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Jierbluhlw
durifcTyphuS.
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1875
1876
1877
1878
1879
1880
1881
Centralblatt für allgemeine
Gesundheitspflege
— 1 1883
355 ij w te>wg
Niederrheinischer Verein für Öffentliche Gesundheitspflege Äiüsw
188V
1885
1886
1887
90 80 70 60 D sr iby ft°°Si e ?0 10 hÜ«?
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■ ■■■II
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Centralblatt
für
allgemeine Gesundheitspflege.
Organ
des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege.
Herausgegeben
von
Dr. Finkelnburg,
Prof, an der Universität zu Bonn.
Dr. Leut,
Geh. Sanit&terath in Cöln.
Dr. WollFberg,
Kgl. Kreispliysikus in Tilsit.
Achter Jahrgang.
Mit 8 Abbildungen.
Bonn,
Verlag von Emil Strauss.
1889.
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Inhalt.
Abhan dlungen.
Seit«
Ueber die Aufgaben der Thiermedicin auf dem Gebiete der öffent¬
lichen Gesundheitspflege. Von Dr. Schmidt - Mülheim in
Wiesbaden. 1
Bericht über die am 7. Juli 1888 in Düsseldorf stattgehabte General-
Versammlung des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesund¬
heitspflege von Dr. Le nt (Köln).57
Die 14. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesund¬
heitspflege zu Frankfurt a. M. vom 13. bis 16. September 1888.
Von J. Stübben.74
Entwickelungsgang und Beschreibung der Wasserleitung in Attenkir¬
chen (Westerwald). Von Sanitätsrath Dr. Meder, Kreisphysikus
Die Anlage von Wannenbädern in öffentlichen Badeanstalten. Von
Bloch, lnspector der städtischen Badeanstalt in Elberfeld . .
Ueber Mädchenturnen. Von Director Dr. Erkelenz in Köln . . .
Ein Streifzug durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen. Von
G. K. Aird (Warschau).
Neue Desinfections-Apparate von Ingenieur A. Walz in Düsseldorf .
Betrachtungen über eine neue Heilanstalt für Lungenkranke. Von Dr.
Ernst Meissen, zweitem Arzt der Heilanstalt in Falkenstein .
Vorschläge zur Herstellung künstlicher Muttermilch aus Kuhmilch.
Von Dr. Schmidt-Mühlheim in Wiesbaden.
Ein Streifzug durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen. Von
C. K. Aird (Warschau) [Schluss].
Ein Streifzug durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen. Von
C. K. Aird (Warschau) II.
Ein Streifzug durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen.
Von G. K. Aird (Warschau) II. [Fortsetzung und Schluss.] .
Nachweisung über Krankenaufnahme und Bestand in den Kranken¬
häusern aus 54 Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und
Hessen-Nassau pro Monat October 1888 bis September 1889 27. 97.
99. 165. 167. 223. 279. 281. 349. 351. 435. 437.
Sterblichkeits-Statistik von 54 Städten der Provinzen Westfalen, Rhein¬
land und Hessen-Nassau pro October 1888 bis September 1889 28.
98. 104. 166. 168. 224. 280. 282. 350, 3&?. 436. 438,
137
155
159
207
247
250
266
272
329
393
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IV
Kleinere Mittheilungen. Seite
Ermittelungen über die Verbreitung der Perlsucht unter dem Rindvieh 29
Ueber den Einfluss der Umgebung auf die Entwickelung des Tuberkel-
Bacills. 31
Der Tuberkulose-Kongress in Paris.32
Gesundheitsschädlichkeit der Carbon-Natronöfen.34
Wasserversorgung in Verbindung mit Schwemmkanalisation gegen die
Typhus-Verbreitung.37
Impfschutzfrage.38
Ueber das Gypsen der Weine in Frankreich. 105
Ueber den colonialen und Internationalen Kongress zur Bekämpfung
der Trunksucht . .. 107
Die Zunahme des Alkoholmissbrauchs in Belgien ..108
Ueber die Verdaulichkeit der Fleischspeisen . 108
Heilkurs für stotternde Kinder. 110
Die Abfuhr der Fäkalstoffe aus Städten .110
Der achte Kongress für innere Medizin. . . . 113
Ueber die Flussverunreinigung und die Schularztfrage.169
Entwürfe für einfache ländliche Schulgebäude nebst dazu gehörigen
Erläuterungen . 174
Schularzt in Breslau. 183
Der Internationale Kongress für Ferienkolonien und verwandte Bestre¬
bungen der Kindergesundheitspflege ..185
Landessanitätsbericht für Mähren für das Jahr 1887 . 187
Der Branntwein-Consum in Holland . . ..187
Trinkerheilstätte Ellikon in der Schweiz ..187
Aus dem Verein für öffentliche Gesundheitspflege in Wiesbaden . . 188
Städtische Badeanstalt in Dortmund.225
Anweisung für die Hebammen zur Verhütung des Kindbetttiebers 227
Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege.232
Reichsgesetzliche Vorschriften zum Schutze des gesunden Wohnens . 233
Ueber die gesundheitlichen Nachtheile der neuerdings eingeführten
transportablen Coke- und Anthracit-Oefen . . 283
Polizei-Verordnung, betreffend Massnahmen gegen die Verbreitung der
Schwindsucht.. • . ;.. . 284
Massnahmen gegen die Verbreitung des epidemischen Kopfgenick¬
krampfes (Meningitis cerebrospinalis epidemica) ..285
Kanalisationsarbeiten und Krankheiten.286
Lambrecht’s Polymeter. 290
Electrischer Alarmapparat zur Verhütung von Kohlensäure-Vergiftungen 291
Zur Schulpflege der Schwachsinnigen.291
Die ärztlichen Untersuchungen der Schulen.293
Ueber die Häufigkeit von Gehörleiden bei Schulkindern.293
Die ärztlichen Wünsche betreffend die Umgestaltung des öffentlichen
Gesundheitswesens in Österreich.294
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V
S«it«
Bleivergiftung durch Mehl.295
Die Zahl der Hundertjährigen in Frankreich.296
Die Zahl der Selbstmorde in Frankreich.296
Die Eheschliessungen, Qeburten und Sterbefälle des Jahres 1887 im
Deutschen Reiche.%.353
Bekämpfung der Verbreitung der Schwindsucht in öffentlichen An¬
stalten .354
21. Jahresbericht des Vorstandes der Gladbacher Actien-Baugesellschaft 355
Ueber keimfreie Kuhmilch und deren Verwendung zur Kinderernährung 356
Ueber Tauglichkeit und Untauglichkeit im Dienste.439
Die Thätigkeit des Stadtarztes in Frankfurt a. M.441
Der städtische Gesundheitsrat in Frankfurt a. M.442
Literaturberichte.
Neuere bakteriologische Arbeiten zur Lehre von den Infektionskrank¬
heiten II. (Wolffberg). # . 39
Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen
(Finkelnburg).49
Hermann von Meyer, Zur Schuhfrage (Flatten).50
Regimentsarzt Dr. Schaffer, Der Fussboden der Wohnungen und
das Schuhwerk als hygienische Factoren (Schmidt-Bonn) . . 52
Dr. A. Lorenz, Die heutige Schulbank-Frage (Staffel-Wiesbaden) . 53
Dr. Karl Heyer, Ursache und Beseitigung des Blei-Angriffs durch
Leitungs-Wasser (Dr. Knublauch).113
A. Heyroth, Ueber den Reinlichkeitszustand des natürlichen und
künstlichen Eises, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Reichs-Gesund¬
heitsamte (Flatten).119
Dr. Lent, Die Cholera-Epidemien der Stadt Köln (Wolffberg) . . 121
Zimmer mann, Die Bevölkerung der Stadt Köln, die Bewegung der¬
selben, die Sterblichkeitsverhältnisse, Epidemien (Wolffberg) . 123
Th. Kyll, DieControle der Nahrungsmittel und Gebrauchsgegenstände
(Wolffberg).126
Prof. Dr. Leichtenstern, Ueber Ankylostoma duodenale (Wolffberg) 127
G. Nimax, Eine neue Kühlhalle für Fleisch und andere Lebensmittel
(Feldmann).129
Dr. Livius Fürst, Das Sterilisiren und Pasteurisiren der Kinder¬
nahrung (Johnen-Düren).129
Dr. Kerezi, Ueber Kindersterblichkeit und Milch Versorgung in Zürich
und Ausgemeinden (Schmidt-Bonn).131
Seggel, Zur Kurzsichtigkeitsfrage (Schmidt-Bonn).131
Ueber Gesundheitspflege und Revision des Schweizerischen Volksschul¬
wesens (Schmidt-Bonn) . ..132
La REforme du rEgime des Etablissements scolaires en France
(Schmidt-Bonn).133
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VI
Seite
L’oeuvre national des Hopitaux maritimes de France (Schmidt-Bonn) 133
L’Hospice marin italien (Schmidt-Bonn).134
Les Hopitaux maritimes (Schmidt-Bonn).134
W. W. Ireland, Herrschermacht und Geisteskrankheit (Pelman) . 135
Dr. Landsberger (Posen), Das Wachsthum im Alter der Schulpflicht
(Wolffberg).192
Ueber die körperlichen Uebungen (Pelman).197
Volks-Brausebad nach Dr. Lassar’s System (Fldm.).197
Städtische Bade- und Desinfections-Anstalt in Magdeburg (Fldm.) . 198
La Prostitution en Italie (Schmidt-Bonn).199
Vorschlag zur Regelung der Prostitution (Pelman).202
Ueber die Uebertragung des Syphilis (Pelman).203
Dehio, Untersuchungen über den Einfluss des Kaffee’s und Thee’s
auf die Dauer physischer Vorgänge (Finkelnburg) . . . . 204
Josef Körösi, Die Sterblichkeit der Stadt Budapest in den Jahren
1882 bis 1885 und deren Ursachen (Julius Pauly) .... 204
Zur Lehre von der asiatischen Cholera (Wolffberg).236
Carl Lüderitz, Zur Kenntniss der anaeroben Bakterien (Flatten) 241
P. Foä und A. Bonome, Ein Fall von Septichaemie beim Menschen
mit einigen Kennzeichen der Milzbrandinfection (Flatten) . . 242
M. von Pettenkofer, Die Typhusbewegung in München von 1851
bis 1887 (Flatten).243
Dr. A. E. Burckhardt und Dr. F. Schüler, Untersuchungen über
die Gesundheitsverhältnisse der Fabrikbevölkerung in der Schweiz
(Le Blanc).*.244
Dr. Georg Cornet, Die Verbreitung der Tuberkelbacillen ausserhalb
des Körpers (Flatten).297
„Taschenfläschchen für Huster“ (Meissen, Falkenstein i. Taunus) . 303
Mediz.-Rath Dr. Dietrich, Die Bedeutung der Krankenhäuser im
Gemeinwesen (Schmidt-Bonn).305
Hack Tu he, Geist und Körper (Pelman).. 306
La vulgarisation de Thypnotisme et de la Suggestion (Pelman) . . 308
Gesetzgebung über Alkohol und den Vertrieb der Getränke in Frank¬
reich (Pelman).308
Amtliche Mittheilungen aus den Jahresberichten der mit Beaufsichti¬
gung der Fabriken betrauten Beamten (Dr. Julius Pauli) . . 309
Germain Söe, Die Lehre vom Stoffwechsel und von der Ernährung
und die hygienische Behandlung der Kranken (P f ei ff er - München) 357
Dr. Th. Schneider, Die wichtigsten giftigen und essbaren Schwämme
(Schmidt-Bonn).360
Prof. Gärtner, Ueber die Fleischvergiftung in Frankenhausen am
KyfTh. und den Erreger derselben (Flatten).361
Ueber die Ursachen der Lösung von Blei und die Beseitigung der¬
selben (Knüblauch).362
A. Frank, Die Wasserversorgung Wiens (Fldm.).363
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Vll
Seite
Entwässerungsfragen aus der Umgebung von Berlin (Fldm.) . . . 364
Frings, Die Kanalisation von Düsseldorf (Fldm.).366
Rintaro Mori, Ueber pathogene Bakterien im Kanalwasser (Flatten) 366
W. Rietschel, Untersuchungen von Filterstoffen für Lüftungsanlagen
(Fl dm.).367
Assmann, Die Pflege der Meteorologie an klimatischen Kurorten
(Meissen, Falkenstein i. T.).368
E. Gornet, Wie schützt man sich gegen die Schwindsucht? (Meissen) 373
Pal tauf, Zur Aetiologie der Hadernkrankheit, Eppinger, Patho¬
logische Anatomie der sog. Hadernkrankheiten (Flatten) . . 375
Bordoni-Uffreduzzi, Ueber den Proteus hominis capsulatus und
über eine neue durch ihr erzeugte lnfectionskrankheit beim
Menschen (Flatten).375
Dr. G. Kaufmann, Ueber den Schlangenbiss (Schmidt-Bonn) . . 376
Dr. Don Ricardo Gomez de Figueroa, Le mines de mercure
d’Almaden.376
Schiller, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkungen des
Wassergases auf den thierischen Organismus (Flatten) . . . 377
Dr. Paul Schubert, Ueber Heftlage und Schriftrichtung (Schmidt-
Bonn) .378
Dr. Paul Schubert, Ueber Heftlage und Schriftrichtung (Staffel-
Wiesbaden) .379
J. D a i b e r, Die Schreib- und Körperhaltungsfrage (Staffel - Wiesbaden) 381
Julius Schmarje, Steilschrift oder Schrägschrift, Dr. Paul Schubert,
Zur Vertheidigung der Steilschrift (Staffel-Wiesbaden) . . . 386
Dr. Hermann Seidel, Die habituelle Skoliose (Staffel-Wiesbaden 387
Dr. Ernst Müller, Ueber Rückgratsverkrümmung (Staffel-Wiesbaden) 390
Wegweiser zum häuslichen Glück für Mädchen (Schmidt-Bonn) . 391
Ferd. Hueppe, Die Methoden der Bakterien-Forschung (Finkelnburg) 443
Schütz, Der Streptococcus der Druse des Pferdes (Flatten) . . . 445
Gl obig, Ueber einen Kartoffelbacillus mit ungewöhnlich widerstands¬
fähigen Sporen (Flatten).446
Janowski, Ueber den Bakteriengehalt des Schnees, Schmelck, Eine
Gletscherbakterie (Flatten).446
Carl Fränkel, Die Einwirkung der Kohlensäure auf die Lebens¬
fähigkeit der Microorganismen (Flatten).447
Neuere Arbeiten zur Desinfectionspraxis IV. (Flatten).448
Georg Gornet, Die Sterblichkeits-Verhältnisse in den Krankenpflege-
Orden (Flatten). 460
Dr. Kruse, Die Kanalisation des Seebades Norderney (Schultz) . . 463
Verzeichniss der bei der Redaktion eingegangenen neuen Bücher etc. 55.
136. 206. 327. 464.
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Ueber die Aufgaben der Thiermedicin auf dem
Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege.
Von
Dr. Schmidt-Mülheim in Wiesbaden.
(Vortrag, gehalten auf der 61. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte.)
Die Hygiene ist eine Disziplin, welche keine wissenschaftliche
Selbstständigkeit besitzt, sondern ihre weitverzweigten Wurzeln in
alle diejenigen Wissensgebiete schlägt, welche Antwort auf die un¬
zähligen Fragen zu ertheilen vermögen, wie der menschliche Orga¬
nismus unter den wechselnden Lebensverhältnissen am besten
gewappnet wird gegen das gewaltige Heer von Feinden, welche
ihn von der Wiege bis zum Grabe unaufhörlich bedrohen. Be-
schützung und Stärkung der Gesundheit ist also das Ziel der Hygiene.
Zu dieser ganz selbstverständlich erscheinenden Auffassung ist
man bemerkenswertherweise erst in einem noch ganz in die Gegenwart
fallenden Zeitabschnitte gelangt. Ein engherziger Standpunkt früherer
Tage betrachtete die Hygiene lediglich als präventive Medicin,
d. h. als Kunst, den Krankheiten vorzubeugen und die Sanitäts¬
behörden besassen demgemäss einen ausschliesslich medicinischen
Charakter. Der ungeheure Fortschritt, den die Hygiene in der
Neuzeit genommen, wurzelt in der Erkenntniss, dass diese Disziplin
zu ihrer angemessenen Vertretung der Dienste der verschiedensten
biologischen, naturwissenschaftlichen und technischen Fächer be¬
darf. Dieser Forderung wird denn auch bei der Zusammensetzung
der Sanitätsbehörden mehr und mehr Rechnung getragen; so ist
es beispielsweise bekannt, dass im Kaiserlichen Gesundheitsamt
neben dem Arzt auch der Thierarzt, neben dem Bakteriologen
auch der Chemiker Sitz und Stimme haben und bei der Berufung
der ausserordentlichen Mitglieder konnte man noch weitere Special¬
facher berücksichtigen.
Analogen Erscheinungen begegnet man bei den kommunalen
Gesundheitsbehörden. Unsere ganz besondere Beachtung verdient
hierbei die Thatsache, dass die Gemeinden in den letzten Jahren
eine ausserordentlich grosse Anzahl von Thierärzten in den aus¬
schliesslichen Dienst der Hygiene berufen haben. Ich glaube in
Centr&lblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 1
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der Annahme kaum zu irren, dass die Zahl der Sanitäts-Thier-
ärzte — diese Bezeichnung möchte ich für die neue Kategorie
von Beamten hiermit in Vorschlag bringen — in der Gegenwart
bei uns in Deutschland kaum minder gering ist als die irgend einer
anderen Art von Sanitätstechnikern. Und es ist sicher, dass mit
der bereits nach einigen Hunderten zählenden Schaar dieser Be¬
amten dem Bedürfnisse der Praxis auch noch nicht annähernd
genügt ist, da die Nachfrage nach tüchtigen Sanitäts - Thierärzten
tagtäglich sich vermehrt und die segensreiche Bedeutung dieser
Gesundheitstechniker immer mehr zur öffentlichen Anerkennung
gelangt.
Bei dieser Sachlage dürfte es angezeigt sein, den Beziehungen
zwischen Thiermedicin und öffentlicher Gesundheitspflege einmal
näher nachzuforschen, um zu sehen, welche Aufgaben die Hygiene
an die Thiermedicin stellt und welche Ziele von letzterer zu ver¬
folgen sind, um diesen Aufgaben zu genügen.
Die nächsten und dringendsten Forderungen der Hygiene auf
thiermedicinischem Gebiete beziehen sich offenbar auf den Schutz
der menschlichen Gesundheit vor jenen heimtückischen Contagien,
welche durch den blossen Umgang mit Thieren auf den Menschen
übertragen werden können. Das Gift der Wuth, des Milzbrandes,
der Tuberkulose, des Rotzes und der Aphthenseuclie sind die
wichtigsten der hier in Betracht kommenden Schädlichkeiten, doch
muss die Möglichkeit zugegeben werden, dass auch Strahlenpilze
und andere Krankheitskeime durch blossen Umgang von kranken
Thieren auf den Menschen übertragen werden können.
Die Gefahren, welche der menschlichen Gesellschaft aus dem
Verkehr mit seuchekranken Thieren drohen, waren in Deutschland
nicht unbeträchtlich, so lange unser Vaterland der politischen
Einigung ermangelte. Erst die neue Auferstehung des deutschen
Reiches ermöglichte jene einheitliche Regelung der Seuchengesetz¬
gebung, welche von den berufensten Vertretern der praktischen
Thiermedicin längst mit Nachdruck gefordert war. Durch das
neue Seuchengesetz wurde jetzt allerwärts im deutschen Reiche
das Auftreten der wichtigsten Thierseuchen anzeigepflichtig ge¬
macht und die Behörden angewiesen, beim Herannahen oder
Herrschen von Seuchen auf Grund der Vorschläge der beamteten
Thierärzte, die als die wichtigsten veterinärtechnischen Organe mit
weitgehenden Vollmachten ausgerüstet wurden, einheitliche Schutz-
und Tilgungsmassregeln zu ergreifen.
Und es verdient öffentlich hervorgehoben zu werden, dass
die deutschen Thierärzte mit namhaftem Erfolge an der Bekäm¬
pfung der Thierseuchen gewirkt haben. Ihrem rastlosen Schaffen
allein ist es zu verdanken, dass Wuth, Rotz und andere Seuchen
im Laufe weniger Jahre zu relativ seltenen Krankheiten geworden
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3
sind. Hierdurch aber ist nicht allein der Volkswirtschaft ein un¬
gezähltes Kapital erhalten, sondern es ist auch die Hygiene der
Thiermedicin zu grossem Danke verpflichtet. Und als in unserem
westlichen Nachbarlande vor einiger Zeit einem Manne ungewöhn¬
lich glänzende Huldigungen dargebracht wurden, weil er ein wirk¬
sames Bekämpfungsmittel für die Wuth, jene schreckliche Krank¬
heit, welche da drüben in Frankreich alljährlich noch namhafte
Menschenopfer fordert, gefunden zu haben glaubte, da konnte man
im deutschen Vaterlande bei allem Interesse für die wissenschaft¬
liche Seite der Frage ganz kaltblütig dem nunmehr entbrennenden
heftigen Streite über den Werth oder Unwerth der neuen Ent¬
deckung zuschauen: in Deutschland kommen Fälle von mensch¬
licher Wuth kaum noch vor und dieses Ergebniss verdankt das
deutsche Reich wesentlich der Tüchtigkeit und Pflichttreue seiner
Thierärzte.
Hätte die Oeffentlichkeit vor wenigen Jahren wohl einen
solchen Erfolg erwartet?
Der Thierarzt lebte bis in die jüngste Zeit hinein ein stilles
Märtyrerthum. Ist doch die Geschichte des Veterinärwesens in
manchen deutschen Staaten vielfach kaum etwas anderes als eine
fortlaufende Kette von Demütigungen und Bedrückungen eines
Standes, der bei weiser staatlicher Fürsorge wie wenig andere an
der Förderung des allgemeinen Wohles mitzuwirken befähigt ist.
Gegen diese Verhältnisse, welche die soziale Stellung der Thier¬
ärzte sehr beeinträchtigten, anzukämpfen, war so lange eine reine
Sisyphusarbeit, als die Vertreter der Thiermedicin fast ausschliess¬
lich kurative Heilkunde ausübten und es ihnen an grossen Auf¬
gaben im Dienste der Oeffentlichkeit fehlte. Solche kamen wesent¬
lich erst mit dem Seuchengesetze und dieses verschaffte dem
thierärztlichen Stande die erste günstige Gelegenheit, mit seinen
offenen und versteckten Widersachern öffentlich abrechnen zu können.
Denn bei ganz und gar ungenügenden Besoldungsverhältnissen
und kaum würdigen Rangverhältnissen und zum Theil unter den
Fesseln einer missgünstigen bureaukratischen Verwaltung haben
die deutschen Thierärzte durch die glänzende Lösung der bedeu¬
tungsvollen Aufgaben, welche ihnen das Reichs-Seuchengesetz zu¬
schrieb, der Oeffentlichkeit einen schönen Beweis von Tüchtigkeit,
Selbstlosigkeit und Pflichttreue gegeben und heute ist mehr als
jemals zuvor das Vertrauen gerechtfertigt, das Deutschlands er¬
probter thierärztlicher Apparat auch weit schwierigeren Aufgaben
im Dienste des allgemeinen Wohles gewachsen sein wird.
Für die Leistungen der Thierärzte auf dem Gebiete des Seuchen¬
wesens und des von diesem beeinflussten Theiles der öffent¬
lichen Gesundheitspflege gibt es übrigens wohl kaum ein unver¬
fänglicheres Zeugniss als dasjenige des preussischen Kultusministers
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— 4
von Gossler, der bei Berathung des Etats für das Medicinalwesen
im preussischen Landtage die Erfolge der Thierärzte den Aerzten
als erstrebenswerthe Muster hinstellte; es dürfte das die erste
Anerkennung sein, die speciell den preussischen Thierärzten von
höchster amtlicher Stelle aus im Angesichte des ganzen Landes zu
Theil geworden ist.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass der Thier-
medicin auch die Aufgabe zufallt, die menschliche Gesundheit vor
der Schädigung durch eine Anzahl von thierischen Schma¬
rotzen zu schützen, welche durch den blossen Umgang mit kranken
Thieren auf den Menschen übergehen können. Eine besondere
Bedeutung nach dieser Richtung hin hat jene winzige Taenie des
Hundes erlangt, welche die Ursache der Echinokokkenkrankheit
des Menschen abgiebt. In welchem Umfange die letztere Krank¬
heit in der Gegenwart noch verbreitet ist, geht daraus hervor, dass
von 4770 Leichen, die innerhalb von 10 Jahren im pathologischen
Institut zu Berlin zur Obduction kamen, 33 mit Echinokokken be¬
haftet waren.
Einer Betrachtung der Fürsorge für die Vermeidung der Ge¬
fahren, welche der menschlichen Gesellschaft aus dem blossen
Umgänge mit kranken Thieren erwachsen, schliesst sich am besten
eine Erwähnung des thierärztlichen Wirkens an, soweit es auf
die Verhinderung einer Incorporation von Giften bei der Schutz¬
pockenimpfung gerichtet ist.
Bekanntlich ist der hohe Aufschwung, den das Schutzpocken¬
impfwesen in der Neuzeit gewonnen, wesentlich durch die allge¬
meine Verwendung animaler Lymphe herbeigeführt. Allerwärts
im deutschen Reiche sind Anstalten für die Erzeugung dieses
Impfmateriales entstanden und der Bundesrath sah sich in seiner
Sitzung vom 28. April 1887 veranlasst, eine besondere „Anwei¬
sung zur Gewinnung, Aufbewahrung und Versendung von Thier¬
lymphe im deutschen Reiche“ zu geben. Nach den Bestimmungen
dieser Anweisung unterliegen die Impfthiere einer thierärztlichen
Crontolle, die vor dem Impfen beginnt und erst mit der Obduktion
der geschlachteten Thiere ihr Ende erreicht. Der abgenommene
Impfstoff, den man gegenwärtig viele Wochen hindurch vollkommen
wirksam erhalten kann, darf erst dann an die Impfärzte abgegeben
werden, wenn die Thiere bei Lebzeiten vollkommen gesund waren
und die nach dem Schlachten des Thieres vorgenommene sachver¬
ständige Untersuchung die Abwesenheit krankhafter Veränderungen
ergeben hat. Diese thierärztliche Uebervvachung der Impfthiere hat
eine um so grössere Bedeutung für die Gesundheitspflege, als die
Möglichkeit zugegeben werden muss, dass bei mangelnder Auf¬
merksamkeit Krankheiten wie Tuberkulose, Wundinfectionskrank-
heiten etc. mit dem Impfstoff auf den Menschen übertragen werden
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— 5 —
können. Nur dadurch, dass eine genaue Kontrolle der Impfthiere
vor der Impfung, während der Pockenentwickelung, bei der
Lympheabnahme und nach der Schlachtung vorgenommen wird,
vermögen die Anstalten ein Impfmaterial von tadelloser Beschaffen¬
heit zu liefern. Vielfach ist übrigens dem Thierarzte ein noch
grösserer Wirkungskreis gestellt, indem er zugleich die Lymphe
erzeugt, conservirt und für den Gebrauch vorrichtet, Arbeiten,
welche die äusserst gewissenhafte Befolgung einer sehr minutiösen
Technik voraussetzen.
Kommen wir nunmehr zu dem bedeutungsvollsten Abschnitte;
beschäftigen wir uns mit dem Wirken des Thierarztes an der Be¬
kämpfung jener ebenso zahlreichen wie heimtückischen Schädlich¬
keiten, welche der menschlichen Gesundheit aus der animalischen
Kost drohen.
Hierbei dürften einige historische Bemerkungen am Platze sein.
Bereits die altägyptischen Priester unterschieden mit Strenge
gesunde von ungesunden Fleischspeisen. Die Thiere wurden feier¬
lich für opferfähig erklärt und von der Kunst, den Opferthieren
die Siegel aufzudrücken, handelten ganze Bücher. Man würde in¬
dessen völlig fehlgehen, wollte man die Speisegesetze dieser Kultur¬
epoche mehr auf wissenschaftliche Erfahrung als auf kluge Priester-
diplornatie zurückführen. Die Priester, als die wesentlichsten Träger
der altägyptischen Kultur, hatten das höchste Interesse daran, das
ägyptische Volk mit seiner hochentwickelten Agrarverfassung vor
jeder intensiven Berührung mit den Nachbarnationen, die noch auf
der Stufe des Nomadenthums standen, zu bewahren. Nichts aber
konnte eine solche Absonderung so sehr begünstigen, als das stfenge
Festhalten an möglichst eigenartig gestalteten diätetischen Bräuchen.
„Die meisten intimen Freundschaften, heisst es sehr zutreffend in
dem „Mosaischen Recht“ von Michaelis, werden bei Tisch gestiftet
und mit wem ich nie essen und trinken kann, mit dem werde ich,
ungeachtet alles Umgangs wegen Geschäfte, doch selten so familiär
werden, als mit dem, dessen Gast ich bin und der der meinige
ist. Haben wir gar eine Art von Erziehungs-Abscheu vor des
Andern Speisen, so ist dies ein neues Hinderniss der näheren
Vertraulichkeit.“
Die diätetischen Satzungen der Israeliten sind unzweifelhaft
ägyptischen Ursprungs. Moses war am ägyptischen Hofe im Wohl¬
stand erzogen und von den Priestern in aller Weisheit unterrichtet
worden, bevor er es unternahm, seine bedrängte Nation aus
Aegypten zu führen und das gelobte Land zu erobern. Moses, als
ein umsichtiger Gesetzgeber, richtete sein ganzes Ziel darauf, die
Vermischung der Juden mit fremden Elementen möglichst zu ver¬
hindern, damit sie sich zu einem Volke für sich, zu einem auser¬
wählten Volke, entwickelten, das sich nicht in alle Welt zerstreute
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und von den Lastern der benachbarten Völker nicht angesteckt werde.
Ein solches Ziel musste durch strenge Speisegesetze, welche dem
ägyptischen Muster nachgebildet waren, wesentlich gefördert werden
und die mosaischen Speisegesetze, die nach der allgemeinen An¬
nahme so hohe hygienische Zwecke verfolgen, wollen durchaus von
diesem Gesichtspunkte aus beurtheilt werden. Moses verbot schon
eine ganze Anzahl von Fleischspeisen dem auserwählten Volke le¬
diglich deshalb, weil sie von anderen Völkern bevorzugt wurden;
so verbot er beispielsweise die Hunde, welche die Phönizier gern
assen und Kameele und Hasen, Lieblingsspeisen der Araber.
Im alten Athen und Rom sehen wir schon ziemlich frühzeitig
eine Art von Marktpolizei, welche für Sicherheit des Handelsver¬
kehrs sowie für die Kontrolle des Nahrungswesens Sorge trägt. —
Mit dem Niedergange der Kultur musste indessen der Sinn für ge¬
meinnützige Bestrebungen dieser Art erlöschen und erst das mäch¬
tige Aufblühen der Gewerbe im Mittelalter lenkte die öffentliche
Aufmerksamkeit wieder mit Nachdruck auf die Markt polizei hin.
Nach und nach bilden sich Fleischschauordnungen aus, die
gegen das 12. Jahrhundert hin in den einzelnen Städten immer
mehr an Bedeutung gewinnen. Diese Verordnungen entbehren aller¬
dings zunächst des Zusammenhanges mit der Hygiene so gut wie
völlig und richten sich fast ausschliesslich gegen die Uebervorthei-
lungen, welche die Fleischer durch allerlei betrügerische Kunstgriffe
vornehmen, gegen die muthwillige Vertheuerung des Fleisches und
gegen ähnliche Ungehörigkeiten. Die Fleischer, für welche aller-
wärts in den Städten öffentliche Schlachthäuser bestehen, werden
bei peinlicher Strafe angehalten, stets bestimmte Mengen von Vieh
auf Vorrath zu beschaffen; ganz besonderen Werth legt man auch
auf die öffentliche Feststellung der Fleischtaxen.
Selbst bis in die Neuzeit hinein bildeten wohlbegründete hygi¬
enische Forderungen nur in einem untergeordneten Massstabe die
Grundlage für die öffentliche Regelung des Nahrungswesens und
noch vor einigen Decennien kannte die medicinische Wissenschaft
kaum andere Gesundheitsschädlichkeiten in der Fleischkost als
Wurstgift und Milzbrandgift.
Allerdings hatte man gegen Ende des 17. Jahrhunderts die These
von der syphilitischen Natur der Perlsucht aufgestellt und dadurch
der Fleischbeschau vorübergehend eine vorher nie gekannte Bedeu¬
tung verschafft, aber später überzeugte man sich von dem Irrthum,
den man begangen und hob die den Genuss des Fleisches von
perlsüchtigen Thieren einschränkenden Verbote wieder auf.
Bei dieser Sachlage wird es begreiflich, dass mit dem Nieder¬
gange des morsch und altersschwach gewordenen Zunftwesens auch
die öffentliche Fürsorge für die Nahrungsgewerbe nachlässt, und
dass mit der Zunahme der unzünftigen Fleischer die Schlachtungen
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sich mehr und mehr der Kontrolle in den öffentlichen Schlachthäu¬
sern entziehen und in zahllosen kleinen Winkelschlachtstätten aus¬
geführt werden. Hierdurch aber verlieren die öffentlichen Schlacht¬
häuser schon bald so sehr an Bedeutung, dass sie in manchen
Städten überhaupt eingehen. So bestand z. B. in Berlin im Jahre
1842 von drei früher vorhanden gewesenen Schlachthäusern auch
nicht ein einziges mehr.
Erst in Folge der eingehenden Befruchtung der medicinischen
Disciplinen mit den Naturwissenschaften, wie sie sich in der Neu¬
zeit vollzog, konnte sich eine eigentliche Fleischhygiene ent¬
wickele und sie hat Dank den Fortschritten der Wissenschaft und
der zunehmenden öffentlichen Fürsorge für das Gesundheitswesen
gegenwärtig eine Stufe der Ausbildung erreicht, dass man berech¬
tigt ist, sie wenigstens nach ihrer wissenschaftlichen Begründung
hin zu den am besten ausgebauten Zweigen der Gesammthygiene
zu zählen.
Von den bahnbrechenden Fortschritten der Wissenschaft sind
solche auf helminthologischem, bakteriologischem und
pathologisch-chemischem Gebiete zu ganz hervorragender Be¬
deutung für unsere Disciplin geworden. Mit einem gewissen Rechte
lässt sich das Jahr 1852 als der Ausgangspunkt der modernen
Fleischhygiene betrachten: Küchenmeister stellt durch einwands¬
freie Experimente die Umwandlung der Finnen in Taenien fest und
weist auf die Gefahren des finnigen Fleisches für die menschliche
Gesundheit hin.
Von der Bedeutung der Finnen für die Fleischbeschau erhält
man ein zutreffendes Bild, wenn man berücksichtigt, dass ein ein¬
zelnes Schwein nicht selten 20,000 und noch mehr Finnen beher¬
bergt, von denen jede einzelne sich im menschlichen Organismus
zu einem Bandwurm entwickeln kann und dass im Jahre 1882 von
der Fleischbeschau in Preussen nicht weniger als 13,567 finnige
Schweine aufgefunden und angehalten wurden.
Viel bedeutungsvoller noch für die Fleischhygiene sollte eine
andere helminthologische Entdeckung werden. Im Jahre 1860
stellte Zenker die schädliche Einwirkung der Trichinen auf den
menschlichen Organismus fest und widerlegte die bis dahin allge¬
mein vertretene Meinung, dass die im Jahre 1835 von Owen näher
beschriebene Trichina spiralis, deren Entwickelungsgeschichte
mittlerweile bekannt geworden war, ein ganz unschädlicher Parasit
des Menschen sei. Die Beobachtungen über Massenerkrankungen und
zahlreiche Todesfälle von Menschen, die trichinenhaltiges Schweine¬
fleisch genossen, häuften sich bald in einem Grade, dass die
weitesten Kreise des Publikums von Furcht und Schrecken ergriffen
wurden und die berufensten Autoritäten die Errichtung öffentlicher
Schlachthäuser mit sorgfältiger Fleischkontrolle immer dringender
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verlangten. Welchen unsäglichen Jammer ein einziges trichinöses
Schwein verursachen kann, erhellt aus der Thatsache, dass in dem
2000 Einwohner zählenden Hedersleben im Jahre 1865 ein Schwein
nicht weniger als 337 Erkrankungen und 101 Todesfälle an Tri-
chinosis verursachte, und 1883 erkrankten in Deesdorf und Nien¬
hagen durch das Fleisch eines einzigen Schweines gar 503 Personen,
während 66 Todesfälle zu verzeichnen waren. In Preussen, soweit
daselbst die microscopische Prüfung des Schweinefleisches auf
Trichinen vorgenommen wird, werden durchschnittlich jährlich
etwa 2000 trichinöse Schweine aufgefunden und vernichtet.
Fast gleichzeitig mit diesen bedeutungsvollen Entdeckungen
wurde der Boden immer wirksamer vorbereitet, auf welchem die
Bakteriologie ihre glänzenden Triumphe feiern sollte. Ich muss
mich darauf beschränken, nur wenige Thatsachen aufzuzählen, welche
von ganz besonderer Bedeutung für die Fleischhygiene geworden
sind. Im Jahre 1865 stellte Villemin die Impfbarkeit der Tuber¬
kulose experimentell fest und 1882 entdeckte Robert Koch den
Tuberkelbacillus und begründete die Lehre von der ätiologischen
Identität von thierischer und menschlicher Tuberkulosis in einer
unwiderleglichen Weise. Die weitverbreitete Perlsucht des Rindes,
welche noch von Virchow mit Hartnäckigkeit für eine ganz eigen¬
artige Krankheit gehalten wurde, erkannte die fortschreitende
Wissenschaft jetzt als echte Tuberkulose an und durch zahlreiche
Fütterungsversuche bemühte man sich, die Gefahren experimentell
festzustellen, welche mit dem Genüsse des Fleisches von tuberku¬
lösen Thieren verknüpft sind. Die bisherigen sehr mühsamen Ver¬
suche haben zwar ergeben, dass ganz so grosse Gefahren, wie sie
sich Gerlach und andere dachten, in Wirklichkeit nicht bestehen,
dass aber das Fleisch unter Umständen thatsächlich eine Infektions¬
quelle für den Menschen abgeben kann. Da diese Gefahr mit dem
Aufwande aller Mittel vermieden werden muss, *so erwächst hier¬
aus der Fleischbeschau eine äusserst wichtige Aufgabe, die dadurch
besonders erschwert wird, dass bei dem ungemein häufigen Vor¬
kommen der Rindertuberkulose auch die Interessen der Volkswirt¬
schaft thunlichst zu respektiren sind.
Von bahnbrechendem Einflüsse auf die Gestaltung der Fleisch¬
hygiene ist auch das genauere Studium der Pathogonese des
Milzbrandes geworden. Die medicinische Schablone hatte sich
daran gewöhnt, Massenerkrankungen nach Fleischgenuss ohne Weiteres
auf Milzbrand zurückzuführen. Die ätiologischen Fortschritte zeigten
nun, dass derartige Erkrankungen meistens ganz anderen Ursachen
als dem Anthrax ihr Dasein verdanken und dass Milzbrandinfectionen
durch Fleisch zu den allerseltensten Vorkommnissen zählen.
Besonders fand man, dass septische und pyämische Leiden
der Schlachtthiere die häufigste Quelle der Fleischvergiftungen ab-
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geben. Bollinger vermochte dies für einige Tausend Vergiftungs¬
falle aus der Neuzeit zuverlässig nachzuweisen und es ergab sich,
dass vor allen Dingen die septische Metritis der Kühe und die
jauchige Nabelentzündung der Kälber die menschliche Gesundheit
im hohen Grade gefährden können.
Als äusserst heimtückische und gemeingefährliche Schädlich¬
keiten in der Fleischkost erwiesen sich in der Neuzeit auch noch
gewisse chemische Gifte, welche sich bei dem Stoffwechsel der
Bakterien bilden und welche man als Fäulnissalkaloide, Ptomaine
oder Toxine bezeichnet hat. Dieselben bilden sich mit Vorliebe
auf stark durchfeuchtetem Fleisch und werden deshalb besonders
in dem Fleische von nothgeschlachteten Thieren beobachtet, ver¬
mögen sich aber bei unzweckmässiger Aufbewahrung und Zube¬
reitung auch in dem Fleische von ganz gesunden Thieren zu ent¬
wickeln.
Betont muss noch werden, dass Fleisch und Fleischspeisen
auch als wohlgeeignete Nährböden für solche Mikroorganismen
fungiren können, welche man als die Erreger gefährlicher Infek¬
tionskrankheiten des Menschen erkannt hat. Manche Infek¬
tionen von Typhus, Cholera und ähnlichen Seuchen dürften durch
die Fleischkost vermittelt werden.
Neben den genannten Anomalien spielen Wuth, Rotz,
Aphthenseuche und andere Krankheiten der Schlachtthiere* bei
der Schädigung der menschlichen Gesundheit durch die Fleisch¬
kost nur eine sehr untergeordnete Rolle.
Die gehäuften Beobachtungen über die Wiederkehr von Massen-
vergiftungen, welche durch die vorgenannten Schädlichkeiten
verursacht werden, erregten in einem Grade das Interesse der
menschlichen Gesellschaft, dass der Ruf nach Schutz vor solchen
Vorkommnissen immer lauter erscholl. Es ist recht bezeichnend
für die Rathlosigkeit, in welcher sich gewisse Kreise dieser Forde¬
rung gegenüber befanden, wenn der Marburger Professor Falck
in einem mehr als 600 Seiten starken Werke über das Fleisch,
welches übrigens jede praktische Sachkenntniss vollkommen ver¬
missen lässt, ganz ernsthaft verlangt, das Fleisch kranker Thiere
ohne jede Rücksicht auf die Natur der Krankheit vom Genuss
für Menschen auszuschliessen und wenn er Gerlach und anderen
thierärztlichen Autoren die heftigsten Vorwürfe darüber macht,
dass sie es wagen, überhaupt von dem geniessbaren Fleisch kranker
Thiere zu sprechen. Eine nur oberflächliche Bekanntschaft mit
den Ergebnissen der Schlachthausstatistik sowie die geringste Ver¬
trautheit mit dem Wesen der Thierkrankheiten ergibt, dass die
Falck’sche Forderung durchaus unausführbar ist.
Aus einer ganzen Reihe von Schlachthausberichten, die nach
dieser Richtung hin gut übereinstimmen, greife ich einen beliebigen
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heraus; es ist dies der Jahresbericht über die Fleischbeschau in
Heidelberg im Jahre 1887. Aus demselben ersehen wir, dass von
4301 Stück Grossvieh, die im Laufe des Berichtsjahres geschlachtet
wurden, 43 Thiere für ungeniessbar erklärt werden mussten, während
978 einzelne Organe wegen krankhafter Veränderungen vernichtet,
das Fleisch dqr betreffenden Thiere im übrigen aber frei gegeben
wurde. In Heidelberg ist also annähernd der vierte Theil des
sämmtlichen Grossviehs mit krankhaften Veränderungen angetroffen
worden.
Aus den angeführten Zahlen ergibt sich, dass eine Ausführung
der Falck’schen Forderung eine äusserst empfindliche Schädigung
des Volkswohles im Gefolge haben müsste. Es würden hierdurch
die Fleischpreise derartig in die Höhe geschraubt werden, dass die
Beköstigung der grossen Masse des Volkes sich nothwendig noch
schlechter gestalten würde als gegenwärtig. Da wir wissen, dass
das Wohlbefinden und die Thatkraft eines Volkes wesentlich abhängig
sind von der Menge der Fleischnahrung, die ihm zur Verfügung
steht, so kann d ie Fleischh ygiene unmöglich ihreAufgabe
darin erblicken, alles Fleisch von kranken Thieren
schlechterdings zu verwerfen, sondern sie hat viel¬
mehr dahin zu wirken, dass von der ungeheueren
Menge von Fleisch, welches von mit mehr oder weniger
namhaften Mängeln behafteten Schlachtthieren her¬
rührt, soviel zu Zwecken der menschlichen Ernährung
zugelassen wird, als an der Hand der wissenschaft¬
lichen Erfahrung ohne Nachtheil für die menschliche
Gesundheit geschehen kann und dass nur dasjenige
Fleisch zur Vernichtung gelangt, welches notorisch
die menschliche Gesundheit zu gefährden geeignet
ist, oder welches wenigstens wissenschaftlich hin¬
reichend verdächtig ist, dass es dieses thun könnte;
weiterhin ist aber auch Fleisch mit allgemein ekel¬
erregenden Eigenschaften vom Verkehr auszuschliessen.
Indem nun die Fleischhygiene im wohlvorhandenen Interesse
der Volkswirthschaft mit Objectivität zur Prüfung der Frage schritt,
welche Leiden der Schlachtthiere den Fleischgenuss nicht nach¬
theilig beeinflussen, ermittelte sie ein ganzes Heer von krankhaften
Veränderungen, welche die Verwerthung des Fleisches zu Zwecken
der menschlichen Ernährung unbedingt oder doch bedingungsweise
gestatten. Man einigte sich bald darüber, dass beim Antreffen von
unbedeutenden und an sich harmlosen Veränderungen an sonst
gesunden Thieren das Fleisch nach der Entfernung der veränderten
Körpertheile anstandslos in den Verkehr gelangen könne, während
bei umfangreicheren Veränderungen, die an sich nicht gesundheits¬
schädlich' sind, die aber befähigt scheinen, den begründeten Ekel
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jener Konsumenten zu erwecken, welche für ihr schweres Geld
auch eine vollkommen tadellose Waare verlangen, sich mehr und
mehr der empfehlenswerthe Brauch einbürgerte, das Fleisch unter
amtlicher Kontrolle und unter ausdrücklicher Bezeichnung seiner
mangelhaften Herkunft zu einem geringeren Preise auf der sogen.
Freibank zu verkaufen.
Bei dieser Sachlage erkannte man in den zuständigen Kreisen
sehr bald, dass die Frage, ob das Fleisch krank befundener Schlacht-
thiere nicht oder nur unter gewissen Bedingungen zum mensch¬
lichen Genüsse zugelassen werden könne, nur derjenige mit der
erforderlichen Sachkenntniss zu entscheiden vermag, welcher mit
dem gewaltigen Heer von Krankheiten und abnormen Körperzu¬
ständen der Schlachtthiere genau vertraut ist, und das ist allein
der erfahrene Thierarzt, der sich auf Grund reicher Kenntnisse
vom gesunden und kranken Thierkörper speciell in dieses Gebiet
der Hygiene eingearbeitet hat. Eine andere Ausbildung hat sich
nicht befähigt gezeigt, sich diejenige Summe von Kenntnissen und
praktischen Erfahrungen anzueignen, welche zur zutreffenden hygi¬
enischen Beurtheilung des Fleisches durchaus erforderlich sind.
Diese Ueberzeugung hat denn auch ihren praktischen Ausdruck
gefunden in der Thatsache, dass in der Gegenwart immer mehr
und mehr Thierärzte in den öffentlichen Sanitätsdienst berufen
werden und dass zur Zeit bereits einige Hunderte thierärztlicher
Sanitätstechniker ihre dem öffentlichen Wohle gewidmete Thätig-
keit auf dem Gebiete der Fleischhygiene entfalten. Für den nüchternen
Beobachter kann es gar nicht zweifelhaft sein, dass unter dem Ein¬
flüsse einer zweckentsprechenden Gesetzgebung, welche ihre Für¬
sorge immer mehr der sachkundigen Ueberwachung des Nahrungs¬
wesens zuvvendet, die Zahl dieser Beamten in der Zukunft noch
eine sehr bedeutende Steigerung erfahren wird.
Was übrigens die neue Gesetzgebung auf dem Gebiete der
Fleischhygiene betrifft, so entstanden seit Beginn der sechziger
Jahre fast in allen deutschen Staaten umfassende Verordnungen,
den Bau öffentlicher, ausschliesslich zu benutzender
Schlachthäuser betreffend.
ln der Gewerbeordnung für das deutsche Reich wurde
die Landesgesetzgebung ermächtigt, für solche Orte, in welchen
öffentliche Schlachthäuser in genügendem Umfange vorhanden sind,
die fernere Benutzung bestehender sowie die Errichtung neuer
Privatschlächtereien zu untersagen.
Aber diese ganze Gesetzgebung ist nur als der schwache
Anfang des Versuches einer Abschlagszahlung auf die berechtigten
Forderungen der Hygiene zu betrachten; sie bezieht sich allein auf
eine Regelung der Schlachtungen und ist selbst nach dieser Rich¬
tung hin nicht für das ganze Land verbindlich, ihre Anwendung
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ist vielmehr bisher lediglich der Einsicht der einzelnen Gemeinden
überlassen worden. Noch fehlt es in dem grössten Theil des
deutschen Reiches ganz an einer gesetzlichen Regelung der Fleisch¬
beschau und selbst ein so gemeingefährliches Gewerbe wie die
Nothschlachtungen unterliegt nur in einem kleinen Theile
Deutschlands einer sanitätspolizeilichen Beaufsichtigung. Auch
führen die Gemeinden, welche sich vor den Gefahren ungesunder
Fleischkost durch Errichtung öffentlicher Schlachthäuser schützen
wollen, mit Recht lebhafte Klage darüber, dass sie ziemlich macht¬
los sind, sobald es sich um eine befriedigende Kontrolle des von
auswärts eingeführten Fleisches handelt. Nur in einigen süddeutschen
Ländern liegen die Verhältnisse günstiger.
Bei dieser ganz und gar ungenügenden staatlichen Fürsorge
würden die Zustände in der Praxis des Handelsverkehrs mit Fleisch
und Fleischwaaren schlechterdings ganz unerträglich sein, hätte nicht
das vortreffliche Nahrungsmittelgesetz vom 14. Mai 1879 den
Verkehr mit anomalen Nahrungs- und Genussmitteln ganz allgemein
unter Strafe gestellt. Indem die Gesetzgebung in weiser Selbst¬
beschränkung darauf verzichtete, genau zu präzisiren, welche
Nahrungsmittel als verdorben, verfälscht, nachgemacht oder gesund¬
heitsschädlich zu betrachten sind, überliess sie die Klarstellung
dieser Begriffe lediglich der Wissenschaft. Hierdurch hat die Fleisch¬
hygiene ein früher nie gekanntes Ansehen in der Oeffentlichkeit
erlangt und heute steht der Thierarzt in der Praxis des Handels¬
verkehrs alltäglich vor einer Menge von Aufgaben, die tief in das
gewinnsüchtige gewerbliche Treiben der Gegenwart einschneiden
und ihm, dem berufensten Sachverständigen auf dem Gebiete der
Fleischhygiene, das Bedürfniss auferlegen, sich unter Zuhülfenahme
sämmtlicher Hülfsmittel der Wissenschaft stets bereit zu halten zur
exakten Entscheidung der Fundamentalfragen, welche Fleischkost
im Sinne des Nahrungsmittelgesetzes als verdorben, welche als
verfälscht oder nachgemacht und welche als gesundheits¬
schädlich zu betrachten ist.
Der Thiermedicin sind aber auch auf einem anderen Gebiete
des Nahrungswesens, nämlich auf demjenigen der Milchhygiene
hochbedeutende Aufgaben erwachsen un4 es kann für den Einge¬
weihten gar nicht zweifelhaft sein, dass diese schon in einer nahen
Zukunft für das Wohl der menschlichen Gesellschaft mindestens
die gleiche Bedeutung erlangen werden, wie die eben besprochenen.
Schädigungen der menschlichen Gesundheit durch ungesunde
Milchnahrung kommen in einem weit grösserem Umfange vor, als
allgemein angenommen wird. Vor allen Dingen ist es der zarte
Organismus des Säuglings, der von ihnen betroffen wird.
Es ist eine der traurigsten sozialen Erscheinungen der Gegen¬
wart, dass in Deutschland durchschnittlich etwa V* sämmtlicher
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Neugeborenen bereits im Laufe des ersten Lebensjahres zu Grunde
geht, dass aber in manchen Gegenden sogar die Hälfte aller Säug¬
linge von diesem Schicksale betroffen wird. Die ärztliche Erfahrung
hat gezeigt, dass diese beklagenswerthe Erscheinung vornehmlich
auf eine ungeeignete Ernährung der Säuglinge zurückzuführen ist.
Unter unseren eigenartigen Kulturverhältnissen, wo die weibliche
Eitelkeit gar zu leichten Sieg erringt über das Pflichtgefühl, wird
die Mutterbrust immer mehr und mehr ihrer natürlichen Bestimmung
entfremdet und es muss angesichts der enormen Säuglingssterblich¬
keit als eins der höchsten socialen Probleme erscheinen, einen
geeigneten Ersatg für die Muttermilch zu finden.
So ist es denn gekommen, dass die Kühe für eine überaus
grosse Anzahl von Kindern die wichtigsten oder gar die einzigen
Ammen bilden, denen gegenüber die Säugammen nur eine unter¬
geordnete Rolle spielen. Zudem wird das Elend durch letztere
nicht gemildert, sondern nur verschoben: die Armuth gibt gesunde
Muttermilch, die naturgemäss für das Gedeihen des eigenen Kindes
bestimmt ist, für Geld dem Sprössling des Wohlhabenden und
überlässt ihr eigenes Fleisch und Blut dem Elende der künstlichen
Ernährung.
Neben der Thiermilch finden allerlei Kunstpräparate und Surro¬
gate bei der Kinderpflege in einem früher nie geahnten Umfange
Verwendung. Ist man sich nun zwar im Prinzipe darüber einig,
dass die Thiermilch den besten Ersatz für die Frauenmilch bildet,
so kann doch nicht bestritten werden, dass die Kuhmilch, wie sie
heute in den Handel gelangt, zum grossen Theile als ein geeigneter
Ersatz für die Muttermilch nicht gelten kann und dass sie wesent¬
lich Mitschuld trägt an der hohen Säuglingssterblichkeit.
Es ist durch sehr sorgfältige Beobachtungen dargethan, dass
die nachtheilige Wirkung der Kuhmilch keineswegs auf die ab¬
weichende chemische Zusammensetzung gegenüber der Frauenmilch
zurückzuführen ist, sondern wesentlich einer fehlerhaften Produktions¬
weise ihr Dasein verdankt. Eine reiche Erfahrung hat ergeben,
dass der Säugling bei gesunder und gut gewonnener Kuhmilch
vortrefflich gedeiht, eine Erkenntniss, die man vor allen Dingen den
mit Umsicht geleiteten Milchkuranstalten verdankt.
Die Schutzmassregeln, welche behördlicherseits bisher ergriffen
wurden, um den Gefahren in der Kindermilch entgegenzuwirken,
müssen als völlig verfehlt bezeichnet werden und erscheinen nur
geeignet, das grosse Publikum in eine falsche Sicherheit zu wiegen.
Auch ist es beklagenswerth, dass namhafte Chemiker und selbst
Aerzte öffentlich auf dem Irrwege betroffen tverden, die Ursachen
der traurigen Erscheinung in einem Fehlen an „einheitlichen Normen“
für die chemische Prüfung der Milch zu erblicken und von einer
Verbesserung der gebräuchlichen chemisch-analytischen Methoden
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der Milchprüfung Abhülfe erhoffen. Das könnte doch nur dann
zutreffend sein, wenn die gewöhnlichen Verfälschungen der Milch,
die Verwässerung und Entrahmung oder fremdartige Zu¬
sätze zur Milch, auf deren Nachweis die chemisch*analytischen
Methoden zur Zeit allein gerichtet sind, die hohe Gesundheitsschäd¬
lichkeit der Kuhmilch ausmachten, was bekanntlich nicht der Fall
ist. Dass auch die sogen. Milchkrankheiten, die fadenziehende
Milch, die blaue Milch, die rothe Milch etc. eine Gefahr für die
menschliche Gesundheit nicht einschliessen, sei an dieser Stelle nur
deshalb betont, weilein amtliches preussisches Schriftstück,
der Anhang zum Erlass der Minister des Innern * der Landwirt¬
schaft und der Medizinalangelegenheiten vom 28. Januar 1884, betr.
die Regelung des Verkehrs mit Milch diese Fehler ausdrücklich als
gesundheitsschädlich bezeichnet. Wäre letzteres tatsächlich
der Fall, so müsste es völlig unverständlich scheinen, wie im nörd¬
lichen Schweden, einem Lande, das so geringe Kindersterblichkeit
aufzuweisen hat, wie kaum ein anderes, sowie in Lappland
Kuhmilch, die absichtlich fadenziehend gemacht ist, ein sehr ge¬
schätztes Nahrungsmittel bildet, das sich Monate hindurch aufbe¬
wahren lässt.
Mit der Zunahme unserer Kenntnisse auf dem Gebiete der
Ernährungshygiene tritt es immer klarer zu Tage, dass die Gefahren der
Milchnahrung von Qualitäten des Eutersekretes abhängig sind, welche
sich durch physikalische und chemische Prüfungsmethoden, wie
wir sie gegenwärtig bei der polizeilichen Kontrolle der Marktmilch
anwenden, ahsolut nicht nachweisen lassen, welche sich vielmehr
nur durch eine angemessene Ueberwachung des Gesundheits¬
zustandes so wie derFütterung und Haltung derMilchkühe
sowie durch eine Fürsorge für die richtige Behandlung und Auf¬
bewahrung der Milch bekämpfen lassen.
Bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft müssen wir
es als obersten Grundsatz hinstellen: dass die Milch nur dann
hygienisch zutreffend beurtheilt werden kann, wenn man
die Art und Weise ihrer Produktion sowie ihre Behand¬
lung bis zum Verkaufe genau kennt. Alle Bemühungen,
mit Hülfe abstrakter Laboratoriumsweisheit allein eine zweckent¬
sprechende Milchkontrolle auszuüben, haben ihren gänzlichen Ban¬
kerott dargethan. Der himmelschreiende Umfang der Kindersterb¬
lichkeit sollte dringend zu entschlossener Umkehr von den gänzlich
verfehlten Bahnen mahnen, auf denen sich die Milchpolizei gegen¬
wärtig befindet.
Wir pflichten Ctiyrim vollkommen bei, wenn er der Chemie
auf ihrer gegenwärtigen Stufe der Entwickelung jegliche Kompetenz
abspricht, über die Qualität der Milch als Nahrungsmittel das letzte
entscheidende Wort zu sprechen, womit wir natürlich keineswegs
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bestreiten wollen, dass die chemische Analyse für den Nachweis
gewisser Fälschungen der Milch hohen Werth besitzen kann.
Die Milch ko n trolle gehört weit mehr vor dasForum
der Thiermedicin als vor. das jenige der Chemie und
sie hat sich vor allen Dingen auf eine Ueberwachung
des Gesundheitszustandes sowie der Fütterung und
Haltung der Thiere zu erstrecken!
Eine Abstammung der Milch von gesunden Kühen
ist ganz unerlässlich. Milch von kranken und von arzneilich be¬
handelten Thieren ist nicht allein für die weitesten Volksschichten
ekelerregend, sondern kann auch gesundheitsschädlich werden.
Letzteres ist besonders der Fall, wenn die Milchkühe an Krank¬
heiten leiden, welche auf den Menschen übertragbar sind. Obenan
steht hier die Tuberkulose. Nach den übereinstimmenden Mit¬
theilungen zuverlässiger Schlachthausthierärzte werden in vielen
Gegenden Deutschlands (Görlitz, Stuttgart, Schwerin, Bernburg etc.)
mehr als 10% sämmtlicher zur Schlachtbank geführten Kühe tuber¬
kulös befunden. — Fütterungsversuche mit der Milch von tuber¬
kulösem Rindvieh, die seit Cheauveau und Gerlach vielfach ausgeführt
worden sind, haben nach Johne in 30% aller Fälle ein positives
Resultat ergeben. Bollinger konnte sich durch Impfversuche von
einer noch weit häufigeren Infektiosität der Milch überzeugen. Er
prüfte die Milch von 20 tuberkulösen Kühen, die im Schlachthause
zu München angehalten waren, mittelst intraperitonealer Impfung
von Meerschweinchen auf ihre Virulenz und erhielt in 55% aller
Impfungen ausgesprochen positive Ergebnisse. Hierbei erwies sich
die Gesundheitsschädlichkeit von dem Umfange des tuberkulösen
Prozesses abhängig. In 5 Fällen von hochgradiger Tuberkulose
zeigte sich die Milch 4 mal infektiös, in 6 Fällen von Perlsucht
mittleren Grades erhielt man 4 positive und 2 negative Ergebnisse,
während in 9 Fällen von geringgradiger Tuberkulose das Impf¬
resultat 3 mal positiv und 6 mal negativ ausfiel.
Besonders gross wird die Gefahr offenbar dann sein, wenn die
Milchdrüsen selbst tuberkulös erkrankt sind. Das ist nach unseren
gegenwärtigen Erfahrungen keineswegs sehr selten der Fall. Eine
sehr gute Beschreibung der Eutertuberkulose rührt von Fürsten¬
berg her, der die Krankheit in Uebereinstimmung mit den An¬
schauungen seiner Zeit als „Sarcomatosis“ bezeichnet. Bang ver¬
mochte in den Milchwirthschaften Kopenhagens innerhalb einiger
Monate nicht weniger als 27 Fälle von hochgradiger Eutertuber¬
kulose festzustellen. In einem dieser Fälle traf er in der anschei¬
nend ganz normalen Milch so zahlreiche Bacillen an, dass ein einziges
Deckglaspräparat deren Tausende enthielt und in jedem Gesichts¬
felde etwa 200 Stück gezählt werden konnten.
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Eutertuberkulose vermag der erfahrene Thierarzt in zahlreichen
Fällen zu Lebzeiten der Thiere zu erkennen. Sie verräth sich
meistens durch eigenthümliche Knoten und Verhärtungen, welche sich
allmählig und ohne sichtbare Zeichen eines Allgemeinleidens in der
Substanz des Euters entwickeln und zuweilen einen sehr bedeu¬
tenden Umfang annehmen. Nicht selten brechen kleine Abscesse nach
aussen durch, die einen käsigen Brei entleeren. Von hervorragender
Wichtigkeit ist das Verhalten der Lymphdrüsen des Euters. Zu
jeder der vier Abtheilungen des Kuheuters gehört ein besonderes
Lymphdrüsenpacket. Während diejenigen der vorderen Euterviertel
ihrer versteckten Lage halber der tastenden Hand nicht zugänglich
sind, können die Lymphdrüsen der hinteren Viertel, welche zudem
am häufigsten an der Tuberkulose erkranken, sehr leicht zu Leb¬
zeiten der Kühe untersucht werden. Diese Lymphdrüsen, welche
sich unter der Einwirkung des Tuberkelgiftes mitunter ganz enorm
vergrössern und verhärten, liegen hoch oben an der hinteren und
äusseren Fläche jeder Euterabtheilung, welche an dieser Stelle
jederseits eine kleine Grube trägt.
Die Gefahren, welche der menschlichen Gesundheit aus dem
Genüsse tuberkulöser Milch drohen, können deshalb durch eine
sorgfältige thierärztliche Untersuchung der Milchkühe
namhaft eingeschränkt werden.
Die bakteriologische Untersuchung der Milch auf Tuberkel¬
bacillen hat bisher nur sehr wenig befriedigende Resultate geliefert.
In 20 infektösen Milchproben vermochte Bollinger nur ein einziges
Mal Tuberkelbacillen nachzuweisen. Es dürfte deshalb die Annahme
gerechtfertigt sein, dass das Krankheitsgift zumeist in Form von
Sporen in der Milch vorkommt. Möglicherweise sind aber auch
die Methoden zur Prüfung des Eutersecretes auf Bacillen noch
namhafter Verbesserungen fähig.
Von ungleich grösserer Bedeutung für die Praxis als die mikros¬
kopische Untersuchung ist gegenwärtig die Prüfung der Milch
auf ihre Virulenz mittelst der Impfung. Namentlich
mit Hülfe der intraperitonealen Impfung von Kaninchen dürfte
man in der Lage sein, in einer vielen Anforderungen der Hygiene
durchaus genügenden Weise infektiöse Milch mit hinreichender
Sicherheit zu erkennen. Vergegenwärtigt man sich die Thatsache,
dass in manchen Gegenden Deutschlands mehr als 10°/o sämmt-
licher Milchkühe tuberkulös sind und bestätigt sich der Befund
Bollinger’s, dass mehr als die Hälfte dieser Thiere eine infektiöse
Milch liefern, einer reicheren Erfahrung gegenüber, so dürfte die
Hygiene, so lange sie kein besseres und noch einfacheres Mittel
zum Nachweis der schädlichen Milch kennt, zu der Forderung be¬
rechtigt sein, die des Milchverkaufes halber gehaltenen Kühe in
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regelmässigen Intervallen — vielleicht alle Vierteljahre — auf die
Virulenz ihrer Milch zu prüfen.
Neben der Tuberkulose ist die Aphthenseuche (Maul- •
Klauenseuche), die nicht selten weite Landstriche in schneller Ver¬
breitung überzieht und dabei ungezählte Milchkühe befallt, zu den¬
jenigen Thierkrankheiten zu zählen, welche durch den Milchgenuss
auf den Menschen übertragbar sind.
Die ersten zuverlässigen Nachrichten über die Schädlichkeit
der Milch bei der Maul- und Klauenseuche stammen aus dem vorigen
Jahrhundert.
Sagar beobachtete in Mähren, dass Menschen nach dem Ge¬
nüsse solcher Milch im ungekochten Zustande an Schlingbeschwerden,
Hitze und Aphthen im Munde erkrankten. Brosche sah, dass Mägde,
die sich mit der Pflege der kranken Thiere beschäftigten, an den
Fingern und Zehen einen Bläschenausschlag bekamen. Uebertra-
gungsversuche mit Milch kranker Thiere hat sodann Hertwig an¬
gestellt und hierbei an sich und an 2 Aerzten •experimentell die
Aphthenseuche erzeugt. Auch Butter und Käse, die aus der Milch
der kranken Kühe bereitet werden, können sich gefährlich zeigen:
J. Schneider sah ganze Familien nach dem Genüsse solcher Nah¬
rungsmittel erkranken.
Die Milch wirkt besonders schädlich auf den zarten Organismus
der Kinder ein; vereinzelt sind selbst tödtliche Erkrankungen beob¬
achtet worden; es entwickeln sich dann unter unstillbaren Durch¬
fällen Aphthen auf der Schleimhaut des Verdauungsapparates.
Wegen ihres in der Mehrzahl der Fälle sehr günstigen Ver¬
laufes eignet sich die Seuche wie kaum eine andere zur Verheim¬
lichung und es ist bekannt, dass trotz der durch das Viehseuchengesetz
vorgeschriebenen Anzeigepflicht die meisten Seuchenausbrüche von
den Besitzern, die eine schwere Schädigung des Milchhandels be¬
fürchten, verheimlicht werden. Hierdurch wird aber nicht allein
der weiteren Verbreitung der Seuche wesentlicher Vorschub geleistet,
sondern auch die menschliche Gesundheit um so leichter gefährdet,
als die Kenntniss von der Schädlichkeit der Milch in den land¬
wirtschaftlichen Kreisen viel zu wenig verbreitet ist. Bollinger
sagt sehr zutreffend: „Entgegen der Annahme, dass die Milch der
erkrankten Thiere in der Regel keine Verwendung findet, kann
ich aus eigener Erfahrung versichern, dass die Besitzer grösserer
Milchwirthschaften beim Herrschen der Maul- und Klauenseuche
sich und ihren Angehörigen allerdings den Genuss der Milch ver¬
sagen, nicht etwa, weil sie dieselbe für schädlich hielten, sondern
um ihren Kunden in der Stadt wenigstens annähernd die vertrags-
mässige Menge liefern zu können“.
Im Jahre 1886 wurde die OefFentlichkeit im hohen Grade be¬
unruhigt durch die Mittheilung von Power & Klein, dass ein Micro-
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. J&hrg. 2
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— 18
coccus, den Klein für das Scharlachgift hielt, durch die Milch
von scharlachkrankem Rindvieh auf den Menschen übertragen werden
könne. Mit Recht haben die englischen Veterinärbehörden gegen
diese Annahme Front gemacht, indem sie darauf hinwiesen, dass
eine Scharlachkrankheit des Rindviehes überhaupt unbekannt sei
und ein geringes Hautleiden, welchem Power und Klein so grosse
Bedeutung beilegten, ein ganz gewöhnlicher Ausschlag sei, der bei
frischmelken Kühen sehr häufig beobachtet wird und keinerlei
Beziehungen zum Scharlach besitzt. Kommen Scharlachübertra¬
gungen durch die Milch thatsächlich vor, so stammt das Gift nicht
von kranken Thieren, sondern das Eutersecret wird von aussen
inficirt.
Was die sonstigen Veränderungen betrifft, welche die Milch
durch andere Krankheiten der Kühe erleidet, so kann hier
nicht der Ort sein, dieses zum Theil noch ganz dunkle Gebiet der
Thierpathologie erschöpfend zu behandeln. Es sei deshalb nur
kurz betont, dass .die Gesundheitspflege die Abstammung der Milch
von gesunden Thieren mit Recht verlangen und die Milch von
kranken Thieren als ein allgemein ekelerregendes Nahrungsmittel
verwerfen muss. — Letzteres trifft auch zu für die Milch von
arzneilich behandelten Thieren. — Aromatische und bittere
Heilmittel, wie Kümmel, Anis, Fenchel, Wermuth und Aloe, gehen
nach innerlicher Verabreichung in die Milch über und versehen
diese mit einem ekelhaften Geschmacke. Terpentin, Carbolsäure,
Aether und Chloroform verhalten sich ebenso. Auch Jod, Eisen,
Blei, Zink, Wismuth, Kupfer, Arsenik und Quecksilberpräparate
treten in das Eutersecret über und von narkotischen Arzneien und
scharfen Abführmitteln, wie Nux vomica, Veratrum, Helleborus,
Euphorbium und Crotonöl ist genau dasselbe zu sagen. Selbst Mittel¬
salze, wie Glaubersalz, Bittersalz etc., scheinen keine Ausnahme
zu bilden und es sollte deshalb die Milch von arzneilich behan¬
delten Thieren grundsätzlich nicht im Handelsverkehr geduldet
werden.
Von einem ausserordentlich weittragenden ‘Einflüsse auf die
Qualität der Milch ist auch die Nahrung und es kann nur als
ein schwerwiegender Irrthum bezeichnet werden, wenn man, von
der physiologischen Beobachtung ausgehend, dass ein gewisser
Theil der Milchbestandtheile aus einem direkten Zerfall der Euter¬
substanz hervorgeht, eine fast völlige Unabhängigkeit der Milch¬
beschaffenheit von der Nahrung lehrt.
Thiere, die der Milchproduktion dienen, müssen ein gehalt¬
reiches Futter bekommen und es ist besonderer Werth darauf zu
legen, dass die Eiweisskörper in genügender Menge in der Nahrung
vorhanden sind. — Nur ein reichlich mit Eiweiss gespeistes Euter
besitzt eine grosse Leistungsfähigkeit und liefert eine gute Milch;
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19
bei armer Fütterung hingegen sinkt der Gehalt an Fett und
Trockensubstanz unter die für gute Marktmilch statthaften Minimal-
werthe. — Diese Verschlechterung der Milch unter dem Einflüsse
eines mangelhaften Futters kann man vom marktpolizeilichen
Standpunkte aus als eine bereits im Thierkörper vorgenommene
Verwässerung betrachten. — Die Gesundheitspflege kann mit Recht
verlangen, dass Jeder, der ein für das Volkswohl so hochbedeu¬
tendes Nahrungsmittel wie Milch in den öffentlichen Verkehr bringt,
sein Vieh auch in einer Weise füttert, dass das Eutersekret eine
normale Zusammensetzung aufweist.
Aber noch ein anderer Punkt ist für die Milchproduktion von
der fundamentalsten Bedeutung. Mit dem Aufschwünge der land¬
wirtschaftlichen Gewerbe in der Neuzeit sehen wir, wie einer
immer mehr und mehr zunehmenden Zahl von Milchkühen ihre
naturgemässe Nahrung entzogen und diese durch allerlei billige
Surrogate ersetzt wird, die bis dahin nur als werthlose Abfall¬
stoffe bekannt waren. Man hat bei der Verwendung dieser Abfalle
bisher nur ganz einseitig den Gehalt derselben an verdaulichen
Eiweissstoffen berücksichtigt, man hat so gut wie gar nicht danach
gefragt, ob nicht neben diesen erwünschten Bestandtheilen auch
Stoffe in der Nahrung enthalten sind, welche in die Milch über¬
gehen und dieser gesundheitsschädliche Eigenschaften verleihen
können.
Und doch muss diese Frage das Interesse der Gesundheits¬
pflege um so mehr in Anspruch nehmen, als wir gegenwärtig
wissen, dass das Euter nicht allein ein Sekretionsorgan, sondern
bis zu einem gewissen Grade auch ein Excretionsorgan darstellt.
Es ist nothwendig, im Auge zu behalten, dass das Euter guter
Milchkühe kaum“ weniger Flüssigkeit ausscheidet als die Nieren und
dass in das Milchdrüsensekret, ähnlich wie in den Harn, Stoffe
überzutreten vermögen, welche das Blut als Auswurfsstoffe enthält.
Der zeitliche Verlauf des Uebertrittes dieser Körper aus dem Blute
in die Milch vollzieht sich, wie experimentell festgestellt worden
ist, überraschend schnell. Nach der Injektion von indigschwefel-
saurem Natron in die Blutbahn lässt sich z. B. schon sehr bald
eine deutliche Blaufärbung der Milch nachweisen und in analoger
Weise kann man sich von dem schnellen Uebertritt von Arzneien
und anderen Substanzen aus dem Blute in die Milch überzeugen.
Nun darf man freilich nicht erwarten, dass der gewinnsüchtige
Landwirth auf die Qualität der Milch irgend welchen Werth legt,
so lange es an einer polizeilichen Ueberwachung der Milchproduk¬
tion fehlt. Die Unfähigkeit des Publikums und der Marktpolizei,
die Milch auf ihre Gedeihlichkeit prüfen zu können, weiss er vor¬
trefflich auszunutzen. — Man vergesse doch nicht, dass cs auch
heute noch der wesentlichste Zweck der Viehhaltung ist, Dünger
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20 —
»
für die Felder zu gewinnen und dass die Milchproduktion im Land-
wirthschaftsbetrieb immer nur als Nebengeschäft erscheint. Mög¬
lichst billig zu produziren ist deshalb die ausschliessliche Losung
des Landwirths und keinem Bauer wird es einfallen, den Milch¬
kühen gutes Heu und andere werthvolle Futterstoffe jn} aus¬
reichender Menge zu verabreichen, wenn er diese gut verkaufen
und durch gewerbliche Abfälle und andere billige Surrogate er¬
setzen kann. Wie weit der industrielle Sinn der Landwirthe nach
dieser Richtung hin entwickelt ist, geht am besten aus der That-
sache hervor, dass der bekannte Milchtechnologe Prof. Fleisch¬
mann in Königsberg den schwedischen Gutsbesitzer Swartz preist,
weil er den Pferdemist als Futtermittel für Milchkühe in Vorschlag
gebracht hat. — Was macht der Landwirth sich daraus, ob die
Marktmilch, die unter dem Einflüsse der billigen Abfallstoffe producirt
wird, wässerig und fettarm wird, so lange die Thiere nur recht
grosse Mengen von Milch liefern; was fragt er danach, ob die
Milch um ihre Fähigkeit, gute Butter und schmackhaften Käse zu
bilden, gebracht wird, so lange die Polizei sie anstandslos als gute
Marktwaare passiren lässt; was kümmert ihn das weiter, wenn
die Milchkühe unter dem schädlichen Einflüsse der Futtersurrogate
erkranken und in chronisches Siechthum verfallen, so lange die
Verluste an Vieh nicht derartig werden, dass von einer rentabelen
Wirthschaftsweise überhaupt nicht mehr die Rede sein kann. Ge¬
wissensbisse veranlassen ihn selbst dann nicht, seine gemeinge¬
fährliche Raubproduction einzustellen, wenn er sieht, dass das
Eutersekret nach der Verabreichung von technischen Abfällen eine
so giftige Eigenschaft annimmt, dass von einer Aufzucht von Käl¬
bern und unter Umständen selbst von einer Schweinehaltung nicht
mehr die Rede sein kann; die heutige Marktkonirolle ist ja un¬
fähig, an der notorisch giftigen Milch Veränderungen aufzudecken,
welche die Justizbehörden in den Stand setzen, den Landwirth
wegen Beschädigung der menschlichen Gesundheit zur Rechenschaft
zu ziehen.
Diese schweren Anschuldigungen kurz zu begründen, sei auf
folgende Thatsachen verwiesen: Eine ungemein weitverbreitete Ver¬
wendung als Futtermittel für Milchvieh findet die Kartoffel¬
schlempe und es gibt weite Gegenden in Deutschland, in denen
die ganze Viehhaltung auf ihrer Verwendung basirt. Man verab¬
reicht sie in Quantitäten bis zu 100 Liter pro Kuh und Tag. Bei
der Schlempefütterung kann man nun beobachten, dass reizende
Substanzen in den Harn der Kühe übertreten, der nach anhalten¬
der Einwirkung auf die Fussenden der Kühe einen entzündlichen
Hautausschlag, die sog. „Schlempemauke“ erzeugt, die nicht selten
umfangreiche brandige Zerstörungen im Gefolge hat. Man beob¬
achtet weiter, dass auch die Milch reizende Substanzen enthält
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21
und dass sie unter dem Einflüsse der Schlempefütterung einen so
ausgesprochenen giftigen Charakter annimmt, dass nicht allein
Kälber, welche diese Schlempemilch erhalten, massenhaft zu Grunde
gehen, (in manchen Schlempestallungen kann überhaupt kein ein¬
ziges Kalb mehr aufgezogen werden!), sondern, dass selbst Mutter¬
schweine, die mit den Molkereiabfällen der schädlichen Milch ge¬
füttert werden, ihre säugenden Jungen verlieren. (Vergl. Märker,
Handb. der Spiritusfabr. 1877 pag. 771.) Da kann es denn nicht
Wunder nehmen, dass auch die zarten Säuglinge nach dem Ge¬
nüsse der Schlempemilch an schweren Magen- und Darmkatarrhen
erkranken, so dass der Verdacht rege wird, dass die hohe Säug¬
lingssterblichkeit, welche wir in manchen Gegenden Deutschlands
beobachten, zum guten Theil auf die Schlempefütterung zurück-
gefüjirt werden «muss. — Hennig (Zeitschrift für Kinderheilkunde,
1873, VII.) beobachtete nach dem Genüsse von Schlempemilch ein
Wundsein und Nässen in den Hautfalten der Säuglinge, nament¬
lich der Skrotalschenkelfalte, welche Erscheinungen ein Analogon
der Schlempemauke darstellen dürften.
Vermuthlich ist die Ursache der schädlichen Wirkung der
Schlempe auf deren hohen Aschengehalt, besonders den an Kali,
zurückzuführen.
Von ähnlicher Wirkung wie die Schlempe zeigen sich die
Rückstände von der Zuckerfabrikation, die gleichfalls
in grossen Mengen an Milchvieh verfüttert werden. Besonders ge¬
fährlich sind die Presslinge und die Rübenmelasse. — Mit 30 Pfd.
Presslingen — und die Landwirthe geben den Thieren zuweilen
mehr als das Doppelte dieses Quantums — bringt man etwa
, /ss Pfd. giftiger Kalisalze in den Organismus, von denen grosse
Mengen in die Milch übertreten dürften. Die Melasse enthält 10 °/o
und mehr Asche, vorwiegend Kali, und hat sich bei der Verfütterung
an Milchvieh so nachtheilig gezeigt, dass schon Mengen von 2—3
Pfund täglich genügen, die Milch so ungesund zu machen, dass
auch nicht ein einziges Kalb mehr aufgezogen werden konnte.
Nach der Verfütterung der genannten Rückstände hat man
vielfach ganze Viehbestände an einer eigenartigen Krankheit, der
sog. neuen Dyskrasie oder Zellgewebswassersucht erkranken sehen.
Auch die Rückstände von der Oelfabrikati on er¬
heischen grosse Vorsicht bei der Verfütterung an Milchvieh. — So
ist z. B. nach der Verabreichung der so sehr beliebten Erdnuss¬
kuchen an Kühe von zuverlässigen Beobachtern zuweilen eine ab¬
führende Wirkung der Milch auf Kinder festgestellt worden und
noch weit gefährlicher dürften die Raps- und Rübsenkuchen sein,
welche niemals frei von Verunreinigungen durch den Ackersenf¬
samen angetroffen werden. Dieser Samen enthält beträchtliche
Mengen von Myrosin und Myronsäure. Von der Gegenwart dieser
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beiden senfölbildenden Substanzen überzeugt man sich sehr ein¬
fach, wenn man die pulverisirten Kuchen mit Wasser von 40° zu
einem Brei anrührt; je mehr der schädlichen Körper vorhanden,
desto lebhafter tritt beim Erkalten des Breies der stechende Ge¬
ruch nach Senföl hervor.
Nach der Verfütterung der genannten Kuchen hat man die
Thiere nicht selten an heftigen Entzündungen des Verdauungs¬
und Harnapparates erkranken sehen. Die Milch nimmt einen
scharfen und üblen Beigeschmack an und erweist sich mitunter
so schädlich, dass nach ihrem Genüsse Kälber an heftigen Durch¬
fällen zu Grunde gehen. Und dies sogar dann, wenn die Kühe
selbst noch keinerlei Störungen gezeigt haben.
Diese wenigen Beispiele aus der Praxis der Fütterungslehre
mögen als Beweis dienen, dass der Landvvirth mit der Milch, wie
sie in der Gegenwart producirt wird, weit schlimmer als "die Pest
auf den zarten Organismus der Säuglinge einwirken kann und
dass die menschliche Gesellschaft des Schutzes vor solchen Unge¬
heuerlichkeiten dringend bedarf.
Schon die Grundprinzipien der modernen Fütte¬
rungsmethoden müssen vom hygienischen Stand¬
punkte aus bekämpft und es muss gefordert werden,
dass alle Futtermittel, welche schädliche] minera¬
lische Stoffe, scharfe Substanzen, Fäulnissalkaloide,
ätherische Oele, Bitterstoffe oder dergl. in irgend
bedenklicher Menge enthalten, von der Verwendung
im Milchstalle streng ausgeschlossen werden.
Um zu einer gesunden und gedeihlichen Kuhmilch zu gelangen,
welche ohne Bedenken den Säuglingen gegeben werden darf, ist
es nun keineswegs erforderlich, die von Cnyriem und anderen
so warm empfohlene Methode der Trockenfütterung des
Milchviehes allgemein einzuführen. Nicht allein die ungewöhnlich
hohen Kosten treten einer Verallgemeinerung des Verfahrens hin¬
dernd entgegen, sondern auch die physiologische Ueberlegung lässt
es mindestens überflüssig erscheinen.
Die naturgemässe Nahrung des Rindes bilden Gräser und
Futterkräuter im frischen Zustande und lediglich die klimatischen
Verhältnisse in unseren Breiten haben dahin geführt, einen Tlieil
des Futters trocken zu verabreichen. Das Trockenfutter kann
stets nur als ein Surrogat des Grünfutters angesehen werden und
es heisst ganz und gar die natürlichen Verhältnisse auf den Kopf
stellen, wenn man für seine ausschliessliche Verwendung in die
Schranken tritt. Man macht hierbei geltend, dass das Grünfutter
je nach dem Grade seiner Verholzung einen sehr schwankenden
Gehalt an Nährstoffen aufweise, ohne jedoch zu berücksichtigen,
dass auch das Heu in seiner Zusammensetzung und Verdaulichkeit
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sehr bedeutende Differenzen erkennen lässt und dass grosse Mengen
desselben durch Regen und andere schädliche Einflüsse ganz nam¬
haft an Schmackhaftigkeit, Verdaulichkeit und Gedeihlichkeit ein-
büssen. — Zudem ist der Nährstoffgehalt sehr viel leichter beim
Grünfutter als beim Trockenfutter zu beurtheilen und nichts ist
einfacher, als bei einer Verfütterung von sehr eiweissreichen jungen
Pflanzen durch eine Beigabe von Stroh einer Verschwendung vor¬
zubeugen, bei einer Verabreichung bereits stark verholzter Kräuter
aber durch eine Zugabe von Kraftfuttermitteln die Ernährung zu
regulären.
Bei der Empfehlung der Trockenfütterung vergisst man auch,
dass das Heu mit der Dauer seiner Aufbewahrung sehr namhaft
an Verdaulichkeit einbüsst. Man berücksichtigt nicht, dass das
Heu, besonders dasjenige der Kleearten, durch das häufige Wenden
beim Trocknen grosse Verluste erleidet durch das Abbrechen der
Blätter, welche nach Weiske fast dreimal so reich an Eiweiss
sind als die Stengel. Man übersieht weiter, dass die Thiere in der
unzweideutigsten Weise bekunden, dass ihnen das Grünfutter an¬
genehmer und gedeihlicher ist als das Trockenfutter und dass
ersteres in ganz merkbarer Weise sowohl nach quantitativer als
auch nach qualitativer Richtung hin fordernd auf die Milchabson¬
derung ein wirkt. Während gutes Grünfutter für sich selbst bei
reichlicher Milchproduktion ein vollkommen genügendes Futter
bildet, kann ein Gleiches vom Heu nur dann gesagt werden, wenn
es gutes Alpenheu darstellt oder, wie dieses, aus lauter saftigen
und wenig verholzten jungen Pflanzen besteht. Je mehr sich das
Heu von diesem Charakter entfernt, je älter und hartstengliger
die Pflanzen sind, aus denen es gewonnen wurde, desto grössere
Beigaben von Kraftfuttermitteln sind erforderlich.
Das grosse Volumen des Grünfutters bereitet dem Rinde mit
seinem sehr geräumigen Verdauungsapparate keinerlei Schwierig¬
keiten. Je reicher die Nahrung an Vegetationswasser ist, desto
weniger Gesöff wird nebenbei von den Thieren aufgenommen.
Von einer ungewöhnlichen Belastung des Verdauungsapparates
durch das Grünfutter, wie sie Fürstenberg lehrte, kann deshalb
nicht die Rede sein. Wenn man behauptet, die Grünfütterung
stelle sich wegen des Transportes der grossen Mengen von Vege¬
tationswasser vom Felde in den Stall ungleich theurer als die
Trockenfütterung, so übersieht man die grossen Kosten und
Schwierigkeiten, mit denen die Heubereitung verbunden ist.
Der Vortheil des Trockenfutters, dass bei seiner permanenten
Anwendung Magen- und Darmkatarrhe der Milchkühe, wie sie
beim Uebergang zur Grünfütterung zuweilen beobachtet werden,
in Fortfall kommen, ist keineswegs besonders hoch anzuschlagen,
denn solche Störungen, welche allerdings die Milchsekretion nach-
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theilig beeinflussen, werden auch dann niemals beobachtet, wenn
der Uebergang zur Sommerfütterung mit der nöthigen Vorsicht
vorgenommen wird.
Wir können deshalb nicht genug davor warnen,
das Trockenfutter als die Normalnahrung des Milch¬
viehes, welche allein eine gleichmässige Stoffproduktion
ermöglicht, anzusehen; als natürliche Nahrung kann
stets nur gutes Grünfutter gelten und Hesse sich dieses
zu allen Jahreszeit en in genügenden Mengen beschaffen,
die Hygiene würde zu der Forderung berechtigt sein,
dass es stets die Grundlage für die Ernährung des Milch¬
viehs zu bilden habe.
Von dem ausserordentlichsten Einflüsse auf die Gedeihlichkeit
der Milch ist auch die Art und Weise der Haltung der Kühe.
So lange die Milch sich im Euter befindet, ist sie, wie wir seit
Li st er wissen, vollkommen frei von jenen Keimen, welche ihre
Haltbarkeit und gesunde Beschaffenheit so sehr beeinträchtigen.
Die hohe Zersetzlichkeit des ermolkenen Eutersekretes wird be¬
dingt durch Microorganismen, die erst von aussen in die Milch
gelangen und zwar besonders durch die Luft, die Molkereigeräthe,
die Hände des Melkenden, die Streu und die Excremente der Kühe,
welche ja das Euter und seine Umgebung Verunreinigen. Die Milch
zeigt eine um so grössere Haltbarkeit, je reinlicher sie gemolken wird.
In der Fürsorge für die erforderliche Reinlichkeit aber lassen
unsere Milchwirthschaften noch sehr viel zu wünschen übrig. Tritt
man-in früher Morgenstunde in den Kuhstall ein, so ist die Luft
desselben meist unerträglich warm und im höchsten Grade mit
Wasserdampf und üblen Dünsten geschwängert. Die Thiere haben
sich soeben von ihrem Lager erhoben und Euter und Hintertheil
sind nicht selten derartig durch Excremente und Jauche verun¬
reinigt, dass sie förmlich dampfen. Da kann es denn bei dem
geringen Ordnungssinn des Melkpersonals nicht W T under nehmen,
dass so beträchtliche Mengen von Excrementen beim Melken in die
Milch übertreten, dass sich schon nach kurzem Verweilen der
Milch in einer flachen Schaale dunkele Schmutzpartikel zu Boden
setzen, deren wahre Natur meistens unschwer zu erkennen ist. —
Mit diesen Verunreinigungen gelangen natürlich alle jene Zer¬
setzungserreger in die Milch, an denen die Excremente so reich sind.
Man sollte deshalb mit aller Strenge darauf sehen, dass das
Euter vor dem Melken zunächst gründlich gereinigt wird. Auch
verdienen jene von Amerika herübergekommenen Stallkonstruktionen
die höchste hygienische Beachtung, welche die sofortige Aufnahme
der Excremente in ein hinter den Ständen befindliches Gerinne er¬
möglichen, wodurch natürlich jeder Verunreinigung des Euters sehr
namhaft vorgebeugt wird.
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— 25 —
Wesentlich vermehren lässt sich auch die Haltbarkeit der
Milch durch eine Verbesserung der Melkmethoden. Den
Bemühungen, die Milch mittelst besonderer Melkmaschinen leicht
und sauber zu gewinnen, hat bisher jeder praktische Erfolg gefehlt
und angesichts der verwickelten physiologischen Verhältnisse bei
der Milchabsonderung will es uns sehr zweifelhaft erscheinen, ob.
die Technik der Zukunft auf diesem Gebiete bessere Ergebnisse
erzielen wird. Desto mehr aber sollte man bestrebt sein, das
Melken mit den Händen, wie es gegenwärtig bei uns in Deutsch¬
land noch ziemlich allgemein gehandhabt wird, zu vervollkommnen.
Von höchster Wichtigkeit ist es, dass die Hand während des Mel¬
kens in einer möglicht ruhigen Lage verharrt; ganz verwerflich
ist es, den Milchabfluss durch ziehende Bewegungen an den Zitzen,
wie wir es bei uns zu Lande so häufig beobachten, zu bewirken.
Hierdurch werden nicht allein die Thiere unnütz gequält und nicht
selten derartig beunruhigt, dass sie sich das Melken überhaupt nur
noch mit Widerwillen gefallen lassen, sondern es wird bei diesem
Verfahren auch eine Verunreinigung der Milch durch Schmutz¬
partikelchen und Epidermisschuppen vom Euter der Kuh sowohl
als von der Hand des Melkenden wesentlich begünstigt.
Weit besser als unser gewöhnliches Melk verfahren ist das
Melken mit eingezogenem Daumen, wie es im Allgäu und
in der Schweiz allgemein gebräuchlich ist. Es verdient vom hygie¬
nischen Standpunkte aus die allerwärmste Empfehlung. — Bei*
seiner Anwendung bleibt die vordere Fläche des im Zustande
extremster Beugung befindlichen Daumens unverrückt mit der Zitze
in Fühlung, während die Milch durch die Excursionen der Finger
nach aussen entleert wird. Das Verfahren erfordert allerdings
einige Geduld, da die Daumen bei den ersten Uebungen sehr stark
ermüden, bald jedoch bereitet das Melken nach dieser Methode
keinerlei Schwierigkeiten mehr.
Auch die Beschaffenheit der Stallluft ist von grossem
Einflüsse auf die Qualität der Kuhmilch. Je dunstiger und schlechter
die Luft, in der die Thiere weilen, desto geringer ist die Haltbar¬
keit der Milch. Das wird sofort verständlich, sobald man berück¬
sichtigt, dass mit dem Milchstrahle ganz namhafte Mengen von
Luft aus der Umgebung des Euters, die sich wegen den innigen
Beziehungen zu den Excrementen durch eine besonders mephi-
tische Beschaffenheit auszeichnet, mit in den Melkeimer gerissen
werden. Diese Luft begibt sich als Melkschaum an die Oberfläche
nachdem sie vorher in der Milch ein Reinigungsbad genommen
und ihre Verunreinigungen an diese abgegeben hat.
In der Fürsorge für die Ventilation unserer Kuhställe kann
deshalb kaum genug geschehen. Besonderer Werth ist auch dar¬
auf zu legen, dass schlechtes und durchlässiges Feldsteinpflaster,
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das dem Eindringen von Jauche und Fäkalstoffen in den Unter¬
grund grossen Vorschub leistet und dadurch eine ständige Quelle
der Luftverderbniss abgibt, allerwärts durch einen besseren Boden
ersetzt wird.
Auch soll man darauf achten, dass vor dem Melken eine an¬
gemessene Herrichtung des Lagers vorgenommen wird, da
durch die frische Streu, die ein mächtiges Absorptionsmittel dar¬
stellt, eine wesentliche Verbesserung der Stallluft herbeigeführt
werden kann.
Die Thiere zum Zwecke des Melkens aus dem Stall heraus¬
zuführen, verbietet sich leider durch die grosse Unruhe, in welche
sie hierdurch gerathen. --- Jede Erregung stört das Melken in
empfindlicher Weise. J)ie Kühe müssen zur Zeit des Melkens der¬
artig behandelt werden, dass sie in einen träumerischen Zustand
gerathen, wie man ihn auch beim Wiederkäuen beobachtet, und
nunmehr die Milch ruhig und willig hergeben.
Die Haltung der Kühe beeinflusst die Gedeihlich¬
keit der Milch in einem weit höheren Grade, als man
sich gewöhnlich vorstellt und wir pflichten Soxhlett
vollkommen bei, wenn er mit aller Bestimmtheit ver¬
neint, dass die Frauenmilch in ihrer Einwirkung auf
denSäugling auch dann noch eine wesentliche Ueber-
legenheit über die Kuhmilch zeigen würde, wenn sie
^unter den gleichen Infectionsbedingungen wie diese
in den Handel gelangte und dem Kinde aus der Flasche
gereicht würde.
Aus vorstehender Betrachtung über den Zusammenhang der
Thiermedicin mit der öffentlichen Gesundheitspflege folgt, dass
diese Verknüpfung recht innig ist und dass dem praktischen
Thierarzte auf dem Gebiete der Hygiene eine Reihe der schönsten
Aufgaben erwachsen sind, durch welche er sein Wissen dem all¬
gemeinen Wohle dienstbar machen und auf diese Weise seiner
eigenen bürgerlichen Stellung ein namhaft vermehrtes Ansehen in
der Oeffentlichkeit geben kann. Möchten die praktischen Thier¬
ärzte diese Aufgaben, denen zur Zeit weder die Staatsbehörden
noch die thierärztlichen Lehranstalten gebührende Beachtung
schenken, wohl im Auge behalten und möchten sie es ihre oberste
Sorge sein lassen, ihr Wissen, soweit es immer angeht, in den
Dienst des allgemeinen Wohles zu stellen. — An Anerkennung für
solch ein gemeinnütziges Wirken wird es ihnen nicht fehlen:
„Die Hingabe für das Ganze ist die beste Fürsorge
für sich selbst.“
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Nachweisung über Krankenaufnahme und Bestand in den Krankenhäusern ans
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat October 1£
JKrankheitsformen der Aufgenomm enen I
Bielefeld
Minden
Paderborn
Herford
Dortmund
Bochum
Hagen i. W.
Witten
Hamm
Iserlohn
Siegen
Gelsenkirchen
Schwelm
Düsseldorf
Elberfeld
Bannen
Crefeld
Essen
Duisburg
M.*Gladbach
Remscheid
Mülheim a d.Ruhr
Viersen
Wesel
Rheydt
Neuss
Solingen
Styrum
Ruhrort
Süchteln
Odenkirchen
Eschweiler
Eopen
Burtscheid
Stolberg
Köln
Bonn
Mülheim a. Rh.
Deutz
Ehrenfeld
Kalk
Trier
Saarbrücken
Kreuznach
Neuwied
W iesbaden
Bettenhausen
Fulda
Hanau
Rinteln
Schmalkalden
städt. u. kath. Krankenhaus 43 61
städtisches Krankenhaus 27 30
Landeshospital 29 ..
städtisches Krankenhaus 46 50
Louisen-u. Johanneshospital 199 224
Augustaanstalt 102 114
städtisches Hospital 85 79
evangel. und Marienhospital 156 158
städtisches Krankenhaus 32 26
. „ *> 67
. * 39 37
Mariastift u. ev. Krankenh. 155 172
städtisches Krankenhaus
evangel. Hospital
Marienhospital
St. Jos.-Hosp.
städtisches Krankenhaus
1» »
Huyssen-Slift u. Krupp’sches
Krankenhaus
städt. u. Diak.-Krankenhaus
ev. u. Mariahilf-Krankenhaus
städtisches Krankenhaus
Hospital
Krankenhaus
Haniels-Stiftung
städtisches Krankenhaus
Louisenhospital
Marienhospital
St. Antoniushospital
St. Nikolaushospital
Marienhospital
Bethlehemshospital
Bürgerhosp.u.Barackenhosp.
Fr.-YVilh.-Stift (ev. Hospital)
städt. u. Dreikönigenhospital
städtisches Krankenhaus
46 59
189 187
121 113
33 33
85 98
76 83
634 642
60 65
106 115
64 67
63 66
66 64
städt. Hosp. u. Stadtlazareth
Bürgerhospital
städtisches Hospital
städtisches Krankenhaus 1112 99
Landkrankenhaus
164 188
64 65
62 64
*7 ;
88 105
203 218
147 180
151 138
160 155
106 111
76 84
122 120
32 35
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Minden
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Paderborn
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22,4
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2
Dortmund
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Iserlohn
20600
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Siegen
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25,7
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2
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Gelsenkirchen
22074
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1
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2
1
4
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Dippstadt
10649
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37,2
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7
22,5
2
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3
Düsseldorf
130284
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3
2
43
3
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Elberfeld
118000
3 43
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18.9
6
2
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3
1
Barmen
108000
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1
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Crefeld
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Duisburg
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M.-Gladbach
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34,3
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29 —
Kleinere Mittheilungen.
* Ermittelungen über die Verbreitung der Perlsucht
unter dem Rindvieh.
Circular-Erlass des Ministers für Landwirthschaft, Domänen
und Forsten (gez. in Vertr. von Marcard) vom 11. September 1888
Nr. 15333 I. an sämmtliche Königliche Regierungs-Präsidenten.
Zur Beurtheilung der Frage, ob bezw. welche Massregeln zur wirk¬
samen Bekämpfung der Tuberkulose (Perlsucht) unter dem Rindvieh zu
ergreifen sein möchten, erscheint es nothwendig, möglichst genau darüber
unterrichtet zu sein, in welchem Masse die der menschlichen Gesundheit
und dem nationalen Viehst^nd gefährliche Krankheit in Deutschland ver¬
breitet ist.
Auf Anregung des Herrn Reichskanzlers ersuche ich Ew. Hochwohl¬
geboren ergebenst, gefälligst Erhebungen anordnen zu wollen:
1. über die Zahl der Fälle von Perlsucht bei geschlachtetem Rindvieh
nach den Ermittelungen in den öffentlichen und privaten Schlacht¬
häusern mit Angaben über die Gesammtzahl des in den einzelnen
Schlachthäusern geschlachteten Rindviehs (Bullen, Ochsen, Kühe,
Rindern und Kälber unter 6 Wochen);
2. über die Zahl der sonst beobachteten Krankheitsfälle bei lebendem
Rindvieh nach den Ermittelungen der beamteten Thierärzte bei der
Beaufsichtigung von Märkten etc., sowie bei der Privatpraxis mit
Angabe darüber, ob das Vorhandensein der Tuberkulose als be¬
stimmt oder wahrscheinlich anzunehmen, oder nur zu vermuthen
ist und ob etwa das Vorhandensein der Tuberkulose später bei der
•Schlachtung sicher festgestellt worden.
Als Zeitdauer für die Dauer der Erhebungen ist das vom 1. October
1888 bis 30. September 1889 laufende Jahr festzusetzen.
Die Ermittelungen haben nach Massgabe der in den angeschlossenen
Fragebogen aufgestellten Gesichtspunkte stattzufinden und sind zu bewirken
in Bezug auf die in den öffentlichen Schlachthäusern geschlachteten Rinder
durch die Schlachthaus Vorstände, bezüglich der in den privaten Schlacht¬
häusern geschlachteten Thiere von den beamteten Thierärzten unter ge¬
eigneter Mitwirkung der Ortspolizeibehörden.
Eine rege Betheiligung auch der landwirthschaftlichen Kreise etc. an
den vorzugsweise für die Viehwirthschaften wichtigen. Erhebungen würde die
Gewinnung umfassenden Materials den beamteten Thierärzten erheblich er¬
leichtern. Ew. Hochwohlgeboren wollen daher die landwirthschaftlichen
Hauptvereine von den angeordneten Erhebungen in Kenntniss setzen und
sie ersuchen, in geeigneter Weise dahin zu wirken, dass die Landwirthe
den beamteten Thierarzt bei Sammlung des Materials thunlichst unterstützen
und ihm die Untersuchung verdächtiger Thiere gestatten.
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30 —
Die beamteten Thierärzte sind zu veranlassen, gelegentlich ihrer amt¬
lichen Verrichtungen und bei Ausübung der Privatpraxis ihre Aufmerksam¬
keit auf die Perlsucht zu richten, an der Hand des bezeichnten Frage¬
bogens Notizen über die Krankheitsfälle zu sammeln und über das Ergebniss
der Ermittelungen unter Beifügung zweier — nach Gemeinden geordneter
— Tabellen und zwar:
a) über die Fälle von Tuberkulose bei in den privaten Schlachthäusern
geschlachteten Bindern und
b) über die Krankheitsfälle bei lebenden Thieren
zum 15. October 1889 an den Departements-Thierarzt zu berichten. Die
Gesammtzahl der während des Erhebungsjahres in den privaten Schlacht¬
häusern geschlachteten Rindviehstücke ist von dem Kreisthierarzte, erforder¬
lichen Falls unter Mitwirkung der Ortspolizeibehörden, zu ermitteln und in
die Tabelle zu a aufzunehmen.
Die Vorstände der öffentlichen Schlachthäuser werden ihre Aufzeich¬
nungen zum 15. October 1889 dem Departements-Thierarzt mitzutheilen
haben. Dieser Beamte hat alsdann das gesammte Material unter Beifügung
der von ihm zu fertigenden übersichtlichen Zusammenstellungen über die
Fälle bei geschlachteten und bei lebenden Rindern zum 1. No¬
vember 1889 der technischen Deputation für das Veterinär wesen zu über¬
senden.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, die hiernach er¬
forderlichen weiteren Veranlassungen schleunigst treffen zu wollen und für
die sachgemässe Ausführung der wichtigen Enquöte gefälligst thunlichst
zu sorgen.
Fragebogen.
Bei den Ermittelungen über die Verbreitung der Tuberkulose (Perlsucht)
des Rindviehs ist bei jedem Krankheitsfalle eine möglichst genaue Fest¬
stellung in Bezug auf folgende Punkte wünschenswerth — unter strenger
Sonderung der bei geschlachtetem Rindvieh und der sonst gemachten
Ermittelungen:
a) die Viehgattung (Bullen, Ochsen, Kühe, Rinder und Kälber unter
6 Wochen);
b) das Alter des Viehs (6 Wochen bis 1 Jahr, 1—3 Jahre, 3—6 Jahre,
über 6 Jahre);
c) die Rasse oder den Schlag des Viehs;
d) die Herkunft des Viehs mit Angaben darüber, ob vorwiegend Stall¬
oder Weidewirthschaft in dem betreffenden Besitzthum getrieben wird;
e) den Sitz des Leidens:
äusserlich (Euter), innerlich (nur beim geschlachteten Vieh),
und zwar:
Ausbreitung auf ein Organ mit den zugehörigen Lymphdrüsen
und serösen Häuten;
desgleichen auf mehrere oder sämmtliche Organe einer Körper¬
höhle ;
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31
desgleichen auf mehrere Körperhöhleft;
Auftreten von Tuberkeln im Fleisch;
allgemeine Tuberkulose;
f) die Qualität des Fleisches tuberkulöser Thiere I. II. III. Qualität;
g) die veterinär-polizeiliche Behandlung des Fleisches der tuberkulösen
Thiere.
Für das während des Lebens bestimmt, wahrscheinlich oder vermuth-
lich als tuberkulös erkannte Vieh sind Angaben darüber wünschenswerth,
ob die Diagnose nach der Schlachtung sich bestätigte.
Allgemeine Mittheilungen über die Verbreitung der Tuberkulose, die
Vererbung, Uebertragung und dergleichen würden anzufügen sein. F.
* Ueber den Einfluss der Umgebung auf die Entwickelung
des Tuberkel-Bacills ist einer Veröffentlichung von Dr. Grude au
(Sanitarian Nr. 213) Folgendes zu entnehmen.
Der Verfasser stellt drei Fragen auf:
1. Welches Resultat ergibt sich, wenn bacilläre Ansteckung und
unhygienische Verhältnisse zugleich bestehen?
2. Sind unhygienische Umstände genügend, um Schwindsucht zu er¬
zeugen, wenn alle Vorsichtsmassregeln angewandt werden, um den
Bacill auszuschliessen ?
3. Erzeugt die bacilläre Infektion immer Tuberkulose, wenn auch die
Individuen in die denkbar günstigsten hygienischen Verhältnisse
gebracht werden?
Zum Zweck dieser Feststellungen nahm Dr. Grudeau 15 Kaninchen
und theilte sie in 3 Gruppen von je 5 Thieren. Die erste Abtheilung wurde
mit Reinkulturen des Tuberkel-Bacills geimpft und in einem dunkelen Raume
untergebracht, wo sie ungenügend und schlecht genährt, überhaupt unter
ungesunden Verhältnissen lebte. Die zweite Gruppe wurde ungeimpft in
einer Kiste eingeschlossen und diese in die Erde eingegraben, so dass nur
eine kleine Oeffnung zum Einführen der Nahrung — eine kleine Kartoffel
täglich für jedes Thier — frei blieb; die Luft war so feucht darin, dass die
Kiste immer triefte. Die dritte Gruppe wurde mit einer Reinkultur des
Phthise erzeugenden Bacills geimpft und auf einem Inselchen in Freiheit
gesetzt, wo sie reichlich Licht, frische Luft und Muskelbewegung hatte;
zudem erhielt sie täglich reichliche und gesunde Nahrung. Das Resultat
des Experiments war Folgendes:
Vier von den ersten fünf Kaninchen starben nach drei Monaten und
zeigten ausgedehnte Tuberkulose; das fünfte Thier wurde Ende des fünften
Monats getödtet und zeigte den gleichen Zustand.
Von der zweiten Gruppe lebten noch alle am Schluss des vierten
Monats und scheinen so munter wie zu Anfänge des Experiments. Sie
wurden getödtet und die genaue Untersuchung ergab nichts Abnormes. Ein
Kaninchen der dritten Abtheilung starb am Ende des ersten Monats und
zeigte bei der Untersuchung eine Anschwellung der Gehirn- und Bronchien-
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32
Drüsen und Tuberkel irr der Milz. Die anderen Thiere lebten in scheinbar
guter Gesundheit fort und wurden Ende des vierten Monats getödtet. Sie
waren wohl genährt, die Muskeln fest und roth, alle Organe normal und
konnte man nicht einmal die Spuren der Impfstiche mehr beobachten.
Diese Versuche bestätigen die Ansicht, dass die Entwickelung der
Tuberkulose ein sehr complicirter Vorgang ist. Wenngleich die Umgebung
einigen Einfluss hat auf die Pr ä d is po si t io n zur tuberkulösen Erkrankung,
so hat sie einen viel bedeutsameren Einfluss auf die weitere Entwicke¬
lung und den Ausgang der Krankheit; ohne die pathogenen Eigenschaften
des Bacillus verkennen zu wollen, ergibt sich doch auch der Einfluss der
Umgebung auf seine Lebensfähigkeit als sehr bedeutsam.
In dasselbe Gebiet gehört folgende Notiz des Dr. Brown-Sdquard
(R£vue d’Hyg. X, Nr. 1) über den Einfluss der eingeschlossenen
Luft auf die Entwickelung der Phthise. Gestützt auf Versuche mit
Aufbewahrung von Tuberkelkavernen in freier und in abgeschlossener Luft
und auf mehrere Fälle von Heilungen von Phthisikern, die zwei Jahre in
freier Luft, geschützt vor Erkältungen, lebten, erklärt der Verfasser die um¬
fassendste Ventilation der Wohnungen für das beste Vorbeugungsmittel gegen
Lungentuberkulose. Die Einführung condensirter, von Kranken und Gesunden
ausgeathmeter Luft, unter die Haut von Thieren veranlasste stets tödtliche
Zufälle.
Dr. Brown-Sequard und D’Ausonval verfertigten einen Ventilations-
Apparat, eine Art von Tonne oder kegelförmiger Haube, welche in einer
gewissen Entfernung von dem liegenden Kranken angebracht wird; diese
Haube endet in ein bewegliches Ableitungsrohr von grossem Umfang,
welches in einen Lock-Kamin aus Blech mündet; in letzterem brennt eine
Kerze, eine Gasflamme oder ein Nachtlicht. Dieser Apparat ist angeblich
von grösserer Wirksamkeit als das beständige Offenstehen der Fenster bei
Tag und Nacht und schütze weit besser vor übergrosser Abkühlung. F.
*** Der Tuberkulose-Kongress in Paris (vgl. dieses Centralbl.
1888, Bd. VII, S. 284), fand Ende Juli v. J. statt. Über die Verhandlungen
des Kongresses berichtet ausführlich die deutsche mediz. Wochenschrift,
1888, Nr. 32 ff. Derselbe wurde von Ghauveau eröffnet, stellvertretende
Vorsitzende waren Villemin und Verneuil. Aus dem Inhalte der Vor¬
träge, die naturgemäss nicht immer neues brachten, heben wir hervor, dass
noch Gornil als Bedingung der Ansteckung von Schleimhäuten durch den
K o c h’schen Tuberkelbacillus, gegen dessen spezifische Bedeutung anscheinend
von keiner Seite Widerspruch erhoben wurde, Verletzungen nicht notwendiger¬
weise vorausgesetzt werden müssen. Gesunde Tiere, die mit tuberkulösem
Material gefüttert werden oder der Einatmung solchen Materials ausgesetzt
sind, werden tuberkulös. Gornil gab Meerschweinchen einen bis zwei
Tropfen einer Kultur Koch’scher Bacillen und beobachtete, dass keine
Diarrhöe entstand; die Zellenbekleidung der Darmschleimhaut bleibt unver¬
sehrt; trotzdem schwellen die Follikel, und es entstehen im Gekröse und
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33
in den Lymphdrüsen wirkliche kleine Knötchen (Granulationen); am sechsten
Tage haben sich ächte Tuberkel ausgebildet. — Gornil führt ferner
Beobachtungen an, welche die Möglichkeit der Entstehung einer Tuberkulose
der weiblichen Geschlechtsorgane auf dem Wege des Geschlechtsverkehrs
nahezulegen scheinen. —
Nocard sprach über die Gefahren des Genusses von Fleisch und
Milch tuberkulöser Tiere. Man darf keine rohe Milch geniessen, deren
Herkunft nicht bekannt ist. Ziegenmilch ist hiervon auszunehmen, da die
Ziege nicht tuberkulös wird. Eine geringere Uebereinstimmung herrscht
bezüglich des Fleisches tuberkulöser Tiere; doch ist die Mehrzahl der Sach¬
verständigen bis jetzt geneigt gewesen, das Fleisch dann vom Genüsse aus-
schliessen zu lassen, wenn die Tuberkulose nicht nur in den Lungen und
dem Rippenfell lokalisirt ist. N o c a r d sah eines von 40 Meerschweinchen,
die mit Fleischsaft von tuberkulösen Kühen geimpft worden waren, an
Tuberkulose zu gründe gehen; junge Katzen, sonst sehr empfänglich für
diese Krankheit, wurden nach Fütterung mit rohem Fleisch tuberkulöser
Kühe nie tuberkulös. Die Mehrzahl der andern Redner vertrat die Ansicht,
dass das Fleisch tuberkulöser Tiere unter allen Umständen vom Genüsse
auszuschliessen sei. Mit Rücksicht auf die Schwierigkeit, die Grenze zu
bestimmen, wann der Genuss solchen Fleisches anfange gefährlich zu werden,
gelangte der Kongress zur Annahme nachfolgenden Grundsatzes:
„Es ist angezeigt, die Schadloshaltung der Verkäufer vorausgesetzt,
mit allen zu Gebote stehenden Mitteln den Grundsatz der Beschlagnahme
und vollständigen Vernichtung allen von tuberkulösen Tieren stammenden
Fleisches durchzuführen, gleichviel wie wenig oder wie weit die bei den
Tieren festgestellte spezifische Krankheit vorgeschritten ist.“
Aus den Untersuchungen von Bang ist erwähnenswert, dass in den
Fällen, in welchen in der Milch tuberkulöser Kühe viele Bacillen gefunden
wurden, die verschiedenen Erzeugnisse derselben, Sahne, Butter, Molken
deren ebenfalls enthielten. — Nach Ghantemesse und Widal halten
sich die Tuberkulosebacillen im Seinewasser bei Temperaturen von
8—20® bis zu 70 Tagen lebend. — Arloing berichtet über — erfolglose —
Versuche, durch bestimmte Gifte Meerschweinchen für Tuberkulose unempfäng¬
lich zu machen. — Nach Carlier ist Kranken, die mit rohem Fleisch
ernährt werden müssen, nur Hammel- oder Ziegenfleisch zu empfehlen. —
Beim Pferde tritt nach der Impfung mit tuberkulösem Material nach
Nocard’s Mitteilungen lediglich an der Impfstelle die Spezifische Krank¬
heit auf, welche durch Vernarbung heilt. Es kommt aber auch eine
spontane Form der Tuberkulose vor, die ihren Ausgang vom Verdauungs¬
apparat nimmt; alle lymphdrüsenartigen (lymphoiden) Organe sind mit
Bacillen überschwemmt, dann werden alle Organe der Bauchhöhle, die
Lungen erst in letzter Linie in Mitleidenschaft gezogen. Das Tier geht
zu gründe, ehe eine Verkäsung der Lungentuberkel eintritt, während die
Drüsen des Unterleibs vollständig in einen mit Bacillen vollgepfropften
käsigen Brei verwandelt sind. — In einer dritten Form der Pferde-Tuber-
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 3
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- 34
kulose hat die Krankheit ihren Sitz lediglich in der Lunge; die Tuberkel
sind hart, weisslich, enthalten wenig Bacillen.
Sehr häufig ist nach Nocard die Tuberkulose des Geflügels,
welche den Genuss der Eingeweide dieser Tiere sehr gefährlich macht.
Es kommt vor, dass die Leber voll Bacillen ist, ohne dass eine Verände¬
rung äusserlich sichtbar ist. Diese Form der Krankheit kann man künst¬
lich leicht hervorrufen, wenn man das Gift unmittelbar in die Blutadern
einführt; das Tier geht dann nach 30—40 Tagen zu gründe.
Ueber die Kaninchen-Tuberkulose theilte derselbe Forscher mit,
dass diese Tiere selbst 9 Monate nach der Impfung mit skrophulösen
Massen noch ein gutes Aussehen darboten, während die Lungen bereits
mit verkästen Tuberkeln durchsetzt waren. Impft man dagegen skrophulöse
Massen, die bereits durch den Körper eines Meerschweinchens hindurch
gegangen sind, so geht das Kaninchen etwa 9 Monate nach der Impfung
unter schweren Erscheinungen zu gründe; ist das Impfmaterial schon zwei¬
mal durch Meerschweinchen gegangen, so stirbt das Kaninchen bereits
4 Monate nach der Impfung.
Ausser dem schon oben angeführten Beschlüsse wurden folgende Sätze
von dem Kongresse angenommen:
1. Zu den Befugnissen der Gesundheitsbehörden sollten alle Fragen
gehören, welche sich auf ansteckende Krankheiten unserer Haustiere be¬
ziehen, auch auf solche, die gegenwärtig nicht auf den Menschen übertrag¬
bar erscheinen. Zu Kuhpocken, Rotz, Hundswut, Milzbrand, Tuberkulose
können später noch andere ansteckungsfahige Allgemeinerkrankungen kommen,
welche ebenfalls allgemeine Schutzmassregeln erfordern.
2. (Wie oben angeführt.)
3. Es sind gemeinverständliche Aufsätze abzufassen und massenhaft zu
verbreiten, welche lehren, durch welche Mittel man sich am besten der Ge¬
fahr der tuberkulösen Ansteckung durch die Nahrung erwehren kann, und wie
die gefährlichen Keime im Spucknapf von Tuberkulösen zu zerstören sind.
4. Die Milchkuranstalten sind ganz besonders zu überwachen, damit
gar keine Milch von kranken Kühen zur Verwendung kommen kann.
Mit Recht ist als besondere Wirkung dieses Kongresses betont worden,
dass derselbe die Aufmerksamkeit des Publikums auf die grossen Ge¬
fahren der Übertragbarkeit der Tuberkulose gelenkt hat, und dass diese
von so berufener Seite vermittelte Kenntniss-Verbreitung gegenüber der bis¬
herigen Gleichgiltigkeit des grossen Publikums sicher ihre guten Früchte
tragen werde. W.
** Gesundheitsschädlichkeit der Carbon-Natronöfen.
Circular-Erlass des Ministers des Innern (gez. Herrfurth) vom
2. October 1888, Nr. 12197 II., an sämmtliche Königliche Regierungs¬
präsidenten.
Seit einiger Zeit werden, soviel ich erfahren habe, bisher allein von
der Firma Alwin Nieske in Dresden, sogenannte Garbon-Natronöfen in
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— 35 —
den Handel gebracht, welche nach den veröffentlichten Prospekten für Ge¬
sundheit und Leben durchaus gefahrlos sein sollen, indem angeblich das
Feuerungsmaterial nur Kohlensäure producire und bei vorschriftsmässiger
Verwendung der Oefen in Schlaf- und Wohnräumen die Heizgase durch
einen Gummischlauch ins Freie abgeführt werden.
Von dem Herrn Regierungs-Präsidenten zu Wiesbaden ist mir gegen
Ende Juni d. J. berichtet worden, dass sich daselbst kurz nach einander
zwei Fälle ereignet haben, in denen in Folge der Benutzung eines solchen
Ofens ein Mensch an der Gesundheit geschädigt, bezw. getödtet worden ist.
In Folge dieses Berichtes habe ich den Herrn Minister der geistlichen,
Unterrichts- und Medicnal-Angelegenheiten ersucht, die Frage wegen der
Gefährlichkeit dieser Oefen einer näheren Prüfung unterziehen zu lassen.
Der genannte Herr Minister hat darauf Veranlassung genommen, über diese
Frage ein Gutachten des Direktors der hygienischen Institute der hiesigen
Universität, Geheimen Medicinalrathes, Professors Dr. Koch zu erfordern,
welches ich Ew. Hochwohlgeboren anbei in Abschrift ergebenst übersende.
Aus dem Gutachten ergibt sich, dass die Garbon-Natronöfen als gemein¬
gefährlich anzusehen sind.
Wenn auch, schon aus dem Grunde, weil meines Wissens diese Oefen
bisher eine ausgedehnte Verbreitung nicht gefunden haben, ihr Gebrauch
sich vielmehr auf bestimmte Gegenden beschränkt, vorläufig davon abzusehen
sein wird, ihre Benutzung allgemein im Wege des polizeilichen Verbotes
zu untersagen, so erscheint es doch angezeigt, Vorkehrungen zu treffen,
damit das Publikum in denjenigen Gegenden, in welchen der Gebrauch der
Oefen üblich geworden ist, vor den durch dieselben entstehenden Gefahren
wirksam geschützt und damit der weiteren Verbreitung der Oefen thunlichst
vorgebeugt werde.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich daher ergebenst, die zu diesem
Zwecke geeigneten Schritte, sei es durch den Erlass einer Polizeiverordnung
für den dortigen Regierungsbezirk oder einzelne Theile desselben, sei es
durch die Veröffentlichung einer eindringlichen Verwarnung, gefälligst ver¬
anlassen zu wollen.
Gutachten über die Gefährlichkeit der sogenannten
Garbon - Natron Öfen.
Berlin, den 25. August 1888.
Ew. Excellenz beehre ich mich mit Bezugnahme auf den br. m. Erlass
vom 20. Juli d. J., Nr. 6151 M., unter Rücksendung desselben nebst An¬
lagen über die Gefährlichkeit der sogenannten Carbon-Natronöfen ganz ge-
horsamst nachstehenden Bericht zu erstatten.
Die Carbon-Natronöfen, welche von der Firma Alwin Nieske in
Dresden in den Handel gebracht werden, sollen nach den darüber ver¬
öffentlichten Prospekten durchaus gefahrlos seien, weil angeblich das
Feuerungsmaterial nur Kohlensäure producirt und bei der vorschrifts-
mässigen Verwendung in Schlaf- und Wohnräumen die Heizgase durch
einen Gummischlauch ins Freie abgeführt werden.
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— 36 —
Aufmerksam gemacht durch eine Abhandlung von Professor Wolpert,
welcher Versuche mit einem Carbun-Natronofen angestellt hat, sowie durch
eine Zeitungsnotiz, nach welcher ein derartiger Ofen die Ursache einer
tödtlichen Kohlenoxydgas-Vergiftung gewesen sein sollte, veranlasste ich
im Herbst des vergangenen Jahres Herrn Dr. Petri, im hygienischen
Institute den Garbon-Natronofen daraufhin zu untersuchen, in wie weit
derselbe die ihm von der Firma 'Ni es ke zugeschriebenen Eigenschaften
wirklich besitzt.
Als Versuchs-Ofen wurde die kleinste Nummer von Nieske gelieferten
Oefen benutzt; derselbe stimmt aber in seiner Gonstruktion, namentlich
auch in Bezug auf den damit verbundenen Gummischlauch so vollkommen
mit den grösseren Oefen überein, dass die erhaltenen Resultate auch für
letztere Geltung haben.
Die Einrichtung des Garbon-Natronofen unterscheidet sich von der¬
jenigen anderer Oefen insofern, als er in seinem oberen Theile nicht luft¬
dicht abgeschlossen, sondern nur mit einem lose aufliegenden Deckel ver¬
sehen ist, so dass die Heizgase an dieser Stelle fast ungehindert aus dem
Ofen und die Luft des beheizten Raumes übergehen können. Würde das
für die Heizgase bestimmte Abzugsrohr mit dem oberen Theil des Heiz¬
körpers in Verbindung stehen und in einen Schornstein führen, der eine
stark ansaugende Wirkung ausübt, dann wäre es trotzdem noch möglich,
dass in Folge kräftiger Zugwirkung die Heizgase sämmtlich nach dem
Schornstein abgeführt werden und dass durch die Spalte neben dem Deckel
eher Luft in den Ofen hinein gesogen wird, als dss Heizgase den Ofen
an dieser Stelle verlassen. Das ist aber nicht der Fall, denn das Abzugs¬
rohr beginnt zwar oben am Heizkörper, geht dann aber wieder nach unten
und steht gegenüber der Regulirungsöffnung mit einem Gummischlauch in
Verbindung, welcher durch eine Oeffnung im Fenster ins Freie geführt
werden soll. Bei dieser Einrichtung fehlt für die Heizgase jede Veranlassung
in den Gummischlauch überzutreten, der Inhalt des letzteren erwärmt sich
demzufolge nicht über die Zimmertemperatur und es kann somit von dem
Gummischlauch überhaupt keine Zugwirkung, wie etwa von einem Schorn¬
stein ausgeübt werden. Es bleibt unter diesen Verhältnissen den Heizgasen
nichts anders übrig, als aus dem Ofen auf dem nächsten Wege, d. h. durch
den Spalt neben dem Ofendeckel in die Luft des geheizten Raumes zu
entweichen.
Dass sich dies in Wirklichkeit auch so verhält, ist durch Dr. Petri’s
Versuche direkt erwiesen; denn selbst mit Hülfe eines sehr empfindlichen
Anemometers Hess sich ein Austreten des Heizgases aus dem vorschrifts-
mässig geheizten Ofen durch den Gummischlauch nicht nachweisen, sogar
eine Flaumfeder, welche durch den allergeringsten Luftzug in Bewegung
gesetzt wurde, blieb, wovon ich mich selbst überzeugt habe, auf der Mündung
des Gummischlauchs regungslos liegen.
Wenn die Heizgase gesundgefährliche Stoffe enthalten, dann müssen die¬
selben also sämmtlich in den vom Garbon-Natronofen geheizten Raum gelangen.
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— 37
Die Heizgase der Ofenfeuerung enthalten nun aber stets solche Stoffe,
vor Allem das höchst gefährliche Kohlenoxydgas. Es liess sich sogar er¬
warten, dass bei der verlangsamten Verbrennung, wie sie im Carbon-Natron¬
ofen stattfindet, besonders reichliche Mengen von Kohlenoxydgas producirt
werden. Auch diese Voraussetzung ist durch Dr. Petri’s Untersuchungen
bestätigt. Es konnten mit Hülfe der üblichen Reaktionsmittel, nämlich
durch Palladiumchlorür und durch verdünnte Blutlösung und schliesslich
auch durch das Thierexperiment übereinstimmend in der Luft des geheizten
Raumes solche Mengen von Kohlenoxydgas nachgewiesen werden, dass
dieselben nach der bisherigen Erfahrung auf Menschen tödtlich wirken
können.
Diese Beobachtungen allein würden schon ausreichend sein, um zu der
Ueberzeugung zu gelangen, dass die Benutzung eines Carbon-Natronofens
ebenso lebensgefährlich ist, wie die eines Kohlenbeckens in einem ge¬
schlossenen Raum oder eines Ofens, dessen Klappe zu früh geschlossen ist.
Die bisher bekannt gewordenen Unglücksfalle haben aber auch weiter
den Beweis geliefert, dass die Verwendung des Ofens zur Beheizung von
Wohn- und Schlafräumen in der That die schlimmsten Folgen haben
kann und dass die erhobenen Bedenken nicht ausschliesslich von theore¬
tischer Bedeutung sind. Wenn derartige Unglücksfälle nicht häufiger vor¬
gekommen sind, dann mag dies daran liegen, dass die Oefen gewöhnlich in
solchen Räumen benutzt werden, in denen sich Menschen nur vorüber¬
gehend aufhalten, oder in denen durch häufiges Oeffnen der Thüren ein
starker Luftwechsel stattfindet. Aber die den Carbon-Natron Öfen zur Last
fallenden Kohlenoxydgas-Vergiftungen werden unzweifelhaft in dem Masse
zunehmen, in welchem dieser Ofen beim Publikum immer weiter Eingang findet.
Besonders bedenklich muss es in dieser Beziehung noch erscheinen,
dass das Publikum keine AhnUng von der Gefährlichkeit des Carbon-Natron¬
ofens hat und dass die Firma Nieske mit ihren Prospekten und Gebrauchs¬
anweisungen die Abnehmer der Oefen in den Glauben versetzt, als ob die
Heizgase, welche möglicherweise schädlich wirken könnten, durch den
Gummischlauch beseitigt würden. Diejenigen Besitzer des Ofens, welche
denselben hiernach für ungefährlich halten, werden ihn gelegentlich auph
in soichen Räumen aufstellen, wo er unter allen Umständen gefährlich
werden muss.
ln diesem Sinne ist der Ofen entschieden als gemeingefährlich an¬
zusehen und es wird unzweifelhaft manchem Verlust an Gesundheit und
Leben dadurch vorgebeugt werden, dass der Gebrauch der Carbon-Natron¬
öfen in geschlossenen Räumen allgemein untersagt wird.
Dr. Koch, Geheimer Medicinal-Rath,
Direktor des hygienischen Instituts.
*■ Von der wohlthätigen Wirkung guter städtischer Wasserversorgung
in Verbindung mit Schwemmkanalisation gegen die Typhus-
Verbreitung gewährt die nachfolgende, der Revue d’Hygiäne entnommene
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38
Tabelle der Typhussterblichkeit in Frankfurt a. M. während des 36 jährigen
Zeitraumes von 1851 bis 1887 ein sehr lehrreiches Bild.
BHB Hkustr ati tanuaiuiMim . «pbw wi Häuser mit WasKrlrirunfsanMMuss
Die dunkeln, von links ausgehenden Säulen, bezeichnen durch ihre
Höhe für jedes der 36 Jahre die Menge der Typhus-Todesfälle, auf je
100,000 Einwohner berechnet (ZifTerskala oben). Von den hellen, von rechts
ausgehenden Säulen bezeichnen die punktirten für jedes Jahr seit Errichtung der
Trinkwasserleitung (1873) das procentische Verhältnis der an die Leitung
angeschlossenen Häuser; die lineär schraffirten Säulen entsprechen für
jedes Jahr der procentischen Zahl der an die Kanalisation angeschlossenen
Häuser (Zifferskala unten). Die Gegenüberstellung ist so überzeugend, dass
auch der eigensinnigste Skepticismus mancher ausgabenscheuer Gemeinde¬
väter dadurch bekehrt werden dürfte. F.
* Eine beachtenswerthe Notiz, die Impfschutzfr&ge betreffend, ent¬
nehmen wir dem amtlichen Bericht des Geheimen Obermedicinalrath Dr.
Reissner über die Geschichte und Statistik der Menschenblattern und
Schutzpockenimpfung im Grossherzogthum Hessen (Darmstadt 1888).
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39 —
Die Beobachtung betrifft das Verhalten der Blattern in den Grenzorten
benachbarter, bezüglich des Impfzustandes der Bewohner ungleichartiger
Lander: auf der einen Seite ein Schweizerdorf ohne Impfzwang, auf der
anderen ein badisches mit seit Jahren nicht unterbrochener regelmässiger
lmpfthätigkeit; beide Orte, deren Bewohner in Bezug auf Lebensweise, Con¬
stitution und Emährungsverhältnisse unter gleichen Bedingungen leben, sind
durch lebhaften Verkehr verbunden. Bei der Einschleppung der Blattern
in das Schweizerdorf hat sich regelmässig gezeigt, dass in demselben sechs,
acht und noch mehr Blatternfalle auftraten, während in dem benachbarten
badischen Orte regelpässig nur 1—2, entweder über vierzigjährige
oder nicht geimpfte Personen erkrankten. Aehnliche Erfahrungen hat
man in Elsass-Lothringen, Sachsen u. s. w. gemacht. Längs der das
Königreich Sachsen berührenden böhmischen Grenze herrschen die Pocken
recht häufig und werden fast in jedem Jahr in die benachbarten sächsischen
Orte eingeschleppt. Durch die sofortige Durchimpfung der gefährdeten Be¬
völkerung gelingt es fast regelmässig die Zahl der Erkrankungen auf
einige wenige zu beschränken und einer weiteren Verbreitung der
Krankheit vorzubeugen. F.
Litteraturfoericht.
Neuere bakteriologische Arbeiten zur Lehre von den
Infektionskrankheiten.
ii.’)
Von grossem Interesse sind die neueren Untersuchungen über den
Wundstarrkrampf (Trismus et Tetanus traumaticus). Schon im Jahre
1884 entdeckte A. Nicolai er, der im Göttinger hygienischen Institute
(Professor Flügge) arbeitete, dass im Erdboden von Gärten, Höfen,
von der Strasse, von Äckern, einem Kieselfelde, ferner in Ackererde, die an
Kartoffeln und anderen Feldfrüchten anhaftete, eine charakteristische Bacillen¬
art vorhanden war, welche nach Übertragung von Erdproben auf gewisse
Tiere eine fast stets tötliche, unter krampfigen Erscheinungen ablaufende,
als Tetanus anzusprechende Krankheit hervorrief *). Es war durch diese
Entdeckung die Möglichkeit nahegelegt, dass die furchtbare Krankheit,
welche als Starrkrampf menschlichen Verwundeten zuweilen tötlich wird,
1) Auch in diesem neuen Jahrgang nehmen wir unsere regelmässigen Be¬
richte über die neueren bakteriologischen Arbeiten, welche ein so wesentlicher
Bestandtheil wie der medizinischen Forschung im Allgemeinen, so im besondern
der hygienischen Untersuchungen geworden sind, wieder auf. Der obige Bericht
stellt zunächst eine Fortsetzung des in diesem Centralblatt, Jahrgang VII, Heft 11/12,
veröffentlichten Aufsatzes dar.
2) Vgl. dieses Ckmtralblatt, 1885, Bd. IV, S. 175,
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- 40 —
durch eben diesen Bacillus verursacht werde. Der Wundstarrkrampf gesellt
sich gelegentlich zu schweren wie auch zu ganz leichten, oberflächlichen
Verletzungen; man fasste ihn bisher als eine unter unbekannten Bedingungen
entstehende (spontane) Erkrankung des Centralnervensystems auf. Jetzt ist
der Nachweis erbracht, dass diese Krankheit durch eine Wund-Verunreinigung
und zwar durch den von A. Nicolaier entdeckten Bacillus hervor¬
gerufen wird.
In der Erde konnte übrigens in unmittelbarer Untersuchung diese
Bacillenart nicht nachgewiesen werden; jedoch verloren die Erdproben,
wenn sie auf 190 Grad erhitzt waren, ihre Giftkraft. Nicolaier konnte
die Krankheit von Tier zu Tier übertragen und zwar durch sehr geringe
Mengen von Eiter oder auch durch grössere Mengen von Blut oder andern
Leichenteilen. Dagegen gelang es ihm nicht, eine völlige Reinkultur der
Bacillen zu erzielen; es blieb ein Gemenge mehrerer Bakterienarten, die
nicht zu trennen waren, und welche nach wiederholter Umzüchtung sich
beständig — nach Übertragung auf Tiere (Mäuse, Kaninchen) — gift¬
kräftig erwiesen. Der Hauptsache nach fanden sich in den Kulturen feine
Bacillen, zuweilen in Fäden, meist aber in regellosen Haufen angeordnet,
die eine charakteristische Art der Sporenbildung zeigen. Sie verdicken sich
zunächst mehr gleichmässig, dann schwillt das eine Ende stärker an,
schliesslich bildet sich hier eine ovale, glänzende, scharf konturirte Spore
aus, während der Rest des Bacillus zu einem dünnen Faden wird, den die
drei- bis viermal dickere Spore weit überragt 1 ). —
Carle und Rat tone*) übertrugen Eiter aus einer Pustel eines an
Wundstarrkrampf gestorbenen Menschen auf Kaninchen und sahen die
Tiere genau unter denselben Erscheinungen erkranken und sterben, welche
Nicolaier beobachtete, nachdem er Erdproben auf Kaninchen über¬
tragen hatte.
Sodann hatte Rosenbach (Göttingen) Gelegenheit, einen Kranken
mit Frostbrand an den untern Gliedern zu untersuchen, welcher an Tetanus
starb*). Rosenbach fand an der Begränzungslinie des Brandes in der Haut
die Nicolaier’schen Bacillen, und solche Hautstückchen, auf Kaninchen
Mäuse oder Meerschweinchen übertragen, riefen Tetanus hervor; Hunde
erwiesen sich als unempfänglich. Auch Rosenbach stellte eine Reinkultur
nicht her.
Aus dem sparsamen Befund von Bacillen im Körper von Tieren, welche
am künstlich erzeugten Tetanus zu Grunde gingen, folgerte man, dass der
Bacillus durch seine Vermehrung am Orte der Ansiedelung ein chemisches
1) Vgl. auch Flügge, Die Mikroorganismen. Leipzig, Vogel, 1886, S. 275.
2) Flügge, 1.c., S.277. Giornale della Reale Acad. di Medicina di Torino.
März 1884.
3) Fünfzehnter deutscher Chirurgen-Kongress, April 1886. Deutsche mediz.
Wochenschrift, 1886, Nr. 15; v. Langenbeck’s Archiv für Chirurgie XXXIV
Heft 2.
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— 41
Gift bildet, welches durch Einwirkung auf das Nervensystem — etwa ähn¬
lich wie Strychnin — die tötlichen Staarkrämpfe auslöst, ln der That
gelang es L. Brieger 1 ), aus sterilisirtem Fleischbrei, welcher mit (nicht
ganz reinen) Kulturen des Rosenbach’schen Tetanus-Bacillus beschickt war,
ein giftiges Ptomatin, ein Toxin, wie Brieger dergleichen Gifte nennt, dar¬
zustellen, welches bei Tieren nach Einspritzungen unter die Haut die
gleichen Erscheinungen hervorruft, wie sie Nicolaier und Rosenbach be¬
schrieben haben. Dieses spezifische Toxin hat die chemische Formel
C 18 H 80 N 2 O 4 ; Brieger nennt dasselbe Tetanin. — Ein zweites für das
Nervensystem giftiges Toxin aus Tetanus-Kulturen, welches Br. darstellte,
ist nach der Formel C 5 H 11 N zusammengesetzt (Tetanotoxin) g ). Dasselbe
ist bei weitem nicht so giftig wie das Tetanin, wirkt auch nicht immer
absolut tötlich. — In den Kulturen sind noch andere, flüchtige Toxine
vorhanden, darunter auch krampferregende, welche zugleich die Speichel¬
und Thränenabsonderung steigern.
Mit Rücksicht auf die Frage, von woher die Tetanus-Mikrobie in den
Erdboden gelange, machte Verneuil auf dem letzten französischen
Chirurgen-Kongresse auf die Häufigkeit des Wundstarrkrampfs bei Leuten
aufmerksam, die viel mit Pferden verkehren; er berichtete über Fälle, in
welchen eine Übertragung des Tetanus von Pferden auf Menschen erwiesen
schien. Brieger führt zu gunsten dieser Auffassung an, dass er aus
menschlichen Leichenteilen, die über einander geschichtet monatelang dicht
oberhalb eines Pferdestalles faulten, neben anderen Ptomatinen auch
Tetanin fand. Pferde- und Kuhmist jedoch, unter die Haut von Kanin¬
chen eingespritzt, erzeugen keinen Tetanus*).
Die von Rosenbach erwiesene Gleichheit des Nicolaier’schen Impf-
Tetanus mit dem menschlichen Wundstarrkrampf wurde durch Unter¬
suchungen von Dr. Beumer bestätigt 4 ). In einem der von Beumer be¬
obachteten Fälle hatte ein 31 jähriger Mann beim Kegelschieben sich
unter den Nagel des rechten Mittelfingers einen Splitter der Kegelbahn¬
bohlen eingerissen. Der Splitter wurde anscheinend ganz entfernt. Nach
siebentägigem Wohlbefinden traten Kieferklemme und Krämpfe auf, nach¬
dem Schmerzen im Nacken und Rücken vorhergegangen waren. Die Krank¬
heit dauerte drei Tage und endete tötlich. Eine Sektion konnte nicht statt¬
finden; jedoch wies Beumer nach, dass kleinste Splitter von der Ober¬
fläche der Kegelbahn und zwar dort, wo die Kegler ihre Kugeln aufsetzen,
entnommen und verschiedenen Versuchstieren unter die Haut geschoben,
in fast allen Fällen das von Nicolaier beschriebene Bild des Impftetanus
1) Untersuchungen über Ptomaine, 3. Teil, 1886.
2) Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. Jahrgang XIX, p. 3119.
8 ) Professor Dr. L. Brieger, Zur Kenntnis der Ätiologie des
Wundstarrkrampfs nebst Bemerkungen über das Gholerarot.
Deutsche mediz. Wochenschrift, 1887, Nr. 15.
4) Zur ätiologischen Bedeutung der Tetanus-Bacillen. Bert,
klin. Wochenschr., 1887, NN._30/3t.
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— 42
hervorriefen. Auch liess sich zeigen, dass lediglich die an der Oberfläche
des Holzes sitzenden Staub- und Erdteile die Tetanus-Erreger enthielten. —
In einem andern von Beumer beschriebenen Falle von Starrkrampf hatte
ein öjähriger Knabe sich eine kleine Wunde an der Fusssohle. in welche
ein erbsengrosses Sternchen eingetreten war, zugezogen. Der Knabe war
in den letzten 10—14 Tagen vor der Erkrankung barfuss gelaufen; die
Krankheit dauerte 24 Stunden und endete mit dem Tode. Kleinste Eiter¬
mengen aus der Fusssohlenwunde sowie Gewebsteilchen aus der Umgebung
riefen, auf Tiere übertragen, Tetanus hervor; es fanden sich die Nicolaier’-
schen Bacillen, welche in (unreinen) Kulturen weitergezüchtet in Tier¬
versuchen als Tetanus-Erreger sich erwiesen.
Ebenso beobachtete A. Bonome einen Fall von menschlichem Tetanus,
in welchem kleine Gewebsmengen, aus der Umgebung der Wunde ent¬
nommen und auf Kaninchen übertragen, Tetanus zur Folge hatten. Auch
Bonome fand im Wundeiter seines Kranken die Nicolaier’schen Boden¬
bacillen *). Derselbe wies dann in zwei ferneren Fällen von mefischlichem
Wundstarrkrampf wiederum diese Bacillen nach und bestätigte die tetanogene
Kraft von Gewebsteilchen und Eiter der Wunden, wenn davon auf Kanin¬
chen übertragen worden war. Er zeigte, dass die bacillenhaltigen Teile
auch nach viermonatlicher Austrocknung giftkräftig wirken. Mühsame
Kulturversuche ergaben, dass der Tetanus-Bacillus von einem Fäulnis-
Bacillus nicht zu trennen war, wie dies schon Flügge und Rosenbach
berichtet hatten; dieser Fäulnis-Bacillus hat aber keine tetanogene Kraft.
Es besteht nach Bonome ein wahres Zusammenleben („Symbiose“) dieser
beiden Mikroorganismen. — Bei dem letzten Erdbeben von Bajardo (23. Fe¬
bruar 1887) wurden unter den Trümmern der Kirche des Ortes 70 Per¬
sonen verwundet, von welchen 9 dem Wundstarrkrämpfe, 8 mit tötlichem
Ausgange, verfielen. Bonome wies nach, dass in dem Kalkschutt der
Kirche Tetanus-Bacillen vorhanden waren; in dem Trümmerkalkstaub von
Diano-Marina, wo unter vielen Verwundeten keine Tetanische waren, fehlten
die Bacillen. Hiernach ist also auch einmal im Pulverstaub alter
Gebäude und nicht blos im Erdboden der Tetanus-Bacillus gefunden
worden. — Bonome fand denselben Mikroorganismus auch bei einem
Pferde, das durch einen Sturz sich eine offene Quetschwunde, an welcher
Strassenstaub hängen blieb, zugezogen hatte; ebenso in dem Wundeiter
eines nach der Verschneidung dem Wundstarrkrampf erlegenen Hammels *).
Sodann wies Hochsinger in einem von ihm beobachteten Falle von
Wundstarrkrampf den Tetanus-Bacillus im Blute des lebenden tetanischen
Menschen nach. Es gelang ihm. durch Übertragung von Blutproben in
1) Über die Ätiologie des Tetanus. Nach La Riforma medica,
1886, Nr. 293, besprochen in der Deutschen mediz. Wochenschrift, 1887, Nr. 15,
S. 320.
2) Über die Ätiologie des Tetanus. Fortschritte der Medizin, 1887,
Nr. 21, S. 690.
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— 43
erstarrtes menschliches Blutserum Reinkulturen des Tetanus-Bacillus zu
erzielen, welche stark giftkräftig waren, sich aber in andere Züchtungs¬
röhrchen nicht weiter mit Erfolg übertragen Hessen 1 2 3 ).
Fernere Bestätigungen der Nicolaier’schen und Rosenbach’schen Be¬
obachtungen wurden durch Ohlmüller und Goldschmidt*) sowie
durch Giordano*) gegeben.
Von besonderer Wichtigkeit sind schliesslich die neueren Unter¬
suchungen von Beumer und von Peiper. Ersterer bewies 4 5 ), dass auch
der Starrkrampf der Neugeborenen eine Infectionskrankheit ist,
welche durch Verunreinigung der Nabelwunde mit den Tetanus-Bacillen zu¬
stande kommt. Da regelmässig der Nabelschnurrest am 4. oder 5. Tage
nach der Geburt abfallt und die Wunde bis zum 10. —14. Tage überhäutet
ist, so erklärt sich leicht die Regelmässigkeit in der Zeit des Auftretens
des Starrkrampfs der Neugeborenen vom 1.—5. Tage nach dem Abfall der
Nabelschnur, wie auch früheres oder späteres Auftreten der Krankheit
durch vorzeitige gänzliche oder teilweise Lösung der Nabelschnur oder ver¬
spätete Überhäutung ihre Erklärung finden. Den gleichen Nachweis führte
Peiper*). ’ Beumer berichtet, dass seit Einführung der Antisepsis in der
geburtshilflichen Klinik zu Greifswald wie auch anderwärts kein Fall von
Tetanus neonatorum mehr vorgekommen, während die Krankheit bei der
ärmeren Bevölkerung der Stadt nach wie vor sich zeige. Es fehlt in¬
sonderheit an hinlänglicher Desinfection der Hände der
Hebammen, beziehungsweise der helfenden Personen, wie
auch oft genug unsaubere alte Leinwand aus irgend einem
Winkel der Wohnung zum Verbände benutzt wird. — Durch
zahlreiche Versuche führte Beumer den Nachweis, dass die Tetanus-
Bacillen sich ungemein verbreitet vorfinden sowohl im reinen Erdreich wie
in tieferen Bodenschichten — wenn auch hier in geringerem Grade — als
besonders an der Erdoberfläche und zumal in dem verunrei¬
nigten Kehricht und Staub der Strassen wie in dem erdigen
Kehricht und Staube der Wohnungen. Verf. ist der Ansicht, dass
dem Starrkrampf, der zuweilen nach Verletzungen im allgemeinen auftritt
und durch Verunreinigung mit erdigen Bestandteilen bedingt ist, nicht
immer sicher ärztlicherseits vorgebeugt werden kann. Der Starrkrampf der
1) Zur Ätiologie des menschlichen Wundstarrkrampfes. Cen¬
tralblatt für Bakteriologie und Parasitenkunde, 1887, Bd. II, Nrn. 6/7.
2) Über einen Bakterienbefund bei menschlichem Tetanus.
Centralblatt für klinische Medizin, 1887, Nr. 31.
3) Contributo all’ etiogia del tetano. Bericht in Centralblatt für
Bakteriologie und Parasitenkunde, 1887, Bd. II, Nr. 21, S. 623.
4) Zur Ätiologie des Trismus sive tetanus neonatorum. Zeit"
schrifl für Hygiene, 1887, Bd. III, Heft 2, S. 242-280.
5) Zur Ätiologie des Trismus sive tetanus neonatorum. Cen¬
tralblatt für klin. Medizin. 1887, Nr. 42.
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— 44 —
Neugeborenen aber kann unter allen Umständen verhütet werden. Nach
Credö’s Vorschlag sollten die Hebammen gehalten sein, nach Reinigung
und Desinfection ihrer Hände den Nabelschnurrest in gewöhnliche sterilisirte
Verbandwatte einzuschlagen, diesen Verband nach dem Bade täglich zu
erneuern und das gleiche Verbandmaterial bis zur völligen Überhäutung
täglich auf die kleine Wundfläche zu legen.
Die Ätiologie des Darmtyphus bespricht, zugleich das Wichtigste
über die Bacillen desselben enthaltend, eine Arbeit von Dr. M. Sim-
monds (Hamburg) in den Ergänzungsheften zu diesem Centralblatt (Bd. II,
Heft 4, S. 213 ff. *)). Wir müssen unsere Leser auf diese Arbeit verweisen.
Zu den bestgekannten pathogenen Bacillen gehören die Erreger der
Rotzkrankheit, ln einer umfangreichen und bedeutsamen Arbeit be¬
handelte Dr. Löffler schon im J. 1886 Ä ) die Ätiologie der Rotz¬
krankheit. Ausführlich wird in dieser Abhandlung die geschichtliche
Entwickelung unserer Kenntnisse über den Rotz oder die Rotz-Wurm-
Krank heit besprochen. Der Rotz ist seit den ältesten Zeiten als die
schlimmste Geissei des Pferdegeschlechtes bekannt und gefürchtet; aber
erst im 17. Jahrhundert wurde die ansteckende Natur der Krankheit er¬
kannt. Im Jahre 1821 führte der preussische Regimentsarzt Dr. Schil¬
ling den Nachweis, dass der Rotz auf den Menschen übertragen werden
kann, ln dem bekannten, noch jetzt in Preussen gütigen „Regulativ“ sa¬
nitätspolizeilicher Vorschriften beim Auftreten ansteckender Krankheiten
(vom 8. Aug. 1835) findet sich eine ausführliche Belehrung über den Ver¬
lauf der Rotzkrankheit beim Menschen. Die Erreger des Rotzes
wurden als eine spezifische Bacillenart zuerst von Löffler und Schütz
nachgewiesen *). Ein bestimmter Bacillus fand sich in den Produkten des
typischen Rotzes beim Pferde sowie in den veränderten Organen mit Rotz¬
knoten geimpfter Meerschweinchen; derselbe wurde reirgezüchtet; die Kultur,
auf Pferde verimpft, rief typischen Rotz hervor; aus den so erzielten Impf¬
knoten und Geschwüren konnten wiederum durch Färbung und Kultur die
gleichen Bacillen nachgewiesen werden. — Bestätigungen gaben bald dar¬
auf Israel 1 2 3 4 5 6 7 ) und Wassilieff *), Kitt*) und Weichselbaum T ).
1) Der gegenwärtige Stand unserer Kenntnisse über die
Ätiologie des Abdominaltyphus.
2) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. I. S. 141—198.
(Mit 2 Tafeln.)
3) Vorläufige Mitteilung in der Deutschen medizinischen Wochenschrift,
1882, Nr. 52.
4) Berl. klin. Wochenschr. 1883, Nr. 11.
5) Deutsche mediz. Wochenschr., 1883, Nr. II.
6) Jahresbericht der Münchener Tierarzneischule 1883/84, S. 56.
7) Wiener mediz. Wochenschr. 1885, NN. 21—24.
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— 45 —
Die Rotzbacillen sind schlanke Stäbchen, den Tuberkelbacillen ähnlich,
aber gleichmässiger an Grösse und etwas breiter; wie diese zeigen sie oft
eine mässige Krümmung ')• An gefärbten Präparaten bemerkt man fast
stets eine Zusammensetzung des einzelnen Bacillus aus dunkeln und hellen
Zonen, so dass derselbe bei schwächerer Vergrösserung einer Kokkenkette
gleichen kann. Die hellen Zonen sind nach Flügge u. A. vermutlich
Sporen, nach Löffler Absterbeprodukte. Die Bacillen liegen teils ver¬
einzelt, teils in Büscheln, teils in wirren Haufen — am zahlreichsten in
frischen Knoten; man findet sie vielfach im Innern von Zellen.
Die Rotzbacillen wachsen ganz vorzüglich auf den Schnittflächen gekochter
Kartoffeln; schon am zweiten Tage sieht man auf der Scheibe einen zarten,
gelblichen, durchscheinenden Überzug; nach etwa 6—8 Tagen wird der¬
selbe rötlich und undurchsichtig, zugleich wird die die Kultur umgebende,
nicht besäete Kartoffelzone schwach grünlich: dieses Wachstum auf der
Kartoffel ist dem Rotzbacillus eigentümlich, keine der andern zahlreichen
Bakterienarten, welche auf Kartoffeln gedeihen, wachsen in gleicher Weise.
— Die Bacillen wachsen auch gut auf erstarrtem Blutserum sowie in an¬
dern Nährflüssigkeiten. Die unterste Grenze der Temperatur, welche das
Wachstum erfordert, liegt bei 22° C.; zwischen 30 und 40° C. wachsen sie
üppig, schon weniger bei 41,5°, bei 45° wachsen sie nicht mehr. — Ein¬
getrocknet können sich die Rotzbacillen 3 Monate lang entwicklungsfähig
halten, verlieren jedoch in der Regel die Entwicklungsfähigkeit viel früher;
hiermit stehen die Beobachtungen über die Erhaltung der Giftkraft der
Ausscheidungen rotzkranker Tiere in Uebereinstimmung. Von diesen kommt
insbesondere der Nasenausfluss erkrankter Pferde in Betracht; derselbe
wird schon wenige Tage nach dem Eintrocknen nicht mehr ansteckungs-
fahig gefunden. — In den Kulturflüssigkeiten haben die Bacillen schon nach
40 Tagen viel von der ursprünglichen weiteren Entwickelungsfähigkeit ein-
gebüsst; die 4 Monate alten Kulturen waren ausnahmslos abgestorben. —
Unter den Desinfektionsmitteln genügt eine 5 Minuten dauernde Einwirkung
einer Karbolsäure-Lösung von 3 °/o, um Rotzbacillen in dünner Schicht zu
zerstören; eine Lösung von Kali hypermanganicum von 1 c /o leistet das¬
selbe nach 2 Minuten dauernder Einwirkung; sehr energisch wirkt eine
Sublimatlösung von 1:5000. — Hitze von 55° G. tötet die Bacillen binnen
10 Minuten.
Die von der natürlichen Rotz-Ansteckung am meisten bedrohten Tiere
sind das Pferd und der Esel. Die Zahl der Tierarten, bei welchen bisher
eine natürliche oder künstliche Rotzansteckung beobachtet, bezw. versucht
worden, ist nicht gering: es sind dies, ausser Pferd und Esel, das Rind,
die Ziege, das Schaf, das Schwein, der Löwe, der Tiger, die Katze, der
Bär, der Hund, der Prairiehund, die Maus, das Meerschweinchen, das Ka¬
ll Vgl. auch Flügge, Die Mikroorganismen. Zweite Aufl. 1886,
S. 223.
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- 46
ninchen. Näch einer von Krabbe ') aufgestellten Berechnung für den Zeit¬
raum von 1857—1873 kamen auf 100,000 Pferde jährlich in Norwegen 6,
in Dänemark 8,5, in Grossbritannien 14, in Schweden 57, in Württem¬
berg 77, in Preussen 78, in Serbien 95, in Belgien 138 Rotzerkrankungen,
in der französischen Armee 1130, in der algierischen Armee 1548 Rotzfälle.
Zum Entscheid, ob eine bestimmte Erkrankung der Rotz sei, dient die
mikroskopische und bakteriologische Untersuchung. Hat man Ausschei¬
dungen, welche an verschiedenen Bakterienarten reich sind, zu untersuchen,
so verhilft oft die diagnostische Tierimpfung zum Resultat. Da Kaninchen
und Feldmäuse hiebei leicht an septischer Infektion zu gründe gehen,
so bleibt als handliche Tierart nur das Meerschweinchen; es empfehlen
sich besonders männliche Tiere, da die Erkrankung der Hoden und Neben¬
hoden überaus charakteristisch für Rotz ist.
Die Mehrzahl der Rotz- (Wurm-) Erkrankungen erfolgt wohl von
kleinen Haut- oder Schleimhautwunden. Ob die natürliche Ansteckung
auch vom Darmkanal aus erfolgen kann, ist zweifelhaft; von viel grösserer
Bedeutung erscheint die Ansteckung durch die Luftwege, ln einer nicht
geringen Zahl von Rotzfällen war nach Löffler die Lunge das allein er¬
griffene Organ oder zeigte diese die ältesten Veränderungen. — Von dem
rotzkranken Muttertier können nach zuverlässigen Beobachtungen die Ba¬
cillen auf die Frucht übergehen, so dass diese an Rotz erkrankt.
Neuere Untersuchungen über den Rotz führte u. A. Dr. D. Kranz¬
feld in Odessa aus *). Derselbe fertigte Deckglas-Präparate aus einem
Rotzknoten eines an akutem Rotz gestorbenen Mannes, welche eine grosse
Anzahl von Bacülen enthielten. Kleine Stückchen aus der Mitte des Kno¬
tens zwei Meerschweinchen unter die Bauchhaut gebracht, töteten eines
derselben nach 14tägiger Krankheit (Geschwüre an der Impfstelle, Hoden¬
vereiterung, zahlreiche Knötchen in der Milz). Als vorzüglichen Nährboden
fand Vf. die Glyzerin-Agar-Mischung von Nocard und Roux (Fleischwasser-
Pepton-Agar mit 5—7 °/o Glyzerin), in welcher der Rotzbacillus sogar bei
Zimmertemperatur wächst.
Auch nach Kranzfeld bilden die Rotzbacillen keine Sporen. Nach
Baumgarten*) dagegen gelingt es zuweilen zweifellos, die für Sporen¬
bildung als charakteristisch angesehene Doppelfärbung an den Rotzbacillen
zu erzeugen.
Nach Cad6ac und Malet erfolgt die Ansteckung bei natürlicher
Rotz-Erkrankung nicht durch die Atemwege. Sie fanden die Ausatmungs¬
luft rotzkranker Pferde nicht ansteckungsfähig; auch Tiere, welche an
Katarrhen der Atemwege litten, wurden durch die Ausatmungsluft rotz-
1) Deutsche Ztschr. f. Tiermedizin, Bd. I.
2) Zur Kenntniss des Rotzbacillus. Centralbl. f. Bakleriol. u. Para¬
sitenkunde. 1887, Bd. II, Nr. 10.
3) Zur Frage der Sporenhildung bei den Rotzbacillen. Centralbl. f. Bak¬
teriologie 1888, Nr. 13.
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— 47 —
kranker Pferde nicht angesteckt. In die Luft, welche über Rotzbacillen
haltende Leichenteile oder solches Wasser strich, ging ein Ansteckungs¬
stoff nicht über. Dieselben Verff. fanden schon früher, dass das Rotzgift
durch Elintrocknen seines Trägers sehr bald die Ansteckungskraft verliert;
sie glauben daher auch nicht, dass Rotz durch Einatmung getrockneter
Ausscheidungsstoffe übertragen wird. Selbst wenn Krankheitsmaterial in
die Luftröhre direkt eingebracht wurde, entstand nur gelegentlich und zwar
nur in der Luftröhre selbst, nicht in den Lungen, Rotz l 2 3 ). — Ob durch
diese Versuche die Entstehung des Rotzes auf dem Wege der Elinatmung
des Giftes durchaus widerlegt ist, bleibe dahingestellt. — —
Schliesslich berichten wir nach dem „ Zehnten Jahresbericht der Königl.
technischen Deputation für das Veterinärwesen über die Verbreitung an¬
steckender Tierkrankheiten in Preussen (1. April 1885 bis 31. März 1886)* *),
dass in Preussen die Zahl der verseuchten Pferdebestände in den drei
letzten Jahren fortdauernd abgenommen hat. Im ganzen erkrankten im
Berichtsjahre an der Seuche 1083 Pferde; gefallen waren 55, auf polizei¬
liche Anordnung getötet 1050, auf Wunsch der Besitzer getötet 71. —
Die Verzögerung oder Unterlassung der Anzeige bewirkte es hauptsächlich,
dass die Rotz-Wurmkrankheit in einzelnen Beständen so bedeutende Ver¬
luste veranlasste und so häufige Verschleppungen zustande kamen. — Von
den Provinzial-, bezw. Kommunalverbänden wurden für auf polizeiliche An¬
ordnung getötete Pferde über 240,000 M., von der Staatskasse über 53,000 M.
den Besitzern vergütet.
Über Schweinerotlauf (Stäbchenrotlauf der Schweine) berichteten
wir im V. Jahrgang dieser Zeitschrift *). Diese auch wieder in neuerer
Zeit in Deutschland (z. B. in Ostpreussen) stark verbreitete Krankheit fand
schon längst die aufmerksame Beachtung wissenschaftlicher Tierärzte, deren
Beiträge, wie Kitt angiebt, sorgfältig in dem Werke von F. Friedberger
und E. Fröhner 4 ) zusammengestellt sind. In ätiologischer und patholo¬
gisch-anatomischer Hinsicht konnte der Begriff der Krankheit aber erst
durch die bakteriologische Forschung sicher begründet werden. Diese be¬
gann in den Jahren 1882 und 1883 mit den Arbeiten von Pasteur und
T hui Hier sowie von Dr. Löffler, welcher letztere den eigentlichen In¬
fektionserreger als eine feine Stäbchenart kennen lehrte. Es folgten die
wichtigen Untersuchungen von Schütz und von Lydtin und Schotte-
1) Etüde experimentale de la transmission de la morve par
contagion mädiate ou par infection. Revue de m£dicine 1887, Mai,
Nr. 5. Bericht in Fortschritte der Medizin, 1887, Bd. 5, Nr. 21.
2) Archiv f. Tierheilkunde Bd. XII, Supplement.
3) 1886, S. 97 ff.
4) Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der Haustiere. Stutt¬
gart, 1887.
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— 48 —
lius *). — Unter den neueren Arbeiten sind insbesondere zu nennen die
von Cornevin*) und die von Th. Kitt*). Schon Löffler und Schätz
sprachen sich dahin aus, dass die Schweinerotlauf-Stäbchen wesenseins mit
den sog. Mäuseseptichämie-Bacillen wären. Der Bacillus murisep-
ticus (Koch) ist zuerst von R. Koch beobachtet und findet sich anschei¬
nend in grosser Verbreitung, zumal häufig in Flüssigkeiten, welche zu faulen
beginnen.* Aus letzteren kann diese Bacillenart meist gewonnen werden,
wenn man eine grössere Anzahl von Mäusen mit geringen Mengen impft,
worauf einige Tiere an einer allgemeinen Infektion, einer Septichämie zu
sterben pflegen, welche durch diese feinen Bacillen hervorgerufen ist. Die
Bacillen liegen im Blute vielfältig in farblosen Zellen, welche, wie es
scheint, durch die ersteren zu gründe gehen. Sie lassen sich leicht in
künstlichen, flüssigen und festen Nährböden züchten und verhalten sich
auch hier ganz ähnlich wie die Rotlauf-Bacillen. Gewöhnliche (Haus- und
weisse) Mäuse erkranken nach Übertragung der Bacillen leicht, dagegen
sind die Feldmäuse unempfänglich. Die Summe der Ähnlichkeiten zwischen
den Rotlauf-Bacillen und denen der sog. Mäuseseptichämie wird gesteigert
durch den von Kitt erbrachten Nachweis, dass auch die Rotlauf-Bacillen
zwar Haus- und weisse Mäuse, nicht aber Feldmäuse krank machen. Be¬
stätigt sich die starke saprophytische (in Faulflüssigkeiten statthabende) Ver¬
breitung der Rotlauf-Bacillen, so wäre dies begreiflicherweise für die Ätio¬
logie des Schweinerotlaufs sowie auch für die Begründung der Notwendig¬
keit einer Schutzimpfung der Schweine von grosser Wichtigkeit.
Die Angabe von Pasteur, dass eine Fortzüchtung der Rotlauf-
Bacillen im Kaninchenkörper die Giftkraft derselben abschwäche, konnte
Kitt bestätigen. Dieser Forscher impfte mit dem für Schweine tötlichen
Gifte Kaninchen, übertrug dann Reinkulturen, welche aus den geimpften
Ohrmuscheln der Kaninchen gewonnen waren, auf Schweine und stellte
fest, dass diese nicht nur nicht starben, sondern nunmehr selbst gegen die
Verimpfung unabgeschwächten Rotlauf-Materials unempfänglich geworden
waren. — Wurden die Bacillen von einem Kaninchen zu anderen Kanin¬
chen übertragen, so gelang es niemals, mehr als zwei nach einander krank
zu machen; gewöhnlich versagte die Giftkraft der Bacillen schon bei der
Übertragung auf das zweite Kaninchen. — Dagegen konnte Pasteur’s
Angabe, dass die Bacillen durch Übertragung von Taube zu Taube an Gif¬
tigkeit gewännen, nicht bestätigt werden.
1) S. dieses Centralbl. a. o. a. 0.
2) Premiere ätude sur le rouget du porc. Paris, Asselin et Hou-
zeau, 1885.
3) Prof. Dr. Th. Kitt, Untersuchungen über den Stäbchen-
Rotlauf der Schweine und dessen Schutzimpfung. Jahresbericht
der bayr. C.-Tierarzneischule 1886, Supplementheft der Deutschen Ztschr. für
Tiermedizin; sowie Centralblatt für Bakteriologie und Parasitenkunde, Bd. II,
Nr. 23, S. 693.
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49
In ferneren Versuchen zeigte Kitt, dass der Kot rotlaufkranker Tiere
(Mäuse, Tauben, Schweine) stark ansteckend ist; auch der Kot von
Schweinen, welche wirksamer Schutzimpfung unterzogen wurden, hat
als Träger und Verschlepper der Ansteckung zu gelten. Im getrockneten
Zustande verliert das Gift sehr bald die Ansteckungsfähigkeit. Durch Fäul¬
nis wird die Giftkraft nicht leicht zerstört. Fliegenmaden können Träger
des Ansteckungsstoffes sein. — Unempfänglich für die Rotlauf-Bacillen sind
nach den bisherigen Untersuchungen Meerschweinchen, Katzen, Pferde,
Hunde. Maulesel, Esel, Schafe (?), Rinder (?), Hühner, Enten, Gänse, Feld-
und Waldmäuse.
Schliesslich sei erwähnt, dass in neuerer Zeit ein Unterschied zwischen
dem Bacillus murisepticus und dem Bacillus des Schweinerotlaufs von
v. Rozsahegyi gefunden wurde 1 ). Dieser Forscher führte Bakterien¬
züchtungen auf gefärbten Nährböden aus und fand, dass in Nährleim,
welcher durch Methylenblau dunkel gefärbt war, die Bacillen der Mäuse-
septichäraie in kräftiger, charakteristischer Kultur wuchsen, während eben
darin die Bacillen des Schweinerotlaufs nur kümmerlich gediehen.
Wolffberg.
Anleitung zur Gesundheitspflege an Bord von Kauffahrteischiffen. Auf
Veranlassung des Staatssekretärs des Innern bearbeitet im Kaiserlichen Ge¬
sundheitsamte. Berlin, Jul. Springer, 1888.
Einem von Vertretern der Seeschifffahrt wiederholt ausgesprochenen
Wunsche entsprechend, ist auf Geheiss des Reichsamtes des Innern im
Kaiserlichen Gesundheitsamte die vorliegende Anleitung ausgearbeitet worden,
welche im wesentlichen den früheren Marinestabsarzt, jetzigen Professor
der Hygieine zu Jena, Dr. Gaertner zum Verfasser hat. Nach Verfügung
der deutschen Bundesseestaaten soll diese Anleitung künftighin von dem
Führer jedes Kauffahrteischiffes auf allen Seereisen mitgeführt werden und
in den Navigationsschulen als Leitfaden beim Unterricht in der Gesund¬
heitspflege dienen. Dieselbe enthält in ihrem ersten Theile Rathschläge
zur Gesundheitspflege, d. h. zur Verhütung von Krankheiten und deren
Weiterverbreitung an Bord; — neben der Beschaffenheit von Schiff und
Ladung werden dabei Kleidung, Wäsche und Hautpflege, Nahrungs- und
Genussmittel in einer auch für das nicht seefahrende Laienpublikum lesens-
werthen präcisen Form besprochen. Mit grösserer Ausführlichkeit gewährt
dann der zweite Theil eine Anleitung zur Erkennung und ausserärztlicher
Behandlung sowohl der wichtigsten inneren Krankheiten, einschliesslich
der Vergiftungen, wie auch der Verletzungen und äusseren Leiden. Die
schwierige Aufgabe eines solchen zusammenfassenden diagnostischen und
therapeutischen Leitfadens für Nichtärzte ist von Gaertner mit grösstem
Geschicke gelöst worden, und das um seines Zweckes willen auch sehr
1) Prof. Dr. A. von R., Ober das Züchten von Bakterien in ge¬
färbter Nähr gelatine. Centralblatt für Bakteriologie und Parasitenkunde.
Bd. II, Nr. 14.
Centralblatt f. allg. Ges^mftieiUpflege. VIII. Jahrg. 4
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50 -
billig angesetzte Buch ist allen Laien zu empfehlen, welche vermöge ein¬
samer Wohnungslage oder auf Reisen der Möglichkeit ausgesetzt sind, bei
Verletzungen oder innerer Erkrankung sich ohne Arzt helfen zu müssen.
Angehängt sind der vorstehenden Anleitung mehrere auf die Schiffs-
hygieine bezügliche Verordnungen und Instructionen, unter welchen letzteren
die „ Instruktion zur Desinfektion von Seeschiffen“ am meisten allgemeineres
Interesse bietet. Nach derselben sind als Desinfektionsmittel zu verwenden
nur Karbolsäurelösung (1 Theil gerein. Karbols, in 18 Theile Wasser
gelöst), Sublimat (V* Kilogramm in 10 Liter Wasser gelöst), grüne
Kaliseife und heisse Wasserdämpfe, insoweit geeignete Apparate
zur Benutzung derselben zur Verfügung stehen. Als geeignet sind nur
diejenigen Apparate zu erachten, in welchen ein. fortwährendes Durch¬
strömen von heissen Wasserdämpfen durch den Desinfektionsraum statt¬
findet und bei welchen die Temperatur der Wasserdämpfe im Desinfek¬
tionsraum überall mindestens 100° G. beträgt. Zur Desinfektion von inficirten
Krankenräumen, Lagerstellen, Geräthschaften und dergleichen
ist Karbolsäurelösung anzuwenden; Decken, Wände und Fussböden,
Lagerstellen und Geräthschaften sind mit Lappen, welche mit Karbolsäure¬
lösung getränkt sind, gründlich abzuwaschen, nach einigen Stunden diese
Abwaschung zu wiederholen, und nach weiteren 24 Stunden eine reichliche
Wasserspülung vorzunehmen mit nachfolgender gründlicher Lüftung. Infizirte
oder verdächtige Kleider etc. sind mittels 1 bis 2ständiger Durchströmung
mit heissen Wasserdämpfen oder bei fehlenden Apparaten dazu
mittels 48ständiger Einweichung in Karbolsäurelösung zu desinficiren.
Soll sich die Desinfektion auch auf Personen erstrecken, so geschehe dies
durch Abwaschung ihres ganzen Körpers mit grüner Seife mit nach¬
folgendem vollständigen Bade. Leichen sind bis zu der möglichst bald
vorzunehmenden Bestattung in Tücher einzuhüllen, welche mit Karbol¬
säurelösung getränkt sind und mit solcher feucht gehalten werden.
Die Desinfektion des Kiel ra ums mit seinemlnhalt geschieht durch
Sublimat, wobei auf je 1000 Liter Bilgewasser etwa 1 Kilogramm Sub¬
limat zu rechnen ist. Dabei dient zur Prüfung, ob die Desinfektion aus¬
reichend erfolgt ist, folgendes Verfahren. Es werden von verschiedenen
Stellen des Kielraums Proben des desinficirten Bilgewassers entnommen
und in dieselben je ein Streifchen von Kupferblech, welches mit Schmirgel¬
papier blank geputzt ist, etwa zur Hälfte eingehängt. Falls die Desinfek¬
tion ausreichend war (und in Folge dessen noch Sublimat in Lösung ist),
bildet sich binnen 2 Minuten auf dem Kupferblech, soweit es eingetaucht
war, ein deutlicher grauer Belag (Amalgam), welcher sich leicht mit dem
Finger abwischen lässt. Bildet sich dieser Belag nicht, so war die Desinfektion
unzureichend und muss vervollständigt werden. Finkelnburg.
Hermann von Meyer, Zur Schuhfrage, Zeitschrift für Hygiene 1887, III. Band,
Seite 486.
Die Schäden, welchen der menschlicheFuss in Folge der herkömm¬
lichen Schuhgestalt ausgesetzt ist, führt Verf., der zu den ersten Autoritäten
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— 51 -
auf dem Gebiete der Skelet-Mechanik gehört, zurück auf unrichtige Gestalt
sowohl der Sohle als des Oberleders. Insbesondere wird den Zehen,
vorzugsweise der grossen Zehe, Raum für richtige Lagerung nicht gewährt.
Sie wird oft soweit verdrängt, dass ihre Spitze die Spitze der Mittelzehe
berührt, und daran ist Schuld der Sohlenschnitt sowie das flache Auslaufen des
Oberleders nach vorn. Chronische Entzündungen des Nagelfalzes an der
Aussenseite der Zehe, Einwachsen des Nagels, Verschiebungen der Zehen¬
knochen zur Kleinzehenseite hin und vom Mittelfuss ab, sodann Entzündungen
derselben sind die Folgen.
Nächst der grossen Zehe ladet am meisten die zweite Zehe. Sie
wird verkrüppelt oder falsch gelagert, und zwar entweder über ihre Nach¬
baren, was die modischen kurzspitzigen Schuhe durch besonderes Hoch¬
halten des Oberleders möglichst erleichtern, oder sie flüchtet sich nach
unten; ihr erstes Gelenk ragt dann als Höcker oben hervor und die Spitze
ist zwischen den Mittelgliedern der ersten und dritten Zehe festgeklemmt.
Jeder wird dem Verf. beistimmen, wenn er betont, nur die gewöhn¬
lichsten und einfachsten Formen der Verkrüppelung hiermit bezeichnet zu haben.
Zur Abhülfe verlangt nun M., dass die grosse Zehe in die richtige
Lage, d. h. mit ihrer Axe wenigstens in eine Linie gebracht werde, welche aus
der Mitte der Ferse nach der Mitte des ersten* Mittelfussknochens gezogen und
nach vorn fortgesetzt wird. Es bedarf dazu einer Sohle, deren Innenrand
vom Gelenk zwischen grosser Zehe und Mittelfuss an der bezeichneten
Linie gleichgerichtet ist, und eines Oberleders, welches in der ganzen Aus¬
dehnung von Fussrücken und grosser Zehe bis zu deren vorderstem Rande
hin an dieser Seite am höchsten gehalten wird.
Verf. hält es für angezeigt, den Schuhmachern und Leistenschneidern
geeigneten Ortes die entsprechende Winke zu geben. Wird der eben ge¬
nannte Fehler allgemein vermieden, so ist dies bei den grossen Schwierigkeiten,
mit denen die gemachten Vorschläge zu kämpfen haben, schon ein grosser
Fortschritt. Weitere Verbesserungen mögen später folgen.
Das langsame Fort schreiten, welches die Verbesserung der Schuh¬
gestalt aufweist, ist zum Theil dem Publikum zur Last zu legen. Die
Meinung, ein Schuh von der verlangten Form sei nicht elegant, ist irrig.
Verf. sah weisse Ballschuhe, die in obiger Weise gefertigt waren und fand
sie d ur chaus eiegant. Der Gang ist dabei leichter, naturgemässer und nichts
weniger als unschön. Schlechte Erfahrungen, die das Publikum mit dem
als .neu, rationell, naturgemäss “ angepriesenen Schuh werk machte, beruhten
fast nur darauf, dass es Schwindlern oder Unkundigen in die Finger gefallen war.
Aber auch die Schuhmacher sind nicht freizusprechen. Um den
Tadel zu vermeiden, der Schuh sei plump, krumm, können sie ihn vorn
spitz machen, wenn sie nicht versäumen, ihn zugleich entsprechend zu
verlängern. Deshalb empfiehlt es sich auch die vordere Randlinie in der
JTeise schief abzuschneiden, dass sie senkrecht zut Mittellinie der Vordersohle
steht und dabei mit den beiden Seitenlinien ungefähr gleiche Winkel bildet.
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52 -
Falsch ist es nach M’s. Anschauung die strengcorrecte Form überall
anbringen zu wollen. Dies soll geschehen bei Kindern und bei solchen
Erwachsenen, deren Füsse noch annähernd normale Gestalt aufweisen. Hat
diese aber schon sehr gelitten, so empfiehlt sich die correcte Schuhform
nur, wenn überhaupt noch Besserung möglich und eine Verschlimmerung durch
die neue Form ausgeschlossen ist. Die Vorschriften gelten mithin innerhalb
gewisser Grenzen. Ganz besonders ist dafür zu sorgen, dass nicht, wie
gewöhnlich geschieht, bei stark abweichender grosser Zehe die Länge
des Fusses durch die Entfernung des hinteren Fersenrandes von der Spitze
der grossen Zehe bestimmt werde, sqndera dass der Schuh diejenige
Länge erhält, die er haben müsste, wenn die grosse Zehe in normaler
Lage sich befände. Ausserdem muss die grosse Zehe an ihrem freien
Rande etwas Spielraum haben, um von innen her keinen Druck zu erleiden.
Indem sodann der Schuhmacher in leichteren Fällen von Verkrüppelung
versuchen kann, soweit möglich, aber nur allmählich, die normalen Ver¬
hältnisse wieder herzustellen, hat er zu vermeiden, dass der Kleinzehen-
Rand des Fusses über den äusseren Sohlenrand hinausgedrängt wird und
das Oberleder am Grosszehen-Rande unausgefüllt bleibt. Dieser Uebelstand
entsteht, wenn das Letztere mit seiner höchsten Höhe in der Mittellinie
des Fusses liegt und nicht, wie es sein soll, an dessen Innenrande. Schuld
hieran trägt auch der Fersentheil der Leisten, vorzüglich aber der symme¬
trische Schnitt bes. an den käuflichen fertigen ganzen Schäften.
Schliesslich bespricht M. die Beziehungen zwischen der herkömmlichen
Gestalt der Schuhe und dem Plattfuss. Dieser kann einzig und allein
durch erstere bedingt sein. In Zusammenhang damit steht auch das häufige
Umkippen des Fusses und das Schieftreten der Absätze.
Verf. empfiehlt die Fläche, auf welcher die Ferse ruht, so zu vertiefen,
dass eine etwa 1 cm tiefe Grube entsteht. Die grösste Tiefe derselben
muss etwas mehr nach innen, also excentrisch liegen, eine Anordnung,
welche sich durchaus bewährt hat.
Der Absatz sei nicht spitz, sondern breit, seine vordere Grenzlinie
stehe senkrecht zur Richtungslinie. Flatten.
Regimentsarzt Dr. Schaffer (Wien): Der Fussboden der Wohnungen und
das Schuhwerk als hygienische Factoren. — Gesundheit. 1888. Nr. 8
und 9.
Während die mit Steinfliesen versehenen Fussböden der Wohnungen
südlicher Länder, und bei uns die Parketböden der reicheren Bevölkerung,
auch die gut gefugten mit hartem Lack oder Firniss überzogenen Fuss¬
böden in den Häusern des Mittelstandes, gesundheitlich keine oder geringe
Bedenken bieten, so ist dies in hohem Grade der Fall bei den einfach ge¬
dielten Böden geringerer Miethshäuser, der Arbeiterwohnungen sowie der
Massenquartiere. Hier zeigen sich bald durch das Eintrocknen der Fuss-
bodenbretter breite Fugen zwischen den Dielen, während das Scheuern
Wasser namentlich die Zwischendeckenfüllung stets feucht hält und zu
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54
nationsstellung) sich befindet, der entsprechend die Pultplatte in starker
Neigung und starker negativer Distanz dem Auge des Schülers entgegen¬
gebracht werden muss.
Die Lorenz’sche Schrift gipfelt in Vorschlägen in derselben Richtung
und mit gleicher Begründung.
