 
Fleisches  und  Blutes  Christi  teilhaftig  werden,  gab  er  unter  anderm 
zu  bedenken:  „Mit  Recht  leugnest  Du,  daß  Christus  und  seine 
Gaben  in  den  Zeichen  enthalten  wären  wie  in  Gefäßen.  Aber  Du 
hast  keine  Ursache,  hinter  meinen  Worten  solche  Ungeheuerlich- 
keit zu  vermuten.  Wir  stimmen  überein  in  dem  Grundsatz,  daß  die 
Zeichen  nicht  inhaltlos  sind.  Wir  hätten  dann  nur  noch  die  Kraft 
und  Wirkung  der  Zeichen  zu  bestimmen.  Meine  Antwort  mißfällt 
Dir  wegen  des  Ausdrucks :  ,,was  das  Zeichen  in  sich  schließt".  Aber 
mir  lag  es  fern,  Christi  Leib  in  das  Brot  einzuschließen.  Was  be- 
deutet denn  das  Wort  „enthalten",  „in  sich  schließen"  ?  Die  Taufe 
enthält,  sage  ich,  was  sie  darstellt,  nicht  weil  sie  etwa  ein  Behältnis 
für  die  geistliche  Gnade  sei,  sondern  weil  der  Herr  durch  die  Kraft 
seines  Geistes  innerlich  ausführt,  was  er  durch  das  äußere  Zeichen 
bezeugt,  so  daß  die  Seele  durch  Christi  Blut  nicht  weniger  gereinigt 
wird  als  der  Körper  durch  das  Wasser.  Ebenso  beim  Abendmahl : 
nicht  ist  in  Brot  und  Wein  Christi  Leib  und  Blut  enthalten,  sondern 
in  diesem  Symbol  ist  die  Gemeinschaft  der  beiden  ent- 
halten, weil  Christus  sich  ebenso  wahrhaftig  uns  zu  genießen  gibt, 
als  der  Diener  Brot  und  Wein  darreicht." 

Von  Zwingli  und  Luther  her  war  die  Aufmerksamkeit  zu  ein- 
seitig auf  die  Einsetzungsworte  und  die  Zeichen  beim  Abendmahl 
gelenkt  worden.  Auch  Bullinger  hatte  sich  von  dieser  Einseitigkeit 
noch  nicht  freigemacht.  Calvin  dagegen  zog  die  ganze  Handlung 
in  den  Kreis  seiner  Gedanken  und  stellte  Bullinger  vor :  „Das 
Wesen  des  Abendmahls  enthält  zweierlei.  Du  übergehst  das  eine, 
daß  nämlich  Christus,  wie  er  einmal  für  uns  hingegeben  ist,  so  uns 
täglich  dargeboten  wird,  damit  wir  eins  seien  mit  ihm.  Natürlich 
erkennst  Du  das  als  wahr  an.  Aber  wenn  es  sich  um  die  dar- 
gestellte Sache  handelt,  muß  beides  klar  betont  werden :  daß  wir 
einmal  durch  Christi  Opfer  erlöst  sind,  und  daß  derselbe  Leib,  in 


Von  W.  Kolfhaus.  63 


dem  das  Opfer  gebracht  ist,  uns  heule  zur  Speise  sei,  weil  Christus 
durch  den  Glauben  in  uns  wohnt  und  uns  der  Gemeinschaft  seines 
Leibes  einverleibt."  x 

Calvins  stellenweise  erregte  und  scharfe  Erwiderung  gab  nichts 
auf  von  den  durch  Bullinger  gerügten  Gedanken  und  Ausdrücken.2 
Gerade  weil  er  mit  Bullinger  einig  war  in  dem  Bestreben,  nicht  in 
den  Fehler  Butzers  zu  geraten  und  Differenzen  in  der  Sache  hinter 
vieldeutigen  Formeln  zu  verbergen,  konnte  er  sich  nicht  zu  Kon- 
zessionen gegen  seine  Überzeugung  verstehen.  Um  zur  Konkor- 
die  zu  gelangen,  war  die  einzige  Möglichkeit  die,  den  anderen  zu 
überzeugen  und  durch  vollste  Offenheit  jedes  Mißverständnis  oder 
halbe  Mißverständnis  zu  entfernen. 

Calvin  begleitete  am  21.  Januar  1549  seine  Responsio  mit 
einem  Schreiben,"  in  dem  er  um  Bullingers  Vertrauen  in  seine 
Lauterkeit  kämpfte :  „Das  kann  ich  von  Dir  mit  Recht  verlangen, 
daß  Du  nicht  leeren  Vermutungen  bei  Dir  Raum  gewährst.  An 
vielem,  das  sonst  gar  keine  Schwierigkeiten  hat,  stößt  Du  Dich 
ohne  Grund,  weil  Du  den  meisten  meiner  Ausführungen  einen  an- 
deren Sinn  gibst  als  nötig  ist.  Das  macht  Deine  vorgefaßte  Mei- 
nung über  mich,  daß  Du  mir  aufbürdest,  woran  ich  nie  gedacht 
habe.  Da  Du  ferner  das  einzige  Ziel  hast,  Deine  Meinung  überall 
zu  wahren,  legst  Du  bisweilen  mehr  auf  das  Wert,  was  mit  ihr 
stimmt,  als  auf  das,  was  wahr  ist.  Wenn  Du  Einfachheit  wünschest, 
so  liebe  ich  sicherlich  keine  Vertuschungen  und  Umschweife. 
Wenn  Du  eine  freie  Aussprache  der  Wahrheit  willst,  so  ist  es  mir 
nie  in  den  Sinn  gekommen,  auf  der  Menschen  Beifall  einzurichten, 
was  ich  euch  geschrieben  habe.  Wenn  einige  Luthern  und  andern 
geschmeichelt  haben,  ich  gehöre  nicht  zu  ihnen.  Muskulus  weiß  am 
besten,  daß  ich  frei  war,  als  auch  Beherzte  sich  fürchteten.  Hätte 
nicht  bisher  ein  grundloses  Mißtrauen  geherrscht,  so  wäre  schon 
längst  kaum  noch  ein  Streitpunkt  gewesen.  Im  übrigen  berührt 
unsere  Meinungsverschiedenheit  unser  persönliches  Verhältnis 
nicht,  ebenso  wie  ich  bei  aller  Freiheit,  von    Butzer  abzuweichen, 


1)  C.  R.  VII.  p.  693,  701  ff. 

2)  Die  Herausgeber  der  Calvini  responsio  ad  annotationes  Bul- 
lingeri  beschreiben  in  den  Prolegomena  C.  R.  VII  p.  XLVI  die  Responsio 
als  übermäßig  scharf  neben  Bullingers  bescheidenen  Einwendungen.  I1 
Beschreibung  trifft  nicht  zu.  Die  Responsio  verläßt  den  Ton  sachlicher 
Erörterung  nur  an  wenigen  Stellen.  Übrigens  ermangeln  auch  Bullingers 
Annotationes  der  Schärfe  nicht. 

3)  C.  R.  XIII.  p.   164. 


£  a  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


mit  ihm  Freundschaft  halte.  Nur  wenn  Du  in  Deinem  Briefe 
bemerkst,  die  Sache  werde  wohl  stehen,  sobald  ihr  sähet,  daß  man 
euch  nicht  für  Feinde  halte,  so  ist  das  nicht  freundlich;  ich  weiß 
auch  nicht,  woraufhin  Du  das  vermutest.  Ich  wenigstens  bin  mir 
bewußt,  freundlich  über  euch  zu  denken  und  zu  reden.  Es  kann 
ja  sein,  daß  ich  in  Privatbriefen  an  Freunde  einzelnes  getadelt,  oder 
wenn  sie  etwas  tadelten,  nicht  verhehlt  habe,  daß  es  Tadel  ver- 
diene. Aber  nie  fehlte  das  Lob,  das  alle  Bitterkeit  mildern  und  von 
einem  aufrichtig  zugeneigten  Sinn  Zeugnis  geben  sollte." 

In  der  Tat  hatte  Bullingers  Zurückhaltung  darin  ihren  Grund, 
daß  er  hinter  Calvins  Formeln  mehr  vermutete,  als  ihr  Autor  hin- 
einlegen wollte.  Je  mehr  er  aus  Calvins  Erläuterungen  diesen 
Irrtum  erkannte,  desto  bereiter  wurde  er,  seinen  Widerstand  gegen 
die  Formeln  Calvins  aufzugeben.  Zu  der  allmählichen  Wendung 
Bullingers  hat  vermutlich  ein  gutes  Teil  beigetragen  das  Glaubens- 
bekenntnis über  das  Abendmahl,  das  sein  Freund  Muskulus  vor 
seiner  hauptsächlich  von  ihm  und  Haller  veranlaßten  Berufung  nach 
Bern  dem  Berner  Rat  vorzulegen  hatte,  und  das  sehr  in  calvini- 
schem Geist  gehalten  war.1 

Von  Gewicht  war  ihm  auch  das  Zeugnis,  das  in  dieser  Zeit 
der  schwebenden  Verhandlungen  Haller  ihm  über  Calvin  schrieb. 
Haller  erzählte  Bullinger  von  einem  Besuch  in  Genf :  „Calvin  nahm 
mich  sehr  freundlich  bei  sich  auf  und  rief  zugleich  alle  Brüder  und 
Prediger  zusammen.  Ich  habe  mit  ihm  vieles  ganz  freimütig  ver- 
handelt. Er  wäre  zur  Synode  —  der  damals  bevorstehenden  Synode 
der  Berner  und  Waadtländischen  Geistlichkeit  —  gekommen.  Aber 
ich  teilte  ihm  die  Beschlüsse  unsrer  Obrigkeit  mit.  Es  tat  ihm 
zwar  leid,  doch  konnte  er  den  Beschluß  nicht  ganz  mißbilligen.  Er 
ist  ein  frommer  und  gelehrter  Mann,  der  in  Frankreich  sehr  viel 
bedeutet,  aber  sehr  unruhigen  Geistes.  Mit  ihm  wird  man,  wie  es 
scheint,  dann  am  besten  fertig,  wenn  man  ihm  frei  heraussagt,  was 
uns  an  ihm  gefällt  und  was  nicht,  und  wieweit  wir  ihm  zustimmen 
können  oder  nicht.  Er  gibt  sich  im  Verkehr  freundlich  und  zu- 
gänglich." 2 

Was  bei  Bullinger  am  meisten  gewirkt  hat,  Calvins  freimütige, 
klare  Äußerungen  oder  Hallers  treffende  Charakterisierung  des  Re- 
formators oder  das  mit  Calvin  harmonierende  Bekenntnis  des  Mus- 
kulus läßt  sich  nicht  entscheiden.  Jedenfalls  war  seine  Tonart  schon 


i)  C.  R.  XIII.  p.  204. 
2)  C.  R.  XIII.  p.  213. 


Von  W.  Kolfhaus.  fi^ 


im  nächsten  Brief  vom  15.  März  1549  eine  wesentlich  andere. 
„Durch  Deine  Antwort  hast  Du  die  Sache  bei  mir  einen  großen 
Schritt  gefördert.  Jetzt  verstehe  ich  Dich  aus  Deinem  letzten 
Schreiben  besser  als  bisher.  Wundere  Dich  nicht  darüber,  daß  ich 
so  derb  an  Dich  geschrieben  habe.  Wir  haben  heutzutage  hoch- 
gelehrte Männer,  die  ihre  Überzeugungen  häufiger  ändern  als  gut 
ist.  Ich  meinte  nicht,  daß  Du  zu  diesen  zähltest,  aber  ich  wollte  mit 
deutlichen  Worten  von  Dir  hören,  was  ich  gehört  habe.  Übrigens 
hege  ich  über  Dich  keine  ungünstige  Meinung,  verzeihe  mir  meine 
Derbheit.  Ich  suche  meine  Ansichten  nur  so  weit  zu  behaupten  als 
sie  wahr  sind,  und  Du  sagst  auch  nicht,  daß  sie  falsch  seien.  Du 
bemerkst,  daß  Dein  Dissensus  von  uns  kein  Dissensus  des  Herzens 
und  der  Gesinnung  ist.  Ich  sehe  gar  nicht,  warum  Du  überhaupt 
von  uns  abweichst.  Wenn  Du  meine  Antwort  gelesen  hast,  wirst 
Du  hoffentlich  keinen  Unterschied  mehr  finden."  „Ich  bin  zu- 
frieden damit,  daß  Du  uns  aufrichtig  liebst.  Möchten  in  Zukunft 
alle  Herausforderungen  abgetan  sein,  und  wir  uns  gegenseitig  herz- 
lich lieben  und  die  Gemeinden  erbauen."  1 

Zugleich  mit  diesem  Brief  übergab  Bullinger  dem  Freunde 
seine  Anmerkungen  zu  dessen  Responsio,  aus  denen  erhellt,  daß  er 
seinen  bisherigen  Widerstand  gegen  Calvins  Formulierungen 
fahren  ließ  und  übereinstimmend  mit  Calvin  bezeugte :  „In  der 
Abendmahlsfeier  wirkt  der  Herr  innerlich  durch  seines  Geistes 
Kraft,  was  er  äußerlich  durch  das  Symbol  versiegelt.  Im  Herzen 
gibt  er  sich  uns  zu  genießen  und  erneut  und  beständigt  unsere  Ge- 
meinschaft an  ihm ;  äußerlich  bezeugt  er  uns  das  und  stellt  es  dar."  - 

Bevor  die  Erwiderung  Bullingers  nach  Genf  gelangte,  hatte 
Calvin  im  Namen  der  Genfer  Prediger  ihr  Bekenntnis  über  das 
Abendmahl  der  im  März  1549  zusammentretenden  Berner  Synode 
überreicht  in  der  Hoffnung,  die  Zustimmung  derselben  zu  erlangen. 
Dieses  in  20  Sätzen  zusammengefaßte  Bekenntnis  verdient  be- 
sondere Erwähnung,  weil  es  —  teilweise  wörtlich  —  die  Grundlage 
des  einige  Wochen  nachher  zustande  gebrachten  Consensus  mit 
Zürich  bildet.  Es  enthält  die  Sakramentslehre  Calvins,  wie  sie  uns 
in  den  Verhandlungen  mit  Bullinger  begegnete.3  Jon.  Haller.  das 
vorsichtige  Haupt  der  Berner  Kirche,  legte  die  Artikel  Calvins  der 
Synode  gar  nicht  vor,  weil  er  bei  dem  gegen  Calvin  in  Bern  herr- 


1)  CR.  XIII.  P.  221. 

2)  C.  R.  VII.  p.   709  ff. 

3)  CR.  VIT.  p.  717  ff.,  Proleg.  p.   XLVI. 

Calvinstuclicn. 


66  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


sehenden  Haß  nur  größeren  Streit  durch  Vorlage  der  Artikel  be- 
fürchtete, und  weil  er  selbst  sich  nicht  mit  den  Erklärungen  Calvins 
in  allen  Stücken  befreunden  konnte.  Er  schrieb  Calvin,  daß  er 
seine  Lehre  zwar  nicht  für  verkehrt  halte,  aber  etliche  Ausdrücke 
seien  doch  nicht  so  klar  und  einfach,  daß  man  sie  in  seiner  Berner 
Kirche  richtig  verstehen  werde.1 

Hallers  Bemerkungen  zu  Calvins  Bekenntnis  2  verrieten  keinen 
grundsätzlichen  Gegensatz,  sondern  nur  die  Sorge,  daß  einzelne 
Ausdrücke  bei  der  gegenwärtigen  Stellung  der  Parteien  in  Bern  zu 
Mißverständnissen  möchten  Anlaß  bieten.  Calvins  Urteil  bezeich- 
nete die  Ausführungen  Hallers  als  unbedeutend  und  unnütz.3  Weder 
er  noch  Bullinger  ließen  sich  durch  solche  Bedenken  auf  dem  Weg 
zum  nahen  Ziel  aufhalten.  Die  in  Bern  erfahrene  Abweisung  machte 
Calvin  nur  um  so  eifriger  in  dem  Streben,  endlich  mit  Zürich  zum 
Abschluß  zu  gelangen.  Am  7.  Mai  drückte  er  Bullinger  seine  tiefe 
Befriedigung  aus  über  das  gewonnene  Resultat  und  kündigte  ihm 
an,  daß  er  gerne  durch  eine  persönliche  Aussprache  die  letzten 
Hindernisse  wegräumen  wolle.  „Kaum  je  habe  ich  von  Dir  einen 
erwünschteren  Brief  empfangen ;  er  hat  nicht  wenig  dazu  bei- 
getragen, meinen  großen  Schmerz  zu  lindern,  den  mir  der  Tod 
meiner  Gattin  ■ —  -f-  6.  April  1549  —  zugefügt  hat.  Am  meisten 
freut  es  mich,  daß  wir  nun  auch  in  den  Worten  fast  ganz  überein- 
stimmen. Wenn  Du  es  für  zweckmäßig  hältst,  will  ich  versuchen, 
zu  euch  zu  kommen,  damit  Du  über  alle  meine  Gedanken  völlige 
Klarheit  erlangst."  4 

Nur  der  nächste  Freundeskreis  Calvins  wußte,  wie  weit  die  ver- 
traulichen Verhandlungen  mit  Bullinger  gediehen  waren.  Nicht 
einmal  als  er  am  20.  Mai  vom  Genfer  Rat  Urlaub  zu  der  Reise  nach 
Zürich  erbat,  teilte  er  den  Hauptzweck  seiner  Reise  mit,  sondern 
gab  an,  er  wolle  die  Züricher  Brüder  bewegen,  das  von  ihm  im 
Interesse  der  Evangelischen  in  Frankreich  gewünschte  Bündnis 
Zürichs  mit  dem  französischen  König  beim  dortigen  Rat  zu  befür- 
worten.5 Ohne  Bullingers  Antwort  abzuwarten,  der  von  der  Reise 
abriet  und  lieber  bei  dem  bisher  so  erfolgreichen  Weg  der  brief- 
lichen  Auseinandersetzung  bleiben  wollte,   brach   er  plötzlich   von 


1)  C.  R.  XIII.  p.  240. 

2)  C.  R.  VII.  p.  723  ff. 

3)  Calvin  an  Vi.ret  C.  R.  XIII.  p.  263. 

4)  C.  R.  XIII.  p.  266. 

5)  Calvin  an  Bullinger  C.  R  XIII.  p.  266.     Bullinger  an  Calvin   C.  R. 
XIII.    p.   278. 


Von  W.  Kolfhaus.  67 


Genf  auf  und  eilte  in  Farels  Regleitung  naeh  Zürich.  Nichl  einmal 
llaller  in  Bern  wurde  unterwegs  begrüßt.  Über  diese  Reise  nach 
Zürich  und  den  Abschluß  des  Consensus  besitzen  wir  den  eigen- 
händigen Bericht  Calvins  in  einem  Briefe  an  Mykonius  in  Basel 
vom  26.  November  1549. '  „Zwischen  mir  und  Bullinger  ist  diese 
Frage  vertraulich  hin  und  her  erwogen  worden.  Dann  drang  Farel, 
von  der  Hoffnung  auf  Einigung  erfüllt,  darauf,  daß  ich  persönlich 
in  Zürich  die  Angelegenheit  betreiben  solle.  Bei  meiner  zur 
Furchtsamkeit  neigenden  Naturanlage  gelangte  ich  erst  zum  Ent- 
schluß, als  sich  wider  Erwarten  eine  andere  Veranlassung  —  das 
oben  erwähnte  französische  Bündnis  —  fand.  Ich  habe  die  Reise 
plötzlich  unternommen,  zwei  Tage  zuvor  dachte  ich  noch  nicht 
daran.  Auf  der  Durchreise  durch  Neuenburg  habe  ich  Farel  mit 
Mühe  überredet,  mit  mir  zu  versuchen,  ob  wir  zu  einer  heiligen 
Einigung  gelangen  könnten.  Gegen  meine  und  auch  der  Züricher 
Hoffnung  segnete  Gott  unsere  erste  Zusammenkunft  so,  daß  binnen 
zwei  Stunden  die  Vereinbarung  fertig  war."  Nachdem  man  in  der 
Sache  einig  geworden  war,  und  in  längeren  Besprechungen  sich 
über  die  wichtige  Frage  der  Herausgabe,  der  Redaktion  und  Ver- 
breitung des  Consensus  beraten  hatte,  schieden  die  beiden  Reisen- 
den hocherfreut  darüber,  daß  nun  die  Einheit  der  schweizerischen 
Kirchen  vor  aller  Welt  kundgetan  sei. 

Verweilen  wir  noch  einen  Augenblick  bei  einer  Übersicht  und 
Beurteilung  des  Consensus,  dessen  vollständiger  Titel  lautet : 
„Gegenseitiges  Einverständnis  in  betreff  der  Sakramente  zwischen 
den  Dienern  der  Kirche  zu  Zürich  und  Johann  Calvin,  Diener  der 
Kirche  zu  Genf."  -  In  26  Artikeln  ist  der  ganze  Stoff  abgehandelt. 
Das  Dokument  beginnt  mit  der  Erklärung,  daß  Christus  das  A  und 
O  des  Evangeliums  ist.  Demgemäß  ist  auch  bei  Feststellung  der 
Art,  Kraft,  Aufgabe  und  Frucht  der  Sakramente  auszugehen  von 
Christus,  dem  Hohenpriester  und  König,  Art.  I — 4.  Er  teilt  sich  uns 
mit,  indem  er  durch  seinen  Geist  in  uns  wohnt  und  die  Gläubigen 
aller  seiner  Güter  teilhaftig  macht.  Uns  dies  zu  bezeugen,  ist  uns 
die  Predigt  des  Worts  und  der  Gebrauch  der  Sakramente  ver- 
ordnet, Art.  5 — 6.     Der  Zweck  der  Sakramente  ist  nicht  nur,  daß 


1)  C.  R.  XIII.  p.  456. 

2)  Die  Inhaltsangabe  schließt  sich  an  an  den  endgültig  festgestellten 
Text  und  läßt  die  verschiedenen  Redaktionen  außer  Betracht.  Eine  klare 
Übersicht  über  die  Abänderungen  und  die  endgültige  Textgestaltung  liefert 
C.  R.  VII.  p.   735  ff.   mit   den  Anmerkungen. 

5 


(jg  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

sie  Zeichen  und  Merkmale  des  christlichen  Bekenntnisses  und  der 
christlichen  Gemeinschaft   sind  oder  Übungen  des   Glaubens   oder 
Motive    des    Dankes    oder    Verpflichtungen    zu    einem    frommen 
Leben,  sondern  vor  allem  bezeugt,  vergegenwärtigt  und  versiegelt 
uns  Gott  durch  sie  seine  Gnade.     Was  die  Sakramente  den  Augen 
und  den  anderen  Sinnen  darstellen,  gewährt  Gott  innerlich  durch 
seinen  Geist,  so  daß  wir  Christi  teilhaftig  werden  als  des   Quells 
aller  guten  Gaben,  daß  wir  durch  die  Wohltat  seines  Todes  Gott 
versöhnt  und  durch  den  Geist  zu  einem  heiligen  Leben  erneuert 
werden,   daß   wir    Gerechtigkeit    und    Heil    erlangen    und    zugleich 
Dank   sagen  für   diese   Wohltaten,   die   uns   einst   am    Kreuz    dar- 
gereicht und  durch  den  Glauben  von  uns  empfangen  sind  und  die 
wir  täglich  durch  den  Glauben  empfangen,  Art.  7 — 8.     So  gewiß 
also  zwischen  Zeichen  und  Sache   zu  unterscheiden  ist,   so   wenig 
dürfen  sie  auseinandergerissen  werden.     Die  Zeichen  und  die  Ver- 
heißungen gehören  zusammen.     In  dem  Maße,  als  unser  Glaube 
die  im  Sakrament  dargebotene   Verheißung  ergreift,   beweist   sich 
die  Kraft  und  Wirkung  der  Sakramente.     Das  Wasser,  das  Brot 
und  der  Wein  an  sich  bieten  uns  keineswegs   Christus  dar,  noch 
machen  sie  uns  seiner  geistlichen  Gaben  teilhaftig,  vielmehr  ist  auf 
die  Verheißung  zu  achten,  deren  Aufgabe  es  ist,  uns  auf  dem  ge- 
raden Weg  des  Glaubens  zu  Christus  zu  führen,  Art.  9 — 10.   Darum 
hängt  die  Heilsgewißheit  nicht  an   den  äußeren   Zeichen,  die  von 
Christus  getrennt  nichts  bedeuten.    Was  uns  ferner  die  Sakramente 
an  Gütern  vermitteln,  tun  sie  nicht  durch  eine  ihnen  innewohnende 
Kraft,  sondern  Gott  allein  handelt  durch  seinen  Geist ;  sie  sind  zwar 
Organe,  durch  die  Gott,  was  ihm  gefällt,  wirksam  handelt,  aber  so, 
daß  das  ganze  Werk  unserer  Errettung  ihm  allein  verdankt  wird. 
„Wir  erklären  also,   daß   allein   Christus   es   ist,   der   uns   innerlich 
wahrhaft  tauft,  uns  beim  Abendmahl   seiner  teilhaftig  macht   und 
erfüllt,  was  die  Sakramente  abbilden,  und  daß  er  sich  dieser  Hilfs- 
mittel bedient,  so  daß  die  ganze  Wirksamkeit  Sache  seines  Geistes 
ist",  Art.  11 — 15.     Ist  aber  die  Gnade  nicht  an  das  Sakrament  ge- 
bunden, so  folgt,  daß   die  Wirkung  der  Sakramente  sich  nur  auf 
die  Erwählten,  die  Gläubigen  erstreckt.     Der  Glaube  empfängt  im 
Sakrament  zwar  nichts,  was  er  nicht  auch  sonst  hat,  aber  er  wird 
durch  die   Sakramente   befestigt   und   gemehrt,   Art.    16 — 19.      Be- 
sonders stark  zeigt  sich  der  Calvinische   Einschlag  Art.  20 :   „Der 
Nutzen,  den  wir  von  den  Sakramenten  haben,  darf  nicht  beschränkt 
werden  auf  die  Zeit,  in  der  sie  uns  zugedient  werden,  als  ob  das 


Von  \v.  Koin  6g 


sichtbare  Zeichen  in  demselben  Augenblick,  in  dem  es  dargeb 
wird,  Gottes  Gnade  mitbrächte.  Denn  die  in  der  frühesten  !  indheil 
Getauften  werden  von  Gotl  erst  im  Jünglings-  oder  gar  im  Greisen 
alur  wiedergeboren.  So  erstreckt  sich  der  Nutzen  der  Taufe  über 
das  ganze  Leben,  weil  die  in  ihr  vermittelte  Verheißung  allezeit  in 
Kraft  bleibt.  Ähnlich  kann  der  Brauch  des  Abendmahls  zunächst 
bei  der  Handlung  selbst  wegen  unserer  Gedankenlosigkeit  und 
Lässigkeit  uns  zuweilen  mir  wenig  nützen,  bringt  aber  später  seine 
Frucht."  Art.  21 — 26  endlich  beschäftigen  sich  damit,  die  Lokal- 
präsenz auszuschließen,  die  signifikative  Bedeutung  der  Ein- 
setzungsworte festzustellen,  die  Transsubstantiation,  die  Ubiquitäl 
des  Leibes  Christi  und  die  Anbetung  der  Zeichen  abzuwehren. 

Welche  Bedeutung  hat  der  Consensus  Tignrinus  für  die  refor- 
mierte Kirche  und  Theologie?  Kirchlich  ist  er  das  Einheitsband 
für  die  deutschen  und  französischen  und  damit  auch  für  die  übrigen 
reformierten  Kirchen  der  Welt  geworden;  was  auseinander  zu  gehen 
drohte,  hat  er  zusammengehalten.  Theologisch  bedeutete  er  den 
grundsätzlichen  Verzicht  auf  den  hergebrachten  Zwinglianismus. 
Mit  dem  Zugeständnis  der  Züricher,  daß  in  den  Sakramenten  ge 
währt  wird,  was  sie  abbilden,  war  Zwingiis  und  auch  Bullingers 
These  überwunden,  daß  sichtbare  Dinge  nie  unsichtbare  Güter  zu 
übermitteln  vermöchten,  und  der  wichtigsten  Tendenz  Calvins 
Raum  gegeben.  Die  alten  Gedanken  Zwingiis,  daß  z.  B.  das  Abend- 
mahl ein  Bekenntnis-  und  Yerpflichtungszeichen  sei,  werden  eben 
erwähnt,  treten  aber  völlig  in  den  Hintergrund  vor  dem  Haupt- 
gedanken Calvins  von  der  geistlichen  Gemeinschaft  mit  Christus.' 
Der  neueste  Biograph  Bullingers,  Gustav  von  Schultheß-Rechberg 
sagt  mit  Recht:  ., Calvin  vermochte  es,  dem  Abendmahl  auf  Grund 
der  symbolischen  Fassung  eine  reichere  religiöse  Beziehung  zu 
geben,  als  es  innerhalb  der  Zwinglischen  Tradition  möglich  war. 
Bullinger  konnte  zustimmen,  da  hier  der  geistige  Charakter  der 
Religion,  der  ihm  bei  der  lutherischen  Lehre  gefährdet  schien,  voll- 
kommen gewahrt  war."  -  Justus  Heer  :;  behauptet  zwar  in  seinem 
Lebensabriß  Bullingers  unter  Anführung  einiger  calvinisch  lauten- 
der Aussprüche  seines  Helden  über  das  Abendmahl:  „Nur  Un- 
kenntnis kann  den  Satz  aussprechen,  im  Consensus  Tignrinus  habe 
die  deutsche  Schweiz  Calvins  Abendmahlslehre  ansrenommen."  Aber 


1)  Hauck  R.  E.  Christ  s.  v.  „ Züricher  Consensus". 

2)  Schriften    dos   Vereins    für   Reformationsgeschichte    XXII   p.  89fr» 

3)  Hauck  R.  E.  J.    Heer  s.  v.   „Bullinger". 


7o 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


Calvins  Eindruck  war  es  nicht  allein,  daß  seine  Interessen  an  der 
Abendmahlslehre  zu  gebührender  Geltung  gekommen  seien,  auch 
seine  Gegner  in  Bern  und  anderwärts  hatten  denselben  Eindruck, 
daß  an  Stelle  des  Zwinglianismus  etwas  Neues  getreten  sei. 

Eine  andere  Frage  ist  die,  ob  die  Consensusformel  als  ein 
getreuer  Ausdruck  der  Gedanken  Calvins  zu  beurteilen  ist,  oder 
ob  diplomatische  Rücksichten  auf  das  notwendig  zu  erreichende 
Ziel  ihn  veranlaßt  haben,  seine  Abendmahlslehre  hier  und  da  den 
Zürichern  anzupassen.  Die  ursprüngliche,  von  keiner  außer  der 
Sache  liegenden  Rücksicht  bedingte  Form  des  Denkens  Calvins 
haben  wir  vor  uns  im  Genfer  Katechismus  von  1545.  Nun  zeigt 
uns  der  Vergleich  des  Consensus  mit  dem  Katechismus,  daß  in 
den  Grundzügen  Calvin  beide  Male  derselbe  ist.  Der  Katechismus 
definiert  das  Sakrament  als  „die  äußere  Bezeugung  der  göttlichen 
Güte  gegen  uns,  die  geistliche  Gaben  durch  ein  sichtbares  Zeichen 
abbildet,  um  unseren  Herzen  Gottes  Verheißungen  zu  versiegeln, 
damit  ihre  Wahrheit  besser  bestätigt  werde";  und  auf  die  Frage, 
ob  die  sichtbaren  Zeichen  die  Heilsgewißheit  des  Gewissens  be- 
gründen können,  wird  geantwortet,  daß  sie  diese  Kraft  nicht  aus 
sich  bsitzen,  sondern  aus  Gottes  Anordnung,  weil  sie  zu  diesem 
Zweck  eingesetzt  sind ;  daß  also  die  Kraft  und  Wirkung  des  Sakra- 
ments nicht  im  äußeren  Element  eingeschlossen  ist,  sondern  ganz 
aus  Gottes  Geist  stammt.  Was  speziell  das  Abendmahl  anbetrifft, 
so  ist  es  dazu  von  Christus  eingesetzt,  uns  zu  lehren  und  uns 
dessen  gewiß  zu  machen,  daß  unsere  Seelen  durch  die  Gemein- 
schaft seines  Leibes  und  Blutes  ernährt  werden  zum  ewigen  Leben ; 
und  ausdrücklich  wird  hinzugefügt,  daß  wir  diese  Gemeinschaft 
ebenso  im  Wort  haben,  durch  das  Sakrament  werde  sie  nur  be- 
festigt und  vertieft.1  Im  Katechismus  begegnen  uns  also  dieselben 
Gedanken,  die  sich  im  Consensus  durchgesetzt  haben,  in  letzterem 
nur  mit  Erklärungen  versehen,  die  jedes  Mißverständnis  im  luthe- 
rischen Sinn  entfernen.  Beachtenswert  ist  jedoch,  daß  im  Con- 
sensus der  Ausdruck  „Substanz  Christi"  fehlt,  den  Calvin  im  Kate- 
chismus unbedenklich  gebraucht ;  ebenso  fehlt  die  Behauptung  des 
Katechismus,  daß  uns  im  Abendmahl  die  Auferstehung  des  Leibes 
gleichsam  durch  ein  Pfand  zugesichert  wird.  Auch  ist  nicht  zu 
leugnen,  daß  im  Katechismus  viel  unbefangener  vom  geistlichen 
Essen  Christi  geredet  wird  als  im  Consensus.     Dennoch  darf  der 


1)   E.     F.     Karl     Müller.    „Die    Bekenntnisschriften    der     Reformierten 
Kirche"  p.  147  ff. 


Von    W.    Knlfhaus. 


Conscnsus  nicht  als  ein  abgeschwächter  Calvinismus  beurteilt 
werden.  Gerade  der  Vergleich  der  beiden  Schriften  läßt  uns  sehen, 
daß  die  Grundgedanken  Calvins  ohne  Subtraktion  von  Bullinger 
übernommen  sind.  Calvin  ließ  beiseite,  was  ihm  im  Verhältnis 
zur  Hauptsache  nebensächlich  war.  Er  hing  nicht  an  Worten, 
soweit  sie  ihm  nicht  für  das  Verständnis  des  Wesens  der  Sache 
unentbehrlich  erschienen  ;  sein  Auge  verstand  die  Kunst,  das  Große, 
Grundsätzliche  herauszufinden ;  er  hatte  die  Entschlossenheit,  zu- 
frieden zu  sein,  wenn  er  das  ihm  Wesentliche  im  Verständnis  des 
Abendmahls,  die  geistliche  Gemeinschaft  an  Christi  Leib  und  Blut, 
anerkannt  sah.  Was  ihm  als  dies  Wesentliche  im  Consensus  ge- 
wahrt zu  sein  dünkte,  hat  er  in  einem  Brief  an  den  Polen  Susliga 
formuliert,  der  ihm  mitgeteilt  hatte,  daß  manche  ihm  den  Vorwurf 
zu  großer  Nachgiebigkeit  gegen  die  Züricher  machten:  Die  An- 
erkennung folgender  drei  Punkte  sei  ihm  genug:  I.  daß  die  Sakra- 
mente nicht  nur  äußere  Zeichen  des  Bekenntnisses  sind,  sondern 
auch  Zeichen  der  göttlichen  Gnade,  Hilfsmittel  zur  Ernährung  und 
Befestigung  des  Glaubens,  Siegel  auf  die  göttlichen  Verheißungen  ; 
2.  daß  sie  in  der  Weise  äußere  Zeugnisse  und  Pfänder  der  geist- 
lichen Gerechtigkeit  und  des  Lebens  sind,  daß  sie  den  Sinnen  nichts 
anderes  vorstellen,  als  was  Gott  innerlich  durch  die  Kraft  des 
Geistes  gibt,  daß  sie  also  Werkzeuge  sind,  durch  die  der  Geist  seine 
Kraft  in  den  Erwählten  beweist;  3.  daß  es  ihr  Zweck  ist,  uns  zur 
Gemeinschaft  an  Christus  zu  rufen.1 

Welcher  Art  war  die  Beurteilung  und  Aufnahme  des  Consensus 
in  den  übrigen  Kantonen?  Bern  war  die  wichtigste  der  in  Betracht 
kommenden  Städte.  Die  Berner  Prediger  erhielten  sofort  von 
Zürich  eine  Abschrift  des  Dokuments  mit  der  Bitte,  sich  zu  äußern 
und  durch  ihre  Unterschrift  die  Übereinkunft  zu  bestätigen.  Schon 
am  2.  Juni  antworteten  sie  und  bezeugten  zu  dem  Inhalt  der  Ver- 
einbarung ihre  Zustimmung,  weigerten  sich  aber,  ihre  Unterschrift 
zu  geben.  Vor  allem  bewog  sie  zu  ihrer  Zurückhaltung  die  Furcht, 
unter  ihnen  selbst  möchte  die  starke,  extrem  zwinglisch  gesinnte 
Partei  unter  der  Führung  des  einflußreichen  und  gewalttätigen 
Berner  Predigers  Jodokus  Kilchmeyer  zum  Kampf  gereizt  werden. 
Dazu  kam  die  Überzeugung,  der  Berner  Rat  werde  bei  seinem 
Haß  gegen  Calvin  und  alles  von  Calvin  Stammende  ihnen  die 
Unterschrift   unter   das   neue    Bekenntnis    verbieten.      Die    Berner 

1)  CR.  XIII.  p.  534- 


7- 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


Prediger  hatten  das  nicht  ganz  unrichtige  Empfinden,  daß  Calvin 
im  Consensus  andere  Formeln  gebrauche  also  sonst.  „Mögen  die 
Genfer  bleiben  bei  der  hier  bezeugten  Lehre  und  von  jenen  doppel- 
sinnigen Redensarten  ablassen,  deren  sie  sich  bisher  bedient  haben. 
Mögen  sie  aufhören,  unsere  Lehre  zu  verleumden.  Dadurch  wird 
unsere  Übereinstimmung  sicherer  erklärt  werden  als  durch  baldige 
Herausgabe  eines  Bekenntnisses,  von  dem  es  noch  zweifelhaft  ist, 
ob  jene  sich  in  Wort  und  Schrift  immer  nach  ihm  richten  werden."  x 
Selbst  eine  abermalige  persönliche  Verwendung  Bullingers  bei  seinen 
Freunden  Haller  und  Muskulus  vermochte  nicht,  sie  von  dem  ein- 
mal gefaßten  Beschluß  abzubringen.  Wohl  schrieb  Muskulus :  ,  Je 
mehr  ich  die  einzelnen  Sätze  der  Übereinkunft  lese  und  bedenke, 
desto  herzlicher  danke  ich  Gott,  daß  nun  aller  Streit  beendigt  ist. 
Ich  möchte  nichts  geändert,  hinzugetan  und  ausgelassen  haben  und 
spreche  Dir  ausdrücklich  diese  meine  Überzeugung  aus" ;  aber  die 
Veröffentlichung  des  Consensus  widerriet  auch  er.  Auch  an  Calvin 
schrieb  Haller  und  versicherte  ihm,  daß  er  für  seine  Person  den 
Consensus  wohl  unterschreiben  könne,  aber  aus  den  bekannten 
Gründen  sei  an  die  Unterschrift  der  Berner  Kirche  nicht  zu  denken. 
Trotz  eifrigster  Bemühungen  Bullingers  und  Calvins  gelang  es 
nicht,  den  Widerstand  zu  beseitigen ;  sie  mußten  sich  mit  der  Er- 
klärung begnügen,  daß  ihr  Bekenntnis  der  Wahrheit  gemäß  sei, 
und  ohne  Bern  die  Herausgabe  vorbereiten. 

Die  Zustimmung  der  übrigen  Kantone  erfolgte  ohne  Schwierig- 
keit. In  Basel  schien  Mykonius  anfangs  Schwierigkeiten  zu  er- 
heben, doch  waren  bei  ihm  nicht  so  sehr  sachliche  Gründe  vor- 
handen als  der  Ärger,  daß  Basel  bei  den  Verhandlungen  nicht 
hinzugezogen  war,  wie  er  Bullinger  klagte :  „Uns  tat  wehe,  daß 
unsere  Kirche  übergangen  wurde,  als  ginge  sie  die  Wahrheit  nicht 
an.  Unsere  Kleinheit  konnte  verachtet  werden,  unser  Eifer  für 
die  Wahrheit  hätte  nicht  verachtet  werden  dürfen."  - 

Prinzipielle  Bedenken  zwinglischer  Tradition  trug  Coelius  Se- 
eundus  Curio  Bullinger  vor :  „An  einigen  Stellen  habe  ich  fremden 
Sauerteig  bemerkt.  Die  Sakramente  werden  Anhängsel  des  Evan- 
geliums, Siegel,  Organe  genannt ;  sie  sollen  die  Gemeinschaft  mit 
Christus  befestigen,  beständigen  und  erneuern.  Es  heißt,  durch 
sie  würden  gewisse  Gaben  vermittelt,  Christus  wachse  gewisser- 
maßen in  uns,  wenn  wir  sie  gebrauchen;  der  Nutzen,  der  vielleicht 

i)  C.  R.  XIII.  p.  287,  290,  303,  312,  315,  316. 
2)  CR.  XIII.  p.  385. 


Von  W.   Kolfhaus.  73 


beim   Gebrauch  des  Sakraments   noch   nicht   da  ist,   zeige   sich   in 
irgend   einer  späteren   Zeit." 

Schaffhausen  dagegen,  St.  Gallen,  Neuenburg  unterschrieben 
sofort,  zuletzt  traten  sämtliche  Schweizerstädte  nebst  Graubünden 
und  Mühlhausen  bei,  und  selbst  Malier  bezeugte  Calvin  im  Namen 
der  Berner  Kollegen :  „Es  ist  uns  nie  in  den  Sinn  gekommen,  an 
dem  Lehrinhalt  des  Consensus  zu  tadeln;  vielmehr  danken  wir  der 
Gnade  Gottes,  daß  endlich  zwischen  euch,  die  ihr  die  berühmt« 
Diener  Gottes  und  der  Kirche  in  unserer  Zeit  seid,  jeder  Z 
spalt  aufhört,  und  die  beste  Eintracht  in  diesem  Lehrstück  er- 
reicht ist.  Wir  bitten  Gott  innigst,  er  möge  solche  Eintracht  auch 
den  noch  übrigen  Kirchen  gewähren."  l  In  ähnlichem  versöhn- 
lichem Ton  schrieb  das    Berner  Ministerium  nach  Zürich.2 

Am  30.  September  1549  teilte  Bullinger  dem  Genfer  Freunde 
das  bis  dahin  gewonnene  Resultat  sehr  erfreut  mit  und  schlug  ihm 
vor,  obwohl  noch  nicht  sofort  zum  Druck  zu  schreiten  sei,  daß  die 
Brüder  in  Frankreich  und  andere  hervorragende  Männer  von  dem 
Consensus  Kenntnis  bekommen  sollten,  ebenso  wie  er  ihn  ver- 
traulich seinen  deutschen  und  englischen  Freunden  znsenden  wolle. 
Von  allen  Seiten  gelangten  dann  an  Bnllinger  und  Calvin  zu- 
stimmende Schreiben.  Besonders  erfreut  rief  der  alte  lebensmüde 
Butzer  aus  England  seinem  treuen  Schildknappen  in  Genf  zu ;  „Ich 
danke  Gott  sehr,  daß  ihr  die  drei  wichtigsten  Stücke  über  den 
eigentlichen  Gebrauch  der  Sakramente,  über  ihre  Wirkung  und 
über  das  Essen  Christi  durch  den  Glauben  durchgesetzt  habt;  ich 
bin  in  der  ganzen  Sache  mit  euch  einig." 

Erst  im  Februar  1551  schritt  man  in  Zürich  und  Genf  zum 
Druck  und  konnte  im  März  die  gedruckten  Exemplare  den  Freun- 
den überreichen.  Dem  sterbenden  Vadian  sandte  Bullinger  das 
Büchlein  mit  den  Worten :  „Ich  sende  Dir  unsre  Vereinbarung  mit 
dem  teuern  Bruder  Calvin  und  zweifle  nicht,  daß  Du  große  Freude 
daran  haben  wirst.  Vor  der  Herausgabe  hat  eine  Anzahl  bedeu- 
tender Männer  in  England,  Preußen,  Frankreich,  Italien  und  Un- 
garn sie  gesehen  und  gebilligt.  Jetzt  endlich  schien  es  uns  an  der 
Zeit,  sie  herauszugeben,  da  unsere  Gegner  allerlei  gegen  uns 
planen."  3    Die  Hoffnung,  die  Bullinger  an  das  gemeinsame  Werk 


1)  CR.  XIII.  P.  3S5. 

2)  C.  R.   XIII.   p.    391. 

3)  C  R.  XIV.  p.  70. 


JA  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

knüpfte,  hat  ihn  nicht  betrogen :  „Ans  vielen  Zeichen  schließe  ich, 
schrieb  er  dankbar  an  Calvin,  daß  die  Herausgabe  unserer  Über- 
einkunft reiche  Frucht  bringen  wird."  * 

VI. 

Bullinger  in  Calvins  Kampf  um  die  Prädestinationslehre. 

Während  der  langen  und  mühsamen  Verhandlungen  hatte  Bul- 
linger Calvins  Wert  recht  schätzen  gelernt.  Es  war  ihm  aus  der 
Seele  gesprochen,  als  der  nüchterne  und  zurückhaltende  Haller  ihm 
nach  der  Übersendung  des  Consensus  über  Calvin  bemerkte :  „Cal- 
vin ist  ein  großer  Mann,  dem  wir  viel  verdanken." 2  Doch  nicht 
nur  die  Hochachtung  vor  Calvins  Tüchtigkeit  war  gewachsen,  auch 
persönlich  wußte  er  sich  ihm  enger  verbunden.  „Wir  wollen  uns 
untereinander  lieben  und  helfen,  mein  Calvin!"  rief  er  ihm  nach 
Vollendung  des  großen  Werkes  zu,  Und  in  der  Tat,  die  gegen- 
seitige Hilfe  und  Liebe  war  nie  so  nötig  als  in  den  Kämpfen,  die 
in  den  nächsten  Jahren  auf  Calvin  warteten.  Bullingers  Treue  und 
Wahrhaftigkeit  sind  für  ihn  kostbare  Stützen  geworden. 

Eine  schwere  Sorge  für  beide  Männer  bildeten  für  die  kommen- 
den Jahre  die  Verhältnisse  im  Waadtland,  wo  Viret 
sich  vergeblich  des  strammen  Berner  Staatskirchentums  zu  erwehren 
versuchte.  Noch  während  der  Consensusverhandlungen  war  die 
Lausanner  Classis  mit  den  regierenden  Herren  zu  Bern  in  einen 
schweren  Konflikt  geraten  wegen  des  Befehls,  die  in  Lausanne  üb- 
liche wöchentliche  Zusammenkunft  der  Prediger  nach  Genfer  Vor- 
bild zur  Schriftbetrachtung,  Sittenzensur  und  Besprechung  wich- 
tiger kirchlicher  Angelegenheiten  nur  einmal  im  Vierteljahr  abzu- 
halten, weil  aus  diesen  Colloquien  so  mancher  Zwiespalt  entstanden 
sei.  Bullinger  wurde  sowohl  von  Viret  wie  von  Haller  um  Hilfe 
angerufen,  auch  Calvin  legte  ihm  dringend  die  Bitte  ans  Herz,  doch 
vermittelnd  einzugreifen.3  Freundlich  versprach  ihm  Bullinger,  zur 
Milderung  des  Zwiespalts  beizutragen,  wenn  er  auch  in  der  Sache 
selbst  das  Vorgehen  der  Berner  Regierung  billigte  und  den  Lau- 
sannern  riet,  nicht  hartnäckig  bei  ihrer  Meinung  zu  bestehen,  son- 
dern sich  zufrieden  zu  geben  mit  dem,  was  ihnen  Bern  schließlich 
gewährte.4     Bullingers  brüderliches,  verständiges  Zureden   konnte 


i)  CR.  XIV.  p.  69. 

2)  CR.  XTTI.  p.  290. 

3)  CR.  XIII.  p.    [68, 

4)  CR.  XI II.  p.  557. 


Von  W.  Kolfhaus.  75 


wohl  in  diesen  und  andern  einzelnen  Fällen  dazu  beitragen,  das 
bittere  Ende  des  Streites  zwischen  Hern  und  Viret  hinauszu- 
schieben; die  schließliche  Katastrophe  vermochte  auch  er  nicht  ab 

zuwenden,  die  am  Anfang  des  Jahres  1559  Viret  endlich  nötigte, 
seine  Gemeinde  zu  verlassen  und  nach  Genf  überzusiedeln.  In 
diesem  Streit  zwischen  dem  Kirchenideal  Calvins  und  dem  Staats- 
kirchentum  Zwingiis  stand  Bullinger  selbst  viel  zu  sehr  innerhalb 
der  schweizerischen  Tradition,  als  daß  er  das  Gewicht  seines  Ein- 
flusses für  die  von  Calvin,  Viret  und  Beza  verfochtene  Sache  hätte 
geltend  machen  können.  Wie  er  über  die  ganze  Frage  der  kirch- 
lichen Freiheit  dachte,  wurde  schon  oben  p.  35  ff.  dargelegt.  Er 
hat  aus  sachlichen  und  politischen  Rücksichten  die  Einrichtung  der 
Genfer  Konsistorialdisziplin  nicht  für  unevangelisch  erklärt,  aber 
ihre  Übertragung  auf  andere  Gebiete  der  Schweiz  wünschte  er 
nicht,  weil  er  wie  sein  Joh.  Fialler  die  geheime  Furcht  nicht  los 
wurde,  es  möchte   eine  neue  Hierarchie  aufkommen. 

Die  Viretschen  Händel  fanden  in  Zürich  und  Genf  eine  prin- 
zipiell verschiedene  Beurteilung;  das  Vertrauen  der  beiden  Freunde 
zueinander  haben  sie  nicht  erschüttert.  Auch  über  die  persönliche 
Zwischenträgerei,  die  sich  in  solchen  Kampfeszeiten  gern  breit 
macht,  waren  sie  erhaben.  Wenn  Bullinger  über  Calvin  etwas  zu- 
getragen wurde,  das  ihn  verdroß,  schlug  er  den  einfachsten  Weg 
ein,  Klarheit  zu  erlangen :  er  erkundigte  sich  bei  Calvin  selbst.  So 
ging  im  Anfang  des  Jahres  1551  das  Gerücht,  in  Genf  wolle  man 
die  kirchlichen  Feiertage  abschaffen  und  den  Sonntag  auf  den 
sechsten  Tag  verlegen.  Sogleich  fragte  er  bei  Calvin  an,  ob  an 
dem  seltsamen  Gerücht  etwas  Wahres  sei,  und  freute  sich,  aus  der 
Antwort  Calvins  zu  ersehen,  wie  sich  dessen  Überzeugung  in 
solchen  äußeren  Dingen  mit  der  seinigen  deckte.  „Ich  weiß,  daß 
Du  nie  kleinlich  gewesen  bist  in  solchen  Dingen,  die  zur  Förderung 
der  Frömmigkeit  wenig  beitragen  und  nur  viel   Haß   erwecken." 

Wie  tragfähig  das  gegenseitige  Vertrauen  Bullingers  und  Cal- 
vins war,  offenbart  die  schwere  Belastungsprobe,  die  ihm  der  im 
Mai  1551  beginnende  Streit  des  Hieronymus  Bolsec  mit 
Calvin  über  die  Er  w  ählungslehre  auferlegte,  ein 
Streit,  der  die  Genfer  und  Berner  Kirche  tief  aufwühlte  und  auf 
Jahre  hinaus  schmerzliche  Wunden   hinterließ.-     Zum  öffentlichen 

1)  C.  R.  XIV.  p.  117. 

2)  Über  die  Entstehung  des  Streites  Stähelin  ..Calvin"  T  p.  411,  II 
p.  r.u:  Choisy  in  Hauck  R.  E.  s.  v.  „Bolsec";  Kampschultc,  ,Joh.  Calvin 
usw."   II  p.  125  ff. 


7  6  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

Ausbruch  gelangte  der  Zwist  in  der  Kongregation  der  Genfer  Pre- 
diger am  16.  Oktober  1551,  wo  Bolsec  die  Erwählungslehre  Calvins 
vor  aller  Ohren  angriff  und  ihm  vorwarf,  die  Schrift  schlecht  zu 
verstehen.  Der  Rat  zog  die  Sache  vor  sein  Forum.  Wenn  er 
Calvin  unrecht  gab,  so  hörte  dieser  auf,  der  zuverlässige  und  an- 
erkannte Ausleger  des  Wortes  Gottes  für  seine  Gemeinde  zu  sein. 
Auf  dem  vulkanischen  Boden  des  Genfer  Parteilebens  konnte  leicht 
eine  Erschütterung  erfolgen,  die  Calvins  Lebensarbeit  vernichtet 
hätte.  Als  vollends  Bolsec  Melanchthon,  Brenz  und  Bullinger  als 
Kronzeugen  für  seine  Meinung  anrief,  nahm  der  Rat  den  Vor- 
schlag der  Prediger  an,  daß  die  Fragen,  Antworten  und  Rückant- 
worten der  zwei  Parteien  schriftlich  aufgesetzt,  ins  Lateinische 
übertragen  und  an  die  Schweizer  Kirchen  gesandt  werden  sollten, 
um  deren  Ansicht  zu  hören.  Noch  ehe  das  offizielle  Schreiben  in 
Zürich  eintraf,  wurde  Bullinger  durch  Beza  über  die  Lage  unter- 
richtet und  gebeten,  mit  seiner  Autorität  zum  Schutz  der  Wahrheit 
einzutreten.1  Nur  mit  Widerstreben  folgte  Bullinger  der  Auf- 
forderung des  Genfer  Rats  und  gab  gemeinsam  mit  seinen  Kollegen 
am  27.  November  sein  Gutachten.  Seine  Ansicht  faßte  er  in  einigen 
kurzen  Sätzen  über  die  Prädestination  zusammen,  aus  denen  wir 
das  Wichtigste  herausheben:  „Gott,  der  Vater  aller  und  derselbe 
gegen  alle  ohne  Ansehen  der  Person,  will,  daß  alle  Menschen  er- 
rettet werden  und  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit  kommen,  und  es 
ist  sein  ewiger  Rat,  die  Menschen  zu  beglücken,  zu  rechtfertigen 
und  zu  heiligen,  nachdem  ihnen  die  Sünden  vergeben  sind  in  dem 
einigen  Mittler  Jesus  Christus,  dem  eingeborenen  Sohn,  aus  lauter 
Gnade,  um  des  Sohnes  willen,  der  Mensch  geworden  ist,  gelitten  hat 
und  sterbend  der  ganzen  Welt  Sünde  versöhnt  hat,  durch  den  Glau- 
ben an  den  Namen  Jesu,  nicht  durch  Verdienst  menschlicher  Werke  ; 
die  Ungläubigen  aber  zu  verdammen  wegen  ihrer  Sünde  und 
Schuld,  weil  sie  den  dargebotenen  Retter  nicht  angenommen  haben. 
Auch  diesen  Glauben  schenkt  der  himmlische  Vater  um  seines  lieben 
Sohnes  Avillen,  damit  niemand  sich  vor  Gott  rühme."  „Wer  also 
gerettet  wird,  wird  allein  gerettet  durch  die  Gnade  des  Herrn, 
unseres  Gottes  und  Heilandes.  Wer  aber  verloren  geht,  geht  nicht 
verloren  durch  fatalistische  Notwendigkeit,  sondern  weil  er  durch 
eignen  freien  Willensentschluß  die  ihm  in  dem  Sohn  reichlich  dar- 
»otene  Gnade  Gottes  des  Vaters  verachtet.     Wenn  nun  unsere 

1)  CR.  XIV.  p.  191. 


Von  W.  Kolfhaus.  77 


teuren  Brüder  Job.  Calvin  und  Hier.  Bolsec  und  andere  so  denken, 

stimmen  sie  in  der  Sache  überein  unter  sich  und  mit   uns,  die  wir 
redlich  und  einhellig  diesen  Glauben  bewahren;  und  es  isl  nur  noch 

ein  Streit  um  Worte,  von  dem  uns  Christus  so  schnell  als  möglich 
abzulassen  befiehlt."  ' 

Dazu  machte  Bullinger  in  einem  Privatbriefe  an  Calvin  noch 
folgende  Bemerkung:  „Wenn  Hieronymus  das  ganze  Heil  nur  der 
Gnade  Gottes  zuschriebe,  nichts  unserer  Kraft,  und  wenn  er  nur 
noch  nicht  mit  der  schweren  und  tiefen  Frage  nach  der  Verwerfung 
fertig  werden  könnte,  außerdem  auch  freundlicher  urteilte  über  die 
andern,  die  ebenso  alles  der  göttlichen  Gnade  zuschreiben,  so  müßte 
er  nach  meiner  Meinung  durch  weises  Maßhalten  eurerseits  an- 
gezogen und  vom  Verderben  errettet  werden."  -  Noch  schärfer 
sprach  er  sich  einige  Tage  nachher  aus:  „Glaube  mir,  daß  manche 
durch  Deine  Sätze  über  die  Erwählung  in  der  Institutio  geärgert 
sind  und  aus  ihnen  denselben  Schluß  ziehen  wie  Hieronymus  aus 
Zwingiis  Buch  de  Providentia,  nämlich  daß  Gott  Urheber  der  Sünde 
sei.  Nach  meiner  Meinung  haben  die  Apostel  diese  schwierige 
Sache  nur  selten  und  nur  gezwungen  berührt  und  sie  so  maßvoll 
behandelt,  damit  die  Frommen  nicht  Anstoß  nähmen,,  sondern  vor 
allem  erkennten,  daß  Gott  allen  Menschen  gnädig  sei  und  in 
Christus  das  Heil  darbiete,  das  sie,  nicht  durch  ihre  Kraft,  sondern 
durch  das  göttliche  Geschenk  des  Glaubens  annehmen  können.  Sie 
sind  also  um  Christi  und  seiner  Gnade  und  nicht  um  ihrer  selbst 
willen  erwählt ;  die  Verworfenen  aber  gehen  zugrunde  durch  ihre 
Schuld,  nicht   durch  Gottes  bösen   Willen."3 

Selten  hat  ein  Brief  Calvin  so  sehr  verletzt  als  diese  Antwort 
Bullingers  auf  die  Genfer  Anfrage  und  das  in  den  gleichen  Ge- 
danken sich  bewegende  Gutachten  des  Züricher  Prcdigerkollegiums. 
„Über  die  Basler  habe  ich  mich  neulich  beklagt,  mein  Farel,  schrieb 
er  entrüstet,  aber  neben  den  Zürichern  verdienen  sie  das  höchste 
Lob,  ich  kann  kaum  sagen,  wie  ihre  Grausamkeit  mich  schmerzt. 
Herrscht  denn  unter  uns  weniger  Menschlichkeit  als  unter  den 
wilden  Tieren?"4  Seine  ganze  Erregung  machte  sich  Luft  in  einer 
Erwiderung  an  Bullinger  selbst  Ende  Januar  1552,  nachdem  der 
Streit    zu    Calvins    Gunsten    durch    die    Verbannung  •    ent- 


1)  CR.  XIV.  p.  209. 

2)  CR.  XIV.  p.  207. 

3)  C.  R.  XIV.  p.  214. 

4)  C.  R.  XIV.  p.  218. 


78 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


schieden  war:  „Weil  wir  nicht  ohne  bitteren  Schmerz  erfahren 
haben,  daß  auf  euch  weniger  Verlaß  war,  als  wir  geglaubt  hatten, 
will  ich  mich  lieber  offen  bei  Dir  darüber  beklagen,  als  zu  schweigen 
versuchen  und  dadurch  den  Arger  noch  vermehren."  „Wäre  doch 
Hieronymus  ,kein  schlechter*  Mann,  wie  man  ihn  euch  gerühmt 
hat!  Wenn  er  nur  wirklich  alles  der  Gnade  Gottes  zuschriebe, 
wie  Du  an  ihm  bemerkt  zu  haben  meinst !  Aber  wie  ihr  den,  der 
eine  ruhige  Kirche  in  Aufruhr  gebracht  hat,  der  versuchte,  uns 
verderblichen  Zwiespalt  zu  bringen,  der  ohne  je  im  Geringsten  be- 
leidigt zu  sein,  uns  mit  allen  möglichen  Schmähungen  überhäufte 
und  öffentlich  beschuldigte,  wir  machten  Gott  zu  einem  Tyrannen, 
ja  wir  hätten  an  Gottes  Stelle  den  Zeus  der  heidnischen  Dichter, 
wie  ihr  den  mit  eurem  Schutz  decken  könnt,  ist  mir  mehr  als  un- 
verständlich. Urteile  selbst,  ob  man  noch  der  Gnade  Gottes  alles 
zuschreiben  kann,  wenn  man  verkündigt,  allen  werde  dieselbe  Gnade 
angeboten,  ob  sie  aber  wirksam  werde,  hänge  ab  von  dem  freien 
Willen  eines  jeden."  „Ich  war  verwundert,  in  Deinem  Brief  zu 
lesen,  daß  meine  Lehrweise  vielen  guten  Männern  mißfalle,  ähnlich 
wie  Hieronymus  durch  Zwingli  geärgert  werde.  Ich  bitte  Dich, 
wie  kannst  Du  diesen  Vergleich  ziehen?  Zwingiis  Buch  de  Provi- 
dentia ist,  im  Vertrauen  gesagt,  so  voll  von  harten  Paradoxien,  daß 
meine  Mäßigung  sehr  davon  absticht."  x  „Verzeihe,  daß  ich  Dir 
gegenüber  mir  meine  Klage  über  eure  Antwort  vom  Herzen  her- 
untergeredet habe.  Daß  ihr  meine  Erwartung  getäuscht  habt,  will 
ich  gerne  unserer  Freundschaft  zugute  halten.  Vor  den  andern 
schweige  ich,  als  wäre  ich  zufrieden  mit  euch."2  Um  keine  weiteren 
Störungen  zwischen  Calvin  und  Zürich  hervorzurufen,  zeigte  Bul- 
linger diesen  Brief  den  Kollegen  nicht,  wiederholte  aber  in  einem 
neuen  Schreiben  seine  schon  früher  dargelegten  Gedanken:  „Die 
Behauptung,  daß  Gott  den  Fall  Adams  nicht  nur  vorhergesehen, 
sondern  vorher  bestimmt  und  festgesetzt  habe,  legt  den  Schluß 
nahe,  daß  der  Ursprung  des  Bösen  und  die  Ursache  der  Sünde  in 
Gott  als  dem  Urheber  zu  suchen  ist.  Es  scheint  mir  hart  zu  sein, 
zu  erklären,  daß  Gott  die,  die  er  zum  Verderben  geschaffen  hat, 


i)  Calvin  an  Socinus  mit  Bezug  auf  die  Prädestinationslehre:  „Wenn 
einer,  so  war  ich  je  ein  Feind  von  Paradoxien  und  hasse  Haarspaltereien. 
Aber  nichts  soll  mich  je  hindern,  offen  zu  bekennen,  was  ich  aus  Gottes 
Wort  gelernt  habe.  In  der  Schule  dieses  Meisters  wird  nur  Nützliches 
mitgeteilt.  Die  einzige  Regel  der  Weisheit  ist  und  wird  mir  bleiben:  bei 
der  einfachen  Lehre  des  Worts  zu  verharren."  C.  R.  XIV.  p.  229. 
2)  C.  R.  XIV.  p.  251. 


Von  W.  Kolfhaus.  79 


damit  sie  an  ihr  Ziel  kommen,  der  Fähigkeit  beraube,  das  Wort  zu 
hören,  daß  er  sie  durch  die  Predigt  verblende,  daß  also  die  univer- 
salen Verheißungen  Gottes  nur  einige  wenige  angingen."1  Sach- 
lich ging  Calvin  auf  die  Bedenken  seines  Freundes  ein  in  seiner 
Schrift  de  aeterna  Dei  praedestinatione,  die  er  ihm  am  13.  Mär/. 
1552  üherreichte,  damit  er  ihm  freimütig  sein  Urteil  mitteile.  Im 
übrigen  erklärte  er :  „Ich  bin  ganz  damit  einverstanden,  daß  be- 
graben bleibt,  was  in  unseren  Briefen  Ärgerliches  und  Kränkendes 
enthalten  war."  2 

Diese  Übersicht  über  den  Verlauf  des  Streites  läßt  uns  die  be- 
merkenswerte Tatsache  erkennen,  daß  weder  Calvin  noch  Bullinger 
der  Gedanke  aufsteigt,  daß  sie  in  der  Erwählungslehre  voneinander 
abweichen.  Sie  glauben  beide  ehrlich,  sich  auf  demselben  Boden 
zu  bewegen.  Was  Bullinger  tadelt,  sind  harte  Ausdrücke,  die  den 
Anschein  erwecken,  als  solle  Gott  Urheber  der  Sünde  sein.  Eben 
das  aber  traut  er  Calvin  nicht  zu.  Beide  sind  überzeugt,  daß  die 
Gedanken  Zwingiis  —  von  Nebensächlichem  abgesehen  —  und  des 
ganzen  reformatorischen  Kreises  über  die  Erwählung  mit  der 
Schriftwahrheit  in  Einklang  sind,  und  daß  sie  das  gleiche  evangelische 
Glaubensinteresse  an  der  Rechtfertigung  aus  Gnade  allein  ver- 
treten. Bolsec  führte  in  seiner  Verantwortung  Melanchthon,  Brenz 
und  Bullinger  für  sich  an.  Die  Genfer  Prediger  erwiderten,  er  habe 
Melanchthon  gar  nicht  verstanden,  da  dieser  nur  behaupte,  daß 
man  die  Erwählung  Gottes  nicht  betrachten  dürfe  mit  Neugier  und 
Verwegenheit,  um  in  seinen  ewigen  Rat  einzudringen.  Ebenso 
wußten  sie  sich  mit  Brenz  und  Bullinger  einig.  Namentlich  von 
letzterem  heißt  es :  „Meister  Hieronymus  tut  Bullinger  großes  Un- 
recht, denn  zu  Rom.  9  sagt  er  ausdrücklich,  daß  Gott  habe  zeigen 
wollen,  daß  es  in  seiner  Macht  sei,  zu  töten  und  lebendig  zu  machen, 
zu  erwählen  und  zu  verwerfen  nach  seinem  Vorsatz  und  seiner 
freien  Wahl."  „Die  Prediger  berufen  sich  nicht  auf  zwei  oder  drei, 
sondern  auf  alle,  soviele  ihrer  sind,  deren  sich  Gott  bedient  hat, 
unserer  Zeit  das  Evangelium  wiederzugeben."8  Man  war  ohne 
weiteres  überzeugt,  daß  hier  eine  gemeinsame  Wahrheitserkenntnis 
des  Gesamtprotestantismus  vorliege.  Daher  begriff  Calvin  gar 
nicht,  daß  die  Gutachten  von  Basel  und  Zürich  sich  nicht  unum- 
wunden gegen  Bolsec  äußerten.     Dazu  kam  freilich  die  freundliche 


1)  CR.  XIV.  p.  289. 

2)  C.  R.  XIV.  p.  302. 

3)  C.  R.  VIII.  p.   163  ff. 


80  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

Beurteilung  der  Person  Bolsecs  seitens  der  Züricher,  um  Calvins 
Zorn  zu  erwecken.  Daß  er  von  Bullinger  gemeinsam  mit  seinem 
Gegner  als  sehr  geliebter  Bruder  angeredet  wurde,  daß  man  ihm 
zumutete,  brüderlich  auf  Bolsec  einzuwirken,  mußte  Calvin  empören, 
der  Bolsec  durchschaut  hatte  und  für  einen  unruhigen  Wirrkopf 
und  einen  niedrigen  Charakter  hielt.  Das  spätere  Leben  Bolsecs, 
der  schließlich  auch  seinen  Schutzherrn  in  Bern  durch  stetes  Un- 
ruhestiften unerträglich  wurde,  zur  römischen  Kirche  zurückkehrte 
und  in  schnöden  Verleumdungen  seinen  Haß  gegen  Calvin  und 
Beza  befriedigte,  beweist,  daß  Calvin  mit  seiner  Schätzung  des 
Mannes  recht  hatte.1 

Die  Hauptfrage  ist  die,  ob  Calvin  sich  getäuscht  hat,  als  er  als 
selbstverständlich  annahm,  Bullinger  werde  seine  Erwählungslehre 
gut  heißen.  In  der  Grundlehre  des  Protestantismus  von  dem  Un- 
vermögen des  natürlichen  Menschen  und  der  allein  wirksamen 
Gnade  Gottes  waren  beide  jedenfalls  einig.  Schon  die  Aussprachen 
über  das  Abendmahl  ließen  uns  erkennen,  wie  ängstlich  Bullinger 
bemüht  war,  alles  auszuschließen,  was  der  Alleinwirksamkeit  Gottes 
irgendwie  Eintrag  tun  konnte.  Den  Standpunkt,  den  er  als  Jüng- 
ling im  Jahre  1526  gegenüber  dem  liberum  arbitrium  des  Erasmus 
eingenommen,  hat  er  mit  Bewußtsein  nie  verlassen.  Damals  hatte 
er  das  Buch  des  Erasmus  „ein  nicht  nur  gottloses,  sondern  wahr- 
haft lästerliches  Buch"  genannt,  sophistisch  durch  und  durch,  und 
erklärt :  „Wenn  es  eine  Vorsehung  gibt,  gibt  es  keinen  freien 
Willen,  denn  sonst  wäre  Vorsehung  nicht  Vorsehung.  Wie  sehr 
seine  gottlose  Vorstellung  vom  freien  Willen  die  göttliche  Natur 
und  Kraft  verleugnet,  läßt  sich  gar  nicht  sagen."  2 

Das  wichtigste  Aktenstück  aus  der  uns  hier  beschäftigenden 
Epoche  ist  Bullingers  Traktat  „De  Providentia  Dei  eiusdemque 
praedestinatione  electione  ac  reprobatione,  deque  libero  arbitrio  et 


1)  Die  Schilderung  des  Handels  mit  Bolsec  durch  Kampschnlte 
a.  a.  O.  ist  deshalb  einseitig  und  irreführend,  weil  Kampschulte  an  die 
Lauterkeit  der  Person  Bolsecs  glaubt  und  in  ihm  einen  frommen  Mann 
sieht.  Dann  gibt  er  sich  zu  wenig  Rechenschaft  von  dem  evangelischen 
Glaubensinteresse,  das  Calvin  zum  unerbittlichen  Feind  jeder  Einmengung 
römischen  Sauerteigs  im  die  reformatorische  Gnadenlehre  machte.  Zieht 
man  diese  beiden  Momente  in  Betracht,  so  kann  man  die  von  Kampschulte 
getadelten  Fehler  Calvins  zugeben  ohne  in  den  Fehler  Kampschultes  zu 
verfallen,  der  bei  Calvin  nur  die  eine  Seite  seines  Wesens  sieht,  die  theo- 
logische Rechthaberei  und  kirchenpolitische  Motive. 

2)  Schweizer,   „Zentraldogmen"  I  p.  139. 


Von  W.  Kolfli.u.s 


öl 


quod  Deus  non  sit  autor  peccati"  für  den  Engländer  Bartholomaeus 
Traheron  im  März  1553.1     Traheron  hatte  am  10.  September   1552 
in   Zürich   angefragt,    wie    man   dort   über    die    Vorsehung   Gottes 
denke.     „Bei  uns  nämlich  glauben  manche,  daß  ihr   zu  sehr  den 
Spuren  Melanchthons  folgt.     Die  meisten  von  uns  und  ich  auch 
halten  die  Meinung  Calvins  für  klar  und  für  der  heiligen  Schrift 
durchaus  gemäß."    Und  mit  Beziehung  auf  die  Schrift  Calvins  über 
die  Prädestination  gegen  Pighius  —  „Defensio  sanae  et  orthodoxae 
doctrinae  de  Servitute  et  liberatione  humani  arbitrii  adversus  calum- 
nias  Alb.  Pighii  Campensis",  Genevae  1545  —  hieß  es  bei  Traheron: 
„Nach  unserer  Meinung  hat  er  die  ganze  Sache  so  behandelt,  daß 
wir  bisher  nichts  Gelehrteres  und  Einleuchtenderes  gesehen  haben. 
Wir  hoffen  sehr,  daß  ihr  von  seiner  trefflichen  und  gelehrten  Mei- 
nung nicht  abweicht."  2     Zur   Kennzeichnung  der  damaligen  An- 
sicht Bullingers  sei  auf  folgende  Sätze  seiner  Antwort  hingewiesen : 
„Nach  dem  Fall  ist  Intellekt  und  Wille  dem  Menschen  nicht  ge- 
nommen, so  daß  er  in  einen  Stein  oder  ein  Tier  verwandelt  wäre, 
sondern  der  Intellekt  ist  verdunkelt  worden,  so  daß  er  aus  seiner 
Kraft  nichts  göttliches  erkennen  kann,  wie  es  erkannt  werden  muß. 
Der  freie  Wille  ist  zu  einem  verknechteten  Willen  geworden,  so 
daß  der  Mensch  nicht  mehr  bloß  zum  Sündigen  geneigt  ist,  sondern 
verkauft  und  verhaftet  unter  die  Sünde.   In  dieser  Beziehung  hat  er 
keinen  freien  Willen.     Auf  der  anderen  Seite  hat  er  einen  freien 
Willen.     Denn  der  Mensch  vollbringt  die  Sünde  nicht  gezwungen, 
sondern  freiwillig."  „Ferner,  der  Wiedergeborene  hat  freien  Willen, 
nur  nicht  aus  natürlicher  Kraft,  sondern  aus  der  Kraft  der  Gnade 
Gottes.     Denn  durch  Gottes  Geist  kann  er  das  Gute  erkennen,  er- 
wählen und  tun."     „Dabei  darf  nicht  geleugnet  werden,  daß  dem 
freien  Willen  auch  bei  den  Wiedergeborenen  Schwachheit  anhaftet. 
Da  in  uns  die  Sünde  wohnt  und  gegen  den  Geist  kämpft,  führen 
die  Freien  nicht  frei  und  ungehindert  aus,  was  sie  nach  ihrer  Ein- 
sicht tun  sollen,  und  wenn  sie  es  tun,  geschieht  es  nicht  so,  wie 
es  sollte."     „Die  ewige  Erwählung  Gottes  ist  der  Entschluß,  durch 
den  er  die  einen  zum  Leben  erwählt  hat,  die  andern  zum  Verderben. 
Ursache  der  Erwählung  oder  Prädestination  ist  einzig  der  gute  und 
gerechte  Wille  Gottes,  der  die  Erwählten  rettet  ohne  ihr  Verdienst, 
aber  die  Verworfenen  verdammt  und  verwirft,  wie  sie  es  verdienen." 
„Den  Glauben  halten  wir  nicht  für  die  Ursache  der  Erwählung,  als 


1)  C.  R.  XIV.  p.  480. 

2)  C.  R.  XIV.  p.  359- 

Calvinstudien. 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


ob  Gott  uns  erwählt  wegen  des   Glaubens,  den  er  in  uns  vorher- 
gesehen hat,  sondern  Erwählung  und  Rettung  leiten  wir  aus  der 
Gnade  Gottes  her,  dessen  Geschenk  auch  der  Glaube  an  Christus 
ist.     Denn    Paulus   sagt   nicht,    Gott    habe    uns    erwählt,   weil   wir 
künftig  Glaubende  waren,  sondern  damit  wir  glaubten."     „Wir  ver- 
werfen die  falsche  Behauptung,  jeder  könne  dem  ihm  gepredigten 
Evangelium  in  Kraft  des  freien  Willens  glauben  oder  nicht.     Wir 
sagen :  alle  Glaubenden  sind  Erwählte  und  alle  Glaubenden  haben 
von  Gott  den  Glauben   empfangen.     Wir  sagen   sodann :  die  Un- 
gläubigen sind  Verworfene,  und  da  nicht  alle  glauben,   sind  nicht 
alle  erwählt.     Daß  aber  etliche  nicht  glauben  und  verloren  gehen, 
begründen  wir  nicht  mit  der  Prädestination  Gottes,  sondern  damit, 
daß  der  Mensch  selbst  die  Gnade  Gottes  zurückstößt  und  die  himm- 
lischen Gaben  nicht  annimmt."     „Gibt  es  denn  aber  nicht  doch  im 
Menschen  eine  Fähigkeit,  das  Wort  Gottes  anzunehmen  oder  abzu- 
weisen?   In  jedem  Falle  wohnt  in  ihm  eine  angeborene  Verderbnis, 
die  Gottes  Wort  verwirft ;  nimmt  er  es  aber  auf,  so  liegt  das  an  der 
erleuchtenden  Gnade.    Wenn  nun  einige  lehren,  Gott  habe  gewisse 
Menschen  so  von   sich  gestoßen,  daß  er  sie  auch  jetzt  gegen  die 
Wahrheit  verhärte  und  nur  einigen   wenigen  jenes   Geschenk   des 
Glaubens  verleihe,  so  schließe  ich  mich  ihnen  nicht  an.     Vielmehr 
betonen  wir  jene  universalen  Verheißungen  und  heißen  alle  hoffen." 
„Diese  universalen  Verheißungen  sind  in  der  Gemeinde  zu  betonen, 
damit   wir   nicht   durch    spitzfindige    Reden   über    die   verborgenen 
Urteile  Gottes  einen  Stachel  in  die  Herzen  werfen,  den  wir  dann 
nicht   mehr  herausziehen   können,   woraus   dann    Haß   gegen   Gott 
folgt,  Verzweiflung  und  Lästerung,  als  ob  Gott  alle  zu  sich  rufe, 
aber  seine  Gaben  doch  nur  wenigen  gebe  und  die  andern  täusche." 
Über    seine    Stellung   zu    Calvins    Ausprägung   dieses    Lehrstücks 
äußerte  Bullinger  am  Schluß  seines  Traktats :  „Wenn  unser  ver- 
ehrter Bruder  Calvin  auf  alle   Weise   die   Reinheit   der  göttlichen 
Gnade  zu  wahren  sucht,  wer  möchte  seinen  heiligen  Vorsatz  tadeln  ? 
Wenn  er  den  Seinen  sagt,  Gott  habe  nicht  nur  den  Fall  des  ersten 
Menschen  und  das  Elend  seiner  Nachkommen  vorausgesehen,  son- 
dern auch  durch  seinen  Willen  bestimmt ;  oder :  die,  die  er  zum 
Verderben  geschaffen   hat,   beraube   Gott  auch,  damit   sie   an  ihr 
Ziel  gelangen,  der  Fähigkeit,  das  Wort  zu  hören;  er  verblende  sie 
noch  mehr  durch  die  Predigt,  so  sind  das  Ausführungen,  die   die 
Alten   nie  anerkannt  hätten.     Ich  wenigstens  würde  nicht  wagen, 
so  zu  reden,  da  ich  glaube,  daß  die  Reinheit  der  göttlichen  Gnade 


Von  W.  Kolfhaus.  83 


auch  verteidigt  werden  kann,  ohne  daß  wir  sagen :  Gott  schaffe  den 
Menschen  zum  Verderben  und  bringe  ihn  dahin  durch  Verhärtung 
oder  Verblendung.  Wer  aber  wollte  die  Tatsache  leugnen,  daß 
Calvin  mit  großen  Gaben  von  Gott  geschmückt  ist?'' 

Bullinger  hat  diese  Überzeugung  von  der  Erwählung  nicht 
erst  gewonnen  in  den  wenigen  Monaten  zwischen  dem  Üolsecschen 
Handel  und  der  Abfassung  seines  Traktats,  er  spricht  nur  aus,  was 
er  stets  geglaubt  hat.  Die  Genfer  konnten  also  mit  gutem  Gewissen 
Bolsec  das  Recht  abstreiten,  sich  auf  Bullinger  zu  berufen.  In  den 
Hauptpunkten  gerade  waren  Bolsec  und  Bullinger  gegenteiliger 
Ansicht:  in  der  Frage  nach  dem  freien  Willen  und  ob  die  Erwäh- 
lung durch  den  Glauben  oder  der  Glaube  durch  die  Erwählung  be- 
dingt sei.  Was  Bullinger  von  Calvin  trennte,  war  im  Fall  Bolsec 
speziell  das  günstige  Vorurteil  für  dessen  Persönlichkeit  und  vor 
allem  das  seelsorgerliche  Bedenken :  die  Erwählungslehre  gereiche 
nicht  zur  Erbauung.  Er  glaubte,  ohne  Calvins  ihm  hart  erscheinenden 
Ausdrücke  auszukommen,  und  fürchtete  den  Streit,  den  das  Ein- 
dringen in  Gottes  Ratschlüsse  zur  Folge  haben  möchte.  Er  wider- 
sprach Calvin  in  der  Sache  selbst  nicht,  sondern  lehnte  nur  dessen 
Äußerungen  und  Schlüsse  ab,  die  über  die  Einfalt  der  Bibel  hinaus- 
griffen. Aus  dieser  Sorge  heraus  vor  unbiblischen  Redewendungen 
warnte  er  noch  vier  Jahre  später  Calvin  in  dem  Streit  gegen  den 
Lutheraner  Westphal,  zu  behaupten,  daß  Adam  so  geschaffen  sei, 
daß  es  ihm  unmöglich  war,  nicht  zu  sündigen  oder  wer  sündige,  tue 
es  nach  der  Bestimmung  Gottes.  „Mir  hat  am  besten  gefallen,  was 
Du  seinerzeit  gegen  die  Libertiner  schriebst,  daß  Gott  nicht  Ur- 
heber der  Sünde  ist,  und  daß  die  evangelische  Predigt  und  stoische 
Notwendigkeit  unvereinbar  miteinander  sind.''1  Ein  wesentlicher 
Unterschied  ist  nur  darin  zu  erblicken,  daß  Bullinger  eine  Prädesti- 
nation des  Sündenfalls  nicht  annahm,  also  infralapsarisch  lehrte. 
Aber  dieser  Unterschied  wurde  auf  Seiten  Calvins  und  seiner 
Freunde  so  wenig  als  trennend  empfunden,  daß  Petrus  Martyr  in 
Straßburg,  Bullingers  späterer  Kollege,  ein  entschiedener  Anhänger 
der  absoluten  Prädestination,  ihm  schrieb :  „Deine  Schrift  über  die 
Vorsehung  habe  ich  mit  großer  Freude  gelesen ;  wie  ich  Dich 
kenne,  besorge  ich  nicht,  daß  Du  über  diese  Lehre  ein  Zerwürfnis 
veranlassen  werdest,  sondern  ich  weiß,  daß  Dein  Ansehen  ein 
solches  beseitigen  würde,  wenn  andere  es  herbeiführen  wollten."  - 


1)  C.  R.  XV.  p.  852.     Calvin  an   Farcl  C.  R.  XV.  p.  860. 

2)  Schweizer,    „Zentraldogmen"   I   p.  275. 

6' 


Qa  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

Die  Grundlagen  des  Bullinger  sehen  Denkens  waren  derartig,  daß 
er  ohne  Bruch  mit  seiner  bisherigen  Stellung  fortschreiten  konnte 
zur  klaren  Bezeugung  der  absoluten,  obwohl  infralapsarisch  ge- 
dachten Prädestination  in  dem  Züricher  Gutachten  für  Zanchius 
am  29.  Dezember  1561  und  in  der  zweiten  Helvetischen  Konfession 
von  1564.  Davon,  daß  er  mit  Bewußtsein  Melanchthons  Einbiegen 
in  die  römisch-tridentinische  Lehre  mitgemacht  habe,  wie  nach 
Traherons  Brief  einige  englische  Freunde  fürchteten,  findet  sich 
bei  ihm  keine  Spur.  Ihm  war  die  volle  Zustimmung  zu  Calvins 
Darlegungen  damals  noch  nicht  möglich,  weil  ihm  dieser  nicht 
deutlich  genug  Gott  gegen  den  Vorwurf  zu  schützen  schien,  der 
Urheber  der  Sünde  zu  sein,  und  weil  bei  ihm  praktisch  seelsorger- 
liche Erwägungen  die  Konsequenz  des  Denkens  nach  der  Weise 
Calvins  kreuzten.  Das  dogmatische  Fundament,  auf  dem  sich  die 
Prädestinationslehre  aufbaut,  war  bei  beiden  dasselbe. 

VII. 

Bullinger  in  dem  Prozeß  gegen  Servet. 

Weil  Calvin  mit  Recht  überzeugt  war,  daß  Bullinger  auf  seine 
und  nicht  auf  Bolsecs  Seite  gehöre,  konnte  wohl  sein  Zorn  über 
die  laue  Unterstützung  durch  die  Züricher  aufflammen,  aber  das 
Bruderband  zerriß  nicht,  ihr  gemeinsames  Wirken  wurde  durch  die 
momentane  Störung  nicht  gehindert.  Beide  beeilten  sich,  durch 
offene  Aussprache  jedes  Mißtrauen  aus  dem  Wege  zu  räumen. 
Bullinger  hatte  nach  dem  Bolsecschen  Streit  einige  Monate  nicht 
geschrieben,  weil  er  schwer  erkrankt  war.  Sogleich  nach  seiner 
Genesung  teilte  er  dem  Freunde  den  Grund  seines  Schweigens  mit 
und  versicherte  ihn  seiner  Treue.  Ihm  war  nämlich  erzählt  wor- 
den, daß  Calvin  an  seiner  Freundschaft  zweifle,  und  er  bemerkte 
ihm  darüber:  „Wenn  einer  berichtet  hat,  daß  Bullinger  Calvins 
Feind  geworden  sei,  so  hat  er  falsche  Gerüchte  verbreitet.  Ob- 
gleich ich  in  der  Sache  Bolsec  nicht  in  allem  Deinen  Wünschen 
entsprochen  habe,  bin  ich  deswegen  doch  nicht  Dein  Feind.  Ich 
schrieb  damals,  warum  wir  uns  Dir  nicht  ohne  weiteres  an- 
schlössen." :  In  seiner  Antwort  bezeugte  ihm  Calvin,  daß  er  sich 
durch  niemanden  irre  machen  lasse  in  seinem  Vertrauen  zu  Bullinger 
und  den  Zürichern,  mit  Ausnahme  Biblianders,  von  dem  er  gehört 
habe,  daß  er  gegen  seine  Prädestinationslehre  ein  Buch  schreiben 

1)  C.  R.  XIV.  p.  510. 


Von   W.    lvolfliaus.  8  ' 


wolle. '  Bullinger  dankte  alsbald  für  die  freundlichen  Erklärungen 
und  nahm  Bibliandcr  in  Schutz :  „Ich  glaube  nicht,  daß  unser  Pro- 
fessor Bibliander,  ohne  Zweifel  ein  frommer  und  gelehrter  Mann, 
!  >ein  Feind  ist,  obwohl  ihm  nicht  alle  Deine  Ansichten  zusagen. 
Mir  gefällt  bei  den  Alten  auch  nicht  alles,  ohne  daß  ich  sie  deshalb 
sofort  für  Feinde  halte.  Du  schreibst  mir  ja  selbst,  daß  wir  Deine 
Erwartung  im  Streit  mit  Bolsec  nicht  erfüllt  hätten,  daß  aber  da- 
durch das  Band  der  Einheit  und  Liebe  nicht  zerschnitten  sei.  Auch 
glaube  ich  nicht,  daß  unser  Bibliander  gegen  Dich  ein  Buch  mun- 
den Händen  hat."  2  Es  waren  die  letzten  Nachwehen  des  bösen 
Handels,  die  sich  in  diesen  Äußerungen  bekunden.  Bald  drängte 
sich  eine  wichtigere  Sache  in  den  Vordergrund  und  ließ  das  Frühere 
in  Vergessenheit  geraten :  der  Prozeß  gegen  Michael 
S  e  r  v  e  t. 

Schon  längst  hatte  der  Name  Servet  in  den  Schweizer  Kirchen 
einen  üblen  Klang.3  Da  sandte  am  20.  August  1553  Calvin  an  Farel 
die  Nachricht,  daß  der  Spanier  auf  sein  Betreiben  hin  während  der 
Durchreise  durch  Genf  gefangen  genommen  sei :  „Ich  hoffe  auf 
ein  Todesurteil,  doch  wünsche  ich  nicht,  daß  die  härteste  Strafe 
angewendet  wird."  Kaum  war  durch  Viret  und  Beza  die  wichtige 
Kunde  nach  Zürich  gedrungen,4  als  Bullinger  unmittelbar  nach 
Empfang  der  Nachricht  erwiderte :  „Was  wird  der  Genfer  Rat  mit 
jenem  Lästerer  Servet  beginnen?  Wenn  er  klug  ist  und  seine 
Pflicht  tut,  tötet  er  ihn,  damit  alle  Welt  sieht,  daß  Genf  die  Ehre 
Christi  zu  verteidigen  wünscht."  Calvin  befand  sich  zu  jener  Zeit 
im  heftigsten  Kampf  gegen  seine  zahlreichen  kirchlichen  und  poli- 
tischen Gegner  in  Genf  selbst.  Er  schilderte  Bullinger  seine  da- 
malige Stellung  in  der  Stadt  mit  den  bitteren,  aber  nicht  über- 
triebenen Worten :  „So  weit  ist  ihre  Torheit  und  Feindschaft  ge- 
kommen, daß  ihnen  alles  verdächtig  ist,  was  wir  nur  reden.  Würde 
ich  sagen,  am  Mittag  sei  es  hell,  so  würden  sie  sofort  zu  zweifeln 
anfangen."     In  Bern  ging  sogar  das  Gerücht,  er  habe   sein  Amt 


1)  Über  Bibliander  und  seinen  Kampf  gegen  die  Prädestination,  der 
am  8.  Februar  1560  mit  seiner  Entlassung  aus  dem  Amt  endete,  cf.  Schweizer, 
„Zentraldogmen"   I   p.  276  fr. 

2)  C.  R.  XIV.  p.  533- 

3)  Über  die  früheren  Berührungen  Calvins  mit  Servet  cf.  Stähelin 
..Calvin"  I  p.  429  ff. 

4)  Beza  an  Bullinger  C.  R.  XIV.  p.  600.  ,,Fast  hätte  ich  etwas  über- 
sehen, das  dich  bei  allem  sonstigen  Elend  erfreuen  wird",  —  nämlich,  dal.l 
Servet  gefangen  ist. 


g5  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


niedergelegt.  Haller  erzählte  Bullinger:  „Der  Zustand  Genfs  ist 
fast  hoffnungslos.  Calvin  kämpft  mit  aller  Kraft  und  ist  für  die 
Erhaltung  der  kirchlichen  Einrichtungen  zu  sterben  bereit.  Was 
den  Vornehmen  unerträglich  ist,  und  weshalb  auch  die  Unsrigen 
Calvin  wenig  günstig  sind,  ist  dies,  daß  er  sich  nach  ihrer  Meinung 
zu  viel  herausnimmt.  Auch  unsere  Franzosen  —  sc.  Viret,  Beza  und 
die  Ihrigen  —  glauben,  daß  ohne  dieselbe  Disziplin  die  Kirche  nicht 
existieren  könne.  Aber  den  Unsrigen  würde  diese  Disziplin  noch 
viel  unerträglicher  sein  als  den  Genfern."  x  Daher  war  es  noch 
gar  nicht  sicher,  ob  nicht  die  Oppositionspartei  den  Fall  Servet 
zum  Sturz  der  Reformation  Calvins  benutzen  werde.  Für  Calvin 
lag  also  außerordentlich  viel  daran,  daß  sich  überall  die  Führer  der 
schweizerischen  Reformation  auf  seine  Seite  stellten.  Ob  die  vom 
Genfer  Rat  nach  Basel,  Bern  und  Zürich  geschickte  Gesandtschaft, 
die  die  Meinung  der  befreundeten  Städte  über  Servet  erfragen 
sollte,  auf  Calvins  Anregung  beschlossen  wurde,  läßt  sich  nicht  mit 
Bestimmtheit  sagen.  Er  selbst  leugnete  es,  aber  nach  Lage  der 
Dinge  mußte  ihm  dieser  Schritt  hochwillkommen  sein.2 

Die  einlaufenden  Antworten  und  die  Privatschreiben  der 
führenden  Männer  in  den  verschiedenen  Städten  konnten  seine 
Stellung  nur  stärken.  Sulzer  aus  Basel  rief  ihm  ermunternd  zu : 
„Wir  freuen  uns,  daß  Servet  an  einem  Ort  festgehalten  wird,  von 
wo  er  nicht  so  leicht  entfliehen  kann  zum  noch  größeren  Schaden 
für  die  gesunde  Lehre."  Die  Gedanken  der  Berner  zeigte  eine 
Äußerung  Hallers  zu  Bullinger :  „Der  Mensch  ist  ein  Erzketzer  und 
verdient  es,  daß  die  Kirche  von  ihm  befreit  wird."  3  Ähnlich  war 
die  Stimmung  bei  Wolfgang  Muskulus,  der  an  Bullinger  schrieb : 
„Die  Genfer  Kirche  wird  sehr  angefochten  von  den  Dienern  Sa- 
tans, daher  müssen  wir  ihre  treuen  Prediger  durch  unablässige 
Gebete  vor  dem  Herrn  unterstützen.  Michael  Servet,  der  vor 
zwanzig  Jahren  schon  in  Straßburg  sein  Gift  auszustreuen  suchte, 
ist  neulich  nach  Genf  gekommen,  um  aus  dem  Haß  Vorteil  zu 
ziehen,  mit  dem  die  Vornehmen  dort  Calvin  verfolgen.  Der  Herr 
unterdrücke  diesen  Satan  und  bewahre  die  Kirchen  in  der  Reinheit 
des  Glaubens."  4  Muskulus  war  sonst  gegen  die  Anwendung  der 
Todesstrafe  wegen  Irrlehre.     In  dem  nach  Servets  Tode  anheben- 


i)  C.  R.  XIV.  p.  624. 

2)  CR.  XIV.  P.  611  n.  5. 

.5)  C.  R.  XIV.  p.  627. 

4)  C.  R.  XIV.  p.  628. 


Von  W.  Kolfhaus.  87 


den  Streit  um  das  Recht  und  tue  Pflicht  der  Obrigkeit,  Ketzer  zu 
bestrafen,  erklärte  er  Ambrosius  Blaurer  in  Biel:  „Mir  gefällt  es 
besser,  wenn  man  Häretiker  geduldig  und  maßvoll  behandelt,  so 
daß  nach  der  Mahnung  des  Apostels  der  Buße  Raum  gegeben  wird, 
die  Wahrheit  zu  erkennen  und  den  Stricken  des  Teufels  zu  entfliehen." 
Daß  jedoch  Servet  verbrannt  wurde,  hatte  auch  die  Billigung  dieses 
milden  Mannes.  Nur  hätte  Muskulus  lieber  gesehen,  wenn  die  \  er 
urteilung  nicht  wegen  Irrlehre,  sondern  wegen  Gotteslästerung  er- 
folgt wäre.1  In  demselben  Sinne  urteilte  der  gesamte  Freundes- 
kreis Bullingers:  der  Arzt  Gratarolus  in  Basel,  Blaurer  in  Biel, 
Philippus  Gallitius  in  Chur  usw.  Nur  Vcrgerius  in  Chur  warnte, 
Servet  zu  töten;  es  sei  besser,  ihn  in  schwerster  Kerkerhaft  fest- 
zuhalten.- 

Das  Gutachten  der  Züricher  Kirche  und  ebenso  der  übrigen 
Schweizer  Kirchen  fiel  so  aus,  wie  die  oben  mitgeteilte  Bemerkung 
ihres  Antistes  erwarten  ließ.  Servet  wurde  für  einen  Erzketzer 
erklärt,  und  der  Genfer  Rat  aufgefordert,  seine  Pflicht  zu  tun:  „Wir 
halten  dafür,  daß  ihr  mit  viel  Eifer  und  Sorgfalt  gegen  ihn  ver- 
fahren müßt,  besonders  da  unsere  Kirchen  auswärts  den  üblen  Ruf 
haben,  ketzerisch  zu  sein  und  die  Ketzerei  zu  begünstigen.  Jetzt 
hat  die  heilige  Vorsehung  Gottes  Gelegenheit  gegeben,  euch  und 
uns  von  diesem  falschen  Verdacht  zu  reinigen,  wenn  ihr  nämlich 
sorgsam  und  wachsam  verhütet,  daß  dieses  ansteckende  Gift  weiter 
durch  Servet  verbreitet  werde,  und  wir  zweifeln  nicht,  daß  ihr  dies 
tun  werdet." :i  Privatim  schrieb  Bullinger  noch  an  Calvin,  daß 
auch  der  Züricher  Rat  den  Rat  von  Genf  ernstlich  ermahnt  habe, 
„dieser  Pest  Einhalt  zu  tun".4  Ihm  wie  seinen  Freunden  war  es 
selbstverständliche  Pflicht  der  Obrigkeit,  Servet  hinrichten  zu 
lassen,  und  es  war  nur  in  seinem  Sinn  geredet,  als  Sulzer  sich 
dagegen  aussprach,  daß  „man  aus  verkehrter  Milde  oder  aus  Haß 
gegen  die  Prediger  der   Gottlosigkeit  Spielraum  gewähre".5 

Diesmal  war  Calvin  mit  dem  Verhalten  seines  Freundes  zu- 
frieden und  stattete  ihm  seinen  aufrichtigen  Dank  ab:  „Weil  die 
Gottlosen  wissen,  daß  ich  reizbar  bin,  suchen  sie  mich  auf  alle 
Weise    zu    reizen    und    meine    Geduld    zu    ermüden.      Obwohl    der 


1)  C.  R.  XV.  p.  46. 

2)  C.  R.  XIV.  p.  635. 

3)  C.  R.  VIII.  p.  555  «• 
1)  CR.  XIV.  p.  642. 
5)  CR.  XIV.   p.   644. 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


Kampf  für  mich  schwer  war,  haben  sie  es  doch  nicht  fertig  ge- 
bracht, daß  ich  von  meinem  Wege  abwich.  Auch  bin  ich  schon 
gegen  alle  ihre  Stiche  abgehärtet.  Denn  der  Herr  hat  mich  hier 
in  kurzer  Zeit  so  geübt,  daß  ich  aus  vielfacher  Erfahrung  gelernt 
habe,  wie  vieles  Christi  Diener  zu  tragen  haben.  Derselbe,  der 
mich  bis  heute  erhalten  hat,  wird  mich  auch,  wie  ich  hoffe,  in 
Zukunft  mit  nicht  geringerer  Tapferkeit  ausrüsten.  Im  Vertrauen 
auf  seine  Hilfe  werde  ich  darum  den  Posten,  auf  den  er  mich  ge- 
stellt hat,  niemals  freiwillig  verlassen."  „Wie  sehr  diese  Kirche 
euch  für  eure  treue  Mühe  und  beherzte  Antwort  verpflichtet  ist, 
kann  ich  nicht  mit  Worten  aussprechen."  1 

Am  27.  Oktober  1553  lohten  die  Flammen  auf  dem  Champel 
und  verzehrten  den  unglücklichen  Mann,  trotz  Calvins  Versuch, 
die  Art  der  Todesstrafe  zu  mildern.2 

Dennoch  ging  kein  fröhliches  Aufatmen  durch  den  Freundes- 
kreis wie  sonst  wohl  nach  einem  mit  der  Waffe  des  Glaubens 
erfochtenen  Sieg.  Nicht  als  ob  man  nur  im  geringsten  das  Gefühl 
eines  Unrechts  gehabt  hätte.  Aber  es  drängte  sich  doch  allent- 
halben die  ernste  Frage  auf,  ob  einer  evangelischen  Obrigkeit  diese 
dem  Papsttum  entlehnte  Widerlegung  der  Ketzer  durch  den  Henker 
wohl  anstehe.  Es  war  nicht  nur  der  Basler  Humanistenkreis  unter 
Führung  Castellios,  der  das  Vorgehen  Calvins  und  des  Genfer  Rats 
verurteilte.  Noch  während  der  Prozeß  schwebte,  hatte  Sulzer  im 
Hinblick  auf  diese  Basler  an  Bullinger  geschrieben :  „Ich  weiß,  daß 
es  nicht  an  Männern  fehlen  wird,  die  Calvins  Forderung  und  die 
Willfährigkeit  des  Rats  stark  mißbilligen  werden".  Auch  von  dem 
Professor  der  Theologie  Cellarius,  genannt  Borrhaus  in  Basel  hieß 
es,  daß  er  gegen  die  Todesstrafe  bei  Ketzern  und  auch  bei  Servet 
gewesen  sei.3  Über  die  Empfindungen  eines  Vergerius  und  Mus- 
kulus  haben  wir  bereits  berichtet.  Auch  Calvins  treuer  Freund 
Nikolaus  Zerkintes  in  Bern  stand  auf  seiten  derer,  die  gegen  die 
Todesstrafe  bei  Irrlehrern  waren.  Calvin  hatte  ihm  seine  Anfang 
Februar  1554  veröffentlichte  Rechtfertigung  der  Behandlung  Ser- 
vets,  die  „Defensio  orthodoxae  fidei  de  sacra  trinitate",  zu- 
geschickt. Zerkintes  dankte  zwar,  sprach  aber  doch  seine  Meinung 
dahin  aus,  daß  niemand  wegen  Irrlehre  hingerichtet  werden  solle ; 


1)  C.  R.  XIV.  p.  654. 

2)  C.  R.  XIV.  p.  656. 

3)  C.  R.  XIV.  p.  642  n.  2. 


Von  W.  Kolfhaus.  89 


gegen  die  Bestrafung  Servets  wolle  er  nichts  sagen,  nur  hätte  er 
eine   andere   Todesart   gewünscht. ' 

Weder  Calvin  noch    Bullinger   freilich   wurden   durch  die    Be- 
denken dieser  Männer  angefochten,  sie  glaubten,  nach  göttlichem 
und  menschlichem  Recht  verfahren  zu  haben.     Als  Calvin  seineu 
Freund    von    der    Absicht    benachrichtigte,    sein    Buch    über    den 
Prozeß  Servets  herauszugeben,   ermunterte  Bullinger  ihn  und   bat 
ihn,    in    der    zu    erwartenden    Schrift    auch    den    Beweis    dafür    zu 
liefern,  daß  Gotteslästerer  und  alle,  die  dem   Servet  ähnlich   sind, 
mit  Recht  die  schwerste  Strafe  erdulden  müssen,  und  ähnlich  einige 
Tage  nachher :  „Sieh  zu,  daß  Du  treu  und  sorgsam  allen  Frommen 
die    Gestalt    Servets    zeigst,    damit    alle   vor    dieser    Bestie    einen 
Schrecken  empfangen."  2     Nur  den  Wunsch  legte  Bullinger  Calvin 
ans   Herz,   er   möge   die   Basler   Dissidenten   schonend   behandeln : 
„Ich  weiß  wohl,  daß   dort   einige   unruhige   oder  gar   verderbliche 
Köpfe    sind,    aber    man    darf   die    Schuld    weniger    nicht    alle    ent- 
gelten lassen.     Auch  Basel  hat,  wie  Du  weißt,  viele  fromme  und 
gelehrte  Männer,  die  der   Frömmigkeit   und   Dir  von  Herzen   zu- 
getan sind.     Auch  glaube  ich   nicht,  daß  die   Verkehrten  es  ver- 
dienen, durch  Dich  unsterblich  zu  werden."     Ohne  Wanken  nahm 
er  die  Partei  seines  heftig  angegriffenen  Freundes,  in  seiner  Über- 
zeugung bestärkt  durch   die   Mitteilung  des  Andreas   Hyperius   in 
Marburg,  daß  auch  Melanchthon,  mit  dem  Hyperius  in  Naumburg 
im  Mai  1554  zusammengetroffen  war,  das  Schriftchen  Calvins  durch- 
aus billige.3     Bullinger  tröstete  Calvin   wegen  der   gegen  ihn   ge- 
schleuderten Vorwürfe:   „Ich  weiß  und   höre  zuweilen,   daß   einige 
lieber  sähen,  Du  hättest  jene  Frage  nicht  behandelt.     Aber  es  gibt 
auch  andere,  die   Dir  für  Deine   Mühe  danken,   und  zu   ihnen  ge- 
liören  auch  ich  und  die  Diener  dieser  Kirche.     Wir  erkennen,  daß 
es  notwendig  war,  die  Frage  jetzt  zu  behandeln.     Möge  Dich  also 
die  unternommene  Arbeit  nicht  gereuen.    Ich  weiß,  daß  Du  keinen 
grausamen  Sinn   hast  und   keine  Grausamkeit   billigst.      Gewiß  ist 
auch  hierin  Maß  zu  halten ;  aber  wie  man  Servet,  diesen  Ausbund 
von  Ketzereien  und  verstockten  Menschen,  hätte  schonen  können, 
sehe  ich  nicht."  4    Bei  allem  Lob  der  Defensio  versäumte  Bullinger 
jedoch   nicht,    Calvin   zu   sagen,   was   er   an   der   Schrift   zu   tadeln 


1)  C.  R.  XV.  p.  19. 

2)  CR.  XIV.  p.  68.^.  696. 

3)  C  R.  XV  p.  234. 

4)  CR.  XV  p.   157. 


9o 


Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


fand:  „Das  Buch  möchte  vielen  Einfältigeren,  die  der  Wahrheit 
und  Dir  innig  anhängen,  wenig  gefallen  wegen  der  Kürze  und 
ebenso  wegen  der  Dunkelheit  und  Schwerfälligkeit  der  Behandlung. 
Besonders  in  diesem  Werk  scheint  mir  Dein  Stil  nicht  einfach 
genug  zu  sein."  Calvin  gab  den  Tadel  teilweise  als  berechtigt  zu : 
„Ich  verhehle  mir  nicht,  daß  hier  meine  Schreibweise  noch  ge- 
drängter ist  als  gewöhnlich."1  Für  seine  Person  war  Bullinger 
zur  Milde  geneigt,  aber  grundsätzlich  teilte  er  Calvins  Überzeugung 
vom  Recht  und  der  Pflicht  der  Obrigkeit,  Irrlehrer  auch  mit  dem 
Schwert  zu  bestrafen,  und  berief  sich  wohl,  z.  B.  in  einem  Brief 
an  Socinus  vom  Juli  1555  auf  das  Beispiel  Augustins,  der  auch 
endlich  nach  schweren  Erfahrungen  gelernt  habe,  daß  es  heilsam 
sei,  Ketzer  mit  Gewalt  zu  bändigen.  Noch  nach  vielen  Jahren, 
am  21.  August  1562,  äußerte  er  sich  im  gleichen  Sinne.  Unter  den 
Gründen,  weshalb  er  in  Bern  von  einer  Berufung  des  Basler  Hu- 
manisten Castellio  auf  eine  Professur  in  Lausanne  abriet,  war  auch 
der,  „daß  Castellio  keinen  großen  Gefallen  daran  gehabt  habe,  daß 
man  Servet  in  Genf  mit  Urteil  und  Recht  als  einen  gottesläster- 
lichen Verführer  mit  Feuer  gestraft  habe".  2 

Übrigens  war  auch  Calvin  nur  im  äußersten  Falle  für  An- 
wendung der  Todesstrafe.  Es  heißt  darüber  in  seiner  Defensio: 
„Wenn  wir  die  Obrigkeit  Wächter  und  Beschützer  der  Religion 
sein  lassen,  meinen  wir  nicht,  ihr  das  Schwert  zu  schärfen,  so  daß 
sie  jeden  Irrtum  strafen  und  sogleich  Blut  vergießen  dürfe.  Nur 
wo  die  Grundlagen  der  Religion  zerstört  und  schreckliche  Läste- 
rungen gegen  Gott  ausgestoßen  werden,  wo  durch  gottlose  und 
verderbliche  Lehren  die  Seelen  verloren  gehen  und  öffentlich  der 
Abfall  von  Gott  und  der  reinen  Lehre  ins  Werk  gesetzt  wird,  muß 
man  zu  jenem  äußersten  Mittel  greifen,  damit  das  tödliche  Gift 
nicht  weiter  schleiche.3 

VIII. 

Bullinger  während  der  Kämpfe  Genfs  mit  Bern. 

Unersetzlich  wurde  für  Calvin  die  Freundschaft  Bullingers  in 
seinem  Ringen  um  die  Durchführung  der  Reformation  in  Genf 
und  in  dem  damit  vielfach  zusammenhängenden  heftigen  politischen 


1)  C.  R.  XV.  p.  89.  123. 

2)  CR.  XIX.  p.  532. 

3)  CR.  VIII.  P.  477. 


Von  W.  Kolfhaus.  '  |  I 


Streit  mit  Bern.  Zwar  hatte  Servet  geendet.  Aber  die  altgenfe- 
rische  Partei  unter  Führung  von  Phil.  Berthelier,  Perrin,  Vandel, 
Sept  war  entschlossen,  sich  der  .Calvinischen  Kirchenzucht  nicht 
zu  beugen  und  Genf  von  dem  verhaßten  Franzosen  zu  befreien. 

In  anderem  Zusammenhang  haben  wir  bereits  über  den  Streit 
um  das  kirchliche  Exkommunikationsrecht  berichtet,  in  dem  Zürich 
den  Bestrebungen  des  Reformators  durch  sein  trotz  der  eignen 
abweichenden  Praxis  ihm  günstiges  Gutachten  zur  Hilfe  kam.  Im 
Anfang  des  Jahres  1555  war  es  endlich  gelungen,  die  förmliche 
Anerkennung  dieses  Rechtes  nach  langen  Verhandlungen  im 
Kleinen  und  Großen  Rat  durchzusetzen  und  der  Überzeugung 
öffentliche  Anerkennung  zu  verschaffen,  daß  die  bürgerliche  Obrig- 
keit ebensowenig  in  die  Verwaltung  des  Worts  und  der  Sakramente 
einzugreifen  habe,  wie  die  Diener  der  Kirche  in  die  weltliche  \  er- 
waltung  und  Gerichtsbarkeit.  Wie  die  Geistlichkeit  selbst  der 
bürgerlichen  Gewalt  unterworfen  sei,  so  hätten  auch  die  Großen 
der  Welt  unter  das  Wort  und  die  Herrschaft  Jesu  Christi  sich  zu 
beugen.  „Endlich,  schrieb  Calvin  an  Bullinger,  ist  uns  nach  langen 
Kämpfen  das  Exkommunikationsrecht  bestätigt  worden." 

Dazu  kam,  um  den  Zorn  der  durch  diesen  Sieg  Calvins  er- 
regten Gegner  erst  recht  zu  erwecken,  der  Sieg  seiner  Freunde  bei 
den  allgemeinen  Wahlen  im  Februar  1555.  Den  äußeren  Anlaß 
zum  Widerstand  gegen  die  siegreiche  Partei  boten  die  zahlreichen 
Verleihungen  des  Bürgerrechts  an  die  um  des  Glaubens  willen  aus 
Frankreich  und  Italien  nach  Genf  Geflüchteten,  gegen  die  sich 
längst  der  Groll  der  altgenferischen  Patrioten  als  gegen  die  sicher- 
sten Stützen  des  Systems  Calvins  gerichtet  hatte,  und  auf  die  der 
Reformator  als  auf  das  neue  Genf  vor  allem  seine  Hoffnung  baute. 
Zu  Tausenden  waren  die  Fremden  vor  der  Verfolgung  in  die  Stadt 
geflohen  und  hatten  dort  Aufenthalts-  oder  gar  Bürgerrecht  er- 
langt, eine  auserwählte  Schar,  nicht  nur  wegen  ihrer  bewährten 
Gesinnung,  sondern  auch  ausgezeichnet  durch  vornehme  Geburt, 
Bildung  und  Reichtum.  Wir  finden  unter  ihnen  namhafte  Gelehrte 
wie  die  Budes  und  Colladons,  hervorragende  Edelleute  wie  die 
Herren  von  Candolle  und  Trembley,  hochgestellte  Beamte  wie  <\vn 
königlichen  Lieutenant  und  Maire  von  Noyon  Laurent  von  Nor- 
mandie,  vor  allem  Calvins  vertrautesten  Helfer  in  der  italienischen 
Flüchtlingsgemeinde,  Galeazzo  Caracciolo,  Marquis  de  Vico,  der 
Calvin  einen  Ersatz  bot  für  den  Herrn  von  Falais  und  Breda,  als 


Q2  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

dieser  auf  Bolsces  Seite  trat,  für  Castellio  Sympathien  zeigte  und 
damit  die  Freundschaft  Calvins  verlor.1 

Am  16.  Mai  1555  brach  der  Aufstand  gegen  den  Rat  los,  wurde 
aber  noch  in  derselben  Nacht  durch  den  der  Mehrheit  des  Volks 
sicheren  Rat  niedergeschlagen.  Die  Führer  der  Bewegung  wurden 
eingekerkert  und  zum  Tode  verurteilt  oder  flohen  auf  das  Berner 
Gebiet  und  wurden  von  der  ohnehin  gegen  Calvin  erbitterten 
Schutzherrin  Genfs  willig  aufgenommen.  Ihretwegen  nun  ent- . 
brannte  zwischen  den  beiden  Städten  der  heftigste  Kampf,  weil 
Bern  sich  nicht  damit  begnügte,  die  Verbannten,  an  ihrer  Spitze 
Perrin  und  Vandel,  der  Milde  ihrer  Vaterstadt  zu  empfehlen,  son- 
dern ihre  Wiederaufnahme  forderte,  von  sich  aus  eine  Unter- 
suchung der  Angelegenheit  einleitete  und  selbst  dann  noch  für  die 
Verbannten  eintrat,  als  diese  zu  gewöhnlichen  Straßenräubern 
herabsanken,  die  bis  vor  die  Tore  Genfs  ihre  Plünderungen  aus- 
dehnten. Sogar  das  zwischen  Bern  und  Genf  bestehende  Burg- 
recht ließ  Bern  nach  Ablauf  des  Vertrags  verfallen,  unbekümmert 
um  die  schutzlose  Lage,  in  die  Genf  dadurch  gegenüber  den 
Herrschern  von  Frankreich  und  Savoyen  geriet,2  und  band  die 
Erneuerung  des  Vertrags  an  Forderungen,  die  die  Freiheit  Genfs 
ungebührlich  einschränkten  und  um  der  Würde  des  Staates  willen 
zurückgewiesen  werden  mußten. 

Welchen  Anteil  hatte  Bullinger  an  diesen  Nöten,  Leiden  und 
schließlichen  Siegen  seines  Freundes?  Über  die  Zustände  in  Genf 
wurde  er  sowohl  durch  Haller  und  Muskulus  in  Bern  wie  durch 
Calvin  stetig  auf  dem  Laufenden  erhalten  und  sein  Rat  und  seine 
Vermittlung  erbeten.  So  berichtete  ihm  Calvin  am  25.  Februar 
1554  die  Beilegung  des  Streites,  der  wegen  der  Ausschließung 
Bertheliers  vom  Abendmahl  getobt  hatte  und  durch  die  uner- 
wartete, unbeugsame  Tapferkeit  Calvins  zu  einem  vorläufigen, 
günstigen  Ende  gelangt  war,  ohne  jedoch  schon  prinzipiell  das 
Recht  des  Konsistoriums  sicher  zu  stellen.  „Man  hat  wohl  Frieden 
geschlossen,  aber  die  gesetzliche  Ordnung,  die  einzige  Bürgschaft 
des  Friedens,  wurde  hintangestellt.  Vor  den  Rat  gerufen  erklärte 
ich,  meinerseits  allen  zu  verzeihen,  die  aufrichtig  bereuten,  aber 
ich  sei  nur  ein  einzelner  aus  dem  Konsistorium  und  werde  hundert- 


1)  Über  den  Bruch  mit  de  Falais  cf.  Reformierte  Kirchenzeitung  1909 
p.  124  ,, Calvins   Freundschaft". 

2)  Kampschulte,    .Joh.    Calvin    usw."      II    p.    247  ff.,    258  ff.      Stähelin, 
.  Joh.  Calvin"  I  p.  457  ff. 


Von  W.  Kolfhaus.  93 


mal  lieber  sterben,  als  mir  etwas  anzumaßen,  das  gemeinsame  Sache 
der  Kirche  sei.  Satan  wünscht  nichts  mehr,  als  dal»  die  Dinge  in 
der  Schwebe  bleiben  und  dadurch  Gelegenheit  geschaffen  wird, 
später  wieder  Unruhen  zu  erregen.  Allein  wir  sind  entschlossen, 
vorzubeugen.  Vielleicht  werden  die  Feinde  sich  nicht  mehr  mit 
derselben  Gewalt  erheben  wie  früher,  aber  zum  Kampfe  werden 
wir  bald  wieder  gezwungen  sein."  1  Ähnlich  schilderte  er  die 
Situation  einige  Wochen  später:  Der  Zustand  der  Stadt  sei  ruhig, 
so  weit  das  bei  den  noch  unklaren  Verhältnissen  möglich  sei,  und 
er  versicherte,  daß  die  persönlichen  sehr  schweren  Beleidigungen 
von  ihm  den  Gegnern  nicht  nachgetragen  würden,  aber  „von  einer 
Besserung  ist  auf  jener  Seite  noch  nichts  zu  bemerken."  2  Schärfer 
schienen  sich  die  Dinge  schon  zugespitzt  zu  haben  im  September 
d.  Js.  „Infolge  der  Lässigkeit  der  Unsrigen  dürfen  die  Gottlosen 
frech  und  ungestraft  höhnen.  Dabei  werde  ich  von  unsern  Nach- 
barn —  sc.  den  Bernern  —  mehr  als  grausam  behandelt.  Denn 
im  Berner  Gebiet  verkündigen  einige  Prediger,  ich  sei  ein  schlim- 
merer Häretiker  als  alle  Papisten.  Je  unverschämter  einer  gegen 
mich  wütet,  desto  mehr  Gunst  und  Schutz  erwirbt  er.  Da  ich 
genugsam  erfahren  habe,  daß  von  unsern  Brüdern  nichts  zu  hoffen 
ist,  bleibe  ich  still  und  stumm."  Wie  lebhaft  Bullinger  an  den 
Klagen  seines  Genossen  teilnahm,  zeigt  die  Eile,  mit  der  er  sich 
sofort  bei  Haller  erkundigte,  ob  Calvin  Grund  zu  seiner  Be- 
schwerde über  die  Berner  habe.  Er  erhielt  von  Haller  die  be- 
ruhigende Mitteilung,  daß  ihm  von  den  Bernern  niemand  bekannt 
sei,  der  Calvin  der  Irrlehre  anklage.  „Er  ist  zwar  manchem  von 
uns  ziemlich  verhaßt,  weil  er  ihnen  zu  vielgeschäftig  erscheint. 
Aber  soviel  an  uns  liegt,  bemühen  wir  uns,  ihre  Rauheit  zu  mildern, 
und  lehren  sie,  gegen  so  große  Männer  mehr  Ehrerbietung  zu 
haben."  3 

So  harmlos  allerdings,  wie  Hauer  es  darstellte,  erschien  flcn 
Genfern  die  Angelegenheit  nicht.  Alle  Genfer  Prediger  reichten 
dem  Berner  Rate  eine  feierliche  Beschwerde  ein  wegen  der  ihnen 
zugefügten  Beleidigungen  und  verlangten,  daß  er  gegen  Bolsec 
und  Zebedaeus  einschreite,  die  als  die  Haupttriebfedern  angesehen 
wurden.  Auch  an  Bullinger  wandte  sich  Calvin  mit  der  Bitte,  auf 
Haller  einzuwirken,  daß  er  dem  Haß  der  Gegner  steuere.     Haller 


i)  C.  R.  XV.  p.  39- 

2)  C.  R.  XV.  p.  93. 

3)  C.  R.  XV.  p.  232,  238. 


Q/l  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


hätte  gern  die  Streitigkeiten  beigelegt,  richtete  auch  an  Zebedaeus 
die  Mahnung  zum  Frieden,  konnte  aber  des  persönlichen  Hasses 
der  Berner  Magnaten  und  einzelner  Prediger  nicht  Meister  werden, 
die  in  Calvin  den  Hauptvertreter  der  gegen  Berns  Herrschsucht 
sich  richtenden  Genfer  Politik  sahen,  und  fragte  wieder  in  Zürich 
um  Rat.1  Wohl  erließen  die  Herren  von  Bern  ein  Rundschreiben 
an  die  Prediger  der  französischen  Klassen  ihres  Gebiets  mit  dem 
Befehl,  sich  solcher  Taten  und  Worte  zu  enthalten,  die  die  Klagen 
Genfs  hervorgerufen  hätten,  und  bezeugten  auch  dem  Rat  zu  Genf 
ihren  Wunsch,  den  Frieden  zu  bewahren;2  aber  die  Hoffnung,  die 
Haller  Bullinger  aussprach,  daß  jetzt  Ruhe  eintreten  werde  „in 
jenem  Afrika",  wie  er  den  Genfer  Kreis  nannte,  erfüllte  sich  noch 
lange  nicht.  Weder  die  Genfer  Prediger  waren  mit  dem  lahmen 
Bescheid  der  Berner  Regierung  zufrieden  und  wurden  auch  nicht 
durch  eine  freundliche  Zuschrift  Hallers  beruhigt,  noch  schwiegen 
die  Feinde  Calvins  in  Bern.  Ja  Bolsec,  sein  erbittertster  Gegner, 
dessen  Ausweisung  aus  dem  Berner  Gebiet  wegen  seiner  Schmäh- 
ungen Calvins  schon  beschlossen  war,  erlangte  die  Erlaubnis  zu 
weiterem  Aufenthalt,  und  der  bekümmerte  Haller  ahnte  neue, 
schlimmere  Stürme.  Obschon  Haller  dem  Rat  ein  für  Bolsec  sehr 
ungünstiges  Gutachten  über  den  Handel  zwischen  diesem  und 
Calvin  abgab,3  erließ  der  Rat  das  die  Genfer  so  beleidigende  Edikt, 
daß  niemand  aus  den  Gemeinden  seines  Gebiets  sich  künftig  zur 
Abendmahlsfeier  nach  Genf  begeben  dürfe.  Tiefverletzt  klagte 
Calvin  Bullinger  sein  Leid : 4  In  Genf  selbst  sei  jetzt  nach  gesetz- 
licher Anerkennung  des  Exkommunikationsrechts  Ruhe  eingekehrt, 
die  neugewählten  Syndiks  seien  nach  seinem  Wunsch,  aber  ,, siehe 
da,  plötzlich  erhebt  sich  aus  unserer  Nachbarschaft  ein  schwererer 
Krieg.  Die  mich  einen  Häretiker  gescholten,  hat  der  Rat  frei  ge- 
sprochen und  ist  gegen  mich  und  diese  Kirche  mit  noch  größerer 
Gewaltsamkeit  aufgetreten.  Wir,  die  wir  so  herbe  Unbill  erlitten, 
werden  angeklagt.  Unser  Rat  wird  gebeten,  uns  streng  zurecht- 
zuweisen". „Inzwischen  verbieten  sie  ihren  Untertanen  durch 
öffentliche  Bekanntmachung,  bei  uns  das  Abendmahl  zu  empfangen." 
Durch  brüderliche  Zuspräche  suchte  Bullinger  den  verärgerten  und 
durch  den  Vorwurf  der  Häresie  in  seiner  und  seiner  Kirche  Ehre 


i)  CR.  XV.  p.  267,  300. 

2)  C.  R.  XV.  p.  311—313- 

3)  C.  R.  XV.  p.  397- 

4)  C.  R.  XV.  p.  449. 


Von  W.  Kolfhaus.  95 


tief  gekränkten  Mann  aufzurichten,  da  er  keine  Hilfe  mit  der  Tat 
zu  leisten  imstande  war.  „Deinen  mir  so  erwünschten  Brief  habe 
ich  mit  groüer  Betrübnis  gelesen  und  fange  nicht  erst  jetzt  an, 
bekümmert  zu  sein.  Wohlan,  mein  teurer  Bruder,  laß  uns  geduldig 
die  Lasten  tragen,  die  der  Herr  auferlegt  hat.  Wie  ich  höre,  bin 
auch  ich  von  einigen  mir  unbekannten  falschen  Brüdern  in  Bern 
verleumdet  worden.  Ich  befehle  das  alles  dem  Herrn,  seiner  Gnade 
gewiß.  Ich  ermahne  auch  Dich,  ruhigen  Herzens  diese  Anfech- 
tungen zu  dulden,  Du  weißt,  was  unserem  Erlöser  von  seinem  Volk 
widerfuhr,  und  daß  der  Apostel  sich  über  die  Treulosigkeit  falscher 
Brüder  heftiger  beklagte  als  über  das  Unrecht  der  offenen  Feinde. 
Durch  Ausharren  und  Geduld  müssen  wir  siegen."  „Die  Wider- 
sacher stürzen  nicht  selten  unter  ihrer  eigenen  Last,  durch  un^ 
gestüme  Bekämpfung  wird  ihnen  sehr  oft  geholfen.  Wir  müssen 
an  das  Wort  unseres  Heilandes  denken:  siehe  ich  sende  euch 
mitten  unter  die  WTölfe,  seid  klug  wie  die  Schlangen  und  ohne 
Falsch  wie  die  Tauben.  Laß  uns  fleißig  beten  und  unerschrocken 
auf  dem  Posten  stehen,  der  Herr  wird  mit  uns  sein."1 

Ebenso  ergebnislos  wie  die  schriftlichen  Beschwerden  des 
Genfer  Rats  und  Predigerkollegiums  endete  eine  mündliche  Ver- 
handlung Calvins  mit  seinen  Gegnern  in  Bern  Ende  März  1555. 
Bolsec  wurde  zwar  für  immer  aus  dem  Berner  Gebiet  verbannt,  aber 
über  das  Resultat  der  ganzen  Verhandlung  mußte  Haller  Bullinger 
mitteilen:  „Also  stat  die  Sach  übel  und  ist  Calvinus  je  uszbutzt, 
so  ist  er  hie  uszgfäget" ;  „ich  fürchte,  daß  noch  Schlimmeres  folgen 
wird.  Was  uns  angeht,  —  sc.  Haller  und  die  Kollegen  —  so  haben 
wir  Calvin  und  die  Seinigen  freundlich  aufgenommen,  so  daß  er  in 
gutem  Frieden  von  uns  schied  und  wenigstens  diesen  einen  Trost 
mit  sich  nahm.  Wenn  Du  einen  Rat  hast,  teile  ihn  uns  bitte 
mit."  -  Kein  Wunder,  daß  der  „so  uszgfäget"  Calvin  sich  in 
heftigem  Zorn  bei  Bullinger  beschwerte  über  die  ihm  durch  den 
Berner  Rat  zugefügte  Behandlung.  Den  Berner  Amtsbrüdern  gab 
er  das  Zeugnis,  daß  sie  redlich  ihre  Pflicht  erfüllt  hätten  und  an 
dem  traurigen  Ausgang  keine  Schuld  trügen.  Nun  solle  Bullinger 
sich  selbst  ins  Mittel  legen  und  für  die  verletzte  Ehre  Calvins 
eintreten.3 

Während    der    persönliche    Hader    zwischen    Calvin    und    den 

1)  C.  R.  XV.  p.  471 

2)  CR.  XV.  p.  564 

3)  C.  R.  XV.  p.  572. 


q()  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


Berner  Gegnern  noch  seine  Wellen  warf,  hatte  sich  das  Schicksal 
der  ihm  feindlichen  Partei  in  Genf  entschieden.  Der  in  der  Nacht 
vom  15.  auf  den  16.  Mai  1555  ausgebrochene  Aufstand,  schlecht 
organisiert,  von  keiner  Begeisterung  getragen,  scheiterte  kläglich. 
Die  unter  Berns  Schutz  geflüchteten  Häupter  der  Verschwörung 
wurden  ein  neues  Element  der  Zwietracht  zwischen  den  Schwester- 
städten, und  der  Befehl  Berns  am  31.  Mai,  die  Verurteilten  wieder 
aufzunehmen,  ließ  die  Flammen  des  Streites  heller  auflodern  als 
je  zuvor.  Haller  mochte  ahnen,  welch'  ein  Brand  entzündet  wor- 
den war.  Sofort  gab  er  Bullinger  über  das  Geschehene  Nachricht. 
Auch  v(  n  Calvins  Hand  langte  wenige  Tage  nachher  eine  authen- 
tische Darstellung  des  Aufruhrs  in  Zürich  an,  die  Bullinger  mit 
herzlichem  Glückwunsch  zu  der  überwundenen  Gefahr  und  der 
Bitte  erwiderte,  ihm  den  Verlauf  der  ganzen  Angelegenheit  noch 
ausführlicher  zu  erzählen.  Calvin  erfüllte  den  Wunsch  um  so 
bereitwilliger,  weil  es,  wie  er  schrieb,  sehr  in  ihrem  Interesse  liege, 
daß  die  Sache  in  Zürich  und  bei  den  Nachbarn  wahrheitsgetreu  be- 
kannt werde,  daher  möge  Bullinger  den  Bericht  auch  seinem  Rat 
mitteilen  sowie  den  Dienern  der  Kirche  zu  Schaffhausen,  um  allen 
falschen  Gerüchten  von  vornherein  entgegenzutreten.  Der  Mah- 
nung Bullingers,  die  Geduld  zu  bewahren,  erwiderte  er,  daß  er  alle 
ihm  widerfahrenen  Beleidigungen  sanftmütig  getragen  habe,  ohne 
seine  Feinde  beschwichtigen  zu  können.1 

Das  strenge  Gericht,  das  die  Genfer  Obrigkeit  gegen  die  Em- 
pörer und  ihre  Parteigenossen  übte,  und  die  entschiedene  Ablehnung 
der  Berner  Forderungen  erbitterten  dort  noch  mehr,  und  Haller 
klagte  Bullinger :  „Calvin  ist  bei  uns  sehr  verhaßt.  Briefe  von  ihm 
an  Freunde,  die  von  ihnen  entweder  unvorsichtig  aufbewahrt  wur- 
den und  gestohlen  sind,  oder  bevor  sie  die  Adressaten  erreichten, 
aufgefangen  wurden,  haben  den  Haß  noch  vermehrt.  Unsere  Ver- 
teidigung Calvins  hilft  nichts.  Calvin  und  Farel  glauben,  wir  täten 
zu  wenig.  Aber  was  sollen  wir  angesichts  des  wilden  Meeres  von 
Unruhen  und  Mühen  anderes  tun  als  fest  beim  Steuerruder  bleiben, 
damit  wir  doch  das  Schiff  unverletzt  bewahren,  wenn  wir  die  Fluten 
nicht  stillen  können !"  -  Es  kam  soweit,  daß  Haller  nur  noch  selten 
wagte,  an  Calvin  zu  schreiben,  um  sich  keinem  falschen  Verdacht 
auszusetzen.  Er  erzählte  Bullinger,  daß  in  Bern  Calvin  als  Haupt- 
treiber in  dem  Verfahren  gegen  die  Verschworenen  gelte,  und  daß 


1)  C.  R.  XV.  p.  676. 

2)  C.  R.  XV.  p.  765. 


Von  W.  Kolfhaus  97 


man  von  ihm  behaupte,  er  sei  sogar  bei  der  peinlichen  Befragung 
der  Verhafteten  durch  die  Folter  zugegen  gewesen.  Er  selbst 
glaube  das  freilich  nicht.1 

Bullinger  schaute  dem  immer  heißer  entbrannten  Streit  eine 
Zeitlang  mit  schweigender  Sorge  zu.  Er  fürchtete  nicht  nur  für  die 
persönliche  Stellung  Calvins,  auch  der  innere  Friede  der  Eid- 
genossenschaft war  bedroht ;  auswärtige  Verwicklungen,  z.  B.  mit 
Frankreich  standen  manchem  Patrioten  vor  der  Seele.  Von  Basel 
stellte  Sulzer  am  3.  September  1555  Bullinger  die  Gefahr  vor,  daß 
unter  den  gegenwärtigen  Umständen  der  Bund  zwischen  Genf  und 
Bern  sich  lösen  möchte ;  am  8.  September  legte  ihm  Muskulus  die 
Lage  dar  und  beschwor  ihn,  auf  Calvin  besänftigend  einzu- 
wirken. „Ich  halte  es  für  nötig,  Deine  Klugheit  anzurufen  in  der 
Genfer  Angelegenheit,  die  täglich  schlimmer  wird,  so  daß  wir 
fürchten  müssen,  es  werde  aus  diesem  Streit  der  beiden  Städte  ein 
Brand  entstehen,  zu  dessen  Unterdrückung  ihr  und  die  übrigen 
Nachbarn  mit  aller  Kraft  beitragen  solltet.  Der  Haß  gegen  den 
Namen  unseres  im  Herrn  geliebten  Bruders  Calvin  wächst  durch 
die  Böswilligkeit  einiger  so,  daß  ich  besorge,  ihm  werde  bei  dem 
Ausbruch  eines  Streites  alle  Schuld  zugeschoben  werden.  Daher 
muß  er  nach  meiner  Meinung  ermahnt  werden,  mit  allem  Eifer  zu 
verhüten,  daß  unsere  beiden  Städte  voneinander  getrennt  werden. 
Ich  bin  gewiß,  wenn  er  die  Seinigen  veranlassen  wollte,  sich  den 
Bernern  anzupassen,  daß  er  dies  leicht  erreichen  würde.  Um  so 
mehr  muß  er  darauf  bedacht  sein,  als  man  ihm  und  seinen  Franzosen 
es  zweifellos  allein  Schuld  geben  wird,  wenn  der  Bund  der  Städte 
sich  löst."  Noch  dringender  lautete  die  Klage  des  Muskulus  eine 
Woche  später :  ,, Wenn  mich  nicht  alles  täuscht,  ist  Calvin  in  diesen 
Wirren  nicht  vorsichtig  genug.  Beherzte  Männer  müßten  da- 
zwischen treten,  das  wäre  eure  und  der  Basler  Pflicht."2  Haller 
befürchtete  sogar,  man  werde  bald  zu  offenen  Angriffen  kommen, 
wenn  nicht  die  Züricher  und  Basler  durch  eine  gemeinsame  Ge- 
sandtschaft eingriffen  oder  wenigstens  brieflich  ihre  Vermittlung 
anböten.  Noch  bevor  diese  Aufforderung  Hallers  am  26.  Septem- 
ber nach  Zürich  gekommen  war,  hatte  sich  Bullinger  der  ihm  von 
Muskulus  zugemuteten  nicht  leichten  Aufgabe  unterzogen.  Am 
28.  September  hielt  er  Calvin  die  Gerüchte  vor,  die  über  seine  Grau- 
samkeit gegen  die  Gefangenen  und  seine  Feindschaft  gegen  Bern 


1)  CR.  XV.  p.  718. 

2)  C.  R.  XV.  p.  753,  764. 

Calvinstudien 


q3  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

in  Zürich  verbreitet  wurden.  „Doch  Du  verstehst,  daß  ich  nicht 
meine,  sondern  die  Gedanken  anderer  ausspreche;  ich  bin  über- 
zeugt, daß  Du  Dich  in  solche  Dinge  nicht  einmischest,  zu  deren 
Anführer  und  Urheber  jene  Dich  machen.  Wenn  Dir  befreundete 
Männer  der  Regierung  Dich  nach  Deiner  Ansicht  fragen,  so  weiß 
ich,  daß  Du  ihnen  nur  rätst,  was  der  Frömmigkeit  und  dem  Frieden 
dient.  Euer  Bündnis  mit  Bern  hat  bisher  Glück  gebracht.  Wunder- 
bar ist  die  Genfer  Kirche  gewachsen.  Sie  war  und  ist  bis  heute  das 
Asyl  der  um  Christi  willen  Geflüchteten.  Von  dort  aus  wird  durch 
ganz  Frankreich  die  Botschaft  von  Jesus  Christus  verbreitet,  von 
andern  Völkern  nicht  zu  reden.  Zwar  kann  Gottes  Güte  und  Macht 
auch  ohne  Bündnis  eure  Stadt  erhalten.  Doch  da  Gott  nicht 
immer  auf  wunderhafte  Weise,  sondern  durch  ordentliche  Mittel 
handelt  und  im  allgemeinen  menschliche  Hilfsmittel  nicht  ver- 
wirft, und  da  jener  Bund  euch  bisher  von  Vorteil  war,  so  meinen 
verständige  Männer,  daß  das  Bündnis  nicht  zerrissen  werden  dürfe, 
und  daß  ein  Bruch  nur  zum  Schaden  der  Frommen  gereichen 
könne.  Die  Sache  beunruhigt  mich  sehr.  Ich  meine,  in  Dingen, 
die  nicht  von  besonderer  Bedeutung  sind,  solle  man  den  Bernern 
etWas  nachgeben,  und  andrerseits  dürfen  auch  diese  nicht  zu  hart 
sein,  damit  der  bisherige  Bund  verlängert  werde,  bis  wir  bessere 
Zeiten  erleben.  Ich  bitte  und  ermahne  Dich,  lieber  Bruder,  den 
Deinigen  zu  raten,  daß  sie  den  Bernern  den  Willen  tun ;  denke  dar- 
auf, ich  beschwöre  Dich,  was  zum  Frieden  und  zur  Erbauung  ge- 
reicht." 1 

Calvin  wußte  sehr  wohl,  welche  Gerüchte  über  ihn  rundgingen. 
Ihn,  den  damals  gerade  schwer  Erkrankten,  mußten  sie  um  so 
schmerzlicher  treffen.  Nur  gelegentlich  hob  er  die  Feder  auf  zur 
Wahrung  seiner  angegriffenen  Ehre.  Wenn  es  möglich  wäre, 
schrieb  er  an  Piperinus,  würde  er  sich  am  liebsten  alles  schweigend 
gefallen  lassen.  Piperinus  hatte  ihm  —  auch  in  dieser  Kampfes- 
zeit —  Kenntnis  gegeben  von  einem  Gerücht,  daß  Calvin  4000 
Kronen  für  sich  gebraucht  habe,  die  ihm  von  der  Königin  von  Navarra 
zur  Verteilung  an  die  Armen  geschenkt  wären,  und  ihm  geraten, 
derartige  Verleumdungen  öffentlich  zurückzuweisen.  Calvin 
wünschte  keine  Verteidigung  und  tröstete  sich :  „Wenn  ich  im 
Leben  den  Namen  eines  reichen  Mannes  tragen  muß,  so  wird  mich 
doch   endlich  der  Tod  von  diesem  Vorwurf  befreien."2     So  wollte 


1)  C.  R.  XV.  p.  797. 

2)  C.  R.  XV.  p.  825. 


Von  W.  Kolfhaus.  99 


er  auch  bei  Bullinger  nicht  alle  bösen  Gerüchte  widerlegen,  die  über 
ihn  erzählt  wurden.  Nur  über  den  Einfluß,  den  er  nach  den  Ver- 
leumdungen seiner  Feinde  auf  den  schwebenden  Prozeß  gegen  Perrin 
und  Genossen  und  auf  die  Unterhandlungen  über  die  Versöhnung  mit 
Bern  ausüben  sollte,  suchte  er  Bullinger  aufzuklären.  Die  Behaup- 
tung, daß  er  der  Tortur  der  Angeklagten  beigewohnt  oder  ein  ' 
ständnis  von  ihnen  erpreßt  habe,  das  sie  nachher  widerrufen  bauen, 
wies  er  weit  von  sich.  Wohl  sei  er  in  das  Gefängnis  gegangen,  aber 
nur  auf  Bitten  der  Gefangenen  selbst  und  mit  behördlicher  Erlaubnis. 
Auch  könne  von  einer  grausamen  Tortur  keine  Rede  sein.  Was  die 
Bundeserneuerung  mit  Bern  betreffe,  so  stelle  Genf  keine  uner- 
hörten Forderungen,  wolle  sich  aber  auch  nicht  auf  Gnade  und  Un- 
gnade den  Bernern  preisgeben.  Er  für  seine  Person  wisse  wohl 
den  Nutzen  des  Bündnisses  zu  würdigen,  und  in  Genf  sei  wohl- 
bekannt, daß  er  treulich  an  dem  Bund  festhalte;  er  wünsche  nur, 
daß  die  Berner  Brüder  ebenso  mäßigend  auf  die  Ihrigen  ein- 
wirkten.1 In  seinem  Dankschreiben  bezeugte  ihm  Bullinger,  daß 
er  jetzt  befriedigt  sei  und  sich  freue,  die  Wahrheit  zu  kennen,  da- 
mit er  den  Lügen  entgegentreten  könne.  Er  rief  ihm  zu:  „Fahre 
Du  fort,  auf  Frieden  und  Eintracht  zu  dringen,  dadurch  wirst  Du 
Gott  und  allen  Guten  gefallen."  Zugleich  meldete  er  dem  Freunde, 
daß  Zürich  und  Basel  in  vermittelndem  Sinne  nach  Bern  geschrieben 
hätten,  und  riet  ihm,  den  Genfer  Rat  zu  veranlassen,  die  Geschichte 
des  Aufstandes  so  schnell  und  so  kurz  als  möglich  in  deutscher 
Sprache  abzufassen  und  nach  Zürich  zu  schicken,  damit  so  die 
Schritte  Perrins  und  seiner  Genossen  durchkreuzt  würden,  die  die 
schweizerische  Tagsatzung  für  sich  gewinnen  wollten.  „Dies  aber 
sage  ich  Dir  im  Vertrauen  als  meinem  besten  Freunde,  ohne  daß 
mich  ein  anderer  dazu  bewogen  hat."  2 

Inzwischen  begann  doch  die  Festigkeit  Genfs  und  Calvins,  mit 
der  sie  allen  Einschüchterungsversuchen  Berns  Trotz  boten,  lang- 
sam Frucht  zu  tragen.  Die  Stimmung  gegen  Calvin  in  der  Schweiz 
schlug  um  zugunsten  Genfs  und  seines  Reformators.  Schon  am 
18.  Oktober  1555  hatte  Sulzer  erfreut  an  Bullinger  geschrieben,  daß 
Calvins  persönliche  Ehrenhaftigkeit  wieder  mehr  anerkannt  werde, 
und  daß  bei  den  Verständigeren  in  Bern  eine  friedlichere  Stimmung 
die  Oberhand  zu  gewinnen  scheine.  Auch  Haller  ließ  seinen  väter- 
lichen Freund  wissen,  er  habe  die  Hoffnung,  daß  die  Genfer  Sache 


1)  C.  R.  XV.  p.  829. 

2)  C.  R.  XV.   p.  852. 


IOO  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


sich  zum  Guten  wende.  Diese  Hoffnung  erfüllte  sich  damals  zwar 
noch  nicht,  es  dauerte  noch  länger  als  zwei  Jahre,  ehe  nach 
mancherlei  Zwischenfällen  der  Vertrag  mit  Genf  unter  liberalen 
Bedingungen  zustande  kam.  Aber  Bern  erkannte  immer  mehr, 
daß  es  in  seinem  eigenen  Interesse  liege  sowohl  bezüglich  seiner 
auswärtigen  Politik  wie  mit  Rücksicht  auf  seine  innerschweizerische 
Stellung,  den  Bogen  nicht  zu  straff  zu  spannen.  Die  angebotene 
Vermittlung  Zürichs  lehnte  es  freilich  zunächst  stolz  ab,  da  es 
von  sich  aus  ohne  Vermittler  mit  Genf  fertig  werden  wollte,  mußte 
es  sich  aber  im  folgenden  Jahre,  als  nach  Ablauf  des  alten  Burg- 
rechtvertrags offener  Krieg  auszubrechen  drohte,  doch  gefallen 
lassen,  daß  die  Gesandten  von  Zürich,  Basel  und  Schaffhausen  in 
Bern  erschienen  und  zur  Nachgiebigkeit  mahnten.  Alle  Kräfte 
strengte  Bullinger  an,  beiden  Teilen  versöhnend,  mildernd  zuzu- 
reden. Als  im  Januar  1556  die  Berner  abermals  die  Bitte  Genfs 
um  Erneuerung  der  Freundschaft  unerfüllt  ließen,  beauftragte  der 
Genfer  Rat  Calvin  mit  der  Abfassung  einer  Geschichte  der  ver- 
fahrenen Angelegenheit,  um  sie  durch  eine  besondere  Gesandtschaft 
den  übrigen  befreundeten  Kantonen  zuzustellen.  Bullinger  reichte 
selbst  dem  Züricher  Bürgermeister  Hans  Haab  ein  Gutachten  ein 
zugunsten  der  bedrängten  Stadt  und  versicherte  Calvin,  sein  Rat 
werde  nicht  ermüden,  bis  der  Streit  zu  Ende  gebracht  sei.  Ob- 
gleich die  Gesandten  der  Städte  in  Bern  nicht  erreichten,  was  sie 
gewollt  hatten,  verlor  er  doch  den  Mut  nicht  und  sprach  auch  Cal- 
vin neuen  Mut  zu :  „Die  Gesandten  haben  uns  nicht  das  mit- 
gebracht, was  wir  alle  erwarteten.  Dennoch  geben  wir  die  Hoff- 
nung nicht  auf.  Wir  wollen  den  Herrn  bitten,  daß  er  diese  Sache 
führe.  An  den  Unsrigen  soll  es  nicht  fehlen,  was  sie  zur  Ver- 
söhnung tun  können,  werden  sie  leisten.  Werde  auch  Du  in  Deinen 
Bemühungen  nicht  müde,  damit  nicht  die  Deinigen  im  Zorn  etwas 
tun,  was  sie  nachher  reut."  x  Es  bedurfte  nicht  erst  der  Angstrufe 
eines  Farel,  Beza  und  schließlich  auch  Hallers,  um  Bullinger  zu 
immer  wiederholten  Bemühungen  anzuspornen.  Immer  wieder  er- 
mahnte er  Calvin  zu  Geduld  und  Hoffnung  und  half  ihm  mit  prak- 
tischen Ratschlägen,  z.  B.  zur  Vereitlung  des  Versuchs  Perrins, 
durch  die  eidgenössische  Tagsatzung  die  Wiedereinführung  in  Genf 
zu  erzwingen.  Sein  großer  Einfluß  wirkte  dazu  mit,  daß  sich  die 
Sympathie  der  übrigen   Kantone  auf  die   Seite   Genfs  neigte,   bis 

1;  CR.  XVI.  p.  65. 


Von  \V.  Kolfhaus.  IOI 


er  endlich  die  Genugtuung  hatte,  daß  ihm  Haller  am  25.  November 
1557  berichten  konnte:  „Am  vorigen  Sonntag  ist  durch  Gottes 
Gnade  das  Bündnis  mit  Bern  nicht  nur  für  einige  Jahre,  sondern 
für  immer  abgeschlossen  worden."1 

Bullinger  war  in  dem  langen  Streit  nicht  vergebens  der  Mentor 
seines  feurigen,  reizbaren  Freundes  gewesen.  Er  hatte  ihn  nicht 
nur  nach  außen  gedeckt  mit  dem  Schild  seines  Ansehens,  sondern 
vor  allem  ihn  von  übereilten  Schritten  zurückgehalten  und  ihn  auch 
in  den  verzweifeltsten  Situationen  zu  Geduld  und  verständigem  Ein- 
lenken bestimmt,  ohne  ihm  zuzumuten,  sein  Ziel  aufzugeben:  die 
Freiheit  Genfs  gegenüber  Bern. 

IX. 

Calvin  und  Bullinger  in  der  Verteidigung  der  reformierten 
Abendmahlslehre  gegen  Westphal. 

Gleichzeitig  mit  dem  häuslichen  kirchenpojitischen  und  poli- 
tischen Streit  der  beiden  Schwesterstädte  war  der  alte  theologische 
Hader  um  die  Abendmahlslehre  in  der  protestantischen  Welt  wieder 
erwacht.  Hie  Luther !  Hie  Zwingli !  war  abermals  zum  Feld- 
geschrei  geworden.  Aber  jetzt  war  es  nicht  mehr  so,  daß  wie  in  dem 
ersten  Abendmahlsstreit  mit  Luther  selbst  die  Führer  der  franzö- 
sischen Reformation  von  den  deutschen  Schweizern  mit  Mißtrauen 
betrachtet  wurden;  dank  dem  Consensus  Tigurinns  fand  jetzt  der 
Angriff  der  Lutheraner  die  Reformierten  geeinigt.  Bullinger  konnte 
Calvin  getrost  die  Verteidigung  ihrer  angefochtenen  Lehre  an- 
vertrauen. 

Veranlassung  zu  dem  Streit,  der  übrigens  für  die  Kultur-  und 
allgemeine  Kirchengeschichte  interessanter  ist  als  für  die  Theo- 
logie, gab  der  Hamburger  Pastor  Joachim  Westphal  durch  seine 
Schrift  ,,Recta  fides  de  coena  Domini  ex  verbis  apostoli  Pauli  et 
evangelistarum"  1553,  der  schon  1552  die  scharfe  polemische 
Schrift  „Farrago  confusanearum  et  inter  se  dissidentium  opinionum 
de  coena  Domini  ex  sacramentariorum  libris  congesta"  voran- 
gegangen  war.2 


1)  CR.  XVI.  p.  711,  716.  Über  den  Streit  mit  Bern  besonders 
Kampschulte.    ,Joh.   Calvin   usw."    II   p.  294  ff. 

2)  Über  Westphal  und  seinen  Zusammenstoß  mit  den  englischen 
Flüchtlingen  unter  Lasky  und  Micronius  siehe  Dalton,  .Johannes  a  Lasco" 
p,.  437  ff.,  447  ff.  C.Hein,  „Die  Sakramentslehre  des  Joh.  a  Lasco"  p.  167 
Anm.     G.  Kawerau  in  Hauck  R.  E.  s.  v.  Westphal. 


jq2  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


Westphals  Alarmruf  gegen  die  Sakramentierer  wurde  in  der 
Schweiz  bekannt  durch  Lasky,  der  am  3.  März  1554  den  Predigern 
von  Zürich  von  dem  Erscheinen  der  Farrago  Mitteilung  machte 
und  ihnen  zugleich  die  Schrift  Recta  fides  einschickte  mit  der  Be- 
merkung: „Ein  Hamburger  Pastor  Joachim  Westphal  hat  gegen 
uns  alle  ein  Buch  verfaßt  voll  von  Lügen  und  bösen  Reden,  ohne 
indessen  etwas  zu  sagen,  das  nicht  schon  von  anderen  besser  ge- 
sagt ist.  Ich  schicke  es  euch,  ob  ihm  vielleicht  einer  von  euch  ant- 
worten will.  Ich  habe  jetzt  keine  Zeit  dazu.  Ich  möchte  sehr,  daß 
ihm  geantwortet  werde,  nicht  seinetwegen,  sondern  der  anderen 
wegen,  die  auf  ihn  hören."  1  Fast  mit  denselben  Worten  übergab 
er  das  Buch  den  Genfern  zur  Kenntnisnahme.  Schon  am  17.  März 
zeigte  Bullinger  Lasky  den  Empfang  seines  Briefes  an  und  sprach 
die  Hoffnung  aus,  Calvin  werde  der  Recta  fides  Westphals  ant- 
worten, vielleicht  auch  Bibliander  von  Zürich ;  ja  Calvin  habe  selbst 
schon  an  eine  Gegenschrift  gedacht.2  Calvin  war  im  ersten  Augen- 
blick nicht  abgeneigt,  die  Beantwortung  zu  übernehmen.  Er  fragte 
bei  Bullinger  an,  ob  er  zu  einer  Antwort  rate,  er  wolle  dann  gern 
einige  Tage  dieser  Arbeit  widmen.  Dieser  hatte  unterdessen  seine 
Ansicht  geändert  und  riet  am  22.  April  Calvin  ab,  dem  Angreifer 
entgegenzutreten:  „Wenn  aber  Du  und  andere  fromme  Männer 
anders  denken,  möge  geschehen,  was  der  Erbauung  am  meisten 
dient."  Bevor  das  abratende  Schreiben  nach  Genf  gelangte,  war 
Calvin  schon  entschlossen  zur  Erwiderung,  nur  zweifelte  er  noch, 
ob  er  für  sich  antworten  sollte  oder  ob  die  Schweizer  Kirchen  sich 
besser  gemeinsam  äußerten.  Letzteres  sei  wohl  vorzuziehen,  werde 
jedoch  bei  den  anderen  Kirchen  auf  Schwierigkeiten  stoßen.  Man 
müsse  zu  einer  Antwort  schreiten,  damit  nicht  derartige  Verleum- 
dungen auf  die  Fürsten  Einfluß  gewännen,  und  das  traurige  Beispiel 
des  dänischen  Königs  Nachahmer  finde,  der  die  zur  Winterszeit  an 
seinen  Küsten  landenden  Flüchtlinge  aus  England  wieder  auf  das 
Meer  hinausgejagt  hatte.3 


1)  CR.  XV.  p.  63,  82. 

2)  Woher  Bullinger  diese  letztere  Nachricht  hatte,  läßt  sich  nicht 
feststellen.  Calvins  Briefe  an  Bullinger  sprechen  dagegen,  daß  er  damals 
bereits  derartiges  im  Sinne  hatte.     C.  R.   IX.   Prol.    XL 

3)  C.  R.  XV.  p.  123.  —  Kawerau  a.  a.  O.  behauptet  unter  Hinweis 
auf  diese  Äußerung,  es  sei  mehr  aus  kirchenpolitischen  als  aus  dogmatischen 
Motiven  geschehen,  daß  Calvin  gegen  Westphal  schrieb.  Dogmatische 
Motive  finden  wir  allerdings  bei  Calvin  nicht,  Westphals  Dogmatik  hat 
ihn  nicht  bewogen,   sich   mit  dem   Manne   zu  befassen.     Statt   „kirchenpoli- 


Von  \V.   Kolfliaus.  I  O3 


Schon  bald  kehrte  Bullinger  zu  seinem  ersten  Gedanken  zu- 
rück. Er  beklagte  sich  bei  Calvin  über  die  Erneuerung  d<  s  Streites 
durch  die  Lutheraner:  „Ich  überlege,  ob  wir  zu  ihren  zornigen  und 
ungelehrten  Schriften  immer  schweigen  dürfen."  Er  wolle  mit 
Calvin  beraten,  was  zu  tun  sei;  unter  Zurückdrängimg  aller  persön- 
lichen Gereiztheit  müsse  man  das  unternehmen,  was  am  meisten 
erbaue.  Calvin  ging  nur  zögernd  an  das  Werk.  Noch  am  23.  Juni 
schrieb  er  Viret,  er  überlasse  ihm  gern  die  Aufgabe,  Westphal  zu 
antworten,  zu  der  Haller  Viret  ermuntert  hatte.  Aber  er  war  der 
gegebene  Führer,  wenn  einmal  der  aufgedrungene  Kampf  durch- 
gefochten werden  sollte.  Aus  einem  Brief  Bullingers  an  Beza  hatte 
Calvin  gelesen,  welcher  Art  Bullingers  Gedanken  waren,  und  trotz 
seiner  starken  litterarischen  Beschäftigung  —  er  bereitete  gerade 
die  Herausgabe  der  Evangelienharmonie  vor  —  überwand  er  seine 
Zurückhaltung  und  versprach,  sobald  er  Zeit  habe,  die  Sache  in  die 
Hand  zu  nehmen.  Er  werde  dann  seine  Arbeit  früh  genug  nach 
Zürich  zur  Prüfung  einsenden.1 

Was  Calvin  wollte,  zeigt  ein  Brief  an  Sulzer:  „Ich  wünsche 
nur  durch  ein  kleines  Schriftchen  darzulegen,  wieviel  richtiger  und 
reiner  unsere  Kirchen  denken,  als  jene  uns  nachsagen."  Sein 
Temperament  und  die  weitere  Entwicklung  des  Streites  haben  es 
leider  bei  diesem  Wunsch  bleiben  lassen.  Unter  Bullingers  er- 
mutigendem Zureden :  „Der  Herr  schenke  Dir  seinen  heiligen 
Geist,  damit  dein  Unternehmen  zu  seiner  Ehre  und  dem  Heil  vieler 
gereiche ;  mit  Sehnsucht  erwarte  ich  Deine  Arbeit",  gab  er  sieh  ans 
Werk  und  konnte  schon  am  18.  September  1554  die  baldige  Vol- 
lendung seiner  Verteidigung  ihres  Consensus  den  Zürichern  in 
Aussicht  stellen.  Am  6.  Oktober  sandte  er  das  Buch  nach  Zürich 
mit  der  Bitte,  seine  Arbeit  zu  prüfen  und  mit  den  übrigen  Kan- 
tonen wegen  einer  gemeinsamen  Aktion  zu  verhandeln.  Bevor 
aber  die  Züricher  Prediger  sich  mit  der  Veröffentlichung  einver- 
standen  erklärten,   wünschten   sie  allerlei   geändert   zu    haben   und 


tische  Motive"  sagt  man  besser:  Rücksicht  auf  Melanchthon  und  seinen 
Kreis,  dessen  Bedeutung  Calvin  zwar  überschätzte,  mit  dem  er  sich  aber 
brüderlich  verbunden  wußte,  dem  er  den  Rücken  stärken  wollte,  und  den 
er  gern  zu  einem  offenen  Wort  gegen  die  Intransigenten  veranlaßt  hätte. 
..Aus  Melanchthons  Briefen  siehst  du,  wie  schrecklich  den  ehrenwerten 
Männorn,  die  aber  nicht  genug  Mut  besitzen,  die  Raserei  jener  ist.  Wenn 
von  uns  eine  Antwort  kommt,  werden  sie  vielleicht  etwas  wagen."  Calvin 
an  Bullinger  CR.  XV.  p.  317. 
1)  CR.  XV.  p.207. 


JO4  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


teilten  Calvin  freimütig  ihre  Bedenken  mit.  Sie  nahmen  Anstoß  an 
der  scharfen  Weise,  in  der  die  Person  Westphals  und  seiner  Gesin- 
nungsgenossen behandelt  war.  „Wir  erkennen  an,  daß  jene  eine 
härtere  Behandlung  verdienen,  aber  nicht  von  Deiner  oder  unserer 
Seite,  denen  Maßhalten  besser  ansteht.  Luther  hat  es  durch  solche 
bitteren  Scheltreden  dahin  gebracht,  daß  viele  nicht  üble  Männer 
seine  Bücher  nicht  mehr  lesen  wollten."  Ferner  machten  die 
Züricher  Calvin  darauf  aufmerksam,  daß  er  in  seinem  Entwurf  die 
Meinung  Luthers  über  das  Abendmahl  viel  günstiger  wiedergebe 
als  sie  in  Wirklichkeit  sei,  und  führten  zum  Beweise  einzelne  Aus- 
sprüche Luthers  an,  die  Calvin  wegen  seiner  Unkenntnis  des  Deut- 
schen fremd  waren.  Ebenso  waren  sie  nicht  zufrieden  mit  Calvins 
Berufung  auf  die  Augsburger  Konfession,  die  von  den  Gegnern 
ganz  anders  verstanden  werde,  sowie  mit  einzelnen  Sätzen  und 
Ausdrücken,  teils  weil  sie  zu  scharf  wären,  teils  weil  sie  im  luthe- 
rischen Sinne  aufgefaßt  werden  könnten.  In  seinem  Begleit- 
schreiben zu  diesen  Anmerkungen  versprach  Bullinger,  die  Zu- 
stimmung der  anderen  Kirchen  einzuholen,  ein  Gedanke,  von  dem 
man  wegen  der  Unmöglichkeit  der  Durchführung  in  jener  Zeit  des 
brennendsten  Streites  zwischen  Bern  und  Genf  bald  abließ.1 

Calvin  ging  sehr  freundlich  auf  die  Wünsche  der  Züricher  ein: 
,,Es  ist  mir  die  größte  Freude,  daß  ihr  freimütig  und  ohne  Hinter- 
gedanken mit  mir  verhandelt,  wie  es  sich  unter  Brüdern  gehört." 
Seine  Scheltworte  gegen  Westphal  wolle  er  mäßigen,  die  Berufung 
auf  Luther  und  die  Augustana  im  Sinn  der  Züricher  ändern.  Ein- 
zelheiten verteidigte  er,  so  die  den  Brüdern  verdächtigen  Worte : 
„unsere  Vereinigung  mit  Christus  ist  unaussprechlich  und  unbegreif- 
lich und  höher  als  unser  Verstand",  mit  der  feinen  Bemerkung:  „gar 
kein  Geheimnis  anerkennen,  das  hieße,  die  geheimnisvolle  Kraft  des 
Geistes  leugnen,  die  wir  so  oft  preisen."  Die  umgearbeitete  „Defensio 
sanae  et  orthodoxae  doctrinae  de  sacramentis  eorumque  vi,  fine, 
usu  et  fructu"  gefiel  Bullinger :  „Wir  sind  alle  damit  einverstanden, 
daß  das  Buch  von  Dir  ausgegeben  wird.  Wir  versprechen  Dir 
unsere  Hilfe  in  der  Verteidigung  unseres  Consensus  und  bekennen, 
daß  wir  Dir  vielen  Dank  schulden,  der  Du  zuerst  in  der  gemein- 
samen Sache  zu  den  Waffen  gegriffen  hast."  Er  halte  es  nicht  für 
nötig,  der  Defensio  ein  gemeinsames  Schreiben  der  Züricher  Pre- 
diger und  Professoren  anzuhängen,  wie  beim  Consensus  seinerzeit 


.0  CR.  XV.  p.  300.    Haller  an  Bullinger. 


Von  W.  Kolfhaus.  105 


geschehen  war,  da  dann  andere  zürnen  würden,  wie  damals  die 
Basler,  daß  man  sie  übergangen  habe.  Calvin  solle  die  Arbeit 
möglichst  schnell  zum  Druck  befördern  und  den  einzelnen  Theo- 
logen zustellen.1  Beinahe  hätte  jedoch  Calvin  seine  Arbeit  noch 
selbst  im  Ärger  vernichtet.  Wir  lesen  darüber  in  einem  Brief  an 
Farel:  „Fast  hätte  ich  die  Schrift  ins  Feuer  geworfen,  denn  als  ich 
sie  dem  Rat  vorlegte,  beschloß  man,  sie  den  Zensoren  zu  übergeben. 
Ich  war  so  erzürnt  durch  die  empfangene  Antwort,  daß  ich  den  vier 
Syndiks  versicherte,  wenn  ich  noch  iooo  Jahre  lebte,  wurde  ich 
in  dieser  Stadt  nichts  mehr  herausgeben.  Gegen  ihre  Beleidigungen 
bin  ich  längst  unempfindlich  geworden,  aber  das  war  mir  zu  arg, 
daß  man  nach  andern  Zensoren  suchte,  obgleich  ich  die  Briefe  vor- 
wies, durch  die  sich  die  Züricher  feierlich  verbürgen,  und  obgleich 
alle  Kollegen  dasselbe  versichert  hatten.  - 

Ohne  die  Defensio  vor  ihrer  endgültigen  Herausgabe  noch 
einmal  den  Zürichern  vorzulegen,  ließ  Calvin  sie  Anfangs  Januar 
1555  ausgehen  und  begnügte  sich,  da  der  Zeitersparnis  wegen  mit 
den  übrigen  Kirchen  keine  langwierigen  Verhandlungen  über  ihre 
Zustimmung  zu  der  Schrift  gepflogen  werden  konnten,  mit  der 
Bitte  an  Bullinger,  die  Schrift  den  Kirchen  zu  empfehlen.  Wie  die 
Dankbriefe  von  Schaffhausen,  St.  Gallen  und  Chur  beweisen,  ist 
Bullinger  dieser  Bitte  treulich  nachgekommen.  Ja  er  sorgte  dafür, 
daß  neben  der  Genfer  Ausgabe  des  Robert  Stephanus  auch  eine 
bei  Christoph  Froschauer  in  Zürich  erschien,  und  fügte  dieser  Aus- 
gabe eine  Empfehlung  hinzu  in  Gestalt  eines  offenen  Briefes  an  den 
christlichen  Leser.3 

Calvin  hoffte,  durch  sein  Schriftchen  Westphal  zum  Schweigen 
gebracht  zu  haben.  An  Martin  Seidermann,  Professor  in  Erfurt, 
schrieb  er:  „O,  wenn  doch  Luther  noch  lebte!  Seine  gewiß  zu 
große  Heftigkeit  im  Abendmahlsstreit  war  nichts  neben  der  Maß 
losigkeit  und  Raserei  jener,  die  von  Luthers  Tugenden  nichts 
haben,  und  meinen,  durch  Schreien  sich  als  seine  rechten  Jünger 
zu  beweisen."  „Ich  habe  jetzt  versucht,  durch  ein  kurzes  Schrift- 
chen ihre  Heftigkeit  zu  mildern.  Wenn  ich  nichts  erreicht  haben 
sollte,  wird  man  wohl  noch  kräftiger  kämpfen  müssen/'  Sulzer 
und  der  unlängst  aus  der  Schweiz  nach  Württemberg  berufene 
Vergerius  sahen  die  Sache  anders  an  und  weissagten  neue  Kämpfe. 

1)  CR.  XV.  p.  303,  349- 

2)  C.  R.  XV.  p.  356. 

3)  CR.  IX  Prol.  p.  IS,  37- 


I  06  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

Noch  im  Jahre  1555  erschien  Westphals  „Adversus  cuiusdam 
sacramentarii  falsain  criminationem  iusta  defensio,  in  qua  et  eucha- 
ristiae  causa  agitur".  Die  Herausgeber  der  Opera  nehmen  an, 
Calvins  herbe  Art  habe  den  Streit  so  bitter  gemacht.  Allein  Gegner 
wie  Westphal  waren  überhaupt  nicht  zu  besänftigen  und  zu  brüder- 
licher Verhandlung  zu  bewegen ;  ihnen  gegenüber  half  nur  Unter- 
werfung unter  ihre  Behauptungen  oder  Schweigen,  und  dies  letztere 
war  Calvin  um  der  Sache  willen  unmöglich.  Abermals  war  es 
Lasky,  der  die  Schmähschrift  Westphals  Bullinger  und  Calvin  mit- 
teilte. Am  19.  September  schrieb  er  von  Frankfurt  aus  an  Bul- 
linger :  „Ich  habe  das  Buch  nur  teilweise  lesen  können.  Aber 
solche,  die  es  gelesen  haben  und  Calvin  lieben,  halten  es  für  un- 
vermeidlich, daß  Calvin  jene  Verleumdungen  gelegentlich  zurück- 
weist, nicht  in  einem  besonderen  Buch,  sondern  indem  er  in 
anderem  Zusammenhang  ohne  Namennennung  Westphals  Schmäh- 
ungen abwehrt,  besonders  da  er  mit  Calvins  eignen  Worten  Calvin 
zu  schlagen  sucht."  * 

Der  Streit  war  jetzt  schon  nicht  mehr  ein  Zweikampf  zwischen 
Calvin  und  Westphal.  Zur  Unterstützung  des  letzteren  hatte  der 
Bremer  Lutheraner  Joh.  Timannus  ebenfalls  eine  Farrago  zusam- 
mengestellt gegen  die  Sakramentierer.  Diesem  ersten  Waffen- 
träger Westphals  schlössen  sich  nach  und  nach  die  hervorragendsten 
Häupter  der  Lutheraner  mit  Erklärungen  gegen  Calvin  an.  Sogar 
die  oberdeutschen  Theologen,  die  Calvin  für  verständiger  hielt  als 
die  niederdeutschen,  und  die  mannigfache  Beziehungen  zur  Schweiz 
hatten,  wählten  gegen  ihn  Partei.2  Calvin  wußte  nicht  recht,  ob 
er  erwidern  solle.  In  einem  Brief  an  Farel  vom  10.  Oktober  heißt 
es :  „Westphal  hat  ein  grimmiges  Buch  gegen  mich  herausgegeben, 
ich  weiß  nicht,  ob  eine  Antwort  Zweck  hat.  Einige  Freunde  bitten 
darum ;  nachdem  ich  es  gelesen  habe,  wird  der  Herr  Rat  ver- 
leihen." Zu  diesen  Freunden  gesellte  sich  dann  auch  Farel,  der 
ihm  aber  riet,  die  Person  des  Gegners  völlig  aus  dem  Spiel  zu 
lassen  und  sich  rein  sachlich  auf  die  Verteidigung  der  Abendmahls- 
lehre zu  beschränken.  Das  war  auch  Calvins  Gedanke :  „Der 
Gegner  verdient  es  gar  nicht,  mit  ihm  heftig  zu  streiten",  schrieb 
er  an  Bullinger  und  fragte  ihn,  was  er  tun  solle.  Wie  Farel  riet 
auch  Bullinger  zu  einer  Antwort,  nur  möge  er  an  sich  halten  und 
sachlich  bleiben  und  die  Person  und  das  ungehörige  Betragen  des 

1)  C.  R.  XV.  p.  771,  772. 

2)  CR.   IX    Prol.   p.  is,  21. 


Von   W.  Kolfhaus.  IO7 


Mannes  übersehen.  Er  selbst  denke  ebenfalls  daran,  über  die 
Angelegenheit  zu  schreiben.  „Nur  um  das  eine  bitte  ich  Dieb, 
mein  Bruder,  wenn  Du  Westpbal  weiter  antwortest,  daß  es  mit 
möglichster  Milde  geschehe." *  Ähnliche  Aufforderungen  kamen 
von  Wolf  aus  Zürich,  von  Martyr  aus  Straßburg.  Ende  des  Jahres 
1555  schrieb  Calvin  seine  zweite,  umfangreichere  Schrift,  in  deren 
Titel  er  schon  Westphal  als  Verleumder  bezeichnete:  „Secunda 
defensio  piae  et  orthodoxae  de  sacramentis  fidei  contra  Joachimi 
Westphali  calumnias."  In  einer  merkwürdigen,  durch  falsche 
Schätzung  des  Einflusses  Melanchthons  auf  die  lutherischen  Theo- 
logen veranlaßten  Verkennung  der  Sachlage  widmete  er  die  Schrift 
„allen  Dienern  Christi,  die  die  lautere  Lehre  des  Evangeliums  in 
den  sächsischen  Kirchen  und  in  Niederdeutschland  bekennen".  So 
oft  auch  Calvin  sich  über  Melanchthons  Zaghaftigkeit  beklagte 
und  ihm  ernst  deswegen  ins  Gewissen  redete,  immer  wieder  und 
immer  vergebens  hoffte  er,  dieser  Mann  werde  nicht  nur  Tränen 
vergießen  können,  sondern  auch  ein  Wort  gegen  die  Eiferer  finden. 

Calvin  selbst  hatte  das  Gefühl,  in  seiner  Polemik  zu  scharf 
gewesen  zu  sein.  Er  bekannte  Bullinger :  „Ich  bin  sehr  neugierig, 
Dein  und  anderer  Urteil  zu  hören.  Ich  sehe,  daß  ich  etwas  heftiger 
war  als  beabsichtigt.  Ich  weiß  selbst  nicht,  wie  ich  während  des 
Diktierens  die  Gewalt  über  mich  selbst  verloren  habe.  Du  wirst 
mir  freimütig  sagen,  wie  Du  denkst."  Als  Gegengabe  überreichte 
ihm  Bullinger  am  9.  März  seine  „Apologetica  expositio" :  „Ich  ver- 
einige mich  mit  Dir  im  Kampfe,  zwar  nicht  mit  gleichen  Kräften, 
aber  doch  mit  ganzem  Herzen.  Aber  ich  kämpfe  bisher  so,  fügte 
er  mit  treffender  Kritik  der  Arbeit  seines  Freundes  hinzu,  daß  ich 
den  Frieden  nicht  unmöglich  mache."  „Wie  ich  über  Deine  De- 
fensio denke,  wirst  Du  in  meiner  Expositio  lesen."  Über  den  Ein- 
druck dieser  zweiten  Defensio  schrieb  Haller  an  Bullinger:  „Welche 
Stoßkraft  ist  in  diesem  Manne!  welche  Glut  und  Wucht  der  Worte, 
welche  Gewandheit  im  Kampfe !  Ich  fürchte  nur,  daß  er  auch  hier 
nicht  Maß  hält  und  von  der  Leidenschaft  weiter  fortgerissen  wird 
als  uns  ansteht.     Aber  so  ist  sein   Geist."2 

Natürlich  ruhte  Westphal  nun  erst  recht  nicht :  er  setzte  der 
Verteidigungsschrift  Calvins  eine  Sammlung  von  Zustimmungs- 
erklärungen der  vornehmsten  niederdeutschen  Kirchen  zu  seinem 
Kampf   entgegen    mit    einer   entsprechenden   Vorrede,    die    Calvin 


1)  CR.  XV.  p.  852. 

2)  C.  R.  XVI.  p.  72. 


I08  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

dann  wieder  beantwortete  mit  seiner  „Ultima  admonitio  ad  Joachi- 
raum  Westphalum,  cui  nisi  obtemperet,  eo  loco  posthac  habendus 
est,  quo  pertinaces  haereticos  haberi  jubet  Paulus.  Refutantur 
etiam  hoc  scripto  superbae  Magdeburgensium  et  aliorum  censurae, 
quibus  coelum  et  terram  obruere  conati  sunt",  vom  Sommer  1557. 
Bullinger  hatte  ihn  noch  am  20.  Juni  gebeten,  seine  Antwort  maß- 
voll zu  halten,  dann  werde  sie  keiner  ihm  übelnehmen ;  ohne  per- 
sönliche Angriffe  möge  er  zuerst  die  Beweise  jener  für  die  von 
ihnen  behauptete  leibliche  Gegenwart  Christi  widerlegen,  dann  seine 
eignen  Argumente  verteidigen  und  nachweisen,  daß  die  Antworten 
der  Gegner  Sophismen  seien.1  Allein  ungeachtet  der  Warnung  des 
besorgten  Kampfgefährten  setzte  Calvin  in  dieser  seiner  letzten 
Schrift  in  dem  zwecklosen  Kampf  von  vornherein  jede  Schonung 
beiseite.  Er  erklärte  Farel :  „Gegenüber  Westphal  und  den  Seinigen 
war  es  schwer,  Maß  zu  halten,  wie  Du  geraten  hast.  Es  würde 
lächerlich  sein,  würden  wir  uns  bei  denen  des  Brudernamens  be- 
dienen, denen  wir  als  die  schlimmsten  Ketzer  gelten."  Calvin  war 
sich  dessen  bewußt,  daß  er  jede  Hoffnung  auf  Versöhnung  mit  den 
Lutheranern  abschnitt.  „Ich  weiß,  sagte  er  Bullinger,  daß  ich  mir 
den  allgemeinen  Haß  zuziehe ;  daher  wird  es  mir  ein  großer  Trost 
sein,  wenn  euch  wenigstens  mein  Dienst  gefällt."  Das  mit  Un- 
geduld erwartete  Urteil  Bullingers  lautete  freundlicher  als  Calvin 
selbst  gehofft  haben  mochte.  Bullinger  für  seine  Person  fand 
nichts  zu  tadeln,  doch  verhehlte  er  ihm  nicht,  daß  mancher  wün- 
schen werde,  daß  die  Schrift  in  ruhigerem  Geist  gehalten  wäre.2 

Ein  Nachspiel  fand  der  Streit  der  Gnesiolutheraner  mit  den 
Schweizern  im  Jahre  1560  durch  die  Wirren  in  der  Pfalz,  die  dem 
Übergang  dieses  Gebietes  in  das  reformierte  Lager  vorangingen 
und  auch  Bullinger  und  Calvin  in  ihre  Kreise  zogen.  Der  luthe- 
rische Vorkämpfer  Tileman  Heßhnsius  schrieb  gegen  die  Refor- 
mierten. Bullinger  meinte:  „Ich  will  meine  freien  Stunden  besser 
zubringen  als  mit  der  Widerlegung  solcher  Kindereien."  Dagegen 
regte  er  bei  Calvin  die  Herausgabe  der  Briefe  Melanchthons  über 
das  Abendmahl  an  als  schwersten  Schlag  gegen  die  Gegner  (19.  Ok- 
tober und  15.  November  1560).  Calvin  wies  dieses  Ansinnen  zurück: 
„Drei  Gründe  hindern  mich,  zu  tun,  was  Du  verlangst.  Einmal 
habe  ich  nicht  viele  Briefe,  und  diese  wenigen  sind  vertraulich  an 
mich.     Von  unfreundlich  Gesinnten  könnten  sie  verspottet  werden. 


1)  C.  R.  XVI.  p.  514. 

2)  C.  R.  XVI.  p.  616. 


Von  W.  Kolfhaus. 


von  solchen  aber,  die  uns  nicht  kennen,  würden  sie  gar  nicht  ver- 
standen werden.  Ferner  müssen  wir  Rücksicht  nehmen  auf  den 
Ruf  des  Verstorbenen,  der  nicht  wenig  verlästert  würde,  wenn  be- 
kannt wird,  was  er  an  mich  schrieb.  Endlich  steht  einiges  darin, 
dessen  Veröffentlichung  zwar  für  mich  ehrenvoll  wäre,  aber  Flacius 
und  Genossen  Ursache  zu  Verleumdungen  geben  würde."1  Calvin 
schrieb  dann  selbst  eine  Gegenschrift  gegen  Heßhusius. 

Die  Formen  des  theologischen  Verkehrs  zwischen  Gegnern 
waren  in  jenem  Jahrhundert  weniger  urban  als  heute.  Sonst  wäre 
unbegreiflich,  wie  Calvin  trotz  der  überaus  bitteren  miteinander  ge- 
wechselten Schriften  noch  immer  hoffen  konnte,  die  Verständigen 
unter  den  Lutheranern,  namentlich  die  von  Melanchthon  Beein- 
flußten und  die  Oberdeutschen  würden  für  eine  Einigung  zu  haben 
sein.  Den  heftigen  Verhandlungen  mit  Westphal  parallel  ging  das 
heiße  Bemühen  Calvins,  ein  neues  Religionsgespräch  mit  den  Luthe- 
ranern zu  stände  zu  bringen  und  die  Schweizer  zur  Teilnahme  daran 
zu  bewegen.  Dieses  Religionsgespräch  ist  im  Briefwechsel  Calvins 
mit  Bullinger  in  den  Jahren  1556 — 1560  ein  stets  wiederkehrender 
Gegenstand  der  Diskussion.  Ihre  verschieden  gearteten  Charaktere 
traten  hier  in  besonders  scharfen  Umrissen  nebeneinander :  der 
bedächtige,  das  Einfache  liebende  Bullinger,  der  für  Unmögliches 
ein  gutes  Auge  hatte  und  sich  immer  zuerst  als  Schweizer,  als 
Züricher  wußte,  neben  Calvin,  dessen  Seele  dürstete  nach  einer 
gewaltigen  Zusammenfassung  des  ganzen  Protestantismus,  ohne 
allezeit  das  Gewicht  der  Widerstände  recht  abzuschätzen,  dessen 
geistige  Heimat  Frankreich,  die  Schweiz  und  Deutschland  war. 
Es  lohnt  sich  daher,  auch  dieser  Seite  ihres  Verkehrs  hier  kurz 
zu  gedenken. 

Am  2.  April  1556  meldete  Lasky  nach  Genf,  er  hoffe,  daß  in 
kurzem  in  Deutschland  ein  Religionsgespräch  zusammenberufen 
werde;  er  arbeite  dahin,  daß  auch  Calvin,  Martyr  und  die  Züricher 
eingeladen  würden.  Über  die  Geneigtheit  der  Letzteren  war  Lasky 
im  Zweifel,  daher  möge  Calvin  auf  die  Züricher  einwirken.  Calvin 
schrieb  dann  auch  über  die  Angelegenheit  an  Bullinger,  aber  durch- 
aus kühl  und  ohne  Illusionen :  „Ich  hoffe  von  dem  Konvent  nichts, 
den  Lasky  erstrebt,  nicht  nur  weil  die  Sucht,  etwas  zu  tun,  oft  die 
nüchterne  Besinnung  raubt,  sondern  weil  Vergerius,  ein  unzuver- 
lässiger Mann,  der  vornehmste  Veranstalter  ist,  soweit  ich  sehe. 
Doch  müssen  wir  stets  dafür  sorgen,  daß  wir  nicht  den  Schein  er- 


1)  C.  R.  XVIII.  p.  223,  246.  254. 


j  j  O  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


wecken,  als  scheuten  wir  das  Licht,  indem  wir  das  Kolloquium 
abschlagen."  1  Ganz  einverstanden  erwiderte  Bullinger :  „Auch  ich 
hoffe  wenig  oder  nichts,  fürchte  sogar,  aus  einem  kleinen  Feuer 
werde  ein  großer  Brand  entstehen.  Diejenigen,  mit  denen  wir  zu 
verhandeln  haben,  sind  einerseits  schroffe  Lutheraner  wie  Schnepf, 
Brenz,  Westphal  und  zahllose  andere  derselben  Art,  andrerseits 
gemäßigtere  wie  Philippus,  Paceus  und  einige  wenige,  die  aber 
nach  ihrer  weichen  Natur  jene  nicht  vor  den  Kopf  stoßen  wollen." 
„Manche  versprechen  sich  etwas  von  dem  mäßigenden  Einfluß  der 
Fürsten,  aber  höre,  wie  ich  hier  die  Dinge  sehe.  Wenn  wir  in 
unserer  Überzeugung  nachgeben,  oder  was  wir  bisher  klar  lehrten, 
irgendwie  verhüllen,  werden  wir  das  Wohlwollen  der  Fürsten  haben, 
und  die  Eintrachtsformel  wird  die  Augsburger  Konfession  sein. 
Nehmen  wir  diese  nicht  an,  wird  man  uns  als  Halsstarrige  und 
Stolze  abweisen.  Ich  sage  aber  offen,  daß  ich  jetzt  die  Augsburger 
Konfession  nicht  annehmen  kann,  vor  allem  wegen  der  angehängten 
Apologie,  und  weil  wir  eben  erst  von  Westphal  gehört  haben,  was 
jene  über  das  Augsburger  Bekenntnis  denken."  Außerdem  sei  die 
ganze  politische  Lage  in  Deutschland  so,  daß  die  Fürsten  gar 
nicht  anders  könnten,  als  sich  auf  das  lutherische  Bekenntnis  zu 
stellen.2  Ähnlich  äußerte  sich  Bullinger  gegen  Lasky  und  nahm 
somit  die  Haltung  ein,  die  er  ohne  zu  wanken,  gegenüber  den 
Versuchen  Calvins  und  Bezas  behauptet  hat,  ihn  einem  Religions- 
gespräch mit  den  Lutheranern  günstig  zu  stimmen. 

Denn  bei  Calvin  hatte  der  Gedanke  an  ein  Kolloquium  bald 
festere  Wurzel  gefaßt.  Er  wolle  zwar,  heißt  es  in  einem  Brief  vom 
18.  Mai  an  Farel,  sich  nicht  selbst  um  das  Zustandekommen  be- 
mühen, aber  wenn  man  ihn  dazu  rufe,  werde  er  bereit  sein.  „Die 
Züricher  sind  so  dagegen,  daß  sie  sich  beleidigt  fühlen,  wenn  ich 
hingehe.  Bullinger  hat  letzthin  dringend  gefordert,  ich  solle  mich 
auf  nichts  einlassen,  aber  ich  bin  entschlossen,  nicht  zu  ge- 
horchen." 3 


i)  C.  R.  XVI.  p.  116. 

2 )  Bullinger  war  ebenso  wie  Calvin  nicht  prinzipiell  gegen  die 
Augustana.  Als  Garnerius,  Prediger  der  französischen  Gemeinde  in  Straß- 
burg, ihn  im  Dezember  1554  fragte,  wie  er  sich  zu  der  Forderung  der  Ver- 
pflichtung auf  die  Augustana  stellen  solle,  schrieb  ihm  Bullinger:  ,.Du 
kannst  antworten,  daß  du  die  Augustana  im  richtigen  Sinn  verstanden 
annimmst,  nur  darf  niemand  Dich  und  die  Gemeinde  zu  dem  Bekenntnis 
zwingen,  Christi  Leib  sei  gegenwärtig  und  sein  Fleisch  werde  empfangen." 
C.  R.  XV  p.  355- 

3)  C.  R.  XVT.  p.  146. 


Von  W.  Kolfhaus.  I  I  I 


Ein  zwischen  Brenz  und  Lasky  am  22.  Mai  zu  Stuttgart  im 
Beisein  des  Herzogs  veranstaltetes  Gespräch,1  mit  dem  übrigens 
auch  Calvin  nicht  zufrieden  war,  weil  Lasky  es  auf  eigne  Fausl 
unternommen  und  die  Sache  nicht  geschickt  geführt  hatte,  bestärkte 
Bullinger  in  seiner  Abneigung.  Warnend  rief  er  Calvin  zu:  „Lasky 
hat  mit  Brenz  verhandelt,  aber,  wie  ich  höre,  hat  ihn  zum  Schluß 
der  Herzog  ermahnt,  das  Augsburger  Bekenntnis  zu  bekennen  und 
seine  Fremdlingsgemeinde  mit  den  deutschen  Kirchen  zu  vereinigen. 
Habe  ich  nicht  gesagt,  daß  es  so  kommen  werde?  Wenn  1000  Ge- 
spräche veranstaltet  würden,  würden  wir  ohne  Resultat  mit  jenen 
verhandeln."  2  Aus  dem  Versuch  Laskys,  in  der  Augsburger  Kon- 
fession die  Meinung  der  Schweizer  wiederzufinden,  sah  Bullinger 
nur  Unheil  erwachsen;  Lasky  werde  nur  sich  und  seine  Lehre  da- 
durch verdächtig  machen.  Aber  trotz  Bullingers  Abwehr  ging 
Calvin  aus  seiner  ursprünglichen  abwartenden  Stellung  heraus  und 
drang  sogar  während  einer  Reise  nach  Frankfurt  in  Melanchthon, 
er  möge  für  ein  Kolloquium  eintreten:  „Wir  dürfen  nicht  warten, 
bis  viele  sich  mit  uns  vereinigen ;  sobald  Du  das  Zeichen  gibst, 
werden  die  zusammenkommen,  denen  die  Ruhe  der  Kirche  am 
Herzen  liegt." 

Diese  Bemerkung  verrät  wieder  mit  aller  Deutlichkeit,  was 
Calvin  gegen  Hoffnung  immer  wieder  hoffen  ließ,  obgleich  er  den 
Gegengründen  Bullingers  nicht  widersprechen  konnte.  Es  war 
sein  Vertrauen  zu  Melanchthon,  das  Bewußtsein,  mit  ihm  einig  zu 
sein,  und  der  eigenartige  Zug  seines  Wesens,  daß  er  nie  begriff, 
wie  einer  schweigen  konnte,  wenn  er  von  einer  wirklichen  Über- 
zeugung durchdrungen  war.  Daher  glaubte  Calvin  auch  stets,  es 
werde  ihm  gelingen,  Melanchthon  zu  tapferem  Eingreifen  zu  be- 
wegen. Vergebens  gab  ihm  Bullinger  zu  erwägen :  „Wir  wissen, 
daß  Philippus  von  Herzen  den  Frieden  sucht,  aber  auch,  daß  er  mit 
seinen  wenigen  nichts  bei  den  übrigen  ausrichtet. "  Einer  wieder- 
holten Einladung  Calvins,  ihn  in  Genf  zu  besuchen,  weil  er  durch 
die  Macht  seiner  Beredsamkeit  die  Bedenken  des  Freundes  leichter 
zu  zerstreuen  hoffte,  ging  er  aus  dem  Wege  und  hielt  dem  An- 
dringen Calvins  unermüdlich  und  gleichmütig  entgegen:  „Ich  sehe 
in  dieser  verschiedenen  Ansicht  keine  Ursache  zum  Streiten,  aber 
Du  täuschst  Dich  über  Philippus;  ich  fürchte  aus  guten  Gründen. 
daß  dieses  Kolloquium  nicht  die  von  Lasky  erwartete  Frucht  haben 


1)  Dalton,   „Joh.   a   Lasco''   p.  477  fi. 

2)  C.  R.  XVI.  p.  238. 


112  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


wird;  Philippus  wird  sich  nicht  so  erklären,  daß  jene  sich  nicht 
doch  als  Sieger  verkündigen  werden/'  So  wertvoll  auch  ihm  die 
Einheit  des  Protestantismus  erschien,  sie  war  ihm  zu  teuer  erkauft, 
wenn  an  Stelle  ihrer  einfachen  Lehre  wieder  doppelsinnige  Formeln 
treten  sollten,  die,  wie  Haller  ihm  bemerkte,  früher  so  viel  Streit 
verursacht  hätten. 

Calvins  Hoffnungen  waren  mächtig  gestiegen,  als  Farel  und 
Beza  im  April  1557  als  Gesandte  der  Schweiz  nach  Deutschland 
reisten,  um  die  Hilfe  der  deutschen  Fürsten  anzurufen  für  die 
verfolgten  Waldenser,  und  bei  dieser  Gelegenheit  mit  den  luthe- 
rischen Theologen  in  persönliche  Verbindung  kamen.1  Aber  Haller 
spottete  nicht  mit  Unrecht:  „Unsere  beiden  Freunde  scheinen  mir 
allzu  leichtgläubig  zu  sein,  die  daraus,  daß  man  sie  ein  einzelnes 
Mal  freundlich  aufgenommen  hat,  den  Schluß  ziehen,  daß  sich  nun 
eine  allgemeine  Einigung  werde  erzielen  lassen."  Die  beiden  Ab- 
gesandten hatten  sich  bestimmen  lassen,  dem  kurpfälzischen  Hof- 
prediger Michael  Diller  und  dem  Herzog  Christof  von  Württem- 
berg ihr  Bekenntnis  über  das  Abendmahl  als  das  Bekenntnis  der 
schweizerischen  und  französischen  Kirchen  zu  überreichen,  und 
waren  darin  aus  politischen  Gründen  den  Anschauungen  der  Luthe- 
raner sehr  weit  entgegengekommen,  um  die  Waldenser  und  fran- 
zösischen Evangelischen  als  Verwandte  der  Augsburger  Konfession 
hinzustellen.  Beza  selbst  hatte  ein  schlechtes  Gewissen  in  der 
Sache  und  suchte  solange  als  möglich,  den  törichten  Schritt  zu 
verheimlichen.2  Bullinger  sah  seine  schlimmsten  Befürchtungen 
gerechtfertigt.  Kaum  war  der  Wortlaut  des  Bezaschen  Bekennt- 
nisses in  Zürich  und  Bern  bekannt  geworden,  als  sich  ein  Sturm 
des  Unwillens  erhob.  Beza  erfuhr  von  Bullinger  ernsten  Tadel,  weil 
er  durch  seine  unklaren  Formeln  den  Gegnern  Waffen  in  die  Hand 
gegeben  habe.  Vergeblich  suchte  Calvin  ihn  zu  entschuldigen  mit 
der  Liebe  zu  den  bedrängten  Brüdern.  „Jetzt  siehst  Du,  mein 
Bruder  Calvin,  klagte  Bullinger,  welche  Verwirrung  uns  jene  be- 
reitet hätten,  wenn  es  zum  Kolloquium  gekommen  wäre.  Denn 
ich  kann  vor  Gott  und  der  Kirche  ein  solches  Bekenntnis  nicht 
anerkennen.  Wenn  aber  wir  und  noch  viele  andere  widersprechen, 
wird  Westphal  rufen :  habe  ich  es  nicht  gesagt,  daß  jene  unter 
sich   uneins   sind?"     „Je   herzlicher    ich   Beza    liebe,   um    so    mehr 


1)  H.  Heppe,  „Theodor  Beza"  p.  42  ff. 

2)  Beza  an  Calvin  C.  R.  XVI.  p.  510. 


Von  W.  Kollh.iu:..  1  I   S 


wünschte  ich,  er  hätte  nichts  Derartiges  herausgegeben."1  Im 
Herbst  desselben  Jahres  begleitete  Beza  eine  neue  Gesandtschaft 
nach  Deutschland  im  Interesse  der  zu  l?aris  Überfallenen  und  zum 
großen  Teil  eingekerkerten  evangelischen  Gemeinde.  Auf  der 
Durchreise  durch  Zürich  wurde  durch  mündliche  Aussprache  die 
Mißhelligkeit  beseitigt.  Bullinger  berichtete  darüber  an  Calvin 
am  26.  September  1557:  „Wir  haben  freundschaftlich  über  jenes 
Bekenntnis  verhandelt.  Sic  haben  gelobt,  in  Zukunft  Derartiges 
zu  vermeiden  und  außerdem  ihre  Meinungen  vollständiger  und 
klarer  darzulegen,  wenn  die  Sachsen  fortfahren  würden,  uns  jenes 
Bekenntnis  vorzurücken.  So  schieden  wir  in  herzlicher  Eintracht. "  2 
Noch  manches  Mal  kam  Calvin  auf  die  ihm  so  wichtige 
strittige  Angelegenheit  zurück  mit  der  Versicherung,  es  sei  Ehren- 
sache, nicht  auszuweichen,  und  ebenso  fest  beharrte  Bullinger  bei 
seiner  wohlüberlegten  Weigerung,  sich  auf  irgend  etwas  ein- 
zulassen. Er  schätzte  die  Gegner  und  die  Freunde  richtiger  ein 
als  der  Genfer  Reformator.  Ihm  gebührt  das  Verdienst,  Calvin 
von  einem  Unternehmen  abgehalten  zu  haben,  das,  wenn  es  über- 
haupt zur  Wirklichkeit  geworden  wäre,  nur  Kraftvergeudung  be- 
deutet und  der  einfachen  Wahrheit  nur  Schaden  gebracht  hätte. 
Es  gelang  ihm  freilich  nicht,  Calvin  zu  überzeugen,  unbeschadet 
ihrer  Freundschaft  blieb  die  Meinungsverschiedenheit  unaus- 
geglichen. Ihre  Differenz  in  diesem  praktischen  Einzelfall  hat  ihre 
Wurzeln  darin,  daß  ihre  Persönlichkeit,  ihre  theologische  Stim- 
mung und  ihre  kirchliche  Stellung  verschieden  waren.  Calvin  war 
viel  weniger  als  Bullinger  dazu  geneigt,  vor  geschichtlichen  Ver- 
hältnissen zurückzuweichen.  Seine  theologische  Stimmung  gegen- 
über den  Lutheranern  war  freier  von  Vorurteilen,  weniger  belastet 
mit  bitteren  Erinnerungen ;  in  seiner  kirchlichen  Stellung  als  Führer 
der  französischen  Reformation  empfand  er  täglich  die  Marter  seiner 
Brüder  und  sah  nur  darin  Hilfe,  daß  die  deutschen  Fürsten  sich 
mit  den  Evangelischen  in  Frankreich  solidarisch  erklärten,  wäh- 
rend Bullinger  bei  aller  Anteilnahme  an  den  Leiden  der  Verfolgten 
ihren  Schmerz  doch  nicht  so  als  eigenen,  persönlichen  Druck 
empfand  wie  Calvin.  Ein  schönes  Zeugnis  für  die  ungetrübte 
Freundschaft  der  beiden  Männer  ist  der  letzte  Brief,  den  Calvin 
am  10.  Mai  1560  in  dieser  Angelegenheit  an  Bullinger  richtete,  und 


1)  CR.  XVI.  p.  567,  57i- 

2)  C.  R.  XVI.    p.  642.      Über     die    zweite    und    dritte     erfolglose     Ge- 
sandtschaftsreise Heppe  a.  a.  O.  p.  52,  63. 

8 


Calvinstudien. 


IIA  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger 


der  zugleich  den  tiefsten  Grund  seines  Bestrebens  enthüllte :  „Damit 
unter  uns  kein  Streit  entsteht,  will  ich  den  Dir  so  verhaßten 
Gegenstand  nicht  mehr  berühren.  Wenn  wir  nur  in  der  Haupt- 
sache der  Lehre  einig  sind,  so  darf  in  den  anderen  Dingen  jedem 
das  Urteil  frei  bleiben.  Was  ich  für  richtig  und  nützlich  hielt, 
davon  versuchte  ich  Dich  zu  überzeugen.  Sobald  daraus  Ärger 
kommt,  ist  es  besser,  aufzuhören.  Nur  auf  eins  will  ich  Dich  noch 
hinweisen:  an  Luthers  Affen  habe  ich  längst  verzweifelt,  und  auch 
auf  Jakob  Andreae  und  ähnliche  läßt  sich  nicht  viel  bauen.  Aber 
das  schmerzt  mich  tief,  daß  uns  verbundene  Brüder  durch  bar- 
barische Gewalt  unterdrückt  und  durch  keine  Hilfe  erleichtert 
werden.  Wie  viele  mögen  es  wohl  sein,  die  mit  stillem  Seufzen 
warten,  daß  sich  eine  Hand  ihnen  entgegenstrecke,  und  die  klagen, 
daß  sie  von  uns  verlassen  werden?"1 

X. 

Calvins  und  Bullingers  gemeinsames  Handeln  zugunsten 
verfolgter  Evangelischer. 

Zu  den  schönsten  Zügen  in  Bullingers  Leben  gehört  sein 
treues,  tapferes  Eintreten  für  die  so  grausam  verfolgte  evangelische 
Gemeinde  in  Locarno.  Seine  Umsicht  und  Güte,  seine  Beharr- 
lichkeit und  Unerschrockenheit  hatte  hier  Gelegenheit,  sich  be- 
sonders glänzend  zu  entfalten.2  Die  in  Locarno  unter  der  Arbeit 
des  frommen  Priesters  und  Schullehrers  Giovanni  Beccaria  ent- 
standene kleine  evangelische  Gemeinde  war  durch  Beschluß  der 
eidgenössischen  Tagsatzung  mit  ihrer  römischen  Majorität  zur 
Landesverweisung  verurteilt  worden.  Außer  Zürich  hatten  sogar 
die  evangelischen  Kantone  trotz  des  Protestes  ihrer  Prediger  um 
des  Friedens  willen  kleinmütig  zugestimmt.  Schwer  empfanden 
Bullinger,  Calvin,  Haller  und  ihre  Freunde  diesen  furchtsamen 
Beschluß.  Während  noch  hin  und  her  verhandelt  wurde,  schüttete 
Bullinger  Calvin  sein  Herz  aus :  „Die  Unsrigen  sind  wohl  auf  ihrem 
Posten,  aber  täglich  erfahre  ich,  daß  die  Bosheit  der  Feinde  un- 
überwindlich ist",  und  er  versprach  ihm,  sobald  gewisse  Nachricht 
von  der  Tagsatzung  komme,  unverzüglich  Bescheid  zu  schicken. 
Er  muß  also  schon  vorher  das  lebendige  Interesse  Calvins  an 
diesen  Brüdern  erfahren  haben.     Der  Forderung  der  übrigen  Kan- 


i)  CR.  XVIII.  p.83. 

2)  Pestalozzi  a.  a.  O.   p.  359  ff.     Heer   in    Ilauck   R.  E.    s.   v.    Bullinger. 


Von  W.  Kolthaus.  I  I  5 


tone,  ebenfalls  dem  Ausweisungsbeschluß  zuzustimmen,  setzte 
Zürich  auf  Bullingers  Betreiben  hin  unbeugsamen  Widerstand  ent- 
gegen.1 Calvin  wie  Bullinger  sahen  in  dem  Beschluß  der  refor- 
mierten Kantone  eine  Verfolgung  der  eigenen  Brüder  und  eine  Ver- 
leugnung des  reinen  Evangeliums.  Auf's  äußerste  entrüstet  schrieb 
Calvin  an  Bullinger  das  heldenhafte  Wort :  „Die  Sache  der  Lo- 
carner  Brüder  ist  für  Dich  und  uns  alle  der  herbste  Schmerz. 
Schon  das  war  schändlich,  daß  sie  von  ihren  Beschützern  preis- 
gegeben wurden.  Aber  das  ist  noch  schändlicher,  daß  Bekenner 
des  Evangeliums  es  zulassen,  daß  in  ihrem  Namen  Genossen  ihres 
Glaubens  zu  treuloser  Verleugnung  aufgefordert  werden,  dann 
hätte  man  die  frommen  Brüder  zehnmal  besser  dem  Henker  über- 
liefern sollen.  Denn  es  ist  verkehrte  Milde,  aus  Schonung  gegen 
die  Menschen  die  heilige  Wahrheit  Gottes  dem  Spott  auszusetzen. 
Und  so  wenig  schämen  sich  jene  —  sc.  die  übrigen  evangelischen 
Kantone  —  ihrer  Schande,  daß  sie  noch  versuchten,  die  Tapfer- 
keit Zürichs  durch  Schmähungen  zu  brechen.  Möchte  ich  doch 
bald  hören,  daß  sie  mit  der  gebührenden  Strenge  von  den  Eurigen 
abgewiesen  sind.  Den  armen  Brüdern  würde  ich  gern  mit  irgend 
einem  Trost  zur  Seite  stehen,  damit  sie  merken,  daß  wir  um  sie 
sorgen."  2 

Zürich  konnte  die  Ausführung  des  schrecklichen  Befehls  nicht 
hindern,  sorgte  aber  durch  seine  Fürsprache  dafür,  daß  den  Ver- 
triebenen zunächst  die  von  ihnen  erbetenen  Wohnsitze  im  Tal  von 
Misox  in  Graubünden  gegeben  wurden,  und  als  auch  dort  ihres 
Bleibens  nicht  war,  daß  Zürich  ihnen  seine  Tore  öffnete,  ihnen 
die  Peterskirche  anwies  und  Bernhard  Ochino  zu  ihrem  Prediger 
bestellte.  Hocherfreut  erzählte  Bullinger  Calvin,  was  der  Rat 
getan  und  welche  Besoldung  er  für  Ochino  ausgesetzt,  und  daß  die 
Bürgerschaft  die  Vertriebenen  in  Liebe  gastfreundlich  empfangen 
habe.3  Der  Dank,  den  ihm  Calvin  zollte,  war  wohlverdient:  seine 
Briefe  hatten  die  Armen  aufgerichtet,  sein  Mut  sie  und  die  Züricher 
gestärkt,  seine  Fürsorge  der  Gemeinde  den  neuen  Wohnsitz  be- 
reitet. „Du  hast,  bezeugte  ihm  Calvin,  die  Pflicht  erfüllt,  die  uns 
allen  oblag;  ich  meinesteils  kann  Dir  nicht  genug  dafür  danken." 
Wo  nur  auf  dem  Kontinent  die  Bekenner  des  Evangeliums 
Verfolgung  erdulden    mußten,   sie   hatten   an   den   beiden    Führern 


1)  C.  R.  XV.   p.  349,   352.    Bullinger  an   Calvin. 

2)  C.  R.  XV.  p.  US- 

3)  C.  R.  XV   p.  655. 


ll()  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


der  Schweizer  Kirchen  rastlose  Helfer  und  Fürsprecher.  Die 
Flüchtlinge,  die  aus  England  und  Frankreich,  aus  den  Nieder- 
landen, aus  Italien  nach  Zürich  und  Genf  kamen,  erfuhren  wahr- 
haft brüderliche  Liebe.  Nach  dem  Tode  Eduards  VI.  von  England, 
am  6.  Juli  1553,  flohen  die  Bekenner  des  Glaubens  scharenweise 
vor  dem  Schwert  der  blutigen  Maria.  Andere  schmachteten  im 
Gefängnis  den  Tod  erwartend.  Sobald  Bullinger  die  ersten  Nach- 
richten über  den  Umschwung  der  englischen  Verhältnisse  erfahren 
hatte,  gab  er  Calvin  davon  Kenntnis,  sandte  ihm  Briefe,  die  aus 
dem  Kerker  in  London  an  ihn  gelangt  waren,  und  fragte,  ob  er 
etwas  gehört  habe  über  das  Schicksal  der  Freunde  Martyr,  Lasky, 
Ochino,  Sidall  u.  a.  Hand  in  Hand  arbeiteten  die  beiden  Männer, 
um  den  in  der  Heimat  Zurückgebliebenen  Trost  zuzusprechen  und 
das  Schicksal  der  Geflüchteten  erträglich  zu  gestalten.  An  zwölf 
junge  Engländer,  die  in  Zürich  durch  Bullingers  Fürsorge  sich  zum 
Dienst  am  Evangelium  in  der  Heimat  vorbereiteten  und  nach  Auf- 
hören der  Verfolgungen  eine  gesegnete  Wirksamkeit  in  England 
ausübten,  richtete  Calvin  ein  herrliches  Trostschreiben,1  ja  half 
auch  dazu,  daß  in  Genf  sich  eine  besondere  englische  Flüchtlings- 
gemeinde bilden  konnte,  durch  deren  vornehmstes  Glied,  John 
Knox,  die  Genfer  Kirche  zur  Mutterkirche  Schottlands  wurde.2 

Weit  umfangreicher  war  der  Dienst,  den  sie  den  Brüdern  in 
Frankreich  leisten  durften.  Die  ungeheure  Last,  die  die  steten 
Verfolgungen  dort  auf  Calvins  Schultern  legten,  hat  Bullinger  treu- 
lich mitgetragen.  Auch  hier  galt  es  gerade  so  wie  den  verfolgten 
Engländern,  nur  in  weit  höherem  Maße,  den  Tausenden  der  Ge- 
flüchteten Aufnahme  zu  verschaffen  und  für  das  Nötigste  zu  sorgen. 
Aber  Calvins  Hilfe  begnügte  sich  damit  nicht.  Sein  Plan  blieb 
stets,  durch  Einwirkung  der  Schweiz  vor  allem  und  der  deutschen 
Fürsten  auf  den  französischen  König  die  Lage  der  bedrängten 
Brüder  zu  erleichtern  und  diesen  von  der  Schweiz  aus  durch  Sen- 
dung von  Predigern,  Büchern  und  Geldmitteln  tatkräftige  Hilfe  zu 
gewähren.  Über  die  Art  und  Weise,  wie  man  auf  den  König  ein- 
wirken solle,  waren  die  beiden  Freunde  nicht  immer  einig.  So 
hätte  Calvin  es  gern  gesehen,  wenn  das  mächtige  Zürich  mit  Frank- 
reich einen  Bündnisvertrag  abgeschlossen  hätte,  weil  er  hoffte,  daß 
dann  der  König  seine  evangelischen  Untertanen  als  Glaubens- 
genossen seiner  Verbündeten  mit  größerer  Milde  behandeln  werde. 


1)  C.  R.  XV.  p.  161,  besonders  die  Anmerkung. 

2)  Pestalozzi  a.a.O.  p.  445  ff.     Stähelin  ,Joh.   Calvin"  IT  p.   50  ff. 


Von  W.  Kolfhaus.  117 


Sehr  ausführlich,  auf  biblische  und  politische  Erwägungen  gestützt, 
legte  er  am  7.  Mai  1549  Bullinger  sein  Anliegen  dar  und  suchte 
ihn  dem  französischen  Bündnis  geneigt  zu  machen :  „Wenn  die 
Eitrigen  sich  zu  irgend  einem  Vertrag  herbeilassen,  so  arbeite  Du 
dahin,  daß  sie  ihrer  Brüder  gedenken  in  ihrer  elenden  und  harten 
Lage."  Der  Zorn  des  Königs  werde  um  so  heftiger  entbrennen, 
wenn  die  Züricher  das  Bündnis  ablehnten.  '  Das  Bemühen  Calvins 
blieb  fruchtlos.  Als  echter  Schüler  Zwingiis  erwiderte  ihm  Bul- 
linger am  21.  Mai,  seine  Stadt  werde  sich  mit  keiner  fremden  Macht 
verbinden.  „Wir  würden  in  wenigen  Jahren  das  Evangelium  ver- 
lieren sowie  alle  Religion  und  wahre  Zucht,  wenn  wir  durch  solche 
Bündnisse  fremden  Kriegsdiensten  wieder  die  Tür  öffneten."  Das 
von  ihm  seiner  Regierung  eingereichte  abratende  Gutachten  ließ 
auch  in  Bern  den  Versuch  scheitern,  zu  einem  Bündnis  zu  gelangen. 
Haller  in  Bern  erklärte,  gewiß  müsse  man  sich  der  Verfolgten  an- 
nehmen, aber  demütige  und  anhaltende  Gebete  zu  dem  König 
Christus  seien  eine  bessere  Hilfe  als  jenes  verhaßte  Bündnis. 

Handelte  es  sich  dagegen  um  gemeinsame  Gesandtschaften  und 
Bittschriften,  sei  es  an  den  König  von  Frankreich  selbst  oder  an  die 
deutschen  Fürsten,  damit  diese  für  die  Brüder  ein  gutes  Wort 
reden  sollten,  so  versagte  sich  Bullinger  dem  unablässig  drängen- 
den Freunde  nicht.  Sein  eigenes  Herz  blutete  ja  unter  dem 
Jammer  der  Zerstörung.  Wenn  er  zuweilen  eine  Zeitlang  keine 
Nachrichten  über  Frankreich  von  Genf  empfangen  hatte,  fragte  er 
an  und  ersuchte  um  sichere,  ausführliche  Kunde.  „Wohl,  lesen  wir 
in  einem  Schreiben  an  Calvin,  bekomme  ich  von  Freunden  manche 
Nachricht,  aber  ihre  Nachrichten  sind  ziemlich  unsicher.  Die 
Deinigen  sind  immer  sicher."  Als  es  sich  1561  darum  handelte, 
öffentlich  vor  dem  französischen  Hof  und  Klerus  das  Bekenntnis 
des  evangelischen  Glaubens  abzulegen,  willigte  Bullinger  gerne 
ein,  daß  sein  Freund  und  Kollege  Petrus  Martyr  Beza  zur  Seite 
stand  bei  dem  Gespräch  von  Poissy,2  und  umgab  nicht  weniger  als 
Calvin  die  beiden  Reisenden  mit  seiner  Fürbitte.  In  Genf  und 
Zürich  war  die  Sorge  um  die  beiden  tapferen  Männer  gleich  groß. 
Weil  Bullinger  lange  Zeit  ohne  Nachricht  blieb,  fragte  er  bei 
Calvin  an  und  bat  ihn  dringend,  seine  Besorgnis  zu  lindern  und 
ihm  zu  schreiben,  was  er  über  die  Ereignisse  in  Frankreich  wisse. 
Wie  war  er  empört,  als  die   deutschen   Lutheraner  in  die   franzö- 


1)  C.  R.  XIII.  p.  266. 

2)  Heppe  a.  a.  O.  p.   101  ff. 


j-  j  g  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


sischen  Verhältnisse  hineingezogen  wurden  und  Zwiespalt  unter 
den  Evangelischen  zu  erwecken  suchten  und  dadurch  die  Stellung 
der  Gegner  stärkten !  1 

Auch  gegenüber  den  Verleumdungen  Calvins,  die  sich  an  sein 
Wirken  für  Frankreich  hefteten,  war  Bullinger  sein  treuer  Bundes- 
genosse. In  Bern  und  anderwärts  wurde  behauptet,  die  Genfer 
seien  an  der  Verschwörung  von  Ambosie,  16.  März  1560,  nicht  un- 
beteiligt.2  Bullinger  wies  dies  Gerede  von  vornherein  als  Lüge 
zurück.  Dem  französischen  Gesandten  Coignet,  der  bei  ihm  die 
Genfer  wegen  ihrer  Teilnahme  an  den  Unruhen  in  Frankreich  ver- 
klagt hatte,  erwiderte  er:  „Das  Gerücht,  daß  die  Genfer  Prediger 
die  Gemüter  in  Frankreich  aufwiegeln,  erscheint  mir  unglaubhaft" ; 
Calvin  selbst  habe  ihm  darüber  geschrieben  und  von  seinen  Ver- 
suchen erzählt,  seine  Brüder  von  Unruhen  fernzuhalten.  „Ich 
schicke  Dir  hier  ein  Exemplar  des  Briefes  Calvins  unter  der  Be- 
dingung, daß  Du  es  mir  zurückgibst.  Du  siehst  daraus  sofort,  daß 
die  Genfer  mit  Unrecht  so  schwer  verdächtigt  werden,  als  handelten 
die  Urheber  der  Unruhen  auf  ihren  Antrieb  hin."  Calvin  dankte 
ihm  für  seine  Verteidigung  und  setzte  ihm  sein  Verhalten  in  der 
Sache  auseinander :  „Du  konntest  mit  gutem  Gewissen  den  Ver- 
dacht wegen  des  französischen  Aufstandes  von  uns  abwehren.  Als 
vor  acht  Monaten  diese  Pläne  zuerst  erwogen  wurden,  habe  ich 
mein  Ansehen  aufgeboten,  daß  man  sie  nicht  weiter  verfolge.  Zwar 
tat  ich  das  in  aller  Stille,  weil  ich  fürchtete,  allen  Frommen  den 
Tod  zu  bringen,  wenn  die  Feinde  davon  hörten."  In  Gegenwart 
seiner  Kollegen  habe  er  den  Führer  des  Aufstandes,  Herrn  de  la 
Renaudie,  ernst  gewarnt;  dieser  habe  ihm  selbst  bezeugt,  daß  man 
in  Paris  wohl  wisse,  daß  er,  Calvin,  den  Plänen  ganz  fernstehe. 
„Öffentlich  und  privatim  habe  ich  unverhohlen  meinen  Abscheu  an 
der  Verschwörung  ausgesprochen." 3  Um  die  Unruhen  zu  be- 
schwichtigen, die  nach  Entdeckung  der  Verschwörung  in  Frank- 
reich ausgebrochen  waren,  wurde  Beza  herübergeschickt.  Trotz 
der  durch  des  letzteren  Abwesenheit  sehr  vermehrten  Arbeitslast 
ließ  es  Calvin  sich  nicht  nehmen,  Bullinger  über  die  Reise  Bezas 
sorgfältig  zu  unterrichten  und  ihm  genaue  Nachrichten  über  die 
Entwicklung  der  Dinge  zu  verschaffen.4 


1)  CR.  XIX.  p.  93,  99.     Heppe  a.a.O.   p.  150. 

2)  Haller  an   Bullinger  C.  R.  XVIII.   p.  76. 

3)  C.  R.  XVIII.  p.83. 

4)  C.  R.  XVIII.  p.  204. 


Von  W.  Kolfhaüs.  I  I  9 


Bullinger  auf  der  anderen  Seite  versäumte  nicht,  Calvin  zu  1" 
nachrichtigen,  sobald  ihm  wichtige  Kunde  kam.  Unter  dem  Vor- 
wand, die  Aufrührer  zu  dämpfen,  verlaugte  der  französische  König 
die  Erlaubnis  zu  Truppenwerbungen  in  der  Schweiz.  ( )hne  Zögern 
wurde  Calvin  davon  in  Kenntnis  gesetzt  und  ihm  von  Bullinger 
versprochen,  daß  Zürich  weder  Geld  noch  Waffen  geben  werde, 
wenn  es  sich  darum  handele,  die  Gläubigen  zu  unterdrücken,  die 
der  Gewaltherrschaft  und  Rechtsberaubung  widerstehen  wollten. 
Die  Werbung  unterblieb  damals.  Als  aber  im  Frühjahr  1562  nach 
der  Bluttat  von  Vassy  die  Hugenotten  aufs  neue  zu  den  Waffen 
griffen,  um  die  beschworenen  Verträge  und  die  freie  Entschließung 
des  minderjährigen  Karl  IX.  zu  schützen,  hatte  auch  Bullinger 
nichts  dagegen  zu  erinnern,  daß  schweizerische  Hilfstruppen  den 
Reformierten  zueilten;  er  beschwerte  sich  sogar  bei  Calvin  darüber, 
daß  Conde  nicht  auch  an  die  vier  evangelischen  Städte  geschrieben 
habe,  während  in  den  katholischen  Gebieten  Werbungen  veran- 
staltet würden.  Er  gab  seinen  Ratschlag,  wie  Conde  in  der  Schweiz 
verfahren  müsse,  um  möglichst  viele  Truppen  zu  gewinnen,  und 
suchte  zugleich,  wenn  auch  vergeblich,  die  katholischen  Kantone 
von  der  Beteiligung  am  Kriege  fernzuhalten.1  In  Basel,  Schaff- 
hausen, St.  Gallen  und  Graubünden  machte  er  seinen  Einfluß  dahin 
geltend,  daß  den  Guisen  keine  Soldaten  zugeführt  würden.  Calvin 
war  anfangs  dagegen  gewesen,  daß  die  französischen  Reformierten 
auswärtige  Hilfstruppen  herbeiriefen.  Erst  das  Vorgehen  der 
Feinde  bewog  ihn,  seinen  Widerstand  aufzugeben  und  Bullinger 
zu  bitten,  zu  erwirken,  daß  die  Freiwilligen  aus  Zürich  zum  Heere 
stoßen  dürften.  Willig  folgte  Bullinger  der  Mahnung  und  war 
nach  Kräften  dafür  tätig,  daß  auch  von  Zürich  einige  Hilfe  geleistet 
wurde.  Ein  Brief  nach  dem  andern  ging  in  diesen  Wochen  nach 
Genf  ab,  um  zur  Eile  anzuspornen,  auf  Versäumnisse  aufmerksam 
zu  machen  und  die  nötigen  Schritte  zu  empfehlen.2  Die  trüben 
Nachrichten,  die  im  Anfang  aus  Frankreich  einliefen,  erregten 
Bullinger  aufs  tiefste.  Mit  seiner  Sorge  flüchtete  er  an  das  Herz 
des  trotz  aller  Übeln  Nachrichten  in  seinem  Mut  ungebrochenen 
Freundes  :  ,,Der  Herr  erbarme  sich  über  Frankreich  und  uns  alle. 
Nichts  hat  mich  in  meinem  ganzen  Leben  so  mitgenommen  wie 
diese  Sache.  Stündlich  habe  ich  vor  Augen,  wie  das  unschuldige 
Blut   vergossen   wird.      Wie   lange   noch,    o    Herr?     Bewahre,   die 

1)  CR.  XTX.   p.39i,  392. 

2)  CR.  XIX.  p.  486. 


120  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

deinen  Namen  anrufen."  Nach  der  unentschiedenen  Schlacht  von 
Dreux  durfte  Calvin  ihm  ein  im  ganzen  nicht  ungünstiges  Bild  der 
Lage  zeichnen  und  den  Dankbrief  Bullingers  empfangen:  „Wir 
bitten  unaufhörlich,  daß  der  Herr  fortfahre,  die  Unsrigen  zu  segnen, 
die  Feinde  zu  Boden  zu  schlagen  und  den  blutigen  Krieg  durch 
einen  dauerhaften  und  günstigen  Frieden  zu  beendigen."  Der 
Friede  wurde  dann  zwar  zu  Amboise  geschlossen,  aber  durch  die 
Treulosigkeit  und  den  Leichtsinn  der  beiden  bourbonischen  Prinzen 
unter  überaus  verderblichen  Bedingungen,  die  Calvin  sehr  genau 
Bullinger  übermittelte.1  Bullinger,  selbst  erschreckt  und  betrübt 
durch  das  Verhalten  der  hugenottischen  Führer,  tröstete  ihn: 
„Auch  ich  fürchte,  der  Friede  werde  nicht  von  Dauer  sein.  Da  es 
aber  einmal  so  ist,  wollen  wir  den  Herrn  bitten,  daß  er  die  durch 
die  Trägheit  und  Bosheit  der  Menschen  verursachten  Leiden  heile. 
Diese  Sache  ist  des  Herrn,  ohne  seinen  Willen  geschieht  nichts. 
Er  will  offenbar  unseren  Glauben  und  unsere  Geduld  prüfen." 
Tröstend,  mit  Rat  und  Tat  helfend,  trug  Bullinger  dazu  bei,  daß 
Calvin  unverzagt  seinen  Dienst  an  der  französischen  Kirche  vollen- 
den konnte.  Nie  beklagte  er  sich,  wenn  er  zu  immer  neuen  Mühen 
herangezogen  wurde,  und  Calvin  wußte,  was  er  an  seinem  Bullinger 
hatte.  Noch  der  letzte  Brief  Calvins  an  Bullinger  vom  6.  April 
1564  betraf  die  beiden  so  teure,  von  den  Gebeten  und  der  Arbeit 
beider  getragene  Reformation  in  Frankreich. 

XL 

Calvins  und  Bullingers  litterarischer  und  privater  Verkehr. 

Bullinger  und  Calvin  waren  verbunden  durch  die  größten  ge- 
meinsamen Arbeiten  zum  Wohl  der  Kirche.  Jeder  nahm  aber  auch 
teil  an  dem  persönlichen  Ergehen  des  andern,  an  seinen  Studien, 
seinen  häuslichen  Freuden  und  Leiden.  Werfen  wir  zum  Schluß 
noch  einen  Blick  in  diese  persönlichen  Beziehungen  im  engsten 
Sinne. 

Schon  mehrfach  hatten  wir  Gelegenheit  zu  beobachten,  wie 
Bullinger  sich  nicht  scheute,  seinem  reizbaren  Freunde  entgegen- 
zutreten, sobald  es  die  Sache  erforderte.  Aber  ebenso  suchte  er, 
wo  er  konnte,  Ärger  von  ihm  fernzuhalten.  Nachdem  Viret  und 
Beza  ihre  Stellungen  an  der  Akademie  zu  Lausanne  im  Jahre  1559 
verlassen  hatten,  dachte  man  in  Bern  daran,  Castellio  von  Basel 


1)  C.  R.  XIX.  p.  690. 


Von  W.   Knlfhaus.  I  2  I 


zu  berufen.  Man  hätte  Calvin  keinen  heftigeren  Verdruß  bereiten 
können  als  durch  die  Wahl  des  ihm  so  gründlich  verhaßten  Basler 
Humanisten.  In  aller  Eile  fragte  Haller  bei  Bullinger  an,  wie  er 
über  diese  Berufung  denke,  da,  wie  er  höre,  Castellio  bei  den 
Genfern  sehr  verhaßt  sei.  Sofort  antwortete  Bullinger :  „Was  soll 
ich  sagen,  mein  Bruder?  Mit  Händen  und  Füßen  sträube  ich 
mich  gegen  Castellios  Berufung  und  rate  ab  mit  aller  Macht",  nicht 
nur  um  der  Genfer  willen,  sondern  auch  weil  der  Mann  selbst  un- 
geeignet sei  und  nur  Zank  stiften  werde.  Zugleich  beruhigte  er 
Calvin,  er  glaube  nicht,  daß  man  Castellio  nach  Lausanne  holen 
werde,  er  habe  die  Freunde  aufs  ernstlichste  gebeten,  davon  Ab- 
stand zu  nehmen.  Ja,  alsdann  doch  diese  Berufung  in  bedenkliche 
Nähe  rückte,  ließ  es  sich  Bullinger  nicht  verdrießen,  in  einem 
deutschen,  zur  Mitteilung  in  weiteren  und  einflußreichen  Kreisen 
bestimmten  Brief  an  Haller  noch  einmal  gegen  Castellio  sein  Vo- 
tum abzugeben  und  auf  die  bedenklichen  Seiten  dieses  Gelehrten 
hinzuweisen.     Castellio  lehnte  übrigens  selbst  den  Ruf  ab.1 

Und  dann  der  litterarische  Verkehr!  Mit  den  Briefen  trugen 
die  Boten  sehr  häufig  auch  die  letzten  Früchte  der  Feder  Calvins 
bezw.  Bullingers  dem  Freunde  zu.  Bullinger  schätzte  Calvins 
wissenschaftliche  Kraft  nach  Gebühr.  Aber  auch  dieser  freute  sich 
über  Bullingers  theologische.  Arbeiten.  Schon  sehr  früh  hatte  er 
von  ihnen  Kenntnis  genommen.  Während  seines  Aufenthaltes  in 
Straßburg  verglich  er  in  einem  Brief  an  Grynäus  die  Kommentare 
Melanchthons,  Butzers  und  Bullingers  über  den  Römerbrief  mit- 
einander und  urteilte  über  Bullinger:  ,,Er  verdient  das  Lob,  das 
ihm  gezollt  ist.  Denn  bei  ihm  verbindet  sich  die  rechte  Lehre  mit 
einer  angenehmen  Form,  und  er  hat  sich  dadurch  als  tüchtigen 
Ausleger  bewährt."  2  Ihre  gegenseitigen  häufigen  Bücherdedika- 
tionen  waren  von  freundlichen,  ermunternden  Worten  begleitet. 
Als  Bullinger  den  fünften  Teil  seiner  Dekaden  —  um  ein  einzelnes 
Beispiel  herauszugreifen  —  Calvin  übersandte,  bemerkte  er:  „Ich 
meine  nicht,  Dich  belehren  zu  müssen,  der  ich  so  viel  aus  Deinen 
Büchern  zu  lernen  bekenne,  sondern  ich  schicke  sie  Dir  als  Zeug- 
nis meiner  herzlichen  Freundschaft.  In  der  Behandlung  der  Sakra- 
mente wird  Dir  nichts  mißfallen,  denn  wovon  Du  sagtest,  daß  es 
manchen   frommen    Männern    mißfallen    würde,   das   habe    ich   atis- 


i)  CR.  XIX.  p.  235.  243.  290,  496,  502. 
2)  C.  R.  X.  p.  102. 


122  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 


gelassen/'    In  seinem  Danke  erklärte  Calvin,  daß  auch  er  gern  aus 
den  Büchern  anderer  lerne :  „Das  ist  wahrhaft  brüderliche  Gemein- 
schaft, wenn  wir  die  unter  uns  verteilten  Gaben  des  Geistes  so  an- 
erkennen, daß  niemand  glaube,  er  könne  allein  etwas/'  x     Ein  an- 
deres Mal  erhielt  Calvin  von  Bullinger  einen  Band  Predigten  über 
die    rechtfertigende    Gnade,    die    dem    dänischen    König   gewidmet 
waren,  und  er  dankte  besonders  dafür,  daß  in  dem  Buch  auch  sein 
Name  mit  Ehren  genannt  sei.     Ebenso  hatte  umgekehrt  Bullinger 
immer  wieder  zu  danken  für  Schriften,  die  Calvin  ihm  überreichen 
ließ.    Er  war  dann  nicht  sparsam  mit  seinen  Lobsprüchen,  sondern 
erkannte  stets  gern  die  Überlegenheit  seines  Mitstreiters  an,  des 
incomparabilis  theologus,  wie  ihn   Blaurer   einmal  in  einem   Brief 
an  Bullinger  bezeichnete.     Den  Empfang  des  „Tractatus  de  vitan- 
dis  superstitionibus"  z.  B.  bestätigte  er  mit  den  ehrenden  Worten : 
„Dein  Buch  über  das  Vermeiden  abergläubischer  Gebräuche  haben 
wir  gelesen,  im  Herrn  verehrter  und  geliebter  Bruder  Calvin.     Es 
hat  nicht  nur  mir  gefallen,  sondern  allen  Frommen  bei  uns  sowohl 
wegen  der  außerordentlichen  Gelehrsamkeit  als  wegen  der  Rein- 
heit des  Glaubens  und  Bekenntnisses/'     „Wir  bitten  Gott,  daß  er 
Dich   für   dein   gutes  Werk    segne.     Wir   wissen    wohl,   daß    Dir 
manche    Widersacher    entgegen    halten,    Du    ständest    allein    mit 
Deiner  Meinung.     So  mögen  sie  denn  wissen,  daß  auch  wir  Deine 
Gedanken  billigen  und  mit  Dir  eins  sind."  2    Als  Calvin  seine  „Sup- 
plex  exhortatio  ad  Caesarem"  im  Jahre   1544  den  Zürichern  mit- 
teilte, bezeugte  ihm  Bullinger,  daß  ihm  seine  Schriften  stets  sehr  wert- 
voll und  angenehm  seien.     „Wegen  der  herrlichen  Gaben  Gottes 
ehre  und  liebe  ich  Dich  von  Herzen.    Der  Herr  bewahre  Dich  zum 
Ruhm  seines  Namens,  damit  Du  der  Kirche  durch  Deine  Schriften 
möglichst  reichen  Nutzen  bringest."     Oder  Bullinger  bat  ihn,  ihm 
seine  neuesten  Kommentare  zu  besorgen ;  er  verlange  sie  nicht  um- 
sonst, sondern  wolle  sie  gern  bezahlen.     Recht  hübsch  war  Calvins 
Antwort,  die  uns  sehen  läßt,  wie  der  Reformator  an  die  geringsten 
Kleinigkeiten  dachte.     Er  besorgte  Bullinger,  was  er  an  Ausgaben 
seiner  Kommentare  besaß  und  schrieb  dazu :  er  würde  ihm  seine 
Bücher   schon  längst   geschickt   haben,   wenn    er    nicht   gefürchtet 
hätte,  das  Porto  möchte  teurer  sein  als  der  Kaufpreis,  den  Bullinger 
in  Zürich  selbst  beim  Buchhändler  würde  bezahlen  müssen.3    Auch 


1)  CR.  XIV.  p.54,  74- 

2)  CR.  XIII.  p.  406. 
.0  CR.  XIII.  p.  164. 


Von  W.  Kollhaus.  123 


über  die  Veröffentlichung  neuer  Bücher  unterhielten  sie  sich  und 
besprachen  ihre  litterarischen  Pläne  miteinander,  sei  es,  daß  Bul- 
linger  Calvin  anregte,  ob  er  nicht  eine  Konkordanz  des  griechischen 
Alten  Testaments  ins  Auge  fassen  wolle,  oder  daß  er  im  Abend- 
mahlsstreit deutsch  erschienene  Schriften  für  Calvin  übersetzen 
ließ,  damit  dieser  darauf  antworte.  Auch  rief  er  wohl  Calvins  Ur- 
teil an  etwa  über  die  Schrift  des  Jacobus  Andreae  „Kurtzer  und 
einfältiger  Bericht  von  des  Herrn  Nachtmahl"  und  teilte  ihm  zur 
Kenntnisnahme  aus  dem  Inhalt  des  Buches  das  Wichtigste  im 
Auszug  mit;  oder  er  wollte  seine  Gedanken  hören  über  ein  von 
ihm  gerade  geschriebenes  Buch  gegen  Brenz.  Dann  wieder  war 
es  ein  Werk  seines  Schwiegersohnes  Lavater  über  die  Geschichte 
des  Sakramentsstreits  oder  die  Leichenrede  auf  Petrus  Martyr  von 
seinem  andern  Schwiegersohn  Simler,  die  der  Briefbote  nach  Genf 
tragen  mußte.  Nur  einiges  konnten  wir  aus  der  Fülle  der  Notizen 
im  Briefwechsel  hier  erwähnen;  es  herrschte  ein  unabgebrochenes 
Geben  und  Nehmen  in  der  schriftstellerischen  Arbeit. 

Auch  das  Familienleben  und  das  leibliche  Wohlergehen  hatte 
im  Verkehr  der  beiden  Männer  seine  Stätte.  Während  der  Verhand- 
lungen über  den  Consensus  Tigurinus  starb  Calvins  Gattin.  Er 
zeigte  den  Todesfall  Bullinger  an  mit  den  kurzen  Worten  :  „Dein  Brief 
hat  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  mein  häusliches  Leid  zu  lindern, 
das  mir  das  Sterben  meiner  Gattin  zugefügt  hat";  worauf  dieser 
erwiderte :  „Aus  Deinem  Brief  ersah  ich,  daß  Deine  teure  Gattin 
zum  Herrn  heimgegangen  ist.  Es  schmerzt  mich,  daß  Du  der  Hilfe 
und  des  Trostes  der  Genossin  beraubt  bist.  Doch  wiederum  freue 
ich  mich,  daß  sie,  befreit  von  den  großen  Beschwerden  dieses 
Lebens,  sich  schon  freut  mit  Christus,  dem  sie  geglaubt  hat.  Ich 
bitte  unterdessen  den  Herrn,  Dich  zu  trösten  und  Deinen  gerechten 
Schmerz  zu  lindern.  Du  weißt :  Er  lebt,  der  für  uns  wacht,  und 
Du  wohnst  unter  seiner  Fürsorge  und  Hilfe.  Du  weißt  auch,  daß 
sie  nicht  verloren,  sondern  nur  voraufgeschickt  ist."1  Calvins 
Stieftochter  Judith  hatte  sich  einen  schweren  Fehltritt  zuschulden 
kommen  lassen,  über  dessen  Art  wir  nichts  Genaueres  wissen.  Er 
teilte  Bullinger  seinen  Kummer  mit  und  erzählte  ihm,  daß  er  durch 
den  Fall  so  angefaßt  sei,  daß  er  für  mehrere  Tage  in  die  Einsamkeit 
habe  flüchten  müssen.  Bullinger  tröstete  ihn  mit  dem  Hinweis  mit" 
die  Schicksale  Davids,  des  Mannes  nach  dem  Herzen  Gottes.2  Audi 

c)  C.  R.  XIII.  P.  278. 
2)  CR.  XIX.  p.365. 


124  Der  Verkehr  Calvins  mit  Bullinger. 

die  Lücken,  die  der  Tod  in  den  Freundeskreis  riß,  fanden  in  den 
Briefen  pietätvolle  Erwähnung:  Grynäus,  Capito,  Jud,  Vadian, 
Pellikan,  Lasky,  Melanchthon,  Martyr,  sie  alle  waren  beiden 
Männern  wert  gewesen  und  wurden  gemeinsam  betrauert.  Wie 
Bullinger  besonders  getroffen  wurde  durch  Martyrs  Heimgang,  so 
Calvin  durch  das  Scheiden  Butzers  auf  fremder  Erde.  Schon  zu 
dessen  Lebzeiten  hatte  er  oftmals  seinen  guten  Ruf  und  seine 
fromme  Meinung  bei  den  Zürichern  gegen  den  Verdacht  der  Un- 
zuverlässigkeit  verteidigt  und  sich  immer  als  dankbaren  Freund 
Butzers  bekannt,  der  nie  die  brüderliche  Aufnahme  in  Straßburg 
vergaß,  trotzdem  ihm  daraus  bei  vielen  Unannehmlichkeiten  und 
Mißtrauen  erwuchsen.  Nach  Butzers  Tod  am  28.  Februar  1551 
schrieb  er  an  Bullinger :  „Die  Nachricht  von  Butzers  Tod  hat  mich 
sehr  betrübt.  Wir  werden  beide  bald  merken,  welchen  Schaden  die 
Kirche  Gottes  erlitten  hat.  So  lange  er  lebte,  habe  ich  seine  großen 
Gaben  hoch  geschätzt ;  wie  nützlich  er  uns  jetzt  sein  würde,  erkenne 
ich  jetzt  noch  besser,  nachdem  ich  seiner  beraubt  bin."  l 

Ein  Gegenstand  beständiger  Sorge  war  für  Bullinger  Calvins 
häufige  große  Leibesschwachheit.  Manches  aufrichtende  Wort 
ließ  er  den  Kranken  hören  und  ermüdete  nicht  in  der  Fürbitte  für 
ihn.  Wenn  ihm  Calvin  wieder  einmal  schreiben  mußte,  daß  Krank- 
heit ihn  niedergeworfen  habe,  versäumte  Bullinger  nicht,  seine 
herzliche  Teilnahme  und  seine  Wünsche  zur  Genesung  auszu- 
sprechen. „Wir  bitten  den  Herrn,  Dich  wiederherzustellen  und 
noch  lange  zu  erhalten.  Denn  zu  unserem  großen  Schmerz  haben 
wir  gehört,  daß  Du  krank  bist  und  in  Deiner  Arbeit  so  gehindert 
wirst.  Aber  der  Herr  wird  Dich  stützen."  Damit  Bullinger  über 
sein  Befinden  stets  unterrichtet  sei,  ließ  ihm  Calvin  wohl  durch 
seinen  Sekretär  Joinvilliers  oder  durch  Beza  Nachricht  zugehen. 
Dankbar  empfand  Bullinger  dieses  treue  Gedenken:  „Ich  sehe, 
wie  hoch  Du  mich  schätzest,  daß  Du  trotz  der  Last  der  Krankheit 
fortfährst,  vom  Bette  aus  mir  Kunde  zu  geben."2  Ihm  gegenüber 
schilderte  der  sonst  darin  so  wortkarge  Calvin  gelegentlich  seine 
Krankheitszustände,  wie  z.  B.  noch  im  letzten  Brief  vom  6.  April 
1564.  Mit  gespanntester  Teilnahme  erwartete  Bullinger  jede  neue 
Nachricht  aus  Calvins  Sterbezimmer.  An  Beza  schrieb  er  am 
12.  Mai:  „Dein  Brief  erneuert  den  tiefen  Schmerz  über  Calvins 
hoffnungslose  Krankheit.     Die  ganze  Kirche  Christi  erleidet  durch 


1)  C.  R.  XIV.  p.  104,  117. 

2)  CR.  XX.  p.  42. 


Von  W.   Kolfhaus.  125 


den  Tod  dieses  einen  Mannes  einen  unersetzlichen  Verlust.  Der 
Herr  möge  uns  durch  seine  Kraft  aufrecht  erhalten."  Dann  kam 
die  Nachricht,  daß  Calvin  in  die  Ewigkeit  abgerufen  sei,  und 
schmerzbewegt  reichte  Bullinger  dem  Nachfolger  des  Freundes  die 
Hand  teilnehmend  und  tröstend:  „Wie  traurig  ich  bin  über  den 
Heimgang  unseres  verehrten  Bruders  Calvin,  kann  ich  kaum  sagen." 
„Du  trittst  jetzt  an  den  Platz  des  treuesten  Knechtes  Gottes; 
mögest  Du  im  Glauben,  in  der  Wahrheit  und  Lauterkeit  in  seinen 
Fußstapfen  einhergehen." 

Fast  dreißig  Jahre  hindurch  hat  die  Freundschaft  Calvins  und 
Bullingers  reiche  Früchte  getragen,  bedeutsam  für  die  ganze  evan- 
gelische Welt.  Von  Neid  und  Eifersucht  ist  sie  nie  getrübt  wor- 
den; sie  konnten  beide  ungeduldig  werden,  Calvin  ist  mehr  als 
einmal  im  Zorn  aufgefahren,  aber  trennen  konnten  sie  sich  nie. 
Gottes  Vorsehung  hat  sie  nebeneinander  gestellt,  damit  sie  von- 
einander lernend  miteinander  arbeiteten  zur  Erbauung  der  Kirche. 
Neben  Farel,  Viret  und  Beza  ist  keiner  aus  Calvins  großem  Freun- 
deskreis ihm  so  vertraut  gewesen  als  Bullinger,  von  keinem  hat 
er  sich  williger  beraten  und  schließlich  auch  gegebenenfalls  zurecht- 
weisen lassen.  Keiner  hat  ihm  wichtigere  Dienste  geleistet. 
Ihrem  Bund  verdankt  es  die  evangelische  Kirche,  daß  der  ganze 
reformierte  Protestantismus  eine  feste  Phalanx  bildete  von  der 
Schweiz  bis  Schottland.  Wenn  Calvin  mehr  hervortritt  als  Bul- 
linger in  der  großen  Geschichte,  wenn  Calvins  Einwirkungen  auf 
die  evangelische  Welt  die  stärkeren  geworden  sind,  so  hat  Bul- 
lingers Treue  und  Weisheit  ihm  geholfen,  den  Sieg  zu  gewinnen 
über  den  Romanismus  und  die  Zersplitterung  im  eigenen  Lager 
und  nicht  zum  wenigsten  über  sein  eigenes  ungeduldiges,  heißes 
und  reizbares  Temperament.  Wie  er  es  dem  Reformator  von  Genf 
in  den  Tagen  seiner  schwersten  Kämpfe  zurief:  „Durch  Ausdauer 
und  Geduld  werden  wir  siegen",  so  hat  er  es  ihm  durch  sein  treues 
Ausharren,  durch  seine  nie  ablassende  Freundschaft  möglich  ge- 
macht, Ausdauer  und  Geduld  zu  bewahren.  Man  hat  Calvin  einen 
Theologen  der  Diagonale  genannt,  er  war  es  in  der  Tat ;  und  weil  er 
in  Bullinger  einen,  an  Begabung  und  Gelehrsamkeit  ihm  zwar  nicht 
gleichen,  aber  an  großzügigem  Charakter  ihm  ebenbürtigen  Ge- 
nossen fand,  deshalb  ertrug  das  Freundschafstband  zwischen  ihnen 
alle  Proben,  ja  unter  den  Prüfungen  festigte  es  sich  je  länger  je 
mehr.  Zu  den  schönsten  und  gesegnetsten  Zügen  in  Calvins 
Lebensgeschichte  gehört  sein  Bund  mit  Bullinger. 


Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


Von 


Dr.  Walter  Hollweg, 

Pfarrer  an  der  reformirten  Gemeinde  Gildehaus  bei  Beritheim. 


Es  gibt  wenige  deutsche  Gebiete,  die  in  ihrer  Reformations- 
geschichte dem  Forscher  ein  so  interessantes  und  buntes  Bild 
bieten,  wie  die  Rheinlande.  Durch  einen  ausgedehnten  eigenen 
Handel  und  durch  bedeutenden  Durchgangsverkehr  standen 
sie  in  Fühlung  und  enger  Verbindung  schon  lange  mit  den 
großen  geistigen  Bewegungen  des  ausgehenden  Mittelalters.  Ein 
ausgesprochenes  religiöses  Interesse  hatte  dieselbe  früh  zu  einer 
Stätte  angeregten  geistigen  Lebens  und  praktischer  religiöser  Be- 
tätigung gemacht.  Die  auf  Verinnerlichung  und  praktisches 
Christentum  zielenden  Bestrebungen  des  ausgehenden  Mittelalters, 
die  zum  großen  Teil  ihren  Ursprung  in  den  benachbarten  Nieder- 
landen hatten,  fanden  hier  namentlich  in  den  Herzen  der  schlichten 
Leute  gute  Aufnahme ;  und  der  Humanismus,  der  in  den  Rhein- 
landen zu  hoher  Bedeutung  gelangte,  zeitigte  in  den  Kreisen  der 
Gebildeten  ein  tieferes  Verständnis  für  die  Schäden  der  Kirche  und 
weckte  eine  reformfreundliche   Stimmung. 

Als  dann  die  Reformation  einsetzte,  da  fanden  Luthers 
Gedanken  in  milder  Gestalt  bald  begeisterte  Anhänger  und  bildeten 
die  Grundlagen  der  ersten  evangelischen  Gemeindebildungen,  auf 
welche  dann  der  Calvinismus  stieß,  von  Norden  aus  den  Nieder- 
landen und  von  Süden  aus  der  Pfalz  seine  Gedanken  verbreitend. 
Als  Reaktion  gegen  den  letzteren  trat  dann  das  orthodoxe 
Luthertum  auf.  Neben  diesen  Strömungen  fand  aber  auch  das 
Täufertum  viele  Freunde,  die  sich  ihrerseits  zu  selbständigen  Ge- 
meinden zusammenschlössen. 

So  bunt  wie  die  religiösen  Strömungen,  waren  auch  die  poli- 
tischen Verhältnisse  der  Rheinlande.  Das  Land  zerfiel  in  eine 
große  Zahl  freier,  oder  wenn  nicht  rechtlich,  so  doch  faktisch  freier 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  2  7 


Städte,    geistlicher    und    weltlicher    Herrschaften    und    Unterherr 
schatten,   die  mit   ihren   landesherrlichen    Befugnissen   bestimmend 
eingriffen  in  die  religiöse  und  kirchliche  Entwicklung  der  einzelnen 
Territorien. 

So  war  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  sich  kreuzenden  reli- 
giösen Ideen  und  die  Vielgestaltigkeit  der  politischen  Verhältnisse 
auf  relativ  kleinem  Boden  die  Möglichkeit  zur  Bildung  der  ver- 
schiedenartigsten kirchlichen  Gebilde  gegeben.  Aber  als  End- 
ergebnis aller  dieser  miteinander  und  gegeneinander  wirkenden 
Kräfte  finden  wir  dort,  wo  die  Reformation  siegreich  durchdrang, 
im  wesentlichen  ein  in  Lehre  und  Kultus  von  calvinischem  Geiste 
durchdrungenes  Kirchentum. 

Es  ist  eine  schwierige  und  bisher  noch  ungelöste  Aufgabe,  in 
diesem  religiösen  und  politischen  Wirrwarr  die  Fäden  zu  verfolgen, 
die  zu  diesem  Endziel  geführt  haben.  Ich  erinnere  nur  an  die  eine, 
neuerdings  von  Walther  Wolff  des  öfteren  aufgeworfene  Frage,  ob 
die  Verbreitung  calvinischer  Gedanken  im  wesentlichen,  wie  bis- 
her angenommen,  von  den  Niederlanden,  oder  nicht  vielmehr  von 
der  Pfalz  ausgegangen  ist.1  Die  folgende  Arbeit  soll  diese  Prob- 
leme neu  angreifen  und  zunächst  eine  Untersuchung  bieten  über 
Calvins  persönliche  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden.  Cal- 
vins persönliche  Beziehungen  werden  zunächst  klar  zu  legen  sein, 
ehe  man  die  Bedeutung  des  Calvinismus  für  die  Rheinlande  unter- 
sucht. Das  ist  um  so  wichtiger,  weil  Calvin  die  Rheinlande  und 
die  Rheinländer  kannte,  sogar  genau  kannte:  das  zeigen  z.  B. 
wunderbar  treffende  Charakteristiken  einzelner  Persönlichkeiten. 
Aber  das  nicht  allein:  Calvin  hat  persönlich  eingegriffen  in 
rheinische  Verhältnisse :  Und  das  alles,  obwohl  sein  Fuß  nie  auch 
nur  mit  einem   Schritt  rheinischen   Boden  betreten  hat. 

Es  seien  nun  im  folgenden  zunächst  in  einem  ersten  Abschnitt 
untersucht  Calvins  persönliche  Beziehungen  zu  reformatorischen 
Bewegungen  verschiedener  rheinischer  Territorien.  Zu  behandeln 
wird  hier  sein  Calvins  Verhältnis  zum  Reformationsversuch  des 
Kölner  Erzbischofs  Hermann  von  Wried  und  zu  den  Anfängen 
evangelischen  Gemeindelebens  in  der  Stadt  Köln,  ferner  seine  Be- 
ziehungen zu  Trier,  Wesel  und  Aachen.  Ein  zweiter  Abschnitt  soll 
dann   dem    Einflüsse   nachgehen,   den    Calvin    durch    seine    wissen- 


i)  Vgl.  Theologische  Arbeiten  ans  dem   rheinischen  wissenschaftlichen 
Predigörverein   X.  F.  VII.   p.  70  A.nm.  1,  VIII.    p.  124  und:    Monatsheft 

Rheinische   Kirchcngescliichte    f.   p.  14  f. 


128  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

schaftliche,  besonders  seine  schriftstellerische  Tätigkeit  zu  seinen 
Lebzeiten  auf  die  Rheinlande  ausgeübt  hat. 

I.   Abschnitt. 

a)   Calvins  Beziehungen  zum  Reformationsversuch  Erzbischof 
Hermanns  von  Wied  und  zu  den  Anfängen  evangelischen  Ge- 
meindelebens in  der  Stadt  Köln. 

Zur  Zeit  von  Luthers  öffentlichem  Auftreten  saß  auf  dem 
Kölner  Bischofsstuhl  Hermann  von  Wied.1  Seine  persönliche  Milde 
und  die  Einflüsse,  die  von  dem  humanistisch  gebildeten  und  inte- 
ressierten Kreise  seiner  Umgebung  auf  ihn  ausgegangen  waren, 
hatten  ihn  je  länger  je  mehr  von  einer  energischen  Bekämpfung  der 
in  seinem  Gebiet  früh  einsetzenden  reformatorischen  Bewegung  ab- 
gehalten, hatten  ihn  im  Gegenteil  von  der  Notwendigkeit  einer  Besse- 
rung der  kirchlichen  Angelegenheiten  überzeugt.  Seine  Haltung 
den  Protestanten  gegenüber  war  immer  mehr  eine  freundliche 
geworden.  Diese  Stellung  des  Erzbischofs  war  Calvin  bereits 
bekannt,  noch  ehe  er  mit  ihm  in  nähere  Beziehungen  trat.  Deshalb 
konnte  er  Mitte  Mai  1540  an  Farel  schreiben  im  Hinblick  auf 
etwaige  kommende  Verwicklungen  zwischen  dem  Kaiser  und  den 
Protestanten :  ,,Drei  Kurfürsten  werden  eine  vermittelnde  Stellung 
einnehmen,  der  Pfälzer,  Kölner  und  Trierer,  und  werden  sich 
eher  mit  uns  verbinden,  als  daß  sie  unsere  Unterdrückung 
duldeten."  2  Die  politische  Lage  zwang  gerade  damals  den  Kaiser, 
allen  Streit  mit  den  protestantischen  Fürsten  zu  meiden,  im  Gegen- 
teil zum  Vergleiche  die  Hand  zu  reichen.  Eine  nach  Speier  aus- 
geschriebene, aber  ansteckender  Krankheit  halber  nach  Hagenau 
verlegte  Versammlung  trat  zu  diesem  Zwecke  im  Juni  1540  zu- 
sammen. Bekanntlich  weilte  hier  auch  Calvin :  aus  persönlichem 
Interesse,  nicht  etwa  als  Vertreter  einer  protestantischen  Macht. 
Wie  Butzer,3  so  erhielt  auch  Calvin  hier  einen  lebendigen  persön- 
lichen Eindruck  von  dem  Ernste,  mit  dem  Hermann  eine  Refor- 
mation erstrebte  und  von  der  bei  ihm  zunehmenden  Erkenntnis 
von  der  Wahrheit  der  von  den  Protestanten  vertretenen  Position. 


1)  Für  die  folgenden  Verhältnisse  sei  hier  namentlich  hingewiesen 
auf  C.  Varrentrapp:  Hermann  von  Wied  und  sein  Reformationsversuch  in 
Köln,  Leipzig  1878,  und  den  Aufsatz  von  W.  Rotscheidt:  Calvin  und  Köln 
in  den  Monatsheften  f.   Rh.   K.-G.  II.    1908  p.  257—266. 

2)  Calv.  Opp.  XI  p.  39  Nr.  218. 

3)  Vgl.  Varrentrapp  p.  108. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  129 


Von  Hagenaii  nach  Straßburg-  zurückgekehrt  schrieb  Calvin  an 
du  Taillv  am  28.  Juli :  ,,Der  Erzbischof  von  Köln  gehört  nicht 
zu  den  schlechtesten.  Denn  er  ist  bisher  der  Ansicht,  daß  die 
Kirche  reformirt  werden  muß  und  sieht  wohl,  daß  wir  in  der 
Wahrheit  überlegen  sind."  Diese  Erkenntnis  von  dem  Hin- 
neigen des  Erzbischofes  zur  evangelischen  Wahrheit  wurde  Calvin 
bestätigt  durch  die  Stellung  des  Kölners,  die  dieser  in  Worms,  wo 
Calvin  als  Straßburgs  Vertreter  anwesend  war,  bei  der  Fortsetzung 
des  Hagenauer  Gespräches  einnahm,  und  gerade,  als  es  sich  um 
den  Zentralpunkt  der  evangelischen  Lehre  handelte :  um  die  Recht- 
fertigungslehre. Vorsichtig,  aber  doch  sehr  charakteristisch  schreibt 
er  Ende  Dezember:  ,,Die  Stellung  der  Clever  und  Kölner  ist  nicht 
eine  sehr  ungünstige  zu  nennen."  l  Gerade  daß  Calvin  Cleve  und 
Köln  in  dieser  Zeit  nebeneinander  stellte,  ist  ein  Zeugnis  seines 
scharfen  Blickes  und  seiner  feinen  Beobachtungsgabe.  Und  als 
dann  nach  abermaligem  Abbruch  der  Verhandlungen  die  Be- 
ratungen im  April  1541  in  Regensburg  wiederum  aufgenommen 
wurden,  da  hat  Calvin  erneut  den  Eindruck  gewonnen :  der  Kölner 
Erzbischof  und  der  Clever  Herzog  gehören  derselben  Gruppe  an. 
In  einem  Briefe  an  Farel  charakterisiert  er  sie  des  näheren  so : 
„sie  würden  eine  erträgliche  Reformation  sowohl  in  der  Lehre 
wie  in  der  Kirchenzucht  gerne  zulassen ;  aber  weil  sie  sowohl  noch 
nicht  auf  den  Standpunkt  gekommen  sind,  daß  sie  die  Sache  gründ- 
lich erkannt  haben,  als  auch  zu  kleinmütig  sind,  als  daß  sie  sich 
als  L'rheber  eines  solchen  Planes  zu  bekennen  wagten,  verhalten 
sie  sich  so,  daß  es  scheint,  sie  wünschten  nichts  als  die  öffentliche 
Ruhe".2  Beachtenswert  ist  auch,  daß  Calvin  von  den  katholischen 
Theologen,  die  mit  Melanchthon,  Butzer  und  Pistorius  die  Ver- 
handlungen führten,  den  größten  Eindruck  gerade  von  dem  ein- 
flußreichsten Rate  Hermanns  von  Wied  bekam,  dem  Kölner  Pro- 
fessor Johann  Gropper.  Er  stellt  ihn  weit  über  Eck,  aber  auch 
über  Pflug.  Freilich  sagt  er  zunächst:  „Auch  er  gehört  zu  der 
Klasse  von  Menschen,  die,  ich  weiß  nicht  was  für  ein  Mittelding 
zwischen  Christus  und  der  Welt  schaffen  wollen."  Aber  er  fährt 
fort :  „Dennoch  ist  er  ein  Mann,  mit  dem  nicht  ohne  Frucht  ver- 
handelt werden  kann."  3    Calvin  hat  den  Reichstag  vor  dessen  Ende 


1)  Calv.  Opp.  XI  p.  138  Nr.  268. 

2)  Calv.  Opp.  XI  p.  178  Nr.  290. 

3)  Calv.   Opp.  XI   p.  203  f.   Nr.  302.     Brief  an   Farell.    Regensburg,  den 
24.  April  1541. 

Calvinstiidien. 


j  oq  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


verlassen,  wurde  aber  von  Butzer  über  den  Verlauf  desselben 
unterrichtet.  Gerade  von  dem  Kölner  Erzbischof  konnte  er  an 
Calvin  melden,  daß  er  den  Protestanten  nicht  ungünstig  ge- 
sinnt sei.1 

Butzer  hatte  allerdings  Grund,  so  an  Calvin  zu  schreiben. 
Bereits  in  Hagenau  hatten  zwischen  Hermann  von  Wied  und 
Butzer  vertrauliche  Unterredungen  über  eine  Reformation  des 
Erzstiftes  begonnen.  Und  die  Verhandlungen  zwischen  Butzer 
und  Gropper  hatten  zu  einer  starken  Annäherung  der  beiden  ge- 
führt. Ja  für  den  Februar  1542  ward  eine  Zusammenkunft  beider 
am  erzbischöflichen  Hofe  zu  Bonn  vereinbart.  Von  diesen  Dingen 
scheint  bald  etwas  in  die  Öffentlichkeit  durchgedrungen  zu  sein. 
Am  10.  Februar  1542  schreibt  Mykonius  aus  Basel  an  Calvin: 
„Butzer  ging  zum  Reichstag  nach  Speier,  um  von  dort  vielleicht 
nach  Köln  zu  reisen.  Was  er  dort  will,  habe  ich  noch  nicht  er- 
fahren." 2  Aber  bereits  am  8.  April  kann  derselbe  an  Calvin  mit- 
teilen: „Endlich  ist  Butzer  vom  Kölner  Erzbischof  zurückgekehrt; 
er  sagt,  daß  er  ganz  auf  unserer  Seite  sei,  nur  könne  er  nicht 
sogleich  alles  durchsetzen  derenthalben,  denen  er  feind  sei. 
Dennoch  wolle  er  etwas  versuchen,  das  nicht  schaden  würde,  wenn 
es  nur  voranginge.  Was  das  sei  könne  er  einem  Briefe  nicht 
anvertrauen."  3  Bereits  am  17.  April  hat  Calvin  diesen  Brief  beant- 
wortet: und  es  ist  wunderbar,  mit  welch  klarem  Blick  er  die  ganze 
künftige  Entwicklung  vorauserkannt  hat :  „Ich  fürchte,  so  schreibt 
er,  daß  die  Hoffnung,  die  Butzer  in  betreff  des  Bischofs  gefaßt 
hat,  recht  unsicher  ist,  wenn  dieser  nicht  gerade  jetzt  etwas  zu 
unternehmen  wagt,  selbst  gegen  den  Willen  all  der  Seinen.  Denn 
wenn  er  wartet,  bis  die  Kanoniker  ihm  bei  der  Kirchenreformation 
zu  Hilfe  sind,  dann  wird  er  lange  Zeit  warten.  Wenn  er  sich  aber 
jetzt  aufrafft  und  auf  jene  nicht  wartet,  dann  hat  er,  wie  mir 
scheint,  die  ganze  Sache  in  der  Hand.  Denn  die  Civitas  wird  ent- 
weder zustimmen  oder  keinen  großen  Widerstand  leisten.  Viel- 
leicht wird  sie  auch  die  Fland  dazu  bieten.  Solange  er  aber  nichts 
Bedeutenderes  unternimmt,  und  doch  bei  der  Gesinnung  verharrt, 


1)  Vgl.  Calv.  Opp.  XI  p.  257  Nr.  338.  Hier  handelt  es  sich  nicht 
um  eine  Erwartung  Calvins  bei  der  Besprechung  des  Wormser  Ger- 
spräches,  wie  Rotscheidt  p.  261  sagt. 

2)  Calv.   Opp.  XI  p.  369  Nr.  386. 

3)  Calv.    Opp.  XI   p.  383   Nr.  390. 


Von  Dr.  Walter  Ilollweg.  131 


daß  auch  er  in  nichts  schadet,  wird  er  auch  die  Wut  der  anderen 
solange  besänftigen,  bis  ihn  der  Herr  mehr  erleuchtet."1 

Wie  recht  er  hatte,  sollten  ihm  bald  die  Nachrichten  seiner 
Freunde  bestätigen.  Der  Erzbischof  versuchte  es  in  der  Tat  zuerst 
mit  seinem  Klerus.  Und  es  geschah  wie  Calvin  gesagt  hatte.  Im 
Juli  1542  schreibt  Farel  an  Calvin:  „Aus  Butzers  Briefen  werdet 
ihr  sehen,  daß  der  Kölner  Erzbischof  langsamer  vorwärts  macht, 
als  wir  glaubten."  -  Als  dann  aber  der  Erzbischof  die  Unzuver- 
lässigkeit  seines  Klerus  bei  der  Reformation  erkannte,  wandte  er 
sich  entschlossen  von  ihm  ab,  um  jetzt  durch  die  Hilfe  fremder 
evangelischer  Theologen  sein  Ziel  zu  erreichen,  namentlich  durch 
Butzer.  Mit  Freuden  berichtet  Sulzer  dies  an  Calvin.  Man  hofft, 
daß  Butzer  hinziehen  wird  als  „ein  in  Wahrheit  heiliger  Apostel 
Christi.""  3  Und  Butzer  nahm  in  der  Tat  den  Ruf  an.  Wohl  sprach 
er  Calvin  gegenüber  die  Besorgnis  aus,  daß  die  am  Niederrhein 
durch  die  geldrische  Frage  entstandenen  Wirren  das  Reformations- 
werk behindern  würden.4  Aber  dennoch  kam  er  am  14.  Dezember 
1542  in  Bonn  beim  Kurfürsten  an.  Das  trieb  den  Klerus  noch 
mehr  in  Opposition,  auch  Gropper  wurde  sein  Gegner  —  wie 
richtig  hatte  ihn  doch  Calvin  in  Regensburg  kennen  gelernt;  der 
Erzbischof  aber  ging  um  so  entschiedener  die  einmal  betretene 
Bahn  weiter.5  Und  dann  kam  es  so,  wie  Calvin  vorausgesagt 
hatte :  Die  civitas  zeigte  sich  zur  Reformation  willig  bei  heftiger 
Opposition  des  Klerus  und  der  unter  Einfluß  des  Klerus  und  der 
Universität  stehenden  Stadt   Köln.6 

Wesentliche  Unterstützung  fand  das  Reformationswerk  durch 
die  Ankunft  einer  Reihe  bedeutender  Theologen  in  Bonn,  nament- 
lich Melanchthons  (Anfang  Mai  1543).  Gerade  die  letzte  Tatsache 
war  Calvin  besonders  erwünscht.  Von  der  Mitte  Januar  1543  be- 
schlossenen Absicht  einer  Berufung  Melanchthons  ins  Rheinland  " 
scheint    er   bald    Kenntnis   erhalten    zu   haben.      Am    16.  Februar 


1)  Calv.  Opp.  XI  p.  384  Nr.  391. 

2)  Calv.   Opp.  XI   p.  422  Nr.  44g. 

3)  Calv.   Opp.  XI  p.  454  f.   Nr.  429. 

4)  Calv.  Opp.  XI  p.  456  Nr.  430. 

5)  Über  die  Gründe  zu  der  Abschwenkung  Groppers  vgl.  Varrentrapp 
P-  131  "*• 

6)  Vgl.   den  Verlauf  des   Landtages  vom   März   1543  bei  Varrentrapp 
p.   150  ff. 

7)  Vgl.  Varrentrapp  p.  140  Anm.  2. 

9* 


j  -i  2  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

schreibt  er  nämlich  an  Melanchthon  nach  einer  Schilderung  der 
bedauerlichen  Zustände  in  Deutschland:  „Das  richtet  mich  etwas 
auf,  daß  sie  sagen,  der  Kölner  und  einige  andere  hätten  mit  Ernst 
ihren  Sinn  auf  eine  Reformation  der  Kirche  gerichtet.  Denn  das 
halte  ich  für  keinen  geringen  Gewinn,  daß  die  Bischöfe,  aus  deren 
Stand  bisher  keiner  sich  zu  Christo  bekannt  hat,  jetzt  mit  dem 
Abfall  beginnen  unter  Verzicht  eines  Vorteiles  von  dem  römischen 
Idol.  Nur  müssen  wir  jetzt  wachen  und  uns  bemühen,  daß  wir 
ihren  Lauf  fördern,  ne  ex  dimidio  Christo  peius  monstrum  renas- 
catur."  1 

Calvins  Wunsch  fand,  wie  bereits  gesagt,  bald  Erfüllung. 
Gerade  während  Melanchthons  Bonner  Aufenthalt  scheint  die 
Korrespondenz  zwischen  ihm  und  Calvin  besonders  lebhaft  ge- 
wesen zu  sein,  so  daß  Calvin  über  den  Fortgang  der  rheinischen 
Reformation  jedenfalls  stets  auf  dem  Laufenden  blieb.  Melanch- 
thon schrieb  ihm  aus  Bonn  am  n.  Mai,2  er  wolle  ihm  öfter 
schreiben,  wenn  er  nur  wisse,  daß  seine  Briefe  richtig  überbracht 
werden.  Auf  diesen  Brief  hin  ist  bald  eine  Antwort  Calvins  nach 
Bonn  gekommen.  Joh.  Sturm  aus  Straßburg  überbrachte  sie. 
Leider  ist  sie  verloren  gegangen.  Aber  aus  der  Erwiderung  Me- 
lanchthons 3  können  wir  vermuten,  daß  er  den  Freund  ermutigen 
und  aufrichten  sollte.  Wie  konnte  hier  der  starke  Calvin  dem 
schwachen  Melanchthon  eine  Stütze  sein  ,,in  diesen  Geschäften, 
die,  wie  Du  weißt,  voller  Kümmernis  sind.",  schreibt  Melanchthon. 
Zugleich  empfiehlt  er  die  Kirche  der  Fürbitte  Calvins. 

Dieser  Brief  erreichte  Calvin  in  Straßburg.  Voller  Freude 
über  den  Fortschritt  der  Reformation,  schreibt  er  am  24.  Juli  1543 
an  den  Genfer  Senat. :  4  ,,Der  Erzbischof  von  Köln  ist  prächtig 
fest,  das  Evangelium  in  seinem  Lande  durchzusetzen,  und  er  hat 
wahrhaftig  einen  ganz  wunderbaren  Eifer  (un  miracle  de  zele). 
Denn  welchen  Widerstand  er  auch  erfahren  mag  vom  Klerus,  der 
Universität  und  der  Stadt  Köln,  selbst  bis  zur  offenen  Drohung 
der  Absetzung,  er  läßt  dennoch  nicht  ab  auszuharren,  lebhafter 
denn  je,  und  bittet  die  bei  ihm  anwesenden  Prediger,  keine  Rück- 


1)  Calv.   Opp.   XI  p.  516  Nr.  454. 

2)  Calv.   Opp.  XI  p.  539 — 542   Nr.  467. 

3)  Bonn,   12.  Juli.     Calv.   Opp.    XI   p.   594  f.   Nr.  488.     Vgl.    C.    Krafft: 
Theol.  Arb.  III.  p.  79.    Elberfeld  1874. 

4)  Calv.  Opp.  XI  p.  598  f.   Nr.  491. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  33 


sieht  auf  seine  Person  zu  nehmen,  auch  nicht  auf  seine  Lage,  so 
daß  die  Reformation  sich  dadurch  nicht  geradewegs  durchgestalte 
und  so  wie  es  sich  gehört;  desgleichen  wie  sein  Gewissen  ihn  dazu 
drängt,  sich  dieser  Sache  vor  seinem  Tode  zu  entledigen.  Und 
jetzt  hat  er  die  Stände  des  Landes  versammelt,  um  eine  Ordnung 
und  Aufsicht  üher  die  Kirchen  zu  beschließen  und  das  götzen- 
dienerische Wesen  zu  bessern.  Denn  betreff  der  Predigt  ist  bereits 
ein  anderes  Mal  beschlossen  worden,  nämlich :  Das  ganze  Land, 
mit  Ausnahme  von  Klerus  und  Stadt,  haben  angenommen,  daß 
das  Evangelium  überall  gepredigt  werde." 

Wie  wichtig  ihm  diese  Entwicklung  war,  zeigt  die  Tatsache, 
daß  er  noch  am  gleichen  Tage  einen  ähnlichen  Bericht  an  eine 
Genfer  Gesandtschaft  in  Bern  sandte.1 

Auch  mit  Butzer  hat  Calvin  in  dieser  Zeit  Korrespondenz 
gepflegt;  leider  ist  auch   sie  untergegangen.2 

Der  in  Calvins  Schreiben  erwähnte  Landtag  verlief  durchaus 
zu  Gunsten  des  Erzbischofs.  Vergeblich  waren  die  Anstrengungen 
der  Gegner,  auch  ihre  Bemühungen,  benachbarte  katholische 
Fürsten  für  ihre  Gedanken  zu  benutzen.  Für  unsere  Frage  ist  es 
von  Interesse,  daß  unter  den  Gegnern,  die  sich  besonders  hervor- 
taten, auch  ein  Mann  befand,  der  früher  in  Straßburg  mit 
Calvin  in  Verbindung  gestanden  hatte :  Der  Trierer  Rat  Bartho- 
lomaeus  Latomus.  Von  seiner  früheren  Verbindung  mit  Calvin 
berichtet  uns  ein  Brief  Crucigers  an  Jonas  vom  22.  Juli  1540,3 
dort  schreibt  Cruciger:  „Sehr  erwünscht  war  uns  das  Zusammen- 
sein mit  den  sehr  gelehrten  und  beredten  jüngeren  Leuten  Jo- 
hannes Sturm,  Calvin,  Bartholomäus  Latomus."  Bald  darauf  trat 
Latomus  in  die  Dienste  des  Trierer  Erzbischofs  Johanns  IV.  von 
Hagen,  als  dessen  Vertreter  er  mit  Calvin  in  Worms  und  Regens- 
burg zusammenkam.  Aber  in  dieser  Stellung  schlug  er  bald  Wege 
ein,  die  ihn  von  seinen  alten  Freunden  trennen   mußten.4 

Während  so  im  Erzstift  der  Reformation  alles  günstig  schien, 
gab  allen  Hoffnungen  der  Protestanten  der  Ausgang  des  geldrischen 
Krieges  einen  bedenklichen  Stoß.    Melanchthon,  Butzer  und  Hedio 


1)  Vgl.  Calw   Opp.  XI  p.  601  Nr.  492. 

2)  Vgl.    Butzers    Brief  an    Hubert:    Calv.   Opp.  XI   p.  602   Nr.  493. 

3)  Corp.   Ref.   III.    1063. 

4)  Über  ihn  vgl.  Allg.  dtsch.  Biogr.  Bd.  14  p.  423.  C.  Krafft:  Auf- 
zeichnungen Bullingers  p.  134  Anm.  1.  Varrentrapp  p.  200  f.  11.  251  f.  Ney: 
Reformation    in    Trier   p.  111    Anm.  116. 


17A  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


mußten  weichen.    Freilich  trat  an  Butzers  Stelle  eine  neue  tüchtige 
Kraft :  Adalbert  Rizäus  Hardenberg.1 

Calvin  hat  bald  die  traurige  Wendung  der  Kölner  Ereignisse 
erfahren.  Mykonius  unterrichtet  ihn  am  23.  November  1543  über 
die  Feindschaft  des  Kaisers  gegen  die  Häretiker,  kann  aber 
dennoch  gleichzeitig  die  Nachricht  bringen,  daß  der  Erzbischof 
rüstig  an  der  Ausbreitung  des  Evangeliums  fortarbeite.2  Etwa 
ein  Jahr  später  schreibt  ihm  über  die  Lage  des  Erzstiftes  Pollanus.3 
Wir  merken  es  seinem  Briefe  an :  Die  Lage  hat  sich  bedenklich 
zu  Hermanns  Ungunsten  gestaltet.  Mit  aller  Anstrengung  arbeitete 
der  Klerus  im  Dezember  1544  auf  dem  Bonner  Landtag  gegen 
Hermann.  Darüber  hat  Calvin  an  einen  Unbekannten  folgendes 
mitgeteilt,  —  es  ist  die  letzte  uns  bekannte  Äußerung  Calvins  über 
diese  Bewegung;  sie  zeigt  uns,  mit  welch  innerer  Anteilnahme  er 
die  rheinischen  Verhältnisse  verfolgte:  „Alles  haben  die  Kölner 
Kanoniker  versucht,  mit  der  ganzen  Hefe  der  Kleriker,  um  den 
Erzbischof  von  seiner  Stellung  zu  stürzen.  Sie  beriefen  einen 
Landtag  aller  Stände,  damit  ihnen  die  Wahl  eines  anderen  gestattet 
würde.  Es  wurde  abgeschlagen.  Dasselbe  forderten  sie  vom 
Kaiser:  er  antwortete,  er  werde  es  nicht  fehlen  lassen,  nur  sollten 
sie  ihre  Pflicht  tun.  Offen  wollte  er  es  ihnen  nicht  gestatten.  Aber 
aus  jenen  Zweideutigkeiten  kann  man  erraten,  daß  er  keineswegs 
widersprechen  werde,  wenn  sie  irgend  welche  Wirren  erregten : 
wenn  sie  noch  weiter  hinaus  fortgeschritten  sein  werden,  ist  der 
Krieg  gewiß,  wodurch  die  ganze  Lage  Deutschlands  entweder 
wankend  gemacht  oder  schwer  erschüttert  wird.  Das  ist  mein 
einziger  Trost,  daß  der  Tod  einem  Christenmenschen  nicht  traurig 
sein  kann.  Unterdessen  werde  ich  seufzen,  wie  ich  muß,  über  der 
Kirche  Elend  und  ergriffen  sein  über  der  Frommen  Los,  doch  so 
daß  ich  nicht  verzweifelt  bin  .  .  ."  4  Dies  letzte  uns  bekannte  Wort 
Calvins  über  den  Reformationsversuch  Hermanns  von  Wied  zeigt 
klar,  wie  er  die  Verhältnisse  beurteilt  hat.  Auch  fernerhin  ist  er 
von  seinen  Freunden  genau  über  den  Verlauf  der  Bewegung  unter- 
richtet worden. 5 


1)  Vgl.  über  ihn  Varrentrapp  an  verschiedenen  Stellen,  Rutgers  p.   II, 
32,  61,  103  ff.,  234  f. 

2)  Calv.  Opp.  XI  p.  649  f.  Nr.  519. 

3)  Calv.   Opp.  XI  p.  778  N>r.  587. 

4)  Calv.   Opp.  XII  p.  24  f.  Nr.  610. 

5)  Vgl.    Calv.    Opp.    XII.      Bucerus    Calvino    29.  Aug.    1545    Nr.    689 
p.  152  f.,    von    demselben:    8.  Sept.     1545    Nr.  696    p.  162  f.      Hedio     Calvino 


Von   Dr.  Walter  Hollweg.  I  35 


Was  die  Bemühungen  des  Erzbischofes  auf  die  Dauer  immer 
aussichtsloser  machten,  das  war  nicht  allein  die  Feindschaft  der 
Gegner,  es  war  die  Verblendung  und  Uneinigkeit  der  übrigen  Pro- 
testanten;  endlich  war  zeitweilig  auch  bedenklich  eine  wieder- 
täuferische Propaganda.1  Für  Hardenberg  persönlich  war  eine 
besondere  Schwierigkeit  die  Abendmahlslehre,  persönlich  konnte 
er  noch  nicht  zu  einer  klaren  dogmatischen  Stellung  in  dieser 
Frage  gelangen.  Als  ihm  aber  in  den  Rheinlanden  diese  Frage 
brennend  wurde,  da  wandte  er  sich  aus  Bonn  am  24.  März  1543 
an  Calvin  und  bat  ihn  um  Aufklärung.2  Wohl  hat  er,  wie  er 
schreibt,  Calvins  Institutio  und  seinen  Katechismus  gelesen.  Aber 
dennoch  ist  ihm  die  Frage  nach  der  Gegenwart  des  Leibes  Christi 
im  Abendmahl  dunkel.  „Ich  sehe  nicht,  auf  welche  Weise  ich  das 
meinen  Hörern  vorlegen  soll."  Gleichfalls  merken  wir  es  dem 
Briefe  an,  daß  die  täuferische  Bewegung  ihn  beschäftigt.  Er  über- 
sendet Calvin  die  soeben  in  Bonn  erschienene  Schrift  a  Laskos 
gegen  Menno,  für  deren  Pierausgabe  auf  Hardenbergs  Rat  Erz- 
bischof Hermann  gesorgt  hatte.  Daß  Calvin  diesen  Brief  beant- 
wortet hat,  ist  bei  dem  geschilderten  Interesse,  bei  der  persön- 
lichen Anteilnahme,  die  er  an  den  rheinischen  Verhältnissen  nahm, 
wohl  mit  Gewißheit  anzunehmen.  Aber  auch  hier  stehen  wir  vor 
der  traurigen  Tatsache:  der  Brief  ist  verschollen. 

Es  ist  dargelegt  worden :  Calvin  ist  an  der  Geschichte  des 
Kölner  Reformationsversuches  beteiligt  gewesen.  Aber  die 
Gegenreformation  drang  durch,  und  die  führenden  Persönlich- 
keiten, mit  denen  Calvin  in  Verbindung  stand,  haben  die  Rhein- 
lande bald  verlassen  müssen :  Butzer  ging  zurück  nach  Straßburg, 
bald  darauf  nach  England,  Melanchthon  ging  nach  Sachsen,  Har- 
denberg nach  Bremen.  Ist  es  da  wunderbar,  daß  ein  großer  Teil 
ihrer  Korrespondenzen  verloren  ging?  Daß  namentlich  Calvins 
Briefe   an   die   auswärtigen   Freunde  zerstreut   wurden? 

Gewiß !  Der  Reformationsversuch  Hermanns  von  Wied  schlug 
fehl:  wenn  wir  auf  die  Bewegung  im  großen  und  ganzen  achten. 
Aber  er  ging  doch  nicht  vorüber,  ohne  Spuren  im  Erzbistum  zu 
hinterlassen,  Spuren  gerade  auch  in  der  Stadt  Köln,  trotz  der 
energischen   Opposition   seitens   des    Klerus,   der   Universität   und 


6.  Jan.    1546   Nr.  74g    p.  247.      Diazius    Calvino    19.  Jan.    1546    Nr.  751    p.  254  f. 
Theodoricus   Calvino  3.  Febr.   1546  Nr.  758  p.  266. 

1)  Vgl.  Varrentrapp  p.  247  f. 

2)  Calv.   Opp.  XII  p.  48— 50  Nr.  624. 


j-jß  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


des  Kölner  Rates.     Gerade  in  diese  Zeit  fallen  die  ersten  Spuren 
eines  evangelischen   Gemeinde  lebens  in   Köln.     Und   mit   der 
führenden    Persönlichkeit    dieses    Kreises    stand    Calvin    in    enger 
freundschaftlicher  Beziehung.    Es  war  dies  Jacques  de  Bourgogne, 
Seigneur  de  Falais  et  de  Bredam,  ein  Verwandter  Kaiser  Karls  V., 
der  gerade  auf  Calvins  Rat  um  seines  Glaubens  willen  die  Heimat 
verlassen   hatte   und   eine   Zeitlang  in    Köln   lebte.1      Hier    ist   für 
uns  von  Wichtigkeit  ein  Brief  Butzers  aus  London  aus  dem  Jahre 
1544.2      Er   ist   wahrscheinlich   nach    Köln   gerichtet   und   erwähnt 
glückwünschend  und  ermutigend  eine  dort  bestehende  Gemeinde. 
Diese  immerhin  ungewisse  Sache  wird  zur  völligen  Gewißheit  er- 
hoben durch  eine  meines  Wissens  bisher  gänzlich  übersehene  Notiz 
aus  einem  Briefe  Butzers  an  Dryander  vom  6.  Juli   1547, 3  Butzer 
schreibt  dort:  „Ich  möchte  wünschen,  daß  Herr  Falais  in  seinem 
Hause,  wie  erzu  Kölngetan  hat,  eine  Gemeinde  sammelte 
und  für  die  Verwaltung  der  Sakramente  sorgte.'"     Mit  Falais  aber 
stand  Calvin  in  eifrigem  brieflichen  Verkehr  seit  der  Zeit,  als  er 
Heimat  und  Vaterland  verlassen   hatte.     Wie   Schwarz  berichtet, 
hatte  ihm  Calvin  sogar  einen  evangelischen  Pfarrer  als  geistlichen 
Beistand  und  Reisemarschall  gesandt.4     Daß   Calvin  gerade  auch 
in  dieser  Zeit  direkte  Verbindungen  mit  diesem  Kreise  unterhielt, 
sagt  eine  Bemerkung  aus  einem  Briefe  des  Pollanus,5  laut  der  er 
Calvins  Briefe  erhalten  und  sogleich  nach  Köln  besorgt  hat.     Frei- 
lich hat   sich   Falais   nicht   sehr  lange   in   Köln  aufgehalten.      Der 
25.  März    1545   ist  das   letzte   nachweisbare    Datum   seines    Kölner 
Aufenthaltes.6     Und  was  in  den  folgenden  Jahren  aus  dieser  Ge- 
meinde geworden  ist,  wissen  wir  nicht.     Für  uns  ist  es  jedenfalls 


1)  Über  die  Beziehungen  Calvins  zu  Falais  vgl.  R.  Schwarz:  Calvins 
Freundschaft  in  der  Ref.  Kirchenzeitung  1909  p.  123  f.  Rutgers  p.  85—88. 
Calv.   Opp.    X  a  p.  273—294. 

2)  Vgl.  Ecclesiae-Londino  Batavae  Archivum  tom  II  ed.  J.  H.  Hesseis 
Cantabr.  1889  p.  2.  Simons:  Niederrhein.  Synodalleben  p.  45.  Leider 
konnte  ich  Hesseis  nicht  selbst  einsehen.  Ich  kann  hier  deshalb  nur  nach 
Simons  berichten. 

3)  Vgl.  Calv.   Opp.  XII  p.  549  Anm.  2. 

4)  Auf  den  letzteren  bezieht  sich  vielleicht  eine  Notiz  aus  Hardenbergs 
Brief  an  Calvin  vom  24.  März  1545:  „Darüber  wird  Dir  berichten  Dein 
Raimundus,  der  zu  Köln  ist  bei  dem  sehr  frommen  Jacob  von  Burgund." 
Calv.   Opp.  XII  p.  50  Nr.  624. 

5)  Calv.  Opp.  XII  p.  43  Nn.  620. 

6)  Vgl.  Max  Lenz:  Briefwechsel  Landgraf  Philipps  des  Großmütigen 
von  Hessen  mit  Bucer  Bd.  II  p.  348  Anm.  11.  Leipzig  1887.  Publ.  aus  d. 
preuß.   Staatsarchiven  Bd.  48.     Vgl.  auch  II.   456.   Text   und  Anm.  11. 


Von    Dr.  Walter  Hollweg.  I  3  7 


von  großem  Interesse,  daß  die  ersten  Regungen  evangelischen  Ge- 
meindelebens in   Köln  aufs  engste  mit  Calvin  verknüpft  sind. 

Etwa  20  Jahre  nach  dieser  Zeit  —  während  dieser  20  Jahre 
wissen  wir  von  einer  Kölner  Gemeinde  nichts  —  leitete  ebenfalls 
ein  direkter  Schüler  Calvins  eine  evangelische  Gemeinde  in  Köln, 
der  Niederländer  Petrus  Colonius.1  Näheres  wissen  wir  über  seine 
Arbeit  in  Köln  nicht.  Deshalb  soll  über  ihn,  der  noch  in  anderer 
Hinsicht  für  die  Rheinlande  bedeutend  wurde,  an  anderer  Stelle 
berichtet  werden. 

b)    Calvin  und  Trier. 

Einen  ebenso  erfolglosen  Verlauf,  wie  die  Reformation  Her- 
manns von  Wied  nahm  auch  der  reformatorische  Versuch  in  der 
Hauptstadt  des  zweiten  rheinischen   Erzbistums,   in  Trier. 

Trier  hatte  sich  im  Laufe  des  ausgehenden  Mittelalters  eine 
große  Reihe  wichtiger  Rechte  seinem  Landesherren  gegenüber 
erworben,  für  deren  Wahrung  der  Rat  eifrig  bedacht  war.  Nomi- 
nell war  die  Stadt  abhängig,  faktisch  aber  unabhängig.  Die  Erz- 
bischöfe lebten  meist  gar  nicht  in  Trier ;  Coblenz,  Ehrenbreitstein, 
Wittlich  und  andere  Städte  mehr  bildeten  ihre  gewöhnlichen  Resi- 
denzen. Die  religiösen  und  kirchlichen  Verhältnisse  der  Stadt  boten 
dasselbe  Bild  wie  in  den  meisten  anderen  größeren  Städten :  mit 
äußerlichem  Glanz  und  scheinbarem  Geordnetsein  verband  sich 
innere  Hohlheit  und  Fäulnis.  Deshalb  waren  Konflikte  zwischen 
der  Stadt  und  dem  Klerus  unvermeidlich  gewesen,  und  die  Stellung 
der  Stadt  zum  Erzbischof,  die  natürlich  durch  solche  Verhältnisse 
mit  berührt  wurde,  nicht  gerade  rosig  zu  nennen.2 

Von  den  Trierer  Erzbischöfen  hatte  Calvin  persönlich  kennen 
gelernt  Johann  III.  von  Metzenhausen,  1540  auf  dem  Religions- 
gespräch zu  Hagenau.  Über  seine  Stellung  zu  den  kirchen- 
politischen Fragen  hat  Calvin  im  Mai  1540  in  einem  Briefe  an 
Farel  ein  Urteil  gefällt.  Dort  schreibt  er,  daß  die  Protestanten 
sich  keineswegs  fürchten,  obwohl  die  Papisten  bestrebt  sind,  den 
Kaiser  in  Dinge  zu  verwickeln,  die  ihn  zum  Vorgehen  gegen  sie 
veranlassen.     Und   dann   fährt   er   fort :    ..Drei    Kurfürsten   werden 


1)  Vgl.  die  Worte  aus  dem  Briefe  des  Petrus  Dathenus  an  Beza: 
Praefuit  aliquamdiu  Uli  Ecclesiae  Petrus  Colonius.  Brief  vom  23.  Mai  1570, 
zitiert  von  K.  Krafft.     Theol.  Arb.  II.  p.   120. 

2)  Über  diese  Verhältnisse  vgl.  Jul.  Ney:  Die  Reformation  in  Trier 
und  ihre  Unterdrückung,  I.  Heft.  Der  Reformationsversuch.  Halle  1906, 
p.  1 — 19.     Schriften  des  Ver.  f.  Ref.-Gesch.  88. 


13« 


Calvins  Beziehungen  zu  den  Rhcinlanden. 


eine  vermittelnde  Stellung  einnehmen,  der  Pfälzer,  Kölner  und 
Trierer  und  sich  eher  mit  uns  verbinden,  als  unsere  Unterdrückung 
dulden."  1  Der  Verlauf  des  Hagenauer  Gespräches  hat  dann  Calvin 
allerdings  anders  belehrt.  In  einem  Briefe  vom  28.  Juli  aus  Straß- 
burg —  das  heißt  also  wenige  Tage  nach  Johanns  III.  Tode,  der 
ja  zur  Auflösung  der  Verhandlungen  den  Anlaß  gab  —  schrieb  er 
an  Herrn  du  Tailly :  „Mainz  und  Trier  Heben  den  Frieden  und  die 
Freiheit  des  Landes,  die  sie  herbeigeführt  glauben,  wenn  der  Kaiser 
uns  unterjocht  hätte.  Diese  Gründe  bewegen  sie,  dem  zu  wider- 
stehen, daß  man  nur  in  friedlicher  Verhandlung  gegen  uns  vor- 
geht, so  wie  wir  sie  fordern."  2 

Ein  anderes  Urteil  gewann  Calvin  wiederum  über  Triers  Politik 
in  Regensburg  1541.  Hier  meint  er:  „Den  Mainzer  haben  wir  zum 
Feind:  Der  Trierer  nämlich  wird  sich  Maß  auflegen,  sofern  er  es 
zu  seinem  Vorteil  können  wird."  s 

Die  beiden  Nachfolger  Johanns  IV.,  nämlich  Johann  V.  (seit 
1547)  und  Johann  VI.  (seit  1556),  hat  Calvin  nicht  gekannt. 
Letzterer  war  es,  der  in  den  im  folgenden  zu  schildernden  Be- 
wegungen der  Führer  der  Gegenreformation  war. 

Daß  die  große  reformatorische  Bewegung,  die  ganz  Europa 
bewegte,  an  den  Bürgern  Triers  unbemerkt  vorbeigegangen  wäre, 
ist  von  vornherein  ausgeschlossen.  Der  umfangreiche  deutsche 
Handel  sorgte  schon  allein  genügend  für  die  Verbreitung  neuer 
Ideen,  und  das  überall  vorhandene  Bedürfnis  nach  Reform  kam 
diesen  bereitwilligst  entgegen.  So  gab  es  auch  in  Trier  bald  einen 
Kreis  reformatorisch  gesinnter  Männer,  und  zwar  gehörten  zu  ihm 
gerade  solche  Leute,  die  durch  Achtung  und  Einfluß  bei  ihren 
Mitbürgern  hervorragten. 

Ehe  wir  aber  den  Beginn  und  Verlauf  der  Reformation  in 
Trier  verfolgen,  und  zwar  mit  besonderer  Beachtung  und  Betonung 
des  Einflusses,  den  gerade  Calvin  bei  diesen  Ereignissen  hatte, 
müssen  wir  über  zwei  Männer  im  klaren  sein,  an  die  sich  wesent- 
lich die  Reformation  anknüpft,  und  durch  die  Calvin  an  derselben 
beteiligt  war,  das  sind  Petrus  Colonius  und  Caspar  Olevianus. 

Petrus  Colonius,  auch  Pierre  de  Coulogne,  Pieter  van  Keulen 
oder  Agrippa  genannt,4  war  Vlamländer.  Er  stammte  aus  Gent.   Bei 


1)  Calv.   Opp.  XI  p.  39  N'r.  218. 

2)  Calv.  Opp.  XI  p.  66  Nr.  228. 

3)  Calv.   Opp.   XI  p.2S7  Nr.  338. 

4)  Über  ihn  vgl.  Haag:  La  France  protestante  :  IV.    1884  p.  529 — 533. 
Rutgers   p.  12,   110 — 114.     Calv.    Opp.  XVII   p.  471   Anm.  1. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  3Q 


seinen  juristischen  Studien  in  Paris  trat  er  in  Verbindung  mit  dem 
durch  Calvin  angeregten  Kreise  des  Buchdruckers  Stephanus. 
Stephanus  war  es  auch,  der  ihn  bewog  Calvins  halber  nach  Genf 
zu  gehen  ;  und  der  Einfluß  Calvins  auf  Colonius  war  bald  so  groß, 
daß  er  durch  ihn  bewogen  wurde,  Prediger  zu  werden.  \  • 
Amt  verwaltete  er  zunächst  in  Metz,  wohin  ihn  der  Baron  de 
Coppet,  Antoine  de  Clervant,  aus  Genf  mitgenommen  hatte.1  1561 
wurde  er  gezwungen,  Metz  zu  verlassen  und  wurde  Prediger  in 
Heidelberg.  Colonius  war  also  direkter  Schüler  Calvins  und  blieb 
auch  nach  seinem  Weggang  von  Genf  in  lebhaftem  brieflichen 
Verkehr  mit  seinem  Lehrer. 

Das  gleiche  ist  zu  sagen  von  Caspar  Olevianus  aus  Olewig 
bei  Trier.2  Bekanntlich  kam  er  nach  juristischen  Studien  in  Paris, 
Orleans  und  Bourges  1558  nach  Genf,  und  ebenfalls  wie  Colonius 
in  enge  persönliche  Beziehungen  zu  Calvin. 

Daß  er  bei  diesem  Verkehr  seinem  Lehrer  auch  die  Verhält- 
nisse seiner  Heimatstadt  schilderte,  ist  nicht  verwunderlich. 
Namentlich  konnte  Olevianus  von  zwei  in  der  Stadt  hervorragenden 
Männern  berichten,  deren  Herz  innerlich  bereits  der  Reformation 
zugetan  war,  das  war  zunächst  der  Licentiat  Petrus  Sirk,  einfluß- 
reich sonderlich  auch  durch  seine  Verwandtschaft  mit  dem  gleich- 
falls reformfreundlichen  Bürgermeister  der  Stadt  Johann  Steuß ; 
der  andere  war  Otto  Seel,  ein  Mitglied  des  Rates. 

Olevians  Berichte,  namentlich  die  Schilderung  dieser  beiden 
Männer,  interessierten  Calvin  derartig,  daß  er  an  beide  am 
29.  August  1558  Briefe  sandte.3  Von  Olevian,  so  schreibt  Calvin 
an  Lic.  Petrus  Sirk,  hat  er  erfahren,  daß  er  ein  Verehrer  Gottes 
ist  und  mit  Ernst  und  Treue  bestrebt  ist,  Gottes  Reich  auszubreiten. 
Aber  die  verworrenen  Zustände  in  Trier,  wie  Olevian  sie  geschildert 
hat,  lassen  einen  harten  Kampf  erwarten.  Deshalb  mahnt  er  ihn, 
gerüstet  zu  sein.  Gunst  und  Freundschaft  vieler  wird  er  verlieren, 
auf  Bequemlichkeiten  verzichten  müssen,  ja  Drohungen  und  Ein- 
schüchterungen zu  erwarten  haben,  namentlich  von  der  in  Trier 
ansässigen  katholischen  Geistlichkeit.  Verdruß,  Ungerechtigkeit, 
Bedrängnis,  vielleicht  noch  Schlimmeres  wird  er  zu  ertragen  haben. 


1)  Vgl.    Calv.    Opp.    XVII   p.    326    Anm.  1,    360   Anm.  2.    471    Anm.  1 
Nr.  2955,  2971,  3026. 

2)  Über  ihn  vgl.  K.  Sudhoff:  C.  Olevianus  und  Z.  Ursinius.     Elberfeld 
1857.    J.  Ney  Heft  I  p.  22  ff. 

3)  Calv.    Opp.  XVII.    p.  314—317    Nr.  2947  f.      Teilweise    in    deutscher 
Übersetzung  mitgeteilt  bei  Sudhoff  p.  18 — 20. 


I  A  O  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

Aber  das  Bewußtsein,  unter  Christi  Leitung  zu  streiten,  wird  un- 
besiegbare Kraft  verleihen.  Sein  ist  gewißlich  der  Sieg.  Zum 
Vorwärtsschreiten  zwingt  ihn  jetzt  ein  Doppeltes:  einmal  der  ihm 
von  Gott  gegebene  Beruf,  andere  anzutreiben  und  zu  ermutigen, 
und  dann  der  Anfang,  in  dem  Gott  sich  als  Führer  bewährt  hat. 

Ähnlichen  Inhaltes  ist  auch  der  Brief  an  Otto  Seel.  Mut  will 
er  ihm  machen  zum  Handeln.  Die  feindliche  Macht  soll  ihn  nicht 
schrecken.  Alle  Anfänge  des  Reiches  Gottes  waren  zuerst  niedrig 
und  verachtet.  Gott  gab  ihm  eine  geachtete,  angesehene  Stellung 
in  der  Stadt.  Der  Größe  dieser  Gabe  entspricht  auch  die  Größe 
der  Aufgabe. 

Auf  diese  Weise  waren  die  ersten  Verbindungen  Calvins  mit 
Trier  durch  Olevian  geschaffen.  Durch  Colonius  sollten  dieselben 
verstärkt  werden.  Der  Herr  von  Clervant,  der,  wie  schon  gesagt, 
ein  eifriger  Förderer  des  Evangeliums  in  Metz  war  und  deshalb 
den  Colonius  aus  Genf  mit  nach  Metz  genommen  hatte,  wandte 
sein  Interesse  auch  den  schwachen  evangelischen  Regungen  in 
Trier  zu.  Auf  seine  Bitte,  war  Colonius  am  4.  Februar  1559  nach 
Trier  gekommen.  Am  11.  März  berichtet  er  über  seine  Erfahrungen 
an  Calvin.1  ,,Ganz  und  gar  matt  ist  dort  die  Verkündigung  des 
Evangeliums."  Peter  Sirk  hat  ihm  mitgeteilt,  daß  die  Zahl  der 
Gläubigen  eine  sehr  geringe  ist.  Nach  des  Colonius  Meinung  ist 
der  Grund  aller  Schwäche  dies,  daß  die  Bewegung  eines  Predigers 
oder  Führers  entbehrt.  Deshalb  schlägt  er  Calvin  vor,  den  Olevian 
nach  Trier  zu  entsenden.  Er  schien  ihm  der  geeignete  Mann. 
Darin  stimmte  auch  Calvin  mit  ihm  überein.  In  Übereinstimmung 
mit  Farel,  Petrus  Martyr  und  Viret  riet  er  ihm,  nach  Trier  zu 
gehen,  obwohl  das  Genfer  Presbyterium  zuerst  daran  gedacht  hatte, 
ihn  zu  einer  Tätigkeit  als  Prediger  in  Metz  zu  bewegen.2  Wie 
sehr  Calvins  Freundschaft  und  Rat  Olevian  wert  gewesen  ist,  hat 
er  selbst  in  einem  Briefe  vom  6.  Mai  an  Petrus  Martyr  bezeugt.3 
Im  Juni  1559  kam  Olevian  von  Genf  nach  Trier  zurück. 

Hier  wurde  ihm  zunächst  auf  seinen  Wunsch  hin  eine  Lehrer- 
stelle übertragen  mit  der  Verpflichtung,  in  der  Burse  über  Melanch- 
thons  Dialektik  und  andere  philosophische  Disziplinen  latei- 
nische Vorlesungen  zu  halten.  Bot  ihm  das  schon  manche  Ge- 
legenheit zur  Verkündigung  des  Evangeliums,  so  suchte  er  dennoch 


1)  Calv.    Opp.  XVII   p.  472  f.    Nr.  3026. 

2)  Vgl.  Ney  I  26. 

3)  Vgl.  Sudhoff  p.  479  ff.  im  Auszug  Calv.  Opp.  XVII  p.  513  Nr.  3049. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  141 


einen  weitgehenderen  Einfluß  zu  gewinnen  und  kündigte  am 
9.  August  deutsche  Predigten  in  der  Burse  an.  Desgleichen  begann 
er  mit  deutscher  Katechismuserklärung.  Leider  erfahren  wir  aus 
dem  Briefe  des  Colonius  vom  9.  September  1 5 5 < j , '  der  über  die 
Trierer  Verhältnisse  Calvin  genauen  Bericht  erstattete,  nicht, 
welchen   Katechismus  Olevian  erklärte. 

Durch  diese  Ereignisse  entbrannte  natürlich  in  der  alten 
Trierer  Bischofsstadt  der  religiöse  Kampf.  Günstig  war  es  für  die 
neue  Bewegung,  daß  Erzbischof  Johann  zur  Zeit  auf  dem  Reichs- 
tag zu  Augsburg  weilte,  so  daß  nur  des  Kurfürsten  Räte  sich  der 
Bewegung  entgegenstellen  konnten.  Olevian  aber  sammelte  bald 
um  sich  eine  große  Gemeinde,  die  auch  im  Rate  ihre  kräftigen 
Stützen  hatte.  Sirk  und  Seel  handelten  ganz  im  Sinne  und  Geiste 
der  Ermahnungen  Calvins.  Bemerkt  sei,  daß  die  veränderte 
Augsburgische  Konfession,  wie  auch  andererorts  bei  den  Refor- 
mirten,   so   auch   hier    bekenntnismäßigen   Charakter   hatte. 

So  war  es  wesentlich  mit  Calvins  Verdienst,  daß  in  Trier  die 
reformatorische  Bewegung  einsetzte.  Aber  gerade  die  Verbindung 
der  Bewegung  mit  Calvin  sollte  derselben  verhängnisvoll  werden. 

Am  9.  September  1559  schrieb  Colonius  an  Calvin1:  „Von  den 
Gegnern  wird  Kaspar  hauptsächlich  mit  der  Chikanc  beschwert, 
daß  er  ein  Jahr  lang  freundschaftlich  mit  Dir  zusammen  gelebt 
hat.  Denn  auf  diese  Weise  glauben  sie  einen  rechten  Grund  zu 
seiner  Verwerfung  zu  haben.  Durch  ein  bestimmtes  Augsburger 
Dekret  ist  nämlich  bestimmt,  daß  nur  Bekenner  der  päpstlichen  und 
Augsburgischen  Religion  im  Reiche  geduldet  werden,  .  .  .  ."  Vir 
können  noch  näher  zeigen,  wie  richtig  Colonius  berichtete.  Bei 
einer  Beratung  des  Domkapitels  und  der  weitlichen  kurfürstlichen 
Räte  über  eine  an  den  Trierer  Rat  zu  gebende  Mitteilung,  betont 
der  Rat  Flad  ausdrücklich,  man  solle  hervorheben,  daß  Olevian 
ein  Schüler  Calvins  sei.2  Desgleichen  forderte  ein  kurfürstliches 
Schreiben  zur  Verhaftung  Olevians  auf,  der  Calvinist  und  Auf- 
rührer sei.3 

Unterdessen  kam  der  Kurfürst  selbst  mit  einem  bedeutenden 
Zuge  Bewaffneter  nach  Trier;  am  16.  September  hielt  er  seinen  Ein- 
zug. Unter  seinem  Gefolge  befand  sich  auch  der  bereits  oben 
charakterisierte  Bekannte  Calvins,  Bartholomäus  Latomus :  er  wird 


1)  Calv.   Opp.  XVII  p.  625— 627  Nr.  3110. 

2)  Ney  I.  p.  50. 

3)  Sudhoff  p.  24. 


IA2  Calvins  Bezithungen  zu  den  Rfceinlanden. 

jetzt  im  wesentlichen  das  treibende  Element  gegen  die  evangelische 
Bewegung.1  Er  meinte,  Olevian  sei  „ein  verdammter  Sekten- 
prediger wider  die  christliche  Ordnung  und  die  Augsburgische 
Konfession".2  Jetzt  entwickelten  sich  in  Trier  ausgedehnte  Ver- 
handlungen, von  denen  als  charakteristisch  herauszuheben  ist,  daß 
der  Kurfürst  die  Evangelischen  kurz  als  Calvinisten  behandelte.3 
Einen  calvinischen  Prädikanten  hätten  sie  angestellt  und  nicht  einen 
der  Augsburgischen  Konfession.4  Die  Verhandlungen  blieben 
j'edoch  erfolglos.  Deshalb  verließ  der  Kurfürst  am  24.  September 
die  Stadt  und  ritt  zum  nahen  Pfalzel,  um  von  dort  die  Stadt  mit 
Gewalt  zu  zwingen.  Zunächst  erließ  der  Kurfürst  einen  gehar- 
nischten Erlaß,  in  dem  als  Grund  seines  Mißfallens  ausdrücklich 
betont  wurde,  daß  die  Stadt  einen  Laien,  der  sich  Dr.  Kaspar 
nenne  und  zwei  Jahre  in  Genf  bei  Calvin  studiert  habe,  auf  die 
Kanzel  gestellt  habe.5  Die  Stadt  wurde  dann  eingeschlossen  und 
auf  jede  mögliche  Weise  bedrängte  Das  machte  den  katholischen 
Teil  der  Bürgerschaft  bald  mürbe.  Olevian  und  der  evangelische 
Teil  des  Rates  wurden  gefangen  gesetzt,  und  am  26.  Oktober  hielt 
der  Erzbischof  seinen   Einzug. 

Auf  dem  Wege  der  Kriminalklage  wurde  gegen  die  Evan- 
gelischen vorgeschritten.  Erreichte  man  es,  Olevian  als  Cal- 
vinisten hinzustellen,  dann  hatte  man  einen  guten  Grund  zum  Vor- 
gehen gegen  ihn  und  sein  Anhänger.  Aber  ein  dahinzielendes 
Verhör  und  eine  Untersuchung  seiner  Bibliothek  ergaben  nicht  das 
gewünschte  Material.7 

101  Anklageartikel  wurden  zusammengestellt.  Und  einer  der 
wichtigsten  davon  blieb  dennoch,  wie  Olevian  selbst  an  Calvin 
schreibt,  daß  er  ein  calvinistischer  Prediger  sei :  „Ein  schismatischer 
Rottenführer"  wird  er  genannt. s  Über  sein  Verhältnis  zu  Calvin 
und  seinen  Aufenthalt  in  Genf  hat  Olevian  im  Verhör  folgende  Aus- 
sage getan :  „Ich  bin  nicht  vor  langer  Zeit  und  vor  Jahren,  sondern 
vor  Monaten  in  Genf  gewesen,  und  zwar  vornehmlich,  damit  ich  einen 


1)  So   hat   Olevian  selbst   später  an   Calvin  berichtet,  vgl.    Calv.    Opp. 
XVIII  p.  46—48  Nr.  3178. 

2)  Ney  p.  75. 

3)  Ney  p.  80  f. 

4)  Ney  p.  84. 

5)  Ney  II  p.  3.     Marx:  Caspar  Oleviantis  etc.  p.  51. 

6)  Vgl.   darüber   Olevianus  Brief  an   Calvin.     Calv.   Opp.   XVIII  p.  47 
Nr.  3178. 

7)  Ney  II  p.  29. 

8)  Ney  IL  p.  31. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  143 


Anfang  der  hebräischen  Sprache  machen  möchte";  auch  das  Iran 
zösische,  das  ihm  geläufig  sei,  hätte  ihn  für  Genf  bestimmt, 
bedachte,  mich  auch  im  französischen  Predigen  auszubilden,  damit 
dem  Antichristentum  und  seinem  Teufelsreich  nicht  einen  geringen 
Abbruch  zu  tun."  Schon  zu  Paris  habe  er  fleißig  die  französischen 
Predigten  und  Disputationen  gehört,  ebenso  zu  Straßburg  und 
Genf.1 

Das  Prozeßverfahren  gegen  die  Angeklagten  nahm  bald  da- 
durch eine  günstige  Wendung,  daß  sich  ihrer  eine  Reihe  pro- 
testantischer Fürsten  annahmen  und  nach  einem  Kolloquium  in 
Worms  eine  Gesandtschaft  nach  Trier  sandten.  Neben  anderem  hatte 
sie  auch  den  Erfolg,  daß  der  Kurfürst  das  Verhältnis  Olevians  zu 
Calvin,  als  ein  Moment  der  Opposition  gegen  die  Evangelischen, 
fortab  fallen  ließ.  Die  Instruktion  der  Gesandten  hatte  einfach 
erklärt,  Olevians  Lehre  und  Bekenntnis  sei  der  Augsburgischen 
Konfession  gemäß. 

Nach  längeren  Verhandlungen  wurden  die  gefangenen  Pro- 
testanten nach  beschworener  Urfehde  entlassen ;  allen  Protestanten 
zusammen  wurde  eine  Geldsumme  von  3000  Mark  auferlegt  und 
ihre  Auswanderung  auf  Grund  des  Augsburger  Religionsfriedens 
angeordnet. 

Über  alle  diese  Verhältnisse  war  Calvin  stets  genau  unter- 
richtet worden  durch  Olevian  2  und  seine  Freunde.3  Leider  sind 
uns  Urteile  seinerseits  über  den  Verlauf  der  Trierer  Reformation 
nicht  vorhanden,  obwohl  es  wohl  wahrscheinlich  ist,  daß  er  nach 
seinem  ersten  Eingreifen  auch  fernerhin  seine  Getreuen  mit  seinem 
Rat  und  seinem  Trost  unterstützt  hat. 

Das  Resultat  dieses  Abschnittes  können  wir  dahin  zusammen- 
fassen, daß  Calvins  Einfluß  auf  die  Trierer  Reformation  ein  nicht 
zu  unterschätzender  gewesen  ist,  einmal  durch  die  geistige  Aus- 
rüstung, die  er  als  Lehrer  des  Colonius  und  Olevian  diesen  mit 
auf  den  Weg  gab,  dann  aber  auch  durch  seine  Briefe  an  zwei  der 
führenden  Persönlichkeiten  auf  seiten  der  Evangelischen.  Auf  der 
anderen  Seite  aber  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  gerade  die  Ver- 


1)  Sudhoff  p.  47. 

2)  Calv.   Opp.  XVIII  p.  46— 49  Nr.  3178. 

3)  Calv.  Opp.  Colonius  Calvino  XVII  p.  625—627  Nr.  3110;  p.  699 
Nr.  3143;  XVIII  p.  40  Nr.  3175;  vgl.  auch  p.  48  Anm.  3  zu  Nr.  3178. 
Hotomanus  Calvino  XVII  p.  705  Nr.  3147.  Holbracus  Calvino  XVIII  p.  4 
Nr.  3152;  vgl.   XVII  p.  701— 703  Nr.  3145. 


IAA  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

bindung  Calvins  mit  Olevian  den  Feinden  der  Reformation  eine 
starke  Waffe  wurde  zur  Unterdrückung  der  reformatorischen  Be- 
wegung. 

c)  Calvin  und  Wesel. 

Die  Reformation  im  Herzogtum  Kleve  gestaltete  sich  in  ganz 
andersartiger  Weise  als  in  Köln  und  Trier.  Das  hatte  seinen  Grund 
in  der  besonderen  kirchlichen  und  politischen  Entwicklung  des 
Herzogtums  im  Laufe  des  ausgehenden  Mittelalters.  Im  Klever 
Herzogtum  war  der  Einfluß  der  Kirchenfürsten  ein  sehr  geringer: 
daß  der  Herzog  von  Kleve  Papst  in  seinen  Territorien  sei,  sagte 
ein  geflügeltes  Wort.  In  zäher  zielbewußter  Politik  hatten  sich 
die  Herzöge  einen  großen  Teil  der  kirchenregimentlichen  Befug- 
nisse erworben.  Die  Kölner  Erzbischöfe  und  Münsterer  Bischöfe 
waren  hier  ziemlich  machtlos.1  Die  wirklichen  Machthaber  aber, 
die  Landesfürsten,  waren  zur  Reformation  willig,  und  ihnen  schloß 
sich  alles  an,  was  durch  Stand  und  Bildung  hervorragte :  Das  war 
der  Einfluß  des  Humanismus.  Zur  Charakterisierung  dieses  Kreises 
sei  nur  der  eine  Name  genannt :  Konrad  von  Heresbach. 

Eine  ähnlich  unabhängige  Stellung,  wie  sie  im  allgemeinen  die 
Herzöge  in  ihrem  Gebiet  hatten,  hatte  Wesel,  die  wichtigste  Stadt 
des  Herzogtums,  ihren  Herzögen  gegenüber  und  zwar  sowohl  nach 
der  landesherrlichen  wie  kirchenregimentlichen  Seite  hin. 2  Daß 
dieser  Boden  für  die  Entstehung  einer  reformatorischen  Bewegung 
günstig  war,  liegt  auf  der  Hand. 

Nun  war  die  offenbare  Tendenz  der  Herzöge  die :  wohl  Re- 
formation, aber  nicht  Kirchentrennung.  Daß  eine  solche  Politik 
gerade  Wesel  gegenüber  undurchführbar  war,  sollte  die  Zukunft 
bald  lehren.  Das  halbe  Entgegenkommen  der  Herzöge  weckte 
das  Reformationsverlangen  nur  noch  mehr,  und  die  freiheitliche 
Stellung  der  Stadt  drängte  zu  selbständigem  Vorgehen.  So  kam 
es,  daß  sich  Wesel  in  einer  Zeit  von  etwa  20  Jahren  (1525— 1545) 

1)  Vgl.  O.  Redlich:  Jülich-Bergische  Kirchenpolitik  am  Ausgange  des 
Mittelalters  und  in  der  Reformationszeit  I.  Bonn  1907.  J.  Hansen:  West- 
falen und  Rheinland  im  15.  Jahrhundert  Bd.  I.  Leipzig  1888.  Publ.  aus  d. 
preuß.  Staatsarchiven  Bd.  34  und  J.  Hashagen:  Anfange  des  landesherr- 
lichen Kirchenregiments  am  Niederrhein  in:  Monatshefte  f.  rhein.  K.-G.  II. 

1908  p.  I— 15. 

2)  Vgl.  A.  Wolters:  Reformationsgeschichte  der  Stadt  Wesel  bis  zur 
Befestigung  ihres  reformierten  Bekenntnisses  durch  die  Weseler  Synode. 
Bonn  1868  p.  16  ff. 


Von  Dr.  W.   Hollweg.  I  45 


zu  einer  fast  rein  evangelischen  Stadt  entwickelte.  In  beiden 
Kirchen,  der  Mathenakirche  und  der  Wilibrordskirche  wurde 
deutsche  evangelische  Predigt  gehalten,  in  letzterer  Kirche  auch 
regelmäßig  das  Abendmahl  unter  beiderlei  Gestalt  gefeiert.  Super- 
intendent über  Prediger,  Hilfsgeistliche  und  Schulen  war  Nikolaus 
Buscoducensis.  Der  Bekenntnisstand  der  Gemeinde  war  ein  milder 
Melanchthonismus.1 

Der  Hoffnung  einer  Förderung  der  Reformation  durch  die 
Klever  Herzöge  hatte  sich  Calvin  nie  ernstlich  hingegeben.  Wohl 
hatte  sich  die  Hoffnung  in  seinem  Herzen  geregt,  als  Herzog 
Johann  1539  gestorben  war,  und  Herzog  Wilhelm  ihm  nachfolgte, 
ein  Schwager  Kurfürst  Johannes  von  Sachsen.  Calvin  sah  es 
klar,  welche  bedeutenden  Konsequenzen  ein  Anschluß  des  Her- 
zogs an  die  Partei  der  Protestanten  haben  würde.  Als  eine  Zu- 
sammenkunft des  Klever  Herzogs  mit  seinem  Schwager  bevor- 
stand, in  der  über  Wilhelms  Anschluß  an  den  Schmalkaldischen 
Bund  verhandelt  werden  sollte,  da  hat  Calvin  an  Farel  geschrieben : 
.Wenn  er  (der  Kurfürst)  ihn  zur  Annahme  der  Reformation  be- 
wegen kann,  so  wird  das  für  das  Reich  Christi  ein  großer  Vorteil 
sein.''  -  Wie  vergeblich  allerdings  diese  Erwartungen  waren,  das 
sollte  Calvin  bald  persönlich  erfahren.  In  Worms  konnte  er  1540 
die  kirchenpolitische  und  religiöse  Stellung  des  Herzogs  kennen 
lernen.  In  einem  Briefe  aus  dem  Ende  des  Jahres  1540  berichtet 
er  speziell  über  die  Stellung  des  Klevers  zum  protestantischen 
Zentraldogma,  der  Rechtfertigungslehre,  mit  folgenden  charakte- 
ristischen Worten :  ,,Die  Stellung  des  Klevers  und  Kölners  ist 
nicht  eine  sehr  ungünstige  zu  nennen."  3  Das  war  wieder  die  alte 
bekannte  Unentschiedenheit,  die  man  bei  Kleve  gewohnt  war.  Auch 
später,  bei  seinem  Eingreifen  in  die  Weseler  Verhältnisse,  hat  Calvin 
nie  von  einem  eventuellen  Einfluß  der  Herzöge  etwas  zu  hoffen 
gewagt,  er  hat,  so  weit  wir  sehen,  nie  daran  gedacht. 

Bald  aber  griffen  in  die  reformatorische  Bewegung  von  Wesel 
zwei  neue  Faktoren  ein,  die  notwendig  zu  Konflikten  führen 
mußten,  und  die  tatsächlich  eine  gänzliche  Umgestaltung  der  kirch- 
lichen Verhältnisse  in  Wesel  herbeiführten,  eine  Umgestaltung,  die 
über  Wesel  hinaus  von  der  weittragendsten  Bedeutung  wurde :  das 


1)  Vgl.  Wolters    p.  91,    96  f.      Zeitschr.    d.    Berg.    G.    V.    Bd.  26    1890 
p.  213— <225. 

2)  Vgl.  Calv.  Opp.  X  b  p.  330  Nr.  164.    März  IS39- 

3)  Vgl.  Calv.    Opp.  XI   p.  138   Nr.  208,   vgl.   auch  p.  178  Nr.  290. 

Calvinstudien. 


ja()  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


war  einmal  die  Einwanderung  der  Wallonen  aus  den  Niederlanden 
sowie  der  Reste  der  Londoner  Fremdengemeinde  und  der  Eng- 
länder, was  die  Entstehung  eines  reformirten  Elementes  innerhalb 
der  Gemeinde  bedeutete  und  das  Eingreifen  Calvins  in  die  Schick- 
sale der  Gemeinde  zur  Folge  hatte ;  das  war  andererseits  die  Ent- 
stehung einer  mächtigen  neulutherischen  Partei. 

Nirgendwo  wurde  mit  solcher  Gewalttätigkeit  und  Strenge 
jede  Regung  reformatorischer  Gedanken  unterdrückt,  wie  in  den 
kaiserlichen  Erblanden,  vornehmlich  in  den  dem  Klever  Herzog- 
tum benachbarten  Niederlanden,  jedoch  ohne  daß  auch  hier  die 
lebendig  einsetzende  reformatorische  Bewegung  hätte  unterdrückt 
werden  können.  Vielmehr  zogen  es  eine  Reihe  ernster  und  from- 
mer Wallonen,  meist  Tuchweber,  anfangs  1545  vor,  Vaterland  und 
Heimat  zu  verlassen,  und  sich  nach  Wesel  zu  wenden,  wo  die  Ver- 
hältnisse bessere  waren.  Sie  fanden  dort  freundliche  Aufnahme. 
Jedoch  gewisse  Konflikte  mußten  dieser  Aufnahme  notwendig 
folgen.  Ein  Aufgehen  der  Fremden  in  der  bestehenden  Gemeinde 
war  durch  die  Verschiedenheit  der  Sprache  ausgeschlossen  und 
hätte  sich  selbst  bei  Fehlen  dieses  Grundes  durch  die  Verschieden- 
heit des  reformatorischen  Bodens,  aus  dem  beide  Elemente  er- 
wachsen waren,  als  unmöglich  erwiesen.  Deshalb  ist  es  erklär- 
lich, daß  die  Weseler  Gemeinde  von  den  Fremdlingen  ein  Bekennt- 
nis forderte.  Es  wurde  von  Nikolaus  Buscoducensis  verfaßt.1  Zu- 
nächst bekennt  es  sich  zum  Inhalt  der  drei  ökumenischen  Symbole, 
behandelt  Taufe,  Abendmahl  und  Stellung  zur  weltlichen  Obrig- 
keit (mit  Erklärungen  gegen  Kommunismus  und  Weibergemein- 
schaft der  Anabaptisten).  Antireformirt  ist  der  Artikel  vom  Abend- 
mahl :  „Es  wird  wahrhaftig  dargereicht  und  ausgeteilt  der  Leib 
Christi  unter  oder  in  der  Gestalt  des  Brotes  und  das  Blut  Christi 
unter  oder  in  der  Gestalt  des  Weines."  Charakteristisch  für  den 
Bildungsgrad  der  Gemeinde,  aber  psychologisch  völlig  verständ- 
lich, ist  die  Tatsache,  daß  die  Fremden  in  der  Lehre  zurückweichen, 
aber  auf  einem  anderen  Punkte  hart  waren  und  blieben :  in  der 
Frage  der  äußeren  Zeremonien.  Und  jetzt  beginnt  Calvins  Ein- 
greifen in  diese  Verhältnisse.  In  den  Konflikt  erhalten  wir  einen 
Einblick  aus  einem  Briefe  an  Calvin  von  der  Hand  des  Valerandus 
Pollanus,  eines  des  Glaubens  halber  aus  seinem   Vaterlande  ver- 


1)  Vgl.    Z.    B.    G.    V.   26    p.  221    Anm.  2.     Abgedruckt    Wolters    p.  455. 
Calv.   Opp.   XIX   p.  622 — 627  Nr.  3893  bis. 


Von   Dr.    Walter   Hollweg.  I47 


triebenen  französischen  Edelmannes.1  Als  es  sich  um  die  Annahme 
gewisser  Zeremonien  beim  Abendmahl  handelte,  brach  die  Oppo- 
sition durch :  Die  Tracht  der  Liturgen  scheint  in  Wesel  noch  ganz 
die  römische  gewesen  zu  sein  (casula,  vestis  alba,  superpelliceum 
nennt  Pollanus).  Dann  waren  die  Gesänge  andere.  Die  Wallonen 
wandten  sich  in  dieser  Sache  an  die  Straßburger.  Hier  kamen 
Butzer,  Petrus  Martyr  und  Pollanus  zu  der  Überzeugung,  daß  es 
zweckmäßig  sei,  wenn  Pollanus  selbst  nach  Wesel  reise,  um  dort 
von  Nikolaus  Buscodecensis  Vergünstigungen  für  die  Fremden  zu 
erwirken.  Als  Butzers  und  Martyrs  Meinung  berichtet  Pollanus  an 
Calvin :  Die  Weseler  soll  man  inständig  bitten,  auf  die  Schwachen 
Rücksicht  zu  nehmen ;  die  Unseren  aber  sollen  sich  in  der  Frei- 
heit üben.  Die  ganze  Situation  schien  aber  dem  Pollanus  so 
schwierig,  daß  er  nicht  gerne,  ohne  Calvins  Ansicht  gehört  zu 
haben,  an  die  Durchführung  seiner  Aufgabe  gehen  wollte.  Ja  sie 
war  doppelt  schwierig  dadurch,  daß  die  Gemeinde,  wie  Pollanus 
Calvin  mitteilt,  selbst  nicht  einig  und  geschlossen  war.  Die  einen 
verwarfen  alles,  was  die  anderen  als  belanglos  hinnehmen  wollten, 
während  eine  dritte  Partei  einen  Mittelweg  suchte.  Was  Pollanus 
aber  am  meisten  erzürnte,  daß  war  das  Zurückweichen  der  Fremden 
in  der  Abendmahlslehre.  Den  Straßburger  Theologen  schien  jedoch 
die  Angelegenheit  zu  wichtig,  als  daß  Pollanus  noch  bis  zu 
Calvins  Entscheid  hätte  warten  dürfen.  Er  reiste  schon  vorher. 
Wie  wichtig  ihm  aber  die  Angelegenheit  war,  geht  noch  daraus  hervor, 
daß  er  in  einer  Nachschrift  Calvin  nochmals  darum  bittet,  eine 
Antwort  nicht  zu  unterlassen,  und  daß  er  die  Gemeinde  seiner  Für- 
bitte empfiehlt  (22.  November  1545).  Einige  Tage  später,  am 
3.  Dezember,  benutzt  er  nochmals  die  Gelegenheit  eines  nach  Genf 
abgehenden  Botens,  Calvin  für  die  Angelegenheit  zu  erwärmen : 
„Ich  bitte  Dich,  es  nicht  zu  unterlassen,  Deine  Meinung  über  diese 
Sache  zu  schreiben.  Ich  hoffe  nämlich,  daß  mir  vor  meiner  Rück- 
kehr von  dort,  überbracht  werden  kann,  wenn  Du  etwas  geschrieben 
haben  wirst."  Er  sendet  ihm  zugleich  den  Bericht  eines  gewissen 
Eustathius.  Dann  sagt  er  nochmals :  „Ich  bitte  Dich,  daß  Du  die 
Sache  nicht  vernachlässigst.  Und  wenn  Du  gerade  schon  etwas 
geschrieben  hast,  es  Dich  nicht  verdrießen  zu  lassen,  deshalb  ebenso 
nochmals  zu  schreiben,  was  Dir  gerade  in  den  Sinn  kommt  nach 
Einsicht  des  Schreibens  unseres  Eustathius."2 


1)  Calv.  Opp.  XII  p.  214—218  Nr.  729.   Vgl.  Z.  B.  G.  V.  26  1890  p.  217  f. 

2)  Calv.   Opp.  XII  p.  225  Nr.  736. 

10* 


J  A$  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


Einige  Monate  später,  am  28.  August,  finden  wir  Pollanus  in 
Antwerpen ;  seine  Rückkehr  nach  Straßburg  steht  nahe  bevor.  Daß 
er  am  Ende  seiner  Tätigkeit  im  Interesse  der  Wallonengemeinde 
steht,  ist  gewiß.     Wieder  schreibt  er  an  Calvin.1 

Zunächst  darf  es  nicht  befremden,  daß  Pollanus  in  Antwerpen 
ist.  Die  Gemeinden  von  Antwerpen  und  Wesel  standen  immer  in 
freundschaftlicher  Beziehung  zueinander.  Was  er  im  einzelnen 
während  seines  Aufenthaltes  am  Niederrhein  getan  hat,  schreibt 
Pollanus  nicht.  Jedoch  sehen  wir,  daß  er  außer  in  Wesel  auch  in 
Aachen  und  in  Bedburg  beim  Grafen  von  Neuenaar  gewesen  ist. 
Es  ist  interessant  zu  beobachten,  wie  sich  gleich  im  Anfang  die 
späteren  Hauptelemente  des  niederrheinischen  reformirten  Pro- 
testantismus zu  verbinden  beginnen. 

Als  Pollanus  gerade  diesen  Brief  an  Calvin  versiegelte,  da 
empfing  er  ein  Briefbündel  von  Calvin,  und  in  demselben  befand 
sich  auch  ein  Brief  an  Wesel:  „da  jauchzte  mein  Herz.  Ich  werde 
eifrig  tun,  wozu  Du  so  väterlich  und  ernst  mahnst."  Dieser  Brief 
ist  wahrscheinlich  das  Calv.  Opp.  XX  419 — 425  mitgeteilte  un- 
datierte Schreiben.2  Das  von  Beza  hinzugefügte  Datum  1560  ist 
sicher  falsch,  völlig  undenkbar.  Wolters3  und  die  Editoren  der 
Briefe  Calvins  4  setzen  ihn  etwa  Ende  1553  oder  Anfang  1554. 
Dann  ist  der  Brief  nicht  an  die  alte  wallonische,  sondern  an  die 
Londoner  Flüchtlingsgemeinde  gerichtet.  Diese  Ansicht  ist  dis- 
kutierbar. C.  Krafft  und  Fr.  W.  Cuno,5  allerneuestens  auch  A.  A. 
van  Schelven  6  setzen  das  Schreiben  Anfang  1546,  richtiger  ist  wohl 
Mitte  1546. 

Ehe  das  zu  begründen  ist,  möge  zunächst  eine  genaue  Analyse 
des  Schreibens  folgen. 

Man  merkt  es  dem  ganzen  Tone  des  Briefes  an :  Es  ist  dem 
Reformator  eine  ernste  und  wichtige  Sache,  um  die  es  sich  handelt. 
Wie  Paulus  im  1.  Kapitel  des  Römerbriefes  seine  Leser  begrüßt, 


1)  Calv.    Opp.  XII    p.  375  ff.    Nr.  823. 

2)  Es  steht  auch  Bonnet  II  353.  In  deutscher  Übersetzung:  Elber- 
felder  ref.  Wochenblatt   1863  Nr.  19  p.  145—150. 

3)  p.  165  Anm.  1. 

4)  Calv.  Opp..  XX  p.  425  Anm.  8. 

5)  Geschichte  der  wallonisch-  und  französisch-reformierten  Gemeinde 
zu  Wesel.  Geschichtsblätter  d.  dtsch.  Hugenottenvereins  Zehnt  V  Heft 
2 — 4.    Magdeburg  1895  p.  6. 

6)  De  nederduitsche  Vluchtelingenkerken  der  i6e  eeuw  in  Engeland 
en  Duitschland  in  hunne  beteekenis  voor  de  Reformatie  in  de  Neder- 
landen.    s'Gravenhage  1908  p.  289  Anm.  I. 


Von  Dr.  \V.  Hollweg.  149 


die  er  ja  nicht  kennt,  deren  Heil  ihm  aber  auf  der  Seele  liegt,  so 
redet  auch  der  Reformator  zum  Teil  mit  denselben  paulinischen 
Ausdrücken  die  Gemeinde  an.  Ob  er  gleich  dem  Leibe  nach  von 
ihnen  fern  ist,  so  trägt  er  sie  doch  beständig  auf  dem  Herzen  und 
sorgt  sich  um  ihr  Heil.  „Erstlich  danke  ich  meinem  Gott  dafür, 
daß  er  euch,  nachdem  er  zugelassen,  daß  ihr  um  des  Zeugnisses 
Christi  willen  aus  eurem  Vaterlande  vertrieben  wurdet,  eine  Zu- 
flucht eröffnet  hat,  wo  ihr  ihm  mit  reinem  Gewissen  dienen  könnt, 
und  daß  er  euch  sogar  wie  in  einem  kleinen  Neste  zusammen- 
geführt, damit  ihr  euch  gegenseitig  zum  Trost  sein  möchtet.  Aber 
vor  allem  danke  ich  ihm  für  die  Beständigkeit,  die  er  euch  ver- 
liehen." Jetzt  gilt's  vor  allem  weiter  ausharren  und  des  Herrn 
Schutz  dazu  erflehen.  Sie  sollen  bedenken:  Es  war  eine  Gnade, 
daß  sie  leiden  durften.  Jetzt  fallen,  würde  doppelten  Anstoß  er- 
regen. Vor  allem  aber  ist  not :  gegenseitige  tragende  Liebe.  Sonst 
entstellt  Zank  und  Streit  und  davor  muß  man  sich  hüten,  wie  vor 
einer  tödlichen  Krankheit.  Und  dann  entwickelt  Calvin  in  klarer 
und  lichtvoller  Weise,  wie  das  Leben  in  rechter  Einheit  am  sicher- 
sten gegründet  ist  auf  geordnetem  kirchlichen  Gemeindewesen,  zu 
dem  nach  seiner  Anschauung  die  drei  Stücke  gehören:  Wort, 
Sakrament,  Kirchenzucht  (vgl.  über  diese  Anschauung  Calvins  und 
vieler  reformirter  Bekenntnisschriften  Müller,  Symbolik  p.   501  f.). 

Hauptsächliches  Mittel  zur  Einheit  ist  fleißiger,  gemeinsamer 
Besuch  des  Gottesdienstes,  „denn  wie  im  Kriege  alle  sich  um  ein 
Banner  scharen,  um  dem  Feinde  standhaft  zu  widerstehen,  so  hat 
auch  der  Herr  gewollt,  daß  sein  W  ort  uns  ein  Panier  sei, 
unter  welchem  wir  zusammenkommen  möchten''.  ..Achtet  es  als 
eine  beondere  Gnade  Gottes,  daß  der  Herr  sein  Wort  euch  pre- 
digen läßt."  „Wenn  irgend  etwas  in  der  Lehre  Schwierigkeiten 
macht,  so  wendet  euch  an  eure  Prediger.  Denn  durch  gütliche 
Besprechung  gelangen  wir  besser  zu  einem  Resultat  dessen,  was 
uns  zweifelhaft  erscheint."  Es  ist  dünkelhaft,  wenn  man  so  kühn 
seine  Meinungen  behauptet,  daß  es  keine  Zügel  gibt,  um  uns  zu- 
rückzuhalten. Vor  allem  hütet  euch,  daß  Satan  euch  die  Einfach- 
heit des  Evangeliums  nicht  verleidet,  um  euch  zu  eitlen  Sonder- 
barkeiten hinzulenken.  Gottes  Wort  zu  Spitzfindigkeiten  an- 
wenden, heißt  es  mißbrauchen. 

„Um  allen  Gefahren,  die  euch  begegnen  könnten,  vorzubeugen, 
und  diejenigen,  welche  schon  verirrt  sein  sollten,  zurückzuführen, 
wäre  es  gut,  daß  ihr  irgend  eine  Einrichtung,  daß  heißt  irgend  eine 


15° 


Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


Form  der  D  i  s  z  i  p  1  i  n  hättet,  um  die,  welche  fehlen,  zu  erinnern, 
die  Aufrührerischen  im  Zaume  zu  halten  und  jeden  zur  Erfüllung 
seiner  Pflicht  zu  bringen."  „Wenn  ihr  so  eine  passende  Einrich- 
tung hättet,  würdet  ihr  nicht  nur  der  Meinungsverschiedenheit  vor- 
beugen, sondern  auch  den  Ärgernissen,  Lastern  und  Ausschwei- 
fungen Einhalt  tun  können,  die  im  Leben  begangen  werden,  und 
Gott  würde  um  so  mehr  durch  euch  verherrlicht  werden." 

Die  Notwendigkeit  einer  kirchlichen  Form  fordert  auch  der 
Gebrauch  derSakrament  e.  Sie  als  überflüssige  Dinge  zu  be- 
trachten, wäre  traurig.  Durch  seine  unendliche  Güte  kommt  Gott 
unserer  Mangelhaftigkeit  so  weit  zu  Hilfe,  daß  er  uns  Hilfsmittel 
gegeben,  die  unserer  Fassungskraft  angemessen  sind.  Die  einmal 
empfangene  Taufe :  uns  ein  beständiges  Zeichen  der  Gnade  Gottes 
und  unserer  Kindschaft ;  aber  sie  genügt  uns  ohne  das  Abendmahl 
nicht,  das  er  uns  zu  neuer  Befestigung  und  Stärkung  gab.  Vom 
Satan  verführt  und  verblendet  ist  der,  welcher  sich  unter  nichtigem 
Vorwand  vom  Abendmahl  zurückzieht. 

In  diesem  Zusammenhang  urteilt  Calvin  auch  über  den 
Zeremonienstreit.  Das  kleinste  Maß  von  Zeremonien  ist 
das  beste,  denn  wir  wissen,  wie  viel  Gefahr  vorhanden  ist,  daß  sie 
den  Aberglauben  erzeugen.  Doch  darf  man  darüber  nie  die  Haupt- 
sache vergessen,  also :  sich  dadurch  z.  B.  von  der  Teilnahme  am 
heiligen  Abendmahl  abwenden  lassen.  Unvollkommenheiten  sind 
so  lange  zu  tragen,  als  sie  Gottes  Wort  nicht  zuwider  sind.  Wenn 
sie  aber  irgend  einen  Schein  von  Abgötterei  an  sich  trügen,  so 
müßtet  ihr  ihnen  widerstehen  bis  zum  Tode." 

Seine  Ermahnungen,  so  versichert  Calvin  am  Schluß  die  Ge- 
meinde, haben  nur  ihr  Wohl  und  Heil  im  Auge.  Daß  Pollanus  bei 
der  Lektüre  eines  solchen  Briefes  schreiben  konnte :  „Mein  Herz 
jauchzte",  das  können  wir  verstehen.  Keine  Spur  harter  Kritik 
oder  kleinlicher  Kasuistik  ist  da:  alles  ist  unter  großem  Gesichts- 
punkte angeschaut.  Was  ist  das  gesunde  Fundament  eines  neuen 
jungen  Gemeindelebens?  Diese  Frage  seinen  Freunden  zu  be- 
antworten, ist  Calvin  das  Wichtigste  und  der  Streit  um  die  Zere- 
monien tritt  davor  ganz  zurück. 

Der  Inhalt  des  Schreibens  paßt  nun  recht  gut  in  die  Zeit  der 
Anfänge  der  wallonischen  Gemeinde.  Daß  sich  der  Brief  richtet 
an  eine  ganz  junge  Gemeinde,  ist  evident.  Vertrieben  sind  die 
Fremdlinge  „aus  ihrem  Vaterlande".  Das  paßt  nicht  auf  die  Lon- 
doner   Fremdengemeinde;    Calvin    würde    gewiß    sich    in    einem 


Von  Dr.  W.   II  oll  weg.  I  5  I 


Schreiben  an  sie  bezogen  haben  auf  die  seit  Jahren  währende  \  er- 
folgung, die  stets  neu  einsetzende  Hetze.  Ferner:  schon  längere 
Zeit  war  Calvin  von  Freunden  zum  Schreiben  an  die  Weseler  er- 
sucht worden  (des  Pollanus  Brief  stammt  vom  5.  Dezember  1545)- 
Aber  näher  benachbarte  Personen  sind  ihm  zuvorgekommen.  Sollte 
sich  das  nicht  auf  Butzer  und  Petrus  Martyr  beziehen?  Als  er 
dann  erneut  gehört  hat,  daß  sein  Brief  noch  erwünscht  sei,  da  hat 
er  geschrieben.  Zu  Bedenken  könnte  allerdings  die  Tatsache  An- 
laß geben,  daß  Calvin  über  das  Nachgeben  der  Gemeinde  in  der 
Abendmahlslehre  ganz  schweigt.  Aber  sollte  da  nicht  vielleicht 
Pollanus  den  Fehler  der  Gemeinde  korrigiert  haben?  Calvin  hat 
allerdings  auch  Anfang  1554  nach  Wesel  geschrieben,  an  die  aus 
England  gekommenen  Fremden.  Auch  hier  war  die  Zeremonien- 
frage brennend  geworden.  Dieser  Brief  ist  dann  verloren  ge- 
gangen.1 

Welchen  Erfolg  hat  nun  Calvins  Schreiben  gehabt?  In  der  Zere- 
monienfrage hat  der  Magistrat  scheinbar  den  Fremden  nach- 
gegeben. Sardemann  schreibt 2 :  „In  der  wallonischen  Gemeinde 
blieb  die  reformirte  Art  der  Abendmahlsfeier  unangefochten." 

Treffend  hat  Wolters  die  Bedeutung  dieser  Gemeindegründung 
charakterisiert:  „Niemand  ahnte  damals,  daß  auf  diesem  armen 
Haufen  von  Tuchwebern,  auf  der  aus  ihnen  sich  bildenden  Flücht- 
lingsgemeinde, die  Zukunft  der  evangelischen  Kirche  von  Wesel, 
ja  der  evangelischen  Kirche  des  Niederrheins  beruhe."  Daß  es  zu 
solch  fester  Gemeindebildung  kam,  verdanken  wir  mit  dem  Ein- 
flüsse Calvins  und  seines  Schülers  Pollanus. 

Auch  in  den  folgenden  Jahren  unterrichteten  die  Freunde 
Calvins  ihn  über  den  Stand  der  Weseler  Gemeinde.  Als  die  Ge- 
meinde 1547  durch  die  Treibereien  eines  Anabaptisten  beunruhigt 
wurde,  und  das  Glaubensbekenntnis  dieses  Mannes  von  Wesel  zu 
Garnerius,  dem  Prediger  der  französischen  Gemeinde  in  Straßburg 
überbracht  wurde,  da  sandte  er  es  weiter  an  Calvin.3  „Das  ist 
überaus  traurig,  die  Verstörung  des  wenigen,  was  in  Wesel  war", 
schreibt  Calvin  kurze  Zeit  später4  an  Herrn  von  Falais.  „Ich 
glaube,  daß  der  Herr  diesen  übertriebenen  Eigensinn  bestrafen 
will,   der   nicht   sein   kann   ohne    eine   Verachtung   seines   Segens. 


1)  Vgl.    Frankfurtische    Religionshandlungen    I.    p.  279    Nr.  3. 

2)  Z.  B.  G.  V.  Bd.  4  P-  135. 

3)  Calv.   Opp.  XII  p.  525  f.   Nr.  910. 

4)  16.  Aug.  1547-     Calv.  Opp.  XII  p.  575  Nr.  937- 


I  t»2  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

Dennoch  hoffe  ich,  daß  er  nach  Bestrafung  der  Phantasten,  die  die 
Ursache  des  ganzen  Übels  gewesen  sind,  noch  einmal  die  kleine 
Schar,  die  ihm  bleibt,  aufrichten  und  ihr  die  Hand  reichen  wird, 
um  sie  auf  gutem  Wege  zu  führen."  Calvins  Wünsche  erfüllten 
sich.  Die  Gemeinde  überstand  die  scheinbar  recht  bedeutende 
Krisis. 

Von  jetzt  ab  hören  wir  einige  Jahre  nichts  über  Beziehungen 
Calvins  zu  Wesel.  Diese  entspannen  sich  aber  sogleich,  als  das 
reformirte  Element  in  der  Stadt  eine  wesentliche  Stärkung 
erhielt,  als  Engländer  und  die  Reste  der  Londoner  Fremden- 
gemeinde in  Wesel  eine  neue  Heimat  suchten.  Mit  der  Thron- 
besteigung Eduards  VI.  (1547)  war  England  für  die  aus  Europa 
ihres  Glaubens  wegen  Verfolgten  ein  Ruhe-  und  Sammelpunkt  ge- 
worden. In  London  hatte  sich  unter  a  Laskos  Leitung  eine  große 
Fremdengemeinde  mit  eigenem  Glaubensbekenntnis  und  eigener 
Kirchenordnung  gebildet.  Aber  der  Friede  fand  mit  Eduards  VI. 
Tode  und  dem  Regierungsantritt  Maria  Tudors  (1553)  sein  Ende.1 
Die  Londoner  Gemeinde  zerstreute  sich,  um  nach  traurigsten  Irr- 
fahrten an  verschiedenen  Stellen  neue  Ruheplätze  zu  finden.  Ein 
Teil  der  Vertriebenen  suchte  seine  Zuflucht  in  Wesel. 

Für  die  Ereignisse  der  folgenden  Zeit  ist  neben  den  Briefen 
des  Corp.  Ref.  die  wichtigste  Quelle  der  von  den  rheinischen 
Historikern  sehr  vernachlässigte  Bericht  des  Weseler  Pfarrers 
Franciscus  Riverius,  Perucellus :  Historia  de  Wesaliensis  Ecclesiae 
dissipatione  descripta  a  Francisco  Riverio.2  Plätte  Wolters  diesen 
Bericht  benutzt,  so  wäre  seine  Darstellung  in  mancher  Hinsicht 
anders  ausgefallen.  Für  unsere  Untersuchung  ist  diese  Arbeit  aber 
deshalb  doppelt  wichtig  durch  den  Grund,  der  ihre  Abfassung 
veranlaßte.  Nach  seinem  Fortgang  von  Wesel  nach  Frankfurt, 
wurde  Perucellus  der  Vorwurf  gemacht,  daß  er  die  Gemeinde  von 
Wesel  verstört  habe,  und  als  besonderer  Vorwurf  der  genannt,  daß 
er  zu  diesem  Zwecke  die  Ratschläge  der  Kirchen  von  Genf  und 
Lausanne  verachtet  habe.3  Wir  können  also  voraussetzen,  daß 
Perucellus  gerade  auch  auf  seine  Beziehungen  zu  Calvin  resp.  zu 
Genf  genau  eingehen  wird. 

In  den  Jahren  nach  der  Niederlassung  der  Wallonen  in  Wesel 


1)  Vgl.  darüber  Wolters  p.   149  ff.     Dalton:   a   Lasko  p.  334  ff. 

2)  Frankfurtische    Religionshandlungen    I.    278 — 289.     Frankfurt    a.  M. 
1735- 

3)  Frankfurtische    Religionshandlungen   I,    278,   vgl.    p.  286  f. 


Von  Dr.  W.  Hollweg.  I  53 


(1545)  waren  innerhalb  der  Stadtgemeinde  Verhältnisse  im  Werden, 
die  von  weittragender  Bedeutung  für  dieselben  werden  mußten, 
und  ohne  deren  Kenntnis  das  Verständnis  der  folgenden  Entwick- 
lung nicht  möglich  ist :  das  war  die  Bildung  der  neulutherischen 
Partei.  ,,Der  streitbarste  unter  den  Verfechtern  des  strengen 
Luthertums  im  nachreformatorischen  Zeitalter'',  Tileman  Heßhusius, 
war  selbst  aus  Wesel  gebürtig  und  wußte,  namentlich  nach  seiner 
Heirat  mit  Anna  Bert,  als  Schwiegersohn  des  Bürgermeisters  und 
Verwandter  des  einflußreichen  Juristen  Groen,  einen  Teil  des 
Magistrats,  gerade  seine  einflußreichsten  Glieder,  für  seine  Ge- 
danken zu  gewinnen.1 

Daß  die  Ankunft  der  Fremden  die  Neulutheraner  erbittern 
mußte,  liegt  auf  der  Hand.  Doch  wissen  wir,2  daß  der  Rat  die 
Fremden  zunächst  freundlich  aufnahm  und  ihnen  die  Erlaubnis  zur 
Gründung  einer  Gemeinde  gab. 

Jetzt  wurde  einem  erneuten  Einflüsse  Calvins  dadurch  sofort 
die  Bahn  frei,  daß  an  die  Spitze  dieser  Gemeinde  zwei  persönliche 
Bekannte  Calvins  berufen  wurden.  Das  waren  Frangois  de  Morel, 
Sr.  de  Coulanges  oder  de  Cologne  (Morellus,  Morellanus)  und 
Francois  de  la  Riviere,  Perussel  (Riverius,  Perucellus).  De  Morel 
war  Franzose.  Seines  Glaubens  halber  verließ  er  sein  Vaterland 
und  ging  nach  Genf.  Namentlich  mit  Beza  trat  er  hier  in  Ver- 
bindung, aber  auch  bei  Calvin  und  Farel  war  er  hochgeschätzt.3 
Vielleicht  auf  Bezas  Veranlassung  kam  er  nach  Wesel. 

Perucellus  i  war  als  Franziskanermönch  in  Paris  für  die  Re- 
formation gewonnen  worden  und  daraufhin  von  der  Sorbonne  aus 
der  Fakultät  ausgestoßen  worden,  trotzdem  Kardinal  du  Bellay 
und  der  Dauphin  sich  für  ihn  verwendet  hatten.  Der  Verhaftung 
entzog  er  sich  durch  die  Flucht  nach  Basel  und  trat  dort  in  die 
Dienste  des  Herrn  von  Falais,  was  persönliche  Bekanntschaft  mit 
Calvin  zur  Folge  hatte.5  Aber  gerade  seine  Tätigkeit  in  diesem 
Kreise  gestaltete  Calvins  Urteil  über  ihn  anfangs  wenig  günstig. 
Jedoch  war  er  trotz  mancher  Fehler  ein  trefflicher,  in  vieler  Hin- 


n    Über  Hesshusius  vgl.  PRE3  VIII  p.  8 — 14  und  die  dort  verzeich- 
nete Literatur. 

2)  Frankfurtische    Religionshandlungen   I.  p.  278. 

3)  Vgl.  Calv.   Opp.  XV  p.  176  Nr.  1978,   XVI   p.  109  Nr.  2432  und  öfter. 
Ferner  vgl.   Haag:    La  France   protestante  '  VII   p.  500.     Cuno  p.  8. 

4)  Über  ihn  vgl.   Haag"  VIII   p.  202   II    p.  452,   454.     Wolters   p.  153  f. 
Cuno  p.  8  und  Calv.   Opp.   an  vielen  Stellen. 

5)  Vgl.    Calv.    Opp.  XII    p.  489   Nr.  881,    p.  511    Nr.  924,    p.  636    Nr.  979. 


j  SA  Calvins  Beziehungen  xu  den  Rheinlanden. 


sieht  bewunderungswürdiger  Charakter.  Von  Basel  ging  Peru- 
cellus  nach  London  an  die  Fremdengemeinde,1  von  dort  nach 
Wesel. 

Bald  nach  der  Ankunft  der  beiden  Prediger  wurden  die  gerade 
zur  Ruhe  gekommenen  Fremden  arg  gestört.  Der  Rat  forderte 
nämlich  gemeinsame  Abendmahlsfeier  der  Fremden  mit  der  Stadt- 
gemeinde. An  der  Feier  der  Stadtgemeinde  war  den  Fremden 
jedoch  ein  Doppeltes  anstößig,  einmal  der  Gebrauch  der  deutschen 
Sprache,  die  sie  ja  nicht  verstanden,  noch  mehr  aber  die  in  Wesel 
üblichen  Zeremonien:  Die  weißen  Gewänder,  brennenden  Kerzen 
und  die  mit  einem  Kreuz  gezeichneten  Oblaten.  Die  Gemeinde 
versammelte  sich  deshalb  und  kam  zu  dem  gemeinsamen  Beschluß : 
Die  Annahme  der  Zeremonien  zu  verweigern.  Morellus  wurde 
beauftragt,  einen  neuen  Platz  zur  Sammlung  der  Gemeinde  zu 
suchen,  während  unterdessen  Perucellus  zum  Tröste  der  Brüder 
mit  ihnen  bis  dahin  in  Wesel  ausharren  sollte.  Das  war  An- 
fang 1554. 

Kurze  Zeit  später  traf  in  Wesel  ein  Schreiben  Calvins  und  der 
anderen  Genfer  Pastoren  ein,  das  Perucellus  in  große  Beunruhigung 
versetzte.2  Die  Frage  um  die  Zeremonien  hat  den  Brief  ver- 
anlaßt. Es  ist  nicht  grundlos,  schreibt  Calvin,  in  diesem  Punkt 
Zweifel  und  Bedenken  zu  hegen.  Das  beste  ist  es,  sich  an  die 
reine  Einfachheit  zu  halten,  die  wir  vom  Sohne  Gottes  haben, 
dessen  Anordnung  darin  zur  reinen  Richtschnur  dienen  soll.  Jeder 
kleinste  menschliche  Zusatz  kann  nur  vom  Verderben  sein.  Und 
doch !  Die  Lage  der  Fremden  ist  verschieden  von  der  der  Pastoren 
und  der  Gemeinde  Wesels.  Daß  diese  letzteren  nutzlose  Dinge 
beibehalten,  die  nichts  sind,  als  Überbleibsel  päpstlicher  Irrtümer, 
ist  ein  unverzeihlicher  Fehler.  Da  die  Fremden  aber  nicht  eigent- 
liche Glieder  der  Gemeinde  sind,  können  sie  nicht  nur,  sondern 
sollen  solche  Schwachheiten  mit  Geduld  tragen,  die  zu  ver- 
bessern ihnen  nicht  obliegt.     So   etwas  in   Genf  zu   dulden,  wäre 


1)  Vgl.  Southerden-Burn:  Historie  of  foreign  Protestant  refugees. 
London  1846  p.  34. 

2)  Calv.  Opp.  XV  p.  78—81  Nr.  1929.  Bonnet  I.  418 — 22.  Ins  Deutsche 
übertragen:  Sardemann:  Geschichte  der  ersten  Weseler  Klasse  p.  68 — 71. 
Elberf.  ref.  Wochenblatt  1863  Nr.  18  p.  78 — 81.  Das  richtige  Datum  ist 
13.  März  1554,  nicht  13.  März  1559  wie  Sardemann  und  Elb.  ref.  Wochenblatt 
p.  140  angeben.  Dieser  Brief  ist  nicht  direkt  als  von  Calvin,  sondern  von 
den  Genfer  Pfarrern  ausgehend  bezeichnet.  Daß  aber  Calvin  der  Schreiber 
war,  ist  gewiß.  Er  bezieht  sich  später  auf  dies  Schreiben  als  auf  seinen 
Brief,  vgl.  Calv.   Opp.  XV  p.  218  Nr.  2002. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  ;.  S 


Unrecht,  für  s  i  e  aber  darf  es  kein  Grund  sein,  sich  vom  Ganzen 
der  Gemeinde  zu  trennen  und  sich  des  Gebrauches  des  Abend- 
mahles zu  berauben.  „Es  ist  den  Kindern  Gottes  wohl  erlaubt 
sich  Dingen  zu  unterwerfen,  die  sie  nicht  billigen.  Aber  die 
Hauptsache  ist  zu  wissen,  bis  wohin  eine  solche  Freiheit  sich  zu 
erstrecken  habe,  und  darin  halten  wir  das  für  einen  entschiedenen 
Artikel,  daß  die  einen  den  anderen  sich  in  all  den  äußeren  Ge- 
bräuchen fügen  dürfen,  welche  dem  Bekenntnis  unseres  Glaubens 
keinen  Einspruch  tun,  damit  die  Einheit  der  Kirche  nicht  durch 
unsere  zu  große  Strenge  und  Verdrossenheit  gestört  werde.  Wir 
sind  weit  entfernt  euch  zu  raten,  des  Unterschiedes  der  Zeremonien 
wegen  euch  des  Vorteils  zu  begeben,  an  jenem  Ort  eine  christliche 
Kirche  zu  haben.  Die  Hauptsache  ist,  daß  ihr  in  dem  Bekennt- 
nisse eures  Glaubens  nicht  weichet  und  völlig  bleibet  in  der  Lehre." 

Wir  sehen,  wir  haben  auch  in  diesem  Sendschreiben  an  Wesel  eine 
großzügige,  echt  christliche  Beurteilung  in  religiösen  Dingen ;  welch 
klarer  Blick  für  Wesentliches  und  Unwesentliches;  welche  Freiheit 
bei  ganzer  Gebundenheit !  Er,  dem  so  oft  „zu  große  Strenge  und 
Verdrossenheit"   vorgeworfen   wird,   warnt   im    Gegenteil   davor. 

Einen  Monat  nach  dem  Genfer  Schreiben  sandten  auch  die 
Prediger  von  Lausanne  ein  Schreiben  nach  Wesel,  das  sich  in 
gleichem  Sinne  aussprach,  wie  das  Genfer  (April  1554)-  Dieses 
Schreiben  ist  verloren. 

Beide  Briefe  setzten  Perucellus  in  nicht  geringe  Beunruhigung. 
Unerwartet  trafen  sie  ein  und  widersprachen  in  ihrem  Inhalt  den 
Beschlüssen  der  Gemeinde.  Freilich  erhielt  er  eine  Erklärung  über 
die  Veranlassung  zu  diesem  Schreiben :  sie  seien  lange  vor  seiner 
Ankunft  von  der  Gemeinde  erbeten  worden.  Aber  wie  sollte  er 
jetzt  handeln?  Einmal  fürchtete  er  den  Zorn  der  Weseler  Fremden 
für  den  Fall,  daß  er  sich  weigerte,  dem  Inhalt  der  Briefe  nach- 
zukommen, und  das  konnte  er  nicht  mit  gutem  Gewissen  ;  auf  der 
anderen  Seite  fürchtete  er  für  den  Fall  der  Annahme,  die  Fremden- 
gemeinden in  Straßburg,  Frankfurt  und  anderorts  zu  beleidigen, 
die  ihn  in  seiner  Amtsführung  stets  korrekt  handelnd  gesehen 
hatten  und  seine  gemeinsame  Tätigkeit  mit  a  Lasko  in  England 
kannten.  In  dieser  Verlegenheit  sandte  er  die  Schreiben  Calvins 
und  der  Lausanner  an  a  Lasko 1  und  die  Gemeinde  von  Ant- 
werpen, um  ihren  Rat  zu  hören,     a  Lasko  antwortete  am  6.  Juli, 


1)   Hiernach  ist  Dalton  p.  456  zu  korrigieren. 


j  (-5  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


die  Antwerpener  Gemeinde  sandte  schon  vorher  mündlichen  Be- 
scheid, später  auch  schriftlichen:  im  September  1554.  Ersteres 
Schreiben  ist  uns  erhalten.1  Sein  Inhalt  lautet  aber  wesentlich 
anders,  als  die  Schreiben  aus  Genf  und  Lausanne.  Doch  eins 
zeigt  sich  deutlich,  a  Lasko  und  die  Emdener  kannten  die  Weseler 
Verhältnisse  besser,  sie  blickten  tiefer  als  der  ferne  und  nur  ungenau 
unterrichtete  Calvin,  a  Lasko  sah  es:  in  Wesel  herrschte  nicht 
mehr  der  alte  lebendige  Reformationsgeist :  er  war  bei  den  Führern 
einem  starren  Orthodoxismus  gewichen,  der  auf  die  Formel  pochte 
und  für  andere  nur  ein  Verdammungsurteil  kannte.  Einen  drei- 
fachen Irrtum  erkannte  a  Lasko  in  dem  Schreiben  Calvins  und 
seiner  Freunde.  Zunächst  in  dem  Glauben,  die  Fremden  und  die 
Städter  seien  in  der  Lehre  eins,  oder  wo  sie  in  der  Lehre  von- 
einander abwichen,  seien  die  Differenzen  gegenseitig  zu  tragen. 
Zweitens  irren  die  Freunde  in  Genf  und  Lausanne  in  der  Be- 
urteilung der  Zeremonienfrage :  Sie  meinten,  man  solle  die  Schwach- 
heiten der  Stadtgemeinde  tragen.  Aber  das  kann  man  nicht  mehr 
Schwachheit  nennen,  kein  Kolloquium  zu  gestatten  und  dabei  alle 
anderen  zu  verachten  und  zu  verfluchen,  schreibt  a  Lasko.  Endlich 
scheint  ihm  auch  die  Beurteilung  der  rechtlichen  Stellung  der  Ge- 
meinde falsch,  daß  sie  nämlich  nach  Gründung  einer  Gemeinde  „für 
private  Glieder  der  dortigen  gastlichen  Gemeinde"  zu  betrachten 
wären.  Das  alles  zwingt  a  Lasko  zu  einem  anderen  Urteil :  hier  handelt 
es  sich  nicht  um  Rücksichtnahme  auf  Schwache  im  Glauben.  Der 
Geist  der  Gegner  ist  ein  prinzipiell  anderer.  Es  wird  nicht  von 
ungefähr  gewesen  sein,  daß  a  Lasko  seinem  Briefe  einige  Exem- 
plare seiner  Schrift:  De  Christi  communione  beifügte,  die,  wie  er 
glaubt,  ihnen  auch  dort  zum  Nutzen  sein  werden,  a  Lasko  wird 
es  gewußt  haben,  daß  die  Annahme  von  Kerzen,  Oblaten  und 
Meßgewändern  für  die  Gegner  nur  eine  Vorbereitung  für  das  Auf- 
drängen der  lutherischen  Abendmahlslehre  sein  sollte.  Calvins 
Sendschreiben  an  die  Gemeinde  ist  uns  ein  unschätzbares  Doku- 
ment seines  wahrhaft  reformatorischen  Geistes,  obwohl  es  den 
Weseler  Verhältnissen  nicht  gerecht  wird.  a  Lasko,  der  die 
Situation  besser  durchschaute,  urteilte  richtiger.  Wie  er,  urteilte 
auch  die  Antwerpener  Gemeinde. 

Durch  diese  Antworten  wurde  Perucellus'  Zweifel  nur  noch  ver- 
mehrt.   Genf  und  Lausanne  standen  gegen  Antwerpen  und  Emden. 


1)  Vgl.  Frankf.  Rel.-Handl.  I.  p.  290—293.     Calv.  Opp.  XV  p.  182—187 
Nr.  1983.     Kuyper:  J.   a  Lasko   Opp.  II   p.  703— 7°7- 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  157 


In  dieser  Not  wandte  er  sich  selbst  an  Calvin  und  setzte  ihm 
seine  Gewissenbedenken,  sowie  die  Anschauungen  der  Antwerpener 
und  Emdener  auseinander.  Außerdem  erbat  er  sich  von  Calvin 
ein  Empfehlungszeugnis,  jedenfalls  in  der  Absicht,  seine  Stellung 
in  den  Parteien  der  Gemeinde  durch  Calvins  Autorität  zu  decken.1 
Calvins  Antwort  ist  vorsichtig  und  zurückhaltend.  Wohl  bleibt 
er  auf  seinem  Standpunkt  stehen  und  verweigert  auch  einen 
Empfehlungsbrief  für  Perucellus.  Auf  ein  Doppeltes  soll  er  stets 
bedacht  sein,  nicht  mehr  zu  dulden,  als  der  Aufbau  der  Gemeinde 
verträgt  und  dann  nichts  zu  übernehmen  gegen  das  Urteil  des 
Gewissens.  In  der  Zeremonienfrage  solle  er  sich  Mühe  geben, 
daß  alle  das  erkennten,  daß  er  alles  Überflüssige  mehr  trage,  als 
billige.  In  dieser  Zeit  des  Schwankens  legte  Perucellus  den  Frem- 
den nochmals  die  Frage  über  die  Zulassung  der  Zeremonien  vor. 
Die  einen  waren  für,  die  andern  gegen  ihre  Annahme.  Ja  letztere 
stellten  sogar  ihr  Fernbleiben  vom  Abendmahl  in  Aussicht.  Für 
Perucellus  hatte  diese  Situation  die  unangenehme  Folge,  daß  sich 
weithin  das  Gerücht  verbreitete,  er  sei  vom  alten  Glauben  ab- 
gefallen. Selbst  in  der  Weseler  Fremdengemeinde  fand  dies  Ge- 
rücht nur  zu  willige  Gläubige. 

Bis  in  den  September  1554  verhielt  sich  der  Magistrat  durchaus 
ablehnend.  Außerdem  reizten  die  deutschen  Prediger  das  Volk 
gegen  die  Fremden,  so  daß  sie  sich  zu  Predigt  und  Gebet  nicht 
versammeln  konnten,  höchstens  einige  wenige  und  diese  nur  mit 
Furcht.  Das  hatte  zur  Folge,  daß  eine  Reihe  der  Fremden  nach 
Frankfurt  auswanderte.  Perucellus  aber  ging  nach  Antwerpen 
und  versprach  nach  Beratung  mit  der  dortigen  Gemeinde  bis  Ostern 
des  kommenden  Jahres  in  Wesel  bei  dem  Rest  der  Gemeinde  aus- 
zuharren. Alsdann  sollte  jeder  im  Frühling  dahin  ziehen,  wohin 
Gott  ihn  führe. 

Ostern  nahte,  und  Perucellus  rüstete  sich,  um  nach  Genf  zu 
Calvin  oder  nach  Emden  zu  a  Lasko  zu  gehen.  Da  trat  eine 
Wendung  ein,  die  die  Gemeinde  zunächst  vor  der  Auflösung  be- 
wahrte. Zufällig  kam  nach  Wesel  Georg  Cassander,  der  große 
Ireniker:  Er  wirkte  derartig  auf  den  Magistrat  und  die   Prediger, 


1)  Dieses  Schreiben  ist  verloren  gegangen.  Doch  können  wir  das 
Angegebene  als  seinen  Inhalt  rekonstruieren  aus  den  Angaben  Perucells 
in  seiner  Historia  und  aus  der  Antwort  Calvins  an  ihn.  Calv.  Opp.  XV 
p.  218  f.  Nr.  2002.  Ins  Deutsche  übertragen  Elberf.  ref.  Wochenblatt  1863 
Nr.  18  p.  140. 


j  r§  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

daß  die  Fremden  Hoffnung  bekamen  zur  Erlaubnis  öffentlicher 
Religionsübung.  Das  bewog  die  Gemeinde  und  Perucellus  zum 
Warten.  Und  wirklich  übergab  der  Magistrat  den  französisch 
redenden  Fremden  die  Heiliggeistkapelle,  den  englisch  redenden 
die  Augustinerkirche.  Dort  begannen  sie  Ende  Oktober  mit  öffent- 
licher Predigt.  Aber  eins  konnten  sie  nicht  erreichen,  obwohl 
Perucellus  sich  darum  bemühte,  seit  ihm  die  Kirche  geöffnet  war 
bis  April  1556,  nämlich  ein  Predigtamt  ohne  Zeremonien  bei  Taufe 
und  Abendmahl  zu  bekommen.  Und  das  konnte  sein  Gewissen 
nicht  ertragen.  Er  bat  deshalb  die  Gemeinde,  ihn  in  drei  oder  vier 
Monaten  von  seinem  Amte  zu  entbinden.  Doch  diese  war  weit 
davon  entfernt.  Er  solle  sich  zunächst  darüber  mit  Calvin  in  Ver- 
bindung setzen,  rieten  ihm  die  Brüder  von  Antwerpen,  und  die 
Weseler  waren  damit  einverstanden.  Jetzt  begann  Perucellus  sich 
zu  rüsten,  entweder  einen  Boten  nach  Genf  zu  senden  oder  selbst 
dorthin  zu  reisen.     Beides   sollte  sich  als  unnötig  erweisen. 

Während  sich  die  Ereignisse  in  Wesel  so  entwickelt  hatten, 
war  auch  Calvin  darüber  durch  seine  Freunde  unterrichtet  worden. 
Erst  am  12.  Februar  1556  hatte  ihm  Pollanus,  der  damals  Pfarrer 
in  Frankfurt  war,  Botschaft  zukommen  lassen :  „Über  Wesei 
schreibe  ich  nichts.  Du  wirst  alles  von  diesem  Bruder  (d.  h.  dem 
Überbringer  des  Briefes)   erfahren." 1 

Nun  waren  in  gleicher  Zeit  in  der  Frankfurter  Gemeinde  große 
Wirren  ausgebrochen,  sowohl  zwischen  den  Gemeindegliedern 
selbst,  wie  zwischen  Gemeinde  und  Stadt,  Wirren,  die  trotz  der 
Bemühungen  Antwerpens  und  Emdens  nicht  beigelegt  wurden.2 
Deshalb  veranlaßten  die  Gemeinden  von  Antwerpen,  Emden,  Wesel, 
Tournay  und  Straßburg  Calvin  zu  persönlichem  Kommen  nach 
Frankfurt  zur  Beilegung  der  Zwistigkeiten.3  Calvin  entschloß  sich 
in  der  Tat  zu  dieser  Reise  und  trat  sie  im  September  1556  an; 
zur  Frankfurter  Messe  wollte  er  dort  sein. 