Nachdem L. sich über die Mängel der Schulbänke älterer Zeiten und
die Schreibhaltung der Kinder in denselben verbreitet hat, bezeichnet er den
Inhalt der heutigen Schulbank-Frage, die im Wesentlichen eine Lehnen¬
frage ist, als folgenden:
1 . Der hygienische Theil der Schulbank-Frage gipfelt in der For¬
derung, dass das Kind, welchem dauernde und anstrengende Muskel¬
leistungen nicht zuzumuthen sind, beim Schreiben sowohl als in
den Schreibepausen mit ausgiebig gestütztem Rücken sitzen könne
und dadurch vor Ermüdung geschützt sei.
2. Der pädagogische Theil der Schulbank-Frage hat zur Grundlage
die Thatsache, dass die Stützung des Rückens eine um so aus¬
giebigere ist, eine je grössere negative Distanz man dem Subsellium
gibt. Je weiter aber die Bank unter den Tisch geschoben wird
desto schwieriger wird selbstverständlich die technische Lösung des
Problems, dass der Schüler in einer Bank, welche bezüglich der
Rückenstützung den hygienischen Anforderungen entspricht, auch
wenigstens annähernd bequem stehen könne.
L. führt uns dann in anschaulicher Weise die wichtigsten neueren und
neuesten Schulbanksysteme vor Augen, namentlich ihre Einrichtungen zur
Dis tanz Verwandlung; die beweglichen Pulte scheinen ihm im All¬
gemeinen die Distanzverwandlung besser zu besorgen als die beweglichen
Sitze.
Was die Haltung der Kinder in den verschiedensten Schulbank¬
systemen betrifft, so hat L. durch Beobachtung in den Schulen gefunden,
dass die Schüler in den modernen wie in den alten Subsellien gleich
schlecht sitzen. Dies kommt hauptsächlich daher, dass die Kinder in
den meisten modernen Schulbänken die Lehnen beim Schreiben ebenso
wenig benutzen können als in den alten, in den alten Schulbänken sitzen
aber die Kinder in den Schreib pausen durchweg besser als in den
. neuen. Während in den alten Bänken die Kinder sich wenigstens in den
Schreibpausen an eine hohe (breite), nach hinten geneigte Rückenlehne —
sei es auch die Vorderwand der folgenden Bank — anlehnen und in guter
Haltung ausruhen konnten, taugen die neueren Lehnensysteme (Kreuz¬
lehne, Lendenlehne) trotz ihrer „Wissenschaftlichkeit“ meistens nach
keiner Richtung etwas. Als Ruhe lehnen für die Schreibpausen sind sie
schlechter als die alten Lehnen, weil sie zu niedrig sind und dem Rücken
keine ausgiebige Lehnfläche bieten, und für die Schreibhaltung, für welche
sie bestimmt sind, taugen sie auch nicht, weil der Schüler sie beim
Schreiben doch verlassen muss; damit letzteres nicht geschehe, müsstq
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— 53
einem modernden Pilzhaufen macht, der bei länger geschlossenen Fenstern
schon durch den Geruch mehr wie bemerkbar wird. Zugleich dient die
durch die Fugen zugängliche Zwischendeckenfüllung als Schlupfwinkel und
Brutstätte für Ungeziefer aller Art, Fliegen, Schwaben, Wanzen, Flöhe u. s. w.
Schaffer empfiehlt deshalb, gestützt auf erfolgreiche Versuche in öster¬
reichischen Regimentskasernen, die ausgedehnte Anwendung des Theers,
zunächst zum Anstrich des Fussbodens (1 Kilo Theer auf 8—10 Quadrat¬
meter Bodenfläche jährlich zweimal erneuert).
Bei'alten Böden sollen die fauligen Stellen ausgehoben und erneuert
werden, die Fugen gedichtet, der Zwischenboden durch trockne sandige
Erde, letztere auch mit phenylsaurem Kalk vermischt, neu gefüllt werden.
Die Dielen sollen erst ausgetrocknet und dann beiderseits mit dem Theer-
anstrich versehen werden. Bei neuen Böden können Dielen, die mit heissem
Theer imprägnirt sind, verwendet werden. Endlich könne auch in Parterre-
und Kellerwohnungen, namentlich durch Ueberlegen eines getheerten dichten
Fussbodens auf die alten Dielen, eine wirksame Isolirscbicht erzielt werden.
Der Theergeruch sei nur einige Tage unangenehm; in richtiger Weise auf¬
getragen, brauche der Fussboden nicht grade ganz schwarz zu werden,
sondern erhalte mehr eine tief-gelb-braune Farbe, an die man sich leicht
gewöhne. Ferner empfiehlt er einen leichten Theerüberzug, einer gewöhn¬
lichen Holzbeizung gleichend, für Möbel und hölzerne Haushaltungsgegen¬
stände; namentlich an den Rück- und Unterflächen, wo sich so leicht
Schmutz und damit Ungeziefer ansammeln könne. Auch die Mauerflächen
in Kellern lassen sich mit einem Theeranstrich zweckmässig behandeln;
ja selbst die Rückflächen von Zimmerteppichen können ohne Schaden mit
einem Anstrich von dickem Theer, der nicht so weit durchdringe, um die
Farben des Teppichs zu zerstören, versehen werden.
Im Anschluss daran kommt Schaffer auch auf die Hygiene der Fuss-
bekleidung, die er schon früher in einem besondem Schriftchen behandelt,
zu sprechen. Die Sohle des Schuhs imprägnire sich selbst auf getheerten
Fussböden, und werde durch den aufgenommenen Theer viel dauerhafter.
Er verlangt ferner, dass bei der Verfertigung des Schuhs kein Kleister mehr
verwendet werde, welcher nur einen willkommenen Nährboden für Pilze
abgebe, sondern dicker Theer oder weiches Schusterpech. Ebenso verwirft
er syruphaltige leicht schimmelnde Glanzwichse.
Die Vorschläge des Verf. sind namentlich für Massenquartiere und Ar-.
beiterwohnungen recht beherzigenswerth und dazu auch leicht ausführbar.
Schmidt-Bonn.
Dr. A. Lorenz, Die heutige Schnlbank-Frage. Vorschläge zur Reform des
hygienischen Schulsitzens. Mit 46 Holzschnitten. Wien, 1888.
In Heft 4/5 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift machte ich die
Leser bekannt mit dem Inhalte eines klinischen Vortrages des Berner
Chirurgen Professor Dr. Kocher Ueber die Sc henk’sehe Schulbank,
deren Wesen darin beruht, dass der Schüler auch beim Schreiben in einer
gegen eine geneigte, hohe Rückenlehne hintenübergelehnten Haltung (Recli-
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die negative Distanz weit grösser sein als sie in der Regel — aus bereits an¬
gedeuteten Gründen (technische Schwierigkeit der Distanzverwandlung) — ist.
Als einzig entsprechende Stützvorrichtung sieht L. gleich Schenk auch
für die Schulbänke die geneigte hohe Rückenlehne an, nach der sich dann
die Pultplatte in ihrer Stellung richten muss. „ Als der erste Versuch einer
Lösung dieser Frage und als wirklich rationelle Schulbank ist das aus¬
gezeichnete Subsell von Dr. F. Schenk zu begrüssen, welches mit Recht
und nach vollem Verdienst in Herrn Professor Kocher in Bern einen Lob¬
redner von hervorragendster Bedeutung gefunden hat. Vom hygienischen Stand¬
punkte nimmt diese Bank unter allen bis nun bekannt gewordenen Systemen
nach unseren bisherigen Auseinandersetzungen den ersten Rang ein.“
L. hat nun die Constructeure verschiedener in Wien gebräuchlicher
Schulbanksysteme veranlasst, ihre Modelle nach dem Princip der Recli-
nationsstellung umzuarbeiten, und er fand bereitwilliges Entgegenkommen
bei den Vertretern der Systeme: Wackenroder (Schiebesitz), Scheiber-
Klein (Schiebepult und Schiebesitz), Küffel (Schiebepult) pnd Kretschmar
(Schiebepult).
Ich würde mit den Schenk-Lorenz’schen Vorschlägen völlig einver¬
standen sein, wenn ich mich bisher hätte überzeugen können, dass die
Reclinationsstellung eine brauchbare Arbeitsstellung wäre. Dies
ist mir einstweilen noch sehr zweifelhaft und ich erwarte in dieser Hinsicht
die ja ohne allen Zweifel bekannt werdenden Resultate der praktischen
Prüfung grösseren Umfangs. Die Hauptschwierigkeit liegt in der erforder¬
lichen grossen Steilheit der Pultplatte, von der Alles abwärts rutscht.
Sowie man aber letzterem Uebelstande Rechnung trägt und die Pultplatte
weniger geneigt macht, erfolgt nothwendig ein Senken des Kopfes und eine
bedenkliche Kauerstellung. Auf den Lorenz’schen Holzschnitten ist die Ent¬
fernung der Augen der Schreibenden von der Schrift viel zu gross dar¬
gestellt: so kann kein Schüler auch nur kurze Zeit schreiben; er muss
vielmehr den Kopf senken oder sich mit dem oberen Theile des Rückens
von der Lehne entfernen.
Ob sich diese fast überall mit Nothwendigkeit ergebenden Uebelstände,
abgesehen von anderen, ökonomischen und pädagogischen Faktoren, nicht
der Realisirung der Schenk-Lorenz’schen Vorschläge hindernd in den Weg
stellen werden, muss die Zukunft lehren. Staffel (Wiesbaden).
Verxeiehniss der bei der Redaktion eingegangenen neuen BQeher ete.
Angerstein, E., Dr. med., Stabsarzt a. D. und Eckler, G., Oberlehrer. Haus-
Gymnastik für Mädchen und Frauen. Eine Anleitung zu körperlichen Uebungen
für Gesunde und Kranke des weiblichen Geschlechtes. Mit vielen Holzschnitten
und einer Figurentafel. Berlin 1888. Verlag von Th. Chr. Enslin (Rieh.
Schoetz), geb. Mk. 3.
Billroth, Dr. Th., Wien, Die Krankenpflege im Hause und im Hospital. Ein Hand¬
buch für Familien und Krankenpflegerinnen. III. theilweise umgearbeitete Auflage.
Mit kl Illustrationen auf 8 Tafeln. Wien 1889, Verlag von Carl Gerolds Sohn.
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Google
56 -
Gesundheits-Kalender für Freunde der Naturheilkunde für das Jahr 1889.
Berlin, Verlag von Wilh. Issleib (Gustav Schuhr). M. — ,60.
Hirt, Dr. Ludwig o. ö. Professor an der Universität Breslau, System der Ge¬
sundheitspflege für die Universität und die ärztliche Praxis. IV. verbesserte
und vermehrte Auflage. Mit 96 Illustrationen. Breslau 1889. Maruschke
Sc Berendt, geheftet Mk. 5.
Index-Catalogue of the libraryof the Surgeon-Generals Office. U. S. A. Authors
and Subjects. Vol. IX. Medicine (Popular)-Nywelt. Washington Gouvernement
Printing Office. 1888. (Dr. Flügel, Leipzig, Sidonienstrasse 39).
Leuba, F., Die essbaren Schwämme und die giftigen Arten mit welchen die¬
selben verwechselt werden können. Nach der Natur gemalt und geschrieben.
Lfg. 1. Basel, Verlag von H. Georg. 1888, }Jk. 2.40.
Rapmund, Dr. 0., Regierungs« und Medicinalrath in Aurich. Das Reichs-
Impfgesetz nebst Ausführungs-Bestimmungen. Zum Gebrauch für Verwaltungs¬
behörden, Medicinalbeamte, Aerzte und Impfärzte, zusammengestellt und er¬
läutert. Berlin N. W. 1889. Fischer’s medieinische Buchhandlung (H. Korn¬
feld) Mk. 2.50.
Rubner, Dr., Max, o. ö. Professor der Hygiene an der Universität und Direk¬
tor des hygien. Instituts zu Marburg. Pr. H. Lehrbuch der Hygiene. Syste¬
matische Darstellung der Hygiene und ihrer wichtigsten Untersuchungs-
Methoden. Zum Gebrauche für Studierende der Medicin, Physikats-Candidaten,
Sanitätsbeamte, Aerzte, Verwaltungsbeamte. Mit über 200 Abbildungen. Neu¬
bearbeitung als III. Auflage des Lehrbuches der Hygiene von J. Nowak.
Lieferung I. Leipzig und Wien, Franz Deuticke 1888. Vollständig in ca.
10 Lieferungen ä Mk. 2.
Sch äfer, E. A., Professorder Physiologie in London. Histologie für Studierende.
Nach der II. englischen Auflage übersetzt von W. Krause, Professor in Göttingen.
Leipzig. Verlag von Georg Thieme, 1889. Mk. 9.
Schüler, Dr. F., Fabrikinspektor und Burckhardt, Dr. A. E., Docent für
Hygiene in Basel, Untersuchungen über die Gesundheitsverhältnisse der Fa¬
brikbevölkerung in der Schweiz mit besonderer Berücksichtigung des Kranken¬
kassenwesens. Aarau, Verlag von H. R. Sauerländer. 1889.
Gesundheit, Zeitschrift für öffentliche und private Hygieine. 1888. Nrn. 19/22.
Deutsche Medicinal-Zeitung. Centralblatt für die Gesammt-Interessen der
medicinischen Praxis. 1888. Nr. 86.
Internationale klinische Rundschau. Centralblatt für die gesammte
praktische Heilkunde, sowie für die Gesammt-Interessen des ärztlichen Standes.
1888. Nr. 44.
NB. Die für die Leser des „Centralblattes für allgemeine Gesundheitspflege*
interessanten Bücher werden seitens der Redaktion zur Besprechung an die Herren
Mitarbeiter versandt, und Referate darüber, soweit der beschränkte Raum dieser
Zeitschrift es gestattet, zum Abdruck gebracht. Eine Verpflichtung zur Besprechung
oder Rücksendung nicht besprochener Werke wird in keinem Falle übernommen ;
es muss in Fällen, wo aus besonderen Gründen keine Besprechung erfolgt, die
Aufnahme des ausführlichen Titels, Angabe des Umfanges, Verlegers und Preises
an dieser Stelle den Herren Einsendern genügen.
Die Verlagshandliing.
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Bericht
über die am 7. Juli 1888 in Düsseldorf stattgehabte
General-Versammlung des Niederrheinischen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege
von
Dr. Lent in Köln.
Der Vorsitzende Geheime Sanitäts-Rath Dr. Graf-Elberfeld er¬
öffnet die Sitzung mit einem Hinblick auf die schwere Zeit der
letzten 100 Tage, in welcher wir 2 Kaiser zu Grabe getragen
haben, die unser Stolz und unsere Hoffnung waren, deren Namen
weit über unsere Zeit hinaus im Munde unseres Volkes und in den
Annalen der Geschichte mit Liebe und Verehrung genannt sein
werden.
Es sei aber nicht hier der Platz auf die Einzelnheiten jener
traurigen Ereignisse einzugehen; betonen aber wollen wir, dass
auch der Niederrheinische Verein, der sich das Ziel gesteckt hat,
auf der Grundlage freier Bürgerthätigkeit an bestimmten Aufgaben
des Staates und der Gesellschaft mitzuwirken, gerpe dazu beitragen
wird, dem zu entsprechen, was in den markigen Worten der
Thronrede unseres jungen Kaisers Wilhelm, zu dem wir Alle hoff¬
nungsvoll emporsehen, aussprach:
„Dass zur Pflege unserer inneren Wohlfahrt Er auf die ein¬
hellige Unterstützung aller treuen Anhänger des Reiches
„zählen dürfe“.
Sodann erhält derSecretair des Vereins, Sanitätsrath Dr. Le nt
(Köln) das Wort zu folgendem Geschäftsbericht:
Die Zahl der Mitglieder unseres Vereins ist seit dem vorigen
Jahre um 50 gesunken, sie vertheilen sich auf die Regierungs¬
bezirke wie folgt:
Centralblatt f. allg. ßeeundheiUpflega. VIII. Jahrg. 5
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58
Regierungsbezirk
Mit¬
glieder
Stadt¬
gemeinden
Land¬
gemeinden
Minden .
35
2
Münster.
50
2
—
Arnsberg.
306
18
8
Düsseldorf.
737
33
15
Aachen.
132
10
2
Köln.
432 1
10
3
Goblenz...
112
7
4
Trier.
39
2
—
Cassel.
20
1
—
Wiesbaden.
61
1
—
Auswärtige.
14
—
—
1888...
1938
86
32
1887...
1988
86
32
In der Zusammensetzung des Vorstandes ist eine Aenderung
nicht eingetreten; aus demselben scheiden in diesem Jahre aus die
Herren: Becker, Boodstein, Grahn, Jäger, Keller, Lent.
Das Centralblatt ist regelmässig erschienen und auch in
letztem Jahrgange um 2 Bogen stärker als der Kontrakt mit dem
Verleger vorgesehen hatte.
Die Bibliothek hat, wie bisher auch in vorigem Jahre reich¬
lichen Zuwachs erfahren.
Die chemisch - mikroskopische Untersuchungs -
Station wird selten in Anspruch genommen.
Auf dem 6. internationalen Congresse für Hygiene
in Wien in vorigem Jahre ist unser Verein durch die Herren Geh.
Regierungsrath Professor Dr. Finkelnburg und Stadtbaumeister
Stübben vertreten gewesen. Die Berichte der beiden Herren sind
im Centralblatt veröffentlicht.
Im vorigen Jahre theilte ich Ihnen mit, dass der Herr Minister
unsere Eingabe, betreffend die allgemeine Einführung der Fleisch¬
schau und die Festsetzung genauer Bestimmungen über die Be¬
handlung des Fleisches perlsüchtiger Thiere, unter dem
8. Februar v. Js. abschlägig beschieden hätte, weil er die erstere
für unausführbar, und die letztem durch die Verfügung vom 27.
Juni 1885 für klar festgestellt erachtete. Trotzdem hat der Herr
Minister aber am 15. September v. Js. eine Verfügung erlassen,
betreffend die Beurtheilung der Geniessbarkeit des Fleisches perl¬
süchtiger Thiere, in welcher er die Verfügung vom 27. Juni 1885
nicht für durchweg als zulänglich erklärt, und genaue Bestimmungen
mittheilt, nach welchen dieses Fleisch beurtheilt werden soll. Fer¬
ner hat der Herr Reichskanzler unter dem 22. October 1887 eine
Verfügung erlassen, durch welche er die Aufmerksamkeit auf die
Ermittlungen über die Verbreitung der Perlsucht des Rindviehes
leitet. Jene ministeriellen Verfügungen sowie das Rundschreiben
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— 59
des Herrn Reichskanzlers sind im Centralblatt unseres Vereins ver¬
öffentlicht. Nach diesen Verfügungen haben wir seitens des Ver¬
eins vor der Hand keine Veranlassung, diese Frage aufs Neue
zum Gegenstände unserer Berathungen zu machen.
Die Angelegenheit über die Ausschliessung gewerb¬
licher und industrieller Anlagen aus bestimmten Gebiets-
theilen einer Gemeinde mit Beziehung auf den § 23 der deutschen
Gewerbeordnung, welche wir bei dem Herrn Minister in Anregung
gebracht hatten, über welche wir aber abschlägig beschieden wurden,
ist von dem deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege
wieder aufgenommen und wird auf der diesjährigen Versammlung
dieses Vereins verhandelt werden.
Der Vorstand Ihres Vereins hatte schon vor mehreren Jahren
die Absicht, durch die Veröffentlichung geeigneter
und kurz geschriebener Aufsätze zur Verbreitung
wichtiger Kenntnisse, Anschauungen und Massregeln auf dem Ge¬
biete der Gesundheitspflege beizutragen. Neuerdings ist diese Frage
wieder dadurch angeregt, dass von dem Herausgeber der Volks-
schul-Lesebücher für einen rheinischen Regierungsbezirk der Wunsch
nach derartigen Aufsätzen ausgesprochen wurde, um solche den
Lesebüchern einzuverleiben. In der jüngsten Zeit hat auch der
österreichische Unterrichtsminister eine Commission berufen, welche
beschlossen hat, dass in das Volksschul-Lesebuch Lesestücke über
die Grundsätze der Gesundheitslehre in einer für das kindliche
Alter leicht fasslichen Form Aufnahme finden sollen. Die Auf¬
gabe — derartige Aufsätze populär und kurz zu schreiben —
ist aber keine leichte, und so hat ihr Vorstand beschlossen,
auf die Einlieferung solcher Aufsätze Preise auszusetzen. Es
ist Seitens des Vorstandes eine Commission gewählt, welche die
Grundsätze dieses Preisausschreibens festsetzen soll. Die preisge¬
krönten Arbeiten würden demnächst von dem Verein veröffentlicht
werden, um in Volksschul-Lesebüchern überall Aufnahme finden
zu können. Der Vorstand hofft im nächsten Jahre Ihnen über
dieses Vorhaben ein gutes Resultat berichten zu können.
Auf die heutige Tagesordnung glaubte der Vorstand die Be¬
handlung einer Frage setzen zu sollen, welche zur Zeit eine dring¬
liche genannt werden muss, da in vielen Bezirken die Staatsbe¬
hörden auf die Anschaffung von Desinfektionsöfen in den
Gemeinden drängen. Da über die verschiedenen Systeme dieser
Oefen viel gestritten wird und die Kosten der Anschaffung nicht
unerheblich sind, so schien es dem Vorstande von grossem Nutzen,
in unserer Versammlung über die verschiedenen Systeme einen
Vortrag entgegenzunehmen, um damit eine klärende Diskussion
einzuleiten. Wir haben uns daher erlaubt, unsere deutschen Fa¬
brikanten zu bitten, durch Zeichnungen, Modelle und persönliche
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Vertretung zur Klärung der Sache beizutragen und spreche ich
den Herren, die unserem Ersuchen nachgekommen sind, schon jetzt
unsern besten Dank aus.
Meine Herren! Im Anfänge meines Berichts habe ich erwähnt,
dass die Mitgliederzahl unseres Vereins um 50 gesunken ist. Dies
sollte nicht sein, und bitte ich daher die Herren Geschäftsführer,
bezw. Sie alle, dahin zu wirken, dass dieser Verlust bald wieder
ausgeglichen werde.
Die Rechnungs-Revisionskommission, bestehend aus den Herren:
Geh. Commerzien-Rath von Heimendahl, Seyffardt und
Dr. Schneider, haben das Kassabuch nebst Belägen pro 1887
revidirt. Das von denselben ertheilte Revisions-Attest lautet:
Die Rechnung pro 1887 des Niederrheinischen Vereins
für öffentliche Gesundheitspflege haben wir geprüft und
richtig befunden
Crefeld, den 19. Juni 1888.
gez. von Heimendahl, Dr. med. Schneider,
Seyffardt.
Der Kassenbestand betrug nach dem Rechnungsabschluss des
Jahres 1887 .M. 10988,54
derjenige pro 1886 „ 9416,47
mithin hat sich der Reservefonds im Jahre 1887 um M. 1572,07
vermehrt.
Nach dem in der Generalversammlung vom 23. October 1886
genehmigten Etat war eine Einnahme von . . . M. 11000,—
Zuschuss aus dem Reservefonds.„ 500,—
in Summa . . M. 11500,—
vorgesehen, die Einnahmen an Beiträgen etc. betrugen M. 11490,05
verausgabt wurden.„ 9917,98
mithin erspart obige . M. 1572,07
Die Ausgaben auf die verschiedenen Titel vertheilt betrugen:
a. Bibliothek .... nach dem Anschläge M. 1500,—
verausgabt. . . . „ 878,13
weniger M. 621,87
b. Bureaukosten . . nach dem Anschläge M. 800,—
verausgabt . . „ 685,—
weniger M. 115,—
c. Geschäftsunkosten . nach dem Anschläge M. 700,—
verausgabt . . „ 424,57
weniger M. 275,43
d. Druck statistischer Formulare
nach dem Anschläge M. 200,—
verausgabt . . „ 74,40
weniger M. 125,60
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— 61
e. Druck des Centralblattes
nach dem Anschläge M. 8100,—
verausgabt . . „ 7655,88
weniger M. 444,12
f. aussergewöhnliche Ausgaben
nach dem Anschläge M. 200,—
verausgabt . . „ 200,—
„ balancirt
Den Etat pro 1889 erlaube ich mir vorzuschlagen:
I. Einnahmen:
a. Beitrag etc.M. 10300,—
b. Zuschuss aus dem Reservefon ds „ 400,—
Summa M. 10700,—
II. Ausgaben.
a. Bibliothek .M. 1200,—
b. Bureaukosten.„ 750,—
c. Geschäftsunkosten.. 450,—
d. Druck statistischer Formulare . „ 100,—
e. Druck des Centralblatts . . . „ 8000,—
f. aussergewöhnliche Ausgaben „ 200,—
Summa M. 10700,—
Hierauf wird die Decharge pro 1887 ertheilt und der Etat
für das Jahr 1889 genehmigt.
Die sechs ausscheidenden Mitglieder, die Herren Becker,
Dr. Boodstein, Grahn, Jäger, Keller und Dr. Lent werden
per Acclamation wiedergewähll.
Ebenso wird die bisherige Cassen-Revisions-Commission, beste¬
hend aus dem Geheimen Commerzienrath von Heimendahl,
Seyffardt und Dr. Schneider in Crefeld, wiedergewählt.
Zweiter Gegenstand der Tagesordnung:
Vortrag des Dr. Fleischhauer (Düsseldorf).
Wenn ich Ihnen heute in einem kurzen Referat den jetzigen
Stand der Lehre über die Desinfektion grösserer Ob¬
jekte in Desinfektions-Oefen vorzuführen übernehme, so
muss ich um Entschuldigung bitten, wenn ich nicht Alles und Jedes
berühre, was über Desinfektion im Allgemeinen gesagt und ge¬
schrieben worden ist. Zunächst muss ich von meinem Thema
ausschliessen Alles, was sich auf Desinfektion durch chemische
Mittel bezieht. Es soll uns heute nur beschäftigen die Desinfektion
verunreinigter Objekte in grossen Desinfektions-Oefen und die Ein¬
richtung der verschiedenen Systeme, wie sie die Neuzeit, d. h. die
letzten Jahre uns gebracht haben. Es soll uns ferner beschäftigen
die Theorie über die physikalischen Vorgänge bei der Desinfektion
in den gebräuchlichsten Desinfektions-Oefen, und würde es mir
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persönlich vor allen Dingen lieb sein, wenn sich von Seilen der
betheiligten Firmen resp. deren Ingenieure oder sonst berufener Seite
zum Schluss eine angeregte Diskussion entwickelte und so vielleicht
noch Mancherlei zur Klarstellung der immerhin verwickelten Vor¬
gänge in den Desinfektions-Oefen beigebracht wurde. Zunächst
muss ich bekennen, dass es mir ferne liegt, für irgend ein System
speciell Partei zn nehmen. Die öffentliche Gesundheitspflege und
speciell wir Aerzte müssen jedoch an einen guten Desinfektions-
Apparat bestimmte Forderungen stellen, werden diese erfüllt, so
ist derselbe brauchbar, mag nun das Ziel auf diesem oder jenem
Wege erreicht werden; es kann sich dann nur um Fragen grösse¬
rer oder geringerer Zweckmässigkeit handeln, um die Zeit, in wel¬
cher der Zweck erreicht, um den Kostenpunkt, leichte Aufsteil¬
barkeit, Handhabung und dergleichen mehr.
Sehen wir uns nun die Geschichte der Desinfektion durch
Temperaturerhöhung an, so müssen wir sagen, dass auch hier, wie
in so vielen Dingen, Professor R. Koch und seinen Mitarbeitern
Wolffhügel, Gaffky und Loeffler das Hauptverdienst gebührt.
Wohl so lange, als der Mensch überhaupt das Feuer gekannt hat,
hat man auch gewusst, dass das Feuer alles unreine zerstöre und
unschädlich mache. Auch heute noch ist das Feuer das energischste
und sicherste Desinfektions-Mittel und uns zu wissenschaftlichen
Zwecken absolut unentbehrlich. Eine ordentlich geglühte Platin¬
nadel ist absolut steril, desgleichen eine Glasplatte oder dergl. Uten¬
silien mehr. Grade die Ausbildung der klaren Erkenntniss bei den
von R. Koch angegebenen Methoden wird für ewige Zeiten seinen
Namen unvergesslich machen. Es gehörte vor allen Dingen der
grosse Fortschritt in der Bakteriologie dazu, um überhaupt die
Möglichkeit zu haben, verschiedene Wege zur Zerstörung pathogener
Keime zu prüfen. Von grundlegender Wichtigkeit für die Desin¬
fektions-Frage wurde dann ferner der Hinweis Koch’s auf sporen¬
freie und Dauersporen tragende resistente Organismen, und war
er der Erste, der verschiedene Desinfektions-Methoden von diesem
Gesichtspunkte aus geprüft hat.
Nachdem man früher, besonders in Zeiten verheerender Seuchen,
einfach Alles verbrannt hatte, was mit ansteckenden Stoffen be¬
schmutzt worden war, so fing man später an, durch einfaches
Ueberhitzen oder durch Erhitzen in heisser Luft Objecte zu des-
inficiren. Ich erinnere in dieser Beziehung an das frühere so be¬
liebte Erhitzen der Bettfedern in Backöfen und dergl. mehr. Die
meisten Krankenhäuser und Gefängnisse besassen oder besitzen
zum Theil noch derartige Einrichtungen, wo man glaubt, durch
heisse Luft genügend zu desinficiren. Hier und dort sind dann
auch später Versuche mit Kochen, mit Ueberhitzen, mit Durch¬
leiten von Dampf gemacht worden, letzteres z. B. von dem leider
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zu früh verstorbenen Mitglied des Vereins Dr. Fr. Sander, wie
er in seiner 1875 erschienenen Broschüre: Ueber Geschichte, Sta¬
tistik, Bau und Einrichtungen von Krankenhäusern angiebt. Alle
diese Untersuchungen und Versuche brachten aber keine Klarheit,
da es an einer genügenden, wissenschaftlichen Untersuchungsmethode
über die Wirksamkeit der angewandten Medien fehlte. Stellen wir
nun, soweit wir heute sehen, die verschiedenen Möglichkeiten zu¬
sammen, Temperaturdifferenzen auf pathogene Stoffe oder auf da¬
mit beschmutzte Utensilien oder Effekten einwirken zu lassen, so
bleibt uns ausser dem Verbrennen, was immer das Radikalste ist,
als Erstes und zunächst Bestes das Glühen. Bei Stoffen, die
unbeschadet der Gebrauchsfähigkeit dem Glühen unterworfen wer¬
den können, ist dies die sicherste Methode des Desinfizirens, be¬
greiflicherweise hat diese Methode ihren eng begrenzten Wirkungskreis.
Demnächst kommt als wirksamstes Mittel die direkte Einwirkung
der Siedehitze. Heisses Wasser tödtet bei direkter Einwirkung
der Siedehitze Dauersporen in zwei Minuten. Wo wir die direkte
Siedehitze, bei nicht zu grossen Objekten, anwenden können, ist
diese Methode jedenfalls empfehlenswerth. Bei grossen Objekten
z. B. in grossen Massen aufgehäuften Decken, Betten und dergl.
kommen wir aber mit dem Sieden nicht aus, und für diese Fälle
hat man heisse Luft oder W T asserdampf von 100 0 Celsius oder eine
Combination beider oder gar die Ueberhitzung des Wasserdampfs
angewandt.
Sehen wir uns nun die verschiedenen Systeme, wie sie heute
gebräuchlich sind an (begreiflicherweise kann ich hier nicht jede
hergestellte Modifikation herzählen und beschreiben, sondern nur
die gebräuchlichsten und hinlänglich geprüften Systeme erwähnen),
so müssen wir unterscheiden zwischen solchen Apparaten
1) Die nur heisse Luft verwenden, z. B. Raetke’scher Ap¬
parat.
2) Solche, die nur strömenden Wasserdampf verwenden, alter
Merke’scher und alter Henneberg’scher Apparat, Budenberg’-
sclier Apparat.
3) In solche die neben strömendem oder wenig bewegtem
Wasserdampf noch trockene Hitze zum Erhitzen des Wasserdampfs
benutzen. Schimmerscher Apparat, Bacon’s Apparat, W r alz
& Windscheidt’scher sog. Düsseldorfer Apparat. Goede &
Tilger’s Apparat.
Um nun zunächst mit dem, mit den einfachsten Mitteln, nur
mit heisser Luft arbeitenden Apparate, dem Raetke’schen anzu¬
fangen, so hat es sich herausgestellt, dass heisse Luft allein, selbst
bei 140° Celsius absolut nicht im Stande ist, grössere Objekte zu
durchdringen und zu desinficiren. Ich will Ihnen, meine Herren,
hier nur einen Passus aus der sehr verdienstlichen Arbeit des
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Herrn Prof. Max Wolff in Berlin: Ueber Desinfektion durch
Temperaturerhöhung, Virch. Arch., B. 102. Pag. 93, vorlesen, der
vollständig mit den früheren Untersuchungen von Koch & Wolff-
hügel (s. Mitthl. aus dem kaiserl. Gesundheitsamte Bd. 1 S. 301)
übereinstimmt.
In den vorstehenden 7 Versuchsreihen ist die desinficirende
Leistungsfähigkeit heisser Luft allein in 2 nach verschiedenen Er-
wärmungsprincipien konstruirten Desinfektions-Apparaten geprüft
worden. Als sporenfreie Versuchsobjekte hatten für diese Desin-
fektions-Oefen gedient Micrococcus prodigiosus, Bacterium termo,
Bacillus subtilis, Milzbrandbacillen von Thieren, die wenige Stun¬
den zuvor an Impfmilzbrand gestorben waren, sowie frische Hefe
und Sarcine; als sporenhaltiges Material waren die resistenten Milz¬
brandsporen, an Seidenfaden angetrocknet, zur Verwendung ge¬
kommen.
Das Resultat dieser Versuche war, dass die Vernichtung der
sporenfreien Microorganismen gelungen ist durch eine zweistündige
Einwirkung trockener Hitze von einer Temperatur zwischen 90 0
C. bis 120° C.
Das Versuchsergebniss aber mit den sporenhaltigen Microorga¬
nismen, von deren Vernichtung die Zulässigkeit einer Desinfektions-
Methode für allgemeine praktische Zwecke besonders abhängt, ist
sehr ungünstig ausgefallen. Zwar sind die sporenhaltigen Micro¬
organismen durch eine dreistündige Einwirkung trockener Hitze
von annähernd 150° G. ja allerdings ebenfalls getödtet worden,
aber das ist nur gelungen, wenn dieselben frei in dünnen Glas¬
kölbchen in den Ofen gebracht waren oder in einem Ohjekte von
nur sehr mässiger Dicke verpackt waren.
Sobald aber der Umfang der zu desinficirenden Gegenstände
etwas grösser war, oder andere schwierigere Verhältnisse Vorlagen,
d. h. die Gegenstände lose zusammengerollt, lose geschnürt oder
durchfeuchtet in den Desinfektions-Apparat kommen, reichte die
desinficirende Kraft heisser Luft von über 140° C. im Apparat nicht
hin, selbst bei einer 4 1 /a stündigen Einwirkung, um die sporenhal¬
tigen Organismen im Innern der Objekte zu tödten.-
Es wurden nunmehr an der Hand von grossen Zeichnungen
und Modellen die verschiedenen gebräuchlichsten Desinfektions-
Oefen genauer beschrieben und erläutert. Und zwar wurde be¬
schrieben der alte Merke’sche Apparat, der neue von Schim¬
mel & Cie. in Chemnitz nach Angabe von Merke konstruirte
Apparat, beide nach grossen, genauen Zeichnungen.
Ferner wurde beschrieben der alte Henneberg’sche Appa¬
rat und die neue, jetzt von Rietschel & Henneberg in Berlin
konstruirte und gelieferte Modifikation; letztere nur nach Zeich¬
nungen, da leider durch ein Versäumniss der Spediteure ein voll-
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ständiger Apparat in Dortmund auf der Bahn liegen geblieben war.
Nach Zeichnungen erläutert wurde der von Goede & Til¬
ger in Barop-Dortmund konstruirte Apparat.
Darauf hin wurde der von J. L. Bacon-Berlin gelieferte
Apparat nach Zeichnungen und an einem Modell demonstrirt. Da¬
ran schloss sich die Beschreibung des Düsseldorfer von der Firma
Walz & Windscheidt konstruirten und gelieferten Apparates
nach grossen Zeichnungen. Gleichzeitig war der Düsseldorfer
Apparat geheizt und war den Mitgliedern des Vereins die Gelegen¬
heit geboten, denselben in Thätigkeit zu sehen. Ebenfalls geheizt
und in Thätigkeit war ein grosser transportabler Apparat, der von
der Firma Budenberg in Dortmund liebenswürdigerweise nach
Düsseldorf gebracht worden und zu einem Kontrolexperiment über¬
geben wurde. Auch dieser Apparat wurde an einem Modell und
im Grossen gezeigt und beschrieben.
Es wurden zum Vergleich der Wirksamkeit beider Apparate
je 20 wollene Decken von derselben Qualität im Inneren mit einem
Maximalthermometer beschickt und darauf fest gerollt. Das ganze
Paquet wurde fest umschnürt und daraufhin eine Stunde und 20
Minuten lang in das Innere der in Betrieb gesetzten Apparate ge¬
bracht. Nach Ablauf der genannten Zeit zeigte das Thermometer
im Innern der in Budenberg’s Apparat gebrachten Wolldecken
106° C., das im Düsseldorfer Apparat im Inneren der Decken ein¬
gerollte Thermometer 101 0 C.
Darauf fuhr Vortragender in seinem Referate fort:
Gehen wir jetzt an der Hand des Gesehenen zum inneren
Geschehen beim Desinfektions-Verfahren über, so müssen wir sagen,
dass, abgesehen von den feineren Veränderungen, die beim Ab¬
sterben der Microorganismen vielleicht vorhanden sein mögen,
selbst bei den gröberen physikalischen Vorgängen noch sehr viel
Unklares vorhanden ist.
Heisse strömende Wasserdämpfe dringen langsamer in grössere
Objekte ein, als man vermuthen sollte, und es konnte Koch bei
grösseren Apparaten die Dampfhitze von 100 0 C. am Ausflussrohr
nicht erreichen, wenn er nicht Salzlösungen verwandte. Bei Ver¬
suchen im Grossen ergaben sich nun, wie Mercke nachwies, ver¬
schiedene Nachtheile, wenn die Konstruktion, welche Koch zu
seinen Versuchen gedient hatte, einfach in grösserem Maassstabe
ausgeführt werden sollte. Die Hauptschwierigkeit bei der Kon¬
struktion würde darin liegen, wie Mercke hervorhebt: dass es
bei jenen Apparaten ein Haupterforderniss ist, dass die dampf¬
entwickelnde Fläche gleich ist dem Querschnitt des zur Aufnahme
der Effekten bestimmten Cylinders, da sonst die Dämpfe nicht
koncentrirt genug sind und beim Eintritt in einen weiteren kühlen
Raum nicht den nöthigen Hitzegrad behalten würden. Diese Er-
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wägungen führten Mercke zu einer neuen Konstruktion, wie sie
von Schimmel & Cie. in Chemnitz ausgeführt wird und welche
ich Ihnen vorhin des Genaueren beschrieben habe, also die Me¬
thode, welche ausser strömendem Wasserdampf noch trockene
Hitze, welche durch ein besonderes Rippensystem erzeugt wird,
verwendet. Nur der alte, früher von Henneberg gelieferte Des¬
infektionsapparat schliesst sich in seiner Konstruktion den im
Reichsgesundheitsamte benutzten Modellen genauer an, indem sich
der Desinfektionsraum unmittelbar über dem offenen Verdampfungs¬
behälter befindet. Indess auch Henneberg sah sich gezwungen,
zur Erreichung der konstanten Dampftemperatur von 100° C. und
der Verhinderung der Kondensation der Dämpfe seinen Kessel mit
inneren Rippen zu versehen, welche von dem oberen Flansch bis
zum Boden hinabreichen, um noch vor der Dampfentwicklung die
Luft und die Wandungen des Desinfektionsraumes auf 100° C. zu
erwärmen. Diese Konstruktion ist nun, wie schon eben erwähnt,
von Henneberg verlassen und erhitzt derselbe nunmehr den
Dampf vor Eintritt in den Desinfektions-Raum durch Rippenheiz¬
körper. Fragen wir nun, was geschieht, wenn heisser, gespannter,
strömender Dampf in einen viereckigen, mit zu desinficirenden
Gegenständen beschickten Raum hineingeleitet wird und zwar von
unten, wie ich im Gegensatz zu den von oben zuleitenden Appa¬
raten hervorheben muss. Zunächst glaube ich, müssen wir die
Idee, dass die Objekte einfach durchströmt oder durchblasen werden,
aufgeben. Gespannter Dampf verliert, sobald er aus einem engeren
Rohr in einen weiteren Raum gelangt, zunächst sofort seine Spannung,
vorausgesetzt, dass die Abzugsöffnung für den Dampf nicht kleiner
ist als die Zuleitungsöffnung. Der Dampf sucht nun, da er leichter
ist als die atmosphärische Luft, sofort den kürzesten Weg nach
oben. Die Objekte werden nicht durchblasen, sondern es wird
die kühlere Luft nach Massgabe ihrer Schwere nach unten sich
senken und durch den leichteren Dampf ersetzt werden, dies wird
erst ganz allmählich von aussen nach innen in den Objekten ge¬
schehen, daher die grosse Schwierigkeit im inneren von grossen
Objekten mit einer Temperatur von 100 0 G. hineinzukommen.
Diese Schwierigkeit wird noch vermehrt durch das in den Objekten
sich bildende Kondenswasser. In den Objekten wird durch die
darin befindliche kältere Luft der eindringende Dampf zu Wasser
kondensirt, und nunmehr ist es sehr schwierig, eine höhere Tem¬
peratur in den Objekten zu erlangen, da Wasser ja nicht höher
wie 100° C. erhitzt werden kann, d. h. ohne Druck. Herrscht
in dem Apparat Druck, oder vielmehr genauer gesagt in dem Des¬
infektions-Raum irgendwie Druck, so ist es viel leichter, in die
Objekte hinein zu gelangen, da Dampf unter Druck bedeutend
wärmer wie 100° G. ist und er geradezu in die Objekte hinein-
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— 67 —
gepresst wird and damit sich alle Vorgänge im Wesentlichen gleich,
nur rascher abspielen. Es sei deshalb hier in Erinnerung gebracht,
dass die Gewichte von Luft und Dampf bei gleicher Spannung mit
der Temperaturabnahme zunehmen und umgekehrt, dass ferner
1 cm Luft von 20° C. 1,2053 kg
1 „ „ „ 100° C. 0,9467 „
1 „ Dampf „ 100° C. 0,5896 „
wiegt. Diese Erwägungen waren es, welche die Herren Walz &
Windscheidt beim Düsseldorfer Apparat dazu führten, den Dampf
oben einzuleiten, unten einen grossen Abzugskanal zum Entweichen
der Luft anzubringen und den den Apparat füllenden Dampf an
Rippenheizkörpern zu erwärmen. Da in dem Apparat nur der
atmosphärische Druck vorhanden sein kann, wird der Dampf immer
leichter und dünner, während andererseits die Differenz der Tem¬
peratur im Raum und der Innentemperatur in den zu desinficiren-
den Gegenständen auf die grösste zulässige Höhe gebracht werden
kann. Die Gewichtsdifferenz zwischen dem Dampf im Raum und
der in den Gegenständen enthaltenen Luft ist deshalb die grösst-
möglichste. Die Luft muss deshalb aus permeablen Gegenständen
herausfallen und wird durch Dampf ersetzt. Diese Verhältnisse
erklären es auch, warum mit heisser Luft allein so sehr schwer
in grössere Objekte hinein zu gelangen ist. Die Gewichtsdifferenzen
zwischen heisser und kalter Luft sind eben zu gering, deshalb fällt
die kalte Luft nicht aus den Objekten und wird durch warme er¬
setzt, sondern es gleicht sich nur sehr langsam die Temperatur in
den Ojekten mit dem umgebenden Medium aus. Dem Düsseldorfer
Apparat am nächsten stehend ist der von Bacon in Berlin kon-
struirte und gelieferte Apparat, auch er besitzt Rippenheizkörper,
durch welche der unten zugeleitete Dampf direkt erhitzt wird.
In neuester Zeit wurden von Prof. Dr. Grub er in Wien un¬
abhängig von dem Ingenieur Walz dieselben Grundsätze ausge¬
sprochen. Auch er macht auf die Gewichtsdifferenzen aufmerksam
und empfiehlt den Dampf oben einzuleiten. Auch Budenberg
leitet bei seiner Konstruktion schon seit langer Zeit den Dampf oben
ein und hat eine besondere Oeffnung unten am Apparat zum Ent¬
weichen der aus den Objekten verdrängten kalten Luft. Dies, meine
Herren, ist es, was ich Ihnen heute vortragen wollte. Ich bin mir
wohl bewusst, dass ich manche Fragen und Einzelheiten nicht be¬
rührt habe, es war dies auch nicht meine Absicht, ich wollte
vielmehr durch mein Referat, welches ich nur als Einleitung zu
betrachten bitte, eine recht angeregte Diskussion hervorrufen und
hoffe, dass dieselbe der ganzen Sache forderlich sein möge.
Der Vorsitzende Dr. Graf hält es für erwünscht, wenn die
Besichtigung des auf dem Kirchhofe aufgestellten und in Betrieb
gesetzten Apparats erst nach der Diskussion stattfinde. Der von
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68
der Firma Budenberg in Dortmund zur Ansicht hergeschickte,
hier im Tonhallengarten aufgestellte und in Betrieb gesetzte Des¬
infektions-Ofen kann besichtigt werden. Damit indess die Diskus¬
sion nicht aufgehalten werde, erscheine es erwünscht, wenn einer
der anwesenden Herren sich bereit finden liesse, die Resultate des
Budenberg’schen Ofens inzwischen festzustellen. Herr Apotheker
Rehe (Köln) war dieser Aufforderung bereitwilligst gefolgt und
konstatirte, dass der hier im Tonhallengarten aufgestellte Buden-
berg’sche Apparat, der mit einer Zahl von wollenen Decken be¬
schickt, thatsächlich innerhalb der bestimmten Frist eine Tempera¬
turhöhe von 106° C. erreicht habe. Herr Rehe übernahm es
ferner, das Resultat der Arbeit des Wa 1 z’schen Ofens im Leichen¬
hause einzuholen. Dasselbe nach Schluss der Sitzung eingegangen
lautet:
Infolge der von der Firma Walz & Wind scheidt ge¬
troffenen Einrichtung, die Beschickung des Desinfektors fast
zur selben Zeit vorzunehmen, wie dieses seitens der Firma
Budenberg geschehen ist, hatte die Entleerung des letz¬
teren bei meiner Ankunft bereits stattgefunden. Herr Wind¬
scheidt hatte den Temperaturgrad in Gegenwart eines
städtischen Angestellten festgestellt und zeigten die in die
Deckenrollen eingelegten Thermometer 100,5 resp. 101° C.
Düsseldorf, 7. Juli 1888. T ttt .
J. W. Rehe.
Die Diskussion wird eröffnet, es erhält das Wort:
Hartmann (Kreuznach). Dieser bemerkte, dass wir vom
Vortragenden das Thema genügend erörtert gehört haben, es wäre
aber auch erwünscht, das „Warum“ zu hören; wir haben mit
einem vegetabilen und animalen Leben zu rechnen; animalische
Leben werden auch mit 100° C. zerstört, vegetabilische dagegen
werden nicht von ihrer Lebensfähigkeit befreit, am allerwenigsten,
wenn sie im trockenen Raume bei 100° behandelt werden; die
Stärkezellen werden bei 100° nicht zerstört. Die Methode mit
Wasserdampf ist daher die einzig richtige und auch wohl sicher
im Stande, die Stärkekörper zum Platzen zu bringen; auch greller
Temperaturwechsel, wie Gefrieren und Wiedererhitzen, müsse sich
wirksam auf die Vernichtung der Leben zeigen.
Walz (Düsseldorf) stellt die Behauptung auf, dass cs Gewichts¬
differenzen zwischen dem Dampfe und der in den Objekten ein¬
geschlossenen Luft seien, welche den Desinfektions-Process bewerk¬
stelligen resp. das Eindringen des Dampfes ermöglichen. Das
Richtige sei, diese Differenz nach Möglichkeit zu vergrössern. Man
möge absehen von allen Details und bei den verschiedenen Appa¬
raten zwei Hauptkonstruktionen unterscheiden. Bei den meisten
Apparaten werde die grössere Gewichtsdifferenz dadurch erzielt,
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dass man den Dampf überhitze und dadurch specifisch leichter
mache. Die andere Art der Konstruktionen heize dagegen das
Innere nicht, sondern stelle einen Dampfüberdruck in dem Desin¬
fektions-Raum her. Dadurch werde die Luft in den Objekten auf
ein kleineres Volumen zusammengedrückt und relativ specifisch
schwerer gemacht. Dieselbe könne deshalb die ihr entgegenwirkenden
Reibungswiderstände leichter überwinden und aus den Objekten
herausfallen.
Diese Konstruktion führe bei grösseren Apparaten zu mancher¬
lei Uebelständen und sei nicht ungefährlich, umsomehr, als die
Wandstärken der Apparate meist zu dünn seien. Thatsächlich
seien solche Apparate zum Theil nur mit 1 mm Wandstärke herge¬
stellt worden.
Grössere Apparate aber habe man nöthig, um ganze Betten
einbringen zu können.
Der Apparat der Stadt Düsseldorf, hergestellt von der Firma
Walz & Windscheidt, arbeite nicht mit Dampfüberdruck, son¬
dern erziele die grössere Gewichtsdifferenz dadurch, dass man das
Innere des Apparates heize, es sei daher das Oeffnen und Schliessen
derThüren sehr leicht zu bewerkstelligen. Wollte man in diesem
Apparat einen Ueberdruck herstellen, so müsste man für den
Apparat statt des rechteckigen einen runden Querschnitt wählen,
und dieser müsste in diesem Falle zwei Meter im Durchmesser
haben. Dadurch würde man aber den Apparat unhandlich machen,
da alsdann die Thüren schwer dicht zu halten seien, während man
bei Epidemien an einen Apparat den Anspruch erheben müsse,
dass er schnell arbeite.
Henneberg (Berlin). Wenn es ihm vergönnt ist, als Gast
das Wort zu nehmen, so hat er zunächst um Entschuldigung zu
bitten, dass es eben nur bei dem Wort bleiben muss und er nicht
in der Lage ist, auch seinerseits einen Apparat seines Systems im
Betriebe vorzuführen. Ein solcher ist rechtzeitig von Berlin aus
abgesandt worden, aber durch ein bedauerliches Versehen der
Speditionsfirma auf einer Zwischenstation liegen geblieben.
Nach seiner Auffassung müsste man als Ingenieur in Fragen,
wie der vorliegenden, die Resultate wissenschaftlicher Forschungen
und die daraus abgeleiteten Grundsätze gläubig anerkennen und
habe seine Aufgabe lediglich darin zu erblicken, diese Ergebnisse
bezw. Forderungen der Wissenschaft für den praktischen Gebrauch
nutzbar zu machen.
Demnach gelte ihm in Bezug auf die Frage der Desinfektion
von Kleidern, Betten etc. als oberster und unumstösslicher Lehrsatz,
dass strömender Wasserdampf von 100° C. das beste, weil am
sichersten wirkende Entseuchungsmittel sei. Mit diesem Mittel
müsse nun gearbeitet werden, auf seine vortheilhafteste Erzeugung
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und Verwendung hätten sich alle einschlägigen Konstruktionen zu
beziehen.
Dabei sei Folgendes zu berücksichtigen. Die hohe Tempera¬
tur des Dampfes allein bedinge keineswegs die beabsichtigte Wirkung,
sondern in eben so hohem Masse die gleichzeitig stattfindende
Durchfeuchtung der Objekte, sonst wäre ja die Desinfektion mit
heisser Luft ungleich einfacher. Es sei eine nicht zu bezweifelnde
Thatsache, dass selbst die winzigsten Mikroorganismen mit einer
für trockene Hitze wenig empfindlichen Haut versehen seien, welche
das Eindringen der Dampftemperatur in das Innere erschwere oder
verhindere, so lange sie nicht mittelst Durchfeuchtung zu einem
guten Wärmeleiter gemacht sei.
Aus dieser Erkenntniss entstand der allbekannte Koch’sehe
Versuchsapparat.
Für die Anwendung im Grossen sind dann aber noch andere
Gesichtspunkte maassgebend geblieben.
Die Betriebskosten sollen in mässigen, jedenfalls rationellen
Grenzen gehalten werden. Auch ist es Aufgabe des Ingenieurs,
den Apparat so billig und einfach, wie möglich, zu machen, billig,
um die Anschaffung überall im Interesse der öffentlichen Gesund¬
heitspflege zu erleichtern, einfach, weil der Apparat meist solchen
Leuten zur Bedienung anvertraut werden muss, welche die Ein¬
richtung desselben nicht zu beurtheilen vermögen. Endlich — und
auch diese Bedingung ist wichtig — muss der Apparat die Eigen¬
schaft besitzen, die Desinfektionsobjekte möglichst zu konserviren,
keinesfalls zu verderben.
Der erste, wie er (Redner) annehme, bekannte Apparat, welchen
seine Firma baute, war in Gylinderform konstruirt und genügte
den geschilderten Anforderungen vollkommen. Nur zwei Missstände
machten sich geltend: die oft zu hohe Durchfeuchtung der Objekte,
welche eine Nachtrocknung erforderlich machte, und die schwierige
Hantierung, sobald es sich um Apparate grösseren Umfangs handelte.
Es wurde auf Abhülfe gesonnen und solche auch geschaffen.
Die Cylinderform wurde verlassen und zur rechteckigen Kasten¬
form übergegangen, wodurch selbst die grössten Apparate für
ganze Betten etc. leicht bedienbar gemacht wurden. Der Ueber-
mässigen Durchfeuchtung wurde durch Ueberhitzung des Dampfes
entgegengetreten und der beabsichtigte Zweck vollkommen erreicht.
Allerdings musste in letzterer Beziehung den Ergebnissen der
neuesten Forschungen desDr. von Esmarch Rechnung getragen
werden, wonach überhitzter Dampf, wenn er unmittelbar auf die
pathogenen Körper einwirkt, nur eine beschränkte desinficirende
Wirkung äussert und jedenfalls dem nassen Dampf nachsteht.
Man kam sonach zu einer Eintheilung des Desinfektions-Prozesses
in folgende Perioden:
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— 71 —
1) Periode der Anwärmung und Kondensation (letztere gleich¬
bedeutend mit Durchfeuchtung).
2) Periode der Ueberhitzung und eigentlichen Desinfektion
(Einwirkung des hocherwärmten Dampfes auf die durchfeuchteten
Objekte).
3) Periode der Nachtrocknung (Verdampfung des Durchfeuch¬
tungswassers bei fortgesetzter Anwendung mässig überhitzten
Dampfes).
4) Periode der Ventilation (Entfernung des den Desinfektions-
Raum erfüllenden Dampfes mittelst Zuführung von vorgewärmter Luft).
Nach Massgabe dieser Gliederung des Prozesses arbeitet der
neue Henneberg’sehe Desinfektor und darf somit als ein den
Anforderungen der Wissenschaft genügender Apparat bezeichnet
werden.
Dem Redner liegt es durchaus fern, an diese, seine eigene
Konstruktion betreffende Behauptung irgend welche Kritik anderer
Apparate anzuschliessen. Er glaube klar genug auseinandergesetzt
zu haben, nach welchen Gesichtspunkten alle Apparate beurtheilt
werden müssen, und wer immer in die Lage komme, einen Desin¬
fektions-Apparat anzuschaffen, sei es welchen Systems es wolle,
werde unschwer entscheiden können, wie derselbe beschaffen sein
müsse, um das zu leisten, was gefordert werde.
Er möchte zum Schluss noch eine Frage berühren, welche
bislang in den Verhandlungen des Vereins unerörtert geblieben sei.
Es sei bekannt, dass bereits eine namhafte Anzahl von Städten
Desinfektions-Anstalten für den öffentlichen Gebrauch eingerichtet
hätten, und es sei anzunehmen, dass überall, wie in Berlin, für
einen sachgemässen Hin- und Rücktransport der Objekte gesorgt
sei. Es sei aber fraglich, ob gerade dieser Transport sich überall
ohne Gefahr und ohne allzuhohe Kosten werde bewerkstelligen lassen,
und er glaube nichts Unnützes gethan, bezw. für manche Fälle
ein Auskunftsmittel geschaffen zu haben, indem er auch einen fahr¬
baren Desinfektor konstruirte. Derselbe entspricht in Form und
Einrichtung genau dem stationären Apparat, kann aber, da er nur
ungefähr 45 Ctr. wiegt und ein kompletes Wagengestell mit 4 Rädern
besitzt, mit Leichtigkeit von Ort zu Ort transportirt werden. Man
kann also unter Umständen den Krankheitsheerd aufsuchen, anstatt
die inficirten Gegenstände von dort nach der Desinfektions-Anstalt
zu bringen.
Walz (Düsseldorf) schliesst sich im Allgemeinen den Ausfüh¬
rungen des Vorredners an und meint, es komme sehr darauf an,
wie man den Dampf überhitze. Es sei etwas ganz anderes, ob
man den Dampf ausserhalb des Apparates überhitze und ihn diesem
überhitzt zuleitete, oder ob man den Dampf in dem Apparat selbst
überhitze.
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72 —
Letzteres sei u. A. auch in dem Apparat der Stadt Düsseldorf
der Fall. Man müsse dort stets vor dem Einbringen der Objekte
die Thören öffnen; dadurch werde die heisse Luft aus den Appa¬
rate entfernt und durch kältere ersetzt; auch die Objekte kämen
mit der gewöhnlichen Temperatur der Aussenluft in dem Apparat.
Da ferner der Dampf nur mit 100° C. in den Apparat eintritt,
so müsse ganz unfehlbar auch eine Benetzung der äusseren Ob¬
jekte statthaben. Die Ueberhitzung des Dampfes ginge erst in der
Folge des Desinfektions-Processes vor sich; es sei daher ganz un¬
möglich, dass Bakterien nicht von der Feuchtigkeit getroffen wer¬
den und unsterilisirt den Apparat verlassen könnten.
Dem Strömen des Dampfes in den Apparaten könne er keiner¬
lei Gewicht beilegen.
Dr. Fleischhauer (Düsseldorf). Durch den Apparat, der in
Düsseldorf in Gebrauch ist, werden alle Bacillen getödtet; es seien
verschiedene Versuche gemacht mit mancherlei Gegenständen und
kein Stück sei ohne Tödtung der Infektionskeime geblieben; die
Desinfektion über 150 °G. könne nicht empfohlen werden, es müsse
das Gewebe bei dieser Temperatur geschädigt werden.
Dr. Graf (Elberfeld) fragt, ob die Erwiderung des Herrn
Walz sich auf den Budenberg’sehen Apparat bezöge? Ob
etwa die Gefahr, die durch den Apparat entstehen könne, auf die
Rostung der Wandungen zurückzuführen sein würde.
Budenberg (Dortmund) verneint diese Frage.
Walz (Düsseldorf) hält an der Ansicht fest, dass 1 min Wand¬
stärke unzureichend und für die Sicherheit nicht hinlänglich sei.
Budenberg (Dortmund) betont, dass sein Apparat in Dort¬
mund bereits 2 Jahre funktionire, und es könne bis heute nicht die
Befürchtung Platz greifen, dass durch irgendwelche Einwirkung die
Widerstandsfähigkeit der Wände geschwächt und eine Gefahr für
die Sicherheit vorhanden sei.
Walz (Düsseldorf) gibt zu, dass ein Apparat in dieser Wand¬
stärke bei öfterem Gebrauch länger halten könne, längeres Un¬
benutztlassen werde aber in Folge Rostung die Wände schwächen;
es könne diese Wandstärke aber auch aus dem Grunde nicht
empfohlen werden, weil der Apparat meist einem Wärter anvertraut
werden müsse, welcher mit der richtigsten Bedienung nicht ver¬
traut ist, und auch dieser Umstand schon lasse es räthlich erscheinen,
stärkere Wände zu wählen.
Quedenfeld (Duisburg) ist der Ansicht, dass die Diskussion
über die Konstruktion des Apparates über den Zweck der heutigen
Versammlung hinausgehe; es wäre das wohl technische Sache,
etwaige Unvollkommenheiten einzelner Apparate abzustellen. Die
Erfahrungen über den Werth dieses oder jenes Systems werden
sich auch erst später sammeln lassen. In Duisburg habe man einen
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— 73
Budenberg’schen Apparat, der, soweit er bis jetzt benutzt
worden sei, gut funktionire und als brauchbar bezeichnet
werden könne. Einen transportabeln Apparat halte er überhaupt
für unzweckroässig, unsicher und bedenklich, da man das kompli-
cirte Werk zur Wegschaffung und Bedienung nichtgeübten Händen
anvertrauen müsse, dann auch der Transport durch die Strassen
für die Bevölkerung als etwas beunruhigendes und belästigendes
bezeichnet werden müsse.
Dr Lent (Köln) hält diese Frage doch für wichtig genug, um
sie in heutiger Versammlung zu besprechen.
Wilhelm (Essen) theilte mit, dass Essen einen Apparat von
Göbe & Zilger habe, der auch sehr einfach und explosionssicher
erscheine; innerhalb einer Viertelstunde werden 101° G. in einge¬
wickelten und in freien Gegenständen in derselben Zeit 125 0 C.
erzeugt.
Quedenfeld (Duisburg) glaubt an seiner Ansicht festhalten
zu sollen, dass die Konstruktion mit der Wandfläche nichts zu
thun habe und dies immer technische Sache bleiben müsse.
Henneberg (Berlin) bemerkte noch hinsichtlich der für
Dampfdesinfektions-Apparate geltenden Vorsichtsmassregeln, dass
bis jetzt nur die Dampfentwickler als solche der gesetzlichen Kon-
ccssion und Revision unterworfen seien, es stehe aber in bestimm¬
ter Aussicht und es schwebten bei den Behörden zur Zeit Ver¬
handlungen darüber, dass überhaupt alle mit Dampf arbeitenden
Apparate, welche eine Gefahr des Platzens in sich bergen könnten,
einer gewissen staatlichen Aufsicht zu unterwerfen seien.
Da nach seiner Ansicht man auf dem bisher beschrittenen
Wege zu einem Resultat darüber nicht kommen werde, welcher
der verschiedenen Desinfektions-Apparate wohl der beste sei, so
schiene ihm der Vorschlag, den er hiermit ausspreche, der Erwägung
wohl werth, es mögen verschiedene Firmen Apparate von gleichen
Dimensionen resp. von gleicher Kapacität an einem von dem Verein
zu bezeichnenden Ort aufstellen und unter gleichen Verordnungen
in Thätigkeit setzen. Dann erst würde sich vielleicht ein Urtheil
fällen lassen, ob einer dem andern vorzuziehen und welcher unter
allen Umständen der beste sei.
Auf eine Anfrage, ob Holzsachen, z. B. Bettstellen durch Des¬
infektion verdorben würden und auseinander fallen, bemerkt Henne¬
berg, dass naturgemäss geleimte Sachen insofern Schaden nehmen
müssten, als die Leimfugen in Folge Auflösung des Leimes durch
den Dampf auseinandergehen würden. —
Darauf findet eine eingehende Besichtigung der ausgestellten
Apparate und Zeichnungen statt. Eine Abstimmung konnte natür¬
lich nicht erfolgen, da es sich nur um die Darstellung der in diesem
Augenblick für alle Gemeinden wichtigen Frage handelte.
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 6
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- 74 -
San.-Rath Dr. Graf (Elberfeld) macht noch die Mittheilung,
dass die Firma Carl Theissen in Düsseldorf mehrere Stahl¬
metallmatratzen aufgestellt habe, zu deren Besichtigung er einlade.
Hierauf wird die Sitzung geschlossen und vereinigen sich die
Mitglieder zu einem gemeinsamen Mittagessen.
Die 14. Versammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege zu Frankfurt a. M.
vom 13. bis 16. September 1888.
Von
J. Stübben.
Den Vorsitz der sehr stark besuchten Versammlung — die
Präsenzliste verzeichnete 362 Mitglieder — führte Oberbürgermeister
Becker (Köln) als Vertreter des im Laufe des Jahres verstor¬
benen Ausschusspräsidenten, Bürgermeisters Dr. v. Erhardt (Mün¬
chen). Das Bureau wurde ausser dem Vorsitzenden gebildet aus
den Herren Stadtbaudirector Berger (Wien), Oberbürgermeister
Dr. Miquel (Frankfurt), Sanitätsrath Dr. Wal liehs (Altona)
und dem ständigen Vereinssekretär Sanitätsrath Dr. Spiess.
Nachdem Oberbürgermeister Miquel die Versammlung Namens
der Stadt Frankfurt begrüsst und der Vorsitzende die Verdienste
des verstorbenen Ausschusspräsidenten durch einen wannen Nach¬
ruf geehrt hatte, ging Dr. Miquel als Berichterstatter über zu
einem fesselnden Vortrage betreffend „Maassregeln zur Er¬
reichung gesunden Wohnens“.
Obwohl zeitweise stärker hervortretend, so führte ungefähr
der Redner aus, sind die Ursachen der sogenannten Wohnungs¬
not dauernde, was durch die vom Verein für Socialpolitik vor
zwei Jahren angestellte Enquete über den Zustand derWohnungs-
verhällnisse der arbeitenden Klassen erwiesen ist. Es handelt sich
namentlich um den Mangel und also um die reichlichere Beschaf¬
fung von gesunden, billigen Wohnungen. Die Aufgabe wird
nicht gelöst von denjenigen, welche meinen, die Wohnungsfrage
sei gleichbedeutend mit der Lohnfrage, die Abhülfe läge somit in
der pekuniären Verbesserung der Lage der Arbeiter. Denn mit
demselben Geldbeträge könne man zu gewisser Zeit Nahrungsmittel
gut und reichlich, Wohnräume gesund und geräumig sich beschaf¬
fen, zu anderer Zeit jedoch nur schlechte und wenige Nahrungs¬
mittel, schlechte und ungesunde Wohnräume. Durch die Gesetz-
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— 75 -
gebung und die Verwaltung kann man dem Mangel an gesunden,
billigen Wohnungen, der einen grossen Theil unserer gesellschaft¬
lichen Uebelstände in sich begreift, entgegenwirken. Wir verlangen
zunächst ein Gesetz und womöglich ein Reichsgesetz zur Sicherung
der Anlage gesunder Wohnungen und der gesundheitsgemässen
Benutzung der Räumlichkeiten. Aber damit nicht die Folge eines
solchen Gesetzes die Verteuerung des Wohnens sei, empfehlen
wir zugleich tatkräftiges Eingreifen gemeinnütziger Gesellschaften
und einsichtiger Arbeitgeber zur Vermehrung, Verbesserung und
Verwohlfeilung der kleinen Wohnungen. Sowohl die Stadtgemeinde
als der Staat sollten in ihrer Eigenschaft als grosse Arbeitgeber
mit der Errichtung zweckmässiger Wohnungen, nicht von Dienst¬
wohnungen, sondern von MiethWohnungen für ihre Arbeiter und
Unterbeamten vorbildlich mehr als bisher voranschreiten. Die
Bauspekulation sorgt für kleine Wohnungen von 1 bis 2 Zimmern
und Zubehör nicht genug wegen der Schwierigkeit der Verwaltung,
der unsicheren Einkünfte und des Festlegens hoher Kapitalien.
Das Bauen kleiner Wohnungen schreitet deshalb nicht dem Be¬
dürfnis vorauf, sondern folgt ihm langsam; daher die andauernde
Wohnungsnoth. Dabei ist es ein grosser Uebelstand, dass erfah-
rungsmässig die Arbeiter ihre Ausgaben am ehesten an der Woh¬
nung sparen und fürlieb nehmen mit den ungeeignetsten Gelassen.
Die sittlichen und gesellschaftlichen Folgen sind bekannt. Nur
durch Zwangsmittel des Gesetzes lässt sich hier helfen. Der
einzelne Eigenthümer soll nicht souverän in der Bebauung seines
Bodens und Vermiethung seines Hauses sein. Die Beschränkungen
zu Gunsten der Herstellung gesunder Wohnungen werden bald auch
vom Eigenthümer als eine Wohlthat empfunden werden, weil ja
die Beschränkung auch die Nachbarn trifft und die Vortheile all¬
gemein sind. Der gesetzliche Zwang ist nicht bloss für die tech¬
nische Herstellung der Wohnungen, sondern ebenso sehr hinsicht¬
lich der Benutzung derselben und gegen die Ueberfüllung noth-
wendig. Wie für einzeln^ Gegenden Deutschlands bewährte Polizei¬
verordnungen gegen die Ueberfüllung von Logirhäusern bestehen,
so sind ähnliche Bestimmungen gegen die Ueberfüllung der Woh¬
nungen und Schlafräume gesetzlich allgemein durchführbar. Die
Folgen einer solchen Gesetzgebung können sehr einschneidende
sein; aber selbst wenn zu Zeiten einer plötzlichen industriellen Er¬
hebung die Arbeiterzahl, deren Zustrom gewünscht wird, nicht Obdach
finden würde und somit zurückbleibt, so ist das keine schädliche
Folge, weil eine Begleichung dieser stossweise eintretenden Wel¬
lungen der Industrie nur erwünscht sein kann. Das Gesetz kann
natürlich nur geringste Anforderungen festsetzen; darüber hinaus
zu gehen, müsste den Gemeinden je nach den örtlichen Verhält¬
nissen überlassen bleiben. Ausserdem aber muss die Gemeinde
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durch systematische Ausdehnung des Baufeldes dahin zu wirken
suchen, dass die Bauplätze durch vermehrtes Angebot billiger, die
Wohnungen nicht allzusehr im Preise gesteigert werden. Redner
empfiehlt schliesslich die Annahme seiner später mitgetheilten
Thesen.
Oberbaurath Professor Baumeister (Karlsruhe) entwirft als
Gorreferent ein ungefähres Bild über die technischen Einzelheiten,
welche das verlangte Reichsgesetz zu ordnen hätte. Rechtsanwalt
Strauss (M.-Gladbach) und Baurath Rheinhard (Stuttgart) em¬
pfehlen geringe Aenderungen der Miquel’schen Thesen. Ober¬
ingenieur Meyer (Hamburg) empfiehlt Annahme derselben und zu¬
gleich UeberWeisung der Baumeister’sehen Sätze, welche manche
sehr zweifelhafte Punkte enthalten, an einen siebengliedrigen Aus¬
schuss zur Prüfung und Durchberathung behufs Beschlussfassung
in der nächstjährigen Versammlung. Mit diesem Vorschläge und
mit den Miquel’sehen Thesen in nachstehender Fassung erklärt
die Versammlung sich einverstanden:
1. Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hält
zur Bekämpfung der auch in Deutschland und nicht bloss in den
grossen Städten bestehenden schweren Missstände im Wohnungs¬
wesen und der hieraus für die menschliche Gesundheit erwachsen¬
den grossen Nachtheile und Gefahren neben den unablässig fortzu¬
setzenden und zu erweiternden Bestrebungen der Staaten, Gemein¬
den, Vereine und Arbeitgeber für die Vermehrung, Verbesserung
und Preisermässigung der Wohnungen, namentlich der arbeitenden
Klassen die Herbeiführung einer einheitlichen Gesetzgebung
für ganz Deutschland oder mindestens für die Einzelstaaten für
möglich und dringend erwünscht.
2. Eine solche Gesetzgebung müsste a. die zur Herstellung
gesunder Wohnungen bei Neu- und Umbauten zu stellenden Min-
dest-Anforderungen vorschreiben, b. das Bewohnen unzweifelhaft
ungesunder Wohnungen verbieten und den Polizei- und Gemeinde¬
behörden genügende Befugnisse zur Durchführung dieses Verbotes
einräumen, insbesondere die Beachtung der baupolizeilichen Zweck¬
bestimmungen bei der Benutzung der Räume sichern; c. die ge¬
sundheitswidrige Ueberfüllung der MiethWohnungen und die über¬
mässige Verringerung des Luftraumes namentlich in den Schlaf¬
stellen zu verhindern geeignet sein.
Die an einen vorberathenden Ausschuss verwiesenen tech¬
nischen Einzelvorschläge des Correferenten Prof. Baumeister
lauten:
I. Vorschriften über Herstellung von Wohnungen.
1. Licht und Luft. Alle zum längeren Aufenthalt von Menschen bestimmten,
d. h bewohnten Räume mfissen Fenster direkt in*s Freie erhalten.
Die Gesammtfläche dieser „noth wendigen* Fenster soll mindestens 1 qm
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auf 30cbm Rauminhalt betragen. Besondere Bestimmungen bei Verbin¬
dungsräumen und Abtritten, bei Oberlicht und künstlicher Ventilation.
Auf neuen Bauplätzen muss allen nothwendigen Fenstern Licht
unter einem Einfallwinkel von 45 °, allen untergeordneten Fenstern ein
Abstand von mindestens 5 m bis zu gegenüberliegenden Gebäuden gewährt
werden. Daher darf ein Gebäude an der Strasse nicht höher aufgeführt
werden, als der Abstand desselben von der gegenüberliegenden Baulinie
beträgt. Hierzu nähere Bestimmungen bezüglich Messung der Gebäude¬
höhe, Seitenlicht aus grösseren Hofräumen, Eckzimmer, Stellung zu nach¬
barlichen Grenzen und Gebäuden.
Auf älteren Bauplätzen soll die Gebäudehöhe an der Strasse nicht
über s / 4 des Abstandes von der gegenüberliegenden Baulinie steigen,
und muss im Uebrigen der Abstand vor Fenstern mindestens die Hälfte
von demjenigen erreichen, welchen die obigen Normen für neue Bau¬
plätze fordern.
Die lichte Höhe bewohnter Räume muss mindestens 2.5 m betragen.
Die grösste zulässige Zahl der bewohnten Geschosse ist in Vorder¬
gebäuden auf neuen Bauplätzen 4, in dgl. auf älteren Bauplätzen 5, in
Hintergebäuden 3 Nähere Erläuterung über den Begriff eines „ bewohnten
Geschosses“.
2. Einfluss des Bodens. Tiefste Lage bewohnter Räume 0.5m über dem
höchsten Grundwasserstand, im Ueberschwemmungsgebiet 0,5 m über dem
höchsten äusseren Wasserstand, im Erdgeschoss, soweit es der Zweck zu¬
lässt, 0.5 m über der Erdoberfläche. Sicherung aller Wände und Fuss-
böden gegen Erdfeuchtigkeit. Bauplätze und Anschüttungen innerhalb
und ausserhalb der Häuser sollen frei von organischen Bestandtheilen sein.
Auf neuen Bauplätzen sind weder in Kellern noch in Halbkellern
Wohnungen zulässig, einzelne bewohnte Räume nur dann, wenn deren
Fussboden höchstens 1 m unter, der Fenstersturz mindestens 1 m über
dem umgebenden Terrain liegt, oder wenn ein Lichtgraben angeordnet
wird, dessen Breite dem Höhenunterschied zwischen Erdoberfläche und
Kellerboden gleich kommt.
Auf älteren Bauplätzen sollen, sofern überhaupt Kellerwohnungen,
der örtlichen Uebung entsprechend, durch die zuständige Behörde zuge¬
lassen werden, für solche die vorstehenden Forderungen sowohl bei Einzel¬
räumen, als bei ganzen Wohnungen gelten.
3. Construction von Wänden und Decken. Verbot hygroskopischer
Bausteine, nasser oder unreiner Deckenfüllungen.
Bei allen zum Aufenthalt von Menschen bestimmten Räumen ist der
Baupolizei spätestens 8 Tage vor Beginn der Verputzarbeiten und spä¬
testens 8 Tage vor der Ingebrauchnahme Anzeige zu machen, damit die
Behörde entscheiden könne, ob das Haus genügend ausgetrocknet ist, um
ohne Nachtheil für die künftigen Bewohner verputzt, bezw. bezogen wer¬
den zu können.
Ausdünstungen. Für jede Wohnung ist ein umwandeter, bedeckter und
verschliessbarer Abtritt anzulegen. Ausnahmen unter besonderen Um¬
ständen. Abtritte sollen womöglich in einem Anbau liegen, jedenfalls
aber von anderen Räumen einer Wohnung durch gemauerte Wände und
verputzte Decken getrennt werden.
Abfallröhren aus undurchlässigem Material, möglichst senkrecht und
zugänglich, nach oben als Dunstrohr verlängert, dessen Mündung über
Dach von etwaigen Fenstern mindestens 5 m abstehen, oder deren Sturz
um 1 m überragen muss.
Ställe sind von bewohnten Räumen durch möglichst luftdichte Wände
und Decken zu trennen. Ueber ihnen dürfen niemals ganze Wohnungen
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eingerichtet werden. Nähere Bestimmungen über Dichtigkeit und Abläufe
von Stallböden und Düngerstätten.
Gewerbliche Anlagen, bei welchen nach Art und Umfang ihres Be¬
triebes erhebliche gesundheitliche Bedenken vorliegen, müssen von an¬
deren Räumen durch dichte Mauern, oder durch freie Abstände getrennt
werden. Vorschriften über Lüftung und Reinigung von Räumen und Be¬
hältern, in welchen Stoffe mit üblen Ausdünstungen aufbewahrt oder ver¬
arbeitet werden.
Verbot von Ofenklappen.
Schutz der Nachbaren gegen Belästigung durch Abtritte, Ställe, Ge¬
werberäume mittelst gewisser Grenzabstände, isolirender Scheidemauern
oder sonstiger angemessener Vorkehrungen.
5. Wasserversorgung. Jedem bewohnten Grundstück muss Versorgung mit
trinkbarem Wasser zugesichert werden, und zwar durch eines der folgen¬
den Mittel: Anschluss an eine öffentliche Wasserleitung, Anlage eines
Privatbrunnens, Benutzung eines öffentlichen oder nachbarlichen Brunnens
in massiger Entfernung. Hinsichtlich der öffentlichen Wasserversorgung
ist die Pflicht des obligatorischen Anschlusses aller Grundstücke in Aus¬
sicht zu nehmen, falls ohne denselben nach Lage der örtlichen Umstände
das Unternehmen finanziell unerreichbar sein sollte. Für Privatbrunnen
besondere Constructions-Vorschriften.
6. Reinigung und Entwässerung. Abwasser und Fäcalien dürfen in Ge¬
bäuden und ihrer Umgebung nicht auf ungeregelte Weise angesammelt
oder abgeleitet, sondern müssen unter thunlichster Reinhaltung von
Boden, Luft und Wasser entfernt werden. Für die betreffenden Hülfs-
mittel, als Gruben, bewegliche Gefässe, offene Rinnen, unterirdische
Kanäle, sind bestimmte Vorschriften und Grenzen der Anwendbarkeit
aufzustellen.
II. Vorschriften über Bebauungspläne.
7. Luftraum in Bebauungsplänen. Der Flächeninhalt von Strassen und
Plätzen (einschliesslich öffentlicher Anlagen) soll mindestens */• d er Gfe*
sammtfläche eines zur Ueberbauung bestimmten Bezirkes betragen.
8. Vorräume und Zwischenräume. Der Gemeindeverwaltung kommt das
Recht zu, in einer Strasse die Baulinie um ein gutdünkendes Maass
hinter der Grenzlinie vorzuschreiben. Der Raum zwischen beiden Linien
darf jedoch von Seiten des Eigentümers zu niedrigen Vorbauten bis
an die Strasse, zu a u f stei gen d en bis zu .’/• der Tiefe und Länge des
Vorraums benutzt werden. Nach örtlichen Umständen ist festzustellen,
ob und wie weit die zu den genannten Vorbauten nicht verwendete Fläche
als Verbreiterung der Strasse, zu gewerblichen Zwecken oder als einge¬
friedigter Vorgarten dienen soll.
Der Gemeindeverwaltung kommt das Recht zu, für bestimmte Strassen
die Bauweise mit Zwischenräumen vorzuschreiben und zugleich das Maass
der letzteren, welches mindestens 5 in betragen muss und in der Regel
jedem Nachbar zur Hälfte auferlegt wird. Es soll jedoch auf dem Wege
einer Vereinbarung zwischen den Nachbarn zulässig bleiben, den Zwischen¬
raum ungleich zu theilen, oder auch ihn an der einen Nachbargrenze zu
unterdrücken, wenn er dafür an der andern um so breiter angelegt wird.
Ferner kann gemäss örtlicher Umstände die Errichtung von Zwillings¬
häusern und das Zusammenrücken in längere Häusergruppen zugelassen,
bezw. vorgeschrieben werden.
9. Lästige Gewerbe. Die Gemeindeverwaltung ist zur Auswahl * der'* für; ge¬
wisse Gewerbsanlagen gar nicht, oder nur unter gewissen Bedingungen
oder vorzugsweise bestimmten Ortstheile befugt. Bei der Bezeichnung der
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hiervon betroffenen Gewerbe oder Gewerbegruppen ist sie nicht an die
concessionspflichtigen Gewerbe (§ 16 der Gewerbeordnung) gebunden, doch
darf von dem Recht der Verbannung nur dann Gebrauch gemacht wer¬
den, wenn nach Ansicht der zuständigen Staatsbehörde und nach Maass¬
gabe der örtlichen Eigenart in anderweitigen Bezirken des Ortes und seiner
Umgebung Gelegenheit zum Unterkommen der betroffenen Gewerbe gegeben
ist, bezw. geschaffen wird.
10. M ischung der VVdhnungen. Durch Ortsstatut kann den Besitzern von
Grundstücken mit einem Flächeninhalt über 1 hä vorgeschrieben werden,
dass bei deren Ueberbauung ein gewisser Theil (mindestens */#) des künftig
bewohnbaren Rauminhalts zu .kleineren Wohnungen“ von je 2 bis 4
Zimmern nebst Zubehör bestimmt werde. Diese Pflicht bleibt auch bei
beabsichtigtem Einzelverkauf von Flächentheilen bestehen.
III. Vorschriften Ober Benutzung von Wohnungen.
11. Ueberfüllung. Gelasse, deren Fenster nach Grösse und Lage nicht den
Bedingungen für „noth wendige Fenster“ entsprechen, dürfen nicht zu
längerem Aufenthalt von Menschen, bezw. zum Bewohnen benutzt werden.
Schlafräume, sowohl in Privatwohuungen als in Logirhäusern, dürfen
nur soweit belegt werden, dass auf jede erwachsene Person ein Luftraum
von mindestens 12 cbm, auf jedes Kind unter 10 Jahren die Hälfte davon
entfällt. Diese Ziffer kann verringert werden, wenn die Fensterfläche
des Raumes eine reichlichere ist, als 1 qm auf 30 cbm Rauminhalt, aber
niemals unter 10. Andererseits muss die Ziffer bis zu 14 gesteigert
werden, wo der Flächeninhalt der Fenster der Vorschrift in Artikel I
nicht genügt.
12. Ungesunde Wohnungen. Wenn Wohnungen durch ihren baulichen
Zustand, durch ihre Lage oder durch Einflüsse des Bodens erhebliche ge¬
sundheitliche Bedenken erregen, so können sie durch die zuständige Be¬
hörde für unbenutzbar erklärt werden. Hierbei ist festzustellen, oh die
Gesundheitswidrigkeit durch bauliche Maassregeln gehoben werden kann,
oder ob sie das Ergebniss von bleibenden Ursachen ist. Im letzteren
Falle muss das betreffende Haus beseitigt werden.
Wenn ganze Häusergruppen oder Bezirke für ungesund erklärt wer¬
den, so hat die Gemeinde das Recht und die Pflicht, den vollständigen
Umbau zu veranlassen oder selbst vorzunehmen. Es steht ihr zu diesem
Zweck das Verfahren der Zwangsenteignung zu, wobei die in Artikel 10
enthaltene Auflage zu beachten ist.
Zu Mitgliedern des Ausschusses, welcher diese Vorschläge
prüfen und der nächsten Versammlung des Vereins einen Entwurf
zur Beschlussfassung vorlegen soll, wurden ausser den Referenten
Dr. Miquel und Prof. Baumeister gewählt die Herren Stadt¬
baurath Blankenstein (Berlin), Oberingenieur Meyer (Hamburg),
Stadtbaurath Peters (Magdeburg), Sanitätsrath Dr. Spiess (Frank¬
furt) und Stadtbaumeister Stübben (Köln).
Den zweiten Gegenstand der Berathung bildete die „örtliche
Lage der Fabriken in den Städten“, insbesondere die Frage:
„Inwieweit hat sich ein Bedurfniss herausgestellt, von
der Bestimmung des § 23 Abs. 3 der deutschen Ge¬
werbeordnung Gebrauch zu machen?“.
Die Thesen der Referenten Sanitätsrath Dr. Le nt (Köln) und
Stadtrath Hendel (Dresden) lauteten: „1. Die öffentliche Ge-
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sundheitspflege verlangt für grössere Gemeinden eine gesetzliche
Handhabe, um von bestimmten Theilen des Gemeindebezirkes ge¬
werbliche und industrielle Anlagen, welche durch Ausdunstungen,
Rauch oder lärmenden Betrieb die Gesundheit der Bewohner oder
die Annehmlichkeit des Wohnens beeinträchtigen, ferne zu halten.
2. Die §§18 und 19 der deutschen Gewerbeordnung haben in
vielen deutschen Städten nicht ausgereicht, um diese Forderung
der öffentlichen Gesundheitspflege zu erfüllen. 3. Der Absatz 3
des § 23 der deutschen Gewerbeordnung bietet die Gelegenheit,
dieser Forderung im Wesentlichen gerecht zu werden. Es ist daher
das Verlangen, durch Landesgesetzgebung in den deutschen Bundes¬
staaten den Gemeinden die Möglichkeit der Erfüllung jener Forde¬
rung zii gewähren, durchaus gerechtfertigt.“
Sanitätsrath Dr. Lent (Köln), als Berichterstatter, theilt zu¬
nächst die Bestimmungen der deutschen Gewerbeordnung mit,
welche sich auf die Concessionirung der gewerblichen. Anlagen be¬
ziehen und zeigt, wie der Gesetzgeber es empfunden hat, dass trotz
dieser Vorschriften das Bedürfniss nach grösserer Beschränkung
der Fabrikanlagen in Städten hervortreten könne, und dass aus
diesem Grunde der Abs. 3 im § 23 *) Aufnahme gefunden habe.
Derselbe stamme aus dem Sächsischen Gewerbegesetz, und werde
durch Forderungen der öffentlichen Gesundheitspflege vollauf be¬
gründet: es sei dringend nothwendig, dass in grossen Städten, be¬
sonders in solchen, wo die Industrie eine grosse Rolle spiele, für
Gesunde und Kranke Ortstheile sich finden, wo zur Erholung
und Stärkung der Gesundheit der Bürger, zur Wiedererlangung
der durch Krankheit verlorenen Kräfte möglichst günstige hygie¬
nische Verhältnisse obwalten, wo Fabrikausdünstung und Rauch,
ungewöhnliches Getöse ferngehalten werden können. Hierauf be¬
ziehe sich auch die Schaffung von Stadtgärten, Stadtwäldchen, Villen¬
vierteln u. s. w. Wolle man nun von solchen Anlagen die Fabriken
fern halten und letztere in bestimmte Ortstheile verweisen, so
könnte allerdings gegen diese Massregel nicht mit Unrecht ein Be¬
denken erhoben werden, dass nämlich mit den Fabrikanlagen auch
die Fabrikbevölkerung in dieses Fabrikviertel ihre Wohnungen ver¬
legt. Hierdurch entstehe eine nicht zu wünschende Absonderung
der Fabrikbevölkerung von der übrigen Bürgerschaft, und ferner
würden die schädlichen Einflüsse der gewerblichen Anlagen auf die
Fabrikbevölkerung um so stärker einwirken. Wenn aber das
Fabrikviertel nur für die Fabrikanlage selbst bestimmt würde, die
1) Der Landesgesetzgebung bleibt ferner Vorbehalten, zu verfügen, in wie
weit durch Ortsstatuten darüber Bestimmung getroffen werden kann, dass ein¬
zelne Ortstheile vorzugsweise zu Anlagen der in § 16 erwähnten Art zu bestim¬
men, in anderen Ortstheilen aber dergleichen Anlagen entweder gar nicht oder
nur unter besondern Beschränkungen zuzulassen sind.
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Wohnungen der Fabrikbevölkerung aber abseits ihren Platz fanden,
so würde die öffentliche Gesundheitspflege mit dieser Lösung der
Frage vollkommen zufrieden sein.
Von dem Rechte des Erlasses eines Gesetzes nach Abs. 3 § 23
haben in Deutschland bisher Gebrauch gemacht Sachsen, Würt¬
temberg, Baden, Hessen, Braunschweig, Anhalt, also von den
grossen Staaten Preussen und Bayern nicht. Eine Eingabe des
Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege an die
preussischen Ministerien um Erlass dieses Gesetzes ist abschlägig
beschieden, da sich ein Bedürfniss nicht herausgestellt habe und
auch nicht unwichtige Bedenken entgegenständen.
Ortsstatute auf Grund jener Landesgesetze gibt’s in Bautzen,
Dresden, Freiberg i. S., Glauchau, Gannstadt, Esslingen, Heilbronn,
Heidelberg (in Vorbereitung in Freiburg i. B., Konstanz), Darm¬
stadt, Oflfenbach, Worms (in Vorbereitung in Braunschweig und
Homberg). In den Reichslanden tritt die deutsche Gewerbe-Ord¬
nung erst am 1. Januar 1889 in Kraft und hat bis dahin die
französische Gesetzgebung und zwar das Dekret vom 15. Oktober
1810 Geltung, eine Gesetz, welches bei Weitem strengere Vor¬
schriften enthält, sodass die Gesundheitsbehörde in den Reichs¬
landen, wenn daselbst nicht ein Landesgesetz auf Grund des § 23
Abs. 3 erlassen wird, die Aufhebung jenes französischen Dekrets
sehr bedauern möchte.
Neben dieser Frage, ob in den deutschen Städten eine Vorlage
nach dem in Rede stehenden Landesgesetze vorhanden sei, hat
Ref. eine Enquete bei allen grossen Städten Deutschlands veran¬
staltet. In Preussen haben ungefähr 50 Städte erklärt, dass sie
mit den Bestimmungen der deutschen Gewerbeordnung auskämen
und keine Nothwendigkeit zum Erlass des Landesgesetzes fühlten.
Dieses sind aber zum grossen Theile Städte, welche entweder in
so hohem Grade Industriestädte sind, dass man eine Aenderung
für unmöglich hält, oder Städte, die gar keine Industrie haben,
ferner Städte, bei denen in Folge günstiger Lage der Bahnhöfe oder
der Stadt selbst sich schon besondere Fabrikviertel von selbst ge¬
bildet haben. Ein Theil dieser 50 Städte hielt aber den Erlass des
Landesgesetzes doch für recht nützlich. Aehnlich lauten auch die
Nachrichten aus den andern deutschen Staaten, besonders aus
Bayern. — 21 preussische Städte erklärten aber, dass sie mit der
deutschen Gewerbeordnung nicht auskämen und den Erlass des
Landesgesetzes dringend wünschen, unter diesen: Altona, Barmen,
Breslau, Crefeld, Düsseldorf, Deutz, Hannover, Köln, Posen, Wies¬
baden, und dem Wunsche auf Erlass des Gesetzes schliessen sich
noch mehrere grosse Städte an, z. B. Aachen, Elberfeld, Frank¬
furt a. M., Königsberg, Potsdam. Ebenso wünschen viele Städte
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— 82 —
der andern Staaten Deutschlands dringend das Landesgesetz bezw.
das beschränkende Ortsstatut.
Der Ref. beantwortet sodann noch die Frage, ob nicht etwa
durch Orisstatut auf Grund der Städteordnung oder durch Polizei-
Verordnung dasselbe zu erreichen sei, was das Landesgesetz be¬
zwecke. An zwei Beispielen aus Gharlottenburg und Breslau weist
er nach, dass dieses anscheinend unmöglich sei; gerade der Nicht-
Erlass des Landesgesetzes werde als Grund angegeben, dass weder
eine Polizeiverordnung noch ein Ortsstatut erlassen werden dürfen.
Schliesslich erwähnt Ref. noch die vielfachen Wünsche, welche
bei der Enquete hervorgetreten sind, gegen die überhandnehmen-
den Rauchbelästigungen vorzugehen, nachdem die Stadt Basel den
Beweis geliefert habe, dass dieses sehr wohl möglich sei, ohne die
Industrie zu schädigen.
Der Ref. bittet um Annahme der Thesen, die vollauf begrün¬
det seien. Das Landesgesetz sei für eine grosse Zahl von Städten
und zwar sehr bedeutenden Städten nothwendig und gewünscht;
das Gesetz übe ja keinen Zwang aus, sondern stelle es in das
Ermessen der Gemeindebehörden, durch Ortsstatut erst Bestim¬
mung zu treffen, und die Gemeindebehörden würden schliesslich
wohl am Besten wissen, was der Wohlfahrt der Gemeinden von
Nutzen oder von Schaden sei.
Stadtrath Hendel (Dresden) theilt die Geschichte der Dres¬
dener Gesetzgebung auf dem in Rede stehenden Gebiete mit, sowie
die auf Grund des erlassenen Ortsstatuts gemachten Erfahrungen.
Die sächsische Landesgesetzgebung gestattet schon seit dem Jahre
1861 die Anweisung von Fabrikdistrikten, jedoch keineswegs in
dem Sinne, dass in diesen Distrikten den Gewerbebetrieben Frei¬
heit in der Belästigung der Nachbarn zugesprochen wurde. Auch
in diesen Bezirken sind vielmehr Beschwerden über Belästigung
zulässig und gelangen zur polizeilichen oder gerichtlichen Feststel¬
lung. Neben der Anweisung bestimmter Fabrikbezirke muss daher
die technische Vervollkommnung der Betriebe durchgeführt werden.
Die örtliche Distriktsfeststellung in der Stadt Dresden gelang erst
nach langen, vom Vortragenden anschaulich geschilderten Verhand¬
lungen, welche von 1866 bis 1878 dauerten. Es wurden festge¬
setzt a) fabrikfreie Distrikte, b) solche, in denen nur kleinere
Kesselanlagen geduldet werden sollen, c) solche für grössere
Kesselanlagen. Das Ortsstatut liess sich leicht durchführen bezüg¬
lich der Bauprojekte, dagegen schwierig bezüglich der bestehenden
Fabriken, deren Erweiterung gewöhnlich unter Dispensation von
den ortsgesetzlichen Bestimmungen gestattet wurde. Als die städ¬
tische Verwaltung selber einen Dispens nachsuchte, um in dem
ortsstatutarisch fabrikfreien Stadttheile eine Gentraistation für
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elektrische Beleuchtung zu errichten, wurde ihr Gesuch abschläg-
lich beschieden.
Professor Baumeister wünscht die Prüfung der gesundheit¬
lichen Seite bei allen Fabrikbetrieben bezw. Gewerben, nicht bloss
bei den im § 16 der Reichsgewerbeordnung namhaft gemachten;
er empfiehlt die Thesen, empfiehlt aber als Gegenleistung gegen¬
über der Beschränkung die systematische Beförderung von Fabrik¬
bezirken durch Verkehrseinrichtungen, Vorfluthanlagen u. dgl.
Oberbürgermeister Miquel warnt vor zu weit gehenden Be¬
schränkungen, wenn auch die Thesen an sich annehmbar seien.
Der Charakter der verschiedenen Stadttheile ändere sich fortwäh¬
rend; gewisse Gewerbe, wie diejenigen der Bäcker, Buchdrucker
u. s. w., könne man jedenfalls örtlich nicht beschränken. Das
Interesse der städtischen Bevölkerung verlange daher eine höchst
vorsichtige Anwendung der beantragten Gesetzgebung. Wichtiger
sei es jedenfalls, die durch Russ, Rauch und Lärm entstehenden
Nachtheile durch Anwendung und Vorschreibung geeigneter tech¬
nischer Mittel überall zu mildern.
Dr. Lent legt wiederholt die Wichtigkeit der erbetenen Ge¬
setzesbestimmungen für manche Städte dar, wenn auch andere,
wie Frankfurt, die Nothwendigkeit weniger empfänden. In Köln
z. B. werde gegenwärtig mit Aufwendung hoher Summen ein
städtischer Park angelegt, dessen Nothwendigkeit im allgemeinen
Gesundheitsinteresse wegen der Armuth der Stadt an öffentlichen
Anlagen eine besonders dringende sei. Hier sei es wirklich tief
zu beklagen, wenn es nicht möglich gemacht werden sollte, die
drohende Gefahr der Umbauung des Parks mit lästigen Fabriken
durch ortsstatutarische Bestimmungen abzuwenden.
Die Anträge der Referenten werden schliesslich zum Beschluss
erhoben; auch wird der Ausschuss gebeten, von dem Beschlüsse
der Versammlung den zuständigen Behörden Mittheilung zu machen.
Die Verhandlungen des zweiten Tages hatten zum Gegenstände
die Frage: Welche Erfahrungen sind mit den in den
letzten Jahren errichteten Klärvorrichtungen städ¬
tischer Abwässer gemacht worden?
Berichterstatter waren die Erbauer der bedeutendsten neuen
Kläranstalten, nämlich derjenigen zu Frankfurt, Wiesbaden, Essen
und Halle.
Stadtbaurath Lindley (Frankfurt) berichtet über die Frank¬
furter Kanalwasserreinigung. Das in den Jahren 1867 bis 1887
ausgeführte Frankfurter Sielnetz entwässert 10 Quadratkilometer,
auf welchen 150,000 Menschen wohnen; es befördert 25,000 bis
30,000 cbm täglich, dabei den Abgang von ungefähr 30,000 Wasser-
Aborten. Nachdem bis zum Jahre 1874 ein provisorischer Auslass
in den Main bestand, drang die Staatsregierung auf die Herstel-
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lang definitiver Auslässe mit Landberieselung. Die Stadt Hess da¬
gegen den Entwurf einer Klärbecken-Anlage aufstellen, welcher
nach langen Verhandlungen genehmigt und im vorigen Jahre in
Betrieb gesetzt wurde. Die anfängliche Absicht, nur mechanisch
zu klären, wurde nicht gebilligt, sondern ausserdem chemische
Präzipitation gefordert. Die Klärbecken wurden so gelegt, dass
der Kanalinhalt denselben ohne künstliche Hebung mit 1 :2500
zufliesst. So wurde der Maschinenbetrieb beschränkt auf die Be¬
reitung chemischer Zuschläge; aber es ergab sich für die Becken
eine erhebliche Tieflage und das Bedürfniss einer Ueberwölbung
zum Schutze gegen Frost und Wind. Die Anlage umfasst plan-
mässig zwei Gruppen von je 6 Becken mit Regenumläufen; die
Becken genügen für 40,000 cbm Trockenabfluss und wirken noch
bei Verdünnung des Abflusses durch Regen bis auf 80,000 cbm.
Ausgeführt sind zur Zeit nur 4 Becken von je 82 m Länge, 6 m
Breite, 2 m oberer und 3 m unterer Tiefe. Die mechanische Wir¬
kung ist viererlei: a) Verlangsamung der Geschwindigkeit auf
J /io im Sandfang und Herausbaggerung der sich hier absetzen¬
den Stoffe; b) Eintauchplatten zur Entfernung schwimmender
Körper; c) Siebe in der Zuleitungsgallerie, welche beständig ge¬
hoben und von den aufgefangenen Stoffen gereinigt werden;
d) Verlangsamung der Geschwindigkeit auf Vioo in den lang¬
gestreckten Becken, in welchen das Wasser 6 Stunden verbleibt
bei einer mittleren Geschwindigkeit von 4 mm pro Sek. (abnehmend
von 5 mm zu 3 mm). Redner legt Werth darauf, dass die Wasser¬
bewegung in horizontaler Richtung gehe, also nicht der senkrechten
Bewegung der Sinkstoffe entgegengesetzt sei. Die Becken werden
alle 8 Tage entleert, wobei der oberste Meter Wasser in den
Main abgelassen wird; der folgende Inhalt wird in drei Schichten
in die Entleerungsgallerie abgezapft und ausgepumpt, und zwar
wird das trübe Wasser zur Klärung zurückbefördert. Schliesslich
arbeitet die Schlammpumpe, wobei der Schlamm auf dem Becken¬
boden fast selbstthätig nach der tieferen Stelle hinabgleitet. Die
Reinigung eines Beckens dauert 4 bis 5 Stunden. Als Chemi¬
kalien werden zugesetzt schwefelsaure Thonerde und Kalkmilch;
der Bedarf wechselt mit der Menge und mit der Beschaffenheit
des Abwassers. Es werden besonders unterschieden die vormit¬
tägliche Frühstückswelle, die nachmittägliche Schmutzwelle und
das fast klare Wasser während der Nacht. Die Menge wird an
einem Selbstregistrator abgelesen, die Beschaffenheit durch Stich¬
proben nach 8 Graden ermittelt; das Product gibt den Bedarf an
Chemikalien, welcher von dem beobachtenden Vorarbeiter zum
Maschinenhause telegraphirt und dort möglichst sparsam dadurch
gedeckt wird, dass der Wärter je nach der Meldung 1 bis 12
Mischröhrchen laufen lässt. Da indess die Anstalt nur ein Jahr
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in Betrieb ist, so handelt es sich noch nicht um abschliessende
Ergebnisse. Nach den wiederholten Untersuchungen einer aus einem
Arzt, einem Bakteriologen, einem Chemiker und einem Ingenieur
bestehenden Commission werden die schwebenden Stoffe fast ganz
beseitigt, die gelösten kaum verringert. Die 3 Millionen entwick¬
lungsfähige Keime pro cbcm Wasser werden durch Kalk und Thon¬
erdesulfat auf Vio, durch Kalk allein auf V*o ihrer Zahl reducirt;
bei bloss mechanischer Klärung wurde dagegen sogar eine Ver¬
mehrung der Lebewesen festgestellt. Die Anwendung von Kalk
allein ergibt aber 4 , /*mal so viel Schlamm, als die gemeinschaft¬
liche Anwendung von Kalk und Thonerdesulfat, und die Ueber-
lastung des Schlammes mit Kalk ist für die landwirthschaftliche
Benutzung nachtheilig. Es ist daher der geeignetste Mittelweg
aufzusuchen und einzuschlagen. Die jährlichen Betriebskosten der
Kläranstalt sind veranschlagt auf 150,000 M., wovon die Hälfte
auf die Chemikalien, die Hälfte auf die Löhne u. s. w. fällt; es
scheint indess, als ob auch die 30,000 M. Zinsen und Tilgungs¬
kosten noch aus den 150,000 M. bestritten werden können. Die
jährlichen Kosten würden somit rund 1 M. pro Kopf der Bevölke¬
rung oder ungefähr 1 Pfg. pro cbm betragen.
Gas- und Wasserwerksdirektor Winter (Wiesbaden) be¬
schreibt kurz die Entstehung der Wiesbadener Kanalisation und
Klärungsanlage. Letztere ist eine combinirte Brunnen- und Becken¬
anlage ; obwohl dieselbe seit 2 */a Jahren in Betrieb steht, ist der Zu¬
stand noch kein normaler, da die Abtrennung des Salzbachs noch
nicht durchgeführt ist. Die Geschwindigkeit in den Becken beträgt
4,3 mm bei 40 qm Querschnitt; der 2,2 cbm betragende Trocken¬
ablauf bleibt 6 Stunden im Mittel in der Kläranlage. Die Becken
sind nicht überdacht, da ein Einfrieren wegen des Thermalwassers
nicht zu befürchten ist. Ein besonderer Sandfang wurde nicht an¬
gelegt, wohl aber Eintauchplatte und Siebe. Als chemischer Zu¬
schlag dient nur Kalkmilch. Der 60 m entfernte Motor, eine an¬
gekaufte Mühle, treibt mittels einer Luftpumpe Luft in die durch¬
löcherten Röhren der Mischkammer und veranlasst Aufwallungen,
welche die innige Mischung des Kalkes herbeiführen. Die Ver¬
suche mit schwefelsaurer Thonerde haben sich nicht bewährt, alle
anderen Chemikalien erwiesen sich als zu theuer. Der Klärmeister
setzt so viel Kalkmilch zu, dass der Ablauf klar ist; Nachts ist
das Wasser überhaupt klar und jeder Zusatz entbehrlich. Auch
in den Ablaufkanal wird noch Luft eingeblasen. Die Entfernung
des Schlammes aus den Becken geschieht, sobald Blasen aufsteigen,
im Sommer alle 1—2 Wochen, im Winter alle 3—4 Wochen.
Der fortlaufende Betrieb der Schlammpumpen misslang, weil der
seifige Schlamm nicht zufloss; desshalb wurde das Ablassen der
Brunnen wie der Becken nöthig, bevor die Schlammpumpen ar-
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— 86 —
beiteten. Da letztere sich schnell versetzten, ist jetzt ein pneuma¬
tischer Apparat inThätigkeit gesetzt, ein Kessel von 4 cbm Inhalt,
welcher abwechselnd Schlamm ansaugt und fortdrückt. Der
Schlamm wird auf Kiesfiltern gelagert, von wo Ablaufkanälchen
das einsickernde Wasser in den Zulauf der Klärbecken zurückleiten.
Der Werth des Schlammes ist bis jetzt null wegen des verhält-
nissmässig geringen Gehaltes an organischen Stoffen. Das Formen
von Schlammsteinen gelang wohl technisch, aber nicht finanziell.
Die Massen werden daher vorwiegend zur Aufhöhung des Terrains
benutzt; der Gestank verschwindet bald, da die übergedeckte Erde
einen lebhaften Graswuchs erzeugt. In Dienst stehen ein Klär¬
meister und neun Arbeiter; im Winter brauchte der Betrieb selbst
bei — 17° nicht ausgesetzt zu werden, indem das Wasser noch
mit 6°C. einfloss und mit 5<>C abfloss. Der Gesundheitszustand
der Arbeiter erwies sich besser als derjenige der Wasserwerks¬
arbeiter. Die Betriebskosten betragen 60 Pfg. pro Kopf und Jahr
oder 84 Pfg. mit Einschluss der Unterhaltung und Tilgung. —
Der Abfluss ist klar und geruchlos, so dass die Beschwerden der
Anwohner und der Stadt Biebrich schweigen. Nach Dr. Koch
genügt die Klärung, wenn die Infektionsstoffe unschädlich gemacht
sind und der Ablauf nicht in stinkende Fäulniss übergeht. Das
Berieselungsverfahren erreicht diesen Zweck nicht ganz, da die
Nothausläufe immerhin Fäkalien in den Fluss führen. Inwieweit
die Krankheitskeime in Wiesbaden getödtet werden, das ist noch
nicht festgestellt; es dürfte indess erwiesen sein, dass der Kalk
hierzu geeignet ist. Die nachträglich eintretende Bakterien-Ent-
wicklung ist unschädlich. Dass die gelösten organischen Stoffe
nicht gewonnen werden, ist ein landwirtschaftlicher, kein hygie¬
nischer Nachtheil. Nach der Ansicht des Vortragenden steht ge¬
sundheitlich die künstliche Klärung der Rieselung gleich; sowohl
horizontale als vertikale Klärung erreiche den Zweck.
Stadtbaumeister Wiebe (Essen) macht eingehende Mitthei¬
lungen über die Erfahrungen mit dem Röckner-Rothe’schen System
in Essen. Der Kanalanschlusszwang besteht dort seit zwei Jahren;
die Einleitung der Fäkalien wird von der Stadt erstrebt, ist aber
hoch nicht gestattet. Die künstliche Reinigung ist nöthig, weil als
Vorfluth nur der kleine Bernebach zur Verfügung steht. Der
Trockenwasser-Ablauf beträgt (ohne die getrennt entwässerten
Kruppschen Werke) 11,000 bis 12,000 cbm. täglich. Die aufgc-
stellten vier Rothe’schen Cylinder genügen bei 2,5 mm Geschwin¬
digkeit des aufsteigenden Wassers zur Reinigung von 12,000 cbm.
Bei starkem Regenfall fliesst ein Theil des Wassers über das in
die Berne eingebaute Wehr ab. Zur Noth können indess 30,000 cbm
gereinigt werden bei etwa 6 mm Geschwindigkeit, wie die Erfahrung
gezeigt hat. Das Betriebspersonal für Tag und Nacht besteht aus
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einem Vorsteher, der Maschinentechniker ist, 2 Maschinisten und
4 Arbeitern. Die Reinigungsvorrichtungen sind ein Gitterrost, ein
durch eine Zunge getheilter Vorbrunnen und vier Brunnen mit
Hebecylindern. Aus dem Vorbrunnen hebt ein Becherwerk die
schwereren Sinkstoffe. Aus den Brunnen heben Schlammpumpen
den sehr flüssigen Schlamm in hochgelegte Rinnen, welche ihren
Inhalt in vier staffelartig angeordnete Schlammlager entleeren, von
wo das abgeklärte Schlammwasser entweder in die Abflussrinne
fliesst oder, wenn es noch schmutzig ist, in die Brunnen zurück¬
geleitet wird. Ein Schwimmer regulirt den Zulauf der Chemikalien
selbstthätig. Ein Kalkzusatz von 0,17 kg pro cbm genügt nach
den angestellten Proben zur ausreichenden Tödtung der Bakterien.
Der Fäkalienzusatz stört die Reinigung nicht, sondern verlangt nur
stärkeren Chemikalienzusatz. Die Menge des ausgepumpten Schlam¬
mes hat im Winter 1 °/o, im Sommer bis 2,3 °/o des Kanalinhalts
betragen; nachdem diesem Schlamm durch Drainage und Abklä¬
rung das Wasser theilweise entzogen ist, enthält die übrigbleibende
Masse noch etwa 80 °/o Wasser, ist in diesem Zustande aber stich¬
fest. Die landwirtschaftlichen Proben, welche mit dem gewonne¬
nen Schlamm veranstaltet wurden, sind vorzüglich ausgefallen;
zum Theil wird derselbe unentgeltlich von Landwirthen abgeholt.
Die Betriebskosten ohne Unterhaltung und Tilgung betragen täg¬
lich 61 bis 83 M. und pro cbm Abwasser durchschnittlich 0,64 Pf.
Die gesammten Betriebskosten pro Jahr müssen zu 29,250 Mark
angenommen werden. Die Kläranlage hat 230,000 Mark gekostet.
Für Verzinsung, Amortisation und Unterhaltung sind 12,800 Mark
anzusetzen, so dass die jährliche Last 29,250 + 12,800 = 42,050
Mark beträgt, also pro Kopf der Bevölkerung = 62 Pf.
Stadtbaurath Lohausen (Halle a. S.) spricht über die Klär¬
anstalt, welche seit einigen Jahren in Halle für ein Kanalgebiet in
Betrieb ist, welches 900 cbm Abwasser von einer Bevölkerung von
etwa 10,000 Köpfen lieferte, Fäkalien aber nur ohne Erlaubniss
enthält. Der allgemeine Zulass der Fäkalien wird indess beabsich¬
tigt. Die Klärung geschieht in zwei Brunnen hinter einander unter
Zusatz von Kalk und Müller-Nahnsen’schen Chemikalien. Die Re¬
gulirung des Zusatzes geschieht selbstthätig durch vier Kästen, in
welche sich sowohl die Chemikalien als das Kanalwasser ergiessen.
Zwei drehbare Siebe dienen zur Entfernung der Schwimmstoffe.
Die Schlammpumpen arbeiten ohne Ausschaltung und drücken den
Schlamm in Filterpressen. Da die Anstalt innerhalb der Stadt
liegt, so wurde über Gestank geklagt, was dadurch beseitigt ist,
dass die Mischapparate ummantelt wurden und nunmehr die Gase
zu einem Verbrennungsofen geführt werden. Eine zweite Klage
bezieht sich auf den Preis der Chemikalien. Der Versuch, ohne
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chemische Zuschläge zu arbeiten, misslang, weil der entstehende
Schlamm sich als nicht pressfähig herausstellte, das geklärte Wasser
auch bald wieder in Fäulniss überging. Beim Zusatz von bloss
schwefelsaurer Thonerde zeigte sicli das nämliche. Auch Torf¬
zusatz war ohne befriedigendes Ergebniss. Eine regelmässige Ein¬
nahme wurde aus dem Schlammkuchen bisher nicht erzielt. Die
Anlagekosten betrugen 35,000 Mark, die Betriebskosten täglich
18 Mark oder einschliesslich Zinsen und Tilgung pro Kopf und
Jahr 83 Pfg.
Bezüglich der Kostenfrage scheint hiernach das Essener Ver¬
fahren den anderen überlegen zu sein.
Stadtbaurath Bokelberg (Hannover) hebt die zweifelhaften
Ergebnisse aller bisher ausgeführten Kläranlagen hervor, insbeson¬
dere den völlig ungelösten Zustand der Frage nach dem Verbleib
und der Verwendung der dem Kanalwasser entnommenen Schlamm¬
massen. Zur Zeit müsse man immer noch die Berieselung als das
beste Verfahren betrachten und könne nur im Nothfalle dazu
rathen, eines der künstlichen Klärungsysteme anzuwenden. Wo ein
dringendes Bedürfniss zur Klärung nicht vorliege, d. h. wo erheb¬
liche Uebelstände aus dem Einlass des ungereinigten Kanalinhalts
in den Fluss sich noch nicht herausgestellt hätten, da thue man
wohl, die weitere Entwicklung der Sache abzuwarten, um nicht
grosse Summen für Reinigungs - Anlagen zu opfern, die vielleicht
schon nach kurzer Zeit durch zweckmässigere und wohlfeilere an¬
dere Einrichtungen übertroffen seien. Er bringe daher folgenden
Antrag ein:
„Die Versammlung nimmt mit grossem Interesse von den bei
den verschiedenen künstlichen Reinigungs-Verfahren der Abwässer
gemachten Fortschritten Kenntniss; sie ist aber auch jetzt noch der
Ansicht, dass keines dieser Verfahren sich bisher schon vollkom¬
men bewährt hat, namentlich auch die schwerwiegende Frage der
Verwendung der Rückstände noch nicht gelöst ist. Die Versamm¬
lung muss daher um so mehr an ihrem in Breslau gefassten Be¬
schlüsse (Siehe Jahrgang 1886 dsr. Ztschr. S. 378) festhalten, als
auch der Kostenpunkt bei der künstlichen Reinigung ein hoher ist.“
Dr. Hüppe (Wiesbaden) spricht sich dahin aus, dass für die
Zukunft der Kläranstalten nicht bloss die Wahrnehmung durch die
Sinne, sondern in erster Linie die Bakterientödtung massgebend
sei. Unter allen angewendeten Mitteln ist es nur das Calcium¬
hydroxyd, welches ausgezeichnet desinfizirt, und zwar am
günstigsten bei senkrechter Bewegung im entgasten Wasser.
Nachdem noch Chemiker Dr. Lepsius (Frankfurt) die bei
den von Lindley mitgetheilten Versuchen an der Frankfurter
Kläranlage gefundenen Resultate näher erläutert hatte, wurde der
Bokelberg’sche Antrag mit grosser Mehrheit angenommen.
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Am dritten Versammlungstage war der erste Gegenstand der
Verhandlung die Frage: „Welchen Einfluss hat die heutige
Gesundheitslehre, besonders die neuere Auffassung
des Wesens und der Verbreitung der Infektions¬
krankheiten auf Bau, Einrichtung und Lage der Kran¬
kenhäuser?
Prof. Dr. C ursch mann (Leipzig, früher Krankenhausdirector
in Hamburg) hielt einen fesselnden Vortrag, dessen Inhalt durch
die nachfolgenden Sätze des Redners annähernd wiedergegeben ist:
Allgemeines.
Die schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts von Ein¬
zelnen aufgestellten, hier und da auch praktisch verwertheten
sachgemässen Forderungen in Bezug auf Lage, Bau und Einrich¬
tung von Krankenhäusern sind durch die bedeutenden neueren
Fortschritte auf dem Gebiet der Gesundheitspflege und der Er-
kenntniss der Krankheitsursachen so wesentlich vertieft und be¬
festigt, dass grundsätzliche Zweifel im Grossen und Ganzen nicht
mehr bestehen.
Da es heute als feststehend zu betrachten ist, dass die äusseren
Lebensverhältnisse, unter welche wir unsere Kranken bringen, von
mindestens gleicher Wichtigkeit sind, wie das directe ärztliche
Eingreifen, so ist es unabweisbar geworden, der passenden Gestal¬
tung der ersteren bei Einrichtung von Krankenhäusern möglichst
uneingeschränkt Rechnung zu tragen.
Thunlichste Einfachheit in Bezug auf System und Ausführung,
gewissenhaftes Vermeiden alles Ueberflüssigen oder zweifelhaft
Nützlichen ermöglichen es, berechtigte, sehr weit gehende ärztlich¬
technische Anforderungen mit den rückhaltlos anzuerkennenden
öffentlichen, namentlich finanziellen Rücksichten in Einklang zu
bringen und damit den Grundsatz zu verwirklichen: Das beste
Krankenhaus ist das, welches möglichst viel mit möglichst einfachen
Mitteln erreicht.
Besonderes.
Krankenhäuser, namentlich grosse und mittelgrosse, sind ausser¬
halb der Städte auf Plätzen zu errichten, welche der Gefahr dichter
Umbauung nicht ausgesetzt sind.
Der trockene, leicht zu drainirende Bauplatz soll, wenn thun-
lich, etwas erhöht und mit Rücksicht auf die herrschende Wind¬
richtung so gelegen sein, dass die Zufuhr der verunreinigten Stadt¬
luft auf das geringste Mass beschränkt bleibt.
Bedeutende Anforderungen sind an die Grösse des Bauplatzes
zu stellen: mindestens 130 bis 140qm pro Krankenbett, für Epi¬
demie-Abtheilungen bis zu 200 qm.
Ceotralblatt f. allg. GeauodheiUpflege. VIII. Jahrg. 7
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90
Die grössere Entfernung der Krankenhäuser von den Städten
macht die Organisation eines öffentlichen, ausreichend rasch und
präcis arbeitenden Krankentransport-Wesens erforderlich;
eine ohnehin bestehende hygienische Nothwendigkeit, da die noch
an vielen Plätzen übliche Verwendung von Droschken and anderen
allgemein benutzbaren Fuhrwerken für den Transport acuter, oft
ansteckender Kranker als ein gefährlicher Unfug bezeichnet wer¬
den muss.
Während für kleinere Krankenhäuser (bis zu 80, ja 100 Betten)
eine Corridor-Bauart unter einem Dache noch sehr wohl erlaubt
ist, sollte darüber hinaus nur ein — je nach besonderen Zwecken
modificirtes — Zerstreuungssystem zulässig sein.
Für allgemeine Krankenhäuser (ohne klinische, militärische
oder sonstige specielle Zwecke) empfiehlt es sich, dieses Zerstreu¬
ungssystem so weit auszubilden, dass die grösste Zahl besonders
der inneren und chirurgischen Kranken in lediglich erdgeschossigcn
Pavillons (Baracken) unterzubringen ist.
Die Behauptung, dass durch eine solche Zerstreuung die Ver¬
waltung und Ueberwachung erschwert werde, ist durchaus un¬
richtig. Bei zweckmässiger Stellung der Einzelbauten zu einander
und zu den Verwaltungsgebäuden, passenden Wegeanlagen und
praktischen Diensteinrichtungen erhöht das System im Gegentheil
die Uebersichtlichkeit einer grösseren Krankenzahl.
Für grössere Anstalten ist im sanitären wie dienstlichen In¬
teresse der centralen Lage der Oeconomie- und Verwaltungs-Ge¬
bäude die excentrische vorzuziehen, letztere (wegen des für die
Kranken lästigen Rauchs) mit Rücksicht auf die am Orte gewöhn¬
liche Windrichtung.
Mit Bezug auf Licht und Sonnenwärme ist eine Stellung der
Pavillons mit der Richtung ihrer Längsachse von Süd nach Nord
der vielfach üblichen (Frankreich) von West nach Ost wenigstens
für unsere geographische Lage vorzuziehen. Am südlichen Ende
ist am passendsten der für jeden grösseren Pavillon unentbehrliche
Tageraum anzubringen.
Unter Voraussetzung guten Baugrundes gehört die Errichtung
der Krankengebäude auf einem für die äussere Luft offenen Pfahl¬
oder sonstigen Unterbau oder die totale Unterkellerung derselben
zu den ganz unnöthigen, den Bau wesentlich vertheuernden, sogar
nachtheiligen Einrichtungen.
Dasselbe gilt von jeder complicirten Dachconstruction, beson¬
ders der Anbringung von Zwischendecken mit dadurch entstehenden
Bodenräumen. Das Dach — am besten ein Holz-Cementdach —
soll die unmittelbare Decke des Krankensaales bilden.
Die Pavillons durch gedeckte Gänge untereinander zu ver¬
binden, ist für die Kranken bei geeigneten Transportmitteln kein
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Erforderniss, für Aerzte und Personal unnöthig, für die freie Luft¬
bewegung ein Hinderniss.
Hinsichtlich der Bauart der Pavillons sind bei nicht zu un¬
günstigem Klima einfache Fachwerkbauten, in kälterer Gegend
massive Backsteinbauten am vortheilhaftesten. Die Innenwände
sollen glatt, möglichst ohne Fugen, Ecken und Vorsprünge, nur bis
zu l 1 /*—2 m Höhe vom Fussboden mit Oelfarbanstrich, Kacheln
oder dergleichen versehen, im Uebrigen mit Wasserfarbe (Poren¬
ventilation) gemalt sein.
Die ausgiebigen Thüren des Krankensaales sowie die (nicht
höher als 0.75 m vom Fussboden beginnenden, bis nahe zur Decke
reichenden) zahlreichen Fenster desselben sind so anzubringen, dass
bei natürlicher Durchlüftung nirgends eine todte Ecke bleibt. Ener¬
gische Zugluft ist nicht wenigen Infectionsstoffen gegenüber ein
wirksameres und sichereres Beseitigungsmittel als manche viel ge¬
priesenen chemischen Agentien.
Für Herstellung des Fussbodens sind dem Holze Stein oder
ähnliches Material, besonders Terrazzo oder Mettlacher Fliesen,
weit vorzuziehen, um so mehr als das Hauptbedenken hiergegen,
die Kälte, sich durch passende Heizeinrichtung beseitigen lässt.
Die allen Ansprüchen am gleichmässigsten genügende Heizungs¬
art des Pavillons ist diejenige vom Fussboden aus, wie sie im
Hamburger Neuen Allgemeinen Krankenhause zuerst zur Anwen¬
dung gelangte.
Reine sogenannte Luftheizungen sind zu verwerfen, Kamin-
und Ofenheizungen ohne Nachtheil durchführbar. Wo Dampf¬
oder Warmwasserheizungen gewählt werden, können dieselben ent¬
weder von einer einzigen Centralstelle oder von einer in jedem
Pavillon besonders eingerichteten Feuerstelle ausgehen. Für aus¬
gedehnte Anstalten ist (bei Verwendung von wenig rauchendem
Feuerungsinaterial, Coaks etc.) das letztere System vorzuziehen.
Bezüglich der Art der Ventilation ist bei dem Erdgeschoss¬
pavillon-System die wichtigste und für die wärmere Jahreszeit
völlig ausreichende die natürliche durch Wände, Thüren, Fenster
und Dachreiter. In Verbindung mit geeigneten künstlichen Vor¬
richtungen sollte man auf diese auch im Winter nur theilweise
verzichten.
Der Erleuchtung wird in Zukunft die Electricität dienen.
Schon heute sind die Erfahrungen und technischen Fertigkeiten
auf diesem Gebiet so weit gediehen, dass für jeden Krankenhaus-
Neubau ihre Anwendung in Betracht gezogen werden muss.
Landesrath Fuss (Danzig) stellt die Frage: Sind Hospitale
für ansteckende Kranken (Pocken, Diphtheritis etc.) der Nachbar¬
schaft nachtheilig?
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92
Medizinalrath Dr. Kuby (Augsburg) ist der Meinung, dass
die Cur sch mann’schen Sätze wesentlich nur für Grossstädte an¬
wendbar seien, dass kleinere Städte aber in der Regel beim Cor-
ridorbau verbleiben und Unterkellerungen beibehalten werden.
In Stockwerksbauten dürfen freie Altane für Genesende nicht fehlen.
Medizinalrath Dr. Hüpeden (Hannover) will zwar ein mäs-
siges Zerstreuungssystem nicht tadeln, glaubt aber, dass man von
der Uebertreibung dieses Systems zu einer grösseren Sammlung
zurückkehren werde. Eine Zahl von 1500 Kranken für eine An¬
stalt sei entschieden zu viel; hier empfehle es sich, in Abthei¬
lungen von etwa 4 bis 500 zu zerstreuen. Dabei seien zwei¬
geschossige Bauten durchaus nicht zu verwerfen, halten wir doch
im Allgemeinen die Beletage für hygienisch vortheilhafler als das
Erdgeschoss. Die Zerstreuung erschwere die Ueberwachung ohne
Frage, und dem Uebermass an frischer Luft sei durch Verbindungs¬
gänge zwischen den Baracken zweckmässig entgegenzuwirken.
Krankenhausdirektor Dr. Aufrecht (Magdeburg) versteht
unter Baracken eingeschossige Bauten ohne künstliche Lüftung,
unter Pavillons zweigeschossige Bauten mit künstlicher Lüftung.
Letztere bewähren sich in Magdeburg bei Pulsionsluftheizung vor¬
trefflich; sie seien vielleicht im Bau theurer, aber in der Wirtli-
schaft jedenfalls billiger als Baracken. Für Städte mit beschränk¬
tem Anbaufelde sei das Pavillonsystem im Allgemeinen entschieden
vorzuziehen.
Medizinalrath Dr. Stehberger (Mannheim) vertritt ebenfalls
die Ansicht, dass für Mittelstädte Krankenhäuser mit etwa 400
Betten in mehrgeschossigen Pavillons mit Verbindungsgängen den
Vorzug verdienen. Jedenfalls müsse man die Sätze des Referenten
trennen nach den nothwendigen und den bloss wünschenswerthen
Erfordernissen. 1
Referent, Prof. Dr. Curschmann, erwidert, dass Kranken¬
häuser für die Umgebung im Allgemeinen nicht schädlich seien,
dass aber bei ansteckenden Krankheiten besondere Vorsicht nöthig
sei. Diphtherie werde nicht in die Nachbarschaft übertragen, bei
Fleckfieber, Scharlach und Pocken sei das aber nicht ausgeschlossen.
Für Corridorbauten sind Unterkellerungen zweckmässig, freie Al¬
tane zu empfehlen. Die Rheumatismusfurcht infolge zu luftiger
Stellung von Baracken sei unbegründet, jedenfalls nicht begrün¬
deter als auch bei Corridorbauten. Beim Barackensystem sei die
Ansammlung von Kranken bis zu 1500 zulässig und für die Ver¬
waltung billiger; nach seinen Erfahrungen kosten 1500 Kranke pro
Kopf 2,50 M., 150 Kranke aber 3,50 M. pro Kopf täglich. Auch
der Transport der Kranken aus den Baracken durchs Freie nach
den Operationsräumen etc. sei unbedenklich. Die Gutheissung
seiner Sätze durch förmliche Abstimmung werde nicht verlangt.
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— 93 —
Den letzten Gegenstand der Verhandlungen bildete das Thema
„Strassenbefestigung und Strassenreinigung“.
Referent Stadtbaumeister Heuser (Aachen) begrenzt zunächst
den Umfang der Aufgabe, welche die Strassenreinigung um¬
fasst, und bespricht dann die zweckmässigsten Mittel und Wege
zur Bewältigung dieser Aufgabe. Die Beseitigung des Haus-
Kehrichts gehört zwar streng genommen nicht zur Strassen-
reinigung; da sie aber, sobald sich die städtische Verwaltung mit
ihr befasst, am besten im Zusammenhang mit der eigentlichen
Strassenreinigung betrieben wird und ihre sachgemässe Behandlung
für die öffentliche Gesundheit von der grössten Wichtigkeit ist, so
ist sie mit in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Der Umfang
des Strassenreinigungsgeschäftes wird leicht unterschätzt. Eine
Stadt von 100,000 Einwohnern liefert täglich bei trockenem Wetter
durchschnittlich etwa 35—40 Tonnen, bei nassem Wetter 100—180
Tonnen Strassenkehricht, ferner etwa 25—35 Tonnen Hauskehricht,
welche Massen zu sammeln, abzufahren und weiter zu verarbeiten
oder wenigstens unschädlich zu machen sind. Es wird empfohlen,
die Strassenreinigung, zum mindesten diejenige der Strassenfahr-
bahnen, nicht durch die Anwohner, sondern durch die Gemeinde
zu besorgen, da letztere durch den sich ergebenden grösseren Be¬
trieb unter Verwendung von Maschinen eine bessere und billigere
Leistung erzielt und durch Ausführung der Arbeit zur Nachtzeit
dem Strassenverkehr und den Anwohnern geringere Belästigungen
verursacht. Die lange Ansammlung des Hauskehrichts, wie solche
gewöhnlich da stattfindet, wo Kehrichtgruben (Müllgruben) in Ge¬
brauch sind, wird als gesundheitsschädlich verworfen und eine
wöchentlich mindestens zweimalige Abfuhr als nothwendig hinge¬
stellt. Die Ansammlung kann dann in kleinen tragbaren Gefassen
geschehen, welche leicht zur Strasse zu bringen und in die Kehricht¬
fuhrwerke zu entladen sind, welche alle Strassen der Stadt in
regelmässigem Wechsel durchfahren. Die Strassen- und Haus-
kehrichtmassen müssen möglichst rasch zu Düng- oder gewerb¬
lichen Zwecken verwandt oder nöthigenfalls durch Verbrennen un¬
schädlich gemacht werden. Insoweit die Massen zu Düngzwecken
verkauft oder auch unentgeltlich abgegeben werden können, ist
dies immer die billigste Art der Beseitigung, die aber in grossen
Städten meist nicht ausreicht. Redner bespricht ausführlich die
in englischen Städten, wie in Manchester, Glasgow u. s. w., be¬
stehenden grossartigen Anstalten zur Verarbeitung der Kehricht¬
massen , sowie die ebenfalls in englischen Städten in Betrieb
stehenden Oefen zur Verbrennung des Kehrichts. Dieses Verbren¬
nen ist ohne Zweifel das in gesundheitlicher Beziehung empfeblens-
wertheste Verfahren und wird sich auch meist billiger stellen, als
eine weitgehende Verarbeitung zu Dünger. Redner weist darauf
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94
hin, dass Städte, welche Anlagen zur Reinigung der Kanalwasser
auf mechanischem und chemischem Wege besitzen, den bei diesem
Verfahren gewonnenen Schlamm zweckmässig zusammen mit dem
Strassen- und Hauskehricht verarbeiten oder nötigenfalls ver¬
brennen.
Bezüglich des Besprengens der Strassen zur Verhinderung des
Staubes wird bemerkt, dass das beste Mittel zur Verminderung
des Staubes eine häufige und gründliche Reinigung der Strassen
sei, ohne dass dadurch indess das Besprengen überflüssig wird.
In Seestädten geschieht das Besprengen zweckmässig mittelst See¬
wasser, welches eine anhaltendere Wirkung ergibt und in der Regel
billiger sein wird. Die Schneemassen, welche selbst bei einem
nur mässigen Schneefall auf den Strassenflächen sich ablagern,
sind so gross, dass keine städtische Verwaltung daran denken
kann, dieselben vollständig beseitigen zu lassen. Die Beseitigung
wird sich immer auf die verkehrrcichsten, engsten oder am tiefsten
gelegenen Strassen, in welchen bei eintretendem Thauwetter Ueber-
schwemmungen zu befürchten sein würden, beschränken müssen.
Im Uebrigen wird man darauf bedacht sein, die Fusswege und
Strassenrinnen von Schnee frei zu halten und den letzteren in der
Fahrstrasse in langen schmalen Haufen derart aufzustellen, dass
auch für den Fuhrwerksverkehr einigermassen Raum bleibt. Die
Verwendung von Salz kann zum raschen Aufthauen gute Dienste
leisten, ist aber möglichst zu vermeiden, da die dabei erzeugte
grosse Kälte den Füssen von Menschen und Thieren schädlich ist
und das Salzwasser das Schuhwerk durchtränkt und immer steif
erhält.
Dr. Blasius (Braunschweig) als Correferent spricht über die
hygienischen Anforderungen an den Strassenbau und die
Strassendecke. Gegen die englischen Subways, d. h. Tunnels im
Strassenkörper zum Unterbringen der mannigfachen Rohre und
Leitungen erhebt der Vortragende Bedenken wegen der bei Fehlern
der Gasleitung zu befürchtenden Knallgasentwicklung und im Hin¬
blick auf elektrische Störungen. Er empfiehlt die von ihm in Ge¬
meinschaft mit dem Vorredner aufgestellten Sätze, welche nach
einigen Bemerkungen des Oberingenieurs Meyer (Hamburg) und
des Professors Baumeister (Karlsruhe) in folgender Fassung von
der Versammlung gutgeheissen werden:
„A. Strassenbefestigung.
Untergrund. 1) Jede Strasse ist auf möglichst reinem, von
organischen und schädlichen Stoffen freiem, gut entwässertem Boden
anzulegen. 2) Der Untergrund der Strassen (entweder gewachsener
oder aufgeschütteter Boden) ist möglichst fest herzustellen unter An¬
wendung der nöthigen Vorsichtsmassregeln gegen Brüche der in
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den Strassenkörper zu legenden Leitungen (Gas-, Wasser-, Kanal-,
Telegraphen-, Telephon-, Rohrpost- u. s. w. Leitungen).
Oberfläche. 3) Die Strassenoberfläche soll möglichst eben,
bezw. regelmässig gekrümmt, möglichst wasserundurchlässig und
möglichst fest sein, damit das Wasser möglichst rasch abfliesst,
der Untergrund nicht verunreinigt wird, die Strassenreinigung leicht
und gründlich geschehen kann und wenig Schmutz und Staub ent¬
steht. Ausserdem soll die Oberfläche durch den Verkehr möglichst
wenig Geräusch verursachen.
B. Strassenreinigung.
Umfang derselben. 4) Die Strassenreinigung hat sich zu
erstrecken auf die Fortschaffung und Unschädlichmachung, bez.
Verwerthung des Strassen- und Hauskehrichts, auf möglichste
Verhinderung des Strassenstaubes und Beseitigung des Schnees
und Eises.
Einrichtung derselben. 5) Zur Erreichung einer der¬
artigen, möglichst zweckmässigen, den heutigen Anforderungen
genügenden Strassenreinigung sind folgende Einrichtungen zu treffen:
a) Die Reinigung der Strassen, zum mindesten diejenige der
Strassenfahrbahnen, ist nicht durch die Anwohner, sondern
durch die Gemeinde zu besorgen; die zusammengekehrten
Massen sind sofort abzufahren. Es empfiehlt sich, diese
Arbeiten während der Nachtzeit vorzunehmen.
b) Die längere Ansammlung des Hauskehrichts in grossen
Behältern (Müllgruben u. s. w.) ist zu vermeiden. Die
Abfuhr des Hauskehrichts soll vielmehr mindestens zwei¬
mal wöchentlich durch die Gemeinde geschehen, zu welchem
Zweck die Ansammlung in festen oder tragbaren Gefassen
zu bewirken ist, welche unschwer in die durch Deckel¬
klappen zu verscliliessenden Kehrichtfuhrwerke zu ent¬
leeren sind.
c) Die Strassen- und Hauskehrichtmassen sind möglichst
rasch zu Düng- oder gewerblichen Zwecken zu verwenden
oder auf andere Weise, nöthigenfalls durch Verbrennen,
unschädlich zu machen. Die zur vorläufigen Ablagerung
dienenden Plätze sollen so beschaffen und gelegen sein,
dass weder bereits vorhandene, noch in Zukunft entste¬
hende bebaute Stadttheile (z. B. durch Verunreinigung des
Untergrundes) geschädigt werden.
d) Bei trockener Witterung sind die Strassen zur Verhinde¬
rung des Staubes reichlich mit reinem Wasser zu be¬
sprengen.
e) Im Winter sind die Gehwege (in der Regel durch die An¬
wohner) nach Möglichkeit von Eis und Schnee zu befreien
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96
und mit Sand und Asche zu bestreuen, sowie die Rinnen
und deren Einläufe für den Wasserabfluss bei eintretendem
Thauweiter frei zu halten. Ferner sind (in der Regel
durch die Gemeinde) die Strassenkreuzungen für den Fuss-
gängerverkehr, sowie der mittlere Theil der Fahrstrassen
für den Fuhrwerksverkehr nach Möglichkeit offen zu halten
und die zu beiden Seiten der Fahrstrassen den Rinnen
entlang aufgehäuften Schneemassen nach Bedarf, insbe¬
sondere in engen, verkehrreichen und tiefgelegenen Strassen,
abzufahren. Bei Verwendung von Salz zum Aufthauen,
was nur bei besonderem Verkehrsbedürfniss statthaft ist,
sind die geschmolzenen Massen durch Abkehren und Nach¬
spülen mit reichlichen Mengen reinen Wassers zum raschen
Abfluss zu bringen.“
Zum Schluss fand ausser den verschiedenen Danksagungen
die Ergänzungswahl des Ausschusses statt, nach welcher der letz¬
tere für das neue Geschäftsjahr bestehen wird aus den Herren
Oberbürgermeister Becker (Köln), Oberbürgermeister Böttcher
(Magdeburg), Landesrath Fuss (Danzig), Geh. Sanitätsrath Dr.
Graf (Elberfeld), Oberingenieur Meyer (Hamburg), Professor
Riet sehe 1 (Berlin), und Sanitätsrath Dr. Spiess (Frankfurt a. M.).
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SaoliWeisung über Krankenaufnahtne und Bestand in den Krankenhäusern aus 54
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat November 1888.
Hospitäler
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Krankh eitsformen der Aufpenommenen
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Sterblichkeit^ - Statistik von 54 Städten der Proyinsen Westfalen,
Rheinland nnd Hessen-Nassau pro Monat November 1888.
Bielefeld
Minden
Paderborn
Dortmund
Bochum
Hagen
Hamm
Witten
Iserlohn
Siegen
Gelsenkirchen
Lippstadt
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Crefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a d. Ruhr
Rheydt
Viersen
Wesel
Neuss
Oberhausen
Solingen
Styrum
Wermelskirchen
Velbert
Ronsdorf
Süchteln
Ruhrort
Lennep
Aachen
Esch weder
Eupen
Burtscheid
Stolherg
Köln
Bonn
Mülheim a. Rhein
Ehrenfeld
Deutz
Kalk
Trier
Malstadt-Burbach
St Johann
Saarbrücken
Coblenz
Kreuznach
Neuwied
Wiesbaden
Kassel
36000 101 33,7 45
1860-2 4-7 30,3 14
16600 39 -28,2 22
82000 271 39,7 162
40767 143 42,1 82
31329 103 42,0 60
23479 89 45,5 57
23859 84 42.2 36
20600 53 60,0 25
17250 47 32,7 28
22074 94 51,1 48
10649 33 37,2 24
130284
1 1800(1
108000
103626
7 < > 1 < m >
50761
54 >( KXJ
3504 in
25752
25000
22228
20677
21304
21422
18641
18922
11000
10588
11000
9465
9546
8844
431 39,7 220
362 36.8 170
321 35,7 129
315 36,9 15
226 38,5 124
195 46,1 90
160 38,4 69
91 31,2 58
94 43,8 38
73 35.0 39
58 31,3 31
41 23,8 32
55 30,9 33
86 48,2 40
47 30,3 39
67 42,5 33
38 41,5 23
41 48,9 22
29 31,6 24
21 26,6 19
32 40,2 18
29 39,3 19
101331 297 35,2
16798 57 40,7 29
15441 30 23,3 22
12139 33 32,6 23
11792 54 54,9 19
181330 584 39,2 299
37600 116 37,0 81
26600 57 28.5 67
27269 92 40,1 64
20917 79 45,3 20
11418 42 44,1 31
34131 84 29,5 55
14950 75 60,2 29
13598 39 34,4 17
9514 36 45,4 20
32647 83 30,5 51
16900 40 28.4 21
10192 36 42.1 19
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NacliTveisung’ Uber Kninkenaufnahine und Bestand in den Krankenhäusern aus 54
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat December 1888,
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Bielefeld
stadt. u kath. Krankenhaus
61
59
470
l
18
7
Minden
städtisches Krankenhaus
•171
28
275
4
i
1
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19
Paderborn
Landeshospital
46
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..
3
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10
Herford
städtisches Krankenhaus
1\
45
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2
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Dortmund
Louisen-u. Johanneshospital
250
260
2608
4
55
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2
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Bochum
Augusta Anstalt
1231
124
1273
1
2
6
..
25
Hagen i. W.
städtisches Hospital
93
103
671
..
39
..
12
Witten
evangel. und Marienhospital
201
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1312
. .
..
4
14
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städtisches Krankenhaus
35
35
103
• •
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4
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6
Iserlohn
63
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4
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Gelsenkirchen
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154
176
1705
2
18
4
65
Schwelm
städtisches Krankenhaus
32
30
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15
7
Düsseldorf
evangel. Hospital
146
135
1036
12
3
20
1
17
Marien-Hospital
241
260
1785
i
3
3
35
24
Elberfeld
St. Josephs-Hospital
206
187
1712
2
32
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Barmen
städtisches Krankenhuus
16 ( .)
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17 85
i
3
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Crefeld
183
178
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3
12
3
4
3
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Huyssen-Stif u. Krupp’sches
Krankenhaus
258
126
1604
l
4
2
12
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M.-Gladbach
ev. u.Ma ria hilf- Krankenhaus
136
116
668
1
10
14
Remscheid
städtisches Krankenhaus
40
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6
7
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7
Mülheim a.d.Ruhr
76
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2
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Viersen
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Wesel
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47
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31
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43
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Solingen
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Styrum
* *
32
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5
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Ruhrort
Haniels-Stiftung
35
30
181
2
8
Süchteln
städtisches Krankenhaus
18
13
20
Odenkirchen
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1
Aachen
Louisen-Hospital
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3
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Marien-Hospital
235
244
1062
6
21
3
34
Eschweiler
St. Antonius-Hospital
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112
200
1
12
Eupen
St. Nicolaus-Hospital
36
32
158
3
Burtscheid
Marien-Hospital
84
01
506
4
Stolberg
Bethlehems-Hospital
74
77
171
6
Köln
Bürger-Hospital
631 675
7180
5
29
79
142
10
122
Bonn
Fr.-Willi.-Stift (ev. Hospital)
65
62
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3
3
11
7
Mülheim a. Rhein
städt. u. Dreikönigenhospital
121
137
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2
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6
33
28
Deutz
städtisches Krankenhaus
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Ehrenfeld
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Trier
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Saarbrücken
Bürgerhospital
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540
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Kreuznach
städtisches Krankenhaus
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Neuwied
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Wiesbaden
städtisches Krankenhaus
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Bettenhausen
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Fulda
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Hanau
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Eschwege
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Schmalkalden
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147
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1
Duisburg. W@§en Fehlen einzelner Monats-Nachweisungen
* Krätze und Ungeziefer,
konnte die Jahres-Nachweisung nicht
Wechffelfieber
hinsern ans 54 Städten der ProYlnzen Westfalen, Rheinland nnd Hessen*
des Jahres 1888.
formen der Aufgenommenen
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Lippstadt
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Düsseldorf
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Elberfeld
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Essen
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473246
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229
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Duisburg
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458 189
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Rheydt
25000
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173
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Viersen
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33,9
37
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21,8
134
81
34
62
67
106
Wesel
20677
603
29,2
20
367
17,7
101
50
24
44
55
93
Neuss
21304
805
37,8
20
493
23,2
175
61
28
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70
104
Oberhausen
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46,8
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Solingen
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713
38,2
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493
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185
54
44
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55
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Styrum
18922
891
47,1
44
420
22,2
144
88
45
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51
Wermelskirchen
11200
407
36,3
17
246
22,0
63
43
11
33
27
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Velbert
10588
511
48.3
35
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24,7
90
25
21
37
36
52
Ronsdorf
11000
347
31,5
23
262
23,8
72
51
24
33
23
59
Süchteln
9465
310
32.7
12
193
20,4
49
22
16
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51
Ruhrort
9546
MM
41,9
12
258
27,0
115
32
11
30
28
42
Lennep
8844
339
38,3
17
214
24,2
40
31
15
33
40
55
Aachen
101331
3574
35,3
104
2238
22,1
877
246
96
231
272
516
Eschweiler
16798
711
42,3
22
376
22,4
147
38
20
35
49
87
Eupen
15441
487
31,5
8
316
20,5
105
22
13
29
42
102
3
Burtscheid
12139
457
37,6
11
262
21,6
82
33
14
21
47
65
Stolberg
11792
555
47,1
16
286
24,3
122
29
9
29
36
61
Köln
181330
6535
36,0
204
4185
23,1
1504 549
208
571
564
788
1
Bonn
37(500
1363
36,3
56
948
25,2
294
66
55
125
189
219
Mülheim a. Rhein
26500
1138
42,9
55
746
28,2
353
61
45
105
86
96
Ehrenfeld
27400
1172
42,8
26
742
27,1
340
114
57
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Deutz
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752
36,0
29
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18,7
166
41
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Kalk
11418
540
47,2
22
351
30,7
181
49
23
33
37
28
Trier
34131
910
26,7
47
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151
94
57
116
140
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Malstadt-Burbach
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308
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47
30
32
36
46
St. Johann
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485
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30
231
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28
17
22
58
42
Saarbrücken
9514
416
43,7
8
240
25,2
53
21
23
50
40
53
Coblenz
32647
817
25.0
33
665
20,4
155
98
50
78
110
174
Kreuznach
559
33,1
12
352
20,8
92
40
32
50
51
87
Neuwied
10192
29,8
7
226
22,2
62
26
11
28
30
69
Wiesbaden
1539
26,5
66
1153
19,9
270
118
75
171
231
288
Kassel
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176
279
Westfalen, Rheinland nnd Hessen-Nassan während des Jahres 1888.
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Infections-Krankheiten
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2 1 18 .. 8 .. 3 .. 125 ...
29 6 12 6 11 .. 3 11 150 93
9 ... 13 9 9 .. 5 9 91 86
.. 1 3 5.. 1 .. .. 45 32
13 1 8 4 3 .. | 3 .. 43 30
11 ... 46 .. 6 .. .. 2 110 38
1 2 4 .. 11. 46 26
2 1 8 .. 2 .. 1 .. 26 9
. 5 1 10 1 1 .. 23 30
12 1 811 9 .. 1 8 145 71
3 3 3 4 4 .. 2 .. ’ 54 46
7 ... 4 5 .... 1 .. 35 29
1 13 23 .. 4 . 194 90
4 7 6 79' 68
3.. 2 38 31
. 10 10 418 270
. 9 10 348 227
. 4 5 373 229
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Verunglück,
oder nicht
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Sterblichkeit« - Statistik* ron 54 Städten der Proylnsen Westfalen,
Rheinland und Hessen -Nassau pro Monat Deceniber 1888,
Bielefeld
Minden
Paderborn
Dortmund
Bochum
Hagen
Hamm
Witten
Iserlohn
Siegen
Gelsenkirchen
Lippstadt
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Crefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a. d. Ruhr
Rheydt
Viersen
Wesel
Neuss
Oberhausen
Solingen
Styrum
Wermelskirchen
Velbert
Bonsdorf
Süchteln
Ruhrort
Lennep
Aachen
Eschvveiler
Eupen
Burtscheid
Stolherg
Köln
Bonn
Mülheim a. Rhein
Ehrenfeld
Deutz
Kalk
Trier
Malstatt-Bu rbaeh
St. Johann
Saarbrücken
Coblenz
Kreuznach
Neuwied
Wiesbaden
Kassel
105
Kleinere Mittheilnngen.
* Ueber das Gypsen der Weine in Frankreich erstattete eine
Commission, deren Präsident Dr. Bergeron, und Mitglieder u. a. die Herren
Lagneaü, Proust, Colin, Vallin sind, der Acad6mie de M6 de eine zu
Paris einen ausführlichen Bericht, dem wir folgende Einzelheiten entnehmen
(Bulletin de TAcademie, 1888, Nr. 23):
Die Commission hatte bei ihren Untersuchungen drei Hauptpunkte im
Auge: die Nothwendigkeit der Verwendung des Gypses bei der Produktion,
die Handelserfordernisse und das Interesse der Consumenten.
Der besonders in Südfrankreich ganz allgemeine Gebrauch des Gypsens
bietet vielfache Vortheile: er befördert und vervollkommnet die Gährung
des Weines, erhöht seine Säure und lebhafte Farbe, klärt ihn rascher und
trägt zu seiner Conservirung und Transportfähigkeit sehr bei. Doch stehen
diesem Nutzen tiefgehende Veränderung in der Beschaffenheit des Weines
gegenüber. Seit 1853 hat man sich in wissenschaftlichen Kreisen oft und
eingehend mit dieser Frage beschäftigt, doch erst seit wenigen Jahren ist
man zu einem vorläufigen Resultate gelangt mit Hülfe bekannter Chemiker,
wie z. B. Chancel, Buignet, Gautier und Magnier de la Source.
Die Veränderungen, die durch das Gypsen im Weine vor sich gehen,
sind kurz zusammengefasst die folgenden:
In den Trauben ist ein reicher Gehalt an doppelt weinsaurem Kali vor¬
gebildet, welcher in Folge der geringen Löslichkeit dieses Salzes nur zum
Theile in den Most als gelöst übergeht. Bei Zusatz von Gyps (schwefel¬
saurem Kalk) wird dieser gelöste Theil des doppelt weinsauren Kalis in der
Weise zersetzt, dass sich unlöslicher weinsaurer Kalk und lösliches saures
schwefelsaures Kali bilden, welches letztere in dem Moste gelöst verbleibt.
In weiterem Verfolge dieser Zusetzung treten dann aus der Traubenmasse
neue Mengen von doppeltweinsaurem Kali in die Mostflüssigkeit gelöst aus
und unterliegen wiederum der gleichen Zersetzung, so lange der Gypszusatz
ausreicht. Auf diese Weise wird der Most erheblich reicher an Säure und
zugleich wird durch das Mitreissen aller in ihm suspendirten Stoffe mit dem
niederfallenden weinsauren Kalk die Flüssigkeit sehr geklärt. Ausser den
vorbezeichneten Zusetzungseffekten bewirkt der Gypszusatz aber noch die
. Zersetzung der neutralen organischen Kalisalze, welche im Traubenmark irf
erheblicher Menge vorhanden sind, und er bringt im Weine die Farbstoffe
zur Lösung, welche in Schaale und Kern des Traubenmarks eingeschlossen
ruhten. Einzelne dieser Farbstoffe enthalten nach A. Gautier Eisen in
organischem Combinationszustande.
Bleibt noch hinzuzufügen, dass der weisse Gyps, dessen man sich be¬
dient, trotzdem er der beste im Handel vorkommende ist, doch immer
einen mehr oder weniger grossen Bestandtheil von kohlensaurem Kalk
enthält und zuweilen Magnesia mit kleinen Mengen Soda und sehr ver-
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. g
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— 106 —
schieden grossen Mengen Aluminium. Alle diese Unreinigkeiten werden
dem Wein einverleibt und ändern seinen Geschmack und seine hygienischen
Eigenschaften. Es sei auch bemerkt, dass der Wein eine gewisse Quantität
schwefelsauren Kalk löst je nach dem Maasse seines Alkoholgehalts.
Das Gypsen hat also den schädlichen Erfolg, dem Weine fremde Be-
standtheile zuzufügen, namentlich das saure schwefelsaure Kali, dessen Wir¬
kung auf den Organismus nur schädlich sein kann. Der gegypste Wein ist
in der That an seinem grösseren Gehalt an schwefelsauren Kali zu erkennen.
Gewöhnlich enthält 1 Liter Wein 2—6 Gramm; man constatirte jedoch in
einem Wein der Süd-Pyrenäen 7,38 Gramm und in einem Clermonter sogar
8,23 Gramm. Die natürlichen Weine ergeben dagegen in der Analyse nur
6 Decigramm (0,60 Gramm) pro Liter.
Die Menge des bei der Weinbereitung verwendeten Gypses wechselt je
nach dem Lande, der Bodenbeschaffenheit, der Rebenart, den Gewohnheiten
der Weinbauer. Prof. Bouffard berichtet, dass in Südfrankreich z. B. auf
700 Liter Wein 1200 Gramm bis 7 Kilogramm Gyps kommen. Sorgfältige
Producenten bemessen den verwendeten Gyps ganz genau im Verhältniss
zur Ernte, doch gypsen die meisten aufs Unbestimmte hin und daher meist
im Uebermass, was sich aus der Hefe constatiren lässt. Eine gesetzliche
Regelung der Procedur des Gypses wäre also entschieden im Interesse der
Gesundheit nothwendig und gingen der französischen Akademie schon seit
lange die verschiedensten diesbezüglichen Anträge zu. Obengenannte Com¬
mission beantragte in der Sitzung vom 10. Juli d. J. die Feststellung von
2 Gramm Maximalgehalt an schwefelsaurem Kali pro Liter Wein, weicher
Vorschlag einstimmig angenommen ward und mit Hülfe der Regierung
durchzuführen sein wird, trotz des heftigen Widerspruchs der betheiligten
Handelskreise, dem sich auch die spanische Regierung anschloss, in der
Furcht, dass der Export der spanischen Weine, besonders des Xeres, unter
dem Verbot leiden könne. In Spanien ist seit Jahrhunderten der Gebrauch
des Gypses ganz allgemein, „ schon seit der Zeit des Plinius“ sagt der Be¬
richt des spanischen Gesandten in Paris, der zugleich die Schädlichkeit des
Gypsens, als von den Aerzten selbst vielfach in Zweifel gestellt, läugnet.
Dieser Ansicht tritt Dr. Pouchet in den Annales d’Hygiöne Publique
(August 1888) sehr entschieden entgegen und veröffentlicht einen Theil des
Gutachten von Dr. Richard, der die Gesundheitsgefährdung durch zu grossen
Kaligehalt des Weines besonders bei längerem Genuss desselben durch zahl¬
reiche Beispiele, meist aus Südfrankreich, beweist. Bei einem Maximal¬
gehalt von 2 Gramm sind bislang keine der bei höherem Gehalt auftreten¬
den schädlichen Folgen, wie Kolik, Entzündung der Verdauungsorgane etc.
constatirt worden und ist daher dies Zugeständniss vorläufig einem
absoluten Verbot des Gypsens vorzuziehen, das unfehlbar nicht nur dem
Weinhandel, der ohnehin schon in Frankreich in den letzten Jahren so sehr
zurückgegangen, grossen Schaden zuziehen, sondern auch der Fabrikation
von künstlichen Weinen Vorschub leisten würde, deren unhygienische Be¬
schaffenheit ausser Frage steht. F.
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107
* Ueber den colonialen und internationalen Congress zur
Bekämpfung der Trunksucht, der am 6. Juli 1887 zu London unter
der Präsidentschaft von Dr. Norman Kerr stattfand, bringt das „Mouve¬
ment hygienique“ ein längeres Referat, dem wir folgende für unsem Leser¬
kreis interessante Einzelheiten entnehmen:
Der Herausgeber des amerikanischen „Journal of Inebriety, Grothers,
berichtete über die Trink er-Asyle in den Vereinigten Staaten, die seit
dem Jahre 1854, dank den Bemühungen Dr. Tumeis, errichtet wurden.
Eis wurden deren mehr als 50 geschaffen, von denen 30 in voller Thätig-
keit sind; 20 andere wurden in Irrenhäuser, Wasserheilanstalten etc.
umgewandelt. Auf wirklich wissenschaftlicher Grundlage wird der Alko¬
holismus nur in wenigen der vorhandenen Asyle studirt und behandelt;
ca. 40 °/o der Trunksüchtigen wurden im Ganzen in den verschiedenen
Anstalten geheilt, wo mehr als 3000 Fälle Aufnahme fanden.
Im Staate Connektikiit werden die Trunksüchtigen, sei es aus eigenem
Antrieb, sei es durch Vermittlung anderer, in Asylen untergebracht, ohne
dass das Einschreiten eines Richters oder Gerichtshofes nöthig ist. In den
anderen Ländern sind die Alkoholisten, bezüglich der Unterbringung, den
Geisteskranken gleichgestellt.
Die meisten Asyle verdanken der Privat-Initiative oder Vereinen ihr
Entstehen, doch erhalten sie Staatszuschuss. Andere bestreiten ihre Kosten
nur durch den Ertrag der Krankenpensionen und wohlthätigen Zuwendungen;
es werden jedoch wenig Arme in diesen Asylen aufgenommen. Daher ist
in mehreren Staaten die Errichtung von Anstalten angeregt worden, die
ausschliesslich für unbemittelte Trunksuchtskranke bestimmt sind.
Der Gefängnisgeistliche von Gier Remvell, Horsley, theilte mit, dass
nach seinen Untersuchungen 75 °/o der Verbrechen direkt oder indirekt
durch Trunksucht verursacht werden. Seiner Erfahrung gemäss biete die
plötzliche Unterdrückung des Gebrauchs alkoholhaltiger Getränke selbst bei
verhärteten Trinkern keinerlei Schwierigkeiten. Von 300 Selbstmorden
schreibt Horsley 172 den Folgen der Unmässigkeit zu; desgleichen sei eine
grosse Zahl von Kindesmorden in derselben Ursache begründet. Die An¬
gaben Horsley’s bezeugen ein erschreckendes Umsichgreifen des Alkoholismus
unter den Frauen Englands. Im Jahre 1878 wies das männliche Geschlecht
1751 Verhaftungen mehr auf als das weibliche; 1879 betrug der Unter¬
schied 530 und 1880 nur noch 470.
Ritter Max v. Proskowitz trug einen interessanten Bericht über die
Trunksucht in Oesterreich vor, wo auch diese moderne Plage, wie
überall, reissende Fortschritte macht. Auf den Kopf kommen dort jährlich
6,7 Liter destillirte Getränke; in einigen Gegenden steigt der Verbrauch
sogar auf 15*/* Liter. In den Jahren 1884—85 war die Auslage für geistige
(•Jetränke um 4 Millionen Gulden höher als in den beiden Vorjahren. 1885
gab es 195,665 Schankstätten, d. h. auf je 195 Einwohner eine (Gesammt-
bevölkerung: 39,000,000). Von 2742 Morden, die in Oesterreich begangen
wurden in der Zeit von 1876—1880, waren 978 durch Betrunkene aus-
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— 108
geführt worden; in Böhmen von 435 Fällen 103, in der Moldau von
242 Fällen 74. Im Wiener Irrenhaus kommen 33,41 der Fälle auf Rech¬
nung des Alkoholmissbrauchs, der bedeutend steigt seit der Alkohol¬
gewinnung aus Kartoffeln, Syrup, Rüben etc.
In Schweden bestehen, wie Dr. Axel Dickson referirte, 2 Asyle für
Trinker. Das eine derselben, zu Toemas befindlich, ist für die arbeitenden
Klassen bestimmt; der Pensionspreis beträgt 250—600 Frcs. jährlich. Die
Aufgenommenen müssen arbeiten, sei es auf dem Wirthschaftshof, sei es
in verschiedenen Werkstätten, sie verpflichten sich wenigstens ein Jahr zu
bleiben und erhalten keinerlei geistige Getränke. Ein Urtheil über die Resultate
kann bei dem kurzen Bestehen der Anstalt noch nicht abgegeben werden.
Dr. Petithau aus Lüttich bemerkte, dass auch in Belgien der Alkoho¬
lismus erschreckend zunahm und ein energisches, augenblickliches Ein¬
schreiten sehr Noth thue. England wie Holland sowohl wie Frankreich
hätten Unterdrückungs-Massregeln ergriffen; es sei sehr zu wünschen, dass
Belgien nicht zurück bleibe. F.
* Die Zunahme des Alkoholmissbrauchs in Belgien wird durch
einen vom Prinzen Rubenprö verfassten Kammerbericht in grelles Licht
gestellt. Der Bierconsum ist auf 240 Liter im Jahr für den Kopf der Be¬
völkerung (nur Baiern steht im Bierconsum noch höher), der Branntwein¬
verbrauch auf 13 Liter (nur Russland und Dänemark stehen höher) ge¬
stiegen. Es wird berechnet, dass in Belgien etwa 100000 Personen leben,
welche täglich ein halb Liter, und etwa 50000, welche täglich ein ganzes
Liter Genövre trinken! F.
*** Über die Verdaulichkeit der Fleischspeisen hat unter
Prof. Penzoldt’s (Erlangen) Leitung Dr. Gigglberger Versuche angestellt.
Untersuchungen dieser Art, an gesunden Menschen ausgeführt, liegen bis
jetzt nur wenige vor, und neue Versuche beanspruchen daher ein besonderes
Interesse. Dr. Gigglberger ermittelte die Zeitdauer, welche unsere gewöhn¬
lichen Fleischspeisen im Magen verweilen. Wie Prof. Penzoldt in der
Münchener mediz. Wochenschr. (1887, Nr. 20) mitteilt, war die Versuchs¬
anordnung folgende: Zunächst wurde festgestellt, dass die Magenverdauung
des Dr. G. wirklich regelrecht war. Nach zahlreichen Versuchen von
Jaworski und Gluzcinski verschwindet das kleingeschnittene hartge¬
sottene Eiweiss eines Eies in 1V* St. aus dem Magen. Gerade so verhielt
es sich bei Dr. G. — Die Probemahlzeit wurde jedesmal um etwa 12 Uhr
bei völlig leerem Magen eingenommen. Sie bestand aus 250 g von Fleisch,
Hirn oder Bries (selten etwas weniger) mit etwas Brühe und Salz ohne
jede sonstige Zuthat. Während der Verdauung hielt sich Dr. G. ruhig.
Alle Viertelstunden führte er sich die Sonde ein, um eine Spur Magen¬
inhalt auszudrücken. Wenn der Magen hierbei sich leer zeigte, wurde
zum sicheren Beweise seiner Leerheit eine Ausspülung gemacht. Es wurde
auch auf das mikroskopische Verhalten des Mageninhalts sowie das Auf¬
treten der Reaktionen auf freie Säure geachtet.
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109 —
Die Ergebnisse von 37 Versuchen sind in folgender Tafel zusammengestellt:
Tierart
Stück
Zubereitung'
Gewicht
Zeitdauer
1.
Kalb
Hirn
gesotten
250 g
2.55
2.
*
9
9
9
2.30
3.
*
9
gebacken
9
3.05
4.
*
9
gesotten
9
2.30
5.
*
Fleisch
gebraten
9
3.00
6 .
»
9
9
3.55 (3.30)
7.
•
Fuss
gesotten
9
3.50
8.
Rind
Fleisch
roh
3.15
9.
*
9
9
9
3.00
10.
9
9
gesotten
9
3.30
11.
*
9
9
9
4.40
12.
•
9
gebraten
160
3.15
13.
Lende
225
4.00
14.
250
3.45
15.
•
9
Beefsteak
9
3.50 (2.50)
16.
*
Zunge
gesotten
3.05
17.
•
9
9
3.40
18.
9
9
9
9
5.00
19.
9
9
geräuchert
9
4.15
20.
Hammel
Fleisch
gebraten
.210
3.30
21.
Schwein
9
9
170!
4.00 (3.30)
22.
*
9
9
160!
2.30
23.
*
Schinken
roh geschabt
160!
3.00 (2.30)
24.
«
9
9
160!
3.10
25.
9
9
roh
160!
4.15
26.
»
9
gekocht
160
3.00
27.
Hase
Rücken
gebraten
250
3.40
28.
9
—
H
250
4.25
29.
Huhn
—
gesotten
220
2.45 (2.20)
30.
9
—
gebraten
230
3.05 (2.35)
31.
Rebhuhn
—
9
240
3.30 (2.30)
32.
Taube
—
gesotten
220
3.35
33.
11
—
*
260
3.00
34.
*
--
gebraten
195
3.10
35.
H
—
*
210
3.50
36.
Ente
n
280
4.15
37.
Gans
—
*
250
4.00
Anm.: Die eingeklammerten Zahlen bedeuten den Zeitpunkt, in welchem
die Muskelfasern aus dem Mageninhalt verschwanden.
Prof. Penzoldt macht darauf aufmerksam, dass diese Ergebnisse der
an einem Individuum gemachten Versuche keine allgemeine Giltigkeit be¬
anspruchen. Wir sehen ja auch bei der Wiederholung von Versuchen mit
derselben Fleischspeise zuweilen recht ansehnliche Unterschiede. Doch
scheint für die eine Versuchsperson hervorzugehen, dass z. B. gesottenes
Kalbshirn und Bries (Kalbsmilch) die kürzeste Zeit, Ente, Gans, Hase,
Rindszunge viel länger im Magen verweilten, dass rohes Rindfleisch
schneller den Magen verlässt als gekochtes und gebratenes u. s. w. In
einzelnen Fällen wurde beobachtet, dass die Muskelfasern früher als die
übrigen Bestandteile aus dem Mageninhalte verschwanden; es schien dies
besonders bei fetten oder mit Fett zubereiteten Fleischsorten der Fall zu sein.
Wünschenswert bleiben fernere Untersuchungen nach ähnlicher Anordnung.
W.
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110
Heilknrs für stotternde Kinder. — Dem Vorgänge anderer
Städte, namentlich Braunschweig, folgend, hat auf Veranlassung des Stadt¬
schulinspectors Dr. Boodstein nunmehr auch die städtische Schuldeputation
in Elberfeld Heilkurse für Kinder, welche mit Sprachfehlern behaftet
sind, in’s Leben gerufen. Die Theilnahme an diesen Kursen ist für die
Kinder der Elberfelder Volksschulen unentgeldlich. Geleitet werden die
Kurse von den Herren Lehrern Bruhne und Knippkamp, welche Herren
seiner Zeit von der Stadt Elberfeld zu ihrer weiteren Ausbildung in die
Heilanstalt von Dr. Gutzmann in Berlin entsendet worden waren. Vor¬
läufig sollen nur die am meisten mit Sprachgebrechen behafteten Schüler
der Oberklassen in diese Heilkurse aufgenommen werden, denen dann
später die Schüler der andern Klassen nachfolgen werden.
Dr. Schmidt (Bonn).
* Die Abfuhr der Fäkalstoffe aus Städten kann nach einer
Verfügung des preussischen Ministers des Innern von gemeindewegen
gegen eine von den Hausbesitzern zu zahlend en En tschädi-
gung ausgeführt werden. Um nun die gesundheitspolizeilichen Missstände
zu beseitigen, welche aus der zur Zeit theilweise bestehenden Art der Be¬
seitigung der Fäkalien herrühren, hat die Königliche Regierung zu Düssel¬
dorf die Landräthe und Bürgermeister ihres Bezirks auf die Zweckmässig¬
keit einer Uebernahme des Abfuhrwesens seitens der Städte
durch nachfolgende Gircularverfügung hingewiesen:
Düsseldorf, den 11. Mai 1888.
„Die Art, wie die Beseitigung der Fäkalstoffe in den meisten Städten
unseres Bezirks stattfindet, ist geeignet, erhebliche Gefahren für die Gesund¬
heit der Einwohner herbeizuführen. Noch immer werden vielfach Fluss¬
läufe und das Grundwasser durch Zuleitung von Fäkalien verunreinigt, und
soweit diese Stoffe abgefahren werden, geschieht die Entleerung der Gruben
im Allgemeinen so unregelmässig und ist das Verfahren der Ausräumung
des Grubeninhalts und die Beschaffenheit der Gefasse, in welchen derselbe
abgefahren wird, so mangelhaft, dass gesundheitsschädliche Einwirkungen
unvermeidlich sind.
Mit der Gefährdung der Gesundheit verbindet die bestehende Art der
Fäkalienbeseitigung eine Schädigung des allgemeinen Volkswohlstandes,
indem sie der Landwirthscliaft werthvolle DüngstolTe theils gänzlich entzieht,
theils in schlechterer Beschaffenheit liefert, als bei zweckmässiger Behand¬
lung der Fäkalien der Fall sein würde. Um diese Uebelstände zu beseitigen,
ist es dringend wünschenswerth, dass die Städte die Abfuhr der Fäkalstoffe
zu einer Gemeindeeinrichtung gestalten. Nur hierdurch in Verbindung mit
polizeilichen Vorschriften über die Ansammlung und regelmässige Fort-
schafTung der Fäkalien auf den bewohnten Grundstücken kann ein der all¬
gemeinen Gesundheitspflege und den Interessen der Landwirthe förderlicher
Zustand auf diesem Gebiete geschaffen werden. Polizeiliche Vorschriften
allein genügen hierzu nicht, denn solange sich das Abfuhrwesen in den
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Händen von verschiedenen Privatunternehmern und den Abnehmern von
Fäkalstoffen befindet, ist es kaum möglich in genügender Weise zu
überwachen, dass die Abfuhr sämmtlicher Fäkalien regelmässig und den
polizeilichen Vorschriften entsprechend ausgeführt wird. Auch wird es
häufig an Abfuhrwagen von guter Beschaffenheit fehlen und die Polizei¬
behörde deshalb genöthigt sein, die Abfuhr in ungenügend eingerichteten
Gefassen zuzulassen.
Auch die privaten Interessen der einzelnen Gemeinde-Einwohner werden
durch die Uebemahme des Abfuhrwesens seitens der Städte wesentlich
gefördert.
Die Grundstücksbesitzer, welchen die Verpflichtung die Fäkalstoffe ab¬
fahren zu lassen, obliegt, werden vor Uebervortheilungen, wie sie von den
Privatunternehmern leicht ausgeübt werden können, gesichert und vor Be¬
lästigungen durch langsame und ordnungswidrige Entleerung der Gruben
sowie unangemessenes Verhalten der mit der Entleerung der Gruben be¬
schäftigten Arbeiter geschützt.
Auch werden die Gebühren, welche die Städte für das Abfahren der
Fäkalien erheben werden, geringer bemessen werden können, als die Preise,
welche jetzt Privatunternehmer fordern, da die Städte bei ihrem grösseren
und rationelleren Betriebe die Abfuhr mit geringeren Kosten ausführen und
für die Fäkalstoffe bei zweckmässiger Einrichtung höhere Preise erzielen
werden, als jene.
Für die Städte wird andererseits eine Belastung durch die Uebernahme
des Abfuhrwesens nicht entstehen, da sie sich die Betriebskosten von den
Grundbesitzern in Form von Gebühren erstatten lassen können, und das
Eigenthum an den Fäkalstoffen erhalten, deren Verwerthung ihnen Erträge
zuführen wird. Die Arbeitslast, welche den Gemeindebehörden durch die
Uebernahme des Abfuhrwesens erwächst, wird, sobald die Schwierigkeiten
der Einrichtung überwunden sind, gering sein, und kann völlig abgewälzt
werden, wenn die Stadt, wie dies in Duisburg geschehen ist, die Abfuhr
einem Privatunternehmer überträgt. Eine zweckmässige Einrichtung des
Abfuhrwesens wird allerdings eine sorgfältige Erwägung aller in Betracht
kommenden Umstände erfordern.
Zunächst werden sich die Gemeindebehörden im Einvernehmen mit
den Polizeibehörden, sobald durch Gemeindebeschluss im Prinzip festge¬
setzt ist, dass das Abfuhrwesen zu einer Gemeindeeinrichtung gestaltet
werden soll, darüber schlüssig zu machen haben, welches System sich
nach den örtlichen Verhältnissen am besten für die Stadt eignet.
Von den beiden Hauptsystemen, dem Tonnensystem und dem Gruben¬
system, ist ersterem von gesundheitspolizeilichem Standpunkt aus den Vor¬
zug zu geben, weil es die Ansammlung grösserer Mengen von Fäkalstoffen
auf bewohnten Grundstücken verhindert und eine fast absolute Sicherheit
gegen die Verunreinigung des Bodens durch Fäkalien bietet, während cemen-
tirte Gruben, wie sie das letztere System bedingt, selbst wenn sie gut her¬
gestellt sind, doch mit der Zeit leicht durchlässig werden. Andererseits
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112
wird die Einführung des Grubensystems die geringeren Schwierigkeiten
bieten, da in den meisten Städten bereits Gruben zur Sammlung der
Fäkalien bestehen werden, während die Aufstellung von Tonnen, bauliche
Abänderungen und bei Häusern mit schmalen Treppen und Fluren grössere
Umbauten erfordern wird. Wird somit die Durchführung des Tonnensystems
in den bereits bestehenden Häusern vielfach nur mit grossen Kosten für
die Besitzer derselben zu ermöglichen sein, so werden doch die Städte mit
Rücksicht auf die gesundheitspolizeilichen Vortheile dieses Systems in Er¬
wägung zu ziehen haben, ob sich dasselbe nicht allmählig durch Anordnung
von Tonnenvorrichtungen bei Genehmigung von grösseren Umbauten und
Neubauten einführen lässt, während für die bereits bestehenden Gebäude
den Hausbesitzern die Wahl zwischen beiden Systemen gelassen wird. So¬
dann werden die Gemebidebehörden dahin streben müssen, eine gute Ver-
werthung der Fäkalien dauernd zu sichern, und zu diesem Zwecke dafür
zu sorgen haben, dass die Fäkalien nicht durch fremde Stoffe, Asche, Müll
u. s. w. verschlechtert werden, und dass Vorkehrungen geschaffen werden,
um die Fäkalien für diejenigen Jahreszeiten zu sammeln, an welchen die
Landwirthschaft der Düngmittel bedarf und daher die Fäkalien zu gutem
Preise verkauft werden können. Es ist dringend zu empfehlen, dass sich
die Gemeindebehörden hinsichtlich der Fragen, wie die Fäkalien am zweck-
massigsten zu behandeln und zu sammeln sind, mit den landwirtschaft¬
lichen Vereinen in Verbindung setzen.
Dieselben werden auch im Allgemeinen im Stande und bereit sein,
den Absatz der Fäkalien zu vermitteln.
Eine Verarbeitung der Fäkalien zu trockenen Düngmitteln, wie sie der
Vorsitzende des Rheinischen Bauernvereins vor kurzem in einer Eingabe
an den Herrn Ober-Präsidenten als wünschenswerth bezeichnet hat, werden
die Städte jedoch nur dann selbst übernehmen können, wenn sich die land¬
wirtschaftlichen Vereine oder eine genügende Anzahl von Landwirten
dauernd zur Abnahme der Produkte zu solchen Preisen verpflichten, dass
wenigstens die Betriebskosten gedeckt und die Verzinsung und Amortisation
des Betriebs- und Anlagekapitals gesichert wird, oder wenn die landwirt¬
schaftlichen Vereine in anderer Weise das mit der Produktenfabrikation
verbundene Risiko übernehmen.
Sollten die Vereine oder kapitalkräftige Privatleute die Verarbeitung
der städtischen Fäkalien für eigene Kosten zu übernehmen sich bereit
finden lassen, so würde dadurch der Absatz der Fäkalien für die Städte
am bequemsten erreicht. Das Recht der Städte, auf Grund eines Ortsstatuts
und einer Polizeiverordnung die Abfuhr der Fäkalien durch ihre Beamte
bezw. die von ihnen bestellten Unternehmer ausführen zu lassen und damit
den Hausbesitzern das Verfügungsrecht über ihre Fäkalien zu entziehen,
hat der Herr Minister in einer Entscheidung vom Februar d. J. anerkannt.
Das Abfuhrwesen wird, sobald die Gemeinde es auf Grund des § 10
der Städteordnung vom 15. Mai 1856 zu einer Gemeindeeinrichtung ge¬
staltet und die Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder bezüglich der Theil-
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113
nähme an dieser Gemeindeeinrichtung feststellt, zu einem Gegenstände der
Oekonomie der Gemeinde. Diese Feststellung der Rechte und Pflichten
der Gemeinde-Mitglieder, namentlich auch die Bestimmung der von den
Grundbesitzern für die Bemühung der Abfuhr zu entrichtenden Entschädi¬
gung erfolgt im Wege des Ortsstatuts. Die als Entschädigung zu zahlen¬
den Gebühren erhalten das Wesen der Gemeindeabgaben, und unterliegen
der Beitreibung im Verwaltungszwangsverfahren.
Um die Durchführung des Ortsstatuts mittels allgemeiner Strafvor¬
schriften zu erzwingen, bedarf es sodann des Erlasses einer Polizeiverordnung.
Euer Hochwohlgeboren wollen hiernach in Erwägung ziehen, in wel¬
chen Städten Ihres Kreises eine Regelung des Abfuhrwesens nach Massgabe
obiger Ausführungen nothwendig und durchführbar erscheint und uns unter
Angabe der bisher in den einzelnen Städten bestehenden Einrichtungen zur
Beseitigung der Fäkalstoffe binnen i Monaten Bericht erstatten.
Abdrücke für die Bürgermeister der Städte über 10,000 Einwohner
sind beigefügt.
Königliche Regierung, Abtheilung des Innern: Koenigs.
An sämmtliche Herren Landräthe, Oberbürgermeister zu Grefeld und
Essen und Bürgermeister der Stadtkreise.
* Der achte Congress für innere Medicin findet vom 15. bis
18. April 1889 zu Wiesbaden Statt. Das Präsidium desselben über¬
nimmt Herr v. Liebermeister (Tübingen). — Herr Schultze (Bonn)
wird eine Gedächtnissrede auf Herrn Rühle halten. Folgende Themata
sollen zur Verhandlung kommen: Montag den 15. April: Der Ileus und
seine Behandlung. Referenten: Herr Curschmann und Herr Leich ten-
stern. — Mittwoch den 17. April: Die Natur und Behandlung der
Gicht. Referenten: Herr Ebstein und Herr Emil Pfeiffer. — Fol¬
gende Vorträge sind bis jetzt angemeldet: Herr Immermann (Basel):
Ueber die Functionen des Magens beiPhthisis tuberculosa. —
Herr Petersen (Kopenhagen): Ueber die Hippokratische Heil¬
methode. — Herr Fürbringer (Berlin): Ueber Impotentia virilis.
— Herr L. Lewin (Berlin): Ueber Arzneibereitung und Arznei-
w i rk ung.
Litteraturbericht.
Dr. Karl Heyer, staatl. vereid. chem.-technischer Sachverständiger und Handels¬
chemiker. Ursache and Beseitigang des Blei-Angriffs durch Leitungs-
Wasser. Chem. Untersuchungen aus Anlass der Dessauer Bleivergiftungen
im Jahre 1886. Dessau 1888. Verlagsbuchhandlung von Paul Baumann.
Die 58 Seiten fassende Schrift (nebst einer Tafel) gibt sehr beachtens-
werthe und interessante Mittheilungen unter Anführung zahlreicher Unter-
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114 —
suchungen über den Blei-Gehalt des Dessauer Leitungswassere und die Be¬
seitigung desselben. Die Einleitung hebt hervor, dass bereits in zwei
Abhandlungen von berufener Seite diese Blei-Vergiftung besprochen sei.
1) Die Blei-Vergiftung durch Leitungswasser in Dessau im Jahre 1886
von Dr. Richter, Medicinalrath und herzogl. Kreisphysikus in
Dessau. Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬
pflege Bd. 19 Heft 3 (Juli 1887).
2) Wasserversorgung und Blei-Vergiftung, Gutachten über die zu Dessau
im Jahre 1886 vorgekommenen Vergiftungsfälle von Regierungsrath
Dr. G. W o 1 f f h ü g e 1. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheits-Amte.