Daher  hatte  sich  Perucellus  entschlossen,  bis  zum  September 
in  Wesel  auszuharren,  um  dann  mit  Calvin  in  Frankfurt  persön- 
liche Rücksprache  zu  nehmen.  Auch  a  Lasko  kam  nach  Frankfurt, 
und  hier  haben  die  drei  Männer  die  ganzen  Verwicklungen  be- 
handelt.    Das  Ergebnis  ihrer  Verhandlungen  können  wir  erkennen 


1)  Calv.  Opp.  XVI.  p.  23  Nr.  2385. 

2)  Vgl.    P.    Henry:    Das    Leben  Johann   Calvins,    III.    Hamburg   1844, 
p.  412  ff.  i.i  i 

3)  Calv.  Opp.   XVI  p.  235 — 237  N-r.  2501   p.  243—245  Nr.  2506. 


Von  Dr.  Walter  Ilollwcg.  159 


aus  dem   Schreiben   Calvins,   das   Perucellus   an   die   Weseler    Ge- 
meinde mitbrachte.1 

Zunächst  sehen  wir,  daß  die  persönliche  Aussprache  der  beiden 
Männer  mit  Calvin,  bei  letzterem  doch  die  Betrachtung  und  Beurtei- 
lung der  Weseler  Verhältnisse  wesentlich  modifiziert  hatte.  „Ver- 
wirrt und  zweifelhaft  schwankte  ich  zunächst,  was  ich  ihm  haupt- 
sächlich raten  sollte",  so  beschreibt  Calvin  seine  Stimmung  nach 
Anhören  der  Schilderung  Perucellus  über  die  Weseler  Verhältnisse. 
Zu  folgender  Ansicht  ist  er  dann  schließlich  gelangt:  es  ist  zu 
trennen,  was  dem  Pfarrer  geziemt  von  dem,  was  der  Gemeinde 
geziemt.  Für  die  letztere  bleibt  Calvin  bei  seinen  bereits  gegebenen 
Ratschlägen.  Einem  Pfarrer  aber  ist  weniger  Freiheit  gestattet. 
Wenn  er  voranschreitet  und  dann  zurück,  dann  entsteht  Ärgernis 
und  das  ist  zu  meiden.  So  würde  auch  Perucellus,  wenn  er  jetzt 
die  Annahme  der  Zeremonien  gestattete,  von  vielen  als  doppelzüngig 
verschrieen  werden  und  dazu  auch  eine  Lösung  zum  Guten  für  die 
Zukunft  unmöglich  machen.  Deshalb  lautet  sein  Rat  an  die  Ge- 
meinde, Perucellus  ziehen  zu  lassen,  selbst  wenn  es  ihnen  schwer 
fällt  bei  einem  Manne,  der  so  redlich  und  treu  ihnen  gedient  hat. 
Dieser  Stellung  schloß  sich  auch  a  Lasko  an.2 

Durch  diesen  Bescheid  Calvins  war  die  Stellung  Perucellus 
bei  allen  Fremden  wesentlich  gestärkt  worden,  was  ihm  in  den 
folgenden  Ereignissen  sehr  wichtig  war. 

Als  die  Weseler  Calvins  Gutachten  empfangen  hatten,  da  baten 
sie  ihren  Pfarrer,  noch  einmal  bei  den  deutschen  Pfarrern  mit  ihren 
Wünschen  vorstellig  zu  werden.  Das  versprach  Perucellus.  Doch 
hielt  ihn  davon  zurück  ein  erneuter  Vorstoß  des  neulutherischen 
Rates,  der  zunächst  die  Annahme  der  Confessio  Augustana  fried- 
lich zu  erwirken  suchte,  und  dann,  als  dies  vergeblich,  ein  Be- 
kenntnis, namentlich  im  Punkte  der  Abendmahlslehre  einforderte. 
Darauf  überreichten  die  Engländer  ihr  Bekenntnis  aus  der  Zeit 
Eduards  VI.,  Perucellus  überreichte  das  Bekenntnis  seiner  Ge- 
meinde und  fügte  hinzu,  er  habe  die  Überzeugung,  daß  dasselbe 
von  Philipp  Melanchthon  gebilligt  werden  würde.3    Dieser,  so  bat 


i)   Calw  Opp.  XVI  p.  286—288  Nr.  2535.    Frankf.  Rel.-Handl.  T.   p.  294  f. 

2)  Sein  Brief  ist  verloren  gegangen. 

3)  Es  liegt  nicht  in  unserem  Thema,  auf  diese  interessanten  Ver- 
handlungen näher  einzugehen.  Man  vergleiche  dazu:  Wolters  p.  176,  Calv. 
Opp.  XVI  p.  312  f.  Nr.  2544  und  den  Brief  Ursins  an  Crato  bei  Sudhoff, 
Olevian   und   Ursin    p.  486.      K.  Benrath:    Die    Summa    dei    heiligen    Schrift 


I  6o  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

er,  solle  die  Konfession  beurteilen  und  über  Bleiben  oder  Nicht- 
bleiben  der  Fremden  urteilen. 

Mit  diesem  Vorschlage  waren  dann  auch  die  englisch  redenden 
Fremden  einverstanden.  Die  gemeinsame  Not  trieb  auch  zu  ge- 
meinsamem Handeln.  Die  lange  anerkannte  alte  Wallonengemeinde 
ließ  man  ganz  aus  dem  Spiel.  Natürlich  war  Perucellus  Vorschlag 
aus  der  Not  heraus  geboren.  Eines  Melanchthon,  der  doch  in 
großen  Kreisen  der  Weseler  Bevölkerung  eine  Autorität  war, 
konnte  man  sich  noch  bei  weitem  eines  besseren  versehen,  als  der 
neulutherischen  Eiferer.  Deshalb  schrieb  Perucellus  auch  an  Cal- 
vin: „Die  Notwendigkeit  zwang  uns  zu  solchem  Tun",  unter  Hin- 
weis auf  das  drohende  Exil. 

Die  Einigung  aller  Fremden  auf  Perucellus  Bekenntnis  war 
in  dieser  Zeit  ein  großer  Segen  und  ist  gewißlich  mit  eine  Folge 
der  Frankfurter  Besprechung  mit  Calvin,  die  Perucellus  schwan- 
kende Stellung  in  der  Gemeinde  energisch  gestärkt  hatte.  Dies 
hat  Perucellus  auch  bereitwilligst  anerkannt :  „Es  stärkte  mich  sehr 
Deine  Autorität",  schrieb  er  an  Calvin.  Der  Rat  ging  auf  den 
Vorschlag  Perucellus'  ein,  und  beauftragte  ihn,  an  Melanchthon 
zu  schreiben.  Der  Brief  ist  vorsichtig,  rein  sachlich  abgefaßt  und 
berichtet  nach  kurzer  Einleitung  nur  das  Bekenntnis  zur  Abend- 
mahlslehre und  anschließend  noch  einige  Differenzpunkte  in  betreff 
der  Taufe  und  der  Zeremonien.  „Ich  hätte  anders  an  ihn  ge- 
schrieben, wenn  nicht  dem  Senate  die  Briefe  hätten  vorgezeigt 
werden  müssen",  schreibt  er  an  Calvin.  Aber  er  konnte  nicht 
anders.  Das  tat  aber  Hubert  Languetus,  der  an  Melanchthon  und 
andere  Freunde  im  Interesse  seiner  Gemeinde  schrieb.1  Der  Rat 
aber  sandte  Perucellus'  Schreiben  nach  Wittenberg. 

Wie  traurig  es  unterdessen  in  Wesel  um  die  Fremden  stand, 
zeigten  Calvin  Perucellus'  Berichte.  Ein  Beispiel  schreibt  er :  Eine 
sterbende  Frau  verneint  einem  Pfarrer,  daß  in  Brot  und  Wein  der 
wahre  Leib  Christi  sei.  Sie  stirbt  und  wird  ihrer  Aussage  halber 
beim  Galgen  beerdigt. 

Calvins  ganze  Erwartung  richtete  sich  jetzt  auf  Melanchthon. 


p.  XXXVI.     Leipzig  1880.     Das  Bekenntnis  findet  sich:  Wolters  p.  443 — 445. 
Frankf.    Rel.-Handl.   I.   p.  283  f.     Calv.    Opp.    XVI,   307—309   Nr.  2543. 

1)  Über  die  Tätigkeit  dieses  Mannes  m  den  Rheinlanden  sind  wir 
noch  ganz  im  Unklaren.  Sein  Brief  an  Melanchthon  ist  für  die  Weseler 
Verhältnisse  höchst  interessant.  Vgl.  C.  Krause,  Melanchthoniana  p.  146. 
Über  seine  Tätigkeit  in  Wesel  vgl.  auch  den  bereits  zitierten  Brief  Ursins 
an  Crato  bei  Sudhoff  p.  486  f.  und  Frankf.  Rel.-Handl.   I.  p.  283,  20. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg'.  IÖI 


Der  Streit  um  die  Abendmahlslehre  beunruhigte  damals  nicht  nur 
Wesel,  sondern  den  ganzen  deutschen  Protestantismus.  Und  gerade 
die  Tatsache,  daß  Melanchthon  trotz  wiederholter  gegenteiliger 
Versprechungen  mit  seiner  Stellung  nicht  offen  hervorzutreten 
wagte,  verbitterte  Calvin  aufs  höchste.1  In  solcher  Stimmung  traf 
ihn  Perucellus'  Brief  mit  der  Nachricht  über  seine  Appellation  an 
Melanchthon.  Das  schlimmste,  eine  Verdammung  ihrer  Abend- 
mahlslehre, kann  Calvin  nicht  glauben.  ,,Wenn  Philippus  etwas 
antwortet",  schreibt  er  Perucellus  „(wozu,  wenn  er  es  nicht  freiwillig 
tut,  er  aus  Ehrenhaftigkeit  wenigstens  gezwungen  ist),  wird  er  es 
nicht  wagen,  Deine  Lehre  zu  mißbilligen ;  ja  ich  werde  mich  wun- 
dern, wenn  er  Deine  Konfession  nicht  unterschreibt".  Dann  aber 
fährt  Calvin  mit  grimmiger  Drohung  fort :  „Sollte  er  jedoch  wider 
sein  Gewissen  handeln,  dann  wird  er  merken,  daß  er  es  mit  einem 
grimmeren  Feinde  zu  tun  bekommen  wird,  als  er  bis  jetzt  er- 
fahren hat/' 2 

Von  Wolters 3  ist  gezeigt  worden,  wie  durch  den  neuluthe- 
rischen Rat  versucht  wurde,  öffentlich  und  heimlich,  eine  den 
Fremden  günstige  Antwort  zu  hintertreiben ;  desgleichen  auch,  wie 
sich  Melanchthon  dennoch  nicht  täuschen  ließ.  Am  13.  November 
1556  antwortete  er  bereits.4  Die  Fremden  aus  den  ihm  mitgeteilten 
Gründen  aus  Wesel  zu  vertreiben,  würde  hart  sein,  so  meint  er. 
In  Wesel  würde  weniger  Streit  sein,  wenn  die  Fremden,  wie  in 
Straßburg  und  Frankfurt  ihre  eigenen  Versammlungen  und  Abend- 
mahlsfeiern hätten.  Dann  bespricht  er  der  Reihe  nach  die  drei 
Punkte :  Zeremonien,  Taufe,  Abendmahl  und  kommt  trotz  anderer 
Auffassung  doch  immer  zu  dem  Ergebnis :  Milde  gegen  die  Frem- 
den ist  not. 

Das  war  den  Eiferern  in  Wesel  natürlich  sehr  ungelegen.  Aber 
sie  fanden  auch  hier  den  Weg.  Perucellus  hat  den  Verlauf  der 
Ereignisse  genau  Calvin  geschildert. r>  Er  und  Trihernus,  ein  ge- 
lehrter Engländer,  werden  vor  den  Rat  gerufen  und  nach  einigem 
Hin  und  Her  wird  ihnen  eröffnet,  daß  sie  alle  bis  zum  I.  März  1557 
Wesel  zu  verlassen  hätten.     Die  Bitte  um  Verlängerung  des  Ter- 


1)  Vgl.  A.   Lang:   Melanchthon  und   Calvin,  in  der   Ref.   K.  Z.   1897,  be- 
sonders p.  90. 

2)  Calv.   Opp.   XVI  p.  342  Nr.  2546. 

3)  p.  180—186. 

4)  Frankf.  Rel.-HandJ.  I.  p.  284  f.     Mel.  Opp.  VIII  p.  908  mit  falschem 
Datum.     Wolters:    Konrad  von   Heresbach   p.  271 — 273. 

5)  Calv.   Opp.   XVI  p.  395 — 397  Nr.  2588  vom   29.   Januar   1557. 

Calvinstudien.  1  I 


102  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

mins  bis  Mai  wurde  schnöde  abgewiesen,  trotz  des  Hinweises  auf 
den  Winter  und  die  schwierige  Rheinfahrt.  Strafe  verdienten  sie 
eigentlich.  Die  neulutherischen  Prediger  waren  beglückt,  sie 
wiegelten  das  Volk  auf,  und  es  kam  in  der  Tat  zu  Gewalttätig- 
keiten. 

Unterdessen  aber  war  der  Mann,  der  bisher  bei  den  Frem- 
den im  Mittelpunkt  der  Bewegung  gestanden  hatte,  Franciscus 
Perucellus,  bereits  vom  Schauplatz  abgetreten.  Einem  aus  Frank- 
furt an  ihn  ergangenen  Rufe  an  die  dortige  Fremdengemeinde 
war  er  gefolgt,  nachdem  er  ihn  bereits  einmal  abgelehnt  hatte.  Diesem 
Rufe  zu  folgen,  war  Perucellus  deshalb  doppelt  schwer,  weil  auch 
die  Emdener  Gemeinde  seine  Ankunft  wünschte.  In  dieser  Lage 
wandte  er  sich,  wie  er  das  schon  so  oft  getan  hatte,  an  Calvin 
nach  Genf.  Ohne  seinen  Rat  wollte  er  nicht  handeln.  Und  wenn 
er  auch  infolge  der  Weseler  Wirren  in  Übereinstimmung  mit  der 
dortigen  Gemeinde  schon  früher  nach  Frankfurt  ging,  als  Calvins 
Antwort  eintraf,  endgültig  verpflichtete  er  sich  nicht  eher,  als  bis 
Calvin  sich  zu  seiner  Umsiedelung  nach  Frankfurt  geäußert  hatte.1 
Es  wundert  uns  nicht,  daß  Calvin  sein  Mißfallen  äußerte,  daß  die 
Frankfurter  Gemeinde  in  so  schwerer  Zeit  der  niederrheinischen 
Gemeinde  ihren  geistigen  Führer  zu  rauben  suchte.  „Weder  ehren- 
wert noch  nützlich",  so  charakterisiert  er  diese  Handlungsweise 
dem  Frankfurter  Pastor  Holbracus  gegenüber.2  Und  noch  mit 
schärferen  Worten  geißelte  er  Perucellus  gegenüber  diese  Hand- 
lungsweise: „Selbst  gesetzt  den  Fall,  daß  keine  Hoffnung  gegeben 
wird,  die  kleine  Gemeinde  dort  zurückzuhalten,  so  ist  dennoch 
nichts  schmählicher,  als  einen  solchen  Augenblick  zu  Deinem  Fort- 
gehen zu  benutzen."  Und  daraus  folgt  sein  Rat  an  Perucellus: 
„Nie  würde  ich  Dich  zum  Weggehen  veranlassen,  bis  eine  Ent- 
scheidung gefallen  ist."  Von  der  Rückkehr  des  Boten  an  Me- 
lanchthon  und  den  sich  darnach  sicherlich  so  oder  so  klärenden 
Verhältnissen  muß  sich  die  Entscheidung  für  ihn  ergeben.3  Wir 
sehen,  wie  sehr  Calvin  die  rheinische  Gemeinde  am  Herzen  lag. 
Ja  noch  mehr:  Calvin  erkannte,  daß  damals  am  Niederrhein  ein 
Kampf  gefochten,  der  weit  hinausgehend  über  die  bloße  Bedeutung 
einer  Lokalgeschichte,  für  die  Christenheit  von  der  größten  Be- 
deutung war.   Deshalb  schrieb  er  der  Frankfurter  Gemeinde  4 :  „Ihr 

i)   Frankf.  Rel.-Handl.  I.,  285. 

2)  Calv.  Opp.  XVI  p.  340  f.  Nr.  2563. 

3)  Calv.  Opp.  XVI  p.  341  f.  Nr.  2564. 

4)  Calv.  Opp.  XVI  p.  344  Nr.  2566. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  63 


wißt,  daß  jede  Kirche  nicht  nur  das  Ihre  suchen  soll,  sondern  auch 
das  was  des  andern  ist.  .  .  .  Nicht  nur  der  kleinen  Schar,  die 
dort  versammelt  ist,  würdet  ihr  Unrecht  tun,  sondern  der  gesamten 
Christenheit." 

Wir  sahen  bereits,  wie  die  Weseler  Verhältnisse  sich  für  die 
Fremdengemeinde  traurig  gestalteten,  was  dann  Perucellus  Scheiden 
von  der  Gemeinde  ermöglichte.  Er  schied  in  vollem  Einvernehmen 
mit  seiner  Gemeinde.  Ende  Januar  1557  rinden  wir  ihn  bereits  in 
Frankfurt. 

Mit  seinem  Scheiden  von  Wesel  waren  für  Perucellus  noch 
nicht  alle  Verbindungen  mit  der  Gemeinde  gelöst.  Noch  von 
Frankfurt  aus  reiste  er  nach  Wesel,  um  die  Gemeinde  zu  trösten. 
Desgleichen  verfaßte  er  für  die  Gemeinde  ein  Schreiben  an  den 
Magistrat,  das  den  Standpunkt  der  Gemeinde  klar  legte  und  eine 
Verlängerung  des  Auswanderungstermines  um  sechs  Wochen  er- 
reichte.1 Auch  diese  Frist  verstrich,  und  die  Reste  der  Gemeinde 
verließen  Wesel,  teils  sich  im  Rheinland  niederlassend,  teils  Peru- 
cellus nach  Frankfurt  folgend.2  Tragisch  in  Perucellus  Leben  ist 
es,  daß  seine  aufopfernde  Tätigkeit  im  Dienste  der  Weseler  Ge- 
meinde später  arg  verkannt  wurde.'3 

Nach  dem  Siege  der  neulutherischen  Partei  in  Wesel  durch  die 
Vertreibung  der  aus  England  eingewanderten  Fremden  hatten  die 
zurückgebliebenen  Wallonen  zunächst  eine  Zeitlang  Ruhe.  Die 
Stellung  der  Partei  war  noch  keine  so  absolut  sichere,  daß  ein 
sofortiges  weiteres  Vorgehen  möglich  gewesen  wäre.  Sogar  änderte 
sich  die  Lage  mehr  und  mehr  zu  ihren  Gunsten.  Das  Einwandern 
einiger  Wallonen  1561  gab  erwünschte  Gelegenheit  zu  einem  neuen 
Unternehmen  der  Neulutheraner.  Das  von  den  Fremden  vorgelegte 
alte  wallonische  Bekenntnis  genügte  nicht  mehr,  und  die  schon  früher 


1)  Frankf.  Rel.-Handl.  I.,  285. 

2)  Wolters  p.  196  ff. 

3)  Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  so  verlockend  es  auch  ist,  das  fernere 
Leben  dieses  Mannes  zu  beleuchten,  durch  den  Calvin  hauptsächlich  in  die 
Weseler  Verhältnisse  hineingezogen  wurde.  Doch  sei  es  mir  gestattet,  für 
einen  etwaigen  künftigen  Biographen  hier  die  mir  bekannten  Quellen  noch 
kurz  zu  nennen:  Zu  dem  im  Corpus  Ref.  enthaltenen  Material  —  vgl.  Index 
historicus  p.  421  —  und  den  mit  Vorsicht  zu  benutzenden  Notizen  bei 
Wolters  p.  153  f-:  Frankf.  Rel.-Handl.  I.  p.  277—295,  IL,  115 — 117.  J.  F. 
A.  Gillet:  Crato  von  Crafftheim,  Frankfurt  1860,  I.  p.  349;  IL  p.  45. 
A.  Kluckhohn:  Briefe  Friedrichs  des  Frommen,  Bd.  I.,  Braunschweig  1868, 
p.  228.  Herminjard:  Prospectus,  Genüvc  1864  p.  27.  Southerden  -  Burn: 
History  of  foreign  Protestant  refugees,  London  1846,  p.  34.  Zeitschrift 
für  histoT.   Theologie   1870,  p.   421. 

11* 


l()A  Calvins  Beziehungeen  zu  den  Rheinlanden. 


aufgetauchte  Forderung  einer  für  alle  gültigen  Konfession  wurde 
Parteiprogramm.  Am  21.  Oktober  1561  wurde  der  Beschluß  gefaßt, 
am  23.  wurde  der  von  einer  Kommission  geschaffene  Entwurf  dem 
Rate  vorgelegt  und  angenommen,  und  am  29.  Oktober  wurde  er 
von  den   deutschen   Pfarrern   unterschrieben.1 

Das  Bekenntnis  ist  das  alte  Wallonenbekenntnis  vom  4.  Fe- 
bruar 1545,  erweitert  durch  charakteristische  Zusätze  im  Sinne  der 
neulutherischen  Orthodoxie :  so  zu  den  Artikeln  von  der  Taufe  und 
vom  Abendmahl  (hier  neben  dem  Bekenntnis  zur  lutherischen  Abend- 
mahlslehre eine  Verwerfung  der  reformirten  Abendmahlslehre  und 
Verdammung  der  Gegner  der  Ubiquität).  Der  letzte  Artikel  be- 
kennt sich  zur  Augsburgischen  Konfession. 

Was  sollten  die  Wallonen  zu  diesem  Bekenntnis  sagen?  Sie 
wurden  zur  Unterschrift  aufgefordert.  Getreu  ihrem  Glauben 
lehnten  sie  diese  Forderung  ab:  17.  Februar  1562.  Und  die  neu- 
lutherische Majorität  des  Rates  konnte  trotz  ihres  Sieges  inner- 
halb des  Rates  dennoch  nicht  nach  Belieben  vorgehen,  da  die 
Sympathien  für  die  Wallonen  in  der  Stadt  groß  waren  und  stetig 
zunahmen.  Gutachten  der  bedeutendsten  Theologen  sprachen  sich 
für  (Wesenbeck,  Brentz,  Eber,  Mörlin,  Einhorn,  Baier,  Heßhusius) 
oder  wider  (Heidelberger  Fakultät  und  Pfarrer,  A.  Hyperius)  die 
Konfession  aus. 

Ist  es  wunderbar,  daß  in  diesem  Streit  der  Parteien,  die  kleine 
Schar  der  schlichten  Fremden  gewaltig  eingeschüchtert  wurde? 
Das  Schicksal  der  Londoner  Gemeinde  mochte  sie  allzusehr 
schrecken.  Ja  in  ihrer  Not  meinten  sie  schließlich,  in  dem  Be- 
kenntnis finde  sich  nichts,  das  dem  Worte  Gottes  geradezu  ent- 
gegen sei.  Und  doch !  Ohne  Calvin,  dessen  besonnenes  und  klare? 
Urteil  Wesel  schon  so  oft  zum  Segen  gewesen  war,  wollten  si<= 
nichts  unternehmen.  An  ihn  wandten  sie  sich  im  August  1562, 
sandten  ihm  ein  Exemplar  der  Konfession,  die,  wie  sie  meinten, 
dem  Worte  Gottes  nicht  geradezu  entgegen  sei,  und  erbaten 
seinen  Rat. 

Calvins  Antwort  ist  äußerst  interessant.2  Gerade  im  Vergleich 
mit  seinem  ersten  Gutachten  an  die  Wallonen. 


1)  Vgl.  Wolters  p.  233  ff.  Das  Bekenntnis  steht  gedruckt:  Wolters 
p.  456 — 458.  Calv.  Opp.  XIX  p.  623 — 625.  Nr.  3893  bis.  B.  Elberf.  ref. 
Wochenblatt    1863  p.    155 — 157. 

2)  Vgl.  Calv.  Opp.  XIX  p.  619—622.  Nr.  3893.  Bonnet  IL,  484  ff. 
Elberf.   ref.   Wochenbl.    1863  p.    153 — 155. 


Von  Dr.  Walter  Hol I weg.  165 


Damals  handelte  es  sich  um  Äußerlichkeiten,  und  daher  lautete 
sein  Rat:  nachgehen.  Jetzt  wurde  der  Glaube  angefochten,  die 
Konfession  verstieß  gegen  die  Schrift,  und  deshalb  gab's  nur  eine 
Möglichkeit :  ablehnen.  Früher  hatte  Calvin  das  Treiben  der  Geg- 
ner, die  zielbewußt  mit  Kleinem,  den  Zeremonien,  begonnen  hatten, 
für  Schwachheit  im  Glauben  erklärt,  die  man  tragen  müsse  (wir 
sahen  wie  a  Lasko  bereits  damals  tiefer  blickte),  jetzt  beurteilt  er 
ihr  Handeln  als  Tun  des  Teufels,  der  nach  allen  Seiten  hin  Mittel 
findet,  sie  zu  ärgern  und  zu  beschweren.  Aber  hier  gilt's  durch 
die  Tat  zu  beweisen,  daß  die  Kinder  Gottes  Gäste  und  Fremdlinge 
auf  Erden  sind.  Und  dann  bittet  er  die  Wallonen,  wenn  sie  jetzt 
eine  kurze  Zeit  geschlafen  haben,  mit  festem  Vorsatz  aufzustehen 
vom  Schlafe.  Annahme  des  Bekenntnisses  kommt  ihm  gleich  mit 
verstecktem  Verzichten  auf  die  Wahrheit  Gottes.  Sie  mögen  den 
Inhalt  der  Schrift  nennen,  wie  sie  es  für  gut  finden :  Gott  ist  kein 
Sophist  und  läßt  sich  durch  solche  Spitzfindigkeiten  gewiß  nicht 
spotten.  —  Und   dann  folgen   eine   Reihe   Änderungsvorschläge. 

Dieses  starke,  mannhafte  Auftreten  Calvins,  stärkte  die  Wal- 
lonen gewaltig.  Am  3.  November  1563  reichten  sie  dem  Rate  eine 
neue  Konfession  ein.  Und  eine  wie  gewaltige  Autorität  Calvin 
der  Gemeinde  war,  das  zeigt  sich  daraus,  daß  die  Konfession  ent- 
standen ist  durch  wörtliche  Zufügung  resp.  wörtliche  Änderung 
gemäß  den  Anweisungen  seines  Schreibens.  Nichts,  gar  nichts  hat  auch 
nur  eine  andere  äußere  Form  erhalten.1  Und  wenn  wir  uns  noch 
einmal  der  beiden  ersten  Schreiben  erinnern  im  Vergleich  mit  dem 
letzten :  Zeigt  sich  hier  nicht  Calvin  als  ein  geradezu  klassischer 
Vertreter  echter  Toleranz.  Weitgehende  Rücksicht  übt  er  da, 
wo  das  Gewissen  der  Schwachen  Anstoß  nehmen  könnte ;  aber  sein 
Herz  wird  fest  und  unerbittlich,  wenn  ihm  die  heiligsten  Güter 
seines  Glaubens  angegriffen  werden. 

In  Wesel  bereiteten  sich  die  Gegner  Calvins  gerade  durch  ihre 
maßlose  Intoleranz  ihr  eigenes  Verderben.  Der  gesunde  Sinn  des 
Volkes,  auch  der  Ratsmitglieder,  sträubte  sich  entschieden,  als  nun 
der  eifernde  Heßhusius  selbst  nach  Wesel  kam,  um  die  Konfession 


1)  Man  stelle  nebeneinander  1.  das  alte  Wallonenbekenntnis  vom 
4.  Febr.  1545:  Wolters  p.  455  f.,  Calv.  Opp.  XIX  p.  622  t.;  J.  das  durch  den 
neulutherischen  Rat  geänderte  Bekenntnis  vom  20.  Okt.  1561:  Wolters 
p.  456  ff.,  Calv.  Opp.  XIX  p.  623 — 625;  3.  Calvins  Brief  mit  seinen  Anderungs- 
vorschlägen vom  1.  Januar  1563:  Calv.  Opp.  XIX  p.  619 — 622;  4.  das 
Wallonenbekenntnis  vom  9.  Nov.  1563:  Wolters  p.  458 — 460,  Calv.  Opp.  XIX 
p.  625 — 627. 


I  66  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


von  1561  zu  retten.  Seine  Polemik  richtete  sich  zunächst  nament- 
lich gegen  zwei  gemäßigte  Pfarrer  der  deutschen  Gemeinde :  Rollius 
und  Heitfeld.  „Es  sei  denn,  daß  beide  Pfarrer  auf  der  Kanzel  mit 
klaren  Worten  Calvin  und  seine  Anhänger  etliche  Mal  verwerfen, 
will  noch  kann  ich  sie  nicht  für  rechte  Lehrer,  auch  nicht  für  meine 
Brüder  erkennen.'"' x 

Im  Juli  starb  Heßhusens  Gattin.  Rollius  sollte  auf  Bitten  der 
Verwandten  die  Verstorbene  beerdigen.  Da  schrieb  Heßhusius  an 
ihn:  „Ich  höre,  daß  Du  zum  Begräbnis  meiner  Frau  gerufen 
bist  .  .  .  will  aber,  daß  Du  vom  Leichenbegängnis  fern  bleibst  .  .  . 
Niemand  soll  meinen,  ich  stimmte  mit  Dir  überein.  Solange  Du 
nicht  öffentlich  und  mit  Namen  auf  der  Kanzel  die  Irrtümer  Calvins 
vom  Abendmahl  etc.  verdammst,  halte  ich  Dich  für  einen,  der  seiner 
Sekte  anhängt,  oder  für  einen,  der  mit  beiden  Religionen  seinen 
Spott  treibt."  2  So  wurde  seine  Gattin  ohne  Geleit  eines  Pfarrers 
beerdigt.  Dieses  Unwesen  griff  immer  mehr  um  sich,  bis  endlich 
der  Rat,  die  Bürgerschaft  und  der  Landesfürst  seines  Treibens 
müde  waren  und  ihn  aus  der  Stadt  wiesen.  Damit  wurde  das 
Weseler  Bekenntnis  von  1561  bedeutungslos.  Nicht  das  Trennende, 
das  Gemeinsame  betonte  man.  So  zog  Ruhe  und  Frieden  in  die 
Gemeinde  der  Fremden.  Im  Todesjahre  Calvins  war  das  Bestehen 
der  reformirten  Gemeinde  in  Wesel  gesichert.  Und  als  dann  beim 
Ausbruch  der  Niederländer  Wirren  Tausende  von  Protestanten 
Vaterland  und  Heimat  verließen,  um  in  den  Nachbarländern  Schutz 
und  Ruhe  zu  finden,  da  war  es  gerade  Wesel,  das  sich  zu  einem 
Zentrum  reformirter  Vertriebener  entwickelte.  Bestand  doch  hier 
schon  eine  Gemeinde  von  Brüdern,  eines  Vaterlandes  und  eines 
Glaubens  mit  ihnen,  unter  einem  Rate,  der  freundlich  und  wohl- 
wollend die  Fremden  als  Brüder  aufnahm.  Die  deutsche  Gemeinde 
aber  verband  sich  immer  enger  mit  den  Niederländern.  In  Kultus 
und  Verfassung  wurden  sie  immer  einiger.  Die  alten  Streitfragen 
aus  den  Tagen  Calvins  fanden  immer  mehr  ihre  Erledigung,  und 
zwar  zugunsten  reformirter  Tradition. 

Calvins  Einfluß  ist  es  gewesen,  der  Wesel  für  das  reformirte 
Bekenntnis  rettete.  Diese  Tatsache  aber  ist  von  der  größten  Trag- 
weite geworden,  sowohl  für  die  rheinische  Kirche,  wie  für  die 
niederländische  Kirche.  In  Wesel  tagte  bereits  vier  Jahre  nach 
Calvins  Tode  die  berühmte  Synode,  die  den  Grund  legte  zu   der 


1)  Wolters  p.  257. 

2)  Wolters  p.  258  f. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  67 


presbyterialen  Kirchenverfassung  am  Niederrhein.  Und  daß  Wesel 
auch  hinaus  über  das  kleine  Gebiet  des  Niederrheins  seine  Bedeu- 
tung hatte,  das  zeigt  nichts  besser  als  der  Spruch  aus  dem  16.  Jahr- 
hundert: „Genff,  Wesell  und  Rochelle  seindt  des  Teuffcls  andre 
Hell." 

d)  Calvin  und  Aachen. 

Unsere  Kenntnis  der  Entstehung  einer  evangelischen  Be- 
wegung in  der  freien  Reichsstadt  Aachen  verdanken  wir  den  ein- 
dringenden Untersuchungen  des  Aachener  Pfarrers  Walther  Wolff.1 
Seine  Ergebnisse  möchte  ich  mit  folgenden  drei  Sätzen  charakteri- 
sieren, die  seiner  Untersuchung  entnommen  sind:  i.  „Alles  was  in 
Aachen  bis  zum  Jahre  1545  etwa  an  reformatorischen  Bewegungen 
hervortritt,  ist,  soweit  es  überhaupt  faßbar  ist,  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit als  täuferische  Bewegung  anzusprechen."  -  2.  „Einen  ent- 
scheidenden Einfluß  in  evangelisch  kirchlichem  Sinne  hat  erst  die 
Einwanderung  der  Fremden  aus  den  Niederlanden  gegeben." a 
3.  Jedoch:  „Evangelische  Bestrebungen  sind  in  Aachen  nicht  erst 
durch  die  Einwanderer  hervorgerufen  wrorden."  4 

Die  genannten  Fremden  aus  den  Niederlanden  waren  Glau- 
bensbrüder und  Heimatgenossen  jener  Wallonen,  die  um  die  gleiche 
Zeit  nach  Wesel  gekommen  waren,  in  gleicher  Weise  fliehend  vor 
den  Verfolgungen  Karls  V.  Sie  fanden  in  Aachen  noch  freund- 
lichere Aufnahme,  als  ihre  Brüder,  die  nach  Wesel  gewandert 
waren,  dort  fanden.  Ein  sozialpolitisches  Interesse,  die  Hebung 
des  Tuchgewerbes,  veranlaßte  den  Rat,  den  Fremden  nicht  nur 
Aufnahme  in  die  Stadt  zu  gewähren  und  kostenlos  ihnen  Bürger- 
recht zu  verleihen,  sondern  ihnen  auch  noch  anderweitige  große  Vor- 
züge zukommen  zu  lassen.  Wenn  dem  Rate  nicht  die  religiöse 
Stellung  der  Fremden  bereits  bei  ihrem  Kommen  bekannt  war, 
dann  hat  er  sicherlich  bald  davon  Kenntnis  erhalten.  Denn  die  Ein- 
gewanderten schlössen  sich  sogleich  zu  einer  Gemeinde  zusammen. 
Das  können  wir  erkennen  aus  den  Beziehungen,  in  die  Calvin  bald 
zu  dieser  Gemeinde  trat. 


1)  Beiträge  zu  einer  Reformationsgeschichte  der  Stadt  Aachen:  Theol. 
Arb.  N.  F.  VII  p.  69—103,  vgl.  auch  H.  Fr.  Macco:  Die  reformatorischen 
Bewegungen  während  des  16.  Jahrhunderts  in  der  Reichsstadt  Aachen, 
Leipzig  O.  T.  p.  3—24,  und  von  demselben:  Zur  Reformationsgeschichte 
Aachens  während  des   16.  Jahrhunderts,  Aachen  1907  p.   1 — 17. 

2)  p.  80  f. 

3)  P-  85. 

4)  P-  88, 


j(58  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden, 


Wie  geschildert,  waren  in  Wesel  bald  nach  der  Ankunft  der 
Wallonen  Streitigkeiten  in  betreff  der  Zeremonien  zwischen  den 
Fremden  und  der  Stadtgemeinde  ausgebrochen.  Auf  Butzers  und 
Martyrs  Veranlassung  ward  Valerandus  Polianus  in  dieser  An- 
gelegenheit von  Straßburg  nach  Wesel  geschickt.  Es  ist  aber  be- 
reits bemerkt  worden,  wie  er  nicht  nur  in  die  Weseler  Verhältnisse 
eingriff,  sondern  in  ausgedehnterer  Weise  mit  der  niederrheinischen 
reformatorischen  Bewegung  in  Beziehung  trat,  auch  mit  Aachen. 
Wir  müssen  es  beklagen,  daß  wir  über  diese  ganzen  Verhältnisse 
nur  durch  eine  einzige  kleine  Notiz  Kenntnis  haben.  Sie  ist  uns 
deshalb  doppelt  wertvoll.  Mit  dringendsten  Bitten  um  Calvins  Rat 
hatte  sich  Polianus  des  öfteren  nach  Genf  gewandt;  und  als  seine 
Aufgabe  fast  ganz  vollendet  ist,  da  trifft  ein  Briefbündel  aus  Genf 
von  Calvin  ein :  „Mein  Herz  jauchzte  als  ich  die  Briefe  an  die  Ge- 
meinden von  Wesel  und  Aachen  sah",  so  schreibt  Polianus  am 
28.  August  1546.1  Das  ist  die  einzige  Notiz  über  Calvins  Be- 
ziehungen zu  Aachen  in  dieser  Zeit.  Der  genannte  Brief  Calvins 
ist  verloren,  und  sein  Inhalt  auch  anderweitig  nicht  zu  erschließen 
Aber  bei  der  Dürftigkeit  der  Quellen  zur  älteren  Aachener  Ge- 
meindegeschichte ist  sie  uns  doppelt  wertvoll. 

Nicht  um  die  Zeit  von  1558,  sondern  bereits  1546  ist  es  in 
Aachen  zur  Bildung  einer  Gemeinde  gekommen. 2  Die  Tat- 
sache, daß  Polianus  in  ihrem  Interesse  gearbeitet  und  Calvin  sie 
beraten  hat,  zeigt  das  unwiderleglich.  Ferner  wird  die  Frage,  ob 
das  Bekenntnis  der  Fremden  den  lutherischen  oder  reformirten 
Typus  vertreten  habe,  zweifellos  zugunsten  des  letzteren  entschie- 
den.3 Ja  ich  glaube,  wir  können  noch  mehr  sagen :  die  Beziehungen 
zwischen  Aachen  und  Wesel  lassen  wohl  vermuten,  daß  das  Be- 
kenntnis der  Weseler  Wallonen  von  1545  auch  die  Anschauungen 
der  Aachener  Brüder  wiedergibt,  wenn  man  von  dem  Artikel  über 
das  Abendmahl  absieht,  der  ja  auch  von  Polianus  als  Abfall  vom 
Glauben  bezeichnet  wird. 

Die  Gemeinde  hat  vermutlich  in  aller  Stille  weiterbestanden 
und  sich  entwickelt.  Ob  Calvin  weitere  Beziehungen  zu  ihr  unter- 
halten hat,  ist  für  die  nächsten  zehn  Jahre  ungewiß.  Er  wird  wohl 
über  sie  unterrichtet  worden  sein.  Gerade  zehn  Jahre  später  schreibt 


1)  Calv.   Opp.  XII  p.  376  Nr.  823. 

2)  Vgl.  Wolff  p.  93,  98.     Macco:  Reformatorische  Bewegungen  p.  10  f. 

3)  Vgl.  Wolff  p.  94.     Macco:   Die  ref.   Bewegungen  p.  8. 


Von  Dr.  Walter  Hol  I  weg. 


derselbe  Pollanus  an  Calvin  :  :  „Über  Aachen  und  Wesel  schreibe 
ich  nichts.  Du  wirst  alles  von  diesem  Bruder  (d.  h.  dem  Über- 
bringer des  Briefes)  erfahren."  Es  ist  wohl  nicht  von  ungefähr, 
daß  gerade  in  dieser  Zeit  Calvins  Beziehungen  zu  Aachen  wieder 
deutlicher  werden.  Die  Stellung  der  evangelischen  Bürger  Aachens 
war  mit  der  Zeit  eine  bei  weitem  schwierigere  geworden.  Ihre 
Partei  war  durch  Anhänger  aus  der  Aachener  Bürgerschaft  und 
durch  neu  angekommene  flüchtige  Protestanten  aus  den  Nieder- 
landen verstärkt  worden,  und  der  in  der  Bürgerschaft  entstandene 
religiöse  Gegensatz  war  bis  in  den  Rat  der  Stadt  gedrungen. 
Namentlich  war  Bürgermeister  Adam  von  Zevel  eine  starke,  mäch- 
tige Stütze  der  Protestanten,  ein  Mann,  der  sich  auch  öffentlich  zu 
seinem  Glauben  bekannte.  In  solcher  Lage  war  es  für  ernste 
Protestanten  schwierig,  ihren  Glauben  zu  bekennen  und  dabei  den- 
noch bei  ihren  katholischen  Mitbürgern  keinen  unnützen  Anstoß 
zu  erregen.  Aus  solchen  Gewissensbedenken  heraus  schrieb  am 
16.  Januar  Goswin  von  Zevel,  des  genannten  Bürgermeisters  Sohn 
an  Calvin,  und  wir  sind  in  der  glücklichen  Lage,  sowohl  Zevels 
Brief  wie  Calvins  Antwort  zu  besitzen.2  Dadurch  haben  wir  den 
doppelten  Vorteil,  einmal  einen  Blick  zu  tun  in  die  religiöse  Lage 
Aachens  und  die  Schwierigkeiten  der  Protestanten,  dann  aber  auch 
Calvin  als  Seelsorger  kennen  zu  lernen. 

Mit  einer  Anzahl  von  Freunden  hatte  Goswin  von  Zevel  in 
Bourges  studiert.  Sie  hatten  dann  Calvin  in  Genf  besucht,  aber 
wenig  Zeit  gefunden,  mit  ihm  zu  verkehren,  da  er  mit  Arbeit  sehr 
belastet  war.  Jetzt  sind  sie  in  Speier  und  werden  in  kurzer  Zeit 
in  die  Heimat  zurückkehren,  d.  h.  in  eine  katholische  Umgebung. 
Wie  sollen  sie  dort  leben?  Sollen  sie  sofort  widersprechen,  wenn 
man  das  Ave  Maria  betet,  wenn  man  sich  bekreuzt  oder  ähnliches 
tut?  Oder  lieber  einen  oder  zwei  Tage  warten,  damit  sie  nicht  zu 
hitzköpfig  erscheinen?  Dazu  haben  sie  sich  in  der  Kirche  von 
Bourges  zu  vielem  verpflichtet,  so :  keine  katholische  Kirche  zu 
betreten  und  keine  katholische  Predigt  anzuhören.  Dann  ist 
manches  verboten:  Karten-  und  Würfelspiel,  Tanz.  Teilnahme  an 
Gelagen  der  Papisten.  Oder  ist  das  doch  nicht  so  streng  und 
wörtlich   zu   verstehen,   wie   manche    sagen?     L'nd   wenn    sie    nach 


i)  Vgl.  Calv.   Opp.   XVI  p.  23  Xr.2385,   12.   Febr.   1556. 

2)  Calv.  Opp.  XX  p.  4571.  Xr.  4188  und  XVII  p.  85—88  Xr.  2829.  Vgl. 
W.  G.  Goeters:  Adrian  von  Haemstedes  Wirksamkeit  in  Antwerpen  und 
Aachen.     Theol.   Arb.   X.    F.   VIII   p.  73  f. 


I  70  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

Hause  kommen  und  Freunde  und  Verwandte  sie  zu  Paten  bitten, 
wenn  sie  heiraten  sollen?  Luther  gestattet  wohl  an  einigen  Stellen 
die  Beibehaltung  katholischer  Priester  und  die  Exegese  Calvins  zu 
Ps.  118,  22,  scheint  auch  davor  nicht  zurückzuschrecken.1  Er 
bittet  dringend  um  Calvins  Rat.  „Denn  wir  werden  bald  dahin 
kommen,  wo  uns  viele  Trübsale  begegnen  werden." 

Bei  oberflächlicher  Betrachtung  dieses  Briefes  könnte  man  den 
Eindruck  gewinnen,  als  ob  aus  dem  Schreiben  ein  jugendlicher 
Übereifer  spräche.  Das  mag  für  einige  Punkte  der  Fall  sein.  Doch 
kann  dies  Urteil  keineswegs  für  das  ganze  Schreiben  gelten.  Im 
Gegenteil,  wir  schauen  hier  in  Probleme,  die  nicht  nur  Zevel  und 
seine  Freunde  bewegten,  sondern  sämtliche  Gemeinden,  die  in 
Opposition  zu  katholischer  Obrigkeit  standen,  Probleme,  die  selbst 
den  ernstesten  Führern  der  Gemeinden  —  wir  wissen  es  von  Frank- 
furt und  Antwerpen  —  die  schwersten  Gewissensnöte  machten. 
Ist  es  recht,  sich  äußerlich  den  äußerlichen  Institutionen  der  katho- 
lischen Kirche  zu  fügen,  die  ja  —  das  ist  das  Schwierige  —  zugleich 
von  der  weittragendsten  politisch-rechtlichen  Bedeutung  waren. 
Petrus  Dathenus  hat  sich  kurze  Zeit  später  in  der  gleichen  Frage 
an  Calvin  gewandt  und  die  verzweifelte  Lage  der  Protestanten  im 
nordwestlichen  Deutschland  folgendermaßen  geschildert.2  „Sind 
jene  besonderen  und  privaten  Versammlungen  gut  und  richtig,  und 
tut  der  gilt,  der  solcher  Versammlungen  halber  sich  selbst,  Weib 
und  Kind  der  Gefahr  aussetzt?  Diese  an  und  für  sich  schwierige 
Frage  wird  noch  viel  schwieriger  durch  die  hinzutretenden  Um- 
stände :  die  Behörde  duldet  solche  Versammlungen  nicht,  die  ver- 
räterischen Charakter  haben.  Ferner  erkennt  sie  heimlich  abge- 
schlossene Ehen  nicht  an  und  betrachtet  deren  Nachkommenschaft 
für  illegitim.  Dann  duldet  sie  keine  nächtlichen,  heimlichen  Be- 
erdigungen, da  viel  Mord  und  Totschlag  zugelassen  werden  könnte 
unter  jenem  Vorwand,  den  römischen  Kultus  zu  meiden.  Eine  an- 
dere Frage  ist  die,  ob  es  den  Gläubigen  erlaubt  sei,  ihre  Kinder  den 
Papisten  zur  Taufe  zu  bringen,  da  ja  ein  anderer  öffentlich  an- 
erkannter religiöser  Kultus  nicht  da  ist.  Auch  hier  ist  die  Schwie- 
rigkeit groß,  wird  ein  Kind  nicht  getauft,  so  kommen  die  Eltern 


i)  Goswin  Zevel  denkt  liier  wohl  an  die  Erläuterungen  zu  Mt.  21,  42 
und  1.  Petr.  2,  6,  wo  diese  Psalmenstelle  zitiert  wird,  vgl.  Bd.  II  p.  215  und 
Bd.  VIII  p.  ig6  der  Tholuekschen  Ausgabe  der  Kommentare  Calvins 
zum  N.  T. 

2)  Vgl.  Calv.  Opp.  XVII  p.  345  f-  Nr.  2963,  Frankf.  20.  Sept.  1558- 


Von  Dr.  Walter  Hollwcg.  I  7  I 


um  einen  besonderen  Trost  und  geraten  in  den  Verdacht  der 
Wiedertäuferei  .  .  ."  Wir  sehen  also,  Zevels  Anfrage  berührte  die 
tiefsten  Lebensinteressen  der  Gemeinde.1 

Bereits  am  14.  März  desselben  Jahres  1558  beantwortete  Cal- 
vin diesen  Brief,  obwohl  Seitenschmerzen,  die  ihn  den  ganzen  Mo- 
nat fast  unbrauchbar  gemacht  haben,  ihm  das  Diktieren  des  Briefes 
fast  unmöglich  machen.  Zunächst  weist  Calvin  den  Frager  darauf 
hin,  daß  er  in  keiner  Weise  sein  Gelöbnis  brechen  darf.  Dasselbe 
hatte  ja  auch  keinen  anderen  Zweck,  als  daß  sie  sich  frei  hielten 
von  alle  dem,  was  sich  mit  einem  strengen  Bekenntnis  zu  Frömmig- 
keit und  Glauben  nicht  vereinigen  läßt.  Und  dann  bespricht  Calvin 
die  einzelnen  Punkte,  über  die  Zevel  ihn  befragt  hatte.  In  ein 
katholisches  Gotteshaus  zu  gehen  befleckt  nicht :  aber  die  Absicht, 
den  Papisten  dabei  zu  Gefallen  zu  sein,  das  ist  gottlose  und  unent- 
schuldbare Heuchelei.  Im  allgemeinen  soll  das  unser  Grundsatz 
sein :  aller  Aberglaube  soll  fehlen,  aber  unsere  Freiheit  soll  nie- 
manden mit  Fug  und  Recht  beleidigen.  Halten  wir  an  solchen 
Grundsätzen,  dann  sollen  wir  uns  keine  Skrupel  machen,  die  uns 
in  unserer  Arbeit  hemmen.  Was  die  Predigten  betrifft,  so  muß 
man  sich  vor  einem  doppelten  Übel  hüten,  einmal,  daß  unser 
Schweigen  nicht  den  Schein  von  Zustimmung  erweckt,  wenn  jene 
Rabulisten  mit  vollen  Backen  die  wahre  Lehre  zerspalten,  dann, 
daß  wir  nicht  an  abergläubischen  Gebeten  teilnehmen.  Weit  sicherer 
ist's,  fern  zu  bleiben.  Über  das  Aussprechen  von  Tadeln  wagt  Cal- 
vin kein  festes  Gesetz  aufzustellen.  Obwohl  es  wünschenswert,  daß 
es  mehr  im  Brauch  sei,  und  jeder  sich  der  Pflicht  bewußt  sein  muß. 
Irrenden  beizustehen,  so  ist  dennoch  Mißfallendes  nicht  sogleich  und 
ausnahmslos  zu  tadeln.  Das  müssen  wir  alle  zeigen,  daß  wir  unter  dem 
leiden,  was  dem  Ruhm  und  dem  Worte  Gottes  widerstreitet ;  bietet 
sich  uns  Gelegenheit,  dann  sollen  wir  unser  Bemühen  klar  bezeugen: 
sonderlich  wenn  Hoffnung  auf  Erfolg  da  ist.  Die  Furcht  vor  Un- 
bequemlichkeiten ist  unberechtigt.  Aber  besser  Vorsicht  im 
Besuch  von  Gelagen !  Auch  auf  solchen  nicht  gleich  beim  ersten 
Wort  mit  Tadel  zufahren.  Sehr  feinsinnig  sind  auch  Calvins 
ethische  Anweisungen  über  Tanz,  Würfelspiel  usw.    Geht  einer  zur 


1)  Vgl.  zu  diesem  Problem  noch:  Haenistedius  Calvino,  Antwerpen 
26.  Nov.  1558.  Calv.  Opp.  XVII  p.  388  f.  Nr.  2987.  Calvin  ä  l'Eglise  fran- 
qaise  d'Anvers,  Genf  21.  Dez.  1556.  Calv.  Opp.  XVI  p.  336 — 339  Nr.  2561 
und  Calvin  ä  un  gentilhomme  de  Provence,  6.  Sept.  1554.  Calv.  Opp.  XV 
p.  226 — 228  Nr.  2007. 


172  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

Hochzeit,  so  enthalte  er  sich  von  Tanz  und  anderen  Ausgelassen- 
heiten. Des  bloßen  Zuschauens  halber  ist  er  nicht  zu  verdammen. 
Dennoch  soll  er  sich  bemühen,  daß  sein  Maßhalten  anderen  Scheu 
einflößt,  und  eine  ernste  Zensur  zur  Verhinderung  von  Ausschrei- 
tung wird.  Dasselbe  gilt  vom  Würfelspiel.  Durch  Spiel  soll  man 
Geld  nicht  verschleudern,  viel  weniger  sich  damit  bereichern. 

Was  nun  die  Stellung  zum  katholischen  Kultus  betrifft,  wenn 
ein  Protestant  durch  Patenschaft  oder  ähnliches  mit  ihm  in  Be- 
rührung kommt,  so  will  Calvin  nicht  darüber  streiten,  was  es  für 
eine  traurige  Sache  ist,  sich  von  Verwandten  und  Freunden  zu 
trennen ;  hier  handelt  es  sich  allein  darum,  was  Gott  verbietet  und 
befiehlt.  Und  da  kann  er  nicht  anders,  als  davor  warnen,  durch 
Teilnahme  daran  sich  zu  beflecken.  Lieber  auf  alle  Freund- 
schaften verzichten,  als  sich  durch  solchen  Gehorsam  die  Gunst 
der  ganzen  Welt  zu  kaufen.  Aber  auch  hier  betont  er  nochmals 
Mäßigung  und  Klugheit. 

Gerade  diese  enge  Verbindung  von  rechtem  Maßhalten  und  voller 
Entschiedenheit  ist  das  charakteristische  Merkmal  dieses  Gut- 
achtens an  die  Aachener  Freunde.  Schon  diese  kurzen  Bemer- 
kungen aus  dem  langen  Sendschreiben  zeigen  den  feinen  Takt  und 
das  klare  sittliche  Unterscheidungsvermögen  des  Reformators. 

Soweit  unsere  Kenntnis  reicht,  ist  dies  das  letzte  persönliche 
Eingreifen  Calvins  in  die  Aachener  Verhältnisse.  Aber  sein  Geist 
wurde  dadurch  in  der  Gemeinde  wach  gehalten,  daß  gerade  in 
dieser  Zeit  ein  direkter  Schüler  und  ein  Geistesverwandter  die 
führenden  Persönlichkeiten  in  Aachen  wurden:  das  sind  Johannes 
Taffinus  und  Adrian  van  Ffaemstede.  Taffinus  hatte  in  Genf  stu- 
diert. Und  er  sowohl  wie  Haemstede  standen  mit  Calvin  in  brief- 
lichem Verkehr.1  Für  Aachens  Geschichte  interessant  ist  es,  daß 
mit  dem  Kommen  dieser  beiden  Prediger  —  ich  vermute,  daß  sie 
zu  gleicher  Zeit  nach  Aachen  kamen  ;  beide  waren  in  Antwerpen 
Prediger,  Taffinus  an  der  Wallonengemeinde  —  es  unter  den  Pro- 
testanten zu  einem  Auseinanderfallen  in  eine  wallonische  Gemeinde 
mit  Taffinus  und  eine  deutsche  mit  van  Haemstede  an  der  Spitze 
kam.  Unter  dieser  Voraussetzung  erklärt  sich  ohne  Schwierigkeit 
eine  von  den  Aachener  Historikern  bisher  unbeachtete  Notiz,  aus 
einem  Bericht  des  damaligen  Londoner  Predigers  Nicolaus  Gala- 
sius  vom  12.  August  1560,  in  der  er  Calvin  Mitteilung  macht  über 


1)  Vgl.  den   Index  Historicus  zu   Calvins   Briefen. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  73 


den  traurigen  Ausgang  der  in  dieser  Zeit  wirksamen  katholischen 
Reaktion  gerade  mit  Bezug  auf  die  Wallonengemeinde.  Sic  lautet1: 
,, Durch  Holbracus  bin  ich  unterrichtet  worden,  daß  Johannes 
Scaphinus, 2  der  die  Aachener  Gemeinde  gesammelt  hatte  (das  be- 
zieht sich  also  dann  nicht  auf  die  alte  Wallonengemeinde,  die  bereits 
1545  resp.  1546  bestand)  und  sie  nach  ihrer  Vertreibung  und  Zer- 
streuung wiederum  in  Friedberg  zu  sammeln  suchte,  dies  nicht 
habe  erreichen  können.''  Wie  Taffinus,  so  ist  auch  Adrian  van 
Haemstede  nur  kurze  Zeit  in  Aachen  geblieben.  Noch  im  Sommer 
desselben  Jahres  ist  er  nach  England  gegangen.  Aber  wie  gerade 
durch  ihn  Gedanken  Calvins  in  Aachen  anerkannt  wurden,  das 
hat  Goeters 3  gezeigt  durch  den  Nachweis  der  Bedeutung,  die 
Calvins  Institutio  bei  der  Abfassung  der  Confessio  hatte,  die  van 
Haemstede  für  seine  Aachener  Glaubensgenossen  aufsetzte. 

Mit  van  Haemstedes  und  Taffinus'  Fortgehen  hören  die  direk- 
ten Beziehungen  Calvins  zu  Aachen  auf. 

II.  Abschnitt. 

Calvins  Einfluß  durch  seine  wissenschaftliche,  besonders 

schriftstellerische  Tätigkeit  auf  die  Rheinlande. 
Daß  eine  so  gewaltige  Persönlichkeit  wie  Calvin  eine  große 
Zahl  von  Schülern  an  sich  zog,  ist  nicht  wunderbar.4  Wie  viele 
Rheinländer  mögen  zu  seinen  Füßen  gesessen  haben,  die  dann  seine 
Gedanken  weiter  hinaustrugen  in  die  Heimat !  Schon  lange,  ehe 
Calvin  die  Errichtung  einer  Hochschule  in  Genf  durchgesetzt  hatte, 
—   sie   wurde  am   5.  Juni    1559   eröffnet5  —  hat  der   Reformator 


1)  Calv.  Opp.   XVIII  p.  164  Nr.  3233. 

2)  In  einem  anderen  Briefe  an  Calvin  vom  14.  Okt.  1560  Calv.  Opp. 
XVIII  p.  220  Nr.  3261  nennt  er  ihn  Staphinus:  beides  ist  sicherlich  eine 
falsche  Namensform  für  Taffinus. 

3)  P-  81  f. 

4)  Es  scheint  mir  nicht  notwendig,  wie  Rutgers  es  bei  seiner  Arbeit 
für  die  Niederlande  getan  hat,  Calvins  Beziehungen  und  Freundschaften  zu 
solchen  Rheinländern  zu  erörtern,  die  für  ihre  Heimat  nicht  mehr  von  Be- 
deutung wurden.  Es  würde  sich  hier  namentlich  um  die  beiden  bedeutenden 
Rheinländer  aus  Schieiden  handeln:  Johannes  Sturm,  der  berühmte  Straß- 
burger Pädagoge,  und  Johannes  Sleidanus,  der  Historiker  (darüber,  wie 
für  ihn  das  Studium  Calvinischer  Schriften  entscheidend  wurde,  vgl.  Hasen- 
clever Sleidanstudien,  Bonn  1905,  p.  13  fr.).  Ebenfalls  bemerke  ich,  daß 
sich  die  Untersuchungen  dieses  Abschnittes  nur  über  den  Zeitabschnitt  des 
Lebens  Calvins  erstrecken. 

5)  Vgl.   Stähelin  I  p.  488. 


I  7  A  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

theologische  Vorlesungen  gehalten.  Nach  Gründung  der  Hoch- 
schule wurde  dann  in  Genf  auch  eine  Matrikel  der  Studierenden 
geführt,  wodurch  uns  die  Namen  der  rheinischen  Studenten  er- 
halten sind.  Und  gleich  auf  der  ersten  Seite  der  Matrikel1  finden 
wir  sechs  Rheinländer.  Da  ist  zunächst  Antonius  Olevianus  aus 
Trier,  der  Bruder  des  berühmten  Caspar  Olevianus.  Dann  sind 
zwei  Kölner  vermerkt :  Gerardus  Goer  und  Johannes  Stralen. 
Beide  stammten  aus  zwei  bedeutenden  Kölner  Patrizierfamilien  und 
finden  sich  beide  später  als  Mitglieder  ihrer  Heimatgemeinde  in 
den  Konsistorialbüchern  wieder.2  Aus  Cleve  sind  uns  genannt 
Theodorus  und  Henricus  Wierus,  Söhne  des  durch  seine  Be- 
kämpfung der  Hexenprozesse  bis  heute  berühmten  Leibarztes 
Herzog  Wilhelms  von  Cleve :  Johannes  Wier  oder  Weyer.3  Beide 
waren  freilich  nicht  Theologen.  Theodor  war  Jurist ;  aber  wir 
werden  vielleicht  nicht  fehl  gehen,  daß  seine  spätere  Tätigkeit  zu- 
gunsten der  kämpfenden  Niederländer  dem  Einflüsse  Calvins 
zuzuschreiben  ist.  Sein  Bruder  Heinrich  war  Mediziner.  An  der 
Kölner  Universität  hat  er  später  durch  seine  fortschrittlichen  Ge- 
danken Aufsehen  erregt.4  Weiter  wird  uns  genannt  Gerardus  Wes- 
hemius  aus  Geldern.  Neben  diesen  sechsen  sind  zu  Lebzeiten  Cal- 
vins noch  drei  weitere  rheinische  Studenten  in  die  Matrikel  ge- 
kommen. Reuerus  Goto  aus  Köln,  Liffordus  Bernigen  aus  Gennep 
und  Johannes  Fontanus.  Der  zweite  scheint,  dem  Namen  nach  zu 
urteilen,  Ausländer  zu  sein.  Wir  wissen,  daß  in  Gennep  sich  früh 
eine  wallonische  Flüchtlingsgemeinde  gebildet  hatte.5  Johannes 
Fontanus  endlich  ist  der  berühmte  erste  Prediger  von  Arnheim, 
namentlich  bedeutend  für  die  Geschichte  der  Niederlande.  Er  war 
gebürtig  aus  Zoller  im  Herzogtum  Jülich.0 

Es  ist  klar,  daß   durch   den  Eindruck  der   Persönlichkeit  des 
Lehrers  der   Einfluß   und   die  Verbreitung   seiner   Gedanken    sich 


i)   Le  Liv.re  du  Recteur  p.  2. 

2)  Vgl.  Simons:  Kölner  Konsistorialbeschlüsse  p.  35,  140.  Lau:  Buch 
Weinsberg  III,  13. 

3)  Über  ihn  vgl.  C.  Binz:  Doctor  Johann  Weyer,  ein  rheinischer  Arzt, 
der  erste  Bekämpfer  des  Hexenwahns,  2.  Aufl.,  Berlin  1896. 

4)  Über  beide  vgl.  Binz  p.   174 — 177. 

5)  Vgl.  Fr.  W.  Cuno:  Gesch.  der  wallonischen  und  französisch-ref. 
Flüchtlingsgemeinde  in  Wesel.  Geschichtsblätter  d.  deutschen  Hugenotten- 
vereins, Zehnt  V.  Heft  2  p.  4.    Magdeburg  1895. 

6)  Vgl.  J.  W.  Straats  EveTs:  Johannes  Fontanus,  Arnhem's  eerste 
predicant   1577 — 1615   en  zijn  Tijd.     Arnhem   1882,  p.  10  ff. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  75 


noch  viel  nachhaltiger  gestalten  mußte,  als  seine  Schriften  dies  ver- 
mochten. 

Was  nun  die  Frage  betrifft  nach  dem  Einfluß,  den  Calvin  durch 
seine  S  c  h  r  i  f  t  e  n  zu  seinen  Lebzeiten  auf  die  Rheinlande  ausgeübt 
hat,  so  ist  es  von  vornherein  nicht  wunderbar,  daß  eine  Entschei- 
dung in  dieser  Frage  schwierig  ist,  da  ja  der  Einfluß  da,  wo  er 
faßbar  ist,  meist  mehr  oder  weniger  durch  gelegentliche  Bemer- 
kungen in  Briefen  usw.  deutlich  wird,  d.  h.  mehr  durch  Zufällig- 
keiten sichtbar  wird.  Aber  auch  das  wenige  vorhandene  Material, 
das  im  folgenden  geboten  werden  soll,  scheint  mir  folgendes  er- 
geben zu  haben :  Von  bestimmendem  Einfluß  sind  gewesen  die  Ge- 
danken Calvins  auf  die  gebildeten,  sowohl  katholischen,  wie 
namentlich  humanistischen  Kreise  des  Rheinlandes,  während  sie 
die  weiteren  Kreise  sowohl  des  Volkes,  wie  des  Klerus  unberührt 
ließen.  Hätte  ein  solcher  auf  den  letzteren  stattgefunden,  so 
würde  er  sich  widerspiegeln  in  den  sogenannten  geistlichen  Er- 
kundigunsbüchern, die  im  Düsseldorfer  Staatsarchiv  aufbewahrt 
werden.  Denn  in  denselben  sind  auch  die  Bestände  der  Pfarr- 
bibliotheken aufgeführt.  Mit  der  Anfrage,  ob  sich  eine  Durch- 
arbeitung derselben  zu  unserm  Zweck  lohnen  würde,  wandte 
ich  mich  an  den  besten  Kenner  derselben,  Herrn  Archivrat  Dr.  O. 
Redlich,  der  in  liebenswürdiger  Weise  —  ihm  sei  auch  hier  dafür 
gedankt  —  mir  mitteilte,  daß  in  den  Werken  der  Pfarrbibliotheken 
Calvin  nur  einmal  mit  seiner  Institutio  (Breill,  Kreis  Geilen- 
kirchen) erwähnt  werde,  und  daß  im  übrigen  hier  und  da  sein 
Name  genannt  werde,  doch  so,  daß  man  keine  bestimmten  An- 
haltspunkte habe. 

Was  die  Vertreter  des  wissenschaftlich  gebildeten  rheinischen 
Katholizismus  betrifft,  so  ist  von  ihnen  Calvins  Bedeutung  bald 
erkannt  worden.  Das  ist  zunächst  zu  erkennen  aus  der  scharfen 
Überwachung  des  Buchhandels  und  den  kirchlichen  Bücherverboten. 

In  Köln  war  nicht  nur  der  Erzbischof,  sondern  daneben  auch 
die  Universität  ein  Hort  kirchlicher  Rechtgläubigkeit.  Schon  sehr 
früh  waren  der  letzteren  die  Anwendung  kirchlicher  Zensuren 
gegen  Drucker,  Käufer  und  Leser  häretischer  Schriften  gestattet 
worden :  1479  durch  Sixtus  IV.,  neu  bestätigt  durch  Alexander  VI. 
Und  daß  eine  solche  Zensur  geübt  wurde,  zeigen  eine  Reihe  theo- 
logischer Bücher,  die  mit  ihrem  Imprimatur  versehen  sind.1     Dann 

1)  Vgl.  Fr.  H.  Reusch:  Der  Index  der  verbotenen  Bücher,  Bd.  I. 
Bonn   1883,   p.  56. 


Ijß  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


hatte  Hermann  von  Wied  zu  der  Zeit,  als  er  der  reformatorischen 
Bewegung  noch  ferner  stand,  1536  auf  einem  Provinzialkonzil 
Druck  und  Verkauf  von  Büchern  von  der  Prüfung  einer  eigens 
dazu  bestimmten  Kommission  abhängig  gemacht. x  Sein  Nachfolger 
Adolf  von  Schauenberg  hat  dann  auf  der  Provinzialsynode  von 
1549  einen  Index  aufgestellt,  „weil  einfältige  und  ungelehrte 
Pfarrer,  denen  es  nicht  gegeben  ist,  Reines  von  Unreinem  zu  unter- 
scheiden, Bücher  über  religiöse  Dinge  kaufen,  wie  sie  ihnen  eben 
vorkommen,  wenn  sie  solche  Titel  haben,  wie  die  Predigten  der 
Gegner  und  ihre  Kommentare  zur  heiligen  Schrift".  Auf  diesem 
Kölner  Index  stehen  auch  die  Schriften  Calvins.2  Ein  ausführ- 
licherer Katalog  wurde  in  Aussicht  gestellt.  Dieser  ist  freilich  nie 
erschienen.  Jedoch  erließ  die  Diözesansynode  des  folgenden 
Jahres,  1550,  eine  Instruktion  für  die  Visitation  der  Erzdiözese, 
und  in  derselben  werden  wiederum  Calvins  Schriften  verurteilt.3 
Die  Väter  des  Tridentiner  Konzils  erließen  dann  im  Todesjahre 
Calvins  einen  großen  Index,  in  dem  natürlich  seine  sämtlichen 
Schriften  verurteilt  wurden.  Noch  im  gleichen  Jahre  wurde  dieser 
Index  auch  in  Köln  gedruckt:  Index  Librorum  prohibitorum  cum 
Regulis  confectis  per  Patres  a  Tridentino  Synodo  delectos,  auctori- 
tate  S.  D.  N.  Pii.  IV.  P.  AI.  comprobatus.  Coloniae.  Apud  Ma- 
ternum  Cholinum  1564.4  Daß  derartige  Bücherverbote  nötig 
waren,  zeigen  auch  die  Edikte  der  benachbarten  Niederlande,  die 
wohl  Rückschlüsse  auf  die  Zustände  in  den  Rheinlanden  gestatten.6 
Neben  diesen  offiziellen  Kundgebungen  sind  für  uns  wichtig 
eine  Reihe  anderer  Zeugnisse.  Wir  wissen,  daß  ein  großer  Teil  der 
Kölner  Buchdrucker  und  Buchhändler,  trotz  aller  Zensuren,  mit 
ketzerischen  Büchern  einen  schwunghaften  Handel  trieben.6    Für 


1)  Vgl.  Reusch  I  p.  85. 

2)  Vgl.  Reusch  p.  128  f.  Der  Text  ist  abgedruckt:  Fr.  H.  Reusch: 
Die  Indices  Librorum  Prohibitorum  des  16.  Jahrhunderts.  Tübingen  1886, 
p.  78  f.  Bibliothek  des  litt.  Vereins  für  Stuttgart  Nr.  176  nach  Hartzheim: 
Concilia  Germaniae  VI  p.  S37- 

3)  Reusch  Bd.  I  p.  128.  Die  Instruktion  ist  gedruckt  Reusch:  Die 
Indices  Libr.  Proh,  p.  80  f.,  nach  Hartzheim:  Concilia  Germaniae  VI  p.  640. 

4)  Vgl.  J.   Petzholdt:   Bibliotheca  Bibliographica.   Leipzig  1866,   p.  140. 

5)  Vgl.  Reusch  I  p.  113  ff.,  248 ff.,  Chr.  Sepp:  Verbooden  lectuur,  Leiden 
1889,  besonders  p.  33,  59,  142,  145,  201.  Rutgers:  Calvijns  Invloed  p.  17— 23 
und  147 — 154- 

6)  Vgl.  besonders  Ennen:  Geschichte  der  Stadt  Köln  Bd.  IV,  Köln  und 
Neuß  1875,  p.  720  ff.  Ferner:  Simons,  Kölner  Konsistorialbeschlüsse  p.  3,  10. 
J.  J.   Merl'o:    Beiträge  zur  Geschichte   der   Kölner    Buchdrucker   und    Buch- 


Von   Dr.    Walt,  r   II  ]  ~  J 


unsern  Zweck  interessiert  uns  sonderlich  die  interessante  Persön- 
lichkeit des  Buchhändlers  und  Verlegers,  Johannes  Birkmann. 
„Vermöge  seiner  Kenntnisse  stand  er  in  hoher  Achtung  bei  den 
Gelehrten  seiner  Zeit.  —  Johanns  Tätigkeit  als  Verleger  ist  eine 
ganz  bedeutende  gewesen  und  hat  einen  großen  Einfluß  auf  die 
damaligen  wissenschaftlichen,  namentlich  die  medizinischen,  natur- 
wissenschaftlichen und  theologischen  Studien  ausgeübt",  so  schreibt 
sein  Biograph  in  der  Allgemeinen  deutschen  Biographie. '  Von 
diesem  Verleger  besitzen  wir  zwei  interessante  Briefe  an  Bullinger.2 
Aus  dem  ersten  (Dezember  1545)  interessiert  uns  der  Satz:  „Wir 
erwarten  Dein  Buch  und  das  Calvins."  Und  kurz  darauf,  am 
18.  Januar  1550  schreibt  er  ihm  :  „Mit  Begierde  erwarte  ich  Deine  und 
Calvins  Übereinkunft,  und  sie  wird  von  allen  ernsten 
Leuten  erwartet.  (Es  handelt  sich  um  den  Conseusus  Tigu- 
rinus.)  Das  Buch  Calvins :  „Über  die  Vermeidung  des  abergläu- 
bischen Wesens"  ist  bei  mir  schon  nicht  mehr  vorhanden."  Aus 
diesen  wenigen  Notizen  sehen  wir,  wie  wichtig  Calvins  Schriften 
für  Birkmann,  aber  auch  für  viele  Kölner  Bürger  waren.  Um  die 
Interessiertheit  der  Birkmannschen  Familie  zu  zeigen,  sei  hier 
noch  eine  Notiz  aus  einem  Briefe  Sleidans  an  seinen  Verwandten 
Caspar  von  Nidbruck  vom  23.  April  1555  angeführt,  kurz  nach 
dem  Tode  Franz  Dryanders :  „Den  größten  Teil  der  Bücher 
Drvanders  hat  Arnold  Birkmann  erhalten,  ein  Kölner  Buch- 
händler." 3  Damit  wird  gewißlich  wieder  ein  großer  Teil  calvi- 
nischer Schriften  nach  Köln  gekommen  sein. 

Alle  Gewaltmaßregeln  seitens  des  Rates,  der  Universität,  des 
Erzbischofs,  des  Kaisers,  der  Jesuiten  hinderten  doch  nicht  das 
Eindringen  calvinischer  Bücher.  So  ist  es  nicht  verwunderlich, 
daß  dies  Eindringen  nicht  nur  Gewaltmaßregeln,  sondern  auch  die 
theologische  Polemik  weckte. 

Ennen  4  unterscheidet  in  der  damaligen  rheinischen  katholisch- 
theologischen  Literatur   zwei   Hauptströmungen :   eine   papistisch- 


händler  des  15.  und  16.  Jahrhunderts,  Annalen  des  bist.  Vereins  für  den 
Niederrhein  Bd.  19  p.  61 — 75  und  zu  den  genannten  Buchhändlernamen  die 
betr.  Artikel  in  der  Allg.  deutschen  Biogr. 

1)  Bd.  II  p.  663  f.     Vgl.  auch  Fr.   Lau:  Das  Buch  Weinsberg  IV  p.  56. 
Bonn  1S98. 

2)  Vgl.  Calw   Opp.   XIII  p.  492  f.  Nr.  1326  und  p.  513  f.  Nr.  1337. 

3)  Vgl.  H.  Baumgarten:  Sleidans  Briefwechsel,  Straßburg-London  1881, 
p.  274. 

4)  Bd.  IV  p.  725. 

Calvinstudien.  1 2 


j-^g  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


jesuitische    und    eine    freisinnig-nationale.      Aus    beiden    Lagern 
heraus  ist  Calvin  befehdet  worden. 

Im  Jahre  1543  schrieb  Calvin  die  Schrift:  „Sehr  nützlicher 
Bericht  über  den  großen  Vorteil,  der  der  Christenheit  daraus  er- 
wüchse, wenn  sie  ein  Inventar  herstellte  über  alle  heiligen  Leiber 
und  Reliquien,  welche  in  Italien  sowohl  wie  in  Frankreich,  Deutsch- 
land, Spanien  und  anderen  Königreichen  und  Ländern  sind."  ' 

Von  dieser  Schrift  sagt  Stähelin 2 :  „Unter  allen  polemischen 
Schriften  Calvins  hat  diese  wohl  den  größten  populären  Erfolg  ge- 
habt. Allein  in  französischer  Sprache  ist  sie  bis  Ende  des  Jahr- 
hunderts fünf-  bis  sechsmal  wieder  aufgelegt  worden;  noch  öfter 
lateinisch,  am  allerhäufigsten  in  der  deutschen  Bearbeitung  von 
Jakob  Eysenburg  zu  Wittenberg,  die  binnen  drei  Jahren  an  ver- 
schiedenen Orten  dreimal  erschien,  und  dreißig  Jahre  später,  von 
J.  Fischart  mit  Versen  begleitet,  einen  literarischen  Siegeszug  an- 
trat, der  sich  bis  ins  17.  Jahrhundert  ausdehnte." 

Gegen  diese  Schrift  veröffentlichte  eine  Gegenschrift  der 
Kölner  Theologe  Alexander  Candidus  unter  dem  Titel :  „Das  Urteil 
Johann  Calvins  über  die  Reliquien  der  Heiligen,  zusammengestellt 
mit  der  Meinung  der  orthodoxen  Väter  der  heiligen  katholischen 
Kirche." 3  Der  Karmelit  Alexander  Candidus,  sein  eigentlicher 
Name  ist  Nikolaus  Blanckardt,4  stammte  aus  Gent.  In  Köln  wurde 
er  Professor  der  Theologie.  Er  starb  1555.  Was  veranlaßte  ihn 
wohl  zu  seiner  Gegenschrift?  Nun,  zunächst  wird  das  populäre 
Schriftchen  Calvins  wohl  auch  in  den  Rheinlanden  einen  großen 
Leserkreis  gefunden  haben.  Hierzu  kommt  aber,  daß  dasselbe  in 
beachtenswerter  Weise  gerade  auf  rheinische  Reliquien  Bezug 
nimmt.     Das  darf  hier  nicht  übergangen  werden. 

Aus  frommer  Gesinnung  heraus  entstand  die  Reliquienver- 
ehrung,   sagt  Calvin;  aber  der  in  solcher   Frömmigkeit  liegenden 

1)  Calv.  Opp.  VI  p.  405—452. 

2)  Bd.  II  p.  255- 

3)  Der  genaue  Titel  des  lateinisch  abgefaßten  Büchleins  lautet:  Iu- 
dicium  Johannis  Calvini  de  sanctorum  reliquiis:  collatum  cum  Orthodoxorum 
sanctae  Ecclesiae  Catholicae  Patrum  sententia.  Per  D.  Alexandrum  Can- 
didum,  Carmelitam,  Theolog.  Colonien.  Coloniae  Apud  Jasparem  Genne- 
paeum.  Anno  1551.  Ein  Exemplar  dieses  Büchleins  besitzt  die  Bibliothek 
des  bergischen  Geschichtsvereins.  Doch  bemerke  ich  ausdrücklich,  daß 
dasselbe  in  dem  gedruckten  Katalog  der  Bibliothek  p.  143  _  Nr»  16  falsch 
katalogisiert  ist,  so  daß  man  den  Eindruck  gewinnt,  als  ob  eine  lateinische 
Übersetzung  dieser  Schrift  Calvins  1551  in  Köln  erschienen  wäre.  Dort  ist 
angezeigt:  Job.    Calvin:    Iudicium   de   sanctorum   reliquiis.      Köln   1551. 

4)  Vgl.  über  ihn  Hartzheim:  Bibliotheca  Coloniensis  p.  14  f-  Wetzer 
und  Weite  II2  p.  89g. 


Von.  Dr.  Walter  Hollweg.  179 


Gefahr  ist  die  Kirche  erlegen.  Und  wie  ein  Übel  meist  nie  allein 
auftritt,  so  ging's  auch  hier:  die  Reliquienverehrung,  die  zum 
Götzendienst  ausgeartet  war,  wurde  Veranlassung  zu  grobem  Be- 
trug. Hätte  man  genaue  Kataloge  über  die  Reliquien,  dann  würde 
man  erkennen,  daß  manche  Apostel  mehr  als  vier  Leiber  und 
mancher  Heilige  wenigstens  zwei  oder  drei  hat.  Durch  Hinweis 
auf  die  groben  Täuschungen  soll  das  Büchlein  zum  Nachdenken  führen. 

Hier  zeigt  uns  nun  Calvin  eine  große  Kenntnis  rheinischer 
Reliquien.  Von  den  Trierer  Reliquien  kennt  er :  das  Messer, 
womit  der  Herr  beim  Abendmahl  das  Passahlamm  zerschnitt 
(p.  418),  den  einen  der  Nägel  vom  Kreuz  (p.  421),  den  heiligen 
Rock  (p.  423),  einen  der  Würfel,  mit  dem  das  Los  durch  die  Kriegs- 
knechte geworfen  wurde  (p.  424)-  das  Schweißtuch,  das  dem  Herrn 
im  Grabe  aufs  Haupt  gelegt  wurde  (p.  424),  einen  Hut  der  heiligen 
Jungfrau,  im  Kloster  St.  Maxim  (p.  433),  eine  Träne  des  Herrn 
(p.432),  die  Pantoffel  des  heiligen  Joseph  (p.  435),  Petri  Püger- 
stab  (p.  440),  Knochen  der  Apostel  Petrus  und  Paulus  (p.  439)» 
der  Leib  des  heiligen  Matthias  (p.  440,  Glieder  des  heiligen 
Bartholomäus,  Philippus,  Jacobus,  Matthäus  (p.  441),  das  Haupt 
der  heiligen  Anna  (p.  442)  und  das  Haupt  des  heiligen  Lambert 
(p.  448).  Aus  den  Aachener  Schätzen  nennt  er  das  Tuch,  wo- 
mit der  Herr  der  Apostel  Füße  trocknete  (p.  418),  das  Schweißtuch 
des  Grabes,  das  ja  auch  Trier  besitzen  will  (p.424),  ein  Hemd  der 
heiligen  Jungfrau  (p.  433),  das  Leichentuch,  das  unter  des  Täufers 
Leiche  gebreitet  wurde  (p.  438). 

Was  die  Kölner  Reliquien  betrifft,  so  nennt  Calvin  einen 
Nagel  vom  Kreuz  (p.  421),  den  Pilgerstab  Petri  (p.  440),  die  Leiber 
der  heiligen  drei  Könige  (p.  443  f  ■)>  das  Haupt  der  heiligen  Helena 
in  St.  Gereon  (p.  447),  das  Haupt  der  heiligen  Ursula  (p.  447)  "nd 
von  ihren  Begleiterinnen,  den  11  000  Jungfrauen,  „hundert  Karren 
von  Knochen"  (p.  447)- 

Ja  Calvin  weiß  sogar,  daß  wie  in  Trier,  so  auch  in  dem  kleinen 
Düren,  im  Jülichschen,  das  Haupt  der  heiligen  Anna  bewahrt  wird 
(p.  442),  desgleichen,  daß  dort  in  der  Abtei  der  Wilhelmiten,  eine 
dem  Zisterzienserorden  verwandte  Ordensgründung,  das  Haupt 
des  heiligen  Wilhelm  ist  (p.  448). 

Wahrhaft  bewundernswert  ist  Calvins  Gedächtnis,  das  eine  solche 
Arbeit  leisten  konnte.  Schon  von  seinen  Zeitgenossen  ist  dasselbe 
angestaunt  worden.     Darüber  sagt  Beza : x  „Sein  Gedächtnis  war 

1)  Vgl.  Stähelin  II  p.  412. 


j  gQ  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


von  der  wunderbarsten  Art,  und  sein  Geist  wurde  nie  geschwächt. 
Wen  er  auch  nur  ein  einziges  Mal  gesehen,  kannte  er  für  sein 
ganzes  Leben  und  erinnerte  sich  seiner  auf  der  Stelle,  wenn  er  ihn 
wieder  zu  Gesicht  bekam.  .  .  .  Nicht  nur  was  die  Genfer  Kirche 
anging,  wußte  er  bis  ins  kleinste  Detail  auswendig,  sondern  auch 
bei  Vorgängen  in  Frankreich,  Italien,  Deutschland,  auf  welche  die 
Rede  kam,  nannte  er  alsbald  die  betreffenden  Orte  und  Personen." 

Wahrhaft  kläglich  gegenüber  dieser  geistreichen  Schrift  nimmt 
sich  die  Gegenschrift  des  Kölner  Professors  aus.  Nicht  der  ge- 
ringste Versuch  einer  Entgegnung  auf  die  ernsten  Gedanken  des 
Reformators  über  Verehrung  Gottes  im  Geist  und  in  der  Wahrheit. 
Keine  Entgegnung  auf  die  Fülle  des  gebotenen  Tatsachenmaterials. 
Eunomius,  Vigilantius,  Huß,  Wicliff  und  zuletzt  Calvin,  so  beginnt 
er,  haben  alle  aus  einer  Quelle  das  unruhige  Wasser  der  Gottlosig- 
keit geschlürft.  Je  ein  Zitat  der  genannten  folgt.  „Jetzt  erübrigt 
es,  daß  wir  blicken  auf  die  wie  in  einer  Schlachtreihe  aufgestellten 
heiligsten  Führer  unseres  Glaubens."  Es  folgen  Zitate  aus  Hiero- 
nymus,  Ambrosius,  Augustin,  Basilius,  Eusebius,  Gregor.  Und 
der  Schluß  lautet:  „Du,  frommer  Leser,  der  du  gleichsam  als 
Schiedsrichter  zwischen  die  Parteien  gestellt  bist,  wähle.  .  .  . !" 

Mehr  wußte  Candidus  der  vernichtenden  Kritik  Calvins  nicht 
entgegenzustellen.  Interessant  ist  nur  eine  gelegentliche  Bemer- 
kung des  Büchleins,  aus  der  hervorgeht,  wie  auch  dieser  kleine 
Geist  sich  vor  der  gewaltigen  Größe  des  Reformators  beugen 
mußte.  Er  sagt  an  einer  Stelle:  „Hätte  er  sich  mit  den  wahren 
und  christlichen  Dingen  abgegeben,  so  wäre  das  zweifellos  zu 
unsterblichem  Ruhm,  was  vielleicht  für  die  Ewigkeit  mit  Schande 
verbunden  sein  wird." 

Eine  anderweitige  direkte  Polemik  aus  dieser  rheinischen  Theo- 
logengruppe ist  mir  nicht  bekannt.  Zu  erwähnen  sind  aber  hier 
noch  drei  andere  Männer,  die  freilich  nicht  in  den  Rheinlanden 
selbst  wirkten,  die  aber  zur  Verbreitung  calvinischer  Gedanken 
daselbst  dadurch  beitrugen,  daß  sie  ihre  Schriften  in  Köln  im 
Druck  erscheinen  ließen. 

Gleich  die  erste  Verteidigungsschrift  seiner  Prädestinations- 
lehre richtete  sich  gegen  einen  Rheinländer,  den  aus  Kempen  ge- 
bürtigen Albertus  Pighius.  Als  Propst  von  Utrecht  ließ  er  1542 
in    Köln    erscheinen:   „Über    den    freien   Willen,    gegen    Calvin",1 


1)    De   libero   arbitrio    contra    Calvinum.      Coloniae    1542. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  8  I 


gegen  welche  Schrift  Calvin  bereits  1543  sein  Werk  veröffentlichte: 
„Verteidigung  der  gesunden  und  rechtmäßigen  Lehre  von  der 
Knechtschaft  und  Befreiung  des  menschlichen  Willens  gegen  die 
Ränke  des  Albertus  Pighius."' x 

Mit  weiteren  wesentlichen  Stücken  der  Theologie  Calvins 
wurden  die  Rheinländer  bekannt  durch  die  Streitschrift  eines  ge- 
wissen R.  Smythacus,  welcher  1563  in  Köln  in  zweiter  Auflage  sein 
in  Löwen  1562  in  erster  Auflage  erschienenes  Werk  herausgab: 
„Über  die  Kindertaufe  gegen  J.  Calvin  und  über  die  überverdienst- 
lichen  Werke  und  das  Verdienst  des  Todes  Christi."2 

Endlich  wurden  die  Rheinländer  auf  Calvins  Bedeutung  als 
Exeget  hingewiesen  durch  Wilhelm  Damasus  von  Linda,  den 
Glaubensinquisitor  von  Holland  und  Friesland  und  darnach  Inhaber 
der  Bischofsstühle  von  Roermond  und  Gent.  Er  veröffentlichte 
1559  in  Köln  sein  Werk:  „Über  die  beste  Art  die  Schrift  zu  er- 
klären",3 das  sich  hauptsächlich  gegen  Erasmus,  Valla,  Robert 
Estienne  und  Calvin  richtete.4 

Den  Vertretern  dieser  kirchlich  papistischen  Richtung  standen 
gegenüber  die  Vertreter  einer  freisinnigen  nationalen  Richtung: 
ihr  Hauptvertreter  war  Georg  Cassander.'5  Er  war  von  Geburt 
Niederländer,  hat  aber  seit  1549  in  Köln  gelebt,  von  wo  aus  er  im 
Sommer,  abgesehen  von  größeren  Reisen,  meist  die  Städte  der 
Umgegend  besuchte :  Düsseldorf,  Xanten,  Duisburg,  Aachen,  Bonn. 
Cassanders  Streben  war  darauf  gerichtet,  zwischen  den  entstandenen 
kirchlichen  Gegensätzen  zu  vermitteln.  Treffend  hat  ihn  Baum0 
als  den  katholischen  Melanchthon  charakterisiert.  Seine  irenische 
Tätigkeit  war  auch  die  Veranlassung  seiner  Beziehungen  zu  Calvin. 

In  Frankreich  hatte  seit  dem  Jahre  1559  der  berühmte  fran- 
zösische  Jurist    Franciscus    Balduinus7    dem    Könige    Anton    von 


1)  Defensio  sanae  et  orthodoxae  doctrinae  de  Servitute  et  Kberatione 
humani  arbitrii  adversus  calumnias  Alberti  Pighii  Calw  Opp.  VI  p.  224 — 404. 
Über  den  Inhalt  dieser  Schriften,  den  hier  auseinanderzusetzen  zu  weit 
führen  würde,  vgl.  Stähelin  Bd.  II  p.  281  ff. 

2)  De  infantium  baptismo  contra  J.  Calvinum  ac  de  operibus  superero- 
gationis   et  merito   mortis   Christi.     Coloniae   1562.. 

3)  De  optimo  genere   interpretandi   scripturas. 

4)  Vgl.  Wetzer  und  Weite2  Bd.  VII  p.  2062. 

5)  Über  ihn  vgl.  Benrath  in  der  P.  R.  E. 3  III  p.  742  f.  Meuser  in 
Bd.  3  und  4  von  Dieringers  kath.  Zeitschrift.  Hartzheim:  Bibliotheca 
Coloniensis  p.  90  f.     Wolters:    Konrad  von  Heresbach  p.  154.    170  f. 

6)  Theodor   Beza   Bd.  II   p.  374.     Leipzig   1851. 

7)  Vgl.  Allg.  dtsch.  Biogr.  Bd.  II  p.  16.  Wetzer  und  Weite 2  Bd.  II 
p.  2017—2020.     Stähelin  II  p.  345  ff. 


j32  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 


Navarra  seine  Dienste  zu  einer  Vermittlung  zwischen  den  streiten- 
den Parteien  angeboten.  Balduinus  ist  ein  wunderbarer,  schwer 
verständlicher  Charakter.  Sein  früheres  vertrautes  Verhältnis  zu 
Calvin  war  durch  Balduinus'  Unlauterkeit  zum  Bruch  gekommen. 
Im  Auftrage  Anton  von  Navarras  reiste  er  jetzt  nach  Deutsch- 
land, um  dort  für  seine  Pläne  Freunde  zu  gewinnen.  Er  kannte 
bereits  Cassander  und  seine  Gedanken  und  war  schon  seit  1557 
mit  ihm  in  brieflichem  Verkehr.1  Ihn  veranlaßte  er  jetzt  zur 
Herausgabe  einer  kleinen  Schrift,  in  der  Cassander  seine  und  Bal- 
duinus' Grundgedanken  entwickelte.  Ohne  Angabe  von  Verfasser 
und  Druckort  erschien  sie  1561  in  Basel  unter  dem  Titel:  „Wie 
ein  frommer  und  wahrhaft  friedliebender  Mensch  in  den  zur  Zeit 
schwebenden  Religionszwisten  sich  halten  solle." 2  Diese  Schrift 
legte  Balduinus  1561  auf  dem  Rcligionsgespräch  zu  Poissy,  das 
eine  Einigung  der  kirchlichen  Parteien  in  Frankreich  erstrebte, 
vor.  Aber  bei  Katholiken  wie  Protestanten  fand  die  Schrift  nur 
Ablehnung.  Beza  sandte  sie  sofort  an  Calvin,3  damit  auch  sein 
einflußreiches  Wort  sich  gegen  diese  Tendenzen  erhöbe.  Noch 
war  Calvin  die  Autorschaft  Cassanders  unbekannt ;  Balduinus  hat 
er  im  Verdacht.4  Wohl  aber  wußte  er  bereits  über  Balduinus  Be- 
ziehungen zu  Cassander.  Sehr  verächtlich  schreibt  er  am  10.  Sep- 
tember 1561  an  Beza:5  „Jetzt  soll  er  mit  seinem  Cassander  irgend 
ein  Gift  kochen."  Aber  eine  Gegenschrift  kündet  er  bereits  in 
diesem  Briefe  an.  Und  sie  erschien  noch  im  gleichen  Jahre  unter 
dem  Titel :  „Antwort  an  einen  gewissen  wetterwendischen  Ver- 
mittler, der  unter  dem  Scheine  des  Friedestiftens  den  geraden  Lauf 
des  Evangeliums  in  Frankreich  aufzuhalten  sich  bemüht."6  Hier 
wies  Calvin  nach,  welche  prinzipiellen  Unterschiede  die  beiden 
Kirchen  trennten,  namentlich  in  der  Rechtfertigungslehre.  Auf 
diese  Schrift  erwiderte  Balduinus  in  einem  schmählichen  Pamphlet, 
in  dem  er  namentlich  Calvin  entwendete  Privatbriefe  gegen  ihn 
ausspielte,  während  Cassander  1562  eine  dogmatische  Erwiderung 
Pseudonym  erscheinen  ließ :  „Verteidigung  der  Tradition  der  alten 


1)  Vgl.  Meuser  in  Dieringers  kath.  Zeitschr.  II.  Jahrg.  Bd.  IV  p.  41  f. 

2)  De  officio  pii  ac  publicae  tranquillitatis  vere  amantis  viri  in  hoc 
religionis  dissiduo.  Gedruckt:  Cassandri  opera  omnia,  Parisiis  1616  p.  789 
bis  797. 

3)  Stähelin  II,  348. 

4)  Vgl.  Calv.  Opp.  XVIII  p.  684  Nr.  3513. 

5)  Calv.   Opp.   XVIII  p.  684  Nr.  3513. 

6)  Responsio  ad  versipellem  Mediatorem,  qui  pacificandi  specie  rectum 
Evangelii  cursum  in  Gallia   otnrumpere   molitus  est.    Calv.   Opp.    Bd.  IX. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg,  183 


Kirche  und  der  heiligen  Väter  gegen  die  unverschämten  Beschul- 
digungen Johann  Calvins."  l  Eine  Antwort  auf  letztere  Schrift  hat 
Calvin  nicht  gegeben.  Andere  katholische  Polemik  gegen  Calvin 
aus  den  Rheinlanden  ist  mir  nicht  bekannt. 

Zu  betrachten   sind  jetzt   noch  zwei   Zentren   des   rheinischen 
Humanismus,  auf  die  Calvin  natürlich  von  Wichtigkeit  sein  mußte : 
das  ist  zunächst  der  klevische  Hof,  und  das  ist  sodann  Monheim 
und  seine  Schule  in  Düsseldorf.     Was  den  Klever  Hof  betrifft,  so 
ist   bereits   oben  gesagt  worden,  daß   zwei   Söhne   des   berühmten 
Leibarztes  Herzog  Wilhelms  in  Genf  studierten.    Von  Konrad  von 
Heresbach,  dem  bedeutendsten  Humanisten  am  Klever  Hof,  besitzt 
der  bergische  Geschichtsverein  ein  Verzeichnis   seiner  Bibliothek. 
Auch   Calvins  Schriften   sind  dort  vertreten,     p.  37  ist  vermerkt: 
Catechismus  Genevensis  ecclesiae  Calvini.    p.  34  lesen  wir:  Calvini 
responsio    ad    Sadoletum.      Ferner:    Jo.    Calvini    Epistola    de    vita 
Christiani    hominis.2      Ferner:    de    praedestinatione,    sowie:    Acta 
Synodi  Tridentinae   cum  Antidoto   Calvini    und   ein   Titel,   dessen 
Entzifferung  mir  nicht  möglich   war.      Seine   Bibliothek   wies  also 
bereits  einen  guten  Bestand  aus  den  wichtigsten  und  bedeutendsten 
Werken    Calvins    auf.      Auch    der    Kanzler    Olisleger    beschäftigte 
sich  mit  der  Lektüre  Calvinscher  Schriften.     Noch  im  Todesjahre 
Calvins,  kurz  nach  dessen  Ende,  schrieb  er  an  Andreas   Masius : 
Ich  schicke  Dir  Calvins  französische  Kommentare  zum  Propheten 
Daniel.3    Diese  wenigen  zerstreuten  Notizen  weisen  auf  eine  nicht 
zu  unterschätzende  Hochachtung,  die  Calvin  in  den   Kreisen  des 
rheinischen  Humanismus  genoß.   Zu  einer  Propaganda  calvinischer 
Gedanken  seitens   dieser   Humanisten   ist   es   bekanntlich   nie    ge- 
kommen.    Ja  es  hat  nicht  an  Gegenmaßregeln  seitens  des  Klever 
Hofes    gefehlt,    besonders    seit    die    Abhängigkeit    von    seiten    des 
Kaisers  und  der  Jesuiten  eine  größere  wurde.     Am  10.  Juni   1560 
erließ  der  Herzog  für  Buchdrucker  und  Buchverkäufer  ein  Edikt, 
das  das   Feilhalten  oder  den  Verkauf  von  Schriften   und  Bildern 


1)  Traditiomtm  veteris  Ecclesiae  et  SS.  Patrum  Defensio  adversus 
Johannis  Calvini  importunas  criminationes,  auetore  Veranio  Modesto, 
Pacimontano.      Cassandri   opera  p.  798 — 879. 

2)  Das  ist  wohl  eine  etwas  unglückliche  Bezeichnung  für  die  Institutio, 
deren  6.  Kapitel  im  3.  Buch  die  Überschrift  hat:  De  vita  Christani  hominis. 

3)  Vgl.  M.  Lossen:  Brie'e  von  Andreas  Masius  und  seinen  Freunden. 
Leipzig  1886.  Publ.  der  Ges.  f.  rhein.  Geschichtskunde  Bd.  II  p.  359-  Die 
französische  Ausgabe  des  1561  lateinisch  erschienenen  Kommentars  ent- 
stand 1562. 


I  84  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

untersagte,  die  die  Partei  der  „Sakramentierer  und  Wiedertäufer" 
vertraten,  und  dieses  Edikt  wurde  erneut  am  25.  Februar  1562.1 

Eine  viel  wirksamere  Verbreitung  calvinischer  Gedanken  ging 
aus  von  dem  anderen  Zentrum  des  rheinischen  Humanismus,  von 
Düsseldorf.  Dort  bestand  das  blühende  Gymnasium  Johann  Mon- 
heims.  Für  Monheims  persönliche  Stellung  ist  die  wesentlichste 
Quelle  sein  bedeutendstes  Werk,  sein  Katechismus.  A.  Lang 
charakterisiert  ihn  folgendermaßen:2  „Sein  Lehrgespräch  in  elf 
Abschnitten  behandelt  die  cognitio  Dei  et  nostri  und  ist  vielfach 
aus  der  Institutio  Calvins  geschöpft,  doch  ist  gleichzeitig  auch 
Luthers  kleiner  Katechismus  benutzt  und  das  Streben  unverkenn- 
bar, nicht  bloß  zwischen  Genf  und  Wittenberg  zu  vermitteln,  son- 
dern auch  gewisse  katholische  Überlieferungen  festzuhalten."  Aber 
gerade  der  calvinische  Einschlag  in  seinem  Katechismus  rief  seitens 
der  Gegner  einen  Sturm  hervor  gegen  denselben.  Die  Kölner  und 
Löwener  Gelehrten,  sowie  Stanislaus  Hosius,  der  Wiener  Nuntius, 
reichten  Beschwerde  in  Rom  ein,  die  nicht  erfolglos  blieb.  Das 
Buch  kam  auf  den  Index.3  Daß  aber  seine  Schüler  durch  den  Ein- 
fluß calvinischer  Schriften  zum  Teil  zu  entschiedenen  Freunden 
Calvins  geworden,  dafür  zeugt  uns  zunächst  ein  schöner  Brief  eines 
Schülers  der  Monheimschen  Schule,  Carl  Fabricius,  an  Calvin 
selbst.4  Aus  Düsseldorf  war  er  gebürtig  und  hatte  die  Schule 
seiner  Heimatstadt  besucht.  Wie  er  selbst  mitteilt,  hatte  das 
Studium  der  heiligen  Schrift  und  der  Väter,  besonders  aber  auch 
das  Studium  der  Schriften  Bullingers  und  Calvins  die  Grundlagen 
seiner  Theologie  gelegt:  er  war  ein  begeisterter  Anhänger  Calvins 
geworden,  und  aus  seinen  Anschauungen  scheint  er  nicht  im  ge- 
ringsten einen  Hehl  gemacht  zu  haben.  Er  erregte  dadurch  die 
Mißbilligung  Wilhelms  von  Kleve  und  seines  Hofes,  und  ward  zur 
Auswanderung    aus    den    Rheinlanden    gezwungen.      Sein    Lehrer 


1)  Vgl.  L.  Keller:  Die  Gegenreformation  in  Westfalen  und  am  Nieder- 
rhein, Leipzig  1881,  Bd.  I  p.  92  und  95.  Publ.  aus  den  Königl.  Preuß.  Staats- 
archiven Bd.  9. 

2)  A.  Lang:  Der  Heidelberger  Katechismus  und  vier  verwandte 
Katechismen,  Leipzig  1907,  p.  LIX.  Quellenschriften  zur  Gesch.  d.  Pro- 
testantismus Bd.  III.  Über  Monheim  ist  besonders  zu  vergleichen  Simons 
in  P.  R.  E.3  XIII  p.  355  ff.  Eine  Neuausgabe  des  Katechismus  besorgte 
C.  H.  Sack.    Bonn  1847. 

3)  Vgl.  Lossen:  Briefe  von  Andreas  Masius  p.  334  fr.,  345.  J.  Hansen: 
Rhein.  Akten  zur  Gesch.  d.  Jesuitenordens  p.  349,  355.  Wolters:  K.  von 
Heresbach  p.  159  ff.  Fr..  H.  Reusch:  Der  Index  der  verbotenen  Bücher 
Bd.  I  p.  414  Anm.  3. 

4)  Vgl.  Calv.   Opp.   XVIII  p.  105— 108  Nr.  3213. 


Von  Dr.  Walter  Hollweg.  I  85 


Monheim  erwirkte  ihm  eine  Stellung-  als  Lehrer  in  der  Pfalz. 
Auch  von  dort  mußte  er  1559  weichen  infolge  eines  Streites  mit 
den  Lutheranern  über  die  Ubiquität.  Er  ging  nach  Straßburg 
und  erhielt  eine  Stellung  von  dort  in  Reichenweyer.1  Als  auch 
dort  die  Reaktion  ihn  bedrohte,  wandte  er  sich  an  Calvin  mit  der 
Bitte  um  eine  Stellung  in  Genf.  Auch  Petrus  Marboef,  ein 
Elsässischer  Geistlicher,  der  diese  Bitte  unterstützte,  betonte  be- 
sonders des  Fabricius  Eifer  und  seine  Begeisterung  für  Calvin.2 
Und  wie  dem  Fabricius  wird  es  noch  manchem  anderen  ergangen 
sein.  Dafür  haben  wir  noch  zwei  Zeugnisse.  1561  klagte  der 
päpstliche  Legat  Commendone  von  Köln  aus,  daß  die  Söhne  der  an- 
gesehensten Familien  nach  auswärts,  namentlich  auf  die  Düssel- 
dorfer Schule  geschickt  würden.  Gegen  500  Schüler  habe  diese, 
und  das  seien  alles  Häretiker.3  Ein  zweites  Zeugnis  ist  dies:  Als 
Kurfürst  Friedrich  III.  von  der  Pfalz  das  reformirte  Bekenntnis 
seit  1559  in  seinem  Lande  einführte,  da  brauchte  er  seine  Theo- 
logen nicht  aus  der  Schweiz  sich  suchen.  Dafür  sorgte  die  Mon- 
heimsche   Schule  in  Düsseldorf.4 

Wir   sehen,   auch   durch   seine   literarische   Arbeit   hat   Calvin 
einen  wichtigen  Einfluß  auf  die  Rheinlande  ausgeübt. 


Ich  glaube,  daß  meine  Ausführungen  das  dargetan  haben,  daß 
der  Einfluß  Calvins  auf  die  Rheinlande  bereits  zu  seinen  Lebzeiten 
ein  nicht  zu  unterschätzender  gewesen  ist.  Das  können  war  be- 
haupten, trotzdem  uns  lange  nicht  das  gesamte  Material,  das  für 
unsere  Frage  bedeutsam  wrar,  erhalten  ist.  Briefe  sind  z.  T.  ver- 
loren gegangen,  mündliche  Meldungen  haben  oft  die  Briefe  er- 
gänzt oder  auch  ersetzt.  Aber  dennoch  können  wir  seinen  Ein- 
fluß noch  als  einen  recht  bedeutenden  erkennen.  Gerade  in  den 
Zeiten,  wo  sich  reformirtes  Gemeindeleben  in  den  bedeutendsten 
Städten  der  Rheinlande  zu  regen  begann,  da  hat  er  eingegriffen 
mit  seinem  weisen  Rat,  aller  Engherzigkeit  gegenüber  zur  Nach- 
giebigkeit  gemahnt   und   mit   ganzem    Ernst   zum    Festhalten   am 


1)  Vgl.  T.  W.   Röhrich:  Gesch.   der   Ref.  im  Elsaß,  bes.  in  Straßburg, 
III.  Teil,  Straßburg  1832,  p.  218  f. 

2)  Calv.    Opp.    XVIII    p.    108— 113    Nr.  3214:    vgl.    Calvins    Antworten 
XVIII  p.   168 — 170  Nr.  3236  und  3237. 

3)  Vgl.  Reusch:  Der  Index  der  verbotenen  Bücher  Bd.  I  p.  4f4  Anm.  3. 

4)  Vgl.   Göbel:   Gesch.   des  christl.   Lebens   Bd.  I   p.  88. 


Iö6  Calvins  Beziehungen  zu  den  Rheinlanden. 

Bekenntnis  aufgefordert,  wo  die  Gemeinden  in  entscheidenden 
Fragen  wanken  wollten.  Von  den  verschiedensten  Seiten  lernten 
wir  Calvin  kennen :  als  Seelsorger,  als  Dogmatiker,  als  Organi- 
sator. Die  mannigfaltigen  Beziehungen,  die  ihn  in  Verbindung 
mit  den  Rheinlanden  brachten,  geben  in  der  Tat  ein  getreues 
Abbild  seines  Charakters. 

Wenn  diese  Zeilen  dazu  beitragen  sollten,  die  Wertschätzung 
und  Achtung  des  leider  noch  so  viel  verkannten  Reformators  auch 
in  den  Rheinlanden  zu  heben  und  zu  stärken,  dann  würde  der 
Verfasser  dieses  Artikels  seine  Mühe  reichlich  belohnt  sehen. 


Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins 
von  der  Bulse. 

Von 

Lic.  theol.  H.  Strathrnann. 


Der  Lehre  Calvins  von  der  Buße  ist  in  der  älteren  dogmen- 
geschichtlichen und  verwandten  Literatur  keine  besondere  Auf- 
merksamkeit gewidmet  worden.  Wird  die  Frage  nach  der  Buß- 
lehre überhaupt  gestellt,  so  gelten  die  Gedanken  der  großen  Re- 
formatoren über  diesen  Punkt  zumeist  ohne  weiteres  als  einheitlich. 
Daß  Calvin  etwas  anderes  unter  der  Buße  versteht,  als  Luther  und 
die  lutherische  Theologie,  bemerkte  zuerst  Möhler.1  Denn  nach 
ihm  haben  zwar  die  Reformierten  die  lutherische  Zweiteilung  der 
Buße  in  contritio  und  fides  anerkannt,  jedoch  dafür  mortificatio 
und  vivificatio  gesetzt;  und  zwar  verstanden  sie  unter  jener  das 
Ablegen  des  alten,  unter  dieser  das  Anlegen  des  neuen  Menschen, 
„also  etwas  bedeutend  anderes  als  unter  dem  lutherischen  contritio 
und  fides". 

Demnach  mußte  auch  die  Stellung  der  Buße  zum  Glauben  eine 
andere  sein  als  in  der  lutherischen  Theologie.  Die  Buße  geht  dem 
Glauben  nicht  vorher;  sie  befaßt  ihn  auch  nicht  unter  sich  als 
einen  Teil;  sie  ist  die  auf  Grund  des  Glaubens  sich  vollziehende 
Neugestaltung  des  christlichen  Lebens.  Während  daher  in  der 
lutherischen  Theologie  die  poenitentia  rein  oder  vorwiegend  passiv 
gefaßt  wird,  trägt  sie  bei  Calvin  aktiven  Charakter.2 

Die  einen  fanden  dann,  daß  dieser  aktive  Charakter  der  Buße 
in  der  Selbstverleugnung,  in  der  Askese,  in  geradezu  mönchischer 


i)   Möhler,  Symbolik   1828  p.  218  Anm.  2. 

2)  Schneckenburger,  Vergleichende  Darstellung  usw.,  herausgegeben 
von  Güder,  1855.  Teil  2,  p.  117.  —  Schmidt,  Handbuch  der  Symbolik.  Berlin 
1897,  p.  437  f.  —   K.  Müller,  Symbolik,   Erlangen   1896,  p.  486. 


Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


Weltverneinung  sich  betätige,1  während  nach  dem  Urteil  anderer 
gerade  die  Absicht  auf  positive  Weltüberwindung,  auf  Welt- 
beherrschung der  ganzen  calvinischen  Sittlichkeit  das  Gepräge 
gibt.  ^ 

Ferner  hat  die  ausgesprochen  aktive  Tendenz  der  calvinischen 
Sittlichkeit,  der  calvinischen  Buße  in  Verbindung  mit  der  eigen- 
tümlichen Stellung  der  Rechtfertigungslehre  in  dem  Aufbau  der 
Institutio  3  zu  der  Meinung  geführt,  daß  sich  die  reformierte  Lehre 
von  der  lutherischen  unter  anderem  spezifisch  dadurch  unterscheide, 
daß  diese  die  Rechtfertigung  als  synthetisches,  jene  als  analytisches 
Urteil,  als  notwendige  Konsequenz  der  unio  cum  Christo  dar- 
stelle.4—  Gegen  diese  Auffassung  hat  sich  dann  heftigster  Wider- 
spruch erhoben.  Daß  nach  Calvin  die  sündenvergebende  Gnade 
der  wiedergebärenden  ganz  im  Sinne  der  Lutheraner  überzuordnen 
sei,  unterliege  keinem  Zweifel.5  Von  anderer  Seite  aber  hören  wir 
wieder,  wenn  schon  nicht  die  objektive  Rechtfertigung,  so  ergebe 
sich  doch  nach  Calvin  das  subjektive  Rechtfertigungsbewußtsein 
aus  dem  neuen  Gehorsam  der  christlichen  Buße.  Man  habe  aus 
der  Lebenserneuerung,  aus  der  poenitentia,  seine  Rechtfertigung 
zu  erschließen. 6  So  finden  wir  in  der  einschlägigen  Literatur  über 
die  Bußlehre  Calvins  und  das  dazu  Gehörige  die  verschiedensten 
Auffassungen  und  Urteile. 

Indessen  —  diese  beziehen  sich  durchweg  auf  die  spätere  Buß- 
lehre Calvins,  wie  sie  z.  B.  in  der  Institutio  seit  der  Ausgabe  von 
1539  sich  findet.  Die  frühere  Gestalt  seiner  Bußlehre  wird  davon 
direkt  nicht  berührt. 

Die  theologischen  Anschauungen  Calvins  nämlich  haben  sich, 
seitdem  er  sich  einmal  der  Reformation  angeschlossen  hatte,  im 
ganzen  zwar  so  gut  wie  gar  nicht  geändert.     Gewaltig  ist  die  In- 


1)  Lobstein,  „Die  Ethik  Calvins",  Straßburg  1877,  Kap.  VI.  —  Lob- 
stein, ,,Z.  evang.  Lebensideal  in  seiner  luther.  und  ref.  Ausprägung",  Ab- 
schnitt 4  (Theol.  Abhandlungen,  H.  Holtzmann  gewidmet,  Tübingen  1902). 
—  M.  Schulze,  Meditatio  futurae  vitae  etc.  St.  z.  G.  d.  Th.  u.  K.  1901 
p.  12.  —  Ders.:    Calvins  Jenseitschristentum.     Görlitz    1902   p.  30. 

2)  Tröltsch,  Protest.  Christentum  und  Kirche  in  d.  Neuzeit.  Kultur 
d.   Gegenwart  I,  IV,  1  p.  356. 

3)  In  Kap.  11  des  3.  Buches,  nach  der  Behandlung  der  fides  in 
Kap.  2  und  der  Buße  in  Kap.  3 — 10. 

4)  Schneckenburger  a.  a.  O.,   Teil   2  §17,  bes.    p.  23,   55  f. 

5)  Ritschi,  Rechtfertigung  und  Versöhnung,  I2  p.  210 — 12.  Cf.  Müller, 
Symbolik  p.  463. 

6)  Lipsius,  Luthers   Lehre  von  der   Buße,    Braunschweig   1896  p.  148  f. 


Von  Lic.  theol.  II.  Strathmann. 


IÖ9 


stitutio  vom  Jahre  1536,  das  kurze  ; Büchlein,  im  Laufe  der  Jahre 
angewachsen.  Der  Inhalt  ist  viel  reicher  geworden.  Neue  Pro- 
bleme sind  behandelt.  Die  Gedanken  sind  vielfach  schärfer  for- 
muliert, gegenüber  gegnerischen  Anschauungen  ausführlich  be- 
gründet. Eigentlich  sachliche  Wandlungen  sind  jedoch  kaum  fest- 
zustellen. 

Gerade  in  der  Bußlehre  jedoch  hat  man  eine  solche  zu  er- 
kennen gemeint.  Köstlin  zuerst  hat  darauf  hingewiesen :  Die  Aus- 
gabe von  1539  steile  das  Verhältnis  von  Buße  und  Glaube  so  dar, 
daß  jene  aus  diesem  hervorgehe,  ohne  doch  der  Zeit  nach  von  ihm 
getrennt  zu  sein.  Die  Ausgabe  von  1536  lege  dagegen  teilweise 
die  entgegengesetzte  Auffassung  nahe,  als  ob  die  poenitentia  der 
fides  voranginge.  Mit  Bestimmtheit  sei  Calvin  auf  das  Verhältnis 
beider  jedoch  nicht  eingegangen.1 

A.  Ritschi  -  hat  dann  die  von  Köstlin  mit  Vorsicht  und  Vor- 
behalt vertretene  Annahme  mit  aller  Bestimmtheit  geltend  gemacht. 
Calvin  habe  1536,  wenn  auch  mit  einer  gewissen  Unentschieden- 
heit,  die  poenitentia  in  dem  bloß  negativen  Sinn  der  mortificatio 
gefaßt,  die  —  wenn  echt  und  wirksam  —  ihren  Abschluß  in  der 
fiducia  erga  dei  promissiones  finde.  Und  zwar  leite  Calvin,  anders 
als  Luther  und  Melanchthon  (wenigstens  in  späterer  Zeit),  die 
erfolgreiche  Buße  nicht  ab  von  der  Predigt  des  Gesetzes,  sondern 
von  der  des  Evangeliums,  sofern  dieses  die  Kreuzigung  unseres 
alten  Menschen  gemäß  dem  Kreuzestode  Christi  fordere.  Die 
Buße  erstrecke  sich  sodann  über  das  ganze  Leben.  Daß  trotzdem 
als  Motiv  nur  die  Furcht  Gottes  in  Betracht  komme,  erkläre  sich 
aus  der  empirischen  Erörterung  der  poenitentia.  Denn  Calvin 
gehe  aus  von  der  poenitentia  dessen,  der  sich  erst  bekehren  will, 
und  dehne  daraufhin  dann  die  Aufgabe  der  poenitentia  auf  das 
ganze  Leben  aus,  ohne  zu  beachten,  daß  nun  auch  das  subjektive 
Motiv  sich  wandle. 

Seit  1539  biete  jedoch  Calvin  an  Stelle  der  empirischen  Dar- 
stellung der  Buße  eine  prinzipmäßig  geordnete.  Die  Buße  sei  ihm 
jetzt  tota  ad  deum  conversio.  Der  Glaube  erscheine  als  Voraus- 
setzung der  poenitentia,  jedoch  zunächst  nur  in  dem  Sinn,  daß  aus 
ihm  sich  die  ernstliche  Furcht  vor  Gott  und  speziell  vor  seinem 
Gericht  ergibt.  Daraus  erwüchsen  dann  Erkenntnis  und  Haß  der 
Sünde.     Die   Entwicklung  finde  jedoch   erst  durch   die   Teilnahme 


1)  Studien  und   Kritiken,   1868  p.  460  ff. 

2)  Rechtfertigung   und   Versöhnung.    I  2   p.  203  ff.,    210 — 16. 


jqO  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

an  Christus  im  speziellen  Heilsglauben  das  zureichende  Motiv  zur 
Vernichtung  des  alten  Menschen  und  das  wirksame  Motiv  der 
Gemütsberuhigung  und  des  Eifers  um  Lebenserneuerung.  Die 
wirkliche  Abkehr  des  Gemütes  und  des  Willens  von  der  Sünde 
—  also  die  Buße  —  werde  nicht  schon  durch  die  Spiegelung  im 
Gesetz,  sondern  erst  durch  den  Zug  zu  dem  in  Christo  erkannten 
sittlichen  Ideal  erreicht.  Darin  nun,  daß  Calvin  den  zureichenden 
Grund  der  poenitentia  als  der  Gesamtaufgabe  des  christlichen 
Lebens  in  dem  speziellen  Glauben  an  die  Gnade  Gottes  in  Christo 
sehe,  —  was  auch  schon  aus  der  Stoffanordnung  im  Eingang  des 
dritten  Buches  zu  erkennen  sei  —  komme  die  Unterordnung  der 
individuellen  Heilsordnung  unter  den  Begriff  der  Kirche  zum  Aus- 
druck. Denn  der  Beginn  der  poenitentia  des  einzelnen  werde 
keineswegs  immer  durch  die  Erscheinungen  der  Furcht  vor  dem 
Gericht  und  der  Gewissensschrecken  charakterisiert.  —  Die  Voraus- 
setzung dieser  Auffassung  Ritschis  ist  die  Gleichsetzung  der  insitio 
in  Christum,  die  sich  psychologisch  in  der  Form  der  fides  vollzieht, 
mit  der  Aufnahme  in  die  Gemeinde.  Auf  Grund  dieser  tritt  dann 
die  Buße  ein.  Das  ist  das  Normale.  Daß  man  dagegen  vor  der 
Teilnahme  an  Christus  durch  die  Furcht  vor  Gott  und  seinem 
Gericht  geänstigt  wird,  ist  nicht  das  Regelmäßige. 

Was  Ritschi  betont,  ist  demnach  folgendes : 

i.  1539  ist  die  poenitentia  nicht  nur  —  wie  1536  —  negativ 
mortificatio,  sondern  positiv  tota  conversio  ad  deum.  Hierbei 
bilden  die  Abkehr  des  Willens  von  der  Sünde  und  seine  Hinkehr 
zum  Guten  die  Hauptmomente. 

2.  Während  daher  1536  die  poenitentia  dem  christlichen  Glau- 
ben vorangeht,  folgt  sie  jetzt  nicht  nur  dem  allgemeinen  Glauben 
(timor  dei  als  des  Gesetzgebers),  sondern  setzt  auch  den  speziellen 
Glauben  und  in  ihm  den  Zug  zu  dem  in  Christo  erkannten  sitt- 
lichen Ideal  voraus. 

3.  Damit  ist  die  —  genuin  reformatorische  —  Überordnung 
der  Kirche  über  die  individuelle  Heilsordnung  festgehalten,  respek- 
tive gegenüber  1536  neu  gewonnen. 

Die  Ritschlsche  Zeichnung  der  Entwickelung  der  calvinischen 
Bußlehre  hat  sich  Lobstein1  in  allen  Punkten  angeeignet.  Auch 
Lipsius  2  und  Sieffert 3  teilen  seine  Auffassung  der  früheren  Buß- 

1)  Die   Ethik   Calvins,    Straßburg   1877. 

2)  a.  a.  O. 

3)  Die  neuesten  theol.  Forschungen  über  Buße  und  Glaube  in  ..Halte 
was  Du  hast",  1896  p.  496  ff. 


Von  Lic.  theol.  II.  Strathmann.  ^9^ 


lehre  des  Reformators.  Dagegen  habe  Ritschi  dessen  spätere 
Bußlehre  nicht  richtig  aufgefaßt.  Calvin  habe  keineswegs  die 
insitio  in  Christum  mit  der  Aufnahme  in  die  Gemeinde  gleich- 
gesetzt. Von  Überordnung  der  Kirche  über  die  individuelle  Heils- 
ordnung sei  keine  Rede.  Und  die  Wandlung  in  der  Bußlehre 
Calvins,  so  bemerkt  speziell  Sicffert,  sei  weniger  eine  solche  der 
sachlichen  Anschauung,  als  vielmehr  lediglich  des  Ausdrucks.  Denn 
auch  nach  dem  späteren  Calvin  gelange  man  nur  durch  die  Ge- 
wissenserschütterung hin  zum  Glauben.  Daß  immerhin  eine  Wand- 
lung in  der  Lehre  Calvins  von  der  poenitentia  vorliege,  nimmt 
auch  Sieffert  an. 

Fragen  wir  demnach  nach  der  Entstehung  der  Lehre  Calvins 
von  der  Buße,  so  präzisiert  sich  die  Aufgabe  dahin,  die  Entstehung 
der  ursprünglichen  Bußlehre  Calvins  zu  untersuchen.  Welche  Ent- 
wicklung sie  später  durchgemacht  hat,  ist  eine  Frage  für  sich.1 
Die  Aufgabe  zerlegt  sich  von  selbst  in  zwei  Teile.  Zunächst  ist 
die  ursprüngliche  Lehre  des  Reformators  von  der  poenitentia  zu 
ermitteln,   demnächst    ihrer   Genesis   nachzuspüren. 

Als  Quelle  für  den  ersten  Teil  der  Aufgabe  kommt  lediglich 
die  Institutio  vom  Jahre  1536  in  Betracht. 

I. 

Die  ursprüngliche  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

Die  erste  prinzipielle  Auseinandersetzung  Calvins  über  die 
Lehre  von  der  Buße  findet  sich  in  Kap.  V  der  Institutio  vom  Jahre 
1536  De  falsis  sacramentis.  Calvin  bespricht  hier  zunächst,  wenn 
auch  nicht  ohne  Anerkennung,  so  im  ganzen  doch  ablehnend,  zwei 
von  anderer  Seite  vertretene  Auffassungen  der  Buße.  Op.  Calv.  I 
p.  147  f.: 

1.  Docti  quidam  viri  haben  in  dem  Bemühen  um  schlichte 
und  lautere  Schriftgemäßheit  in  der  poenitentia  zwei  Teile  unter- 
schieden:  mortificatio  und  vivificatio.  Unter  jener  verstehen  sie 
den  animae  dolor  ac  terror  ex  agnitione  peccati  et  sensu  iudicii 
dei  coneeptus.  Wo  nämlich  jemand  seine  Sünde  erkannt  hat.  tum 
peccatum  odisse  et  execrari  ineipit,  tum  sibi  ex  animo  displicet, 
miserum   se   ac  perditum   fatetur   et   alium    se   esse   optat.     Dazu 


1)  Die  spätere  Bußlehre  Calvins  ist  geschildert  in  den  Theol.  Stud. 
u.  Krit.  1909,  3.  —  Die  Einleitung  zu  der  dortigen  Untersuchung  berührt 
sich,  so  weit  es  sich  darum  handelt,  den  Stand  der  Forschung  zu  zeichnen, 
mehrfach  mit   der  vorliegenden. 


IQ 2  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

kommt  dann  noch  infolge  des  sensus  iudicii  dei,  der  mit  jenem 
unmittelbar  gegeben  ist,  daß  der  Mensch  vere  perculus  ac  con- 
sternatus  iacet  .  .  tremit,  animum  despondet,  desperat.  Dieses 
alles  beschreibe  die  prior  poenitentiae  pars,  die  mortificatio,  die 
man  gemeiniglich  contritio  nenne.  Die  vivificatio  sei  dagegen  die 
consolatio,  quae  ex  fide  nascitur.  Da  richte  sich  der  Mensch  aus 
seiner  Gewissensnot  und  dem  Schrecken  vor  Gott  im  Blick  auf  die 
Barmherzigkeit  Gottes  in  Christo  auf  und  kehre  wie  aus  dem  Tode 
ins  Leben  zurück.  —  Poenitentia  ist  hier  also  gleich  conversio,  die 
zweierlei  umfaßt:  einmal  Haß  gegen  die  Sünde,  Schrecken  des  Ge- 
wissens, Verzweiflung;  sodann  das  Durchdringen  zur  Gewißheit 
der  Vergebung  im  Glauben. 

2.  Diese  Anschauung  lehnt  Calvin  ab,  ebenso  aber  auch  die 
einer  zweiten  Gruppe,  die  er  einfach  mit  alii  bezeichnet.  Die  ,,alii" 
glauben  auf  Grund  der  Beobachtung,  daß  die  Schrift  in  verschie- 
denem Sinne  das  Wort  „Buße"  gebrauche,  zwei  Formen  der  Buße 
unterscheiden  zu  sollen :  poenitentia  legalis  und  poenitentia  evan- 
gelica.  Bei  jener  bleibt  der  Sünder  peccati  cauterio  vulneratus  et 
terrore  irae  dei  attritus,  in  der  perturbatio  hängen.  So  Kain,  Saul, 
Judas.  Diese  poenitentia  sei  aber  nur  quoddam  inferorum  atrium, 
quo  iam  in  hac  vita  ingressi,,  coeperunt  a  facie  irae  majestatis  dei 
poenas  dare.  Die  zweite  Art  der  Buße  liege  bei  denen  vor,  qui 
peccati  aculeo  apud  se  exulcerati,  fiducia  autem  misericordiae  dei 
recreati,  ad  dominum  conversi  sunt.  So  erschrak  Ezechias  in- 
folge der  Todesansage,  schöpfte  aber  dann  im  Gebet  aus  dem 
Blick  auf  die  Güte  Gottes  neue  Zuversicht,  2.  Kön.  20.  —  Was  hier 
evangelische  Buße  genannt  wird,  würde  sich  also  mit  dem  decken, 
was  die  docti  viri  schlechtweg  Buße  nannten.  Sie  wäre  soviel  wie 
Bekehrung.  Der  Unterschied  läge  nur  darin,  daß  neben  die  evange- 
lische Buße  noch  eine  andere  gestellt  wird,  die  aber  resultatlos  ist. 

Dem  gegenüber  bemerkt  Calvin,  diese  Beobachtungen  seien 
zwar  sachlich  alle  zutreffend.  Doch  müsse  nach  der  Schrift  die 
poenitentia  anders  gefaßt  werden.  Der  Glaube  sei  nicht  mit  unter 
die  Buße  zu  rechnen.  Denn  Akt.  20,  21  zähle  Paulus  poenitentia 
und  fides  als  zwei  verschiedene  Dinge  auf.  Zwar  könne  wahre 
Buße  nicht  bestehen  ohne  Glauben  (citra  fidem).  Verum,  etsi 
separari  non  possunt,  distingui  tarnen  debent.  Wie  Glaube  nicht 
sein  kann  ohne  Hoffnung,  und  doch  beides  verschiedene  Dinge  sind, 
so  poenitentia  et  fides,  quamquam  perpetuo  inter  se  vinculo  cohae- 
rent,  magis  tarnen  coniungendae  sunt,  quam  confundendae. 


Von  I-ic.  theol.   I[.  Strathmann.  IQ3 


Darauf   entwickelt    Calvin    positiv    seine    eigene    Anschauung. 

Er  definiert  die  poenitentia  als  carnis  nostrae  veterisque  hominis 
mortificatio,  quam  in  nobis  efficit  verus  ac  sincerus  timor  dei 
(p.  149).  Was  Calvin  dabei  unter  mortificatio  versteht,  zeigt  der 
Zusammenhang.  Wenn  Propheten  und  Apostel  den  Menschen 
Buße  predigten,  so  wollten  sie,  ut  peccatis  suis  confusi  et  timore 
dei  compuncti  coram  domino  prociderent  et  humiliarentur  seque 
in  viam  reciperent  ac  resipiscerent.  So  gebrauchen  sie  poeniten- 
tiam  agere  und  converti  oder  reverti  ad  deum  promiscue.  Und 
,,der  Buße  würdige  Früchte  bringen"  bedeutet:  so  leben,  wie  es 
dieser  resipiscentia  und  conversio  entspricht.  —  Wenn  Johannes 
Buße  predigt,  so  mahnt  er,  ut  se  peccatores  agnoscerent  suaque 
omnia  coram  deo  damnata,  quo  carnis  suae  mortificationem  ac 
novam  in  Spiritu  regenerationem  totis  votis  expeterent ;  .  .  ut  pecca- 
torum  mole  pressi  et  fatigati  ad  dominum  se  converterent.  —  Buße 
im  Namen  Christi  wird  nach  Lk.  24,  46  f.  gepredigt,  cum  per  evan- 
gelii  doctrinam  audiunt  homines,  suos  affectus,  sua  studia  corrupta 
et  vitiosa  esse.  Daher  sei  es  nötig,  ut  renascantur,  si  volunt 
ingredi  in  regnum  dei.  —  Hier  erscheint  überall  als  das  Wesent- 
liche in  der  poenitentia  das  Erschrecken  des  Gewissens  über  die 
Sünde  angesichts  des  Urteils  Gottes.  Damit  verbunden  ist  das 
ernste  Verlangen  nach  sittlicher  Erneuerung.  Doch  ruht  auf  jenem 
der  Xachdruck.  Der  zusammenfassende  Ausdruck  ist  mortificatio : 
uno  ergo  verbo  poenitentiam  interpretor,  mortificationem  (p.  150). 
Von  dieser  Buße  sagt  Calvin,  sie  öffne  primum  ad  Christi  Cogni- 
tionen! ingressum,  qui  nullis  se  exhibet.  nisi  miseris  et  afflictis 
peccatoribus.  Diese  Buße  ist  daher  Voraussetzung  des  Glaubens. 
Verwandten  Gedanken  begegnen  wir  schon  in  cap.  I,  de  lege : 
Das  Gesetz  bewirkt  die  Erkenntnis,  omnes  nos  maledictione,  iudicio, 
morte  demum  aeterna  dignos  esse.  Postquam  in  hanc  humilitatem 
ac  submissionem  descendimus,  tum  nobis  dominus  affulget  seque 
,  .  indulgentem  exhibet  (p.  30).  Den  Zustand  des  natürlichen  Men- 
schen charakterisieren  die  Wendungen:  nondum  se  prosternere  et 
deicere  deoque  omnia  dare ;  .  .  nondum  humilitas  (p.  45).  Die 
Vernichtung  dieser  arrogantia  und  ambitio  (p.  29),  des  stolide 
adversus  deum  superbire  oder  gloriari  (p.  45)  ist  die  Voraussetzung 
der  Heilserfahrung.  Denn  nunquam  deo  satis  confidimus,  nisi  de 
•nobis  penitus  diffisi  (p.  48).  Auf  diese  dem  Glauben  vorausgehende 
Erkenntnis  der  eigenen  Nichtigkeit  wendet  Calvin  auch  hier  den 
Namen  poenitentia  an  (p.  31):  Weil  wir  uns  diese  nostri  nostraeque 

Calvinstudien.  '3 


194 


Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


inopiae  et  calamitatis  cognitio  nicht  selbst  geben  können,  eben- 
sowenig wie  die  fides,  quae  nobis  gustum  praebet  divinae  bonitatis, 
rogandus  est  deus,  ut  non  simulata  poenitentia  inillamnostri, 
et  certa  fide  in  h  a  n  c  suae  mansuetudinis  notitiam  nos 
adducat.  —  Ebenso  ist  p.  177  mit  poenitentia  diese  dem  Glauben 
vorausgehende  Zerknirschung  gemeint:  Aptissime  .  .  dixeris,  si 
baptismum  vocaveris  poenitentiae  sacramentum,  cum  in  conso- 
lationem  iis  datus  sit,  qui  poenitentiam  meditantur.  —  Die  Buße 
steht  hier  lediglich  im  Gegensatz  zu  der  consolatio,  die  aus  der 
fides  erwächst. 

Jedoch  ist  schon  in  dieser  Ausgabe  der  Institutio  vom  Jahre 
1536  die  poenitentia  keineswegs  auf  die  dem  Glauben  voraus- 
gehende Selbsterkenntnis  und  den  mit  ihr  verbundenen  Sünden- 
schmerz beschränkt.  Vielmehr  kennt  Calvin  schon  hier  eine  poeni- 
tentia, die  ihrerseits  den  Glauben  voraussetzt.  Dieses  tritt  bereits 
in  dem  speziell  der  Lehre  von  der  Buße  gewidmeten  Abschnitt, 
p.  147  ff.,  von  dem  wir  ausgingen,  hervor.  Daß  hier  in  den  Aus- 
sagen über  die  Buße  ein  reges  Interesse  für  die  sittliche  Erneue- 
rung hervortritt,  erhellt  schon  aus  den  Ausdrücken  in  viam  se 
recipere,  resipiscentia,  fructus  poenitentiae;  noch  deutlicher  aus 
der  Umschreibung  des  Substantivs  poenitentia  durch  das  Verbum 
renasci:  man  predigt  Buße,  indem  man  die  Notwendigkeit  des 
renasci  einschärft.  Dieses  renasci  ist  ethisch  gemeint,  wie  die 
folgenden  Sätze  beweisen.  Daß  es  zur  Beschreibung  der  poeni- 
tentia, welche  mortificatio  ist,  dient,  geht  daraus  hervor,  daß  der 
Vorgang  des  renasci  mit  lauter  Ausdrücken  geschildert  wird,  die 
das  Sterben  bezeichnen.  Leicht  lassen  sie  sich  unter  mortificatio 
zusammenfassen.  Daß  nun  Calvin  bei  dieser  als  renasci  gefaßten 
poenitentia  tatsächlich  den  Glauben  als  Voraussetzung  annimmt, 
geht  daraus  hervor,  daß  das  renasci  erst  zustande  kommt  durch 
die  participatio  in  Christo,  in  cuius  morte  emoriuntur  pravae  cupi- 
ditates,  in  cuius  cruce  vetus  homo  noster  crucifigitur,  in  cuius 
sepulcro  sepelitur  corpus  peccati.1  Die  participatio  in  Christo  aber 
vollzieht  sich  natürlich  durch  den  Glauben.  Die  Richtigkeit  dieser' 
Auffassung  ergibt  sich  auch  aus  der  folgenden,  demselben  Zu- 
sammenhang (p.  150)   entnommenen,   Stelle:   Illum   arbitror  pluri- 


1)  Daß  diese  Auffassung  des  zitierten  Satzes  die  richtige  ist,  geht 
auch  daraus  hervor,  daß  er  1539  (I  694)  aus  diesem  Zusammenhang  ent- 
fernt ist,  weil  er  gegenüber  dem  Vorhergehenden  wirklich  etwas  Neues, 
einträgt. 


Vod  Lic.  theo!.   II.  Stratbmann. 


105 


mum  profccissc,  qui  sibi  plurimum  displicere  didicit;  non  ut  in  hoc 
luto  haereat,  sed  magis  ut  ad  deum  festinet  et  suspiret,  ut  morti 
Christi  insertus,  poenitentiam  meditetur.  Die  Gegenüberstellung 
von  in  luto  haerere  und  poenitentiam  meditari  zeigt,  daß  bei 
diesem  an  die  Lebenserneuerung  gedacht  ist,  nicht  etwa  an  ein 
durch  die  Teilnahme  an  Christus  vertieftes  Sündengefühl.  Hier 
schwebt  Calvin  über  dieses  Sündengefühl  hinaus  immer  bereits 
auch  die   wirkliche   Korrektur  des   sittlichen   Lebens   vor. 

Noch  deutlicher  ist  das,  was  Calvin  über  die  Buße  in  dem 
cap.  de  sacramentis  bei  der  Lehre  von  der  Taufe,  die  er  poeni- 
tentiae  sacramentnm  nennt  (p.  177),  sagt.  Die  Taufe  hat,  ab- 
gesehen von  der  Vergewisserung,  wir  seien  so  mit  Christus  ver- 
einigt, ut  omnium  eins  bonorum  participes  simus  (p.  114),  nach 
Calvin  für  den  Glauben  eine  doppelte  Bedeutung.  Einmal  ist  sie 
uns  gegeben  als  ein  symbolnm  nostrac  purgationis  ac  documentum. 
Sie  ist  wie  ein  Bote,  durch  den  uns  Gott  versichert,  peccata  nostra 
omnia  sie  deleta  .  .  esse,  ne  unquam  in  conspectum  suum  veniant 
(op.  C.  I  110).  Sodann  aber  zeigt  sie  uns  nostram  in  Christo  morti- 
ficationem  .  .  et  novam  in  eo  vitam  (p.  in).  Qui  baptismum  ea 
qua  debent  fide  aeeipiunt,  vere  efficaciam  mortis  Christi  sentiunt 
in  mortificatione  carnis  suae,  simul  etiam  resurrectionis  in  vivi- 
ficatione  spiritus.  In  diesem  Sinn  heißt  die  Taufe  lavacrum  rege- 
nerationis  et  renovationis  (Tit.  3,  5).  So  tauften  Johannes  und  die 
Apostel  mit  dem  baptismus  poenitentiae  in  remissionem  peccato- 
rum,  poenitentiae  verbo  huius  modi  regenerationem 
intelligentes.  —  Diese  regeneratio,  diese  poenitentia  folgt  aus  der 
Teilnahme  an  Christus,  setzt  also  den  Glauben  voraus.  Der  Aus- 
druck ist  beschränkt  auf  Erlebnisse  dessen,  der  schon  Christ  ist. 
Poenitentia  gewinnt  geradezu  die  Bedeutung  des  neuen  christlich- 
sittlichen Lebens.  Der  Ausdruck  mortificatio  bezeichnet  hier  nicht 
bloß  den  Sündenschmerz,  sondern  die  reale  Loslösimg  aus  dem 
Dienst  der  Sünde,  wie  auch  p.  37  in  der  Auslegung  zum  vierten 
Gebot :  Si  verbum  illud  toto  animo  imbibimus  ac  per  ipsum  morti- 
ficamus  hominis  veteris  opera  etc. ;  cf.  auch  p.  49.  Freilich  wird 
hier  wie  sonst  in  dieser  Ausgabe  bei  Beschreibung  der  poenitentia 
der  rein  negative  Ausdruck  mortificatio  bevorzugt.  Aber 
er  ist  an  dieser  Stelle  ergänzt  durch  den  positiven  vivificatio  und 
sogar  ersetzt  durch  regeneratio.  Buße  bezeichnet  denselben  Vor- 
gang wie  Wiedergeburt,  und  zwar  nach  seinen  beiden  Seiten. 
positiv  so  gut  wie  negativ,  obschon  jenes  im  ganzen  hinter  diesem 

13* 


jq5  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

zurücktritt.  Somit  ist  schließlich  die  gesamte  positive  christliche 
Sittlichkeit  hier   in   Betracht  zu   ziehen. 

Nun  ist  zwar  der  Gedanke,  daß  die  positive  Neugestaltung 
des  christlichen  Lebens  zur  poenitentia  gehöre,  1536  noch  nicht 
herausgearbeitet.  Auch  finden  sich  zu  einer  christlichen  Ethik 
nur  sehr  geringe  Ansätze  (in  Kap.  VI).  Doch  sind  die  grund- 
legenden Gesichtspunkte,  die  für  die  christlich-sittliche  Lebens- 
erneuerung in  Betracht  kommen,  deutlich  erkennbar.  Obgleich 
sich  Calvin  über  die  Richtung  dieser  Erneuerung  in  den  Zusammen- 
hängen über  die  Buße  noch  nicht  ausdrücklich  geäußert  hat,  so 
tritt   seine   Meinung   doch   sonst  klar   hervor. 

So  kann  der  folgende  Satz  als  für  die  ganze  Richtung  seiner 
praktischen  Frömmigkeit  charakteristisch  betrachtet  werden :  nos 
.  .  santificamur  (durch  die  gratiae  spiritus)  hoc  est  consecramur 
domino  in  oranem  vitae  puritatem,  cordibus  nostris  in  obse- 
quium  formatis,  ut  haec  sit  una  nostra  voluntas,  voluntati  eius 
servire  ac  eius  duntaxat  gloriam  modis  omnibus  provehere  (p.  49). 
Dem  göttlichen  Willen  gehorchen  zur  Förderung  der  gloria  dei, 
das  ist  die  Aufgabe  des  christlich-sittlichen  Lebens. 

Dieser  Gedanke  der  Ehre  Gottes  spielt  ja  überhaupt  bei  Calvin 
eine  sehr  große  Rolle.  Wie  alles  Geschaffene  allein  da  ist  zur 
Ehre  Gottes  (p.  2j),  so  wird  Gott  alle  richten,  qui  alia  (d.  h.  irgend 
etwas  anderes)  cogitaverint,  dixerint  ac  fecerint,  quam  quae  ad 
eius  gloriam  pertinent  (ib.).  Es  ist  die  schöpfungsmäßige  Aufgabe 
des  Menschen,  eius  honori  et  gloriae  servire  (p.  28).  Deshalb  ist 
es  Hauptforderung  des  ersten  Gebotes,  daß  wir  nichts  zulassen, 
nisi  in  quo  honoretur  ac  colatur  (deus)  (p.  32).  Wir  sollen  nur 
schwören,  wenn  es  Gottes  Ruhm  (oder  der  Brüder  Wohl)  erheischt. 
Wir  sollen  nur  bei  Gott  schwören.  Denn  es  gehört  zu  seiner 
Ehre,  daß  er  der  einzige  Zeuge  der  Wahrheit  sei  (p.  35).  Die 
Ehre  Gottes  bildet  unmittelbar  den  Inhalt  der  drei  ersten  Bitten 
des  Unser  Vater.  Aber  auch  wenn  wir  um  unser  täglich  Brot 
bitten :  hie  quoque  dei  gloriam  quaerere  praesertim  debemus,  ut 
ne  petituri  quidem  simus,  nisi  in  dei  gloriam  verteret  (p.  90). 
Wenn  wir  um  die  Heiligung  des  göttlichen  Namens  bitten,  nihil 
tum  de  nostro  commodo  cogitandum  est,  sed  eius  gloria  nobis 
proponenda  est,  quam  intentis  oculis  unam  intueamur.  Freilich 
ergibt  sich  dabei  auch  unsere  sanetificatio.  Sed  ad  huiusmodi 
utilitatem  oculi  nostri  .  .  velut  caecutire  debent,  ne  in  ipsam  ullo 
modo   respiciant.      Ut    si   omnis   spes   privati   nostri   boni  praecisa 


Von  I.ic.  thcol.  H.  Strathmann.  IQ7 


esset,  haec  tarnen  sanctificatio  (des  Namens  Gottes  nämlich)  et 
alia,  quae  ad  dei  gloriam  pertinent,  a  nobis  et  optari  et  precibus 
postulari  non  desinant  (p.  89  f.).  Jeder  Gedanke  an  «las  eigene 
Selbst  hat  zu  verstummen  gegenüber  dem  einen,  gewaltigen,  alles 
überragenden,  alle  Kräfte  anspannenden,  den  Menschen  vielleicht 
gar  verzehrenden  Lebensinhalt:  gloria  dei.  Selbst  der  Gedanke 
an  das  eigene  Heil  wird  hier  unterdrückt.  Es  gehe  wie  es  gehe: 
das  ceterum  censeo  ist  die  Beförderung  der  gloria  dei.  Es  li<  gt 
auf  dieser  Linie,  wenn  Calvin  später  sagt,  auch  die  Verdammnis 
der  impii  müsse  der  Ehre  Gottes  dienen  (I,  873). 

Der  Eifer  für  die  Ehre  Gottes  ist  Merkmal  seiner  Kinder 
(p.  95).  Er  soll  alle  Verhältnisse  durchdringen.  Auch  die  poli- 
tischen. Konsequent  steigt  Calvin  bis  zu  dem  Satz  empor,  daß 
nur  der  König  den  Namen  eines  Königs  verdiene,  qui  in  hoc 
regnat,  ut  dei  gloriae  serviat.  Anderenfalls:  non  regnum,  sed 
latrocinium  exercet  (I,  p.  II.     Vorrede  an  Franzi.;  cf.  p.  230). 

Man  dient  der  Ehre  Gottes  durch  Gehorsam.  Weshalb  letzt- 
lich haben  wir  zu  beten,  wenn  wir  in  Not  sind?  Aus  Gehorsam. 
Denn  es  hieße  Gottes  Gebot  verachten,  wollten  wir  in  der  Not  ihn 
nicht  anrufen  (p.  83).  —  Welches  ist  der  durchschlagende  Grund 
für  die  Kindertaufe?  Der  Gehorsam.  Der  Herr  hat  es  geboten, 
die  Kinder  zu  ihm  zu  bringen  (p.  118).  —  Weshalb  hat  man  auch 
der  Gewalttätigkeit  einer  tyrannischen  Obrigkeit  sich  zu  fügen? 
Aus  Gehorsam  gegenüber  dem  Worte   Gottes   (p.  243). 

Das  sind  Einzelheiten.  Der  Wille  Gottes  ist  niedergelegt  im 
Gesetz,  im  Dckalog.  E  r  ist  zu  beobachten.  Die  erste  Tafel  for- 
dert, daß  wir  Gott  lieben,  ehren  und  fürchten;  die  zweite  Liebe 
zum  Nächsten.  Doch  ist  diese  nicht  etwa  jenem  gleichgeordnet. 
Sondern  die  Nächstenliebe  propter  se  nobis  .  .  .  mandat  (deus) 
(p.  3:).  Sie  hat  keinen  selbständigen  Wert.  Man  hat  sie  zu  üben 
um  des  göttlichen  Befehls  willen.  Nur  daran  haftet  schließlich  das 
Interesse,  nicht  am  Nächsten.  Wie  sehr  das  der  Fall  ist,  zeigt  sich 
z.  B.  in  der  Auslegung  der  drei  ersten  Bitten  des  Unser  Vater. 
Calvin  begnügt  sich  nicht  mit  dem  Positiven,  sondern  bittet  aus- 
drücklich auch,  ut  omnis  impietas  .  .  pereat  atque  confundatur 
(I,  93 — 95).  Es  würde  dem  Sinne  Calvins  nicht  widersprechen, 
wenn  man  für  impietas  sagte :  impii. 

Behält  man  diese  unbedingte  Unterordnung  der  Nächsten- 
unter die  Gottesliebe  im  Auge,  so  ist  es  richtig:  man  dient  der 
gloria   dei,  man  gehorcht   seinem   Willen,  indem   man  beides   übt : 


jng  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

Gottes-  und  Nächstenliebe.  Deren  Übung  aber  setzt  Verzicht  auf 
alles  eigene  Wesen  und  Wollen  und  Wünschen  voraus.  Daher 
sagt  Calvin:  plane  perspicuum  est,  non  nostri  ipsorum  amorem, 
sed  dei  et  proximi  observationem  mandatorum  esse,  optimeque 
ac  sanctissime  e  u  m  vivere,  qui  quam  m  i  n  i  m  e  fieri  potest, 
sibi  vivit  ac  studet;  neminem  vero  eo  peius  nee  iniquius  vivere, 
qui  sibi  duntaxat  vivit  ac  studet,  suaque  duntaxat  cogit  ac  quaerit 
(p.  42).  —  Auf  sich  verzichten,  seinen  Lebensinhalt  suchen  im 
Dienste  Gottes  zu  seiner  Ehre,  und  um  seinetwillen  auch  im 
Dienste  des  Nächsten  —  das  zuletzt  ist  mortifkatio ;  das  ist  vivi- 
ficatio ;  das  ist  poenitentia.  — 

Die  Institutio  vom  jähre  1536  kennt  also  sowohl  eine  dem 
Glauben  vorausgehende,  wie  eine  ihrerseits  den  Glauben  voraus- 
setzende Buße.  Nun  wäre  es  falsch,  wollte  man  sich  das  Ver- 
hältnis beider  so  denken,  daß  die  eine  die  andere  ablöst.  Das 
gemere,  laborare,  oneratum  esse,  dolore  et  miseria  tabescere  über 
die  Sünde  —  so  beschreibt  Calvin  die  poenitentia,  die  primum  ad 
Christi  cognitionem  ingressum  aperit  —  hört  beim  Christen  nicht 
etwa  auf.  Vielmehr  ad  hanc  eniti,  in  hanc  incuinbere,  hanc 
prosequi  tota  vita  110s  oportet  (p.  150).  Nannte  Plato  das 
Leben  des  Philosophen  eine  meditatio  mortis  —  mit  mehr  Recht 
könnte  man  sagen :  vitam  christiani  hominis  perpetuum  esse  Stu- 
dium et  exercitationem  mortificandae  carnis.  Immer  bleibt  Un- 
vollkommenheit  zurück  (p.  49).  Immer  findet  das  Gesetz  etwas  zu 
verdammen  (p.  47). 

Ähnlich  äußert  sich  Calvin  bei  dem  Artikel  des  Symbols  über 
die  Sündenvergebung.  Die  Vergebung  der  Sünden  empfangen 
(aeeipiunt,  nicht  aeeeperunt)  die  Gläubigen,  die,  qui  in  ecclesiae 
corpus  asciti  et  inserti  sunt,  cum  peccatorum  suorum  conscientia 
oppressi,  afflicti  et  confusi,  divini  iudicii  sensu  consternantur,  sibi- 
que  ipsis  displicent  et  velut  sub  gravi  pondere  gemimt  .  .  hoeque 
peccati  odio  ac  sui  confusione  carnem  suam  et  quiequid  ex  se  est, 
mortificant.  Atque  ut  hanc  poenitentiam  assidue  .  .  illi  q  u  a  m  - 
d  i  u  in  carcere  sui  corporis  degunt,  prosequuntur,  ita  subinde 
atque  assidue  illam  remissionem  obtinent  etc.  (I,  78).  —  Dieselben 
Gedanken,  dieselben  Worte  z.  T.,  mit  denen  Calvin  p.  150  die 
poenitentia  beschreibt,  die  erstmalig  den  Zugang  zur  Erkenntnis 
Christi  öffnet,  verwendet  er  hier  zur  Darstellung  des  täglichen  Er- 
lebnisses des  Gläubigen.  Der  Unterschied  liegt  nur  darin,  daß  das, 
was   dort   zeitlich,   hier   nur   noch  begrifflich   vorangeht.      „  Sub- 


Von  Lic.  theol.  H.  Strathmann.  IQQ 


i  n  d  c  "  hat  der  Gläubige  die  Vergebung.  Sachlich  liegt  durchaus 
dieselbe  Erscheinung  vor.  Nur  daß  die  Spannung  zwischen  un 
Selbstbeurteilung  als  verlorener  Sünder  und  unserer  Beurteilung 
durch  Gott  als  Gerechtfertigter  dort  zumeist  nur  allmählich  über- 
wunden wird,  je  nachdem  der  Sünder  die  Gnade  Gottes  erfaßt, 
während  sie  im  Gläubigen  schon  im  selben  Augenblick  überwunden 
ist,  wo  sie  auftaucht.  Denn  fidere  ist  constanti  certitudine  ac 
solida  securitate  animum  offirmare  .  .  ut  de  bona  dei  erga 
nos  voluntate  nihil  dubitemus,  so  daß  auch  die  bleibende  Unvoll- 
kommenheit  nur  eine  verstärkte  Veranlassung  sein  kann,  fiduciam 
omnem  a  nobis  in  illum  semper  traducere  (p.  48,  56,  49).  In 
diesem  Sinne  ist  dann  auch  das  Gesetz  beseitigt.  Es  droht  und 
schreckt  nicht  mehr,  verdammt  und  zerrüttet  nicht  mehr  die  Ge- 
wissen der  Gläubigen  (p.  50). 

Aber  der  Glaube  als  Vertrauen  auf  die  Vergebungsgnade 
Gottes  ist  für  Calvin  doch  nicht  ein  einmal  erworbener  Besitz,  der 
dann  wie  selbstverständlich  bleibt,  sondern  er  entsteht  täglich  neu 
als  die  Überwindung  jener  Spannung. 

Sofern  also  die  dem  Glauben  vorangehende  Buße  im  Gläubigen 
ständig  lebendig  bleibt,  zeigt  sich  ein  Unterschied  nur  in  dem 
zeitlichen  Verhältnis  von  Sündenschmerz  und  Vergebungs- 
gewißheit. 

Sachlich  aber  liegt  ein  Unterschied  darin,  daß  man  bei  jener 
Buße  allein  „im  Schmutze  stecken  bleibt"  (p.  150).  Bei  jener  allein 
kommt  die  mortificatio  nicht  zustande.  Erst  durch  die  Ein- 
pflanzung in  den  Tod  Christi  wird  es  möglich,  wirksam  poeniten- 
tiam  meditari.  Erst  auf  Grund  der  partieipatio  in  Christo  wird 
der  alte  Mensch  wirklich  gekreuzigt.  Die  dem  Glauben  vorher- 
gehende Buße  ist  unvollkommen.  Sie  wird  erst  durch  die  aus  dem 
Glauben  folgende  wirksam,  und  diese  zieht  sich  wiederum  durch 
das  ganze  Leben. 

Deshalb  und  insofern  kann  Calvin  beides  sagen :  einmal,  daß 
durch  die  poenitentia  erst  der  Zugang  zur  Erkenntnis  Christi, 
d.  h.  zum  Glauben,  eröffnet  werde ;  und  dann,  daß  vera  poenitentia 
nicht  könne  citra  fidem  consistere.  Über  die  Möglichkeit,  daß 
jene  anfängliche  poenitentia  nicht  zum  Ziele  führe,  reflektiert  Cal- 
vin weiter  nicht. 

Jedenfalls  ist  die  Sache  also  nicht  so  zu  fassen,  als  fände  die 
poenitentia  im  Glauben  ihren  Abschluß.  So  läge  es.  wenn  die 
mortificatio  von  Calvin  lediglich  im  Sinne  der  von  ihm  abgewieseneu 


200  Die   Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

Auffassung  vertanden  wäre.  Die  poenitentia  findet  ihren  Abschluß 
im  Glauben  nur,  insofern  sie  vermöge  des  Schuldgefühls,  das  immer 
als  ein  Moment  in  ihr  enthalten  ist,  die  notwendige  Vorbereitung 
des  Glaubens  ist.  Und  auch  dieser  Abschluß  ist  ein  solcher,  der 
immer  wieder  erreicht  werden  muß.  Das  aber  ist  eben  nur  ein 
Moment  in  der  poenitentia.  In  anderer  Beziehung  findet  sie  im 
Glauben  so  wenig  ihren  Abschluß,  daß  sie  nun  erst  recht  beginnt. 

Der  Eindruck  einer  gewissen  Unklarheit,  dem  man  sich  bei 
der  Zusammenstellung  der  Aussagen  Calvins  über  die  Buße  zu- 
nächst nicht  entziehen  kann,  beruht  darauf,  daß  Calvin  zwischen 
diesen  beiden  Arten  der  poenitentia,  der,  die  dem  Glauben  voraus- 
geht, und  der,  die  ihn  voraus  setzt,  nicht  deutlich  unterschieden 
hat,  insofern  er  nicht  ausdrücklich  die  Unzulänglichkeit  und  sach- 
liche Erfolglosigkeit  jener  hervorhebt.  — 

DieEntstehungder  Buße.  Die  so  verstandene  poeni- 
tentia kann  der  Mensch  nicht  aus  sich  erzeugen.  In  jedem  Stadium 
ist  sie  ein  Geschenk  Gottes,  eine  Wirkung  Gottes  in  uns.  Von 
ihm  stammen  poenitentia  und  remissio.  Das  gilt  von  der  spezi- 
fischen Buße  des  Christen  (cf.  op.  C.  I  p.  in  f.),  aber  auch  von  der 
dem  Glauben  vorausgehenden  Buße.  Sie  muß  daher  von  Gott  er- 
beten werden  (p.  31). 

Darüber,  wie  sich  bei  dieser  Erweckung  der  Buße  im  Menschen 
durch  Gott  der  göttliche  Wille  und  die  menschliche  Selbsttätigkeit 
zueinander  verhalten,  hat  Calvin  1536  noch  nicht  reflektiert. 
Jedenfalls  hat  er  die  letztere  nicht  ausschließen  wollen.  Das  geht 
schon  daraus  hervor,  daß  Gott  nicht  unmittelbar,  sondern  durch 
geschichtliche  Mittel  zu  Werke  geht.  Diese  Mittel  sind 
Gesetz  und  Evangelium. 

An  der  Stelle,  von  der  die  Untersuchung  ausging,  ist  zwar  nur 
von  einer  Erweckung  per  Evangelii  doctrinam  die  Rede.  Wenn 
jedoch  daraus  geschlossen  wurde  (Ritschi  a.  a.  O.),  daß  Calvin  die 
erfolgreiche  Buße  nur  von  der  Predigt  des  Evangeliums  und  nicht 
von  der  des  Gesetzes  ableite,  so  beruhte  das  auf  einem  Irrtum. 
Vielmehr  hat  Calvin  (worauf  schon  Sieffert  hingewiesen  hat,  a.  a.  O.) 
im  Hauptstück  vom  Gesetz  auf  dieses  die  zur  Entstehung  des  Glau- 
bens notwendige  Sündenerkenntnis  zurückgeführt.  Es  ist  Aufgabe 
des  Gesetzes,  und  zwar  des  positiven  Gesetzes  —  denn  das  in  die 
Herzen  geschriebene  Gesetz,  das  Gewissen,  reicht  dazu  nicht  aus  — 
ostendere,  quam  procul  absimus  a  recta  via  (p.  29) ;  das  Ge- 
setz   ist    speculum,    in    quo    peccatum    et    maledictionem    nostram 


Von  Lic.  theol.   II.   Strathmann.  201 


cernere  .  .  Hceat;  es  soll  accusare,  arguere,  convincere,  damnare, 
confundere  (p.  44),  pungere,  mordere,  percellere,  consternere,  con- 
stringere  (p.  47)  —  und  wie  die  Wendungen  alle  lauten.  Es  soll 
den  Stolz  und  die  Arroganz  des  Menschen  brechen  und  ihn  zur 
humilitas  führen  (p.  49,  45). 

Zwar  haben  die  Römischen  durch  ihre  famose  Theorie  von  den 
consilia  dem  Gesetz  den  Stachel  ausgebrochen,  da  die  Beobachtung 
der  consilia,  die  in  Wirklichkeit  praeeepta  sind,  dem  Belieben  des 
einzelnen  anheim  gestellt  ist  (p.  43).  Das  ist  indessen  offenbare 
Willkür  und  durchaus  unstatthaft.  Die  Forderungen  des  Gesetzes 
sind  in  ihrem  vollen  Ernste  zu  erfassen.  Geschieht  das,  so  muß 
das  Gesetz  seinen  Zweck  um  so  sicherer  erreichen,  als  es  sich  nicht 
mit  der  Loyalität  der  äußeren  Handlung  begnügt,  sondern  sich  an 
die  Gesinnung,  an  die  Affekte  wendet :  lex  spiritualis  est,  hoc  est, 
quae  totam  mentem,  totam  animam,  totam  voluntatem  obsequen- 
tem  exigat  (p.  43,  cf.  auch  p.  28).  Da  diesen  Ansprüchen  keiner 
genügt,  so  führt  das  Gesetz  notwendig  zur  Selbterkenntnis,  zur 
poenitentia. 

Wenn  nun  Calvin  andererseits  die  Entstehung  der  Buße  durch 
das  Evangelium  vermittelt  denkt,  so  darf  man  sich  dadurch  nicht 
zu  der  Erwartung  veranlaßt  sehen,  daß  nun  auch  die  Buße 
als  dem  Glauben  folgend  gedacht  werde  (Ritschi  a.  a.  O.). 
Denn  die  Verkündigung  des  Evangeliums  ist  hier  zuerst  als 
gesetzlich  wirkend  gedacht  (Sieffert  a.  a.  O.).  Der  Eintritt 
in  das  Reich  Gottes  setzt  gewisse  Bedingungen  voraus.  Der 
Mensch  sieht,  daß  er  sie  nicht  erfüllt.  Eben  deshalb  bedarf  er  des 
renasci.  „Nicht  aber  wird  jene  Reue  oder  Sündenerkenntnis  be- 
gründet gedacht  durch  den  Glauben  an  das  Evangelium."  Auch 
eine  Spannung  zwischen  beiden  Gedanken  Calvins  liegt  nicht  vor, 
da  er  gar  nicht  behauptet,  diese  Buße  entstehe  überall  durch  die 
Predigt  des  Evangeliums.  Calvin  spricht  p.  149  f.  nur  im  Anschluß 
an  Luk.  24,  46  f.  davon,  wie  poenitentia  gepredigt  werde  ..im 
Namen  Jesu",  ohne  andere  Methoden  der  Bußpredigt  zu  berück- 
sichtigen, geschweige  denn  auszuschließen. 

Dagegen  könnte  das  Evangelium  im  eigentlichen  Sinne  Mittel 
zur  Erzeugung  der  Buße  des  Gläubigen  heißen.  Calvin  drückt 
sich  so  nicht  aus.  Aber  diese  Buße  schöpft  ja  doch  ihre  Kraft  aus 
der  insitio  in  Christum,  aus  der  Gabe,  die  uns  das  Evangelium 
bringt.  Vermittelst  der  insitio  in  Christum  schenkt  uns  Gott  die 
Lebenserneuerung  (cf.  ob.  p.  196,  op.  C.  I  30  f.,  51).     Diese  insitio 


202  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

in  Christum  ist  ein  rein  individueller  Vorgang  und  hat  mit  der  Ein- 
pflanzung in  die  Gemeinde  nichts  zu  tun.  Zwar  ist  der  Christo 
insertus  natürlich  auch  Glied  der  Gemeinde,  der  Kirche.  Aber  diese 
Kirche  ist  keine  empirische  Größe,  sondern  der  numerus  electorum. 
Zu  ihr  gehört  man  entweder  überhaupt  nicht  oder  ewig.  Aber  die 
Zugehörigkeit  zu  der  Zahl  der  Erwählten  wird  durch  vocatio  und 
iustificatio  „manifestiert"';  Dominus,  dum  nos  vocat,  iustificat,  glori- 
ficat,  nihil  aliud  quam  aeternam  suam  electionem  declarat  (p.  73). 
Dem  justificare  entspricht  genau  die  Einpflanzung  in  Christus.  Es 
handelt  sich  um,  freilich  von  Ewigkeit  her  bestimmte,  geschichtliche 
Akte.  Die  ewige  Zugehörigkeit  zur  Kirche  gelangt  in  der  insitio 
in  Christum  und  deren  logischer  Folge,  der  iustificatio,  zum  ge- 
schichtlichen Vollzuge,  oder,  psychologisch  ausgedrückt :  sie  ge- 
langt im  Glauben  zum  Bewußtsein.  Die  Zugehörigkeit  zur  Kirche 
ist  nur  erkennbar  am  Glauben.  Deshalb  kann  auch  eine  „empiri- 
sche" Beschreibung  der  Buße  nicht  zurückgreifen  auf  die  Zu- 
gehörigkeit zur  Kirche,  sondern  nur  auf  den  empirisch-psycholo- 
gischen Vorgang  des  Glaubens,  theologisch :  der  insitio  in  Christum. 
Nur  an  dieses  individuelle  Widerfahrnis  ist  zu  denken,  wenn  wir 
im  Sinne  Calvins  sagen,  Gott  benutze  das  Evangelium  als  Mittel 
zur  Erweckung  der  Buße,  indem  er  den  einzelnen  in  Christus  ein- 
pflanzt. Das  Evangelium  ist  die  Kraftquelle  für  die  Buße  des 
Gläubigen. 

Daneben  kommt  für  Gott  als  Mittel  das  Gesetz  in  Betracht, 
auch  für  den  Gläubigen.  Freilich  nicht  mehr  in  seiner  erschüttern- 
den Wirkung.  Aber  das  Gesetz  zeigt  die  Richtung,  in  der  sich  die 
aus  dem  Evangelium  geschöpfte  Kraft  zu  betätigen  hat :  die  Gläu- 
bigen lernen  aus  ihm  certius  ac  melius,  qualis  sit  voluntas  domini. 
Überdies  ist  das  Gesetz  für  das  Fleisch  ein  flagrum,  quo  instar 
ignavi  inertisque  asini  stimuletur.  Auch  das  exemplum  Christi 
kommt  hier  in  Betracht  (p.  52). 

Als  subjektives  Motiv  der  poenitentia  nennt  Calvin  den 
verus  ac  sincerus  timor  dei,  ohne  einen  Unterschied  zu  machen 
zwischen  den  beiden  Stufen  der  Buße.  Und  zwar  handelt  es  sich 
um  die  Furcht  vor  dem  göttlichen  Gericht  (p.  149,  78).  Daß  dieses 
gilt  für  die  Buße,  die  zum  Glauben  führt,  leuchtet  ein.  Auch  hat 
Calvin  hieran  zuerst  gedacht,  wie  der  Zusammenhang  p.  149  f. 
zeigt.  Aber  die  Furcht  spielt  überhaupt  in  der  Frömmigkeit  Cal- 
vins eine  große  Rolle,  auch  in  der  Motivierung  des  neuen  Lebens 
des  Christen.    Daß  wir  Gott  deshalb  zu  fürchten  und  ihm  zu  dienen 


Von  Lic.  theol.  II.  Strathmann.  20ß 


haben,  weil  er  unser  Schöpfer  und  Herr  ist,  daß  wir  ihn  einfach  des- 
halb zu  verherrlichen  haben  (p.  28,  31  unt.,  54  Mitte),  bleibt  natür- 
lich auch  für  den  Christen  in  Geltung  (cf.  oben  p.  18  f.).  Möchte 
man  dieses  Verhalten  auch  vielleicht  lieber  als  Ehrfurcht  be- 
zeichnen, so  liegt  doch  auch  dem  Christen  der  Gedanke  an  das  Ge- 
richt keineswegs  fern.  Er  weiß  ja,  daß  der  Herr  kommen  wird  zu 
richten,  je  nach  dem  sich  ein  jeder  in  seinen  Werken  als  fidelis 
infidelis  erwiesen  hat  (p.  71). 

Doch  wird  dadurch  die  securitas  des  Christen  nicht  gestört. 
Ja,  diese  Heilszuversicht  ist  gerade  die  spezifisch  christliche  Vor- 
aussetzung des  sittlichen  Strebens.  Das  entspricht  dem,  daß  Gott 
die  Buße  durch  die  Einpflanzung  in  Christus  erzeugt.  Der  fröh- 
liche Gehorsam  aus  freiem  Antrieb  des  Herzens,  den  Gott  fordert, 
ist  nur  auf  Grund  der  Heilsgewißheit  möglich,  weil  nur  dann  der 
Mensch  die  Zuversicht  haben  kann,  daß  sein  Tun  Gott  gefällt. 
Nicht  um  seiner  selbst  willen.  Dem  Menschen  ist  bei  den  guten 
Werken  immer  nur  das  zuzuschreiben,  daß  er  die  guten  Gaben,  die 
Gott  ihm  verlieh,  sua  impuritate  polluit  et  contaminat  (p.  52  unten). 
Sondern  nur  um  der  Gemeinschaft  mit  Christus  willen,  dessen  Voll- 
kommenheit unsere  Unvollkommenheit  zudeckt  (p.  49).  Daher  sagt 
Calvin :  neque  haec  fiducia  partim  nobis  necesse  est,  sine  qua 
frustra  omnia  conabimur :  si  quidem  nullo  nostro  opere  se  coli 
reputat  deus,  nisi  quod  in  eius  eultum  vere  a  nobis  fiat.  I  d 
autem,  qui  posset  inter  illos  terrorcs,  tibi 
dubitatur,  offendaturne  deus  nostro  opere  an 
colatur?  (p.  198 ;  cf.  auch   p.  53   oben). 

Dieser  Glaube  aber  drängt  zu  dem  praktischen  eultus  dei : 
viva  est  fides  .  .  otiosa  certe  esse  non  potest  (p.  79).  Weshalb  kann 
der  Glaube  nicht  müßig  sein?  Hier  kommt  zunächst  die  Dank- 
barkeit für  die  erfahrenen  Wohltaten  in  Betracht  (z.  B.  p.  32  ad 
mand.  I  ob.,  p.  54  Mitte  ad  mand.  X).  Dieses  Motiv  wird  noch 
verstärkt  durch  die  Erwägung,  wie  teuer  Christus  diese  uns  zuteil 
werdenden  Wohltaten  zu  stehen  gekommen  sind  (p.  53).  Haec 
cum  docentur,  admonentur  homines,  se  toties  sacratissimum  illum 
sanguinem  effundere,  quoties  peccant  .  .  .  Elaec  qui  atuliunt,  si 
quid  dei  habent,  quomodo  non  horreant  se  in  lutum  provolvere,  quo 
huius  fontis  puritatem,  quantum  in  se  est,  inquinent?  Lavi  pedes 
meos,  inquit  fidelis  anima  apud  Salomonen!  (Cant.  5),  quomodo 
rursum  inquinabo  illos?  (p.  53). 

Ebenso  wichtig  wie  die  Dankbarkeit  oder  vielmehr  das  eigent- 


)qzi  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


lieh  durchschlagende  Motiv  ist  jedoch,  daß  der  Wille  Gottes  unsere 
Heiligung  ist  (p.  54  oben).  Vocati  sumus,  non  ad  immunditiam,  sed 
ut  simus  mundi  (p.  51).  In  hoc  filius  dei  apparuit,  ut  dissolvat 
diaboli  opera.    E  r  w  i  1 1  solche  diseipulos,  qui  semetipsos  abnegent 

(P-  52).  — 

Schließlich  ist  noch  der  Ausblick  auf  die  zukunftige  Herrlich- 
keit als  Motiv  zu  erwähnen.  Die  Schrift  spricht  von  „Lohn".  Frei- 
lich nur  im  uneigentlichen  Sinn.  Um  Verdienst  handelt  es  sich 
jedenfalls  nicht.  Denn  das  Himmelreich  ist  nicht  Sklavensold,  son- 
dern Kindeserbe  (p.  54).  Wohl  aber  dient  der  Ausblick  auf  das 
Zukünftige,  als  auf  eine  compensatio  (p.  55)  für  die  in  dieser  Zeit 
erlittenen  Unbilden,  dazu,  die  Erfüllung  der  göttlichen  Aufgaben, 
speziell  die  Selbst-  und  Weltverleugnung  —  der  übrigens  auch  die 
diseiplina  crucis  dient  —  zu  erleichtern.  — 

Daß  es  sich  bei  alledem  lediglich  um  formal-psychologische 
Motivierungen  handelt,  ist  klar.  Materiale  Direktiven  sind  hier- 
aus nicht  zu  gewinnen.  Daß  das  neue  Leben  inhaltlich  allein  durch 
den  Willen  Gottes,  wie  er  in  der  positiven  Offenbarung  vorliegt, 
bestimmt  ist,  ist  oben  bereits  gesagt  worden  (oben  p.  19  f.).  Der 
Christ  findet  in  sich  nur  die  Motive  zum  Gehorsam  gegenüber 
diesem  geoffenbarten  Gotteswillen. 

So  hat  Calvin  die  Notwendigkeit  der  poenitentia,  nicht  nur  im 
Sinne  der  Gewissenserschütterung,  sondern  ebenso  im  Sinne  der 
sittlichen  Lebenserneuerung,  der  regeneratio,  stark  betont.  Ist 
daraus  etwa  zu  schließen,  daß  er  die  iustificatio  oder  Sündenver- 
gebung1  irgendwie  bestimmt  oder  bedingt  gedacht  hat  durch  Be- 
rücksichtigung des  menschlichen  Tuns  von  sehen  Gottes?  Wie 
ist  das  Verhältnis  von  poenitentia  und  iustificatio  zu  denken? 

Buße  und  Rechtfertigung.  Diese  Frage  fühlt  uns 
auf  Calvins  Kritik  des  katholischen  Bußsakraments.  Denn  die 
Antwort,  die  er  auf  sie  gibt,  steht  im  Mittelpunkt  dieser  Kritik.  Und 
zwar  kommt  dieselbe  hier  n  u  r  unter  diesem  Gesichtspunkt  in  Be- 
tracht. Im  übrigen  ist  für  das  Verständnis  der  calvinischen  Buß- 
lehre aus  der  Kritik  der  katholischen  keine  Förderung  zu  erwarten. 
Was  die  Römischen  Buße  nennen,  hat  mit  dem,  was  die   Refor- 


1)  In  der  Institutio  1536  bildet,  wie  in  Luthers  kleinem  Katechismus, 
die  Rechtfertigungslehre  nicht  den  Gegenstand  eines  besonderen  Ab- 
schnittes, ist  indessen  aus  der  Gesamtdarstellung  ohne  Schwierigkeit  zu 
erheben.  —  Justificatio  ist  für  Calvin  stets  gleich  remissio.  Cf.  z.  B.  p.  52 
und  196. 


Von  Lic.  theol.  II.  Strathmann. 


205 


matoren  so  bezeichnen,  kaum  mehr  als  den  Namen  gemein.  Es 
geht  das  schon  daraus  hervor,  daß  es  sich  dort  um  ein  kirchliches 
Gnadeninstitut,  hier  dagegen  lediglich  um  eine  Bewegung  des  in- 
dividuell-persönlichen Lebens  handelt.  Höchstens  könnte  man  ge- 
neigt sein,  die  reformatorische  poenitentia  in  dem  ersten  Teil  des 
römischen  Bußsakramentes,  der  contritio,  wiederzufinden.  Di 
formatorische  poenitentia  schließt  diese  nun  zwar  ein,  wertet  sie 
jedoch  anders  und  greift  jedenfalls  weit  darüber  hinaus.  Das 
reformatorische  Gegenstück  zu  der  römischen  Bußlehre  ist  nicht 
die  Lehre  von  der  poenitentia,  sondern  die  von  der  Rechtfertigung 
aus  dem  Glauben.  Denn  wie  der  römische  Christ  aus  jenem,  so 
gewinnt  der  evangelische  aus  dieser  immer  neu  die  Gewißheit 
seines  Gnadenstandes  (nach  Ritschi  a.a.O.  p.  159).  Der  Be- 
rührungspunkt zwischen  beiden  Lehren  liegt  also  nur  da,  wo  es 
sich  um  die  Frage  der  Rechtfertigung  handelt. 

Der  formale  Grund  des  Widerspruchs  Calvins  gegen  die  katho- 
lische Bußlehre  ist,  daß  diese  die  Aussagen  der  Schrift  gegen  sich 
hat  (cf.  z.  B.  p.  152  unt. ;  p.  168).  Deshalb  setzt  Calvin  ihr  entgegen, 
quae  de  poenitentia  didicimus  ex  scriptura  (p.  147).  Der  materiale 
Grund  aber,  und  das  ist  die  Hauptsache,  ist,  daß  sie  die  Gewißheit 
der  Rechtfertigung  oder  Vergebung  unmöglich  macht.  Calvin  er- 
eifert sich.  Denn  der  Streit  dreht  sich  nicht  de  asini  umbra,  son- 
dern um  das  ernsteste  Ding  von  der  Welt,  nempe  de  peccatorum 
remissione.  Wenn  die  notita,  qua  ratione  .  .  obtineatur  peccatorum 
remissio,  nicht  perspicua  certaque  constat,  nullam  requicm  habere 
potest  conscientia  (p.  150). 

Calvin  verspottet  die  wissenschaftliche  Qualifikation  der  scho- 
lastici  sophistae,  die,  um  zur  Definition  der  poenitentia  zu  gelangen, 
willkürlich  eine  Anzahl  dicteria  veterum  zusammenraffen,  um  dann 
ebenso  willkürlich  die  bekannte  Dreiteilung  der  Buße  aufzustellen, 
wonach  sie  besteht  aus  compunctio  oder  contritio  cordis,  confessio 
oris  und  satisfactio  operis  (p.  150  f.). 

Zunächst  ist  die  katholische  Auffassung  der  contritio  zu  ver- 
werfen. Denn  sie  verlangen  eine  contritio  debita,  i.  e.  iusta  et 
plena.  Damit  ist  bereits  die  ganze  Lehre  vergiftet.  Denn  dieser 
Zusatz  lenkt  das  Auge  des  Menschen  sofort  wieder  auf  ihn  selbst 
und  auf  seine  Leistung  und  führt  ihn  demgemäß  zur  Heuchelei  oder 
zur  Verzweiflung  (p.  152).  Hier  wird  die  poenitentia  zur  causa  re- 
missionis  peccatorum,  während  sie  doch  nichts  sein  soll  als  reine 
Empfänglichkeit.     Peccatorem   docuimus   non   in   suam   compunc- 


2o6  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


tionem  neque  in  suas  lachrymas  intneri,  sed  utrumque  oculum  in 
solam  domini  misericordiam  defigere  (p.  152  f. ;  cf.  p.  48  Abs.  2). 
Freilich  ist  Buße  nötig.  Aber  es  ist  ein  gewaltiger  Unterschied, 
ob  man  den  Sünder  lehrt,  emereri  remissionem  iusta  et  plena 
contritione,  oder  ob  man  ihn  anweist,  esurire  et  sitire  dei  miseri- 
cordiam per  miseriae  suae  agnitionem,  in  sua  humilitate  dare  deo 
gloriam.  —  Ganz  ähnlich  wird  p.  78  ausdrücklich  jeder  Gedanke 
an  die  Verdienstlichkeit  der  poenitentia  oder  contritio  von  ferne 
abgewiesen.  Die  Gläubigen  erlangen  die  Vergebung  auf  Grund 
der  poenitentia,  non  quod  ita  poenitentia  eorum  mereatur ;  sed 
visum  est  domino,  sese  hominibus  hoc  o  r  d  i  n  e  exhibere.  — 

Genau  so  steht  es  bei  der  confessio  oris.  Calvin  erwähnt  zu- 
nächt  die  zwischen  canonistae  und  theologi  scholastici  ventilierte 
Streitfrage,  ob  die  confessio  oris  göttlichen  oder  bloß  kirchlich 
positiven  Rechtes  sei.  Besonders  scharfsinnige  Leute  seien  dem 
Dilemma  durch  den  Ausweg  entschlüpft,  daß  sie  die  „Substanz" 
(quoad  substantiam),  d.  h.  das  „daß"  für  göttlichen,  die  „Form"' 
aber  für  menschlichen  Rechts  erklärten  (p.  152  f.).  Zwar,  heißt  es 
dann  weiter,  auch  die  Schrift  fordere  das  Bekenntnis  der  Sünde, 
aber  das  vor  Gott,  aus  wahrhaft  zerbrochenem  Herzen.  Ein  solcher 
Mensch  werde  auch  gerne,  wo  Zeit  und  Ort  es  fordern,  vor  jeder- 
mann suam  paupertatem  et  dei  magnificentiam  commemorare 
(p.  156).  Übrigens  „billige"  die  Schrift  zwei  Formen  der  Privat- 
beichte, eine  unseretwegen,  zu  gegenseitigem  Tröste  (Jak.  5,  12); 
eine  des  Nächsten  wegen,  ad  ipsum  placandum  et  nobis  reconci- 
liandum  (Alt.  5,  23  ;  p.  156  f.).1  Ein  Schriftbeweis  für  die  katholische 
Auffassung  läßt  sich  nicht  führen  (p.  153  f.)  ;  und  wie  wenig  die  alte 
Kirche  dieselbe  geteilt  hat,  erhellt  aus  dem  Bericht  des  Sozomenos 
in  der  historia  tripartita  über  die  Abschaffung  des  poenitentiarius 
in  Constantinopel  durch  Nectarius  (p.  155). 

Trotzdem  machen  jene  aus  dem,  was  die  Bibel  als  freien  Brauch 
erlaubt  hat,  ein  Gesetz  für  die  sakramentale  Beichte :  Statuunt, 
ut  omnes  utriusque  sexus,  statim  atque  ad  discretionis  annos  per- 
venerint,  semel  ad  minimum  quotannis  confiteantur  omnia  sua  pec- 
cata,  proprio  sacerdoti;  nee  peccatum  dimitti,  nisi  confitendi  votum 
firmiter  coneeptum  fuerit.    Bei  versäumter  Gelegenheit  nullus  patet 


1)  Guericke  urteilte  (Symbolik,  2.  Aufl.  1846  p.  577).  daß  die  refor- 
mierte Kirche  ebenso  die  katholische  wie  die  lutherische  Beichtweise  eifrig 
verpönt  habe.  —  Für  Calvin  trifft  das  nicht  zu.  Er  verurteilte  nur  den 
Beicht  z  w  a  n  g.      Cf.    Oehler,    Symbolik,    2.  Aufl.    p.  669  f. 


Von  Lic.  theoi.   II.  Strathmann.  207 


paradisi  ingressus  (p.  157;  cf.  p.  158).  Der  Priester  aber  habe  die 
potestas  clavium.     Calvin  zählt   deren   verschiedene   Auffassungen 

auf,  hebt  aber  hervor,  daß  man  wegen  Jcs.  43,  11.  25  sich  «loch 
nicht  zu  der  Behauptung  verstiegen  habe,  daß  der  Priester  einfach 
die  Sünde  vergebe.  Seine  Funktion  sei  nur  deklarativ.  —  An 
letzter  Stelle  nennt  Calvin  d  i  e  Auflassung  der  Schlüssel,  wonach 
diese  sind  autoritas  discernendi,  qua  in  definiendo  uterentur  und 
die  potestas,  quam  executione  suae  sententiae  exercerent ;  die  scien- 
tia  aber  trete  hinzu  als  consiliarium  (p.  157). 

Die  Kritik  erstreckt  sich  darauf,  daß  auch  hier  wieder  dasselbe 
Elend  vorliegt,  wie  bei  der  Forderung  der  contritio  debita.  In 
mehr  als  grausamer  Weise  hat  man  mit  dieser  Folter  die  Gewissen 
geplagt.  Man  hat  die  Sünden  beobachtet,  eingeteilt,  untersucht 
bis  in  die  letzten  Einzelheiten  (p.  158  unt.)  Und  das  Resultat? 
Ubi  longius  progressi  fuerant,  coelum  undique  et  undique  pontus : 
nullus  portus,  nulla  statio  (ibid.).  Es  bleibt  kein  anderer  Ausgang 
als  die  Verzweiflung.  Auch  die  Mahnung  „faciat  quisque  quod  in 
se  est"  (p.  159  ob.)  führt  nicht  weiter.  Denn  immer  wieder  taucht 
die  Sorge  auf:  non  satis  temporis  impendi;  11011  iusta  opera  ineubui ; 
multa  negligentia  praeterii  (ibid.)  Jene  lex  ist  simpliciter  impossi- 
bilis.  Itaque  non  nisi  perdere,  damnare  ...  in  ruinam  et  despe- 
rationem  conicere  potest.  Es  sei  denn,  daß  man  in  heuchlerischer 
Selbsttäuschung  über  der  Aufzählung  der  einzelnen  Sünden  (die 
auch  nicht  einmal  möglich  ist)  vergißt  latentem  vitiorum  lernam, 
die  inferiores  sordes.  Vielmehr  sollen  wir  zwar  auch  unserer  ein- 
zelnen Sünden  vor  Gott  gedenken,  dann  aber  tantam  mali  nostri 
abyssum  agnoscerc  et  fateri.  quae  sensum  quoque  nostrum  superet 
(p.  159  f.).  Die  einzelnen  Forderungen  des  katholischen  Bußsakra- 
ments (Aufzählung  aller  Sünden,  Beichte  vor  dem  Priester  usw.) 
fallen  dahin  angesichts  des  Wortes  Ez.  18,  21  f. :  Quotiescunque 
ingemuerit  peccator,  omnium  iniquitatum  eins  non  recordabor.  — 
So  zerstört  Calvins  Verlangen  nach  Heilsgewißheit  in  Verbindung 
mit  einem  tieferen  Verständnis  der  Sünde  auch  den  zweiten  Teil 
der  katholischen   Buße. 

Schließlich  wendet  er  sich  gegen  die  Lehre  von  der  satisfactio 
operis.  Diese  setzt  den  Erlaß  der  culpa  voraus.  Doch  behält  sich 
Gott  danach  noch  eine  Strafe  vor.  Die  poena  sei  satisfactionibus 
redimenda  (p.  168).  Diese  Unterscheidung  beachtet  Calvin  jedoch 
zunächst  nicht.  Er  betont  einfach,  daß  wir  nach  der  Schrift  ledig- 
lich  nichts   zu   der   Vergebung  beizutragen   haben.      Wieder   steht 


2o8  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

der  Trost  des  Gewissens  auf  dem  Spiel.  Quod,  si  de  pacificanda 
conscientia  agitur,  quae  istaec  erit  pacificatio,  si  audiat  peccata  re- 
dimi  satisfactionibus?  Quando  tandem  illi  satisfactionis  modus 
constare  poterit?  Ergo  semper  dubitabit,  an  deum  habeat  pro- 
prium (p.  169).  Dabei  ist  die  Unterscheidung  von  peccata  venialia 
und  p.  mortalia  durchaus  unzulässig.  Die  Sünden  des  Gläubigen  sind 
alle  venialia,  die  des  Ungläubigen  alle  mortalia  (p.  170).  —  Wollte 
man  aber  auch  jene  Unterscheidung  zwischen  culpa  und  poena 
peccati  zugeben,  so  widerstreitet  doch  die  Forderung  der  Leistung 
der  Sündenstrafen  durchaus  den  klaren  Aussagen  der  heiligen 
Schrift,  nach  der  Christus  peccatorum  poenas   sustinuit  (Jes.   53). 

Das  letzte  Motiv,  weshalb  Calvin  auch  gegen  diesen  Teil  des 
römischen  Bußsakraments  eifert,  ist  somit  wiederum  die  Sorge  um 
die  Heilsgewißheit.  Diese  steht  auf  dem  Spiele,  sobald  an  irgend 
einem  Punkte  der  Mensch  auf  sich  selbst  gewiesen  wird.  Das 
eben  ist  nach  Calvins  Überzeugung  der  Grundfehler  der  römischen 
Bußlehre,  daß  sie  den  Menschen  immer  wieder  auf  sein  eigenes 
Können  weist,  anstatt  ihn  anzuleiten,  mit  beiden  Augen  fest  auf 
Gott  zu  schauen,  auf  ihn  allein.  Denn  dadurch  stürzt  sie  ihn  in 
Verzweiflung. 

Und  eben  dieses  Motiv  der  Polemik  Calvins  war  das,  was  uns 
hier  interessierte.  Aus  dem  Gesagten  erhellt,  daß  für  Calvin  die 
Rechtfertigung  oder  Vergebung  unabhängig  ist  von  irgend  welchen 
Leistungen  des  Menschen.  Die  dem  Glauben  vorangehende  con- 
tritio  kommt  nicht  in  Betracht  als  gottwohlgefällige  Leistung,  son- 
dern als  vollkommene  Negation  irgend  welchen  eigenen  Könnens. 
Man  denkt  gar  nicht  an  sich,  sondern  will  alles  von  Gott  empfan- 
gen. Die  Forderung,  daß  die  contritio  der  fides  vorangehen  müsse, 
beschreibt  nur  die  göttliche  Heilsordnung.  —  Aber  auch  die  dem 
Glauben  nachfolgende  Buße  als  Neugestaltung  des  sittlichen 
Lebens  —  das  ist  schon  mit  der  Abweisung  des  dritten  Teils  der 
römischen  Buße  gegeben  —  hat  nicht  die  entfernteste  kausale  Be- 
ziehung zur  Vergebung  (cf.  auch  p.  49).  Die  Buße,  nach  ihrer 
positiven  Seite  gefaßt,  ist  nicht  Voraussetzung  der  Vergebung, 
sondern  deren  Folge,  oder  vielmehr  notwendige  Begleiterschei- 
nung.    Daher  freilich  auch  ihre  Bewährung. 

Von  katholischer  Seite  nämlich  mußte  sich  gegen  diese  Auf- 
fassung des  Verhältnisses  von  Buße  und  Rechtfertigung  natürlich 
sofort  der  Einwand  erheben,  daß  sie  die  guten  Werke  zerstöre 
(p.  52  f.).     Calvin  hielt  dem  entgegen :  Iustificatio  bonis  operibus 


Von  Lio.  theol.  H.  Strathn  20  ) 


detrahitur,  nun  ut  nulla  bona  fiant  opera,  aut  negentur  bona  opera 
quae  sunt,  sed  ne  illis  fidamus,  .  .  ne  salinem  adscribamus  (p.  51)« 
Doch  soll  das  ganze  Christenleben  sein  quaedam  pietatis  meditatio. 
Ecce  non  iustificamus  hominem  ex  operibus  coram  deo;  sed  omnes, 
qui  ex  deo  sunt,  dieimus  regenerari  et  novam  creaturam  fieri,  ut  e 
regno  peccati  transeant  in  regnum  iustitiae  (p.  52).  Denn  Christus, 
wie  er  uns  vom  Vater  dargereicht  wird,  ist  nicht  nur  remissi  >, 
iustitia,  pax  et  reconciliatio  apud  patrem,  sed  etiam  sanetificatio  et 
fons  aquae  vivae  (p.  80;  cf.  auch  p.  56  unt,  p.  not'.,  150).  Sub 
lege  gratiae  esse  Christianos,  non  est  effrenate  sine  lege  vagari, 
sed  Christo  insitos  esse,  cuius  gratia  a  legis  maledictione  liberi  sunt, 
et  cuius  spiritu  legem  habeant  inscriptam  in  cordibus  (p.  44;  cf. 
p.  30  Abs.  2).  Auf  unsere  Bitte  erhalten  wir  von  Gott  1.  venia, 
2.  novum  cor,  quo  velimus,  novamque  virtutem.  qua  valeamus  eius 
mandata  exsequi.  Beide  Gaben  sind  in  Christo  vereinigt :  Haec 
omnia  nobis  a  deo  ofreruntur  .  .  in  Christo  domino  nostro  (p.  30 ; 
cf.  p.  49).  Und  zwar  ist  bei  der  remissio  die  renovatio  von  Gott 
sofort  als  Zweck  mit  ins  Auge  gefaßt.  Yocati  sumus  non  ad  im- 
munditiam  .  .  sed  ut  simus  mundi  et  immaculati  in  conspectu  dei 
nostri  in  caritate  (p.  51  ;  cf.  überhaupt  p.  51  ff.  und  oben  p.  203  f.). 
Beide  Gaben  sind  in  Christo  durch  den  göttlichen  Willen  unlöslich 
miteinander  verbunden.  Daraus  ergibt  sich  auch  für  die  Willens- 
betätigung des  Gläubigen  das  stärkste  Motiv. 

Eine  iustificatio  ohne  regeneratio  gibt  es  also  nicht.  Deshalb 
kommt  der  poenitentia  nach  ihrer  positiven  Seite,  d.  h.  der  regene- 
ratio, die  Bedeutung  einer  Bewährung  oder  Bestätigung  des  Glau- 
bens zu.  Calvin  sagt :  hoc  testimonio  (durch  den  praktischen  Über- 
gang aus  dem  regnum  peccati  in  das  regnum  iustitiae)  certam  facere 
fideles  suam  vocationem  (p.  52;  cf.  p.  173  zu  Lk.  7,  47,  p.  75  Abs.  2). 
Nicht,  als  ob  ihnen  dadurch  erst  ihr  Gnadenstand  gewiß  würde  — 
das  wäre  bei  der  bleibenden  Unvollkommenheit  der  GeseUes- 
erfüllung  unmöglich  (p.  49)  —  sondern,  was  ihnen  schon  vorher 
feststand,  enthält  nachträglich  von  anderer  Seite  noch  eine  Stütze. 

Damit  sind  die  in  den  Bereich  der  Bußlehre  gehörigen  Ge- 
danken der  Institutio  1536  erschöpft. 

Fassen  wir  das  Ergebnis  zusammen : 

Der  Begriff  der  poenitentia  wird  von  Calvin  zunächst  auf  den 
dem  Glauben  vorausgehenden  Sündenschmerz  angewandt  und  in 
diesem  Sinn  als  mortificatio  bezeichnet.  Sofern  darin  das  Schuld- 
gefühl enthalten  ist,  findet  die  poenitentia  in  der  fides  einmal  und 

Calvinstudien.  4 


2  I  O  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

immer  wieder  ihren  Abschluß.  —  Der  Ausdruck  bezeichnet  jedoch 
zugleich  einen  das  ganze  Christenleben  durchziehenden  Vorgang, 
welcher  negativ  die  erfolgreiche  Fortsetzung  jenes  Sünden- 
schmerzes in  Abtötung  des  alten  Menschen  (mortificatio)  und  posi- 
tiv die  Neugestaltung  des  gesamten  sittlichen  Lebens  umfaßt  (vivi- 
ficato,  regeneratio).  In  jedem  Stadium  ist  diese  Buße  ein  Werk 
Gottes.  Als  Mittel  zu  ihrer  Erweckung  benutzt  er  Gesetz  und 
Evangelium.  Das  Evangelium  im  eigentlichen  Sinne  kommt  jedoch 
nur  für  die  Buße  des  Gläubigen  in  Betracht  (insitio  in  Christum). 
Zugleich  dient  ihm  das  Gesetz  als  Wegweiser  für  das  neue  Leben. 
Das  subjektive  Motiv  ist  die  Furcht  Gottes,  und  zwar  nicht  nur  für 
die  dem  Glauben  vorausgehende,  sondern  auch  für  die  aus  ihm 
erwachsende  Buße.  Jedoch  gewinnt  der  Christ  den  Mut  zu 
einem  wirklich  neuen  Leben  nur  aus  der  Heilsgewißheit.  Aus 
dieser  ergibt  sich  sogleich  als  weiteres  Motiv  die  Dankbarkeit. 
Hinzu  kommt  mit  durchschlagender  Bedeutung  das  Bewußtsein, 
daß  der  Wille  Gottes  unsere  Heiligung  ist.  Daneben  auch  der 
Blick  auf  die  zukünftige  Herrlichkeit,  doch  unter  Ausschluß  jeden 
Verdienstgedankens.  Dem  entspricht,  daß  auch  im  Verhältnis  der 
poenitentia  zur  Rechtfertigung  jener  an  keinem  Punkte  irgend  ein 
verdienstlicher  Charakter  zukommt.  Da  jedoch  die  poenitentia 
als  Lebenserneuerung  eine  stets  mit  der  iustificatio  verbundene 
Gabe  Gottes  und  daher  auch  eine  psychologisch  notwendige  Be- 
gleiterscheinung des  Glaubens  ist,  hat  sie  die  Bedeutung  einer 
Bestätigung  jener  für  den  Glaubenden.  Eine  gewisse  Unklarheit 
ist  in  den  Gedanken  Calvins  insofern  zu  erkennen,  als  er  den 
Unterschied  zwischen  der  dem  Glauben  vorausgehenden  und  der 
ihn  voraussetzenden  Buße  nicht  deutlich  hervorgehoben  hat.  — 

Vergleichen  wir  die  calvinische  Auffassung  mit  den  von  ihm 
zurückgewiesenen  Formeln  über  die  Buße,  so  liegt  der  Unterschied 
darin,  daß  sich  bei  diesen  der  Begriff  ausschließlich  bezieht  auf 
die  Neugestaltung  des  religiösen  Verhältnisses,  während  bei 
Calvin  der  Begriff  zugleich  nach  der  Seite  des  Ethischen 
hin  orientiert  ist.  Deshalb  tragen  seine  Aussagen  über  die  Buße 
ein  Doppelgesicht,  was  nicht  zur  Vermehrung  der  Klarheit  gedient 
hat.  Durch  die  Aufnahme  dieses  neuen  Gesichtspunktes  erhalten 
bei  Calvin  dieselben  Ausdrücke,  die  jene  verwerten,  einen  anderen 
Sinn.  So  bezeichnet  conversio  bei  Calvin  nicht  mehr  lediglich  die 
rein  religiöse  Hinwendung  zu  Gott  (im  Sinne  unseres  heutigen 
„Bekehrung"),  sondern  oft  zugleich  die  Hinwendung  des  sittlichen 


Von  Lic.  theol.  H.  Stratbmann.  2  I  I 


Strebens  auf  Gott  und  seinen  Willen,  im  Gegensatz  zum  vorher- 
gehenden Dienst  der  Sünde.  Die  Wahl  zwischen  beiden  Bedeu- 
tungen ist  nicht  immer  zu  treffen  (p.  148  fr.).  Deutlicher  noch  ist 
die  Begriffswandlung  bei  den  Worten  mortificatio  und  vivificatio. 
Mortificatio  bedeutete  dort  die  aus  der  Sündenerkenntnis  ent- 
stehende innere  Depression  und  Verzweiflung.  Ihr  Inhalt  war 
bestimmt  durch  das  Schuldgefühl,  weshalb  eben  in  der  entstehen- 
den Zuversicht  zur  Sündenvergebung  die  vivificatio  bestand.  Bei 
Calvin  dagegen  ist  zwar  die  mortificatio  auch  mit  dem  Schuld- 
gefühl verbunden  und  bereitet  eben  insofern  den  Empfang  der 
Gnade  vor.  Doch  ist  der  Begriff  zugleich  stark  ethisch  bestimmt 
und  zielt  ab  auf  die  das  ganze  Leben  durchziehende  praktische 
Überwindung  der  Sünde.  Unter  vivificatio  aber  wird  allein  die 
positive  Entstehung  des  neuen  Lebens  verstanden.  An  keiner 
Stelle  jedoch  wird  bei  Calvin  die  fides  als  zur  poenitentia  gehörig 
bezeichnet.  Die  fides  kommt  nur  in  Betracht,  sofern  einmal  die 
Erkenntnis  der  Sünde  die  Voraussetzung  der  Erkenntnis  der  Gnade 
ist ;  sie  löst  die  poenitentia  als  Schuldgefühl  ab ;  sodann,  sofern  sich 
auf  Grund  der  fides  oder  der  in  ihr  gewonnenen  partieipatio  in 
Christo  die  wirksame  Abtötung  des  alten  Menschen  und  die 
Erneuerung  vollzieht.  So  ist  es  gemeint,  wenn  Calvin  sagt,  poeni- 
tentia und  fides  seien  unlöslich  miteinander  verbunden,  doch  seien 
sie  magis  coniungendae  quam  confundendae  (p.  149  oben).  — 

Vergleichen  wir  ferner  mit  dem  obigen  Ergebnis  die  von 
Ritschi  usw.  vertretene  Auffassung  der  Bußlehre  der  Institutio 
von  1536,  so  ergibt  sich  das  Folgende: 

Die  Auffassung,  nach  der  in  der  Institutio  von  1536  poeni- 
tentia nur  den  negativen  Sinn  von  mortificatio  hat  und  normaler- 
weise im  Glauben  an  die  Vergebung  ihren  Abschluß  findet,  ist 
ungenügend.  Das  ist  nur  eine  Seite  der  Sache.  Die  poenitentia 
bezeichnet  aber  zugleich  die  gesamte  positive  neue  Lebensgestal- 
tung und  findet  insofern  im  Glauben  nicht  ihren  Abschluß,  sondern 
wird  vielmehr  durch  ihn,  resp.  durch  die  so  gewonnene  Teilnahme 
an  Christus,  erst  ermöglicht  und  eingeleitet. 

Diesen  letzteren  Gedanken  deutete  Ritschi  dahin,  daß  die 
Erkenntnis  des  sittlichen  Ideals  in  Christo  Voraussetzung  der 
Buße  und  daß  die  Lehre  von  der  Kirche  der  individuellen  Heils- 
ordnung übergeordnet  sei.  Beide  Gedanken  nahm  Ritschi  frei- 
lich erst  für  die  spätere  Lehre  Calvins  in  Anspruch.  Da  die  be- 
treffenden Formeln  sich  indessen  bereits  1536  finden,  so  ist  sehen 

14* 


2  12  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


hier  darauf  hinzuweisen,  daß  wenigstens  1536  weder  das  eine  noch 
das  andere  in  den  Ausführungen  Calvins  einen  Anhaltspunkt 
findet.  Von  Erkenntnis  des  sittlichen  Ideals  in  Christo  spricht 
Calvin  nirgends.  Das  Beispiel  Christi  kommt  nur  als  praktische 
Veranschaulichung  des  Gotteswillens  in  Betracht,  der  im  Gesetz 
niedergelegt  ist.  Über  die  Bedeutung  der  participatio  in  Christo, 
inwiefern  mit  dieser  Formel  etwas  über  die  Aufnahme  in  die  „Ge- 
meinde" ausgesagt  ist  —  ist  bereits  oben  p.  201  f.  das  Nötige  ge- 
sagt worden. 

Auch  Lipsius  knüpft  die  Unterscheidung  zwischen  objektiver 
Rechtfertigung  und  subjektivem  Rechtfertigungsbewußtsein  erst 
an  die  späteren  Aussagen  Calvins  an.  Da  indessen  der  Bewäh- 
rungsgedanke, der  sachlich  die  Hauptstütze  dieser  Meinung  bilden 
würde.  —  Lipsius  freilich  hat  sie  nicht  benutzt  —  schon  1536  vor- 
liegt, so  ist  festzustellen,  daß  diese  Ausgabe  für  die  Lipsiussche 
Unterscheidung  keinen   Anhaltspunkt   bietet. 

Der  Mangel  der  Ritschlschen  Darstellung  erklärt  sich  aus 
der  unzureichenden  Benutzung  der  Aussagen  Calvins,  da  er  seiner 
Darstellung  die  Bemerkungen  des  Kap.  V  (op.  C.  I  1,  147  ff.)  zu- 
grunde legt,1  und  auch  diese  nur  unvollkommen,  da,  wie  wir  sahen, 
auch  dort  deutlich  die  von  Ritschi  nicht  beachtete  Seite  der  Buß- 
lehre Calvins  durchblickt.  Bereits  Köstlin  hatte  darauf  hinge- 
wiesen, daß  eine  ,, Erörterung  der  Hauptmomente  dieser  Lehre" 
sich  schon  durch  die  beiden  ersten  Kapitel  hinziehe.  Dazu  kom- 
men die  sehr  wichtigen  Bemerkungen  in  Kap.  IV  gelegentlich 
der  Besprechung  der  Taufe. 

II. 
Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

Für  das  Verständnis  der  Entwickelung  Luthers  ist  es  von 
größter  Bedeutung,  zu  wissen,  welche  Richtung  der  ausgehenden 
Scholastik  seinen  theologischen  Bildungsgang  bestimmt  hat,  zu 
wissen,  daß  er  ein  Schüler  der  via  moderna,  nicht  der  via  anti- 
qua  war.2 

Auch  für   Calvin   wird   es   nicht   bedeutungslos    gewesen   sein, 


1)  Rechtf.   und  Vers.    1 2  p.  213. 

2)  Cf.  darüber  H.  Hermelin  k ,  D.  theol.  Fakultät  in  Tübingen 
vor  d.  Reform.  1477 — 1534,  Tübingen  1906.  Abschnitt  2:  Die  in  Tübingen 
gelehrte  Theologie,  bes.   p,  126  f. 


Von  Lic.  theol.  H.  Strathmann.  2  I  3 


welcher  Art  die  scholastici  waren,  mit  denen  t  r  sich  auseinander- 
gesetzt hat.  Es  ist  daher  zunächst  zu  untersuchen,  aus  welchen 
Quellen  Calvin  seine  Kenntnis  der  römischen  Bußlehre  ge- 
schöpft hat. 

Hier  drängt  sich  nun  zunächst  von  selbst  die  Erinnerung  an 
die  Sentenzen  des  Lombarden  auf.  wenn  diese  doch  in  dem  AI  alle 
die  Grundlage  für  alle  spätere  theologische  Arbeit  der  Scholastik 
boten,  daß  noch  bis  ins  16.  Jahrh.  in  Paris  „jeder  Baccalaureus  in  der 
Theologie  seine  Probe  für  den  Doktorat  durch  Erklärung  der  Sen- 
tenzen machen  mußte".'  Auch  Calvin  kannte  sie.  Er  hat  den  Lom- 
barden häufiger  genannt.  Wenn  er  in  den  Ausführungen  über  die 
Bußlehre  von  der  „magistralis  licentia"  in  der  Begriffsbestimmung 
der  poenitentia  spricht,  spielt  er  auf  ihn  an  (op.  C.  I,  p.  151 
Mitte).  Einmal  nennt  er  den  ,, Lombarden"  auch  direkt.  Er  be- 
zeichnet ihn  als  den  coryphaeus  veterum  und  spottet  darüber, 
daß  er  centones  suos  contexuit  ex  insulsis  quorundam  monacho- 
rum  deliriis,  quae  sub  Ambrosii,  Hieronymi  et  Chrysostomi  no- 
mine feruntur.  In  der  Frage  der  Buße  habe  er  alles  genommen 
aus  dem  Buche  Augustins  über  die  Buße,  qui  (über)  a  rhapsodo 
aliquo  inepte  ex  bonis  pariter  ac  malis  autoribus  consarcinatus  est. 
Calvin  hat  also  den  Lombarden  gelesen,  wie  das  auch  bereits  in 
den  Anmerkungen  2  der  Straßburger  Ausgabe  der  Werke  Calvins 
hervorgehoben  worden  ist. 

Aber  die  Skizze,  die  Calvin  von  der  römischen  Bußlehre  gibt, 
zeigt  eine  Reihe  von  Zügen,  die  sich  in  den  Darlegungen  des 
Magisters  nicht  finden.     Dahin  gehört  zunächst  der  canon  „Omnis 


1)  Wetzer  und  Weite,  Kirchenlexik.  2.  Aufl.  IX  p.  1921  und 
Herme  link   a.a.O.   p.  31— 60,   bes.   41  f.,   45  f- 

2)  Einiges  wäre  noch  nachzutragen:  Der  Satz,  daß,  wenn  bei  ge- 
botener Gelegenheit  das  votum  confitendi  nicht  eingelöst  sei,  nullus  patet 
paradisi  nigressus  (C.  p.  157)  findet  sich  bereits  beim  Lombarden:  Sem.  IV 
D.  17  c.  3  (in  Bonaventurae  opera,  edd.  patres  collegii  S.  Bonaventurae; 
Ad  ciaras  Aquas  [Quaracchi]  Bd.  IV  1889).  —  Ferner  gibt  Calvin  mit  dem 
Satz:  alii  .  .  dnas  claves  recensuerunt:  discretionem  et  potestatem  (ib.) 
die  Meinung  des  Magister  wieder,  der  die  Schlüssel  bestimmt  als  discer- 
nendi  scientia  und  potestas  iudicandi  (Sent.  IV  D  18  c.  2).  —  Ebenso  ist 
es  der  Magister,  der  unter  Berufung  auf  Jes.  43  die  Gleichstellung  von 
ligare  et  solvere  mit  peccata  remittere  et  delere  ablehnt  (Calvin  ibid.;  S.  IV 
D  18  c.  4).  —  Es  stimmt  mit  den  Angaben  Calvins  überein.  wenn  der 
Magister  die  potestas  des  Priesters  beschreibt  als  die  potestas  o  s  t  e  11  - 
dendi  homines  ligatos  vel  absolutos;  wenn  er  sagt,  daß  die  Priester 
lösen  und  binden,  dum  dimissa  a  deo  vel  retenta  iudicant  (peccata);  daß 
die  Schlüssel  dem  Priester  gegeben  werden  per  ministerium  episcopi  in 
promotione  sacerdotii    (Calw  ibid.   u.    158;   Sent.  IV   D  18  c.  6  u.    D  19  c.  1). 


2  14  ^'e  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

utriusque"  über  die  österliche  Beichtpflicht  vom  4.  Laterankonzil 
121 5.  Dies  ist  wichtig,  da  gerade  die  gesetzliche  Festlegung 
der  Beichtpflicht  und  die  Forderung  des  Bekenntnisses  aller 
Sünden  Calvins  heftigste  Entrüstung  erregt  hat.  Auch  der  Streit 
über  das  ins  divinum  der  kirchlichen  confessio  weist  in  die  Zeit 
nach  dem  Lateranischen  Konzil.  —  Die  von  Calvin  an  letzter 
Stelle  genannte  Auffassung  der  Schlüssel  (cf.  oben  p.  207)  wird 
vom  Lombarden  noch  nicht  diskutiert.  —  Theologisch  interessanter 
ist,  daß  dieser  von  einer  contritio  d  e  b  i  t  a  ,  i.  e.  iusta  et  plena, 
nirgends  spricht ;  daß  er  zu  dem  Satze  Calvins  keine  Parallele 
bietet :  man  lehre  emereri  peccatorum  remissionem  iusta  et 
plena  contritione ;  daß  seiner  Theologie  eine  Verflachung  des 
Sündenbegrififs  nicht  vorgeworfen  werden  kann,  denn  „über  die 
Erbsünde  lehrte  er  wesentlich  augustinisch''  ;l  daß  er  nicht  von 
quantitates,  qualitates  und  circumstantiae  der  Sünde  spricht :  daß 
er  von  dem  Satze  des  Hieronymus : 2  si  homo  facit,  quod  in  se 
est,  deus  dat  ei  gratiam  —  keinen  Gebrauch  macht. 

Calvin  hat  sich  also  nicht  auf  die  Lektüre  des  Lombarden 
beschränkt.  Vielmehr  hat  er  —  so  würden  sich  die  Abweichungen 
zugleich  mit  der  weitgehenden  Übereinstimmung  erklären  — 
irgend  einen  Kommentar  über  den  Lombarden  benutzt.  Davon 
gibt  es  nun  freilich  mehrere  Hunderte.3  Den  Kommentar  finden 
zu  wollen,  den  Calvin  gerade  benutzt  hat,  ist  deshalb  ein  wenig 
aussichtsvolles  Bemühen,  zumal  durchaus  nicht  feststeht,  ob  er 
sich  auf  einen  einzigen  beschränkt  hat.  Die  drei  Vitae  * 
Calvins,  seine  Korrespondenz  und  die  Histoire  ecclesiastique  5 
Bezas  geben  hierüber  keinerlei  Auskunft.  Auch  Doumergue  6  hat 
hierüber  nichts  gefunden.  Jedoch  wird  sich  vielleicht  die  theo- 
logische Ri  c  h  t  u  n  g  jenes  Kommentars  oder  jener  Kommentare 
feststellen  lassen. 

Zunächst  steht  fest,  daß  Calvin  kein  thomistisches  Werk  über 
den   Lombarden   benutzt   hat.     Sagt   Calvin  doch   gerade,   daß   die 


1)  Loofs,    Dogmengeschichte,    4.  Aufl.    p.  541. 

2)  Loofs  a.  a.  O.  p.  545. 

3)  Wetzer  und  Weite   a.  a.  O. 

4)  C.  opera   XXI. 

5)  Histoire  ecclesiastique  des  eglises  reformees  au  royaume  de  France 
(1521 — 83),  edition  nouvelle  par  Baum,  et  par  Cunitz.  T.  I,  Paris  1883, 
p.  1  ff. 

6)  Jean  Calvin,  Les  hommes  et  les  choses  de  son  temps  par  E.  Dou- 
mergue.    T.  I.     La  jeunesse  de  Calvin,  Lausanne   1809. 


Von  Lic.  thcol.  H.  Strathmann.  215 


thomistische  Ansicht,  wonach  der  Prieser  selbst  die  Sünde  ver- 
gibt, von  den  Widersachern  nicht  vertreten  werde.  Übrigens 
würde  auch  das,  was  Calvin  vom  Verdienen  der  Gnade  sagt,  auf 

Thomas  nicht  passen  (Loofs,  p.  551)- 

Dagegen  weist  alles  auf  die  von  Occam  abhängige  Theo- 
logie des  späteren  Mittelalters,  als  deren  Hauptvertreter  im  enden- 
den 15.  Jahrhundert  Gabriel  Byel  (-}-  1495)  zu  betrachten  ist.  Was 
zunächst  den  oben  berührten  Punkt  betrifft,  so  teilen  Occam  und 
seine  Anhänger  durchaus  die  Ansicht  des  Lombarden,  wonach 
dem  Absolutionswort  des  Priesters  lediglich  deklarative  Be- 
deutung zukommt.1  —  Calvin  selbst  weist  uns  auf  diese  Spur, 
indem  er  die  Mahnung,  ut  faceret  quisque  quod  in  se  est  (op.  C.  I, 
p.  159),  in  der  Ausgabe  von  1539  als  „illud  Occamicum"  bezeichnet 
(op.  C.  I,  p.  343).  Freilich  fügt  er  hinzu :  nisi  fallor,  so  daß  er 
Occam  selbst  wohl  nicht  gelesen  hat.  Also  einen  späteren  occa- 
mistischen  Sentenzenkommentar. 

Für  die  occamistisch  gerichtete  Theologie  war  gerade  das 
zuletzt  zitierte  Wort  in  hohem  Maße  charakteristisch.  Nahm  Cal- 
vin vor  allem  daran  Anstoß,  daß  die  katholischen  Anweisungen 
die  Aufmerksamkeit  des  Sünders  immer  wieder  auf  sein  eigenes 
Tun  lenkten,  so  traf  dieser  Vorwurf  in  erster  Linie  die  occa- 
mistisch gerichtete  Theologie.  War  sie  doch  zu  derartigen  An- 
weisungen durch  ihr  Interesse  an  der  menschlichen  Freiheit  -  im 
besonderen  Maße  disponiert.  Auf  sie  traf  es  zu,  daß  über  der 
Beobachtung  der  einzelnen  Sünden  die  latens  vitiorum  lerna,  die 
interiores  sordes  vergessen  wurden.  Der  Begriff  der  Erbsünde  ist 
hier  völlig  verflach  t.  Sie  ist  nicht  aliquid  positivum,  sondern 
carentia  iustitiac  originalis  debitae,  durch  die  aber  im  Menschen 
nichts  Wesentliches  verändert  wird.3  Durch  die  Sünde  nihil  corrum- 
pitur  nee  tollitur  in  anirna  (Occam  a.a.O.  sub  C).  Auch  nach 
dem  Sündenfall  ist  der  Mensch  in  puris  naturalibus.  Die  rectitudo 
.  .  naturalis  voluntatis,  .  .  sc.  libertas,  non  corrumpitur  per  pecca- 
tum ;    illa    enim    est    realiter    ipsa    voluntas    nee    ab    ea    separabilis 


1)  Occam,  Super  IV  libr.  sententiarum,  Lyon  1495,  1.  IV  qu.  8  und  9 
sub  Q.  —  Byel,  Collcctorium  circa  IV  sententiarum  libros,  Ba>cl  1512, 
1.    IV.    dist.  18,  q.  1,   arl.  2,   sub   J.  K. 

2)  Ct.    Hermelink   a.a.O.    p.  1141'!. 

3)  Cf.  Altenstaig,  Lexicon  Theologicum,  2.  Aufl.,  Venedig  1583;  1.  Aufl. 
nach  f.  535  a  vom  Jahre  1525.  Die  Epistola  nuneupatoria  wie  die  Vorrede 
an  die  Theologiae  amatores  vom  Jahre  1517  —  sub  voce:  peccatum  ori- 
ginis    f.  351  b. 


2  I  6  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

(Byel,  1.  II  D  XXX,  qu.  i  sub  H).  Wie  denn  auch  der  Tod  nicht 
erst  durch  die  Sünde  gekommen  ist,  in  statu  innocentiac  nur 
nicht  poena,  sondern  conditio  naturalis  gewesen  sein  würde  (ibid.). 
Die  Sünde  wird  nur  in  ihrer  Vereinzelung  be- 
trachtet: peccatum  mortale  nihil  aliud  est,  nisi  aliquem  com- 
misisse  vel  omisisse  actum,  propter  quem  deus  ordinavit  ad 
poenam  aeternam  (Occam  a.  a.  O.). 

Weil  die  menschliche  Freiheit  intakt  geblieben  ist,  deshalb 
konnte  im  Rahmen  dieser  Theologie  der  Gedanke:  deus  statuit 
non  deesse  facienti  quod  in  se  est1  „bis  zum  Überdruß 
wiederholt"  und  der  ganze  Heilsprozeß  „unter  den  Gesichtspunkt 
des  Verdienstes''  gestellt  werden.'2  Homo  faciat,  quod  in 
se  est,1  d.  h.  er  vollziehe  die  detestatio  peccati.  Das  kann  er. 
Denn  diese  ist  ein  motus  liberi  arbitrii.  Gott  non  iustificabit  te 
sine  te.  Er  fordert  von  uns  einen  motus  voluntatis  respectu  pec- 
cati, prohibentis  gratiae  infusionem,  d.  h.  die  displicentia  peccati. 
Damit  erwirbt  man  sich  ein  m  e  r  i  t  u  m  de  congruo  für  die  iusti- 
ficatio.  Denn :  anima  .  .  obicis  remotione  ac  bono  motu  in  deum 
ex  arbitrii  libertate  elicito  primum  gratiam  mereri  potest  de 
congruo,  quia  actum  facientis  quod  in  se  est  deus  acceptat  ad 
retribuendam  gratiam  primam.3 

Diese  displicentia  peccati  begründet  ein  solches  meritum  frei- 
lich nur  dann,  wenn  jene  dispositio  s  u  f  f  i  c  i  e  n  s  ist,  d.  h.  d  e  - 
b  i  t  e  circumstantionata  circumstantiis  omnibus  inesse  debitis.  Die 
displicentia  muß  sein  de  omnibus  peccatis  und  secundum 
o  m  n  e  s  circumstantias  requisitlas  ad  peccatorum 
remissionem.4 

Wo  man  so  die  displicentia  oder  contritio  sufficiens  bestimmte, 
war  es  die  notwendige  Folge,  daß  man  bis  ins  Einzelnste  den 
Charakter  der  Sünden  untersuchte.  So  erörtert  Byel  mit  großer 
Gründlichkeit  die  Frage,  welche  circumstantiae  von  dem  Beich- 
tenden mit  zu  bekennen  seien. 5  Dabei  mußte  dann  die  mühevolle 
Unterscheidung  zwischen  peccata  mortalia  und  venialia  6  und  die 


i)  Byel,  L.  IV  dist.  14  qu.  2  sub  H. 

2)  Seeberg,    Dogmengeschiehte    2,    186  f. 

3)  Altenstaig  a.a.O.   289a.    1   nach   Byel. 

•  4)  Byel.    L.    IV   dist   14   qu.  2   sub    H.   —   Altenstaig    a.  a.  O.    105  a,    I, 
nach   Byel. 

5)  Byel,  L.  IV  dist.  17  qu.  isub  M.  O.     Cf.  Altenstaig  a.a.O.  73  b.  2  f. 

6)  Wie    schwierig    selbst    dem    katholischen    Theologen    diese    Unter- 
scheidung   wurde,    geht    daraus    hervor,    daß    Altenstaig    nicht    weniger    als 


Von  Lic.  theo!.  H.  Strathmann.  2  17 


Frage  nach  der  quantitas  und  qualitas  der  Sünde  zu  quälender 
Gewissenserforschung  führen. 

Wie  sehr  dies  alles  der  Schilderung  Calvins  entspricht,  braucht 
nicht  ausgeführt  zu  werden.  Hier  finden  wir  die  Züge,  die  beim 
Magister  fehlten  (cf.  oben  p.  213  f.).  Sic  wird  hier  auch  in  Einzel- 
heiten bestätigt.  So  rinden  wir  bei  Byel1  z.  11.  die  von  Calvin  an 
letzter  Stelle  genannte  Auffassung  der  Schlüsselgewalt  (die  frei- 
lich nach  Op.  C.  I,  p.  157  Anra.2  bereits  auf  Hugo  zurückgeht); 
ferner  gehört  Byel  zu  den  „besonders  Scharfsinnigen",  die  die 
confessio  zugleich  göttlichen  und  menschlichen  Rechts  sein  lassen  2 
u.  a.  m.  — 

Alle  die  wichtigeren  Züge,  die  Calvin  in  seiner  Skizze  der 
römischen  Bußlehre  über  den  Lombarden  hinaus  bietet,  finden 
sich  in  der  occamistischen  Theologie  des  atisgehenden  Mittelalters 
wieder,  als  deren  Zeugen  wir  Byel  herangezogen  haben.  Nicht,  als 
ob  Calvin  gerade  diesen  benutzt  hätte.  Formelle  Abweichungen 
schließen  das  aus.  Für  die  calvinische  Formel  contritio  debita  i.  e. 
iusta  et  plena  z.  B.  bietet  Byel  regelmäßig  displicentia  oder  dis- 
positio  debite  circumstantionata,  die  freilich  gleichen  Sinnes  ist. 
—  Aber  es  ist  der  Geist  dieser  Theologie,  den  Calvin  straft. 
Denn  mehr  als  anderswo  war  man  hier  überzeugt  von  dem  letzt- 
lich ungebrochenen  Vermögen  des  natürlichen  Menschen,  der  aus 
sich  heraus  sich  aufrafft  zur  detestatio  peccati ;  der  sich  in  eine 
dispositio  sufficiens  versetzt  für  den  Empfang  der  iustificatio ;  es 
entsprach  ganz  dem  Sinn  dieser  in  so  hohem  Maße  für  das  mensch- 
liche Vermögen  interessierten  Theologie,  daß  man  mit  größtem 
Eifer  auch  die  detaillierten  Züge  der  einzelnen  Sünden  erforschte 
und  den  Schmerz  maß.  anstatt  mit  beiden  Augen  auf  die  Barm- 
herzigkeit Gottes  zu  schauen.  Das  raubte  dem  Menschen  seine 
Heilsgewißheit  und  Gott  seine  Ehre.  Das  erweckte  den  Eifer 
Calvins.      Denn    etwas    Höheres    hatte    er    nicht    zu    verteidigen. 

Wichtiger  jedoch  als  diese  Beziehungen  zur  katholisch-mittel- 
alterlichen Theologie  ist  für  das  Verständnis  Calvins  die  Frage, 
welche  Quellen  positiv  für  die  Bildung  seiner  eigenen  Lehre  maß- 
gebend gewesen  sind.  Denn  er  hatte  das  evangelische  Verständnis 
des   Christentum   nicht    mehr   erst   wieder   zu   entdecken.      Es   war 


22    einzelne    Regeln    de    cognitione    peccati    mortalis    anzuführen    für    nöiig 
hält,   a.  a.  O.  355  b,   2  ff. 

1)  L.  IV  dist.   iS  qu.   1   sub  e.  D.  —  Altenstaig  75  b. 

2)  Cf.  Hb.   IV  dist.   17  qu.   1. 


2  i  8  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


bereits  wiederentdeckt.  Er  hatte  nur  das  Wiederentdeckte  zu 
lernen. 

Als  Fingerzeig  zur  Beantwortung  der  Frage  kann  uns  die 
andere  dienen:  Wer  sind  die  docti  quidam,  die  longe  ante  haec 
tempora  die  von  Calvin  abgelehnte  Auffassung  der  Buße  vertreten 
haben?  Wer  sind  die  alii,  deren  Unterscheidung  zwischen  poeni- 
tentia  legalis  und  evangelica  Calvin  ebenfalls  zurückweist  ?  Beides 
kann  deshalb  als  Fingerzeig  benutzt  werden,  weil  Calvin  die  sach- 
liche Richtigkeit  der  Beobachtung  jener  Männer  ohne  weiteres 
zugibt  und  auch  die  Ablehnung  in  die  anerkennendste  Form 
kleidet. 

Könnte  man  hier  nun  zunächst  an  die  um  Faber  Stapulensis 
sich  scharenden  reformfreundlichen  Kreise  Frankreichs  denken, 
mit  denen  Calvin  vieles  verband  l  oder  an  oberdeutsche  Theologen, 
wie  Zwingli,  Bullinger,  Capito  u.  a.,  so  findet  man  die  Formeln  der 
docti  quidam  viri  und  der  alii  hier  doch  nirgends.  Man  findet  sie 
dagegen  bei  Melanchthon  und  bei  Bucer. 


i)  Doumergue  speziell  hat  deren  Bedeutung  sehr  hoch  angeschlagen, 
aber  völlig  falsch  beurteilt  (a.  a.  O.  Bd.  i,  bes.  cap.  2  0.78  ff.).  Fabers  be- 
rühmter Evangelienkommentar  erschien  in  Paris  1522.  In  diesem  Werk 
tritt  die  evangelische  Erkenntnis  doch  sehr  wenig  hervor.  Der  G 1  a  u  - 
bensbegriff  ist  durchaus  katholisch.  Credere  und  anteiligere  stehen 
echt  scholastisch  einander  gegenüber.  Credulitas  ist  die  Vorstufe  der 
intelligentia  und  überragt  diese  in  ihrem  Umfang  weit.  Immensitas  credeiv 
dorum  (!)  ac  maiestas  humanam  mentem  opprimit  (Vorrede  fol.  4;  —  nach 
einem  Baseler  Druck  v.  J.  1523  aus  der  Offizin  Andr.  Cratanders).  Auch 
die  Rechtfertigungslehre  ist  katholisch.  Die  Iustificatio  ist 
sanatio;  die  sanitas  aber  ist  die  divinae  voluntatis  adimpletio  (fol.  88  zu  Mt. 
20,  31;  fol.  41  zu  Mt.  11,  12  f.).  Die  Iustitia  novae  legis  ist  eine  doppelte: 
quaedam  operum  quam  imitando  Christum  assequimur.  Altera  fidei.  qua 
a  deo  iustificamur  .  .  .  Haec  charisma,  illa  habitus  .  .  .  Haec  consummans 
et  perficiens;  illa  praeparans  et  incipiens  (fol.  32  z.  Mt.  6,  33).  Die  iustitia 
fidei  und  die  iustitia  operum  ergänzen  einander.  —  Auch  die  Ethik  verrät 
katholische  Stimmung,  katholische  Tendenzen.  Er  unterscheidet  zwei 
vitae:  die  vita  activa,  für  die  Masse.  Auch  diese  ist  fromm  und  gut.  Und 
die  vita  contemplativa,  für  wenige.  Diese  erwartet  die  copiosa  merces 
gratiae,  quam  inde  (d.  h.  wegen  ihres  dein  Seligpreisungen  entsprechenden 
Lebens)  percepturi  sunt,  sed  eo  maxime,  quod  ipsius  (d.  h.  Jesu)  sunt  imi- 
tatores,  qui  haec  omnia  (was  die  Seligpreisungen  sagen:  pauper,  mitis  etc.) 
in  veritate  erat  (fol.  21  f.  z.  Mt.  5,  1  ff.;  84  z.  Mt.  19,  12).  —  Faber  vertritt 
das  Schriftprinzip.  Aber  das  macht  ihn  nicht  zum  Protestanten.  Occam 
hatte  es  bekanntlich  längst  aufgestellt.  Nur  in  Einzelheiten  hat  Faber 
daraus  kritische  Folgerungen  gezogen  (cf.  z.  B.  die  Ablehnung  der  ponti- 
ficia  ligandi  solvendique  potestas,  fol.  81  f.  z.  Mt.  16,  18).  Sein  Verständnis 
des  Christentums  hat  das  Herkömmliche  wesentlich  nicht  überschritten.  —  Von 
Faber  also  konnte  Calvin  nicht  viel  lernen,  jedenfalls  keine  irgendwie  be- 
deutenden  Anregungen   empfangen. 


Von  Lic.  theol.   H.  Strathmann.  2  IQ 


Die  persönlichen  Beziehungen  zwischen  Calvin  und  Melanch- 
thon  waren  seit  ihrem  Zusammentreffen  in  Frankfurt  im  Februar 
[539  recht  lebhafte.  Dem  Bericht  Calvins  an  FareP  über  diese 
Begegnung  merkt  man  die  große  Freude  an,  mit  dem  berühmten 
Philippus  gesprochen  zu  haben.  Von  Melanchthons  Schriften 
dürften  die  loci  Calvin  zuerst  bekannt  geworden  sein.  Später 
kannte  er  sie  jedenfalls  und  schätzte  sie  so  hoch,  daß  er  sie  1546 
mit  einem  höchst  anerkennenden  Vorwort  in  französischer  Sprache 
herausgab.  Der  Name  des  Verfassers  sei  unter  den  gens  de  lettres 
so  berühmt,  daß  nur  die  französische  Ausgabe  des  Werkes 
das  Vorwort  Calvins  dem  Vorwurf  der  Anmaßung  entziehe.2 

Calvin  hat  aber  bereits  bei  der  ersten  Ausarbeitung  der  In- 
stitutio  im  Sommer  1535  die  loci  gekannt  und  gerade  mit  jenen 
Sätzen  über  die  docti  quidam  viri  sich  auf  sie  bezogen,  und  zwar 
auf  die  loci  in  der  Gestalt  von  1521.  Zwar  wäre  es  der  Zeit  nach 
nicht  durchaus  unmöglich,  daß  er  die  Ausgabe  von  1535  bereits 
benutzt  hätte.  Calvin  schloß  seine  Institutio  Mitte  August  ab. 
Die  Vorrede  an  den  König  Franz  I.  von  Frankreich  ist  datiert 
vom  23.  August  1535.  Die  neue  Ausgabe  der  loci  iaber  verließ 
Ende  April  oder  Anfang  Mai  die  Presse.3  Sie  könnte  also  Calvin 
noch  rechtzeitig  zu  Gesicht  gekommen  sein.  Aber  einmal  würde 
hierauf  das  longe  ante  haec  tempora  nicht  passen.  Sodann  stim- 
men die  Sätze  dieser  Ausgabe  auch  inhaltlich  nicht  mehr  zu  den 
Formeln  der  docti  quidam  viri.  Denn  es  heißt  dort  nicht  mehr, 
die  Buße  bestehe  aus  mortificatio  und  vivificatio ;  wir  lesen  viel- 
mehr:  Nos  docendi  causa  partes  duas  poenitentiae  facimus,  con- 
tritionem  et  fidem.  Si  quis  vellet  adderc  tertiam  (wie  das  Me- 
lanchthon  selbst  später  regelmäßig  tat),4  quae  tarnen  effectus  est, 
videlicet  totam  novitatem  vitae  ac  moruni,  non  repugno. 5  Hier 
fehlen  die  charakteristischen  Ausdrücke  mortificatio  und  vivificatio. 
Und  die  tertia  pars   fehlt   bei   Calvin. 

Dagegen  passen  die  Formeln  der  docti  quidam  viri  bei  Calvin 
genau  auf  die  loci  vom  Jahre   1521.     Wir  lesen  dort  folgendes6: 


1)  Br.    v.    16.    TU.   39  u.    Endo    März   39    u.    Ende    April    39   an    Farel. 
Herminjard   V   p.  247.   267.   289. 

2)  Opera    Melanchthonis   XXII   p.  667.  674. 

3)  Mel.   Br.   an   Lachmann  vom  25.   IV.    1536,   Corp.   Ref.  2  p.  871. 

4)  Ct.  z.B.  Corp.  Ref.  23  p.  46;  24  p.  426;  25  p.  23.  61  f.   u.  oft. 

5)  Corp.   Ref.    XXI  10.489- 

6)  Ich  zitiere  nach  der  Ausgabe  der  Loci  commune*  von  Plitt.  in  3.   A 
v.    Kolde.     Leipzig    1900. 


2  20  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

In  iustificandis  .  .  peccatoribus  primum  hoc  opus  dei  est,  revelare 
peccatum  nostrunr,  confundere  conscientiam  etc.  (p.  156).  Dies 
geschieht  durch  das  Gesetz.  Hie  satis  sit  monuisse,  hoc  opus 
legis  initium  esse  poenitentiae  .  .  .  Iustificationem  hominis  .  . 
auspicatur  mortificatio,  iudicium,  confusio,  quae  fit  .  .  per  legem 
(p.  157).  .  .  .  Hie  si  credat  afflieta  conscientia  promissioni  gratiae 
in  Christo,  fide  resuscitatur  et  yivificatur  (158).  .  .  Iustificamur  .  ., 
cum  mortificati  per  legem  resuscitamur  verbo  gratiae  (164).  Der 
Abschnitt  über  die  poenitentia  faßt  diese  Gedanken  zusammen: 
Est  .  .  poenitentia  vetustatis  nostrae  mortificatio  et  renovatio 
spiritus.  .  .  Mortificatio  fit  per  legem,  ut  supra  dictum  est.  Nam 
haec  conscientiam  terret  et  oeeidit.  Vivificatio  fit  per  evangelium 
seu  per  absolutionem.  .  .  .  Ouod  mortificationem  nos  vocamus, 
scholastici  contritionem  voluerunt  dici  (p.  234).  —  Eben  in  diesem 
Sinne  bezeichnet  die  Taufe  beides,  mortificatio  und  vivificatio. 
Nemo  enim  iustificatur,  nisi  qui  ante  mortificatus  fuerit  (252  f  j). 
Cf.  auch  p.  241  :  poenitentiae  partes  duae  sunt,  mortificatio  et  vivi- 
ficatio. Mortificatio  fit,  cum  conscientia  lege  terretur,  vivificatio, 
cum  per  absolutionem  erigeris  et  confirmaris. 

Es  sind  genau  dieselben  Formeln,  dieselben  Gedanken,  wie 
bei  den  docti  quidam  viri  Calvins.  Die  Übereinstimmung  ist  eine 
vollkommene  (cf.  oben  p.  191  f.).  Alit  den  docti  quidam  viri  ist 
Melanchthon  gemeint. 

Calvin    beanstandet    die    Formulierung,    indessen    nicht,    ohne 

seine  sachliche  Übereinstimmung  hervorzuheben  (Haec,  quam- 

quam  omnia  vera  sunt  etc.,  op.   C.  I,   148).     Deshalb  und  bei  der 

erwähnten  Hochschätzung  der  loci   Melanchthons   seitens   Calvins 

liegt  die  Annahme  nahe,  daß  die  Lektüre  der  loci  doch  nicht  ohne 

Einfluß  auf  ihn   srewesen  sein  wird. 
fe  • 

Die  Vermutung  bestätigt  sich.  Zum  Beweise  dessen  führe  ich 
zunächst  einige  zum  Teil  mehr  formelle  Parallelen  an,  die  die 
Spuren  der  loci-Lektüre   bei   Calvin   deutlich   hervortreten   lassen. 

1.  Calvin  unterscheidet  p.  56  einen  doppelten  Glaubensbegrifr, 
rvvei  fidei  formae :  altera  est,  si  quis  credit  deum  esse,  historiam, 
quae  de  Christo  narratur,  veram  esse  arbitretur.  Diese  fides  sei 
jedoch  nullius  momenti  und  verdiene  den  Namen  nicht.  Dieselben 
Gedanken  führt  Melanchthon  in  dem  Abschnitt  de  iustificatione 
et  fide  aus:  solcher  Glaube  sei  frigida  opinio,  nicht  fides  (p.  166, 
J78).     Über  den  wahren   Glauben  heißt  es  dann 


Von  Lic.  thi?ol.   H.  Str.ithm.inn.  ::  [ 


bei  Calvin  (p.   3  bei  Mclanchton  (p.   1721. 

altera  est,   qua  ...  in   deum  cre-  cor  est  erectum  fiducia  et  gaudio 

dimus  et   Christum  .  .  .  hoc  est  ...  in  deo,  cum  hanc  unam  fiduciam  re- 

spem  omnem  ac  fiduciam  in  uno  quirat  deus  .  .  .  ne  de  bona  volun- 

deo    ac    Christo    reponere   hacque  täte  erga  nos  sua  dubitemus,  ut 

cogitatione    sie    offirmatos    esse,    ut  ponamus  in   deo   spem   nostram 

de  bona  dei  erga  nos  voluntate  et  non  obliviscamur  operum  dei  etc. 
nihil  dubitemus. 

Calvin  führt  dann  aus,  daß  man  sich  alles  dessen,  was  uns  not  sei, 
tum  in  animae,  tum  in  corporis  usus,  von  ihm  versehen  mü 
Dem  entspricht,  was  Melanchthon  p.  173  über  die  Gut 
sagt,  die  uns  in  geistlichen  und  leiblichen  Nöten  helfe.  Calvin 
erklärt,  der  Glaube  erwarte  alles,  was  uns  von  Gott  verheißen  ist 
—  ein  bei  [Melanchthon  immer  wiederkehrender  Gedanke  (cf.  z.  B. 
p.  170,  173).  Calvin  erklärt:  verbum  .  .  dei  objeetum  est  et  scopus 
fidei,  in  quem  collimare  debet  (p.  57  oben).  Melanchthon  sagt  im 
selben  Abschnitt:  Quid  igitur  fides?  Constanter  assentiri  omni 
verbo  dei.  —  Beide  rechtfertigen  den  evangelischen  Glaubens- 
begriff an  Hebr.  11,  1  (loci  p.  174,  Inst.  p.  57). 

2.  Calvin  sagt  p.  50  über  die  Befreiung  vom  Gesetz :  Multi, 
cum  vellent  signiheare  hanc  a  legis  maledictione  liberationem, 
dixerunt.  abrogatam  esse  legem  fidelibus  ;  non  quod  non  amplius 
illis  iubeat,  quod  rectum  est,  sed  duntaxat  ne  sit  illis,  quod  antea 
erat,  hoc  est,  ne  eorum  conscientias  mortis  nuncio  confundat  et 
perterreat,  ne  damnet  et  perdat.  —  Das  entspricht  genau  der 
Meinung  Melanchthons :  Xecesse  est  .  .  fateri  decalogum  .  .  anti- 
quatum  esse.  .  .  Est  autem  libertas  in  eo,  quod  ius  omne  legi 
ereptum  est  aecusandi  et  damnandi  nos  (206).  Abrogata  lex  est, 
non,  ut  ne  hat,  sed  ut  et  non  facta  non  damnet  et  fieri  possit 
(210;  cf.  213).  Xec  aliud  est  abrogatio  legis,  quam  legi  ad  eum 
modum  ius  esse  ademptum  per  Christum,  damnandi  peccatores 
(222).  Auch  für  die  Gläubigen  kommt  das  Gesetz  dauernd  in 
Betracht  in  mortificanda  carne  (220). 

3.  Die  christliche  Freiheit  besteht  nach  Calvin  darin,  a)  daß 
man  vom  Fluch  des  Gesetzes,  von  der  legis  iustitia,  frei  ist ;  b)  daß 
man  das  Gesetz  aus  innerem  Antriebe  erfüllt ;  c)  in  dem  freien 
Gebrauch  der  res  externae,  der  Adiaphora  (p.  196  ff.).  Genau  so 
besteht  bei  Melanchthon  die  Freiheit  darin,  a)  daß  das  Gesetz 
nicht  verdammen  kann,  b)  daß  die,  die  in  Christo  sind,  spiritu 
trahuntur  ad  legem  faciendam ;  sie  würden  es  tun  aus  innei 
Antrieb,  etiamsi  nulla  esset  lex  data  (207  f.) ;  c)  die  Freiheit  gegen- 


22  2  D'e  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


über  dem  res  externae  wird  von  Melanchthon  nicht  ausdrücklich 
als  drittes  Stück  genannt,  aber  in  seinen  Ausführungen  überall 
mit  berücksichtigt  (bes.  p.  205  f.,  135  ff.)-  Denn  mit  der  Freiheit 
gegenüber  den  res  externae  meint  auch  Calvin  die  gegenüber  den 
Zeremonien   (p.  198). 

4.  Beide  bezeichnen  die  Taufe  als  sacramentum  poenitentiae 
(Inst.  177,  loci  231  f.,  234).  Beide  verwenden  den  Durchzug 
Israels  durchs  rote  Meer  zur  Illustration  der  Bedeutung  der  Taufe, 
die  in  ihm  „abgeschattet"  ist  (adumbrare ;  loci  p.  230,  Inst.  p.  112). 
Beide  bezeichnen  die  römische  Bußlehre  als  carnificina  (Inst.  p.  158, 
loci  138).  Beide  verwerten  den  Bericht  der  historia  tripartita 
über  die  Abschaffung  des  poenitentiarius  durch  Nectarius  in  Con- 
stantinopel  zur  Kritik  der  römischen  Bußlehre,  zum  Erweise  dessen, 
daß  die  Papisten  sich  nicht  auf  das  votum  der  alten  Kirche  stützen 
können  (Inst.  p.  155,  loci  p.  237  f.).  Wie  nach  Calvin  (p.  156),  so 
bestehen  auch  nach  Melanchthon  —  abgesehen  von  dem  not- 
wendigen Bekenntnis  der  Sünden  vor  Gott,  welches  iuris  divini 
sei,  zwei  Formen  der  Privatbeichte  zu  Recht:  primum  illa,  cum 
privatim  reconciliamus  eos,  quos  offendimus,  nach  Mt.  5,  2^,  worauf 
auch  Calvin  sich  beruft,  und  nach  Jak.  5,  16,  das  Calvin  für  die 
zweite  Form  verwertet,  nämlich  da,ß  die,  quorum  conscientiae 
angebantur  aliqua  de  re,  sanctos  et  peritos  rerum  spiritualium 
consulerent  et  ab  illis  absolverentur.  Diese  letztere  Form  nennt 
Melanchthon  die  kirchliche,  ohne  doch  an  kirchlich-gesetzmäßige 
Regulierung  zu  denken  (Melanchthon  p.  239).  —  Bei  der  Be- 
sprechung der  Unterscheidung  non  peccata  venialia  und  mortalia 
sagt  Calvin :  Caeterum,  fidelium  peccata  venialia  esse, 
non  quia  non  mortem  mereantur,  sed  quia  dei  misericordia 
nulla  est  condemnatio  iis  qui  sunt  in  Christo  Iesu,  quia  non  i  m  - 
p  u  t  a  n  t  u  r  (p.  170).  Bei  Melanchthon  lesen  wir :  Contra  ve- 
nialia peccata  sunt  omnia  sanctorum  o  p  e  r  a  ,  nempe 
quod  per  misericordiam  dei  credentibus  condonentur.  — 
Diesen  Einzelheiten  ist  nicht  als  nebensächlichste  die  hinzuzufügen, 
daß  Calvin  wie  Melanchthon  zur  Beschreibung  der  Buße  die 
Wörter  mortificatio  und  vivificatio,  wenn  auch  in  anderem  Sinne, 
verwendet.  Denn  diese  waren  keineswegs  eine  allgemein  übliche 
Ausdrucksweise,  wenigstens  nicht  in  ihrer  Zusammenstellung.  — 
Diese  zahlreichen,  z.  T.  mehr  formalen,  z.  T.  doch  auch  schon 
tief  in  das  materiale  Verständnis  des  Christentums  eingreifenden 
Berührungen  zwischen  Calvin  und  Melanchthon,  beleuchten  deut- 


Von  Lic.  theol.   H.   Strathmann.  22\ 


lieh  die  theologische  Abhängigkeit  der  Institutio  1536  von  den 
loci  1521. 

Dieses  gilt,  obwohl  diese  Berührungen  nicht  ausschließlich 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Bußlehre  zusammengestellt  wurden, 
doch  auch  für  diese.  Schon  jene  Berührungen  stehen  zu  dieser 
vielfach  in  nächster  Beziehung.  Gerade  hier  aber  geht  der  sach- 
liche Parallelismus  viel  weiter.  Obwohl  Calvin  die  melanchthonische 
Formulierung  ablehnt,  so  lassen  sich  seine  Gedanken,  von  be- 
stimmten Abweichungen  abgesehen,  doch  fast  alle  aus  Melanch- 
thon   belegen. 

Wenn  Calvin  sagt,  daß  der  Mensch  sich  die  Erkenntnis  seines 
Sündenelends  von  Gott  zu  erbitten  habe,  weil  er  es  sich  nicht  selbst 
geben  kann  (p.  31),  so  lesen  wir  bei  Melanchthon :  peculiare  dei 
opus  est  peccati  in  nobis  cognitio  et  odium  (p.  104;  cf.  235).  Auch 
nach  Melanchthon  vollzieht  sich  dieses  Werk  durch  das  positive 
Gesetz  als  Ergänzung  der  lex  naturalis  oder  der  conscientia 
(p.  110,  inj.  Die  Wirkung  des  Gesetzes  beschreibt  Melanchthon 
ganz  wie  Calvin  :  es  soll  confundere  conscientias,  conterere  et  occi- 
dere  conscientiam,  oeeidere  et  damnare,  ostendere  radicem  peccati, 
aperire  vim  rationemque  peccati ;  confundere,  pavefacere,  terrere 
(p.  151 — 157).  Superbia,  tumor,  pertinacia  des  Menschen,  der 
meint  durch  Werke  sich  rechtfertigen  zu  können,  müssen  gebrochen 
werden  (p.  150).  Der  Gedanke,  daß  das  Gesetz  dieses  deshalb  er- 
reichen müsse,  weil  es  sich  nicht  mit  den  äußeren  Werken  begnügt, 
sondern  an  die  tiefste  Sinnesrichtung  des  Menschen  sich  wendet, 
begegnet  uns  auch  bei  Melanchthon  auf  Schritt  und  Tritt  (cf.  den 
Abschnitt:  vis  peccati  et  fruetus  p.  85 — 110,  120  f.,  149  ff.).  Es 
handelt  sich  um  die  Affekte,  um  die  affectus  cordis,  die  puritas  cor- 
dis,  nicht  um  laudabilia  in  speciem  opera.  Wie  Calvin,  so  weist 
auch  Melanchthon  auf  Rom.  7,  14  hin:  Lex  spiritualis  est,  i.  e. 
exigit  spiritualia,  veritatem,  fidem  glorifkantem  deum,  amorem 
dei  (p.  153;  cf.  Inst.  op.  C.  I  p.  43  ob.).  Dem  Umstand,  daß  Me- 
lanchthon in  den  loci  1521  die  Entstehung  der  Buße  nicht  auch  auf 
die  Predigt  des  Evangeliums  zurückführt,  wird  um  so  weniger  Be- 
deutung zuzumessen  sein,  als  auch  Calvin  dabei  nicht  an  eine  spezi- 
fisch , .evangelische"  Wirkung  des  Evangeliums  dachte  (cf.  oben 
p.  200  f.),  und  im  Sinne  Calvins  auch  Melanchthon  später  von  einer 
Erweckung  der  Buße  durch  die  Predigt  des  Evangeliums  ge- 
sprochen hat  (cf.  z.B.  loci  1535  Corp.  Ref.  XXI  p.  415». 

Dem,   daß   die   Buße   im   Menschen   durch   die   Gesetzesforde- 


2  2i\  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

rungen  Gottes  erzeugt  wird,  entspricht,  daß  Melanchthon  als  sub- 
jektives Motiv  die  Furcht  angibt.  Und  zwar  bleibt  diese  Furcht 
auch  im  Gläubigen  wegen  der  dauernd  ihm  anhaftenden  Unvoll- 
kommenheit.  Non  potest  .  .  a  fide  timor  separari,  fides  miseri- 
cordiam  dei  solam  intuitur,  timor  iudicium  dei  et  opera  nostra 
(p.  199).  Doch  bleibt  die  securitas  des  Gläubigen  dadurch  unge- 
trübt. Beides,  das  dauernde  Erschrecken  des  Gewissens,  die  morti- 
ficatio,  und  den  ständigen  Trost  des  Glaubens,  die  vivificatio,  deutet 
die  Taufe  an,  die  eben  deshalb  signum  poenitentiae  heißt  (p.  231). 

Die  calvinische  deutliche  Nüancierung  der  Furcht  als  Re- 
spekt vor  dem  himmlischen  Herrn  tritt  bei   Melanchthon   zurück. 

Auch  für  das  neue  Leben,  das  er  zwar  selbst  nicht  zur  Buße 
rechnet,  bietet  Melanchthon  dem  Calvin  verwandte  Ausführungen. 
Notwendig  bringt  es  der  Geist  Gottes  im  Menschen  hervor.  Gott 
gibt  neben  der  gratia  auch  das  donum  in  gratia,  den  spiritus 
sanctus  mit  seinen  fructus  (p.  163).  Non  potest  non  praestari  deca- 
logus  effuso  in  corda  spiritu  (p.  212).  Auch  für  den  Gläubigen 
kommt  das  Gesetz  noch  in  Betracht,  freilich  nicht  eigentlich  als 
Kanon  des  sittlichen  Handelns.  Ein  solcher  ist  nicht  notwendig; 
aber  weil  der  Geist  gleichsam  dem  Dekalog  inhaltlich  kongenial 
ist,  ist  das  Resultat  seiner  Wirksamkeit  die  Erfüllung  des  Deka- 
logs. Jedoch  das  Gesetz  dient,  quatenus  caro  sumus,  zur  Er- 
tötung des  Fleisches  (p.  220;  cf.  oben  p.  54).  Aber  auch  psycho- 
logisch betrachtet,  kann  der  Glaube  nicht  anders,  als  neues  Leben 
erzeugen :  fides  non  potest  non  eflundere  se,  quin  in  omnibus  crea- 
turis  deo  cupidissime  serviat ;  —  non  potest  non  redamare  deum  ac 
gestire  et  velut  gratitudinem  suam  mutuo  aliquo  officio  pro  tanta 
misericordia  testari.  —  Effundit  se  in  proximos  quoque  (p.  189). 
Die  viva  fides  ist  nunquam  non  parturiens  bonos  foetus  (p.  194). 
Vermittelt  ist  dieses  non  posse  durch  das  Gefühl  der  Dankbarkeit. 
Den  Rekurs  auf  den  Willen  Gottes  als  durchschlagendes  Motiv 
bringt  Melanchthon  nicht. 

Auch  Melanchthon  hebt  hervor,  daß  allein  der  Glaube  zu 
einem  Gott  wohlgefälligem  Leben  befähigt,  weil  nur  der  Gläubige 
die  Zuversicht  haben  kann,  daß  sein  Tun  Gott  wohlgefalle  (Inst, 
p.  198  ob.,  loci  169). 

Inhaltlich*  ist  auch  bei  Melanchthon  das  neue  Leben  durch  die 
Liebe  zu  Gott  und  zu  dem  Nächsten  bestimmt,  freilich  nicht  als 
Gehorsam,  sondern  auch  inhaltlich  als  psychologischer  Reflex  der 


Von  Lic.  thcol.  H.  Slrathmann.  2  25 


Gottesliebe  (p.  189).  Der  Gesichtspunkt  der  ßhre  Gottes  Eehlt  fast 
völlig. 

Schließlich  lehnt  Melanchthon  wie  Calvin  a  limine  den  Ge- 
danken ab,  daß  dem  menschlichen  Verhalten  —  auch  seinem  Sün- 
denschmerze  nicht  —  irgendwie  eine  kausale  Bedeutung  für  die 
Erlangung  der  Vergebung  zukomme.  Soli  fidei  wird  die  iustificatio 
gegeben.  Est  enim  credere  nullo  ullorum  operum  respectu  fidere 
divina  misericordia  (p.  184).  Ouaqua  te  verteris,  sive  ad  opera 
praecedentia  iustificationem,  sive  ad  ea  quae  sequuntur  iustifica- 
tionem,  nullus  nostro  merito  locus  est  (p.  185).  Nee  dolore  tuo 
fidas,  quasi  ideo  condonetur  peccatum,  quod  doleat,  sed  potius  .  . 
absolutione  et  verbo  dei  (235).  Der  Glaube,  die  Heilsgewißheit 
schließt  jeden  Gedanken  an  die  eigenen  Werke  aus  (p.  164  ff. ; 
cf.  169).  Aber  weil  das  neue  Leben  notwendig  dem  Glauben  folgt, 
deshalb  werden  auch  von  Melanchthon  die  „Werke"  als  indicia, 
testimonia,  signa  des  Geistbesitzes  und  somit  des  Gnadenstandes 
gewertet  (p.  189).  — 

So  finden  wir  in  den  Grundzügen  des  fraglichen  Gedanken- 
komplexes einen  völligen  Parallelismus  zwischen  Calvin  und  Me- 
lanchthon. 

Da  nun  die  zuerst  angeführten  nahen  und  auffälligen  Be- 
rührungen zwischen  der  Institutio  von  1536  und  den  Loci  von  1521 
beweisen,  daß  Calvin  damals  die  Loci  gekannt  und  bei  der  Ab- 
fassung seines  Buches  benutzt  hat,  auch  bereits  beweisen,  daß  er 
an  wichtigen  Punkten  (Glaubensbegriff,  Abschaffung  des  Gesetzes, 
christliche  Freiheit)  sachlich  von  den  Loci  abhängig  ist,  so  ist  auch 
der  weitgehende  Parallelismus  in  den  um  die  Lehre  von  der  Buße 
sich  gruppierenden  Gedanken  auf  diese  Weise  zu  erklären ;  und 
zwar,  obwohl  Melanchthon  in  jenen  Ausführungen  nur  der  Dol- 
metsch lutherscher  Gedanken  ist :  Die  religiöse  Grundauffassung 
Luthers  ist  Calvin  wesentlich  mit  durch  Melanchthons  Loci  von 
1521  vermittelt  worden.  — 

Natürlich  ist  die  Abhängigkeit  keine  sklavische.  Calvin  ist 
kein  Nachbeter.  Das  zeigen  bestimmte  Unterschiede,  die  deutlich 
hervortreten. 

Ein  solcher  Unterschied  zeigt  sich  zunächst  in  der  Auf- 
fassung des  Bekehrungserlebnisses.  Melanchthon 
verweilt  mehrfach  bei  der  Möglichkeit,  daß  der  Mensch  längere 
Zeit  der  niederschmetternden  Wirkung  des  Gesetzes  ganz  über- 
lassen bleibt.     Er  beschreibt   die  Empfindung   des    Menschen,   der 

Calvinstudien.  '5 


2  2Ö  D'e  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


vom  Gesetz  zerbrochen  wird,  ohne  noch  die  Gnade  erkannt  zu 
haben,  als  odium  dei  (p.  202,  Th.  XVIII ;  cf.  p.  168  f.).  Ein  solcher 
Mensch  zürnt  dem  Urteil  Gottes,  weil  er  getan  hat,  was  er 
konnte,  und  doch  den  Forderungen  des  Gesetzes  nicht  gerecht  zu 
werden  vermochte.  In  diesem  odium  dei  bleibt  er  so  lange  be^ 
fangen,  bis  er  lernt  promissionem  misericordiae  dei  contemplari 
(p.  169).  —  Calvin  rechnet  mit  einem  solchen  Zustand  nicht.  Er 
rechnet  nicht  damit,  da«  die,  die  sich  bekehren,  Gott  vorher  lange 
nur  als  ultor  und  iudex  kennen.  Er  erwähnt  nur,  daß  dieser  Zu- 
stand bei  denen  vorkomme,  welche  schon  jetzt  im  Vorhof  der 
Hölle  sind  (p.  148  Mitte).  Eine  längere  Dauer  des  conteri  lege  vor 
dem  erigi  gratia  nimmt  er  also  nicht  an.  — 

Sodann  zeigt  sich  ein  deutlicher  Unterschied  in  der  begriff- 
lichen   Formulierung  (cf.   oben   p.  210  f.). 

Worin  liegt  die  Bedeutung  dieses  Unterschiedes? 

Obwohl  Calvin  den  Begriff  der  poenitentia  auch  auf  die  ter- 
rores  conscientiae  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Vorbereitung  des 
Glaubens  anwendet  und  insofern  die  rein  religiöse  Orientierung 
des  Begriffs  nicht  fehlt,  so  tritt  doch  in  der  Ausschaltung  der  fides 
aus  dem  Begriff  der  poenitentia  das  Bemühen  hervor,  das  Gebiet 
des  Religiösen  und  des  Sittlichen  begrifflich  schärfer  zu  trennen. 
Das  ist  zwar  insofern  noch  nicht  völlig  gelungen,  als  jene  Ge- 
wissenserschütterung noch  mit  zur  poenitentia  gerechnet  wird. 
Darin  zeigt  sich  eine  Nachwirkung  der  melanchthonschen  Formu- 
lierung. Indessen  wird  doch  die  positive  Seite  der  poenitentia,  die 
Erneuerung,  rein  auf  das  Sittliche  bezogen.  —  Diese  Beziehung 
der  poenitentia  auf  das  Sittliche  hat  nun  Melanchthon  natürlich 
nicht  ausschalten  wollen.  Er  denkt  bei  der  mortificatio  —  obwohl 
er  zumeist  (z.  B.  i  m  m  e  r  in  p.  231 — 36)  nur  die  Erschütterung  des 
Gewissens  im  Auge  hat  —  doch  gelegentlich  auch  an  die  Ab- 
tötung  der  sündlichen  Triebe  (z.  B.  p.  190,  220).  Darin  deutet  sich 
bereits  seine  spätere  Dreiteilung  der  Buße  in  contritio.  fides  und 
nova  oboedientia  an.  Doch  ist  eben  zu  beachten,  daß  Melanchthon 
weder  hier  noch  dort  sich  um  eine  klare  begriffliche  Unterschei- 
dung des  Sittlichen  vom  Religiösen  bemüht  hat,  während  bei  Cal- 
vin  beides    schon    1536  deutlicher   auseinandertritt. 

Die  schärfere  begriffliche  Trennung  beider  Gebiete  bei  Calvin 
kommt  auch  darin  zum  Ausdruck,  daß  bei  ihm  die  iustificatro 
immer  rein  forensisch-imputativ  gefaßt  wird.  Zwar  war  auch  für 
Melanchthon   schon    1521    in   der   Auffassung   dieses    Begriffs    die 


Von  Lic.  theol.  H.  Strath  mann.  22  7 


Vergebung"  durchaus  das  Primäre  (p.  loi,  [64  f.,  [68,  [84;  bes.  23  j  : 
est  enim  iustificationis  principium  peccati  cognitio  et  iudicii 
divini  metus,  consummatio  fides  et  pax  conscientiae).  Jedoch  hat 
Melanchthon  solche  Formulierungen  nicht  vermieden,  die  die 
..effektive''  Auffassung  nahelegten  oder  mindestens  mit  der  foren- 
sischen  verbanden  (p.  184:  coepta  enim  iustificatio  est,  nondum  con- 
summata,  weil  nämlich  auch  die  Werke  der  Gerechtfertigten  im- 
pura  sind.  p.  210:  iustificari  hie  coepimus,  non  absolvimus).  Diese 
Unklarheit  ist  bei  Calvin  verschwunden.  Deshalb  erscheinen  bei 
ihm  die  Rechtfertigung  und  das  neue  Leben  als  zwei  von  ( ! 
einander  nebengeordnete  Gnadengaben,  die  zwar  nicht  vonein- 
ander zu  trennen,  aber  doch  genau  zu  unterscheiden  sind  (cf.  oben 
p.  209).  Nun  unterscheidet  zwar  auch  .Melanchthon  von  der  gratia 
das  donum  in  gratia,  nämlich  den  Geist  mit  seinen  Früchten.  Aber 
eine  klare  Lehre  hat  er  dadurch  nicht  erreicht.  Denn  er  nennt  als 
Frucht  des  Geistes  nicht  nur  Caritas  und  spes,  sondern  auch  die 
fides.  die  doch  schon  in  der  Yoranstellung  der  gratia  vorausgesetzt 
war  (p.  163). 

Wo  es  sich  deshalb  um  die  psychologische  Ver- 
k  n  ü  p  f  u  n  g  beider  Gaben  handelt,  benutzt  zwar  auch  e  r  den 
nächstliegenden  Begriff  der  Dankbarkeit.  Aber  stärker  betont  er, 
daß  die  fruetus,  die  auch  inhaltlich  von  innen  heraus,  nicht  erst 
durch  die  Gebote,  bestimmt  sind,  gleichsam  triebhaft  aus  dem 
Glauben  hervorbrechen.  Calvin  dagegen  widmet  der  psycholo- 
gischen Verknüpfung  große  Aufmerksamkeit.  Das  neue  Leben 
entfaltet  sich,  obwohl  unbedingt  notwendig,  doch  nicht  triebhaft, 
sondern  durch  Gründe  bestimmt.  Und  weil  Calvin  nicht  einsieht, 
wie  auch  der  Christ  aus  sich  inhaltlich  das  Gute  sollte  finden 
können,1  so  spielt  bei  ihm  die  Rücksicht  auf  den  göttlichen  Herrn, 
der  allein  bestimmt,  was  gut  ist,  eine  große  Rolle.  Seine  Ethik  ist 
positivistisch ;  Sittlichkeit  ist  Gehorsam.  — 

Die  schärfere  begriffliche  Trennung  des  Sittlichen  und  Reli- 
giösen ermöglicht  denn  auch  eine  viel  intensivere  Betonung  der 
sittlichen  Forderung,  ohne  daß  der  Rechtfertigungsgedanke  da- 
durch irgendwie  gefährdet  würde.  Denn  die  Rechtfertigung  war 
ja     im     voraus     völlig     sichergestellt.       Die     Ansätze     zu     dieser 


1)  Für  das  Zutrauen,  das  Gute  aus  sich  ermitteln  zu  können,  ist 
charakteristisch,  daß  Mel.  wagte,  Grundzüge  eines  Naturrechts,  einer 
natürlichen  Sittlichkeit  zu  entwerfen,  wenn  er  dabei  auch  teilweise  auf  die 
Schrift  zurückgreift   (p.  110 — 115).     Calvin  lag  dergleichen  völlig  fern. 

IS* 


2  2  8  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

stärkeren  Hervorkehrung  der  sittlichen  Forderung  treten  in  der 
Institutio  von  1536  schon  darin  deutlich  zutage,  daß  Calvin  klar 
den  tertius  usus  legis  lehrt,  der  sich  bei  Melanchthon  erst  in  den 
loci  von  1535  findet. 

Schließlich  tritt  auch  in  der  inhaltlichen  Bestimmung 
des  neuen  Lebens  ein  Unterschied  hervor,  insofern  bei  Calvin  die 
Beziehung  auf  die  gloria  dei  das  schlechthin  Maßgebende  ist. 
Man  dient  der  gloria  dei  durch  Gehorsam.  Die  Liebe  zum  Näch- 
sten wird  nur  deshalb  gefordert,  weil  sie  von  Gott  geboten  ist. 
Ihre  Verbindung  mit  dem  Dienste  Gottes  ist  nur  eine  formale.  — 
Bei  Melanchthon  erwächst  aus  der  freien  Liebe  Gottes  unmittel- 
bar die  freie  Liebe  zum  Nächsten :  ex  amore  dei  nascitur  et  proximi 
amor,  cum  deo  simul  in  omnibus  creaturis  servire  cupimus  (p.  243). 
Unmittelbar  ist  in  der  Gottesliebe  die  Nächstenliebe  enthalten. 
Auch  begrifflich  lassen  sich  beide  eigentlich  nicht  trennen. 

Diese  Nuance  ist  nicht  gleichgültig.  In  ihr  liegen  die  Keime 
eines  praktisch  verschiedenen  Verhaltens.  Die  ständige  unmittel- 
bare Beziehung  auf  die  gloria  dei  ermöglicht  gegenüber  der  näch- 
sten menschlichen  Umgebung  ein  größeres  Freiheits-  und  Selb- 
ständigkeitsbewußtsein, eventuell  auch  größere  Rücksichtslosigkeit 
und  Schroffheit,  als  sie  dort  sich  finden  konnten,  wo  die  Gottes- 
liebe inhaltlich  alsbald  durch  die  Nächstenliebe  in  weitem  Maße 
bestimmt  wurde.  — 

Wie  lassen  diese  Eigentümlichkeiten  Calvins  sich  erklären? 

Nicht  durch  ein  Zurückgreifen  auf  Luther,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  Luther  es  ist,  der  in  den  loci  Melanchthons  redet. 

Daß  Calvin  schon  damals  Luthersche  Schriften  kannte,  ist 
freilich  unzweifelhaft.  Dies  ergibt  sich  zwar  nicht  aus  der  Rede 
des  Rektors  der  Pariser  Universität,  Cop,  des  Freundes  Calvins, 
vom  Allerheiligentage  1533.  Denn  Calvin  hat  mit  dieser  Rede 
nichts  zu  tun.1 

Jedoch  hat  er  den  kleinen  Katechismus  Luthers  bei  der  Ab- 
fassung der  Institutio  v.  J.  1536  gekannt  und  benutzt.  Luther 
berührt  die  Buße  hier  (wie  auch  im  Großen  Katechismus)  nur  ganz 
kurz,  gelegentlich  der  Taufe.  Was  Calvin  bei  der  Taufe  über  die 
Buße  als  die  sittliche  Umgestaltung  im  Christenleben  sagt,  ist 
hierdurch  bestimmt.  —  Von  den  übrigen  Schriften  Luthers  dürfte 
Calvin   am   ehesten   de   captivitate   kennen   gelernt   haben.      Deren 


1)  Lang,  Die  Bekehrung  Joh.  Calvins.  1897.  St.  z.  G.  d.  Th.  u.  K.  2,  r 
p.  I — 57  und    K.Müller,    Calvins    Bekehrung   p.  224  ff. 


Von  Lic.  theol.   H.   Strathmann. 


2  2') 


Eingangssatz:  „Velim  nolim  cogunt  me  adversarii  in  dies  fieri 
doctiorem"  hat  er  mehrfach  zitiert,  zuerst  1543  in  der  Schrift  über 
den  freien  Willen  gegen  Pighius.1  Schwerlich  hat  er  sie  erst  damals 
kennen  gelernt.  De  captivitate  war  die  am  schnellsten  und  weite- 
sten verbreitete  Schrift  Luthers.-  Doch  läßt  sich  die  Bekannt- 
schaft Calvins  mit  dieser  Schrift  für  das  Jahr  1535  nicht  direkt 
beweisen. 

Was  Calvin  über  die  Buße  sagt,  zeigt  jedenfalls  keine  Beein- 
flussung, von  dieser  Seite.  Denn  Luther  hebt  hier  aufs  stärkste 
hervor,  daß  die  Buße  in  jedem  Sinne  schlechterdings  des  Glaubens 
Werk  sei.  Aus  dem  Glauben  zugleich  an  die  Wahrheit  der 
göttlichen  Drohung  und  V  erheißung  folgt  die  contritio  gleich- 
zeitig mit  der  consolatio.3 

Das  ist  nun  nicht  etwa  eine  vereinzelte  Äußerung  Luthers. 
Vielmehr  zeigt  sich  hierin  die  ganze  Tiefe  seiner  Auffassung. 
Das  Gesetz  mit  seinem  Drohen  vermag  nämlich  wohl  Furcht  vor 
der  Strafe,  nie  aber  Haß  gegen  die  Sünde,  nie  die  mutatio  affectus 
—  auf  die  doch  alles  ankommt  —  zu  erzeugen.  Das  Gesetz 
allein  führt  zur  Heuchelei  oder  zur  Verzweiflung.  Der  Haß 
gegen  die  Sünde  entsteht  nur  aus  dem  amor  iustitiae ;  dieser 
kommt  nicht  aus  der  Furcht  vor  Strafe ;  er  entsteht  nur.  wenn  dem 
durch  Gesetz  und  Gerichtsdrohung  Erschütterten  sich  zugleich 
der  Ausblick  auf  die  göttliche  Gnade  öffnet.  Der  amor  iustitiae 
ist  nicht  nur  Produkt  einer  jenseits  unseres  Bewußtseins  sich  voll- 
ziehenden Gnadenwirkung,  sondern  er  setzt  auch  empirisch  das, 
wenn  auch  nur  anfangsweise,  Ergreifen  der  Gnade  im  Glauben 
voraus.  Ohne  diesen  Ausblick  auf  die  Gnade  erzeugt  das  Gesetz 
alsbald  Haß  Gottes.  Dieser  Gedanke  spielt  bei  Luther  eine  noch 
viel  größere  Rolle  als  bei  Melanchthon.  Weil  das  Gesetz  allein 
Haß  Gottes  erzeugt  und  nicht  imstande  ist,  den  Menschen  wirklich 
im  Innersten  zu  beugen  und  zu  gewinnen,  weil  dieses  vielmehr 
erst  durch  die  Gnade  erreicht  wird,  deshalb  setzt  die  wahre  Reue 
nicht  nur  die  fides  minarum,  sondern  auch  die  fides  promissionis 
voraus.4 


1)  Op.  C.  VI  p.  241:  aus  späterer  Zeit  op.  C.  IX  453  f.,  552. 

2)  Charakteristisch  ist  dafür,  was  Glareanus  am  4.  Juli  1521  aus  Paris 
an  Zwingli  schreibt:  Ego  sane  Lutheri  fere  nulla  habeo,  excepta  una  cap- 
tivitate babylonica.  Diese  habe  er  von  Anfang  bis  zu  Ende  dreimal  durch- 
gelesen, magna  admiratione  (Herminjard  I  p.  70  f.).  —  Cf.  Lang,  Deutsch- 
evang.    Blätter  21,  p.  323. 

3)  De  captivitate  etc.     W.  A.  VI  p.  545. 

4)  Cf.   Loofs.  D.  G.  4-   A.  p.  718  ff.     Seeberg,  D.   G.  II  220  t". 


2  7. 0  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

Noch  viel  deutlicher  als  bei  Melanchthon  tritt  hier  bei  Luther 
der  Unterschied  von  Calvin  in  der  Auffassung  des  Bekehrungs- 
prozesses hervor. 

Auch  in  den  anderen  Punkten  erklären  sich  die  Abweichungen 
Calvins  von  Melanchthon  nicht  durch  das  Zurückgreifen  auf  Luther. 
Eine  klare  begriffliche  Unterscheidung  des  Sittlichen  und  Reli- 
giösen findet  man  bei  ihm  nicht  mehr  als  bei  Melanchthon.  Er 
war  kein  Mann  der  begrifflichen  Distinktionen.  Sein  Sprach- 
gebrauch in  betreff  des  Wortes  poenitentia  war  nichts  weniger  als 
konstant.1  Er  vertrat  nicht  die  rein  forensisch-imputative  Recht- 
fertigungslehre.2 Das  neue  Leben  ergibt  sich  unmittelbar,  spontan 
aus  dem  Glauben,  auch  inhaltlich.*  Den  tertius  usus  legis  hat 
Luther  nie  gelehrt.4  Daß  man  der  gloria  dei  diene,  ist  für  ihn  so 
wenig  wie  für  Melanchthon  der  charakteristische  Ausdruck  zur 
Bezeichnung  des  Inhalts  des  neuen  Lebens.5 

Nun  ist  neuerdings  mehrfach  —  und  es  ist  mit  steigendem 
Nachdruck  geschehen  —  auf  die  Bedeutung  hingewiesen  worden, 
die  Bucer  gerade  auch  für  die  Entwicklung  des  Luther  und  Me- 
lanchthon gegenüber  Eigentümlichen  in  der  theologischen  Kon- 
zeption Calvins  gehabt  habe.6 

Die  Annahme  eines  derartigen  Einflusses  wird  von  vornherein 
begünstigt  durch  die  Tatsache,  daß  Bucer  zu  den  reformfreund- 
lichen Kreisen  Frankreichs  lebhafte  persönliche,  briefliche  und 
literarische    Beziehungen   unterhielt.7     Seit    spätestens    1531    stand 


1)  Luther  hat  sowohl  auf  die  durch  das  Gesetz  bewirkte  Gewissens- 
erschütterung des  noch  nicht  Bekehrten,  wie  auf  die  Reue  zusammen  mit 
der  fides,  wie  auf  das  aus  dem  Glauben  entspringende  neue  Leben  den 
Ausdruck  poenit.  angewandt:  cf.  Seeberg,  D.  G.  II  229 — 233.  —  ib.  p. 
224  Anm.  3.  —  Loofs,  D.   G.  *  717. 

2)  Köstlin,  Luthers  Theologie  2.  Aufl.  II  174  ff-  Seeberg,  a.a.O. 
214,  244  ff.     Loofs,  D.  G.  4.  A.  p.  763  ff. 

3)  Seeberg  a.  a.  O.  p.  232  ob.;  242  f.  Loofs  a.  a.  O.  764.  Köstlin  a.a,  O. 
P  204. 

4)  Loofs  a.  a  O.  777.     Seeberg  a.  a.  O.   242  ff. 

5)  Cf.    Köstlin  a.a.O.  p.  204,  208,  290  f.,   293,   301—303. 

6)Köstlin,  St.  u.  Kr.  v.  1868,  p.  428  f.  —  Usteri,  St.  u.  Kr.  v.  1884,  p.  419. 
—  Scheibe,  Calvins  Prädestinationslehre.  Halle  1897,  p.  17  ff.  u.  69  ff.  — 
Besonders  Lang,  Der  Evangelienkomm.  M.  Bucers  und  die  Grundzüge 
seiner  Theologie.     St.  z.  G.  d.  Th.  u.  K.  1900.  Heft  2. 

7)  Zur  Illustration  diene  das  Folgende:  Lefevre  u.  Roussel  fanden 
1525,  aus  Paris  flüchtig,  bei  Bucer  u.  Capito  Aufnahme  (K.  Müller.  Die 
Bekehrung  Calvins  p.  195).  Vorher  bereits  war  Lambert  v.  Avignon  in 
Straßburg  eingekehrt  (Lang  p.  21).  1534  wandte  sich  der  flüchtige  Rektor 
der  Pariser   Universität,    Cop,  nach   Straßburg    (Müller   p.  246).  —   Zu  den 


Von  Lic.  theo!.  H.  Strathmann. 


231 


Calvin  diesen  Kreisen  nahe  (ct.  unten  p.  81  ff.).  —  Sic  wird  ferner 
begünstigt  dadurch,  daß  ein  junger  Franzose,  der  sich  1528  aus 
Noyon  nach  Straßburg  in  Bucers  Schule  begab,  wahrscheinlich 
Calvins  Vetter  Olivetan  war.1  Hat  Calvin  trotzdem  vor  seiner 
Übersiedelung  nach  Deutschland  noch  nicht  mit  Schriften  Bucers 
Bekanntschaft  gemacht,  so  war  der  Aufenthalt  in  Straßburg  \  er- 
anlassung  genug,  sich  in  den  Werken  des  produktiven  Straßburger 
Reformators  umzusehen.  In  Frage  kamen  vor  allem  dessen 
beiden  Hauptwerke,  der  Psalmen-  und  der  Evangelienkommentar. 
Aus  dem  Brief  Calvins  an  Bucer  vom  12.  Januar  1538  2  geht  her- 
vor, daß  Calvin  den  Psalmenkommentar  damals  kannte.  Vom 
Evangelien  kommentar  schreibt  Calvin  1555  im  Argumentum 
zu  seinem  Synoptikerkommentar:  Buccrum  praesertim,  sanetae 
memoriae  virum  et  eximium  ecclesiae  dei  doctorem,  sum  imitatus, 
qui  prae  aliis  non  poenitendam  hac  in  re  operam  meo  iudicio 
navavit  —  wie  sich  denn  Calvin  überhaupt  häufig  höchst  aner- 
kennend über  Bucer  geäußert  hat.3 —  Aber  er  hat  den  Kommen- 
tar4 bereits  1535  gekannt  und  auf  ihn  bezieht  er  sich,  wenn  er  von 


'brieflichen;  Beziehungen  cf.  die  Briefe  v.  Joh.  Sturm  in  Paris  an 
Bucer  (Herminjard  III  p.  J2,  93,  271,  362).  —  Literarisch  suchte 
B.  die  französische  Reformbewegung  zu  fördern:  Um  sie  den  fratres  dis- 
persi  per  Gallias  zugänglich  zu  machen,  übersetzte  er  1524  Luthers  Aus- 
legung zu  den  Briefen  Petri  und  Judä,  1525  Luthers  Kirchenpostille  ins 
Lateinische  (Herminjard  I  318  f.  Lang  p.  12  und  22).  Bucers  Synoptiker- 
kommentar sollte  unter  anderen  den  rudioribus  fratribus  apud  Gallos  dienen 
(Vorrede,  abgedruckt  bei  Lang  p.  380).  1529  widmet  er  gar  unter  dem 
Pseudonym    Aretius    Felinus    seinen    Psalmenkommentar    dem    Dauphin. 

1)  Cf.  Bucers  Brief  an  Farel  vom  1.  5.  1528:  Herminjard  2,  131  ff.; 
cf.  3,  41  ff  (44  Anm.  20).  —  Dazu  K.  Müller  a.  a.  O.  p.  205  f.  Doumergue 
a.a.O.  I  117  f.  Der  Brief  Calvins  an  Bucer,  der  vom  4.  Sept.  .  .  .  aus 
Noyon  datiert  ist,  ist  nicht  1532  (op.  C.  X  b  22)  oder  1534  (Herminj.  3,  201  ff., 
204  Anm.  11),  sondern  wahrscheinlich  erst  1538  geschrieben  (cf.  K.  Müller 
a.  a.  O.  p.  245 — 253).  Daher  ist  die  Annahme  der  Bekanntschaft  Calvins 
mit  Bucerschen  Schriften  vor  seiner  Übersiedelung  nach  Deutschland  nur 
eine  Annahme. 

2)  Herminjard  4,  338  ff.   p.  347. 

3)  Eine  Reihe  solcher  Urteile  hat  Lang  zusammengestellt:  a.a.O. 
p.  91. 

4)  Ich  zitiere  nach  der  Ausgabe  von  1527,  die  sich  in  der  Bonner 
Universitätsbibliothek  findet.  Calvin  hat  jedoch  die  Ausgabe  von  1530  be- 
nutzt. Denn  in  dem  erwähnten  Briefe  vom  12.  I.  38.  in  dem  er  dem  Bucer 
die  Mängel  seines  theologischen  Standpunktes  vorhält,  speziell  in  der 
Rechtfertigungslehre,  beginnt  er  nicht  mit  dem  Evangelienkommentar 
(1527),  sondern  mit  dem  Psalmenkommentar  (1529).  Alles,  was  er  seitdem 
herausgegeben,  habe  aliquid  faecis  admixtum.  Die  Rechtfertigungslehre 
des    Evangelienkommentars   ist  aber   genau   dieselbe   wie    die    des   Psalmen- 


2X2  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

den  alii  spricht,  die  gesetzliche  und  evangelische  Buße  einander- 
gegenüberstellen. 

Unter  den  loci  communes,  die  laut  Titel  Bucer  der  exegetischen 
Erörterung  eingestreut  hat,  befindet  sich  auch  ein  solcher  de  poeni- 
tentia  legali  et  evangelica  (fol.  108  a — noa). 

In  dem  Abschnitt  über  den  Beginn  der  Predigttätigkeit  Jesu 
erinnert  er  zunächst  an  die  Bußpredigt  des  Täufers.  Mit  ihren 
zwei  Polen  enthielt  sie  die  summa  des  Evangeliums.  Der  Täufer 
deutete  durch  die  Büß f orderung  an,  daß  das  Reich  nur  für  die  da 
sei,  qui  sibi  displicent  et  peccatores  sese  agnoscunt.  —  Das  fiETavoeiTe, 
so  heißt  es  dann,  entspreche  dem  prophetischen  ^miä  oder  irrtzrri 
i.  e.  convertimini,  vel  magis  proprie  resipiscite,  redite  in  viam.  Es 
entspreche  dagegen  nicht  dem  behräischen  ans,  das  ein  poenitere 
cum  dolore  bedeute:  Jud.  21,  6.  15;  Gen.  6,  6;  1.  Sam.  15,  II. 
Christus  aber  fordere  hier  eine  resipiscentia  .  .  11011  tarn  .  .  cum 
dolore  peccatorum  quae  commissa  erant,  quam  cum  ingenti  gaudio 
ob  gratiam,  quae  ultro  offerebatur.  Die  Ankündigung  des  regnum 
gratiae  soll  die  causa  sein  für  das  resipiscere,  das  in  viam  redire, 
das  studia  prava  relinquere.  Die  wieder  erwachte  väterliche  Liebe 
lockt  die  verstoßenen  Söhne  zurück.  Der  Sinn  von  cn:  würde  der 
Aufforderung  Jesu  die  Bedeutung  geben,  als  ob  er  zu  einem  Ge- 
fangenen spräche :  dole,  discrucia  te  ipsum,  quod  tanta  flagitia  ad- 
miseris.  Advenit  enim  tempus,  ut  libereris.  Vielmehr  soll  die 
Freude  über  die  Gnade  den  Schmerz  über  die  Sünde  absorbieren. 
Der  verlorene  Sohn  konnte  nichts  als  gaudere  et  exultare,  licet 
plurimum  illi  sua  commissa  displicerent,  ac  prorsus  in  viam  redire 
vereque  resipiscere  cogitaret.  Die  poenitentia,  u.  z.  die  poeni- 
tentia  evangelica,  ist  demnach  resipiscentia  mundique  ac 
sui  ipsius  abnegatio  amore  domini  et  servatoris  nostri  Iesu  Christi 
ac  oblatae  gratiae  delectatione  gaudioque  concepta.  —  Es  gibt 
aber  auch  eine  poenitentia  legalis,  wie  bei  den  Niniviten 
und  Manasse,  qui  nimirum  ob  commissa  sua  et  i  r  a  m  d  e  i ,  propter 


kommentars.  —  Jedoch  unterscheidet  sich  die  Ausgabe  des  Evangelien- 
kommentars von  1530  von  der  des  Jahres  1527  in  dem  uns  hier  beschäf- 
tigenden Passus  über  die  Buße,  von  wenigen  völlig  belanglosen  Kleinig- 
keiten abgesehen,  nur  in  der  Milderung  der  Polemik  gegen  die  katholischen 
Theologen:  sie  heißen  jetzt  nicht  mehr  sophistae,  sondern  recentiores  qui- 
dam;  ihre  Äußerungen  waren  früher  fere  nihil  nisi  nugae;  jetzt  sind  sie 
cum  iudicio  legenda.  Früher  kannten  sie  Christus  überhaupt  nicht.  Jetzt 
„scheint"  Christi  gloria  plerisque  illorum  haud  probe  cognita  fuisse 
(Blatt  35). 


Von  Lic.  theol.  II.  Stxathmann,  2  )  ] 


illa  ipsis  imminentem,  animo  plurimun  discruciabantur.  Diese 
empfanden  auch  die  Juden  Act.  2  auf  Grund  der  Predigt  Petri,  als 
sie  compuncti  corde  zu  ihm  sprachen:  Quid  faciemus  viri  fratres? 
Obwohl  sie  schon  Buße  empfanden,  ermahnt  Petrus  sie  nun  doch 
noch  zur  Buße;  aber  jenes  war  poenitentia  legalis;  hier  handelt 
es  sich  um  poenitentia  evangelica,  d.  h.  spe  salutis  suscepta  resi- 
piscentia.  Diese  vitam  cum  hilaritate  emendabat.  Denn  sie  ist 
nichts  als  die  vitae  innovatio,  quam  amore  tarn  propitii  dei  factae- 
que  gratiae  exultatione  sibi  Christo  iam  credentes  proponunt  ad 
eamque  sese  usque  exercent.  Die  poenitentia  legalis  entspricht 
der  katholischen  contritio ;  die  poenitentia  evangelica  der  satis- 
factio,  die  recht  verstanden  resipiscentia,  vitae  emendatio,  Studium 
sanctimoniae  ist.  — 

Est  ergo  poenitentia  legalis  sive  animi  contritio, 
odium  et  cum  animi  dolore  ac  compunctione  detestatio,  quae  coori- 
tur  simulatque  cognita  lege  dei  peccatorum  quoque  agnita  fuerit 
abominatio.  Et  est  i  m  p  i  i  s  cum  p  i  i  s  c  o  m  m  unis,  denn 
auch  Judas  empfand  sie.  Evangelica  autem  poenitentia 
est  accepta  gratia  peccatorum  per  fidem  in  Christum,  perpetuum 
mortificandae  carnis  vitaeque  ad  voluntatem  domini  formandae 
Studium,  sed  alacre,  irremissaque  sed  lubens  meditatio  .  .  .  Coori- 
tur  mox  atque  Christus  fuerit  cognitus  und  ist  nur  Sache  der 
Gläubigen.  — 

Entsprechen  die  Ausführungen  Bucers  dem,  was  Calvin  über 
die  alii  sagt? 

Calvin  sagt  von  der  poenitentia  legalis :  qua  peccator  peccaü 
cauterio  vulneratus  et  terrore  irae  dei  attritus  in  ea  pertur- 
batione  constrictus  haeret  nee  sc  explicere  potest ;  sie  ist  ein 
peccati  sui  gravitate  agnita  iram  dei  timere.  —  Diese  Beschreibung 
entspricht  zwar  nicht  formell,  wohl  aber  sachlich  derjenigen  Bucers. 
Während  jedoch  nach  diesem  die  poenitentia  legalis  sowohl  bei 
den  pii  (vor  der  Heilserkenntnis)  wie  bei  den  impii  vorkommt,  ge- 
winnt man  aus  Calvin  den  Eindruck,  sie  komme  nur  bei  denen  vor, 
deren  definitives  Verderben  bereits  besiegelt  ist  (cf.  ob.  p.  192.) 

Nach  dem  Referat  Calvins  besteht  die  poenitentia  evangelica 
darin,  daß  der  erschrockene  Sünder  altius  tarnen  emergit  et 
Christum  vulneris  sui  medicinam,  terroris  consolationem,  miseriae 
portum  apprehendit.  Sie  ist  bei  denen,  qui  peccati  aculeo  apud  se 
exuleerati,  fiducia  autem  misericordiae  dei  erecti  et  recreati  ad 
dominium  conversi  sunt  (oben  p.  192).  —  Es  fehlen  charakteristische 


2XA  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


Ausdrücke  Bucers :  ingens  gaudium,  oblatae  gratiae  gaudium, 
efusissima  bonitas,  mundi  ac  sui  ipsius  abnegatio  u.  a.  m.  —  Vor 
allem  aber  ist  nach  Bucer  die  poenitentia  evangelica  nicht  das  Er- 
schrecken, das  in  der  Tröstung  des  Glaubens  zur  Ruhe  kommt, 
sondern  die  auf  Grund  des  Glaubenstrostes  in  voller  Freude  sich 
vollziehende   Lebenserneuerung. 

Von  den  Beispielen  Calvins  für  die  poenitentia  legalis 
(Kam,  Saul,  Judas)  findet  sich  bei  Bucer  nur  Judas,  daneben  aber 
die  Niniviten,  Manasse,  die  Juden  Act.  2.  Nach  Calvin  sind  die 
Niniviten  gar  ein  Beispiel  für  die  poenitentia  evangelica.  —  Von 
den  Beispielen  Calvins  für  die  poenitentia  evangelica  (Ezechias, 
Niniviten,  David,  Petrus,  Juden  Act.  2)  benutzt  Bucer  nur  die 
Juden  Act.  2;  außerdem  den  verlorenen  Sohn.  — 

Daß  der  Parallelismus  zwischen  den  beiderseitigen  Schilde- 
rungen übermäßig  groß  wäre,  kann  man  demnach  nicht  behaupten.  Er 
beschränkt  sich  in  der  Hauptsache  fast  auf  die  Formeln  poenitentia 
legalis  und  evangelica. 

Trotzdem  hat  Calvin  Bucer  gemeint. 

Das  zeigen  eben  zunächst  diese  sonst  nirgends  gebrauchten 
Begriffe.1 

Weiter  Calvins  eigene  Beschreibung  der  Buße. 

Bucer  bezeichnet  das  Täuferwort  Mt.  3,  2  als  s  u  m  m  a 
totius  praedicationis  evangelicae  (Bl.  45  a,  107  b).  —  Bei 
Calvin  lesen  wir :  tota  autem  e  v  a  11  g  e  1  i  i  summa  duabus 
istis  capitibus  constat,  poenitentia  et  peccatorum  remissione,  u.  z. 
ebenfalls  im  Anschluß  an  das  Täuferwort  Mt.  3,  2  (op.  C.  I  p.  149). 

Nach  Bucer  sagt  Johannes  durch  die  Bußforderung,  daß  das 
Reich  nur  für  die  da  sei,  qui  sibi  displicent  et  peccatores 
sese  agnoscunt.  Nach  Calvin  ermahnt  er  dadurch,  ut  s  e 
peccatores  agnoscerent  suaque  omnia  coram  deo 
damnata. 

Bucer  zieht  das  prophetische  ?nffl,!)aiö  ^ zur  Erklärung  des 
fieiavoelv  heran  und  umschreibt  die  poenitentia  unter  anderem 
durch  converti,  resipiscere  (siebenmal),  in  viam  redire  (dreimal), 
reverti,  vitae  innovatio,  carnis  ac  peccatorum  mortificatio.  —  Auch 
Calvin  geht  bei  der  Beschreibung  der  Buße  aus  von  der  prophe- 
tischen Bußpredigt.     Die  genannten  Wendungen  kehren   sämtlich 


1)  Luther,  bei  dem  man  sie  am  ehesten  erwarten  könnte,  gebraucht 
sie  nie  (cf.  Lipsius,  Luthers  Lehre  v.  d.  Buße  p.  102).  —  Nicht  einmal  bei 
Agrikola  finden  sie  sich,  soweit  das  aus  Kawerau  (J.  Agrikola,  Berlin  1881) 
erkennbar  ist. 


Von  Lic  theol.  II.  Strathmann.  235 


bei  ihm  wieder:  für  in  viam  redire  sagt  er  in  viam  se  reeipere;  das 
,.;ic  peccatofüm"  in  der  letzten  Wendung  läßt  er  ans  oder  ersetzt  es 
durch  veteris  hominis. 

B  u  c  e  r  sagt,  die  poenitentia  sei  p  e  r  p  e  t  u  u  m  mortifi- 
camlae  carnis  .  .  .  Studium  .  .  irremissaque  .  .  m  e d i - 
t  a  t  i  o.  Calvin:  Dicebat  Plato,  vitam  philosophi  m  e  d  i  t  a  - 
tionem  esse  mortis.  Verius  nobis  dicere  licet,  vitam  christiani 
hominis,  p  e  r  p  e  t  u  u  m  esse  s  t  u  d  i  u  m  et  exercitationem  m  o  r  - 
tificandae  carnis.  —  Das  Wort  meditatio,  das  er  bei  Bucer 
fand,  hat  in  ihm  die  Erinnerung  an  den  platonischen  Satz  ausgelöst. 

Bucer  zieht  zur  Beschreibung  der  Buße  aus  dem  X.  T.  die 
Predigt  des  Taufers,  die  Predigt  Jesu  und  Luk.  24,  46  heran  (von 
den  Beispielen  abgesehen).  Dieselben  drei  Stellen,  und  nur  sie, 
benutzt  auch  Calvin.  — 

Es  unterliegt  demnach  keinem  Zweifel,  daß  Calvin  Bucers 
Kommentar  in  jenem  Zusammenhang  benutzt  hat. 

Freilich  hat  er  Bucers  Ansicht  sehr  ungenau  wiedergegeben. 
Einigermaßen  mag  dies  dadurch  entschuldigt  werden,  daß  doch 
auch  Bucer  schließlich  als  typisches  Beispiel  der  poenitentia  legalis 
den  Judas  verwandt  hatte.  Auch  wird  Calvin  den  Text  aus  dem 
Gedächtnis  reproduziert  haben. 

Hat  mithin  Calvin  Bucers  Kommentar  benutzt  —  erklären  sich 
dann  vielleicht  hieraus  die   Besonderheiten   seiner   Anschauung? 

1.  Xach  Bucer  erleben  zw^ar  auch  die  pii  die  poenitentia  legalis. 
Dennoch  reflektiert  auch  er  nicht  über  Zustände  lang  andauernder 
Gewissensangst.  Er  bietet  keine  Ausführungen,  die  den  Sätzen 
Luthers  entsprächen  über  das  odium  dei  bei  isolierter  Gesetzes- 
wirkung. Sein  Interesse  haftet  überhaupt  nicht  an  den  p  sycho- 
logischen  Vorgängen  der  Bekehrung.1  Doch  ist  es  nicht  nur 
das.  Die  sachliche  Auffassung  ist  auch  eine  andere.  Was  ihn  zu 
Christus  treibt,  ist  weniger  das  Gefühl  der  Schuld,  als  das  der  Ohn- 
macht. Jenes  fehlt  nicht  (cf.  fol.  105 — 108,  156  a).  Aber  dieses 
überwiegt  durchaus.  Das  Gesetz  zeigt  dem  Menschen  vor  allem 
sein  Unvermögen,  sich  den  Fesseln  der  Sünde  zu  entziehen,  damit 
er  sich  dann  von   Gott   Kraft  zu   einem  gerechten   Leben   erbitte.2 


1)  Of.    Lang  a.a.O.   p,  117,    191.   205. 

2)  Fol.  156;  cf.  Lang  a.a.O.  p.  114.  116.  —  Aber  selbst  in  d 
Sinne  wird  die  Notwendig  k  e  i  t  der  Gesetzeswirkung  nicht  hervor- 
gehoben. Überhaupt  hat  der  Gedanke  der  Alleinwirksamkeit  Gottes 
Bucers  Interesse  für  die  geschichtlichen  Vermittelungen  objektiver  und 
subjektiver  Art  geschwächt.  Der  Geist  ist  nicht  an  sie  gebunden.  Lang 
p.  122,    164.    172. 


Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


Bei  der  Frage  der  christlichen  Freiheit  gegenüber  dem  Gesetz  ist 
nicht  die  Rede  von  der  Freiheit  von  dem  Verdammungsurteil  des 
Gesetzes  (Bl.  154 — 157).  —  Bei  Calvin  wird  durch  das  den  Glauben 
vorbereitende  Gesetz  dem  Menschen  vor  allem  seine  Schuld  zum 
Bewußtsein  gebracht. 

2.  Bei  Bucer  tritt,  wie  schon  die  eben  gestreiften  Gedanken 
beweisen,  ein  starkes  ethisches  Interesse  hervor.1  Von  diesem 
zeugen  auch  seine  Aussagen  über  die  „evangelische  Buße".  Von 
ihm  hat  Calvin  die  Beziehung  der  Buße  auf  das  neue  sittliche  Leben, 
so  weit  sie  ihm  nicht  —  bei  der  Beschreibung  der  Taufe  —  durch 
Luthers  Katechismus  nahe  gelegt  war.  Jedoch  ist  von  einer  klaren 
Unterscheidung  des  Sittlichen  und  Religiösen  bei  ihm  keine  Rede. 
Schon  in  der  Beschreibung  der  poenitentia  evangelica  sind  Aus- 
sagen über  die  fides  verwoben  (bes.  fol.  108  b).  Vor  allem  aber 
tritt  das  in  der  Rechtfertigungslehre  hervor.  Sah  Bucer  das  Elend 
des  Unerlösten  viel  weniger  in  der  Schuldverhaftung  als  in  der 
Unfähigkeit  zum  Guten,  so  mußte  ihn  im  Stande  des  Erlösten  natur- 
gemäß besonders  die  sittliche  Erneuerung  interessieren.  Dieses 
Interesse  bestimmte  seine  Rechtfertigungslehre.  Hier  vertritt  er 
die  effektive  Fassung. 

Wie  wenig  Calvin  mit  dieser  einverstanden  war,  zeigt  sein 
Brief  vom  12.  Januar  1538  an  Bucer  (cf.  oben  p.  231  Anm.  2).  In 
diesem  Briefe  macht  Calvin  Bucer  bei  aller  Freundschaft  Vorhal- 
tungen über  die  Zweideutigkeit  und  Halbheit  seiner  Theologie,  die 
an  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen :  ubique  videris 
velle  inter  Christum  et  papam  partiri  medium  quoddam  regnum. 
Dies  gilt  besonders  von  dem  Psalmenkommentar  von  1529.  Es  ist 
unerträglich,  quod  fidei  iustificationem  a  fundamentis  evertebas. 
Rem  esse  indignissimam,  a  tali  evangelii  praecone  evangelium  tot 
involucris  obscurari.  Ouidquid  postea  edidisti,  aliquid  faecis  ad- 
mixtum  habet.  —  Die  Entrüstung  Calvins  über  die  Rechtfertigungs- 
lehre des  Psalmenkommentars  ist  in  der  Tat  begreiflich.  Denn 
Bucer  vertritt  hier  eine  rein  effektive  Fassung:  vera  iustificatio 
quid   aliud    est,   quam    bonis    operibus    ornari?2      Im    Evangelien- 

1)  Daß  ein  solches  zu  beobachten  ist,  betont  auch  Lang  wiederholt: 
a.a.O.  z.    B.  p.  110,   150  f.,  205. 

2)  Psalmorum  libr.  V  .  .  versi  et  .  .  elucidati  per  Aretium  Felinum. 
„Lugduni"  1529  Bl.  28  a.  —  Weil  wir  sola  fide  deum  rite  cognoscimus  et  ad 
amandum  eum  rapimur,  ita  .  .  sola  fide  veram  iustitiam  et  virtutes  uni- 
versas,  quia  ipsius  dilectionem  omnium  parentem,  consequimur  .  .  iustitia 
nostra  nihil  aliud  est,  quam  omnium  bonorum  operum  genere  esse  in- 
stitutos   (ibid.).     Cf.   auch  Bl.  9  a,  27  a. 


Von  Lic.   theol.   H.   Str.ithminn.  237 


kommentar  aber  zeigte  Bucer  genau  die  gleiche  Auffassung. 
Besonders  deutlich  Blatt  156a  und  b:  Bevor  wir  das  Gesetz 
erfüllen  kennen,  ist  es  nötig,  daß  die  sündliche  Neigung  des 
Menschen,  dieser  pestifer  animi  morbus,  beseitigt  werde;  id 
cum  lex  praestare  nequeat,  et  sola  gratia  dei,  donantis  bonum 
legisque  amantem  spiritum,  nobis  contingat,  consequens  est,  nos 
ex  gratia  et  haud  quaquam  ex  lege  iustificari.  —  Ferner:  Iustitia 
.  .  dei,  quid  aliud  fuerit,  quam  legi  eius  parcre?  Es  handelt  sich 
um  die  opera  legis.  Horum  autem  omnium  radix  fides  est,  qua 
ut  deo  se  humo  penitus  committit,  .  .  ita,  in  eum  quo  trans- 
formatur  eiusque  afflatus  spiritu,  deum  in  omnibus  refert.  Et 
hinc  est,  quod  nostri  iustificatio  fidei  tribuitur  etc.1  —  Die  Vor- 
stellung Bucers  ist  die,  daß  man  in  der  fides  die  Überzeugung  von 
der  bonitas  dei  gewinnt  (diesen  allgemeinen  Sinn  hat  der  Begriff 
der  fides  bei  Bucer ;  unter  anderem  tut  sich  diese  bonitas  auch 
in  der  Sündenvergebung  kund) ;  aus  dieser  Überzeugung  erwächst 
dann  wieder  die  Liebe  zu  Gott,  der  gute  Affekt,  resp.  der 
Geist  erzeugt  ihn  auf  diese  Weise.  So  wird  der  Mensch  befähigt 
zu  guten  Werken  und  also  gerecht.2  Hierauf  ruht  das  Inter- 
esse. So  ergibt  sich  freilich  ein  leichter  Übergang  zu  den  guten 
Werken  (Lang,  p.  110,  115).  Jedoch  nur  deshalb,  weil  dem  Glau- 
ben die  genuin  reformatorische  „grundlegende  Beziehung  zu  der 
Hinwegräumung  der  Schuld  des  Sünders'*  (Lang  p.  109)  abgeht, 
nur  deshalb,  weil  „es  fehlt  an  der  Erkenntnis  des  wichtigsten  und 
grundlegenden  Momentes  in  der  Heilserfahrung,  der  Vergebung 
der  Sünden"  (Lang  p.  117). 


1)  Nach   Lang  a.  a.  O.   p.  78  Anm.  2. 

2)  Lang  p.  107  ff.,  114.  —  Daß  dieses  die  Auffassung  Bucers  ist,  zeigt 
besonders  auch  der  Psalmenkommentar.  Einige  Stellen  mögen  das  be- 
weisen: Die  Worte  Ps.  25,  5  b  beschreiben  substantiam  radicemque  pietatis, 
nempe  pendere  a  deo,  omnia  .  .  a  deo  expeetare,  aus  der  Überzeugung 
heraus,  wie  es  vorher  heißt,  daß  Gott  benignissime  cum  omnibus  rebus 
.  .  .  maxime  autem  cum  credentibus  agit.  Diese  fides  ist  es,  qua  iustus 
vivit  (Bl.  140).  —  Es  muß  vor  allem  dei  bonitas  gepredigt  werden.  Hinc 
namque  fides  amorque  dei  et  nascitur  et  alitur,  qui  fons  est  omnium  virtu- 
tum  (Bl.  146).  —  Fides  ist  die  indubitata  persuasio  deum  esse  ut  omnium 
rerum  autorem  bonorumque  fontem,  ita  et  nostrum  conditorem.  serva- 
torem  ac  aeternum  beatorem.  —  Fides  in  Christum  ist  die  certa  persuasio, 
eum  nostrum  esse  redemptorern  et  instauratorem  (Bl.  27).  —  Fides  ist  das 
uno  deo  niti  et  fidere  et  in  eo  solo  omne  praesidium  habere  constitutum. 
Daraus  kommt  dann  alle  iustitia  (Bl.  371.).  Andererseits  ist  der  Un-, 
glaube  omnium  flagitiorum  fons  (Bl.  So)  .  .  Cf.  auch  Bl.  22  zu  Ps.  2;  Bl.  145 
zu  Ps.  25;  Bl.  185  zu  Ps.  37,  3. 


2  ?  8  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  des  Buße. 

Es  fehlen  somit  in  der  Auffassung  Bucers  durchaus  die  für 
Calvin  charakteristischen  Züge.  Zwar  ist  bei  ihm  das  Interesse 
für  das  Sittliche  stark.  Aber  während  bei  den  Wittenbergern  das 
lebhafte  Interesse  an  der  Sündenvergebung,  diesem  Zentrum  der 
Religion,  die  Aufmerksamkeit  auf  den  Prozeß  der  sittlichen  Er- 
neuerung zurücktreten  ließ,  zeigt  sich  bei  Bucer  das  Entgegen- 
gesetzte :  das  Interesse  am  Sittlichen  hat  die  Auffassung  der  Grund- 
lage christlicher  Frömmigkeit  nachteilig  beeinflußt.  Calvin  steht 
in  der  Mitte.  Beide  Momente  erfaßt  er  mit  gleicher  Schärfe, 
scheidet  sie  begrifflich  klar  und  verknüpft  sie  doch  theologisch 
und  psychologisch  unlöslich  miteinander  durch  den  Gedanken,  daß 
die  sanetificatio  bei  der  iustificatio  das  Ziel  Gottes  ist. 

Dagegen  ist  Bucer  in  der  Tat  Calvin  bereits  in  der  starken 
Betonung  der  Ehre  Gottes  als  des  Gesichtspunktes  für  das  mensch- 
liche Handeln  vorangegangen.  Schon  bei  ihm  war  der  Dienst  der 
Ehre  Gottes  ein  ,, umfassender  Ausdruck  für  die  sittlich-religiöse 
Aufgabe  des  Christen"  (Lang  p.  198).  Der  Geist  entzündet  uns, 
ut  nihil  prius  habeamus,  quam  gloriam  dei  et  gratiam  nobis  in 
Christo  faetam  praedicare  et  promovere,  nullius  rei,  ne  vitae 
quidem  iactura  deterriti.1  Schon  Bucer  beschreibt  als  wesentlichen 
Inhalt  des  Gesetzes  das  deum  magnificare  (Bl.  152  b).  Schon  er 
gestattet  den  Eid  nur  im  Dienste  der  Ehre  Gottes  (Bl.  168  b). 
Schon  ihm  ist  die  Förderung  der  Ehre  Gottes  wesentlicher  Inhalt 
der  drei  ersten  Bitten  des  Unser  Vater  (Bl.  190  b,  191a).  Schon 
ihm  bildet  die  Rücksicht  auf  die  gloria  dei  den  Maßstab  für 
alles  Gebet  (Lang  128  f.).  Und  auch  er  erhebt  die  gloria  domini 
(neben  der  salus  proximorum)  zum  obersten  Gesichtspunkt  staat- 
licher Gesetzgebung  (Bl.  153  a).  —  Der  Einfluß  Bucers  auf  Calvin 
ist  hier  unverkennbar  (cf.  oben  p.  196  f.). 

Auch  Bucer  sagt  ferner  schon,  daß  man  der  Ehre  Gottes 
diene  durch  Gehorsam  gegenüber  seinem  Gesetz.  Indessen  hat 
dieser  Gedanke  bei  ihm  nicht  die  Bedeutung  wie  bei  Calvin.  Denn 
Bucer  bedarf  einer  solchen  Norm  doch  eigentlich  nicht.  Aus  dem 
Geist  hat  der  Christ  nicht  nur  die  Kraft,  sondern  empfängt  auch 
von  ihm  inhaltlich  völlig  hinreichende  Direktiven.  Diese  ent- 
sprechen freilich  tatsächlich  dem  Gesetz  (Bl.  154  b).  Jedoch  ist 
dieses  nicht  gegeben  für  den  Gerechten,  qui  ultro  et  novit  et 
vult,  quod  iustum  est  et  honestum  (Bl.  155  a;  cf.  Lang  p.  124,  129). 
Man  dient  der  Ehre  Gottes  durch  Gehorsam  gegen   sein  Gesetz ; 

1)  Bl.  79  b.     Cf.   Lang  a.a.O.  bes.  p.   138,   164,   198,  179,  230  f.  Anm.  3, 


Von  Lic.  thcol.  H.  Strathmann. 


im  Zweifelsfalle  aber  dadurch,  „daß  man  der  Leitung  des  G< 

folgt"  (Lang-  p.  199).  Somit  ist  die  Bindung  des  Gläubigen  an  das 
Gesetz  doch  nicht  absolut.  Der  Begriff  des  Gehorsams  ist  er- 
weicht. Die  ..Theologie  des  Geistes"  (Lang  p.  120)  entwertet  die 
geschichtlichen  Yermittelungen  (cf.  oben  p.  235  Anm.  2).  --  Calvin 
dagegen  weil.!  nichts  von  unkontrollierbaren  Wirkungen  des 
Geistes.  Hei  ihm  bewährt  sich  der  Christ  tatsächlich  durch  I  • 
horsam,  Gehorsam  gegenüber  dem  in  der  Schrift  geoffenba 
( rotteswillen. 

Demnach  beschränkt  sich  —  von  den  formellen  Berührungen 
abgesehen  —  der  positive  Einfluß  Bucers  auf  Calvin  wesentlich 
darauf,  daß  er  in  den  Hegriff  der  Buße  das  neue  sittliche  Leben 
aufgenommen  —  soweit  ihn  nicht  schon  Luther  dazu  geführt  hatte 
—  und  dieses  unter  den  Gesichtspunkt  der  gloria  dei  gestellt  hat. 
Im  übrigen  dagegen  können  die  oben  formulierten  Eigentümlich- 
keiten der  calvinischen  Konzeption  nicht  durch  Bucersche  Ein- 
flüsse  erklärt  werden. 

Wie  sind  sie  denn  aber  zu  erklären? 

Calvin  beruft  sich  dafür,  daß  die  fides  aus  dem  Begriff  der 
poenitentia  auszuschalten  sei,  auf  Act.  20.,  21.  Eine  Erklärung 
für  diesen  einen  Punkt  möchte  man  vielleicht  darin  sehen.  In- 
dessen ist  es  doch  nicht  zufällig,  daß  Calvin,  nicht  aber  Melanch- 
thon,  das  aus  jener  Stelle  herauslas,  was  er  herauslas.  Eine 
Distinktion  hätte  leicht  über  die  Schwierigkeit  hinweggeholfen. 
Wir  müssen  also  doch  noch  tiefer  gehen. 

Wie  nun  in  Luthers  Darstellung  der  Buße  und  des  Bekeh- 
rungsprozesses überhaupt  sich  deutlich  sein  eigenes  Bekehrungs- 
erlebnis widerspiegelt,  so  hat  auch  der  Auffassung  Calvins  die 
Art  seines  Bekehrungserlebnisses  deutlich  den  Charakter  auf- 
gedrückt. 

Wenn  Luther  von  der  Not  und  Verzweiflung  des  unter  dem 
Gesetz  stehenden  Sünders,  von  seiner  Auflehnung,  ja  von  seinem 
Haß  gegen  Gott  redet,  so  beschreibt  er,  was  er  erlebt  hat,  bevor 
es  ihm  aufging,  daß  er  nicht  durch  Möncherei,  nicht  durch  mensch- 
liche Leistung,  nicht  durch  den  actus  elicitus  des  selbstgemachten 
Sündenschmerzes  sich  bei  Gott  in  Gnaden  bringen  könne  noch 
solle  —  daß  wir  vielmehr  geschenkweise  gerecht  werden.  Er 
kannte  einen  Zustand,  wo  man  unter  dem  Gesetz  schmachtet,  sich 
quält   und  müht,  um  zuletzt  doch   immer  wieder   in   seines   Nichts 


o  aq  Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


durchbohrendes  Gefühl  zurückzusinken.  Er  hat  es  erlebt,  daß 
seine  Seele,  wie  gehöhnt  in  ihrer  Ohnmacht,  sich  aufbäumt  wider 
den  fordernden  Gott,  bis  sie  merkt,  daß  sein  Wesen  Erbarmen  ist. 
Diese  Erkenntnis  war  ihm  das  Neue,  das  Erlösende.  In  dieser 
Erkenntnis  kam  die  Bewegung  seines  Gemütes  zur  Ruhe.  In 
dieser  Erkenntnis  erreicht  der  religiöse  Prozeß  seine  Kulmination. 
Und  was  daraus  noch  folgt  für  die  Erneuerung  des  sittlichen 
Lebens,  erscheint  mehr  als  eine  mühelose  organische  Entfaltung, 
als  eine  selbstverständliche  Auswirkung,  auf  der  nicht  das  Interesse 
ruht,  wie  auf  der  Beruhigung  des  Gewissens.  Der  Glaube  hat 
gute  Werke.  Sie  sind  da.  Von  selbst,  ohne  besondere  Reflexion 
und  Anstrengung,  ob  auch  noch  die  caro  lebt  —  indessen,  sie  wird 
durch  das  Gesetz  gebändigt. 

Wie  anders  Calvin! 

Dem  jungen  Schriftsteller,  der  nach  literarischem  Ruhme 
trachtete,1  dem  jungen  Humanisten,  dem  Verehrer  des  Erasmus 
und  Budäus,2  lag  nichts  ferner  als  Möncherei. 

Wie  hat   sich  bei  ihm  der  Umschwung  vollzogen? 

Begnügen  wir  uns,  die  sicheren  Ergebnisse  dieser  in  den 
letzten  Jahren  öfters  erörterten  Frage  3   hervorzuheben. 


i)  Cf.  darüber  Brief  an  Daniel  v.  22.  IV.  1532.     Op.  C.  X  b,  p.  19. 

2)  Cf.    die    Vorrede    zum    Kommentar    über    Senecas    „de    dementia". 
Op.  C.  V,  p.  6;  ferner  p.  54. 

3)  Doinel,  Jean  Calvin  ä  Orleans.  Bulletin  historique  et  lite- 
raire  26,  174  ff.  1877.  Lefranc,  La  jeunesse  de  Cavin.  1888.  Le- 
c  o  u  1 1  r  e  ,  La  conversion  de  Calvin.  Revue  de  theologie  et  de  Philo- 
sophie 23,  5  ff.  1890.  A.  Lang,  Die  Bekehrung  Joh.  Calvins.  1897.  St. 
z.  G.  d.  Th.  u.  K.  2,  1  p.  1—57.  K.  Müller,  Calvins  Bekehrung.  Nach- 
richten der  Kgl.  Gesellsch.  d.  Wiss.  z.  Gott.  Phil.-hist.  Klasse  1905  p.  188 
bis  255.  E.  Doumergue,  Jean  Calvin  etc.  T.  I.  Lausanne  1899  p.  327 
bis  355.  P.  W  e  r  n  1  e  ,  Noch  einmal  die  Bekehrung  Calvins.  Z.  für  K.-G. 
von  Brieger,  Bd.  27  p.  84 — 99.  1906.  —  Das  Verdienst  der  Untersuchung 
Wernles  besteht  in  der  Beleuchtung  der  Beziehungen  der  drei  Vitae  Calvins 
(von  Beza  und  Colladon)  zu  den  Bemerkungen  Calvins  über  seine  Be- 
kehrung im  Vorwort  zu  seinem  Psalmenkommentar  v.  J.  1557.  Indessen 
unterschätzt  W.  doch  die  Bedeutung  dessen,  was  K.  Müller  zum  Erweise 
der  frühen  Beziehungen  zwischen  Calvin  und  seinem  Freundeskreise  einer- 
seits und  dem  Kreise  der  Anhänger  Lefevre-Roussels  andrerseits  bei- 
gebracht hat  (Müller  p.  202  ff.)  .— -  Cf.  unten  p.  241  f.  —  Die  Untersuchung 
von  Müller  gibt  das  Material  am  vollständigsten.  Mehrere  Punkte  hat  sie 
endgültig  der  Diskussion  entzogen,  so  den  Brief  Calvins  an  Bucer  vom 
4.  September  .  .  .  (cf.  oben  p.  231  A  1)  und  die  Rektoratsrede  Cops  vom 
1.  November  1533  (cf.  oben  p.  228).  Dadurch  ist  namentlich  die  Arbeit  von 
Lang  überholt,  dessen  Schlüsse  darauf  beruhen,  daß  Calvin  Urheber  dieser 
Rede  sei. 


Von  Lic.  theol.  H.  Slrathmann.  24  i 


1.  In  der  Abwesenheit  des  Königs  Franz  I.  hat  Gerard 
Roussel  1533  unter  dem  Schutz  der  Schwester  des  Königs,  Mar- 
garete von  Navarra,  in  evangelischem  Sinne  unter  großem  Zulauf 
gepredigt.  Da  die  aufgebrachte  Sorbonne  den  König  nicht  zum 
Einschreiten  zu  bewegen  vermochte,  verhöhnte  sie  Margarete  von 
Navarra  und  Roussel  in  einer  am  i.  Oktober  im  College  de  Navarre 
aufgeführten  Komödie.  Zugleich  verbot  sie  den  Miroir  de  l'äme 
pecheresse,  eine  1531  anonym  erschienene  Schrift  der  Königin. 
In  einer  vom  König  angeordneten  Untersuchung  wurde  die  Sor- 
bonne von  der  Universität  jedoch  nicht  gedeckt.  Sie  zog  sich  die 
königliche  Ungnade  zu.  Calvin  steht  in  seinem  Bericht  von  diesen 
Ereignissen  an  seinen  Freund  Daniel  in  Orleans  mit  voller  Sym- 
pathie, ja  „leidenschaftlich"',  auf  Seiten  der  Königin  und  Roussels. 
Aus  diesem  Brief  ergibt  sich  auch,  daß  Calvins  Freunde  in  Orleans 
zu  dem  Anhang  Roussels  gehörten.1 

2.  Daß  im  Freundeskreise  Calvins  schon  1532  biblisch-reli- 
giöses Interesse  herrschte,  zeigt  der  Auftrag  Daniels  an  Calvin, 
ihm  eine  Bibel  zu  kaufen. 2 

3.  Daß  aber  bereits  1531  zwischen  Calvin  und  seinen  Freunden 
(in  Orleans  und  Bourges)  einerseits  und  den  Pariser  Reform- 
freunden auf  der  anderen  Seite  sympathische,  ja  freundschaftliche 
Beziehungen  bestanden,  zeigt  ein  Brief  Calvins  an  Daniel  vom 
27.  Juni  15313,  in  dem  der  eben  in  Paris  Angekommene  berichtet, 
daß  „Cop"  (ein  reges  Mitglied  des  Rousselschen  Kreises)  ihm  seine 
Begleitung  angeboten  zu  einem  Gang  in  ein  Kloster,  wo  dem- 
nächst Daniels  Schwester  Profeß  tun  wollte.  Der  Brief  zeigt 
wiederum,  daß  Cop  auch  den  Freunden  in  Orleans  eine  wohl- 
bekannte Persönlichkeit  war.3  Da  aber  in  dem  Pariser  Kreise, 
der  sich  um  Roussel  scharte,  neben  humanistischen  vor  allem  auch 
biblisch-religiöse  Interessen  lebendig  waren1  im  Sinne  der  deut- 
schen Reformation,  nur  ohne  deren  Entschiedenheit,  so  haben 
Calvin  und  seine  Freunde  spätestens  seit  1531  unter  dem  Einfluß 
solcher  Interessen  gestanden. 


1)  Herminjard  3,    106  ff.   —  Müller  p.  199. 

2)  Brief  vom  April  1532.  —  Herminjard  2,  418.  —  Cf.  dazu  Lang  p.  21 
und  ihm  gegenüber  Müller  p.  202. 

3)  Herminjard  2,  346.  —  Müller  p.  203. 

4)  Diese   letzteren   sind   jedoch  von   Doumergue    I    78  ff.   in   ihrer    Be- 
deutung sehr  überschätzt  worden.     Cf.   oben  p.  218,  Anm.  1. 

Calvinstudien.  1<J 


242 


Die  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 


4.  Seit  wann  diese  Beziehungen  Calvins  und  seiner  Freunde 
zu  dem  humanistisch-religiösen  Pariser  Reformkreise  bestanden, 
wissen  wir  nicht.1  Gewiß  ist  jedoch,  daß  Calvin  bereits  zu  der  Zeit,  da 
er  sein  juristisches  Studium  anfing,  begonnen  hatte,  sich  dem 
alten  Kirchentum  zu  entfremden.  Das  geht  nicht  hervor  aus 
der  Vorrede  Calvins  zu  seinem  Psalmenkommentar  von  1557  (op. 
C.  31,  21  f.),  wohl  aber  aus  der  Vita  I  des  Beza  (op.  C.  21,  29). 
Mag  diese  auch  in  weitgehendem  Maße  von  jener  Vorrede  und 
sogar  auch  von  Calvins  Vorrede  zu  Olivetans  Bibelübersetzung 
abhängig  sein  (Wernle)  —  aus  der  letzteren  konnten  Vermutungen 
über  die  Beziehungen  Calvins  zu  Olivetan  geschöpft  werden  — 
so  konnte  Beza  doch  keiner  von  beiden  die  Angabe  entnehmen, 
daß  Calvin  bereits  damals,  im  Jahre  1527,  ein  ayant  gouste 
quelque  chose  de  la  pure  religion  war  und  commencoit  ä  se  distraire 
des  superstitions  papales  (Gegen  Wernle  p.  88  ff.).  Beza  muß  für 
diese  Behauptungen  andere  Gründe,  wahrscheinlich  persönliche 
Erinnerungen  aus  seiner  Studienzeit  in  Bourges  (bei  Wolmar), 
gehabt  haben.  Demnach  hat  Calvin  bereits  früh,  vor  dem  Über- 
gang nach  Orleans  1527  (Müller  191  f.)  oder  Anfang  1528  (Lang 
p.  5),  sich  der  evangelischen  Erkenntnis  zu  erschließen  begonnen. 
Und  diese  Erkenntnis  kann  infolge  des  dauernden  Verkehrs  mit 
den  Pariser  Reformfreunden  und  namentlich  seit  seiner  erneuten 
Übersiedelung  nach  Paris  1531  (Müller  190,  Lang  8)  nur  ge- 
wachsen sein. 

5.  Trotzdem  hat  er  die  Schwester  Daniels  vom  Eintritt  ins 
Kloster  nicht  abgehalten  (Herminj.  II  346);  ist  in  seinem  Seneca- 
kommentar  von  der  neuen  Erkenntnis  wenig  oder  nichts  zu  spüren 
(Lang  p.  22— 29);  hat  er  sich  noch  am  23.  August  1533  in  Noyon 
an  einer  Kapitelsitzung  beteiligt,  in  der  man  Gebete  gegen  die 
Pest  verordnete.  Päpstliche  superstitiones  haben  aber  dabei  sicher- 
lich eine  Rolle  gespielt :  d.  h.  Calvin  ist  damals  noch  nicht  imstande 
gewesen,  die  Konsequenzen  aus  seiner  religiösen  Erkenntnis  zu 
ziehen  (Müller  213,  Lang  38,  Wernle  99). 

6.  Dagegen  stand  er  zu  der  Zeit,  da  die  herausfordernde 
Rektoratsrede  Cops  die  Männer  der  Sorbonne  in  Harnisch  brachte, 
so  mit  in  der  Bewegung,  daß  er  in  persönliche  Gefahr  geriet,  seine 


1)  Die  Vermutung  K.  Müllers  (p.  203  f.),  sie  seien  durch  Wolmar, 
den  Freund  und  Lehrer  Calvins  im  Griech.  in  Bourges  vermittelt,  ist  an- 
sprechend,  aber   eben  nur   Vermutung    (p.  203  f.). 


Von  Lic.  theol.  H.  Strathmann. 


243 


Papiere  mit  Beschlag  belegt  wurden,  er  selbst  flüchten  mußte : 
d.  h.  er  hatte  sich  damals  von  den  Rücksichten,  die  ihn  bisher 
hinderten,  seine  Erkenntnis  in  die  Praxis  umzusetzen,  freigemacht. 

Nur  auf  dieses  entschlossene  Aufgeben  aller  Halbheit  paßt 
es,  wenn  Calvin  in  seinem  Psalmenkommentar  sagt :  Ac  primo 
quidem,  cum  superstitionibus  papatus  magis  pertinaciter  addictus 
essem,  quam  ut  facile  esset,  e  tarn  profundo  luto  nie  extrahi, 
animum  meuni,  qui  pro  aetate  nimis  obduruerat,  subita  conver- 
sione  ad  docilitatem  subegit  (deus).1  Seine  Bekehrung  war  der  Bruch 
mit  den  superstitiones  papatus.  Es  hat  Mühe  gekostet,  bis  es 
dahin  kam.  Schließlich  kam  es  auf  einmal.  Positiv  war  seine 
Bekehrung  ein  subigi  ad  docilitatem,  d.  h.  er  lernte  gehorchen. 
Er  lernte  dem  gehorchen,  was  er  längst  erkenntnismäßig  als  Willen 
Gottes  erfaßt  hatte.  Inhalt  seiner  Erkenntnis  war  also  vor  allem 
die  Verwerflichkeit  der  superstitiones  papatus.  Doch  schloß  sie 
natürlich  die  evangelische  Heilserkenntnis  ein.-  Aber  in  sie  wuchs 
er  mühelos  hinein.  Für  sein  Empfinden  lag  deshalb  nicht  hierin 
das  Ausschlaggebende,  das  Neue,  sondern  in  dem  Entschluß  zu 
konsequentem  Gehorsam  gegenüber  dem  erkannten  Gotteswillen. 
Zutreffend  hat  deshalb  Lecoultre  seine  Bekehrung  also  charakteri- 
siert :  „Die  Bekehrung  Calvins  gab  ihm  nicht  die  Überzeugung 
von  der  Wahrheit  der  protestantischen  Dogmen,  denn  er  besaß 
sie  schon;  sie  hauchte  ihm  auch  nicht  erst  ein  warmes  Interesse 
für  die  Dinge  des  Reiches  Gottes  ein,  er  war  schon  ganz  davon 
durchdrungen ;  sie  war  vielmehr  bloß  der  feste  Entschluß  seines 
Herzens,  fortan  sein  Verhalten  mit  ängstlicher  Sorgfalt  seinen 
Überzeugungen  anzupassen  und  jedwede  Verbindung  mit  den  Irr- 
tümern zu  brechen,  die  er  im  Grunde  seines  Herzens  schon  früher 
abgeschworen  hatte"  (nach  Müller  220). 

Diesem  Charakter  der  Bekehrung  Calvins  entsprechen  die 
Eigentümlichkeiten  seiner  Auffassung  der  Buße,  die  wir  oben 
hervorgehoben  haben.  Zwar  ist  Voraussetzung  des  Glaubens  das 
Aufgeben  des  eigenen  Selbst,  damit  die  Gnade  allein  gelte.  Aber 
das  hat  Calvin  erkannt,   ohne   wie    Luther   durch   das   dunkle   Tal 


1)  Op.  C.  31,  21.     Lang  36  f.     Müller  206  f.     Wernle  84  t'. 

2)  In  diesem  Sinne,  indirekt,  darf  das  von  Stähelin  (Joh.  Calvin  I 
p.  25  ff.)  noch,  direkt  verwertete  Zeugnis  Calvins  aus  der  responsio  ad 
Sadoleti  epistolam  (op.  V  S.  411  ff.;  cf.  Lang.  Bekehrung  p.  31  ff.)  auch 
jetzt  noch  verwendet  werden.  Denn  auch  den  Zustand  anderer  konnte  er 
nur  so  schildern,  wenn  er  ihm  aus  eigener  Erfahrung  nicht  unbekannt  war. 

16* 


244  ^'e  Entstehung  der  Lehre  Calvins  von  der  Buße. 

der  Gewissensangst  hindurch  zu  müssen  und  ohne  sich  im  Innersten 
gegen  den  Gott  des  Gesetzes  zu  empören.  In  diese  Erkenntnis 
ist  er  hineingewachsen.  Deshalb  spielen  jene  Nöte  in  seiner  Dar- 
stellung keine  Rolle. 

Es  entspricht  somit  dem.  Charakter  der  Bekehrung  Calvins, 
daß  das  Sittliche  von  dem  eigentlich  Religiösen  klar  geschieden 
wird.  Denn  die  religiöse  Erkenntnis,  die  in  Luthers  Leben  den 
Umschwung  brachte,  besaß  er  längst  vor  dem,  was  er  seine  Be- 
kehrung nannte.  Diese  war  ein  Sichaufraffen  der  sittlichen  Energie, 
was  als  ein  Neues,  Zweites  zu  jenem  Ersten  hinzutrat.  Deshalb 
sieht  Calvin  nicht  schon  in  der  Heilsgewißheit  des  innersten  Ge- 
mütes den  Kulminationspunkt  des  religiösen  Prozesses  erreicht. 
Deshalb  widmet  er  dem  Sittlichen  eine  so  große  Aufmerksamkeit. 

Es  entspricht  weiter  seinem  eigentümlichen  Bekehrungs- 
erlebnis, daß  ihm  fortan  die  Summe  des  praktischen  Christentums 
war :  Gehorsam  gegenüber  dem  Willen  Gottes,  oboedientia.  Diesen 
Gehorsam  aber  stellte  er  unter  den  von  Bucer  übernommenen 
Gesichtspunkt  der  gloria  dei. 

Wir  fassen  das  Ergebnis  unserer  Untersuchung  über  die 
Entstehung  der  calvinischen  Bußlehre  zusammen : 

Calvins  Gedanken  über  die  Buße  und  das,  was  damit  zusam- 
menhängt, sind  negativ  orientiert  durch  den  Gegensatz  gegen  die 
okkamistisch  gerichtete  Theologie  des  ausgehenden  Mittelalters, 
die  er  aus  einem  Sentenzenkommentar  etwa  des  Typus  Biels 
kennen  gelernt  hat. 

Positiv  sind  sie  bestimmt  durch  die  loci  Melanchthons  vom 
Jahre  1521,  Luthers  kleinen  Katechismus  und  den  Evangelien- 
kommentar Bucers  vom  Jahre  1530  (1527).  An  Melanchthon 
lehnt  er  sich  in  weitgehendem  Maße  in  der  Auffassung  und  Dar- 
stellung der  fraglichen  Vorgänge  und  Beziehungen  an.  Bucer 
—  neben  Luther  —  gab  ihm  die  Anregung  zur  Einbeziehung  des 
neuen  sittlichen  Lebens  in  den  Bußbegriff.  Ferner  übernahm  er 
von  ihm  den  Gesichtspunkt  der  gloria  dei. 

Beiden  gegenüber  treten  bei  Calvin  deutlich  bestimmte  Eigen- 
tümlichkeiten hervor. 

Er  rechnet  nicht  mit  einem  Zustand  langer  Gewissensangst 
vor  dem  Glauben  —  ohne  doch  die  Bedeutung  der  Sündenerkennt- 
nis irgendwie  zu  kurz  kommen  zu  lassen.  Er  unterscheidet  schärfer 
als    Melanchthon   und   Bucer    die    religiöse    und   die    sittliche    Er- 


Von  Lic.  theol.  H.  Strathmann.  245 


neuerung.  Erst  in  dieser  kommt  der  Prozeß  zu  voller  Auswirkung. 
Aber  eben  die  schärfere  Unterscheidung  ermöglicht  es  ihm,  trotz- 
dem auch  jene  unverkümmert  aufzufassen.  Das  neue  sittliche 
Leben  wird  nicht  unmittelbar  triebhaft  hervorgebracht,  sondern 
ist  Gehorsam  gegenüber  dem  geoffenbarten  Gotteswillen. 

Diese  Züge,  durch  historische  Beziehungen  nicht  zu  erklären, 
werden  verständlich  durch  die  Eigenart  des  calvinischen  Be- 
kehrungserlebnisses. 


Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer 
geschichtlichen  Entwicklung. 

Von 

cand.  theol.  Th.  Werdermann- Berlin. 


Neben  Luther  ist  sein  Schüler  *  Calvin  für  die  Geschichte  der 
protestantischen  Theologie  und  Kirche  und  damit  auch  für  unsere 
ganze  heutige  religiöse  und  kulturelle  Lage  von  höchster  Be- 
deutung. 

Es  wäre  müßig,  darüber  zu  streiten,  ob  Calvin  den  anderen 
Reformatoren  gleichzustellen  oder  als  ein  Mann  der  zweiten  Gene- 
ration, als  „Epigone",  zurückzuschieben  sei.  Wir  brauchen  ihn 
nicht  mit  so  übeitriebenen  Worten  zu  erheben,  wie  es  etwa  Adolf 
Zahn  tut.2  Aber  wir  werden  uns  auch  nicht  der  Erkenntnis  seines 
Wertes  verschließen  können,  wenn  wir  die  Erinnerung  an  die  außer- 
ordentlich hohe  Wirkung  in  uns  wachrufen,  die  für  die  äußere  und 
innere  Geschichte  des  Protestantismus  von  ihm  ausging.  Der  Cal- 
vinismus war  es  wesentlich,  der  den  schweren  Kampf  mit  der 
jesuitischen  Gegenreformation  durchführte.  Er  gab  dem  Denken 
und  dem  Leben  der  Protestanten  bestimmende  Richtlinien  und  hat  so 
auch  tief  auf  die  allgemeine  Geschichte  der  neueren  Zeit  und  die 
Gestaltung  der  Gegenwart  eingewirkt.  Um  dem  zuzustimmen,  ist 
es  nicht  nötig,  daß  man  all  den  großzügigen  Gedanken  des  für  den 


i)  Calvin  selbst  hat  Luther  stets  als  seinen  Lehlrer  anerkannt.  Vergl. 
A.  Lang,  „Luther  und  Calvin".     Deutsch-Evangelische  Blätter  1896. 

2)  A.  Zahn,  Die  beiden  letzten  Lebensjahre  von  J.  Calvin.  Leipzig 
1895.  S.  6.  „Calvin  ist  in  der  Lehre  fehlerlos:  sein  Bekenntnis  ist  die 
Summe  aller  Ergebnisse  der  Reformation.  —  Über  Calvin  hinaus  gibt  es 
keine  Verbesserung,  keinen  Fortschritt.  Er  ist  die  Krone  aller  Lehrend 
wicklung  der  christlichen  Kirche."  Vergl.  schon  ähnlich  Beza,  Opera  Cal- 
vini  Bd.  21   S.  23. 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdennaan.  2J7 

Calvinismus  als  Lebensprinzip  so  außerordentlich  begeisterten 
Abraham  Kuyper  '  folge.  Wir  linden  diese  Erkenntnis  auch  sonst 
vertreten.  Gerade  in  den  letzten  Jahren  haben  einige  nichttheolo- 
gischc  Arbeiten  auf  den  Calvinismus  als  den  Mutterboden  wichtiger 
Bestandteile  unserer  gegenwärtigen  Kultur  geführt.  Georg  Jclli- 
neck  („Die  Erklärung  der  Menschen-  und  Bürgerechte".  2.  Aufl. 
Leipzig  1904)  glaubt,  daß  aus  ihm  der  moderne  Toleranzgedankc 
erwachsen  sei.  Max  Weber  („Protestantismus  und  , Geist'  des 
Kapitalismus."  Archiv  f.  Sozial-Wissenschaft  und  Sozial-Politik 
XX  und  XXI)  sieht  in  seiner  zur  weltoffenen  Askese  neigenden 
Ethik  die  Voraussetzung  zum  ,, Geist"  des  modernen  Kapitalismus. 
Nun  mag  ja  die  Korrektur,  die  Ernst  Troeltsch2  gibt,  daß  nämlich 
hier  doch  sehr  das  Täufertum  einwirke,  in  manchem  richtig  sein.3 
Aber  schon  das  ist  sehr  beachtenswert,  daß  diese  Ideen  gerade  auf 
calvinistischem  Gebiet  zuerst  Fuß  faßten.  Und  auch  das  ist  sicher, 
daß  das  Täufertum  in  Holland  und  England  selbst  wieder  vom 
Calvinismus  stark  beeinflußt  worden  ist.4  —  Gegenwärtig  machen 
die  vom  Calvinismus  direkt  abhängigen  außerlutherischen  Kirchen- 
gemeinschaften den  bei  weitem  größten  Teil  des  Protestantismus 
aus,  und  gerade  im  letzten  Jahrhundert  hat  sich  auch  das  Luther- 
tum selbst  seiner  Einwirkung  immer  weniger  verschließen  können. 
Nun  muß  man  sich  freilich  hüten,  für  alles,  was  wohl  als  Cal- 
vinismus bezeichnet  wird,  Calvin  selbst  verantwortlich  zu  machen. 
Er  würde  sich  ohne  Zweifel  gegen  manche  Sätze,  die  Kuyper  in 


1)  Vergl.  unter  seinen  zahlreichen  vielfach  auch  ins  Deutsche  über- 
setzten Schriften  besonders:  „Reformation  wider  Revolution",  übersetzt 
von  M.  Jaeger,  Gr. -Lichterfelde  1904.  Zu  Kuyper  überhaupt:  Römer,  Eine 
calvinistische  Weltanschauung,  in  Evangelisches  Gemeindeblatt  für  Rheinl. 
und  Westf.   1903  S.  77  ff. 

2)  Vergl.  „Protestantisches  Christentum  und  Kirche  in  der  Neuzeit", 
in  ..Kultur  der  Gegenwart"  I,  4,  1.  Berlin  und  Leipzig  1906,  und:  „Die 
Bedeutung  des  Protestantismus  für  die  Entstehung  der  modernen  Welt". 
Hist.   Zeitschrift    1906. 

3)  Gegen  eine  direkte  Ableitung  der  völligen  Gewissensfreiheit  auch 
schon   E.   F.  K.  Müller.  „Über  religiöse  Toleranz".     Erlangen   1902. 

4)  Zur  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Calvinismus  für  die  heutige 
Kultur,  vergl.  noch:  L.  Elster,  J.  Calvin  als  Staatsmann,  Gesetzgeber  und 
Nationalökonom.  Jahrb.  f.  Nationalök.  und  Statistik  1878.  -  -  F.  Cauer, 
Die  Reformation  und  die  Arbeit.  Reform.  Kirchenzeit.  1902.  —  L.  Car- 
dauns,  Die  Lehre  vom  Widerstandsrecht  des  Volkes  gegen  die  recht- 
mäßige Obrigkeit,  im  Luthertum  und  im  Calvinismus  des  16.  Jahrb..  Bonn 
1903.  —  F.  J.  Schmidt.  Kapitalismus  und  Protestantismus.  Preuß.  Jahrb. 
1905  Bd.  122.  —  P.  A.  Diepenhorst,  Calvijn  en  de  economic  Wageningen 
1904. 


2A$  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

seinen  gedankenreichen  Vorlesungen  über  den  Calvinismus  aus- 
spricht, gesträubt  haben.  Aber  es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  seine 
Einwirkung  eine  sehr  nachhaltige  und  tiefgehende  gewesen  ist. 
Sein  Streben,  auch  sich  selbst  dem  Worte  Gottes  zu  unterwerfen, 
und  die  außergewöhnliche  Schärfe  seines  Geistes  waren  die  Vor- 
aussetzung dazu.  Sein  auf  eifrigem  Bibelstudium  und  umfassendem 
Wissen  beruhendes  systematisches  Werk,  die  Institutio  religionis 
christianae,  erweitert  durch  seine  zahlreichen  Kommentare,  erleich- 
terte sehr  ein  gründliches  Erfassen  seiner  Gedanken.  Wie  weit 
hinaus  diese  aber  durch  seine  Schüler  und  seine  Briefe  getragen 
wurden,  das  sehen  wir  mit  Staunen  aus  dem  thesaurus  epistolicus 
der  Braunschweiger  Ausgabe  seiner  Werke.1  So  ist  also  Calvin 
selbst  für  all  die  verschiedenen  Lebensbetätigungen,  die  man  wohl 
unter  dem  Sammelnamen  des  Calvinismus  zusammenfaßt,  von 
grundlegender  Bedeutung. 

Dann  aber  ist  das  Gebiet,  mit  dem  sich  die  vorliegende  Arbeit 
beschäftigt,  für  die  Erkenntnis  der  dogmenhistorischen  Stellung 
von  Calvins  Theologie  sowie  für  das  Verständnis  seiner  Tätigkeit 
und  seiner  Persönlichkeit  besonders  wichtig. 

Schon  Schleiermacher  2  wollte  den  Unterschied  von  Katholizis- 
mus und  Protestantismus  aus  der  verschiedenen  Bedeutung,  die  der 
Kirche  zugewiesen  werde,  herleiten.  Er  fand  hierin  manche  Nach- 
folger. So  sagt  z.  B.  Heppe :  „Die  Idee  des  evangelischen  Pro- 
testantismus vermag  nur  dann  in  ihrer  vollen  Wahrheit  und  Be- 
rechtigung erkannt  zu  werden,  wenn  sie  im  Zusammenhange  mit 
dem  Begriff  der  Kirche  aufgefaßt  wird."  (Gesch.  des  deutschen 
Protest,  von  1558 — 1581  Bd.  1 ;  1852  S.  3.)  A.  Ritschi  stimmt  dem 
völlig  bei,  ja  betrachtet  es  als  eine  notwendig  zu  ziehende  Folge- 
rung, „daß  auffallende  Veränderungen  im  geschichtlichen  Gange 
des  Protestantismus  nur  richtig  dargestellt  werden,  wenn  man  sie 
aus  den  begleitenden  Veränderungen  in   dem  Begriff  der   Kirche 


1)  Diese  von  Baum,  Cunitz,  Reuss  in  Straßburg  begonnene  Ausgabe 
wird  im  folgenden  mit  O.  C.  zitiert,  die  Bände  numeriert  nach  Calvins 
Werken.  Um  die  Bandzahlen  des  corpus  reformatorum  zu  erhalten,  braucht 
man  nur  28  zu  addieren.  Zu  den  Briefen  findet  man  manche  Korrekturen 
bei  Herminjard,  Correspond.  des  reformateurs  dans  les  pays  de  langue 
flrangaise.  Gen.  1866 — 1897.  Ferner  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  1901  S.  1 59  f . , 
485;  1903  S.  323  ff.;  1904  S.  157;  1905  S.  405,  auch  noch  Kleinigkeiten  in  den 
letzten  Bänden.  Ferner  F.  L.  Rutgers,  Calvijns  invloed  op  de  Reformatie 
in  de  Nederlanden  etc.  2.  Aufl.  Leiden  1901,  der  im  Register  S.  244  ein 
Verzeichnis  der  notwendigen    Zufügungen   und  Verbesserungen   gibt. 

a)  „Der  christliche  Glaube",  2.  Aufl.  1830  §  24. 


Von  cand.  theol.  Th.   Werdormann. 


249 


versteht".  (Die  Entstehung  der  luth.  Kirche.  Ges.  Aufsätze  I  1893 
S.  170.)  Und  m.  E.  mit  Recht  glaubt  auch  Fr.  Sieffert  den  „refor- 
matorischen Kirchenbegriff  unter  die  Prinzipien  des  Protestantis- 
mus" einreihen  zu  müssen.  (Theolog.  Arbeiten  aus  dem  rhein. 
wissensch.  Predigerverein  1877  S.  26  ff.)  So  steht  also  zu  erwarten, 
daß  wir  bei  der  Untersuchung  dieses  speziellen  Gebietes  überhaupt 
für  die  dogmenhistorische  Stellung  Calvins  Aufschlüsse  erhalten. 

Aber  auch  wenn  wir  unseren  Blick  auf  Calvin  allein  richten, 
verspricht  unsere  Untersuchung  Beiträge  zu  einer  gerechten  Wür- 
digung seines  Denkens  und  Tuns,1  weil  hier  zwei  besonders  hervor- 
tretende Züge  an  ihm  zusammentreffen:  seine  systematische  und 
seine  praktische  Begabung.  Wie  sehr  Calvin  immer  bemüht  war, 
seine  Darlegung  der  christlichen  Lehre  systematisch  zu  ordnen  und 
ineinander  zu  fügen,  und  wie  weitgehend  ihm  das  gelungen  ist,  das 
zeigt  uns  die  Geschichte  seines  Hauptwerkes,  der  institutio  rel. 
christ.2  Die  erste  Ausgabe  von  1536  erreicht  in  der  Geschlossenheit 
ihres  Aufbaues  noch  nicht  die  ursprüngliche  Form  von  Melanch- 
thons  loci  communes.  Die  letzte  Ausgabe  von  1559  aber  ist  dann 
zu  dem  bewundernswert  durchdachten  und  organisch  entwickelten 
Werk  geworden,  dem  man  darin  wohl  mit  Recht  in  den  folgenden 
Jahrhunderten  bis  auf  Schleiermachers  „Glaube"  kein  Werk  gleich- 
stellen zu  können  meint.3 

Und  wie  großartig  ist  seine  praktische  Tätigkeit  gewesen,  zu- 
nächst schon  in  Genf!  Er,  der  landesflüchtige  Fremdling,  der  so 
oft  kranke,  von  Natur  ängstliche  Mann  vermag  es,  eine  Stadt  wie 
Genf  so  ganz  umzuwandeln,  durch  so  viele  und  schwere  Kämpfe 
hindurch  den  Zustand  der  vorher  so  wirren  Stadt  in  diesem  rohen 
Zeitalter  seinem  Ideal  anzunähern.     Zeitweise  war  er  in  Wirklich- 


1)  F.  W.  Kampschulte.  J.  C.  etc.  I.  Leipzig  1869  S.  265.  ..Die  Lehre 
von  der  Kirche  ist  eine  der  wichtigsten  und  folgenreichsten  in  dem  Cal- 
vinischen System." 

2)  Vergl.  die  Proig.  zu  O.  C.  1  und  J.  Köstlin.  Calvins  Inst,  nach  Form 
und  Inhalt  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung.  Studien  und  Kritiken 
1868.  —  Über  die  Methode  Calvins  auch  J.  Bohatcc.  Die  Methode  der 
reform.  Dogmatik.     St.  u.    Kr.    1908. 

3)  So  müssen  wir  auch  Krauss  zustimmen,  wenn  er  ..das  protest. 
Dogma  von  der  unsichtb.  Kirche"  1876  S.  42  sagt:  ..In  dogmatischer  Ab- 
hängigkeit von  allen  drei  älteren  Reformatoren  steht  Calvin,  allen  dreien 
aber,  wenn  nicht  an  originalen  Gedanken,  so  doch  an  dogmatischem  Talent 
überlegen."  Yergl.  W.  Dilthey.  Die  Glaubenslehre  der  Reformatoren  auf- 
gefaßt in  ihrem  entwicklungsgeschichtlichen  Zusammenhang.  Preuß.  Jahrb. 
Bd.  75   S.  74. 


2  CO  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

keit,  wenn  auch  nicht  rechtlich  und  äußerlich,  der  Herrscher  von 
Genf.  Auf  seiner  geistigen  Überlegenheit  und  seinem  aus  inner- 
stem Triebe  erwachsenen  Eifer  für  die  Ehre  Gottes  beruhte  sein 
Einfluß.  Noch  größer  aber  muß  uns  Calvin  in  seiner  Tätigkeit  er- 
scheinen, wenn  wir  auf  sein  Vaterland  schauen.1  Wieviele  hat  er  dort 
durch  seine  Briefe  ermahnt  und  angefeuert,  getröstet  und  beraten ! 
Und  wie  versteht  er  es  auf  sein  Ziel  hinzuarbeiten,  ohne  doch 
irgendwie  sich  in  die  unredlichen  politischen  Künste  seiner  Zeit  ein- 
zulassen!  Welch  ehrliches,  für  die  Ausbreitung  des  Evangeliums 
gerade  auch  in  seinem  Heimatlande  glühendes  Herz  spricht  nicht 
aus  seinen  Briefen  zu  uns!  So  ist  auch  die  Bildung  der  so  opfer- 
freudigen, tapferen  Hugenotten-Kirche  sein  Werk. 

Zu  arbeiten  für  die  Kirche  Christi,  das  füllte  Calvins  Leben, 
fast  möchte  man  sagen,  in  einer  großartigen  Einseitigkeit  aus.2 
In  seinem  letzten  Brief  vom  Mai  1564  an  seinen  alten  Freund  und 
Mitkämpfer  Farel,  schreibt  er:  „Lebe  wohl!  bester,  trefflichster 
Bruder!  Wenn  Gott  will,  daß  Du  mich  überlebst,  so  gedenke  in 
Deinem  Leben  an  unsere  Gemeinschaft.  Soweit  sie  der  Kirche 
Gottes  nützlich  war,  so  weit  wird  uns  ihre  Frucht  im  Himmel 
bleiben."  3  Von  dem  also  nur,  was  er  für  die  Kirche  Nützliches  hat 
tun  können,  verspricht  sich  Calvin  Frucht  über  den  Tod  hinaus. 
Gerade  auch  dieser  Zug  hat  überall,  wohin  sein  Einfluß  reichte, 
nachgewirkt ;  und  auch  wenn  es  Hundeshagen  als  ein  grundlegender 
Vorzug  des  reformierten  Protestantismus  dem  lutherischen  gegen- 
über erscheint,  daß  er  das  soziale  Moment  im  Christentum  bewahre, 
und  wenn  es  nach  ihm  auch  dem  Reformiertentum  eigentümlich  ist, 
daß  es  das  Attribut  der  Heiligkeit  bei  der  Kirche  betone,4  so  gilt 
das  beides  eben  schon  von  Calvin. 


1)  Vergl.  Karl  Müller,  C.  u.  die  Ansänge  der  Hugenotten  Kirche. 
Preuß.  Jahrb.  1903  Bd.  114.     E.  Marcks,  Coligny  I,   1.  Stuttgart  1892. 

2)  So  nennt  auch  Scheibe  (Calvins  Prädestinationslehrc.  Halle  1897 
S.  77)  Calvin  einen  „vor  allem  und  letztlich  von  religiösen  Gesichtspunkten 
und  kirchlichen  Zwecken  geleiteten  Mann". 

3)  Vergl.  auch  ep.  3203  O.  C.  18  S.  93-  ego  vero  ex  omnium  memoria 
deleri  facile  patiar,  modo  ne  intereat  laborum  fructus,  quos  in  ecclessias 
utilitatem  sincero  rectoque  studio  hactenus  impendi:  a  quo  fine,  qui  mihi 
semper  fuit  propositus,  ut  tantillum  deflectam,  nulla  efficiet  ingratitudo  vcl 
praevitas.  Vergl.  auch  was  Beza  über  Calvins  Verhalten  in  seiner  letzten 
Krankheit  sagt:  Outre  cela  jamais  il  ne  s'est  espargne  aux  affaires  des 
Eglises,  respondant  et  de  bouche  et  palr  escrit  quand  il  en  estoit  besoin: 
encores  que  de  nostre  part  nous  luy  fissions  remonstrances  d'avoir  plus 
d'esgard  ä  soy.     O.   C.  21  S.  42. 

4)  Vergl.  „Beiträge  zur  Kirchenverfassungsgeschichte  und  Kirchen- 
politik   insbesondere  des  Protestantismus"  I.     Wiesbaden  1864. 


Von  cand.   theol.  Th.   Werdermann. 


251 


Nach  all  dem  muß  nun  wohl  eine  Untersuchung  des  Gebietes 
wichtig  sein,  auf  dem  sich  Calvins  systematische  und  praktische 
Veranlagung  treffen.  Und  wo  ist  das  mehr  der  Fall  als  in  seiner 
Lehre  von  der  Kirche?  Hierhin  zielt  der  ganze  Aufbau  der  Ge- 
danken in  der  Institutio  von  1559.  Die  Kirche  faßt  in  sich  all  die 
externa  media  zusammen,  vermittelst  derer  nach  Gottes  Willen  die 
Aneignung  des  Heils  für  die  Menschen  geschieht.  Und  all  die 
Darlegungen  der  drei  ersten  Bücher  haben  in  der  Institutio  von 
1559  nur  insofern  Wert,  als  sie  auf  die  Aneignung  des  Heils  hin- 
führen. Diese  nun  in  ihrer  innerlich  individuellen  Art  auch  in  ihrer 
äußeren.  Gott  gewollten  Ordnung  den  beiden  Extremen  des  Katho- 
lizismus und  des  Anabaptismus  gegenüber  zur  Durchführung  zu 
bringen,  dafür  war  der  Ort  in  Calvins  System  eben  bei  seiner  Lehre 
von  der  Kirche  gegeben.  — 

Bei  der  bedeutsamen  Stellung,  die  Calvins  Lehre  von  der 
Kirche  einnimmt,  ist  zu  erwarten,  daß  sie  häufiger  schon  beachtet 
worden  ist.  In  unserer  deutschen  Literatur  ist  jedoch  dieses  Thema 
noch  nicht  besonders  aufgenommen  worden.1  Nur  bei  Gelegenheit 
allgemeinerer  Arbeiten  über  Calvin  oder  über  die  Lehre  von  der 
Kirche  wurde  bei  uns  bisher  auch  Calvins  Lehre  von  der  Kirche 
herangezogen.  Dabei  ist  sie  nicht  zu  ihrem  Recht  gekommen.  Vor 
allem  fehlt,  abgesehen  von  kleinen  Bemerkungen  (vergl.  besonders 
J.  Köstlin  a.  a.  CM,  daß  die  historische  Entfaltung  dieser  Lehre  bei 
Calvin  selbst  sowie  auch  ihre  dogmenhistorische  Bedingtheit  be- 
achtet worden  wäre.  Auch  nimmt  die  systematische  Beurteilung 
selten  —  eigentlich  findet  man  das  nur  bei  J.  Müller,  Dogmat.  Ab- 
handlungen, Bremen  1870,  angedeutet  und  bei  Fr.  Sieffert  a.  a.  O. 
recht  betont !  —  genug  Rücksicht  auf  den  großen  Gedanken- 
aufbau Calvins  selbst.  So  seien  hier  nur  einige  der  wichtigsten 
Arbeiten  kurz  charakterisiert.  Andere  wird  man  im  Fortgang  der 
Untersuchung  noch  erwähnt  finden.  Wertvoll  sind  die  Arbeiten 
Hundeshagens.  Seine  Schrift  über  „Die  Konflikte  des  Zwingüanis- 
mus,  Luthertums  und  Calvinismus  in  der  Bernischen  Landeskirche 
von  1532 — 1558",  Bern  1842,  ist  nur  eine  Vorarbeit  für  das  Ver- 
ständnis des  dauernden  Kampfes,  in  den  Calvin  auch  in  Genf  mit 
den  Verfechtern  einer  ganz  anderen  Anschauung  über  das  Ver- 
hältnis von  Kirche  und  Staat,  als  er  sie  hatte,  notwendig  geraten 


1)  Der  Artikel,  der  in  der  reformierten  Kirchenzeitung  1880  unter 
diesem  Titel  erschienen  ist,  enthält  nur  eine  Übersetzung  von  Calvins  Dar- 
legungen in  der  Inst.   1535   (sie!). 


2K2  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

mußte.  Auch  seine  „Beiträge  zur  Kirchenverfassungsgeschichte 
und  Kirchenpolitik,  insbesondere  des  Protestantismus"  I,  Wies- 
baden 1864,  berücksichtigen  vor  allem  diese  Anwendung  der  Idee 
von  der  Kirche,  geben  aber  auch  sonst  wertvolle  Winke.  Albrecht 
Ritschis  verschiedene  Arbeiten,  die  hier  in  Betracht  kommen,1  legen 
alle  Zeugnis  ab  von  der  großen  tiefdringenden  Geistesschärfe  dieses 
Theologen.  Aber  gerade  auf  unserem  Gebiete  muß  man  ihm  vor- 
werfen, daß  er  zu  sehr  von  seinen  Gedanken  aus  seine  Quellen  liest 
und  daher  ihnen  nicht  gerecht  wird.  Calvin  stellt  in  seiner  In- 
stitutio  von  1559  die  Lehre  von  der  Kirche  dar  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  externa  media  vel  adminicula,  quibus  deus  in  Christi 
societatem  nos  invitat  et  in  ea  retinet.  Das  tritt  bei  Ritschi  ganz 
zurück.  Die  Entfaltung  bei  Calvin  selbst  beachtet  er  auch  kaum. 
Beides  gilt  weiter  von  den  Ausführungen  des  eben  hier  in  vielem 
von  Ritschi  abhängigen  R.  Seeberg  in  seinen  „Studien  zur  Ge- 
schichte des  Begriffes  der  Kirche  mit  besonderer  Beziehung  auf 
die  Lehre  von  der  sichtbaren  und  unsichtbaren  Kirche"  I,  Er- 
langen 1885.  Seine  nur  ungefähr  sieben  Seiten  umfassenden  Be- 
merkungen über  Calvins  Lehre  gehen  wesentlich  darauf  aus,  zu 
zeigen,  daß  Calvin  nicht  so  sicher  wie  Luther  und  Melanchthon 
die  innere  Verbindung  zwischen  unsichtbarer  und  sichtbarer  Kirche 
festgehalten  habe.  Die  beiden  obigen  Ausstellungen  treffen  auch 
die  neueste  Darlegung  über  unser  Thema  in  Georg  Hoffmann :  „Die 
Lehre  von  der  fides  implicita.  II.  Die  Reformatoren",  Leipzig  1906. 
Im  übrigen  findet  man  da  manche  gute  Beobachtungen  besonders 
betreffend  die  letztlich  doch  voluntaristische  Fassung  der  fides  bei 
Calvin.2  Alfred  Krauss,  „Das  protestantische  Dogma  von  der  un- 
sichtbaren Kirche",  Gotha  1876,  meint  wohl  (S.  45),  daß  Calvin  „das 
Palladium  der  Reformation,  die  Unterscheidung  zwischen  Reich 
Christi  und  Kirche"  behalten  habe,  trägt  aber  auch  nicht  dazu  bei, 
die  beiden  vorher  gerügten  Mängel  zu  beseitigen.  Vielmehr  bringt 
seine    Gleichsetzung  von   Reich   Gottes   und   unsichtbarer    Kirche 


1)  Vor  allem  ,,Über  die  Begriffe  sichtb.  u.  unsichtb.  Kirche",  St.  u.  Kr. 
^59  (ges.  Aufsätze  I  S.  68  ff.).  Dann  ..Die  christl.  Lehre  von  der  Rechtf. 
und  Versöhnung".  „Geschichte  des  Pietismus"  I  und  verstreute  Bemer- 
kungen in  manchen  anderen  Aufsätzen.     Dazu  vergl.    S.  277  Anm.  2. 

2)  Der  Glaubensbegriff  Calvins  ist  hier  doch  viel  zutreffender  gezeich- 
net als  das  bei  Martin  Schulze  geschieht,  der  seine  Darstellung  nicht 
vom  rechten  Gesichtspunkt  aus  orientiert.  Vergl.  „Meditatio  futurae  vitae, 
ihr  Begriff  und  ihre  herrschende  Stellung  im  System  Calvins".  Leipzig 
1901  und  „Calvins  Jenseitschristentum  in  seinem  Verhältnis  zu  den  reli- 
giösen Schriften  des  Erasmus".     Görlitz  1902. 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  ~  53 

einen  fremden  Gedanken  an  Calvins  Lehre  heran.  Auf  die  Bio- 
graphen Calvins,  besonders  Stähelin  und  Kampschulte,  weise  ich 
nur  hin.  Der  letztere  katholische  Forscher  versteht  es  nicht,  der 
Lehre  des  Reformators  gerecht  zu  werden,  gibt  vielmehr  manch- 
mal eine  bedenklich  schiefe  Darstellung. 

Eingehender  ist  unser  Thema  in  der  ausländischen  Forschung 
behandelt  worden.  Dort  sind  auch  eine  Anzahl  Monographien  vor- 
handen. Begreiflicherweise  sind  es  gerade  die  echt  calvinistischen 
Länder,  die  sich  an  dem  Studium  dieser  Frage  beteiligt  haben :  die 
französische  Schweiz,  Frankreich  und  die  Niederlande.  Bei  uns 
sind  diese  Arbeiten  fast  völlig  unbekannt.1  Ihr  wissenschaftlicher 
Wert  ist  teilweise  nicht  hoch ;  sie  alle  fallen  unter  die  beiden  prinzi- 
piellen Bedenken,  die  schon  gegen  die  deutschen  Arbeiten  geltend 
gemacht  werden  mußten.  Am  wenigsten  wertvoll  sind  die  Arbeiten 
aus  der  Schweiz.  Das  Material,  was  sie  verarbeiten,  ist  äußerst 
gering.  Man  beschränkt  sich  fast  ganz  auf  die  Institutio  von  1 5S9- 
Auch  ist  der  Blick  der  Untersuchenden  getrübt  durch  ihre  Partei- 
stellung in  den  kirchenpolitischen  Kämpfen  der  Schweiz.  Das  gilt 
mehr  oder  weniger  von :  H.  Farsat,  L'Eglise  d'apres  Calvin.  Geneve 
1874.  —  Jean  Favre,  Expose  critique  des  principes  ecclesiastiques 
de  Calvin,  et  des  institutions  qui  en  deconlent.  Lausanne  1864.  — 
H.  Daulte,  L'Eglise  d'apres  l'Institution  chretienne  de  Calvin. 
Lausanne  1885.  —  Uncl  etwas  weniger  von  C.  Grosclaude,  Exposi- 
tion et  critique  de  l'ecclesiologie  de  Calvin.  Geneve  1896.  Wissen- 
schaftlich bedeutend  höher  stehen,  behandeln  aber  nur  eine  Seite 
unseres  Themas:  A.  Roget,  L'Eglise  et  letat  ä  Geneve  du  vivant 
de  Calvin  in  Bibliotheque  universelle  et  Revue  suisse.  Geneve  1865  2 
und  E.  Choisy,  La  theocratie  ä  Geneve  au  temps  de  Calvin.  Gen. 
1897.  (Erwähnt  sei  hier  noch  der  klare,  einige  gute  Gesichtspunkte 
bietende  Aufsatz  aus  der  deutschen  Schweiz :  J.  Heiz,  Calvins 
kirchenrechtliche  Ziele,  aus  theologische  Zeitschrift  aus  der  Schweiz. 
Zürich  1893.)  —  Von  den  französischen  Arbeiten  ist  sehr  minder- 
wertig: A.  Mailhet,  La  notion  de  l'Eglise  dans  Calvin.  Montauban 
1881.  Wertvoller  sind  dagegen  die  Arbeiten  von  C.  Corbiere, 
Theorie  de  l'Eglise  d'apres  Calvin.  Strasbourg  1858  und  A.  Martin, 
Calvin  et  les  confessions  de  foi.  Montauban  1885,  welch  letztere 
ein  interessantes  Problem  besonders  herausgreift. 


1)  Ich  habe  sie   nur  mit   großer   Mühe   und   auch  nicht   vollzählig  er- 
halten.    Nur  die  seien  angeführt,  die  mir  vorlagen. 

2)  Diese    Arbeit    war    mir    nur    zugänglich    in    der    Übersetzung    von 
Thdemann   in   „Evangel. -reform.    Kirchenz."   1872. 