In der ersten Abhandlung sind ausschliesslich medicinische Beobach¬
tungen niedergelegt, in der zweiten allerdings auch die chemischen Arbeiten
aber nur bis zum März 1887, während nachträglich, namentlich die Versuche
und Erfahrungen über Beseitigung des Blei-Gehalts aus dem Leitungswasser
erst zum Abschluss kamen.
In dem ersten Abschnitt behandelt Verfasser Ausbreitung und Anlass
der Blei-Vergiftungen. Im Juli und August 1886 waren mehrere Personen
von leichtem Unwohlsein ergriffen, welches zwar mit den Symptomen einer
leichten Blei-Vergiftung zu vereinen, aber nicht sicher gestellt war. Bei
zwei Fabrikarbeitern, die Anfang August erkrankten, konstatirte jedoch
Herr Medicin.-Rath Dr. Richter Blei-Vergiftung. Alle Nachforschungen
betr. Fabrikthätigkeit, Anstrichfarben und Geräthe bez. einer Blei-Ver¬
giftung ergaben ein negatives Resultat, und als bald in zwei Häusern
bei mehreren den verschiedensten Gewerbszweigen angehörigen Personen
und auch sonst in der Stadt unter auf Bl ei-Vergiftung hinweisenden Symp¬
tomen Erkrankungen vorkamen, wurde der Arzt zu der Vermuthung ge¬
drängt, dass das Leitungswasser als solches oder in der Form von Füllbier
der Anlass der Erkrankungen sei.
Die Untersuchung des Wassers der Leitung verschiedener Entnahme¬
stellen ergab dann auch mit Sicherheit das Vorhandensein von Blei in ver¬
schiedenen Mengen.
In der Zeit vom September 1886 bis Januar 1887 waren 54 Personen
männlichen und 38 weiblichen Geschlechts, zusammen 92 Personen als an
Blei-Vergiftung erkrankt gemeldet, und mindestens die doppelte Zahl soll
an den Folgen von Blei-Aufnahme gelitten haben, ohne von ausgesprochener
Bleikolik befallen gewesen zu sein. Die meisten Erkrankten gehörten dem
Arbeiterstande an, aber auch andere Kreise zählten mit dazu; auf 27
Strassen und 67 Häusern waren ausgeprägte Blei-Erkrankungen vertheilt.
Man nahm eine Untersuchung der verschiedensten Nahrungsmittel, Mehl^
Zucker, Brot, Kaffee, Gonditorwaaren auf Blei vor, und auf eine Zeitungsnach¬
richt, dass in New-York Massen-Blei-Vergiftungen durch mit Bleichromat ge¬
färbte Fadennudeln vorgekommen seien, sind 40 Sorten der letzteren in dieser
Richtung untersucht. Alle diese Stoffe erwiesen sich als bleifrei, nur ein
Mineralwasser war bleihaltig, aber verdankte dem benutzten Leitungswasser
den Gehalt.
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115
Die Nachforschungen hatten ergeben, dass von den Erkrankten 59
Personen ihren Durst mit Fällbier — ein in einer Flasche aufbewahrtes
Gemisch von 1 Theil dickem Bier und 2—3 Theilen Wasser — gestillt
hatten. Verfasser gibt (p. 8) das von ihm befolgte Verfahren der Unter¬
suchung der Biere auf Blei an. Von 5 Brauereien war nur das Bier von
2 Brauereien bleihaltig, und die Untersuchung des in den Brauereien
benutzten Wassers ergab, dass zu den beiden bleihaltigen Bieren das
Leitungswasser gedient hatte, was von da ab unterblieb. Da das Reinigen
der Flaschen mit Schrot, nur in einigen der 59 Fällen geschah, konnte
dieser Umstand auch nicht allein mitsprechen, dagegen war fast ausschliess¬
lich das Füllbier mit Leitungswasser bereitet.
Nach diesen gründlichen Nachforschungen konnten somit die Ursachen
der Blei-Vergiftungen nur am Blei-Gehalt des Leitungswassers liegen.
Die Menge des im Wasser enthaltenen Bleis war naturgemäss grossen
Schwankungen unterworfen.
Am 4.-5. September sind in der der Leitung des Laboratoriums
entnommenen Probe gewichtsanalytisch 2.89 mg Blei = 3,11 mg Bleioxyd
pr.^Ltr. gefunden, von September bis November 1886 wurden an derselben
Entnahmestelle gefunden pr. Ltr. Wasser:
2,78 3,76 2,58 3,12 2,34 mg Blei
2,99 4,05 2,78 3,36 2,52 mg Bleioxyd.
Später sind colorimetrische Prüfungen — in mit einem Tropfen Essig¬
säure versetzten Wasser mit Schwefelwasserstoff in gleich hoher Flüssig¬
keits-Schicht — an den verschiedensten Entnahmestellen der Stadt ausge¬
führt und zwar in verschiedenen Stockwerken und nach verschiedener
Ablaufzeit, was ja beides von besonderem Einfluss auf die Blei-Aufnahme
sein musste. Von den vielen Beispielen seien hier nur einige angeführt:
Probe entnommen in einem Garten (lange
Leitung) o abgeflossen. 11,60 mg Bleioxyd pr. Ltr.
Probe entnommen an einer anderen Stelle
(Wohnung leer). 8,70 mg „ „ „
in anderen Fällen nur.0,15—1,75 mg „ „ „
Also sehr wechselnde Mengen. Nur die beim ersten Ablassen erhal¬
tenen Resultate berücksichtigt, ergibt sich pr. Ltr. ein durchschnittlicher
Blei-Gehalt von 4,463 mg Bleioxyd.
Der zweite Abschnitt bespricht die Versuche zur Ermittelung der Ur¬
sachen des Blei-Gehalts des Leitungswassers. Verfasser führt aus, dass die
meisten mit Wasserleitung versehenen Städte für die Zuleitung von den
Strassen nach den Häusern Bleirohre in genau dergleichen Weise wie in
Dessau verwenden, ohne dass sich besprochene Uebelstände da zeigen.
Das Wasser auf der Pumpstation entnommen, zeigte sich vollkommen
bleifrei. An der Blei-Aufnahme könne somit nur Schuld sein:
a) die Zusammensetzung des Bleirohrmaterials,
b) besondere Witterungsverhältnisse,
c) galvanische Einwirkungen oder
d) die Zusammensetzung des Wassers.
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Die Untersuchungen bez. a—c ergaben keinen Anhalt dafür, diesen
Umständen eine Schuld an den Blei-Aufnahmen zuzuschreiben. Von den
im Original zu ersehenden Angaben über diese Fragen sei nur eine Stelle
bez. des Rohmaterials erwähnt. Verfasser sagt: „Während also Eisen und
Zink die Blei-Aufnahme sehr stark vermindern, ja ganz aufheben können
und auch Messing die Blei-Aufnahme verringert, wird dieselbe bei Gegen¬
wart von Zinn beträchtlich gesteigert. Es liegt in diesem Verhalten eine
erhebliche Gefahr für die Verwendung von verzinnten Bleirohren bezw.
Zinnrohren mit Bleimantel, denn wenn an irgend einer Stelle in solchem
Rohre das Wasser Zutritt zum Blei erhält, wird die bis dahin vermiedene
Blei-Aufnahme (was ja auch von verschiedenen Seiten beobachtet worden
ist) weit stärker noch eintreten, als wenn „ungeschütztes“ Bleirohr ver¬
wandt worden wäre“.
Da alle diese Nachforschungen bez. a—c ohne positive Resultate waren,
und die Erfahrung zeigt, dass derartige Blei-Vergiftungen des Leitungs-
wassere sehr selten Vorkommen, so drängte es zu der Annahme, dass die
Ursachen der Blei-Aufnahme der Beschaffenheit des Wassers selbst zuzu¬
schreiben sei.
Bei den vielseitigen Versuchen hatte sich ergeben, dass Luft ungemein
fördernd auf die Blei-Aufnahme wirke, und man war geneigt, dem Luft-
Gehalte die Schuld zuzuschreiben, zumal in der Literatur diese Erklärung
vielfache Bestätigung fand. Auch war das Wasser in den Bleirohren wirk¬
lich lufthaltig, da im Sommer 1886 bei sehr starkem Konsum die Zuführung
des Wassers in einzelnen Stadttheilen so ungenügend war, dass in einer
ganzen Reihe von Häusern schon in den Mittel-, noch mehr in den oberen
Wohnungen die Leitungen wochenlang tagsüber leer standen. Auch be¬
weisen über den Einfluss des Luftzutritts ausgeführte ehern. Untersuchungen,
dass das Wasser an der Pumpstation um so reichlicher Blei aufnahm, je
grösser der Luftzutritt war. Verfasser kommt zu dem Schluss, dass der
Luftgehalt zwar fördernd für die Blei-Aufnahme sei, aber hier nicht
als eigentliche Ursache betrachtet werden könne. Auch die Anschauung,
dass der Grund in der allzu grossen Reinheit, d. h. der geringen Härte
des Wassers läge, war nicht stichhaltig.
Das Wasser enthielt pr. 100,000 nur 7,0—9,5 Rückstand, und die
Härte betrug nur 2,5—2,8 0 (deutsch). Die Beobachtung, dass durch Dige-
riren mit fein pulverisirtem Kalkstein (kohlens. Kalk) sich die Härte auf 5—6 0
erhöhen Hesse, und dann kein Blei mehr löste, schien diese Ansicht zu be¬
stätigen. Später aber stellte sich heraus, dass nicht die grössere Härte,
sondern der Umstand, dass die freie Kohlensäure durch Bildung von Bicar-
bonat fortgenommen war, die Blei-Aufnahme verhütete.
Das Muldewasser hatte bei annähernd gleicher Zusammensetzung nie¬
mals eine grössere Härte aber oft eine geringere (1,8—2,5°) und löste Blei
nicht oder nur in kaum nachweisbaren Spuren. Verfasser fand nun, dass
das Muldewasser freie Kohlensäure fast nie oder höchstens in Spuren, oft
sogar nicht einmal halbgebundene Kohlensäure enthielt. Das Leitungswasser
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ist als „naturfiltrirtes“ Muldewasser zu betrachten, und nicht der Unter¬
schied in der Härte, sondern der in der freien Kohlensäure musste hier als
besonders beachtenswerth erscheinen. Während das Muldewasser freie
Kohlensäure meist gar nicht und halbgebundene Kohlensäure oft auch nicht
enthielt, waren im Leitungswasser 5,4—9,3 Theile freie und halbgebundene
Kohlensäure pr. 100,000 Theilen enthalten, wovon sich aus dem Kalk-
Gehalt der grösste Theil als freie Kohlensäure berechnet. (Verfasser be¬
spricht hier noch Kohlensäure-Bestimmung durch Titration mittels Rosol-
säure als Indicator und durch Digeriren mit kohlensaurem Kalk [p. 23].)
Diese eingehenden Versuche führten den Verfasser zu dem Schluss,
dass die Beschaffenheit des Wassers und zwar der Kohlensäure-Gehalt des¬
selben die Ursache der Blei-Aufnahme bilde.
Der dritte Abschnitt handelt von den Versuchen zur Beseitigung des
Bleigehaltes des Wassers.
Das einfachste Mittel zur Beseitigung wäre das Ablaufen-lassen eines
genügenden Quantums; aber wie zu erwarten war, konnte damit Sicheres
keineswegs erzielt werden, bei der ungleichen Länge der Blei-Verbindungen
muss die Wirkung eine ganz verschiedene sein. Die Versuche zur Abhülfe
erstreckten sich im Wesentlichen auf:
a) Abscheidung des Bleis aus bleihaltigem Wasser,
b) Ersatz der Bleirohre durch anderes Rohrmaterial,
c) Erzielung schützender Schichten auf den inneren Rohrwandungen
der Bleirohre.
Verfasser bespricht die Abscheidung des Bleies a) durch Kochen, b) durch
Filtriren mit den verschiedensten Filtrir-Materialien, welch letzteres zum
Theil recht günstige Resultate, aber nicht dauernd ergab; ferner den Ersatz
der Bleirohre durch a) eiserne Rohre, b) verzinkte (galvanisirte), c) ge¬
schwefelte Bleirohre, d) Zinnrohre mit Bleimantel. Dann folgen Versuche
zur Erzielung ein&r schützenden Schicht auf den inneren Rohrwandungen
der Bleirohre. Behandeln der Rohrleitung mit Schwefelnatrium-Lösung
ergaben wenig befriedigende Resultate. Andere Versuche bezweckten durch
Zusätze zu dem Wasser auf den Rohrwandungen eine schützende Schicht
zu bilden. Laboratoriums-Versuche mit Natriumphosphat, Natriumsulfat
und Natriumchlorid waren von wenig Erfolg. Im grossen Massstabe sind
dann mit Gyps-Zusatz Versuche angestellt. Ein Versuch im Kleinen hatte
zwar die Wirkung von Gyps (irrthümlich) ergeben, es stellte sich jedoch
heraus, dass dieser Gyps kohlens. Kalk enthielt, und nachdem die Ursache
des Bleiangriffs in dem Gehalte des Wassers an freier Kohlensäure erkannt,
war es erklärlich, dass dem beigemischten Kalk als Kohlensäure bindend
und nicht dem Gyps selbst die Wirkung zuzuschreiben sei; auch war die
Wirkungslosigkeit des Gypses erklärt, da dieser Kohlensäure nicht binden
kann. Während bei Huddersfielder bezw. Schef fielder Leitungs wasser 0,5 gr
Kieselsäure pr. Gallon Wasser die Bleilösung gänzlich verhinderte (Angabe
von Grookes, Odling und Tidy), ergaben dem Verfasser diese Versuche
mit ausgefällter reiner Kieselsäure in verschiedenen Mengen keine Wirkung.
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Die Ansicht, dass die grössere Härte des Wassers die Bleilösung ver¬
hinderte, gaben zu Versuchen Anlass, welche feststellen sollten, welche
Härte man einem Wasser durch kohlens. Kalk ertheilen könne, und aus
diesen Versuchen ergab sich die Grundlage für die Beseitigung eines Blei¬
angriffs, aber wie erwähnt, nicht in Folge des erhöhten Kalk : Gehaltes,
sondern der Bindung, des Unschädlichmachens der freien
Kohlensäure.
Der vierte Abschnitt gibt die Beseitigung des Bleiangriffe durch Leitungs¬
wasser.
Zur Bekämpfung des Uebels war man durch die gewonnenen Erfah¬
rungen verwiesen auf a) Beseitigung des anormalen Luftgehaltes des
Wassers, b) Beseitigung der im Wasser enthaltenen freien Kohlensäure.
Um den Luft-Gehalt des Wassers zu verringern, schienen folgende
Massregeln als angezeigt:
1) die Wasserversorgung der Stadt sollte so eingerichtet werden, dass
in Zukunft das Wasser, bevor es in das Rohrnetz eintrat, den Hoch¬
behälter auf dem Wasserthurme durchlaufen musste;
2) um dem Wassermangel und theilweisen Leerstehen der Bleirohre
in einzelnen Stadttheilen entgegen zu wirken, sollte in das Ver¬
theilungsrohmetz ein zweites Hauptrohr eingeschaltet werden.
Nachdem diese Massregeln im November und December 1886 ausge¬
führt, verwies die Untersuchung am 27. Januar 1887 (wenn auch die Unter¬
suchungen von vielen Zufälligkeiten beeinflusst waren) im Durchschnitt den
Bleigehalt um mehr als die Hälfte verringert.
Da die Versuche mit Sicherheit ergeben hatten, dass die freie Kohlen¬
säure die wahre Ursache des Bleiangriffs sei und dass die Kohlensäure
durch kohlensauren Kalk vollständig zu beseitigen war, ging man zu diesem
Verfahren über. Das Einhängen des Pulvers von kohlensaurem Kalk in
Säcken erwies sich als unzweckmässig. Ein Arbeiter streute daher mittels
einer Streubüchse alle 10 Min. 3 kg Kalksteinpulver in den Quellschacht.
Später verringerte sich der Gehalt des Wassers an freier Kohlensäure und
Verfasser schlug vor. nicht mehr als 70 g gepulverten Kalkstein pr. cbm
gepumpten Wassers zuzusetzen, um vorgekommene Trübung des Wassers
zu verhindern. Dass das Uebel durch den Zusatz von kohlensaurem Kalk
an der Wurzel angefasst war, ergaben die im April und Juni angestellten
Untersuchungen. Der durchschnittliche Blei-Gehalt bei 0 Min. Ablaufs¬
zeit war:
vor der Verminderung vor der Behandlung nach der Behandlung
des Luft-Gehaltes mit kohlens. Kalk ' N
am 8./9. 1886 am 27./1. 1887 21./4. 1887 27./6. 1887
4,463 2,181 0.243 0,037
mg Bleioxyd pr. Liter.
In der Meinung, dass ein durch Kalkstein-Stücken umhüllter Sammel¬
strang das Uebel beseitige, wurde ein solcher Strang angelegt in einer Länge
von 130 m aus durchlochten Rohren von 4 cm D., und erhielt pr. laufen-
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den m 30 Ctr. Kalkstein-Umhüllung. Die Wirksamkeit dieser Einrichtung
entsprach jedoch in keiner Weise den gehegten Erwartungen, wie die Unter¬
suchungen zeigten.
Seit Anfang September 1887 war das Einschütten von Kalkstein-Pulver
eingestellt in der Hoffnung auf die Wirksamkeit des Sammelstrangs und
bei der Annahme, dass schon eine schützende Schicht in den Rohren
entstanden sei. Am 13. und 14. December 1887 vorgenommenen Prüfungen
ergaben indessen eine Zunahme des Bleigehaltes, der durchschnittlich bei
0 Min. Ablaufzeit zu 0,471 mg Bleioxyd pr. Liter wieder gestiegen war.
Nach diesen Erfahrungen wurde dann das Kalkstein-Pulver und zwar mög¬
lichst reiner kohlensaurer Kalk wieder zugegeben, und wie die Kontrole
zeigte, mit so gutem Erfolge, dass das Blei aus dem Wasser der Leitung
des Laboratoriums vollständig verschwunden war. Zeigte sich aber eine
Spur Blei und damit etwas freie Kohlensäure, so beseitigte eine etwas
stärkere Kalkstein-Zufuhr den Fehler rasch.
Laboratoriums-Versuche zeigten dem Verfasser, dass hier gepulverter
Magnesit und Dolomit die Kohlensäure weit langsamer binden als kohlen¬
saurer Kalk (auch aus anderem Grunde dürfte man dem Wasser lieber
Kalk als Magnesia zusetzen. Ref.)
Die gleichmässige und sichere Zuführung des Kalkstein-Pulvers hing
bisher von der Zuverlässigkeit des Arbeiters ab. Verfasser beschreibt den
von ihm konstruirten und seit März 1888 zur vollsten Zufriedenheit im
Betriebe befindlichen Apparat zur selbsttätigen Zuführung des Kalkspath-
Pulvers, der je nach der Tourenzahl einer Walze, welche in Einschnitten
das Pulver aufnimmt, verschiedene Mengen davon dem Wasser zuführt.
Dr. Knublauch.
Dr. Anton Heyroth, Ueber den Reinlichkeitsznst&nd des natürlichen und
künstlichen Eises, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Beichs-Gesundheits-
amte. Vierter Band. 1888.
Die in H.’s Bericht mitgetheilten Untersuchungen, welche bereits im
Frühjahr 1885 begonnen wurden, befassen sich mit der chemischen und
bakteriologischen Prüfung von Eissorten, welche zum Theil direct von den
zur Kundschaft fahrenden Wagen der Eishändler entnommen wurden und
fast sämmtliche Berliner Eishandlungen betrafen. Sie wurden nach der im
Reichs-Gesundheitsamte üblichen Methode der Trinkwasser-Analyse ausgeführt
1. Natur-Eis.
Die chemische Analyse des seiner äusseren Beschaffenheit nach
für tadellos erachteten Natur-Eises ergab im Einklänge mit den bisherigen
Erfahrungen eine Vermindernng des Salzgehaltes beim Frieren,
indem die Rückstandsmengen wenig mehr als */*• desjenigen Gehaltes
an festen Bestandteilen ausmachten, den man in dem Wasser der Spree und
der um Berlin gelegenen Seen anzutreffen pflegt. Die Verminderung betraf
vor Allem die unorganischen Wasserbestandtheile, während die durch die
Oxydirbarkeit sich ausdrückenden organischen Substanzen, gleichwie der
Ammoniakgehalt, sich an ihr weniger betheiligte. Bezüglich dieses, auch von
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anderen Beobachtern erwähnten stärkeren Auftretens organischer Stoffe im Eise
neigt Verf. dem Standpunkte von Nichols und Hills zu, welche annehmen,
dass auch das Wasser im Winter reicher an organischen Stoffen sei als im
Sommer. Verantwortlich für die Erhöhung der Oxydirbarkeit ist auch
der Umstand, dass die im Schlamm mancher Gewässer sich' bildenden
Fäulnissgase schon durch die erstentstandene dünne Eisdecke am Austreten
verhindert werden.
Der bisweilen constatirte gänzliche Mangel des Eises an Chloriden ver-
anlasste Versuche über die Beziehungen der Salzmengen im Eise zu dem
Salzgehalt des zu seiner Herstellung benutzten Wassers. Es ergab sich,
dass irrt Allgemeinen der Salzgehalt (Kochsalz) des Eises mit der Menge
des vor dem Gefrieren im Wasser enthaltenen Salzes zu- und abnimmt,
ohne aber zu letzterem in einem constanten Verhältniss zu stehen.
Bedingungen wie bei den Experimenten Robinets, welcher je nach den
äusseren Umständen den Salzgehalt des Eises beim Gefrieren eines und des¬
selben Wassers sehr ungleich ausfallen sah, schienen bei Verf.’s Versuchs-
Anordnung nicht vorzuliegen, da es ihm auch aus sehr schwachen Koch¬
salzlösungen nicht gelang ein salzfreies Eis herzustellen; vielleicht weil bei
den von H. angewandten Kältemischungen die Eisbildung eine beschleunigte
war, und weil in den offenen Wasserläufen der Natur die Menge des dort
gebildeten Eises im Verhältniss zu der Wassermasse eine sehr kleine ist.
Weitere Versuche Hessen erkennen, dass c. p. der Salzgehalt des Eises
mit der Menge des Eises wuchs; dies jedoch nur bei geringem Salzgehalt,
während bei stärkerer Concentration (1 °/o) die Eismenge den Salzgehalt
des Eises nicht beeinflusste. Ammoniak friert weit leichter ein als Koch¬
salz, kann sich sogar im Eise anhäufen. Die diesbezüglich mit verdünntem
Ham gewonnenen Resultate stimmten überein mit den Versuchsergebnissen
Pengra’s für Harnstoff, Traubenzucker und Eiweiss.
Die bakteriologische Untersuchung ergab auch für Eisproben
gleicher Herkunft in hohem Masse abweichende Keimzahlen, und wurden
die hohen Keimzahlen besonders bei Proben angetroffen, welche sich durch
hohen Glühverlust und grosse Oxydirbarkeit auszeichneten. Gelatine-Rein -
Gulturen von dreissig Arten, welche Verf. in Kältemischungen gefrieren
Hess, blieben trotz Temperaturen von — 10 0 grösstentheils entwicklungs¬
fähig.
Verf. bespricht die in den letzten Jahren erschienenen diesbezüglichen
Arbeiten und kommt auch seinerseits zu der Annahme, dass die Mikro¬
organismen, auch die pathogenen, darunter Milzbrandbacillen sowie
Eitercoccen (auch Erysipelcoccen), den natürlichen Gefrierungsprocess
und selbst längeres Aufbewahren in gefrorenem Zustande bezw. ohne
Verlust ihrer Virulenz überleben können.
II. Künstliches Eis.
Das vom Verf. untersuchte Kunst-Eis stammte aus zwei Fabriken. Es
erschien durch zahllose Luftbläsclien undurchsichtig, milchig, manchmal mit
Eisenrost, Sandkörnern etc. verunreinigt und gelbgefärbt. Glühverlust,
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121
Oxy dirbarkeit, Chloride und Ammoniak wiesen höhere
Zahlen auf als beim Natur-Eis. Schuld daran ist in erster Linie
die Unmöglichkeit, zur Eisbereitung ausschliesslich Condenswasser zu ver-
werthen, wie solches zur Cristalleisfabrikation unentbehrlich ist. Eis, aus
Brunnenwasser hergestellt, ergab weit höhere Werthe für Glühverlust,
Oxydirbarkeit und Chlor als das zu seiner Gewinnung benutzte Wasser.
Diese Befunde, die anerkannte Möglichkeit der Herstellung völlig reinen
Eises, sowie das Schwanken des Bakteriengehaltes im Kunst-Eise zwischen
sehr weiten Grenzen sprechen gegen die vielfach verbreitete Ansicht,
dass die Kunst-Eisfabrikation unbedingt der Natur-Eis-
production vorzuziehen sei.
Für die Frage, welches Wasser zur Eisbereitung geeignet
sei, gelten dieselben Gesichtspunkte wie für die Wahl des Wassers zur
Wasserversorgung. Bringt der Gebrauch des Eises dieses in unmittelbare
Berührung mit Nahrungs- oder Genussmitteln oder mit Speisegeräthen, so
muss es eben so rein sein wie Trinkwasser. Auf Grund des Untergangs
zahlreicher Bakterien beim Gefrieren ( T /io bis */io) ist der Befund im Eise
durch Rechnung zu corrigiren, um daraus auf das benutzte Wasser
schliessen zu können. Neben der Zahl ist aber auch die Art der
Keime zu bestimmen und dieser Bestimmung der Hauptwerth
beizumessen. Eingehendste Berücksichtigung verdient sodann die Herkunft
des Wassers.
Schliesslich stellt Verf. folgende Forderungen auf:
1. Das zur Conservirung der Nahrungsmittel und zur
Kühlung der Getränke in den Handel gebrachte Eis
darf, gleichviel ob durch den natürlichen Gefrier-
process entstanden oder auf künstlichem Wege her¬
gestellt, nur solchen Wässern entstammen, deren Rein¬
lichkeitszustand zuvor festgestellt ist und mindestens
denjenigen der natürlichen, zur Wasserversorgung ge-
' eigneten Fluss- und Binnenwässer erreichen muss.
2. Behufs fortlaufender Controle der Beschaffenheit sind
die Eissorten des Handels einer periodisch wieder¬
kehrenden Untersuchung zu unterwerfen.
Flatten.
Dr. Leut, Die Cholera-Epidemien der Stadt Köln: Köln, Festschrift, heraus-
gegeben von Dr. Lent, Köln, 1888, S. 144 ff.
Verf. hat mehrmals in früheren Abhandlungen Cholera-Epidemien des
westlichen Deutschlands, im besondern auch von Köln beschrieben; wir
nennen hier eine Abhandlung aus der Zeitschrift für Epidemiologie und
öffentliche Gesundheitspflege, 1868, Nr. 3, über eine kleine Epidemie, die
im Kreise Höxter im Jahre 1868 herrschte; ferner den Bericht über die
zweite Cholera-Epidemie des Jahres 1867 in Köln, Köln, 1868, M. DuMont-
Schauberg. In gegenwärtiger Arbeit gibt der Verf. folgende Übersicht über
das Auftreten der Cholera in Köln:
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 9
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122 —
Jahr j
Dauer der
Epidemie
Zahl der
1 Erkran-
j kungen
Zahl der
Gestor¬
benen
Von
100 E
t
Zahl
der Ein¬
wohner
Von 100
E. er¬
krankt.
Von
100 E.
starben
1832
Oktober
1
1
_
!
_
1848
Oktober
einige eingeschleppte Fäll
le
—
—
1849 ! 25. Juni bis 18. Nov.
2761
1274
46,14
85442
3,23 1
1,49
1854
22. Aug. bis 3. Sept.
2
2
—
—
—
,
1855
3. Sept. bis 2. Okt.
13
13
—
_
_
—
1859
9. Sept. bis 7. Nov.
7
7
—
—
—
1 —
1865
24. bis 25. Okt.
1
1
—
—
—
—
1866
26. April resp. 16. Juli
bis 25. Dec.
! 467
257
55,032
123188
0,379
0,208
1867 ;
a) 17. Jan.bis20.M8rz 149
95
63,75
| 123033
0,121
0,077
1867
l>)2. Juni bis 31. OkL
1 1034
506 |
48,93
123033
i
0,840
0,411
Die Arbeit enthält ferner u. a. eine Zusammenstellung der Cholera-
Todesfälle in den einzelnen Regierungsbezirken des preussischen Staates in
dem Zeitraum vom Jahre 1831 bis auf die neueste Zeit. Aus dieser geht
hervor, dass in Preussen die meisten Opfer forderte das Epidemiejahr 1866
(es starben i. 1866 an Cholera 114,776 Personen); es folgen die Jahre 1849,
1852, 1831, 1855, 1873, 1848, 1850, 1837, 1832, 1853, 1867, 1857, 1859.
1854, 1871, 1851, 1856, 1858, 1872, 1868, 1860 (mit 15 Todesfällen in
Königsberg). In der Rheinprovinz und Westfalen trat die Cholera zuletzt
i. J. 1868 auf. Die grösste Cholera-Epidemie der Stadt Köln war die des
Jahres 1849. Eine Tafel der vorliegenden Arbeit gibt eine Übersicht über
die örtliche Verteilung der Erkrankungen (1849) in der Stadt Köln; eine
andere enthält eine graphische Darstellung der Zahl der täglichen Er¬
krankungsfalle in den Epidemien der Jahre 1849, 1866, 1867. Eine dritte
Tafel lehrt die Verteilung der Krankheitsfälle aus den Jahren 1866 und
1867 in der Stadt Köln. Die Tafeln lehren, dass es bestimmte Strassen
und Reviere sind, in denen die Cholera Fuss fasste. So konnte man nach
dem Verf. in der letzten Epidemie in der Stadt 12 * Choleraterrains * be¬
zeichnen, auf welchen die grosse Mehrzahl aller Fälle sich ereignete
(894 Erkrankungen mit 452 Todesfällen); von den letzteren kamen 500 Er¬
krankungen in dem wichtigsten Choleraterrain der Stadt, Unter Krahnen-
bäumen, vor. Von den bei dieser letzten Epidemie befallenen 533 Häusern
waren 171 auch schon in früheren Epidemien heimgesucht; diese 171 Häuser
weisen aus den drei Jahren 1849, 1866, 1867 im ganzen 937 Cholerafälle
auf! Genauere Einzelheiten finden sich in der oben angezogenen Unter¬
suchung des Verf.’s. Hier sei noch angefügt, dass die Cholerafälle in einem
Hause sich nicht etwa gleichmässig auf alle Familien verteilen; von den
2255 Familien, welche in den 533 Cholerahäusern wohnten, hatten nur
768 von Gholerafallen zu leiden. Dr. Lent’s Untersuchungen über den
Einfluss der Abtrittsanlagen der Häuser, der in den Strassen liegenden
Kanäle, über den Einfluss des Trinkwassers und der meteorologischen
Verhältnisse auf die Häufung der Cholera hatten ein negatives Ergebnis.
W.
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123 —
Zimmermann, Vorsteher des statistischen Büreaus der Stadt Köln, Die Be*
völkerung der Stadt Köln, die Bewegung derselben, die Sterblichkeits*
Verhältnisse, Epidemien. Festschrift Köln, berausgegeben von Dr. Lent,
1888, S. 115 ff.
Unter den Einzelaufsätzen der von uns schon angekündigten Festschrift
Köln *) dürfte die von Herrn Zimmermann gegebene statistische Übersicht
für viele unserer Leser ein besonderes Interesse bieten. Wir glauben des¬
halb die wichtigsten Angaben hier wiederholen zu sollen.
Köln hatte angeblich Ende 1794 eine Givil-Bevölkerung von 44,512 Köpfen.
Unter preussischer Regierung fanden vom Jahre 1816 ab regelmässige
Volkszählungen statt, deren Ergebnisse hinsichtlich der Givilbevölkerung
folgende gewesen sind:
Jahr
Einwohner
Jahr
Einwohner’
Jahr
Einwohner
1816
46,378
1840
70,999
1864
116,995
1819
51,202
1843
78,513
1867
119.449
1822
52.816
1846
85,442
1871
123,993
1825
55,073
1849
88.356
1875
130,142
1828
57.297
1852
96,576
1880
139,195
1831
59,873
1855
100,468
1885
155,647
1834
62,181
1858
108,680
1837
66,179
1861
113,081
Seit dem Jahre 1881 hat eine besonders starke Zunahme der Be¬
völkerung stattgefunden; es zeigt sich hierin die Wirkung der Stadterweite¬
rung; diese Verhältnisse stellt die nachfolgende Übersicht dar:
Jahr
Mittlere Civil-
Zunahme derselben
bevölkerung
absolut
in Prozenten
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
138.780
140,211
142,147
144,506
147,880
153,083
158,551
164.735
ca. 171,200
1431
1936
2359
3374
5203
5468
6184
6465
1,03
1,38
1 66
2.33
3,52
3,57
3,90
3,92
Die jüngsten Zunahmen übersteigen alle früheren bis auf 1817 zurück.
„Die einst so mächtige Reichs- und Hansastadt Köln ist in neuem Auf¬
blühen begriffen, den Rang der Metropole der Rheinprovinz trotz der jahre¬
langen Einschränkung durch die Umwallung fest wahrend.“ Seit dem
Anfang des Jahrhunderts bis 1885 wuchs die Bevölkerung der Rheinprovinz
um 132.22 */o, die des Regierungsbezirks Köln um 130,08 °/®, die der Stadt
Köln um 235,61 %.
Was die Zusammensetzung der Bevölkerung der Stadt nach dem
Religionsbekenntnisse betrifft, so führte die letzte Volkszählung für
Civivil und Militär zu folgenden Zahlen; es gab:
1) Siehe dieses Centralblatt, 1888, Heft 11/12, S. 458.
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124 —
Katholiken 80,99 */•
Evangelische 15,65 *
Israeliten 3,29 „
Sonstige 0,07 „
100 .
Hinsichtlich des Geschlechts und der Alters-Hauptgruppen ergab die
Zählung vom 1. Dezember 1885 nachstehende Verteilung:
Alter
Geschlecht
bis zu 6 Jahren
über
6--14 Jahre
über 14 Jahre
In Summe
absolut |in Proz.
absolut
in Proz.
absolut
in Proz.
absolut
in Proz.
Männliche
Personen
Weibliche
10,447
50.39
12,106
49,74
56,540
48,60
79,093
49.00
Personen
10,284
49,61
12,231
50,26
59,793
51,40
82,308
51,00
in Summe
20,731
100,00 ,
24,337
100.00
116,333
100,00
161,401
100,00
in Prozenten
12,84
15,08
72,08
100,00
Die Veränderungen, welche im Laufe des Jahrhunderts in der Zahl
der Totgeburten, der unehelichen Geburten u. s. w. eingetreten, sind mit
Vorsicht zu beurteilen, da teilweise Veränderungen in der Zählungsart
vorkamen. Die Zahl der Geburten betrug in den Jahren 1878 bis 1887
zusammen 58,448, darunter waren unehelich 6980 = 11,49 °/o. Unter diesen
entstammten aber ortsfremden Müttern 2458 uneheliche Kinder = 4,21 •/•
aller Geborenen; von kölnischen Frauen werden also 7,73 % uneheliche
Kinder geboren; Knabengeburten waren (wie überall) stets häufiger als
Mädchengeburten; auf 100 weibliche Geborene kamen von 1816—1887
in zehnjährigen Zeiträumen 103—108, durchschnittlich 104,8 Knaben.
Die Geburts-, die Sterbeziffer, die natürliche Zunahme sowie die ver¬
hältnismässige Zahl der Eheschliessungen ergeben sich aus folgender Tafel:
Auf 1000 Köpfe der
Anfangsbevölkerung
Jahr
kommen
pro Jahr:
Geborene
Gestorbene
natürliche
Zunahme
Ehe¬
schliessungen
1878
41,64
26,05
15,59
16,65
1879
39,93
27,79
12,14
16,79
1880
39,50
30,82
8,68
17,16
1881
39,23
28,23
11,00
17,88
1882
38,63
29,35
9,28
18,24
1883
38,25
27.85
10,40
18,84
1884
38,86
27,69
11,17
19,36
1885
38,59
28,52
10,07
19.78
1886
37,52
28,48
9,04
21,53
1887
37,99
27,53
10,46
20,92
Zusammen
38,96
28,23
10,73
18,80
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125
Der Rückgang in der verhältnismässigen Zahl der Geburten und der Todes¬
fälle ist übrigens sehr wahrscheinlich lediglich dadurch zu erklären, dass in den
letzten Jahren ein erhöhter Zuzug jugendlicher Personen stattgefunden hat.
Über den täglichen Durchschnitt erhebt sich in den letzten 3 Jahren
die Zahl der Geburten regelmässig im März, unter demselben bleibt sie
regelmässig im Oktober. Die Sterbefälle erreichen immer in den Sommer¬
monaten (Juli, September, August) ihre Höhepunkte; es ist dies die Folge
der hohen sommerlichen Kindersterblichkeit, zu welcher insonderheit Ver¬
dauungskrankheiten die Veranlassung geben.
Die hauptsächlichsten Todesursachen haben an der Gesamtsterblichkeit
in den letzten Jahren folgenden prozentualen Anteil:
Krankheiten der Atmungsorgane . . . 25,98—28,01
(darunter Lungenschwindsucht . . . 13,28—14,15)
Krankheiten der Verdauungsorgane . . 16,26—16,56
(insbesondere Kinder bis zu 5 J. . . 12,22—12,89)
Angeborene Lebensschwäche und Atrophie
der Kinder.8,56—9,90
Masern, Scharlach, Diphtherie und Group
und Keuchhusten.7,24—9,47
Kinderkrämpfe.6,94—7,06
Hirnhautentzündung.4,82—5,46
Altersschwäche.2,88—3,16
Gewaltsamer Tod.2,09—2,77
u. s. w.
Für die im ersten Lebensjahre verstorbenen Kinder insbesondere sind
die entsprechenden Zahlen:
1887
Angeborene Lebensschwäche und Atrophie . . 23,28
Krämpfe. 16,72
Brechdurchfall.16,20
Magendarmkatarrh.13,97
Entzündung der Atemorgane und des Brustfells . 7,54
Himentzündung.5,11
Masern, Scharlach u. s. w.5,31
Sonstige Todesursachen.. . . 11,87
100,00
Ausführliche Tafeln der wertvollen Zimmermann'schen Arbeit geben Auf¬
schluss über die Geborenen, Gestorbenen, die Eheschliessungen während der
Jahre 1816—1887; die Geborenen, Gestorbenen. Eheschliessungen nach den
Monaten in den Jahren 1885, 1886, 1887; die während der Jahre 1885
bis 1887 innerhalb der einzelnen Monate durchschnittlich täglich eingetre¬
tenen Geburtsfalle, Sterbefälle und Eheschliessungen; die Gestorbenen der
Jahre 1885 bis 1887 nach dem Sterbemonat und dem Alter, nach dem
Sterbemonat und der Todesursache, sowie die Gestorbenen der Jahre 1885
bis 1887 nach dem Alter und der Todesursache. W.
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126
Th. Kyll, Chemiker, Die Controle der Nahrungsmittel und Gebrauchsgegen-.
stände: Festschrift Köln, herausgegeben von Dr. Lent, Köln, 1888, S. 526 ff.
Bis zum Jahre 1877 ging auch in Köln die Prüfung der Nahrungs¬
mittel nur ganz ausnahmsweise über den Rahmen derjenigen Massregeln
hinaus, die als Pflichten der Marktpolizei zu betrachten waren, d. h. es
wurde namentlich auf Verfälschungen der Milch gefahndet, auf die Ver¬
nichtung unreifen Obstes, kranken Fleisches u. s. w. gesehen. Der An¬
regung der Stadtverordneten Dr. Lent und Th. Kyll war es zu danken, dass
eine geregelte amtliche Untersuchung der Nahrungsmittel ins Leben trat.
Zu diesem Zwecke wurde kein eigenes städtisches Laboratorium geschaffen,
sondern eine Kommission für Kontrole der Lebensmittel gebildet, deren
technische Mitglieder diejenigen Privattechniker sind, welche von früher her
im Besitze wohl eingerichteter Arbeitsstätten und in der Ausführung der
Analysen von Lebensmitteln bereits wohlgeübt waren. Der Geschäftsgang
ergab sich schon im Jahre 1877 folgendermassen: Die von der Königlichen
Polizeiverwaltung beschlagnahmten oder sonst zur amtlichen Untersuchung
bestimmten Gegenstände wurden beim Oberbürgermeister amte eingeliefert.
Dort wurden die Signaturen der Proben entfernt, und letztere erhielten
einfach fortlaufende Nummern. Mit diesen versehen, gelangten sie an die
einzelnen verpflichteten Chemiker der Reihenfolge nach zur Untersuchung,
die nach vereinbarten Sätzen bezahlt wurden.
Diese Einrichtung bewährte sich vorzüglich. Nach Erlass des Reichs¬
gesetzes, betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln u. s. w. (1879), beschlossen
daher die städtischen Behörden, dieselbe beizubehalten und den Formen
des neu erschienenen Gesetzes anzupassen.
Die Gebühren für die Untersuchungen wurden wi
Milch ....
4-15
M.
Wurst . . .
. . 3-8
M.
Butter ....
4-10
*
Trinkwasser .
. . 5—15
?»
Mehl ....
4-8
»
Eier . . .
. . 5-30
A
Brod ....
4-10
fl
Wein . . .
. . 5-25
A
Zucker . . .
4
»
Petroleum
. . 4-10
A
Essig ....
3-4
fl
Schnupftabak
. . 4
A
Kaffee ....
. 4-8
fl
Spielwaren .
. . 4-8
«
Thee ....
. 4—8
fl
Farben . .
. . 4-8
fl
Schokolade . .
. 4-8
fl
Topfglasur .
. . 4
A
Gewürze . . .
. 4-10
fl
Zinngeschirr .
. . 4
A
Konditorwaren .
. 4-8
fl
Tapeten . .
. . 4
«
Fruchtsäfte . .
. 4-8
fl
Kleiderstoffe .
. . 4
A
e folgt festgesetzt:
Heute nehmen die folgenden Herren das Amt der sachverständigen
Chemiker an der Untersuchungsanstalt wahr: Dr. Jacobsthal, Dr. Lesimple,
Lukow, Dr. Plaskuda, Prof. Weiland, Th. Kyll.
Schliesslich berichtet der Verf., dass der Kölnische Verein der Kolonial -
und Materialwarenhändler für seine Mitglieder durch den Verf. freie Unter¬
suchung seiner Waren gewährt. So sei es den Mitgliedern des Vereins
gelungen, den mannigfachen Gefahren, mit denen das Nahrungsmittel-Gesetz
namentlich die Kleinhändler bedroht, aus dem Wege zu gehen. W.
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Google
127
Prof. Dr. Leichtenstern (Köln), Über Ankylostoma duodenale. Vortrag.
Deutsche mediz. Wochenschrift, 1888, Nr. 42 x ).
Mit dem Ankylostoma duodenale, welches als Parasit in den Darm¬
kanal des Menschen eingeführt eine schwere Erkrankung hervorzurufen
vermag, hat sich in neuerer Zeit wohl niemand eingehender beschäftigt als
Leichtenstern. Das Ankylostoma duodenale wurde vor 50 Jahren von
Angelo Dubini entdeckt; im Jahre 1845 zeigte Th. v. Siebold, dass es zur
Gattung Strongylus der Ordnung der Nematoden gehört. Griesinger er¬
kannte als erster im Jahre 1851 die krankmachende Wirkung des Ein¬
geweidewurms als eines gefährlichen Blutsaugers und führte die damals
in Ägypten ausserordentlich verbreitete sogenannte * ägyptische Chlorose“
auf die Wirkungen dieses Parasiten zurück. Dann fand im Jahre 1866
0. Wucherer in Bahia in der Leiche eines an der sogenannten * tropischen
Chlorose“ verstorbenen Sklaven zahlreiche Ankylostomen, die er als die
Ursache der genannten, bis dahin als eine Form sogenannter primärer
Blutarmut angesehenen Krankheit in anspruch nahm. Es verging ein
ferneres Jahrzehnt, bis die Ankylostoma-Frage eine neue und wichtige För¬
derung erfuhr durch die mit Recht berühmt gewordenen Arbeiten mehrerer
italienischer Ärzte und Helminthologen. B. Grassi, C. und E. Parona in
Mailand, Graziadei in Florenz, Bozzolo, Concato und Perroncito in Turin,
Poletti und Malinverdi zu Vercelli überzeugten sich in den Jahren 1877/78.
dass die in Italien seit alten Zeiten bekannte Blutarmut der Ziegel¬
arbeiter auf der Anwesenheit von Ankylostoma beruht. Man machte
den für die Erkennung der Ankylostomen-Krankheit hochwichtigen Fund der
Eier von Ankylostoma duodenale in den Stuhlentleerungen
der Kranken. Einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte der Anky-
lostomiasis bildet die grosse Epidemie, welche 1879 unter den Arbeitern
des Gotthardtunnels, zuerst auf italienischer Seite (Airolo), ausbrach und
allmählich vielen hunderten von Arbeitern schwere Blutarmut und langes
Siechtum, zahlreichen den Tod brachte.
An die Gotthard-Epidemie reiht sich die Entschleierung des räthsel-
haflen Wesens der Bergleute-Blutarmut (Anaemia montana), welche seit
alten Zeiten in den Bergwerken verschiedener Länder beobachtet wird und
zeitweise zu schweren Epidemien anschwillt. Perroncito reiste nach
St. Etienne in Frankreich und stellte bei dreien im dortigen Krankenhause
liegenden Bergleuten das Vorhandensein von Ankylostomen fest; ebenso
gelang es ihm, in den Stuhlentleerungen von 4 erkrankten Bergleuten von
Schemnitz in Ungarn, wo die sogenannte Anaemia montana endemisch
herrscht, die Eier von Ankylostoma nachzuweisen. Leichtenstern glaubt,
dass die von Hoffinger gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts geschil¬
derten Epidemien unter den Bergleuten von Schemnitz, sowie die von Noel
Halle 1802 beschriebene schwere Seuche in den französischen Bergwerken
von Anzin, Fresnes und Vieux Cond£, ferner die Epidemien in gewissen
1) Vgl. unsem Bericht im Centralblatt 1885, Bd. IV, S. 378 ff.
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Google
— 128
französischen Kohlenbergwerken durch Ankylostoma duodenale verursacht
waren. Ebenso sind viele italienische und belgische Bergwerke Brutstätten
der Ankylostomen und Ansteckungsherde für die Arbeiter.
Bedingungen für die Entstehung einer Epidemie sind die Einschleppung
des Parasiten, ein gewisser Grad von Feuchtigkeit und Wärme in der Brut¬
stätte (Erdboden), Unreinlichkeit hinsichtlich der Bergung der Stuhlentlee¬
rungen, Verunreinigung der stehenden Wässer und der Trinkwässer durch
dieselben, mangelhafte Reinigung der Hände beim Essen u. s. w.
Rühle erkannte schon 1872, dass unter den niederrheinischen Ziegel¬
arbeitern eine besondere Form schwerer Blutarmut häufig vorkam; sein
Assistenzarzt Men che fand 1882 in dem Kote eines Ziegelarbeiters (in der
Bonner Klinik) die Ankylostoma-Eier. Bald darnach wurde ein gleicher
Befund durch Leichtenstern bei einem in das Kölner Krankenhaus
aufgenommenen anämischen Lehmarbeiter erhoben. L. übertrug seine
Studien alsbald auf die Ziegelfelder selbst, gewann ein Bild von der grossen
Verbreitung des Eingeweidewurms auf den Kölner Ziegelfeldern und bewies
die Einschleppung desselben durch die aus den belgischen Bergwerken zu¬
wandernden Wallonen und Vlamländer; er ergründete die Wege der Über¬
tragung und gab Massregeln an, um dem Umsichgreifen der Ankylostomen-
Krankheit vorzubeugen.
Hiernach haben belgische Forscher die Gegenwart von Ankylostomen
bei zahlreichen Bergleuten des Lütticher Grundes, bezw. von Mons dargethan.
Leichtenstern hat zahlreiche Züchtungen der Ankylostomen unter den ver¬
schiedensten willkürlich gewählten äusseren Bedingungen angestellt. Gelegent¬
lich dieses Vortrages zeigte er in mikroskopischen Präparaten 1. die Normal¬
gestalt des frischentleerten Ankylostoma-Eies; 2. die Eier in einem späteren
Stadium der Entwickelung, mit den bereits deutlichen Umrisslinien des
Embryo, der innerhalb der Eihülle zeitweise träge oder bereits lebhafte
Bewegungen macht; 3. frisch ausgekrochene, träge bewegliche Larven von
0,2 mm Länge; 4. ein weiteres Wachstumsstadium (0,5—0,6 mm), lebhaftere
Bewegung der Larve; 5. die Larve im Zustand der Häutung, d. h.
Encystirung: die glashelle abgestreifte Embryonalhaut bleibt bestehen und
bildet eine Cyste für die Larve. Mit dieser Einkapselung schliesst das Leben
der Ankylostomen im Freien. (Neben den Ankylostomen fand L. im Freien
auf den Ziegelfeldern andere Namatoden, insbesondere gewisse monogene
Rhabditiden, deren Jugendform der Ankylostoma-Larve sehr ähnlich ist.
Dieselben haben keine krankheiterregende Bedeutung ; meistens gehen sie im
Darmkanal spurlos zu gründe; eine von L. entdeckte Art scheint den
Ziegelfeldern von Köln eigentümlich zu sein und unter Umständen den
Darmkanal schadlos durchwandern zu können.) — Sodann hat L. die Anky-
lostoma-Larven zunächst erfolglos an Tiere, dann mit durchschlagendem
Erfolge an Menschen verfüttert. Die positiven Ergebnisse dieser Fütterungs¬
versuche haben das letzte Glied in die Kette unserer Kenntnisse von der
Lebensgeschichte des Ankylostoma eingefügt. Die mit dem Kote abgesetzten
Ankylostoma-Eier entwickeln sich ausserhalb des menschlichen Körpers zu
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- 129 -
rhabditisartigen Larven, welche, in einem gewissen Zeitpunkte ihrer Ent¬
wickelung eingekapselt und lebend in den menschlichen Verdauungsapparat
aufgenommen, sich daselbst zur geschlechtsreifen parasitischen Generation,
zum fertigen Ankylostoma entwickeln. Vier bis fünf Wochen nach der
Verfütterung der Larven erscheinen die ersten, wohl charakterisirten Eier in
dem Kote des Menschen. W.
0. Nimax (Köln), Eine neue Kühlhalle für Fleisch und andere Lebens¬
mittel. Vortrag gehalten im Kölner Bezirksverein. Zeitso.hr. d. V. deutsch.
Ingenieure. Bd. XXXII; S. 1179.
Es ist ein Nachtheil der gewöhnlichen Eisschränke und Kühlräume,
dass die Luft in denselben nicht erneuert wird. Es werden in diesen
Räumen die Daseinsbedingungen der kleinen Pilzkeime, welche die Verwe¬
sung der Lebensmittel verursachen, durch Kälte wohl erschwert, aber nicht
zerstört. Eine weit gründlichere Abhülfe wird durch eine von der Ma¬
schinenbauanstalt Humboldt in Kalk errichtete Kühlhalle geschaffen, bei
welcher jene Keime stetig aus dem Kühlraume entführt und ausserhalb
desselben vernichtet bezw. unschädlich gemacht werden.
Ausserhalb des zu kühlenden Raumes liegen mehrere Kühlapparate.
In jedem liegt eine schmiedeeiserne Rohrschlange, in welcher eine von der
Kältemaschine kommende Flüssigkeit verdampft. Die durch einen solchen
Apparat strömende Luft wird in hohem Grade abgekühlt, die in der Luft
enthaltene Feuchtigkeit setzt sich als Reif an die eisernen Röhren, und
damit werden der Luft zugleich die schädlichen Pilzkeime entzogen.
Hat sich nun eine solche Rohrschlange derartig mit Reif bedeckt, dass
dadurch die abkühlende Wirkung beeinträchtigt wird, so muss, um dieselbe
wieder wirksam zu machen, die Rohrschlange entleert, der Reif durch
wärmere Luft abgethaut und das Thauwasser abgeleitet werden.
Die Anordnung ist nun derartig getroffen, dass ein Ventilator die Luft
aus dem zu kühlenden Raume ansaugt, dieselbe zunächst durch einen Kühl¬
apparat mit bereifter Schlange treibt, um den Reif abzuthauen, sodann die
bereits kühlere Luft über eine oder mehrere noch unbereifte Schlangen
streichen lässt, und schliesslich die nunmehr vollständig abgekühlte, ge¬
trocknete und gereinigte Luft wieder in den Aufbewahrungsraum zurück¬
treibt. Die hierbei nothwendig werdenden Umschaltungen, welche nur in
grösseren Zwischenräumen zu erfolgen haben, werden von Hand bewirkt.
Die Kalker Kühlanlage soll allen Erwartungen in jeder Beziehung ent¬
sprochen haben, und die Wirkung eine derartige sein, dass die Maschine
nur den Tag über, während 10 Stunden zu arbeiten braucht und nachts
still stehen kann. Fl dm.
Dr. Livius Fürst, San.-Rath, Docent der Pädriatik und Gynäkologie an der
Universität Leipzig, Das Sterilisiren nnd Pasteurisiren der Kindernahrung.
Mit 9 Abbildungen. Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei A.-G. (vormals
J. F. Richter), 1888 (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftl. Vorträge,
herausgegeben von Rudolf Virchow und Fr. Holtzendorf, Heft 54.)
Auch über dieses Schriftchen, dessen Verfasser durch sein Werk „Das
Kind und seine Pflege in gesundem und krankem Zustande“ bereits ein
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— 130 —
berathender Freund vieler Mütter geworden, müssen wir dasselbe Urtheil
fällen, welches wir in dem Referate über die Schrift von F. A. Schmidt'
Bonn, Centralblatt für allgemeine Gesundheitspflege 1888, S. 322, aus*
zusprechen uns veranlasst sahen: obwohl dasselbe nichts wesentlich Neues
bringt, können wir ihm doch seinen Werth nicht bestreiten. Die Be¬
kämpfung von Vorurtheilen und die Verbreitung richtiger Anschauungen
auf dem Gebiete der Kinderpflege ist ein Verdienst, wenn es, auch mit
Benutzung bekannter Thatsachen und Erfahrungen, durch Wort und Schrift
in wirksamer Weise geschieht. Dem Werkchen von Fürst wird noch ein
besonderer Werth deshalb zuerkannt werden müssen, weil es Aufklärung
wieder in einen ganz anderen Kreis hineinträgt, als das Schmi dt’sche. ln
der Form der Darstellung mehr seinem Leserkreise Rechnung tragend, als
knapperund exakter Wissenschaftlichkeit, weist Fürst zuerst auf die allge¬
meine Verbreitung der Keime und Sporen der mikroskopisch kleinen Pilze
hin, welche als Krankheitserreger Gesundheit und Leben des Menschen be¬
drohen; betritt mit uns „mit heiligem Schauer“ das bakteriologische Labo¬
ratorium, in welchem die Natur dieser kleinen Lebewesen studirt und die
Mittel, sie unschädlich zu machen, geprüft werden; zeigt uns dann die
praktische Anwendung der Ergebnisse für den * Operationssaal der Kranken¬
häuser und für die Kinderstube, diese Brutstätte zahlloser Pilzkeime. Die
Nahrung des Kindes, die Milch, zu sterilisiren, d. h. sie keimfrei zu machen
und bis zum Genüsse keimfrei zu erhalten, ist „das Schlagwort und die
Anforderung unserer Zeit“. Das Kind, dem eine möglichst keimfreie Milch
gereicht wird, hat die günstigsten Aussichten, von Darmkatarrhen verschont,
somit gesund und am Leben zu bleiben. Denn wir wissen, dass mit der
Zahl der in die Milch aufgenommenen Keime einestheils diese leichter ver¬
ändert wird, andemtheils die Bakterienzahl im Darminhalte und die Neigung
zu Darmkatarrhen wächst. Auch von Fürst wird der von Prof. Soxhlet in
München angegebene Milchkochapparat zur Sterilisirung der Milch als der¬
jenige bezeichnet, der den gedachten Zweck am vollkommensten bewirkt.
Wir stimmen dem auch hier, wie früher bei der Schmidt’schen Schrift,
nochmals an der Hand neuer Erfahrungen bei, wollen aber hier die Ge¬
legenheit benutzen, darauf aufmerksam zu machen, dass die neueren von
Ollendorff-Wilden in Bonn bezogenen Milchkochapparate durch Haltbarkeit,
Form und Graduirung der Flaschen den Vorzug vor älteren haben dürften.
Zu bedauern ist nur, dass der penetrante und unangenehme Geruch der
Gummitheile durch keine Behandlung seitens der Familie zu beseitigen ist;
vielleicht Hesse sich diese Schattenseite bei der Fabrikation der Hütchen
und Stöpsel in etwa vermindern.
Gleichsam als Anhang wird dann vom Verfasser die Methode und der
Nutzen des Pasteurisirens des Rothweins besprochen, ein Gegenstand, der
weniger bekannt sein dürfte, als das Sterilisiren der Milch. Das Pasteu-
risiren, durch welches die selbst im bestgepflegten, flaschenreifen Weine
noch vorhandenen Hefepilze unschädlich gemacht werden, ohne die Eigen¬
schaften des Weines zu beeinträchtigen, ist auch eine Art Sterilisation.
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— 131
Dass diese Behandlung des Weines, welche durch Erhitzung mittelst Dampf
in dem Pasteurisir-Schranke vorgenommen wird, wie das Sterilisiren der
Milch »ein schätzbares Hülfsmittel bei der Pflege des gesunden und'kranken
Kindes * sein muss, bedarf für Aerzte und Laien, welche in der Prophylaxe
die Hauptaufgabe der Hygiene und der Medicin erblicken, keines Beweises.
Ueber den pasteurisirten Rothwein steht uns keine eigene Erfahrung zu
Gebote. J ohnen-Düren.
Dr. Kerezi: Ueber Kindersterblichkeit und Milchversorgung in Zürich und
Aasgemeinden. — Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte 1887. Nr. 23 und 24.
An der Hand eines grösseren statistischen Materials zeigt Verf., dass
Zürich mit seinen Ausgemeinden, namentlich im Verhältniss zu den Städten
Genf und Basel, eine sehr hohe Säuglingssterblichkeit (18 —19 % der Ge¬
borenen) hat; die Säuglingssterblichkeit Zürichs hat einen ziemlich hohen
Antheil an der allgemeinen Sterblichkeit dieser Stadt. Als Ursachen der
zu hohen Säuglingssterblichkeit Zürichs werden angeführt: Rasche Bevöl¬
kerungszunahme; hohe Geburtsziffer, namentlich bei der ärmeren Bevölke¬
rung; schlechte und überfüllte Wohnungen; starkes und demoralisirtes
Proletariat; mangelhafte und verkehrte Ernährung des Säuglinge. Bei
letzterem Punkte ist namentlich hervorzuheben, dass nach den Ausführungen
des Verfassers ca. 50 °/o, etwa die Hälfte aller Todesfälle der Säuglinge
mehr oder weniger direct mit Verdauungsstörungen zusammenhängt, abge¬
sehen davon, dass mangelhafte Ernährung auch gegen andere Krankheiten
widerstandslos macht.
Die Vorschläge zur Abhülfe ergeben sich aus dem Gesagten von selbst.
Es sind: strengere Handhabung der Baupolizei, Bekämpfung des Pauperis¬
mus und endlich Mittel zur Verbesserung der Ernährung der Säuglinge.
Auf letzteren Punkt geht Verf. des längeren ein und schlägt hier vor,
grösstmögliche Aufklärung des Volkes über erste Kinderernährung; Auf¬
munterung zur Brusternährung, namentlich bei den Fabrikarbeiterinnen;
Fürsorge und geregelte Aufsicht für Kostkinder; Armenunterstützung durch
Milchkarten und passende Kinderernährung; Fürsorge für gute Milch¬
anstalten u. dergl. Hier ist namentlich für die Erhältlichkeit guter, reiner,
stetig controlirter Milch zu sorgen. Die Vorschläge des Verf. sind keine
neuen, sie verdienen aber immer wieder beherzigt zu ^werden, da grade
auf diesem Gebiete fast allenthalben für die öffentliche wie auch für die
private Fürsorge noch sein* viel zu tliun übrig ist.
Schmidt-Bonn.
Seggel, Oberstabsarzt, Zur Kurzsichtigkeitsfrage. — Münchener inedicinische
Wochenschrift. 1888. Nr. 1 u. 2.
Die Thatsache, dass in unsern Schulen, vor Allen in den höheren
Schulen, die Zahl der Kurzsichtigen mit den Klassenstufen in erschrecken¬
dem Masse zunimmt, soll nach neueren Darstellungen ziemlich belanglos
sein, indem man die Schädlichkeit der Kurzsichtigkeit bestreitet, ja sogar
ihr gewisse Vortheile zuerkennen will. Namentlich erregte die Darstellung
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132 —
von Prof. Dr. Stilling (Untersuchungen über die Entstehung der Kurzsich¬
tigkeit. Wiesbaden, 1887) gerechtes Aufsehen, und wurde sogar in sonder¬
barster Weise in den Tagesblättern ausgenutzt. Demgegenüber stellt nun
Verf. nach zahlreichen jahrelang fortgesetzten Untersuchungen sowohl bei
Soldaten als namentlich auch bei Schülern fest, dass die Kurzsichtigkeit
keineswegs unschädlich ist, und kann nur mit Vorbehalt die Frage bejahen,
ob die Kurzsichtigkeit eine einfache Anpassung an die Naharbeit, und daher
für eine gewisse Menschenklasse ein wünschenswerther Zustand sei. Er
zeigt, dass mit zunehmender Kurzsichtigkeit meist eine Abnahme der Seh¬
schärfe einhergeht, und findet nur bei einem Viertel der Kurzsichtigen nor¬
male Sehschärfe. Ausserdem zeigt er, dass bei den Schülern namentlich
der Eintritt der Kurzsichtigkeit von einer Reihe mehr oder weniger ent¬
zündlicher Erscheinungen begleitet sei; einmal subjectiver: wie Gefühl von
Druck, Lichtempfindlichkeit, Asthenopie, lästige entoptische Erscheinungen,
Flimmern, — und ausserdem objectiver: Hyperämie der Pupille und der
angrenzenden Netzhautpartie, erweiterte, bei geringer Lichtstärke schwach
reagirende Pupillen, Herabsetzung des Lichtsinnes. Die ersteren Erschei¬
nungen traten namentlich nach Eintritt’ der kurzen Tage oder in ange¬
strengten Arbeitsperioden auf.
Des Weiteren geht Verfasser auf die hygienischen Massregeln zur Ver¬
hütung der Kurzsichtigkeit ein, führt die Erfolge vor, die er an den Schul¬
anstalten, welche seit 7 Jahren sich seines regelmässigen augenärztlichen
Beirathes erfreuen, durch Rathschläge bezüglich Arbeitsdistanz, Brillenwahl,
Regulirung der Beleuchtung u. s. w. erreicht hat. Namentlich ist es er¬
freulich, dass auf seine Vorschläge hin neuerdings sowohl kostspielige
bauliche Aenderungen durch Erbreiterung und Erhöhung der Fenster vor¬
genommen wurden, als auch zweckmässigere Arbeitspulte beschafft wurden.
Schmidt-Bonn.
Ueber Gesundheitspflege und Revision des schweizerischen Volksschul¬
wesens. — Correspondenzblatt für Schweizer Aerzte. 1888. Nr. 5.
Dieser Vortrag des praktischen Arztes Hürlimann in Unterägeri,
gehalten in der Versammlung des schweizerischen ärztlichen Gentralvereins
in Olten, am 29. Oktober 1887, versucht in kurzen Zügen eine Uebersicht
über den Stand und die anzustrebenden Ziele der Schulgesundheitspflege
in den verschiedenen Gantonen der Schweiz zu geben. Er verlangt vor
Allem als anzustreben: a) die ärztliche Ueberwachung der Schulen; b) den
Schuleintritt nicht vor zurückgelegtem 7. Jahr; c) die Entlastung der unteren
Unterrichtsklassen u. s. w\ bezüglich der Unterrichtsstunden. In Bezug auf die
Schulhausbauten seien in neuerer Zeit Fortschritte in gesundheitlicher Be¬
ziehung zu verzeichnen, worunter namentlich hervorgehoben werden die
Verlegung der Abtritte ausserhalb des Schulbaues und die Einführung des
Tonnensystems zur Verhütung der Verunreinigung des Untergrundes da,
wo ein Anschluss an ein centrales Abfuhrsystem oder Schwemmsystem
nicht möglich ist. Was die Gesetzgebung der einzelnen Cantone in Bezug
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133 —
auf Schulhygiene betrifft, so sei seit Mitte der 70er Jahre hier ein bedauer¬
licher Stillstand eingetreten.
Namentlich fordert er mit Recht eine grössere Aufmerksamkeit auf die
Zustände an den Kleinkinderschulen. Ein Punkt, der auch bei uns in
Deutschland mehr Berücksichtigung verdiente. Besonders wichtig für die
Schweiz ist die Erziehung der tauben, blinden und schwachsinnigen Kinder.
Machen doch in den Cantonen Aargau und Wallis die schwachsinnigen und
auffallend gering begabten Kinder 5—13 °/o der gesammten Kinder- resp.
Schülerzahl aus. Schliesslich wird an zwei Volksschulgesetzentwürfen der
Cantone St. Gallen und Zürich gezeigt, wie wenig in mancher Beziehung
die schulhygienischen Grundsätze noch anerkannt werden. Namentlich dem
Züricher Entwurf werden erhebliche Mängel nachgewiesen, wie denn auch
in keiner vorberathenden Commission ein Arzt Sitz und Stimme hatte.
Sch mi dt-Bonn.
La REforme du rEgime des Etablissements scol&ires en France. Journal
d’HygiEne. Nr. 607. 10. Mai 1888.
Die sogenannte Ueberbürdungsfrage oder Schulreform beschäftigt in
Frankreich nicht weniger als bei uns unausgesetzt weite Kreise. Namentlich
wird aber hier die Leibespflege durch körperliche Erholung und Uebung
betont. Denn man beginnt auch hier einzusehen, dass eine Beschränkung
der Sitzstunden und eine Vermehrung der zur körperlichen Bewegung be¬
stimmten Stunden keineswegs gleichbedeutend mit der Herabdrückung der
wissenschaftlichen Leistung ist. Im Gegentheil, wie der Director der £cole
Monge in Paris, Herr Godart, in einer treffenden Rede ausführt, sorgt man
für die Kräftigung, Erheiterung und die Zufriedenheit der Schüler, so sorgt
man damit auch für deren vermehrte geistige Tüchtigkeit und Aufnahme¬
fähigkeit. Die genannte Schule hat daher für ihre Schüler an drei Wochen¬
tagen Erholungsausflüge nach dem bois de Boulogne angeordnet, für die
erste Abtheilung jedesmal für die Dauer von drei Stunden, für die zweite
Abtheilung jedesmal zwei Stunden. Es werden dort auf umzäuntem Platze
alle Art Spiele, sowie Uebungen im Velocipedfahren, Reiten und Rudern
veranstaltet.
Man hat sich dabei besonders die Principien der englischen Erziehungs¬
weise zum Muster genommen. Schmidt-Bonn.
L'oeuvre national des Höpitaux maritimes de France. Journal d’Hygiene.
Nr. 582. 17. November 1887.
Nach dem Vorgang von Italien, wo zuerst zur Heilung von Scrofulose
und Rhachitis Seehospize gegründet wurden, war es eine Dame, Frau Armen-
gaud, die in Gette armen evangelischen Kranken, welche dort Seebäder
nahmen, lange Zeit hindurch, von 1832—46, Unterstützungen gewährte, um
dann im Jahre 1847 eine eigene Anstalt zur Heilung der Scrofeln mit
80 Betten zu errichten. Diesem Seehospiz folgte erst im Jahre 1861 das
von der Gesellschaft für öffentliche Wohlthätigkeit errichtete Seehospiz in
Berck, welches allmählich zu einer der grössten derartigen Anstalten ge-
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— 134 —
worden ist. Neuerdings hat sich nun in Frankreich, ähnlich wie schon
früher bei uns, eine Gesellschaft zur Errichtung von Kinderheilstätten an der
See gebildet, welche beabsichtigt, an den Küsten des Atlantischen Oceans
weniger grossartige und kostspielige dafür aber um so zahlreichere kleinere
Hospize zu gründen, um dadurch die Heilung der Scrofulose und Rhachitis
durch den Aufenthalt an der See möglichst zu verallgemeinern. Möchten
diese Bestrebungen immer weitere Antheilnahme und Unterstützung finden!
Schmidt-Bonn.
L'Hospice marin it&lien. Journal d’Hygiene. Nr. 609. 24. Mai 1888.
Eine Ergänzung zu dem Vorbesprochenen bildet eine Mittheilung,
welcher eine Untersuchung des Dr. N. d’Ancona zu Padua über die Wirk¬
samkeit der Seehospize bei scrofulösen und tuberkulösen Leiden zu Grunde
liegt. Nach d’Ancona stehen hier folgende Sätze fest:
1) Gelenk- und KnochenafTectionen werden selten geändert oder ge¬
bessert.
2) Die verschiedenen äusserlichen scrofulösen Erkrankungen (Ausschlag
der Haut, Erkrankungen der Schleimhaut an Augen, Ohr, Nase und
dergleichen) kommen sehr leicht wieder.
3) Drüsenerkrankungen können in der That dauernd geheilt werden.
4) In allen Fällen ist eine Aufbesserung der Ernährung wie der Blut¬
mischung vorhanden.
Was insbesondere die Knochen- und Gelenkleiden betrifft, so spielt die
Dauer des Aufenthalts hier eine besonders wichtige Rolle. In Berk-sur-Mer
erreichen bei unbeschränkter Dauer des Aufenthalts die Heilungen resp.
Besserungen 70 7 ® ; in Margate bei einer Gurdauer von 90 Tagen 42,5 7 ®;
und in den italienischen Hospizen mit einer Behandlungsdauer von 30 bis
45 Tagen nur 30°/®. Schmidt-Bonn.
Les Höpitaux maritimes. Journal d’Hygtene. Nr. 601. 29. Mars 1888. p. 148, 149.
In einer Mittheilung an die belgische Academie der Medicin fordert
M. J. Gasse mit Recht, dass die Seehospize, soweit sie zur Bekämpfung der
Scrofulose und Tuberkulose vorhanden sein sollen, nicht für * einen zeit¬
weiligen Aufenthalt in der bessern Jahreszeit allein eingerichtet sein sollen,
sondern dass an die Stelle solcher grosse Anstalten treten müssen, wissen¬
schaftlich eingerichtet und geleitet, um neben der Seeluft auch alle anderen
Heilmittel, sowie auch chirurgische Behandlung zu ermöglichen. Die
kranken Kinder sollen dort eben bis zu ihrer vollständigen Heilung ver¬
bleiben. Neben diesen grossen Seehospizen sollen die nur zeitweise geöff¬
neten Sanatorien am Meer möglichst vermehrt werden, um während der
Ferien Schulcolonien, also vorübergehend geschwächte und nur erholungs¬
bedürftige Kinder aufzunehmen.
Der erste Gedanke einer Erweiterung der Seehospize zu dauernd ge¬
öffneten Heilanstalten ist unter Anderem in dem Seehospiz zu Fano am
Adriatischen Meer verwirklicht, wo im Anschluss an das Haupt-Hospiz ein
Krankenhaus besteht, sowohl um gewisse ansteckende und infectiöse Er-
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135
krankungen zu isoliren, als auch um Kinder mit mehr oder weniger
schweren Knochenerkrankungen und dergleichen chirurgisch behandeln zu
können.
Eine Statistik über die im Hospiz zu Fano behandelnden Kinder ergibt
folgende Ziffern:
Kinder beiden
Geschlechts
Knochen- oder
Gelenk-
Erkrankungen
Drusen-
Erkrankungen
Aeusserliche
Affectionen
(Haut etc.)
Rhachitis
1885
532
114
216
105
97
1886
493
110
239
114
30
1887
552
81
212
171
88
Von diesen wurden insgesammt geheilt oder gebessert . . 96,3 °/o
blieben ungeheilt, verschlimmerten sich oder starben . . 3,7 %.
Im Jahre 1887 erhob sich die Zahl der Geheilten oder Gebesserten
auf 99,1 •/#.
ln der That ein ehrenvoller Erfolg! Schmidt-Bonn.
W. W. Irel&nd, Herrschermacht und Geisteskrankheit. Psycho - patholo¬
gische Studien aus der Geschichte alter und neuer Dynastien. 2. Aull. Aus
dem Englischen. Stuttgart, 1888.
Vor einigen Jahren veröffentlichte der bekannte englische Irrenarzt
lreland ein umfangreicheres Buch unter dem nicht ganz leicht wieder¬
zugebenden Titel „The blot upon the brain“ (etwa: „Der Flecken auf dem
Hirn“), woraus einzelne Abschnitte (IV und V) hier in deutscher Ueber-
setzung vorliegen, und zwar hat sich der ungenannte Uebersetzer diejenigen
Kapitel herausgenommen, wo sich bei einzelnen Herrschern oder ganzen
Dynastien Spuren geistiger und moralischer Entartung nachweisen lassen,
wie z. B. bei den römischen Kaisern, dem Sultan Mohamed Toghlak von
Indien, der spanischen und russischen Dynastie. Beigefügt ist ein Artikel
über Ludwig 11. von Bayern, dem ausser einem Aufsatze desselben Ver¬
fassers noch einige anderweitige Veröffentlichungen zu Grunde liegen.
Das Interesse derartiger Untersuchungen kann gar nicht bestritten
werden, da sich einmal bei den gekrönten Häuptern die Verhältnisse der
Erblichkeit klarer herausheben und weit länger verfolgen lassen, als wie
dies bei gewöhnlichen Sterblichen der Fall zu sein pflegt, und zweitens
die Entäusserungen der Krankheit unter dem Einflüsse der schrankenlosen
Macht ganz andere Grössenverhältnisse annehmen, und oft genug in grau¬
sigen Blättern der Geschichte ihren Ausdruck finden werden.
Die geistige Entartung des Kaisergeschlechtes der Glaudier ist bekannt
genug und seiner Zeit schon von Wiedemeister in einer geistreichen
Studie behandelt worden, die dem Verfasser anscheinend unbekannt ge¬
blieben ist, da er ihrer sonst wohl Erwälmung gethan haben würde.
Wiedemeister hatte seiner Arbeit den bezeichnenden Titel des „Cäsaren-
wabnsinns* gegeben, obwohl es seine Bedenken hat, die schauderhaften
und geradezu viehischen Ausschreitungen, denen wir u. A. bei Iwan dem
Schrecklichen und einer ganzen Anzahl römischer Kaiser begegnen, nur
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- 136 -
deshalb auf Geistesstörung zurückführen zu wollen, weil wir sie nicht zu
begreifen vermögen.
Man vergisst gar zu oft, dass mit dem Fortschreiten auf dem Gebiete
der Wissenschaft und Kunst ein moralischer Fortschritt nicht nothwendiger
Weise verbunden zu sein braucht und oft genug nicht verbunden ist, wie
denn auch die durch ästhetische Kultur berühmtesten Geschichtsepochen,
wie die Zeitalter des Perikies, des Augustus, der Rennaissance und Ludwig XIV.
selbst unter einem mittleren Niveau der ethischen Entwicklung Zurückbleiben.
Wer ein Liebhaber des Grausigen ist, wird in der kleinen Schrift seine
Rechnung finden. Das meiste Interesse wird unstreitig das uns auch zeit¬
lich am nächsten gerückte Trauerspiel Ludwig II. von Bayern in Anspruch
nehmen, wie es denn auch psychologisch am feinsten ausgearbeitet ist.
Ob das als Anhang beigefügte Selbstbekenntniss des unglückseligen
Monarchen unbedingten Glauben verdient, ist allerdings eine Frage, über
die sich streiten lässt, den sonstigen Gepflogenheiten des kranken Königs
entspricht diese Art der Gewissenserforschung wenigstens nicht.
{ Pelman.
Verzeiehoiss der bei der Redaktion eingegangenen neuen Bücher etc.
Hueppe, Dr. med. Ferdinand, Docent der Hygiene und Bakteriologie am chemi¬
schen Laboratorium von R. Fresenius zu Wiesbaden. Die Methoden der
» Bakterien-Forschung. 4. vollständig umgearbeitete und wesentlich ver¬
besserte Auflage. Mit 2 Tafeln in Farbendruck und 68 Holzschnitten.
Wiesbaden, C. W. Kreidel’s Verlag, 1889. Preis Mk. 10. 65.
International Journal of Surgery and Antiseptics. Deorted exclusi-
vely to Surgery and Listerism. Vol. 1. Okt. 1888, Nr. 4. Milton Josiah
roberts M. D. — Ferdinand King M. D. Business Manager P. 0. Box 587
or 95 William St. New-York U. S. A.
Journal de la soctet£ nationale D’Horticulture de France. 3. Serie Tome X.
November 1888. Paris. Au Stege de la Soctete, 84 Rue de Grenelle.
Gesundheit, Zeitschrift für öffentliche und private Hygiene. No. 1. 1889.
Daube & Go., Frankfurt.
NB. Die für die Leser des „Gentralblattes für allgemeine Gesundheitspflege*
interessanten Bücher werden seitens der Redaktion zur Besprechung an die Herren
Mitarbeiter versandt, und Referate darüber, soweit der. beschränkte Raum dieser
Zeitschrift es gestattet, zum Abdruck gebracht. Eine Verpflichtung zur Besprechung
oder Rücksendung nicht besprochener Werke wird in keinem Falle übernommen;
es muss in Fällen, wo aus besonderen Gründen keine Besprechung erfolgt, die
Aufnahme des ausführlichen Titels, Angabe des Umfanges, Verlegers und Preises
an dieser Stelle den Herren Einsendern genügen.
Die Verlagshandlung.
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Entwickelungsgang und Beschreibung der Wasser¬
leitung in Altenkirchen (Westerwald).
Von
Sanitätsrath Dr. Meder,
Kreisphysikus.
Der Kreisort Altenkirchen hatte bei der letzten Volkszählung
1627 Einwohner, eine Zahl, die sich durch beinahe 50 Jahre hin¬
durch mit ganz geringen Schwankungen auf derselben Höhe hielt,
und erst nach Eröffnung der Westerwaldbahn und der Linie Alten-
kirchen-Au langsam zu wachsen anfing.
Seine Trinkwasserverhältnisse waren bis im Laufe des Jahres
1888 die denkbar ungünstigsten.
Lange vorher, ehe eine chemische Untersuchung des Wassers
stattgefunden hatte, beschwerte man sich allgemein über seine
schlechte Beschaffenheit; schon nach kurzem Stehenlassen bildete
sich ein schillerndes Häutchen auf seiner Oberfläche, es entstand
ein röthlicher Niederschlag, und nicht selten enthielt es suspendirte,
mit blossem Auge erkennbare Stoffe, die ihm bei schlechtem Ge-
schmacke ein ekelerregendes Aussehen gaben. Neu Angezogene
oder Fremde, die sich nur vorübergehend hier aufhielten, erkrankten
durch seinen Genuss nicht selten an Magen- und Darmkatarrhen.
Das zum Trinken benutzte Wasser wurde daher von vielen Ein¬
wohnern einer in der Nähe von Altenkirchen befindlichen kleinen,
frei zu Tage tretenden Quelle auf dem Beinhauer’schen Grund¬
stücke entnommen, welche der Besitzer in primitivster Einrichtung
gefasst, und deren Wasser aus einer hölzernen Rinne in der un¬
gefähren Menge von 12 cbm in 24 Stunden abfloss. Besonders
Kranke Hessen nur von diesem Wasser holen, weil es ein weiches,
klares und wohlschmeckendes Wasser war. Der Brunnen erhielt
im Laufe der Zeit daher den Namen Gesundheitsbrunnen.
Neben der schlechten Beschaffenheit des Wassers in Alten¬
kirchen war aber auch die Quantität desselben im Winter nach
längerem Froste und im Sommer bei lange anhaltender Trocken¬
heit so gering, dass viele Brunnen Wochen lang trocken standen,
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. V111. Jahrg. |Q
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138
und die Einwohner sich mit Bachwasser begnügen mussten, welches
dem der Verunreinigung vielfach ausgesetzten Mühlen- und Quengel¬
bache entnommen wurde. Bei dem Ausbruche eines Brandes, der
glücklicherweise nicht vorkam, wäre der grössere Theil des Ortes
wegen Wassermangels gefährdet gewesen. Verschiedene Anläufe
wurden im Laufe der Jahre gemacht, um ein besseres und ge¬
nügendes Wasser zuzuführen. Im Jahre 1856 grub man östlich
von Altenkirchen in der Nähe der Hachenburger Strasse auf einem
nassen und hochgelegenen Grundstücke einen Versuchsschacht in
der Absicht, die hier befindlichen kleinen Quellen zu fassen und
deren Wasser durch Thonröhren in den Ort einzuleiten. Glück¬
licherweise folgte einem nassen Winter ein sehr trockener Sommer,
die Quellen versiegten, bevor die Anlage gemacht war, und es
blieb beim Alten. Seit dem Jahre 1859, seit welcher Zeit ich als
Arzt hierselbst fungire, beobachtete ich fast alljährlich verschiedene
Erkrankungen an Abdominaltyphus. 1862 steigerte sich die Krank¬
heit zu einer Epidemie, und erinnere ich mich noch recht gut,
dass in der Einwohnerschaft zur damaligen Zeit die Ansicht allge¬
mein verbreitet war, dass nur durch das schlechte Wasser die
Krankheit entstände. Wiederum wurde die Behörde von verschie¬
denen Seiten angegangen, auf die Beschaffung eines besseren Was¬
sers Bedacht zu nehmen.
Man grub einen neuen Brunnen und sorgte, dass bei bereits
bestehenden durch bessere Einfassungsmauern das Tagwasser,
welches bei dem starken Gefälle der Strassen die Haushaltungs¬
abgänge in den Strassenrinnen nach dem unteren Theile des Ortes
mit sich führte, nicht so leicht in die Brunnen eindringen konnte.
Die Verhältnisse änderten sich jedoch nicht. Zwar verstummten
mit dem Aufhören der Epidemie die lauten Klagen über schlechtes,
ungesundes Wasser, wie man dies überall, wenn die Gefahr vor¬
über ist, beobachten kann, jedoch erwiesen sich, namentlich bei
Platzregen, die getroffenen Massnahmen als vollständig ungenügend.
Gegen Ende des Jahres 1882 wurde Altenkirchen abermals,
jedoch von einer grösseren Typhusepidemie heimgesucht. Dieselbe
zog sich mit kurzen Unterbrechungen durch die Jahre 1883 und
1884 durch, während vereinzelte Fälle noch 1885, 1886 und zu
Anfang des Jahres 1887 vorkamen. Die Gesammtzahl der in den
Jahren 1883 und 1884 hierselbst beobachteten Typhuserkrankungen
beziffert sich auf 137, die der Gestorbenen auf 15. Die Aufregung
im Orte war gross; sie wuchs, als durch den hiesigen Apotheker
der Nachweis erbracht war, dass das Wasser der sämmtlichen
von ihm untersuchten Brunnen wegen hohen Gehaltes von Stick¬
stoff- und Chlorverbindungen unter gleichzeitiger Anwesenheit von
Sulfaten eine Verunreinigung desselben vermuthen lasse. Man
klagte allgemein über das Wasser, hinter den Coulissen schimpfte
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139
man auf den unthätigen Gemeinderath, der für grössere Bauten,
eine neue Schule und ein Bürgermeistereigebäude Geld ausgebe,
für das Wichtigste, für gesundes Wasser, aber keinen Sinn habe.
Im Gemeinderath wurde die Angelegenheit reiflich erwogen, man
wusste keinen Ausweg, da von massgebender Stelle immer die
Behauptung entgegen gehalten wurde, dass in der ganzen Um¬
gegend von Altenkirchen bis auf 6 Kilometer Entfernung kein ge¬
nügendes Wasser vorhanden sei, und dass die im Frühjahre,
Winter und Herbst stark strömenden Gebirgsquellen während des
Sommers versiegten. Die Anlage einer Wasserleitung aus grösseren
Entfernungen schien aus finanziellen Gründen für den kleinen Ort
unausführbar.
Es handelte sich nunmehr darum, festzustellen, in wieweit
solche Behauptungen sich bestätigten. Sämmtliche Gebirgsquellen
der Umgegend wurden abgesucht, nirgends fand sich genügendes
Wasser; da, wo es ausreichend zu sein schien, war entweder die
Höhenlage zu ungünstig, sodass es nach Altenkirchen nicht einge¬
führt werden konnte, oder die Entfernung eine so grosse, dass
der Kostenpunkt eine derartige Anlage nicht gestattete. Schon
war die Hoffnung fast aufgegeben, dem gesteckten Ziele näher zu
kommen, als sich die Aufmerksamkeit auf eine kleine muldenförmige
Vertiefung lenkte, welche in einer Entfernung von 2 Kilometer auf
dem Galgenberge ihren Anfang nimmt und sich parallel mit der
Staatsstrasse Altenkirchen-Köln allmählich abflachend, bis nach
dem Wiedbachthale hinzieht. Die Mulde hat eine Breite von etwa
300 Meter und war bis dahin in ihrer ganzen Ausdehnung Wiesen¬
fläche, welche, vielfach ganz versumpft, nur saures Gras lieferte.
In derselben fanden sich 15 grössere und kleinere Quellen in un¬
gleicher Höhenlage, aus denen das Wasser in verschiedenen Mengen
abfloss und das ganze Terrain so durchtränkte, dass man kaum
im Hochsommer dasselbe trockenen Fusses begehen konnte. Die
höchst gelegene Quelle liegt so hoch, dass sie nach vorgenommenen
Messungen mit den höchst gelegenen Häusern in Allenkirchen
nivellirte; unscheinbar klein, von überhängendem Grase fast ganz
bedeckt, lieferte dieselbe während des Sommers bei Trockenheit
in 24 Stunden 30 Kubikmeter Wasser; zwei etwas tiefer liegende
Quellen, welche mit der ersten vereinigt werden konnten, zeigten
zusammen einen Wasserabfluss von etwa 10 Kubikmeter in der¬
selben Zeit. Eine vorgenommene chemische Untersuchung des
Wassers ergab, dass dasselbe weich und als Trink- und Nutz¬
wasser sich ganz vorzüglich eignete.
Im- Herbste 1884 gelang es endlich nach langen Diskussionen
im Gemeinderath, die Heranziehung eines Technikers zur Begut¬
achtung der fraglichen Anlage herbeizuführen und wurde eine
Commission gewählt, welche mit einem Ingenieur Müller aus
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140 —
Bochum, der schon mehrere Wasserleitungen gebaut hatte, Ver¬
bindungen anknüpfte. Nachdem derselbe Einsicht von den Quellen
genommen, lautete sein Gutachten dahin, dass dieselben zu einer
Hochdruckwasserleitung zwar geeignet seien, aber aller Wahr¬
scheinlichkeit nach die genügende Menge Wasser für Altenkirchen
nicht liefern würden, so dass, um sicher zu gehen, im Thale Grund¬
quellwasser erschürft werden müsse, welches durch Dampf zu
heben sei. Nachdem ferner derselbe Herr bezüglich derGesammt-
kosten von 50—60,000 Mark sprach, und zu den Vorversuchen,
um die Quellen freilegen zu lassen, eine Ausgabe von etwa
500 Mark in Aussicht stellte, da brach der Vorsitzende der Com¬
mission die Verhandlungen mit den Worten ab: „Meine Herren,
es ist Grössen Wahnsinn, bei der Finanzlage des kleinen Ortes
Altenkirchen an die Ausführung eines solchen Projektes zu denken.“
Die Mitglieder stimmten zu, denn die Typhusepidemie war zur
Zeit wesentlich im Abnehmen begriffen, die Klagen über schlechtes
Trinkwasser hatten schon wieder aufgehört, und der Antragsteller
fiel trotz aller Gegenvorstellungen gründlich durch.
Besagter Ingenieur erbot sich nach vorausgegangener Rück¬
sprache wenige Wochen später, die Wasserleitung für Altenkirchen
auf eigene Rechnung zu bauen, wenn ihm der Anschluss des
hiesigen Bahnhofs (die Westerwaldbahn war mittlerweile dem Be¬
triebe übergeben worden) an die Wasserleitung gesichert würde,
und etwa 100 Hausbesitzer des Ortes bei einem Minimalsatze von
24 Mark pro Jahr und Berechnung des Kubikmeters Wasser mit
25 Pfennigen zu einem Anschlüsse sich verpflichteten.
Der Bahnhof, welcher im Wiedbachthale liegt, besass einen
Trinkbrunnen neben dem Stationsgebäude und einen grösseren
Brunnen neben dem Maschinenschuppen. Aus dem letztgenannten
Brunnen wurde das Wasser zur Speisung der Lokomotiven durch
Dampf in 4 zusammen etwa 50 Kubikmeter fassende eiserne Be¬
hälter gehoben. Der Trinkbrunnen lieferte ein übelriechendes
Wasser, da er in angeschwemmtem Boden des Wiedbachthaies ge¬
graben war, wo der Untergrund aus faulen, stinkenden Letten
bestand. Nebenbei enthielt das Wasser eine Menge Eisenoxydul,
welches in den Gefässen einen reichlichen rothen Niederschlag
bildete; es war ungeniessbar, und wurden demselben die im
Stationsgebäude damals zahlreich vorgekommenen Typhuserkran¬
kungen zugeschrieben. Der Brunnen ant Maschinenhause enthielt
nicht die genügende Menge Wasser, so dass die Zuführung eines
Wassers in den Brunnen noch nöthig wurde, welches oben er¬
wähnten Quellen aus der Thalmulde vom Gälgenberg entstammte
und in der Nähe des Maschinenschuppens sich in das Wiedbach¬
thal ergoss; von hier wurde es durch eine etwa 15 Meter lange
Röhrenleitung dem Brunnen zugeführt.
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141
Verschiedene Bohrversuche, dem Bahnhofe besseres Trink¬
wasser zu beschaffen, blieben resultatlos, da das ganze Wiedbach¬
thal überall die oben angegebene schlechte Beschaffenheit zeigte.
Die Bahnverwaltung war somit genöthigt, durch Arbeiter mehrmals
täglich das Trinkwasser aus einem Brunnen, welcher auf einer
noch nicht lange bewohnten Fläche sich befand, herbeischaffen zu
lassen, und trug sich schliesslich mit dem Gedanken, eine Wasser¬
leitung anzulegen. Der richtige Zeitpunkt war somit gekommen,
handelnd einzuschreiten, denn gelang es, die Bahnverwaltung als
Hauptkonsumenten für eine Wasserleitung in Altenkirchen zu ge¬
winnen, so erschien das Projekt gesichert. Die erste Aufgabe blieb
es, das Quellengebiet käuflich zu erwerben, um später all zu hohen
Forderungen zu begegnen. Der Besitzer der Wiese erklärte sich
schriftlich bereit, das Grundstück für 6 Mark die Ruthe an Alten¬
kirchen abzutreten, falls innerhalb der nächsten Jahre das Projekt
einer Wasserleitung zur Ausführung gelangen sollte. Die Bahn¬
verwaltung stimmte Angesichts der grossen Missstände bezüglich
der Trinkwasserverhältnisse auf dem Bahnhofe ebenfalls zu, und
entschloss sich nach langen Verhandlungen, die durch 2 Jahre
sich hinzogen, sämmtliches Wasser aus der projectirten Leitung
zu entnehmen, wenn bei guter Beschaffenheit des Wassers in
24 Stunden in maximo 80 cbm Wasser geliefert werden könnten.
Dabei verpflichtete sie sich zu einer minimalen Abnahme von
30 cbm und wurde der Wasserzins auf 10 Pfg. pro cbm festge¬
setzt. Zwischendurch war indessen mit dem Ingenieur Müll er
abgebrochen worden, da dessen Forderungen nach eingezogenen
Erkundigungen, zu hoch erschienen, und ein Ingenieur Scheven
sich erboten hatte, unter günstigeren Bedingungen die Leitung für
eigene Rechnung auszuführen. Jedoch zog dieser Herr sein An¬
erbieten zurück, nachdem er genaue Einsicht von der Sachlage
genommen. Die hiesigen Verhältnisse erschienen ihm zu klein und
war zur Zeit der Anschluss der Bahn in seinem ganzen Umfange
noch sehr zweifelhaft.
Der Gemeinderath stand im Ganzen der Anlage nicht sehr
sympathisch gegenüber. Einzelne der Mitglieder glaubten, dass das
Wasserquantum nicht ausreiche, und das Terrain beim Blosslegen
der Quellen sich auslaufen könne, andere nahmen an, dass die
Einwohnerschaft sich an der Anlage nicht so betheiligen würde,
um die Rentabilität derselben zu sichern, wiederum andere be¬
fürchteten, Angesichts der zur Zeit übernommenen Garantie für
den Grunderwerb der Eisenbahnlinie Altenkirchen-Au allzusehr
engagirt zu werden, und ein Rest verhielt sich ab wartend.
Nachdem es gelungen war, einen dritten Techniker für die
Anlage in der Person des Hessemer von Ems zu interessiren,
gelang es endlich, die Majorität im Gemeinderath dafür zu ge-
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142
winnen, dass zur Ausarbeitung eines generellen Projektes 90 M.
bewilligt wurden. Sollte die Bahn, welche in maximo täglich
80 cbm Wasser nöthig hatte, mit angeschlossen werden, so be¬
durfte es noch der Zuführung anderer Quellen, um für die trockene
Jahreszeit gesichert zu sein. Hieran wäre das Projekt nächst ge¬
scheitert, da einerseits ohne den Bahnhofanschluss eine erhebliche
Einnahme an Wasserzins in Ausfall kam und andererseits die
Quellen während dreier Monate des Jahres nicht so viel Wasser
lieferten, um allein den Bahnhof bedienen zu können. Es fand
sich jedoch auch hierfür ein Ausweg. Wie oben angegeben, zeigten
sich in jener Thalmulde 15 Quellen in verschiedener Höhenlage;
von diesen konnten nur die drei oberstgelegenen für Altenkirchen
nutzbar gemacht werden, während die etwa in der Mitte der
Mulde befindlichen dem viel tiefer gelegenen Bahnhofe sich noch
zuführen Hessen. Das Wasserquantum von drei solcher tiefer
liegenden Quellen betrug in den trockensten 3 Monaten 60 cbm
pro 24 Stunden; in der übrigen Zeit viel mehr, als der Bahnhof
in maximo bedurfte. Immerhin war der Gesammtwasserreichthum
sämmtlicher Quellen, die für Altenkirchen mit eingeschlossen,
während der trockenen Jahreszeit voraussichtüch nicht ausreichend,
um den Wasserbedarf für den Ort Altenkirchen und für den Bahn¬
hof decken zu können. Nach langen Debatten bewilligte der Ge¬
meinderath 200 Mark, um die oberst gelegenen Quellen freizulegen,
damit das Gesammtquantum des daselbst abfliessenden Wassers
genau ermittelt werden konnte. Ein solcher Versuch erschien un¬
bedingt geboten, da das ganze Terrain der erwähnten Thalmulde
sich versumpft zeigte und somit die Wahrscheinlichkeit sehr nahe
lag, dass die vielen Quellen, welche in der Mulde sich befanden,
einer Hauptquelle entstammten, und nur an verschiedenen höher
und tiefer gelegenen Stellen das Wasser abfliessen Hessen. Bei
den nunmehr an den höchst gelegenen Quellen zu besagtem Zwecke
1 1 /2 Meter tief angelegten Gräben stiess man auf eine alte Röhren-
leitung von Holz, und fand sich ein steinernes Reservoir, dessen
Bleisieb die Jahreszahl 1687 trug. Am Rande des Siebes standen
die Buchstaben J. H. D. St. O. F. M. Arnolt. W. N. H. B. 1687.
Die Behauptung der ältesten Leute von Altenkirchen, sie
hätten von Eltern und Grosseltern öfter die Aeusserung gehört,
dass vor vielen Jahren eine Wasserleitung von dem Galgenberge
nach dem damaligen Schlosse hierselbst geführt habe, fand sich
somit bestätigt. Nicht minder konnte man aus noch vorhandenen
Dämmen in der Thalmulde ersehen, dass in derselben seiner Zeit
Teiche bestanden halten. Mit dem Blosslegen der Quellen, wenn
auch noch nicht, wie sich später ergab, in der genügenden Tiefe,
wuchs die Wassermenge und schwankte das Quantum während
eines schneearmen Winters und eines sehr trockenen Sommers
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143
zwischen 280 der höchsten und 54 cbm der niedrigsten abgeflos¬
senen Wassermenge innerhalb 24 Stunden. Wurde die kleinste
Wassermenge auch nur während einiger Wochen im Herbste be¬
obachtet, so durfte nur mit diesem Quantum gerechnet werden.
Altenkirchen hatte zur Zeit 180 Häuser und entfielen somit, wenn
die sämmtlichen Häuser an die projektirte Wasserleitung ange¬
schlossen wurden, in der trockensten Zeit 300 Liter Wasser pro
Tag auf ein Haus, was ungefähr einer Menge von 30 Eimern ent¬
spricht und bei der damaligen Bevölkerungsziffer etwa 34 Liter
pro Kopf und 24 Stunden ausmachte. In der Bevölkerung glaubte
man allgemein, dass ein solches Wasserquantum genüge, da keine
Etablissements hier bestehen, welche einen grossen Mehrverbrauch
erforderten. Ebenso nahm man an, dass die 60 cbm Wasser aus
den viel tiefer liegenden Quellen, welche dem Bahnhofe das Wasser
liefern sollten, den Bedürfnissen der Bahn, die 30—80 cbm täglich
verlangte, entsprechen würde, da bei genügend grossen Sammel¬
reservoirs der nur ausnahmsweise vorkommende Höchstverbrauch
voraussichtlich sich decken Hess.
Mittlerweile war in der Verwaltung der Bürgermeisterstelle
Altenkirchen ein Personenwechsel eingetreten, und stand der neue
Bürgermeister von vornherein dem Projekte sehr sympathisch
gegenüber, nachdem er die bereits zu einem grossen Aktenbündel
angeschwollenen Verhandlungen geprüft hatte. Die Angelegenheit
kam in Fluss; das von dem Ingenieur Hessemer ausgearbeitete
generelle Projekt lautete in seinem Kostenanschläge auf 55,000 M.
Vorgesehen waren ein Reservoir von 200 cbm Inhalt zur Aufnahme
der höchst gelegenen Quellen für den Ort Altenkirchen und ein
kleineres Reservoir von 30 cbm zur Aufnahme der tiefer liegenden
Quellen für den Bahnhof, welches 700 Meter vom Bahnhofe ent¬
fernt gebaut und selbstverständlich einen Separat-Röhrenstrang
erhalten sollte, der gemeinschaftlich in einem Graben mit dem
Röhrenstrange für Altenkirchen verlief. Das Bahnreservoir konnte
um desswegen so viel kleiner angelegt werden, weil, wie ange¬
geben, die Bahnverwaltung bereits in ihrem Wasserthurme vier
eiserne, mit einander in Verbindung stehende Behälter von zu¬
sammen 50 cbm Inhalt besass, welche bis dahin aus dem oben
erwähnten Brunnen durch Dampfstrahl gefüllt wurden.
Die Gemeindevertretung genehmigte nach häufigen Sitzungen
in dieser Angelegenheit am 5. August 1886 den Bau der Leitung
für eigene Rechnung, nachdem der Unternehmer sich vertrags-
mässig verpflichtet hatte, für eine 6procentige Verzinsung des
Baukapitals aufzukommen und eine Sammlung von Unterschriften
unter den Ortseingesessenen den Beweis erbrachte, dass eine hin¬
längliche Anzahl von Hausanschlüssen gesichert sei. Die Königliche
Regierung billigte zwar nach dem vorgelegten Projekte den Bau
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144 —
der Leitung sowie die Aufnahme des Baukapitals im Betrage von
55,000 Mark, jedoch verlangte dieselbe, dass nicht, wie beantragt,
mit einem, sondern mit zwei Prozent die Bausumme amortisirt
werden müsse. Gleichzeitig enthielt, nicht mit Unrecht, die Re¬
gierungsverfügung die Bemerkung, dass äas vorhandene YVasser-
quantum in den trockenen Monaten nicht genüge und wahrschein¬
lich auf die Zuführung anderer Quellen bei Widderstein (welche
4 Kilometer von hier entfernt liegen) event. Bedacht genommen
werden 'müsse. Hiermit zerfiel die mit so grosser Mühe zusammen¬
gebrachte, allerdings nur lose gekittete Einheit im Gemeinderath.
Die Debatten spielten sich in die Wirthshäuser und die Damen-
Kaffee’s fort, und fanden namentlich am runden Tische des Gast¬
hofs Luyken, der allabendlich eine Anzahl Stammgäste um sich
versammelte, die lebhaftesten Diskussionen für und wider statt.
Vorschläge, Kritiken und Polemik wechselten, nicht zum Schaden
des Wirthes, in aufgeregtester Stimmung. Man wurde zeitweise
an die Erörterungen der Kriegsjahre 1866 und 1870/71 erinnert,
bei welchen, mit dem Finger auf der Karte, die blutigsten
Schlachten geliefert wurden, und manches bis dahin gänzlich un¬
bekannte Feldherrntalent die kühnsten Schlachtenpläne entwarf.
Auf diese Weise konnte es schliesslich auch nicht ausbleiben, dass
sich der Carneval hierselbst der Sache bemächtigte und in
drastischer Weise die projektirte Wasserleitung karrikirte. Schwer
war, das Schiffchen an den zahlreichen Klippen vorüberzuführen.
Die Bahnverwaltung drängte zum Entschlüsse, die Königliche Re¬
gierung konnte auf ein nochmaliges Gesuch, die beantragte ein¬
prozentige Amortisation des Anlagekapitals zu gestatten, nicht ein-
gehen, die Interessenten, durch deren Boden die Röhrenlage
stattfinden musste, forderten theils zu hohe Entschädigungssummen,
theils lehnten sie ab und die angelegten Versuchsgräben an den
Quellen waren eingestürzt, liessen das Wasser nach anderen Rich¬
tungen hin absickern und täuschten eine Abnahme des Wasser¬
quantums vor, so dass die Anschauung von ausgelaufenen Quellen
sich immer mehr Bahn brach. Zu wundern wäre es bei diesen
und vielen ähnlichen Hindernissen wahrlich nicht gewesen, wenn
die Wasserleitungsangelegenheit in die Rumpelkammer verwiesen
worden und, vielleicht nach vielen Jahren erst, bei einer neu auf¬
tretenden Typhusepidemie aus verstaubten Aktenrepositorien her¬
vorgeholt, die Stadtväter zu neuem Kampfe aufrüttelte. Glück¬
licherweise sollte es anders kommen. Ingenieur Hessemer liess
sich nach langen Verhandlungen zu der Erklärung bewegen, dass
er für eigene Rechnung und Gefahr nach dem vorgelegten Projekte
bauen, und dem Orte, sei es durch Zuführung neuer Quellen, sei
es durch Erschürfung von Grundquellwasser im Thale, gutes und
genügendes Wasser liefern wolle, wenn ihm der Grund und Boden
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— 145 —
frei übergeben und neben dem Anschlüsse der Bahn unter den
oben erwähnten Stipulationen 80 Abonnenten gesichert seien. Ge¬
baut wurde nun, aber man glaube ja nicht, dass mit dieser Er¬
klärung schon die Wege alle geebnet gewesen. Vieles blieb noch
zu thun übrig, Meinungsverschiedenheiten jeglicher Art reizten zu
Kämpfen. Projekte und Projektchen wurden entworfen und verworfen,
Verträge waren abzuschliessen und bedurften der Genehmigung, der
Grund und Boden musste erworben werden, kurz und gut, erst Anfang
September 1887 konnte der Bau in Angriff genommen werden,
und zwar an derselben Stelle, von wo gerade vor 200 Jahren eine
der Vergessenheit bereits anheimgefallene Wasserleitung nach dem
Orte hin geführt hatte. Selbst während des Baues fehlte es nicht
an gemüthlichen Aufregungen unter den Einwohnern, von denen
Viele am Alten nicht nur starr festhielten, sondern auch Anders¬
denkende, oder Zweifler in ihr Lager zu ziehen sich bemühten,
um die Anlage noch in letzter Stunde unmöglich zu machen. Der
Unternehmer, gewitzigt durch den Bau anderer Leitungen, Hess
Alles ruhig über sich ergehen; er nahm die Arbeit in Angriff, ohne
der verlangten 80 Abonnenten versichert zu sein, und wusste recht
wohl, dass die Leute schon kommen würden, wenn nur mal in
den erstgelegenen Häusern das Wasser lief. Wer in Kampfeslust
sich allzusehr verrannt hatte, und füglich nicht gut, als die Rohr¬
leger an seinem Hause vorbeizugehen im Begriffe standen, den
Unternehmer noch um den Anschluss zu bitten wagte, der schickte
die Gattin, die zungengeläufige, dem Schmollenden entgegen, und
halb zog sie ihn,
halb sank er hin,
der Anschluss war geschehen.
Der Bau ist fertig.
Sein Hochreservoir, durch eine starke Mauer in zwei gleiche
Theile getheilt, um bei etwaigen Reinigungen, oder Ausbesserungen
noch eine Hälfte im Gebrauche behalten zu können, fasst in beiden
Abtheilungen zusammen 270 cbm Wasser und ist jede derselben,
die Mauerdicke nicht mit eingerechnet, 25 m lang, 3 m breit und
bis zum höchsten Wasserstande 1,80 m hoch, unter der Erde ge¬
mauert.
Um das im Reservoir befindliche Wasser vor allen Einflüssen
der Wifterung zu schützen, wurde dasselbe durch Gewölbe über¬
spannt und mit Boden durchschnittlich 2 m hoch überdeckt. Die
Sohle, welche nach der Ausflussöffnung im Gefälle liegt, hat in
beiden Abtheilungen an der tiefst gelegenen Stelle eine ausge¬
schachtete und gemauerte Vertiefung zur Aufnahme von sich ab¬
lagernden Schlammtheilen; in diesem' sogenannten Schlammkasten
befindet sich ein Ausspülrohr, durch welches, wenn sein Schieber
aufgedreht wird, in Folge der Geschwindigkeit des abtliessenden
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146
Wassers etwaige Schlammtheile aus dem Reservoir abgefuhrt
werden. Das nach Altenkirchen hinführende Hauptrohr liegt dicht
über dem Schlammkasten und ist zum Zurückhalten etwaiger
schwimmender Unreinlichkeiten mit einem Seiher versehen. Um
ein Ueberlaufen des Reservoirs zu verhüten, sind in jeder Abthei¬
lung senkrecht stehende Röhren angebracht, welche an die Aus-
spülrolire anschliessen; steigt das Wasser zu hoch, so fliesst es
durch die Ueberlaufröhren nach dem Ausspülrohr hin. Ebenso
haben beide Abtheilungen je zwei Einsteigeschächte mit Gussdeckel
und Steigeisen. Der mittlere Wasserdruckspiegel im Reservoir be¬
trägt am höchstgelegenen Feuerhahn oberhalb der höchstgelegenen
Häuser 3,5 m, während der stärkste Wasserdruck an der tiefst-
gelegenen Stelle von Altenkirchen in der Nähe der Eisenbahn
33,5 m ausmacht. Bei den drei höchsten Zapfstellen fliesst das
Wasser nur im Erdgeschosse noch aus. Da hier die durch Rei¬
bung und bei starkem Wasserverbrauch im Orte sich geltend
machenden Druckschwankungen zu öfteren Unterbrechungen im
Auslaufe Anlass geben, so wurde ein Ausgleichreservoir oberhalb
des letzten Feuerhahns seitlich der Strasse und höher als diese
errichtet. Dasselbe besitzt nur eine Abtheilung von 75 cbm Inhalt
und ist im Uebrigen in ähnlicher Weise wie das Hauptreservoir
angelegt. Der Gegenbehälter, welcher in gleicher Höhe mit dem
Hauptreservoir liegt, füllt sich über Nacht, wenn kein, oder nur
geringer Wasserverbrauch im Orte stattfindet, und kann hierdurch
Tags über event. nicht nur aus den Hauptröhren das doppelte
Wasserquantum entnommen werden, sondern es ist auch der
Druckverlust durch die Reibungen an den Rohrwänden um ein
Viertel verringert. Die zum Hauptreservoir geleiteten drei Quellen,
welche von diesem etwa 60 m entfernt liegen, sind sachgemäss
aufgedeckt und ist der Ursprung des Wassers bis in die wasser¬
führenden Schichten hin verfolgt worden; drei kleine, mit Gement
verputzte Sammelbehälter leiten durch Gussabflussröhren das
Wasser in der Weise nach dem Hochreservoir, dass jede Abthei¬
lung desselben sich gleichmässig füllt. Durch Absperrschieber kann
das Reservoir ausgeschaltet werden und ergiesst sich dann das
Quellwasser durch Umlaufröhren direkt in das Hauptablaufrohr
nach den Verbrauchsstellen in der Stadt, oder event, in den Gegen¬
behälter hin. Vom Hauptreservoir bis zum Gegenbehälter liegt
durch die Hauptstrasse von Altenkirchen eine Rohrleitung mit
125 und 100 mm Lichtweite, von welcher die Abzweigungen nach
anderen Strassen und die Hausleitungen abgehen. Für die Strassen-
rohrabzweigungen, bei welchen auf ein Circulationssystem gerück-
sichtigt wurde, gelangten Rohre von 100, 80 und 60 mm lichter
Weite zur Verwendung. An den nach Aussen führenden Veräste¬
lungen ist je ein Feuerhahn zum Zwecke der zeitweisen Aus-
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Spülung der Leitungen angebracht. Sämmtliche Röhren sind so¬
genannte gusseiserne Normal-Muffenröhren der Haibergerhütte bei
Saarbrücken, welche Innen und Aussen asphaltirt vor ihrem Ver¬
sandt auf 15 Atmosphären Wasserdruck geprüft wurden. Ausser¬
halb der Stadt haben dieselben eine Bodenbedeckung von 1,50, in
der Stadt eine solche von 1,35 m.
Das für den Bahnhof separat angelegte Sammelreservoir liegt
in derselben Thalmulde, etwa 20 m tiefer, jedoch 700 m von dem
höher gelegenen städtischen Reservoir entfernt, und nimmt das
reichlich zufliessende Wasser von den oben erwähnten zwei
Quellen auf.
Das Bahnhofreservoir ist ähnlich wie die beiden anderen Re¬
servoirs gebaut; dasselbe gilt von den Quellfassungen, nur sei
noch bemerkt, dass im Reservoir selbst, als der Boden ausge¬
schachtet wurde, eine ziemlich reich fliessende Quelle, die mit den
bereits gefassten nicht ^n Verbindung stand, vorgefunden und auch
nutzbar gemacht wurde. Das Abzugsrohr von 100 mm lichter
Weite liegt zum grossen Theile mit dem Hauptrohre für Alten¬
kirchen bis zum Bahnhof in einem Graben und wendet sich dann
mit einer Abzweigung zu dem Stationsgebäude nach dem 6 m unter
dem Wasserspiegel befindlichen Wasserthurmreservoir der Bahn.
Durch eine Umlaufleitung kann auch hier das Bahnhofreservoir
ausgeschaltet werden, sodass die Quellen direkt in das Abzugrohr
für die Bahn laufen, ebenso kann durch Schieberstellung der
grössere für Altenkirchen bestimmte Hochbehälter sein Wasser
direkt in das Rohr für die Bahn abgeben und ist ausserdem noch
durch einen im Bahnreservoir angebrachten selbstthätigen Schwimm¬
kugelhahn es möglich gemacht, dass, wenn das Bahnreservoir aus¬
nahmsweise sehr in Anspruch genommen wird, der Hauptbehälter
Wasser nach dem unteren Reservoir abgibt, sobald dessen Wasser¬
spiegel bis unter eine gewisse Grenze gesunken ist. Auf diese
Weise wird der Bahnhof, falls die tiefer liegenden Quellen im
Hochsommer vorübergehend zurückgehen sollten, stets mit Wasser
versorgt sein. Um für alle Fälle, auch bei dem trockensten Sommer,
gesichert zu sein, musste noch auf die Zuführung von anderen
Quellen Bedacht genommen werden. Zwei Projekte waren in Aus¬
sicht genommen. Nach dem einen sollten etwa 5 km von hier
entfernte Quellen gefasst und nach dem Gegenreservoir hingeleitet,
nach dem anderen Grundquellwasser im Thale erschürft und nach
dem Gegenreservoir durch Dampf gehoben werden. Für beide
Projekte Hessen sich verschiedene Gründe für und wider geltend
machen.
Die Zuführung hoch gelegener Quellen erforderte eine lange
Rohrleitung, hatte dafür aber keine weiteren Auslagen an Be¬
dienung und Maschinenthätigkeit im Gefolge, wohingegen bei dem
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148
zweiten Projekte zwar wesentliche Ersparnisse durch eine kürzere
Rohrleitung erzielt wurden, dasselbe aber durch das Pumpwerk
mit laufenden Ausgaben verbunden war. Man entschied sich für
das letzte Projekt, indem mit Recht angenommen wurde, dass
das Wasserquantum der entfernt liegenden Quellen im Sommer
ebenfalls wesentlich zurückgehen könne und bei einer etwaigen
Bevölkerungszunahme von Altenkirchen die geringe Wassermenge
schliesslich doch zu einer Pumpanlage führen müsse. Die
Schwierigkeit, gutes und reichliches Quellwasser zu erschürfen,
war jedoch grösser, als man vermuthet hatte. Sechs Versuchs¬
schächte an verschiedenen Stellen der Umgegend von Altenkirchen
mussten wieder verlassen werden, da theils nicht genügendes
Wasser gefunden wurde, theils reichliches, jedoch als zu eisen¬
haltig nicht eingeführt werden durfte. Man war daher genöthigt,
in einer grösseren Entfernung von Altenkirchen die Pumpanlage
zu machen, nachdem, 1500 m von dem Gegenreservoir entfernt,
im Sörtherbacher Thale bei Mammelzen nach langen Versuchen
endlich gutes und reichliches Wasser angetroffen wurde. Der
Sörtherbach setzt sich bei seinem Ursprung aus verschiedenen
kleinen Gebirgsquellen zusammen und fliesst etwa 6 km lang nur
durch Wiesen und in einer Entfernung von etwa 500jn an zwei
Dörfern vorbei; sein Wasser wird hauptsächlich zum Bewässern
von Wiesen benutzt und ist Verunreinigungen aus den Dörfern
nicht ausgesetzt. Der Brunnenschacht liegt 6 m, das Maschinen-
und Kesselhaus 3—4 m seitlich der Provinzialstrasse Altenkirchen-
Wissen und konnte die Rohrleitung mit 100 mm lichter Weite in
dem Strassenbankett mit 1,40 m Bodendeckung nach dem Gegen¬
reservoir hingeleitet werden.
Der Brunnen ist 8 m tief und steht vollständig in festem
Grauwackengestein. Oben im Durchmesser 1,4 Qm gross, ver¬
breitert sich derselbe mit zunehmender Tiefe und sind nach zwei
Richtungen hin 3 m unter dem Sörtherbache her so grosse Stollen
getrieben, dass der ganze hierdurch gewonnene Raum 50cbm
Wasser fasst. In seiner Sohle entspringen drei Quellen, welche
gemäss öfter stattgefundenen Untersuchungen den Brunnenkessel
in 10 Stunden anfüllen. Bei gefülltem Brunnen steht der höchste
Wasserspiegel 25 cm unter dem Wasserspiegel des Baches und die
öfter laut gewordene Annahme, dass der Sörtherbach durch Fels¬
spaltung direkt sein Wasser nach dem Brunnen abführe, wieder¬
legt sich sowohl aus dem verschiedenen Stande der beiden Wasser¬
spiegel, als auch aus dem Temperaturunterschiede beider Wasser
und dem Resultate ihrer chemischen Untersuchung. Während die
Temperatur des Sörtherbaches je nach der Luftwärme zwischen
+ 1 und + 18° R. wechselt, behält das Wasser der auf der Sohle
des Brunnens entspringenden Quellen stets die Temperatur von
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8 0 R. Ausserdem aber enthält das Wasser des Brunnens Spuren
von Eisen und Mangan, welche im Wasser des Baches fehlen.
Das von Herrn Hofrath Professor Dr. Fresenius in Wies¬
baden eingeholte Gutachten über die Brauchbarkeit des vorerwähn¬
ten Brunnenwassers lautet folgendermassen:
„Das Wasser ist nach längerem Stehen klar und farblos,
„während sich in den Flaschen ein geringer, flockiger, brauner
„Niederschlag abgesetzt hat.
„Der Abdampfungsrückstand ist von ausgeschiedenem
„Manganoxyd braun gefärbt und wird beim Erhitzen etwas
„dunkler. Mit einer Säure übergossen entwickelt sich dann
„eine Kohlensäure von schwach empyreumatischem Geruch.
„Ein Liter des ursprünglichen Wassers enthält folgende
„Einzelbestandtheile:
„Kalk.0,0160 g
„Magnesia. 0,0088 „
„Natron.. . 0,0048 „
„Eisenoxydul. 0,0064 „
„Manganoxydul. 0,0038 „
„Schwefelsäure. 0,0033 „
„Salpetersäure •. . . geringe Menge
„An Kalk, Magnesia, Eisen¬
oxydul zu einfachen Car-
bonaten gebundene Kohlen¬
säure . 0,0268 g
„Chlor. 0,0056,,
„Kieselsäure.0,0144 „
0,0899 g
„Ab Sauerstoff für Chlor . 0,0012 „
„Summe der in einem Liter
gelösten fixen anorga¬
nischen Bestandtheile . . 0,0887 g
„Salpetrige Säure und Ammoniak sind in dem Wasser
„nicht vorhanden.
„Zur Zerstörung der gelösten organischen Substanzen in
„einem Liter Wasser sind erforderlich:
„Uebermangansaures Kali. . 3,24 mg
„entsprechend
„Sauerstoff.0,82 mg
„Bindet man Basen und Säuren zu Salzen, so er-
„gibt sich:
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150
„Kohlensaurer Kalk . . .
0,0245 g
„Schwefelsaurer Kalk . . .
0,0056 „
„Kohlensäure Magnesia . .
0,0185 „
„Kohlensaures Eisenoxydul .
0,0103 „
„Kohlensaures Manganoxydul
0,0062 „
„Ghlornatrium.
0,0092 „
„Kieselsäure.
0,0144 „
„Summe der in einem Liter
gelösten fixen anorga¬
nischen Bestandteile . . 0,0887 g
„Berechnet man die Härte nach deutschen Härtegraden,
„so beträgt:
„die Gesammthärte .... 2,83 0
„die vorübergehende Härte . . 2,60 0
„die bleibende Härte .... 0,23 0
„Das vorliegende Wasser ist somit relativ sehr arm
„an gelösten Bestandtheilen überhaupt. Die einzelnen Be¬
standteile sind, abgesehen von dem Eisen- und Mangan-
„gehalt, sehr gering, und entsprechen einem sehr weichen
„Wasser. Der Eisen- und Mangangehalt, welcher sich im
„gewöhnlichen Quell- oder Brunnenwasser nicht findet, dürfte
„als notwendige Folge der geologischen Formation aufzu-
„fassen sein und bietet an sich 'bei den geringen Mengen
„keine Veranlassung, das Wasser als Mineralwasser zu be¬
frachten. Der geringe Eisen- und Mangangehalt dürfte um
„so weniger in Betracht kommen, als das Wasser nur ver¬
mischt mit dem übrigen Wasser der Hochdruckleitung ver¬
wandt werden soll.“
Der Gesammtinhalt des gefüllten Brunnens von 50 cbm und
das während der Pumpzeit entspringende Wasser lässt sich ver¬
mittelst der Dampfpumpe bei einem Kohlenverbrauche von 6 Cent-
ner binnen 6 Stunden nach dem Ausgleichreservoir heben und
füllt sich derselbe wieder innerhalb 10 Stunden, sodass also ausser
dem aus den Quellen nach den beiden anderen Reservoirs ab-
fliessenden Wasser täglich 120 cbm weiter zur eventuellen Ver¬
fügung stehen.
Das Gebäude besteht aus einem Maschinenraum und darüber
liegender Wärterwohnung, sowie einem daran gemauerten Kessel¬
hause.
Das Maschinenhaus wurde in seinen äusseren Umfassungen
6,30 m lang, 7,30 m breit und 3 m bis zur Oberkante der Balken
hoch, erbaut; es enthält unten einen Vorflur mit Treppenanlage
und daneben den Raum für die Dampfpumpe, darüber eine 2,50 m
im lichten hohe Wärterwohnung, bestehend in Flur, Küche und
zwei grossen Stuben.
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- 151 -
Das angemauerte Kesselhaus wurde in seinen äusseren Um¬
fassungen 7,87 m lang, 5,25 m breit und 2,50 m im lichten hoch,
erbaut und enthält den Dampfkessel mit Kaminrohr durch’s Dach
und die sonst von ihm abgeleiteten Röhren.
Beide mit Schieferdeckung versehene Gebäulichkeiten sind
massiv, ihre Fundamente von Bruchsteinen, die Stockwerke von
Ziegelsteinen, 1 V« Stein stark, die Giebelspitzen, 1 Stein stark, er¬
richtet, die Scheidewände von Holz mit Schwemmsteinen ausge¬
mauert.
Die Dampfpumpe ist eine Balancier-Dampfmaschine mit aus-
gefrässter Kreuzkopfführung und anhängenden Plungerpumpen,
welche per Stunde je nach Wunsch oder Bedürfnis 10, 15, 17
und 21 cbm Wasser nach dem Gegenreservoir liefern kann.
Die Dampfsteuerung ist mit von Hand verstellbarer Expansion
versehen und hat die Pumpe folgende Dimensionen:
Durchmesser des Dampfcylinders 230 mm
Hub des Dampfkolbens . . . 400 „
Durchmesser der Plunger . . .210 „
Hub der Plunger.185 „
Touren per Minute 25, 30, 32, 40.
Saughöhe 7—8 m, Saugrohrweite 125 mm,
Druckhöhe 35 m, Druckrohrweite 100 „
Dampfspannung 5—6 Atmosphären;
Druck in den Ventilkasten 5 Atmosphären.
Die Stärke der Maschine berechnet sich auf 4—5 Pferdestärken
bei der Maximalleistung.
Die Gesammtheizfläche des Dampfkessels berechnet sich auf
12 Om und entspricht dessen Ausrüstung den allgemeinen polizei¬
lichen Bestimmungen.
Zur Erhaltung seiner Wärme ist derselbe mit Mauer werk um¬
geben und überwölbt und sind zwei Sicherheitsventile, Wasser¬
standsanzeiger und das sonst nöthige Zubehör vorschriftsmässig
vorhanden.
Die Speisevorrichtungen des Kessels bestehen aus einer Hand¬
speisepumpe und einer Maschinenspeisepumpe, von denen jede für
sich im Stande ist, dem Kessel das benöthigte Wasser zuzuführen.
Während die drei Quellen des Hochreservoirs vor ihrer sach-
gemässen Fassung in den trockensten Monaten des Sommers bis
auf 54 cbm per 24 Stunden herabgingen, wurden in diesem Som¬
mer bei öfter wiederholten Messungen während der trockensten
Zeit 130 cbm in 24 Stunden notirt. Theilweise mag dieses Plus
der sehr nassen Witterung im verflossenen Sommer zuzuschreiben
sein, hauptsächlich beruht aber der grössere Wasserreichthum auf
dem Umstande, dass die Quellen nunmehr sehr gut gefasst sind,
sodass das Wasser nicht, wie bei den primitiven Vorversuchen.
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— 152 —
anderweitig versickern kann. Aehnlich verhält es sich mit den
Quellen, die das Bahnhofreservoir speisen. Auch hier wurde gegen
frühere Versuche in diesem Sommer eine erhebliche Wasserzunahme
constatirt. In Folge dessen liefen den ganzen Sommer und Herbst
durch, nachdem die Leitung fertiggestellt war, beide Reservoirs
reichlich über, sodass nicht ein einziges Mal der Reservebrunnen
in Anspruch genommen werden musste.
Die Länge des ganzen Rohrnetzes gestaltet sich folgender-
massen:
2600 m Rohr mit 125 mm lichter Weite
2900 „ „ „ 100 „
1520 „ „ „ 80 „
150 ,, ,, ,, 60 ,, , >, ,,
Summa 7170 m.
Die Gesainmtlänge der Zuleitungen beträgt 1400 m.
Zu den Abzweigleitungen, welche 1 m weit mit Abstellhähnen
auf das Eigenthum des Hausbesitzers für Rechnung des Wasser¬
werksinhabers gelegt wurden, kamen je nach Wunsch 24, 19 und
12 Vs mm weite, innen geschwefelte Bleiröhren zur Verwendung.
Die Kosten der Weiterführung in die Häuser, sowie diejenigen für
Errichtung von Zapfstellen mussten selbstverständlich von jedem
Hausbesitzer getragen werden. Um bei dem Ausbruche eines
Brandes in allen Strassen reichlich über Wasser verfügen zu kön¬
nen, sind 12 Oberflur- und 11 Unterflur-Feuerhähne angebracht.
Dieselben bestehen aus gusseisernen Ventilgehäusen, welche auf
die am Ende oder seitlich der Rohrleitungen angebrachten Fuss-
krümmer verschraubt werden; die Feuerhahnzuleitungsröhren,
Ventilöffnungen und das Standrohr haben eine Weite von 60 mm,
die Schlauchverschraubungen und die Bedienungsventile dagegen
eine solche von 50 mm. Im Gehäuse des Feuerhahns unten be¬
findet sich das Feuerhahnventil, welches den Wasserabschluss ver¬
mittelt und sind die Feuerhähne mit mechanischer Entleerung ein¬
gerichtet, um einem Erfrieren vorzubeugen. Die sämmtlichen
Feuerhähne wurden vertragsmässig sofort an den Unternehmer
bezahlt, und belaufen sich deren Gesammtkosten auf 2430 Mark.
Die wiederholten Feuerhahnproben haben ergeben, dass die Lösch¬
vorrichtungen dem Zweck entsprechen und vollständig ausreichend
funktioniren.
Für den Ankauf des Quellengebietes und des Terrains, auf
welchem Quellen, Brunnen, Reservoirs, Maschinen- und Kesselhaus
sich befinden, waren 86,92 Ar nöthig und wurden 3482 Mark hier¬
für verausgabt.
Im ganzen Rphrnetze befinden sich 60 Schieber.
Wie sich die Gesammtkosten der Anlage gestalten .werden, ist
einstweilen noch nicht genau berechnet.
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— 153 —
Nach den durch Vertrag stipulirten Einheitssätzen werden
dieselben voraussichtlich sich auf circa 90,000 Mark belaufen.
Vorläufig sind von 180 Häusern 150 angeschlossen, die noch
fehlenden, unter welchen gerade nicht die der ärmeren Leute sich
befinden, dürften aller Wahrscheinlichkeit nach in kurzer Zeit
nachfolgen, wenn der durch die ganze Anlage aufgewirbelte und
in einzelne Häuser getragene Staub durch das gute, aus reichem
Born fliessende Wasser wieder weggeschwemmt sein wird.
Die Wasserversorgung geschieht grösstentheils nach Wasser¬
messern und wird der Wasserzins incl. der Wassermessermiethe je
nach der Hausgrösse mit 18—42 Mark pro Jahr bezahlt; die jähr¬
liche Einnahme an Wasserzins, welche die einzelnen Anschliesser
zu zahlen haben, beläuft sich auf circa. 4250 Mark,
die Einnahme aus dem Wasserverbrauche der Bahn
nach den bis jetzt gemachten Erfahrungen auf circa 2750 „
Summa .. . 7000 Mark.
Wenn sonach die Gesammtkosten der Anlage incl. der bereits
bezahlten Beträge für Grunderwerb, Vorarbeiten, Baubeaufsich¬
tigung und Feuerhähne hochgegriffen 100,000 Mark betragen sollten,
so würden sich aus der laufenden Einnahme von 7000 Mark nicht
allein schon jetzt eine 4prozentige Verzinsung des Kapitals, sowie
eine 2prozentige Amortisation desselben decken lassen, sondern es
erübrigten für etwaige Reparaturen und den anzustellenden Auf¬
seher der Wasserleitung noch 1000 Mark.
Die Ueberschreitung des ursprünglichen Kostenanschlags er¬
klärt sich nicht allein aus der grösseren Ausdehnung des Rohr¬
netzes, sondern hauptsächlich aus der Pumpanlage, welche unbe¬
dingt, obgleich im letzten Sommer dieselbe nicht genöthigt war ‘in
Funktion zu treten, gebaut werden musste, damit niemals über
Mangel an Wasser Klage geführt werden kann.
Nach dem mit dem Unternehmer geschlossenen Vertrage kann
das Wasserwerk im Herbste 1889 in den Besitz von Altenkirchen
übergehen. Ist auch die Bausumme Angesichts der kleinlichen
Verhältnisse hierselbst bei einer Bevölkerungsziffer von gegenwärtig
kaum 1800 Einwohnern, hoch, so wird Altenkirchen doch niemals
es zu bereuen haben, dass ein Werk zu Stande gebracht wurde,
welches in seiner segensreichen Bedeutung für das allgemeine Wohl
im Gegensätze zu den so höchst traurigen Verhältnissen der früheren
Zeit nicht genug geschätzt werden kann. In der That vereinigen
sich schon jetzt alle Stimmen, auch die der ärmsten Leute, denen
es schwer fällt, den Wasserzins zu zahlen, dahin, dass sie lieber
das Doppelte geben würden, als auf das Wasser zu verzichten.
Man hat viel darüber gestritten, ob es für einen Ort zweck¬
mässiger sei, durch vorheriges Aufbringen der Bausumme selbst
zu bauen, oder das mit einer derartigen Anlage immerhin ver-
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. J&hrg.
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154
bundene Risiko auf die Schultern eines Unternehmers abzuwälzen,
der natürlicherweise für sein Wagniss ein Aequivalent in einer
etwas höheren Bausumme findet. Eine für alle Fälle gültige Ent¬
scheidung lässt sich jedenfalls nicht treffen, und wird es nament¬
lich von lokalen Verhältnissen abhängig gemacht werden müssen,
ob man die eine oder andere Methode wählen soll. So sicher ich
weiss, dass Altenkirchen, wenn es selbst gebaut, einige tausend
Mark erspart hätte, so sicher weiss ich aber auch, dass bei den
verschiedenen Anschauungen unter den Gemeinderathsmitgliedern
und einflussreichen Ortseingesessenen über die Nothwendigkeit, die
Bauprojekte, die Art der Ausführung, die Wahl der Quellen und
all das Viele, was noch drum und dran hängt, niemals eine Ma¬
jorität sich gefunden hätte, und dass nicht gebaut worden wäre,
wenn nicht in letzter Stunde der Unternehmer die Sache selbst
mit Energie in die Hand genommen und rasch zum Abschluss ge¬
bracht hätte.
Es gibt nofch so zahlreiche kleine Städtchen, wo die Trink¬
wasserverhältnisse gleich ungünstige sind, wie zur Zeit in Alten¬
kirchen, wo die Aborte und Jauchebehälter in nächster Nähe der
Brunnen sich befinden, während oft nur 1—2 km vom Orte ent¬
fernt, auf nicht bewohnten Flächen ein reichliches und gutes
Wasser der Erde entspringt, das unbenutzt abfliesst, die Aecker
versumpft und ihre Ertragsfahigkeit so erheblich herabsetzt. Jahr
aus, Jahr ein beobachtet man an solchen Orten oft die verschie¬
denartigsten Infektionskrankheiten, die zum Theil der schlechten
Beschaffenheit des Trink- und Nutzwassers zugeschrieben werden
müssen. Während bei Neuanlagen von Begräbnissplätzen in
solchen kleinen Städtchen oder Dörfern aus Sorge, dass Zer¬
setzungsprodukte von den Gräbern nach den Brunnen hingeführt
werden könnten, möglichst grosse Entfernungen von den Wohn¬
häusern gewünscht werden, übersieht man bei all dieser Friedhofs¬
panik vollständig, dass die in Zersetzung begriffenen organischen
Bestandteile der Haushaltungsabgänge den Untergrund immer
mehr und mehr durchtränken und das Wasser zweifellos in einem
viel höheren Grade zu einem gesundheitsschädlichen umschaffen.
Hier bleibt noch Vieles und Wesentliches zu thun übrig; nur
da, wo das Trink- und Gebrauchswasser durch eine Wasserleitung
aus reinem Ursprünge in die Wohnräume geführt wird, geht'man
besseren, sanitären Zuständen entgegen.
Hat vorstehender Bericht den Erfolg, dass auch kleinere Orte,
trotz grosser Hindernisse, den Muth fassen, bei zwar vermehrten,
aber stets rentablen Ausgaben sich die Wohltaten einer Hoch¬
druckwasserleitung zu schaffen, so ist sein Zweck erfüllt.
Ich schliesse denselben, indem ich zunächst öffentlich allen
hohen Behörden besten Dank ausspreche für das stets freundliche
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Entgegenkommen, wo es sich um Ueberwindung von Schwierigkeiten
handelte; besonderer Dank gebührt dem ersten Bürgermeisterei-
Beigeordneten Herrn Kriegskor te, der unentwegt das bestimmte
Ziel mit mir verfolgte, zu allen Jahreszeiten die aus den Quellen
abfliessenden Wassermengen controlirte und stets bemüht war,
widerstrebende Parteien zu einigen; nicht minder sei Dank dem
Herrn Bürgermeister Weber, dem mit der Wasserleitungsange¬
legenheit gleich bei seinem Dienstantritte eine schwere und verant¬
wortliche Last aufgebürdet wurde, die er, stets das Interesse der
Gemeinde im Auge, mit Freuden trug und Alles zu einem raschen
und günstigen Abschlüsse führte.
Die Anlage
von Wannenbädern in öffentlichen Badeanstalten.
Von
Bloch«
Inspector der städtischen Badeanstalt in £lberfeld.
Bis jetzt ist bei der Anlage von Wannenbädern durchgehend
die Anordnung so getroffen, dass der Badende sich in demselben
Raume aus- bezw. ankleidet, in welchem auch die Badewanne
aufgestellt ist. Erfahrungsmässig wird dann dieser Raum beim
Gebrauche eines Bades von den Herren 40 Minuten, von den
Damen dagegen 50 Minuten in Anspruch genommen. Die Be¬
nutzung der Wanne selbst dauert aber selten länger als 20 Minuten,
so dass also die Wanne 20—30 Minuten ausser Betrieb ist, weil
sich der Badende noch in demselben Raum befindet. Hierin liegt
ein Uebelstand der jetzigen Einrichtung und erlaube ich mir daher
den Vorschlag, zu jedem Raume mit einer Badewanne zwei Aus-
bezw. Ankleideräume zu machen, so dass also, während ein Ba¬
dender die Wanne in Benutzung hat, der andere sich in dem
Nebenraum aus- bezw. ankleidet.
Sicher ist, dass bei dieser Einrichtung doppelt so viel Wannen¬
bäder verabreicht werden können, als bei der bis jetzt gebräuch¬
lichen Einrichtung.
Die Bauart würde man, den Klassen gemäss, verschiedentlich
anordnen.
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Für Wannenbäder III. Klasse
würde man am billigsten einen
Raum nehmen und dann nach
der Grösse dieses vorhandenen
Raumes, oder nach Bedürfniss,
die Wannen entweder, wie Fig. I
zeigt, nur in einer Reihe, oder,
wie Fig. II, doppelreihig anordnen.
Von dem äusseren Flur a
tritt man in die Auskleidezelle 6,
welche man durch die Thür und
durch das Herunterlassen der
Klappbank verschliesst. Durch die
Fig. I. Wannenbad III. Kl., einreihig.
vordere Thür tritt man dann in den eigentlichen Baderaum c.
Der Badewärter befindet sich auf dem Flur d und werden die
Wannen durch die dortigen Thüren her bedient. Ebenso befinden
sich auf diesem Flur die Ventile der Kalt- und Warmwasserleitung
zum Füllen der Wannen. Der Badewärter reinigt die Wanne,
sobald der Badende dieselbe verlassen hat, füllt dieselbe wieder
und öffnet dem Badenden in der Nebenzelle die Thür.
Die Heizung des ganzen Raumes befindet sich an den äussern
Langwänden bezw. in den Fensternischen. Um die Heizung nach
Bedürfniss vornehmen zu können, sind je vier Wannenbäder durch
eine bis zur Decke reichende Scheidewand zu trennen.
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- 158
Fig. III. Wannenbäder I. u. II. Kl.
Bei der Anlage der Bäder I. und II. Klasse nach diesem
System ist jeder Raum von dem anderen vollständig getrennt und
ist die Anordnung nach Fig. III tu treffen. Die Auskleideräume a
und der Baderaum c sind von dem Flur b aus zu betreten. Die
Räume slehen unter sich durch eine zweitheilige Schiebethur in
Verbindung. Hat man diese Thür während des Badens geschlossen,
so hält der Auskleideraum seine Temperatur bei, ebenso wird der
Badende, während des Ankleidens, nicht von dem Seifen- und
Wasserdunst belästigt.
Es ist dieses ein grosser Vortheil vor der bisherigen Ein¬
richtung, bei welcher jeder Badende die Erfahrung gemacht hat,
dass während des Badens die Temperatur des Raumes durch das
warme Wasser um 3—4° R. steigt.
Hat der Badende den Baderaum verlassen, die Schiebethür
hinter sich geschlossen, so tritt der Badediener von dem Flur aus
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159
in diesen Raum, kann dann durch Oeffnen des Fensters die Lüf¬
tung vornehmen, reinigt die Wanne und den Raum, und es kann
dann der zweite Badegast sein Bad nehmen, in welcher Zeit der
erste sich ankleidet.
Sollte eine Anlage nach diesem System ausgeführt werden,
so ist Verfasser dieses gern erbötigt mit weitern Angaben zu dienen.
Ueber Mädchenturnen.
Von
Director Dr. Erkelenz
in Köln.
(Zur Einweihung der neuen Turnhalle der höheren Mädchenschule in Köln.)
Leben ist Bewegung, Bewegung ist Kraft, Kraft ist Gesund¬
heit. Wo niemals die Bewegung erlahmt oder ins Stocken geräth,
da wird also auch Leben, Kraft und Gesundheit sein. Dieses
Naturgesetz zeigt sich im ganzen Weltall, im geringsten Thiere und
in der kleinsten Pflanze, und ihm ist auch der Mensch in seinem
ganzen Leben und Wesen, in der ganzen Gliederung seines Körpers
unterworfen, dessen Stoff in fortwährender Bewegung, in stetigem
Wechsel sein soll. Wo dieser Stoffwechsel nicht gestört ist, da ist
der Körper gesund; jede Störung dieses Wechsels in einem Gewebe
oder Organe wird zur Ursache einer Krankheit. Auf dieses un-
umstössliche Gesetz gründet sich die Wichtigkeit der körperlichen
Bewegung, sowohl für den Zweck der Gesundheitserhaltung, als
auch zur Beseitigung von Krankheiten. Je mehr man in die Natur
des menschlichen Organismus und Lebens-Prozesses eindrang und
die Gesetze erkannte, nach welchen sich dieser Prozess entwickelt,
desto mehr lernte man auch die schützende und erhaltende Kraft
geregelter Leibesübungen schätzen und wies ihnen die ge¬
bührende Stellung in der Bildung des Menschengeschlechtes an.
Darum trat auch mit der zunehmenden Klarheit von dem Begriffe
rechter Menschenbildung, einer den Geist und den Körper gleich-
mässig umfassenden Bildung, dieTurnkunst auf, mit ihrem
Zwecke, die vollständige Ausbildung des leiblichen Menschen
zum allseitigen Dienste des Geistes zu fördern. In solchem
Sinne mit seiner moralischen Beziehung und Richtung auf allge¬
meine menschliche Bildung ist das Turnen zwar verschieden
von Leibesübungen, denen irgend ein anderer Zweck untergelegt
wird, sei es zur Aneignung etwa einer künstlerischen Fer-
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160
tigkeit, sei es, um als Heilmittel zu dienen; in diesen Fällen
ist es Selbstzweck.
Das Wesen der Turnkunst im Dienste der Erziehung be¬
steht darin, dass es die vorhandenen Bewegungen des menschlichen
Organismus naturgemäss regelt, richtet, entwickelt, vervollständigt
und zu einem harmonischen Ganzen von innerer und äusserer
Zweckmässigkeit verarbeitet und, mit Rücksicht auf den körper¬
lichen Zustand wie auf die geistige und sittliche Bestimmung des
Menschen, anordnet und leitet.
Diese Bedeutung des Turnens war übrigens auch älteren
Culturvölkern bereits bekannt, den Griechen und den Römern.
Pythagoras, im 6. Jahrh. v. Chr., verlangt schon, dass der
Leib durch Massigkeit in jedem Sinnengenusse sowie durch körper¬
liche Uebungen verschiedener Art gekräftigt werde, um eine schöne
Harmonie zwischen Körper und Geist herzustellen, und Plato,
im 5. Jahrh., vergleicht den Leib und die Seele mit zwei Pferden,
die neben einander gespannt und daher in gleicher Weise geführt
und gezügelt werden müssen. Bei den Römern ist es namentlich
Q u i n t i 1 i a n, der Leibesübungen in den Kreis der erziehlichen Wirk¬
samkeit gestellt sehen will, und Juvenal sagt, dass eine gesunde
Seele nur in einem gesunden Körper zu finden sei (mens sana
sano in corpore).
In wie weit aber das Turnen in dieser Bedeutung Anerkennung
und Anwendung fand, das war von Umständen, wie der Zeit¬
richtung und dem Bildungsgrad der Völker abhängig. Dem Mittelalter
war das Bewusstsein von der Doppelnatur der Erziehung abhanden
gekommen. Die Turniere, die einzige Erscheinung, die uns mit
ihrem Namen an das Turnen erinnert, waren ja nur Kriegsspiele
im Farbendufte der Romantik. In der Erziehung dieser langen Zeit
bildete sich vielmehr eine solche Einseitigkeit heraus, dass durch
dieselbe sogar das Urtheil über den Werth des Körpers getrübt,
körperliche Gesundheit für ein Hinderniss der Sittlichkeit gehalten
wurde, von einem Verständniss für die in der antiken Statue über¬
lieferte Körperschönheit gar nicht zu reden. — Um die in solcher
Anschauung erstarrte Auffassung von der Erziehung des Menschen¬
geschlechtes auf eine richtige Bahn zurückzuführen, bedurfte es
vieler Mahnrufe verständiger und weitsehender Geister. An ihrer
Spitze steht im 16. Jahrhundert der Franzose Montaigne, der
seiner Nation zurief: „Es ist nicht eine Seele, es ist nicht ein
Körper, den man erzieht, sondern ein Mensch. Aus dem dürfen
wir nicht zwei Wesen machen.“ Aehnliche Warnungen und Forde¬
rungen erliessen im folgenden Jahrhunderte der Engländer John
L o c k e, der französische Philosoph J. JacquesRousseauin seinem
Emile, im vorigen in Deutschland Basedow und seine Jünger,
und in unserem Jahrhunderte endlich Pestalozzi, Jahn u. A.
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161
Aber wenn es, um den Ideen dieser Männer praktische An¬
erkennung in den Stätten der Erziehung zu verschaffen, schon hin¬
sichtlich des stärkeren männlichen Geschlechtes noch vieler Jahre
rüstigen Strebens und eifriger Arbeit bedurfte, — erst weit später
und mit grösserer Mühe brach sich die Einsicht Bahn, dass
der weiblichen Jugend Leibesübungen nicht minder Noth thun.
Und doch, sind sie ihr in der That nicht noch unentbehrlicher als
der männlichen, welcher wenigstens die vielseitige Gelegenheit, sich
zu rühren und zu regen, doch noch nicht so ganz, wie jener,
und insbesondere in grösseren Städten, verkümmert ist? Des¬
halb, weil die natürlichen Verhältnisse, unter denen der physische
Mensch fast von selbst zu dem herangebildet wird, was er seiner
Bestimmung nach sein soll, für das weibliche Geschlecht zum
grossen Theil aufgehoben sind, hat die Gymnastik bei ihm gleich¬
sam eine Vermählung der Natur mit dem menschlichen Körper auf
künstliche Weise herzustellen. Trotzdem bestehen, selbst bis
in unsere Zeit hinein, über das weibliche Turnen noch die ver¬
schiedensten, oft ganz entgegengesetzte Meinungen. Hier treten
festgewurzelte Vorurtheile über Wesen und Einwirkung des Turnens,
dort falsche Ansichten von dem weiblichen Leben, leider zum
Nachtheile des weiblichen Geschlechtes selbst, einer allgemeinen
Betheiligung an diesen Uebungen noch vielfach entgegen. Ge¬
wiss darf beim weiblichen Turnen nicht übersehen werden, dass
Anmuth, Sanftmuth, Duldsamkeit, Sittsamkeit, Liebe und Frömmig¬
keit die Elemente sind, aus denen die Bildung des Mädchens und
der Jungfrau vollendet wird; die Turnübungen haben in ihrer
ganzen Gestaltung die physische und psychische Eigenart des Ge¬
schlechtes sorgfältig zu berücksichtigen, damit die beabsichtigte
leibliche Ausbildung nicht auf Kosten der zarten Weiblichkeit in
eine spartanische Härte oder auch athletische Künstelei, und die
Zartheit der Empfindung nicht in ein männlich kühnes, keckes
Wesen ausarte.
Jedoch nicht nur das physische Leben, auch die Cult Ur¬
zustände unserer Zeit fordern laut, dass der weiblichen Jugend
Gelegenheit zu leiblicher Thätigkeit gegeben werde. Unterricht
und Belehrung und Uebung in unerlässlichen Fertigkeiten bannen
sie stundenlang auf die Schulbank, und Beschäftigungen verschie¬
dener Art kürzen ihr auch noch die freie Zeit im Hause. Und
dass Schule und Haus in dieser Beziehung nicht immer die richtige
Grenze einzuhalten wussten und wissen, lässt sich angesichts ge¬
wisser Krankheitserscheinungen der Jugend nicht verkennen. Auch
die Abnahme der Freude an fröhlichem Jugendspiel, namentlich
bei der studirenden männlichen Jugend, das hier und da sich breit-
machende unnatürliche, zimperlich thuende Wesen, söwie Frühreife
und Blasirtheit bei Mädchen, weisen zu deutlich auf eine gewisse
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Entartung hin, welcher nur durch sorgfältige Beachtung und Pflege
des anderen Theiles, des Körpers, durch geregelte Leibesübungen
entgegengewirkt werden kann. — Wer daher noch Einspruch gegen
das Turnen zu erheben vermag, weil es nicht weiblich, nicht zart,
oder gar nicht vornehm sei, dem fehlt es am richtigen Verständniss
der Sache, oder er weiss es nicht zu schätzen, was eine heitere,
frische Jungfrau, eine lebensfrohe Gattin für die Familie zu
bedeuten hat, und dass von der körperlichen Tüchtigkeit der
Frauen als der ersten Erzieherinnen des Menschengeschlechtes,
Wohl und Wehe ihrer Kinder, ihres Hauses, ja ganzer Generationen
abhängt.
Indem die gymnastischen Uebungen die körperliche und geistige
Kraft und Entwickelung gewissermassen so im Gleichgewichte halten
sollen, sind sie aber, ausser dieser mittelbaren, auch von unmittel¬
barer Bedeutung für das geistige Leben.
Wenn der Gesichtssinn der vornehmste ist, und die durch
diesen Sinn aufgenommenen Vorstellungen für die geistige Ent¬
wicklung die folgerichtigsten und daher werthvollsten sind, so
müssen gerade die Turnübungen, weil auf jenem Sinne, der An¬
schauung , beruhend, von grossem Einflüsse sein. Bevor die
Schülerin eine Uebung ausführen kann, muss sie dieselbe gesehen
haben. Durch das dadurch nothwendig werdende und natur-
gemässe Vor- und Nachmachen bietet dieser Gegenstand mannig¬
fache Gelegenheit zur Förderung des Anschauungs- und Vor¬
stellungsvermögens der Seele. — Der Anschauung folgt auf
dem Fusse die Ausführung nach, und bei vielen Uebungen kommt
es darauf an, dass in einem ganz bestimmten Augenblicke dieser
oder jener Körpertheil nach einer gewissen Richtung hin thätig
sein muss; deshalb ist auch rasches Denken zur Ausführung
selbst, sowie zur Erfassung des rechten Momentes erforderlich,
und bei öfterer Wiederkehr derartiger Verhältnisse übt der äussere
Zwang, der dabei den seelischen Bildungen angethan wird, eine
erfrischende und belebende Einwirkung auf das Denkvermögen
aus. — Den Hauptinhalt des Schul- und vorzugsweise des Mädchen¬
turnens machen Frei- und Ordnungsübungen aus. Bei letzteren
wird der Einzelne selbst wieder als Glied einer gemeinschaftlichen
Einheit Mehrerer in’s Auge gefasst, und hat sich deshalb jedes
in demselben Masse nach den anderen zu richten, wenn die ver¬
langte Uebung gelingen soll. Bei jedem Schritt und Tritt, bei
jeder Drehung und Schwenkung tritt für jede Einzelne das Ab-
hängigkeitsverhältniss in sichtbarer Gestalt auf. So hat sich der
Wille der Einzelnen dem der Gesammtheit zu fügen, wodurch
das Turnen zugleich ein mächtiger Förderer des Ordnungssinnes
und wirksames Bildungsmittel des Willens wird. Der Geist ist
aber ein einheitliches Wesen, und die Vervollkommnung, die er auf
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der einen Seite erfahrt, übt ihre Wirkungen auch auf die anderen
Seiten desselben aus: die Anleitung zum richtigen Anschauen, zum
raschen, entschlossenen Denken, obgleich in erster Linie eine
körperliche Thätigkeit bezweckend, wirkt befruchtend auf das ganze
Seelenleben ein, und der Wille, der bei diesen körperlichen
Uebungen gefestigt worden ist, wird auch auf anderen Gebieten
sich gekräftigt zeigen. — Dann geht auch das Gemüth nicht leer
dabei aus: Der Wechsel in der Thätigkeit, in der seelischen An¬
regung und Spannung, bringt den durch eine anhaltende Beschäf*
tigung überreizten Nerven, dem ermüdeten Gehirn, eine wohl-
thuende Ruhe, bewahrt vor Verstimmung und Missmuth, erquickt
und erfrischt hingegen das Lebensgefühl und fördert so die heitere
Stimmung des Gemüths. Mit Recht hat deshalb die Turnerei in
ihren Wahlspruch die Worte „frisch und fröhlich“ aufgenom¬
men. — Endlich aber ist mit dieser hohen Bedeutung des Turnens
für Körper und Geist auch die ästhetische verschwistert. Hat
man ja den Turnunterricht die angewandte Aesthetik des mensch¬
lichen Körpers genannt. Bekanntlich strebten die Griechen in ihrer
Gymnastik, insbesondere dem Pentathlon, nach der höchsten
körperlichen Tüchtigkeit in ihrer reinsten Form; allein nicht Kraft
und Gewandtheit waren das einzige Ziel. Nicht minder wichtig
galt ihnen die schöne Haltung in Stand, Bewegung und Gang,
woran man sie sogar unter den Barbaren erkennen wollte. Nun,
wenn auch solch hellenische Idealzustände in unseren Zeiten vor¬
erst nur ein frommer Wunsch sein können, so soll doch auch
unsere Turnkunst das Schiller’sehe Wort beherzigen: „Gott
nur siehet das Herz. Drum eben, weil Gott nur das Herz
sieht, Sorge, dass wir doch auch etwas Erträgliches sehn!“
Nur in seltenen Fällen gibt die Natur selbst uns Anmuth und Fein¬
heit der Bewegungen mit auf den Lebensweg, und auch dann nur
theilweise; im Allgemeinen muss die Kunst der angemessenen,
tadellosen Bewegung gelernt, also auch gelehrt werden, d. h. zwar
nicht im gewöhnlichen Sinne, wie irgend ein anderer Unterrichts¬
gegenstand, ein Wissen, das im Nothfalle hervorgesucht und an¬
gewandt wird, — sondern sie muss an er zogen und damit zur
zweiten Natur werden. Darin liegt aber zugleich noch ein Ge¬
winn für das Schönheitsgefühl. — Diese so wichtige und mannig¬
fache Bedeutung des Turnunterrichts im Erziehungswesen lässt
sich wohl kaum treffender zusammenfassen, als es eine Verfügung
unserer obersten Schulbehörde aus dem Jahre 1864 thut, worin
es heisst: „Das Turnen soll gepflegt werden, um den Körper in
jeder Beziehung des sittlichen Lebens zum Diener und Träger
des ihm innewohnenden-Geistes zu machen.“
In diesen 25 Jahren, insbesondere aber im letzten Jahrzehnt,
ist ja auch zur Pflege und Hebung des Turnens in unseren Schulen
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aus Staats- und Gemeindemitteln Manches geschehen, wiewohl auch
noch Vieles zu thun erübrigt.
Mit Stolz aber dürfen wir es sagen, Köln war eine der ersten
Städte, in deren Mädchenschule im Jahre 1871 dem Turnunter¬
richte nicht bloss eine Stelle im Lehrplane eingeräumt, sondern
auch die dazu erforderliche äussere Einrichtung bewilligt wurde.
Seit mehreren Jahren schon war diese Einrichtung freilich für das
mit dem Wachsen der Anstalt zunehmende Bedürfniss nicht mehr
'hinreichend, und so wurde der Bau dieser luftigen, geräumigen und
zweckmässigeren Halle beschlossen. Wenn derselbe einerseits
Zeugniss ablegt für das Verständniss und die Opferwilligkeit unserer
Stadt in Sachen der Jugenderziehung, so fordert er andererseits
auch zum Danke auf, und an erster Stelle diejenigen, für die er
geschaffen. Indem ich dieser Aufforderung nachkomme und im
Namen der Anstalt und ihrer Zöglinge Ausdruck gebe dem ge¬
bührenden Danke gegenüber der Verwaltung der Stadt Köln, wie
dem um das schöne Gelingen des Baues verdienten städtischen
Bauamte, schliesse ich mit dem Wunsche, dass diese Stätte ihre
Bestimmung im reichsten Masse erfüllen möge, den Schülerinnen
der Anstalt zu eigener Wohlfahrt an Leib und Seele sowie zum
Heile ihrer Familie, zu Nutz und Frommen von Stadt und
Vaterland!
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INacIi Weisung über Krankenanfnaliine und Bestand in den Krankenhäusern aus 54
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städt. Hosp. u. Stadtlazareth
87
91
31
5
1
6
Saarbrücken
Bürgerhospital
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1 61
49
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1
3
Kreuznach
städtisches Hospital
44
41
33
• •
2
Reuwied
.....
39
i 46
43
7
1
1
3
Wiesbaden
städtisches Krankenhaus
135
117
172
*
49
1
3
1
10
Bettenhausen
Landkrankenhaus
214
224
193
1
2
2
4
5
Fulda
119
127
84
2
1
3
5
Hanau
81
97
77
5
3
ischwege
28
35
32
5
1
Rinteln
14
19
25
4
Schmalkalden
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* Krätze und Ungeziefer.
8terbiiohkeits - St atistik toh 64 St&dten der Provin*en Westfalen,
Rheinland und Hessen - Nassau pro Monat Februar 1889«
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und Croup
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irastr. Fieber
Ruhr
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Andere Infek¬
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Minden
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Paderborn
16600
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34.0
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Dortmund
84000
320
45.7
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38
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5
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Bochum
40767
164
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25,3
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Hagen
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2
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Witten
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23567
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Iserlohn
21044
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1
Siegen
17758
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Schwelm
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Lippstadt
10850
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38.7
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Düsseldorf
140961
439
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Elberfeld
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Essen
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Duisburg
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1
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35000
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Mülheim a. d. Ruhr
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Oberhausen
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Wermelskirchen
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Kre« hdurchfitU
169 —
Kleinere Mittheilungen.
Die wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen,
erweitert durch Vertreter des ärztlichen Standes, hat vom 24 bis 26. Oc-
tober 1888 über die Flussverunreimgung und die Schularztfrage
berathen und folgende Beschlüsse gefasst:
A. FluS8Yerunrelnigung. Vom Standpunkt der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege ist es erforderlich, dass die Verwaltungsbehörden bei den
Anordnungen zur Verhütung einer gemeinschädlichen Verunreinigung der
öffentlichen Wasserläufe *) folgende Grundsätze beachten.
I. Gemeinschädliche Verunreinigungen öffentlicher Wasserläufe entstehen:
1. durch Infectionsstoffe,
2. durch fäulnissfähige Stoffe,
3. durch toxisch wirkende Stoffe,
4. durch andere Stoffe, welche den Gebrauch des Flusswassers zum
Trinken, zum Hausgebrauch, in der Landwirthschaft oder in der
Industrie beschränken oder die Fischzucht gefährden.
Zu 1. In fekt io ns Stoffe können enthalten alle aus den menschlichen
Wohnungen oder deren Umgebung herrührenden Schmutzwässer, also nicht
blos die Fäkalien (Koth und Urin), sondern alle im menschlichen Haus¬
halte gebrauchten und aus demselben wieder zu entfernenden Wässer, sowie
die Niederschlags- und Reinigungswässer von Höfen, Strassen und Plätzen.
Das Gleiche gilt von den Abgängen aus Schlächtereien und aus solchen
Gewerbebetrieben, welche Lumpen, Felle, Haare oder thierische Abfälle
verarbeiten. Die Verwaltungsbehörden haben desshalb dafür Sorge zu
tragen, dass alle solche Schmutzwässer und Abgänge den öffentlichen Wasser¬
läufen soweit dies irgend thunlich erst zugeführt werden, nachdem dieselben
zum Zwecke der Unschädlichmachung einem von der Aufsichtsbehörde als
geeignet anerkannten Verfahren unterworfen worden sind.
Zu 2. Hinsichts der zu 1 gedachten Schmutzwässer und hinsichts
derjenigen Abwässer aus gewerblichen Anlagen, welche nicht unter Nr. 1
fallen, aber fäulnissfähige Stoffe enthalten, ist darauf zu achten, dass
solche Abwässer den öffentlichen Wasserläufen erst in völlig geklärtem
Zustande zugeführt und in den letzteren soweit verdünnt werden, dass eine
stinkende Fäulniss später nicht eintreten kann.
1) Der Ausdruck „öffentliche“ Wasserläufe ist hier nicht im Sinne des
Allgemeinen Landrechts verstanden, wonach der Gegensatz davon die nicht im
Eigenthum des Fiskus stehenden, d. h. die nicht schiffbaren Wasserläufe („Privat-
flösse“) bilden (Thl. II. Tit. 15 A. L. R. §§ 1 ff Ges. v. 28. Februar 1843, § 3
G-S. S. 441), sondern in dem Sinne, dass alle fliessenden Gewässer, welche von
den Menschen benutzt werden können, dahin gehören, sie mögen im Eigenthum
des Fiskus oder in dem Eigenthum von Privatpersonen stehen.
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. J&hrg. 12
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— 170 -
Alle Abwässer dieser Art, auch die Strassenwässer sind faulnissfähig
und demgemäss zu behandeln.
Die Feststellung von Grenzwerthen für den Gehalt der gereinigten Ab¬
wässer an fäulnissfahigen Stoffen verschiedener Art mit Rücksicht auf
Temperatur und Bewegung des Wassers ist nothwendig.
Vorläufig ist der zulässige Grad der Verunreinigung danach zu bemessen,
dass unverkennbare Anzeichen stinkender Fäulniss, wie Fäulnissgeruch und
Entwickelung von Gasblasen auch beim niedrigsten Stand des Flusswassers
und bei höchster Sommertemperatur fehlen müssen.
Die getrennte Beseitigung der Fäkalien macht die übrigen Schmutz¬
wässer nur unwesentlich weniger fäulnissfähig.
Zu 3. Toxisch wirkende Stoffe kommen und zwar nach den
gegenwärtigen Erfahrungen nur als mineralische Gifte (Arsenik, Blei) und
betreffs der gewerblichen Abwässer in Betracht. Sehr geringe Mengen sind
unschädlich. Es wird darauf Bedacht zu nehmen sein, dass die Grenze
durch Sachverständige bestimmt festgesetzt wird, innerhalb deren die Zu¬
führung solcher Stoffe in die öffentlichen Wasserläufe zulässig sein würde.
Zu 4. Auch durch andere als die zu 1 bis 3 bezeichneten
Stoffe können Wasserläufe so verunreinigt werden, dass das Flusswasser
zum Gebrauch als Trink- und Wirthschafts wasser, für andere Industrien
und für die Landwirthschaft unbrauchbar oder die Fischzucht gefährdet
wird. Es gilt dies insbesondere für Zuflüsse von Färbereien. Soda-, Gas-
und anderen chemischen Fabriken, Abgänge von Parafin und Petroleum,
heisse Kondensationswässer, Chemikalien, welche zur Klärung und Desin¬
fektion von Abwässern gedient haben u. s. w.
Entscheidend für die Frage, ob die Zuführung dieser Abwässer in die
Flüsse mit Rücksicht auf so geartete Stoffe erst von einer vorhergehenden
Reinigung abhängig zu machen sei, bleibt der Satz, dass das Flusswasser
in seiner Klarheit, Farblosigkeit, in Geschmack, Geruch, Temperatur und
Gehalt an gelösten Mineralstoffen (Härte) nicht wesentlich verändert
sein darf.
Allgemein anwendbare, in bestimmten Zahlen ausgedrückte oder die
Grenze sonst genau bezeichnende Bestimmungen darüber, wann dies anzu¬
nehmen sei, sind bis jetzt bei uns nicht aufgestellt.
Da übrigens die Rücksicht auf die Gesundheit dabei nur selten in
erheblicher Weise und nur mittelbar, meist aber nur Vermögensobjecte in
Betracht kommen, werden die verschiedenen Interessen in ihrer Wichtig¬
keit gegeneinander verständig abzuwägen sein.
Insofern Flusswasser als Trinkwasser verwendet werden soll, ist es
wünschenswerth, dass die für die zulässigen Veränderungen festzustellenden
Grenzwerthe dabei zur Anwendung kommen.
II. 1. Die Haushaltungs- und Abtritts Wässer, sowie die Niederschlags¬
wässer von Höfen, Strassen und Plätzen können nach den bis jetzt ge¬
machten Erfahrungen mit den nachstehend dargelegten Massgaben so voll¬
ständig als nöthig gereinigt werden;
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— 171 —
a) sie werden durch das Berieselungsverfahren von Infektionsstoffen
und fäulnissfähigen Stoffen soweit befreit, dass die Ableitung der
Rieselwässer in öffentliche Wasserläufe ohne Weiteres geschehen
kann;
b) sie werden durch geeignete, mit mechanischen Einrichtungen ver¬
bundene chemische Verfahren (Aetzkalk in Verbindung mit anderen
Fällungsmitteln) von Infektionsstoffen und suspendirt en .fäul¬
nissfähigen Stoffen vollständig, von gelösten fäulnissfähigen
Stoffen aber nur theilweise befreit. Um nachträgliche Fäulniss zu
verhüten, muss die Menge des Flusswassers ausreichen, die ge¬
lösten Stoffe gehörig zu verdünnen; andernfalls muss das Wasser
noch einen genügenden Zusatz eines faulnisswidrigen Mittels wie
Kalk u. s. w. erhalten. Die Reinigung muss in zweckmässig an¬
gelegten, einheitlichen Anstalten geschehen.
Durch die Anhäufung von Schlammmassen dürfen neue Schädlichkeiten
nicht hervorgerufen werden.
2. Die zu 1 aufgestellten Sätze gelten für gewerbliche Abwässer in
gleicher Weise.
3. Nothauslässe von Kanalisationsanlagen sind bei beiden Verfahren
(la und lb) zulässig; der Ort ihrer Anlage, ihre Zahl und ihre Benutzung
sind zu controlliren; Zahl und Benutzung möglichst einzuschränken.
4. Die gesammten Reinigungsverfahren müssen fortlaufend auf ihre
ausreichende Wirksamkeit controllirt werden.
5. Die wissenschaftliche Deputation nimmt davon Abstand, für die
Reinigung der Abwässer von den zu Satz I Nr. 4 oben aufgeführten Stoffen
Vorschläge zu machen; aus demselben Grunde, aus welchem solche Vor¬
schläge in Betreff der anorganischen Verunreinigungen von ihr nicht ge¬
fordert worden sind. (Vergl. Vorlage Seite 2.)
III. Ob ein Fluss durch Infektionsstoffe so verunreinigt ist, dass
eine Abhülfe des bestehenden Zustandes erforderlich wird, kann man auf
Grund einer bakteriologischen Untersuchung des Flusswassers an den ver¬
schiedenen dabei in Betracht kommenden Stellen im Vergleich mit den
Abwässern an dem Punkt, an welchem sie in den Fluss eingeleitet werden,
erkennen.
Ausserdem wird das Auftreten einer Infektionskrankheit, welche auf
Benutzung des Wassers zu beziehen ist, dabei sehr entscheidend mitsprechen,
es darf aber bis dahin mit der Abhülfe nicht gewartet werden.
Schliesslich kann auch die Thatsache, dass solche Abgänge, von denen
zu befürchten ist, dass sie zur Entstehung von Infektionskrankheiten Anlass
geben und welche noch nicht desinficirt in einen Fluss gelangen, ein amt¬
liches Einschreiten erfordern. Dies wird insbesondere der Fall sein, wenn
die Abgänge aus Krankenhäusern, Waschanstalten oder aus Wohngebäuden
mit infektionskranken Personen herrühren. Das Vorhandensein fäulniss-
fähiger Stoffe im Uebermasse wird man daran erkennen, dass das
Flusswasser erheblich gefärbt oder verschlammt oder stinkend wird. Das
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172 —
Aufsteigen von ßasblasen aus dem am Boden des Flusses abgelagerten
Schlamm ist ein untrügliches Kennzeichen eines Zustandes, welcher der
Abhülfe bedarf.
Ob toxisch wirkende. Stoffe in einem Umfange vorhanden sind,
dass Abhülfe nothwendig ist, wird im Einzelfall durch sachverständige
Prüfung zu ermitteln sein.
Ob endlich andere derartige Stoffe sich in den einem Flusse
zugeführten Abwässern befinden, wird aus den eingetretenen unverkennbaren
Missständen sich ergeben.
IV. Die Beurtheilung einer geplanten Anlage in Bezug auf zu erwartende
gemeinschädliche Verunreinigung öffentlicher Wasserläufe hat in jedem
einzelnen Falle unter Berücksichtigung der voraussichtlich producirten
Schmutzwässer und der beabsichtigten Vorkehrungen zur Reinigung der¬
selben auf Grund der in obigen Thesen aufgestellten Grundsätze zu geschehen.
V. Es ist wünschenswerth, dass eine Commission eingesetzt wird,
welche dafür zu sorgen hat, dass die noch fehlenden wissenschaftlichen
Unterlagen für eine definitive Regelung der Massnahmen zur Reinhaltung
der öffentlichen Wasserläufe beschafft werden.
B. Schularztfrage. I. Zur Sicherung einer ausreichenden Beach¬
tung der Seitens der Schulhygiene zu stellenden Forderungen ist es noth¬
wendig, dass ärztliche Sachverständige in grösserem Masse als bisher bei
der Ausführung der Schulaufsicht betheiligt werden.
II. Eine solche Betheiligung ist erforderlich
1. in Bezug auf die konkreten Verhältnisse der einzelnen Schulen und
zwar
a) bei Errichtung neuer Schulen in Bezug auf die Prüfung des Bau¬
platzes und seiner Umgebungen, sowie auch des Trinkwassers,
ferner in Bezug auf die Baupläne einschliesslich der inneren Ein¬
richtung und auf die Bauabnahme,
b) bei bestehenden Schulen in Bezug auf die Umgebungen und das
Trinkwasser, die Beschaffenheit der Luft und der Beleuchtung in
den Schulzimmern, die Subsellien und die Lehrmittel, die allge¬
meine Reinlichkeit, die Beschaffenheit der Abtritte, die Heizung
und Ventilation, die Spiel- und Turnplätze;
2. in Bezug auf den Gesundheitszustand der einzelnen Schüler
a) thunlichst bald nach der ersten Aufnahme eines Kindes in die
Schule,
b) während des späteren Schulbesuchs, insbesondere bei anstecken¬
den Krankheiten und zwar sowohl bei chronischen (Grind, Krätze,
Augenentzündung, Tuberkulose, Syphilis), als bei akuten (Pocken,
Scharlach, Diphtheritis, Masern, Keuchhusten, Genickstarre, Ruhr,
Typhus);
3. in Bezug auf die Lehrer durch Betheiligung an den Lehrerconferenzen
und an dem Unterrichte in den Seminaren.
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— 173 —
Die grössere Betheiligung der Aerzte an der Schulaufsicht soll auch
dazu dienen, die durch die Schulen für die Gesundheit der Schüler etwa
hervorgebrachten Schäden im Allgemeinen weiter zu erforschen.
III. Dass städtische Verwaltungs- oder andere Aufsichtsbehörden einen
Arzt als Mitglied in die Schuldeputationen und Commissionen oder bei
höheren Schulen in die Curatorien wählen, ist wünschenswerth. Vorzu¬
schreiben, dass es überall geschehen müsse, erscheint bedenklich, da es
zur Zersplitterung der Kräfte des Arztes, namentlich wenn derselbe ein
beamteter Arzt ist, führen kann. »
IV. In Betreff der Einrichtung der ärztlichen Schulaufsicht sind vom
medizinischen Standpunkte aus folgende Vorschläge zu machen.
1. Dje Baulichkeiten und Einrichtungen der Schulen sowie deren
Umgebung sind vom Arzt in periodischer Wiederkehr zu unter¬
suchen. Es ist dabei ein nach einem vorgeschriebenen Formular
aufzustellender Fragebogen zu benutzen und an die Vorgesetzte
Schulaufsichtsinstanz vom Arzt einzusenden. In einem Zeitraum
von 3—5 Jahren soll jede Schule mindestens einmal nach dieser
Richtung revidirt sein.
2. Der Gesundheitszustand der Schüler ist soweit als thunlich bald
nach Beginn jeden Schulhalbjahrs einmal vom Arzt zu untersuchen.
Soweit es sich um solche Schüler handelt, welche zum ersten
Male in eine Schule eintreten, hat der Arzt jeden einzelnen zu
besichtigen und die etwa vorhandenen Mängel festzustellen. Bei
allen anderen Schülern ist die Untersuchung jedes Einzelnen nicht
erforderlich. Es kommt nur darauf an, dass der Arzt durch Rück¬
sprache mit dem Lehrer, durch Einsicht der Klassenbücher und
alsdann soweit nöthig, durch Untersuchung einzelner Schüler
ermittelt, ob in der Schule Massregeln zu treffen seien, um
grössere Schäden zu verhüten.
Im Uebrigen bewendet es betreffs der ansteckenden Krank¬
heiten auch für die Schulen bei den bestehenden besonderen
sanitätspolizeilichen Vorschriften.
3. Zur Sicherung des Erfolges der ärztlichen Untersuchung und An¬
regung zur Abhülfe ist zu 1 von der Aufsichtsbehörde, zu 2 von dem
Schulvorstande oder Director dem Arzt über das Veraijlasste Mitthei-
lunngzu machen, welchem frei steht, Beschwerden gegen das Verfügte
bei der höheren Instanz anzubringen. Ein Recht zu selbststän¬
digen Anweisungen an die Lehrer hat der Arzt nicht; nur insofern
es sich bei ansteckenden Krankheiten darum handelt, einem kranken
Kinde den sofortigen Schulbesuch zu verbieten, hat er den Lehrer
darum zu ersuchen und wird solchem Ersuchen sofort Folge zu
leisten sein.
4. Die Vorgesetzten staatlichen Verwaltungsbehörden bestimmen,
welche Aerzte, unter welchen Bedingungen und für welche Schulen
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174
sie bei der Schulaufsicht nach den obigen Massgaben zu betheili¬
gen sind.
Besondere Schulärzte sind nur bei gesonderten Schulanstalten
mit Alumnaten und in grossen Städteri erforderlich.
Für einzelne Untersuchungen in besonderen Fällen sind ge¬
schulte Specialisten zu empfehlen.
V. Die obigen Bestimmungen gelten zunächst für alle öffentlichen
Schulen; für Privatschulen und für alle Anstalten, in denen Kinder unter
6 Jahren aufbewahrt oder verpflegt werden, aber nur soweit die Zahl der
vorhandenen geeigneten Aerzte es gestattet.
Entwürfe für einfache ländliche Schulgebäude nebst dazu ge-
, hörigen Erläuterungen von Geh. Ober-Regierungsrath Spiecker,
Vortragendem Rath im Königl. preussischen Cultusministerium, mitgetheilt
den Königl. Regierungen durch Cirkular-Erlass des Ministers der
geistlichen etc. Angelegenheiten vom 24. Januar 1888 (gez. in
Vertr. Lucanus) und vom 7. Juli 1888 (gez. i. A. Greiff).
1. Allgemeines.
1. Baustelle: Bei der Wahl eines für eine Schulanlage in Aussicht
zu nehmenden Grundstücks kommen vorzugsweise folgende Rücksichten
in Betracht:
Die Lage des Grundstücks soll möglichst in der Mitte des Schulbezirks
angenommen werden, damit von allen entferntesten Punkten desselben an¬
nähernd gleiche Wege entstehen. Sie muss gesunden, trockenen und tech¬
nisch möglichst günstigen Baugrund aufweisen, frei von störender und
gesundheitsschädlicher Nachbarschaft sein und die Anlage eines Brunnens
mit gutem Trinkwasser gestatten. Eine leicht geneigte, die Abwässerung
befördernde Gestaltung der Oberfläche ist einer ganz ebenen Bodenlage
meistens vorzuziehen.
Zum Schutze gegen rauhe Winde und Sonnenhitze ist eine mit Bäumen
und Sträuchem bestandene Baustelle oft erwünscht, doch darf die Be¬
pflanzung dem Schulgebäude nicht Licht und Luft verkümmern oder die
Lage dumpf und feucht machen.
2. Bei Anordnung der Gebäude auf der Baustelle sind alle
mit Fenstern versehenen Wände von den Nachbargrenzen, auch wenn diese
zur Zeit noch nicht bebaut sind, soweit entfernt anzulegen, dass keine
künftige Bebauung oder Bepflanzung des Nachbargrundstücks diesen Fen¬
stern Licht- und Luftzuführung entziehen oder auch nur schmälern kann.
Ganz besonders gilt dies von solchen Wänden, deren Fenster zur Beleuch¬
tung eines Schulzimmers dienen. Für diese ist die Lage, wenn irgend
möglich, so zu wählen, dass reines Himmelslicht unmittelbar bis zu den
von der Fenster wand am weitesten entfernten Schülersitzen einfallen und
die Tischplatte treffen kann.
In der Regel sind Scbulzimmer und Lehrerwohnungen in demselben
Gebäude zusammenzufassen. Dagegen empfiehlt es sich, die erforderlichen
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Wirthschaftsgebäude (Stallung, Scheune pp.), sowie die. Abtritte nicht »nur
von dem Schulhause räumlich zu trennen, sondern sie auch in einem
solchen Abstande von demselben zu errichten, dass sie keine schädlichen
oder belästigenden Einflüsse auf dasselbe ausüben können. Die Abtritts¬
anlage ist oft zweckmässig mit dem Stallgebäude zu verbinden oder an
dasselbe anzulehnen. Ebenso werden besondere Scheunengebäude nur in
dem selteneren Falle eines grösseren Umfangs der Schulländereien nöthig
sein, während in den meisten Fällen die Anlage von Stall und Scheune
unter einem Dach vorteilhafter erscheint. Selbstverständlich ist der Umfang
aller dieser Wirthschaftsräume von dem nach der Grösse des dem Lehrer
zugewiesenen Landes nachzuweisenden Raumbedarf abhängig.
Bei Bestimmungen der den einzelnen Gebäuden auf dem Grundstück
anzureihenden Stallung ist auf möglichste Uebersichtlichkeit der Gesammt-
anlage Bedacht zu nehmen. Namentlich aber muss der nach der Zahl
der Schulkinder zu bemessende Platz, welcher diesen zum Bewegen und
Spielen in den Unterrichtspausen dient, sowie der Zugang zu den Abtritten
von der Lehrerwohnung oder dem Schulzimmer aus sich bequem über¬
sehen lassen.
Die Abtrittsanlage wird, den ländlichen Verhältnissen entsprechend,
gewöhnlich wohl eine möglichst dicht herzustellende Grube erhalten, wobei
jedoch die bekannten vollkommeneren, die Reinheit des Untergrundes besser
sichernden Einrichtungen für die Beseitigung der Auswurfstoffe nicht aus¬
geschlossen, und bei dichterer, mehr den städtischen Verhältnissen sich
annähernder Bebauung sogar zu fordern sind. Jedenfalls muss aber darauf
geachtet werden, dass Tiefbrunnen für Trinkwasser von Abtritts- und
Düngergruben soweit als möglich entfernt angelegt werden, wobei auch die
Strömungsrichtung des den Brunnen speisenden Grundwassers in Betracht
kommen, überhaupt jede Vorsicht angewendet werden muss, um eine Ver¬
unreinigung des Brunnenwassers zu verhüten.
Ueber die Himmelslage der Baulichkeiten, namentlich der Schulzimmer,
lassen sich schwer allgemein gültige Bestimmungen treffen, einmal weil
örtliche Verhältnisse oft in zwingender Weise die Anordnung auch in dieser
Hinsicht beeinflussen, sodann aber auch, weil die verschiedenen hier gel¬
tend zu machenden Forderungen nicht selten mit einander in Widerspruch
stehen. So wird einerseits zwar mit Recht eine sonnige Lage als gesund¬
heitlich vortheilhaft angesehen, während doch andrerseits nicht zu leugnen
ist, dass unmittelbare Sonnenbestrahlung der Fenster eines Schulzimmers
während der Unterrichtszeit in mehr als einer Hinsicht störend und nach¬
theilig wirken kann. Ist man in der Lage, die Himmelsrichtung für die
Fensterwand des Schulzimmers frei zu bestimmen, so wird man daher
wohl am besten die Anordnung so treffen, dass der Raum zwar in der
Zeit vor oder nach dem Unterricht von der Sonne bestrahlt wird, soweit
möglich aber nicht auch während der Unterrichtszeit. Kann man jedoch
eine sonnige Lage wegen sonstiger örtlicher Verhältnisse nicht vermeiden,
so ist durch passende Vorkehrungen an den Fenstern dafür zu sorgen,
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dass die wesentlichsten Nachtheile des unmittelbaren Sonnenscheins —
starke Erhitzung und zu grelle Beleuchtung — nach Möglichkeit abgedämpft
werden. Von den der Sonne zugewendeten Lagen wird vielleicht die süd¬
liche deshalb noch am wenigsten jenen Belästigungen ausgesetzt sein, weil
im Sommer die Strahlen der Mittagsonne unter so steilem Winkel einfallen,
dass sie nicht tief in das Innere des Raumes eindringen und daher weniger
störend wirken, als die flach einfallenden Strahlen der Morgen- und be¬
sonders der Abendsonne. Letztere ist jedoch für ländliche Schulen deshalb
weniger lästig, weil in diesen die Unterrichtszeit schon mit den früheren
Nachmittagsstunden aufhört *)•
II. Das Schulhaus.
1. Schulzimmer. Hinsichtlich der einem Schulzimmer zu gehenden
Abmessungen gilt zunächst die Regel, dass mehr als 80 Kinder
nicht in einer Klasse zu gemeinschaftlichem Unterricht vereinigt
werden sollen und nur in seltenen Ausnahmefällen aus besonderen Rück¬
sichten eine etwas grössere Zahl, bis zu höchstens 100 Schüler, zugelassen
werden kann.
a) Grundmass für die Bestimmung des Flächenraumes.