254  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Wissenschaftlich  wirklich  tüchtig  sind  aber  die  holländischen 
Schriften,  vor  allem  die  von  Abraham  Kuyper :  Disquisitio  histo- 
rico-theologica  exhibens  J.  Calvini  et  J.  a  Lasco  de  ecclesia  senten- 
tiarum  inter  se  compositionem.  Haag-  und  Amsterdam  1862.  In 
dieser  seiner  Erstlingsschrift  zeigt  sich  schon  die  Klarheit,  die 
Schärfe  und  das  große  Wissen  des  späteren  bedeutenden  Theologen 
und  Staatsmannes.  Die  Schärfe  der  Disponierung  geht  schon  zu 
weit.  Oft  sind  zusammengehörige  Gedankengänge  auseinand^r- 
gerissen,  und  das  Verständnis  ist  dadurch  naturgemäß  nicht  ge- 
fördert. Die  ganze  Amsterdamer  Ausgabe  von  Calvins  Werken 
scheint  verarbeitet  zu  sein,  aber  ohne  daß  die  Werke  etwa  nach  der 
Zeit  ihres  Entstehens  geordnet,  oder  nach  ihrer  besonderen  Ab- 
zweckung  gewürdigt  wären.  Dazu  kommt,  daß  Calvins  leitender 
Gesichtspunkt  für  seine  Lehre  von  der  Kirche  ganz  unbeachtet 
bleibt.  So  besteht  denn  der  Hauptwert  dieser  Arbeit  in  ihrer  um- 
fassenden Stellensammlung.  Für  das  innere  Verständnis  von  Cal- 
vins Lehre  trägt  sie  nicht  viel  bei.  Vielmehr  tritt  ganz  besonders 
in  der  zusammenfassenden  Gegenüberstellung  der  Lehre  Calvins 
und  der  a  Laskos  hervor,  daß  Calvin  doch  oft  falsch  beurteilt  wird. 
Diese  Schrift  ist  ein  interessantes  Denkmal  der  liberalen  Periode 
Kuypers  und  schließt  um  so  weniger  eine  Neubearbeitung  ihres 
Themas  aus,  da  ja  ihr  Verfasser  selbst  bald  solch  bedeutenden 
Umschwung  in  seiner  Bewertung  Calvins  erlebte.1  Lange  nicht 
so  gründlich  wie  Kuypers  Schrift,  aber  doch  bedeutend  besser  als 
die  meisten  französischen  Arbeiten  sind  die  beiden  letzten  hollän- 
dischen Dissertationen,  die  ich  hier  noch  nennen  will.  Ganz  ver- 
worren erscheint  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  nach  J.  A.  Bruins, 
Het  leerstuk  over  de  kerk  volgens  Luther,  Zwingli  en  Calvijn. 
Leiden  1869.  Die  Ursache  davon  liegt  aber  sicher  nicht  zum 
geringsten  Teil  in  Bruins  selber,  darin  nämlich,  daß  ihm  Calvin 
als  der  Gründer  der  protestantischen  Orthodoxie  und  diese  wieder 
als  dem  Protestantismus  vollständig  heterogen  erscheint  (S.  58,  64). 
So  bemüht  sich  Bruins  von  vornherein  nicht  sonderlich,  Calvin  zu 
verstehen.  (Ganz  dieselbe  Stellung  nimmt  auch  A.  Pierson  in 
seinen  1881,  1883,  1891  zu  Amsterdam  erschienenen  Studien  ein. 
Der  Kampf  gegen  Kuyper  hindert  ihn,  Calvin  gerecht  zu  werden.) 
Die  allgemein  geäußerten  Bedenken  hat   auch  nicht   überwunden 


1)  Über  seinen  theologischen  Umschwung  sptricht  sich  Kuyper  selbst 
aus  in  „Die  moderne  Theologie  eine  Fata  Morgana  auf  christlichem  Ge- 
biete."    Deutsch  Zürich   1872  S.  46. 


Von  cand.  theol.  Th.   Werdermann.  2 55 

S.  Schoch,  Calvijn's  beschouwing  over  kerk  en  Staat.  Groningen 
1902.  Auch  gibt  er  auf  manche  uns  wichtige  Fragen  keine 
Antwort.  — 

Im  Hinblick  auf  all  diese  Arbeiten  erscheint  es  mir  für  ein 
rechtes  Verständnis  der  Lehre  Calvins  von  der  Kirche  zunächst 
nötig,  mehr  historisch  zu  verfahren ;  d.  h.  es  müssen  die  dogmen- 
historischen Verbindungen,  soweit  sie  Calvin  negativ  und  positiv 
beeinflußt  haben,  beachtet  werden.  Ferner  ist  aber  auch  die  Ent- 
stehung und  Entfaltung  dieser  Lehre  bei  Calvin  selbst  zu  beob- 
achten. Freilich  ist  ja  etwas  Wahres  darin  enthalten,  wenn  bald 
tadelnd,  bald  lobend  gesagt  wird,  Calvin  habe  seine  theologischen 
Anschauungen  kaum  geändert.  Es  ist  richtig,  daß  Calvin  am 
wenigstens  von  allen  Reformatoren  das  getan  hat. x 

Aber  doch  muß  J.  Köstlin,  der  diese  Verhältnisse  am  ein- 
gehendsten untersucht  hat,  sein  Resultat  in  folgenden  Worten  zu- 
sammenfassen :  „Nach  allem,  was  wir  in  dieser  Darstellung  aus- 
gehoben haben,  wird  es  keines  weiteren  Beleges  dafür  mehr  be- 
dürfen, daß  auch  bei  Calvin  und  seiner  Institutio  trotz  aller  Festig- 
keit seines  ursprünglichen  Standpunktes  eine  Entwicklung  statt- 
hatte" (a.  a.  O.  S.  486).  (Vergl.  auch  Marcks  a.  a.  O.  S.  290.)  Die 
Bestätigung  dessen  werden  wir  auch  gerade  auf  unserem  Gebiete 
finden.2 


1)  Vergl.  J.  Köstlin  a.  a.  O.  —  Auch  die  Herausgeber  der  O.  C.  im 
corp.  reform,  sagen  22  S.  10:  „Calvin  a  tout  aussi  peu  change  son  style 
que  sa  theologie.  —  Schon  Beza,  vita  Calvini   O.    C.  21   S.   170. 

2)  Bei  dieser  historischen  Untersuchung  liegt  aber  die  Gefahr  vor, 
daß  wir  den  einheitlichen  Überblick  über  Calvins  Lehre  verlieren.  Deshalb 
denken  wir  in  einem  zweiten  Teil,  der  nächstens  in  den  von  der  Elberfelder 
ref.  Gemeinde  geplanten  „Studien  zufr  reformirten  Theologie"  erscheinen 
soll,  an  der  Hand  der  doch  wesentlich  ans  Ende  der  historischen  Unter- 
suchung zu  stellenden  abschließenden  Ausgabe  der  Institutio  von  1559  eine 
systematische  Darstellung  und  Würdigung  von  Calvins  Lehre  von  der 
Kirche  zu  geben  unter  Hinzuziehung  der  damit  enger  verbundenen  und  sie 
bedingenden  Gedankenkomplexe  sowie  mit  Berücksichtigung  der  voraus- 
gehenden historischen  Arbeit.  Hier  wird  auch,  soweit  das  nicht  schon  in 
dem  historischen  Teil  geschehen  mußte,  am  besten  die  Auseinandersetzung 
mit  abweichenden  Darstellungen  und  Urteilen  erfolgen. 


2  c6  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Historische  Untersuchung. 

i.   Kapitel: 

Die  Anfänge  bis  zur  Institutio  von  1536. 

a)  Bis  zur  Auswanderung  aus  Frankreich. 

Johann  Calvin  ist  niemals  so  sehr  wie  Luther  in  den  Banden 
der  römischen  Kirche  gewesen  (vergl.  auch  A.  Lefranc,  La  jeunesse 
de  Calvin.  Paris  1888  und  E.  Doumergue,  Jean  Calvin  I,  Lau- 
sanne 1899).  Freilich  erhielt  er  schon  mit  zwölf  Jahren  seine  erste 
Pfründe.  Auch  zeigt  schon  der  im  Jahre  1532  erschienene  Kom- 
mentar zu  Senecas  Schrift  de  dementia,  daß  Calvin  mit  den  Werken 
einer  großen  Anzahl  von  Vätern  gerade  auch  der  katholischen 
Kirche  bekannt  war;  doch  ist  ihm  die  katholische  Lehre  niemals 
solch  eine  Lebenswirklichkeit  gewesen  wie  dem  Mönch  Luther  in 
Erfurt,  wiewohl  er  in  der  Vorrede  zum  Psalmenkommentar 
(O.  C.  31  S.  21)  sagt,  daß  er  dem  abergläubischen  Wesen  des  Papst- 
tums hartnäckig  ergeben  gewesen  sei.  Er  stand  der  katholischen 
Lehre  viel  kühler,  ohne  innerste  Teilnahme  gegenüber.  Wir  wissen 
nichts  davon,  daß  er  die  Frage:  wie  bekomme  ich  einen  gnädigen 
Gott?  als  ein  Glied  der  römischen  Kirche  so  ernst  empfunden  habe 
wie  der  deutsche  Reformator. 

Wir  sehen,  daß  dies  sein  Ziel  war,  ein  bedeutender  anerkannter 
Gelehrter  zu  werden,  von  dem  man  rühmend  spreche.  Dazu 
brauchte  er  Ruhe;  auch  seiner  ganzen  Anlage  und  Herkunft  nach 
war  er  ein  Mann  der  Ordnung.  Selbst  nach  dem  gewaltsamen 
Bruch  mit  der  römischen  Kirche  betont  er  stets  die  Notwendigkeit 
der  Einheit  in  der  Kirche.  Da  muß  ihm  der  Gedanke  der  einen 
katholischen  Kirche  von  vornherein  besonders  wertvoll  gewesen 
sein.  Die  Unordnungen  und  Wrirren,  die  der  Abfall  von  Rom  mit 
sich  brachte,  erschienen  ihm  als  ein  Greuel,  auch  schon  deswegen, 
weil  er  bei  seinem  ängstlichen  Gemüt  von  Natur  nicht  in  sie 
hineinpaßte.  (Vergl.  Viguet,  Etüde  sur  le  caractere  distinctif  de 
J.  C.  1864.  S.  22.)  Darum  geschieht  es  wohl  aus  eigener  Erfah- 
rung heraus,  wenn  er  in  seiner  Antwort  an  Sadolet  den  evan- 
gelischen Christen  am  jüngsten  Tage  vor  Gottes  Richterstuhl  sagen 
läßt,  eins  vor  allem  habe  ihn  zunächst  von  den  Reformatoren 
zurückgehalten:  die  Verehrung  der  Kirche  (O.  C.  5  S.  412). 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdirmann.  2  S7 

Ein  gutes  Dokument  für  die  innere  Stellung  Calvins  in  dieser 
Zeit  besitzen  wir  in  seinem  Erstlingswerk  aus  dem  Jahre  1532: 
L.  Annaei  Senecae  libri  de  dementia  cum  J.  Calvini  commentario. 
Freilich  hebt  Doumergue  mit  Recht  hervor,  wie  stark  Calvin  schon 
hier  die  Kirchenväter  benutze,  daß  er  sogar  die  Bibel  einige  Male 
zitiere.  Auch  wenn  dieser  Biograph  Calvins  sagt  (a.  a.  O.  I 
S.  218  f.),  daß  Calvin  damals  nicht  ein  echter  Humanist,  sondern 
mehr  eigentlich  ein  Augustinist  gewesen  sei,  so  mag  er  in  ge- 
wisser Weise  recht  haben.  Aber  doch  ist  es  bezeichnend,  daß  so 
treffliche  Gelehrte,  wie  die  letzten  Herausgeber  der  O.  C,  der 
Meinung  sein  konnten,  daß  im  Senecakommentar  ein  rein  huma- 
nistisches Werk  vor  uns  liege  ohne  eine  Spur  religiösen,  theo- 
logischen oder  biblischen  Inhaltes  (O.  C.  5  S.  XXXII).  Es  ist  in 
der  Tat  eine  philologische,  von  humanistischem  Interesse  aus  ent- 
standene Gelehrtenarbeit,  die  den  Zweck  hat,  ihrem  Verfasser  als 
Gelehrtem  einen  Namen  zu  machen.  —  Iutr  unsere  Untersuchung 
bietet  jedenfalls  dieser  Kommentar  ebensowenig  als  die  Briefe 
und  die  praefatio  in  Nie.  Chemini  antapologiam  (Ü.  C.  9  S.  785  f.), 
die  aus  der  Zeit  vor  Mitte  1533  stammen. 

Um  diese  Zeit  trat  in  Calvins  Leben  die  große  Wendung,  seine 
Bekehrung,  ein.1  WTir  brauchen  uns  hier  nicht  auf  die  Frage  ein- 
zulassen, ob  diese  als  Resultat  einer  langen  Entwicklung  oder  als 
ein  plötzliches  Ereignis  zu  denken  sei.  Für  uns  kommt  es  nur  auf 
eine  inhaltliche  Bestimmung  der  Bekehrung  Calvins  an,  deshalb, 
weil  es  wahrscheinlich  ist,  daß  die  Art  seiner  Bekehrung  für  seine 
Frömmigkeit  und  seine  Theologie,  also  auch  seine  Lehre  von  der 
Kirche  bedeutsam  gewesen  ist. 

Nun  sind  die  Nachrichten,  die  wir  über  dieses  wichtigste  Er- 
eignis im  Leben  Calvins  haben,  sehr  spärlich.  Aber  zweierlei 
können  wir  doch  darüber  aussagen.  Erstens :  bei  Calvin  ist  die 
Bekehrung  im  tiefsten  ebenso  wie  bei  Luther  die  Erfahrung  der 
Befreiung  von  der  Schuld  durch  die  Gnade  Gottes  in  Christo,  d.  h. 
der  persönliche    Heilsglaube   gewesen.      Denn    daß   das    Heil   des 


1)  So  nach  K.  Müller,  „Die  Bekehrung  Calvins",  in  den  Nachrichten 
der  Göttinger  Akademie  1905.  phil.-hist.  Klasse  S.  211.  Nach  A.  Lang, 
..Luther  und  Calvin".  Deutsch-ev.  Bl.  1896  S.  322.  um  die  Wende  des 
Jahres  1532  und  1533.  Nach  demselben:  „Bekehrung  Calvins"  1397  S.  30 
erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1533.  Vergl.  auch:  H.  Lecoultre,  la 
Conversion  de  Calvin,  in  Revue  de  theologie  et  de  philosophie.  1890  S.  5  ff. 
Wernle,  Zeitschr.  f.  Kirchengeschichte  1906.  Auch  A.  Lang,  ..Die  ältesten 
theologischen  Arbeiten  Calvins",  in  Neue  Jahrb.  f.  deutsche  Theologie  2, 
S.  273  f. 

Calvinstudien.  1 7 


2^8  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Menschen  im  Glauben  liege,  das  ist  von  Anfang  bis  zu  Ende  bei 
ihm  die  Grundlage.  (Vergl.  A.  Lang,  Bekehrung,  S.  55.)  Anderer- 
seits aber  ist  seine  Bekehrung  spezifisch  verschieden  von  der 
Luthers  und  hierin  dann  auch  gerade  für  die  Eigenart  seines 
Christentums  bedingend.  In  Luther  war  persönlich  schon  lange 
die  Frage  nach  einem  gnädigen  Gott  lebendig.  Seine  Bekehrung 
bestand  darin,  daß  ihm  in  seiner  Sündenangst  „aus  Rom.  1,  17  die 
Gewißheit  der  Barmherzigkeit  und  Liebe  seines  Gottes  als  der  Inhalt 
der  gesamten  Schrift  klar  wurde".  (K.  Müller,  Calvins  Bekehrung 
S.  220.)  Von  diesem  Gnadenevangelium  hatte  Calvin  schon  länger 
in  seinem  Freundeskreise  hören  können  und  sicher  auch  gehört. 
Aber  es  war  ihm  nicht  persönlich  bedeutsam  geworden.  Er  hatte 
sein  Herz  an  anderes  gehängt.  Nun  war  ihm  die  Erkenntnis  seiner 
Sünde,  seiner  Gottesferne  aufgegangen.  So  wurde  ihm  zugleich 
mit  der  Erfahrung  der  Gnade  das  zur  Gewißheit,  daß  es  nicht 
anginge,  ein  Leben  ohne  Gott  zu  führen,  daß  er  keine  Kreatur 
vergöttern  dürfe,  sondern  sich  ganz  Gott  hingeben  müsse,  ihm  in 
seinem  Leben  allein  zu  dienen.  Von  da  aus  kam  er  auch  in  seiner 
Theologie  zu  einer  stärkeren  Betonung  Gottes,  seiner  Majestät 
und  Ehre.  Das  führte  ihn  aber  auch  zugleich  zu  einer  unbedingten 
Beugung  unter  die  Schrift,  in  der  er  Gottes  Wahrheit  und  Willen 
offenbart  fand.  —  Die  starke  Theonomie  seiner  Gedanken  wird 
von  hier  aus  verständlich.  Und  so  schildert  wohl  Karl  Müller  die 
Eigenart  der  Bekehrung  Calvins  richtig,  wenn  auch  in  der  Ab- 
lehnung des  von  uns  an  erster  Stelle  genannten  Faktors  einseitig: 
„daß  der  Herrscherwille  Gottes  gebietend  an  seine  Seele  herantrat 
und  sie  bezwang,  daß  vor  seiner  Majestät  alle  Ausflüchte  zer- 
gingen, das  hat  seine  Bekehrung  ausgemacht.  Craindre  Dieu,  se 
dedier  du  tout  ä  nostre  Seigneur,  das  wird  fortan  die  Triebkraft 
seines  Lebens.  Und  daß  er  es  auch  anderen  gegenüber  zum  Inhalt 
seiner  Wirksamkeit  erhoben  hat,  das  hat  ihn  zum  Reformator  ge- 
macht" (a.  a.  O.  S.  220).1 

Als  erstes  uns  erhaltenes  Zeugnis  der  reformatorischen  Ge- 
sinnung Calvins  wurde  trotz  wiederholter  Bestreitung  bis  vor 
kurzem  immer  noch  die  Rektoratsrede  oder  vielmehr  -predigt 
eines   Freundes  des  Reformators,   Cop,   über  die   Seligpreisungen 


1)  Im  letzten  Satz  zeigt  sich  freilich  besonders  stark  die  Einseitigkeit 
der  These  Müllers.  Das  erst  macht  Calvin  inhaltlich  zum  Reformator, 
daß  er  eben  die  Glaubensgerechtigkeit  genau  im  Sinne  Luthers  predigte.  — 
Übrigens  ist  die  von  K.  Müller  richtig  betonte  Seite  auch  A.  Lang  nicht 
entgangen.     Vergl.   A.  Lang,   Bekehrung  S.  56  f. 


Von  cand.  tlieol.  Tli.  Werdermann.  -59 

betrachtet.  A.  Lang  zeigte,  daß  sie  eine  recht  unselbständige  Kom- 
pilation aus  zwei  Quellen:  einem  Vorwort  zu  der  mit  Anmerkungen 
versehenen  Ausgabe  des  Neuen  Testamentes  von  Erasmus  und 
einer  Predigt  Luthers  über  den  gleichen  Text  in  der  Kirchen- 
postille  sei.  Aber  die  eingehenden  Untersuchungen,  die  K.  Müller 
angestellt  hat,  machen  es  unmöglich,  sie  weiterhin  als  ein  Zeugnis 
der  theologischen  Anfänge  Calvins  zu  benutzen.  Nur  eins  ist 
daraus  sicher,  daß  nämlich  Luthers  Schriften  in  dem  Freundes- 
kreise Calvins  eifrig  gelesen  wurden. 

Auch  die  Psychopannychia  ist  hier  nicht  zu  verwerten,  sondern 
allein  die  im  Jahre  1534  verfaßte  Vorrede.1  Ebenso  ist  von  den 
beiden  Vorreden,  die  Calvin  im  Jahre  1535  für  die  Bibelübersetzung 
seines  Vetters  Olivetan  geschrieben  haben  soll,  nur  die  erste  als 
echt  anzusehen. 

In  der  Vorrede  zur  Psychopannychia  sagt  Calvin  solchen 
Leuten  gegenüber,  die,  sobald  man  sie  nur  mit  dem  Finger  an- 
rührt, schreien,  die  Einheit  der  Kirche  werde  zerrissen,  die  Liebe 
verletzt,  daß  er  keine  Einheit  anerkenne  als  in  Christo,  keine  Liebe, 
bei  der  Christus  nicht  das  Band  sei.  Hauptbedingung  zur  Er- 
haltung der  Liebe  ist  also,  daß  unter  uns  der  Glaube  heilig  und 
unverletzt  bleibe  (O.  C.  5  S.  170  f.).  In  der  Vorrede  zu  Olivetans 
Bibelübersetzung  aber  legt  er  dagegen  Verwahrung  ein,  daß  er 
etwa  durch  die  Forderung  des  Bibellesens  auch  für  das  gewöhn- 
liche Volk  aus  der  Kirche  die  Ordnung  des  Lernens  und  Lehrens 
beseitigen  wolle.  Diese  sei  vielmehr  für  eine  bedeutsame  Wohltat 
Gottes  zu  halten,  wenn  sie  von  gottgesandten  Propheten,  Lehrern 
und  Auslegern  recht  verwaltet  werde.  Aber  es  sei  nötig,  daß  das 
gläubige  Volk  seinen  Gott  selbst  sprechen  höre  (O.  C.  9  S.  788). 
Auch  sagt  Calvin,  es  sei  falsch  zu  meinen,  bei  so  vielen  Häresien 
werde  das  Volk  besser  durch  Gehorsam  als  durch  Lehre  zusammen- 
gehalten (S.  789). 

Es  sind  also  nur  ganz  gelegentliche  Bemerkungen  über  die 
Kirche,  die  uns  bisher  begegnet  sind.  Aber  zwei  zu  beachtende 
Züge  treten  schon  in  ihnen  hervor.  1.  Für  Calvin  ist  die  Ein- 
heit der  Kirche  wichtig;  aber  sie  ist  ihm  gegründet  nur  auf 
Christus  selbst.  Es  ist  etwas  emphatisch  gesprochen,  wenn  Dou- 
mergue   (I,  468)   gleich  in  dieser  Stelle   den  ganzen   Calvin  finden 


1)   Vergl.   gegen  Kampsch.   I   S.  248  f.   und   O.  C.  5   S.  XXXIV  f.   schon 
O.  C.  10  b  S.  38  f.  und  A.  Lang,  Die  ältesten  theol.  Arb.   C.  s. 

17* 


2  ÖO  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

will.  Aber  hervorragend  wichtig  ist  für  ihn  dieser  Gedanke. 
2.  Calvin  will  die  Ordnung  der  Lehrämter  nicht  umstoßen ;  im 
Gegenteil,  das  kirchliche  Amt  ist  ihm  eine  große  Wohltat  Gottes 
dann,  wenn  es  recht  ist,  d.  h.  das  Wort  Gottes  zur  alleinigen  und 
wahrhaften  Grundlage  hat. 

b)  Institutio  von  1536. 

Eine  zusammenfassende  Darstellung  seiner  Anschauung  vom 
Christentum  gibt  uns  Calvin  schon  sehr  bald  in  der  Sommer  1535 
vollendeten  und  1536  erschienenen  ersten  Ausgabe  seiner  inst, 
rel.  Christ. 

Bekanntlich  schließt  sich  diese  Ausgabe  in  ihrem  Aufbau  zu- 
nächst an  den  kleinen  Katechismus  Luthers  an.  Von  den  sechs 
Kapiteln  dieses  kleinen  Buches,  wie  Calvin  selbst  diese  Ausgabe 
später  nennt,  behandeln  die  vier  ersten  dem  lutherischen  Katechis- 
mus folgend:  1.  das  Gesetz  oder  den  Dekalog,  2.  den  Glauben 
oder  das  apostolische  Symbol,  3.  das  Gebet  oder  das  Hcrrengebct 
und  4.  die  Sakramente.  Dann  folgen,  im  Charakter  der  Ausfüh- 
rung anders  gehalten,  Kapitel  5 :  sacramenta  non  esse  quinque  reli - 
qua  und  Kapitel  6:  de  libertate  christiana,  potestate  ecclesiastica 
et  politica  administratione.  Daß  in  dieser  Ausgabe  nur  erst  eine 
mangelhafte  systematische  Ordnung  sich  findet,  sehen  wir  gerade 
auch  bei  dem  Gebiet,  auf  das  unsere  Aufmerksamkeit  gerichtet  ist. 
Die  wichtigsten  Ausführungen  finden  wir  in  dem  zweiten  Kapitel 
bei  der  Behandlung  des  vierten  Artikels  des  apostolischen  Sym- 
bols, wo  Calvin  sich  ex  officio  über  die  Kirche  äußert.  Weiter  ist 
aber  auch  zu  beachten  im  fünften  Kapitel  die  Polemik  gegen  die 
römische  sakramentale  Auffassung  der  ordines  ecclesiastici  und 
dann  so  ziemlich  das  ganze  sechste  Kapitel.  Es  muß  hier  genügen, 
die  Darlegungen  des  zweiten  Kapitels  näher  zu  berücksichtigen 
und  die  anderen  Ausführungen  nur  charakterisierend  zu  über- 
schauen  mit   Hervorhebung  besonders  wichtiger   Punkte. 

Calvin  scheidet  das  Symbol  in  vier  Teile.  Die  drei  ersten  sind 
den  drei  Personen  der  Trinität  zugewiesen.  Der  vierte  legt  dar, 
quae  ad  nos  ex  ea  in  Deum  fide  redeant,  quaeque  expectanda  sint 
(O.  C.  1  S.  58).  Wir  glauben  nach  ihm  zunächst  die  heilige  katho- 
lische Kirche  d.  h.  die  Gesamtzahl  der  Erwählten,  seien  es  Engel 
oder  Menschen,  Tote  oder  Lebendige  und  mögen  sie  in  noch  so 
fernen  Ländern  und  Völkern  zerstreut  sein.  Und  zwar  glauben 
wir  sie  als  die  eine  Kirche  und  Gemeinschaft,  als  das  eine  Volk 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  20  1 

Gottes,  dessen  Führer  und  einziges  Haupt  Christus,  unser  Herr, 
ist.  Denn  gerade  in  ihm  sind  jene  durch  Gottes  Güte  vor  Grund- 
legung der  Welt  erwählt,  damit  sie  alle  dem  Reich  Gottes  bei- 
gesellt würden.  Weil  also  die  Erwählten  in  Christus  zu  einem 
Leib  geeint  sind,  darum  ist  ihre  societas  die  catholica,  id  est, 
universalis  (S.  72).  Und  heilig  ist  sie,  weil  alle,  die  von  Gottes 
ewiger  Vorsehung  erwählt  wurden  zu  Gliedern  der  Kirche,  vom 
Herrn  geheiligt  werden  (S.  73).  Hier  werden  nun,  was  für  die 
erste  Ausgabe  bezeichnend  ist,  Bemerkungen  über  die  Erwählung 
eingeschoben.  Diese  wird  nach  Paulus  verwirklicht  in  Berufung, 
Rechtfertigung  und  Verherrlichung.  Und  zwar  vollzieht  und  be- 
zeugt Gott  ohne  alle  Ausnahme  auf  diese  Weise  seine  Erwählung. 
Daher  werden  von  der  Schrift  unter  das  Volk  Gottes  oft  nur  die 
gerechnet,  bei  denen  die  Erwählung  durch  Berufung  und  Recht- 
fertigung schon  offenbar  geworden  ist.  Aber  auch  nur  die  Er- 
wählten gehören  zum  Volk  Gottes.  —  Der  Zweck  aber,  weshalb 
diese  Erörterungen  hierhergestellt  sind,  tritt  klar  in  folgendem 
Satze  heraus :  Cum  autem  ecclesia  sit  populus  electorum  dei,  fieri 
non  potest  ut  qui  vere  eius  sunt  membra  tandem  pereant,  aut 
malo  exitio  perdantur  (S.  73).  ,,Die  Erwählungsidee  ist  konsti- 
tuierend für  den  Kirchenbegriff.  Der  Wert  des  Glaubens  an  die 
Kirche  wird  durch  sie  festgestellt,  indem  sich  als  Inhalt  dieses 
Glaubens  die  Überzeugung,  des  Heils  nie  verlustig  zu  gehen,  er- 
gibt'', so  sagt  Max  Scheibe  mit  Recht  (C.  Prädestinationslehre, 
Halle  1897  S.  9).  Darum  führt  auch  Calvin  weiterhin  aus,  daß 
Gott  und  Christus,  den  Erwählten  für  die  Sicherheit  ihres  Heils 
einstünden  (S.  73).  Und  da  es  auch  nie  eine  Zeit  gegeben  hat  und 
nie  eine  geben  wird,  wo  Gott  nicht  seine  Kirche  auf  der  Erde  hat 
(S.  74),  so  ist  auch  das,  was  zuletzt  das  Bekenntnis  zum  Glauben 
an  die  Kirche  enthalten  soll,  und  ihm  die  Bedeutung  für  uns  gibt, 
möglich,  daß  wir  nämlich  im  Vertrauen  auf  die  göttliche  Güce 
gewiß  sind,  daß  auch  wir  zur  Kirche  gehören,  und  erwarten,  daß 
wir  mit  den  anderen  Erwählten  Gottes,  mit  denen  wir  berufen 
und  schon  zum  Teil  gerechtfertigt  sind,  völlig  gerechtfertigt  und 
geheiligt  werden.  Ohne  diesen  persönlichen  Glauben  aber  ist,  wie 
Calvin  etwas  weiter  unten  (S.  74/75)  nochmals  betont,  der  Glaube 
an  die  allgemeine  Kirche  ganz  nutzlos. 

In  das  Geheimnis  Gottes  in  bezug  auf  die  Frage,  wer  denn 
erwählt  und  wer  verstoßen  sei,  sollen  wir  nicht  eindringen  wollen. 
Das  ist  für  unseren   Glauben   nicht  nötig.     Der   stützt   sich   allein 


2Ö2  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

auf  die  Verheißung,  daß  Gottes  Kind  sei,  wer  seinen  Sohn  an- 
genommen hat  (S.  74). 

Auch  die  Schlüsselgewalt  (S.  75),  die  Christus  den  Dienern 
seines  Wortes  übergeben  hat,  bedeutet  nicht,  daß  wir  bei  den  ein- 
zelnen erkennen  könnten,  wer  zur  Kirche  gehöre  und  wer  nicht. 
Sondern  sie  verspricht  nur,  daß  von  dem  Hören  und  gläubigen 
Annehmen  des  Evangeliums  hier  auf  Erden  das  Urteil  Gottes  im 
Himmel  abhängen  werde. 

Nun  aber  greift  Calvin  auf  die  Bemerkung  (S.  73)  zurück,  daß 
die  Schrift  in  Anpassung  an  unser  Verständnis  nur  die  Berufenen 
und  zum  Teil  Gerechtfertigten  als  Erwählte  bezeichne.  Da  eine 
Glaubensgewißheit  über  die  Erwählung  der  einzelnen  nicht  mög- 
lich ist,  so  hat  das  Liebesurteil  einzusetzen.  In  ihm  müssen  uns 
alle  die  als  Erwählte  und  Glieder  der  Kirche  gelten,  die  erstens 
durch  Bekenntnis  des  Glaubens,  zweitens  durch  das  Beispiel  ihres 
Lebens  und  drittens  durch  die  Teilnahme  an  den  Sakramenten  mit 
uns  denselben  Gott  und  Christus  bekennen.  Gewisse  Unvoll- 
kommenheiten  ihres  sittlichen  Lebens,  sofern  sie  sich  nur  nicht 
darin  gefallen,  können  das  nicht  hindern.  Denn  die  Schrift  hat 
uns  diese  Erkennungszeichen  der  (wahren)  Kirche  Gottes  gegeben 
(S.  75).  —  Alle  aber,  die  mit  uns  nicht  denselben  Glauben  teilen 
oder  trotz  des  Bekenntnisses  ihres  Mundes  durch  ihre  Werke  das 
Gegenteil  beweisen,  geben  sich  dadurch  als  solche  zu  erkennen, 
die  gegenwärtig  nicht  Glieder  der  Kirche  sind.  —  Da  soll  nun  die 
Exkommunikation  von  der  Gemeinschaft  der  Gläubigen  alle  ab- 
scheiden, die  den  Glauben  an  Christus  nur  vorspiegeln,  aber  durch 
ihr  leichtfertiges  Leben  und  Sündigen  der  Kirche  ein  Ärgernis 
geben  und  also  unwürdig  sind,  mit  Christi  Namen  sich  zu 
schmücken.  Drei  Abzielungen  hat  die  Exkommunikation:  1.  sie 
soll  hindern,  daß  Gottes  Ehre  verletzt  werde ;  2.  sie  soll  verhüten, 
daß  das  schlechte  Beispiel  verderblich  wirke,  3.  sie  soll  durch 
Scham  zur  Besinnung  und  Reue  führen  (S.  76).  —  Bezeichnend 
ist,  daß  die  Ehre  Gottes  voransteht !  Die  anderen  Gesichtspunkte 
sind  von  pädagogischem  Interesse  eingegeben. 

Was  bedeutet  aber  die  Exkommunikation?  Man  darf  an  dem 
Ausgeschlossenen  nicht  verzweifeln  (S.  76/77).  Er  könnte  ja  doch 
zu  den  Erwählten  gehören,  und  die  Erfahrung  zeigt  uns,  daß  oft 
ganz  Fernstehende  der  Kirche  zugesellt  werden.  Worauf  es  für 
uns  in  der  Gemeinschaft  mit  den  anderen  ankommt,  ist,  daß  wir 
in  gegenseitiger  Aufrichtigkeit  voneinander  möglichst  gut  denken. 


Von  cand.  theol.  Tli.  Werdermann.  2G~K 

So  dürfen  wir  auch  bei  den  Exkommunizierten  die  Person  selbst 
nicht  verwerfen,  nur  ihre  von  Gottes  Gesetz  verurteilten  Werke. 
Zwar  verbietet  es  die  Kirchenzucht  mit  jenen  vertrauten  Umgang 
zu  pflegen.  Aber  auf  alle  Weise  müssen  wir  doch,  durch  Ermah- 
nungen und  Belehrungen,  durch  Milde  und  Güte  und  durch  unsere 
Gebete  sie  zu  besserem  Leben  zu  bekehren  suchen,  damit  sie  sich 
der  Gemeinschaft  und  Einheit  der  Kirche  zugesellen.  Das  gilt 
überhaupt  von  allen  Feinden  der  wahren  Religion.  Daß  man  mit 
äußerem  Zwang  gegen  sie  vorgeht,  ist  gar  nicht  zu  billigen  (S.  77). 
—  Diese  Ausführungen  sind  besonders  zu  beachten,  gerade  auch 
dem  Verfahren  gegenüber,  das  Calvin  selbst   später  einschlug. 

Wenn  man  also  bei  den  Einzelnen  nicht  bestimmt  feststellen  kann, 
ob  sie  zur  Kirche  gehören,  so  ist  das  doch  sicher,  daß  überall,  wo 
Gottes  Wort  mit  Ernst  gepredigt  und  gehört  wird,  wo  die  Sakra- 
mente nach  Christi  Einsetzung  verwaltet  werden,  etwas  von  Gottes 
Kirche  sei ;  denn  seine  Verheißung  kann  nicht  trügen.  Gewissere 
Kenntnis  von  der  Kirche  gibt  es  hier  nicht.  Auch  hier  muß  der 
Glaube  einsetzen.  Denn  was  man  nicht  sieht,  das  glauben  wir  ja 
eben  im  Vertrauen  auf  die  Verheißung  Gottes.  Wenn  wir  also 
die  Kirche  glauben,  so  sagen  wir  damit  zugleich,  daß  sie  nicht 
eine  res  carnalis  sei,  quae  sensibus  nostris  subiiei,  aut  certo  spatio 
circumscribi,  aut  in  sede  aliqua  figi  debeat  (S.  yy). 

Im  Bekenntnis  zur  communio  sanetorum  sagen  wir  unseren 
Glauben  dazu  aus,  daß  in  der  allgemeinen  Kirche  unter  allen  Er- 
wählten gegenseitige  Gemeinschaft  und  Teilnahme  an  allen  Gütern 
herrsche,  ohne  daß  dadurch  Verschiedenheiten  der  Gaben  und  be- 
sonderer Besitz  ausgeschlossen  wäre.  Vielmehr  jeder  hat  seine 
besonderen  Gaben  und  Aufgaben;  aber  alle  haben  in  gegenseitiger 
Liebe  teil  an  dem,  was  ein  Glied  hat,  weil  sie  zu  eine  m  Körper 
gehören.  Haec  est  ecclesia  catholica,  corpus  Christi  mysticum 
(S.  78).  Also  soll  die  Formel  communio  sanetorum  als  nähere 
Bestimmung  zu  ecclesia  erklären,  wie  beschaffen  wir  die  Kirche 
glauben. 

Auf  Vergebung  der  Sünde  aber  bezieht  sich  unser  Glaube, 
weil  uns,  die  wir  Glieder  des  ecclesiae  corpus  sind,  Sündenver- 
gebung zuteil  wird,  die  sonst  nirgends  und  auf  keine  Weise  zu 
finden  ist  (S.  78).  Aber  auch  die  Kirche  selbst  ruht  eben  auf  der 
Vergebung  der  Sünde  als  auf  ihrem  Fundament.  Denn  durch  die 
Vergebung   der   Sünde    kommen   wir   zu    Gott,   und    wird   er    uns 


264  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

geneigt;  sie  öffnet  also  auch  allein  für  uns  den   Eingang  in  die 
Kirche ;  sie  hält  und  schützt  uns  in  ihr. 

Damit  schließen  die  Ausführungen  über  die  Kirche  ab.  Die 
Erläuterungen  der  beiden  letzten  Begriffe  des  Symbols:  Auf- 
erstehung des  Fleisches  und  Ewiges  Leben,  berücksichtigen  nicht 
unmittelbar  die  Kirche.  Doch  bevor  wir  uns  über  die  Bedeutung 
des  bisher  Analysierten  Rechenschaft  geben,  wollen  wir  noch  auf 
die  späteren,  mit  unserem  Thema  in  Verbindung  stehenden  Be- 
merkungen der  Institutio  von  1536  einen  Blick  werfen. 

Bei  der  Besprechung  des  Abendmahles  sagt  Calvin  wieder, 
daß  die  Christen  ein  Leib  seien  (S.  126).  Überall  fällt  das  Ge- 
wicht auf  die  Verbindung  der  Kirche  mit  Christus,  im  Anschluß 
an  Eph.  5  wird  bei  der  Zurückweisung  des  Ehesakramentes  der 
römischen  Kirche  die  Kirche  als  Braut  Christi  bezeichnet  (S.  193  f., 
vergl.  S.  110,  214).  Sie  heißt  auch  Reich  Christi  (S.  204).  Sie 
wird  weiterhin  als  die  Trägerin  all  der  großen  Verheißungen  Gottes 
betrachtet  (S.  181,  214  f.). 

Aber  in  diesen  späteren  Ausführungen  findet  sich  niemals  mehr 
die  Kirche  als  der  universus  praedestinatorum  numerus  bestimmt. 
Vielmehr  tritt  jetzt  der  Begriff  der  Gläubigen  in  den  Vorder- 
grund,1 d.  h.  die  Kirche  wird  jetzt  betrachtet  unter  der  dem  mensch- 
lichen Verstände  angepaßten  Form  der  Schriftaussagen.  Auch 
wird  nun  häufiger  der  Plural  gebraucht  und  also  auch  die  Einzel- 
gemeinde als  Kirche  bezeichnet.  (Vergl.  S.  185,  225,  227  singulae 
ecclesiae.  S.  163  ut  in  singulis  locis  aut  provinciis  constitui  eccle- 
siae  possunt.)  Jetzt  hören  wir  Calvin  sprechen  von  der  ecclesia 
orientalis  und  occidentalis  (S.  155,  218),  der  ecclesia  constantino- 
politana  (S.  155). 

Gerade  in  der  Verschiebung  der  Betrachtungsweise  kommt 
die  Eigenart  der  beiden  letzten  Kapitel,  denen  diese  Darlegungen 
angehören,  zum  Ausdruck.  Sie  ist  dadurch  bewirkt,  daß  neben 
der  ideellen  Bestimmung  der  Kirche  als  Gesamtzahl  der  Prädesti- 
nierten jetzt  die  äußere  sichtbare  Seite  der  Kirche  mehr  hervor- 
tritt. Gegen  einzelne  Ordnungen  der  römischen  Kirche  richtet 
sich  hier  Calvin.  Aber  er  argumentiert  selbst  auch  von  der  äußer- 
lich sichtbaren  Kirche  aus,  für  die  er  rechte  Ordnungen  ebenso 
und  mehr  als  für  jede  menschliche  Gemeinschaft  als  nötig  erkennt 
(S.  225,   vergl.    S.  87).      Die   gesetzlichen    Ordnungen    nennt   daher 


1)  S.  I.3S  fideüum  ecclesia  (S.  208,  214),  S.  139  coetus  fidelium   (S.  226). 
S.  163  coetus  fidelis  populi. 


Von  rand    thcol.  Th.  Werdermann.  2t>5 

Calvin  wohl  gar  die  Nerven  der  Kirche  (S.  225).  So  mußte  er 
eben  hier  gerade  auf  die  äußere  Seite  der  Kirche  eingehen.  Da- 
durch wird  die  grundlegende  Bedeutung  der  früheren  Ausfüh- 
rungen nicht  aufgehoben. 

Zunächst  wendet  Calvin  sich  gegen  die  Usurpation  der  Herr- 
schaft in  der  Kirche  durch  den  römischen  Klerus,  die  ihren  deut- 
lichen Ausdruck  in  dem  falschen  Sakrament  des  ordo  gefunden 
hat.  Die  Kirche  muß  Christi  Reich  bleiben  (S.  204).  —  Wohl  hat 
dieser,  wie  Calvin  schon  bei  Besprechung  des  Bußsakramentes 
(S.  126)  ausführt,  seiner  Kirche  die  Schlüsselgewalt  übergeben, 
aber  diese  ist  mehr  ein  Dienst  als  eine  Gewalt;  denn  nicht  den 
Menschen,  sondern  seinem  Worte  hat  Christus  sie  bestimmt.  Die 
Exkommunikation  aber  steht  nach  Mt.  18  der  Kirche  zu  (S.  163) ;  und 
als  solche  bezeichnet  Christus  nicht  paueulos  tonsos,  rasos,  linigeros, 
sed  coetum  fidelis  populi  in  nomine  sno  coactum.  —  Der  Name 
Kleriker  (S.  181)  nimmt  schon  fälschlich  für  einen  Teil  in  Anspruch, 
was  dem  Ganzen  gehört;  denn  die  ganze  Kirche  ist  Christo  zum 
Eigentum  übergeben,  der  ganzen  Kirche  gilt  das  Wort  aus 
1.  Petr.  2.  So  will  Calvin  auch  beide,  Bischöfe  wie  Priester,  nnr 
Diener  der  Kirche  nennen  (S.  185).  Andere  Diener  der  Kirche 
aber  anzuerkennen  als  Prediger  des  Wortes  Gottes,  ist  gegen  die 
Wahrheit  der  Schrift  (S.  186). 

Eigentlich  sollten  diese  nun  gewählt  werden  von  der  Gemeinde 
unter  ratendem  und  leitendem  Beistand  guter  Bischöfe  aus  der 
Nähe.1  Dafür  führt  Calvin  auch  das  Beispiel  des  Cyprian  an.  Ob 
aber  in  einer  Zusammenkunft  der  ganzen  Kirche  oder  nur  durch 
Abstimmung  weniger  Beauftragter  oder  schließlich  auch  durch-  die 
Obrigkeit  die  Bischöfe  gewählt  werden  sollen,  dafür  kann  nach 
Calvin  kein  bestimmtes  Gesetz  aufgestellt  werden.  Das  muß  sich 
nach  den  jeweiligen  Verhältnissen  richten  (S.  187).  Calvin  selbst 
ist  dem  allgemeinen  Stimmrecht  dabei  eben  nicht  zugeneigt ;  es 
halte  zu  schwer,  so  viele  Köpfe  gut  unter  einen  Hut  zu  bringen. 
Daher  sagt  er  schließlich,  ihm  scheine  es  gut,  wenn  man  vel  magi- 
stratum,  vel  senatum,  vel  seniores  mit  der  Wahl  beauftrage  unter 
Hinzuziehung  von  einigen  Bischöfen.  Calvin  ist  in  dieser  Frage 
recht  weitherzig;  den  Fürsten  und  freien  Städten  überläßt   er  die 


1)  Vergl.  S.  187  atque  ita  quidem  factum  oportuit,  si  ecclesias  stare  in- 
columes  voluissent,  penes  quos  rerum  arbitrium  erat,  ut  ecclesia  quae  de 
eligendo  ministro  deliberatura  erat,  antequam  in  consilium  ivisset,  advo- 
casset  e  vicina  unum  aut  duos  episcopos,  cum  quibus  agitasset,  quis 
potissimum  assumendus   fuisset. 


2  66  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 


Entscheidung  je  nach  den  Verhältnissen  (S.  188).  Er  gibt  sogar 
zu,  daß  selbst  die  verkehrte  Praxis  der  römischen  Kirche  seinerzeit 
ein  wahres  Heilmittel  gewesen  sein  könnte  (S.  187  f.).  —  Zu  be- 
achten ist  jedenfalls,  daß  Calvin  nicht  von  vornherein  eine  Mit- 
wirkung der  staatlichen  Behörde  bei  der  Pfarrwahl  ausschließt. 
Wer  hier  mit  den  seniores  gemeint  ist,  wird  nicht  klar.  Doch  ist 
es  wahrscheinlich,  daß  diese  Bemerkung  auf  die  Ältesteneinrich- 
tung Oekolampads  in  Basel  geht,  in  dessen  Nähe  ja  gerade  diese 
Abschnitte  der  Institutio  vollendet  wurden. 

Über  die  Bedeutung  des  Pastorenamtes  handelt  Calvin  ein- 
gehender bei  der  Besprechung  der  potestas  ecclesiastica.  Diese  ist 
nicht  etwa  ohne  Bedeutung,  ist  aber  zur  Auferbauung,  nicht  zur 
Zerstörung  gegeben.  Wer  sie  verwaltet,  darf  sich  deshalb  nicht 
höher  schätzen  als  andere.  Denn  er  ist  nur  ein  Diener  Christi. 
Die  Macht  und  Würde,  die  in  der  Schrift  den  Trägern  des  Amtes 
beigelegt  wird,  kommt  nicht  ihrer  Person  zu,  sondern  allein  ihrem 
Dienst,  allein  dem  Worte  (S.  205  f.,  vergl.  208  f.).  Deshalb  ist 
auch  zurückzuweisen,  was  die  Römischen  lehren,  daß  die  Kirche 
Glaubensartikel  aufstellen  könne,  also  in  ihrem  Ansehen  der  Schrift 
gleich  stehe,  daß  nur  der  ein  Christ  sein  könne,  der  alle  ihre 
Glaubenssätze  annehme  (S.  209  f.).  Auch  das  ist  verkehrt,  daß  die 
Konzile  als  Repräsentationen  der  Kirche  nicht  irren  könnten 
(S.  210  f.).  Das  allein  ist  für  die  Gültigkeit  ihrer  Beschlüsse  ent- 
scheidend, ob  sie  dem  Worte  Gottes  entsprechen  (S.  212);  denn 
Christus  übt  seine  Königsherrschaft  nur  durch  sein  Wort  aus 
(S.  215).  Wo  man  darüber  hinausgeht,  da  ist  eben  die  Kirche 
nicht  (S.  212).  —  All  die  reichen  Versprechungen  aber  richten  sich 
nicht  nur  auf  die  Kirche  im  ganzen,  so  daß  man  sie  nur  durch 
diese  erhalten  könnte,  sondern  sie  sind  vor  allem  den  einzelnen 
Gläubigen  bestimmt,  so  daß  direkt  die  Verbindung  der  einzelnen 
mit  Gott  hergestellt  ist  (S.  213).  Christus  allein  ist  der  Lehrer  der 
Kirche  (S.  215  f.). 

Nur  kurz  wollen  wir  einige  Hauptgedanken  über  das  Verhält- 
nis der  weltlichen  Macht  zur  Kirche  erwähnen.  Christi  geistliches 
Reich  und  die  bürgerliche  Ordnung  sind  ganz  verschiedene  Dinge 
(S.  228).  Aber  solange  wir  sterbliche  Menschen  sind,  dürfen  sie 
auch  nicht  als  miteinander  in  absolutem  Widerspruch  stehend  auf- 
gefaßt werden  (S.  229).  Vielmehr  ist  auch  das  eine  Aufgabe  der 
Obrigkeit,  dafür  zu  sorgen,  daß  unter  ihr  kein  Götzendienst,  keine 
Verletzung  und  Schmähung  des  Namens  Gottes  stattfinde  (S.  230). 


Von  cand.  theol.  Th.  Werderraann.  267 

Auch  in  der  glänzend  geschriebenen  epistola  nuncupatoria  an 
Franz  I.  von  Frankreich  finden  sich  einige  Bemerkungen  über  die 
Kirche.  Wenn  von  Calvins  Gegnern  ihm  entgegengehalten  wird 
(O.  C.  1  S.  14),  daß  nach  seiner  Auffassung  es  doch  in  den  letzt- 
vergangenen Jahrhunderten  keine  Kirche  habe  geben  können,  so 
weist  Calvin  das  zurück  und  stellt  dem  den  Glaubenssatz  entgegen, 
daß,  solange  Christus  herrscht,  auch  seine  Kirche  leben  werde 
(S.  20).  Zu  dieser  Kirche  gehört  auch  er  und  seine  Glaubens- 
genossen. Vorzüglich  klar  tritt  hier  auch  hervor,  daß  gerade  in 
der  Anschauung  von  der  Kirche  ein  Hauptstreitpunkt  mit  der 
Kirche  Roms  lag.  In  bis  cardinibus,  so  sagt  Calvin,  controversia 
nostra  vertitur :  primum,  quod  ecclesiae  formam  semper  apparere 
et  spectabilem  esse  contendunt,  deinde  quod  formam  ipsam  in 
sede  romanae  ecclesiae  et  praesulum  ordine  constituunt.  Dem  setzt 
Calvin  entgegen :  et  ecclesiam  nulla  apparente  forma  coustare 
posse,  nee  formam  externo  illo  splendore,  quem  stulte  admirantur, 
sed  longe  alia  nota  contineri,  nempe :  pura  verbi  dei  praedicatione 
et  legitima  sacramentorum  administratione  (S.  20  f.).  Auch  die  zweiten 
Gegner  Calvins,  die  Wiedertäufer  oder,  wie  er  sie  nennt,  Katabap- 
tisten,  werden  hier  angeführt  (S.  23  f.).  Sie  sind  ihm  mit  ihren 
Ideen  und  Streitereien  das  Unkraut,  das  Satan  unter  den 
Weizen  sät. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  die  ganzen  Aussagen  der  Institutio 
von  1536,  so  sehen  wir,  wie  Calvin  noch  verhältnismäßig  in  einheit- 
licher Frontstellung  kämpft.  Durch  seine  Gegner  ist  seine  Position 
stark  bestimmt.  Diese  aber  sind  hier  wesentlich  die  Römischen. 
\\  ohl  hat  er  auch  schon  seine  Anschauung  im  Gegensatz  zu  den 
Anabaptisten  aufgestellt.  Gegen  ihren  Spiritualismus  und  Sub- 
jektivismus richten  sich  die  Feststellungen,  daß  jetzt  die  Kirche 
noch  nicht  heilig  sein  könne,  ferner  die  Ausführungen  darüber, 
daß  in  der  Kirche  auch  Ordnungen  nötig  seien,  zumal  das  Amt  des 
Minister  verbi,  und  weiter  die  Bemerkungen  gegen  die  Verachtung 
der  Obrigkeit  und  äußerlichen  Herrschaft.  Aber  das  ist  eigentlich 
nur  durch  die  Verleumdungen  veranlaßt,  daß  die  französischen 
Protestanten  Schwärmer  seien;  durchschlagend  für  seine  Dar- 
legungen ist  nur  die  Stellung  gegen  Rom.  Auch  steht  Calvin  noch 
nicht  in  den  Kämpfen  des  praktischen  Kirchendienstes  und  ver- 
teidigt also  nicht  nach  den  verschiedensten  Riehtungen  hin  die  be- 
stehende Ordnung  der  evangelischen  Kirchengemeinschaft.  Durch 
all  diese  Momente  bedingt,  wird   seine   Darlegung  hier,  zumal   im 


2  68  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

dritten  Kapitel,  wo  er  noch  ungestörter  ist,  denn  nachher,  innerlich 
und   geschlossen. 

Von  hier  aus  ist  es  zu  verstehen,  daß  die  Kirche  hier  vor 
allem  als  die  Schar  der  Prädestinierten  betrachtet  wird,  als  die 
innerliche  nur  mit  den  Augen  des  Glaubens  erfaßbare  Gemein- 
schaft. So  ist  die  Bedeutung  der  Kirche  eine  große,  sie  ist  eben 
das  einheitliche  heilige  Corpus  Christi.  Darum  muß  auch  Gott  in 
Christus  allein  ihr  Herrscher  sein.  Gerade  diese  Verbindung  mit 
Christus  ist  stark  betont.  Wenn  daher  A.  Lang  (Reform.  Kirchenz. 
1899)  auch  in  seiner  Besprechung  von  Riecker,  Grundsätze  refor- 
mirter  Kirchenverfassung.  Leipzig  1899,  damit  recht  hat,  daß  noch 
nicht  die  ausgesprochene  Christokratie  mit  ihrer  äußeren  Durch- 
führung hier  gefordert  werde,  so  ist  doch  zu  beachten,  daß  in  dem 
eben  hervorgehobenen  Zug  wenigstens  eine  direkte  Anbahnung  der 
späteren  Weiterbildung  vorhanden  ist.  —  Im  Blick  auf  die  Glieder 
bezeichnet  die  Kirche  am  besten  der  Ausdruck  numerus  praedesti- 
natorum.  Das  gemeinschaftliche  Moment,  das  auch  durch  die 
attributive  Auffassung  der  communicatio  sanctorum  aufgenommen 
wird,  kommt  hier  stärker  als  später  zum  Ausdruck.  Wenn  nach 
Calvin  der  einzelne  Prädestinierte  zur  persönlichen  Heilsgewißheit 
gelangen  kann,  dann  ist  er  ja  letztlich  nicht  durch  irgend  etwas, 
auch  nicht  durch  eine  anstaltliche  Kirche  von  seinem  Gott  ge- 
trennt. Wenn  aber  so  auch,  wie  wir  schon  oben  mit  M.  Scheibe 
sagten,  der  Prädestinationsgedanke  für  Calvins  Lehre  von  der 
Kirche  konstituierend  ist,  so  ist  doch  zu  beachten,  daß  er  für 
Calvin  nicht  die  Bedeutung  der  Gnadenmittel,  eben  als  Mittel  nach 
Gottes  Willen,  herabsetzt,  und  daß  er  auch  durchaus  nicht  den 
Versuch  überflüssig  macht,  mit  Ermahnung  und  Belehrung,  Milde 
und  Gebet  die  Irrenden  auf  den  rechten  Weg  zu  bringen.  Alles 
durchdringend  ist  der  Prädestinationsgedanke  auch  hier  nicht.  Die 
religiöse  Abzielung  desselben  aber,  die  Heilsgewißheit  in  Gott  zu 
verankern,  ist  klar  zu  erkennen. 

Also  als  Glaubensobjekt,  nicht  wie  später  als  externum  medium 
salutis,  wird  jetzt  noch  die  Kirche  von  Calvin  behandelt.  Er 
scheidet  auch  gar  nicht  zwischen  einer  unsichtbaren  und  einer 
sichtbaren  Kirche,  so  sehr  ist  ihm  zunächst  das  innere  geistliche 
Wesen  die  Hauptsache.  —  Den  Menschen  warnt  er,  vorwitzig  zu 
weit  in  Gottes  Geheimnisse  eindringen  zu  wollen.  Doch  stellt  er 
eine  Anpassung  der  Schrift  an  unser  menschliches  Verständnis  fest. 
Und  dem  entsprechend   gibt   auch   er  für  den    Glauben   und    das 


Von  canJ.  theol.    lli.  Werdermann.  2ÖQ 

Liebesurteil  Zeichen  des  Vorhandenseins  der  Kirche  an :  Wort  und 
Sakrament.  Das  Fehlen  der  Kirchenzucht  unter  diesen  notae  ist 
um  so  bemerkenswerter,  weil  er  vom  Einzelnen  auch  jetzt  schon 
Bewährung  in  einem  guten  Leben  fordert,  wenn  anders  er  für  ein 
Glied  der  Kirche  gehalten  werden  soll. 

Nachdem  er  so  das  Wesen  der  Kirche  und  ihre  Erkennbarkeit 
auf  dem  Glauben  gegründet  hat,  schließt  er  durch  seine  Bestim- 
mung der  Exkommunikation  menschliche  Tyrannei  aus. 

Das  müssen  wir  wohl  sagen,  daß  es  Calvin  gelungen  ist,  der 
katholischen  Kirche  gegenüber  seinen  Standpunkt  herauszuarbeiten 
und  sich  sowie  seinen  Glaubensgenossen  die  Gliedschaft  an  der 
Kirche  Christi  sicher  zu  stellen. 

Doch  wie  steht  es  nun  mit  der  sichtbaren  Erscheinung  der 
Kirche?  Daß  auch  diese  ihre  Bedeutung  hat,  drückt  allein  schon 
die  Forderung  der  Exkommunikation  aus.  Auch  sahen  wir  ja 
schon,  daß  sie  in  den  späteren  Kapiteln  ganz  entschieden  in  den 
Vordergrund  tritt.  Hat  er  sie  in  ihrer  Bedeutung  nun  recht  ge- 
würdigt? hat  er  die  Verbindung  von  dem  innerlichen,  geistlichen 
Wesen  der  Kirche  zu  ihrer  äußeren  Erscheinung  recht  hergestellt? 
Beides  erscheint  wohl  angebahnt  und  ermöglicht ;  der  erste  Punkt 
zum  Beispiel  in  der  Forderung,  daß  auch  in  der  äußeren  Erschei- 
nung nicht  Gottes  Ehre  verletzt  werde ;  der  zweite  in  mannig- 
facher Beziehung,  besonders  durch  die  recht  verstandenen  notae 
des  Wortes  und  der  Sakramente.  Aber  deutlich  herausgearbeitet 
sind  sie  nicht. 

Auf  eine  weitere  Wertung  der  einzelnen  Aussagen  dieser  Kapitel 
wollen  wir  uns  hier  nicht  einlassen.  Soweit  sie  nicht  schon  er- 
folgt ist,  wird  sie  später  ihren  Platz  erhalten.  Xur  auf  eins  soll 
noch  kurz  hingewiesen  werden.  Bemerkenswert  ist,  daß  Calvin 
auch  jetzt  schon,  das  Recht  und  die  Pflicht  der  Obrigkeit  vertritt, 
für  rechte  Gottesverehrung  zu  sorgen.  Also  nicht  erst,  als  die 
Obrigkeit  für  ihn  günstig  gesinnt  war,  sondern  auch  als  er  selbst 
unter  den  Folgen  des  Grundsatzes  zu  leiden  hatte,  sein  Vaterland 
verlassen  mußte,  trat  er  für  ihn  ein. 

2.    Kapitel. 

Untersuchungen  der  dogmenhistori sehen  Zusammenhänge. 

a)  Stellung  zum  katholischen  Kirchenbegriff. 

Im  vorigen  wurde  schon  gesagt,  daß  Calvins  Lehre  von  der 
Kirche    im    wesentlichen    gegen    den    katholischen    Kirchenbegriff 


2  70  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

ausgearbeitet  wurde.  Wenn  wir  nun  dazu  übergehen  wollen,  die 
Stellung  von  Calvins  Lehre  nach  der  Institutio  von  1536  in  der 
Dogmengeschichte  zu  untersuchen,  wird  es  gut  sein,  diesen  Gegen- 
satz klarer  zu  erfassen.  Dazu  wollen  wir  uns  kurz  die  Entstehung 
und  den  Bestand  des  katholischen  Kirchenbegriffes  vergegen- 
wärtigen. 

Holtzmann  (Neutestamentliche  Theologie  II,  280)  meint  schon 
in  den  Pastoralbriefen  die  ganze  Katholizität  eben  auch  beim 
Kirchenbegriff  finden  zu  können.  Ansätze  dazu  mögen  vorhanden 
sein.  Aber  die  gefährliche  Betonung  des  Anstaltlichen,  Äußeren 
bei  der  Kirche,  die  dann  schließlich  dazu  führte,  daß  nach  der 
offiziellen  Lehre  wenigstens  die  Kirche  mit  all  ihrem  äußerlichen 
Apparat  sich  zwischen  Gott  und  die  Seele  drängt,  hat  sich  doch 
erst  in  der  weiteren  geschichtlichen  Entwicklung  herausgebildet.1 
Sehr  bald  freilich  wird  die  reine  Lehre  als  konstituierend  für  die 
Kirche  gefordert;  und  als  Träger  derselben  werden  die  Inhaber  der 
Ämter  hervorgehoben.  Das  verengert  sich  allmählich  dahin,  daß 
die  Träger  des  von  den  Aposteln  eingesetzten  Episkopates  die 
Wahrheit  verbürgen.  Doch  findet  man  in  der  nachapostolischen 
Zeit  noch  nicht  ein  derartiges  Zurückdrängen  der  Gemeinde,  daß 
die  Kirche  als  eine  hierarchische  bezeichnet  werden  könnte.  Die 
Einheit  beruht  noch  auf  dem  einen  waltenden  Geist  und  dem  einen 
Bekenntnis.  Darin  aber,  daß  Glaubensregel,  bischöfliches  Amt  und 
Kanon  immer  fester  als  Kriterium  zur  Beurteilung  der  Kirche  auf- 
gestellt werden,  wird  die  eine  Kirche  des  Herrn  eine  empirisch  ab- 
grenzbare Größe.  Indem  nun  an  sie  das  Heil  gebunden  wird,  wird 
sie  zur  Heilsanstalt.  Zugleich  aber  versteht  man  die  Kirche  immer 
noch  als  das  heilige  Gottesvolk,  das  von  Befleckung  rein  erhalten 
werden  muß.  —  Aber  indem  nun  einerseits  die  Zucht  sich  immer 
mehr  lockert  und  andererseits  der  Gnosis  gegenüber  immer  mehr 
das  Episkopat  und  besonders  die  Apostolizität  betont  wird,  geht 
die  Entwicklung  hin  zu  Cyprian,  bei  dem  der  große  Umschwung 
evident  ist.  Richtig  scheint  mir  Loofs  (D.  G.  S.  209)  die  Haupt- 
eigentümlichkeiten seiner  Lehre  in  folgenden  drei  Punkten  zu- 
sammenzufassen.    1.  Die  empirische  katholische  Kirche  ist  die  eine 


1)  Vergl.  zu  der  folgenden  kurzen  Entwicklung  die  Dogmengeschichten 
von  A.  Harnack,  F.  Loofs,  R.  Seeberg.  Ferner  Ad.  Krauss,  Das  protestan- 
tische Dogma  von  der  unsichtbaren  Kirche.  Gotha  1S76.  —  R.  Seeberg, 
Studien  usw.  —  W.  Hoenig,  Der  katholische  und  der  protestantische 
Kirchenbegriff  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung.  Berlin  1894.  Auch 
den  Art.  „Kirche'"',  in  P.  R.   E.  3.  Aufl.  von   Köstlin. 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  271 

unumgängliche  Heilsanstalt,  deren  Segnungen,  damit  dem  Urteil 
Gottes  nicht  vorgegriffen  werde,  auch  den  lapsis  nicht  vorent- 
halten werden  dürfen.  2.  Als  Heilsanstalt  ruht  die  Kirche  auf 
dem  Episkopat,  den  Bischöfen  als  der  Apostel  Nachfolgern ;  an 
sie  hat  der  Laie  sich  anzuschließen.  3.  Auf  der  Einheit  des  Epi- 
skopats beruht  die  Einheit  der  Kirche.  —  Hierin  ist  die  entschei- 
dende Wendung  zum  Katholizismus  hin  vollzogen.  Die  Kirche  ist 
nicht  mehr  das  an  Christus  glaubende  heilige  Volk  Gottes.  Sondern 
sie  ist  die  Menge  derjenigen,  die  den  Bischöfen  gehorchen,  und 
zwar  nicht  mehr  deshalb,  weil  diese  die  Wahrheit  verbürgen,  son- 
dern weil  sie  von  Gott  zu  Vorgesetzten  der  Gemeinde  geordnet 
sind.  Ihre  Gesamtheit  hat  die  Kirche  zu  leiten.  Die  Heiligkeit 
der  Kirche  beruht  nicht  mehr  auf  den  Einzelnen,  sondern  auf  ihren 
Institutionen.  Diese  ganze  Wandlung  im  Begriff  der  Kirche  von 
der  Gemeinschaft  des  Heils  hin  zu  der  äußerlichen  Heilsanstalt  ist 
tief  begründet  in  einer  Änderung  der  ganzen  religiösen  oder  doch 
wenigstens  theologischen  Anschauungen.  Das  Evangelium  wird 
als  neues  Gesetz  verstanden,  der  Glaube  als  Fürwahrhalten.  Die 
Gnade  ist  nicht  mehr  die  Gesinnung  Gottes  gegen  die  Menschen, 
sondern  sie  ist  zu  einer  magischen  Einwirkung  Gottes  geworden, 
die  als  solche  für  den  Einzelnen  durch  die  hierarchische  Kirche 
vermittelt  werden  muß.  Die  Sakramente  erhalten  eine  magische 
Wirkung,  die  allein  durch  das  äußerlich  formgerechte  Geschehen 
hervorgerufen  wird.  Und  indem  sich  der  katholische  Priester-  und 
Opferbegriff  hiermit  verbindet  und  teils  auch  schon  hierin  sich 
auswirkt,  wird  der  Charakter  dieser  altkatholischen  Kirche  noch 
klarer  herausgearbeitet. 

Doch  laufen  neben  dieser  Entwicklung  noch  andere  Strömun- 
gen her.  Augustin  (vergl.  H.  Reuter,  Augustinische  Studien. 
Gotha  1887)  war  es,  der  „das  Gesamterbe  der  bisherigen  Ent- 
wicklung in  sich  aufnahm"",  nicht  ohne  daß  es  zu  inneren  Wider- 
sprüchen kam.  Am  schärfsten  zeigt  sich  dieses  innere  Auseinander- 
fallen in  der  Fassung  der  Kirche  einerseits  als  des  numerus  prae- 
destinatorum,  andererseits  als  der  äußerlichen  empirischen,  katho- 
lischen Kirche.  In  der  ersten  prägt  sich  seine  neuplatonische 
Gottesidee,  mehr  aber  sein  eigenes  inneres  Glaubensleben  aus, 
nach  dem  das  Heil  nur  auf  Gott  gegründet  sein  konnte.  Daß  die 
Kirche  himmlisch  sei,  uranfänglich,  die  Gemeinschaft  der  an 
Christus  Glaubenden,  unter  der  Wirkung  seines  Todes  Stehenden, 
das  sind  die  Hauptzüge  dieser  Seite,  in  der  Augustin  sich  über  den 


2  72  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

vulgären  Katholizismus  erhebt.  Doch  da  er  kein  äußeres  Krite- 
rium für  die  Feststellung  dieser  Kirche  hat,  auch  kein  inneres  für 
den  Einzelnen,  ob  er  selbst  zu  ihr  gehöre,  so  kann  neben  dieser 
Auffassung  der  Kirche  die  andere  ruhig  bestehen  bleiben  und 
praktisch  das  Übergewicht  erhalten.  Hiernach  gehören  zu  ihr  alle, 
die  von  der  hierarchischen  Kirche  umfaßt  sind,  auch  die  mali ; 
demgemäß  ist  der  Glaube  für  ihn  hier  nur  Autoritätsglaube.  Das 
Prädikat  der  Katholizität  faßt  er  in  zweierlei  Bedeutungen.  Den 
Donatisten  gegenüber  verweist  er  auf  die  weite  Ausdehnung  der 
„katholischen"  Kirche.  Sonst  aber  sieht  er  wohl  auch  in  dem 
„katholisch"  einen  Hinweis  auf  den  Liebesgeist  und  erlangt  damit 
eine  Begründung  der  Notwendigkeit  des  zweiten  Kirchenbegriffes 
auch  neben  dem  ersten.  So  kann  auch  ein  praedestinatus  außer- 
halb der  Kirche  sein  Heil  nicht  erlangen.  —  An  jener  ersten  inner- 
lichen Gedankenreihe  fanden  die  gegen  das  offizielle  Kirchentum 
opponierenden  Elemente  bis  in  die  Reformationszeit  hinein  will- 
kommene Belege  für  ihre  Aufstellungen.  An  die  zweite  Auffassung 
der  Kirche  aber  mußte  die  nächste  weitere  Bildung  anknüpfen,  da 
sie  selbst  ja  bei  Augustin  die  Ausbildung  der  herrschenden  Vor- 
stellung war.  Die  anderen  Gedanken  wurden  zwar  auch  in  der 
katholischen  Kirche  nie  ganz  vergessen,  aber  sie  übten  keinerlei 
Wirkung  aus.  Bis  zum  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  läßt 
sich  eine  ausgebildete  Lehre  von  der  Kirche  nicht  verfolgen.  Das 
ist  charakteristisch :  eine  Lehre  von  der  Kirche  war  nicht  nötig. 
Die  Kirche  selbst  mit  ihrer  Macht  ist  die  Grundlage  des  ganzen 
Systems.  Nach  zwei  Seiten  aber  geschah  dann  noch  im  Mittel- 
alter die  weitere  Bildung  wenn  nicht  der  Lehre  so  doch  des  die 
Lehre  bestimmenden  Zustandes  der  Kirche.  Zunächst  wurde 
wieder  stärker,  als  es  bei  Augustin  geschah,  die  Hierarchie  betont. 
Die  Kirche  wurde  identifiziert  mit  dem  Klerus,  an  dessen  Spitze 
immer  mehr  der  Papst  gestellt  wurde.  So  sah  man  allmählich  im 
Bekenntnis  zur  Suprematie  des  einen  Papstes  die  Einheit  der  Kirche 
gewährleistet.  Thomas  ist  es  besonders,  der  die  hierarchischen 
Ansprüche  zu  Glaubensartikeln  stempelt.  Zwar  kämpften  noch  im 
Reformationszeitalter  und  weiterhin  Episkopalismus  und  Kurialis- 
mus ;  aber  diese  Frage  war  für  die  Beurteilung  des  Wesens  der 
Kirche  von  minderer  Bedeutung  und  fällt  schon  mehr  unter  die 
zweite  Entwicklungsreihe :  die  weitere  Durchbildung  der  juristi- 
schen Seite  der  Kirche.  Durch  all  das  wurde  die  äußere  Kirche  so 
stark  betont,  daß  es  dann  richtig  katholisch  dem  Protestantismus 


Von  cand.  theol    Tb.  Werdermann.  2  73 

gegenüber  von  Bellarmin  als  ein  spezifischer  Vorzug  der  römischen 
Lvirche  gepriesen  werden  konnte,  daß  sie  nur  eine  sichtbare  Kirche 
kenne,  eine  Gemeinschaft  von  Menschen,  die  so  sichtbar  sei  wie 
die  römische  Volksgemeinde,  wie  das  Königreich  Frankreich  oder 
die  Republik  Venedig. 

Gegen  diese  Veräußerlichung  der  Kirche  und  die  damit  zu- 
sammenhängende Tyrannisierung  der  Gewissen  wandten  sich  alle 
Reformatoren  und,  wie  wir  schon  sahen,  auch  Calvin.  Er  hebt  das 
innerliche  in  Gott  ruhende  Wesen  der  Kirche  hervor.  Wenn  die 
römische  Kirche  mit  all  ihrem  äußeren  Betriebe  sich  als  notwendige 
Heilsanstalt  zwischen  Gott  und  den  Menschen  drängt,  so  macht  da- 
gegen Calvin  den  einzelnen  frei,  stellt  ihm  den  freien  Zugang  zu 
Gott  wieder  her,  gibt  ihm  das  allgemeine  Priestertum  zurück,  vor 
allem  den  Glauben,  der  persönliches  Vertrauen  und  Heilsgewißheit 
ist,  nicht  Fürwahrhalten  auf  irgend  eine  äußerliche  Autorität  hin. 
So  bringt  er  dem  dinglichen  Anstaltscharakter  der  römischen 
Kirche  gegenüber  ihr  primäres  Wesen  als  persönliche  Gemeinschaft 
zu  seinem  Recht.  Der  geforderten  Autorität  der  Kirche  stellt  er 
die  Autorität  Gottes  in  seinem  Wort  gegenüber,  der  Anmaßung  der 
Herrschaft  in  der  Kirche  durch  die  Menschen  die  unbedingte  Herr- 
schaft Gottes  und  Christi.  Während  jene  die  wunderbare  Bedeu- 
tung der  Kirche  dahin  verlegt,  daß  sie  die  Verwalterin  der  magisch 
wirkenden  Sakramente  sei,  führt  Calvin  sie  auf  den  lebendigen  Gott 
selbst  zurück,  auf  Christus,  der  als  der  Erhöhte  mit  ihr  in  inniger, 
mystischer  Gemeinschaft  steht.  —  Wenn  so  Calvin  gegen  die  katho- 
lische Lehre  ankämpft,  ist  damit  nicht  ausgeschlossen,  daß  er  vieles 
auch  noch  von  ihr  übernimmt.  Er  will  ja  sich  selbst  und  seinen 
Glaubensgenossen  die  Gliedschaft  an  der  ecclesia  catholica  wahren. 
Er  betont  ihre  hohe  Bedeutung,  ihr  Begründetsein  in  göttlicher 
Stiftung,  ihre  Notwendigkeit,  ihre  Einheit,  Allgemeinheit,  Heilig- 
keit, fordert  Ordnung  und  Zucht  in  ihr,  stellt  sie  über  den  Staat, 
dem  er  die  Aufgabe  zuweist,  ihr  zu  dienen.  In  all  dem  bleibt  er  der 
Form  nach  auf  dem  Boden  der  katholischen  Lehre;  inhaltlich  aber, 
das  sahen  wir  schon,  bestimmt  er  die  Begriffe  und  Gedanken  an- 
ders. Doch  überhaupt  ist  nicht,  wie  es  oft  geschieht,  alles,  was  die 
katholische  Kirche  besitzt,  gleich  als  unchristlich  zu  betrachten. 
Jedenfalls  wenn  E.  Troeltsch  gerade  auch  im  „Supranaturalismus 
der  Kirchenstiftung"  (Kultur  der  Gegenw.  I,  4  S.  253  ff.)  eine  innere 
Verwandtschaft  der  Reformation  mit  dem  Mittelalter  feststellen 
zu  müssen  glaubt,  so  scheint  er  mir  darin  nicht  gerade  das  Wesent- 

Calvinstudien.  l8 


2  7A  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

liehe  des  katholischen  Kirchenbegriffes  aufgestellt  zu  haben.  Das 
ist  vielmehr  etwas  allgemein  Christliches.  Darum  kann  der  Satz: 
„Die  Reformation  ist  wesentlich  ein  Bruch  mit  dem  katholischen 
Kirchenbegriff"  (Hoenig  a.  a.  O.  S.  43),  doch  seine,  wenn  auch  ein- 
seitig formulierte  Richtigkeit  haben. 

b)  Verhältnis  zur  mittelalterlichen  Opposition. 

Welcher  Art  ist  nun  das  Verhältnis  dieses  Bruches  mit  der 
katholischen  Lehre,  wie  er  sich  uns  bei  Calvin  zeigt,  zu  der  Oppo- 
sition, wie  sie  aus  dem  Schoß  der  römischen  Kirche  selbst  erstanden 
ist?  Der  bedeutendste  Geist  unter  den  sogen.  Vorreformatoren  ist 
der  Engländer  Wiclif.  Sich  in  seinem  Kampf  gegen  die  macht- 
volle Hierarchie  und  die  begüterten  Mönche  selbst  auf  Sätze  des 
Thomas  von  Aquino  stützend,  wurde  er  doch  zuletzt  zum  Bruch 
mit  dem  Papsttum  getrieben.  Dabei  ging  er  soweit,  daß  er  er- 
klärte, die  römische  Kirche  könne  in  Glaubensartikeln  irren,  und 
schon  die  formale  Autorität  der  Schrift  allein  behauptete.  Auch 
er  weist  im  Gegensatz  zu  der  menschlichen  Herrschaft  in  der  römi- 
schen Kirche  darauf  hin,  daß  in  der  wahren  Kirche  Christus  allein 
Herrscher  sei.  Aber  wenn  er  so,  wie  Loofs  sagt,  auch  schon  die 
Negationen  des  Protestantismus  antizipiert  hat,  so  finden  sich  doch 
die  Positionen  bei  ihm  nicht.  Heilsgewißheit  kennt  er  nur  in 
seltenen  Fällen ;  Glaube  und  Evangelium  sind  bei  ihm  noch  ganz 
katholisch  bestimmt.  So  kann  er  eigentlich  auch  nicht  vom  katho- 
lischen Kirchenbegriff  loskommen.  Nun  ist  auch  Wiclif  für  die 
Reformatoren  direkt  kaum  von  Bedeutung  gewesen.  Ich  habe  ihn 
bei  Calvin  nur  einmal  und  in  ganz  anderem  Zusammenhang  zitiert 
gefunden  (O.  C.  6  S.  350).  Er  hat  auf  die  Reformation  wesentlich 
durch  Vermittlung  von  Hus  eingewirkt.  Dieser  war  freilich  nur 
ein  „konservativer  Wiclifit"  (Loofs  a.  a.  O.  S.  654) ;  aber  weil  gerade 
seine  Anschauung  von  der  Kirche  den  Reformatoren  bekannt 
geworden  ist,  soll  er  hier  berücksichtigt  werden.  Auch  er  wurde 
durch  seinen  Gegensatz  zur  Hierarchie  im  Anschluß  an  Wiclif  zu 
Aussagen  über  die  Kirche  geführt,  die  denen  Luthers  so  ähnlich 
klingen,  daß  selbst  dieser  erstaunt  war,  hier  seine  eigene  Ansicht 
wiederzufinden,  als  er  im  Oktober  15 19  Hus'  Traktat  de  ecclesia 
erhielt.  Diese  scheinbar  enge  Verwandtschaft  zeigt  sich  z.  B.  auch 
darin,    daß    ihm    die    empirische    Kirchengemeinschaft    nur    darum 


1)  A.  Ritschi,  Über  die  Begriffe  sichtb.  und  unsichtb.  Kirche  S.  345  f. 
—  J.  Gottschick,  Hus',  Luthers  und  Zwingiis  Lehre  von  der  Kirche.  Zeit- 
schrift  f.   Kirchengesch.   1886  S.  345  ff. 


Von  cand.  theo].  Th.  Werdermann.  2  75 

Kirche  ist,  weil  sie  die  Mittel  handhabt,  durch  welche  die  Prädesti- 
nation an  den  Einzelnen  wirksam  wird,  die  Sakramente  und  ins 
besondere  das  Gesetz  Christi.  Aber  hierin  liegt  zugleich  der  große 
Unterschied  den  Reformatoren  gegenüber  verborgen,  der  ihn  auf 
der  Stufe  der  römischen  Kirche  stehend  zeigt.  Das  Evangelium 
ist  ihm  wie  den  Scholastikern  die  nova  lex.  Die  Sakramente  sind 
ihm  in  ihrer  magischen  Wirkung  gebunden  an  den  katholischen 
Priester.  Darum  fordert  auch  er  Unterordnung  unter  die  hierar- 
chische Kirche.  Den  gegenwärtigen  Klerus  greift  er  nur  wegen 
seiner  Verderbtheit  an.  Hus  hat  wesentlich  nur  die  falsche 
Schätzung  der  kirchlichen  Rechtsordnung  zerstört.  Daß  es  nicht 
nötig  ist,  wegen  ähnlicher  Negationen  bei  einem  Reformator  direkte 
oder  indirekte  Abhängigkeit  zu  postulieren,  zeigt  das  Beispiel 
Luthers.  Die  Ähnlichkeit  erklärt  sich  ungezwungen  aus  der  Gleich- 
heit der  Stellung  einer  verrotteten  Hierarchie  gegenüber.  Bei 
Calvin  findet  sich  auch  nur  dreimal  Hus  erwähnt,  und  zwar  stets 
mit  Hinblick  auf  die  römische  Gewalttat,  der  er  zum  Opfer  fiel. 
(O.    C.  5.  494-  503 ;  7>  287.) 

Es  seien  hier  noch  einige  Bemerkungen  besprochen,  die 
R.  Scholz  in  einem  Aufsatz :  „Marsilius  von  Padua  und  die 
Idee  der  Demokratie"  (Zeitschr.  f.  Politik  I,  i  1907)  über  das  Ver- 
hältnis der  Gedanken  des  Marsilius  zu  denen  Calvins  macht.  Jener 
unterwarf  nach  ihm  die  geistliche  und  die  weltliche  Gewalt  der 
Autorität  des  Volkes.  Dann  sagt  Scholz  S.  90  „der  souveräne 
Wille  der  Gemeinde  entscheidet  bei  (Calvin),  wie  bei  Marsilius  über 
alle  Angelegenheiten  der  Kirche".  —  „Alle  Geistlichen  sind  Diener 
der  Gemeinde,  des  Volkes."  Das  ist  unrichtig.  Calvin  vertritt 
nicht  die  Souveränität  des  Volkes,  der  Gemeinde  in  der  Kirche, 
sondern  die  Souveränität  Gottes,  Christi.  Gewiß  betont  Calvin 
auch  der  Anmaßung  des  katholischen  Klerus  gegenüber  das  Recht 
der  Gemeinde.  Und  es  wäre  nicht  ausgeschlossen,  daß  Calvin  ( re- 
danken des  Marsilius  aus  dessen  gerade  in  den  zwanziger  Jahren 
in  Frankreich  verlegten  Werken  oder  auch  indirekt  aufgenommen 
hätte.  Aber  zunächst  erklärt  sich  sein  Hervorheben  der  Gemeinde 
besser  und  einfacher  aus  seiner  ganzen  Situation  und  aus  der  durch 
Luthers  Vermittlung  ihm  aufgegangenen  Forderung  (\(.<  allge- 
meinen Priestertums.  Vor  allem  aber  wird  man  sich  hüten  müssen, 
den  oben  angedeuteten  und  z.  B.  auch  in  der  Stellung  der  ministri 
verbi  divini  durchgeführten  Unterschied  von  Calvins  Gedanken  den 
allgemein  demokratischen  gegenüber  zu  verwischen. 

18* 


2  70  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

c)  Verhältnis  zu  den  Humanisten. 

Über  der  sicher  vorliegenden  Verbindung  mit  Augustin  dürfen 
wir  nicht  vergessen,  daß  Calvin  auch  ein  Humanist  war,  freilich 
sicher  in  manchem  anders  gefärbt  als  Erasmus,  der  Verehrer  des 
Hieronymus.  Aber  achten  wir  nun  besonders  auf  die  Möglichkeit, 
daß  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  durch  Erasmus  beeinflußt  sei, 
so  ist  zunächst  festzustellen,  daß  des  letzteren  Anschauung  hier 
sehr  unklar,  seine  Stellung  gebrochen  ist.1  Das  eine  Mal  äußert 
er  sich  in  recht  demokratischer  Weise  über  die  Kirche :  nicht  die 
Priester,  die  Hierarchie,  sondern  das  Christenvolk  sind  die  Kirche 
(vergl.  Erasmi  epistolae.  Lugduni  Batavorum  1706  I  S.  395  C). 
Das  andere  Mal  erhebt  er  die  Hierarchie,  vor  allem  das  Papsttum 
in  den  Himmel.  Bald  stellt  er  als  höchste  Autorität  die  Bibel  hin, 
will  unter  den  Satzungen  der  Kirche  eine  Verschiedenheit  statuieren 
und  sagt  sogar,  daß  die  Kirche  hier  und  da  irren  könne ;  bald  for- 
dert er  wieder  Unterwerfung  unter  die  Autorität  der  Kirche,  des 
Papstes  (vergl.  a.  a.  O.  I  S.  487  C).  Eine  Reform  der  Kirche  will 
er  jedenfalls  nur  mit  Hilfe  des  Papstes.  Nun  ist  es  natürlich  nicht 
ausgeschlossen,  daß  Erasmus  hier  in  gewisser  Weise  auf  Calvin 
eingewirkt  habe.  Sicher  ist  das  durch  seinen  Ruf :  zurück  zu 
Christus !  ad  fontes !  geschehen.  Aber  das  ist  doch  überhaupt  nur 
die  allgemeine  Einwirkung  des  Humanismus  auf  die  Reformation. 
Dahingegen  ist  Erasmus  durch  einen  tiefen  Graben  von  dem  refor- 
matorischen Verständnis  des  Heils  und  des  Glaubens  getrennt. 
Wernle  sagt :  „Paulus  war  für  Erasmus  eine  verschlossene  Welt." 
—  Darnach  wäre  es  verkehrt,  wenn  wir  an  diesem  Punkt,  in  der 
Lehre  von  der  Kirche,  eine  Einwirkung  des  Erasmus  bei  Calvin 
feststellen  wollten,  wenn  sich  die  Form  der  Lehre  auch  aus  dem 
Einfluß  derjenigen  erklären  läßt,  die  zu  der  entscheidenden  Wand- 
lung in  Calvins  Leben  und  Gedanken  mitgewirkt  haben.  Das  gilt 
zumal  auch  deswegen,  weil  vor  dem  entscheidenden  Eingriff  in 
Calvins  Leben  uns  eine  Abweichung  von  der  katholischen  Lehre 
nicht  bekannt  ist. 

Dasselbe  würde  bei  Le  Fevre  d'Etaples  in  Betracht  kommen. 
Es  ließe  sich  natürlich  denken,  ,,daß  für  die  Art  wie  sich  bei  Calvin 
die  evangelischen  Überzeugungen  gehalten,  die  Fabersche  Rich- 
tung von  Einfluß  war."    (Scheibe  a.  a.  O.   S.  123.)     Aber  zunächst 


1)  Vergl.  Stichart,  Erasmus  von  Rotterdam.  Seine  Stellung  zu  der 
Kirche  und  zu  den  kirchlichen  Bewegungen  seiner  Zeit.  Leipzig  1870.  — 
P.  Wernle,  Die  Renaissance  des  Christentums  im  16.  Jahrh.     Tübingen  1904. 


Von  cand.  theo]    Th.   Werdermann.  -77 

habe  ich  bei  einer  Durchsicht  des  Faberschen  Kommentars  zu  den 

raulinen  von  1512,  der  doch  am  meisten  unter  seinen  Schriften 
reformatorischc  Gesinnung  verrät,1  nichts  gefunden,  was  einen  Ge- 
danken Calvins  in  seiner  Lehre  von  der  Kirche  bestimmt  haben 
könnte ;  es  sei  denn,  daß  man  solches  in  der  Bezeichnung  der  Kirche 
als  der  Braut  Christi  und  der  Begründung  der  Einheit  der  Kirche 
durch  die  Einheit  des  Leibes  Christi  (S.  125  b)  sehen  wollte,  zwei 
Gedanken,  die  sich  aber  ohne  Schwierigkeit  bei  Calvin  aus  seiner 
Abhängigkeit  von  der  Schrift  erklären  lassen.  Vielmehr  will  es 
mir  an  einzelnen  Stellen  scheinen,  als  ob  bei  Le  Fevre  Gedanken 
vorlägen,  die  gar  nicht  auf  Calvins  Anschauung  hinführten.  Z.  B. 
zu  Eph.  4,  n  f.  (S.  168  b):  mirabilis  et  diligibilis  corporis  Christi 
(ut  sie  dicam)  aedificatrix  et  architectrix  charitas  non  nostra  sed 
dei,  non  reflexa  sed  direeta.  Jedenfalls  war  Le  Fevre  in  den  zwan- 
ziger Jahren  und  den  folgenden,  während  deren  eine  Einwirkung 
auf  Calvin  hätte  stattfinden  können,  in  seinen  Äußerungen  zurück- 
haltend geworden.  In  seinem  Kreise  aber  wurden  die  Schriften 
Luthers,  Melanchthons,  Butzers  gelesen. 

d)  Verhältnis  zu  den  anderen  Reformatoren. 

Das  führt  uns  von  selbst  dazu,  die  Wurzeln  auch  von  Calvins 
Lehre  von  der  Kirche  bei  den  deutschen  Reformatoren  zu  suchen. 

Zunächst  gilt  es  da,  auf  die  Verbindung  mit  Luther  zu  achten. 
—  Sahen  wir  bisher,  wie  in  der  katholischen  Kirche  immer  mehr 
das  ursprüngliche  Verhältnis  zwischen  Gott  und  dem  einzelnen 
Menschen  durch  das  Dazwischendrängen  der  Kirche  verschoben 
wurde,  wie  stark  dabei  allmählich  das  Gewicht  auf  die  äußerliche, 
rechtlich  verfaßte  Kirche  gelegt  wird,  so  tritt  in  der  Reformation 
unter  Luthers  Führung  die  Loslösung  von  dieser  Knechtschaft 
und  die  grundlegende  Selbständigmachung  des  Einzelnen  in  seinem 
Verhältnis  zu  Gott  ein.2  Bei  Luther  vor  allem  ist  das  allmähliche 
Erwachsen  eines  neuen  Kirchenbegriffes  aus  seiner  Erkenntnis  des 

1)  Doumergue  I,  S.  81  sagt  von  ihm:  en  un  sens,  ce  livre  peut  etre 
appele:  le  premier  livre  Protestant.  Zurückhaltender  sieht  Herminjard  I 
S.  239  in  ihm  nur  le  preMude  bien  imparfait  de  „la  manifestation  de  l'Evan 

2)  Außer  der  schon  angeführten  Literatur  vergl.  A.  Ritschi,  Entstehung 
der  lutherischen  Kirche.  Zeitschr.  f.  K.-G.  1877  und  Begründung  des 
Kirchenrechts  im  evang.  Begriff  von  der  Kirche.  Zeitschrift  für  Kirchen- 
recht 1869.  —  A.  Krauss  a.  a.  O.  —  F.  Sieffert  a.  a.  O.  —  E.  Rietschel, 
Luthers  Anschauung  von  der  Unsichtbarkeit  und  Sichtbarkeit  der  Kirche, 
St.  u.  Kr.  1900.  —  P.  Drews,  Luthers  Stellung  z.  Landeskirchentum.  Zeit- 
schrift f.  Theol.  u.  K.  1908.  —  R.  Sohm,  Kirchenrecht  I,  1892.  —  J.  Köstlin, 
Luthers  Theologie.    _\  Aufl.   Stuttgart   1901. 


278  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Heils  und  des  Glaubens  zu  verstehen.  Der  ihm  aufgedrängte 
Kampf  gegen  die  römische  Hierarchie  ließ  ihn  dann  zu  größerer 
Klarheit  kommen.  Was  er  der  katholischen  Lehre  gegenüber  als 
entscheidend  erkennt,  vereinigt  sich  darin,  daß  ihm  die  äußerlich 
verfaßte  Kirche  nicht  die  unbedingte  Heilsanstalt  ist.  Ihm  ist  die 
Kirche  vielmehr  zunächst  das  Volk  der  Gotteskinder,  die  im  evan- 
gelischen Sinn  Gläubigen,  auch  wohl  die  universitas  pracdestina- 
torum,  eine  Gemeinschaft  zunächst,  ohne  daß  der  anstaltliche 
Charakter  ganz  abgestoßen  wäre.  Er  kennt  im  eigentlichen  Sinn 
nur  die  eine  Kirche,  die  sowohl  sichtbar  ist  (doch  den  Ausdruck 
hat  er  gar  nicht !)  als  unsichtbar.  Unsichtbar,  weil  sie  und  die  sie 
begründende  innere  Wirkung  der  Gnadenmittel  nur  für  den  Glauben 
erkennbar  ist ;  aber  doch  zugleich  sichtbar,  weil  die  Betätigung 
ihrer  geistlichen  Gemeinschaft,  in  der  eben  ihr  Wesen  besteht,  an 
die  äußeren  Gnadenmittel,  Wort  und  Sakrament  gebunden  ist. 
Aber  auch  so  ist  sie  nur  für  den  Gläubigen  sichtbar.  Wort  und 
Sakrament  sind  daher  die  notae  der  wahren  Kirche.  Indem  nun 
Luther  dem  Ritus  der  Sakramente  eine  eigene  Bedeutung  verlieh, 
die  freilich  nur  den  Gläubigen  zum  Heil  gereicht ;  indem  er  sie 
wesentlich  nicht  als  Bekenntnisakte  der  Gemeinde,  sondern  als 
eine  Spende  von  Gott  durch  den  Verwalter  derselben  betrachtete, 
lag  die  später  verderblich  gewordene  Gefahr  vor,  daß  durch  die 
Betonung  des  Amtsbegriffs  wieder  das  anstaltliche  Moment  in  der 
Auffassung  der  Kirche  das  Übergewicht  gewann.  —  Zur  wahren 
Kirche  gehören  nach  Luther  nicht  die  mali.  Sie  sind  nur  Glieder 
der  äußeren  Christenheit,  die  aber  Luther  eigentlich  nicht  Kirche 
nennen  will.  Es  ist  in  der  Tat  zunächst  nur  der  von  Ritschi  als 
der  dogmatische  bezeichnete  Begriff  der  Kirche,  was  für  ihn 
Kirche  ist,  und  dazu  der  ethische,  sofern  unter  ihm  verstanden 
wird,  daß  die  Gläubigen  untereinander  in  Liebe  verbunden  sich 
gegenseitig  dienen.  Diese  Kirche  will  er  auch  äußerlich  darzu- 
stellen versuchen.  Erst  als  seine  Hoffnung  auf  die  Fürsten  und  die 
Obrigkeiten,  die  als  wahre  Christen  die  Kirche  recht  einzurichten 
imternehmen  sollten,  zu  schänden  geworden  war,  und  ebenso  auch 
die  Hoffnung  auf  die  Gemeinden  selbst,  erst  da  gab  er  dies  Streben 
auf  und  suchte  nun  durch  Fürstengewalt  wenigstens  eine  erziehende 
Staatskirche  durchzusetzen.  Die  äußere  Einrichtung  derselben 
überläßt  er  ganz  den  Fürsten,  die  von  Gott  gesetzt  sind,  das 
Äußere  zu  ordnen.  In  den  gleichen  Bahnen  geht  Melanchthon  in 
den  Schriften,  die  bis  zur  Institutio  von  1536  auf  Calvin  wirksam 
werden  konnten. 


Von  cand.  theol.  Th.  Werderraann.  2^Q 


Wenn  wir  uns  nun  wieder  der  dargestellten  Lehre  Calvins  er- 
innern, so  wird  uns  sogleich  die  große  Verwandtschaft  mit  Luther 
entgegentreten.  Auch  Calvin  kennt  nur  eine  Kirche.  Diese  ist,  was 
er  den  Römischen  gegenüber  als  den  Angelpunkt  ihres  Zwistes 
bezeichnet,  eine  unsichtbare,  geistliche  Gemeinschaft.  Sie  ist  ihm 
die  Gemeinschaft  der  Gläubigen  gerade  auch  im  evangelischen 
Sinne.  Und  wenn  Calvin  die  Kirche  als  die  Schar  der  Prädesti- 
nierten zu  bezeichnen  liebt,  so  ist  der  Ausdruck  auch  Luther  nicht 
fremd.  Auch  für  Calvin  ist  diese  unsichtbare  Kirche  zugleich 
sichtbar,  sofern  eben  ihre  notae  die  rechte  Verwaltung  des  Wortes 
Gottes  und  der  Sakramente  sind.  Und  auch  nur  dem  Glauben  ist 
sie  sichtbar.  Wie  Luther,  so  legt  auch  Calvin  auf  das  Wort  und 
seine  Verkündigung  ein  besonderes  Gewicht,  wie  jener,  so  hält 
auch  er  keine  priesterliche  Vermittlung  für  nötig,  sieht  vielmehr  in 
jedem  Christen  einen  Priester,  der  frei  vor  Gottes  Angesicht  treten 
kann.  Wie  jener,  zumal  in  den  ersten  Jahren  des  Kampfes,  will 
er  von  der  Gemeinde  aus  die  Kirche  aufbauen,  fordert  ebenso  wie 
jener  zu  dessen  Durchführung  rechte  Zucht. 

Freilich  bemerken  wir  dabei  auch  sogleich,  daß  der  Jüngere 
manche  von  den  ursprünglichen  Positionen  des  älteren  Meisters 
festgehalten  hat,  die  dieser  später  anderen  gegenüber  zurücktreten 
ließ.  Es  ist  so,  wie  E.  F.  K.  Müller  in  seiner  Symbolik  sagt,  daß 
Calvin  (und  nach  ihm  die  Reformierten  überhaupt !)  einige  ur- 
sprünglich reformatorische  Gedanken  Luthers  rettete,  die  bei 
diesem  selbst  später  gefährdet  wurden  und  bei  den  Lutheranern 
dann  teilweise  ganz  verloren  gingen.  Das  ist  vor  allem  bei  der 
Auffassung  der  Kirche  als  Gemeinschaft  und  als  Gemeinde  der 
Gläubigen  der  Fall.  Wir  wiesen  schon  darauf  hin,  wie  diese  bei 
Luther  anderen  Gedanken  gegenüber  zurücktrat.  Bei  Melanch- 
thon  und  den  Lutheranern  ist  sie  dann  durch  das  Verständnis  der 
Kirche  als  schola  und  die  Betonung  des  Amtes  ganz  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  worden.  Das  machte  sich  auch  darin  geltend,  daß 
Luther  und  die  Lutheraner  darauf  verzichteten,  von  der  Gemeinde 
aus  die  Kirche  zur  Darstellung  zu  bringen,  und  auch  gerade  als  die 
heilige,  sie  durch  von  der  Gemeinde  geübte  Sittenzucht  zu  erhalten. 

Der  starken  Abhängigkeit  von  Luther  gegenüber,  auch  in  dem 
Festhalten  an  ursprünglichen  Gedanken  desselben,  muß  doch  die 
Eigenart  in  Calvins  Lehre  wohl  beachtet  werden.  Er  stellt  doch 
enger,  als  Luther  es  tut,  die  Kirche  in  Verbindung  mit  der  Prä- 
destination.    Bei  Luther  findet  dieser  Gedanke  sich  hier  nur  vor- 


2  80  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwirklung. 

übergehend,  nicht  in  so  gewichtiger  Ausführung  als  bei  Calvin. 
Und  wenn  wir  vorhin  auch  schon  das  Moment,  das  am  meisten  die 
Prädestinationslehre  Calvins  bedingt,  nannten :  die  Sicherung  des 
Heils,  so  glaube  ich  doch  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  ich  in  dieser 
starken  Betonung  des  alleinigen  Wirkens  Gottes  bei  der  Bestim- 
mung derer,  die  zur  Kirche  gehören,  noch  einen  spezifischen  Zug 
der  Frömmigkeit  Calvins  wirksam  finde :  seine  Beugung  vor  der 
Ehre  Gottes.  Sie  tritt  uns  ja  auch  sonst  oft  genug  entgegen. 
Auch  wenn  der  Obrigkeit  neben  anderen  Aufgaben  die  zuge- 
schrieben wird,  dafür  zu  sorgen,  daß  Gott  recht  verehrt  werde, 
zeigt  sich  derselbe  Zug.  In  Verbindung  damit  steht  dann  die 
stärkere  Forderung  eines  sittlich  guten  Lebens  bei  den  Gliedern 
der  Kirche  und  die  Hervorhebung  der  Autorität  der  Schrift  bei 
der  Ordnung  der  Gemeinde,  nur  daß  er  sich  nicht  scheut,  hier  je 
nach  den  Verhältnissen  auch  Abänderungen  gutzuheißen. 

Wie  erklären  sich  diese  Abweichungen  von  Luther?  Könnte 
darin  sich  etwa  der  Einfluß  der  anderen  Reformatoren  zeigen?  Als 
erster  käme  da  Zwingli  in  Betracht.  Seine  Anschauung  von  der 
Kirche  nun  ist  einerseits  in  sich  nicht  völlig  einheitlich,  anderer- 
seits aber  auch  nicht  sich  gleichbleibend  (vergl.  A.  Baur,  Zwingiis 
Theol.  2.  Bd.,  Halle  1885  und  1889.  —  R.  Stähelin,  Huldreich 
Zwingli.  Basel  1895  und  1897).  In  der  früheren  Fassung,  ebenso 
wie  in  der  späteren  findet  sich  bei  ihm  eine  dreifache  Anwendung 
des  Begriffes  ,, Kirche",  nur  daß  sie  später  in  eine  andere  Stellung 
zueinander  gebracht  werden.  Obenan  steht  ihm  die  Kirche  als 
Gegenstand  des  Glaubens,  die  Gemeinde  der  Prädestinierten.  Das 
Wesen  der  Kirche  in  dieser  ersten  Fassung  ist  ihm  Versammlung ; 
in  ihrer  Gesamtheit  ist  sie  unsichtbar.  Konstitutiv  für  diese  Kirche 
ist  das  Wort  Gottes.  Die  Sakramente  sind  ihm  nur  Darstellungen 
der  Reinheit  der  Gemeinde.  Aber  auch  das  Wort  wirkt  nach  ihm 
nur  als  „inneres  Wort".1  —  Als  eine  zweite  Seite  von  Zwingiis 
Kirchenbegrifr  tritt  uns  dann  entgegen  die  einzelne  ,,Kilchhöre", 
die  auch  den  Bann  zu  üben  von  Christo  Vollmacht  hat.  Diese 
„Kilchhören"  stehen  nach  der  älteren  Auffassung  nicht  neben  der 
wahren  Kirche,  sondern  sind  Glieder  derselben.  —  Die  dritte  Seite 
des  Kirchenbegriffes  ist  die,  nach  der  sie  die  Gesamtheit  derer  ist, 


1)  Doch  vergl.  Gottschick  a.  a.  O.  S.  582  f.  In  gewisser  Beziehung  ist 
aber  sicherlich  Seebergs  Vorwurf  a.  a.  O.  S.  83  f.  berechtigt,  auch  ebenso, 
daß  C.  v.  Kügelgen,  Ethik  Zwingiis  S.  98  bei  Zwingli  einen  stark  spirituali- 
sierenden  Zug  findet. 


Von  cand    ther]    Th    Werdermann.  2  ■">  I 

die  sich  zu  Christo  bekennen.  Diese  letztere  empirische  Kirche  ist 
als  solche  nicht  Gegenstand  des  Glaubens.  —  In  späteren  Jahren 
veranlaßten  Zwingli  äußere  Verhältnisse  zu  einer  Änderung,  wo- 
durch die  zweite  Fassung  des  Kirchenbegriffes  eine  andere  Stellung 
erhielt  und  als  Teilbegriff  unter  die  dritte  rückte.  Zur  Wertung 
von  Zwingiis  Lehre  sei  nur  noch  erwähnt,  daß  sich  hier  wirklich 
die  beiden  Hauptseiten  des  Kirchenbegriffes,  die  Kirche  als  Ge- 
meinschaft und  die  Kirche  als  Anstalt,  voneinander  gelöst  haken. 
Dadurch  aber  hat  er  zwar  die  systematische  Einheitlichkeit  nicht 
gefördert,  indessen  dafür  das  katholisierende  .Moment  in  Luthers 
Sakramentslehre  vermieden.  Auch  darf  der  Unterschied  von 
Luther  nicht  zu  groß  gefaßt  werden  ;  er  beruht  zum  größten  Teil 
nur  auf  abweichenden  Formulierungen  (vergl.  Gottschick  S.  616 
und  Loofs  S.  806).  —  Achten  wir  nun  auf  das  Verhältnis  der  Lehre 
Calvins  zu  der  Zwingiis,  so  ist  zunächst  zu  sagen,  daß  da,  wo  Luther 
und  Zwingli  zusammengehen,  für  Calvin  die  Abhängigkeit  von 
Luther  näher  liegt.  Es  ist  überhaupt  recht  unsicher,  ob  Calvin  den 
Züricher  Reformator  im  Jahre  1535  schon  näher  kannte.  Sicher 
ist,  daß  dieser  niemals  besonders  hoch  in  seiner  Achtung  gestanden 
hat.  Das  hat  ihn  ja  mehr  denn  einmal  den  deutschen  Schweizern 
verdächtig  gemacht  (vergl.  Hundeshagen,  Konflikte  S.  321).  Schon 
deswegen  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  daß  bei  dem  einzigen 
Punkte,  in  dem  man  eine  Abhängigkeit  Calvins  von  Zwingli  ver- 
muten könnte,  bei  der  stärkeren  Hervorhebung  der  Prädestinations- 
lehre, wirklich  dieser  Einfluß  wirksam  ist.  Das  könnte  höchstens 
wohl  indirekt  durch  Martin    Outzer  geschehen  sein. 

Bevor  wir  aber  auf  diesen  eingehen,  wollen  wir  noch  einen 
Blick  auf  Oekolampad  in  Basel  werfen.  Wir  wiesen  schon  oben 
auf  den  Punkt  hin,  der  da  besonders  zu  beachten  ist.  Oekolampad1 
hatte  schon  Sittenzucht  und  zwar  unter  Heranziehung  von  Laien- 
ältesten eingeführt.  Eine  volle  Durchführung  seiner  Grundsätze 
wurde  freilich  auch  in  Basel  selbst  unmöglich  gemacht  durch  den 
heftigen  Widerspruch  der  Berner  und  Züricher  auf  dem  läge  zu 
Aarau  1530,  besonders  gegen  die  Forderung  der  Scheidung  von 
weltlicher  und  geistlicher  Gewalt,  vor  allen  bei  der  Kirchenzucht. 
Es  wäre  nicht  unmöglich,  daß  in  diesen  Punkten  eine  Beeinflußung 


1 )  Vergl.  Herzog.  Leben  Oekol.'s.  Basel  1843.  —  Th.  Burkhardt,  Über 
Oekol.'s.  Person  und  Wirksamkeit.  Theol.  Zeitschr.  a.  d.  Schweiz  1893 
S.  27  ff,  81  ff. 


2ö2  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Calvins  stattgefunden  hätte,   während   er   in   Basel   im   Bezirk   der 
direkten  Nachwirkungen  des  Reformators  sich  befand. 

Doch  müssen  wir  noch  vor  allem  überlegen,  ob  nicht  von 
Butzer  aus  direktere  Abhängigkeit  sich  nachweisen  läßt.  Dieser 
hat  jedenfalls  neben  Luther  auf  die  theologischen  Anfänge  Calvins 
am  meisten  eingewirkt  (vergl.  Usteri,  Calvins  Sakraments-  und 
Tauflehre.  St.  und  Kr.  1884.  —  R-  Seeberg,  D.  G.  —  Anrieh,  Die 
Straßburger  Reformation  nach  ihrer  religiösen  Eigenart  und  ihre 
Bedeutung  für  den  Gesamtprotestantismus.  Christi.  Welt  1905). 
A.  Lang  hat  in  seiner  Arbeit  über  den  „Evangelienkommentar 
Butzers  und  die  Grundzüge  seiner  Theologie'*,  Leipzig  1900,  durch 
seine  gründliche  Untersuchung  der  Gedanken  Butzers  die  Vor- 
arbeit für  eine  nähere  Bestimmung  dieses  Verhältnisses  und  zu- 
gleich sehr  wertvolle  Hinweise  gegeben.  Für  uns  ist  hier  seine 
Bemerkung  (S.  47)  sehr  wichtig:  „Calvin  hat  jedenfalls,  als  er  in 
der  Institutio  von  1536  das  damals  noch  kleine  und  für  ungelehrte 
Leute  bestimmte  Handbuch  christlicher  Lehre  entwarf,  den  Evan- 
gelienkommentar reichlich  benutzt,  während  dagegen  eine  Ein- 
wirkung der  anderen  Kommentare  —  mag  er  sie  damals  auch 
schon  gekannt  haben  —  an  keiner  Stelle  mit  Sicherheit  zu  er- 
kennen ist/'  Vergleichen  wir  nun  Butzers  Lehre  von  der  Kirche 
in  ihrer  früheren  im  Evangelienkommentar  vorliegenden  Gestalt 
(A.  Lang  a.  a.  O.  S.  176  ff.),  so  zeigen  sich  doch  auch  manche  be- 
deutsame Differenzen.  Die  wichtigste  ist  die  starke  Spirituali- 
sierung  der  Kirche  bei  Butzer,  die  in  der  Konsequenz  ihn  z.  B. 
dazu  führt  zu  erklären,  daß  eine  gültige  Berufung  ins  Predigeramt 
nur  von  Gott,  nicht  von  einer  menschlichen  Behörde  oder  Gemein- 
schaft geschehen  könne.  Wir  haben  bei  Calvin  festgestellt,  daß 
nach  ihm  Gott  gerade  durch  die  menschlichen  Vermittlungen  die 
Diener  an  seinem  Wort  beruft.  Derselbe  Zug  zeigt  sich  auch  an 
anderen  Punkten,  so  wenn  Butzer  in  der  Kirche  das  gemeinschaft- 
liche so  stark  betont,  daß  er  darüber  das  anstaltliche  Moment  ganz 
vernachlässigt.  Dies  geschieht  durch  eine  subjektivistische  Her- 
vorhebung der  Definition  der  Kirche  als  numerus  electorum,  wo- 
durch bedingt  wird,  daß  nach  ihm  die  Sakramente  ebensowenig 
wie  die  äußere  Wortverkündigung  den  Bestand  der  wahren  Kirche 
verbürgen.  Bei  Calvin  fanden  wir  auch  die  Kirche  als  Anstalt 
wohl  gewürdigt  und  die  Gefahr,  die  für  einen  einheitlichen  Begriff 
von  der  Kirche  in  einer  einseitigen  Betonung  der  Erwählung  liegt, 
war    vermieden,    eben    durch    die    Anerkennung    von    Wort    und 


Von  cand.  theol.  Th.   Werclermann.  2  83 

Sakramenten  als  notae  der  wahren  Kirche.  —  Aber  eben  hierin 
schon  erkennen  wir  auch  die  Verwandtschaft  der  Auffassung  beider 
Männer.  Bei  Calvin  sahen  wir  ja  auch,  daß  der  Gedanke  der  Ge- 
meinschaft ihm  für  die  Kirche  sehr  wichtig  war.  Wenn  nun  „diese 
Geistes-  und  Liebesgemeinschaft  der  Erwählten  untereinander  und 
unter  ihrem  Haupte  Christus  ein  Lieblingsgedanke  Butzers  ist, 
den  er  sehr  oft  berührt,  und  bei  dem  er  stets  mit  seinem  I  lerzen 
verweilt"  (Lang  a.  a.  O.  S.  177),  so  ist  es  wohl  wahrscheinlich,  daß 
von  ihm  auch  auf  Calvin  die  Erkenntnis  der  Wichtigkeit  dieses 
Gedankens  übergegangen  ist.  Noch  sicherer  ist  das  für  die  be- 
deutsame Stellung  der  Prädestination  in  Calvins  Lehre  von  der 
Kirche,  die  wir  ja  eben  auch  bei  Butzer  finden.  Hier  ist  der  Ein- 
fluß des  Straßburgers  deshalb  so  einleuchtend,  weil,  worauf  Scheibe 
und  A.  Lang  schon  hingewiesen  haben,  gerade  auch  in  der  be- 
sonderen Art  der  Prädestinationslehre  bei  Calvin  eine  Verwandt- 
schaft mit  Butzers  Gedanken  vorliegt. 

Mit  diesen  Punkten  ist  die  Verwandtschaft  der  beiden  Lehr- 
arten noch  nicht  abgeschlossen.  Auch  der  bei  Calvin  freilich  jetzt 
erst  angebahnte  und  erst  später  fruchtbar  gemachte  Gedanke  der 
Christokratie  findet  sich  bei  Butzer,  und  vor  allem  dann  auch  die 
nachdrückliche  Forderung  rechter  Zucht  in  der  Kirche.  Von  letz- 
terem gerade  kann  A.  Lang  sagen  (S.  185  f.):  „damit  ist  prinzipiell 
die  Notwendigkeit,  die  Aufgabe  und  das  Ziel  der  Kirchenzucht  in 
einer  Weise  festgestellt,  der  Calvin  später  nicht  allzuviel  Neues 
hinzuzufügen  brauchte". 

Doch  zeigt  sich  gerade  in  dem  Neuen  wieder  die  Eigenart 
Calvins.  Zu  den  zwei  Gründen,  die  Butzer  für  die  Notwendigkeit 
der  Exkommunikation  angibt:  1.  daß  die  Sünder  dadurch  zur 
Scham  geführt,  und  2.  daß  die  anderen  vor  der  Verderbnis  be- 
wahrt werden  sollten,  fügt  Calvin  einen  dritten  und  bezeichnender- 
weise an  erster  Stelle  hinzu,  daß  Gottes  Ehre  gewahrt  werden 
müsse.  Die  Reflexion  auf  die  Ehre  Gottes  finden  wir  freilich  auch 
bei  Butzer  (Lang  a.  a.  O.  S.  198).  Aber  zu  beachten  ist  doch  sicher- 
lich, daß  Calvin  diesen  Gesichtspunkt  auch  hier  und  gleich  so  stark 
betont.  Das  weist  uns  darauf  hin,  daß  wir  doch  nicht  nnterlassen 
dürfen,  für  die  theologische  Eigenart  Calvins  auch  auf  unserem 
Gebiete  die  bestimmte  Färbung  seiner  Frömmigkeit  zu  beachten, 
die  durch  die  Besonderheit  ihrer  Begründung,  seiner  Bekehrung, 
hervorgerufen  worden  ist.  Als  der  Lebendige  war  Gott  ihm  per- 
sönlich bedeutsam  geworden,  dessen  durch  die   Gnade  in   Christo 


284  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

bestimmter  Herrschaft  es  sich  zu  unterwerfen  gelte.  Deshalb  ent- 
brannte er  von  Eifer,  der  Ehre  Gottes  zu  dienen.  Der  Blick  auf 
sie  mußte  auch  seine  Theologie  bestimmen.  Auf  diesem  Boden 
konnten  auch  manche  Gedanken  wachsen,  sei  es  nun,  daß  sie  hier 
selbständig  entstanden  oder,  von  außen  hereingetragen,  Wurzel 
fassen  konnten.  Das  wird  sich  oft  nicht  entscheiden  lassen.  Ich 
möchte  hierher  vor  allem  folgende  Gedankenkomplexe  rechnen : 
Autorität  der  Schrift  auch  für  die  Gestaltung  der  äußeren  Kirche ; 
Forderung  der  Christokratie ;  prinzipielle  Trennung  von  geistlicher 
und  weltlicher  Macht  besonders  bei  der  Ausübung  der  Zucht.  Für 
alle  diese  Punkte  werden  sich  Vorbereitungen  bei  anderen  Theo- 
logen nachweisen  lassen,  aber  ich  glaube,  es  hieße  das  persönliche 
Moment  unterschätzen,  wenn  wir,  zumal  bei  solch  bedeutendem 
Geiste  wie  Calvin,  alles  aus  historischen  Verbindungen  erklären 
wollten. 

Ich  fasse  also  das  Ergebnis  der  bisherigen  Untersuchung  zu- 
sammen :  Calvins  Lehre  von  der  Kirche,  so  wie  sie  uns  in  der 
ersten  Ausgabe  seiner  Institutio  entgegentritt,  schließt  sich  haupt- 
sächlich Luthers  Auffassung  an.  Außerdem  macht  sich  besonders 
der  Einfluß  Martin  Butzers  geltend.  Das  Ganze  aber  erhält  seine 
bestimmte  Färbung  durch  die  Eigenart  der  Frömmigkeit  Calvins. 

3.  Kapitel: 

Die  Zeit  der  ersten  praktischen  Anwendung. 

a)  Praktische  Tätigkeit. 

In  der  Institutio  von  1536  sehen  wir  Calvins  Lehre  von  der 
Kirche  vor  uns,  wie  sie  sich  ihm  aus  seinen  Studien  und  seiner 
inneren  Frömmigkeit  gestaltet  hatte,  ohne  daß  er  dabei  durch  weit- 
gehende Erfahrung  auf  dem  Gebiete  des  kirchlichen  Lebens  ge- 
leitet worden  wäre.  Fast  möchte  man  sich  wundern,  daß  in  ihr 
überhaupt  schon  so  viel  von  der  äußeren  Gestaltung  der  Kirche 
geredet  wird.  Bald  aber  sollte  Calvin  Gelegenheit  finden,  in  der 
Härte  des  Lebens  seine  Grundsätze  zu  erproben  und  weitei  zubilden. 
Es  muß  interessant  sein  festzustellen,  wie  er  sich  da  verhalten  hat, 
er,  der  harte,  rücksichtslose  Mann,  wie  er  so  gern  geschildert 
wird,  den  ,, keine  irdische  Gewalt  —  zu  einem  Akkord  mit  den 
irdischen  Verhältnissen  zu  bewegen"  vermochte  (Hundeshagen, 
Konflikte  S.  51).  Es  wird  zu  untersuchen  sein,  ob  etwa  seine  Lehre 
von  der  Kirche  durch  die  Einwirkungen  des  praktischen  Lebens 
Modifikationen  erfahren  hat. 


Von  cand.  tlieol.  Tli.   W  28^ 

Wie  waren  die  Verhältnisse  in  Genf,  als  er  dorthin  kam.' 
Durch  Farel  war  die  Reformation  zum  Siege  gekommen.  Farel 
selbst  hat  ziemlich  ausschließlich  auf  die  Vernichtung  des  Papismus 

und  auf  innere  Auferbauung  der  Gemeinde  hingearbeitet.  Die 
Organisation  des  Kirchenwesens  war  inzwischen  vom  Staat  allein 
in  die  Hand  genommen  worden.  Der  Beschluß  der  allgemeinen 
Bürgerversammlung  vom  21.  Mai  1536  hatte  die  neue  Kirche  zur 
Staatskirche  erhoben  und  den  Katholizismus  aus  Genf  aus- 
geschlossen (vergl.  Ratsprotokoll  O.  C.  21  S.  201).  Der  Rat  nahm 
die  Rechte  des  alten  Kirchenregiments  an  sich  und  sorgte  für  die 
Durchführung  der  Beschlüsse  der  allgemeinen  Bürgerversammlung. 
Die  kirchliche  Gerichtsbarkeit  und  die  Verwaltung  der  kirchlichen 
Güter  nahm  er  in  die  Hand.  Er  setzte  die  neuen  Prediger  ein. 
Er  vertrieb  die  Anhänger  der  alten  Kirche,  ging  gegen  den  Aber- 
glauben, gegen  die  Messen  vor.  Es  ist  klar  wohin  diese  Ent- 
wicklung gehen  mußte.  Sie  führte  zu  dem  Zustand,  wie  wir  ihn  in 
den  evangelischen  Städten  der  deutschen  Schweiz  finden :  zur  voll- 
ständigen Abhängigkeit  der  Kirche  vom  Staate. 

Es  scheint,  als  ob  Earel,  solange  er  allein  stand,  nichts  gegen 
ein  solches  Resultat  einzuwenden  hatte.-  Ihm  lag  vor  allem  an 
einer  klaren  Scheidung  von  der  Verderbnis  der  römischen  Kirche. 
Hierin  stimmte  Calvin  ganz  mit  ihm  überein.  Aber  er  hatte  seine 
Gedanken  über  die  Kirche  selbst  weiter  ausgebaut.  Zu  diesen 
wollten  die  Zustände  in   Genf  durchaus  nicht  passen. 

Ihm  erschien  es  vor  allem  nötig,  daß  die  rechte  Kirche  nicht 
Gott,  ihrem  Herrn,  Unehre  bereite.  Ihm  war  es  immer  ein  Greuel, 
wenn  man  durch  Berufung  auf  die  evangelische   Freiheit  sittliche 

1)  Yergl.  C.  A.  Cornelius,  Historische  Arbeiten  vornehmlich  zur  Re- 
formationszeit. Leipzig  1899.  —  Choisy  a.  a.  O.  S.  11.  —  A.  Roget.  histoire 
du  peuple  de  Gen.  depuis  la  reforme  jusqu'ä  l'Escalade.     Gen.  1870 — 1885. 

2)  Daß  Farel  auf  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  einen  Einfluß  ausgeübt 
habe,  ist  uns  sehr  unwahrscheinlich.  Ich  konnte  nur  Farels  sommaire  von 
1534  einsehen.  Da  ist  aber  die  Lehre  von  der  Kirche  in  einem  ganz  von 
Calvin  abweichenden  Tenor  gehalten;  die  unsichtbare  Kirche,  die  aber  so 
nicht  genannt  wird,  tritt  allein  hervor.  Klarheit  herrscht  nicht.  Calvins 
Entwicklung  in  seiner  Lehre  von  der  Kirche  nach  seinem  Bekanntwerden 
mit  Fare!  hat  gerade  in  entgegengesetzter  Richtung  stattgefunden.  Daß 
Farel  in  seinem  sommaire  auch  das  Pastorenamt  behandelt,  kann  unmöglich 
von  Einfluß  auf  Calvin  gewesen  sein.  Farel  denkt  bei  seinen  Ausführungen 
hierüber  nicht  an  eine  bestimmte  Organisation.  —  Die  Bedeutung  Christi 
wird  von  Farel  für  die  Kirche  sehr  betont,  doch  findet  sich  bei  ihm  nicht 
die  spätere  eigenartige  Ausgestaltung  der  Christokratie  wie  bei  Butzer 
und  Calvin.     Auch  hier  ist   keine   Verbindung  herzustellen. 


2  86  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Ausschweifung  decken  wollte.  Daß  die  Kirche,  soweit  sie  in  Er- 
scheinung tritt,  auch  die  grundlegend  in  Christus  erworbene  und 
von  ihm  immer  mehr  bewirkte  Heiligkeit  möglichst  zur  Darstel- 
lung bringe,  das  war  praktisch  für  ihn  ein  Hauptziel.  Dem  aber 
entsprachen  die  Verhältnisse  in  Genf  gar  nicht.  Selbst  Kamp- 
schulte muß  zugeben,  Calvin  habe  wohl  ein  Recht  gehabt,  hier  auf 
Sittenzucht  besonders  zu  dringen.  Außerdem  konnte  auch  die 
ganze  Richtung,  welche  die  Organisation  der  Kirche  bisher  in  Genf 
eingeschlagen  hatte,  Calvin  durchaus  nicht  gefallen.  Er  konnte 
nicht  so  ruhig  wie  Farel  dem  zusehen,  wie  die  weltliche  Obrigkeit 
die  Kirche  ganz  unter  ihre  Gewalt  brachte.  Gerade  auch  darin 
mußte  Gottes  Ehre  gewahrt  werden,  daß  in  der  Kirche  nicht 
menschliche  Interessen  die  Oberhand  gewinnen.  Wenn  daher  Cal- 
vin auch  dem  Staate  das  Recht  und  die  Pflicht  gab,  die  Ausübung 
der  Religion  zu  überwachen,  so  mußte  ihm  doch  die  Cäsareopapie, 
wie  sie  tatsächlich  in  Genf  herrschte,  zuwider  sein.  —  Es  ist  vor- 
auszusehen, daß  es  gerade  an  diesen  beiden  Punkten  zu  erbittertem 
Kampf  kommen  mußte. 

Zunächst  freilich  hielt  sich  Calvin  zurück.1  Das  Haupt  der 
Kirche  blieb  Farel.  Am  10.  November  1536  legte  dieser  eine 
Kirchenordnung  vor,  die  uns  nicht  erhalten  ist.  Daran  schlössen 
sich  weitere  Verhandlungen,  bei  denen  nun  auch  Calvin  mitwirkte. 
Gerade  darin,  daß  die  Geistlichen  sich  in  ihrer  Tätigkeit  nicht  auf 
die  Predigt  beschränkt  wissen  wollten,  sondern  sich  auch  darüber 
hinaus  verantwortlich  fühlten,  erkennen  wir  Calvins  Geist  (O.  C.  5 
S.  319).  Ein  Punkt  war  es  vor  allem,  an  dem  Calvin  Anstoß  nahm: 
die  Entweihung  des  Herrenmahls.  Er  selbst  schreibt  davon  in  der 
ein  Jahr  später  erschienenen  Vorrede  zur  lateinischen  Ausgabe  des 
Katechismus  von  1538:  si  quando  autem  alias  nos  anxios  habebat 
haec  sollicitudo,  tum  vero  acerrime  urebat  ac  discruciabat,  quoties 
distribuenda  erat  domini  coena  (O.  C.  5  S.  319).  So  sind  denn 
auch  die  ganz  unter  Calvins  Einfluß  stehenden  Artikel,  welche  die 
Geistlichen  am  16.  Januar  1537  im  Rat  vorlegten,  eigentlich  eine 
neue  Abendmahlsordnung.  Nur  da  kann  ja  eine  gut  geordnete 
und   geregelte    Kirche   sein,   wo   das    Herrenmahl   oft   und   würdig 


1)  Vergl.  G.  Weber,  Gesch.  Darst.  d.  Calvinismus  i.  Verhält,  z.  Staat 
in  Genf  11.  Frankreich.  Heidelberg  1836.  —  G.  Galli,  Die  lutherisch,  und 
calv.  Kirchenstrafen  usw.  Breslau  1879.  —  A.  Roget  a.  a.  O.  —  J.  Gaberei, 
hist.  de  l'Eg.  de  Gen.  Gen.  1S58.  —  E.  Bloesch,  Gesch.  d.  schw.  ref.  K. 
Bern   1898.  —   Fleury,  hist.   de  l'eg.   de   Gen.    1880.    2.  Bd. 


Vdii  cand.  theol.    111.  Werdennann.  287 

genossen  wird  (O.  C.  10  S.  5  f.).  Mit  Berufung  auf  Gottes  Wort 
stützt  er  seine  Forderung;  nach  ihm  muß  man  sich  ja  vor  . 
richten,  als  nach  der  gewissen  Regel  jeder  Regierung  und  Ver- 
waltung, besonders  aber  des  Kirchenrcgimentes  (S.  7).  So  sollen 
also  zunächst  alle  Gemeindeglieder  monatlich  einmal  zum  Abend- 
mahl gehen.  Um  aber  zu  verhüten,  daß  das  .Mahl  unwürdig  ge- 
feiert werde,  ist  es  nötig,  die  Kirchenzucht  mit  der  Exkommuni- 
kation einzuführen.  Denn  wichtig  ist,  daß  bei  diesem  Mahl  der 
Gemeinschaft  des  Leibes  Christi  diejenigen  ausgeschlossen  bleiben, 
die  offen  zeigen,  daß  sie  nicht  zu  Christus  gehören;  sonst  wird 
Gott  entehrt  (S.  8).  Ohne  diese  Ordnung  kann  eine  Kirche  nicht 
den  rechten  Stand  einnehmen  (S.  10).  Sie  einzuführen  ist  Sache 
der  Obrigkeit  (S.  8).  Sie  soll  Personen  von  gutem  Lebenswandel 
und  von  gutem  Zeugnis  unter  den  Gläubigen  erwählen,  die  über 
die  ganze  Stadt  verteilt  auf  das  Leben  der  Einzelnen  ihr  Augen- 
merk zu  richten  haben.  Dann  aber  soll  man  in  der  Kirche  die 
Entscheidung  treffen.  Die  Exkommunikation  ist  als  eine  aus- 
schließlich  kirchliche  Handlung  gedacht. 

Wir  sehen  wie  sich  hier  ganz  die  Grundsätze  der  Institutio 
geltend  machen.  Gerade  im  praktischen  Leben  kommt  der  spezi- 
fische Zug  in  der  Frömmigkeit  Calvins,  die  Betonung  der  Ehre 
Gottes,  stark  zum  Ausdruck.  Auch  bei  dem  Aufbau  der  Kirche 
finden  wir  die  Punkte  hervorgehoben,  die  nach  der  Institutio  als 
Kennzeichen  der  Glieder  der  Kirche  von  der  Schrift  aufgestellt 
sind.  Teilnahme  an  den  Sakramenten  wird  gefordert.  Für  das 
zweite  Merkmal,  das  eines  ordentlichen  Lebenswandels,  soll  die 
Kirchenzucht  sorgen.  Hier  werden  wir  auch  bei  dem  Einzelnen 
stets  an  die  Institutio  erinnert.  Das  dritte  in  der  Institutio  ge- 
forderte Zeichen  wird  nicht  vergessen:  Das  Bekenntnis  des  Glau- 
bens. Es  wird  nämlich  schließlich  auch  verlangt,  daß  alle  Bürger 
ein  Bekenntnis  ablegen  sollen. 

Wir  sehen  hier  also  gleich  zu  Anfang  einen  Versuch  Calvins, 
die  Grundsätze  seiner  Institutio  gerade  in  der  Lehre  von  der  Kirche 
zu  verwirklichen.  Sofort  aber  erheben  sich  die  beiden  Schwierig- 
keiten, mit  denen  wir  Calvin  weiterhin  stets  werden  ringen  sehen  : 
1.  die  einzelnen  Bürger  wollen  sich  unter  die  strenge  Sittenzucht 
nicht  beugen ;  2.  der  Staat  will  sich  seine  durch  die  erste  Refor- 
mation gewonnene  Macht  nicht  nehmen  lassen.  Dieser  erste  Ver- 
such Calvins  scheiterte  im  wesentlichen. 

Nur  der  Antrag  auf  Abnahme  eines  Glaubensbekenntnisses 
wurde  vom  Rat  angenommen  und  sogar  dahin  verschärft,  daß  von 


2  88  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

jedem  Einzelnen  ein  Glaubenseid  verlangt  werden  solle.  Nur 
Schwierigkeiten  und  Verbitterungen  entstanden  dadurch. 

Erneutes  Drängen  der  Prediger  auf  Einführen  der  Kirchen- 
zucht führte  schließlich  zu  einem  Resultat,  das  nicht  nach  ihren  und 
besonders  nicht  nach  Calvins  Wünschen  war.  Am  27.  Juli  1537  faßt  der 
Kleine  Rat  einen  Beschluß,  der  Anzeige  und  Bestrafung  der  Sünder 
für  die  weltliche  Obrigkeit  in  Anspruch  nimmt.  Die  Zweihundert 
bestimmen  sogar  am  29.  Juli,  daß  den  Bezirksvorstehern  Auftrag 
gegeben  werden  soll,  auf  ihre  Bezirksgenossen  zu  achten.  Sie 
sollen  die  Sünder  erst  allein,  dann  im  Beisein  von  zwei  bis  drei 
anderen  ermahnen,  dann  der  Obrigkeit  anzeigen,  und  die  Obrigkeit 
soll  nach  Befund  der  Sache  bis  zur  Verbannung  schreiten.  An 
Stelle  der  frommen  Männer  sind  also  weltliche  Beamte,  an  Stelle 
der  Exkommunikation  die  Strafe  der  Verbannung  getreten ;  nicht 
Kirchenzucht,  sondern  Ausdehnung  der  Polizeigewalt  auf  die  Sün- 
den der  Bürger  ist  der  Inhalt  des  neuen  Gesetzes.  Das  ist  sicher- 
lich wenig  nach  dem  Sinne  Calvins  gewesen,  der  ja  gerade  in 
diesem  Punkte  die  Kirche  selbständig  wissen  wollte.  So  hören 
wir  ihn  denn  auch  Februar  1538  in  einem  Briefe  an  Bullinger 
hauptsächlich  darüber  klagen,  daß  es  noch  keine  Kirchenzucht 
gäbe,  während  doch  nach  seiner  Ansicht  eine  Gewähr  dauernden 
Bestehen  der  Kirche  nur  in  der  Wiederherstellung  jener  alten,  das 
ist  apostolischen  Disziplin  zu  finden  ist.  —  Nicht  ebenso  wird  es 
Calvin  als  eine  Überschreitung  der  Befugnisse  der  weltlichen  Ge- 
walt haben  erscheinen  können,  wenn  der  Staat  auch  bei  Lehr- 
streitigkeiten für  sich  die  letzte  Entscheidung  in  Anspruch  nahm, 
so  z.  B.  als  im  März  1537  Anabaptisten  nach  Genf  kamen,  die  die 
Schrift  besser  zu  verstehen  vorgaben  als  die  Prediger  und  sich 
weigerten,  mit  den  anderen  zu  beten  (vergl.  Ratsprotokoll  vom 
18.  März  1537).  Zwar  steht  ja  nach  Calvin  die  Entscheidung  über 
Wahr  und  Falsch  nur  bei  der  Schrift.  In  einer  Rede,  die  Calvin 
auf  einem  Kolloquium  zu  Lausanne  am  5.  Oktober  1536  hält  (O.  C.  9 
S.  877),  heißt  es  so  ganz  der  Institutio  entsprechend,  daß  die  Be- 
rufung auf  die  Väter  die  Autorität  der  Schrift  nicht  irgendwie  be- 
schränken dürfe.  Denn  Gott  übt  seine  Herrschaft  nur  durch  sein 
Wort  aus  (S.  878).  —  Aber  die  Obrigkeit  muß  doch  entscheiden, 
wann  sie  eingreifen  und  jemandem  zum  Gehorsam  gegen  die 
Schrift  zwingen  muß. 

All  die  Reformen,  die  ihm  für  die  Kirche  nötig  erschienen, 
hätte   Calvin  gern  auf  dem  Wege  gemeinsamen  Strebens   der  auf 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdennanit.  289 


einer  Synode  vereinigten  Einzelgemeinden  gefördert  gesehen.  Es 
ist  ganz  recht,  wenn  Cornelius  meint,  Calvin  habe  eine  ,, inter- 
nationale Garantie  der  evangelischen  Einzelkirchen"  erstrebt. 
Leider  sollte  ihm  das  nicht  gelingen.  Vielmehr  trug  gerade  der 
Zwist  mit  der  Berner  Nachbarkirche  dazu  bei,  es  zwischen  der 
Genfer  Bürgerschaft  und  den  Predigern  zum  offenen  Konflikt  zu 
bringen.  —  Vergeblich  bemühte  sich  Calvin  gerade  mit  der  Berner 
Kirche  zur  Einigkeit  zu  kommen.  Nur  nach  Beratungen  mitein- 
ander solle  man  Neuerungen  vorbringen,  so  schreibt  er  Februar 
1537  an  einen  Prediger  zu  Bern  (O.  C.  10  b  S.  85.  Herminj.  4 
S.  187).  Auf  diese  Weise  würde  Uneinigkeit  zwischen  den  Kirchen 
zu  vermeiden  sein.  —  Aber  was  er  erstrebte,  das  war  Einigkeit  im 
Geist,  nicht  in  Äußerlichkeiten.  So  kann  er  am  Schluß  des  Vor- 
wortes des  Katechimus  von  1538  seinen  Amtsbrüdern  Frieden 
anraten  und  doch  zugleich  das  Drängen  auf  Gleichheit  des  Ritus 
tadeln.  Erst  recht  lehnt  Calvin  es  ab,  daß  einer  seine  Formeln  in 
der  Kirche  anderen  tyrannisch  aufzwingen  könne.  Das  trat  be- 
sonders im  Streite  mit  Caroli  zutage  (vergl.  O.  C.  10  b  S.  119. 
Herminj.  4  S.  281  ff.).  Deshalb  lehnt  er  auch  das  Athanasianische 
Symbol  ab,  weil  es  von  keiner  legitima  ecclesia  approbiert  sei 
(O.  C.  10  b  S.  84.     Herminj.  4  S.  183  ff.). 

Wenn  wir  dies  beachten  und  zugleich,  daß  den  Genfer  Predi- 
gern ein  weiteres  Nachgeben  dem  Staate  gegenüber  für  die  Kirche 
gefährlich  erschien,  so  wird  es  uns  verständlich,  wie  es  überhaupt 
bei  einer  verhältnismäßig  so  unwichtigen  Frage  wie  die  der  Berner 
Bräuche  zur  Katastrophe  kommen  konnte.  Die  Genfer  und  zumal 
Calvin  betonten  eben  die  Freiheit  der  Einzelgemeinde.  Dazu  kam 
noch,  daß  die  weltliche  Obrigkeit  die  Ehre  der  Kirche  verletzte. 
Und  so  glaubten  nun  die  Prediger  nicht  nachgeben  zu  können. 
Denn  das  war  es  gerade,  wofür  Calvin  besonders  besorgt  war,  daß 
er  nicht  die  Ehre  der  Kirche  und  damit  die  Gottes  preisgäbe. 
Deshalb  forderte  er  eine  Synode  der  eidgenössischen  evangelischen 
Theologen.  Dem  Urteil  dieser  als  einer  kirchlichen  Autorität 
wollte  er  sich  unterwerfen,  nicht  dem  Eigensinn  einer  Nachbar- 
kirche  oder  dem  Zwang  der  weltlichen  Obrigkeit. 

Da  man  in  Genf  den  Einspruch  der  Prediger  nicht  beachtete, 
so  erklärten  Farel  und  Calvin  am  21.  April  1538,  als  das  Abend- 
mahl auf  Befehl  des  Rates  nach  dem  neuen  Ritus  ausgeteilt  wer- 
den sollte,  „sie  würden  das  Abendmahl  nicht  austeilen  und  zwar 
nicht  um  des  Brotes  Willen,  denn  das  sei  eine  gleichgültige  Sache, 


Cilvinstudien. 


19 


2QO  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

die  in  der  Freiheit  der  Kirche  stehe,  sondern  weil  sie,  solange  das 
Volk  nicht  besser  disponiert  sei,  das  heilige  Mysterium  profanieren 
würden"  (Ratsprotokoll  vom  20.  und  21.  April  O.  C.  21).  Darüber 
kam  es  zum  Bruch.  Auch  in  Genf  behielten  zunächst  die  kirchen- 
politischen Grundsätze,  wie  sie  in  der  deutschen  Schweiz  gehand- 
habt  wurden,  den  Sieg. 

Die  Vertriebenen  suchten  auch  jetzt  durch  Vermittlung  der 
übrigen  Schweizer  Kirchen  ihre  Wiederherstellung  zu  erreichen. 
Die  Artikel,  die  sie  als  Grundlage  einer  Verständigung  der  am 
28.  April  in  Zürich  zusammentretenden  Synode  überreichten,  be- 
tonen, daß  die  Kirche  zuletzt  in  ihrem  Urteil  frei  bleiben  müsse 
(Herminj.  5  S.  3).  Vor  allem  fordern  sie  dann,  daß  für  Kirchen- 
zucht gesorgt  werde.  —  Wir  sehen  also  auch  hier  diese  beiden 
Punkte,  Unabhängigkeit  der  Kirche  und  Kirchenzucht,  zusammen 
hervortreten.  In  bezug  auf  die  letztere  heißt  es :  „in  dieser  Hin- 
sicht beschränken  wir  uns  jetzt  auf  die  allernotwendigsten  Forde- 
rungen. 1.  Einteilung  der  Stadt  in  Pfarren.  2.  Hinreichende  Ver- 
mehrung der  Zahl  der  Geistlichen.  3.  Wiederherstellung  des 
richtigen  Gebrauches  der  Exkommunikation,  in  der  Weise  wie 
wir  es  früher  angegeben  haben,  nämlich,  daß  der  Rat  für  die  ein- 
zelnen Stadtquartiere  tüchtige  Männer  ernenne,  die  mit  uns  ge- 
meinsam diese  Sorge  übernehmen.  4.  Daß  bei  der  Berufung  der 
Diener  des  Wortes  nicht  die  Handauflegung,  welche  den  Geist- 
lichen zusteht,  durch  die  Obrigkeit  beiseite  geschoben  werde"  (vergl. 
Cornelius  a.  a.  O.  S.  182  f.).  Auch  in  diesen  Einzelforderungen 
spiegeln  sich  klar  die  beiden  oben  aufgewiesenen  Tendenzen. 
Beachtenswert  ist  auch,  daß  gerade  bei  der  Einführung  der  Pre- 
diger die  Kirche  Selbständigkeit  besitzen  soll.  —  Aber  wie  voraus- 
zusehen, scheiterten  die  Verhandlungen.  Calvin  sollte  erst  in  der 
kleinen  Fremdengemeinde  zu  Straßburg  eine  vortreffliche  prak- 
tische Schule  durchmachen,  ehe  es  ihm  gelang,  auch  die  Genfer 
Kirche  mehr  nach  seinem  Ideal  zu  gestalten.  Bevor  wir  zu  einer 
zusammenfassenden  Besprechung  der  eben  behandelten  Zeit  über- 
gehen können,  müssen  wir  noch  einiges  von  bisher  nicht  be- 
handelten literarischen  Dokumenten  aus  dieser  ersten  Genfer  Zeit 
nachholen. 

b)  Literarisches  aus  jener  Zeit. 

Wahrscheinlich  ins  Jahr  1536  (oder  1537)  gehören  zwei  Briefe, 
die  Calvin  besonders  herausgegeben  hat  (O.  C.  5  S.  239  ff.).  Im 
ersten  spricht   er  sich   darüber   aus,   wie   sich   ein   Christ,   der  zur 


Von  cand.  theol.  Th    Werdermann. 


29i 


Erkenntnis  der  Wahrheit  des  Evangeliums  gekommen  ist  und  unter 
Anhängern  der  römischen  Kirche  wohnt,  zu  verhalten  habe.     Die- 
jenigen, die  zum  Dienst  am  Wort  berufen  sind,  müssen  öffentlich 
laut  Zeugnis  ablegen  (S.  244).    Die  anderen  sollen  zwar  sich  zurück- 
halten, müssen  aber  durch  ihr  ganzes  Leben  deutlich  kundwerden 
lassen,  daß  sie  Christen  sind.     So  soll  jede   christliche  Familie   in 
sich  eine  kleine  Kirche  darstellen  (S.  260).     In  dem  zweiten  Briefe 
handelt  er  davon,  ob  ein  Christ  in  der  priesterlichen  Papstkirche 
ein  Amt  bekleiden  könne.     Er  betont  dabei  die  hohe  Würde  des 
Amtes.     Aber  auch  hier  zeigt  sich,  daß   diese   Würde   nur  in   der 
Verwaltung  des  Wortes  liegt  (S.  285).     Indem  er  hier  Würde,  Auf- 
gabe und  Verantwortung  des  minister  so  sehr  hervorhebt,  beab- 
sichtigt Calvin  den  evangelisch  gesinnten  Bischöfen  in  Frankreich 
das  Gewissen  zu  schärfen,  daß  sie  mit  der  götzendienerischen  Papst- 
kirche brechen  und  ihre  ihnen  anvertrauten  Gemeinden  zu  Christus 
führen  (S.  295).     Das  ist  unbedingt  nötig,  da  die  Gemeinden  sich 
jetzt  im  Rachen  von  Wölfen  befinden.     In  der  römischen  Kirche 
ist   das   der  größte   Schaden,   daß   man  zuläßt,   daß   das  Volk   auf 
alles  mögliche  sein  Vertrauen  setze,  während  dies  doch  ganz  allein 
auf  Christus  gerichtet  sein  muß.     Atqui  istaec  erant  prima  exordia, 
quibus  ecclesiam  inchoare,  prima  fundamenta,  quae  ad  eam  aedi- 
ficandam  iacere  debuerant  (S.  298).  —  Diese  beiden  Briefe  geben 
also  Winke  für  die  Stellung  des  minister  sowie  für  die  Beurteilung 
der  römischen  Kirche. 

Das  wichtigste  literarische  Erzeugnis  dieser  Jahre  ist  aber  der 
wohl  im  letzten  Drittel  von  1536  verfaßte,  Anfang  1537  gedruckte 
Katechismus.1  In  ihm  ist  die  Stellung  der  Prädestinationslehre 
nicht  mehr  diejenige  der  Institutio  von  1536,  sondern  die  der 
späteren  Auflagen.  Also  ist  die  Lehre  von  der  Kirche  nicht  mehr 
so  eng  mit  ihr  verbunden  als  früher.  Daß  dadurch  aber  nicht  aus- 
geschlossen ist,  daß  die  Prädestination  eine  wichtige  Voraussetzung 
für  die  Lehre  von  der  Kirche  bleibt,  zeigt  schon  der  Umstand,  daß 
-sie  auch  hier  in  diesem  Zusammenhange  hervortritt.  Der  Glaube 
an  die  Kirche  soll  uns  das  Vertrauen  geben,  daß  alle  Erwählren 

1)  Das  seit  langem  vermißte  franz.  Original  des  Katechismus  von  1537 
wurde  durch  H.  Bordier  gefunden  und  1877  von  Rilliet  und  Dufour  heraus- 
gegeben. Von  ihnen  ist  der  Text  O.  C.  22  S.  25  ff.  abgedruckt.  Dazu  ge- 
hört im  ganzen  als  ein  Auszug  das  Glaubensbekenntnis  O.  C.  22  S.  85  ff. 
Die  Herausgeber  der  Opera  glauben  (22  S.  13  f.),  daß  der  Grundtext  des 
Bekenntnisses  von  Farel  herrühre.  Die  lateinischen  Texte  sind  bei  beiden 
Übersetzungen   Calvins,  die  sehr   genau  gearbeitet  sind. 

19* 


2Q2  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

durch  das  Glaubensband  verbunden  sind  zu  einer  Kirche  und  Ge- 
meinschaft, zu  einem  Volk  Gottes,  dessen  Führer,  Herrscher  und 
Haupt  Jesus  Christus  ist.  Heilig  ist  die  Kirche,  weil  alle,  die 
durch  Gottes  ewige  Vorsehung  erwählt  sind,  dazu,  daß  sie  Glieder 
der  Kirche  würden,  vom  Herrn  durch  die  geistliche  Wiedergeburt 
geheiligt  sind  (S.  57).  Der  Zusatz  la  communion  des  saincts  wird 
ausdrücklich  als  eine  sehr  klare  Erläuterung  dessen  bezeichnet, 
was  die  Kirche  sei.  In  der  Erklärung  tritt  aber  ohne  weiteres  an 
seine  Stelle  einfach  der  Ausdruck  communion  des  fideles.  Das  ist 
bezeichnend  dafür,  daß  es  Calvin  hierin  nicht  auf  eine  Betonung 
der  Heiligkeit,  sondern  der  Gemeinschaft  ankommt.  Im  ganzen 
sind  die  Ausführungen  dem  Sinne  nach  gleich  denen  der  Institutio 
von  1536.  Deshalb  möge  hier  nur  noch  erwähnt  werden,  wie  sehr 
Calvin  es  betont  (S.  70  f.),  daß  nach  Gottes  Willen  WTort  und 
Sakramente  durch  die  ministeri,  durch  menschlichen  Dienst  ver- 
waltet werden  müssen.  Ceulx  qui  mesprisent  ceste  discipline  et 
cest  ordre  sont  iniurieux  non  seulement  aux  hommes  mais  a  Dieu, 
et  mesme  corame  heretiques  se  retirent  de  la  societe  de  l'Eglise, 
laquelle  nullement  ne  peut  consister  sans  tel  ministre.  Es  ist  wohl 
mit  Sicherheit  anzunehmen,  daß  diese  Hervorhebung  der  Not- 
wendigkeit des  Amtes  hier  gerade  durch  die  Verhältnisse  in  Genf 
bedingt  ist,  gerade  auch  durch  das  oben  schon  erwähnte  Auftreten 
der  Täufer.  —  Es  fällt  uns  auf,  wieviel  Material  Calvin  in  diese 
einfache  Darlegung  der  christlichen  Lehre  hineingebracht  hat, 
zumal  daß  die  Exkommunikation  so  ausführlich  behandelt  wird. 
Dies  wird  noch  bemerkenswerter,  wenn  wir  darauf  achten,  wieviel 
—  sicherlich  nicht  gegen  Calvins  Willen  —  in  das  von  den  Gen- 
fern zu  beschwörende   Bekenntnis  aufgenommen   ist. 

Fragen  wir  uns  nun,  was  die  Untersuchung  der  Zeit  des  ersten 
Genfer  Aufenthalts  für  die  Erkenntnis  der  Lehre  Calvins  von  der 
Kirche  eingetragen  hat,  so  sind  es  wesentlich  folgende  Punkte. 

1.  Calvin  betont  den  Gemeinschaftscharakter  der  Kirche.  Und 
zwar  ist  sie  zunächst  eine  Gemeinschaft  des  Glaubens.  Darum 
fordert  Calvin  von  jedem  Einzelnen  das  Bekenntnis  und  ebenso 
auch  gemeinsame  Abendmahlsfeier.  Dann  aber  ist  die  Kirche  auch 
eine  Gemeinschaft  des  sittlichen  Lebens.  Um  dies  in  möglichster 
Reinheit  zur  Durchführung  zu  bringen,  fordert  Calvin  energisch 
die  Kirchenzucht. 

2.  Wichtig  ist  ihm  der  Gedanke  der  Einheit  für  die  Kirche. 
Sie  soll  aber  im  Glauben  und  in  der  Liebe  bestehen,  nicht  etwa  in 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermnnn.  2Q3 

äußerer  Uniformität.  Darum  will  er  einen  Zusammenschluß  der 
verschiedenen  Einzelkirchen  zu  einer  Synode.  Diese  hat  in  Lehr- 
st reit  i^keiten  nach  der  Schrift  ihr  Urteil  abzugeben;  hesonders 
aber  soll  sie  den  Einzelgemeinden  bei  ihren  Kämpfen  einen  Rück- 
halt geben.  Doch  soll  nicht  eine  Gemeinde  durch  die  anderen 
tyrannisiert  werden.  Calvin  betont  die  Selbständigkeit  der  ein- 
zelnen Gemeinden  den  anderen  gegenüber.  Nur  Gott  ist  unbedingt 
herrschend,  nicht  eine  menschliche  Autorität.  Darum  begrüßt  er 
es  auch  in  einem  Brief  an  Butzer  vom  Januar  1538  (O.  C.  10  b 
S.  138  f.  Herrn.  4  S.  338  ff.)  freudig,  daß  Luther  auch  sie  zu  seinem 
Bekenntnis  heranziehen  wolle,  sagt  aber  dabei  zugleich,  daß  man 
in  der  Kirche  nicht  allein  auf  Luther  schauen  dürfe.  —  Die  Einzel- 
kirche muß  innerlich  geordnet  sein  ;  vor  allem  hat  sie  das  ministe- 
rium  verbi  nötig.  In  der  Stellung  der  Träger  dieses  Amtes  tritt 
auch  das  anstaltliche   Moment  in  der  Kirche  hervor. 

3.  Das  wird  noch  verstärkt  durch  die  Aufgabe,  die  Calvin  dem 
Staate  gegenüber  der  Kirche  zuweist.  Die  weltliche  Behörde  hat 
auch  für  die  Übung  der  wahren  Religion  zu  sorgen.  Darum  for- 
dert er,  daß  der  Rat  allen  Bürgern  das  Glaubensbekenntnis  ab- 
nehme, daß  er  zur  Ausübung  der  Kirchenzucht  Deputierte  be- 
stimme. Auf  diese  Weise  erhält  die  zu  verwirklichende  Kirche 
starken  anstaltlichen  Charakter.  Jeder  Genfer  Bürger  muß  zu  ihr 
gehören.  Zugleich  erhält  das  ganze  Genfer  Gemeinwesen  die  Fär- 
bung der  Theokratie,  nicht  freilich  insofern,  als  ob  die  Prediger 
die  Herrschaft  in  Händen  haben  sollten.  Die  Theokratie,  wie  sie 
Calvin  verstand,  war  die,  daß  auch  die  Obrigkeit  sich  durch  Gottes 
Wort  als  das  oberste  Gesetz  leiten  lasse,  ja  daß  sie  mit  der  ihr 
verliehenen  Macht  Gott  und  seiner  Kirche  diene.  Darauf  ging  die 
Obrigkeit  von  Anfang  an  grundsätzlich  ein.  Aber  in  Wirklichkeit 
wurde  es  bald  anders.  Es  ist  ja  auch  zu  natürlich,  daß  sich  die 
Leiter  des  Staates  nicht  durch  Rücksicht  auf  Gottes  Ehre  und 
Gesetz  bestimmen  ließen,  sondern  durch  egoistische,  rein  irdische 
Interessen.  So  wurde  ihr  Herschenwollen  für  Calvin  um  so  un- 
erträglicher, je  mehr  sie  der  dem  Staat  gestellten  Aufgabe  gemäß  sich 
anschickten,  in  alle  kirchlichen  Verhältnisse  entscheidend  einzu- 
greifen. Denn  hier  kreuzte  sich  ihr  Streben  mit  der  Forderung 
Calvins,  daß  die  Kirche  in  der  Beurteilung  dessen,  was  wider  Gottes 
Ehre  sei,  frei  sein  müsse :  darum  forderte  Calvin  Selbständigkeit 
der  Kirche  der  Obrigkeit  gegenüber  bei  der  Übung  der  Kirchen- 
zucht und  ebenso  bei  der  entscheidenden  Bestimmung  derjenigen, 


2Q4  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 


die  Gottes  Wort  auszulegen  haben,  d.  h.  bei  der  Handauflegung  zur 
Einführung  in  das  Predigeramt.  Mit  beiden  Forderungen  ver- 
mochte er  nicht  durchzudringen. 

Fragen  wir  uns  nun,  wie  sich  das,  was  wir  aus  diesen  Unter- 
suchungen über  Calvins  Auffassung  von  der  Kirche  in  diesen 
Jahren  des  ersten  Aufenthaltes  in  Genf  erkannt  haben,  zu  seinen 
Darlegungen  in  der  Institutio  von  1536  verhält,  so  sehen  wir  zu- 
nächst, daß  Calvin  sein  dort  aufgestelltes  Ideal  in  die  Wirklichkeit 
umzusetzen  suchte.  Wir  konnten  in  seiner  Praxis  kein  Abweichen 
von  seiner  Theorie  feststellen.  Notgedrungen  muß  er  freilich 
Konzessionen  machen.  Aber  gerade  der  persönlichste  Inhalt  seiner 
Lehre,  die  stete  Rücksicht  auf  die  Ehre  Gottes,  tritt  beherrschend 
auch  in  seinem  Tun  hervor.  Wenn  nun  die  sichtbare  Seite  der 
Kirche  hier  stark  betont  wird,  so  liegt  darin  nicht  etwa  eine  Ände- 
rung seiner  Lehre.  Denn  gleichzeitig  finden  wir  ja  dort,  wo  sich 
ihm  Gelegenheit  bot,  im  Katechismus  und  Bekenntnis,  die  Kirche 
als  numerus  praedestinatorum  in  derselben  Weise  gewürdigt  wie 
früher.  Es  ist  sehr  verständlich,  daß  hier  in  dem  Kampf  um  die 
Ausgestaltung  der  sichtbaren  Kirche  mehr  denn  früher  das  Gewicht 
auf  die  äußere  Seite  der  Kirche  fällt. 

4.    Kapitel. 

Die  Zeit  des  Aufenthaltes  in  Deutschland. 

Mit  einer  völlig  gescheiterten  Hoffnung  im  Herzen  kam  Cal- 
vin nach  Straßburg.  Die  Zeit  seines  dortigen  Aufenthaltes  aber 
wurde  ihm  wohl  die  glücklichste  seines  Lebens.  Hier  fand  er 
Gelegenheit  zu  reichlichem  Austausch  und  freundschaftlichem  Ver- 
kehr mit  den  bedeutenden  Straßburger  Gelehrten.  Hier  hatte  er 
eine  kleine  Gemeinde,  die  er  in  verhältnismäßig  großer  Ruhe  und 
Freiheit  nach  seinem  Ideal  ausgestalten  konnte.  Hier  fand  er  auch 
die  von  ihm  so  sehr  ersehnte  Muße  zu  wissenschaftlicher  Arbeit. 
Durch  die  Beteiligung  an  den  Religionsgesprächen  zu  Frankfurt, 
Hagenau,  Worms  und  Regensburg  weitete  sich  sein  Blick  und  seine 
Erfahrung,  so  daß  diese  Jahre  wirklich  sehr  fruchtbar  für  ihn 
wurden.  „Calvin  war  ein  anderer  geworden,  als  er  sich  nach  drei 
Jahren  von  der  deutschen  Reichsstadt  verabschiedete",  sagt  Kamp- 
schulte a.  a.  O.  1,  S.  323,  der  aber  kurz  darauf  feststellt:  „er  war  — 
in  seiner  Grundrichtung  befestigt".  Es  muß  von  Wert  sein,  fest- 
zustellen, ob  diese  Einflüsse  auch  auf  seine  Lehre  von  der  Kirche 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  2')  5 

gewirkt  haben,  und  ob  er  etwa  mit  einer  neuen  theoretischen  Grund- 
lage zum  zweiten  Male  dann  in  Genf  an  die  Arbeil  ging. 

Zunächst  ist  wichtig  für  uns   seine  Tätigkeit  als    Pfarrer  der 

französischen  Emigrantengemeinde.1  Als  J lutzer  ihn  in  diese 
Stelle  berief,  lehnte  er  erst  ab  mit  der  Begründung,  Gott  habe  ihm 
gezeigt,  daß  er  zu  solch  einem  Amte  nicht  fähig  sei.  Bald  aber 
sollte  es  sich  herausstellen,  daß  er  hier  wirklieh  an  den  rechten 
Platz  gekommen  war.  Die  Verhältnisse  waren  sehr  günstig.  Die 
Gemeinde  war  gut  zu  übersehen.  Die  Obrigkeit  ließ  ihm  in  der 
fremden  Gemeinde  fast  freie  Hand.  In  der  Gemeinde  selbst  hatte 
er  nicht  mit  alten  Parteien  zu  kämpfen,  vielmehr  bestand  sie  weit- 
aus zum  größten  Teil  aus  Männern,  die  es  mit  dem  evangelischen 
Glauben  ernst  nahmen,  die  um  seinetwillen  selbst  die  Heimat  ver- 
lassen hatten.  Da  konnte  er  also  leicht  die  Forderungen,  mit  denen 
er  in  Genf  gescheitert  war,  zur  Durchführung  bringen,  allen  voraus 
die  Kirchenzucht.  Beachtenswert  ist  da,  daß  in  einem  aus  dem 
Jahre  1539  stammenden  Protokoll  über  die  Verhandlungen  in 
Straßburg  mit  Garoly  (O.  G.  10  b  S.  374  ff.),  das  auch  von  Butzer 
und  Calvin  unterschrieben  ist,  unter  die  Zeichen  der  wahren  Kirche 
als  drittes  auch  die  Zucht  aufgenommen  ist.  Es  würde  freilich 
zu  weit  gehen,  wenn  wir  daraus  zwingende  Schlüsse  für  Calvins 
Anschauung  ziehen  wollten.  Aber  wir  sahen  ja  auch  sonst  schon, 
wie  er  nicht  so  fern  von  dieser  Position  war.  Es  ist  wohl  ver- 
ständlich, wie  er  seine  Unterschrift  dazu  geben  konnte.  —  Auch 
die  in  Genf  unerfüllt  gebliebene  Forderung  der  monatlichen  all- 
gemeinen Feier  des  Abendmahls  führte  er  in  Straßburg  durch. 
Wieviel  ihm  daran  lag,  gerade  beim  Herrenmahl  die  Ehre  Gottes 
nicht  mit  Füßen  treten  zu  lassen,  erkennen  wir  aus  der  Einrichtung 
der  Einzelanmeldung  beim  Seelsorger.2  Wer  sich  dem  nicht  unter- 
zog, ward  ausgeschlossen.  Wohl  lehnten  sich  einige  Studenten 
gegen  diesen  „papistischen"  Zwang  auf.  Aber  Calvin  blieb  fest. 
„Ich  möchte  lieber,  daß  sie  alle  von  hier  fortgingen,  als  daß  sie 
blieben  und  die  Disziplin  dadurch  gefährdet  würde",  so  schreibt  er 
einmal    im     März     1540     (O.    C.    11     S.  31.      Herrn.    6    S.  198  ff.). 


1)  Vcrgl.  A.  Erichson,  l'Eglise  fran<,aisc  de  Strasbourg  etc.  Paris  1886 
u.  D.  calv.  u.  d.  altstraßburg.  Gottesdienstord.  Straßburg  1894.  —  E.  Stricker. 
J.  (.".  als   1.  Pfarrer  d.  ref.  Gem.  zu  Straßb.   1890. 

2)  Calvin  gibt  dafür  (O.  C.  n.  S.  41  Herrn.  6  S.  215  fr.)  drei  Gründe 
an:  1.  noch  Unwissende  zu  unterrichten.  2.  Die  besonderer  Ermahnung 
Bedürftigen  so  bei  sich  zu  haben.  3.  Die  im  Gewissen  Geängstigten  zu 
trösten. 


2  OD  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Dabei  fand  er  nicht  nur  die  Unterstützung  der  Obrigkeit,  sondern 
auch  die  seiner  Gemeinde,  besonders  die  seiner  trefflichen  Dia- 
konen. Ein  reges  religiöses  Leben  entwickelte  sich.  In  Armen- 
und  Krankenpflege,  besonders  auch  in  der  Abendmahlsfeier  be- 
tätigte sich  die  Gemeinschaft.  Der  sittliche  Zustand  war  dazu  an- 
getan, dem  Herrn  der  Kirche  Ehre  zu  machen.  Wir  merken  es 
Calvin  an,  wie  es  ihn  erhob,  daß  er  hier  die  Durchführbarkeit  und 
Vortrefflichkeit  seiner  Vorstellung  von  der  Kirche  erkannte.  Wir 
sehen  aber  auch,  wie  Calvins  Theorie  am  besten  für  eine  Freikirche 
paßte.  Denn  das  war  eigentlich  die  Straßburger  Fremdengemeinde ; 
wie  sich  die  Obrigkeit  nicht  in  die  inneren  Angelegenheiten  mischte, 
sagten  wir  schon ;  von  den  Gemeindegliedern  aber  konnte  jeder 
weiter  wandern,  dem  es  hier  nicht  paßte.  Jeder  trat  persönlich  der 
Gemeinde  bei ;  nicht  wurde  man  einfach  schon  durch  Staats- 
zugehörigkeit zu  ihrem  Mitglied.  Gerade  jetzt  verfocht  Calvin 
auch  mit  besonderem  Eifer  das  Recht  der  Kirche  den  Wieder- 
täufern gegenüber,  die  mit  Mißachtung  aller  äußeren  Vermittlungen 
auch  für  die  Ordnung  der  Gemeinde  das  freie  Wirken  des  Geistes 
betonten. 

Wichtig  sind  für  unser  Thema  auch  seine  Briefe  aus  der  Straß- 
burger Zeit,  die  uns  seine  Stellung  zur  Genfer  Kirche  zeigen. 

Zunächst  wollte  er  in  Genf  überhaupt  keine  Kirche  mehr  an- 
erkennen (vergl.  O.  C.  10  b  S.  247).  Seine  Anhänger  dort  sind  „die 
Überbleibsel  aus  der  Zerstreuung  der  Genfer  Kirche".  Ganz  be- 
sonders richtete  sich  sein  und  Farels  Groll  gegen  die  in  Genf  zu- 
rückgebliebenen und  die  neu  berufenen  Pfarrer.  Zu  diesen  mußten 
so  ihre  Anhänger  in  scharfen  Gegensatz  geraten.  Es  kam  soweit, 
daß  diese  beabsichtigten,  die  Abendmahlsgemeinschaft  mit  ihren 
Mitbürgern  grundsätzlich  aufzuheben.  Dadurch  wurde  dann  offen 
ein  Schisma  erklärt.  Vor  der  Ausführung  aber  fragten  sie  bei  den 
vertriebenen  Reformatoren  um  Rat  an.  Farels  Haltung  war  un- 
bestimmt. Calvin  aber  erklärte  sich  jetzt  in  Übereinstimmung  mit 
Capito  für  die  Aufrechterhaltung  der  Abendmahlsgemeinschaft, 
war  jedoch  dagegen,  daß  einer  seiner  Anhänger,  der  Schulleiter 
Saunier,  eine  Pfarrstelle  neben  den  „falschen  Hirten"  übernehme. 
Der  Brief  wurde  von  seinen  Anhängern  nicht  gerade  mit  Zu- 
stimmung aufgenommen  und  verhinderte  es  nicht,  daß  diese  am 
Weihnachtsfest  des  Jahres  1538  sich  vom  gemeinsamen  Abendmahl 
fernhielten.  Dadurch  wurde  die  Lage  in  Genf  sehr  kritisch.  Jeden- 
falls erkannten  jetzt  Farel  und  Calvin,  daß  es  sehr  nötig  sei,  in  der 


Von  cand.  theol.  Th .  Werdermann.  2()"] 


Genfer  Gemeinde  zur  Einheit  zu  raten.  So  geht  durch  all  di<- 
Briefe,  die  Calvin  dann  in  dieser  Angelegenheil  noch  geschrieben 
hat,  besonders  deutlich  die  Warnung  vor  Abtrennung  von  der  einen 
Kirche  hindurch.  Wohl  ist  erst  da  die  reine  Gestalt  der  Kirche, 
wo  der  Geist  Christi  so  herrscht,  daü  nur  Reines  und  Heiliges  von 
dort  ausgeht  (O.  C.  iob  S.  308.  Herrn.  5  S.  211  ff.).  Aber  wenn 
nun  auch  die  Glieder  mit  Krankheit  und  Fehlern  behaftet  sind,  so 
Kann  der  Leib  selbst  doch  seine  Gesundheit  bewahren.  Dann  aber 
muß  man  mit  dieser  Kirche  so  vereint  bleiben,  daß  man  ihr  Urteil 
als  das  Gottes  verehrt.  Calvin  möchte  niemals  die  Veranlassung 
sein,  daß  man  sich  von  einer  Kirche  lostrennte,  solange  dort  noch  Gott 
recht  verehrt  und  sein  Wort  gepredigl  wird  (S.  310).  —  Und  ebenso 
schreibt  er  an  Farel  (O.  C.  iob  S.323.  Herrn.  5  S.  247 ff.).  Wir  ersehen 
hier  klar,  daß  dasjenige,  was  das  Festhalten  an  einer  Kirchengemein- 
schaft erfordert,  vor  allem  die  Verkündigung  der  grundlegenden 
Lehre  ist.  So  sagt  Calvin  auch  in  dem  vorhin  angezogenen  Briefe 
(O.C.  iob  S.  309) :  dico  igitur  illic  esse  ecclesiam,  ubi  praedicatur 
doctrina  qua  velut  fundamento  suffulta  sustinetur.  Utcunque  etiam 
naevis  aspersa  sit  praedicatio,  mihi  satis  est  salvam  et  illibatam 
habere  fundamentalem  doctrinam,  quantum  ad  stabiliendum  eccle- 
siae  nomen,  Wenn  wir  hierbei  zugleich  beachten,  daß  Calvin  auf 
derselben  Seite  fordert,  daß  die  Gläubigen  dem  Evangelium  Christi 
und  seinen  Mysterien  Ehrfurcht  erweisen  und  sich  zu  der  Kirche 
halten  sollen,  wo  beides  noch  zu  finden  ist,  so  erhalten  wir  dadurch 
zugleich  eine  nicht  zu  übersehende  Inhaltsbestimmung  der  grund- 
legenden Lehre.  —  Eben  weil  Predigt  der  rechten  Lehre  und 
Sakramentsverwaltung  in  Genf  noch  vorhanden  ist,  ist  Calvin  davon 
überzeugt,  daß  dort  noch  die  Kirche  sei,  und  warnt  die  für  ihn  und 
Farel  Eifernden  vor  einem  Schisma  (O.  C.  iob  S.  354.  Herrn.  5 
S.  336  ff.).  In  demselben  Briefe  klagt  er  daher,  daß  ihn  nach  der 
großen  Katastrophe  nichts  so  sehr  betrübt  habe,  als  die  Kunde  von 
den  Zerwürfnissen  mit  seinen  Nachfolgern.  Ja,  jetzt  ist  es  ihm  auch 
klar,  daß  die  Berufung  der  jetzigen  Prediger  nicht  ohne  Gottes 
Willen  geschehen  sei,  der  Genf  auch  nach  der  Vertreibung  der 
rechten  Hirten  nicht  dem  Antichristen  wieder  zufallen  lassen  wollte. 
Auch  rindet  er  bei  ihrer  Berufung  jetzt  die  äußere  Ordnung  ge- 
wahrt, da  sie  ja  von  den  Pastoren  der  umliegenden  Gemeinden  ge- 
billigt worden  sei. 

Er  verlangt   nun  nicht  etwa,  daß  die   Gläubigen  die   Schäden 
der  Kirche  übersehen  sollten.     Auch   er  selbst  würde  jetzt   noch 


2ö8  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

ebenso  wie  früher  urteilen,  daß  er  nicht  ohne  Schändung  des  Sakra- 
mentes das  Abendmahl  unter  den  Genfern  austeilen  könne.  Aber 
deshalb  dürfen  sich  doch  die  Frommen  nicht  von  der  Gemeinschaft 
zurückziehen  (O.  C.  lob  S.  309.  Herrn.  5,  211  ff.).  Für  die  Ent- 
ehrung Gottes  dabei  tragen  nicht  sie,  sondern  die  Pfarrer  und  die 
Unwürdigen  die  Verantwortung;  überhaupt  ist  da  eine  Scheidung 
zwischen  Pfarrer  und  Gemeinde  zu  machen.  Jener  hat  bei  der 
Verwaltung  des  Sakramentes  auf  eigene  Verantwortung  zu  handeln 
und  nach  der  Würdigkeit  der  Empfangenden  zu  fragen,  nicht  so 
das  einzelne  Glied  der  Gemeinde.  —  Diese  Scheidung  wurde  Calvin 
zum  Vorwurf  gemacht.  Er  sagt  selbst,  das  habe  seine  Anhänger 
in  Genf  besonders  verstimmt  (O.  C.  10  b  S.  323.  Herrn.  5  S.  247  ff.). 
Leider  können  wir  nicht  den  mündlichen  Verhandlungen  lauschen, 
in  denen  er  seinem  Freunde  Farel  diesen  Punkt  leicht  erklären 
wollte.  Wir  können  nur  feststellen,  daß  er  hohe  Ehre  von  Gott 
denen  zugewiesen  sein  läßt,  die  er  in  seiner  Kirche  als  Hirten  und 
Diener  am  Wort  eingesetzt  hat  (O.  C.  10  b  S.  352.  Herrn.  5 
S.  336  ff.).  Wohl  hat  nun  die  Gemeinde  das  Recht,  die  Pastoren 
zu  prüfen  und  über  sie  zu  urteilen  (S.  353).  Aber  vor  allem  wenn 
gegen  Lehre  und  Leben  der  ministri  ein  Vorwurf  erhoben  wird, 
gilt  es  mit  aller  Vorsicht  zu  urteilen.  Wo  aber  von  den  Predigern 
die  grundlegende  Lehre  verkündet  und  die  Sakramente  verwaltet 
werden,  illic  et  substantia  ipsa  ministerii  a  domino  Jesu  Christo 
ordinati  viget,  et  legitima  dignitas  et  observantia  illi  ministerio  est 
deferenda  (O.  C.  10  b  S.  351).  Deshalb  erscheinen  Calvin  die 
jetzigen  Streitigkeiten  in  Genf  besonders  schlimm,  weil  dadurch 
nicht  nur  die  Kirche  dort  ganz  offen  zerrissen,  sondern  auch  das 
kirchliche  ministerium  selbst  Schmähungen  ausgesetzt  sei  (O.  C. 
10  b  S.  351.  Herrn.  5  S.  336  ff.). 

Wir  sehen,  wie  Calvin  durch  die  Macht  der  Verhältnisse  ge- 
drängt wird,  das  ministerium  zu  betonen.  Es  geschieht  das  nicht 
im  Gegensatz  zu  seiner  uns  schon  bekannten  Auffassung  von  der 
Kirche.  Vielmehr  erkennen  wir  auch  hier  die  Grundsätze  der  Inst. 
—  Selbst  bei  der  Scheidung  der  Pfarrer  von  den  anderen  Gemeinde- 
gliedern ist  das  der  Fall.  Und  durch  die  besonderen  Verhältnisse 
in  Genf  läßt  sich  die  stärkere  Betonung  und  weitere  Ausbildung 
dieses  Gedankens  wohl  erklären. 

Das  Interesse  für  seine  frühere  Gemeinde  zu  betätigen,  sollte 
Calvin  bald  noch  besondere  Gelegenheit  erhalten.  Im  Frühjahr 
1539  richtete  der  Kardinal  Sadolet  an  Rat  und  Bürgerschaft  von 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  2QQ 

Genf  ein  Sendschreiben,  durch  das  er  sie  unter  Hinweis  auf  die  seit 
dem  Abfall  von  der  römischen  Kirche  in  Genf  entstandenen  Un- 
ruhen zur  Umkehr  ermahnte  (Ü.  G.  5  S.  365  ff.).  Er  betonte  hierin 
die  Sicherheit  des  Heils  für  die  Glieder  der  katholischen  Kirche, 
während  eine  falsche  Relig'ion  nur  Verderben  mit  sich  bringe.  Er 
gesteht  zu,  daß  wohl  starke  sittliche  Verderbnis  in  der  römischen 
Kirche  zn  finden  sei ;  aber  die  Lehre  werde  dadurch  nicht  verletzt. 
Keinen  Unterschied  will  er  auf  dem  Gebiet  der  Lehre  zwischen 
der  gegenwärtigen  Kirche  und  der  der  ersten  Jahrhunderte  gelten 
lassen.  —  Wenn  Sadolet  sich  auf  das  Ansehen  der  Kirche  stützte, 
so  stellt  ihm  Calvin  in  seiner  Gegenschrift  Gottes  Wort  und  die  reine 
Kirche  der  ersten  Jahrhunderte  entgegen  (O.  C.  5  S.  393).  Zwei 
Feinde,  so  sagt  er,  sehe  er  sich  gegenüber,  den  Papst  und  die 
Wiedertäufer.  Bei  der  scheinbar  so  großen  Verschiedenheit  wäre 
es  doch  beiden  gemeinsam,  daß  sie  sich  über  das  Wort  Gottes,  das 
der  lydius  lapis  für  die  Bewährung  aller  echten  Lehre  sei,  hin- 
wegsetzten. Wenn  daher  Sadolet  von  der  Kirche  sagt,  sie  sei 
omni  anteacto  tempore,  ut  hodierno,  omni  in  regione  terrarum,  in 
Christo  una  et  consentiens,  uno  Christi  spiritu  ubique  et  semper 
direeta  (S.  392),  so  vermißt  Calvin  darin  die  Erwähnung  des  Wortes 
Gottes.  Darum  gibt  er  im  folgenden  Satz  eine  bessere  Definition : 
Nunc  si  definitionem  ecclesiae  tua  veriorem  reeipere  sustines,  die 
posthac,  societatem  esse  sanetorum  omnium,  quae  per  totum  orbem 
diffusa,  per  omnes  aetates  dispersa,  una  tarnen  Christi  doctrina  et 
uno  spiritu  colligata,  unitatem  fidei  ac  fraternam  concordiam  colit 
atque  observat.  Gerade  bei  dieser  Bestimmung  ist  zu  beachten, 
wie  der  katholischen  Lehre  gegenüber  klar  und  sicher  das  evan- 
gelische Verständnis  der  Kirche  als  einer  Gemeinschaft  heraus- 
tritt. Die  innere  Seite  der  Kirche  wird  hier  w-ieder  stärker  hervor- 
gehoben. Wir  sehen  also  auch  jetzt,  wie  diese  Seite  der  Lehre 
Calvins  nicht  etwa  unterdrückt,  sondern  höchstens  in  den  Aussagen, 
die  durch  die  Beziehung  auf  eine  zu  errichtende  und  zu  erhaltende 
äußere  Kirche  bedingt  sind,  zurückgestellt  worden  ist.  Aber  auch 
das  verdient  beachtet  zu  werden,  daß  die  Darlegungen  nicht  etwa 
von  dem  Gesichtspunkt  der  Unterscheidung  von  sichtbarer  und  un- 
sichtbarer Kirche  aus  orientiert  sind.  —  Mit  jener  Kirche  nun,  so 
erklärt  Calvin,  sind  die  Protestanten  nicht  zerfallen,  vielmehr  be- 
trachten sie  dieselbe  als  ihre  Mutter.  Wenn  Sadolet  ihnen  da  die 
Kirche  seit  1500  Jahren  entgegenhält,  so  hat  er  sehr  unrecht; 
denn  die  Reformatoren  wollen  ja  nichts  anderes,  als  endlich   die 


3°°  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 


wahre  Gestalt  jener  alten  Kirche  wiederherstellen.  Calvin  will 
sich  sogar  des  Vorteils  begeben,  die  apostolische  Kirche  gegen 
seine  Feinde  anzuführen,  die  eigentlich  allein  das  Beispiel  einer 
wahren  Kirche  ist.  Schon  wenn  man  nur  auf  die  Kirche  der  folgen- 
den Jahrhunderte  schaut  und  dabei  auf  die  Punkte  achtet,  in  denen 
die  Unverletzlichkeit  der  Kirche  besteht:  i.  Lehre,  2.  Zucht, 
3.  Sakramente  und  vielleicht  sogar  4.  die  Zeremonien,  die  das  Volk 
in  den  frommen  Pflichten  üben,  so  meint  Calvin  doch  für  sich  und 
seine  Glaubensgenossen  überall  mehr  den  Anspruch  erheben  zu 
können,  daß  sie  die  wahre  Kirche  seien.  Das  hindern  auch  nicht 
die  Änderungen,  die  von  ihnen  angenommen  sind.  Denn  bei  den 
Sakramenten  führen  sie  nur  zur  Reinheit  zurück.  Bei  den  Zere- 
monien sind  sie  nötig,  und  bei  der  Disziplin  können  sie  ihnen  von 
den  Römischen  nicht  vorgeworfen  werden  (S.  395).  Den  Mangel 
in  der  letzteren  bedauert  Calvin  selbst  sehr.  Disciplina  enim  non 
secus  ac  nervis,  corpus  ecclesiae,  ut  bene  cohaerent,  necesse  est 
colligari  (S.406).  —  Man  könnte  hier  darüber  stutzig  werden,  daß 
neben  Lehre  und  Sakramenten  als  ein  für  die  Kirche  wesentliches 
Moment  auch  die  Disziplin  aufgestellt  ist,  und  daß  halb  sogar  noch 
gewisse  Zeremonien  als  ein  solches  gerechnet  werden.  Jedoch  ist 
diese  Stelle  zu  einer  solchen  Bestimmung  gar  nicht  heranzuziehen ; 
denn  sie  ist  ganz  durch  die  Polemik  gegen  die  römische  Anschau- 
ung bestimmt  und  versetzt  sich  auf  den  Standpunkt  des  Gegners. 
—  Als  wichtig  muß  hier  noch  hervorgehoben  werden,  daß  für  Cal- 
vin die  apostolische  Kirche  als  maßgebend  gilt,  während  die  Kirche 
der  ersten  Jahrhunderte  nur  sekundäre  Bedeutung  hat.  Das  ganze 
Schreiben  Calvins  aber  schließt  mit  den  Worten:  Faxit  Dominus, 
Sadolete,  ut  tu  ac  reliqui  omnes  tui  aliquando  intelligatis,  non 
aliud  esse  ecclesiasticae  unitatis  vinculum,  quam  si  Christus  Do- 
minus, qui  nos  deo  patri  reconciliavit,  in  corporis  sui  societatem 
nos  ab  ipsa  dissipatione  recolligat :  ut  ita  uno  eius  verbo  ac  spiritu 
in  cor  unum  et  animam  unam  coalescamus.  Sehr  deutlich  wird 
hier  die  Einheit  der  Kirche  auf  die  Gemeinschaft  mit  Christus  zu- 
rückgeführt. 

Aus  ungefähr  derselben  Zeit  haben  wir  auch  wieder  eine  mehr 
systematische  Darstellung  von  Calvins  Lehre  in  der  1539  erschie- 
nenen zweiten  Ausgabe  seiner  Institutio. 

In  der  Anordnung  ist  jetzt  zu  erkennen,  daß  die  Institutio  auf 
dem  Wege  ist,  sich  zu  dem  systematischen  Meisterwerk  zu  ent- 
wickeln, das  sie  in  ihrer  letzten  Gestalt  darstellt.     Zunächst  freilich 


Von  cand.  theol.  Tb.   Werderin. um.  301 


wird  sie  dadurch  unübersichtlicher.  —  Uei  der  Erklärung  des  vierten 
Artikels  will  Calvin  jetzt  nur  berühren,  quae  fides  in  consolationis 
nostrae  usuni  proprie  speculari  debet  (O.  C.  i  S.  537  f. ).  Die  Prä- 
destinationwird auch  hier  jetzt  besonders  behandelt.  Wir  bemerkten 
aber  schon,  daß  eine  Beeinflussung  des  uns  vorliegenden  locus 
durch  jene  Lehre  deshalb  nicht  ausgeschlossen  ist.  Von  der  syste- 
matisierenden Weiterarbeit  Calvins  zeugt  es,  wenn  er  sagt,  bisher 
sei  die  materia  salutis  und  die  causa  efficiens  (S.  538)  dargelegt 
worden,  im  folgenden  sei  enthalten  effectus  ordine  suo,  quo  modo 
salus  —  in  hominibus  impleatur,  opus,  quod  in  nobis  est.  So  wird 
die  Kirche  als  das  Mittel  der  Heilsaneignung  gewürdigt.  Es  ist  das 
erste  Mal,  daß  dieser  für  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  so  wichtige 
Gesichtspunkt  deutlich  auftritt,  zunächst  ohne  viel  weiter  durch- 
geführt zu  werden. 

Nun  wird  auch  begründet,  warum  man  richtig  sage :  credere 
ecclesiam  nicht  in  ecclesiam;  die  Kirche  ist  eben  nicht  in  derselben 
Weise  wie  Gott  Gegenstand  des  Vertrauens.  Sie  glauben,  heißt 
vertrauen  auf  die  Einigung  aller  Erwählten  in  einem  Leibe  unter 
dem  Haupte  Christus  (S.  539).  Sie  ist  die  Mutter  aller,  die  zum 
ewigen  Leben  eingehen ;  sowohl  das  renasci  als  auch  das  conser- 
vari  geschieht  in  ihr.  Gottes  Wille  hat  alle  diese  Schätze  bei  ihr 
niedergelegt.  Solchen  Schwärmern  gegenüber,1  die  das  saneta 
schon  jetzt  verwirklicht  wissen  wollen,  zeigt  Calvin,  daß  die  Heilig- 
keit der  Kirche  erst  in  der  Entwicklung  stehe  (S.  540).  Jene  sind 
in  der  Gefahr,  die  Kirche  numeris  omnibus  absolutam  und  daher 
überhaupt  keine  zu  behalten  (S.  540  f.).  Nach  der  Hervorhebung 
der  sanetorum  communicatio  faßt  Calvin  dann  zusammen,  was  uns 
der  Glaube  an  die  Einheit  der  Kirche  und  an  unsere  Zugehörigkeit 
zu  ihr  gebe.  Tantum  potest  ecclesiae  partieipatio,  ut  nos  in  dei 
societate  contineat.  Die  Kirche  ist  ja  electa  segregataque,  cor- 
pus et  plenitudo  Christi,  columna  et  firmamentum  veritatis,  perpe- 
tuum  habitaculum  dei  vivi.  Daß  sich  unser  Glaube  auf  die  Kirche 
als  incognita  richtet,  setzt  seinen  Wert  nicht  herab. 