Lange Zeit galt der Einheitssatz von 0,60 qm für jeden Schüler als Grund¬
mass für Flächen-Berechnung des Schulzimmers, so dass z. B. für eine
Klasse von 80 Schülern das Zimmer etwa 8,00 m lang und 6,00 m breit,
also mit einem Flächenraum von 48 qm angenommen wurde. Diese Ab-
1) Betreffs der Bauart wird bei den Erläuterungen der einzelnen Entwürfe
gesagt: Den Entwürfen liegt durchweg die Annahme des Massivbaues zu
Grunde mit gewöhnlichem Backstein für das aufgehende Mauerwerk, welches in
seinen Aussenflächen ohne Mörtelputz nur in sauberer Fügung hergestellt werden
soll. Diese Ausführungsweise empfiehlt sich überall da. wo genügend feste und
wetterbeständige Steine zu haben sind, wobei es gar nicht etwa auf die Ver¬
wendung besonders sauberer „Blendsteine“ abgesehen ist, da ausgesuchte ge¬
wöhnliche Steine von festem Brand dem Bedürfniss völlig entsprechen. Ebenso
ist auf die Verwendung besonderer Formsteine nicht gerechnet.
Das Dach ist in Ziegeln (Pfannen oder Bieberschwänze) gedeckt ange¬
nommen. In einigen der Entwürfe ist dasselbe mit mässigem Ueberhang durch
Vorkragen der Sparren, in andern ohne solchen, auf massivem Gesims ansetzend
gezeichnet. Welche Dachform in jedem Einzelfalle zu wählen sei, unterliegt
näherer Erwägung je nach den örtlichen Verhältnissen, wobei nur zu beachten
bleibt, dass der Dachüberhang nicht etwa den Fenstern — besonders denjenigen
des Schulzimraers — das Licht entzieht,
Wie hoch der Fussboden des Erdgeschosses über dem Erdboden
sich erhebt, muss vorzugsweise mit Rücksicht auf die Grundwasser und Ent¬
wässerungsverhältnisse der Baustelle bestimmt werden, da die Kellerräume stets
wasserfrei sein müssen. Eine Erhebung von mindestens 0,50 Meter ist unter
allen Umständen zu empfehlen. Liegt das höchste Grundwasser so nahe an
Tag, dass die Anlage wasserfreier Keller unter dem Hause eine zu bedeutende
Erhebung des Erdgeschosses bedingen würde, so müssen Kellerräume entweder
im Wirthschaftsgebäude, oder in einem besonderen Kellerbau angelegt werden.
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177 —
messungen genügen jedoch nur unter Voraussetzungen, welche jetzt nicht
mehr als zulässig erachtet werden. Reichen sie aber allenfalls für Schul¬
klassen grösster Abmessung noch knapp aus, so erweisen sie sich als
völlig ungenügend bei solchen Zimmern, welche für eine kleinere Schüler¬
zahl bestimmt sind und um so mehr, je kleiner diese Zahl ist. Dies er¬
klärt sich leicht aus dem Umstand, dass die neben den Schüler-Sitzen- und
-Tischen unerlässlichen Freiräume — Gänge zu den Plätzen, Vorplatz an
der Thür, dem Ofen, dem Lehrersitz pp. — nicht im gleichen Verhältniss
mit der Schülerzahl wachsen und abnehmen, vielmehr einen grösseren
% Bruchtheil der Zimmerfläche beanspruchen bei einem kleineren als bei einem
grösseren Schulzimmer.
Man sieht sich daher zu einer andren Form der Raum-Ermittlung ge-
nöthigt, bei welcher von einer ordnungsmässigen Aufstellung und Grösse
der Schulbänke, sowie einer genügenden Bemessung der Freiräume pp.
ausgegangen werden muss. In einer einklassigen Volksschule sind Kinder
vom 6. bis 14. Lebensjahre unterzubringen. Um den verschiedenen Ent¬
wicklungsstufen der Körpergrösse wenigstens einigermassen zu entsprechen,
müssen daher Bänke und Tische von verschiedenen Abmessungen auf¬
gestellt werden. Gewöhnlich nimmt man drei verschiedene Abstufungen
der Sitzgrösse an, welche einen Flächenraum von je 48 auf 68,
bezw. 50 auf 70 und 52 auf 72 Gentimeter beanspruchen. (Dass
ausserdem auch die Höhe der Sitze und Tische den Altersstufen ent¬
sprechend bemessen werden muss, kann hier nur beiläufig angedeutet
werden.) Die Freiräume sind so zu bemessen, dass von der dem Lehrer¬
sitz zunächst stehenden Schülerbank bis zur Wand mindestens 1,70 Meter
freier Abstand verbleibt, während an der Fensterwand entlang ein Gang
von mindestens 0,40, in der Mitte zwischen zwei Bankreihen ein solcher
von 0,50 und an der Ofenwand von 0,60 bis 0,80 Meter offen zu halten
ist. Zwischen der Rückwand und dem hintersten Schülersitz bleiben
wenigstens 0,30 Meter frei. Trifft man nun unter Beachtung dieser Masse
die Raumeintheilung des Schulzimmers, so ergibt sich bei ganz grossen
Klassen ein Satz von etwa 0,64 Quadratmeter für jedes Kind,
der sich mit der Abnahme der Klassengrösse bis zu 0,74 Qua¬
dratmeter steigert.
Bemerkt sei, dass hierbei wenigstens vier- und fünfsitzige Bänke an¬
genommen sind, seltener dreisitzige. Das allerdings bei Weitem vollkom¬
menere System durchweg zweisitziger Bänke, welches jedem Schüler ge¬
stattet, beim Aufstehen in den freien Zwischengang hinauszitfreten, dem
Lehrer aber, zu jedem einzelnen Schüler unmittelbar zu gelangen, erfordert
bei Weitem mehr Raum — etwa 1,00 bis 1,20 Quadratmeter für jeden
Schüler — und wird daher bei ländlichen Schulen wohl nur in selteneren
Fällen Anwendung finden können.
b) Höhe des Schulzimmers. Für die dem Klassenzimmer zu ge¬
bende lichte Höhe kommen verschiedene Rücksichten in Betracht. Zu¬
nächst kann man von der Bestimmung eines als nothwendig zu erachtenden
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Rauminhalts ausgehen, welcher jedem im Zimmer Anwesenden eine be¬
stimmte Luftmenge zumisst. Schon aus dieser Erwägung würde sich für
kleinere Schulzimmer eine etwas geringere Höhe als zulässig ergeben wie
für grössere, da erstere einen im Verhältniss zur Besucherzahl grösseren
Flächenraum erhalten als letztere. Aber auch aus einem anderen Grunde
kommt dem grösseren Raume bei sonst gleichen Voraussetzungen eine
grössere Höhe zu. Um nämlich die Länge des Schulzimmers nicht in
unzweckmässiger Weise zu steigern, wird man auch die Tiefe desselben
mit der Raumgrösse wachsen lassen. Da nun die Beleuchtung des Zim¬
mers bis zu dem von der Fensterwand entferntesten Sitzplatz, wenn irgend 9
möglich, durch unmittelbar einfallendes Himmelslicht erfolgen soll, so be¬
darf der Raum, um das Licht vom Fenster aus unter gleichem Winkel
nach der Tiefe eintreten zu lassen, bei grösserer Tiefe (Breite) auch einer
grösseren Höhe.
Für die Beschränkung der Raumhöhe auf ein als noch zulässig er¬
achtetes Mindestmass sprechen vor allem Ersparungsrücksichten, da sowohl
die Baukosten als auch die Schwierigkeit und die Kosten der Heizung des
Raumes mit der Höhe desselben wachsen. Man hat daher in früherer
Zeit nicht selten die Zimmerhöhe in einer die Luft- und Lichtverhältnisse
auf das schlimmste gefährdenden Weise beschränkt und Abmessungen für
dieselbe gewählt, die jetzt in vielen Landestheilen sogar für Wohnräume,
in welchen sich doch immer nur eine vergleichsweise geringe Zahl von
Personen dauernd aufhält, als zu klein erachtet und baupolizeilich unter¬
sagt sind. Die auf diese Weise in vielen Landestheilen altherkömmliche
Gewöhnung an niedere Räume in Zusammenhang mit den Schwierigkeiten,
welche meistens bei Beschaffung der Mittel für Schulbauten den Gemeinden
entstehen, lassen auch heute noch jede zulässige Beschränkung der Raum¬
höhe in den meisten Fällen als geboten erscheinen. Doch ist das Mass
von 3,20 Meter schon seit längerer Zeit als das geringste ange¬
nommen worden, welches noch für die Lichthöhe eines ländlichen Schul¬
zimmers zugelassen wird. Bei Annahme der oben entwickelten Flächen¬
einheitsmasse ergeben sich dann auf den Kopf mindestens 2 bis 2,37
Kubikmeter Luftraum — freilich geringe Masse, welche nur in Anbetracht
der kürzeren Unterrichtsdauer einer Dorfschule überhaupt als zulässig er¬
scheinen. Geht man nun von diesem noch zulässigen Höhen-Kleinstmass
aus und wendet es auf ein Schulzimmer kleinster Abmessungen an, in
welchem jeder Schüler einen Flächenraum von 0,74 Quadratmeter bean¬
sprucht, algo einen Luftraum von 2,37 Kubikmeter erhält, so müsste ein
Schulzimmer grösster Abmessungen, wenn es den gleichen Luftraum auf
den Kopf bieten soll, schon eine Lichthöhe von 3,70 Meter erhalten,
während es bei Anwendung der kleinsten zulässigen Lichthöhe von 3,20 Meter
nur 2 Kubikmeter Luftraum für jeden Schüler gewährt.
Dieses Verhältniss der Höhensteigerung bei wachsender Bodenfläche
sollte daher, wo es irgend angeht, thatsächlich Anwendung finden, beson¬
ders da es auch der zweiten Bedingung einer ausgiebigen Beleuchtung nach
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der Tiefe wenigstens annähernd entspricht. Dass die Forderung eines
Luftraums von 2 bis 27», selbst 27* Kubikmeter auf den Kopf eine sehr
mässige ist, geht übrigens u. A. daraus hervor, dass in mehreren deutschen
Staaten erheblich höhere Sätze — 3, 37« und sogar 4 Kubikmeter — vor¬
geschrieben, und dass für die Klassenzimmer unserer höheren Schulen Ab¬
messungen üblich sind, welche ebenfalls bei normaler Besetzung 4 Kubik¬
meter, mitunter auch etwas mehr Luftraum auf den Kopf gewähren.
Freilich unterliegen solche Räume meistens einer bei Weitem stärkeren
Ausnutzung als die Klassen einer Dorfschule.
c) Anordnung der Fenster des Schulzimmers. Für die aus¬
giebige Beleuchtung des Schulzimmers, welche von ebenso grosser Bedeu¬
tung ist, wie die genügende Grösse, gilt als Regel, dass die lichtgebende
Fensterfläche mindestens 7» der Bodenfläche des Raumes
messen soll.
Natürlich kommt es ausserdem noch auf eine zweckmässige Anord¬
nung der Fenster und ihre Verkeilung im Raume an. Damit das Licht
in möglichst günstigem (d. h. steilem) Winkel auch nach den entfernteren
Plätzen einfallen kann, müssen die Fenster so hoch als irgend mög¬
lich angelegt werden, so dass ihr Sturz dicht an die Zimmerdecke reicht,
was bei passender Gonstruktion der letzteren sehr wohl angeht. Die
Brüstungshöhe ist dagegen zweckmässig etwas grösser, als in Wohn-
räumen meist üblich, etwa auf 1 Meter anzunehmen, da das unter
Augenhöhe einfallende Licht blendend wirkt. Es wird deshalb auch nicht
selten empfohlen, die unterste Fensterscheibe — etwa durch Anstreichen
mit Oelfarbe — abzublenden. Hierdurch soll zugleich den Schälern die
Möglichkeit benommen werden, ihre Aufmerksamkeit vom Unterricht ab
und nach Aussen zu richten.
Als bekannt darf angenommen werden, d^ss den Schülern das Licht
nur von links, nie von rechts oder gar von vorne zufallen darf. Rücken¬
licht wäre zwar in diesem Sinne nicht nachtheilig,* doch empfiehlt es sich,
Fenster in der Rückwand zu vermeiden, weil ihr Licht dem Lehrer lästig
wird, der vorzugsweise in der Richtung nach dieser Wand hin schauen
muss, um seine Klasse zu überblicken. Die demgemäss nur auf der links¬
seitigen Langwand anzuordnenden Fenster werden am besten in gleichen,
nicht zu grossen Abständen vertheilt, damit der Raum in allen Theilen
möglichst gleichmässig beleuchtet ist.
Tiefklassen sind einer guten Beleuchtung nur bei mehr als gewöhn¬
licher Lichthöhe und verhältnissmässig grösserer Fensterfläche fähig. Ihre
Anordnung empfiehlt sich daher im Allgemeinen für Dorfschulen nicht.
Da das wirksamste Licht aus den oberen Theilen des Fensters kommt, so
ist es wichtig, den Sturz desselben gradlinig oder nur flachgebogen zu
gestalten, dagegen Rundbogen und andere der Lichtgabe ungünstige Ab¬
schlussformen bei Schulfenstern zu vermeiden.
d) Anlage der Thür. Die Thür des Schulzimmers liegt am zweck-
mässigsten so, dass der Eintretende im Gesicht und nicht im Rücken der
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auf ihren Sitzen befindlichen Schüler erscheint, weil nur so vermieden
wird, dass die Kinder, sich nach demselben umwendend, die Ruhe und
Ordnung in der Klasse stören. Auch ist es für den Lehrer oder den
Schulaufsichtsbeamten werthvoll, gleich beim Eintreten die Klasse überblicken
zu können. Dass die Thür des Klassenzimmers — ebenso wie alle
sonstigen dem Schulverkehr dienenden Thüren — nach Aussen auf-
schlagen müssen, geht schon aus den bekannten Vorschriften über Ver¬
meidung von Feuersgefahr (vom J. 1884) hervor, welche überhaupt bei
Schulbauten durchweg Anwendung finden sollen.
e) Heizung und Lüftung. Der Ofen erhält am zweckmässigsten
seine Stelle in der Mitte der den Fenstern gegenüberliegenden Langwand.
Für die östlichen Landestheile ist der hier allgemein übliche Kachelofen
mit unterbrochener Feuerung — im Gegensatz zu den im Westen her¬
kömmlichen, meistens eisernen Oefen mit dauernder Feuerung (Windöfen,
Füllöfen pp.) — wohl die nächstliegende Anordnung. Doch bedarf das
Schulzimmer bei diesem den Luftwechsel so gut wie gar nicht befördern¬
den Heizkörper noch besonderer, wenn auch sehr einfacher Vorkehrungen,
welche eine stetige Erneuerung der Zimmerluft, namentlich in der kalten
Jahreszeit bewirken, wenn die einfachste Art der Lufterneuerung, das Oeflnen
eines Fensters oder einer Fensterklappe pp. wenigstens während des Unter¬
richts ausgeschlossen ist.
Am einfachsten und doch hinreichend wirksam ist die Anordnung
eines Lüftungsrohrs, welches nahe neben dem Schornsteinrohr im Mauer¬
werk ausgespart und von diesem angewärmt, die verbrauchte Luft über
Dach ableitet. Ein auf die Rohrmündung aufgesetzter Saugkopf wird die
Wirkung des Rohrs verstärken, ebenso die Einlage einer Eisenplatte in die
Mauergänge zwischen Schornstein- und Abluftrohr. Verschliessbare Oeff-
nungen nächst dem Fussboden und der Decke geben Gelegenheit, je nach
Bedarf die Abluft unten oder oben abzusaugen, ln der Regel wird während
der Heizperiode der untere Schieber geöffnet sein, während der obere
wesentlich den Zweck hat, bei zu hoch gesteigerter Temperatur die wärmsten
Luftschichten, welche sich an der Decke sammeln, unmittelbar entweichen
zu lassen.
Um die als Ersatz für die Abluft von Aussen kommende frische Luft
nicht ganz so kalt, wie sie im Freien ist, eintreten zu lassen, hat man
auch eine einfache Vorwärmung derselben angeordnet, indem man durch
den Ofen ein oben offenes Rohr führt, dessen unteres Ende mit der freien
Luft in Verbindung steht. Die im Rohr befindliche Luft steigt, durch den
Ofen angewärmt, aufwärts und tritt durch die obere Rohrmündung in’s
Zimmer aus, die Aussenluft vom Freien her nachsaugend. Es ist jedoch
dringend zu empfehlen, den Theil dieser Rohrleitung, welcher die Luft von
Aussen dem Vorwärmerohr im Ofen zuführt, so kurz wie möglich und
zugleich so zu gestalten, dass es stets ohne besondere Schwierigkeit von
dem in demselben sich niederschlagenden Staub befreit und überhaupt rein¬
gehalten werden kann, damit nur unverdorbene Luft dem Zimmer zugeföhrt
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“T“ 181 —
wird. Auch das im Ofen liegende Wärmerohr muss sich leicht reinigen
lassen. Wie diese Anordnung in jedem Einzelfall zu treffen ist, muss nach
örtlichen Verhältnissen bestimmt werden.
0 Anordnung der Decke. Die Decke des Schulzimmers wird
am zweckmässigsten so angeordnet, dass nicht die Balken, sondern Unter¬
züge auf der Fenster- und der Ofenwand lagern, während die Balken mit
diesen Wänden gleichlaufend gestreckt sind. Hierdurch wird erreicht,
dass die Fenstersturze fast unmittelbar an die Balkenlage reichen können
und so dem Zimmer den möglichst günstigen Lichteinfall sichern. Da
die Unterzüge natürlich auf die Zwischenpfeiler der Fensterwand treffen,
so können sie so angeordnet werden, dass ihre Oberkante annähernd mit
dem Fenstersturz in gleicher Höhe liegt. Die Zweckmässigkeit einer
solchen Anordnung im Interesse der Beleuchtung ist schon oben erörtert
worden.
g) Umfassungswände. Als erapfehlenswerth ist zu bezeichnen,
dass in Schulzimmern alle vorspringenden Mauerecken so viel als möglich
vermieden werden, um jede Gelegenheit zum Abstossen des Putzes thun-
lichst zu vermeiden. Daher ist es zweckmässig, die Fensterbrüstungen
nicht, wie sonst üblich, einzunischen, sondern mit der Innenwand bündig
auszuführen.
h) Fussboden. Ist das Schulzimmer nicht unterkellert, so darf
der Holzfussboden nicht unmittelbar auf den Untergrund oder die Füll¬
erde gelegt, sondern muss über einem Hohlraum gestreckt werden, durch
welchen die Zimmerluft streicht. Ausscnluft in diesen Hohlraum einzu¬
leiten empfiehlt sich nicht, wenigstens nicht in der kalten Jahreszeit, da
dies den Boden „fusskalt“ machen würde. Die technischen Anordnungen,
durch welche eine die Erhaltung des Holzwerks sichernde, stetige, wenn
auch nur mässige Luftbewegung unter dem Fussboden bewirkt wird,
können als bekannt vorausgesetzt werden. Die hier empfohlene Massnahme
gilt übrigens auch für nicht unterkellerte Wohn- und Schlafzimmer der
Lehrerwohnung.
2. Die Verkehrsräume. Der Flur, welcher dem Schülerverkehr
dient, kann zweckmässig auch als gewöhnlicher Zugang zur Lehrerwohnung
benutzt werden. Doch ist daneben ein dem Wirtschaftsverkehr des
Lehrers dienender Neben- oder Hinterflur, der meistens wohl nach dem
Hofe führen wird, als erforderlich zu erachten, damit in besonderen Fällen,
z. B. bei Krankheiten in der Familie des Lehrers, der Schulverkehr von
dem Hausverkehr der Lehrerwohnung völlig gesondert werden kann. Die
Breite des Hauptflurs richtet sich natürlich nach der Grösse des in
ihm sich abspielenden Schülerverkehrs, sollte jedoch nie geringer als
2,50 Meter angenommen werden.
Liegt ein Schulzimmer nicht im Erdgeschoss, sondern im ersten Stock,
so muss die zu ihm führende Treppe den bekannten Vorschriften zur Ab¬
wendung von Feuersgefahr vom 27. Oktober 1884 durchweg entsprechen.
Namentlich sind Keilstufen unbedingt zu vermeiden und die Steigungs-
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Verhältnisse so bequem als möglich unter Rücksichtnahme auf die Körper¬
grösse der sie vorzugsweise benutzenden Kinder anzuordnen.
Die vor der Hausthür nothwendigen Freistufen sind besonders bequem
anzuordnen und dürfen nicht unmittelbar vor der Thür beginnen; sie
müssen vielmehr auf einen freien und genügend breiten Vorplatz vor der
Thür münden. Bei Bemessung der Breite dieses Vorplatzes ist auch dar¬
auf zu achten, dass die Hausthürflügel vorschriftsmässig nach Aussen auf-
schlagen sollen. Diese Freitreppen sind, besonders bei etwas grösserer
Stufenzahl, stets mit seitlichen Wangen und Schutzgeländern zu versehen,
so dass sie nicht von drei Seiten her ansteigen. Uebrigens ist die Höhe
nach Möglichkeit zu beschränken und, wenn die Ortsverhältnisse zu einer
mehr als gewöhnlichen Erhöhung des Erdgeschosses über den umge¬
benden Boden zwingen, auf die Anordnung von sanft ansteigenden Ram¬
pen, welche die Zahl der Freistufen vermindern, thunlichst Bedacht zu
nehmen.
3. Die Lehrerwohnung. Wie schon im Eingang bemerkt wurde,
liegen die Lehrerwohnungen gewöhnlich mit den Schulräumen unter einem
Dach. Als Raumbedarf für eine Familienwohnung gelten: zwei Stuben,
etwa zu 20 und 25 qm, ein bis zwei Kammern, zu 12 bis 15 qm, eine
Küche, etwa zu 15 qm Fläche, sowie die nöthigen Keller- und Bodenräume.
Eine der Kammern kann auch im Dachraum untergebracht werden. Ob
besondere Wasch- und Back-Gelegenheit angezeigt erscheint, hängt von
Ortsverhältnissen ab.
Ein unverheiratheter (Hülfs-) Lehrer erhält eine Stube nebst Schlaf¬
kammer. Die lichte Höhe der Zimmer einer Lehrerwohnung ist mit etwa
3 Meter ausreichend bemessen, darf aber selbst bei Dachkammern, soweit
sie zum dauernden Aufenthalt von Menschen (z. B. als Schlafkammem)
dienen sollen, nicht kleiner als 2,50 Meter sein. Liegt eine solche Dach¬
kammer in der Schräge des Daches, so muss ihre durchschnittliche
Höhe mindestens 2,50 Meter betragen.
III. Die Nebenanlagen.
I. Die Abtritte. Der Umfang einer Schulabtrittsanlage bestimmt
sich nach der Zahl der Schüler dergestalt, dass für je 40 Knaben
und für je 25 Mädchen ein Sitz anzunehmen ist, ausserdem für
jede Familienwohnung ein besonderer abgeschlossener Sitz. Für die Knaben
treten noch Pissoirstände hinzu, welche am besten in einem mit Schutz¬
dach und Schirmwänden versehenen, sonst aber offen und luftig zu hal¬
tenden Anbau untergebracht werden. Auf schickliche Trennung der Zu¬
gänge für die den verschiedenen Geschlechtern bestimmten Anlagen ist
Bedacht zu nehmen. Jeder Sitz ist in einer besonderen, durch dichte
Brettwände von der benachbarten getrennten Zelle anzuordnen.
Für möglichst wasserdichte Anlage der Grube ist zu sorgen. Auch
nach oben hin ist dieselbe dicht und sicher abzuschliessen und durch
Röhren, welche über Dach führen, zu lüften. Damit die Grubengase leichter
durch diese Röhren in’s Freie als durch die Sitzöflhungen in die Abtritts-
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zelle ausströmen, ist von der letzteren aus ein Trichter mit Fallrohr so
anzuordnen, dass die untere Mündung des letzteren tiefer in den Grubefi-
raum hinabreicht, als die untere Oeffnung der Dunströhren, welche daher am
höchsten Punkte der Grubenabdeckung anzubringen ist. Dass auch sonst noch
für gute Lüftung des Abtrittsraumes zu sorgen sei, versteht sich wohl von selbst.
Die Abtrittsanlage kann entweder als kleiner Freibau für sich angelegt,
oder mit dem Stallgebäude vereinigt werden. In letzterem Falle ist aber
für guten Abschluss gegen die Stallräume zu sorgen.
2. Die Wirthschaftsanlagen. Ob besondere Wirthschaftsgebäude
überhaupt erforderlich sind, richtet sich nach den örtlichen Verhältnissen,
namentlich aber danach, ob und in welchem Umfange die Lehrerstelle mit
Landwirtschaftsbetrieb verbunden ist. In den meisten Fällen wird ein
kleines Gebäude, welches Stallung und Vorrathsgelasse für Futter, Stroh,
Brennstoffe etc. umfasst, genügen. Hinsichtlich der Anordnung und Grösse
der einzelnen Abtheilungen gelten die allgemeinen für ländliche Wirth¬
schaftsgebäude bestehenden Regeln, so dass hier besondye Angaben über¬
flüssig erscheinen. Dass nirgendwo über das nachgewiesene Raumbedürfniss
hinausgegangen werden darf, liegt auf der Hand.
3. Der Brunnen. Da im Flachlande Laufbrunnen meistens nicht
möglich sind, so erübrigt nur die Anlage eines Tiefbrunnens, der jedoch
auf keinem Schulgehöft fehlen sollte, sofern der Untergrund desselben
brauchbares Wasser liefert. Auf die Vorsorge für die Reinhaltung des¬
selben ist schon im Eingang hingewiesen worden. Offene Schöpf- oder
Ziehbrunnen sind — schon der mit ihnen verbundenen Gefahr des Hin-
einfallens wegen — nicht zu empfehlen, weshalb stets auf die Anlage
eines abgeschlossenen Kesselbrunnens mit Pumpe Bedacht zu
nehmen ist. Wo es die Bodenverhältnisse gestatten, ist auch die Anlage
eines sog. Abessinierbrunnens nicht ausgeschlossen.
Das ganze Schulgehöft ist in fester aber einfacher Weise, unter Be¬
rücksichtigung der Ortsverhältnisse, einzufriedigen. Ein Lattenzaun wird
meistens genügen. Auch können innere Abtheilungen in Betracht kommen,
so dass z. B. Garten, Wirthschaftshof und Spielplatz für die Schuljugend
in angemessener Weise von einander gesondert werden.
*** Schularzt in Breslau. Die Verfügung der Breslauer Schul¬
behörde über die Amtsaufgaben des neu ernannten Schularztes lautet:
„Der neu ernannte Schularzt (Dr. Steuer) übernimmt als Mitglied der
städtischen Schuldeputation, unter Entbindung von seinen bisherigen Amts¬
geschäften, die Funktionen eines Schularztes, und bearbeitet in dieser
Eigenschaft alle auf die Schulgesundheitspflege bezüglichen Angelegenheiten.
Sein amtlicher Wirkungskreis erstreckt sich auf sämtliche städtische Schulen
mit Einschluss der Räume oder Anlagen, welche zum Turnen, Zeichnen oder
für sonstige Unterrichtszwecke gebraucht werden, sowie auf die der Schul¬
deputation unterstehenden Privatschulen. Demselben sind insbesondere zur
gutachtlichen Prüfung und kurzen Berichterstattung vorzulegen:
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a. die Anträge wegen Schliessung ganzer Schulen oder einzelner Schul¬
klassen im Falle eintretender Epidemien — unbeschadet der Mit¬
wirkung des betreffenden Polizeiarztes;
b. die Bestimmung und Kontrole der zu treffenden, beziehungsweise
getroffenen Desinfektions-Massregeln vor Wiedereröffnung des Unter¬
richts in den unter a. gedachten Schulen oder Schulklassen;
c. die für den Bau ganz neuer Schulen entworfenen Pläne, sowie die
Pläne für den Um- oder Erweiterungsbau bestehender Schulen bezw.
Schulklassen;
d. die Gesuche um Genehmigung zur Errichtung neuer oder Verlegung
bestehender Privatschulen, Kindergärten und Kleinkinderbewahr¬
anstalten .behufs Prüfung der Brauchbarkeit der in Aussicht genom¬
menen Schullokale nebst Zubehör.
Bei dieser Prüfung, welche eventuell an Ort und Stelle vorzu¬
nehmen ist, sind namentlich in’s Auge zu fassen:
1) die Licljt- und Luftverhältnisse innerhalb und ausserhalb der
Schulgebäude (mit Einschluss der Turnhallen);
2) die Lage der Treppen und Korridore sowie der einzelnen Unter¬
richtszimmer ;
3) die Lage und Ausdehnung der Schulhöfe und Turnplätze;
4) die Lage und Einrichtung der Bedürfnisanstalten;
5) die Zweckmässigkeit der Heiz- und Ventilationsanlagen;
6) die Raumverhältnisse der einzelnen Zimmer (Quadrat- und Kubik¬
meter) zur Feststellung der zulässigen Maximal-Schülerzahl;
e. die Grundrisse und Lagepläne der für Schulzwecke zu mietenden
Gebäude oder Klassenzimmer;
f. die Gesuche der Lehrer und Lehrerinnen aller Art um Anstellung
im städtischen Schuldienst, behufs Prüfung der Gesundheitsverhältnisse
der Bewerber und Bewerberinnen;
g. die Pensionirungs-Gesuche der Lehrer und Lehrerinnen behufs Prü¬
fung der Dienstunfähigkeit — insoweit nicht ein Zeugnis des Bezirks¬
arztes erforderlich ist;
h. zweifelhafte Fälle von Überschreitung des Züchtigungsrechtes;
i. Anzeigen über unzweckmässige oder ungenügende Reinigung, bezw.
Lüftung der Schulgebäude und Klassenzimmer, sofern dieselben auf
Mängel in der baulichen Anlage oder auf örtliche Einrichtungen zu¬
rückzuführen sind;
k. Anträge auf neu einzuführende Lehr- und Lesebücher unter Vorlegung
der letzteren behufs Prüfung von Druck und Papier;
l. alle dem Schularzt von dem Vorsitzenden der Schuldeputation be¬
sonders zugeschriebenen Angelegenheiten.
Der Schularzt soll auch berechtigt und verpflichtet sein, die Schul¬
behörde auf Missstände in schulgesundheitlicher Beziehung aufmerksam zu
machen und zur Abhilfe derselben mündlich oder schriftlich Anträge za
stellen.“ W.
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Der Internationale Congress für Ferienkolonien und ver¬
wandte Bestrebungen der Eindergesundheitspflege fand am 13.
und 14. August 1888 in Zürich statt. Den Vorsitz führte Pfarrer Bion
in Zürich, welcher bekanntlich im Jahre 1876 die erste Ferienkolonie in’s
Leben rief.
Den ersten Punkt der Verhandlungen bildeten „die physischen Erfolge
der Ferienkolonien“. Berichterstatter waren hier Prof. Dr. 0. Wyss in
Zürich und Dr. Unruh in Dresden. Aus dem Bericht des Prof. Dr. Wyss
geht hervor, dass die günstigen Ergebnisse der Ferienkolonien in Bezug
auf die Gewichtszunahme der Kinder nicht überall die gleichen sind. Wäh¬
rend am Rhein (Frankfurt, Köln) die Gewichtszunahme durchschnittlich
2—4 Kilo betrug, war bei den Schweizer Kolonien nur eine solche von
1—2 Kilo zu constatiren, bei 2—3 °/® der Kinder sogar Gewichtsabnahme.
Die Angabe, dass eine Zunahme von 1—4 cm Brustumfang durchschnittlich
nachzuweisen sei, wie es Beobachtungen in Lausanne und Brüssel ergaben,
wird von anderer Seite nicht als allgemein zutreffend anerkannt. Was die
Fortdauer der günstigen Einwirkungen auch nach der Rückkehr in die
häuslichen Verhältnisse betrifft, so ergaben eine Reihe von Wägungen in
Dresden und Bremen, dass die Gewichtszunahme noch Tnonatelang nach¬
her in den meisten Fällen bleibt. Dr. Stierlin in Zürich untersuchte bei
einer Züricher Ferienkolonie, durch Entnahme von Blutproben und Zählung
der rothen Blutkörperchen vor dem Auszug in die Kolonie und nach der
Rückkehr, die Einwirkung auf den Blutgehalt. Es ergab sich, dass bei */«
der Kinder eine Vermehrung der rothen Blutkörperchen (bis zu 26°/ 0 ) ein¬
getreten war, bei einem Drittel aber Verminderung. Nur zustimmen kann
man den Schlusssätzen des Redners, dass Bestimmung des Körpergewichts
für jede Altersstufe, Mädchen und Knaben vergleichsweise, genaue Angaben
über die Witterungsverhältnisse während des Aufenthalts in der Colonie,
ferner Berichte über die Ausdehnung der körperlichen Bewegung im Freien,
Zahl der gemachten Spaziergänge und grösseren Ausflüge, endlich Mit¬
theilungen über die Ernährungsweise und den Verbrauch von Nahrungs¬
mitteln in allen Jahresberichten der einzelnen Kolonien enthalten sein sollen.
Es wäre damit gewiss eine werthvolle Gontrolle über die Leitung der
Ferienkolonien, sowie eine wirksame Art von Rechnungsablage für die wohl¬
tätigen Spender hergestellt.
Auch Dr. Unruh-Dresden bestätigte die günstigen Angaben von
Dr. W yss. Der Grund für die am sichtlichsten durch Gewichtszunahme
sich kundgebende Aufbesserung des Gesammtbefindens der Kinder liege
nicht nur an der besseren Ernährung, sondern vor allem an der Versetzung
in bessere Lebens Verhältnisse. Es glaubt, dass es doch mehr wie bisher
nöthig sei, auch zu Hause auf die ärmeren Kinder in ähnlicher Weise
einzuwirken durch Verbesserung der Nahrung, z. B. zeitweilige Verab¬
reichung von Milch, so\tfie Jugendspiele.
Man kann dieser Meinung wohl nur beipflichten. Wenn auch bei
unsem WohnungsVerhältnissen, namentlich in den Grossstädten und bei so
vielem socialen Elend unserer Zeit für Ferienkolonien wie für Kinderhospize
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 13
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186
es gewiss stets übergenug bedürftige Kinder geben wird, so scheint doch
der Gesichtspunkt viel wichtiger und fruchtbringender, wie die Zahl der
schwächlichen, genesungs- und erholungsbedürftigen Kinder zu vermindern
ist. Gewiss ist die öffentliche Wohlthätigkeit leichter zu erschliessen, wenn
es sich um Beseitigung vorhandenen Elends und offenbarer Krankheits¬
zustände handelt; um so grösser müssten daher die Anstrengungen sein,
der Verhütung solcher Zustände wirksamer zu gestalten. Nicht die Aus¬
gleichung der hervortretenden gesundheitlichen Schäden, sondern die He¬
bung der gesammten durchschnittlichen Leistungsfähigkeit, Gesundheit und
Frische unserer Schuljugend ist das Ziel, zu welchem auch die freiwillige
Mithülfe weiter Kreise angestrebt werden muss.
Es ist eine weitverbreitete Unsitte heutzutage, das Jahr hindurch rück¬
sichtslos auf seine Gesundheit loszuwirthschaften, in der Aussicht, durch
eine mehrwöchentliche Bade- oder Erholungsreise all diese Sünden gegen
das eigene leibliche Wohl mit einemmal wieder gut machen zu können. Und
ist solche Erholungszeit vorüber, so geht wieder das alte unzweckmässige
Leben von neuem los. Diese verkehrte Mode unserer Zeit darf nicht durch
das Ferienkolonienwesen in unser Schul- und Volksleben übertragen werden.
Darum muss die Fürsorge für das leibliche Wohl der grossen Schülermasse,
welche nicht mit hinaus in die Ferienkolonien geschickt werden kann, zum
allermindesten mit gleichem Eifer bewacht und gefördert werden, wie dies
für die schon schwächlicher gewordenen Kinder durch das Ferienkolonien¬
wesen bereits der Fall ist. Die Einrichtung von sog. Stadtkolonien, wo
eine grössere Zahl von Kindern in den Ferien täglich zu Spielen und Wan¬
derungen versammelt werden und Milch verabreicht erhalten, ist ein Fort¬
schritt in diesem Sinne, und gewinnt erfreulicherweise an Verbreitung.
Ueber die „pädagogisch-moralischen Erfolge in den Ferienkolonien*
sprach Schuldirector Dr. Veith in Frankfurt a. M. Er berichtet über die
Beschäftigungen der Kinder, namentlich an Tagen mit schlechter Witterung:
„ manuelle * Uebungen, oder sagen wir Handfertigkeitsübungen, Briefschreiben,
Führung von Tagebüchern (!), Gesang und Musik. Dass hierin des Guten
bald zu viel gethan werden kann und aus „ pädagogischen “ Gründen auch
bald gethan wird, zeigt die beherzigenswerthe Mahnung des Redners: .Fast
hat es den Anschein, als ob in einzelnen Kolonien hinsichtlich geistiger
Arbeit zu viel geleistet, eine Art Schule getrieben und dadurch der Haupt¬
zweck derselben, nämlich derjenige der Erholung, beeinträchtigt werde.*
Mehr auf das Gebiet der Armenpflege führte die Frage Herr Rector
Reddersen aus Bremen. Er wünschte, dass die Frauen der besseren
Stände die Kinder nach der Rückkehr aus den Ferienkolonien den Winter
hindurch in ihren Familien aufsuchten. Die Frauen könnten so im directen
Verkehr mit den Familien sehr viel Gutes stiften, für Lüftung und Rein¬
lichkeit in den Wohnungen und zweckmässige Ernährung wirken. Letztere
sei bei den ärmeren Klassen durch Verabreichen v&n Milch und Mittagessen
in den Volksküchen zu verbessern. Schon besteht in vielen Orten beson¬
dere Milchverabreichung durch entsprechende Vereine.
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187 —
Dr. Kerez-Zürich berichtete über Heilstätten für rhachitische und
scrophulöse Kinder (See- und Landhospize); Pfarrer Berts-Genua über die
reich entwickelten Seehospize an den italienischen Küsten.
Den letzten Gegenstand der Verhandlung bildeten die Kinder- oder
Jugendhorte, welche sich schon in 60 Städten Deutschlands eingebürgert
haben. Auf der Grundlage reicher Erfahrungen sprach hierüber zunächst
Director Jung aus München, Vorstand des Münchener Knabenhortvereins
(München besitzt 5 Knaben- und 1 Mädchenhort). Die Kinderhorte sollen
einen Ersatz der Familienerziehung für solche Schulkinder bilden, deren
Eltern den ganzen Tag ausser dem Hause um’s tägliche Brod arbeiten
müssen. Die Kinder werden nach Erledigung der Schularbeiten beschäftigt
mit kleinen Handarbeiten, Gartenarbeit, wie Blumen-, Obst-, Gemüsezucht;
sie werden ferner zu Spaziergängen und zum Besuch der Badeplätze hinaus¬
geführt.
Lehrer Fisler- Zürich betont neben den Handarbeiten und der Garten¬
pflege als besonders werthvoll die Veranstaltung von Spielen im Freien
bei günstiger Witterung. Er wünscht in der Leitung der Kinderhorte mit
Recht alles Schablonenhafte und Schulmässige vermieden zu sehen.
So gab der Gongress in all diesen Dingen eine schöne Fülle von An¬
regungen und wir dürfen besonders darauf hinweisen, dass bei uns in
Deutschland auf all diesen Gebieten so vieles Gute und Hervorragende ge¬
schieht. Möge diese Bewegung noch weiterhin schöne und reiche Früchte
tragen! Schmidt-Bonn.
Dem Landessanitätsbericht für Mähren für das Jahr 1887
entnehmen wir, dass eine besondere Tabelle 17,142 notorische Brannt¬
weintrinker, d. i. 7,6 auf 1000 Einwohner, nachweist. Von 420 männ¬
lichen Pfleglingen der mährischen Irrenanstalt war bei 125 (30°/o), von
189 weiblichen bei 11 (5,8 °/o) Alkoholmissbrauch als Irrsinnsursache ange¬
führt. (Das österr. Sanitätswesen. 1889, Nr. 3.)
Nervi. Pauly.
* Der Branntwein-Consum in Holland hat im Jahre 1888 zum
ersten Male eine geringe Abnahme erfahren, nachdem bis dahin die Zu¬
nahme eine jährlich fortschreitende gewesen war. Der Verbrauch betrug
395,547 Hektoliter gegen 396,041 im Jahre 1887. Wenngleich nur lang¬
sam, scheint die wohlthätige Wirkung der neuen holländischen Schenk-
Gesetzgebung gegen das bis dahin wachsende Uebermaass des Schnaps¬
genusses sich doch zu bewähren. F.
*** Trmkerheilstätte Ellikon (an d. Thur) in der Schweiz.
Vor einigen Monaten ist durch Prof. Forel und Dr. Bleuler eine
Trinkerheilstätte eröffnet worden, für welche, wie die Genannten in den
Schweizerischen Blättern für Gesundheitspflege, 1888, Nr. 20, berichten,
folgende Grundsätze gelten sollen:
„Der Zweck der Anstalt mit kleiner Landwirtschaft ist die Heilung
der Gewohnheitstrinker, wobei das Prinzip der totalen Entwöhnung von
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- 188 -
geistigen Getränken, verbunden mit Beschäftigung, streng durchgeführt
werden soll.
Der Pensionspreis richtet sich nach den ökonomischen Verhältnissen
und nach den Ansprüchen der Pfleglinge; Minimum bis auf Weiteres:
500 Fr. jährlich.
Wenn die finanzielle Lage es gestattet, kann das Minimum später
herabgesetzt werden. Es ist kein Geschäft, sondern eine gemeinnützige
Gründung, die das Komitee in eine Stiftung umzuwandeln trachtet.
Nach den Erfahrungen anderer Trinker-Heilstätten sollte der Aufent¬
halt der Trinker mindestens 6 Monate durchschnittlich betragen, um ein
günstiges Resultat zu liefern.
Aufnahmebedingungen:
1) Freiwillige, schriftliche Verpflichtung, für eine bestimmte, je nach
dem Falle festzustellende Zeit in der Anstalt zu verbleiben, sowie sich den
Hausregeln und den Anordnungen des Hausvaters zu unterziehen.
2) Monatliche oder vierteljährliche Vorausbezahlung oder sonstige ge¬
nügende Sicherstellung der Verpflegungskosten.
3) Verweigerung der Zahlung und gröbere Verstösse gegen die Haus¬
ordnung berechtigen zur Entlassung eines Pfleglings.
4) Ausgeschlossen von der Aufnahme sind geistig erheblich defekte
oder kranke Trinker, während solche, welche selber ernstlich geheilt zu
werden wünschen, in erster Linie berücksichtigt werden.
Wir hoffen, dass unsere neue Heilanstalt günstig aufgenommen werde.
Wir haben für tüchtige Hauseltern gesorgt. Der Geist des Hauses soll
religiös, jedoch ohne konfessionelle Färbung sein.
Eine fachärztliche Beaufsichtigung wird durch monatliche Besuche von
seiten der Unterzeichneten stattfinden.
Prof. Dr. Aug. Forel (Zürich).
Direktor Dr. Eugen Bleuler.“
W.
Aus dem Verein für öffentliche Gesundheitspflege
v in Wiesbaden.
Der Niederrheinische V. f. ö. G. zählte seit vielen Jahren im hiesigen
Bezirk einige 50 Mitglieder. Das Häuflein wurde von Jahr zu Jahr eher
kleiner als grösser, da fast jedes Jahr Einige erklärten, „das Gentralblatt
nicht mehr halten zu wollen.“ Offenbar ging und geht bei den Meisten
die Mitgliedschaft beim Niederrheinischen Verein im „Abonnement“ auf das
Centralblatt auf, was um so weniger zu verwundern ist, als man ja hier
zu Lande von der Thätigkeit des Vereins so gut wie nichts merkt
Aus diesem Grunde war es auch kaum möglich, neue Mitglieder zu ge¬
winnen; den Aerzten, auf deren Beitritt man in erster Linie rechnen zu
dürfen glaubte, war zudem das Centralblatt im Lesezirkel des Aerztlichen
Vereins dargeboten.
Unter diesen Umständen machte dem Schreiber dieses sein seit drei
Jahren verwaltetes Amt als Geschäftsführer des Niederrheinischen Vereins
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189
für den Reg.-Bez. Wiesbaden wenig Freude. Um mehr Interesse für den
Verein erwecken zu können, regte er daher im vorigen Herbst die Bildung
eines Lokalvereins für öffentliche Gesundheitspflege als Zweigverein des
Niederrheinischen Vereins — gemäss § 4 dessen Statuts — an.
Wiesbaden besitzt seit etwa 10 Jahren einen Verein für „ volksver¬
ständliche * Gesundheitspflege. Die wissenschaftlichen Kreise hielten sich
von diesem Vereine durchweg fern, weil er, von Laien gegründet und ge¬
leitet, unter der Flagge der .volksverständlichen Gesundheitspflege“ offen
für das Kuriren durch Laien, die sogenannte .Naturheilkunde“, für die
Impfgegnerschaft, für Vegetarismus und dergl. agitirte. Zu den von diesem
Verein veranstalteten Vorträgen wurden gewöhnlich auswärtige .Natur-
heilkundige“ oder .Naturärzte“ verschrieben, und im Spätherbst vorigen
Jahres wurde sogar ein Vortrag des sogenannten „Magnetopathen“ Kramer,
eines früheren Schauspielers und Schauspielleiters, der seit einigen Dece-
nien in München, Breslau, Düsseldorf und anderen Orten, seit bald 2 Jahren
nun auch hier in Wiesbaden durch .magnetische“ Handauflegungen alle
innem und äussem Gebrechen mit Ausnahme der Dummheit heilt, * über
die .magnetische Heilmethode“ zugelassen oder gar veranlasst.
Gerade das letztere Vorkommniss gab den letzten Anstoss, in Wies¬
baden einen Verein für wissenschaftliche Hygiene zu begründen.
Nachdem Schreiber dieses sich mit den für die Sache massgebendsten
Persönlichkeiten besprochen und ihrer Zustimmung sich versichert hatte,
versandte er im November v. J. ein Girkular an 220 Adressen — die hiesigen
Mitglieder des Niederrheinischen Vereins, alle Aerzte, Apotheker, Chemiker
und andere Vertreter der Naturwissenschaften, der städtischen Verwal¬
tung u. s. w. —, in welchem zu einer Besprechung über die Bildung eines
Lokalvereins für öffentliche Gesundheitspflege als Zweigverein des Nieder¬
rheinischen Vereins eingeladen wurde. Das Girkular war ausser vom
Schreiber dieses unterzeichnet von: Polizei - Präsident v. Rheinbaben,
Oberbürgermeister v. Ibell, Regierungs-Medizinalrath Wagner, Kreis-
physikus Dr. Pfeiffer und Director des Lebensmittel-Untersuchungs-Amtes
Dr. Schmitt, welche übrigens in ihrer Mehrzahl nicht Mitglieder des
Niederrheinischen Vereins waren.
Aus dieser gut besuchten Besprechung ging der hiesige Verein für
öffentliche Gesundheitspflege hervor, der sich am 21. Dezember 1888 mit
50 Mitgliedern konstituirte. Die konstituirende Versammlung entschied sich
aber dahin, nicht einen Zweigverein des Niederrheinischen Vereins, sondern
einen selbständigen Verein zu begründen, und zwar deshalb, damit der
Vereinsbeitrag recht niedrig gehalten werden könne, und so die Mitglied¬
schaft Jedermann möglich sei, während im anderen Falle ein Beitrag von
mindestens 6 Mark — wovon 4 Mark für den Centralverein resp. das
Centralblatt — hätte erhoben werden müssen, was für eine unberechtigte
Schranke für die Mitgliedwerdung gehalten wurde.
Der hiesige Verein ist also, entgegen der ursprünglichen Absicht, kein
Zweigverein des Niederrheinischen Vereins geworden; er empfiehlt aber in
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190
einem Zusatzparagraphen der Statuten seinen Mitgliedern, gleichzeitig Mit¬
glieder dieses grösseren Vereins zu werden resp. auf das Centralblatt zu
abonniren.
Die Befürchtung, dass auf diese Weise dem Niederrheinischen Verein,
kein Gewinn, sondern ein Verlust an Mitgliedern erwachsen würde, ist
nicht eingetroffen. Im Gegentheil hatte Schreiber dieses die Genugtuung,
die Zahl der hiesigen Mitglieder des Niederrheinischen Vereins bis heute
von 28 auf 45 steigen zu sehen, weshalb er keinen Anstand nimmt, das
Wiesbadener Beispiel anderen Städten zur Nachahmung zu empfehlen.
Vielleicht aber würde der Niederrheinische Verein gut daran thun, den § 4
seines Statuts im Interesse einer leichtern Bildung von wirklichen Zweig¬
vereinen abzuändern. Dass solche Zweigvereine desselben tatsächlich .in
keiner Stadt bestehen, muss doch zu denken geben.
Ueber die Organisation und Thätigkeit unseres Wiesbadener Vereins
wäre nach Folgendes zu sagen.
Sein Vorstand besteht aus 15 Mitgliedern. Bei der Zusammensetzung
des Vorstandes wurde besondere Rücksicht darauf genommen, möglichst
die Vertreter aller bei der öffentlichen Gesundheitspflege interessirter Fak¬
toren in angemessenem Zahlenverhältnisse zu vereinigen. Der Vorstand
enthält: den Polizei-Präsidenten, den Oberbürgermeister, den Kreisphysikus,
die Vorstände unserer beiden chemischen Laboratorien (eines zugleich Lebens-
rnittel-Untersuchungs-Amt), vier Aerzte (einschliessl. des Kreisphysikus), davon
zwei Hygieniker von Fach (Bakteriologen), den städtischen Schulinspektor,
den Direktor der städtischen Gas- und Wasserwerke, den Kanalisations-
Ingenieur, einen Thierarzt, einen Apotheker, einen Architekten und einen
freien Chemiker. Die Zusammensetzung bürgt dafür, dass alle Angelegen¬
heiten zunächst im Vorstande eine kaum jemals an Einseitigkeit leidende
Durchberathung finden werden.
Der Vereinsbeitrag beträgt mindestens 2 Mark jährlich; vielfach sind
3, 5, einmal 6 Mark als Jahresbeitrag gezeichnet worden.
Von den bisherigen hiesigen Mitgliedern des Niederrheinischen Vereins
traten die meisten dem neuen Lokalverein bei. Sieben Mitglieder gingen
dabei dem ersteren Verein verloren, während bis jetzt 24 diesem neu bei¬
traten. Sechs Herren hielten es trotz zweimaliger Anfrage sogar
mit beigelegter frankirt er Antwortkarte nicht für der Mühe werth,
sich betreffs ihrer etwaigen Mitgliedschaft bei dem Lokalverein zu erklären,
lösten aber im Februar ihre Mitgliedskarte des Niederrheinischen Vereins
pro 1889 ein.
Die Mitgliederzahl unseres Vereins beträgt bis jetzt 135, sie ist aber
noch immer im Steigen; die naturwissenschaftlichen Kreise und Aerzte
haben sich, wie zu erwarten war, am stärksten betheiligt.
Der Verein hält in den Wintermonaten allmonatlich eine Mitglieder¬
versammlung mit vorher veröffentlichter Tagesordnung ab. ln jeder Ver¬
sammlung wird mindestens ein wissenschaftlicher (kürzerer) Vortrag ge¬
halten und über denselben diskutirt. Gern sieht der Vorstand die An-
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— 191 —
regung zur Besprechung hygienischer Fragen aus dem Kreise der Mit¬
glieder.
Grössere Vorträge finden als öffentliche, Jedermann (Herren und
Damen) unentgeltlich zugängliche, nach Bedarf zu veranstaltende Vorträge
ihren Platz.
Der Verein zeigte seine Konstituirung der Königlichen Regierung, dem
Polizei-Präsidium und dem Gemeinderathe an, mit der Bitte, ihn gelegent¬
lich um seine Meinung in hygienischen Angelegenheiten zu befragen.
Daraufhin hat die Königl. Regierung bereits 2 Anfragen an den Verein ge¬
richtet, betreffend gutachtliche Aeusserung über die von anderer Seite be¬
antragte Ausdehnung der Anzeigepflicht der Aerzte auf einige bisher nicht
anzeigepflichtige Krankheiten (krampfhafter Keuchhusten, Genickkrampf
und Impetigo contagiosa), ferner über etwaige Gefahren der Eröffnung
aller Kanäle und die Mittel, denselben zu begegnen, sowie über den et¬
waigen Zusammenhang* von Diphtheritiserkrankungen mit Kanalisationsar¬
beiten.
Die erste Anfrage hat der Verein zustimmend beantwortet, es aber
gleichzeitig als dringend wünschenswerth bezeichnet, den Aerzten die sonst
leicht als gross# Last empfundene Anzeigepflicht so viel als irgend mög¬
lich zu erleichtern durch unentgeltliche Abgabe frankirter Meldekarten an
die Aerzte; als Muster wurden Meldekarten empfohlen, wie sie bereits in
Hannover eingeführt sind, auf denen die Aerzte nur einige Rubriken in
leichtester Weise auszufüllen haben.
Die andere Anfrage der Kgl. Regierung ist zunächst zwei Referenten,
Herrn Dozenten der Hygiene Dr. Hüppe und Herrn Kanalisations-Ingenieur
Brix zur Bearbeitung und Berichterstattung überwiesen worden, und wird
deren Erledigung nach Durchberathung im Vorstande und im Plenum er¬
folgen.
Der Verein hielt bisher 3 Vereins-Versammlungen ab. In der Januar-
Versammlung, in der zugleich die Vorstandswahl stattfand, hielt Herr Hof¬
rath Dr. med. Kühne vorher einen sehr ansprechenden Vortrag über die
Ziele und Aufgaben des Vereins. Inder Februar - Versammlung hielt
Herr Dr. Hüppe einen Vortrag über den Werth und dieBeurthei-
lung von Kläranlagen, und Herr Hofrath Kühne einen solchen über
„Staubkrankheiten“ mit makroskopischen Demonstrationen. In der März-
Versammlung fand zunächst eine sehr anregende und befriedigende Dis¬
kussion über die vorgenannten beiden Vorträge statt, und dann hielt
Schreiber dieses, angeregt durch einen Aufsatz im Centralblatt für allge¬
meine Gesundheitspflege 1888 Heft 7 und 8, einen kleinen Vortrag über
die Arbeiterkolonie „Wilhelmsruh“ bei Köln, indem er an die
objectiven Mittheilungen über diese Schöpfung einige allgemeine hygienische
Erörterungen über die Decentralisation der Städte und namentlich über
eine wichtige Vorbedingung für dieselbe, die Erziehung zur Reinlich¬
keit, anknüpfte.
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192
Der Vorstand sorgt für sachgeraässe Referate über alle Vereins-Veran-
staltungen für alle hier erscheinenden Zeitungen; Vorträge, welche Gegen¬
stände von allgemeinerem Interesse behandeln, werden im Manuskript an
die verbreitetste Zeitung in Nassau, den „Rheinischen Kurier“ gesandt, und
von ihr im Feuilleton gern abgedruckt.
Der Verein besitzt wissenschaftliche Kräfte in Fülle; zu ihrer Entfal¬
tung bedarf es nur des guten Willens und humaner, uneigennütziger, oft
selbstverleugnender Gesinnung, wie sie überall da nöthig ist, wo man im
Interesse des Gemeinwohls arbeitet. Ist diese Gesinnung im Verein
lebendig, so wurde die gewaltige Zahl der überall und so auch hierorts
bestehenden Vereine um keinen nutzlosen bereichert.
Dr. Staffel (Wiesbaden).
Litteraturfoericht.
Dr. Landsberger (Posen), Das Wachstum im Alter der Schulpflicht. Bio¬
logisches Centralblatt. Bd. VII, Nrn. 9, 10, 11.
Alle bisherigen Ermittelungen (von Quetelet und späteren Forschern)
über das Wachstum wurden aus verschiedenen Individuen abgeleitet, indem
10 Menschen von „normalem“ Wuchs aus jeder Altersklasse untersucht
und daraus das Durchschnittsmass eines Menschen von 1, 2, 3 u. s. w.
Jahren abgeleitet wurde. Dagegen hat der Verf. von 1880—1886 alljähr¬
lich im Mai eine grosse Anzahl von Posener Schulkindern gemessen; es
waren ursprünglich 104, zuletzt nur 37, welche letztere aber in den erst¬
untersuchten mit enthalten waren. Die Kinder waren sämtlich zwischen
dem 1. Juli 1873 und dem 30. Juni 1874 geboren und wurden nackt
unter stets gleichen Bedingungen gemessen. Als Messapparate dienten
1. ein ebenes Fussbrett mit hinterer Kante, an welche die Fersen cles
Kindes sich anlehnen mussten, 2. eine in dieses Brett einlassbare Mess¬
stange mit verschiebbarer Kopfplatte, 3. ein breites Kantel zum Visiren der
Schulterhöhe (acromion), sowie der Höhen des Ellbogens, der Mittel¬
fingerspitze. des Hüftbeinkamms (crista ossis ilium), des Knies (oberer
Rand der Kniescheibe) über dem Boden, 4. ein Tasterzirkel für die Schädel¬
masse und die Feststellung der Beckenhreite, endlich 5. eine gewöhnliches
Centimeter-Massband. Hiermit wurden jedesmal folgende 22 Masse direkt
an jedem Kinde genommen:
I. die „ganze Höhe“ (Körperlänge),
II. die „Klafterlänge*“ (bei ausgebreiteten Armen von Mittelfinger¬
spitze zu Mittelfingerspitze),
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193 —
III. die Höhe der linken Schulter
IV. * * des „ Ellbogens
V. , „ der „ Mittelfingerspitze
IX. * „ des „ Hüftbeinkamms
X. „ „ „ „ Knies
XI. die grösste „ Schädellänge “ (Nasenwurzel bis Hinterhauptwölbung).
XII. die grösste „ Schädelbreite* (querer Kopfdurchmesser),
XIII. der Abstand der Warzenfortsätze (proc. mastoidei) von einander,
XIV. die „Ohrbreite* (der Abstand der Tragi von einander),
XV. die Entfernung zwischen beiden Kieferwinkeln (angul. maxill. inf.),
XVI. die „ Kopfhöhe* (Entfernung von der Scheitel Wölbung bis zur Spitze
des Kinns),
XVII. „Gesichtshöhe* (Entfernung von dem Rande des Haares bis zur
Spitze des Kinns),
XVIII. die * Beckenbreite“ (weitester Abstand der spin. il. ant. sup.),
XIX. der Umfang des Kopfs über den Augenbrauen,
XX. der Umfang des Halses in seiner Mitte,
XXI. die „Acromialbreite“ (Abstand beider acrom., vorn über den Hals
gemessen),
XXII. die Lange des Brustbeins,
XXIII. die Distanz beider Brustwarzen,
XXIV. der Umfang der Brust über den Warzen (ohne besondere Berück¬
sichtigung des Atemstadiums), endlich
XXV. der Umfang des Leibes in Nabelhöhe.
Durch Rechnung wurde sodann ergänzt:
VI. Länge des Oberarms (Differenz von III minus IV),
VII. * „ Vorderarms incl. Hand (Difif. von IV minus V),
VIII. * „ ganzen (linken) Arms (Summe von VI und VII).
Da in den sechs Jahren durchschnittlich jedesmal über 68 Kinder zur
Beobachtung kamen, so wurden 68 X 25 X 6 = 10,200 Ziffern festge¬
stellt, und da die Untersuchung speziell gleichzeitig auf ein Jahr jüngere
und ältere Kinder, sowie auf polnische und deutsche, wohlhabende und
arme, überdurchschnittsgrosse und unterdurchschnittskleine Kinder ausge¬
dehnt, ausserdem jedes gefundene Durchschnittsmass auf die Körperlänge
prozentisch reduzirt, die Schädelmasse zu „Indices“ verrechnet wurden, so
darf taxirt werden, dass in dieser Arbeit die Schlüsse aus über 100,000
Ziffern niedergelegt sind.
In den ersten Jahren wurden die Kinder auch noch in arme und wohl¬
habende eingeteilt. Verf. mass
1880: 58 „arme“, 32 „wohlhabende“ Kinder,
1881: 53 „ 20 „ „ , zuletzt
1882: 47 „ 12 *
Auch die Rassenverhältnisse wurden berücksichtigt (polnische und
deutsche Kinder). Ferner wurden das religiöse Bekenntnis und die Zahl
der Geschwister, das Aussehen (Gesichtsfarbe), der Habitus (Gesamteindruck),
Abstand derselben vom
Boden,
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Farbe und Beschaffenheit des Haares, endlich Bau und Wölbung des Brust¬
kastens notiert. Weder die Körperlänge, noch der Brustumfang u. s. w.
zeigten Abweichungen, die yon der Zahl der Geschwister abhängig zu sein
schienen./ Die Kinder mit verschiedenfarbigen Haaren wiesen in der Körper¬
länge und den Schädelmassen keine Abweichungen vom Mittel auf.
1. Die Körperlänge. Während nach Quetelet die Kinder im
Schulalter in der ersten Hälfte der Schulzeit jährlich um 6, in der zweiten
um 5 cm wachsen, fand der Verf. für die 6 Jahre an den von ihm unter¬
suchten Kindern ein Wachstum von 28,3 cm, also für’s Jahr durchschnitt¬
lich von 4,7 cm. Diese Zahlen bleiben um 0,7 cm für’s Jahr gegen die
Quetelet’sehen zurück; dagegen waren die ersten absoluten Ziffern nicht
unbeträchtlich höher und werden erst später durch das stärkere Wachs¬
tum überholt. Entweder haben wir es hier mit nationalen (Rassen-) Ver¬
schiedenheiten oder mit einem schädlichen Einflüsse regelmässigen Schulbe¬
suchs zu thun.
Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht der Körperlängen nach
den Messungen verschiedener Forscher (aus verschiedenen Ländern):
Die Körperlänge beträgt
nach
Qnetelei
nach
Pagliui
nach
Bowdikb
nach
Rokerti
nach
Beieke
nach
1*1-
n&nn
nach
Lud*
bffger
bei 6 jährigen Knaben
_
_
_
106,9
. 7 .
—
116
114,3
112,9
. 8 ,
116,2
—
121,3
119,3
116
117,3
. 9 .
—
126,1
125
122,1
128,5
122,1
.10 .
126,3
131
128,3
128
mEEEm
125,4
. 11 .
■K
128,1
135,1
130,8
133,4
135
130
. 12 ,
K El
132,1
139,4
134,6
138,4
139,9
135,2
. 13 .
IfjgJ
137,5
144,5
142
143
143,1
139,9
Wachstum von 6—13 Jahren
37,7
_
ca.33
ca.33
38,6
_
32,3
, . 10—13 ,
15
11,2
13,5
13,7
15,1
12,3
14,3
„ für’s Jahr
5,3
3,7
o,5
5,5
5,5
3,0
4,6
Zwischen deutschen und polnischen Kindern fand Verf. bezüglich der
Körperlänge keinen Unterschied; deutlicher prägte sich der Einfluss der
gesellschaftlichen Lage aus. Verf. fand die Körperlänge
bei den wohlhabenden
1880: 108,9
1881: 114,5
1882: 119,6
bei den armen Kindern
106,1 cm
111,4 cm
116,7 cm
Die Kinder wohlhabender Bevölkerungskreise kommen kräftiger, grösser
zur Schule, aber trotz der Fortdauer der besseren Ernährung ist ihr Wachs¬
tum während der — ersten — Schuljahre kein grösseres.
2. Die Klafterbreite ist fast durchweg gleich der Körperlänge.
Der Unterschied zwischen ihr und der Körperlänge beträgt:
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- 195 —
im 6. Jahre im 7. im 8. im 9. im 10. im 11. im 12. im 13.
bei Quetelet + 0,2 + 0,3 + 0,4 + 0,6 + 0,8 + 1,0 + 1,3 + 1,5 •
in Posen — 0,6 + 0,3 +0,1 +0,1 - 0,4 - 0,4 + 0,2 + 1,3
3. Wir lassen nun die Tafel des Verf.’s folgen, in welcher die oben
angegebenen Masse in Beziehung gesetzt sind teilweise zur Körperlänge
(1=100), teilweise zur grössten Schädellänge (XI =100):
196
Der Leibesumfang wird im Alter der Schulpflicht im Verhältnis zur
Körperhöhe immer kleiner; er wächst absolut um 1,17 cm im Durchschnitt
jährlich. Das Wachstum der Beckenbreite folgt vollständig der Längenent¬
wickelung des Skelets.
Der Kopf wächst in allen seinen Durchmessern und Umfängen weit
langsamer als der Körper. Die „ Schädellänge “ zeigte .sich bei deutschen
und polnischen, armen und wohlhabenden Kindern gleich gross. Das Wachs¬
tum der Schädels geht unabhängig von dem der Körperlänge und nach
eigenen Gesetzen vor sich; seine Prozentziffer erscheint bei grossem Menschen¬
schlag klein, bei kleinen Menschen gross; die absolute Grösse kann bei
beiden gleich gross sein.
Die Schädelbreite wächst im Alter der Schulpflicht so gut wie gar
nicht, ebenso wenig der Abstand der Warzenfortsätze und die Ohrbreite.
(Tragi sind die kantigen Vorsprünge vorn über den Ohrläppchen, die.auf
der Innenfläche mit den Ohrhärchen bekleidet sind.)
Die Gesichtshöhe wächst während des Schulalters beträchtlich stärker
als alle anderen Kopfmasse. Das eigentliche Schädeldach, die obere
Wölbung des Kopfes bis zum Haarrand wächst im Schulalter
überhaupt nicht. Auch die Entfernung zwischen den beiden Kiefer¬
winkeln (XV) vergrössert sich während des Schulalters nur äusserst gering¬
fügig.
Bei unsem Schulkindern herrscht nach den Messungen des Verf.’s die
Hyper-Brachycephalie vor.
Der Umfang des Kopfes (XIV) wächst in den Schuljahren stetig und
nicht unbedeutend, doch im Verhältnis weit langsamer als die Körperlänge.
Die vordere Akromialbreite (XXI) wächst im vollkommenen Einklang
mit dem gesamten Körper. Die Entfernung der Brustwarzen (XXIII) ist
regelmässig fast ganz genau gleich der Hälfte der Akromialbreite. Auch
der Brustumfang (XXIV) wächst im vollsten Gleichmass zum Fortschritt
der Körperlänge. Es beträgt nach Verf.
die Brustwarzen-Entfernung etwa ll,5°/o der Körperlänge,
die Akromialbreite „ 23°/o „ „
der Brustumfang „ 46 4- 3 bis 3,5 = 49—49,5°/«.
Der Brustumfang ist auch nach Rekruten-Messungen fast genau gleich der
halben Körperlänge.
Schliesslich lassen wir die Tafel des Verf.’s folgen, welche gibt die
Zusammenstellung der gesamten Durchschnitts-Masse:
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197 —
B
13 J.
Zunc
von
6—13 J.
ihme
für’s
Jahr
I
106,9
112,2
117,3
122,1
125,4
130
135.2
139,2
32,3
4,6
11
106,3
112.5
116,9
122,2
125
129,6
135,4
140.5
34,2
4,8
III
84,1
88,9
91,3
97.3
100,6 j
104,7
109,6
114,2
30,1
4,3
IV
64,5
68,5
71,4
74,6
77,2
80,5
84,2
87
22,5
3,2
V
36,8
39,5
«,i
43,7
45,7
47,7
49,9
51,5
14,7
2,1
V1H
47,3
49,4
50,2
53.6
54,9
57,0
59,7
62,7
15,4
2,2
IX
60
64,1
67,4
70,8
72,8
76,5
80,6
84,3
24.3
3,4
X
1 29,5
32
32,6
34
34,9
36,3
38.7
40,4
10,9
1,5
XI
! 16.5
16,6
16,7
16,5
17
17.1
17,2
17,5
1
XII
13,7
14,5
14,3
14,5
14,5
14,6
14.6
14,5
0,8
_
XIII
n
11,1
11,1
ii.i
11,2
11.6
11,7
11,6
0,6
—
XIV
—
12
11,3
11,1
11,2
11,4
11,4
11.7
—
—
XV
9
9,3
9,2
9,3
9,4
9,5
9,5
9,7
0,7
—
XVI
20,7
20,8
20,9
21,2
21
21,4
21,3
21,7
1
—
XVII
14,7
14,7
14,9
15,4
15,7
15,6
16,1
16,5
1,8
0,2
XVIII
—
18,2
18,9
20
20,7
21,5
21,9
22,7
—
0.75
XIX
50,9
51
51,3
51,7
51,8
51,9
52,3
52,3
1,4
0.2
XX
24,9
25,4
26
26,3
26,7
27
27,9
29,1
4,2
0,6
XXI
24.9
26.2
27,3
28,2
28,7
29,9
30.8
32,3
7,4
1
XXII
12.3
12,5
12,6
! 13,7
12,7
13
13,3
15,7
3,4
0,5
XXIII
—
13,2
13,7
14
13,9
15
15,4
15,7
0,4
XXIV
54,8
55,4
58
60,2
61,9
63.7
65
69
14,2
2
XXV
52,3
53
54
55.2
56,6
57,1
58,7
60,5
8,2
1
Die gesamte Untersuchung des Verf.’s bezieht sich auf Knaben; was
wir bisher über die entsprechende Entwickelung der Mädchen wissen, ist
recht ungenügend trotz des dringenden wissenschaftlichen wie praktischen
Bedürfnisses solcher Untersuchungen. W.
Ueber die körperlichen Uebnngen. Journal d'hygtäne, 6. Sept. 1888,
enthält eine Besprechung der körperlichen Uebungen, worin vor einer kritik¬
losen Anwendung derselben gewarnt wird. Zunächst hat man sich die
Frage vorzulegen, was man dadurch bezwecken will. Würde man bei
einem geistig überbürdeten Schüler das Gleichgewicht mit körperlichen
Uebungen herstellen wollen, die ihrerseits neue geistige Thätigkeit und
Anstrengung erfordern, wie z. B. Reiten, Fechten u. dergl., so würde
man vermuthlich gerade das Gegentheil von dem erreichen, was man be¬
zwecken wollte. Also in solchen Fällen die leichteren und so zu sagen
automatischen Uebungen, wie Zimmergymnastik, gewisse Spiele, Spazier¬
gänge und anderes der Art, das die Muskeln ermüdet ohne die Aufmerk¬
samkeit in Mitleidenschaft zu ziehen. Wo man dagegen mehr erregend
wirken will, bei geistiger Trägheit und körperlichem Wohlbefinden, da
passen mehr die schwierigeren Turnübungen an Geräthen, die hohe Reit¬
schule, der Fechtunterricht, Rudern u. a. m. P elm an.
Volks-Br&usebad nach Dr. Lassar's System. Errichtet in Frankfurt a. M.
von Börner & Go. in Berlin. Gesundheits-Ingenieur: 1889 No 3.
Die ganze Anlage bildet ein regelmässiges Achteck, dessen einge¬
schriebener Kreis rund 10 m Durchmesser hat. Um einen innern gleich-
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198 —
falls achteckigen Raum von 3 m Weite, in welchem Rauchfang, Wasser¬
behälter, Leitungsröhren und die erforderlichen Leitern untergebracht sind,
sind die Badezellen derartig strahlenförmig angeordnet, dass sie zusammen
im Grundriss einen 2 */* m breiten achteckigen Ring bilden. Durch Ver¬
bindung der entsprechenden Ecken der äusseren und inneren Begrenzungs¬
wand dieses Ringes entstehen 8 gleiche trapezförmige Räume. Von diesen
wird ein Raum zum Waschen der Badewäsche benutzt, während die übrigen
7 Räume durch weitere Trennungswände in je zwei trapezförmige Bade¬
zellen von 2 */* m Tiefe und 1 m mittlere Breite getheilt werden. Rings
um diese Zellen läuft ein 1 m breiter Gang, in welchem, angrenzend an den
Waschraum, zwischen den beiden getrennten Eingängen für Männer und
Frauen ein kleiner Kassenraum liegt, und in welchem ausserdem mehrere
Wäscheschränke und zwei Aborte angeordnet sind. Von den 14 Zellen
sind vorläufig 10 Stück für Männer und 4 Stück für Damen bestimmt. Dieses
Verhältnis lässt sich durch Verschiebung der im Umlaufsgange befindlichen
Trennungswand beliebig verändern.
Jede der 14 Zellen enthält zwei Räume gleicher Tiefe, den vorderen,
weiteren Raum zum An- und Auskleiden und dahinter den eigentlichen
Baderaum. Ueber jedem Baderaume ist in 2,4 m Höhe ein kleiner Be¬
hälter angebracht, welcher für jedes Bad eine bestimmte Menge wannen
Wassers aus dem Hauptbehälter selbstthätig aufnimmt. Es genügen 30
bis 40 1 Wasser, um die Brause, je nach der Einstellung, 1 */• bis 2 V»
Minuten in Thätigkeit zu setzen. Der Badende kann die Brause jederzeit
abstellen und wieder einstellen, jedoch kann er niemals mehr warmes
Wasser verbrauchen, als für ein Bad bestimmt ist. Kaltes Wasser kann
er dagegen in beliebiger Menge zusetzen.
Der Haupt-Wasserbehälter wird selbstthätig durch die Wasserleitung
gespeist. Die Vorrichtung zur Erwärmung des Wassers, sowie die Heiz¬
kammer für die Luftheizung sind im Keller untergebracht.
Die Wände bestehen aus Gementplatten mit eingelegtem Drahtgeflecht
(System Monier). In der Aussenwand liegt zwischen zwei derartigen Plat¬
ten von 6 und 4 cm Stärke eine 3 cm starke Luftschicht. Das Gebäude
ist mit Rautenzink eingedeckt.
Die Gesammtkosten, einschl. Inventar, haben 20,000 Mark betragen.
Für jedes Bad mit Seife und Handtuch werden, wie bei dem Musterbade
auf der Berliner Hygiene-Ausstellung, 10 Pfg. entrichtet. Gontrolle wird
durch Nummerirung der Seifenstücke geübt. Fl dm.
Städtische Bade- and Desinfections • Anstalt in Magdeburg. Von Stadtbau¬
rath Peters. Deutsche Bauzeitung 1889, Nr. 14.
Die auf dem Grundstücke des Magdeburger Krankenhauses errichtete
Anlage setzt sich zusammen aus einem Volksbrausebad nach Dr. Lassar’s
System, einem Baderaume für scrophulöse Kinder und einer Desinfections-
anstalt. Die Benutzung der drei Tlieile ist vollständig, unabhängig von
einander.
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— 199 -
ln die Brausehalle, welche 16 m lang, 6,8 m breit und 7 m hoch
ist, führen von der grossen Schulstrasse aus zwei getrennte Eingänge für
Männer und Frauen. Zwischen den beiden Eingängen liegt die Kasse. Die
Badehalle enthält 12 Männer- und 8 Frauenzellen, ausserdem einen Trocken¬
raum für Wäsche und zwei Aborte. Die 1,25 m breiten Zellen bestehen
aus einem 0,8 m tiefen Auskleideraume und einem durch einen wasser¬
dichten Vorhang davon getrennten 1,6 m tiefen Baderaume. Nach dem
Gange hin ist der Auskleideraum durch einen Vorhang aus grobem ge¬
musterten Leinen abgeschlossen. Die einzelnen Zellen werden durch 2 m
hohe Wellblechwände, und die Männer- und Frauenabtheilung durch eine
3 m hohe Wellblech wand von einander getrennt. Die umschliessenden
Mauern sind mit Gement geputzt, der Fussboden ist asphaltirt.
Jede Zelle enthält ein Sitzbrett auf eisernem Rahmen, einige Kleider¬
haken, Spiegel und Seifennapf, sowie einen Lattenrost unter der Brause.
Die Erwärmung wird durch Dampf aus dem Kesselhause des städtischen
Krankenhauses bewirkt, zur Lüftung dienen, abgesehen von grossen, hoch
angebrachten Fenstern, zwei Sauger und eine Dachlaterne mit stellbaren
Lüftungsklappen.
Die Bäder kosten am Samstag und Sonntag 5 Pfg. und an den
übrigen Tagen 10 Pfg. Im vorigen Sommer sind wöchentlich 800 Karten
zu 5 Pfg. und 1100 Karten zu 10 Pfg. gelöst, darunter etwa der fünfte
Theil von Frauen. Deckung der Unkosten, sowie eine angemessene Ver¬
zinsung der Bausumme erscheint vollständig gesichert.
Der überwölbte Baderaum für scrophulöse Kinder enthält fünf Bade¬
wannen und hat einen besonderen Zugang vom Garten des Krankenhaus-
Grundstückes aus.
Die Desinfections-Anstalt hat von einander getrennte Zu- und Abgänge
in der Marstallstrasse. Die Einrichtung der beiden durch Rietschel und
Henneberg in Berlin aufgestellten Apparate entspricht ganz der Berliner
Desinfectionsanstalt in der Reichenbergerstrasse.
Mit dem Volksbade ist die Desinfections-Anstalt durch einen kleinen
Vorraum verbunden, der gleichzeitig das Waschgefäss zur Reinigung der
Badewäsche enthält.
Die gesammten Baukosten betragen 58,000 Mk., von denen etwa
20,000 Mk. auf das Volksbad entfallen. Fldm.
La Prostitution en Italie. Vortrag gehalten in der Sitzung vom 9. März 1888
der „Soci6t6 franqaise d’Hygiäne* von dem Generalsecretär der Gesellschaft
Dr. de Pietra Santa. Journal d’Hygi&ne 1888. Nr. 599. p. 127 ff.
Dieser Vortrag, zu welchem dem Vortragenden das Material von den
Professoren Pelizzari in Florenz und Tommasi Crudeli in Rom zugestellt
wurde, enthält eine Darstellung der gegenwärtigen gesetzlichen Regelung
der Prostitution in Italien, sowie der neuerdings gemachten Reform Vorschläge.
Eine einheitliche gesetzliche Regelung der Prostitution in Italien wurde
mit dem Jahre 1860 eingeführt. Darnach sollten nachweislich Prostituirte
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200 —
in besondere Polizeilisten eingetragen werden. Die eingeschriebenen Dirnen
haben sich zweimal wöchentlich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen;
zudem werden die in Bordellen befindlichen Frauenzimmer einer besonderen
ärztlichen Ueberwachung unterworfen. Die Ausführung dieser Massregeln
geht aus von einem „Gesundheitsamt“ (ufficio sanitario), zusammengesetzt
aus einem Vertreter des Chefs der »öffentlichen Sicherheit (pretore), einem
oder mehreren Aerzten und einigen Sicherheitsbeamten (guardie). Solcher
Gesundheitsämter gibts in den mehr wie 8000 Gemeinden Italiens un¬
gefähr 300. Findet der Arzt bei seiner Untersuchung im Amt oder im
Bordelle eine Dime syphilitisch erkrankt, so händigt er derselben einen mit
dem Visum des Vorstehers des Gesundheitsamtes versehenen Schein ein
zur Aufnahme in das Syphilishaus. Es gibt 20 solcher staatlicher Syphilis¬
häuser in Italien, und zwar 13 in besonderen Gebäuden, 7 in Nebengebäuden
von Gefängnissen.
Die Zahl der eingeschriebenen und von den Gesundheitsämtern über¬
wachten Dirnen beträgt in ganz Italien etwa 10,000 (1 auf 3000 Einwohner);
daneben gibts aber nach niedrigster Schätzung noch 45—50,00D heimlich
Prostituirte. Die Einnahmen der Gesundheitsämter für die ärztlichen Unter¬
suchungen betragen etwa 600,000 Lires, die Gesammtausgaben für diese
Aemter und die Syphilishäuser insgesammt gegen 1,600,000 Lires. Der
Staat hat also für diese Ueberwachung der Prostitution jährlich eine Million
aufzuwenden.
Im Jahre 1883 liess das italienische Parlament den Stand der Prosti¬
tutionsfrage in Italien durch eine königliche Commission, in welche die an¬
erkannt hervorragendsten Sachverständigen auf medicinischem, hygienischem,
Verwaltungs- und Rechtsgebiete berufen waren, untersuchen. Auf Grund
des umfassenden Berichtes dieser königlichen Commission berief im Januar
1888 der Ministerpräsident Crispi eine neue Commission, bestehend aus
zwei Deputirten, einem Staatsrath und zwei Professoren von Rom und
Palermo, damit diese nunmehr Vorschläge zu einer verbesserten geregelten
Ueberwachung des öffentlichen Anstandes und der Prostitution machten.
Die Gründe gegen die bisherige Regelung der Frage waren folgende :
1) Die gesetzliche Regelung vom Jahre 1860 sei eine Beleidigung der
öffentlichen Moral und des Rechtes.
Diese nur auf das Weib anwendbaren Vorschriften sprächen im Princip
dessen moralisch und rechtlich tiefere Stellung in der Gesellschaft aus.
Der Staat übe gegen eine beschränkte Zahl von Weibern ein System von
Ueberwachung und Unterdrückung aus, obwohl es hinlänglich feststehe,
dass die patentirte Prostitution eine Verminderung der Unzucht und Ver¬
kommenheit nicht herbeiführe? zudem aber auch die viel erheblichere Zahl
der heimlich Prostituirten sowie der vornehmen Prostituirten gar nicht ge¬
troffen werde.
Ein gleiches Ziel sollten die öffentliche Moral und das Gesetz haben.
Nun vermöge keinerlei Gesetzgebung die Unzucht zu unterdrücken, es fehle
aber auch eine bestimmte juristische Erklärung des Begriffes der erlaubten
Digitized by
Google
201
Prostitution. Der Staat könne aber nicht etwas regeln wollen, was gesetzlich .
überhaupt nicht zugelassen sei.
2) Die gesetzliche Regelung übe auf die öffentliche Verwaltung einen
verderblichen Einfluss aus.
Sehr leicht vermindere die gesetzliche Ueberwachung der Prostituirten
das moralische Gefühl der damit beauftragten Beamten. Die lefeteren be¬
dürften trotz ihrer weitgehenden Befugnisse doch der Vermittlung und Be¬
kanntschaft mit Personen aus der untersten Schichten der menschlichen
Gesellschaft (Kuppler, Zuhälter und Freudenmädchen). Jeder Missbrauch,
der so ausserordentlich leicht und oft eintrete, werfe aber ein schlechtes
Licht auf einen öffentlichen Dienst, der doch mehr wie jeder andere sich
der zweifellosen Achtung und Werthschätzung erfreuen müsste.
3) Die gesetzliche Regelung von 1860 erreicht nicht die gesundheit¬
lichen Erfolge, welche sie sich zum Ziele steckt.
Der Hauptgesichtspunkt, welcher vom hygienischen Standpunkt der
öffentlichen Ueberwachung zu Grunde liege, sei die Verhütung von Syphilis
durch obligatorische prophylaktische Untersuchung der Freudenmädchen
und die Zwangsbehandlung im Erkrankungsfalle. Sollen diese Unter¬
suchungen wirksam sein, so müssen sie unbedingt auf alle Prostituirten
ausgedehnt werden. Jetzt erstrecke sie sich aber nur auf die eingeschrie¬
bene patentirte Prostitution, die viel umfangreichere heimliche Prostitution
würde nicht getroffen, und was die vornehme Prostitution betreffe, so
werde sie stets unerreichbar bleiben. Ganz und gar ohnmächtig sei aber
das Reglement gegenüber der Verbreitung der Syphilis durch das männliche
Geschlecht. Endlich würden die beiden grossen Quellen der Infection,
welche neben der directen Ansteckung durch geschlechtliche Berührung
wirksam seien: nämlich die Vererbung der Lues sowie die Ansteckung durch
das Nähren an der Brust durch jene Regelung in keiner Weise vermindert.
Ein gleichmässiger vermindernder Einfluss auf die Ausbreitung der
Syphilis in Italien sei denn auch thatsächlich nicht erreicht worden. Auf
4884 diesbezügliche Anfragen an italienische Gemeinden antworteten 4105.
Darunter sind
318 welche grosse Verbreitung der Syphilis constatiren,
1891 welche versichern, die Krankheit sei in ihrem Gebiet selten,
1866 welche meinen, sie existire gar nicht bei ihnen.
Der Dienst und das Personal in den Gesundheitsämtern lasse viel zu
wünschen übrig. Ganz besonderer Tadel aber trifft die staatlichen Syphilis¬
hospitäler. Dieselben reichten nur hin, einen Theil der erkrankten einge¬
schriebenen Dirnen aufzunehmen. Männer werden gar keine dort auf¬
genommen, und an Syphilis erkrankte Frauen, seien sie anständige oder
verderbte, hüteten sich vor diesen Anstalten, aus Furcht vor dem unaus¬
löschlichen Brandmal der patentirten Prostitution. Um die syphilitischen
Kinder endlich kümmere sich Niemand.
Aus allen diesen Gründen beschloss die Commission im Jahre 1883
daher mit Einstimmigkeit folgende beiden Hauptsätze:
CentralbUtt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 14
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— 202
1) Die prostituirten Weiber sollen fortan weder einer Einschreibung,
noch der vorbeugenden oder pflichtmässigen ärztlichen Untersuchung unter¬
worfen sein.
2) Die Jedem aus dem Publikum offenstehenden Häuser, in welchen
von verschiedenen Personen die Prostitution ausgeübt wird, müssen als
gefährliche, ungesunde und schlechte Orte betrachtet und daher im öffent¬
lichen Interesse überwacht werden.
Auf Grundlage dieser beiden Sätze sind nunmehr die gesetzgeberischen
Vorschläge der Commission von 1888 erfolgt. Der erste Theil derselben
behandelt die Ahndung der Verstösse gegen die guten Sitten. Der zweite
Theil betrifft die Ueberwachung der Bordelle. Die Besitzer oder Besitzerinnen
der Freudenhäuser werden hier besonders verantwortlich gemacht für Ver¬
stösse gegen die Vorschriften. An Orten, wo grosse Mengen von Soldaten,
Matrosen und Arbeiter sich befinden, und wo die niedrigsten Bordelle sich
oft in wahre Heerde syphilitischer Ansteckung verwandeln, kann die Sicher¬
heitsbehörde, selbst auf das Einschreiten der Militärärzte hin, regelmässige
ärztliche Untersuchungen anordnen. Der dritte Theil enthält die Massregeln
zum Schutz von Bordellinsassinnen, welche zu einem anständigen Lebens¬
wandel zurückzukehren wünschen. Im vierten Theil werden die Massregeln
zur Verhütung resp. zur Heilung der Syphilis vorgeschrieben. Es handelt
sich im Wesentlichen um öffentliche ärztliche Freistunden zur Behandlung
venerischer Erkrankungen, mit gesonderten Zeiten für Männer, Frauen und
Kinder. Mit Armenschein versehene Personen erhalten Arzneien umsonst.
Die Aerzte, welche in diesen Freistunden ordiniren, haben das Recht,
syphilitisch Erkrankten Scheine zur kostenlosen Aufnahme in die betreffende
Abtheilung der Hospitäler auszustellen. Die Kosten für dies alles hat der
Staat zu tragen.
Man darf gespannt sein, inwieweit diese Vorschläge und damit die ge-
sammte Umgestaltung der Regelung des Prostitutionswesens in Italien zum
Gesetz erhoben werden. Schmidt-Bonn.
Vorschlag zur Regelung der Prostitution. Revue sanitaire de Bordeaux.
25. Mai 1888.
Aus einem Vortrage, den Deloynes, Prof, der Rechtslehre an der
Universität zu Bordeaux, in der Gesellschaft für öffentliche Gesundheits¬
pflege daselbst im Mai 1888 gehalten hat, geht hervor, dass man auch in
Frankreich der Regelung der Prostitutionsfrage wieder einmal näher ge¬
treten ist. Darüber, dass etwas geschehen muss, sind sich die Gelehrten
einig, auch wohl im Allgemeinen über das was, — Unterdrückung jeder
freien Prostitution, Kasernirung der Dirnen in öffentlichen Häusern — aber
das wie, das ist die grosse Frage.
Bestrafen der Strassendimen, das ist bald gesagt, aber der Jurist weist
nach, dass man unmöglich ein und dieselbe Handlung einmal als ein Ver¬
gehen bestrafen und das andere Mal dulden könne. Ausserdem würde das
Beweismaterial so schwierig herbeizuschaffen und die Folgen eines immer-
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— 203 -
hin möglichen Irrthums so verhängnisvolle sein, dass der Richter wohl
kaum anders als freisprechen werde. Was von rechtlicher Seite möglich
sei, wäre bereits gescheiten, Neues auf diesem Wege nicht mehr zu er¬
warten. Allenfalls liesse sich gegen die Wirthschaften, Tingeltangel u. dergl.
Institute, die bekanntlich am aller verderblichsten wirken, auf dem Wege der
Gesetzgebung schärfer Vorgehen. — Man könne die Strafen in Einklang mit
der Schwere des Vergehens bringen.
Von Interesse ist die Mittheilung, dass für Paris eine Polizeiverfügung
vom Jahre 1778 noch heute in Kraft ist, wonach es allen Hauseigen¬
tümern untersagt ist, öffentliche Dirnen in ihrem Hause zu dulden. Wer
das heutige Paris kennt, wird nicht behaupten wollen, dass diese Ver¬
fügung viel geholfen habe. Es ist eben gerade bei der Prostitution viel
leichter, klug zu reden als wie klug zu handeln, und das richtige Mittel
soll noch gefunden werden. Pelm an.
Ueber die Uebertragung der Syphilis. Journal d'hygi&ne. 30. Aug. 1888.
Einer der häufigsten Einwürfe die uns gemacht werden, wenn es sich
um die Prophylaxe der Syphilis handelt, ist der. es sei ja nicht nötliig,
sie zu bekommen, Niemand der sie nicht haben wolle, brauche sie sich
zu erwerben.
Demgegenüber hat der Professor C. Pellizari aus Florenz an der
Hand eines grossen Materials einige Entstehungsursachen der Syphilis einer
eingehenderen Untersuchung unterzogen, und daraus geschlossen, dass jener
Einwurf nichts weniger als gerechtfertigt sei und die Gefahr der An¬
steckung auch für den Gerechten ebenso gut bestehe, wie für den Un¬
gerechten.
Die klinischen Beobachtungen, auf welche er sich stützt, können unter
3 Hauptpunkte gebracht werden, und zwar
1. Uebertragung der Syphilis auf die Ammen,
2. Erworbene Syphilis der Kinder,
3. Aussergeschlechtliche Uebertragung auf Erwachsene.
Die Uebertragung der Krankheit von dem Säugling auf die Amme
ist eine häufige und um so gefährlichere, als die Art des Giftes eine be¬
sonders verderbliche ist und die Ansteckung von der Amme fast ausnahms¬
los weiter getragen und in der eigenen Familie oder in fremden ver¬
breitet wird.
Dasselbe ist bei den Säuglingen der Fall, wo die Ansteckung durch
Küsse, durch Waschschwamm und Klystirspritze erworben und weiter ge¬
tragen wird.
Und endlich kann jeder Gegenstand, mit dem ein Syphilitischer in Be¬
rührung gekommen ist, die Pfeife, das Glas u. a. m. zum Ausgangspunkte
einer Ansteckung werden, von der man doch schwerlich behaupten kann,
dass das unglückliche Opfer ein Verschulden seiner Krankheit treffe.
Man sollte nun glauben, dass Pellizari zu dem Schlüsse kommen
würde, es sei Pflicht des Staates, einer solchen Gefahr auf jede Weise ent-
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204
gegenzutreten, und wenn gerade das Gegentheil der Fall ist, so werden
wir uns darüber wundern.
Anstatt dessen will er durch Verbreitung *der Kenntnisse über die
Krankheit wirken, und ausserdem fordert er die Provinzen, Gemeinden und
Städte auf, über das Problem der Prophylaxe weiter nachzudenken. Unseres
Erachtens ist darüber zur Genüge nachgedacht, der Worte sind nachgerade
genug gefallen und es ist Zeit, dass wir auch Thaten sehen. p e i man
Dehio, Untersuchungen über den Einfluss des Kaffee’s und Thee’s auf die
Dauer psychischer Vorgänge, Dissert. Dorpat, 1888.
Durch Messung der Reactionszeiten unter Benutzung anerkannter Me¬
thoden hat Dehio nachgewiesen, in welcher Beziehung die geistig erregenden
Wirkungen des Kaffee’s und des Thee’s sich sowohl untereinander wie von der¬
jenigen des Alkohols unterscheiden. Alle drei Mittel beschleunigen zunächst
die psychische Thätigkeit; aber der Alkohol übt seine anfänglich beschleu¬
nigende Wirkung wesentlich auf die Bewegungs-Effecte, auf die Auslösung
von Willenshandlungen aus, während er die Wahrnehmungsvorgänge sehr
bald verlangsamt. CoffeYn und im höheren Grade der Thee bewirken da¬
gegen eine beschleunigtere und zugleich nachhaltigere Auffassung äusserer
Eindrücke und Verknüpfung derselben zu complicirteren Vorsteliungsgruppen,
ohne gleichzeitig zu notorischen Entladungen zu treiben. Die Messungen
des Verf.’s, welche hoffentlich noch weitere Ergänzungen erfahren werden,
sind von grosser hygieinischer Bedeutung, da sie unsem anderweitigen Er¬
fahrungs-Anschauungen über obige Genussmittel zur Bestätigung dienen.
Wenn der Alkohol die Hemmungen und Sorgen wegräumt, uns muthig
und übermüthig, zu unüberlegten Streichen geneigt, aber zu ernster Ge¬
dankenarbeit unfähig macht, so erhält uns der Theegenuss bei andauernder
geistiger Anstrengung wach und aufmerksam und erleichtert uns die Auf¬
fassung sonst ermüdender Einzelheiten. Beim chronischen Alkoholmissbrauch
sehen wir dementsprechend auch eine fortschreitende Abnahme der psychi¬
schen Hemmungen, der Selbstbeherrschung, einen Zerfall des Charakters,
.des moralischen Haltes, sich herausbilden, während der habituelle Thee¬
genuss niemals derartige Störungen, sondern höchstens Schlaflosigkeit und
etwa neurasthenische Zustände im Gefolge hat. Aus der viel geringeren
Wirkung des CoffeYn in verhältnissmässig starker Dosis gegenüber dem
Thee schliesst D., dass die Theewirkung nicht wesentlich durch den CoffelCh-
gehalt bedingt sei, sondern dass offenbar noch anderen Bestandteilen dabei
eine massgebende Bedeutung zukommen müsse. Finkelnburg.
Josef Körösi. Die Sterblichkeit der Stadt Budapest in den Jahren 1883
bis 1885 und deren Ursachen. (Bd. XXII der Publikationen des stat.
Bureaus des Hauptstadt Budapest.) Berlin, 1888. 168 Seiten.
Das statistische Bureau von Budapest gibt neben einer allgemeinen
Jahresübersicht über die Mortalitätsverhältnisse Budapests (in den nur un¬
garisch erscheinenden, jetzt im 16. Jahrgang stehenden Monatsheften) je
einen mehrere Jahre umfassenden Gesammtband seit 1872 heraus, dessen
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205
4. uns heute vorliegt. Er enthält, um Körösi wörtlich zu citiren, „nur
Ziffemmaterial ohne erläuternden Text“. Wesentliche Verbesserungen
gegen früher sind vornehmlich in den Alterstabellen zu finden: Das erste
Lebensjahr ist nicht bloss in seine Quartale, sondern in di§ 12 Monate,
das 2. in die 4 Vierteljahre aufgelöst. Auch noch andere Erweiterungen hat K.
in diesem Bande vorgenommen, wie Referent pag. 6 und 7 nachzulesen bittet.
Die stattliche Reihe der Tabellen aber bietet auch nicht annähernd
den Vortheil, den wir daraus zu ziehen hofften. Vor allen Dingen fehlt es
an procentuarischen Bestimmungen mit Ausnahme der Tabelle auf Seite 3,
wo die Sterblichkeit von 1868—1885 in einzelnen Jahren nach Civil- und
Militärbevölkerung in ihrer Summe und in ihrem Procentsatz zur Einwohner¬
zahl abgehandelt wird und einer Accessittabelle über die Temperatur¬
verhältnisse (pag. 8 und 9), wo die Abweichung der Temperatur der
2. Nachmittagsstunde von dem täglichen Mittel ausgerechnet ist. Diagramme
(in Curven- oder Flächendarstellungen) oder Kartogramme suchen wir ganz
vergeblich in dem Werke. Das Plus an Arbeit und wohl auch an noth-
wendig werdenden Arbeitskräften wird dadurch gerechtfertigt, dass . der
Hygieniker, der Nationalökonom, der Philanthrop das Buch erst dann mit
Vortheil lesen werden, wenn die grosse Zahlenphalanx durch procentua-
rische Umrechnung ihnen näher gerückt ist. Der Segen also geklärter Ar¬
beit, im Lichte der Vergleichung beleuchteter Zahlen kommt doch in erster
Reihe Budapest zu Gute.
Was nun gar das Verzeichniss der Todesursachen betrifft, den rothen
Faden, der sich in so vielen Tabellen dieses Buches als fundamentales
Moment vorfindet, so ist dieser Faden leider herzlich fadenscheinig. Er
bedarf der Durchsicht eines geschulten Arztes. Hätte man doch das Ver¬
zeichniss der Todesursachen benutzt, wie es auf Grund der vom III. inter¬
nationalen Gongresse angenommenen Bezeichnungen z. B. im klin. Recept-
Taschenbuch (Wien, Urban und Schwarzenberg, 1889) steht. Wir wollen
nur Weniges zur Begründung unseres, Manchem wohl zu hart erscheinen¬
den Urtheils citiren: Unter den 26 „namhafteren Todesursachen finden wir
als drei getrennte Nummern: 1. Vitia cordis org., 2. Morb. Brighthii,
3. Hydrops. So sind oft Symptome mit Krankheiten confundirt, und gerade
denen, deren Hauptsymptome sie sind, gleichgestellt „Excitatio“, Psycho-
pathia, Myelopathia, Neuropathia sind getrennt klassificirt. Auch die la¬
teinische Orthographie ist arg vernachlässigt: P h t y s i s glandularis (pag. 59),
Phymosis, Disaenteria.
Ferner finden wir S. 56 Z. 5 v. u. bei 7 Verstorbenen Ulceratio
intestini, S. 57 Z. 9 v. o., in derselben Rubrik bei 2 Verstorbenen Ulcus
intestini. Das ist ein böser Lapsus.
Wenn mit grösserer Sorgsamkeit diese Zusammenstellungen im steten
Connex mit Aerzten ferner ausgearbeitet werden, so ist zu hoffen, dass in
der nächsten Publikation, die K. uns von jetzt ab in stets 5jährigen Inter¬
vallen verspricht, wir obigen Fehlern nicht mehr begegnen.
Nervi bei Genua. Julius Pauly.
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1
— 206 —
Verzeichnis» der bei der Redaktion eingegangenen neoen Bicher etc.
Arnold, Jules, Mädecin Inspecteur de Tarmde, Professeur d’hygiene ä la faculte
de m6decine de Lille, membre correspondant de l’acadümie de medecine.
Nouveaux-^lements d'Hygi&ne. Deuxiöme Edition. Mis au courant de la
science. Avec 272 figures dans le texte. Paris, Bailltere et fils, 19 nie
Haute-feuille, pr6s du boulevard SainbGermain. 1889.
Brunner, Dr. med. Conr., Sekundärarzt der chirurgischen Klinik zu Zürich,
Dr. Johannes Conrad Brunner, das Leben eines berühmten Schweizer Arztes
im siebenzehnten Jahrhundert. Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei
A. G. (vormals J. F. Richter) 1888. M. —.60.
Custor, Dr. med. Gustav, prakt. Arzt und Docent der Gesundheilslehre am
Eidg. Polytechnikum in Zürich, Ueber Beziehungen der Gesundheitspflege
zu Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensdauer des Menschen. Antritts¬
vorlesung, gehalten im S.-S. 1888. Zürich, Schröter & Meyer, 1888.
Ebersold, Friedrich, Näbrgehalt der Nahrungsmittel graphisch dargestellt
für Schule und Haus. Ein Beitrag zur Volksgesundheitspflege. 2. verbesserte
Auflage. Bern, Schmid-Frank & Co. M. 1.25.
Gsell Fells, Dr. med. Th., Die Bäder und klimatischen Gurorte Deutschlands.
II. Abtheilung: Die Bäder vom Bodensee, von Württemberg, Bayern, Thü¬
ringen und Harz. Zürich, Caesar Schmidt, 1888.
Mikrotherapie, die Behandlung der Erkrankung des Menschen mit Alcaloiden.
Von einem älteren praktischen Arzte. Hamburg, P. Jenichen, 1889.
Reel am, weil. Prof. Dr. Carl, Das Buch der vernünftigen Krankenpflege.
Praktische Winke und Belehrungen für Leidende und Genesende. Mit theil-
weiser Benutzung von (unterlassenen Aufzeichnungen desselben, zu Ende
geführt von Dr. med. J. Ruff, Redakteur der Zeitschrift ,Gesundheit 4 und
Brunnenarzt in Karlsbad. Mit 40 in den Text gedruckten Abbildungen.
Leipzig, C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung, 1889. M. 5.—.
Reel am, Prof. Dr. Carl, Das Buch der vernünftigen Lebensweise. Eine po¬
puläre Hygieine zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit. 3. unver¬
änderte Auflage. Leipzig, C. F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung 1889. M. 5.—.
Uffelmann, Prof. Dr. J., Direktor des hygienischen Instituts der Universität
Rostock, Hygienische Topographie der Stadt Rostock. Auf Veranlassung
des Rostocker Vereins für öffentliche Gesundheitspflege herausgegeben. Mit
einer Karte und 2 Skizzen. Rostock, Wilh. Werteres Verlag, 1889. M. 6.—.
Verzeichniss der Sommer-Aufenthaltsorte in Oberösterreich nach der Aufnahme
vom Mai 1888. Herausgegeben und verlegt vom Verein der Aerzte Oesterreichs.
1888, Linz, Commissionsverlag der F. J. Ebenhöch’schen Buchhdlg. M. —.80.
Zrödlowski, Dr. Ferdinand, Prof, an der Universität Lemberg, Die Kranken¬
häuser. Die Fürsorge für Arme und insonderheit die Versorgungshäuser.
Leipzig, Otto Wigand, 1889.
Gesundheit. Zeitschrift für öffentliche und private Hygiene. 1888 Nro. 23/24,
1889 Nro. 2.
Impfzwanggegner, Organ des deutschen Impfzwanggegner-Vereins. 1889 Nro. 2.
Dr. med. Heinrich Oidtmann, Linnich.
International Journal of Surgery. 1889 Nro. 1/3. Ferdinand King. M. D. Publisher
P. 0. Box 587. 95 William St.. New-York U. S. A.
Medizinische Monatsschrift von Dr. A. Seibert. Band 1, 1889, H. 1/3. New-York,
Verlag der Medical Monthly Publishing Company. 17 to 27 Vandewate
Street Nr. 9.
NB. Die für die Leser des * Centralblattes für allgemeine Gesundheitspflege“
interessanten Bücher werden seitens der Redaktion zur Besprechung an die Herren
Mitarbeiter versandt, und Referate darüber, soweit der beschränkte Raum dieser
Zeitschrift es gestattet, zum Abdruck gebracht. Eine Verpflichtung zur Besprechung
oder Rücksendung nicht besprochener Werke wird in keinem Falle übernommen;
es muss in Fällen, wo aus besonderen Gründen keine Besprechung erfolgt, die
Aufnahme des ausführlichen Titels, Angabe des Umfanges, Verlegers und Preises
an dieser Stelle den Herren Einsendern genügen.
Die Verlagshandlung.
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Ein Streifzug
durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen.
Von
C. K. Aird.
(Warschau.)
Es liegt eine ganze Sammlung von verschiedenartigen, flüch¬
tigen Notizen vor mir, welche ich in einem zusammenhängenden,
sie alle umfassenden Artikel verarbeiten möchte, und ich sehe mich
genöthigt, als Erklärung für die gleichzeitige und darum gedrängte
Behandlung eines so vielseitigen Stoffes ein kurzes Wort voraus¬
zuschicken.
In dem gewaltigen Federkrieg, welcher um die Entscheidung
wichtiger Städtereinigungsfragen während einer ganzen Reihe von
Jahren in Deutschland tobte, und in welchem von manchem stillen
Arbeitsstübchen aus so reichlich Geist und — Gift verspritzt ist,
sind die Hauptschlachten nun definitiv geschlagen worden. Frei¬
lich nicht grade in den Arbeitsstuben der Gelehrten, sondern draussen
in der Welt, im Versammlungssaal der weisen Stadtvertreter und
endlich — nicht nur mit Federn, sondern mit Picken, Schaufeln,
Maurerkellen — draussen auf der offenen Strasse und vor der
Stadt auf freiem Feld.
Danzig wurde in kurzer Frist kanalisirt, das war eine erste,
vielgerühmte That. Berlin, die Millionenstadt der Deutschen, folgte,
ein neuer und zweifelsohne noch viel gewaltigerer Schlag. Bres¬
lau, Hamburg, Frankfurt gleichfalls, und überall entschlossen sich
die Stadtväter für das nämliche System und sie nöthigten so den
Geistern, die da stets verneinten, die eigene innere Ueberzeugung
auf, dass ihre Gegenvorschläge für Städte solcher Grösse entweder
veraltet oder noch nicht reif erschienen.
Inzwischen ist abermals eine Reihe von Jahren vergangen
und es ist wieder still geworden, still namentlich im gegnerischen
Lager. Und wenn nun heute ein neues umfangreiches Werk er¬
scheint, welches die gesammte Städtereinigungsfrage in erster Linie
vom hygienischen Standpunkt aus beleuchtet, so kann man sich
wohl endlich auf eine ruhige unparteiische Behandlung dieses
überaus wichtigen Gegenstandes gefasst machen, und um so mehr,
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 15
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— 208 —
wenn der Verfasser durch seine Lebensstellung in keiner Weise
an dem Gedeihen und der Fortentwicklung eines einzelnen Städte-
reinigungs-Systems persönlich interessirt ist. Ein solches Werk ist
wenigstens in einer völlig neuen Auflage in neuerer Zeit erschie¬
nen *); nur nicht in Deutschland, sondern in England, und das ist
hier wahrlich zweierlei.
So lange der Verfasser dieser Zeilen sich mit dem Studium
der Städtereinigungsfragen befasst, liegen ihm Bewegungen, die in
England auf diesem Felde gemacht wurden, ebenso nahe, wie jeder
Fortschritt in dem Deutschen Reich und immer, immer wieder
musste er sich davon uberzeugen, dass die Handhabung dieser
grossen Fragen in beiden Staaten grundverschieden ist. In der
That, ich bin jetzt auch durchaus der Meinung, dass sich in einer
so abweichenden Auffassung und Behandlung volkswirtschaftlicher
Fragen dieser Art ein Unterschied im Nationalcharakter wieder¬
spiegelt; eine Meinungsäusserung, die sich einer näheren Begrün¬
dung und Erörterung an dieser Stelle allerdings entzieht. Es ist
für mich eine feststehende Thatsache, dass man auf jeder Seite
eigene Wege wandelt und dass es Jedem nützlich sein muss, die
Schwierigkeiten des Anderen zu beachten. Und damit ist die Ent¬
stehung der folgenden Zeilen schon erklärt.
Es handelt sich darum, die Auffassungen und Gegensätze, die
in Deutschland und England zur Geltung kamen, in einem zwang¬
losen Streifzuge zu vergleichen. Die Anregung zu einem solchen
Aufsatz gab eben die Lecture des genannten englischen Werkes,
und indem ich diesem als einem Führer folge, suche ich den eng¬
lischen Erfahrungs- und Beobachtungs-Resultaten gelegentlich die
deutschen gegenüberzustellen; diese letzteren sind aber nicht
einem besonderen, publicirten deutschen Werk entlehnt, sondern
ich verweise auf ganz beliebige Erscheinungen der neueren Zeit
und bringe ausserdem nur Einiges, aus eigenen flüchtigen Notizen,
die ich im Lauf der letzten Jahre machte und die wohl auch be¬
scheidenen Forderungen, so hoffe ich, genügen werden.
I.
Die Herren Prof. Corfield undDr. Parkes bieten in ihrem
Werk eine sehr eingehende Beschreibung der in England gebräuch¬
lichen Städtereinigungs-Systeme, eine Zusammenstellung der mit
diesen bisher gemachten Erfahrungen und ferner eine ebenso aus¬
führliche Schilderung der einzelnen Methoden, welche bisher zur
Beseitigung, Unschädlichmachung oder Verwerthung städtischer
1) The Treatment and Utilisation of sewage, by W. H. Corfield. M. A.,
M. D. etc. etc. and Louis C. Parkes. M. D. — London, 1887. MacmillauACo.
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— 209
Kanalwässer eingeschlagen wurden. Fast ausnahmslos erfolgen
diese Betrachtungen allein vom hygienischen Standpunkt aus; über
die Kosten der einzelnen Anlagen und des aus diesen sich er¬
gebenden Betriebes sind allerdings gleichfalls häufig Mittheilungen
gemacht, doch können solche Preisansätze kaum eine Anwendung
auf deutsche oder ausserenglische Verhältnisse erfahren. Es muss
dann ferner auch hervorgehoben werden, dass viele der citirten
Begutachtungen entschieden sehr veraltet sind. Mit Meinungs¬
äusserungen aus den Jahren 1840—1870 ist uns heute nicht mehr
gedient, oder erscheint es wohl glaublich, dass unsere ganze gleich-
mässig beschleunigte Entwicklung in cultureller Beziehung etwa
20 Jahre lang geschehen könnte, ohne einen wesentlichen Einfluss
auf derartige Systeme, auf die Möglichkeit einer profitablen Ver-
werthung derselben in sanitärer Hinsicht, oder gar auf die Calcu-
lation der Betriebskosten eines vor jenen 20 Jahren aufgekommenen
Systems zu üben? — Es ist aber gar nicht meine Absicht, auf
solche Einzelheiten näher einzugehen. Wer wenig Zeit hat muss das
kürzeste Verfahren wählen, und ich habe also nur einige Schwächen
des Werkes für Interessenten obenhin erwähnt, eben weil ich die
Zeit nicht habe, die wesentlichen Vorzüge des Buches im Einzelnen
gebührend zu besprechen.
Die Schrift wird eröffnet mit einer Geschichte der Entwicklung
der Abtrittsgruben, und die Verfasser begründen die Nothwendig-
keit dieser Aufzeichnung von mancherlei historischen Denkwürdig¬
keiten mit dem Hinweis auf die Thatsache, dass das Fehlerhafteste,
das völlig abgethan und überwunden schien, leicht wieder auf¬
lebt, ja selbst als neu, empfehlenswerth und vorteilhaft in den
Vordergrund geschoben wird, falls abschreckende Beispiele nicht
gründlich festgenagelt werden. Das klingt allerdings recht eigen¬
tümlich, die Richtigkeit indessen lässt sich kaum bestreiten. Noch
kürzlich lernte ich z. B. einen durchaus gebildeten älteren Herren
kennen, der ein ihm gehöriges grosses Grundstück nach allen Re¬
geln neuzeitlicher Kunst kanalisiren liess. Als aber die beabsich¬
tigte Einrichtung einiger Hofclosets für den allgemeinen Gebrauch
mit festem Sitz, Geruchverschluss und Spülapparat zur Sprache
kam, da fielen dem Betreffenden die Hockaborte ein, welche er
vor vielen Jahren unter den Seine-Brücken zu Paris gesehen hatte,
woselbst nämlich für das grösste Publikum direkt über dem Wasser¬
spiegel unr eine eiserne Fussplatte mit einem runden Brillenloch placirt
ist. Und nun sollte ihm durchaus nach diesem Muster ein Hock¬
abort errichtet werden, ja, als ihm erklärt wurde, ein solcher pri¬
mitiver Abort sei ja völlig vorschriftswidrig, eine gusseiserne Closet¬
schale mit Wasserspülung müsse er mindestens acceptiren, da
verlangte er, dass diese Closetschale wenigstens in den Boden ein¬
gelassen und oben mit einer eisernen Platte jener Art bekleidet
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— 210 -
würde, es sollte unbedingt zum „Hocken“ sein. — Des Menschen
Wille ist sein Himmelreich, für uns Alle aber ist es jedenfalls ein
Segen, dass diese Art von Culturkrebsen noch zu den Seltenheiten zählt!
Was nun die Gruben-, Tonnen- und Eimersysteme anbelangt,
so sehe ich keine Möglichkeit, dieselben als „Städtereinigungs-
Systeme“ gelten zu lassen, denn sie erfüllen — selbst abgesehen
von der Müll- und Kehrichtabfuhr — bei Weitem nicht den ganzen
Zweck eines solchen, und dass eine ausgedehnte Grubenanlage
in der Mehrzahl der Fälle sogar als ein „Verunreinigungssystem“
betrachtet werden muss, hat die Erfahrung längst gelehrt. Aber
das Studium aller Eigenschaften und das Hervorsuchen von Vor¬
zügen aller dieser einzelnen Methoden bleibt immerhin von grösster
Wichtigkeit, denn grade mit diesen schwachen Mitteln dort, wo es
sein muss, der öffentlichen Gesundheitspflege einen Dienst zu leisten,
das ist eine Kunst und ein Verdienst. — Gegenüber dem Gruben¬
system muss ein richtig in Betrieb gehaltenes Tonnen- und Eimer¬
system in jedem Falle als ein gewaltiger Fortschritt gelten, denn
es ermöglicht eine grössere Reinhaltung des Bodens, was nament¬
lich in ländlichen Orten im Hinblick auf oft nahgelegene Brunnen¬
schächte von hervorragender Bedeutung ist. Dem weiteren angeb¬
lich grossen Vorzug einer nothgedrungenen häufigeren Abfuhr der
Fäkalien steht aber der Schreiber dieses schon recht misstrauisch
gegenüber, seitdem er Reihen von gefüllten Abtrittstonnen in
Kellern auf die Abfuhr warten sah. Als gemeinsame Schäden
aller hierhergehörigen Methoden sollen nur hervorgehoben werden:
die Unannehmlichkeit und Unbequemlichkeit der Abfuhr, wodurch
sie sich in feineren Stadttheilen ganz unmöglich machen; der schon
betonte Mangel einer Beseitigung aller Schmutz- und Abfallstoflfe;
der geringe Düngerwerth der letzteren *), der Mangel einer Regu¬
li Ueber englische Erfahrungen beim Verkauf der abgefahrenen Fäkalien
finden sich in dem Corfield’schen Werk reichliche Anhaltspunkte. Es wird
unterschieden zwischen unvermischten, in Tonnen oder Eimern gesammelten
Fäkalien und solchen menschlichen Exkrementen, welche in Aschenclosets oder
Müllgruben mit Hauskehricht oder sonstigen Abfällen (namentlich Asche) ver¬
mengt worden sind. Bezüglich der letzteren wird berichtet, dass unter ^eng¬
lischen Städten, welche diese vermischten Abfallstoffe ausfahren, nur 3 einen
Gewinn durch den Verkauf erzielen können; in der Regel aber verursacht die
Unterbringung derselben jahrein, jahraus recht grosse Kosten.
Den unvermischten Fäkalien wird ein wesentlich grösserer Düngerwerlh zu¬
geschrieben und die Möglichkeit, durch den Verkauf einen Gewinn zu erzielen,
nicht bestritten.
Die günstigsten Erfahrungen, welche bisher in Deutschland mit der Abfuhr
und dem Verkauf von reinen Fäkalien gemacht sind, wurden allem Anschein
nach in Stuttgart erzielt. (Näheres cf. Ges. Ing. 1. Sept. 1888). Von dem
grössten Einfluss auf den Erfolg eines solchen Unternehmens sind selbstverständ¬
lich: die Organisation des Betriebes (zwangsweise Grubenentleerung in bestimmten
Intervallen!) und die vielseitigen Lokal Verhältnisse.
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211
lirung des Grundwassei Standes und der Umstand, dass diese
Systeme der Anwendung des empfehlenswertesten Closets, des
Wasserclosets, so hinderlich sind. In letzterer Beziehung werden
von den Vertretern des Systems allerdings schon häufig Zuge¬
ständnisse gemacht — ein wenig Spülwasser dürfe wohl verwen¬
det werden — doch erscheint es überflüssig, hierüber weitere
Worte zu verlieren.
Grössere Städte besitzen wohl ausnahmslos ein System von
alten Strassenkanälen, welches zur Abführung von Haus- und
Regenwasser bestimmt ist, von welchem aber die menschlichen
Exkremente auf das „allerstrengste ausgeschlossen“ werden. Die
Bewohner geben sich alle Mühe, an letzteren Umstand selbst zu
glauben oder doch den Nächsten von der Trefflichkeit der Einrich¬
tung zu überzeugen, wobei es für den Einzelnen vor Allem uner¬
lässlich ist, mit grösster Vorsicht zu verschweigen, dass in seinem
eigenen •Hause eine Umgehung des Gesetzes längst ermöglicht
wurde. Und auf Grund solchen allgemeinen Glaubens an die Vor¬
trefflichkeit der hohen Polizei, die so strenge auf die Erfüllung
der „Sanitätsgesetze“ achtet, wird dann behauptet, dass die städ¬
tischen Abwässer wesentlich reiner seien, als die der neuerdings
schwemmkanalisirten Städte, und dass sie deshalb unbedenklich in
einen Flusslauf geleitet werden dürften. Ganz abgesehen davon,
dass längst die Hinfälligkeit dieser Auffassung nachgewiesen wurde,
da städtische Kanal wässer, selbst da, wo Exkremente factisch aus¬
geschlossen sind, noch nahezu dieselbe Menge an schädlichen Sub¬
stanzen mit sich führen, möchte ich hier ein Beispiel aus der
Praxis vorführen, das allerdings in seiner Art durchaus nicht
einzig dastehen dürfte, welches aber jedenfalls die Art der Ein¬
haltung der einschlägigen Polizeigesetze vortrefflich illustriren wird.
Warschau wird gegenwärtig kanalisirt, und zur Zeit meiner
Geschichte galt dort für die Ausführung von Hauskanalisationen
eine Reihe von recht sorgfältig ausgearbeiteten und weitgehenden
Bestimmungen; wie weit dieselben aber eingehalten wurden, das
steht auf einem anderen Blatt geschrieben. — Der Besitzer eines
schönen grossen Grundstückes hatte nun sein Haus schon einige
Jahre vor Einführung der neuen Kanalisation entsprechend dem
damaligen Verständniss der örtlichen Unternehmer-Firmen kanali-
siren lassen und wünschte jetzt, dass seine Anlage von seiten der
Kanalisationsbehörden abgenoinmen und zum Anschluss an das
neue Strassensiel zugelassen werde. Ich selbst erhielt den Auf¬
trag, die Beschaffenheit der bestehenden Anlagen zu untersuchen
und über den Befund unter Beifügung von Plänen Bericht zu er¬
statten. An Ort und Stelle wurde mir im Voraus mitgetheilt, die
Anlage sei von vornherein so eingerichtet worden, dass alle
menschlichen Exkremente von den übrigen zum Abfluss kommen-
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den Gewässern streng geschieden würden. — Das hoch und eng¬
bebaute Grundstück hatte zwei kleine Höfe. Der grössere von diesen
war sauber asphaltirt und zeigte an seiner Oberfläche die Zugänge zu
nicht weniger als drei gemauerten Regeneinläufen, drei gemauerten
Revisionsbrunnen und einer grossen Cloakengrube. Nach erfolgter
Aufnahme aller einzelnen Abfluss-Leitungen wurden diese in einen
Plan des Grundstückes eingetragen, und es bot sich den Blicken
ein ganz lächerliches Gewirr von Linien. Noch nie ist mir so viel
Eisenrohr in einem so kleinen Hof begegnet; kreuz und quer über¬
einander fort liefen die Leitungen und an Rohrmaterial war hier
gewiss das Dreifache von dem, was wirklich nöthig ist, verbraucht.
Die ganze Anlage machte ungefähr den Eindruck, als sei sie von
einem Geisteskranken projectirt; und doch, es war hier offenbar
Alles darauf angelegt, die Regen- und Hausabwässer stets einem
von den Revisionsbrunnen zuzuführen und diese waren dann wieder
untereinander durch andere Leitungen verbunden, bis endlith unter
manchem Zickzack der Abfluss nach dem alten Strassensiel erfolgte.
Die Closetröhren dagegen führten ausnahmslos direct zu der einen
grossen Abtrittsgrube.
Die letztere liess ich öffnen, um mich von der Zahl der ein¬
mündenden Röhren zu überzeugen: im Ganzen vier, das stimmte
mit der Zahl der aufgefundenen Fallrohren im Inneren des Ge¬
bäudes. Von persönlich nicht weiter interessirten Miethern hatte
ich nun die Versicherung erhalten, die Grube sei seit reichlich
einem Jahr ganz sicher nicht mehr ausgepumpt; aber von einer
Abflussleitung aus dieser Grube ergab sich nirgends eine Spur
obwohl man ganz speciell nach dieser suchte. Merkwürdig! es
war doch so ein einfaches Rechenexempel: An drei Fallrohren
habe ich zusammen 10 Closets gesehen; jedes hat ein Spülreservoir
von 9 Liter Inhalt: macht 90 Liter. Gesetzt, jedes Closet würde
nur 3mal täglich benutzt und gespült, so habe ich 2701 oder pro
Monat 81001 resp. 8,1 cbm. Die Grube selbst hat aber einen nutz¬
baren Raum von höchstens 4 cbm; wie vermag sie also den Zu¬
fluss von einem ganzen Jahr zu fassen? — Ich stand vor einem
Räthsel und dachte einen Moment an eine fabelhafte Durchlässig¬
keit der Grube. Diese Verniuthung erwies sich sofort als hinfällig,
denn die Grube selbst war ziemlich neu und innen recht gut mit
Gement verputzt. Ausserdem war anzunehmen, dass sich gewiss
in den umliegenden Kellern etwas gezeigt haben würde, wenn so
bedeutende Wassermengen hier Jahr für Jahr versickert wären.
Nun, glücklicherweise, kam mir der Zufall bald zu Hülfe, indem
er mir gerade denjenigen Rohrleger in die Arme führte, der diese
Anlage seiner Zeit auf höheren Befehl verbrochen hatte. Jetzt
mochte ihm nichts mehr daran liegen, das Geheimniss länger zu
bewahren, und so erfuhr ich denn, dass eine der Closetzufluss-
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— 213 —
leitungen zu der Grube mitten im Erdreich, völlig unsichtbar und
unzugänglich einen Abzweig hatte, durch welchen die Cloakengrube
direkt in Verbindung mit dem Hauptrohr stand, welches alles
Haus- und Regenwasser aus den Revisionsbrunnen nach dem alten
Strassensiel zu leiten hatte. Und dies nach einer so mühsamen
und kostspieligen Trennung der Fäkalien von den Hausabwässern!
Das eine Closetrohr, welches zwar auch zur mitten auf dem Hof
placirten Grube führte, in welches aber der erwähnte geheime
Abzweig eingeschaltet war, wurde mit einem für Warschauer Ver¬
hältnisse ungewöhnlich schwachen Gefalle verlegt. Selbstverständ¬
lich entleerte dieses Rohr seinen Inhalt überhaupt nicht in die
Grube, sondern direkt durch den Abzweig nach dem Haupt-
Entwässerungsrohr. Wurde aber andrerseits in der Closetgrube
durch den Zufluss aus den übrigen Leitungen eine Stauung hervor¬
gerufen, so traten die Grubeuwässer durch das andere „Zufluss“-
Rohr dem schwachen Gefälle entgegen aus der Grube heraus und
kamen so gleichfalls durch den verhängnisvollen Abzweig in das
Strassensiel zum Ueberlauf.
Gewiss, dieser Streich war raffinirt in’s Werk gesetzt; wenn
aber die Sanitätspolizei, deren Sache es nun einmal ist, die Be¬
folgung der von ihr erlassenen Gesetze zu überwachen, nicht min¬
destens ebenso raffinirt zu handeln weiss, so genügt sie auch nicht
den Anforderungen, welche mit vollem Recht an sie zu stellen
sind. Gegeben sind Sanitätsgesetze massenhaft, sie nützen uns
aber herzlich wenig, so lange die Polizei ihre Befolgung nicht er¬
zwingen kann. Alle Arbeit fachmännischer Vereine wie der
einzelnen Sachverständigen, alle eifrig discutirten und mühsam
aufgestellten Thesen, alle so entstehenden hygienischen Verord¬
nungen und Gesetzentwürfe bleiben illusorisch, so lange es nicht
gelingt, in der Praxis eine ernste Ueberwachung der „in Kraft
getretenen Gesetze“ durchzuführen.
Gleichviel ob ein solcher Ueberlauf aus einer Abtrittsgrube
nach dem Strassensiel offen oder heimlich hergestellt ist, „es bleibt
dabei“, sagt Prof. C o r f i e 1 d, „dass durch eine solche Verbindung das
ganze Princip der Abtrittsgruben aufgegeben wird, und es ist
schlechterdings nicht einzusehen, welche Existenzberechtigung die
letzteren dann überhaupt noch haben, zumal sie die Unreinheit
der Kanalwässer in demselben, wenn nicht in noch höherem Maasse
steigern, als würden die Wasserclosets direkt mit dem Kanal ver¬
bunden.“
Es ist, wie wir wissen, gar nicht lange her, dass die deut¬
schen Vereine für öffentliche Gesundheitspflege ihre so verdienst¬
liche Maulwurfsarbeit zu Gunsten neuer und schärferer Sanitäts¬
gesetze erst begannen, und die Thatsache, dass es in der neuesten
Zeit schon Sanitätsgesetze förmlich regnet, ist ein doppelt erfreu-
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— 214
liches Zeichen; denn sie beweist ja einerseits, wie viel diese Ver¬
eine mit ihrer Arbeit schon erreichen konnten, und andrerseits,
wie gern die deutschen Regierungen in neuerer Zeit geneigt sind,
den Bestrebungen gemeinnütziger Vereine zu begegnen. Und wenn
sich nun in meinen heutigen Zeilen trotz alledem ein unzufriedener
Geist verräth, so mögen sich die Urheber der neuen Sanitäts¬
gesetze einstweilen etwa damit trösten, dass es unmöglich ist,
es Allen recht zu machen; dass erfahrungsgemäss die Umsicht,
Leistungsfähigkeit und Kraft des Einen durch die continuirlichen
Angriffe des Gegners wachgehalten und meist sogar gesteigert
wird, oder, dass eine Partei, die nur das Gute will, am wirksam¬
sten grade durch die Rührigkeit einer Opposition auf der Höhe
ihrer Aufgabe gehalten werden kann.
Nach dem Studium einer Reihe von Sanitätsgesetzen neuesten
Datums muss ich sagen: Sie lesen sich ohne Zweifel ausgezeichnet,
aber ich bin noch lange nicht Optimist genug, um mir von solchen
Erlässen einen Erfolg, wie ich ihn wünsche, zu versprechen; dazu
sind diese Bestimmungen meist zu weitgehend und zu detaillirt;
es riecht zu sehr nach Theorie, als dass man an eine wirksame
Durchführung derselben in der Praxis auch nur vorübergehend
glauben könnte, und das Auftauchen solcher Sanitätsgesetze ist
dann ein Scheinerfolg, durch welchen höchstens die verdienstlichsten
Bestrebungen vorzeitig abgelenkt werden von einem in Wirklichkeit
noch lange nicht erreichten Ziel! — Frankreich hat ja längst vor¬
zügliche Sanitätsgesetze und namentlich auch sehr detaillirte Be¬
stimmungen für die erforderliche Beschaffenheit und Behandlung
der „fosses fixes“ wie der „fosses mobiles“, aber genau befolgt
sind diese — fast möchte ich behaupten: nie! Und unter den
neuen deutschen sehr richtigen und berechtigten Gesetzen findet
sich sehr Vieles, was man gewissermassen auch nur aufgeschrieben
hat, damit man jederzeit beweisen könne, dass es da ist — so
oft dies nämlich auch von nun an noch bezweifelt werden wird.
Fälle, z. ß. wie der von mir aus Warschau mitgetheilte, sind
auch in England seit Jahrzehnten in grosser Anzahl vorgekommen
und sie haben dort einen schwerwiegenden Einfluss auf Entschlüsse
neuerer Zeit geübt , ). Fälle, wie der erwähnte, sind auch in
Deutschland an der Tagesordnung, trotzdem das Verbinden der
Abtrittsgruben mit alten Strassenkanälen fast überall verboten ist,
und sie werden noch lange an der Tagesordnung sein. Ich selbst
habe seit längerer Zeit die Anwendung derartiger Sanitätsgesetzc
mit grossem Interesse überwacht, und ich muss gestehen, dass die
dreiste Art, mit der sie überall umgangen werden, die Offenheit,
1) cf. Aird: „Ein Rückblick auf die Kanalisation von London*. Central¬
blatt f. allgemeine Gesundheitspflege. Jahrgang 1887, Heft 1, Seite 31.
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mit der man dies als selbstverständlich hinstellt und mit der man
die betreffenden Gesetze als Weisheit auf Papier bezeichnet, mir
stets wie eine Verhöhnung unserer Polizei erschien. Dass Der¬
artiges aber selbst in Deutschland möglich ist, liegt daran, dass
viele Gesetze den Bedürfnissen des praktischen Lebens noch
nicht genügend angepasst sind, und infolgedessen erscheinen dann
die Forderungen in hundert Fällen unerfüllbar. Und was schliess¬
lich die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Sanitäts¬
gesetzgebung anbelangt: Ist uns vielleicht damit gedient, wenn
seitens der Polizei Gesetze veröffentlicht werden, die weit über die
Möglichkeit einer Ueberwachung in der Praxis hinausgehen, bevor
es ihr auch nur gelungen ist, die Ausführung der alten bestehen¬
den Gesetze wenigstens mit allem Nachdruck durchzuführen?
Dass städtische Kanal Wässer ohne Beimischung von Fäkalien
nicht wesentlich unschädlicher sind, als solche, denen Exkremente
beigemengt sind, und dass sie deshalb von Rechts wegen heute
schon gereinigt werden müssten, ist wiederholt entschieden worden.
Gestützt hierauf und unter Berufung auf die eben erfolgte Be¬
gründung meiner Meinung von allzuschönen Sanitätsgesetzen, möchte
ich es der Entscheidung von praktisch denkenden Sachverständigen
überlassen, ob nicht — da die aus „überflüssigen“ Abtrittsgruben
stammenden Fäkalien meist nicht einmal in frischem Zustande in
die alten und in der Regel schlecht gebauten städtischen Kanäle
kommen, und da aus der Existenz geheimgehaltener und uncon-
trolirbarer Röhrenleitungen und Verbindungen in sanitärer Hinsicht
ernste Schäden wohl erwachsen können — ob nicht, sage ich,
unter solchen Umständen eine geregelte direkte Abführung
aller Fäkalien auch in die alten städtischen Kanäle zu bevor¬
zugen sei. — —
Unter den zahlreichen Trockencloset-Systemen ist in dem mir
vorliegenden englischen Werke vor Allen das Erdcloset einer sehr
ausführlichen Besprechung (40 Seiten) gewürdigt worden, an sich
ein Beweis von der hervorragenden Stellung, welche diesem hier
in den Augen der Verfasser zukommt. Die Resultate, zu denen
die sehr allgemeine Verwendung dieser Closets in Grossbritannien
und britisch Indien geführt hat, sind nun folgende:
Selbstthätig wirkende Vorrichtungen, durch welche das Nach¬
streuen der trockenen Erde auf hinterlassene Dejectionen bewirkt
werden soll, haben sich dauernd nie bewährt, und es wird deshalb
gefordert, dass Jedermann mit eigener Hand und mit Hülfe einer
kleinen Schaufel das Streuen nach Benutzung des Closets besorge.
Hieraus und aus anderen praktischen Erfahrungen wird dann der
Schluss gezogen, dass die Closets sich nur dort in grösserer An¬
zahl zur Aufstellung empfehlen, wo sie Menschen dienen, die unter
der strengsten Ueberwachung stehen; es sollen in Kasernen, Ge-
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216
fangnissen etc. thatsächlich dauernd gute Erfolge erzielt worden
sein. Der Schreiber dieser Zeilen glaubt hierbei allerdings schon
ein Stück verkehrter Welt zu sehen. Ein Closet muss sich nach
den Anforderungen der Menschen und nicht die Menschen sich
nach den Anforderungen eines Closets bequemen, und wenn erst
die Ueberwachung von Soldaten und Gefangenen u. s. w. sich bis
auf den Aufenthalt im Abtritt erstrecken soll, so ist es sicherlich
an der Zeit, die gute, anspruchsvolle Frau Hygieia auf die festen
Schranken zu verweisen, die sie im praktischen Leben niemals
überschreiten darf.
Es wird ferner grosser Werth auf die Beschaffenheit des
Streumaterials gelegt. Das Bestreuen mit trockener Erde macht
die Dejectionen nicht unschädlich, sondern es trocknet sie nur aus.
Eine nachträgliche Befeuchtung erweckt aber aus den Abfallen
genau dieselben sanitären Gefahren, welche sonst überall von der
vollständigen Vernachlässigung oder auch von einer nachlässigen
Behandlung der Exkremente zu erwarten sind. Es gilt dies den
Verfassern als eine vollkommen festgestellte Thatsache, und die
erste von ihnen aufgestellte Forderung ist also die, dass die be¬
nutzte Erde wirklich trocken sei, und dass Vorräthe von Streu¬
material auch dauernd trocken aufgehoben werden. Es gilt natür¬
lich nicht für einerlei, von welchen Erdarten als Streumaterial
Gebrauch gemacht wird, und findet sich in einem indischen Bericht
die folgende Skala für den Werth von Erden mitgetheilt. Am
vortheilhaftesten wirkt: reiche Gartenerde, dann 2) torfartige Erde,
3) schwarzer Humus, 4) Thone, 5) steife thonige, 6) rothe eisen¬
haltige, 7) sandige Erde, 8) Sand. — Ein Umstand, der erfahrungs-
gemäss die Versorgung ganzer Städte mit Erdclosets unmöglich
macht oder diese mindestens schon gar nicht mehr vortheilhaft
erscheinen lässt, ist in der grossen Schwierigkeit einer Beschaffung
genügender Erdmengen und deren billiger Zu- und Abfuhr zu
erblicken. Die mitgetheilten abweichenden Angaben und Erfahrungs-
resullate über die Grösse der erforderlichen Massen hier aber
wiederzugeben, erscheint ganz zwecklos, da in den einzelnen Fällen
die Beschaffenheit der Erdart nicht bestimmt ist, während nach
indischen Erfahrungen z. B. 7 Theile Thon denselben Zweck er¬
füllen, wie 17 Theile des um Madras häufigen sandigen Bodens.
Die hier betonte Schwierigkeit war es wohl auch, die zuerst dar¬
auf führte, die einmal benutzte Erde zu trocknen und dann noch¬
mals zu verwenden. Es wird sogar vielfach dieselbe Erde drei,
vier, auch fünf Mal benutzt. Aber vom hygienischen Standpunkte
aus ist ein solches Verfahren schon wesentlich ungünstiger zu
beurtheilen, während andererseits die resultirende Mischung
von Exkrement und Erde einen kaum merklich höheren Dünger¬
werth erhält. Schon vor 18 bis 20 Jahren ist in England dahin
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217 —
entschieden worden, dass fünfmal benutzte Erde nicht reicher an
Nährstoffen sei, als gute Gartenerde und dass dieser Dung, wo er
in grösseren Mengen producirt wird, einen Transport in die Um¬
gegend in finanzieller Hinsicht nicht verträgt. Ob das noch heute
zutriflft, bleibe dahingestellt; die schlechten Erfahrungen aber,
welche mit sonstigen städtischen Dungfabrikaten in neuester Zeit
gemacht worden sind, lassen eine in dieser Beziehung eingetretene
Besserung nicht erwarten.
So unparteiisch in dem mir vorliegenden Werke die Anwen¬
dung der Trockensysteme für grosse Städte auch besprochen wird,
die persönliche Ueberzeugung der Verfasser kommt schliesslich
sonnenklar in folgendem Satze zum Ausdruck: „Alle anderen
Systeme, als die der Beseitigung der Fäkalien durch Wasser, ba-
siren auf dem Grundsätze, dass es ungefährlich sei, exkrementielle
Stoffe für eine gewisse Zeit in oder bei dem Hause aufzuspeichern,
sei es nun im rohen Zustande (Eimerclosets) oder sei es vermischt
mit irgend welchem Absorbtions- oder Deodorisations - Material
(diverse andere Closetconstructionen.) Da dieser Grundsatz aber
offenbar ein falscher ist, so kann man sich über das ewige Fehl¬
schlagen der Versuche mit solchen Systemen nicht mehr wundern!“
Nein, für grössere Städte können Tonnen- und Eimersysteme
nicht empfohlen werden, das steht wohl fest. Ebenso sicher aber
ist es, dass es von grösstem Nutzen wäre, ein einfaches, billiges
und möglichst allen hygienischen Forderungen genügendes
System dieser Art zu finden und solches in kleineren Städten
und Ortschaften mit demselben Ernst und in derselben Weise all¬
gemein einzuführen, in welcher in grossen Städten auf Anschluss
und Betheiligung aller Bürger an den städtischen Kanalisations¬
anlagen gehalten wird. Ich will nicht gesagt haben, dass gerade
eins unter den bestehenden Systemen auszuwählen und dann
als Muster hinzustellen sei; ich meine vielmehr, dass bei verschier
denen Lokalverhältnissen verschiedene Systeme sich empfehlen
werden. Bei einem flüchtigen Studium der bezüglichen Verhält¬
nisse in kleinen Städten drängt sich ja bald die Ueberzeugung auf,
dass die vorhandenen Nachtheile weniger aus dem Fehlen des
einen besten Systems erwachsen, als hauptsächlich aus der
Mannigfaltigkeit der vertretenen Abortconstructionen, woraus sich
für die ganze Stadt ein äusserst unregelmässiger Gesammtbetrieb
und nur zu oft eine gemeinschädliche Vernachlässigung der einzel¬
nen Abtritte ergibt. Wenn also eine solche Stadt die Mittel zu
einer gründlichen Kanalisirung nicht besitzt, oder wenn aus an¬
deren Gründen die rechte Zeit zu einer solchen nicht gekommen
scheint, so liesse sich doch gewiss durch obligatorische Einführung
eines einheitlichen, für gut befundenen, billigen Systems ein Betrieb
schaffen, der regelmässige und reinliche Bedienung und eine Con-
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— 218 —
trole aller einzelnen Aborte im Interesse der öffentlichen Gesund¬
heit sichert. — Ein bestimmtes System unter den bestehenden zu
bezeichnen, kann meine Absicht gar nicht sein, da die meisten
unter ihnen sich leicht so weit verbessern liessen, dass dann alle
sehr nahe gleichen Werth erhielten, und der Ein wand, den ich
vorhin im Hinblick auf die Verwendung solcher Systeme zur Rein¬
haltung grosser Städte machte, dass sie nämlich eine Unschädlich¬
machung der sämmtlichen Abwässer und Abfallstoffe und eine
Regulirung des Grundwasserstandes ganz vermissen liessen, kommt
in kleinen Orten schon sehr viel weniger in Betracht. Die- Müll¬
und Kehricht-Abfuhr lässt sich dort ganz zweifellos mit einigem
guten Willen besser arrangiren, als dies in der Regel jetzt der
Fall ist, und sobald die Nothwendigkeit nur klar erfasst ist, wird
der gute Wille schwerlich fehlen. Zur Ableitung der Hausabwässer
in- oder exclusive der Fäkalien haben kleine Städte meist Kanäle
und es bleibt als eine für sich zu erörternde Frage nur die Mög¬
lichkeit einer unschädlichen Beseitigung dieser städtischen Ge¬
wässer übrig.
Zur Beseitigung der Spülwässer eines Dorfes hat man in Eng¬
land neuerdings kleine Untergrund - Rieselanlagen für einzelne
Häusergruppen ausgeführt, bei welchen die Abwässer zunächst in
einem gemeinsamen Brunnen angesammelt und von den gröbsten
Schwimmstoffen befreit werden. Ist aber ein gewisses Wasser¬
quantum erst vorhanden, so entleert sich der Brunnen selbst¬
tätig, ähnlich den bekannten kleinen Spülreservoiren für Closets,
und er entsendet seinen ganzen Inhalt nach dem unterirdischen
Rohrsystem, von dessen Verzweigungen aus das Wasser im um¬
liegenden Erdreich schnell versickert. Derartige Anlagen zeichnen
sich durch verhältnissmässige Einfachheit aus und sollen sich recht
gut bewähren. Was sich aber in englischen Dörfern machen lässt,
die zu dem Gütcrcomplex eines englischen Grossgrundbesitzers
zählen, ist leider in Deutschland selten zu erreichen. Mit um so
grösserer Anerkennung ist das neuerdings vielfach zu Tage tretende
Bestreben der Landes-Regierung zu begrüssen, welche sich nicht
mehr damit begnügt, kurz zu befehlen, wenn Verhältnisse schon
einen unerträglichen Charakter angenommen haben, sondern sich
— ich erinnere z. B. einzig und allein an das Rundschreiben der
Kgl. Regierung an die Verwaltungsbeamten des Reg.-Bez. Düssel¬
dorf *) — offenbar bemüht, den Stadtverwaltungen mit werth¬
vollen Vorschlägen an die Hand zu gehen. Es kann, wie grade
1) Rundschreiben, betreffend Regelung der Fäkalien-Abfuhr. Düsseldorf,
11. Mai 1888. Kgl. Reg. Abthlg. d. Innern, (gez.) Königs. — An sämmtliche
Herren Landräthe, Oberbürgermeister zu Crefeld und Essen und Bürgermeister
der Stadtkreise. — cfr. Veröfifentl. d. Kais. Ges.-Amtes XII. Nr. 32. Ges. Ing.
1888. Nr. 19. 1. October.
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— 219
in dem soeben citirten Rundschreiben dargethan ist, Bedeutendes
mit kleinen Mitteln in’s Werk gesetzt werden, und es ist ja so
viel des Wichtigsten zu leisten! Eine Wanderung z. B. durch
solche deutsche Dörfer, wie ich sie namentlich in den Provinzen
Ost- und Westpreussen und der Mark kennen lernte, führt leicht
zu der Ueberzeugung, dass bei uns von Alters her recht viel ver¬
nachlässigt worden ist, und es würde gewiss so manches Dörfchen
einen sehr viel freundlicheren Eindruck machen, wenn wenigstens
für eine zweckentsprechende Oberflächen-Entwässerung eine Hand
sich rührte, wenn nur versucht würde, die überall stagnirenden
und kaum versickernden Schmutzwässer in Rinnsteinen auf dem
nächsten Wege aus einem Dorf hinauszuleiten. Die Gassen hier¬
durch zu verbessern und gleichzeitig die üblen Ausdünstungen
alter Schmutzgerinne — die ich wahrhaftig nicht zu den Annehm¬
lichkeiten des Landlebens rechne — auf ein wesentlich kleineres
Maass herabzudrücken, das ist ein nahes und gewiss erstrebens-
werthes Ziel!
Ja, diese Ausdünstungen! Auch ihrer vollen Berücksichtigung
begegnet man in Deutschland erst in der allerneuesten Zeit. Als
aus England herüber die ersten Klagen in betreff sanitärer Ge¬
fahren drangen, die man dort z. B. von dem Eindringen der Kanal¬
gase — freilich einer etwas schwerwiegenden Art von Ausdün¬
stungen — in die Wohnungen behauptete, da war man in Deutsch¬
land offenbar auf diesem Specialgebiet noch nicht genügend
vorgeschritten, um dem Gegenstand ein irgend tieferes Interesse
entgegenzubringen. Etwas später nahm man dann die Stellung
ein: Es sei in der Einwirkung von Kanalgasen eine Unannehmlich¬
keit zu erblicken, welcher vorgebeugt werden könne und die
deshalb auch verhindert werden müsse. Noch heute aber wird
in deutschen Fachkreisen vielfach die Möglichkeit einer ernsteren
Gefahr bestritten, und als Vorjahren etliches von jenen echt eng¬
lischen Schreckensberichten über die schauerlichsten Seuchen her¬
überkam, die einzig und allein durch ein mangelhaft gedichtetes
Ventilationsrohr und dergleichen hervorgerufen und genährt sein
sollten — wie grausam hat man damals die Apostel dieser Lehren
hier verspottet. Dass aber in neuester Zeit grade diese Ausdün¬
stungen von der Gesetzgebung in ganz auffälliger und hervor¬
ragender Weise berücksichtigt werden *)» beweist doch sicherlich
1) Man vergleiche z. B.: die Thesen des Herrn Prof. Baumeister (Karls¬
ruhe), betreffend „Massregeln zur Erreichung gesunden Wohnens - , aufgestellt in
der 14. Jahresversammlung des deutschen Ver. f. öffentl. Ges. — Frankfurt a. M.,
13.—15. Sept. 1888. — Ges. Ing. Nr. 19. 1888. 1. Oct. — Ferner: die Polizei-
Verordnung für den Stadt- und Gemeindebezirk Mühlhausen vom 1. Juni 1888,
betreffend: .Behandlung menschlicher und thierischer Exkremente und Abfall-
stoffe*. cf. Ges. Ing. Nr. 20. 1888. 15. Oct. — Verüffentl. d. Kais. Ges.-
Amts. XII. Nr. 33.
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— 220 —
zur Genüge, dass jene Apostel Jünger finden. Und gewiss, es ist
an der Zeit, dass dem so sei.
Zunächst will ich das Urtheil der Herausgeber meines Leid¬
fadens, der Mediciner Prof. Corfield und Dr. Parkes über
dieses Kapitel wiedergeben. — Es finden sich Angaben welche
beweisen, wie seit vielen Jahrzehnten in England schon der un¬
erschütterliche Glaube herrscht, dass durch die Einathmung von
Kanalgasen und sonstigen Ausdünstungen, etwa von faulenden orga¬
nischen Substanzen, eine schwerwiegende Prädisposition für manche
ernste Krankheit geschaffen werden könne. Fragt man nun, ob
denn dort der Beweis für die Richtigkeit dieser Meinung schon erbracht
sei, so antworten hunderte von gründlich gebildeten englischen Spe-
cialisten „Ja“, und dem habe ich nur hinzuzufügen: „Die Thatsache,
dass der allergrösste Theil grade der hervorragendsten englischen
Mediciner und Ingenieure noch heute fest derselben Ueberzeugung
ist, die Andere vor Jahrzehnten hegten, beweist mir vollkommen,
dass diesen jedenfalls ein Beweis für die Unschädlichkeit
solcher Ausdünstungen noch nie gebracht sein kann.“ — Man ent¬
sendet seit Jahrzehnten ebenso wie heute Lungenkranke nach hoch¬
gelegenen Kurorten mit besonders reiner Atmosphäre. Man weiss
nun aber, dass die Lungenschwindsucht zum Exempel durch einen
Bacillus verursacht wird. Der Bacillus ist da; die Thatsache einer
gewaltigen Einwirkung der Luft auf den Bacillus resp. auf die
menschliche Gesundheit wird dadurch aber nicht erschüttert. Oder
wenn uns zahllose Beobachtungen von Neuem immer wieder über¬
zeugen, dass die asiatische Cholera mit Vorliebe prädisponirte Opfer
hinrafft, so ist ein Zusammenhang zwischen der Einwirkung von
Kanalgasen und einer etwaigen Erkrankung an asiatischer Cholera
doch eigentlich schon hergestellt, und es bliebe einzig noch zu zeigen,
wie durch die Einathmung von Kanalgasen ein anormaler Schwäche¬
zustand, eine Prädisposition, geschaffen werden kann.
In dem englischen Werk, welches sich hierbei vorwiegend und
vielleicht, um noch unparteiischer zu erscheinen, auf französische
Quellen *) stützt, wird Folgendes ausgeführt: In grossen Cloaken
bilden sich Gase, die zu einem sehr grossen Theil aus Schwefel¬
wasserstoff bestehen und welche, wenn eingeathmet, Asphyxie
hervorrufen. Was die Symptome der Asphyxie anbelangt, so
variiren diese je nachdem die Erscheinung veranlasst ist durch
Mangel an Sauerstoff oder durch die Gegenwart einer erwähnens-
werthen Menge von Schwefelwasserstoff. Im ersten Falle zeigen
sich Athmungsbeschwerden, die sich fortgesetzt verschlimmern, es ist
eine regelrechte Erstickung; im zweiten Falle wird (nach Par ent
Duchatelet) das Individuum plötzlich befallen und stirbt
1) Parent Duchatelet: Hygiene Publique.
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augenblicklich, oder, wenn eben die Menge des verderblichen Gases
zu klein ist, um sofortigen Tod herbeizuführen, die befallene Per¬
son verliert plötzlich das Bewusstsein, sie führt convulsivische Be¬
wegungen aus oder verräth auch andere ernste nervöse Störungen
und erhält vielleicht erst nach mehreren Tagen ihre volle Gesund¬
heit wieder.
„Was in concentrirter Form so tödtlich wirkt, muss in ver¬
dünnter Form einen schädlichen Einfluss auf die Gesundheit
üben.“ Dieser Satz zu unserem Kapitel ist einem englischen Ge¬
sundheitsbericht vom Jahre 1844 entlehnt, und die Herren Cor-
field und Parkes, welche sicherlich unter Beispielen für den
gefährlichen Einfluss übler Dünste und Gase eine ganz enorme
Auswahl hatten, führen auch in der vorliegenden neuen Auflage
ihres Werkes das folgende Beispiel an, welches dem nämlichen Be¬
richt entnommen wurde:
Drei und zwanzig Kinder eines grossen Pensionats in Clapham
erkrankten in gleicher Weise heftig unter schwerer Irritation des
Magens, convulsivischen Muskelzuckungen und excessiver Kraft¬
abnahme, und zwei von ihnen starben innerhalb etwa 24 Stunden.
Von zugezogenen Aerzten wurde erklärt, dass die Ursache dieser
Erkrankungen in der Einathmung von Schwefelwasserstoff zu er¬
blicken sei, und zwar soll dieser von dem Inhalt einer Abtritts¬
grube hergerührt haben, welcher in einem angrenzenden Garten
ausgebreitet war. — Wäre diese gleichmässige Erkrankung aller
Pensionskinder durch ein Anderes als die Einathmung der er¬
wähnten Ausdünstungen — etwa durch den Genuss verdorbener
Nahrungsmittel — verursacht worden, so würden die Aerzte im
Jahre 1844 vielleicht ebenfalls auf diesen Umstand früher als auf
den Inhalt einer benachbarten Abtrittsgrube aufmerksam gewor¬
den sein.
Ferner wird, wieder nach ParentDuchatelet folgender
Fall beschrieben. Das französische Schiff „Arthur“ wurde an
einem regnerischen Tage mit Poudrette geladen, welche, wenn
angefeuchtet, gewissermassen fermentirt. Infolgedessen ging hier
die Hälfte der Mannschaft auf der Reise zu Grunde, während die
Ueberlebenden in einem beklagenswerthen Zustand ihren Bestim¬
mungsort erreichten. Aber auch in diesem Ankunftshafen wurden
die Arbeiter, welche die Poudrette zu löschen hatten, von ganz
derselben Krankheit befallen, „welche“, so sagt Prof. Corfield,
„nach einer von dem genannten Gewährsmann mitgetheilten, sehr
genauen Beschreibung ein typhöses Fieber gewesen sein muss“.
Nun, über den Werth solcher Geschichten gehen sicherlich
die Meinungen weit auseinander, und was mich persönlich anbe¬
langt, so berufe ich mich an dieser Stelle auf die Autorität der
Herren Corfield und Parkes. Bei dem heutigen Stande der
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1
— 222 —
Wissenschaft wird man sich schwerlich vor der Erklärung beruhi¬
gen, dass die Krankheit an Bord des „Arthur“ irgend wie durch
die Befeuchtung jener Poudrette hervorgerufen worden sei; man
weiss ja heute viel zu viel, als dass man in einem solchen Falle
nicht Alles wissen möchte. Für Nichtmediciner aber darf ich
wohl sagen: Gleichviel, ob diesmal, wie in so vielen anderen
Beispielen, eine Art der neuentdeckten Krankheitskeime — ich
meine also Mikroorganismen — eine Rolle spielte oder ob es sich
wirklich nur um die Wirkung der eingeathmeten verdorbenen Luft
gehandelt hat, es ist sicherlich hundertfach bewiesen,
dass durch die blosse fortgesetzte Einathmung schlech¬
ter Luft und namentlich durch Einathmung vonGasen
aus Abtrittsgruben und Kanälen ein sehr ernst zu
nehmender Schwächezustand hervorgerufen werden
kann. Es ist eben in erster Linie zu beachten, ob Jemand ge-
nöthigt ist, sich der Einwirkung solcher Gase dauernd auszu¬
setzen, und, namentlich wo es sich um die Gefahr einer Ausbrei¬
tung derselben in geschlossenen und bewohnten Räumen handelt,
ist es demnach eine ernste Pflicht für Aerzte und Techniker, den
Gegenstand mit der grössten Aufmerksamkeit zu verfolgen. Es
sollte die feste Absicht aller lnteressirten sein, einer sich ohne
Zweifel hieraus ergebenden Gefahr für die Gesundheit nach aller
Möglichkeit vorzubeugen. Dies war aber bisher in Deutschland
nicht der Fall. In Deutschland wird sich gleichzeitig mit dem
ernsten Willen eine kräftige Abhülfe für das Uebel zeigen. Ich
verzichte mit Vergnügen auf kindische Ueberlreibungen und end-
und nutzlose Schreibereien, wie man sie anderwärts erlebt hat.
Du sublime au ridicule il n’y a qu’un pas! Ich bin aber auch
felsenfest davon überzeugt, dass dieser Gegenstand mit seltenen
Ausnahmen immer noch zu leicht genommen wird. Es convenirt
noch nicht, sich kräftig aufzuraffen, und das eben ist es, was mich
antreibt, so viel Material, als ich beschaffen kann, zu solchen Ka¬
piteln vorzutragen. Auch heute denke ich — nach wie ich glaubte,
längst erledigten Papieren — von Selbsterlebtem zu berichten.
Zwei volle Jahre sind seit der Zeit der Handlung wohl verflossen,
und wenn mein Gedächtniss mich bezüglich einzelner, unwesent¬
licher Details im Stiche lassen sollte, so ist dies damit zu erklären,
dass ich mich s. Z. dem Glauben und der Hoffnung hingab, es
würden wohl Andere an meiner Stelle die Verarbeitung und Nutz¬
anwendung des eigenartigen Falles übernehmen.
Schluss folgt.
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aehwei^nug über Krankenaufnahme und Bestand in den Krankenhäusern aut
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat März 18811
Kindbettfieber I
Sterblichkeit« - Statistik von 58 Städten der Provinzen Westfalen,
Rheinland nnd Hessen-Nassau pro Monat März 1889,
Bielefeld
Minden
Paderborn
Dortmund
Bochum
Hagen
Witten
Hainm
Gelsenkirchen
Iserlohn
Siegen
Schwelm
Lippstadt
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Grefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a. d. Ruhr
Rheydt
Viersen
Oberhausen
Neuss
Wesel
Styrum
Solingen
Wermelskirchen
Ronsdorf
Velbert
Ruhrort
Süchteln
Lennep
Aachen
Eschweiler
Eupen
Burtscheid
Stolberg
Köln (Stadt)
Köln (Vorstädte)
Bonn
Mülheim a. Rhein
Kalk
Trier
Malstatt-Burbach
St. Johann
Saarbrücken
Coblenz
Kreuznach
Neuwied
Wiesbaden
140961
119200
110000
104,191
71491
52016
50000
35000
26709
25000
22228
22377
21934
20677
19820
31887
11400
11000
12533
9708
9465
8843
102336
16798
15441
12139
11792
184371
89216
38000
27800
11418
04 33,7
54 34,8
62 44,8
17 45,3
96 57,7
40 52,5
71 35,9
63 32,2
24 63,1
65 37,1
44 29,7
42 38,7
32 54,4
34 36,9
97 40,0
85 42,0
61 41.5
76 46,3
94 44,7
89 45,4
27 43,5
17 52,6
02 49,0
63 34,0
97 52,0
79 43,2
66 38.3
88 53,3
14 42,9
42 44,2
42 45,8
50 47,9
39 48,2
27 34,2
37 50,2
62 42,4
69 49,3
57 44,3
41 43,9
40 40,7
»87 37,5
85 29,9
72 57,8
41 36,2
34 42,9
89 30,8
64 45,2
18 21,2
Todesursachen
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13 33,2 . . 1 . .. 2; .. ...
59000 126 42,6 80 11 16,3 ..!.... 3
68236 161 28,3
20 17,2 ...... 6 LJ 2
I ! II
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225
Kleinere Mittheilungen.
** Städtische Badeanstalt in Dortmund.
Frequenz.
An Bädern wurden verabreicht:
Monat
Pro 1887/88 wurden Bäder
verabreicht an:
Pro 1886/87 wurden Bäder
verabreicht an:
Damen
Herren
Zusammen
April.
1795
7416
9211
1246
7200
8446
Mai.
2403
10020
12423
2400*
13612
16012
Juni.
4120
17006
21126
3012
13671
16683
Juli.
5275
22580
27855
4260
17585
21845
August.
4447
14558
19005
3917
13812
17729
September.
3224
8628
11852
3644
13426
17070
October.
1785
7338
9123
2033
8469
10502
November.
1675
6781
8456
1654
6824
8478
December.
1043
5653
6696
1152
5‘.K)2
7054
Januar.
1265
5770
7035
1006
5514
6520
Februar .
927
4992
5919
965
5584
6549
März.
1185
6718
7903
1118
6440
7558
Summa
29144
1174(50
146604
26407
118039
144446
Ausserdem sind im Jahre 1887/88 1639 Bäder an Kinder des Kinder¬
pflegevereins unentgeltlich abgegeben worden, so dass die Gesammtzahl aller
pro 1887/88 verabreichten Bäder 148,243 gegen 147,231, welche im Jahre
1886/87 abgegeben worden, beträgt. Es hat mithin eine Zunahme von
1012 Bädern oder pp. 0.7 Proc. der vorigjährigen Frequenz stattgefunden.
Die Zahl der verabreichten Wannenbäder, welche in der vorstehenden
Aufstellung mit enthalten sind, hat betragen:
Monat
1887/88:
1886/87:
Damen und
Herren
Bemerkungen
Damen
Herren
Zusammen
April.
421
1132
1553
1600
Mai.
458
1158
1616
2065
Juni.
820
1345
2165
1728
Juli.
1009
1590
2599
2305
Es sind demnach
August.
792
1114
1906
2016
1099 Bäder weni¬
September.
461
748
1209
1836
ger wie im Jahre
October.
318
738
1056
1273
November.
302
767
1069
1097
1886/87 abgege¬
December.
166
815
981
1050
ben worden.
Januar.
245
682
927
1048
Februar.
177
644
821
1028
März.
300
1059
1359
1314
Summa
5469
11792
17261
18360
Die Gesammtzahl der verabreichten Bäder beträgt, wie bereits ange¬
geben, 146,604 bezahlte Bäder und 1639 Freibäder. Davon entfallen auf
die Sommersaison pro Mai bis incl. September 92,261 bezahlte 1639 Frei-
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bäder, auf die Wintersaison, umfassend den übrigen Theil des Jahres,
54,343 bezahlte. Hiernach ergibt sich ein Durchschnitt der pro Tag ver¬
abreichten Bäder von:
bezahlte Bader: Freibäder:
a) für die Sommersaison. 603, 0 i 10,«»
b) für die Wintersaison.256,«*» —
c) für das Jahr. 407,i«« 4,« 4 «
Die höchste Frequenz des Bades fand am 30. Juli 1887 Statt, an
welchem Tage 2133 Bäder verabreicht wurden, die niedrigste Frequenz
fand am 16. März 1888 Statt, an welchem Tage nur 36 Bäder verabreicht
worden sind.
Das Bad wurde, wie bereits an anderer Stelle berichtet, am 10. Juli
pr. von einem Schadenfeuer betroffen, in dessen Folge das Dach des Ma¬
schinen- und Kesselhauses fast vollständig zerstört wurde.
Der Wiederaufbau ist in Eisenconstruction geschehen, um ähnlichen
Vorkommnissen für die Zukunft mögliclist vorzubeugen.
Dazu hat zugleich eine erhebliche Erweiterung der Räume für die
warmen Brausen und eine Vermehrung dieser Letzteren auf 15 Stück statt¬
gefunden, um einem vielfach zu Tage getretenen Bedürfnisse der Badegäste
Abhülfe zu verschaffen. Diese Erweiterungen sind sämmtlich aus Betriebs¬
mitteln vorgenommen worden, weshalb das Conto für Unterhaltung der
Gebäude und Anlagen sehr hoch erscheint.
Nichts destoweniger würde der Betriebsabschluss einen Ueberschuss
von 604.11 Mk. zeigen, wenn nicht eine Summe von 1000.00 Mk. in Re¬
serve gestellt worden wäre, aus welcher die Mehrkosten für eine in diesem
Jahre dringend nöthige Renovirung der Anstalt bestritten werden sollen.
Aus diesem Grunde erscheint denn auch in dem Betriebsabschlusse noch
ein kleines Deficit von 395.89 Mk., das indessen durch die vielen Annehm¬
lichkeiten, welche das Stadtbad der Bürgerschaft gewährt, leicht zu ertragen
sein dürfte.
Seit langer Zeit hatte sich ferner das Bedürfniss fühlbar gemacht, die
Anstalt durch Schwitzbäder vervollständigt zu sehen, und haben die städtischen
Behörden daher vor Kurzem den Beschluss gefasst, den dahin zielenden
Wünschen Rechnung zu tragen, und ein russisches und ein römisch-irisches
Bad in Verbindung mit der jetzigen Anstalt zu erbauen. Die Arbeiten sollen
baldigst in Angriff genommen werden.
Aber auch die steigende Frequenz des Schwimmbades, insbesondere
die stetige Ueberfüllung desselben an heissen Tagen, haben die schon
wiederholentlich ventilirte Frage nach Errichtung eines zweiten Schwimm¬
bades wieder in den Vordergrund gedrängt, und haben die städtischen Be¬
hörden sich gleichfalls dahin schlüssig gemacht, auch diesem Projecte näher
zu treten, und ein zweites Bad, bestehend aus Schwimm-, Wannen- und
Brausenbad, demnächst im nördlichen Stadttheile zu erbauen, sobald die
erforderlichen Pläne hierzu festgelegt sind. Dabei ist in Aussicht genommen
worden, das Schwimmbad, welches lediglich den Bedürfnissen des Sommer«
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— 227 -
Rechnung tragen und die jetzige Anstalt vor Ueberlastung schützen soll,
ohne Ueberdachung des Bassinraumes und der Gänge herzustellen, und
lediglich die Auskleidezellen zu bedachen. Die Gegner dieses Vorschlages,
deren Zahl indessen, wie hiermit constatirt werden soll, immer mehr im
Schwinden begriffen ist, machen gegen das offene Bassin geltend, dass das
Klima unserer Gegend ein zu rauhes sei, um eine häufigere Benutzung
eines solchen unbedachten Bades zuzulassen; allein dieselben bedenken
dabei nicht, dass es gar nicht darauf ankommt, ob das Bad an kühleren
Tagen benutzt wird oder nicht, denn an solchen Tagen ist unser jetziges
Bassin noch auf lange Jahre hinaus ausreichend gross, es handelt sich nur
um eine mit möglichst geringen Mitteln zu beschaffende Ableitung für die
heissesten Tage. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass an
kühlen Tagen auch das geschlossene Bassin nicht besonders frequentirt
wird, weil dann ein Bedürfniss der grossen Menge zum Baden nicht vor¬
handen ist, und nur diejenigen Elemente der Bevölkerung in Betracht
kommen, denen das tägliche Baden eine angenehme Gewohnheit geworden
ist. Um hierfür ein Beispiel aus jüngster Zeit, das übrigens auch aus der
ganzen Betriebsdauer mit Beweisen belegt werden kann, anzuführen, seien
speciell zwei heisse Tage, Freitag den 18. und Samstag den 19. Mai, mit
einer Temperatur von 24° Reaumur im Schatten herausgegriffen, und diesen
die gleichen Wochentage, der 25. und 26. Mai, gegenübergestellt, an welchen
eine Temperatur von nur 10° herrschte, wobei im Uebrigen das Wetter
trocken und nicht einmal sehr unfreundlicher Natur war.
Es wurden verabfolgt:
Freitag,
18. Mai
1052 Schwimmbäder,
186
Wannenbäder
Samstag,
19. ,
2568
299
Freitag,
25. ,
544
55
»
Samstag,
26. ,
731
49
i»
Diese Zahlen sprechen für sich selbst, und bedarf es einer weiteren Er¬
örterung über dieselben wohl um so weniger, als die hier mitgetheilten
Thatsachen durch die Resultate eines zehnjährigen Betriebes bewiesen
werden können.
Möge der nächstjährige Bericht die erfreuliche Thatsaehe zu constatiren
haben, dass die beiden geplanten Erweiterungen bereits zur Zufriedenheit
der Bürgerschaft in Benutzung genommen seien.
*** Der Herr Minister der geistlichen u. s. w. Angelegenheiten hat
in einem Circular-Erlasse vom 22. November 1888 die nachfolgende
Anweisung für die Hebammen zur Verhütung des Kindbett¬
fiebers
getroffen:
Zum Zwecke der Verhütung des Kindbettfiebers, sowie anderer an¬
steckender Krankheiten im Wochenbett treffe ich in Ergänzung und theil-
weiser Abänderung der Vorschriften des Lehrbuches der Geburtshülfe und
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- 228 —
der Instruction für die Preussischen Hebammen die nachstehenden Be¬
stimmungen :
§ 1. Die Hebamme befleissige sich zu jeder Zeit und in allen Stücken
der grössten Reinlichkeit. Insbesondere beobachte sie dieselbe streng in
jedem Gebär- oder Wochenbettzimmer und namentlich an ihren Händen,
Armen und Oberkleidern.
An Stelle der hierauf bezüglichen Vorschriften des Hebammen - Lehr¬
buchs in den beiden letzten Sätzen des § 62 und im § 97 treten diejenigen
der §§ 2, 3, 6, 11 — 16 dieser Anweisung.
§ 2. Bei Ausübung ihres Berufs trage die Hebamme nur solche Kleider,
deren Aermel so eingerichtet sind, dass die Arme bis zur Mitte der Ober¬
arme hinauf unbedeckt gehalten werden können. Das Oberkleid soll vom
einschliesslich des Brusttheils von einer weiten Schürze aus hellem, wasch¬
barem Stoff völlig und andauernd bedeckt sein.
Die Schürze, welche die Hebamme vor der ersten Untersuchung einer
Kreisenden oder vor einer inneren Untersuchung einer Wöchnerin anlegt,
darf nach der letzten Wäsche noch nicht benutzt und soll bis zu ihrem
Gebrauch von den übrigen Kleidungsstücken der Hebamme abgesondert
aufbewahrt worden sein.
§ 3. Bevor sich die Hebamme zu einer Entbindung oder zu einer
Wöchnerin begiebt, sorge sie dafür, dass ihre Fingernägel kurz und rund
beschnitten sind und glatte Ränder haben; jedesmal entferne sie den
Schmutz unter den Nägeln und aus dem Nagelfalz, sowie aus etwaigen
Hautschrunden an den Händen, und wasche sie gründlich die Hände und
Vorderarme, bei welchen Verrichtungen sie eine geeignete Hand- und Nagel¬
bürste und Seife anzuwenden hat.
§ 4. Bei Ausübung ihres Berufs führe die Hebamme stets ausser den
in § 96 Abs. 1 des Hebammen-Lehrbuchs und § 11 der Instruction vor¬
geschriebenen Geräthschaften noch die folgenden mit sich:
a) eine reine, waschbare, nach dem letzten Waschen noch nicht ge¬
brauchte hellfarbige Schürze, mit welcher die ganze vordere Hälfte
des Kleides bedeckt werden kann;
b) Seife zum Reinigen der Hände und Arme;
c) eine geeignete, reingehaltene Hand- und Nagelbürste zu demselben
Zweck;
d) ein reines, nach dem letzten Waschen noch nicht gebrauchtes Hand¬
tuch;
e) 90 Gramm verflüssigter reiner Garbolsäure (Acidum carbolieum purum
liquefactum der Pharmakopoe) in einer Flasche, welche die deutliche
und haltbare Bezeichnung „Vorsicht! Carbolsäure! Nur gehörig ver¬
dünnt und nur äusserlich zu gebrauchen! “ stets haben und stets dicht
verschlossen gehalten werden muss, nebst einem geeigneten Gefäss
zum Abmessen von je 15 und 30 Gramm der genannten Säure.
Ausserdem muss sie das in Nr. 4 des § 96 bezeichnete Thermometer,
nicht nur „wo möglich“, sondern gleichfalls stets mit sich führen.
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Die mitzuführende Spülkanne (Irrigator) soll 1 Liter halten, eine
geeignete Marke zur Abmessung von */• Liter haben und mit einem passen¬
den Kautschukschlauch von 1 — 1V* Meter Länge versehen sein. Am zweck-
massigsten ist der Boden der Spülkanne platt und besteht dieselbe, sowie
die zugehörigen Ansatzröhren, aus Glas; jedoch sind auch Spülkannen aus
Weissblech brauchbar.
§ 5. Die Hebamme ist für die Reinheit ihrer Geräthschaften stets ver¬
antwortlich, desgleichen für die sichere Aufbewahrung der Garbolsäure,
welche derart stattfinden muss, dass die Säure keiner anderen Person
zugängig ist.
An Stelle der im § 96 Abs. 2 des Hebammen-Lehrbuchs enthaltenen
Vorschriften über die Reinhaltung der Geräthschaften treten die Bestim¬
mungen in § 8 Abs. 2, §§ 12 und 13 dieser Anweisung.
§ 6. Die innere Untersuchung einer Schwangeren, Kreisenden oder
Wöchnerin darf von der Hebamme niemals anders, als mit völlig ent-
blössten und gereinigten Händen und Vorderarmen ausgeführt werden.
Bevor die Hebamme eine solche Untersuchung oder Verrichtung vor¬
nimmt, bei welcher sie mit den Geschlechtstheilen der zu Untersuchenden
oder mit einer Wunde in der Nähe dieser Theile in Berührung kommt,
sorge sie dafür, dass ihre Aermel nur die obere Hälfte der Oberarme be¬
decken und nicht tiefer sinken können. Sodann wasche sie gründlich
unter Anwendung der Hand- und Nagelbürste und von Seife ihre Arme und
Hände mit lauem Wasser, welches, wenn möglich, durchgekocht sein soll,
und trockne sie dieselben mittelst eines reinen Tuches ab. In der gleichen
Weise verfahre sie darauf bei der zu Untersuchenden mit den äusseren
Geschlechtstheilen und den Nachbartheilen der letzteren, wobei zum Ab¬
trocknen auch reine Wund-Watte oder Jute, dagegen niemals ein Schwamm
angewendet werden darf.
Ausserdem halte die Hebamme, wo es sich um eine Entbindung han¬
delt, und wo nur irgend die Verhältnisse es gestatten, darauf, dass die
Kreisende mit reiner, vorher erwärmter Leibwäsche, sowie mit eben solchen
Bettbezügen und Unterlagen für das Geburtslager und ferner für das Wochen¬
bett versehen wird. (Hierdurch wird die Vorschrift in § 105 Abs. 1 des
Hebammen-Lehrbuchs über die Kleidung der Gebärenden vervollständigt.)
Nach diesen Vorbereitungen desinficire die Hebamme ihre Hände und
Vorderarme durch gründliches Waschen in Garboiverdünnung (§ 7). Nunmehr
erst, aber nun auch alsbald führe sie die Untersuchung der Schwangeren,
Kreisenden oder Wöchnerin aus.
§ 7. Wo in der gegenwärtigen Anweisung von GarbolVerdünnung die
Rede ist, wird darunter stets diejenige Flüssigkeit verstanden, welche sich
die Hebamme in folgender Weise hergestellt hat:
Sie mische sorgfältig zu je 1 Liter Wasser 30 Gramm der verflüssigten
reinen Garbolsäure (§ 4), und zwar derart, dass sich die Säure, welche
etwas schwerer als Wasser ist, nicht auf dem Boden des Mischgefasses ab¬
setzt, sondern gleichmässig in dem Wasser vertheilt wird. Am zweck -
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massigsten geschieht die Mischung in einer verschlossenen Flasche unter
tüchtigem Umschütteln und mehrmaligem Umstürzen derselben. In einer
Schüssel darf die Carbolsäure dem Wasser nur allmählig und unter be¬
ständigem Umrühren zugesetzt werden. Dagegen darf das Zusetzen der
Carbolsäure zum Wasser niemals in der Spülkanne erfolgen, weil die Säure
sonst, ohne die nöthige Verdünnung erfahren zu haben, zum Abtluss ge¬
langen und in diesem Zustande den bespülten Körperteil schwer beschä¬
digen kann.
§ 8. Vor der ersten Untersuchung einer Kreisenden bereite die Hebamme
2 Liter Garboiverdünnung.
Davon bringe sie in die Spülkanne, in welche sie vorher die zu der
letzteren gehörigen Ansatzröhren, den Katheter und die Nabelschnurscheere
gelegt hat, nach Verschluss des Schlauches soviel, dass die bezeichnten
Geräthschafteil von der Flüssigkeit völlig überdeckt sind. Wird eine der¬
selben benutzt, so wird sie nach dem Gebrauch sorgfältig mit Seife ge¬
waschen, abgetrocknet und wieder in die Spülkanne zurückgelegt und in
derselben bis zur Beendigung des Geschäftes aufbewahrt. Wird die Spül¬
kanne zu Einspritzungen oder Bespülungen gebraucht, so sind die Geräth-
schaften sammt der GarbolVerdünnung in einem andern Gefass unterzu¬
bringen.
Den Rest — etwa 1 ’/a Liter — der Verdünnung bringe die Hebamme
zu gleichen Theilen in 2 Schüsseln. Die eine derselben dient zur erst¬
maligen Desinfection der Hände und Arme der Hebamme (§6 4. Absatz),
die andere zur Reinigung derselben vor und nach jeder weiteren Unter¬
suchung der Kreisenden oder Entbundenen, sowie jeder sonstigen Verrich¬
tung der Hebamme, bei welcher letztere mit den Geschlechtsteilen oder
einer Wunde in der Nähe derselben in Berührung kommt.
§ 9. Nach der Geburt spüle die Hebamme vor dem Herrichten des
Wochenlagers die äusseren Geschlechtsteile der Entbundenen mit reinem,
lauem, vorher durchgekochtem Wasser ab und trockne dieselben mittelst
eines reinen Tuches oder reiner Wund-Watte oder Jute.
Wasser von derselben Beschallen heit ist bei der Reinigung der Ge¬
schlechtsteile zu verwenden, welche in den §§ 121 Abs. 2, 130 Abs. 1,
135, 354, 371 und 406 des Hebammen-Lehrbuchs angeordnet wird.
§ 10. Ausspülungen der Scheide oder Einspritzungen in die Gebär¬
mutter darf die Hebamme ohne ärztliche Anordnung nur in den durch das
Lehrbuch bestimmten Fällen vornehmen. Dabei hat sie überall anstatt
Wassers die Garbol Verdünnung anzuwenden.
Letztere Vorschrift bezieht sich insbesondere auf die in den §§ 167,
168, 179, 183, 253 Abs. 2, 256 Abs. 3, 312 Abs. 2, 340 Abs. 1, 342 und
405 des Hebammen-Lehrbuchs angeordneten Ausspülungen der Scheide und
Einspritzungen in die Gebärmutter.
§ 11. Die Hebamme vermeide jede unnöthige Berührung der Geschlechts¬
teile einer Wöchnerin oder eines mit Wochenfluss verunreinigten oder
irgend eines übelriechenden, fauligen oder eiterigen Körperteiles oder son-
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siigen Gegenstandes von solcher Beschaffenheit (Geschwür, ausgestossene
todte Frucht, Wochenbett-Unterlage u. A. m.) und enthalte sich so viel,
als nur möglich, jeden Verkehrs mit Personen, welche an einer ansteckenden
oder als solche verdächtigen Krankheit, namentlich Kindbett-, Faul- oder
Eiter - Fieber, Gebärmutter- oder Unterleibs-Entzündung, Rose, Diphtherie,*
Scharlach, Pocken, Syphilis, Schanker, Tripper, Unterleibs- oder Flecken-
Typhus, Cholera oder Ruhr leiden.
§ 12. Hat die Hebamme mit ihren Händen oder Gerätschaften die
Geschlechtsteile einer Wöchnerin oder einen mit Wochenfluss verunreinigten
Gegenstand berührt, so soll sie jedesmal sofort sich selbst in derselben
Weise, wie sie es vor der ersten Untersuchung einer Kreisenden zu thun
hat, (§ 6) und zwar unter Anwendung der Hand- und Nagelbürste, die Ge¬
rätschaften aber eine Stunde hindurch, wie bei der Geburt, (§ 8) reinigen
und desinficiren.
§ 13. Ist der Wochenfluss übelriechend, faulig oder eiterig, oder hat die
Berührung mit einem Gegenstände dieser Beschaffenheit stattgehabt, oder
leidet die Person, welche die Hebamme mit ihren Händen oder Gerät¬
schaften berührt hat, an einer der in § 11 bezeichneten Krankheiten, so soll
die Hebamme die Reinigung, wie in § 12 vorgeschrieben ist, ausführen und
ihre Hände und Arme schliesslich mindestens fünf Minuten lang mit der
GarbolVerdünnung sorgfältig waschen, die benutzten Gerätschaften aber vor
dem Einlegen in die Carboiverdünnung eine Stunde lang auskochen.
§ 14. Hat sich die Hebamme in der Wohnung einer Person befunden,
welche an einer der nachgenannten Krankheiten oder an einer als solche
verdächtigen Krankheit leidet, nämlich an Kindbett-, Faul- oder Eiter-Fieber,
Gebärmutter- oder Unterleibs - Entzündung, Rose, Diphtherie, Scharlach,
Pocken, Flecken-Typhus oder Ruhr, so darf sie eine Schwangere, Kreisende
oder Wöchnerin nicht untersuchen oder auch nur besuchen, bevor sie nicht
die Kleider gewechselt und sich, wie im § 13 vorgeschrieben ist, gereinigt
und desinficirt hat.
§ 15. Befindet sich eine der im § 14 bezeichneten kranken oder ver¬
dächtigen Personen in der Wohnung der Hebamme, oder ist in der Praxis
der Hebamme eine Wöchnerin an Kindbettfieber, Gebärmutter- oder Unter¬
leibs-Entzündung oder an einer als solche verdächtigen Krankheit erkrankt
oder gestorben, so hat die Hebamme sofort Verhaltungsmassregeln von dem
zuständigen Kreisphysicus einzuholen und vor dem Empfange derselben sich
jeder beruflichen Thätigkeit zu enthalten.
§ 16. Pflegt die Hebamme eine an Kindbettfieber, Gebärmutter- oder
Unterleibs-Entzündung oder an einer als solche verdächtigen Krankheit lei¬
dende Wöchnerin, so darf sie während dieser Zeit die Untersuchung einer
Schwangeren gar nicht und die Untersuchung oder Pflege einer anderen
Wöchnerin oder einer Kreisenden lediglich im Nothfalle, wenn eine andere He¬
bamme nicht zu erlangen ist, und auch in diesem Falle nur dann übernehmen,
nachdem sie ihren ganzen Körper mit Seife gründlich, womöglich im Bade,
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1
abgewaschen und ausserdem sich, wie im § 14 vorgeschrieben ist, gereinigt,
desinficirt und frisch bekleidet hat.
§ 17. Die Kleider, welche die Hebamme bei der Untersuchung oder
dem Besuche einer Person, die an einer im § 14 bezeichneten oder als solche
•verdächtigen Krankheit leidet, getragen hat, dürfen mit anderen Kleidern der
Hebamme nicht zusammengebracht und müssen gründlich ausgekocht und
mit Seife ausgewaschen oder mittelst strömenden Wasserdampfes in einem
Dampf-Desinfections • Apparat desinficirt werden, bevor dieselben weiter ge¬
braucht werden dürfen.
§ 18. Leichen oder Bekleidungsgegenstände von Leichen berühre die
Hebamme niemals. Hat sie solches trotz dieses Verbotes gethan, so ist sie
verpflichtet, wie im § 16 vorgeschrieben ist, zu verfahren.
* * Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege
wird seine diesjährige Versammlung in Strassburg im Eisass, und zwar
vom 14.—17. September abhalten.
Nachdem der Verein im vergangenen Jahre seine Versammlung in
Frankfurt a. M., im Westen Deutschlands, abgehalten hatte, hätte der Aus¬
schuss für dieses Jahr am liebsten einen Ort in Mitteldeutschland oder ira
Norden oder Osten des Vaterlandes gewählt. Alsdann hätte der Ausschuss
aber die von vielen Seiten stets gewünschte und durch die Reihe der Jahre
bewährte Anlehnung an die Versammlung Deutscher Naturforscher und
Aerzte, die dieses Jahr am 18. September in Heidelberg Zusammentritt,
aufgeben müssen. Nachdem die Naturforscherversammlung gegen ihre bis¬
herige Gepflogenheit in diesem Jahre zum dritten Male hintereinander im
Westen Deutschlands getagt haben wird, ist mit aller Sicherheit anzunehmen,
dass sie im nächsten Jahre nach dem Norden oder Osten gehen wird, und
wird dann der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege in der
Lage sein das Gleiche zu thun. Der Ausschuss glaubte aber um so eher
die alte Reichsstadt Strassburg zum Versammlungsort wählen zu sollen,
als es sicherlich zahlreiche Mitglieder lebhaft interessiren wird, die Ent¬
wicklung dieser nun wieder deutsch gewordenen Stadt kennen zu lernen,
die Einwirkung der früheren französischen Sanitätsgesetzgebung auf die
derzeitige Gestaltung der Hygiene in den Reichslanden zu beobachten, die
grosse Reihe der prächtigen neuen Anstalten dort zu sehen und in directen
persönlichen Verkehr mit der reichsländischen Bevölkerung zu treten. Hierzu
kommt, dass uns seitens der städtischen Behörden Strassburgs ein sehr
freundlicher Willkomm in Aussicht gestellt ist, so dass sich der Ausschuss
der Hoffnung hingibt, dass die Wahl Strassburgs seitens der Vereinsmit¬
glieder mit Freuden begrüsst und die Versammlung aus allen Theilen Alt-
Deutschlands recht zahlreich besucht werden wird.
Den ersten Gegenstand der Tagesordnung wird ein einleitender Vortrag
über die hygienischen Einrichtungen in Elsass-Lothringen bilden.
Hieran wird sich dieBerathung der Reichsgesetzlichen Vorschriften
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zum Schutze des gesunden Wohnens anschliessen, wie sie aus den
Berathungen der auf der Frankfurter Versammlung gewählten Commission
hervorgegangen sind und wie solche nachstehend mitgetheilt werden.
Als weitere Verhandlungsgegenstände sind in Aussicht genommen:
Eisenbahnhygiene in Bezug auf die Reisenden;
Verhütung der Lungenschwindsucht;
Recon val es cen ten-Anst alten;
Kühlhäuser in Schlachthöfen;
Baumpflanzungen in Städten.
Entwurf
der von der XIV. Versammlung des Deutschen Vereins
für öffentliche Gesundheitspflege erwählten Commission zur Vorberathung der
„Technischen Einzelvorschläge von Oberbaurath Professor Baumeister“.
Reichsgesetzliche Vorschriften zum Schutze des gesunden
Wohnens.
I. Strassen und Bauplätze.
§ 1 .
1. Die Anlage, Verbreiterung oder Veränderung einer Strasse darf
nur auf Grund eines von der zuständigen Behörde festgesetzten Bebauungs¬
planes erfolgen.
2. Bei Festsetzung des Bebauungsplanes für einen Ortsbezirk muss
ein angemessener Theil des ganzen Flächeninhaltes als unbebaubarer Grund
für Strassen, Plätze oder öffentliche Gärten freigehalten werden.
3. Der Bebauungsplan kann für bestimmte Strassen oder Strassen-
theile das Zurücktreten der Baufluchtlinien hinter den Strassenfluchtlinien
(Vorgärten) sowie die Einhaltung seitlicher Mindestabstände zwischen den
Gebäuden (offene Bauweise) vorschreiben.
4. Zur Aufhöhung der Strassen und Bauplätze dürfen nur Boden¬
arten verwendet werden, welche frei von gesundheitsschädlichen Bestand¬
teilen sind.
II. Neuherstellung von Gebäuden.
§ 2 .
1. Die Höhe eines Gebäudes darf an der Strasse nicht grösser sein,
als der Abstand desselben von der gegenüberliegenden Baufluchtlinie.
2. Die zulässige grösste Höhe der an Höfen gelegenen Gebäudewände,
welche mit den im § 7 vorgeschriebenen Fenstern versehen sind, beträgt
das Anderthalbfache des mittleren Abstandes von der gegenüberliegenden
Begrenzung des unbebauten Raumes.
3. Die mittlere Breite eines Hofes, auf welchen Fenster gerichtet sind,
darf nicht unter 4 m bemessen werden.
4. Ein Zusammenlegen der Hofräume benachbarter Grundstücke behufs
Erzielung des vorschriftsmässigen Abstandes oder der vorschriftsmässigen
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Mindestbreite ist statthaft, insofern die Erhaltung der Hofräume in unbe¬
bautem Zustande gewährleistet wird.
5. Jeder unbebaut bleibende Theil eines Grundstücks muss zum Zweck
seiner Reinigung mit einem Zugang von mindestens 1 m Breite und 2 m
Höhe versehen sein.
§ 3.
1. Auf Baustellen, welche bereits höher beziehungsweise dichter be¬
baut gewesen sind, als die Vorschriften in § 2 zulassen, treten im Falle
eines Neubaues folgende erleichternde Bestimmungen ein:
Die Höhe eines Gebäudes darf an der Strasse das Anderthalbfache des
Abstandes bis zur gegenüberliegenden Baufluchtlinie und an den Höfen das
Dreifache der Hofbreite betragen.
Die Hofbreite darf bis auf 2.50 m eingeschränkt werden.
2. Bei Anwendung dieser Bestimmungen darf jedoch eine Verschlech¬
terung der früher vorhanden gewesenen Luft- und Lichtverhältnisse des
betreffenden Grundstückes keinesfalls herbeigeführt werden.
§ 4 .
Ein Neubau ist nur dann zulässig, wenn für die genügende Beschaffung
von gesundem Trinkwasser, sowie für den Verbleib der Abfallstoffe und
Abwässer auf gesundheitlich unschädliche Art gesorgt ist.
§ 5 -
1. Die Zahl der erforderlichen Aborte eines Gebäudes ist nach der
Anzahl der regelmässig in demselben sich aufhaltenden Menschen zu be¬
stimmen. ln der Regel ist für jede Wohnung ein besonderer, umwandeter,
bedeckter und verschliessbarer Abort anzulegen.
2. Jeder Abort muss durch ein unmittelbar in das Freie gehendes
bewegliches Fenster lüftbar sein.
3. Aborts-Fallrohre müssen aus undurchlässigen Baustoffen hergestellt
und in der Regel als Luftröhre über das Dach hinaus verlängert werden.
4. Die Fussböden und Decken der Ställe, sowie deren Trennungs-
wände gegen Wohnräume sind undurchlässig herzustellen.
5. Das Gleiche gilt für die Fussböden, Decken und Trennungswände
solcher Geschäftsräume, hinsichtlich derer erhebliche gesundheitliche Be¬
denken vorliegen.
6. Die Verwendung gesundheitsschädlicher Stoffe zur Ausfüllung der
Fussböden und Decken ist verboten.
111. Neuherstellung der zu längerem Aufenthalt von Menschen
dienenden Räume.
§ 6 .
1. Räume, welche zu längerem Aufenthalt von Menschen dienen,
müssen eine lichte Höhe von mindestens 2.5 m haben.
2. Höher als in dem vierten Obergeschoss, d. h. im vierten der über
dem Erdgeschoss liegenden Stockwerke, dürfen Wohnungen nicht hergestellt
werden.
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— 235
§ 7.
1. Alle zu längerem Aufenthalt von Menschen dienenden Räume
müssen bewegliche Fenster erhalten, die unmittelbar in das Freie führen.
Erleichternde Ausnahmen sind zulässig, wenn auf andere Weise eine ge¬
nügende Zuführung von Luft und Licht gesichert ist.
2. In jedem solchen Raume soll die lichtgebende Gesammtfläche der
nach der Vorschrift in Abs. 1 nothwendigen Fenster mindestens ein Zwölftel
der Grundfläche betragen. Für Geschäftsräume und Dachkammern sind
Erleichterungen zulässig.
§ 8 .
1. Der Fussboden aller Wohnräume muss über dem höchsten Grund¬
wasserstande, im Ueberschwemmungsgebiete über Hochwasser liegen.
2. Die Fussböden und Wände aller zu längerem Aufenthalt von
Menschen dienenden Räume sind gegen Bodenfeuchtigkeit zu sichern.
3. Wohnungen in Kellern, d. h. in Geschossen, deren Fussboden unter
der Erdoberfläche liegt, sind nicht zulässig.
4. Zu längerem Aufenthalt von Menschen dienenden Räume, insbe¬
sondere einzelne Wohnräume, dürfen in Kellern nur unter der Bedingung
hergestellt werden, dass der Fussboden höchstens 1 m unter, der Fenster¬
sturz mindestens 1 m über der Erdoberfläche liegt. — Erleichterungen sind
statthaft, insofern die gewerbliche Verwendung der Räume eine grössere
Tieflage erfordert.
IV. Benutzung der zu längerem Aufenthalt von Menschen
dienenden Räume.
§ 9.
1. Alle zu längerem Aufenthalt von Menschen bestimmten Räume
dürfen nur nach ertheilter Genehmigung zu diesem Zweck in Gebrauch
genommen werden.
2. Diese Genehmigung ist bei Neu- und Umbauten insbesondere dann
zu versagen, wenn die betreffenden Räume nicht genügend ausgetrock¬
net sind.
§ 10 .
1. Gelasse, deren Fenster den in § 7 gegebenen Vorschriften nicht
entsprechen, dürfen als Wolinräume nicht benutzt werden.
2. Vermiethete, als Schlafräume benutzte Gelasse müssen für jedes
Kind unter zehn Jahren mindestens 5 chm, für jede ältere Person mindestens
lOckm Luftraum enthalten. In Miethräumen, für welche nach § 7, Abs. 2
Erleichterungen zugelassen sind, müssen immerhin, wenn sie als Schlaf¬
räume benutzt werden, auf jedes Kind unter zehn Jahren mindestens 0.1 qm,
auf jede ältere Person mindestens 0.2 qm lichtgebende Fensterfläche ent¬
fallen. Kinder unter 1 Jahre werden nicht mitgerechnet.
3. Diese Bestimmungen treten für bestehende Gebäude erst nach fünf
Jahren in Kraft, können jedoch nach Ablauf von zwei Jahren bei jedem
Wohnungswechsel in Wirksamkeit gesetzt werden.
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1
— 236 —
4. Angemessene Räumungsfristen, deren Beobachtung nötigenfalls
im Zwangsverfahren zu sichern ist, sind von der zuständigen Behörde vor*
zuschreiben.
§ n.
1. Räume, welche durch Verstösse gegen die vorstehenden Bestim¬
mungen in §§ 2 bis 8 oder sonstwie durch ihren baulichen Zustand ge¬
sundheitswidrig sind, sollen auf Grund eines näher anzuordnenden Verfahrens
für unbrauchbar zum längeren Aufenthalt von Menschen erklärt werden.
2. Werden aus diesen Gründen ganze Häusergruppen oder Ortsbezirke
für unbenutzbar erklärt, so hat die Gemeinde das Recht, den vollständigen
Umbau zu veranlassen oder vorzunehmen. Es steht ihr zu dem Zweck be¬
züglich aller in dem umzubauenden Bezirk befindlichen Grundstücke und
Gebäude die Zwangsenteignung zu. Für das Enteignungsverfahren sind die
Landesgesetze maasgebend.
Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten als Mindestanforderungen und
schliessen weitergehende Landes-, Provinzial- und Localverordnungen
nicht aus.
Der Erlass von Ausführungsbestimmungen steht den Landesbehörden zu.
Die Handhabung dieses Gesetzes liegt überall den Baupolizeibehörden
ob, sofern nicht durch die Landesgesetzgebung anderweitige Bestimmung
getroffen ist.
Litteratnrbericht.
Zar Lehre von der asiatischen Cholera.
Unter den wertvollen epidemiologischen Arbeiten, welche das
neuere Auftreten der Cholera gezeitigt hat, und über die zum grössten
Teile dieses Centralblatt berichtete, bleibt u. a. noch zu erwähnen die Ab¬
handlung von Prof. M. Gruber (Wien) über die Cholera in Öster¬
reich in den Jahren 1885—86. (Ätiologische und prophylaktische Er¬
fahrungen über die Cholera-Epidemie in Europa während der letzten 3 bis
4 Jahre.) *) Den Verfasser lassen seine Untersuchungen und Beobach¬
tungen einen Standpunkt einnehmen, welcher in mancher Beziehung zwischen
den beiden hervorragendsten Choleraforschern, Koch und Pettenkofer,
zu vermitteln geeignet ist. An dieser Stelle können wir indes nur die Fol¬
gerungen, zu welchen Gruber durch seine Untersuchungen gelangt ist, an¬
führen. Diese sind nach des Verf.’s Zusammenstellung:
* 1. Der Koch 'sehe Dibrio ist der spezifische Erreger der Cholera indica.
2. Der Cholerakeim wurde kurz vor Ausbruch der Epidemie nach
Österreich eingeschleppt.
1) VI. internationaler Congress für Hygiene und Demographie zu Wien
1887. Heft Nr. 18.
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237
3. Seine Verbreitung erfolgte durch den menschlichen Verkehr und
blieb räumlich und zeitlich eingeschränkt
4. Die Verbreitung erfolgte hauptsächlich durch die Kranken (und
durch von diesen beschmutzte Effekten).
5. Für die Cholera-Ansteckung durch Trinkwasser liegt kein Beweis vor.
6. Die Cholera-Ausbreitung zeigte innerhalb der infizierten Gebiete
örtlich die grössten Verschiedenheiten.
7. Sie war in deutlichster Weise abhängig von Jahreszeit und Witterung.
8. Diese zeitlich-örtlichen Einflüsse widerlegen die Annahme, dass die
epidemische Ausbreitung der Cholera in der Regel einfach durch
unmittelbare Übertragung des Keimes vom Kranken auf den Ge¬
sunden stattfinde.
9. Die völlige Aufklärung der Cholera-Ätiologie ist erst von künftigen
Forschungen zu erwarten.
10. Nichtsdestoweniger sind die in Österreich angewendeten, im We¬
sentlichen auf die Annahme der Verbreitung der Cholera durch
die Kranken gegründeten prophylaktischen Massregeln völlig ge¬
rechtfertigt.
11. Dass es mit ihr Verdienst ist, wenn die Cholera in Österreich nur
geringe Ausbreitung und Intensität erlangt hat, ist nicht zu bezwei¬
feln, lässt sich aber aus dem Erfolge nicht sicher erweisen.
12. Wenn sie nicht vollen Erfolg gehabt haben, so liegt dies nicht
daran, weil sie prinzipiell fehlerhaft waren, sondern an der Schwie¬
rigkeit oder Unmöglichkeit ihrer wirksamen Durchführung.
13. Völliger Schutz gegen die Cholera ist auf den eingeschlagenen
Wegen erreichbar; aber nur durch Vervollkommnung der staat¬
lichen Sanitätsorganisation, Hebung des Volkswohlstandes, endlich
Hebung der Volksbildung im Allgemeinen und der hygienischen
Volksbildung insbesondere. *
Die Eigenschaften der Cholera-Bakterien beanspruchen immer
noch neue Untersuchungen. Zu den zweifelhaften Thatsachen in der Bio¬
logie dieser Bakterien ist die Bildung von Dauersporen derselben zu rech¬
nen. Bekanntlich hat u. A. Hueppe eine solche Dauerform beschrieben,
vgl. ds. Cbl. 1885, S. 434 und 1887, S. 121. — In alten Kulturen von
Cholerabakterien findet man neben wenigen Bacillen massenhaft Körnchen,
welche aus dem Zerfall der Bacillen hervorgegangen sind. Von verschie¬
denen Forschern ist angegeben worden, dass diese Körnchen wieder zu
echten Cholerabakterien auswachsen können. Neuere Untersuchungen,
welche Dr. S. Kit asato im hygienischen Institute zu Berlin ausführte,
lehrten dagegen, dass aus den Körnchen alter Cholerakulturen neue Bacillen
nicht entstehen ’). Wir haben es hier also vorläufig noch mit einem voll-
1) Die Widerstandsfähigkeit der Cholerabakterien gegen das
Eintrocknen und gegen Hitze. Zeitschrift für Hygiene. 1888 Bd. V,
1. Heft, 134 ff.
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238 —
kommenen Widerspruch, zwei ganz entgegengesetzten Beobach tungsresulta-
ten zu thun! Derselbe Forscher bestätigte die bekannte Entdeckung Koc h ’s,
dass die Cholerabakterien beiin Eintrocknen sehr bald zu gründe gehen,
und er fand in dieser Beziehung zwischen älteren und jüngeren Kulturen
keinen Unterschied, ebensowenig in Hinsicht ihrer Widerstandskraft gegen
Hitze. Je schneller und je vollkommener das Eintrocknen vor sich geht,
um so schneller sterben die Cholerabakterien ab. Einen besonderen Dauer¬
zustand dagegen, welcher die Bacillen an und für sich widerstandsfähiger
gegen das Eintrocknen machen würde, konnte der Verf. in seinen Versuchen
nicht nachweisen *).
Über das Verhalten der Cholerabakterien im mensch¬
lichen Kot stellte Dr. S. Kitasato ebenfalls im Berliner hygienischen
Institute Versuche an *). Menschlicher normaler Kot wurde mit frischer
Fleischbrühe-Kultur der Gholerabakterien versetzt und dann von Zeit zu
Zeit eine Probe entnommen. Schon nach acht bis zehn Stunden vermin¬
derten sich die Cholerabakterien erheblich und waren nach 1 ’/■ bis 3 Tagen
verschwunden. Wenn am fünften Tage die Versuchsgläser mit alkalischer
Pepton-Fleischbrühe versetzt und bei 30 0 C. einen Tag lang gehalten waren,
so wurden dennoch keine Cholerabakterien mehr gefunden, wohl aber jetzt
erst eine besondere Bacillenart, welche mit den Cholerabacillen eine ent¬
fernte Ähnlichkeit hat. Wurde der Kot sterilisirt, so hielten sich die zu¬
gesetzten Cholerabakterien länger, bis zu 25 Tagen, vermehrten sich in¬
dessen nicht.
[Durch diese Versuche wird natürlich nicht widerlegt, dass, wie andere
angeben, die Cholerabakterien in den Entleerungen Cholerakranker
längere Zeit lebensfähig bleiben können; vgl. z. B. die Mitteilungen von
Prof. M. Grub er, über welche wir in diesem Centralblatt 1887, Bd. VI,
S. 334, berichteten.]
Sodann hat Dr. S. Kitasato die Cholerabakterien mit einer grossen
Anzahl anderer pathogener und nicht pathogener Mikroorganismen in künst¬
lichen Nährböden auf verschiedene Weise zusammengebracht und ihre wei¬
tere Entwickelung beobachtet •). Zu diesen Versuchen wurden meist nur
solche Mikroorganismen verwandt, welche auf künstlichen Nährböden schnell
zu wachsen vermögen, da zu befürchten war, dass Mikroorganismen mit
langsamem Wachstum in kurzer Zeit durch die Gholerabakterien würden
überwuchert werden. Der Verf. kommt zu dem Ergebnisse, dass keine
Bakterienart sich hat finden lassen, welche im stände wäre, Cholerabakte¬
rien in künstlichen Nährspbstraten durch gleichzeitiges Wachstum in kiirze-
1) Vgl. auch Kitasato: Nachtrag zu der Abhandlung: „Die Widerstands¬
fähigkeit u. s. w.‘, Ztschr. f. Hygiene, 1889, Bd. VI, Heft 1, S. 11.
2) Zeitschrift für Hygiene, Bd. V, 3. Heft, 1889, S. 487 ff.
3) Über das Verhalten der Cholera bakteriell zu anderen pa¬
thogenen und nicht pathogenen Mikroorganismen in künstlichen
Nährsubstraten. Ztschr. f. Hygiene, Bd. VI, 1889, Heft 1.
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— 239 —
rer Zeit zu vernichten. Dagegen wird umgekehrt eine ganze Reihe ver¬
schiedener Mikroorganismen durch die Cholerabakterien in ihrer Entwickelung
geschädigt und sogar in wenigen Tagen getötet. Als wichtigste derartige
Tatsache muss die auffallende Erscheinung bezeichnet werden, dass Milz¬
brandbacillen, welche in Kulturen in Berührung mit Cholerabakterien kom¬
men, in verhältnismässig kurzer Zeit schon unter dem Einflüsse derselben
zu gründe gehen.
Wenn der Verf. z. B. eine gut gewachsene Kultur von Milzbrandbacillen
in Fleischbrühe, welche 2—3 Tage lang bei Brüttemperatur gestanden hatte,
mit Cholerabakterien infizierte, so wuchsen die letzteren darin im ganzen
gut, und schliesslich gingen die Milzbrandbacillen in dem Gemisch zu gründe.
Die Mikrobien des Typhus und der Cholera hielten sich in gemischten
Kulturen über drei Monate lang gleich lebensfähig. Die Bacillen des grünen
Eiters erwiesen sich als überlegen; sie verdrängten die Cholerabakterien,
wenn sie dieselben auch erst nach längerer Zeit vollständig zu vernichten
vermochten. Andere pathogene Bakterien verhielten sich gegenüber den
Cholerabacillen ähnlich wie die des Typhus, andere (z. B. die Kokken der
Wundrose) wie die des Milzbrands.
Von den Versuchen mit nicht pathogenen Mikroorganismen interessiren
im besonderen noch diejenigen, welche mit den gewöhnlich im mensch¬
lichen Kote vorkommenden Bakterien angestellt wurden. Es waren im
ganzen 6 Arten, deren Verhalten gegenüber den Cholerabacillen geprüft
wurde. Durch keine dieser 6 Arten wurden die letzteren in Mischkulturen
geschädigt und ebensowenig durch gemeinschaftliche Züchtung aller sechs
Arten von Kotbakterien mit den Kommabacillen. —
Derselbe Verf. untersuchte auch das Verhalten der Cholera¬
bakterien in der Milch *)• Es zeigte sich, dass die Lebensdauer der
Cholerabakterien von der Reaktion der Milch abhängt; je schneller die
Milch sauer wird, um so schneller gehen die Cholerabakterien darin zu
Grunde; dagegen blieben die Cholerabakterien so lange am Leben, bis die
Milch stark sauer wurde. Wird frische Milch durch Cholerabakterien ver¬
unreinigt, so vermehren sich dieselben bei höherer Temperatur (36 0 C.)
in den ersten Stunden erheblich und bleiben bei niedriger und mittlerer
Temperatur bis zu mehreren Tagen am Leben. Wird die Milch fünf Mi¬
nuten lang gekocht, so werden die Cholerabakterien nach Kitasato’s
Versuchen sicher zerstört.
Zur Verhütung der Cholera-Ansteckung wird im allgemeinen das Er¬
hitzen verdächtiger flüssiger und an ihrer Oberfläche feuchter fester Nah¬
rungsmittel unmittelbar vor dem Genüsse zu empfehlen sein. Unsere
Nahrungsmittel als Nährböden für Typhus und Cholera unter¬
suchte der Bezirksarzt in Schwarzenberg Dr. W. Hesse 1 2 ). Derselbe ist
überzeugt, dass die überwiegende Mehrzahl derjenigen Erkrankungen, welche
1) Ztschr. f. Hygiene, Bd. V, 1889, S. 401 ff.
2) Ztschr. f. Hygiene, Bd. V, 3. Heft, S. 527 ff.
Ceotralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 17
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— 240 —
durch Verschlucken von Bakterien bewirkt werden, dadurch zustande kommt,
dass gleichzeitig grosse Massen pathogener Keime verzehrt werden, welche
als Kulturen auf unseren gebräuchlichen Nahrungsmitteln aus vereinzelten
den letzteren zugetragenen Keimen gewachsen waren. Es wurden deshalb
die gebräuchlichen zubereiteten Speisen (im sterilisierten Zustande) mit
Cholera- und Typhusbakterien geimpft, dann aber erst nicht vor Ablauf
von 4 Wochen untersucht. Frühere Untersuchungen hatten ergeben, dass
in dem der Wohnung zugeführten Leitungswasser die Zahl der künstlich
beigemischten Keime sich nicht vermehrte und nach 3 bis 4 Wochen jede
Spur von ihnen verschwunden war. Verf. schliesst daraus, dass Typhus-
und Cholerakeime in jenem Wasser weder Nahrung finden noch Dauer¬
formen bilden, und nimmt daher an, dass die Nahrungsmittel, in denen
sich nach 4 Wochen noch lebensfähige Keime nach weisen Hessen, eher von
erhaltendem als von nachteiligem Einflüsse auf die Keime gewesen sein
müssen. Als wichtigstes Ergebniss der Untersuchungen bezeichnet es der
Verf., dass die überwiegende Mehrzahl der geprüften Nahrungsmittel als
mehr oder minder gute Nährböden für Cholera und Typhus zu betrachten
sind. Mindestens 4 bis 5 Wochen nach der Impfung waren zu gründe
gegangen
a. sowohl der Typhus- als der Cholerakeim auf Kuhkäse, in Leitungs¬
wasser, in Schnittbohnen;
b. der Typhuskeim allein auf Steinpilzen;
c. der Cholerakeim allein auf rohem Rindfleisch, Kartoffeln, Blutwurst,
in einem Fleischinfus, auf Brotrinde und in Schinkenbrühe.
Als gute Nährböden für den Typhus- und den Cholerakeim haben zu
gelten die Milch, Fleischklöschen, gewürzte Fleischbrühe, alkalisches und
anderes Fleischinfus, Eiweiss, Sülze, Erbsenbrei und Schinkenbrühe, Milch¬
gries, Kartoffelstückchen ohne und mit Schnittbohnen; ferner für Typhus
noch rohes Rindfleisch, Kartoffeln, gekochtes Rindfleisch, Schinkenbrühe,
Brühreis, Kerbelrüben; — für Cholera noch gezuckerter Milchgries. —
Schliesslich berichten wir über neue Versuche über die Desinfektion
von Cholera-Ausleerungen mit Kalk *)• Schon Liborius und
Kitasato haben bewiesen, dass ein geringer Zusatz von Ätzkalk zu (Typhus-
und) Cholerabacillen in Bouillonkulturen tötet. Um nun mit Gemischen zu
arbeiten, welche den wirklichen Cholera-Entleerungen möglichst ähnlich
waren, wurden von Dr. Pfuhl diarrhoische Stuhlmassen sterilisirt, dann
mit Cholerabacillen aus frischer Agar-Kultur geimpft. Diese wurden 24 Stun¬
den später, nachdem zuvor von ihnen aus ein Proberöhrchen geimpft wor¬
den war, mit 2 Prozent 20prozentiger Kalkmilch versetzt, mehrmals um¬
geschüttelt und bei Zimmertemperatur stehen gelassen. Die Versuche lehrten,
dass (sowohl Typhus- wie) , Cholera “-Ausleerungen durch den genannten
Zusatz in kürzester Zeit, spätestens in einer Stunde desinfiziert werden. In
1) Dr. E. Pfuhl, Uber die Desinfektion der Typhus- und'Cho*
Iera-Ausleerungen mit Kalk. Ztschr. f. Hygiene, Bd. VI, Heft 1, S. 97 fl*.
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— 241 —
der Praxis erscheint es am zweckmässigsten, 2 Volumprozente der bezeich¬
nten Kalkmilch zu verwenden; es ist aber, wenn diese ausreichen sollen,
vorausgesetzt, dass die Kalkmilch aus Kalk von guter Beschaffenheit bereitet
und möglichst frisch ist, sowie dass die Ausleerungen diarrhoisch sind.
Wenn das nicht der Fall ist — wie z. B. bei der Desinfektion gemischten
Latrineninhalts —, so lässt sich nach Verf. doch leicht prüfen, ob der Zu¬
satz von Kalk ausreichend ist oder nicht. Nach den Versuchen des Verf.’s
genügt es nämlich, so lange zu den Stuhlmassen Kalkmilch hinzuzusetzen,
bis die Reaktion ausgesprochen alkalisch ist. — Kalkmilch ist immer leicht
zu beschaffen. Es eignet sich schon sehr gut der in den Kalkbrennereien
und Baumaterialien-Handlungen käufliche gebrannte Kalk, von dem der
Centner 1,1 bis 1,2 Mk. kostet. Zum Löschen des Kalkes ist die halbe
Gewichtsmenge Wassers nötig oder soviel Wasser, als die Kalksteine auf¬
saugen. Zur Herstellung einer etwa 20prozentigen Kalkmilch genügt es,
den pulverförmig gelöschten Kalk mit der doppelten Menge Wassers zu ver¬
setzen. Unmittelbar vor der Anwendung muss die Kalkmilch tüchtig um¬
geschüttelt oder umgerührt werden; auch ist dieselbe mit den Fäkalien
gehörig zu vermischen. Wolffberg.
Carl Lüderitz, Zur Kenntniss der anaeroben Bakterien. Zeitschrift für
Hygiene, 5. Band. Seite 141.
L. gewann aus dem Körper von weissen Mäusen und Meerschweinchen,
welche nach subcutaner Einverleibung von Gartenerde gestorben waren,
ausser den Bacillen des malignen Oedems obligat und facultativ anae¬
robe Bakterien, die er auf Grund ihres Verhaltens im mikroskopischen Prä¬
parat und in Reincultur bezeichnete als:
Bacillus liquefaciens magnus,
Bacillus liquefaciens parvus,
Bacillus radiatus,
Bacillus solidus,
Bacillus spinosus.
Je luftfreier der Nährboden, um so reichlicher waren die von ihnen
entwickelten Gährungserscheinungen. Die grössten Gasmengen lieferte solidus,
geringere 1. magnus, 1. radiatus und spinosus, die kleinsten 1. parvus (die
charakteristischen Merkmale dieser Bakterien vergl. im Original!). In einer
Tabelle erläutert der Verf. die verschiedene Luftempfindlichkeit derselben
und benutzt dafür als Maass die Höhe der oberen, colonieenfreien Zonen
der 7 bis 9 cm hohen Nährbodenschicht. Hierzu veranlasste die Beobach¬
tung, dass von zwei gegen Sauerstoff gleich stark empfindlichen Anaeroben,
wenn deren eine z. B. schon nach 24 Stunden, die andere etwa erst nach
4 Tagen sichtbare Golonieen bildete, die letztere eine höhere wachsthums¬
freie obere Zone aufwies als die erste, indem bei ihr die Luft tiefer in den
Nährboden eindringen konnte. Wie zwischen den genannten fünf Bakterien
in Bezug auf Luftempfindlichkeit Uebergänge untereinander stattfinden,
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— 242 —
so sind auch nach der Seite der facultativ anaeroben hin Zwischenstufen
anzunehmen.
Beschränkung des Wachsthums durch' Luftzutritt constatirte Verf.
u. A. für den Mäuseseptichaemiebacillus.
Die anaeroben B. wurden durch das Eindringen des Sauerstoffs in den
Nährboden in ihrem Wachsthum zunächst eingeschränkt, bis sie schliesslich
abstarben. Verf. betont, dass die verflüssigenden Anaeroben allmälig auch die
oberen, anfangs von Golonien freien Schichten des Nährbodens, nachdem aus
diesen die Luft durch die gasigen Stoffwechselproducte der Bakterien vertrieben
worden, in die Verflüssigung hineinziehen. Da hierbei aus den in den oberen
Nährbodenschichten vertheilten Keimen nur spärliche oder auch gar keine
Colonien sich entwickeln, sondern die Verflüssigung von unten her, von den
alten Colonien aus, sich ausbreitet, so ist anzunehmen, dass die Keime in
den oberen Schichten trotz der durch Wiederverdrängung der Luft günstiger
gewordenen Wachsthumsbedingungen durch die Berührung mit dem Sauer¬
stoff ihre Lebensfähigkeit eingebüsst haben. Des Weiteren ergab sich, dass
entwickelungsfähige anaerobe Bakterien entweder, je nachdem sie mehr oder
weniger lange der Einwirkung der Luft ausgesetzt wurden, wenige oder
gar keine Golonien aus wachsen Hessen, während sie vor Sauerstoffeinwir¬
kung bewahrt, entwickelungsfähig blieben, oder aber ihre Entwickelungs¬
fähigkeit durch die Einwirkung der Luft verlangsamt erschien.
Flatten.
P. Foä nnd A. Bonome, ein Fall von Septichaemie beim Menschen mit
einigen Kennzeichen der Milzbrandinfection. Zeitschr. f. Hygiene. 5. Band,
Seite 403.
Bei einem Gerber, der seit drei Tagen an einem Bläschen am Vorder¬
arm erkrankt war, constatirten Verff. bei der Aufnahme in ihr Spital einen
violetten Fleck von 5 cm Durchmesser am Vorderarm, Anschwellung des
ganzen Armes und Ausdehnung derselben auf den Hals und die obere
Brustpartie. Einschnitte. Tod am 8. Tage.
Das Fehlen einer Milzschwellung, die Anwesenheit von nur kurzen
und dicken Bacillen in der Flüssigkeit des Unterhautgewebes sowie die
Ergebnisse von Experimenten an Thieren betonen Verff., um die im kli¬
nischen Bilde wie im Leichenbefunde von echtem Milzbrand nicht erheblich
abweichende Erkrankung als eine durch eine besondere Bakterienart be¬
dingte Septichaemie zu kennzeichnen.
Flatten.
M. von Pettenkofer, Die Typhnsbewegang in München von 1851 bis 1887,
Münchener Neueste Nachrichten 1889. Nr. 10 bis 17.
Zur Abwehr der jüngst aufgestellten Behauptung eines Wiener Blattes,
dass München sich durch Häufigkeit und Bösartigkeit des Unterleibstyphus
auszeichne, hat v. P. den vorstehend citirten Aufsatz für die Münchener
Neuesten Nachrichten abgefasst.
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243
Nach Darlegung derjenigen Beobachtungen, aus welchen hervorgeht,
dass die Typhusmortalität ein durchaus richtiges Bild von der Zahl der
Erkrankungen gebe (vergl. das Referat über die v. Ziemssen’sche Arbeit
„der Typhus in München während der letzten 20 Jahre*, Jahrgang 1888),
weist Verf. die gegen diese Art epidemiologischer Untersuchung erhobenen
Ein wände zurück und bespricht die Typhusfrequenz an der Hand einer
für die Zeit von 1851 bis 1887 entworfenen Tabelle, derselben, welche er
z. Z. in seiner Besprechung des Berichtes der Koch’schen Choleraexpe¬
dition mittheilte. Man erkennt vier Typhusperioden (1851 — 1860, 1860—
1867, 1867—1876, 1876—1887), welche bis 1880 Grundwasserperioden
entsprechen. Wie bereits früher, so betont Pettenkofer auch bei dieser Ge¬
legenheit ausdrücklich, dass er in dem Grundwasser keineswegs einen dem Ty¬
phuskeim günstigen Stoff oder dergl. erblicke, sondern dass ihm der Grund¬
wasserstand nur ein Index für Anderes sei, für die Feuchtigkeits-Verhält¬
nisse und für davon abhängige Vorgänge über dem Grundwasserspiegel und
ziemlich nahe der Oberfläche, und dass nach seiner Ansicht, wenn diese
Feuchtigkeits- und Bodenverhältnisse gegeben sind, Typhus- und Cholera-
epidemieen auch an Orten Vorkommen können, wo sich gar kein Grund¬
wasser findet. Das Grundwasser und seine Bewegung und die Gegenwart
des Typhuskeimes sind für sich allein noch nicht im Stande, eine Typhus¬
epidemie hervorzurufen.
Weshalb von 1880 an Typhus- und Grundwasserbewegungen nicht
mehr harmoniren und schon die zweite Typhusperiode (1860—1867) weit
schwächer war als die erste, warum ferner der Typhus seit 1880 aus
München fast geschwunden sei, lässt sich aus den Tr in kwasser Verhält¬
nissen, speziell aus Aenderungen der Wasserversorgung, nicht erklären.
Weder die Einführung des Pettenkoferbrunnhauses noch die Hochquell¬
leitung zeigen den geringsten Einfluss auf die Typhusfrequenz. Speciell
waren die nach der Eröffnung des Pettenkoferbrunnhauses noch mit Wasser
aus der Königlichen Hofwasserleitung versorgten Häuser'(871 Häuser mit
23302 Menschen) von Typhus nicht mehr befallen als die an die Hoch¬
quellleitung angeschlossenen.
Ebensowenig wie der Trinkwasser-Versorgung kann die Abnahme des
Typhus in München der Vervollkommnung der ärztlichen Behandlung —
die Erkrankungen sind, sei es in Folge einer quantitativen Verminderung
des Infectionsstoffes oder in Folge einer Abschwächung seiner Virulenz
leichtere als früher, — einer nachweislichen Aenderung in der Constitution
der Bewohner Münchens oder einer etwa zu supponirenden Durchseuchung
zugeschrieben werden.
Wenn die Ausdehnung der Epidemieen demnach nicht
vom Trinkwasser und nicht vom Kranken abhängt, so kann
nur der Ort München daran die Schuld tragen, und in dieser
Hinsicht ist ps nur die durch die Cana 1 isation, und die ErÖffnungdes
Schlacht- und Viehhofes erzielte Assanirung des Bodens, welcher die
Abnahme des Typhus mit Recht zugeschrieben werden kann. Flatten.
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— 244 —
Dr. A. E. Burckhardt and Dr. F. Schaler, Untersuchungen über die Qeeand-
heitsverhältnisBe der Fabrikbeyölkerong in der Schweiz mit besonderer
Berücksichtigung des Krankenkassenwesens. Aarau, H. B. Sauerländer 1889.
Um die Kenntniss des sanitären Einflusses der verschiedenen Industrien
auf Gesundheit und Leben des Arbeiters zu fördern, wurden auf Veran¬
lassung des schweizerischen Aerztevereins vom Jahre 1880—1884 statistische
Erhebungen über die Erkrankungen von ungefähr 18,000 Fabrikarbeitern,
welche in ca. 150 kleinen und grossen Krankenkassen vereinigt, ca. 5000
jährliche Erkrankungsfalle lieferten, gesammelt. Die Bearbeitung und Deu¬
tung der gewonnenen Zahlen bilden den Inhalt des in einen allgemeinen
und einen speziellen Theil geschiedenen Werkes. Wie überall, wo ohne
amtliche Autorität uijd ohne Zwang über die sanitären Verhältnisse der
Arbeiter Fragen an Fabrikbesitzer, Krankenkassenvorstände, oder auch deren
Aerzte gerichtet werden, stellten sich auch hier den Erhebungen zahlreiche
Schwierigkeiten entgegen und ergaben sich mannigfache Mängel und Fehler¬
quellen in dem gesammelten Material. Es sind diese Mängel jedoch ein¬
gehend besprochen und gebührend berücksichtigt, so dass die Verfasser
wohl mit Recht behaupten dürfen, dass aus ihrer Bearbeitung des Materials
mancher für die Zwecke der Krankenkassen erwünschte Aufschluss und
Belehrung sich ergeben, und dass ihre Angaben auch für die Frage der
Unfallversicherung vielleicht das Zuverlässigste bisher in der Schweiz ge¬
sammelte Material bieten dürften.
Der allgemeine Theil bringt eine Reihe von Tabellen, von denen die
ersten die aus den eingegangenen Krankenscheinen gewonnenen Urzahlen
enthalten, welche die Zahlen der Krankenkassenmitglieder (nach verschie¬
denen Altersklassen, Industrie und Geschlecht) ihrer Erkrankungsfalle und
Krankheitstage vorführen. Hierauf folgen Tabellen mit dem Procentsatze
der Erkrankten und der Dauer der einzelnen Erkrankungen für männliche und
weibliche Arbeiter; daran schliesst sich die Berechnung der Krankheitstage
auf den Kopf der Arbeiter. Dieselben Urzahlen und Berechnungen, wie
für die Erkrankungen, sind gesondert für die Verletzungen aufgestellt.
Interessante Ergebnisse dieser Berechnungen sind unter anderen fol¬
gende:
„Die Männer sind ungleich häufiger gegen Krankheiten versichert, als
die Frauen, so dass ein lebhaftes Einstehen für Betheiligung des weiblichen
Geschlechts an der Krankenversicherung noth thäte.
Die durchschnittliche Zahl der jährlichen Krankheitstage pro Kopf be¬
trägt 6,34 und stimmt ziemlich überein mit dem Ergebnisse Kinkelin’s
der für 63,608 Krankenkassenmitglieder 6,44, und dem des schweizerischen
Aerzteunterstützungsvereines, welcher die Zahl 6,2 herausrechnete.
Die MorbiditätsVerhältnisse der beiden Geschlechter sind sehr ver¬
schieden: Werden die Arbeitsunfähigkeitstage durch Verletzungen abge¬
rechnet, so ist die Erkrankungsfrequenz fast gleich, die durchschnittliche
Dauer der Erkrankung bei den Frauen jedoch bedeutend höher. (Wichtig
für die Einrichtung gemeinsamer Kassen beider Geschlechter.)
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- 245
Die Häufigkeit des Erkrankens nimmt selbstverständlich mit dem Alter
zu, aber in Bezug auf die Krankheitsdauer ergiebt sich das Auffallende, dass
beim männlichen Geschlechte die jüngste Altersklasse (14—18 Jahre) eine
längere durchschnittliche Erkrankungsdauer hat, als die 2. (19—30 Jahre),
während bei den Frauen nicht so erhebliche Schwankungen zu Tage treten.
Das Zahlenverhältniss der Arbeitsunfähigkeitstage nimmt in jeder Klasse zu
und ergiebt eine Differenz zwischen ältester und jüngster Klasse wie 4 : 1
bei Männern, wie 3:1 bei Frauen. — Von Verletzungen haben die männ¬
lichen Arbeiter unter 18 Jahren — den Durchschnitt aus allen Industrie¬
zweigen berechnet — die kleinste Zahl und eine niedrige in Bezug auf
die Tage der Arbeitsunfähigkeit; bei den weiblichen weicht das Verhält¬
nis nicht so sehr ab. Dagegen findet eine ausserordentliche Zunahme bei
der ältesten Klasse statt.
Auch in Bezug auf die Bedeutung der Verletzungen, die durchschnitt¬
liche Zeit der Arbeitsunfähigkeit, welche Folge einer Verletzung ist, stellen
sich die Verletzungen männlicher Personen der Alterklasse über 50 Jahre
am ungünstigsten, sie bedingen reichlich anderthalb mal so viel Invalidi¬
tätstage, als der Durchschnitt für alle Altersklassen ausmacht. — Sehr in
die Augen springend ist die grosse Ungleichheit in der Frequenz der Ver¬
letzungen sowohl, als in der durch sie herbeigeführten Invalidität bei den
verschiedenen Industriezweigen. Die Häufigkeit schwankt bei den Männern
sogar bis um das 14fache, in weit kleineren Proportionen beim weiblichen
Geschlechte. Es ist dies wohl zu berücksichtigen, wo es sich z. B. um
Kassen handelt, die lediglich zur Unterstützung Kranker, nicht aber Ver¬
letzter bestimmt sind.“ —
Der zweite Theil enthält eine genaue Analyse der sanitären Verhält¬
nisse in den einzelnen Industriezweigen. Nach einer kurzen Geschichte der
Entstehung, Ausbreitung und Vervollkommnung der speziellen Industrie,
werden die sanitären Verhältnisse der Arbeiter ausserhalb und in der
Fabrik erörtert. Es werden Untersuchungen mitgetheilt über die Herkunft,
die Familien-, Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse, die Arbeitszeit und
die Dauer der Erholungsstunden, über die Höhe des Lohnes und die Ein¬
richtungen der Kranken- und Unterstützungskassen; über Grösse und Rein¬
lichkeit des Fabrikraumes, über Menge, Zusammensetzung und Temperatur
der Athmungsluft, über die Art der Arbeit, spezielle Hantirung und kör¬
perliche Leistung, sowie über die Zusammensetzung des Personals und das
Verhältniss des Alters und Geschlechts.
Durch diese Untersuchungen werden die besonderen Schädigungen der
Gesundheit, denen der Fabrikarbeiter ausgesetzt ist, hervorgehoben und
durch die Ergebnisse der Statistik nachgewiesen, dass diesen Schädlich¬
keiten allemal eine Erhöhung der Zahl der Krankheiten entspricht, deren
Entstehung dieselben begünstigen. So wird der Nachweis geliefert, „dass
die erhöhte Krankenziffer, welche stets bei der arbeitenden Klasse gefunden
wird, durchaus nicht etwas dem Berufe des Fabrikarbeiters unzertrennlich
Anhaftendes ist, etwa in der Weise, wie sich kein Mensch über die hohe
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246
Mortalität des Soldatenstandes zu wundem hat, dass ferner die ungünstige
Stellung des Fabrikarbeiters nicht lediglich in seiner ganzen ökonomischen
und socialen Lage begründet ist, sondern dass neben den mit jeder kör-
perlichen Arbeit unvermeidlich verbundenen Unbilden auch noch andere,
man möchte sagen unnötigerweise auftretende Schädlichkeiten sich finden,
gegen welche sich die menschliche Energie mit Recht sträubt“ und deren
Beseitigung die Aufgabe der Fabrikhygiene sein muss.
In kurzen Abschnitten werden weiter behandelt die Dauer der einzelnen
Erkrankungen nach Krankheitsform, Geschlecht und Alter, ferner der Ein¬
fluss des Alters auf die verschiedenen Infektionskrankheiten nach Industrien.
Zum Schlüsse heben die Verfasser die Faktoren hervor v welche von
hervorragendem Einflüsse auf die Erkrankungsfrequenz der Arbeiter sich
erwiesen haben. Das Geschlecht, das Alter, die Verhältnisse des Arbeits¬
raumes, die körperliche Leistung bei der Arbeit, die Erholungsstunden und
Ruhetage sind auch in der Schweiz die Hauptraomente, auf welche sich
neben den Bemühungen zur Ermöglichung eines gesundheitsgemässen Le¬
bens des Arbeiters ausserhalb der Fabrik die Bestrebungen der Fabrik¬
hygiene zu richten haben.
Le Blanc.
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Neue Desinfections-Apparate
von
Ingenieur A. Walz in Düsseldorf.
Für die Diakonissen-Anstalt in Kaiserswerth wurde durch die
Firma Walz & Windscheid in Düsseldorf ein neu construirter
Desinfections-Apparat geliefert, welcher durch die Figuren 1 und 2
in einem Längenschnitt und einer Vorderansicht dargestellt ist.
Der Apparat ist so gross, dass ganze Bettstellen eingebracht
werden können und wird beschickt vermittelst eines Wagens,
welcher auf Rollen einerseits im Innern des Apparates, andererseits
über eine in der Höhe angebrachte Laufschiene läuft. Abgeschlossen
r wird der Apparat durch eine rechteckige Thüre; der Apparat
selbst hat dagegen eine runde Form erhalten, um dem Druck
besser widerstehen zu können. Auch die Wandstärken sind dem¬
entsprechend dick, so dass der Apparat eine Wasserdruckprobe
von 1—1 Va Atm. bestehen konnte. Während des Betriebes wird
ein geringerer Druck durch ein Sicherheitsventil begrenzt. Dasselbe
wird nach erfolgter Benutzung gehoben und als Dampfauslassventil
benutzt. Das Ventil selbst ist jedoch durch ein Gehäuse so ge¬
schützt, dass eine Belastung desselben durch das Wärterpersonal
und damit eine Ueberanstrengung des Apparates nicht möglich ist.
Der Dampf wird oben über einem grossen Dampftrockner (einer
Schutzdecke) eingeleitet, so dass eine Benetzung der Objecte durch
Wasser nicht möglich ist. Luft und Wasser dagegen werden an
dem tiefsten Punkte in einen Gondensator geleitet. Dieser bleibt
geöffnet so lange nur Luft und Wasser abfliessen, schliesst dagegen
selbstthätig ab, sowie Dampf nachfolgt. Sammelt sich während
des Desinfectionsprocesses Wasser und auch noch vereinzelte Luft
in dem Condensator an, so öffnet er selbstthätig, um wiederum
zu schliessen, so bald neuer Dampf nachfolgt. Ist der Apparat
mit Dampf gefüllt, so ist die Spannung in dem Apparat, an einem
Manometer zu erkennen. Für den Wärter beginnt hiermit die
Desinfectionsperiode, welche er für die schlimmsten Fälle auf nur
40—50 Minuten auszudehnen hat. Bei den stattgehabten Proben
wurden in festen Rollen von 25—30 Wolldecken 110° C. gefunden.
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 18
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Fig. 1.
Es kann garantirt werden, dass diese Temperatur sich mit Sicher¬
heit in jedem Punkte des Apparates innerhalb und ausserhalb der
Objekte einstellt.
In noch grösserem Maassstabc wird man in Trier zuerst Vor¬
gehen, um die in grossen Ballen aus dem Auslande eingeführten
Lumpen mit einem ähnlich construirten Apparate zu desinficiren.
Bekanntlich bietet dieser Handelsartikel die grösste Gefahr, dass
Krankheitsstoffe aus dem Auslande eingeschleppt werden.
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Fig. 2.
Fig. 3.
Der in der Ausführung begriffene Apparat ist für die Firma
H. Loeser & Cie. in Trier bestimmt, welche den Lumpenhandel
in grossem Maassstabe betreibt.*
Ein anderer viel kleinerer Apparat ist in dem Victoria-Stift in
Kreuznach in Betrieb. Derselbe ist in Fig. 3 durch eine Ansicht
dargestellt. Der Dampf wird hier direct durch den Apparat erzeugt
und ist in seinem Grundprincip dem Koch’schen Topfe ähnlich.
Der untere Theil des Apparates ist mit Wasser gefüllt; direct
darunter liegt ein Feuer. Der Wasserstand ist an einem Glase er¬
sichtlich. Der obere Theil des Apparates ist in einem horizontal
liegenden doppelwandigen Cylinder ausgebildet, welcher die Des-
infectionsobjecte aufzunehmen hat. Der innere Cylinder ist mit
Holz ausgefüttert. Verschlossen wird der Apparat durch einen
runden vertikal hängenden Deckel, welcher vermittelst Laufschiene
und Rolle seitwärts geschoben werden kann. Der Dampf steigt
zwischen den horizontalen Cylindern in die Höhe. Die Luft wird
unten, über der Wasserlinie durch ein Ventil entfernt. Die er¬
folgte Füllung des Apparates mit Dampf ist zu erkennen, wenn an
diesem Ventil Dampf abbläst; man schliesst dasselbe alsdann. Der
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250 —
Druck wird wie bei den grossen Apparaten durch ein Sicherheits¬
ventil begrenzt und ist an einem Manometer zu erkennen. Die
Leistung ist bei einem verschwindend geringen Brennstoffverbrauch
dieselbe wie bei den grossen Apparaten. Auch dieser Apparat
wurde der Sicherheit wegen einer Wasserdruckprobe unterworfen
und zwar hier von 5 Atm.
In all diesen Apparaten wird weder der Dampf noch die Luft
über die natürliche Temperatur hinaus erwärmt. Der Kostenpreis
ist daher trotz der erhöhten Leistung und Sicherheit wesentlich
billiger geworden, wie bei den Apparaten, welche mit inneren
Heiz Vorrichtungen versehen sind.
In allen ist dem Umstande besondere Rechnung getragen,
dass der Dampf leichter ist wie die Luft und dass es Hauptsache
ist, die letztere gänzlich zu entfernen.
Betrachtungen
über eine neue Heilanstalt für Lungenkranke.
Von
Dr. Ernst Meissen,
Zweitem Arzt der Heilanstalt Falkenstein.
Allgemein wird gegenwärtig anerkannt, dass die chronische
Tuberculose der Lunge, die Lungen-Schwindsucht, der Besserung
und Heilung in weit höherem Grade zugänglich ist, als man früher
angenommen und zugegeben hat. Es wird nicht mehr bezweifelt,
dass mehr oder weniger vollständige, zeitweilige, aber auch dau¬
ernde und bleibende Heilerfolge nicht etwa ausnahmsweise und mehr
zufällig, sondern als regelmässige Ergebnisse eines zielbewussten
ärztlichen Eingreifens in verhältnissmässig sehr beträchtlicher Zahl
erreicht werden können, und thatsächlich erreicht werden. Diese
schönen Erfolge gegenüber der verbreitetsten und verderblichsten
Krankheit unserer Zeit sind nun aber keineswegs der Entdeckung
und Anwendung von unmittelbar gegen den Erreger dieser Krank¬
heit, den Tuberkel-Bacillus, wirksamen Mitteln, specifischen Arznei¬
stoffen oder entsprechenden Massnahmen, zu danken. So möglich
die Auffindung specifischer Mittel gegen die Tuberkulose erscheint,
so wünschenswerth sie wäre, wir besitzen solche aber bis heute
nicht. Was davon berichtet wurde, und alltäglich wieder berichtet
wird, hat noch niemals der nüchternen Prüfung Stand gehalten.
Das skeptische Verhalten wohl sämmtlicher Aerzte, die sich lange
und eingehend mit* dieser Krankheit beschäftigt haben, hat also
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— 251
gewiss seine gute Berechtigung. Ziffernmässig zu belegende, wissen¬
schaftlich vollständig sichergestellte und über eine Reihe von Jahren
verfolgte Heilungen sind bisher nur durch ein auf hygienisch¬
diätetische Grundsätze basirtes Kurverfahren erzielt worden.
Diese Methode hat sich entwickelt aus uralter und gewisser-
massen volksthümlicher Erfahrung und Beobachtung derjenigen
Verhältnisse, unter denen man noch am ehesten Lungenkranke sich
bessern und heilen sah einerseits und aus der wissenschaftlichen
modernen Klimatotherapie der Phthise andererseits. Betrachtet
man in letzterer Beziehung, welch verschiedene klimatische Factoren,
wie die warme, theils feuchte (Madeira), theils trockene (Aegypten)
Luft des Südens, die kühle, trockne und frische Luft der Höhen,
die meist feuchte Luft der sommerlichen Badeorte, als ganz besonders
heilsam angepriesen werden; erwägt man ferner, dass thatsächlich
unter allen diesen so verschiedenen Bedingungen Erfolge erzielt
wurden, so muss sich doch der Gedanke aufdrängen, dass nicht
diese klimatischen Besonderheiten, sondern etwas Gemeinsames das
eigentlich Wirksame sein muss. Dies Gemeinsame liegt nun eben
in den hygienisch-diätetischen Maximen, die an allen diesen Orten
mehr oder minder bewusst und entschieden den Kurplan bestim¬
men. So muss nothwendig mehr und mehr der Gedanke durch¬
dringen, dass nicht der Ort wo, sondern die Art wie der Lungen¬
kranke lebt in erster Linie über sein Wohl und Wehe entscheidet.
Es gibt auch keine klimatischen Specifica gegen die Schwindsucht.
Die hygienisch-diätetische Methode wird niemals auf den ge¬
waltigen Vortheil verzichten, der in dem Herauslösen des Kranken
aus den Verhältnissen, unter denen er krank wurde, beruht. Sie
wird nicht nur in diesem Sinne eine klimatische Kur bleiben, son¬
dern auch an die klimatischen Verhältnisse des Ortes, wo der
Lungenkranke behandelt werden soll, eine Reihe von Anforderungen
stellen. Ebenso wird sie gern Gebrauch machen von all den sym¬
ptomatischen und sonstigen Hülfsmitteln, welche specialistische Er¬
fahrung und die fortschreitende Wissenschaft an die Hand geben.
Ihr Kern- und Schwerpunkt aber liegt in dem Bestreben, den
Kranken einerseits den mannigfaltigen Schädlichkeiten, die bei der
Entstehung des Leidens wirksam sind, zu entziehen, ihm ander¬
seits alle neue Störungen fern zu halten und, in sorgfältiger An¬
passung an den Einzelfall, durch methodische und consequente
Regelung der Lebensführung bis in’s Kleinste hinein, durch um¬
sichtige Anleitung, Erziehung und Gewöhnung die Hebung und
Kräftigung des erkrankten Organismus in seinen sämintlichen Func¬
tionen zu erreichen.
Es scheint hier die Bestätigung einer alten Erfahrungsthatsache
zu liegen, dass [nämlich die Lungenschwindsucht und vermuthlich
überhaupt die Tuberkulose zu ihrem Entstehen, d. h. also nach
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unserer heutigen Anschauung, dass der Tuberkelpilz zu seinem
Haften gewisser Vorbedingungen bedarf, die man allgemein als
eine ererbte oder erworbene Schwächung des Organismus bezeich¬
nen kann. Eine solche theils allgemeine, theils örtliche Depoten-
zirung lässt sich bei fast sämmtlichen Fällen von Schwindsucht
bestimmt und sicher nachweisen. Wirkt man derselben systema¬
tisch entgegen, so muss es gelingen, der Weiterentwicklung des
Krankheitserregers Schranken zu setzen. In diesem Sinne könnte
man sehr wohl das hygienisch-diätetische Heilverfahren als das
eigentlich specifische bezeichnen.
Besitzen wir nun in ihm in der That ein rationelles und
wirksames Mittel zur Behandlung der Phthise, so kann es weiter
keinem Zweifel unterliegen, dass die Erfolge um so schneller, zahl¬
reicher und sicherer sein müssen, je intensiver und consequenter
es durchgeführt wird. So wenig also die Methode an offenen Kur¬
orten und in geschlossenen Anstalten principiell verschieden zu sein .
braucht, so ergibt sich doch unmittelbar, dass die Anstaltsbehand¬
lung die rationellere sein muss, weil sie sämmtliche den Kranken
umgebenden und betreffenden Verhältnisse gleichmässig und voll¬
kommen zu beherrschen und zu gestalten erlaubt, sodass alle der
zielbewussten Durchführung des Heilverfahrens entgegentretenden
Hindernisse und Schwierigkeiten in Wegfall kommen. Keine gegen
die Anstalten angeführten Gründe lassen sich aufrecht halten. Das
Zusammenleben der Kranken gestaltet sich erfahrungsmässig so
angenehm und behaglich wie es unter ähnlichen Verhältnissen nur
möglich ist. Ebenso ist der Eindruck des Zusammenseins mit
Kranken keinesfalls ein solcher, wie der ausserhalb des Anstalts¬
lebens Stehende vielleicht zu denken geneigt ist. Ueberdies ist
das ja auch nicht anders wie an offenen Kurorten. Mit der mehr
und mehr durchdringenden Anerkennung der Leistungen und Er¬
folge der Anstaltsbehandlung muss aber endlich auch die nicht
oft genug zu wiederholende Forderung erfüllt werden, in einem
möglichst frühen Stadium der Lungenerkrankung eine ernsthafte
und gründliche Kur durchzuführen. Wie vieF Zeit und Geld wird
noch so vielfach mit halben Massregeln vergeudet, bis die bittere
Reue zu spät kommt! Gerade die Anfänge der Krankheit sollten
in erster Linie den Anstalten überwiesen werden. Denn nicht nur
aus Leichtsinn, sondern ebenso oft aus Unerfahrenheit versäumt
der beginnende Lungenkranke das richtige Verfahren. Gerade
solche Kranke bedürfen am meisten der Anleitung und einer ge¬
wissen Erziehung, die über den Ernst der Sache wie über die
Aussicht der Heilung belehrt, zugleich aber die Nothwendigkeit
der eigenen Mitwirkung betont. Die Zahl der unverbesserlichen
Thoren, die einem heilsamen Zwange sich nicht fügen können,
dessen Nothwendigkeit doch jedem Denkenden einleuchten muss,
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ist glücklicherweise doch nicht allzu gross. Weit eher kann der
erfahrene, stationäre Lungenkranke des festen Anhaltes, den die
Anstalt gewährt, entrathen.
Die gelegentlich ausgesprochene Befürchtung einer gegensei¬
tigen Ansteckung der Kranken in Anstalten beruht auf der Vor¬
stellung der Ausbreitung des Leidens durch wiederholte Infection
von Aussen (Reinfection). Wie weit dieselbe überhaupt in Be¬
tracht kommt, ist aber bis jetzt noch keineswegs sicher gestellt.
Gibt man auch ihre Möglichkeit zu, so ist doch mit der viel grös¬
seren Wahrscheinlichkeit zu rechnen, dass die Ausbreitung durch
Autoinfection, d. h. von den bereits vorhandenen Heerden aus, er¬
folge. In praktischer Beziehung aber ist hier entscheidend, dass
die eigentlichen und anerkannten Heilungen der Schwindsucht doch
gerade an solchen Orten erreicht wurden, wo viele Lungenkranke
Zusammenleben, in erster Linie in den Anstalten. Auch ist klar,
dass die hygienische Ueberwachung im Allgemeinen und die Be¬
seitigung bez. Unschädlichmachung der Auswurfstoffe, als welche
allein die Träger des Krankheitsgiftes sind, im Besonderen nirgends
leichter und sicherer geschehen kann, als in einer Anstalt, d. h.
in einem Specialkrankenhause für Lungenleidende. In einer gut
eingerichteten Anstalt ist die Möglichkeit einer gegenseitigen In¬
fection der Kranken oder einer Infection Gesunder und Disponirter
in gleichem Sinne und gleichem Masse verschwindend gering, wie
das Auftreten von accidentellen Wundkrankheiten in einer modernen
chirurgischen Klinik.
Auch wenn durch einen glücklichen Fund das nicht gerade
Wahrscheinliche plötzlich wahr würde, nämlich die Entdeckung
eines specifischen Heilmittels gegen die Schwindsucht, würden
die Sanatorien keineswegs überflüssig sein. Auch dann würde
das hygienische Kurverfahren ohne Zweifel in gleicher Weise
die erwünschte und nothwendige Ergänzung bilden, wie man
sich bei der Behandlung der Malaria nicht auf die Darreichung
des Chinins u. dgl. beschränkt, sondern wo irgend möglich die
Uebersiedelung in eine gesunde Gegend hinzunimmt. Stets blieben
die je nach dem Grade der Krankheit mehr oder minder schweren
Folgezustände zu behandeln und zu beachten.
Alle diese gewissermassen apriorischen Erwägungen würden
wenig besagen, wenn ihnen nicht die praktische Bestätigung in
den über alles Erwarten günstigen Erfolgen der Anstalten ergän¬
zend zur Seite stände. Am glänzendsten und zugleich statistisch
am sichersten und genauesten festgestellt sind die Erfolge unserer
Heilanstalt Falkenstein, die sich rühmen darf, die hygienische Me¬
thode in bisher vollkommenster Weise ausgebildet und durchgeführt
zu haben. Es sei hier vor Allem auf den Bericht des Leiters
dieser Anstalt, Herrn Geh. Sanitätsraths Dr. Dettweilers, über
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72 seit 3—9 Jahren geheilt gebliebene Fälle von Lungenschwind¬
sucht hingewiesen. Die stationär gewordenen und gebliebenen,
relativ geheilten Fälle hinzugerechnet, kommen nach diesem Be¬
richte fast 25 °/o mehr oder weniger vollständiger Heilung heraus.
Eine eigene, in ganz entsprechender Weise angestellte statistische
Arbeit aus dem Jahre 1885 ergab 6,3 °/o völlige Heilungen und
20,3 °/o relative Heilungen, zusammen 26,6 °/o sichere Erfolge als
mindestens 1 Jahr nach der Entlassung nachweisliches Endresultat
von 600 Falkensteiner Kuren. Die Beweiskraft dieser nahezu iden¬
tischen Zahlen für die Regelmässigkeit der Erfolge einer gut ge¬
leiteten Anstalt ist um so grösser, als beide Arbeiten völlig unab¬
hängig von einander entstanden sind. Wir haben beide die Ueber-
zeugung, dass die Erfolge in den letzten Jahren bei immer
bewussterer Durchführung der Methode noch bessere gewor¬
den sind.
Bei der Anerkennung, welche heutzutage die Anstaltsidee und
zumal die Falkensteiner Bestrebungen und Erfolge gefunden haben,
mögen die vorangegangenen Ausführungen fast als überflüssig er¬
scheinen. Der Gedanke, dass dieselben nicht nur für ärztliche
Kreise bestimmt sind, möge ihnen als Entschuldigung dienen. Die
Anerkennung ist in der Thal eine allgemeine, nicht nur in Deutsch¬
land, sondern auch im Auslande, und zwar nicht zum Mindesten
bei unsern westlichen Nachbarn, den Franzosen. Es sei hier er¬
laubt, auf die Veröffentlichungen sehr namhafter französischer
Aerzte (Prof. Nicaise, Dr. Daremberg u. A.) nach einem Be¬
suche in Falkenstein hinzuweisen. Vielleicht am meisten aber liegt
die Anerkennung in dem von vielen Seiten gleichzeitig hervortre¬
tenden Bestreben, durch Errichtung von Volkssanatorien die
Vortheile der Methode auch den wenig oder nicht bemittelten
Kranken zugänglich zu machen. Leider erscheint die selbständige
Verwirklichung dieser menschenfreundlichen und hochherzigen Idee
vorläufig noch verfrüht. Es fehlt bisher an aller und jeder Er¬
fahrung über die zweckmässigste Art solcher Einrichtungen, die
doch eine beträchtliche Ausdehnung haben müssten, sollen sie
wirklichen Nutzen schaffen. Aus freiwilligen Beiträgen unter solchen
Umständen die erforderlichen, unverzinslichen Geldmittel aufzu¬
bringen, wird fast unmöglich sein. Staat, Provinz und Gemeinde
sind ihrerseits durch mannigfache Anforderungen bereits zu über¬
bürdet, um wesentlich beisteuern zu können. Am ehesten wäre
wohl noch, allerdings erst nach einer Anzahl Jahre, auf die Kran¬
kenkassen zu rechnen, die jedenfalls ein Interesse haben, solchen
Bestrebungen gegenüber in irgend einer Weise Stellung zu nehmen.
Am richtigsten erscheint es nach reiflicher Ueberlegung, Volkssana¬
torien vorerst im Anschluss an bestehende Anstalten zu errichten,
wo eine Reihe von Vortheilen und Ersparnissen sich von selbst
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ergibt, und die zu sammelnden Erfahrungen sprechen zu lassen,
bevor man zu selbständigen Anlagen schreitet. (Dettweiler.)
Wesentlich anders liegt es mit der Anlage neuer Anstal¬
ten für bemitteltere Kranke. Es ist nicht einzusehen, wa¬
rum das für die Errichtung eines solchen Sanatoriums aufzubringende
Kapital bei sachverständiger ärztlicher und wirtschaftlicher Lei¬
tung nicht sicher rentiren sollte. Keine Krankheit ist so häufig,
wie die Schwindsucht. Zahlen reden, pflegt man zu sagen. Hier
sprechen sie ein ernstes, mahnendes Wort. */#— 1 h aller Todes¬
fälle erfolgt durch jene Krankheit, die weit ärger wüthet, als die
gefürchtetste Seuche. Alljährlich erliegen ihr in Deutschland allein
170—180,000 Menschen, eine wahrhaft erschreckende Zahl! Ge¬
ring gerechnet, muss es in unserem Lande weit über ! /a Million
Lungenkranker geben! Dürfen wir da warten, bis wir vielleicht
einmal ein specifisches Heilmittel finden, wo wir doch stark im
Kampfe gegen diese Krankheit sind, wenn wir ihn nur früh genug
beginnen und richtig führen!
Der Wunsch, etwas Erfolgversprechendes gegen die drohende
Lebensgefahr zu unternehmen, ist überall bei den Kranken ein
ausserordentlich reger. Die rechte Gelegenheit dazu ist aber noch
lange nicht genug geboten. Der ausserordentliche Vortheil, der
durch die Erfahrungen der Anstalten sichergestellt ist, dass man
nämlich zu jeder Jahreszeit im eigenen Lande nicht allzu fern von
der Heimath, in nicht allzu fremden Verhältnissen das Bestmög¬
liche zur Wiederherstellung der Gesundheit thun kann, kommt
hier sehr wesentlich in Betracht. Wie die Sache heute liegt, wo
die schönen Erfolge der Anstalten die verdiente Anerkennung
finden, wo diese Institute im Vordergründe des Interesses ärztlicher
wie Laienkreise sich befinden, ist an dem Gedeihen eines neuen
Sanatoriums um so weniger zu zweifeln, als man zielbewusst und
mit einer Summe von Erfahrungen errichten kann, was man vor¬
her mit Mühe und Kosten erst erproben musste.
Es ist der ernsthafte Gedanke angeregt worden, am Nieder¬
rhein im preussischen Rheinlande eine neue Anstalt zu errichten.
Die Idee ist von den Vertretern so angesehener Namen aus ärzt¬
lichen und nichtärztlichen Kreisen ausgegangen, dass ich es mir zu
hoher Ehre schätzen muss, einige Erwägungen über Zweckmässig¬
keit und Einrichtung eines solchen Sanatoriums im Allgemeinen
hier vorzutragen. Vor allem glaube ich die angeregte Idee in
jedem Betracht als eine glückliche bezeichnen zu dürfen. Gerade
inmitten der dichtbevölkerten und wohlhabenden Rheinprovinz
bieten sich ihrer Ausführung mancherlei Vortheile. Das lebhafte
Interesse, welches ihr in massgebenden Kreisen entgegengebracht
wird, gibt an sich schon eine feste Grundlage für das Gedeihen
der geplanten Anstalt. In Anbetracht der weiten Verbreitung der
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Krankheit gerade in Westdeutschland würde die Provinz allein
eine nicht allzu grosse Anstalt bequem dauernd füllen können.
Anlage und Einrichtung würden dafür bürgen, dass ihr das volle
Vertrauen der Aerzte nicht fehlen wird. Die an die Provinz an¬
grenzenden Länder würden aber ohne Frage ebenfalls von dem
neuen Sanatorium gern Gebrauch machen, und der Zug nach dem
Westen, nach dem Rheine, würde sicher auch hier noch zu Hülfe
kommen.
Bezüglich der Auswahl des Ortes sind nun zunächst eine
Reihe von Anforderungen zu stellen. Die allgemeine landschaft¬
liche Lage desselben ist schon nicht gleichgültig. Der Lungen¬
kranke soll monatelang an einem und demselben Orte leben, ge¬
trennt von der Heimath und mit Verzicht auf so manche gewohnte
Genüsse und Anregungen. Da hat er wohl ein Recht auf den
landschaftlichen Reiz des Ortes, wo er Genesung und Heilung
sucht. Es gesundet sich angenehmer und leichter in einer schönen
Gegend. Nun, in dieser Beziehung kann man im Rheinlande schon
weitgehende Forderungen befriedigen. Der Ort muss ferner von
klimatischen Extremen, schroffen Schwankungen der meteoro¬
logischen Factoren frei sein. Auch dies trifft im eigentlichen
Rheinlande wohl durchweg zu. Er soll genügenden Windschutz
bieten, ohne eingeengt und der natürlichen Luftbewegung entzogen
zu sein. Nichts würde verkehrter sein, als eine geschützte, milde
Lage einseitig zu betonen. Die Hauptwinde sollen gebrochen oder
abgehalten werden, aber im Einzelnen lässt sich erfahrungsmässig
durch geeignete Vorkehrungen genügender Schutz im Sommer wie
im Winter mit Leichtigkeit herstellen. Auf den grossen Vortheil
einer freien Lage, eines freien Ausblicks in die offene Landschaft
darf und soll man nicht verzichten.
Gesunder, durchlässiger Boden und gesunde, d. h. möglichst
reine und staubfreie Luft sind weitere Erfordernisse. Wald, wo¬
möglich Nadelwald, des bessern Schutzes wegen, soll in nächster
Nähe sein. Für reichliche Gelegenheit zu bequemen und anregen¬
den Spaziergängen ist durch zweckmässige Wegeanlagen Sorge zu
tragen. Dass die Anstalt nicht allzu fern vom Verkehr gelegen,
nicht schwer und umständlich zu erreichen sein darf, ist schon
aus wirthschaftlichen Gründen klar. Ebenso würde ein bewohnter
Ort in erreichbarer Nähe schon der Unterbringung der Bediensteten
der Anstalt wegen, sehr erwünscht sein. Es würden dadurch eine
Anzahl eigener Bauten erspart.
Auch mit Berücksichtigung aller dieser allgemeinen Forde¬
rungen würde am Rheine eine grosse Anzahl von Plätzen zur
Verfügung sein. Zunächst ist in Vorschlag gebracht worden
Honnef und Umgebung. Principiell ist gegen diese oder
eine ähnliche Wahl nichts einzuwenden. Auch wird man irnmer-
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hin gern an bereits Bestehendes anknüpfen. Die ausserordent¬
lich freundliche Lage dieses leicht erreichbaren und doch ruhigen,
stillen Ortes bietet in der That mancherlei Vortheile. Indessen
wäre dies nur eine Möglichkeit unter vielen. Zur Entscheidung
dieser Grundfrage würden die hochinteressanten Untersuchungen
von Geheimrath Finkelnburg über die Verbreitung der Phthise
sehr wesentlich.in Betracht kommen.
An clem gewählten Orte wäre nun ein nicht zu kleines,
oder vielmehr möglichst grosses Grundstück als Eigen¬
thum für die zu errichtende Anstalt zu erwerben. Eine genügende
Grösse des eigenen Terrains ist unerlässlich, um unliebsame qnd
störende Nachbarschaften durch fremde Anbauten und Anlagen
fern zu halten. Zum Mindesten sollte man die Gestaltung der
nächsten Umgebung des Anstaltsgebietes vollständig in der Hand
zu behalten suchen, ‘durch Pacht- oder Miethsverträge, Sicherung
des Vorkaufsrechtes u. s. w. Da das Terrain der Anstalt, soweit
es nicht bebaut wird, baldmöglichst ein Park oder parkartiger
Garten mit windgeschützten und schattigen Wegen und Ruhe¬
plätzen werden soll, so kann hierauf von Anfang an beim Ankäufe
schon geachtet werden. Bezüglich der Weganlagen soll gleich
hier auf einen wichtigen Umstand hingewiesen werden. Die Wege
müssen von den Gebäuden der Anstalt zunächst eben oder sanft
ansteigend verlaufen, damit auch dem Schwächern und Kränkern,
der auf diese nahen Wege fast ausschliesslich angewiesen ist, Ge¬
legenheit zu wirklich erquickenden und nutzbringenden Spazier¬
gängen geboten wird. Andernfalls sind Weganlagen nicht nur
unbequem und unpraktisch, sondern bringen die directe Gefahr
der Ueberanstrengung. Auch für die weitern Wege ist nach Mög¬
lichkeit wenigstens in ihrer Empfehlung zur Benutzung ein ent¬
sprechendes Princip festzuhalten. Der Rückweg soll immer die
bequemere, fallende Strecke sein. An reichlicher Gelegenheit zum
Ausruhen (bequeme Bänke) darf es nicht fehlen.
Auf die Versorgung mit reichlichem und gesundem
Wasser ist ein weiteres Augenmerk bei der Auswahl des Terrains
zu richten. Die Anstalt muss ihre eigene, genau zu controlirende
Wasserleitung für alle Gebäude haben, nicht nur aus hygienischen
Gründen, sondern schon der Bequemlichkeit und der Sicherheit
gegen Feuersgefahr wegen.
Bezüglich der eigentlichen Anstalt, d. h. der Gebäulich¬
keiten derselben, deren Einrichtung jetzt in allgemeinen Zügen
zu besprechen ist, sei zunächst bemerkt, dass ein mittelgrosses
Sanatorium mit Raum zur gleichzeitigen Aufnahme von etwa 60
Gästen gedacht ist. Diese Beschränkung erscheint zweckmässig
einmal der für den Anfang leichteren Uebersichtlichkeit wegen,
besonders aber um die Höhe des erforderlichen Anlagekapitals
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nicht ungebührlich zu steigern. Weiter ist zwar keine luxuriöse
Anlage in’s Auge gefasst, aber doch eine solche, die allen wün-
schenswerthen Comfort, soweit er irgendwie billigerweise verlangt
werden kann, dem Kranken auch wirklich bietet, vor allem aber
keines hygienischen Vortheils unserer Zeit entbehrt. Sie würde
demnach einerseits Aehnlichkeit haben mit einem mustergültig,
wenn auch ohne Prunk eingerichteten Hotel oder Gasthaus, ander¬
seits mit einer modernen Klinik, namentlich mit einer chirurgischen
Klinik. Nichts steht im Wege, die Anstalt so einzurichten,
dass sie jederzeit vergrössert werden kann, was in
einfachster und zweckmässigster Weise wohl durch Erbauung von
Nebenhäusern, Dependecien, in der Nähe des Haupthauses
geschähe. Die gemeinsamen Gesellschaftsräume und der Speise¬
saal müssten dann in Rücksicht hierauf von vorn herein etwas
reichlich bemessen sein.
Die Anstalt sollte nur eine Verpflegungsklasse haben, sodass
alle Gäste ganz gleiche Rechte haben. Dabei ist nicht ausge¬
schlossen, dass halbe und ganze Freistellen bei etwas reichlich
vorhandenen Mitteln vielleicht schon von Anfang an geschaffen
werden. Wir streifen damit wieder die Frage der Volkssana¬
torien. Man könnte, wie es in Falkenstein geschieht, die Ver¬
zinsung des Anlagekapitals b egrenzen, und alle etwaigen
Ueberschüsse über diese Grenze theils zu Verbesserungen, theils
zu Erleichterungen für weniger Bemittelte bestimmen. Auch pri¬
vate Zuwendungen würden wohl leichter gegeben werden und
' nutzbringender zu verwenden sein, wenn an Bestehendes an¬
geknüpft werden kann.
Bezüglich der Verpflegung noch einige Worte. Dieselbe
muss in jeder Beziehung eine vorzügliche und reichliche sein. In¬
dessen ist eine allzu grosse Mannigfaltigkeit des täglichen Küchen¬
zettels keineswegs das Ideal, da sie vielfach auf Kosten der sorg¬
samen Zubereitung der einzelnen Gerichte geschieht. Eine geringere
Zahl wirklich gut bereiteter und solider Speisen ist nicht nur öko¬
nomischer, sondern auch zuträglicher und den meisten Menschen
angenehmer, weil eine grössere Abwechslung möglich ist. Im
Uebrigen wird man sich an die in den bestehenden Anstalten
erprobte Tagesordnung halten, Frühstück, Mittag- und Abend-
brod zu den in Deutschland üblichen Zeiten, dazwischen Milch
und Brod als zweites Frühstück und Vesper. Veränderte Ver¬
pflegung nach ärztlicher Verordnung darf nicht besonders be¬
rechnet werden.
Die Gebäulichkeiten der Anstalt wurden umfassen ein Haupt¬
haus und eine Anzahl von Nebengebäuden. Mit letztem
zu beginnen, so würden erforderlich sein: ein einfaches einstöckiges
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Haus für den Arzt der Anstalt (Cottage, Schweizerhaus), vielleicht
ein ähnliches für den Wirth, falls nicht im Haupthause Wohnung
für denselben zu beschaffen ist. Ein tüchtiger und gewissen¬
hafter Wirth ist ein Haupterforderniss für das Gedeihen eines
derartigen Unternehmens. Der Arzt müsste aber für ihn nächst
dem Verwaltungsrathe der Gesellschaft die höhere und entschei¬
dende Instanz vorstellen.
Fernere Nebengebäude sind ein Kuh stall zur Lieferung
einer gesunden und stets zu controlirenden Milch, zweckmässig
wohl mit Pferdestall und Remisen zu einem Gebäude vereinigt.
Diese, Kühe und Pferde, werden ihre Kosten voraussichtlich selbst
tragen. Der ebenfalls zu jedem Krankenhause gehörige Schweine¬
stall (zur Verwendung der Abfälle) pflegt sich sogar gut zu ren-
tiren. Eine weitere Anlage ist ein genügend grosses Wasch-
und Trockenhaus, das zugleich einen Dampfdesinfections-
apparat enthält. Es möchte hier der Vorschlag zu erwägen
sein, in diesem Waschhause nicht nur die Besorgung der Haus¬
wäsche, sondern auch derjenigen der Gäste des Hauses zu über¬
nehmen. Hierfür sprechen hygienische und ökonomische Gründe:
Die Reinigung der Wäsche könnte genauer überwacht werden,
und der gesammte Betrieb der Anlage würde mindestens ein
kostenfreier, vielleicht sogar ein rentabler werden.
Das Haupthaus, die eigentliche Anstalt, denke ich mir als
zweiflügliges Gebäude, das ausser dem Geschoss zu ebener Erde
drei Stockwerke enthält. In demselben würden etwa GO Gäste
mit Leichtigkeit untergebracht werden können, ohne dass es allzu
gross würde. Da natürlich ein Aufzug vorausgesetzt wird, so
können alle drei Stockwerke gleichmässig benutzt werden, sodass
auf jedes 20 Betten kämen. Es würde ausser einem geräumigen
Corridornur eine Zimmerflucht vorhanden sein, was in hygienischer
Hinsicht jedenfalls den Vorzug vor einem mittlern Corridor mit
Zimmern zu beiden Seiten verdient. Auch lässt sich auf diese
Weise die Lage der Zimmer nach den Himmelsrichtungen gleich-
mässiger vertheilen; es wird kein schroffer Unterschied zwischen
Nord- und Südzimmern vorhanden sein.
Im Parterre-Stock würden sich die Gesellschaftsräume, Unter¬
suchungszimmer, Bureau u. s. w., womöglich auch Post- und
Telegraphenamt befinden. Im Souterrain könnte neben mannig¬
fachen andern Einrichtungen auch die unerlässliche Douche unter¬
gebracht werden, falls es zu kostspielig würde, für dieselbe einen
eigenen Bau zu errichten. Die Badezimmer dagegen könnten vor¬
aussichtlich unschwer auf die einzelnen Stockwerke vertheilt wer¬
den; an Platz wird es nicht fehlen und die Annehmlichkeit wäre
eine sehr grosse.
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Bezüglich des Speisesaales und der Küche ist zu überlegen,
ob sie innerhalb des Hauptgebäudes, also un Parterrestock, oder
zwar in unmittelbarem Anschluss an dasselbe, aber doch ausser¬
halb desselben als gewissermassen besondere Gebäude errichtet
werden sollen. Letzteres wäre wohl das Bessere, der Raum¬
gewinnung wegen und aus manchen andern Gründen hygienischer
Vortheile und grösserer Annehmlichkeit. Leider ist hier auch der
grössere Kostenpunkt mit zu erwägen.
Infolge der Bauart des Haupthauses würde zwischen den
Flügeln von selbst eine Terrasse gebildet werden, auf welcher als
dem geschütztesten Raume ausserhalb und doch in unmittelbarer
Nähe des Hauses ein guter Theil des Kurlebens sich abspielen
würde. Die Terrasse würde in den Park hinausgehen; von ihr
aus sollte man, ähnlich wie in Falkenstein, einen recht schönen
Blick in die freie Landschaft haben. Die Gründe hierfür wurden
Schon weiter oben erwähnt und verdienen Berücksichtigung.
Künstliche Ventilationsanlagen kommen für die gemein¬
samen Räume in Betracht (Kosmossystem?). Für die Kranken¬
zimmer würden geeignete Fenster Vorrichtungen (Haken zum Fest¬
stellen der Fensterflügel, Klappscheiben) im Verein mit einer ener¬
gischen Hausordnung bezüglich der Reinigung und Lüftung der
Zimmer erfahrungsmässig vollständig genügen.
Etwas mehr Schwierigkeiten macht die Frage der Heizung.
Ein einfacher guter Kachelofen hat für die zweSkmässige Erwär¬
mung der Zimmer jedenfalls seine Vortheile. Gibt es aber eine
wirklich zuverlässige und nicht in Anlage und Betrieb zu kost¬
spielige Centralheizung, so wird diese allerdings wohl den Sieg
davontragen. Diese Angelegenheit bedarf der eingehenden Erwä¬
gung und Ueberlegung mit erfahrenen Technikern.
Bezüglich der Beleuchtung ist die Möglichkeit der Einführung
elektrischen Lichtes nicht ganz ausser Betracht zu lassen. Die
Vortheile sind so gross, dass selbst etwas höhere Kosten nicht
ohne Weiteres abschrecken sollten. Wenigstens eine theil weise
Durchführung dieser Beleuchtung, etwa für die gemeinsamen Räume,
erscheint wohl erreichbar. Zur Ersatzbeleuchtung für den Fall
zeitweiligen Versagens würden dann vielleicht Kerzen zu empfehlen
sein. Die Anlage einer eigenen kleinen Gasfabrik (Oelgas) hat
manches Missliche; nicht minder Petroleumbeleuchtung, die oben¬
drein feuergefährlich ist.
Auch in Betreff der Beseitigung d'er Abfallstoffe u. s. w.
ist mancherlei zu erwägen. Das in Falkenstein durchgeführte
System der Kanalisation nach Lindley mit chemischer Fällung und
Klärung der Abwässer, die ddrauf zum Berieseln dienen, während
der abgesetzte Schlamm zu Compost verarbeitet wird, hat sich
ganz gut bewährt und scheint gerade für kleinere Verhältnisse eine
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gute Lösung der Frage. Ueber andere und eventuell bessere
Systeme fehlt mir die eigene Erfahrung.
Die Gesammteinrichtung des Kurhauses soll und
braucht nicht das Prinzip des Grossartigen und Prunkvollen zu ver¬
folgen. Sie muss sich aber ebenso von dem Eindruck des Kahlen,
Nüchternen, Unfreundlichen fern halten, wenn auch ein hygie¬
nischer Grundgedanke das Ganze zu beherrschen hat. Das wird
vielfach zu Ersparnissen führen. Teppiche u. dgl. sollen beispiels¬
weise nach Möglichkeit vermieden werden. Das ist eine oft auf¬
gestellte, aber noch niemals durchgeführte hygienische Forderung.
In Falkenstein werden jetzt nach und nach auf meine Anregung
hin die Fussböden der Krankenzimmer mit gemustertem Linoleum
belegt. Dies Material sieht freundlich aus, ist jederzeit abwaschbar
und hält weit länger als ein Teppich, namentlich, wie ich höre,
wenn es gehöhnt (gewachst) wird. Die Dielen dürfen dann aus
weniger kostspieligem Holze bestehen. Die Wände der Kranken¬
zimmer sollten nicht tapezirt, sondern mit waschbarer Oelfarbe
gestrichen sein. Wenn in geeigneter Weise durch farbige Ein¬
fassungen u. s. w. für die Unterbrechung der eintönigen Flächen
gesorgt wird, kann das recht freundlich aussehen, braucht wenig¬
stens hinter einer durchschnittlichen Tapete auch im Aussehen
nicht zurückzustehen. Nach neuern Untersuchungen braucht man
übrigens auch die Tapeten nicht zu verbannen, da sie durch ein¬
faches Abreiben'mit frischem Brode leicht und vollständig gereinigt
werden können.
Es handelt sich hier um die rasche und gründliche
Beseitigung der Auswurfstoffe der Kranken, welche
allein das Krankheitsgifl enthalten. In dieser hochwichtigen An¬
gelegenheit muss eine streng durchgeführte Hausordnung dienoth-
wendige Ergänzung bilden. Zum Glück lässt sich diese in wenigen
Worte fassen: Es darf nur in Spucknäpfe gespuckt werden, in
denen der Auswurf nicht eintrocknet! Die Aufstellung genügend
zahlreicher und zweckmässig gebauter Spucknäpfe, die mit Wasser
oder desinficirender Flüssigkeit gefüllt sind, ist also ein nothwen-
diges Erforderniss. Auf Weiteres in dieser Hinsicht braucht hier
nicht eingegangen zu werden.
Die Ausstattung der Krankenzimmer muss, wenn sie
auch einfach sein darf, doch eine möglichst freundliche sein. Sehr
gute, geräumige Betten sind ein Haupterforderniss; auch ein be¬
quemer Liegsessel (chaisfc longue) darf nicht fehlen; das Uebrige
ergibt sich von selbst. Es müssen grössere und kleinere Zimmer
für die verschiedenen Bedürfnisse und Ansprüche vorgesehen sein.
Die durchschnittliche Grösse der Zimmer braucht aber nur mässig
zu sein, da für genügende Lüftung leicht zu sorgen ist, auch die
Zimmer wesentlich nur als Schlafzimmer benutzt werden. Bcson-
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deres Augenmerk müsste der Baumeister auf genügende Trennung
der einzelnen Zimmer richten, um gegenseitige Störung der Be¬
wohner nach Möglichkeit zu vermeiden. Auf die Beseitigung dieses
lästigen Uebelstandes ist bisher in Hotels wie in Kurhäusern viel
zu wenig geachtet worden. Ein Vorschlag, der mir in sehr
freundlicher Weise während der Abfassung dieser Arbeit über¬
mittelt wurde, scheint mir sehr beachtenswerth, weshalb ich mir
erlaube, ihn hier anzuführen. Neben jedem Zimmer baut man
einen etwa l J / 2 .Meter breiten Raum mit einem Fenster zum Lüften.
Dieser Raum hat eine Thür zu dem zugehörigen Zimmer, bildet
den Abschluss gegen das Nachbarzimmer und birgt ausserdem
Koffer, Kleider, Stiefel u. s. w. Dadurch würde gleichzeitig viel
Platz im eigentlichen Zimmer gewonnen. Auch das Lüften dieses
Zimmers würde sehr erleichtert. Die eine Wand des Nebenraumes
könnte eine sog. Patentwand aus Drahtnetz und Gips oder Cement
sein, würde also ganz dünn sein und wenig Platz wegnehmen. —
Wenn auch nicht alle Zimmer im Hause diese Einrichtung zu
haben brauchen, so würde sie doch bei einer Anzahl unschwer
anzubringen sein, und eine sehr grosse Annehmlichkeit in mehrfacher
Beziehung herstellen.
In jedem Stockwerke sollte ferner ein gemeinsames Zimmer
vorgesehen sein zur Benutzung für die Bewohner der Etage wäh¬
rend der Reinigung des eigenen Zimmers, oder wenn ein Kranker
die allgemeinen Räume im Parterrestock zeitweilig nicht benutzen
kann. Wiederholt ist mir von Kranken de;* Wunsch nach dieser
bei einer Neuanlage leicht zu beschaffenden Bequemlichkeit vorge¬
legt worden. Desgleichen sind genügende Räume für die Zimmer¬
mädchen, namentlich zum Anrichten des Essens für die auf dem
Zimmer Speisenden vorzusehen, damit die hier nothigen Vorberei¬
tungen ohne Belästigung für die Uebrigen erfolgen können. Der
Zweckmässigkeit der Einrichtung mindestens eines Baderaumes
auf jedem Stockwerk wurde bereits gedacht. Selbstverständlich
sind möglichst gut eingerichtete Glosets ebenfalls auf jedem Stock¬
werke anzubringen. — Ich bezweifele nicht und glaube zeigen zu
können, dass alle diese letztgenannten Räumlichkeiten sich ohne
Schwierigkeit in die angenommene Grundform des Kurhauses ein-
fügen lassen.
So viel man auch in einzelnen Eigenschaften der Luft die
eigentliche Wirkung klimatischer Kuren gesucht hat, in ihrer Wärme
oder Kälte, Dichte oder Verdünnung, Trockenheit oder Feuchtigkeit,
mehr und mehr dringt die auf Wissenschaft und Erfahrung be¬
gründete Erkenntniss durch, dass wir in dem Genuss der freien
frischen Luft als solcher das Hauptheilmittel zur Bekämpfung
der Schwindsucht besitzen. Es genügt aber nicht, einen Ort mit
gesunder, reiner Luft ausfindig zu machen, in welcher sich allen-
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— 263
falls die Kräftigem ergehen können. Das ist aber doch nur für
eine beschränkte Zeit des Jahres möglich, und sicher nicht aus¬
reichend. Alle, namentlich die Schwachem, würden den grössten
Theil ihrer Kurzeit in geschlossenen Räumen zubringen. Das
Hauptheilniittel muss möglichst reichlich zugänglich gemacht und
ausgenutzt werden. Es ist vielleicht das beste Verdienst von Fal¬
kenstein, gezeigt zu haben, wie dies zu jeder Jahres- und Tages¬
zeit auch für den Kränkern und Schwächern zu erreichen ist, wie
man eine rationelle Freiluftkur unter allen Umständen durch¬
führen kann. Das Mittel hierzu, die Kranken, soweit sie nicht
gehen können oder sollen, gegen Wind und Sonne geschützt in
gedeckten Hallen, Veranden, Pavillons an der Luft liegen
zu lassen, ist ebenso einfach als überzeugend. Gerade in der
Vervollkommnung und Ausgestaltung dieser glücklichen Idee könnte
bei der Neuanlage einer Anstalt ausserordentlich viel gethan werden.
In der durchdachten Einrichtung derartiger Vorkehrungen zur mög¬
lichsten Erleichterung des dauernden Aufenthaltes in der freien
Luft, in ihrer wohlüberlegten Verarbeitung in den Bauplan, würde
das neue Kurhaus sein Originelles, gewissermassen seinen Stil zu
suchen haben. Welche Annehmlichkeit und Bequemlichkeit könnte
auf diese Weise geschaffen werden! Soweit diese Vorkehrungen
nicht unmittelbar mit dem Haupthause Zusammenhängen können,
müssten sie ergänzt werden durch entsprechende Baulichkeiten im
umgebenden Parke. Zweckmässig angelegte Pavillons und Kioske
würden demselben ausserdem eine Zierde sein. Ein umsichtiger
Architekt brauchte nur einmal nach Falkenstein zu kommen, um
zu wissen, was gemeint ist. — Der Falkensteiner Liegsessel
würde das Hauptmöbel aller dieser Vorrichtungen sein.
Die wesentlichsten Punkte der Einrichtung einer auf die bisher
vorliegenden Erfahrungen gegründeten neuen Anstalt für Lungen¬
kranke, würden hiermit, soweit es in Kürze möglich ist, berührt
sein. Es erübrigt nun noch, eine kurze Rentabilitätsrechnung
anzustellen, die allerdings hier nur im Allgemeinen, aber doch,
wie ich glaube, ziemlich zutreffend gemacht werden kann. IchJ)in
der festen Ueberzeugung, dass bei sorgfältiger Ueberlegung der
Baupläne, bei nicht allzu hohen Preisen der Baumaterialien, die
Kosten einer Anstalt von der angenommenen Grösse */s Million
Mark nicht wesentlich zu übersteigen brauchten. Da aber in dieser
Hinsicht ein erfahrener Architekt zunächst anzuhören ist, will ich
den Weg einschlagen, die voraussichtlichen Betriebseinnahmen und
Betriebsunkosten gegenüberzustellen, um aus ihrer Vergleichung
die Summe zu erfahren, welche zur Verzinsung und Amortisation
des Anlagekapitals übrig bleibt. Die regelmässigen Einnahmen
würden sich ergeben aus der Pension, der Zimmermiethe, den Ge¬
tränken und der Kurtaxe. Man kann annehmen, dass die Ein-
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 19
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nähme aus der letztem (20 M. auf den Gast gerechnet) für die
Instandhaltung des Parkes und der Gesellschaftsräume (Lesezimmer,
Bibliothek u. s. w.) gut ausreichen werden. Die Rechnung wird
ferner dadurch wesentlich vereinfacht, dass erfahrungsmässig Ein¬
richtungen wie Kuhstall, Pferdestall, nach meinem Vorschläge auch
das Waschhaus, ihre Unkosten selbst aufbringen. Auch für die
Kosten der Heizung und Beleuchtung ist ein nicht unbeträchtlicher
Beitrag von den Kurgästen zu erwarten. Die noch bleibenden
Betriebsunkosten werden dadurch sehr übersichtlich: sie bestehen
in den Gehältern der Angestellten, in der Instandhaltung des Kur¬
hauses und in dem Unterhalte der Gäste und Angestellten. Die
geplante Anstalt sollte auf die Aufnahme von etwa 60 Gäslen
(Kranken und Begleitern) eingerichtet sein. Bei dem steigenden
Interesse der ärztlichen, und zwar der massgebenden ärztlichen
Kreise für die Anstaltsidee, bei der sehr grossen Anzahl Lungen¬
kranker, die für eine erfolgversprechende Kur gern auch Opfer
bringen würden — dieselben sind übrigens, wie wir sehen werden,
nicht einmal übermässig —, kann mit gutem Grunde angenommen
werden, dass diese Frequenz auch bald und dauernd erreicht wird.
Die Einrichtungen der Anstalt, tüchtige ärztliche und wirtschaft¬
liche Leitung und nicht zum Mindesten ihre sicher zu erwartenden
Heilerfolge würden die weitere Bürgschaft dafür sein.
Die durchschnittlichen täglichen Kurkosten für den Gast der
Anstalt, d. h. Pension, Zimmermiethe und Getränk, womit ja die
wesentlichen Ausgaben auch erschöpft sind, sollen einmal zu 9 M.
angenommen werden. Dabei ist gerechnet Pension 6 M. (ärztliche
Behandlung eingeschlossen), Zimmer 2 M., Getränk 1 M. Danach
würden sich zunächst die Kurkosten für eine durchschnittliche Kur¬
dauer von 100 Tagen (in Falkenstein sind es nur 80—90 Tage)
auf 900—1000 M. belaufen, was gewiss auch für mittlere Ver¬
mögensverhältnisse nicht unerschwinglich ist.
Eine durchschnittliche tägliche Frequenz von nur 50 Gästen
während für 60 Platz ist, ergibt für’sJahr die Zahl von 18,000 Ver¬
pflegungstagen. Diese, wie angenommen, zu je 9 M. gerechnet,
ergibt eine Jahreseinnahme von 162,000 M. Von dieser Summe
wären zunächst zu bestreiten die Verpflegungskosten für Gäste
und Angestellte und die Gehälter der letztem. Kuhstall und
Pferdestall, Waschhaus, Bäder und Dusche, auch ein Theil der
Heizung und Beleuchtung, würden ja, wie weiter oben ausgeführt,
ihre Kosten voraussichtlich selber aufbringen. Von der berechneten
Jahreseinnahme von 162,000 M. sollen nun 4 /b, also 130,000 M., für
die genannten Unkosten gerechnet werden, was mir sehr reichlich
angenommen scheint, so blieben immer noch 32.000 M. zur Ver¬
zinsung und Amortisation des Anlagekapitals, das demnach */* Mil¬
lion schon übersteigen dürfte. Es würde aber auch nichts im
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Wege sein, die durchschnittlichen täglichen Kurkosten auf 10 M.
zu normiren, wo bei einer Jahreseinnahme von 180,000 M. die
Berechnung sich noch günstiger stellen würde. Billigerweise würde
man ja auch, wie bei allen neuen Unternehmungen, in den ersten
Jahren mit einem massigen Zinssätze sich zufrieden geben. Eine
Limitirung der Verzinsung, würde ja vielleicht überhaupt, wie
oben ausgeführt wurde, aus humanitären Gründen, zweckmässig sein.
In andererWeise kommt man fast zu dem gleichen Ergebniss.
Nach den Erfahrungen in Falkenstein kann man annehmen, dass
die Einnahme aus der Zimmermiethe ziemlich genau der Rein-Ein-
nahme entspricht. Wendet man dies auf die neue Anstalt an und
rechnet als durchschnittliche Zimmermiethe für Zimmer und Tag
2—3 M. im ersten, 2 M. im zweiten, 1 M. im dritten Stockwerk,
was ziemlich genau der eventuellen Wirklichkeit entsprechen dürfte,
so kommt man bei 18,000 Verpflegungstagen auf die Summe von
36,000 M., welche jährlich für Verzinsung und Abtragung des An¬
lagekapitals verfügbar wäre.
Allem Anscheine nach läuft man also keine grosse Gefahr,
ein falscher Prophet zu sein, wenn man der neuen Anstalt sehr
günstige Aussichten stellt. Möchten die vorangegangenen Aus¬
führungen wirksam dazu beitragen, die angeregte schöne Idee recht
bald in schöne Wirklichkeit überzuführen!
Nachwort der Redaktion.
Die vorstehenden, von erfahrenster Stelle kommenden Aus¬
führungen betreffen einen Zweig der öffentlichen Kranken-Fürsorge,
dessen Bedeutsamkeit auch für die minder- und unbemittelten
Schichten der Bevölkerung Beachtung erheischt. Im gemeinnützigen
Interesse dürfte es daher sehr dankenswerth sein, wenn die vor¬
stehende Besprechung dazu anregen würde, über die Bedingungen,
Einrichtungsweise und Kosten eines Volks-Sanatoriums für Brust¬
kranke mit möglichst niedrigen Pensionssätzen eine Aufstellung von
erfahrener Hand zu gewähren.
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— 266 -
Vorschläge zur Herstellung künstlicher Muttermilch
aus Kuhmilch.
Von
Dr. Schmidt- Mülheim in Wiesbaden.
Die Thiermilch zeigt sowohl in ihrem äusseren Verhalten als
auch hinsichtlich ihrer natürlichen Bestimmung eine so grosse
Uebereinstimmung mit der Frauenmilch, dass der Mensch schon
frühzeitig veranlasst werden musste, die so leicht zu beschaffende
Kuhmilch zum Zwecke der künstlichen Ernährung zu benutzen.
Geschah eine derartige Verwendung zunächst nur als Nothbehelf,
so sah unsere Kulturepoche die Mutterbrust, diese wichtigste Quelle
der Kraft und Gesundheit für den jungen Erdenbürger, immer mehr
und mehr versiechen und die Kuh zur wichtigsten Amme für den
Menschen emporkommen. Die Statistik hat die tieftraurige That-
sache festgestellt, dass die Säuglingssterblichkeit unter dem Ein¬
flüsse dieses Wechsels einen wahrhaft erschreckenden Umfang an¬
genommen hat. Man würde ein schlechter Freund des Volkes sein,
wollte man die traurige Thatsache verschweigen, dass nach dieser
Richtung hin gerade Deutschland besonders ungünstige Verhältnisse
aufweist und dass in manchen Gegenden unseres Vaterlandes
40 — 50 Prozent aller Menschen bereits im ersten Lebensjahre
wieder zur Erde werden.
Die Wissenschaft hat ermittelt, dass die Mehrzahl dieser un¬
glücklichen Geschöpfe Verdauungsstörungen zum Opfer fällt. Die
näheren Ursachen dieser Störungen sind erst zum kleineren Theile
bekannt, im grossen Ganzen steht die Forschung hier noch einem
ungelösten Räthsel gegenüber. Unter diesen Umständen muss
jeder Beitrag willkommen sein, der auch nur einen Schimmer von
Licht in das geheimnisvolle Dunkel werfen könnte.
Da möchte ich nun in der bakteriologischen Entwickelungs¬
periode, in der sich unsere Kinderheilkunde gegenwärtig befindet,
die Aufmerksamkeit auf gewisse, rein chemisch-physiologische
Verhältnisse hinweisen, welche bei der Kinderpflege bisher auf¬
fallender Weise vernachlässigt worden sind.
Ganz offenbar wird ein Surrogat für die natürliche Nahrung,
selbst bei aller äusseren Aehnlichkeit und trotz des verwandten
Zweckes, zu welchem es von der Natur bestimmt wurde, nur dann
dem jugendlichen Organismus wirklich gedeihlich sein können,
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wenn es auch eine weitgehende stoffliche Uebereinstimmung mit
der wirklichen Muttermilch zeigt. Nährstoffe in der Muttermilch
sind nun:
1) die Eiweisskörper,
2) das Fett,
3) der Milchzucker,
4) die Salze,
5) das Wasser.
Jeder dieser Nährstoffe ist in einem ganz bestimmten Mischungs¬
verhältnisse in der Frauenmilch enthalten und bei der Feinheit,
mit welcher der jugendliche Organismus schon auf geringe Störungen
in der Ernährung reagirt, können wir Mangels eines derartigen
wissenschaftlichen Einblickes in die Beziehungen der einzelnen Nähr¬
substanzen, der den Zwecken der praktischen Hygiene vollkommen
gerecht würde, nur schliessen, dass die Nährstoffe in der Auswahl,
in welcher sie in der Muttermilch angetroffen werden, allein be¬
fähigt sind, den materiellen Bestand sowie die ganz eigenartige
Lebens- und Wachsthumsenergie des Säuglings genügend zu sichern.
Man dürfte deshalb zu der obersten Forderung berechtigt sein,
dass die künstliche Nahrung nach chemisch-physiologischer Rich¬
tung hin möglichst mit der Muttermilch übereinstiinmen muss.
Prüft man die Säuglingskost von diesem Standpunkte aus, so wird
man im höchsten Grade überrascht sein, wenn man sieht, in
welch einem geringen Grade diese Uebereinstimmung in der Praxis
wirklich besteht, eine Thatsache, welche nur verständlich wird,
wenn man erfahrt, welch irrige Vorstellungen von der Zusammen¬
setzung der normalen Frauenmilch man bisher besessen und wie
lückenhaft unsere Kenntnisse von diesem wichtigsten aller mensch¬
lichen Nahrungsmittel selbst in der Gegenwart noch sind.
Während man die Kuhmilch durch viele Tausende von zuver¬
lässigen Analysen nach chemischer Richtung hin vorzüglich studirt
hat, ist es bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft über¬
haupt nur mit einiger Reserve möglich, brauchbare Mittelwerthe
für die Zusammensetzung der Frauenmilch anzugeben. Um zu
zuverlässigeren Zahlemverthen zu gelangen, würde es durchaus er¬
forderlich sein, eine grosse Anzahl von Versuchsreihen auszuführen,
welche sich über die ganze Dauer der Lactation erstrecken und die
Milchproben für die Analysen regelmässig an bestimmten Tages¬
zeiten derartig zu gewinnen, dass sie als zuverlässige Durchschnitts¬
proben des Gesammtinhaltes der Brüste betrachtet werden können.
Die Durchführung solcher Versuchsreihen hat aber in der Praxis
mit den ausserordentlichsten Schwierigkeiten zu kämpfen.
Zu einer Beanstandung der reinen natürlichen Kuhmilch als
Säuglingsnahrung lag nun so lange kein Anlass vor, als man auf
Grund der Analysen älterer Beobachter annahm, dass die Frauen-
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- 268 —
milch nach chemisch-physiologischer Richtung hin nur geringe
Unterschiede von der weit, besser erforschten Kuhmilch aufweise
und dass sie wie diese etwa 3 o/ 0 Eiweiss, 3—4 °/o Fett und
4—5 °/o Milchzucker enthalte. Indessen sind diese Werthe für die
Frauenmilch wesentlich am Kolostrum und seinen Uebergangsforiuen,
welche Milcharten aus den Entbindunghäusern sehr leicht zu er¬
halten sind, gewonnen worden und es bezeichnet einen höchst be-
merkenswerthen Fortschritt, nunmehr erkannt zu haben, dass der
kolostrumfreien Frauenmilch nur ein durchschnittlicher Eiweiss¬
gehalt von etwa 1 °/o, ein Milchzuckergehalt von 6—8 °/o, ein
Aschengehalt aber nur von 0,25 °/o zukommt, während der Fett¬
gehalt grössere, etwa zwischen 1,5 und 5 °/o liegende Schwankungen
aufweist, die davon abhängig sind, ob die Milch zuerst oder zuletzt
der Drüse entnommen wurde.
Zwischen den beiden Milcharten besteht also der
fundamentale Unterschied, dass die Frauenmilch ein
eiweissarmes, salzarmes und milchzuckerreiches, die
Kuhmilch aber ein ei weissreiches, salzreiches und
milchzuckerarmes Nahrungsmittel darstellt. Besonders
in dem Verhältniss des Eiweiss zum Milchzucker bestehen die
grössten Verschiedenheiten, gestaltet sich dieses doch in der Frauen¬
milch wie 1 : 60, in der Kuhmilch aber nur wie 1 :1,5.
Bekanntlich hat man in der Ernährungsphysiologie das Mengen¬
verhältnis der stickstoffhaltigen zu den stickstofffreien Bestand¬
teilen einer Nahrung als das Nährstoffverhältniss bezeichnet.
Man hat ermittelt, dass unter den wechselnden Lebensbedingungen
der Bedarf des Körpers an den einzelnen Nährstoffen sich sehr
verschieden gestaltet. Von besonderem Einflüsse auf dieses Ver¬
halten sind die wechselnden Körperzustände. Ein Organismus, der
arbeiten und energisch functioniren soll, bedarf eines sehr engen
Nährstoffverhältnisses (etwa 1 : 3), während einem Körper, an den
besondere Anforderungen nicht gestellt werden, ein sehr weites
Nährstoffverhältniss (etwa 1:10) zusagt. Hinsichtlich ihres
Nährstoffverhältnisses zeigen nun die beiden Milch¬
arten die denkbar weitesten Verschiedenheiten, in der
Frauenmilch ist das Verhältniss ungewöhnlich weit
und beträgt etwa 1:10, in der Kuhmilch hingegen
ausserordentlich eng, stellt es sich doch wie 1:3.
Nicht ohne das Vorhandensein eines dringenden physiologischen
Bedürfnisses dürfte aber die Kuhmilch ein sehr enges, die Frauen¬
milch ein sehr weites Nährstoffverhältniss haben: das Kalb erfahrt
schon bald nach der Geburt eine sehr bedeutende Körperzunahme
und bedarf grosser Mengen Eiweiss zur Speisung seines Muskel¬
systems, an welches schon in den ersten Tagen des Lebens sehr
grosse Anforderungen gestellt werden; der Säugling hingegen ent-
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wickelt sich nur sehr allmählich, sein Muskelsystem bleibt lange
Zeit hindurch unthätig und zu geregelter Bewegung unfähig und
bedarf daher keiner reichlichen Speisung mit Eiweiss. Gleich
minimal aber wie in den Muskeln sind auch die Leistungen und
demgemäss der Stoffumsatz in den übrigen Organen des Säuglings.
Ohne sich von den sehr beträchtlichen Verschiedenheiten im
Nährsloffverhältniss zwischen Kuh- und Frauenmilch bisher eine
exakte Vorstellung gemacht zu haben, hat man zwar anerkannt,
dass die Kuhmilch ein an Kohlehydraten zu armes Nahrungsmittel
für den Säugling sei. Aber die Mittel, welche man zur Verbesse¬
rung der Kuhmilch bisher empfohlen hat, haben mehr eine Herab¬
setzung des Eiweissgehaltes als eine angemessene Vermehrung der
stickstofffreien Nährstoffe im Auge gehabt. Namentlich von
Biedert ist betont worden, dass der Säuglingsmagen nur eine
etwa einprocentige Eiweisslösung zu verdauen vermöge und dass
deshalb die Kuhmilch den Säuglingen in entsprechend verdünnter
Form gereicht werden müsse. Man hat demgemäss die Kuhmilch
mit der gleichen oder selbst mit der doppelten und dreifachen
Menge Wasser verdünnt, hat aber zur Erhöhung des Gehaltes an
stickstofffreien Nährstoffen sich damit begnügt, einer Saugflasche
voll Milch eine Messerspitze Milchzucker zuzufügen oder gar dieses
für die Milch specifische und deshalb für den Säugling wohl auch
unentbehrliche Kohlehydrat durch Rohrzucker, Rübenzucker, Dextrin
und dergl. oder sogar durch Arrow-root und andere Stärkemehl¬
arten, welche für den Säugling fast vollständig unverdaulich sind,
zu ersetzen. Biedert selbst hat einen Zusatz von Rahm vor¬
geschlagen, was nach unseren heutigen Begriffen schon deshalb
gegen alle Grundsätze der Hygiene verstossen muss, weil der ge¬
wöhnliche Rahm das Musterbild eines mit allen möglichen Mikro¬
organismen gelasteten Nahrungsmittels darstellt. Um den Eiweiss¬
gehalt herabzusetzen und dabei gleichzeitig der Kuhmilch ihre
unerwünschte Eigenschaft zu rauben, im Säuglingsmagen in Form
von festen zusammenhängenden Klumpen zu gerinnen (die Frauen¬
milch gerinnt feinkörnig und ist in diesem Zustande leicht verdau¬
lich, weil die zahllosen kleinen Gerinnsel der Einwirkung der Ver¬
dauungssäfte eine ungemein grosse Oberfläche darbieten), sind
auch Zusätze von Gerstenschleim, Haferschleim etc. empfohlen
worden.
Die Menge der genannten Zusätze hat sich indessen meistens
innerhalb so enger Grenzen bewegt, dass der Nährstoffgehalt der
verschnittenen Kuhmilch nur etwa 4—6 °/o betrug. Da nun aber
die Frauenmilch wie die Kuhmilch für gewöhnlich 11 —12 °/o fester
Bestandtheile enthält und deshalb eine Kost mit diesem bedeutenden
Nährstoffgehalte wohl auch allein den natürlichen Bedürfnissen des
Säuglings wird entsprechen können, so hat man durch das be-
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270 —
schriebene Verfahren einen gewaltigen Ueberschuss an Wasser in
den zarten Organismus des Säuglings gebracht und so, ganz ab¬
gesehen von anderen Nachtheilen, die Säuglingskost über Gebühr
voluminös gemacht.
Letzterer Umstand wird aber keineswegs bedeutungslos für
den zarten Organismus des Säuglings sein. Sehr zutreffend weist
Escherich darauf hin, dass das Kind bei der Aufnahme einer
solchen gehaltarmen Nahrung, wenn es nicht Hunger leiden will,
weit grössere Flüssigkeitsmengen bewältigen muss als der an der
Brust trinkende Säugling und dass hierdurch nicht allein die Ver¬
dauungsorgane, sondern auch die sekretorischen Apparate über¬
mässig belastet werden. Die hierdurch bewirkte grössere Aus¬
dehnung des kleinen und muskelschwachen Magens könne sehr
wohl zu Funktionsstörungen Anlass geben, zumal es ein durch
Biedert widerlegter Irrthum sei, dass die Nahrungsaufnahme
durch das Bedürfniss des Kindes selbst in genügend sicherer Weise
geregelt werde. Die meisten künstlich genährten Kinder seien
Polyphagen und das falle um so schwerer in die Wagschale, als
cs experimentell erwiesen sei, dass die starke Verdünnung der
Milch die enzymatische Wirkung der Verdauungssäfte beeinträch¬
tige. Auch wirke das durch die grössere Flüssigkeitsmenge be¬
dingte häufigere Uriniren störend und gebe zu Ekzemen etc. Ver¬
anlassung.
Es wird deshalb nimmermehr zweckmässig sein können, die
für ganz junge Säuglinge bestimmte Kuhmilch nach den Vor¬
schlägen Biedert’s mit 3—4 Theilen Wasser zu verdünnen, im
Alter von etwa vier Wochen noch 2 Theile Wasser zu nehmen
und nach drei Monaten allmählich zu stärkeren Concentrationen
überzugehen.
Verdünnt man nämlich eine Kuhriiilch von dei^ Zusammen¬
setzung 3 °/o Eiweiss, 3,6 °/o Fett, 4,8 % Milchzucker und 0,7 °o
Asche mit 2 Volumen Wasser, so resultirt daraus ein Gemenge
von der Zusammensetzung 1 °/o Eiweiss, 1,2 °/o Fett, 1,6 °/o Milch¬
zucker und 0,2 % Asche, d. h. eine Kost, welche statt eines
Trockengehaltes von 11—12 °/o nur einen solchen von 4 °/o und
statt eines Nährstoffverhältnisses von 1 : 10 nach wie vor ein
solches von 1 : 3 aufweist. Und diese Zahlenwerthe erfahren keine
namhafte Veränderung, wenn man, wie es thatsächlich geschieht,
einem Glas Milch eine Messerspitze voll Milchzucker oder etwas
Gersten- und Haferschleim oder dergleichen zufügt.
Soll die Kuhmilch der Frauenmilch nach physio¬
logisch-chemischer Richtung hin möglichst gleich-
werthig gemacht werden, und solches zu fordern muss
doch wohl der oberste Grundsatz der Ernährungs¬
hygiene sein, so darf man sich keineswegs mit einer
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blossen Gleichstellung im Eiweissgehalte begnügen,
sondern die Nahrung muss auch einen ähnlichen Ge¬
halt an Milchzucker, diesem der Milch ganz eigen¬
artigen und deshalb für den Säugling auch wohl un¬
entbehrlichen Kohlehydrate, an Fett, an Salzen sowie
an Wasser besitzen. Der Nährstoffgehalt des Surrogates
muss wie der der Frauenmilch etwa 11—12 °/o betragen und das
Nährstoffverhältniss muss der eigenthümlichen und nur wenig ent¬
wickelten Lebensenergie des Säuglings angepasst sein und etwa
den Werth 1 : 10 aufweisen.
Eine Nahrung von diesen Eigenschaften erhält
man nun sehr einfach, wenn man die Kuhmilch statt
mit Wasser mit einer 11—12% Milchzuckerlösung ver¬
setzt. Mischt man z. B. 1 Volumen Kuhmilch von der oben
angegebenen Zusammensetzung mit 2 Volumen einer 11 % Milch¬
zuckerlösung, so erhält man eine Flüssigkeit, welche enthält 1 %
Eiweiss, 1,2 % Fett, 8,9 % Milchzucker und 0,2 % Asche, d. h.
also ein Produkt, welches sowohl im Trockengehalte, als auch im
NährstoEfverhältniss sowie in dem Gehalt an den einzelnen Nähr¬
stoffen der Frauenmilch ausserordentlich nahe steht und welches
dabei, wie letztere, statt in Klumpen in feinkörnigen Massen gerinnt.
Indem ich mir gestatte, die Aufmerksamkeit der Kinderärzte
auf vorstehendes Verhalten der Kuhmilch hinzulenken, glaube ich,
dass es zur Ermöglichung einer rationellen Ernährung der Säug¬
linge mit dem empfohlenen Gemische zweckdienlich sein würde,
die Sorge für die Herstellung der Milchzuckerlösung nicht den
Müttern oder Kinderfrauen zu überlassen, die Lösung vielmehr
fabrikmässig hersteilen zu lassen. Der gewöhnliche Milchzucker
des Handels ist sehr unrein und für Zwecke der Kinderernährung
ungeeignet. Allen Anforderungen dürfte nur eine Lösung aus
wiederholt unkrystallisirtem Milchzucker genügen und dieser Lösung
kann man dann durch geeignetes Sterilisiren in wohlverschlossenen
Flaschen eine unbegrenzte Haltbarkeit verschaffen, ein Verhalten,
welches die Herstellung künstlicher Muttermilch aus Kuhmilch zu
einer ausserordentlich einfachen Prozedur gestaltet.
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Ein Streifzug
durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen.
Von
C. K. Aird.
(Warschau.)
(Schluss.)
In einem der vornehmsten Stadttheile Berlins befindet sich
oder befand sich jedenfalls zur Zeit der Handlung ein grösseres
und wie verlautete unter höchster Protection stehendes Pensionat
für englische Damen, und zwar in der zweiten und dritten Etage
eines sehr grossen Neubaues. Die Damen fühlten sich aber kaum
in ihren Räumlichkeiten zu Hause, als einige schon erklärten, sie
könnten Nachts vor dem entsetzlichen Geruch nicht schlafen, der
regelmässig in die Zimmer dringe, und sie verlangten energisch
eine gründliche Untersuchung. Es wurde auch eifrig nachgeforscht,
da aber der Wirth sich einer durchgreifenden Revision verbunden
mit Aufreissen von Fussböden und Wänden widersetzte, so blieben
alle Bemühungen ohne Erfolg. Die Damen indessen liessen sich
keineswegs beruhigen und nach längerer Zeit, als sie entschieden
erklärten, dass sie Nachts von heftigem Unwohlsein befallen würden
und dass sie kurz und bündig das Pensionat verlassen müssten,
sofern nicht gleich geholfen würde, und als dann schliesslich auch
Andeutungen über die Nothwendigkeit einer Anzeige bei der Polizei
gemacht wurden (denn natürlich war ein Miethcontrakt auf längere
Zeit bereits geschlossen), da endlich bequemte sich der Wirth zu
einer wirklich umfassenden Revision. Viel Geld oder Arbeit hat
das nicht gekostet. Es war sofort die Vermuihung ausgesprochen
worden, dass die fatalen Gerüche aus einem naheliegenden Closet¬
rohr kommen müssten, und als nun an einer Stelle, wo an das
nämliche Fallrohr eine Waschtoilette angeschlossen war, derFuss-
boden aufgerissen wurde, ergab sich zur allgemeinen Verblüffung
folgendes Resultat:
Das Fallrohr war selbstverständlich in Gusseisen durch alle
Etagen bis über Dach geführt. An der verhängnisvollen Stelle
aber war unter dem Fussböden mitten in den gusseisernen Fall¬
strang ein ca. 0,5 m langes Stück Bleiabflussrohr von 10 cm 1. W.
eingeschaltet. Warum? — Nun, einfach weil der betreffende Rohr¬
leger bei Ausführung der ganzen Hauskanalisations-Anlage den er¬
forderlichen gusseisernen Abzweig zum Anschluss jener Wasch¬
toilette nicht zur Stelle hatte. Er bediente sich also eines Blei-
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273 —
abflussrohrs — an sich an solcher Stelle eine unerhörte Pfuscherei.
Was aber das Schlimmste dabei war, ist jedenfalls, dass dieses
Bleiabflussrohr nicht etwa neu und mit Flanschen wirklich dicht
verbunden war, nein, der Rohrleger hatte von irgend einer Ab¬
bruchstelle ein ganz altes Bleirohr zufällig bei der Hand gehabt,
ein Bleistuck, welches sogar an anderer Stelle schon als doppelter
oder gar dreifacher Abzweig hatte dienen müssen. Von diesen
einzelnen an dem Bleistück schon oder noch vorhandenen Ab¬
zweigen war einer offenbar für ein Gloset bestimmt gewesen, er
hatte 10 cm 1. W.; ein zweiter war 40 oder 50 mm weit und von
diesen Abzweigen hatte schliesslich weder der eine noch der an¬
dere für den Anschluss jener Waschtoilette gut gepasst. Darauf
verfuhr nun unser Rohrleger in der folgenden unerhörten Weise:
Der alte 10 cm weite Abzweig blieb vollständig offen, nur die
seitlich abstehenden Ränder oder Wandungen des Stutzens wurden
nach innen umgebogen. In den kleineren alten Abzweig drückte
er eine Hand voll von ganz gewöhnlichem Kalkmörtel und
quetschte dann das bleierne Abzweigstück noch seitlich zu. Der
neue Anschluss der Toilette wurde endlich in der Weise ausge¬
führt, dass in das alte Bleirohr ein rundes Loch geschnitten und
das von der Toilette kommende dünnere Bleirohr hindurchgeschoben
wurde. , Zum Schluss hatte er, die eine Seite wenigstens, noch
grob mit gewöhnlichem Kitt verschmiert. Von irgend einer fach-
gemässen Dichtung oder Löthung war gar keine Rede; neben dem
neu eingeführten Toilettenrohr hätte man vielleicht noch einen
kleinen Finger in das Innere des alten Fallrohrs hineinstecken
können; und aus dieser Sammlung von klaffenden Oeffnungen also
der unerträgliche Gestank.
Was bei dieser Gelegenheit zu Tage gefördert wurde, musste
mir als das non plus ultra aller Pfuschereien erscheinen, und ich
war fest entschlossen, diese Gelegenheit nicht unausgenutzt ver¬
streichen zu lassen. Wenn je, so musste sich diesmal feststellen
lassen, welchen Schaden derartige Einströmungen von Kanalgas
der menschlichen Gesundheit anthun können; aber freilich — das
war schon Sache eines Mediciners. Nun, ich war ja selbst¬
verständlich sehr gewillt, die Angelegenheit ganz in die Hände
eines solchen überzuführen. Ich sagte mir auch, dass die Theil-
nahme von Fachleuten in wesentlich höherem Maasse erregt werden
und also der guten Sache ein grösserer Dienst geleistet würde,
wenn es mir gelänge, einen recht hochstehenden Specialisten für
meinen Fall zu interessiren. Kurz entschlossen setzte ich mich
also in den Besitz des verhängnisvollen Bleirohrs und verfasste
schnell einen brieflichen Erläuterungsbericht, dem ich eine flüchtige
Federskizze der Situation des Fundortes beigesellte. Das betreffende
Haus wollte ich, sobald es gefordert würde, namhaft machen. Das
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— 274 —
alte Bleirohr selbst blieb vollständig unangerührt und ungereinigt,
nur einige Buchstaben, die dem Bericht entsprechen mussten,
wurden mit Oelfarbe an die verschiedenen Oeffnungen gemalt und
dann ging dies Alles sofort mit dem ersten besten Dienstmann an
eine hervorragende Autorität. — Ein Wort, ein einziges Wort von
dieser Stelle, es musste nicht nur zur Klarstellung der Bedeutung des
vorliegenden Falles, sondern namentlich auch für die Verhinderung
einer Wiederholung Wunder wirken, aber — die Autorität hatte
keine Zeit.
Sie hatte wirklich keine Zeit. Ich erfuhr das jetzt und ich hatte
es mir von vornherein schon hin und wieder selbst gesagt. Ich war und
bin noch heute davon überzeugt, dass in der dahingehenden Er¬
klärung keineswegs eine höfliche Ablehnung zu erblicken sei. In
dem kurzen, aber wirklich liebenswürdigen Antwortschreiben docu-
mentirte sich vielmehr ein lebhaftes Interesse für den Gegenstand,
und ich wurde schliesslich aufgefordert, mit einem der Herren
Assistenten zu einer Unterredung zusammenzukommen und zwar
mit einem Herren, der sich, wie mir geschrieben wurde, speciell
mit dem Studium der Haushygiene befasst hatte. Mein ursprüng¬
licher Zweck war immerhin verfehlt; nichts destoweniger glaubte
ich an der Hand meines doch ziemlich schwerwiegenden Beweis¬
materials nur eines geringen Rednertalentes zu bedürfen, um den
Herrn Assistenten zu einer näheren Untersuchung des besonderen
Falles zu bewegen. Ich hoffte thatsächlich, er werde sich an Ort
und Stelle begeben und mindestens von den betheiligten Miethern
und event. von dem Hausarzt des Pensionats Erkundigungen ein¬
ziehen, die vielleicht zu bestimmten Resultaten führen könnten.
Unser Rendezvous kam denn auch zu Stande. Ich wurde
recht liebenswürdig aufgenommen und das, trotzdem ich in einer
unbequemen Stunde eintraf. Ich wiederholte, wenn ich nicht irre,
flüchtig die Einzelheiten des Falles, berief mich auf meinen Brief,
meine Skizze und die Beschaffenheit des alten Bleirohrs, und fragte
endlich, ob dies denn nicht eine günstige Gelegenheit wäre, näher
nachzuweisen, was von dem vielbeschriebenen schädlichen Ein¬
fluss der Kanalgase auf die menschliche Gesundheit Wahrheit oder
Dichtung sei.
Von dem Wortlaut der Erwiderung ist mir herzlich wenig im
Gedächtniss; nur so viel weiss ich, dass der Gedanke an eine
etwaige Schädlichkeit der Kanalgase mit eisiger Ruhe abge¬
schüttelt wurde. Es kam so selbstbewusst, wie eben ein Medi-
ciner in solchen Fragen einem Laien gegenübertreten kann, zum
Ausdruck, dass die Kanalgasfrage für diesen Herrn schon längst
erledigt sei; dagegen sei es von grosser Wichtigkeit für ihn, eine
Probe aus dem umliegenden Fehlboden behufs einer näheren
Untersuchung zu erhalten, denn, so erzählte er mir, es sei ja
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275
sehr möglich, dass von dem Inhalt des Rohrs etwas in die
Zwischendecke hinausgespritzt sei, dass sich dort dann Krankheits¬
keime niedergelassen und entwickelt haben könnten, und deshalb
also wünschte er, eine genauere Prüfung dieser Fussbodenfüllung
vorzunehmen.
Ich war derart überrascht und enttäuscht von dieser Behand¬
lung des Falles, dass ich gewissermassen aus den Wolken fiel.
Für mich lag allerdings die Frage viel zu klar und offen da, als
dass ich meine Ueberzeugung hätte opfern können, ohne auch
nur eine Spur von Gründen oder Beweisen von Seiten meines
Gegenübers erhalten zu haben. Und andererseits hatte ich von
vornherein empfunden, dass dieser Herr keine Lust bezeigte, die
etwaige Richtigkeit einer anderen Auffassung als der seinigen in
Erwägung zu ziehen. Unter solchen Umständen verzichtete ich
natürlich auf jede weitere Bemerkung, oder ich sagte doch nur,
als ich schon auf die Thüre zuging, dass die Beschaffung einer
Probe des Fehlbodens sich jetzt nicht mehr ermöglichen lasse, da
die aufgerissenen Dielen inzwischen schon geschlossen seien; und
gewiss, ich hätte anderenfalls mit vielem Vergnügen seinen Wunsch
erfüllt. Von seiner Seite kam dann die hocherfreuliche Mittheilung,
dass das bemerkenswerthe alte Bleirohr ab gemalt werden würde,
denn es sei „so interessant“ gewesen und was man sonst noch
so zu sagen pflegt. — Mit diesem Rendezvous war nun der Fall
für mich erledigt, denn ich glaubte mich öffentlich hierüber nicht
mehr äussem zu sollen, nachdem die Angelegenheit doch einmal
Anderen übergeben war. Aber das Wenige, was ich damals hätte
sagen können, soll heute doch noch kurz zum Ausdruck kommen;
der Fall ist ja sicherlich in mehr als einer Hinsicht lehrreich.
Was zunächst die Ansicht des Herrn Assistenten anbelangt,
dass möglicherweise aus dem Inneren des Rohres ein Theil der
Dejectionen in den umliegenden Fehlboden verspritzt sein könnte,
so ist nach meiner Auffassung die Wahrscheinlichkeit hierfür gleich
Null. Denn erstens liegt mitten in einem freien Fallrohr, gleichviel
natürlich ob es alt oder neu, ob es Blei oder Eisen ist, für die
herabfallenden Flüssigkeiten oder Stoffe gar keine Veranlassung
vor, nach den Seiten abzuspritzen. Aber selbst wenn dieses, und
unglücklicherweise auch noch grade an d e r Stelle geschehen wäre,
wo jene Löcher sich befanden, so wäre ein Heraus spritzen in
den Fehlboden immer noch sehr unwahrscheinlich, und zwar ganz
einfach, weil nur höchst selten etwas um die Ecke spritzt. Die
Abzweige waren aber schräg gerichtet, bei dem grösseren waren
ausserdem die Ränder umgebogen und in dem anderen hing der
erwähnte, hineingedrückte Mörtelklumpen. Und dort, wo die
Toilette nun thatsächlich mündete, wäre selbst das Abwasser von
dieser schwerlich in die Zwischendecke gelangt, denn das zu-
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— 276
führende Bleirohr reichte noch vollständig durch die Wandung des
Fallrohrs hindurch. Gesetzt aber der Fall, es sei hier jemals
irgendwie eine Stauung und damit verbunden ein Heraustritt des
Toiletten-Wassers in die Zwischendecke erfolgt, so wäre man hier¬
auf durch eine Befeuchtung der unteren Zimmerdecke entschieden
hingewiesen worden und zwar weit früher, als ein solcher Gestank
von solchem Wasser sich entwickeln könnte. Das Alles aber war
ja nicht der Fall.
Was andrerseits das Eindringen von Kanalgasen anbelangt,
so soll nur erwähnt werden, dass dieses Closetrohr im Souterrain
ganz nahe an einer Tag und Nacht sehr hoch erwärmten Restau¬
rationsküche hinstrich, und es liegt also Grund genug zu der An¬
nahme vor, dass grade durch dieses Rohr von dem Strassenkanal
noch grössere Gasmengen, als es sonst der Fall ist, heraufgezogen
wurden. Wenn dann in dem Fallrohr an einer einzigen Stelle
schon eine Oeffnung von etwa dreiviertel Quadratdecimeter lichter
Weite sich befindet, so ist es doch gewiss nicht mehr schwer zu
glauben, dass Kanalgase auf diesem Wege in grosser* Mengen in
die betroffenen Zimmer eingedrungen sind und dies vielleicht in
besonders hohem Grade dann, wenn die Zimmerluft — wie z. B.
Nachts — eine etwas niedrigere Temperatur annahm. Wozu nun
also in die Ferne schweifen! Die Mitwirkung der Kanalgase hatte
sich empfindlich bemerkbar gemacht. Von einer schweren Erkran¬
kung dagegen, die zur Bacillensuche hätte veranlassen können,
war absolut noch keine Rede. Wäre dies aber dennoch der Fall
gewesen, so hätte man ja die Suche in der schleimigen Haut an
der Innenwand des alten Bleirohrs beginnen können. — Es ist
mir in der That ein angenehmes und befriedigendes Bewusstsein,
dass ich in neuerer Zeit auch ältere Mediciner über dieses Kapitel
sich äussern hörte, und dass mir auch von sehr erfahrenen deut¬
schen Aerzten Schriften begegnet sind, in welchen die Kanalgas¬
frage noch keineswegs, 'wie hier, zu Gunsten der modernen Micro-
organismenjagd vernachlässigt oder ganz geopfert wurde.
Die Installationsfirma, welche diese Anlage ausgeführt hatte,
war schon zur Zeit der Geschichte, also kurz nach Beendigung
der neuen Anlage, eingegangen. Sie war so plötzlich verschwunden,
wie sie aufgetaucht war, sie war eins von den bekannten unheil¬
vollen Gestirnen mit völlig unberechenbarer Bahn. Ein Techniker
hatte der Firma niemals angehört, und der einzige Chef, ein
Kaufmann, ward schliesslich selbst verrathen und verkauft.
Das grosse, scheinbar werthvolle Haus ist von ausserordentlich
gewiegten Häuserspeculanten erbaut; so viel Schlechtes, wie an
diesem einen Bau sich zeigte, ist selten dicht vereint zu finden,
und dass die sehr geschäftskundigen Bauherrn schliesslich doch
noch von den Bauarbeitern, speciell wohl von den Rohrlegern, auf
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— 277
das gröbste übervortheilt wurden, ist nicht erstaunlich. Die Rohr¬
legungsarbeiten waren ganz ohne jedes Sachverständnis ausge¬
führt. Eine Thonrohr-Abfliissleitung z. B. war mit einem todten
aber vollständig offenen Ende mitten im Erdreich verlegt, so dass
die Schmutzwässer in fast beliebigen Mengen in den Untergrund
versickern konnten; kurz, es zeigten sich Nachlässigkeiten, wie
sie in gedruckten Schilderungen selten oder nie zur Sprache
kommen. ,
Dies Alles sage ich, um daran die Erklärung zu knüpfen,
dass dieses Haus von zahlreichen Miethern bezogen wurde, bevor
die Entwässerungsanlage überhaupt polizeilicherseits besichtigt oder
genehmigt war — die Vollzugsdaten der Miethskontrakte und des
polizeilichen Abnahme-Protokolls werden sich heute noch vergleichen
lassen — und ferner betone ich mit allem Nachdruck, dass diese
Entwässerungsanlage wieder späterhin factisch abgenommen — sage
in Berlin baupolizeilich abgenommen!! — wurde, ohne dass so
unerhörte Fehler, wie der oben besprochene, aufgefunden worden
wären, und ich gestatte mir nun endlich die bescheidene Frage:
„Kann man von irgend einem vernünftig denkenden Menschen,
dem die Interessen der öffentlichen Gesundheitspflege am Herzen
liegen, fordern, dass er sich mit einer solchen possenhaften Ab¬
nahme zufrieden erklärt, oder dass er überhaupt zu solchen Un¬
geheuerlichkeiten schweige?“ — Ich selbst weiss nur zu genau,
wie es bei jener Abnahme zuging, denn ich war an jenem Tage
und in derselben Stunde persönlich in demselben Hause. Die ein¬
zelnen Wohnungen wurden besichtigt, und es wurde auch dem
Besitzer aufgegeben, eine Reihe von Dingen richtigstellen zu lassen,
deren Unrichtigkeit eben allzu offen in die Augen sprang; es
wurde z. B. die Anbringung von Rückstauhähnen vor den Wasser¬
verschlüssen im tiefen Souterrain verfügt. Als ich aber, um nur
ein Beispiel anzuführen, an diesem Tage allein in einer Wohnung
des Gebäudes sass, wurde plötzlich geklingelt und ein jüngerer
Beamter wünschte die Einzelheiten der Anlage zur Abnahme zu
besichtigen. Ich zeigte ihm den Küchenausguss, und er sah ihn
an, wie Jemand, der circa 25,000 andere Ausgüsse derselben Art
besichtigt hat. „Und das Closet“, fragte er, „wo ist das Closet?“
— „Hier, aber es ist geschlossen. Erlauben Sie, dass ich den
Schlüssel hole?“ — „Ach nein, bitte bemühen Sie sich nicht, —
ist das Closet in Ordnung?“ — „Allerdings, es ist“ — „Ich danke
Ihnen — entschuldigen Sie — adieu!“ — So geht es bei einer
baupolizeilichen Abnahme in Berlin. Es soll gewiss nicht bestritten
werden, dass der Beruf dieser Beamten, sofern sie überhaupt dar¬
auf bedacht sind, ihre Pflicht zu erfüllen, ein ausserordentlich
schwerer ist. Das Publikum verlangt von ihnen Höflichkeit und
alle mögliche, oder vielmehr ganz unmögliche Rücksichtnahme;
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278 —
erfüllen sie aber etwa diese Wünsche, so bleibt der Hygieniker
unbefriedigt. Nun, Niemand kann zweien Herren dienen; aber ein
Beamter der Gesundheitspolizei, der Kanalisationsanlagen abnimmt,
steht dabei allein im Dienste der Hygiene, und hiermit ist der
Weg, den er zu gehen hat, gezeichnet. Mögen die Beamten höf¬
lich auftreten, so lange sich das mit ihrer Pflicht vereinigen lässt.
Wenn aber überhaupt eine solche Abnahme ihren Zweck erfüllen
soll, so muss sie zunächst durchgreifen, und es muss AJl es revi-
dirt werden, selbst auf die Gefahr hin, den Besitzern oder Miethern
unbequem zu werden. Es liegt übrigens ganz und gar nicht in
meiner Absicht, die Berliner Beamten etwa der Pflichtvergessenheit
zu beschuldigen. Zu verurtheilen ist weniger ein Beamter, welcher
durch eine so geistestödtende Arbeit schliesslich abgespannt und
gleichgültig wird, sondern zu verurtheilen, und zwar scharf zu
verurtheilen, ist das ganze dort in Betrieb befindliche Revisions¬
system. Damit, dass ein junger Beamter durch die Häuser stürmt,
dass er allenfalls die Closets zählt, nachschaut, ob die Ventilation
den Buchstaben des Gesetzes genügt, und ob an allen tiefen Punkten
auch nicht der vorgeschriebene Schutz gegen Rückstau fehlt, da¬
mit ist uns bestimmt noch lange nicht gedient. Was weiter fehlt,
das habe ich wohl heute schon gezeigt, und ich komme bald noch
einmal und dann ausführlicher auf diesen Gegenstand zurück.
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rach Weisung über Krankenaufnahme und Bestand in den Krankenhäusern ans 53
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat April 1889.
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städtisches Krankenhaus
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städtisches Krankenhaus
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Huvssen-Stift u. Kruppsches
Krankenhaus
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Louisenhospital
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Marienhospital
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St. Antoniushospital
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St. Nikolaushospital
32
31
Marien hospital
103
106
Bethlehemshospital
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SO
Bürgerhsp. u.Hülfskrankenh.
678
710
Fr.-Wilh.'-Stift (ev. Hospital)
71
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städt. u. Dreikonigenhospital
152
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städtisches Krankenhaus
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städt. Hosp. u. Stadtlazareth
89
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städtisches Krankenhaus
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Malstatt-Bürbach
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St. Johann
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Saarbrücken
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yachwelsunff über Krankenaufnahme und Bestand In den Krankenhäusern aus 54
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat Mai 1880.
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* Krfttze and Ungeziefer.
Sterbllchkeitfii - Statistik von 54 Städten der Prorinzen Westfalen,
Rheinland and Hessen-Nassau pro Monat Mai 1889.
Bielefeld
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Paderborn
Dortmund
Bochum
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Witten
Hamm
Gelsenkircheri
Iserlohn
Siegen
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Lippstadt
Düsseldorf
Elberfeld
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Crefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a. d. Ruhr
Rheydt
Viersen
Oberhausen
Neuss
Wesel
Styrum
Solingen
Wermelskirchen
Ronsdorf
Velbert
Ruhrort
Süchteln
Lennep
Aachen
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Eupen
Burtscheid
Stolberg
Köln (Stadt)
Köln (Vorstädte)
Bonn
Mülheim a. Rhein
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Trier
Malstadt-Burbach
St Johann
Saarbrücken
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Kreuznach
Neuwied
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31993 121 45.4 65
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23567 104 53,0 54
21044 85 48,5 29
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11000
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9465
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— 283
Kleinere Mittheilungen.
* lieber die gesundheitlichen Nachtheile der neuerdings eingeführten
transportabeln Coke- und Anthracit-Oefen , welche sich je nach
Bedürfniss von einem Raum zum andern tragen und mühelos in Verbin¬
dung mit Kaminrohren bringen lassen, fanden in der französischen Akade¬
mie der Medizin längere, lebhafte Debatten statt, die in der Sitzung vom
16. April d. J. zu folgenden Beschlüssen führten:
1. Der Gebrauch der sogen. Spar-Oefen mit schwachem Zug ist in
Schlafzimmern und daran stossenden Räumen zu untersagen. Die
transportabeln Oefen sind zu vermeiden.
2. In allen Fällen ist bei Oefen mit langsamer Verbrennung für ge¬
nügenden Zug zu sorgen mittels Kaminrohren von reichlicher Weite
und Höhe, welche vollständig dicht sind, ohne Ritzen, ohne Ver¬
bindung mit angrenzenden Zimmern und oberhalb der benachbarten
Fenster münden. Es ist nützlich, wenn diese Rohre und Kamine mit
beweglichen Vorrichtungen versehen sind, welche anzeigen, dass der
Zug . in normaler Richtung stattfindet.
3. Es ist nöthig, besonders bei mit schwachem Zug brennenden Oefen,
die athmosphärischen Störungen zu beachten, welche möglicher
Weise die Zugkraft beeinträchtigen oder sogar die Gase in das
Innere der Räume zurücktreiben können.
4. Alle Oefen mit langsamer Verbrennung, welche Oefihungen zur
Hitzausstrahlung haben, sind zu verwerfen, denn diese machen
den Nutzen des Sicherheitsraumes zu nichte, der durch den inneren
hohlen, zwischen den beiden Umhüllungen von Gusseisen oder
Eisenblech befindlichen Cylinder gebildet wird und ermöglichen das
Eindringen von Kohlenoxyd-Gas in das Zimmer.
5. Die Heizungsöffnungen der Oefen mit langsamer Verbrennung müs¬
sen hermetisch schliessen und muss nach jedesmaligem Versehen
der Oefen mit Brennmaterial das Zimmer gründlich gelüftet werden.
6. Die Anwendung dieser Art von Heizung ist gefährlich in solchen
Räumen, wo Menschen sich fortwährend aufhalten und wo für die
Ventilation nicht reichlichst gesorgt ist mittels direct ins Freie füh¬
render und nie geschlossener Oeffnungen; in Kinder-Bewahrschulen,
Schulen, Gymnasien etc. sind oben besprochene Oefen ganz zu verbieten.
7. Die Akademie hält es für ihre Pflicht, die Regierung aufmerksam
zu machen auf die Gefahren der Oefen mit langsamer Verbrennung
und besonders der transportablen Oefen, sowohl für die Gesundheit
derjenigen, die sie selbst benutzen, als auch ihrer Nachbarn; sie
spricht den Wunsch aus, dass die Behörde den Erlass von Ver¬
ordnungen in Erwägung ziehen möge, um gegen diese Gefahren
Abhülfe zu schaffen. F.
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284 —
** Polizei-Verordnung, betreffend Massnahmen gegen die
Verbreitung der Schwindsucht. Vom 12. April 1889.
Durch Dr. Georg C o r n e t ’ s Untersuchungen über die Verbreitung der
Tuberkulose unter Leitung des Geheimen Medizinalrathes Prof. Dr. Robert
Koch ist festgestellt worden, dass nur der getrocknete Auswurf der
an der Lungenschwindsucht Erkrankten oder derselben Verdächtigen den
Gesunden verderblich wird und zwar, sobald derselbe fein verstäubt der
Athmungsluft beigemischt und so dem menschlichen Körper zugeführt wird.
Um die, auf solche Weise vermittelte Uebertragung von Tuberkelbacillen,
welche bekanntlich die Tuberkulose weiter verbreiten, thunliehst zu ver¬
hüten, sollen Tuberkulöse (Schwindsüchtige) angehalten werden, niemals in
ein Taschentuch, auf den Fussboden oder an die Wände, sondern ledig¬
lich in ein für diesen Zweck bestimmtes Gefäss, Speinapf oder Speiglas,
auszuspeien; besonders sei ein Handspeinapf zu empfehlen, um jede Ver¬
unreinigung des Bodens etc. zu verhüten.
Eine Desinfection des Auswurfes durch die früher üblichen Mittel hält
Dr. Gor net für überflüssig, da der Sublimat z. B., wie längst bekannt ist,
Tuberkelbacillen überhaupt nicht unschädlich mache, die Carbolsäure zu
diesem Zweck aber nur unter Beobachtung grösster Sorgfalt in der An¬
wendung zuverlässig wirksam sei. Die Speigefasse seien täglich nur mit
kochendem Wasser zu reinigen, der Auswurf aber mit dem Waschwasser
in die Aborte zu befördern; Sand oder Sägespähne zur Bestreuung des
Bodens der Speinäpfe zu benutzen, sei nicht empfehlenswerth, da auf solche
Weise dem Trocknen und der Verstaubung des Auswurfes Vorschub ge¬
leistet werde; eine geringe Menge Wasser in den Gefössen sei nicht zu
verwerfen. (Zeitschrift für Hygiene Bd. 5, S. 191 ff.)
Auf Grund der für das Gemeinwohl so wichtigen Ergebnisse der
GorneUschen Untersuchungen und mit Rücksicht darauf, dass Geistes¬
kranke nicht selten an Tuberkulose (Schwindsucht) erkranken, ersuche ich
.etc.etc.ergebenst, für die Zukunft folgende
Vorschriften für Ihre Privat-Irrenanstalt im Interesse der übrigen, Ihrer
Obhut anvertrauten Kranken beachten und gefälligst zur Ausführung bringen
zu wollen:
1. Offenbar Tuberkulose sind, soweit thunlich, von anderen Kranken
abzusondern.
2. Sämmtliche Kranke, welche an dieser Krankheit leiden oder der¬
selben verdächtig sind, werden streng angehalten, lediglich in mit
wenig Wasser am Boden bedeckte Speigefasse den Auswurf zu
entleeren. Jene Gefässe sind täglich mindestens einmal mit sieden¬
dem Wasser zu reinigen, der Gesammtinhalt wird in die Aborte
entleert. Etwaige Besudelungen des Fussbodens, der Lagerstellen,
der Wände etc. werden, soweit möglich, sofort mit siedendem
Wasser oder in anderweit zweckentsprechender und zuverlässiger
Weise entfernt; besudelte Gebrauchs- und Bettwäsche wird ent¬
fernt und ausgekocht.
Digitized by
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— 285 —
3. Bettstücke, Matratzen, Decken etc., sowie alle Gebrauchsgegen¬
stände, welche Schwindsüchtige benutzt haben, sind nach Mass-
gabe der diesseitigen Polizei-Verordnung vom 7. Februar 1887,
betreffend Desinfection bei ansteckenden Krankheiten zu behandeln,
beziehungsweise den hiesigen städtischen Desinfections-Anstalten
zu übergeben, soweit nicht etwa Auskochen angängig ist.
4. Auch die Desinfection derjenigen Zimmer, in welchen Schwind-
suchtskranke gelegen haben, erfolgt nach dem Abgänge der Letz¬
teren durch Entlassung oder Tod nach Massgabe der vorerwähnten
Bestimmungen.
Der Polizei - Präsident,
von Richthofen.
An die Privat-lrrenanstalten etc.
*** Massnahmen gegen die Verbreitung des epidemischen Kopf¬
genickkrampfes (Meningitis cerebrospinalis epidemica). Circular¬
erlass des Ministers der geistlichen u. s. w. Angelegenheiten vom 23. November
1888 an sämmtliche Königl. Oberpräsidenten.
Wie aus den über die Gehirn-Rückenmarkshaut-Entzündung oder den
Kopfgenickkrampf (Meningitis cerebrospinalis) angestellten Ermittelungen un¬
zweideutig hervorgeht, ist diese Krankheit verschleppbar und ansteckend und
bringt dieselbe den von ihr Befallenen verhältnissmässig häufig den Tod oder
andauerndes Siechthum, insbesondere führt sie oft zu Taubheit und bei
Kindern zu Taubstummheit. Es ist daher eine wichtige Aufgabe der
Sanitätspolizei, der Verbreitung der Krankheit so viel, als nur möglich,
entgegenzutreten. Zu diesem Zwecke bedarf es folgender Massnahmen:
1. Die Aerzte müssen verpflichtet werden, jeden zu ihrer Kenntniss
gelangten Fall der genannten Krankheit ungesäumt der Orts-
Polizeibehörde des Ortes, an welchem derselbe vorgekommen ist,
anzuzeigen.
2. Die erkrankten Personen sind so weit, als thunlich, von anderen
abgesondert zu halten.
3. Kinder aus einem Hausstande, in welchem ein Fall der Krankheit
besteht, sind vom Schulbesuch fern zu halten. Die Vorschriften,
welche in der zur Circular-Verfügung vom 14. Juli 1884, betreffend
die Schliessung der Schulen bei ansteckenden Krankheiten, beige¬
fügten Anweisung hinsichtlich der zu Ziffer la daselbst genannten
Krankheiten gegeben sind, haben auch auf den Kopfgenickkrampf
sinngemässe Anwendung zu finden.
4. Die Krankenzimmer, die Auswurfsstoffe, die Wäsche (namentlich auch
Schnupftücher), Kleider und die während der Erkrankung benutzten
sonstigen Effekten des Kranken sind nach allgemeinen Grundsätzen
vollständig zu reinigen und zu desinficiren.
Digitized by LaOOQle
286 —
Dem entsprechende Bestimmungen empfiehlt es sich für alle Landes- •
theile im Wege der Polizei-Verordnung zu erlassen, und ersuche ich Ew.
Excellenz ganz ergebenst, hienach die dazu erforderlichen Veranlassungen
für den Umfang der dortigen Provinz gefälligst zu treffen und mir seiner
Zeit von den erlassenen Bestimmungen Kenntniss zu geben.
Zugleich bestimme ich, dass in Betreff der in Krankenanstalten vor¬
kommenden Fälle von Gerebrospinalmeningitis die in der Circular-Verfügung
vom 3. April 1883 — I. No. 5817 M. — enthaltenen Anweisungen üher die
Anzeigepflicht, Isolirung und Desinfection bei Fällen ansteckender Krank¬
heiten ebenfalls zur Geltung zu bringen sind, und wollen Ew. Excellenz
gefälligst Sorge dafür tragen, dass die betreffenden AnstaltsVorstände hier¬
von Mittheilung erhalten.
Endlich bemerke ich ganz ergebenst, dass der Mangel an Klarheit,
welcher nicht selten in der Diagnose der Krankheit besteht, es im Falle
des tödtlichen Ausgangs der letzteren wünschenswerth erscheinen lässt,
dass eine Sektion der Leiche erfolgt, und sind daher zweckmässig die be¬
theiligten Behörden mit Anweisung dahin zu versehen, dass dieselben in
vorkommenden geeigneten Fällen der Ausführung der Leichenöffnung thun-
lichst Vorschub leisten.
Kanalisationsarbeiten und Krankheiten.
Wiesbaden, den 11. Mai 1889.
Die Königliche Regierung ersuchte mit Schreiben vom 2. März er. den
hiesigen Verein für öffentliche Gesundheitspflege um eine gutachtliche Aeusse-
rung über folgende Punkte:
1. Es ist eine durch viele Beobachtungen bestätigte Thatsache, dass in
Folge der Oeffnung alter Entwässerungskanäle sehr oft ansteckende
Krankheiten entstehen. Es fragt sich nun, ob bei der in Ausfüh¬
rung begriffenen neuen Kanalisation in Wiesbaden besondere und
eventuell welche Vorkehrungen zur Verhütung des Ausbruches von *
Krankheiten zu treffen sind?
2. Ferner ist zur Anzeige gelangt, dass im Jahre 1888 58 Diphteritis-
erkrankungen in hiesiger Stadt« vorgekommen sind, von welchen
ein grosser Theil einen tödtlichen Verlauf gehabt hat, dass in diesem
Jahre (1889) im Monat Januar allein 18 Personen von derselben
Krankheit befallen worden sind, von denen 6 starben, während die
Zahl der Diphteritiserkrankungen seit 1875 nur zweimal und zwar
jedesmal um ein Geringes über 20 hinausgegangen sind. Stehen
diese Krankheitserscheinungen mit den Kanalisationsarbeiten in ir¬
gend welchem ursächlichen Zusammenhänge, und eventuell welche
Verhütungsmassregeln erscheinen nothwendig ?
Der Vorstand des Vereins ernannte in Folge dieser Anfrage die Vor¬
standsmitglieder Herren Kanalisations-Ingenieur Brix und Docent der Hy¬
giene Dr. Hüppe zu Referenten über die fraglichen Punkte. Nachdem
das Referat der Genannten in einer Vorstandssitzung erstattet worden und
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— 287
eine eingehende Discussion über dasselbe stattgefunden hatte, übermittelte
der Vereins Vorstand auf Grund jenes Referates an die Königliche Regierung
nachstehendes Gutachten.
Die Möglichkeit, dass durch das OefTnen alter, undichter oder schlecht
gemauerter Kanäle Infectionskrankheiten hervorgerufen werden, ist durch
mehrfache Beobachtungen als erwiesen anzunehmen. Specielle Angaben
hierüber liegen in der Literatur über Unterleibstyphus vor und diese epi¬
demiologischen Beobachtungen stehen in guter Uebereinstimmung mit
bakteriologischen Beobachtungen über die Bildung von Bodenheerden von
undichten Versitzgruben aus und mit Experimenten über die Möglichkeit
einer sehr langen Dauer der Lebensfähigkeit von Typhuskeimen in Ober¬
wassern und im Boden.
Wie im Einzelnen von diesen Bodenheerden oder Kanälen aus die In-
fection ausgeht, ist meist sehr schwer festzustellen. Sicher kann das gelegentlich
durch directe Berührung geschehen oder durch Zwischenträger, ln letzterer
Hinsicht dürften besonders die Kleider und das Schuh werk der Kanalarbeiter
manchmal in Frage kommen. Eine unmittelbare Uebertragung der Keime
durch die Luft erscheint im Allgemeinen ausgeschlossen, da sich von feuchten
Grundlagen derartige Keime durch Luftströmungen nicht loslösen lassen.
Doch sind die den geöffneten alten Kanälen entsteigenden, übelriechenden
Gase bei andauernder Einwirkung geeignet, den Körper zu schwächen und
dadurch indirect, als eine Hülfsursache, für Infectionskeime empfänglich zu
machen. Wir haben also beim Oeffnen alter Kanäle nicht nur die directe
Infectionsgefahr zu bekämpfen, die auch ohne jeden sinnlich wahrnehm¬
baren Geruch vorhanden sein kann, sondern wir haben auch das als hygie¬
nischen Missstand empfundene Entstehen und Aufsteigen übelriechender
Gase zu verhüten. Im Hinblick hierauf dürfte es daher als nothwendig zu
erachten sein, bei den Bauten derjenigen neuen Kanäle, mit welchen eine
Beseitigung und somit Oefinung von alten Kanälen verbunden ist, gewisse
Vorkehrungen zur Vermeidung der möglichen Gefahren zu treffen. Diese
Vorkehrungen beziehen sich auf solche, durch welche
1. die in alten Kanälen enthaltenen etwaigen Krankheitskeime ganz
oder doch in grösstmöglichster Menge unschädlich gemacht oder
in unschädlicher Form entfernt werden,
2. die Vermehrung der Keime beschränkt,
3. die Zeit, innerhalb welcher die Gefahr vorhanden ist, nach Mög¬
lichkeit abgekürzt wird, und
4. Uebertragungen unmöglich gemacht werden.
Alle die in diesen Punkten enthaltenen Forderungen wären durch eine
vollkommene Desinfection der alten Kanalmauern, des in den alten Kanälen
enthaltenen Schlammes, sowie des bloszulegenden inficirten Grundes unter
den alten Kanalsohlen und der etwa hoch zu punipenden Kanalflüssigkeit
zu erfüllen. Eine solche Desinfection ist indess nicht möglich.
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Wir empfehlen nach eingehendem Abwägen der vielerlei hier in Be¬
tracht kommenden Umstände und mit Rücksicht auf die technische Ausführ¬
barkeit deshalb folgende Vorkehrungen.
1. Vor dem Oeffnen eines alten Kanals hat eine Vorspülung desselben
unter Anwendung reichlicher Wassermengen stattzufinden.
2. Derartige Kanalarbeiten sind thunlichst in der kälteren Jahres¬
zeit, etwa von October bis April, auszuführen und zwar hauptsäch¬
lich deshalb, weil in dieser Zeit eine Vermehrung derjenigen Or¬
ganismen, welche durch ihre Thätigkeit üble und schlechte Gerüchte
•herbeiführen oder vermehren, weniger zu befürchten ist.
3. Die Kanalbauten sind so schnell als irgend thunlich zu betreiben.
Das schnelle Arbeiten, wodurch in kürzester Frist unleidliche Zu¬
stände durch geordnete, den heutigen sanitätstechnischen Anforde¬
rungen entsprechende Einrichtungen ersetzt werden, ist sogar für
diesen Fall als das beste und am sichersten wirkende Desin-
fectionsmittel zu bezeichnen, so dass alle anderen Desinfections-
maassnahmen, welche geeignet sind, den raschen Arbeitsfortschritt
zu hindern, zurücktreten müssen.
Formen der Arbeit, z. B. Nachtarbeit, durch welche die sichere
Ausführung und Gontrole erschwert wird, sind zu vermeiden.
4. Ausgebrochenes altes Mauer werk, welches nicht sofort abgefahren
werden kann oder anderweitige Verwendung bei der Kanalisation
finden soll, und aus diesen Gründen auf der Strasse gelagert wird,
ist stets feucht zu halten, um ein Verstäuben zn verhindern.
5. Ausgehobener Schlamm und stinkender ausgegrabener Grund ist
möglichst schnell abzufahren. Ausserdem empfiehlt es sich, die
Gerüche durch Begiessen des Aushubes mit Eisenvitriollösung, oder
Bestreuen mit pulverisirtem gebrannten Kalk resp. Begiessen mit
Kalkmilch, oder endlich durch Mischen mit vorhandenem guten
Grund zu binden. Jedes dieser Mittel hat seine Vorzüge, die sich
nach den besonderen örtlichen Verhältnissen richten.
6. Wird übelriechendes Kanalwasser ausgepumpt, so ist dasselbe, wenn
irgend technisch möglich, durch eine geschlossene Leitung (Rohr,
Schlauch) nach dem nächsten Kanaleinlass zu leiten.
Nach dem Aufhören der Pumparbeit ist die Flossrinne, in
welcher das Kanalwasser fortgeleitet wurde, durch kräftiges Be¬
spülen mit reinem Wasser gründlich zu reinigen.
Wir weisen schliesslich noch darauf hin, dass es sich, da eine eigent¬
liche Desinfection sowohl des übelriechenden Aushubes, als auch des aus¬
gepumpten Kanalwassers an Ort und Stelle doch nicht möglich ist,
nicht empfiehlt, durch Anwendung von Carbolsäure die auftretenden üblen
Gerüche zu bekämpfen resp. zu decken. Es wird hierbei nur ein unange¬
nehmer Geruch durch einen andern, vielseitig gleich lästig empfundenen
Geruch ersetzt und eine Desinfection vorgetäuscht, die von der schnellen
Ausführung der Arbeiten, der einzigen wirklichen Desinfection, leicht Ab-
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stand nehmen lässt. Die Mengen Carbolsäure, welche zur thatsächlichen
Desinfection erforderlich sind, müssten so gross sein, dass die Kosten in
gar keinem Verhältnisse zur Leistung stehen würden. Die einzige wirkliche
Desinfection ist der Ersatz des hygienischen Missstandes durch eine tech¬
nisch genügende Anlage. — Um betreffs der Frage eines ursächlichen Zu¬
sammenhanges von Diphteritiserkrankungen mit den Kanalisationsarbeiten
Anhaltspunkte zur Beurtheilung zu gewinnen, haben sich unsere Herren
Referenten von der Königlichen Polizei-Direction Mittheilung darüber er¬
beten und erhalten, in welchen Strassen und Häusern im Jahre 1888 Diph¬
teritiserkrankungen in hiesiger Stadt stattgefunden haben. Hiernach sind
in 42 Häusern, von im Ganzen 34 Strassen, 58 Erkrankungsfalle aufgetreten.
Ein Vergleich mit dem im städtischen Kanalisationsbureau geführten
Verzeichniss der im Jahre 1888 ausgeführten Kanalarbeiten hat aber er¬
geben, dass nur in der Nähe von drei dieser Häuser Aufgrabungen zwecks
Kanalherstellungen stattgefunden hatten. Jedoch selbst diese Aufgrabungen
betrafen nur kleinere, kurz andauernde Kanalherstellungen.
Es muss deshalb für diese Fälle insgesammt ein Zusammenhang der
Krankheit mit Kanalisationsarbeiten unbedingt ausgeschlossen werden. Wie
aus beiliegendem Schreiben des Tiefbau-Amtes der Stadt Frankfurt vom
19. März er. hervorgeht, hat sich der* dortige Gesundheitsrath in Folge der
im Jahre 1887 dort aufgetretenen Diphteritisepidemie eingehend mit der
Ergründung der Ursachen dieser Krankheit beschäftigt, ohne jedoch ein
greifbares Resultat zu erhalten (siehe unten, Anlage).
Insbesondere konnte ein Zusammenhang mit der Kanalisation nicht
gefunden werden.
Mit Rücksicht auf das Angeführte erscheint es deshalb bei den Kana¬
lisationsarbeiten nicht nothwendig oder auch nur wünschenswerth, besondere
Verhütungsmassregeln gegen die Diphterie zu treffen. Es wird vielmehr
vollständig genügen, wenn die im ersten Abschnitt angegebenen allgemeinen
Vorkehrungen zur Verhütung von Infectionskrankheiten überhaupt befolgt
werden.
Anlage.
Tiefbau-Amt.
J. N. 1 6403. Frankfurt a. M., den 19. März 1889.
Auf das gefällige Schreiben vom 11. März d. J. erwiedern wir Ihnen
hierdurch ergebenst, dass sich der hiesige Gesundheitsrath, in Folge der im
Jahre 1887 hier aufgetretenen Diphteritisepidemie, eingehend mit der Er¬
gründung der Ursachen dieser Krankheit beschäftigt hat, dass die hierbei
angestellten Untersuchungen zu einem greifbaren Resultat jedoch leider
nicht geführt haben. Die Krankheit hat hier in allen Schichten der Be¬
völkerung und in den verschiedensten Stadttheilen ihre Opfer gefordert und
zwar vielfach in Wohnungen und Familien, in denen in sanitärer Hinsicht
alle nur denkbare Vorsorge getroffen wird.
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Die Häuser, in denen die Krankheit auftrat, waren fest säramtlich
längst an Kanal und Wasserleitung angeschlossen, so dass uns ein Zusam¬
menhang zwischen der Kanalisation und der fraglichen Krankheit nicht zu
bestehen scheint.
Tiefbau- Amt.
Herrn Ingenieur Brix, Stadtbauamt Wiesbaden.
Dr. Staffel- Wiesbaden.
*** Lambrecht*8 Polymeter. Wilhelm Lambrecht's bekannte
Fabrik meteorologischer Instrumente zu Göttingen stellt ein Hygrometer
her, welches wir unsern Lesern zur Beachtung und auch zur Anschaffung
gern empfehlen. Dasselbe ist eine neue Verbindung von Thermometer und
Haar-Hygrometer. Am Thermometer befindet sich ausser der Lufttempera¬
tur (linke Skala) eine rechte Skala, welche die Dunstdruck-Maxima in
Millimetern angiebt. Das Hygrometer, welches, wie Vergleiche mit genauen
Psychrometern gelehrt haben, hinlänglich empfindlich ist und zuverlässige
Angaben macht, hat zunächst eine Skala der Prozente der relativen Feuch¬
tigkeit. Darüber befindet sich die von Lambrecht s. g. Skala der Gradzahlen,
welche für jede Zahl der relativen Feuchtigkeit durch denselben Zeiger die
Anzahl Grade anzeigt, uin welche der Taupunkt niedriger steht als der
Temperaturgrad. Die Genauigkeit dieser unmittelbaren Ablesung ist da¬
durch erhöht worden, dass der Zeiger eine dreifach gezackte Spitze erhal¬
ten hat; deren mittlere Zacke wird beim Ablesen der Gradzahl benutzt,
wenn die Luftwärme -f 10° G. beträgt; beträgt die letztere 0®, so wird
die rechte Zacke (nach der feuchten Seite hin) benutzt, — beträgt jene
20°, die linke Zacke (nach der trockenen Seite). Für andere Temperaturen
lässt sich das Richtige leicht durch Abschätzung feststellen. Doch kann
mit völliger Genauigkeit die absolute Feuchtigkeit (als Dunstdruck) durch
Multiplikation der relativen Feuchtigkeit mit dem am Thermometer abzu¬
lesenden Dunstdruck - Maximum einfach bereclmet werden; hieraus ergiebt
sich wiederum durch Ablesung am Thermometer der Taupunkt. — Der
Dunstdruck giebt zugleich das Gewicht des dunstförmigen Wassers an, da
bei jedem Millimeter Dunstdruck fast genau 1 gr Wasser auf das Kubik¬
meter Luft kommt.
Das Instrument ist nun erstlich sehr geeignet zu fortlaufenden Beob¬
achtungen der Temperatur, der relativen und der absoluten Feuchtigkeit,
beziehungsweise der Höhe des Taupunkts in der Aussenluft; für die be¬
treffenden Aufzeichnungen liefert die Fabrik Schemata. Unter den auf den
Taupunkt gegründeten Wetterregeln sei hier erwähnt, dass nach längeren
Beobachtungsreihen die Höhe des Taupunktes am Tage sehr häufig nahe
mit dem darauf folgenden nächtlichen Temperaturminimum übereinstimmt
Es kann also hieraus mancher praktische Nutzen abgeleitet werden. — So¬
dann kann das Polymeter zur steten Prüfung der Luft in unseren Wohn-
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— 291
räumen dienen, eine vortreffliche Ergänzung zu den Apparaten der Kohlen¬
säure-Bestimmung, da für unser Wohlbefinden die Höhe des Taupunkts
und die relative Feuchtigkeit der Zimmerluft grosse Bedeutung haben.
W. '
*** Dr. Emmerich (München) hat in Gemeinschaft mit Herrn
E. Martini einen elektrischen Alarmapparat zur Verhütung von
Kohlensäure-Vergiftungen angegeben, welcher einen Kohlensäure-
Gehalt der Luft von 6 % an selhstthätig anzeigt. Nach der Münchener
Mediz. Wochenschr. 1888, Nr. 24, geht die Einrichtung des Apparats davon
aus, dass ein Metallstab durch die Wärme einer unter demselben befind¬
lichen Kerzenfiamme sich ausdehnt. Steigt der Kohlensäure-Gehalt der
Luft auf 6 °/o, dann wird die Flamme klein und entfeuchtet. Bei 8 %
Kohlensäure erlischt dieselbe.
Das Kleinwerden der Flamme und die Verminderung der Wärmequelle
bewirkt eine Kontraktion des Metallstabes, in Folge dessen ein Kontakt
hergestellt, der elektrische Strom geschlossen und ein Läuteapparat in Thä-
tigkeit versetzt wird.
Durch einen an 10 Personen angestellten Versuch wurde festgestellt,
dass ein Kohlensäuregehalt von 6°/o, wie er durch den Apparat angezeigt
wird, für den Menschen noch nicht gefährlich ist. Die Gefahr beginnt erst
bei 15-20%.
Wenn daher in einem Raume Kohlensäure-Ausströmungen stattfinden,
dann warnt der Apparat durch die Aktion der elektrischen Glocke früh¬
zeitig genug vor der Gefahr.
Die Aufstellung des Apparates ist überall da angezeigt, wo durch einen
hohen Kohlensäuregehalt der Luft Gefahren für die Gesundheit oder das
Leben des Menschen entstehen können: in Eisfabriken, welche flüssige
Kohlensäure zur Eisbereitung verwenden, in Presshefefabriken, in Wein-
Gärkellem u. s. w.
Da ein sehr hoher Kohlensäuregehalt der Luft die Gärung ungünstig
beeinflusst, so kann man den elektrischen Signalapparat auch dazu be¬
nutzen, um die Notwendigkeit der Lufterneuerung in Wein-Gärkellern an¬
zuzeigen.
Der Apparat ist sehr einfach und kann für den Preis von 20 Mark
hergestellt werden. Statt der Kerzenflamme kann man eine beliebige an¬
dere kleine Flamme (Petroleum, Gas u. s. w.) benutzen. W.
*** Zur Schul-Pflege der Schwachsinnigen. Den Schweize¬
rischen Blättern für Gesundheitspflege, 1888, Nr. 13, entnehmen wir, dass
seit anfang des Schuljahres 1888/89 in Basel eine wichtige fortschrittliche
Neuerung für bessere Pflege Schwachbegabter Elementarschüler dadurch
eingeführt wurde, dass besondere Abteilungen für die erwähnte Klasse von
Kindern geschaffen sind. Es bestehen hierfür nachfolgende Bestimmungen:
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1) Auf Anfang des Schuljahres 1888/89 wird in Grossbasel und in
Kleinbasel versuchsweise je eine Spezialklasse für Schwachbegabte Schüler
der Primarschulen errichtet.
2) Diese Klassen werden in möglichst zentraler Lage der betreffenden
Stadtteile untergebracht.
3) Jeder Spezialklasse werden die Schwachbegabten Kinder des be¬
treffenden Stadtteils, Knaben und Mädchen, zugeteilt.
4) Die Zahl der Kinder einer Spezialklasse darf 25 nicht übersteigen.
5) Die Leitung einer jeden der beiden Spezialklassen wird von der
Primarschulinspektion mit Genehmigung des Erziehungsrates einer Lehrerin,
eventuell einem Lehrer der hiesigen öffentlichen Schulen übertragen.
6) ln die Spezialklasse werden nicht aufgenommen:
a. Kinder, welche vermöge körperlicher oder geistiger Gebrechen
sich für den Besuch einer öffentlichen Schule überhaupt nicht
eignen.
b. Kinder, welche sittlich verdorben sind.
c. Kinder, welche das Lehrziel der zweiten Klasse der Primarschule
erreicht haben.
7) In die Spezialklasse werden aufgenommen Kinder, welche zwar
bildungsfähig sind, aber in Folge körperlicher oder geistiger Mängel einer
individuellen Behandlung bedürfen und deshalb in den gewöhnlichen Klassen
der öffentlichen Schule mit ihren normal beanlagten Klassengenossen nicht
Schritt halten können.
8) Die Aufnahme findet statt:
a. auf Antrag der Eltern und mit Genehmigung des Erziehungs¬
departements, nachdem ein wenigstens einjähriger Versuch in
einer gewöhnlichen Klasse den Nachweis geleistet hat, dass das
betreffende Kind in die Spezialklasse gehört;
b. auf Veranlassung des Erziehungsdepartements und mit Zustim¬
mung der Eltern, nachdem ein wenigstens zweijähriger Versuch
in einer gewöhnlichen Klasse erwiesen hat, dass das betreffende
Kind in die Spezialklasse gehört.
In beiden Fällen muss die Aufnahme vom Klassenlehrer,
vom Schulinspector und vom Schularzt befürwortet sein.
9) Wenn die Eltern mit der Zuteilung ihrer Kinder ln die Special¬
klasse nicht einverstanden sind, bleibt dem Erziehungsdepartement die Ent¬
scheidung Vorbehalten, ob das Kind noch länger in einer gewöhnlichen
Schulklasse verbleiben, oder ob es aus der öffentlichen Schule entfernt
werden soll. .
10) Auf Antrag der betreffenden Lehrerin, bezw. des betreffenden
Lehrers und mit Zustimmung des Schulinspektors und des Schularztes kann
das Erziehungsdeparteraent zu jeder Zeit ein Kind aus der Spezialklasse in
eine entsprechende gewöhnliche Klasse versetzen.
11) Das Lehrziel der Spezialklassen für Schwachbegabte Schüler richtet
sich im allgemeinen nach dem der Primarschulen. Die an letzterm mit
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Rücksicht auf die Befähigung der betreffenden Kinder und nach Massgabe
der gesammelten Erfahrungen vorzunehmenden Aenderungen unterliegen der
Genehmigung des Erziehungsrates.
In der Ein- und Durchführung solcher, als ein wirkliches Bedürfniss
sich herausstellender Fortschritte der Schulgesundheitspflege werden die
Erziehungsbehörden in Basel durch das daselbst bestehende offizielle Amt
eines Schularztes wirksam unterstützt. W.
*♦* Für die Berichte über die ärztlichen Untersuchungen der
Schulen hat die Königl. Regierung ^zu Düsseldorf folgendes Schema vor¬
geschrieben :
I. Gesundheitszustand der Kinder: 1) Allgemeiner Eindruck
(Gesichtsfarbe, Haltung, Reinlichkeit). 2) a. Ansteckende Hautkrankheiten,
b. ansteckende Augenkrankheiten, c. Infektionskrankheiten (Diphtheritis,
Keuchhusten, Tuberkulose etc.) d. sonstige Krankheiten.
II. Gesundheitsverhältnisse der Schule: 1) Lage. 2) Ge¬
bäude (massiv oder Fachwerk, Dach, ob unterkellert, Wohnungen im
Schulgebäude, ob Eingang zur Schule und Wohnung getrennt). 3) Treppen
(hölzerne, steinerne, Geländer; ob überhaupt gefahrlos). 4) Schulzimmer:
a. Grösse (Höhe, Länge, Breite, Zahl der Kinder, wegen Krankheit ab¬
wesend. Bodenfläche für jedes Kind), b. Fussboden (ob dicht und ge¬
strichen), c. Wände und Decken (Anstrich), d. Reinlichkeit im allgemeinen,
e. Fenster (Grösse, Zahl und Lage, Verhältniss der Fläche der Fenster¬
öffnungen zur Bodenfläche, Schutz vor direkten und reflektirten Sonnen¬
strahlen), f. Schultische, Bänke (ob solid, zweckmässig, Sitzraum), g. Licht-
verhältniss im allgemeinen, h. Heizung (Art derselben, ob genügender
Schutz gegen Verbrennung und Wärmestrahlung, Temperatur, Thermometer),
i. Ventilation (Einrichtung der Oberflügel der Fenster, Klappscheiben, Glas¬
jalousien, zentrale Ventilation u. s. w.), k. Stand des Katheders und der
Wandtafel. 5) Abtrittsanlage (Lage, ob in genügender Entfernung vom
Schulgebäude, Ausdünstung, Reinlichkeit der Sitze, * Anzahl derselben im
Verhältniss zur Schülerzahl). 6. Spiel- und Turnplatz (Grösse, Lage; ob
Turngeräte solid und ungefährlich, ob der Boden unterm Barren und Reck
fest oder mit Sägemehl bedeckt u. s. w.). 7) Wasserversorgung (Trink-
gefäss, Entfernung der Brunnen von den Abtritten). 8) Sonstige Be¬
merkungen.
Unter diesem vom Arzt auszufüllenden Formular hat der Oberbürger¬
meister noch die Frage zu beantworten: Was ist zur Beseitigung der er¬
wähnten Mängel angeordnet worden? W.
Ueber die Häufigkeit von Gehörleiden bei Schulkindern
hat i. J. 1888 Shermunski in den Stadtschulen zu Petersburg
Untersuchungen angestellt. Dieselben ergaben nach einem Bericht des
Kreisarztes Dr. Ströhmberg in Dorpat in der Zeitschr. f. Schulgesund¬
heitspflege (1889, Heft 2) folgendes : Von 2221 Kindern (1318 Knaben und
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903 Mädchen)aus 50 Stadtschulen Petersburgs fanden sich 388, d. i. 17,4%
mit herabgesetzter Hörschärfe, davon waren 221 (16,76 ®/©) Knaben und 167
(18,49 °/o) Mädchen.
Die häufigste Ursache der Herabsetzung der Hörschärfe bildete chro¬
nischer Katarrh des Mittelohrs und der Eustachischen Ohrtrompete; dann
folgten der Häufigkeit nach Ohrschmalzpfröpfe, Eiterung der Paukenhöhle,
Durchbohrung des Trommelfells infolge von Eiterungen u. s. w. Bei 64%
der Untersuchten war die Erkrankung des Mittelohrs von krankhaften Pro¬
zessen des Nasenrachenraums ausgegangen. Ein grosser Theil der Erkran¬
kungen war in Folge von Infectionskrankheiten, namentlich von Scharlach
entstanden.
Wie anderwärts schon hervorgehoben und früher in diesen Blättern
schon berichtet wurde, macht sich die Schwerhörigkeit in ungünstiger Weise
bei den Leistungen der Schüler geltend. Ist doch in den meisten Fällen
die Schwerhörigkeit dem Lehrer unbekannt und gelten daher solche Schüler,
da sie dem Lehrgänge nicht folgen können, als unachtsam und beschränkt.
So fand denn auch Shermunski, dass bei den Schülern, welche Flüster¬
sprache noch auf 24—12 Meter verstehen konnten, das Verhältniss der in
ihren Leistungen guten Schüler zu den schlechten 4,19:1 betrug; bei
Herabsetzung der Hörschärfe auf % — V* der Norm war dies Verhältniss
2,6: 1; bei Herabsetzung der Hörschärfe auf weniger als % nur 1,7:1.