Hier  zuerst  tritt  dann  auch  klar  die  ecclesia  visibilis  hervor 
(S.  542).  Davon,  wie  wir  über  sie  zu  urteilen  haben,  will  Calvin 
jetzt  reden.     Gott  hat  nämlich  certis  notis  et  quasi  symbolis  seine 


1)  Demnach  ist  Köstlins  Bemerkung  (St.  u.  Kr.  a.  a.  O.  S.  36),  daß  Calvin 
durch  die  Kämpfe  mit  den  Anabaptisten  in  der  Ausgabe  von  1539  zur  Be- 
tonung der  Heiligkeit  der  Kirche  gedrängt  werde,  nur  insofern  richtig,  als 
er  jenen  gegenüber  das  richtige  Verständnis  der  Heiligkeit  betont.  Die 
starke  Forderung  der  Heiligkeit  war  ja  bei  Calvin  selbst  angelegt. 


^02  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Kirche  bezeichnet,  quatenus  ipsam  agnoscere  nostra  est.  Die  Sicht- 
barkeit wird  zunächst  in  der  schon  bekannten  Weise  eingeschränkt 
(S.  543) ;  dann  aber  kommt  es  freudig  heraus :  hinc  nascitur  nobis 
et  emergit  conspicua  oculis  nostris  ecclesiae  facies.  Rechte  Predigt 
des  Evangeliums  und  rechte  Sakramentsverwaltung  sind  die  notae 
ipsius  corporis,  d.  h.  des  Leibes  Christi.  In  der  Treue  Gottes,  der 
seine  Verheißung  erfüllen  wird,  liegt  die  Verbindung  zwischen  der 
unsichtbaren  und  sichtbaren  Seite  der  Kirche.  In  zwei  Stufen  will 
Calvin  bei  der  Bestimmung  der  sichtbaren  Kirche  vorgehen.  Zu 
oberst  steht  ihm  die  universa  ecclesia,  die  gesammelt  ist  aus  allen 
Völkern  und  in  der  einen  Wahrheit  der  göttlichen  Lehre  überein- 
stimmt. Es  muß  hier  die  große  christliche  Kirche  abgesehen  von 
allen  Lehreigentümlichkeiten  gemeint  sein,  die  den  obengenannten 
notis  entspricht  (S.  544).  Unter  dieser  universa  ecclesia  aber  stehen 
als  ihre  Teile  die  singulae  ecclesiae,  quae  oppidatim  et  vicatim,  pro 
necessitatis  humanae  ratione,  dispositae  sunt.  Und  una  quaeque 
nomen  et  autoritatem  ecclesiae  jure  obtineat.  Zu  diesen  gehören 
alle  die  einzelnen  Menschen,  die  pietatis  professione  dazu  gerechnet 
werden,  auch  die,  welche  in  der  Tat  der  Kirche  fremd  sind,  bis  sie 
durch  öffentliches  Urteil  ausgeschlossen  werden.  Hier  spiegelt 
sich  deutlich  Calvins  Stellung  zur  Genfer  Kirche,  besonders  wenn 
er  fortfährt,  eine  Gemeinschaft  müsse  man  jedenfalls  für  eine  Kirche 
halten,  wenn  sie  den  Dienst  am  Worte  und  die  Verwaltung  der 
Sakramente  noch  habe.  Auch  die  Hervorhebung  des  ministerium 
können  wir  erst  von  seiner  ganzen  Situation  aus  verstehen. 

Hier  sei  nur  noch  das  angeführt,  was  er  jetzt  über  die  Lehr- 
einheit sagt.  Als  doctrinae  capita,  die  nicht  erschüttert  werden 
dürfen,  bezeichnet  er:  unum  esse  deum,  Christum  deum  esse,  ac 
dei  filium ;  in  dei  misericordia  salutem  nobis  consistere  et  similia 
(S.  545).  Man  solle  sich  nicht  leichtfertig  von  einer  Kirche  trennen, 
in  der  diese  für  die  Frömmigkeit  grundlegende  Lehre  noch  ver- 
kündet werde.  Dadurch  ist  nicht  etwa  untersagt,  daß  man  das,  was 
sonst  in  Lehre  und  Leben  als  unrichtig  erscheint,  zu  beseitigen 
suche.  Doch  solle  man  da  geziemend  und  der  Ordnung  nach  ver- 
fahren, d.  h.  man  soll  nicht  auf  die  Gemeinschaft  der  Kirche  ver- 
zichten oder  in  ihr  Ordnung  und  Zucht  stören. 

Selbstverständlich  ist  es,  daß  die  disciplina  wieder  mit  Nach- 
druck als  notwendig  bezeichnet  wird  (S.  550).  Wenn  nun  Calvin 
sagt :  Sine  hoc  disciplinae  vinculo  qui  diu  stare  posse  ecclesias  con- 
fidnnt,  opinione  falluntur,  so  zeigt  dieser  Satz  gut  die  Stellung  der 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  3*^3 


diseiplina  dem  Wort  und  Sakrament  gegenüber.  Fehlen  diese, 
dann  ist  die  Kirche  überhaupt  nicht  mehr  da.  Fehlt  jene,  so  ist 
sie  nur  gefährdet.  —  Weiterhin  sind  die  Gedanken  der  ersten  Aus- 
gabe nur  ausgeführt  und  biblisch  mehr  begründet.  Wir  erkennen 
hierin  einerseits  den  Reflex  davon,  daß  gerade  auch  das  Problem 
der  Zucht  in  den  Zwischenjahren  an  Calvin  praktisch  herangetreten 
ist,  und  andererseits  die  Frucht  seines  fortgesetzten  Studiums. 

An  die  besprochenen  Schreiben  der  Zwischenzeit  werden  wir 
auch  erinnert,  wenn  dann  Calvin  Scheidung  vom  römischen  Papis- 
mus  verlangt,  weil  er  das  Wort  unterdrückt  und  aus  den  Sakra- 
menten Götzendienst  macht.  Ein  Vergleich  mit  dem  israelitischen 
Volk  soll  nachweisen,  daß  in  den  römischen  coetus  nur  profana 
conventicula  nicht  aber  die  Kirche  sei  (S.  557).  Und  doch  wie  einst 
dem  jüdischen  Volk,  so  sind  auch  der  römischen  Kirche  vestigia 
ecclesiae  von  Gott  gelassen,  nimirum  foedus  domini,  quod  est  in- 
violabilc,  et  baptismum,  sacramentum  foederis  (S.  560).  Zugleich 
ersehen  wir  hieraus  wieder,  daß  die  Kirche  auch  als  vor  Christi 
Erscheinen  auf  der  Erde  vorhanden  gedacht  wird.  Calvin  sagt  ein- 
mal später:  patrum  omnium  foedus  adeo  substantia  et  re  ipsa  nihil 
a  nostro  difrert,  ut  unum  prorsus  atque  idem  sit ;  administratio  tarnen 
variat  (S.  802).  Dieses  Verständnis  des  alten  Bundes  war  aber  nur 
möglich,  weil  Calvin  auch  in  ihm  schon  die  Wirksamkeit  Christi 
und  die  Erkenntnis  seiner  Versöhnerstellung  voraussetzte  (S.  630 
und  803). 

In  den  Ausführungen  de  potestate  ecclesiastica  weist  er  zunächst 
mit  denselben  Gedanken  wie  1536  die  römische  Tyrannei  zurück. 
Dann  aber  muß  er  solchen  gegenüber,  die  gar  keine  Ordnung  haben 
wollen,  die  nötige  Ordnung  auch  für  die  Kirche  verteidigen.  Wie 
in  jeder  menschlichen  Gemeinschaft,  so  ist  auch  besonders  in  der 
Kirche  Ordnung  nötig  (S.  1063).  Wer  diese  ihr  raubt,  nimmt  ihr 
den  Nerv.  Doch  muß  man  in  bezug  auf  die  der  Ordnung  dienen- 
den kirchlichen  Einrichtungen  beachten,  daß  man  sie  nicht  zum 
Heile  notwendig  erachte  oder  die  Frömmigkeit  in  ihre  Beobach- 
tung verlege.  Dies  eben  bildet  den  entscheidenden  Unterschied 
gegen  die  gottwidrigen  Festsetzungen  der  römischen  Kirche. 

Auch  in  den  Abschnitten  de  ordine  ecclesiastico  ist  der  Gegen- 
satz zu  Rom  vorherrschend  (S.  1081  ff.).  Zu  vermerken  wäre  höch- 
stens der  fromme  Wunsch,  der  Calvin  entfährt:  hätte  doch  heute 
noch  die  Kirche  solche  Diakonen,  denen  man  jene  heilige  Aufgabe 
(der  Armenpflege)  übertragen  könnte  (S.  1095). 


3O4  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Zum  Schluß  seien  aus  früheren  Abschnitten  dieser  Ausgabe 
nur  noch  einige  Bemerkungen  über  das  Verhältnis  von  Schrift  und 
Kirche  angeführt,  die  sich  auch  gegen  die  römische  Auffassung 
richten.  Falsch  sei  es,  daß  der  Schrift  erst  durch  die  Kirche  ihr 
Ansehen  verliehen  werde  (S.  292  f.)  Si  fundamentum  est  ecclesiae 
profetica  et  apostolica  doctrina,  suain  huic  certitudinem  ante  con- 
stare  oportet  quam  illa  exstare  incipiat.  —  Vanissimum  est  igitur 
commentum,  scripturae  judicandae  potestatem  esse  penes  ecclesiam 
(S.  294).  Damit  soll  aber  nicht  abgelehnt  sein,  daß  der  consensus 
ecclesiae  doch  auch  seine  Bedeutung  für  die  Auslegung  der  Schrift 
hat  (S.  299). 

Überschauen  wir  die  ganzen  Ausführungen  der  Institutio  von 
1539  zu  unserem  Thema,  so  finden  wir  den  Inhalt  und  die  Form 
in  Bewegung.  Es  sind  sicher  wesentlich  dieselben  Gedanken,  die 
wir  schon  in  der  ersten  Ausgabe  fanden.  Ich  wüßte  keine  Stelle 
anzugeben,  die  nicht  mit  dieser  in  Einklang  gebracht  werden 
könnte.  Aber  doch  ist  eine  gewisse  Verschiebung  eingetreten. 
Allein  schon  durch  die  Loslösung  der  Erwählungslehre,  die  ja  be- 
sonders für  die  innere  Seite  der  Kirche  wichtig  ist,  tritt  diese  selbst 
etwas  zurück.  Das  wird  dann  noch  verstärkt  durch  die  große  Zu- 
nahme des  Materials  gerade  für  die  sichtbare  Kirche,  wie  wir  es 
durch  die  ganzen  äußeren  Verhältnisse  Calvins  bedingt  fanden. 
Von  hier  aus  ist  es  auch  verständlich,  daß  Calvin  die  Bedeutung 
der  sichtbaren  Kirche  an  sich  stark  hervorhob,  wodurch  dann  auch 
die  klare  Scheidung  von  sichtbarer  und  unsichtbarer  Kirche  ver- 
anlaßt wurde.  Nicht  aber  werden  beide  voneinander  losgelöst; 
beide  Seiten  gehören  vielmehr  stets  zusammen.  Doch  wird  jetzt 
klarer  der  Unterschied  festgestellt  und  vor  allem  das  Recht  oder 
die  Notwendigkeit  der  sichtbaren  Kirche  mehr  gesichert.  Die 
nähere  Besprechung  des  Verhältnisses  soll  bei  der  systematischen 
Darstellung  der  Lehre   Calvins  stattfinden. 

Es  steigt  uns  dabei  noch  die  Frage  auf,  ob  sich  bei  der  Ver- 
schiebung in  Calvins  Lehre  nicht  auch  der  Einfluß  der  Theologen 
geltend  gemacht  hat,  deren  Umgang  er  in  Straßburg  genoß.  Es 
kommt  hauptsächlich  Butzer  in  Betracht.  Dieser  hatte  seit  den 
Jahren,  für  die  wir  ihn  früher  schon  ins  Auge  faßten,  in  seiner 
Theologie  und  gerade  auch  in  seiner  Lehre  von  der  Kirche  eine 
bedeutsame  Wandlung  durchgemacht  (vergl.  A.  Lang,  Evangelien- 
komm.  S.  289  ff.).  Von  seiner  Sakramentslehre  aus  war  diese  Um- 
wälzung vor  sich   gegangen,   deren   Ergebnis   wir   im   Kommentar 


Von  <  am],   theol.  Th.  Wcrdermann.  2)®5 

zum  Römerbrief  vor  uns  sehen.  Die  Sakramente  und  ebenso  das 
Wort  Gottes  sind  ihm  jetzt  zu  Gnadenmitteln  geworden.  Dadurch 
mußte  sich  auch  seine  frühere  Anschauung  von  der  Kirche  ändern. 
Sie  konnte  nicht  mehr  eine  bloße  Gemeinschaft  bleiben,  sondern 
wurde  zu  einer  Anstalt  zur  Erziehung  des  christlichen  Volkes.  Es 
ist  verständlich,  daß  jetzt  das  Amt  eine  ganz  andere  Bedeutung 
erhält  als  früher.  Doch  will  Butzer  selbstverständlich  nicht  etwa 
eine  Pastorenherrschaft  aufrichten.  Darum  stellt  er  eine  Reihe 
von  Kautelen  auf,  die  ein  gefährliches  Überwiegen  des  Amtes  hin- 
dern sollen  (vergl.  Lang  S.  301  ff.).  I.  Es  gibt  nicht  nur  ein  Amt 
in  der  Gemeinde,  sondern  verschiedene  entsprechend  der  Verschie- 
denheit der  Geistesgaben.  2.  Wenn  das  reine  Evangelium  gepredigt 
wird,  so  ist  es  ausgeschlossen,  daß  irgend  ein  Amtsträger  es  sich 
zuschreibe,  daß  er  das  Heil  wirke.  3.  Auch  sine  hominum  ministerio 
kann  Gott  ausnahmsweise  Menschen  zu  sich  ziehen.  Also  ist  das 
Amt  nicht  unbedingt  notwendig.  4.  Die  Tätigkeit  des  Ministers 
hat  für  sich  allein  keinen  Erfolg  zu  erwarten.  Dieser  hängt  viel- 
mehr allein  von  dem  inneren  Wirken  Gottes  ab.  5.  Die  ministri 
bedürfen  auch  jetzt  noch  einer  besonderen  göttlichen  Berufung.  — 
Durch  all  diese  Bestimmungen  wird  aber  doch  nicht  gehindert,  daß 
die  Macht  des  ministeriums  jetzt  bedeutend  stärker  hervortritt,  so 
z.  B.  bei  der  Sündenvergebung  durch  die  Kirche  (Lang  S.  304  f.). 
Auch  die  mit  Nachdruck  geforderte  Kirchenzucht  soll  den  Geist- 
lichen eine  stärkere  Einwirkung  auf  die  Gemeinde  ermöglichen 
(Lang  S.  307,  vgl.  S.  312). 

Nun  ist  es  ja  möglich,  daß  für  die  Betonung  des  Amtes  bei 
Calvin  auf  Butzers  Einfluß  zurückzugehen  wäre.  Doch  sahen  wir 
ja  gerade  dieses  Moment  bei  Calvin  selbst  wohl  begründet.  Und  in 
der  Abzielung  der  Zucht  auf  eine  Verstärkung  der  seelsorgerlichen 
Einwirkung  der  ministri  folgte  Calvin  dem  Straßburger  Reformator 
nicht ;  ihm  galt  sie  auch  weiterhin  als  eine  Gemeindeordnung  zur 
Aufrechterhaltung  der  Ehre  des  Herrn. 

In  einem  Streben  aber  war  Calvin  vor  allem  eines  Sinnes  mit 
Butzer.  Dieser  ist  ja  fast  berüchtigt  durch  seine  Vermittlerstellung, 
in  der  er  mit  Aufopferung  für  eine  Einigung  besonders  der  evan- 
gelischen Kirchen  untereinander  eintrat.  In  der  Fähigkeit,  seine 
Anschauung  auch  zu  wandeln,  um  eine  Einigung  zustande  zu 
bringen,  war  Calvin  ihm  freilich  nicht  gleich,  um  so  mehr  aber  in 
dem  aufrichtigen  Streben  nach  Einheit.  Das  zu  zeigen,  fand  er 
während    seines   Aufenthaltes   in    Deutschland   immer   wieder   Ge- 

Calvinstudien. 


-3  OÖ  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 


legenheit,  vor  allem  auch  bei  seiner  Beteiligung  an  den  Religions- 
gesprächen. 

In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  Calvins  Schrift:  Con- 
silium  admodum  paternum  Pauli  III  etc.  (O.  C.  5  S.  253  ff.).  Frei- 
lich ist  da  die  Betonung  der  Herrscherstellung  Christi  in  der  Kirche 
durch  den  Gegensatz  zum  Papsttum  bedingt,  doch  gilt  sie  ohne 
Zweifel  auch  abgesehen  von  diesem  Gegensatz.  Jedenfalls  liegt  für 
Calvin  jetzt  hier  der  Hauptpunkt  des  Streites  mit  der  römischen 
Kirche.  Christusne  an  pontitex  romanus  supremum  caput  ecclesiae, 
summus  princeps,  sapientia  justitia  spesque  unica  salutis  haberi 
debeat,  id  caput  est  omnium  controversiarum  (S.  474).  Calvin  er- 
klärt es  als  die  Hauptsache,  daß  die  Christen  Christo  insiti  seien. 
Von  da  aus,  daß  Christus  in  allem  herrschen  solle,  wird  sich  das 
übrige  von  selbst  regeln.  Denselben  Gedanken  der  Herrschaft 
Christi  in  der  Kirche  finden  wir  hier  noch  oft,  z.  B.  S.  476,  488. 
Eben  darin  liegt  ihm  auch  die  Möglichkeit  der  Einheit  der  Kirche 
(S.  474,  vergl.  470).  —  Auch  die  Forderung  der  Zucht,  und  zwar 
unter  Beteiligung  von  Laienältesten  an  ihrer  Ausübung  wird  nicht 
vergessen.  Monstrum  erit,  si  disciplinam  erigant  Germani  — .  in 
hunc  usum  ministros  et  seniores  habeat  ecclesia  (S.  493). 

Bei  den  verschiedenen  Religionsgesprächen  ist  Calvin  auch 
längere  Zeit  mit  Melanchthon  zusammengewesen  und  ihm  dabei 
sehr  nahe  gekommen  (vergl.  A.  Lang,  Melanchthon  und  Calvin. 
Reform.  Kirchenz.  1897  und  Doumergue  Bd.  2).  Ein  Einfluß 
Melanchthons  gerade  auf  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  wäre  be- 
sonders deshalb  bedeutsam,  weil  in  jenen  Jahren  1537 — 1540  eine 
weitere  Entwicklung  von  Melanchthons  Lehre  eben  auch  mit  Be- 
zug auf  die  Kirche  vor  sich  ging.  Melanchthon  litt  sehr  unter  der 
Zersplitterung  der  Kirche;  so  kehrte  er  all  dem  Subjektivismus 
gegenüber,  der  sich  ihm  vor  allem  bei  den  Anabaptisten  und  Frei- 
geistern wie  gerade  auch  bei  Servet  entgegenstellte,  die  anstaltliche 
Bedeutung  der  Kirche  hervor.  Die  doctrina  als  theologischer 
Lehrbegriff  wird  zu  einem  wesentlichen  Merkmal  der  wahren  Kirche. 
Neben  dem  Worte  Gottes  wird  auch  der  Kirche  besonders  für  die 
Auslegung  der  Schrift  eine  Autorität  zugewiesen.  Und  schließlich 
wird  der  Begriff  der  unsichtbaren  Kirche  vollständig  verworfen  und 
nur  eine  sichtbare  anerkannt  (vergl.  A.  Ritschi,  Entstehung  der 
lutherisch.  Kirche.  Ges.  Aufs.  I  S.  170  ff.).  Nun  könnte  man 
meinen,  daß  in  der  später  uns  noch  häufiger  begegnenden  Betonung 
der  doctrina  und  ebenso  in  der  Bezeichnung  der  Kirche  als  einer 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  $07 

schola  bei  Calvin  sich  die  Nachwirkung  Melanchthons  zeige-.  Aber 
das  erste  finden  wir  schon  früher  bei  Calvin,  und  das  zweite  ei 
sich  zu  leicht  von  einer  Hervorhebung  der  doctrina  her,  wobei  noch 
zu  beachten  ist,  daß  Calvin  die  Kirche  besonders  als  schola  Christ i 
kennt.  So  glaube  ich  nicht,  daß  wir  hierin  Einwirkungen  Melanch- 
thons erblicken  müssen,  zumal  nicht,  wenn  wir,  wie  bei  der  syste- 
matischen Untersuchung  gezeigt  werden  soll,  bei  Calvin  doch  eine 
andere  Wertung  von  beiden  finden  als  bei  Melanchthon. 

Der  Römerbrief kommentar  von  1540  und  der  Traicte  de  la 
sainte  cene  von  1541,  die  auch  noch  der  Straßburger  Zeit  an- 
gehören, bieten  für  unser  Thema  nichts  besonders  Beachtenswertes. 

Überschauen  wir  diese  ganze  Epoche,  so  erkennen  wir,  wie 
die  frühere  Lehre  Calvins  von  der  Kirche  sich  weiter  entwickelt 
und  zwar  besonders  mit  Rücksicht  auf  die  äußere  Seite  der  Kirche. 
Die  ganzen  Verhältnisse,  in  denen  Calvin  stand,  drängten  ihn 
dahin.  Die  Gedanken  über  die  unsichtbare  Seite  der  Kirche  treten 
zurück,  bleiben  aber  als  wichtige  Grundlage  bestehen.  Die  Ent- 
wicklung, in  der  sich  die  Lehre  von  der  Kirche  befindet,  hat  aber 
einen  klaren  Abschluß  noch  nicht  erreicht.  Gerade  für  die  prak- 
tische Gestaltung  der  sichtbaren  Kirche  finden  wir  manchen  wich- 
tigen Gesichtspunkt  wohl  aufgestellt,  aber  noch  nicht  durchgeführt. 
Dafür  sehen  wir  uns  auf  die  Zeit  des  Neuaufbaues  der  Genfer 
Kirche  verwiesen. 

5.  Kapitel. 

Die  Zeit  des  Neuaufbaues  der  Genfer  Kirche. 
Calvin  hat  es  zur  Bedingung  seiner  Rückkehr  nach  Genf  ge- 
macht, daß  eine  neue  Kirchenordnung  eingeführt  werde.  Am 
liebsten  hätte  er  die  Neuordnung  der  Genfer  Gemeinde  mit  Unter- 
stützung der  Nachbarkirchen  vorgenommen.  So  wäre  dieses  Werk 
als  ein  von  der  Gemeinschaft  der  Kirche  ausgehendes  charakteri- 
siert gewesen  und  hätte  dem  Staate  gegenüber  eine  größere  Selb- 
ständigkeit und  eine  Gewähr  für  die  Zukunft  erhalten.  Vergl. 
O.  C.  11  S.  231,  Herrn.  7  S.  137  ff.  Das  konnte  Calvin  jedoch 
nicht  durchsetzen.  Aber  am  13.  September  1541  sogleich,  als  er 
zum  ersten  Male  wieder  vor  den  Genfer  Rat  trat,  forderte  er  nun 
die  Einsetzung  eines  Ratausschusses,  der  in  Gemeinschaft  mit  den 
Geistlichen  eine  Kirchenordnung  entwerfe.  Darüber  schreibt  er 
selbst  wenige  Tage  hernach  an  Farel :  Ubi  operam  meam  senatui 
detuli,  exposui  non  posse  consistere  ecclesiam,  nisi  certum  regimen 

20* 


oo8  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

constitueretur,   quäle   ex  verbo   dei  nobis   praescriptum   est,   et   in 
veteri  ecclesia  fuit  observatum  (O.  C.  n  S.  281  f.,  Herrn.  7  S.  249  f.). 

II  y  a  quatre  ordres  d'offices  que  nostre  Seigneur  a  institue 
pour  le  gouvernement  de  son  eglise,  so  beginnt  der  am  26.  Sep- 
tember dem  Rat  vorgelegte  Entwurf  (O.  C.  10  a  S.  15).  Es  handelt 
sich  um  die  Bestimmungen  über  die  Leitung  der  Kirche.  Da  ist  es 
verständlich  und  darf  nicht  zu  weitgehenden  Schlüssen  veranlassen, 
wenn  mit  der  Bezeichnung  der  Leiter  begonnen  wird,  wie  es  weiter- 
hin natürlich  ist,  daß  unter  den  vier  Klassen  derselben  die  Pastoren 
an  erster  Stelle  stehen.  Außer  ihnen  werden  Doktoren,  Älteste 
und  Diakonen  aufgezählt  (S.  16).  Die  Aufgabe  der  Pastoren  wird 
dann  dahin  bestimmt,  daß  sie  das  Wort  Gottes  zu  verkündigen, 
die  Sakramente  zu  verwalten  und  außerdem  brüderliche  Ermah- 
nungen in  Gemeinschaft  mit  den  Ältesten  vorzunehmen  haben 
(S.  17).  Sie  müssen  regelrecht  berufen  werden ;  dazu  gehört  das 
Examen  der  Lehre  und  des  Lebens,  die  Einsetzung,  die  nach  dem 
Brauch  der  alten  Kirche  durch  die  Prediger  geschehen,  durch  den 
Rat  bestätigt  und  durch  die  Gemeinde  gutgeheißen  werden  muß. 
Um  Reinheit  und  Einheit  der  Lehre  zu  bewahren,  sollen  allwöchent- 
lich Konferenzen  stattfinden.  Bei  Meinungsverschiedenheiten  unter 
den  Pastoren  sind  zunächst  die  Ältesten  hinzuzuziehen.  Im  Not- 
falle muß  die  Sache  vor  den  Rat  gebracht  werden  (S.  18).  Die 
Sittenzucht  gegen  einen  Pfarrer  soll  durch  die  Kollegen  und  die 
Ältesten  geschehen,  vom  Rat  bestätigt  und  ausgeführt  werden 
(S.  19  f.). 

Die  Wahl  der  doctores  soll  nicht  ohne  die  Einwilligung  der 
Pastoren  durch  den  Rat  geschehen.  Die  Aufgabe  der  Ältesten 
beschränkt  sich  auf  die  in  Gemeinschaft  mit  den  Predigern  zu 
geschehende  Ausübung  der  Zucht.  Bestimmt  werden  sollen  sie 
vom  Rat  nach  Anhörung  der  Prediger.  Das  Amt  der  Diakonen 
wird  mit  den  städtischen  Ämtern  zur  Armen-  und  Krankenpflege 
identifiziert.  Es  folgen  dann  Bestimmungen  über  die  Sakramente, 
die  Ehe,  das  Begräbnis,  Besuch  von  Kranken  und  Gefangenen, 
Unterricht  der  Kinder  und  schließlich  über  die  Zucht  in  der  Ge- 
meinde. Diese  richtet  sich  hier  wie  bei  den  Predigern  auf  Glaube 
und  Leben,  wird  von  Predigern  und  Ältesten  ausgeübt  und  führt 
nötigenfalls  zu  einer  Anzeige  an  den  Rat. 

Vergegenwärtigen  wir  uns,  was  Calvin  während  seines  ersten 
Aufenthaltes  in  Genf  im  Jahre  1537  und  dann  im  Frühjahr  1538 
bei  den   Verhandlungen  der   Züricher   Synode   forderte,    und    auch. 


Von  cand.  thcol.  Th.  Werdennann.  3^*9 

das,  was  er  inzwischen  besonders  in  der  Inslitntio  von  1539  als  für 
eine  rechte  Kirche  notwendig  aufstellte,  so  scheint  es  ihm  jetzt 
zu  gelingen,  das  Wesentliche  seiner  Forderungen  durchzusetzen. 
Vor  allem  die  heißerstrebte  Kirchenzucht  ist  aufgenommen.  Frei- 
lich ist  die  Art,  wie  sie  eingeführt  werden  soll,  eine  andere  ge- 
worden, als  sie  vor  vier  Jahren  gefordert  wurde.  Der  Entwurf 
von  1537  zeigte  gerade  hier,  daß  sein  Verfasser  noch  wenig  prak- 
tische Erfahrung  besaß.  Die  Zuchtgehilfen  waren  als  unselb- 
ständige persönliche  Helfer  eines  Pfarrers  gedacht,  wobei  auch 
unbestimmt  blieb,  wer  eigentlich  die  Exkommunikation  auszu- 
sprechen habe.  Jetzt  soll  ein  aus  Predigern  und  Ältesten  zusam- 
mengesetztes Kollegium  das  Recht  der  Zucht  und  im  besonderen 
auch  der  Exkommunikation  erhalten.  Gerade  hierin  zeigt  sich 
auch  ein  Ertrag  seines  Aufenthaltes  in  Deutschland.  In  Ulm  war 
schon  1531  unter  Butzers  Einfluß  die  Zuchtübung  durch  ein  Kol- 
legium von  zwei  Predigern  und  vier  Ratsherren  eingeführt  worden. 
Melanchthon  beantragte  im  Sommer  1541  auf  dem  Reichstage  zu 
Regensburg,  wo  ja  auch  Butzer  und  Calvin  zugegen  waren,  es 
sollten  in  den  deutschen  Bistümern  Richterkollegien  aus  Geist- 
lichen und  Weltlichen  gebildet  werden,  welche  die  kirchlichen 
Angelegenheiten  beaufsichtigen  und  besonders  die  Exkommuni- 
kation ausüben  sollten.  Bei  Calvin  sehen  wir  deutlich  diesen  Ein- 
fluß schon  in  der  S.  254  angeführten  Stelle  aus  dem  consilium  ad- 
modum  paternum  etc. 

Ein  Punkt  aber,  den  Calvin  bei  der  Züricher  Synode  ausdrück- 
lich betonte,  ist  in  den  Entwurf  von  1541  gar  nicht  aufgenommen: 
die  Forderung,  daß  die  Prediger  durch  die  Handauflegung  in  ihr 
Amt  eingeführt  werden  sollen.  Es  wird  im  Entwurf  anerkannt, 
daß  das  ein  Brauch  der  ersten  Kirche  gewesen  sei.  Wegen  der 
Gefahr  des  Aberglaubens  aber  soll  er  jetzt  nicht  eingeführt  werden. 
Vielmehr  ist  der  Prediger  nach  seinem  der  Obrigkeit  geleisteten 
Schwur  im  Besitz  seines  Amtes.  Diese  Begründung  kann  nicht 
von  Calvin  herrühren ;  denn  er  fordert  in  seinen  Schriften,  wie 
vorher  so  auch  nachher,  weiter  die  Handauflegung.  Sie  muß  also 
wohl  durch  die  Ratsmitglieder  in  der  Kommission  hineingebracht 
worden  sein.  Aber  die  Begründung  verfängt  auch  eigentlich  nicht. 
Durch  Farel  war  in  Neuenburg  schon  die  Handauflegung  ein- 
geführt. Zudem  was  hätten  durch  die  Handauflegung  für  aber- 
gläubische Vorstellungen  geweckt  werden  können?  Doch  wohl 
nur  solche,  durch  die  das  Ansehen  der  Prediger  gehoben  worden 


•2  I  o  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

wäre.  Wahrscheinlich  ist  bei  der  Ablehnung  der  Handauflegung 
das  Bestreben  der  Obrigkeit  wirksam  gewesen,  die  Kirche  mög- 
lichst abhängig  von  sich  zu  halten. 

Schon  der  Entwurf  zeugt  an  manchen  Stellen  davon,  wie  eifrig 
die  Obrigkeit  über  die  Macht,  die  sie  auch  in  kirchlichen  Angelegen- 
heiten sich  angeeignet  hatte,  wachte.  Noch  klarer  aber  erkennen 
wir  das  aus  den  Abänderungen,  die  dann  am  Entwurf  noch  vor- 
genommen wurden.  Alle,  mit  Ausnahme  einer,  die  der  Ordnung 
der  Abendmahlsfeier  galt,  beziehen  sich  auf  die  Frage  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Kirche  und  Staat.  Calvin  wollte  der  Kirche 
möglichst  große  Selbständigkeit  geben.  Dem  entgegen  war  das 
Bestreben  der  staatlichen  Gewalt  gerichtet.  Klar  ersichtlich  ist 
diese  Tendenz  auch  darin,  daß  der  Rat  im  Entwurf  hinter  der  Be- 
zeichnung Älteste  stets  „Verordnete  des  Rats"  einsetzte.  Die  ein- 
schneidendste und  für  die  Zukunft  wichtigste  Bedeutung  hatte  aber 
die  Änderung  bei  dem  Artikel  über  die  Disziplin.  Dort  wurde 
ohne  sonstige  Streichungen  und  Zusätze  am  Schluß  einfach  hinzu- 
gefügt :  Item  nous  avons  ordonne  que  lesdictz  ministres  nayent  a  ce 
atribuy  nulle  juridiction,  mes  seullement  doybjent  aoyr  les  parties 
et  fere  les  remonstrances  susdictes.  Et  sus  leur  relation  pourrons 
adviser  de  fere  le  jugement  selon  lexigence  du  cas  (O.  C.  ioa  S.  29 
Anm.  8).  Der  Entwurf  hatte  unzweifelhaft  der  Zuchtbehörde  das 
Urteil  zugeschrieben.  Durch  den  Zusatz  des  Rates  kam  ein  Wider- 
spruch in  die  Bestimmungen,  weil  die  Obrigkeit  sich  hier  selbst 
das  Urteil  vorbehielt.  Das  war  natürlich  gerade  am  entscheiden- 
den Punkt  der  Meinung  Calvins  entgegen.  Kein  Wunder,  daß  sich 
Calvin  dem  entgegenstellte  und  in  der  schließlich  angenommenen 
Fassung,  in  der  sonst  an  mehreren  Punkten  das  Recht  der  Obrig- 
keit wieder  noch  mehr  betont  wird,  gerade  hier  seine  Auffassung 
durchsetzte.  Der  obige  Schlußsatz  wird  jetzt  durch  folgende  Aus- 
führungen ersetzt:  Et  que  tout  cela  se  face  en  teile  sorte  que  les 
ministres  naient  nulle  iurisdiction  civile  et  ne  usent  sinon  du  glaive 
spirituel  de  la  parolle  de  Dieu  comme  sainct  Paul  leur  ordonne, 
et  que  par  ce  consistoire  ne  soit  en  rien  derogue  a  l'auctorite  de 
la  seigneurie  ne  a  la  iustice  ordinaire.  Mais  que  la  puissance  civile 
demeure  en  son  entier.  Et  mesmes  011  il  sera  besoing  de  faire 
quelque  punition  ou  contraindre  les  parties,  que  les  ministres  avec 
le  consistoire  aiant  ouy  les  parties  et  faict  les  remonstrances  et 
admonitions  telles  que  bon  sera,  ayent  a  raporter  au  conseil  le  tout, 
lequel   sur  leur  relation  advisera   den  ordonner   et   faire   iugement 


Von  cand.  throl.  Th.  Werdormann.  T.  \  I 

selon   lexigence   du   cas   ((  >.   C.    ioa   S.  30  Anm.  1).      Diese   Sätze 

enthalten  eine  Verwahrung  gegen  einen  Eingriff  des  Konsistoriums, 
welcher  Name  übrigens  hier  zuerst  auftaucht,  in  die  ordentliche 
Gerichtsbarkeit  der  Obrigkeit.  Nicht  aber  sind  in  ihnen  die  vor- 
hergehenden Bestimmungen  aufgehoben.  So  hat  sie  Calvin  immer 
wohl  mit  Recht  verstanden.  Aber  klar  war  dieser  Abschnitt  nicht. 
Besonders  die  letzten  Worte  konnten  von  der  Obrigkeit  leicht 
weiter  ausgedehnt  werden,  als  sie  gemeint  waren.  Und  das  ge- 
schah auch  recht  bald. 

Sein  Ideal  ganz  durchzusetzen,  ist  Calvin  nicht  gelungen. 
Einigemal  wird  hervorgehoben,  daß  die  vorliegenden  Bestimmungen 
nur  wegen  der  gegenwärtigen  Verhältnisse  so  erlassen  würden. 
Calvin  schreibt  einmal  an  seinen  Freund  Farel :  Yaleat  proverbium, 
quando  non  fit  quod  volumus,  velimus  quod  possumus  (O.  C.  1 1 
S.  348  ff.,  Herrn.  7  S.  357  ff.  Vergl.  auch  O.  C.  11  S.  363  ff.,  Herrn.  7 
S.  408  ff.).  Zur  Charakteristik  Calvins  ist  das  zu  beachten.  Wir 
sehen,  wie  er  sich  anch  in  Zeiten  des  Triumphes  selbst  an  solchen 
Punkten,  die  für  ihn  wichtig  waren,  bescheiden  konnte.  —  Freilich 
war  ihm  ja  viel  zu  gewinnen  gelungen.  Die  Sittenzucht  war  be- 
schlossen. Gerade  hier  an  der  wichtigsten  Stelle  sollte  die  Kirche 
selbständig  sein.  Auch  sonst  waren  der  Kirche  manche  Rechte 
zugestanden,  so  daß  vor  allen  Dingen  kein  Prediger  ihr  wider  ihren 
Willen  aufgezwungen  werden   konnte. 

In  den  Ordonnances  tritt  uns  eigentlich  nur  die  äußere  Seite 
der  Kirche  entgegen.  Doch  versteht  sich  das  bei  dem  Zweck  der 
Ordonnances  von  selbst. 

Bevor  wir  auf  die  Institutio  von  1543  eingehen,  haben  wir 
wesentlich  noch  auf  den  Katechismus  von  1542  zu  achten.  Einige 
andere  kleine  literarische  Überreste  jener  Zeit  übergehen  wir,  da 
sie  nichts  Wichtiges  für  unser  Thema  beibringen.  Der  Katechismus 
liegt  uns  freilich  auch  in  der  wahrscheinlich  ursprünglichen  fran- 
zösischen Fassung  nur  in  einer  Ausgabe  von  1545  vor.  Aber  wir 
dürfen  ihn  wohl  schon  hier  heranziehen,  da  die  späteren  Ausgaben 
kaum  geändert  sind,  und  es  daher  wohl  gestattet  ist.  darauf  zu 
schließen,  daß   anch  der  von    1545  ein  unveränderter  Abdruck   ist. 

Hier  wird  gesagt,  daß  der  vierte  Teil  des  Glaubensbekennt- 
nisses handele  de  l'Eglise,  et  des  graces  de  Dien  envers  icelle 
(O.  C.  6  S.  13).  Später  wird  dann  die  Kirche  definiert  als  la  com- 
pagnie  des  fkleles  que  Dien  a  ordonne  et  eleu  a  la  vie  eternelle 
(S.  39).     Dieser  Artikel  muß  notwendig  geglaubt  werden,   si   nous 


312  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

ne  voulons  faire  la  mort  de  Jesus  Christ  oysive,  et  tout  ce  qui  a 
desia  este  recite :  car  le  fruict  qui  en  procede,  est  l'Eglise.  Bisher 
war  gesprochen  worden  von  der  Ursache  und  dem  Grund  des 
Heils,  jetzt  handelt  es  sich  um  1'efret  et  l'accomplissement  de  tout 
cela,  pour  en  donner  meilleure  certitude.  Die  Kirche  ist  also  das 
Ziel  der  ganzen  Heilsveranstaltung.  Über  unser  persönliches  Heil 
hinaus  führt  uns  der  Glaube  zur  Heilsgemeinde.  Nicht  etwa  als 
eine  vor  den  Einzelnen  bestehende  Institution  ist  hier  die  Kirche 
gefaßt.  Nur  im  Glauben  an  das  Heil  des  Einzelnen  ist  auch  der 
Glaube  an  die  Kirche  ermöglicht.  Das  gemeinschaftliche  Moment 
ist  natürlich  auch  besonders  betont  bei  der  Erläuterung  der  „Ge- 
meinschaft der  Heiligen"  (S.  39).  —  Die  Erklärung  des  „heilig"' 
sehen  wir  auch  hier  auf  Gottes  und  Christi  Ehre  abzielen. 

Die  Kirche  nun,  von  welcher  diese  Aussagen  gemacht  werden, 
wird  nicht  schlechtweg  als  unsichtbar  bezeichnet.  Aber  ohne 
Zweifel  ist  hier  diese  Seite  des  Begriffes  gemeint,  die  das  innere 
Wesen  der  Kirche  ins  Auge  faßt.  Das  geht  deutlich  hervor  aus 
folgendem  Satz:  II  y  a  bien  Eglise  de  Dieu  visible,  selon  qu'il 
nous  a  donne  les  enseignes  pour  la  cognoistre :  mais  il  est  icy 
parle  proprement  de  la  compaignie  de  ceux  que  Dieu  a  eleu  pour 
les  sauver :  laquelle  ne  se  peut  pas  pleinement  voir  ä  l'oeil  (S.  41). 
Aus  dieser  Stelle  geht  auch  deutlich  hervor,  daß  es  nach  Calvin 
eine  schlechthin  unsichtbare  Kirche  nicht  gibt,  höchstens  eine,  die 
nicht  ganz  sichtbar  ist.  Diese  aber,  die  ihrem  Wesen  nach  eine 
compaignie  ist,  ist  besonders  Gegenstand  des  Glaubensbekennt- 
nisses. —  Sehr  zu  beachten  ist  das,  was  Calvin  hier  von  dem  Be- 
kenntnis zur  „Vergebung  der  Sünden"  sagt.  Dieses  stehe  hinter 
dem  zur  Kirche,  pource  que  nul  n'obtient  pardon  de  ses  pechez, 
que  premierement  il  ne  soit  incorpore  au  peuple  de  Dieu,  et  per- 
severe  en  unite  et  communion  avec  le  corps  de  Christ :  et  ainsi 
qu'il  soit  vray  membre  de  l'Eglise.  Klingt  das  nicht  ganz  so,  als 
stehe  über  dem  Einzelnen  diese  Institution  der  Kirche,  der  sich 
eben  der  Einzelne  unterwerfen  muß,  wenn  er  anders  an  dem  Heil 
teilhaben  will  ?  Gewiß !  Nur  darf  man  das  nicht  so  verstehen, 
als  werde  den  Menschen  durch  eine  über  ihnen  stehende  von  ihnen 
abtrennbare  Anstalt  das  Heil  vermittelt.  Was  ist  denn  diese  Kirche 
anders  als  die  Gemeinschaft  der  Erwählten?  Mißverständlich  ist 
der  obige  Satz  meines  Erachtens  nur  wegen  des  Wortes  premiere- 
ment. Wenn  man  das  preßt,  so  könnte  es  scheinen,  als  ob  es 
nach  Calvin  vorher  eine  Zugehörigkeit  zum  Leib  Christi  gebe  und 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  3^3 

dann  erst  irgendwie  später  die  Aneignung  der  Vergebung  der 
Sünde.  Das  würde  aber  verkehrt  sein.  Der  Ausdruck  premiere- 
ment  ist  sicherlich  durch  polemische  Rücksicht  auf  solche,  die  sich 
irgendwie  von  der  Kirche  abtrennen,  hierher  geraten.  Das  müssen 
wir  bei  der  später  zu  erfolgenden  zusammenfassenden  Erörterung 
dieser  und  ähnlicher  Stellen  beachten.  —  Dafür,  daß  man  auch  bei 
Calvin  nicht  einzelne  Ausdrücke  und  Bilder  pressen  darf,  sei  darauf 
hingewiesen,  daß  gerade  hier  im  Katechismus  die  Bezeichnung 
entree  in  der  Kirche  oder  ins  Himmelreich  einmal  (S.  107)  für  das 
Wort  Gottes  und  ein  anderes  Mal  (S.  115)  wieder  für  die  Taufe 
gebraucht  wird. 

Nicht  lange  nachdem  Calvin  die  Genfer  Kirche  neu  geordnet 
hatte,  erchien  auch  wieder  eine  stark  umgearbeitete  Ausgabe  seiner 
Institutio.  Diese  Ausgabe  von  1543  zieht  gewissermaßen  das  Re- 
sultat aus  den  Arbeiten  und  Kämpfen  der  letzten  Jahre  und  ist 
für  unser  Thema  von  großer  Wichtigkeit, 

Das  achte  Kapitel,  in  dem  enthalten  ist  quartae  partis  symboli 
expositio  ubi  de  ecclesia,  beginnt  jetzt  mit  dem  Satze:  Primum  ea 
breviter  dicemus  quae  ad  simplicem  verborum  enarrationem  facere 
videbuntur,  quae  scilicet  fides  in  consolationis  nostrae  fruetum 
proprie  speculari  debet :  deinde  pleniorem  de  ecclesia  disputationem 
ordiemur  (O.  C.  1  S.  537  Anm.  2).  Wir  sehen  aus  diesem  Satze, 
daß  sich  also  Calvin  selbst  dessen  wohl  bewußt  war,  daß  die  ersten 
Ausführungen  über  die  Seite  der  Lehre  von  der  Kirche,  die  all 
dem  Niederdrückenden  der  Wirklichkeit  gegenüber  Trost  geben 
könnte,  d.  h.  über  die  „unsichtbare"  Kirche  nur  recht  kurz  sind, 
zumal  im  Verhältnis  zu  den  weitläufigen  Abschnitten,  die  von  der 
Gestaltung  der  sichtbaren  Kirche  handeln.  Aber  nichtsdestoweniger 
fällt  doch  nach  Calvin  für  den  Glauben  eben  hierauf  das  Haupt- 
gewicht. Daß  diese  Seite  der  Kirche  es  zunächst  nur  ist,  auf  die 
der  Glaube  sich  bezieht,  die  andere  aber  nicht  in  gleichem  Maße, 
sondern  nur  abgeleitet,  das  ersehen  wir  auch  aus  dem  größeren 
Zusatz,  den  Calvin  jetzt  beim  Übergang  auf  die  sichtbare  Kirche 
einfügt  (S.  542).  Hier  stellt  er  zunächst  klar  einen  zweifachen 
Sprachgebrauch  der  Heiligen  Schrift  nebeneinander.  Zunächst 
versteht  sie  nämlich  unter  Kirche  diejenige,  quae  revera  est  coram 
deo,  zu  der  nur  filii  dei,  nur  vera  Christi  membra  gehören.  Dann 
greift  sie  über  die  jetzt  Lebenden  zurück  bis  zum  Anfang  der 
Welt.  —  Oft  aber  bezeichnet  die  Schrift  auch  als  Kirche  universam 
hominum  multitudinem  in  orbe  diffusam,  quae   unum  se   deum  et 


3  I  4  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Christum  colere  profitetur.  Hierbei  richtet  sich  also  der  Blick  auf 
die  jetzt  lebenden  Menschen  und  ihr  Bekenntnis.  Nachdem  Calvin 
dann  noch  in  kurzen  Zügen  diese  charakterisiert  hat,  sagt  er  zum 
Schluß:  quemadmodum  ergo  nobis  invisibilem,  solius  dei  oculis 
conspicuam  ecclesiam  credere  necesse  est,  ita  hanc,  quae  respectu 
hominum  ecclesia  dicitur,  observare,  eiusque  commuionem  colere 
iubemur.  Für  die  sichtbare  Kirche  wird  also  nur  gefordert,  daß 
man  sie  achte  und  ihre  Gemeinschaft  pflege.  Hier  finde  ich  auch 
zuerst  den  Ausdruck  ecclesia  invisibilis,  der  gleich  erläutert  wird 
durch  den  Zusatz :  solius  dei  oculis  conspicua.  —  Wichtig  ist  auch, 
daß,  wie  aus  dem  jetzigen  Anfang  und  Schluß  des  folgenden  Ab- 
schnittes (S.  542,  9)  hervergeht,  die  notae  als  Zeichen  des  Leibes 
Christi,  nicht  nur  als  solche  der  wahren  sichtbaren  Kirche  an- 
gesehen werden.  —  Dafür  daß  auch  in  der  sichtbaren  Kirche  das 
Moment  der  Gemeinschaft  notwendig  ist,  geben  die  Zusätze  auf 
Seite  547  ff.  einen  Beweis,  in  denen  Calvin  solchen  gegenüber,  die 
die  Kirche  als  Gemeinschaft  der  Heiligen  herstellen  wollen,  auf 
die  Gemeinschaft  gerade  auch  beim  Abendmahl  den  Ton 
legt.  Das  Recht  der  Trennung  von  der  römischen  Kirche  aber 
begründet  er  damit,  daß  in  ihr  nicht  mehr  Gottes  Wort  gehört 
werde  und  infolgedessen  auch  Christus   nicht   mehr  der   Herr  sei 

(S.  554  ff-)- 

Im  weiteren  redet  Calvin  von  der  Ordnung,  wie  nach  Gottes 
Willen  die  Kirche  regiert  werden  soll  (S.  561  ff.).  Das  ministerium 
hat  Gott  dazu  eingesetzt  als  vicaria  opera,  als  instrumentum. 
Warum  er  gerade  menschliche  Vermittlung  braucht,  dafür  gibt 
Calvin  eine  Reihe  von  Gründen  an.  Es  liegen  nämlich  darin  für 
uns  1.  eine  Anerkennung  der  Würde  der  Menschheit;  2.  ein 
Beweis  unserer  göttlichen  Bestimmung;  3.  eine  Übung  unserer 
Demut  und  4.  ein  Ansporn  zur  Liebe  und  Einigkeit.  Das  führt  zu 
einer  hohen  Wertung  des  ministeriums :  es  ist  der  praeeipuus  ner- 
vus,  quo  fideles  in  i.ino  corpore  cohaereant  (S.  562). 

Jetzt  rinden  wir  die  verschiedenen  Ämter  nach  Paulus  auf- 
gezählt, d.  h.  zunächst  nur  die  Diener  am  Wort  (S.  563  f.).  Von 
diesen  sind  drei,  Apostel,  Propheten,  Evangelisten,  nur  für  die 
Anfangszeit  der  Kirche,  zwei  dagegen,  Pastoren  und  Doktoren,  auf 
die  Dauer  gegeben.  Die  Aufgabe  der  Pastoren  wird  in  der  be- 
kannten Weise  bestimmt.  Ihre  Verantwortung  ist  eine  sehr  große. 
Die  Inhaber  des  ministeriums  aber  nennt  Calvin  mit  der  Schrift 
episcopos,  et  presbyteros,  et  pastores,  et  ministros  (S.  566). 


Von  cand.  theol.  Th.  "Werdermann.  3^5 

Im  Römerbrief  und  im  i.  Brief  an  die  Corinthcr  führe  der 
Apostel  aber  noch  andere  Ämter  an,  ut  potestates,  donum  sana- 
tionum,  interpretationem,  gubernationem,  pauperum,  curationem. 
Die  nur  für  Zeit  gegebenen  Ämter  lälit  er  beiseite  und  spricht  nur 
von  der  gubernatio  et  cura  pauperum.  Die  erstere  ist  den  aus 
dem  Volk  erwählten  Ältesten  übertragen,  qui  censurae  morum  et 
exercendae  diseiplinae  una  cum  episcopis  praeessent.  Die  cura 
pauperum  steht  den  diaconis  zu,  die  in  zwei  Klassen  zerfallen, 
solchen,  die  die  Almosen  verwalten,  und  solchen,  die  Arme  und 
Kranke  pflegen   (S.  567). 

Da  nun  besonders  in  sacro  coetu  alles  ordentlich  zugehen  muß, 
so  muß  der  minister  vor  allem  rite  vocatus  sein.  Die  arcana 
vocatio  ist  vorausgesetzt.  Für  die  solemnis  vocatio  der  äußeren 
Kirche  gibt  es  keine  feste  Vorschrift  ex  apostolorum  institutione. 
Aber  doch  kommt  Calvin  zu  dem  Schluß :  habemus  ergo,  esse  haue 
ex  verbo  dei  legitimam  ministri  vocationem  ubi  ex  populi  con- 
sensu  et  approbatione  creantur,  qui  visi  fuerint  idonei  (S.  571).  — 
Der  Ritus  ordinandi  schließlich  ist  nach  dem  Vorbilde  der  ersten 
Kirche  die  Handauflegung. 

Im  weiteren  wendet  sich  Calvin  auf  dem  Grunde  geschicht- 
licher Untersuchungen  gegen  die  Ansprüche  des  Papsttums 
(S.  571  ff.).  Ihm  gegenüber  weist  er  darauf  hin,  daß  Christus  allein 
das  Haupt  der  Kirche  sei  (S.  601).  —  Auch  die  römische  Auf- 
fassung der  potestas  ecclesiae  verwirft  er.  Soweit  sie  die  Lehre 
angeht,  faßt  er  seine  Meinung  darüber  in  folgendem  Satz  zu- 
sammen :  porro  aedificandac  ecclesiae  una  haec  ratio  est :  si  ministri 
ipsi  suam  Christo  autoritatem  conservare  Student,  quae  salva 
aliter  esse  11011  potest  quam  si  id  ei  relinquatur,  quod  a  patre 
aeeepit :  nempe  ut  sit  unicus  ecclesiae  magister  (S.  628).  So  ist 
also  die  Macht  der  Kirche  auch  auf  diesem  Gebiete  verfaßt  in  dem 
Worte  Gottes  (S.  630).  Christus  ist  unser  Lehrer  (S.  632).  Und 
wenn  die  Römischen  sagen,  der  Kirche  an  sich  stehe  solche  Macht 
zu,  weil  sie  nie  von  Christus  ihrem  Bräutigam  verlassen  werde,  so 
gilt  das  ebenso  von  jedem  Einzelnen  (S.  634).  Eben  deshalb  hat 
sie  ja  auch  nur  all  diese  Gaben,  weil  die  Einzelnen  sie  halten. 
(S.  635).  Auch  Konzile  will  Christus  allein  leiten,  ohne  einen 
Menschen  an  dieser  Ehre  teilnehmen  zu  lassen.  Tunc  autem 
demum  praesidere  dico,  ubi  totum  consensum  verbo  et  spiritu  suo 
moderatur  ('S.  639).  Doch  ist  eine  Synode  wahrer  Bischöfe  das 
beste  Mittel,  um  bei  Streitigkeiten  über  die  Auslegung  der  Schrift 


■2  I  6  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

zu  einer  Einigung  zu  kommen.  —  Sodann  spricht  Calvin  von  dem 
zweiten  und  wichtigsten  Teil  der  kirchlichen  Gewalt,  der  jurisdictio 
oder  morum  disciplina  (S.  647).  Wie  jede  Stadt  Obrigkeit  und 
Ordnung  haben  muß,  so  muß  auch  die  Kirche  Gottes  ihre  geist- 
liche politia  haben.  Diese  ist  aber  von  der  bürgerlichen  gänzlich 
verschieden,  hindert  und  mindert  diese  nicht,  stützt  und  fördert 
sie  vielmehr.  Jetzt  findet  Calvin  in  I.Tim.  5,  17  zweierlei  Pres- 
byter erwähnt,  solche,  die  am  Worte  dienen,  und  solche,  die  ohne 
Wortverkündigung  die  Kirche  leiten  (S.  648).  —  Wenn  Calvin  sich 
dabei  gegen  solche  wendet,  die  meinen,  daß  diese  Einrichtung  nur 
solange  Zweck  gehabt  habe,  als  die  Obrigkeit  keine  christliche 
gewesen  sei,  und  diesen  gänzliche  Verkennung  des  Unterschiedes 
zwischen  beiden  Gewalten  der  kirchlichen  und  der  bürgerlichen 
vorwirft,  so  scheint  er  sich  damit  gegen  Lutheraner  und  Zwing- 
lianer,  vielleicht  auch  gegen  Widersacher  in  Genf  zu  wenden.  Die 
Kirche  hat  keine  Zwangsmittel,  sondern  erstrebt  nur,  ut  volimtaria 
castigatione  poenitentiam  profiteatur  (S.  648).  Auch  erklärt  es 
Calvin  nicht  für  natürlich,  daß  die  Kirche  diejenigen,  welche  ihren 
Ermahnungen  nicht  folgen  wollen,  dem  Magistrat  mitteilte.  Das 
wäre  aber  der  Fall,  wenn  der  Staat  an  die  Stelle  der  Kirche  trete 
(S.  649).  Vielmehr  müsse  die  Kirche  ihre  spiritualis  iurisdictio 
stets  behalten ;  darauf  komme  es  an,  daß  sie  die  weltliche  nicht  be- 
schränke oder  sich  mit  ihr  vermische.  Zu  einer  richtigen  Durch- 
führung der  iurisdicitio  aber  sind  zwei  Bedingungen  aufzustellen : 
1.  sie  darf  nicht  mit  der  obrigkeitlichen  Strafgewalt  vermischt  wer- 
den ;  2.  sie  soll  nicht  durch  einen  Einzelnen,  sondern  durch  ein 
gesetzliches  Kollegium  ausgeübt  werden.  —  Bei  all  diesen  Aus- 
führungen sehen  wir  klar  die  Genfer  Verhältnisse  vor  uns  und  er- 
kennen auch,  daß  wir  oben  richtig  die  Punkte  herausgestellt  haben, 
auf  die  es  Calvin  vor  allem  ankam.  —  Für  die  Ausübung  der 
disciplina  nun  teilt  Calvin  die  Kirche  in  duos  ordines  praecipuos : 
clerum  scilicet  et  plebem.  Daß  hinter  der  Bezeichnung  clerus 
nicht  etwa  irgend  eine  katholische  Exemption  oder  Betonung  des 
Amtscharakters  sich  versteckt,  sagt  gleich  der  nächste  Satz : 
Clericos  appello  usitato  nomine,  qui  publico  ministerio  in  ecclesia 
funguntur  (S.  658).  Für  sie  wird  die  Zucht  noch  verschärft  (S.  671). 
—  Über  die  allgemeine  Zucht  heißt  es  nun,  wie  die  rettende  Lehre 
Christi  die  Seele  der  Kirche  sei,  so  sei  die  Zucht  gleich  den  Nerven, 
die  bewirken,  daß  die  Glieder  richtig  untereinander  zusammen- 
hängen.    Sie  wird  von  Calvin  auch  bezeichnet  als  fraenum.  stimu- 


Von  cand.  thcol.  Th.  Werdermann.  0^7 


lus,  paterna  ferula  (S.  658).  In  ihrer  ganzen  Ausgestaltung  ist  die 
Zucht  optimum  —  et  sanitatis  subsidium  et  fundamentum  ordinis 
et  vinculum  imitatis  (S.  659).  Für  ihre  Ausübung  aber  erscheint 
es  ihm  nach  des  Paulus  Worten  richtig,  wenn  nicht  die  Ältesten 
allein  vorgehen,  sondern  mit  Zustimmung  und  Wissen  des  Volkes : 
in  eum  scilicet  modum,  ut  plebis  multitudo  non  regat  actionem, 
sed  observet  ut  testis  et  custos,  ne  quid  per  libidinem  a  paucis 
geratur  (S.  662).  Aber  wie  überhaupt  in  der  Kirche,  so  soll  auch 
hier  Liebe  herrschen  (S.  662  f.).  Wie  sehr  Calvin  aber  auch  vor- 
her die  Notwendigkeit  der  Zucht  betont  hat,  so  fordert  er  doch 
wieder,  daß  weder  ein  Glied  sich  von  einer  Kirche  trenne,  noch 
auch  ein  Pfarrer  sein  Amt  aufgebe,  weil  in  der  Gemeinde  die  Zucht 
nicht  durchgeführt  werde. 

Wenn  wir  diese  Ausgabe  der  Institutio  mit  der  vorhergehen- 
den vergleichen,  so  fällt  uns  vor  allem  auf,  wie  stark  jetzt  die 
sichtbare  Kirche  der  nur  kurz  erwähnten  unsichtbaren  gegenüber 
in  den  Vordergrund  tritt.  Wrir  haben  schon  oben  darauf  hinge- 
wiesen, wie  das  nicht  etwa  als  ein  Maßstab  für  die  Wartung  beider 
Seiten  für  Calvin  verwandt  werden  dürfe.  Wie  es  kommt,  daß  er 
jetzt  die  sichtbare  Kirche  so  stark  berücksichtigt,  ist  uns  wohl  ver- 
ständlich. Man  könnte  höchstens  darüber  verwundert  sein,  daß  er 
in  seinen  Auseinandersetzungen  mit  der  römischen  Kirche  nicht 
mehr  von  dem  Gedanken  der  unsichtbaren  Kirche  ausgeht.  Aber 
zunächst  liegt  das  doch  oft  unausgesprochen  zugrunde ;  dann  aber 
handelt  es  sich  hier  doch  eben  darum,  das  Recht  einer  sichtbaren 
Kirche  im  Gegensatz  zur  römischen  darzutun. 

Jetzt  wird  auch  öfter  als  früher  zur  Begründung  für  die  äußere 
Organisation  der  Kirche  auf  die  Bibel  und  die  erste  Gemeinde  ver- 
wiesen. Wenn  aber  Kattenbusch  einmal  sagt  (J.  C.  Jahrb.  f. 
deutsche  Theol.  1878  S.  364  f.),  daß  Calvin  durch  „die  scharfe  Aus- 
prägung der  Lehre  von  der  Schrift,  in  der  die  Schrift  gewisser- 
maßen als  ein  Codex  betrachtet  wird  —  am  meisten  zu  seiner 
mechanischen  Auffassung  von  der  Vorbildlichkeit  der  alttestament- 
lichen  Theokratie  und  besonders  auch  der  apostolischen  Gemeinde 
gekommen"  sei.  ,,die  sein  Verhalten  als  praktischer  Reformator 
so  wesentlich  bestimmt  hat",  so  wird  genauere  Beobachtung  zeigen, 
daß  nicht  das  Schriftprinzip  Calvin  zu  seinen  praktischen,  organisa- 
torischen Forderungen  brachte,  sondern  vielmehr  das  praktische 
Leben  selbst.  Die  Begründung  durch  die  Schrift  kam  erst  später 
als  Stütze  dazu.     Daß  dem  wirklich  so  ist,  dafür  finden  wir  gerade 


■i  j  g  Calvin*  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

jetzt  ein  deutliches  Beispiel.  In  der  Ausgabe  von  1536  ist  das  In- 
stitut der  Laienältesten  nicht  besprochen,  höchstens  mit  einem 
Worte  erwähnt.  Auch  noch  in  der  Ausgabe  von  1539  meint  Calvin 
den  Ausdruck  presbyterium  in  1.  Tim.  4,  14  besser  vom  ministerium 
verbi  als  von  einem  coetus  seniorum  verstehen  zu  müssen,  obgleich 
er  selbst  inzwischen  in  Genf  die  Einrichtung  der  Ältesten  ge- 
fordert hatte.  1541  war  in  Genf  durch  die  ordonnances  das  consi- 
stoire  eingerichtet  mit  den  vom  Rat  bestimmten  Ältesten.  Und 
jetzt  findet  sich  auch  in  der  Institutio  von  1543  eine  biblische  Be- 
gründung dieser  Einrichtung.  Die  Besprechung  der  Stelle  1,  Tim. 
4,  14  fällt  fort.  Auch  faßt  Calvin  nochmals  Bischöfe,  Presbyter, 
Pastoren  und  ministri  als  gleichbedeutend  zusammen,  um  dann  aber 
mit  Berufung  auf  Rom.  12,  8  und  I.  Cor.  12,  28,  die  seniores,  die 
aus  dem  Volke  erwählt  werden  und  die  Sittenzucht  mit  den 
Bischöfen  ausführen  sollen,  als  nötig  und  in  der  alten  Kirche  von 
jeher  bestehend  zu  betonen.  Daß  Calvin  erst  später  aus  der 
Schrift  heraus  die  Notwendigkeit  der  Ältesten  erkannt  habe,  ist 
nach  dem  ganzen  Sachverhalt  ausgeschlossen.  Wir  haben  hier 
ein  deutliches  Beispiel  dafür,  wie  ihm  ein  Schriftwort  erst  von  dem 
praktischen  Leben  aus  den  Sinn  gewann,  durch  den  er  dann  seine 
Forderungen  stützte.  —  Gerade  wenn  wir  das  Verhältnis  der  Inst, 
von  1543  zu  den  ordonnances  von  1541  beachten,  erkennen  wir, 
daß  auch  bei  Calvin  das  zutrifft,  was  Harnack  einmal  für  die  Ent- 
wicklung der  Lehre  von  der  Kirche  im  allgemeinen  sagt,  daß  die 
Theorie   immer  erst  der  Praxis   nachfolge. 

An  die  Institutio  von  1543  wollen  wir  kurz  noch  einige  kleinere 
Schriften  anreihen,  die  sich  wesentlich  mit  der  Institutio  decken. 
Den  Kommentar  zum  Judasbrief  von  1542  können  wir  ganz  über- 
gehen. —  In  der  defensio  sanae  et  orthodoxae  doctrinae  de  Servi- 
tute et  liberatione  humani  arbitrii  adversus  calumnias  A.  Pighii 
Compensis  1543  bestreitet  Calvin,  daß  sich  die  Protestanten  um 
der  Mißbräuche  und  schlechten  Sitten  der  Kleriker  willen  von  der 
Kirche  getrennt  hätten  (O.  C.  6  S.  241  f.).  Denn  der  Mangel  einer 
rechten  Zucht  ist  ja  nicht  ein  unbedingtes  Hindernis  der  Einheit. 
—  Für  die  Gesamtcharakteristik  der  äußeren  Kirche  und  des 
Amtes  ist  zu  bemerken,  daß  Calvin  ausdrücküch  sagt,  Gott  allein 
wirke  alles,  sed  quia  spiritus  sui  virtutem  quodammodo  in  evangelii 
praedicatione  inclusam  esse  voluit,  non  vana  neque  inutilis  est 
nostra  opera,  quae  eius  providentiae  servit  (S.  254).  Die  Kirche 
steht  nicht  etwa  über  der  Schrift  und  der  Lehre  (S.  270  fr.,  326), 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  3*9 


sondern  nur  das  ist  eine  Kirche,  die  fida  esl  custos  verbi  dei.  Auf 
der  Doctrina  als  ihrem  Fundament  ist  die  Kirche  gebaut.  Von 
der  Doctrina  sagt  Calvin:  Hoc  vinculum  est,  hie  nexus  sacri  con- 
iugii,  quo  sibi  ecclesiam  Christus  copulavit  (S.  326,  vergl.  S.  243). 
Diese  Stellen  sind  wichtig  für  eine  Bestimmung  dessen,  was  Calvin 
unter  doctrina  versteht.  Sie  ist  nicht  der  kirchlich  h 
Lehrbegriff,  sondern  der  ewige  Inhalt  des  Wortes  Gottes,  den 
Calvin  oft  genug  auch  einfach  als  Evangelium  Christi  bezeichnet. 
(Von  hier  aus  wird  es  auch  verständlich,  daß  Calvins  brau  kurz 
vor  ihrem  Tode  erklärte,  auf  diese  Lehre  wolle  sie  ruhig  sterben. 
An  der  Lehre  hing  eben  ihre  Seligkeit.) 

Ausführlich  handelt  Calvin  dann  wieder  über  die  rechte  Ar: 
der  Kirche  in  Supplex  exhortatio  ad  Caesarem  Carolum  Ouintum 
etc.  1543.  Wir  brauchen  nur  auf  wenige  Punkte  hinzuweisen.  Als 
das,  womit  das  Christentum  stehe  und  falle,  wird  zweierlei  be- 
zeichnet :  ut  rite  colatur  deus,  ut  unde  salus  sibi  petenda  sit,  110- 
verint  homines.  Hierauf  folgen  erst  Sacramenta  und  gubernatio, 
die  zur  Erhaltung  der  Doctrina  gesetzt  sind,  unter  letzterer  faßt 
er  nämlich  die  beiden  wesentlichen  Erfordernisse  zusammen.  So 
kann  er  auch  erklären,  daß  das  regimen  in  ecclesia  zusammen- 
gefaßt mit  den  Sakramenten  als  der  Leib,  die  Doctrina  aber  als 
die  Seele  der  Kirche  zu  bezeichnen  sei  (O.  C.  6  S.  459).  —  Sonst 
finden  wir  hier  wesentlich  nur  die  Gedanken  der  Institutio.  Ebenso 
auch  in  dem  traicte  des  rehques  1543  (O.  C.  6  S.  405  ff.). 

So  ist  in  diesen  Anfangsjahren  seines  zweiten  Genfer  Aufent- 
haltes in  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  die  Bewegung  zum  Ab- 
schluß gekommen,  die  wir  in  der  Zeit  seines  Aufenthaltes  in 
Deutschland  sich  von  verschiedenen  Seiten  anbahnen  und  schon 
beginnen  sahen.  Stark  fällt  jetzt  das  Gewicht  auf  die  äußere 
Kirche.  Die  ganzen  Ausführungen  über  die  Ordnung  der  Kirche 
werden  jetzt  bei  der  Erklärung  des  Symbols  und  zwar  weitläufig 
gegeben.  Das  ministerium  wird  stark  betont,  aber  eigentlich  doch 
nicht  mehr  als  in  der  früheren  Epoche  schon  angelegt  war.  Hier 
ist  das  Charakteristische  für  unsere  Zeit  viel  mehr,  daß  in  der  aus- 
geführten Organisation  mit  Heranziehung  der  ganzen  Gemeinde, 
besonders  der  Laienältesten,  vor  allem  aber  in  der  stetigen  Be- 
tonung und  Durchführung  des  Grundsatzes,  daß  Christus  allein 
das  Haupt  der  Kirche  sei  und  überall  herrschen  müsse,  der  Gefahr 
einer  Überschätzung  des  Amtes  vorgebeugt  wird.  Dem  dient  auch 
die  Hervorhebung  dessen,  daß  Gott   seine   Macht  und  Ehre  nicht 


320 


CaWins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 


an  das  ministerium  abgetreten  habe,  daß  vielmehr  die  Mittel  des 
Amtes,  Wort  und  Sakrament,  nur  wirken,  wenn  Gott  selbst  in 
ihnen  tätig  ist,  oder  daß  das  Amt  mehr  ein  Dienst  als  eine  Macht 
sei,  daß  es  gar  nichts  bedeute,  sobald  es  über  das  Wort  Gottes 
hinausgreife.  Eventuell  soll  selbst  die  Obrigkeit  einen  Mißbrauch 
des  Amtes  hindern.  Dieser  gegenüber  wird  aber  vielmehr  geltend 
gemacht,  daß  sie  nicht  in  das  eigene  Gebiet  der  Kirche  zumal  bei 
der  Zucht  übergreifen  dürfe.  In  der  Praxis  gelang  es  Calvin  nicht 
überall  sein  Ziel  zu  erreichen.  Auch  jetzt  aber  zeigt  sich  über 
und  in  allem  wirksam  der  eigenartige  Zug  in  Calvins  Frömmig- 
keit, die  Beugung  vor  der  Majestät  Gottes. 

6.  Kapitel. 
Die  Zeit  bis  zum  völligen  Siege  Calvins  in  Genf. 

Riecker  sagt  a.  a.  O.  S.  7  richtig,  daß  in  Calvins  Institutio  von 
1543  sich  sein  Verfassungsideal  abgeschlossen  finde.  Mit  gleichem 
Recht  kann  man  das  auch  von  seiner  Lehre  von  der  Kirche  sagen. 
1543  liegt  sie  in  den  wesentlichen  Zügen  vor.  Sie  wird  späterhin 
nur  noch  mehr  ausgeführt,  systematisch  in  Zusammenhang  gestellt 
und  aufgebaut.  Dadurch  freilich  tritt  dann  ein  wichtiger  Gesichts- 
punkt, den  wir  in  der  Institutio  von  1559  die  ganze  Darstellung 
beherrschend  finden,  erst  klar  hervor.  Weil  aber  eigentlich  die 
Lehre  sachlich  unverändert  bleibt,  so  können  wir  die  noch  übrig 
bleibenden  Untersuchungen  in  einigen  Längsschnitten  durchführen. 
Wir  werden  zuerst  Calvins  praktische  Tätigkeit  beobachten  und 
zwar  zunächst  in  Genf,  dann  über  dessen  Grenzen  hinaus.  Schließ- 
lich werden  wir  seine  schriftstellerische  Produktion  in  jener  Zeit 
betrachten. 

a)  Die  praktische  Tätigkeit. 

In  Genf  war  als  Grundlage  des  gesamten  Lebens  von  Rat  und 
Bürgerschaft  die  Bibel  anerkannt.  Sie  zu  sichern  war  eins  der 
wichtigsten  Ziele  für  Calvin  in  den  Kämpfen  der  nächsten  Jahre. 
Deshalb  vor  allem  lehnte  er  an  der  Spitze  der  übrigen  Pfarrer  es 
ab,  als  1544  der  Rat  dem  Castellion,  dem  Rektor  der  Schule,  eine 
Pfarrstellen  überweisen  wollte  (vergl.  auch  F.  Bouisson,  S.  Castel- 
lion. Paris  1892).  Die  beiden  Punkte  der  Schrift,  an  denen  dieser 
Zweifel  äußerte,  wurden  auch  von  Calvin  nicht  zu  hoch  gewertet ; 
doch  wollte  er  kein  gefährliches  Beispiel  geben.  Die  Bibel  sollte 
unangetastet  bleiben,   damit   sie   eine   sichere   Grundlage   der   Ein- 


Von  cand.  theol.  Th.   Werdermanu.  $2  l 


heit  in  der  Kirche  sei.     Um  die  vorurteilslose  Auslegung  derselben 

sicher  zu  stellen,  sollten  auch  bei  der  Bestimmung  der  Pfarrer 
iceine  anderen  Interessen,  zumal  nicht  die  Machtinteressen  der 
Obrigkeit  sich  geltend  machen.  Deshalb  wachte  Calvin  eifersüchtig 
darüber,  daß  die  Kirche  stets  den  Ausschlag  bei  der  Ptarrcnvahl 
gab.  So  wurde  auch  Trolliet,  den  der  Rat  gerne  als  Pfarrer  ge- 
sehen hätte,  zurückgewiesen.  —  Doch  blieb  Calvins  Lehre  nicht 
unangefochten.  Mit  persönlichen  Angriffen  gegen  ihn.  verknüpf! 
sich  auch  meist  solche  gegen  seine  Lehre,  z.  B.  bei  dem  Ratsherrn 
Pierre  Ameaux  (vergl.  Ratsprotokoll  vom  4.  und  17.  März  1546 
O.  C.  21).  Gefährlich  aber  wurde  dieser  Kampf  erst,  als  die  Obrig- 
keit zu  Calvin  eine  stark  feindliche  Stellung  einnahm,  und  im 
Jahre  1551  der  Arzt  Bolsec  sich  gegen  die  Richtigkeit  des  Schritt - 
Verständnisses  Calvins  richtete.  Gerade  gegen  die  Lehre  von  der 
Prädestination,  die  mit  Calvins  besonderer  Frömmigkeit  so  eng 
verknüpft  war,  trat  er  auf.  Auch  seine  Ablehnung  derselben 
glaubte  er  aus  der  Schrift  begründen  zu  können.  Calvin  machte 
es  ihm  vor  allem  auch  zum  Vorwurf,  daß  er  die  Ruhe  der  Kirche 
störe  (O.  C.  14  S.  252).  Dies  mußte  auch  der  Obrigkeit  bedenk- 
lich erscheinen ;  und  da  auch  die  von  den  anderen  schweizerischen 
Kirchen  eingeholten  Urteile  für  den  Bestreiter  der  Prädestination 
ungünstig  ausfielen,  so  mußte  dieser  als  „durch  die  heiligen 
Schriften  besiegt''  erklärt  werden.  Calvin  wurde,  wie  Choisy  a.  a.  O. 
S.  119  sagt,  durch  das  ergangene  LTrteil  als  l'interprete  de  la  Parole 
de  Dieu  dans  l'Eglise  genevoise  anerkannt.  Aber  dadurch,  daß 
der  Rat  überhaupt  Verhandlungen  über  seine  Lehre  zugelassen 
hatte,  war  doch  von  vornherein  seine  Stellung  erschüttert.  Und 
die  Angriffe  gegen  seine  Lehre  gingen  fort.  Zum  vollen  Siege 
kam  Calvin  auf  diesem  Gebiet  dadurch,  daß  einige  extreme  Geister 
Angriffe  gegen  ihn  richteten,  die  in  jener  Zeit  ganz  unerträglich 
waren :  Gruet  und  besonders  Servet.  Der  letztere  warf  bei  den 
verschiedenen  Anklage-  und  Verteidigungsschriften,  die  hin  und 
her  gewechselt  wurden,  Calvin  auch  vor,  daß  er  Heidentum,  Juden- 
tum und  Christentum  nicht  recht  auseinanderhalte  (O.  C.  8  S.  684) ; 
und  dann  kommt  er  auch  darauf  zu  sprechen,  daß  Calvin  über  die 
Gewalt  der  Kirche  streite,  an  sit  eius.  vel  scripturae,  autoritas 
maior  in  dogmatum  discussione?  et  an  perpetuo  duret  ecclesia? 
Dagegen  sagt  Servet :  Ecclesiam  autem  aeeipi  oportet,  non  ut 
speetatur  ab  hominibus,  sed  ut  agnoscitur  a  Christo,  qui  medius 
est  inter  suos  congregatos.     Er  macht  es  also   Calvin  zum  Vor- 

Calvinstudien.  21 


X22  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

wurf,  daß  der  nicht  genug  von  Christus  aus  seine  Gedanken  über 
die  Kirche  aufbaue,  zuviel  Wert  auf  die  Kirche  nach  ihrer  äußeren 
Gestalt  lege.  Für  ihn  gibt  es  nur  ein  Kennzeichen  der  Kirche: 
den  Geist  (O.  C.  8  S.  686).  Das  zeigt  sich  auch  darin,  daß  er  er- 
klärt:  die  Kirche  ist  vor  der  Schrift  da;  sie  hat  über  sie  geurteilt 
und  noch  zu  urteilen.  —  Calvins  andere  Stellung  gerade  auch  zur 
sichtbaren  Kirche  hat  dagegen  in  der  von  ihm  verfaßten  und  von 
allen  Genfer  Predigern  unterschriebenen  refutatio  errorum  Michae- 
lis Serveti  ihren  Ausdruck  gefunden.  Hier  (O.  C.  8  S.  639  f.)  wendet 
er  sich  gegen  dessen  Meinung,  daß  seit  1260  Jahren  die  Kirche 
aus  der  Welt  entflohen  sei,  ut  coelum  illi  exsilium  fuerit.  Non 
enim  frustra,  so  sagt  er,  dicitur  ecclesia  eius  complementum :  nee 
ea  quidem  angelica  vel  coelestis,  sed  quam  in  hac  mundi  pere- 
grinatione  fovet,  ac  praesidio  suo  tuetur.  —  Auch  in  dieser  Sache 
rief  Calvin  wieder  das  Urteil  der  übrigen  Schweizer  Kirchen  an. 
Und  dieses  zwang  den  widerstrebenden  Rat  auch  jetzt  wieder 
Calvins  Auffassung  der  Schrift  als  die  richtige  anzuerkennen.  — 
Nicht  persönliche  Gründe  trieben  Calvin  hauptsächlich  in  diesen 
Kampf  um  seine  Schriftauffassung,  sondern  das  Bestreben,  die 
Wahrheit  und  Ehre  Gottes  in  seinem  Worte  und  damit  die  Ein- 
heit und  Reinheit  der  Kirche  aufrecht  zu  erhalten. 

Neben  diesen  Kämpfen  her  ging  fortwährend  das  Ringen  um 
die  Zucht.  Wir  haben  oben  festgestellt,  daß  gerade  in  den  diese 
betreffenden  Bestimmungen  der  ordonnances  der  Keim  zu  weiteren 
Zwistigkeiten  lag.  Selbstverständlich  war  es,  daß  stets  von  leicht- 
fertigen Leuten  gegen  die  harte  Zucht  opponiert  wurde.  Ohne 
persönliche  Rücksichten  suchte  Calvin  diesen  gegenüber  die  Ehre 
der  Kirche  zu  wahren.  Selbst  der  Generalkapitän  Perrin,  mit  dem 
Calvin  zunächst  eng  befreundet  war,  und  seine  Verwandten  mußten 
sich  darunter  beugen.  —  Solange  die  Obrigkeit  ihre  Pflicht  tat, 
prallten  alle  Angriffe  ab.  Bald  aber  wurde  diese  in  der  Durch- 
führung der  Zucht  lässig,  ja  suchte  immer  mehr  die  Entscheidung 
in  ihre  Hand  zu  bringen.  Besonders  schlimm  war  der  Kampf  im 
Jahre  1552  und  den  folgenden.  Der  Rat  forderte,  daß  er  die  Ent- 
scheidung über  die  Exkommunikation  zu  treffen  habe  (vergl.  Rats- 
protokoll vom  23.  Dezember  1552  O.  C.  21).  Damit  legte  er  die 
Hand  an  das  Calvin  am  wichtigsten  erscheinende  Recht  des  Kon- 
sistoriums. Der  Ausschluß  vom  Abendmahl  sollte  dazu  dienen, 
Gottes  Ehre  in  der  Heiligkeit  der  Kirche  besonders  beim  Herren- 
mahl   nach   Möglichkeit  zu   wahren.     Hier   durften  keinerlei    poli- 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  3^3 

tische  Rücksichten  eingreifen.  Darum  verlangte  Calvin  besonders 
an  diesem  Punkte  die  Selbständigkeit  der  Kirche  in  ihrem  Kon- 
sistorium gegenüber  dem  Staate.  Jeder  Angriff  hierauf  schien  ihm 
direkt  die  Zerstörung  der  Kirche  zu  bezwecken.  Er  sah  die  Kirche 
selbst  in  größter  Gefahr  und  widersetzt  sich  daher  mit  aller  Kraft, 
als  der  Rat  befiehlt,  den  vom  Abendmahl  ausgeschlossenen,  nicht 
bußfertigen  Bertellier  wieder  zuzulassen  (vergl.  O.  C.  14  cp.  1781 
und  ep.  1838  S.  655).  Dem  Rat  gegenüber  weist  er  darauf  hin, 
daß  dieser  doch  schon  bei  der  bestehenden  Praxis  sehr  starken 
Einfluß  auf  die  Zuchtübung  genieße.  Aber  das  machte  auf  den 
Rat  keinen  Eindruck.  Es  hatte  sich  gezeigt,  daß  der  moralische 
Einfluß  der  Prediger  und  vor  allem  Calvins  in  der  Zuchtbehörde 
doch  ausschlaggebend  war.  Der  Rat  aber  wollte  selbst  herrschen, 
den  Ausschlag  geben  auch  in  allen  Angelegenheiten  der  Kirche. 
Der  Kampf  um  diese  Frage  wurde  erst  zur  Entscheidung  gebracht, 
als  im  Mai  1555  die  dem  Reformator  gegnerische  Partei  ganz 
machtlos  geworden  und  durch  die  Verleihung  des  Bürgerrechtes 
an  viele  Emigranten  die  Zahl  der  unbedingten  Anhänger  Calvins 
sehr  gewachsen  war. 

Der  Rat  verschärfte  jetzt  bereitwillig  auf  Verlangen  der  Pre- 
diger die  Zuchtbestimmungen.  Die  Staatsgewalt  lieh  der  kirch- 
lichen immer  mehr  ihren  Arm.  Auch  auf  dem  Gebiete  der  Lehr- 
streitigkeiten griff  sie  jetzt  schneller  und  entschiedener  ein.  Der 
von  Calvin  erläuterten  Schrift  durfte  niemand  widersprechen.  Das 
Konsistorium  gewann  immer  mehr  Achtung  und  übte  unbestritten 
das  Exkommunikationsrecht  aus. 

Bezeichnend  dafür,  wie  Calvins  Bestreben  auch  weiter  darauf 
ging,  die  innere  Selbständigkeit  der  Kirche,  besonders  auf  dem 
Gebiete  der  Zucht  zu  erhalten,  und  wie  er  jetzt  von  der  Obrigkeit 
dabei  nuterstützt  wurde,  ist,  daß  die  von  Calvin  am  30.  Januar  1560 
beantragten  Änderungen  der  ordonnances  im  wesentlichen  an- 
genommen wurden.  Vier  Punkte  waren  es  besonders,  die  von  den 
Predigern  gewünscht  wurden:  1.  bessere  Trennung  der  kirchlichen 
Gewalt  des  Konsistoriums  von  der  weltlichen  Rechtsprechung, 
2.  Wahl  der  Konsistoriumsmitglieder  in  Gegenwart  aller  Prediger, 
nicht  nur  wie  bisher  in  der  Calvins  allein,  3.  eine  öffentliche  Buße 
in  der  Kirche  für  die,  auf  welche  die  Exkommunikation  nicht  Acn 
erwarteten  Eindruck  machte,  4.  Bekanntmachung  der  zu  wählen- 
den Prediger  vor  der  Gemeinde  an  drei   Sonntagen. 

In  seiner  Genfer  praktischen  Tätigkeit  sehen  wir  also  Calvin 


■2  24  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

gerade  für  die  beiden  Punkte  eintreten,  die  wir  schon  früher  als 
für  ihn  sehr  wichtig  erkannten :  Die  Zucht  und  die  innere  Selb- 
ständigkeit der  Kirche.  Darin  ließ  er  nicht  nach,  weil  es  sich  ihm 
hier  ganz  besonders  um  die  Ehre  Gottes  zu  handeln  schien.  Wie 
früher,  so  legt  Calvin  auch  hier  starkes  Gewicht  auf  die  äußere 
Verfassung  der  Kirche,  fordert  und  betätigt  Einigkeit  und  Zu- 
sammenschluß auch  mit  den  anderen  Kirchen.  Gottes  Wort  ist 
die  Grundlage  der  Kirche  sowie  des  ganzen  Lebens.  In  seiner 
Herrschaft  besteht  die  Christokratie,  die  deshalb  auch  nicht  mit 
Unrecht  von  E.  Choisy  Bibliokratie  genannt  wird.  — 

Die  Größe  und  Macht  von  Calvins  Persönlichkeit  zeigt  sich 
uns  erst  im  reinsten  Lichte,  wenn  wir  ihn  in  seiner  Tätigkeit  außer- 
halb Genfs  beobachten.  Schon  in  Genf  hatte  er  bei  seinem  Kampf 
für  eine  möglichst  große  Vollkommenheit  der  Kirche  auch  das  im 
Auge,  daß  das  Genfer  Vorbild  auch  für  die  übrigen  Evangelischen 
ein  Sporn  zur  Nacheiferung  sein  könne  (O.  C.  16  S.  594).  Deshalb 
wurde  auch  im  November  1561  vom  Genfer  Magistrat  beschlossen, 
die  ordonnances  drucken  zu  lassen,  „damit  sie  zur  Unterweisung 
anderer  Völker  und  zum  Zeugnis  unserer  Reformation  dienen". 

Den  Kirchen  in  der  deutschen  Schweiz  und  in  Deutschland 
gegenüber  (vergl.  Schütte,  Calvins  Einfluß  auf  die  deutsche  Re- 
formation. Deutsch-evangel.  Blätter  1907  S.  145  ff.)  machte  sich 
vor  allem  sein  Bestreben  nach  Einheit  geltend.  Man  wird  Calvin 
zugestehen  müssen,  daß  er  nach  seinem  März  1557  geschriebenen 
Wort  gehandelt  hat :  semperque  dabo  operam,  ne  mea  culpa  scin- 
dantur  et  distrahantur  ecclesiae  (O.  C.  16  S.  429).  Er  hat  stets 
gestrebt  nach  der  concordia,  in  qua  consistit  ecclesiae  salus 
(O.  C.  18  S.  158).  Auch  jetzt  wieder  können  wir  in  einem  Brief 
an  Bullinger  finden,  daß  man  wohl  auch  verschiedene  Meinungen 
in  der  Kirche  vertragen  müsse ;  die  Einheit  solle  eben  in  der  Zu- 
gehörigkeit zu  Christus  ihren  Grund  haben  (O  C.  12  S.  666,  vergl. 
O.  C.  16  S.  464,  O.  C.  20  S.  424).  Er  wendet  sich  dagegen,  daß 
man  eine  Gleichmäßigkeit  in  den  Zeremonien  fordere  (O.  C.  15 
S.  80).  —  So  sucht  er  zwischen  Lutheranern  und  Reformierten 
Frieden  zu  schaffen.  Deshalb  dringt  er  so  oft  auf  ein  Kolloquium 
der  Schweizer  mit  den  Lutheranern.  Er  beklagt  es  sehr,  daß 
zwischen  den  Kirchen,  die  doch  fast  das  gleiche  Bekenntnis  hätten, 
keine  Abendmahlsgemeinschaft  stattfinde  (O.  C.  12  S.  729).  Atqui 
coena  sanctae  inter  filios  dei  unitatis  est  symbolum  (O.  C.  20 
S.  200).  —  Freilich,  wenn  es  nötig  ist,  wie  dem  Interim  und  auch 


Von  cand.  thcol.  Tli.  Werdermann,  3^5 


den  Eiferern  gegenüber,  die  die  Kirche  zerspalten,  nimmt  er  die 
Fehde  auf.  Aber  auch  im  Dedikationsbrief  zur  zweiten  defensio 
contra  Westphalum  betont  er,  daß  Einheit  zwischen  Lutheranern 
und  Reformierten  sein  solle  (O.  C.  9  S.  49).  —  Daneben  aber  be- 
tont er  auch  den  auswärtigen  Kirchen  gegenüber  stark  die  disci- 
plina  und  die  doctrina  als  notwendig  (vergl.  O.  C.  20  S.  115;  18 
S.  159;  14,  S.  333).  Als  er  im  Oktober  1562  Vorschläge  für  eine 
Kirchenverfassung  in  der  Pfalz  macht,  da  fordert  er  auf  alle  Fälle 
die  Disziplin  (O.  C.  19  S.  564,  vergl.  auch  O.  C.  17  S.  451  ff.;  18 
S.  235  ff.).  —  In  Deutschland  lagen  Calvin  noch  besonders  die 
Fremdlingsgemeinden  zu  Frankfurt  und  Wesel  am  Herzen.  Auch 
bei  ihnen  rät  er  zur  Einigkeit  (O.  C.  16  S.  344),  zum  Zurückstellen 
auch  von  äußerlichen  Unterschieden  etwa  bei  den  Zeremonien 
(O.  C.  15  S.  79  f.,  394)  und  auch  zur  Beugung  einer  Minorität  unter 
die  Majorität  besonders  bei  Wahlen  (O.  C.  16  S.  209).  — 

Weitaus  am  meisten  beschäftigten  aber  Calvin  die  Verhält- 
nisse in  seiner  Heimat  Frankreich.1  Seit  ungefähr  1545  wurde 
Calvins  Einfluß  unter  den  protestantisch  gesinnten  Franzosen  herr- 
schend. Eine  Frage  beschäftigte  Calvin  sehr  bald  und  sehr  oft : 
Wie  soll  sich  ein  allein  in  römischer  Umgebung  lebender  Protestant 
zum  römischen  Kultus  verhalten  ?  Calvin  stellte  da  scharf  ein 
Entweder  —  Oder  auf.  Der  Protestant  soll  sich  entweder  allen 
falschen  Gottesdienstes  enthalten,  oder  er  soll  auswandern.  In  der 
Folge  dieser  Forderung  Calvins  erwuchs  nun  aber  eine  neue 
Schwierigkeit.  Die  kleinen  Häuflein  von  Protestanten,  die  sich 
hin  und  her  in  Frankreich  bildeten,  besaßen  keinen  ordnungsmäßig 
berufenen  Diener  am  Wort.  Und  wenn  Calvin  wohl  erklärte,  daß 
das  Wort  ein  "jeder  aus  der  Gemeinde  verkünden  könne,  so  glaubte 
er  doch,  die  Austeilung  der  Sakramente  nur  dann  als  richtig  be- 
finden zu  können,  wenn  sich  eine  regelrechte  Gemeinde  mit  der 
notwendigen  Ordnung  gebildet  habe.  Besonders  sei  es  nötig,  daß 
geordnete  Prediger  eingesetzt  würden  (O.  C.  14  S.  638).  Das  er- 
fordert  aber   wieder,    daß    man    sich    dauernd    zu    einer    Gemeinde 


1)  Vergl.  besonders  E.  Marcks,  Colingy  I  Stuttgart  1892  u.  K.  Müller, 
Calvin  u.  d.  Anfänge  der  franz.  Hugenottenkirche.  Preuß.  Jahrb.  114,  i9°3- 
Ferner  G.  Weber,  Geschichtl.  Darstellung  d.  Calvinism.  im  Verhältnis  zum 
Staat.  Heidelberg  1836.  —  Polenz,  Gesch.  d.  franz.  Calvinism.  ftotha  1857- 
L.  Ranke,  Franz.  Geschichte.  Stuttgart  1852.  —  M.  Goebel,  Gesch.  des 
christl.  Lebens  in  der  Rhein. -Westf.  Kirche  I.  Coblenz  1S49  —  Lechler, 
Geschichte  der  Presbyterialverfassung.  Leiden  1854.  Auch  H.  Edler  von 
Hoffmann,  Kirchenverfassungsrecht  der  niederl.  Reform.     Leipzig  1902. 


■2  2  6  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

zusammenschließe  (O.  C.  15  S.  174).  —  Drückend  wurde  diese  Lage 
mit  Hinblick  auf  die  Taufe,  zumal  Calvin  erklärte,  daß  jeder,  der 
sein  Kind  in  der  römischen  Kirche  taufen  lasse,  dieses  beflecke 
(O.  C.  17  S.  712).  Durch  diese  Stellungnahme  trieb  er  die  fran- 
zösischen Protestanten  dazu,  feste  Gemeinden  zu  gründen,  Prediger 
und  Älteste  zu  wählen  und  die  Zucht  einzuführen.  —  Als  in  ein- 
zelnen Gemeinden  Zwistigkeiten  ausbrachen,  versammelten  sich 
1559  in  Paris  die  Abgesandten  der  französischen  Gemeinden,  um 
ein  gemeinsames  Bekenntnis  und  eine  gemeinsame  Kirchenord- 
nung aufzustellen.  Die  beiden  Abgesandten,  die  Calvin  für  diese 
Pariser  Versammlung  bestimmt  hatte,  langten  zu  spät  an.  Aber 
eigentlich  waren  alle  dort  Anwesenden  seine  Schüler ;  so  ist  es 
natürlich,  daß  die  Beschlüsse  ganz  von  calvinischem  Geiste  erfüllt 
sind.  Ja  es  ist  wohl  nicht  unrichtig,  wenn  Choisy  (a.  a.  O.  S.  207)  in 
Genf  zwar  den  Typus  der  calvinistischen  Theokratie,  d'une  societe 
gouvernee  tout  entiere  par  l'autorite  de  la  loi  divine  findet,  von 
der  französischen  Kirche  aber  sagt :  L'organisation  des  Eglises  de 
France  repond  merae  mieux  que  l'organisation  de  l'Eglise  de 
Geneve  ä  l'ideal  ecclesiastique  de  Calvin.  Er  findet  hier  also  le 
type  authentique  de  l'Eglise  calviniste.  Darum  müssen  wir  auf  das 
französische  Bekenntnis  und  die  Kirchenordnung  noch  etwas  näher 
eingehen. 

Die  confessio  gallicana  unterscheidet  nur  zwischen  wahrer  und 
falscher  Kirche.  Von  der  ersteren  sagt  sie  dem  Worte  Gottes 
folgend  aus,  daß  es  la  compagnie  des  fideles  sei,  die  das  ganze 
Leben  hindurch  dem  Worte  Gottes  folgen  wollen,  dabei  stets 
wachsen  in  der  Furcht  Gottes  und  doch  nur  auf  die  Vergebung 
der  Sünden  bauen  (E.  F.  K.  Müller,  Reform.  Bekenntnisschriften 
1903  S.  228).  Zum  Gehorsam  gegen  das  Wort  Gottes  gehört  ins- 
besondere auch  der  rechte  Gebrauch  der  Sakramente.  Der  wahren 
Kirche  sind  zwar  auch  Heuchler  beigemischt,  aber  sie  vermögen 
nicht  „effacer  le  tiltre  de  l'eglise"  (S.  228).  Es  ist  zu  beachten, 
daß  hier  eine  sichtbare  und  eine  unsichtbare  Kirche  gar  nicht 
unterschieden  werden.  Es  sind  nur  zwei  sichtbare  Kirchen,  die 
wahre  und  die  falsche  ,  einander  gegenübergestellt.  Das  geht  auch 
daraus  hervor,  daß  kurz  vorher  gesagt  wird,  keiner  der  Gläubigen 
dürfe  sich  absondern,  wenn  nur  eine  sichtbare  Kirche  an  ihrem 
Orte  von  Gott  eingerichtet  sei.  Doch  ist  gerade  in  der  Form,  in 
der  dann  die  wahre  Kirche  bestimmt  wird,  durchaus  nicht  aus- 
geschlossen, daß  ihr  wesentlicher  Teil  unsichtbar  sei.     Jedenfalls 


Von  cand.  theol    Th.  Werdermann.  3^7 

liegt  kein  irgendwie  zwingender  Grund  vor  anzunehmen,  daß  wir 
hier  einige  von  den  wenigen  Abänderungen  zu  finden  hätten,  welche 
die  Pariser  Versammlung  an  dein  von  Calvin  übersandten  Be- 
kenntnis vornahm.  Diese  Gedanken  sind  ebenso  calvinisch,  als  wenn 
die  gallicana  fordert,  que  l'ordre  de  l'Eglise  qui  a  este  establie  en  son 
authorite,  doit  estre  sacre  et  inviolable  (Müller  S.  227 ;  vergl.  S.  229), 
Echt  calvinisch  ist  auch  die  Bezeichnung  Christi  als  seul  chef,  seul 
-  »uverain  et  seul  universel  Evesque  der  Kirche  (Müller  S.  229),  ferner 
die  Forderung  der  verschiedenen  Ämter  und  deren  Begründung 
aus  der  Schrift.  Auch  wenn  trotz  der  Gleichstellung  der  Pastoren 
doch  Superintendenten  erwähnt  werden  (Müller  S.  229),  so  ist  das 
nicht  wider  Calvin.  Der  Superintendenten  Aufgabe  ist  es,  die 
ganze  Kirche  so  zu  leiten,  daß  sie  nicht  von  den  Anordnungen 
Jesu  Christi  abweiche.  Das  hindert  nicht,  daß  an  jedem  Ort  wieder 
besondere  Bestimmungen  getroffen  werden.  Menschliche  Erfin- 
dungen werden  abgewiesen,  und  es  wird  nur  anerkannt,  was  dazu 
dient,  Einheit  zu  schaffen  und  jeden  vom  ersten  bis  zum  letzten 
in  Gehorsam  zu  halten.  Dazu  soll  auch  die  vom  Herrn  befohlene 
Exkommunikation  dienen.  Diese  wird  verhängt  durch  das  Pres- 
byterium,  dem  aber  hier  anders  als  in  Genf  auch  die  Diakonen 
angehören. 

Überhaupt  brachte  die  Praxis  in  Frankreich  manche  Ände- 
rungen den  Genfer  Zuständen  gegenüber  mit  sich.  Das  erkennen 
wir  aus  der  „Discipline  ecclesiastique*'  (über  die  uns  erhaltenen 
Bruchstücke  der  ältesten  Redaktion  von  1559  vergl.  v.  Hoff  mann 
a.  a.  O.  -S.  14  ff.).  Die  Hinzuziehung  der  Diakonen  zum  Konsisto- 
rium erwähnten  wir  schon ;  sie  nehmen  hier  überhaupt  eine  höhere 
Stellung  ein  als  in  Genf.  Auch  das  Konsistorium  hat  größere 
Machtvollkommenheit.  Es  ergänzt  sich  selbst  durch  Kooptation, 
wählt  von  sich  aus  die  Pfarrer,  übt  auch  in  Ehesachen  das  Spruch- 
recht. Die  Gemeinde  an  sich  hat  dagegen  wenig  Rechte,  auch  bei 
der  Pfarrwahl  nur  das  des  Einspruchs.  Die  große  Zahl  der  Ge- 
meinden forderte  einen  weiteren  organischen  Aufbau.  Sie  wurden 
zunächst- zu  Provinzialsynoden,  die  regelmäßig  zusammentraten 
und  verwaltende  und  richtende  Funktionen  ausübten,  dann  weiter 
zur  Generalsynode  zusammengeschlossen,  die  faktisch  wenigstens 
gesetzgebende  Gewalt  ausübte.  Hier  ist  nun  besonders  wichtig, 
daß  im  Unterschied  zu  Calvins  Praxis  und  Vorschlägen  auch  die 
Ältesten  und  Diakonen  zu  den  Synoden  hinzugezogen  wurden. 
Zwischen   Kirche  und  Staat  besteht  nach  der  diseipline   keinerlei 


^2  8  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Band.  Der  Staat  verfolgte  ja  in  Frankreich  die  Gemeinden.  So 
mußten  diese  hier  ihre  Angelegenheiten  ganz  selbständig  regeln. 
Calvins  Grundsätze  bestimmen  im  großen  und  ganzen  auch  die 
Festsetzungen  der  Discipline  ecclesiastique.  Auch  die  eben  ange- 
führten Abweichungen  von  der  Genfer  Ordnung  widersprechen 
ihnen  nicht,  sie  sind  im  wesentlichen  durch  die  Verschiedenheit 
der  Verhältnisse  bedingt.  Die  grundlegend  aristokratische  Ge- 
staltung des  Kirchenregimentes  und  die  damit  zusammenhängende 
Beschränkung  der  Gemeinderechte  war  dem  Genfer  Reformator 
nur  genehm.  Die  größere  Macht  des  Konsistoriums  in  eherecht- 
lichen Fragen  und  bei  Pfarrwahlen  ist  ihm  sicherlich  erwünscht 
gewesen,  ebenso  wie  die  Selbständigkeit  in  der  Zuchtübung.  Gerade 
die  feindselige  Stellung  der  Obrigkeit  ließ  hier  gelingen,  was  in 
Genf,  wo  es  auf  die  befreundete  Obrigkeit  immer  Rücksicht  zu 
nehmen  galt,  nicht  durchzusetzen  war.  Die  leitenden  Instanzen 
der  Kirche  entstanden  und  verwalteten  ihr  Amt  in  völliger  Selb- 
ständigkeit dem  Staate  gegenüber.  Dies  machte  sich  besonders 
günstig  bemerkbar  bei  der  Handhabung  der  Zucht.  Ebenso  be- 
wirkte sie  im  Verein  mit  Calvins  Drängen  auf  Einigkeit  in  der 
Kirche  den  weiteren  Zusammenschluß  in  den  Synoden.  Letztere 
haben  wir  ja  auch  von  Calvin  vorgeschlagen  gefunden.  Freilich 
hörten  wir  da  nur  von  Synoden  der  Pfarrer.  Aber  auch  die  Heran- 
ziehung der  Ältesten  und  Diakonen  ist  von  Calvins  Standpunkt 
aus  wohl  erklärlich :  in  Genf  übte  ja  das  „Laien"element  durch  die 
Regierung  des  Staates  auf  die  Kirche  einen  starken  Einfluß  aus. 
Es  war  nicht  mehr  als  billig,  daß  in  Frankreich  auch  den  ,, Laien" 
—  notgedrungen  auf  eine  andere  Weise  —  dieser  Einfluß  zu- 
gestanden wurde.  Das  war  ja  zugleich  ein  Schutzmittel  gegen 
Ansprüche  der  Pastoren,  welche  die  Herrschaft  Christi  bedrohen 
könnten.  Sucht  man  doch  für  diese  starke  Beteiligung  des  „Laien"- 
elements  an  der  Regierung  der  Kirche  eine  andere  Herleitung,  so 
lassen  sich  da  Verbindungslinien  mit  allgemein  politischen  Be- 
strebungen im  damaligen  Frankreich  ziehen  oder  noch  eher  mit 
a  Lasko,  der  mit  seinen  für  die  Londoner  Fremdengemeinden 
besonders  entwickelten  Anschauungen  von  der  Kirche  auf  die 
Niederlande  und  weiterhin  einwirkte  (vergl.  Kuyper,  Disquisitio 
etc.  —  K.  Hein,  Sakramentslehre  a  Laskos.  Berlin  1904).  Doch 
hat  uns  das  hier  nicht  weiter  zu  beschäftigen.  Hier  sei  nur  noch 
zusammenfassend  festgestellt,  daß  wir  bei  Calvin  auch  in  seiner  auf 
die  französische  Kirche  sich  beziehenden  Tätigkeit  seine  uns  schon 


Von  rand.  theol.  Th.  Werdermanu.  3  "9 

bekannten  Gedanken  xon  der  Kirche  sich  auswirken  sehen,  und 
daß  die  Gestaltung  der  französischen  Hugenottenkirche  uns  zeigt, 
wie  Calvins  Ideen  sich  bei  einer  Selbständigkeit  der  Kirche  dem 
Staate  gegenüber  in  einzelnen  Punkten  klarer  durchsetzen  können. 

Einen  kurzen  Blick  nur  wollen  wir  noch  auf  die  weitere  Wirk- 
samkeit Calvins  außerhalb  Genfs  werfen.  Für  Calvin  und  Knox, 
der  Schottland  mit  calvinischen  Gedanken  erfüllte  (vergl.  Fr.  Bran- 
des, John  Knox.  Elberfeld  1862.  —  Ch.  Martin,  De  la  genese  des 
doctrinis  politiques  de  J.  Knox.  Bulletin  de  la  soc.  etc.  1907 
S.  193  ff.),  ist  eine  Stelle  aus  einem  Briefe  Calvins  an  diesen  be- 
zeichnend (O.  C.  18  S.  434).  Calvin  will  wohl,  daß  die  Kirche  von 
allem  Verkehrten  gereinigt  werde ;  den  heftigen  Knox  aber  mahnt 
er  zur  Mäßigung.  Aus  der  confessio  Scoticana,  in  der  sich  gerade 
auch  bei  der  Lehre  von  der  Kirche  die  Gedanken  der  Institutio 
wiederfinden,  sei  nur  noch  hervorgehoben,  daß  hier  neben  den 
zwei  von  Calvin  stets  angeführten  Zeichen  der  wahren  Kirche  als 
drittes  die  ecclesiasticae  diseiplinae  severa  observatio  angegeben 
wird  (Müller  a.  a.  O.  S.  257). 

Auch  nach  England  richtete  Calvin  manche  Briefe.  Gläubige 
Fürsten  und  Staatsleiter  müssen  gerade  auch  für  den  rechten 
Gottesdienst  in  ihrem  Lande  sorgen  (O.  C.  13  S.  66).  Um  die 
Reform  durchführen  zu  können,  ist  besonders  für  solche,  die  ein 
kirchliches  Amt  inne  haben,  eine  kurze  verpflichtende  Glaubens- 
summe nötig.  Darum  soll  ein  Katechismus  aufgestellt  werden. 
Croyez,  Monseigneur,  que  iamais  l'Eglise  de  Dieu  ne  se  conservera 
saus  Catechism  (O.  C.  13  S.  71).  Doch  soll  sich  der  Katechismus 
nicht  vor  das  Evangelium  drängen.  Neben  der  rechten  Lehre  ist 
aber  auch  die  Zucht  nötig  (O.  C.  13  S.  76).  —  In  einem  Briefe  an 
Cranmer  lobt  er,  daß  dieser  die  Reformation  durch  eine  gemein- 
same Beratung  tüchtiger  und  frommer  Männer  fördern  will  und 
beklagt  bitter  die  Uneinigkeit  der   Kirche   (O.  C.  14  S.  312). 

Auch  sonst  sehen  wir  nur  die  uns  bekannten  Gedanken  Cal- 
vins wirksam  werden,  sei  es,  daß  er  in  einem  Dedikationsbrief  an 
König  Christian  von  Dänemark  die  Herrscherstellung  Christi  und 
die  Notwendigkeit  der  evangelii  sui  doctrina  für  die  Kirche  betont 
(O.  C.  14  S.  294  f.),  oder  daß  er  den  Polen  gegenüber,  die  ihm  viel 
Mühe  und  Sorgen  machten,  neben  der  Einheit  des  Glaubens  auch 
brüderliche  Eintracht  fordert. 


-j-^O  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

b)  Literarisches. 

Wenn  wir  uns  nun  zum  Schluß  unserer  historischen  Unter- 
suchung noch  den  überaus  zahlreichen  Früchten  der  schriftstelle- 
rischen Tätigkeit  Calvins  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  seines 
Lebens  zuwenden  müssen,  so  ist  es  natürlich  nicht  angängig,  hier 
das  ganze  Material  vorzulegen.  Wir  werden  uns  darauf  be- 
schränken, nur  das  Ergebnis  der  Untersuchung  darzustellen.  Die 
Belege  werden  wir  vor  allem  aus  den  15  ersten  Jahren  des  zweiten 
Aufenthaltes  Calvins  in  Genf  nehmen,  d.  h.  den  Jahren,  wo  eine 
Rückwirkung  der  äußeren  historischen  Verhältnisse  auf  die  Lehre 
Calvins  am  leichtesten  möglich  war. 

In  den  exegetica  und  homiletica  sehen  wir  jene  unsichtbare 
Seite  der  Kirche,  die  bei  Calvin  seit  langem  schon  sehr  in  den 
Hintergrund  geschoben  wurde,  wieder  stärker  hervortreten.  Das 
geschieht  vor  allem  im  Zusammenhang  mit  Gedanken,  die  zur 
unio  mystica  der  Kirche  mit  Christus  hinführen.  Ganz  besonders 
wird  das  betont  bei  der  Besprechung  von  1.  Cor.  12,  12  (O.  C.  49 
S.  501,  vergl.  S.  308,  313).  Die  Christen  sind  ganz  anders  ein  corpus, 
als  man  dies  wohl  von  einer  menschlichen  Gemeinschaft  sagen  kann. 
Sie  bilden  nicht  nur  eine  politische  Körperschaft,  sed  sunt  spirituale 
et  arcanum  Christi  corpus.  Ja :  Christi  nomen  in  locum  ecclesiae 
substituitur.  Das  muß  für  die  Kirche  ein  ganz  besonderer  Trost 
sein :  hoc  enim  honore  nos  dignatur  Christus,  ut  nolit  tantum  in 
se,  sed  etiam  in  membris  suis  censeri  et  recognosci.  Deshalb  ist 
ja  nach  Eph.  1,  23  die  ecclesia  auch  Christi  complementum,  ac  si 
divisus  a  suis  membris,  quodammodo  mutilus  foret.  Dieselben 
Gedanken  werden  dann  an  der  Stelle  im  Eph.-Kommentar  aus- 
geführt (O.  C.  51  S.  159)  und  noch  mehr  zur  Erklärung  von 
Eph.  5,  29  (S.  225)  verwandt,  wo  die  Verbindung  zwischen  Christus 
und  der  Kirche  der  Einheit  in  der  Ehe  gleichgestellt  wird.  Hierzu 
sagt  Calvin :  est  locus  insignis  de  mystica  communicatione  quam 
habemus  cum  Christo.  Wir  sind  Christi  Fleisch  und  Blut.  So 
wie  für  Paulus,  so  ist  auch  für  Calvin  das  Geheimnis  zwischen 
Christus  und  der  Gemeinde  zu  groß,  als  daß  er  es  in  Worte  fassen 
könnte  (S.  226  f.,  vergl.  O.  C.  52  S.  93).  Bei  all  diesen  hohen 
Worten  steht  ihm  ohne  Zweifel  die  Kirche  als  die  Gemeinschaft 
der  Erwählten  vor  Augen.  Es  ist  auch  bezeichnend  wie  hier  im 
Zusammenhang  stets  das  Moment  der  Gemeinschaft  hervortritt. 
Das  ist  also  hieraus  klar  zu  erkennen,  daß  auch  jetzt,  wo  die 
sichtbare    Gestalt   der    Kirche    so    stark   das    Interesse    Calvins    in 


Von  cand.  tbeol.  Th.  "Wcrdcrni.mn.  33  I 

Anspruch   nimmt,   doch    ihr    unsichtbares    in    Christo   verborgenes 

Wesen  die  Grundlage  bleibt.  Darum  verweilt  er  auch  stets  mit 
Liebe  bei  diesem  Gedanken.  —  Zugleich  aber  richtet  Calvin  auch 
seinen  Blick  sehr  auf  die  sichtbare  Seile  der  Kirche.  Was  von 
dem  inneren  Wesen  der  Kirche  gilt,  wird  auf  die  sichtbare  Gestalt 
angewandt  und  für  sie  gefordert.  Christus  ist  das  fundamentum, 
auf  dem  die  Kirche  allein  ruht  —  auch  nach  ihrer  sichtbaren  Ge- 
stalt. Gerade  für  die  letztere  wird  die  Verwirklichung  dessen  ver- 
langt (O.  ('.  51  S.  175,  52  S.  113).  Christus  soll  allein  herrschen. 
Und  es  ist  falsch,  wenn  die  Papisten  meinen,  ohne  ein  irdisches 
Haupt  sei  die  Kirche  ihres  Hauptes  beraubt,  {axe(paXov  O.  C.  ,52) 
S.  86  f.).  Vielmehr  ist  das  die  summa,  Christum  nimm  crescere 
oportet,  oranes  autem  minui,  ut  bene  composita  sit  ecclesia  (O.  C. 
kratie  jetzt  fordert.  Gerade  im  Hinblick  auf  Servets  Vorwurf,  daß 
Calvin  in  seiner  Lehre  von  der  Kirche  nicht  genug  von  Christus 
ausgehe,  sei  aber  hier  noch  hervorgehoben,  daß  in  den  exege- 
Schriften  Calvins  sich  unendlich  oft  diese  Verbindung  hergestellt 
51  S.  202,  vergl.  50  S.  115).  Wir  sehen,  wie  stark  Calvin  die  Christo- 
findet  —  nicht  nur  für  die  innerliche  Seite  der  Kirche,  sondern 
auch  für  die  äußere  Organisation. 

A\  ie  leicht  bei  Calvin  diese  beiden  Seiten  ineinander  übergehen. 
was  übrigens  schon  die  Tatsache  zeigt,  daß  Calvin  in  den  exege- 
tischen Schriften  sich  niemals  veranlaßt  sieht,  die  Scheidung 
zwischen  beiden  aufzustellen,  sehen  wir  auch  aus  einer  Stelle  des 
Eph.-Kommentares,  wo  er  über  die  Heiligkeit  der  Kirche  spricht. 
Wenn  er  da  zuerst  sagt  (O.  C.  51  S.  224) :  nam  sicut  formae  ele- 
gantia  in  uxore  causa  est  amoris,  ita  Christus  ecclesiam  sponsam 
suam  ornat  sanetitate,  ut  sit  hoc  benevolentiae  pignus,  so  denkt 
er  da  an  die  durch  Christus  erworbene  innere  Gerechtigkeit  und 
Heiligkeit.  Dahingegen  führen  die  kurz  darauf  folgenden  Worte: 
hie  ergo  verus  est  ecclesiae  decor,  haec  pudicitia  conjugalis,  nempe 
sanetitas  et  innocentia,  gleich  wieder  zur  sichtbaren  Gestaltung 
der  Kirche  über. 

Noch  deutlicher  aber  wird  dieses  Ineinandergreifen  der  beiden 
Seiten  bei  der  Bestimmung  und  Forderung  der  Einheit.  Ihr  letzter 
Grund  liegt  darin,  daß  die  Kirche  das  corpus  Christi  ist.  So  ist 
selbstverständlich  ihre  innerliche  Seite  von  vornherein  einheitlich 
(O.  C.  49  S.  505).  Aber  bei  dem  unum  corpus  wird  auch  gleich 
die  Notwendigkeit  der  unitas  Christianorum  betont  (O.  C.  51 
S.  190).    Und  so  gilt  es  denn  auch  gerade  für  die  sichtbare  vielfache 


557  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Gestaltung  der  Kirche :  symmetria  eeclesiae  multiplici  (ut  ita  loquar) 
unitate  constat :  hoc  est,  dum  varietas  donorum  ad  unum  scopum 
tendit :  sicut  in  symphonia  varii  sunt  cantus,  sed  tali  proportione 
inter  se  temperati,  ut  unum  efficiant  concertum :  ergo  et  distincta 
esse  tarn  dona  quam  officia  convenit :  et  omnia  tarnen  in  unum 
reduci  (O.  C.  49  S.  497).  So  stellt  also  Calvin  fest :  in  distinctione 
esse  unitatem  (O.  C  51  S.  196).  Das  hat  vor  allem  Bedeutung  für 
die  Berechtigung  des  ministeriums  in  der  Kirche.  Aber  auch  hier- 
bei ist  ihm  die  Einigkeit  besonders  wichtig.  Hoc  enim  praecipuum 
est  religionis  nostrae  caput,  ut  inter  nos  simus  concordes :  hoc 
etiam  consensu  stat  et  subnixa  est  salus  eeclesiae  (O.  C.  49  S.  314). 
Sie  soll  sich  äußern  in  der  Gemeinschaft  auch  des  Gebetes.  Darum 
fordert  Calvin  im  November  1545  einen  Gebetstag  für  die  be- 
drängten Glaubensbrüder  (O.  C.  32  S.  460  f.). 

Diese  Einheit  aber  wird  am  besten  gewahrt,  wenn  man  sich 
zur  gemeinsamen  rechten  Lehre  hält,  quasi  ad  ducis  vexillum  (O.  C. 
51  S.  199).  Denn  wenn  auch  Christus  das  einzige  Fundament  der 
Kirche  ist,  so  ist  sie  doch  in  ihm  gegründet  durch  die  Predigt  der 
Lehre  (O.  C.  51  S.  175).  Und  so  kann  auch  gesagt  werden,  daß 
ihr  Grund  in  apostolorum  et  prophetarum  doctrina  liege  (S.  174). 
Deshalb  hat  man  an  der  rechten  Lehre  auch  einen  Maßstab  zur 
Unterscheidung  von  wahrer  und  falscher  Kirche  (vergl.  auch  O.  C.  S 
S.  373,  426  t'.  und  51  S.  224).  Dabei  zeigt  uns  der  Umstand,  daß 
der  doctrina  und  dem  Worte  Gottes  dieselbe  Bedeutung  zuge- 
schrieben wird,  daß  sie  im  wesentlichen  identifiziert  werden.  Ja 
die  doctrina  erhält  noch  eine  nähere  Bestimmung,  insofern  sie 
auch  als  doctrina  evangelii  bezeichnet  wird.  Die  genaueste  Be- 
stimmung dessen,  was  das  Unentbehrliche,  das  Konstituierende  bei 
der  doctrina  ist,  finden  wir  einmal  im  Kommentar  zum  1.  Cor. 
(O.  C.  49  S.  307).  Dort  wird  gesagt,  auch  in  Corinth  sei  trotz 
großer  Mängel  der  Lehre  und  des  Lebens  noch  eine  Kirche  ge- 
wesen, von  der  man  sich  nicht  hätte  trennen  dürfen :  retinebant  fun- 
damentalem doctrinam,  deus  unus  adorabatur  apud  eos  et  in- 
vocabatur  in  Christi  nomine,  fiduciam  salutis  in  Christo  collocabant, 
habebant  ministerium  non  penitus  corruptum :  ideo  simul  manebat 
ecclesia.  Also  wo  noch  der  einige  Gott  in  Christi  Namen  an- 
gerufen wird,  wo  man  Heilsglauben  auf  Christus  richtet,  ist  die 
grundlegende  Lehre  noch  vorhanden !  Wesentlich  dasselbe  sagt 
eine  andere  Stelle  aus  demselben  Kommentar  (S.  354) :  haec  porrO' 
est  doctrina  funclamentalis,  quam  labefaetari  nefas  est,  ut  Christum 


Von  cand.  theol.  Th.  Werdermann.  }  ^  ^ 

discamus.  —  Qui  —  Christum  didicit,  in  tota  coelesti  doctrina  iam 

est  absolutus. 

Das  äußere  Wort  au  sich  hat  nach  Calvin  keine  erfolgreiche 
Wirksamkeit.  Es  ist  dazu  unbedingt  notwendig,  daß  Gott  durch 
seinen  Geist  eingreift.  So  sagt  Calvin  zu  2.  Cor.  3,  6  nam  literae 
nomine  significat  externam  praedicationem  quae  cor  non  attingat : 
per  spiritum  vero  doctrinam  vivam.  quae  efficaciter  operetur  in 
animis  per  gratiam  spiritus  (O.  C.  50  S.  39).  Darum  heißt  es  auch: 
verbum-spirituale  est  semen,  eo  nostras  animas  regen  erat  solus 
deus  sua  virtute  (O.  C.  49  S.  373).  Und  diese  Wiedergeburt  isl 
dann  der  eigentliche  Eintritt  in  die  Kirche :  transitus  in  ecclesia 
ist  seeunda  nativitas  (O.  C.  31  S.  803).  So  kann  Calvin  dann  auch 
an  dieser  Stelle  fortfahren  :  et  certe  non  aliter  renaseimur  in  coe- 
lestem  vitam,  quam  per  ecclesiae  ministerium.  Und  dasselbe  will 
es  bedeuten,  wenn  an  dem  obigen  Satz,  daß  Gott  allein  durch  das 
geistliche  Wrort  unsere  Herzen  regiere,  unmittelbar  angeschlossen 
wird  :  sed  ministrorum  operam  non  exeludit.  Wohl  hält  Calvin  das 
aufrecht,  daß  Gott  in  seinem  Wirken  nicht  unbedingt  an  die 
äußeren  Zeichen,  Wort  und  Sakrament,  gebunden  ist.  Aber  es  ist 
doch  sein  ordre  perpetuel  qu'il  a  mis  en  son  egiise  ;  wenn  er  anders 
verfährt,  so  geschieht  das  nur  extraordinairement  comme  miracle 
(O.  C.  8  S.  414,  vergl.  O.  C.  49  S.  375  f.). 

Für  einen  rechten  Lehrer  der  Kirche  wird  zuerst  verlangt,  daß 
er  von  Gott  berufen  sei  (O.  C.  49  S.  305).  Sein  Amt  ist  aber  auch 
für  die  Kirche  nötig  (O.  C.  51  S.  198).  Darum  wendet  sich  Calvin 
heftig  gegen  die  Fanatiker,  die  geheime  eigene  Geistesoffen- 
barungen  vorgeben  und  hochmütig  meinen,  des  Predigers  und 
seiner  Verkündigung  nicht  zu  bedürfen  (O.  C.  51  S.  199  f.,  vergl. 
52  S.  42,  316).  Die  Frediger  aber  sind  nur  Säeleute ;  das  Gedeihen 
gibt  allein  Gott.  Ja  eigentlich  ist  Christus  der  einzige  Lehrer  der 
Kirche  (O.  C.  49  S.  316).  Des  Predigers  Wort  hat  nur  Wert, 
wenn  es  sich  ganz  an  Christi  Lehre  anschließt.  Nur  eine  Kirche, 
die  dieses  ganz  tut,  ist  die  columna  veritatis.  Auf  Gottes  Ehre  soll 
in  ihr  allein  hingearbeitet  werden  ;  sowie  sie  ja  auch  eine  plantatio 
in  laudem  dei  genannt  wird  (O.  C.  2,2  S.  31  und  71).  Das  Amt  des 
Predigers  ist  ein  ministerium  Gott  und  der  Kirche  gegenüber. 
Wenn  also  auch  Calvin  die  Notwendigkeit  und  die  Wrürde  des 
Amtes  stark  unterstreicht,  so  betont  er  gerade  auch  jetzt  die  Ab- 
hängigkeit des  ganzen  Seins  und  Wrirkens  der  ministri  von  dem 
Herrn  der   Kirche. 


•i  3  4  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

Ein  praktisch  wirksamer  Schutz  gegen  eine  Pastorenherr- 
schaft, abgesehen  von  der  Bindung  an  die  Schrift  und  der  Fest- 
stellung, daß  sie  untereinander  pares  et  socii  seien  (O.  C.  51  S.  198), 
ist  dann  noch  dadurch  gegeben,  daß  ihnen  andere  Ämter  in  der 
Kirche  an  die  Seite  gestellt  sind.  Noch  nicht  freilich,  indem  neben 
den  pastores  auch  die  doctores  als  notwendig  bezeichnet  werden. 
Diese  haben,  sofern  sie  nicht  überhaupt  zugleich  Pastoren  waren, 
neben  diesen  eine  sie  beschränkende  Rolle  nicht  gespielt.  Mehr 
war  das  der  Fall  bei  den  Ältesten,  denn  vor  der  auch  in  ihrer 
Hand  liegenden,  sich  auf  Leben  und  Lehre  beziehenden  Disziplin 
hatten  auch  die  Pastoren  sich  zu  beugen.  Wenn  als  presbyteri  zu- 
nächst auch  die  Pastoren  bezeichnet  werden,  so  gilt  dieser  Name 
doch  speziell  für  die  Ältesten,  die  aus  dem  Volke  erwählt  sein  sollen 
(O.  C.  52  S.  315).  —  Wenn  die  ministri  auch  prinzipiell  gleichgestellt 
sind,  so  will  Calvin  damit  nicht  für  ausgeschlossen  erklären,  daß 
einer  eine  gewisse  Leitung  ausübt:  sicuti  popuhis  carere  pastore 
nequit :  ita  singuli  pastorum  coetus  moderatorem  aliquem  desi- 
derant.  Verum  semper  valeat  illud,  ut,  qui  omnium  est  primus, 
sit  tanquam  minister  (O.  C.  50  S.  190).  Und  so  finden  wir  noch 
mancherlei  Bestimmungen  über  die  Organisation  der  Kirche,  z.  B. 
auch  über  die  Art,  wie  diejenigen,  welche  eine  theologiche  Bildung 
erhalten  haben,  vor  der  Übertragung  eines  Amtes  sich  bereitwillig 
und  ohne  Jagd  nach  einem  Amte  in  Gottes  Dienst  stellen  sollen 
(O.  C.  52  S.  280) ;  oder  daß  die  Frauen  kein  Amt  erhalten  sollen, 
wobei  jedoch  Ausnahmen  statuiert  werden  (O.  C.  52  S.  276).  Nach 
allem  müssen  wir  sagen,  daß  auch  in  den  exegetischen  Schriften 
die  äußere  Seite  der  Kirche  stark  hervortritt.  Aber  hierauf  darf 
nicht  das  Gewicht  fallen.  Bedeutsamer  ist,  daß  hier  wieder  mehr 
als  in  der  Praxis  Calvins  das  innerliche  Wesen  der  Kirche  betont 
wird,  weniger,  wie  leicht  verständlich  ist,  in  den  Pastoralbriefen  als 
in  denen  an  die  Epheser  und  Kolosser. 

Dies  läßt  sich  auch  bei  dem  sehr  geringen  Stoff  systematischen 
Charakters  feststellen.  Wenn  in  der  Vorrede  zur  lateinischen  Aus- 
gabe des  Katechismus  von  1545  als  Zeichen  davon,  daß  der  con- 
sensus  in  pietatis  doctrina  in  den  evangelischen  Kirchen  vorhanden 
sei,  die  Katechismen  hingestellt  werden,  so  weist  Calvin  doch  auch 
hier  darauf  hin,  daß  wahre  Einheit  nur  in  Christus  zu  finden  sei 
(O.  C.  6  S.  1  ff.).  —  Und  in  den  Zusätzen,  die  wir  in  der  Ausgabe 
der  Institutio  von  1550  finden,  hören  wir  ebenso  von  der  Einigung, 
in  der  wir  mit  Christo  zu  einem  Leibe  zusammenwachsen  (O.  C.  1 
S.  991  Anm.  2). 


Von  cand.  theol.  Th.  AVordermann.  335 


In  den  polemischen  Charakter  tragenden  Schriften  jener 
Epoche  wird  auch  der  römischen  Lehre  gegenüber  zunächst  ge- 
sagt, daß  in  Christus  allein  die  Einheit  der  Kirche  liege  (O.  C.  7 
S.  259),  dali  Christus  allein  das  allgemeine  Episkopat  in  Händen 
habe  (O.  C.  7  S.  395),  ja  daß  in  ihm  allein  die  allgemeine  Kirche 
zu  erblicken  sei.  In  einer  Schrift  gegen  die  Pariser  theologische 
Fakultät,  die  [544  ohne  Namen  ausgegangen  ist,  aber  ohne  Zweifel 
Calvin  zum  Verfasser  hat,  heiüt  es  nach  der  Feststellung,  daß 
wohl  alle  darin  einig  seien :  ecclesiam  universalem  esse  et  misse  ab 
initio  mundi,  et  fore  usque  in  finem,  es  handle  sich  schließlich 
darum,  wie  denn  die  Kirche  zu  erkennen  sei.  Und  dann  stellt 
Calvin  als  seine  Meinung  auf:  eum  (sc.  aspectum  ecclesiae)  con- 
stituimus  in  verbo  dei.  Vel,  si  quis  malit,  quum  Christus  eius  sit 
caput :  quemadmodtim  agnoscitur  homo  ex  facie,  ita  illam  in  Christo 
intuendam  esse  dieimus  (O.  C.  7  S.  30).  Also  gerade  der  katholischen 
Lehre  gegenüber  tritt  hier  wieder  der  Gedanke,  der  unsichtbaren 
Kirche  hervor.  Doch  wird  auch  hier  nicht  eine  sichtbare  und  eine  un- 
sichtbare Kirche  geschieden,  sondern  einfach  gesagt,  die  Kirche  sei 
eine  Zeit  lang  unsichtbar  gewesen.  Auch  hier  wird  als  das  Wesens- 
zeichen der  Kirche  Christus  genannt :  Statuamus  ergo,  videri  ecclesiam 
ubi  apparet  Christus,  ubi  verbum  eius  auditur  (S.  31).  Zugleich  erhält 
hier  das  zweite  Zeichen,  das  immer  neben  Christus  gestellt  wird, 
das  Wort  und  die  ihm  gleich  gesetzte  doctrina  veritatis,  eine  nähere 
Bestimmung.  Der  wesentliche  Inhalt  wird  mit  Christus  zusammen- 
gefaßt. —  Im  ganzen  aber  erkennen  wir  auch  eine  Zurückstellung 
der  Sichtbarkeit  der  Kirche  ihrem  vielleicht  auch  nicht  zu  sehenden 
inneren  Wesen  gegenüber.  Und  dasselbe  finden  wir  auch  weiter- 
hin, in  der  zuletzt  angeführten  Schrift,  wie  in  den  sonstigen  \  er- 
öfrentlichungen  gegen  die  Römischen,  —  so  gleich  schon  in  den 
näheren  Ausführungen  über  das  Verständnis  des  verbum  dei. 
Gewiß  soll  man  bei  entstandener  Uneinigkeit  das  Urteil  eines  even- 
tuell auch  durch  den  Kaiser  zu  berufenden  Konzils  nicht  gering 
achten  (O.  C.  7  S.  32,  261  f.,  265,  380).  Aber  man  darf  die  Ent- 
scheidung nicht  solcher  menschlichen  Versammlung,  überhaupt 
nicht  der  sichtbaren  Gestalt  der  Kirche  übertragen  (O.  C.  S.  32, 
380).  Dann  läuft  man  Gefahr,  die  Wahrheit  zu  verlassen.  Diese 
ist  allein  bei  Gott  zu  finden.  Es  kommt  darauf  an.  daß  das  Konzil 
durch  den  heiligen  Geist  geleitet  werde  (O.  C.  7  S.  35,  382).  Die 
Wahrheit  Gottes  aber  erkennen  wir  in  der  Schrift  (O.  C.  7  S.  32  f., 
5o6),  _  Auch  bei  der  Zucht,  im  besonderen  der  Exkommunikation 


2  2  6  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

liegt  allein  bei  der  sichtbaren  Kirche,  der  externa  ecciesiae  facies, 
die  Gefahr  vor,  daß  man  zu  Unrecht  von  ihr  ausgeschlossen  werde. 
Bei  der  wahren  Kirche  ist  das  nicht  zu  befürchten.  Und  nur  der 
Ausschluß  von  dieser  läßt  uns  des  Heils  verlustig  gehen  (O.  C.  7 

S.  33  f.)- 

Auch  in  Calvins  Polemik  gegen  das  Interim,  das  gerade  auch 
an  diesen  Punkten  katholisierte,  zeigt  sich  die  Betonung  der  inner- 
lichen Seite  der  Kirche.  Das  Interim  stellte  fest,  daß  die  Kirche 
die  echten  biblischen  Schriften  bestimmt  und  so  auch  die  Macht 
habe,  sie  auszulegen.  Sie  sei  ja  auch  im  Besitz  der  Tradition  von 
Jesus  und  den  Aposteln  her.  Sie  habe  das  Recht,  Gesetze  zu  geben 
und  zu  strafen  (O.  C.  7  S.  563).  Dagegen  wendet  sich  Calvin  in 
seiner  Schrift :  Vera  christianae  ecciesiae  pacificationis  et  ecciesiae 
reformandae  ratio.  Die  drei  im  Interim  aufgestellten  notae  für  die 
Erkenntnis  der  Kirche  will  er  wohl  anerkennen:  puram  doctrinam, 
rectum  sacramentorum  usum  et  sanctam,  quae  inde  pendet  uni- 
tatem  (O.  C.  7  S.  610).  Aber  er  kann  nicht  in  der  continua  episco- 
porum  successio  die  Gewähr  für  das  Bewahren  der  rechten  Lehre 
sehen.  Ihm  liegt  sie  vielmehr  in  der  Verheißung  Gottes,  daß  die 
Kirche  Christi  nie  aufhören  werde  (S.  610  f.).  So  will  Calvin  bei 
der  Bestimmung  der  Kirche  von  ihrem  Haupte  Christus  ausgehen. 
Cur  ergo  in  consideranda  ecclesia,  non  ab  ipso  capite  incipimus, 
praesertim  quum  eo  nos  Christus  ipse  revocet  ?  —  Ouare  si  in 
certam  ecciesiae  unitatem  coalescere  libet,  in  veritatem  Christi 
tantum  consentiamus  (S.  612).  Dem  Interim  macht  er  zum  Vor- 
wurf, daß  es  bei  seiner  Bestimmung  der  Autorität  der  Kirche 
schließlich  nicht  auf  Gottes  Wort,  sondern  auf  der  Menschen  Ge- 
fallen ankomme.  So  lehnt  er  es  auch  ab,  daß  die  Kirche  über  die 
Schrift  zu  urteilen,  sie  auszulegen  und  neue  Lehren  festzusetzen 
habe.  Wohl  muß  die  Kirche  die  wahren  Schriften  von  falschen 
unterscheiden.  Aber  nur  wie  die  Schafe  auf  ihres  Hirten  Stimme 
hören  und  der  eines  Fremden  nicht  folgen  (S.  612).  Die  Auslegung 
kommt  der  Kirche  nur  zu,  sofern  sie  Gottes  Geist  hat  (S.  613).  — 
Interessant  ist  es,  daß  Calvin  eine  Handauflegung  als  Konfirmation 
der  Kinder  für  wünschenswert  hält.  Nos  quoque  eins  modi  ritum 
ubique  restitutum  merito  optaremus,  quo  offerantur  deo  pueri,  post 
editam  fidei  suae  confessionem  (S.  628).  Er  will  diese  Handauf- 
legung jedoch  nicht  als  ein  Sakrament  anerkennen,  während  er 
nichts  dagegen  hat,  daß  die  bei  der  Einführung  eines  ministers  so 
genannt    werde    (S.    632).      Wenn    Calvin    hierbei    auf    die    äußere 


Von  cand.  theol.  Th.   Wcrderm.inn.  337 

Ordnung  der  Kirche  großen  Wert  legte,  so  erklärt  er  dann  doch 
auch  wieder:  Latet-intertum  ecclesia,  fugitque  hominum  oculos, 
ut  frustra  externum  in  ea  regimen  aut  principatus  quispiam  requi- 
ratur  (S.  636). 

Daß  die  Kirche  das  spirituale  Christi  regnum  ist,  wird  auch 
denen  gegenüber  ausgeführt,  welche  die  Wahrheit  des  Evangeliums 
wohl  erkannt  haben,  aber  durch  mancherlei  Gründe,  besonders 
durch  Furcht  vor  Verfolgung  und  Not  gehindert  werden,  sich  offen 
dazu  bekennen  (O.  C.  8  S.  24).  Auch  hier  erklärt  Calvin,  dal\  die 
Kirche  bei  aller  Ehrfurcht,  die  ihr  gebühre,  sich  unter  Gottes  Wort 
beugen  müsse  ;  nur  dann  sei  sie  columna  veritatis  (O.  C.  8  S.  78  f.).  — 
Wie  hoch  aber  doch  die  äußere  Ordnung  der  Kirche  zu  schätzen 
sei,  sagt  er  auch  gerade  diesen  „Nicodemiten"  gegenüber  in  einer 
anderen  Schrift,  wo  er  es  als  eine  Strafe  Gottes  bezeichnet,  wenn 
in  einem  Lande  nicht  eine  geordnete  Kirche  sei  (O.  C.  6  S.  612).  — 

In  der  Natur  der  Sache  liegt  es  denn  auch,  wenn  Calvin  in  den 
Streitschriften  gegen  die  Schwärmer  stark  das  Gewicht  auf  die 
äußere  sichtbare  Seite  der  Kirche  legt.  Nicht  freilich  ist  das  darin 
zu  finden,  wenn  er  die  Kindertaufe  damit  rechtfertigt,  naß  einem 
Menschen,  der  en  la  compagnie  des  fideles  sei,  nicht  nur  für  seine 
Person,  sondern  auch  für  seine  Kinder  die  Heilsverheißung  gelte 
(O.  C.  7  S.  58).  Aber  vor  allem  fordert  er  stark  den  Anschluß  an 
die  organisierte  sichtbare  Kirche,  wo  er  auf  den  Vorwurf  der  Ana- 
baptisten zu  sprechen  kommt,  daß  in  der  evangelischen  Kirche  nicht 
rechte  Zucht  geübt  werde  (S.  68,  yf).  Eine  Scheidung  von  der 
Kirche  wird  als  eine  Mißachtung  von  Gottes  Wort  und  Sakrament 
bezeichnet  (S.  67  f.).  —  Eben  das  ist  es  auch,  was  er  den  Liber- 
tinern,  deren  Lehre  ihm  ein  Labyrinth  von  Irrtümern  ist,  im  all- 
gemeinen vorwirft,  daß  sie  sich  nicht  unter  die  Schrift  beugen, 
sondern  in  vielfacher  Weise  sich  auf  den  Geist  berufen,  den  sie 
aber  stets  mißbrauchen  (O.  C.  S.  174  ff.). 

Damit  schließen  wir  unsere  historische  Untersuchung  ab. 
Mit  den  Jahren  1559/60  steht  Calvins  Theologie  und  Praxis  in 
ihrer  endgültigen  Form  vor  uns  als  notwendiges,  durch  die  bis- 
herige Entwicklung  festliegendes  Resultat.  Das  Material  dieser 
Jahre  ist  also  am  besten  bei  der  zusammenfassenden  systematischen 
Arbeit  zu  verwerten. 

Wir  haben  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  beobachtet  in  ihrer 
Entstehung  und  weiteren  Entfaltung,  in  ihrer  dogmenhistorischen 
Bedingtheit  und   in   ihrer   Eigenart.     Wir   hielten   es   für   wichtig, 

Calvinstudien. 


■5^8  Calvins  Lehre  von  der  Kirche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung. 

nicht  nur  die  theoretischen  Aussagen,  sondern  auch  die  praktischen 
Betätigungen  heranzuziehen,  und  beides  aus  einem  gegenseitigen 
Ineinandergreifen  und  Sichbestimmen  zu  verstehen.  —  Wenn  wir 
nun  Calvin  in  seiner  Praxis  gerade  einige  Züge  seiner  Anschauung 
von  der  Kirche  immer  aufs  stärkste  unterstreichen  sehen,  die  ihm 
eigentümlich  sind;  und  wenn  wir  dann  weiter  gerade  diese  Züge 
begründet  finden  in  der  spezifischen  Färbung  seiner  in  der  Be- 
kehrung geweckten  Frömmigkeit,  so  liegt  es  doch  wohl  am  näch- 
sten, die  Eigenart  seiner  Lehre  von  der  Kirche  wie  auch  die  ihrer 
Anwendung  und  Umsetzung  in  die  Wirklichkeit  eben  aus  seiner 
bestimmten  Frömmigkeit  abzuleiten.  Dazu  ist  man  eigentlich 
schon  von  vornherein  verpflichtet  bei  einem  Menschen,  der  ein 
so  starkes  Innenleben  mit  Gott  führt  wie  Calvin  und  dabei 
zugleich  vom  Bestreben  erfüllt  ist,  mit  seinem  ganzen  Sein 
und  Tun  Gott  zu  dienen.  Daß  bei  Calvin  die  Beugung  vor 
Gottes  Ehre  gerade  auch  in  seiner  Lehre  von  der  Kirche  bestim- 
mend ist,  muß  aber  jenen  Versuchen  gegenüber  betont  werden, 
die  ihre  Eigenart  darauf  zurückführen  wollen,  daß  Calvin  ein  Wel- 
scher oder  ein  Jurist  gewesen  sei. 


Calvins  Vorsehungslehre. 

Von 

Lic.  Dr.  J.  Bohatec, 

Inspektor  des  reformierten  Kandidatenstifts  in  Elberfeld. 


Die  Vorsehungslehre  Calvins  ist  bisher  nie  selbständig  behan- 
delt worden.  Wurde  sie  von  der  Forschung  beachtet,  so  geschah 
dies  vorwiegend  in  Verbindung  mit  der  Prädestinationslehre,  wobei 
hauptsächlich  die  Frage  der  Überordnung  der  einen  Lehre  über 
die  andere  erwogen  wurde.  Diese  Frage  ist  in  Fluß  gekommen, 
als  Alexander  Schweizer  die  These  ausgesprochen  hatte,  Calvin 
wäre  bei  der  Betonung  der  gemeinsamen  protestantischen  Dogmen 
(servum  arbitrium  und  Prädestination)  geleitet  von  der  Idee  der 
ewigen  Ratschlüsse,  im  Unterschiede  von  Zwingli,  bei  dem  die 
absolute  Gottheit  und  Vorsehung,  und  von  Luther,  bei  dem  der 
verknechtete  Wille  in  den  Erörterungen  der  Prädestinationslehre 
mehr  in  den  Vordergrund  treten.  Hat  Schweizer  somit  die  Prä- 
destination als  Calvins  Zentraldogma  im  strengsten  Sinne  des 
Wortes  bezeichnet,  so  beherrscht  sie  nach  Albr.  Ritschi  nicht  das 
System  Calvins,  sondern  ist  ein  für  ihn  wegen  der  Autorität  des 
Paulus  immerhin  sehr  wichtiges  Anhängsel  seiner  Lehre  von  der 
Erlösung;  sie  ist  für  Calvins  Lehrbegriff,  ebenso  wie  für  Luthers 
Theologie  eine  Lehre  sekundären  Wertes.  Seine  Stammlehre  ist 
nach  Ritschi  die  von  Gottes  Allwirksamkeit  durchdrungene,  auf  die 
Gemeinde  der  Erwählten  gerichtete  Providenz,  die  als  durchgehen- 
der Gottesbriff  —  im  Gegensatz  zu  der  Prädestinationslehre  —  die 
allgemeine  Güte,  Gnade  und  Liebe  voraussetzt  und  nach  der  auch 
die  Lehren  vom  Gesetz  und  Erlösung  bemessen  sind. 

Eine  abweichende  Stellung  hat  M.  Scheibe1  eingenommen.  Er 
betont  Schweizer  gegenüber,  daß  innerhalb  des  theologischen 
Systems  und  der  religiösen  Gesamtanschauung  Calvins  die  Lehre 


i)  Calvins   Prädestinationslehre.     1897. 


34Q 


Calvins  Vorsehun^slehre. 


von  der  praedestinatio  duplex  nicht  die  Zentrallehre  sei  (S.  99,  103), 
da  ihr  die  Lehren  vom  Werke  Christi  und  der  Rechtfertigung 
ziemlich  selbständig  gegenüberstehen.  Wenn  sie  in  ihrer  reifen 
Ausgestaltung  als  ein  wesentlicher  und  selbständiger  Bestand- 
teil der  religiösen  und  theologischen  Überzeugung  Calvins  ver- 
treten werde,  so  liege  der  Grund  darin,  daß  die  Idee  der  gött- 
lichen Machtvollkommenheit  und  Alleinursächlichkeit  ein  wesent- 
liches Moment  der  Religiosität  Calvins  bilde  und  sein  theologisches 
System  durchziehe  (S.  124).  —  Ritschi  gegenüber  weist  Scheibe 
nach,  daß  zwischen  der  Vorsehungslehre  und  Prädestinationslehre 
insofern  eine  Diskrepanz  bestehe,  als  der  Gottesbegriff  beider 
Lehren  wesentlich  identisch  sei.  Scheibe  schließt  sich  R.  Seeberg  1 
an,  während  A.  Lang  2  an  der  Prädestination  als  Zentraldogma  fest- 
halten will,  wenn  er  auch  neben  ihr  ein  anderes  religiös  gleich- 
wertiges Zentrum,  das  in  der  Heilslehre  wurzelnde,  von  Luther 
durch  Butzer  überkommene  Erbgut,  anzunehmen  sich  gedrungen 
fühlt. 

Scheibes  reichhaltige  Darlegungen  leiden  an  zwei  Mängeln: 
Erstens  hat  er  unterlassen  zu  untersuchen,  ob  Ritschis  These, 
daß  die  Providenz  Calvins  Stammlehre  sei,  den  Quellen  entspreche. 
Er  beschränkt  sich  im  wesentlichen  nur  auf  den  Nachweis  der 
Übereinstimmung,  die  inbezug  auf  den  Gottesbegriff  zwischen  der 
Prädestinationslehre  und  Vorsehungslehre  herrscht.  Zweitens  hat 
er  die  Frage,  ob  die  Prädestinationslehre  Calvins  Zentrallehre  sei, 
mit  Unrecht  verneint,  weil  er  das  objektive,  wenn  auch  religiös 
motivierte  Prinzip  der  Allwirksamkeit  und  Souveränität  Gottes 
von  dem  allen  Reformatoren  gemeinsamen  subjektiven  Heils- 
prinzip bei  Calvin  nicht  deutlich  genug,  wie  wir  sehen  werden, 
unterschieden  hat. 

Um  das  beiderseitige  Verhältnis  der  Lehren  von  der  Providenz 
und  Prädestination,  sowie  die  Stellung  beider  im  System  Calvins 
bestimmen  zu  können,  ist  eine  genaue  Charakteristik  ihres  reli- 
giösen Gehaltes  unerläßlich.  Zwar  ist  Scheibe  zuzustimmen,  daß 
,, innerhalb  der  historischen  Forschung  über  Calvins  Lehre  von  der 
Prädestination,  soweit  es  sich  einfach  um  deren  theologische 
Formulierung  handelt,  Übereinstimmung  herrscht" ;  zwar  ist  es 
Scheibe  gelungen,  nachzuweisen,  daß  die  Idee  Gottes  als  des  all- 
wirkenden und  auf  Verherrlichung  seiner  Wesensfülle  bedachten 

1)  Dogmengesch.    II,  397. 

2)  Der  Evangelienkommentar  M.  Butzers  und  die  Grundzüge  seiner 
Theologie  S.  6,  365  f. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  341 


Souveräns  neben  dem  Gedanken  des  auf  das  Ziel  der  Menschen 
gerichteten  Liebewillens  ein  wesentliches  Moment  im  Gottesbegriff 
und  in  der  Religiosität  Calvins  bildet.  Hinsichtlich  der  Vor- 
sehungslehre sind  aber  die,  beim  Mangel  an  eingehender  Be- 
handlung dieser  Lehre  allerdings  nur  sporadisch  und  gelegentlich 
aufgeworfenen,  Urteile  nicht  einheitlich.  Während  z.  B.  Schweizer 
die  Providenz  zu  der  theologia  naturalis  (articuli  mixti)  rechnet 
und  E.  W.  Mayer  '  in  ihr.  wie  in  der  Gotteslehre  überhaupt,  vom 
Christusglauben  abstrahieren  will,  findet  Ritschi,2  daß  die  christliche 
Idee  der  Versöhnung  alle  Beziehungen  der  Vorsehungslehre  be- 
herrscht, obwohl  sie  nach  ihrer  Stellung  —  vor  der  Erlösungslehre 
—  scheinbar  eine  neutrale  Haltung  gegen  die  Versöhnungslehre 
einnimmt.  Mit  Ritschi  stimmt  Lobstein  3  überein.  Für  die  ed.  1539 
nimmt  K  ö  s  1 1  i  n  4  eine  Abhängigkeit  der  Vorsehungslehre  von 
der  Heilslehre  insofern  an,  als  die  in  der  Vorsehungslehre  dar- 
gelegte Auffassung  von  dem  Verhältnisse  Gottes  zur  Welt  über- 
haupt durch  dasjenige,  was  wir  als  Christen  aus  der  Heilswirksam- 
keit Gottes  über  sein  Verhältnis  zu  uns  erfahren,  bestimmt  werde. 
Scheibe  (a.a.O.  110)  modifiziert  diese  Behauptung  dahin,  daß  Cal- 
vin die  Aufgabe,  das  Problem  der  Anwendung  des  Gedankens  von 
der  götlichen  Allwirksamkeit  auf  das  Weltgeschehen  genauer  zu 
verfolgen,  im  Zusammenhange  und  im  Gefolge  seiner  Bemühungen, 
die  Prädestination  zu  sichern,  entgegengetreten  ist. 

Nimmt  die  vorliegende  Untersuchung  alle  erwähnten,  seit 
Schweizer  aufgeworfenen  Fragen  wieder  auf,  um  sie,  wenn  mög- 
lich, einer  allseitigen  Beantwortung  zuzuführen,  so  beansprucht  die 
Vorsehungslehre  Calvins  an  sich,  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Stellung 
im  System,  eine  eingehendere  Würdigung  nicht  bloß  wegen  der  in 
ihr  enthaltenen  beachtenswerten  Freiheitslehre,  sondern  auch  wegen 
des  charakteristischen  Gepräges  der  Frömmigkeit  Calvins,  das  vor- 
züglich in  ihr  zum  Audruck  kommt  und  gewöhnlich  übersehen 
oder  mißdeutet  wird. 

Als  Quelle11  kommen  für  uns  in  Betracht : 

1.  Die  Erstlingsschrift  Calvins:  Kommentar  zu  Senecas  Werk 
„de  dementia"  enthält  wertvolle  Charakteristik  der  stoischen  Vor- 
sehungslehre imd  Lebensanschauuna:. 


1)  Das  christliche  Gottvertrauen  und  der  Glaube  an  Christus.    1899. 

_')  Rechtf.   u.  Vers.1  III.    146. 

$)  P.  R.  E. '   Bd.  20,    S.  574. 

4)  Stud.  u.   Kr.   1868,  426  ff. 

5  )  Wir  zitieren  die  Bände  der  Schriften  Calvins  nach  der  Reihenfolge 

der    im  CR    enthaltenen    Opera    Calvini,    nicht    nach    der    Reihenfolge    des 


'XA2  Calvins  Vorsehungslehre. 


2.  Die  Institutio  von  1536  behandelt  die  Vorsehungslehre  nur 
sporadisch.  Im  Kapitel  de  lege  et  fide  (Op.  1,  60)  wird  die  difncilis 
et  involuta  quaestio  berührt,  an  Dens  autor  sit  peccati,  an  malum 
Deo  sit  imputandum,  an  iniustitia  opus  eins  censeri  debeat.  Zer- 
streute Gedanken  finden  sich  bei  der  Auslegung  der  oratio  Domini 
(die  Erklärung  des  pater  noster,  qui  es  in  coelis  S.  90;  7.  Bitte 
S.  95 ;  Doxologie  S.  99).1  Die  Providenz  wird  einfach  mit  der  Prä- 
destination identifiziert :  Dei  ,, Providentia"  electi  sunt ;  „immutabi- 
lis  Providentia"  (S.  73).  Am  längsten  verweilt  Calvin  bei  der  Pro- 
videnzlehre  in  der  Auslegung  des  1.  Glaubensartikels,  die  fast 
wörtlich  von  Luthers  kleinem  Katechismus  abhängig  ist. 

3.  Wesentlich  erweitert  sind  diese  Gedanken  in  der  Auslegung 
desselben  Artikels  in  der  ed.  1539 — 1554.  Neu  hinzugekommen 
sind  hier  namentlich  drei  Abschnitte,  die  dann  fast  unverändert  in 
die  Institutio  von  1559  herübergenommen  worden  sind.  Der  erste 
handelt  von  der  aus  dem  Vorsehungsglauben  fließenden  consolatio 
(Op.  1,  496  =  Op.  2,  146.  147) ; 2  der  zweite  von  dem  Verhältnis  des 
göttlichen  Allmachtwirkens  zum  Wirken  der  creaturae ; 3  endlich 
der  dritte,  offenbar  von  Melanchthon  abhängige  (cf.  C.  R.  21,  271) 
von  dem  Unterschied  des  glaubensmäßigen  Erfassens  der  Vor- 
sehung von  dem  vernunftmäßigen  (Op.  1,  511  =  2,  144).  Sonst 
weist  die  Institutio  von  1539  eine  größere  zusammenhängende  Dar- 
legung der  Providenzlehre  in  ihrem  VIII.  Kapitel  (in  der  ed.  1543 
Kap.  IV):  De  praedestinatione  et  Providentia  Dei  (Op.  1,  862 — 902; 
über  die  Providenz  S.  889  ff.),4  welche  den  Grundstock  der  Aus- 
führungen in  der  ed.  1559  bildet. 

4.  Zwischen  diesen  beiden  Hauptgestalten  der  Institutio  liegen 
wichtige  apologetisch-polemische,  exegetische,  homiletische  Schrif- 
ten, die  davon  zeugen,  wie  die  Providenzgedanken  den  Reformator 
bewegten,  mit  welch  einer  Mühe  und  Freude  er  ihre  tiefsten  Pro- 
bleme theoretisch  löste,  praktisch  verwertete  und  gegen  Angriffe 
verteidigte.     Unter  den  ersteren  ist  neben  den  Apologien  der  Prä- 


CR  selbst;  wo  die  Zitate  mit  I  und  den  beigefügten  arabischen  Ziffern 
angeführt  sind,  ist  immer  das  erste  Buch  mit  seinen  Kapiteln  und  Ab- 
schnitten in  der  Institutio   1559   gemeint. 

1)  Dieselben   fast  wörtlich   in   der    ed.    1539,    S.  926,   929  ff. 

2)  Dies  ist   von  den    Straßburger   Herausgebern  übersehen   worden. 

3)  Die    Institutio    1555    druckt    statt    creature:    res    inanimatae,    1,    510 
=  2,    145.   146. 

4)  Der  Abschnitt  ist  noch   1550  in  Genf  von   einem   Anonymus    (wohl 
Crispinus)    herausgegeben  worden. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  343 


destinationslehre  1  namentlich  zu  erwähnen  die  1549  erschienene 
Polemik  gegen  die  Astrologie :  Advertissement  contre  l'astrologie 
qu'on  apelle  judiciaire  et  autres  curiosites  qui  regnent  aujourd'huy 
au  monde  (Op.  7,  514 — 542).  Sie  wurde  vermutlich  schon  1548  ver- 
faßt und  1549  französisch  herausgegeben.  Unter  den  exegeticis 
muß  der  Psalmenkommentar  (Op.  31  und  32)  hervorgehoben  wer- 
den. Denn,  so  erklärt  Calvin  in  der  Vorrede  (S.  19,  31),  nusquam 
magis  luculenta  tum  singularis  erga  ecclesiam  Dei  benefkentiae, 
tum  minium  eius  operum  praeconia  leguntur,  nusqua  m  tot  nar- 
rantur  liberationes,  vel  tarn  splendide  ornantur  paternae  erga  nos 
ipsius  providentiae  et  curae  documenta:  nusquam 
denique  vel  Dei  laudandi  plenior  traditur  ratio,  vel  ad  praestandum 
hoc  pietatis  officium  acrius  stimulamur  .  .  .  praecique  tarnen  nos  ad 
c  r  u  c  i  s  tolcrantiam  instituet :  quae  vera  est  oboedientiae 
probatio,  ubi  propriis  affectibus  valere  iussis  Deo  nos  subiieimus 
patimurque  eius  a  r  b  i  t  r  i  o  v  i  t  a  m  nostram  gubernari, 
ut  quae  nobis  acerbissimae  sunt  aerumnae,  quia  ab  ipso  proficis- 
euntur,  dulcescant.  Er  ist  besonders  wichtig,  da  in  ihm  keine 
Theorie  vorgetragen,  sondern  gewissermaßen  die  Konfession  des 
Reformators  mit  Wärme  uns  vor  den  Augen  entrollt  wird;  seine 
Erkenntnisse  werden  hier  zu  Bekenntnissen.  Calvin,  der  sein 
ganzes  Leben  von  der  Providenz  geleitet  wußte,  erkannte  in  den 
Erlebnissen  des  Psalmisten  seine  Lebensführungen  wieder:  et 
agnoscent  lectores,  nisi  fallor,  ubi  intimos  tarn  Davidis  quam 
aliorum  sensus  explico,  non  secus  ac  de  rebus  familiariter  com- 
pertis  disserere  (ib.  S.  33). 

5.  Am  ausführlichsten  und  systematisch  wird  die  Providenz 
behandelt  in  der  Institutio  von  1559  (Lib.  I,  cap.  16 — 18;  Op.  2,  144 
bis  174),  wobei  Kapitel  VIII,  das  im  Kerne  die  Argumente  der 
früheren  polemischen  Schriften  wiedergibt  nebst  einigen  kleineren, 

1)  1.  Defensio  sanae  et  orthodoxae  doctrinae  de  Servitute  et  liberatione 
humani  arbitrii  adversus  calumnias  Alberti  Pighii  Campcnsis  Op.  6,  225 
bis  404  —  eine  Verteidigung  gegen  die  sechs  ersten  Bücher  des  Werkes 
Pighius':  De  libero  hominis  arbitrio  et  divina  gratia  libri  decem;  2.  Con- 
sensus  Genevensis  [De  aeterna  Dei  praedestinatione,  qua  in  salutem  alios 
ex  hominibus  elegit,  alios  suo  exitio  reliquit:  item  de  Providentia  qua  res 
humanas  gubernat,  consensus  pastorum  Genevensis  ecclesiae  le  Jo.  Calvino 
expositus]  Op.  8,  249 — 366;  3.  zwei  polemische  Schriften  gegen  Castellio, 
[Brevis  responsio  ad  diluendas  nebulonis  cuiusdam  calumnia  quibus  doc- 
trinam  de  aeterna  Dei  praedestinatione  foedare  conatus  est  1557;  Calum- 
niae  rebulonis  cuiusdam  quibus  odio  et  imidia  gravare  conatus  est  doctri- 
nam  de  aeterna  Dei  Providentia  et  ad  easdem  responsio  1558;  beide  Op.  9, 
253—266] . 


344  Calvins  Vorsehungslehre. 


die  Akkusität  des  göttlichen  Vorsehungswaltens  und  den  speziell 
christlichen  Charakter  der  Vorsehungslehre  hervorhebenden  Ab- 
schnitten neu  ausgearbeitet  worden  ist. 

I.    Kapitel. 
Inhalt  und  Art  der  Vorsekungslehre  Calvins. 

1.   Die  scholastische  Vorsehungslehre  und  die  religiöse 
Stimmung  um  die  Zeit  Calvins. 

Um  die  Eigenart  und  Bedeutung  der  Vorsehungslehre  Calvins 
sowie  ihre  polemischen  Wendungen  gebührend  begreifen  zu  können, 
müssen  wir  einen  Rückblick  tun  auf  die  traditionelle  scholastische 
Lehre  und  die  Stimmung,  die  sich  aus  ihr,  besser  neben  ihr  ent- 
wickelt. 

Die  Vorsehungslehre  der  Scholastik  diente  ausschließlich  der 
rationalen  Natur-  und  Welterklärung ;  sie  war  ein  wesentlicher  Teil 
der  aristotelischen  Naturphilosophie.  Es  handelt  sich  ihr  vor- 
nehmlich um  die  Frage :  Wie  verhält  sich  die  göttliche  Welt- 
erhaltung und  -regierung  zu  dem  großen  System  der  Ursachen  und 
Zwecke?  Wie  fängt  es  Gott,  die  causa  prima,  das  Prinzip  sowohl 
des  Bestehens  als  auch  der  Wirksamkeit  der  Dinge,  der  absolute 
Beweger,  an,  die  causae  mediae  (intermediae,  inferiores)  zu  be- 
einflussen und  bewegen,  den  großen  Bestand  der  Sphären  und 
Intelligenzen,  der  den  Dingen  inhärierenden  Formen  und  Kräfte  zu 
erhalten?  Das  Urteil  über  die  Art  des  Grundverhältnisses  Gottes 
zu  dem  Universum  und  zu  dem  Einzelnen  hing  ab  von  der  Auf- 
fassung und  Bestimmung  einzelner  Teile  des  Weltganzen  und  der 
Normierung  der  gegenseitigen  Beziehungen  derselben ;  es  tauchten 
auf  verschiedene  Modifikationen  der  aristotelischen  Grundanschau- 
ung, die,  namentlich  durch  arabische  und  jüdische  Philosophie 
scharf  ausgeprägt,  in  die  christliche  Systematik  durch  Thomas  von 
Aquino  und  Albertus  Magnus  eingedrungen  ist.  —  Die  Oberherr- 
schaft in  der  Geisterwelt  führte  aber  zur  Zeit  Calvins  der  okka- 
mistische  Nominalismus.  Sein  Grundzug  ist  der  Terminismus: 
Gott  kann  von  uns  nur  durch  einen  Begriff  erkannt  werden ; 
reden  wir  von  seinen  Beziehungen  zur  Welt,  seiner  Schöpfung 
und  Erhaltung,  so  ist  es  nur  Akkomodation  an  unsere  zeitliche 
und  konkrete  Betrachtungsweise.  Damit  ist  der  Begriffsformalis- 
mus auf  den  Schulen  zur  Blüte  gediehen.  Namentlich  scheint  in 
dieser    Zeit    Calvins    Heimatuniversität,    Sorbonne,    unter    diesem 


Vun  Lic.  Dr.  J.  Bot  345 


Bann  gestanden  zu  haben.1  Es  macht  sich  aber  eine  Reaktion 
geltend.  Die  via  antiqua,  auch  via  Scoti  genannt,-  kämpft  gegen  die 
terministischen  Sophisten:  Sophismata  vestra  contemnimus,  de  ter- 

minis  nun  curamus,  nos  imus  ad  res.  Im  Kreise  der  via  antiqua, 
namentlich  durch  den  Einfluß  Erasmus',  entsteht  ein  ..Laien- 
christentum", das,  alle  scholastischen  Spitzfindigkeiten  verachtend, 
den  reinen,  einfachen  Jesusglauben  der  Bergpredigt,  Vorsehungs- 
glauben, Lebensernst  und  Jenseitshoffnung  kultivieren  will,8  wobei 
man  sich  von  den  Gelehrten  trennt  und  in  die  Arme  der  Kirche 
wirft,  welche  die  Bürgschaft  der  jenseitigen  Belohnung  in  sich 
trägt.  Theoretisch-kosmologisch  begründet,  wird  der  Vorsehungs- 
glaube zum  Glauben  an  die  Kirche.  — 

Versprach  die  Kirche  die  Befriedigung  für  das  Jenseits,  so 
eröffneten  die  Sterne  den  Blick  in  die  dunkle  Zukunft  des  Dies- 
seits —  die  Astrologie  war  d  i  e  Wissenschaft.  Sie  stand 
damals  in  voller  Blüte, '  obwohl  das  Licht  der  wiedergeboren  n 
Wissenschaften  am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  der  Zeit  der 
Enquecentisten,  schien.  Selbst  der  gelehrteste  der  Humanisten, 
Erasmus,  steht  in  ihrem  Bann,  Luther,  Melanchthon  und  Beza 
konnten  sich  von  ihr  nicht  völlig  emanzipieren.  Viele  Universi- 
täten öffneten  ihr  die  Tore ;  die  ältesten  in  Bologna  und  Padua 
haben  für  sie  Lehrstühle  errichtet.  Über  die  Pariser  alma  mater 
schreibt    der    größte    Gegner    der    Astrologie,    Picus   Mirandula  :5 


1)  So  schreibt  1518  der  spätere  Gegner  Calvins,  Albertus  Pighius, 
(Astrologiae  defensio  adversus  prognosticatorum  vulgus,  qui  annuas  prae- 
dicationes  edunt  et  se  astrologos  mentiuntur,  ad  Aug.  Nimphum  Paris 
1518):  In  hac  autem  civitate  (Parisiaca)  ab  antiquo  sophiae  Studium  fuit, 
celebrum  admodum:  sed  nescio  quo  tarn  diro  lato  omnes  diseiplinae  me- 
liores,  ipsum  quoque  verum  theologicum  Studium  (quod  super  omnes 
terrarum  nationes  rigere  apud  se  gloriantur)  tarn  longo  tempore,  a  tarn 
frequenti  tamque  nobili  studio  exolavere  et  sola  sophismata  et  nugarissimae 
carillationes  subrepsere  in  locum  earundem.  Quibus  tot  praeclara  ingenia 
tarn  male  perduntur:  qui  ex  toto  terrarum  orbe  huc  veluti  ad  sapientiae 
Studium  coneurrunt  nihil  praeter  inanes  contentiones  ad  patriam  repor- 
tantes.  Qui  se  tunc  existimant  ad  summum  philosophiae  et  diseiplinarum 
omnium  pervenisse  immo  et  theologos  esse  insignes:  cum  inextricabiles 
aliquos  verborum  nodos   seiverint  involvere. 

2)  Hermelink,  Die  religiösen  Reformbestrebungen  des  deutschen 
Humanismus  S.  II. 

3)  Troeltsch,  Kultur  der  Gegenwart,  Teil  I,  Abt.  IV,  271;  Hermelink 
a.a.O.  S.  18  ff. 

4)  Vgl.  Friedrich,  J..  Astrologie  und  Reformation  (S.  16  ff.).  Calvin 
läßt  Friedrich  unberücksichtigt. 

5)In  seinen  Disputationes  adversus  astrologos  Hb.  XII  Cap.  VII  (Opp. 
Venet.    1557,   150  b). 


■2  4  6  Calvins  Vorsehungslehre. 


tibi  vero  in  Academia  Parisiensi  primitus  apparuit  (astrologia) 
vix  impetratum  a  curiosis  quin  internitioni  data  sub  ignibns  debi- 
tesceret:  cumque  aliquot  post  annos  honestare  eam  Rogerius 
Baccon  et  alii  quidam  conarentur:  resisterunt  eis  viri  doctissimi 
Guilelmus  Alvernius  episcopus  Parisiensis  et  post  eum  Nicolaus 
Oresmus  mathematicus  excellens  et  Henricus  ex  Asia  et  Jo- 
hannes Caton  et  Brenlalius  Britannus  astrologiam  non  solum 
qua  parte  laedit  religionem  sed  plane  totam  ut  vanam  falsamque 
delestantes,  quare  non  ita  unquam  artis  nomen  obtinuit,  ut  in 
praescriptum  obierit.  Nam  semper  aliquis  veritatis  patronus  ob- 
nunciavit.  —  Die  Astrologie  war  Ratgeberin  für  Gelehrte  und 
Ungelehrte.  Der  päpstliche  Stuhl  lauschte  der  Zeichensprache  der 
Gestirne.  Als  die  Sonnenfinsternis  auf  eine  gefahrvolle  Zukunft 
hinzuweisen  schien,  bebte  Nikolaus  V.  und  vermehrte  sein  Kardi- 
nalkollegium um  gelehrte  Kardinäle  (Nicolas  von  Pisa)  und  ordnete 
Litaneien  an,  um  die  heranbrechende  Flut  abzuwehren,  Calixtus  III. 
ließ  Glocken  läuten  zur  Abwendung  des  Zornes  Gottes.1  Paulus  II. 
mußte  sich  vom  Kardinal  von  Padua  den  schweren  Vorwurf  ge- 
fallen lassen :  War  es  nicht  genug,  daß  er  (Paulus  IL)  während 
seines  Kardinalats  mit  dieser  Note  der  Astrologie  behaftet  war? 
Muß  er  auch  noch  fortfahren  das  oberhirtliche  Amt  lächerlich  zu 
machen?  Sieht  der  Unglückliche  nicht  ein,  welch  ein  schlimmes 
Beispiel  und  wie  Gott  mißfällig  das  sei?  Auch  der  humanistisch 
gesinnte  Leo  X.  beschäftigte  sich  mit  Prognostika,  nicht  minder 
Paulus  III.  und  Pius  IV.  Der  Klerus  freute  und  ärgerte  sich 
unter  dem  Druck  der  Astrologie,  die  ihnen  das  Wohl  und  Unglück, 
Gunst  und  Ungunst  seitens  der  Päpste  prophezeite.  Die  Astro- 
logie griff  mächtig  auch  in  die  Politik  hinein,  die  regierenden 
Fürsten  schrieben  die  großen  geschichtlichen  Wendungen  dem 
Einfluß  der  Kometen  zu  und  richteten  nach  dem  Stande  derselben 
ihre  Lebensweise  ein.     Sie  graben  ihr  und  ihrer  Länder  Schicksal 


i)  Hottinger,  Historiae  ecclesiasticae  saeculum  XV.  Tom.  i,  Sect.  i, 
S.  3:  „A.  Ch.  1456  Cometae  bini  hoc  anno  apparuerunt,  ut  habent  annales 
Turcici,  et  alii;  posterior  fuit  mense  Junio,  procera  cauda:  quibus  papa 
Calixtus  territus,  ad  avertendam  Dei  iram  aliquot  dierum  supplicationes 
iidixit  constituitque  in  urbibus,  ut  in  meridie  campanae  pulsarentur,  ut 
omnes  de  precibus,  contra  Turcarum  tyrannidem  fundendis  admonerentur." 
Hottinger  führt  noch  eine  charakteristische'  Notiz  aus  dem  ungedruckten 
Registrum  querelae  eines  D.  Fei.  Maltius  an:  „Totus  mundus  laborat, 
aedificat,  construit  et  congregat.  tamquam  firmiter  credat,  quod  mundus 
cum  ornatu  suo  perpetuo  permaneat.  Videmus  patenter  multorum  sancto- 
rum  virorum  vaticinia,  scripturis  et  verbis  concordantia,  quod  Anti- 
christi  tempora  breviter   sint   Ventura. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bol  347 


der  Willkür  ihrer  Astrologen  blindlings  preis.  Jeder  neue  Komet 
erweckte  viele  Propheten.  Beim  Anblick  des  flammenden  Gestirns 
ging's  wie  schwüle  Angst  vor  einejm  grandiosen  Weltgewitter 
durch  die  Völker.  Alle  hörten  das  Klirren  zerbrochener  ! fronen 
und  das  Krachen  gestürzter  Reiche,  alle  weissagten  neue  Kriege 
und  ungeheure  Menschenhekatomben;  aber  auch  ein  leises  Ahnen 
zog  durch  die  Gemüter  der  Geknechteten  und  Knirschenden,  eine 
letzte  Hoffnung,  daß  Gott,  der  solange  drein  gesehen,  endlich 
dreinschlage  und  das  schwere  Weltgewitter  zum  gerechten  Welt- 
gerichte werde. 

Den  Weg  zum  Volke  bahnte  sich  die  Manie  der  magischen 
Mantik  durch  ihre  enge  Verknüpfung  mit  der  Medizin.  Wie  eng 
das  beiderseitige  Verhältnis  dieser  „Wissenschaft"  war,  ist  ersicht- 
lich an  dem  ehemals  gangbaren  Spruch:  ,,Wenn  die  Anatomie  das 
rechte  Auge  der  Medizin  ist,  so  ist  die  Astrologie  ihr  linkes." 
Die  Kräuter  wurden  unter  planetarischen  Einfluß  gestellt,  die 
Medikamente,  damit  sie  recht  kräftig  wären,  unter  solchem  Einfluß 
zubereitet ;  die  verschiedenen  Körperteile,  namentlich  die  inneren, 
standen  unter  der  Regierung  je  eines  der  Planten.  Herrschende 
Krankheiten  wurden  planetarischen  Ursachen  zugeschrieben;  jeder 
Planet  hatte  sein  eigenes  Metall,  dessen  übereinkommende  An- 
wendung bei  der  Heilung  versucht  wurde.  Daher  kommt  es,  daß 
so  viele  Astrologen  vom  Fach  Mediziner  gewesen  sind ;  die  ganze 
Therapie  richtete  sich  nach  dem  Zeitpunkt  der  Nativität,  dem 
Stande  des  Horoskops.  König  Franz  I.  entließ  seinen  Leibarzt, 
weil  er  nicht  genug  Kenntnisse  auf  dem  astrologischen  Gebiet  auf- 
zuweisen hatte.  Auch  die  geistreiche,  Calvin  so  wohlwollende 
Renata  ließ  sich  in  die  Geheimnisse  der  allmächtigen  Pseudowissen- 
schaft  einweihen.  Die  damalige  Zeit  zitterte  vor  dem  Himmel. 
Treffender  kann  die  Stimmung  nicht  charakterisiert  werden  als 
mit  den  Worten  Calvins  (Op.  2,  147) :  Mundi  gubernationem  a 
Deo  ad  astra  transferant  infideles,  suam  vel  felicitatem  vel  mise- 
riam  ab  astrorum  decretis  et  praesagiis,  non  autem  a  Dei  voluntate 
pendere  fingunt ;  ita  fit,  ut  timor  eorum  ab  uno  illo,  quem  r 
cere  debebant,  ad  Stellas  et  cometas  abstrahatur. 

Während  die  Gelehrten  im  stillen  Gemach  das  vertraute  Ge- 
setz in  des  Zufalls  grausenden  Wundern  und  den  ruhenden  Pol  in 
der  Erscheinungen  Flucht  suchen,  wird  die  von  den  abstrakten 
Distinktionen  angeekelte  Seele  zwischen  Furcht  und  Sehnsucht, 
zwischen   Wissenwollen   und   Enttäuschung   umhergetrieben.      Nur 


•348  Calvins  Vorsehungslehre.' 


in  einem  Punkt  berührt  sich  die  Praxis  mit  der  Theorie.  Diese 
hat  seit  Thomas  von  Aquino  die  ganze  Vorsehungslehre  um  die 
Lehre  von  den  Engeln  und  ihren  mannigfaltigen  phantastisch  aus- 
gemalten Tätigkeiten  gruppiert;  das  religiöse  Leben  bewegt  sich 
demnach  im  Glauben  an  die  Engel,  die  Heiligen.  Dieser  Glaube  ist 
aber  eigentlich  nur  kirchliches  Korrelat  zu  dem  weltlichen  Stcrne- 
glauben.  So  beherrscht  die  Vorsehungslehre  der  damaligen  Zeit, 
soweit  diese  von  den  Strahlen  der  Reformation  noch  nicht  erfaßt 
wurde,  der  Intellektualismus,  der  Paganismus,  Resignation  und 
Furcht.  — 

2.    Der  Charakter  der  Vorsehungslehre  Calvins  im  Allgemeinen. 

(Vorsehung  und  Glaube.) 

Calvin  tritt  entschieden  gegen  den  spekulativen  Intellektualis- 
mus, die  frigida  speculatio  der  Scholastik  auf.  Wie  jede  wahre 
Gotteserkenntnis  subjektiv  und  praktisch  ist  —  denn  was  hülfe 
uns  ein  Gott,  mit  dem  wir  nichts  zu  schaffen  hätten,1  so  auch  die 
Erkenntnis  der  göttlichen  Vorsehung  (Parum  prodesset,  quod  de 
perpetuitate  consilii  Dei  dictum  fuit,  tenere,  nisi  ad  nos  pertineat 
Op-  3X>  33°;  Ps-  23>  2)-  Daher  will  Calvin  alle  philosophischen 
Hilfslinien,  die  z.  B.  Zwingli  zum  Zweck  der  Erklärung  des 
göttlichen  Wal'tens  gezogen  hatte,  als  den  Vorsehung'sglauben 
störend,  ja  auflösend,  beseitigen.  In  den  Theodizeefragen  gilt  es 
nicht  disputare  philosophico  more  et  concinno  artificio  (Ps.  73,  1  ; 
31,  674).  Ratiociuando  wird  man  nie  begreifen,  quomodo 
inter  tantas  perturbationes  Deus  mundum  gubernet  (Ps.  73,  16; 
31,  682).  So  tat  es  der  rationalisicrend-humanisierende  Castellio, 
der  sich  bei  den  entscheidenden  Fragen  der  Providenz  auf  den 
sensus  communis  berief:  „Nihil  probabile  esse  concedis,  nisi  cuius 
ille  (sensus)  communis,  sit  aestimator  ac  arbiter"  —  wirft  ihm 
Calvin  vor.  Tu  quidquid  divinum  esse  negas,  nisi  quod  propria 
ratione  metiri  queas  (Op.  9,  299  ff .,  310  ff.).  Es  gilt  ein  für 
allemal :  Neque  humano  modo  vel  naturae  sensu  in  nostris  miseriis 
agnoscimus    Deo    nostri    esse    curam ;    sed    f  i  d  e    invisibilem    eius 


1)  Quid  juvat  deum  cognoscere,  quocum  nihil  est  nobis  negotii 
Op.  2,  34;  veram  Dei  notitiam  semper  ad  fidei  sensum  referri  debere:  quia 
non  vult  occulta  sua  essentia  investigari,  sed  quatenus  se  nobis  communicat 
Ps.  103,  8  (Op.  32,  78).  Dei  notitiam  intelligo,  qua  non  modo  concipimus 
aliquem  esse  deum,  sed  etiam  tenemus  quod  de  eo  scire  nostra  refert, 
quod  utile  est  ad  eius  gloriam,  quod  denique  expedit  (Op.  2,  34  — I,  2,  1). 
—  Alles  offenbar  Luthers  Gedanken,  vgl.  Köstlin,  Luthers  Theol.  2.  Aufl, 
II,  248  u.  A. 


Von  Lic.  l>r.  J.  Bohatec.  3  |  <) 


providentiam  apprehendimus :  Op.  31,  132  (Ps.  13,  2).  Die  Pro- 
videnz  ist  aber  nicht  Sache  der  Doktrin,  sondern  sie  ist  Tat,  virtus, 

qua  nos  iulcit  ac  praesidium  quo  nos  conservat  (Ps.  17,  5;  31,  162). 
Daß  wir  an  die  L'rovidenz  nicht  glauben,  daran  ist  nicht  so  sehr 
die  ratio,  sondern  unser  schwacher  Wille  schuld  (31,  303;  Ps. 
31,  5).  Es  ist  eben  die  natura  et  vis  des  Glaubens,  daß  wir  in- 
mitten der  curarum  et  molestiarum  onera  doch  freie  Geister  sind 
(Op.  31,  225;  Ps.  22,  9). 