Aehnliche Zahlen fand Bezold bei seinen Untersuchungen in den Volks¬
schulen zu München.
Besonders ungünstig sind die Petersburger Zahlen in Bezug auf die
Anzahl der Ohreneiterungen gegenüber den in München, Stuttgart und
Kopenhagen gefundenen Zahlen. Waren doch 4 °/o sämmtlicher unter¬
suchten Kinder, und zwar 3,41 der Knaben und 4,88 % der Mädchen mit
diesem lästigen und unangenehmen Leiden behaftet. Shermunski glaubt
den Grund hierfür in socialen Verhältnissen finden zu müssen, indem die
in Armuth und Elend lebenden Eltern gleichgültig gegen den Geruch der
Ohreneiterung sind, und ärztliche Hülfe nicht nachsuchen. Er meint, dass
unter den 388 Harthörigen über 80 Prozent gewesen seien, bei welchen
zweckentsprechende Behandlung eine mehr oder minder vollkommene Hei¬
lung herbeigeführt haben würde.
Es sei auch hier wiederholt, dass die Häufigkeit von Gehörsstörungen
im Kindesalter einer der Punkte ist, welche eine stete Ueberwachung der
Schulen durch geeignete Schulärzte dringend wünschenswert erscheinen
lassen. Schmidt-Bonn.
*** Die ärztlichen Wünsche betreffend die Umgestaltung
des öffentlichen Gesundheitswesens in Österreich wurden auf
dem letzten österreichischen Ärztevereinstage (31. August und 1. SepL
1888) wie folgt zusammengefasst:
„1. Die Regelung des Gesundheitsdienstes in den Gemeinden, beziehungs¬
weise die fixe Bestellung von Ärzten zur Führung der sanitären Agenden
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in den Gemeinden, ist die Grundlage für eine gedeihliche Entwickelung
der Gesundheitsverwaltung.
2. Die derzeitige Organisation der Gesundheitsverwaltung ist nach der
Richtung weiter zu entwickeln, dass sie als ein selbstständiger Zweig der
öffentlichen Verwaltung eingerichtet, dass die Durchführung der Forderungen
der öffentlichen Gesundheitspflege durch Einflussnahme aller Fachorgane
auf die Verwaltung möglichst gefördert wird, dass endlich Vertreter der
mit der Hygiene in Verbindung stehenden wissenschaftlichen Disziplinen
(Medicin, Chemie, Gesundheitstechnik, Verwaltungskunde u. s. w.) in die
Fachräthe berufen werden.
ln Städten und grösseren Gemeinden sind ständige Ortsgesundheits-
räthe zu errichten.
3. Die Fachorgane der Gesundheitsverwaltung sind mit allen zur
Forschung nothwendigen Untersuchungsmitteln auszurüsten; es sind dem¬
nach auch an der Seite der obersten Verwaltung Einrichtungen für experi¬
mentelle Forschung auf dem Gebiete hygienischer Verwaltungsfragen
nothwendig.
4. Die staatlichen und diesen gleichgestellten Ärzte sind entsprechend
zu entlohnen und von der Nothwendigkeit eines Nebenerwerbes unabhängig
zu stellen.
5. Die Nothwendigkeit, von ansteckenden Krankheitsfällen rasch Kenntniss
zu erhalten, sowie die Nothwendigkeit der Belehrung und Überwachung der
Bevölkerung in Fragen der Privathygiene, erfordert die Mitwirkung prak¬
tischer Ärzte, und ist die obligatorische Anzeigepflicht bei Infektionskrank¬
heiten gesetzlich einzuführen.
6. Zur Heranbildung tüchtiger Gesundheitsbeamten sind an allen Uni¬
versitäten hygienische Institute und an den technischen Hochschulen ein
theoretischer und praktischer Unterricht in der Gesundheitstechnik einzu¬
richten. Den staatlich angestellten Ärzten ist behördlicherseits Gelegenheit
und Unterstützung zu bieten, ihre hygienische Ausbildung zu vervollkommnen.
7. Die Gesundheitsverwaltung kann ohne verständnisvolle Mitwirkung
der ganzen Bevölkerung ihrer Aufgabe nicht gerecht werden; der Unter¬
richt in der Hygiene an den Volks-, Mittel- und Fachschulen ist daher eine
unbedingte Nothwendigkeit.
8. Es liegt im Interesse eines gedeihlichen Fortschrittes des Gesundheits¬
wesens, dass die Thatigkeit der Gesundheitsverwaltung sowohl bezüglich
der einzelnen Länder als auch bezüglich der ganzen Monarchie durch
periodische Berichte zur allgemeinen Kenntniss gebracht werde.“
W.
*** Bleivergiftung durch Hehl. Über eine Anzahl von Blei¬
vergiftungen, welche in drei benachbarten Ortschaften sich ereigneten und
in Koliken, Erbrechen und Ohnmächten sich äusserten, berichtete Dr. Au-
gier und Dr. Bertrand in der Semaine medicale. Man fand die Quelle
der Vergiftung im Getreidemehl. In der Mühle bestanden Teile des Mühlen-
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 21
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werks, die mit dem Korne in Berührung kamen, aus bleihaltigem Eisen¬
blech; das Metall erwies sich als abgerieben durch die Wirkung des be¬
ständig auffallenden Mehles. Das Blei im Eisenblech war zum grossen
Teile in Form von Schwefelblei vorhanden, welches sich mit besonderer
Leichtigkeit mit dem Mehle zu vermischen vermag. (Vgl. Revue sanitaire
de Bordeaux, 1888, N. 103/104.) W.
*** Die Zahl der Hundertjährigen in Frankreich. Nach
dem Berichte von Levasseur in der französischen Akademie der Wissen¬
schaften ist die Zahl derer, welche das hundertste Lebensjahr erreichen,
noch kleiner, als man im allgemeinen annimmt; die Greise haben die Nei¬
gung, sich älter zu machen oder sich für älter zu halten. So sollten nach
der Volkszählung i. J. 1871 in Baiem 37 Hundertjährige leben; nach amt¬
licher Prüfung fand sich, dass nur eine Frau älter als hundert Jahr war.
In Canada galten 82 Personen als überhundertjährig gestorben; amtliche
Nachforschung ergab, dass von diesen thatsächlich nur 9 älter als 100 Jahr
geworden waren. Eine ähnliche Erfahrung machte man kürzlich (i. J. 1886)
in Frankreich. Obwohl 184 Personen bei der letzten Volkszählung als über
100 Jahr alt verzeichnet waren, konnte doch für 101 von diesen ein
niedrigeres Alter amtlich festgestellt werden. Für 67 von den übrigen 83
konnten zudem authentische Beweise des angegebenen Alters nicht erbracht
werden; solche fanden sich nur für 16. Unter ihnen war ein Mann von
über 116 J. Unter jenen 83 Personen waren 52 weiblichen, 31 männ¬
lichen Geschlechts. W.
*** Die Zahl der Selbstmorde in Frankreich betrug i. J. 1887
in 87 Departements 7572; hiervon kamen allein auf das Departement der
Seine, welches etwa den fünfzehnten Teil der Bevölkerung enthält, 1420,
also etwa der fünfte Teil der Selbstmorde. Die meisten Selbstmorde kamen
im Juli vor (790). Es starben durch Selbstmord 5964 Männer und 1608
Frauen; im Seine-Departement war die verhältnismässige Zahl der Männer
grösser. 1508 Selbstmörder standen im Alter von 50—60 J., 1394 zwischen
40 und 50 J., 992 zwischen 30 und 40 J.; 166 Selbstmörder waren über
80 J. alt. — Leider fehlt die Angabe des Verhältnisses der Zahl der Selbst¬
mörder zu der in den einzelnen Altersklassen Lebenden. Als Ursachen
werden angegeben in 888 Fällen Armut, Verarmung; in 1031 Fällen Fa-
milien-Kummer; in 1125 Fällen Liebe, Eifersucht, Scham über schlechte
Handlungen, Trunksucht (809 mal); 1228 mal körperliche Leiden, in 27
Fällen Gewissensbisse, in 218 Furcht vor Strafe, in 2168 Fällen Hirnkrank¬
heiten, 339 mal verschiedene, 575 mal unbekannte Veranlassungen. (Vgl.
Revue sanitaire de Bordeaux, 1888, Nr. 114.) W.
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Litteratnrbericht.
Dr. Georg Cornet, Die Verbreitung der Tuberkelbacillen ausserhalb des
Körpers, Zeitschrift für Hygiene, fünfter Band, Seite 191.
In ausgedehnten Versuchsreihen hat Verf. das vorliegende Thema be¬
arbeitet und dabei die nachstehenden, auch in praktischer Hinsicht höchst
wichtigen Resultate erhalten.
Verf. spritzte aus der Luft abgesetzten Staub in die Bauchhöhle von
Meerschweinchen. Enthielt derselbe Tuberkelbacillen oder deren Sporen,
so starben die Thiere an tuberkulöser Bauchfellentzündung. Der Staub
stammte aus 7 Krankenhäusern, 3 Irrenanstalten, 2 Zellengefängnissen so¬
wie aus den Privatwohnungen von 53 tuberkulösen Privatpatienten; ferner
wurden in den Bereich der Versuche gezogen die Räumlichkeiten mehrerer
Polikliniken, eine Privatklinik für Hautkranke, ein Waisenhaus, der Hörsaal
des pathologischen Instituts zu Berlin, Strassendamm, Wände, Dachböden,
Treppenhäuser verschiedener privater und öffentlicher Gebäude u. s. w.
ln den Krankensälen, von welchen 18 fast nur mit Phthisikern belegt
waren, wurde der zur Untersuchung benutzte Staub entnommen von den
Bettstellen, Bettleisten, Schränken, Wäschekasten, Wänden, Holzgesimsen,
Bildern, Tischen, Bettdecken, Sophalelmen u. s. w. Dabei erhielt Verf. in
denjenigen Räumen, in welchen Phthisiker sich aufhielten, häufig positive
Resultate, d. h. die Versuchstiere gingen an Tuberkulose zu Grunde,
während von 29 Staubproben aus Räumen, in denen sich Phthisiker nicht
längere Zeit aufgehalten hatten, sich nicht eine als infectiös erwies. Dies
erklärt sich einerseits durch die schon von Koch gefundene Thatsache,
dass die Tuberkelbacillen zumal wegen ihrer Abhängigkeit von der Tem¬
peratur ausserhalb des menschlichen und tierischen Organismus sich nir¬
gends entwickeln und vermehren können, anderseits durch den Umstand,
dass von bakterienhaltigen Flüssigkeiten durch Verdunstung oder darüber¬
streichende Luft niemals Bakterien weitergeführt werden, dass, wie Wern ich
nachgewiesen hat, selbst bei Schaumbildung eine Ueberführung von
Keimen aus klebrigen Flüssigkeiten nur sehr schwer stattfindet und ge¬
trocknete Mikroorganismen, mögen sie für sich bestehen, oder festgefügten
Substanzen anhaften, auch an die stärksten Luftströme Keime niöht ab¬
geben. Daher ist die Ausathmungsluft der Schwindsüchtigen stets frei von
Tuberkelbacillen und deren Sporen, und gleich ungefährlich ist der ausge¬
hustete Auswurf, so lange er feucht ist, da er dann Bacillen in die Luft
nicht übergehen lässt. Kommt daher der Auswurf in mit Flüssigkeit ge¬
füllte Handgefasse, die in ein Abgussrohr entleert werden, so ist die Ge¬
fahr der Uebertragung der Tuberkulose durch Einathmung gering; gelangt
er in Spucknäpfe mit Sand oder Sägespähne, so kann er schon eher ein-
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trocknen und sich verstäuben, abgesehen von der Gefahr der Uebertragung,
die entsteht, wenn die Kranken neben den Spucknapf spucken. Am leich¬
testen wird Ansteckung stattfinden, wenn der Kranke überhaupt nur auf
den Boden spuckt. Indess auch hier wird das Eintrocknen des Auswurfs
in gewissem Grade behindert durch dessen Schleimgehalt, indem letzterer
Wasser anzieht und so den Auswurf feucht erhält. Begünstigt wird da¬
gegen das Eintrocknen, wenn der Auswurf in Taschentücher gelangt. Dies¬
bezüglich haben vor allem Wernich’s Versuche ergeben, dass hierzu
bei keimhaltigen porösen Körpern bereits mässige Luftströmungen aus¬
reichen. Was von Taschentüchern gilt, gilt natürlich auch von Hemden
und Betttüchern. Im Hause der Kranken kommen daher vor¬
nehmlich die Taschentüch er und der Fussboden inBetracht.
Ausserhalb der Häuser, bes. auf den Strassen, sind die genannten Faktoren
von geringerer Wirksamkeit, da die Grösse des Raumes die Bacillen mehr
vertheilt und so die Gefahr der Einathmung herabsetzt; überdies kann ein
Zerstäuben des Auswurfs nur bei trockenem, nicht bei feuchtem oder
regnerischem Wetter stattfinden. Am ausgiebigsten ist die Pulverisirung
bei trockenen, zumal bei Ostwinden. Jedoch verliert bei längerem Austrocknen
des Auswurfs in dünner Schicht der Tuberkelbaci 11 us seine Virulenz, während
zugleich zahlreiche Bacillen in die Kanäle wandern und dort am Austrocknen
wie auch am inficiren gehindert werden. Als Beweis für Gesagtes führt
Verf. die Gesundheitsverhältnisse der Berliner Strassenkehrer an, für
welche (605 Mann mit 107 Kranken) vom 1. April 1886 bis 31. März 1887
der Prozentsatz der Lungenkrankheiten ein niedrigerer war, als die für
alle anderen Berufsklassen in der HirTschen Tabelle aufgeführten dies¬
bezüglichen Werthe, und unter welchen nur 29,42 °/° 1 bis 5 Jahre,
die übrigen sämmtlich längere Zeit bei der Strassenreinigung arbeiteten.
Ist somit die Gefahr der Infection auf den Strassen eine geringe, so
erscheint sie grösser in begrenzteren Räumen, in welchen zahlreiche Menschen
zu verkehren pflegen (Läden, Gasthäusern, Schreibstuben, Fabriken),
und in welchen fast nirgends in so genügend er Weise für Spuck¬
näpfe gesorgt ist, dass der Schwindsüchtige sie ohne Auf¬
sehen zu erregen benutzen kann. Derselbe istdort vielmehr
fast stets auf Boden und Taschentuch angewiesen.
Von den Staubproben waren frei von pathogenen Mikroorganismen:
in den 7 Krankenhäusern unter 38..4,
Ä „ 3 Irrenanstalten , 11..1,
„ „ 2 Gefängnissen „ 5..1,
g g Wohnungen von Privatphthisikern 9 62..5,
g g Polikliniken, Waisenhaus etc. g 12..2,
, , chirurgischen Sälen w 3..2,
auf den Strassen, vom hyg. Institut g 14..5.
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299
Ueber das Schicksal der geimpften Thiere gibt folgende Tabelle Auf¬
schluss:
Aufenthaltsort
Zahl der
ge¬
impften
davon
starben
1 also an
1 Infec-
tions-
d. h. im
% Satz
zu den
ge¬
impften
gesund
blieben
Thiere
über¬
haupt
an
Tuber¬
kulose
an and.
Krank¬
heiten
krank-
heiten
überhpt.
über¬
haupt
in den 7 Kranken¬
häusern .
94
20
52
72
76,6
22
in den 3 Irrenanstalten
33
3
16
19
57,5
14
in 2 Gefängnissen....
14
—
6
6
42
8
Inhalat. Versuchszim-
mer.
4
2
2
50
2
Privatphthisiker.
170
34
91
125
73,5
25
Polikliniken, Waisen¬
haus.
28
14
14
i
50
14
Chirurgische Säle ....
8
—
1
1
12,5
n
$
Strassen und hygien.
Instituten.
41
16
16
39
25
Strassen allein.
—
— j
—
—
55
—
Also von.
392
59
196
255
65,05
137
Nach den längere Zeit am Leben gebliebenen Thieren zu urtheilen,
würde die Gefahr, tuberkulöses Virus anzutreffen, sein:
in Krankenhäusern 47,6 %,
in Irrenanstalten 17,6%,
in Privat Wohnungen von Phthisikern 43,6 %.
Aus gesagtem folgt unter Anderem: 1) die der Gesundheit fast gar
nicht schädliche Beschaffenheit der Luft in gut geleiteten chirurgischen Kranken¬
stationen (Folge der Antiseptis), 2) eine erheblich grosse Gefahr zur Er¬
krankung in den Privatwohnungen der mittleren und ärmeren Volks¬
klassen, 3) die grösste Gefahr in den internen Stationen der
Krankenhäuser (die chirurgischen Abtheilungen verhalten sich in dieser
Hinsicht zu den internen wie 12,5 :76,6), mithin eine Mahnung, in den
Sälen der internen Stationen vorläufig keine Operationen auszuführen.
Ist nun die grosse Häufigkeit des Tuberkelbacillus in % der mit Phthi¬
sikern belegten Säle nicht auffallend, so ist bemerkenswerth, dass % der¬
selben Säle eine von Tuberkulose-Virus freie Luft anfwies. Dieser Gon-
trast erhebt die Frage: Kann ein unreinlicher Phthisiker einen ganzen
Krankensaal verpesten, indem die verstäubten Bacillen seines Auswurfs
überallhin verbreitet werden? Diese Frage ist zu bejahen. Denn Verf. fand
stets dort den Staub Tuberkelbacillenhaltig, wo die Patienten
ausser in den Spucknapf auf den Boden und in die Taschen¬
tücher spuckten, während da, wo nur der Spucknapf benutzt
wurde, niemals ein Thier durch den Staub tuberkulös wurde.
So erklärt es sich, wenn in einer Familie alle Angehörigen, Einer nach
dem Anderen, an Schwindsucht zu Grunde gehen, während in einer an-
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— 300 —
deren ein Fall vereinzelt bleibt oder auf wenige Familienmitglieder sich
beschränkt. Es harmoniert damit auch die relativ hohe Tuberkulosemortali¬
tät unter den Geisteskranken in Irrenhäusern, die sich durch die Unreinlich¬
keit bes. der Melancholiker erklärt. Letztere weisen unter den Geistes¬
kranken den höchsten Prozentsatz an Tuberkulosetod auf.
Indem wir bezüglich der Details auf das Original verweisen, mögen
hier nur noch einige, auch den Laien besonders überzeugende Beobachtungen
kurz erwähnt werden.
Eine seit mehreren Wochen in einem Hotel wohnende
Schauspielerin, seit langer Zeit lungenschwindsüchtig, entleert
ihren Auswurf meist in den Spucknapf oder in's Taschentuch,
kaum je auf den Boden; das Zimmer wird gewöhnlich trocken
ausgefegt und dann feucht aufgewischt. Staub von der Quer¬
leiste an Kopf- und Fussende des Bettes wird drei Thieren ein¬
gespritzt. Alle erkranken an Tuberkulose. Das Zimmer war so¬
mit inficirt und der in der nächsten Zeit dort Schlafende hatte
somit die beste Gelegenheit, schwindsüchtig zu werden.
In einem anderen Falle erwies sich die Wand nahe an einem
Bette, in dem vor sechs Wochen eine tuberkulöse Patientin ge¬
storben war, mit Staub behaftet, der ebenfalls genügte, um 2 Thiere
tuberkulös zu machen.
Bei Besprechung der prophylaktischen Massregeln, die aus Vcrfs.
Untersuchungen sich ergaben, geht Verf. von dem Grundsätze aus, dass
der Phthisiker an sich fast absolut ungefährlich ist und erst durch üble
Angewohnheiten gefährlich wird. Soll die Gefahr der Ansteckung vermin¬
dert werden, so muss der Phthisiker wissen, dass, wenn er je eine Ge¬
fahr bildet, er stets die grösste Gefahr für sich selbst bildet, dass
er selbst im Gentrum einer von ihm selbst gebildeten Bacillenstaubwolke
und in dieser sich stets in der Gefahr befindet, durch Inhalation neuer
Bacillen das Fortschreiten des phthisischen Prozesses in den Lungen zu
beschleunigen. Wie im eigenen Interesse, so soll er daher auch im Inter¬
esse seiner Umgebung die grösste Vorsicht beobachten. Er soll, wenn
er zu Hause ist, nie und unter keinen Umständen auf den
Boden, nie, unter keinen Umständen in’s Taschentuch
spucken, sondern in einen Spucknapf. Am besten sind
Handspucknäpfe mit Deckel, da sie die Verstreuung des Auswurfs
und die Verbreitung desselben durch Insekten am meisten ausschliessen.
Wird der Boden beim Aushusten beschmutzt, so ist der Auswurf nicht
auszutreten, sondern mit Wasser zu entfernen. Desinfectionsmittel im
Spucknapf wären wohl angebracht, wenn nicht der Kostenpunkt und die
lange Dauer der bei wirksamer Desinfection nöthigen Einwirkung der Des-
inficientien davon abhielte. Uebrigens haben Flüssigkeiten im Napf den
Nachtheil, dass sie der besten Eigenschaft des Auswurfs, der Klebrigkeit,
entgegenwirken und, wenn ein Zufall den Napf umschüttet, der Infections-
stoff viel schwerer entfernbar ist als sonst. Trockener Sand und Säge-
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301
spähne sind unzweckmässig, weil sie eine Verstäubung zulassen. Im Inter¬
esse der leichteren Reinigung ist höchstens eine ganz dünne, kaum den
Boden des Napfes bedeckende Schicht Wasser zulässig. Bei plötzlichen
Hustenanfällen halte der Kranke rasch ein Tuch vor, um eine möglichst
rasche Fixirung des ausgehusteten fein zertheilten Nebels, wenn dieser auch
meist bacillenfrei ist, zu erreichen. Er vermeide das Küssen, zumal auf den
Mund, und die Berührung von Dingen mit dem Munde, die, etwa wie
Spielzeug, später in die Hände anderer Personen gelangen. Gläser und
Löffel etc., die er benutzte, dürfen erst nach sorgfältiger Reinigung mit
heissem Wasser von anderen Personen benutzt werden. Seine Wäsche
werde möglichst getrennt von der Hauswäsche gewaschen, die Taschen¬
tücher und Hemden sind stets auszukochen. Stirbt ein Phthisiker,
so hüte man sich, ihn nach dem Tode zu küssen, besonders auf den Mund,
reinige und desinficire, was sich desinficiren lässt, also alle nicht mit Holz
oder Leder verbundene Möbelstücke, reibe die Wände mit Brod ab (Es-
mareh’s Methode etc.).
Gesagtes betrifft die Vorsichtsmassregeln im Verkehr mit Phthisikern.
Eine andere Frage lautet: In welcher Weise kann sich eine bis da¬
hin intakte Familie vor der Tuberkulose schützen? In dieser
Hinsicht hat die Prophylaxe schon gleich nach der Geburt des Menschen
zu beginnen. Eine phthisische Muttter reiche ihrem Kinde nicht die Brust!
Ebenso sind Ammen und sonstiges Dienstpersonal vor dem Engagement
womöglich vom Hausarzte zu untersuchen, und wenn nur Verdacht auf
Tuberkulose vorliegt, nicht zuzulassen. Kuhmilch ist nur aus wohl contro-
lirten Ställen zu beziehen und nur frisch gekocht zu gemessen. Die
Kindermädchen sollen abgehalten werden, fremde Leute oder Kinder zu
küssen. In der Schule sorge der Lehrer für die Benutzung der Spuck¬
näpfe. Die Reinigung der Zimmer hat stets auf feuchtem Wege zu ge¬
schehen, der Kehricht ist zu verbrennen. Man vermeide den Umgang mit
Menschen, die auf den Boden oder in’s Taschentuch spucken, man vermeide
es in ihrem Beisein tief einzuathmen, suche dagegen fest auszuathmen, sorge im
Uebrigen für das Aufstellen von Spucknäpfen in genügender Zahl und an
geeigneten Stellen. Beim Wohnungswechsel lasse man die Wände der
neuen Wohnung mit Brod abreiben. Man benutze keine Leihbibliotheken,
vermeide es, in Gasthäusern beim Reinigen der Zimmer zugegen zu sein,
schränke in Gasthäusern und Kurorten den Gebrauch von Teppichen und
Vorlagen möglichst ein, verbiete in Fabriken und sonstigen grösseren
Betrieben das Spucken auf den Boden und in’s Taschentuch. Es hat also
die ganze menschliche Gesellschaft daraufhin zu wirken, dass die Prophy¬
laxe der Krankheiten der Athmungsorgane allen Volksschichten bekannt
werde.
Auch den Gemeinden liegen diesbezüglich besondere Pflichten ob.
Wie den anderen Infectionskrankheiten gegenüber, so muss auch zum
Schutze gegen die Tuberkulose jedes Gemeinwesen im Besitze eines zuver¬
lässigen und auf ärztliche Bescheinigung hin auch für die mittleren
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— 302 —
Volksklassen unentgeltlich zur Verfügung stehenden Desin-
fectionsapparates sein. Gemeinde und Staat sollten in den ihnen
untergeordneten Gebäuden für Aufstellung von, wenn auch billigen, Spuck¬
näpfen Sorge tragen und der auf nassem Wege auszuführenden Strassen-
reinigung und dem Besprengen der Strassen mit Wasser die
grösste Aufmerksamkeit zuwenden. Endlich dürfte von Anstalten für
Schwindsüchtige, wie solche in England bestehen, nur Gutes zu erwarten
sein. Schwindsüchtige in Anstalten zusammenzubringen, hält Verf. für er¬
laubt, aber nur, wenn die Nichtbeachtung der vorgeschriebenen Vorsichten
Strafen, event. Entlassung nach sich zieht. Dagegen verbietet sich die
Vereinigung von Phthisikern mit Nichtphthisikern, soweit man nicht die
Garantie für die absolut zweckmässige Beseitigung des Auswurfs zu über¬
nehmen vermag. In allen Krankenhäusern empfiehlt es sich, von Zeit zu
Zeit zu revidiren, ob nicht die Taschentücher zum Hineinspucken benutzt
werden.
Nach Besprechung der Prophylaxe der Uebertragung der Tuberkulose
der Thiere auf den Menschen betont Verfasser schliesslich noch diejenigen
Gefahren der Uebertragung, die der Handel mit alten Kleidern und
die sog. Bettfedernreinigungs-Anstalten mit sich bringen, deren
Reinigungsmethoden, wie Verfs. Versuche beweisen, in keiner Weise den
Anforderungen genügen.
Die allgemeine Anerkennung, welche die Resultate der Gornet’schen
Untersuchungen gefunden haben, ist denselben auch von den Behörden zu
Theil geworden. So sah sich des Polizeipräsidiums von Berlin zu nach¬
stehender Verfügung veranlasst, welche die Prophylaxe der Tuberkulose in
den Privat-Irrenanstalten zu regeln bestimmt ist.
Es heisst dort:
Berlin, den 12. April 1889.
„Auf Grund der für das Gemeinwohl so wichtigen Ergebnisse
der Cornersehen Untersuchungen und mit Rücksicht darauf, dass
Geisteskranke nicht selten an Tuberkulose (Schwindsucht) erkran¬
ken, ersuche ich pp. pp. ergebenst, für die Zukunft folgende
Vorschriften für Ihre Privat-Irrenanstalt im Interesse der übrigen,
Ihrer Obhut anvertrauten Kranken beachten und gefälligst zur
Ausführung bringen zu wollen:
1) Offenbar Tuberkulöse sind, soweit thunlich, von anderen Kran¬
ken abzusondern.
2) Sämmtliche Kranke, die an dieser Krankheit leiden, oder der¬
selben verdächtig sind, werden streng gehalten, lediglich in mit
wenig Wasser am Boden bedeckte Speigefösse den Auswurf zu
entleeren. Jene Gefässe sind täglich mindestens einmal mit
siedendem Wasser zu reinigen, der Gesammtinhalt wird in
die Aborte entleert. Etwaige Besudelungen des Fussbodens,
der Lagerstellen, der Wände pp. werden, soweit möglich, so¬
fort mit siedendem Wasser oder in anderweit zweckent-
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— 303
sprechender und zuverlässiger Weise entfernt, besudelte Ge¬
brauchs- und Bettwäche wird entfernt und ausgekocht.
3) Bettstücke, Matratzen, Decken pp. sowie alle Gebrauchsgegen¬
stände, welche Schwindsüchtige benutzt haben, sind nach
Massgabe der diesseitigen Polizei-Verordnung vom 7. Februar
1887, betreffend Desinfection bei ansteckenden Krankheiten, zu
behandeln, beziehungsweise den hiesigen städtischen Desinfec-
tions-Anstalten zu übergeben, soweit nicht etwa Aus kochen
angängig ist.
4) Auch die Desinfection derjenigen Zimmer, in welchen Schwind¬
suchtkranke gelegen haben, erfolgt nach dem Abgang der
letzteren durch Entlassung oder Tod nach Massgabe der vor¬
erwähnten Bestimmungen. “
Flatten.
„Taschenfläschchen für Hnster" nach Dettweiler’s Vortrag auf dem Con-
gress für innere Medizin 1889.
Gor net hat durch seine bekannten eingehenden Untersuchungen (Zeit¬
schrift für Hygiene 1888, V. Band) unwiderleglich bewiesen, dass die In-
fectiosität der Luft in der Umgebung des Phthisikers, der seinen Auswurf
auf den Fussboden oder in das Taschentuch entleert, der überhaupt * un¬
reinlich spuckt“, eine Thatsache ist, in sofern er mit dem aus dieser Luft
abgesetzten Staube, welcher zu einem Theile aus dem eingetrockneten und
zerriebenen Sputum stammt, in unzweideutiger Weise Thiere zu inficiren
vermochte. Dass in der That nur der Staub, welcher getrocknetes und
fein zertheiltes Sputum beigemengt enthält, inficirend wirkt, hat Gornet
dadurch bewiesen, dass mit dem Staube aus 6 Krankensälen, die dicht
mit Phthisikern belegt waren, in denen aber nur in vorgeschriebener rich¬
tiger Weise gespuckt wurde, keine Infection erzielt werden konnte, während
eine solche in der grossen Mehrzahl der Fälle gelang, wo Taschentuch oder
Fussboden hierzu benutzt wurden. Aus diesen Untersuchungen ergibt sich
zunächst eine erhebliche Einschränkung der bisher noch vielfach vertrete¬
nen Meinung vor der Ubiquität des Tuberkelbacillus. Ferner ist dadurch
die für den Schwindsüchtigen und seine Umgebung in hohem Grade beru¬
higende Thatsache erwiesen, dass der Tuberkulöse an und für sich nicht
die geringste Gefahr bringt, dass er ganz unschädlich ist, sobald für die
sorgfältige Beseitigung seines Auswurfs und für die Desinfection seiner
Kleidungsstücke und sonstiger Gebrauchsgegenstände genügend und richtig
Sorge getragen wird. Bezüglich der ersteren Forderung würde die einfache
und klare Formel die sein, dass der Kranke nur und ausschliesslich in ein
Speiglas spuckt, welches Flüssigkeit enthält und regelmässig an einen sichern
Ort entleert wird. Der Kranke wird seiner Umgebung und sich selbst nur
gefährlich durch üble Gewohnheit, Nachlässigkeit und Unkenntniss. Durch
unsere gesellschaftlichen Gewohnheiten und Einrichtungen ist der mit Aus¬
wurf behaftete Lungenkranke in vielen Fällen sogar gezwungen, den Fuss-
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— 304 —
boden oder das Taschentuch zu benutzen, und somit unreinlich und ge¬
fährlich zu werden, da ihm in der Amtsstube, im Geschäft, in der Kirche,
im Theater, im Restaurant, im Concert-, Hör- und Gerichtssaal, namentlich
im Wartesaal und auf langer Eisenbahnfahrt kaum Gelegenheit gegeben ist,
seinen Auswurf anders als in der gerügten Weise fortzuschaffen. Mit dem
Nachweis der Schädigung des Allgemeinwohls durch solche Gepflogenheiten
erwächst uns die ernsteste Pflicht Abhülfe zu schaffen. Dies soll nun durch
das vor dem Congress für innere Medizin demonstrirte .Taschenfläschchen
für Huster“, welches Dettweiler nach seinen Angaben durch die Firma
Gebr. Noelle in Lüdenscheid hat hersteilen lassen, erreicht werden. Das
kleine Geräth ist ein etwa 80 ccm. haltendes, flaches, blaugefärbtes Glas¬
fläschchen, welches zwei Oeflnungen besitzt, eine obere grössere zum Ein¬
fahren des Sputums mit einem metallenen Schraubenverschluss, der ausser
einem gut schliessenden und federnden Deckel noch einen glatt polirten
bis in die Hälfte des Fläschchens reichenden conischen Trichter enthält.
Die Construction entspricht demnach den bekannten Tintenfässern, und ver¬
hindert das Ausfliessen des Inhaltes beim Umdrehen, selbst wenn der Deckel
nicht geschlossen ist. Die untere kleinere Oeffnung dient als Reinigungs¬
loch und hat gleichfalls einen Schraubenverschluss. Das kleine Instrument
ist handlich, billig, sicher schliessend und lässt sich leicht und vollständig
reinigen. Es ist also nicht zu leugnen, dass es seinem Zwecke durchaus
entspricht.
Die Befürchtung eines Widerstrebens der betheiligten Kreise gegen den
allgemeinen Gebrauch des Taschenfläschchens hält D. nicht für zutreffend.
Es liegt vor allem den Aerzten ob, das Publikum eindringlich zu ermahnen,
dass die seitherigen Gewohnheiten sich nicht mehr mit den Rücksichten
auf das eigene und das Gemeinwohl vertragen, dass sie unreinlich und
gefährlich sind. Wenn jeder Arzt in seinem Kreise, wenn die Lehrer vom
Katheder herab, wenn namentlich die Fach- und Tagespresse ihre ungeheure
Macht für diese gute Sache einsetzen, so würde in verhältnissmässig kurzer
Zeit Wandel geschaffen werden können, und damit eine wahrscheinliche
Verminderung weiterer Ansteckungen, wie wir sie bislang nicht für mög¬
lich gehalten haben. Deshalb ist es Pflicht, mit allen zulässigen Mitteln
hierfür einzutreten, wie wir bereits viel einschneidendere Massregeln bei
Typhus, Scharlach, Diphtheritis, Pocken und Cholera anwenden und willig
befolgt sehen.
Das von D. erfundene und befürwortete Taschenfläschchen ist natürlich
nur ein Glied in der Kette von mannigfachen Massnahmen, die wir die
Hygiene des Phthisikers nennen müssen, wie dies auch Cornet in seiner
Schrift schon ausführlich dargethan hat. Vor allem ist, um das Wichtigste
anzuführen, die Aufstellung praktischer Spucknäpfe überall zu fordern.
Dettweiler demonstrirte das in der Heilanstalt Falkenstein gebräuchliche
Modell, das sich in mehrjährigem Gebrauche als sehr zweckmässig erwiesen
hat. Der Kehrbesen sollte in Anstalten, im Krankenhause, im Hotel und
in der Pension für Lungenkranke verpönt sein; Wohnräume und Gänge
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— 305 —
müssen feucht aufgenommen werden. Teppiche, mit Ausnahme einer klei¬
nen Bettvorlage, sollte man zu beseitigen streben, die Zimmer nach und
nach mit Linoleum und ähnlichen glatten und abwaschbaren Stoffen be¬
legen, die Zimmerwände nach der Abreise oder nach dem Tode eines
Lungenkranken mit frischem Schwarzbrode abreiben, die Effecten durch
überhitzten Wasserdampf desinficiren. Auf diese Weise würde zusammen
mit dem obligatorischen Gebrauche des Taschenfläschchens eine Sicherheit
geschaffen werden, die kaum übertroffen werden kann, und deren wohl-
thätige Folgen sich bald bemerklich machen würden. D. spricht mit Recht
zum Schlüsse die Ueberzeugung aus, dass ein in diesem Sinne geleitetes
Krankenhaus, eine Heilanstalt oder Pension für Lungenkranke weniger Ge¬
fahr für Gesunde und Kranke bringen wird als irgend ein Ort der Welt,
oder als eine nach den bisherigen Gewohnheiten gehaltene Privatwohnung.
Meissen, Falkenstein i. Taunus.
Mediz.-Rath Pr. Dietrich (Stettin): Die Bedeutung der Krankenhäuser im
Gemeinwesen. — Gesundheit. 1888. Nr. 1.
Die Zahl der Krankenhäuser und der Plätze in denselben ist in
den verschiedenen Provinzen Preussens eine sehr verschiedene. Abge¬
sehen von Berlin, welches die meisten Kranken, nämlich 2,18°/o der
Bevölkerung, in Krankenhäusern verpflegt, sorgen die Provinzen Westfalen,
Schlesien und Rheinprovinz am reichlichsten für ihre Kranken. Im Jahre
1885 wurden von je 10,000 Einwohnern in Westfalen 140, in Schlesien
119, in der Rheinprovinz 117 Kranke in Krankenhäusern behandelt, da¬
gegen in Ostpreussen nur 52, in Posen 53, Hessen-Nassau 63, Pommern
67 und Sachsen 67. Verf. tritt nun mit Recht warm dafür ein, die Zahl
der Krankenhäuser, und namentlich thut dies auf dem Lande und in kleine¬
ren Orten noth, zu vermehren.
Die bekannten Vorzüge der Krankenhausbehandlung, namentlich für
schwerere Erkrankungen, werden des näheren ausgeführt: bessere geregelte
Pflege durch geschultes Personal; reinliche ruhige Krankenzimmer; zweck¬
mässige Ernährung; erleichterte ärztliche Behandlung; bessere Hülfsmittel
zur Krankenpflege und schliesslich grössere Billigkeit gegenüber der Kranken¬
behandlung im Privathause. Verf. wünscht vor allem für jeden Kreis ein
• wohleingerichtetes Kreis-Krankenhaus, welches jedem Kranken Aufnahme
gewährt, und gibt aus eigener Erfahrung heraus beherzigenswerthe Vor¬
schläge und Winke über das Pflegepersonal in einem solchen Krankenhause,
wofür er geistliche Pflegerinnen vorzieht, über die Lage des Bauplatzes,
Anordnung der verschiedenen Räume des Hauses, Heizung und Ventilation,
Fussböden, Zwischendeckenfüllung, glatten Verputz der Wände, Ausstattung
mit Instrumenten und Apparaten zur Krankenbehandlung u. s. w.
Schmidt-Bonn.
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306
Hack Tube, Geist und Körper, Studien über die Wirkung der Einbildungskraft,
übersetzt von Dr. Kornfeld. Jena bei Fischer 1888.
Der durch zahlreiche Arbeiten unter seinen Fachgenossen rühmlichst
bekannte englische Irrenarzt hat sich der ebenso mühsamen wie dankbaren
Arbeit unterzogen, die in der Literatur zerstreuten und oft mehr anek¬
dotisch behandelten Fälle zu sammeln, wo sich der Einfluss des Geistes
auf den Körper in einer zuweilen an das Wunderbare grenzenden Art und
Weise kundgibt. Seine Absicht war, wie er selber angibt, das bereits Be¬
kannte festzustellen, da er, wie Bacon, der Ansicht sei, dass Jeder ein
Schuldner seines Berufes und daher auch verpflichtet sei, ihn zu fördern.
Der Verfasser hat aber mehr gethan, als uns eine blosse Zusammen¬
stellung sogenannter interessanter Fälle zu liefern. Er hat sie auf eine be¬
stimmte physiologische Grundlage gestellt und das anscheinend unwissem
schaftliche Material einer streng wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen,
um aüf diese Weise zu einem Verständnisse der Wirkung zu gelangen und
die Natur dessen festzustellen, was wir gewöhnlich unter Einbildung ver¬
stehen.
Das Buch ist von allgemeinem Verständnisse und auch von allgemeinem
Interesse, und nach allen Seiten geeignet, eine Menge von Irrthümem zu
zerstreuen und richtig zu stellen.
Ich sage absichtlich nach allen Seiten, da die Gefahr ebenso besteht
für die Leichtgläubigkeit, die alles annimmt, selbst das Absurde, wie für
den Skepticismus, der nichts annimmt, nicht einmal die Wahrheit.
Der Gegenstand, den Tuke behandelt, ist vielleicht einer der inter¬
essantesten, die es gibt, und zumal jetzt von besonderer Bedeutung, da der
Hypnotismus sich immer mehr in die Wissenschaft hineindrängt und es
für den Gebildeten nothwendig wird, Stellung zu ihm zu nehmen.
Nach Tuke’s Ansicht besteht das Prinzip, das anscheinend allen Er¬
scheinungen des Hypnotismus zu Grunde liegt, in dem bemerkenswerthen
Einflüsse, den der Geist auf jedes Organ oder Gewebe des Körpers aus¬
übt, worauf die Aufmerksamkeit mit Ausschluss anderer Ideen gerichtet
wird. Hierbei geräth der Geist nach und nach in einen Zustand, worin,
je nach dem Wunsche des Ein wirkenden, Theile des Nervensystems erheb¬
lich erregt und andere in demselben Verhältnisse herabgestimmt werden
können. Es ist also möglich, die Blutfüllung, die Innervation und die
Funktionen eines Organes oder Gewebes je nach dem Sitze und der Natur
des Leidens zu reguliren und zu ändern.
Ueberhaupt ist das Vermögen des Geistes, den Körper zu beeinflussen, nicht
etwas Flüchtiges. Im Zustande der Gesundheit vermag dieser Elinfluss die
Sinnesverrichtungen zu erhöhen oder ganz und gar aufzuheben, mittelst
der Nerven die Thätigkeit der willkürlichen Muskeln bis zu krampfhaften
Zusammenziehungen zu steigern oder sie leistungsunfähig zu machen; die
Muskeln des organischen Lebens und die Vorgänge bei der Ernährung und
Absonderung anzustacheln oder zu lähmen, ja selbst den Tod zu verur¬
sachen. Bei Krankheit kann er die, kn Zustande der Gesundheit durch ihn
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— 307 —
aufgehobenen, Leistungen wieder hersteilen, indem er die Sinnes- und
Bewegungsnerven innervirt, den Blutumlauf und die Funktionsfähigkeit der
Nerven zur Norm zurückführt und der Heilkraft der Natur beisteht, sich
von krankhafter Thätigkeit frei zu machen oder Erzeugnisse derselben auf¬
zusaugen.
Unzweifelhaft ist die Natur aus eigener Kraft und ohne Kunsthülfe im
Stande, Krankheiten zu heilen, und ebenso unzweifelhaft ist der Glaube
ein mächtiges Mittel, das heute noch wie vor Jahrhunderten Wunder wirkt.
Aber der Glaube kann, so mächtig er auch ist. doch nicht auf die
gleiche Stufe gestellt werden mit der Wirkung eines Mittels wie des Brech¬
weinsteins oder des Bitterwassers. Diese Mittel wirken auf den Gerechten
ebenso gut, wie auf den Ungerechten, und der Verständige wird sich ihrer
Macht ebenso gut beugen müssen, wie der Unwissende. Vom Glauben aber
können wir nur dann etwas erwarten, wenn der Betreffende auch wirklich
an seine Wirkung glaubt, und daher die beschränkte Ausdehnung der Be¬
handlung durch den Glauben.
Schlägt doch die Medizin am wenigsten bei den Aerzten an, weil sie
zu wenig an ihre Wirkung glauben und zu viel darüber nachdenken. Je
mehr einer weiss, um so weniger Aussicht hat er, durch den Glauben ge¬
heilt zu werden, und hier wenigstens erweisen sich die Armen im Geiste als
die Bevorzugten.
Wenn aber für den Kranken der Glaube das Beste ist, um Heilung
zu erlangen, so kann der Arzt den Skeptizismus nicht entbehren, der ihn
allein zur Wahrheit führen wird. Zweifel ist der Schlüssel zur Schatz¬
kammer des ärztlichen Wissens, Glaube das Schloss, das der Kranke nicht
zerbrechen darf, will er der Segnungen der Gesundheit theilhaftig werden.
Diesen Erfahrungssätzen des englischen Collegen schliessen wir uns
an, und wir müssen die Klarheit bewundern, womit er seinen schwierigen
Gegenstand beherrscht hat.
Und wenn er zum Schlüsse die Hoffnung ausspricht, dass es ihm ge¬
lungen sei, eine feste und vernunftgemässe Grundlage für jene zusammen¬
gesetzten Erscheinungen aufzustellen, die ihren Ursprung in dem Einflüsse
des Geistes auf den Körper haben, so gestehen wir ihm dies unbedingt zu
und fügen unsererseits den Wunsch bei, sein Buch möge auch in Deutsch¬
land dieselbe Verbreitung finden wie in England.
Hack Tuke hat uns in der That eines der seltenen Bücher geliefert,
die selber das Ergebniss eines langen und arbeitsamen Lebens, wohl ge¬
eignet sind, System in unser Wissen zu bringen und dieses Wissen selbst
einen guten Schlag zu fördern. Darum wollen wir ihm dafür dankbar
sein und unseren Dank auch auf den Uebersetzer ausdehnen, der die nicht
leichte Aufgabe übernommen hat, das englische Werk zu einem deutschen
zu machen.
Pelman.
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308
La valgarisation de Thypnotisme et de la Suggestion. Le Mouvement
Hygtenique. 1888. F6vr.
In diesem Aufsatze wird auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die
mit der öffentlichen Schaustellung hypnotischer Versuche unzertrennbar ver¬
bunden sind, und es wird im Interesse der Gesundheitspflege deren Verbot
gefordert. Da sich diesem Verbote durch die Ortspolizeibehörde in Belgien
anscheinend Schwierigkeiten entgegenstellen, wird eine Rede angeführt, die
Dr. Thiriar im Abgeordnetenhause gehalten hat, und worin er auf diese
Gefahren des weiteren eingeht.
Die gleichen Erwägungen haben in anderen Staaten, und auch bei uns
bereits zu einem solchen Verbote geführt und man kann es nur mit Freu¬
den begrüssen, wenn pathologische Zustände nicht zum Gegenstände müs*
siger Neugierde herabgewürdigt werden, und es verhindert wird, dass sich
Unberufene mit Dingen befassen, die nur zu Unfug und Verbrechen führen
können. P e 1 m a n.
Gesetzgebung über Alkohol und den Vertrieb der Getränke in Frank¬
reich. Journal d’Hygtene. 23. Aug. 1888 u. ff.
Seit längerer Zeit beschäftigte sich der französische Senat mit dieser
Frage, ohne es bis jetzt zu einem greifbaren Erfolge gebracht zu haben.
Es ist eben gerade bei dieser Frage besonders schwer, die absolute
Freiheit des Einzelnen mit der unumgänglich nothwendigen Beschränkung
in Einklang zu bringen.
Dass etwas geschehen müsse ist klar und wird in dem Commissions-
berichte von Neuem betont.
Auch darüber sind die Herren im Reinen, dass es ausser dem über¬
mässigen Genüsse auch die schlechte Beschaffenheit des genossenen Ge¬
tränkes sei, wodurch das Elend verschuldet werde. Letztere, die schlechte
Beschaffenheit, kann durch vermehrte Sorgfalt bei der Darstellung und
verschärfte Aufsicht verhindert werden, und gegen den zügellosen Genuss
würde neben einer Verteuerung des Getränkes selbst, auch eine Verminde¬
rung der Schankstätten sich wirksam erweisen.
Allerdings sind über die Wirksamkeit der zweiten Massregel die Mei¬
nungen getheilt. Doch ist die Commission der Ansicht, dass der Nachtheil
einer zu grossen Anzahl von Schankstätten auch ohne statistischen Nach¬
weis unbezweifelbar sei, zumal dann, wenn das Verhältniss sich wie 1886
in Frankreich, 1 zu 93 Einwohner stelle. Die Schänke stelle eine Gelegen¬
heit zum Trinken dar, und in der Versuchung liege die Gefahr, darüber sei
nun einmal nicht zu streiten.
Daher Beschränkung der Schenkgerechtsame — soweit dies in einem
republikanischen Staate durchführbar sei, und Verteuerung des Branntweins
durch Steuern, in so fern nicht der Schmuggel dadurch herausgefordert werde.
Ueber die Schädlichkeit der verschiedenen Alkohole herrsche bisher
keine Uebereinstimmung und es erscheine daher noch zu früh, zu bestimmten
und möglicherweise eingreifenden gesetzgeberischen Massregeln zu schreiten,
so lange nicht festere Grundlagen für ihre Berechtigung gewonnen sind.
Pelman.
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— 309 —
Amtliche Mittheüungen ans den Jahresberichten der mit Beaufsichtigung
der Fabriken betrauten Beamten. XII. Jahrgang. 1887. Behufs Vorlage
an den Bundesrath und den Reichstag, zusammengestellt vom Reichsamt
des Innern. Berlin 1888.
Von dem werthvollen und höchst instructiven Werke können wir selbst
für dieses Fachblatt, wollen wir auch nicht annähernd uns eines zu grossen
Raumes bemächtigen, nur bruchstückweise eine Uebersicht geben, und
müssen im Grossen und Ganzen auf das 328 gr. 8°-Seiten umfassende Buch
verweisen.
Die Einleitung enthält (S. 1—30) die Eintheilung der Aufsichtsbezirke
(48), die Namen der Aufsichtsbeamten und ihrer — bis auf das reichlicher
bedachte Königreich Sachsen — sehr spärlichen Hülfsbeamten, sowie ihre
Zuständigkeit und in statistischer Uebersicht zusammengestellte Thätigkeit
(d. h. die Zahl ihrer Revisionen und ihrer Reisetage). Darauf werden die¬
jenigen Fragen bezeichnet, auf die die Aufsichtsbeamten in diesem Jahre
ihre besondere Aufmerksamkeit zu richten hatten (besonders das Lehrlings¬
wesen *), seine gewerbliche und sittliche Ausbildung, sein procentuarisches
Verhältniss zu der Zahl der beschäftigten Arbeiter), sowie der Stand der
Industrie und des Arbeitsmarktes in zusammenfassender Weise erörtert.
Am Schlüsse werden die Fragen des Schutzes der Handweberei vor weiterer
Einschränkung und die Mittel, eine Ausdehnung des Flachsbaues und eine
rationelle Behandlung desselben zu erzielen, besprochen (S. 30—32).
Aus dem 2. Hauptabschnitt „Jugendliche Arbeiter, Arbeiterinnen und
Arbeiter im Allgemeinen“ (S. 33—150) heben wir Folgendes hervor:
Kinderarbeit nahm ausser in 6 Bezirken im Königreich Sachsen
zu: 6110 Knaben (12—14 Jahre) vom Jahre 1886 stehen 6550 von 1887
gegenüber. Mädchen desselben Alters 3618 (aus 1886) : 4102 (aus 1887).
Im Procentsatz zur Gesammtzahl der in Sachsen beschäftigten (1886: 289,492;
1887: 314,518) Arbeiter heisst dies: eine Zunahme der Mädchen um 0,1 pCt.
Ausser diesen in 5607 Fabriken (gegen 4907 im Vorjahr) beschäftigten
Arbeitern standen noch 465 Knaben und 8 Mädchen (von 12—14 Jahren)
in 64 Bergwerken in Arbeit.
Was die Zahl von Uebertretungen betrifft, so sind besonders im Bezirk
Düsseldorf von 514 revidirten gewerblichen Anlagen in 105 davon Ueber¬
tretungen vom Inspector constatirt worden, durch die 423 jugendliche Ar¬
beiter — 132, darunter 26 Kinder durch zu lange Arbeitszeit; 19 durch
Nachtarbeit; 12 durch Sonntagsarbeit; 258 durch Nichtgewährung der
Pausen; 2 durch Arbeit an Reisswölfen — betroffen wurden.
’) Die jüngst (seit Nov. 1888) in Nürnberg unter Stadtpfarrer Kreppei zu
Tage getretenen Bestrebungen erscheinen, soweit ich nach der Allgem. Zeitung
vom 13. Februar 1889 beurtheilen kann, sehr nachahmungswerth. Zu dem
„Verein Lehrlingsschutz* 1 haben sich schon über 200 Lehrlinge gemeldet. Jetzt
will man zur Gründung eines Asyls schreiten, in dem arme Lehrlinge und jugend¬
liche Arbeiter Wohnung und Pflege finden können.
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— 310 —
Die grösste Zahl der ermittelten Uebertretungen, nämlich 479 (davon
die Textilindustrie 234!) fällt auf Chemnitz.
Die „elf Stunden dauernde Arbeitszeit für die an Spinnmaschinen be¬
schäftigten jungen Leute“ (d. h. 14—16jährige) ist wiederum die Quelle
vieler Streitigkeiten. Hier kann nur das Machtgebot oder richtiger Verbot
des Staates helfen — in der Entwicklung begriffene junge Leute fesselt man
nicht 11 Stunden in den Fabriksaal und selbst wenn er noch so gut ven-
tilirt ist. Das ist eine erste Pflicht der Gesundheitspflege des Staates.
Da hilft auch kein Hinweis auf die national-ökonomische Seite. Wohl mag
es schwere Uebergangsverhältnisse dann geben, aber so ist die Einrichtung
— ein hygienisches Verbrechen, wir haben kein anderes Wort dafür.
Es ist daher auch ein illoyales Vorgehen, wenn über „die unzureichende
Art der ärztlichen Zeugnisse wieder geklagt wird.“ Von wem? Dem auf
der Uebertretung ertappten Arbeitgeber, der den Wortlaut des Attestes zu
seinen Gunsten deutet? Der in Unkenntniss über seine verwerfliche Aus¬
nützung des Menschenmaterials, der heranwachsenden armen Menschen¬
kinder dieselben für ihr ganzes Leben schädigt ? In Unkenntniss, sage ich,
über die Tragweite seines fahrlässigen Laisser aller. Ja, wo der Wunsch,
kinderreichen Familien helfen zu wollen, den Schein der Nächstenliebe noch
erweckt oder — ich gebe es gern zu — Gutmüthigkeit die alleinige Trieb¬
feder war. Und der arme Doktor wird gar noch zum Prügelknaben, der
— aus Mitleid, der flehentlichen Bitte einer drängenden Mutter zu Liebe —
ihr das Attest für das 14jährige Kind ausstellt, zumeist doch ohne jeden
Entgelt, wie wir aus eigener Erfahrung wissen! Der arme Arzt, der, so
lange das Gesetz ihm nicht diesen inneren Kampf erspart, und eine elf-
stündige Arbeit für 14jährige verbietet, der Noth und der Bitte vor
seinem Auge diese Concession wider sein besseres Wissen macht, fast
machen muss! —
Um in Cigarrenfabriken hygienische Verbesserungen vorzunehmen,
haben die Unternehmer „nicht immer das gewünschte Entgegenkommen
gezeigt“ (pag. 53).
Betreffs der Uebertragung ansteckender Krankheiten hat eine
Schuldirektion in Leipzig aufmerksam gemacht, dass Kinder, deren Ge¬
schwister daran krank liegen, vom Schulunterricht dispensirt sind, wohl
aber ihrer Fabrikarbeit nachgehen dürfen. Ja, es wird „dies als eine wahre
Wohlthat empfunden, dass sie länger arbeiten und dann mehr verdienen
können“.
Dass die Moralität der Fabrikarbeiterinnen eine so niedere
wäre, weist der Bericht als durchschnittlich irrig zurück. Ein Pfarrer in
Württemberg betonte dies ausdrücklich. Ja, ein tüchtiger Ortsvorsteher
meinte, der Procentsatz der unehelichen Geburten seiner Ortsangehörigen
spräche durchaus nicht zu Gunsten der auswärts als Dienstboten beschäf¬
tigten Mädchen gegenüber den in der nahen Fabrik Arbeitenden. Auch
der Zwickauer Beamte hat einen nachtheiligen Einfluss auf die Sittlichkeit
durch die Fabrikarbeit nicht constatiren können.
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— 311
Die Fälle von Merkurialismus in den Quecksilberspiegel belegen zu Fürth
sind geringer (178 Arbeiter, % weibliche haben 1887 1388 Krankentage,
1886 dagegen 4074!) 14% männliche, 86% weibliche Arbeiter erkrankten.
Wie die „Allg. Zeitung“ Anfang Februar 1889 meldete, stehen energische
Maassnahmen der bayerischen Regierung zur Besserung dieser Zustände
bald bevor.
Ueber die „ gesundheitsschädlichen Einflüsse der Lumpensortirräume
der Papierfabriken“ wird pag. 64 geklagt. Auch hier wäre ein rasches
energisches Einschreiten der Behörden erwünscht. Zu streng kann sie
gar nicht sein. Man lese nur, was Dr. Paltauf in der „Wiener Klinischen
Wochenschrift 1888“ über die allerdings infectiöseste „Hadernkrankheit“
veröffentlicht. Vielleicht geht mancher Lump—enfabrikant in sich, wenn
er die Tragweite seiner Nachlässigkeit erst kennt.
Ob die Aermste, die pag. 64 „ durch die üble Gewohnheit, sich die
Fingernägel abzubeissen, selbst viel an ihrer Phosphornekrose Schuld“
tragen dürfte, wagen wir nicht mit derselben apodiktischen Gewissheit, wie
der Aufsichtsbeamte in Niederbayem zu entscheiden — trotzdem wir auch
principiell auf dem pädagogischen Standpunkte des Struwelpeters stehen
und uns auf das Strengste gegen das „Daumenlutschen“ aussprechen.
Hoffentlich meint der Aufsichtsbeamte für Düsseldorf unter der „geradezu
anstössigen Kleidung“ in Mannestracht, die er hie und da bei Arbeiterinnen
in Ziegeleien und Schleifereien angetroffen (pag. 64), nicht die
plumpen Männerstiefel und den hochgeschürzten Rock. Ich würde ihm
sonst nicht beistimmen können. Der hohe Stöckelschuh der Goquette, ihre
gern gezeigte Wade, der liberal entblösste Ballbusen sind mir wenigstens
anstössiger, als die Kleidung, in der ich arme Ziegelarbeiterinnen aus
praktischen Gründen ihre Arbeit — allerdings nicht in D. — verrichten
gesehen.
„Sowohl aus gesundheitlichen, wie sittlichen Rücksichten —
die Voranstellung der gesundheitlichen Rücksichten ist jedenfalls lobend an¬
zuerkennen — tadelt der Aufsichtsbeamte für Trier-Aachen, dass viele Ar¬
beiterinnen angekleidet in den Stopp- und Stopfsälen auf dem Tuch oder
loser Wolle übernachten und Sonnabends Abend stets erst nach Hause
zurückkehrten, um dann wieder Montag früh bis Sonnabend ununterbrochen
in der Fabrik zu bleiben (pag. 65).
Als erfreuliches Pendant sei das „Arbeiterinnenhospiz“ einiger Arbeit¬
geber in Aachen (mit 190 Betten), ferner die Schlafsäle für 50—75 Mädchen
von Carl Mez <fc S. und Mez, Vater & S. (Seidenfabriken Freiburg i./Br.) nebst
täglicher, vollständiger, einfacher, aber ausreichender Verpflegung für 30
bis 35 Pfg. täglich (ihre Löhne täglich 60—120 Pfg.) hervorgehoben.
Mit eben erwähntem Arbeiterinnenhospiz ist eine Arbeitsschule ver¬
bunden, in der 16 Arbeiterinnen Unterricht im Kochen, Bügeln, Zuschneiden,
Ausbessern etc. erhalten. Hier sind auch unter den von Gebr. Heyl & Co.
(Charlottenburg)zu erwähnenden Wohlfahrts-Einrichtungen ein „Jugendheim“
mit 23 Knaben, 27 Mädchen (Näheres pag. 70) lobend zu erwähnen. In
Gentralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 22
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312
je einer Baumwollspinnerei zu Bayreuth und Bamberg werden 100 resp.
80 Schülerinnen, 6—14jährig, 2 Mal wöchentlich von 1—3 Uhr (etwas öfter
wäre wohl räthlich!) in weiblichen Handarbeiten unterrichtet. Die rühmlichst
bekannten Einrichtungen der Dresdener Steingutfabrik von Villeroy & Boch
unter ihrem Director Dr. Wilckens verdienen den ersten Platz. Drei Leh¬
rerinnen unterrichten, eine in Stopfen und Häkeln, die andere in Weiss¬
nähen, die dritte im Kleidermachen. Jede derselben hatte 10 Arbeiterinnen,
Anfangs Sonntags 11 — 1 resp. 1 —3 Uhr. Später nahmen gegen 60 Frauen
und Mädchen Theil an dem Unterricht, der jetzt täglich nach Beendigung
der Arbeit stattfindet. Eine Stunde des Unterrichts wird auf die
Arbeitszeit angerechnet. —
Von den 4852 Arbeitern, die die Zunahme im Bezirk Schleswig-
Holstein repräsentiren (in 1 Jahre? Ref.) waren 1462 Arbeiter allein in
der Industrie der Nahrungs- und Genussmittel beschäftigt — mehr
als Metallverarbeiter und Maschinenarbeiter (600 resp. 366). — Da in den
Feinspinnsälen 20—22° R. bei meist sehr unvollkommener Ventilation
herrscht, 12 1 /* —13 1 /«ständige Arbeitszeit*) hier üblich ist, so stellte mit
grossem Recht der Beamte für Minden eine gesetzliche Regelung als
nothwendig hin.
Was über Sonntags- und Nachtarbeit gesagt ist, müssen wir bitten, im
Original selbst Seite 88 ff. nachzulesen. Wir heben hier nur hervor, dass
eine Oldenburger Warbs-Spinnerei mit 386 Arbeitern regelmässige Nacht¬
arbeit eingeführt hat. In einer der grössten Mahlmühlen Dresdens, mit der
eine Bäckerei verbunden ist, waren 6 jugendliche Arbeiter gewöhnlich von
12 Uhr Mittags bis 4 Uhr Nachts, manchmal sogar 18 Stunden beschäftigt,
während die Arbeitszeit einiger Frauen und Mädchen, welche ebenso wie
die vorgedachten Arbeiter bei dem Arbeitgeber wohnten, einschliesslich
einiger Pausen von 2 bis 3 Stunden mitunter bis zu 20 Stunden betrug.
Auf Veranlassung der Gewerbe-Inspection wurde die Arbeitszeit der Mädchen
theilweise geändert. Die jugendlichen Arbeiter wurden entlassen. Von der
Bestrafung des Arbeitgebers erhielt der Aufsichtsbeamte keine Kenntniss.
Der Abschnitt schliesst mit der Bemerkung, dass die zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer bestehende Spannung nicht lediglich durch Opferwillig¬
keit des Besitzenden allein überbrückt werden kann, sondern dass dazu
auch eine werkthätige und selbstlose Opferfreudigkeit nothwendig ist. Einige
Fabrikbesitzer bestreben sich in anerkennungswerther
Weise jedem ihrer Arbeite r dasjenige Maass von Achtung
zu zollen, das alle ehrliche Arbeit fordern kann. Dieses
Thun lohnt sich selbst; denn in den Werkstätten solcher
Unternehmer ist ein ganz ander er T on vorherrschend. Die
*) Was soll man aber sagen, wenn man von 13—15stündiger Arbeitszeit
liest? Nicht auf Sklavenplantagen, sondern — im Wupperthale und in dem
benachbarten Lengerfeld in den dortigen Spitzenfabriken (cfr. «Köln. Ztg. 13. Febr.
1889, 2tes Blatt)!
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— 313
Aufseher sind höflicher, die Arbeiter zuvorkommender
und freundlicher, sie haben Anhänglichkeit an die Arbeits¬
stelle und wechseln weiniger, so dass die gesammte Arbeiter¬
schaft einer solchen Fabrik in einander verwachsen, leistungs¬
fähiger und den Interessen des Arbeitgebers förderlicher sein
wird, alseine solche, die sich beinahe täglich durch Wechsel
verändert.
Der folgende Abschnitt, „Heranbildung gelernter Arbeiter, Vorarbeiter
und Werkmeister“ (pag. 55—150), ebenso instructiv wie knapp geschrieben,
betrifft zwar sehr die Gesundheit der Gewerbe und Fabriken, aber nicht
direct ihre Gesundheitspflege. Wir müssen daher auf das Original verweisen.
Der 3. Hauptabschnitt bespricht den Schutz der Arbeiter vor Gefahren.
Statistische Angaben und Zusammenfassung erleichtern auch hier die Ueber-
sicht. Nicht überall hat die Zahl der Unfälle constatirt werden können,
die lediglich auf den Mangel geeigneter Schutzvorrichtungen zurückzuführen
wäre. Von den 794 Unfällen in Mittel- und Oberfranken hätten 54 oder
6,8®/p bei besserer Einrichtung oder dem Vorhandensein einer ent¬
sprechenden Schutzvorrichtung verhütet werden können (pag. 154). Der
Württemberger Aufsichtsbeamte schiebt die Mehrzahl der Unfälle auf Mangel
an Erfahrung und Achtsamkeit der Arbeiter, mannigfach auch auf
ungenügende Vorsicht und Disciplin Seitens der Fabrikleiter
und auf mangelhafte Einrichtungen und schlechte Ordnung
in deren Betrieb zurück. Verhütbar durch Schutzvorrichtungen wären
kaum 20 pCt.
Dass Montag und Sonnabend zahlreichere-Unglücksfälle aufwiesen,
ist — ausgenommen Reuss j. L. — nicht constatirt worden. Hier war ein
Plus von 6 resp. 10 pCt. und zwar, weil Montag vorwiegend Unachtsam¬
keit , Sonnabend Zuwiderhandlungen gegen erhaltene Anweisung beim
Putzen der Maschinen, die häufigeren Unfälle verursacht hatte.
Bei jugendlichen Arbeitern (Württemberg, Hamburg) war leider
ein Plus von Unfällen — von 3,2 auf 5,0 pCt. — zu constatiren um so
bedauerlicher, da die jugendlichen Arbeiter (14—16jährige) noch nicht
2,5 pCt. der Gesammtarbeiterzahl ausmachen.
ln Hessen betrafen 47 pCt. aller Unglücksfälle 16jährige Arbeiter
(48 von 103 Unfällen). In einer Fabrik mit zahlreichen Holzbearbeitungs¬
maschinen wurden besonders jugendliche Arbeiter beschäftigt, die bei even¬
tueller Noth wendigkeit höherer Lohnzahlung stets entlassen wurden. Ebenso
praktisch wie inhuman! —
An den 3598 Aufzügen und Fahrstuhl-Einrichtungen des Königreichs
Sachsens kamen 1887 100 Unfälle vor, von denen 98 Personen betroffen
wurden. Im Interesse der Unfallverhütung wurden 1138 diese Ein¬
richtungen betreffende Anordnungen gegeben.
Die Präcisions-Sicherheits-Fangvorrichtung für Fahrstühle, Patent Max
Rossbach, wird warm empfohlen; sie ist compendiös, sehr accomodations-
fähig und gibt die „denkbar grösste Sicherheit“. Auch für kleine Mühlen
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— 314 —
empfiehlt sie der Bericht sehr. 3 Zeichnungen (Maassstab 1:25) erläutern
sie. Der Merseburger Beamte rühmt von ihm: Der Fangapparat functionirt
unabhängig von der Last, die Last trägt nicht an ihm und sie vermag
seine Bewegung nicht zu stören oder zu beeinflussen. (Chemnitzer Aus¬
stellung erster Preis.) —
Wenn auch die Firma Gustav Lamparter in Reutlingen für 4 1 /» Mark
gefällige und ungemein praktische Normal-Anzüge für männliche und weib¬
liche Arbeiter liefert, so sind diese doch nicht zu bewegen, sie zu tragen:
die weibliehen besonders wollen lieber auf die Arbeit verzichten, als diese
„Züchtlingskleider“ anlegen, die allerdings so eng anliegen, dass sie die
Unfälle durch Fassen der Vorsprünge, Falten, Puffen der Röcke, Aermel
oder dergleichen durch die Maschinen vermeiden.
Auch ein verkehrter Ehrbegriff, der Manchem Leben oder Gliedmassen
kostet — ganz wie bei manchem Duell!
Die Unglücksfälle — selbst bei nur aufgerolltem Hemdärmel — lese
man nur selber pag. 164 nach (Potsdam—Frankfurt a. 0.)
Gegen die Schutzbrillen herrscht noch immer eine klägliche Antipathie,
die viele Augenverletzungen zur Folge hat. So im Bezirk Potsdam—Frank¬
furt allein 31, wovon 20 vermeidbar (pag. 167) waren. Ein seltener Un¬
glücksfall war, dass ein Eissplitter eine innere Augen Verletzung hervor¬
brachte, als an einer kleinen Kreissäge Bretter besäumt wurden.
Der Entzündung von Kohlenstaub fielen auf einer Briquette-Fabrik
11 Arbeiter zum Opfer (8 ausserdem verletzt). Wieder keine Sicherheits¬
lampen ! Wieder nicht das System Schultze, wo die Kohle mittelst Dampf
in Trommeln getrocknet wird und dann ohne Weiteres in die Pressen gelangt!
Eine Reihe fernerer Unfälle (pag. 169—172) wird berichtet. Schliesslich
wird die Nothwendigkeit rascher erster Hülfeleistung betont, das gründliche
Anlemen eines „hierzu besonders geeigneten Mannes durch einen Militär-
Oberlazareth-Geholfen bei Gebr. Koch in Lausigk hervorgehoben und schliess¬
lich die Dr. Pistor’sche Anweisung (Erste Behandlung Verletzter. Berlin,
Enstin 1883) vom Potsdamer Aufsichtsbeamten neben der Haltung eines
Verbandkastens besonders empfohlen.
Im Bezirk Chemnitz wurden in 2458 Fällen Anordnungen von Schutz-
massregeln getroffen. Die Polizei musste öfter, als früher, hier Nachdruck
geben. Der Bremer Beamte beklagt sich mit Recht, dass „Schutzvorrich¬
tungen der gewöhnlichsten Art noch anzuordnen nöthig wären“ (pag. 174).
Die Schutzvorrichtungen in der Pulverfabrik zu Hamm a. d. Sieg an
den Walzen sind mit Erfolg angewendet worden. Sie sind so einfach,
dass wir sie hier gern wiederholen:
„Durch den Stoss der Explosion gegen eine über den Walzen ange¬
brachte Platte wird mittelst eines Hebelwerks ein dort aufgehängter Wasser¬
trog in den Teller des Walzwerks entleert. Die Einrichtung des Hebelwerks
ist so getroffen, dass bei der Explosion eines Walzwerkes gleichzeitig auch
in den benachbarten, durch Wälle getrennten gleichartigen Werken die
betreffenden Pulversätze mit Wasser übergossen werden.“
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315
Die Schutzvorrichtungen für Fraismaschinen (Baden) sind mit 10 Figuren
auf 2 Tafeln erläutert. — ln Niederbayera hat eine grosse Papierfabrik alle
bewegten Maschinentheile und Rohrleitungen roth lackiren lassen; die
ruhenden Maschinentheile sind schwarz gestrichen.
Zur Verhütung des Ausgleitens von Leitern auf schlüpfrigem Fussboden
(starke Fettansammlungen) wurde auf Einführung cylindrischer Gummi¬
unterlagen hingewirkt (Hessen).
DieM aschinenfabrikanten, wenige ausgenommen, liefern
Maschinen, die jeder Schutzvorrichtung entbehren (pag. 182).
Eine ebenso beklagenswerthe wie kaum glaubliche Thatsaehe! Hier thäte
ein energisches Eingreifen der Genossenschaften Noth!
Der folgende Abschnitt ist den * gesundheitsschädlichen Einflüssen“
gewidmet. Auch hier verzeichnet der Bericht einen Fortschritt im Ganzen
und Grossen. Arbeitgeber, noch mehr aber Arbeiter, lassen es manch¬
mal an dem vollen Verständniss und Interesse für die Bedeutung der von
den Aufsichtsbeamten empfohlenen Massnahmen fehlen.
Die noth wendigste Ventilation findet besonders bei den weiblichen Ar¬
beitern (Schwarzburg-Sondershausen) entschiedene Gegnerinnen; sie wollen
lieber „recht warm sitzen“. Dieses traurige Factum, welches la plus sen¬
sible partie de Thumanite betrifft, steht pag. 187 wörtlich. Es wird wohl
die alte Leier sein, dass Viele noch nicht wissen, dass zwischen Ventilation
und Erwärmung kein diametraler Gegensatz existirt, dass jeder Verständige
viel lüftet und daher viel heizt, und dass nicht Derjenige der Dumme ist,
der sich ruhig nachsagen lässt, er heize für die Strasse, sondern Derjenige, der
für den Winter nach einem möglichst hermetischen Fensterverschluss sucht.
Dies in Parenthese, aber grossgeschrieben.
Die elektrische Beleuchtung hat erheblich zur Verbesserung der Luft
beigetragen. Eine Wohlthat für die Athmungsorgane nennt sie der Bericht.
— Recht günstige Erfahrungen betreffs Luftverbesserung und Ersparung an
Beleuchtungskosten und besserem Licht hat man in Plauen mit einer Be¬
leuchtungsart gemacht, bei der den Flammen der Petroleumlampen
gepresste Luft zugeführt wird.
ln Baden hat man die Einführung frischer und er wärm ter Luft in
den zur Anfertigung von Cigarren bestimmten Anlagen zur Durchführung
gebracht, auch in kleineren, dem hausindustriellen Betrieb näher stehenden
Anlagen. Ein dankenswerther Fortschritt! ln den Cementfabriken Badens
ist eine Einrichtung zur Aufsaugung des Staubes 1887 durchgeführt worden
und hat sich bewährt. Die Karden in den Baumwollspinnereien sind mit
Einrichtungen zur Aufsaugung des Staubes fast in allen Fabriken versehen
worden. Die wenigen restirenden sollen alsbald nachfolgen.
Ueber die Verbesserungen der mit grosser Staubentwickelung ver¬
bundenen Fadenputzmaschinen der Nähseidefabriken, um den Staub aufzu¬
saugen, lese man S. 190 nach.
Mittelst mechanischer Pressung wurde im Winter vorgewärmte, im
Sommer abgekühlte Luft den Arbeitssälen in Spinnereien und Webereien
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316
zugeführt, resp. die Anlage in den nächsten 3 Jahren in je */« der in Frage
stehenden Arbeitsräume zur Pflicht gemacht. —
Der „nicht durchsehbare“ Staub (Pfalz etc.), der sich in den
Knochen- und Thomasschlackenmühlen der Düngerfabriken entwickelt und
die Athmungswerkzeuge sehr stark reizt, sollte durch verschiedene Mittel
beseitigt oder erträglich gemacht werden. Mit trockenem Humor sagt der
Bericht, dass das Mittel eines Thon- und Graphitmahlwerkes (Bezirk Düssel¬
dorf) während der Schicht 2—3 Mal einen Schnaps zu reichen
selbstredend nicht geeignet wäre. — Mehrere Fälle von Lungen¬
katarrh und Lungenentzündung mit t ödtli ehern Ausgang (Ost- und West-
preussen, Düsseldorf) in Thomasschiakenmühlen haben zur Berufung einer
besondem Untersuchungscommission Veranlassung gegeben. Diese hat ver¬
schiedene Schutzvorrichtungen (Hülsen, Abdichtungen etc., cfr. S. 191), auch
bezüglich der bewährten Staubsammlungsmaschinen Prinz-Kreiss, mit treff¬
lichem Erfolge veranlasst.
Die Zustände in den Haasenhaarschneidereien, Pelzwalkereien (beim
Läutern von Schaffellen mittelst Thon und in den Zurichtereien bei dem
Trocknen von Affen feilen unter Benützung von offenen Goaksfeuern, sind
sehr reformbedürftig. Der Widerstand der Affen feil-Händler gegen
einen anderen Trocknungsmodus erscheint als eine wahre Affenschande.
Zur Beseitigung des Staubes in Gementfabriken haben sich in der be¬
treffenden Fabrik von Dyckerhoff & Söhne in Amöneburg bei Bieberich
Vorrichtungen bewährt, die der Aufsichtsbeamte für Hessen pag. 192 in
extenso mittheilt und durch 3 Abbildungen erläutert.
Den sehr lästigen Staub in einer Farbenfabrik (Pfalz) hat der Auf¬
sichtsbeamte mit Erfolg angerathen, an der Quelle desselben, in Kniehohe
mittelst des vorhandenen Exhaustors nach abwärts abzusaugen.
Im Bezirk Merseburg-Erfurt wird der Männerraum einer Cigarren-
fabrik des Nachts als Trockenstube benutzt — horribile dictu! In
einem andern Arbeitssaal derselben Fabrik war der den Arbeitern gewährte
Luftraum zu gering, dafür fehlte es an einer geeigneten Ventilation. Hier
wäre wohl die Internirung des Fabrikbesitzers für einige Nächte in diesen
Raum — als Trockenobject — als bestes Mittel zu empfehlen. Auch eine
Humoralpathologie! Als ein Gegenstück werden die Einrichtungen der
Fabrik Rothmann zu Burgsteinfurt gerühmt, wo sämmtliche 38 Personen
aussergewöhnlich wohl aussehen; die Arbeitszeit ist von 7 Uhr früh bis
Abends 7 Uhr mit je 3 einstündigen Pausen, während deren kein Arbeiter
in der Fabrik sich befinden darf, ebenso wie nach der Arbeit, ln jeder
Pause nach 7 Uhr wird gründlich gelüftet. Seit dem Bestehen dieser Fabrik
(1867) sind 2 Arbeiter gestorben. Näheres über die Grösse der Fabrik¬
räume, der Fenster der 2 gegenüber liegenden Luftklappen sehe man Seite
194 nach. Trocken- und Lagerraum sind von dem Arbeiterraum getrennt
Die Einlage wird 5—7 Mal täglich an die Roller für etwa zwei
Stunden vertheilt. — Zum Schutz gegen die grosse Hitze, der die
in der Nähe der Schmelzöfen der Glashütten beschäftigten Arbeiter ausgesetzt
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— 317
'sind, ist den Arbeitgebern im Dresdener Bezirk durch die Polizei aufgegeben
worden, genaue Situationspläne über den gegenwärtigen Bestand an Schmelz-
und Kühlöfen anfertigen zu lassen und für jede Veränderung in der Anlage der¬
artiger Oefen besondere Genehmigung nachzusuchen. In einer Oldenburger
Hütte hatten die Arbeiter an derjenigen Seite, die der Windrichtung abgewendet
war, durch die Wärme des Ofens zu leiten. Ein zur Beseitigung dieses Uebel-
standes angebrachter Wasserzerstäubungsapparat entsprach nicht den An¬
forderungen. Man hat daher an Stelle desselben einen mechanisch in Be¬
wegung gehaltenen Fächer, aus einer Welle mit leichten Windflügeln
bestehend, angebracht, wodurch ein gelinder kühlender Luftzug zur vollen
Befriedigung der Arbeiter erzeugt wird. — Die grosse Belästigung durch
die strahlende Wärme in Schriftgiessereien, wogegen gewöhnlich die
Umwandung der Rauchrohre der Giesmaschinen empfohlen wird, wird besser
dadurch vermieden, dass diese Rohre nicht senkrecht nach oben, sondern
horizontal in den nahe stehenden Schornstein geführt werden (Hessen).
Im Sommer ist die Hitze besonders in solchen Arbeitsräumen gesteigert,
deren Decke gleichzeitig das Dach des Gebäudes bildet. Ebenso in den
Schettsälen (Sachsen-Altenburg). Hoffen wir auf baldige Besserung! Ebenso
bei den Gussputzern in Giessereien, die sehr starkem Zugwind ausgesetzt
sind (pag. 196).
Beim Betriebe von Gasometern hat 17 Mal der Leipziger Beamte allein
Abhülfe gegen das Eindringen von Verbrennungsproducten in die Arbeits¬
stätten urgiren müssen. — Zweckmässige Dunstfänge aus Eisenblech (nähere
Beschreibung pag. 197) wurden oft in den Schmelzräumen der Schrift¬
giessereien gegen die dort sich entwickelnden Dünste empfohlen.
Um die Entwicklung von schwefliger Säure — bekanntlich eines der
irrespirabelsten Gase — zu hindern, hat man in der betreffenden Fabrik,
wo mineralische Rohöle und Fette zum Zwecke der Reinigung mit Schwefel¬
säure vermischt wurden, SO* in eine Sodalösung geleitet. So bildete sich
SO* NaO und GO» wurde von einer Luftpumpe abgesogen. — Die Ein¬
richtungen zur Beseitigung des Eindringens gesundheitsschädlicher Gase im
Arbeitsraum (Theer mit Säuren bezw. Laugen behandelt) werden bei der
Neuanlage der Mineral öl fabrik der Riebeck’schen Montanwerke muster¬
gültig genannt. Sie wird aber nur gut situirten Unternehmungen möglich.
— Dem in gewissen Schleifereien bestehenden Uebelstande, die Schleifer¬
arbeit im Liegen vorzunehmen, entgegenzuwirken, ist in Baden gelungen.
In den Obersteiner Achatschleifereien — beträchtlich zahlreichere Betriebe
mit 855 erwachsenen und 100 jugendlichen Arbeitern — hat man sich
diesen sanitären Vorschlägen gegenüber ablehnend verhalten.
Die „Schleiferkrankheit“ — man trifft selten bejahrte Arbeiter dort
— wird im Bericht zum erheblichen Theil auf die Arbeit im Liegen zurück¬
geführt. Der beständige Druck auf Brust und Bauch, die ungleiche Er¬
wärmung durch das Liegen auf Holz (die Bauchseite wird warm, die Rücken¬
seite relativ kalt; manche Arbeiter heizen daher auch im Sommer!) bei
nasskaltem Boden des Arbeitsraumes, der sich bei der veralteten Bauart der
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— 318
Anlagen in oder unter der Höhe des aufgestauten Wassers befindet, sind
genug krankmachende Momente; der Bericht fügt noch die Leichtlebigkeit
mancher Schleifer — wohl keine berufliche Specialität — hinzu.
Alle Mühe des Oldenburger Beamten, für die jugendlichen Arbeiter
wenigstens die Arbeit in sitzender Stellung zu ermöglichen, war vergebens.
Arsenik ist in den Gerbereien des Bezirks Bautzen auf Anregung
des Aufsichtsbeamten durch das weniger gefährliche Schwefelcalcium
ersetzt worden. Ueber die Ventilationsvorrichtungen in Anlagen, wo Phos¬
phor zur Verarbeitung kommt und die Gefahr der Phosphor-Nekrose
eine drohende ist, müssen wir auf das Original (pag. 200—202) verweisen.
Da der bisherige hohe Preis ventilirter Tunkapparate ihre Verbreitung
hinderte, hat der Aufsichtsbeamte für Hannover, Gewerberath Ecker, einen
billigeren und einfacheren Apparat, der sich sehr bewährt, construirt. Preis:
230—280 Mark, bei Gebr. Pfropfe in Hildesheim. Zwei Zeichnungen er¬
läutern es.
Trotz der Strenge, die gegen Bleifarben- und Bleizuckerfabriken
im Interesse der Arbeiter angewendet wurde, hat ein vielversprechender
Fabrikant im Bezirk Düsseldorf die für seine Tasche vortheilhafte Einrich¬
tung getroffen, für die gefährlichste Arbeit nur zeitweise Leute zu
beschäftigen und diese nicht in die Krankenkasse aufzunehmen; Kranken¬
unterstützung gewährte er entweder gar nicht oder verzögert. Dafür wurde
in seiner Fabrik ein sehr starker Bierverbrauch constatirt, den allerdings
die Firma nicht in die Hand genommen hatte; es wurde einem Sohne des
Werkmeisters die lucrative Mühe dieses Bierhandels nachgewiesen, der als
Bierhändler sicherlich eine Zukunft hat. Nur nicht in betreffender Fabrik,
wie der Aufsichtsbeamte ihm bemerklich machte. „Der Missbrauch wurde
nach einer Verwarnung abbestellt,“ sagt der Bericht lakonisch.
Was über die hygienischen Verhältnisse, den hier doppelt ungeeigneten
öfteren Arbeiterwechsel in den B1 ei weiss- und Mennigefabriken gesagt
wird, bitten wir Seite 203 selbst nachzulesen. Die rühmlichen Verhältnisse
einer kleinen Fabrik in Bendorf seien hier besonders hervorgehoben (zwei
kurze Erkrankungen seit 1876 bei 8 Arbeitern). Fast sämmtliches Bleiweis wird
dabei in Pulverform versendet, circa 4-000 Gentner jährlich. — ln einer
andern Fabrik trinken die Arbeiter zum Schutze gegen Bleikolik reichlich
Milch, was nur allen zu empfehlen ist.
Die Arbeiter der Chromfarbenfabriken, die mit chromsaureni
Blei in Berührung kommen, sind weit weniger Bleivergiftungen ausgesetzt,
als die Arbeiter der Bleiweissfabriken, die das weit löslichere kohlensaure
Blei aufnehmen.
„Am gefährlichsten ist der Bleistaub in Form von Bleiglätte, wie er
namentlich zur Glasur in Ofen- und Steingutfabriken immernoch
Verwendung findet“ (pag. 205).
In einer Roburitfabrik (Arnsberg) sind Erkrankungen unter den
Erscheinungen der Nitrobenzolvergiftung (hochgradige Cyanose etc.)
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— 319 —
beobachtet worden. Seither ist mit Erfolg die Arbeitszeit von 10 auf
7 Stunden beschränkt worden.
Ueber Holzgeist und Pyridin, die bösen Geister des denaturirten
Spiritus, wurde oft Klage geführt. „Augenreiz, Kopfschmerz und
Uebelkeit“ wurden darauf geschoben. Seinen Geruch hat Niemand loben
können. — •
Schädlich ist die Manipulation mit sogen. Polirgold bei der Porzellan -
fabrication (an Stelle des Glanzgoldes). Die Borsten des bez. Pinsels sind
nämlich durch gesponnene Glasfäden ersetzt; sehr spröde, lösen sich kleine
Glastheilchen sehr oft ab und gerathen in die Luftwege der gebückt ar¬
beitenden Mädchen, die die Gegenstände auf ihrem Schoosse stehen haben.
Der kurze Abschnitt über die Aborte (pag. 206) ist sehr lesenswerth.
Eine drastische Notiz, taciteisch kurz und dadurch desto bedeutsamer, be¬
zieht sich auf die Arbeiterinnen einer Fabrik, in der Esswaaren hergestellt
werden. „Um die Arbeitsmädchen stets an die erforderliche Reinlichkeit
zu erinnern, musste angeordnet werden, dass der Abtrittsschlüssel un¬
mittelbar an der Wasch gelegen heit aufzuhängen sei.“ Und all’
diese Gonserven essen wir! Schon Gretchen sagt im Faust: Ach, wir Armen!
Fortschritte in Bezug auf den Zustand sowie auf die zweckentsprechende
Anlage von Aborten sind glücklicher Weise zu constatiren. Pneumatische
Reinigung der Abortgruben findet in grösseren Anlagen Eingang. Bei Neu¬
anlagen wird die Erbauung nur ausserhalb der Arbeitsräume (Zwickau)
gestattet. Nicht jeder Arbeitgeber sieht jedoch die Nothwendigkeit ein und
möchte erst ein Privatissimum über Infectionskrankheiten gelesen haben.
Die Reinlichkeit der Arbeitsräume hat der Zwickauer Beamte
zufriedenstellender gefunden. Der Bremer aber sagt sub rosa, er hätte
noch Arbeitsräume angetroffen, die „eigentlich einen anderen Namen
verdienten“. Ehrlich gestanden, Ref. dachte an Schweinestall! Demnach
würde sich der Titel Fabrikbesitzer modificiren. — In Oldenburg (einige
südlich gelegne Fabriken) herrscht eine zu grosse Vorliebe für „Staub,
Kehricht, Spinngewebe und dgl.“ in den Arbeitsräumen. Das jährlich
nur einmalige Tünchen der Wände und Decken der Arbeitsräume
(besonders bei Cigarren- und Bürstenmachern), sowie der Schlafräume der
Ziegelarbeiter hält man dort für einen unerlaubten Luxus, ln Schwarzburg-
Rudolstadt sind die Gerbereien und Knopfmacherwerkstätten in denselben
vorsündfluthlichen Anschauungen befangen.
Die Nachtlager in grossen Schlafräumen machen dem Braun¬
schweiger Aufsichtsbeamten berechtigte Kopfschmerzen. Die „ Schlafdecken und
Strohsäcke in den Arbeiterkasemen einiger Zuckerfabriken und Ziegeleien
waren derart, dass eine gründliche Reinigung derselben anempfohlen werden
musste.“ Ob der Vorschlag doppelter Garnituren behufs Wechsels alle
6—8 Wochen und ev. Reinigung in einer Reinigungsanstalt (pag. 208) auf
fruchtbaren Boden in dem Lande der „Mumme“ fallt, wagen wir nicht zu
entscheiden. Sat voluisse.
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320 —
Aus dem IV. Abschnitt „ Schutz der Nachharn genehmigungspflichtiger
Anlagen“ ersehen wir nicht ohne Beruhigung, dass Schiller’s Wort immer
mehr an Boden verliert, dass auch der Beste nicht im Frieden leben kann,
wenn es dem bösen Nachbar nicht gefallt. Des Näheren dies zu begründen,
müssen wir uns hier versagen.
Aus dem V. Abschnitt: „Wirtschaftliche und sittliche Zustände der
Arbeiterbevölkerung; Wohlfahrtseinrichtungen; Verschiedenes“ heben wir
besonders den Theil über Wohnungen für die arbeitende Bevölkerung
hervor (pag. 237 ff.). „Wieder bei manchen Arbeitgebern haben die
auf Besserung der bestehenden Wohnungsverhältnisse gerichteten Bestre¬
bungen Förderung und Unterstützung gefunden“ — so lautet wört¬
lich die Einleitung dieses Passus. Wieviel zu thun übrig bleibt, notwendig
ist, liest der Menschenfreund zwischen den Zeilen, die dankbar
das Neugewährte betonen.
Im Bezirk Niederbayern legt die isolirte Lage der Glashütten und
Spiegelglasschleifen des bayerischen Waldes den Arbeitgebern durchweg die
Notwendigkeit auf, für die Unterbringung ihrer Arbeiter Sorge zu .tragen.
Die Arbeiter in ersteren sind darin besser gestellt, als die letzteren.
Hier hat der Beamte auch in einzelnen Fällen derartig ungenügende
Verhältnisse gefunden, dass 2 und mehr Familien gezwungen werden, sich
in einem grossen Zimmer häuslich einzurichten.
In dem einem Falle baten die Arbeiter den Beamten um gef. Inter¬
vention bei ihrem Arbeitgeber; in einem zweiten „wiesen sie seine Fragen
nach dem Wunsche besserer WohnungsVerhältnisse nur mit unanständigen,
schlechten Witzen“ ab. Hier möchten wir die Arbeiter gegen das offenbare
Missverständniss in Schutz nehmen: da sie die Frage für einen schlechten
Scherz hielten, antworteten sie mit einem solchen. Sie hielten eben die
Verbesserung ihrer elenden gemeinschaftlichen Wohnung für ebenso un¬
möglich, wie sie an dem guten Willen ihres Arbeitgebers und der Macht
des Fabrikinspectors zweifelten. Wer helfen will, fragt eben nicht viel.
Ein erfreuliches Bild dagegen! Im Leipziger Bezirk ist „eine Finna
in Frankenau *) zur Errichtung von vorläufig 2 Arbeiterwohnhäuschen über¬
gegangen.“ Jedes Haus enthält 2 Wohnungen für Familien und 1 Mansarde,
zu jedem wird Acker Land gegeben. Haus und Grundstück kosten
3600 Mark, Der Miether eines Hauses, der 1 Arbeiterwohnung und die
Mansarde noch vermiethen kann, erlangt bei 4 */• % Verzinsung des Kapitals
*) Das ist die Thonwaaren-Fabrik des früheren Apothekers Curt Starcke (des
sächsischen Landtagsabgeordneten), der sich durch seine humanitären Fabrik¬
einrichtungen, die sich glänzend bewährt haben, einen ehrenvollen Namen ge¬
macht hat. Ref. kennt aus eigener Anschauung Ort und Fabrik; er betont gern
an dieser Stelle, dass er selten einen so zufriedenen Arbeiterstamm, ebenso ge¬
sittet wie zuvorkommend und anhänglich wie dort gesehen und während länger
als eines Jahres aus der nächsten Nähe beobachtet hat.
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— 321
— 3 # /o für Miethe, 17* % für Amortisation — nach einer Reihe von Jahren
das Eigenthum 1 ).
Rühmend hervorzuheben sind die Erfolge in den Aufsichtsbezirken
Bautzen und Plauen, Dresden (Firma: Friedr. Siemens), in Chemnitz (wo
eine Stiftung „Heim“ eigens zu diesem Zweck existirt), Baden (Kochlin-
Baumgartner in Lörrach, allein 35 neue Arbeiterwohnungen zu ihren
bisherigen!)
Neben einigen Orten mit rasch gewachsener Industrie machen die grösseren
Städte eine „Ausnahme von dieser erfreulichen Erscheinung“. Ein
„Beispiel von Zusammenpferchung, wie sie glücklicher Weise nur
selten vorkommt“, wird aus Mannheim mitgetheilt; der Eigenthümer
dieser menschenfeindlichen Einrichtung wird leider nicht genannt —
trotz Herostratus! Wir können leider hier nur kurz erwähnen:
117 Wohnungen mit 217 Zimmern und Kammern enthalten nur 17 Küchen,
dienen aber als Wohnung für 209 Erwachsene und 418 Kinder.
Was die Miethpreise anlangt, so kostete eine dieser Wohnungen aus
2 Dachkammern im 5. Stock ohne allen Zubehör 96—120 Mark, 1 Dach¬
kammer mit Küche und Keller 144 Mark. Eine Wohnung im 2. und 3. Stock
von 2 kleinen Zimmern ohne Küche mit etwas Keller 140—170 Mark, mit
1 kleinen Küche 240 Mark. Der ganze Complex — mehrere Häuser, eines
davon 5stöckig; zwischen einem einstöckigen und dem Nachbargebäude
befindet sich ein langgestreekter Hof, der 1,5 Meter breit ist — trägt
über 16,500 Mark Miethe, ist für 116,000 ^ark gekauft und trägt nach
reichlicher Abrechnung der Unterhaltungskosten noch über
13 Procent ein*).
*) Wir freuen uns, Folgendes laut soeben auf unsere Anfrage (15. Febr. 1889)
eingegangener Antwort von Herrn Curt Starcke hinzufügen zu können:
1) Jetzt sind 4 Häuser fertig; nach und nach sollen es 12 werden.
2) Jedes Haus hat 1250 □-Meter Land zu Garten.
3) Jede der 2 Wohnungen hat 160 □-Meter grosse Wohnstube, 12 □-Meter
grosse Schlafstube, Küche, Bodenkammer, Keller, Schuppen, Holzstall.
4) Werth der Parterrewohnung nach ortsüblichen Sätzen: 90—100, Dach¬
wohnung 60— 75 Mark ohne Garten.
5) Verheirathete Arbeiter, die über 5 Jahre bei Starcke sind, erhalten ein
solches Haus auch ohne Anzahlung, gegen Verzinsung von 3*/« °/o mit jähr¬
lich mindestens 100 Mark. Abzahlung vom dritten Jahre des Besitzes an.
6) Die Dachwohnung darf nur an Arbeiter von Starcke vermiethet werden.
Bei Wegzug hat St. Vorkaufsrecht gesichert.
St. fügt wörtlich hinzu: Die Leute sind glücklich in ihrem Besitz. Die
Lage ist am Walde, gesund; der Garten gross genug, um Gemüse und Kartoffeln
für die Familie zu bauen. Auch können sie eine Ziege oder ein Schwein halten.
Die moralische Folge ist, dass sämmtliche Frauen der Inhaber nicht mehr
auswärts Arbeit suchen, sondern zu Hause bleiben, Ordnung halten und Kinder
erziehen. — Vivant sequentes, fügt der Referent hinzu.
Ä ) Im vielverlästerten Russland haben u. A. die Gebr. Malutin in Kamenskaja
3 Gebäude aufgeführt, in denen 400 Arbeiter in 79 Stuben wohnen. Das selbst
ist nicht so schlimm, wie bei unserem Mannheimer Landsmann. Aber Russland
ist das Land der Knute!
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322
Wenn man in jüngeren Jahren die Harpyen in das Reich der Fabel
versetzt, so wird man als Aelterer dieses Irrthums sich bewusst Als der
Ref. dieser Arbeit vor nunmehr 15 Jahren seinen Bruder, der damals u. A.
auch Armenarzt in Posen war, vertrat, hat er damals schon die menschen¬
unwürdigsten Wohnungen inmitten des alten Stadttheils Posens des Oefteren
gesehen: der Mangel an Licht und Luft war aufgewogen durch die exor¬
bitante Höhe des Miethspreises!
Billige Arbeiterwohnungen, bei denen das angelegte Capital gleichwohl
sich verzinst, hat die Billigkeit der Baumaterialien, sowie die selbst von
Dörfern grosse Entfernung neugegründeter grosser Anlagen auch 1887 her¬
vorbringen helfen. Die frühere Staub’sche Baumwollspinnerei in Kuchen
an der Fils hat wiederum Häuser errichtet, die jetzt 300 km enthalten und
ohne Baugrund 5000 Mark kosten; die Miethe mit 260 Mark ist für die
Lohn Verhältnisse einer Arbeiterfamilie der Textilindustrie indessen zu hoch.
Die württembergische Metallwaarenfabrik hat dagegen in den letzten 4 Jahren
4 Häusergruppen für ihre Arbeiter hergestellt, wobei sie von dem Princip
des einen Familienhauses abgegangen ist. Es liegen je 3 Wohnungen in
einem Hause übereinander mit gemeinschaftlichem Hauseingang und Treppe.
Die Miethe beträgt 100, 130 und 140 Mark jährlich; diese Häuser verzinsen
das angelegte Capital reichlich und bieten den Arbeitern noch eine Aus¬
wahl billigerer und besserer Wohnungen, als in der nahegelegenen Stadt
Geislingen zu finden wären. — Ferner ist die Stuttgarter Immobilien- und
Baugesellschaft bei ihrer neuei* Cementfabrik in Allmendingen rühmend zu
nennen: sie hat 7 Doppelhäuser mit je 4 Wohnungen (also 28) errichtet;
je 2 Wohnungen bieten einen eigenen Eingang (pag. 242 sind noch nähere An¬
gaben nachzulesen). — Die Glasfabrik von Böhringer in Freudenstadt hat
ein 2stöckiges Arbeitshaus für 8 Familien erbaut (für 18,000 Mk). Für jede
Wohnung nimmt der Unternehmer nur 20 Mark jährliche Miethe. Vivat
sequens! Im Bezirk Leipzig dagegen w schreitet die Verbesserung der Ar¬
beiterwohnungen in gesundheitlicher Beziehung nicht oder nur lang¬
sam weiter“.
Besonders erwähnenswerth erscheint auch, dass z. B. in den Vororten
von Chemnitz eine Arbeiterwohnung circa 80 Mark kostet, in der Stadt
nicht selten 240 Mark. — Die Arbeiter-Eisenbahnzüge (Zwickau, Württem¬
berg, Baden, Oldenburg, Reuss j. L.) werden rühmend hervorgehoben.
Warum fehlt Dresden ? Ref. kennt die von Dresden nach Westen gehenden
Arbeiter-Züge aus eigener Anschauung.
Dass die neue Steuergesetzgebung auf die Abnahme des Branntwein¬
genusses einen wesentlichen Einfluss ausübe, berichtet der Posener Beamte.
Ein Cantinenbesitzer hat allein 23 pCt. Einbusse! Wir sind fest überzeugt,
dieses Factum steht nicht vereinzelt — im Berichte kann ein Oppositions¬
lustiger aus der— allzu kurzen (3 Druckzeilen!) — Darstellung herauslesen,
dass der Posener Beamte aus dieser einen Thatsache seinen Schluss ge¬
zogen hätte.
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— 323 —
Den ausführlicheren Passus „über die Gewöhnung der Arbeiter an andere
erfrischende Getränke und über die Ermöglichung einer billigen, aber guten
und kräftigen Ernährung“ müssen wir bitten, im Original selber pag. 246 ff.
nachzulesen. Die Vorschläge, die der Vorstand des Bezirks-Vereins gegen
den Missbrauch geistiger Getränke in Kassel in einem an 76 Fabriken
des Regierungsbezirks Kassel gerichteten Rundschreiben empfohlen hat, sind
hier besonders hervorzuheben. Sie gehen dahin:
1) Den Verkauf und das Herbeiholen von Branntwein innerhalb der
Fabrik während der Arbeitszeit zu verbieten;
2) Unschädliche Genuss- und Erfrischungsmittel (Kaffee, Thee, Cho-
colade, Fruchtsäfte, leichtes Bier, im Winter Warmbier) an die
Arbeiter zu billigen (Selbstkosten-) Preisen innerhalb oder in un¬
mittelbarer Nähe der Fabrik zu verabreichen, und
3) Eine richtige, kräftige Ernährungsweise der Arbeiter durch Ein¬
richtung von Cantinen, welche auch gute Fleischkost zu billigen
(Selbskosten-) Preisen gewähren, zu befördern.
Von diesen 76 Fabriken haben — so veröffentlicht besagter Verein —
27 Anlagen Erwiederungen gesandt, die, eine einzige ausgenommen, den
Vorschlägen sympathisch gegenüberstanden. D. h. 35 pCt. der Ar¬
beitgeber, die Höflichkeit und vor Allem den Wunsch zu
thätiger Hülfsb ereitscha ft hatten! Dass die anderen restirenden
65 pCt. doch letzteren wenigstens besässen, wenn ihnen auch die erstere
fehlt! Wieviel Boden würde der socialistischen Propaganda entzogen!
Von besonderem Interesse ist die Wiedergabe der Zuschrift, die die
Amtshauptmannschaft zu Döbeln an die dortigen Fabrikbesitzer richtete. Sie
empfiehlt die im Interesse der Arbeiter getroffenen Einrichtungen der bereits
öfter rühmlich genannten Thon- und Chamottewaarenfabrik von Gurt Starcke
in Frankenau bei Mittweida. Unter Anderem wird zur Verhütung des
Schnapsgenusses den Arbeitern guter, reiner Kaffee zum Preise von nur
3 Pfg. für das Liter geliefert. Zur Herstellung dieses Getränkes wird der
von der Firma Rieger & Kaltschmidt') in Hamburg (Alter Wandrahm 53)
bezogene, comprimirte gemahlene Kaffee verwendet. Derselbe wird zum
Preise von Mark 2,50 pro Kilo in Würfeln zu 100 Gramm Gewicht ge¬
liefert, welche 8 Liter eines sehr guten Kaffee’s geben, so dass es möglich
wird, das Liter für 3 Pfg. zu verkaufen. Der Kaffee wird in einem be¬
sonderen Apparate (u. A. werden die Kaflfee-Kochapparate von H. G. Rühm-
korff & Go. vom Aufsichtsbeamten empfohlen) mittelst Dampf gekocht,
wobei das Kaffeemehl so sollständig ausgesogen wird, dass in dem zurück¬
bleibenden Satze kaum eine Spur Extractivstoff mehr zu finden ist. Es wird
nie mehr bereitet als gebraucht wird. Surrogate finden keine Verwendung,
auch wird der Kaffee nie aufgewärmt, sondern den Arbeitern stets rein und
frisch gekocht geliefert. Das Kochen und die Abgabe des Kaffee’s besorgt
•) Die Firma Rieger & Kaltschmidt in Hamburg heisst jetzt: Emil Specht,
Hamburg.
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eine Frauensperson. Die Bestellung des Kaffee’s seitens der Arbeiter ge¬
schieht in der Weise, dass jeder Arbeiter seine Nummer, die an einem
Nummerbrett hängt, umdreht, sodass sie schwarz erscheint, während sie
vorher weiss gewesen war. Die gebrauchten Gefasse werden von den Ar¬
beitern bei der Verwalterin abgeliefert, welche sie reinigt und in das be¬
treffende Schränkchen mit gleicher Nummer stellt. Ausser dem Kaffee wird
reiner Aepfelwein zum Preise von 35 Pfg. für die Flasche, sowie gut aus-
gegohrenes Bier für 7 Pfg. für das halbe Liter geliefert. Durch energisches
Einschreiten gegen den Schnapsgenuss in Verbindung mit den beschriebenen
Einrichtungen ist es möglich geworden, dass von den etwa 100 Arbeitern
der Fabrik, welche grösstentheils schwere Arbeiten zu verrichten haben,
keiner mehr Schnaps trinkt. Die Königliche Amtshauptmannschaft will
nicht unterlassen, die Herren Fabrikbesitzer hiervon in Kenntniss zu setzen,
und würde es mit Freuden begrüssen, wenn der Vorgang des Herrn Starcke
recht viele Nachahmung fände.
* Gutes, aber (ein vortrefflicher, ob unbewusster Witz im Buche!)
leichtes und billiges Bier“ haben mehrere grössere Betriebe im Chemnitzer
Bezirk als Gegenmittel gegen den Alkohol eingeführt. — Ob das Verfahren
der Weiss’schen Spinnerei in Langensalza (Erfurt) — etwas Rum in
Wasser, das abgekühlt in Zink Wasserbehältern circulirt — zu loben, be¬
zweifeln wir sehr. Dass die Arbeiter bei dem Genuss dieses Getränks »kein
Bedürfniss nach Bier oder Branntwein mehr verspüren*, glauben wir dem
Bericht gern. Referent ist nichts weniger als Temperenzler, aber nicht
immer ist der Teufel mit Beelzebub — verständig ausgetrieben ! Dauernde
Reizmittel während der Arbeit sind nicht rationell!
Die Reihe der Wohlfahrts-Einrichtungen hat erheblich zugenommen —
auch hier steht das Königreich Sachsen voran. Nicht blos zu Gunsten der
Arbeiter, sondern auch für deren Angehörige. Wir resumiren hier kurz:
Ausbildung jugendlicher Arbeiterinnen für den Hausfrauenberuf (cfr. oben),
sowie Einrichtungen zur Förderung der Ernährung durch die Bereitstellung
von Küchen- und Speiseräumen oder die Lieferung guter und zugleich
billiger Speisen und Getränke, ferner Badeeinrichtungen (Heyl-Gharlotten-
burg, Schaeffer & Badenburg, Buckau, eine chemische Fabrik in der Pfalz
— leider nur diese drei 1 ) namentlich erwähnt, wohl auch hierbei nur
zu erwähnen gewesen!), Stiftungen zu den verschiedensten Zwecken, Spar¬
und andere Kassen, Kinderbewahranstalten, Knaben- und Mädchenhorte und
Aehnliches.
Nicht das Interesse des Lesers fürchten wir durch ausführlicheren Be¬
richt dieses Abschnittes (pag. 249 ff.) zu ermüden, wohl aber würden wir
den Raum, der uns billiger Weise gesteckt ist, noch mehr überschreiten als
bisher. Darum sei nur in Kürze Folgendes hervorgehoben.
Häufig werden die zu besserer Beköstigung der Arbeiter eingerichteten
Anstalten, Küchen etc. unbenutzt gelassen, ja theuere und schlechtere
*) Es sei uns gestattet, auf Dr. 0. Lassar’s werthvolle Broschüre .,Ueber
Volksbäder“ bei dieser Gelegenheit ganz besonders hinzuweisen.
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Nahrung vorgezogen, wo Credit von Händlern gewährt wird. Die mit
Recht vom Chemnitzer Aufsichtsbeamten als hervorragend bezeichnete Ein¬
richtung der Kammgarnspinnerei von Stohr & Co. zu Klingschocher — wir
resumiren: Elinrichtungen zum Wärmen mitgebrachten Eissens für circa
1000 Arbeiter seit 1 Jahre, 3 Köche, 3 weibliche Personen dazu, in der
Cantine ein Speise- und Bier-Ausgeber; kupferne Dampfspeise-Kochapparate,
Kartoffelschäl-, Kartoffelreibmaschinen etc.; auch an Abenden mit Ueber-
stunden-Arbeit geöffnet und dann kostenloses Abendbrod an alle Arbeiter,
nicht blos an die, die weiter arbeiten, um keinen Neid zu erregen — trotz¬
dem essen viele Arbeiter lieber ihr Obst, Käse oder Bücklinge Mit¬
tags, weil die Verkäufer vor der Fabrik Credit geben und in der Fabrik¬
küche baar gezahlt werden muss. Dabei verkauft die Küche für 15Pfg.,
was sie 22 Pfg. (nämlich */* Liter Gemüse, 100g Fleisch, roh gewogen
oder für letzteres 60 g Wurst) kostet.
Wer sich speciell für diese Küchen- und Cantinen-Einrichtungen interes-
sirt, den verweisen wir auf den betr. Abschnitt (pag. 249 ff.) Wahrlich,
es thäte Noth, man verpflichtete die erwachsenen Arbeiter ebenso, wie es
z. B. die Lauchhammer’schen Werke (pag. 250) mit ihren 100 Lehrlingen thut,
die anstatt ihrer ortsüblichen alltäglichen Kartoffeln in der Werkspeiseanstalt
ihr Mittagessen einnehmen müssen, wofür ihnen 127*.Pfg. vom Tagelohn
von 527* Pfg. abgezogen werden. Genug Phantasten würden dies zwar
als einen Eingriff in die geheiligten Menschenrechte betrachten, aber der
national-öconomische Nutzen wäre grösser, als die wohlfeile moralische
Entrüstung der meist recht wohlgenährten Schreier Schaden anstiften kann.
Der alsbald wohlgelauntere Arbeitermagen würde die Einbusse an persön¬
licher Freiheit gern ertragen lernen.
Wenn aber jüngst (Jan. 1889) das vortreffliche Organ V. BöhmerTs,
„Das Volkswohl“ den Aerzten den Vorwurf nicht ersparen konnte, sie
trügen zu wenig zur Verbreitung hygienischer Kenntnisse durch Vorträge etc.
bei, so ist dieser sicherlich wohlgemeinte Vorwurf auch auf die Lehrer der
Volkswirtschaftslehre auszudehnen. „Borge Nichts, was du baar bezahlen
kannst, denn auch in dir wohnt der Dämon, zu viel auszugeben, wenn du
borgst“ kann dem Arbeiter nicht oft genug gepredigt werden. LJebrigens
— in parenthesi sei’s gesagt — Anderen auch 1 Und diejenigen Blätter, die
es den Arbeitern predigen und immer wieder predigen sollten, müssten ein¬
zeln pfennigweise zu haben sein. Auch Das wäre eine Pflicht des Staates,
eine würdige Verwendung der Zinsen des Weifenfonds. Nicht Groschen
—, nein Pfennigblätter, die Nahrungsmittellehre und Volkswirtschaft klar¬
anschaulich, nicht langweilig bringen. Die Theologie hat Stöcker’s Energie
in 1-Pfennig-Predigten zu Millionen volkstümlich sprechen lassen, auch
hier gelte es, mit ähnlicher Energie unserer Wissenschaft feststehende That-
sachen Gemeingut des Volkes werden zu lassen!
Wir erwähnen nur in Kürze hier das von Gebr. Heyl Sc Go. gegründete
Jugendheim (für Arbeiterkinder), die Knabenhorte des ebenso ge*
nannten Vereins in Stuttgart (ausserhalb der Schulzeit), des Chemnitzer
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Vereins „Zu Rath und That“ und des dortigen Frauenvereins. Ferner die
Kinderbewahranstalten (Zwickau für 31,440 Mark gegründet; siehe
Näheres pag. 254).
Die Patentpapierfabrik in Penig zahlt für die 278 schul¬
pflichtigen Kinder ihrer 135 verheirateten Arbeiter dasSchulgeld(2284M.,
wovon eine Stiftung 1214 Mark aufbringt).
Bezüglich des Sparkassen wesens scheint das Obengesagte auch zu gelten,
3 Sparkassen in Reuss j. L. werden wenig oder gar nicht benutzt,
dagegen eine Zwangssparkasse desselben Bezirks (10°/* des Lohnes
gutgeschrieben, mit 5°/o verzinst) bewährt sich. Bei G. Holtzenau-Beckenhof
(Zwickau) werden jedem Arbeiter wöchentlich 25 Pfg. einbehalten bei 5*/*
Verzinsung, die Meisten erhöhen dies auf 50—100 Pfg., einer auf 1 V* Mark
sogar. Ein Arbeiter hatte so 739 Mark gespart.
In einer Weberei in Hof wurden 6 Arbeiter zu 8tägiger Erholung
nach dem Luftkurort Berneck und 2 erholungsbedürftige Frauen er¬
hielten 14 und 8 Tage Ferien, anstatt dass das sonst übliche „Waldfest“
abgehalten wurde.
Das Verständniss für die Kranken- und Unfallversicherung nimmt zu.
Dagegen haben sich die ledigen Arbeiterinnen einer Tuchfabrik (Merseburg-
Erfurt) ihrer Betriebskrankenkasse gegenüber verpflichtet, auf die ihnen
zukommenden Wö ch n er in ne n - Unterstützung zu verzichten. Ob die
Moral sich gehoben oder das Standesamt nur desto rascher in Anspruch
genommen, berichtet .der Bericht nicht.
Die Klagen über die an ledige Arbeiterinnen zu gewährende Wochen-
bett-Unterstützung waren im Uebrigen geringer. Aber namentlich ver-
heirathete Arbeiterinnen halten sie für eine ungerechte Kassenbelastung;
die Ehe scheint sie also nicht milder gestimmt zu haben. Oder dachten
sie daran, dass sie unter dem Mangel solch’ einer menschenfreundlichen
Bestimmung selber gelitten hatten? Männliche Arbeiter dagegen erblickten
in den weiblichen überhaupt eine Last, die den Kassen erheblich höhere
Ausgaben bei gleicher Beitragszahlung auferlegt.
Ein Anhang (pag. 264—368) enthält 17 Nummern, theils zweckmässige
Lehrverträge, theils Polizei-Verordnungen (Mineralwasser-, Cellulose-Fabriken
etc.), sowie eine Tabelle über die 1887 im Königreich Sachsen beschäftigten
männlichen und weiblichen erwachsenen, jugendlichen und kindlichen Ar¬
beiter. Ein ausführliches Sachregister beschliesst das ausgezeichnete Werk.
Noch Eines zum Schluss. Der Herr Staatssecretär hat jüngst im
Reichstage erklärt, er wundere sich bei der grossen Preis -Ermässigung
des Werkes (jetzt 4 Mk. 35 Pfg.), dass es nicht mehr gekauft werde. Wir
dagegen halten noch heute den Preis für ungeeignet hoch. Das Werk, jetzt
ohnedies fertiggestellt, sollte sich doch niemals buchhändlerisch rentiren; sein
Bezugspreis war Nebensache. Je billiger, je besser — wie soll der Arbeiter,
für den das Buch doch auch geschrieben ist, es sich anschaffen können ?
Eine Mark wäre der höchste verständige Preis, wenn das Buch in so viele
Hände kommen soll, als es verdient.
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In Belgien hat ein ehrgeiziger, phantastischer Advokat einen sehr
billigen social-demokratischen Katechismus verfasst und damit viel Unheil
angestiftet. Gegen die Lehre vom schutzlosen Arbeiter, dessen oberstes Gut,
seine Gesundheit, schnöde vom Besitzenden missbraucht werde, ohne dass
ihn Staat und Gesellschaft schützen, kennen wir kein wirksameres Buch,
als diesen „Bericht“.
Für 1 Mark, ja für weniger verkauft, wird er, ein anderer Arbeiter-
Katechismus, das beste Remedium gegen socialistische Flunkereien und
Phantastereien.
Wiesbaden-Nervi. Dr. Julius Pauly.
Verzeichntes der bei der Redaktion eingegangenen neuen Btteher ete.
Altschul, M. U. Dr. Theodor, Mitglied der Sanitätscommission in Prag,
Ueber Wasserversorgung der Städte im Allgemeinen und die geplante
Wasserversorgung Prag’s im Besonderen. Nach einem im Verein deutscher
Aerzte in Prag gehaltenen Vortrage. Prag, 1889. J. G. Galve’sche k. k.
Hof- und Universitäts-Buchhandlung (Ottomar Bayer).
Arnold, Dr. Julius, o. ö. Professor der Pathologie und Director des patholo¬
gischen Instituts an der Universität Heidelberg. Ueber den Kampf des
menschlichen Körpers mit den Bakterien. Akademische Rede, gehalten am
22. November 1888. Zweiter veränderter Abdruck. Heidelberg, Carl Winter’s
Universitäts-Buchhandlung, 1889. Mk. 1.20.
Baring, Dr. W., Sanitätsrath und Stadtphysikus in Celle, Der Eukalyptus¬
honig (Mel. Eukalypti globuli) als Schutzmittel gegen Diphtheritis, Heilmittel
der Skrophel- und Tuberkelsucht und Ersatzmittel des schwer verdaulichen
und aller antibakteriellen Heilkraft entbehrenden Leberthrans. Zur Einführung
dieses neuentdeckten Schutz- und Heilmittels. Leipzig, Verlag von Gustav
Fock, 1889. Mk. 1.-.
Brass, Dr. Arnold, Marburg, Die Zelle, das Element der organischen Welt.
Mit 75 Abbildungen in Holzschnitt. Leipzig, Verlag von Georg Thieme.
1889. M. 6. -.
Bresgen, Dr. Maximilian, Specialarzt für Nasen- und Halzkranke in Frank¬
furt am Main, Die Heiserkeit, ihre Ursachen, Bedeutung und Heilung. Nebst
einem Anhang über die Bedeutung behinderter Nasenatmung. Neuwied,
Heuser’s Verlag. 1889. M. 1.
Cornet, Dr. Georg, prakt. Arzt in Berlin und Reichenhall, Wie schützt man
sich gegen die Schwindsucht. Sammlung gemeinverständlicher Vorträge,
begründet von Rud. Virchow und Fr. von HoltzendorfT, herausgegeben von
Rud. Virchow. Neue Folge. Vierte Serie. (Heft 73—96 umfassend). Heft 77.
Hamburg. Verlagsanstalt und Druckerei, A. G. (vormals J. F. Richter), 1889.
Mk. —.80.
Daiber, J., Professor am Kgl. Katharinenstift in Stuttgart, Die Schreib- und
Körperhaltungsfrage. Ihr jetziger Stand — ihre künftige Lösung. Der
deutsch-vaterländischen Schule gewidmet. Stuttgart, Verlag von Schickhardt
und Ebner (Konrad Wittwer) 1889. M. 2.40.
Derblich, Dr. W., k. k. Oberstabsarzt i. R. Ein Menschenalter Militärarzt.
Erinnerungen eines k. k. Militärarztes. Erster Theil. Hannover, 1889.
Helwing'sche Verlagsbuchhandlung. M. 2.—.
Hans Ferdy, Die Mittel zur Verhütung der Conception. Gynäkologische Studie
für praktische Aerzte und Geburtshelfer. Dritte neu bearbeitete Auflage.
Neuwied, Heuser’s Verlag. 1889. M. 1.50.
Flechsig, Dr. med. Robert, kgl. sächs. Geh. Hofrath und Königl. Brunnenarzt
in Bad Elster. Bäder-Lexikon. Darstellung aller bekannten Bäder, Heil¬
quellen, Wasserheilanstalten und klimatischen Kurorte Europas und des
nördlichen Afrikas in medizinischer, topographischer, ökonomischer und
finanzieller Beziehung. Für Aerzte und Kurbedürftige. 2. völlig umgearbeitete
und vermehrte Auflage. Leipzig, Verlag J. J. Weber. Gebunden M. 5.
Graetzer, Dr. J., Kgl Geheimer Sanitätsrath und dirigirender Hospitalarzt,
Lebensbilder hervorragender schlesischer Aerzte aus den letzten vier Jahr¬
hunderten. Breslau, Druck und Verlag von S. Schottländer, 1889.
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Kloss, Dr. Moritz, weiland, Director der Königl. Sachs. Turnlehrer-Bildungs¬
anstalt zu Dresden. Die weibliche Turnkunst. Ein Bildungsmittel zur För¬
derung der Gesundheit, Kraft und Anmut des weiblichen Geschlechtes. Für
Eltern, Lehrer und Erzieherinnen bearbeitet. 4. durchgesehene Auflage.
Leipzig, Verlag von J. J. Weber. 1889. Gebunden M. 9.
Mundy, Dr. J., Eine biographische Skizze. Leipzig. 1889. Verlag Eduard Heinrich
Mayer. Mk. 2.
Pfalz, Dr. G., Augenarzt in Düsseldorf, Ueber operative Therapie der folliculären
Bindehaut-Entzündung (sog. ägyptische Augenentzündung oder Körnerkrank¬
heit). Nach einem im Verein der Aerzte Düsseldorfs gehaltenen Vortrage.
Bonn, Verlag von P. Hanstein 1889. M. 1.—.
Pollatschek, Dr. Arnold, praktischer Arzt in Karlsbad, Der Alkohol in der
Diät des Diabetes Mellitus. Wien 1889. Verlag von Moritz Perlei, Wien.
M. -.60.
Rapmund, Dr. 0., Regierungs- und Medicinalrath in Aurich, Das Gesetz vom
9. März 1872 betreffend die den Medicinalbeamten für die Besorgung gerichts¬
ärztlicher, medicinal- oder sanitätspolizeilicher Geschäfte zu gewährenden
Vergütungen in der Fassung der Königlichen Verordnung vom 17. Septem¬
ber 1876 und des Ergänzungsgesetzes vom 2. Februar 1881. Im Auftrag
des Vorstandes des Preussischen Medizinalbeamten-Vereins erläutert. Berlin,
1889. Fischer’s medicinische Buchhandlung H. Kornfeld. M. —.75.
Ravener, E. Dr., Mödecin major ä l’Ecole de ca Valerie de Saumur. La vie du
Soldat an point de vue de l’hygiöne. Avec 55 figures intercal^es dans le
texte. Paris, librairie J.-B. Bailli&re et fils rue Hautefeuille, 19, prös du
Boulevard Saint-Germain 1889. Tous droits röservös.
Schmitz, Dr. med. L., Kreisphysikus zu Malmedy. Das Geschlechtsleben des
Menschen in gesundheitlicher Beziehung und die Hygieine des kleinen Kindes.
1889. Neuwied, Heuser’s Verlag. M. 1,50.
Sitzungsberichte der Physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg. Heraus¬
gegeben von der Redactions-Commission der Gesellschaft Med Rath Dr. Gr.
Schmitt, Prof. Dr. W. Reubold, Dr. Friedrich Decker. Jahrgang 1888.
Würzburg, Verlag der Stahel’schen Universit. Buch- und Kunsthandlung,
1888. Preis des Jahrgangs M. 4.—.
Verhandlungen der Physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg. Heraus¬
gegeben von der Redaktions-Commission der Gesellschaft Med. Rath Dr.
Gr. Schmitt, Prof. Dr. W. Reubold, Dr. Friedrich Decker. Neue Folge.
XXII. Band. Mil 9 Tafeln in Lithographie und Farbendruck. Würzburg,
Verlag der Staherselien K. B. Hof- und Univers.-Buchandlung. 1889. Preis
pro Band (Jahrgang) M. 14.— .
Sixteenth annual Report of the Sekretary of the State of Michigan, for the fiscal
Year Ending. June 30, 1888. By Authority. Lausing, Darius D. Thorp,
State Printer and Binder. 1889.
Gesundheit, Zeitschrift für öffentliche und private Hygieine. 1889. XIV. Jahr¬
gang Nr. 3—13. G. L. Daube <fc Cie.. Frankfurt a. M.
Vereinsblatt der Pfälzer Aerzte. 1889. II. Jahrg. Mai u. Juni. L. Göhring & Cie.,
Frankenthal.
Impfzwanggegner, Organ des deutschen Impfzwanggegner-Vereins. Herausgegeben
von Dr. med. Heinrich Oidtmann, Linnich, 1889. Nr. 5/6.
Fortschritte der Medizin. 1889. Bd. 7. Nr. 6. 15. März. Fischer’s med. Buchh.
Berlin N. W.
Medizinische Monatsschrift. Band 1. Heft 4/6. April/June. New-York, Verlag der
Medizinal Monthly Publishing Company. 17 to 27 Vandewater Street N-Y.
Prof. Dr. Jaeger’s Monatsblatt. 8. Jahrgang. Heft 5. Mai 1889. Stuttgart.
W. Kohlhammer.
International Jornal of Surgery, devoted exclusively to the theory and Practice
of modern surgery. Vol. II. April/June 1889. Nr. 4/6. Single Number 15 cts.
Yearly supscription. Sh. 1 —. For contents See Page III. January 1889.
NB. Die für die Leser des „Centralblattes für allgemeine Gesundheitspflege*
interessanten Bücher werden seitens der Redaktion zur Besprechung an die Herren
Mitarbeiter versandt, und Referate darüber, soweit der beschränkte Raum dieser
Zeitschrift es gestattet, zum Abdruck gebracht. Eine Verpflichtung zur Besprechung
oder Rücksendung nicht besprochener Werke wird in keinem Falle übernommen;
es muss in Fällen, wo aus besonderen Gründen keine Besprechung erfolgt, die
Aufnahme des ausführlichen Titels, Angabe des Umfanges, Verlegers und Preises
an dieser Stelle den Herren Einsendern genügen.
Die Verlagshandlung.
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Ein Streifzug
durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen.
Von
G. E. Aird.
(Warschau.)
II.
Auch die öffentliche Gesundheitspflege ist Krankenpflege, so¬
fern wir nämlich die gesammte Menschheit als Patienten, die zu
hohe Mortalität der Gegenwart als eine im Schwinden begriffene
Krankheit und die mannigfaltigen nachtheiligen Einflüsse, wie sie
durch die Art unserer Lebensweise oder die Art der Lokalverhält¬
nisse bedingt sind, als Ursachen dieser Krankheit anerkennen. Das
Gebiet, in welchem die öffentliche Gesundheitspflege zu wirken
hat, ist allerdings ein ungeheures; sie hat indessen in der grossen
Mehrzahl ihrer Lande gewaltige Siege, herrliche Erfolge zu ver¬
zeichnen; sie war wohl auch niemals auf ein Defensivgefecht be¬
schränkt, aber heute ist sie entschieden in der günstigen Lage, die
Offensive kräftig fortzuführen, und alle ihre Freunde und Jünger
von Beruf scheinen bereit, den Satz zu unterschreiben: „Ihr Vater¬
land muss grösser sein!“
Und dennoch gibt es in diesem Reiche der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege eine Reihe von Gebieten, die, zum Theil wohl ihrer
wenig einladenden Eigenschaften wegen, recht stiefmütterlich be¬
handelt wurden. Ein solcher ist, meiner unmassgeblichen Ansicht
nach die Installation des Hauses mit einer Wasser-Zu- und Abfluss¬
leitung, und ich empfinde das augenblicklich um so schwerer, als
grade in den nachstehenden Seiten von den wichtigeren Einzel¬
heiten bei der Anlage namentlich häuslicher Abflussleitungen aus¬
führlicher zu sprechen ist. Im Vergleich mit der Canalisation von
ganzen Städten erscheint ja die Installation eines einzelnen Ge¬
bäudes allerdings schon herzlich unbedeutend, und ein längerer
Aufsatz über dieses Thema nur zu leicht wie schriftliche Kleinig¬
keitskrämerei. Ja, wer nicht durch den eigenen Beruf auf die
vielfach interessanten Details des Gegenstandes hingewiesen wird,
Centralbiatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 23
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330 —
sieht wohl bald mit Gleichgültigkeit oder gar mit eingebildeter
Ueberlegenheit auf diese scheinbare Flickarbeit hinab. Aber an
dieser Stelle habe ich wohl nicht zu fürchten, dass eine Besprechung,
wie ich sie heute bieten möchte, aus solchen Gründen nicht doch
noch interessirte Leser finden sollte. Sehe ich doch an mir selbst,
wie leicht es ist, sich der Bedeutung dieses Themas zu erschliessen;
und so will ich denn getrost eine Zeitlang nur von Installation
und diesbezüglichem Kleinkram reden. Honny soit, qui mal y pense!
Die erste Forderung, welche an eine der Vollkommenheit nahe
Hausentwässerungsanlage gestellt werden muss, ist die, dass die
ganze Anlage in allen ihren Haupt- und Nebentheilen die grösst-
mögliche Einfachheit in Bezug auf Gonstruction aufweise, während
sie natürlich bei alledem ihren eigentlichen Zweck nach jeder Rich¬
tung hin erfüllen muss, denn auf den natürlichsten Wegen und
mit den einfachsten Mitteln ein hochgestelltes Ziel zu erreichen,
das eben ist ja die Kunst. —
Ueber die Details der Hausentwässerungsconstructionen (es sei
zunächst vom Schwemmsystem allein die Rede) gehen in England,
Deutschland und Amerika die Ansichten der Specialisten gründlich
auseinander. Der Natur der Sache nach lässt sich die oben auf¬
gestellte Forderung nur erfüllen, solange der angestrebte Zweck
uns klar vor Augen bleibt, und in der Praxis zeigt fast jeder
Schritt die Licht- und Schattenseiten, die gegeneinander abzuwägen
sind, entsprechend den Forderungen der Technik, der Hygiene und
der augenblicklich vorliegenden Verhältnisse des Locales. Das
Mittel, welches in England zu Erfolgen führt, kann grade in Deutsch¬
land einen Misserfolg begründen, und wenn z. B. seitens der Herren
Corfield und Parkes gesagt wird, dass als Material für Fall¬
rohren in erster Linie Walzblei zu verwenden sei resp. gepresstes
Bleirohr ohne Naht, so lässt sich von Deutschland aus recht viel
dagegen sagen. Die Möglichkeit, bei gepresstem Bleirohr eine
grosse Dichtheit der wenig zahlreichen Verbindungen zu erzielen,
liegt freilich vor; dass dies indessen bei gusseisernen Fallsträngen
nicht in gleichem Maass der Fall sei — es geht hier nur um
Unterschiede von wirklich praktischer Bedeutung — ist ohne
Zweifel zu bestreiten. Wir haben ausserdem am Gussrohr noch
den Vorzug seiner Stärke und seiner Widerstandsfähigkeit gegen
Stösse und Pressungen irgend welcher Art. Bleirohr, im Innern
der Häuser angebracht, erfordert immer eine schützende Ver¬
schalung (bei Mauerkreuzungen auch eine Verpackung gegen Corrosion
durch Mörtel) und diese vertheuert nicht nur die Anlage, sondern
sie entzieht auch etwa auftretende Beschädigungen, wie solche
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häufig durch Unvorsichtigkeit und durch das Zernagen des Rohrs von
Mäusen und Ratten bewirkt werden, den Blicken der Bewohner. Das
ist an sich ein Umstand von recht erheblicher Bedeutung. Nun sollen
aber nach Prof. Corfield die Fallrohren überhaupt, wenn irgend
thunlich, nicht im Innern der Gebäude, sondern an deren Aussen-
wand herunterführen, und das erscheint in Deutschland nicht
nur nahezu unmöglich — denn in unserem Klima wäre jedes Ab¬
fallrohr, und sei es auch von 10 cm 1. W., dem Einfrieren in jedem
Winter ausgesetzt — sondern es ginge uns auch in anderer Hin¬
sicht ein grosser Vortheil zum allergrössten Theil verloren, nämlich
die in England allgemein verpönte, in Deutschland aber fasst all¬
gemein geübte Ausnutzung der Fallrohren zur Ventilation der
Hausentwässerungsanlage und des Strassennetzes. Und damit sind
wir an die grosse Kluft getreten, welche die englische und ameri¬
kanische von der deutschen Hausentwässerungsmethode scheidet.
Es handelt sich darum, das Eindringen der Canalgase in das
Haus zu verhüten, und da dieselben in allen Fall- und Abflussrohren
in concentrirterer Form um so schneller gebildet werden, je weniger
frische Luft den Röhren zugeführt wird, so kommt viel darauf an,
dass das gesammte Rohrnetz gründlich durchgelüftet werde.
So häufig übrigens auch behauptet worden ist, dass die Canal¬
gase Träger von lebenden oder lebensfähigen Krankheitskeimen
seien, und so wenig ich mich selbst berufen oder im Stande fühle,
medicinisch und naturwissenschaftlich gebildeten Vertretern dieser
Meinung zu widersprechen, — der Beweis dafür, dass die Canal¬
luft wirklich Krankheitskeime trage, ist jedenfalls noch nicht er¬
bracht; im Gegentheil, die angestellten Versuche ergaben meist,
dass Canalgase ganz ungewöhnlich frei von Mici*oorganismen waren,
und so sehe ich denn einstweilen in den Canalgasen auch weiter
nichts als sehr verdorbene übelriechende Luft. Ich weiss nun
aber aus persönlicher Erfahrung, dass Hausbesitzer durch das Ein¬
strömen von Canalluft oft genug an den Rand der Verzweiflung
gebracht werden, und sicherlich gewährt die mehr oder minder
grosse Bereitwilligkeit, mit welcher der Einzelne ganz bedeutende
Summen opfert, um diesem Uebelstande abzuhelfen, einen ziemlich
zuverlässigen Maassstab für die Wichtigkeit im Einzelfalle und für
das Maass der Leiden, die Jener zu ertragen hatte. — Und andrer¬
seits bin ich auch selbst eine ziemlich empfindliche Natur und ich
weiss wie mir selbst zu Muthe wird, so oft ich genöthigt bin, in
einem Wohnraum mich üblen Gerüchen auszusetzen. Solche rein
praktische Erfahrungen haben mich denn, wie gesagt, schon lange
davon überzeugt, dass durch das Einströmen von Canalluft in ge¬
schlossene und bewohnte Räume hochgradige Uebelkeit und auch
ein körperlicher Schwächezustand hervorgerufen werden kann, der
nach anderen Erfahrungen und Beobachtungen wieder ein Indivi-
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duum für mancherlei Krankheit leicht empfänglich macht. — Es
sprechen sich nun heute sicherlich ebensoviele Hygieniker aller in
Frage kommenden Nationen für die Schädlichkeit der Canalgase
aus, als Gegner ihre Schädlichkeit bestreiten, und wollte man sich
also nur nach diesen Meinungsäusserungen richten, man wüsste
nie, woran man glauben soll. Wer aber auf diesem Gebiete selbst
handeln muss, sieht sich gewungen, selbst zu denken und sich
selbst eine Meinung auszubilden, und er sollte dann den Math
auch haben, diese persönliche Meinung offen zu vertreten. Prak¬
tische Erfahrungen führen auch zu Ueberzeugungen, welche durch
theorethische Gründe sehr schwer zu erschüttern sind, und es wird
Niemanden wundern, wenn Leute, die sich in persönlicher Beobach¬
tung von den unerfreulichen Eigenschaften der Canalgase über¬
zeugen konnten, an ihrer diesbezüglichen Auffassung festhalten
wollen, trotzdem ihnen z. B. von Chemikern haarscharf nachgewiesen
wird, dass die Canalluft sich nur aus so und so vielen Theilen von
diesen oder jenen Gasen bilde, und dass ihre Besorgniss also unbe¬
gründet sei. — Wie bald die Luft im Innern von Abflussleitungen in den
von mir für schädlich gehaltenen Zustand gebracht wird, konnte
ich an gewöhnlichen Küchenausgussbecken oft beobachten. Noch in
neuester Zeit kam ich zuweilen an einen Küchenausguss, der an
einem recht kühlen Orte angebracht war, der aber noch gar nicht
besonders schmutzige oder mit Küchen-Abfällen vermischte Wässer
aufzunehmen hatte. Der Ausguss war mit einem der üblichen Ge¬
ruchverschlüsse versehen, und die Abflussöffnung wie sonst gebräuch¬
lich mit einem festen Sieb verschlossen. Zwischen dem Wasser¬
spiegel des Geruchverschlusses und dem kleinen Siebe befand sich
natürlich stets eine gewisse Luftmenge, welche wegen der kühlen
Lage an dieser Stelle während längerer Zeit fast unbeweglich
blieb, während sie bei plötzlich starker Oeffnung des über dem
Becken angebrachten Wasserhahns verdrängt und dem vor dem
Becken Stehenden zugetrieben wurde. Und ich kann versichern,
dass mir aus dieser kleinen Oeffnung sehr oft ein geradezu ekel¬
erregender Geruch entgegenströmte, trotzdem die ausgegossenen
Wässer verhälnissmässig rein sind, trotzdem der Ausguss unzählige
Male an jedem Tage durchgespült wird und trotzdem die innere
Rohrfläche, welche die dort befindliche Luft umschliesst, auf höch¬
stens 2,5 qdm zu schätzen ist. Je nachdem also bei jedem einzelnen
Fallrohr die Localverhältnisse eine Rolle spielen, muss in ihnen
stagnirende Luft in kürzester Zeit schon stark verdorben werden,
und bereits hierin documentirt sich die unbedingte Nothwendigkeit
einer gründlichen Lüftung aller Fallrohrstränge.
Wie dies nun am Richtigsten zu bewirken sei, darüber eben gehen
die Urtheile auseinander. Die Ansichten, welche in dem Gorfield'-
Werk über diesen Punkt vertreten werden, dürfen sicherlich als
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die der hervorragendsten englischen Repräsentanten dieses Faches
hingenommen werden. Sie müssen nichtsdestoweniger stellenweise
Kopfschütteln hervorrufen und namentlich bei denen, welche die
dauernd günstige Wirksamkeit der in Deutschland gebräuchlichsten
Methode selbst beobachten konnten. So äussert sich Prof. Cor-
field z. B. (pag. 145—140) dahin, dass Fallrohren in gewissen
Fähen und namentlich dann, wenn sie im Innern der Gebäude
hochgeführt werden müssten, durch einen am unteren Ende anzu¬
bringenden Geruchverschluss von der Grundleitung abzuschliessen
seien. Ich hebe ausdrücklich hervor, dass ich noch nicht von der
Einschaltung eines Wasser Verschlusses in das Haupt- oder Stamm¬
rohr des Hausentwässerungsnetzes rede; es handelt sich vielmehr
vorläufig darum, dass englischerseits die Anbringung von Wasser¬
verschlüssen am Fusse der einzelnen Fallrohren empfohlen
wird, sofern dieselben im Innern der Gebäude hochgeführt sind,
und das Letztere ist wie gesagt ein nach englischen Regeln ab¬
normes und jedenfalls besser zu vermeidendes Verfahren. Die
Grundleitung soll in solchen Fällen durch besondere Ventilations¬
röhren, die an der Aussenwand der Gebäude hochgeführt sind,
durchgelüftet werden. Gestützt auf eigene Beobachtungen stelle
ich dieses Verfahren, um mich einer sehr gesuchten Wendung zu
bedienen, als „übertriebene Vorsicht“ hin; es ist eine Vorsichts-
massregel, die nothgedrungen ihren Zweck verfehlt, das lehrt schon
folgende Betrachtung:
Wird ein Fallrohr bei allen Eingüssen und ausserdem am
unteren Ende durch einen Wasserverschluss gesperrt, so dass nur
über Dach der Luft eine einzige Oeffnung bleibt, so muss natür¬
lich entweder eine Stagnation der in dem Fallrohr eingeschlossenen
Luft eintreten, und grade dies ist zu vermeiden, oder aber, wenn
dennoch irgend eine schwache Circulation zu Stande kommt, so
kann dies nur dadurch geschehen, dass Luft aus der Grundleitung
in Folge von Stauung oder Rückstössen durch den Wasserver¬
schluss am Fusse des Fallrohrs hindurch getrieben wird. Da also
dieser Verschluss nicht immer wirksam bliebe, so wäre er vor
allen Dingen überflüssig; da er ausserdem die Luftcirculation im
Fallrohr nahezu unmöglich macht, so ist er schon aus diesem
Grunde schädlich; aber drittens wäre er für Alle, welche meine un¬
massgeblichen Ansichten über die Wirkung der Canalluft theilen,
und überall da, wo Ventilationsröhren zweiter Ordnung nicht vor¬
handen sind — wie auf dem Continent noch in der grossen Mehr¬
zahl aller Fälle — aus folgendem Grunde gradezu gefährlich: Wird
in das allseitig geschlossene Fallrohr aus einer der oberen Etagen
eine grössere Wassermasse plötzlich entleert, so wird das fallende
Wasser auf die eingeschlossene und durch Stagnation verdorbene
Luft einen nach den Seiten gleichmässig vertheilten Druck aus-
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üben, und die Luft wird gezwungen, einen der hinderlichen Wasser¬
verschlüsse zu durchbrechen. Dies wird ihr aber am leichtesten
da gelingen, wo eben zuerst der momentane Druck am grössten,
und wo die Verschlüsse ausserdem am schwächsten sind, also nicht
etwa am Fusse des Fallrohrs, sondern höher oben, unter irgend
einem Ausguss, einem Pissoir oder unter einer Badewanne. Kurz,
grade durch die Gegenwart des unteren Verschlusses wird die
durch Stagnation verdorbene Luft gewaltsam in die bewohnten
Räume eingeführt. Ich bin denn auch kaum im Stande mich über
den Gedanken hinwegzusetzen, dass eben durch die englische
Ventilationsmethode eine Stagnation und Lu fl Verschlechterung erst
geschaffen wird, wie sie vorhanden sein muss, wenn die doch
übergrosse Fülle von traurigen Erfahrungen, die in England mit
dem Eindringen der Canalgase gemacht worden sind, einer ernsten
Begründung nicht entbehrt. Ein Vergleich dieser englischen Ver¬
hältnisse mit den deutschen verlangt aber stets die allergrösste
Vorsicht, und möchte ich namentlich im vorliegenden Falle auch
daran erinnern, dass es sich bei den meisten englischen Städten
um Strassencanäle handelt, die wesentlich älter als die der neu-
canalisirten deutschen Städte sind. Sie weisen deshalb zum grossen
Theil entsprechende constructive Fehler auf, und diese dürften
wohl im Stande sein, auch auf die beste Hausentwässerungs¬
anlage einen recht nachtheiligen Einfluss auszuüben.
Nach dem in Deutschland verbreitetsten System ist der oben
beschriebene Abschluss der durch das Hausinnere aufsteigenden
Röhren unbedingt vermieden, und die den praktischen Ausfüh¬
rungen zu Grunde liegende Theorie besagt, dass infolge der warmen
Lage der Hausabfallröhren eine Erwärmung d. h. also auch ein
Auftrieb der in den Röhren eingeschlossenen Luft entstehe und
es sei also unbedingt erforderlich, dass von unten her ein Ersatz
durch frische Luft ermöglicht werde. Was die Entnahmequelle
dieser Luft betrifft, so stehen sich auch hier wieder die Theorie
und die Praxis von England und Deutschland gegenüber. Nach
dem fast überall in Deutschland eingeschlagenen Verfahren werden,
wie gesagt, die Hausabfallröhren zur Ventilation des ganzen Haus¬
entwässerungsnetzes und selbst der Strassencanäle ausgenutzt, und
es kommt also im grossen Ganzen eine Luftcirculation in der
Weise zu Stande, dass frische atmosphärische Luft durch die
Mannlöcher etc. in die Strassencanäle eindringt, die Hausentwässe¬
rungsröhren stromaufwärts durchstreicht und schliesslich durch
die erwärmten Fallrohren über die Dächer der Gebäude enipor-
getrieben wird. Selbstverständlich geht diese Circulation nicht
immer gleichartig, sondern mit unzähligen Variationen und Aus¬
nahmen von statten. Da ferner in vielen Fällen der Gesammt-
querschnitt aller Fallrohren eines Grundstückes den der Grundlei-
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i
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tung an Grösse wesentlich übertrifft, so muss nothwendigerweise
in der Letzteren eine grössere Luftgeschwindigkeit als in den
Fallrohren eintreten; es ist indessen hieraus noch nicht auf die
Grösse der Luftentnahme aus dem Strassencanal zu schliessen, denn
es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass oft in den kalt liegenden
Regenröhren auf dem Hofe z. B. ein absteigender Luftstrom
grade durch den aufsteigenden im Innern des Gebäudes hervor¬
gerufen wird. Den grösseren Theil der Ersatzluft für das Fall¬
rohr liefert aber immerhin der Strassencanal; es ist das nicht nur
eine Annahme, sondern durch directe Beobachtung ist die Existenz
der in das Hausentwässerungsrohr eintretenden Luftströmung längst
erwiesen.
Diesem schon vielgeprüften deutschen Lüftungssystem gegen¬
über steht nun das englische und amerikanische l ) Verfahren, dem¬
zufolge das Hauptentwässerungsrohr des Grundstückes, bevor es
das Gebäude verlässt, durch einen Wasser Verschluss gegen das
Eindringen von Canalluft abzusperren wäre. Es soll dann an
diesem Wasser Verschluss gleichzeitig eine Oeffnung nach der Strasse
vorgesehen sein, welche den Eintritt ganz frischer atmosphärischer
Luft in das Hausentwässerungsnetz ermöglicht. Die Canalluft soll
also vom Hause noch wirksamer abgeschlossen und eine Durch¬
spülung des Rohrinnern mit frischerer Luft geschaffen werden.
Das sind beabsichtigte Verbesserungen und nur scheinbare Vor¬
züge, denn es ist Folgendes gegen das Verfahren einzuwenden.
Einmal bildet sich nicht nur in dem Strassencanal sondern grade
hauptsächlich schon in dem Hausentwässerungsnetz mit all seinen
Verzweigungen und vielfach wasserfreien Röhren die übelriechende
Canalluft und es wäre also im Grunde genommen die Absperrung
des Zuschusses von dem Strassencanal von keiner wesentlichen
Bedeutung. Der Eintritt frischer Luft an der Hausfront, welcher
unter besonders günstigen Umständen die Bildung übler Gase im
Hausrohr ganz verhindern und sonst wenigstens die verdorbene
Luft verdünnen dürfte, würde wohl Jedem sehr empfehlenswerth
erscheinen, wenn mit dieser Einrichtung nicht auch der zeitweilige
Austritt der Canalluft aus dem Rohrinnern durch die neue „Ein-
tritts“-Oeffnung verbunden wäre. Ein solcher Austritt wird aber
in derselben Weise geschehen, wie stets bei Einsteigeöffnungen
oder Ventilationslöchern für den Strassencanal, und während der
zeitweilige Austritt von Canalluft in der Strassenmitte, wo fast
immer eine stärkere Luftbewegung herrscht, noch acceptable er¬
scheint, ist von demselben Austritt an der Hausfront und dem
Bürgersteige, namentlich an warmen Sommertagen, eine Belästigung
1) Waring, der bekanntlich ein „Separat-System* geschaffen hat, gehört
zu den Ausnahmen. Er verwirft den Hauptwasserverschluss.
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der Passanten und der Parterrebewohner zu befürchten. Die
ängstliche Sorgfalt, mit der man in England die Fernhaltung
aller Ventilationsröhren von jedem Fenster und die Ausmündung
der Röhren über Dach weit ab von jedem Schornstein .fordert,
macht sich ganz gut neben einer am Strassentrottoir belegenen
„Eintritts u -Oeffnung, die oft sehr warm empfohlen wird! — Und
dazu kommt nun, dass der Wasserverschluss seinen Zweck ent¬
schieden nur vorübergehend erfüllen kann, denn jeder Rück¬
stau u. s. w. treibt die Ganalluft durch den Verschluss zum Haus¬
rohr hin und macht damit den ganzen Abschluss illusorisch. Es
Hesse sich freilich die Passantenbelästigung vermeiden, wenn man
ein Lufteintrittsrohr bis über das Dach nach oben führte, und
man könnte das Durchbrechen des Wasser Verschlusses hindern,
wenn man von seiner ferneren, dem Strassencanal zugekehrten
Seite gleichfalls ein Ventilationsrohr bis über das Dach nach oben
brächte. Aber diese Röhren dürften natürlich nicht vereinigt werden,
und wir müssten also zwei neue Rohrstränge bis über das Dach des
Hauses führen, um einem einzigen Wasserschluss zu seiner Zweck¬
erfüllung zu verhelfen — ist das wohl der Mühe und des Geldes werth?
— Es hat nun schliesslich das Einschalten von Wasserverschlüssen
in Grundleitungen fast ausnahmlos den sehr betonenswerthen Nach¬
theil, dass ein ungestörter Abfluss unterbrochen und erfahrungs-
gemäss eine sehr unbequeme Gelegenheit für die Bildung von Rohr¬
verstopfungen neu geschaffen wird. Wenn man also bedenkt, dass
namentlich aus dem letztgenannten Grunde der Wasserverschluss
zugänglich anzulegen ist — was in einer Stadt wie etwa Warschau,
wo die Canäle oft 6 bis 8 m tief unter der Strassenoberfläche liegen
und wo dennoch zu scharfe Gefälle vermieden werden müssen, be¬
deutende Kosten mit sich brächte — und wenn man ferner sich
erinnert, dass bei diesem Verfahren eine wirklich gleich wirksame
und gleich billige Ventilation der Strassencanäle noch geschaffen
werden müsste — eine Aufgabe, die von den Freunden solcher
Wasserverschlüsse vor allen Dingen erst zu lösen ist — wenn man
endlich die oben begründete Werthlosigkeit des ganzen Verschlusses
in Erwägung zieht, so gelangt man leicht zu einer entschiedenen
Verurtheilung des hier geschilderten Verfahrens, denn er sieht ja
im grellsten Widerspruch zu der Forderung, „dass die ganze An¬
lage in allen ihren Haupt- und Nebentheilen die grosstmögliche
Einfachheit in Bezug auf Construction aufweise, während sie na¬
türlich bei alledem ihren eigentlichen Zweck nach jeder Richtung
hin erfüllen muss.“ —
Ist ein solcher Hauptwasserverschluss am Stammrohr des
Hausentwässerungsnetzes nicht auf beiden Seiten mit der freien
Luft in Verbindung gebracht, wie oben schon beschrieben wurde,
so ist seine Einschaltung ohne jeden Zweifel zweck- und werthlos
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und es ist dies z. B. gegenüber der Kölner Polizeiverordnung vom
18. Mai 1887 besonders scharf hervorzuheben. Zu Denen, welche
die Einschaltung solcher Wasserverschlüsse für einen Fortschritt
halten — vielleicht weil diese Methode aus England eingeschleppt
wird — gehört auch Herr M. Knauff in Berlin. In Nr. 16 des
Ges. Ing. (1888) veröffentlicht er eine kurze Besprechung der
Kölner Polizeibestimmungen. Er erfreut sich an der Verfügung
über die Einschaltung des Wasserverschlusses, ohne seine Ansicht
über den Gegenstand des Näheren zu begründen, und er übersieht
dann offenbar, dass nach dem recht lau gehaltenen § 6 der Kölner
Polizeiverordnung die in Wirklichkeit unerlässliche Lüftung des
Verschlusses nur in dem Falle gefordert wird, wenn dieser grade „auf
einem freien Vorhofe oder im Vorgarten angelegt ist.“ Selbst
dann soll ja aber die Lüftung immer nur derart erfolgen, dass die
Ausströmung von Luft aus dem Strassencanal verhindert wird.
In welcher Weise dann die Strassencanäle gut zu ventiliren sind,
ist in jener Verordnung freilich nicht gesagt. — Wesentlich wichtiger
als die Freude des Herrn Kn au ff über diese Wasserverschluss-Ver¬
fügung erscheint mir der Schlussgedanke seines Artikels, den ich
jetzt mit einem nachträglichen Hinweis auf den ersten Abschnitt
dieser Arbeit citire und der offenbar Herrn Knauff’s persönliche
Empfindung nach Durchsicht der Kölner Bestimmungen wider¬
spiegelt. Er sagt da: „Eine nothwendige Folge der beabsichtigten
Durchführung der gedachten Polizeiverordnung ist nun vor Allem
die, dass die Bauausführung der Hausentwässerungs-
Anlagen in Köln auf das Schärfste überwacht werde.
Selbst für so manchen tüchtigen Wasserfachmann gilt es dort, viel
Altes zu vergessen, noch mehr Neues zu erlernen und in Anwen¬
dung zu bringen und namentlich in richtiger und überlegter
Weise die für die Lüftung des Hausrohrnetzes erforderlichen Ein¬
richtungen zu treffen.“ Herr Knauff ist sogar voller Zuversicht,
dass Alles dies geschehen werde und dass auch die Stadt recht
reiche Mittel zur Beschäftigung eines grossen Canalisations-Polizei-
Personals beschaffen werde. —
Bei Abflussleitungen für schmutziges Wasser ist noch strenger
als bei Druckröhren auf eine Verhütung schroffer Richtungsände¬
rungen in der Leitung selbst und überhaupt auch darauf Werth
zu legen, dass der Bewegung des Wassers möglichst geringe Hinder¬
nisse entgegengehalten werden, und jeder Apparat, der gegenüber
seiner Störung der Abflussbewegung nicht mindestens unbedingt
und in denkbar vollkommenster Weise einen wichtigen sonstigen
Zweck erfüllt, ist ohne Rücksicht zu verwerfen. Dies gilt denn
auch nicht nur von den Wasserverschlüssen, sondern es ist nament¬
lich gegenüber den bisher gebräuchlichen Schutzmitteln gegen den
Rückstau einzuwenden. Wir benöthigen allerdings eines sicheren
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— 338
Schutzes gegen den Rückstau vom Canal; die bisherigen selbst¬
tätigen Vorrichtungen sind indessen als keineswegs zweckent¬
sprechend zu bezeichnen. So ist in Berlin z. B. die Einschaltung
einer Rückstauklappe in das Hauptrohr vorgeschrieben. Das meist
sehr flach verlegte Abflussrohr erweitert sich unmittelbar hinter der
Hausfront zu einem vierseitigen Kasten, dessen oberer Boden gleich¬
zeitig der Deckel und als solcher zu Reinigungszwecken abzunehmen
und dann mit Hülfe einer Schraube von Neuem zu befestigen ist.
Wo das Abflussrohr nun in diesen Kasten übergeht oder einmündet,
da hängt eine kreisrunde eiserne Klappe gerade vor dem Rohr,
welche durch ihr eigenes Gewicht die offene Mündung schon ver-
schliesst. Ein leichter Druck des abfliessenden Wassers genügt
aber, um die Klappe zu heben und den Abfluss dem Wasser wieder
frei zu machen. Steigt dagegen vom Canal her Rückstauwasser
in der Leitung aufwärts, so drückt es selbst die Klappe auf die
Oeflfnung nieder, und je stärker der Druck vom Strassencanal, um
so fester und dichter natürlich der Verschluss. — So die Theorie;
die Praxis lehrt aber, dass solche Klappen trotz alledem gar nicht
zu empfehlen sind, denn erstens stören sie den günstigen Abfluss
ganz gewaltig, indem sie alle möglichen grösseren und festeren
Stoffe zurückhalten und dadurch oft zu Rohrverstopfungen den
unerwünschten Anlass geben; andererseits erfüllen sie ihren Zweck
durchaus nicht, wie man es erwarten sollte, denn es braucht sich
z. B. nur etwas Papier oder dergleichen über die Dichtungsleiste
der Klappe zu legen, so kann diese schon nicht mehr völlig schliessen
und an dem ganzen Umfang einer solchen Klappe bleibt dann ein
Spalt, durch welchen das Rückstauwasser ungehindert aufwärts in
das Haus passirt. — —
Grade für eine systematische Ventilation der Strassencanäle,
von der wir ja vor Kurzem sprachen, sind die Hausabfallröhren
von der allergrössten Bedeutung. Durch die modernen Regen¬
röhren könnten sie natürlich nicht ersetzt werden und zwar erstens
nicht, weil diese sich bei Regengüssen zu gleicher Zeit mit Wasser
füllen; zweitens nicht, weil sie meist zu kalt gelegen sind,
und drittens nicht, weil sie ohne dicht zu sein, zu nahe an den
Fenstern der Häuser liegen. Die Lüftung nur durch eine grosse
Zahl von Ventilationsschächten oder Oeflfnungen in der Strassen-
mitte zu bewirken, hiesse den Anforderungen der Hygiene nicht
genügen, denn es ist zu verlangen, dass die schlechte Canalluft vor
ihrer Verdünnung über die direct zu unserem Lebensbedarf bestimmte
Luftschicht hochgehoben werde. Es ist andererseits schon wieder¬
holt versucht worden, Ventilationsstürme mit künstlicher Zugvor¬
richtung (Flammen) einzuführen. Sie wurden z. B. in englischen
Städten und in Frankfurt a. M. an höchsten Punkten errichtet und
waren bestimmt, womöglich ein ganzes Rohrnetz zu ventiliren; in
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— 339 —
ähnlicher Weise war man oft bemüht, die grösseren Fabrikschorn¬
steine auszunutzen. Es hat sich aber bald gezeigt, dass sie ihren
Zweck aus den einfachsten Gründen nicht erfüllen können. Ihre
Wirkung bleibt immer auf ein verhältnissmässig kleines Gebiet be¬
schränkt und bietet für den Canal auch keineswegs die erwartete
Lüftung, weil der starke, in dem Ventilationschacht emporgetriebene
Luftstrom nicht allein von dem Strassencanal, sondern zum grossen
Theil durch die nächstgelegenen Regenröhren zugeführt wird. Grade
dies weisst denn auch auf den grössten "Vorzug der Ventilation
durch die Abfallröhren in den Häusern hin, welcher eben darin
besteht, dass diese in sehr grosser Anzahl überall gleichmässig auf
das ganze Strassennetz vertheilt sind. —
Jetzt wird es nun freilich in um so höherem Masse nöthig,
das Eindringen der durch die Häuser emporgeführten Canalluft in
das Innere der bewohnten Räume zu verhüten und dazu ist es
erstens erforderlich, richtig construirte Wasser Verschlüsse an allen
Ausguss- oder Abflussöffnungen der einzelnen Wohnung einzurichten,
und zweitens wieder, durch eine zweckentsprechende Ventilations¬
vorrichtung das Durchbrechen derselben zu verhindern.
Die lichte Weite der Wasserverschlüsse hat überall dem Durch¬
messer des erforderlichen Abflussrohrs zu entsprechen, an welches
sie angeschlossen sind, und für die Tiefe des Wasserverschlusses
ist bei Closets 7,5 cm und bei Auslässen von 4—7,5 cm lichter Weite
5 cm zu fordern. Es ist ferner zu verlangen, dass an keiner Stelle
der Verschlusskrümmung die lichte Weite geringer als die der be¬
treffenden Rohrleitung sei, und dass im Innern des Geruchver¬
schlusses, der grüncflichen Reinhaltung wegen, alle scharfen Kanten,
Ecken und Winkel unbedingt vermieden werden. In England ist
die Fabrication von Closetschalen mit Geruchverschluss aus einem
einzigen Stück von mehreren Lieferanten zur Specialität entwickelt
worden, wobei der Form natürlich die grösste Aufmerksamkeit ge¬
widmet wird. Es handelt sich darum, die Schüssel so zu gestalten,
dass bei einer sehr kräftigen Spülung der ganze Inhalt derselben
leicht entfernt wird, dass alle Wandungen des Beckens reinge¬
waschen werden, und dass zum Schluss eine gewisse Menge reinen
Wassers den Boden der Schüssel wieder füllt. Ausserdem ist aber
die Spülung auch wieder derart einzurichten, dass sie die Fäcalien
nicht nur in den Geruchverschluss hinabwirft, sondern sie soll die¬
selben sofort und kräftig durch den ganzen Verschluss hindurch
und in die Abflussleitung hinunter treiben. So vielseitigen Forde¬
rungen ganz zu genügen ist schwierig und es setzt eine ganz
specielle Beschäftigung mit dem Gegenstand voraus. Die meisten
der in Deutschland massenhaft fabricirten Closetschalen (und na¬
mentlich die sogenannten gusseisernen „Rundspüler“, auch „Closets
zweiter Klasse“) sind entschieden zu bemängeln. Ein Fehler ist es
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340 —
einmal, wenn die Oeffnung zum Geruchverschluss ganz unuberdeckt
in der Beckenmitte sich befindet; diese Oeffnung sollte dem Auge
ganz entzogen werden. Die Rundspüler bewirken wohl eine ganz
günstige und für das Modell sogar sehr einnehmende Wand¬
spülung, sie sind aber dafür in der Regel nicht im Stande, Fäcalien
und Papier durch den Verschluss hindurch zu treiben und diese
bleiben schliesslich in dem sichtbaren Wasser des Verschlusses
liegen. Ein Fehler der feineren deutschen Closetsysteme ist wieder
dadurch begründet, dass an einem directen Anschluss der Closets
an die Wasserleitung festgehalten wird. Es wird hierdurch immer
ein mehr oder minder complicirter Hebelmechanismus zur Oeffnung
des Wasserspülhahns nöthig, welcher ganz und gar vermieden
werden könnte, und Gründe, welche dies als wünschenswerth er¬
scheinen lassen, sind ja in grosser Zahl vorhanden. Am Mecha¬
nismus selbst und auch am Absperrhahn sind ewig Reparaturen
nöthig. Da übrigens die Spülung immer nur so lange dauert, als
der Benutzende den Hebel anzieht oder in anderen Fällen nieder¬
drückt, so hat das Publicum schon Unbequemlichkeiten, die bei
den erwähnten Rundspülern sich sogar zu einer wahren Qual ge¬
stalten, wenn man entschlossen ist, mit seinem guten Willen durch¬
zudringen. — Die meist ziemlich schnell schliessenden Closethähne
bringen binnen verhältnissmässig kurzer Zeit auch Rohrbruche zu
Stande (namentlich in den Krümmungen unmittelbar am Anschluss
des Closets und wenn die Zuflussleitung dort in einem so wenig
elastischen Material wie Bleirohr ausgeführt ist), und endlich hat
es vieles für sich, die Closets von der Trinkwasserleitung ganz zu
scheiden. Dies wird z. B. durch die Aufstellung kleiner Spül¬
reservoirs erreicht, welche sich bei einem nur einen Moment er¬
fordernden Zug durch Heberwirkung ganz entleeren. Wenn hierbei
der complicirte Hebelmechanismus an der Closetschale selbst be¬
seitigt wird, so darf er auch an dem Reservoir nicht wieder zum
Vorschein kommen. Unzählig sind allerdings die patentirten Con-
structionen dieser Spülreservoirs, nur schade, dass die wenigsten
wirklich praktischen Werth besitzen. Alle diejenigen Behälter z. B.,
welche auf ihrem inneren Boden eine vorübergehend abgedichtete
Oeffnung für den sturzweisen Abfluss des Wassers haben, sind
überhaupt nicht zu empfehlen. Der ganze Apparat muss von der
allergrössten Einfachheit sein, und der Abfluss ist einzig durch den
Hebel selbst, und nicht etwa zum Anlass zuerst durch eine andere
Oeffnung zu bewirken. — Die Aufstellung dieser Behälter gestattet
denn auch die Anbringung der erwähnten englischen Porzellan-
Cuvetten mit Geruchverschluss in einem Stück, und an ihnen ist
gar kein Mechanismus, gar keine Gelegenheit zum undicht werden.
Viele Fa?ons machen sogar eine eigentliche Holzverschalung völlig
überflüssig, und ein leichtes Sitzbrett von dunkelpolirtem Holz zur
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— 341
grösseren Bequemlichkeit ist Alles, was gefordert wird 1 ). Aber
eben diese Einfachheit ermöglicht dann die weitestgehende Sauber¬
keit. Namentlich anführen möchte ich: die „Excelsior-Cuvette“
(Bostel’s Patent), die neuesten Formen der Twyford’schen Cuvetten
„National“ und „Unitas“, endlich die von der Firma Doulton & Go.
in den Handel gebrachte Fa<jon. Vollkommen sind diese Schalen
allerdings noch nicht; es ist z. B. die Tiefe der Wasserverschlüsse
zuweilen geringer als zwei Zoll, auch erweisen sie sich in den
Häusern der Bewohner des Continents oft in sofern als ein Danaer¬
geschenk, als es hier nicht für nöthig befunden wird, die am Ge¬
ruchverschluss schon angebrachte Ventilationsöffnung zu benutzen,
wie das doch unbedingt geschehen sollte, — aber nichtsdestoweniger
zeigen sich in Deutschland und Oesterreich bereits Imitationen, die
meist ausserordentlich viel zu wünschen übrig lassen. Die oben
genannten englischen Cuvetten stehen leider noch sehr hoch im
Preise. Der vortheilhafte Ankauf derselben setzt ein gewisses Sach¬
verständnis voraus und sollte, meine ich, nur erfolgen, nachdem
der Lieferant ein Muster der betreffenden Schale im Betrieb dem
Käufer vorgeführt hat.
Ein sehr beachtenswerther Einwand gegen alle diejenigen
Schalen, welche mit dem Geruchverschluss aus einem Stück ge¬
formt sind, wird aber dennoch von Prof. Corfield vorgebracht. Er
weist nämlich darauf hin, dass es schwierig ist, zwischen der Por-
zellancuvette und dem Abflussrohr eine gute und dauerhafte Dich¬
tung herzustellen, und er fordert desshalb eine Trennung des Ge¬
ruchverschlusses von der Cuvette, damit die Leitung wenigstens bis
zum Wasserverschluss vollkommen dicht sei und damit man die
Closetschale, so oft es nöthig werden sollte, entfernen kann, ohne
jedesmal die wichtigere Dichtung zwischen Wasserverschluss und
Abflussleitung zu verletzen.
Es folgt nun die Nothwendigkeit einer Sicherung der an einem
Fallrohr angebrachten Geruchverschlüsse durch eine zweckent¬
sprechende Ventilation. — Da ein Wasserverschluss der gebräuch¬
licher) (S-)Form in der üblichen Lage sowohl leicht ausgesaugt als
auch von Druck durchbrochen und geschwächt werden kann, so
ist es nöthig dafür zu sorgen, dass sein Wasserspiegel die Luft-
circulation durch den betreffenden Abzweig nicht unmöglich macht.
Es ist daher auch längst entschieden worden, dass es von grossem
Vortheil ist, die höchsten Punkte der Verschlüsse durch ein be¬
sonderes Ventilationsrohr (ein sogenanntes Ventilationsrohr zweiter
Ordnung) zu verbinden und dieses zweite Luftrohr entweder oben
durch das Dach in’s Freie oder über dem höchstgelegenen Wasser¬
verschluss in das Hauptventilations- und Fallrohr wieder einzu-
1) Es ist englischer Brauch, dieses Sitzbrett zum Aufklappen einzurichten,
so dass die Closetschössel (aber ohne den Sitz) ein Pissoir ersetzen kann.
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— 342 —
führen. Die Einwirkung einer drückenden oder saugenden Kraft
auf den Wasserspiegel des Verschlusses von diesem Fallrohr aus
ist nun verhindert, und der Verschluss bis zu einem recht hohen
Grade schon gesichert. Gegen das Verdunsten des Wassers in
solchen Verschlüssen kann dieses Verfahren allerdings nicht schützen.
Ein derartiges Verdunsten kommt aber namentlich in Wohnungen
vor, die den ganzen Sommer über unbenutzt sind. — Es erscheint
mir ferner nicht richtig anzunehmen, dass ein Ventilationsrohr zweiter
Ordnung nur dann erforderlich sei, wenn sich zwischen dem Ab¬
zweig im Fallrohr und dem Wasserverschluss ein längerer Ne¬
benarm befindet. Denn, ob in einem grösseren Nebenarm sich
mehr Gase entwickeln können als in einem kurzen oder nicht, das
kommt hierbei gar nicht in Betracht. Es handelt sich ja weniger
darum, mit dem zweiten Ventilationsrohr der Gasentwicklung in
solchen Nebenarmen zu begegnen, als vielmehr dafür zu sorgen,
dass ein Nebenarm für den Luftstrom niemals zur Sackgasse werde.
Eine kurze Sackgasse ermöglicht aber den Druck auf den Spiegel
des Wasserverschlusses ebenso leicht, als eine lange, und der
Theorie nach müsste also an jedem einzigen Wasser Verschluss
die bezeichnete Lüftung eingerichtet werden. Für die Praxis ist
allerdings noch zu gestatten, dass bei einem vereinzelten und in den
oberen Etagen gelegenen Verschluss die besondere Ventilation er¬
lassen werde, wenn nicht specielle Verhältnisse des Locals dieselbe
unvermeidlich machen. — In dem Corfield’schen Werk wird gleich¬
falls die Anordnung von Hülfsventilationsröhren sehr empfohlen und
des Weiteren treffend ausgeführt, dass z. B. bei 10 cm weiten Fall¬
rohren für Glosets ein Hülfsventilationsrohr von 40 mm 1. W.
genüge. Sei indessen das Closetfallrohr von geringerem Durch¬
messer, so müsse das zweite Ventilationsrohr schon mindestens
5 cm 1. W. haben. Der leitende Gedanke hierbei ist nämlich der,
dass bei starker Spülung eines höher gelegenen Closets ein 10 cm
weites Fallrohr weniger leicht durch einen Wasserkolben ausgefüllt
werden könne, als ein engeres, ln Deutschland sind für Closets
allerdings noch engere Fallrohren als die von 10 cm 1. W. nicht
mehr üblich. Bei Gerhard *) ist dagegen, und gewiss mit Recht,
eine lichte Oeffnung von 10 cm schon die äusserste Grenze, welche
für ein Fallrohr selbst bei der grössten Zahl der Anschlüsse nicht
überschritten werden soll. Es ist wünschenswerth, dass dieser
Grundsatz auch recht bald in Deutschland ganz allgemein Eingang
findet. —
Wie sehr schwierig es wird, eine Glosetschale nebst Wasser¬
verschluss, Ventilation und Anschluss an das Fallrohr so zu con-
1) Der Ingenieur W. P. Gerhard in New-York ist der Verfasser einer
ganzen Reihe von sehr beachtenswerthen Schriften über Hause^nalisation nach
amerikanischem System. \
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343
struiren, dass alle für berechtigt erkannten Wünsche erfüllt werden,
ergibt sich schon daraus, dass gestellte Forderungen sich gegen¬
seitig aufzuheben scheinen. So verlangt man z. B. eine möglichst
plötzliche und kräftige Spülung der Glosetschalen, um diese rein
zu waschen und ihren Inhalt sofort durch den Geruch Verschluss
hindurchzutreiben. Aber eine sehr kräftige Spülung hat zuweilen
bedenkliche Nachtheile im Gefolge, denn gerade durch eine so
rasche Entleerung grösserer Wassermengen wird ja die Bildung
von Wasserkolben im Hauptfallrohr erleichtert und dabei ein Druck
auf die übrigen Wasser verschlösse ausgeübt. Und bildet sich ein
grosser Wasserkolben etwa schon in dem Nebenarm des Fallrohrs,
und findet der Zufluss bis zum Ende so stark und so plötzlich wie
der Abfluss statt, so kann der Wasserverschluss in Gemeinschaft
mit dem Nebenarm sogar noch heberartig wirken, wobei dann der
im Betrieb befindliche Geruchverschluss sich durch sich selbst ent¬
leeren muss. Dem letzteren Uebelstande kann oft dadurch abge¬
holfen werden, dass man die Ausflussöffnung des Beckens etc. etwas
enger macht, als die lichte Oeffnung des Abflussrohrs und des Ge¬
ruchverschlusses. Doch möchte ich auch nachdrücklich darauf auf¬
merksam machen, dass der oft gehörten Meinung, ein saugender
Wasserkolben bilde sich in einem Fallrohr immer nur dann, wenn
der ungehemmte Zufluss stark genug ist, um eben von Beginn an
den lichten Querschnitt auszufüllen, durch praktische Erfahrung
widersprochen wird. Selbst wenn, wie es ja meist bei dem Ab¬
fluss durch einen Geruchverschluss der Fall ist, der Zufluss der¬
massen aufgehalten wird, dass er den Fallrohrquerschnitt selbst-
thätig nicht erfüllen könnte, selbst dann ist die Bildung eines
Wasserkolbens möglich und in der That auch gar nicht selten.
Meine eigenen Beobachtungen haben mich davon überzeugt, dass
die fallende Wassermasse durch den Widerstand der Luft, den sie
im Rohr zu überwinden hat, schnell ausgebreitet wird, bis sie den
lichten Querschnitt kolbenartig oder momentan vielleicht erst schei¬
benförmig ausfüllt. Der Widerstand der Luft hebt also die günstige
hemmende Wirkung eines Geruch Verschlusses auf und der neuge¬
bildete Wasserkolben wirkt darauf doch wieder saugend oder
drückend, und das natürlich namentlich dann, wenn ein Venti¬
lationsrohr zweiter Ordnung nicht vorhanden ist. — Ein Schutz
gegen die Schwächung eines Verschlusses durch Rückstösse von
dem Fallrohr her ist übrigens auch dadurch zu ermöglichen, dass
man den Verschluss nicht zu dicht unter dem betreffenden Becken
anbringt. Die oben besprochene Ventilation ist aber jedenfalls ein
unvergleichlich werthvolleres Verfahren.
Natürlich ist die Anlage der Ventilationsröhren erst recht mit
allem Sachverständniss durchzuführen. Das Luftrohr soll stets mög¬
lichst gerade und ohne scharfe Biegungen hochgeführt sein, um wirk-
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— 344 —
lieh den verlangten Schutz gegen jeglichen Rückstau zu gewähren
Aber wollte ich jetzt auch noch so viele der berechtigten Forde¬
rungen einzeln nennen, es blieben ja immer noch einmal so viele,
die ein Uneingeweihter nicht beachten könnte, und ich begnüge
mich also, um nur die Mannigfaltigkeit zu illustriren, in welcher
Unheil angestiftet werden kann, eine kurze Mittheilung von Dr. Al¬
fred Carpent er (Croydon) dem deutschen Leserkreise vorzuführen.
Dr. Carpenter geniesst seit vielen Jahren einen ausgezeichneten
Ruf in England, der ohne Zweifel in der anerkannten Vorsicht und
Sorgfalt begründet ist, welche der Genannte bei allen seinen Be¬
obachtungen und Arbeiten zu entfalten pflegt:
„In der Nacht vom 17. October,“ sagt Dr. Carpenter, „wurde
ich durch ein lautes Geräusch, das vom Closet herübertönte,
aufgeweckt; es dauerte mit Unterbrechungen während des ganzen
nächsten Tages fort. Zuerst war ich ausser Stande, mir eine Er¬
klärung dafür zu geben, bis ich endlich fand, dass es durch das
Ventilationsrohr verursacht werde, welches (während eines starken
Regens) dem Regenwasserbehälter (auf dem Dachboden) zugleich
als Ueberlauf diente. Die schlechte vom Canal aufsteigende Luft
fand jetzt keinen Ausweg mehr und sie wurde deshalb durch den
Wasserverschluss meines Closets hindurchgetrieben, zeitweilig mit
einer Gewalt, als striche hier Dampf durch ein Sicherheitsventil.
Der Uebelstand hielt fast drei Tage an, denn früher gestattete die
Witterung dem Rohrleger nicht, den im vorhergegangenen Sommer
begangenen Fehler (durch welchen eben ein Ventilationsrohr zum
Ueberlauf wurde) wieder gut zu machen. Die entweichende Canal¬
luft hat nicht besonders empfindlich berührt; da sich vielmehr nur
ein schwacher Geruch bemerkbar machte, so wurde dies gedanken¬
los hingenommen, obwohl der heftige Regenfall auch eine gründ¬
liche Ventilation des Gebäudes durch Oeffnung der Fenster ver¬
hindert hatte. Zwei oder drei Tage hierauf erkrankte einer von
zwei Bewohnern eines Zimmers (welches von allen im Hause dem
Closet am fernsten lag —?) unter Symptomen eines typhösen
Fiebers, und in wenigen Tagen zeigte auch der zweite Miether be¬
reits die Zeichen derselben Krankheit. Von allen übrigen Haus¬
bewohnern hat Niemand an diesem Fieber zu leiden gehabt. Durch
Versuche wurde nun bewiesen, dass die aus dem Closet entwichene
schlechte Canalluft in natürlicher Weise gerade zu jenem von den
beiden Erkrankten bewohnten Zimmer aufstieg. Gleichzeitig mit
dem Auftreten dieser Fälle zeigten sich viele andere von derselben
Krankheit in verschiedenen Theilen der Stadt, und in jedem ein¬
zigen Falle meiner eigenen Praxis habe ich deutlich in einer fehler¬
haften Anlage die localen Ursachen für das Uebel nachweisen
können. Es war in der Regel so, dass der Geruch nicht genügte,
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— 345
die Entdeckung des Missstandes herbeizuführen, da er meist nur
schwach bemerkbar wurde.“
Prof. Corfield citirt diese Sätze Carpenter’s nach einem
amtlichen Bericht *), und bin ich von seinem Einverständnis mit
den Ansichten des Berichterstatters überzeugt. In der That ist es
ja, wie gesagt, nichts Neues, wenn in den ärztlichen Kreisen Eng¬
lands an der Ueberzeugung festgehalten wird, dass das Auftreten
des Abdominaltyphus und verwandter Krankheiten in erster Linie
durch gesundheitsschädliche Localverhältnisse, namentlich unvoll¬
kommene Hauscanalisationsanlagen und Versorgung mit schlechtem
Wasser, gefördert, wenn nicht sogar verursacht werde. Durch so
überraschende Beobachtungen, wie man sie bekanntlich in Danzig
seit Einführung des guten Wassers und einer gründlichen Ent¬
wässerung der alten Stadt gemacht hat, ist diese Ueberzeugung nur
befestigt worden, und selbst in Australien, das einem Canalisations-
techniker noch so fern zu liegen scheint, hat die englische Ansicht
schon unter Fachgelehrten viele Freunde. Fast in jeder Nummer
der englischen Blätter für öffentliche Gesundheitspflege sind ein¬
schlägige Fälle lang und breit besprochen, und ich sollte doch
meinen, dass ein Gerücht, das sich so lange hält wie dieses, der
Wahrheit bedenklich nahe kommen muss. — Von den neun Fällen
nun aus neuerer Zeit, über welche mir augenblicklich Berichte zur
Verfügung stehen, möge nur ein einziger hier hervorgehoben wer¬
den, nämlich der Ausbruch einer Epidemie enterischer Fieber in
der Landesirrenanstalt zu Lincoln. „The Lancet,“ ein hervor¬
ragendes englisches Fachblatt, welches ich speciell citire, weil ich
zu wissen glaube, dass es auch in Deutschland sich eines guten
Rufes erfreut, sagt in der Nummer vom 6. October 1888 wörtlich
Folgendes:
„Wir sind in der Lage, einige Informationen in Bezug auf das
Auftreten enterisclier Fieber in der Landesirrenanstalt zu Lincoln
zu geben. Die Anstalt wird seit vielen Jahren von dem Erscheinen
dieser Krankheit unter den Pfleglingen heimgesucht. Schon im
Jahre 1872 kamen einige Fälle vor, und es scheint zweifelhaft, ob
irgend eins der folgenden Jahre hinging, ohne dass ein Beamter
oder ein Kranker der Anstalt an enterisChem Fieber zu leiden hatte.
In den Jahren 1882 und 1883 wurden zwei Wärterinnen, und 1886
sogar drei Dienstboten und zwei Wärterinnen befallen. In diesem
Jahre (1888) zeigte sich die Krankheit zuerst im Januar in der
Wohnung des Ingenieurs, dessen Sohn erkrankte; etwas später
wurden zwei Patienten der Abtheilung für epileptische x Frauen be¬
fallen und am 28. und 29. Februar traten deren Todesfälle ein.
Von nun an bis gegen Ende September waren 77 Fälle unter männ-
1) Ninth report of Medical Officer of Privy Council p. 104.