Zwar  zieht  uns  der  naturae  sensus  zu  Gott  hin  (Op.  32,  137; 
Ps.  107,  6);  zwar  wohnt  in  unserer  Seele  der  sensus  divinitatis 
(Op.  2,  37  =  I,  3,  3),  sie  bringen  uns  aber  nicht  vorwärts.  Auch 
die  Philosophen  haben  eine  Ahnung  von  der  göttlichen  Allmacht 
und  Providenz ;  ihre  Vernunft  ist  für  sie  aber  nur  verhängnisvoll, 
ein  Labyrinth  (Op.  2,  49  =  1,  5,  12),  denn  sie  sind  von  Blindheit 
geschlagen  und  träumen  nur  vom  Zufall  und  einem  untätigen  Gott 
(Op.  2,  39  =  I,  4,  2).  Durch  unseren  Egoismus  und  dem  uns  von 
Natur  innewohnenden  Trotz  ist  uns  die  wahre  Erkenntnis  Gottes 
vereitelt  (Op.  2,  38.  43.  49) ;  es  fehlt  uns  die  naturalis  facultas, 
zu  einer  Erkenntnis  Gottes  zu  dringen  (Op.  2,  52).  Umsonst 
strahlen  in  dem  Gebäude  der  Welt  brennende  Fackeln  ad  illu- 
strandam  autoris  gloriam ;  sie  erwecken  zwar  einige  Funken,  aber 
diese  werden  erstickt,  ehe  sie  ein  volles  Licht  geben  (Op.  2,  51,  52). 
—  Unter  dem  überwältigenden  Eindruck  des  Naturganzen  wird 
schon  der  natürliche  Mensch  sagen  müssen :  Dieses  Weltgebäude, 
wie  es  dasteht,  mit  seiner  staunenerregenden  Regelmäßigkeit, 
seiner  alles,  das  Kleinste  wie  das  Größte,  umfassenden  Ordnung, 
mit  seiner  unaufhörlich  neues  Leben  erzeugenden  Kraft  kann  nicht 
aus  sich  sein,  muß  eine  causa  haben ;  vielleicht  wird  er  sogar  zu 
einer  Anerkennung  und  Bewunderung  der  Weisheit,  Macht  und 
Güte  dieses  auetor  kommen :  „Carnis  sensus,  ubi  Dei  virtutem  semel 
in  ipsa  creatione  sibi  proposuit,  illic  subsistit ;  et  quum  longissime 
procedit,  nihil  aliud  quam  in  edendo  tali  opificio  auctoris  sapien- 
tiam  et  potentiam  et  bonitatem  .  .  .  expendit  et  considerat.  Aber 
der  wahren  göttlichen  Providentia  kann  er  auf  diesem  Wege  nie 
gewiß  werden.  Nicht  die  ratio,  nicht  der  sensus  carnis  kann  uns 
Wegweiser  sein,  sondern  nur  die  fides.  Der  Glaube  bleibt  bei  der 
Schöpfung  nicht  stehen.  Er  nimmt  an,  daß  die  Welt,  wie  sie  von 
Gott  geschaffen  ist,  so  auch  in  ihrem  Fortbestand  und  Verlauf 
schlechthin  von  ihm  abhängig  ist ;  denn  Deum  facere  momentareum 
creatorem,    qui    simul    dumtaxat    opus    suum    absolverit,    frigidum 


•2  cq  Calvins  Vorsehungslehre. 


esset  ac  ieiimum :  atque  in  hoc  praecipue  nos  a  profanis  hominibus 
differre  convenit,  ut  non  minus  in  perpetuo  mundi  statu  quam  in 
prima  eius  origine  praesentia  divinae  virtutis  nobis  illuceat  (I,  16,  1 ; 
Op.  2,  144) :  Fides  altius  penetrare  debet,  nempe  ut  quem 
omnium  creatorem  esse  didicit,  statim  quoque  perpetuum  mode- 
ratorem  et  conservatorem  esse  colligat.  Für  den  Glauben  ge- 
hören Schöpfung  und  Vorsehung  notwendig  zusammen:  Nisi  ad 
providentiam  Dei  usque  transimus,  nondum  rite  capimus,  quid  hoc 
valeat  esse  creatorem.  Quum  creatorem  esse  didicit  fides,  statim 
quoque  moderatorem  et  conservatorem  esse  colligit  (I,  16,  2; 
Opp.31,  327  [Ps.33,  6];  32,  312  [Ps.  124,  8]). 

Die  letzteren  Gedanken  hat  Calvin  von  Melanchthon  (Loci 
1533,  C.  R.  21,  271:  Haec  praesentia  Dei  in  rebus  seu  conservatio 
rerum  non  cernitur  ratione  sed  fide  cerni  debet.  Atque  ita  nos 
scriptura  docet  non  solum  de  conditione  rerum,  sed  de  perpetua 
conservatione.  Neque  intelligitur  recte  creatio  nisi  etiam  credamus 
perpetuo  res  sustentari  et  conservari,  suppeditari  motum  et  vitam 
rebus  a  Deo).  Dieser  hat  aber  nicht  mit  derselben  Entschieden- 
heit die  Erkenntnis  der  göttlichen  Vorsehung  glaubensmäßig  be- 
gründet und  entwickelt.  Eben  Melanchthon  war  es,  dem  Calvin 
den  Vorwurf  nicht  ersparen  konnte,  daß  er  nimis  philosophice  in 
Sachen  des  göttlichen  Allwaltens  gelehrt  hat  (Op.  14,  417)-  Der 
o-roße  Humanist,  der  die  Macht  der  Vernunft  aus  der  von  ihm  so 
hochgeschätzten  Antike  kannte  und  liebgewann,  hat  trotz  der 
scharfen  Pointierung  des  Gegensatzes  zwischen  Vernunft  und 
Offenbarung,  Gesetz  und  Evangelium  diesen  gerade  bei  der  Vor- 
sehungslehre nicht  aufrecht  erhalten  können.  Er  hat  die  Vor- 
sehungslehre in  die  initia  doctrinae  physicae  (C.  R.  13,  203  ff.)  ein- 
gereiht, auf  sie  den  Maßstab  der  notitia  naturalis  (legis ;  ib.  S.  198) 
und  nicht  der  ausschließlichen  notitia  evangelii  angewendet: 
„Erudita  physica  confirmat  honestas  opiniones  in  bonis  mentibus 
de  Deo  et  de  Providentia,  ideoque  Epicureos  prorsus  sustulisse 
providentiam  apparet,  quia  veram  et  eruditam  physicam  aspernati 
sunt  et  furenter  finxerunt  confusionem  atomorum  .  .  .  Hie  deplo- 
randa  est  humanae  mentis  coecitas,  quod  cum  praecipue  condita  sit 
ad  agnitionem  Dei,  et  Dens  ordinem  et  multa  alia  de  se  testi- 
monia  in  tota  rerum  natura  proposuerit,  tarnen  multorum  mentes 
excuti  sibi  prorsus  assensionem  de  Providentia  sinunt.  Physicorum 
doctrina  .  .  confirmatur  in  bonis  mentibus  assensio  statuens  esse 
Deum,  mentem  architeetatricem  et  conservatricem  rerum  (ib.  S.  191). 


Von  Lic.  Dr.  J.   Bohatec.  35 


Die  Physik  ist  magna  ex  parte  aufgebaut  auf  der  Erfahrung  (ib. 
S.  194),  trotzdem  schließt  sie  den  apriorischen,  spekulativen  Y\  eg, 
den  Plato  im  Timäus  gegangen  ist,  nicht  aus;  ja  dieser  scheint 
gangbarer  zu  sein,  da  sich  an  Gott  als  der  causa  prima  auch  der 
andere  ordo  orientiert.  Inhaltlich  entsprechen  diesen  Sätzen  auch 
die  Ausführungen  in  Loci  1535  (C.  R.  21,  370  ff.).  Nun  glaubt  aller- 
dings Melanchthon,  daß  die  notitia  naturalis  propädeutischen  Wert 
hat,  da  wir  durch  sie  zur  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit 
einer  offenbarungsmäßigen  Selbstausteilung  Gottes  gelangen. 
(Cum  consideramus,  quousque  progredi  humana  ratio  possit,  in- 
quirens  Deum,  magis  intelligemus,  cur  praeter  hanc  naturalem 
noticiam,  Dens  tanquam  ex  arcana  sede  prodiens,  tradiderit  nobis 
et  suam  quandam  doctrinam  de  sua  essentia  et  voluntate,  ac  pate- 
fecerit  se  illustribus  et  certis  testimoniis,  .  .  .  .  ut  non  solum  con- 
firment  nos  de  Providentia,  sed  etiam  doceant  nos  de  promissione 
divina.  .  .  .  Sed  tarnen  prodest  conferre  doctrinam  physicam  ad 
revelatam  divinitus  et  collatio  utrique  generi  aliquid  lucis  addit 
et  declarat  sententiam  Pauli,  quae  exstat  in  primo  capite  ad  Ro- 
manos, cum  ait  gentes  veritatem  Dei  tenuisse  captivam  in  iniustitia, 
:  .  .  (C.  R.  13,  198).  Aber  die  Abgrenzung  der  natürlich  gesetz- 
lichen Sphäre  gegenüber  der  offenbarungsmäßigen  wird  nur  in 
dem  Abschnitt  de  deo  (Gottes  Wesen,  Eigenschaften  und  Gottes- 
beweise ib.  S.  T98— 202),  (vgl.  bes.  S.  199:  teneatur  ergo  definitio 
in  e  c  c  1  e  s  i  a  illustrior ;  S.  200 :  etsi  enim  in  e  c  c  1  e  s  i  a  illius 
.  .  .  testimonia  proposita  sunt)  durchgeführt ;  die  Providenzlehre 
steht  aber  auf  rationaler  Basis  (S.  213),  das  Theodizeeproblem  wird 
mit  Yernunftgründen  gelöst,  der  Beweis  für  die  Providentia  ist 
empirisch  gewonnen. 

Ist  die  Erkenntnis  der  göttlichen  Vorsehung  Glaube,  so  ist 
es  selbstverständlich,  daß  man  ihrer  Wahrheit  nur  auf  dem  Wege 
der  geschichtlichen  Offenbarung  im  Worte  Gottes  gewiß  wird : 
Sane  de  Providentia  Dei  neminem  fateor  recte  iudicare,  nisi  qui 
supra  terram  conscendit  (Op.  31,  682).  Ingredi  statuaria  posuit 
(David)  pro  accedere  ad  Dei  scholam,  aesi  diceret :  donec  sit  Heus 
mihi  magister  et  ex  eins  verbo  discam  quod  alioqui  mens  mea  non 
capit  in  reputanda  mundi  gubernatione  deficio  (Op.  31,  682). 

Calvins  ganze  Darstellung  der  Providenzlehre  ist  mit  einem 
ausführlichen  Schriftbeweis  versehen ;  dazu  betont  er  wiederholt 
die  Schrift  als  die  eine  unbedingte  Gewißheit  der  Vorsehung  ab- 
gebende  Norm   unseres   Lebens :   Providentia   Dei,   qualis   traditur 


ß  5  2  Calvins  Vorsehungslehre. 


in  scriptura  sacra  (I,  16,  2).  Itaquae  in  quem  finem  omnia  divini- 
tus  ordinari  scriptura  doceat,  breviter  hie  attingere  expediet. 
Providentia  adeo  certis  clarisque  scripturae  testimoniis  asseritur, 
ut  nimirum  sit  potuisse  de  ea  quempiam  dubitare  (I,  16,  4).  In 
Gesetz  und  Propheten  wie  durch  Jesus  und  seine  Apostel  hat 
Gott  die  Menschheit  seiner  fürsorglichen  Wirksamkeit  verge- 
wissert. Wer  sich  nicht  auf  das  Zeugnis  der  Schrift,  in  welcher 
Gott  seinen  Willen  offenbart  (17,  5)  verläßt,  der  will  Gott  nicht 
die  ihm  zukommende  Ehre  geben,  der  will  seine  ratio  zur  Norm 
für  den  göttlichen  Willen  und  sein  Wirken  erheben.  Die  Zeug- 
nisse der  heiligen  Schrift  sind  so  klar,  daß  jeder  Zweifel  daran  als 
menschlicher  Eigensinn  erscheint  (17,  2). 

Durch  die  biblische  Begründung  der  Vorsehungslehre  hat 
Calvin  den  geschichtlichen  Charakter  des  Vorsehungsglaubens  in 
diesem  wichtigen  Punkte  gewahrt.  In  einer  geschichtlichen  Offen- 
barung erschließt  sich  uns  der  allmächtige  Gott  als  der  fürsorgende 
Vater,  aber  derselbe  Gott  führt  uns  durch  seinen  heiligen  Geist, 
also  durch  persönliche  Berührung,  zu  seinem  geschichtlichen  Wort, 
damit  wir  ihn  selbst  und  seinen  Willen  darin  finden  (I,  17,  3).  Die 
Wirkungsweise  der  geschichtlichen  und  doch  übergeschichtlichen 
Offenbarung  der  göttlichen  Vorsehung  muß  ausdrücklich  auf  die 
heilige  Schrift  bezogen  werden.  Es  geht  nicht  an,  Gott  und  die 
heilige  Schrift  derartig  gegenüberzustellen,  daßi  wir  etwa  Gott 
gegen  die  Schrift  ausspielen  könnten,  denn  wir  haben  den  für- 
sorgenden Gott  gar  nicht  ohne  die  Schrift.  Wollen  wir  die  Offen- 
barung Gottes  mit  sittlich  religiöser  Gewißheit  gefunden  haben 
(I,  16,  1),  so  ist  das  nicht  eine  Idee  unserer  ratio,  nicht  eine  Gottes- 
idee unkontrollierbaren  Ursprungs,  sondern  der  fürsorgende  Gott 
des  Wortes. 

Die  Art  dieses  Vorsehungsglaubens  wird  erhellen,  nachdem 
wir  seinen  Inhalt  erörtert  haben. 

3.    Der  Glaube  an  die  allmächtige  Welterhaltung  und  seine  Abgrenzung 
gegen  die  philosophischen  Spekulationen. 

Die  göttliche  Providentia  ist  nach  Calvin  eine  persönliche, 
alles  Sein  und  Geschehen  in  sich  fassende  Kraft,  ein  durch  alle 
Mittelursachen  durchgehender,  sie  bewahrender  und  regierender 
Akt.  Sie  kann  daher  unter  dem  kausalen  Gesichtspunkt  Erhaltung 
(conservatio),  unter  dem  teleologischen  Leitung  (gnbernatio,  mode- 
ratio)   genannt   werden.1      Der    Gedanke   der   Vorsehung  als   con- 

1)  Op.   1,  864. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Boliatcc.  353 


servatio  ist  Konsequenz  des  Allmachtsgedankens  (Op.  i,  51*1). 
Man  darf  sie  deshalb  nicht  bloß  als  Auswirkung  der  göttlichen  All- 
wissenheit betrachten.1  Gottes  Hand  ist  nicht  minder  tätig  als 
sein  Auge  (I,  16,  4;  Op.  2,  147;  Op.  8,  347).  Zwar  reden  wir  auch 
von  einer  Präscienz  Gottes :  Praescientiam  quum  tribuimus  Deo, 
significamus  omnia  semper  fuisse  ac  perpetuo  mancre  sub  eius 
oculis :  ut  eius  notitiae  nihil  futurum  ac  praeteritum,  sed  omnia 
sint  praesentia.  Et  sie  quidem  praesentia,  ut  non  ex  ideis  tantum 
imaginetur,  qualiter  nobis  observantur  ea,  quorum  memoriam  mens 
nostra  retinet ;  sed  tanquam  ante  se  posita  vere  intueatur  ac  cernat. 
Atque  haec  praescientia  ad  Universum  mundi  ambitum  et  omnes 
ereaturas  extenditur  (Op.  I,  865).  Aber  diese  Präscienz  ist  zu- 
gleich Wille,  Tat :  Praescientia  in  actu  locatur  (Op.  2,  147).  Daher 
ist  die  nuda  praescientia  zu  verwerfen  (ib.).2  In  bezug  auf  die 
O  b  j  e  k  t  e  der  göttlichen  Vorsehung  kennt  Calvin  schon  die 
traditionelle  Unterscheidung  zwischen  der  Providentia  universalis, 
specialis  und  specialissima.3  Die  göttliche  Providenz  umfaßt  den 
großen  Bestand  der  Welt  und  der  unpersönlichen  Natur,  sie  er- 
streckt sich  auf  alles  Einzelne  —  kindisch  wäre  es,  einzelne  Fälle 
ausnehmen  zu  wollen  (16,  5;  17,  6),  und  bezieht  das  unbedeutendste 
Kreaturwesen  in  sich.4 

Es  läßt  sich  allerdings  nicht  ermitteln,  wie  Gott,  die  causa 
praeeipua,  auf  die  Mittelursachen  (causae  seeundae,  mediae  wirkt. 
Gibt  es  überhaupt  causae  seeundae?  Calvin  will  keineswegs  die 
endlichen  Ursachen  für  nichtig  erklären  —  er  redet  von  den  causae 
inferiores  (Op.  2,  157.  159.  162  =  I  17,  4.  6.  9.  11;  Op.  31,  177), 
aber  sie  sind  nicht  selbständige  Ursachen  neben  ihm,  sondern  nur  in, 
unter  ihm,  so  daß  er  in  ihnen  und  durch  sie,  aber  auch  ohne  und 
gegen  sie  wirkt :  Nunc  mediis  interpositis  operatur  Dens,  nunc  sine 
mediis,  nuc  contra  omnia  media  (I,  17).  Schon  hier  tritt  ein 
•charakteristischer  Zug  der  Theologie  Calvins,  das  Streben  nach 
Vermittelungen  in  den  Vordergrund.  Ich  möchte  daher 
Calvin   Theologen   der   Diagonale   nennen. 

i)  So   Schweizer,   Glaubenslehre  der  ref.    Kirche   I,   S.  265  ff. 

2)  Die  Behauptung  von  Gass  (Gesch.  d.  prot.  Dogm.  I,  S.  117).  daß 
4as  Vorherwissen  sich  auf  alles  weltliche  Dasein  überhaupt,  das  Vorher- 
verordnen nur  auf  das  sittliche  Leben  der  Menschen  beziehe,  ist  demnach 
unrichtig. 

3)  Die  Glieder  dieser  Stufe  sind,  wie  wir  noch  sehen  werden,  aller- 
dings nicht   koordiniert. 

4)  16,  4.  5.  Op.  8,  348;  vgl.  Op.  28,  104  (Sermon  sur  le  Deuteronome 
Pars  III),  Op.  29,  241  (Homil  in  lib.  I.  Samuel.)  Op.  42,  62  (Sermons  sur 
le  livre  de  Job  Pars  I.     Op.  32,  359;  Op.  36,  22;  Op.  7,   186  ff. 

Calvinstudien.  2  2 


■2  CA  Calvins  Vorsehungslehre. 


Unter  den  Gesichtspunkt  der  causae  mediae  rücken  die  Lehren 
von  den  Engeln1  und  vom  Wunder. 

Die  Engellehre  darf  nie  spekulativ  aufgebaut  werden ; 
über  die  Anzahl  und  Ordnungen  der  Engel  zu  entscheiden,  wie  es 
namentlich  Thomas  v.  Aquino  getan  hat,  ist  eine  müßige  Sache 
(Op.  2,  123).  Sie  muß  praktisch  gehandhabt  werden.  Die  Engel 
sind  nur  Mittel,  deren  sich  Gott  bedient,  um  seine  Ratschlüsse  aus- 
zuführen. Sie  sind  internuntii  zwecks  der  Offenbarung  Gottes  an 
die  Menschen,  instrumenta  der  den  Menschen  sich  offenbarenden 
Kraft.  Als  solche  haben  sie  Wert,  den  man  ihnen  raubt,  wenn 
man  sie  nur  als  Symbole  der  psychologischen  Vorgänge  in  den 
Menschen  betrachtet  (ib.).  Weil  sie  aber  nur  Werkzeuge  sind,  so 
braucht  sich  Gott  an  sie  nicht  zu  binden,  er  vollbringt  sein  Werk 
ohne  sie,  durch  seinen  Wink  und  Willen  (Op.  2,  125),  um  uns  zu 
zeigen,  daß  wir  unser  Vertrauen  nicht  zwischen  ihn  und  die  Engel 
teilen  dürfen  (ib.  126;  Op.  40,  639;  Comm.  zu  Dan.).2 

Wirkt  Gott  auch  „sine  mediis",  so  ist  das  Wunder  selbstver- 
ständlich. Calvin  empfindet  das  moderne  Wunderproblem  gar 
nicht.  Die  Wunder  haben  für  ihn  praktische  Bedeutung.  Notatur 
miraculorum  utilitas,  quod  viam  doctrinae  sternunt :  nam  faciunt,. 
ut  Christus  reverentiam  obtineat  (Op.  47,  99).  Quum  legimus 
biduo  solem  substitisse  in  uno  gradu  ad  preces  Josuae,  in  gratiam 
Ezechiae  umbram  eins  retrocessisse  per  decem  gradus,  paucis  illis. 
miraculis  testatus  est  Deus,  non  sie  quotidie  caeco  naturae  instinetu 
solem  oriri  et  oeeidere,  quin  ipse,  ad  renovandam  paterni  erga  nos 
favoris  memoriam,  cursum  eius  gubernet  (Op.  2,  146  =  I,  16,  2). 
Duplex  miraculorum  fruetus,  ut  praeparent  ad  fidem,  deinde  ut  eam 
ex  verbo  coneeptam  melius  confirment  (Op.  47,  53).  Sie  stützen 
den  Glauben  (subserviunt  fidei,  alios  praeparando,  alios  confirmando 
(Op.  48,  102),  ohne  ihn  zu  wecken  (Op.  40,  643).  Sie  offenbaren 
die  Allmacht  und  Gnade  Gottes  (Op.  48,  317).  Alles  Tun  Gottes 
ist  eigentlich  Wunder,  so  die  Ernährung  der  ganzen  Welt ;  aber 
wir  empfinden  es  nicht  als  Wunder,  quia  usu  et  assiduite  nobis 
vileseunt  naturae  miracula  (Op.  47,  133  =  Joh.  6.  12).3 

Nur  an  einer  Stelle  versucht  Calvin  eine  theoretische  Lösung 
der  Frage,  ob  die  Wunder  als  übernatürliche  Geschehnisse  sich  in 
den  Naturgang  einordnen  lassen,  bei  der  Erklärung  der  Windes- 

1)  Über   die  Teufel   wird   später   S.   377  ff.    die   Rede    sein. 

2)  Auch  hier  entfernen  sich  seine  Darlegungen  nicht  von  denen 
Luthers;   cf.   Köstlin   a.a.O.   II,   344,   345. 

3)  Vgl.  denselben  Gedanken   bei   Luther,   Köstlin  II,   S.  349. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  SSS 


erscheinung  im  Wunder  Jonas  (Jona  4,  6;  Op.  43,  274.  275).  Wir 
wissen,  daß  Gott,  wenn  er  auch  praeter  ordinem  naturae  wirkt,  doch 
über  die  Grenzen  der  Natur  nicht  hinausgeht.  Als  er  in  der  Wüste, 
um  seinem  Volk  die  Speise  zu  verschaffen,  die  Wachteln  aussandte, 
benutzte  er  den  Ostwind.  Der  ganze  Vorgang-  war  wunderbar  und 
doch  so  einfach  natürlich,  weil  alles  durch  den  W  i  n  d  geschah. 
Gott  benutzt  die  Ursachen  in  der  Natur,  damit  es  klar  werde,  daß 
die  Natur  nicht  einem  blinden  motus,  sondern  nach  dem  arbitrium 
Dei  sich  richtenden  Gesetzen  unterworfen  ist.  Nur  unsere  Be- 
griffsbildung ist  daran  schuld,  daß  wir  die  Erscheinungen,  welche 
aequali  cursu  fluunt,  normal,  diejenigen  aber,  bei  welchen  Gott  den 
gewöhnlichen  Gang  verändert,  Wunder  nennen.  Beiderlei  ge- 
schieht aber  durch  Gott.  Er  kann  mit  seiner  starken  Hand  die 
Gesetze  durchbrechen,  wenn  er  will.  Und  nicht  bloß  in  der  Natur, 
sondern  auch  in  den  Regionen  des  Geistes,  den  tiefsten  innerlich- 
sten Prozessen,  bei  der  Erwählung  und  Wiedergeburt,  verfährt  Gott 
gar  zu  oft  „sans  s'aider  des  moyens  ordinaires"  (Op.  7,  521). 

Wie  uns  allerdings  die  ratio  und  causa  des  Weltgeschehens 
oft  verborgen  bleiben,  so  können  wir  auch  nicht  spekulativ  er- 
mitteln, wie  Gott,  die  causa  prima,  es  anfängt  die  Welt  zu  schaffen 
und  zu  erhalten.  Daran  ist  aber  immerhin  festzuhalten,  daß  bei 
allen  unseren  Werturteilen  über  das  göttliche  Wirken  auf  den 
Weltbestand  sowohl  die  Transscendenz  als  auch  die  Immanenz 
Gottes  bewahrt  bleibt.  Die  erstere  betont  die  Selbständigkeit  und 
Überweltlichkeit  Gottes,  die  letztere  die  kreatürliche  Abhängigkeit. 
Daher  bekämpft  Calvin  die  extremen  Richtungen :  den  Deismus  der 
Epikuräer  und  des  Aristoteles  und  den  naturalistischen  Pantheismus 
der  Stoa.  Man  raubt  sich  den  Trost  und  dem  allmächtigen  Gott 
die  Ehre,  wenn  man  1.  mit  den  Epikuräern  von  einem  otiosus 
inersque  Dens  träumt,  der  einmal  seiner  Welt  eine  Ordnung  ge- 
geben hat,  und  seitdem  entweder  in  lässiger  Ruhe  vom  Himmel 
herabsieht  oder  nur  über  die  mittleren  Sphären  herrschend  die 
weiteren  den  Zufall  preisgibt  (cf.  Op.  31,  100.  117.  124.  608.  -<>^; 
Op-  32>  3°°)  oder  wenn  man  2.  mit  den  Stoikern  die  Providentia 
Dei  mit  einer  gewissen  Bewegungskraft  zusammenfallen  läßt,  seine 
gubernatio  in  die  engen  Schranken  des  influxus  naturae  bannt, 
wenn  man  sich  sein  Walten  unversali  quadam  motione  tarn  orbis 
machinam  quam  singulas  eius  partes  agitare  denkt,  wenn  man  von 
einer  necessitas  ex  perpetuo  causarum  nexu  und  inplicita  quaedam 
series  quae  in  naturae  continetur  träumt  (I,  16,  8). 


•2  c^  Calvins  Vorsehungslehre. 


Mit  der  Verwerfung  des  stoischen  Notwendigkeitsfanatismus 
und  -fatalismus  ergibt  sich  für  Calvin  auch  eine  gegensätzliche 
Stellung  zur  Astrologie.  (Stoicos  hodie  imitantur  astrologi, 
quibus  fatalis  ex  stellarum  positu  dependet  rerum  necessitas.  Op.  8, 
353.)  Die  Verbindungslinie  zwischen  dem  Fatalismus  und  der 
Astrologie  ist  keine  willkürlich  von  Calvin  konstruierte ;  denn  man 
verstand  unter  dem  sogen,  fatum  physicum  allgemein  die  Stellung 
der  Gestirne,  die  einen  bestimmten  Einfluß  auf  die  Veränderungen 
der  Qualitäten  der  Elemente  und  Organismen  hatte  (vgl.  Melanch- 
thon  C.  R.  13,  331 :  Aug.  lib.  V,  cap.  8 :  Fatum  physicum  vocari  stella- 
rum positum,  qui  vel  in  elementis  vel  in  animantium  corporibus  causa 
est  ceterarum  qualitatum).  Calvin  unterscheidet  die  wahre  l  von 
der  magischen.  Die  erstere  ist  „cognoissance  de  Vordre  naturel 
et  disposition  que  Dieu  a  mise  aux  Estoilles  et  Barettes,  pour 
juger  de  leur  office,  propriete  et  vertu  et  reduire  le  tout  ä  sa  fin 
et  a  son  usage;  sie  fragt  nach  den  Ursachen  der  Naturerschei- 
nungen, wobei  sie  allerdings  feststellen  muß,  daß  ein  unbestreitbarer 
Zusammenhang,  „Sympathie",  (ein  in  der  Astrologie  immer  wieder- 
kehrender Ausdruck)  zwischen  den  Gestirnen  und  dem  Naturlauf 
besteht.  Dagegen  ist  die  sogenannte  iudiciaria  astrologia  (astro- 
logie  iudiciaire)  2  eine  superstition  diabolique.  Sie  geht  über  die 
natürlichen  Zusammenhänge  hinaus  und  will  im  voraus  über  die 
Taten,  Gedanken  und  die  sich  daraus  ergebenden  Eventualitäten 
entscheiden.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  die  Gestirne  Einfluß  auf 
die  Gestaltung  der  menschlichen  Qualitäten  haben ;  dieser  ist  aber 
nicht  so  sehr  in  der  Geburtsstunde,  sondern  mehr  bei  der  Konzep- 
tion bestimmend,  —  die  letztere  läßt  sich  aber  nicht  gut  fixieren. 
Es  kommt  vor,  daß  Menschen,  die  unter  demselben  Horoskop  ge- 
boren wurden,  in  ihren  Natur-  und  Charakteranlagen  so  eigenartig 
abweichen,  daß  hier  offenbar  die  Beschaffenheiten  der  Eltern  mehr 
bestimmend  waren  als  die  der  Gestirne.  Es  führt  zu  Absurdi- 
täten, wenn  man  sich  erdreistet,  die  Todesstunde  aus  den  Sternen 

1)  Er  nennt  sie  auch  astrologie  naturelle  und  versteht  darunter  un- 
gefähr dasselbe  wie  unsere  Astronomie;  für  Melanchthon  ist  die  natürliche 
Astrologie  mehr  die  aufs  praktische  Leben  angewendete  Mathematik  und 
Geometrie. 

2)  Die  Pfleger  dieser  ,, Wissenschaft"  werden  von  C.  auch.  Chaldaei, 
Babylonii,  genethliaci  —  der  Ausdruck  kommt  zum  erstenmal  in  Augustin. 
Conf.  lib.  4,  c.  3  vor  —  genannt.  —  Die  Bezeichnung  Astrologia  iudiciaria 
(beurteilende  Astrologie)  ist  synonym  mit  der  von  Aristoteles  gebildeten 
uaToo).oyi((  unoTtXiauKTiy.ri  (bestimmende  Astrologie);  den  Ausdruck  astr. 
iudiciaire  haben  sämtliche  romanische  Sprachen  beibehalten.  So  gebraucht 
Calvin   auch   den  Ausdruck    astrologie   judiciaire. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bol  ^S7 


bestimmen  zu  wollen.  In  einer  Schlacht  fielen  so  oft  60000  Men- 
schen, die  doch  unmöglich  unter  demselben  Horoskop  geboren 
sind.1 

Dieses  Argument  trennt  Calvin  auch  von  Melanchthon.  Mer 
lanchthon  glaubt  an  den  Zusammenhang  der  Nativität  mit  dem 
gestirnten  Himmel  und  hält  die  astrologischen  Ratschläge  in 
diesem  Punkte  für  sehr  praktisch.  Mit  Kenntnis  der  Nativität 
kann  man  die  Krankheiten  vermeiden,  die  Berufswahl  und  die  Nei- 
gungen des  Zöglings  regulieren,  ja  sogar  quaedam  oeconomica  et 
politica  prospici  C.  R.  XIII,  342  ff.  Viel  wichtiger  ist  aber  eine 
andere  Differenz,  welche  mit  der  prinzipiellen  Anschauung  Me- 
lanchthons  von  der  Wirkung  der  causa  prima  und  der  causae 
seeundae  zusammenhängt.  Während  Calvin  hervorhebt,  daß  Gott 
nicht  nur  mit  den  causae  seeundae  zusammenwirkt,  sondern  daß 
er  ohne  sie  wirken  kann,  scheinen  nach  Melanchthon  Tätigkeiten 
der  causae  seeundae  (Engel,  Teufel,  mali  et  boni  Spiritus,  tempera- 
menta  et  stellae)  der  göttlichen  Tätigkeit  koordiniert  zu  sein. 
Zwar  behauptet  er  wie  Calvin,  daß  deus  non  removendus  a  guber- 
natione  propter  astra  (C.  R.  XIII,  327),  daß  man  in  Gott  causam 
praeeipuam  liberrimae  ceteras  moderantem  suchen  muß.  Nun  be- 
weist aber  die  allzu  ausführliche  Beschreibung  der  Wirkungsweise 
der  Sterne  (namentlich  ihres  Verhältnisses  zu  den  menschlichen 
temperamenta),  sowie  auch  die  tradionelle  Unterscheidung  des 
fatum  proprium  (divinam  fortunam  significans)  von  dem  fatum  phy- 
sicum  (ib.  331),  ferner  die  charakteristische  Aufstellung  des  Pro- 
blems: an  omnis  observatio  motuum  et  effectionum  coelestium  a 
deo   prohibita   sit   (335)    deutlich,   daß    Melanchthon   viel   freier   als 

1)  Ob  diese  Widerlegung  der  Astrologie  selbständig  ist  oder  nicht, 
ist  eine  nebensächliche  Frage.  Einiges  spricht  dafür,  daß  Calvins  Aus- 
führungen sich  mit  denen  Augustins  decken,  so  z.  B.  die  entschiedene  Be- 
tonung der  Providentia  Dei  im  Gegensatz  zu  den  Aspirationen  der  Astro- 
logen, nach  welchen  die  Sterne  die  potestas  haben,  die  menschlichen  Ge- 
schicke zu  beeinflussen  (vgl.  Augustin:  de  civitate  dei  lib.  V.  cap.  1)  :  ferner 
die  Betonung  der  Tatsache,  daß  Menschen  verschiedenen  Charakters  unter 
demselben  Horoskop  geboren  werden  (Augustin  a.  a.  O.  cap.  6).  Calvin 
verfährt  hier  im  wesentlichen  selbständig.  Manche  von  ihm  angeführten 
Einzelheiten  (so  z.  B.  die  Erzählung  des  Vorfalls  zwischen  Domitian  und 
dem  Mathematicus  Ascletario,  zwischen  Julius  Caesar  und  dem  Mather 
maticus  Spurina)  sowie  ein  Zitat  aus  Persius  finden  sich  aber  in  Augustin 
nicht.  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  Calvin  die  Arbeiten  von  Posidonius  so- 
wie anderen  Stoikern  benutzt  hat.  Denn  die  obige  Widerlegung  ist  die  bekannte 
der  Stoiker  (Sextus,  adver.  astrol.  91,  92.  Cicero,  de  divin.  II,  98.  Favorin 
bei  Gellius  XIV  1,  27 — 29).  Die  berühmteste  Widerlegung  der  Astro- 
logen von  Picus  de  Mirandula  ist  zur  Zeit  der  Abfassung  dieser  Schrift 
gegen   die  Astrologie  noch  nicht  erschienen. 


■J  ?  8  Calvins  Vorsehungslehre. 


Calvin  die  Mittelursachen  von  der  göttlichen  Verursachung"  zwar 
nicht  geschieden,  aber  doch  unterschieden  hat,  daß  er  das  speku- 
lativ-theoretische Interesse  für  die  Erklärung  des  Kausalzusammen- 
hanges viel  lebhafter  empfunden  hat,  als  es  Calvin  für  nützlich  und 
möglich  hielt.  In  der  Tat  hat  für  Melanchthon  die  Astrologie  — 
darauf  kommt  es  bei  der  ganzen  Frage  an  —  mehr  Lebensinter- 
esse als  für  andere  Reformatoren. 

Sonst  aber  weiß  sich  Calvin  mit  Melanchthon  einig  in  der 
Verurteilung  der  Mantik,  des  Glaubens  an  das  außerhalb  und  inner- 
halb der  Natur  sich  vollziehende  Fatum,  die  Unheil  bringende 
Anschauung,  welche  aus  bloßer  Furcht  und  den  durch  die  Furcht 
aufgeregten  Vorstellungen  entstanden  ist.  Beide  verurteilen  die 
Wunder  der  Mantik,  während  sie  sich  nicht  scheuen,  mit  dem  Glau- 
ben an  die  Notwendigkeit  auch  den  Glauben  an  die  Brauchbarkeit 
der  Vorraussage  beizubehalten.1  Die  Mantiker  beriefen  sich  darauf, 
daß  die  Propheten  oft  die  Gestirne  Zeichen  nennen,  also  die  Deu- 
tung nicht  untersagen,  ja,  daß  Gott  die  Sterne  zu  diesem  Zwecke 
auch  geschaffen  hat.  Gott  hat  allerdings,  sagt  Calvin,  die  himm- 
lischen Körper  geschaffen,  damit  sie  uns  die  Jahreszeiten  angeben, 
nicht  aber,  damit  sie  uns  anleiten,  ob  wir  ein  neues  Kleid  tragen 
sollen  oder  nicht.  Übrigens  verstehen  die  Propheten  oft  unter  den 
Zeichen  die  phantastische  Deuterei  der  Astrologen.  Diese  falsche 
Astrologie  ist  heidnisch  und  von  den  genethliaci  selbst  als  solche 
bezeichnet  worden.  Sie  betrügt  uns,  weil  sie  ohnmächtig  und  un- 
wissend ist ;  sie  hindert  uns  an  der  hoffnungsvollen  Zuversicht  zu 
den  Verheißungen  Gottes,  an  der  ernsten  und  nüchternen  Selbst- 
beobachtung und  Selbstbeurteilung  (527) ;  sie  verringert  die  Ehre 
Gottes  (derogant  ä  son  honeur  et  entreprennant  sur  sa  Majeste),  sie 
verweichlicht  den  Charakter  und  beseitigt  die  Furcht  Gottes.  Die 
Astrologen  bewegen  sich  in  den  Wolken  und  erreichen  daher  weder 
den  Himmel  noch  die  Erde. 

Die  Warnung  vor  der  falschen  Astrologie  schließt  die  heil- 
same Himmelsbetrachtung  nicht  aus.  Es  ist  eine  merkwürdige 
Sache,  wie  wenig  die  Menschen  im  allgemeinen  von  dem  Himmel 
wissen.  Und  doch  ist  er  der  Teil  der  Schöpfung,  in  dem  der  All- 
mächtige mehr  zu  den  Menschen  redet,  als  in  irgend  einem  arideren 
seiner  Werke  —  die  Himmel  rühmen  ja  des  Allmächtigen  Ehre  — 
und  er  ist  gerade  der  Teil,  in  dem  wir  am  wenigsten  acht  auf  den 

1)  Für  Melanchthon  ist  die  Voraussage  des  eventus  aus  den  causae 
sogar  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  möglich,  obwohl  er  sonst  streng  die 
Teleologie   der    Geschichte   hervorhebt. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  359 


Allmächtigen  geben.  Es  gibt  keinen  Augenblick  eines  unserer 
Lebenstage,  in  welchem  Gott  nicht  Szene  auf  Szene,  Bild  auf 
Bild,  eine  Herrlichkeit  nach  der  anderen  hervorbrächte,  und  immer 
nach  so  erlesenen,  unveränderlichen  Grundregeln  der  vollkommen- 
sten Schönheit,  daß  es  ganz  sicher  ist,  es  geschehe  alles  um  unsert- 
willen und  sei  zu  unserer  beständigen  Freude  bestimmt.  Die  edel- 
sten Szenerien  der  Erde  können  nur  wenige  sehen,  vornehmlich 
deshalb,  weil  der  Mensch  das  Gefühl  für  sie  verloren  hat  (Op.  31, 

194  f-  327)- 

Den  beiden  großen  Extremen,  dem  stoischen  Naturpantheis- 
mus und  dem  aristotelisch-epikuräischen  Deismus,  die  nicht  einmal 
die  Hemisphäre  des  Glaubens  berühren,  gegenüber  ist  zu  betonen : 
Gottes  Walten  ist  vigilis,  efficax,  operosa  et  in  continuo  actu  ver- 
satur.1  Ideo  censetur  omnipotens,  non  quod  possit  quidem  facere, 
cessetamen  interim  et  dessideat,  vel  quem  praefixit  naturae  ordi- 
nem,  generali  instinetu  continuet:  sed  quia  sua  providentiam  coeium 
et  terram  gubernans  sie  omnia  moderatur,  ut  nihil  nisi  eiuscon- 
s  i  1  i  o  aeeidat  (16,  3).  Providentiam  vocari,  non  qua  deus  e  coelo 
otiosus  speculetur,  quae  in  mundo  fiunt,  sed  veluti  clavum  tenens 
omnes  eventus  moderatur  (1, 16, 4).  Die  allgemeine  Vorsehung  ist  nur 
unter  der  Bedingung  zu  billigen,  daß  man  zugibt,  daß  Gott  da- 
durch nicht  nur  seine  einmal  festgesetzte  Ordnung  beschützt,  son- 
dern in  seiner  Vaterliebe  für  jedes  einzelne  und  jeden  einzelnen 
persönlich  sorgt  (ib.  Comm.  in  Hb.  Isajae  I  Op.  36,  289).  Sein 
Walten  ist  nicht  konfus,  sondern  machtvolle  Ausführung  seines 
ewigen  weisen  Weltplanes.  Pro  sua  sapientia  ab  ultima  aeterni- 
tate  decrevit,  quod  facturus  esset,  et  nunc  sua  potentia,  quae  decre- 
vit,  exsequitur  (I,    16,  8). 

Das  Walten  Gottes  ist  uns  freilich  nicht  klar;  dem  sensus 
carnis  entspricht  es,  daß  er  dann  geneigt  ist,  das  Geschehen  in 
der  Welt,  zumal  das  ihn  persönlich  treffende  dem  Zufall  zuzu- 
schreiben, dadurch  wird  allerdings  der  Vorsehungsglaube  be- 
graben.2 Der  Glaube  aber  tröstet  sich  mit  der  Zusage,  daß  nichts 
ohne  Gottes  Vorherbestimmung  geschieht  und  daß  alles  ihm  unter- 
worfen ist,  mag  es  uns  zufällig  scheinen  oder  nicht.3     Was  nennen 

1)  Ein    platonisierendcr    Zug,    wohl    den    Kirchenvätern    entnommen. 

2)  Providentia  dei  fortunae  et  casibus  fortuitis  opponitur.  Iam  quum 
vulgo  persuasum  fuerit  omnibus  saeculis,  ut  eadem  opinio  eunetos  fere 
mortales  hodie  quoque  oecupat,  fortuito  contingere  omnia:  quod  de  Pro- 
videntia tenendum  erat,  non  modo  hac  prava  opinione  obnubilari,  sed  fere 
saepeliri   certum   est   (I    16,   2). 

3)  Quid  enim  magis  ad  casus  referras,  quam  dum  praeter  eundem 
viatorem   defractus  ex  arbore  ramus   interficit?     At  longe   aliter   dominus, 


■2  (5o  Calvins  Vorsehungslehre. 


wir  zufällig?  Nach  Augustin  das,  dessen  ratio  et  causa  uns  ver- 
borgen ist.  Da  die  Beschränktheit  unseres  Geistes  tief  unter  der 
Erhabenheit  des  göttlichen  Vorsehungswaltens  liegt,  begreifen 
wir  nicht  die  Ordnung,  den  Grund,  das  Ziel  und  die  Not- 
wendigeit  des  Geschehens.  Trotzdem  aber  sollen  wir  die  Zuver- 
sicht haben,  daß  auch  hier  die  Vorsehung  tätig  war  und  diesen 
vermeintlichen  Fall  zum  besten  bewußter  Ziele  leitete. 

Diese  praktisch  religiösen  Glaubensgedanken  bilden  so  eine 
goldene  Brücke  zwischen  der  necessitas  und  fortuna  (fortuitum). 
Calvin  bemüht  sich,  dies  auch  theoretisch  zu  begründen.  Er  kann 
nämlich  die  scholastische  Distinktion  der  necessitas  consequentiae 
und  necessitas  consequentis,  oder  der  necessitas  absoluta  und 
necessitas  secundum  quid,  die  Luther  verhöhnt  hatte,1  nicht  ohne 
weiteres  ablehnen,  wonach,  wenn  Gott  etwas  will,  sein  Tun  not- 
wendig ist,  das  aber,  was  er  will,  das  zu  geschehende  factum  seinem 
Wesen  nach  nicht  notwendig  zu  sein  brauche.  Da  Christus  einen  dem 
unsrigen  ähnlichen  Leib  angenommen,  so  wird  kein  Verständiger 
leugnen,  daß  seine  Gebeine  gebrechlich  waren;  doch  war  es  un- 
möglich sie  zu  brechen.  Gott  hat  die  Gebeine  seines  Sohnes, 
welche  er  dem  Bruch  entzogen  hatte,  der  Brechlichkeit  unter- 
worfen, und  also,  was  natürlicherweise  zufällig  war,  unter  die 
necessitas  seines  Ratschlusses  restringiert  (Op.  2,  153;  8,  354). 
Diese  Begründung,  so  fügt  er  ausdrücklich  hinzu,  geschieht  nicht 
aus  Interesse  an  den  sophistischen  Formeln,  sondern  da  sie  ihm 
nicht  gezwungen  und  ad  vitae  usum  aecomodatum  scheint  (Op.  8,  354)- 

4.    Das  Verhältnis  des  göttlichen  Vorsehungswaltens  zu  den 
menschlichen  freien  Handlungen  überhaupt. 

Gibt  es  aber  bei  einer  solchen  Abhängigkeit  alles  Seins  und 
Geschehens  noch  eine  Freiheit  des  Individuums?  Lassen  sich  die 
menschlichen  Handlungen  dem  göttlichen  Vorsehungswalten  als 
freie  einordnen? 

Wir  finden  Calvins  Anschauungen  über  das  vorliegende  Pro- 
blem am  schärfsten  und  klarsten  formuliert  in  I,  18,  2  finis :  Summa 
haec  sit,  cum  dei  voluntas  dicitur  rerum  omnium  esse  causa,  provi- 


qui  se  fatetur  eum  tradidisse  in  manum  occisoris.  Sortes  similiter,  quis 
non  fortunae  caecitati  permittat?  Verum  dominus  non  patitur,  qui  sibi 
vindicat  earum  iudicium.  Vergl.  Praelect.  in  Dan.  proph.  Op.  40,  577; 
Op.  32,   138. 

1)  Sudaverunt  hie  sophistae  iam  multis  annis  et  tandem  victi  coacti 
sunt  concedere,  omnia  quidem  necessario  fieri,  necessitate  consequentiae 
(ut  dieunt),  sed  non  necessitate  consequentis;  sie  eluserunt  violentiam 
istius  quaestionis,  verum  et  se  ipsos  illuserunt.    E.  A.  135. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bi  3^1 


dentiam  eius  statui  moderatricem  in  cunctis  hominium  consiliis  et 
operibus,  ut  non  tantum  vim  suam  exscrat  in  electis,  qui  Spiritu 
sancto  reguntur,  sed  etiam  reprobos  in  obsequium  cogat.  Gott  als 
der  arbiter  et  moderator  omnium  hat  in  seinem  eigenen  v. 
Ratschluß  die  ganze  Weltentwickelung  beschlossen;  durch  seine  All- 
macht bringt  er  diesen  Ratschluß  zur  Ausführung.  Diesem  Rat- 
schluß untersteht  nicht  nur  die  äußere  Kreatur,  sondern  vor  allem 
die  consilia  et  voluntates  hominum.  Der  Mensch  wird  mit  seinem 
ganzen  Sein,  Denken  und  Handeln  von  der  Providenz  gelenkt,  weil 
üer  göttliche  Wille  eben  die  prima  et  summa  omnium  causa  ist. 
Die  [Menschen  sind  ministri  dieses  Willens  (I,  17,  3)  wie  die  Engel. 
Durch  den  im  ewigen  Ratschluß  begründeten  Willen  sind  die  arcani 
motus  cordis  wie  die  actiones  bestimmt  (Op.  28,  447 ;  40,  166). 
Quantum  ad  arcanos  motus  spectat,  quod  de  corde  regis  praedicat 
Salomo,  flecti  huc  vel  illuc,  prout  deo  visum  est,  ad  totum  certe 
humanuni  genus  extenditur,  tantumdemque  valet  aesi  dixisset, 
quidquid  animis  coneipimus,  arcana  dei  inspiratione  ad  suum  finem 
dirigi  (I,  18,  2).  In  unseren  guten  Handlungen,  der  erhaltenden 
Sorge  für  unser  eigenes  Leben  wie  für  das  der  Mitmenschen,  voll- 
ziehen wir  den  göttlichen  Willen. 

Die  Ratschlüsse  Gottes  stehen  für  Calvin  von  der  Ewigkeit  her 
fest.  So  wenig  es  sich  denken  läßt,  daß  sich  das  göttliche  Wissen, 
gleich  dem  menschlichen,  allmählich  mittels  zunehmender  Er- 
fahrung erzeugen  sollte,  ebensowenig  läßt  sich  dies  von  den  gott- 
lichen Ratschlüssen  annehmen,  da  Gott  nicht  gezwungen  werden 
darf,  sich  in  seinem  Tun  nach  Umständen  und  Ereignissen  richten  zu 
müssen,  die  ohne  sein  Wessen  und  Wollen  einträten,  da  überhaupt 
eine  successive  Entstehung  seiner  Entschließungen  ihn  in  die  ganze 
Endlichkeit  seines  Zeitlebens  verflechten  würde.  Es  muß  vielmehr 
die  Gesamtheit  der  göttlichen  Wirkungen  im  göttlichen  W7illen  wie 
im  göttlichen  Selbstbewußtsein  von  Ewigkeit  her  unveränderlich 
vorhanden  sein :  consilium  firrnum  et  stabile,  non  pro  rerum  dis- 
positione  mutabile  (17,  12  ;  vergl.  Praelect.  in  XII  proph.:  Op.  44,  203). 

Welche  Konsequenzen  lassen  sich  aus  dieser  Darstellung 
ziehen?  Ist  der  gesamte  Weltplan  von  Ewigkeit  her  bestimmt,  so 
scheint  für  die  Freiheit  der  Geschöpfe  kein  Spielraum  übrig  zu 
bleiben,  da  die  göttlichen  Ratschlüsse  im  einzelnen  wie  im  ganzen 
unfehlbar  eintreffen  müssen,  mit  der  ewigen  Yorherbestimmung 
daher  jede  Wahlfreiheit  abgeschnitten  ist.  Sollen  die  menschlichen 
Handlungen  wirklich  frei  sein,  so  müssen  sie  in  jedem  Augenblick 


362 


Calvins  Vorsehung-slehre. 


ebensowohl  so  als  auch  anders  ausfallen  können.  Sieht  dagegen 
Gott  dieselben  mit  untrüglicher  Gewißheit  in  seinen  ewigen  Rat- 
schlüssen vorher,  so  ist  es  unmöglich,  daß  sie  anders  ausfallen  als 
so,  wie  sie  im  göttlichen  Ratschluß  bestimmt  sind. 

Das  göttliche  Wissen  ist  ein  schlechthin  sicheres.  Es  erhält 
diese  seine  Gewißheit  nach  Calvin  nicht  erst  durch  die  Anschauung 
des  Gegenstandes  als  eines  wirklich  gewordenen,  sondern  ohne 
eine  solche  durch  sich  selbst ;  es  ist  also  kein  empirisches,  sondern 
ein  apriorisches  Wissen.  Was  aber  a  priori  mit  untrüglicher  Sicher- 
heit gewußt  werden  kann,  das  ist  notwendig.  Nun  könnte  mau 
sagen:  Wenn  es  unmöglich  ist,  daß  Gott  nicht  allmächtig  ist  — 
denn  seine  untrüglichen  Ratschlüsse  führt  er  kraft  seiner  potentia 
aus  — t  so  ist  es  unmöglich,  daß  die  Menschen  anders  handeln,  a!s 
er  sie  in  seiner  ewigen  Anschauung  handeln  sieht.  Wenn  es  un- 
möglich ist,  daß  sie  anders  handeln,  so  sind  ihre  Handlungen 
schlechthin  notwendig;  was  aber  schlechthin  notwendig  ist,  das 
ist  nicht  Sache  der  Freiheit.  Also  scheint  durch  die  göttliche 
Vorherbestimmung  die  Freiheit  ausgeschlossen  zu  sein  (Op.  1,  873; 
8,  354).  Diese  Folgerungen  zieht  aber  Calvin  nicht,  aus  dem 
einfachen  Grunde,  weil  es  sich  ihm  nicht  um  eine  theoretische  Auf- 
stellung und  Lösung  eines  solchen  metaphysischen,  mit  Kausali- 
tätsbegriffen operierenden  Problems  der  Willensfreiheit  handelt. 
Charakteristisch   für   diese   Frage   ist   der   Satz   Calvins:   Aeternis 

decretis  minime  impediri quominus  sub  eius  voluntate   et 

prospiciamus  et  omnia  nostra  dispensemus.  Neque  id  manifesta 
caret  ratione.  Namque  is,  qui  vitam  nostram  suis  terminis  limi- 
tavit,  eius  simul  curam  apud  nos  deposuit. :  eius  conservandae 
rationibus  subsidiisque  instruxit:  periculorum  quoque  praescios 
fecit:  ne  incautos  opprimerent,  cautiones  ac  remedia  suggessit, 
Nunc  perspicuum  est,  quid  sit  nostri  officii :  nempe,  si  vitarn  nobis 
nostram  tutandam  commisit  dominus,  ut  eam  tueamur:  si  subsidia 
offert,  ut  iis  utamur :  si  pericula  praemonstrat,  ne  temere  irrua- 
mus:  si  remedia  suppeditat,  ne  negligamus.  Atqui  periculum 
nulluni  oberit,  nisi  fatale:  quod  ineluctabile  est  remediis  omnibus. 
Quid  autem,  si  ideo  fatalia  non  sunt  discrimina,  quia  iis  propul- 
sandis  ac  superandis  remedia  tibi  dominus  assignavit?  Vide,  quo 
modo  tuae  ratiocinationi  cum  ordine  divinae  dispensationis  con- 
veniat.  Tu  cavendum  non  esse  periculum  colligis,  quia,  fatale 
quum  non  sit,  simus  etiam  citra  cautionem  evasuri :  dominus  autem 
ideo  ut  caveas  iniungit,  quia  fatale  tibi  esse  nolit  (I,   17,  4).    Calvin 


Von  Lic.   Dr.  J.  Bohatec.  363 


will  offenbar  sagen :  Trotzdem  Gott  kraft  seiner  Ratschlüsse  alles 
regiert,  hat  er  doch  dem  Menschen  Mittel  und  Möglich- 
keit gegeben,  selbständig  zu  handeln.  Man  sieht,  daß 
Calvin  in  diesen  Beispielen  nur  einen  praktisch  religiösen  Er- 
fahrungssatz ausspricht.  Den  ganzen  Gedankengang  beherrscht 
hier  nur  das  Interesse,  der  Allmacht  Gottes  Ehre  zu  geben,  der 
gegenüber  sich  die  menschlichen  Handlungen  in  ihrem  Fortgang 
als  Mittel  zur  Erreichung  ihrer  Ziele  erweisen  (vergl.  I,  16,  3  fin. ; 
16,  9;  17,  7.  8;  18,  1  ff.).  Diese  Auffassung  bestätigt  eine  direkte 
Aussage  Calvins  in  seiner  Verteidigung  gegen  Pighius  (Op.  6,  257), 
der  behauptet  hatte,  daß  Calvin  in  seiner  Lehre  alle  Religion  be- 
seitige und  die  Menschen  in  Vieh  und  Ungeheuer  verwandle:  „Wir 
sagen,  der  Mensch  könne  nichts  Gutes  tun  oder  auch  nicht  denken. 
Das  sagen  wir,  damit  er  seine  Abhängigkeit  von  Gott  er- 
kennend an  sich  selbst  verzweifle  und  ganz  an  ihn  sich  hingebe 
(Op.  6,  257). 

Die  gewöhnliche  Charakteristik  der  Lehre  Calvins  von  der 
Freiheit  lautet:  Sie  ist  deterministisch.  So  sagt  Ernest  Martin:1 
Les  doctrines  deterministes  de  Calvin,  Celles  de  la  providence  et 
d'election,  sont  issues  du  sentiment  qu'il  a  de  la  souverainete  de 
Dien ;  seulement  la  souverainete  morale  de  Dien  n'est  pas  distin- 
guee  de  sa  souverainete  metaphysique.  La  premiere  exige  que 
la  volonte  de  Dien  soit  accomplie  librement  par  la  volonte 
humaine,  011  que,  si  la  liberte  humaine  resiste,  justice  soit  fait  de 
desobeissance.  La  seconde  empörte  que  rien  n'arrive  qui  ne  soit 
le  resultat  direct  de  la  volonte  expresse  de  Dieu,  qui  ne  soit  seule- 
ment tolere,  mais  voulu  par  lui.  Die  moralische  Souveränität  im 
Sinne  Martins  hat  Calvin  nie  gelehrt  und  nie  lehren  können  ;  denn 
nach  seinen  Prämissen  würde  die  Beeinflussung  des  göttlichen 
"Willens  durch  den  menschlichen  einen  Defekt  des  ersteren  bedeuten. 

Calvin  hat  bewußt  den  psychologischen  Freiheitsbegriff  von 
dem  ethischen  unterschieden,  wenn  der  erstere  nach  Windelband  2 
die  Tatsache  einer  zwanglosen  Betätigung  der  Persönlichkeit  in 
ihrem  Wählen  und  Handeln,3  und  der  letztere  die  Herrschaft  der 
Vernunft  über  das  natürliche  Gefühl-  und  Triebsystem  des  Men- 
schen zum  Ausdruck  bringft.     Der  erstere  Betriff  ist  rein  formal. 


1)  Revue   de   theologie   et   de  philosophie    1880,    S.  117. 

2)  Über   Willensfreiheit    S.  94  ff.). 

3)  Vgl.  Wundt,  Vorlesungen  S.  464:  Die  (psychol.)  Freiheit  ist  Ab- 
wesenheit von  Zwang,  nicht  aber  die  von  den  Ursachen,  und:  Locke,  Ver- 
such über  den  menschlichen  Verstand   Bd.  I.   Buch   II,    Kap.  21,   §  30. 


•3  6.1  Calvins  Vorsehungslehre. 


der  letztere  normativ.1  Die  ideale  Freiheit,  die  ihren  Ausdruck 
im  Urzustände  des  Menschen  gefunden  hat,  besteht  nach  Calvin 
in  der  willigen  Unterwerfung  des  wählenden  Willens  unter  die 
Normen  der  Vernunft;  die  letztere  leuchtet  und  leitet,  der  erstere 
wählt  und  gehorcht.  Mit  den  Scholastikern  bekennt  nämlich  Cal- 
vin nullam  esse  liberi  arbitrii  actionem,  nisi  se  ratio  vertit  ad 
opposita;  liberi  arbitrii  vis  besteht  nicht  in  appetitu,  nicht  in 
dem  naturalis  instinctus,  sondern  in  mentis  deliberatione  (Über- 
legung der  Vernunft).  Es  hat  keine  Beziehung  auf  die  Freiheit 
des  Willens,  daß  der  Mensch  von  Natur  nach  dem  Guten  verlangt ; 
diesen  Instinkt  haben  auch  die  Tiere.  Dazu  ist  vielmehr  erforder- 
lich, daß  er  das  Gute  mit  richtiger  Einsicht  unterscheide,  das 
erkannte  Gute  wähle  und  das  erwählte  Gute  erstrebe.  Ein  appe- 
titus  ist  non  proprius  voluntatis  motus,  sed  naturalis  inclinatio. 
Kurz:  die  ideale  Freiheit  besteht  in  der  Beherrschung  der  Sinn- 
lichkeit  durch  die  Vernunft. 

Calvin  sprach  dem  menschlichen  Willen  nach  dem  Fall,  wo 
die  ideale  Freiheit  in  Trümmer  ging,  seinem  Streben  nach  gutem 
Werken,  also  nach  sittlicher  Betätigung  allerdings  von  vorn- 
herein alle  Freiheit  ab.  „Es  wird  kein  Streit  mehr  darüber  sein,  daß 
dem  Menschen  zu  guten  Werken  der  freie  Wille  fehle,  wenn  er 
nicht  durch  die  Gnade  unterstützt  wird  und  zwar  durch  die  be- 
sondere Gnade,  welche  die  electi  soli  durch  die  Wiedergeburt  er- 
halten" (Op.  2,  190).  Er  tadelt  daher,  daß  die  älteren  Kirchenlehrer, 
so  namentlich  Chrysostomus  und  Hieronymus,  die  menschlichen 
Kräfte  nach  dem  Sündenfall  so  hochgehalten  haben,  um  durch 
das  Bekenntnis  des  gänzlichen  menschlichen  Unvermögens  teils 
nicht  das  Gelächter  der  Philosophen  zu  erregen,  mit  denen  sie 
damals  im  Streite  lagen,  teils  um  dem  an  sich  selbst  schon  zum 
Guten  allzu  trägen  Fleische  nicht  von  neuem  Vorwand  zu  mutloser 
Untätigkeit  zu  geben  (Op.  2,  188).  Wenn  nichts  Gutes  in  uns, 
vielmehr  der  Mensch  vom  Haupt  bis  zur  Ferse  Sünder  ist,  wenn 
er  nicht  einmal  versuchen  kann,  was  der  Wrille  vermag:  Wie 
könnte  zwischen  Gott  und  dem  Menschen  der  Ruhm  guter  Werke 
geteilt   werden?      So    hat   er    das   ganze    III.  Kapitel    des    zweiten 

1)  Windelband  bemerkt  mit  Recht  a.a.O.  S.97:  Wir  können  nicht 
nur  von  der  Wahlfreiheit  reden,  wo  wir  die  sittliche  Freiheit  für  aus- 
geschlossen halten  ....  Unsere  geläufige  Ausdrucksweise  ist  darin  eigen- 
tümlich befangen  und  zeigt  damit  gerade,  wie  sie  den  Gedanken  an  die 
sittliche  Freiheit  im  Hintergrunde  hat,  wenn  sie  von  Wahlfreiheit  in 
psychologischem    Sinne    zu    reden    scheint. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec,  365 


Buches  dem  positiven  Beweis  gewidmet,  daß  aus  der  verderbten 
Natur  nur  Sündliches  und  Verwerfliches  hervorgehe,  als  auch 
negativ  im  V.  Kapitel  die  Wiederholung  der  ,, gewöhnlichen"  Be- 
weise für  die  Freiheit  des  menschlichen  Willens  unternommen. 
Er  behauptet,  daß  es  dem  Menschen  nach  dem  Sündenfall  un- 
möglich sei,  das  Heil  zu  ergreifen,  da  er  in  sich  einen  absoluten 
Hang  zum  Sündigen  spüre.  Bei  diesem  Urteil  bleibt  er  aber  nicht 
stehen,  sondern  er  macht  den  Versuch,  die  formale  Freiheit  zu 
retten.  Denn  die  Konsequenzen,  die  man  aus  der  totalen  Leug- 
nung der  Freiheit  gezogen  hatte,  der  Mensch  sei  ein  truneus  und 
lapis,  will  er  nicht  ziehen.1  Er  nimmt  die  psychologische  Frei- 
heit des  Menschen  an.  Dies  kommt  in  seiner  Unterscheidung 
zwischen  necessitas  und  coactio  zum  Vorschein.  Demnach  sündigt 
der  Mensch  mit  Willen,  nicht  mit  Zwang  oder  Widerwillen,  nach 
einer  überwiegenden  Neigung  des  Herzens,  nicht  aber  durch  ge- 
waltsamen Zwang  seiner  Lust,  noch  durch  einen  äußeren  Zwang; 
aber  wegen  der  Verderbtheit  seiner  Natur  kann  er  nur  mit  Not- 
wendigkeit (necessitate)  zum  Bösen  geleitet  werden  (Op.  2,  214; 
II,  cap.  3,  5).  —  Dem  Menschen  nämlich,  so  spricht  es  Calvin 
deutlich  aus,  mag  immerhin  freier  Wille  zugeschrieben  werden, 
nicht  weil  er  die  freie  Wahl  des  Guten  und  Bösen  hat,  sondern 
weil  er  es  mit  seinem  Willen  und  nicht  aus  Zwang  tut  (male 
voluntate  agit,  non  coactione).  Die  Vernunft,  mit  welcher  der 
Mensch  Gutes  und  Böses  unterscheidet,  konnte,  da  sie  eine  natür- 
liche Gabe  ist,  nicht  gänzlich  vertilgt  werden  (S.  196).  Der  Wille 
ging  nicht  verloren,  weil  er  von  der  Menschennatur  unzertrenn- 
lich ist  (S.  196).  Der  Wille  wird  aufgehoben,  nicht  insofern  er 
Wille  ist,  indem  er  bei  der  Bekehrung  des  Menschen  dasjenige 
bleibt,  was  seiner  Natur  ursprünglich  angehört  (S.  215).  Es  bleibt 
nach  dem  Fall  der  Wille,  der  mit  überwiegender  Lust  eilfertig 
zum  Sündigen  neigt;  denn  nicht  den  Willen  verlor  der  Mensch, 
sondern  die  Gesundheit  des  Willens  (Op.  52,  32).  Nicht  unpassend 
sage  Bernhard,  das  Wollen  sei  in  uns  allen,  aber  Gutes  wollen  sei 
ein  Fortschritt  (profectus),  Böses  wollen  ein  Rückschritt  (defectus), 
einfaches  Wollen  sei  des  Menschen,  böses  Wollen  der  verderbten 
Natur,  gutes  Wollen  der  Gnade  (S.  213).    Man  solle,  so  sagt  Calvin 


1)  Op.  2,  235:  Sed  cui,  aiunt,  veri^imile  fuit,  Dominum  truncis  ac 
lapidibus  legem  destinasse?  Neque  id  quisquam  persuadere  molitur.  Non 
enim  aut  impii  saxa  sunt  aut  stipites,  dum  adversari  Deo  suas  libidines 
per  legem  edocti,  suo  ipsorum  testimonio  rei  fiunt;  aut  pii,  dum  suae 
impotentiae  admoniti,  ad  gratiam  confugiunt. 


■JOO  Calvins  Vorsehungslehre. 


im  Anschluß  an  Augustins  Argumentationen  (S.  214)  folgende 
Unterscheidung  bemerken :  Der  Mensch,  seit  er  durch  den  Fall 
verderbt  ist,  sündigt  mit  Willen,  nicht  wider  Willen  und  ge- 
zwungen ;  nach  einer  überwiegenden  Neigung  des  Herzens,  nicht 
aber  durch  gewaltsamen  Zwang  seiner  Lust  oder  durch  einen 
äußeren  Zwang. 

Den  bisherigen  Ausführungen  scheint  aber  eine  andere  Stelle 
(Op.  2,  228)  zu  widersprechen.  Hier  behandelt  Calvin  nämlich  die 
Frage,  ob  bei  den  indifferenten  Handlungen,  die  mehr  das  Leib- 
liche als  das  Geistige  betreffen,  dem  Menschen  eine  freie  Wahl  zu- 
gestanden werden  darf.  Auch  dieses  Gebiet  will  er  der  allmächtigen 
Wirksamkeit  Gottes  keineswegs  entreißen,  sondern  behauptet  ent- 
schieden, daß  Gott,  um  seiner  Vorsehung  den  Weg  zu  bahnen, 
auch  in  irdischen  Dingen  die  Gesinnungen  der  Menschen  leitet, 
und  daß  von  seinem  Willen  ihre  Wahl  abhängt :  Ego  vero  1  suffi- 
cienter  iis  (sc.  Beispiele  aus  der  Schrift)  probari,  quod  contendo, 
Deum,  quoties  viam  facere  vult  suae  providentiae,  etiam  in  rebus 
externis  hominum  voluntates  flectere  et  versare  nee  ita  esse  libe- 
ram  ipsorum  electionem,  quin  eius  libertati  Dei  arbitrium  domi- 
netur  (C.  R.  2,  228).  Scheibe  (a.  a.  O.  S.  106  f.)  führt  diesen  Satz 
als  Beweis  für  den  absoluten  metaphysischen  Determinismus  Cal- 
vins an.  Aber  hier  vertritt  Calvin  nicht  den  metaphysischen  Deter- 
minismus. Dieser  muß,  um  konsequent  zu  bleiben,  nicht  bloß  die 
Möglichkeit  der  selbständigen  Wahl  für  jede  einzelne  Handlung, 
d.  h.  die  Freiheit  zu  tun,  was  man  will,  sondern  auch  die  Freiheit 
des  Handelns  überhaupt  leugnen.  Die  Handlungen  sind  ja  nach 
ihm  schlechthin  notwendig,  also  nicht  Sache  der  Freiheit.  Calvin 
verwirft  den  metaphysischen  Determinismus,  indem  er  die  Freiheit 
des  Handelns  zugibt :  In  liberi  arbitrii  disputatione  non  hoc  quae- 
ritur,  san  homini,  quaeeunque  animo  deliberarit,  perficere  et 
exsequi  per  externa  impedimenta  liceat,  sed  an  in  re  qualibet 
liberam  habeat  et  iudicii  electionem  et  voluntatis  affectionem. 
—  Meminerint  lectores,  ab  eventu  rerum  non  esse  aestiman«lam 
humani  arbitrii  facultatem  .  .  Facultas  ista  .  .  non  ab  extraneo 
successu  metienda.  Es  ist  allerdings  zuzugeben,  daß  Calvin  die 
sittlich  indifferenten  menschlichen  Handlungen,  welche  vom  sensus 
noster  ohne  Zweifel  (nil  dubitabimus)  dem  freien  Entschluß  des 
Subjektes  überlassen  werden,   der   specialis   motio   Dei   unterwirft, 


1)    Die   Aussage   richtet    sich    gegen   diejenigen,    welche   dem   mensch- 
lichen Willen  eine  libera  electio  auf  dem  fraglichen  Gebiete  zugestehen. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec. 


aber  sie  sind  vom  göttlichen  Willen  nicht  absolut  determiniert. 
Sehr  bezeichnend  sagt  ja  Calvin:  Eorum  animi  Domino  magis 
subeant,  quam  a  se  ipsis  regebantnr  (ib.  S.  2281.  Vgl.  auch  den 
charakteristischen  Satz:  Op.  52,  34  (Philip.  2,  13):  (Paulum)  non 
disputare,  quousque  s  e  facultas  nostra  extendet, 
sed  simpliciter  docere,  Deum  ita  agere  in  nobis,  ut  non  tarnen 
sinat  nos  pigrescere,  sed  arcano  instinctu  impulsos  strenue  exer- 
ceat.  Der  Satz  beweist  m.  E.  deutlich,  daß  Calvin  alle  Erklärung 
des  Ursprungs  der  Freiheit  des  spekulativ-metaphysischen  Deter- 
minismus fremd  ist,  oder  besser  gesagt,  daß  er  auf  sie  kein  Ge- 
wicht legt. 

Es  ist  allerdings  eine  andere  Frage,  ob  sich  die  psychologische 
Freiheit  und  die  ethische  Unfreiheit  so  trennen  lassen,  daß  sie 
beide  zusammen  einen  Moment  im  Selbstbewußtsein  ausfüllen  können. 
Ist  es  nicht  widerspruchsvoll,  wenn  Calvin  behauptet,  daß  der 
Mensch  mit  Willen  sündige  und  dabei  in  einem  Atem  sagt,  daß 
er  infolge  seiner  verderbten  Natur  nur  das  Böse  tun  kann?  Schon 
Pighius  hat  Calvin  vorgeworfen,  daß  die  beiden  Begriffe  necessi- 
tas  und  voluntas  kontradiktorisch  sind.  Calvin  verneint  dies 
(Op.  6,  333  f.),  indem  er  sich  darauf  beruft,  daß  Gott  notwendig 
gut  ist  und  dadurch  sein  freier  Wille  nicht  aufgehoben  ist,  eben- 
falls wie  der  Teufel  notwendig  böse  ist,  ohne  daß  dadurch  aus- 
geschlossen wäre,  daß  er  mit  Willen  sündigt.  Diesen  Begriff  der 
freien  Notwendigkeit  hat  Calvin,  wie  er  selbst  bekennt,  von  Bernhard 
v.  Clairvaux  übernommen.  Er  führt  des  letzteren  Sätze  an :  Anima 
miro  quodam  et  malo  modo  sub  hac  voluntaria  quadam  ac  male 
libera  necessitate  et  ancilla  tenetur  et  libera.  .  .  Nescio  quo  pravo 
et  miro  modo  ipsa  sibi  voluntas  peccato  quidem  in  deterius  mutata, 
necessitatem  facit,  ut  nee  necessitas  (quum  voluntaria  sit)  excusare 
valeat  voluntatem,  nee  voluntas  quum  sit  illecta  exeludere  po- 
testatem  (Op.  2,  214).  Daß  dadurch  die  ganze  Frage  nur  dialektisch 
verdunkelt  ist,  braucht  wohl  nicht  hinzugefügt  zu  werden.  Eine 
theoretische  Lösung  der  Frage,  wie  es  doch  möglich  sei,  daß  neben 
der  göttlichen  Vorherbestimmung  der  Mensch  doch  selbständig 
handeln  kann,  hat  Calvin  nicht  gegeben,  auch  nicht  geben  können. 
Er  hat  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  mit  der  rein  praktischen  Be- 
hauptung begnügt,  daß  wir  neben  den  göttlichen  Ratschlüssen  und 
trotz  dieser  Mittel  und  Möglichkeit  haben,  selbständig  zu  handeln 
Wo  er  auch  über  diese  praktischen  Motivationen  hinausging. 
hat  er  die  beiden  extremen  Klippen,  den  naturhaften  Determinis- 


3  68  Calvins  Vorsehungslehre. 


mus  und  den  pelagianischen  Indeterminismus  zu  vermeiden  ver- 
sucht. Jeder  Versuch,  das  W  i  e  des  Verhältnisses  der  vollen 
Realität  des  individuellen  Lebens  und  Handelns  zu  dem  alles 
beherrschenden  Vorsehungswalten  Gottes  und  seinem  höchsten 
Willen  auf  theoretischer  Grundlage  entscheiden  zu  wollen,  muß 
an  den  Grenzen  unseres  Vernunfterkennens  wie  an  dem  Wesen  des 
Glaubens  scheitern.  Der  Gedanke  der  causa  prima  wie  der  mensch- 
lichen Freiheit  sind  nur  Grenzgedanken,  und  dadurch  ist  es  un- 
möglich zu  entscheiden  —  am  wenigsten  schon  nach  der  Kategorie 
von  Ursache  und  Wirkung  — ,  wie  jenes  Verhältnis  auf  dem  Boden 
der  Metaphysik  besteht.  Durch  jeglichen  Lösungsversuch  würde 
einer  der  beiden  Begriffe  Einbuße  erleiden.  Sehen  wir  im  Men- 
schen nur  absolut  selbstlose  Kreatur,  so  gelangen  wir  schließlich 
zu  einem  naturhaften  Determinismus,  und  umgekehrt :  schränken 
wir  Gottes  Allwirksamkeit  ein  zugunsten  der  Freiheit,  so  kommt 
unser  Vorsehungsglaube  zu  kurz.  Für  die  Frömmigkeit  ist  die 
ganze  Schwierigkeit  nicht  vorhanden.  Denn  die  Frömmigkeit  ruht 
auf  der  Erfahrung  des  Zusammenwirkens  beider  Faktoren  und 
empfindet  die  Freiheit  als  „von  Gott  getrieben  werden",  die  Wir- 
kung Gottes  in  uns  als  Freiheit.  Auch  die  heilige  Schrift  hat 
nirgendwo  die  Frage  aufgestellt,  wie  sich  Gottes  Wirkung  mit 
der  menschlichen  Freiheit  vertrage,  noch  weniger  hat  sie  dieselbe 
gelöst. 

Ist  diese  Auffassung  der  Willensfreiheit  eigenartig?  Wir 
fragen  somit  nach  den  Quellen  der  calvinischen   Freiheitslehre. 

i.  Es  ist  zunächst  merkwürdig,  daß  der  Versuch,  die  Rat- 
schlüsse Gottes  mit  der  menschlichen  Freiheit  zu  versöhnen, 
stoisch  klingt.  Die  Stoiker 1  haben  gegen  die  aristotelische  An- 
schauung, daß  unsere  Selbsttätigkeit  (cd  fifjn'  f^ilf)  bloß  in  unserer 
Wahl  (7CQoaiQeoic)  liege,  die  These  verfochten,  daß  unsere  Selbst- 
tätigkeit durch  das  Fatum  regiert  werde  (rö  Iq?  i)fuv  eivat  rb  dC 
fjfilv  vrcb  zfjg  s'iQuaQutv^g  yevouErov).  Sie  fühlen  aber  ganz  gut, 
daß  hier  eine  Antimonie  vorliegt,  und  diese  zu  beseitigen  haben 
sie,  so  Chrysipp  und  Cicero,  unterschieden  zwischen  dem,  was 
einfach  (cmfaog)  im  Fatum  enthalten  ist,  d.  h.  was  ohne  alle  Ver- 
mittelungen,  so  wie  es  im  Fatum  vorherbestimmt  ist,  eintritt,  und 
zwischen   dem,   was    mit   dem   unmittelbar    durch   das    Fatum    Be- 


i)  Vergl.  H.  v.  Arnim,  Die  stoische  Lehre  vom  Fatum  und  Willens- 
freiheit in  ,,Wissenschaftl.  Beilage  zum  18.  Jahresbericht  der  philos.  Gesell- 
schaft an  der  Universität  zu  Wien"  S.  12  ff. 


Von  Lic.   Dr.    J.    Bob  3&Q 


stimmten  so  notwendig  verbunden  ist,  daß  es  infolgedessen  —  also 
mittelbar  —  in  die  ewige  notwendige  Ursachenverkettung  hinein- 
gezogen, daher  ovyY.a&eiQiAaf.ttva  (confatalia)  genannt  wird.  Der 
sogenannte  aQyög  Xöyog,  das  Hauptargument  gegen  die  stoische 
Lehre,  das  die  Unvereinbarkeit  der  Notwendigkeit  des  Schicksals 
mit  dem  menschlichen  freitätigen  Handeln  betonte,  lautete :  „Wenn 
es  dir  vom  Schicksal  bestimmt  ist,  von  deiner  Krankheit  zu  ge- 
nesen, so  wirst  du,  ob  du  nun  einen  Arzt  rufest  oder  nicht,  jeden- 
falls genesen ;  und  wenn  es  dir  nicht  vom  Schicksal  bestimmt  ist, 
von  deiner  Krankheit  zu  genesen,  so  wirst  du,  ob  du  nun  einen 
Arzt  rufest  oder  nicht,  keinesfalls  genesen.  Nun  ist  es  dir  aber 
entweder  bestimmt  zu  genesen  oder  es  ist  dir  bestimmt,  nicht  zu 
genesen ;  also  ist  es  vergeblich,  den  Arzt  zu  rufen."  x  An  dem 
und  dem  Tage  wird  Sokrates  sterben,  Sokrates  mag  tun,  was 
er  will,  diesen  vorherbestimmten  Tag  wird  er  nicht  abwenden 
können  (Cicero,  de  fato  13,  30).  Die  Stoiker  antworten,  dal.'» 
dieses  Beispiel  sich  auf  das  Gebiet  der  ovyxa&EiQ/Aafieva  nicht 
anwenden  läßt.  Diese  sind  nämlich  der  Art,  daß  sie  nicht  ein- 
treten, wenn  wir  nicht  wollen  und  mit  aller  Energie  nach  ihrer 
Verwirklichung  trachten.  Ist  jemandem  vom  fatum  vorher- 
bestimmt, daß  er  unverletzt  den  Kampfplatz  verlassen  wird,  wenn  er 
tapfer  kämpft,  so  ist  diese  Bedingung  des  Erfolgs  jedenfalls  mit  der 
Selbsttätigkeit  des  Menschen  verknüpft ;  sie  ist  aber  auch,  weil  ein 
Mittel  zur  Verwirklichung  des  Beschlossenen,  notwendig.  Es  sei 
nicht  schlechthin  bestimmt,  so  lehrte  Chrysipp  im  2.  Buche  neql 
UQua^ihr^,-  daß  dieser  Soldat  aus  der  Hand  der  Feinde  gerettet 
werde,  sondern  es  gehöre  dazu,  daß  er  fliehe ;  es  sei  nicht  schlecht- 
hin bestimmt,  daß  der  Fechter  heiler  Haut  aus  dem  Kampfe  gehe, 
sondern  es  gehöre  dazu,  daß  er  fechte.  Auf  diese  Weise  würde 
ohne  unser  Mühen  und  Zutun  vieles  nicht  geschehen.  Daher  sei 
es  unrichtig,  aus  der  Vorausbestimmung  zu  folgern,  daß  die  Welt 
gehe,  wie  sie  solle  und  der  Mensch  die  Hände  in  den  Schoß  legen 
könne  —  eine  Ungereimtheit,  auf  die  der  eben  genannte  Gegen- 
beweis der  Gegner,  der  äoyög  Xoyoc,  hinausführte. 

Es  ist  interessant,  daß  Calvin  unter  den  das  Vorsehungs- 
problem erläuternden  Beispielen  auch  das  von  Stoikern  gebrauchte 
von  Arzt  und  Tod  verwertet.     Man  solle  nicht  behaupten,  sagt  er, 


1)  Arnim   a.  a.  O.    S.  12. 

2)  Vergl.    den  Auszug  aus    dem    Peripatetiker   Diogenianus   bei    Euse- 
bius,  praep.  evang.  VI,  8  und  Cicero,  de  fato  cap.  13. 

Calvinstudien.  2± 


"3  70  Calvins  Vorsehungslehre. 


der  uns  bestimmte  Tod  werde  eintreten,  mögen  wir  einen  Arzt 
konsultieren  oder  nicht.  Die  nähere  Ausführung  des  Beweises  für 
die  Inkorrektheit  dieser  Behauptung  ist  aber  bei  Calvin  nicht  die 
gleiche  wie  bei  den  Stoikern.  Zwar  wird  von  beiden  behauptet,  daß 
die  Hinzuziehung  des  Arztes  eine  Selbsttat  des  Menschen  sei. 
Während  aber  die  Stoiker  diese  Selbsttat  als  ein  respectu  des  not- 
wendigen finis  notwendiges  Mittel  betrachten  und  durch  diese  Dia- 
lektik ihre  ganze  Deduktion  ad  absurdum  führen,  —  die  Gegner 
haben  ihnen  mit  Recht  vorgeworfen:  Wie  kann  frei  gleichzeitig 
notwendig  sein?  — ,  so  sind  nach  Calvin  diese  Mittel  zwar  von  Gott 
gegeben,  deren  Verwendung  aber  dem  Menschen  anheimgestellt, 
ihr  Effekt  von  seinem  Vermögen  „sich  zu  beraten  und  sich  zu 
hüten"  abhängig.  Diese  ohne  alle  Dialektik  rein  praktisch  ver- 
fahrende Argumentation  Calvins  läßt  nicht  auf  eine  direkte  Be- 
nutzung der  stoischen  Quellen  schließen.  Calvin  scheint  sie  viel- 
mehr aus  Butzer  entnommen  zu  haben,  der  sie  in  ähnlichem 
Zusammenhang  verwertet.1 

2.  Da  Calvin  Augustin  öfter  zitiert,  läge  die  Behauptung  nahe, 
daß  die  Freiheitslehre  des  ersteren  das  charakteristische  Gepräge 
dieses  reformatorischen  Kirchenvaters  tragen  könnte.  Für  Augustin 
faßt  sich  aber  die  fragliche  Problemstellung  in  die  Frage  zu- 
sammen: inifabiliter  rae  movet,  quo  modo  fieri  possit,  ut  et  deus 
praescius  sit  ömnium  futurorum  et  nos  nulla  necessitate  peccemus.2 
Bei  ihm  steht  also  das  Verhältnis  des  göttlichen  Vorher- 
wissens  zu  den  menschlichen  freien  Handlungen  im  Vorder- 
grund. Das  zu  lösende  Problem  ist  für  ihn  wie  für  Cicero :  si  prae- 
scivit  deus  futuram  voluntatem  meam,  quoniam  nihil  aliter  potest  fieri 
quam  praescivit,  necesse  est,  ut  velim,  quod  ille  praescivit :  si  autem 
necesse  est,  non  iam  voluntate  sed  necessitate  id  nie  velle  fatendum 
est.3  Die  Lösung  findet  er  bekanntlich  in  der  Behauptung,  daß 
das  göttliche  Vorherwissen  zum  Willen  des  Menschen  nicht  in 
einem  irgendwie  nötigenden  Verhältnisse  steht,  sondern  daß  Gott 
den  sich  selbst  bestimmenden  Willen4  nur  voraussieht.  Der  Wille 
bleibt  Wille,  weil  Gott  ihn  vorausgesehen  hat.5  Weil  Calvin  die 
nuda  praescientia  Gottes  nicht  anerkennt,   existiert  für  ihn  diese 


i)  Cf.   Lang  a.  a.  O.   S.  343. 

2)  De  libero   arbitrio  III  2,  4. 

3)  Ibidem. 

4)  Voluntas  nostra  nee  voluntas  esset,   nisi  esset  in  nostra  potestate, 
de  lib.  arb.  III  3,  8. 

5)  Vergl.  Gangauf,  Die  metaphysische  Psychologie  Augustins  II,  S.  340. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  37  I 


Fragestellung  Ciceros  und  die  Lösung  Augustins  nicht.  Frustra 
de  praescientia  lis  movetur,  ubi  constat,  ordinatione  potius  et  nutu 
omnia  evenire  Op.  2,  704.  Trotzdem  beruft  er  sieh  auf  Augustin. 
Loofs  *  bemerkt  dazu,  daß  Augustin  zwischen  dem  göttlichen 
Wirken  und  dem  göttlichen  Zulassen  einen  ernstlicheren  Unterschied 
mache  als  Calvin.  Nun  läßt  sich  zu  Calvins  Entschuldigung  an- 
führen, daß  August  in  in  diesem  Problem  es  nicht  an  Zweideutig- 
keit fehlen  läßt  und  es  daher  begreiflich  ist,  daß  sich  Calvin  wie 
Luther  für  seine  gegen  die  Präscienz  sich  richtenden  Gedanken 
auf  Augustin  als  seinen  Gewährsmann  ohne  Bedenken  berufen 
konnte.2  So  sagt  Augustin  z.  B.  in  der  Auseinandersetzung  mit 
Cicero  über  unser  Problem  de  civ.  dei  5,  9 :  voluntates  nostrae  tan- 
tum  valent,  quantum  deus  eas  valere  v  o  1  u  i  t  et  praeseivit :  et 
ideo,  quidquid  valent,  certissime  valent  et  quod  facturae  sunt  ipsae, 
omnino  facturae  sunt :  quia  valituras  atque  facturas  ille  praeseivit, 
cuius  praescientia  falli  non  potest.  Wäre  es  demnach  möglich, 
daß  Calvin  diese,  wenn  auch  von  ihm  mißverstandenen  Darlegungen 
Augustins  benutzt  hat,3  so  findet  sich  die  charakteristische  Zu- 
sammenfassung des  ganzen  Problems  in  die  Formel :  necessitate, 
non  coactione  agere  bei  Augustin  nicht.  Er  definiert  zwar  den 
Willen  als  animi  motus  ad  aliquid  non  amittendum  vel  adipiscen- 
dum  co  gente  nullo,  (de  duab.  anim.  XII,  16),  aber  diese 
coactio  ist  mit  der  necessitas  identisch  und  steht  der  voluntas,  dem 
über   motus  animi  gegenüber.4 

3.  Damit  sind  auch  diejenigen  Autoren  als  Quellen  unseres 
Reformators  auszuschalten,  welche  im  Sinne  des  augustinischen 
Indeterminismus  oder  sogar  des  Semipelagianismus  lehren.  Zu 
den  ersteren  gehören  vor  allem  die  späteren  Auflagen  der  loci  Me- 
lanchthons,  welche  zwar  die  duplex  necessitas  annehmen,  aber 
doch  lehren,  daß  die  praevisio  non  affert  necessitatem  nee  mutat 
in  voluntate  hominis  modum  agendi,  deus  sustentat  naturam  (C.  R. 
XXI,  647).  Secundae  (causae)  non  possunt  agere  sine  prima, 
scilicet  conservante  posteriores  seu  viin  posteriorum,  quam  con- 
servat,  qualis  est  condita  .   .   .  vim  humanae  voluntatis   servat,  ut 


1)  Dogmengeschichte1  887. 

2)  Dies  wird  ihm  und  Luther  von  Gangauf  (a.  a.  O.  345)  übelgenommen. 

3)  Er  beruft  sich  auf  Augustin  Op.  9,  294:  Certe  haec  non  mea,  sed 
Augustini  est  ratiocinatio:  si  praevidit  deus.  quod  fieri  nolebat,  non  tenere 
summiim  Imperium,  itaque  statuisse,  quid  futurum  esset,  quia  nihil  fieri 
potuit   quam   eo   volente. 

4)  De   catech.    rudibus    XIII.  30;    de   vera  relig.    XIV,   27. 

24* 


■2  7  2  Calvins  Vorsehungslehre. 


agat  liberae  (C.  R.  XIII,  210).   Es  gibt  eine  contingentia  :  voluntates 
per  sese  et  propria  voluntate  discedunt  a  regula  divina  .  .  .  liber- 
tatem  aliquam  poni  voluntatum   et   deinde   actionum,   quae  a  vo- 
luntatibus    hominum  oriuntur  (ib.  211). 

Der  die  calvinische  Gedankenwelt  sonst  beeinflussende  Faber 
Stapulensis  denkt  im  Grunde  semipelagianisch.  Gott  wirkt  zwar 
in  uns,  seinen  Werkzeugen,  aber  wir  können  seinem  Willen  wider- 
stehen.    Gott  will,  daß  wir  gut  seien  und  er  hilft  uns  oft  dazu.1 

4.  Da  für  Calvin  das  göttliche  Wollen  grundlegend  ist  für 
das  in  den  Dekreten  Gottes  befaßte  Wissen,  werden  wir  zu  den 
streng  voluntaristischen  Typen  des  Reformationszeitalters  geführt, 
die  die  tätige  Persönlichkeit  in  allem  ihren  Wirken  nicht  bloß  vom 
absoluten  Wissen,  sondern  von  dem  absoluten  Willen  Gottes  als 
dem  Heilsgrunde  getragen  wissen  wollen.  Calvin  hat  zwar  öfter 
wie  Luther  auf  Laurentius  Valla,  den  er  sonst  nicht  zu  hoch 
schätzte  (homo  alioqui  in  sacris  non  admodum  exercitatus  Op. 
2,  703),  hingewiesen  als  denjenigen,  der  nicht  die  Präszienz,  son- 
dern die  Aktuosität  Gottes  als  den  Hauptbestand  seines  Wesens 
hervortreten  ließ.  Weil  Laurentius  Valla  sonst  nirgends  von  Cal- 
vin erwähnt  wird,  so  ist  wohl  anzunehmen,  daß  ihn  Calvin  aus  den 
Schriften  Luthers  oder  Melanchthons  kannte.  Dagegen  scheint  er 
in  diesem  Punkte  von  Luther  abhängig  zu  sein.  Die  Unterscheidung 
von  coactio  und  necessitas  ist  Luther  mit  Calvin  gemeinsam,2  doch 
bleibt  Luther  dieser  Unterscheidung  nicht  ganz  treu.  Die  Wen- 
dung: faciamus  necessitate  ist  mit  der  Wendung:  faciamus  coacti 
identisch.  Während  nach  ihm  der  Mensch  gezogen  wird  (rapitur) 
wie  eine  Säge  oder  ein  Beil  (E.  A.  241,  fit  totus  239),  handelt  er 
nach  Calvin  spontan:  ultro  se  flectit,  quocumque  ducitur,  non 
autem  rapitur  aut  trahitur  invito.  Besteht  Luther  auf  der  Unver- 
einbarkeit der  göttlichen  Vorsehung  mit  dem  freien  Willen  (E.  A. 
133),  —  das  Dasein  der  Vorsehung  sei  der  beste  Beweis,  daß  wir 
gar  keine  Freiheit  haben  —  und  widerlegt  er  daher  alle  Versuche, 
sie  zu  harmonieren,3  besteht  für  Calvin  dieser  Dualismus  gar  nicht. 


1)  Graf,  Jacob  Faber  Stapulensis  in  Zeitschr.  f.  hist.  Theol.  1852,  S.  77&. 

2)  Luther  gebraucht  parallele  Ausdrücke:  necessitas  ad  tempus  opp. 
necessitas  violenter,  necessario  non  coacte,  necessitas  immutabilitatis  non 
coactionis    E.  A.  VII,    155  ff. 

3)  Wider  Erasmus'  Klage,  wie  ungemein  schwer  das  Verhältnis  der 
göttlichen  Vorsehung  zur  menschlichen  Freiheit  zu  bestimmen  sei,  ent- 
gegnet Luther,  nichts  sei  leichter  zu  erledigen,  nämlich  gar  nicht 
ließen  sich  beide  vereinigen. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatcc.  373 


Daher  darf  seine  Theorie  auch  nicht  mit  dem  absoluten  Deter- 
minismus Zwingiis  identifiziert  werden,  dessen  Hauptsatz  lautet: 
Providentia  dei  tolluntur  et  liberum  arbitrium  et  meritum  (Zwingli 
Op.  III,  283;  IV,  116).  Zwingli  schreckt  überdies  vor  dem  coactum 
des  menschlichen  Willens  nicht  zurück.  (Predigt  von  der  Kl.  und 
Gew.  des  Wortes  Gottes  I,  63.) 

Viel  näher  steht  Calvin  Butzer,  der  die  Wahlfreiheit  mit  der 
Allwirksamkeit  Gottes  zu  vereinigen  sucht  (causa  prima  non  ex- 
cludit  actionem  causarum  seeundarum),  der  den  Menschen  frei 
wählen  läßt  (nemine  cogente),  der  die  Unterscheidung  von  neces- 
sitas  und  coactio  annimmt,  der  von  einem  freien  und  notwendig 
guten  Gott  redet.1  Bei  Butzcr  findet  sich  aber  eine  leichte  Ab- 
biegung  zu  der  materialen  Freiheit :  innerhalb  des  ordo,  welchen 
Gott  beschlossen  hat,  können  wir  der  göttlichen  Allmacht  mithelfen 
zu  unserem  Heil ;  innerhalb  der  göttlichen  Allwirksamkeit  muß 
dem  Menschen  ein  gewisser  Raum  der  Selbstbetätigung  gelassen 
werden.2 

Calvin  hat,  das  bleibt  sein  Verdienst,  einen  Schritt  über  die 
schroffe  deterministische  Einengung  Luthers  hinausgetan,  ohne  auf 
die  Bahn  der  zur  materialen  Freiheit  neigenden  Butzer  und  Me- 
lanchthon  zu  geraten.  Er  hat  den  Versuch  einer  wissenschaft- 
lichen Vermittelung  gewagt,  wenn  auch  nicht  durchgeführt ;  auch 
hier  ist  er  Theologe  der  Diagonale.  Das  ist  sein  Ver- 
dienst, aber,  wie  bei  allen  diagonalen  Versuchen  nicht  anders  mög- 
lich ist,  auch  seine  Schwäche.  In  seinem  angestrengten  Bestreiten. 
wenigstens  den  Schein  der  Freiheit  zu  retten,  hat  er  das  Bedürfnis 
nach  ihrer  Wahrheit  ausgedrückt. 

5.    Das  Verhältnis  des  göttlichen  Vorsehungswaltens  zu  den  sündigen 
Handlungen  des  Menschen. 

Die  Schwierigkeiten  vermehren  sich,  wenn  wir  die  Beziehung 
der  sündigen  Handlungen  der  Menschen  zum  göttlichen  Vor- 
sehungswalten,  die  wir  schon  im  vorigen  Paragraph  gelegentlich 
haben  berühren  müssen,  ins  Auge  fassen.  Wenn  das  ganze  mensch- 
liche Leben  durch  den  göttlichen  Willen  bestimmt  ist,  sind  dann 
auch  die  sündigen  Handlungen  eine  Vollziehung  und  Verwirklichung 
des  göttlichen  Willens?  Calvin  bejaht  die  Frage.  Voluntas  Dei 
non  corrigenda  est.     Auch  die  flagitia  und  der  Satan  müssen  dazu 


1)  Lang  a.  a.  O.   342  ff. 

2)  Lang  a.  a.  O.   328. 


"2  71  Calvins  Vorsehungslehre. 


dienen,  das  zur  Ausführung  zu  bringen,  was  a  Domino  provisum 
et  ordinatum  erat.  Wird  aber  dann  die  Strafe  nicht  in  sich  hin- 
fällig? Keineswegs.  Die  Menschen  dienen  mit  ihren  sündigen 
Handlungen  in  Wirklichkeit  gar  nicht  dem  göttlichen  Willen ;  sie 
leisten  nicht  Gott,  sondern  ihren  Leidenschaften  einen  Dienst. 
Gehorsam  gegen  Gott  ist  Erfüllung  des  in  der  Schrift  geoffen- 
barten Willens.  Jedes  Handeln  gegen  die  praecepta  Dei  ist  con- 
tumacia  gegen  dieselben.  Aber  Gott  gebraucht  die  bösen  Hand- 
lungen als  instrumenta,  um  seine  iudicia  zu  verwirklichen.  Deus 
flectit  reprobos  omnes  suo  arbitrio.  Er  lenkt  auch  die  consilia  et 
affectus  reproborum.  Er  führt  durch  die  impii  seinen  geheimen 
Ratschluß  aus ;  aber  durch  die  Verletzung  des  göttlichen  prae- 
ceptum  verschulden  sich  jene  doch  ihm  gegenüber. 

Nirgends  im  System  Calvins  bemerken  wir  ein  so  mühe- 
volles Ringen  mit  dem  System  wie  gerade  bei  dieser  Bestimmung 
des  Verhältnisses  des  göttlichen  Allwaltens  zur  menschlichen 
Sünde.  Die  Sünden  werden  von  den  Menschen  selbst  begangen. 
Dies  bezeugt  das  tiefe  Selbstbewußtsein,  welches  sich  in  Gewissens- 
anklagen äußert  (I,  17,  5).  Und  dennoch  geschehen  alle  durch 
göttliche  Verordnung,  ja  Gott  erregt  sogar  die  bösen  Entschei- 
dungen (cap.  18). 

An  einigen  Stellen  scheint  allerdings  dieses  Problem  be- 
friedigend gelöst  zu  sein :  Die  Verstockung  Pharaos  führt  Calvin 
sowohl  auf  die  Anordnung  Gottes  als  auch  auf  seine  Verschuldung 
zurück  und  faßt  hier,  wie  die  älteren  Theologen,  die  Verstockung 
als  ein  Gericht  Gottes  auf  (I,  17,  2).  Die  daraus  sich  ergebende 
Antinomie  sucht  er  Op.  9,  306,  307  auszugleichen :  Atqui  non 
aliunde  petenda  est  mihi  solutio :  quia  si  Deo  voluntas  summa 
est,  vel  remota  indurationis  causa,  homo  ipse  cor  suum  indurans 
sibi  proprior  causa  est.  Primam  causam  a  m  e  d  i  i  s  et 
propinquis  ubique  distinguo  .  .  .  Iam  vides,  quamvis 
obduret  suo  modo  corda  Deus,  merito  tarnen  suam  cuique  duri- 
tiem    imputari,    quia    se    quisque    obdurat    propria    malitia.1      Die 


j.~)  Diese  Regel  wird  aber  bei  den  electis  durchbrochen:  In  flectendis 
ad  Dei  obsequium  cordibus  a  1  i  a  ratio  est.  Nam  ut  natura  ad  contuma- 
ciam propensi  sumus  omnes,  nemo  bene  agere  cupiet  nisi  agatur:  et 
tarnen  quum  scriptura  dicit  praeparari  a  Deo  corda  et  fideles  se  praeparare, 
ut  voluntarium  Deo  cultum  exhibeant,  non  pugnat  ipsa  secum,  sed  distincte 
ostendit  Dei  cultores  sponte  et  voluntario  cordis  affectu  praestare  officium: 
neque  tarnen  hoc  obstare.  quominus  suas  partes  Deus  arcano  Spiritus 
motu  impleat.     Obdurationis,  ut  iam  dixi,  alia  est  ratio,  quia  reprobos 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohater. 


Greuel  der  im  heidnischen  Lehen  ausgearteten  Lust  (Rom.  i,  24  ff.) 
sind  eine  von  Gott  verhängte  Rache  (iustae  suae  vindietae  prae- 
cipuus  est  autor).  Allerdings  muß  man  zugehen,  dal!  er  bei  dieser 
Stelle  außer  Acht  läßt,  als  Ursache  dieser  göttlichen  Rache  die 
von  Paulus  betonte  sittliche  Zurechnung  sowie  die  in  ihrer  Abi- 
wendung von  Gott  liegende  Verschuldung  nachdrücklich  hervor- 
zuheben ;  wir  können  aber  aus  dem  Ausdruck  „Rache"  schließen, 
daß  Calvin  nach  Augustins  Vorbild  die  göttliche  Rache  als  Strafe 
der  Sünde  durch  die  Sünde  aufgefaßt  hat  (Op.  49>  27  H-V 

Ist  dann  aber  Gott  nicht  Urheber  der  Sünde?  Calvin  ver- 
wahrt sich  -  entschieden  gegen  diese  Konsequenz,  welche  Zwingli 3 
offen  bekennt,  nämlich  daß  Gott  alles,  jede  Bewegung,  auch  die 
sündige  Tat  im  Menschen,  verrichte,  freilich  so,  daß  es  für  ihn 
keine  Sünde  ist. 

Dieser  schweren  Konsequenz  sucht  Calvin  aus  dem  Wege  zu 
gehen  durch  Unterscheidung  von  Gebot  (praeeeptum)  und  volun- 
tas.  Doch  wird  auch  dieser  Unterschied  nicht  immer  festgehalten. 
In  den  Vorlesungen  über  Daniel  (Op.  40,  576)  sagt  er:  Ergo 
tenemus  sie  mundum  administrari  arcana  Dei  Providentia,  ut  nihil 
aeeidat  nisi  quod  iussit  et  decrevit.  Op.  9,  306:  Etsi  enim  nihil 
ficte  praeeipit  Dens,  sed  serio  quae  vult  et  probat  ostendit,  a'.io 
tarnen  modo  oboedientiam  sibi  praestari  vult  a  suis  electis,  quas 
efficaciter  ad  obsequium  suum  flectit,  quam  a  reprobis,  quos  externa 
voce  ad  se  trahere  non  dignatur.  Er  erhärtet  dies  an  Beispielen: 
Obgleich  Gott,  als  Absalom  seines  Vaters  Weiber  entehrte,  den 
Ehebruch  Davids  strafen  wollte,  so  hatte  er  doch  damit  dem  frevel- 
haften Sohn  nicht  geboten,  die  Blutschande  zu  begehen.  Bei  Judas' 
Verrat  wird  es  ebensowenig  erlaubt  sein,  die  Schuld  des  \  er- 
brechens  Gott  beizulegen,  der  selbst  wollte,  daß  sein  Sohn  sollte 
dem  Tode  übergeben  werden,  und  ihn  in  den  Tod  gab,  als  dem 

Dens  non  gubernat  regenerationis  spiritu.  sed  diabolo  maneipat  et  addicit 
arcanoque  suo  iudicio  pravas  coruin  voluntates  ita  moderatur,  ut  nihil  agant, 
nisi  quod  decrevit  (Op.  9,  3<J/)- 

1)  In  dieser  Auffassung  berührt  sich  Calvin  mit  Bullinger.  siehe 
Schweizer.    Prot.    Centraldogmen    I,    274. 

2)  Kap.  18,  vgl.  auch  Defensio  doctrinae  de  Servitute  humani  arbitni 
contra  A.  Pighium  Op.  6,  25S:  Responsio  ad  nebulonis  calumnias  Op.  9.  ^59. 
Prael.  in  Daniel  Op.  40,  563;  Comm.  in  Hb.  Psal.  32,  84;  Sermons  sur  le 
livre  de  Job  IL  Op.  34.  »3;  III  35-  69;  Comm.  in  lib.  Jesaiae.  Op.  37-  1341 
Sermons  sur  les  huit  derniers  chapitres  de  Daniel  I  Op.  39,  589;  Sermons 
de  la  Pentecoste  Op.  48,  662;  Comm.  in  ep.  Petri  II  Op.  55,  461. 

3)  Opp.   ed.   Schuler   et   Schuethes    IV,    104.    107,   112. 


ß7Ö  Calvins  Vorsehungslehre. 


Judas  die  Ehre  der  Erlösung  beizulegen.  Wenn  es  heißt,  daß 
Simei  auf  Gottes  Befehl  David  fluchte,  so  soll  damit  keineswegs 
des  ersteren  Gehorsam  gelobt  werden,  als  ob  er  Gottes  Geboten 
folgte,  sondern  indem  David  dessen  Zunge  als  Gottes  Geißel  er- 
kennt, läßt  er  sich  geduldig  züchtigen.  Die  Gottlosen,  durch  welche 
Gott  seine  verborgenen  Ratschlüsse  ausführt,  sind  nicht  zu  ent- 
schuldigen, als  ob  sie  einem  Gebote  gehorchten,  welches  sie  ab- 
sichtlich und  nach  eigener  Lust  verletzen  (I,  18,  4).  Dabei  stützt 
sich  Calvin  auf  Augustin,  der  behauptet,  daß  der  Mensch  zuweilen 
mit  gutem  Willen  wolle,  was  Gott  nicht  will ;  wie  wenn  ein  guter 
Sohn  will,  daß  sein  Vater  leben  möge,  indes  Gott  will,  daß  er 
sterbe.  Umgekehrt  sei  es  möglich,  daß  der  Mensch  dasselbe  mit 
bösem  Willen  wolle,  was  Gott  mit  gutem  Willen  will,  wie  wenn 
ein  böser  Sohn  will,  daß  sein  Vater  sterbe  und  Gott  dasselbe  will. 
Also  jener  will,  was  Gott  nicht  will,  dieser  aber  will,  was  auch 
Gott  will.  So  groß  ist  der  Unterschied  zwischen  dem,  was  dem 
Menschen  und  was  Gott  zu  wollen  geziemt,  und  auf  welchen 
Zweck  sich  jedes  Wille  beziehe,  um  gebilligt  oder  mißbilligt  zu 
werden  (I,  18,  3).  Kurz:  Der  Gebotswille  fordert  das  Sittlichgute 
und  der  im  ewigen  Ratschluß  verfügende  Wille  ordnet  die  mensch- 
lichen Handlungen. 

Ist  durch  die  erwähnte  Distinktion  die  Antinomie  gelöst? 
Es  fragt  sich,  wie  das  Wollen  und  Handeln  des  Menschen  sich  zu 
dem  hervorbringenden  Willen  verhalte.  Ist  der  göttliche  Wille 
absolut,  so  ist  er  von  dem  praeceptum  nicht  verschieden.  Das 
Gesetz  als  gebietender  Wille  Gottes  an  den  Menschen  ist 
dann  unverständlich.  WTenn  Gott  alles  bestimmt,  wie  kann  es 
etwas  geben,  das  doch  dem  im  Gesetze  enthaltenen  Willen  Gottes 
widerspricht?  Und  weiter:  Besteht  in  dieser  Unterscheidung  selbst 
nicht  ein  Widerspruch?  Bereits  Calvin  selbst  gegenüber  ist  der  Vor- 
wurf gemacht  worden :  Sind  denn  nicht  in  deo  duae  contrariae 
voluntates,  quia  occulto  consilio  decernat,  quae  lege  sua  palam 
vetuit  (I,  18,  3;  Op.  9,  302).  Calvin  antwortet:  Wenn  nur  unserem 
Verstände  die  Weisheit  Gottes  als  eine  mannigfaltige  erscheint, 
müssen  wir  denn  deshalb  eine  Verschiedenheit  in  Gott  selbst  an- 
nehmen, als  ob  er  seinen  Ratschluß  änderte  oder  nicht  mit  sich 
selbst  übereinstimmte?  Daß  diese  Erklärung  nur  ein  Ausweg  ist, 
braucht  wohl  nicht  hinzugefügt  zu  werden. 

Um  die  obige  Schwierigkeit  zu  überwinden,  hat  man  vielfach 
mit  dem  Begriff  der  permissio  operiert.     Mit  diesem  Begriff  setzt 


Von  Lic.  Dr.  J.  Boli.it...  ^77 


sich  Calvin  ausführlich  auseinander  (cap.  18;  vgl.  auch  Op.  9,  264). 
Auf  die  Frage:  Wie  kann  Gott  die  Verbrechen  zur  Ausführung 
seiner  Gerichte  gebrauchen,  geben  Calvins  Gegner  die  Antwort: 
Dei  tantuni  permissu,  non  etiam  voluntate  hoc  fieri.  Dem  hält 
Calvin  entgegen :  Ein  lächerlicher  Herrscher  wäre  der,  der  nur 
zuließe,  aber  nicht  befähle,  was  er  haben  möchte,  Wenn  er 
voraussah,  was  er  nicht  wollte,  so  könnte  er  es  ja  hindern  ;  was 
er  nicht  hindert,  das  will  er  also.1 

Ist  die  bloße  Zulassung  unmöglich  und  die  absolute  Ver- 
anlassung der  Sünde  durch  Gott  widersinnig,  so  flüchtet  sich  Cal- 
vin zu  einem  Hilfsgedanken,  dem  des  Teufels.  Er  bezieht  sich 
auf  eine  Stelle  in  Augustin  (Praef.  in  31.  et  33.  Psal.),  wo  dieser 
den  menschlichen  Willen  mit  einem  Pferde  vergleicht,  das  den 
Wink  seines  Gebieters  erwartet,  und  Gott  und  den  Teufel  mit 
solchen  Gebietern.  Wenn  gesagt  wird,  daß  der  Wille  des  natür- 
lichen Menschen  der  Herrschaft  und  Leitung  des  Teufels  unter- 
worfen sei,  so  heißt  das  nicht,  daß  er,  sich  sträubend,  zum  Ge- 
horsam gezwungen  werde,  sondern  daß  er,  verblendet  durch  die 
schmeichlerische  Stimme  des  Satans,  notwendig  zu  seinem  Dienste 
sich  willfährig  und  bereit  erweise.  Denn  alle,  welche  der  Herr 
der  Leitung  seines  Geistes  nicht  würdigt,  übergibt  er  nach  einem 
gerechten  Ratschuß  der  Herrschaft  des  Satans.2  Die  Verblen- 
dung der  Gottlosen  und  alle  daraus  entspringenden  Laster  werden 
Werke  des  Satans  genannt,  deren  Grund  jedoch  nicht  außer  dem 
menschlichen  Willen  zu  suchen,  dieser  vielmehr  die  Quelle  alles 
Bösen  ist. 

Zu  diesen  beiden  Faktoren  tritt  aber  noch  das  göttliche  Wirken 
hinzu.  Wie  ist  jedoch  die  gemeinsame  Tätigkeit  der  drei  Mächte 
vorzustellen?  Calvin  erläutert  dies  an  dem  Unglück,  das  durch  die 
Chaldäer  über  Hiob  kam.  Wir  müssen  dabei  die  Absicht, 
womit,  und  die  Art,  wie  die  vereinigten  Gewalten  hier  wirken,  im 
Auge  behalten.      Gott  will   seinen    Knecht  durch   Unglück   in    der 

1)  Ähnlich  Schleiermacher  (WW.  I.  Abth.  II.  Bd.  S.  447):  Was  Gott  nur 
zuließe,  das  müßte  seinen  positiven  Bestimmungsgrund  anderwärts  haben.  Hat 
es  ihn  nun  in  einem  anderen  von  Gott  vorherbestimmten  Etwas,  so  ist  es  mit 
diesem  ja  zugleich  wirklich  vorherbestimmt;  hat  es  ihn  aber  nicht  in  einem 
solchen,  so  ist  es  auch  wirklich  außerhalb  des  göttlichen  Willens  gestellt:  die 
Zulassung  geht  von  einer  anderen  Seite  weiter  in  die  Vorherbestimmung 
zurück,  wenn  sie  als  ein  Nichtverhindernwollen  erklärt  wird  und  die  Kraft, 
welche  nicht  verhindert  wird,  doch  selbst  von  der  göttlichen  Anordnung 
abhängig  gemacht  ist. 

2)  Calvin  merkt  nicht,  wie  hier  der  von  ihm  abgelehnte  Begriff  der 
Zulassung  wieder   durch   die   Hintertür   zurückkehrt. 


Calvins  Vorsehungslehre. 


Geduld  üben,  der  Satan  Hiob  zur  Verzweiflung  bringen,  die  Chal- 
däer  wollen  sich  widerrechtlich  bereichern.  Gott  erlaubt  dem 
Satan  das  Unglück  zu  bringen,  dieser  reizt  die  Chaldäer  zur  bösen 
Tat,  welche  von  den  Chaldäern  ausgeführt  wird.  Dabei  bleibt  die 
Gerechtigkeit  Gottes  in  Ehren  und  nur  die  Bosheit  des  Satans 
und  der  Menschen  tun  sich  hier  kund.  Daß  Calvin  sich  hier  in 
eine  Aporie  verwickelt  hat,  beweist  ein  Satz,  den  er  in  diesem 
Zusammenhange  gebraucht,  nämlich  daß  auch  Gott  ein  Anteil  an 
dieser  Sünde  beigemessen  werden  muß,  weil  der  Satan,  als  das 
Werkzeug  seines  Zornes,  auf  seinen  Wink  und  Befehl  tätig 
ist,   seine  gerechten  Gerichte  zu  vollziehen. 

Nur  wenn  man  den  Anteil  eines  Irrtums  an  der  Wahrheit  zu 
suchen  und  zu  finden  bereit  ist,  darf  man  ihn  rügen.  Das  setzt 
dann  auch  in  diesem  Falle  schlechterdings  voraus,  daß  man  Calvin 
vor  allem  zugestehe,  daß  er  sich  in  allen  den  Augenblicken,  wo 
er  vor  der  harten  Konsequenz  seines  Systems  (Deus  causa  peccati) 
selbst  zurückschreckte  und  sich  lieber  vor  der  großen  Paradoxie 
beugte,  als  daß  er  mit  dem  Lichte  des  sich  in  alle  Schlupfwinkel 
der  Kontingenz  und  Freiheit  zurückziehenden  Pelagianismus  liefe, 
von  einem  machtvollen  religiösen  Interesse   geleitet   war. 

Das  Calvinsche  System,  wie  das  seines  großen  Lehrers  Augustin1 
besteht  aus  zwei  wesentlichen  Bestandteilen :  dem  antipelagianischen 
und  dem  antimanichäischen.  Der  erste  zeigt  sich  darin,  daß  wir  von 
der  Gnade  abhängig  sind  und  daher  uns  nichts  beimessen  dürfen, 
wenn  wir  den  Zusammenhang  mit  Gott  nicht  auflösen  wollen.  Der 
zweite  äußert  sich  darin,  daß  wir  mit  allem  unbedingt  in 
gleichem  Maße  abhängig  sind  von  dem  höchsten  Willen 
unseres  Gottes.  Hat  Calvin  das  pelagianische  Extrem  vermieden, 
—  denn  die  Annahme  einer  bloßen  Zulassung  erscheint  ihm  als 
Schwächung  der  göttlichen  Allmacht  — ,  so  ist  es  ihm  gleich  wie 
Augustin  nicht  gelungen  nachzuweisen,  wie  Gott  nicht  Urheber 
der  Sünde  sein  kann.  Das  Interesse  für  die  Heiligkeit  Gottes 
hat  es  aber  verursacht,  daß  Calvin  nicht  gewagt  hat,  die  Kausalität 
Gottes  in  bezus:  auf  die  Sünde  zu  betonen.2 


i)  Vgl.   a.  a.  O.   S.  449. 

2)  Im  Interesse  derselben  Heiligkeit  Gottes  hat  Beza,  der  allergewalt- 
samste,  zu  unbedingten  Konsequenzen  tendierende  Interpret  der  Dogmen 
Calvins,  das  ,.homo  suo  vitio  cadit"  so  sehr  urgiert,  daß  bei  ihm  die  Prä- 
destination bald  in  Praevison ,  bald  in  etwas  Hypothetisches  überzugehen 
scheint    (Aegidius    Hunnius,   Articuli   de    Providentia    Dei,   p.  203  ff.). 


Von  Lic.  Dr.  J.   Bol  379 


Erstens  also  darf  Calvin   seiner   Lehre  halber  nicht  als   böser 
Mensch,  als  Teufelsprophet,  wie  ihn  schon  Castellio  genannt  hat,  be- 
handelt   werden,   denn    er   hat   sich    offenbar    gegen   den    sittlichen 
Indifferentismus    entrüstet   gezeigt   und   es   ist    ihm    nicht    in   den 
Sinn    gekommen,    von    der    Heiligkeit    Gottes    und    des    ( Gesetzes 
etwas  nachzulassen.    Zweitens  darf  Calvin  wegen  seiner  Paradoxien 
nicht  als  gedankenloser  Mann  angesehen  werden;  denn  er  dachte 
wirklich  in  Regionen,  wo  den   meisten  das   Denken  vergeht.     Er 
dachte   etwas,  wenn  er  voluntas  vom   praeeeptum   unterschied,   er 
dachte  etwas,  wenn  er  das  Böse  als  ein  Gott  Dienstbares  mit  dem 
Guten  gewissermaßen  indifferenzierte.     Folgt  man  ihm  in  seinem 
Denken  nicht,  so  sucht  man  die  Ursache  seines  Irrtums  in  allem 
Möglichen,  nur  nicht  da,  wo  sie  sich  findet.    Es  war  der  religiösen 
Spekulation  schon  oft  widerfahren,  daß   sie,  wenn  sich  in  der  an- 
genommenen Wirklichkeit   Anstöße   gegen   die    Endursachen    vor- 
gefunden   haben,    z.  B.    ewige    Verdammnis,    diese    entweder    ver- 
nichtet oder  durch  Zurückgehen  auf  Gott  als  bewirkende   Ursache 
diesen   Endursachen  selbst  eine  neue  Bestimmung  gegeben  hatte. 
Dem    Bösen    einen   bloß    privativen    Charakter   zuzusprechen,    war 
Calvin  vermöge  seines  Lehrgrundes  nicht  möglich ;  daher  behauptet 
er.    das    alles    widerspreche    dem    Willen    des    heiligen    Gottes    so 
wenig,   daß   es   ihm  vielmehr  einzig  entspricht,  und  unternahm   in 
diesem   Interesse  den   nicht  zulässigen,   dialektisch-metaphysischen 
Schnitt  in  den  einheitlichen  Willen  Gottes. 

6.  Der  Glaube  an  Gottes  zweckvolle  Weltregierung. 
Alles  Sein  und  Geschehen  abhängig  von  der  göttlichen  volun- 
tas —  so  lautet  der  bis  jetzt  entwickelte  Satz.  Dieser  göttliche 
Wille  wirkt  aber  nicht  bloß  kraft  der  Gott  eignenden  omnipotentia. 
Nicht  schon  die  Idee  des  allmächtigen  Willens  befriedigt  das 
Herzensbedürfnis.  Notwendig  muß  hinzukommen  der  ethische 
Charakter  dieses  Willens.  Die  iustitia  ist  von  der  potentia  nicht 
zu  trennen  wie  die  Nominalisten  wollten.  Haec  sit  sobrietatis  ac 
modestiae  lex,  acquiescero  summo  eins  imperio,  ut  eins  voluntas 
nobis  sit  iustissima  causa  rerum  omnium.  Non  illa  quidem  abso- 
luta voluntas,  de  qua  garriunt  sophistae,  impio  profanoque 
dissidio  separantes  eins  iustitiam  a  potentia: 
illa  moderatrix  rerum  omnium  Providentia,  a  qua  nihil  nisi  rectum 
manat,  quamvis  nobis  absconditae  sint  rationes  iL  17.  2)  .  .  . 
Passim  Calvinus  commentum  de  absoluta  Dei  potentia,  quod 


Calvins  VorsenungfsI<>hre. 


in  scholis  suis  ventilant  sophistae,  acriter  repudiat,  et  detestabile 
esse  asserit,  quia  ab  aeterna  Dei  sapientia  et  institia  non 
separari  debeat  potestas.1  Diejenige  Vorsehung  ist  erst  die  höchste 
und  in  sich  allein  wahre,  die  ein  Ziel  verfolgt.  Dies  führt  uns  auf 
den  Zweckgedanken.  Gott  lenkt  alles  durch  seine  unbe- 
greifliche Weisheit  und  ordnet  ad  suum  finem.  Er  fügt  und  wirkt 
alles  ad  destinatum  scopum  (I,  16,  7.  8). 

Worin  besteht  dieser  göttliche  Zweck?  In  der  Institutio  von 
1559  antwortet  Calvin  direkt:  im  bonum  ac  salus  der  Gläubigen: 
singularem  dei  providentiain  ad  se  conservandum  excubare  non 
dubitabit,  quae  nihil  evenire  passura  sit,  quam  quod  bono  ac  saluti 
sibi  vertat.  Singularem  dei  providentiam  in  salutem  ndelium  ex- 
cubare plurimae  sunt  et  lucurendissimae  promissiones.  Durch  die 
Führungen  unseres  Lebens,  in  denen  wir  stets  Gottes  beste  Ab- 
sichten erkennen  sollen,  will  er  uns  erziehen  zu  unserer  salus.  Die 
glücklichen  Vorfälle  des  Lebens  sollen  uns  zur  Dankbarkeit  gegen 
ihn  treiben.  Wo  die  Wohltaten  des  Lebens  uns  vermittelt  sind,  wir 
sie  von  unserem  Nächsten  empfangen,  soll  uns  die  Dankbarkeit 
gegen  Gott  auch  zur  Ehrung  und  Liebe  gegen  unsere  Mitmenschen, 
die  nach  Gottes  Willen  uns  solches  tun,  treiben.  Wir  sollen  daraus 
lernen,  was  Gott  von  uns  will.  Täglich  und  stündlich  ist  der 
Mensch  von  Gefahren  umgeben.  Wo  Gott  uns  beschützt,  will  er 
uns  zu  der  Anerkennung,  zu  dem  freudigen  freien  Bekenntnis 
führen,  daß  wir  ohne  ihn  nichts  sind.  Unter  den  Gesichtspunkt 
der  salus  rücken  auch  die  Leiden  dieser  Welt ;  indem  wir  in  ihnen 
Gottes  Ordnung  sehen,  glauben  wir,  daß  er  sie  uns  nur  zu  unserem 
Besten  schickt.  Da  wir  in  der  Welt  keine  Hilfe  finden,  lernen  wir 
es,  uns  von  ihr  lossagen  und  alles  auf  unseren  himmlischen 
Vater  werfen.  So  wird  der  Gläubige  zu  einer  continua  dei  invo- 
catio  gebracht  (I,  17,  9  finis.    Op.  31,  334).    So  wird  die  Sorge,  die 


1)  Brevis  responsio  ad  diluendas  nebulonis  cuiusdam  calumnias,  Op.  9, 
259;  vgl.  Consensus  Genev.  Op.  8,  361,  Ps.  38,  4  (Op.  31,  387);  Ps.  39,  16 
(Op.  31,  402);  Op.  34,  336.  340  (Sermons  sur  le  livre  de  Job.  II);  Op.  39,  436 
(Praelect.  in  lib.  Jeremiae).  Es  ist  aber  zu  bemerken,  daß  Calvin  an  zahl- 
reichen Stellen  diese  iustitia  im  Sinne  der  vergeltenden  Gerech- 
tigkeit und  gesetzlicher  Norm  streng  von  der  iustitia  als  Treue  im 
Schutze  und  Milde  unterscheidet:  Op.  32,  82  (Ps.  103,  17):  ,, Bonität! 
subiicit  iustitiam,  qua  voce  iam  saepius  diximus  notari  Dei  praesi- 
dium,  quo  suos  tuetur  ac  conservat.  Dens  iustus  est:  non  quia  unum- 
quemque  remunerat  prout  dignus  fuerit  sed  quia  f  i  d  e  1  i  t  e  r  cum 
suis  agit,  eos  manu  sua  protegendo.  Vgl.  u.  a.:  Op.  31,  69.  70.  301.  247. 
255.  364.  409.  411.   479.  658.   703. 


Von  Lic.  Dr.  J.    Bohatec.  38  I 


Angst,  die  Furcht  überwunden  und  der  wahre  timor  dei  erzieh.1 
Damit  wird  auch  die  Furcht  vor  dem  Tode  überwunden  ((  >p.  31,  76). 
Die  Überwindung  besteht  nicht  in  der  immunitas  ab  Omnibus  in- 
commodis,  sondern  in  der  Befreiung  von  ihnen  (Op.  31,  375).  Da- 
mit soll  nicht  gesagt  werden,  daß  der  Glaube  die  Furcht  an- 
schalten sollte ;  sie  muß  da  sein,  um  die  carnis  securitas  und  die 
aus  ihr  fließende  superbia  (Op.  52,  31  —  Phil.  2,  12)  zu  beherrschen 
und  zur  precatio  anzuspornen.  Dieser  wahre  timor  verwirrt  den 
tranquillus  conscientiae  Status  und  tilgt  das  Vertrauen  nicht,  son- 
dern stärkt  es  geradezu  (Op.  52,  33).  Wenn  aber  der  Gläubige  von 
der  Furcht  ganz  beherrscht  ist,  so  daß  er  inmitten  der  procellae 
den  Frieden  verliert  (Op.  32,  116),  stellt  der  Vorsehungsglaube 
das  Gleichgewicht  her,  indem  er  die  Furcht  überwindet.2  Darin 
liegt  der  größte  Triumph  des  Glaubens,  daß  wir  unverwirrt  uns 
flüchten  zu  Gott,  es  möge  geschehen,  was  wolle  (Op.  32,  2).  Dies 
ist  die  religiöse  Seite  des  finis. 

Davon  ist  nicht  zu  trennen  die  sittliche:  durch  die  Leiden 
sollen  wir  sittlich  reifen.  Die  Übel,  deren  causae  so  oft  dem 
Menschen  verborgen  sind,  schickt  Gott  nur,  vel  ut  suos  erudiat  ad 
tolerantiam,  vel  ut  corrigat  pravos  hominum  affectus  et  laseiviam 
dornet,  vel  ad  sui  abnegationem  subigat,  vel  expergefaciat  tor- 
porem,  vel  ut  prosternat  superbos  (I,  17,  1).  Hier  erkennen  wir  die 
ganze  Weisheit  der  göttlichen  Weltordnung,  da  wir  ohne  das  Übel 
nie  lernen  würden,  unsere  Gedanken  ganz  auf  Gott  zu  richten.  Die 
Übel  werden  so  zu  Gütern  umgewertet  (Inst.  III,  8,  7  =  Op.  2, 
519).  Doch  gilt  es  für  jeden  einzelnen,  dies  Verständnis  an  dem 
Leid,  das  ihn  selbst  trifft,  durchzuführen  und  selbst  in  ihm  von 
der  unendlichen  göttlichen  cura  kostend  sich  durchzuringen  und 
triumphierend  zu  erheben  zu  dem  Bekenntnis :  der  Herr  hat's 
gegeben,  der  Herr  hat's  genommen,  der  Name  des  Herrn  sei  ge- 
lobt!  (I,  17,  8).  Durch  die  äußeren  Lebensverhältnisse,  in  die  wir 
gestellt  werden  und   in   denen  wir   Gottes    Ordnung  sehen   sollen, 


1)  Quo  modo  et  in  quem  finem  consideranda  sit  dei  Providentia: 
prior  finis  est,  ut  nos  temeraria  confidentia  exutos,  dum  in  dei  t  i  m  o  r  e 
contineat,  dum  ad  invocationem  experge  faciat.  Alter  vero.  ut  sedatis 
tranquillisque  animis  in  deum  recumbere,  et  quae  nos  circumstant  pericula 
nobisque  assidue  centum  mortes  minantur,  secure  fortiterque  contemnere 
doceat  (Op.  8,  350).  Ubi  lux  divinae  providentiae  semel  homini  pio  affulsit, 
iam  non  extrema  modo,  qua  ante  premebatur,  a  n  x  i  e  t  a  t  e  et  f  o  r  m  i  - 
dine,  sed  omni  cura  relevatur  ac  solvitur  (Op.  2,  163). 

2)  Op.  55.  212:  Ita  pellitur,  ut  non  turbet  neque  impediat  pacejn 
nostram,  quam  fide  obtinemus. 


■2  52  Calvins  Vorsehungslehre. 


sollen  wir  dazu  geführt  werden,  uns  vertrauend  der  einen  göttlichen 
Macht  hinzugeben  und  den  göttlichen  Willen,  der  unser  Bestes 
will,1  zum  höchsten  Richtpunkt  unseres  Lebens  zu  machen. 
Durch  die  Not  gewinnt  der  einzelne  an  Charakterfestigkeit,  er 
lernt  Geduld  üben,  und  gelangt,  soweit  ihn  Schuld  trifft,  zur  tiefsten 
Selbsterkenntnis.  Er  lernt  allen  natürlichen  Hochmut  überwinden 
und  demütig  sich  ergeben  in  den  göttlichen  Willen  (Inst.  III,  7,  10). 
Diesem  finis  Gottes  sind  nicht  nur  die  Führungen  des  Men- 
schen, die  durch  den  Zusammenstoß  mit  der  Natur  entstehen, 
sondern  auch  die  Welt  und  ihre  Ordnungen  selbst  unterworfen. 
Jenem  Gedanken,  daß  die  WTelt  von  Gott  abhängig  ist,  ordnet  sich 
der  Gedanke  bei,  daß  sie  nicht  Selbstzweck,  sondern  Mittel  für  den 
Gotteszweck  ist.  Die  res  inanimatae  sind  nur  instrumenta  in  der 
Hand  Gottes,  mit  deren  Benutzung  er  den  Menschen  zu  seiner 
Bestimmung  führt.  Ad  renovandam  paterni  erga  nos  sui  favoris 
memoriam  cursum  solis  gubernat  (I,  6,  2).  Non  tantum  generalis 
eius  Providentia  viget  in  creaturis,  sed  in  certum  et  proprium 
finem  aptatur  admirabili  eius  consilio  (I,  16,  7).  Der  religiöse 
und  sittliche  Zweck  gehören  zusammen :  Expressius  adhuc  nobis 
commendat  Dei  providentiam  .  .  .  Quo  magis  in  hanc  medi- 
tationen  (der  göttlichen  Providenz)  incumbere  nos  oportet  Deum 
habere  curam  nostri :  primum  ut  pax  nobis  interne  constet,  deinde 
ut  erga  homines  modesti  mansuetique  simus  (Op.  55,  288;  1.  Pet. 

5.-  7)- 

Dadurch  werden  die  irdisch  weltlichen  Verhältnisse  und  Ge- 
schehnisse keineswegs  vergleichgültigt.  Im  Gegenteil :  sie  ge- 
winnen die  höchste  Bedeutung  und  Weihe.  Als  gottgeordnete 
Mittel  und  Wege  zu  unserer  salus  ordnen  sie  sich  diesem  einen 
Ziele  unter.  Der  bleibende  Wert  aller  Dinge  und  Vorgänge  in 
der  Welt  besteht  lediglich  darin,  daß  sie  uns  zur  Freiheit  der  Welt 
gegenüber  und  zum  Leben  in  Gott  führen  sollen. 

Es  ist  nun  freilich  nicht  so,  als  ob  beides,  Abhängigkeit  alles 
Seins  vom  göttlichen  Willen  und  der  alles  in  sich  beziehende  gött- 
liche Zweckgedanke,  die  wir  jetzt  in  zusammenfassender  Dar- 
stellung der  Gedankengänge  Calvins  voneinander  getrennt  haben, 
zweierlei  seien ;  sie  stellen  beide  ein  einheitliches  Verhältnis  Gottes 
zur  Welt  dar,  das  in  ihnen  nur  von  verschiedenen  Seiten  beleuchtet 
wird.  Der  vernünftige  Wille  ist  von  seinem  Zwecke  unabtrennbar, 
sonst  ist  er  eben  nicht  Wille,  sondern  Laune,  Willkür.     Die  innige 


1)  Voluntas  iustissima  causa  omnium  rerum  (I,  1;,  2;  vergl.  Op.  29,  186). 


Von  Lio.  Dr.  J.  Bol  383 


Verbundenheil  beider  Gesichtspunkte  ist  von  Calvin  überall  inne- 
gehalten, die  teleologischen  Gedankenreihen  sind  durchaus  prak- 
tisch religiös  gehalten,  entsprechend  dem  Grundcharakter  des  Vor- 
sehungsglaubens. 

Es  giht  aber  noch  einen  anderen  Zweck,  den  Gott  bei  seinem 
\  orsehungswalten  verfolgt,  einen  Zweck,  der  über  dem  der  salns 
steht  und  deren  Voraussetzung  ist  —  nämlich  die  gloria  Dci. 
Da  dieser  Zweck  in  der  3.  Auflage  der  Institutio  nicht  direkt 
als  der  höchste  bezeichnet  wird,  hat  wohl  Ritschi  denselben  über- 
sehen und  als  den  alleinigen  Zweck  des  göttlichen  Yorsehungs- 
waltens  die  auf  das  Heil  der  [Menschen  gerichtete  Güte  hervor- 
gehoben. Scheibe  (Calvins  Prädestinationslehre  S.  115)  hat  im  An- 
schluß an  andere  Forscher  an  vielen  Stellen  aus  anderen  Schriften 
Calvins  nachgewiesen,  daß  Gott  bei  seinem  Yorsehungswalten  die 
Absicht  verfolgt,  als  der  Allmächtige,  als  derjenige,  dem  allein 
eigentlich  alle  Wirkungen  zuzuschreiben  sind,  geehrt  zu  werden, 
sich  in  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Eigenschaften  zu  offenbaren 
und  damit  zu  deren  Preise  Anlaß  zu  geben.  Ritschi  stützt  sich 
aber  namentlich  auf  die  Ausführungen  in  der  3.  Auflage  der  In- 
stitutio. Wir  müssen  also  prüfen,  ob  hier  der  höchste  Zweck  der 
Bestimmung  Ritschis  entspricht.  In  der  Tat  führt  da  Calvin  klare 
Beweise  dafür  an,  daß  der  Zweck  Gottes  keineswegs  nur  indivi- 
dualstischem  Seligkeitsinteresse  dienen  soll :  Der  Glaube  ist  sich 
dessen  vollkommen  bewußt,  daß  Gottes  Allmachtswirken  zunächst 
zu  seiner  Ehre  geschieht.  Den  Anlaß  zur  Ehre  Gottes  bietet  schon 
die  Schöpfung:  „Kein  Geschöpf  besitzt  wunderbarere  und  auf- 
fallendere Kraft  als  die  Sonne  .  .  ."  Aber  der  Herr,  um  zu  be- 
zeugen, daß  ihm  allein  in  allen  diesen  Dingen  die  Ehre  gebühre, 
wollte,  daß  eher  das  Licht  entstehen  und  die  Erde  mit  allen  Arten 
von  Pflanzen  und  Früchten  erfüllt  sein  sollte,  bevor  er  die  Welt 
erschuf  (II,  16,  2).  Der  Glaube  sieht  aber  nicht  nur  in  der 
Schöpfung  (peculiarem  modum  habet  fides,  quo  solidam  creaturiis 
laudem  assignet  I,  16,  1),  sondern  auch  in  der  Erhaltung  der  Welt 
Gottes  Majestät  und  Kraft1  und  bringt  ihm  dafür  Ehre  dar.  Xec 
vero  magis  Denn:  sua  gloria  fraudant,  qui  Dei  providentiam  ccarc- 
tant  tarn  angustis  finibus,  aesi  libero  cursu  seeundnm  perpetuam 
naturae  legem  fieri  omnia  sineret.    Auch  in  den  schwierigen  Fällen, 


1)  In  hoc  praeeipue  nos  a  profanis  hominibus  differre  convenit.  ut 
non  minus  in  perpetuo  mundi  statu  quam  pimu  eins  origine  praesentia 
divinae   virtutis    nobis   illuceat    (ib.). 


3Ö4  Calvins  Vorsehungslehre. 


wo  der  menschliche  Geist  z.  B.  die  göttlichen  Strafen  nicht  be- 
greifen kann,  auch  in  diesem  „spectaculis  fulgere  gloriam  patris 
sui  testatur  Christus  (I,  17,  1). 

Die  gloria  Dei  steht  aber  mit  der  salus  keineswegs  im  Wider- 
spruch, sondern  in  einer  harmonischen  Einheit.  Indem  Gott  seine 
Allmacht  im  Vorsehungswalten  manifestiert  und  von  den  Menschen 
dafür  Lob  und  Ehre  verlangt,  will  er  damit  nur  des  Menschen 
Bestes.  Klar  ist  das  Verhältnis  der  beiden  Zwecke  (I,  16,  3)  zum 
Ausdruck  gebracht :  Quivero  Dei  omnipotentiae  ius- 
t  a  m  laudem  tribuunt,  duplicem  inde  percipiunt  fructum, 
quod  satis  ampla  benefaciendi  facultas  penes  ipsum  sit,  in  cuius 
possessione  sunt  coelum  et  terra,  et  cuius  nutum  respiciunt  omnes 
creaturae,  ut  se  in  obsequium  addicant ;  deinde  quod  secure 
in  eins  protection  e  quiescere  licet,  cuius  arbitro  omnes 
subiacent,  quae  alicunde  timeri  possunt  noxae,  cuius  imperio  non 
secus  ac  freno  coercetur  Satan  cum  omnibus  suis  furiis  totoque 
apparatu,  a  cuius  nutu  pendent  quidquid  saluti  nostrae 
adversatur.  Itaque  nulla  erit  animis  tranquillitas,  donec  persuasi 
erimus  vitam  nostram  probe  munitam  esse,  quia  eam  Dominus 
manu  virtuteque  sua  tuetur  ...  Et  certe  non  aliter  Deo  iustus 
defertur  h  o  n  o  r  ,  nisi  dum  eius  ope  freti  de  certa  s  a  1  u  t  e  gloriari 
audemus  (Op.  31,271).  Die  Abhängigkeit  von  Gott  ist  Erweis  der  Ehre 
Gottes  (31,  279  tribuere  deo  honorem,  ut  ab  eo  pendeamus).  (David) 
testatur  se  tantum  honoris  tribuere  Dei  providentiae,  ut  suas 
omnes  curas  in  eam  exoneret  (Op.  31,  302).  —  Colligere  licet, 
quam  cara  sit  Deo  nostra  salus,  quod  eam  cum  iustitiae  suae  laude 
coniungit  (Op.  31,  237).  Legitimo  honore  tribuitur  officium  pasto- 
ris  Deo,  uti  persuasi  sumus  unicam  eius  providentiam  nobis  sufficere 
(3T>  239 ;  Ps-  23)-  Non  tribuimus  (Deo)  suum  honorem,  nisi  in  eo  solo 
acquiescimus  (Ps.  44,  20;  Op.  31,  445).  —  Qui  confuse  imaginantur 
mundum  a  Deo  regi  nee  statuunt  unumquemque  piorum  peculiari 
eius  cara  foveri,  suspensos  relinquunt  animos  et  continua  inquie- 
tudine  ipsi  fluetuant  (Op.  32,  300).  Nihil  magis  esse  consultum, 
quam  a  Domino  pendere:  atque  hanc  esse  optimam  pruden- 
tiam,  quamvis  simus  afflicti,  quiescere  in  salute  ab  eo  promissa 
(Op.  31,  141). 

Wir  werden  diesen  vielverkannten  Zweckbegriff  Calvins  recht 
würdigen  können,  wenn  wir  ihn  mit  dem  Zwingiis  vergleichen. 
Für  Zwingli  ist  der  absolute  innerste  Zweck  des  göttlichen 
Arbeitens    die     salus.       Zwingli     will,    wie     Augustin,     Gott     nur 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatw  .  385 


genießen  und  nur  als  Mittel  des  Genusses  ist  ihm  die  Erkennt- 
nis Gottes  notwendig :  Sic  largus  ac  sui  prodigus  (Deus)  in  usum 
ipso  f  r  u  e  n  t  iu  m,  ut  ab  omnibus  auferri,  teneri,  possideri  gau- 
deat  (Zw.  opp.  Jll,  165).  Ad  hoc  unum  (homines)  genuit,  ut 
liberalitate  sua  fruerentur  .  .  .  Nisi  enim  voluisset  Deus,  ut 
opera  sua  se  f  r  u  e  r  e  n  t  u  r  ,  nunquam  ea  de  nihilo  vocasset:  non 
enim  fruitur  eis  deus:  Cuius  ergo  causa  creavit  ipsa?  Ut  creatore 
suo  ipsa  fruerentur  (opp.  III,  163  ;  vergl.  auch  III,  98,  99).  Der 
Calvinische  Gedanke,  daß  die  Geschöpfe  schlechthin  von  Gott  be- 
stimmt sind,  daß  ihre  wahre  Gotteserkenntnis  mit  der  Erkenntnis 
der  Abhängigkeit  von  ihm  identisch  ist,  ist  für  Zwingli  nur  die 
Form  der  Selbstoffenbarung  Gottes.  „Die  Anerkennung  der  gloria 
Dei  ist  nur  die  Bedingung,  unter  welcher  der  Zweck  der  Welt,  die 
Seligkeit  der  Menschen  allein  sich  realisieren  kann",1  während  um- 
gekehrt bei  Calvin  der  absolute  Zweck  die  Ehre  Gottes  ist,  aus 
dem  dann  der  andere,  das  Heil  der  Menschen,  folgt.  Man  wird 
wohl  nicht  lange  schwanken  müssen,  welcher  von  den  beiden  Auf- 
fassungen man  den  Vorzug  geben  soll.  Denn  wenn  der  christliche 
Vorsehungsglaube  in  Gott  viel  mehr  sieht  als  ein  Gespenst  und 
Gebilde,  welches  jeder  nach  Lust  sich  gestaltet,  nicht  einen  Gott 
für  die  „menschliche  Narrheit"  (I,  43),  mehr  als  ein  Mittel  zur  Er- 
reichung der  vergänglichen  Zwecke,  mehr  als  einen  Lückenbüßer 
für  die  Mängel  im  Weltlauf  und  im  eigenen  Geschick,  welcher  nur 
das  Unerreichbare  und  Unbegreifliche  in  der  Natur  und  Welt  dem 
geschichtlichen  und  individuellen  Leben  erklären  und  begründen 
soll  —  so  wird  man  zugeben  müssen,  daß  diesem  Interesse  des 
christlichen  Glaubens  die  Calvinsche  Fassung  mehr  entspricht  als 
die  Zwinglische.  Bezeichnet  man  nämlich  als  den  absoluten  Zweck 
das  Seligkeitsinteresse  des  Menschen  und  die  gloria  Dei  nur  als 
eine  Bedingung,  unter  der  dieser  Zweck  sich  realisieren  läßt,  so 
lassen  sich  diese  Sätze  dahin  mißverstehen,  daß  Gott  nur  zum 
Träger  der  menschlichen  selbstgemachten,  unentbehrlichen  Ideale 
wird,  zu  einem  solchen,  durch  den  diese  Ideale  erst  zu  ihrer  \  er- 
wirklichung  gelangen. 

Der  Gefahr  einer  solchen  Mißdeutung  ist  die  Calvinsche 
Zweckbestimmung  nicht  ausgesetzt.  Nach  Calvin  steht  Gott  in 
hoher  Majestät  der  Welt  und  den  Menschen  gegenüber.  Er,  der 
Erhabene,  läßt  sich  nicht  entthronen  und  zu  einem  Postulate 
machen.     Die  Calvinsche  Ansicht  steht  im  unversöhnlichen  Wider- 


1)  Sigwart,    Ulrich   Zwingli,    S.  227. 

CalviDstudien.  *5 


7.  8  6  Calvins  Vorsehungslehre. 


spruch  zu  jedem  Anthropozentrismus,  in  welchem  alles,  auch  Gott, 
Mittel  zum  Zwecke  ist.  Mit  großer  Entschiedenheit  behauptet 
Calvin :  der  Mensch  und  das  Endliche  überhaupt  muß  Gott  gegen- 
über nur  als  Mittel  beurteilt  werden.  Der  große  Gedanke,  den 
Jesus  so  mächtig  akzentuiert  hatte,  daß  nur  Gott  die  Ehre  gebührt 
und  daß  die  Kreatur  nur  dazu  da  ist,  ihm  zu  dienen,  ihn  zu  ver- 
herrlichen, kehrt  bei  Calvin  wieder.  Gott  will  als  der  Allmäch- 
tige erkannt  werden  und  die  Kreatur  soll  zu  der  Überzeugung  ge- 
langen, daß  sie  ihr  bonum  ac  salus  nur  in  seiner  Allmacht  finden 
könne  und  ihn  deshalb  verherrlichen  müsse. 

Man  darf  sich  aber  nach  der  Darstellung  Calvins  Gott  gar 
nicht  egoistisch  denken ;  er  behauptet  ja,  daß  Gott  mit  dem  Zwecke, 
seine  Ehre  durchzusetzen,  das  Heil  der  Menschen  im  Auge  hat. 
Der  Gedanke  ist  ganz  biblisch.  Selbst  wenn  das  Wachen  Gottes 
über  seine  Ehre  in  einer  Weise  geschildert  wird,  die  man  bei  Men- 
schen Eifersucht  nennen  würde,  wie  Jesaia  48,  11,  so  ist  doch  zu 
bemerken,  daß  Gott  nicht  in  unendlicher  Selbstgenügsamkeit  ver- 
harrt, sondern  eine  Welt  schafft,  regiert,  erlöst,  erneuert  und  darin 
also  seine  auf  das  Heil  der  Menschen  gerichteten  Gedanken  be- 
folgt ;  indem  er  sein  Licht  leuchten  läßt  in  die  Kreatur,  macht  er 
diese  selbst  selig;  „das  ist  das  ewige  Leben,  daß  sie  Gott  erkennen". 

Die  Calvinsche  Zweckbestimmung  ist  der  prägnanteste  Aus- 
druck der  Beugung  unter  den  Willen  des  Allerhöchsten,  wobei  diese 
allerdings  nicht  naturhaft,  sondern  personalistisch  ist.  Dabei  denkt 
Calvin  an  die  demütige  Anbetung  Gottes,  die  der  Seele  Ruhe 
bringen  soll,  nicht  an  ein  Zittern  vor  dem  Tyrannen.  Die  Be- 
tonung der  Ehre  Gottes  geschieht  zum  heilscrzieherischen  Zwecke, 
die  Demut  zu  erzeugen  und  der  Kreatur  jede  ungebührliche  An- 
maßung zu  nehmen.  Tribuere  deo  laudem,  quam  maior  pars 
mundi  sacrilega  audacia  sibi  arrogat,  Deus  autem  ostendit  sibi 
esse  propriam  (Op.  68,  S79)-1 

1)  Sie  wendet  sich  —  wenn  es  hier  gestattet  ist,  moderne  Gegen- 
sätze anzuführen  —  gegen  die  Bedeutenden  Goethes,  gegen  die  vornehmen 
Seelen  Paul  Heyses,  die  besonders  kräftig  Organisierten,  die  Adelsmen- 
schen des  modernen  Pessimismus,  gegen  die  Übermenschen  Nietzsches, 
gegen  diejenigen,  deren  Religion  den  Zweck  der  Schöpfung  eines  höheren 
Typus  Mensch  verfolgt  und  deren  Wirklichkeit  das  Ich  ist,  das  Ich,  das  im 
realen  schöpferischen  Kampf  der  Wollungen  und  Gefühle,  der  versuche- 
rischen niederen  und  der  offenbarenden  höheren  Instinkte  und  Kräfte  zu 
wachsen  sucht;  gegen  das  Ich,  das  nicht  spiegelt  und  spiegelficht,  sondern 
wertet  und  überwindet.  Sie  kehrt  sich  gegen  die  modernen  Stoiker,  welche 
Gott  ausgraben  wollen,  den  Brunnen  im  Tränenland;  es  kehrt  sich  gegen 
erträumte   Menschen  der   Kraft,   sehr   freie,    sehr   starke,   zuchtvolle,   geseg- 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bob. an  ig 7 


7.  Die  Art  des  Vorsehungsglaubens. 
Ist  der  Vorsehungsglaube  mehr  als  Glaube  an  einen  Lücken- 
büßer für  die  Mängel  im  Weltlauf,  so  tritt  er  nicht  erst  da  ein,  wo 
wir  mit  uns  seihst  und  unseren  Idealen  nicht  fertig  werden  können, 
sondern  er  ist  eine  alle  unsere  Wollungen,  Entscheidungen  und 
Entbehrungen  durchziehende  und  begründende  Macht.  Handel! 
es  sich  in  dem  Vorsehungsglauben  darum,  ut  nos  totos  reieimus 
in  eius  tutelam  et  proieimus  in  ipsum  omnes  nostras  sollicitu- 
dines  (Op.  40,  632),  so  folgt  daraus,  daß  nur  derjenige,  der  sich 
vollständig  Gott  ergiht  und  auf  seine  eigene  Erkenntnis  verzichtet. 
kurz,  der  sich  als  ein  von  der  Gnade  getragenes  und  abhän- 
giges Kind  Gottes  weiß,  diesen  Glauben  recht  verstehen  und  be- 
tätigen kann.  Die  Providenzlehre  Calvins  ist  keine  allgemein 
religiöse,  sondern  trägt  einen  spezifisch  christlichen  Charakter. 
Zwar  scheint  dem  der  Umstand  zu  widersprechen,  daß  Calvin  die 
Vorsehungslehre  in  der  allgemeinen  Gotteslehre  behandelt,  wo  er 
von  der  ,, ersten  und  einfachsten  Kenntnis  reden  will,  zu  welcher 
uns  in  ihrer  einfachen  Ordnung  die  Natur  selbst  hinführen  würde, 
wenn  Adam  unbefleckt  geblieben  wäre".  Es  ist,  so  sagt  hier  Calvin, 
etwas  anderes  einzusehen,  daß  Gott,  unser  Schöpfer,  mit  seiner  Macht 
uns  trägt,  mit  seiner  Vorsehung  regiert,  mit  seiner  Güte  uns  pflegt, 
mit  seinen  Segnungen  uns  ganz  erfüllt  und  begleitet  —  und  was 
anderes  wieder  die  Gnade  der  Versöhnung  zu  umfassen,  die  uns 
in  Christo  dargeboten  wird.  Es  ist  G.  Hoffmann  1  zuzustimmen, 
wenn  er  gegen  E.  W.  Mayer,  der  in  dieser  Aussage  Calvins  eine 
Scheidung  zwischen  der  Gotteserkenntnis  und  Christuserkenntnis 
sehen  wollte,2  betont,  daß  in  diesen  Ausführungen  Calvins  mehr 
die  kunstvolle  Rhetorik  als  die  logische  Gedankenentwicklung  zu 
bewundern  ist,  und  daß  seine  Anschauung  von  der  natürlichen 
Theologie  und  der  darin  enthaltenen  Vorsehungslehre  doch  wesent- 
lich am  Christentum  und  dessen  Gottesanschauung  orientiert 
ist.3  In  diesem  Zusammenhange  betont  auch  Calvin,  daß  man 
Gott  als  Urquell  und  Ursprung  alles  Guten  erkennen  müsse,  erst 
dann  werde  man  sich  im  Glauben  ihm  ergeben.    Weil  der  Gläubige 

nete,  sehr  selige  und  sehr  gottvolle  Menschen;  sie  wendet  sich  gegen  alle 
Lüsternheiten  nach  menschlichen  Höhen.  Das  ruhige  majestätische,  tiefe 
Gefühl  für  die  Ehre  Gottes  kehrt  sich  gegen  die  Krämpfe  der  Ehrgeizigen, 
welche  die   Sterne  zwingen  wollen,   sich   um   sie  zu   drehen. 

1)  Die  Lehre  von  der  fides  implicita  Bd.  2,  S.  200. 

2)  a.   a.   O.   56. 

3)  Diese  Anerkennung  erfolgt   allerdings  nicht   seitens  der   Gemeinde, 
wie   Hoffmann   will,   sondern   seitens  jedes   einzelnen    Gläubigen. 

25* 


Calvins  Vorsehungslehre. 


von  Gottes  Güte  und  Barmherzigkeit  überzeugt  ist,  so  nimmt  er 
daher  Ruhe  und  sichere  Zuversicht  und  zweifelt  nicht,  daß  seine 
Milde  für  alle  Übel  Heilmittel  haben  wird.  Der  wahren  gött- 
lichen Providenz  kann  sich  nur  der  erfreuen,  der  die  gratia  Dei 
gekostet  hat,1  Op.  31,  673:  nos  vero  quam  tenuiter  gustaverimus 
Dei  providentiam,  experientia  demonstrat.  Fatemur  omnes  mun- 
dum  divinitus  regi :  sed  si  cordibus  nostris  id  vere  esset  in- 
fixum,  longe  alia  esset  fidei  nostrae  constantia  ad  superandas  res 
adversas.  Nur  die  fideles  soli  oculati  sunt  ad  eam  (providentiam) 
speculandam  (31,  89).  Nur  sie  können  den  paternus  favor  kosten. 
Indem  nun  Calvin  den  favor  als  paternus  bezeichnet,  ihn  also  von 
der  Vaterstellung  Gottes  ableitet,  bringt  er  den  Vorsehungs- 
glauben in  Beziehung  zu  der  Erlösung  in  Christo,  denn  nur  durch 
ihn  haben  wir  Gott  als  Vater:  Simul  ergo  in  Deum  se  attolit 
fides,  patris  loco  illum  tenet.  Non  enim  eum  apprehen- 
dere  potest  sine  filio,  per  quem  tanti  boni  communicatio 
ad  nos  derivatur  (Op.  1,  495).  Ex  quo  patrem  vocamus  Deum, 
nomen  certe   Christi  praetendimus   (Op.  2,  000). 

Damit  hängt  zusammen,  daß  die  adoptio  als  Grundlage  dieses 
Vorsehungsglaubens  erscheint :  Nam  quod  salutis  nostrae  curam 
suscipere,  fovere  nos  sub  alis  suis,  necessitatibus  prospicere,  opem 
auxiliumque  in  periculis  ferre  dignatur,  hoc  totum  ex  eius  adop- 
tione  pendet  (Op.  31,  330).  .  .  .  Misere  eos  vagari  in  scriptura, 
qui  in  aere  suspensum  relinquunt  quidquid  de  potentia  Dei  prae- 
dicatur  nee  statuunt  sibi  fore  in  patrem,  eo  quod  sint  ex  grege 
eius  et  adoptionis  partieipes  (Op.  31,  464).  Als  Korrelat  zur  adoptio 
erscheint  vielfach  die  reconciliatio,  propitiatio  und  Deus  propitius. 
Die  Idee  der  Rechtfertigung  fehlt.  Es  wäre  aber  nicht  richtig, 
wollte  man  hierin  eine  Abbiegung  von  den  reformatorischen  Ge- 
danken, namentlich  Luthers  sehen ;  denn  nach  Calvin  ist  iusti- 
ficatio,  die  von  der  regeneratio  unterschieden  werden  muß  (Op.  2, 
537,  542), 2  identisch  mit  der  reconciliatio  (S.  536),  peccatorum 
remissio  (S.  535)  und  adoptio.3  Logisch  geht  das  Rechtfertigungs- 
bewußtsein dem  Sohnschaftsbewußtsein  voraus :  Plana  res  est  non 
aliter  nos  posse  in  Dei  iudicium  intrepidos  venire,  quam  si  certo 
persuasi  simus  eum  nobis  esse  patrem :  quod  fieri  nequit  quin  iusti 
coram  eo  censeamur  (Op.  7,  595). 

1)  I,  16,  1;  vgl.  Op.  31,  271.  280. 

2)  Nur  an  einer  Stelle  sind  die  spiritu  dei  regeniti  als  Träger  des 
echten  Vorsehungsglaubens  den  profani  homines  entgegenstellt.     Op.  31,  673. 

3)  Vgl.  Op.  7,  596:  (Gratuita  iustitia)  in  remissione  peccatorum  conti- 
netur  mit  (32,  80) :  Gratuita  adoptio  Deum  peccatis  nostris  assidue  propitiat. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  *8o 


Über  diesen  Kategorien  des  subjektiv  geschichtlichen  Heils- 
prozesses steht  aber  die  der  vor-  und  überzeitlichen  Erwählung. 
Calvin  hat  beide  Lehren  immer  in  dem  engsten  Zusammenhang 
behandelt.  In  der  ersten  Auflage  der  [nstitutio  wird  die  praedesti- 
natio  mit  der  Providentia  identifiziert,  in  der  [nstitutio  von  [539 
treten  sie  für  die  dogmatische  Betrachtung  auseinander  und  zwar  so, 
daß  die  Prädestinationslehre  grundlegend  bleibt.  <  >p.  S,  86]  :  De  emo- 
tione et  praedestinatione  constitutum  habeant  piae  mentes,  quod 
teuere  convenit.  Hie  autem  locus  duobus  membris  continetur. 
Prius  enim  expediendum,  qualiter  intelligi  debeat,  quod  hominum 
alii  ad  damnationem  praedestinantur.  Deinde  quum  aeterna  quo- 
que  rerum  omnium  dispensatio  ex  Dei  ordinatione  pendeat,  quo- 
modo  Providentia  illius  regatur  hie  mundus,  declarandum.  Nach 
der  Darstellung  des  Consensus  Genevensis  (Op.  8,  348,  349),  er- 
gibt sich  mit  der  gesteigert  sich  offenbarenden  Weisheit  in  den 
Religionsführungen  eine  gesteigerte  Providenz  kund,  die  darum 
specialissima  heißt :  In  Providentia,  quae  curandis  singulis  Dei  operi- 
bus  privatim  exeubat,  certos  ac  distinetos  gratus  statuere  con- 
venit .  .  .  Praecipuo  in  generis  humani  regimine  .  .  . 
Ceterum  hie  rursum  digerendi  sunt  gradus.  Quamvis  enim  sc  toti 
liumano  generi  et  patrem  et  iudicem  deus  ostendit,  quia  tarnen 
ecclesia  sanetuarium  est,  in  quo  residet,  illic  clarioribus  documentis 
praesentiam  suam  exserit,  illic  officium  facit  patris  familias  et  eam 
proprie  adspectu,  ut  sie  loquar,  dignatur.  Referta  est  eiusmodi 
testimoniis  scriptura,  quae  deum  pro  suis  fidelibus  intentiores  agere 
exeubias  affirmant.  .  .  Itaque  ut  pro  captu  rudium  crasse  aga- 
mus,  primo  loco  statuenda  est  ante  oculos  generalis  mundi 
gubernatio  .  .  .  Tum  p  e  e  u  1  i  a  r  i  s  generis  humani 
cura  .  .  .  Ultimo  praesidium  v  e  r  e  paternum,  quo 
ecclesiam  suam  tenetur,1  cui  praestantissima  dei  ipsius 
virtus  annexa  est.  —  Die  Frage,  ob  Calvin  als  Gegenstand  der 
specialissima  cura  mehr  die  ecclesia  schlechthin  oder  die  ein- 
zelnen Gläubigen  in  ihr  betrachtet,  läßt  sich  nicht  entscheiden, 
da  sich  Calvin  dieselbe  nie  vorgelegt  hat.  Op.  31,  333  =  Psalm 
33,  20  scheint  er  aber  die  auf  die  Kirche  sich  beziehende  Vor- 
sehung von  der  auf  die  einzelnen  Gläubigen  gerichteten  zu  unter- 
scheiden.2 Quidquid  hactenus  de  Providentia  Dei,  ac  prasertim 
fideli,    qua    suos    tuetur,    custodia,    disseruit,    non    tarn    a    se    ipso 

1)  Vergl.  Op.  31,  237t.  333.  463.  464  47&  604.  612.  618.  641.  'T5:  1.  17.  " 

2)  Es  ist  daher  nicht  richtig,  wenn  Ritschi  die  Providentia  specialissima 
sich  nur  auf  die  Gemeinde  beziehen  laßt. 


2QO  Calvins  Vorsehungslehre. 


protulit  ...  Nunc  vero  in  persona  totius  eccle- 
s  i  a  e  succinit,  nihil  esse  melius  quam  salutem  nostram  Deo  com- 
mittere.  Sie  lassen  sich  aber  nicht  scheiden :  Ita  videmus  fructum 
superioris  doctrinae  cunctis  fidelibus  proponi  .  .  .  Nam  hac  de 
causa  nihil  privatim  de  se  propheta  testatur,  sed  sibi  pios  omnes 
adiungit  in  eiusdem  fidei  consensum. 

Die  Unterordnung  der  Providentia  universalis  unter  die  spe- 
cialissima  wird  je  später  um  so  mehr  hervorgehoben  (vgl.  Op.  8,  348  ; 
31,  88.  95.  176.  235.  243.  333.  362  ff.,  699  ff.).  Die  meisten  von 
den  in  der  Institutio  1559  hinzugefügten  Ergänzungen  enthalten 
eben  die  Betonung  dieser  Unterordnung.  Das  Verständnis 
der  Providentia  specialis  bildet  auch  den  Schlüssel  für  das  Ver- 
ständnis der  Providentia  universalis.  Das  darf  allerdings  nicht 
so  verstanden  werden,  als  ob  Calvin  die  Weckung  des  Glaubens- 
motivs durch  die  Natur  oder  Geschichte  etwa  im  Sinne  Ritschis 
ausschließen  wollte.  Im  Gegenteil :  Meminerimus  ergo,  quoties 
quisque  naturam  suam  considerat,  unum  esse  deum,  qui  sie  guber- 
nat  omnes  naturas,  ut  velit  nos  in  se  respicere,  fidem  nostram  in 
se  erigi  (S.  242).  Aber  der  Prädestinationsgedanke  ist  so  mächtig, 
daß  er  auch  bei  der  Naturbetrachtung  hervorbricht :  Nam  in  ad- 
ministranda  hominum  societate  ita  providentiam  suam  temperat, 
ut  quum  sit  erga  omnes  innumeris  modis  benignus  ac  beneficus, 
apertis  tarnen  ac  quotidianis  indieiis  suam  piis  clementiam,  im- 
probis  ac  seleratis  severitatem  declaret.  Daher  ist  auch  die  cog- 
nitio  naturalis  bei  ihm  von  der  sittlichen  Beschaffenheit  des  Geistes 
abhängig.  Er  muß.  zwar  zugeben,  daß  ein  Same  der  Gottes- 
erkenntnis uns  aus  den  wundervollen  Werken  der  Natur  zufließt, 
daß  die  Gottesidee  unserem  Geiste  immanent  ist ;  er  ist  aber  über- 
zeugt, daß  die  Gestaltung  einer,  wenn  auch  dunklen,  natürlichen 
Gotteserkenntnis  von  der  sittlichen  Beschaffenheit  beeinfluß  wird, 
welche  freilich  die  Gottesidee  und  -erkenntnis  nicht  ausrotten,  wohl 
aber  ihren  richtigen  Ausdruck  verdunkeln  und  ihre  Bedeutung 
strittig  machen  kann  (I,  5,  it.  12.  15).  Andererseits  soll  die  Natur- 
betrachtung helfen,  das  Grübeln  über  die  Geheimnisse  der  gött- 
lichen Providenz  aufzugeben  (Op.  3,  48). 

Calvin  gibt  dadurch  dem  Vorsehungsglauben  eine  echt  christ- 
liche Begründung.  Sind  wir  von  Ewigkeit  erwählt  und  schon 
in  der  Zeit  für  die  Ewigkeit  mit  ihm  versöhnt,  so  gelten  uns  seine 
Verheißungen,  deren  Gegenstand  nur  Liebe  ist,  die  uns  von 
Christus  bestätigt  und  bekräftigt  werden.     Werden  wir  von  Gott 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  3  g  I 


durch  Christum  geliebt,  so  verschwinden  alle  Lebensgefahren,  und 
von  seiner  benevolentia  plena  est  felicitas ;  aus  der  Gnade  Gottes 
fließen  dann  universae  bonorum  species  (Op.  2,  424  ff.) :  In 
summa,  vere  fldelis  non  est,  nisi  qui  solida  persuasione  Deum  sibi 
propitium  benevolumque  patrem  esse  persuasus  de  eins  benigni- 
tate  omnia  sibi  pollicetur  (Op.  2,  411).  Deo  nobis  reconciliato 
nihil  manere  periculi,  quin  omnia  bene  succedant  (Op.  2,  420  = 
III  ,2,  28).  Daher  steht  für  Calvin  im  Vordergrunde  des  Vor- 
sehungsglaubens  die  Person  Jesu,  der  selbst  die  Gewißheit  gelehrl 
und  gelebt  hat,  daß  Gottes  zweckentsprechende  Leitung  nicht  nur 
dqm  einzelnen  dient,  sondern  auch  das  allereinzelnste  betrifft. 
Christus  macht  uns  dessen  gewiß,  daß  Gott  mit  seiner  Allmacht 
und  Liebe  über  der  ganzen  Welt  waltet;  durch  Christi  Mund 
müssen  wir  uns  belehren  lassen,  wenn  wir  Gottes  Allwirksamkeit 
in  ihrer  Vollkommenheit  erkennen  wollen  (16,  2). 

Sind  diese  Grundgedanken  über  die  Vorsehungslehre  allgemein 
reformatorisch  oder  kommt  in  ihnen  doch  eine  selbständige  Seite 
der  Calvinschen  Theologie  zum  Vorschein?  Wir  wollen  daher 
noch  ganz  kurz  die  Hauptideen  der  beiden  Grundtypen  der  Re- 
formation  mit  denen  Calvins  vergleichen: 

I.  Calvin  hat,  wie  wir  mehrfach  gesehen  haben,  die  praktisch 
religiösen  Ideen  Luthers  verwertet  und  systematisch  verarbeitet. 
Wie  oft  und  wie  praktisch  redet  doch  Luther  über  die  Vorsehung: 
„Wer  da  Gottes  Wort  hat  und  glaubet,  der  hat  die  zwei  Stücke 
gewiß,  das  erste,  wo  er  mangelt  und  nicht  hat,  sondern  muß  Hunger 
leiden,  so  wird  ihm  dasselbige  ebensowohl  erhalten,  daß  er  nicht 
Hungers  stirbet  oder  verdirbet,  als  wenn  er  vollauf  zu  essen  hätte ; 
denn  das  Wort,  das  er  hat  im  Herzen,  nähret  und  erhält  ihn  auch 
ohne  Essen  und  Trinken.  .  .  Das  andere  Stück,  daß  gewißlich 
zuletzt  das  Brot  sich  finden  wird,  es  komme  auch,  woher  es  wolle, 
und  sollte  es  vom  Himmel  regnen.  .  .  Solches  alles  möchte  man 
wohl  an  täglicher  Erfahrung  haben.  Denn  das  hält  man,  und  ich 
glaube  es  auch  wohl,  daß  nicht  so  viel  Garben  wachsen,  als  Men- 
schen leben,  sondern  Gott  täglich  das  Korn  im  Sacke,  das  Mehl 
im  Troge,  das  Brot  über  dem  Tische  und  im  Staub  segne  und 
mehre.  .  .  Wir  dürfen  uns  nicht  äugst en  und  bekümmern,  auf 
welche  Weise  oder  Gestalt  die  Königreiche  und  Herrschaften  der 
Welt  regiert  werden,  sondern  wir  sollen  Gott  dafür  danken  daß 
wir  wissen,  daß  er  so  genau  für  uns  sorgt.''1  —  Dabei  hebt  Luther 


n  \V\V.  ed.  Walch,  Th.  11  S.  753. 


3Q2  Calvins  Vorsehungslehre. 


so  nachdrücklich  wie  Calvin  hervor,  daß  dabei  unsere  Selbständig- 
keit nicht  ausgeschlossen  ist.  „Wiewohl  wir  dessen  gewiß  sind, 
daß  Gott  für  uns  sorget,  sollen  wir  doch  wissen,  daß  man  gleich- 
wohl dabei  der  Dinge  und  Mittel  gebrauchen  soll,  die  Gott  ver- 
ordnet hat,  auf  daß  wir  Gott  nicht  versuchen.  Wir  sollen  nicht 
hineinplumpen  und  sagen :  Ei,  es  muß  wohl  geschehen,  dieweil  ich 
die  Verheißung  habe  von  Gott ;  darum  will  ich  mich  nur  mitten 
unter  die  Löwen  und  Wölfe  dringen,  sintemal  mir  Gott  verheißen 
hat,  daß  er  mich  erhalten  wolle.  Ich  will  nicht  essen,  denn  Gott 
will  mich  sonst  wohl  ernähren.  Ja  Gott  will  haben,  daß  wir  der 
Hilfe  gebrauchen  sollen,  so  zur  Erhaltung  und  Regierung  dieses 
Lebens  geschaffen  ist,  und  wenn  wir  damit  nichts  ausrichten,  soll 
man  alsdenn  noch  darum  nicht  verzagen,  sondern  sich  selbst  an 
Gottes  Hilfe  festhalten."  1 

Die  Abhängigkeit  von  Luther  ist  oft  wörtlich.2  Calvin  grün- 
det wie  Luther  den  Vorsehungsglauben  auf  das  Bewußtsein  der 
Erlösung  durch  Christum. 

Fehlen  bei  Zwingli  diese  Grundlinien  nicht,  spricht  er  von 
praktischer  Abzielung  des  Vorsehungsglaubens 3  und  gewinnt  er 
aus  dem  Verhältnis  zu  Gott  als  Vater  die  Sicherheit  des  Selbst- 
gefühls im  Wechsel  der  Dinge  und  im  Kontrast  mit  den  Übeln,4 
so  treten  diese  Züge  ganz  erheblich  hinter  den  metaphysisch- 
spekulativen Hilfsmitteln,  die  er  zur  Gewinnung  der  Vorsehungs- 
gedanken anwendet,   zurück. 

Zwar  beginnt  er  sein  Sermonis  de  Providentia  Dei  anamnema 


i)  Ib.  Th.   2  S.  2609. 

2)  Neben  der  S.  342  erwähnten  eklatanten  Parallele  sei  hier  noch  auf 
die  Stelle  Op.  2,  161  hingewiesen,  wo  Calvin  über  die  von  Gott  durch  die 
Menschen  uns  vermittelten  Wohltaten  redet:  Denique  deum  in  acceptis 
bonis  reverebitur  et  praedicabit  ut  praecipuum  autorem,  sed  homines  ut 
eius  ministros  honorabit  .  .  .  Quaecunque  commendare  sibi  alique  possunt 
creaturae,  ipsas  tarn  quam  legitima  divinae  providentiae  instru- 
menta ad  usum  applicabit  .  .  .  Eadem  cognitio  temeritate  et  prava 
confidentia  exutos  ad  continuam  Dei  invocationem  nos  impellet.  Dazu 
vergl.  Luther  in  Catech.  maior  I.  Pars  26,  ed.  Haase  409  (Erklärung  des 
1.  Gebots):  Quamquam  alioqui  multis  bonis  cumulemur  et  efficiamur  ab 
hominibus  omnia  tarnen  a  Deo  data  et  concessa  dicuntur  .  .  .  Siquidem 
creaturae  tantum  manus  sunt,  canales,  media  et  Organa,  quorum  opera  et 
adminiculo  Deus  omnia  largitur  hominibus  .  .  .  Quamobrem  et  haec 
media,  videlicet  per  creaturas  bona  percipiendi,  non  sunt  respuenda,  neque 
temeraria  praesumptione  aliae  rationes  et  viae  investigandae  .  .  . 

3)  Op.  IV,  140  f.:  ut  breviter  providentiam  recte  agnovisse  piis  ac  deum 
reverentibus  maximum  sit  adversus  prospera  et  adversa  praestantissi- 
mumque  antidotum. 

4)  Ritschi,  Rechtf.  u.  V.1,  III,  151. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  3Q3 


mit  dem  Begriff  summum  bonum,  der  scheinbar  ethisch  klingt ;  aber 
die  folgende  spekulativ-aprioristisehe   Begriffsentwicklung  bew< 
daß   der   Begriff   summum   bonum    der   platonisch    gefärbte    meta- 
physische Seinsbegriff  ist,1   wonach  auch   die   ethischen    Eigen 
Schäften  (Güte,  Weisheit,  Gerechtigkeit)  bemessen  sind. 

2.  Alle  drei  Reformatoren  bestimmen  als  Grundzug  des 
Gottesbegriffs  die  lebendige  Aktuosität  Gottes  im  Gegensatz  zur 
bloßen  Präscienz;  während  alter  nach  Zwingli  die  Wirksamkeil 
Gottes  die  Selbsttätigkeit  und  die  Wirkungen  der  causae  seeundae 
aufhebt,  so  daß  sogar  Gott  als  Urheber  des  Bösen  erscheint, 
während  ferner  Luther  das  Böse  in  seiner  ganzen  Totalität  und 
Realität  anerkennt  und  dessen  \  erursachung  von  Gott  krampf- 
haft entfernt,  um  sie  in  fast  manichäisierender  Weise  auf  die  zweite 
Kausalität,  den  Teufel,  zurückzuführen:  geht  Calvin  den  diagonalen 
Weg,  indem  er  die  Kausalität  des  Bösen  zwar  Gott  abspricht,  den 
Teufel  aber  als  Werkzeug  zur  Ausführung  des  o  h  n  e  seine  Rat- 
schlüsse jedenfalls  nicht  zustande  gekommenen   Bösen  ansieht. 

3.  Der  teleologische  Gesichtspunkt  ist  bei  allen  drei  Refor- 
matoren verschieden:  Luther  kennt  keinen  allgemeinen,  einheit- 
lichen Zweck  der  göttlichen  Vorsehung;  nach  ihm  hat  Gott 
,, Zwecke,  aber  nicht  einen  Zweck".2  Daher  erscheint  die  gött- 
liche Wirkung  bei  ihm  vorwiegend  als  kausal  orientiert,  mecha- 
nisch zwingend,  naturhaft.  Dies  gilt  auch  für  Zwingli,  bei  dem  aller- 
dings die  teleologischen  Züge  viel  schärfer,  präziser  und  einheit- 
licher sind  als  bei  Luther,3  aber  nicht  an  die  Teleologie  Calvins 
heranreichen,  da  sie  stark  eudämonistisch  gefärbt  sind.  Calvin 
macht,  wie  wir  gesehen  haben,  die  ernstesten  Versuche,  die  Gefahr 
des  deterministisch  hausierenden  Gottesbegriffs  als  auch  den  Eudä- 
monismus  zu  beseitigen.  Als  echter  Theologe  der  Diagonale,  der 
Kanten  und  unausgeglichene  Extreme  mied,  konnte  sich  Calvin 
mit  den  Paradoxien  Zwingiis  nicht  befreunden.  Bekannt  ist  seine 
Kritik  des  Zwinglischen  Anamnema :  Zwinglii  libellus,  ut  familia- 
riter  inter  nos  loquamur,  tarn  duris  paradoxis  refertus  est,  ut 
longissime  ab  ea,  quam  adhibui,  moderatione  distet  (Op.  13,  253). 

1)  Cf.  da>  Nähere  darüber  in  Staub,  Das  Verhältnis  der  mensch- 
lichen Willensfreiheit  zur  Gotteslehre  bei  M.  Luther  und  Ul.  Zwingli. 
S.  50  ff. 

2)  Kattenbusch,    Luthers   Lehre  vom   unfreien   Willen   1875.   S.  15. 

3)  S.  darüber  Ritschi,  Jahrbb.  f.  d.  Th.  S.  96  ff. 


394  Calvins  Vorsehungslehre. 


II.   Kapitel. 
Die  Stellung  der  Providenzlehre  im  System  Calvins. 

Die  Entstehung  der  Vorsehungslehre  hat  uns  gezeigt,  daß' 
die  Vorsehngslehre  mit  der  Prädestinationslehre  im  engsten  Zu- 
sammenhange steht.  Während  dies  die  meisten  Forscher  zugeben 
und  die  Vorsehungslehre  Calvins  als  theologische  Unterlage 
für  seine  Prädestinationslehre  betrachten  —  was  allerdings 
für  die  Institutio  von  1559  gelten  darf  —  ohne  sich  näher  auf 
den  Zusammenhang  beider  Lehren  einzulassen,1  bespricht  den 
letzteren  eingehender  Ritschi,2  der  sich  bemüht,  ihn  als  ziemlich 
locker  darzustellen,  und  Scheibe.3  Obwohl  wir  den  Ausführungen 
des  letzteren  gegen  Ritschi  im  ganzen  zustimmen  müssen,  werden 
wir  dieselben  als  noch  der  näheren  Ausführung  bedürftig,  er- 
gänzen und  namentlich  die  Frage  beantworten :  was  sich  aus  dem 
Zusammenhange  beider  Lehren  und  ihrer  Stellung  zu  anderen 
Hauptlehren  Calvins  für  die  Erledigung  der  Frage  nach  der  Zen- 
trallehre Calvins  gewinnen  läßt. 

In  der  der  Institutio  von  1559  angehörenden  Lehre  von  der 
Providenz  wird,  so  meint  Ritschi,  keine  vorschauende  Rücksicht 
auf  die  doppelte  Prädestination  genommen.  In  dieser  Lehre  (von 
der  Prädestination)  fehle  jede  Unterordnung  unter  die  Lehre  von 
der  Providenz.  Beide  verhalten  sich  gleichgültig  gegeneinander, 
als  nicht  in  beiden  der  Gedanke  der  kausalen 4  Allwirksamkeit 
Gottes  durchgeführt  wird.  Diese  Behauptung  Ritschis  scheitert 
an  einem  wohl  ganz  deutlichen  Satze  (I,  17,  2):  Summa  haec  sit, 
quum  Dei  voluntas  dicitur  rerum  omnium  esse  causa,  providen- 
tiam  eius  statui  moderatricem  in  cunctis  hominum  consiliis  et 
operibus,  ut  non  tantum  vim  sam  exserat  in  electis,  qui  spiritu 
sancto  reguntur,  sed  etiam  reprobos  in  obsequium  cogat  (vergl. 
auch  I,   17,   1    (Anfang);  Op.  32,   137   [Ps.  107,  6]). 

Auch   in  der   Bestimmung  des   Zweckes  stimmt  die   Prädesti- 


1)  Gass:  Geschichte  der  protestantischen  Dogmatik  I,  106;  Köstlin 
a.a.O.    S.  427;  Seeberg  a.a.O.   II,   386. 

2)  Jahrbücher    f.    deutsche   Theol.    XIII    S.  98  ff. 

3)  a.  a.  O.  S.  113  ff. 

4)  Nach  dem  Zusammenhang  soll  es  wohl  heißen:  teleologischen; 
sonst  würde  dieser  Satz  überdies  dem  auf  S.  108  angeführten  widersprechen: 
Sie  (Prädestinationslehre)  behauptet  eine  nahe  Analogie  zu  seiner  Stamm- 
lehre von  der  Providenz  durch  den  auf  beide  Gebiete  angewandten  Begriff 
der   causalen   Alleinwirksamkeit. 


Von  Lic.   Dr.   J     Bol  ßQ5 


nationslehre  mit  der  Vorsehungslehre   überein:  a)   Calvin   will  in 

erster  Reihe  die  objektiven  Taten  Gottes  (Gnade  und  Gerechtig- 
keit) beschreiben.  Wenn  er  auch  nicht  gerade  so  argumentiert : 
Weil  Gott  sowohl  gnädig  als  auch  gerecht  ist,  muß  es  sowohl 
Erwählte  als  auch  Verdammte  gehen,  so  leitet  er  doch  beid<  . 
die  Erwählung  und  Verdammung,  aus  der  Gottesidee  ab.  Das 
höchste  ist  ihm  die  voluntas  oder  arbitrium  dei  ;  in  diesem  ist 
sowohl  die  Gnade  als  auch  die  Gerechtigkeit  Gottes  enthalten. 
Wenn  er  auch  nicht  sagt :  Auch  Verdammte  muß  es  geben,  weil 
Gott  sonst  seine  Eigenschaft  der  Gerechtigkeit  nicht  offenbaren 
könnte,  so  sagt  er  doch:  Es  gibt  Verdammte,  weil  Gott  vermöge 
seines  Willens  nicht  bloß  gnädig,  sondern  auch  gerecht  sein  will. 
Im  Willen  Gottes  ist  beides  auf  gleiche  Weise  enthalten,  sowohl 
die  Seligkeit  als  auch  die  Verdammnis ;  und  wenn  man  auch 
darum  nicht  die  Kategorie  der  Notwendigkeit,  sondern  nur  die 
der  Möglichkeit  anwenden  kann,  so  gleicht  sich  in  der  Wirklich- 
keit beides  dadurch  aus,  daß  es  keine  Verdammten  geben  könnte, 
wenn  nicht  auch  sie  dazu  dienten,  den  höchsten  Zweck,  die  gloria 
dei,  zu  verherrlichen.  Praedestinatio  nihil  aliud  est,  quam  divinae 
iustitiae  oecultae  quidem  sed  inculpatae,  dispensatio ;  quia  non 
indignos  fuisse  certum  est,  qui  in  eam  sortem  praedestinarentur, 
iustissimum  quoque  esse  interritum,  quem  ex  praedestinatione 
subeunt,  aeque  certum  est.  Ad  hoc,  sie  est  dei  praedestinatione, 
pendet  eorum  perditio.  ut  causa  et  materia  in  ipsis  reperiatur. 
Lapsus  et  enim  primus  homo  quia  dominus  ita  expedire  censuerat ; 
cur  censuerit,  latet.  Certum  tarnen  est,  non  aliter  censuisse,  nisi 
quia  v  i  d  e  b  a  t ,  n  o  m  i  n  i  s  s  u  i  gloria  mj  i  n  d  e  merito 
illustrari.  Ubi  mentionem  gloriae  dei  audis,  illic  iustitiam 
cogita.  Iustum  enim  esse  oportet,  quod  laude  meretur  (Institutio 
III,  23,  8;  vergl.  III,  22,  6.  10.  11  ;  23,  10.  13.  23;  Op.  1,  t86  ff.)- 
b)  Neben  diesem  objektiven  Zweck  Gottes  steht,  wie  in  der  Vor- 
sehungslehre, der  subjektive,  die  salus  hominum  (Inst.  III,  21.  7; 
24,  3.  5).  Neben  dem  warmen  Bestreben,  den  majestätischen 
Gott  in  seiner  Allwirksamkeit  aufzuzeigen,  geht  der  große  echt 
reformatorische  Zug.  die  certitudo  salutis,  durch  die  Sätze  Calvins 
hindurch:  der  majestätsvolle  Objektivismus  wird  durch  den  zu- 
versichtlichen Subjektivismus  ergänzt.  Es  war  sehr  ungerecht, 
wenn  Einige  behauptet  hatten,  dal.)  für  Calvin  die  ernste  Frage, 
wodurch  für  den  Menschen  die  Eleilsgewißheit  erlangt  wird,  gar 
nicht  existiere.     Unde   tibi   salus   nisi   ex   dei   electione   (Inst.    III, 


3 OD  Calvins  Vorsehungslehre. 


24,  4 ;  Op.  8,  1 14)  .  Tunc  enim  demum  certa  est  nobis  nostra  salus, 
quum  in  dei  pectore  causam  reperimus  (Op.  8,  260).  Ouorsum 
electio  pertinet,  nisi  ut  in  filiorum  locum  a  coelesti  Patre  coop- 
tati,  eius  favore  salutem  obtineamus  (vergl.  Op.  28,  557). 