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 24
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346
liehen und weiblichen Pfleglingen, Besuchern, Wärterinnen, Mit¬
gliedern der Dienerschaft und der Familie des Ingenieurs zu ver¬
zeichnen. Der einzige andere Beamte, der befallen wurde, war der
Steward, der leider dem Anfall auch erlegen ist; die übrigen Todes¬
fälle betragen 13 an der Zahl. Aus den uns zur Verfügung ste¬
henden Mittheilungen ist es nicht möglich, einen unanzweifelbaren
Schluss über die einzelnen Umstände zu bilden, welche zu diesem
Krankheitsausbruch führten. Aber es ist bekannt, dass die Anstalt
unter der Einwirkung vieler gesundheitsschädlicher Localverhält¬
nisse steht, welche nicht unwahrscheinlich eine wichtige Rolle bei
der Erzeugung dieser Krankheit spielten (production of the
desease). Man berichtet uns von einer Schwindgrube mit etwa
900 cbf Rauminhalt, die excrementielle Stoffe aufnimmt und welche
etwa 36 m von der Mauer der Frauenabtheilung abliegt. Die Ema¬
nationen dieses Behälters können leicht zu den Zellen der Frauen¬
abtheilung dringen, so oft der Wind von Nordosten oder Osten
weht. Auch in anderer Hinsicht soll die Anstalt solcher Verbesse¬
rungen bedürfen, welche dieselbe erst auf das Niveau sanitärer
Vorzüglichkeit, wie man sie in der Gegenwart für nöthig halt, er¬
heben könnten. Ueberlaufröhren von Wannen und Sinkkasten
sollen dort direct mit den Abflussleitungen in Verbindung stehen;
Closets weisen bedenkliche Fehler auf, und es soll der Luft, die in
dem Rohrnetz selbst enthalten ist, vielfach Gelegenheit gegeben
sein, in das Innere des Gebäudes einzudringen. Soviel wir wissen,
ist dagegen die Güte der gelieferten Nahrungsmittel nicht bezweifelt
worden. An dem Verbesserungswerk ist man unter Aufsicht ärzt¬
licher Beamten eifrig thätig.“
Dies zeigt zur Genüge, wo die englischen Aerzte die Ursache
des Abdominaltyphus suchen! Ich reproducire aber solche Sätze
nicht, um durch sie einen deutschen Fachmann zu der Auffassung
seiner englischen Collegen zu bekehren; ich wünsche allein darauf
hinzuweisen, dass sich solche Meinungsäusserungen an solcher Stelle
ohne Zweifel im innigsten Einklang mit der Ueberzeugung der
weitesten Fachkreise Englands befinden, und ich halte das für eine
Thatsache, welche Beachtung und Würdigung seitens deutscher
Specialisten wohl verdient. Man verfügt in England über viel lang¬
jährigere Erfahrungen in Bezug auf die erforderliche Beschaffenheit
eines gesunden und fertig ausgestatteten Hauses, gleichviel ob
Wohnhaus oder öffentliche x\nstalt, und schon aus diesem Grunde
kann es uns schwerlich überraschen, dort höhere Ansprüche an
Installationsanlagen gestellt zu sehen, als solche in Deutschland
üblich sind. Dass aber ebenso hohe und noch höhere Ansprüche
auch bald bei uns erscheinen werden, lässt sich schon heute mit
solcher Gewissheit behaupten, dass gar kein Einwand schwer genug
ist, um uns von zeitiger Vorarbeit für kommende Tage abzuhalten.
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— 347
Es liegt eben ganz in der Natur unserer Entwicklung, dass wir
ewig verfeinerte Bedürfnisse haben; und so bemerken wir denn
allerseits gesteigerte Forderungen, welche durch Fortschritte in
Technik und Wissenschaft erfüllt werden müssen. Es fruchtet na¬
türlich nichts, dass wir die Achseln zucken und uns darauf berufen
dass es bisher auch ohne diese oder jene Einrichtung gegangen sei
Nicht nach dem, was die Vergangenheit hatte, sondern immer nur
nach dem, was die Zukunft besitzen soll, werden wir uns in der
Gegenwart zu richten haben. Was aber die Zukunft haben soll,
was wir für sie durch unsere Arbeit in der Gegenwart erringen
wollen uncLwas wir auch erringen können, das ist in erster Linie
eine verminderte Mortalitätsrate. Hier möchte ich allerdings auf
England weisen, welches in einem Zeitraum von etwa 50 Jahren
die allgemeine Sterblichkeitsrate von 23 auf 17.8 pro 1000 nieder¬
drückte und welches in seinen Grenzen die Sterblichkeit an ente¬
rischen Fiebern durch eigene Arbeit von 0.89 auf 0.17 pro 1000
der Bewohner reducirte. Es ergibt sich, dass etwa 140,000 Menschen
im vergangenen Jahre in England mehr gestorben wären, wenn
an Stelle der letztjährigen noch die Sterblichkeitsrate von 23 pro
1000 gegolten hätte. Das sind in erster Linie die Früchte einer
vielumfassenden und weitgetriebenen Gesundheitspflege *).
Aber worin, könnte man jetzt wohl fragen, soll uns denn Eng¬
land selbst heute noch überlegen sein? — Hier wie dort bauen
Arzt und Techniker gemeinsam an der Förderung der öffentlichen
Gesundheitspflege, theils mit technischen Neuerungen, theils durch
gesetzliche Bestimmungen, und gleichviel wi e dem sei. Bei uns aber
ist bisher nur der Rohbau vollendet, und wenn er auch stellen¬
weise schon stattlicher als vor einer Reihe von Jahren der eng¬
lische wurde, so bleibt uns doch auf dem Gebiet des Ausbaues
und der inneren Ausstattung, die jedem Beschauer in späteren
Jahren und während der ganzen Existenz des Gebäudes in Erster
Linie in’s Auge fallt, viel von der anderen Seite des Canals zu er¬
lernen. Da wir z. B. an dieser Stelle hauptsächlich von Haus-
1) Ich sage hier „in erster Linie“ und knüpfe daran den Ausdruck meiner
unmassgeblichen und rein persönlichen Ueberzeugung, dass es nicht recht ist,
solche Resultate allein unserer Arbeit seihst auf dem weitesten Gebiet der
öffentlichen Gesundheitspflege zuzuschreiben. Wenngleich ja die Macht der
Letzteren sich namentlich in grossen Städten wundervoll bewährt, so könnten
doch Ziffern vorgetragen werden, welche grossartige Reductionen der Sterblich¬
keitsrate für ausgedehnte Districte ergeben, trotzdem dort seit Jahren nie, und
vielleicht auch überhaupt noch niemals ein Finger für öffentliche Gesundheits¬
pflege gerührt worden ist. Ich erblicke in solchen Erscheinungen einstweilen
den Beweis für das Eingreifen von Naturkräften, von deren Wesen uns eine
Vorstellung zu geben wir überhaupt noch nicht im Stande sind. Aber dies
nebenbei, es ändert ja auch an den obigen Daten wenig.
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- 348 -
canalisationen sprachen, so will ich in Kürze nur zwei der wich¬
tigsten Punkte, in denen uns England voraus ist, betonen. Die
Art und Weise der baupolizeilichen Abnahmen, die eingehende
Prüfung der Arbeit und die laufenden Untersuchungen und Be¬
richtigungen durch Inspectoren der öffentlichen Gesundheitspflege
sind in England in einem ganz anderen Grade als bei uns ent¬
wickelt. Der Engländer, der stets in seinem „home“ eine Art von
Alleinherrschaft übte, hat sich entschlossen, den amtlichen Sanitäts-
Inspectoren jederzeit freien Zutritt zu seinem Hause zu gewähren;
das war für ihn ein bedeutendes Opfer, und er brachte es im In¬
teresse der öffentlichen Gesundheitspflege. — Und zweitens ist in
England, im freien England, für Rohrleger der Hausinstallations-
Branche die „Registration“, d. h. die Beibringung eines Befähigungs¬
nachweises eingeführt, und Besitzer und Handwerker jubeln dieser
Einrichtung mit gleich hochgespannten Erwartungen und gleich
grosser Zuversicht entgegen. Ich stehe dem Rohrlegerstande in Deutsch¬
land durchaus nicht gerade fremd gegenüber, und ich bin dabei
überzeugt, dass Bestimmungen, welche ähnlich wie in England die
Beibringung des Befähigungsnachweises obligatorisch machen und
welche die baupolizeiliche Abnahme auch in dieser Specialbranche
zu einer achtunggebietenden Institution gestalten, sich wohl nicht
ohne Schwierigkeit, aber mit gleicher Leichtigkeit, mit demselben
Beifall, mit demselben Rechte und demselben Erfolge in allen
grösseren Städten ein- und durchführen liessen. Das ist nur ein
einzelner flüchtiger Blick, aber zeigt er nicht Arbeit in Hülle
und Fülle?
So schwer uns ein Vorblick auf die grossen Aufgaben der Zu¬
kunft bedrücken mag, namentlich wenn schon das blosse „Wie“
der Lösung uns so lange und so hartnäckig verborgen bleibt, so
ermuthigend muss ein Rückblick wirken auf die werthvollen Früchte,
welche gethane Arbeit schon gezeitigt hat. Und worin bestehen
nun diese? Was wurde bisher mit den gewaltigen Summen er¬
kauft, die überall dort, wo gerade nach modernen Grundsätzen zu
canalisiren ist, für diese Entwässerungsbauten ausgegeben werden?
Nun, grössere Reinlichkeit ist eingezogen, das ist das erste schöne
Resultat; aber wesentlich wichtiger ist es, dass damit auch zu¬
gleich die Mortalitätsrate sichtlich fällt, und dass dieses Fallen so
deutlich und genau in dem Zeitpunkt der Eröffnung von Sanirungs-
werken einsetzt, dass der Beobachter hier Ursache und Wirkung
nicht verkennen kann. Freilich, die Ursache, welche wir dabei er¬
blicken, mag zunächst nur eine indirecte sein, aber wir gewinnen
doch die Zuversicht, dass ein guter und gerader Weg betreten
wurde, und damit die Hoffnung, dass eine völlige Lüftung des
Schleiers, der die directen Ursachen noch verhüllt, in näherer Zu¬
kunft schon gelingen werde. (Schluss folgt.)
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INachweisung; über Krankenaufnahine und Bestand in den Krankenhäusern aus 54
Städten) der [Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat Juni 1880.
Brechdurchfall
Sterbliohkelts - Statistik toh 54 Stftdten der ProTiAzen Westfalem,
Rheinland nnd Hessen-Nassau pro Monat Jnni 1889.
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Iserlohn
Siegen
Schwelm
Lippstadt
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Crefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a d. Ruhr
Rheydt
Viersen
Oberhausen
Neuss
Wesel
Styrum
Solingen
Wermelskirchen
Ronsdorf
Velbert
Ruhrort
Süchteln
Lennep
Aachen
Eschweiler
Eupen
Burtscheid
Stolberg
Köln (Stadt)
Köln (Vorstädte)
Bonn
Mülheim a. Rhein
Kalk
Trier
Malstadt-Burbach
St Johann
Saarbrücken
Coblenz
Kreuznach
Neuwied
Wiesbaden
37000 109 35,4 40 17 14,9
1800-2 44 -28,4 -29 9 18,7 .
10600 42 30,4 29 0 -21,0 . . ......
84000 287 41,0 156 66 22,3 ..2 1 9
40767 177 52,1 83 40 24.4 . . ....
31993 83 31.1 09 30 25.9 ...... 1
23711 81 41,0 51 20 25.8 3
23479 101 51.6 33 16 10.9 . . .... 1
23567 100 54,0 00 22 30.6 .. .. .. 3
21044 66 37,0 31 4 17,7 . . ....
17758 55 37,2 26 4 17,0 4
13014 47 43,3 18 4 16,6 . . 1 . . . .
10850 33 36,5 19 4 21,0 ...... 4 .
140901 401 39,2 266 131 22,6 ...... | ..
119200 363 30.5 249 74 25,1 .. 45 2 7
110000 349 38,1 217 72 23,7 .. 22 1 5 .
104705 351 40,2 161 07 18,5 .. .. .. .. j
73260 233 38,2 139 59 22,8 . . ..
52016 213 49,1 102 45 23,5 ...... I .. !
50000 149 35,8 92 41 22.1 . 1
35000 104 35.7 48 14 10,5 ..31...
20709 93 41,8 40 19 18.0 ...... 1
25000 89 42.7 30 13 17,3 .. .. .. .. .
22228 53 28,6 25 5 13,5 ...... 1 .
22377
21934
20077
19820
31887
11400
11000
12531
9708
9465
8844
102336
16798
15441
12139
11795
185920
90482
38000
28000
11418
90 34,7 199 89 23,3 ...... 11
07 47,9 39 15 27,9 .. 1 .. .. LJ
45 35,0 25 10 19,4 .!.... 2 1
43 42,5 24 12 23,7 ...... .
54 56,0 21 10 21,4 I .. .. .. ( ..
43 35,5 521 252 34,1 . . 30 1 5 11
58 48,1 220 127 19.3 .. 5 L.l 2 4
10 30.0 77 24 24,3 ........ ..
02 43,7 74 43 31,7 . . . . LJ 3 3
00 03,1 38 19 39,9 . . 1 .... 1
05 22,9 49 0 17,2 ..... . 1 1
54 43,3 25 9 20.1.
39 34,4 20 0 17,0 .. . j..
27 31,0 25 0 28,7 .j . . L .
59 23,9 07 25 23,2 ....L.l 1 1
35 24,7 45 11 31.8 ..I 1 L.l 1 ' 3
29 33,2 17 8 19,0 . J .. LJ ..
55 10
28 3
43 2
29 3
59000 110 23,6 82 37 16.7 . 1 .. ..
68236 147 25,9 120 45 22,2 .. 5 L| 3 ..! ..
Digitized by
GoogI<
Städte
Hospitäler
Bielefeld
Minden
Paderborn
Herford
Dortmund
Bochum
Hagen i. W.
Witten
Hamm
Iserlohn
Siegen
Gelsenkirchen
Schwelm
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Crefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a.d.Ruhr
Viersen
Wesel
Rheydt
Neuss
Solingen
Styrum
Ruhrort
Süchteln
Odenkirchen
Eschweiler
Eupen
Burtscheid
Stolberg
Köln
Bonn
Mülheim a. Rh.
Deutz
Ehrenfeld
Kalk
Trier
Saarbrücken
Kreuznach
Neuwied
Wiesbaden
Bettenhausen
Fulda
Hanau
Eschwege
Rinteln
Schmalkalden
städt. u. kath. Krankenhaus 58 57
städtisches Krankenhaus 37 36
Landeshospital 37 41
städtisches Krankenhaus 54 56
Louisen- u. Johanneshospital
Augustaanstalt
städtisches Hospital
evangel. und Marienhospital
städtisches Krankenhaus
Mariastift u. ev. Krankenh.
städtisches Krankenhaus
evangel. Hospital
Marienhospital
St. Jos.-Hosp.
städtisches Krankenhaus
i» *
Huyssen-Stift u. Krupp’sches
Krankenhaus
städt. Diakon.- u. Krankenh.
Bethesdau. Mariahilf-Krknh.
städtisches Krankenhaus
Hospital
Krankenhaus
Haniels-Stiftung
städtisches Krankenhaus
226 219 2
110 105 1
106 82
158 175 1
31 30
71 63
28 34
147 160 1
31 29
111 114 l
216 134 1
161 164 1
183 189 1
183 166 l
.. .. 12
. 6
. 3
1 1 .. 2
1 8 .. 11
.3
. 2
.. 6 .. 1
12 11
.. 1 .. 4
1 .. 2
. . 2 1
21 16.3
15 l|..
7
Louisenhospital
Marienhospital
St. Antoniushospital
St. Nikolaushospital
Marienhospital
. Bethlehemshospital
Bürgerhsp. u.Hülfskrankenh.
Fr.-Wilh.-Stift (ev. Hospital)
städt. u. Dreikönigenhospital
städtisches Krankenhaus
50 49
219 230 1
111 114
38 38
98 102
84 95
660 626 7
51 ..
137 134 1
85 88
68 70
62 54
3 ..19
städt. Hosp. u. Stadtlazareth
Bürgerhospital
städtisches Hospital
5 .. 2
.. .. 4
1 2 .. 3
I städtisches Krankenhaus |138 120h
. 2 2 ....
.. .. 1 .. 3
Landkrankenhaus
201 209 215 .... 2 1 3 .. 12
97... ..
.79 79 89 .. .. i .. 2 .. 3
35 30 27 . 1 3 .. 3
12 14 14. 2
15 17 18. 1
.. .. 3
2 .. ..
.. .. 2
II 3 5 4' 6 9 2 .. 3.. .. 7
* Kratz« und Ung*
Digitized by vjiOOvl
Sterblichkeits-Statistik Ton 58 Städten der Prortnxen Westfalen,
Rheinland nnd Hessen • Nassau pro Monat Juli 1889,
Städte
Bielefeld
Minden
Paderborn
Dortmund
Bochum
Gelsenkirchen
Iserlohn
Schwelm
Lippstadt^
Düsseldorf
Elberfeld
Barmen
Grefeld
Essen
Duisburg
M.-Gladbach
Remscheid
Mülheim a. d. Ruin
Rheydt
Viersen
Oberhausen
Neuss
Wesel
Styrum
Sol in ge
Wermelskirchen
Ronsdorf
Velbert
Ruhrort
Suchtein
Lennep
Aachen
Esch weil er
Eupen
Burtscheid
S toi her |
Köln (Stadt)
Köln (Vorstädte)
Bonn
Mülheim a. Rhein
Kalk
Trier
Malstatt-Burbach
St. Johann
Saarbrücken
Coblenz
Kreuznach
Neuwied
140% I
122000
110000
104705
7 3096
52016
50000
35< HK)
26709
25000
Todesursachen
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Z-c
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pH
Wiesbaden
353
Kleinere Mittheilungen.
Die Eheschliessungen, Geburten und Sterbefälle des Jahres 1887
im Deutschen Reiche.
(Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, Jahrgang 1888, Seite XII, 1.)
S t ii ii t (* ii
Ehe-
Schliessungen
Geborene Gestorbene
jeinsehl. Todtgeborene
Mehr
Mittlere
Anf 1000 der mittleren Bevölkcrong
kommen
und
Landest heile
geboren
als
gestorben
Bevölkerung
für das
Jahr 1887
Ehe¬
schliessungen
1
Ge¬
borene
Ge-
slorbene
Mehr
geboren
als ge¬
storben
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
tov. Ostpreussen.
15743
85120
56819
28301
1974802
7,97
43,10
28,77
14,33
, Westpreussen ...
11271
64976
39223
25753
1422752
7,92
45,67
27,57
18,10
tadt Berlin.
15209
48952
32091
16861
1370153
11,10
35,73
23,42
12,31
tov. Brandenburg.
19493
91327
63360
27967
2366222
8,24
38,60
26,78
11,82
, Pommern.
11419
59260
38319
20941
1518060
7,52
39,04
25,24
13,79
, Posen.
13394
78125
45351
32774
1740309
7,70
44.89
26,06
18,83
, Schlesien.
32730
169878
120786
49092
4160849
7,87
40.83
29,03
11,80
, Sachsen .
20689
99369
61200
38169
2473553
8,36
40,17
24,74
15,43
, Schleswig-Holstein
9081
39426
25513
13913
1164318
7,80
33,86
21,91
11,95
, Hannover.
17273
75010
49155
25855
2200012
7,85
34,10
22,34
11.75
, Westfalen.
17446
89977
53014
36963
2257350
7,73
39,86
23.49
16,37
, Hessen-Nassau ...
12290
53492
37611
15881
1612134
7,62
33.18
23,33
9,85
, Rheinland.
33523
171929
106262
65667
4434165
7,56
38,77
23,96
14,81
lohenzollern.
438
2232
1521
711
66844
6,55
33,39
22,75
10,64
Königr. Freussen..
229999
1129073
730225
398848
28761503
8,00
39,26
25,39
13,87
)ie 3 Reg.-Bez. Franken
13349
65499
50079
15420
1880074
7,10
34,84
26,64
8,20
Jebr. Bayern, r. d. Rh.
Bayern, 1. d. Rh. (Reg.-
19118
115059
91912
23147
2891644
6,61
39,79
31,79
8,00
Bez. Pfalz).
4969
26100
16056
10044
704021
7,06
37,07
22,80
14,27
königr. Bayern ...
37436 J
206658
158047
48611
5475739
6,84
37,74
28,86
8,88
[önigr. Sachsen.
30153 1
142677
93640
49037
3254235
9,27
43,84
28,77
15,07
Württemberg.
12790
72828
48388
24440
2015104
6,35
36,14
24,01
12,13
laden.
11192
54468
37003
17465
1615429
6,93
33,72
22,91
10,81
les^eii.
7177
31386
22076
9310
967872
7,42
32,43
22,81
9.62
Teklenburg-Schwerin .
»aehsen -Weimar.
4317
18402
13329
5073
578716
7,46
31,80
23,03
8.77
2646
11181
77()7
3474
317092
8,34
35,26
24,31
10,96
lecklenburg-Strelitz...
780
3194
2333
861
98890
7,89
32,30
23,59
8,71
)ldenburg.
2625
11679
7538
4141
345262
7,60
33,83
21.83
12,00
Iraunschweig.
3219
14096
9037
5059
381059
8,45
36,99
23,72
13,28
>achsen-Meinigen .
1818
7830
5241
2589
218623
8,32
35,82
23,97
11,84
iachsen-Altenburg.
1512
7005
5007
1998
163500
9,25
42,84
30,62
i 12,22
wchsen-Coburg-Gotha .
1554
6999
4778
2221
201257
7,72
34,78
23,74
1 11,04
Inhalt.
khwarzburg-Sonders-
2198
9890
5469
4421
253959
8,65
38,94
21,53
17,41
hausen.
567
2658
1609
1049
74650
7,60
35,61
21,56
14,05
khwarzburg-Rudolstadt
659
3077
1965
1112
85182
7,74
36,12
23,07
13,05
JValdeck.
382
1926
1320
606
56995
6,70
33.79
23,16
10,63
euss älterer Linie....
508
2737
1605
1132
57620
8,82
47.50
27,85
19,65
euss jüngerer Linie ..
1030
5095
3210
1885
113501
9,07
44,89
28,28
16,61
tfhaumburg-Lippe.
305
1328
692
636
37922
8,04
135,02
18,25
16,77
‘PPe.
993
4627
2744
1883
125226
7,93
36,95
21,91
15,04
Jibeck.
485
2276
1562
714
68785
7,05
; 33,09
22,71
1 10,38
remen.
1268
5261
3656
1605
168213
7,54
31,28
21,74
1 9,54
amburg.
4924
19009
15009
4000
534826
9,21
35,54
28,06
7,48
Bsass-Lothringen.
10122
50201
37216
12985
1569163
6,45
31,99
23,72
8,27
Deutsches Reich ...
370659
1825561
1220406
605155
smm
b<5<9&I<
jä(8,40
25,67
12,73
1
354
** Bekämpfung der Verbreitung der Schwindsucht in
öffentlichen Anstalten.
(Circular des Ministers des Innern vom 15. April 1889 im Verw.-Min.-Bl.
von 1889, S. 82.)
Euer etc. übersende ich anbei Abschrift eines Gutachtens der wissen¬
schaftlichen Deputation für das Medicinalwesen vom 13. März d. J. —
— Anl. a. — „betreffend die Bekämpfung der Verbreitung der Schwind¬
sucht in öffentlichen Anstalten“ mit dem ergebensten Ersuchen, das darin,
bezeichnete Verfahren in den Straf-, Gefangenen- und Besserungs-Anstalten des
dortigen Bezirks, mit den durch die localen Verhältnisse bedingten Mass-
gaben anwenden zu lassen. Berlin, den 15. April 1889.
Gemäss dem hohen Erlass vom 15. Februar er. verfehlt die Unter¬
zeichnete wissenschaftliche Deputation nicht, über die in dem Bericht des
Polizeipräsidenten vom 24. Januar er. vorgetragenen Vorschläge zur Be¬
kämpfung der Verbreitung von Schwindsucht in Gefängnissen nachstehend
sich gutachtlich zu äussern. Nach den bisher geltenden Anordnungen sollen
die Spuckgläser der mit Schwindsucht behafteten Gefangenen mit einer
Auflösung von Sublimat oder Carbolsäure gefüllt und die Spucknäpfe in
den Krankenzimmern häufig mit reinem Sand versehen werden, dem Carbol
beigemischt ist. Der Bericht des Polizeipräsidenten hebt mit vollem Recht
hervor, dass diese Bestimmungen eine zeitgemässe Aenderung erheischen.
Denn sowohl Sublimat wie Carbolsäure sind giftige Substanzen, deren Auf¬
stellung gerade in Gefängnissen erheblichen Bedenken unterliegen muss.
Ueberdies ist die Wirksamkeit beider Substanzen, um die Tuberkelbacillen
unschädlich zu machen und damit deren Uebertragung auf gesunde Gefangene
zu verhindern, eine unsichere. Endlich haben die im hygienischen Institut
hierselbst unter Leitung von Geheimrath Koch angestellten Untersuchungen
zu dem Ergebniss geführt, dass für die Uebertragung der Tuberkelbacillen
auf Gesunde nur der getrocknete Auswurf gefährlich ist, indem derselbe
fein verstäubt der Athmungsluft zugeführt und durch dieselbe in den gesunden
Körper aufgenommen werden kann. Hiernach erscheint die Desinfektion
des Auswurfs durch chemische Stoffe weder erforderlich noch räthlich.
Vielmehr ist dafür Sorge zu tragen, dass der Auswurf sich nicht getrocknet
der Luft beimischen kann. Zu diesem Zwecke ist zu verhindern, dass der
Auswurf der Brustkranken auf Fussboden, Wände, Wäsche oder in Taschen¬
tücher entleert wird, er soll vielmehr in Spuckgläser gesammelt und diese
häufig entleert und mit kochendem Wasser gereinigt werden. Auf diese
Thatsache und Deduction stützt sich der Seite 6 des Berichts formulirte
Antrag: die Verwendung des Sublimats für den in Rede stehenden Zweck
ganz zu untersagen. Wir schliessen uns diesem Anträge, als vollkommen
begründet an, und haben zu den angeschlossenen Vorschlägen zur Ver¬
hütung der Verbreitung von Schwindsucht in Gefängnissen folgendes zu
bemerken:
1) Der Auswurf soll weder in Taschentücher noch in dem Aufent¬
haltsraum, sondern in die überall aufzustellenden Spucknäpfe entleert werden,
Digitized by CaOOQle
355 —
welche letztere etwas Wasser enthalten. Wir stimmen dieser Vorschrift
durchaus bei und halten es auch für sehr zweckmässig, wenn, wie es vor¬
geschlagen ist, alle Strafgefangenen, welche husten, an diese Art des Aus¬
werfens gewöhnt werden.
2) Alle Zellen, in welchen hustende Gefangene untergebracht waren^
sollen bei etwaigem Wechsel der Insassen sorgfältig gereinigt und nach den
bestehenden Vorschriften sorgfältig desinficirt werden. Diese Bestimmung
dürfte auf die Zellen solcher Insassen zu beschränken sein, welche nach
dem ärztlichen Urtheile an der Tuberkulose erkrankt, oder derselben ver¬
dächtig waren.
3) Die Anschaffung eines geeigneten Desinfections-Apparates für die
Strafanstalten ergiebt sich als nothwendige Folge.
3) Gefangene, welche nach ärztlicher Feststellung tuberkulös erkrankt
sind, welche aber noch arbeiten können, sollen bei der Anfertigung von
Gebrauchsgegenständen soweit thunlieh nicht beschäftigt, und von den
gesunden Gefangenen möglichst ferngehalten werden. Auch diesen Vor¬
schlägen schliessen wir uns an. Berlin, den 13. März 1889.
Königliche wissenschaftliche Deputation für das Medicinalwesen.
** Dem 21. Jahresberichte des Vorstandes der Gladbacher
Actien-Baugesellschaft, (vergl. Centr.-Blatt 1888 Heft 2/3) entnehmen
wir Folgendes:
In dem mit dem 31. December 1888 abgelaufenen Jahre wurden 12
Doppelhäuser an der Peterstrasse, Grünstrasse, Feldstrasse und Hofstrasse
gebaut.
Die Anzahl der seit dem Bestehen der Gesellschaft (1869) von der¬
selben für eigene Rechnung gebauten Häuser beträgt insgesammt 339; von
diesen waren Ende des Jahres einfach vermiethet 78; verkauft 261 Häuser
zur Gesammtsumme von M. 888,791, worauf die Ankäufer noch M. 283,367
schuldeten.
Von diesen Häusern waren 192 durch Abtragung des ersten Drittels
des Kaufpreises definitives Eigenthum der Käufer geworden, von welchen
bei 158 Häusern die Käufer den Kaufpreis ganz abgetragen hatten.
Verkauft wurden im vergangenen Jahre 29 Häuser, während 1 Haus
von der Gesellschaft gekündigt und zurückgenommen wurde.
Da die Nachfrage nach Arbeiterwohnungen unverändert fortbesteht,
so hat der Vorstand beschlossen, in diesem Jahre 11 Doppelhäuser zu
errichten, womit das vorhandene alte Terrain fast vollständig bebaut wird.
Da die Häuser ausserordentlich raschen Absatz finden, so hat der Vor¬
stand sich veranlasst gesehen, zu diesem Zweck noch einen Complex von
circa 100 Ar anzukaufen. Auf dem neuen Grundstück soll in diesem Jahre
geziegelt werden.
Die Gesellschaft hat, wesentlich zur Förderung des gemeinnützigen
Zweckes des Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke, auf einem
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von ihr an der Lüpertzenderstrasse, zunächst dem Königsplatz und dem
Bergischen Märkischen Bahnhofe, erworbenen Grundstück ein grösseres Ge¬
bäude errichtet, das im Laufe des Monats Februar d. J. ganz fertig gestellt
wurde und etwa M. 45,000 (incl. Grundstück) kosten wird. Sie hat dieses
Gebäude auf drei Jahre an den obigen Verein zu einem die Zinsen und
Unkosten deckenden Preise vermiethet. Der betreffende Verein hat in den
unteren Räumen schon seit November v. J. ein Volks-Kaffee- und Speise¬
haus eingerichtet.
Das Ergebniss des vergangenen Jahres ist zufriedenstellend. Sämmtliche
nicht verkaufte Häuser waren gut und an ordentliche Leute vermiethet,
Verluste daher ausgeschlossen.
Der Zinsfuss der hypothekarischen Anleihe von der städtischen Spar¬
kasse wurde entsprechend den heutigen Verhältnissen ermässigt.
Die Bilanz ergiebt bei einem bleibenden Bestände des Amortisations-
Contos von M. 5000, des Reservefonds von M. 33,000, und bei Ueberweisung
eines Betrages von M. 8369,25 zum Reservefonds II, einen Reingewinn von
M. 16,877,69.
Die dem Reservefonds II in diesem Jahre zugeschriebenen M. 8369,25
bringen denselben auf eine Höhe von M. 16,240, und entspricht diese Höhe
nunmehr dem buchmässigen Gewinn an sämmtlichen heute nur provisorisch
verkauften Häusern.
Der Vorstand schlägt vor, von dem verbleibenden Reingewinn 5% als
Dividende pro 1888 auf das Actienkapital von M. 330,000 mit M. 16,500
zur Vertheilung zu bringen und den Rest von M. 377,69 als Gewinn-Saldo
für das Jahr 1889 vorzutragen.
Ueber keimfreie Kuhmilch und deren Verwendung zur
Kinderernährung schreibt Eisenberg in der Wiener klin. Wochen¬
schrift, 1889, Nr. 11 und 12. Bekanntlich hat Soxhlet zuerst das Prinzip
aufgestellt, die Milch in Einzelportionen, welche den Mahlzeiten des Säug¬
lings angepasst sind, zu sterilisiren. Aber der Soxhlet’sche Apparat, der
auch in dieser Zeitschrift eingehend beschrieben und wiederholt empfohlen
wurde, ist sehr komplizirt, schwierig zu handhaben und nicht gerade billig.
Eisenberg glaubt nun, den Apparat dadurch wesentlich vereinfacht und
verbessert zu haben, dass er den etwas schwerfälligen Gummiverschluss
einfach durch einen Wattepfropf, der beim Gebrauch gegen eine gewöhn¬
liche Saugdutte vertauscht wird, ersetzt.
Scheint zwar die Einfachheit dieses Verfahrens von selbst für seine
praktische Verwendbarkeit zu sprechen, so gewinnt man doch sehr rasch
eine gegenteilige' Ueberzeugung, sobald man sich mit dem Kochen von
Milch in Flaschen, die mittelst Wattepfropf verschlossen sind, experimentell
beschäftigt. Es bleiben nämlich so leicht namhafte Mengen der Watte an
der inneren Wandung des Glases haften und mengen sich dann später der
Milch bei, dass ein solcher Verschluss in den ungeübten Händen der sorg¬
losen Mütter und Kinderfrauen nothwendig ernste Gefahren für die Gesund-
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heit der Säuglinge heraufbeschwören würde. Der Autor hätte sich doch
von der öffentlichen Empfehlung seines Apparates wohl selbst sagen können,
dass ein Chemiker, der ein so hervorragendes Constructionstalent aufweist
wie Soxhlet, nicht ohne die zwingendsten Gründe von einem einfachen
Watteverschluss der Kochflaschen, den doch schon H. Schröder vor
beinahe drei Decennien zum Sterilisiren der Milch benutzte, Abstand ge¬
nommen haben dürfte. Dr. Schmidt-Mülheim (Wiesbaden).
Litteraturbericht.
Germain Säe, Die Lehre vom Stoffwechsel und von der Ernährung und
die hygienische Behandlung der Kranken. Deutsch von Dr. Max Salomon.
Leipzig, F. C. W. Vogel, 1888.
Das ziemlich umfangreiche Buch Se e’s zerfällt, wie der Titel bereits besagt,
in 2 Theile, deren einer der Besprechung der Lehrsätze der Ernährung
und des Stoffwechsels gewidmet ist, während der andere grössere die Ver¬
änderungen der Ernährung und des Stoffumsatzes im Körper, wie sie durch
eine Reihe von Krankheiten bedingt sind, und die aus diesen geänderten
Ernährungsverhältnissen sich ergebenden Behandlungsweisen der betreffenden
Krankheiten (Diätetik derselben) schildert.
Im ersten Theil gibt der Verfasser eine Uebersicht über die' zum Auf¬
bau und zur Erhaltung des Körpers benöthigten Stoffe, über die Nahrungs¬
mittel, ihre gegenseitige Ersatzfahigkeit. Vielleicht dem praktischen Be-
dürfniss Rechnung tragend, theilt Söe die Nahrungsmittel nach ihrem Werth
in 5 Gruppen:
1) Eiweiss- und eiweissartige Stoffe (Haupttypen: Fleisch, Eier, Leim).
2) Sogenannte vollständige Nahrungsmittel (einziger Typus: Milch).
3) Stoffe mit Gehalt an Stickstoff und Stärke (Brod, trockene
Hülsenfrüchte).
4) Stoffe mit ausschliesslichem Stärkegehalt (Reis, Kartoffeln).
5) Indifferente Stoffe, die nur Cellulose und Salze oder wie die
Früchte Zuckerstoffe enthalten (grüne Gemüse, Salate).
In Verfolgung dieser gewiss nicht einwandfreien Eintheilung werden
dann die einzelnen Nahrungsmittel behandelt, sowohl in rohem Zustand als
in der für den Genuss geeigneten Zubereitung.
Leider waltet häufig in den einzelnen Schilderungen eine merkwürdige
Unklarheit der Vorstellungen und Schlussfolgerungen, die dem Leser die
Vermuthung aufdrängt, dass der Verfasser die Physiologie der Ernährung
nur unvollkommen beherrscht oder die Angaben der Literatur falsch ver¬
standen hat. Auch findet sich manchmal eine Zusammenstellung von
Dingen, die geradezu ungereimt genannt werden muss. Es möge mir ge¬
stattet sein, diese Behauptung durch einige Beispiele zu stützen. Seite 25
enthält nachstehenden Satz: „Das Fischfleisch enthält um so weniger Wasser
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je fetter es ist. Das Fett der Fische variirt ausserordentlich sowohl hin¬
sichtlich der Menge als des Geschmacks und bei manchen Fischen
wie beim Hering findet sich in der Salzlacke ein Stoff, ge¬
nannt Trimethylamin, den man gegen Rheumatismus ge¬
priesen oder versucht hat.“
Auf der folgenden Seite (26) ist zu lesen:
„ Häufig kommen im Fleisch auch flüchtige nicht nachweisbare Stoffe
von grosser Schädlichkeit vor, welche der Bevölkerung Schaden zufügen
können. “ Nun sollte man ein Beispiel für diesen Satz erwarten, das Beispiel
lautet aber folgendermassen: „So erzählt Brücke, dass vor 40 Jahren in
Böhmen die Rinderpest herrschte und ganze Dörfer dezimirte. Nichts¬
destoweniger scharrten die armen Leute Nachts die Gadaver der an der
Pest gefallenen Thiere aus, kochten das Fleisch längere Zeit hindurch und
verspeisten es alsdann ohne irgend welchen Schaden.“
Seite 28 spricht See von der Bouillon: „Zur Erzielung des Maximums
an Albuminaten (nämlich in der Fleischbrühe) durch das gewöhnliche
Kochen verfährt man so, dass man die Wasserwärme nach und nach bis
auf 70° steigert. Man erhält dann 3 bis 4% Albuminate, die man die
üble Gewohnheit hat mit dem Schäumen der Bouillon zu
entfernen.“
Seite 33 nennt See des Lecithin einen eiweissartigen (albuminoiden)
Stoff, Seite 146 dagegen wieder einen phosphorhaltigen Fettkörper.
Die Zahl solcher ähnlicher Stellen ist eine sehr grosse, ich will mich
jedoch auf diese wenigen beschränken, die genug beweisen.
In den folgenden Abschnitten werden die VerdauungsVorgänge, die
Verdaulichkeit und die Aufnahme der Nahrungsmittel in den Körper
(Resorption), endlich die Getränke besprochen.
Bezüglich der Bedeutung des Alkohols unserer geistigen Getränke
(Wein, Bier) für den Körper hat der Verfasser eigenthümliche Anschauungen;
nach den Gründen für die von ihm so betonte Rolle des Alkohols als
Sparmittel, „wenn er nicht oxydirt, nur theilweise ausgeschieden
und ganz unvollständig einverleibt wird,“ sucht man vergebens.
Wo bleibt nach dieser Schilderung überhaupt der Alkohol im Körper?
Gapitel VII handelt vom Ernährungsgleichgewicht, VIII von der den
einzelnen Berufsarten angepassten Diät, vornehmlich von der Soldatenkost,
wobei der Verfasser bezüglich der Ernährung des französischen Soldaten
zu einem nicht sehr günstigen Resultat gelangt. Weiterhin wird auch der
Einfluss des Alters, Geschlechts auf die Ernährung einer kurzen Besprechung
unterzogen.
In den letzten beiden Abschnitten schreibt See noch über die künst¬
lichen Nahrungsmittel und „exclusiven Ernährungssysteme“ (Milchdiät, Vege¬
tarianer- und Magerkost, Fasten, Traubenkur), endlich von den „ersatzbildenden
und dynamischen Eigenschaften der Nahrungsmittel“ — Dinge, die zum
Theil bereits früher erwähnt und besprochen wurden, theils wie z. B. § 3
des Gap. XI: „Wie viel geht von den verschiedenen chemischen Bestand-
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theilen der einzelnen Nahrungsmittel in das Blut über*, eine frühere Er¬
wähnung im Zusammenhang mit der Verdauung und Resorption erheischt
hätten.
Ohne dass eigentlich aus dem gebotenen Beweismaterial genaue Schlüsse
über die Ernährung unter den verschiedenen physiologischen Verhältnissen,
an die sich der Arzt, Militär- oder Verwaltungsbeamte halten könnte, ge¬
zogen werden, endet der erste Theil und der Verfasser geht über zum
zweiten: „Die hygienische Behandlung der Kranken.“
Gegen den Titel dieses Theils, dessen Inhalt die Störungen in der
Ernährung bei einer Reihe von Krankheiten und die Bekämpfung dieser
Krankheiten durch rationelle Ernährung zu erörtern bestrebt ist, muss man
vom Standpunkt des Hygienikers entschieden Verwahrung einlegen. Was
See die hygienische Behandlung von Kranken nennt, ist nicht mehr
Hygiene, sondern ausschliesslich Aufgabe der speziellen Pathologie und
Therapie oder wenn man will, der pathologischen Physiologie; die Hygiene
gibt die Grundsätze für die richtige Ernährung des gesunden Menschen, für
die Bedürfnisse der verschiedenen Lebensalter und Berufsarten an, aber
man kann billiger Weise der Hygiene doch nicht zumuthen, auch noch
dahin zu wirken, dass beispielsweise ein Zuckerruhrkranker keine Zucker¬
und zuckerbildenden Stoffe mehr zu sich nimmt oder festzustellen, welche
Auswahl unter den Speisen der Magenkranke zu treffen hat.
Der Betrachtung unterzogen werden die Magen-, Darm- und Leber¬
krankheiten, Fieber, Phthisis, Chlorose, Anämie und Erschöpfungsneuro¬
pathien, Gicht, Diabetes, Fettsucht, Herz- und Nierenkrankheiten. Wie man
sieht, verfolgt See auch in dieser Darstellung kein geordnetes System, da
sogenannte Ernährungsanomalien (Chlorose, Anämie, Gicht, Diabetes) zu¬
sammengestellt sind mit allgemeinen Symptomen der verschiedenartigsten
Krankheiten (Fieber) und einzelnen auf tiefgreifenden organischen Ver¬
änderungen beruhenden Erkrankungen (Herz- und Nierenkrankheiten, Phthise).
In der Behandlung der einzelnen Krankheitsformen ist gleichfalls der
Zusammenhang nicht so innig, wie es für ein Lehrbuch, von dem man
vor Allem Uebersichtlichkeit und präcise Darlegung der leitenden Grund¬
sätze, die sich aus der eigenen Erfahrung und dem Vergleich der (übrigens
mit ausserordentlichem Fleiss zusammengesuchten) Literatur ergeben,
wünschenswerth, ja Erforderniss ist. Die willkürliche Trennung verwandter
Gegenstände und vorzüglich der Mangel bündiger Schlussfolgerungen aus
den oft sehr umfangreichen Diskussionen über die verschiedenen Ansichten
der einzelnen Autoren erschwert die Lectüre ganz ausserordentlich und er¬
fordert ein förmliches Durcharbeiten durch die einzelnen Capitel.
Als weiterer Nachtheil muss noch angesehen werden, die Unzahl von
Benennungen verschiedener Formen und Stadien der Erkrankungen und
lokaler Aeusserungen der Krankheitsursachen mit eigenen Namen. Wenn
man fortwährend die complicirtesten Bezeichnungen, wie schleimige Entero-
dyspepsien, mucinös-albuminöse Dyspepsien, acholische und icterische Dys¬
pepsien, dann von Magen-, Darm-, Leber-, Nieren-Gicht oder von den
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zahlreichen Typen der Herzkrankheiten liest, so fühlt man sich unwillkürlich
in die Zeiten zurückversetzt, wo die Medizin durch die unverständlichsten
Bezeichnungen und Formeln dem Publikum gegenüber sich mit einem ge-
heimnissvollen Zauberkreis zu umgeben suchte, ja man könnte zu der An¬
schauung verführt werden, dass das Ringen der Wissenschaft während der
letzten Jahrzehnte, die Erscheinungen des kranken Organismus mit den
Grundgesetzen der normalen Lebenserscheinungen zu erklären, erfolglos
geblieben ist.
Der Verfasser hat als äussere Form für seine Abhandlung die Ein-
theilung in Capitel und kleine Absätze mit einer den Inhalt kurz angebenden
Ueberschrift gewählt. Gewiss ist diese Anordnung, trotzdem sie der ganzen
Darstellung den einheitlichen Charakter raubt, für die Orientirung sehr von
Vortheil; leider aber hat See den Werth dieser Gruppirung selbst hin¬
fällig gemacht, da er den Inhalt der Absätze und Capitel sehr oft mit dem
Titel gar nicht oder nur unvollkommen übereinstimmen lässt.
Ich glaube, dass das Buch in dieser Form und Bearbeitung nicht dazu
geeignet ist, den Ideen des Verfassers den richtigen Ausdruck zu verleihen.
Dass die Ideen, die ErnährungsVorgänge bei Krankheiten eingehender zu
erforschen und die dabei gewonnenen Ergebnisse auf die Behandlung der
Krankheiten zu übertragen, in noch viel höherem Grade sich Geltung ver¬
schaffen werden als gegenwärtig, steht jedenfalls ausser aller Frage.
Pfeiffer (München).
Dr. Th. Schneider (Basel): Die wichtigsten giftigen und essbaren Schwämme.
Correspondenzblatt f. Schweizer Aerzte 1888. Nr. 22 v. 15. Nov. S. 690 ff.
Die Schwämme stehen bekanntlich vermöge ihres hohen Gehaltes an
verdaulichen Eiweissstoffen sowie an wichtigen Nährsalzen in einer Reihe
mit unsem wichtigsten Nahrungsmitteln. Ihre Ausbeute zu Ernährungs¬
zwecken würde eine weit grössere sein, wenn die Kenntniss der giftigen
und ungiftigen Schwammarten eine mehr allgemein verbreitete wäre. Es
gibt Pilze, welche besondere Giftstoffe enthalten, und zwar neben einigen
Mutterkornpräparaten das Muscarin, Anamitin und die Hel veil asäure.
Ausserdem können aber auch andere Pilze, wenn in verdorbenem Zustande,
giftig wirken, und zwar durch Ptomaine, ebensogut wie verdorbenes Fleisch.
Verf. zählt des näheren die in etwa ein Dutzend Arten in der Schweiz
vorkommenden Giftpilze auf, welche mit ungiftigen verwechselt werden
könnten. Die unterscheidenden Merkmale dieser müssen also genau be¬
kannt sein und gelernt werden. Verf. geht dann des näheren auf die ess¬
baren Schwämme ein, zeigt, dass bei einem Ausflug beträchtliche Mengen
solcher, die auch einen ziemlichen Geldwerth darstellen, gesammelt uverden
können, gibt nähere Angaben über die beste und ergiebigste Art des Pilz*
sammelns in den verschiedenen Jahreszeiten, und die Zubereitung der ge¬
sammelten Schwämme zum spätem Genüsse.
Neuerdings wird diesem Gegenstand auch bei uns, namentlich in den
Landschulen, erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Schmidt-Bonn.
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— 361 —
Prof. Gärtner, Ueber die Fleischvergiftung in Frankenhansen am Kyffh.
und den Erreger derselben. Correspondenzblätter des allgem. ärztl. Vereins
von Thüringen. 1888. XVII. Jahrgang.
Durch Genuss von 800 Gramm rohen Fleisches, welches von einem
nothgeschlaehteten Rinde stammte, erkrankte im Mai 1888 ein kräftiger
Arbeiter. Die ersten Krankheitszeichen stellten sich bereits zwei Stunden
nach dem Genüsse des Fleisches ein. 34 Stunden später Tod. Die Section
des Mannes ergab Veränderungen der Därme, ähnlich denjenigen, die bei
Typhus abdominalis gefunden werden. Bei der Besichtigung des geschlach¬
teten Thieres hatten ausser stellenweisem röthlichen Aussehen der dünnen
Därme krankhafte Zustände nicht ergeben.
Im ganzen erkrankten von 25 Familien, die von besagtem Fleische
gegessen hatten, 58 Personen, während ohne von dem Fleische genossen zu
haben nur eine 66jährige Frau krank wurde; dieselbe war die Mutter des
Ersterkrankten, hatte diesen gepflegt, und wurde ihre Erkrankung von dem
betr. Medizinalbeamten darauf bezogen, dass sie sich an der mit Koth
beschmutzten Bettwäsche des Sohnes inficirt hjibe. War das Fleisch roh
gegessen, so liess sich nachweisen, dass die Erkrankten um so schwerere
Symptome zeigten, je mehr sie genossen hatten. Nicht so bei denjenigen,
die das Fleisch vor dem Genüsse gekocht hatten. Ausser den Anzeichen
schwerer Allgemeinerkrankung zeigten sich Erbrechen, Durchfalle und Magen¬
blutungen. Leichtere Erkrankungen dauerten 3 bis 5 Tage, mittelschwere
1 bis 2 Wochen, schwere bis 4 Wochen. Bei letzteren trat später Ab¬
schuppen der Haut ein.
Die vom Verfasser auf das Genaueste ausgeführte bakteriologische
Untersuchung ergab in dem von dem qu. Rinde stammenden Fleische, in
der Milz des Rindes sowie in der Milz des Ersterkrankten die gleichen,
sonst nirgends angetroffenen und von anderen Bacterien nicht begleiteten
Bacillen, kurze Stäbchen, die auf den verschiedenen Nährböden charakte¬
ristische Golonieen bildeten, je nach der Natur der Nährboden verschiedene
Form zeigten, sich aber dennoch als eine distincte Species erkennen Hessen,
Gelatine nicht verflüssigten, sich nach Gram nicht färbten und im übrigen
ein tinktorielles Verhalten zeigten, ähnUch dem der Mikroorganismen der
Frettchenseuche und der Friedländer’schen Pneumoniebakterien. Sie fanden
sich fast ausschliesslich in der Blutbahn und werden von Gärtner als
„Bacillus enteritidis“ bezeichnet. Zahlreiche in verschiedenster Form
(mit dem Fleische der Kuh, mit Reinculturen, mit Massenculturen auf
Fleisch etc.) ausgeführte Versuche wiesen sowohl ihre Eigenschaft als Krank¬
heits-Erreger wie auch die Giftigkeit ihrer Stoffwecliselprodukte nach. Die
Obductionen ergaben bei den betr. Thieren die Zeichen einer Darmentzün¬
dung, welche häufig mit Blutungen einherging, in seltenen Fällen Eiter¬
heerde in Milz und Leber, nicht aber Milz- oder Leberschwellung. Die Wir¬
kung sterihsirter Gulturen, also der Stoffwechselprodukte der Bacillen, war
verschieden und zeigte sich abhängig von der Art des Versuchstieres.
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 25
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- 362 —
Es ist nach Vorstehendem mit Sicherheit anzunehmen, dass die qu.
Fleischvergiftungen durch den beschriebenen Bacillus verursacht waren.
Es ist durch Gärtner’s Untersuchungen somit zum ersten Male in
zweifelsfreier Weise die Ursache von Fleischvergiftungen auf Bakterien zuruck*
geführt worden.
Nach Besprechung des Zusammenhanges zwischen dem Genüsse schlechten
d. h. durch Bakterien verdorbenen Fleisches und einer Gruppe von Erkran¬
kungen, die als Brechdurchfall, cholera nostras etc. in den Morbiditäts¬
statistiken figurieren, betont Gärtner nachdrücklich die Gefährlichkeit
des Fleisches nothgeschlachteter Thiere, „Der Verkauf desselben
sollte nur dann freigegeben werden, wenn der Thierarzt das¬
selbe als erwiesen unschädlich für die menschliche Gesundheit
erachtet. Flatten.
Ueber die Ursachen der Lösung von Blei und die Beseitigung derselben.
(Deutsche Bauzeitung. XXIII. Jahrg. 1889. p. 31.)
Die Abhandlung hebt hervor, dass Blei-Krankheit (Saturaismus) nicht
immer von vornherein sicher zu erkennen sei. Das vom Körper aufgenom¬
mene Blei könne aus sehr verschiedenen Quellen stammen. Bei Färbwaaren-
Händlem und -Arbeitern, Malern, Anstreichern, Setzern und Druckern, in
Kellereien (durch Schrot und Staniol) auch bei Jägern durch Verschlucken
von Schrotkörnern, können Blei-Vergiftungen Vorkommen. Blei-Aufnahme
kann ferner durch Küchen-, Ess-Geräthe, Spielwaaren und durch Trink- oder
Speise-Wasser Vorkommen. Da das Blei vom Organismus nicht rasch
wieder ausgeführt wird, sondern monatelang darin verbleibt, und sich also
im Körper ansammeln kann, findet die Erkrankung nicht nur bei Aufnahme
von grösseren Mengen Blei alsbald statt, sondern es kann die Krankheit
ebensowohl durch Aufnahme der kleinsten Mengen Blei, sofern eine solche
fortlaufend oder häufig wiederkehrend vorkommt, auftreten und sich bis zur
tödtlichen Wirkung steigern. Dass Fälle von Blei-Krankheit Vorkommen
können, die dem Trink- oder Speise-Wasser irrthümlich zugeschrieben wer¬
den, ist sonach erklärlich, indessen gebührt bei dem weit verbreiteten Ge¬
brauche von Bleirohren zu Haus-Anschlüssen bei Wasserleitungen dieser
Frage eine besondere Aufmerksamkeit.
Die chemische Analyse gestatte nicht einen Schluss auf die Aufnahme¬
fähigkeit des Wassers für Blei, die Ansichten über die Ursachen der Blei¬
lösung durch Wasser gehen oft sehr auseinander.
In England hat man umfassende Versuche über diesen Gegenstand
angestellt. Auf einer Seite ist man der Ansicht, dass nur weiches Wasser
Blei löse; Andere schreiben dem Sauerstoff, noch Andere der Abwesenheit
von Kohlensäure die Blei-Aufnahme zu. Bei einem Gehalte von mindestens
3 Vol. •/• Kohlensäure sei Bleilösung ausgeschlossen (s. Dessau Gegen,
theil). Versuche der Royal-Gommission haben dargethan, dass blanke
Flächen viel öfter angegriffen werden als mit Oxydschicht bedeckte, dass
aber die Härte ohne Einfluss ist. Viele Proben haben erwiesen, dass weiches
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Wasser, welches reich an gelöstem Sauerstoff und beinahe frei von Kohlen¬
säure war, weder auf blankes noch oxydirtes Blei lösend wirkte. Die An¬
sicht, dass die freie Kohlensäure nicht das einzige Schutzmittel gegen den
Blei-Angriff sei, war demnach bestätigt. (S. unten Dessau, wo gerade der
Kohlensäure die Schuld der Bleilösung zugeschrieben wird!)
Man hat in England beobachtet, dass phosphorsauren Kalk enthalten¬
des Wasser Blei nicht angreift. Das Wasser des Vyrany ist von Kohlensäure
frei, enthält Spuren von phosphorsaurem Kalk und greift Blei nicht im
mindesten an, während das ebenfalls weiche Wasser des Kent, welches
geringe Mengen von Kohlensäuse enthält aber frei von phosphorsaurem Kalk
ist, Blei besonders stark aufnimmt. Unreines Brunnenwasser soll nach Er¬
mittelung der englischen Commission besonders stark bleilösend wirken.
Ferner zog die Commission aus den Beobachtungen in Glasgow und Man¬
chester und anderen englischen Städten den „beruhigend.klingenden“ Schluss,
dass Bleirohre auch für bleilösendes Wasser brauchbar seien, falls die
Wasserversorgung eine constante ist.
Der übrige Theil des Aufsatzes bespricht die Dessauer Bleivergiftungen.
Die von Dr. Heyer ausgeführten Versuche ergaben, dass der Luftgehalt
(Sauerstoff) des Wassers mit Schuld, dass aber die eigentlichen Ursachen
hier in dem Kohlensäuregehalt des Wassers lag. Diese Arbeiten sind in
dieser Zeitschrift in diesem Jahrgange Seite 121 eingehend besprochen.
Knublauch.
A. Frank, Docent in München, Die Wasserversorgung Wiens. Gesundheits-
Ingenieur 1889, Nr. 10.
Die Hochquellenleitung Wiens, welche seit 15 Jahren besteht und die
Wasser des Kaiserbrunnens und der Nixensteinquelle der Stadt zuführt,
liefert ein jeder Zeit vorzügliches Wasser, blieb jedoch hinsichtlich der Menge
des Wassers zu Zeiten weit hinter dem Bedarf zurück, trotzdem dass die
Zeit der kleinsten Lieferung (Januar bis März) nicht mit der des grössten
Verbrauchs zusammenfallt. Als sich auch das zur Aushülfe angelegte
Wasserwerk bei Pottschach, welches aus dem nach der Niederung sich
fortbewegenden Grundwasserstrome schöpft, als nicht ausreichend erwies,
entnahm man offen abfliessendes Wasser der Schwarza. Dasselbe ist jedoch
von so mangelhafter Beschaffenheit, dass eine baldige Abhülfe dringend
nothwendig erscheint. Man beabsichtigt nun die im Höllenthale längs der
Schwarza zu Tage tretenden Quellen zu erwerben und hofft dadurch die
Wassermenge um 34,000 cbm täglich vergrössera zu können. Kommt
dieser Plan zur Ausführung, so wird die Gesammtleistung aller Entnahme¬
stellen im ungünstigen Falle täglich 55,000 cbm betragen.
Der thatsächliche Bedarf erscheint auf diese Weise immer noch nicht
gedeckt. Die Einwohnerzahl innerhalb der Linien Wiens beträgt gegenwärtig
806,000 Köpfe und wird bis zum Jahre 1900 voraussichtlich auf mindestens
1,000,000 steigen. Der von dem Stadtbauamt auf den Kopf berechnete
grösste tägliche Wasserverbrauch von 90 1 erscheint zu gering bemessen
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zu sein. Beispielsweise beträgt der grösste tägliche Wasserverbrauch in
Budapest und Köln 1501, in Hamburg 2041, in London 1361, in Paris 2101.
Rechnet man für Wien auch nur 100 1 für Kopf und Tag, so ergiebt
sich immerhin ein Bedarf von 100,000 cbm täglich. Hierzu kommt noch,
dass auch für die Vororte Wiens eine entsprechende Wasserversorgung er¬
wünscht erscheint.
Neuerdings ist nun durch die Konzessionierung der Wiener-Neu-
städter Tiefquellen-Wasserleitung eine Abhülfe der Nothlage in
Aussicht gestellt.
Durch das Wiener-Neustädter Steinfeld, welches durch zwei aus den
Alpen sich hervorstreckende Schuttkegel gebildet ist, bewegt sich ein mäch¬
tiger Grundwasserstrom, der durch die Niederschläge eines Gebietes von
1400 qkm gespeist wird, und durch welchen täglich 560,000 bis 3,000,000 cbm
Wasser zum unterirdischen Ablauf gelangen. Der Gesellschaft ist nun die
Konzession ertheilt, aus diesem Grundwasserstrome täglich 103,680 cbm zu
entnehmen.
Die Gewinnung des Wassers soll durch einen 7050 m langen, 4,5 m
hohen und 3 m weiten Stollen bewirkt werden, der senkrecht zur Richtung
des Grundwasserstromes 15 bis 28 m unter der Bodenoberfläche angelegt
werden soll. Abgesehen von den höher gelegenen Gemeinden, Wiener-
Neustadt, Vöslau, Baden und Liesing, kann das Wasser mit natürlichem Ge¬
fälle nach Wien geleitet werden.
Das Grundwasser ist mit dem Wasser der Hochquellen als vollständig
gleichwerthig zu erachten. Nach bakteriologischen Untersuchungen enthielt
(1885) das Wasser der Kaiserquelle im Reservoir am Rosenhügel 2,5 Keime
in 1 ccm. Durch das Einpumpen von Schwarza wasser stieg die Zahl der
Keime bis auf 128 und 250 und geht seitdem, auch wenn nicht gepumpt
wird, nicht mehr auf die frühere Zahl zurück. Das Grundwasser des
Steinfeldes ergab nur 1,1 Keime in 1 ccm.
Der Plan des Stadtbauamtes, dem bestehenden Wassermangel durch
Anlage einer Nutz Wasserleitung aus der Donau abzuhelfen, wird von der
k. k. Gesellschaft der Aerzte und von dem Wiener Stadtphysikat deshalb
bekämpft, weil leicht eine Verwechselung eintreten könne, und weil das
Donauwasser zu Genusszwecken absolut nicht tauge und für viele Nute¬
zwecke (Spülwasser, Badewasser u. dgl.) gleichfalls als nicht unbedenklich
zu bezeichnen sei. Fldm.
Entwässerungsfr&gon aus der Umgebung von Berlin, Deutsche Bauzeitung,
1889, Nro. 28.
Eine wichtige Streitfrage über die Entwässerung ist zwischen der Stadt
Charlottenburg und den Landgemeinden Schöneberg, Wilmersdorf und Frie¬
denau zum Abschluss gekommen.
Trotzdem das Gelände dieser im Südwesten Berlins liegenden Gemeinden
fast durchweg nur 2—4 m über Spreespiegel liegt und vielfach mit torfigen
Schichten überdeckt ist, dringt die Bebauung daselbst von Jahr zu Jahr
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immer rascher vorwärts. Fast die einzige Entwässerung dieser Gegend,
namentlich des gegenwärtig etwa 20,000 Einwohner zählenden Ortes Schöne¬
berg, bildet der mit Recht übel berüchtigte „schwarze Graben** Qerselbe hat
einschliesslich eines Doppelarmes eine Länge von 12 km, hat ‘ein Gefälle
von nur 1 : 3000, nimmt theils mit, theils ohne Erlaubniss Schmutzwässer
aller Art auf und hat in Eolge dessen fast durchweg das Aussehen eines
widerlichen Sumpfes. Um diesen unhaltbaren Zustand zu beseitigen, befahl
die Polizei im Jahre 1886, statt des offenen Grabens einen verschlossenen
Canal herzustellen. Ausserdem wurde der Stadt Gharlottenburg, in deren
Gebiet der Graben in die Spree mündet, aufgegeben: „das Wasser vor
dem Eintritt in die Spree von allen schwimmenden bezw. sinkfähigen Stoffen
zu befreien und in eine in 15 cm mächtigen Schicht klare, geruchlose und
nach ihrer Entnahme etwa 14 Tage lang in demselben Zustande für sich
haltbare Flüssigkeit umzuwandeln.“
Die Klagen des Magistrats von Charlottenburg gegen diese Verfügung,
namentlich dagegen, dass die Stadt Charlotten bürg allein die Kosten der
Reinigung zu tragen habe, wurde sowohl von dem Herrn Oberpräsidenten
als auch von dem Ober-Verwaltungsgerichte zurückgewiesen. Die Ersatz¬
ansprüche an die anderen Gemeinden im Rechtswege geltend zu machen,
wurde unterlassen, vielmehr knüpfte die Stadt Charlottenburg mit den
Gemeinden Schöneberg, Wilmersdorf und Friedenau Unterhandlungen an,
und da diese Gemeinden vorläufig thatsächlich keine andere Entwässerung
als den schwarzen Graben haben, andererseits sich aber von einer geregelten
Entwässerung eine bedeutende Werth Vermehrung ihres Grund und Bodens
versprachen, kam unter gegenseitigem Entgegenkommen folgender Vertrag
zu Stande: Die Stadtgemeinde Charlottenburg nimmt die Wässer des
schwarzen Grabens ohne Rücksicht auf Menge und Beschaffenheit bis zum
Jahre 1904 in ihre Canäle auf und sorgt für die Fortschaflfimg der Wässer
auf Rieselfelder. Die drei Landgemeinden zahlen für 1 km zugeführten
Wassers 4 Pfg., in jedem der drei ersten Jahre jedoch die Pauschsumme
von 20,000 M. Ausserdem verpflichten sich diese drei Gemeinden, unter
Festsetzung einer entsprechenden Verzugsstrafe, bis zu dem genannten Jahre
einen vollständigen, von den Behörden genehmigten Entwässerungsplan
ihrer Gebiete fertig zu stellen.
Unter sich haben die drei Landgemeinden nachstehenden Vertrag abge¬
schlossen :
1. Die zu leistenden Zahlungen während der Dauer des Vertrages
mit Charlottenburg, auch diejenigen für neu herzustellende Haupt¬
sammler im gemeinsamen Entwässerungsgebiete und für Aufstellung
eines gemeinsammen Entwässerungsplanes, werden gleichmässig
auf die Kopfzahl der Bewohner vertheilt.
3. Es bleibt jeder Gemeinde unbenommen, diejenigen Theile ihres
Gebietes von der Gemeinsamkeit auszuschliessen, deren natürliche
Verfluth nicht der schwarze Graben bildet.
Fldm.
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Frings, Reg.-Baumeister, Die Kanalisation von Düsseldorf, Vortrag gehalten
im Vereiq**fc Gesundheitstechnik in Düsseldorf am 10. Sept. 1888. — Gesund¬
heits-Ingenieur 1889, Nro. 1.
Der allgemeine Entwässerungsentwurf Düsseldorfs, der sich auf das
ganze, nahezu 5000 ha grosse Stadtgebiet innerhalb der Gemeindegrenze
erstreckt, zerfällt in zwei Aussensysteme, deren Bebauung noch in weiter
Zukunft liegt, und in zwei Innensysteme, ein oberes und ein unteres, für
welche der Bebauungsplan im Wesentlichen feststeht, ln dem oberen Systeme
können die Kanäle mit dem Rheine bei allen Wasserständen in offener
Verbindung bleiben, während in dem unteren Systeme diese Verbindung
nur bis zu einem Rheinwasserstande von -f 6,0 m am Brückenpegel
möglich ist.
Nach den statistischen Aufzeichnungen für Köln (für Düsseldorf liegen
keine vor) ist in den Jahren 1860 bis 1880 die Regenhöhe innerhalb einer
Stunde nur einmal grösser gewesen als 40,6 mm und bei einem Rhein¬
wasserstande von mehr denn + 5,0 m am Düsseldorfer Pegel niemals
grösser als 1,2 mm.
Der Berechnung der Kanäle sind nun folgende Annahmen zu Grunde gelegt:
1. Der grösste zu berücksichtigende stündliche Regenniederschlag
beträgt 40,6 mm. Dabei gelangt in der Altstadt % und in der
Neustadt V« der Regenmenge in die Kanäle.
2. Bei mehr denn 1,2 mm Regenhöhe treten die Regenauslässe in
Thätigkeit.
3. Bis zu einer Regenhöhe von 1,2 mm fliesst in der Neustadt die
Hälfte und in der Altstadt 4 /» der Regenmenge in die Kanäle.
4. Die abzuführende Hauswasser-Menge beträgt für Kopf und Tag
127,5 Liter, hiervon ist die Hälfte innerhalb 9 Stunden aufzu¬
nehmen.
Die Sohlengefälle der Leitungen schwanken bei den Kanälen zwischen
1 : 200 und 1 : 3000, bei den Thonrohrleitungen zwischen 1:100 und 1 : 1000.
Zur Spülung der Kanäle, bieten die beiden Düsseiarme, sowie die Zier¬
gewässer im Innern der Stadt günstige Gelegenheit, so dass die städtische
Wasserleitung hierzu nur in beschränktem Maasse benutzt zu werden braucht.
Die Einleitung der Abwässer ohne Klärung in den Rheinstrom ist bis
zum Eintritt wirklicher Uebelstände unter der Bedingung genehmigt, dass
keine Aborte an die Kanäle angeschlossen werden, und dass schädliche
Fabrikabwässer vor der Einleitung in die Kanäle gereinigt werden.
Der Anschluss der Hausentwässerung an die Strassenkanäle kann nur
für solche Grundstücke gefordert werden, welche nach 1875 entstanden
sind. Die früher vielfach verbreitete Entwässerung in die Düsseiarme
und die Zierteiche ist jetzt ganz beseitigt. Fldm.
Eintaro Mori, Ueber pathogene Bakterien im Kanalwasser. Zeitschrift für
Hygiene, VI. Bd. Seite 47.
Verfasser fand im Berliner Kanalwasser drei für Mäuse und Meer¬
schweinchen tödtliche Bakterienarten, nämlich den Bacillus der Mäusesep-
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ticaemie (Kocli), einen dem F riedländer’sehen ähnlichen kapseltragen¬
den und einen dritten, welchen Verfasser als kurzen Kanalbacillus bezeichnet.
Die beiden letzteren werden des genaueren beschrieben.
Flatten.
W. Rietschel, Untersuchungen von Filterstoffen für Lüftungs&nlagen,
Gesundheits-Ingenieur 1889 Nro. 4 u. 8.
Um den Druckverlust, der durch das Filtern von Luft hervorgerufen
wird, genau messen zu können, hat Herr Prof. Rietschel in Charlotten¬
burg einen besonderen Apparat hergestellt. Durch ein fest eingespanntes,
quadratisches Filtertuch von 0,25 qm Grösse wird vermittelst eines Saugers
mehr oder weniger stark Luft getrieben. Der Luftdruck wird vor und
hinter dem Filtertuch gemessen und die gefilterte Luftmenge wird durch
genaue Anemometer festgestellt.
ln erster Linie wurden die engmaschigen Filtertücher von K. und Th.
Möller in Kupferhammer bei Brackwede untersucht. Es ist dies ein
gerauheter Barchent, ein baumwollenes Gewebe, bei dem jeder Schussfaden
abwechselnd über zwei und unter zwei Kettenfaden hingeht. Zur Ver¬
wendung kamen:
1. Neue Möller’sehe Filtertücher, welche auf je 6 cm Länge 104
Schussfaden und 164 Kettenfaden enthalten.
2. Alte Möller’sehe Filtertücher, welche seit 17 Monaten im Ge¬
brauch und während dieser Zeit nur 3 bis 4mal ausgeklopft sind,
und welche auf je 6 cm Länge 108 Kettenfäden enthalten.
Nach Angabe des Herrn Möller verwendet derselbe jetzt nur noch
Tücher mit 100 Kettenfaden auf 6 cm Länge, also Tücher, welche den
Tüchern unter Position 2 nahezu entsprechen.
Die Versuche ergaben zunächst die etwas auffallende Thatsache, dass
das Verhältniss zwischen Druckverlust und Menge der gefilterten Luft das¬
selbe bleibt bei beliebiger Aenderung des Druckverlustes.
Bezeichnet man also mit lo die auf 0° Temperatur und 760 mm
Barometerstand ungerechnete Menge der stündlich gefilterten Luft bezogen
auf 1 qm Filterfläche und mit h den Druckverlust in Millimeter einer
Wassersäule, so ist ~ zwar abhängig von der Beschaffenheit des Tuches,
lo
aber unabhängig von h.
Bei neuem Filtertuch war der Werth von zunächst gleich 0,002,
lo
nahm aber durch den Gebrauch sowie durch künstliche Verstaubung sehr
rasch zu und stieg während der Versuche (115 Versuche von je 10 Minuten
Dauer) bis zu 0,030. Bei dem gebrauchten Filtertuch war ^ zu¬
nächst = 0,02 und stieg bald auf 0,04, auf welcher Höhe es sich bis zum
Schluss der Versuche erhielt.
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In der Praxis hat man vielfach — zu 0,002 angenommen. Nach den
lo *
Versuchen sollte man — nicht unter 0,04 annehmen. Während man also
lo
nach den bisherigen Annahmen bei 1 mm Druckverlust die Luftmenge
während einer Stunde auf 1 qm Filterfläche zu ‘/o^o* = 500 cbm berechnete,
ergaben sich nach den Versuchen nur \'o.o* = 25 cbm. Wollte man also
das Möller'sehe Filtertuch zu Lüftungsanlagen mittels Temperaturunter¬
schied, sowie zu gewöhnlichen Luftheizungsanlagen verwenden, müsste man
ausserordentlich grosse Filterflächen einrichten.
Ausser dem Möller 1 sehen Filtertuch sind noch untersucht:
1. Ein von dem Ingenieur Rösicke in Berlin vielfach angewandtes
weitmaschiges, ungleiches, auf beiden Seiten gerauhetes, leinen¬
artiges Gewebe, welches durchschnittlich auf je 6 cm Länge 47
wollene Schussfäden und 57 baumwollene Kettenfäden enthält.
2. Ein gleichfalls vielfach benutztes, baumwollenes, gewöhnlich leinen¬
artiges Gewebe, sogenanntes Nesseltuch, bei dem auf je 6 cm Länge
153 Ketten- oder Schussfäden kommen.
Die Versuche ergaben eine verhältnissmässig grosse Durchlässigkeit
dieser Stoffe. Auch konnte die Durchlässigkeit durch künstliche Verstaubung
nur unbedeutend verringert werden, namentlich bei dem Nesseltuch, bei
welchem wegen der glatten Beschaffenheit des Stoffes nur wenig Staub
haften blieb.
Man kann bei dem R ösi cke‘sehen Filtertuch -- zu 0,001
lo
und bei dem Nesseltuch zu 0,002 annehmen.
Die von Dr. Petri angestellten Untersuchungen der Filtertücher auf
Durchlässigkeit von Staub und Pilzsporen ergaben, dass das Möller‘sehe
Filtertuch bei längerem Gebrauch nur gröbere Staubtheilchen und Pilz¬
sporen zurückhalten kann, dass das R ösicke’sche Tuch eine sehr bedeutende
Durchlässigkeit für groben Staub besitzt, und dass das Nesseltuch ebenfalls,
wenn auch in bedeutend geringerem Maasse als das Rösicke’sche Tuch,
gröberen Staub durchlässt. Fldm.
Assmann: Die Pflege der Meteorologie an klimatischen Kurorten. Das
Wetter, meteorologische Zeitschrift, 5. Jahrgang. Braunschweig. 0. Salle.
Die Bezeichnung „klimatischer Kurort“, die noch vor wenigen Jahr¬
zehnten der Ehrentitel einzelner durch Lage und Klima bevorzugter Orte
war, ist allmählich derart verallgemeinert und leider auch gemisbraucht
worden, dass es allen Beteiligten, den Ärzten sowohl wie dem heilung¬
suchenden Publikum, nicht zu verargen ist, wenn sie an Stelle der nur zu
oft marktschreierischen Anpreisungen positive Unterlagen verlangen, aus
welchen die Eigenart der wirksamen „Heilfaktoren“ frei von jeder Vor¬
eingenommenheit klar zu ersehen ist. Gewiss darf die äusserst wichtige
Tatsache, dass veränderte Umgebung und veränderte Lebensführung allein
gar manchen Krankheitsprozess zu beseitigen im Stande sind, niemals über-
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sehen werden; fast durchweg entscheidet ja nicht der Ort wo, sondern die
Art wie man lebt, über die Wahrscheinlichkeit gesund oder krank zu
werden. Indessen wird man doch nicht leicht die Skepsis ernstlich so
weit treiben, dass man die Wirksamkeit der s. g. klimatischen Faktoren
ganz abstreitet, obwol ohne Frage die Gegenströmung gegen eine teils
reclamenhafte, teils naive Auffassung und Verwertung der Klimatotherapie,
wie sie uns so vielfach entgegentritt, diese letztere bereits etwas in Mis-
kredit gebracht und manchen an die Grenze einer negirenden Anschauung
geführt hat.
Wir verlangen von einem klimatischen Kurorte, dass einerseits offen¬
kundige Schädlichkeiten der allgemeinen Verhältnisse an ihm fortfallen,
dass eine Summe von Einrichtungen in Bezug auf Wohnung und Unter¬
kunft, Verpflegung, behaglichen Aufenthalt im Freien, passende Wege¬
anlagen, sachverständigen ärztlichen Beirat u. s. w. vorhanden ist, und
dass seine klimatischen Eigenthümlichkeiten wirklich wertvolle, für die
Heilung gewisser Krankheitsgruppen anerkannt wirksame Bedingungen ge¬
währen, welche sich an den gewöhnlichen Wohnstätten der Menschen gar
nicht, oder doch nur in weniger ausgesprochener Weise vorfinden. Die
sorgfältige und gewissenhafte Erforschung aller hier einschlägigen Verhält¬
nisse sollte wo möglich schon vorher erfolgt sein, ehe man sich das Recht
nimmt, einen Ort als „klimatischen Kurort“ zu bezeichnen; jedenfalls muss
sie dauernd fortgesetzt werden. Erst wenn dieser Forderung in richtiger
Weise Genüge geschehen ist, und, wenn mit diesen meteorologischen Auf¬
zeichnungen genaue Beobachtungen über das Verhalten der Kranken un¬
mittelbar verbunden würden, was beispielsweise in Heilanstalten und
Sanatorien unschwer zu erreichen wäre, würden wir allmählich eine
wissenschaftliche Grundlage für die Erledigung der Frage von dem Einfluss
von Wetter und Klima auf den Verlauf und die Heilung gewisser Krank¬
heiten und Siechtümer gewinnen, und nicht mehr wesentlich nach ein¬
seitigen, unkontrolierbaren „Erfahrungen“ urteilen.
Ass mann erörtert nun zunächst die wichtigsten Punkte der allge¬
meinen Klimatologie, welche bei der Beurteilung des Wortes klimatischer
Kurorte vor allen anderen ins Gewicht fallen, wobei er in der Hauptsache
das bekannte Handbuch der Klimatologie von Jul. Hann zu Grunde legt.
Der Luftdruck, die Lufttemperatur, der wichtige klimatische Faktor der
Strahlungs-Intensität, der bisher nur gelegentlich und in wenig systema¬
tischer Weise zum Gegenstände eingehender Untersuchungen gemacht
wurde; ferner die Wasserdampfverhältnisse der Atmosphäre und ihr Einfluss
auf den menschlichen Organismus, die Luftbewegung (der Wind), die
Niederschläge, die Bevölkerung, die Vegetation (der Wald) werden in klarer,
übersichtlicher und sehr anregender Weise dargestellt, die sich gleichwol
von Übertreibung und voreiligen Schlüssen femhält. Ass mann ist kein
einseitiger Klimatologe, der in irgend welcher Kombination dieser Faktoren,
oder gar in der, wenigstens für die in Betracht kommenden geographischen
Lagen, vielfach noch streitigen, keinenfalls einwurfsfrei festgestellten und
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anerkannten Einwirkung eines einzelnen klimatischen Faktors auf den
Menschen die allein ausschlaggebenden Heilmittel eines klimatischen Kur¬
ortes sieht. Er betont, dass von den allgemeinen, jedem klimatischen Kur¬
orte unentbehrlichen Eigenschaften die vornehmste unter allen Umständen
eine reine, möglichst staubfreie Luft sei. In dieser Eigenschaft haben wir
in der Tat einen Heilfaktor von der allergrössten Bedeutung zu erblicken,
von einer so grossen Bedeutung, dass er allein an Gewicht alle übrigen
vollkommen anfwiegt. Die Staubfreiheit der Luft ist allerdings immer nur
eine relative. Absolut staubfreie Luft finden wir nur an unbewohnten und
meist auch unbewohnbaren Orten, beispielsweise im ewigen Eis und Schnee
der höchsten Berggipfel oder in der Nähe der Pole. Reine Luft im prak¬
tischen Sinne, also möglichstes Fehlen der Staubbeimengung finden wir
sowol am Meeresstrande, wo der tagüber wehende Seewind die denkbar
reinste Luft herbeiführt, als auch im Walde, wo die Bedeckung des Bodens
mit Vegetation und die grössere Luftruhe die Beimischung von Staub zur
Luft erschwert, und die grössere Häufigkeit von Niederschlägen der Luft
viele Staubkeime entzieht. Ferner finden wir im Gebirge relativ staubfreie
Luft vor, was dem weniger leicht zerfallenden Gestein und der grösseren
Niederschlags-Häufigkeit, sowie der Anwesenheit von Wäldern, auch wol,
wie hinzuzufügen ist, der Abwesenheit von grossem Verkehrswegen und
industriellen Anlagen zuzuschreiben ist, was meistenteils den tatsächlichen
Verhältnissen entsprechen dürfte. — Als ferneres allgemeines Erfordernis
eines klimatischen Kurortes meint Assmann den Gehalt der Luft an Ozon
bezeichnen zu müssen, wenn es möglich wäre, dessen Mengeverhältnisse
sicher festzustellen. Man könnte hier freilich fragen, ob denn die Wirkung
des Ozons so sicher und klar festgestellt ist, dass man auf seine Anwesen¬
heit als klimatotherapeutisches Agens besondem Wert legen müsste. Für
den Menschen selbst ist dieser Wert sicher zweifelhaft. Vielleicht ist freies
Ozon in der Luft nur ein Zeichen und Beweis, dass diese Luft rein ist,
weil der aktive Sauerstoff sonst zur Oxidation irgendwelcher Schädlichkeiten
verbraucht worden wäre. Ebenso steht das dritte allgemeine Desiderat,
die genügende Ventilation, mit der Reinheit der Luft in naher Beziehung.
Hierin stehen offenbar Küstenorte und Gebirgshöhen den Wäldern und
tiefem Tälern erheblich voran. Treten bei solchen Tälern noch besondere
Eigentümlichkeiten des Erdbodens, mooriger, Malaria-, und andere Infections-
keime bergender Untergrund hinzu, so werden sie zu klimatischen Kurorten
überhaupt ungeeignet. — Auch die Niederschläge tragen offenbar nicht
wenig zur Reinhaltung der Luft bei, obwol man sie meist nur von der
unangenehmen Seite betrachtet. Sicher ist ein Ort, welcher wochenlang
wolkenlosen Himmel hat, viel weniger gesundheitbefördemd als ein solcher,
der in kurzen Pausen Niederschläge zu erwarten hat.
Mit der Art der Anstellung meteorologischer Beobachtungen, wie sie
vielfach oder fast durchweg an „klimatischen Kurorten* beliebt ist, erklärt
sich Assmann durchaus nicht einverstanden. Man kann ihm gewiss nicht
Unrecht geben, wenn er sagt: Nicht die Korrektheit der Resultate, sondern
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das Paradiren mit kunstvoll verzierten Kiosken und Pavillonen im „Kur¬
garten“, in welchen die Instrumente unter denkbar ungünstigsten (je nach¬
dem wol auch „günstigsten“ — Ref.) Bedingungen aufgestellt sind, ist die
Hauptsache, für welche oft Summen weggeworfen werden, für die man
ausgezeichnete Instrumente und Registrir-Apparate beschaffen könnte. Nicht
der Wunsch, die Wahrheit zu erforschen, sondern das Bestreben, Witterungs¬
verhältnisse zu konstatieren, wie man sie gebraucht, diktiert in vielen
Fällen den Entschluss zur Errichtung einer meteorologischen Station!
Gerade die Beschaffung von Apparaten, welche die Beobachtung frei von
der Willkür des Beobachters machen, würde die Zuverlässigkeit der Auf¬
zeichnungen erheblich steigern.
Für die Anstellung der Beobachtungen erscheinen folgende Sätze be¬
sonders beherzigenswert und verdienen allgemeine Beachtung und An¬
erkennung :
Der klimatische Kurort soll nur seiner selbst wegen
meteorologische Beobachtungen anstellen lassen. Nicht
die Förderung der meteorologischen Wissenschaft, sondern
die Ergründung der aller lokalsten klimatischen Verhält¬
nisse soll deren Zweck sein. Das Tal, die Niederung, der
Bergabhang, der Gipfel, welcher den Kurort beherbergt,
soll erforscht —, also Detailstudium im engsten Rahmen
getrieben werden!
Abweichend von andern meteorologischen Stationen soll deshalb an
Kurorten das Hauptaugenmerk auf folgende Punkte gerichtet werden:
Sobald die Höhenlage eines Ortes einigermassen genau bekannt ist —
auch hierin findet eigentümlicherweise nicht selten eine bewusste Täuschung
statt, indem einzelne konkurrierende Höhenkurorte von Jahr zu Jahr ab¬
wechselnd höher werden — bedarf es zu klimatologischen Zwecken nicht
der fortlaufenden Beobachtung des Barometers. Die praktisch vor¬
kommenden Barometerschwankungen haben offenbar keinerlei Einwirkung
auf den menschlichen Organismus. Eine Änderung des Luftdrucks um
20 mm in 24 Stunden gehört in Zentral-Europa schon zu den äusserst
seltenen Vorkommnissen; sie entspricht einer solchen von 0,8 mm in
1 Stunde. Man würde sich ziemlich den gleichen Wirkungen und „Ge¬
fahren“ aussetzen, wenn man im Laufe einer Stunde vom Erdgeschoss
eines Hauses bis in das zweite Stockwerk desselben hinaufstiege!
Viel wichtiger sind die Temperatur-Beobachtungen, obwol auch
hier die Wirkung namentlich der Temperatur-Schwankungen bis ins Unge¬
heuerliche übertrieben worden sind. Wie erhebliche Schwankungen wir
mit Leichtigkeit ohne Schaden in wenigen Minuten ertragen, ergiebt sich
beispielsweise aus der einfachen Betrachtung, dass wir an gar nichts Be¬
sonderes denken, wenn wir im Winter aus einem geheizten Zimmer von
20° C. in das—10° und tiefer temperierte Freie treten. Und doch ist
das eine Schwankung von 30 ® G. und mehr in kürzester Zeit. In Ost¬
sibirien, einem Lande mit anerkanntermassen extremen Klima, sind nach
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Ferd. Müller Lungenkrankheiten unbekannt, vielmehr fanden lungenkrank
dorthin transportierte Personen nicht selten Heilung ihrer Krankheit!
Der tägliche Gang der Lufttemperatur ist am zweckmässigsten mittels
eines Richard’schen Thermometers in Gestalt einer continuirlichen Kurve
festzustellen, zu dessen Kontrole 3 Ablesungen eines sorgfältig geprüften
Thermometers, am besten um 7 Uhr morgens, 2 Uhr nachmittags und
9 Uhr abends auszuführen sind. Für die richtige Aufstellung des Instru¬
mentes ist natürlich Sorge zu tragen. Zugleich mit diesen Ablesungen
wird mittels des feuchten Thermometers der absolute Wasserdampfgehalt
der Luft und die relative Feuchtigkeit gemessen, wozu sich als Kontrol-
instrument ein Haarhygrometer nach Koppe empfiehlt. Ein Maximum- und
ein Minimumthermometer dient zur Ermittelung der täglichen Temperatur-
Schwankung. Dieselben sind am besten abends abzulesen.
Von grosser Wichtigkeit, besonders für Gebirgsstationen, ist die Be¬
obachtung der Sonnenstrahlung und der nächtlichen Ausstrah¬
lung. Erstere wird durch ein „ Schwarzkugelthermometer im Vacuum*
gemessen, dessen wesentliche Einrichtung der Name besagt. Durch die
das Thermometer umgebende, luftleere Glashülle wird die dunkle Wärme¬
strahlung der Umgebung, die je nach der Örtlichkeit äusserst veränderlich
ist, fast ganz unwirksam gemacht, während die leuchtende Strahlung fast
ungeschwächt das Glas durchdringt; ausserdem wird die Wärme-Entziehung
durch den Wind verhindert. Man misst so in der Tat die „Temperatur
in der Sonne“ im Gegensatz zu der im Schatten. — Die nächtliche Aus¬
strahlung misst man durch ein auf den Erdboden gelegtes Minimum¬
thermometer.
Die Windrichtung ermittelt man durch eine genügend frei auf¬
gestellte Windfahne, welche mittelst eines Schreibstiftes auf eine herab¬
sinkende Papiertrommel ihre Stände täglich selbsttätig aufzeichnet. Ein
solcher Apparat lässt sich mit geringen Kosten herstellen. Die Aufstellung
soll eine solche sein, dass die Windfahne die Richtung der lokalen Luft¬
ströme, wie sie die Bewohner des Kurortes treffen, wiedergiebt, nicht aber
die der höhern Schichten der Atmosphäre, welche für die Meteorologie,
aber nicht für die Klimatologie des Kurortes wissenswert sind. Die Wind¬
stärke könnte durch Schätzung nach der üblichen Beaufort’schen Skala,
in welcher 0 Windstille, 4 mässiger, 8 stürmischer Wind, 12 Orkan be¬
deutet, oder durch eine Wild 'sehe Windstärketafel ausreichend ermittelt
werden.
Für die Konstatierung der BewölkungsVerhältnisse ist die Ver¬
wendung eines Campbell -Stocke’schen Sonnenschein - Autographen
dringend zu empfehlen, welcher in einfachster Weise durch Anbrennen
eines Papierstreifens mittels einer Glaskugel eine absolut zuverlässige Re¬
gistrierung des stattgehabten Sonnenscheins giebt.
Will man auch für die Niederschläge eine authentische Aufzeich¬
nung haben, so beschaffe man den Hottinger’schen Pluviographen;
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andernfalls lasse man zu denselben Terminen wie die übrigen Apparate
dreimal am Tage den Regenmesser beobachten.
Als wesentlich neu, aber hochwichtig für klimatische Kurorte, empfehlen
sich regelmässige Messungen des atmosphärischen Staubes, welche
man allerdings zuverlässig nur in der Weise ausführen kann, dass man
mittels eines Aspirators eine grosse Luftmenge, etwa 1 Gubikmeter, durch
destilliertes Wasser führt, dasselbe im Wasserbade zur Trockne eindampft
und den Rückstand durch Wägung bestimmt. Gelegentliche mikroskopische
Untersuchungen des Rückstandes dürften wichtige Ergebnisse über die Natur
des atmosphärischen Staubes ergeben.
Meissen (Falkenstein i. T.).
£. Cornet, Wie schützt man sich gegen die Schwindsucht? Hamburg, Verlags¬
anstalt und Druckerei A.~G. 1889. (Sammlung gemeinverständlicher, wissen¬
schaftlicher Vorträge.)
Nachdem wir durch Robert Koch’s Entdeckung als den Erreger der
Lungenschwindsucht einen bestimmt charakterisirten Bacillus kennen gelernt
hatten, gingen die nächsten Erwartungen und Bestrebungen dahin, gegen
den specifischen Pilz nun auch alsbald das specifische Gegenmittel zu finden.
Bekanntermassen sind wir auf diesem jedenfalls möglichen Wege bisher
leider nicht glücklich gewesen. Das viel gesuchte Mittel ist noch keines¬
wegs gefunden. Nicht wenige Forscher aber legten sich nun allmählich
die Frage vor, ob wir denn nicht auf andere Weise der Verbreitung dieser
schlimmsten aller Seuchen entgegen treten können, indem wir die Verbrei¬
tung des Krankheitserregers zu hindern oder zu mindern suchen. In dieser
Hinsicht sind die Experimente Cornet’s, deren praktische Schluss¬
folgerungen in vorliegender Broschüre dargestellt sind, von hoher Bedeutung.
Diese umfangreichen und in gewissenhaftester Weise angestellten Versuche
haben in wie es scheint einwurfsfreier Weise bestätigt, was sämmtliehe
hinsichtlich der Lebens- und Entwickelungsverhältnisse des Tuberkelbacillus
bisher bekannten Forschungen erwarten Hessen. Der Inhalt dieser Versuche
ist im Allgemeinen bereits in meiner Besprechung des „Taschenfläschens
für Huster“ in einem früheren Hefte dieser Zeitschrift angegeben worden.
Es wird aber immerhin von Interesse sein, einen etwas genaueren, zahlen-
mässigen Einblick in sie zu gewinnen.
Es wurde Staub aus Privatwohnungen von Schwindsüchtigen, aus
Krankenhäusern, von Strassen u. s. w. gesammelt und derselbe auf Thiere
in geeigneter Weise verimpft. Von 392 in dieser Weise geimpften Thieren
wurden 59 tuberkulös, in 196 Fällen waren andere rasch tödtende Krank¬
heitskeime vorhanden, und nur in 137 Fällen war der Staub frei von
Krankheitskeimen. Das Auffallendste und praktisch Wichtigste aber war
der Umstand, dass sich Tuberkelbacillen nicht etwa überall vorfänden, wo
sich Schwindsüchtige dauernd auf hielten, sondern dass sie einzig und allein
dort zu finden waren, wo die betreffenden Patienten, wenn auch nicht
immer, so doch hin und wieder entweder auf den Boden oder ins Taschen-
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tuch gespuckt hatten, dass aber in solchen Wohnungen, wo der Kranke
niemals auf den Boden oder ins Taschentuch spuckte, sondern ausschliesslich
in einen zweckmässigen Spucknapf seinen Auswurf entleerte, in keinem
einzigen Falle, auch in der nächsten Umgebung des Patienten, Tuberkel¬
bacillen nachgewiesen werden konnten, dass dort also keine Gefahr der
Ansteckung bestand. Ja, sogar in einigen sehr reinlich gehaltenen Kranken¬
sälen waren, obwohl sie mit zahlreichen Schwindsüchtigen belegt waren,
keine Bacillen nachzuweisen.
Damit aber ist der praktische Beweis erbracht, dass der Schwind¬
süchtige an sich keine Gefahr für seine Umgebung repräsentirt, dass seine
Ausathmungsluft ungefährlich ist, dass sogar sein Auswurf unschädlich ist,
so lange er feucht gehalten wird. Von dem Augenblicke aber, wo er
getrocknet, ist, wenn auch nicht die Nothwendigkeit, so doch die Möglich¬
keit der Ansteckung gegeben. Mit andern Worten: die Ansteckungsfahigkeit
der Schwindsucht ist nicht ein unabänderliches Naturgesetz, sondern wir
haben die Mittel in der Hand, sie zu beschränken, sie aufzuheben, wir
selbst sind Schuld daran, wenn sie in der bisherigen Weise fortbesteht.
Die praktischen Consequenzen aus diesen Thalsachen gipfeln also in
der Forderung, dass vor allem der Lungenkranke nie und unter keinen
Umständen ins Taschentuch oder auf den Fussboden spuckt und dadurch
Gelegenheit zur Vertrocknung und Verstaubung seines Auswurfes giebt. Der
Auswurf soll nur in zweckmässig construirte Spucknäpfe entleert werden,
die etwas Flüssigkeit enthalten, und ihrerseits regelmässig in den Abort
auszuschütten und mit heissem Wasser zu reinigen sind. Der Schwind¬
süchtige wird um so leichter zu diesem Verfahren zu bringen sein, wenn
er bedenkt, dass er im andern Falle ja nicht nur seine Umgebung, seine
Familie, seine Angehörigen, die ihn pflegen, sondern vor allem auch sich
selbst in die höchste Gefahr bringt. Denn er lebt ja gewissermassen im
Mittelpunkte des von ihm ausgehenden Ansteckungskreises, und muss dem¬
gemäss seine zu Staub vertrockneten Bacillen am allermeisten selbst ein-
athmen, mehr als jeder auch in seiner nächsten Nähe Befindliche. Seine
kranke Lunge kann im Heilen begriffen sein, da athmet er wieder neue,
seine eigenen Bacillen ein, die er ausgespuckt und vertrocknen lassen hat,
und an hisher gesunden Stellen der Lunge beginnen neue Krankheitsprozesse,
die sein Schicksal entscheiden können. Aber nicht nur der Schwindsüchtige,
sondern Jeder, der eine vermehrte Absonderung seiner Schleimhäute, sei
es auch nur in Folge des unschuldigsten Katarrhs das Bedürfhiss hat, aus¬
zuspucken, benutze für seinen Auswurf ausschliesslich einen Spucknapf.
Diese Verallgemeinerung auf allen und jeden Auswurf ist um so mehr ge¬
boten, als manche, ja die meisten Schwindsüchtigen schon wochen- und
monatelang auswerfen, bevor sie oder ihre Angehörigen eine Ahnung von
der ernsten Natur des Leidens haben.
Bezüglich der mannigfachen im übrigen sich ergebenden Forderungen
und Folgerungen in Bezug auf die Gebrauchsgegenstände, Kleidung, Wäsche
und Bett, Wohnung u. s. f. des Schwindsüchtigen, aber auch in Bezug auf
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Fabriken, Werkstätten, Kanzleien, Kasernen, Klöster, Strafanstalten, Gest¬
und Wirthshäuser, Verkaufsläden, viel besuchte Promenaden namentlich in
Kurorten sei einerseits auf die bereits erwähnte Besprechung des w Taschen¬
fläschchens“ verwiesen, anderseits aber die Lectüre und möglichste Verbrei¬
tung der vorliegenden in gemeinverständlicher Weise gehaltenen Abhand¬
lung von Gomet angelegentlichst empfohlen. i
Comet betont in seiner Arbeit noch, dass die Einrichtung eigener An¬
stalten für Lungenkranke möglichst zu fördern sei. Es ist klar, dass in einer
Anstalt, wo alle von dem gleichen Ziele und Streben beseelt sind, wo das
ganze Personal darauf geschult ist, auch die beste Garantie für die Ver¬
meidung alles dessen sich bietet, was den Schwindsüchtigen gefährlich
machen würde, für ihn selbst und für seine Umgebung. Selbst das Zu¬
sammensein von anderweitig Kranken mit Lungenkranken an demselben
Kurorte ist, bei richtigen Einrichtungen, unbedenklich, falfe nicht Aerzte und
Verwaltungen einer besseren Einsicht in die NothWendigkeit dieser Einrich¬
tungen sich gewaltsam verschliessen. Meissen.
Paltauf, Zur Aetiologie der Hadernkrankheit, Wiener klinische Wochenschrift.
1888. Nro 18— 26.
Eppinger, Pathologische Anatomie der sog. Hadernkrankheit, Wiener medi-
cinische Wochenschrift 1888. Nro. 37—38.
Paltauf berichtet über zwei Fälle von Hadernkrankheit. Es ist be¬
kannt, dass dieselbe vornehmlich bei Arbeitern in Papierfabriken und Lumpen¬
handlungen auftritt und z. Z. vonKraunhals (vgl. Jg. 1888 S. 118) auf die
Bacillen des malignen Oedems zurückgeführt wurde. Verfasser konnte bei der
Obduction (beide Kranke starben) sowohl die Identität des pathologischen
Befundes mit dem von Kraunhals beschriebenen feststellen, als auch die
Gegenwart von Milzbrandbacillen nach weisen. Paltauf nimmt an,
dass die Bacillen durch die Athmungswege in den Körper gelangen, betont
aber für die mit Eiterblasen der Haut complicirten Fälle die Möglichkeit
einer primären Hautinfection.
Auch Eppinger’s Kranke (acht) gingen sämmtlich zu Grunde. Sie
starben innerhalb des 3. bis 7. Krankheitstages. Der Leichenbefund war
genau so, wie ihn Paltauf beschreibt. Aus sieben Leichen gelang Ver¬
fasser die Reinzüchtung der Milzbrandbacillen, und glaubt Verfasser die
Hadernkrankheit als Milzbrandinfection, speciell als primären
Lungen-Milzbrand bezeichnen zu müssen. Flatten.
Bordoni-Uffreduzzi, Ueber den Proteus hominis capsulatus und über eine
neue durch ihn erzeugte Infektionskrankheit beim Menschen. Zeitschrift
für Hygiene, 111. Band. Seite 333.
Verfasser berichtet über zwei Personen, deren Krankheitserscheinungen
in ihrem makroskopisch-anatomischen Befunde mit der Hadernkrankheit
übereinstimmten und von welchen die eine mit hohem Fieber, Athemnoth
und Kopfschmerz einsetzend nach vier Tagen, die andere nach fieberhafter
Diarrhöe und nach zwei Tagen starb.
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Beim erst erwähnten Kranken zeigten sich vorwiegend Veränderungen
der Schleimhäute der Athemwege, beim zweiten solche der Dannschleim¬
haut. In beiden fand Verfasser Stäbchen (Bacillen) ähnlich denjenigen des
Milzbrands, die in Deckglaspräparation aus Blut- und Organsaft der damit
geimpften Thiere eine deutliche Kapsel erkennen Hessen und besonderer
tinktorieller Merkmale entbehrten. Sie fanden sich in den Blut- und Lymph-
gefassen und zwischen den Gewebszellen, waren grösser als Milzbrand-
bacillen und färbten sich nach Gram. Des genaueren berichtet Bordoni
über die Eigenschaften ihrer Reinculturen. Dieselben erwiesen sich auch
für Mäuse und Hunde, weniger für Kaninchen und Meerschweinchen als
tödtlich. F1 a 11 e n.
Dr. G. Kaufmann (Dozent in Zürich): Ueber den Schlangenbiss. Correspon-
denzblatt f. Schufeizer Aerzte. 1888. Nr. 19 vom 1. Oct. S. 592 ff.
Verf. stellte im Anschluss an zwei Fälle von Schlangenbiss (Kreuz¬
otter), welche beide günstig verliefen, Erhebungen über das Vorkommen
des Schlangenbisses in der Schweiz an. Es ergab sich nach den Aufzeich¬
nungen des eidgenössischen statistischen Bureaus, dass in 10 Jahren, von
1877—1886, in der Schweiz 8 Todesfälle durch Biss von giftigen Thieren,
darunter 7 sicher durch Schlangenbiss, bekannt geworden sind. Bei näherer
Durchsicht der Litteratur über diesen Gegenstand ergibt sich, dass von allen
Gebissenen die meisten, 60 %, an Fuss und Zehen gebissen wurden, 28 %
an Hand und Fingern. Was die Sterblichkeit betrifft, so betrug die¬
selbe bei
den (seltenen) Bissen in’s Gesicht 66°/«,
„ in Hand und Finger 20 °/o,
„ in Fuss und Zehen 15,6 °/o.
Die Gift Wirkung ist in den ersten beiden Tagen nach dem Bisse am
heftigsten, und man kann an dem Satze festhalten, dass, wenn ein von
einer Kreuzotter Gebissener die ersten zwei Tage überlebt, mit aller Wahr-
scheinhchkeit ein günstiger Ausgang zu erwarten ist. Was die Behandlung
von Gebissenen betrifft, so ist das Wichtigste, so früh als möglich in die
gebissene Stelle tief einzuschneiden, und mit Glühmitteln (Thermocauter)
oder Aetzmitteln (kaustisches Kali oder Ammoniak) das Gift zu zerstören
suchen. Schmidt-Bonn.
Dr. Don Bicardo Gomez de Figueroa, Les mines de mercure d'Almaden
(Espagne). Journal d’hygiene, 1888, Nro. 629.
Der Verfasser stellt nach eigenen Erfahrungen Thesen auf, von denen
die wichtigsten hier hervorgehoben werden sollen:
1) Diejenigen Arbeiter, welche in den Quecksilber-Bergwerken mit der
Herausforderung des Quecksilbers beschäftigt sind, werden durch die Queck¬
silberdünste mehr geschädigt als diejenigen, welche über der Erde mit den
Reductionsarbeiten des Metalls zu thun haben.
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377 —
2) Das Wesen der Krankheit findet der Verfasser in einer hochgradigen
Anämie (Verminderung und Entartung der rothen Blutkörperchen, Ver¬
mehrung der farblosen Blutzellen und des Fibrius), ferner in organischen
Veränderungen, vorzugsweise des Nervensystems, in Ernährungsstörungen,
in schneller oder langsamer sich entwickelnder Vergiftung.
3) Chronische Lungenentzündung wird sehr häufig beobachtet.
4) Von 1883—1887 betrug die Mortalitätsziffer der Bergwerksbevölkerung
von Almaden 16 Procent.
Als Vorbeugemassregeln schlägt Verfasser vor:
a. Verbesserung der Spitaleinrichtungen.
b. Verbot der Errichtung von Wohnungen in der Umgebung der Berg¬
werke. Arbeiter, die das sechszehnte Lebensjahr noch nicht zurück¬
haben, sollen zur Beschäftigung in den Bergwerken nicht zugelassen
werden.
c. Kein Arbeiter soll länger als eine Stunde bei der Herausforderung
des Quecksilbers täglich beschäftigt sein.
d. Ueberwachung der Arbeiter durch einen Arzt und sofortige Ent¬
fernung aus dem Bergwerk und ärztliche Behandlung desselben so¬
bald sich die ersten Zeichen der Quecksilber-Vergiftung offenbaren.
e. Verbot des Trinkens von Grubenwasser und Branntwein.
f. Einrichtung von Hülfs- und Pensionskassen.
Creutz (Eupen).
Schiller, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkungen des Wasser¬
gases auf den thierischen Organismus, Zeitschrift für Hygiene, 4. Band,
Seite 441.
In einer bei Zürich gelegenen Hutfabrik erkrankten die Hutformer
häufig mit Kopfweh, Schwindel, Uebelkeit, Erbrechen, Schwächegefühl und
Ohnmachtsanwandlungen. Da das Erhitzen der Hutformen durch Dowson-
gasflammen besorgt wurde, die bisweilen erloschen und Gas ausströmen
Hessen, vermuthete man in diesen die Ursache der Erkrankungen und be¬
auftragte das hygienische Institut zu Zürich mit einer diesbezüglichen
Untersuchung.
Das in Dowson-Generatoren durch Einleitung von überhitztem Wasser¬
dampf in Vergasungsschächte hergestellte und aus Wasserstoff, Kohlenoxyd
und Luftstickstoflf zusammengesetzte Dowsongas, Halbwassergas, unterscheidet
sich von dem eigentlichen Wassergas* dadurch, dass letzteres kaum Stick¬
stoff, wohl aber in Folge von Verunreinigungen kleine Mengen Kohlen¬
wasserstoffe und kleinste Mengen Schwefelwasserstoff enthält. Verfasser
benutzte zu Thierversuchen beide Gasarten und verwendete sie sowohl bei
constantem Volumen der Experimentalluft als auch mit beständiger Erneuerung
derselben.
Die Symptome der erkrankten Katzen, Kaninchen, Meerschweinchen,
Mäuse und Frösche waren diejenigen der Kohlenoxydintoxikation. Wasser¬
gas erwies sich giftiger als Dowsongas. Von ersterem bewirkte ein Gehalt
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 26
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378
der Versuchsluft von 1 */©• bereits bald geringe Beschleunigung der Athmung
und nach einigen Stunden Betäubung der Thiere, während die gleiche
Menge Dowsongas keinerlei Vergiftserscheinungen hervorrief. 3%« Dowson-
gas machten etwas schwerere Störungen als 1 */•© und Hessen bereits Kohlen¬
oxyd im Blute nachweisen, Wassergas (3°/©®) verursachte dagegen Betäu¬
bung und Krämpfe. Die höchste lethale Dosis betrug bei Kaninchen für
Dowsongas etwa 1.5°/©, bei Wassergas l°/o. Bei den schwerer erkrankten
Thieren trat Zuckerhamen und Eiweissharnen ein.
Auch die Sectionen ergaben die der Kohlenoxydvergiftung eigentüm¬
lichen Veränderungen, überdies das Mengenverhältniss der weissen zu den
rothen Blutkörperchen um so mehr zu Gunsten der ersteren verändert, je
länger das Thier in der Versuchsatmosphäre sich aufgehalten hatte, endlich
Texturerkrankungen der rothen Blutkörperchen.
Der Leichenbefund entsprach übrigens genau dem Gehalte der Gase
an Kohlenoxyd, welcher auf Kosten der Kohlensäure schwankte.
Es enthielten:
Dowsongas.
Wassergas
i.
11.
GO.
5,4%
6,1%
bis 0,5°/©
GO
23,5%
22,6%
39-42°/©
0
0,6%
0,5%
_ _
H
10,5%
16,5%
46-49 7©
CH.
0,8 %
1,6%
H.S
0%
? %
N
49,%
52,3%
5-9°/©
Als Geruchszusatz zu den farblosen, geschmacklosen und geruchlosen
Gasen hat sich Asa foetida bewährt.
Bei Uebertragung der Gruber’sehen Werthe für Kohlenoxyd ergibt
sich die noch zulässige Dosis für Wassergas bei 0,5°/©o, für Dowsongas
bei 8,8°/oo. Flatten.
Dr. Paul Schubert (Augenarzt in Nürnberg). Ueber Heftlage und Schrift¬
richtung. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 1889. Heft 2. S. 61 ff. Mit
einer Figurentafel und zwei Schrifttafeln.
Je nachdem beim Schreiben das Heft genau vor der Mitte des Körpers
oder rechts von derselben liegt (Linkslagen kommen beim Schreiben mit der
rechten Hand nicht vor) unterscheiden wir eine Mittel- und eine Rechtslage
des Heftes; ferner je nachdem die Ränder des Heftes mit der Schulterlinie
des Schreibenden gleich gerichtet sind oder nicht, grade und schräge Heft¬
lage. Es gibt also eine grade und schräge Mittellage, sowie eine grade und
schräge Rechtslage des Heftes beim Schreiben. Nur in der ersteren, der
graden Mittellage ist aufrecht stehende Schrift, Steilschrift, herstellbar, bei
den anderen Heftlagen nur die heute allgemein übliche Rechtsschrift.
Untersucht man die verschiedenen Heftlagen in Bezug auf ihre An¬
wendbarkeit in der Schule, so sind zunächst alle Rechtslagen schäd-
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— 379 —
lieh und zu verwerfen. Sie zwingen den Kopf dazu, sieh gleichfalls
nach rechts zu drehen; die Schultern folgen mehr oder weniger; der rechte
Arm gleitet am Pultrande nach rechts und bis zu einem gewissen Grade
abwärts, der linke wird hinaufgeschoben; die linke Schulter hebt, die rechte
senkt sich und die Wirbelsäule erfahrt eine Krümmung nach links u. s. w.
Daraus entstehen: dauernde Verkrümmungen der Wirbelsäule und
Schädigungen der Sehkraft. Verfasser weist des Näheren nach, dass die
Rechtslage des Schreibheftes zu stärkerer Kurzsichtigkeit, namentlich des
rechten Auges führt. Daraus erkläre sich auch,' dass in denjenigen Fällen
von Kurzsichtigkeit, wo die Brechkraft beider Augen eine ungleiche ist
(24°/o aller Fälle), meist das rechte Auge (in 61,6%) stärker kurzsichtig
ist als das linke.
Kann somit über die Schädlichkeit der Rechtslage kein Zweifel sein,
so versucht Verfasser des weiteren den Nachweis zu führen, dass auch die
schräge Mittellage schädlich sei. Denn bei derselben wird unwillkürlich
der Kopf nach links geneigt, und erfährt die Wirbelsäule entsprechende
Biegung und Drehung. Verfasser verwirft daher auch die schräge Mittellage,
und fordert Einführung der geraden Mittellage und der dieser
Lage entsprechenden Steilschrift. Diese Schreibart birgt nicht in sich
selbst die Keime zu Schiefsitz, Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit, wie dies
bei der heute fast allgemein üblichen Schiefschrift der Fall ist. Es heisst
in der That die Frage nach der Beseitigung des Schiefsitzes beim Schreiben
an der Wurzel anfassen, wenn man die zum Schiefsitz immer wieder ver¬
anlassende Schreibweise, die liegende Schrift auf schräggelegtem Papier,
verlässt und die Steilschrift in grader Mittellage einführt.
Weshalb die Einführung der Steilschrift nicht möglich sein, und gegen
die Bewegungsgesetze der menschlichen Hand verstossen sollte, ist in der That
nicht abzusehen. Sehr zur Zeit verweist der Verfasser hier auf die That-
sache, dass vom 8.—18. Jahrhundert nur Steilschrift üblich war. Eine
Reihe von Schriftproben aus der Bibliothek des germanischen Museums in
Nürnberg, welche mit einer Probe aus dem 8. Jahrhundert beginnend, in
fortlaufender Reihe bis zur Neuzeit hin die allgemeine Anwendung der
Steilschrift veranschaulichen, sind in dankenswerter Weise dem Aufsatz
beigegeben, ebenso zwei bildliche Darstellungen von Schreibenden aus
dem späteren Mittelalter. Die heute übliche Schräglage bürgerte erst vom
17. Jahrhundert an sich allmählich ein. Der Grund hierzu war die grössere
Bequemlichkeit der liegenden Schrift zum Schnellschreiben. Diese Rücksicht
darf aber für die Schule nicht massgebend sein. Jedenfalls erscheinen die
Gründe, welche für die Einführung der Steilschrift in grader Mittellage des
Heftes sprechen, als die ungleich wichtigeren. Schmidt-Bonn.
Dr. Paul Schubert (Augenarzt, Nürnberg): Ueber Heftlage und Schriftrich¬
tung. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. 1889. Nr. 2.
Der bereits durch mehrere Veröffentlichungen in obiger Frage bekannte
Autor bricht auch in dieser gemeinverständlichen Abhandlung eine Lanze
für die Steilschrift.
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Bekanntlich ist die allgemein übliche „Kurrentschrift“ eine Schief¬
schrift. Ihr Wesen liegt darin begründet, dass wir, um schnell und
möglichst mühelos schreiben zu können, die Zeile in die Richtung des
Federzuges bringen, d. h. das Heft oder Papier bei Mittenlage mit der
obern Kante nach links drehen, auf die schräge Zeile aber gemäss dem
Mechanismus unserer schreibenden Hand senkrechte Buchstaben — d. h.
senkrecht zum vordem Pultrande bei unverdrehter Rumpfhaltung — stellen.
Mit entsprechenden Modificationen kann die Schiefschrift in ungezwungener
Weise auch in Rechtslage des Heftes entstehen; Linkslagen kommen
bei rechtshändiger Federführung kaum vor.
Rechtslagen des Heftes bedingen Verdrehungen des Kopfes und
Rumpfes, was zu Kurzsichtigkeit und Rückgratverkrümmungen Anlass geben
kann. Ueber die Unzulässigkeit der Rechtslagen sind, wie Schubert fest¬
stellt, alle Beurtheiler einig.
Streitig ist nur immer noch die Frage, ob die für die Kurrentschrift
geeignete schräge Mitten läge unbedenklich ist, oder ob eine gerade
Mittenlage, bei der natürlich Kurrentschrift widersinnig ist und nur Steil¬
schrift gefordert werden kann, allein Empfehlung verdient. Während
Berlin-Rembold und Andere fanden, dass eine Schiefhaltung des
Kopfes durch die schräge Mittenlage des Heftes nicht bedingt werde, wollen
Mayer und Schubert gefunden haben, dass dabei regelmässig eine Links¬
neigung des Kopfes stattfindet. Wenn nun auch, wie Schubert zugibt,
eine mässige Schieflage des Heftes (30—40°) wenig bedenklich ist, so sieht
er doch eine Gefahr der Schieflage überhaupt darin, dass sie von den Kin¬
dern so leicht übertrieben werden kann, wobei Schädigungen um so viel
näher liegen.
Dagegen erkennt Sch. den besonderen Vortheil der Steilschrift darin,
dass sie in keiner andern Heftlage als in der geraden Mittenlage geschrieben
werden kann (? Ref.), während die Schiefschrift auch in anderen, als ge¬
fährlich allgemein und ausnahmslos anerkannten Heftlagen entstehen kann.
Durch Abdruck verschiedener Schriftproben aus früheren Jahrhunderten
sucht dann Sch. zu beweisen, dass bis zum Ende des 16. Jahrhunderts alle
Grundstriche in den Schriftstücken steil stehen, dass im 17. Jahrhundert
eine leichte Rechtsneigung beginnt, und erst gegen Ende des 17. und
im Laufe des 18. Jahrhunderts die Schrift sich immer mehr nach rechts
neigt. Im allgemeinen wird dies gewiss richtig sein, weil die Schief¬
schrift, wie Sch. nicht bestreitet, dem Bedürfnisse schnell zu schreiben, ent¬
spricht, und weil erst allmälig im Laufe der Jahrhunderte das Schreiben
Gemeingut Aller, Vielschreiben und Sclinellschreiben allgemeineres Bedurf-
niss wurden. Dagegen steht es fest, dass beim Schnellschreiben auch schon
in alter Zeit unwillkürlich Schiefschrift entstand. So erwähnte ich in dieser
Zeitschrift (1884, Heft 2, „Die Kurrentschrift“), dass nach Faulmann
(lllustrirte Geschichte der Schrift, Seite 548) die Römer die Schiefschrift
bereits zu flüchtigen Notizen benutzten.
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Obwohl nun Sch. zugibt, dass die seit zwei Jahrhunderten allmälig
wachsende Rechtsneigung der Grundstriche ihren Grund habe, da sie im
Dienste der Schnellschrift stehe, hält er es doch für ungerechtfertigt, dem
Kinde, welches zunächst nicht schnell zu schreiben nöthig hat, Auge und
Rückgrat zu gefährden durch Heftlagen, welche ausschliesslich für Schnell¬
schrift Vortheil gewäliren. Er meint, dass ja auch noch Niemand auf den
Gedanken gekommen wäre, die aus guten Gründen tief auf den Hals des
Pferdes gebeugte Haltung des Jockey’s beim Reitunterrichte einzuführen.
Ich meinerseits glaube, dass es auch schon beim Kinde die Natur mit
der Heugabel austreiben hiesse, wenn man ihm die Kurrentschrift verbieten
wollte; denn diese wird ihm nicht etwa künstlich anerzogen, sondern ent¬
spricht einem tief begründeten Bedürfnisse. Nur bei Rechtslagen des Heftes
muss man verdreht sitzen: bei 30° geneigter Kurrentschrift, die allen Be¬
dürfnissen entspricht, hergestellt in entsprechend schräger Mittenlage,
braucht man dies meinen Beobachtungen gemäss durchaus nicht. Aber
auch die Steilschrift kann recht wohl in anderen Heftlagen als der geraden
Mittenlage entstehen und zu Kopf- und Rumpfverdrehungen Anlass geben.
Ueberwachung haben Kinder, wenn sie vor schädlichen Körperhaltungen
namentlich beim Schreiben bewahrt werden sollen, immer nöthig; unter
dieser Voraussetzung aber scheint mir die Steilschrift und die gerade
Mittenlage des Heftes gar keine Vortheile zu bieten.
Staffel (Wiesbaden).
J. Daiber, Professor am Kgl. Katharinenstift in Stuttgart, Die Schreib- und
Körperhaltungefrage. Ihr jetziger Stand — ihre künftige Lösung. Stuttgart,
Schick har dt & Ebner, 1889. 151 Seiten. Preis M. 2,40.
„Seit Jahrzehnten steht die Schreib- und Körperhaltungsfrage auf der
Tagesordnung, ln ärztlichen Versammlungen, wie in Lehrer-Konferenzen,
in den Sitzungen der Gemeinde- und Staatsbehörden wie in den Berathungen
der Städtekammern ist dieser Frage wiederholt gedacht worden; ebenso ist
dieselbe in Tagesblättern, Zeitschriften und Flugblättern, in einer Reihe
medizinischer Werke mehr oder weniger eingehend zur Behandlung ge¬
kommen. Alle diese Kundgebungen aberhaben nicht vermocht,
diese vielgestaltige, weitschichtige Frage in genügender
Weise klarzustellen, und bis zum heutigen Tage sind die Ansichten
in derselben noch so weit auseinander liegend, dass kaum abzusehen ist,
wie der Kampf der Meinungen zum glücklichen Ende, die Frage selbst aber
zu befriedigender Lösung gelangen soll. — Trotz der vielfach gewährten
„Normalsubsellien“ ist die Schreibstellung der Schüler im ganzen doch die¬
selbe geblieben; ja es ist selbst wahrzunehmen, dass da, wo
noch ältestes Sitzgeräth vorhanden, die Haltung beim Sch rei¬
ben oft weniger schlimm und verkehrt sich zeigt, als in
Schulen mit neuester Einrichtung.
„Diese Enttäuschung konnte zunächst nicht anders denn nur nieder¬
schlagend wirken, und so begreift es sich auch, dass Lehrer und Schul-
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Vorsteher dieser Frage heute mehr als je zweifelnd und
muthlos gegenüber stehen.“
Dieses einleitende Bekenntniss eines erfahrenen Schulmannes ist zu
wichtig, um nicht vorab von demselben Kenntniss zu nehmen. Verfasser
sieht aber diesen noch so wenig befriedigenden Stand der Dinge für einen
dringenden Grund an, diese wichtige Frage neuerdings eingegend zu bear¬
beiten.
Die Arbeit zerfallt in drei Theile.
I. Lage und Richtung des Schreibheftes; Richtung der Schrift.
Dieses Kapitel besteht wesentlich in einer Kritik des bekannten B erlin-
Re mb old’ sehen .Berichtes“ (Untersuchungen über den Einfluss des
Schreibens auf Auge und Körperhaltung des Schulkindes. Bericht an die
zur Begutachtung dieses Gegenstandes niedergesetzte Kommission), in
welchem unter anderm ausgesprochen war, .dass die rechtsschiefe Schrift,
also die heutzutage übliche, bei schräger Medianlage des Heftes und leicht
geneigter Tischplatte die den anatomischen Verhältnissen der Hand und
des Armes wie den Bewegungsgesetzen der Augen am meisten entsprechende
und daher die physiologische Schrift ist. “
Daiber bestreitet — wie manche Andere — die Richtigkeit der von
Berlin-Rembold aufgestellten Sätze und hält die schräge Heftlage für die
Wurzel manchen Unheils; er glaubt, dass die schiefe Schrift und schiefe
Heftlage zu schiefer Schreibhaltung führe, und dass der Steilschrift bei
gerader Medianlage des Heftes als .der der Organisation des menschlichen
Körpers am meisten entsprechenden“ die Zukunft gehöre.
Allzu wenig berücksichtigt Verfasser hier den doch ganz unleugbaren
instinktiven Zwang zur Schieflegung des Papiers bei der grossen Mehrzahl
aller Schreibenden. Verfasser gehört jedenfalls zu denjenigen Leuten, welche
gewohnheitsmässig steil schreiben und also auch das Papier gerade vor
sich hin legen. Gewohnheit thut viel, oft alles, aber durch diese Aus¬
nahmen wird die Regel nicht beseitigt. Nur ausnahmsweise wird
Jemand dem Verfasser darin beipflichten, .dass hehufs Herstellung der
Schriftformen sich am wenigsten Anstrengung für den thätigen Arm ergebe,
wenn dieser nur leicht und lose mit dem Tisch in Berührung kommt und
in der Art eines im Schultergelenk aufgehängten beweglichen Winkelhebels
wirke.“ Die grosse Mehrzahl der Schreibenden wird diese Armführung für
viel leichter ermüdend halten als das Schreiben bei etwas fester auf den
Tisch aufgelegtem Unterarm, wobei dieser und die Hand um den in der
Nähe des Ellbogens gelegenen Stützpunkt ein Stück eines Kreisbogens be¬
schreiben, dessen Sehne eben die Zeile ist.
Wenn Verfasser ferner sagt, die allgemein gerühmte Schiefstellung der
Schrift sei .sicher nur durch die verkehrte Heftlage in Gebrauch gekommen“,
so sollte man fast glauben, er halte die schiefe Schrift nur für eine Schrulle,
der zu Liebe erst die schräge Heftlage erfunden worden sei. Nein! Nicht
die schiefe Schrift ist das Primäre; das Primäre ist die schräge Zeile, das
Secundäre die schräge Schrift. Aus einem unvollkommenen Erfassen
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des Wesens der Kurrentschrift muss ich mir auch die schiefe Beurtheilung
erklären, welche Verfasser dem Schwabacher Federhalter oder der Soen'
necken’schen „Normalfeder* (?) angedeihen lässt. (Letztere ist eine Feder
mit einem Knie, durch welches die Axe der Federspitze gegen die Axe
des Schaftes resp. Federhalters um etwa 25° nach rechts abweicht.) Es
muss nicht nur, wie Verfasser meint, „sehr bezweifelt werden, ob in dem
Schwabacher Federhalter oder auch in der Soennecken’sehen „Normalfeder“
wirklich ein praktisches Mittel gegeben sei, bei gerader Mittellage des
Heftes dennoch die Schrift in normalschiefer Richtung dar¬
zustellen“, sondern dieses Ziel ist ein in sich so widersinniges, dass jede
angestrebte Erreichung desselben auch nur widersinnig sein kann. Die
„Normalfeder“ hat weiter gar keinen Zweck, als dass sich ihre Spitze
nicht schräg ab sch reibt, weil das Knie den Winkel zwischen Arm¬
oder Federhalteraxe und Buchstabenaxe ausgleicht.
Ich glaube kaum, dass Verfasser durch seine Schrift neue Anhänger
der Steilschrift gewinnen wird. Leider bleibt daher auch hiernach die
Frage noch umstritten, wie es Verfasser in seiner Einleitung beklagt hat.
II. Art und Charakter der Schrift.
Wie der I. Theil im wesentlichen gegen Berlin-Rembold, so ist der
II. Theil vorwiegend gegen Soennecken, den Verfasser des „Schrift-
wesens“ und Vorkämpfer der Antiqua-Schrift, gerichtet. Mit Umsicht und
Geschick tritt Daiber für die Beibehaltung der Frakturschrift ein, von der
er nach weist, dass sie nicht erst, wie Soennecken behauptet hat, durch die
Einwirkung des im 12. Jahrhundert aufblühenden gothischen Baustils auf¬
gekommen ist. dass sie vielmehr weit älteren Ursprungs ist, und schon in
der karolingischen Zeit in Gebrauch war. Diese Frage hat übrigens kein
hervorragenderes hygienisches Interesse und steht auch zur Körperhaltung
kaum in irgend einer Beziehung, weshalb hier nicht näher auf dieselbe ein-
gegangen werden soll.
III. Zur L ösung der Schreib- und Körperhaltungsfrage
ist nöthig:
A. Regelung der Schultischfrage.
Ausser den bekannten, nicht umstrittenen Forderungen bezüglich der
Dimensionen der Schultische für die verschiedenen Körpergrössen der
Schüler verlangt Verfasser unbedingt die „Engstellung des Tisches“, also
eine starke negative Distanz und bezüglich der Banklehne sagt er: „Die Rück¬
lehne muss Kreuz und Schultern in gleicher Weise stützen und
in der Art geformt und gestellt sein, dass sie auch beim
Schreiben Verwendung finden kann.“ Verlangt damit also Ver¬
fasser die „Reclinationsstellung“, so muss es auffallen, dass er nicht auch
die doch von den übrigen Anhängern der Reclinationsstellung betonte Noth-
wendigkeit in Betracht zieht, dem hintenüber gelehnt Sitzenden die Tisch¬
platte entsprechend entgegenzubringen. Hält es Verfasser wirklich für
möglich, dass die Schüler die beim Schreiben durchschnittlich erforderliche
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Sehweite von 35—40 cm um 10—20 cm hinausschieben können, ohne
sich an eine grössere Schrift zu gewöhnen?
Erfreulich ist es, dass Verfasser von der Nothwendigkeit „der Schul¬
tisch muss beweglich hergestellt werden*, so sehr überzeugt ist, dass er
alle Schwierigkeiten, welche sich in ökonomischer und diseiplinarischer
Hinsicht dadurch ergeben, für gering anschlägt. Möchten nur alle Päda¬
gogen seine Ansicht theilen und sich die Mühe nicht verdriessen lassen,
zur Beseitigung eines grossen Uebelstandes — der schlechten Schreib¬
haltung — einige kleinere Uebelstände in den Kauf zu nehmen, — es
würde bald besser werden mit jenem Krebsschaden unserer Schuljugend,
auch ohne „Reclinations-Schreibstellung.“
B. Regelung der Schreibarbeit.
Verfasser giebt hier sehr beherzigenswerthe Winke für den Schreib*
unterricht, Lehrplan der Schule, Prüfungs- und Zeugnisswesen, alles im
Hinblick auf die Fernhaltung jeder Ueberbürdung mit Schreibarbeit.
G. Regelung der Lehrerbildungsfrage.
Ein Kapitel voll treffender Worte, von denen einige hier Platz finden
mögen. „Wie sehr man . . . von dem zu erreichenden Ziele noch entfernt
ist, zeigt sich in der Stellung, welche bis heute ein grosser Theil der
Lehrer dem leiblichen Wohle ihrer Schüler gegenüber einzunehmen pflegt.
Da ist z. B. beim Aufbau eines neuen Schulhauses dafür Sorge getragen
worden, dass in sämmtlichen Schulräumen die so wichtige Erneuerung der
Luft bequem und ohne jedwelche Belästigung für Lehrer oder Schüler zu
bewerkstelligen ist, dass ferner der Zutritt des Aussenlichts den Bedürf¬
nissen der Schule möglichst angepasst und ebenso im Winter die Zimmer¬
temperatur aufs genaueste geregelt werden kann. Was nützen aber solche
gewiss zweckdienliche Einrichtungen, so lange es dem Lehrer zu viel ist,
zu rechter Zeit Hand oder Fuss zu rühren, um der Schule einen an sich
gar geringen, in seinen Wirkungen jedoch höchst bedeutungsvollen Dienst
zu leisten! Oder da finden sich in einer Schulklasse Tische, bei welchen
die Sitzbank höher oder tiefer gestellt, und so auch die Sitzhöhe der
Schüler nach Bedarf geregelt werden kann. Doch binnen zwanzig Jahren (!)
ist es keinem der Lehrer, welche an diesen Tischen den Schreibunterricht
ertheilt haben, in den Sinn gekommen, eine der vorhandenen Bankschrauben
auf ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen, und noch stehen diese Tische alle
unverrückt so da, wie sie der Fabrikant einst eingestellt hat. Oder da
sind sämmtliche Klassen einer reichgegliederten Schulanstalt mit Tischen
bester Qualität ausgestattet worden, und um dem Körpermaass der Schüler
thunlichst gerecht zu werden, sind jeder einzelnen Klasse 3 verschiedene
Tischgrössen gewährt. Doch was hilft solche Fürsorge, so lange es dem
Lehrer noch beliebt, seine Schüler nicht anders denn nach der Lokation
gesetzt vor sich zu sehen, oder so lange er es unbedenklich findet, dass
jüngere und ältere Schüler ihre Klassenzimmer vertauschen, während die
Tische ruhig an ihrem Platze stehen bleiben! — — — Forscht man aber
nach den Ursachen solch manchfachen Versäumens, so findet man, dass in
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manchen Fällen Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit den Lehrer seine
Pflicht vergessen lassen, dass aber noch weit mehr einseitige, ver¬
kehrte Auffassung, Mangel klaren Verständnisses Grund sind
der befremdenden Stellung, welche die Lehrerwelt den For¬
derungen der Schulgesundheitspflege gegenüber einzunehmen
pflegt.“
Zur Abhülfe verlangt Verfasser, dass die Schulgesundheitspflege Lehr¬
gegenstand an den Lehrerbildungsanstalten werde. Wer soll aber diesen
Unterricht ertheilen ? Dem Seminarlehrer fehlt die wissenschaftliche Grund¬
lage, auf der dieser Unterricht aufzubauen ist; dem Arzte fehlt es an prak¬
tischer Erfahrung bezüglich der Verwirklichung der schulhygieinischen For¬
derungen. Daher „muss auf der Hochschule ein Lehrstuhl errichtet werden
für Schulgesundheitspflege, so dass nicht nur diejenigen Studirenden, die
später als Schulärzte Verwendung finden wollen, sondern auch solche,
welche später als Schulaufseher, Schulvorstände, Seminarlehrer und dergl.
wirken sollen, die in diesem Fache nöthige Unterweisung empfangen können.
Doch wird auch hier dem theoretischen Unterricht die praktische Ausführung
sich zugesellen müssen, und zwar in der Art, dass mit dem Gesundheits¬
institut eine Schulanstalt verbunden wird, in welcher die vorgetragene
Wissenschaft zur Anwendung gebracht und auf ihre Zweckmässigkeit geprüft
werden kann.“
Von der Einführung der Gesundheitspflege als Lehrgegenstand in die
Schulen erwartet Verfasser nicht viel; doch hält er es für die Pflicht der
Schule, dass sie ihre Stimme erhebe, um die heran wachsende Jugend für
eine vernünftige Körperpflege zu gewinnen, zu welchem Zwecke die Auf¬
nahme der Grundlehren der Gesundheitspflege in passender Form und Ord¬
nung ins Lesebuch, und die Ausarbeitung eines gediegenen Leitfadens für
die Hand des Lehrers erwünscht ist.
Im Schlusswort kommt Verfasser noch einmal auf die Wichtigkeit einer
richtigen Schreibhaltung zurück, welche Frage nicht von der Tagesordnung
verschwinden dürfe, sondern in irgend einer Weise zum Austrag kommen
müsse. „Wie es damit aber auch werden mag, so wird man sich doch in
keiner Weise der Hoffnung hingeben dürfen, dass irgendwie Einrichtungen
getroffen werden könnten, welche die von den Schülern zu fordernde Schreib¬
haltung von selbst herbeiführten. Denn wird auch der Schultisch in der
Art eingerichtet und sucht man ebenso die Schreibarbeit in der Weise zu
regeln, wie dies der Organisation des jugendlichen Körpers sowie dem Maass
seiner Kräfte entspricht, so ist die normale Schreibstellung wohl in dem
Grade möglich, dass der Lehrer das Recht hat, dieselbe zu fordern;
jedoch bleibt die Gefahr schlechten Schreibsitzens bestehen, und schliesslich
wird es jede ernstliche Probe zu Tage bringen, dass es sich mit der Schreib¬
haltung unserer Schüler nicht anders verhält als mit der sittlichen Haltung
derselben; es bedarf der stetig fortgesetzten Einwirkung von seiten des
Lehrers, wenn dieselbe erreicht werden soll. Wird darum die normale
Schreibhaltung von irgend einer Schulklasse erreicht und dauernd beibe-
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halten, so ist dies eine sittliche That, die Lehrer und Schüler in gleicher
Weise ehrt, da sie von beiden Seiten ebenso volle Hingabe als Selbstbe¬
herrschung in sich schliesst“.
Treffliche Worte fürwahr!
Auch derjenige, welcher mit dem Verfasser nicht in allen Punkten
übereinstimmt, wird sein von tiefstem Interesse für den behandelten Gegen¬
stand, reichlicher Sachkenntnis und grosser Erfahrung zeugendes Buch
nicht ohne grosse Befriedigung aus der Hand legen. Fänden sich unter den
Pädagogen nur recht viele solcher Männer; es wäre eine Lust, für die Schul¬
gesundheitspflege zu wirken, wie es jetzt noch vielfach — keine Lust ist,
und die Grösse und Wichtigkeit des Zieles würde ernsten Männern schon
die Möglichkeit schaffen, sich über streitige Punkte bald zu einigen.
' Staffel (Wiesbaden).
Rector Julius Schmarje, Hauptlehrer in Hamburg, Steilschrift oder Schräg¬
schrift, ein schulhygienischer Beitrag.
Dr. Paul Schubert, Augenarzt in Nürnberg, Zur Vertheidigung der Steil¬
schrift.
Zeitschrift für Schulgesundheitspflege, 1889. Nro. 8.
In vorstehenden beiden Abhandlungen wird die Discussion in der Streit¬
frage: Steilschrift oder Schrägschrift? weiter geführt.
Rector Schmarje, dessen Ausführungen wesentlich Neues nicht ent¬
halten, fasst die Ergebnisse seiner Untersuchungen und Erfahrungen in
folgenden Sätzen zusammen:
1. Die Schnellschrift ist ein unabweisbares Bedürfniss, weil sie von
der materiellen wie geistigen Kultur unserer Zeit gefordert wird.
2. Eine senkrechte Schrift eignet sich zur Schnellschrift nicht,
a) weil es unmöglich (? Ref.) ist, dabei die gerade Zeilen¬
richtung inne zu halten.
b) weil sie die Thätigkeit des Auges zu sehr in Anspruch
nimmt. (? Ref.)
3. Die Schrägschrift entspricht völlig den Anforderungen, welche das
Schreibbedürfniss stellt, denn
a) sie ermöglicht es der Hand, mit Leichtigkeit und Präcision
die Schreibbewegungen auszuführen.
b) sie beansprucht als Mitwirkung des Auges nur eine kon*
trollirende Thätigkeit. (? Ref.)
c) sie ermöglicht bei schräger Mittellage des Heftes gerades
Sitzen und ist dann ohne Gefahr für die Gesundheit des
Schreibenden.
4. Die Schule hat die Aufgabe, ihre Zöglinge mit einer zur Fertig¬
keit gewordenen, deutlichen und wohlgefälligen Kurrentschrift fär
das Leben auszurüsten. Aus diesem Grunde muss auch sie die
Schrägschrift wählen.
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5. Die Schule hat in Erfüllung dieser Aufgabe ihre Maassnahmen so
zu treffen, dass die Aneignung der schrägen Kurrentschrift die
Körperhaltung und die Augen des Schulkindes nicht schädigt.
Verfasser hat den Fehler begangen, dass er in seiner Abhandlung zu
viel hat beweisen wollen; es ist daher nicht ausgeblieben, dass er sich
namentlich auf dem für den Nichtfachmann stets schwierigen okulistischen
Gebiete verschiedene Blössen gegeben hat.
Diese Blössen werden von Schubert geschickt benutzt, um unter
Aufdeckung derselben sich abermals für die Steilschrift in’s Zeug zu legen.
Ein Eingehen auf die streitigen Punkte zwischen den beiden Autoren scheint
mir hier nicht am Platze zu sein, weil dadurch neue Gesicjitspnnkte zur
Klärung der eigentlichen Streitfrage nicht gewonnen werden. Das eine ist
ja Schubert längst gelungen nachzuweisen, dass es nicht der von
Berlin-Rembold behauptete diktatorische Einfluss der Augenbewegungs¬
gesetze ist, welcher die meisten Menschen veranlasst, die Grundstriche an¬
nähernd senkrecht zur „Grundlinie“ (Verbindungslinie der Augenmittel¬
punkte) zu ziehen, dass es vielmehr im Bau der Hand begründet liegt,
wenn diese in der Regel die Grundstriche nach der Körpermitte des Schrei¬
benden hin richtet, welche Richtung ja für die meisten Fälle identisch ist mit
der „Senkrechten zur Grundlinie“. Viel mehr lernen wir aber auch aus den
neuesten Ausführungen Schubert’s nicht, und da die Schriftfrage keines¬
wegs mit jenem Berl in-Rembol d’schen „Gesetze“ steht und fallt, so
stehen sich auch ferner in dieser Frage noch zwei Parteien mit entgegen¬
stehenden Ansichten über die Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit der
Kurrentschrift hinsichtlich der Kopf- und Körperhaltung der Kinder gegen¬
über.
„Die Steilschriftfrage ist reif“ sagt Schubert, „aus dem Stadium der
Voruntersuchung herauszutreten und einer Prüfung im grossen Maassstabe
unterzogen zu werden. Diese ist in vollem Gange. Die bayerische Regie¬
rung hat angeordnet, dass in einer Anzahl von Volksschulen Versuche mit
Steilschrift gemacht werden, die im ersten Schuljahre beginnen und mindestens
drei Jahre fortgeführt werden sollen, ln Wien wird ähnliches vörbereitet“.
Beide Parteien werden den Endresultaten einer solchen „Prüfung im
grossen Maassstabe“ mit Spannung entgegensehen.
Staffel (Wiesbaden).
Dr. Hermann Seidel, Die habituelle Skoliose. Monatsblatt für öffentliche Ge¬
sundheitspflege (Braunschweig). 1889. Nr. 1, 4, 6 u. 7.
Der erste Theil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Wesen und der
Entstehung der seitlichen Rückgratverkrümmung oder Skoliose, insbesondere
derjenigen Skoliose, welche als durch schiefe Haltung verursacht ange¬
sehen und daher habituelle Skoliose genannt wird. Im Gegensätze zu
der immer noch in manchen Köpfen spukenden Anschauung, das Wesen
der Skoliose bestehe in gestörtem Muskelantagonismus, in einem Kraft¬
unterschiede der Muskeln beider Rumpfhälften, stellt sich Verfasser ganz
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388
auf den Boden der modernen Orthopädie, welche die habituelle Skoliose,
ebenso wie die meisten Verkrümmungen der Beine und Füsse, als eine
Belastungsdeformität auffasst, entstehend durch häufig wiederkehrende
ungleichmässige Belastung der Wirbelsäule iu den Jahren des Wachsthums
bei vorhandener Disposition: Schwäche des gesammten Knochen-, Gelenk -
und Muskelapparates, zu der im einzelnen Falle noch besondere Momente
hinzukommen können.
Als häufigste Gelegenheit zu dieser ungleichmässigen Belastung der
Wirbelsäule sieht Verf. in Uebereinstimmung mit anderen Autoren die
Schreibhaltung der Kinder an, deren verschieden-asymmetrische Arten
nach Volk mann und Schenk beschrieben und durch zwei in vielen
neueren orthopädischen Abhandlungen wiederkehrende, von Wildberger
herstaromende Abbildungen veranschaulicht werden.
Diesen Ausführungen im Grossen und Ganzen zustimmend, möchte
ich aber doch folgenden Passus nicht unbeanstandet lassen. Verf. sagt:
„Das, worauf Mütter und Erzieher immer den Hauptwerth legen, die so¬
genannte gerade Haltung, ist durchaus nicht geeignet, die seitliche Inflexion
hintenan zu halten. Statt dass das übermüdete Kind, dessen Rückenmuskeln
den Dienst versagen, die natürliche Erschlaffung der Muskeln durch Vor¬
wärtsbeugen (krummen Rücken). erreichen darf’, eine Haltung, die am
meisten geeignet ist, der sich entwickelnden Skoliose entgegenzuarbeiten,
wird es fortwährend ermahnt, sich gerade zu halten. Da es durch seit¬
liche Einknickung der Wirbelsäule am raschesten und bei noch relativ auf¬
aufrechter Haltung die Fixation des Oberkörpers erreicht, so knickt es die
Wirbelsäule seitlich ein, bis die natürlichen Hemmer eintreten, und sitzt
nun zwar für das Auge der Mutter leidlich gerade da, aber in einer ab¬
solut schädlichen Stellung/
Das ist meines Erachtens doch eine recht bedenkliche Lehre für Mütter
und Erzieher, dass man vom Geradesitzen leicht schief werde, und daher
lieber krumm sitzen möge. Was würden unsere Mütter und Grossmütter
dazu sagen, von denen man oft die selbstbewusste Aeusserung hörte: „wie
hätte siclf »zu unserer Zeit« jemals ein junges Mädchen anlehnen dürfen!
kerzengrade mussten wir sitzen; deshalb bekamen wir auch einen so
starken Rücken und wurden nicht schief.“ Wenn wir als vernünftige Leute
sowohl den Ausspruch unseres Autors wie denjenigen unserer Grossmütter
selbstredend cum grano salis nehmen, so scheint mir doch das Salzkorn
Wahrheit in der grossmütterlichen Lehre das grössere zu sein! Diese
nicht ganz vereinzelte Anschauung von dem „Schiefwerden durch Gerade¬
halten“ beruht meines Erachtens lediglich auf der Unbekanntschaft mit
einem völlig oder gar übertrieben „gerade“ aussehenden, zur Skoliose sehr
disponirenden Haltungstypus, dem „flachen Rücken“. Nicht weil manche
Kinder sich (scheinbar) so gerade halten, werden sie schief, sondern weil
sie flachrückig sind; normal gebaute Kinder werden vom „Geradehalten“
sicher nicht schief; nur den Flachrückigen ist das leichte seitliche Ein¬
knicken, die skoliotische Ruhestellung eigen, und gerade deshalb, weil ihnen
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389
wegen der Besonderheit ihres Baues die Krummhaltung im obem Theil
ihrer Wirbelsäule weniger gut möglich ist. (Ausführlicher habe ich
diese Fragen behandelt in einer im Druck befindlichen Schrift: Ueber
menschliche Haltungstypen und ihre Beziehungen zu den Rückgratverkrüm¬
mungen, Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann.) Den Rath, lieber krumm
zu sitzen als gerade, halte ich daher für abgeschmackt; wo das Gerade¬
halten erschwert und auf die Dauer nicht zu verlangen ist, wie im Sitzen,
da soll man eben gute Lehnen schaffen.
Im zweiten Theile seiner Abhandlung beschreibt Verf. des Näheren die
Methode, wie man skoliotische oder der Skoliose verdächtige Kinder unter¬
sucht: ~ für den Laien, für den doch wohl der ganze Aufsatz bestimmt
ist, meines Erachtens zu ausführlich, zu gelehrt und zu sehr mit medizi¬
nischen Fachausdrücken gespickt. Den Eltern und Erziehern diese Unter¬
suchungsmethoden eingehender auseinanderzusetzen halte ich für zwecklos.
Zweck hat nur die Hervorhebung derjenigen Merkzeichen, welche die Eltern
auf das mögliche oder thatsächliche Vorhandensein einer Skoliose aufmerk¬
sam machen können, und die Weisung, sich zur Erlangung von Gewiss¬
heit und etwaiger Abhülfe an einen sachverständigen Arzt zu wenden. Aus
demselben Grunde scheint mir die dann gegebene Beschreibung der ein¬
zelnen Formen der Skoliose mit Illustrationen (meistens aus Lorenz,
Pathologie und Therapie der seitlichen Rückgratverkrümmung) nicht recht
am Platze zu sein.
Der dritte Theil ist der Verhütung der Skoliose gewidmet. Mit Recht
stellt Verf. hier die Forderung, der Jugend, namentlich der weiblichen,
eine kräftigere Constitution zu geben, in den Vordergrund. „Ein Haupt¬
mittel zur Erreichung dieses Zieles ist das während des ganzen Schul¬
unterrichts methodisch geleitete Turnen. Täglich müsste mindestens eine
Stunde der Uebung des Körpers gewidmet werden. Die Ruhepausen
zwischen den einzelnen Stünden müssten mindestens 10—15 Minuten be¬
tragen. In dieser Zeit müssten die Kinder einen Rundgang oder einen
kleinen Dauerlauf auf dem Schulhofe machen. Dem Spielen in freier Luft,
besonders dem Ballspiel, dem Baden und Schwimmen, müsste ein grösserer
Prozentsatz Zeit geopfert werden.“
Sodann plaidirt Verf. für gute Schulbänke, wobei die Albers’sche
Schulbank und der Lorenz’sche Sitz mit „Reclinationsstellung“ (vergl. diese
Zeitschrift 1889, Heft 1, Referat über Lorenz, Die heutige Schulbankfrage)
als „besonders zweckmässig“ beschrieben und abgebildet werden.
Hinsichtlich der Behandlung der Skoliose hält Verf. mit Recht dafür,
dass „die sogenannte schwedische Heilgymnastik zum Zwecke der Heilung
der Skoliose keine Berechtigung mehr hat.“ Das hatte sie allerdings nie,
insofern sie nur darauf ausging, bestimmte, für „antagonistisch schwächer“
gehaltene Muskeln zu kräftigen; was aber nicht ausschliesst, dass auch die
schwedische Heilgymnastik in nicht geradezu bornirter Hand neben illu¬
sorischen auch ganz rationellen Zwecken gerecht wird und ihre guten Er¬
folge hat, wenn gleichzeitig nicht andere, ebenso wichtige oder noch wich-
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Google
— 390 -
tigere Maassregeln versäumt werden. Doch stimme ich dem Verfasser völlig
bei, da das Bessere des Guten Feind ist. „Die rationellste Behandlung ist
das von Lorenz eingeführte (? Ref.) methodische Redressement der rigi¬
den Wirbelsäule, verbunden mit in der Zwischenzeit getragenen abnehm¬
baren Verbänden.“ Als bester dieser abnehmbaren Verbände wird das in
Suspensionsstellung angelegte Gypsmieder bezeichnet. (Für denjenigen
Orthopäden, welcher sich, wie Referent und neuerdings manche seiner
Fachgenossen durch Errichtung einer eignen mechanischen Werkstätte zum
Herrn der mechanischen Hülfemittel gemacht hat, dürfte das Gypsmieder
doch mehr Nothbehelf sein; ich meinerseits halte unter Zugrundelegung
einer rationellen gymnastischen und Lagerungsbehandlung das Hessing-
Beely’sche Stützkorsett bei geeigneter, sachverständiger Ausführung dem
Gypsmieder in mehrfacher Hinsicht für entschieden überlegen.)
Staffel (Wiesbaden).
Dr. Ernst Müller, Ueber Rückgratsverkrümmung. Tübinger Gesundheits¬
bücher. Verlag der Lau pp'sehen Buchhandlung in Tübingen, 1889.
Auch diese, 85 Seiten umfassende Arbeit wendet sich an das Laien¬
publikum und beschäftigt sich so gut wie ausschliesslich mit der habituellen
Skoliose.
Nachdem Verfasser den Bau der normalen Wirbelsäule und die durch
die Skoliose hervorgerufenen Veränderungen der Gestalt ausführlich be¬
schrieben hat, erörtert er in Kapitel 3 die Ursachen der Rückgratverkrümmung.
Auch er fasst die habituelle Skoliose als Belastungsdeformität auf; einseitige
Belastung bei zu grosser Weichheit des Knochens und zu schwacher Rücken*
muskulatur bringt sie zu Stande. Desgleichen sieht Verfasser als haupt¬
sächlichste Veranlassung zur einseitigen Belastung die Schreibhaltung an.
Dass zur Hervorbringung der Schiefschrift (Kurrentschrift) das Heft schief
gelegt werden muss, wie Verfasser verlangt, ist selbstverständlich; wenn er
aber sagt: „wird also das Heft gerade gelegt, so muss der Kopf nach rechts
verdreht werden, entsprechend der Richtung der Grundstriche von rechts
oben nach links unten“, so hat dies doch nur Sinn für den kaum noch
für möglich zu haltenden Fall, dass ein Lehrer oder Erzieher bei gerader
Heftlage Schiefschrift verlangen würde; so viel Kenntniss des Schriftwesens
hat hoffentlich heutzutage jeder Schullehrer, um zu wissen, dass, wie die
Schiefschrift nur bei schiefer Heftlage, so bei gerader Heftlage nur senk¬
rechte Schrift Berechtigung hat.
ln Kapitel 5 (Verhütung und Behandlung der Rückgratverkrümmung)
warnt Verfasser davor, dass ein im Wachsthum begriffenes Kind dazu ver¬
anlasst wird, grössere Lasten (z. B. kleinere Geschwister) zu tragen, indem
er treffend darauf hinweist, dass jeder Landwirth und Pferdezüchter es für
einen schweren Fehler halten würde, seine jungen Fohlen zur Arbeit zu
verwenden, anstatt sie frei auf der Weide umherspringen zu lassen. Von
den Thierzüchtern können in der That die Menschenzüchter noch recht viel
lernen! Eingehender wird dann auch hier die Lehre vom schlechten und
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guten Sitzen vorgetragen, nicht ohne die in letzter Zeit unvermeidliche
Empfehlung der „Reclinationsstellung“ auch beim Schreiben. Auch dem
Turnen wird sein gebührender Platz unter den Maassregeln zur Verhütung
der Skoliose angewiesen.
Was die Behandlung betrifft, so empfiehlt Verfasser, der sich sonst in
seinem Werkchen nichts weniger als einen „ Muskeltheoretiker * erwiesen
hatte, in erster Linie die schwedische Heilgymnastik und Massage, durch
welche es ermöglicht werde „auf bestimmte Muskelgruppen kräftigend ein¬
zuwirken“. Eine Begründung der Noth wendigkeit, „auf bestimmte
Muskeln kräftigend einzuwirken“, ist aber aus den Ausführungen des Ver¬
fassers nirgends zu ersehen. Wenn Verfasser dann ferner sagt: „In diesen
(vom Arzte persönlich mit dem Kinde ausgeführten Widerstands-) Uebungen
muss eine grosse Abwechslung auch bei einem und demselben Kinde ein-
treten, um das Interesse des Kindes wach und die Gefahr der Langeweile
fern zu halten“, so wird dadurch diese Behandlung als nicht viel mehr denn
als eine „wohlgemeinte Spielerei“ charakterisirt.
Viel mehr ist ja die „moderne“ Massage der Rückenmuskeln
auch nicht. Abgesehen davon, dass die „Schwäche“ der Rückenmuskeln
bei Skoliose häufiger in der Einbildung mancher Therapeuten besteht als sie
thatsächlich nachzuweisen ist, und dass der Lehre von der „antagonistischen“
Schwäche „bestimmter Muskelgruppen“ jeder Boden fehlt, beweisen die
Herren, welche täglich den nackten Rücken der Skoliotischen streichend,
knetend und hackend zu bearbeiten rathen, doch recht wenig Vertrauen zu
ihren Widerstandsbewegungen, wenn sie diese noch nicht für ausreichend
halten, die Rückenmuskeln zu kräftigen. Doch wir leben ja in einer Zeit,
in welcher die körperlichen Uebel, welche dem Schicksal, massirt zu werden,
entgehen, anfangen zu den Ausnahmen zu gehören.
Verfasser verfehlt dann aber nicht, darauf hinzuweisen, dass „in der
neueren Zeit“ in der Behandlung der Skoliose „auch auf das Redressement,
auf das Zurechtdrücken des verkrümmten Brustkorbs“ und auf Fixation
durch ein möglichst genau angepasstes Gorset aus Gyps, Wasserglas oder
Stoff mit eingelegten Schienen“ Nachdruck gelegt wird. Ferner wird die
Betonung der Nothwendigkeit nicht vergessen, gleichzeitig den allgemeinen
Kräftezustand des Patienten durch gute Ernährung, reichlichen Aufenthalt
in frischer Luft, Bäder und Waschungen möglichst zu heben und auch auf
die Willensenergie des Kindes entsprechend einzuwirken.
Staffel (Wiesbaden.)
Wegweiser zum h&uslichen Glück für M&dchen. Kurze Belehrung über alle
Haus- und Handarbeit und Kochen, Gesundheits- und Krankenpflege, zugleich
ein praktischer Leitfaden für den Haushaltungsunterricht. Herausgegeben von
einer Commission des Verbandes „Arbeiterwohl*. M.-Gladbach u. Leipzig 1881,
A. Riffarth. 240 S. Preis cart. 75 Pf. In Partien billiger.
Vor 6 Jahren gab der Verband katholischer Industrieller und Arbeiter-
freunde „Arbeiterwohl“ ein Buch heraus: „Das häusliche Glück. Voll¬
ständiger Haushaltungsunterricht nebst Anleitung zum Kochen“. Dasselbe
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wurde seitdem schon in mehreren hunderttausend Stück, namentlich von
industriellen Verbänden sowie von Schul- und Verwaltungsbehörde^ ver¬
breitet, und in erster Linie an junge Frauen aus dem Arbeiter- und Hand¬
werkerstand vertheilt.
Das neue vorliegende Schriftchen hat in Ergänzung des früheren den
Zweck, schon bei den Mädchen der Arbeiterstände, namentlich bei den
jungen Fabrikarbeiterinnen, deren oft gänzliche Unerfahrenheit in allen
Haushaltungsdingen so manche spätere unglückliche Ehe verschuldet, die
grundlegenden Kenntnisse zur Führung eines geregelten Haushalts zu ver¬
breiten. Das Büchlein wird diesen seinen Zweck am ehesten da erreichen,
wo durch Haushaltungs-Unterricht für Arbeitermädchen, wie er in dankens¬
wertester Weise schon verschiedenenorts, so u. A. vom „Bergischen Verein
für Gemeinwohl“ eingerichtet ist, auch die praktische Anschauung und Hand¬
habung in all’ diesen Dingen geboten wird.
Der kurze einleitende erste Theil des Buches gibt Ausführungen über
„die nöthige Ausbildung des Herzens und Charakters“. Der zweite Haupt-
theil bespricht in treffenden Vorschriften die Besorgung der Hausarbeit, die
Besorgung der Kleider und Wäsche, und die Besorgung der täglichen
Nahrung. Alles dies ist trotz der knappen Form in erschöpfender Weise
und dazu in lichtvoller volkstümlicher Darstellung behandelt. Besonders
sei an dieser Stelle betont, dass den Forderungen einer vernunfigemässen
Gesundheitspflege in allem und kleinsten Rechnung getragen ist. Nament¬
lich ist die Anweisung zum Bereiten der täglichen Nahrung so recht für
die Bedürfnisse des Arbeiters zusammengestellt. Höchstens dass hier dem
„Panhas“ (am Niederrhein beliebtes Gericht aus Buchweizen, Wurstbrühe
und Speck bereitet) als Ersatzmittel des Fleisches eine etwas zu warm
gefärbte Empfehlung zu Theil geworden ist. Im dritten (Schluss-) Theil
sind noch kurze Belehrungen über die Regelung der Haushaltsangaben,
ferner über Gesundheitspflege, Krankenpflege und Verhalten bei plötzlichen
Unglücksfällen enthalten. Ich möchte hier nur anmerken, dass man zur
Aufbewahrung in der „Hausapotheke“ und zur Anwendung bei kleinen
Wunden doch keine Charpie mehr empfehlen sollte. Kleine Päckchen des-
inficirter Verbandwatte sind heute überall billig zu haben. Bei Verbrennungen
würde ich statt des vom Verfasser empfohlenen Bestreichens der Haut mit
Baumöl, Butter oder Schmalz und Darüberlegens „feiner, wiederholt in
kaltes Wasser getauchter Leinwand“ die Anwendung des gebräuchlichsten
Brandlinimentes: Leinöl mit gleichen Theilen Kalkwasser vorziehen. Dieses
Liniment hält sich bei Thymolzusatz (0,1 °/o) z. B. und bei gutem Verschluss
unbegrenzt lange, ist übrigens auch in den meisten Apotheken fertig vor-
räthig. Dem möglichst reichlichen Bestreichen der verbrannten Stelle mit
diesem Liniment würde dann noch das Einhüllen derselben mit einer Ver¬
bandwatte zu folgen haben.
Das Büchlein hat ein handliches Format, ist gut gebunden, lesbar ge¬
druckt, und dazu im Preise so billig, dass der so wiinschenswerthen weiten
Verbreitung desselben auch nach dieser Richtung hin aller möglicher Vor¬
schub geleistet ist. Schmi dt-Bonn.
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Ein Streifzug
durch das Gebiet moderner Städtereinigungsfragen.
Von
C. K. Aird.
(Warschau.)
(Fortsetzung und Schluss.)
Es ist wohl natürlich, dass nichts eher zur Erkenntniss der
hier fehlenden Wahrheit führen kann, als eine aufmerksame Ver¬
folgung aller Erscheinungen, welche unter verschiedenen Verhält¬
nissen das Fallen der Mortalitätsrate begleiten mögen. In Cardiff
bewirkte die Canalisation z. B. nach den Aufzeichnungen der Herren
Prof. Corfield und Dr. Parkes eine Verminderung der gesammten
Sterblichkeit um 24%, in Newport (Monmouthshire) eine solche
von 23 %, und zwar ist in beiden Städten in den Specialfächern
aller Todesarten die Zahl der Todesfälle reducirt, nur grade das
Scharlachfieber ausgenommen, denn die Scharlachmortalität stieg
in Cardiff um 90, in Newport um 18%. Die Kindersterblichkeit
erscheint in Cardiff um 22, in Newport um 21 % vermindert. In
Merthyr Tydfil fiel die gesammte Mortalität um 12%%, die Sterb¬
lichkeit von Kindern unter einem . Jahr ist um 54% vermindert,
wenn auch die Zahl der Todesfälle, welche Lungenkrankheiten bei
Kindern bewirkten, um 16% gesteigert ist. Das Scharlachfieber
zeigt aber auch in Merthyr Tydfil wieder eine Zunahme der Mor¬
talität um 60%. In allen diesen Städten ist die Canalisation durch
grosse neue Schwemmcanäle des Systems „tout ä 1’egout” bewirkt.
In Macclesfield wurde das Eimersystem zwar beibehalten, aber es
wurde durch Anlage neuer Thonrohrcanäle doch immerhin ein be¬
deutender Fortschritt gemacht. Die Gesammtmortalität wurde um
20% vermindert, die der Kinder unter einem Jahr um 23%,
Centr&bl&tt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 27
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— 394
trotzdem hier wieder die Sterblichkeit der Lungenkranken um 14%
gestiegen ist. Abweichend dagegen von den früher genannten Städten
ist in Macclesfleld die Scharlachmortalität um 45 % gefallen, ln
Croydon, wo die Gesammtraortalität um 20% gefallen ist, hat die
Kindersterblichkeit eine Zunahme von 10% erfahren. Es werden
zwar Sonderheiten in der neuzeitlichen Entwicklung der Stadt
hierfür verantwortlich gemacht, nichtsdestoweniger lautet aber das
Ende vom Liede, dass man noch nicht zu definitiven Schlüssen
über den Einfluss von Canalisationsanlagen auf die Kindersterb¬
lichkeit im Besonderen gelangen könne.
Es wäre wohl interessant zu wissen, innerhalb welcher Zeit¬
räume die oben notirten Mortalitätsreductionen sich ereignet haben,
aber hierüber bleiben uns die Verfasser meines Leitfadens leider
jede Auskunft schuldig. Die grösste Verminderung scheint fast
überall die Typhusmortalität (typhoid fever) erfahren zu haben.
Die gewaltige Abnahme der Sterblichkeit an Abdominaltyphus, die
in Danzig beobachtet wurde (an der natürlich auch die neue Trink¬
wasserversorgung ihren Antheil hat) ist zu bekannt, um noch ein¬
mal in Ziffern vorgeführt zu werden. Aber die doch wohl weniger
bekannten englischen Ergebnisse, welche Prof. Cor fiel d nach
amtlichen Berichten mittheilt, sind zu interessant, als dass ich sie
übergehen dürfte. In neun englischen Städten beobachtete man
seit Einführung der Canalisation eine Abnahme der Typhusmorta¬
lität um mehr als 50%, in Salisbury sogar eine solche von 75%,
und in 10 anderen Städten wurde die Zahl der Todesfälle um
33—50% vermindert. An Ausnahmen fehlt es selbstverständlich
auch nicht, ln Rugby betrug z. B. die Abnahme nur 10%, in
Carlisle sogar nur 2 %. In Ghelmsford und Penzance aber hat die
Typhusmortalität sogar noch um ein Geringes zugenommen, und
in Worthing erreicht diese Zunahme die Höhe von 23 %. Es fehlt
indessen nicht ganz an Erklärungen für diese auffallende Erschei¬
nung, indem nämlich in den genannten Orten entweder andere
locale Uebelstände vorherrschen, welche die günstige Wirkung der
Canalisationsanlagen aufheben, oder diese Entwässerungsanlagen
selbst besitzen so schwerwiegende constructive Fehler, dass eine
gleich vortheilhafte Wirkung derselben gar nicht erwartet werden
kann. In Chelmsford ist die Anlage derart, dass die Keller mit
Canalwasser theilweise überschwemmt werden, so oft die städtische
Pumpanlage zeitweilig ausser Betrieb gesetzt wird, ln Worthing
fehlt es vollständig an Vorkehrungen für die Ventilation der Strassen-
canäle, und die Canalgase werden unvermeidlich in das Innere der
Wohnungen hineingetrieben. In einem der amtlichen englischen
Berichte ’) heisst es darüber: „Dass hierin die Ursache für den
1) Ninth Report of the Medical Oflicer of the Privy Council.
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— 395 -
Fieberausbruch des Jahres 1865 zu erblicken war, dürfte als posi¬
tiv erwiesen zu betrachten sein, wenn wir hinzufügen, dass das
Fieber fast ausschliesslich die besseren Häuser heimsuchte, welche
höher gelegen sind und wo die Wassercloset-Anlagen im Inneren
der Häuser sich befinden, während das Fieber die tiefer gelegenen
Häuser, meist ärmerer Gattung, nahezu verschont hat. Im Zeit¬
alter der Abtrittsgruben war das nicht der Fall; damals wurden
gerade die tiefer gelegenen ärmeren Häuser viel schwerer heim¬
gesucht als die anderen, und endlich verschwand auch das Fieber
aus einzelnen Häusern, in denen es sich Monate lang gehalten hatte,
sobald die Canäle mit Oeffnungen (für Ventilation) versehen wor¬
den waren.“ — Derartige Beobachtungen sind, wie gesagt, auch
in neuerer Zeit in England so häufig gemacht worden, dass man
nicht umhin können wird, dem Gegenstand auch bei uns mit
grösster Aufmerksamkeit zu folgen.
Noch wesentlich interessanter erscheint wohl der Umstand,
dass auch eine andere, bisher in grossen Städten fast ständige
Krankheit, die Phthisis, sich vor der Macht unserer Sanirungswerke
beugen muss, und dass wir gerade hier einen ersten Fingerzeig zur
Fesstellung der Ursache dieser Erscheinung finden konnten. Dr.
Buchanan ist der Finder. Seine Untersuchungen haben nämlich
ergeben, dass in Städten, wo durch die Canalisation eine Senkung
des Grundwasserspiegels und also eine Trocknung des Bodens be¬
wirkt worden ist, auch eine entsprechende Abnahme im Auftreten
der Phthisis constatirt werden kann. In Salisbury, Ely, Rugby,
Banbury und anderen Städten ist die Zahl der Phthisistodesfälle
um 30—50 °/o vermindert worden. Aehnliche interessante Be¬
obachtungen konnten auch in Leicester gemacht werden, während
die Phthisis sich thatsächlich unveränderlich hielt, wo eine Regu¬
lirung oder Lenkung des Grundwasserspiegels nicht bewirkt worden
war. Es ist dies namentlich deutlich merkbar, wenn man die Mor¬
talitätsliste von Städten mit grossen Schwemmcanälen neben die
von anderen Städten legt, welche für Regenwasser nur eine Ober¬
flächenentwässerung, für das Hausabwasser eine ganz undurch¬
lässige Thonrohrleitung, für den Grundwasserspiegel aber gar nichts
haben. Städte der letzteren Klasse und namentlich Stafford, Mor-
peth, Ashby, Alnwick etc. haben fast ausnahmslos eine unverän¬
derte Sterblichkeitsrate an Phthisis zu verzeichnen. Fast aus¬
nahmslos, vielleicht aber sind Ausnahmen eben nur vorhanden, um #
die Regel als solche zu begründen.
Für Techniker der Canalisationsbranche müssen Verhältnisse
gerade dieser Art zur Quelle sorgfältiger Studien werden; denn die
Werke, welche sie zu schaffen haben, werden im Dienste der öffent¬
lichen Gesundheitspflege hergestellt, und wenn in diesem Felde
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396
Erfolge errungen werden sollen, so kommt viel darauf an, dass die
Winke beachtet werden, welche hygienische Statistik ihnen liefert.
Hier empfinden wir denn deutlich, welche grosse Bedeutung der
Gründung von Vereinen für öffentliche Gesundheitspflege beizu¬
messen ist, in denen Aerzte und Techniker sich in gemeinschaft¬
licher Arbeit für das Wohl von Hunderttausenden die Hände reichen.
Dass z. B. fast überall in deutschen Städten in neuerer Zeit das
Schwemmsystem zur Ausführung gekommen ist und in anderen
wieder kommen soll, das ist in erster Linie der lebhaften Thätig-
keit in jenen wissenschaftlichen Vereinen zu verdanken, durch deren
Vermittlung es zum allgemeinen Verständniss kommen konnte, dass
dieses System allerdings noch weit von der Vollkommenheit ent¬
fernt ist, dass es aber immerhin als das Vollkommenste von dem
betrachtet werden kann, was bis zum heutigen Tage auf dem
Canalisationsgebiet entwickelt wurde.
Die Verbesserungsbedürftigkeit dieses Schwemmsystems ist von
unparteiischen und ruhig denkenden Beurtheilern nie bezweifelt
worden. Es ist aber auch beachtenswerth, dass in erster Linie
gerade die Interessen der öffentlichen Gesundheitspflege noch weitere
Verbesserungen der Methode fordern; ja, es sind eigentlich allein
diese Interessen der Gesundheitspflege, die ja dem gegenwärtigen
Stande des Systems schon viel verdanken, nicht aber die Interessen
der Technik, die uns den schon so hoch entwickelten Stand des
Schwemmsystems geschaffen hat. Die Technik erscheint immer
als ein dienstbarer Geist. Hier fordert die Hygiene ganz unersätt¬
lich, und die Technik hat diesen Nimmersatt zufrieden zu stellen;
nun, darin liegt wieder für Techniker der Städtereinigungsbranche
eine kleine Mahnung, sich nicht auf die technische Schönheit und
Correctheit oder gar auf die Billigkeit ihrer Methode und ihrer
Bauten zu berufen, geschweige denn zu gestatten, dass es bei
solchen Erfolgen sein Bewenden habe. Es kommt allein darauf an,
eine Anlage zu schaffen, die in viel jahrelangem Betrieb der öffent¬
lichen Gesundheitspflege möglichst grosse Dienste leistet. Eben
darin unterscheidet sich ja dieser Zweig der Technik von der Mehr¬
zahl seiner Nebenfächer, dass er nichts für die Augenweide schaffen
und nicht momentane Schwierigkeiten durch künstliche Verwerthung
einer schwierigen Regel überwinden soll. Im Canalisationsfach soll
mit den allereinfachsten Mitteln eine gewaltige Aufgabe gelöst wer¬
den, und auch gleich derartig gelöst werden, dass sie auf viele
•Jahrzehnte hinaus sich den Beifall aller Betheiligten sichert. Die
Aufgabe lautet: „Du sollst von nun an Tag für Tag aus diesem
Häusermeer mit möglichster Geschwindigkeit viele Tausende von
Cubikmetern an Unrath und an schmutzigem Wasser schaffen, ohne
die Bewohner irgendwie zu belästigen und ohne dass der Boden,
auf dem wir wohnen, ohne dass das Wasser, das wir trinken, und
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ohne dass die Luft, die wir einathmen, in irgend einer Weise ver¬
unreinigt werde; und so, wie es eben den öffentlichen Interessen
am dienlichsten ist, hast du auch die Schwankungen des Grund¬
wasserstandes zu reguliren und einzugrenzen.“ Die Hygiene for¬
dert, nun heisst es also: Technik hilf dir selbst!
An dem gegenwärtigen Transport in grossen Schwemmcanälen,
durch den ja viel geleistet wird, gibt es vom hygienischen Stand¬
punkt aus denn auch noch mancherlei auszusetzen, z. B. die
Schwierigkeit, eine unbedingte Undurchlässigkeit der gemauerten
Canäle zir garantiren, und die Schwierigkeit, die verunreinigte
Canalluft am unzeitigen Entweichen aus Canälen und Röhren zu
verhindern. Der Erfüllung beider Forderungen hofft man durch
thunlichste Verkleinerung der Canalprofile näher zu kommen, und
was die Canalgase an sich anbelangt, so würde man gerne nicht
nur ihre Unschädlichmachung, sondern weit lieber gleich die Ver¬
hinderung ihrer Entstehung in’s Auge fassen, wenn dies sich mit
der Erfüllung aller anderen Forderungen nur verbinden liesse. Der
Erbauer der Canalisationsanlagen von Berlin, Stadtbaurath Hob¬
recht, suchte sich dem Ziele z. B. dadurch zu nähern, dass er
seine sämmtlichen Gefälle in gewissen engen Grenzen hielt, wobei
er möglichst gleichraässige Wasserstände in den Canälen zu er¬
zielen hoffte; ein grösseres Schwanken derselben sollte verhindert
werden, um nicht einen unnöthig grossen Theil der Wandungen
bald zu befeuchten und bald wieder der Luft zu exponiren. Dass
diese Idee gerade in Berlin geboren wurde, das im Gegensatz zu
mancher anderen Stadt fast so eben ist, als eine Billardtafel, ver-
half ihr vielleicht zu einiger Bedeutung; aber wenn mit der Ver¬
meidung schärferer Gefälle nicht Vortheile anderer Art verbunden
wären, so wäre hier ein wirklicher Vorzug schwer zu constatiren.
— Ueber die Canalgasfrage ist in diesem Artikel zwar schon lang
und breit gesprochen worden, aber gerade von der Bewegung der
Gase aus den Hauptcanälen war vorläufig noch mit keinem Wort
die Rede und ich möchte wenigstens die nach Prof. Corfield
wichtigsten Factoren erwähnen, durch welche Canalgase veranlasst
werden, aus Canal- und Rohrenleitungen in besonderen Mengen
auszutreten. Da wären zunächst die Temperaturdiflferenzen zwischen
Canal und Aussenluft, und zwar haben englische Erfahrungen,
wohl ganz in Uebereinstimmung mit den deutschen, ergeben, dass
diese Differenzen im Frühjahr oft gleich Null sind, und dass sich
während der Tageszeit im Sommer in den Canälen eine niedrigere,
im Herbst und Winter dagegen eine höhere Temperatur bemerk¬
bar macht. Des Weiteren wird darauf betont, dass durch die Ein¬
leitung heisser Flüssigkeiten in die Strassencanäle eine erhebliche
Steigerung der Canalluft-Temperatur bewirkt wird, und ferner dass
natürlich auch mit dem Schwanken des Wasserspiegels in den
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Strassencanälen während der einzelnen Nacht- und Tagesstunden
ein Zuzug resp. eine Verdrängung der über dem Wasser sich be¬
wegenden Canalluft eintritt. Endlich werden die Schwankungen
des Barometerstandes als wesentliche Factoren herangezogen.
Ich glaube sagen zu dürfen, dass die Feststellung eines un¬
mittelbaren Zusammenhanges zwischen der unter Barometerschwan¬
kungen veränderlichen Abgabe gewisser eingeengter oder absorbirter
übler Gase an die freie Atmosphäre und dem jeweiligen Stande
der öffentlichen Gesundheit eine neuere Frucht der ^tztjährigen
Beobachtungen ist. Dass Barometerschwankungen al^ sichtbare
Repräsentanten ihrer uns jetzt interessirenden Ursachen gerade in
ihrem Zusammenhänge mit der öffentlichen Gesundheit bei uns
nicht frühzeitiger und aufmerksamer beobachtet wurden, erklärt
sich aus der geringen Anregung, die hierzu geboten wird, da unsere
Breiten für Untersuchungen dieser Art fast die denkbar ungünstigsten
Verhältnisse bieten, und es kann nicht überraschen, dass die Fest¬
stellung einzelner wichtiger Thatsachen zuerst in tropischen Gegen¬
den gelungen zu sein scheint, in denen ja regelmässig wiederkeh¬
rende periodische Barometerschwankungen an Stelle unserer ewig
neuen, fast möchte ich sagen durch jeden Zufall sehr wesentlich
beeinflussten Veränderungen des Druckes der Atmosphäre treten.
Es ist das den Engländern besonders nahe liegende Britisch Ost¬
indien, in dessen bedeutendsten, bereits canalisirten Städten die
ersten erfolgreichen Untersuchungen gemacht sein dürften. In einem
in mancher Hinsicht interessanten Vortrage, welchen der Ingenieur
J. Wallace im August vorigen Jahres in Bombay hielt, führte er
u. A. aus, dass in jener Stadt die tägliche periodische Barometer¬
schwankung 2,5 mm beträgt, was also dem Druck einer Wasser¬
säule von ca. 33.75 mm Höhe entspräche, und dies wäre schon
mehr als das Doppelte des Druckes, unter dem sich z. B. das
Leuchtgas in seinen gewöhnlichen Leitungen zu bewegen pflegt.
Treten nun aber neben diesen periodischen Schwankungen auch
noch plötzliche Witterungsumschläge auf, so stehen die Gase in
den Strassencanälen von Bombay reichlich unter dem doppelten
Druck, der also schon einer Wassersäule von 67.5 mm entspräche.
Daraus zieht Wallace allerdings den offenbar irrthümlichen Schluss,
dass in solchen Stunden die Canalgase auch unter diesem Druck
in die menschlichen Behausungen getrieben würden, denn sie seien
ja jetzt ganz gut im Stande, einen Wasserverschluss von 6,5 cm
Tiefe zu durchschlagen. Es ist aber zu bemerken, dass von einem
mechanischen „Durchschlagen“ keine Rede sein kann, so lange, wie
das wohl in Bombay auch der Fall sein wird, die Luft im Innern
der Gebäude, die selbst unter dem Druck der ganzen Atmosphäre
steht, dem Wasserverschluss einen sicheren Gegendruck verschafft.
Dies nebenbei; der Einfluss des Luftdruckes auf die Gase, welche
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— 399 -
in offenen Canälen sich bewegen und aus diesen, ohne dass ein
Wasser Verschluss sie hinderte, heraustreten können, ist immerhin
von grösserer Bedeutung, denn da bei Abnahme des äusseren Luft¬
druckes eine gesteigerte Abgabe absorbirter Gase, eine Expansion
der nicht absorbirten, und bald eine höhere Erwärmung der durch
Expansion in freieres Gebiet getriebenen Gase eintritt, so ist eine
allgemeine vorübergehende Steigerung der Ausströmung von be¬
freiten Gasen unausbleiblich. Wallace geht nun gleich noch
weiter, indem er auch eine ebenso gesteigerte Abgabe aller sonstigen
von faulenden Stoffen herrührenden Gase und auch eine Ausströ¬
mung der Grundluft in die freie Atmosphäre bei niedrigeren Baro¬
meterständen in Betracht zieht, und er kommt auf diesem Wege
zu dem Schluss, dass sich der Einfluss einer zeitweise so gestei¬
gerten Luftverunreinigung auf die Gesundheit auch beweisen lassen
müsse, wenn dieselbe in der That ihrem schlechten Ruf ent¬
sprechend schädlich wirke. Und unter der weiteren Voraussetzung,
dass ihm ein solcher Nachweis leichter bei kränklichen und kranken
Menschen als bei gesunden glücken müsse, da erstere für Ein¬
flüsse der betreffenden Art doch meist empfänglicher oder empfind¬
licher sind, hat er die Mortalitätstabellen des Jamsetjee-Hospitals
zu Bombay benutzt, welche für einen Zeitraum von ungefähr vier
Jahren gelten. Von dem Inhalt dieser Tabellen wurden natürlich
nur diejenigen Todesfälle, welche durch den üblichen Verlauf einer
Krankheit eingetreten sind, gezählt, während jeder Todesfall durch
Unglück, Gewaltthat, Gift etc. ausgeschlossen blieb. Und diese Be¬
mühungen haben nun zu folgendem Resultat geführt. In gra¬
phischen Darstellungen der Barometerschwankungen und der Mor¬
talität, die Wallace nach jenen Tabellen ausgearbeitet hat, zeigt
sich eine sehr auffällige Coincidenz der beiden construirten Curven.
Der tägliche maximale Druck der Atmosphäre erscheint Vormittags
und Nachmittags um 10 Uhr. Das Minimum der periodischen
Barometerschwankung wird dagegen einmal Vormittags um 4 Uhr
erreicht, und das Maximum der Mortalität folgt in der fünften
Morgenstunde. Das zweite Minimum des Luftdrucks fällt Nach¬
mittags zwischen die vierte und fünfte, das zweite Sterblichkeits¬
maximum aber zwischen die fünfte und die sechste Stunde. Ausser¬
dem ist nun die Sterblichkeit an den Vormittagen wesentlich
grösser als in den Nachmittagsstunden, trotzdem das Nachmittags¬
minimum des Luftdrucks immerhin ein etwas grösseres ist, und
Wallace glaubt die Erklärung hierfür in einer dritten Curve, der
Curve der Tagestemperatur, zu finden. Die Letztere erreicht näm¬
lich ihren niedrigsten Stand frühmorgens zwischen fünf und sechs
Uhr, und dies ist gerade die Periode der grössten Ausstrahlung
von der Oberfläche der Erde. Alle üblen, von faulenden Stoffen
aufsteigenden Gase erfahren eine plötzliche Abkühlung und lagern
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- 400 —
nahe der Oberfläche der Erde, bis sie durch die Sonnenstrahlen
zu neuer Bewegung aufgewirbelt werden; daraus erklärt sich denn
die Gefahr, welcher man sich aussetzt, wenn man in tropischen
Gebieten dicht über dem Erdboden schläft, und daraus erklärt sich
auch der Eintritt der maximalen Tagesmortalität von Bombay
zwischen der fünften und sechsten Morgenstunde. —
Die weitere Prüfung, Beurtheilung und Nutzanwendung dieser
Notizen will ich nun gerne Medicinern überlassen. Wenn ich mich
übrigens selbst auch ausser Stande sehe, die Richtigkeit derWal-
lace’schen Theorie bis zur Einwandfreiheit zu begründen, so spüre
ich dennoch grosse Neigung, mich seiner Meinung anzuschliessen.
Es ist allerdings schwer glaublich, dass die Sache ganz so einfach
sein sollte, als eben angedeutet wurde; bestimmte erwiesene That-
sachen hat aber Wallace ganz auf seiner Seite. Nach unseren
bisherigen Erfahrungen haben wir auch gewiss keine Ursache, an¬
dere Begleiterscheinungen der niedrigen Barometerstände allein für
gefährlicher als den Zudrang von allen möglichen Miasmen zu
halten; und die Canalgase in Städten könnten wenigstens in sofern
in den Vordergrund treten, als sie in grossen Mengen gesammelt
bereit sind, und als ihre Ausströmung viel leichter und mit Ueber-
windung viel geringerer Hindernisse von Statten geht.
Seitdem die hervorragendsten Vertreter der pathogenen Micro-
organismen-Welt entdeckt sind, hat sich eine menschliche Neigung,
fast jede Seuche diesen interessanten kleinen Gebilden zuzuschreiben,
in einer Weise entwickelt, die vielleicht gerade dem Fernerstehen¬
den, dem ruhig und kaltblütig Zuschauenden am allerinteressantesten
ist. Wenn ein Ingenieur ein neues Canalisationssystem erfunden
hat, so kann man sicher sein, dass er sich bei einem oder dein
anderen thatsächlichen Vorzug seiner Methode nicht begnügen wird.
Nein, sein System ist gleich das einzig richtige, jedes andere sollte
davor verschwinden, und der Erfinder scheint erstaunt, dass seine
Ideen nicht sofort bei aller Welt den vorausgesetzten leichten Ein¬
gang finden. — Die Theorie von der Schädlichkeit der Canalgase
nahm vorübergehend in Deutschland eine hervorragende Stellung
ein; seitdem indessen die Wunder der Microorganismen-Welt sich
offenbaren, scheint alles Interesse für die ältere Lehre ausgestorben.
— Es gibt eine Theorie, der zufolge in gegebenen Fällen eine ge¬
fährliche Krankheit sich nur dann in einem Ort in Form einer Epi¬
demie verbreiten könne, wenn der Boden, über dem dieselbe sich
bewegt, ein „siechhafter“ ist, wenn in ihm die Seuchenkeime sich
befunden haben und wenn sie aus ihm in einer Manier heraus-
prakticirt werden, über welche man sich schon sehr ereifert hat,
trotzdem es bis heute noch gar nicht feststeht, ob die angeblich
herausprakticirten Seuchenkeime in einem solchen Boden auch je¬
mals schon enthalten waren. Ich bin immer der unmassgeblichen
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Meinung, dass wir uns in derartigen Fällen mit der Voraussetzung
einer schädlichen Mitwirkung der doch zweifellos vorhandenen und
herausgetriebenen Bodengase wenigstens so lange begnügen könn¬
ten, bis die Existenz der im Boden nur vermutheten Microorganis-
men von den Freunden derselben erwiesen ist. Nun, es ist jeden¬
falls nicht gut, die Theorie über die hervorragende Schädlichkeit
von schlechten Gasen der so hochbedeutenden Lehre von patho¬
genen Microorganismen gegenüberzustellen, als ob sich die beiden
nicht vereinigen Hessen. Aber man treibt ja auch Politik, trotz¬
dem sie bekanntlich den Charakter verdirbt, und so sei mir denn
heute die Bemerkung gestattet, dass die Ergebnisse der Wallace’-
schen Untersuchungen wohl geeignet erscheinen, meine einfache
Auffassung von der Schädlichkeit aller fauligen Gase resp. der Luft¬
verunreinigung, welche dieselben bewirken, in natürlicherweise zu
unterstützen. Oder wird vielleicht doch bei den besprochenen
niedrigsten Barometerständen in Bombay erst eine Auswahl ver¬
schiedenartiger Microorganismen heraufbeschworen, die dann ein-
geathmet binnen längstens einer Stunde eine merkliche Häufung
der Mortalität bewirkt? — Wenn ich hier irre, so glaube ich noch
immer in sehr ausgezeichneter Gesellschaft zu irren. Dr. Bucha-
nan hat z. B. nichts dagegen einzuwenden, dass die Herren Prof.
Corfield und Dr. Parkes seine Anschauung in seinen eigenen
Worten wiedergeben, der zufolge in Croydon im Jahre 1875 eine
Abdominaltyphus-Epidemie wesentlich durch das Eindringen von
Canalgasen in die Häuser hervorgerufen und jedenfalls durch Canal¬
gase von Haus zu Haus verbreitet wurde. Und die Canalgase ent¬
halten doch gerade eine ungewöhnlich niedrige Zahl von Micro¬
organismen! Dr. Buchanan wendet sich gegen Thonrohrcanäle 1 ),
bei denen im Gegensatz zu grossen Canälen geringere Wasser¬
quantitäten hinreichen, um bedeutende Mengen von Canalluft mit
beträchtlichem Druck herauszutreiben, und er erklärt dann, dass
hierdurch ebenso plötzliche Fieberausbrüche zu Stande kämen, wie
solche bei der Verschleppung der Krankheit durch Wasser oder
Milch beobachtet werden: „Croydon selbst machte diese Erfahrung,
nachdem es seine Canäle gebaut hatte, ohne eine Ventilation der¬
selben zu bewirken. Und so hat sich auch in anderen Fällen, die
zu meiner persönlichen Kenntniss kamen, das Fieber ständig ge¬
halten, nachdem mangelhaft ventilirte Rohrcanäle erbaut worden
waren, z. B. in Rugby, Carlisle, Chelmsford, Penzance und Wor¬
thing und namentlich in den letztgenannten Orten, wo es in schwe¬
ren, plötzlichen und ausgebreiteten Epidemieen auftrat, ohne dass
irgend eine andere Verbreitungsart als die durch Canäle in Frage
1) Appendix to Report of Medical Ofäicers of Privy Council and Local
Government Board. New Series Nr. 7.
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- 402 —
käme („without there being any question of other distribution than
by sewers.“) —
Dass aus Thonrohrcanälen Luft leicht unter einem bedeuten¬
deren Druck verdrängt wird, als aus gemauerten Strassencanälen
in grösserem Profil, ist eine beachtenswertbe Thatsache, welche
aber als Argument gegen die Construction der Ersteren auch nicht
die geringste Bedeutung besitzt, und als solches wünschte wohl
auch Dr. Buchanan seinen obigen Hinweis schwerlich verstanden
zu sehen. Wäre das anders, so hätten wir hier vor allen Dingen
einen Einwand gegen die Ausführung des „Separate System“ vor
uns, während die praktische Möglichkeit, Regen- und Hauswasser
vollständig zu trennen und Letzteres event. in eigenen Thonrohr¬
leitungen abzuführen, als gut erwiesen betrachtet werden kann,
seitdem z. B. die Canalisation der nordamerikanischen Stadt Mem¬
phis (35,008 Einw. 1882) seit einer ganzen Reihe von Jahren 1 )
nach dem „separate System“ betrieben worden ist. Es zeigt sich,
dass gegen die Leistungsfähigkeit, die Möglichkeit einer gründlichen
Reinhaltung, Spülung und Ventilation und gegen die Baukosten der
engen Leitungen keine triftigen Einwände zu machen sind. Ein
gemauerter Hauptcanal von 0,50 m D. nimmt dort die Abwässer
aus sämmtlichen Seitencanälen (0.15—0.40 m D.) in sich auf, die
ausnahmslos als Thonrohrcanäle construirt worden sind. Die Haupt¬
entwässerungsleitungen der einzelnen Grundstücke haben den vor¬
geschriebenen Durchmesser von 10 cm. An sämmtlichen todtliegen-
den Leitungsenden waren (bis 1882) zusammen 125 selbstthätige
Spülapparate angebracht, deren jeder einmal in 24 Stunden etwa
5001 vom städtischen Leitungswasser sturzweise in die Canäle ent¬
sendet. Diese Anlage ist allerdings für die Bewältigung der sehr
bedeutenden Canal wassermenge von 180 1 pro Kopf und Tag be¬
rechnet 2 ). Dabei wird aber das Regenwasser allein durch Ober¬
flächenentwässerung bei Seite geschafft, was durch günstige Local¬
verhältnisse ermöglicht ist, und das Grundwasser andererseits ist
nur in sofern berücksichtigt worden, als in die einmal für die
Strassenleitung geöffnete Baugrube gleichzeitig auch gewöhnliche
Drainröhren verlegt wurden, die gelegentlich von der Trace eines
Rohrstranges abschwenken, um abfliessendes Grundwasser den öf¬
fentlichen Wasserläufen zuzuführen.
Wer nun gleich dem Schreiber dieser Zeilen mehr von der
Zukunfts-Canalisation einer Stadt erwartet, als dass es eben ge-
1) Die Canalisirungsarbeiten begannen 1880.
2) Im ganzen canalisirten Berlin betrug im Jahre 1887—88 dem amtlichen
Verwaltungs-Berichte zu Folge die abgeführte Canalwassermenge (natürlich
incl. Hegenwasser) durchschnittlich 103,31t p. Kopf und Tag; in einem einzelnen
Bezirk der Stadt bis 170 lt; dem gegenüber steht eine Wasserversorgung von
64,68 lt p. Kopf und Tag.
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linge, die städtischen Spülwässer auf recht billige Weise aus der
Stadt herauszuführen und unschädlich zu machen, der wird in einer
Canalisation, wie sie die Bewohner von Memphis besitzen, nur die
praktische Lösung eines einzelnen Theils jener grossen Aufgabe er¬
blicken, die dem Techniker gestellt ist. Dass in grossen Städten
anders für die Abführung des Regenwassers gesorgt werden muss,
als durch Oberflächenentwässerung, liegt gewiss auf der Hand.
Vom hygienischen Standpunkt aus wird ferner auch Niemand be¬
streiten, dass die Senkung und Regulirung des Grundwasserstandes
von höchster Bedeutung ist, und die oberflächliche Abfertigung,
welche diese Aufgabe in Memphis erfahren hat, ist nur zu beklagen,
denn es ist hier möglicherweise wieder eine vortreffliche Gelegen¬
heit unbeachtet vorübergegangen, zu zeigen, wie bedeutende Re¬
sultate wir durch eine Sonderbehandlung des Grund wasser¬
st an des in wenigen Jahren erreichen könnten. Nachdem wir
einmal den Einfluss der Grundwasserstände und Grundwasser¬
schwankungen auf den öffentlichen Gesundheitszustand erkannten,
ist es aber sicherlich an der Zeit, die Regelung derselben auf
Grund eingehender wissenschaftlicher Vorarbeiten und ganz unab¬
hängig von der Führung der Strassencanäle in Angriff zu nehmen.
Die Letzteren sind zur Ableitung des Haus- und event. auch des
Regenwassers bestimmt; was hat denn aber dies mit dem Grund¬
wasser zu thun? Dass neuverlegte Canäle dem Grundvvasser Ge¬
legenheit bieten, sich in der aufgelockerten Erde der Baugrube
leichter zu bewegen und den Gesetzen der Natur im Allgemeinen
zu folgen, das ist eine Thatsache, deren Entdeckung und Würdi¬
gung wir völlig dem Zufall verdanken; uns aber schon mit dem
blossen Erkennen dieses vielverheissenden Umstandes zu begnügen,
das entspräche wohl wenig dem Geist unserer Zeit. Die Führung der
Strassenleitungen wird vielfach beeinflusst durch die natürlichen
Gefalle, welche die einzelnen Strassenzüge und Plätze der zu cana-
lisirenden Ortschaft besitzen; die vorteilhafteste Behandlung,
welche dem Grundwasser zu Theil werden soll, kann aber unter
Umständen ganz unabhängig von diesen Gefällen der Oberfläche
erfolgen, denn sie hätte sich in erster Linie nach den geologischen
Verhältnissen des Untergrundes zu richten. — Auch hier bekom¬
men wir etwas wie Altersschwäche des Systems tout ä Pegout zu
spüren! — Die zu lösende Aufgabe ist gross und vielseitig, aber
das sind auch die Mittel. Dort haben wir das Schwemmsystem,
hier das Separate System, dort wieder die Systeme von Liernur*
Stone und Berber mit vielfachen, .geistreichen Constructionen und
hochzuschätzenden Einzelzügen. Seien wir also nur wählerisch in
unseren Mitteln und nehmen wir von Allen das Beste, um selbst
wieder Allen das Beste zu bieten. Die Localverhältnisse sind ja
so unendlich variabel, dass wir von Allem, was wir an den ver-
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schiedenen Canalisationssystemen finden, auch kaum das Geringste
geringschätzen können, es sei denn der Egoismus gewisser Erfinder.
Und wenn wir endlich ausgerüstet mit solchen Mitteln zu einer wirk¬
sameren Lösung unserer Aufgabe schreiten, so wollen wir eventuell
auch nicht mehr zurückschrecken vor einem definitiven Bruch mit
dem System tout ä un seul egout. Nein, wer sich schon heute
ein Bild machen kann von dem, was die Zukunft fordern wird,
der wünscht gewiss nicht mehr, starr am Althergebrachten festzu¬
halten. Einst hatten wir ja ein Ziel, jetzt haben wir viele; einst
galt es nur Schmutz hinauszuschaffen, jetzt gilt es die Gesundheit
der Bewohner zu heben; in der That, die Aufgabe der Städte-
canalisation (vor vielen Jahrhunderten unter alten Römern erkannt
und geboren) ist so erstaunlich gewachsen und hat sich auch inner¬
lich so wesentlich verändert, dass schon lange kein Staat mehr
mit den bezüglichen Anschauungen eines ehrsamen Römers ge¬
macht werden kann. Aber ein alter und dauerhafter Grundsatz
jener Tage dürfte uns selbst in Zukunft noch richtig leiten, und
dieser Grundsatz heisst: Divide et impera!
III.
Nach mannigfachen Abschweifungen werde ich auf diesem
Streifzuge nun endlich zur Erörterung derjenigen Frage, welcher
mein Leitfaden, das Werk der Herren Professor Corfield und
Dr. Parkes, in erster Linie gewidmet ist, nämlich zur Frage der
schliesslichen Beseitigung oder Unschädlichmachung, oder, noch besser,
zur Frage der Verwerthung der städtischen Kanalwässer
geführt. -- Wohl namentlich seitdem unter Anderen Lord Pal¬
mers ton durch seinen vielcitirten Ausspruch, „es seien die Kanal¬
wässer sehr werthvolle Massen, nur am Unrechten Ort,“ den eng¬
lischen Geschäftsgeist aufzuwecken und für den schliesslichen Ver¬
bleib von städtischen Abfallstoffen die ernste Aufmerksamkeit auch
der weiteren Kreise zu erregen vermochte, ist man in England
bemüht gewesen, ein vernünftiges Verfahren zur Bestimmung des
wahren Werthes dieser Schmutzstoffe ausfindig zu machen, ein
Verfahren, auf dessen Ergebnisse Schlüsse für den thatsächlichen
practischen Werth der Düngersubstanz auf dem Weltmarkt basirt
werden könnten.
Die werthvollsten Bestandtheile des so] verschiedenartig zu¬
sammengesetzten Kanalwassers sind die einzelnen Formen und
Verbindungen, in denen der Stickstoff hier Auftritt, und ferner die
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Phosphorsäure und die Kalisalze. Mit der blossen Bestimmung der
Menge dieser Substanzen durch einige Analysen ist neueren Forde¬
rungen aber nicht mehr genügt; vielmehr wird seitens der Herren
Prof. Corfield und Parkes auf einen Umstand aufmerksam
gemacht, dem offenbar auch in England noch lange nicht die ver¬
diente Beachtung zu Theil werden konnte. Wenn es nämlich gilt,
den landwirtschaftlichen Werth der Kanal Wässer einer Stadt zu
bestimmen, so sind unbedingt auch gewisse Lokalverhältnisse, z. B.
die Schwankungen des Wasserconsums zu den verschiedenen Tages¬
zeiten und die Regenfälle mit gebührender Vorsicht in Rechnung
zu bringen. Es genügt deshalb nicht, in 24 Stunden ebensoviele
Analysen des Kanalwassers und aus allen diesen Analysen ein
Mittel zu nehmen, sondern bei der jedesmaligen Entnahme einer
Probe sollte die zum Abfluss gelangende Wassermenge gemessen
werden, und die einzelnen Proben sind dann wieder grade in dem¬
jenigen Verhältniss miteinander zu mischen, welches direct der
Menge des zur Entnahmezeit abgeflossenen Kanalwassers entspricht.
— So einleuchtend die Richtigkeit dieser Bemerkung aber ist, so
selten ist ihre Nutzanwendung in der Praxis zu finden. Ich be¬
schränke mich — ohne die in verschiedenartig entwickelten und
erschlossenen Landdistricten von Production und Consum und Ver¬
kehr sehr abhängigen, eigenen Werthe der Düngersubstanzen jetzt
näher zu besprechen, — auf den Hinweis, dass die Herren.Prof.
Corfield und Parkes den jährlichen Werth der Kanal Wässer
von London auf höchstens 1,660,000 Pfd. Sterling taxiren, wogegen
sich die Bestimmung eines so hervorragenden Gelehrten wie Liebig
seiner Zeit bis zu der Summe von 4,081,430 Pfd. Sterling verirrt
haben soll!
Nehmen wir nun getrost diese Zahlen als „theoretische Werthe“
entgegen und rechnen wir für die Praxis nur mit einem Drittel jener
Beträge, so kann doch immer nur eine Antwort auf die Frage ge¬
geben werden: „Sind wir berechtigt, solche Dungstoffe zu vergeuden,
so lange es eine Möglichkeit gibt, sie uns nutzbar zu machen?“ —
Und lässt sich auch diese Antwort so kurz nicht begründen, für
den Einwand, dass die Ausnutzung dieser Dungstoffe mit Kosten
verbunden sei, die dem Eigenwerth derselben sehr nahe kommt,
haben wir immerhin noch die sicherlich schwerwiegende Erwide¬
rung bei der Hand: Selbst wegwerfen könnt Ihr diese
Stoffe nicht umsonst! Selbst ihre Vergeudung bringt Kosten
mit sich und fordert sogar zu Zeiten sehr empfindliche Opfer, die
sich mit Geld überhaupt nicht mehr abwenden lassen!
Dass die Ableitung der Kanalwässer in die Flüsse allgemein
üblich war, so lange man sanitäre Nachtheile und Gefahren nicht
ahnte, so lange man weder den Düngerwerth der vergeudeten
Wassermassen erkannte, noch ein Bedürfniss empfand, diese Dung-
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Stoffe auszubeuten, das ist ja begreiflich. Dass aber auch heute
— und namentlich in Deutschland, wo die Ausbeutung solcher
Stoffe wohl leichter geschehen kann, als in England — die Nei¬
gung noch immer sich findet, an der einfachen Ableitung der
Kanalwässer in Flussläufe festzuhalten, das ist erstaunlich! Die
Erfahrungen, welche man vor Jahren in allen Theilen Englands
gemacht hat und über welche in den vortrefflichen alten Berichten
der Rivers Pollution Commissioners so eingehende und immer noch
Verwunderung erregende Aufzeichnungen enthalten sind, — erinnern
wir uns doch nur an die Thatsache, dass z. B. die Tarne bei
Birmingham schliesslich zur einen Hälfte aus Kanalwässer — be¬
stand, dass man anderwärts eine Klage einreichen konnte, die mit
dem Wasser des Flusses geschrieben war, — diese Erfahrungen
sind trotz der erheblichen Abweichungen der beiden Länder in
Bezug auf die Bevölkerungsdichtigkeit, die Industrie, den Welt¬
verkehr und die physikalische Beschaffenheit grade jetzt besonders
zu beachten und zwar auch ganz speciell in Deutschland, das ja
noch immer mit Riesenschritten auf eine grössere Zukunft zugeht.
Die Schädlichkeit der Ausdünstungen eines verpesteten Flusses
für die Gesundheit der strombefahrenden Bevölkerung ist oft be¬
zweifelt worden. Ich will nicht, wie früher, zum Beweise des
Gegentheils auf tropische Verhältnisse verweisen, denn die Wahr¬
heit der Behauptung, dass auch die Themse in dieser Beziehung
thatsächlich gesundheitsschädlich wirke, ist heute leider schon voll
erwiesen. Und auch in Deutschland dürfen wir uns durch die
Grösse unserer Ströme nicht in eine trügerische Sicherheit wiegen
lassen. Je grösser ein Strom, um so grösser auch die Bedürfnisse,
die er befriedigen muss; und je mehr wir auf die Bedeutung eines
Flusslaufes angewiesen sind, um so grösser ist die Verpflichtung
für eine dauernde Reinlichkeit in allen Theilen desselben zu sorgen.
Meine bisherigen Beobachtungen berechtigen mich vollauf zu der
Behauptung, dass es nicht schwer wäre, auch in Deutschland, und
zwar heute schon, laute berechtigte Klagen über Verpestung und
Ausdünstung von Flussläufen zu sammeln und in Form eines um¬
fangreichen Berichtes herauszugeben. Als z. B. der im Kanalisations¬
fach bekannt gewordene Civil-Ingenieur Herr J. Gordon im Jahre
1885 auf dem Hygiene-Congress zu Leicester seinen Vortrag über
die Kanalisation in Städten des Continents zu halten gedachte,
sandte er Fragebogen an eine grosse Reihe von kanalisirten Städten,
und er stellte unter Anderem auch die Frage, ob Klagen über Fluss¬
verunreinigung durch Einführung ungereinigter Kanalwässer bekannt
geworden seien. Unter 39 ausgefüllten Fragebogen, die er ver¬
öffentlicht hat, findet sich diese Frage 19 mal bejaht und weitere
9mal ohne jede Antwort; und unter jenen 19 Städten, welche
offen anerkannten, dass sie durch Einleitung städtischer Abwässer
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— 407 -
schon eine fühlbare Flussverunreinigung zu Stande brachten, finden
sich auch 15 deutsche verzeichnet, nämlich: Aachen, Bochum,
Chemnitz, Köln, Crefeld, Dresden, Erfurt, Essen, Frankfurt, Halle,
Hannover, Homburg, Leipzig, Stuttgart und Wiesbaden. — Und
was nun speciell die wenigen, wirklich bedeutenden Hauptströme
Deutschlands anbetrifft, (es ist ja aber wesentlich wichtiger, sich
der riesigen Anzahl ihrer weniger bedeutenden Nebenflüsse zu
erinnern) so dürfte allerdings noch viel Sand in ihnen zum Meere
rinnen, bevor wir auf „englische Zustände“ kommen. Wenn wir
aber dieses Ziel in unseren Verhältnissen und nach den Er¬
fahrungen Englands selbst nur zur Hälfte erreichen, so haben wir
auch schon die schwer verantwortliche Nachlässigkeit und den
einstigen Leichtsinn der Engländer dreimal überboten. — Und
nichtsdestoweniger zeigt sich grade an hervorragenden Hafenstädten,
welche Ursprung und Entwicklung allein der Bedeutung ihrer Fluss¬
mündung danken, eine bedenkliche Verunreinigung des süssen Ge¬
wässers, welche zudem durch Mischungen mit den salzigen Fluthen
der See eine sehr bedeutende Förderung findet. Die Elbe bei
Hamburg und Altona zum Beispiel! Aus eigener Erfahrung kann
ich freilich nicht reden, aber ich verweise auf eine gewiss recht
zuverlässige und zulässige Quelle; jenen Vortrag nämlich, welchen
Herr Dr. Ferd. Hüppe vor der Versammlung von Gas- und
Wasserfachmännern Deutschlands am 14./16. Juni 1887 gehalten
hat 1 ); und wenn ich Herrn Hüppe dort recht verstehe (l.c/pag.
129), so hat er sogar das Elbwasser, welches zur Wasserver¬
sorgung von Hamburg bestimmt war, gerochen, und wenn ich
auch Herrn Kümmel dort ganz erfasse fl. c. pag. 133), so ist
das, was Herr Hüppe gerochen hat, noch gar nichts gewesen.
Aber — wie gesagt, ein Strom von dem Umfang der Elbe kann
uns hier überhaupt gar nicht massgebend sein. Wenn erst aus
solchen Strömen die Reinlichkeit schwindet, so können die Ver¬
treter der Flussschutzvereine mit gemischten Gefühlen ihre Häupter
verhüllen.
Weder in den Ausdünstungen eines verunreinigten Stromes,
noch in der durch die Ablagerung putrider Schlammmassen be¬
dingten und ganz energischen Absorbtion des gelösten Sauerstoffes,
welche erfahrungsgemäss dem Gedeihen der Fische und namentlich
der jungen Brut derselben erheblichen Schaden zuzufügen pflegt,
möchte ich nun den Schwerpunkt der Schädlichkeit erblicken. Die
grösste Gefahr liegt vielmehr auch meiner unmassgeblichen Ueber-
zeugung nach in der Möglichkeit einer Verbreitung von Seuchen
durch den Genuss und Gebrauch des verunreinigten resp. inficirten
1) Verhandlungen der XXVII. u. XXVIII. Jahres-Versammlung des Deutschen
Vereins von Gas- und Wasserfachmännern. — Mönchen. Oldenbourg, 1889.
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— 408 —
Wassers. Nach Allem, was ich im Laufe dieser Arbeit über
moderne Microorganismen - Jäger zu bemerken den Anlass finden
musste, wird man mich wohl schwerlich noch selbst für einen
solchen halten, auch wenn ich gestehe, dass es hauptsächlich auf
diesem Gebiete ist, wo ich die Verschleppung pathogener Micro¬
organismen fürchte. Aber die eigenthümliche Thatsache, dass diese
Anschauung in fachmännischen Kreisen noch immer selbst directe
Gegner findet, zwingt mich, in wenigen Worten den einfachen
Gedankengang vorzuführen, der mir zu meiner Stellungnahme ge¬
holfen hat und der wohl auch — wie ich natürlich meine — aus¬
schlaggebend für Unparteiische bleiben müsste.
Dass einzelne Microorganismen die directe Ursache gewisser
sehr gefährlicher Seuchen sind, steht fest, sodass auch eine Ver¬
breitung dieser Microorganismen unter Menschen einer Verbreitung
der betreffenden Seuche nahezu gleichbedeutend ist. — Zwei Theo¬
rien über die Art, in der diese Seuchenverbreitung vor sich geht,
haben sich in den Vordergrund gedrängt. Die eine stellt die Be¬
dingung eines Vorlebens der Seuchenkeime in „siechhaftem“ Boden
auf; die andere nimmt die blosse Verbreitung der Keime durch
den Verkehr und namentlich auch durch Nahrungsmittel, und so
speciell wieder durch ein natürliches Wasser, welches getrunken
wird, als zur Verschleppung der Seuche genügend an. — Das Vor¬
kommen der Keime im Wasser, ihre, wenn auch vielleicht beschränkte
Lebensfähigkeit in demselben, und endlich die Thatsache einer so
schon erfolgten Seuchenverschleppung ist erwiesen. Das Vorkommen
der pathogenen Keime (Typhus, Cholera asiatica, und abgesehen von
der Malaria) im Boden wurde aber bisher noch niemals nach¬
gewiesen, und handgreiflich ist damit der Vorsprung, den die eine
Theorie vor der Anderen hat. Die Letztere blieb eben immer
noch reine Theorie, die erstere hat sich der Praxis sehr genähert.
Und mag dies nun als die Auffassung eines Laien erscheinen, in
ihr spiegelt sich jedenfalls das Bild, welches sich jetzt einem durch
keinerlei specialwissenschaftliche Grübeleien getrübten Auge von
der Bewegung unserer Tage bietet. — Trotzdem es nun ferner viel
leichter wäre, zu erklären, wie denn die Keime aus dem Wasser,
als wie sie aus dem Boden in den Menschen gelangen, so wird
dennoch die Wassertheorie von Bodentheoretikern mit einem fast
möchte ich sagen blinden Eifer angegriffen. „Selbst wenn (!) die
Seuchenkeime in einen Fluss gelangten“, heisst es, „wie sollten sie
sich dort wohl halten in dem grossen Kampf um’s Dasein, den sie
mit den sonstigen Microorganismen des Wassers auszufechten
hätten?“ Und ich erwidere darauf nochmals: „Wenn einst die
Bodentheoretiker so weit wie ihre Gegner sind, wenn einst das
Vorleben von pathogenen Keimen im Erdreich nachgewiesen sein
wird, dann bleibt auch Andern noch die Zeit, die Gegenfrage auf-
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— 409 —
zuwerfen, ob ein ebensolcher Kampf um’s Dasein nicht auch im
Boden zu verfechten wäre.“
Wir haben uns nun einer Reihe von nackten Thatsachen zu
erinnern, durch welche Bacteriologen in neuerer Zeit zur Würdigung
ihrer Arbeiten zwingen konnten. Erinnern wir uns z. B., dass
Herr Prof. Dr. Koch im Spreewasser oberhalb Berlins einst 125,000
Keime pro cbcm. nachgewiesen hat; dass diese Anzahl, nachdem
die Spree Berlin durchflossen hatte, auf 10,000,000 gestiegen war,
und dass eine Reinigung auf dem weiteren Lauf der Spree bis
Spandau nicht wieder eingetreten ist*)• ‘Erinnern wir uns der
hochinteressanten Vorträge, welche von den Herren Dr. Hüppe,
Prof. Pöhl (Petersburg), Brouardel (Paris), Dunard (Genf)
und Kowalski (Wien) auf dem VII. internationalen Hygiene-
Gongress zu Wien im Jahre 1887 über die Möglichkeit einer Ver¬
breitung des Typhus durch Wasser gehalten worden sind, eine
Möglichkeit, welche bekanntlich seit langen, langen Jahren in Eng¬
land energische Vertreter fand a ). Erinnern wir uns der Typhus-
1) Verhandlungen der XXVII. u. XXVIII. Jahres-Versammlung des Deutschen
Vereins von Gas- und Wasserfachmännern. Pag. 129.
* 2) Wie sehr diese Lehre in Frankreich Boden gewinnt, war Mitte August
dieses Jahres für Leser französischer Blätter zu bemerken. Der „Figaro“ vom
10. Aug. er. brachte unter dem Titel „Nos soldats et la fiävre typhoide“ einen
Leitartikel, worin über zahlreiche Typhuserkrankungen in französischen Garni¬
sonen berichtet wird, welche erwiesenermassen zum grössten Theil durch den
Genuss von verunreinigtem Trinkwasser verursacht waren. So wird u. A. von
Dinan gemeldet, die heimgesuchte Gavallerie-Kaserne sei einmal auf früher ver¬
unreinigtem Boden errichtet, andererseits trage aber die Hauptschuld das ver¬
giftete Brunnenwasser, von dem nach Aussage eines hervorragenden Arztes einige
Liter zur Vergiftung eines ganzen Regimentes genügt haben würden. — Dieser
Artikel erfuhr nun eine Erwiderung durch keinen Geringeren als den Bürger¬
meister von Dinau (Figaro 13./VIII. er.). Er bestreitet mit aller Entschiedenheit,
dass der von einer medicinischen Militär-Commission unter mehreren zur Ver¬
fügung gestellten Plätzen ausgewählte Baugrund der Kaserne ein ungesunder ge¬
wesen sei. Die diesbezüglichen Erklärungen des Artikels werden als völlig
ir.correct zurückgewiesen, und darauf fahrt der Schreiber fort: „-La maladie
presque indefinissable qui s’evit depuis six semaines sur notre garnison serait,
au dire de votre correspondant, la consöquenee d’un empoisonnement par Peau
du quartier des dragons; les medecins militaires 1’affirment et je le crois, malgre
les objections nombreuses et graves, qu'a soulevöes cette explication. Mais les
infiltrations d’urines et de mattiere fecale qui ont contamine cette eau s’expli-
quent tout naturellement par ce fait, ä peine eroyable et pourtant vrai, que la
citerne, dont les parois intörieures ne sont meme pas maqonnäes,
est placöe a quelques mötres seulement et encontre bas des fosses d’aisance. DCs
1879 on les signalait; depuis dix ans, ä plusieures reprises, le commandement,
et les mödicins s’en sont plaints; enfin dans ces derniers teraps, des vidanges
jetees pendant la nuit, ä Pinsu des chefs, sur les fumiers de la caserne, ont pu les
rendre plus abondantes et plus dangereuses. — Est-ce la faute de la municipalitö.
si Pon n’a pas remedie plustöt au mal en condamnant la citerne infeetöe? — —
Agröez etc.
Le maire de Dinan:
Dinan, 11./VIII. 1889. J. M. Peigne, adjoint.“
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. J&hrg. $8
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— 410 —
epidemie in Klosterneuburg und der Thatsache, dass dort endlich
das Vorkommen von Typhuskeimen im Trinkwasser factisch nach-
gewiesen wurde; erinnern wir uns endlich der neuesten Vorgänge,
die sich in Wien in Sachen einer Ergänzung der Hochquellen-
leitung abgespielt haben, wo Herr Prof. Dr. Weichselbauni auf
Grund persönlicher Beobachtungen energisch gegen die weitere
Einleitung von nicht-filtrirtem Schwarzawasser in die Hochquellen¬
leitung auftreten zu müssen glaubte.
„Bei der Beurtheilung der hygienischen Beschaffenheit eines
Trinkwassers“, erklärte er, „kommt in erster Linie nicht die Zahl
sondern die Beschaffenheit der Bacterien in Betracht. Ein Wasser,
welches pathogene Bacterien enthält, muss, gleichgiltig ob die Zahl
der Letzteren mehr oder weniger als 100 per cbcm. beträgt, un¬
bedingt vom Genüsse ausgeschlossen werden. Das Hochquellen¬
wasser in Wien führte, solange demselben nicht Schwarzawasser
beigemengt wurde, ganz geringe Mengen von Bacterien, höchstens
50 per cbcm. Im vergangenen Winter betrug jedoch nach meinen
Untersuchungen die Zahl der Bacterien während der Einleitung
vonSchwarzawasser fast immer mehr als 300, an einigen Tagen
sogar mehr als 3000. Auch hier war nicht die gesteigerte Zahl
der Bacterien an und für sich das Bedenkliche; allein sie wies
darauf hin, dass eine Verunreinigung des bacterienarmen Hoch¬
quellen -Wassers mit dem bacterienreichen Schwarzawasser statt¬
gefunden und somit die Möglichkeit gegeben war, dass aus Letzterem
gelegentlich auch pathogene Keime in’s Trinkwasser von Wien ge¬
langen konnten. Wer weiss, dass an den Ufern der Schwarza
oberhalb der Schöpfstelle eine grosse Anzahl menschlicher VVohn-
stättten sich befindet, welche nicht blos die gewöhnlichen Abfälle
und Schmutzwässer des Haushaltes sondern speciell den Inhalt der
Aborte und Stallungen direct in die Schwarza entleeren — Ver¬
hältnisse, welche auch dem Herrn Baurath Mihatsch sehr wohl
bekannt sind — der wird sicher die Möglichkeit nicht leugnen
können, dass im Falle des Auftretens von Typhus in diesen An¬
siedlungen Krankheitskeime in die Schwarza und somit während
des Schöpfens aus der Schwarza auch in die Hochquellenleitung
gelangen; diese Möglichkeit ist es ja in erster Linie, welche die
Einleitung von Schwarzawasser als sehr bedenklich erscheinen
lässt.“ — Und diesen Bedenken hat sich seitdem auch die Regie¬
rung angeschlossen, indem sie die Stadt zur Filtration des Schwarza¬
wassers oder anderweitigem Ersatz desselben genöthigt hat.
Somit erscheint denn der Beschluss durchaus berechtigt, welcher
auf dein Wiener Hygiene-Gongress nach Discussion der einschlägigen
Fragen ausgesprochen wurde und welcher lautete: „Bei der
nachge wiesene n Möglichkeit der K r a n k h e i t s err e g u n g
durch inficirtes Trink- und Gebrauchswasser ist die
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411
Sorge für gutes, unverdächtiges Wasser eine der wich¬
tigsten Massregeln der öffentlichen Gesundheitspflege!“
— Und im Anschluss hieran gestatte ich mir die weitere Frage:
Welches Flusswasser, dem städtische Kanalwässer beigemengt sind,
könnte wohl bei dem heutigen Stande der Wissenschaft als un¬
verdächtig bezeichnet werden? — Da endlich, wie das voll¬
kommen feststeht, die Filtration im grossen Massstabe einen un¬
bedingten Schutz gegen das Durchdringen von pathogenen Keimen
nicht gewährt, so ist zu fordern, dass zur Steigerung der allge¬
meinen Sicherheit Kanal Wässer nur nach vorhergehender gründ¬
licher Reinigung in öffentliche Flussläufe abgeleitet werden. Die
Flussverpestung in jeglicher Form schleicht sich leise und im Lauf
von vielen Jahrzehnten herein und überwuchert wie ein Unkraut
ertragreiche Ströme, und eben darum ist das Uebel gleich im Keime
zu ersticken, denn Unkraut vergeht nicht*).
In England bestimmte schon im Jahre 1876 eine Rivers Pollu¬
tion Prevention Act, dass fortan Kanalwässer in keinen Strom
geleitet werden dürften, und es ist namentlich interessant, die dabei
vorgebrachte Definition des Wortes „Strom“ näher kennen zu
lernen; „Strom“ umfasst nämlich die See bis zu derjenigen Aus¬
dehnung, und den Gezeiten ausgesetzte Wasserläufe bis zu solchen
Punkten, welche seitens der Local Government Board nach ört¬
licher Inspection oder aus sanitären Gründen im einzelnen Falle
bestimmt werden würden. — Als ich oben bemerkte: Nicht einmal
wegwerfen könnten wir diese Kanalstoflfe umsonst, geschah das
besonders in Erinnerung des oft ganz gedankenlos angebrachten
1) Ich erinnere daran, dass an Filteranlagen in dem riesigen Massstabe
unserer Wasserwerke auf die Dauer nicht solche Ansprüche gestellt werden
können, wie sie für Laboratoriums-Versuche Geltung erhalten, und fernerhin
daran, dass Herr Dr. PI agge in seinem 1886 vor der Versammlung der deutschen
Naturforscher und Aerzte gehaltenen Vortrage nicht nur die Unzuverlässigkeit
von Sand und Kiesfiltern, wie er sie zu seinen Versuchen benutzte, betont hat,
sondern dass er auch speciell constatirte, es hätten sowohl Typhus als Cholera-
* keime die verschiedenen zu prüfenden Kohlenfilter mit dem zu filtrirenden Wasser
passirt (cf. z. B. Ges.-Ing. 1886 Nr. 19, pag. 609). Den Beschluss des Wiener
Hygiene-Ccngress habe ich aber zur Anknüpfung noch einer anderen Folgerung
hier cilirt. Wenn Bacteriologen die Gefahr einer Verbreitung von Seuchen durch
den Genuss von nicht filtrirtem Flussw'asser anerkennen, und wenn sie deshalb
ein solches von der Wasserversorgung der Städte ausgeschlossen wissen wollen,
so wird doch Niemand bestreiten, dass durch diese Massregel die besorgte Gefahr
für Land- und Schiffsbewohner auch nicht im Geringsten gemindert wird. Wir
bemühen uns aber für allgemeine, nicht städtische, Gesundheitspflege, und ich
habe schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die Filtration des städtischen
Fluss- und Trinkwassers selbst dem Städter eine immer nur bedingte Sicherheit
gewährt, so lange die Schiffsbewohner sich oberhalb der Stadt die Seuche durch
den Genuss des unfiltrirten Wassers holen können. Ich sehe also nur von Neuem
die Verpflichtung, für die Reinigung nicht nur des Trinkwassers der Städter,
sondern des ganzen Flusswassers nach besten Kräften einzutreten.
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412
Vorschlages, die städtischen Kanalwässer ungereinigt in das Meer
abzuleiten. Ich habe aber schon früher einmal an den practischen
Erfahrungen einer Reihe von Städten gezeigt, dass derartige Ver-
sudhe fast immer nur die denkbar unangenehmsten Resultate er¬
gaben *)• Ich sprach dort von Liverpol, Dover, Hastings, Carnavon,
Margate, Ipswich, Portsmouth, Providence (U. S.), Rio Janeiro,
Marseille, Neapel und Barcelona, welche Städte ja alle zu ihrem
mehr oder minder grossen Schaden erfahren mussten, dass es so
lächerlich ist, von einer schier unendlichen Verdünnung der Kanal¬
wässer durch das Meer zu fabeln, wie es incorrect ist, von einem
Flusslauf, der an Wasser per Sec. 1000 cbm. führt und dabei nur
2 cbm. an städtischen Kanalwässern aufnimmt, zu behaupten, es
träte hier eine 500 fache Verdünnung ein.“ Es fliessen Wässer
wohl hunderte von Kilometern miteinander, ehe eine so innige Ver¬
mischung der beiden erreicht wird; und was demgegenüber das Meer
anbetrifft, so ist es ganz falsch, Kanalwasser ungereinigt hinein zu
leiten, so lange nicht eine deutlich erkennbare, kräftig abführende
Küstenströmung vorhanden ist. Und wenn diese da ist, so will
sie studirt sein, wie ein Strom hier zu Land. Soll ich nun obige
Liste von fehlgeschlagenen Versuchen noch weiter ergänzen? Nein,
diese Versuche werden gewiss noch nicht alle; und wenn meine
Anforderungen in der That noch verfrüht sein sollten, so gereicht
es so wenig zum Nutzen als zur Zierde der Menschheit, wenn ihre
kleinen Schwächen in derartigen Dingen ohne die zwingendsten
Gründe an’s Licht gezerrt werden. Also nur an zwei naheliegende
Beispiele der Neuzeit möchte ich diesmal erinnern: Stralsund
mit seinen ca. 35,000 Einwohnern entwickelt die Gabe den „Ocean
zu vergiften“! Es leitet wenigstens seine Abwässer „ohne Nach¬
theile“ in das Binnengewässer der Ostsee, das dort 2,5 km. Breite
besitzt. Aber, je nach der Windrichtung, (nicht einmal Ebbe und
Fluth oder ein beträchtlicher Salzgehalt sind ja dort zu bekämpfen!)
zeigt sich schon die Verunreinigung in der Umgebung der Mündungs¬
punkte, und man beeilt sich nun, mit einem Siebe die festeren
Sinkstoffe zurück zu halten; wird doch nachher die Verunreinigung
schon wesentlich weniger „sichtbar“ werden! 1 2 ). Dagegen macht
es einen etwas erquickenden Eindruck, wenn man vom Seebad
Norderney hört, dass es mit Anschluss des Regenwassers kanalisirt
werden soll, dass Rieselanlagen auf den Dünen projectirt sind,
weil es eben unerlässlich ist, die Gestade ganz sauber und frei zu
erhalten, und dass mit Rücksicht auf diese Rieselanlagen nur
süsses Wasser zur Spülung der Kanäle verwendet werden wird.
1) Gesundheits-Ingenieur 1886, Nr. 23, 1. Der.
2) Gesundheits-Ingenieur 1888, Nr. 15.
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— 413 —
Wo die Geldfrage mit dem Streben, das wissenschaftlich für
gut Erkannte in die Praxis zu führen, in Wettbewerb tritt, wird
die erstere fast immer die Oberhand haben, und gute Absicht und
Fähigkeit müssen gleich stark vertreten und verbreitet sein, wenn
in Küstenstädten wo nicht, wie in Norderney, financielle Rück¬
sichten des Ortes zur weitgehendsten Pflege der Umgebung ver¬
pflichten, selbst jeder Versuch unterbleibt, die ungereinigten Kanal¬
stoffe in das Meer abzuleiten. Das sagen wir nun heute, und
wie viel mehr Anerkennung haben wir demnach einer Seestadt
wie Danzig zu zollen, in der man auf diesem so neuen Gebiet schon
vor jetzt 20 Jahren den künftigen Gang der Entwicklung und die
eorrecteste Lösung der Städtereinigungsfrage erkannt, und, was
gewiss sehr viel mehr ist, in die Wirklichkeit eingefühft hatte. Es
war ein Unternehmen, welches jeden Fachmann auch heute noch
mit Achtung erfüllt; und das namentlich wenn er beobachtet, wie
jetzt wieder sehr ähnlich situirte, bedeutende Städte sich mit Händen
und Füssen gegen eine gründliche, durchgreifende Lösung der Kana¬
lisationsfrage sträuben, indem sie den Wunsch nach fortgesetzter.
Ableitung aller ihrer Schmutzwässer in einen verhältnissmässig
kleinen und träge fliessenden Strom etwa mit dem Hinweis darauf
zu rechtfertigen suchen, dass der Urin mit allen Wirthschafts-
wässern schon seit Jahren dem nämlichen Flusslauf zugeführt werde,
und dass im Urin doch ein viel grösserer Theil der organischen
Bestandtlieile als in den festen Fäcalstoffen enthalten sei, welche
Letzteren man jetzt nur hinzufügen möchte; dass allerdings —
aber eben nur bei einem widrigen Winde — eine starke Strömung
stromaufwärts erscheine, die sich selbst mehrere Meilen oberhalb
der Stadt noch bemerkbar mache, dass dieser aber doch auch bei
abfallendem Winde eine naturgemäss stärkere Strömung strom¬
abwärts entspreche; dass „die dem Körper durch Trinkwasser zu¬
geführte Feuchtigkeit nur einen Theil der erforderlichen ausmache,
und der schädliche Einfluss von Trinkwasser in Folge des Gehaltes
an organischen Stoffen und an gewissen Microorganismen auf
die menschliche Gesundheit keineswegs vollständig erwiesen sei“,
und endlich, dass für die Schiffsbevölkerung eine Entnahme
von Flusswasser zu Genusszwecken durchaus nicht „unbedingt er¬
forderlich“ wäre! Was sind das für ausserordentlich vielsagende
Gründe! 0, dass der Herr Verfasser der obigen Citate doch be¬
rufen würde, die Sanitätsgesetze Deutschlands zu rectificiren; da
würden wir dann lesen: „Es ist männiglich gestattet, ein faulendes
Fleisch auf dem Markt feilzubieten, sintemalen das Fleisch nur
ejnen Theil der erforderlichen Nahrungsmittel ausmacht, auch der
schädliche Einfluss des Fleisches in Folge von Fäulniss auf die
menschliche Gesundheit noch keineswegs vollständig erwiesen ist,
und übrigens der Genuss des erstandenen faulenden Fleisches für
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— 414
die Ortsbevölkerung ja durchaus nicht unbedingt erforderlich wird.“
Ja, wahrlich, hier weht uns noch der durchdringende und menschen¬
freundliche Geist jenes mittelalterlichen französischen Richters ent¬
gegen, der auf die Verlheidigung eines Bettlers, „er müsse doch
etwas zu leben haben“, noch zu erwidern vermochte: Je n'en
vois pas la necessite!
Aber zurück zu unserem Thema! Im Gegentheil, möchte ich
sagen, jene mächtigen Städte, die an der Ausmündung eines den
Gezeiten freistehenden Stromes liegen, haben höchstens einige
Gründe mehr, ihre Abwässer zu klären; handelt es sich doch
bei Erwägungen auf diesem Felde nicht darum, ob sich heute oder
morgen schon ein Nachtheil ergibt. Die vielseitig interessanten
Ergebnisse der Londoner Beobachtungen geben in dieser Hinsicht
vortreffliche Lehren. Als vor Jahren in England das Schlagwort
erschien: Kein englischer Strom sei lang genug, um die Unschäd¬
lichmachung der eingeleiteten Kanalwässer durch natürliche Oxy¬
dation zu gestatten, da hatte man hier sofort die Erwiderung bei
der Hand: „Sehr richtig! aber bei uns ist das ja ganz etwas
Anderes! Vergleicht doch nur Deutschlands Ströme mit denen in
England!“ — Nun, zunächt möchte ich bemerken, dass eine so
unüberlegte Erwiderung mir sehr wenig Trost zu enthalten scheint.
Oder sollen wir uns vielleicht bei dem Bewusstsein beruhigen, dass
Kanalwässer, welche man in deutsche Ströme einleitet, erst dann
durch Selbstreinigung des Flusses unschädlich werden, wenn sie
eine Strecke von der Länge des grössten englischen Stroms durch¬
schwommen haben? — Und zweitens hat man nach den sehr zu¬
verlässigen Quellen der Herren Prof. C o r f i e 1 d und Parkes in
London constatiren können, dass die an den Hauptauslässen in die
Themse entleerten Kanalwässer der Metropolis rund dreissig Tage
lang in der Mündung des Flusses oscilliren, bevor jener Theil, der
nicht inzwischen unter Mitwirkung des salzigen Seewassers gefällt
worden ist, sein eigentliches Ziel, das Meer, erreicht *). Was nützt
also dem Continent die Länge seiner Ströme, wenn an der Mün¬
dung eingeführte Schmutzstoffe sich unter Umständen etwa 30 Tage
lang aufwärts und abwärts bewegen. Und meinestheils habe ich
die Ueberzeugung, dass schon im Laufe dieser Oscillationen die
1) Die Einwirkung des Meerwassers auf die mit dem süssen Wasser ein¬
geführten städtischen Kanalwässer ist eine sehr energische. Es übt, nach den
Beobachtungen englischer Fachleute, speciell durch seinen Gehalt an verschiedenen
Salzen eine starke fallende Wirkung aus. Suspendirte Substanzen werden mit
solcher Geschwindigkeit und Energie niedergeschlagen, dass der bekannte Ingenieur
Herr B. Latham einst den Vorschlag machen konnte, die Unreinheiten der Ab¬
wässer Londons in Klärbassins eben durch künstliche Behandlung mit dem billigen
Salzwasser der Nordsee unter Zusatz von Kalkmilch zu präcipitiren. Herr Latham
schreibt diese Wirkung des Meerwassers in erster Linie dem Gehalt desselben
an Chlormagnesium zu (Nordsee 2,9—3,8 gr. p. lt., Ostsee 0,65 gr., Mittelmeer
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415
suspendirten Stoffe von dem reineren Wasser mechanisch getrennt
werden müssen, ja, dass sie deshalb sogar noch weit länger als jene
hin- und hertreiben werden. Und setzen wir für diese suspendirten
Stoffe und für unsere viel günstigeren Verhältnisse nur 20 an Stelle
jener 30 Tage, so ist das immer noch ein Zeitraum, in dem
schwimmende Stoffe von der Quelle bis zur Mündung den ganzen
gewaltigen Rheinstrom zu Zeiten selbst zweimal durchreisen
könnten !
Aber genug hiervon. Betrachten wir jetzt noch in Kürze die
Mittel, welche uns zur Vermeidung einer Verunreinigung der Flüsse,
d. h. zur Reinigung der Kanalwässer an die Hand gegeben, und
die Erfolge, welche mit deren Hülfe bis dato erzielt worden sind.
— Die chemische Klärung der ungeheuren Massen von städtischen
Kanalwässern, um die man sich in England schon so lange und so
eifrig bemüht hat, würde, wenn sie gelänge, zu einem Gegenstand
von hoher volkswirthschaftlicher Bedeutung werden, und alle Inter-
essirten können nur mit aufrichtigem Bedauern wahrnehmen, dass
die Aussichten hierfür im Verschwinrlen sind. In Deutschland wird
man wohl zweifellos noch jahrelang und in „kostbarer“ Geduld
ruhig fort experimentiren, auch mögen die Versuche von allen
Denen mit Theilnahme und Spannung beobachtet werden, denen
die* Vorgeschichte der Versuche nicht weiter bekannt ist. Den
übrigen Interessirten dagegen dürfte die Thatsache genügen, dass
in England nicht Laien, sondern grade die allerbedeutendsten Fach¬
männer, und ich meine jetzt Chemiker, die sich grade mit
dieser Frage specialistisch befassen, die eigene Hoffnung
verloren und damit auch die Hoffnung der weiteren Kreise vernichtet
haben. Ich verweise besonders auf die Erklärungen der Herren DDrs.
Tidy, Roscoe, Dupre und Frankland, und namentlich auf
die von Herrn Dibdin, dem ehemaligen Chemiker der Metropolitan
Board of Works, gemachten Aussagen, denn Herr Dibdin» hat
wohl gewiss die ehrliche Absicht gehabt, der Chemie auch auf
diesem Felde zu einem Siege zu verhelfen, und an Mitteln und an
Gelegenheit seine Experimente zu machen, hat es diesem Chemiker
wahrhaftig nicht gefehlt. Und was kann er nun zu Gunsten seiner
Fachgenossen sagen? „Seit Jahren haben Chemiker ihr Bestes
gethan,’ um diese fauligen Stoffe uns nutzbar zu machen, und jetzt
sind sie gezwungen es anzuerkennen, dass sie in Wirklichkeit wenig
etwa 3,22 gr.) — Die nämlichen Salze haben aber nach den Mittheilungen der
Herren Prof. Gorfield und Parkes auch eine wesentliche Verlangsamung des
Oxydations- Processes zur Folge, und vielleicht ist eben hierdurch die Thatsache
zu erklären, dass die Hafenwässer der Köstenstädte so leicht in der scheusslichsten
Weise verunreinigt werden, und dass auch, wie erwiesen ist. die Microorganismen
der Kanalwässer durchaus nicht etwa durch Einwirkung des Seewassers vernichtet
werden.
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416
der Erklärung, „dass kein chemischer Klärungsprocess in der
Praxis im Stande sei, mehr als ein ganz beschränktes Quantum
vermögen!“ und seine Untersuchungen dienen ihm zur Bestätgiung
der oxydirbaren organischen Substanzen zu entfernen, welche das
(Londoner) Kanalwasser mit sich führt *).“
Vor Besprechung der chemischen Klärungsprocesse möchte ich
zunächt daran erinnern, dass sie fast alle aus zwei zu unterschei¬
denden Vorgängen sich zusammensetzen, nämlich aus dem Zusatz
gewisser Chemiealien, welche die wesentlichsten Dienste zu leisten
haben, und einer mechanischen Behandlung der Kanalwässer durch
Rührwerke, Filter und Klärbassins, welche nur die Einwirkung der
Chemiealien erhöhen und erleichtern soll. Die Mechanik bleibt
aber vollkommen untergeordnet, und wenn nur erst die Haupt¬
aufgaben der chemischen Reinigung und der Verwerthung der
Dungstoffe gelöst sind, so wird uns auch das Bedürfniss einer
Unterstützung durch mechanische Hülfswerke gewiss nicht in irgend
einer Verlegenheit finden; und so wolle man auch mir jetzt ge¬
statten, die mechanische Seite der Frage hier mehr oder weniger
bei Seite zu lassen.
Was die Ghemicalien anbelangt, so würden wir in der Praxis
ihrer Verwerthung vielleicht besser fahren, wenn bezüglich der
Theorie volle Einigkeit herrschte; leider gehen aber die Ansichten
der betheiligten Chemiker über die Art der gegenseitigen Beein¬
flussung der in Berührung gebrachten Substanzen noch ziemlich
weit auseinander. — Das meistangewendete, und einst der billigsten
Hülfsmittel ist der Kalk, der namentlich in Form von Kalkmilch
den Kanalwässern zugeführt zu werden pflegt; und man beginnt
in England die leichte Behandlung der Kanalwässer mit Kalk auch
in solchen Fällen zu empfehlen, wo Rieselanlagen die eigentliche
Reinigung bewirken sollen, und zwar namentlich dort, wo es sich
um die Verrieselung der Abwässer von Industriestädten handelt,
welche grössere Mengen von freien Säuren, Salzen und Metallen
in Lösung enthalten, als dem Pflanzenwuchs zuträglich sind. Man
erklärt sich die fällende und damit klärende Wirkung des Kalkes
als die Folge seiner Verbindung mit der freien, theilweise auch mit
der gebundenen Kohlensäure und ferner eben mit den organischen
Substanzen der städtischen Abwässer. Hiergegen vertritt nun z. B.
Dr. Tidy die Ueberzeugung, dass der Kalk sofort und zwar nur
mit der Kohlensäure eine Verbindung eingehe und dass er dann
nur noch als Schwerstoff in die Tiefe sinke und einiges mit sich
zu Boden reisse, während er sonst zur Wirkung als Präcipitations-
mittel schon vollständig werthlos geworden sei. — Herr Dibdin
1) Cf. Minutes of Proceedings of the Inst, of Civ. Eng. Vol. 88. — Sep.-
Abdck. „Disposal of Sewage Sludge“ pag. 7 u. pag. 105. London 1887.
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— 417 —
stellte in seinem Vortrage vor der Inst, of Civ.-Eng. den Grundsatz
auf, dass nur so viel von dem zugefügten Kalk in Wirklichkeit
verwerthet werde, als sich in Lösung befindet; suspendirt bei¬
gemischter Kalk sei wirkungslos, und bei der Zubereitung der Kalk¬
milch sei demnach Sorgfalt von Nöthen. Ebenso sei aber ein
Zusatz von Kalk im Ueberschusse zu vermeiden, da hierdurch
suspendirte Stoffe in Lösung übergeführt würden, anstatt von dem
Klärmittel programmmässig gefallt zu werden *). — Den vielfach
ausgesprochenen Satz, Kalk entwerthe den Düngerschlamm, indem
er die Verflüchtigung des Ammoniaks fördere, bezeichnet Prol.
Corfield als irrig; dagegen unterliegen die Rückstände der blossen
Kalkbehandlung einer schnellen Zersetzung und Gährung, was nament¬
lich im Hinblick auf die Schwierigkeit der Unterbringung und Be¬
seitigung dieser Rückstände von Bedeutung ist. — Dr. A. Angell 1 2 3 )
wandte sich einst sehr energisch gegen jede Anwendung von Kalk
zur Klärung des Kanalwassers, indem er u. A. geltend machte,
dass durch seine lösende Wirkung die Schlammmassen vergrössert
würden, dass er Dank seinen basischen Eigenschaften üble Gase
freigebe, dass er durch Schaffung einer gewissen Alkalinität das
vibrionische Leben der Gährung befördere und endlich, dass der
durch Kalkbehandlung gewonnene Schlamm als Dünger auf die
Dauer dem Lande nicht zuträglich sei.
Man fühlt hierbei wohl, dass durch den Kalk an und für sich
der angestrebte Zweck nicht erreichbar ist, und es sind nun zu¬
nächst zwei weitere Materialien, die man der Kalkmilch zu Hülfe
gebracht hat: die schwefelsaure Thonerde und das schwefelsaure
Eisenoxydul. Ueber die Bedeutung derselben sind Fachleute wieder
durchaus abweichender Meinung, und während z. B. Herr Dibdin
der schwefelsauren Thonerde eigentlich nur einen Scheinerfolg,
einen Erfolg für das Auge, bewilligt 8 ), fallen andere seiner Collegen
ein recht günstiges Urtheil, und die Herren Prof. Corfield und
Parkes erklären, sie wirke als Präcipitationsmittel in der Weise,
dass die schwefelsaure Thonerde in Verbindung mit dem Kalk im
Kanalwasser die Bildung von schwefelsaurem Kalk bewirke,
während ein Thonerdehydrat in Flockenform ausgeschieden werde,
welches einen bedeutenden Theil der suspendirten und auch Einiges
von den gelösten organischen Substanzen mit niederschlage. Immer¬
hin ist aber zu beachten, dass nach Dibdin mit Kalk und schwefel¬
saurer Thonerde im Werthe von 82,000 Pfund Sterling im Jahre
erst derjenige Erfolg (an den Kanalwässern Londons z. B.) erzielt
werden könne, den man unter Benutzung von Kalk in Verbindung
1) Minutes of Proceedings of the Inst of Civ.-Eng. Vol. 88. Sep.-Abdrck.
„Disposal of Sewage Sludge“ pag. 10.
2) 1. c. pag. 51.
3) Minutes of Proceedings etc. 1. c. pag. 7.
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418
mit Eisensalzen schon für die Summe von 31,000 Pfund Sterling
zu Stande bringen würde, und der Kostenpunkt, daran brauche
ich doch gewiss nicht zu erinnern, erhält in der Regel nur zu
grosse Bedeutung.
Nun komme ich weiter zu den Meinungsverschiedenheiten,
welche bezüglich der Wirkung der Eisensalze bestehen. Nach dem
schon mehrfach citirten Vortrage des Herrrn Dibdin würde Eisen¬
oxyd in zweierlei Form präcipitirt, nämlich einmal als Ferrooxyd
(der niedrigeren Stufe der Oxydation) und einmal als Ferrioxyd
(der höheren Stufe), je nach der Form, in welcher das Sulfat
existirt. Das meist verwendete schwefelsaure Eisenoxydul liefere
Ferrohydrat, welches durch den im Wasser gelösten Sauerstoff
schnell in Ferrihydrat verwandelt werde. Nun habe es aber, und
diese Ueberzeugung wird von Dr. Stevenson getheilt ! ), die eigen-
thümliche Eigenschaft, den Sauerstoff an die organischen Substanzen
des Kanalwassers abgeben zu können (cf. auch Tabelle Nr. 8 111),
wobei es dann selbst wieder auf Ferrohydrat reducirt wird, und
soweit scheint Einigkeit vorzuherrschen. Wenn aber jetzt Herr
Dibdin behauptet, in dieser Art wirke das Salz weiter fort, indem
es von Neuem wieder Sauerstoff aufnehme und abgebe, und aber¬
mals aufnehme und abermals gebe, so möchte Dr. Tidy doch um
einen Beweis hierfür bitten. Die Anwendung von schwefelsaurem
Eisenoxydul hat übrigens ihre Schattenseiten schon deutlich gezeigt.
Vor allen Dingen gibt es dem Schlamm und dem Strom, der die
Kanalwässer aufnimmt, ein schmutzig-schwarzes Aussehen, ein be¬
denklicher Umstand, der leicht beachtenswerthe Unannehmlich¬
keiten heraufbeschwören kann; und andererseits ist Dr. Steven¬
son der Ueberzeugung, dass die Anwendung des schwefelsauren
Eisenoxyduls immer besser unterbleibt, wo die nachfolgende Ver¬
rieselung der Kanalwässer beabsichtigt wird.
Dies wären also die meistverbreiteten Chemiealien zur Kanal-
wasserpräcipitation; auf die Tausende von sonstigen Zuthaten, die
von allen möglichen Erfindern und Speculanten theils offen, theils
als Geheimmittel angepriesen werden, hier einzugehen, verbietet
sich von selbst; sind doch die lächerlichsten Behauptungen über
die angebliche Wunderwirkung der unschuldigsten Stoffe in die
Welt gesetzt worden! Ich will z. B. nicht hoffen, dass sich irgend
Jemand in ein tieferes Studium über die chemische Bedeutung und
Wirkungsweise des im A-B-C-Process zur Kanalwasserklärung be¬
nutzten Thierblutes versenkt hat; es dürfte ihn sonst unangenehm
überraschen, von dem Erfinder jenes Verfahrens, Herrn Sillar,
selbst zu erfahren, dass ihn zu einer Anwendung von diesem ganz
besonderen Saft allein eine Stelle in der Schrift getrieben hat, denn
1) Prof. Corfield und Parkes. Treatment und Utilization of Sewage
pag. 345.
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„es stehe im Gesetz geschrieben, durch Blut werde Alles »gerei¬
nigt« werden“, („purged“ heisst allerdings bei uns auch „gesühnt“!).
Eine derartige Meldung aus England erscheint aber nicht grade
unglaublich, und es berührt Weniges so abstossend, wie solche
dort drüben recht häutig beliebte Verquickung einer wissenschaft¬
lichen Untersuchung mit den prophetischen Worten der heiligen
Schrift. Wenn nur Herr Sillar nicht unglücklicher Weise auf
jene Stelle, anstatt eine andere, z. B. auf die Schriftworte 2 Mos.
cap. 7 v. 20—21 gekommen wäre, so hätte sein blutiger Process
vielleicht niemals das Licht dieser Welt erblickt.
Für Fälle, in denen es unerlässlich ist, die etwa nachfolgende
Fäulniss der im geklärten Wasser enthaltenen löslichen Substanzen
nachdrücklich zu verhindern, erklärt Herr Dibdin nur zweierlei
Mittel zu kennen, nämlich Permangansäure und Chlorkalk. Die
Erstere, als permangansaures Kali oder Natron im Beisein von
Schwefelsäure gebraucht, sei ganz harmlos % und geruchlos und,
indem sie ihren eigentlichen Zweck erfülle, vernichte sie auch sich
selbst. Grade umgekehrt verhält sich dagegen der Chlorkalk, denn
er verursacht unangenehme Gerüche und wirkt vernichtend auf
vegetabilisches und animalisches Leben.
Namentlich die letztere Eigenschaft veranlasst den Chemiker
der zu Grabe getragenen Metropolitan Board of Works sich sehr
bestimmt gegen die Anwendung von Chlorkalk zu entscheiden, und
es gewährt in der That einen eigenthümlichen Anblick, wenn man
beobachtet, wie die Herren Chemiker dort drüben, jetzt, da sie
die eigene Ohnmacht recht erkannten, sich Schutz suchend auf
die Allmacht der Natur berufen. Da sie selbst die gelösten orga¬
nischen Substanzen der Kanalwässer nicht zu vernichten vermögen,
erklären sie heute, dass dies überhaupt nur durch das vegetabi¬
lische und animalische Leben der Natur zu erreichen sei, und dieses
also müsse nach allen Kräften gefördert werden. Die Herren DDrs.
Dibdin, Angell, Dupre und Andere unternahmen es schon im
Jahre 1887 die höchstinteressirten Zuhörer auf den Kanalwasser-
Reinigungsprocess der Zukunft zu verweisen, der chemisch-biolo¬
gischer Natur sein werde. Nicht nach der Fällung der organischen
Substanz, nicht nach der Production von brauchbarem Dünger¬
schlamm sei jetzt zu streben, sondern allein nach der Züchtung,
Ernährung und Vermehrung des Bacterienlebens in der freien Natur.
— Nun, zugestanden, dass die Wissenschaft bei den fabelhaften
Fortschritten, die sie seit einer Reihe von Jahren gemacht hat,
dieses hohe Ziel, vielleicht sogar in absehbarer Zeit schon erreichen
könnte, so muss doch nichtsdestoweniger eine absolute Vernichtung
der sehr gemischten Bacteriengesellschaft, wie sie sich jetzt in den
Abwässern der Kanäle sehr breit macht, aus hygienischen Gründen
gefordert werden. Und selbst wenn der gegenwärtige Stand der
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Wissenschaften nicht mit vollendeter Klarheit und Sicherheit er¬
kennen lässt, welche Folgen wir anderenfalls zu erwarten haben,
so werden wir die noch fehlende Weisheit ohne Zweifel am sicher¬
sten und schnellsten erreichen, wenn wir die Entwicklung unserer
Projecte nur vertrauensvoll aus dem Schoosse der Vorsicht erwarten,
denn die Vorsicht ist bekanntlich die Grossmutter der Weisheit.—
Die natürliche Selbstreinigung der Flüsse ist aber auch höchstens
bestimmt, eine natürliche Verunreinigung derselben wieder auszu¬
gleichen, und wenn man tausende und hunderttausende von Cubik-
metern an Schmutzstoffen fortgesetzt absichtlich in die Flussläufe
leitet, so muthet man der Allmacht der Natur schon zu, dass sie
sich menschlichen Forderungen anbequeme. Das Umgekehrte natür¬
lich würde das Richtigere sein, und wenn also hier Chemiker,
anstatt die Arbeiter der Natur zu entlasten, der Allmacht eine
menschliche Unterstützung offeriren, so muss ich bekennen, dass
ich der Erfolge nur mit einem Minimum von Hoffnung gewärtig
bleibe.
)
Welchen Verlauf die jahrzehntelangen Bemühungen englischer
Städte in der Kanalwasser-Reinigungsfrage genommen haben, ist
wohl aus dem bisher Gesagten schon ersichtlich geworden; dessen
ungeachtet füge ich in Tabellenform nach dem hochinteressanten
Corfield’schen Werke die Ergebnisse bei, welche mit den wich¬
tigsten der in England erzielten Klärungsmethoden erreicht worden
sind, und ich glaube, dass man an der Hand solchen Materials in
vielen Fällen wird Voraussagen können, was wir noch in Deutsch¬
land zu erwarten haben. — Ich finde kaum den Muth, so lang¬
jährigen und gross angelegten Versuchen die wenig umfangreichen
Experimente gegenüber zu stellen, welche man in Deutschland bis
dato gemacht hat. Es zeigen sich hier aber schon heute die näm¬
lichen Erscheinungen, die auch in England sich geltend machten.
Die Privat-Speculation bemächtigt sich des Gegenstandes, und Che¬
miker, die da glauben mit Hülfe einer Profit versprechenden Er¬
findung grosse Städte vor riesigen aber unnöthigen Ausgaben
schützen zu können, halten den nach Strohhalmen greifenden Stadt-
räthen ihre meistentheils gleichwerthigen Patente entgegen. Den
stillen Beobachter dagegen erfüllt besten Falls lebhafter Missmuth
gegenüber dem Gedanken, dass hier speculirt und probirt und ge¬
panscht werden soll, wie in England, ohne dass die dortigen Erfah¬
rungen und riesigen Ausgaben, wie man es erwarten sollte, ver-
werthet würden. — In Frankfurt a. M. will man mit schwefelsaurer
Thonerde und Kalkmilch unter mechanischer Mitwirkung von Klär¬
bassins präcipitiren; nun, man weiss dort also wenigstens ganz gut,
was man will, und scheut sich auch nicht, sich darüber auszu¬
sprechen. Aber wenn auch, das Verfahren enthält erstens durch¬
aus nicht etwas Neues (cf. beifolgende Tabelle Nr. 16, 13, 14 und
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— 421
11), zweitens wurde schon auf der Basis der ersten Versuche ent¬
schieden, dass dort die Wirkung der Chemicalien kaum stärker sei,
als die mechanische Wirkung der Klärbecken allein (cf. Ges.-Ing.
1889, 15. April), und endlich hat der Erbauer, wie verlautet, schon
im Voraus' der Anlage die Eigenschaft einer „freien technischen
Lösung“ abgesprochen, und das gibt doch zu denken!-*- Das viel¬
umworbene Röckner-Rothe-System ist im Grunde genommen
nur eine sinnreiche Lösung des mechanischen Theils dieser Reini¬
gungsfrage; in der Wahl der Chemicalien war man noch unent¬
schieden und man wird es auch vielfach in Zukunft sein. Die
Ergebnisse waren theils sehr befriedigend, theils auch ganz uner¬
freulicher Art. — In Halle waren bedenkliche Misserfolge sehr
bald zu verzeichnen. — In Wiesbaden steht man ziemlich unge¬
wöhnlichen, jedenfalls durchaus nicht „normalen“ und also auch
durchaus nicht für anderwärts massgebenden Verhältnissen gegen¬
über, und im Uebrigen trifft man in den schnell emporkeimenden
neuen Systemen noch vorwiegend auf Geheimnisskrämerei, auf
Patente und Kalkmilch. — Was also schliesslich die nackten Resul¬
tate der langjährigen Bemühungen des In- und des Auslandes
betrifft, so ist bezüglich der chemischen Klärung der Abwässer
eigentlich nur ein einziger Grundsatz mit ununistösslicher Sicher¬
heit aufzustellen: Wo immer die chemische Reinigung städtischer
Kanalwässer in Aussicht genommen wird, ist in erster Linie eine
Regelung der Zusammensetzung der Abwässer anzustreben; d. h.
wenn ein wirklich dauernder Erfolg erzielt werden soll (und wenn
er es kann!), so darf unberechenbaren Factoren, oder bei uns:
den atmosphärischen Niederschlägen keinerlei Einfluss auf die Zu¬
sammensetzung der Abwässer gestattet werden.
Es sei mir nun in den noch folgenden Zeilen gestattet, mich
über die Reinigung der Kanalwässer durch künstliche oder natür¬
liche Filtration in möglichster Kürze auszusprechen, denn eine
Würdigung der ausführlichen Behandlung dieser Kapitel, welche
dieselben in dem Werke der Herren Prof. Corfield und Parkes
erfuhren, ist schon Raummangels wegen hier nicht zu erreichen.
— Jede künstliche Filtration, d. h. jede Filtration durch die künst¬
lich bereitete Masse nur mechanisch wirksamer Filterschichten
unter völligem Ausschluss von Pflanzen wuchs, hat sich in England
als durchaus werthlos für die Reinigung so schmutziger Abwässer
erwiesen, und es ist dies ganz besonders von jeglicher Aufwärts-
Filtration zu berichten. — Den Uebergang von der künstlichen
Filtration zu dem eigentlichen Rieselverfahren bildet die unbedingt
zu den natürlichen Reinigungsprocessen zu zählende „inter-
mittirende Abwärts-Filtration“ nach Bailey-Denton. Ich be¬
gegne noch immerfort in deutschen Schriften einer Wendung wie:
„Die Bodenberieselung ohne Pflanzenbau, d. h. die intermittirende
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Bodenfiltration“ und ich benutze deshalb noch einmal die Gelegen¬
heit, auf das Unrichtige dieser Ausdrucksweise nachdrücklich auf¬
merksam zu machen. Bodenberieselung ohne Pflanzenbau und
intermittirende Bodenfiltration sind durchaus nicht immer identisch.
Es ist das Erste wohl immer das Zweite; aber nicht immer wird
das Zweite das Erste sein. Auf den Berliner Rieselfeldern begegnen
wir doch allenthalben einer intermittirenden Bodenfiltration — das
ist aber nichts weniger als Bodenberieselung ohne Pflanzenbau.
Und grade jenes so werthvolle Special-Verfahren der intermitti¬
renden Abwärts-Filtration, dass einen sehr befähigten Vertreter in
Herrn Bailey-Denton gefunden hat, ist ein Verfahren, welches
seine immer noch fortdauernden Erfolge in erster Linie der Mit¬
arbeit animalischen und vegetabilischen Lebens verdankt, es ist
ein durchaus natürlicher Process, und ich bin überzeugt, dass
er auch in Deutschland eine freundlichere Beurtheilung erfahren
wird, sobald es nur gelingt, auch in weiteren Kreisen die Identifi-
cirung dieses Verfahrens mit einer „Bodenberieselung ohne Pflanzen¬
bau“ unmöglich zu machen *).
„Ist es nicht schmachvoll“, hat Marc Aurel einst gefragt,
„ist es nicht schmachvoll, dass der Baukünstler und der Arzt vor
den Gesetzen seiner Kunst mehr Achtung besitzt, als der Mensch
vor den Gesetzen seiner Vernunft, die er doch mit Göttern gemein
hat?“ Heute hätte Marc Aurel sich wohl allgemeiner gefasst
und von „vielen Vertretern der Wissenschaft“ gesprochen; aber
eben weil diese, und zwar sowohl in als ausser ihrem Beruf, selbst
Menschen sind, kann ich jene Worte, ohne den Sinn zu ver¬
letzen, auch in der Weise deuten, dass es schon vor 1700 Jahren
gebildeten Leuten nur schmachvoll erschien, wenn Menschen ihre
eigenen Gesetze und Grundsätze, oder ihre alten Gewohnheiten
auch da noch befolgt und aufrecht erhalten wissen wollen, wenn
diese mit der gesunden Vernunft sich im Widerspruch zeigen. —
Was mich übrigens hier auf scheinbar so fernliegende Gedanken
gebracht hat, ist etwas, das selbst noch die Götter mit uns nicht
gemein haben dürften, nämlich städtische Rieselanlagen! Man schaffe
sich nur ein Bild von der Entwicklung dieser Institution: Bei Edin¬
burgh existiren städtische Rieselanlagen ohne Schaden zu stiften seit
ungefähr 200 Jahren. Bei Bunzlau existiren sehr ähnliche Anlagen,
wenn ich mich recht besinne, seit 100 Jahren; in Mailand seit etwa
50 Jahren, und als dann vor 25 Jahren endlich eine allgemeinere Ver-
werthung derselben Methode unter neuzeitlicher Pflege und Ueber-
wachung zu grösserem Nutzen in's Leben treten sollte, da erhob sich
auf einmal ein Sturm der Entrüstung, der auch heute nicht vollständig
1) Ausführlich beschrieben ist das B ai 1 ey - De n t o n'sche Verfahren, welche«
nun auch in der Musterstadt * Pullmann (Chicago) Verwendung gefunden hat,
im Centralblatt f. allg. Ges.-Pflege 1886. H. VII. pag. 201 u. folg.
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— 423 —
verschwunden ist. Jetzt plötzlich sollte dieses Verfahren nicht nur
nutzlos bleiben, es sollte sich sogar für die Dauer oder für grössere
Anlagen als unausführbar, aber mindestens gemeingefährlich er¬
weisen! — Nun, man wusste wohl recht gut: Es thut keinen
Schaden; man wusste: Es ist öconomischer als die Ableitung aller
Schmutzwässer und Dungstoffe in die Flüsse. Für die Wahrheit
hatte man die vorzüglichsten Beläge und Proben der Praxis, nur
wollte man wenig von der Wahrheit wissen. Die Theorie war
grade damals dagegen gerichtet und theoretisch musste es also
zweifellos stinken, der Boden musste versumpfen, die Brunnen
mussten weit und breit vergiftet, und die allgemeine Gesundheit
musste auf alle mögliche Weise geschädigt werden. Es durfte
und sollte nicht sein, denn man hatte es einmal theoretisch un¬
möglich gemacht! Und jetzt? Und heute? Ja, jetzt sind nicht
nur in England die Chemiker rathlos und muthlos geworden, es
sind nicht nur in Deutschland und Frankreich vor Allem die
Millionenstädte gewesen, welche endlich das Rieselverfahren, und
dann allerdings gleich im grösstdenkbaren JVlass stabe, eingeführt
haben, sondern vor Allem dort drüben im fernen Australien hat
man mit weit offenen Armen die Vernunft aufgenommen und hat
grade dadurch das alte Europa schon jetzt überflügelt. Das ist
nun das Ende vom Lied, und mir scheint, das ist schmachvoll!
Adelaide, mit ca. 70,000 Einwohnern reinigt seine sämmtlichen
Abwässer mit dem besten Erfolg auf einem bedeutenden Rieselgut;
auch Sidney (mit ca. 250,000 Bewohnern) hält zur Reinigung der
städtischen Abwässer ein blühendes Rieselgut an der Küste des
offenen Meeres in Betrieb, und Melbourne, die bedeutenste Haupt¬
stadt jenes Erdtheils, mit reichlich 300,000 Bewohnern, hat das
Mutterland um Ueberlassung eines in Rieselanlagen erfahrenen
Technikers dringend ersucht, (ln London hat man für Solche
nicht genügende Verwendung, und so ist der in England’s fach¬
männischen Kreisen bekannte Civilingenieur Herr James Man-
sergh diesem Rufe gefolgt.)
Aber heute lässt sich die Rolle, welche wir bisher der blossen
Vernunft bei unseren Unternehmungen eingeräumt haben, noch
von einem etwas veränderten Standpunkt beleuchten. Wenn wir
es bei der Unschädlichmachung der städtischen Abwässer in der
That mit einer so schwierigen Aufgabe zu thun haben, erscheint
es dann nicht völlig vernunftgemäss, wenn wir diese Arbeit vor
Allem auf demjenigen Wege zu lösen versuchen, auf welchem die
Natur selbst ohne Drang und ohne Zwang den bedeutendsten Theil
dieser Lösung verrichtet? Wenn wir des vibrionischen Lebens der
Abwässer zur Reinigung derselben bedürfen, — wo kann es sich
nützlicher und ungefährlicher entfalten, als in den oberen Schichten
des berieselten Bodens? Wenn wir der Mitwirkung des pflanz-
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— 424
liehen Lebens bedürfen, — wo käme es besser zur Geltung, als
auf berieselten Feldern? Wenn wir die reinigende Kraft des Sauer¬
stoffs brauchen, — wo finden wir ihn leichter und reichlicher, als
in der freien Atmosphäre, als in der Luft, welche, den schmutzigen
Abwässern folgend, die Poren des berieselten Bodens erfüllt? Ist
da ein Vergleich auch nur denkbar, mit den geringfügigen Sauer¬
stoffmengen, welche das Wasser eines Flusslaufes in Lösung ent¬
hält, und welche dann erst den Fischen zu deren sichtbarem Nach¬
theil entzogen werden müssten?
Da übrigens diesen Factoren, wie wohl festgestellt ist, die
hervorragendste Rolle bei einer 'glücklichen Verwerthung und Un¬
schädlichmachung der Abwässer auf einem Rieselgut zufallt, so
gerathen wir gleichsam von selbst auf das Resultat all der lang¬
jährigen englischen Rieselversuche, dass nämlich die physikalische
Beschaffenheit des Bodens von der hervorragendsten Bedeutung für
die beabsichtigte Reinigung der Abwässer ist, während die chemische
Zusammensetzung des Erdreichs in einem ganz unwesentlichen
Masse betheiligt erscheint. Und darin liegt auch ein Schlüssel für
den eigenthümlichen Gegensatz, den wir z. B. zwischen den Dan-
zigeiv Rieselanlagen einerseits und den Berliner und Breslauer
Anlagen andererseits finden. Hier wie dort werden die Abwässer
zur vollsten Zufriedenheit aller Interessirten gereinigt, hier wie dort
haben sich die Drainwasser klar und die Rieselanlagen selbst durch¬
aus unschädlich gezeigt; aber während man in Danzig selten Wasser
genug hat, findet sich in jenen beiden Städten nur zu häufig zu
viel. In Danzig gelangen pro Kopf und Tag etwa 110 1. Kanal¬
wasser zum Abfluss und in Berlin etwa durchschnittlich 103. Die
Verhältnisse sind einander also dort offenbar ähnlich; aber während
man in Berlin nur die Abwässer von 306 Einwohnern pro Tag
und ha. zu reinigen vermag, genügt in Danzig die nämliche Fläche
dem Bedürfniss von nicht weniger als 075 Bewohnern *).
Es ergibt sich hieraus einmal, dass die Pariser Abgeordneten
der französichen Hauptstadt durchaus keine zu engen Grenzen ge¬
setzt haben, als sie das Maximum der zulässigen Bodenbewässerung
1) Dieser gewiss interessante Vergleich stutzt sich einerseits auf die An¬
gaben des amtlichen Berichts der Verwaltung der Berliner Kanalisationswerke
für das Betriebsjahr 1887/88; andererseits benutze ich diese Gelegenheit zu der
Erklärung, dass über die Verhältnisse des Rieselgutes der Stadt Danzig in amt¬
lichen wie nichtamtlichen Berichten eine Fülle von unrichtigen Angaben cursirt;
Thatsächlich hat das dort zur Berieselung bestimmte Terrain eine Ausdehnung
von 264 ha. Wirklich berieselt wird eine planirte Fläche von rot. 145 ha. Die
Stadt Danzig hat heute ca. 114,000 Einwohner, wovon 98,000 für das Rieselgut
Abwässer liefern. — Um unrichtigen Folgerungen vorzubeugen und die Annahme
einer Uebersättigung und Versumpfung des dortigen Terrains zu widerlegen,
erinnere ich einmal daran, dass die Drainwässer stets in zufriedenstellender Rein¬
heit und Klarheit befunden worden sind (cf. z. B. den amtlichen Bericht über
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— 425
auf 40,000 cbm. p. ha. und Jahr normirten (etwa 1000 Einwohner
p. ha. und Tag)*), und ferner — da wir nun einmal die Verhält¬
nisse der drei ersten Städte Europa’s berühren — die schon von
anderer Seite ausgesprochene Vermuthung, dass London wohl gut
thäte, sich die für kanalisirte Städte günstigen Erfahrungen, welche
man im Danziger Dünengebiet gesammelt hat, zu Herzen zu nehmen
und ernstlich, aber etwas kurz zu erwägen, ob das alte Project
einer Verrieselung der Abwässer Londons auf den Maplin-Sands
für die Stadt nicht doch grade das rathsamste wäre 2 ). Und schliess¬
lich ergibt sich, dass gar nicht dringend genug davor gewarnt werden
kann, dass man die Lösung dieser Frage der Reinigung städtischer
Abwässer gewissermassen nach einem Schema zu erledigen ver¬
sucht, während die unberechenbare Natur uns ihre Hauptrolle schon
in endlosen Variationen vor Augen geführt hat. Man kann weder
für Städte im Allgemeinen erklären, nach chemischer Behandlung
der Abwässer ist eine so und so vielfache Verdünnung von Nöthen
— kaum kann man behaupten, dass solch eine Verdünnung in
diesem oder jenem Falle erreicht worden sei, — noch hat es irgend
welchen Werth für das ganz Allgemeine eine Anzahl von Bewoh¬
nern zu fixiren, deren Abwässer pro Tag und ha. auf Rieselgütern
verbraucht werden dürfen. Wird diese Lösung vielmehr grade
nicht nach veralteten „Grundsätzen“, sondern nur an der Hand
der freien Vernunft angestrebt, so wird auch noch manch eine
Ortschaft ganz wider alles Erwarten zur Reinigung ihrer Abwässer
durch Rieselung greifen.
Es ist mir unmöglich an dieser Stelle über Rieselanlagen zu
schreiben, ohne wenigstens kurz von der in England herrschenden
Stimmung über den Einfluss derselben auf die öffentliche Gesund¬
heit zu berichten. Es ist nämlich hochinteressant zu beobachten,
wie dort Theorie und Praxis gemeinschaftlich Zug um Zug der
Ueberzeugung Eingang verschaffen, dass Rieselanlagen sich in sani¬
tärer Beziehung nich schädlich, wohl aber möglicherweise grade
nützlich erweisen 8 ). Wissenschaftliche Untersuchungen sowohl als
die Vorarbeiten f. d. Anlagen zur Reinigung d. städt. Abwässer in Königsberg
i. Pr. 1887 pag. 30), und andererseits an die längstbekannte Thatsache, dass, um
eine landwirtschaftliche Bebauung dieser Rieselfläche zu ermöglichen, in den
Sommermonaten noch Flusswasser gepumpt und mit dem städtischen Kanal*
wasser gemischt werden muss.
1) Beschlüsse der Abgeordneten-Kammer vom 25. Jan. 1888. Art. 4.
2) Die „Maplin Sands* sind ein an der englischen Ostküste nördlich der
Themsemündung gelegenes Dünengebiet, dass zur Berieselung mit dem Londoner
Kanalwasser schon vor vielen Jahren vorgeschlagen wurde. Es wäre zum Theil
allerdings erst der Nordsee zu entreissen.
3) Die Mortalität der auf englischen Rieselgütern arbeitenden Bevölkerung
während einer Betriebszeit von durchschnittlich 10 Jahren betrug z. B. nur
3 pro 1000 und Jahr. — cf. Edwin Chadwick: „ Girculation und Stagnation. * —
Cassel Sc Co. London 1889. p. 41.
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 29
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- 426 -
Beobachtungen der Praxis führen zu dem einen Resultat, dass
die freie Atmosphäre über einem in solcher Ueppigkeit strotzenden
Pflanzenwuchs einen mehr als gewöhnlichen Reichthum an Ozon
enthält. Und der weitere Oedanke, dass auf so reich gedüngten
Feldern unreine, organische Substanz den Pflanzenwuchs und damit
eben die Production des Ozons vermehre, während dieser kaum
entwickelte Ozon-Gehalt schon wieder durch Combustion und Oxy¬
dation für die Vernichtung der faulen organischen Materie wirke,
dass also grade dem Untergang geweihte animalische und vege¬
tabilische Substanz der Atmosphäre die Reinheit sichert, indem sie
wieder sich selbst vernichtet, dieser Gedanke scheint die „heiligen
Kreise der Natur“ zu berühren, und etwas zu Grossartiges ist in
seiner Entwicklung enthalten, als dass er nicht wirklich „natürlich“
erschiene. Auch dem geahnten nützlichen Einfluss auf die Gesund¬
heit kann jener Gedanke kaum entgegen wirken, und den englischen
Ahnungen stelle ich jene Heimstätten für Reconvalescenten gegen¬
über, welche schon jetzt inmitten der Berliner Rieselanlagen eröffnet
worden sind. Ja, was den Schreiber dieser Zeilen anbetrifft, so
kann er sich eine schönere Lösung einer so schmutzigen Frage
nicht denken, als jene blühenden Gefilde, in deren Mitte Genesende
Erholung suchen, welche schon heute nur zu willig ihren Beitrag
entrichten, um grade auf jenen Ländereien in gesunder, frischer
Luft zu leben und Tag für Tag die Milch eben jener Kühe zu
trinken, die mit dem einst gar so verrufenen Rieselgras ernährt
worden sind — ja, tempora mutantur! *)
Mein Streifzug ist beendet, und es erübrigt nur, dass ich mich
verabschiede von dem werthvollen Werke, dass mir bis hierher als
Leitfaden gedient hat, und dann von den Verfassern, denen ich für
so vielseitige Anregungen und schätzbare Daten zu Dank ver¬
pflichtet bin.
Jeder Leser dieser Zeilen wird mit empfunden haben, welchen
Reichthum an werthvollen Mittheilungen dieses Werk aus dem
gesammten Gebiet der Städtereinigungsfragen in sich aufgenommen
hat, die es nun gesichtet und vereint und geordnet dem inter-
essirten Leserkreis zuführt. Und jeder Leser des Werkes wird
anerkennen, dass eigentlich in allen Branchen des Themas von den
Verfassern sehr hochzuschätzende Winke geboten worden sind.
Was aber der Leser meiner Zeilen kaum wissen dürfte und was
1) Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass die hervorragende und ein¬
seitige Empfehlung der Berieselung den Ansichten der Mitglieder der Redaktion
keineswegs vollständig entspricht, sondern dieselben sind auch jetzt noch der
Meinung, dass jede Stadt die Frage des Verbleibes der Kanal Wässer in der Be¬
rücksichtigung alter lokalen Verhältnisse und Schwierigkeiten zu lösen bestrebt
sein muss. — Die Redaktion.
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427 —
ich ihm mitzutheilen doch verpflichtet bin, das ist, dass dieses
Buch in all seinen verschiedenartigen Kapiteln mit einer ganz
aussergewöhnlichen Unparteilichkeit geschrieben wurde, einer Un¬
parteilichkeit, dte allerdings in der vorliegenden Besprechung, wie ich
fürchte, zum Theil wieder verloren worden ist. Das von den Herren
Prof. Corfield und Parkes behandelte Gebiet ist ausserdem ein
so ausserordentlich weites und vielseitiges, dass eben darum von
Vertretern eines einzelnen der mitinteressirten Specialfacher wohl
nie eine so detaillirte und erschöpfende Behandlung des Ganzen in
irgend einer Sprache geboten worden ist. Und dieser Gedanke,
oder vielmehr der Gedanke, dass speciell in der deutschen Lite¬
ratur ein gleichbedeutendes und umfassendes Werk doch noch nicht
existirt, liess mich lange überlegen, ob eine Uebersetzung dieser
englischen Schrift nicht recht angebracht wäre. Aber ich habe
schon im Stillen diese Frage verneint. Das Werk eignet sich kaum
für eine Uebertragung iivs Deutsche — ja, ich fürchte, es käme
garnicht lebensfähig durch die Hände der Drucker, denn in einem
ganz eigenartigen Zuge dieser Schrift würden Deutsche wohl immer
einen Fehler oder, gelinder gesagt, eine bedenkliche Schwäche
desselben empfinden — dieses Buch ist zu englisch! Ganz eng-
liche Versuche, die in englischen Orten an englischen Anlagen unter
englischen Verhältnissen von englischen Fachleuten gemacht worden
sind, werden hier noch für Engländer englisch besprochen. Ein
rein englischer Geist durchweht diese Blätter, mit dem sich der
Deutsche schwer einigen kann.
Erinnert man sich aber des Weiteren, dass in meinem Streif¬
zug die pneumatischen Kanalisationen garnicht besprochen werden
konnten, dass ich viele andere Kapitel, so die über den Einfluss von
Kanalisationsanlagen auf die öffentliche Gesundheit, viele chemisch und
landwirtschaftlich bedeutende Punkte nur flüchtig oder gar nicht zu
berühren vermochte, so wird man in dem dies Alles umfassenden Werk
nicht mit Unrecht eine „Geschichte und ein Handbuch der Kanali¬
sation in ihrem allerweitesten Umfang“ erblicken. Zur Herausgabe
einer solchen Geschichte der Kanalisation durch deutsche Specia-
listen aller einzelnen Gebiete, welche in erster Linie auf deutschen
Erfahrungen und deutschen Versuchen basirte und in welcher sich
der Geist rein deutscher Wissenschaft und deutscher Forschung
dann natürlich verriete, zur Herausgabe eines solchen Werkes
hoffte ich durch meine heutigen Zeilen mit anzuregen. — Wenn
berufene Fachleute Deutschlands bei dieser Gelegenheit zum Besten
des allgemeinen Wohls in offener Einigkeit zur Arbeit schreiten,
wenn Techniker, Hygieniker, Chemiker und Landwirte und die
Vertreter aller sonst noch betheiligten naturwissenschaftlichen For¬
schung sich für eine erschöpfende Behandlung der Geschichte ihrer
Specialfelder bemühen wollten, so würden wir diesen Bestrebungen
binnen Kurzem ein Werk von hervorragendster Bedeutung ver¬
danken. — Während heute in A. der Herr B. kanalisirt und in C.
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der Herr D., von denen jeder immer noch die eigenen Melodien
am liebsten vernimmt, würde nun die ganze Bewegung auf diesem
weiten Gebiete in einem einzigen Unternehmen ein Centrum erhalten.
Wir bekämen ein Werk, welches zum Ausgangspunkt für alle fach¬
wissenschaftlichen Bestrebungen und Forschungen der Zukunft
würde, wir besässen ein Werk, aus welchem, weil Jeder es mit
Ruhe und mit Zeit und Ueberlegung geniessen und, was noch viel
mehr ist, auch aus nützen könnte, dem deutschen Volke mehr
praclischer Nutzen hervorwachsen müsste, als aus einer ganzen
Bibliothek von jenen wissenschaftlichen Vorträgen, wie sie über die
nämlichen Themata in Vereinsversammlungen und internationalen
Congressen so häufig erscheinen, wo, wenn kaum der Herr X.
seine Hörer überzeugt und gewonnen hat, der Herr Z. schon ver¬
sichert, es sei das ein Irrthum, Herr X. habe sich hierin und darin
getäuscht, denn er, der Herr Z., sei ganz abweichender Meinung.
— Und wie oft wurde doch nun schon von Deutschland herüber
auf die werthvollen, berühmt gewordenen englischen Blaubücher
verwiesen! Sie entstehen, indem eine Regierungscommission alle
hervorragenden Fachleute und alle sonst wichtigen Zeugen vor
ihren Präsidentenstuhl ladet, sie ausfragt und die bei uns oft gradezu
ängstlich gehütete Weisheit im Interesse des Gemeinwohls der
Oeffentlichkeit preisgibt. Ein von Seiten der Commission diesen
Aussagen noch angefügter Bericht verbindet das Ganze zur besseren
Verwerthung. Wenn nun also auch hier zu Lande die Auserwähl¬
ten bereit sind, eirr Fundamentalwerk von ähnlicher oder vielmehr
von einer noch grösseren Bedeutung zu schaffen, aus welchem sich
jeder Interessirte durch einfaches Nachschlagen über die Beurtei¬
lung seines Falles an massgebender Stelle zu informiren vermag,
so können sie auch hierbei von Neuem beweisen, dass es in Deutsch¬
land nicht üblich ist, auf einen Ruf der Regierung zu warten, wenn
es nur gilt, von dem äusseren Anschein persönlicher Weisheit im
Interesse des Gemeinwohls ein wenig zu opfern.
Und nun schllesse ich denn endlich mit einer recht abgeleierten
Schriftstellerphrase: „Wenn ich es vermocht habe, durch das, was
ich sagte, auch nur einen kleinen Theil meiner Leser für den Vor¬
theil zu gewinnen, den uns ein gutes, ich möchte wohl sagen ein
„classisches“ Werk über „Kanalisation von Städten in ihren)
weitesten Umfange“ brächte, so habe ich auch den Zweck dieser
Zeilen erreicht.
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Notizen über englische Erfahrungen in der chemischen Klärung von städtischen Abwässern.
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Sterblichkeit»-Statistik von 53 Städten der Provinzen Westfalen,
Rheinland und Hessen - Na sh an pro Monat August 1889,
Gewaltsam
Tod durch
TVachweUnuiff über Krankenaufnahme und Bestand in den Krankenhäusern ans 54
Städten der Provinzen Westfalen, Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat September 1889.
Sterbliohkelts - Statistik yoh 54 Städten der ProTinzen Westfalen,
Rheinland und Hessen-Nassau pro Monat September 1889.
Kleinere Mittheilnngen,
** Die Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes bringen
in Nro. 26. d. J. eine interessante Zusammenstellung der seit der Wehr¬
und Heerordnung vom 28. Sept. 1875 alljährlich Untersuchten mit Hin¬
weisung auf Tauglichkeit und Untauglichkeit zum Dienste.
Die hygienischen Bestrebungen der Neuzeit sollen, wie von manchen
Seiten befürchtet wird, die körperliche Tüchtigkeit der GesammtbevÖlkerung
mindern. Durch die wachsende Fürsorge gegen Säuglingskrankheiten und
verheerende Seuchen des jugendlichen Alters verhindere man, wie behauptet
wird, dass der weniger widerstandsfähige Nachwuchs dahinsterbe; während
früher nur die kräftigsten Kinder das mannbare Alter erreichten, ziehe man
heutzutage auch die schwächlichen gross und schaffe dadurch eine minder
leistungsfähige Generation.
Zur Entscheidung der Frage, oh eine solche Abnahme der körperlichen
Tüchtigkeit bei der männlichen Bevölkerung in den letzten Jahren stattge¬
funden habe, eignen sich bis zu einem gewissen Grade die Ergebnisse des
jährlichen Aushebungsgesch äftes.
Im Deutschen Reiche werden Jahr für Jahr im Frühling und Sommer
alle diejenigen männlichen Personen, welche im laufenden Kalenderjahre
das 20. Lebensjahr vollenden, einer genauen Untersuchung auf ihre körper¬
liche Tüchtigkeit (zum Militärdienste) unterworfen. Diese Untersuchung
wird gleichzeitig auf alle diejenigen jungen Leute ausgedehnt, über welche
in den beiden Vorjahren noch keine bezügliche Entscheidung getroffen ist,
mithin auch auf solche, welche das 21. oder 22. Lebensjahr vollenden.
Die nach gleichbleibenden Vorschriften getroffenen Entscheidungen lauten
im Wesentlichen:
1. körperlich tauglich zum Dienste im stehenden Heere oder in
der Flotte;
2. bedingt tauglich, d. h. mit solchen bleibenden Fehlern oder
Gebrechen behaftet, welche die Tauglichkeit zum Militärdienste
(Kriegdienst) zwar nicht auflieben aber beschränken*);
3. zeitig untauglich, d. h. entweder körperlich noch nicht der¬
artig entwickelt, dass die Entscheidung gefällt werden kann, oder
vorübergehend krank;
4. dauernd untauglich zum Dienst im Heere oder in der Flotte.
*) ln der Heerordnung heisst es: „zwar die Gesundheit nicht beeinträchtigen,
die Leistungsfähigkeit jedoch beschränken.*
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440 —
Zur Beurtheilung der in Rede stehenden Frage, ob die köiperliche
Tüchtigkeit der männlichen Bevölkerung (von 20—22 Jahren abnehme oder
nicht, sind lediglich die Zahlen der vorstehend mit 1. und 4. bezeichnten
Kategorien zu verwerthen.
Den bedingt tauglichen (Ziffer 2) werden nämlich diejenigen körperlich
tauglichen Leute zugezählt, welche wegen häuslicher Verhältnisse in
Friedenszeiten nicht oder nur in beschränktem Maasse zum Militärdienste
herangezogen werden; den zeitig untauglichen (Ziffer 3) treten diejenigen
tauglichen Leute hinzu, welchen aus gleichen Gründen eine vorübergehende
Befreiung vom Militärdienste zugestanden wird. Hierzu kommt, dass im
3ten Gestellungsjahre die überzählig gebliebenen und die wegen häuslicher
Verhältnisse oder vorübergehender Unbrauchbarkeit zurückzustellenden Mann¬
schaften ebenfalls den bedingt tauglichen hinzugerechnet werden.
Diese beiden Kategorien von Militärpflichtigen (Ziffer 2 und 3) ent¬
halten demnach sowohl körperlich Taugliche, als auch nicht vollkommen
Taugliche und eignen sich daher nicht zu einer Beurtheilung des Tüchtig¬
keitsverhältnisses der untersuchten Bevölkerung.
Die für körperlich tauglich zum Dienste im stehenden Heere oder
in der Flotte befundenen Personen (Ziffer 1) zerfallen in:
a) die zum Dienste ausgehobenen,
b) die freiwillig zum Dienste eintretenden,
c) die überzählig bleibenden.
Diesen in den Listen nachgewiesenen Personen müssten hinzugezählt
werden (wie aus dem Vorhergehenden sich ergiebt):
d) die im 3ten Konkurrenzjahre überzählig bleibenden und
e) diejenigen körperlich tauglichen Militärpflichtigen, welche wegen
häuslicher Verhältnisse vom Dienste im stehenden Heere befreit bleiben.
Indessen wird die Zahl der zu d und e genannten tauglichen Personen nicht
bekannt gemacht. Nimmt man an, was erlaubt scheint, dass diese Zahlen
alljährlich nahezu konstante sind, so fallen sie für Vergleiche nicht in’s
Gewicht.
Nachstehende Tabelle zeigt, wie viele von je 10,000 ärztlich unter¬
suchten jungen Leuten seit dem Inkraftreten der Wehr- und Heerordnung
vom 28. September 1875 alljährlich
A für körperlich tauglich zum Dienste im stehenden Heere etc. befunden,
B für dauernd untauglich hierzu erklärt (ausgemustert) worden sind.
In Spalte 2 sind nur die ärztlich auf ihre Tauglichkeit geprüften Mann¬
schaften aufgeführt, also die in den Listen stehenden Personen nach
Abzug 1. der verzogenen, 2. der unermittelt gebliebenen und 3. der wegen
entehrenden Strafen ausgeschlossenen Militärpflichtigen.
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— 441
1
2
3
4
Von je 10,000 untersuchten jungen
Im
wurden
Leuten wurden erachtet für
Jahre
untersucht
tauglich zum
dauernd un-
Dienste
tauglich
1876
786,054
2176
1282
1877
782,482
2182
1141
1878
1 822,412
2039
1056
1879
857,374
1950
1100
1880
| 875,480
1982
1093
1881
! 864.812
2044
901
1882
851,801
2081
858
1883 |
1 869,572
2057 j
1 787
1884 !
| 884,250
2057
767
1885 i
900,849
2035
1 743
1886
925,832
2053
754
1887 ,
919,737
2220
i 684
Die Tabelle zeigt Folgendes:
1. Die Zahl der ffir dauernd untauglich erklärten Per¬
sonen hat von 1876 — 1887 ziemlich ununterbrochen abge-
noinmen. (Der beträchtliche Unterschied zwischen 1880 und 1881 —von
1093 bis 901 — wird dadurch erklärt, dass Leute mit Mindermaass bis 1880
für untauglich zum Waffendienst erklärt wurden, seit 1881 nicht mehr.)
2. Die Zahl der tauglich erklärten Personen hat seit 1879
allmählich zugenom m en. (ln den ersten Jahren nach Erlass der neuen
Wehr- lind Heerordnung sind zwar mehr Personen als in späteren Jahren
für tauglich erklärt worden, dies dürfte aber durch die damalige Neuheit
der bezüglichen Verhältnisse sich erklären lassen.)
*** Über die Thätigkeit des Stadtarztes in Frankfurt a. M.
haben wir früher wiederholt berichtet. Nachdem letzten Jah resberichte
über die Verwaltung des Medizinal Wesens in Frankfurt a. M. (S. 65 ff.) hielt
sich die Thätigkeit des Stadtarztes auch im Rechnungsjahre 1887/88 in
den Grenzen, die ‘sich während des bis dahin fünfjährigen Bestehens dieser
Stelle herausgebildet haben, und erstreckte sich im wesentlichen auf die
Mitwirkung im Armenamte und bei der städtischen Krankenpflege, auf die
städtischen Schulen und die übrigen zahlreichen sanitären Fragen, wie sie
bei den verschiedenen Ämtern Vorkommen. Bezüglich dieser Thätigkeit
können wir im allgemeinen auf unsere früheren Berichte verweisen und
heben nur folgendes hervor. Der Stadtarzt (Dr. A. Spiess) hatte im
Aufträge der verschiedenen städtischen Amtsstellen 503 ärztliche Unter¬
suchungen auszuführen. — lin Armenamte Teilnahme an allen Sitzungen
des Plenums sowie der Kommissionen für offene und für geschlossene
Armenpflege und der Pflegekinder-Kommission; Gutachten betr. Arbeits-
nnd Erwerbsfahigkeit von Pfleglingen, Berichte über Wohnungsverhältnisse
derselben u. a.; Sorge für städtische Pflege- und Waisenkinder und deren
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 30
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— 442 —
Unterbringung. Der Stadtarzt wirkte an der Errichtung einer städtischen
Kinderherberge mit, in welcher das Armenamt Kinder vorübergehend,
bis Landpflege der Kinder oder Waisenhauspflege ein tritt, die Mutter wieder
aus dem Spital zu Hause ist u. s. w., unterbringen und beaufsichtigen
kann. —
Vierteljährige Beratungen mit den Armenärzten, Regelung des Urlaubs¬
und Stellvertretungswesens für die letzteren, Umarbeitung der Instruktion
für die Armenärzte. —
lm städtischen Krankenhause Aufsicht über die laufende Verwaltung
der ärztlichen Angelegenheiten, bauliche Änderungen, Verbesserung des
Desinfektions-Apparates, der Trinkwasser-Verhältnisse u. a. —
Im städtischen Armenhause leitet der Stadtarzt die Krankenabteilung,
welche in einem dazu neu gebauten Flügel des Hauses (zwei grosse Säle
mit 40 Betten) untergebracht ist. —
In der Entbindungsanstalt Eröffnung der von dem Stadtarzte ins Leben
gerufenen Frauenklinik. —
Im Irrenhause beschäftigte den Stadtarzt die stets wiederkehrende
Überfüllung und teilweise Evakuirung der Anstalt, die Anstellung eines
dritten Anstaltsarztes, der Entwurf einer neuen Verwaltungsordnung. —
In den neuerbauten Volksschulen Prüfung der gelieferten Subsellien,
der Brausebäder u. a. —
Mitwirkung bei dem Bau und Umbau von Leichenhäusem, Herstellung
von Eiskellern und Kühlvorrichtungen. —
Von grösserem Interesse ist u. a. ferner eine Untersuchung der Ver¬
unreinigung des Mains durch die Abwässer der oberhalb Frankfurts am
Main liegenden chemischen Fabriken, besonders der Fechenheimer Anilin¬
fabrik. Von der letzteren rührt, wie festgestellt wurde, die oft beobachtete
Rotfarbung des Mainwassers her, auch führt diese Fabrik ständig dem
Main sehr bedeutende Mengen von Arsenik zu. —.
Noch ist u. a. zu erwähnen, dass der Stadtarzt die Medizinalstatistik
der Stadt bearbeitet. W.
*** Der städtische Qesundheitsrat in Frankfurt a. H.
Mehrfach haben wir bereits in diesem Centralblatt auf die von dem Ärzt¬
lichen Verein zu Frankfurt a. M. herausgegebenen Jahresberichte über
die Verwaltung des Medizinalwesens, die Krankenanstalten
und die öffentlichen Gesundheitsverhältnisse der Stadt
Frankfurt a. M. bezug genommen (vgl. 1886, S. 93; 1888, S. 174).
In dem nunmehr uns vorliegenden XXXI. Jahrgang (Frankfurt, Sauerländer’s
Verlag, 1888) behandelt der dritte Teil die öffentliche Gesundheitspflege.
]n den städtischen Gesundheitsrat wurde im Jahre 1887 Professor
Dr. Weigert gewählt. Von wichtigeren Gegenständen waren es nur zwei,
die den städtischen Gesundheitsrat im Rechnungsjahr 1887/88 beschäftigten,
die Kanalisation der Altstadt, speziell der nicht hoehwasserfreien
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— 443
Teile derselben, und die der Stadt Frankfurt durch die Ausdünstungen
des Bockenheimer Grenzgrabens drohenden gesundheitlichen Ge¬
fahren.
Der Kanalisation der Altstadt erwachsen erhebliche Bedenken dadurch,
dass die meisten Strassen derselben nicht hoch wasserfrei sind. Oberbürger¬
meister Dr. Miquel wünschte ein Gutachten des Gesundheitsrates, ob
auch ohne Eindeichung dieses Stadtteiles die Durchführung des Schwemm¬
kanalsystems in der Altstadt möglich sei, und wenn nicht, welches andere
System zur Beseitigung der Abwässer und der Fäkalien alsdann in Anwen¬
dung gebracht werden könnte. Die Kommission kam zu dem Schlüsse,
dass weder Tonnensystem, noch Gruben mit pneumatischer Entleerung,
Liernursystem u. a. zu empfehlen wären, sondern nur der Ausbau des
Kanalisationssystems im Anschlüsse an das allgemeine Sielnetz der Stadt.
Das Bedenken, dass bei Hochwasser das Wasser des Mains in den tieferen
Strassen von oben in die Kanäle laufen, diese füllen und trotz allen vor¬
zusehenden Abschlusses auch die Kanäle und Keller der höheren Strassen
gefährden könne, musste zugegeben werden. Sollten die Gefahren that-
sächlich sich als bedeutend herausstellen, so glaubte die Kommission
schliesslich nichts anderes empfehlen zu dürfen, als dennoch den Stadtteil
einzudeichen.
Der Bericht über die gesundheitsgefährdende Beschaffenheit des Bocken¬
heimer Grenzgrabens ist im laufenden Rechnungsjahre nicht mehr erstattet
worden.
Andere Gegenstände, die den Gesundheitsrat beschäftigten, betrafen
den Einfluss der Stauung des Maines auf die Brunnen und alten Kanäle
der unteren Stadtteile, — die Beziehbarkeit von Wohnungen in neuerbauten
Häusern, — die Heizungsanlagen in den Schulen, — die Errichtung eines
Lassar’schen Volksbrausebades (eine Angelegenheit, die seitdem durch
die Unterstützung eines Frankjirter Bürgers in dem auf seine Kosten auf
dem Marienplatz errichteten Volksbrausebad ihre thatsächliche Verwirk¬
lichung gefunden hat), — die Anstalt zur Gewinnung tierischen Impfstoffs
(auf welche verzichtet wurde, nachdem die Königlichen Behörden bestimmt
hatten, dass das Provinzial-Impf-Institut in Kassel errichtet werde). W.
Litteraturbericht.
Ferd. Hueppe, Die Methoden der Bakterien-Forschung. Vierte Auflage,
mit 2 Tafeln in Farbendruck und 68 Holzschnitten. Wiesbaden 1889.
Wenn schon die früheren, rasch vergriffenen drei Auflagen des vor¬
liegenden Werkes sich durch die Vollständigkeit und Objektivität der
Darstellung aller für den angehenden wie für den vorgeschritteneren Forscher
beachtenswerthen Methoden der Bakterienuntersuchung auszeichneten, so
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_. 444 _
hat der Verfasser in dieser neuen, ziemlich vollständigen Umarbeitung das¬
selbe Princip mit sehr dankenswerther Gonsequenz noch schärfer durch¬
geführt. Alle methodisen Fortschritte der letzten Jahre, welche haupt¬
sächlich im Ausbau der Einzelheiten bestanden, sind unter steter Berück¬
sichtigung der biologischen Grundlagen berücksichtigt, und an der Hand
dieser Fortschritte wird zugleich die wissenschaftliche Gesammtrichtung
klar gezeichnet, welche die Bakterien-Forschung jetzt nach dem vorläufigen
Abschluss der bahnbrechenden Koch'sehen Entdeckungs - Epoche einzu¬
schlagen berufen ist. Namentlich fordert der Verf. eine eingehendere
Wiederbeachtung auch der Pasteur’sehen und der Naegeli’schen Metho¬
dik, welche vielfach in der Freude über die bestechende Einfachheit der
Koch’sehen Verfahren zu sehr bei Seite geschoben worden seien; dies
werde „unwiderleglich durch die Thatsache gelehrt, dass die zweite und
wirklich neueste Epoche in der Bakteriologie sich sogar im schroffen
Gegensätze zur Koch'sehen Methodik und zum grundlegenden Gedanken
der ersten Epocfie entwickelt habe*. Die zweite neueste Epoche datirt der
Verf. bereits vom Jahre 1880, in welchem Jahre gleichzeitig und unabhän¬
gig von einander H. Büchner und Pasteur nach wiesen, dass pathogene
Bakterien durch biologische und physikalisch-chemische Einflüsse derart
beeinflusst werden können, dass sie schliesslich ihre Virulenz verlieren.
Später gelang es dann Pasteur zu zeigen, dass auch eine Zunahme der
Virulenz erfolgen kann, und die neueren und neuesten Versuche lassen an
der Thatsache, dass sich Form- und Lebens-Eigenthiimlichkeiten in gewissen,
nach den Arten schwankenden Graden verändern können, keinen Zweifel.
Diese neue grundlegende Thatsache, an welche sich die ebenso gesicherte
Thatsache einer Schutzimpfung durch Generationen mit verringerter
Virulenz gegen die virulenten Stammkulturen anschliesst, sowie die neueren
Beobachtungen von de Bary und Prazmowski betreffs der Entstehung
neuer Varietäten von Bakterien unter deyi Einfluss wechselnder Stand¬
orte und Nährbedingungen, mussten zur Wiederaufnahme mancher für
abgeschlossen geltender, wissenschaftlicher wie praktischer Fragen auf-
fordem, während gleichzeitig die Forschungs-Ergebnisse Ganthier's und
besonders Brieger’s über die Natur der von den Bakterien gebildeten
Stoffwechselprodukte (Ptomaine, Toxine) neues Licht auf die Wirkungs¬
weise der pathogenen Mikroorganismen zu werfen beginnt. Mit Recht
stellt H. angesichts der ausgedehnten Beziehungen, welche die Bakteriologie
zu so vielen Zweigen der Heilkunde und der Naturforschung überhaupt
gewonnen, als Zukunfts-Forderung die Errichtung besonderer Lehrstühle
für Mikrobiologie auf und erklärt die jetzige Verbindung des bezüglichen
Unterrichts mit der Hygieine oder mit der allgemeinen Pathologie für nur
vorläufige Aushülfswege.
In dem Abschnitte für „experimentelle Technik“, welcher den Haupt-
theil des Werkes bildet, ist im Gegensatz zu allen anderen in Deutschland
erschienenen Leitfäden auch die in Frankreich vorzugsweise geübte, übrigens
in ihren Anfängen gleichfalls auf deutsche Versuche zurückzuführende
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— 445
Methode* der Verdünnung in Flüssigkeiten behufs Isolirung und
besonders behufs genauer Zählung der in Flüssigkeiten oder in der Luft
vorhandenen Keime eingehend beschrieben und gewürdigt. Aus dieser Ver¬
dünnungs-Methode in Verbindung mit den Gelatine-Objektträgerkulturen ist
die Koch’sehe Methode der Plattenkulturen hervorgegangen, und die
französischen Forscher der Pasteur’sehen Schule, besonders der durch
seine bakteriologischen Luftuntersuchungen bekannte Miquel, behaupten
auf Grund vergleichender Untersuchungen, dass namentlich für die Luft-
und Wasser-Analyse die Verdünnung in Flüssigkeiten zuverlässigere Resul¬
tate ergebe als die Plattenmethode. Hueppe hat in Anerkennung gewisser
Vortheile der ersleren bereits im Jahre 1885 eine Combination beider
Methoden für Wasser- und Luft - Analysen vorgeschlagen und Miquel
beschrieb dann später diese Verbindung als „procedö mixte welches er
gegenüber der gewöhnlichen Plattenmethode sehr rühmt. Gegenwärtig
sind, wie Verf. näher ausführt, so viele Verbindungs weisen beider Methoden
verwirklicht, dass die Gegensätze ihre praktische Bedeutung verloren haben
und nur im Uebereifer einiger Anhänger der einzelnen Richtungen noch
ihren Ausdruck linden.
ln den Bereich seiner, das Thema erschöpfenden Darlegung hat Verf.
auch die Infektionsversuche an Thieren sowie die Schutzimpfungen gezögert.
Der reiche Inhalt des Buches und seine für den wissenschaftlichen wie
praktischen Nachschlage-Gebrauch, sehr zweckmässige Anordnung werden
unterstützt durch eine Fülle gut ausgeführter Abbildungen, so dass dieser
neuen Auflage eine noch dankbarere Aufnahme bei dem stets wachsenden
Kreise der Bakterien-lnteressenten gesichert ist als sie bereits ihren Vor¬
gängerinnen innerhalb und ausserhalb Deutschlands zu Theil wurde.
Finkelnburg.
Schütz, Der Streptococcus der Druse des Pferdes. Zeitschrift für Hygiene,
III. 4-27.
Der von Verfasser entdeckte Goccus ist insofern von besonderer prak¬
tischer Bedeutung, als er die Unterscheidung der Druse von anderen mit
ähnlichen Schleimhautprozessen einhergehenden Krankheiten des Pferdes
sehr erleichtert. Von den übrigen bisher bekannten Streptococcen ist er
durch Gultur unschwer zu entscheiden. Flatten.
Globig, Ueber einen Kartoffelbacillus mit ungewöhnlich widerstandsfähigen
Sporen. Zeitschrift für Hygiene, Rd. III. Seite 322.
Verfasser fand an Kartoffeln, welche 2 1 /« Stunde in 1 °/oo Sublimatlösung
gelegen hatten, dann gekocht und schliesslich im Dampfkochtopf mit strö¬
menden Dampf behandelt waren, oder aber ohne Sublijgatbehandlung 5
Stunden in strömendem Wasserdampf gewesen, Bacillen, die trotz dieser
Prozedur noch lebten. Unter ihnen war sowohl für Sublimat wie für
strömenden Wasserdampf am widerstandsfähigsten ein verflüssigender Kar¬
toffelbacillus, dessen Reincultur sieb durch faltiges Aussehen, rötblichgelbe
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446
* bis rosarothe Farbe und einen an gekochten Schinken erinnernden Geruch
kennzeichnet uud überaus schnell und reichlich Sporen bildet (rother Kar¬
toffelbacillus). Seine Sporen wurden durch l°/o* Sublimatlösung in 90
Minuten, durch strömenden Dampf von 100° in 5*/*—6 Stunden getödtet,
hielten 5°/o Carbollösung 14 Tage und die Einwirkung von gespanntem
Dampf von 107—113° * 1 * Stunde aus. Dagegen unterlagen sie gespannten
Dampf
von 123° in 10 Minuten
* 126° „ 3
, 127° , 2 .
„ 130® „ sofort. Flatten.
Janowski (Kiew), Ueber den Bakteriengehalt des Schnees, Centralblatt für
Bakteriologie. 1888. IV. Band, Nr. 18.
Schmelck, Eine Gletscherbakterie, ibid.
Janowski hält die bakteriologische Untersuchung des Schnees
besonders in denjenigen Ländern für berechtigt, welche, wie Russland,
jährlich mehrere Monate anhaltend mit Schnee bedeckt liegen. Dem Schnee
wird dort Alles an Excrementen, Wirthschaftsüberresten u. dergl. über¬
antwortet, was anderorts dem Boden direct zugeführt wird.
Verf. entnahm die Schneeproben an Stellen, die fern von den Woh¬
nungen lagen und von Verunreinigungen verschont blieben. Der Schnee
wurde bei 30 ® geschmolzen und alsdann wie Wasser untersucht. Für
frisch gefallenen Schnee belief sich die Zahl der Keime auf 34 bis
384 pro ccm, war demnach geringer als im Eise (Fränkel, Bordoni-Uffre-
duzzi). J. glaubt, dass ein Theil der Bakterien sich schon bei der Bildung
des Schnees vorfinde, während andere Keime beim Fallen des Schnees aus
der Luft mitgerissen werden, sodass dem Schnee ein ähnlicher reinigender
Einfluss auf die Luft zukomme wie dem Regen. Während eines Schnee¬
gestöbers war der Keimgehalt erheblich höher wegen der von den nächsl-
Jiegenden Gebäuden mitgerissenen Verunreinigungen.
Die Untersuchung von Schnee, welcher bereits einige Tage
lag und sich durch neu fallenden Schnee nicht vermehrt hatte, ergab
(nach Entfernung der obersten 0,5 cm dicken Schicht mittelst steriler
Glasplatte) kein wesentlich verschiedenes Resultat. Dagegen fiel in diesen
Schneeproben die geringe Zahl und bisweilen das gänzliche Fehlen der ver¬
flüssigenden Arten auf. Bemerkenswerth erschienen darin ferner nicht
verflüssigende grosse Kokken, welche auf Gelatine rosafarbene Colonien,
in Strichimpfungen auf Agar breite weisse Streifen, ein wenig in rosa
übergehend, bildeten.
Schmelck fand in Eiswasserproben mehrerer Gletscher Norwegens
fast ausschliessftch eine Bakterienart, nämlich grünen fluorescirenden
Farbstoff bildende Bacillen, deren Gulturen Aehnlichkeit hatten mit den¬
jenigen des Bac. fluorescens liquefaciens. Verf. vermuthet in ihnen die
Ursache des eigenthümliehen Grünes des Gletscherwassers. Flatten.
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- 447 —
Carl Fränkel, Die Einwirkung der Kohlensäure auf die Lebensthätigkeit
der Mikroorganismen, Zeitschrift f. Hygiene. Band 5. Seite 332.
Frankel erhielt bei seinen diesbezüglichen Versuchen folgendes
Resultat:
1) Eine geringe Zahl von Arten entwickelt sich im Kohlensäurestrom
ebenso ausgiebig und schnell wie in der gewöhnlichen Luft, ob¬
schon auch bei ihnen eine gewisse Verlangsamung des Wachs¬
thums stattfindet. So verhielten sich u. A. die Typhusbakterien,
der Hüppe’schen Milchsäurebacillus und die ächte Bierhefe.
2) Bei einer weiteren Gruppe von Arten erschien das Wachsthum
durch reine Kohlensäure erheblich verzögert oder beschränkt,
z. B. bei Prodigiosus. .
3) Andere Bakterien ertrugen die Einwirkung der Kohlensäure nur
bei höherer Temperatur (37°). Dies gilt von den Bakterien der
Hühnercholera, der Schweineseuche, der Kaninchensepticaemie,
des Schweinrothlaufs und der Mäusesepti«jämie, des Menschenroth-
laufs und mehreren Eitercoccen.
4) Alle übrigen Mikroorganismen, die meisten Saprophyten, sowie
die Milzbrand- und Choleraasiatica-bacillen, werden durch reine
Kohlensäure unbedingt in ihrer Entwickelung gehemmt.
Da auch streng anaerobe Arten, welche unter Wasserstoff üppig gedeihen,
unter Kohlensäuere nicht wuchsen, ist anzunehmen, dass letztere nicht durch
Verdrängung des Sauerstoffs, sondern als direktes Gift wirkt; sie wirkt
keimtödtend. Letzteres erhellt auch daraus, dass in Versuchsreihen
mit Verdrängung der Kohlsäure durch Luft eine nachträgliche Entwickelung
der durch die Kohlensäure im Wachsen eingeschränkt gewesenen Culturen
zwar eintrat, die Menge der dann entstandenen Colonien der Menge des
angewandten Impfstoffes jedoch nicht entsprach. Genaue Zählungen an Platten -
culturen ergaben bei fünf daraufhin untersuchten Arten, dass die Abnahme
der Zahl der Keime eine ganz erhebliche war. Sporen oder sporenähnliche
Gebilde fanden sich bei den betr. Milzbrand-Gulturen nicht vor.
Die nach dem Vorstehenden in Frage kommende Verwendung der
Kohlensäure als faulnisswidrigen Mittels erwies sich in einer hierfür aus¬
geführten Versuchsreihe als unzweckmässig, da die Fäulniss in den be¬
nützten Faulflüssigkeiten zwar in der Regel verzögert wurde, später abet
doch fortschritt.
Der von Frankel früher constatirte Mangel von Bakterien in tieferen
Bodenschichten deutet in Erwägung vorstehend berichteter Resultate und
des Kohlensäureichthums (bis 11 °/o) der Bodenluft auf einen Zusammen¬
hang zwischen letzterem und der Bakterienarmuth des Bodens. Versuche
mit Milzbrandbakterien und Cholerabacillen, welche auch in einem Gemenge
von 75*/o Kohlensäure und 25°/o gewöhnlicher Luft ohne weiteres wuchsen,
Hessen indess eine derartige Beziehung für diese als unannehmbar erkennen.
Die Functionen, die biologischen Leistungen der Bakterien
zeigten sich im Kohlensäurestrome der Art, dass die verflüssigenden Arten
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448
die Erweichung der Gelatine auch unter Kohlensäure erreichten, dass pro
digiosus und indicus in ‘ reiner Kohlensäure zwar noch ausgiebig wuchsen,
aber keinen Farbstoff producirten, dagegen solchen bei Erneuerung des Luft¬
zutrittes wieder lieferten. Die pathogenen Bacterieir erfuhren keine Beein¬
trächtigung ihrer Virulanz.
ln reinem Sauerstoff gediehen alle Arten mit Ausnahme der
streng anaeroben; manche Hessen ein beschleunigtes Wachsthum erkennen;
die verflüssigenden verflüssigten schneller; der Farbstoff von Prodigiosus
war weniger intensiv und glänzend als in gewöhnlicher Luft.
’ Flatten.
Neuere Arbeiten zur Desinfectionspraxis.
IV.
1. Carl Fränkel, Untersuchungen über Brnnnendesinfection und den Keim-
geh< des Grundwassers, Zeitschrift f. Hygiene, 6. Band. Seite 23.
2. A. Walz, Zur Erklärung der Desinfeotionskraft des Wasserdampfes,
Gesundheitsingenieur 1888. Nro. 14 u. Nr. 18, sowie 188!), Nr. 2.
3. Prof. M. Gruber, Zur Erklärung der Desinfeotionskraft des Wasser¬
dampfes, ebenda.
4. Dr. W. Budde, Die Bedeutung der Spannkraft, Temperatur und Bewe¬
gung des Dampfes bei Desinfection in Dampfapparaten, Archiv f. Hygiene.
9. Band. Seite 292.
5. G. van Overbeck de Meyer, Nouvelle dtuve ä desinfection. )e mouve-
ment hygienique 1888. Seite 257.
6. F. Levison, Der Einfluss der Desinfection mit strömendem und gespann¬
tem Wasserdampf auf verschiedene Kleiderstoffe. Zeitschrift f. Hygiene.
6. Band. Seite 225.
7. E. v. Esmarch, Die Milzbrandsporen als Testobject bei Prüfung von Des-
inficientien, ebenda, 5. Band. Seite 67.
8. Carl Fränkel, Die desinflcirenden Eigenschaften der Kresole, ein Beitrag
zur Desinfectionsfrage, ebenda, 6. Band. Seite 521.
9. A. Henle, Ueber Creolin und seine wirksamen Bestandtheile, Archiv f.
Hygiene. Neunter Band, Seite 188.
10. Dr. A. Lübbert, Die Ozynaphtoesäure. Fortschritte der Medicin 1888.
Nro. 6.
11. Dr. Behring, Ueber die Bestimmung des antiseptischen Werthes
chemischer Präparate mit bes. Berücksichtigung einiger Quecksilber¬
salze. Deutsche medicinische Wochenschrift. Nro. 41 bis 43.
12. Dr, S. von Gerlöczy, Versuche über die praktische Desinfection von
Abfallstoffen. Deutsche Vierteljahrschrift f. ö. Gesundheitspflege. 21. Band.
Seite 433.
13. Dr. E. Pfuhl, Ueber die Desinfection der Typhus- und Choleraauslee¬
rungen mit Kalk, Zeitschrift für Hygiene. 6. Band. Seile 97.
14. Uffelmann, Die Desinfection der Faeces, Berliner Klinische Wochenschrift.
1889. Nro. 25.
Fränkel (1) machte Versuche über Brunnendesinfection zunächst an
zwei Röhrenbrunnen im hygienischen Institut zu Berlin. Das in die Brunnen
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449
eintretende Grund wasser, welches nach Steril isirung des Brunnenrohres mit
Carbolschwefelsäure *) zur Prüfung gelangte, erwies sich bereits im 500.
Liter (das 100. Liter liess Carbolsäure chemisch nicht mehr erkennen) •)
völlig keimfrei und blieb dies noch bis zum 7. Tage nach der Desinfection.
Eine Nachwirkung der Carbolsäure konnte mit Sicherheit ausgeschlossen
werden, da in besagtes Wasser gebrachte Spreewasserbakterien üppig ge¬
diehen und mit ihm versetzte Gelatine sich als gleich guten Nährboden für
Spaltpilze erwies wie reine Gelatine. Dass die Bakterien des Brunnenwassers
von den Wandungen des Brunnenrohres, nicht aber aus dem Grundwasser
stammten, ergab sich ferner, als 2 V* Woche nach einer Desinfection mit
Carbolschwefelsäure, deren Wirkung sechs Tage anhielt — nach diesen
sechs Tagen enthielt das 500. Liter des ausgepumpten Wassers wieder 220
Keime pro cm 8 —. das Brunnenrohr ohne Anwendung von Carbolsäure
mit einer langgestielten Bürste gereinigt wurde und darauf der Keimgehalt
des ausgepumpten Wassers vom ersten bis zum 500. Liter von 780 pro ccm.
auf Null fiel und das Wasser vier Tage hindurch keimfrei blieb.
Frische, auf Agar aufgeschwemmte Heubacillen, Sporen von Bacillen
der blauen Milch und Prodigiosus wurden in ein Brunnenrohr gegossen.
Als nach neun Tagen 2 Liter Carbolschwefelsäure zugesetzt wurden, lieferte
der Brunnen am Tage nachher keimfreies Wasser. Am zweekmässigsten wer¬
den Röhrenbrunnen daher zunächst rein mechanisch durch Ausbürsten und
energisches Auspumpen gereinigt und nur wenn dies nicht genügt, die Des¬
infection mit Carbolschwefelsäure vorgenommen (1 bis 2 Liter concentrirte
Mischung), die Pumpe dann wieder aufgeschraubt, der Brunnen einen Tag
sich seihst überlassen und schliesslich 1 bis 2 Stunden hing ausgepumpt.
Kalk ist nicht zu empfehlen, da er leicht die Röhren verstopft.
Weit schwieriger der Desinfection zugänglich, selbst bei Anwendung
grosser Mengen Carbolsäure, fand Fränke 1 die Kesselbrunnen, wozu
besonders die grössere Wassermenge und die mehr weniger erhebliche
Schlammschicht am Boden beiträgt. Dagegen waren Versuche mit 10
Kgm. Kalk pro Brunnen erfolgreicher, indem das Brunnenwasser wenig¬
stens drei Tage lang keimfrei blieb. Gegen eine stattgefundene ein¬
malige Verunreinigung oder zur vorläufigen Reinigung eines Kesselbrunnens
dürfte sich daher Kalk wohl eignen (vergl. Ministerial-Rundschreiben vom
9. April 1888).
Das Fehlen von Keimen im Gr und wasser kann nur der
filtrirenden Kraft des Bodens zugeschrieben werden. Nach Analogie der
Sandfilter ist dieselbe nicht dem Uebereinanderliegen zahlreicher Schichten,
sondern einer zarten aber dichten Schlammhaut zu danken, welche sich aus
dem Wasser niederschlägt und die Bakterien hindert in die Tiefe vorzu¬
dringen. Unbedingt diese Verhältnisse allenthalben vorauszusetzen, wäre
1) rohe sog. 25°/o Carbolsäure mit den gleichen Mengen Schwefelsäure.
2) In einem der Versuche überdauerte der Geruch nach Carbolsäure deren
Nachweisbarkeit durch die Eisenchlorid-Reaktion.
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- 450 —
aber irrig, da zahlreiche Faktoren, Weite der Poren, Grobkörnigkeit des
Kies, Geröll u. s. w. eine Filtration vielerorts nicht zulassen; doch sind dies
die Ausnahmen.
Ist im übrigen die Qualität des Grundwassers nicht gleichgültig, indem
es zereetzungsfähige Substanzen durchströmen kann, so ist es wegen seines
Mangels an Keimen keinesfalls unmittelbar infectionsverdächtig. Zu seiner
Entnahme sind gute Röhrenbrunnen den höchst unvollkommenen und schwer
zu desinßcirenden Kesselbrunnen zweifellos vorzuziehen.
Gruber (3) äusserte bei völliger Anerkennung der Leistungsfähigkeit
und des wichtigsten Konstructionsprincips der Walz-Winscheid'sehen Des-
infectoren (Einleitung des Dampfes von oben zur Herstellung einer gün¬
stigen Gewichtsdifferenz zwischen Dampf und Luft) Zweifel bezüglich der
Nothwendigkeit der Dampfüberhitzung. Unter Hinweis auf früher mit-
getheilte Versuche, bei welchen schlechtes Heizmaterial die Wirksamkeit
der UeberhitzungsVorrichtung vereitelte und dadurch die Desinfection um
vieles verlangsamte, tritt Walz (2) für die Nothwendigkeit der Ueberhitzung
ein und betont, dass die von G. besprochenen, durch Ueberdruck wirkenden
Apparate wegen der Gefahr auseinandergedrückt zu werden nicht in Recht¬
eckform, sondern auf Kosten der Handlichkeit (u. A. schwieriges zeit¬
raubendes Abdichten der Thüren) mit rundem Querschnitt herzustellen
wären. Des Weiteren wendet sich W. gegen die Annahme Koch’s, dass
strömender Dampf in den Objecten Temperaturen bis 100° G. erzeuge;
durch den Deckel sei im Koch’schen Desinfectionskessel die Strömung des
Dampfes aufgehoben, der Deckel fungiere vielmehr als Sicherheitsventil und
solle daher auch mehr als bisher belastet werden. Grub er erblickt dagegen
in dem Deckel lediglich ein Mittel Wirbelbewegung. Mischung des Dampfes
mit Luft und Abkühlung zu verhüten, glaubt aber, dass trotz des für die
Desinfection poröser Objecte principiell irrelevanten Strömens des Dampfes
dauernd Siedetemperatur in dem freien Desinfectionsraume des Koch'-
schen Apparates bestehe und ein etwaiger durch den Deckel bedingter Ueber¬
druck des strömenden Dampfes im Innern höchstens mittels Differential-Mano¬
meters erkennbar sei.
Diö günstigen Resultate v. Esmarch’s mit überhitztem Dampf (Zschr.
f. Hygiene, Bd. IV) erkennt Walz nicht an, weil das von v. Esmarch
benutzte Röhrensystem sich bei jedesmaligem Entfernen des Stopfens,
welches jeder Versuch erforderte, neu mit Luft füllte und die von Wal z auf 300*
bis 600° geschätzte Temperatur des benutzten Gasrohres eine Ueberhitzung
der umgebenden Luft und daher eine Diffusion d. h. eine Vermischung von
Dampf mit Luft bewirkt habe. Der Dampf resp. dessen Gemisch mit Luft
habe überdies bei der Lichtung des Rohres von 38 mm und dem Durch¬
messer der Bakterienprobe von 30 mm nur in einem 4 mm messenden
Wege und entgegen derjenigen Richtung strömen müssen, in welcher die
in der Probe befindliche Luft entweichen wollte, so dass der strömende
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J
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Dampf das Herausfallen der Luft aus dem Desinfeetionsobject habe hemmen
müssen. Auch v. Esmarch arbeitete nach Walz’s Ausführungen mit
Ueberdruck.
Die verschiedenen Anwendungsweisen des Dampfes zur Desinfection
verglich Budde (4) in einem grossen Herscher'schen Apparat an zu¬
sammengewickelten Wolldecken, indem er im Centrum, an der Peripherie
und zwischen den Decken die Temperaturen bestimmte. Verfasser fand,
dass ceteris paribus höhere Spannung des Dampfes die Wärme schneller
in die Objecte eindringen liess, dass in gleichem Sinne Bewegung des
Dampfes wirkt und erhielt die besten Resultate mit strömendem und zugleich
stark gespanntem Dampf. Deshalb stellt nach Verf.’s Ansicht die ununter¬
brochene Einströmung von stark gespanntem Dampfe in, und die ununter¬
brochene Ausströmung desselben aus dem Desinfectionsraume die wirksamste
Form der Anwendung des Dampfes dar. Sie ist auch für den Herscher’schen
Ofen zweckmässiger als die allgemein übliche, bei welcher durch die Aus¬
blasungen das* Entweichen der Luft aus und das Eindringen des Dampfes
in die Tiefe der Objecte erleichtert werden soll. Seine Annahme, dass
bessere Erfolge erzielt würden, wenn die Ausblasungen nicht erst 5 bis 10
Minuten nach dem Anfänge, sondern schon früher vorgenommen werden,
fand Budde bestätigt. Je früher er ausblies, um so schneller wurden die
hohen Temperaturen in den Objecten erreicht.
Ausser dem zur Erklärung der Wirkung deä intermittirenden Druckes
bislang herangezogenen Momente — nämlich dass durch den stark ge¬
spannten Dampf die Luft in den tieferen Maschen der Stoffe zusammenge¬
drückt imd eingesperrt werde und deshalb der Dampf und mit ihm die
Wärme nur sehr schwierig eindringe, unter der der Ausblasung folgenden
Druck Verminderung dann der grösste Theil der Luft entweiche und nun
der wieder eingeführte gespannte Dampf leichter in die Objecte gelange —
ist die Condensation von Belang. Da bei den benutzten Spannungs¬
graden das Condenswasser nur bis V*«®« von dem Raum ausfüllt,
welcher der entsprechenden Menge gesättigten Dampfes zukam, und der Dampf
je nach den kälteren Schichten, in welche er eindringt, sich condensirt,
kommt es zu einer bedeutenden lokalen Druckverminderung, welche ausge¬
glichen wird durch Dampf und Luft, die aus den umgebenden Theilen her¬
beiströmen. Dadurch, dass dies an zahllosen Stellen zutrifft, werden Luft
und Dampf leichter gemischt. Wird nun später neuer Dampf in den vom
ersten Dampf entleerten Desinfectionsraum geleitet, so findet er die Poren der
Objecte mit Dampf von niedrigerer Spannung gefüllt und trotz seiner dann
erfolgenden Abkühlung kommt er unter dem beim fortgesetzten Zuleiten
entstehenden Ueberdruck wieder unter eine Spannung, welche höher ist
als die, welche dem Sättigungspunkte bei der betreffenden Temperatur ent¬
spricht. Dazu komme, dass der Dampf vom Beginn der Ausblasung an bis
zur Erreichung des früheren Druckes strömt.
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Zu Gunsten dieser Auffassung sprachen Versuche, welche ergaben, dass
die prozentische Gewichtszunahme der Wolldecken während
der Desinfection ihrer Erwärmung im Innern einigermassen
proportional ist.
Als sicher und schnell wirksame empfiehlt Budde Apparate
mit unausgesetzt strömendem und stark gespanntem Dampf
bei auf Atmosphäre Ueberdruck eingestelltem Sicherheit«-Ventil, sowie
Einführung des Dampfes durch eine Röhrenbrause au der Decke des
Cylinders.
van Overbeck's Desinfeetor (5) besteht aus einem in einem zweiten
mit Kieselguhr bekleideten Kasten lixirten ebenfalls parallelepipedischen
Eisenblechkasten. Der äussere Kasten trägt ein Wasserstands rohr und be¬
sitzt Einfluss- sowie Austrittsöthiung für Wasser. Der Raum zwischen
beiden Kasten wird mit Wasser gefüllt, dessen Temperatur abgelesen werden
kann. Dieselben sind mit einander verbunden durch ein rundes Loch in
der oberen Wand des inneren Kastens. Aus einem um vieles engeren Loch
an dessen Boden führt ein Kupferrohr ins Freie oder in einen Schornstein.
Durch eine doppelwandige vertikale Tliüre wird der Desinfectionsraum be¬
schickt und strömt dann das mit beliebigem Material erhitzte Dampf als Wasser
von oben nach unten durch denselben. In höchstens 18 Minuten wurden in
einem so eonslruirten Apparat in einem 15 cm dicken Object 100° C.
constatirt.
Levison (6) prüfte den Einfluss der Wasserdampf-Desinfection auf die
Zerreissbarkeit einer Anzahl von Kleiderstoffe. Die einzelnen Proben wurden
zehnmal dem Desinfectionsprozess in dem Reck'schen oder Geneste - Her-
scher’schen Apparat unterworfen. Flächserne Stoffe. Leinwand und Bett-
zwillig litten am meisten, (die Proben sind nicht stets völlig gleichwerthig,
da die einzelnen Stücke dieser Stoffe in verschiedene Grade zerreissbar
sind). Ganz wollene Stoffe hatten unbedeutend eingebüsst, desgleichen halb¬
wollene Flanelle, während Hessians und Baumwollstoffe mit Ausnahme von
•Barchent nach der Desinfection grössere Lasten trugen als zuvor, also an
Güte gewonnen hatten. Aber auch diejenigen Stoffe, die am meisten ge¬
litten hatten, blieben völlig brauchbar.
Siebenzehn verschieden alte Sorten Milzbrandsporen verglich Es mar ch
(7) bezüglich ihrer Widerstandsfähigkeit gegen strömenden Wasserdampf
und fünfprozentige Carbolsäure. Während ein Theil derselben in Garbol-
säure schon am vierten Tage getödtet waren, blieben andere länger als
einen Monat hindurch wachsthumsfähig. Einzelne Proben gingen in strö¬
mendem Dampf schon binnen drei Minuten zu Grunde, andere lebten noch
nach 12 Minuten. Dabei verhielten sich die Sporen gleicher Herkunft an¬
scheinend gleich untereinander. Die Substanz, an der die Sporen einge¬
trocknet waren, war ohne Einfluss, desgleichen das Alter, der ursprüngliche
Nährboden sowie die Dicke der Schicht, in welcher sie den Fäden anhingen.
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453
Auf Grund des Gesagten sind Desinfectionsapparate und desinficirende Flüssig¬
keiten zur Prüfung ihrer höheren oder geringeren desinficirenden Kraft nur
mit denselben Milzbrandfäden zu prüfen. Verfassers Mittheilungen erklären
überdies die theilweise von einander abweichenden Angaben der Autoren
über die Widerstandsfähigkeit der Milzbrandsporen.
Bei Gontrolversuchen über die desinficirende Fähigkeit der Schwef'el-
Garbolsäure und diesbezüglichen Vergleichen zwischen ein bis fünfprozen¬
tiger heiss und kalt bereiteter Schwefel-Garbolsäure mit reinem Phenol und
reiner Schwefelsäure fand Frankel (8) die ohne Abkühlung dargestellten
Mischungen um vieles schwächer als die kalt bereiteten. Die letztere tödlete
bei einer Goncentration von 5 °/o eine äusserst wiederstandsfähige Probe
Milzbrandsporen (Laplace fand solche schon nach eintägigem Aufenthalt in
4°/« Lösung todt, ein Unterschied, der sich aus den oben mitgetheilten
Untersuchungen Esmarch's erklärt), welche in 5°/* Phenollösung länger
als 40 Tage und in 1% Sublimatlösung länger als 20 Minuten lebensfähig
blieben, in 24 Stunden. Die Muthmassung, dass dies den etwa entstehenden
Phenolsulfosäuren zu danken sei und nicht der durch relativ geringe des¬
inficirende Kraft ausgezeichneten Schwefelsäure, veranlasste zu Versuchen mit
1 bis o°/oigen wässerigen Lösungen eines Gemenges gleicher Theile Schwefel -
säure und reinen Phenols. Kalt bereitet Hessen diese Mischungen nach
wenigen Stunden PhenoLsulfosäure auskrystallisren; warm bereitet behielten
sie ihre syrupartige Consistenz. Sie wurden verglichen mit gleichprozentigen
Lösungen reiner Orthophenolsulfosäure (-Aseptoi)* und Paraphenolsulfosäure.
Dabei war der erhebliche Einfluss der Sulfirung offenbar, indem Sporen,
welche in 5°/o Phenollösung 40 Tage lebten, in der Phenolsulfosäurelösung
schon nach 2 bis 9 Tagen abgestorben waren. Die Paraphenolsulfosäure
war die weniger wirksame. Die Mittheilung Hüppe’s, welcher von 5°/*
Aseptollösung nach 24stündiger Application eine deutliche Einwirkung auf
Milzbrandsporen nicht constatiren konnte, erklärt sich nach Fränkel’s
Ansicht aus der verschiedenen Herkunft der Sporen.
In der Erwägung, dass die Ueberlegenheit der sulfirten Lösungen der
rohen Garbolsäure über die analogen Lösungen des reinen Phenol's nur
darauf beruhen könne, dass die rohe Garbolsäure selbst Körper von sehr
hoher Desinfectionskraft enthält, deren Eigenschaften erst zu Tage treten,
wenn die in Wasser fast unlösliche Garbolsäure durch den Zusatz der
Schwefelsäure aufgeschlossen und in eine lösliche Substanz übergeführt
werde, prüfte Verfasser die von 20° zu 20° gesondert aufgefangenen Pro¬
dukte der fraktionirten Destillation der rohen Garbolsäure. Von den in
Wasser sämmtlich unlöslichen, durch Zusatz der gleichen Menge Schwefel¬
säure in der Kälte löslich gemachten Fraktionen erwiesen sich in 5% Lösung
die zwischen 185° und 205° destillirten. welche fast die Hälfte der rohen
Garbolsäure ausmachen, gegen Milzbrandsporen wirksamer als reines Phenol.
Bei den übrigen Fraktionen erschien die milzbrandsporentödtende Eigenschaft
überhaupt fraglich. Mit Rücksicht auf den Umstand, dass hei 188, 201
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und 198° die Siedepunkte der Kresole liegen, zog Verfasser o-, p-, und m-
Kresol (bis 5 # /oige Mischungen mit Wasser) in das Bereich der Versuche
und, als hierdurch trotz deren geringer Löslichkeit nicht unerheblich des-
inficirende Flüssigkeiten erhalten wurden, in gleicher Weise Lösungen der
Kresole mit Schwefelsäure. 2% Lösung von m-Kresol tödtete Milzbrand¬
sporen in 15 Stunden, 2°/o p-Kresol erreichte Entwickelungshemmung nach
zehn Stunden; l°/ 0 Lösungen wirkten weniger intensiv, aber auch hier
m-Kresol stärker als p-Kresol. Als Schwefelsäure-Verbindungen benutzte
Fränkel wässerige Lösungen reiner Parakresolorthosulfosäure, einer Kresol-
sulfosäure aus Rohkresol und einer Parakresolsulfosäure, Para- und ortho-
kresolsulfosaurem Natrium, sowie mit concentrirter Ortho-, Meta- und
Parakresolsulfosäure. Die erstgenannte, 7 # /oige, Lösung tödtete Milzbrand in
2 Tagen, wirkte weniger stark als Kresol-Schwefelsäure-Mischung, die beiden
folgenden Lösungen blieben hinter der ersten nicht weit zurück; dagegen
wurde diese von den drei letztgenannten Substanzen übertrofTen. Dass dieser
Effekt allein der unversehrten Sulfogruppe in der Kresolverbindung zukommt,
erhellt daraus, dass Neutralisation die Wirkung der Säurelösungen aufhob.
Des Weiteren ergaben Emulsionen von Wasser mit gleichen Mengen Schwefel¬
säure und Rohkresol aus Toluidinen eine intensive Wirkung (Tod der Sporen
bei 5% nach 6 Stunden), die in keiner Weise vermindert wurde als die durch
Filtriren von den öligen Theilen befreite Mischung zur Anwendung kam.
0,3°/o Kresollösung tödtete in 5 Minuten Aureus, Pyocyaneus und Strepto¬
coccus Erysipelatis, während 2°/o Carbolschwefelsäure dazu 15 Minuten
bedurfte. Die filtrirte Mischung enthielt die überwiegende Menge der zur
Bereitung benützten Schwefelsäure noch in völlig freiem Zustande in Lösung
und Hessen die diesbezüglichen Schwefelsäurebestimmungen unzweifelhaft
erkennen, dass bei der Vereinigung von Schwefelsäure und dem benutzten Roh¬
kresol der Hauptsache nach nicht etwa eine neue Verbindung, eine Kresol -
sulfosäure entstanden, sondern dass das Kresol und die Schwefelsäure jedes für
sich erhalten geblieben, und nur das erstere durch die letztere in Lösung
gebracht worden war. Da vorstehende Versuche sich auf kalt hergestellte
Mischungen beziehen, so erklärt sich die geringe Wirksamkeit der nicht kalt
hergestellten durch die Erwägung, dass bei der Erwärmung beim Mischen
der Schwefelsäure nicht das in der rohen Garbolsäure steckende Kresol in
Lösung übergeführt wird, sondern dass dabei die weniger wirksamen Kresol-
sulfosäuren entstehen, ln der Schwefelsäure-Carbolmischung ist also das in
Lösung gebrachte Kresol, nicht die Schwefelsäure, nicht die Kresolsulfo-
säure das Desinficiens.
Die Vorfrage zur Auffindung der wirksamen Bestandtheile des CreoKns,
ob nämlich dem Zusammenwirken mehrerer in Gemischen vereinigter Des-
infectionsmittel eine höhere desinficirende Kraft zukommen könne als der
Lösung des stärksten der betr. Desinfectionsmittel, ob also Desinfectionsmittel
geeignet sind, sich in ihrer desinficirenden Wirksamkeit zu unterstützen.
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konnte Henle (9) auf Grund diesbezüglicher Versuche bejahen. So er¬
reichte eine Lösung mit 0,5°/« Carbolsäure und 0,001 °/o Sublimat in fünf
Minuten mehr als eine 0,001% Sublimatlösung in einer Stunde, eine
Mischung mit 1 °/o Carbolsäure und 0,01% Sublimat mehr als 2% Carbol-
säurelösung oder 0,02 °/o Sublimatlösung.
Da die Ueberlegenheit des englischen Creolins über das deutsche in
deren chemischen Zusammensetzung, sowohl in der Anwesenheit von
Phenolen im englischen Creolin wie auch in der Verschiedenheit der emul-
girenden Mittel (— beim englischen Harzseife, beim deutschen eine gummi¬
ähnliche Substanz —), zu vermuthen war, untersuchte Verfasser die Destil¬
lationsprodukte des Creolins (Seife, Creolinöl, Pyridin und Phenole)
getrennt. Dieselben wurden einzeln und mit V* 0 /® Creolinemulsion com-
binirt unter einander verglichen. Dabei ergab sich:
1) Dass bereits Harzseife allein in 1,5% Lösung die Entwickelung von
Typhusbacillen und Staphylococcus aureus zu hemmen vermochte, 2) dass
Creolinölseifenlösung einfache Seifenlösung sowie Creolinöl-Gummiarabicum-
lösung übertrifft, was sowohl auf der desinficirenden Kraft der Seife wie
auch darauf beruht, dass die durch die Seife bewirkte Verthei]ung des
Creolins eine feinere ist als die Vertheilung des Creolins in der Gummi-
Emulsion, 3) dass die indifferenten aromatischen Kohlenwasserstoffe des
deutschen Creolins denjenigen des englischen bezüglich ihrer antiseptischen
Leistungsfähigkeit völlig gleichkommen, 4) dass die Gegenwart von Naph¬
thalin die Wirksamkeit der Emulsionen nicht beeinflusst, 5) dass die Wir¬
kung der Harzseife wie auch die des Creolinöls derjenigen des Creolins
nachsteht, 6) dass die Pyridine dieselbe nicht vermehren, 7) dass die
Phenole des Creolins (Siedepunkte bis 201°) reinem Phenol an antiseptischer
Leistungsfähigkeit bedeutend überlegen sind, während käufliches Kresol
zwar weniger intensiv als die Creolinphenole, jedoch weit stärker als reine
Carbolsäure wirkt.
In Uebereinstimmung mit der Thatsache, dass der Desinfectionswertli
der Kresole mit ihrem Siedepunkte steigt und die an höheren Phenolen
reiche rohe Carbolsäure ebenfalls in höherem Grade desinficirt als die reine
Carbolsäure, fand Verfasser sodann, dass die fractionirten Destillate der rohen
Carbolsäure ebenfalls mit dem höheren Siedepunkte eine höhere desinficirende
Kraft aufweisen. Da die im Creolin enthaltenen Phenole durch Destillation
von der Carbolsäure befreit sind, das Creolin also gerade die hochsiedenden
Homologen des Phenols enthalten muss, so ist dadurch seine starke Des-
infectionswirkung wohl erklärlich. Da des weiteren der Phenolgehalt etwa
eine %% Creolinemulsion kaum %o% übersteigt, in dieser Concentration
jedoch die Phenole die Keimzahl der Culturen nicht merkbar beeinflussen,
so war für die Erklärung der Wirksamkeit des Creolins vor Allem die com-
binirte Wirkung der Phenole mit derjenigen der Seife und des Creolinöls
zu berücksichtigen. Thatsächlich erwies sich ein 10% Phenolgehalt der
mit Harzseife und Phenol-Creolinölmischung von Verf. dargestellten Emul¬
sion ebenso desinfectionstüchtig wie das englische Creolin. Das Fortlassen
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eines der benutzten Körper genügte, um die Desinfectionskraft wesentlich zu
schwächen. Derart imitirtes Creolin wirkt in 0,5°/« Lösung intensiver als
l°/o Creolinöl-Seifenemulsion und 0,1 °/o Lösung der Phenole aus Creolin.
Ersetzt man die Creolinphenole des imitirten Creolins durch Carbolsäure
(0,5 Carbolsäure -f 2,5 Creolinöl -f 1,5 Harzseife), so ist das Produkt
weit antiseptischer als die blosse Carbolsäure, steht aber dem erstbezeich-
neten imitirten Creolin nach. Das Gleiche gilt von Mischungen gleicher
Theile Creolinöl, Harzseife und Kresol (Kahlbaum). Die indifferenten aro¬
matischen Kohlenwasserstoffe des Artmann’schen Creolins kamen in imitirtem
Creolin dem Creolinöl des englischen Präparates völlig gleich.
Die Wirkung des imitirten Creolins steigt mit dem Prozentgehalt an
Kresol fortwährend, bis derselbe 00°/o beträgt: mit höherem Kresolgehalt
sinkt indess die Leistungsfähigkeit des Creolins.
Die Phenole finden sich also im Creolin in einer Lage,
in der sie weit mehr als unter gewöhnlichen Umständen zu
leisten vermögen.
Da wir sämmtliche Bestandthei le des englischen Creolins
durch andere, welche dem englischen Creolin nicht ent¬
stammen, ersetzen und diese im Handel erhalten können, so
ist Creolin in Zukunft nicht mehr als G eh e i m m i 11 ei zu be¬
tracht en.
Wie Liibhert (10) fand, besitzt die r'-0xynaphtoesäure die Fähig¬
keit, in Fleischwasser-peptongelatine das Wachsthum sonst auf dieser üppig
gedeihender Spaltpilze zu verhindern und rohen Hühnereiern beigerührt
oder mit gehacktem Fleisch gemischt dort jegliche Fäulniss zu verhüten?
2 # /o genügt um Harn, Fleischextraktzuckerlösung, Eiweiss- und Fetthaltige
Substrate trotz Impfung mit Reinculturen von Eitercoccen, Hefen- oder
Schimmelpilzen rein und klar zu erhalten und Milch vor Gerinnung zu
bewahren. Dies gilt bei Zimmertemperatur wie bei höheren Wärmegraden
und unter verschiedenen Licht Verhältnissen; es ist gleichgültig, ob die Säure
den Substraten in Substanz oder in Lösung zugesetzt wird. In einpro¬
zentiger wässeriger Lösung blieben unausgenommene Weissfische monatelang
unverändert; bereits faulende Fische verloren, in die Lösung gebracht, jeg-
lischen Geruch und wurden an weiterer Zersetzung gehindert. Beeinträchtigt
wird die Wirksamkeit der Säure durch Natriumphosphat. Ausser der Ent¬
wickelungshemmung konnte Verfasser noch eonstatiren, dass die Säure,
sowohl trocken wie in Solution Aureus und Milzbrandbacillen tödtete. Sporen
wurden durch wässerige Lösung in 30 bis 00 Minuten vernichtet, durch
concentrirte alkoholische Lösung nicht beeinträchtigt. Bei höherer Tempe¬
ratur (55 °) wurden Sporen durch wässerige Lösung schon vor Ablauf von
30 Minuten getödtet. Erhöht wird die Wirkung durch Lösung der Saure
in Kaliseife. Bezüglich ihrer Giftigkeit erwähnt Verf., dass 1.0 in Substanz,
0,4 in Alkohol oder 0,21 in Wasser, Kaninchen subcutan applicirt, diese
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nicht erkranken macht, während Mäuse an Brod, welches mit der Säure
getränkt wurde, starben, desgleichen Fische in Wasser, welches mehr als
0,007 °/o enthielt.
Behring (11) führt aus, dass die verschiedenen Angaben über die ent¬
wickelungshemmende Wirkung zahlreicher antiseptischer Mittel auf pathogene
Keime — beispielsweise fanden v. Esmarch und Eisenberg dieselbe für
Pearson'sches Greolin bei 1: 5000 bis 1 : 1500, Behring bei 1 :175 bis
1 :225 — sich wenigstens theilweise aus der Versuchsanordnung erklären.
Während Verf.’s Creolinversuche an einem eiweisshaltigen Nährboden (Blut¬
serum) angestellt wurden, benutzten die anderen Beobachter hierzu eiweissfreie
Nährsubstrate, so dass nach v. E.’s und E.’s Versuchen der Werth für Greolin
den der Garbolsäure, welcher überall bei 1: 600 bis 1 : 900 angegeben wird,
um ein mehrfaches übertrifft, dagegen nach Verf.’s Versuchen um das Vier¬
fache geringer als dieses sein würde. Soll ein Mittel bei der Wund¬
behandlung Verwendung finden, so ist seine Wirksamkeit auf einem Nähr¬
boden von einer den Körperflüssigkeiten ähnlichen Zusammensetzung, also
auf Rinder-Blutserum festzustellen. Verf. verwendete dasselbe in Form des
hängenden Tropfens und impfte es nach Zusatz des zu prüfenden Mittels
mit Milzbrand.
So fand B. die Wachsthumsgrenze für Milzbrandbacillen in mit Sublimat
versetztem Blutserum bei Brüttemperatur nach zweitägiger Beobachtung bei
einem Su bl imatgehalt von 1 : 10000. Bei längerer Beobachtungsdauer zer¬
setzt sich das Sublimat, und es genügt sein Anfangsgehalt von 1 : 10000 nicht
mehr zur Wachsthumshemmung. 1 : 6000 verhindert noch nach 8 Tagen die
Entwickelung der Milzbrandbacillen nicht mit Sicherheit. Bei analoger An¬
wendung von Fleischinfusspeptonkochsalzbouillon war bei Zimmertemperatur
ein Gehalt von 1 :400000 ausreichend um jedes Wachsen für 2 Tage zu
verhüten, dagegen 1: 100000 bei 36 0 nicht genügend. Wurde die Bouillon
mit der sechsfachen Menge Wassers verdünnt, was übrigens deren Tauglich¬
keit als Nährboden nicht veränderte, so genügte */«•• °/«o. Uebrigens erwies
sich Blutserum nach Zusatz von Wasser als weit besseren Milzbrand¬
nährboden denn zuvor, und war in dem verdünnten Serum der entwickelungs¬
hemmende Einfluss des Sublimats viel beträchtiger als in dem nicht ver¬
dünnten. Derselbe wächst proportional der Verdünnung. Es müssen
demnach in der Bouillon wie auch im Blutserum Agentien vorhanden sein,
welche die entwickelungshemmende Wirkung des Sublimats beeinträchtigen.
In gekochter concentrirter Globulinlösung erwies sich der antiseptische
Werth des Sublimats noch geringer als in vollem Blutserum. Auch in
ihr nimmt er mit der Verdünnung gradweise zu. Während übrigens für
die Milzbrandsporen die entwickelungshemmende und die desinficirende
Wirkung einen sehr verschiedenen Sublimatgehalt erheischen, liegen die
entsprechenden Werthe für sporenfreie Milzbrandbacillen nahe bei einander.
Die Faktoren, von welchen nach Behring’s Versuchen mit Be¬
stimmtheit ein Einfluss auf die Grösse des die Entwickelungshemmung
Centralblatt f. allg. Gesundheitspflege. VIII. Jahrg. 31
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bezeichnenden Werthps constatirt wurde, sind 1) die Zusammensetzung des
Nährbodens, 2) die Temperatur, bei welcher das Milzbrandwachsthum be¬
obachtet worden ist, 3) die Dauer der Beobachtung, 4) die Art und Her¬
kunft des Impfmaterials.
Für Sublimat fand Yerf. nach 2 x 24stündiger Beobachtung als
niedrigste Zahl 1 :8000, als höchste 1: 15000; meistens weichen die Zahlen
noch weniger von dem Durchschnittswerthe, (1:10000), ab; für
Staphylococcus aureus ergab sich 1:5000, für Streptococcus
pyogenes 1:10000 als Durchschnittswerth, doch sind die Werthe für
Eitercoccen grösseren Schwankungen je nach der Provenienz der Coccen
unterworfen. B. gibt die bei Milzbrandbacillen erhaltenen Differenzen der
von ihr geprüften Quecksilberpräparate in einer ira nachstehenden gekürzten
Tabelle wieder:
| Entwickelungs-
0,1 */.ige Lösungen in destillirtem Wasser J
HgCls (Sublimat)
1) Sublimat, HgCl*. | 1 :10000
2) 1 Sublimat + 10 Kochsalz.| 1: 15000
3) Alembroth’sches Salz.j 1: 12000
4) t Sublimat + */* Cyankali. 1:12000
5) 1 Sublimat 4- 1 Cyankali.; 1: 15000
6) 1 Sublimat 4- 2 Cyankali. 1 :18000
7) 1 Sublimat 4 - 5 Weinsäure. 1 :8000
8) Quecksilbercyanid. j 1:18000
9) Quecksilbercyanidcyankaliuni (Merck) j 1 :24000
10) Quecksilberoxycyanid (Kahlbaum) .. , 1 *. 16000
11) Nessler’s Reagens.] 1 : 20000
12) Quecksilberformamid (Liebreich) ... 1 : 10000
13) 1 Sozojodolquecksilber -j- 5 Kochsalz . (1: (*,000)
14) 1 Sozojodolquecksilber 4- 3 Jodkalium (1 : 10000)
ln den beiden letztgenannten Präparaten ist die entwickelungshemmende
Wirkung fast ausschliesslich dem Quecksilber zuzuschreiben, da dem
Sozojodol selbst kaum mehr Einfluss auf das Milzbrandwachsthum zu-
kommt, als durch seine saueren Eigenschaften bedingt wird. Das Sozo-
jodolnatrium hat noch keine Wirkung, wenn es im Verhältniss von
1:100 im Blutserum enthalten ist.
Zu Schluss seiner Arbeit bringt Verf. eine Tabelle über die ent-
wickelungshemmende Wirkung 38 anderer von ihm geprüfter chemischer
Präparate.
v. Gerloczy (12) kam zu folgendem Resultat: Sublimat ist zur
Desinfection von Excrementen, Kehricht, Sandgrubeninhalt u. dergl. nicht
anwendbar, weil hierzu zu grosse Mengen erforderlich sein würden. Zweck¬
mässiger ist Cuprum sulfuricum, welches Canalflüssigkeit schon in einer
Menge von 1 : 1000 völlig reinigt und dauernd steril macht. Für dieses
Mittel spricht ferner der geringe Preis und die Unmöglichkeit es mit anderen
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Substanzen zu verwechseln. Für frische Excremente eignet sich ferner in
hohem Masse siedend heisse Lauge. Krystallisirte Garbolsäure stand bei
den vom Verf. untersuchten Objecten hinter dem schwefelsaueren Kupfer
zurück; dagegen betont er die desodorirende Wirkung der rohen Garbol¬
säure. Verf. empfiehlt zur Desinfection und Desodorirung von Senkgruben
bei aussergewöhnlichen Fällen, wie in Gholerazeiten, Guprum sulfuricum
(40 kg per m * Senkgrube) und rohe Garbolsäure (20 kg pro m 8 ), für Canal¬
flüssigkeiten cuprum sulfuricum, für schlammige Ausgussrinnen rohe Carbol-
säure (2 auf 1000 Schmutzwasser), für GanalÖffnungen und Schlammbehälter
Ausspülung event. mit Zinkvitriol oder rohem Garbol, für Strassenkehricht
Befeuchtung und Abfuhr, für frische Excremente Kupfervitriol (lg pro
100 ccm) oder die dreifache Menge siedender Lauge.
Zur Desinfection von Thyphus- und Gholeraausleerungen fand Pfuhl (13)
den Zusatz von 2 Vol-Procent 20 °/« Kalkmilch (1 Theil Kalkhydrat auf
4 Theile Wasser) als am meisten geeignet. Die Desinfection war in
spätestens einer Stunde vollendet. Ist der zur Benutzung bestimmte Kalk
von schlechter Beschaffenheit oder sind die qu, Excremente mit festen
Ausleerungen bereits gemischt, so kann man die benutzte Kalkmenge als
ausreichend bezeichnen, wenn nach ihrem Zusatz die Fäkalmassen deutlich
alkalisch reagieren.
Von zwei dünnen Entleerungen Typhöser, einer Entleerung von
katarrhalischer Ruhr und breiigen Mischungen von Fäkalien, Urin und
lebensfähigen Typhus- bezw. Gholerabakterien mischte Uffelmann (14)
genau abgemessene Mengen mit gleich genau gemessenen Mengen von Des-
infectionsmitteln und constatirte nach verschieden langer Zeit die Zahl der
noch wachsthumsfahigen Keime. Verf. benutzte Schwefelsäure, Salzsäure,
beide mit der gleichen oder doppelten Menge Wassers verdünnt, 5 °/o Carbol-
säure, 2 °/oo Sublimat, 2 °/o salzsaure Sublimatlösung, 35 °/o Kalilauge, frisch
bereiteten Aetzkalk, Kalkmilch, 12,5 •/• Greolinlösung und siedendes Wasser.
Am wirksamsten erwiesen sich die Mineralsäuren, die in 2 bezw. 12 Stunden
alle Keime getödtet hatten. Ihnen zunächst stand die saure Sublimatlösung
und die mit der gleichen Wassermenge verdünnten Kalilauge. 5 •/• Garbol¬
säure hatte nach einer Stunde noch nicht alle Typhusbakterien getödtet,
wohl aber nach 24 Stunden diese und fast alle anderen Keime. Greolin
bedurfte dazu 24 Stunden, Aetzkalk in 2,5 °/o Lösung der gleichen Zeit,
während nicht saure Sublimatlösung auch in 24 Stunden nicht stets alle
Keime zu tödten vermochte. Ganz unwirksam war das blose Uebergiessen
der Fäkalien mit siedendem Wasser. Von grösster Wichtigkeit war also
die Dauer der Einwirkung, besonders bei Garbolsäure und Sublimatlösung.
Erstere wirkte in 5 °/o Lösung ebenso wie nicht saure Sublimatlösung
während der ersten 10—15 Minuten auf Fäkalien wider Erwarten
schwach ein. Auch die sauere Lösung des Sublimats bedarf zu durch¬
greifender Wirksamkeit mehr als 15 Minuten.
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Zur sicheren Desinfection flüssiger oder dünnbreiiger Fäkalien schlägt
Uffelraann daher vor, dieselben mit der gleichen Menge von mit Wasser
im Verhältniss von 1 :1 oder 1: 2 verdünnter Schwefelsäure oder Salzsäure
zu versetzen und 2 bezw. 12 Stunden, bei Anwendung von 5 •/• Carbul-
säure oder 2,5 •/• Aetzkalk 24 Stunden, bei Benutzung von 2 •/•• saurer
Sublimatlösung mindestens eine halbe Stunde stehen zu lassen.
Flat ten.
Georg Cornet, Die Sterblichkeits-Verhältnisse in den Krankenpflege-Orden.
Zeitschrift für Hygiene, VI. Band. S. 65.
Um einen Maassstab für die Grösse der Infectionsgefahr durch Tuber¬
kulose zu gewinnen, untersuchte Verfasser die Gesundheits- und Sterblichkeits-
Verhältnisse der Krankenpflege-Orden, weil gerade dieser Beruf einen steten
regen Verkehr mit Tuberkulosekranken mit sich bringt. Das Material
hierzu fand Verfasser in den statistischen Erhebungen, welche S. Excellenz
der Herr Staats-Minister v. Gossler im Februar 1888 verfügte.
Da die ausserhalb jeder religiösen und weltlichen Gemeinschaft stehenden
sogenannten freien Wärter und Wärterinnen nach Zahl und Person von
Jahr zu Jahr ausserordentlich wechseln, wurden diese von der Statistik
ausgeschlossen, desgleichen diejenigen Pflegerinnen, welche weltlichen Ver¬
bänden angehören. Hauptsächlich kommen demnach in Betracht die weib¬
lichen und männlichen katholischen Orden, für deren Mitglieder ein Aus¬
scheiden aus dem Orden etwas unerhörtes und exceptionelles ist, während
die Verhältnisse der evangelischen Diakonissinnen, welche häufiger austreten,
sich zu qu. Untersuchungen weniger eignen. Ueberdies ist die Zahl der
katholischen Ordensschwestern und Brüder ausreichend, um ein richtiges
Urtheil zu gewähren. Die diesbezüglich an die Klöster gestellten Fragen
erstreckten sich auf einen Zeitraum von 25 Jahren und betrafen Todes¬
ursache, Alter, Klosterjahre, Krankheitsdauer und Beschäftigungsart der
Verstorbenen, sowie Alter und Zahl des jährlichen Zugangs.
In den Berichten von 38 Klöstern mit einer jährlichen Durchschnitts¬
zahl von 4028,80 Schwestern resp. Brüdern und einer Gesammtsumme von
87,450 Personenjahren betrug die Zahl der Gestorbenen 2099, von welchen
1320, also 62,88 °/o (fast */*) an Tuberkulose gelitten hatten, während im
Allgemeinen nur 7» bis 7» der Einwohner im Staate an Tuberkulose sterben.
Dieser Durchschnitt, */«, wurde in der Hälfte der Klöster noch übertrofTen
und wuchs in einzelnen derselben auf 7« aller Todesfälle.
Auffallend hoch erscheint ferner die Typhusmortalität mit 8,23*/• und
diejenige für Krebs (2,38 °/©), während die übrigen Krankheiten die ge¬
wöhnlichen Werthe aufwiesen.
Die Mehrzahl der Todesfälle betraf das Alter von 20 — 50 Jahren,
während Todesfälle in höherem Alter nur vereinzelt vorkamen. Die Meisten
starben 40 bis 50 Jahre alt.
Im höheren Alter nimmt die Mortalität ab, entgegen der Thatsache,
dass die absolute Mortalität im ganzen Staate bis zum 70. Jahre steigt
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Dies erklärt sich durch, die lawinenartige Anschwellung der Sterblichkeit in
den ersten Pflegejahren, in Folge derer nur wenige ein mittleres oder gar
höheres Alter erreichen und die absolute Zahl der in höherem Alter
Gestorbenen bei der kleinen Zahl der das 50. Jahr Ueberlebenden sehr
klein ausfallen kann. Addiert man zu den 2099 Todesfällen noch 162 Todes¬
fälle aus Klöstern, welche nur das Alter, nicht die Todesursache an¬
geben (und deshalb bei den übrigen Untersuchungen nicht geführt werden
können), so beträgt für diese 2261 Todesfälle das Durchschnittsalter
36,27 Lebensjahre, was ohne Weiteres eine vermehrte Sterblichkeit ergibt.
Diese fällt noch mehr auf, weil diese 2261 Gestorbenen nicht etwa vor¬
wiegend schon in der Jugend krank waren, sondern im Gegentheil beim
Eintritt in den Orden gesund und kräftig sein mussten. In einzelnen
Klöstern betrug das Durchschnittsalter sogar nur 30, resp. 28 Jahre, war
also niedriger als bei jeder anderen Berufsart.
Die Ursache dieser hohen Mortalität ist das dominirende
Auftreten der Tuberkulose.
Dies illustriren nachstehende Zahlen (die absoluten Sterblichkeitszahlen
der gesammten katholischen Krankenpflege-Orden).
Nr.
Todes¬
ursachen
An genannten Todesursachen starben während der
letzten 25 Jahre im Alter von
•
Summe
BUH
B
B
B
KiSfffJ
i)
Toterkotae
14
164
348
525
201
ü
19
6
1320
2)
Typhös...
5
41
54
47
19
n
1
—
177
6)
Krehs....
1
—
2
12
15
B
1
H
Summe der
Gestorbenen
23
1
243
472
711
347
150
100
53
2099
Bei einem Vergleich der Mortalität im Staate und der im Kloster ergibt
sich ferner, dass die relative Sterblichkeit vom 15. bis 20. Jahre,
anf die gleiche Zahl Lebender berechnet, im Kloster die im Staate
um das Vier fache, vom 20. bis 30. Jahre um das Dreifache über¬
trifft, vom 30. bis 40. Jahre doppelt so gross, vom 40. Jahre
ab ungefähr gleich ist. Einen geringen Antheil an dieser hohen Stgrij-
lichkeit hat noch der Unterleibstyphus, der um das Acht- bk Zehnfache
steigt, und der Krebs. Zieht man von den Gesantfhtsummen der Ge¬
storbenen im Staat und Kloster die Tuberkulösen ab, so verschwinden die
grossen Differenzen, zieht man noch die anderen eigens gezählten Infections-
krankheiten ab, so stimmt der Rest für Staat und Kloster überein bis zunj
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— 462 —
40. Lebensjahre, vom 40. bis 60. Jahre ist sogar die Zahl der an anderen
Krankheiten Gestorbenen im Kloster niedriger als irn übrigen Staate.
Berücksichtigt man des Weiteren, dass diejenigen Verrichtungen im
Krankenhause, die am meisten mit einer Infectionsgefahr verbunden sind,
wie Reinigung der Krankensäle, Ordnen der Betten, Entfernen ev. bespuckter
Taschentücher, vorzüglich in die ersten Abschnitte der Ordensthätigkeit
fallen, da das zunehmende Alter die schwereren Arbeiten nicht mehr
leisten kann, so wird dadurch erklärt, dass mit zunehmendem Alter der
Schwestern die Zahl der Inlicirten unter ihnen abnimmt, während diese
in den ersten Jahren steigt.
Aus zahlreichen vom Verfasser beigebrachten Tabellen und graphischen
Darstellungen geht die Richtigkeit des Gesagten hervor. Man ersieht daraus
u. A., dass von den in der Statistik berücksichtigten Orden während
25 Jahren von je 100 Krankenpflegern 63 an Tuberkulose starben.
Bis zum 50. Lebensjahre machte sie thatsächlich nie weniger als die Hälfte,
meist # /« der gesammten Todesursachen aus.
Wir entnehmen den Ausführungen des Verfassers nachstehende Zusammen¬
stellung :
Die Tuberkulose als Todesursache in jeder Altersklasse im % Verhältnis»
zu den übrigen Todesursachen.
Das Schwarze = Sterblichkeit an Tuberkulose.
Das Hellere = Sterblichkeit an anderen Krankheiten.
Zu dem gleichen Resultate gelangt man, wenn man unter Berücksich¬
tigung des verschiedenen Alters der Pflegerinnen beim Eintritt in den Orden
die Tuberkulosesterblichkeit nach der Anzahl der Jahre berechnet, während
welcher die Pflegerinnen im Orden thätig waren. Im ersten Halbjahre
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findet man die Sterblichkeit gering; dann steigt sie rapid, so dass sie
schon innerhalb der ersten fünf Jahre mehr als 7* der Gesammtsterblich-
keit ausmacht. Es starben in den ersten 10 Jahren fast zweimal so viel
als in der ganzen übrigen Zeit mit. Auf ihren Höhepunkt tritt die Tuber¬
kulose Anfang des 3. Jahres.
Endlich hat Verfasser die Absterbe-Ordnung in den Krankenpflege-Orden,
sowie das in jedem Lebensjahre zu erwartende Durchschnittsalter dar¬
gestellt. Hiernach stirbt ein mit 17 Jahren sich der Krankenpflege
widmendes gesundes Mädchen um 217» Jahre früher als die gleich-
alterige übrige Bevölkerung, und eine Krankenpflegerin im 25. Lebens¬
jahre steht bezüglich des ihr noch bevorstehenden Lebens auf gleicher
Stufe mit einer 58jährigen Person ausserhalb des Klosters, eine
33jährige mit einer 62jährigen. Die Differenz der noch zu er¬
wartenden Lebensjahre steigt vom 17. bis 24. Lebensjahre auf 22 Jahre,
geht dann allmählig herunter und beträgt in den fünfziger Jahren nur mehr 6.
Bei richtiger Würdigung aller in Frage kommenden Faktoren kann
die Ursache der vermehrten Tuberkulose- und Typhus-
Mortalität einzig und allein in der Beschäftigung mit der
Krankenpflege erblickt werden. Die Annahme, das Klosterleben
an sich sei mit Gefahren für Gesundheit und Leben verbunden, ist völlig
unbegründet.
Bedenkt man, dass */♦ aller Krankenpflegerinnen tuberkulös werden, so
ist anzunehmen, dass auch ein grosser Theil der Bettnachbaren der Tuber¬
kulösen im Krankenhause die Lungenschwindsucht acquirirt.
Flatt en.
Dr. Kruse in Norderney, Die C&n&lis&tion des Seebades Norderney. Eulen¬
berg ’s Viertelj. f. ger. M. u. öff. S. 1889. N. F. Bd. L. Supplementheft.
Verfasser schildert die Versuche, die man in Norderney seit 1878 ge¬
macht hat, die Abfallstoffe und Schmutzwässer zu entfernen. Nachdem sich
die bisherigen Massnahmen, wie Aufbewahrung der Fäkalien in gemauerten
Gruben und Ableitung der Schmutzwässer in Canälen, später Einführung
des Tonnensystems, als unzulänglich herausgestellt hatten, und zwar haupt¬
sächlich wohl deshalb, weil sie nicht allgemein eingeführt werden konnten,
hat man sich jetzt entschlossen, Schwemmkanalisation mit Berieselung ein¬
zurichten. Interessant sind die Angaben über die ebenfalls geplante Ge¬
winnung von Trinkwasser durch Tiefbohrungen, die das Vorhandensein einer
genügenden Menge trinkbaren Wassers nachgewiesen haben.
Dr. Schultz.
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Verzeieiiniss der bei der Redaktion eingegangenen neuen ßiiclier et
der
Alanus, Die Heilung der Schwindsucht auf diätet. Wege. Berlin, Verlag vo
Max Breitkreuz, 1889. M. 1.50.
Braun-Fernwald, E. v., u. F. Kreisl, Klinische Beiträge zur manuellen
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M. Breitenstein, 1889. M. 1.50.
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Darlegung der Physiologie u. Pathologie des menschlichen Magens. Ludwigs¬
lust, Verlag der HinstorfTschen Hofbuchhandlung (C. Kober). 1889.
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Eulenburg und Bach, Schulgesundheitspflege, Lfrg. 1, 2. Berlin, Verlag
von J. J. Heine, 1889. k Lfrg. M. 1.50.
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Verlag von Wilh. Issleib (Gustav Schuhr).
Hirschberg, Henri, Der Zucker als Nahrungs- und Heilmittel. Jena, Verlag
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Mansfeld, Dr. M., Leiter der Untersuchungsanstalt für Nahrungs- und Genuss-
mittel des Allg. Oest. Apotheker-Vereines und des Wiener Apotheker-Haupt-
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Mencke, Dr. Sanitätsrath, Welche Aufgaben erfüllt das Krankenhaus der kleinen
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Berlin N. W.
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der Medizinal Monthly Publishing Company. 17 to 27 Vandewater Street N.-Y.
Professor Dr. Jaeger’s Monatsblatt. 8. Jahrgang. Nr. 9/10. 1889. Stuttgart,
W. Kohlhammer.
International Journal of Surgery, devoted exclusively to the theory and Prac
of modern surgery. Vol. II. July/Sept. 1889. Nr. 7/9.
NB. Die für die Leser des „Centralblattes für allgemeine Gesundheitspfle
interessanten Bücher werden seitens der Redaktion zur Besprechung an die Herr
Mitarbeiter versandt, und Referate darüber, soweit der beschränkte Raum dieser
Zeitschrift es gestattet, zum Abdruck gebracht. Eine Verpflichtung zur Besprechung
oder Rücksendung nicht besprochener Werke wird in keinem Falle übernommen:
es muss in Fällen, wo aus besonderen Gründen keine Besprechung erfolgt, die
Aufnahme des ausführlichen Titels, Angabe des Umfanges, Verlegers und Preises
an dieser Stelle den Herren Einsendern genügen.
Die Verlagshandlung.
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