Ist  das  aber  nicht  Willkür,  wenn  Gott  die  einen  erwählt,  die 
anderen  verdammt,  um  seine  gloria  in  beiden  Fällen  zu  demon- 
strieren ?  Ritschi 1  bejaht  dies ;  denn  „ willkürlich  ist  der  Wille, 
der  keinen  konkreten  Endzweck  erkennen  läßt,  der  vielmehr  seinen 
in  sich  geschlossenen  Selbstzweck  (gloria  dei)  durch  die  entgegen- 
gesetzten Mittel  der  Election  und  Reprobation  befriedigt".  Indem 
also  Ritschi  dem  Gottesbegriff  der  Prädestinationslehre  das  Merk- 
mal der  Willkür  aufprägt,  stellt  er  dann  folgerichtig  diesen 
Begriff  in  Gegensatz  zu  dem  der  Vorsehungslehre ;  denn  in  der 
letzteren  ist  nach  seiner  Behauptung  nur  die  Güte  das  konsti- 
tuierende Merkmal  des  Gottesbegriffs.  Ist  aber,  so  fragen  wir, 
der  im  Gottebegriff  der  Prädestinationslehre  herrschende  Zug  die 
Willkür? 

Der  Begriff  der  Ehre  Gottes  bei  Calvin  ist  nach  Ritschi 
kein  konkreter  Endzweck,  sondern  ein  nackter,  formaler  Selbst- 
zweck, der  ihm  als  einem  Momente  des  Willens  überhaupt  zweifel- 
los zukommt,  wodurch  aber  ein  konkretes  Motiv  des  Willens  nicht 
verbürgt,  sondern  vielmehr  ausgeschlossen  ist.  Nun  ist  von  vorn- 
herein festzustellen,  daß  Ritschis  Begriffsbestimmungen  in  diesem 
.  .  .  nicht  einheitlich  sind.  Einmal  sagt  er  nämlich,  der  Begriff  der 
Ehre  sei  streng  zu  fassen  „als  der  sittliche  Wert  einer  Person, 
sofern  er  durch  das  Urteil  anderer  bezeugt  und  festgestellt  wird". 
Danach  wäre  es  der  Fehler  Calvins  gewesen,  daß  er  in  dem  Begriff 
der  Ehre  Gottes  nur  einen  rein  formalen  Selbstzweck  ohne  Rück- 
sicht auf  seine  Anerkennung  seitens  der  Menschen  im  Auge  gehabt 
hätte.  Derselbe  Ritschi  sagt  aber  -  über  Jesu  sittliches  Handeln : 
„Die  Grundbedingung  für  die  ethische  Beurteilung  Jesu  ist  darin 
enthalten,  daß  er,  was  er  überhaupt  war  und  gewirkt  hat,  in  erster 
Linie  für  sich  war.  Jedes  geistige  Leben  verläuft  in  dem 
Schema  des  persönlichen  Selbstzweckes".  Und 
ferner:  „Das  Handeln  tritt  aus  der  ethischen  Betrachtungsweise 
heraus,  wenn  es  für  den  Handelnden  überhaupt  nicht  Zweck 
an  sich,  sondern  wenn  es  von  ihm  aus  bloß!  als  Mittel  zum 
Zweck  ausgeübt  wird."3     Aber   bleiben   wir  bei   der    Bestimmung 


1)  a.  a.   O.  S.  104. 

2)  In  ..Rechtfertigung  und  Versöhnung" '  III  S.  385. 

3)  Ib.   S.383. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatoc,  3Q7 


des  Ehrenbegriffes  in  den  „Jahrbüchern".     Wie  steht  es  in  dieser 
Hinsicht  bei  Calvin? 

Calvin  bestimmt  als  Endzweck  die  gloria  Dei.  Bestünde  diese 
nur  darin,  daß  Gott  sich  als  den  unbedingten  Willen  an  «Irin 
Bedingten  und  Endlichen  betätige,  und  zwar  den  Gegensatz  des 
Guten  und  Bösen,  der  salus  und  damnatio,  korrespondierend  den 
Eigenschaften  der  Gnade  und  Gerechtigkeit,  hervorbringe  —  so 
wäre  es  freilich  richtig  und  erschöpfend,  zu  sagen,  daß  hier  ein 
nackter  formaler  Selbstzweck  den  Bestand  hat,  oder 
um  die  Hegeische  Formel  zu  gebrauchen,  daß  sich  in  dem  Resultat 
des  Weltprozesses  (salus  et  damnatio),  als  dem  Prozeß  der  Be- 
tätigung des  absoluten  Willens,  dieser  absolute  Wille  zur  Einheit 
wieder  mit  sich  zusammenschließt.  Wenn  man  in  diesem  Sinne 
die  gloria  Dei  auffassen  wollte,  dann  müßte  man  C.  H.  Weiße  zu- 
stimmen, der *  klagt :  „Wenn  von  irgend  einem  Begriffe  gesagt 
werden  kann,  daß  er  unter  den  Händen  des  kirchlichen  Dogmatis- 
mus entseelt  und  ertötet  worden  ist,  so  ist  es  der  durch  die  Worte 
Doxa  und  Kabod  ausgedrückte."  Nicht  der  Umstand,  daß  Gott 
sich  offenbart,  macht  seine  gloria  aus ;  denn  Gott  könnte,  wenn 
er  nur  den  Selbstzweck  befolgen  wollte,  kraft  seiner  absoluten 
Sufficienz  sich  betätigen,  ohne  sich  an  dem  Menschen  oder  etwas 
Endlichem  zu  offenbaren ;  vergl.  Op.  2,  266  (die  Erklärung  der 
ersten  Bitte).  Nicht  darin,  daß  er  sich  als  der  Gnädige  und  Ge- 
rechte offenbart,  besteht  die  gloria  Dei,  sondern  daß  er  als  der 
sich  so  Betätigende  erkannt  wird :  Si  deo  pretiosum  est  nomen 
suum,  non  vulgare  est  fidei  pignus,  dum  audimus  ipsam  virtutis 
suae  magnitudinem  in  ecclesiae  suae  salute  velle  cognosci. 
Experiemur  haud  dubie  quoties  opus  fuerit,  nos  sub  eius  pro- 
tectione  salvos  ac  tutos  esse.  (Op.  31,  706;  Ps.  76,  2).  Diese  Er- 
kenntnis seiner  selbst  kann  dem  Allgenugsamen  (I,  14,  3)  und 
Selbstgenugsamen  nichts  geben.  Er  bedarf  der  gloria  nicht,  seine 
gloria  ist  ihm  nicht  Selbstzweck.  Er  gibt  vielmehr  in  seiner  Offen- 
barung dem  Menschen  die  Gemeinschaft  mit  sich,  weil  er,  der 
Selbstgenugsame,  auch  der  Allgenugsame  ist.  Es  ist  nämlich  ein 
großer  Unterschied  zwischen  dem  Egoismus  und  dem  Personalis- 
mus :  Der  erstere  will  etwas  haben,  der  letztere  will  etwas 
sein.  Das  Ziel  der  Führung  Gottes  ist,  daß  der  Mensch  voll- 
kommen auf  sein  Verdienst  verzichtet,  daß  er  zur  Gewißheit   ge- 


1)   In   seiner  „Philosophischen  Dogmatik"   I   S.  617. 


tq8  Calvins  Vorsehungslebre. 


langt,  er  sei  allein  aus  Gnaden  erwählt,  und  dies  erkennend  sich 
abhängig  fühlt  von  dem,  der  sowohl  gerecht  als  auch  barmherzig 
ist.  Daraus  folgt  dann  naturgemäß  die  gloria  Dei,  der  in  dem 
calvinischen  System  so  mächtig  betonte  Passus  der  Dankbar- 
keit. Wir  sind  Gott  geweiht,  daher  können  wir  nichts  tun  und 
nichts  denken  als  zu  seiner  Ehre ! 

Dadurch,  daß  Calvin  die  gloria  Dei  nicht  als  eine  sich  selbst 
bespiegelnde  Ehrfurcht  in  Gott  auffaßt,  sondern  sie  in  das  Gebiet 
der  Offenbarung  herunterzieht,  ihr  also  eine  h  e  i  1  s  ö  k  o  - 
noraische  Bedeutung  gibt,  verliert  dieser  Begriff  jeden  ab- 
strakten Zug.  Der  Schein  des  Egoismus  fällt  weg,  denn  der 
Endzweck  Gottes  dient  dem  Heil  der  Menschen. 

Muß  man  aber  nicht  in  der  Art  der  Durchführung 
dieses  Endzweckes  „durch  die  entgegengesetzten  Mittel  der  Elec- 
tion  und  Reprobation"  Willkür  sehen?  Ist  es  nicht  grundlose 
Handlung,  wenn  Gott  die  einen  zur  Seligkeit,  die  anderen  zur 
Verdammnis  verordnet,  oder,  mit  Ritschi  zu  reden,  seinen  Selbst- 
zweck „durch  die  entgegengesetzten  Mittel  der  Election  und 
Reprobation"  befriedigt?  Schon  Schleiermacher1  hat  versucht, 
den  Vorwurf  der  Willkür  von  dem  Gottesbegriffe  Calvins  ab- 
zuwenden. Gegen  den  Verdacht  einer  blajßen  Willkür,  meint 
Schleiermacher,  könne  sich  niemand  stärker  erklären  als  Calvin 
selbst.2  Er  weist  mit  Recht  darauf  hin,  daß  der  freilich  sehr 
mißverständliche,  aber  doch  einer  sehr  richtigen  Deutung  fähige 
Ausdruck,  der  göttliche  Ratschluß  der  Erwählung  sei  ein  abso- 
lutum  decretum,  in  der  Institutio  gar  nicht  vorkommt,  sondern 
erst  im  Streit  zugewachsen  ist.  Wenn  nun  doch  nach  der 
sonstigen  Anschauung  Calvins  Gott  den  Glauben  selbst  schenken 
müsse  und  die  Predigt,  aus  der  er  allein  entstehen  kann,  nicht 
allen  unter  gleich  günstigen  Umständen  angedeihen  lasse :  so  bleibe, 
folgert  Schleiermacher  mit  Recht,  nichts  anderes  übrig  als  eine 
solche  göttliche  Entscheidung.  Nach  Schleiermacher  kann  diese 
Entscheidung  Gottes,  wie  sie  Calvin  auffaßt,  niemandem  ungereimt 
und  grundlos  vorkommen.  Nämlich :  Sind  wir  einmal  überzeugt, 
daß,  damit  die  Welt  vollständig  sei,  auch  das  menschliche  Ge- 
schlecht da  sein  mußte :  so  können  wir  unmöglich  mehr  sagen,  es 
sei  eine  grundlose  Willkür,  daß  Gott  das  menschliche  Geschlecht, 


i)  a.  a.   O.   S.  453  ff. 

2)    Vergl.    S.  379  unserer  Abhandlung  I,    17.   2    (Op.  2,    199). 


Von  Lic.   Dr.  J.   Br.li.it,-,  ^gg 


—  obgleich   er   vorausgesehen   hatte,   daß   es    sündigen    und    fallen 
werde  — ,  erschaffen   hat,  da  es  ja  notwendig  mit    eingeschlossen 
ist  in  die  eine  alles  umfassende  göttliche  Tal   der  Weltschöpfung. 
Fragen  wir  aber,  warum  Gott  gerade  uns  zu   Menschen  und  nicht 
zu    Engeln    gemacht    hat.    so    vergessen    wir,    daß    \vi>     ebensogut 
fragen  könnten,  warum  er  uns  zu  Menschen  und  nicht  zu  Tieren 
gemacht   hat.     Schleiermacher  wendet  sich  dabei  gegen  den  mög- 
lichen Einwand,  diese  Darstellung  rechtfertige  mehr  die  ursprüng- 
liche geistige  und  leibliche  Verschiedenheit  als  die  religiöse,  welche 
bei    allen    Menschen,    die    Protoplasten    ausgenommen,    keine    ur- 
sprüngliche   ist   —   indem    sie   ja   alle   durch    den    Fall    gleich    ge- 
worden sind  —  sondern  nur  durch  die  göttliche   Bestimmung  enl 
steht,  welche  dem  einen  den  Glauben  gibt,  dem  andern  aber  ver- 
sagt,   und    eben    diese    Bestimmung    erscheine    eigentlich    als    eine 
grundlose  Willkür.  —  Dem  Einwand,  daß  dies  alles  die  ursprüng- 
liche geistige  und  leibliche  und   nicht  die  religiöse  Verschiedenheit 
rechtfertige,  welche  bei  allen  Menschen  keine  ursprüngliche  sei,  in- 
dem ja  alle  durch  den   Fall  gleichgeworden  sind,  weicht   Schleier- 
macher aus :  „Wenn  wir  nun  darin,  daß  Gott  aus  dieser  gefallenen 
Gesamtmasse  einige  erwählt  und  andere  nicht,  eine  Willkür  sehen 
wollen,  so  können  wir  das  nur  mit  demselben  Recht,  mit  welchem  wir 
es  als  willkürlich  bezeichnen  könnten,  daß  Gott  von  der  Gesamtheit 
aller  menschlichen  Keime  einige  belebt  und  Personen  werden  läßt, 
andere  nicht,  und  einige  wirklich  ans  Licht  führt,  andere  hingegen 
schon  im  Mutterleibe  oder  gleich  bei  der  Geburt  wieder  dem  Tode 
zurückgibt.     Bei  einer  solchen  Betrachtung  also  erscheint  die  gött- 
liche Willkür  in  der  Erwählung  und  Verwerfung  gar  nicht  als  eine 
andere  oder  größere  als  die  bei  der  Schöpfung. 

Diese  Verteidigung  berührt  sich  allerdings  wesentlich  mit  den 
Gedanken,  mit  denen  Calvin  selbst  seine  Lehre  verteidigt  hatte. 
Er  hat  i.  öfter  auf  die  Parallele  zwischen  der  Schöpfung  und  der 
Prädestination  hingewiesen,  so  z.  B.  Op.  2,  687  =  Inst.  III,  22,  1  : 
respondeant,  cur  homines  sint  magis  quam  boves  et  asini,  quum 
in  manus  Dei  esset  canes  ipsos  fingere,  ad  imaginem  suam  for- 
mavit.  Concedentne  brutis  animalibus  de  sua  sorte  cum  deo 
expostulare,  quasi  iniustum  sit  discrimen.  —  2.  Wie  Schleier- 
macher hat  auch  Calvin  die  Frage  nach  dem  Grunde  des  so 
gearteten  Schöpfungsdekretes  als  unberechtigt  abgewiesen  (vergl. 
seine  Verteidigung  gegen  Castellio :  nunc  cum  eo  (deo)  ex- 
postula,  quod  ab  ultima  aeternitate  se  uno  contentus  virtutem  suam 


400  Calvins  Vorsehungslehre. 


quasi  sterilem  continnerit ;  d.  h.  warum  er  überhaupt  die  Welt  er- 
schaffen hat). 

Schleiermacher  vergißt  aber,  daß  der  springende  Punkt  nicht 
in  der  Frage  liegt,  warum  Gott  aus  der  geschichtlichen 
massa  die  einen  erwählt  und  die  anderen  verwirft.1  Das  Problem 
ist  brennend  und  schwierig,  weil  sich  die  ganze  Sache  um  das 
vorzeitige  Dekret  und  um  die  vorgeschichtliche  Auslese  dreht. 
Da  muß  man  allerdings,  um  die  Parallele  mit  der  Schöpfung  zu 
bewahren,  einfach  hier  wie  dort  auf  die  Antwort  verzichten.  So 
wie  wir  es  nicht  ergründen  können,  warum  Gott  beschlossen  hat, 
aus  der  Vorzeitlichkeit  in  die  Zeitlichkeit  herunter  zu  steigen, 
d.  h.  die  Welt  zu  schaffen,  ebensowenig  können  wir  begreifen, 
warum  Gott  vor  der  Zeit  die  doppelte  Prädestination  angeordnet 
hat.  Man  darf  darauf  nicht  hinweisen,  daß  das  Objekt  der  prä- 
destiniernden  Akte  die  Menschheit  als  die  massa  corrupta  bildet; 
denn  auch  der  Sündenfall  Adams  und  die  hiermit  zusammen- 
hängende Verderbtheit  der  Menschheit  sind  von  Gott  beschlossen 
worden.  Calvin  selbst  nimmt  an,  daß  es  nicht  genüge,  die  Ver- 
werfung aus  dem  freien  Willen  des  Menschen  ohne  das  Dazwischen- 
treten des  decretum  Dei  erklären  zu  wollen,  da  hier  die  Gefahr 
entstehen  würde,  daß  die  Erwählung  nach  dem  meritum  des  zu 
Erlösenden  sich   gerichtet   hätte.2 

Wenn  sich  Calvin  sowohl  bezüglich  des  Sündenfalles  als  auch 
der  Prädestination  auf  die  abscondita  voluntas  Gottes  als  den  letzten 
Grund  beruft,  der  keine  alia  prior  causa  über  sich  hat,  Gott  daher 
in  dieser  Beziehung  sich  selbst  Gesetz  ist,  so  sieht  Ritschi  eben  in 
diesem  unergründlichen  und  unbegründeten  Willensakte  Gottes 
die  Willkür. 


i)  Dabei  ist  es  unrichtig,  wenn  Schleiermacher  den  Akt  der  Er- 
wählung mit  dem  der  Einverleibung  in  ovile  Christi  oder  der  insitio  in 
Christum  identifiziert.  Die  electio  geht  ja  diesen  Akten  logisch  und  zeit- 
lich voraus:  electi  dicunter  fuisse  patris,  quam  eos  donaret  unigenito  filio 
(Inst.  III,  22,  7).  Si  fidei  origo  est  donatio  ista  (seil:  der  Erwählten  an 
den  Sohn),  et  eam  ordine  ac  tempore  praecedit  electio  (Op.  47,  361). 
Peraeque  naturalis  est  omnibus  contumacia  et  pravitas,  ut  nemo  ad  susci- 
piendum  iugum  voluntarius  sit  ac  docilis.  Aliis  promittit  spiritum  oboer 
dientiae,  alios  in  sua  pravitate  relinquit.  Diese  promissio  wird  aber  nur 
denen  zuteil,  die  schon  erwählt  sind.     Op.  9,  306. 

2)  Dieser  Gedanke  wird  mit  großem  Nachdruck  in  Cons.  Gen.  (Op. 
8,  305),  dann  hauptsächlich  von  Bolsec  (Act.  du  proces  interte  par  Calvin  et 
les  autres  ministres  des  Geneves  ä  Gerome  Bolsec  de  Paris  155,  1;  Op.  28, 
141 — 248)  vertreten. 


Von  Lic.   Dr.    |.    Bo  401 


Ritschi  registriert  nämlich  zwar  die  von  uns  bereits  erwähnte 
Ablehnung  der  nominalistischen  absoluta  voluntas  und  absoluta 
potentia,  bemerkt  aber  dabei,  daß  es  Calvin  im  Zusammenhang  der 
Prädestinationslehre  nicht  gelungen  sei,  diese  Ablehnung  ernsl 
durchzuführen ;  denn  er  bleibe  der  Zwinglischep  Deutung  des 
Satzes,  daß  Gott  sich  selbst  Gesetz  sei,  ferne:  dieser  Satz  habe 
nur  dann  einen  wirklichen  Sinn,  wenn  man  ihn  mit  Zwingli  dahin 
verstehe,  daß  die  stetige  Gesinnung  des  Guten  Gott  notwendig  in 
einer  für  uns  erkennbaren  und  deshalb  der  Aneignung  fähigen 
Richtung  bestimmt.  Daß  hingegen  Calvin  in  der  gleichlautenden 
Behauptung  nur  ein  leeres  und  folgcloses  Wort  gesprochen  habe, 
erprobe  sich  daran,  daß  er  in  der  Institutio  hinzufüge,  der  Begriff 
des  Gesetzes  sei  nur  da  anwendbar,  wo  es,  wie  bei  den  Menschen, 
Leidenschaften  gegenüber  gestellt  sei.  Denn  daraus  folge  als  um- 
gekehrte Wahrheit  für  Gott,  daß  derselbe  in  jeder  Hinsicht  außer 
Beziehung  zum  Begriff  Gesetz  stehe.  Überdies  könne  ein  Verhalten 
Gottes  zu  sich,  das  dem  Begriff  des  Gesetzes  auch  nur  analog 
wäre,  als  wertvolle  Erkenntnis  nicht  ausgesprochen  werden,  wenn 
man  nicht  einen  stetigen  Grund  für  sein  Handeln  zulasse,  und  nicht 
eine  Richtung  seiner  Selbstbestimmung  zum  konkreten  Endzweck 
der  Weltleitung  für  erkennbar  halte. 

Calvins  Satz :  Gott  ist  sich  selbst  Gesetz,  will  besagen :  Wäre 
Gott  an  das  uns  bindende  Gesetz  gebunden,  so  müßte  seine  Vor- 
sehung anders  handeln  als  sie  wirklich  handelt.  Da  man  aber  bei 
Gott  unmöglich  annehmen  kann,  daß  er  zwar  diesem  Sittengesetze 
entsprechend  handeln  will,  aber  nicht  kann,  da  er  also  wider 
Willen  und  ohne  Willen,  nicht  mit  bloßer  Zulassung  und  nackter 
Präscienz  oder  aus  Mangel  an  Macht,  sondern  bestimmend  den 
Sündenfall  und  die  Verwerfung  eines  Teiles  der  Menschen  will: 
so  müssen  wir  eine  uns  noch  unbekannte  Gerechtigkeit  in  diesem 
göttlichen  Wollen  und  Tun  voraussetzen  und  an  sie  glauben. 
Aber  diese  Gerechtigkeit  ist  eben  Gerechtigkeit,  weil  sein  Wille 
regula  est  optimae  rectitudinis,  in  optima  ratione  summaque 
aequitate  fundata.  Daher  verfährt  sie  nicht  willkürlich. 
dem  nach  dem  notwendigen  Maßstab  der  aequitäs  gerade 
so,  wie  Gott  notwendig  gut  ist  (vgl.  oben  S.  367).  Zu  der  Be- 
hauptung, daß  Gott  nicht  an  die  den  Kreaturen  gegebenen  Ge 
setze  gebunden  ist,  leitet  Calvin  das  Interesse  an  der  göttlichen 
Souveränität,  die  nicht  dulden  kann,  daß  ihr  die  Kreatur  etwas 
vorschreibe,  und  an  der  göttlichen  Freiheit,  die  in  der  Mitte  steht 

Calvinstudien.  26 


AQ2  Calvins  Vorsehungslehre. 


zwischen    der    naturhaft    wirkenden    Allmacht    und    der    absoluten 
Laune  (Op.  9,  288  f.,  295). 1 

Würde  von  den  angeführten  Gründen  jeder  für  sich  schon 
ausreichend  sein,  die  Annahme  einer  absoluten  Willkür  bei 
Calvin  als  unrichtig  zu  beweisen,  so  führen  uns  einige,  wenn 
auch  spärliche  Gedanken  Calvins  zur  Eruierung  der  Tatsache, 
daß  für  ihn  trotz  der  Unerkennbarkeit  des  göttlichen  Willens  —  die 
unbekannten  Ursachen  werden  uns  allerdings  einmal  (ultimo  die) 
in  ihrer  vollen  Klarheit  offenbar  werden  (Op.  9,  286)  —  die  Reali- 
sierung des  göttlichen  Zweckes  in  einer  für  uns  doch  erkennbaren 
Richtung  sich  bewegt.  Das  ist  bei  der  Frage  nach  dem  Zwecke 
der  Verwerfung  der  Fall.  Dient  sie  vielleicht  nicht  auch  der  salus 
hominum?  So  müssen  wir  fragen,  wenn  wir  die  volle  Koncinnität 
der  Prädestinationslehre  mit  den  Erörterungen  über  den  Zweck 
der  Vorsehung  bewahren  wollen.  In  der  letzteren  ordnet,  wie  wir 
sahen,  Gott  alles  so,  daß  schließlich  dabei  die  salus  der  Seinigen 
herauskommt.  Ritschi,  der  den  Zusammenhang  beider  Lehren  in 
dieser  Hinsicht  leugnet,2  muß  selber  zugeben,  daß  in  Cons.  Gen. 
die  Reprobation  dem  Zweck  der  salus  der  Erwählten  dient : 
in  utilitatem  nascuntur  (reprobi)  electorum.  Es  ist  andererseits 
Ritschi  zuzugeben,  daß  die  Erklärung  dieses  Gedankens  „in 
dieser  Fassung"  nicht  sonst  ausgesprochen  worden  ist.  Aber 
wir  finden  den  Gedanken  in  der  Institutio  doch.  Calvin 
betont  hier,  Gott  fasse  das  decretum  reprobationis  nicht  nur,  um 
zu  verdammen,  sondern  weil  electi  ex  gratia  nicht  gewollt  werden 
können,  ohne  daß  reprobi  mit  gewollt  sind ;  wenigstens  würden 
die  electi  sonst  nicht  erkennen,  daß  sie  aus  Gnaden  erwählt  sind. 
Daß  Gott  im  Evangelium  allen  das  Heil  anbietet  und  alle  zu  sich 
einladet,  während  er  nur  den  Erwählten  den  Glauben  schenkt,  das 
geschieht  dazu,  damit  die  Erwählten  desto  gewissere  Zuversicht 
haben,  daß  auch  die  größten  Sünder  angenommen  werden,  wenn 
sie  nur  glauben,  den  Verworfenen  aber  alle  Entschuldigung  um 
so  mehr  abgeschnitten  werde,  wenn  sie  sich  bewußt  werden  müssen, 
daß  sie  das  Dargebotene  undankbar  verschmäht  haben.  Sed  cur 
omnes  nominat?     Nempe  quo  tutius  piorum  conscientiae   acquie- 


1)  In  dieser  Beziehung  hat  Scheibe  a.  a.  O.  S.  114  entschieden  recht, 
wenn  er  den  Unterschied  der  calvinischen  Freiheit  von  der  skotistischen 
Willkür  hervorhebt;  recht  namentlich  auch  gegen  Seeberg.  Dogmengesch.  II 
397,  der  in  der  calvinischen  Gedankenbildung  einen  skotistischen  Ein- 
schlag  wahrnimmt. 

2)  a.  a.  O.  S.  103. 


Von  Lic.   Dr.  J.  Bohatec.  .)<)?, 


scant,  dum  intelligant  nullam  esse  peccatorum  differentiam,  modo 
adsit  fides,  impii  autcm  non  causentur  sibi  deesse  asylum,  quo  se 
a  peccati  Servitute  rccipiant,  dum  oblatum  sibi  ingratitudine  sua 
respuunt  (III,  24,  17).  Der  Gedanke  der  göttlichen  Prädestination 
ist  für  die  Verworfenen  völlig  ausgelöscht  durch  das  Gefühl  d<  r 
persönlichen  Schuld,  das  die  göttliche  Gerechtigkeit  bezeugt,  wäh- 
rend den  Erwählten  ihre  unverdiente  und  als  unverdient  an  dem 
Gegensatze  der  Verworfenen  empfundenen  Seligkeit  überschweng- 
lich zu  erleben  gibt,  was  sie  in  der  ewigen  Wahl  sich  aus  Gnaden 
zugedacht  sahen.1 

1)  Ob  diese  Erklärung  des  Zweckes  des  decretum  horribile  eine  Be- 
friedigung für  das  religiöse  Bewußtsein  enthält,  ist  allerdings  eine  Frage 
für  sich.  Es  ist  einer  der  Versuche,  den  Dualismus  der  Seligen  und  Ver- 
dammten dem  denkenden  religiösen  Bewußtsein  als  notwendige  Konse- 
quenz des  höchsten  Interesses,  welches  die  religiöse  Persönlichkeit  hat, 
nämlich  die  Wahrung  der  Souveränität  Gottes  und  der  Heilsgewißheit  der 
einzelnen.  Bekanntlich  suchte  schon  Augustin  in  diesen  Abyssus  Licht 
fallen  zu  lassen.  Die  göttliche  Gerechtigkeit  erhält  nach  ihm  Genug- 
tuung  dadurch,  daß  die  Bösen  nach '  Verdienst  behandelt  und  dort  unter- 
gebracht werden,  wo  ihnen  zu  sein  gebührt.  Ja,  Augustin  verteidigt  diesen 
Dualismus  nicht  allein  als  ethisch,  sondern  auch  als  ästhetisch  notwendig. 
Wenn  der  Weltlauf  mit  der  ewigen  Verdammnis  der  Vielen  endet,  so 
könnte  es  scheinen,  als  führte  dieses  eine  Unvollkommenheit  des  defini- 
tiven Zustandes  des  Daseins  herbei;  aber,  so  sagt  Augustin.  was  vom 
Standpunkte  des  einzelnen  Teiles  gesehen  unvollkommen  ist.  und  Abscheu 
erregt,  kann  vom  Standpunkte  der  Totalität  sehr  wohl  eine  Vollkommen- 
heit sein,  indem  zur  Harmonie  nur  erforderlich  ist,  daß  alles  seinen  rechten 
Platz  erhält  und  indem  gerade  der  Gegensatz  der  Religion  und  der  Ver- 
dammten dazu  dient,  die  Schönheit  des  Ganzen  zu  vermehren  (Omnes  ita 
ordinantur  ...  in  pulchritudinem  universitatis  ut,  quod  horremus  in  parte, 
si  cum  toto  consideremus  plurimum  placeat:  de  vera  relig.  40 — 41;  vergl. 
Retractiones  I.  7:  de  civ.  Dei  XXI.  17).  Für  Calvin  war  es  nicht  zweifel- 
haft, daß  Gottes  Seligkeit  und  Ehre  sich  mit  jenem  Dualismus  vereinigen 
lassen,  diesen  sogar  erfordern.  Ebensowenig  bereitet  es  ihm  Schwierig- 
keiten, wie  wenige  Menschen  selig  sein  können,  wenn  sie  wissen,  daß 
nicht  alle  selig  sind.  Sein  Versuch,  diese  Tatsache  zu  erklären,  er- 
innert entfernt  an  die  Gedanken  Thomas  v.  Aquinos.  Dieser  hebt  näm- 
lich ausdrücklich  hervor,  wie  die  Seligkeit  der  Erlösten  wegen  des  Kon- 
trastes mit  dem  Leiden  der  Verdammten  um  so  stärker  gefühlt  werde: 
Quum  contraria  iuxta  se  posita.  magis  elucescant.  beati  in  regno  coelesti 
videbunt  poenas  damnatorum.  ut  beatitudo  illis  magis  complaceat  (Summa 
theol.  III  Suppl.  IV,  1).  Umgekehrt  werden  die  Leiden  der  Verdammten 
dadurch  vermehrt,  daß  sie  erst  (vor  dem  jüngsten  Gericht)  dieser  Freude 
eingedenk  sind  (ib.  89.  9).  Daß  ein  einziger  Mensch  selig  werden  könne, 
selbst  wenn  alle  anderen  nicht  selig  werden,  begründet  Thomas  auf  folgende 
Weise:  homo  habet  totam  plenitudinem  suae  perfectionis  in  deo  .  .  . 
perfectio  caritatis  essentialis  beatitudini  quantum  ad  dilectionem  dei.  non 
quantum  ad  dilectionem  proximi.  Unde  si  es-uu  una  sola  anima  fruens 
deo,    beata    esset    non    habens    proximum,    quem    diligere    (Summa    theol. 

pars  II  quaest.  4  Art.  8). 

26* 


A.OA  Calvins  Vorsehungslehre. 


Werden  wir  demnach  im  Gottesbegriff  der  Prädestination  eine 
zwecklose  Willkür  nicht  finden,  und  daher  in  dieser  Beziehung 
keine  Diskrepanz  mit  dem  Gottesbegriff  der  Vorsehungslehre  an- 
nehmen können,  so  dürfen  wir  uns  doch  nicht  verhehlen,  daß  der 
Begriff  der  Güte,  der  in  der  Vorsehungslehre  wohl  oft x  vorkam, 
in  der  Prädestinationslehre  nur  untergeordnet  ist.  Die  Sache  läßt 
sich  mit  der  Verschiedenheit  der  Interessen,  die  Calvin  bei  der 
Darstellung  beider  Lehren  im  Auge  hat,  motivieren.  Die  Ten- 
denz, Gottes  zweckvolle  Allmacht  aufzuzeigen  und  dadurch  die 
Menschen  zum  Lob  zu  veranlassen,  ist  beiden  Lehren  gemeinsam. 
Aber  in  der  Vorsehungsiehre  tritt  der  große  Gegensatz  der  Er- 
wählten und  Verworfenen  nicht  so  unmittelbar  in  den  Vorder- 
grund des  Interesses.  Hier  handelt  es  sich  vielmehr  darum,  neben 
der  gloria  Dei  den  suavissimus  fructus  des  allmächtigen  Wartens 
Gottes  für  die  Erwählten  aufzuzeigen.  Diese  sollen  des  paternus 
favor  in  allen  Lagen  ihres  Lebens  gewiß  sein.  Daher  zieht  ein 
warmer  Hauch  der  Liebe   durch  die  ganze   Darstellung. 

Anders  in  der  Prädestinationslehre.  Hier  steht  der  empirisch 
gegebene  Gegensatz  der  e  1  e  c  t  i  und  r  e  p  r  o  b  i  unmittelbar 
vor  Calvins  Augen  als  das  große  Problem,  das  zu  lösen  gerade  die 
Prädestinationslehre  zur  Aufgabe  hat,  soweit  es  allerdings  mög- 
lich ist.  (Denn  daß  sich  uns  in  diesem  decretum  horribile  ein 
dunkles  Gebiet  aufschließt,  gibt  Calvin  unumwunden  zu.)  Über 
dem  treibenden  Interesse,  die  gratia  Dei  den  Erwählten  und  die 
iustitia  den  Verworfenen  gegenüber  zu  betonen,  vermeidet  er  es, 
im  göttlichen  Ratschluß  den  Willen  der  Liebe  zu  finden. 

Es  darf  wohl  als  angenommen  gelten,  daß  die  unbedingte  Prä- 
destination Calvins  nicht  dem  spekulativen  Interesse  entsprungen  ist, 
sondern  dem  tief  religiösen,  nämlich  das  Heilsbewußtsein  zu 
gründen  und  zu  stärken.  Es  ist  ihm  zu  tun  i.  um  die  Betonung 
der  unbedingten  Unverlaßtheit  der  göttlichen  Zuwendung  zu  dem 
Ganzen  und  zu  dem  Einzelnen,  wobei  der  personalistisch  ver- 
fahrende Gott  von  dem  Menschen  absolut  geehrt  werden  muß. 
Gottes  Wille  allein  setzt  die  Welt  aus  sich  heraus,  auch  die  Objekte 
seiner  Liebe,  sonst  wäre  er  nur  eine  in  die  Schranken  der 
Präscienz  sich  zurückziehende  und  nur  darin  sich  betätigende,  da- 
her im   Grunde   ohnmächtige   Macht.      In   Gott   ist   alles  zunächst 


i)  Daß  er  allerdings  rieht  der  durchgehende  Gottesbegriff  in  Calvins 
Lehre  von  der  Vorsehung  ist,  wie  Ritschi  will,  hat  Scheibe  (a.  a.  O.  S.  115  f.) 
nachgewiesen. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec. 


405 


Gedanke,   Vernunftgedanke,   Ratschluß;   die    Menschheit    ist    also 
auch  Gottes  Gedanke,  ein  Gegenstand,  mit  dem  sich  Gottes  I  >enken 
beschäftigt.      Aber    seine    Gedanken    sind    von    der    Tat    nicht    zu 
trennen,  Gottes  Gedanke  ist  zugleich  Wille,  der  RatschluLi  identisch 
mit  dessen  Ausführung.     2.  hebt  er  den  unbedingten  Werl  der  er- 
wählten Menschenseele  hervor,  —  ein  echt  christlicher  Individualis- 
mus, der  eine  positive   Kehrseite   ist  zu   dem   in   der  Vorsehungs- 
lehre  so  scharf  präzisierten  Gedanken,  daß  das  Menschenleben  nicht 
verflochten    werden    kann    in    den    unvernünftigen    ncxns    rerum. 
Die  Menschen,  die  nicht  erwählt  sind,  haben  nur  ihr  Weltverhält- 
nis. Sündenverhältnis,  Tenfelsverhältnis.     Der  Objektivismus  (Her- 
vorhebung  der   göttlichen   Allwirksamkeit   im    Gnadenlehen,    Ehre 
Gottes   usw.)  ist  allerdings   mit  dem   Subjektivismus   (Individualis- 
mus) in  der  Prädestinationslehre  wie  in  der  Vorsehnngslehre  innig 
verbunden.     In  der  Vorsehnngslehre   hat   er  es  ja  ausgesagt,  daß 
die   Weltregierung   schließlich  die   Reichsregierung  ist.     Die   Lei- 
tung  der   Welt,    in   welcher   Gott    seine    Gnade    und    Gerechtigkeit 
am     Einzelnen     und     in     Einheit     hiermit     seine    Weisheit,     Liebe 
und   Gerechtigkeit   am    Ganzen   erweist,    worin   also   das    Interesse 
des  Schöpfers,  seine  Ehre  in  diesen   Eigenschaften  zu  zeigen  und 
sich  dadurch  an  der  Menschheit  zu  verklären,   und  das   Interesse 
des  Geschöpfes,  selig  zu  werden,  absolut  vereinigt  sind,  kommt  in 
beiden  Lehren  wesentlich  übereinstimmend  zum  Ausdruck. 

Nun  ist  aber  verhängnisvoll,  daß  Calvin  nicht  streng  zu  unter- 
scheiden wußte  zwischen  der  geschichtlichen  Wcltleitung 
und  den  auf  die  Einzelnen  sich  beziehenden  Erwählungsakten. 
Er  hat  vergessen,  daß  Rom.  9  nicht  von  Einzelnen  handelt,  son- 
dern eine  Geschichtsphilosophie  darstellt,  nach  der  die  Menschen 
nur  als  Werkzeuge,  nicht  als  Gegenstände  des  göttlichen  Liebes- 
willens, als  Kinder  in  Betracht  kommen.  Die  Idee  der  göttlichen 
Allwirksamkeit  verleitet  ihn,  den  empirischen  Tatbestand, 
daß  einige  glauben  und  die  anderen  im  Unglauben  verharren,  von 
der  göttlichen  Verursachung  abzuleiten;  in  der  Überzeugung,  daß 
dem  Effekt  auch  der  Affekt  entsprechen  muß,  statuiert  er 
einen  doppelten  Ratschluß  (der  Erwählung  und  Verwerfung)  im 
vorzeitlichen  Willen  Gottes,  den  er  an  die  Eigenschaften  der 
Gnade  und  Gerechtigkeit  verteilt.  Diesen  Dualismus  projiziert 
er  dann  wieder  in  die  Wirklichkeit  zurück,  indem  er  die  Aus- 
führung des  Dekretes  nach  diesen  beiden  Gesichtspunkten  be- 
schreibt.    So  tritt  bei  ihm  die  Unbedingtheit  der  Liebeserwählunsr 


AoG  Calvins  Vorsehungslehre. 


in  Spannung  mit  der  Unbedingtheit  der  Machtäußerung;  die 
Elektion  wird  hinter  die  Prädestination  gestellt.  Die  göttlichen 
Ratschlüsse  sind  vom  Schöpferwillen  (Allmachtswillen),  nicht  vom 
Heilswillen  geleitet.  Mit  Recht  sagt  daher  Dorner,1  der  Grund- 
fehler der  Prädestinationslehre  Calvins  bestehe  darin,  daß  ihm 
über  dem  Dualismus  der  göttlichen  Gerechtigkeit  und  der  gött- 
lichen Liebe  noch  eine  Macht  steht,  welche  über  die  Wirksamkeit 
dieser  beiden  Eigenschaften,  ja  über  die  Verteilung  ihrer  Offen- 
barung an  verschiedene  Subjekte  entscheidet.  Damit  hängt  noch 
eine  Antinomie  zusammen,  die  sich  aber  als  eine  scheinbare 
erweist. 

Wie  oft  hat  Calvin  es  ausgesprochen,  daß  das,  was  wir  beob- 
achten, nicht  Ausdruck  des  göttlichen  Willens  zu  sein  braucht,  daß 
wir  von  unserer  Geschichtsbetrachtung  nicht  auf  die  geheimnisvollen 
Gedanken  Gottes  zu  schließen  haben!  Das  Ewige  sehen  wir  nicht, 
an  den  Ewigen  glauben  wir  und  wissen,  daß  dieser  Gott,  der  in 
der  Geschichte  wandelt  und  handelt,  mehr  ist  als  die  Geschichte, 
daß  die  innerweltliche  Weisheit  nicht  ohne  weiteres  identisch  ist 
mit  der  innergöttlichen.  Und  doch  hat  er  diesen  Grundsatz  immer 
wieder  übertreten.  Einerseits  verweist  er  uns  auf  den  vorzeit- 
lichen Ratschluß  Gottes,  andererseits  sucht  er  Trostbedürftige 
von  der  Betrachtung  dieses  Ratschlusses  abzuziehen  und  sich  ein- 
fach an  die  in  Christo  geschichtlich  erschienene  Gnade  Gottes 
zu  halten.  In  Christo  sind  wir  alle  erwählt.  Nur  wer  mit  ihm  in 
Gemeinschaft  steht,   erhält  das  ewige  Leben.2 

Man  könnte  diesen  Dualismus  in  der  Betrachtung  Calvins 
wirklich  befremdend  finden,  wenn  Calvin  der  Meinung  gewesen 
wäre,  daß  das  Heilsbewußtsein  sich  nur  auf  die  Kenntnis  des  ver- 
borgenen Erwählungsratschlusses  stützen  müsse.  Dagegen  erklärt 
Calvin  mit  unzweideutiger  Klarheit,  daß  —  das  sei  noch  einmal 
besonders  hervorgehoben  —  wenn  wir  unternehmen  wollten,  in 
die    ewige   Verordnung   Gotts    einzudringen,    uns    dieser    Abgrund 


i)  Gesch.   der  protest.  Theol.  S.  393. 

2)  Christus  ist  der  einzige  Quell  des  Lebens  und  der  Anker  des 
Heiles.  (Unus  vitae  fons  et  salutis  anchora,  et  rerum  coelorum  haeres.) 
Quos  deus  sibi  filios  assumpsit,  non  in  ipsis  eos  dicitur  elegisse,  sed  in 
Christo  suo,  quia  non  nisi  in  eo  amare  illos  poterat.  Quod  si  in  eo 
sumus  electi,  non  in  nobis  ipsis  reperiemus  electionis  nostrae  certitudinem, 
a  c  n  e  in  d  e  o  quidem  p  a  t  r  e  ,  si  nudum  illum  absque  filio  imagina- 
mur.  Christus  ergo  speculum  est,  in  quo  electionem  nostram  contemplari 
convenit  (Inst.  III,  24,  5).  Christus  ist  die  in  der  Zeit  erschienene  gött- 
liche Liebe,  Gott  in  seinem  geoffenbarten,  nicht  in  seinem  absoluten  Wesen. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  407 


verschlingen  würde.  In  der  Institutio  wird  die  göttliche  Vorher- 
bestimmung aber  nirgends  in  Gegensatz  gebracht  zu  den  geschicht- 
lichen   Vermittelungen,    von    denen    das    ganze    IV.  Buch    redet. 

Calvin  wendet  sich  gegen  diejenige  Ansicht,  nach  welcher  Gott 
unmittelbar  auf  das  Innere  der  Erwählten  wirkt,  um  an  ihm 
durch  Mitteilung  des  heiligen  Geistes  und  des  ewigen  Lebens  seinen 
ewigen  Ratschluß  zu  vollziehen,  und  gegen  die  supranaturalisti 
Anschauung,  nach  der  die  Einzelnen  mit  ihrem  Verlangen  nach 
dem  Besitz  des  Heiles  nicht  an  solche  von  Gott  verordnete  Ver- 
mittelungen, sondern  unmittelbar  an  den  ewigen  Ratschluß,  und 
dessen  Mitteilung  an  das  innere  Bewußtsein  verwiesen  werden.1 
Andererseits  will  er  von  der  römischen  Überschätzung  der  Ver- 
mittelungen, die  magisch  die  Rechtfertigung  und  Gnade  wirken, 
nichts  wissen.  Seine  Anschauung  bewegt  sich  hier  in  der  Mitte 
zwischen  beiden  Extremen.  Auch  hier  erweist  er  sich  als  Theo- 
loge der  Diagonale.  Er  war  einmal  ein  zu  scharfer 
Denker,  als  daß  ihm  die  Mittelursachen  an  sich  hätten  irgendwie 
Schranken  sein  können  für  die  Wirksamkeit  der  höchsten  und 
allgemeinen  Ursache.  Vielmehr  sind  sie  dem  Willen  Gottes  ganz 
Untertan  und  dienstbar,  und  zwar  nicht  so,  daß  er  selbst  nach 
Weise  einer  endlichen  Ursache  bald  hier,  bald  dort  beschränkend, 
ergänzend,  ändernd,  berichtigend  in  ihre  Wirksamkeit  eingriffe, 
sondern  so,  daß  er  allbeherrschend  und  alldurchdringend  dieselben 
auf  jedem  Punkte  ganz  in  seiner  Gewalt  hat,  so  daß  sie  schlechthin 
nichts  anderes  wirken  als  was  er  beschlossen  hat.  Es  begegnet 
uns  hier  auf  dem  Heilsgebiete  dieselbe  Erscheinung,  wie  wir  sie 
in  der  Yorsehungslehre  beobachtet  haben,  ein  System  von  causa 
prima  und  causae  seeundae.  Letzteres  wird  auch  von  Seel 
hervorgehoben:  „Die  Anwendung  dieser  Gedanken  (der  Vorsehung) 
auf  das  religiöse  Gebiet  3  ergibt  die  Vorstellung  der  doppelten  Er- 
wählung. Und  zwar  so,  daß  der  göttliche  Wille  die  Erwählten 
dadurch,  daß  bestimmte  Mittel  auf  sie  bestimmungsmäßig  wirksam 


1)  Es  ist  z.  B.  nicht  zu  leugnen,  daß  Zwingiis  Prädestiriationsbegriffe 
eine  Neigung  haben  zu  dieser,  die  .Mittelursachen  verringernden  Auffassung 
der  Prädestination,  wie  sie  sich  namentlich  in  seinen  Äußerungen  über  die 
Seligkeit  der  Heiden  kundgibt.  In  spiritualistischem  Sinn  ist  die  Prä- 
destinationslehre häufig  von  dem  schwärmerischen  Anabaptismus  und  ahnr 
liehen  von  Calvin  lebhaft  bekämpften  Sekten  ausgebeutet  worden:  auch 
Ökolampads   Auffassung  ist   nicht    frei   von   spiritualistischen   Elementen. 

2)  \.a.  O.   II.   386  ff. 

3)  Besser  wohl  Heilsgebiete.  Denn  daß  die  Gedanken  der  Vorsehungs- 
lehre  mehr   als   allgemein  religiös   sind,   haben   wir   oben    gesehen. 


40Ö  Calvins  Vorsehuugslehre. 


werden,  an  ihr  Ziel  führt.  Die  Erwählten  sterben  demnach  nicht, 
bevor  sie  durch  den  Geist  wiedergeboren  und  geheiligt  werden. 
Es  liegt  also  ein  konsequent  durchgeführter  religiöser  Determinis- 
mus, ähnlich  wie  bei  Thomas  oder  Zwingli  vor.  Die  Weltbewegung 
wird  von  Gott  gesetzt  als  ein  auf  die  Realisierung  ihres  Zweckes 
innerlich  bezogener  Komplex  von  Mittel  n.  So  angesehen  kann 
die  vernunftgemäße  Notwendigkeit  gerade  dieser  Mittel  behauptet 
werden,  oder,  wenn  Erwählung  ist,  sind  die  Erlösung  durch 
Christus,  die  Kirche  und  ihre  Gnadenmittel  als  notwendige  Mittel 
eingesetzt.  Aus  dieser  Betrachtung  versteht  sich  die  Energie  in 
der  Durchsetzung  des  kirchlichen  Lebens  mit  seinen  Heilsmitteln 
und  seiner  Sittlichkeit,  denn  das  sind  die  Mittel  zur  Durchführung 
des  göttlichen  Willens,  in  ihnen  realisiert  er  sich.  Nun  wird  aber, 
wie  in  Luthers  Schrift  vom  unfreien  Willen,  auch  bei  Calvin  dieser 
Gedankenzusammenhang  scheinbar  gefestigt,  in  Wirklichkeit 
aber  gelockert  durch  die  Einführung  der  skotistischen  Idee 
von  der  göttlichen  Willkür.  Der  Grund  zu  dieser  Einführung  ist 
bei  Luther  wie  bei  Calvin  leicht  zu  finden.  Durch  die  Bindung 
des  göttlichen  Willens  in  ein  System  innerweltlicher  Mittel  scheint 
die  absolute  Freiheit  des  göttlichen  Willens  und  seine  Erhabenheit 
über  die  Welt  gefährdet  zu  sein.  Daher  wird  die  innere  Not- 
wendigkeit dieser  Mittel  in  Frage  gestellt,  ihre  Ver- 
wendung zwar  als  Regel  angesehen,  aber  ihre  Wahl  als  zufällig 
und  die  eventuelle  Möglichkeit  anderer  Mittel  resp.  die  Aufhebung 
aller  Mittel  zugestanden."  Trotz  der  letzten  Sätze  muß  aber  See- 
berg ähnlich  wie  Scheibe  l  feststellen,  daß  die  Prädestinationslehre 
nicht  ein  das  System  beherrschendes  Dogma  ist,  da  die  Lehren 
von  der  Rechtfertigung  und  Erlösung  neben  ihr  eine  ganz  selb- 
ständige Bedeutung  haben.  Denn  sonst  müßten  Rechtfertigung 
und  Erlösung  als  Mittel  der  Ausführung  des  Prädestinationsrat- 
schlusses betrachtet  werden.  Nach  dieser  Sachlage  erscheint  das 
System  unharmonisch  und  zerrissen. 

Und  doch  ist  dem  nicht  so.  Man  muß  nur  die  verschiedenen 
Perspektiven  betrachten,  von  denen  aus  der  Reformator  seinen 
Gedankengang  entworfen  und  geregelt  hat. 

i.  Handelt  es  sich  nämlich  um  die  Ordnung  der  Ursachen, 
um  das  objektive  Interesse  der  göttlichen  Allwirksamkeit,  so  ver- 
steht es  sich  von  selbst,  daß  auf  den  göttlichen  Willen  zurückzu- 


i)  a.  a.  O.  S.  91  ff..  99  ff. 


Ven  Lic.  Dr.  J.  Bohator. 


gehen  ist  als  den  obersten  und  alles  bestimmenden  Grund,  über 
welchen  auf  keine  Weise  hinausgegangen  werden  darf  und 
dem  sich  auch  die  Rechtfertigung  und  Erlösung  als  ein 
mitten     in     die     Zeit     eintretender     Vorgang     unterordnen.       So 

muß  das  Prädestinationsdekret  als  zeitlich  und  logisch 
stes  Prinzip  in  den  Vordergrund  gerückt,  die  Prädestinations- 
lehre also  als  Zentrallehre  betrachtet  werden.  Allerdings  nicht 
so  (wie  Schweizer  will),  daß  sie  zum  grundlegenden  Ausgangs- 
p  u  n  k  t  der  dogmatischen  Erörterung  (etwa  im  Sinn  der  späteren 
reformierten  Dogmatik)  gemacht  würde.  Dazu  konnte  sich  Calvin 
nicht  entschließen,  was  ihm  von  Köstlin  (a.  a.  O.  S.  473  ff.)  als 
Inkonsequenz  ausgelegt  wird.  Nach  seinen  Prämissen  durfte  es 
Calvin  nicht  tun.  Die  Erwählungslehre  gehört  ja  nach  ihm  nicht 
zu  der  allgemeinen  Gotteserkenntnis,  sondern  zu  der  Heilserkennt- 
nis. Hat  er  nun  in  der  Institutio  als  den  modus  recte  docendi 
bezeichnet,  zunächst  von  der  allgemeinen  cognitio  dei  zu  handeln, 
so  war  es  nur  konsequent,  daß  er  eben  die  Lehren  vorangestellt 
hat,  die  sich  mit  dieser  beschäftigen,  also  die  Lehre  von  der 
Schöpfung  und  Vorsehung.1  Es  ist  interessant,  daß  der  Gang  der 
Institutio  im  wesentlichen  an  die  Einteilung  der  Sentenzen 
Lombards  erinnert.  Dieser  redet  nämlich  zunächst  de  inexplicabili 
mysterio  sanetae  trinitatis,  dann  von  dem  cognitionis  rerum  ordo 
hominisque  lapsus,  ferner  de  eius  reparatione  per  gratiam  media- 
toris  dei  et  hominis  praestita  atque  humanae  redemptionis  sacra- 
mentis,  quibus  contritiones  hominis  alligantur.-  In  diesem  Sinne 
bildet  dann  die  Vorsehungslehre  mit  ihrem  entwickelten  System 
der  L'rsachen  und  Zwecke  die  dogmatische  Grundlage  für  die 
Prädestinationslehre.  Diese  Behauptung  darf  allerdings  wiederum 
nicht  so  verstanden  werden,  als  ob  der  in  der  Vorsehungslehre 
ausgesprochene  Grundsatz  für  die  kausale  Wirksamkeit  Gottes : 
nunc  mediis  interpositis  operatur  deus,  nunc  sine  mediis,  nunc 
contra  omnia  media  (siehe  oben  S.   353),  auch  unbedingt   für   das 


1)  Hier  ist  die  Frage  am  Ort.  was  ihn  zu  diesem  ..modus  docendi". 
also  zur  Trennung  der  Vorsehungslehre  von  der  Prädestinationslehre  und 
zur  Voranstellung  der  ersteren  vor  die  letztere  veranlaßt  hat.  Ich  glauhe 
nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  ich  behaupte,  daß  für  ihn  die  traditionelle 
Methode  der  Scholastik  leitend  war.  Nach  dieser  wird  die  Providenzlehre 
definiert  respectu  omnium  (seil,  rerum):  praedestinatio  vero  et  reprobatio. 
quae  ad  haec  consequuntur,  respectu  hominum  specialiter  in  ordine  ad 
aeternam   salutem.     (Thomas  von   Aquino.   Summa   theol.  1 

_•)  Allerdings  wird  die  Eschatologie.  die  von  Lombard  am  Schluß 
des  IV.  Buches  in  der  dist.  43 — 70  behandelt  wird,  von  Calvin  in  einem 
anderen   Zusammenhang   erörtert. 


A  I  O  Calvins  Vorsehungslehre. 


Gebiet  der  Heilslehren  seine  Geltung  hätte.  Denn  hier  wird  von 
Galvin  nachdrücklich  betont,  daß  die  Wirkung  Gottes  durch 
die  media  der  Ordinarius  modus  ist  (Inst.  IV,  16,  19).1 

2.  Handelt  es  sich  aber  um  die  Heilsgewißheit  (Inter- 
esse der  Seligkeit),  so  sucht  Calvin  diese  in  der  Zuversicht,  daß 
man  in  der  unmittelbaren  Ergreifung  Christi  (also  nicht  erst  durch 
das  Zurückgehen  auf  den  vorzeitlichen  Ratschluß)  das  ewige  Leben 
und  die  selige  Gemeinschaft  Gottes  sicher  erlangen  und  besitzen 
könne. 

Diese  Unterscheidung  zwischen  dem  Interesse  an  einem  ob- 
jektiven Zentralprinzip  und  dem  Interesse  an  dem  subjektiven 
zentralen  Glaubensprinzip,  welch  letzteres  alle  Reformatoren 
hervorkehrten,  hat  Calvin  bewußt  oder  unbewußt  gefühlt.  Den 
besten  Beweis  dafür  liefert  namentlich  die  Behandlung  des 
Problems,  ob  Christus  nur  ein  instrumentum  et  minister  salutis, 
non  autem  et  princeps  sei  in  einem  Abschnitt,  der  ursprünglich 
als  Antwort  an  Laelius  Socinus  geschrieben  war 2  und  dann  in 
die  Institutio  von  1559  aufgenommen  wurde.  Laelius  fragte  näm- 
lich Calvin,  wie  Gott  durch  ein  Verdienst  Christi  bestimmt  worden 
sein  sollte,  wenn  er  doch  mit  seinem  eigenen  freien  Willen  die 
Menschen  gerecht  zu  machen  beschlossen  habe.3  Calvin  antwortet: 
Es  gibt  einige,  die  zwar  zugestehen,  daß  wir  die  Seligkeit  durch 
Christum  erlangen,  aber  das  Wort  Verdienst  nicht  gelten  lassen, 
weil  durch  dasselbe,  wie  sie  meinen,  die  Gnade  Gottes  verdunkelt 
werde,  und  die  also  Christum  nur  als  ein  instrumentum  oder  einen 
minister,  nicht  aber  als  den  Gründer  des  Heiles  oder  Fürsten  des 
Lebens  anerkennen.  Wollte  man  freilich  Christum  ohne  weiteres 
dem  Gerichte  Gottes  entgegenstellen,  so  kann  nicht  von  einem 
Verdienste  die  Rede  sein,  weil  in  keinem  Menschen  eine  solche 
Würdigkeit  angetroffen  wird,  die  bei  Gott  etwas  zu  verdienen 
vermag.  Cum  ergo  de  Christo  merito  a  g  i  t  u  r  ,  non 
statuitur  in  e  o  p  r  i  n  c  i  p  i  u  m  ,  s  e  d  conscendimus 
ad  dei  Ordination  em,  quae  prima  causa  est;  quia 
mero  beneplacito  mediatorem  statuit,  qui  nobis  salutem  aquireret. 
Atque    ita    inscite:   opponitur    Christi    meritum    misericordiae    dei. 


1)  Diese  Modifikation  ist,  wie  wir  unten  sehen  werden,  durch  den 
positivistischen  Sinn,  den  Calvin  für  die  Heilstatsachen  als  solche  hatte, 
veranlaßt  worden. 

2)  Responsio  D.  Calvini  ad  aliquot  L.  Socini  Senensis  quaestiones. 
Genevae   1555. 

3)  Vgl.   Illgen,  vita  Laelii  Socini  p.  39  ff.,  bei  Köstlin  a.a.O.  449. 


Von  Lic.  Dr.  J.   Bohal  |  1  I 

Regula  enim  vulgaris  est,  quae  s  u  b  a  1 1  e  r  n  a  sunt, 
nou  pugnare;  ideoque  nihil  obstat,  quominus  gratuita  si1    ho 
minum  iustificatio   ex  mcra  dei   misericordia   et    simul   interveniat 

Christi  meritum,  quod  dei  misericordiae  subicitur.     Nostris  autem 
operibus   apte   opponitur   tarn    gratuitus    dei    Eavor    quam    Christi 
oboedieutia,  suo  online  utrumque.  .  .      I  faec  distinctio 
gitur  ex  plurimis  scripturae  locis.  .  .     Videmus,  ut  priorem  Lo< 
teneat  dei  dilectio  tamquam  summa  causa  vel   origo: 
quatur  fides  in  Christum  tamquam   causa  secunda   et  pro- 
p  i  o  r.  .  .     Ceterum   haec  distinctio   etiam   notatur.  .  . 

Aus  den  letzteren  Sätzen  kann  man  auch  ersehen,  daß  es 
selbstverständlich  ein  rein  religiöses  Motiv  ist,  warum  Calvin  sich  auf 
die  causa  prima  bezieht  und  nicht  ein  metaphysisches,  obwohl  die 
Ausdrücke  (causa,  subalternum)  metaphysisch  klingen.  Wäre  das 
Problem  ein  metaphysisches,  so  hätte  Calvin  alle  Vermittlungen, 
ähnlich  wie  Zwingli,  indifferenzieren  müssen.  Die  göttliche  \  orher- 
bestimmung  und  ihre  Bedeutung  wird  nicht  der  Vermittelung 
Heiles  in  Christo),  sondern  überall  unsren  Werken,  Verdiei 
und  unsrer  Würdigkeit  gegenübergestellt:  Christus  non  nisi  ex 
dei  beneplacito  quidquam  mereri  potuit ;  sed  quia  ad  hoc  destinatus 
erat,  ut  iram  dei  sacrificio  suo  placaret  suaque  oboedientia  delerel 
transgressiones  nostras,  in  summa,  quando  ex  sola  dei  gratia  .  . 
dependet  meritum  Christi  non  minus  ab  te  quam  illa  h  u  m  a  n  i  s 
o  m  n  i  b  11  s  iustitiis  opponitur. 

Es  ist  Calvins  Überzeugung,  daß  die  freie  Gnade  Gottes  über 
allem  Verdienste  und  Erlösungswerk  Christi  steht  als  das  schlecht- 
hin entscheidende  Prinzip.  Er  schreitet  daher  gemäß  seinem 
Grundsatz  von  der  absoluten  Ursächlichkeit  göttlicher  Gedanken 
und  Ratschlüsse  im  Verhältnisse  zu  allen  Willensakten  des  Ge- 
schöpfes von  der  Abstraktion  der  erfahrenen  Wirklichkeit  der 
Sünde  und  Erlösung  zur  Aufnahme  der  Erlösung  und  Sünde  als 
Bedingung  der  Erlösung  in  den  göttlichen  Ratschluß  selbst.  Ob- 
wohl von  da  aus  gesehen  das  Verdienst,  die  Vermittelung.  <  Ge- 
nugtuung und  Erlösung  Christi  in  der  Zeit  nicht  die  causa  prima, 
sondern  die  causa  secunda,  d.h.  Ausführung  eines  schon  gefaßten 
Beschlusses  ist,  so  ist  dennoch  die  Ausführung  der  frei  be- 
schlossenen Erlösung  ein  reelles,  wahres  und  notwendige-  \\  erk  ; 
die  Begnadigung  ist  nur  durch  Christus  verwirklicht,  d.  h.  mani- 
festiert und  dargeboten  worden;  der  Gottmensch  ist  dazu  aus- 
ersehen worden,  damit  wir  uns  gründlich  auf  die  göttliche  Gnade 


412  Calvins  Vorsehungslehre. 


verlassen.  Hier  bricht  nämlich  das  Interesse  an  dem  Zentral- 
prinzip des  Heiles,  der  Sinn  für  das  geschichtliche  Werk  Jesu 
durch.  In  diesem  Zusammenhang  polemisiert  Calvin  gegen  die 
Ansicht,  die  in  Christus  nur  ein  Werkzeug,  nur  einen  Heilsdiener 
sieht  (iy,  i),  welche  die  Kraft  Christi  vermindern  will  (17,  2)  und 
in  ihm  nur  formalis  causa  des  Heiles  anerkennt.  In  diesem  Zu- 
sammenhang ist  Christus  Urheber  und  Grund  des  Heiles  (16,  1  ; 
17,  2),  Quelle  der  Gnade  (17,  1) ;  in  diesem  Zusammenhang  heißt 
es,  daß  wir  uns  direkt  an  Christum  halten  müssen,  nicht  an  den 
Ratschluß  Gottes,1  wir  sollen  Christum  so  aufnehmen,  wie  er  uns 
vom  Vater  dargeboten  wurde,  nämlich  bekleidet  mit  seinem  Evan- 
gelium.2 Wir  können  zusammenfassend  sagen,  Calvin  ist  in  seiner 
Lehre  vom  Werke  Christi  von  dem  Seligkeitsinteresse,  Selig- 
keitsprinzip beseelt;  er  sieht  in  dem  Verdienst  Christi,  seiner 
Genugtuung  und  Erlösung  kein  bloß  formales  und  ideelles,  son- 
dern materiales  und  reales  Mittel  der  Gnade  Gottes.  In  diesem 
Sinne  steht  die  Lehre  vom  Werke  Christi  selbständig  da. 
Wo  er  aber  dieses  Mittel  dem  beneplacitum  oder  der  misericordia 
und  gratia  dei,  also  dem  auf  unsre  Erlösung  sich  beziehenden 
göttlichen  Willen  als  der  causa  prima  in  objektiv  dogmatischem 
Interesse  unterordnet,  tut  er  dies  mit  der  Absicht,  die  Gnade 
Gottes  unsern  Werken  gegenüber  zu  stellen,  also  nicht  in  meta- 
physisch-spekulativem  Interesse. 

Ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Rechtfertigungslehre.  Als 
solche  hat  sie  keine  selbständige  Bedeutung,  sondern  wird  aus  der 
Erwählung  abgeleitet;  sie  wird  zunächst  definiert  als  declaratio 
divinae  electionis  .  .  (op.  1,  540),  als  deren  symbolum  (op.  1,  165). 
als  Folge  der  auf  die  Erwählung  basierenden  adoptio.3  Auch  die 
Ableitung  aus  der  Erwählungslehre  geschieht  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  series  (op.  2,  578)  und  ordo  (op.  1.  539).  Der  Grund  der 
Heilsgewißheit  aber  wird  —  und  hiermit  gebe  ich  Scheibe  (a.  a.  O. 
S.  101)  vollständig  recht  —  in  der  „geschichtlich  zustande  gekom- 
menen Vereinigung  mit  Christo",  in  dem  ,, Bewußtsein  der  Recht- 
fertigung" gesucht. 

1)  Neque  ego  sane  ad  arcanam  dei  electionem  homines  ablego,  ut  inde 
salutem  hiantes  exspectent.  sed  recta  ad  Christum  pergere  iubeo,  in 
quo  nobis  proposita  est  salus. 

2)  Die  Erkenntnis,  daß  die  ewige  Erwählung  sich  allein  in  Christo 
und  im  Glauben  an  das  Evangelium  realisiere,  ist  unstreitig  ein  Haupt- 
grund, weshalb  Calvin  alle  Gemeinschaft  mit  dem  genus  doctrinae  Zwinglii 
in  der  Prädestinationsfrage  ablehnt;  vgl.   Hess.  Bullingers  Leben  II,  45. 

3)  Brief  der  Genfer   Geistlichen  an  die  Züricher  Op.  8,  207. 


Von  Lic.  Dr.  J.  B<>: 


Kurz:  Handelt  es  sich  um  das  (subjektive)  Seligkeitsinter» 
so  sucht  Calvin  die  Heilsgewißheit  in  dem  Erlösungswerk  Christi; 
handelt  es  sich  ihm  um  die  Wahrung  der  göttlichen  Allwirksamkeit, 
um  die  objektive  Begründung  dieses  Heilsbewußtseins,  so  geht 
er  zurück  auf  den  göttlichen  Ratschluß  als  die  logisch  und  zeitlich 
höchste  causa.  Bei  dem  ersteren  kommt  mehr  der  uni- 
tarische, bei  dem  letzteren  mehr  der  diagonale  Charakter 
des  calvinischen  Denkens  zum  Vorschein.  Für  diese  objektive 
Betrachtung  nimmt  die  Prädestinationslehre  entschieden  die  Stelle 
der  Zentrallehre  ein.  Die  Providenzlehre,  in  der  die  allgemeine 
göttliche  Allwirksamkeit  beschrieben  wird,  bildet  für  die  dog- 
matische  Betrachtung1   die  Grundlage  der  Prädestinationslehre. 

Die  Vorsehungslehre  enthält  ferner  mit  ihrer  Betonung  des 
Zusammenhanges  von  Ursache  und  Mitteln  allgemeine  Grundlagen 
für  die   Lehren  vom  G  e  setz  und  den   Gnadenmitteln. 

Als  der  Allgenugsame,  Selbstgenugsame  und  Alleinwirkende 
ist  Gott  an  ein  Gesetz  nicht  gebunden,  denn  er  ist  sich  selbst 
Gesetz;  aber  dennoch  ist  das  Gesetz  ein  notwendiges  Mittel  der 
göttlichen  Pädagogik.  Indem  es  die  Gerechtigkeit  Gottes  dar- 
stellt, die  allein  vor  Gott  gilt,  so  erinnert  es  zuvörderst  einen  jeg- 
lichen an  seine  Ungerechtigkeit,  überführt  und  verurteilt  ihn 
(Inst.  II,  6,  7,  8).  Es  hält  ferner  diejenigen,  welche  sich  nur  ge- 
zwungen des  Guten  befleißigen,  durch  Furcht  vor  den  in  denselben 
gedrohten  Strafen  in  gehörigen  Schranken.  Das  Gesetz  ist  ein 
Mittel  (nach  dem  Apostel),  die  wilden  und  sonst  unmäßig  aus- 
schweifenden, sündigen  Lüste  zu  bezähmen  (Inst.  II,  7,  10).  Denn 
wo  der  Geist  Gottes  nicht  regiert,  da  werden  die  Begierden  oft 
so  heftig,  daß  der  ihnen  unterworfene  menschliche  Geist  in  Gefahr 
steht,  Gott  zu  vergessen  und  zu  verachten,  was  sicher  geschehen 
würde,  wenn  der  Herr  es  nicht  durch  dieses  Mittel  verhinderte. 
Die  zum  Erbe  seines  Reiches  Auserwählten  erhält  er,  wenn  er  sie 
nicht  augenblicklich  erneuert,  bis  zu  ihrer  Fleimführung  durch  des 
Gesetzes  Werk  in  seiner  Furcht  (2.  7.  1  ij.  Das  Gesetz  führt 
endlich  die  Gläubigen  allmählich  zu  einer  immer  gründlicheren 
Kenntnis    des    göttlichen    Willens    und    befestigt    sie    in    derselben 

(III,  7,  «). 

Die  Prinzipien  der  Gnadenmittellehre  bringt  Calvin  selbst  mit 


1)   Aber  nur   für  die   dogmatisch-systematische  ktung;  denn   wir 

haben    bereits    gesehen,    daß   die    Begründung    des    Vorsehungs  g  1  a  u  b  e  n  s 
aus    dem    Bewußtsein   der    Erwählung    (resp.    Versöhnung)    abgeleitet    wird. 


414 


Calvins  Vorsehungslehre. 


den  allgemeinen  Prinzipien  der  Vorsehungslehre  betreffs  der  causa 
prima  und  causae  secundae  in  Zusammenhang.1  Die  Wirksamkeit 
des  Wortes  und  der  Sakramente  wird  auf  die  Ursächlichkeit  des 
Geistes  Gottes  resp.  Christi  zurückgeführt,  aber  ihr  Wert  als  fidei 
adiumenta  und  testimonia  gratiae  dei  und  ihr  Genuß  als  heilsam 
gegen  die  Schwärmer  und  Anabaptisten  hervorgehoben:  quia  etsi 
externis  mediis  alligata  non  est  dei  virtus,  nos  tarnen  ordi- 
när i  o  docendi  modo  alligavit :  quem  dum  recusant  temere 
fanatici  homines,  multis  se  exitialibus  laquaeis  involvunt.  Deus 
(exercitium)  sua  institutione  monstravit  esse  necessarium  (Inst. 
41,  5).  (Gratiae  pignus)  non  apprehenditur  nisi  ab  his,  qui  verbum 
et  sacramenta  certa  fide  accipiunt  (Inst.  IV,  14,  7).  Gott  hält  sich 
bei  seiner  Heilswirkung  modo  ordinario  an  sie  (ordinaria 
dispensatio  (Inst.  14,  16,  9;  op.  49,  205).  Wenn  dabei  auf  die 
absolute  Wirksamkeit  des  heiligen  Geistes  rekurriert  wird,  so  ge- 
schieht es,  um  die  göttliche  Souveränität  zu  wahren  (non  autem 
perpetuam  ei  regulam  praestituere  ne  alia  uti  ratione  possit  (Inst. 
4,  16,  19).  So  kommt  auch  der  Satz  vor:  itaque  sie  inter  spiritum 
sacramentaque  patior,  at  penes  illum  argendi  virtus  resideat,  his 
ministerium  duntaxat   relinquatur  (Inst.  4,   19,  9).2 

Fassen  wir  zusammen :  die  Prädestinationslehre  ist  die  Zentral- 
lehre Calvins;  aber  nicht  im  Sinne  des  dogmatischen  Ausgangs- 
prinzips. Demgegenüber  kann  die  Vorsehungslehre  als  Stamm- 
lehre bezeichnet  werden,  indem  in  ihr  die  allgemeinen  Voraust- 
setzungen  für  die  Lehre  von  der  Prädestination,  vom  Gesetz,  von 
dem  Werke  Christi  und  den  Gnadenmitteln  enthalten  sind. 


1)  Vgl.  die  beiden  Ausführungen  Inst.  I,  16.  2  mit   IV,  14-  12. 

2)  Unbegründet  ist  demnach  die  Behauptung  Ritschis  (Jahrb.  f.  d.  Th. 
a.  a.  O.  S.  108  f.) :  Der  Abstand  zwischen  Calvins  und  Luthers  Theologie, 
namentlich  in  den  Lehren  von  der  Person  Christi  und  den  Sakramenten, 
gründet  sich  .  .  .  darauf,  daß  Calvin  mit  Zwingli  den  causalen  Einschlag 
der  Allwirksamkeit  Gottes  durch  die  Reihe  seiner  providentionellen  Zwecke, 
also  auch  seiner  Mittel  zur  Erlösung  hierdurch  in  der  Form  geltend^  macht, 
daß  die  oberste  Ursache  die  Mittelursachen  an  Fülle  überbietet, 
während  Luther  auf  dem  Höhepunkte  der  zweckvollen  Weltleitung  durch  Gott 
in  der  Person  Christi  die  Fülle  der  göttlichen  Wesensoffenbarung  als  den 
allgemein  gültigen  Maßstab  ergreift,  dessen  Glanz  ihn  gegen  das  positive 
Gewicht  der  göttlichen  Allwirksamkeit  gleichgültig  macht  und  dessen 
vollen  Wert  er  durch  seine  Deutung  der  Sakramente  zu  verbürgen  sich 
gedrungen  fühlt. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  ;  [  <t 


III.  Kapitel. 
Der  Charakter  der  Frömmigkeit  Calvins  iu  seiner  Vorsehungslehre. 

Wie  nach  der  Eigenart  der  Calvinschen  Denkweise,  so 
hat  man  auch  nach  dem  Grundzug  der  Frömmigkeit  Calvins  ge- 
fragt. Hatte  man  seinen  alles  bestimmenden  Ratschluß  im  Auge, 
so  charakterisierte  man  seine  Theologie  als  eine  wesentlich  fata- 
listisch gefärbte.  .Andererseits  führten  die  sehr  oft  bei  Calvin  vor- 
kommenden eschatologischen  Aussagen  zu  der  Annahme,  seine 
Theologie  und  Frömmigkeit  sei  vorzüglich  Jenseitschristentum. 

Der  Vorwurf  des  Fatalismus  ist  so  alt  wie  die  Theologie 
Calvins  selbst.  Er  ist  ihm  nicht  bloß  von  Feinden  (Pighius,  Tile- 
mann  Hesshusius,  S.  Castellio  und  Bolsec),1  sondern  auch  von 
Freunden  gemacht  worden.  Unter  den  letzteren  war  es  nament- 
lich Melanchthon,  der  im  Hinblick  auf  die  Behandlung  Bolsecs 
schrieb :  Vide  saeculi  furores,  certamina  allobrogica  de  stoica 
necessitate  tanta  sunt,  ut  carceri  inclusus  sit  quidam,  quia  a  Zenone 
(gemeint  ist  Calvin)  dissentit  (C.  R.  VII,  930).  In  der  neuesten 
Zeit  hat  M.  Scheibe  (a.  a.  O.  123)  behauptet,  daß  Calvin  in  der 
Betonung  der  göttlichen  Allwirksamkeit,  insbesondere  auch  hin- 
sichtlich der  menschlichen  Handlungen  und  Geschicke  im  Sinne 
des  Determinismus  von  Seneca  beeinflußt  worden  ist.  Märten- 
s  e  n  2  konstatiert,  daß  sich  in  Calvins  Persönlichkeit  ein  Element 
des  Stoizismus  regt,  welches  in  seine  tiefste  Lebensanschauung 
aufgenommen  war  und  mit  seiner  dogmatischen  Anschauung, 
namentlich  seiner  Prädestinationslehre  zusammenhing.  W  i  n  d  e  1  - 
band  3  charakterisiert  die  Lebensauffassung  Calvins  als  eine  harte 
und  düstere.  „Weit  mehr  als  wenn  in  naturalistischen  Weltvor- 
stellungen das  Schicksal  oder  der  Xaturmechanismus  als  alles 
Geschehen  bestimmende  und  alle  endlichen  Dinge  erzeugende 
einheitliche  Ursache  aufgefaßt  werden,  ....  hat  die  theologische 
Prädestinationslehre  etwas  Quälendes  an  sich,  wogegen  sich  das 
menschliche  Gefühl  als  gegen  die  grausamste  Art  des  Fatums 
gesträubt  hat."  Xoch  entschiedener  als  Luther  sollen  sich  nach 
dem  Verfasser  des  Artikels  „Fatum"  in  Wetzers  und  Weites 
Kirchenlexikon"'  IV  S.  1276  Zwingli  und  Calvin  zum  ..sittlichen 
Fatalismus"  bekannt  haben.  —  Martin   Schulze4  hat  in   der 


1)  Vgl.  Bezas  Apologie  in  Bezae  traetat.  theol.  ed  II  tom.   I  p.  313  ff. 

2)  Die  christl.   Ethik6  S.  436. 

3)  A.a.O.    171  f. 

4)  In  seinen  Schriften  ..Meditatio  futurae  vitae"  in  Studien  zur  Gesch. 
d.  Theol.  u.  d.  Ki.  Bd.  VI  Heft  4,  1001  und  ..Calvins  Jenseits-Christentum 
in  seinem  Verhältnis  zu  den  religiösen  Schriften  des  Erasmus"   1902. 


a  \  (3  Calvins  Vorsehungslehre.; 


Theologie  Calvins  eine  entschiedene  und  anhaltende  Richtung  des 
Willens  und  Gefühls  auf  das  jenseitige  Lebensziel  wahrzunehmen 
geglaubt,  deren  Kehrseite  die  gründliche  Verachtung  des  gegen- 
wärtigen Lebens,  ein  Pessimismus  und  eine  asketische  Sittlichkeit 
ist.      Mit   Schulze    stimmt   Kattenbusch1   überein. 

Was  uns  im  Rahmen  dieser  Arbeit  interessieren  kann,  ist  die 
Frage,  ob  wir  in  der  Vorsehungslehre  die  beiden 
Charakterzüge  finden.  Beherrscht  den  Vorsehungsglauben  der 
fatalistische  Zug  der  blinden  Ergebung  oder  der  eschatologische 
der  Sehnsucht? 

i. 

Calvin  ist  kein  Stoiker,  kein  Fatalist.  Man 
hat  sich  zu  dieser  Meinung  wohl  hauptsächlich  durch  den  äußeren 
Umstand  verleiten  lassen,  daß  Calvin  in  der  Jugend  viel  mit 
Seneca  beschäftigt,  dessen  Traktat  ,,de  dementia"  in  seiner  Erstlings- 
schrift ausgelegt  und  den  letzteren  gegen  einige  Vorwürfe  von 
Quintilian  und  Gellius  verteidigt  hatte.2  Es  ist  zwar  zuzugeben, 
daß  sich  Calvin,  wie  seine  Landsleute  überhaupt,3  zu  Seneca  hin- 
gezogen fühlte.  Man  darf  aber  der  Meinung  Scheibes  nicht  zu- 
stimmen, daß  Calvin  von  Seneca  in  der  Betonung  der  göttlichen 
Allleitung,  insbesondere  auch  hinsichtlich  der  menschlichen  Hand- 
lungen und  Geschicke  im  Sinne  des  Determinismus  von  Seneca 
beeinflußt  worden  sei.  Wir  haben  schon  oben  eine  Parallele  der 
calvinschen  Freiheitslehre  mit  der  stoischen  konstatieren  können. 
Sie  bezieht  sich  aber  nicht,  wie  Scheibe  will,  auf  den  unbedingten 
Determinismus,  wie  man  überhaupt  von  einem  solchen  in  der  Stoa 
nicht  reden  kann.  In  der  stoischen  Physik,  dem  Stamm  der  Lehre, 
herrscht  allerdings  nur  die  Notwendigkeit.  Aber  die  Ethik,  die 
Blüte  und  Frucht,  bedarf  der  Freiheit:  Denn  ohne  sie  scheint  sie 
unmöglich  oder  unnütz  zu  sein.  Dieser  Dualismus  äußert  sich 
namentlich  in  der  Psychologie;  von  der  physischen  Seite  weist 
sie  den  Zug  zur  unbedingten  Notwendigkeit,  von  der  ethischen 
zur  Freiheit. 

Soweit  ist  Calvin  nicht  gegangen,  daß  er,  wie  Antonius 
Muretus 4    Senecas    Vorsehungslehre    verherrlicht    hätte.5      Auch 

i)  In  P.  R.  E.3  Bd.  XVI,  S.  170. 

2)  Op.  5,  6  ff.;  vgl.  Beza,  Vita  Calvini,  p.  5. 

3)  Niebuhr,  Vorträge  über  röm.  Gesch.  III,  185;  Gerlach,  histor. 
Studien  p.  285. 

4)  In   einer   Rede   zu   Rom   am   3.  Juni   1557. 

5)  Nach  Seneca  sind  ja  Gott,  die  Natur  und  das  Fatum  identisch. 
Nee   natura    sine   Deo    et   nee    Deus   sine   natura,   sed   idem   est   utrumque. 


Von  Lic.   Dr.    I  4  17 


das  Urteil  der  Herausgeber  des  C.  R.,1  daß  wir  von  dem 
theologischen,  religiösen  und  biblischen  Charakter,  den  wir  bei 
dem  späteren  Calvin  bemerken,  in  diesem  Kommentar  nichts  spuren 
und  höchstens  die  Eleganz  der  Sprache  bewundern  müssen,  ist  von 
Doumergue 2  als  unrichtig  erwiesen  worden.  Nicht  bloß  führt 
Calvin  hier  Belege  aus  der  Bibel  und  patristischen  Literatur  an, 
sondern  er  polemisiert  im  Namen  der  nostra  religio  ;  namentlich 
gegen  die  individualistische  inhumane  Ethik  Senecas  und  der 
Stoiker  überhaupt.  In  den  sonstigen  Schriften  finden  wir  keine 
Stelle,  wo  Calvin  mit  den  Ansichten  Senecas  einverstanden  wäre. ' 


Naturam  voca,  fatum,  fortunam,  omnia  eiusdem  Dei  nomina  sunt  varie 
utentis  sua  potentia  Benef.  IV,  8,  2.  —  Fatum  nihil  alienum  sit  quam 
series  implexa  omnium  causarum,  ex  qua  ceterae  pendent  Benef.  IV,  7,  2. 
—  Vis  illum  fatum  vocare?  Non  errabis.  Hie  est,  ex  quo  suspensa  sunt 
omnia,  causa  causarum  (Naturalium  quaestionum  II,  4,  1).  Die  Vor- 
sehung führt  Seneca  auf  die  Verkettung  der  natürlichen  Ursachen  zurück. 
Verberat  nos  et  lacerat  fortuna  (de  prov.  IV,  12);  fata  nos  dueunt  .  .  . 
causa  pendet  ex  causa  (ib.  V,  7).  Quid  est  boni  viri?  Praebere  se  fato, 
grande  solatium  est,  cum  universo  rapi.  Auch  die  Götter  sind  dem  fatum 
unterworfen:  Quidquid  est,  quod  nos  sie  vivere  sie  mori  iussit,  eadem 
necessitate  et  deos  alligat.  Irrevocabilis  humana  pariter  ac  divina  cursus 
vehit.  Ille  ipse  omnium  conditor  et  rector  scripsit  quidam  fata,  sed 
sequitur.  Semper  paret,  semel  iussit. 
i)  Op.  5,   XXII. 

2)  Jean    Calvin    I,   216  ff. 

3)  Op.  5,   112. 

4)  Übrigens  wird  Seneca  —  die  obengenannte  Erstlingsschrift  aus- 
genommen —  von  Calvin  sonst  nur  an  fünf  Stellen  erwähnt  (an  vier  von 
diesen  genannt),  die  aber  nicht  im  mindesten  die  Vorschungslehre  Senecas 
berühren  und  keine  Begeisterung  Calvins  für  ihn  an  den  Tag  legen.  1.  In 
der  Auslegung  des  2.  Gebotes  (Inst.  I,  12.  2  =  Op.  1,  385)  weist  Calvin 
darauf  hin,  daß  der  heilige  Geist  seine  Donnerstimme  so  gewaltig  gegen 
die  figuras  quae  ad  Deum  figurandum  eriguntur  erschallen  läßt,  daß  sogar 
,, elende  und  blinde  Bilderverehrer"  unter  den  Heiden  gegen  die  Götzen- 
bilder sich  erklären  müssen,  und  führt  als  Beispiel  die  von  Augustin  (de 
civitate  Dei  10)  zitierten  Worte  Senecas  an:  Sacros,  inquit,  immortales 
inviolabilesque  deos  in  materia  vilissima  atque  immobili  dedicant  illisque 
hominum  et  ferarum  habitus  induunt.  —  Alan  sieht,  daß  hier  kein  be- 
sonderes Lob  Seneca,  einem  der  Blinden  und  Elenden,  ausgesprochen  wer- 
den soll;  wenn  hier  überhaupt  von  einem  Lob  die  Rede  sein  darf,  so  muß 
dieses  dem  heiligen  Geist  und  nicht  Seneca  gelten.  2.  Tadel  und  nicht  Lob 
kann  man  in  dem  Inst.  II.  2.  3  angeführten  Sätzen  finden:  Quia  etiam  eo 
licentiae  quidam  eorum  proruperunt,  ut  iaetarint  deorum  quidem  esse 
munus,  quod  vivimus,  nostrum  vero  quod  bene  saneteque  vivimus.  (Unter 
quidam  wird  Calvin  Seneca  und  Alex.  Aphrodisiensis  gemeint  haben;  nach 
dem  ersteren  verdankt  der  Mensch  nur  sein  Sein  Gott;  sein  S  o  s  e  in  resp. 
sein  gutes  Sosein  und  die  damit  verbundene  Seligkeit  hat  er  selbst  erworben 
[Epp.  XX,  XXI,  LIII,  CXXIV];  nach  dem  letzteren  ist  der  Mensch  nur 
tu  ä&tdipoQtt  den  Göttern   schuldig;   die   Götter  sind  andererseits  verpflichtet, 

Calvinstudicn. 


A  I  8  Calvins  Vorsehungslehre. 


Bei  der  Erörterung  des  Vorsehungsglaubens  führt  er  Beleg- 
stellen nur  aus  Augustin  und  Basilius  Magnus  an. 

Der  Reformator  wendet  sich  mit  aller  Entschiedenheit  gegen 
alle  Vorwürfe,  die  seine  Anschauung  als  fatalistisch  brandmarken 
wollen  (I,  16,  8.  9,  Op.  34,  257;  Op.  44,  203).  Er  verwirft  den 
Ausdruck  „fatum"  gänzlich,1  insofern  darin  die  Lehre  von  einer 
blinden  Notwendigkeit,  die  aus  dem  großen  Ursachenverband  im 
Sein  und  Geschehen  abgeleitet  wird,  enthalten  sein  soll.  Denn  es  sei 
eins  von  den  Worten,  deren  profane  Neuigkeiten  uns  Paulus  fliehen 
heißt ;  es  sei  ein  verhaßtes  Wort,  durch  dessen  Verwendung  man  die 
göttliche  Wahrheit  beeinträchtige,  und,  wie  das  ihm  verwandte  Wort 


nachdem  sie  die  Gesamtheit  und  die  Menschheit  darin  geschaffen  haben, 
für  sie  zu  sorgen.)  Diese  Aussage  führt  Calvin  an  als  die  extremste  Konse- 
quenz der  philosophischen  These,  daß  die  „Tugenden  und  Fehler  in  unserer 
Macht  sind",  da  wir  die  ratio,  welche  die  Leidenschaften  frei  beherrschen 
kann,  besitzen.  Daß  Calvin  mit  diesem  Satze  Senecas  nicht  einverstanden 
ist,  geht  sowohl  aus  dem  Ausdruck  ,,eo  licentiae"  als  daraus  hervor,  daß 
er  in  dem  nächsten  Abschnitt  die  kirchlichen  Schriftsteller  rügt,  daß  sie 
diesen  philosophischen  Anschauungen  zu  viel  Konzessionen  gemacht  hatten. 
3.  In  Praelectiones  in  Ezech.  proph.  in  der  Erklärung  des  4.  Verses  des 
1.  Kap.  (Op.  40,  33)  lesen  wir:  Refert  Seneca  de  quodam  morione,  qui  apud 
socrum  eius  fuerat:  confectus  senio  perdiderat  usum  oculorum;  clamabat,  se 
nihil  tale  esse  promeritum,  ut  coniectus  esset  in  tenebras:  putabat  solem  non 
amplius  lucere  in  mundo,  ipse  autem  erat  caecus.  Diese  Erzählung  führt 
Calvin  nun,  an,  um  von  derselben  Anwendung  auf  die  analoge  Erscheinung  auf 
dem  religiösen  Gebiet  zu  machen:  ,,Idem  et  nobis  contingit;  caecuti- 
mus,  quem  ad  modum  dixi.  et  interea  volumus  reiicere  caecitatis  nostrae 
causam  in  ipsum  Deum.  Keineswegs  ist  hier  aber  die  Tendenz  Seneca 
irgendwie  zu  verherrlichen.  Es  sei  nebenbei  bemerkt,  daß  Calvin  hier 
Seneca  ungenau,  wohl  aus  dem  Gedächtnis  zitiert  hat.  Denn  in  der  Stelle 
Senecas,  die  offenbar  Calvin  vorschwebte  (Epist.  X,  20  —  Senecae  opp. 
ed.  Haase  S.  102),  ist  nicht  von  einem  Narr  (morio),  sondern  einer 
Blödsinnigen  (fatua)  und  nicht  von  der  Schwiegermutter  (socrus),  sondern 
der  Frau  Senecas  die  Rede.  4.  Die  Stelle  in  Op.  52,  66  (Erklärung  des 
22.  Verses  des  4.  Kap.  des  Philipperbriefes)  kommt  für  uns  gar  nicht  in 
Betracht;  denn  da  polemisiert  Calvin  nur  gegen  die  falsche  Exegese,  daß 
unter  den  fratres,  die  mit  Paulus  die  Philipper  grüßen,  sich  auch  Seneca 
befinde,  denn  dieser  „neque  ullo  unquam  se  christianum  esse  probavit. 
5.  Op.  2,  517  erwähnt  Calvin  nur  ein  auch  von  Seneca  zitiertes,  von  den 
Alten   oft   angeführtes    Sprichwort:    Deum   sequere. 

1)  Wenn  Maresius  und  lutherische  Theologen,  wie  Hollaz,  die  von 
Thomas  v.  Aquino  gebrauchte  Bezeichnung  der  Vorsehung  als  eines  fatum 
christianum  billigen,  so  steht  es  allerdings  nicht  im  Widerspruch  mit  Cal- 
vin. Calvin  nimmt  fatum  im  schlimmen  Sinne  als  Gegensatz  gegen  die  be- 
wußte Providenz  und  leugnet  ein  blindes  fatum.  Die  erwähnten  Dog- 
matiker  nehmen  fatum  im  relativ  guten  Sinn  als  Gegensatz  gegen  den  Zu- 
fall und  behaupten  in  diesem  Sinn  ein  fatum  christianum  (Maresius,  Syst. 
theol.  §  13.  6  f.).  Doch  ist  dieser  Gebrauch  ein  mißlicher,  irreführender,  und 
man  muß  Calvin  recht  geben,  wenn  er  den  Ausdruck  gänzlich  verwirft. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatec.  4  I  0 


Zufall    (fortuna),   nur   ein   heidnischer    Ausdruck.      Die    Lehre   der 
Stoiker   schiebe   man  ihm   mit    Unrecht   unter,  denn   diese   wollen 
nur  aus  dem  kausalen  Zusammenhang  im  Sein  und  Geschehen 
Notwendigkeit    ableiten,    suchen    also    die    Ursächlichkeit    in 
unvernünftigen  nexus  rerum  und  nicht  in  dem   intelligenten   Gott. 
Die  Stoiker  ..weben  ihr  fatum  zusammen  aus  den  gordischen   Ui 
Sachenverkettungen",   in   die   sie  auch   ihren  Gott   verstricken  : 
schmieden  goldene  Ketten,  mit  denen  sie  Gott  fesseln,  um  ihn  den 
geringen  Ursachen  zu  unterwerfen  (Op.  8,  359;  vgl.  Op.  1,  190. 
6,  257:  21,  023;  32,  107;  34,  257;  40,  33,  414;  45.  289).     Seh  m 
dieses  schroffe  Urteil  über  die  Stoiker,  welches  in  dieser  Allgemein- 
heit sogar  übertreibt  —  denn  bei   Seneca  und  der   späteren   Stoa 
wird  der  Gottesgedanke  im  großen  und  ganzen  vorwiegend  als  ein 
geistiger  und  sittlicher  gefaßt  und  unter  den  Begriff  der  Vorsehung 
gerückt1   —  könnte  einzig  genügen.     Damit  wäre  aber  das  Hai 
problem    nicht    erschöpft,    sondern    umgangen,    denn    man    könnte 
noch  von  einer  stoischen  Stirn  m  u  n  g  in  der  Frömmigkeit  Cal- 
vins   reden,    einem    Grundzug    seines    Denkens,    der    sich    seiner 
empfänglichen  Seele  als  Frucht  der  eifrig  betriebenen  humanisti- 
schen Studien  eingeprägt  hat.     Das  Problem  wird  erst  dann  g< ' 
wenn  der  Nachweis  gelingt,  daß  Calvin  innerlich  mit  dem  stoischen 
Grundprinzip   nichts   zu   tun   hat,   ja   zu   ihm    in   ausgesprocln 
Gegensatz  steht.     Dieser  Gegensatz  geht,  um   es  kurz  zu  sagen, 
zurück  bis  in  den  tiefsten  Zwiespalt  zwischen  dem  antiken  und  dem 
christlichen  Geiste.     Der  Calvinismus  ist  Theokratismus,  d.  h.  hier 
ist  Gott  allein  der  unbedingte  Herrscher;  der   Stoizismus  predigt 


1)   Zeller:    Die    Philosophie    der    Griechen.    III.    Aufl.    III.    I,    S.  702  ff . 
Gott  ist  der  erhabene  Vater  Marens  magnificus),  die  Menschen  seine   Ab- 
kömmlinge   (vera    progenies).      Er    hat    den    Sinn    eines    Vaters    gegen    die 
Menschen    (patrium    deus   habet   animum) :    wir    werden    wie    Lieblinge    von 
ihm   geliebt    (usque   in   delicias    amamur)    und   dürfen    ihn  nicht    anders    als 
einen  Vater  verehren  (De  prov.  1.  5;  2.  6.     De  benef.   IV.  5.   1;   19.  3 
auch  die  von  Zeller  angeführten  Beweisstellen:   Benef.   I,  5—7.  9:    IV  3—9- 
25.    28).      Di    omnium    rerum    optimi    autores    qui    beneficia    ignoranti    dare 
ineipiunt    ingratis   perseverant.      Morc   optimorum   parentum.   qui   maledictis 
suorum  infantium  adrident.  non  cessant  di  beneficia  congerere   (Benef.  VII. 
31,    2.    4).      Deo    sat    est   qui    colitur    et   amatur    (Ep.  47.    1S1.      Intcr    1 
viros   ac   deos   amicitia  est   . —  Amicitiam    dico   immo   etiam    necessitu 
similitudo  quoniam   quidem  bonus  tempore  tantum   a  deo  differt.  diseipulus 
eius    aemulatorque    et   vera   progenies    (r.    5).    —    Die    Vorsehung   wir 
eine  intelligente  und  sittliche,  als  weise  Erzieherin  gedacht   (De  prov.    . 
Hos    itaque    deus    quos    probat,    quos    amat.    indurat,    recognoscit,    exercet. 
Alle   Dinge  dauern  fort,   nicht   weil    sie  ewig  sind,    sondern  weil  die    - 
des  Weltregenten   sie   vor  dem  Untergange   bewahrt. 

27* 


A20  Calvins  Vorsehungslehre. 


die  Selbstgenügsamkeit   des  durch   die  Tugend   gereiften  Weisen, 
mit   einem  Wort :   den   Tugendaristokratismus.1 

Aristokratisch  steht  der  stoische  Weise  dem  Schicksal  gegen- 
über. Er  beugt  sich  nicht  unter  die  eiserne  Notwendigkeit,  er  wird 
nicht  kleinmütig.  Im  Gegenteil,  das  Verhängnisvolle,  Unan- 
genehme, die  Aporien  des  Lebens  hält  er  für  wünschenswert ;  denn 
erst  in  ihnen  zeigt  er  seinen  Mut  und  schärft  seinen  Willen.  Sie 
sind  für  ihn  Maßstab  für  die  Kräftigkeit  seines  Selbstbewußtseins. 
Als  kämpfender  Heros  erweckt  er  die  Bewunderung  der  Götter; 
er  ist  Schauspiel  für  sie.  „Was  hat  wahrlich  Juppiter  Schöneres, 
sagt  Seneca,  als  daß  er  den  Cato  sieht,  der,  obwohl  seine 
Partei  gebrochen  wurde,  dennoch  unter  den  Ruinen  des  Staates 
aufrecht  steht."  Es  ist  demnach  mit  einem  Worte  Cato  das  Ideal 
der  stoischen  Vollkommenheit.  Calvin  zitiert  in  seinem  Psalm- 
kommentar (Ps.  46),  den  Vers  von  Horaz :  Si  fractus  illabatur  orbis 
inpavidum  ferient  ruinae,  und  fügt  hinzu :  „Es  scheint  ein  schöner 
Gedanke  zu  sein,  aber  da  noch  nie  so  ein  Mann  gefunden  worden 
ist,  den  Horaz  hier  schildert,  so  redet  er  ein  leeres  Geschwätz. 
Die  wahre  Geistesgröße  ruht  nach  mir  in  dem  Schoß  Gottes  allein. 
Hier  allein  ist  man  nicht  bloß  furchtlos,  sondern  auch  sicher,  wenn 
die  Trümmer  die  ganze  Welt  verschütten."  Kann  es  eine  größere 
Disharmonie  zwischen  Theorie  und  Praxis  geben,  als  die  stoische 
Verzweiflung  am  Leben,  die  sogar  zu  einem  Selbstmord  führt? 
Eine  durchgreifende  Charakteristik  dieser  stoischen  Weisen  gibt 
uns  Calvin  in  seinem  Psalmenkommentar  (Op.  32,  679) :  „Wir 
kennen,  sagt  er,  einige  Philosophen,  welche  von  der  göttlichen 
Vorsehung  geredet  haben,  aber  die  Erfahrung  hat  gezeigt,  daß 
sie  ihr  Bekenntnis  mit  der  Tat  nicht  bekräftigt  haben.  Wir  haben 
ein  merkwürdiges  Beispiel  davon  an  Brutus.  Man  kann  sich  keinen 
tapfereren  Mann  denken  als  ihn.  Seine  Genossen  haben  ihm 
dasselbe  Zeugnis  ausgestellt.  Er,  der  Stoiker,  predigte  herrlich 
die  Tugend  und  Vorsehung;  nachdem  er  aber  von  Antonius  besiegt 
worden  war,  ruft  er  aus :  Was  ich  von  der  Tugend  geglaubt  habe, 
ist  lauter  Täuschung,  und  das  Trachten  nach  der  richtigen  Lebens- 
weise ist  nur  Lug  und  Trug,  weil  der  Zufall  in  den  menschlichen 
Dingen  herrscht.  So  ist  der  Mann  mit  heroischer  Brust,  der  in 
seiner  Person  die  wunderbare  Standhaftigkeit  darstellte,  unter 
Verzicht  auf  die  Tugend  und,  unter  ihrem  Namen  Gott  lästernd 


1)  Vgl.  zum  Folgenden  namentlich  Baur,  Seneca  und  Paulus  in  der 
Zeitschrift  für  wiss.   Theol.   1,   S.  161  ff. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatcc.  42  1 


mit  Schanden  ans  der  Welt  geschieden."  So  wird  der  Glaube  an  das 
fatnm  zum  Glauben  an  die  Ohnmacht.  Merkwürdig:  Er  entsteht 
mit  dem  Glauben  des  Stolzes  an  sich  selbst  und  ist  mir  seine  andere 
Seite.  Das  fatnm  wurzelt  als  blinde  Notwendigkeit  außer  nnd 
über  der  Natur  in  den  Affekten  der  Menschen  nnd  nirgend  anders. 
Wir  haben  hier  die  Notwendigkeit  der  Furcht  neben  der  krank- 
haften Überhebimg;  der  großmütige  Weise  wird  zu  einem  feigen 
Neinsager  zum  Leben,  zu  einer  erbärmlichen  Kreatur. 

Und  der  Gegensatz  geht  weiter.  Der  Weise  setzt  sich  über 
diese  unangenehmen  Lebenslagen  hinweg,  indem  er  diese  so  be- 
trachtet, als  ob  sie  nicht  existierten.  Er  mahnt  den  Menschen,  er 
solle  sich  die  Trübsalblasen  und  alle  Pöbeltraurigkeit  verlernen. 
Der  Wreise  ist  apathisch;  er  braucht  keine  Geduld,  er  ist  über  die 
Geduld  erhaben  (supra  patientiam),  damit  ist  er  geradezu  größer 
als  Gott,  der  nur  außerhalb  der  Geduld  ist  (extra  patientiam).  Er 
t  r  ä  g  t  sein  Kreuz  nicht,  sondern  er  s  c  h  1  e  p  p  t  es,  weil  er  es  eben 
tun  muß.  Der  Vorzug  des  Weisen  vor  anderen  besteht  darin,  daß  er 
nicht  so  vielfach  wie  sie  gekreuzigt  ist ;  wenn  er  aber  gekreuzigt 
ist,  so  fühlt  er  die  Nägel  nicht,  die  ihn  durchbohrten.  —  Eine  Härte 
(durities  animi),  für  die  Calvin  nicht  genug  Worte  der  Verurteilung 
rinden  kann.  Der  Stoiker  ist  ein  kalter  eiserner  Geist.  —  Bei 
seiner  Apathie  ist  er  aber  höchst  ungeduldig ;  er  nimmt  die-  bevor- 
stehende Zukunft  in  die  Gegenwart  voraus.  Er  ist  ein  Himmels- 
stürmer, der  dem  Himmelreich  Gewalt  antut.  Er  antizipiert  den 
Seelenzustand  der  Befreiung  von  allem  Übel.  Daher  lebt  er  im 
Leben,  als  lebte  er  nicht  darin.  Der  Stoiker  ist  ein  antiker 
Mönch :  er  bedarf  des  Lebens  nicht,  er  ist  über  dessen  Bedürf- 
nisse erhaben.  Nichts  zu  bedürfen  ist  göttlich ;  daher  kommt  mög- 
lichst wenig  zu  bedürfen  der  göttlichen  Vollkommenheit  am 
nächsten.  Der  Weise  sieht  den  Frieden  nicht  in  der  zweckvollen 
Leitung  Gottes;  er  will  nicht  in  Gott  ausruhen,  er  ruht  immer  in 
sich  allein.  Er  lebt,  als  ob  er  nicht  lebte.  Schon  Diogenes  lobte 
die,  welche  Im  Begriffe  zu  heiraten,  nicht  heirateten,  welche  im 
Begriffe  zur  See  zu  gehen,  nicht  zur  See  gingen,  indem  er  für  das 
Beste  im  Leben  die  Freiheit  erklärte.  In  allen  diesem  wird  an- 
genommen, daß  die  Freiheit  oder  die  Selbstüberwindung,  welche 
über  dem  Leben  steht,  eben  durchaus  immer  sogleich  zur  Voll- 
kommenheit und  Glückseligkeit  führe.  Es  wird  angenommen,  daß 
in  dem  Maße,  daß  man  die  Zufuhren  zum  äußeren  Glücke  ver- 
stopft,  sogleich    die    Quellen    des    inneren    Glückes    reichlicher    zu 


A22  Calvins  Vorsehungslehre. 


fließen  beginnen,  ähnlich  wie  bei  Untergang  der  Sonne  die  Sterne 
hervorgehen.  Daher  kann  auch  das  Glück  nicht  durch  Schmerzen 
getrübt  werden.  Denn  wovon  ich  abstrahieren  kann,  das  ist  für 
mich  nicht  vorhanden.  Für  den  Geist  ist  nur  das  vorhanden, 
wovon  er  will,  daß  es  für  ihn  vorhanden  sei.  So  ist  denn  der 
Weise  in  seiner  Stumpfheit  selig,  selig  schon  in  der  Gegenwart. 
Das  Gute  selbst  ist  das  Vollkommene ;  das  Gute  kann  aber  nicht 
geteilt  werden.  Wer  darin  ist,  ist  ganz  darin.  Wer  nur  zum  Teil 
darin  ist,  ist  gar  nicht  darin,  wer  eine  Meile  und  wer  hundert 
Meilen  von  Kanoppus  ist,  sind  beide  nicht  in  Kanoppus,  pflegte 
Zeno  zu  sagen.  Wie  könnte  nun  aber  wohl  ein  so  vollkommen  in 
sich  befriedigter  Mann  irgend  etwas  Irdisches  für  an  sich  selbst 
erstrebenswert,  oder  für  ein  wirkliches  Gut  halten,  sei  es  nur  Ver- 
mögen oder  Ehre  oder  Gesundheit  oder  Schönheit  oder  Körper- 
stärke oder  adelige  Geburt.  Alle  diese  sogenannten  Lebensgüter 
sind  nichts  anderes,  als  bloße  auf  Täuschung  beruhende  Blend- 
werke. Überhaupt  wird  der  Weise,  als  ein  Verächter  sinnlicher 
Freuden,  ein  jedes  Hilfsmittel  für  willkommen  heißen,  was  ciafür 
abstumpft  und  die  Lust  daran  verdirbt.  Das  einzige  wirkliche 
Übel  unseres  Lebenszustandes  besteht  darin,  daß  wir  in  Illusionen 
leben,  welche  uns  das  als  Güter  vorspiegeln,  was  lauter  gleich- 
gültige Gegenstände  sind.  Sobald  wir  nur  allein  das  für  ein  Gut 
erkennen,  was  wirklich  ein  solches  ist,  so  verschwinden  diese  Ver- 
suchungen  und  Verlockungen  von  selbst  und  beruhigen  uns  nicht 
mehr. 

Wir  finden  diese  ganze  Seelenstimmung  des  Stoikers  genau 
geschildert  in  folgenden  Worten  des  Boetius :  Flieh  das  Ver- 
gnügen, treibe  die  Furcht  aus,  lasse  die  Hoffnung,  tilge  die 
Schmerzen.  Blind  und  gefesselt,  schmachtet  der  Geist,  wo  diese 
regieren. 

Die  Weltverachtung  und  die  Einkehr  in  sich  hat  schwere 
Folgen  für  die  Gestaltung  der  Lebensanschauung.  Wo  man 
in  dem  geschichtlichen  und  persönlichen  Leben  keine  Teleo- 
logie  anerkennt,  so  erscheint  diese  Welt  nur  als  eine  im  argen 
liegende,  die  gar  keine  Hoffnung  auf  Verbesserung  erweckt.  Ein 
düsterer  Pessimismus,  eine  dumpfe  Resignation  breitet  sich  über 
der  Welt  der  Stoiker  aus:  „Es  war",  so  sagt  Seneca,  „die  Klage 
unserer  Voreltern,  es  ist  unsere  Klage,  es  wird  die  Klage  der 
Nachwelt  sein,  daß  die  Sitten  verkehrt  seien,  daß  Verdorbenheit 
herrsche   und   daß   die'  Menschheit    sich   verschlimmere   und   alles 


Von  L:c.  Dr.  J.  Bi  j  j  ^ 


Heilige  in  Verfall  gerate.  Allein  dies  ist  und  wird  immer  dasselbe 
sein,  nur  von  Zeit  zu  Zeit  wird  es  mehr  dahin  oder  dorthin  neigen, 
wie  Meereswogen,  die  die  eintretende  Flut  immer  weiter  hinaus- 
treibt, die  Ebbe  mehr  im  Innern  der  Ufergrenzen  halt.  Das  (ine 
Mal  werden  mehr  ehebrecherische  Sünden  begangen  werden,  als 
andere,  und  es  wird  die  Züchtigkeit  die  Zügel  zerreißen,  das  an- 
dere Mal  wird  .  .  .  die  Wut  der  Küche  herrschen,  das  eine  Mal  über- 
triebene Putzsucht  und  Eitelkeit,  wobei  die  Seele  um  so  mehr  ver- 
wahrlost wird.  Das  andere  Mal  wird  Mißbrauch  der  Freiheit  in 
Mutwillen  und  Keckheit  ausarten."  So  können  wir  im  Stoizismus 
keine  absolute  Teleologie  wahrnehmen  weil  die  Weltentwicklung 
sein  festes  Ziel  hat,  ist  die  ganze  Welt  nur  Summe  von  Aggregaten, 
deren  einzelnes  sich  für  sich  selbst  und  zu  sich  selbst  bewegt ; 
keine  hinaufsteigende  Reihe,  sondern  nur  ein  ewiges  Anfangen 
auf  derselben  Stufe,  und  damit  die  Gefahr,  in  sich  selbst  zu  ver- 
sinken. 

Der  Vorsehungsglaube  soll  und,  wenn  er  echt  ist,  muß  die 
Furcht  überwinden,  so  ruft  Calvin  den  stoischen  Fatalisten  zu. 
Die  Furcht  wird  überwunden,  wenn  man  in  Gott  nicht  eine  ding- 
liche Notwendigkeit,  nicht  eine  in  das  Sein  verflüchtigte  Allkraft, 
sondern  die  mächtige  Hand  des  allweisen  Vaters  erkennt,  als  solche 
anerkennt,  ihm  dafür  Ehre  gibt  und  seine  eigene  Tugend  fahren 
läßt.  Gott,  dem  unbedingten  Herrscher,  muß  man  unbedingt  ver- 
trauen, obwohl,  ja  weil  uns  das  Geschehen  in  der  Welt  unverständ- 
lich ist.  Das  Vertrauen  als  bewußter  Wille  richtet  sich  auf  das 
bewußte  Objekt.  Es  ist  keine  blinde  Resignation.  Es  äußert  sich 
1.  als  Demut,  wenn  wir  die  Ratschlüsse  und  Wege  Gottes  nicht 
verstehen,  und  2.  als  Geduld,  wenn  wir  unseren  Lebensgang 
durch  Leidenserfahrungen  gehemmt  sehen. 

1.  Als  Demut:  Zwar  sind  wir  nach  Calvin  besser  daran  als  die 
Stoiker,  die  das  Weltgeschehen  und  das  Leben  des  einzelnen  als 
Realitäten  hinnehmen  und  sich  über  die  Unebenheiten  mit  dem 
zweifelhaften  Trost  hinwegtäuschen,  daß  es  so  notwendig  ist.  \  or 
unseren  Augen  steht  der  große  Weltzweck :  durch  unser  bonum  ac 
salus  geht  die  Entwicklung  der  Vollentfaltung  der  gloria  dei  zu. 
Aber  wir  bewegen  uns  in  Unvolikommenheiten  bezüglich  des  Ver- 
ständnisses der  Einzelzwecke  und  ihrer  Unterordnung  unter  den 
absoluten  Zweck;  wir  können  nicht  begreifen,  „wie  es  geschehen 
kann,  daß  Gott,  wenn  er  die  Welt  anschaut,  in  so  ungeordneten 
Verhältnissen  nicht  mit   seiner   Hilfe   kommt"    (Op.   31.  680).      Es 


A2A  Calvins  Vorsehungslehre. 


sind  Täuschungen  und  Trübungen  unseres  Gemüts,  wenn  wir  die 
Dinge  nicht  in  richtiger  Weise  abzumessen  und  abzuschätzen  ver- 
stehen. Es  überfällt  uns  „eine  schwere  und  schädliche  Versuchung, 
wo  wir  nicht  bloß  still  mit  Gott  hadern,  daß  er  die  Dinge  nicht  in 
Ordnung  bringt,  sondern  wo  wir  sogar  die  Zügel  lockern,  um  keck 
sündigen  zu  können  (Op.  31,  675);  es  stürmen  Zweifel  auf  uns  ein, 
wenn  wir  an  die  Theodizeefragen  herantreten  oder  wenn  es  uns 
scheint,  daß  Gott  mit  den  Welt-  und  Menschheitsgeschicken  wie 
mit  Bällen  sein  Spiel  treibt  (I,  17,  1).  Sind  uns  die  Wege  zur 
Lösung  der  peinlichsten  und  wichtigsten  Rätsel  verborgen,  so 
dürfen  wir  uns  nicht  rein  apathisch  mit  der  Wirklichkeit  ab- 
finden, sondern  wir  müssen  die  prudentia  haben,  bescheiden  unser 
Urteil  zurückzuhalten  x  und  die  geheimen  Wege  als  in  Gott  ver- 
borgen zu  denken.  Denn  es  gibt  im  Gesetz  und  Evangelium  Ge- 
heimnisse (occulta  Providentia,  abscondita  iudicia),  die  weit  über 
unser  Verständnis  (sensus)  hinausreichen ;  aber  da  Gott  die  Seinigen 
mit  dem  Geiste  der  Erkenntnis  erleuchtet,  damit  sie  die  in  seinen 
Worten  uns  gnädig  geoffenbarten  Geheimnisse  fassen,  so  ist  hier 
kein  Abgrund  (abyssus),  sondern  ein  Weg,  auf  dem  wir  sicher 
wandeln,  eine  Leuchte  unseres  Fußes,  ein  Licht  des  Lebens  und 
eine  Schule  sicherer  und  heller  Wahrheit.  Während  dem  Fleisch 
die  göttlichen  mysteria  nur  paradox  sind  (Praelect.  in  XII  proph. 
pars  I :  Op.  42,  489 ;  49,  49)  und  es  sie  daher  nicht  als  wahr  gelten 
läßt,  so  sei  es  für  uns  ein  Gesetz  der  Demut,  auszuruhen  in  seiner 
höchsten  Herrschaft  und  sich  nicht  in  den  Abgrund  zu  stürzen 
(Op.  31,  680). 

Die  vollste  Äußerung  der  Demut  ist  aber  die  Anbetung 
(adoratio)  der  Geheimnisse  Gottes,3 während  es  für  den  Stoiker  jen- 
seits der  Grenze  des  Verstehens  nur  Furcht  vor  den  Göttern  gibt. 
Calvin  will  sich  dabei  lieber  den  Vorwurf  der  Unwissenschaftlich- 
keit zuziehen,  als  mit  kecker  Vernunft  in  mysteria  Dei  zu  dringen. 


1)  Ad  tempus  suspendere  indicia:  Op.  31,  221;  ut  discamus  iudicium 
suspendere,  sie  non  statim  exsequitur  deus,  quod  hactenus  doeuit  (Op.  31, 
385;  vgl.  ib.  371;  601;  hac  uti  m  o  d  e  s  t  i  a  ,  ut  iudicium  suspendere  mali- 
mus,  quam  notam  temeritatis  ineurrere  (Op.  2,  154). 

2)  Quum  sibi  mundi  regendi  vindicet  deus  nobis  incognitum,  haec  sit 
sobrietatis  ac  modestiae  lex  acquiescere  summo  eins  iudicio,  ut  eius 
voluntas  nobis  sit  unica  iustitae  regula.  Dei  providentiam  recte  et  utiliter 
nemo  expendet,  nisi  qui  sibi  cum  fictore  suo  mundique  opifice  negotium 
esse  reputans,  ad  metum  et  reverentiam,  qua  decet  humilitate  se  submiserit 
(I,  17,  2);  vgl.  Op.  43,  535:  44.  513- 

3)  Adorari  et  mirari  sublimes  vias  Dei:  Op.  31,  7l&- 


Von  Lie.  Dr.  J.  Bohafc. 


Wenn  er  zwischen  der  gelehrten  Ignoranz  und  der  nichtwissenden 
Gelehrtheit  wählen  soll,  so  zieht  er  die  erstere  vor:  Eorum, 
quae  scire  nee  datur  nee  fas  est,  doeta  est  ignorantia, 
scientiae  appetentia  insaniae  species  (Op.  2,  7051.  Dies  alles  wider- 
legt hinreichend  die  These  Brunetieres,  der  x  in  der  Religion 
Calvins  als  eine  vernunftmäßige,  wohldurchdachte,  rationelle 
Frömmigkeit  sieht,  die  im  wesentlichen  fast  ausschließlich  in  der 
Anhängerschaft  der  Vernunft  an  fast  bewiesene  Wahrheiten 
stehe.2  Ist  nur  „die  logische  Unbestreitbarkeit"  das  leitende 
Motiv  seines  Denkens,  warum  schreckt  er,  „der  Kartesianer  vor 
Kartesius",  zurück,  wenn  ihn  die  „rationelle  Augenscheinlichkeit" 
dazu  drängen  sollte,  das  tiefste  religiöse  Bewußtsein  zu  verletzen, 
vor  der  Konsequenz  des  Gedankens  (vgl.:  „Deus  causa  peccati")? 
2.  Calvin  unterscheidet  selbst  seine  Auffassung  der  Geduld 
von  der  stoischen.  Die  wahre  Geduld  ist  immer  Wille,  kein 
leidentlicher  Verzicht;  sie  ist  Gehorsam,  als  tolerantia  Ausdauer 
und  Ausharren,  und  nicht  Stupor  und  duritics.  Den  Zustand 
des  Stoikers  (extra  patientiam,  supra  patientiam)  kennt  Calvin 
nicht.  Auch  die  Auffassung  des  Stoikers  von  magnaminitas  billigt 
er  nicht.  Er  gebraucht  zwar  oft  diesen  Ausdruck  (animi  magni- 
tudo  Op.  31,  265,  462.  aequus  et  modestus  animus  ib.  104;  suspen- 
siv animus  ib  67),  aequo  et  modesto  animo  crucem  sibi  imposi- 
tam  ferre;  aequo  animo  ferre  (283).  Diese  magnaminitas  ist  aber 
ganz  verschieden  von  der  stoischen  (Op.  5,  52) ;  sie  ist  eine  virtus, 
mit  der  wir  alles  Schicksal  getrost  tragen  lernen,  und  zwar  so.  daß 
wir  uns  weder  im  Glück  überheben  noch  im  Unglück  verzagen  und 
den  Mut  verlieren;  daher  sind  die  ungesunden  Auswüchse  der 
Großmütigkeit  die  inflatio  animi  und  elatio  ad  excessum,  abjeetio 


1)  Chr.  Welt   1902,   S.  299. 

2)  „Diese  Rel.,  die  sich  beweist,  eine  vernunftgemäße  Religion,  eine 
intellektuelle  Religion  ist  keine  Religion,  sie  ist  nur  Philosophie,  denn  es 
fehlt  ihr  das  Geheimnis,  das  Unerkennbare,  das  Gefühl  alles 
dessen,  was  uns  entgeht,  das  Gefühl  unserer  Unzulänglichkeit,  mit  einem 
Wort :  die  Liebe.  Wo  wir  aufhören  zu  verstehen,  haben  wir 
ein  Recht  nicht  mehr  zu  glauben.  Calvin  hätte  fast  ge- 
sagt, die  Pflicht  dazu!  Für  ihn  als  Kartesianer  vor  Kartesius  be- 
deutet die  rationelle  Augenscheinlichkeit,  die  logische  Unbestreitbarkeit  das 
untrügliche  Zeichen  oder  den  Beweis  für  die  Wahrheit.  Er  würde 
nicht  glauben,  wenn  sich  sein  Glaube  nicht  formell  auf 
einen  Syllogismus  stützen  könnte!  Inmitten  von  alledem 
vergißt  er  nur  eins:  wenn  die  Vernunft  oder  die  Urteilskraft  hinreichend 
wären,  um  uns  über  das  Problem  unseres  Daseins  aufzuklären  ,so  würde 
ja   das  Bedürfnis   nach   einer    Religion    nicht    vorhanden   sein." 


A2Ö  Calvins  Vorsehungslehre. 


et  pusillanimitas  ad  effectum.  In  diesen  extrema  magnaminitatis 
besteht  aber  nach  Calvin  das  Wesen  der  stoischen  magnaminitas 
Er  verurteilt  daher  (ib.)  Cicero  Tuscul.  IV,1  der  den  hochherzigen 
Mann  also  beschreibt:  constantem  volumus  quendam  sedatum, 
gravem,  humana  omnia  prementem,  illum  esse,  quem  magnanimum 
et  fortem  virum  dicimus.  Diese  Hochherzigkeit,  meint  Calvin, 
ziemt  sich  einem  Menschen  vom  niedrigsten  und  verwerflichsten 
Charakter,  einem  Manne  postremae  ignobilitatis.  Die  stoische 
Geduld  ist  nur  ein  steinernes  Phantom,  weil  sie  alle  Menschlichkeit 
beiseite  läßt  (exuta  humanitate);  dagegen  will  Calvin  aber  nicht 
der  mollities,  der  Weichlichkeit,  das  Wort  reden.  Er  verurteilt 
jeden  Weltschmerz,  jede  Leidensscheu,  die  nicht  tragen  und 
kämpfen,  nicht  überwinden  will,  jede  Trägheit,  die  nur  ein  Ver- 
langen ist  nach  Befreiung  von  zeitlichen  Leiden,  die  nur  Kreuzes- 
flucht ist  und  nicht  Himmelssehnsucht.  Die  wahre  Geduld  bewegt 
sich  in  der  Mitte  zwischen  der  durities  und  mollities.  Sie  handelt, 
indem  sie  leidet. 

Die  wahre  Geduld  2  ist  Gehorsam.  Die  Stoiker  wollen  zwar  auch 
gehorsame  Geduld  in  den  Trübsalen,  aber,  weil  es  so  notwendig 
ist  (quia  ita  necesse  est).  Hiermit  sagt  der  Stoiker  weiter  nichts, 
als  daß  man  Gott  weichen  müsse,  weil  man  sich  vergebens  bemüht 
hat,  ihm  zu  widerstreben.  „Wenn  wir  Gott  allein  darum  gehor- 
sam sind,  weil  wir  es  tun  müssen,  so  werden  wir  aufhören  zu  ge- 
horchen, wenn  wir  entrinnen  können."  Die  Motivation  der  christ- 
lichen Geduld  ist  eine  andere:  „Wenn  uns  Armut  plagt  oder  Exil 
oder  Gefägnis  oder  Schmach  oder  Krankheit,  so  ist  zu  bedenken, 
daß  dies  alles  nur  auf  Wink  der  göttlichen  Providenz  und  nach  der 
allein  richtigen  Ordnung  (iustissimo  ordine)  geschieht.  Darnach 
ist  der  „frigida  cantio"  der  Stoiker:  „Es  ist  zu  weichen,  weil  es  not- 
wendig ist",  die  lebendige  und  kraftvolle  Maxime  gegenüber  zu 
stellen:  Es  ist  zu  gehorchen,  weil  es  ein  „nefas"  wäre,  zu  wider- 
streben (Op.  2,522).  So  gestaltet  sich  die  Geduld  zum  absoluten 
Gehorsam,  der  aber  willig  und  freudig  geschieht.  (Quod  si  salu- 
tares  nobis  tribulationes  esse  constat,  cur  11011  grato  placidoque 
animo  eas  susciperemus?  Quare  eas  patienter  ferrendo  non  suc- 
cumbimus  necessitati,  sed  bono   nostro  acquiescimus.     Istae 


1)  Die  Stelle  findet   sich   Kap.  28,  Abschn.   26. 

2)  Op.  31,  100.  161.  217.  220.  232.  251.  265.  283.  342.  357-  369  (=silere) 
384;  395  (fons  patientiae  =  gratiae  Dei  confidere)  405,  424;  477  ff-  4§i  ff. 
570.  585-  588.  590.  597-  6371.;  Op.  32,  298.  314;  Op.  50,  59.  64. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bohatoc.  .}  2  J 


inquam  cogitationes  faciuni,  ut  quantum  animi  nostri  contrahuntur 
in  cruce,  naturali  acerbitatis  sensu,  tanturn  spirituali  laetitia  diffun- 
danttir,  Op.  2,  523).     Dieser  Zustand  ist  der  Höhepunkl  der  wahren 
Geduld,  welche  darin  ihre  Nährkraft  hat,  daß  der  Mensch  in  Gotl 
den  gerechten,  um  sein  Heil  bekümmerten,  die  promissiones  ihm 
vorhaltenden    Gott    erkennt    und    anerkennt.      Diesen    Höhepunkt 
der  Geduld  hat   Calvin  im  Auge,  wenn  er  schreibt:   Sanctis  enim 
tolerantiae  laudem  defert  scriptura,  dum  ita  malorum  duritia  afflic- 
tantur,  ut  non  frangantur  nee  coneidant,  ita  amaritudine  pungun- 
tur,  ut  simul  perfantur  spirituali  gaudio.     Diese  Geduld  fließt  aber 
nur  aus  der  Erfahrung-  der  Trübsal  (sensus  aerumnarum),  aus  der 
Traurigkeit  (amaritudo) : *  Quod  .  .  .  dicit  (Paulus)  sanetos  in  tribu- 
lationibus  gloriari  non  ita  est:   intelligendum,  ac  si  res  adversas 
non  extimescerent  et  refugerent,  vel  nulla  earum  acerbitate  preme- 
rentur,  ubi  ineidunt,  nam  nee  patientia  i  n  de  na  s  c  e  r  e  t  u  r, 
nsi  esset  amaritudinis  sensus.     Das  heißt:  der  Christ  muß  Augen- 
blicke erleben,  wo  er  von  Gott  sich  so  verlassen  und  durch  Trübsale 
so  gedemütigt  fühlt,  daß  er  kaum  aufatmen  kann  (Op.  49>  9°)-     Es 
ist  daher  nicht  richtig,  wenn  Herrmann  (P.  R.:;   Bd.  VI   S.  410)   an- 
zunehmen scheint,  daß  es  nach  Calvin  nicht  Momente  geben  kann, 
in  welchen   er  nur  Schmerz  fühlt  und  die  geistige   Freude   fahren 
läßt.     Das   gaudium   spirituale   erlebt   der   Mensch,   nachdem   ihm 
dieses  von  Gott  eingepflanzt  worden  ist  (Op.  49-  91)-     Die  Geduld 
als  solche  schließt  also  nicht  das  Erleben  des  Überwindens  in  sich, 
sondern:  in  eo  se  exserit  patientia,  si  acriter  exstimulatus  timore 
tarnen  dei  refraenatur,  ne  in  aliquam  intemperiem  erumpat  (Op.  2, 
520).     Daß  die  Geduld  ein  freiwilliger  Gehorsam  ist,  ist  also  kein 
analytisches,   sondern   synthetisches   Urteil.      Rom.   5,   3   hat   nicht 
einen   einheitlichen   Zustand   im   Auge,   sondern   Paulus   gebraucht 
hier  nach  Calvin  eine   „elegante  Gradation",  die  damit   abschließt, 
daß  alle  die  Trübsale,  die  wir  erleiden,  uns  zum  Heile  ausschlagen 
(ib.  90).     Noch  systematischer  ist  diese  Steigerung  in  der  Institutio 
selber   durchgeführt.      Sic    hebt    mit    der    Erde    an    und    endet    im 
Himmel:  das  Kreuz  leitet  zur  Hoffnung  an  (Op.  2,  517). 

2. 

Das    führt    uns    zu    dem    von    M.    Schulze    als   zentraler    Ge- 
danke   der    calvinistischen    Theologie    und    Frömmigkeit    bezeich - 

1)  Ib.  521. 


42  ö  Calvins  Vorsehungslehre. 


neten  Idee  der  meditatio  futurae  vitae.  Im  Zusammen- 
hange der  Providenzlehre  erscheint  dieser  Gedanke  nicht  als 
eine  zentrale,  sondern  nur  als  eine  zur  Vorsehung  hinzutretende 
Hilfsidee.  Der  Jenseitsgedanke  wird  immer  nur  da  angewendet, 
wo  dem  zweifelnden  Gemüt  die  Aussicht  auf  Klarheit,  dem 
entbehrenden  Herzen  die  Hoffnung  auf  Kompensation  für  das 
Leiden  und  Weh  dieser  Welt  eröffnet  werden  sollen,  kurz,  wo  die 
Theodizeefragen  nicht  restlos  gelöst  werden  können.  „Die  Er- 
kenntnis der  Vorsehung  Gottes  muß  uns  nicht  blos  zur  Verehrung 
Gottes  ermuntern,  sondern  auch  zur  Hoffnung  eines  künftigen 
Lebens  erheben,  denn  wenn  wir  sehen,  daß  die  Erweise  der  Güte 
und  des  Ernstes,  welche  der  Herr  uns  gibt,  nur  Beginn  und  An- 
fang sind,  so  dürfen  wir  nicht  zweifeln,  daß  er  dadurch  auf  größere 
hindeutet,  deren  Offenbarung  und  Vollendung  er  einem  andern 
Leben  vorbehielt.  Wiederum,  wenn  wir  sehen,  wie  die  Frommen 
von  den  Gottlosen  gedrückt,  gekränkt,  mit  Schimpf  und  Schmach 
verlästert  werden,  während  Frevler  im  blühendsten  Wohlstande 
Ruhe  und  Ehre  genießen  .  .  .  müssen  wir  dann  nicht  schließen, 
daß  ein  anderes  Leben  bevorsteht,  in  welchem  dem  Laster  seine 
Strafe  und  der  Gerechtigkeit  ihr  Lohn  bewahrt  wird?  (I,  5.  10).  Wo- 
hin die  Gläubigen  auch  ihre  Augen  richten  mögen,  soweit  diese 
Welt  offen  vor  ihnen  liegt,  so  bietet  sich  ihnen  nichts  weiter  als 
das  Bild  dumpfer  Verzweiflung  dar.  Damit  sie  nun  in  diesen  so 
großen  Bedrängnissen  und  Ängsten  nicht  abfallen,  so  steht  ihnen 
der  Herr  hilfreich  zur  Seite  mit  der  Ermahnung,  sie  sollten  das 
Haupt  höher  tragen  und  ihre  Blicke  weiter  gerichtet  sein  lassen; 
die  Glückseligkeit,  die  sie  in  dieser  Welt  nicht  sehen,  würden  sie 
bei  ihm  finden.  Diese  Glückseligkeit  nennt  er  Lohn,  Vergeltung 
und  Wiedererstattung  .  .  .  um  damit  anzudeuten,  es  werde  eine 
compensatio  geben  für  ihre  Leiden"  (Op.  1,  55).  Wenn  die  Gläu- 
bigen von  Theodizeezweifeln  geplagt  werden,  sollen  sie  wissen, 
daß  die  salus  der  Gottlosen  hinieden  nur  flüchtig  ist  (Op.  31,  366; 
vgl.  auch  Op.  31,  379:  Op.  2,  527.  528). 

Diese  Gedankengänge  werden  aber  vielfach  durchbrochen. 
Das  gegenwärtige  Leben  wird,  weil  in  ihm  der  Heilsbesitz  erreicht 
werden  kann,  lebenswert,  und  die  volle  Ruhe  in  den  WiderWertig- 
keiten des  Seins  schon  hier  möglich.  Denn  die  salus  Gottes  ist 
unbeweglich  und  will  in  allen  Nichtigkeiten  der  gegenwärtigen 
Welt  ergriffen  und  festgehalten  werden.  Daher  ist  das  menschliche 
Leben   nicht   eine   Summe   von   Surrogaten,   nicht    ein   Oszillieren 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bc  .\2<> 


zwischen  Hoffnung  und  Zweifeln,  zwischen  pessimistischem  Wirk- 
lichkeitssinn und  überspannten  Zukunftserwartungen,   sondern   es 

ergibt  sich,  weil  der  scheinbar  ferne  Gott  uns  immer  gegenwärtig 
ist,  die  Kontinuität  und  Totalitat  seines  Schützt,-.  Der  Perseveranz- 
gedanke   ist  von   dem   continuus   gratiae   progressus   untrennbar.1 

So  wird  dann  der  volle  Nachdruck  auf  die  Gegenwart  gelegt, 
das  Bejahen  der  Gegenwart  wird  absolut :  summa  est,  si  cupimus 
dei  manu  protegi  dandam  imprimis  esse  operam,  ut  intcr  nos 
habitet :  quia  ex  sola  eius  praesentia  pendet  spes  salutis. 
Ipse  autem  non  aliam  ob  causam  inter  nos  habitat,  nisi  ut  ii"s 
praestet  incolumes  (Op.  31,  463).  Nunc  vero  ipsum  (Deum) 
quasi  in  exeubiis  sedentem  inducit,  ut  fidelibus  prospiciat,  non  est 
cur  quisque  amplius  trepidet  ac  secum  diseeptet  de  praesenl  i 
dei  auxilio  certus,  modo  sub  eius  Providentia  quietus  maneat  (il>. 
332).  Hoc  uno  tutos  et  salvos  esse  fideles,  si  dominus  eos  respi- 
cit  .  .  .  (ib.  310.  311)  haec  optima  patientiac  fultura,  dum  persuasi 
sumus  nos  a  deo  respici  (ib.  342).  Docemur  non  posse  vitam 
nostram  recte  institui  nisi  semper  nobis  in  mentem  veniat  dei 
praesentia,  ut  sciamus  nos  esse  sub  eius  oculis  et  nihil  esse 
ei  absconditum  .  .  .  propheta  hie  demonstrat  finem  providentiar 
dei,  cur  deus  habeat  apertos  oculos,  nempe  ut  tandem  ad  tribunal 
suum  vocet  hominum  dieta  et  facta  (Op.  49,  16). 

In  diesem  Zusammenhang  werden  die  eschatologischen  Be- 
griffe unmerklich  umgebildet :  sperare  in  salutem  dei  tantundem 
valet  ac  recumbere  in  paternam  eius  providentiam,  ut 
sufficientia  nostra  penes  eum  tota  resideat  (Op.  31,  729).  Die 
salus  ist  im  Zusammenhange  der  Vorsehungslehre  nicht  eschato- 
logisch,  sondern  identisch  mit  auxilium.  welches  in  der  Gegenwart 
eintritt  (31,  645.  646)  und  als  solche  von  der  salus  ac  remissio 
peccatorum  unterschieden  (Op.  52,  19).  Die  Stellen,  die  sonst 
eschatologisch  gedeutet  werden,  werden  auf  die  Gegenwart  be- 
zogen (so  Psalm  17,  15;  Ps.  31,  19;  Ps.  37,  33;  Ps.  7$,  29).  Die 
typische  Formel  meditatio  futurae  vitae  wechselt  hier  mit  der 
Wendung:  meditatio  providentiae  (Op.  2,  158;  31,  673)  und  medi- 
tatio promissionum  Dei  (Op.  31,  429  f.). 


1)  Certe  misera  esset  conditio,  in  -ingula  momenta  trepidare  ac  si  de 
contimio  gratiae  progre-<u  nihil  nobis  exstaret  (op.  31.  155)  .  .  .  Sccurus 
ergo  est  ab  omni  discrimine  et  sibi  certam  salutem  promittit.  quia  deum 
fidei  oculis  quasi  praesentem  intuetur.  Atque  ita  nos  a  deo  pendere 
convenit,   ut   certo   statuamus,   etiam    quum    longissi  eum 

nobis   propinquum    esse    (ibidem). 


4}0  Calvins  Vorsehungslehre. 


Der  Vorsehungsgedanke  wendet  den  Blick  von  der  Betrach- 
tung der  Vergangenheit  und  Zukunft  ab  und  wird  so  zum  Gegen- 
wartsgedanken. In  ihm  liegt  die  Zuversicht  sowohl  der  Ver- 
gangenheit als  auch  der  Zukunft  gegenüber.  Wenn  uns  unsere 
memoria  plagt,  daß  das  Gesehene  nur  Folge  eines  unabänderlichen 
Fatums  ist,  so  ruht  die  Seele  aus  in  dem  Trost,  daß  darin  Gottes 
guter  Wille  im  Spiele  war.  Die  Furcht  vor  der  Zukunft  mit  ihren 
Sorgen  und  Gefahren  wird  durch  das  unbedingte  Vertrauen  auf 
die  promissiones  Dei  überwunden :  Tarn  in  p  r  a  e  t  e  r  i  t  u  m  quam 
in  f  u  t  u  r  u  m  consideranda  est  Dei  Providentia  (Op.  8,  351). 

Das  Gottesvertrauen  hat  notwendig  den  inneren  Frieden 
(tranquillitas  interior:  Op.  31,  155.  371;  quietudo  ib.  265;  tacita 
quiete  in  promissionum  eius  auxilium  recumbere  ib.  255 ;  quies 
ib.  374)  zur  Folge,  dem  als  innere  Sammlung  der  Wechsel  und  die 
Unruhe  der  Zeit  gegenübersteht ;  der  Mensch  soll  den  Schmerz 
und  die  afflictiones  stille  tragen  (Op.  2,  160;  Op.  31,  477.  590). 
Zum  Frieden  gesellt  sich  die  Heiterkeit  (hilaritas),  die  bei 
allem  Lebensernst  zu  der  unvergleichlichen  Frucht  des  Vorsehungs- 
glaubens gehört :  incomparabilis  fidei  fruetus,  quod  non  modo 
tranquilli,  sed  etiam  laeti  et  hilares  sub  eius  praesidio  degimus 
(Op.  31,  155).  Daher  das  schöne  Oxymoron:  patienter  flere  in 
Dei  risu  (ib.  372). 

Die  innere  Stille  ist  aber  kein  mystisches  Quiescieren,  son- 
dern ein  Korrelat  des  Gehorsams  (pacatus  sub  quieta  oboedientia : 
ib.  252).  Sie  kommt  inmitten  der  Kämpfe  des  Lebens  und  an- 
strengender Arbeit  zur  wahren  Geltung:  Primum  ergo  est,  ut  nos 
placide  in  Dei  fidem  et  tutelam  tradamus,  ac  bonitatis  *  eius  gustus 
sensus  omnes  nostros  retineat.  Deinde  ut  firma  constantia  et 
infatigabili  virtute  instrueti  subinde  ad  n  o  v  a  proelia  stemus 
accineti  (ib.  313).  Die  männliche  Tapferkeit  (virilis  fortitudo)  be- 
steht im  festen  Sichverlassen  auf  Gott  (firma  fide  in  Deum  recum- 
bere Op.  49,  571).  Hiernach  ist  der  Grundzug  der  calvinischen 
Frömmigkeit  die  eigenartige  Synthese  des  Gefühls,  in  Gott  aus- 
geruht zu  haben,  mit  dem  gestählten,  zur  Überwindung  der  Welt 
immer   bereiten   Willen.2 


1)  Die  Herausgeber  der  C.  R.   drucken   fälschlich:   bonitas. 

2)  Daraus  ergibt  sich  auch  in  diesem  Zusammenhang,  daß  Brunetieres 
These,  daß  Calvin  die  Religion  intellektualisiert  habe,  unzutreffend  ist. 
Gegen  den  letzteren  vgl.:  Doumergue,  L'art  et  le  sentiment  dans  l'oeuvre 
de  Calvin,  der  die  Gefühlsseite  bei  Calvin  betont  und  in  seiner  Bio- 
graphie III,  553 — 563  einen  besonderen  Abschnitt  über  das  Herz  in  der 
Theologie   Calvins    (Le   coeur   dans   la  theologie   de    Calvin)    schreibt. 


Von  Lic.  Dr.  T-  B..I 


Calvin  will  die  Welt  beherrschen,  überwinden,  sie  aber  nicht 
asketisch  fliehen.  Er  spricht  allerdings  öfter  von  Elend  und 
Verachtung  der  Weh.1  Aber  er  verurteilt  nicht  die  Weit  an  sich, 
sondern  nur,  sofern  sie  mit  der  Sünde  und  „tierischen  Leidenschaften" 
erfüllt  ist:  Odio  certe  non  habenda  nunquam  est,  nisi  quatenu 
peccato  tenet  obnoxios  :  q  u  a  m  q  u  a  m  n  e  i  1 1  u  d  <|  u  i  d  e  m 
o  d  i  u  m  p  r  o  p  r  i  e  in  i  p  s  a  m  c  o  n  v  e  r  t  e  n  d  u  m  est  (O] 
526).  Die  Welt  ist  nicht  an  sich  elend,  sondern  wir  werden  in  ihr 
durch  unsere  eigene  Schuld  elend:  Colligimus  non  nisi  nostra 
culpa  in  mundo  esse  miseros  (üp.  31,  494)"' 

Das  Leben  ist  zwar  der  Güter  höchstes  nicht,3  aber  es  muß 


1)  Es  kann  hier  nicht  des  näheren  untersucht  werdein,  woher  der 
eschatologische  Zug  in  der  Theologie  Calvins  stamme.  Es  soll  in  einer 
späteren  Arbeit  geschehen.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  er  vorwiegend  auf 
den  Einfluß  der  Schrift  zurückzuführen  ist,  nicht  so  sehr  auf  den  Einfluß 
Erasmus',  der  mir  mehr  formaler  Natur  zu  sein  scheint.  Nicht  unerwähnt 
möchte  ich  hier  lassen  den  bisher  nicht  beachteten  Umstand,  daß  m.  E. 
die  äußere  Veranlassung  namentlich  im  Gegensatz  zur  Diesseitigkeitsreligion 
Servets  und  der  Libertiner  gesucht  werden  muß  (vgl.  Op.  8,  490;  7.  222  ff.  >. 

2)  Diese  Stelle  scheint  mir  für  diese  Frage  sehr  charakteristisch  zu 
sein,  wie  der  ganze  Zusammenhang  (die  Erklärung  v.  Ps.  49.  21):  Es  seien 
hier  noch  folgende  Sätze  besonders  akzentuiert:  Quoniam  prius  videri 
poterat  11  i  m  i  s  c  o  n  t  e  m  p  t  i  m  loquutus  esse  de  praesenti  vita, 
quae  si  per  se  aestimetur,  singulare  est  Dei  beneficium,  speciem  correc- 
tionis  .  .  .  Invehitur  ...  in  perversum  abusum.  ubi  sine  ullo 
pietatis  gustu  absorbent  profani  homines  quidquid  bonorum  in  eos  Deus 
confert  .  .  .  Si  bona  nostra  agnosceremus  quibus  nos  prosequitur  Deus. 
illisque  rite  uteremur,  iam  hie  emicarent  quaedam  futurae  beatitudinis 
scintillae. 

3)  Aus  dieser  Anschauung  ergibt  sich  auch  die  anscheinend  stoisch 
klingende  Lebensregel:  hoc  mundo  ita  utendum  esse,  quasi  non  utamur: 
eodem  animo  emendas  esse  possessiones  quo  venduntur;  qui  uxores  dueunt 
ac  si  non  ducerent.  Die  Stoiker  zogen  daraus  den  Schluß,  daß  das,  wovon 
ich  abstrahieren  kann,  für  mich  nicht  existiert.  Dasselbe  tut  auch  Schulze 
(a.a.O.  S.  32)  in  bezug  auf  Calvin:  Wenn  einen  der  Gebrauch  usw.  nicht 
anders  affizieren  oder  berühren  soll  als  der  Nichtgebrauch  usw.,  dann  soll 
einen  eben  keines  von  beiden  wirklich  berühren,  und  das  eben 
darum  nicht,  weil  damit  schon  ein  Band  zwischen  uns  und  den  Dingen  ge- 
geben wäre,  welches  das  Hängen  an  dem  zukünftigen  Leben  beeinträch- 
tigen müßte.  So  weit  geht  Calvin  n  i  c  h  t.  Er  will  dadurch  der  ungezügel- 
ten laseivia  vorbeugen.  Alles,  was  zum  Gebrauch  des  gegen wäi 
Lebens  dient,  ist  ein  heiliges  Geschenk  Gotte.-:  und  wir  verunreinigen 
es,  indem  wir  es  mißbrauchen  (49.  420).  De  saneto  coniug  >ncio- 
natur,  ut  eorum  laseiviam  reprimat,  qui  dum  uxores  duxerunt,  nihil  nisi 
carnis  delicias  cogitant.  Gegen  den  spiritualisierend  mönchischen 
wurf:  si  coniugio  semper  adhaerent  vitiosae  sollicitudines  et  damnatae,  qui 
fieri  potest,  ut  coniugati  pura  conscientia  Deum  invocent  eique  serviant? 
antwortet  er  nüchtern:  Respondeo  tres  esse  species  sollicitudinum: 
enim  per  se  malae  sunt  et  impiae,  quia  ex  diffidentia  naseuntur  .  .  .     Aliae 


AX2  Calvins  Vorsehungslehre. 


doch  unter  die  nicht  zu  verachtenden  Segnungen  Gottes  gerechnet 
werden,  und  als  solche  ist  es  Motiv  zur  Dankbarkeit  gegen  Gott 
(Inst.  III,  9,  3).  Die  Pflicht,  sich  von  der  Sünde  in  der  Welt  zu 
trennen,  die  abnegatio  sui  und  die  mortificatio  zu  üben,  schließt 
die  andere  nicht  aus,  in  unerschrockener  Arbeit  auf  Grundlage 
dieser  Welt  das  Reich  Christi  für  die  Ehre  Gottes  auszugestalten. 
Das  negativ  asketische  Moment  der  abnegatio  ist  nur  Kehrseite 
eines  positiv  wertvollen  Lebens  und  Schaffens :  aus  der  Schwach- 
heit wächst  die  Kraft  (Op.  50,  141),  die  Geduld  wird  zur  Ausdauer 
(constantia) :  Op.  52,  82.  Somit  steht  neben,  ja  über  der  modificatio 
die  positive  Betätigung  des  Gehorsams  im  Gott  geordneten  Be- 
ruf (Inst.  III,  10,  6;  IV,  13,  12),  in  der  Ehre,  Familie,  im  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Streben  (vgl.  Lobstein,  Die  Ethik 
Calvins  noff.),  —  ein  Streben  nach  dem  Fortschritt  (profiscendi 
Studium),  welches  die  höchste  Lebensvollkommenheit  darstellt.1 
Das  ganze  Leben  ist  ein  zusammenhängender  Fortschritt  in  der 
Wiederherstellung  des  Ebenbildes  Christi  (Op.  50,  47).  Die  Krone 
des  Ganzen  ist  die  Liebe  als  omnium  operum  regula  et  omnium 
actionum,  ad  quam  quidquid  non  exigitur,  vitiosum  est,  qualem- 
cunque  alioqui  splendorem  habeat  (Op.  49,  571  ;  52,  123). 

Dabei  sollen  wir  allerdings  der  himmlischen  Heimat  nicht 
vergessen  (Op.  49,  256).  Wir  wandern  in  ihr,  aber  nicht  so,  als 
ob  wir  uns  um  sie  nicht  zu  kümmern  brauchten,  sondern  so,  daß 
wir  uns  in  jedem  Moment  dieses  Lebens  vor  die  Augen  des  all- 


necessariae  sunt,  neque  Deo  displicent:  ut  patrem  familias  pro 
uxore  et  liberis  sollicitum  esse  decet:  neque  Deus  vult  nos  esse  s  t  i  p  i  t  e  s. 
quin  quisque  sui  curam  habeat.  Tertiae  missae  sunt  ex  illis  duabus:  dum 
scilicet  curamus,  quae  officii  nostri  est  curare,  sed  propter  innatam  nobis 
intemperantiam  nimium  ardemus.  Tales  igitur  per  se  nequaquam 
sunt  malae,  sed  propter  uraZiav  hoc  est  immoderatum  exces- 
s  u  m  pravae  fiunt.  Et  apostolus  non  tantum  vitia  hie  notari  voluit,  quibus 
reatum  contrahimus  coram  Deo:  sed  in  Universum  optat  ut  avocamentis 
omnibus  soluti  toti  Deo  vacemus  (422).  Kurz:  Summa  est  christiani 
hominis  animum  rebus  terrenis  non  debere  oecuppari  nee  in  illis  c  o  n  - 
quiescere  (420).  Caeterum  hie  non  praeeipit  apostolus  christianis 
possessiones  abicere,  sed  tantum  hoc  requirit,  ne  animi  eorum  posses- 
sionibus   infixi   sint    (420,  421). 

1)  Nos  vero  cum  Paulo  agnoscamus  domum  esse  gratiae  dei,  non 
tantum  quod  coepimus  bene  currere,  sed  quod  progredimur:  non  tantum 
quod  renati  sumus,  sed  quod  in  dies  magis  augemus  (Op.  51,  223):  die  Voll- 
kommenheit und  Seligkeit  besteht  in  dem  Tragen  des  Bildes  Gottes  (Op. 
52,  121). 


Von  Lic.   Dr.  J.  Bol  n  -i 


wissenden  Gottes  stellen  müssen.1  Hier  findet  auch  das  große 
Geheimnis  seine  Erklärung,  daß  die  calvinistischen  Determini 
trotz  der  Abhängigkeit  von  den  göttlichen  Ratschlüssen  eine  an 
den  Heroismus  grenzende  Lebensenergic  entwickelt  haben.  Man 
meint,  diese  sei  nur  eine  von  außen  in  das  System  eingekeilte  Ahm 
malie.  Im  Gegenteil.  Eben  in  dieser  Gebundenheit  an  die  Rat- 
schlüsse Gottes,  der  alles  sieht,  so  daß  niemand  seiner  Hand  ent- 
rinnen kann,  der  selbst  die  reinste  Energie  und  Aktuosität  ist,  und 
nicht  dulden  kann,  daß  seine  Erwählten  müßig  die  Hand  in  den 
Schoß  legen,  birgt  sich  die  Quelle  des  drastischen  Wirkens.  Auch 
die  Moral  Calvins  ist  keineswegs  die  Pygmalion-Umarmung  eines 
Steinbildes,  keine  unvermittelt  neben  den  göttlichen  Ratschlüssen 
laufendes,  sondern  unter  dem  erwähnten  Gesichtspunkte  innerlich 
begründetes  Lebensgebiet. 

Die  Gewißheit  der  Nähe  und  Gegenwart  der  göttlichen  Provi- 
denz  holt  sich  der  Mensch  von  Gott  im  Gebet.  Xon  abs  re  est 
profecto,  quod  coelestis  pater  unicum  in  sui  nominis  invocatione 
salutis  praesidium  esse  testatur,  qua  scilicet  praesentiam  et 
providentiam  eins,  per  quam  rebus  nostris  curandis  advigilet, 
et  virtutis,  per  quam  nos  sustineat  inbecilles  et  probe  deficientes, 
et  bonitatis,  per  quam  misere  peccatis  oneratos  in  gratiam  recipiat, 
advocamus :  qua  denique  totum  ipsum,  ut  se  nobis  praesentem 
exhibeat  accersimus  (Op.  2,  626).  Providentiam  animis  nostris 
pro  imbecillitatis  nostrae  modo  usus  ipse  et  experimentum  con- 
firmet,  dum  intelligimus  ipsum  non  modo  polliceri,  se  numquam 
nobis  defuturum  .  .  .  sed  manum  semper  habere  extentam  ad  suos 
iuvandos,  nee  lactare  eos  verbis,  sed  praesenti  ope  tueri  (Op. 
2,  627).  Dadurch  wird  der  Friede  und  die  Ruhe  begründet  und 
bekräftigt  (Op.  2,  626).  Denn,  obwohl  die  Gläubigen  überzeugt  sind, 
daß  Gott  mit  ihnen  versöhnt  ist,  so  werden  sie  doch  das  Angst- 
gefühl nicht  los;  sie  seufzen  unter  der  gravitas  praesentium  malo- 
rum.  Diese  sind  aber  ein  von  Gott  gewolltes  Mittel  zum  Suchen 
nach  ihm.  Tritt  zur  Sehnsucht  auch  die  Gewißheit  der  Hilfe 
Gottes  hinzu,  dann  können  sie  ruhig,  velut  ex  specula,  auf  Gottes 


1)  Docemur...  non  posse  vitam  nostram  recte  institui.  nisi  semper 
nobis  in  mentem  veniat  dei  praesentia,  ut  en  sciamus  nos  esse  sub  eius 
oculis,  et  nihil  esse  ei  absconditum  .  .  .  Propheta  (Jeremias)  ergo  hie 
demonstrat  finem  providentiae  Dei.  cur  Deus  habcat  apertos  oculos.  nenipe 
ut  tandem  ad  tribuna!  suum  vocet  omnia  hominum  dieta  et  facta,  inimo 
etiam  cogitationes  (39  16;  Jeremia  32,  16). 

Calvinsturiien.  28 


4? 4  Calvins  Vorsehungslehre. 


Verheißungen  warten ;  nur  dieses  demütige  und  zugleich  zuver- 
sichtliche Gebet  hat  die  Zusage  der  Erhörung.1 

So  ist  denn  der  Vorsehungsglaube  eine  ununterbrochene  An- 
betung Gottes  und  eine  unendliche  Zuversicht :  Si  animis  in  hanc 
oboedientiam  compositis,  providentiae  divinae  legibus  nos  regi 
patimur,  facile  discemus  in  oratione  perseverare  ac  suspensis  desi- 
deriis  patienter  expectare  dominum :  certi,  etiamsi  minime  appa- 
ret,  nobis  tarnen  semper  adesse  (Op.  2,  677).  Ut  deficiant  omnia, 
Deus  tarnen  nunquam  nos  destituet,  qui  exspectationem  ac  patien- 
tiam  suorum  frustrari  non  potest.  Erit  enim  ipse  pro  omnibus 
(Op.  2,  678). 

Ein  männlicher  Friede,  welchen  die  göttliche  Vorsehung  ins 
Herz  gießt  und  mitten  in  Kampf  und  Not  erhält,  die  Demut,  welche 
sich  in  aller  Verworrenheit  der  irdischen  Dinge  von  den  göttlichen 
Ratschlüssen  geduldig  und  zu  Ehren  des  unbedingten  Herrschers 
leiten  läßt,  das  Gebet,  welches  den  erhabenen,  ewigen  Gott  als 
den  gegenwärtigen  mit  heiligen  Banden  umschlingt  —  und  alles 
das  ein  Vorgeschmack  des  ewigen  Lebens,  welches  der  Mensch 
hinieden  bereits  wesentlich,  ob  auch  verborgen  und  im  Keime  in 
sich  trägt  und  auf  dessen  herrliche  Offenbarung  im  Jenseits  er 
sehnend  hofft  —  das  ist  der  Grundzug  der  Frömmigkeit  Calvins 
nach  seiner  Vorsehungslehre. 

Finden  sich,  wie  wir  sehen  konnten,  alle  diese  Momente  im 
Psalmenkommentar,  in  den  Calvin  nach  seiner  Aussage  seine  intim- 
sten Erfahrungen  und  Gefühle  niedergelegt  hat,  so  läßt  sie  diese 
Charakteristik  wohl  auf  die  ganze  Frömmigkeit  Calvins  darüber 
ausdehnen.  Man  müßte  die  meisten  seiner  Briefe  wörtlich  aus- 
schreiben, um  zu  zeigen,  wie  die  Vorsehungsgedanken  den  Refor- 
mator bewegten  und  gelegentlich  zum  Ausdruck  gebracht  worden 
sind.     Schon  die  beiden  Tatsachen,  daß  Calvin  sich  als  Werkzeug 


1)  Dies  beweist,  daß  nach  Calvin  als  Motiv  zum  Gebet  nicht  die 
Freude,  die  keine  Wünsche  kennt,  bezeichnet  werden  kann,  wie  Ritschi 
(Rechtfertigung  u.  Vers.1  III,  571)  meint.  Für  Calvin  ist  der  Glaube  nicht 
bloß  Ergebung,  sondern  zugleich  Spannung  auf  Gottes  Verheißungen  hin; 
daher  ist  für  ihn  die  Bitte  als  ein  wesentliches  Glied  des  Gebetes  unent- 
behrlich. Mit  der  Bitte  verbindet  er  aber  auch  den  Dank.  Auch  dieser  ist 
absolut.  Die  Ehre  Gottes  erfordert  ihn.  Beide  Formen  des  Gebetes 
sind  aber  innerlich  verbunden:  der  Dank  ruft  immer  die  Bitte  hervor,  die 
um  so  kräftiger  sich  gestaltet,  je  intensiver  die  Anerkennung  der  Wohl- 
taten Gottes  ist  (sancti  patres,  quo  dei  beneficia  apud  se  et  alios  confiden- 
tius  iactarunt,  eo  acrius  ad  precandum  fuerunt  incitati  Op.  2,  626) ;  bitten 
wir  Gott,  so  bekennen  wir  damit  unsere  Abhängigkeit  von  ihm  und  er- 
weisen ihm  somit  die  Ehre   (Op.  2,  654  f.;  31,  503). 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bi  ,\  $  ^ 


Gottes  fühlte.  In  einem  Brief  an  du  Tillet  schreibt  er:  Ich  weiß, 
daß  ich  von  ihm,  dem  Herrn,  berufen  bin;  ich  weiß,  daß  es  nicht 
mein  Eigenwille  ist,  dem  ich  folge,  und  mein  eigenes  Werk,  das 
ich  treibe.)  und  die  Zuversicht,  daß  er  vor  Gott  und  den  Engeln, 
die  uns  sehen,  steht,  sind  ja  die  Grundpfeiler  seiner  Vorsehungs- 
lehre. 

Es  ist  jedenfalls  keine  unrichtige  Beobachtung,  die  Brunetiere, 
der  sonst  wenig  Verständnis  für  Calvins  Werk  zeigt,  gemacht 
hat : l  Einer,  der  Calvin  gelesen  und  wieder  gelesen  hat,  ist 
der  Verfasser  der  Histoire  des  Variations,  Bossuet.  Um  uns 
davon  zu  überzeugen,  brauchen  wir  nur  ihn  selbst  zu  lesen,  und 
wenn  ich  ihn,  ich  glaube  mit  einiger  Berechtigung,  den  „Theo- 
logen der  Vorsehung"  genannt  habe,  wer  hat  in  französischer 
Sprache  vor  Bossuet  besser  von  der  Vorsehung  gesprochen  als 
Calvin?  Weder  in  den  Predigten  noch  in  den  Grabreden  noch 
auch  in  seinem  Discours  sur  l'Histoire  universelle  hat  Bossuet 
Machtvolleres  oder  in  anderer  Weise  von  der  Vorsehung  ge- 
sprochen als  Calvin." 


Eine  frische  Lebenskraft  weht  uns  aus  dieser  Gedankenwelt 
Calvins  entgegen.  Mit  Schärfe  werden  alle  Versuche,  sich  eine 
andere  Lebensphilosophie  zu  konstruieren,  abgewiesen.  Wendet 
sich  der  Mensch  an  die  Kreatur,  so  krönt  er  zwar  deren  auf- 
steigende Reihe,  aber  das  Gefühl  der  Schwäche,  welches  er  nicht 
loswerden  kann,  drückt  ihn  herab,  und  sein  Elend  übertrifft  das 
ihrige.  Man  erforscht  und  analysiert  zu  sehr  das  Elend  und  den 
Schmerz  in  allen  ihren  Verquickungen  nur  ätiologisch  empirisch. 
Wendet  sich  der  Mensch  an  das  Gesetz  in  dem  Geschehen,  so 
vernichtet  die  Verkettung  der  Ursachen  und  Wirkungen  seine 
menschliche  Würde,  denn  er  fühlt,  daß  er  frei  ist;  wendet  er  sich 
aber  an  die  Freiheit,  so  würde  diese  ihn  befreien  können,  falls  er 
nicht  selbst  in  jene  Ursachenkette  verflochten  wäre.  Wendet  er 
sich  an  seine  ratio,  so  hebt  ihn  diese  hoch  über  das  Universum, 
von  dem  er  Besitz  nimmt,  aber  es  schlägt  ihn  nieder,  da  das 
Denken  seine  tiefsten  Geheimnisse  nicht  zu  erreichen  vermag. 
Alles   verweigert   dem    Menschen    die    Antwort    auf    seine    Fragen 

i )  A.  a.  O.    S.  319. 

28* 


A3Ö  Calvins  Vorsehungslehre. 


nach  dem  Inhalt  und  Zweck  des  Vorsehungswaltens,  alles  wankt 
und  schwankt  vor  ihm.  Wohin  er  sich  wendet,  er  findet  nirgends 
die  ihm  gebührende  Stelle.  So  viel  Widersprüche  erdrücken  ihn; 
er  fühlt  sich  bald  als  ohnmächtiges  Nichts,  bald  als  mächtiges 
Wesen,  bald  als  höchstes  Ziel  des  ganzen  Geschehens,  bald  als 
erbärmliches  verstecktes  Atom.  So  bleibt  er  das  sich  selbst  un- 
verständliche Geschöpf.  Er  hat  eben  seine  Norm  in  Verhältnissen 
gesucht,  die  seinem  wahren  Wesen  fremd  sind;  er  hat  vergessen, 
daß  er  ein  instrumentum  Dei  ist,  das  Geschöpf  des  allmächtigen 
Gottes,  der  allein  die  Lösung  ist  und  gibt. 

Calvin  hat  auch  uns  Modernen  viel  zu  sagen.  Gegenüber 
dem  antiken  und  modernen  Kausalitätsschein  steht  der  persön- 
liche Gott ;  gegenüber  der  Skepsis,  welche  das  Vorsehungswalten 
leugnet,  da  das  Denken  die  Gegensätze  aus  ihm  nicht  entfernen 
und  nicht  immer  in  eine  Weltformel  zusammenfassen  kann,  steht 
der  Glaube  an  den  allwissenden  und  allweisen  Vater,  der  seine 
mysteria  gnädig  seinen  Erwählten  offenbart  (I,  17,  2;  Op.  73,  358), 
gegenüber  dem  modernen  Monismus,  der  doch  diese  Weltformel 
gefunden  zu  haben  meint,  dabei  aber  bei  der  Oberfläche  oder 
—  mit  Nietzsche  zu  reden  —  der  Falte,  der  Haut  des  Gedankens, 
der  Form  bleibt,  den  Schein  anbetet,  ja  an  den  ganzen  Olymp  des 
Scheins  glaubt  und  dadurch  aus  Tiefe  oberflächlich  wird,  steht 
der  Gott,  der  nicht  mit  der  Welt  verflüchtigt  werden  darf,  son- 
dern dieselbe  in  der  Abhängigkeit  von  sich  erhält  und  dabei  ihre 
Selbständigkeit  nicht  aufhebt,  immer  wach,  in  kontinuierlicher 
Aktion  und  Energie,  durch  alle  causae  secundae  wirkend;  gegen- 
über der  äußeren,  fatalistischen  Ursachenverkettung  und  verhäng- 
nisvollen Naturnotwendigkeit,  die  den  Wert  des  Individuums  er- 
würgt, steht  der  himmlische  Vater,  der  jedes  einzelne,  auch  das 
kleinste,  regiert,  so  daß  Sünde  und  Leid  nicht  als  eine  notwendige 
Last,  sondern  als  Mittel  zum  bonum  ac  salus  der  Seinen  erscheinen. 

Was  die  Gedanken  der  Vorsehungslehre  besonders  charakte- 
risiert, ist  die  kraftvolle  eigentümliche  Ei  n  h  e  i  t ,  die  durch 
den  überwiegend  theozentrischen  Charakter  seiner  Lehre  gegeben 
ist.  Gott  ist  weder  eine  absolute  Willkür,  die  nur  zersplitterte, 
zufällige  Zwecke  verfolgt,  noch  eine  fatalistische  naturhafte  Not- 
wendigkeit, sondern  ein  notwendig  freier  Wille x  und  als 
solcher   eine    einheitliche   in    bestimmter    Richtuno-    und   auf 


1)   Siehe  S.  367. 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bobatec.  -M  7 


sichere  Zwecke  hin  ununterbrochen  wirkende  Energie.  —  \> 
Gottesenergie  entspricht  die  Lebensenergie  seiner  Erwählten. 
Eine  Bewegung  aller  Kräfte  drängt  und  treibt  zur  Einheit,  die 
ihren  prägnantesten  Ausdruck  in  der  unmittelbaren  und  unbedingten 
Beziehung  alles  Seins  und  Geschehens  auf  Gott  gefunden  hat : 
„Wir  sind  Gott  geheiligt  und  geweiht,  und  daher  können  wir 
nichts  denken,  reden  und  handeln  als  zu  seiner  Ehre.  Denn  das 
ihm  Geweihte  kann  ohne  starkes  Unrecht  gegen  ihn  zu  profanem 
Gebrauch  verwendet  werden.  Wir  gehören  dem  Herrn;  daher 
müssen  auf  ihn  als  den  einzigen  legitimen  Zweck  alle  Teile  unseres 
Lebens  sich  beziehen;  alle  unsere  actiones  muß  seine  Weisheit 
und  sein  Wille  beherrschen  (Inst.  III,  7,  1).  Die  tragende  Kraft 
des  calvinistischen  Systems  ist  das  Bewußtsein  von  dem  i  m  m  e  r 
nahen,  nie  ruhenden,  kraftvoll  wirkenden  Gott.  Darauf  gründet 
sich  sowohl  die  Überzeugung,  fest  in  der  Welt  zu  stehen,  als  auch 
die  Perseveranz  der  Gott  Geweihten  und  der  Glaube  an  den  con- 
tinuus  gratiae  progressus.  Daher  ist  die  Lebensanschauung  voll 
von  Aktivität :  keine  Askese,  keine  Flucht  vor  der  Wirklichkeit, 
Feigheit  vor  der  Realität  des  Bösen,  sondern  ein  Aufschwung  des 
Gemütes,  eine  Begeisterung  der  Handlung,  des  Kampfes,  des 
Todes  für  Gott  und  seine  Ehre :  „Es  ist  uns  bestimmt  die  Ehre 
Gottes  höher  zu  schätzen  als  tausend  Leben  und  alles  das,  was 
uns  der  Sinn  des  Fleisches  suggeriert"  (Op.  40,  635).  In  diesem 
Bewußtsein  haben  wir  die  Kraft,  die  Schmerzen  dieser  Erde  zu 
leiden,  um  sie  auf  ihr  und  in  uns  zu  überwinden ;  aller  Zorn  gegen 
das  Böse  und  der  so  entstandene  contemptus  mundi  (die  Welt 
des  Bösen)  steht  in  der  Kraft  jenes  Heilsgottes,  durch  dessen 
Willen  das  Böse  zwar  nicht  schlechthin,  wohl  aber  zum  Zwecke 
des  Wachstums  des  Guten,  das  Gute  als  das  Seinsollende  schlecht- 
hin gesetzt  wird. 

In  der  Unterordnung  des  Lebens  unter  Gott  und  in  der 
Bindung  desselben  an  ihn  erleben  wir  aber  die  Steigerung  der 
Werte  des  Lebens  und  aller  Lebensfähigkeiten.  Das  Errungene 
im  Leben  erscheint  als  etwas  Empfangenes,  freier  Gnade  Ent- 
sprungenes. Selbst  die  Freiheit  des  Menschen  bedeutet  hier  nicht 
ein  von  Gott  unabhängiges  Vermögen,  sondern  etwas  durch  ihn 
Gesetztes  und  immerfort  aus  ihm  Quellendes.  So  erscheint  auch 
die  höchste  Leistung  des  Menschen  nicht  als  ein  Verdienst, 
dem  als  eine  freie  Gabe  des  höchsten  Gottes.  ..Wir  sagen,  der 
Mensch    könne   nichts   Gutes   tun   oder   auch    nicht    denken.      Das 


4^8  Calvins  Vorsehungslehre. 


sagen  wir,  damit  Er  seine  Abhängigkeit  von   Gott   erkennend  an 
sich  selbst  verzweifle  und  ganz  an  ihn  sich  hingebe"  —  ein  tiefer, 
fruchtbarer,  dem  religiösen  Pragmatismus  der  Bibel  entsprechen- 
der Gedanke.     Der  göttliche  Wille  eine  Macht  —  ihr  auch  der 
Mensch    mit    seinem    Leben    und   Handeln   unterworfen.      Nur    in 
Gott  vermag  der  Mensch  dauernden  Frieden  zu  finden.     In  der 
Beziehung    seines    Lebens,    seiner    Gedanken,    seiner    Willensrich- 
tungen  mit    ihren   Auswirkungen    auf    den    Gott,   der   da    ist    und 
bleibt,    gewinnt    er    den    sicheren    Halt,    der    allein    ihn    über    den 
Naturzusammenhang  erhebt  und  ihn  nicht  wie  einmal  sich  hebende, 
dann  wieder  fallende   Welle   der   natürlichen   Lebensprozesse   ver- 
sinken läßt.     „Einige  liegen  im  Staube,  einige  kommen  zu  Ehren, 
nicht   von   Anfang   noch   vom    Untergang,    noch    von    der    Wüste 
kommen  Erhöhungen,   denn   Gott   ist   Richter,   der   diesen   erhöht, 
jenen  erniedrigt  .  ."     Ein  furchtbar  großer  und  doch  beseligender 
Gedanke!      Denn   wenn    wir    nach    der    Art    des    modernen    Indi- 
vidualismus   die    Handlungen    der    Menschen    von    der    göttlichen 
Vorsehung  ausnehmen  wollten,   so  würde  jeder  Trost   schwinden. 
Hat  Gott  seine  Ratschlüsse  mit  der  Menschheit,  so  dürfen  diese 
von    der   unbedingten    Freiheit    des    Menschen    nicht    durchkreuzt 
werden.     Wenn  andererseits  die  Vorsehung  der  Überwindung  der 
Furcht  und  Sorge  und  zur  Gewinnung  eines  unendlichen  Trostes 
dient,  so  wäre  dies  alles  illusorisch,  wenn  eine  geringe  außergött- 
liche Macht  die  Pläne   Gottes  durchbrechen  könnte.     Das  Teilen 
zwischen   Gott  und   Menschen   (I,    16,   4)   würde    eine    Kette   von 
Zufälligkeiten  ergeben,  deren  jede  imstande  wäre,  uns  die  religiöse 
Zuversicht  zu  rauben;  denn  das  ist  das  Verhängnisvolle  am  Zu- 
fallsglauben, daß  auch  ihm  aus  den  kleinsten  Ursachen  die  schwie- 
rigsten und  wichtigsten   Folgen  hervorgehen  können.     In  dieser 
Sursumcordafrömmigkeit    sind    Größe    und    Kleinheit    aufeinander 
bezogen:   Gott   und   Mensch    Korrelatbegriffe. 

Das  Bewußtsein,  in  Gottes  Vorsehung  ausgeruht  zu  haben, 
bewirkt  das  Selbstbewußtsein  und  die  Freiheit  den  anderen  Per- 
sonen und  Sachen  gegenüber.  Der  Mensch  ist  zwar  ein  instru- 
mentum  Dei,  ein  fictile  in  der  Hand  des  figulus ;  in  der  lebendigsten 
Bezogenheit  auf  ihn  treten  dann  Wesen  und  Wert  des  Menschen 
nicht  auseinander,  sondern  sie  verschmelzen  sich  zur  inneren  Ein- 
heit. Man  ist  hier  minister  Dei,  sacer  Dei,  filius  Dei;  es  stehen 
schlechthin  wertvolle  Größen,  die  Erwählten  da  —  ein  gesunder 
Individualismus   verbindet    sich    mit    dem   unbedingten    Abhängig- 


Von  Lic.  Dr.  J.  Bol  439 


keitsgefühl.     Alles  Streben  erhält  dann   Richtung  zur  Einheit,  zum 
großen    Ganzen;    durch    den    zentralen    Begriff    der    Ehr 
erhält    alles    Sinnen    und    Trachten    eine     beseligende     Richtung 
nach   oben. 

Deshalb  darf  man  sich  nicht  wundern,  daß  diesen  größten 
Systematiker  untei  den  Reformatoren  der  klare  Zug  zur  Einheit 
auch  auf  dem  religiös  praktischen  und  dem  ganzen  Kulturgebiet 
geleitet  hat.  Das  Streben  nach  Einheit  ruft  den  Zusammenhang 
aller  Geheiligten,  aller  Erwählten,  aller  wahren  Mitglieder  der 
Kirche  hervor:  Die  Kirche  ist  die  Gemeinschaft  der  Gläubigen, 
ein  majestätischer  Komplex,  eine  mystische  Einheit,  die  aber, 
äußerlich  organisiert,  als  Spiegel  der  Ordnungen  Gottes  in  der 
Welt  dasteht.  Als  solche  bietet  sie  Trotz  den  Feinden  des  Reiches 
Gottes :  Calvin  hat  mit  seinem  Organisationstrieb  den  Gesamt- 
protestantismus gegen  Loyola  gerettet  —  eine  Binsenwahrheit  der 
Geschichte  für  alle,  die  wissen,  wie  es  unter  den  Protestanten 
aussah,  ehe  Calvin  auftrat,  und  welche  Folgen  es  hätte  haben 
können,  wenn  die  ohnehin  so  mannigfach  gesonderten,  ohne  jeden 
äußeren  Zusammenhang  untereinander  stehenden,  oft  so  be- 
drängten Territorialkirchen  des  konservativen  und  oft  so  ge- 
duldigen Luthertums  sich  innerlich  so  fern,  fremd  und  gleichgültig 
geblieben  wären.  Calvin  ist  die  bindende  Persönlichkeit  des  Pro- 
testantismus. Es  muß  immer  wieder  hervorgehoben  werden,  daß 
er  der  erste  große  Unionsmann  des  Protestantismus  war :  ,.Es 
ist  das  eine  große  Gut,  dem  wir  mit  Leib  und  Seele  und  der  Hin- 
gabe des  innersten  Herzblutes  nachzustreben  haben,  daß  die  Kirche 
zur  Einheit  und  zum  Frieden  komme.  Länder  und  Meere  möchte 
ich  durchschiffen,  um  sie  zu  holen,  meinen  Hals  darbieten,  um  sie 
zu  erkaufen!  Ich  wollte,  alle  Kirchen  Christi  würden  durch  so 
viele  Einigkeit  verbunden,  daß  uns  die  Engel  herab  ihre  Har- 
monien dazu  sängen !"  1 

Der  Einheitsdrang  beseelte  Calvin  auf  dem  ganzen  Kultur- 
gebiet.2  Da  Calvin  das  ganze  Leben  unmittelbar  unter  die 
göttliche  Vorsehung  stellt,  hat  er  seinerseits  mächtig  dazu  ge- 
holfen, den  Dualismus  zwischen  der  vita  saecularis  et  religiosa 
zu  durchbrechen  und  somit  auch  der  W  issenschaft  als  Ob- 
jekt das  ganze  Lebensgebiet  wiederzugeben.     Er  erkannte  weiter, 


i)   Vgl.    Stähelin.   Joh.    Calvin    II,    189  ff. 

2)  Darauf   hat    namentlich    Kuyper:    ..Reformation    wider    Revolution'1 
hingewiesen. 


J.J.O  Calvins  Vorsehungslehre. 


daß  das  Wesen  der  Wissenschaft  im  Einheitstriebe,  ihre 
Aufgabe  nicht  bloß  in  der  Klassifikation  der  Einzelnen,  sondern 
in  der  Unterordnung  des  Speziellen  unter  das  Allgemeine  und 
dieser  wieder  unter  das  allgemeinste  Prinzip  ruhe.  Seine  Forde- 
rung einer  philosophia  christiana  ist  charakteristisch.  Hier  kam 
ihm  das  Dogma  von  der  alles  umfassenden  und  durchdringenden 
göttlichen  Vorsehung  wesentlich  zu   Hilfe. 

Mit  der  Betonung  des  Gedankens,  daß  die  ganze  Welt  uns 
die  Ordnungen  und  die  unendliche  Schönheit  Gottes  offenbart, 
daß  Gott  nicht  bloß  für  das  Einzelne,  auch  das  Kleinste,  sorgt, 
sondern  demselben  einige  Strahlen  seiner  Majestät  mitgeteilt  hat, 
hat  er  das  Verständnis  nicht  bloß  für  die  Beobachtung,  sondern 
auch  künstlerische  Darstellung  und  Veredelung  aller  Einzelheiten 
geweckt. l     Überall   ist   Calvin   Theologe    der   Einheit. 

Dadurch  ist  er  selbst  zum  instrumentum  Dei  geworden, 
wie  ihn  Butzer  in  seinem  Empfehlungsschreiben  bezeichnet  hatte, 
ein  Werkzeug  derjenigen  Vorsehung,  an  die  er  so  warm  glaubte. 
Und  dieses  Bewußtsein,  ein  Werkzeug  Gottes  zu  sein,  hat  er 
selbst,  wie  wir  schon  bemerkt  haben,  in  sich  getragen.  Doumergue 
(a.  a.  O.  S.  712)  gibt  richtig  die  Quelle  dieses  Selbstbewußtseins 
an :  „Dieu  lui  dit :  Tu  es  mon  instrument."  Wenn  er  in  der  Vor- 
sehungslehre, wie  wir  sahen,  mit  großer  Entschiedenheit  betonte, 
daß  der  Mensch  für  Gott,  und  Gott  im  Menschen  seinem  Werk- 
zeug wirkt,  daß  la  force  de  Dieu  remplagant  la  faiblesse  de 
rhomme",  dann  sind  diese  Worte  aus  der  Tiefe  seiner  persönlichen 
Überzeugung  heraus  gesprochen.  Dieser  Überzeugung  lebend, 
vollkommen  seinem  Gott  ergeben  —  cor  mactatum  in  sacrificium 
offero  —  betrachtete  Calvin  seine  Sache  als  Gottes  Sache 2  und 
ging  daher  mit  so  unerbittlicher  Strenge  gegen  die  Feinde  Gottes 
vor.  „Bellt  doch  ein  Hund,  wenn  man  seinen  Herrn  angreift,  und 
ich  sollte  meinen  Mund  verschließen,  wenn  Gottes  Wahrheit  an- 
getastet wird"  (Brief  an  die  Königin  von  Navarra). 

Calvins  Vorsehungslehre   ist  erlebt.     Darin  liegt  das   Eigen- 


1)  Vgl.  das   Nähere  bei    Kuyper. 

2)  Gegen  Castellios  Verleumdungen  schreibt  er:  Mihi  te  ad  eius 
(Gottes)  tribunal  provocare  liceat,  ut  suo  tempore  appareat  suae  doctrinae 
vindex,  quam  in  persona  mea  furiose  oppugnas.  , .Tausendmal  lieber  will 
ich",  so  schreibt  er  an  Petrus  Faber,  „daß  mich  die  Erde  verschlinge,  als 
daß  ich  nicht  horchen  sollte  auf  das,  was  mir  der  Geist  Gottes  durch  den 
Mund  des  Propheten  sagt  und  gebietet,  damit  nicht  der  Schimpf,  womit 
Gottes   Majestät  befleckt  wird,   auf  mein   Haupt  zurückfalle." 


^___ Von  i  ■     Di 

tümlichste  seiner   Lehre.     Man  kann       B    die  platoi 
von  der   Persönlichkeit    Plato   lostrennen,   und 
dabei,  indem  ihre  Wahrheiten,  losgetrennt   von  der  sie  I 
Person,  nur  in  einem  um  so  ungetrübteren  Glänze  leuchten.     Mit 
der  Lehre  Calvins  ist  es  anders.     Ihr  Wen    und   ihre   Bedeutung 
begreift   sich  nur,   wenn   man   sie   im  engen   Zusammenhang 
trachtet   mit    seiner    Person.1      Denn    die    Art    der    Ausübung   gibt 
einer  Lehre  oft  ihren  besonderen  Geschmack,  ja  sie  kann  manch- 
mal durch  Energie  des  Willens  Unvollkommenheiten  der    1  i. 
zudecken,  wie   es  in  der  Tat  z.B.  in   der   Lehre   Calvins   von 
Freiheit  der  Fall  ist. 

Calvin  ist  Theologe  der   Vorsehung  geworden,   da   er   V. 
zeug  der  Vorsehung  sein  durfte. 

i)  In  diesem  Sinne  hat  Maimbourg  recht:  Calvin  a  fabrique  une  reli- 
gion  tute  seche  et  toute  conforme  ä  son  temperament  (Doumergue,  L'art 
et  le  sentiment  dans  l'oeuvre  de   Calvin  S.  9). 


Buchdruckerei  des  Waisenhauses  in  Halle  a   d.  S. 


w 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY