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CHR. D. GRABBE
N
NÜND
VON
OTTO NIETEN
SCHRIFTEN DER LITERARHISTORISCHEN GESELLSCHAFT BONN
HERAUSGEGEBEN VON BERTHOLD LITZMANN
= IV =
DORTMUND
DRUCK UND VERLAG VON FR. WILH. RUHFUS
1908
836
Nie
Vorwort
Die wissenschaftliche Literaturhistorie ist über den be-
deutendsten Dramatiker des nordwestlichen Deutschlands,
den Westfalen Christian Dietrich Grabbe, meist mit einem
herben Verdammungsurteil hinweggegangen. Zwar hat der
unselige Mann manchen Forscher zu einer flüchtigen Be-
trachtung gereizt, aber man hat ihm nicht entfernt das Maß
von Teilnahme zugewandt, das andre nachklassische Er-
scheinungen wie Kleist und Hebbel mit Recht erheischten.
Und doch ist wohl keine Frage, daß Orabbe nächst jenen
beiden Größeren die stärkste, ursprünglichste und originellste
dichterische Potenz unter den norddeutschen Dramatikern in
der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts darstellt.
Was die Entstehung dieses Buches angeht, so reichen die
Vorarbeiten zurück bis in das Jahr 1901, in dem zahlreiche
Stimmen in Jubiläumsaufsätzen zum 100. Geburtstage Grabbes
die noch lebendige Wirkung des Dichters bezeugten. Es galt
hier noch mancherlei Neuland zu bebauen, soviel auch For-
schern wie Grisebach, Piper, Ploch, Behrens, Ebstein zu
danken war. In einem Jahr wissenschaftlicher Maße, für
deren Gewahrung seitens der vorgesetzten Behörden und des
Ministeriums auch an dieser Stelle meinen Dank abzustatten
mir Bedürfnis ist, gedieh der Plan zur Vollendung. Freilich
war in diesen Jahren in mancher Hinsicht eine Wandlung für
den Verfasser eingetreten, sowohl was sein persönliches ästhe-
tisches Werturteil gegenüber den verschiedenen Schöpfungen
des Dichters anlangt, als auch was die Anlage und Ten*
denz des Buches angeht. Es lag im ursprünglichen Plan, zu-
nächst in einer wissenschaftlichen Monographie die For-
1 -
— IV —
schungsergebnisse über die Entstehung, über Motive und
Technik der einzelnen Dramen darzubieten. Lag doch in
dieser Beziehung nur erst K. A. Pipers Monographie über
den Oothland vor. Danach schwebte mir eine Biographie vor,
die, auf jenen Resultaten fußend, aber frei von solchem wis-
senschaftlichen Ballast einem literarisch interessierten grö-
ßeren Publikum ein Gesamtbild des eigenartigen Dichters
und Menschen nahebrächte. Wenn ich nun zum Teil aus
äußern Gründen mich zu einer Vereinigung dieser beiden
Aufgaben entschloß, so ist es mir bewußt, daß der Schwer-
punkt des vorliegenden Buches in der literarhistorischen Arbeit
liegt, die neuforschend und zusammenfassend das Werden der
dichterischen Persönlichkeit aus dem literarischen Milieu be-
greiflich zu machen, sowie Reflex und Wirkung auf die Zeit-
genossen und in die Zukunft hin zu zeigen sucht; aber
die biographischen Kapitel bilden die notwendige Ergänzung
und Erklärung für das Verständnis des Grabbeschen Kunst-
werkes. Dessen Zusammenhang soll insbesondre aus dem
Schlußkapitel hervorgehn, auf das ich den Leser nach der
Lektüre der in die Einzelheiten führenden Analysen jedesmal
verweisen möchte. Im ganzen war an eine mehr, essayistische
Biographie also nicht gedacht. Denn der Literarhistoriker
muß erst seine Arbeit getan haben, ehe eine Komposition
nach rein künstlerischen Gesichtspunkten möglich ist, so un-
dankbar sich der Essayist auch oft gegenüber dem Literatur-
forscher erweist, auf dessen Schultern er steht und ohne den
er doch auf unsicher romanhaftem Boden sich bewegte. Mit wie
ungeheurem psychologischem Reiz müßte nicht die Nachfor-
mung eines so einzig merkwürdigen Menschen wie Grabbe
den kongenialen Künstler und Dichter locken, insbesondre einen,
der den jungen Grabbe nachzuempfinden vermöchte!'
Meine Aufgabe war also in erster Reihe darauf gerichtet,
alles Wissen über Grabbe, die Ergebnisse eigenen Forschen*
mit den Resultaten der gesamten früheren Untersuchungen zu*
sammenzufassen, die historische Wahrheit über Grabbes Leben
— V —
zu ermitteln. Leben und Werk sollen sich gegenseitig ausein-
ander erklären. Aber die Hauptsache, das Dauerade, ist
natürlich das Werk. Wenn man aber dessen Wert anerkennt,
so mag man über die Person des Schöpfers nach einem Wort
aus Qothland denken: „Wir können ihn nicht lieben, also
wollen wir ihn vergessen". Der Biograph freilich, sofern er
nicht großen Aufwand an ein unnützes Werk vertut,
wird natürlich das Positive und Dauernde möglichst scharf
herausarbeiten, die großen Eigenschaften ins rechte Licht
setzen. Als Alkoholiker ist Grabbe nicht zu retten, aber an-
dererseits hat ihm das Schicksal eine so schwere Last auf-
erlegt, daß der Anteil der eigenen Schuld dadurch weit über-
wogen wird. Wer etwa mit Ebstein sich die Krankheits-
geschichte des Dichters vergegenwärtigt, muß doch staunen,
was dieser Mann bei dieser Oberfülle von Elend geleistet hat.
Welch ein Wirrsal grundverschiedener, sich befehdender,
verketzernder und enthusiastischer Auffassungen hat die Er-
scheinung Orabbes ausgelöst! Das Werturteil schwebt auf des
Messers Schneide. In jedem Betracht gilt Orabbe als ein
Grenzphänomen. Soll man nicht Mitleid haben mit dem Kran-
ken, den bis zum letzten Atemzug ein fieberhaftes Streben
nach Größe beseelte? Wird nicht die Verachtung mit dem
Charakterschwachen die Sympathieen für diesen zwiespältigen
Mann zerstören? Und führt uns nicht auch der Dichter
gerade in seinen originellsten Eingebungen oft an die Grenze,
wo der subjektive Geschmack entscheidet, ob er noch tragisch
zu genießen vermag oder ob er nur eine bizarre Kuriosität
bestaunt? Ein gSnie mal log£, von allen Glückswerten des
menschlichen Lebens ausgeschlossen gleich denen, „so nichts
sind und nichts können". Ein Mensch von außergewöhn-
lichem Talent, der es doch zu nichts bringt, ein zwiespäl-
tiger großringender Mann, der verächtlich zugrunde geht. Die
dunkeln Widersprüche des Daseins selbst tauchen in schmerz-
hafter Furchtbarkeit vor uns auf. Die tragische Größe in
Grabbes Werk spricht sich erhaben dahin aus, daß sich hier
— VI —
ein tiefster Schmerz enthüllt ohne bettelndes Mitleid, ohne
Anklage, aber hoheitsvoll in seinem Stolz. Das ist die
reinste Wirkung. Ecce homo — ecoe poeta.
Nach Fertigstellung dieser Arbeit ist es mir Bedürfnis,
für manche Förderung und Hülfe meinen Dank auszuspre-
chen« Die Vorlesungen von Professor Franz Muncker
in München, dem ich manche wertvolle Anregung danke,
ließen die ersehnte Fühlung mit der Literaturforschung wie-
der gewinnen. Die Berliner Bibliothek gestattete durch freund-
liche Vermittlung des Bibliothekars Dr. Wolf in München
eine Abschrift der ersten Fassung von „Marius und Sulla"»
die nun inzwischen freilich auch von P. Friedrich in
seiner Grabbeausgabe bereits gebracht wurde. Dankbar ge-
denke ich ferner der Liberalitat des Herrn Dr. Robert
Hallgarten in München, der durch den Einblick in seine
Wertvollen Inedita, sehr ausführliche Fassungen des Hannibal
und der Hermannsschlacht, die lebendigste Anschauung von
der Arbeitsweise des Dichters ermöglichte. Die Münchener
Staatsbibliothek besitzt noch einige Grabbereliquien, die mir
Herr Dr. Petzet gütigst zur Kenntnisnahme überließ:
wenige Blätter der Hermannsschlacht und sodann eine Locke
von Grabbes Haupthaar, die Ignaz Hub pietätvoll aufbewahrte.
Herr Professor Dr. Anemüller machte mit freundlicher
Bereitwilligkeit die Schatze der Detmolder Landesbibliothek
zugänglich. Die dort befindlichen wertvollen Dokumente sind
allerdings in der leider vergriffenen Ausgabe von Oskar
Blumenthal fast vollständig ausgenutzt, während sie in der
Grisebachschen Ausgabe mit Recht vermißt werden. Ich
habe daher in der von mir besorgten Grabbeausgabe mit bio-
graphischer Einführung und Einleitungen zu den einzelnen
Stücken, die ungefähr gleichzeitig mit diesem Buch in Max
Hesses Leipziger Klassikerausgaben erscheinen wird, auch
die Briefe an Grabbe gebracht, wie auch die Briefe von
Grabbe um verschiedene Nummern vermehrt werden konnten.
Im übrigen könnte der Detmolder Lokalforschung noch manche
_ vn —
Bereicherung der Grabbeforschung gelingen. Aber es scheint
sich auch an Orabbe das Sprüchwort zu bewahrheiten: der
Prophet gilt nichts in seinem Vaterland!
Mit herzliohem Dank gedenke ich endlich noch des lie-
benswürdigen Entgegenkommens des Herrn Professor
Dr. Berthold Litzmann, des Vorsitzenden der Bonner
Literarhistorischen Gesellschaft, in deren ordentlichen Mitglie-
derkreis ich mich durch die vorliegende Arbeit einführt». Bei
Lesung der Korrekturen wurde ich zunächst von Herrn D r.
E n d e r s in Bonn, sodann von Herrn Dr. R i c k in Sieg-
burg durch Rat undfTat auf das uneigennützigste unterstützt.
Ostern 1 908 Der Verfasser
Inhaltsverzeichnis
Vorwort III
1. Kapitel. Heimat, Eltern, Jugend 1
2. Kapitel. Studentenzeit — Wanderjahre 17
3. Kapitel. Die Dichtungen des jungen Qrabbe ... 45
a) Einleitung. Das Schicksalsdrama 45
b) Herzog Theodor von Gothland 54
c) Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung . . 86
d) Nannette und Marie 100
e) Marius und Sulla 106
4. Kapitel. Der Auditeur 134
5. Kapitel. Don Juan und Faust 146
6. Kapitel. Ober die Shakespearomanie — Die Hohen-
staufen 203
7. Kapitel. Orabbes politische Ansichten — Napoleon
— Kosciuszko 240
8. Kapitel. Liebesleben und Ehe — Flucht aus Detmold 265
9. Kapitel. Die Frankfurter Episode 288
10. Kapitel. Düsseldorf — Qrabbe und Immermann • . 296
11. Kapitel. Hannibal — Aschenbrödel 314
12. Kapitel. Die Hermannsschlacht 340
13. Kapitel. Lebensausgang in Detmold . . . . 366
14. Kapitel. Zusammenfassendes Schlußkapitel — einige
Bemerkungen über Orabbes Technik, Stil,
Sprache und Metrik 374
Anhang (Literaturangaben und Nachlese) 419
Register der wichtigsten Namen 449
I. Kapitel
Heimat — Eltern — Jugend
Ich seh die Flur, wo ich als Knabe spielte,
Wo ich mich kindlich glücklich fühlte,
Ich seh das väterliche Haus.
(Gothlind IV).
^^ *
Die rote Erde hat so manche rauhe trotzig düstre West-
falengestalt genährt. Seit der großen Cheruskerschlacht ward
insbesondre das Lippesche Ländchen ein ewig denkwürdiges
Fleckchen Erde. Ursprüngliches wildurwüchsiges Germanen-
tum hielt sich lange ungebrochen, Heidentum und Götter-
glaube steckte zäh und tief in den Niedersachsen, bis Karl
der Große sie mit Feuer und Schwert zum Christentum be-
kehrte. Auch in Thietmelle — d* i. nach Grabbes Inter-
pretation in der „Hermannsschlacht* 4 Volksgerichtsstätte —
hat der gewaltige Kaiser geweilt. Seit dem 12. Jahrhundert
treffen wir die Lippeschen Herrn, die meistens den Namen
Bernhard oder Simon tragen, und die auch unter dem weifischen
Heervolk des Hohenstaufendichters erscheinen. Bernhard IL, der
Begründer von Lippstadt, war einer der tüchtigsten Feld-
herrn Heinrichs des Löwen. Die Reformation brachte die
heftigsten Erschütterungen über das altkatholische Land, das
in Münster die tollste Ausgeburt des Wiedertäufertums als
Extrem des neuen revolutionären Geistes ausbrütete. In Lippe
aber ward durch Bernhard das lutherische Bekenntnis, durch
Simon die reformierte Lehre siegreich. Aus der Grafschaft
Nieten, Chr. D. Ortbbe. 1
— 2 -
•
wurde 1720 ein Reichsfürstentum. Mit dem Anfang des 19.
Jahrhunderts wird. Europa von Kriegsstürmen erschüttert.
Die Kleinen haben es in solchen Stürmen besser als die
Großen, aber auch der Lippesche Kleinstaat erlebte man-
cherlei Umwälzung. 1802 starb Leopold und hinterließ einen
unmündigen Sohn Paul Alexander. Für ihn regierte bis 1820
die Fürstin Pauline, eine vortreffliche Herrscherin, die den
durch die französische Revolution blutig inaugurierten Frei-
heitsideen Eingang in ihrem Ländchen verschaffte, indem sie
Leibeigenschaft und Frondienst möglichst beseitigte und die
Unabsetzbarkeit der Staatsdiener verfügte. Unter Paul
Alexander ward dann nach dem Vorgang der Fürstin
Pauline eine landständische Verfassung eingeführt und am
6. Juli 1836 ein Landgrundgesetz veröffentlicht. Diesen
innern Fortschritten entsprachen Änderungen nach außen.
Dreimal wandelte sich das große Ganze, davon das Ländchen
ein Teil war; anfangs im alten Reich ein Stück des west-
fälischen Kreises, gehört es vorübergehend dem Rheinbund
an, um nach Napoleons Vertreibung ein Glied des deutschen
Bundes zu werden.
Die Residenz Detmold präsentierte sich am Anfang des
19. Jahrhunderts als schmucke und freundliche Mittelstadt.
Trottoirs und Laternen schienen dem biedern, vom Dorfe
kommenden westfälischen Bauern schon eine Kulturerrungen-
schaft. Ein altertümliches Schloß, ein schöner Paradeplatz
waren die eigentümlichen Schmuckstücke, eine Garnison be-
lebte das Straßenbild und das gesellschaftliche Leben. Theater-
vorstellungen fanden im Orangeriegebäude statt, bis 1825
ein neues Schauspielhaus eingeweiht wurde. Insbesondere
aber ist das Land ein Kleinod durch seine geschichtlichen
Erinnerungen und durch seine landschaftlichen Reize. In
unmittelbarer Nähe mit Linden bepflanzte Promenaden, pappel-
umsäumte Alleen führen hinaus zum Büchenberg. Und wäh-
rend diesseits der Berlebecke der Blick hinüberschweift in
die Gegend von Meinberg, wo Hörn liegt mit den Extern-
— 3 -
steinen, — über deren Natur man sich ebenso lebhaft stritt
wie über den Schauplatz der Varusschlacht — bis zur
höchsten Erhebung des Teutoburgerwaldes, dem die Gebirgs-
kette an das Eggegebirge anreihenden Velmerstot, winkt über
den Bach herüber der eigentliche Kamm des Teutoburger-
waldes, durch die Dörenschlucht und das Winfeld gegen die
Senne hin abgeschlossen. Den Kern des Gebirges bildet die
Grotenburg, deren waldumrauschte Höhe heute das Werk
eines einsamen eigenwilligen Bildnergenies krönt: Bandeis
Hermannsstatue, die gewaltig aus den Wipfeln hervortritt. Ein
mächtiges Rauschen wogt durch diese prachtvollen Bestände
deutscher Eichen und Buchen. Und was der Dichter, der
die Scholle, die ihn getragen, liebte, aus seiner heimischen
Natur sah und aus ihr heraushörte, verrät uns manches
Bild und Gleichnis seiner Dichtung. In wilder Laune ist
er oft „über die schwärzlichen Berge" seiner Heimat ge-
wandert. „Das ganze lippesche Land rauscht von Bäumen,
Waldbächen und fallenden Blättern." Man kann den Rhytmus
solcher Natur-Musik in der „Hermannsschlacht" vernehmen.
In Hiddesen am Fuß der Grotenburg wurde am
10. November 1765 Dorothea Friederike Grüt-
t e m e i e r geboren, die sich 1792 mit dem Lemgoer
Postboten Adolf Heinrich Grabbe,in Strüh bei
Ahmsen am 6. März 1762 geboren, ehelich zusammen-
tat Der Name Grabbe war nicht so selten, und es
waren durchweg kleine Leute, die ihn trugen, so hat
A. Ploch in den Lippeschen Intelligenzblättern einen Einlieger,
einen Colon, einen Waldschützen Grabbe entdeckt. Adolf
Heinrich Grabbe, der von Hause aus nichts besaß, hatte sich
dank seiner sparsamen Ehefrau ein eigenes Haus in der Lem-
goer Vorstadt, zwei kleine Gärten erworben und eine Geld«
summe gespart. Das sprach für den Mann, als er sich um
die Stelle eines Zuchthausverwalters in Detmold bewarb. Er
erhielt den Posten — zunächst mit dem Titel Zuchthausver*
walter, dann Zuchthausmeister — mit einem Gehalt von 400
r
— 4 —
Talern, das sich aber dadurch vergrößerte, daß er zugleich
Leihbankverwalter wurde und Auktionen und Steuereintrei-
bungen übernahm. Durch diese Tätigkeit knüpfte sich eine
wichtige Beziehung zwischen der Familie Orabbe und der
Clostermeiers an, der die Aufsicht über diese Institute hatte.
Die Dienstwohnung in der Bruchstraße, ein einstöckiger
Steinbau mit altertümlich geschweiftem Dach, existiert noch
heute, während das Zuchthaus inzwischen abgerissen ist
Neben diesem Häuschen nannte Orabbe noch einen Garten
vor dem Tore sein eigen.
Der alte Orabbe war ein ziemlich großer Mann mit einem
blassen, magern Oesicht. Er war ein stiller ordentlicher
Mensch, ein schlichter Ehrenmann, der die Achtung seiner
Vorgesetzten besaß. Von seinen Lebensgewohnheiten hören
wir, daß er nachmittags regelmäßig sein Bier im Neuen Krug
vor der Stadt trank; abends las er gern, behaglich im Sor-
genstuhl sitzend, seine Zeitung oder ein gutes Buch, oder er
diskurierte über die neuesten Stadtgeschichten mit der
Philosophie eines gesunden Menschenverstandes. So äußerte
sich, wenn auch auf wunderliche Art, ein gewisser BiU
dungsdrang und ein allgemeineres Interesse. — Alles
in allem sehn wir vor uns einen respektabeln Philister
mit bürgerlichen Tugenden, der vorwärts strebte, aber mit
seinem Los zufrieden war. Der Sohn erbte von ihm den
nachdenklichen Zug, das bleiche Oesicht, Oang und Haltung,
auch die klare deutliche Handschrift, die uns an den auf der
Detmolder Bibliothek aufbewahrten Briefen des alten Orabbe
auffällt.
Stammt vom Vater der Charakter, so ist beim Dichter
das Erbteil der Mutter wichtiger: kommt doch von ihr Na-
turell, Temperament, Gefühls- und Empfindungsleben. Orabbes '
Mutter war eine starke hochgebaute Frau mit ausdrucks-
vollen Zügen und hellen Augen: „in ihrer weißen Piquemütze
und ihrem breitgestecktem Tuch stellte sie eine repräsen-
table Bürgersfrau dar." Ihre Bildung war nicht weit her»
_ 5 —
Sie sprach Lippesches Platt, und wenn sie hochdeutsch
schreiben mußte, so haßte sie doch die Orthographie, wie
Don Juan und Leporello im Drama« Das Buch, das sie am
gründlichsten kannte, war die Bibel. Sie hat ein sehr hohes
Alter erreicht und Gatten und Sohn lange überlebt. Sie war an
Energie ihrem Gemahl überlegen, der sich aber doch mit einem
gewissen Gleichmut seiner temperamentvollen Ehehälfte an-
paßte. An ihrem moralischen Charakter rühmt Ziegler ihre
Hilfsbereitschaft, ihre solide Führung des Haushalts, ihre
Rechtschaffenheit und Gradheit. Der Dichter erbte von ihr
das lebhafte Temperament, die tiefblauen seelenvollen Augen;
aber bereits hier ist die Verbiegung angedeutet: die Frau
ist hastig und unruhig, ihr energischer Wille ist nicht genü«
gend vom Intellekt beleuchtet und geleitet, er richtet sich auf
Wunderliches. Mitursache von Grabbes Charakterverkehrt-
heiten ist aber zweifellos auch Vererbung.
Um das Familienbild zu vervollständigen, ist nicht zu
vergessen Minchen Wallbaum, die Pflegetochter und die Magd
des Hauses. Diese 4 Menschen haben treu zusammengehalten
ihr Leben lang.
Ziegler beschreibt uns das Interieur der bürgerlichen
Familienstube, von deren Behagen leider die Poesie Grabbes
so wenig ausströmt: ein altmodiger runder Tisch neben dem
Ofen, der wie ein großes Vorgebirge in die weite gewölbe-
artige Stube hineinragt, dahinter 2 große Gardinenbetten,
deren weiße Kissen hoch aufgetürmt sind, zur Seite Koffer
und Kasten. Auch fehlt die schnurrende Katze nicht, und die
possierlich boshafte Kreatur spielt keine geringe Rolle in der
Poesie des Dichters.
8 Jahre vergingen, der Vater war schon fast 40, die
Mutter 36 Jahre alt, als am 11. Dezember 1801 das einzige
Kind der Ehe geboren wurde. Schon dieser Umstand war
geeignet, allerhand mysteriöses Gerede heraufzubeschwören,
an dem Grabbe selbst nicht unschuldig war. Am 26. Dezem-
ber ward das Kind getauft, und zwar auf eine echt west-
— 6 -
fäüsche Namenverbindung: Dietrich Christian. Der Rufname
war aber nur Christian, wie z. B. Orabbes Zeugnisse be-
weisen. Heine spricht immer nur von Christian Orabbe und
die Mutter nannte den Sohn ihren „leuwen, leuwen Christian**.
Waren es Genien oder Dämonen, die um Orabbes Wiege
standen? Die Verhältnisse scheinen nicht abnorm. Und doch:
Qrabbe kam mit verletzter wunder Seele zur Welt. Die
Eigenschaften der verschieden gearteten Eltern gaben keine
einheitliche Mischung und keinen reinen Oleichklang. In dem
Mangel an Proportion in der äußern Gestalt, wie es damals
wenigstens schon angedeutet sein muß, mag sich eine gewisse
seelische Disharmonie schon ausgeprägt haben. Aber bestimmter
wie ist es mit der alkoholischen Belastung seitens der Eltern?
Sollte der tägliche Abendschoppen des alten Orabbe so ver-
hängnisvolle Wirkung gehabt haben? Zwar spielte die Rum-
flasche im Hause eine gewisse Rolle und man darf wohl
darauf hinweisen, daß der Alkohol damals wie heute im Volk
keineswegs nur als verderbliches Oift, sondern auch als Nah-
rungsmittel galt. Nun hat Duller der Frau Lucio geglaubt
und in der Mutter die Quelle alles Unheils gefunden — sie,
die »bösartige halbverrückte Kreatur, die jede geistige Re-
gung unter der starren schmutzigen Kruste des Sinnenlebens
erstickt habe. a „Sie säuft, sie stiehlt" keifte ihre Schwieger-
tochter, die ihr an Zungenfertigkeit nicht nachstand. Dem gegen-
über möchte man die historische Wahrheit lieber bei Freilig-
rath suchen oder bei Heine, der die unglückliche Frau ver-
teidigt hat, der es aus Orabbes eigenem Mund öfters gehört,
daß die Mütter ihn nachdrücklichst gegen „dat Supen" ver-
warnte. Und zu dem „boshaft dummen Aufschnitt 11 der Frau
Lucie, daß Frau Qrabbe ihr Kind statt mit Milch öfters mit
— Alkohol genährt habe, hat die graue, schuldlose Mutter
selbst das Wort zur Verteidigung ergriffen: „Wie sollte eine
Mutter solche Freveltat an ihrem einzigen Kinde, auf welches
sie alle Hoffnung gestützt hat, ausüben und dem Kinde von
4 Jahren das starke Getränk vor das Bett stellen?** In die-
— 7 —
scr Beziehung der Mutter bestimmte Vorwürfe zu machen,
ist wohl nicht gerechtfertigt Daß eine Natur wie Orabbe
den Lockungen des Alkohols erlag, wird anderswoher verständ-
lich. — Daß eine „unheimliche Gewalt" zur Zeit der Ent-
wicklungsjahre zerstörerisch eindrang, hat einen höhern Grad
der Wahrscheinlichkeit für sich.
Grabbe selbst hat, da ihm in einem entscheidenden Mo-
Stent das Krankhafte seines Wesens zum Bewußtsein kam«
über seine eigenen Anfänge nachgegrübelt — dem Mißge-
borenen gleich, der sich über den Anfang seines Verwach-
senseins Rechenschaft gibt. „Sohn ziemlich geringer Eltern,
mitten in Gefängnisszenen als Kind erwachsen, sodann selb-
ständig und ohne Kontrolle die Schule besuchend 44 . Hypochon-
drische Selbstquälereien aber noch; mehr eine groteske Re-
klamesucht sprechen aus der brieflichen Mitteilung an Ket-
tembeil: „Ich leitete als Kind an einem wollenen Faden einen
Mörder, der begnadigt, 70 Jahre alt und mein täglicher Ge-
sellschafter war. 44 Immermann gegenüber entschuldigte Grabbe
gleichsam seine Existenz: „Was soll aus einem Menschen
werden, dessen erste Erinnerung war, einen alten Mörder
an die frische Luft zu führen? 44 Und tatsächlich mochte die
Abkunft von einem Zuchthausverwalter und Steuereintreiber
etwas Odiöses haben und die Phantasie des Knaben wurde
durch das Zuchthausmilieu gewiß verdüstert Manche Bilder
im „Gothland", die Gestalt des Verbrechers Tocke, sind aus
Jugenderlebnissen und nicht aus literarischen Reminiszenzen
zu erklären.
Grabbe hat seine Herkunft nie verleugnen können, die
niedrige Geburt lastete wie ein Fluch auf ihm, und er hatte
nicht die Kraft aus seiner Sphäre herauszukommen. An
einem ähnlichen Zwiespalt ging ein verwandter, aber min-
derer Zeitgenosse, Niebergall, der Dichter lokaler Dialekt-
possen, zu Grunde. Andere große Männer haben die Schranke
niedern Herkommens innerlich oder äußerlich überwunden und
haben sich aus kleinen Anfängen aufsteigend, die Sitten
— 8 —
der großen Welt angeeignet, z. B. Schiller, Klinger, Wagner,
Qrabbe hat sich nur darüber erhoben in dem Element der
Ironie, in dem Schmerz und Freiheit sich vereinen. — Die
redliche Beschränktheit des Vaters war in ihrer Sphäre zu-
frieden. Die rauhe Qradheit behielt der Sohn aus dem Stamm-
hause, die phantastische Willkür der Mutter war sein Erb-
teil. Die Beengtheit des Gesichtskreises einer kleinbürger-
lichen Familie in einer kleinen Stadt, mit der Neigung zum
Klatsch, der Beurteilung aus der Froschperspektive heraus,
der Mangel einer sichern Herzensbildung, aber auch die ele-
mentare Gefühlswelt in Liebe und Haß sind Elemente, aus
denen sich die geistige Mitgift solcher Kinder zusammensetzt
Realistisch nüchterne Betrachtung väterlicherseits und die
leidenschaftlich ungeklärte Subjektivität der wenig gebildeten
Mutter erklären manches in Grabbes dichterischem Prozeß
und in der Art seiner Charakteristik.
War in dem Kinde schon eine psychopathische Minder-
wertigkeit, so kam viel auf die Erziehung an, die die
üble Disposition ausgleichen konnte. Viel Psychologie darf
man von Grabbes Eltern nicht verlangen, Duller wirft der
Mutter rohe verschüchternde Härte vor, Ziegler im Gegen-
teil Verzärtelung — beides wäre ein Fehler. — Der Knabe war
zart und schwächlich, ängstlich und unbeholfen, ja blöde und
verschlossen — dabei andrerseits wieder von „riesenhafter
Widerspenstigkeit", in der sich sein Ich aufbäumte. Jedenfalls
aber war diese Scheu nicht Ausdruck innerer Bescheidenheit,
sondern körperlichseelischer Gebundenheit. Ganz früh wächst
aber schon Eigenes, Selbständiges. Bleibt Grabbe in einer
Beziehung kümmerlich, so wächst er andererseits über die
Genossen, deren Zuneigung er durch ätzenden Witz, wie er
Mißwachsenen eigen, leicht verscherzt, hinaus. Ahmen die
Jungen in ihren Balgereien die Napoleonischen Kriege nach,
so steht er überlegen lächelnd und kritisierend abseits. Will
er nicht oder kann er nicht? Es ist das Zwitterhafte seines
Wesens, die Ironie seiner Natur, die sich schon so früh 'offen-
_ 9 -
hart. Für sich allein hat er dann die Napoleonischen Kriege
durch das Spiel mit Vitsbohnen klar gemacht, wo er mit
Feuer und Flamme dabei war — ein Analogem zu Wolfgang
Goethes Puppentheater. — Unfroh und einsam, dabei ein ehr-
geiziger Träumer — schon früh bildet sich diese Wesensart
aus. Aber er konnte auch anders sein. Wehmütig denkt der
Unselige an die Gartenscholle, wo sein Vater grub. An sie
ist der Traum seiner Jugend gebunden.
„Ich seh' die Flur, wo ich als Knabe spielte,
Wo ich mich kindlich glücklich fühlte,
Ich seh das väterliche Haus."
Draußen im Garten unter blühenden Obstbäumen — ein
Gartenhäuschen liegt an einem kleinen Wasser, — da hat er
Sommerfreuden genossen, und auf dem Zuchthof hat er mit
seinen Jugendkameraden gespielt und getollt. Die Mutter
trat dann wohl aus der Stube heraus und drohte ihrem Jun-
gen lächelnd mit dem Finger. „Mutter, gif mui 'n Mattiger.* 4
— „Nare vunnen Jungen, meunst diu, die Mattigers können
lütken? a
Oberhaupt scheint das Familienleben ein recht harmo-
nisches gewesen zu sein. Grabbe erinnert sich später noch
dankbar, wie ihn die Mutter mit Kaffee, Butterbrot oder ar-
men Rittern pflegte, wenn er nachmittags aus der Schule
kam. Die Schule war dem Wissenshungrigen kein verhaßter
Zwang. Ober den älteren Schüler fließen die Quellen
reichlicher. Selbstverständlich heben wir zunächst das Posi-
tive und Erfreuliche hervor — und das ist nicht wenig.
Grabbe war ein intelligenter und fleißiger Schüler, und
seine Eltern hatten es nicht zu bereuen, wenn sie sparten, bin
ihrem Sohn den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen.
Als Archivrat Clostermeier sich für ein Stipendium bei der
Fürstin Pauline verwandte, legte er 4 Zeugnisse bei (von
Rektor Köler, Direktor Preuß, Rat Falkmann und Möbius),
die für Charakter, Begabung, Arbeitsamkeit durchaus rühmlich
aussagen: er zeigte wissenschaftlichen Eifer und stillen Fleiß
— 10 —
auch über die Schule hinaus. Fürstin Pauline entschied unterm
7. Februar 1818: »Von Grabben senior und junior habe ich
eine gute Idee, der Vater ist brav und pflichttreu, der Sohn
fleißig und von ausgezeichneten Gaben, er wird zu seiner
Zeit wohl Anspruch auf die Stipendien des hl. Kreutzes und
der 1 1 000 Jungfrauen machen können." Vor den alten Spra-
chen mit ihrer logischen Verstandesschulung bevorzugte der
Schüler die ethischen die Phantasie weckenden Bildungsfächer:
Geschichte, Geographie, Deutsch; leider wissen wir von seiner
religiösen Unterweisung nur wenig. Seine Aufsätze waren
originell in Ausdruck und Gedanken. Ein Märchen war so
eigenartig erfunden, daß Falkmann ein gewiß seltenes Prä-
dikat erteilte. „Grabbe, wo haben Sie das her? Es ist ja,
als ob man etwas von Shakespeare oder Calderon läse."
Wie überall und immer trat auch unter den Detmolder
Primanern jener Zeit die Krankheit der Entwicklungsjahre
unerbaulich auf. Es wurde geraucht, getrunken, gespielt,
weil's eben verboten war — und Renommage galt als die
wahre Kraftäußerung. Zu den rechten Bierburschen, denen
die Literatur unlebendiges Papier war, gehörte Grabbe wohl
nicht, das vertrug sich kaum mit seiner Vielleserei und mit
seiner Armut, (auch soll er ein zu „schüchternes ideales
Wesen" gezeigt haben) . Gelegentlich nach Spaziergängen war
den Schülern wohl eine Einkehr erlaubt, und draußen in den
malerisch im Waldesschatten gelegenen Krügen lernte der
junge Grabbe einen seiner Totfeinde kennen: das süße Gift,
das ihm eine Kraft antäuschte, nach der er lechzte, das ihn,
der sich nach großen Aufregungen sehnte, mit einer Fata
Morgana lockte. Und in der Skala der Spirituosen griff er
gleich zu den schwersten, er faßte eine verhängnisvolle Vor-
liebe für den Alkohol in der konzentriertesten Form, für den
Rum und den Grog. Mit Inbrunst gab er sich den Stimmungen
hin, die ihm die Geister des Feuertranks so bereitwilligst
schenkten. Dann war die peinigende Hemmung seiner Schüch-
ternheit gelöst und in wilden Tiraden richtete sich in seinem
- 11 —
Innern eine unterdrückte Kraft auf. Der Vulkan lüftet sich,
die Gebilde seiner Fantasie werden lebendig und bedringen
ihn. Dann spielte er Theater und markierte in grotesker
Form den starken Mann, mochte er nun mit Shakespeares
Narren seine Lehrer parodieren, die Torheiten der Detmolder
verulken oder aber unter den Eichen des Teutoburger Wal-
des Schillerisch schwärmen. Wie mochte er, der sonst miß*
achtete Zuchtmeisterssohn, als berauschter Komödiant im*
ponieren. Wie mochten gerade in diesem Zusammenhang
böse Charakterschwachen sich einwurzeln: Eitelkeit, Renom-
mage, die Phantasielüge. — Diesen schlimmen Hang hatte
Clostermeier wohl im Auge, als er seinem Schutzbefohlenen
ins Album schrieb: In litteris qui proficit, In moribus sed
deficit plus deficit quam proficit et in fine nil fit".
Dämon Alkohol erscheint von Anfang an merkwürdig ver-
bunden mit einem an sich hoch anzuerkennenden Streben, das
aber die zwiespältige Haltung dem Leben gegenüber bei dem
von vorherein Abnormen verschärfen mußte. Ungeheuer war
der Bildungsdrang des Knaben, seine Lektüre außerordentlich
ausgebreitet. Er las bis tief in die Nacht hinein und der
Kaffee mußte ihn wach erhalten — ihn den überreizten.
Geschichtswerke, und zwar insbesondere Plutarchs Stan-
dard Work antiker Biographie, und Dramen erschlossen eine
neue Welt. Vor allem zündete das feurige Pathos Schillers, nicht
nur in den revolutionären glühenden Räubern, vielmehr be-
merkt Qrabbe später, daß ihn kein Kunstwerk so „durch-
klang und durchleuchtete, da sich mit den Entwicklungs-
jahren das poetische Talent regte 44 , als Schillers Wallenstein.
Das sind Ereignisse von grundlegender Wichtigkeit, als Orabbe
beginnt für Schiller zu schwärmen. Aber die Verehrimg für
den nationalen Lieblingsdichter erlischt nicht, als er gleich-
zeitig den Offenbarungen des großen Briten lauscht, der mit
noch gewaltigerer Schöpferkraft das Wesen der Welt wieder-
spiegelt ohne verschönernde Illusion und ohne subjektiv b-s-
geisterte Reflexion. Sein erster Verleger, den der Unterpri-
- 12 -
tnaner für seine Theodora suchte, soll Göschen in Leipzig
sein, der Verleger der Meisterwerke Deutschlands, der Unter-
stützer Schillers. Wie bekämpfen sich in diesem Brief Stolz
und Bescheidenheit des jungen Autors auf das sonderbarste
in unsicherer Mischung, und wie reimt sich dieser verschämte
Materialismus für einen Schüler des Idealisten Schiller:
eigentlich will er kein Geld von dem Verleger, aber weil er
zufällig nach Pyrmont reisen möchte, hätte er es doch ganz
gern, und zwar am liebsten recht bald. — Höchst charakte-
ristisch für das überwiegende Phantasieleben, aber auch für
die Unfähigkeit, Abstände abzuschätzen und sich selbst richtig
zu umgrenzen, ist es, festzustellen, wie Grabbe Schiller nach-
ahmt, ja mit ihm sich identifiziert — bis auf den Wortlaut
der Bekenntnisse. Wie Schiller schwankt Grabbe, ob er Me-
dizin, Theologie oder Jura studieren soll. Schiller reiste, um
Shakespeares Werke zu sehn, nach Stuttgart und schrieb von
ihnen befeuert seine Räuber. So will Grabbe alles opfern:
neue Schulbücher, Taschengeld — will auf den Ausflug ver-
zichten, — wenn die Eltern ihm Shakespeares Werke schen-
ken. In diesem Brief, geschrieben in der Geburtsstunde des
Dichters Grabbe, heißt es: „Es ist in seiner Art das erste
Buch der Welt und gilt bei vielen mehr als die Bibel, denn
es ist das Buch der Könige und des Volks, es ist das Buch,
wovon einige behaupten, daß es ein Gott geschrieben habe, es
sind: die Tragödien Shakespeares, des Verfassers des Hamlet".
Wir zweifeln nicht, daß dieser Enthusiasmus für Shake-
speare ganz ungeheuchelt ist. Aber welch wunderliche For-
men nimmt diese Schwärmerei an und wie deuten sich bei
dieser Gelegenheit keineswegs anmutende Züge in des Dich-
ters Physiognomie schon so früh an. Unnaiv ist der gekünstelte
Ton, in dem Grabe seine Sehnsucht an den Tag legt, und
welch pfiffig-verschmitzte Art, seine Wünsche in diesem Da-
seinskampf durchzudrücken! Er geht nicht die Mutter an,
sondern den Vater, und anstatt mündlich vorzusprechen, ver-
traut er lieber auf die Wirkung seiner Schriftstellerei. Bitt-
- 13 —
gesucht in Aufsatzform sollen Gehör verschaffen, und der
nach Aktualität haschende Journalist kündigt sich bereits in
der Form einer „kritischen Betrachtung** frei nach Closter-
meier an. Aber mit welchen Gründen soll man dem guten
Alten solche Unbegreiflichkeiten plausibel machen? Es ist
ein fataler Unterton in den Briefen an die Eltern — dieses
scheinbar unterwürfige Sichakkommodieren an einen nieder»
Standpunkt, über den er sich insgeheim doch lustig macht
Man kann mit der Schriftstellerei viel Geld verdienen, Ruhm
bei Kaisern und ein Honorar von Tausenden — mit solchen
fast parodistisch übertreibenden Trümpfen wirkt er auf den
ungebildeten Vater am kräftigsten ein. Auch die groteske
Art des Humoristen bildet sich schon aus. Bezeichnend ist,
wie er, der Lebensunreife, doch bald allerlei Schliche und
Kniffe kennt, wie ein alter Praktiker seines Berufes. Er dringt
mit seinen Wünschen bei dem wohlmeinenden alten Grabbe
durch, aber wie soll er bei seiner Armut seine Theaterleiden*
schaft befriedigen? Not macht erfinderisch, und auf eine kleine
Spitzbüberei* kommt es auch nicht an. So wird denn eine
Maskerade zu Täuschungszwecken erfolgreich ins Werk ge-
setzt: der junge Theaterenthusiast erscheint mit der Flöte
unterm Arm vor den Pforten des Kunsttempels und passiert
so als Mitglied der Kapelle.
Mit 17% Jahren absolvierte Grabbe die Prima, aber man
ließ ihn noch nicht ziehn, weil man „jugendliche Ausbrüche*
fürchtete. 5 Schnipse hintereinander austrinken — anstatt
reumütig um Entschuldigung zu bitten, wenn man vom Lehrer
in flagranti ertappt wird, das erkürt in der Tat solche Be-
fürchtungen, wie das junge Genie denn bereits durch seine
Exzentrizitäten in der kleinen Stadt auffiel und Anstoß er-
regte. In exaltierter Laune schrieb der Berliner Student, sich
arg überhebend, in einem autobiographischen Dokument: „ich
überflügelte bald in den Wissenschaften nicht nur meine Mit»
schüler, sondern auch manche meiner Lehrer — — — da
aber mein Geist bei seinem innern Wachstum sich auch äußer»
— 14 -
lieh entfalten mußte und dies auch in jugendlichem Obermut
auf eine vielleicht zu gewaltsame Weise geschah, so konnten
meine ein wenig kleinstädtischen Landsleute das nicht fassen
und ich merkte, daß es um meine Lippesche Laufbahn ge-
schehn war. a — Man darf aber doch nicht annehmen,
daß Orabbe ein Fährer der jungen Gesellschaft war, viel-
mehr schloß er sich ab. Viele Freunde hat er wohl nicht
gehabt, jedenfalls bewahrte ihm nur Petri die Treue.
Die geselligen Künste, Malerei und Musik, ließ er un-
gepflegt, die Tanzstunde scheint er nie besucht zu haben.
Er brach die Brücken zum Leben ab und schuf sich eine
eigene Phantasiewelt, in der er mit Schiller und Shakespeare,
mit Lenz und Klinger, mit Werner und Müllner verkehrte.
Diese verstiegene Oberbildung, während die angeborene Roheit
seiner Natur durch keine gesellschaftliche Erziehung ge-
mildert wird, ist schuld an der Zerrissenheit seines Lebens
und Dichtens. So konnte er die richtigen Maßstäbe nicht ge-
winnen.
Grabbes Poesie hat ihre Grundzüge sehr früh empfan-
gen. Sie erscheint nicht als Ereignis eines langsam reifen-
den Werdeprozesses voll tastender Versuche und Zweifel.
Nicht das Leben führte ihn zur Dichtkunst wie Goethe,
weniger ein mehr äußerer Druck wie Schiller, als das Ge-
fühl einer «ngebornen inoern Schwäche ,— kein überströmendes
Glücksgefühl, sondern ein tiefes Leid, ein nagender Schmerz.
Aber nicht Weichheit ist sein Element, sondern Trotz, —und Haß
und Neid gedeihn unter diesen düstern Schatten, die auf dem
Grund einer stiefmütterlich ausgestatteten Seele lagern. In
seiner äußern Unbeholfenheit flüchtete sich der Dichter in
eine Phantasiewelt, die er nach dem Gesetz der Kompensation
mit leidenschaftlicher Energie ausbaute als das Einzige, was
er hatte. Und dann — die Kunst vermittelte ihm ohne weite-
res die letzten Erfahrungen, und was hat das kleine Leben,
das sich dem unbemittelten Zuchtmeisterssohn bot, da noch
weiter für Wert und Reiz? — Er vermochte nicht unbefangen
- 15 —
an das Leben heranzutreten — Literatur und Theater waren
das Erste und wie ihn die Literatur verbildet hatte, suchte er
das Leben zu meistern. Das Problem ist, wie Literatur ohne
Lebenserfahrung das psychische Leben so beeinflussen kann,
daß Innerlich-Erlebtes und Bloß-Nachempfundenes, Pose und
ureigne Gebärde, Reminiszenz und origineller Ausdruck kaum
noch zu sondern sind.
Bei Qrabbe verbindet sich mit der notwendigen imma-
nenten Tragik, die jedes Künstlertum vor dem Philisterda-
sein auszeichnet, noch eine besondere pathologische Anlage —
zu der genialen Empfänglichkeit gesellt sich noch, den Da-
seinskampf besonders erschwerend, eine andersartig begrün-
dete fehlerhafte physisch-psychische Organisation. Normwidrig
erscheint der satten Genügsamkeit das Genie immer als eine
Oberfülle, die nach irgendeiner Richtung ausschweift — sei
es nun in Wertherscher Empfindsamkeit oder in prometheisch-
rebellischem Trotz wider die Schranken des Lebens oder in
sittlicher Entrüstung, wie etwa Schillers Räuber erklärt wor-
den sind als Gegenstoß eines absolut reinfühlenden Gemüts
gegen die Welt. Der Gothland, Grabbes erstes Werk, zeigt
den Dichter von der ersten Ausdrucksweise frei und läßt
die letzten beiden Formen in charakteristischer Färbung er-
kennen: es naht ein Dichter voll großer und auch edler Ge-
danken, und doch ist in ihm eine atavistische Roheit und
Brutalität, die plötzlich wüst und erschreckend herausbricht.
Grabbes verhängnisvolle — für das Glück von vorn-
herein nicht geschaffene — Charakteranlage war besonders be-
denklich in einer Zeit, die des positiven Gehaltes einer har-
monischen Kunstanschauung überhaupt entbehrte. Die Epi-
gonen der Romantik verfielen, nachdem ein fruchtbares neues
Kunstprinzip sich ausgelebt hatte, in barocke Originali-
tätssucht Die Vorliebe für den byronischen Weltschmerz
wurzelte in einer schweren Enttäuschung, steht im Zusammen-
hang mit dem Nachlassen einer Ungeheuern Spannung, nach-
dem eine gewaltige Zeittragödie sich abgespielt hatte. Der
— 16 —
Zusammenbruch Preußens fiel in Orabbes früheste Kindheit»
aber als Knabe erlebte er 1812 und 1813, und als Napoleons
Stern erlosch, war er schon dichterisch tätig. Die Erinner-
ungen der großen Taten waren wie Festtage in matter Zeit.
Orabbe scheint sich einen Kalender angelegt zu haben, in
dem statt der Heiligen große Schlachtenlenker aufgeführt
waren, statt sanftmütiger Märtyrer mit himmlischem Glorien-
schein wilde Helden der Tat und Kraftgenies.
Von Orabbes Kämpfen und Ringen verraten uns die
Daten des äußern Lebens nur wenig, aber seine Werke offen*
baren es uns.
II. Kapitel
Studentenzeit — Wanderjahre
Er strebt hinaus ins Blaue stets,
Will an der dünnen Luft sich halten,
Kennt keine Schranke, kein Gesetz,
Kein Recht des Gült'gen und des Alten.
Das Neue nur ergreift er keck,
Und herrschen ist sein einz'ger Zweck,
Das Oberste zu unterst kehren,
Das lehrt er — — - -
(Der Zeitgeist Gedicht von Castelli.
Abendzeitung 1833.)
Leipzig
Ostern 1820 bezog Qrabbe die Universität. Viele Be-
ratungen mag der alte Grabbe mit dem Archivrat gepflogen
haben und es war ersichtlich dessen Einfluß maßgebend,
wenn Leipzig mit der berühmten juristischen Fakultät ge-
wählt wurde. Ohne rechten innern Drang zu dem Corpus
Juris und den Pandekten ließ sich der Studiosus bestimmen.
Lebhaftes Interesse für die theologisch-philosophischen Fra-
gen, wie auch das deklamatorische Talent, hatten den General-
superintendenten Werth veranlaßt, den Abiturienten für das
Studium der Theologie zu interessieren. Aber Grabbe stand
schon frühzeitig an dem Abgrund, in dem die Hydra des
Zweifels sich wendet, und in innern Angelegenheiten ließ er sich
eine autoritative Beeinflussung nicht gefallen. — So nahm er
denn Abschied von Mutter und Vater, der ihm durch den
Buchhändler Helwing ein Zimmer besorgen lassen wollte, und
von seinem dönner Archivrat Clostermeier, der ihm ein Gold-
stück für den Besuch des Theaters in die Hand drückte. Voll
Nieten, Chr. D. Grabbe. 2
- 18 —
guter Vorsätze zog der Jüngling aus und er bekennt später,
sich all seine juristischen Kenntnisse in jener Zeit erworben
zu haben, als er zu Füßen der Leipziger Professoren saß
— er hörte römisches Recht bei Haubold, Staatsrecht bei
Müller, Naturrecht bei Krug, zum Oberfluß belegte er noch
geschichtliche Vorlesungen.
Mit seinen Eltern bleibt Orabbe in inniger Verbindung.
Wie hat die Mutter sich um ihren Christian gesorgt! Sie
spinnt, um das Portogeld herauszubekommen, ja sie scheint
sogar am Kaffee sparen zu wollen, worauf der Sohn immer
in komisch pathetischer Wendung mahnt: trinke Kaffee, Mut-
ter! Die alte Frau freut sich, wenn der Sohn in die Kirche
geht, 32 mal liest sie von dem Fackelzug und weint vor Freude,
weil ihr Christian auch dabei war, sie schickt Kisten über
Kisten. Der Sohn trug einen braunen Rock und einen weißen
Flausch, der später als Schlafrock diente, abends setzte
er eine Nachtmütze auf. Angeblich trinkt er ungeheuer viel
Kaffee, später auch Tee, daß aber leider auch Rum dabei
war, stellte sich heraus, als Althof, der ihn wie Petri ein-
mal besuchte, aus Jena herüberkam.
In den Episteln, in denen sich der Student Grabbe mit
seinen Eltern unterhält, weht nichts von der Poesie, die uns
in den Jugendbriefen anderer Dichter ergreift — aber an
eine gewisse treuherzige Anhänglichkeit an die Eltern lassen
sie uns doch glauben; er erkundigt sich wohl nach der
Fürstin, dem Hofprediger, nach Detmolder Bekannten wie
Werfel, Schmid, Kruel, Meier u. a. und läßt einen Lehrer
grüßen. Im übrigen gibt er sich in diesen Schriftstücken
sehr salopp, sein unruhig abspringender Geist versprüht
ohne Ordnung in heterogener Mischung seine Einfälle.
Da werden in kurz abgerissenem Notizenstil allerhand Skan-
dalia wichtigtuerisch berichtet — etwa vom Bankerottem* Kopf,
vom reichen Geizhals Kees, von der Hinrichtung eines Fri-
seurs, von Feuersbrünsten oder einer Studentenleiche — und
es ist nicht sicher zu entscheiden, ob sich hier der eigene
- 19 —
rohe Geschmack ungeschminkt enthüllt, ob er sich seinem
Publikum akkomodierend auf das Niveau kleiner Leute, wie
es seine Eltern sind, deren Gesichtskreis in Klatsch- und
Skandalgeschichten erschöpft wird, herablassen will. Was
ihn aber im Tiefsten bewegte, darüber läßt er selten etwas
verlauten. Er führt ein Eigenleben, in das er niemand hin-
einblicken läßt.
Diese Abgesondertheit spricht sich auch deutlich aus,
wenn wir uns den Studenten Orabbe vergegenwärtigen. Blühte
er nach kümmerlichen Jahren nicht auf in der Luft akade-
mischer Freiheit, fortstürmend zu harmlosem Lebensgenuß?
Anfangs nun scheint Orabbe wirklich in das studentische
Treiben hineingezogen zu sein. Er trug sich altdeutsch:
Er trägt gar einen kurzen Rock,
Zerzauste Haare rund geschnitten,
Dann einen dicken Knotenstock,
Hat ungeschlachte rohe Sitten,
Ein Knebelbärtchen an dem Kinn,
Da sitzt das Ungeheure drin. (Castelli.)
Er scheint ein Duell ausgefochten zu haben, in dem er
am Fuß verwundet wurde. Wir möchten diesen Tatbestand
festhalten, wiewohl Ziegler solche Behauptungen Orabbesnur
auf renommistische Einbildung zurückführen will. Aber der
„schiefbeinige" Grabbe spukt in den Briefen an Kettembeil,
erscheint am Schluß von „Scherz Satire", hinkt durch
die Straßen von Düsseldorf. Auch scheint der akademische
Ehrbegriff nachzuwirken, wenn er die Kneiferei Heines übel
aufnimmt oder wenn er seine Gegner, den Sekretär Kestner, den
Blaufärber, vor die Pistole fordert. Endlich spielt auch der
Zweikampf eine besondre — allerdings meist satirische —
Rolle in Grabbes Dramen, „Scherz Satire", „Don Juan und
Faust", endlich auch in den Hohenstaufen. — Bald aber hat
er alles Verbindungswesen mit satirischen Augen angesehn.
Als die Leipziger Studenten das Caf6haus eines unbeliebten
Gastwirtes stürmten, hat Grabbe nur die Rolle eines spotti-
2*
- 20 —
sehen Zuschauers gespielt Wie ihn früher die gemeinsamen
Spiele abstießen, erschien ihm das Couleurleben bald als
lächerlicher Zwang.
In allem Positiven sieht er vermöge seiner unglücklichen
Anlage nur die Schranke und das Lächerliche. Gehörte aber
nicht die Burschenschaft, der auch die Karlsbader Beschlüsse
reaktionärsten Geistes nicht den Garaus hatten machen können,
zu den erfreulichsten Tendenzen der Zeit? Und fanden nicht
revolutionäre Feuerköpfe, wie sie die Höhen der Wartburg
noch vor kurzem gesehen, hier am ersten ihr Genüge? Ganz
unverständlich sagt der Nekrolog der literarischen Blätter:
„es war für diesen hochbegabten Mann ein wahrhaftes Un-
glück, daß seine Jünglingszeit mit jener unseligen Epoche
deutsch-moderner Zeit zusammenfiel, wo man das Gemüt und
die starke Unschuld des Herzens, die Reinheit und Sittlich-
keit der Grundsätze zur faden Mystik burschenschaftlicher
Grundsätze herabschraubte." Nur muß man unterscheiden
zwischen den verschiedenen Strömungen der Burschenschaft.
Allerdings, was war die zahme Romantik redseliger Jüng-
linge gegenüber der Wildheit und dem rebellischen Trotz des
Gothlandsdichters, der über solche Schwärmer ähnlich den-
ken mochte, wie Kleist-Hermann über den Tugendbund. So
entzieht er sich in eigensinniger Kritik dem Gesellschafts-
kreis, in dem er sich trotz allem besser hätte entfalten können
als in seiner trotzigen Isolierung. Wie leicht verliert schon
der Jüngling seine Illusionsfähigkeit und verfällt bald einer
kalten Blasiertheit! — Diese rasche Abkühlung zeigt sich
auch in einem 2. Fall. In Detmold verbreitete sich das Ge-
rücht, Grabbe wolle zu den Griechen gehn. Wurde doch der
hellenische Freiheitskampf von den deutschen Idealisten wie
eine nationale Angelegenheit behandelt: Wilhelm Müller sang
seine Griechenlieder, Sondershausen schrieb seine Befreiung
Griechenlands, und von Lord Byron, der in Missolonghi ein
romantisch-heroisches Ende fand, brachte der „Freimütige"
damals 4 Briefe über Griechenland. Auch Grabbe scheint
— 21 —
anfangs von dem Schwünge seiner Zeitgenossen mit fortge-
rissen zu sein, dann aber schreibt er — ist es nur Ver-
stellung? — höchst kühl über abflauende Griechenbegeisterung
und verzeichnet das von eigenen Landsleuten ausgestreute
Gerficht, Ypsilanti sei ein Abenteurer. — Grabbe hat immer die
öffentlichen Angelegenheiten scharf und mit einer satirischen
Tendenz verfolgt, aber er gesundete doch am nationalen
Fühlen, und trotz seiner nihilistisch-satirischen Grundrichtung
ist das Deutsch volkstümliche, das Germanische, wie er es
verstand, der positive Kern seines Wesens.
Jugendlich ideale Tendenzen, wie sie sonst das Leben
eines Studenten ausfüllen, vermochten also damals den Eigen-
brödler nicht zu erwarmen. Aber auch aufwärts in die ge-
sellschaftlichen Kreise strebte Grabbe nicht — anders als
Wolfgang Göthe, der sich geflissentlich die feine Bildung von
Klein-Paris aneignete und der ein halbes Jahrhundert vorher
seine Lebenserfahrungen in Schäferspielen und Liebhaber-
theaterstücken verdichtete. Zwar versuchten Oberhofgerichts-
rat Blümner, der Freund Müllners, Professor Politz und vor
allem der liebenswürdige Schöngeist Professor Wendt, denen
Grabbes künstlerisches Ringen nicht verborgen blieb, das un-
geleckte Originalgenie in ästhetische Zirkel einzuführen. Wohl
lauschte der Sohn der Kleinstadt darauf, was die chroni-
que scandaleuse aus der großen Welt in die Öffentlichkeit
trug. Aber der junge Grabbe erfaßte doch nur das Leben,
in dem er nach seinem Herkommen wurzelte, und dann ver-
stand er seine Freiheit dahin, in schrankenlosem Genuß Kunst
auszukosten, aber auch mit zähester Kraftanstrengung in
ihre Geheimnisse einzudringen. Beides anscheinend Diver-
gierende läßt sich auch bei dem Leipziger Studenten aufzeigen.
In der unmittelbaren Nähe von Grabbes Wohnung — viel-
leicht war er mit dem benachbarten Deklamator Solbrig be-
kannt geworden — wurden die Buden aufgeschlagen, wenn
die berühmte Leipziger Messe abgehalten wurde. Das war
ein hochwichtiges Ereignis, ein wahres Lebensfest für die
— 22 —
ganze Stadt. Buchhändler, Gelehrte, Schriftsteller strömten
aus allen Teilen Europas zusammen, die zuletzt ein Pest-
mahl vereinte. Eine damalige Korrespondenz aus dem Mor-
genblatt möge ein solches Fest vergegenwärtigen.
Bei schönem Wetter, während die Vegetation im Früh-
lingsschmuck prangt, strömt eine unzählige Menge aus den
Dörfern und Flecken in die Stadt. Von 4 Uhr ab stehen die
Promenaden im höchsten Flor. Unter den schattigen Kasta-
nien und Linden sieht man ein Meer von Köpfen oder von
Hüten, aus welchem die grauen Hüte einiger anglisierender
Chapeaux und die himmelstürmenden Strohdächer kleiner
liebenswürdiger Frauen neben den geschleiften Mützen der
Dorfbewohnerinnen gleich leuchtenden Segeln emporragen. Be-
sonders ist der Spaziergang zwischen dem Grimmaischen Tor
und dem Schlosse vollgestopft. — Bald beginnt das Volks-
fest und auch der derbere Geschmack kommt auf seine
Kosten. Der stämmige Landmann drängt sich mit den Sei-
nigen voll Ungestüm nach den vor dem Bosenschen Garten
aufgerichteten Schaubuden, aus welchen ein vielstimmiges
Trompeten-Mißgetön und großes Trommelgetöse bis in die
Alleen hinüberschallt. Der Sinn für das Wunderbare und
Gräßliche siegt — Da sind zu sehn ein unsichtbares Mäd-
chen, das aus einer Glaskugel spricht, oder die Ermordung
der Fualdez, in Wachs dargestellt. Trompeten locken zu
Springern und Seiltänzern oder ins Kasperletheater, wenn
nicht ein mächtiger Instinkt, verstärkt durch den Anblick
strotzender Branntweinflaschen und aufgeschichteter Kuchen-
massen, ihn in die Bretterhütten der Schankwirte führt, aus
denen eine verstimmte Harfe oder eine schwindsüchtige Dreh-
orgel den Aufruf zur Fröhlichkeit erläßt. Drehbretter, von
Knasterwolken umnebelt, Karussels, erfüllen weiter den Ort
Eine ganz besondere Attraktion bilden die Menagerien, in denen
es Löwen, Bären, Elefanten, Rhinozerosse, Affen, Papageien
zu sehen gibt. Von den wilden Tieren kommt man zu den
wilden Menschen, zu den Buschmännern, die zum Entsetzen
— 23 -
des christlichen Zuschauers Krokodile anbeten. Ein weiterer
Teil des Meßbudenpublikums belustigt sich in der Kunst-
reiterbude oder ergeht sich im Rosenthal, den Nachtigallen
lauschend. „Die Liebhaber der höhern Kunst gehn ins Gewand-
hauskonzert, einen andern Teil zieht Klingemanns Faust zu
den Pforten der Hölle hinab, die man denn nicht ungern mit
einem angenehmen Platz an der Tafel im Hotel de Saxe oder
einem doch weniger furchtbaren unterirdischem Aufenthalt
vertauscht."
Das ist das Leben, das Grabbe miterlebte und nachschuf.
Solche Szenen von handfester Derbheit hat er gut geschaut
und kräftig nachgezeichnet (vgl. Napoleon u. a.). Da bewegt
er sich beobachtend unter der Masse und schaut dem Volk
aufs Maul, wie da die Leporellos herumlaufen, oder etwa
ein bäuerliches Trinkgelage abgehalten wird. Es klingt nicht
nach dem ästhetischen Regelbuch, aber es ist wohl kein Zwei-
fel, daß der Gothlanddichter, dessen Eingebungen zuweilen
abenteuerlichen Ursprungs sind, sich in Tierbuden durch die
Bestien mit grimmig funkelnden Augen und grellschimmerndem
Fell inspiriert fühlte und daß er den wilden Männern
seinen Berdoa nachbildete. Oft wandert er hinaus auf die
Dörfer zu Wurstschmäusen, er belauscht das stundenlange
Geschimpf eines erzürnten Seifensieders; den Leipziger
Stadtsoldaten hat er in „Scherz Satire" hereingebracht.
Mit ungestüm leidenschaftlicher Begier hängt Grabbe an-
dererseits an der Kunst und er verzehrt seine Kräfte in
poetischen Plänen. Roh, aber treffend ist das Bild vom Raub-
tier, das zerreißt und mehr verschlingt als es verdauen kann.
Der Student und fleißige Kolleghörer ist bald überwun-
den. Grabbe führt das Leben eines Bohemien, eines Caf6-
hausliteraten, wie es auch manche jungen Genies von heute,
Maler und Dichter, lieben. Er verschlang die Journale. Gelegent-
lich verkehrte er wohl mit Rosen, dem Detmolder Schulkamera-
den, und Kettembeil, seinem späteren Verleger, aber einen
intimeren Umgang unterhielt er nur mit einem unbekannten Ge-
— 24 -
sinnungsgenossen, mit dem er im Caf6 literarische Gespräche
führte. Man berauschte sich noch einmal an den Theater-
eindrücken. Eine überwältigende Fülle für den Sohn der
kleinen Residenz. Ob ihn Apel-Schneiders Oratorium „das
Weltgericht" zu seiner Vision im „Gothland" begeisterte? Im
Theater blühte das Trauerspiel und zu den wichtigsten Pre-
mieren gehörte die Albaneserin von Müllner, dessen gruse-
liges Schicksalsdrama „die Schuld" zu den zugkräftigsten Stücken
gehörte. Daneben beherrschte der empfindsame Houwald
das Repertoir mit seinen geheimnisreichen schaurigen dem
Instinkt des Publikums begegnenden Theaterstücken „Fluch
und Segen", „Leuchtturm", „das Bild". Von Kleist wurde
der „Prinz von Homburg" aufgeführt, später ward auch
ein Versuch mit der „Familie Schroffenstein" gemacht.
Raupach begann seine erfolgreiche Theaterlaufbahn mit
der „Erdennacht". Shakespeares „Hamlet" und Klinge-
manns „Faust" befruchten den Schöpfer des „Don Juan
und Faust", und die glänzend ausgestattete Oper „Aschen-
brödel" brachte Qrabbe auf den Gedanken, das Märchen in
Tieckscher Manier zu bearbeiten. Ende 1821 aber errang
eine beispiellose Popularität das phantastische Volksstück von
Kind-Weber „der Freischütz". Der „Freischütz" bildete das
Losungswort und das Lied vom Jungfernkranz und die Chöre
der Jäger hallten wieder auf den Gassen. Sie wurden auch
die Lieblingsweisen des alten Grabbe.
Ein moderner Roman des Schweizers Hesse „Peter Ca-
menzind" schildert einen begabten aus den Bergen stammen-
den Jüngling, den die Bildung der großen Stadt trunken macht
und der eine Virtuosität darin entwickelt, die Geister der
verschiedenen Weine und Spirituosen je nach der Laune, die
er beliebt, zu zitieren, bis dann das Ich das Spiel der bacchi-
schen Dämonen wird. — So hat Grabbe mit intensivem
Lebensdurst die Wonnen des Rausches gekostet, aber auch
die Hefe der Sinnlichkeit. Sein Leben war wild und regel-
los, soweit es ihm seine Armut gestattete.
— 25 -
Bald sah er auf das spießbürgerliche Detmold herab und
verachtete das Brotstudium. Wie ein moderner Naturalist
stieg er hinab in die Abgründe des Lebens und drang ein
in die Schlupfwinkel des Lasters. Keine edle Weiblichkeit hat
ihn bewahrt und gehütet. Stellen in „Scherz Satire" zeigen,
daß er gewisse Gassen in Leipzig kannte und zwar nicht
nur von Hörensagen, wie die Bordellpoesie im „Gothland" be-
weist. Wir wissen nicht, ob seine Phantasie die Ausschwei-
fungen vergrößerte, ob der Alkohol oder-Venus Vulgivaga ihn
mehr zerrüttete. Die Folgen des zügellosen Lebens, das den
höchsten Grad der Intensität in der mitternächtlichen Stunde
erreichen mochte, haben sich denn auch bald gezeigt. Den
Eltern verrät er zwar nur von kleineren Übeln: von Zahn-
weh, Schwindel und böser Laune, aber Duller erzählt, daß
Grabbe den „Gothland" schrieb, „gepeinigt von den Schmer-
zen einer fürchterlichen Krankheit".
Mit solchen Lebenseindrücken, in solcher seelisch-körper-
lichen Verfassung ist Grabbe sich seines Dichterberufes klar
geworden. Man erkennt die naturalistischen und satirischen
Elemente, aber auch übermächtige Sehnsucht und unbändigen
Lebensdrang.
Berlin
Im Februar 1822 hatte Grabbe seinen Eltern die Er-
laubnis abgedrungen, nach Berlin gehen zu dürfen — trotz
des entschiedenen Einspruchs von Archivrat Clostermeier, den
wohl die immer größere Ablösung vom juristischen Studium
mit Bedenken erfüllte.
Von den „hellen" Sachsen zieht es ihn in die preußische
Landeshauptstadt — in die Hochburg der Intelligenz und der
Aufklärung, in der jeder von der Mutter her mit besonderm
Witz gesegnet ist, sich auserwählt fühlt vor dem Provinzler,
während andererseits ganz Berlin eine große Familie bildet»
- 26 —
»
Zunächst imponiert dem ungeschliffenen Westfalen die Höf-
lichkeit der Berliner, dann findet er doch bald heraus, daß
nicht alles so gemeint ist, und er hat dann die allzuklugen
Leute wohl parodiert: mit Bosheit aber auch mit Anerkennung
zeichnet er den schnoddrigen, aber gut brauchbaren gewandten
Berliner Freiwilligen im „Napoleon", mit mehr Satire die
Polizei in „Don Juan und Faust" oder in Negro und Rubio
verkleidete Urberliner, die nur schön finden, was in Berlin
gewachsen ist. — An patriotisch erregenden Ereignissen
fehlte es nicht in diesem Jahr. Der Helden der Freiheitskriege
waren schon viele dahin: der Sieger von Nollendorf, General
Kleist, starb damals; die Gestalten von Bülow und Scham-
hörst wurden im Juli in Standbildern verewigt, Festlichkeiten
am Hofe haben einige Spuren in Grabbes Briden hinterlassen.
Er wundert sich über das zwanglos-freie Auftreten der preu-
ßischen Prinzen und Prinzessinnen. Als der schwergeprüfte
und vielgeliebte König Friedrich Wilhelm III. sein 25jähriges
Jubiläum feierte, hat auch Grabbe Lichter ans Fenster ge-
stellt
Am 27. April 1822 wurde Grabbe in Berlin immatriku-
liert, schon im Juli wechselt er die Wohnung, angeblich weil
sein Hauswirt besser vermieten konnte. Er verzieht nun in
die Friedrichstrasse 83 unweit der Linden zum Riemermeister
Gramer. Unter ihm in der 1. und 2. Etage wohnten viele
Adelige.
War Grabbe in den Hörsälen ein seltener Gast geworden,
so war er mit wilder Energie in die damalige Literatur ein-
gedrungen, die ihn aber mit verächtlichem Spott erfüllte, ähn-
lich wie ihn ein kraftgeschwelltes Originalgenie 40 Jahre
früher gehegt haben mochte. Und nicht ohne Grund. — In
der Kritik schien noch der Geist Nicolais lebendig zu sein.
Das tonangebendste, in Astheticis nüchtern aufgeklärt denkende
Berliner Blatt war der „Gesellschafter", herausgegeben von
Gubitz, der sich zwar bereit zeigte, Szenen aus Grabbes
„Gothland" zu veröffentlichen, im allgemeinen sich aber dem
— 27 —
modernen Oeist gegenüber wenig aufgeschlossen zeigte.
Weniger gut stand der Dichter von vornherein mit Kuhns
„Freimütigem", der aber Orabbes Spott in „Scherz Satire"
reichlich vergolten hat. Auch der Ästhetiker Franz Hörn,
der im Winter Vorlesungen über Goethe und Schiller gehalten
hatte und der sich auch an Shakespeare als wenig origineller
Commentator ohne Glück heranwagte, konnte Grabbe nicht
imponieren. Fremdherrschaft schien wieder eindringen zu
wollen: sie kam diesmal aus England. Die gelesensten Autoren
waren Scott, Irving, Byron, doch war „die Begeisterung für
das schlechte Gewissen" schon im schwinden. Damit konku-
rierten von einheimischen Erzählern der seicht-frivole Clauren,
der sein erfolgreiches Thema der Ritterromantik immer wieder
breit auspinnende Fouqu6 und endlich der koboldartige Theo-
dor Amadeus Hoffmann, der im Juli an der Rückenmark-
schwindsucht starb. Neu aufgehende Sterne brachen sich erst
mühsam Bahn: nach dem Erfolg der Lieder sah man Heines
„Ratcliff" erwartungsvoll entgegen. Immermanns Trauer«
spiele (z. B. Edwin) wurden gelesen, auch war von Ochtritz
Chrysostomus die Rede. Aber das Morgenblatt urteilt: „Der
Anteil an der schönen Literatur ist ganz erloschen, wo sonst
alles lichterloh brannte, wenn Goethe oder Jean Paul, Schiller
oder Schlegel, Tieck oder Werner nur eine neue Zeile ge-
schrieben hatten". Und was nun die Theaterpremieren an-
geht, so faßt eine pessimistische Notiz den Gesamteindruck
zusammen: „Keine Oper, kein Trauerspiel, wir haben Rosen
auf beider Grab gestreut." In der Tat ist Stagnation die
Signatur seit Müllers letztem großen Erfolg mit der „Alba-
neserin", Houwalds „Fürst und Bürger" kamen heraus, sonst
nur literarisch unbedeutende Stücke: der bethlehemitische
Kindermord, die Pagen des Herzogs von Vendome, die Un-
schuld muss viel leiden, Tromlitz Entführung, Claurens „Bräu-
tigam von Mexico" u. a. König Johann von Shakespeare wurde
1823 neu einstudiert. Erfreulicher sah es in der Oper aus, wo
Mozart dominierte. Neben den volkstümlichen Weisen des
— 28 —
Neuromantikers Weber (Freischütz, Preziosa) behauptete Spon-
tini mit großen Opern voll Aufwand und Spektakel das Feld.
(Olympia, Nurmahal, Vestalin.) Ein junges Genie könnte sich
wirklich über diese Dürre ärgern; man lechzte nach einem
erfrischenden Wetter und der Parnass bedurfte eines neuen
Messias. Riesenhaft gärte es in Grabbes Busen. Mit glü-
hender Seele verspürte er im Theater — dessen Besuch ihm
teilweise durch Freibillete ermöglicht wird — die berau-
schende Lebensfülle, die ihm aus den Menschenschicksalen,
wie sie der Dichter wie ein kleiner Gott schöpferisch ge-
staltet, entgegenströmt. Welche Wonne muss es doch sein, wie
der Schauspieler ein Leben in höheren Extasen zu leben, in
begeisterndem Einklang mit einer empfänglichen Menget Ge-
wiß blendet ihn der äussere Glanz und er kann augenrollende
Koulissenreißer nicht von der einfacheren Echtheit tieferer
Wahrheit unterscheiden. Ganz ersichtlich hat ihm beim
„Gothland" vorgeschwebt: er selbst auf her Bühne in schau-
spielerischen Effekten sich auslebend. Mangelte es an Novi-
täten, so blieb doch noch immer für den Anfänger künstlerischer
Genüsse die Fülle: außer Müllners Schuld Houwalds Bild,
Grillparzers „Ahnfrau" und „Sappho", außer Kotzebue (Deut-
sche Kleinstädter, Johanna von Montfancon), Klingemanns
Faust und Ifflands Jäger — konnte er den großen Unsterblichen
huldigen: Shakespeares Hamlet, Lear, Romeo und Julia, Hein-
rich IV. — Calderons Arzt seiner Ehre, das Leben ein
Traum; von Lessing Emilia und Nathan, von Goethe Stella, Laune
der Verliebten, Geschwister, Iphigenie; von Schiller Kabale
und Liebe, Don Carlos, Wallensteins Tod, Jungfrau von
Orleans, Maria Stuart, die Braut von Messina.
Die widerspruchsvollen Bestandteile, aus denen Grabbes
Persönlichkeit zusammengewürfelt war, traten aber in immer
stärkerer Spannung auseinander, anstatt sich in harmonischer
Einheit auszusöhnen.
Ein derbrealistisches Genrebild läßt sich nach den Fa-
milienbriefen entwerfen. Der in ganz andersartige Verhält-
— 29 —
nisse hineinwachsende Grabbe vergegenwärtigt uns die eng-
begrenzte Stätte seines Ursprungs und gewiß ist öfters ein
parodistisches Moment nicht zu verkennen, wenn er sich über
die guten Alten lustig macht, ohne daß diese es gleich zu
merken brauchen. Er verrät nichts von seinen innern Leiden
und Kämpfen, die man doch nicht begreifen würde. Wie
er's darstellt, ist er frisch und munter und fühlt sich in
Berlin viel glücklicher als in Leipzig. Der Sohn ist höchlichst
besorgt, wenn die Mutter Kopfweh hat und er tut sehr er-
freut, wenn er hört, daß sie Eier bekommt und an Schweine-
braten sich gütlich tut, er animiert sie, sie soll sich einen
guten Tag antun, viel Kaffee trinken — ja, die alte Frau soll
tanzen. Der Vater studiert die Berliner Zeitungen und der
Sohn befriedigt seine Wißbegierde, indem er nach Geschmack
des Alten von Feuersbrünsten, Unglücksfällen, Selbstmorden,
Verbrechen oder von der Eifersuchtsaffäre im Hause des
Schauspielers Stich ergänzend berichtet.
Er setzt eine gewichtige Miene auf und erzählt belehrend
von seinen Erfolgen bei Dichtern und Philosophen, ja sogar —
und das kitzelt den Zuchtmeisterssohn bei all seiner Frei-
geisterei am meisten — bei Adligen. Der höchste Trumpf
ist natürlich der Brief von Tieck, einem Adelsdiplom an Wert
gleich, den ihm der damalige Rektor Raumer — dessen Vor-
lesungen neben denen des Rechtslehrers Savigny noch am
meisten Anziehungskraft auf ihn übten — übermittelte. Der
gute alte Grabbe schreibt dazu nach seinem Verstand: „Was
schreibt der Herr Tieck für Bücher und ist derselbe in Dres-
den angestellt oder nicht?" — Allerlei Gerüchte dunkeln Ur-
sprungs dringen nach Detmold und spiegeln sich in des
leichtgläubigen Alten Briefen: „ein Seminarist hat erzählt, Du
hättest eine Komödie gemacht, die erst nach Schillers Stil ent-
worfen wäre; diese hättest Du etwas umändern müssen und
es wäre dann so gut ausgefallen, daß Dir der russische Kaiser
dafür 3000 Fl. zum Geschenk gemacht hätte — Du wärest
— 30 —
Theaterdichter in Berlin geworden — Um Dich kümmert sich
hier alles".
Der alte Grabbe, der solch wunderliche Phantastereien
für wahr halten könnte, war sicherlich nicht geeignet, den
Sohn richtig abzuschätzen und ihn aus Verworrenheit zur
Klarheit zu führen. Wir aber sehen zu, wie sich die leiden-
schaftliche Zerrissenheit seines Dichtens auch in seinem Leben
kundgibt und finden in seinem Auftreten den Ausdruck der
innern Persönlichkeit wieder. Ist es nicht schon eine Groteske,
wenn wir den Dichter in seiner Unbeholfenheit und äußeren
Nachlässigkeit unter Weltmännern und Adligen sehen, krampf-
haft bemüht, sich oben zu halten durch alkoholische Reize
und durch das unruhige Sprühen seines überlegenen Geistes,
da ihm innerer Halt und stetige Kraft abgehen? Viel von
seinen Absonderlichkeiten war nur maskierte Verlegenheit.
Der Widerspruch wirkt aber nicht nur grotesk, sondern
auch tragisch als Ausdruck leidvoll empfundener Zerrissen-
heit, des ungeheuren Widerspruchs zwischen einem trotzig
das Höchste forderndem Begehren und einem nicht nur unge-
m
klärten, sondern auch krankhaft gehemmten Willen. Wie in
der Kunst, so auch im Leben überschlägt das Tragische ins
Burleske und der Witzemacher bricht oft in die gellende Lache
des Verzweifelten aus.
Die tiefbegründete Ironie, sich selbst und anderen zur
Qual, ist die Grundstimmung, die auch aus den ernsthaftesten
Werken noch hindurchschimmert und die einheitliche Stim-
mung zerreißt. Aus der innern Unruhe heraus mystifiziert
Grabbe gern mit allerlei Teufeleien und Streichen. Denn man
wappnet sich am besten bei eigenen Schwächen, indem man
fremde angreift. Er sucht etwas zu verbergen, seine Armut,
seine eingewurzelte Niedrigkeit — er sucht die bösen Dä-
monen in seiner Brust niederzuhalten. Aber dann wirft er
wieder die erzwungene Maske fort und läßt die eingeborene
Wildheit ausschäumen und gibt sich trotzig so echt, wie ihn
- 31 —
die Natur gemacht hat — ihn, den Bauernsprossen „Krischan
Grabbe«.
In seiner schiefen Stellung entwickelt sich ein wunder-
licher Eigensinn. Orabbe hat es bald herausgefühlt, daß er
nicht geraden Wegs durchs feindliche Leben kommen werde;
er nimmt gelegentlich Anläufe, durch besondere Kraftäußer-
ungen zu imponieren, oder er versucht sich in der Rolle des
Intriganten.
Widerspruchsvoll ist weiter die kümmerliche Außenlage
bei großen innern Emotionen. Staunenswert ist die krampf-
hafte Energie, mit der er sich bei seinem krankhaften Zu*
stand in seinem Beruf durchrang. Orabbe war in der Tat
krank, arm und hungrig und war doch viel zu stolz es
jemandem zu verraten. Seinen Schmerz konnte er in seiner
Dichtung ausrasen, aber nach außen sollte ihn niemand einer
jämmerlichen Haltung einer weichlichen Klage zeihen können«
Lieber richtet er mit einem abgebrochenen Streichhölzchen
einen Notschrei an den kunstsinnigen Kronprinzen — starker
Toback gewiß für die kritische Nachprüfung und voll selbst-
verräterischer Bloßstellung — aber auch nur richtig abzu-
schätzen als Eingebung einer Kneiplaune, geboren aus Ironie
und Verzweiflung — halb tiefernst gemeint und doch nur
eine mit der Wirklichkeit spielende Mystifikation.
Möglicherweise ist das Ganze nur das parodistische Muster
eines Bittgesuchs, wie sie Grabbe schon als Jüngling schrieb»
Die Pointe des übrigens niemals abgesandten Schreibens ist
eins der schärfsten Epigramme, das über das Los des Genies
geprägt ist: „Viele nennen mich genial, ich weiß indessen
nur, daß ich wenigstens e i n Kennzeichen des Genies be-
sitze, den Hunger." Die Schuld lag freilich weniger an den
spärlichen Mitteln, als an der Art der Verwendung. Der
Monatswechsel ging für Theater und Spirituosen, auch für
das Abschreiben der Stücke drauf; im übrigen darbte und
hungerte er. Laube erzählt eine bezeichnende Episode:
„Grabbe sprach niemanden an, wenn auch der alte zer~
— 32 -
drückte Hut das nötige verriet. Eines Abends verließ Orabbe
und ein Bekannter die literarische Gesellschaft sehr spät;
sie schlendern durch die stillen Berliner Straßen, Grabbe
ist aufgeregt und dichtet und raisonniert auf das lebhafteste.
Im Zuge der Rede tritt er mit ins Haus und Zimmer des
Bekannten und schläft bei ihm. Am anderen Morgen läßt
dieser Kaffee und Semmel bringen — Grabbe frühstückt mit
bestem Appetit, aber schweigsam, dann steht er auf, reicht
jenem die Hand und sagt mit tonloser Stimme: „ich danke
Ihnen, es war seit drei Tagen das erste, was ich wieder zu
essen und zu trinken hatte." Damit geht er und jener hat ihn
nicht wiedergesehen — im „Herzoge von Gothland", in den
Hohenstaufen, den 100 Tagen fand er später seinen Früh«
stücksgast wieder. Alle die wilden grabenden Gedanken einer
kümmerlichen Abgesondertheit sind dort leicht zu entdecken".
Köchy, der Grabbe einst im Winter, der besonders in der
zweiten Hälfte sehr streng war, im ungeheizten Zimmer
angekleidet auf dem Bette liegen sah — eine für Grabbe
typische Situation — brachte Grabbe auf den Gedanken, die
silbernen Löffel, die er von Hause aus mitgebracht, ins Pfand-
haus zu tragen. Und Heine erzählt, wie er dann mit dem
Potagelöffel Goliath anfing, dem nach und nach die kleineren
Kaffeelöffel folgten. Sie bildeten den Gradmesser seiner Ver-
mögenslage und Grabbe pflegte wohl mit bewölkter Stirne
anzugeben: ich bin an meinem dritten Löffel, oder ich bin
an meinem vierten Löffel.
Das war die Kehrseite der Medaille. Aber andererseits
war es eine Zeit voll von Entwürfen und von sprühender Un-
ruhe, es war — wenn auch nur in wenige Stunden gebannt —
ein stürmisches tolles Leben, das Grabbe im Bunde mit Heine,
Gustorf, von Borch, Robert, U echtritz, führte. Das war das
Leben, zu dem sich Grabbe immer wieder hingezogen fühlte
und das sich in seinen Grundzügen denn auch immer
wiederholt hat. Ungebundene Schöngeister, fern von der
feinen Sitte und der strengen Form der Gesellschaft, bilden
- 33 -
eine Gemeinde für sich. Das Leben in vollen Zügen zu
schlürfen wie Don Juan, in die kurze Daseinsspanne alle
Menschenwonne zu konzentrieren, alle Schranken zu sprengen,
alle Formen und Gesetze, auch die der Gesundheit, als phi-
listerhaft zu verhöhnen, sich in eine höhere geistige Sphäre
zu verflüchtigen — das war das Evangelium, das im übrigen
nach damaliger Empfindungsweise nicht nur aus einer ge-
dankenlosen Sinneslust hervorging, sondern aus dem sehr
ernsthaften philosophischen Hintergrunde der romantischen
Doktrin, wie trunkene Dionysusöchwärmerei im Altertum
aus religiösem Grunde erwuchs. Vorbild und Schutzpatron war
gewissermaßen Theodor Amadeus Hoffmann, der mit
dem genialen Schauspieler Devrient in der historischen Wein-
stube bei Lutter & Wegener seine berühmten Zechgelage feierte
und dem — anders wie bei der alkoholfeindlichen Dichter-
generation von heute — der Rausch des Weines und die ani-
mierte Stimmung, die tolle Ausgelassenheit durchschwärmter
Nächte, den Drang zum Schaffen erst entzündete. Der glän-
zende Erzähler unheimlicher und fantastischer Geschichten
und Kaprizzios vertrat noch am lebendigsten den romantischen
Geist auch in der Lebensführung und verstand es dabei, trotz-
dem seine bürgerlichen Amtspflichten zu erfüllen. Sein Tod
am 25. Juni infolge von Rückenmarkschwindsucht vermochte
nicht abzuschrecken. Vielmehr drängten sich Nachfolger ge-
nug um die frei gewordene Stelle.
Es waren aber alles junge Leute, in deren Kreise
sich Grabbe produzierte. Schon seit 1821 bestand der
Zirkel. Es waren, wie U echtritz schreibt, „zum Teil
unendlich leichtsinnige Menschen und um so verführer-
ischer, weil sie dabei sehr liebenswürdig sind. Fast alle
sind schon etwas tief ins Leben hineingeraten." Diesen
wie v. U echtritz aus besseren Kreisen stammenden, zart-
besaiteten Ästheten scheint — wenn man Grabbe selbst glauben
will — das Originalgenie voll wilder Urwüchsigkeit mächtig
imponiert zu haben — allerdings nur momentan, nicht dauernd.
Nieten, Chr. D. Grabbe. 3
_ 34 —
Stammlokal war das von zwei schwarzen Riesen flankierte
Kasino in der Behrenstraße, wo Köchy eine Art Puppen-
theater aufgeschlagen hatte, auf dem Holbergs Dramen, Shake-
speare-Parodien, vielleicht auch andere Volksstücke (Faust,
Don Juan?) — aufgeführt wurden. Hier fanden die Orgien
statt, von denen „Scherz Satire" uns eine erhalten hat. Da
sprang Grabbe wohl auf den Tisch und hielt Reden — an
Mamsell Franz Hörn, an seinen Freund, den Pfandjuden
Hirsch in der Jägerstrasse, an Herklotz, Gubitz, und den
blinden Weinhändler Sisum. Es gab tolle Szenen ä la Falstaff.
„Grabbe schlenderte, die Hände in den Taschen seiner blauen
Hose, die Straße herunter und ging dreimal wie ein alter
Hexenmeister um einen Brunnen herum, oder er schnitt sich
von seinen borstigen Haaren einige ab und schwur, er wolle
mit diesen Spießen 99 Poeten und Literaten totstechen." Dann
wurden einige Louis auf Kosten eines jüdischen eitlen Kom-
ponisten verjubelt; Heinrich von Kleist, der bis zum Tot-
schießen verkannte, wurde vergöttert; kam dann der Katzen-
jammer, so wurde man fromm und meldete sich bei Adam
Müller zum Katholizismus an.
Für die meisten Jünglinge war diese Ungebundenheit nur
eine Episode; für einen echten Zigeuner und Bohemien wie
Grabbe war es sozusagen die einzig mögliche Lebensform.
Der romantische Haß gegen ein philisterhaft geordnetes Da-
sein war als eine gefährliche Mitgift tief in seiner Existenz
eingewurzelt. Es war Grabbe tötlicher Ernst, während die
anderen sich ohne viele Schmerzen anpaßten. Unter den Per-
sönlichkeiten des Kreises sind manche gewesen, die im Leben
leicht und schnell vorwärts kamen, manche, die Grabbe hätten
nützen können. Aber es ist traurig zu sehen, wie wenig
der Dichter von ihnen gehabt hat. Allerdings ist der Wag-
schale, in der wir Grabbes Genie wägen, ein schwerwiegen-
des Äquivalent geboten in den schlimmen Charakterfehlern
Grabbes, die in 2 Fällen nachweislich ausschlaggebend ge-
worden sind. Und man muß noch zweifeln, ob die wild revo-
— 35 -
luiionäre Poesie Grabbes wirklich tieferen Einklang weckte,
so korrekt und besonnen scheinen die meisten.
G u b i t z, der Kritiker, war ja bereit, einzelne Szenen des
Gothland in den „Gesellschafter" aufzunehmen, aber er hat später
Grabbes Dramen ungünstig rezensiert und das Barbarische und
Leichtfertige wie andererseits die moderne Reflexion, die in den
Stücken gemischt seien, getadelt. In seinen „Erlebnissen"
charakterisiert er, der ein paarmal von dem Schreckens-
anblick und den Folgen der an Manneswert selbstmörderisch
entwürdigenden Trunksucht erschüttert ward, Grabbe überscharf
und allzu einseitig als einen Menschen von Geist, Verschro-
benheit und Selbstverwüstung, nie habe er das Rohe und Kin-
dische seines Wesens überwunden.
Den vollsten Lorbeer aber unter den Dichtergenossen
pflückte Heinrich Heine. Heine wie Grabbe sind
beides Sänger weltschmerzlicher Zerrissenheit. Der eine
gebärdete sich als wildes Kraftgenie, der andere aber
posierte den blassen Aristokratenjüngling mit der welt-
männisch blasierten Miene. Heine lernte den Gothland
durch den Dichter selbst (Memoiren) oder durch Gubitz
(Köchy) kennen. Er erzählt eine bezeichnete Anekdote für
den Eindruck, den die Lektüre von Grabbes Tragödie auf
empfängliche Seelen ausübte. Er gab im Dezember der Frau
von Varnhagen Grabbes Gothland. Diese aber ließ Heine
noch um Mitternacht kommen und beschwor ihn, um Him-
melswillen das entsetzliche Manuskript zurückzunehmen, das
ihr den Schlaf raube. Leider führte ein übler Auftritt in
Stehelys Konditorei einen Bruch zwischen dem aristokratisch-
femininen Heine und dem demokratisch-groben Antisemiten
Grabbe herbei; äußerlich wohl für immer — falls der von Stein-
mann mitgeteilte auffallend nichtssagende Brief über Don Juan
und Faust eine Fälschung ist. Es kam zu einem Streit, in dem die
Verbalinjurien in tätliche Mißhandlungen übergingen. Heine hat
trotz seiner verletzten Ehre das Talent Grabbes z. B. in de
l'Allemagne und in den Memoiren hoch gerühmt, während
3*
— 36 -
Grabbe — wie sich bei Heine und Tieck, nicht aber bei
Immermann zeigte — seine persönlichen Gegner auch literarisch
befehdete. Es ist bemerkenswert, wie beide das Verhältnis
von Ehre und Talent abgewogen haben. Heine soll den Goth-
land mit Nutzen gelesen haben, wie andererseits Heines
Spuren in „Scherz Satire" aufzuzeigen sind. Heine hochgefeiert
trotz seiner moralischen Mängel — Grabbe in den Hinter-
grund gedrängt trotz des nationalen Gehalts seiner Poesie.
Ward Gubitz durch Grabbes Trunkenheit, Heine durch
die Roheit seiner Sitten abgestoßen, so führten bei v. U e c h t-
r i t z, dem Dramatiker des Kreises, wohl die Rivalität und
allerlei Malicen Grabbes zum Bruch. Beider Schaffen berührt
sich in vielen Beziehungen: das realistische historische Drama
war ihre Domäne. Beide wurden durch Tieck in die Litera-
tur eingeführt: aber Grabbe verlor diese Gunst bald, in der
sich U echtritz dauernd behauptete, obwohl Grabbe von „Alex-
ander und Darius" urteilte: die Sonne müsse eine Brille auf-
setzen, um die Vorzüge dieses Stückes zu entdecken. Grabbe
will die Autorität des Poesie-Entblößten durch sein bloßes
Erscheinen in den Berliner Zirkeln vernichtet haben, aber
U echtritz ' Lobsprüche über sein Lustspiel ließ er sich doch
gern gefallen. Daß Grabbe den trotz seiner Mittelmäßigkeit
sein Genie an Erfolg übertreffenden Konkurrenten vol-
lends als Prusias karrikierte, veranlaßte wohl den Abbruch der
freundschaftlichen Beziehungen, wobei noch demokratische
Mißgunst gegen ■ den Adligen in Anschlag gebracht wer-
den mag.
K ö c h y, der frühe nach mimischer Betätigung drängte,
und der sich durch seine gediegene Schrift über das Theater
schon hervortat, der ruhigste und besonnenste des Kreises,
gab Grabbe einen Empfehlungsbrief an Regisseur Gaßmann
in Kassel mit, in dem er die umfassende Bildung und die
eminenten künstlerischen Kräfte lobt. Mühelos erreichte er
eine einflußreiche Stelle beim Theater, während Grabbes be-
scheidenste Wünsche unerfüllt blieben. Als Braunschweiger
— 37 -
Dramaturg hat Köchy Grabbe wohl animiert einen Heinrieb
den Löwen zu dramatisieren, aber sonst konnte er nichts für
ihn tun.
Robert (den man fälschlich mit dem Dichter verwech-
selte) und Gustorf haben sich literarisch nicht hervorgetan.
Am wichtigsten wurde die Bekanntschaft mit Kettembeil, der
damals die Buchhandlung erlernte und der später Grabbes
Verleger wurde. Aber in Frankfurt, in der höchsten Not,
trennten sich auch ihre Wege. Niemand hat Grabbe so recht
die Treue gehalten oder die Bahn frei gemacht. Und doch:
Grabbe war ein größerer Dichter als U echtritz, ein geist-
reicherer Kritiker als Gubitz, er hätte als Dramaturg wohl
auch einem Köchy das Wasser gereicht.
Unterdessen sind die 6 Semester des Studiums herumge-
gangen und der Vater, der nichts mehr übrig hat, drängte
den Sohn, er solle sich examinieren lassen und nach Detmold
zurückkehren. Zu ersterem ist der Sohn bereit, aber gegen
die heimische Kleinstadt hegte er einen Widerwillen. Und
er sieht sie in der Tat nicht schon Ostern, sondern erst im
August wieder. Durch all seine Briefe ziehen sich seine
Dichterhoffnungen; mit einem Schlage will er sich
pekuniäre Unabhängigkeit erringen. Er will sein ganzes Ge-
schick auf eine Karte setzen: alles oder nichts! ist sein
Wahlspruch, der allen Kompromiß verachtet. „Wäre ich nicht
so eigensinnig, könnte ich in allen Journalen stehen." Es ist in
der Tat ganz unbegreiflich, warum Grabbe damals keinen
Verleger fand. Seine Freunde verwenden sich für ihn, suchen
einen Verleger. Ganz sicheres kann er ja nicht sagen, aber so
schreibt er von Braunschweig her habe man ihm ein Anerbieten
gemacht. Das Vertrauen der Eltern wird nun freilich auf eine
harte Probe gestellt. Denn nichts erfüllt sich: kein Stück er-
scheint, keine feste Anstellung bietet sich. Wir aber wissen
es besser, daß Grabbe Grund genug hatte, zu hoffen. Er
war kein bloßer Renommist; vielmehr hatte er literarische
Taten getan und sich aus eigener Kraft emporgearbeitet. Und
- 38 —
wenn er jugendlich-sanguinisch viel von Tieck erhoffte, wer
will ihn darum tadeln. Es war keineswegs „töricht", wenn
Qrabbe einem bürgerlichen Beruf aus dem Wege gehen wollte
und einer Anstellung als Theaterdichter oder Dramaturg oder
Schauspieler erstrebte. Aber an seinen persönlichen Schrullen
scheint immer wieder sein Lebensglück gescheitert zu sein.
Dresden — Grabbe und Tieck
Grabbe läßt Koffer und Kasten in Berlin bei seinem
Freunde Kettembeil, und er, der zum Unglück Prädestinierte,
wagt einmal auf seinen guten Stern zu trauen. Petri berichtet
an Grabbes Eltern die Absicht des Sohnes, noch ehe dieser
seine neue Adresse in Leipzig, Fleischergasse 241, nach
Hause gemeldet. Die Eltern haben sich mit einem rührenden
Vertrauen bald in die neue Sachlage gefunden, besonders da
ihnen der alte Kanzleidirektor Rosen einen Brief seines Sohnes
zeigte, in dem es hieß: Tieck hat väterlich für Grabbe ge-
sorgt. Ja, der alte Grabbe verpfändet sein Gärtchen und schickt
dem Sohne ungebeten auf Drängen der Mutter noch 6 Pistolen,
die er verwenden soll, bis er eine Anstellung gefunden. Am
18. März schreibt Grabbe an Tieck, der damals an der Gicht
erkrankt war, ungern reiße er sich los von den Wissenschaften,
aber er könne als Jurist keine Befriedigung erhoffen. Er
mochte denken, daß sein gesellschaftlich unmögliches Auf-
treten und seine Herkunft aus einem Zuchtmeisterhause ihm
die Karriere verderben würden. Schauspieler wolle er wer-
den. Er habe seine Aussprache mit Sorgfalt gepflegt: seine
Stimme sei modulationsfähig und er sei imstande, die ver-
schiedensten Rollen durchzuführen, z. B. Hamlet und Lear,
Falstaff und Dupperich. Das klingt großmäulig, aber zum
Schluß schrumpft er wieder in Bescheidenheit zusammen:
er will klein anfangen und sich mit 300 Talern jährlich zu-
frieden geben. Täuschte Grabbe sich, so war doch der Irr-
tum erklärlich. Schon auf der Schule zeigte er ein über-
— 39 —
raschendes Feuer in seinen Deklamationen, man konnte sich
ihn trotz seines lippeschen Platts als wirksamen Kanzel-
redner wohl denken, und wie hatte er schon in Detmold in
fieberischer Erregung den Schauspielern gelauscht, wie wer-
den die Gebärden und mimischen Äußerungen des Gothland
aus seiner Theaterleidenschaft begreiflich. War doch auch
sein Abgott Shakespeare gleichzeitig Schauspieler gewesen
und wie zu Shakespeares Zeiten der königliche Schau-
spieler, so sollte jetzt der Hof Schauspieler das soziale
Ansehen des Standes erhöhen. Möglicherweise ging Orabbe
nach Leipzig, um gleichsam eine Generalprobe bei dem Schau-
spieler Jerrmann zu bestehen. Jerrmann war von München
gekommen und im September 1821 nach einem erfolgreichen
Gastspiele z. B. in Körners Hedwig und Houwalds Heimkehr
in Leipzig engagiert worden, wo er bald einer der belieb-
testen Schauspieler wurde. Er gastierte später z. B. auch in
Paris und hat sich dann auch ohne viel Glück als Schrift-
steller versucht. Der Besuch Grabbes ist von Jerrmann 1852
in Prutz' „Deutschem Museum" erzählt worden — also 30
Jahre nach dem Erlebnis. Sowohl die Zuverlässigkeit des
Berichtes — Jerrmann wird Grabbe, wie so viele andere,
in retrospektiver Beleuchtung unter dem Eindruck der spä-
teren Lebensschicksale gesehen haben — wie auch die rich-
tige Datierung erscheint zweifelhaft. Jedenfalls aber müssen
wir Jerrmann für dieses wichtige biographische Dokument
dankbar sein, wenn er auch, wie wir mit Ziegler glauben,
Grabbe karrikiert. Denn eine solche Äußerung wie diese:
„in Immermann stecken fünf Schiller, drei Kleiste, ein paar
Goethes und ein großes Stück Shakespeare," trauen wir selbst
dem jungen Grabbe nicht zu. Der Besuch verlief folgender-
maßen:
Es tritt ein eine hagere Gestalt mit eingefallenen blassen
Wangen, blitzende Augen unter der hohen Stirn, über die
eine Fülle blonden Haares nachlässig herabfällt, angetan mit
einem — übrigens noch unbezahlten — braunen Rock. Erst
- 40 -
so verlegen, daß er kaum einen Ton hervorbringen kann,
wird der Besucher im Laufe des Gespräches so übermütig,
daß er sich z. B. ohne weiteres auf den Tisch setzt. Er will
Schauspieler werden und Jerrmann soll ihn zum Hofrat Küstner
führen. Dann sprudelt der merkwürdige Gast seine Reform-
Ideen hervor. Er will zunächst Schauspieler werden, dann
Dramaturg und Reorganisator. Nach diesem keineswegs un-
vernünftigen Gedanken greift er — wie in seinem Lustspiel
— die Rezensentenweisheit der Abendzeitung, des Freimütigen,
des Morgenblattes an. Nicht besser ist es mit dem Theater,
das eine alberne Unterhaltungsstätte geworden, den echten
Dichter abstoße und den Schauspieler zu einer Zierpuppe
dressiere. Rückkehr zu Shakespeare, Goethe und Schiller,
zu Wahrheit und Natur, die bei ihm nun wieder als persön-
liche Rauhbeinigkeit erscheint, ist die einzige Rettung. Die
Theorie ist nicht übel, wenngleich sie kaum das Glaubens-
bekenntnis des Berliner Kreises wiedergibt. — Dann kommt
die Probe. Grabbe deklamiert mit fliegenden Händen den
Monolog aus Hamlet, wie Jerrmann urteilt, mit richtiger gei-
stiger Auffassung, aber es fehlt die harmonische Obers chat-
tung, die Inflexion ist unrein, die Obergänge sind schroff und
gewaltsam, Schatten und Licht grell verteilt — also ganz
dem Charakter seiner Dramen entsprechend. Immerhin er-
schien also Grabbe als nicht hoffnungsloser Anfänger. Als
er dann aber in kreischendem Diskant mit aufgestreiften
Hemdsärmeln auch die Ophelia spielen will, verliert Jerr-
mann den Geschmack an der absonderlichen Erscheinung.
Eine Einladung zum Frühstück lehnt Grabbe, trotzdem man
ihm den Hunger ansieht, zunächst stolz ab, dann aber be-
dient er sich doch der Rotweinflasche gründlich, als er zu-
letzt zwei Szenen aus seiner eigenen Dichtung „Don Juan
und Faust" vorliest. »Der Mensch war wie verwandelt;
mildes erwärmendes Feuer in den Augen, hohe Röte auf den
Wangen, die Muskeln spannen sich — eine Fülle seltener eigen-
tümlicher Gedanken, kühner Bilder jagen sich wie fanta-
stische Gestalten."
- 41 —
Könneritz schickte Grabbe Reisegeld, so daß er Ende
März nach Dresden abreisen konnte. Er wohnt Große Schieß-
gasse 719 I und er hat in einer alten Frau eine Wirtin ge-
funden, die die wichtige Eigenschaft erfüllt, guten Kaffee zu
kochen. Der unmodisch ausstaffierte Grabbe sucht sich nun
doch in einen feinen Herrn zu verwandeln. Er bekommt
einen dunkelblauen Frack, schwarze lange Hosen und eine
schwarze Weste. Er hält jetzt auf reine Wäsche, seinen Flausch
benutzt er als Schlafrock. Diesem Kulturfortschritte ent-
spricht es, wenn er nach dem Wunsche seiner Eltern nun
auch mit älteren und besonnenen Leuten verkehrt. Tieck lud
ihn ein und suchte ihn in gesellschaftliche Kreise zu bringen.
In den Briefen an die Eltern spricht er sich sehr übermütig
aus, sie sollen sich nichts abgehen lassen und er hoffe seiner-
seits in dem schön gelegenen Dresden Jahre zu bleiben. Ein
kleiner Zug ist für seine karrikierende Phantasie charak-
teristisch. Er sieht zahlreiche buckelige Mißgeburten in den
Straßen Dresdens und der ehrliche Alte muß ihn auf die
Übertreibung aufmerksam machen, worauf Grabbe dann immer
mehr zurücknehmen mußte. Auch mit den Berlinern steht
Grabbe noch in regem Briefverkehr und Robert bleibt da-
bei: „Es wäre schade, wenn Sie am Theater Ihre Krähe ver-
schwenden würden." — Wie sich aber in Wirklichkeit die
Dinge ausnahmen, können wir aus den Briefen nicht ersehen.
Ist er zu stolz, seine Enttäuschungen zu zeigen, oder ist er
wirklich so ahnungslos? Daß die erste Vorführung seines
schauspielerischen Talents vor Tieck mißglückt sei, hatte
Grabbe selbst im Gefühl und von Tiecks Standpunkt aus
nimmt sich Grabbe in Dresden ganz anders aus. „Es war
im Frühling 1823, als ein Fremder zu Tieck ins Zimmer trat,
eine schwächliche Figur, ein bleiches Gesicht, von Sorge
und Leidenschaft zerstört. Verlegen und unbehilflich, kün-
digte er mit polternder Stimme an, er sei Grabbe. Kaum
konnte es eine größere Selbsttäuschung auf der einen und
Enttäuschung auf der anderen Seite geben." Von allen Ta-
- 42 —
lenten, die Grabbe von sich gerühmt hatte, besaß er keines,
weder Stimme, noch Haltung, noch Wandlungsfähigkeit. —
Ein zweites Moment kam hinzu. Es war schwer mit ihm zu
verkehren. Die Gegenwart anderer war ihm lästig. Er war bald
scheu, bald hochfahrend. An keinem Gespräche nahm er
teil; oft stand er oder er saß stumm auf einer Stelle, oder
er sah, unbekümmert um die Gegenwärtigen zum Fenster
heraus. Aber wenn er unter ungebildeten Spießern in einer
gewöhnlichen Schenkwirtschaft saß, dann taute er auf. So
verscherzte sich der unglückliche Lenz durch seine Affen-
streiche die Gunst der Weimarer Großen. Zum Schauspieler
taugte Grabbe nicht. Seine Stücke waren angeblich nicht auf-
führbar. Trotzdem soll die Intendanz versucht haben, ihn
zu unterstützen. Also Köpke in der Biographie Ludwig Tiecks.
Ein trostloses Ergebnis: Kein Talent für eine künstlerische
Tätigkeit am Theater, keine Kinderstube — und das Dichten
ist eine brotlose Kunst. Aber auch zum normalen Philister
ist Grabbe verpfuscht. Da kann er wohl mit dem Varus
seiner „Hermannsschlacht" fragen: „Zeus, wo soll man
bleiben?«
Aber man fragt sich doch, ob bei solcher Fülle von Mög-
lichkeiten und Anlagen, die denn doch — wie sich später her-
ausstellte, — in Grabbe verborgen lagen, nichts zu machen
war durch ausdauernde Geduld, Schulung und Nach-
sicht. Man darf Grabbes Illusionen nicht zu hart be-
urteilen; erst nach schmerzvollen Kämpfen kann eine
problematische Natur zur Resignation gelangen. Konnte Tieck
Grabbe keine Anstellung verschaffen, weshalb hat er
ihn auch literarisch dauernd ignoriert? Grabbes Detmol-
der Notschreie verhallten ungehört. Auch literarische
Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden „harten
Esprits" mögen zum Bruch geführt haben, obwohl Grabbe
doch mit seiner „Nannette und Marie" der Geschmacksrichtung
Tiecks entgegenkam. In dieser Beziehung scheint mir eine
Rezension Tiecks über Houwalds Leuchtturm in der Abend-
- 43 —
zeitung beachtenswert. Da wendet er sich sehr scharf gegen
die neuen Shakespearomanen und Nordlandsdichter, die
ohne nötiges Können sich auf die höchsten Probleme stürzen
und statt echter Empfindung schwülstige Schilderungen geben.
„Als ob Kinder über Schiller, Goethe, Shakespeare gekommen
wären und nun auf ihre Weise mit Schicksal, Menschheit,
Leidenschaft spielen wollten"; die die Form gleichsam neu
erfinden wollten, als ob sie gar kein Schauspiel kennten.
Und wenn Tieck dann die unendlichen Monologe, die
sich immer wieder verwickelnde Exposition, die Unmög-
lichkeit im Plan und anderes angreift — denkt man da nicht
an den Oothland? Tieck wollte herrschen und Qrabbe pochte
vergebens auf die ungeschriebenen .Vorrechte des Genies.
Jedenfalls war das Mißlingen nach so stolzem Aufschwung
sehr hart. Der Weltunkundige hat sich überall verrechnet
Gewiß ist Grabbe nicht ohne Schuld, aber weniger durch das
was er tut, als dadurch, wie er nun einmal ist. Das Genie
kommt nicht zurecht und die Welt hat dabei noch nicht einmal
Unrecht.
Tieck wollte seinen Schützling offenbar los werden und
während er ins Bad nach Teplitz reiste, schickte er Grabbe
mit einigen Empfehlungsbriefen nach Braunschweig, wo er
ein Geschäft mit dem Buchhändler Vieweg abmachen sollte.
Im Juni meldet Grabbe seinen Eltern, es habe keinen Zweck
sich malen zu lassen, da ihn eine Reise in Verlagsangelegen-
heiten doch in die Nähe von Detmold führe. Mit 40 Talern
ausgerüstet, reiste Grabbe zunächst nach Leipzig und er
macht den dummen Streich, dort vier Wochen hängen zu
bleiben. Angeblich haben ihn viele Freunde und der Buch-
händler Hartmann dort aufgehalten. Er scheint sich also
vergeblich nach einem Verleger umgeschaut zu haben. So-
dann wollte er den „Sturz durch zwei Papierböden auf das
harte Pflaster" verzögern. Es ist ihm arg, daß er die Eltern
bitten muß, ihm insgeheim mit 5 Pistolen auszuhelfen. In
Braunschweig muß ihm Vieweg sagen, daß die Bücher für
— 44 -
Tieck abgesandt, aber verloren gegangen sein müssen. Köchy
vermochte nichts für ihn zu tun und Klingemann Raufte zwar
für 30 Taler eines seiner Stücke an, aber eine Anstellung
verschaffte er ihm nicht, denn er urteilt über Orabbes schau-
spielerische Befähigung wie Tieck. Was sind Hoffnungen,
was sind Entwürfe! Qrabbe klopfte in Hannover an — aber
Freiherr von Orothe ist eben nach Süddeutschland abgereist.
Vielleicht war er auch in Bremen — nach einem Brief an
Tieck hatte er nur die Absicht, aber anders schreibt er an
Kettembeil. Er muß also, ohne seinen Eltern irgendeinen
sichtbaren Beweis seiner Erfolge zeigen zu können, zurück.
So schleicht er sich denn in der letzten Augustwoche nachts
in das „verwünschte" Detmold, wo die Eltern ihn mit Freuden-
tränen empfangen, während er sich mit plumper Grobheit
wappnen muß, um nicht in heftiges Weinen auszubrechen.
Man hat keinen Grund, hier an die Krokodilstränen Berdoas
zu denken, vielmehr besaß Grabbe doch noch ein normales
Verantwortlichkeitsbewußtsein! Lange muß Grabbe die Wahr-
heit hintanhalten, und er fühlt siph in Detmold unglücklich und
unmöglich. Er hat die Enttäuschung nie verwunden.
III. Kapitel
Die Dichtungen des jungen Grabbe
a) Einleitung — Das Schicksalsdrama
Niemand entgeht dem verhängten Geschick,
Denn wenn er glaubt es klügelnd zu wenden,
Muß er es selber erbauend vollenden.
(Schiller, Braut von Messina.y
Grabbe hat bereits als Sekundaner und Primaner zwei
Tragödien geschrieben: »Der Erbprinz" und „Theodora". Wir
wissen nichts von dem Inhalt dieser Stücke, aus denen große
Bruchteile in den Gothland übergegangen sein mögen. Der
Erbprinz läßt einen ähnlichen Konflikt vermuten, wie er im
Sturme und Drange beliebt war. An Theodora erinnert noch
der Name Theodor von Gothland.
»Von Shakespeare angefeuert, schrieb Schiller seine Räu-
ber." Schiller war auch Grabbe in seiner drückenden Jugend
nahe, und wie auch wohl Schiller einmal saher mit einem gewissen
Neid auf Goethe, der »das Leben nicht kannte, weil es ihn immer
auf den Händen trug". — Ein Bruderzwist, als äußerster Frevel
wider die Natur, als das Widerspruchvollste in der Welt der
Widersprüche, ein vom Schicksal betrogener Held, der sich .
rebellisch wider die Weltordnung empört — das ist der erste
Tragödienstoff, an den sich Schiller wie Grabbe heranwagte.
Und da der Dichter in einer schicksalsgläubigen Zeit ein
düsteres Verhängnis in seinem Dasein instinktiv ahnte, ver-
tiefte er sich in die Nachtseiten des Lebens, da wo sich
Wahnsinn, Laster, Verzweiflung grauenvoll verschwistern*
- 46 -
Hier verkettete sich wieder dämmernde Erkenntnis des eigen-
sten Wesens, Jugenderinnerungen vom Zuchthaushof her, wo
ihm so manche aus dem Gleise geworfene Persönlichkeit
entgegengetreten, und der literarische Eindruck des die Lebens-
tiefe offenbarenden dichterischen Kunstwerkes. Shakespeare
ist sein Gott, aber erst in zweiter Linie der Dichter der
Lustspiele und Historiendramen, der realistisch komischen
Volksszenen (Arnim, Immermann). Vor allem packen ihn
die großen Tragödien, in denen der Weltekel des gereiften
Mannes die tragische Tiefe der Welt in ihrer Furchtbarkeit
enthüllt hat: Auf Dummheit und Bosheit beruht die Haupt-
masse von allem Erdenjammer. Die leidenden Helden Shake-
speares fliehen vor Grabbes wilder Phantasie vorüber: Er
schaut den wahnsinnigen Lear im Aufruhr der Natur über
.die Heide irren; ein schuldbeladener Held tritt auf aus Trotz
wider das Schicksal, wie Richard der Dritte, oder von einer
stärkeren Persönlichkeit beherrscht, wie Macbeth; ein fleisch-
gewordener Teufel erscheint wie Aaron, den die Rachebrunst
treibt, oder wie Jago, der den Arglosen durch Bosheit ver-
giftet und zum Mord vorwärts stachelt. Und dann Hamlet,
der unter fremder Schuld erliegt, das berühmte Mysterium
— heiliger und größer als Goethes Faust. Shakespeare und
Schiller sind die Dioskuren, nach deren Glanz Grabbe sehn-
süchtig aufschaut. Und er möchte mehr sein, als ein Nach-
zügler der Stürmer und Dränger, oder als ein Spätroman-
tiker, formlos und voll Ironie. Ein neuauftauchendes Gestirn,
dessen Glanz dem jener Großen gleichkommt, zu werden —
ist der vermessene Wunsch des doch nur erdgebornen Pro-
methiden, der trotzig alles wagend gleich mit himmel-
stürmerischem Flug beginnt.
Als in der fridericianischen Zeit der deutsche National-
geist nach langem Schlummer erwachte, erblühte auch eine
jeigenwüchsige nationale Poesie. Bahnbrechende wetterleuch-
- 47 —
tende Geister schreiten voran; dann bricht das Gewitter der
Stürmer und Dränger los, aber erst die Befruchtung durch
die Antike führt das Zeitalter der klassischen Reife herauf.
Die Romantik legt Protest ein und sucht aus nationalen Fer-
menten schöpferische Kraft. Neue Stürmer erheben sich wider
das Dogma vom alleinseligmachenden klassischen Altertum.
Aber die Romantik gießt ihren Geist am liebsten in epische
und lyrische Formen. Im Drama scheinen Schiller und
Goethe nicht zu übertreffen. Heinrich von Kleist als eine
auf sich beruhende Größe, wird erst nach seinem Tode be-
kannt. Trotz vieler innerlich verwandter Züge sind die Be-
ziehungen zwischen Grabbe und Kleist nicht sehr bemerkbar:
die Mißverständnistragödie der Familie Schroffenstein, Pen-
thesilea — halb Grazie, halb Furie, voll wilder Triebhaftigkeit
— haben den Gothianddichter zu einigen Bildern inspiriert
— Weit heller strahlten am Theaterhimmel Sterne wie Za-
charias Werner, Müllner, Houwald.
Der Dramatiker der Romantiker ist Zacharias Wer-
ner, ein Mensch voll von unbegreiflichen Widersprüchen:
„frivol und andächtig, bestialischer Heiliger und schuld-
beladener Wüstenpilger". Seine weichliche Lüsternheit, seine
mystische Gefühlszerflossenheit waren dem harten und männ-
lichen Geist Grabbes gänzlich fremd, hinter dessen starrem
Äußern sich dennoch die romantische Gemütstiefe nicht ver-
loren hat. Aber doch hat Werner die Phantasie Grabbes viel-
fach befruchtet. Ein paar verwandte Motive mögen anklingen:
Jener Irnak im Attila, der sich über die brennende Stadt
freut und von Mordgier zu Großmut überspringt, wird im
Gothland zu einem finnischen Offizier; ein Gottesgericht voll-
zieht sich unter Donner und Blitz; grauenvoll groteske Kerker-
szenen, gräßlich unheimliche Zeremonien; die schimpfen-
den Landsknechte aus der „Kunegunde" finden wir in den
Hohenstaufen wieder, und der Kaiser springt hier mit den
Bischöfen ähnlich ungnädig um, wie Grabbes Heinrich VI.
Vor allem aber ist es der Obermensch, dessen Spuren
/
/
v
(
i
- 48 —
wir, seitdem Goethe das Wort bei Herder gelesen, durch
die Literatur verfolgen. Nicht Attila ist es, aber der kalte
Machtmensch Aerius; in den „Söhnen des Tales" der Erz-
bischof: ohne Gefühl mit eisenharter Riesenseele, Gottmensch
oder Teufel, fern von der Menschheit schöner Mitte, der den
König charakterisiert als einen Mörder von Millionen. Wenn
wir da hören von Menschen, die durch die bloße Allmacht
ihres Willens die Geisterwelt zerstört und umgeschaffen haben,
wenn wir sehen, wie naturphilosophische Spekulationen hinter
der Dichtung einen metaphysischen Hintergrund aufrichten,
so verspüren wir noch in „Don Juan und Faust" einen Nach*
klang dieses romantischen Idealismus, der in Fichtes Lehre
vom souveränen Ich wurzelt. Der Mensch kann alles, wenn
er sich der Sinnenwelt entäußert — soweit denkt auch Grabbes
Faust; aber die katholisch-mystische Wendung macht er nicht
mit: „wenn er sich selbst vergißt". Heinrich von Kleist
glaubte durch den bloßen Willens Vorsatz sein Leben aus-
löschen zu können; auch diese verneinende Kraft des Willens
beschwört Penthesilea. — Werner ist auch Schicksalsdramatiker.
Das Schicksal waltet in jeder Tragödie: nicht nur in der
antiken, auch da, wo die Leidensctfaft am freiesten zu stürmen
scheint, bei Shakespeare, den Stürmern und Drängern und
wieder bei den Modernen erhebt sich eine unerklärliche be-
schränkende Macht in der Form von Naturanlage, Situation,
Milieu, Folgen der Tat. Aber wie sich in dem Werk des
schöpferischen Genies eine höhere Ordnung gleichsam un-
gewollt von selbst ergibt, so wird das Geheimnisvolle bei
den Epigonen, dem nur nachahmenden Talent in theatralisch
effektvoller Weise aufgezeigt und veräußerlicht. Bei der
Schicksalstragödie aber erscheint das Schicksal nicht als der
innere Zusammenhang, den man nachträglich aus jedem
Lebenslauf abstrahieren kann, nicht als dem menschlichen
Wollen immanent, sondern als eine mechanische aktive per-
sonifizierte in die Zukunft wirkende Gewalt, die tückisch und
sinnlos Menschenleben vernichtet und an äußerlichen Dingen
— 49 —
haftet: am fatalen Requisit, am fatalen Ort, am fatalen Zeit-
punkt. Der majestätische Weltenrichter, dessen Wege uner-
forschlich sind, gewinnt die Züge eines grausam lüsternen
Tyrannen und man fabriziert aus seinen unbegreiflichen Fü-
gungen und der ewigen Vergeltung Kriminalromane. Man
will die große Tragik, aber man macht es sich zu leicht
und man kommt bald der äußerlichen Effekthascherei auf die
Spur. Die Forderung des Morgenblattes: „der Mensch müsse
frei erscheinen, gleichsam erglänzen im tausendfachen Strahl
des Sittengesetzes", ist in Wirklichkeit nicht erfüllt. In Wahr-
heit ist das Schicksal eine von dem menschlichen Wollen ge-
trennte Macht und die Menschen erscheinen als Marionetten,
mit denen eine vernunftlos grausame Gewalt spielt. Grill-
parzers Ahnfrau ragt noch als einziger Oberrest auf aus
jener Zeit, in der das Schicksalsdrama als der Gipfel der
echten Tragik galt. Schon bei Zacharias Werner beginnt ein
in sich berechtigter Gedanke sich in Übertreibungen und Karri-
katur zuzuspitzen. Wenn unter Flöten und Hörnermusik
Libussa erscheint und wenn Wanda Rüdiger tötet, so „ist
erfüllet des Schicksals strenger Schluß."
Im Prolog des 24. Februars fehlt auch hier nicht die
christliche Tendenz: „wir andern, die wir uns noch wollen
nicht Gott allein, sind leicht ins Herz verstrickt und leicht
des wilden Jägers arme Beute". Da knüpft sich alles Un-
heil durch Geschlechter hindurch an ein Messer, eine Hütte,
ein bestimmtes Datum; und unwissend mordet der Vater den
Sohn. Der grauenvolle Reiz dieser Schauerromantik soll auch
in zwei Gothlandsszenen auf uns wirken.
Auch M ü 1 1 n e r kam mit den Christen und Indeter-
ministen ins Gedränge und suchte sich durch eine Theorie
herauszuhelfen, die besser klingt als seine Praxis. Er war
nicht der Mann: „die unsichtbaren Fäden, durch welche das
Erdenleben mit einer höheren Weltordnung zusammenhängt,
dem innern Sinn sichtbar werden zu lassen und das Ahnen
dieser höheren Ordnung zur Empfindung zu steigern". Müllner
.Nietes, Chr. D. Orabbe. 4
— 50 —
hat einen scharfen Verstand, er ist ein geschickter Theater-
Routinier wie Kotzebue und versteht sich auf eine deut-
liche Charakterzeichnung; «er macht Effekt und weiß zu
spannen; nur darf man keine eigentümliche Tiefe hinter ihm
suchen und doch wird dieser Schein geflissentlicht erzeugt.
Von dem Gefühlsreichtum der Romantik sind nurmehr Äußer-
lich Träume und Ahnungen geblieben, Harfenspiel und abge-
griffene Sentimentalitäten. Müllners „Schuld" war das
wirksamste Theaterstück, dessen Erfolg Grabbe als Jungling
mit erlebte. Man parodierte das Stück, das Platen als eine
„Mißgeburt der Zeit" erschien; Th. v. Artner dichtete 1819
einen ersten Teil dazu, 1821 erschien im Morgenblatt eine
eingehende kritische Analyse. Jakob Minor, der eine vor-
treffliche Monographie über das Schicksalsdrama geschrieben
hat, erkennt in Müllners kaltäugigem heimtückischem Schick-
sal keineswegs das ewige Weltgericht, sondern den napoleo-
nischen Polizeispitzel mit seinen kleinlich verlegenen Mitteln,
er findet in der Schuld den kriminalistischen Beruf Müllners
wieder und vergleicht die Exposition dieses Stückes, die
Grabbe in den ersten Akten des Gothland teilweise nach-
ahmte, wie sich da allmählich eins ans andere fügt, bis der
Held selbst den Brudermord kombiniert, mit dem Plaidoyer
eines Staatsanwaltes. Auch bei Grabbe haben wir oft den
Eindruck, einen Kriminalroman zu lesen; getränkt von der
,. Zuchthausatmosphäre, die bei ihm voll von persönlichen
Erinnerungen, die erlebte Wirklichkeit ist. Bleibt aber Müll-
ner der gebildete Mann und Landgerichtsrat, so zeigt sich
Grabbe in seiner Ausdrucksweise eben als Zuchtmeisterssohn.
Nicht bei der Sinnlosigkeit und Grausamkeit dieses Schick-
salbegriffes setzt Grabbes Kritik ein, wohl aber da, wo der
freie Wille ausgelöscht wird, sodass der Mensch als leblose
Marionette erscheint. Als Apostel der Kraft geht Grabbe eine
völlig andere Richtung wie Müllner: so stark er auch von
der Schuld und von Yngurd beeinflußt ist, die Auffassung des
Schuldproblems und des Heros, dessen Tragik und moralische
— 51 -
Gebrechlichkeit Müllner in einer napoleonischen Gestalt auf-
zeigte, charakterisieren Grabbes Originalität vor seinem
Vorbild. Freilich denkt man bei Gothland an Yngurd, "~7
den Usurpator, der mit der Menschheit zerfallen, aber an (
sich edel, in einem kritischen Augenblick sich dem Satan er- /
gibt; der auf dem Schlachtfeld Vergleiche anstellt zwischen
Held und Henker; der sich unwillkürlich doch dem Guten
beugt, damit „Nicht Menschengröße zu der Ohnmacht Spott,
ein Greuel der Tugend werde". Im Yngurd erscheint die
Schicksalsidee gemildert, weniger mechanisch : „Menschen wille
ist doch wohl nur ein Müssen"; aber „es ist des Menschen
höchste Kraft, das frei zu wollen, was er leiden muß". Sehr
starke Einwirkungen hat dieses hervorragendste Drama Müll-
ners im Gothland hinterlassen: in der Mischung von Sage
und Geschichte, in der Exposition, im nordischen Lokalkolorit,
in der aus Natur und seltsamen Himmelserscheinungen schöp-
fenden Bildersprache, in der Art, wie die Nebenpersonen ver-
wandt werden, in der äußeren metrischen Form lassen sich
sehr viele Vergleichspunkte gewinnen. Und endlich ließ auch
die „Albaneserin" aus Bruderliebe Brudermord erwachsen.
Ganz anderer Art als der kräftige Müllner war der
empfindsame Houwald. Tieck beurteilt in der Abendzeitung
1823 Houwalds „Leuchtturm" ziemlich scharf, er selbst sei zu
weich und zu befangen und zu gerührt, aber er erwirbt doch
seine Sympathie wegen des freundlichen und kindlichen Sinnes.
Grabbe aber hat Houwald in seiner Literaturkomödie unter
den Damenschriftstellern weidlich verspottet, und er hat kein
Stück so hergenommen, wie „das Bild". Trotzdem hat er
gelegentlich eine Wendung, einen Vergleich von Houwald über-
nommen, der bei seiner weichlichen Sentimentalität sich doch
an Nordlandsrecken wagt und mit der modischen Vorliebe
für versifizierten Wahnsinn einen Tollen im Aufruhr der
Natur rasen läßt
Romanische Maler wie Houwalds Spinarosa und im
Gegensatz dazu Nordlandsrecken waren aber überhaupt
4*
— 52 -
beliebte Bühnenfiguren. Dieser Kontrast reizte auch den
Dichter des „Don Juan und Paust . Oehlenschläger
hatte gleichen Erfolg. mit seinem „Correggio" wie mit seinen
nordischen Tragödien. Es entbrennt z. B. in „Erich und
Abel", dem Dänenfürsten und schleswigschen Herrscher, ein
Zwist — die unruhige Färbung ihres Zwiegespräches er-
innert an den Dialog zwischen Theodor und Manfred — ;
Lauge Gudmanson, der ränkevolle Staatsmann, stürzt Erich
von der Gallerie, aber Abel ist der eigentliche Brudermörder.
Brudermord gibt es auch in „Palnatocke". Oehlenschläger fand
manche Nachahmer. In Auffenbergs »König Erich" hat
Erich auf der Jagd an seinem Bruder vermeintlichen Mord
begangen; sein Sohn beschließt Rache und verzichtet deshalb
auf seine Geliebte Sigried. Graf Swente Sture, der als Mit-
wisser dieses Geheimnisses ermordet wird, kehrt wieder im
„Gothland", wo ihn Arboga erschlagen hat.
Grabbe las aber nicht nur die Dramen seiner Zeit. Aus
der Heimat Shakespeares wirkten auch andere Geister: O s -
s i a n, der Sänger der schottischen Heide, Walther
!\ Scott, aus dessen gefeierten Romanen z. B. „Kenilworth",
„das Kloster", „der Pirat", Farben in die Ritterszenen des Goth-
land eingeflossen sein können. In Scotts „Pirat" sind Lieder
eingestreut, z. B. von Harald Harfagar. Und hiermit stoßen
wir endlich auf die geschichtliche Quelle, auf die Grabbe
selbst hingewiesen hat: „Mr. Gothland ist in der Handlung
eine Erfindung, obwohl ich, ehe ich ihn begann, aus ange-
borener Liebe nordische Natur und Geschichte studiert hatte.
Es gibt in der nordischen Historie einen Erik Blutaxt —
der möchte in einigen Punkten an Gothland erinnern." Wie
Shakespeare seinen Hamletstoff aus dem Saxo Gramma-
ti cus schöpfte, so Grabbe aus der Heimskringla, die aller-
dings nur erst im Bruchteil ins Deutsche übersetzt war, ehe
Wächter eine vollständige Obersetzung herausgab. Zu diesen
Stücken aber gehörte die Sage von Harald Harfagar. Harald
besiegte den Schwedenkönig Erik, einen Mann von fürchter-
» »
7
— 53 —
licher Gewalttätigkeit — er erschlug z. B. Aki im Walde,
weil er ihm altes Geschirr zum Mahle vorsetzte — in
dem von ihm Gauthland genannten Gebiet. Auf Erik folgte
Björn; in Gauthland ließ Harald Herzog Guthorm zurück.
Harald hatte viele Wöiber und Kinder z. B. Olav, Björn,
Gudrod, sein Lieblingssohn aber war Eirik Blodöx, der Sohn
der Raghild. Der Sohn seines besten Freundes, Rolf, der so
stark war, daß ihn kein Pferd tragen konnte, wurde land-
flüchtig. Eirik fand im Finnenlande Gunhild, die um seinet-
willen ihre Landsleute verriet. Eirik, der Oberkönig zu wer-
den gedachte, war von den eifersüchtigen Brüdern wenig ge-
liebt. Sein Bruder Björn fiel im Streit mit ihm, als Eirik
den Zins für Harald bei ihm holen wollte; ein anderer Bruder
ertrank. Als Harald, 80 jahrig, Eirik zu seinem Nachfolger
bestimmen wollte, brach eine Empörung aus. Halfdan
Schwarze wird von Gunhild vergiftet, Olaf und Sigrid
werden niedergerungen. Nun herrschte Eirik, ein „großer
starker, tapferer Mann, aber auch hitzig, unfreundlich, wenig
äußernd" — neben ihm Gunhild, „schön, weise, verschmitzt,
grimmig". Die Kinder z. B. Guthorm, Harald waren schön
und hoffnungsvoll. Eirik herrschte, bis Hakon von England
kam und ihn verdrängte. — Es ist eine Zeit berserkerhafter
Wildheit, von brutaler Wickingerkraft; durch leidenschaft-
liche Kämpfe mit den Brüdern kommt der Held obenauf.
Den Kern des Gothland bildet die Episode, wie Eirik. den
Bruder — nicht eigentlich ermordet, — sondern im Kampfe
tötet
Der damalige Theatergeschmack sei — um das litera-
rische Milieu vollständig zu umgrenzen, — durch eine Be-
trachtung des freilich einseitig nüchternen „Freimütigen"
(September 1821) gekennzeichnet: „Überall sieht man über-
ladene Effekte statt des Einfachen und Großen; die Reiz-
mittel sind nicht mehr zu überbieten; man hat gleichsam alle
Schrecken der Hölle erschöpft, man hat das Gefühl abge-
müdet und gemartert, sich bis zum lächerlichsten zum Teil
— 54 —
sündhaftesten Unsinn verstiegen und an elende Teufelsbeschwör-
ungen, abgeschmackte Flüche, ja alte Messer, Dolche und
dergleichen, Menschenschicksale zum Hohn der ewigen Liebe
und Gerechtigkeit geknüpft." Orabbe hat diese barbarische
Mode mitgemacht und sich allmählich erst zu lichteren Höhen
erhoben. Aber unter den Erzeugnissen seiner Zeit — gewiß
nicht von absolutem Standpunkt aus — ist der Oothland eine
der originellsten Erscheinungen, die Offenbarung einer wild-
genialen Kraft und ein leidenschaftliches Bekenntnis; wie
jedes Erstlingswerk vom bedeutendem psychologisch-biogra-
phischem Interesse, wie schülerhaft sich auch Orabbe erweist
in der Motivierung, von wie gährender Unreife seine sittliche
Menschenbeurteilung ist und wie wenig er die erdrückende
Fülle der Vorbilder zu meistern vermag; von schlimmeren
Dingen abgesehen. Wenn wir Uns auch die dichterische
Produktion im allgemeinen nicht als ein mechanisches Ar-
beiten nach Vorbildern denken dürfen, so ist dennoch als
literarhistorisches Ideal anzustreben, die Masse der An-
regungen und Einflüsse, die gleichsam chaotisch ungeordnet
in der Seele des Dichters sich häufen, bevor sie in der schöp-
ferischen Tat gestaltet werden, möglichst vollständig uns
zu vergegenwärtigen.
b) Herzog Theodor von Oothland
Der Mensch trägt Adler in dem Haupt
Und steckt mit seinen Füssen in dem Kot.
(Oothland 10.)
„Herzog Theodor von Gothland" geht zurück bis in die
Detmolder Prinumerzeit und nach etwa 5 Jahren wird der
Schöpfungsprozeß am 11. Juni 1822 abgeschlossen. Trotzdem
die Dichtung erst 5 Jahre später veröffentlicht wurde, hat
Orabbe doch keine Umarbeitung mehr vorgenommen. Am
20. Februar 1822 schreibt der Dichter: „mein Stück kommt fast
täglich seiner Beendigung näher; ehe ich es aber verlege,
werde ich es mehreren Theaterdirektionen anbieten; es wird
— 55 ~
mich gewiß sehr berühmt machen". Am 6. Juli wird das
Stück abgeschrieben; am 3. August beschreibt er die Wirkung:
„Mein Werk fällt den Leuten, die es lesen, so recht auf, daß
sie beinahe wirbelicht vor Überraschung werden"; am 2.
September meldet er mit verblüffend naiver Renommage: „das
Stück ist so ausgezeichnet und groß, daß mir alle raten, ich
müßte es nur außerordentlich geistreichen Männern zeigen,
weil das gewöhnliche Volk es nicht verstände". Der ganze
Orabbe aber gibt sich ungeschminkt in der Nachschrift seines
Briefes an Tieck vom 21. September: „Im Bewußtsein, daß
ich etwas Ausgezeichnetes, wenn auch nichts Gutes geleistet
habe, fordere ich Sie auf, mich öffentlich für einen frechen,
erbärmlichen Dichterling zu erklären, wenn Sie mein Trauer-
spiel den Produkten der gewöhnlichen heutigen Dichter ähn-
lich finden." Es ist unglaublich, wie dieser himmelstürmende
Obermensch hier die Blöße, die jeder andere Dichter seinen
Kritikern sorglichst verbergen würde, mit einer prahlerischen
Geste enthüllt: seine wilde Sensationsgier, seine skrupellose
Originalitätssucht, seine herostratischen Gelüste.
Die Namen der Personen hat Arthur Ploch*) für die Quellen-
kenntnis zu verwerten gesucht; ich möchte zur Vervoll-
ständigung noch einzelnes hinzufügen. Der alte Herzog ist
wie der alte Moor ohne Vornamen. Erfunden oder zufällig
sind die Namen Theodor Manfred Friedrich — Cäcilia, Ros-
san; ein Gothland kommt auch in Schillers Warbeck vor.
Aus der Heimskringla mögen stammen Olaf, Björn, Rolf.
Arboga ist der Name einer Stadt und eines Flusses in Schwe-
den, Berdoa eine afrikanische Oase. Gustav mag an Gut-
horm erinnern oder an Gustav Adolf, den Helden eines Gehe-
schen Dramas. Skiold mag von Oehlenschläger Torstens-
skiold und Tocke von Palnatocke sich ableiten. Ein Holm
findet sich in Müllners Schuld und Houwalds Leuchtturm;
Irnak in Werners Attila; Usbek in Bertons „Aline Königin
•) Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Leipzig 1905. S. 110.
Ich fasse die Resultate zusammen.
— 56 -
von Golkonda". Selma stammt direkt von Ossian, oder in-
direkt von Klopstock; schön Ella spielt möglicherweise auf
das Stück des Freischütz-Librettisten Kind an. — Jeden-
falls gibt schon die Buntscheckigkeit dieser Namenszusam-
menstellung einen Begriff von der Absonderlichkeit dieser
Dichtung.
I ,. Der erste Akt führt uns die beiden Gegenspieler vor
und läßt nicht zweifelhaft, wer des anderen Opfer wird.
Sturm an der Ostseekäste: die Finnenflotte naht, die schwe-
dischen Wachen fliehen, örtlichkeit und Exposition mit unterge-
ordneten Personen erinnern an Yngurd. Berdoas Charakter wird
entwickelt im Monolog und Dialog, in vorbereitendem und unter-
brechendem Gespräch der Finnenführer, von denen Usbek
und Irnak höher stehen als Rossan, die glatte Schlange, die
neidgelbe Katze. Wie Bestien fallen sie sich einander an und
der Urtrieb ihres Wesens enthüllt sich in einer einzigen wilden
Gebärde. Der blutbefleckte Neger wird in einem möglichst
krassen zugespitzten Moment vorgeführt, in Todesangst
schreiend und dabei doch in den Instinkten Rachsucht und
Haß entbrennend, ein sterbender Gotteslästerer. Daß ihn ge-
rade jetzt der schwedische Gesandte Holm erreicht, war müh-
sam genug zu motivieren, und der Kritiker stellt die Frage,
die Grabbe höchst verschmitzt dem Mohren in den Mund legt:
„Reiten des Königs Boten mit dem Winde?" Der Gesandte
fragt: „W a s führte Euch her?" und der Mohr antwortet mit
einer äußerlich wie innerlich unmöglichen Logik: „Gott — a
also mit einer ausgesuchten Gotteslästerung. Auf dieser
tollen Logik bauen sich die wildesten Kontraste auf. Mahnt
Holm den Mohren, angesichts des Todes in sich zu gehen,
oder erinnert er ihn an seine Schwachheit, so gibt dieser alsbald
einen Kraftbeweis von besonderer Brutalität. Holm wird
von Berdoa angesteckt und das diplomatische Gespräch wird
zu einem wüsten Gezanke. An den Balken, den die feigen Pfaffen
auf Berdoas Brust sandten, klammert sich Grabbe - Ber-
doas merkwürdige Dialektik; er dient auch als Obergang
■M^^V
- 57 —
zum Hauptthema: Holm beweist, daß die Schweden nicht
feige sind und kommt so auf Oothland. Es ist ein technischer
Kunstgriff, den Orabbe öfters anwendet, mag er ihn nun
Shakespeare oder Kleist abgelauscht haben: Ein Hauptbe-
griff wird aufgehalten durch allerlei Einwürfe und Zwischen-
reden, bis dann das gefürchtete Wort um so nachdrücklicher
emporschnellt.
Holm: vergaßest Du den Herzog Gothland? Berdoa: schweig! —
Holm: Erinnere Dich, wie Herzog Theodor von Gothland
Dich in der Schlacht ergriff — Berdoa: hör auf! Holm: — er ließ
Dich peitschen! — Berdoa: wen? Holm: Dich ließ er peitschen! —
Berdoa: Rache!
Wenn nun Berdoa wünscht: seine Arme sollen zu Schlangen
werden, die den Tiger umfassen, so ist das Thema for-
muliert. Der Keim des ganzen Dramas liegt in den ganz
unvermittelten blitzartig aufzuckenden Worten des Mohren,
der die stimmungsvoll geschilderte Gothlandsburg ins Auge
faßt: „Hat Theodor von Gothland Brüder?" — „große Liebe,
großer Haß!" Man entsinnt sich einer ähnlichen Szene in
Shakespeares Macbeth, in der der rachesuchende Macduff
fragt: Hat er Kinder? — In afrikanischer Farbenglut kreischt
das Rachebrunstmotiv des Mohren auf. ~7
Das ist nicht die Sprache eines Müllner, das erinnert eher 7
an den „Löwenblutsäufer" Klinger, an den wildesten Shake- s
speare, den Voltaire einen „trunkenen Wilden" nannte — aber
man hat auch immer wieder auf eine verwilderte Schauer-
romantik, auf Spieß, Kramer, Schlenkert u. a. hingewiesen, deren \
Lektüre aber nicht nachweisbar ist. Und die Mitgift der Mutter, 1
der dunkle Ursprung, die Zuchthausreminiscenzen erfüllen die
eine an niedern Trieben reiche Seele, die in Grabbes zwie-
spältigem Doppel-Ich mit der andern nach einem großen Da-
seinsinhalt ringenden in ewig unversöhnlichem Streite liegt.
Der erworbene und der angeborne Charakter sind nie zu einem
einheitlichen Organismus zusammengewachsen und dem ent-
sprechend steht das verstiegenste Pathos neben den rohesten
— 58 —
Ausbrächen der Sinnlichkeit Man muß Außerungsweise und
ursprüngliche Potenz unterscheiden. Wie widerlich auch einem
gereiften Geschmack ein so unerhört roher Naturalismus er-
scheinen muß, der uns in dem Mohren eine mit aulgerissenen
Nüstern Dampf des Europäerbluts einschnaubende zähneflet-
schende Bestie karrikiert und uns auch die Hunde nicht er-
spart, die den Pfuhl vom Abschaum seines Blutes lecken, es
offenbart sich trotzdem eine ungekünstelte brutale Kraft in der
Darstellung der Urinstinkte einer verwilderten Mensch-
heit. Neben dieser Ur kraft fällt auf eine sonderbar pro-
portionierte Gedankeneotwicklung, eine verzerrte aber nicht
sinnlose Dialektik: diese rapiden Entwicklungen, die sich in Eile
überschlagenden, pfiffig klügelnden Argumentationen; blitzartig
schießt ein unbeachtetes Moment hervor, woran sich
je ein Glied nach dem anderen ankettet, bis dann die
Grundidee sich urplötzlich enthüllt. Dabei werden im
Fluge wichtige Probleme berührt. Was den Streit so unver-
söhnlich macht und die Einführung eines Mohren anstatt des
Finnen erklärt, das ist die Rassenfrage. Grabbe sagte in
seiner brieflichen Selbstrezension (28. 12. 1827) : „die Tra-
gödie eines Negers mit dem Herzoge Gothland, dem
Repräsentanten der Europäer. Der Neger ist mit
Farben gezeichnet schwarz wie er selbst, und Gothland, ein
kühner aber schwacher Mensch erstarrt endlich zu einem
Bösewicht, der den Neger noch überbietet. — Mit dem Neger
weht ein wahrer Samum verheerend durch das Stück, der
alles Gemütliche und Reinmenschliche darin zerstört." —
Man hat auf die Vorbilder bei Schiller und Shakespeare
hingewiesen. Piper will in Berdoa Franz Moor und Herr-
mann wiedererkennen. Von Othello hat Berdoa nur die Tapfer-
keit, viel mehr erinnert der ahnungslose Gothland an ihn.
Analysiert man Berdoa, so findet man Bestandteile von Aaron
und Jago, von Gloster, von Richard III. und von Franz Moor.
Grabbe leugnet es zwar in seinem Originalitätsstolz ab,
aber Titus Adronicus mit seinen Greueln, die allerdings
— 59 —
Shakespeare nicht erfunden hat, ist sehr ähnlichen Geistes:
hier wie dort roh zugehauene Handlung, gehäufte Effekte;
ein schauerlicher Triumphchor der Rache; derselbe Zeitgeist:
wilde Handlungen werden plötzlich ausgeführt von furchtbaren
Menschen, impulsiv und gefühllos. Aaron spottet über das
Gewissen und es tut ihm zuletzt nur leid, nicht noch mehr
Böses getan zu haben. Auch hier der Gegensatz? der Rasse
(IV 2): „Ihr weiß getünchten Wände, ihr Bierhausschilder
kohlschwarz besieget jede andere Farbe." Aber Berdoa über-
trumpft ihn:
»Und klaglich wie ihr Europaer so schnell denen
Das dörre Fleisch auf dürren Knochen hängt,
Als hinge es am Pranger! deren Haut
Ein Sonnenstrahl zerschindet; die im Gesicht
Die Blässe der Verwesung tragen — «
Aaron ist eine Vorstudie zu Jago — Grabbes Gegner
behaupten, er habe nur große Vorbilder studiert und dann
zur Karrikatur verzerrt, er sei keine Leuchte, die aus eigener
Inbrunst sich nähre, sondern er müsse Licht anderswoher
borgen. Die Sache verhält sich aber doch anders. In Grab-
bes Faust-Monolog heißt es: Raubtier wird man, blos um
sich zu nähren!
Empfindungen Gedanken — Herzen, Seelen —
Den Menschen und das Leben — Welt und Götter —
Ergreift es und erwürgt es sich zur Beute,
Und schreit vor Zorn und Hunger, wenn esjcaura
Zehn Tropfen Bluts in ihren Adern findet.«
Grabbe ha&e das Raubtiertemperament, so ursprünglich und
roh wie möglich; aber er berauscht sich gleichsam erst an
fremdem Blut und in solcher Besessenheit gebiert er seine
Geschöpfe, die sein eigen sind. Nachträglich kommt ihm
die unglückliche Idee, alle möglichen Reminiszenzen aufzu-
pfropfen; er verdirbt sich dann durch Häufung und Ober-
fülle die Wirkung und gerät in falschen Verdacht.
In der zweiten Szene kommen bereits die Gegner an- 1 2.
einander. Die Technik, die zeigt, daß Grabbe an die Auf-
7
- fiO -
führung dachte, ist sehr einfach: Oothland kommt und geht
und während die Bühne leer ist, erscheint Berdoa. Der Dich-
ter hat nicht Zeit den Charakter Oothlands durch Dialog und
Handlung zu explizieren, und so muß er sich denn zweimal
durch einen Monolog selbst charakterisieren, nachdem als
kurzer Auftakt — wie oft bei Grabbe — ein Gespräch mit
dem treuen Erich, der wohlbekannten Figur des Burgvogtes
— man mag an Schillers Daniel denken — voraufgegangen.
Das Mittel des Monologs hat ja allerdings auch Shakespeare
z. B. im Eingang seines Richard III. und Schiller nicht ver-
schmäht. Es erklingt denn auch zunächst wie eine Schiller-
sche Hymne auf Freundschaft und Bruderliebe, wobei einige
Reminiszenzen an die Albaneserin mitschwingen mögen. Zwei
Ereignisse treffen zusammen und der Bote des Bruders ist
da. Er darf aber — man sieht warum — erst nach dem
Monolog vorgelassen werden und meldet den unerwarteten
Tod des Bruders. Grabbe versucht in die Verwendung des
Lokaloolorits eine tiefere Natursymbolik hereinzulegen. Die
herbstliche Naturbetrachtung könnte versöhnlich wirken: Ster-
ben ist natürlich und daher nur beklagenswert. Die Angst
des Naturmenschen vor dem Tode ist ein
Stimmungsmoment, das durch das ganze
Stück hindurchgeht. Wehrte sich schon Ber-
l doa wie ein Rasender gegen das Sterbenmüssen, so
schlägt die Stimmung des edlen Oothlands ganz unmotiviert
in Wut um. Wir haben hier die handgreiflichsten Beispiele
von Antizipierungen, die der Technik des Anfängers eigen
sind. „Das ist ein Banditenstreich des Todes!" „Manfred ist
tot, Du lebst" — „entschuldige Dein Dasein ! Auch der Himmel
mordet!" In so explosiver Verfassung verzieht sich in Anti-
these und Klimax eine Entwicklung, die zuletzt den Stachel
des Argwohns emportreibt. Gothland fragt Rolf aus und
schon argwöhnisch, greift er einzelne Worte heraus und gibt
ihnen einen eigentümlich pointierten Sinn.
- 61 -
Die Motivierung wird immer abenteuerlicher. Berdoa und
Irnak treten auf, sie hoffen auf einen Konflikt der Bruder, und
ein solcher Konflikt ist vorhanden. Sieht man von der Un-
möglichkeit der Voraussetzungen ab, so frappiert die ver-
wegene Konsequenz, mit der Berdoa Rolf ausholt und wie
sein spitzbübisches Genie triumphiert, so daß der Bruderzwist
ihm wie eine reife Frucht in den Schoß fällt. Man kann für
den Augenblick vergessen, daß die Ausfragerei erst ihren Sinn
durch die Schlußpointe erhält: durch das merkwürdige Ver-
halten Theodors. Gothland ist schon argwohnisch, mehr ver-
zweifelt und zornig als traurig, — so verlaufen ähnliche Ge-
fühle beim Dichter selbst — wenn ihn Cäcilia auf die christ-
lichen Trostgründe verweist und auf die Vorsehung, die nichts
Böses zuläßt. Aber wenn sie, drohendes Unheil ahnungsvoll
beschwörend, abgeht, hat sie gerade den Schicksalsglauben
verhängnisvoll gestärkt. So ist es in Grabbes Welt: das
Gute verkehrt sich in Unheil und die Schlechten haben das
unverhoffteste Glück. Der Mohr wagt die unglaubliche Toll-
heit, den in Ossianische Träumereien versunkenen, in seinem
Glauben an das Gute erschütterten Gothland um Gastrecht
zu bitten. Das gereizte unruhige Gerede gipfelt in Berdoas
Trumpf: „Manfred ward erschlagen ! a und in den Lakonismen
Gothland: „Manfred starb in Friedrichs Armen!" Berdoa:
„in? durch!* 4 — Gothland: „Weltempörung! was sagst Du? —
Berdoa: „durch!" Ein schwärmerischer Idealist und eine ge-
walttätige Berserkernatur — dieses in tollen Extremen schwan-
kende, wie Grabbe aus naturalistisch rohen und theoretisch-
pathetisch-idealistischen Momenten zusammengewürfelte Dop-
pel-Ich wird zusammengehalten durch den Vergeltungsge-
danken. Der Idealist wird durch seinen feurigen Rechtsglauben
aus dem Geleise geworfen, die Bestie aber kann mit zucken-
dem Arm und mit rollender Faust rufen: „Seele, freu Dich!
nun kann ich wenigstens ihn rächen, süß ist die Rache." Der
Idealist wäre für Berdoa nicht zugänglich gewesen, sondern
nur seine Karrikatur. GothLands Verblendung und Unüber-
— 62 —
legtheit soll aber noch einen tieferen Grund haben: der sünd-
hafte Mensch glaubt lieber das Böse als das Oute; in dieser
Unklarheit liegt .für .Berdoa die Möglichkeit des letzten
Trumpfes. Bei ganz wahnwitziger Psychologie öffnen sich doch
verborgene Tiefen der Motivierung. Gleich Karl Moor, da er
Franzens Brief liest, ist Gothland in dem Glauben an die
Menschen erschüttert; wie Yngurd läßt er den Satan in das
gewölbte Haus seiner Brust einziehen. Die Flucht der Ge-
danken, die durch sein inneres branden, spitzt sich zu in dem
Stichwort: Brudermord will Brudermord I — Welches Motiv
aber der Brudermord haben soll und welchen Erfolg die Be-
schwörungen der Gattin und Eriks erreichen würden, ist nicht
abzusehen. Möglicherweise liegt ein Gallimathias zugrunde,
eine der aufgepfropften Reminiszenzen, die hier falsch ange-
wendet ist, womit allerdings der denkbar schlimmste Vorwurf
gegen den Dichter ausgesprochen würde.
Im Dom zu Nortal gibt Berdoa für seinen Haß gegen die
Weißen — er ist ein Teufel aus angeborener Lust am Bösen
und die Peitschung würde schon Motiv genug sein — noch
eine neue Begründung durch eine Erzählung, die an Lord
Byron erinnert. Die scheußliche Leichenschändung erfolgt
zwar hinter der Szene, aber wir müssen ihre Wirkung wieder-
holt erleben. Eine szenische Bemerkung malt Gothland —
Karl Moor an der Gruft des Alten, Fiesco an Leonorens
Leiche — : ohne Fackel, sein bloßes Schwert in der Hand, das
Gesicht von Schrecken und Zorn entstellt, die Augen rollend.
Es ist wie das Titelbild eines Schauerromans. Der Dichter
scheint nun das Schwarze in dunkeln Schatten abstufen und nuan-
cieren zu wollen und gleichzeitig nach Kontrasten zu suchen,
wie sie toller nicht gedacht werden können. Man fühlt sich bei
dem grauenhaft grotesken Humor oft an die amerikanischen
Exzentric-Komiker erinnert; eine Szene mit einem derart
ungeheuerlichen Kontrast, wie diese, in der Gothland auf
dem Gipfel der Verblendung seinen Todfeind umarmt, in dem
er den infernalischen Kannibalen einen zwar rohen und wil-
- 63 -
den, aber doch milden Sohn der kräftigen Natur nennt, konnte
nur Grabbe schreiben. Die psychologische Wahrheit, daß,
wenn uns etwa ein guter Freund verrät, auch ein sonst wider«
licher Mensch wertvoll wird, soll aus dieser verrückten Karri-
katur, in der die Tragik ins Burleske überschlägt — erkannt
werden. Schauderhafte Wirkungen erreicht Grabbe wieder
durch den schon bekannten technischen Kunstgriff —
Berdoa: seyn Haupt —
Gothland: Sey still davon! — Berdoa: seyn Haupt! — Gothland: Bei
deiner Zunge
Sprich Eins nicht aus! — Berdoa: — an seynem nackten Haupte,
Das seyne Locken schon verlor, die Spur von —
Gothland: Hör' auf mir zu erzählen, was ich weiß!
Ich sah ja selbst, wie ihm — Berdoa: das stolze Haupt
Zerschmettert ist vom Mörderbeil!
Noch gräßlicher wirkt die Folter, dieser seelische Sa-
dismus, der einen grauenvollen Einblick in die pathologische
Psyche gewährt — wenngleich es sich auch hier nur um ein ver-
wildertes Extrem einer echt tragischen Grausamkeit handelt —
in dem folgenden Dialogstück, in dem sich die rethorischen
Figuren (Klimax, Paradoxon, Litotes) häufen — Gothland:
„ward ermordet!" Rolf: „nein, er ward nicht ermordet — a Goth-
land (froh) : „nicht? — a Rolf (mit Schadenfreude) : „er ward
geschlachtet!" Man erwäge, welche Rolle bei Grabbe das
Lachen (aus Hohn, aus Verzweiflung, aus Grausamkeits~ /
wollust) spielt, und man stößt auf die Wurzel seiner Ver- ;
kehrung. Rolfs effektvolle Erzählung klingt an Macbeth, mehr '
aber noch an den 24. Februar an. Berdoa stachelt ihn und ~
er geht mit höchster Kühnheit und Verwegenheit vor. Noch
kann der Trug enthüllt werden und man sollte meinen, der
Mohr würde schmeicheln und zittern. Aber Gothland ver-
sperrt sich selbst den Weg. Es ist eine Häufung von tra-
gischer Ironie. Noch einmal hängt alles in der Schwebe, als
Gothland in unmotivierter Plötzlichkeit Rolf in die Gruft wirft,
während Berdoa kein Fingerchen rührt, ihn zu retten. Das '
wilde Zickzack dieser tollen, auf die Spitze getriebenen Dia-
s
- 64 —
lektik sollte doch nicht die intensive Steigerung und Kraft bei
diesem Primaner verkennen lassen. Die Bosheit triumphiert
auf der ganzen Linie und der Ehrliche steht verhöhnt und
lächerlich da.
Nachdem das Motiv der Verblendung aus-
geschöpft und Gothland-Othello das Opfer Berdoa-Jagos
geworden ist, wird ein anderer Zug der Hand-
lung fortgesetzt. Der wilde triebhafte Oothland wird wieder
vernünftig und korrekt: er, der sich eben an Rolf gerächt hat,
will sich nicht rächen, er der bereits am Himmel verzweifelt,
will das Gericht anrufen: Gerechtigkeit — und wenn derWelt-
^ bau bricht! Er erscheint als westfälische Kohlhas-Natur. Aber
Kohlhas ist in seiner persönlichen Ehre verletzt; Karl Moor
wird von seinem Bruder verstoßen; hier aber ist doch nur
ein Dritter das Opfer. — Wenn die Unmöglichkeit der Moti-
vierung, die psychologischen Ungeheuerlichkeiten, die Häu-
fungen in dieser immer wieder umgearbeiteten und erweiterten
Tragödie, die Schiefheiten und Fehler der Entwickelungen den
Anfänger deutlich verraten, so blitzen doch hinter der Karri-
katur höchst originelle Züge in der Zeichnung des Mohren
auf; wilde, rohe Kraft paart sich mit einem diabolischen
Hyänen witz.
II i. 2. Der zweite Akt enthält das Gericht. Ein Auftakt moti-
viert, warum Arboga, das blutrünstige Scheusal, das grinsend
seinen Mord an Sture zugibt, später zu Gothland abfällt. Wie-
der ist bei der Zeichnung des Kanzlers das Schwanken zwi-
schen übermäßigem Gefühl und unmäßiger Tierheit, zwischen
Reflexion und Natur charakteristisch. Das doppelzüngige Hin-
und Her mit dem hastig lauernden Kolorit in dem Gespräche,
zwischen dem arglosen Kanzler und dem mit Argwohn ge-
ladenen Theodor — man denkt an dieKleistsche Müßverst&ndnis-
tragödie — ist noch nicht zu Ende, als der König naht.
Auch hier täuscht uns Grabbe mit einer absichtlich unruhigen
Dialektik über die Unnatürlichkeit der Fabel, in der gerade
geschieht, was bei natürlicher Besonnenheit nicht geschehen
— G5 —
würde. Die Fäden verwirren sich vollständig, weil Orabbe
wieder zuviel gewollt hat Der Kanzler und Holm könnten
den ganzen Trug zerstören, wenn man sie zu Worte
kommen ließe. Eine Kette von schweren Verdachtsgründen
— aber nur ein schlechter Zeuge. Die Sache fällt Es ist ge-
wissermaßen eine Korrektur zu Gothland: dieser läßt sich
von Berdoa unglaublich täuschen, der Idealist aber durchschaut
Berdoa ebenso grundlos; der Oute erkennt das Böse ohne Be-
weise, der Sundige glaubt dem Bösen allzuleicht Ein anderes-
Urteil des Königs paßt nicht in den Plan und doch darf er
wieder nicht ganz ungerecht erscheinen; aber auch Gothland
soll nicht nur Brudermörder werden, er muß sich auch mit
der Staatsgewalt fiberwerfen. Denn Orabbe will außer
einer Familientragödie — in maßloser Häufung, aber auch
mit Erschleichung des Hohen, den Schein des Tiefsinns vor-
täuschend — noch eine Haupt- und Staatsaktion weiterfuhren;
deshalb wird für den Idealisten in Gothland in aller Eile
noch ein Problem aufgeworfen: „Erdenkönige sind Menschen
und wollen Götter spielen!" Um so mehr gerät Gothland ganz
in den Bann seines Mephisto; an die Tränen Berdoas glaubte
er, aber des Bruders Weichheit erscheint ihm als Heuchelei,
und wie wilde Tiere fallen sich beide an. — Die Tra-
gödie der Verkehrung: der rechtsuchende Ankläger
wird der Verurteilte und Theodor steht als Brudermörder und
Verräter da. Die naheliegendsten Aufklärungen unterbleiben
in höchst verhängnisvoller Weise. Durch eine Kette unerhörter
Mißverständnisse ist Gothland, der vergebens auf gesetzlichem
Wege Recht suchte, außerhalb der natürlichen Ordnung ge-
drängt. Das passiert dem Mann mit dem peinlichsten Recht-
gefühl, der nun zur Blutrache sich entschließt — in einem
Monolog, in dem die Gedanken Karl Moors wie die Bekennt-
nisse der sich befreienden Schweizereidgenossen und das bib-
lische »Auge um Auge" deutlich wiederzuerkennen sind. Nun
ist die Auffassung der Blutrache widerspruchsvoll: für die
Finnen ist sie ein Recht, aber die Schweden stehen auf einer
Nieten, Chr. D. Orabbe. 5
- 66 —
höheren Kulturstufe. Dennoch erkennt der alte Gothland, der
sich Theodor versagte und sich um Friedrich nicht weiter ge-
kümmert hat, die Pflicht der Blutrache an, als Theodor den
Kanzler im Duell getötet hat. Die furchtbaren Fehler dieser
gewaltsamen Motivierung sucht Orabbe durch ihm eigentum-
liche Mittel abzuhelfen: durch Arbogas Einwände, durch des
sterbenden Kanzlers Bekenntnis seiner Unschuld u. a. Goth-
land wird nun gebannt — in einer Szene, in der mit den Stür-
mern und Drängern in alttestamentlicher Sprache das Band
zwischen Vater und Sohn zerrissen wird. Der alte Gothland
hat eine lange Ahnenreihe, aus der als letzter Müllners Basil
hervorgehoben sei. Die eigenen Töne werden fast ganz durch
Reminiszenzen erdrückt. — Wie einfach nimmt sich die Expo-
sition einer „Ahnfrau", einer „Familie Schroffenstein" gegen-
über dem komplizierten Stufenbau dieses in Widersprüchen
auseinanderklaffenden Fundamentes aus!
III 1. Man sollte nun annehmen, daß der weitere Verlauf der
Tragödie nach der allmählichen Enthüllung die Sühne Goth-
lands brächte, — diese Enthüllung erfolgt ganz plötzlich und
ohne Vorbereitung. Gothland ist, da er sich mit Berdoa ein-
ließ, fast wider Willen — wie Wallenstein, oder auch wie
Coriolan — zum Verräter geworden und zu den Finnen ge-
gangen, ohne daß man sieht, was Berdoas Rachsucht davon
hat. Rolf ist den Schlangen des Grabgewölbes und dem Hunger-
tod entronnen und erzählt nun aus Gewissensbissen Gothland
die Wahrheit, obwohl er dadurch seinen Tod — Gothland han-
delt wie Othello — provoziert; im Grunde ist er ein Opfer
Berdoas, dem gleich zu werden er nicht schurkisch genug ist;
ein verhängnisvolles: Zu spät! Es tobt nun im Innern Goth-
lands eine Schlacht, die eine Strecke von 350 Versen aus-
füllt; er benutzt eine gefährliche Lage, um die Finnen zu
verdrängen und sich selbst an die Heeresspitze zu bringen;
zu seinen ersten Feinden gehört der greise Vater; während
er aber noch nicht wagt, das Leben des greisen Er-
- 67 —
zeugers anzutasten, setzt Berdoa sein Rachewerk fort, indem
er Qothlands Sohn Gustav verdirbt.
Es ist ein monströses Unikum — diese Szene, die fast
dem Umfang von zwei Akten in späteren Stücken gleichkommt.
Man vergleiche die wortreichen Rasereien dieser ausschwei-
fenden Phantastik mit den Lakonismen des späteren Orabbe.
Suchen wir einen Pfad durch diesen Urwald mit seiner tro-
pischen Bilderfülle. — Gothland steht an einer Sonnenwende,
während ein Ozean von Schmerz in ihm brandet. „Höchst
gerecht glaubt ich zu handeln und ermordete den frevelfreien
Bruder!" Nun stoßen wir auf das Grundthema: Wie sühnt
man Schuld? durch Beten und Büßen? Nimmermehr I darum
kann er nicht bereuen: der Neger, der Zufall, das Geschick
sind daran Schuld. Die Sophistik des Trugschlusses ist sehr
durchsichtig; der Neger ist Schuld und niemand anders. —
Auch der Protestant Oerindur, bei dem die Sache anders liegt,
verschmäit den Trost der Kirche: ein Wort erlöst nicht
Müllners Hugo denkt anfangs ans Schaff ot wie Karl Moor;
weiter: sich durch Taten zu entladen, durch Hochverrat und
Völkermord; zuletzt stirbt er durch Selbstmord. Aber auch
er hat — mit etwas mehr Grund — die Entschuldigung: „ich
bin bös nicht von Natur, wahrlich nicht, allein das Schicksal,
führt auf böse Wege mich!"
Gothland — Grabbe lehnt die Lösung Müllners und Schiller
ab. Er will jetzt bleiben, was er ist, will sich wie Richard III.
auswirken, wie ihn das Schicksal geschaffen hat Der Malstrom,
den niemand überwindet, hat ihn an den Strand der Hölle se-
tragen. Wenn aber das Geschick ihn so gemacht hat, m
er in seinem Schicksal das Walten des Weltgesetzes erblicken;
so betäubt er sein Gewissen, indem er die Sterne für seine
Schuld verantwortlich macht. Nun hat Grabbe das Thema ge-
funden, daran sich seine Verbitterung und Enttäuschung aus-
rasen kann. Und nun folgt unter Donner, Meeresrauschen,
Sturmgeheul und Kriegsmusik in wild leidenschaftlicher Dekla-
mation die toll großartige Wel tv er wün s c h u n g, während der
-. 68 —
Mohr hohnlachender Zeuge ist und die Rachewollust Berdoas
diesem „Konzert der Verzweiflung" noch eine besonders
schauervolle Intensität leiht Der letztere Effekt ist Orabbe eigen.
Der Mensch ist beschränkt an Qeist und Herz geschaffen
oder — wie Oothland — mit Verblendung geschlagen, weil
er des Bösen Beute werden soll. Es gibt keinen gütigen Gott,
allmächtiger Wahnsinn regiert die Welt und allmächtige Bos-
heit lenkt den Erdkreis; Verzweiflung ist der wahre Gottes-
dienst In Wahnsinn und Dummheit verblendet, mit rag*
messener Schmerzfähigkeit ausgestattet, irrt der Mensch durch
das Leben und darnach erwartet ihn die Hölle mit ihren
Martern. Alles Leben lebt vom Mord. Es ist, als ob man
ein Kapitel aus Schopenhauer läse, und man hat darauf auf-
merksam gemacht, daß die „Welt als Wille und Vorstellung"
ungefähr gleichzeitig entstanden ist Die verstiegene Meta-
physik des Renegaten der Theologie verschafft sich anders
Ausdruck als die Wut des verzweifelten Gothlands, dem die
Natur sich zu Fratzen und Grimassen verzerrt; der Himmels-
bogen erscheint als riesiges Henkerrad, die Sonne als eiternde
Pestbeule grinst höhnisch, wenn sie ihre Mordmilch vergibt
/Das persönliche Pathos klingt hindurch, es ist die radikalste
r*~ttonsequenz des grausamen Schicksalsbegriffs der damaligen
Dramatik; der Gehalt aller pessimistischen Dichtungen der
Weltliteratur soll hier konzentriert werden: der rasende Lear
auf der Heide; Karl Moors wilde Verzweiflung über die
elende Krokodilbrut; und auch Fausts Fluch: „Ausgelöscht
die Leuchttürme des Lebens — Liebe, Hoffnung, Ruhm, Tu-
gend — sie sind der Tränen nicht wert." Wie muß es in
dieser Seele ausgesehen haben, aus deren nachtdüsteren Tiefen
ein solches Pandämonium, eine solche Religion des Pansa-
tanismus, eine - solche Götzendämmerungs - Phantasie ge-
boren wurde! Wessen Gram so voll Emphase ertönt, wer so
mit satanischer Logik alles Tröstende bis zum letzten Rest
auflösen, wer mit so zynischer Erdgeistgesinnung sein reli-
giöses Sehnen, sein metaphysisches Bedürfnis zu zerstören
— 69 -
vermag, dessen Inneres muß von grellen Dissonanzen zerrissen
in einem Zerstörungsprozeß sich dahin verirren, wo kein
Lichtstrahl mehr hindringt und wo die Nacht des Wahn-
sinns dämmert. Diese wimmernden Naturlaute, dieses ver-
zweifelte Aufschreien in höchster Angst, diese wilden Schmerz-
akzente, sie offenbaren eine nach innen gerichtete Grausam-
keit, eine raffinierte Wollust der Selbstzerfleischung, die in
einer totkranken Seele zuckt. Man denkt an Tiecks Warnung:
dem Zerstörungsprozeß des Lebens nachzugeben, der sich
unter der Maske der geborenen Feindin, der Poesie, aufdringt.
Dabei überschlägt sich der Schmerz in konvulsivischen Zuckun-
gen, in epileptischen Krämpfen. Wir haben Vergleiche von
einer kühnen Kraft und einer prachtvollen Plastik, wie sie
Orabbe später nie mehr so gelungen sind, z. B«:
Du Himmel darfst mich nicht verdammen,
Du selber schmiedest aus des Sommers Flammen,
Dicht unter Deinem blau gewölbten Sitz,
Den schwefelsprühenden Blitzt
Du tust ihn an mit rotem Prachtgefieder,
Du lehrst ihn seine Donnerlieder,
Du leihst ihm turmeinschmetternde Gewalt,
Räumst ihm das Weltrund zum Versengen ein —
Da flammt die Stadt, die Feuerglocke schallt,
Und lachend jauchzt der Donner hinterdrein!
Daneben die ungeheuerlichsten Verzerrungen, die verrück«
testen Kombinationen, die an die Fieberphantasien eines Ver-
gifteten erinnern:
Ei! mordet jene schwörende, gift-
geschwollene, aufgebrochene, eiternde
Pestbeule, die Ihr Sonne nennt — nicht auch?
und zärtlich wie 'ne Mutter, brütet sie
die lieben Krokodile aus den Eiern.
(Übrigens fällt Gothland dabei ganz aus der Rolle. Denn
dieses Bild paßt auch nur wie das „Brandmal der Sahara a
für Berdoa und gehört nach Afrika und nicht nach Norwegen.)
— 70 -
— Der ungeheure Flug erlahmt plötzlich und es folgt ein Nie-
derstürzen in den tiefsten Kot; die gewaltigen in die Höhe
strebenden Linien zerfließen und zerbrechen und ringeln sich
in seltsam grotesken Gebilden; die Metaphysik der Sünde
verbindet abstrakte Verstiegenheit mit Zuchthauserinnerungen;
der Adler wühlt in Würmern; das Gleichnis vom kreisenden
Berg und den winzigen Mäuschen wird ins Bizarre gewendet.
Ganz unmöglich, absonderlich berührt dabei die literarische
Anspielung, die den Gegensatz «des antiken und modernen
Schicksals gegenüberstellt „Unnatürliche Laster, künstliche
Reflexionen, schwächlich verzerrte Naturen a sind nach Wolf-
gang Menzel (Morgenblatt 1826) die Signatur der neueren
Tragödie, von der Grabbe in so weit keine Ausnahme bildet.
Wenn aber Menzel weiter fordert: „am Schuldigen müssen wir
die kühne Größe, bei dem Opfer den Wert bewundern" und
das Große und Schöne bei dem Wirt in Werners 24. Februar oder
bei dem Schwächling Oerindur vermißt, so ragt der Gothland-
dichter über seine Konkurrenten hervor. Hier eröffnet sich Grabbe
eine neue Welt, deren Obereinstimmung mit modernen Ten-
denzen wir umsomehr hervorheben müssen, weil Grabbe nach
Abbruch aller theologischen Beziehungen, nach Verleugnen des
theologischen Vorsehungsglaubens eine neue Moral sucht, die
den ethischen Kern aller seiner Helden bis zu einem gewissen
Zeitpunkt umschließt. Resignation war keine Lösung für einen
energisch wollenden revolutionären Charakter. Der große Ver-
brecher fühlt die Kraft in sich, statt die Schuld durch den Tod
reuig zu sühnen, sich trotzig auf sich selbst zu stellen. Schon
Kliqger hatte das Entmannende des Schicksalsbegriffes schließ-
lich abgewehrt, aber er hatte einen Weg ins Menschliche gefun-
den. Bei Grabbe aber kommt der starre Trotz, die riesenhafte
Widerspenstigkeit seines inneren Wesens zum Vorschein. Denn
er ist einer, der in der Welt nicht zurecht kommt und der
sich doch nicht unterkriegen lassen will. Der Zuchtmeisters-
sohn hatte Einblicke in das Seelenleben manches Verbrechers,
manches Geächteten der Gesellschaft getan und vermochte sich
- 71 —
darin einzufühlen. Auch ihm ward die Versöhnung mit dem
Leben versagt und so sucht er in verwegener Konsequenz
und fanatischer Einseitigkeit Befriedigung. Orabbe wagt sich,
nachdem er in der Exposition Brudermord (Sturm und Drang) ,
Rechtsverletzung (Kohlhas), Verblendung (Othello), als tra-
gische Motive berührt hat, an ein neues Problem, das tra-
gische Problem an sich: mit der Ehrlichkeit kommt man in
dieser Welt der Bösheit und Dummheit nicht aus; passiv
leiden unter dem Geschick ist die religiöse Weisheit; Moral
und Religion lehnt er ab, weil er über seinem Unglück den
Glauben verlor. Die innere Größe will er durch die äußere
ersetzen; das Rachemotiv tritt zurück« Grabbe hat scharfe
Formulierungen und neue Gesichtspunkte, die aber aus einem
verworrenen Wust von unglaublichen Motivierungen und
Widersprüchen herausgelesen werden müssen. Der psy-
chische Zerstorungsprozeß eines früher edlen, vom Schicksal
betrogenen glaubenslosen Menschen, konnte die eigenen Lebens-
erfahrungen und religiösen Kämpfe am besten veranschaulichen.
Um diesen mehr gedanklich novellistischen Vorwurf drama-
tisch auszugestalten, bedurfte es weiterhin Berdoas und einer
Nebenhandlung, deren Held Gustav ist Der Portschritt des
inneren Zerstörungsprozesses wird durch retardierende Momente
aufgehalten; Gothland fühlt sein „zerrissenes Herz" im Auf-
tauchen flüchtiger Rührung: „oh, hier sind traurige Ruinen." Er
läßt den Vater leben in einer Szene, die an Hildebrand und Hadu-
brand und wieder an Ossian erinnert; und dabei werden
gleichzeitig Franz Moorsche Zynismen über Kinderzeugung
eingeflochten. Er verdrängt Berdoa durch allerhand Verräte-
reien und durch eine Rede, die Berdoa nach Art Richards III.
durch Trommeln zu übertäuben sucht. Er gewinnt das Spiel,
aber Berdoas Ohnmacht stimmt den Pöbel wieder mitleidig
und Gothland läßt ihn nach einer drollig spitzbübigen Logik
aus Großmut leben. Dieses Aufschieben auf geringfügige
Gründe hin spielt eine große Rolle in Grabbes Technik z. B.
auch in Don Juan und Faust. Das Doppel-Ich tritt wieder
— 72 —
in sonderbarstem Kontrast hervor: das eine Ich siegt durch
List und Grausamkeit, Oothland zertritt den Ring seiner Ge-
mahlin, um alles Menschliche abzutun — unangenehm deutlich
wirkt diese Reminiszenz an Schillers Taucher und an den
Branntwein Richards III. In dem andern Ich liegt die
Idee des Stackes: Gothland will einer von den großen Ärzten
der Menschheit werden, einer von den Attilas, Sullas, Cäsars.
Wieder wird ein fremdes Reis aufgepfropft, wenn Gothland
wie Napoleon und Yngurd den Völkermord als Königsrecht
konstituiert. Gothland ist abstrakt verstiegen — sein Lebens-
blut wird von anders woher zusammengepumpt — , in seiner
bestialischen Grausamkeit wird er aber Berdoa so ähnlich,
daß des Dichters Gehirn schon ausgesuchte Tollheiten für den
Mohren ausbrüten muß.
Berdoa, der ein Branntweinglas gefressen, „als wäre es
Gothlands Herz", tummelt seinen afrikanisch exotischen Pegasus
in einem dreistrophigen grell kolorierten Rachegebet, das mit
Amen schließt. Sein frommer Wunsch geht in Erfüllung; kaum
hat er gelobt, Gothlands Samen zu vergiften, so erscheint
Gustav, der von seinem Vater bisher keinen guten Begriff be-
kommen konnte. Nach dem Blutrausch befriedigt sich Geilheit in
der Wollust einen unverdorbenen empfindsamen Jungen zu ver-
derben, indem Berdoa ihn am Edelsten anknüpfend in den Pfuhl
der Gemeinheit herabreißt. Auf der einen Seite Franz Moor, auf
der anderen Klopstock, dessen 1824 bevorstehendes Jubiläum
der literarischen Satire auf die Empfindsamkeit besondern
Nachdruck verleiht. Die Auffassung der Erotik übertrumpft
noch den Thersites in Troilus und Cressida. Und wieder möchte
man glauben, daß niedrige Spelunken, erfüllt von rohem Volk,
das — etwa noch besonders gereizt durch ein harmloses
naives Gemüt in seiner Mitte — unter wieherndem Gelächter
um die Wette Zoten reißt, die Brutstätte solcher Eingebungen
geworden. Der ganze Bockgestank Berdoas wird ruchbar,
diabolische Laune, Zote, Bordellpoesie. Durch den Pfuhl des
Scheußlichen, Gemeinen, Perversen schleppt uns der Dichter,
— 73 —
so daß er selbst in Streichungen einwilligte. Trotzdem wollen
wir den Dichter ganz kennen.
In merkwürdiger Proportionierung werden in der folgen- III %
den kurzen Szene die Fäden der drei Handlungen ohne innere
Verwebung nebeneinander weiter gesponnen. Die Lichtseiten
verkümmern gegen die Poesie der Hölle. Holm bringt das Motto
des geschlagenen Idealisten: „wer Unrecht hat, hat Glück. u
Holm will beim hochherzigen Volk der Deutschen, der alte
Gothland in Norwegs Tälern, der König in Rußland Heere
sammeln und am 1. Mai wollen sie sich wieder treffen. —
Berdoa hat Erfolg mit Gustav. — Gothland ist König von
Schweden. Aber er vernichtet das Glück des Landmannes,
weil er friedlos ist Trotzdem fleht er die „göttlichen
Mächte" um langes Leben an! Das hat doch nur Sinn, wenn
er sich vor dem Gericht nach dem Tode fürchtet. Furcht ist
der Kern dieser Religion, Angst vor der Hölle. Das gilt für
die Stimmung, die das Schicksalsdrama verbreitet und die
in Grabbe selbst nachzittert. Ohne Aberglaube darf Gothland
nicht gedacht werden, dem Blitz und Donner auf die Nerven
fallen.
Das ist auch der Obergangsgedanke zum vierten Akt IV 1.
Gewissenangst raubt Gothland, dem Brudermörder, den
Schlummer wie Richard III. Der Traum Franz Moors
wird ins Häßliche, Groteske verzerrt: die Sterne sind wie
Fische in den Netzen, die Zunge gleicht einer Brillenschlange
und eine ungeheure Spinne mit 100000 Füßen und einem Men-
schenantlitz saugt ihm die Brust aus. Gothland läßt den Mohren
rufen, der noch schuldiger ist und doch nichts bereut Er gleicht
dem Kranken, der in unheilbarer Krankheit statt zum Arzt
zu den spitzbübischen Kurpfuschern läuft, die ihn dann ganz
vergiften und verderben. Eine Zeitlang tut Berdoa Gothland
den Gefallen, um ihm dann um so sicherer den tätlichen Gift-
stachel ins Fleisch zu bohren. Es beginnt ein Gespräch über
die Unsterblichkeit in den barocken Sprüngen einer tollen, hart
die Grenze des Normalen streifenden Dialektik, bei der die
— 74 -
Obergänge höchst aberteuerlich, die Einzelheiten aber oft sehr
scharf und von logischer Schlagkraft sind. Kinderweisheit,
Pöbelfurcht! ruft Franz Moor, der den Pastor Moser zu seiner
Beruhigung bestellt Nur die Todesangst erfindet die Unsterb-
lichkeit — sagt Gothland, dessen Materialismus aber durch
Gespensterfurcht über den Haufen geworfen wird. Kriminal-
roman, amerikanischer Zirkus — und Metaphysik, die auch
Berdoa studiert hat Brunooischer Pantheismus gegen ato-
mistischen Materialismus, wie im Hamlet. Wie aber Hamlets
weither geholte Gleichnisse, fernliegende Einfälle, spöttisch
rätselhafte Wendungen in Grabbe sich verzerren, beweise nur
das eine Schlußwort: Ja wir sind Läuse ! a Die romantische
Ironie wird zur Buffonerie. Eine hoch aufgeblasene Wahrheit
schrumpft plötzlich zusammen zu einem quäckeoden runzeligen
Etwas. So denkt Grabbe bei dem ewigen Gestirn, dem Symbol
des Unvergänglichen, sofort an Zerfall und Verwesung. Goth-
land, dessen Todesangst sich zum Materialismus flüchtete, oder
zu dem Kismeth des Islams, der kein Jenseits kannte, schreit
auf: „Ein Palast der Stürme ist mein Haupt**.
Er hat es noch nicht so weit gebracht, wie Berdoa oder
Arboga, der sich überhaupt nicht um die Unsterblichkeit küm-
mert. Man möchte noch hoffen, daß das Spiel Cäcilias, die
in einem Romanzenkranz zur Reue, zur Umkehr zum Hei-
land mahnt: — wie David den Saul — Gothlands Ver-
düsterung erhellen könne. Aber in grassen Dissonanzen
schreit die romantische Ironie auf, wenn Gothland gegen den
frechen Lügner der Erinnerung ausschlägt, die ihm Kindheit,
Vaterhaus, Mutter in falscher Illusion zeigt. Alle Empfind-
samkeit ist verlogen, die Wirklichkeit ist gemein. Diese un-
menschliche Zerrissenheit ist ebenso Grabbisch, wie die Häu-
fung der Reminiszenzen an Yngurd, Don Carlos, Romeo und
Julia für die Gustav-Handlung. Grabbe fällt wieder zu viel
ein. Während Gothland in den Eltern seine nahe Rettung fort-
stößt, verliert er auch seinen Sohn. Es ist wieder eine Szene
voll von diabolischer Laune und verwegenem Humor. Das
r*Mi^
- 75 -
Raubtier Berdoa kann auch humoristisch werden: „ein echter
Mohr muß aussehen, wie ein blank gewichster Stiefer; leider
kann er auch abstrakt werden in seiner Religion der Hölle:
sie ist aus allerlei Lesefrüchten zusammengeborgt, aber Qrabbe
hat eine besondere Witterung für alle möglichen verborgenen
Gifte; die Quintessenz der Weisheit von Jago und Mephisto;
die Obermenschenweisheit ins Satanische gewendet. Gustav
wird nicht nur körperlich, sondern auch seelisch verdorben;
wie ein irre geleiteter verdorbener Knabe durch mißverstan-
dene Nietzche-Lektüre. Der verblendete Gothland führt das
verderbliche Werk zu Ende: bereue nicht — sei hart! Aber
es ist die Nemesis, die tragische Ironie, daß ein schlechtes
Mittel nicht, wie beabsichtigt, Gustav von einer unpolitischen
Liebschaft abwendet, sondern die schlechte Wirkung hat, daß
der Sjphn die Lehre des Vaters gegen diesen selbst kehrt.
Gothland liefert selbst die totlichen Waffen und er schiebt die
Schuld auf den Mohren, wiewohl er selbst schuldig ist. —
Damit ist der Obergang zur folgenden Szene gefunden: Ein IV x
wüstes Punschgelage mit Dirnen und Schlachtliedern in einer
sehr bunten Metrik — ein Seitenstück zu Scherz-Satire III 1
— bis Gothland in einen Mantel gehüllt eintritt; trotzige kurze
Antworten, dann wild verzerrte Ironie: Der Mohr soll ge-
fesselt, Gustav gepeitscht werden. Für den gefesselten Mohren
wird eine neue Person eingeführt: der rothaarige Zuchthaus-
bruder Tocke, der Vater und Schwester mordete. „Pah, mein
Vater war ein Esel! a Gothland: „Dieser Schurke kommt mir
vor wie eine Parodie auf mich." Solche Doppelgängerei ist
auch in Shakespeares Technik beliebt; hier kommt hinzu die
romantisch-halluzinatorische Ich- Verdoppelung, man denke ins-
besondere an Hoffmannsr Pater Medardus. — Der Mohr und seine
Gruppe treten zurück. In einer sehr gewagten Kombination
— was Ort und Zeit betrifft — werden die übrigen drei Par- IV 3. 4.
teien zusammengeführt. Die Stimmung der nordischen Land-
schaft (Yngurd) wird ausgeschöpft, eine Szene aus Arnims
Kronenwächtern benutzt, ein Lokal aus der Schicksalstragö-
- 76 —
die verwendet. Oedipus und Antigore vergleichbar, irren
Cäcilia und Skiold durch den Schnee, in ihrem idealen Hoffen
im Unglück ein Oegenbild zu Gothland. Sternennacht, Welt-
untergangsvisionen — das ganze Arsenal, aus dem die Tra-
giker das eine oder andere Mittel zur Verstärkung der Innern
Wirkung geholt haben, muß ausgeplündert werden. Cäcilia
erfriert in derselben Hütte, in der der alte Oothland sich ein-
findet und in der Theodor Obdach sucht. Die Leiche einer
edlen Frau, zwei Greise die sich in der Dämmerung zuerst
nicht erkennen, Gothland, der vor Grauen wehrlos ist wie ein
Huhn, das abgeschlachtet werden soll, der nicht weiß, ob er
gräßlich träumt — der Dichter .sucht den Schein einer grauen-
vollen Fantasmagorie in den im Dunkel verschwimmenden Ge-
stalten festzuhalten — der sich in einem Klumpen zusammen-
rollt, in eine Stubenecke verkriecht, dann, in wahnsinniger
Angst von des Alten Fluch verfolgt, mit ungeheurer Schnellig-
keit, wild von seinem Haar umflogen, im Mondeslicht über
den Rücken der Berge dahineilt — es ist eine malierische,
die romantische Stimmung der Situation ausschöpfenden Szenen.
Der am stärksten an die Romantik erinnernde vierte Akt —
wie gewöhnlich reich an retardierenden Momenten — läßt
keine Katastrophe als notwendiges Ergebnis vermuten. Irgend
ein Zufall kann die Schwarzwildbretjagd beenden oder ein
Sieg des Königs, der zuletzt neu gerüstet erscheint.
V i. % Gothland ist in ein paar Stunden vor Grauen schneeweiß
und schwach geworden, er hat den Mohren leben lassen, da-
mit er die Finnen gegen ihn hetzen kann; er läßt sie jetzt
niedermetzeln. Arboga ist das, was Gothland noch werden
kann, Tocke das, was er ist. Die Umstände verketten und
kreuzen sich so, daß Gustav den Vater verrät und den Moh-
ren gerade vor der Hinrichtung rettet, der außer sich vor
Freude über sein Erziehungsresultat ist. Gothland handelt nicht
nur so würdelos wie möglich, sondern auch die un-
motivierten Scheußlichkeiten — er mordet den treuen Erik,
den einzigen Menschen den er hat, mit den dem Bramarbas
— 77 —
eines Kasperletheaters würdigen Worten: das ist mir einer-
lei! — beweisen den Marasmus des Helden, der auch den Ver-
stand verloren zu haben scheint Er wird so verächtlich, daß
er Arboga verrät, um sich zu retten — auch das schlägt zu
seinem Verderben aus — und er liegt, gänzlich isoliert, wehr-
los zu Berdoas Füßen.
Noch einen letzten Trumpf kann Berdoa ausspielen: Va.
er vergiftet Qothlands Gedanken ins Schlimme, verkehrt
die Verkehrungen noch einmal. Der Wahn, dureh das
Schicksal Verbrecher geworden zu sein, war Qothlands
letztes Glück. Berdoa zeigt die Entstehung dieses Wahns: er
glaubte das Böse lieber als das Oute und verzweifeln ist
leichter als bereuen. Dann aber hat Oothland zu allen Un-
taten die schwerste Sünde hinzugefügt: die Blasphemie mit
Bewußtsein. Wenn Oothland betet, erkennt er das an, und
die völlige Sinnlosigkeit seines Tuns muß der gräßlichste
Schmerz sein, den er noch erleiden kann. Qrabbe hat wieder
einen Doppelzweck: er will die Flammen dämpfen d. h. die
furchtbaren Anklagen des Monologs sind nicht das Wesen der
Welt, sie sind Gotteslästerungen eines sündhaften Menschen;
Gothland war von Hause aus schwach; das Trachten des
menschlichen Herzens ist böse und das sündhafte Handeln
belastet nicht die Gottheit; wer gegen die eigenen bösen Triebe
blind ist, ist immer und überall verblendet. So hat der Dichter
es nachträglich in seiner Anmerkung darstellen wollen. So-
dann aber erlebt die Bosheit Berdoas, die Schadenfreude des
Satans den höchsten Triumph, wenn sein Werk so herr-
lich gelungen ist, daß sein Opfer noch das Rechte zu tun
glaubte. Neben dem Grauenhaften das Groteske. Es ist ein
fürchterlicher Scherz Berdoas, Gothland, der öfters Könige Vi
und Verbrecher verglich, neben Tocke zu ketten, unter ihm
erniedrigt, gleichsam eine Folie für seine Schadenfreude.
Fürchterlicheres, Quälenderes ist schlechterdings nicht aus«
zugrübeln. Da zerbricht Qothlands Stolz — „heiß und
unaufhaltsam wie geschmolzenes Blei rinnts über seine
— 78 —
Wange". So schildert Lear, der gefallene König, der mit
Narren, Verunglückten, Zerbrochenen über die Heide rast,
höchstes Elend, „gebunden auf ein Rad, ein Feuer, das
meine Tränen erhitzt wie glühendes Blei!" — Wilde bestia-
lische Rachebrunst, ein Obermaß von Erniedrigung beseelt Goth-
land mit derselben Kraft, die die Jungfrau von Orleans ihre
Ketten sprengen ließ und die Schwarzwildbretjagd — man
kann das ganze Thema des Stückes so bezeichnen — prosti-
V5. tuiert die Bretter; auch hier wird ein großes .Vorbild im
Hohlspiegel einer ungeheuerlich verzerrenden Phantasie ab-
gebildet: Homers Hektor und Achilles und Kleists Penthe-
silea, das wildeste und gewagteste seiner Dramen. Die Kurio-
sität verdient hervorgehoben zu werden, daß Berdoa noch im
letzten Augenblick eine literarische Anspielung auf die eben
erscheinenden Argonauten Grillparzers macht, die ihn ange-
regt haben, Gustav zu morden. — Der Schwedensieg ist leicht,
denn Gothland hat sich durch seine Verrätereien aller An-
Ve. hänger beraubt. Der Degenstich Arbogas — man vergleiche
Wallensteins Ermordung — trifft einen innerlich Verwesten.
Das Leidenkönnen ist noch ein Symptom von Leben, das noch
einmal in intensiver Rachewollust sich genug tut; dann folgt
Stupor, Apathie. Die Kraft ist vertan, bäumt sich nur noch
in Krämpfen auf und zuletzt bleibt nur eine schale Neige.
Halb schlafend, gähnend, in einer Art gigantischer Blasiert-
heit stirbt Gothland; „auch an die Hölle kann man sich ge-
wöhnen, die ist zum wenigsten was Neues". Das klingt fast
wie eine Travestie des Hamlet-Monologs, nachdem Gothland
schon vorher in der Naturbetrachtung — zugleich eine Paro-
die auf den Frühlingsgruß des Könige — den düsteren Dänen-
prinzen in gleicher Weise karrikierte wie die Grimmasse des
Wahnsinnigen die Miene des Neurasthenikers. Der Tod hat
nichts Versöhnendes. Es fehlt der eigentliche Abschluß, die
Katastrophe der Tragödie. Nur zuletzt nach gräuelvollem
Chaos ein idealer Ausblick. Der König verkündet den Früh-
ling und eine bessere Zeit und erschütternd ertönt die Toten-
- 79 —
klage des alten Gothland. Verklärendes Abendrot schimmert:
je länger man dfe menschlichen Gefühle niederringt, um
so gewaltiger richten sie sich wieder auf!
Immermann hat dieses Jugendwerk ein „merkwürdiges
Dokument" genannt; die „wenigen Töne der lugubren Region"
habe Orabbe virtuos behandelt. Tieck erkennt wahre poetische
Kraft und große Gedanken, die aber in Seltsamkeit, Härte
und Bizarrerie ausarten, er fühlt mit Grausen und Mitleid
die tiefe Verzweiflung, den inneren Zerstörungsprozeß, und
er tadelt die Unwahrscheinlichkeit der Fabel, die Unmöglich-
keit der Motive; ganz besonders den Cynismus. Gegen letz-
teren Vorwurf hat Grabbe eingewandt, er habe nur auf die
verlogene Empfindsamkeit der modischen Dichtung reagiert;
das Cynische sei ihm nicht das letzte. Die Hallesche Literatur-
zeitung leitet die „in blendende Dialektik und funkensprühende
Poesie gehüllte furchtbare Tendenz: alles geht unter 1" aus
einem hochgewaltigen zerrissenen Gemüt ab, während ein
Berliner Rezensent nüchterner meint, das Stück müsse wohl
von einem hungerigen, malkontenten armen Teufel geschrieben
sein. Der Cynismus und die Verzweiflung sind allerdings
die wichtigsten biographischen Merkmale bei diesem Höllen-
breughel unter den deutschen Dichtern. Die Blasphemie
und die Zote sind die Signale einer in fürchterlichen Extremen
zerrissenen Seele. Gothland ist die Tragödie der Verkehrung;
alle Stärke schlägt ins Grausame, alles Gutgemeinte ins Bös-
getane aus, alles Schöne und Edle gibt sich mehr oder weniger
bei Licht besehen als etwas Gemeines. Mit einer Empfindung
von Schauder und Mitleid schauen wir in die Seele des Un-
glücklichen, der in einem entscheidenden Augenblick seines
Lebens sich seiner hoffnungslos krankhaften Natur gewiß wird
und so früh sich bankerott erklären muß. Alle Menschenliebe
wird zum Spott, das sympathische Gefühl wird ausgerottet
und der Mensch verkümmert, — erstarrt in der Wüste seiner
Isolierung. Da gibt es keinen Weg zu friedlicher Gelassen-
heit, er sucht sich eine Region, da er sich ansiedeln kann,
— 80 —
die es doch nirgends gibt. Was er Tieck und dem Publikum
in seinen Vorreden von einem höheren harmonischen Stand-
punkt erzählt, das möchte er in einer sanften Regung vielleicht
sein, aber meist fühlt er sich doch am wohlsten in der Rolle
des zerschmetternden Geistes, der imponieren will durch alles
übertreffende Frechheit und Verwegenheit, wobei sich die
wahrste und tiefste Leidenschaft, die in dem jungen Revolu-
tionär gährt, mit der rohesten Effekthascherei oft so wunder-
lich mischt. Er strebt zum Obermenschentum in phantasti-
schen Ikarusflügen, ohne langsam und allmählich von sicherem
Fundament aus zu bauen. Orabbes Freiheitsdrang ist revo-
lutionärster Zerstörungstrieb. Er zerschmettert das Erden-
glück und zertrümmert die Ideale. Wie ein wilder Sansculotte
verkündet er das Chaos. „Dem bösen Geist gehört die Erde."
Nicht nur das Unglück Grabbes auch das Pathologische
wird uns klar. In ihm ist ein verzehrendes Etwas, das wie ein
Krebsgift ruinierend in die tiefsten Zellgewebe eindringt In
Bestialität,* Blutrausch, Geilheit versinkt jede edle Regung. Er
muß das Häßliche sehen, in glücklosem Neid die Harmonie
hassen wie der Decadent, der in grauenhafter Lust sich selbst
verstümmelt. In unaufhaltsamem Sturz flieht er von einem Ex-
trem ins andere; die normalen Hemmungen verkümmern, die
Mittelglieder fallen fort. Nicht nur als dichterische Schwäche,
sondern pathologisch wirken die falschen Töne, dieses Sichver-
irren von einer Tonart in die andere. Oft stehen wir gebannt
unter dem starren Blicke des Medusenhauptes der tragischen
Muse, plötzlich verzerren sich die Züge zu einer grinsenden
Grimasse, dahinter der unheimliche Wahnsinn lauert —
plötzlich tritt Grabbe hervor und zeigt uns wie ein Gassen-
junge die Zunge, oder macht uns die unanständige Reverenz
Mephistos. Neben Bildern von intensiver Farbenglut stehen
leere Abstraktionen, neben uroriginellen Genieblitzen läp-
pische Stellen — wie sich sein Körper aus Extremen zusammen-
setzte. Urechte Besessenheit und wieder aufgepfropfte Weisheit;
bestialische Sinnlichkeit und verstiegene Phantastik. Genie und
— 81 —
Wahnsinn sind bei ihm nahe verwandt. Manche Bilder sind wie
in Gehirnkrämpfen und epileptischen Zuckungen* gezeugt: er
schrieb Gothland gepeinigt von den Schmerzen einer furchtbaren
Krankheit. Auch neurastfienische Depressionen können
die herrlichste Landschaft in jähem Wechsel verblassen
und verfratzen lassen. Alkoholische Intoxikation verrät sich
in den verrückten Phantasmagorien, besonders in den schlei-
chenden häßlichen tückischen Tiergestalten, von denen man
eine groteske Menagerie zusammenstellen kann. Die Ge-
sichte Gothlands, seine Würdelosigkeit zuletzt, die wilden
Gedankensprünge — sind in ihrem Ursprünge verdächtige In-
spirationen.
Der Gothlanddichter war eine Natur ohne Glück, ohne
Schönheit, ohne Harmonie — und dennoch ein Dichter von
bedeutenden Qualitäten. Er weiß wirklich aus der Nacht
Funken zu schlagen, die aus der Hölle zu kommen scheinen.
Ein Primaner hat das Stück geschrieben und unter der üppigen
Verwilderung zeigen sich starke Potenzen: eine furiose brutale
Kraft, die vor nichts zurückscheut; origineller, grotesker Hu-
mor; eine wildflackernde, gehetzte, gepeitschte, ungeordnete,
maßlos-schweifende Phantasie. Was baut er für Steigerungen,
welch riesige Massenszenen; welcher Reichtum an Bildern
und Ideen strömen ihm zu! Ein ungeheurer malerischer Hinter-
grund von wildem glühendem Colorit tut sich auf, und diese
riesige Szenerie erfüllt ein einzelner Phantast mit leidenschaft-
lichen Deklamationen. Wohl finden wir sorgfältig gearbeitete
Einzelheiten, aber nichts weniger als ein einheitlich durch-
komponiertes Gemälde.
Ohne Verarbeitung und Ordnung, ist das Ganze da-
rum doch nicht planlos: seine Leidenschaft ist wie eine
umsichgreifende, alles verzehrende, zuletzt in sich zu-
sammensinkende Feuersbrunst. Für diese ungeheuer ex-
pansive Phantasie hat Levin Schücking eine Erklärung
aus der westfälischen Stammesart gegeben, die eine ge-
meinsame Wurzel in den das Düstre liebenden norddeutschen
Nieten, Chr. D. Orabbe. 6
- 82 -
Dichtern aufdeckt und Orabbe in ein Verwandtschaftsverhält-
nis mit Frefligrath und der Droste-Hülshoff bringt: „Jedem
kindlichen Volke ist der Drang in die Ferne eigen, den West-
falen zu allen Zeiten die Wanderlust; was Wunder, daß auch
ihre Poesie diesem Triebe folgt, und statt sich mit dem Nahe-
liegenden und den schlichten Erscheinungen ihres Alltags-
lebens zu beschäftigen, auszieht, um das Wunderbare, das
Große, Gewaltige, Frappante zu suchen, daß sie über das
stille und wenig belebte Leben daheim hinaus das höchst be-
lebte, statt der eintönigen Erscheinungen daheim die Welt der
Phantasmagorie suchen."
Die Fehler des Jugendwerkes liegen auf der Hand. Häufun-
gen sind ein verzeihlicherer Jugendmangel, als die Fehler der
Motivierung, die Ungeheuerlichkeit der Fabel. 5—6 Jahre hat
Grabbe daran gearbeitet, und verschiedene Schichten lagern
übereinander, ohne daß es möglich wäre, sie reinlich zu son-
dern. Man vergleiche die verhältnismäßig einfache Exposition,
die Intriguen Franz Moors und den Brudermord bei den Stür-
mern und Drängern — und man erkennt die schiefe Grund-
lage, auf der das Gebäude ruht In den beiden ersten Akten
Gothland der betrogene Idealist, der Rechtssucher, der nir-
gends Recht findet (Kohlhas — Motiv) , Brudermord nicht aus
Eifersucht, aus Verblendung. Im 3. Akt ein Schicksalsdrama;
sodann ein selbständiger Versuch ein Seelendrama zu schaf-
fen, die herkömmlichen Lösungen des Schuldproblems abzulehnen
und eine eigene zu suchen, die seinem eigenen inneren Trotz-
gefühle entspricht; und wir haben die Grundidee des ganzen
Schaffens: das Obermenschenproblem. Als Nebenhandlung:
die Verführung Gustavs, der Tod der Cäcilia. Äußerlich ge-
schieht wenig: die Finnen fallen in Schweden ein, sie siegen
als Gothland sich zu ihnen gesellt; doch die Schweden kommen
wieder und siegen; Gothland aber ist inzwischen zugrunde
gegangen.
Ausgeführt sind nur die Gestalten Oothlands und Berdoas.
Dieses Doppelheldentum ist überhaupt für Grabbe charak-
— 83 -
teristisch. Der Impuls aus Shakespeares Naturgeschichte der
menschlichen Leidenschaften scheint kräftiger zu wirken als
der wortreiche Idealismus Schillers; auch Shakespeare gibt
sich oft in den ersten drei Akten soweit aus, daß ihm die
fallende Handlung spater Mühe macht. Nach der Theorie der
Stürmer und Dränger ist „ein Kerl" die Hauptsache, die Hand-
lung dann willkürlich. Aber mit seinen 17 Verwandlungen
hat Grabbe doch die Raritätenkastentheorie nicht nachgeahmt,
weniger, weil ihm die Bulle von den 3 Einheiten, die aristo-
telische Reitkunst autorativ erschienen, als weil er an die Auf*
führbarkeit dachte. Ironie, Formlosigkeit, Weltschmerz — das
„zerrissene Herz" — stammen aus der Romantik, — Bilder«
spräche, Buntheit, komische Szenen, eingeschlossene Lieder
erinnern z. T. an das Schicksals-Drama, z. T. an Shakespeare.
Außer Shakespeare, Schiller, Sturm und Drang finden sich
dreimal Anklänge an die Antike (12, IV 3, V 5), zweimal an
die Bibel (I 1— 112), einmal an Ossian (12) — . Der Dialog
ist vielfach nur ein verhüllter Monolog; der Partner gibt
öfters nur das Stichwort zu einer neuen Wendung des Haupt-
redners. Grabbe vermeidet den Monolog durchaus nicht, wie
etwa Kleist; gern schließt er die Szene damit ab, während
den Anfang oft ein dialogischer Auftakt bildet. Reflexionen
und Affekte bilden den Inhalt der Monologe; charakteristisch
ist der große Monolog Oothlands, der durch die Hetzreden
Berdoas teilweise dialogisiert wird. In den Massenszenen
reiht sich gewöhnlich ein Ereignis ans andere (III 2); eine
kunstvolle Verflechtung verschiedener Partien kommt selten
vor (Gerichtsszene — Gelage).
Eine bunte abwechslungsreiche Metrik ist romantischer Art.
Werner verteidigt in der Vorrede zu der „Mutter der Macca-
bäer" seine Verskunst: er richtet sich bald nach der musi-
kalischen, bald nach der deklamatorischen Betonung; die innere
Wahrheit sei ihm wichtiger als die äußere. Er liebt Trochäen,
daneben bedient er sich auch der Jamben — mit 5 oder 6 Füßen,
gereimter oder ungereimter. Müllner verwendet in der ent-
6*
— 84 -
wickelnden Handlung der „Schuld" Trochäen, im „Yngurd"
5 füßige zum Teil gereimte Jamben. Houwald zieht Jamben
den Trochäen vor. Metrisch hat der „Yngurd" wohl am stärk-
sten auf Orabbe gewirkt
Grabbe selbst sagt vomQothland: „die Verse passen wie das
Fell einer Hyäne." Toll und formlos genug geht es her. Unter
den ca. 5500 Versen sind wenig Trochäen, die hyperkatalek-
tischen Verse fiberwiegen weitaus die katalektischen; Vier-
füßler gibt es fast dreimal so viel, als Sechsfüßler. Reime
finden sich fast 270; im 5. Akt dagegen fehlen sie völlig.
Monologe sind bei Orabbe vielfach gereimt (z. B. IV 1 bis
IV 4), und zwar in den verschiedensten Kreuzungen, zum Teil
auch in Strophenform; in I 2 enthält Qothlands Monolog 2 Stro-
phen. IV 4 ist ein vollständiges Gedicht, in dem die Strophen
parallel sich entsprechen. Der Dialog ist selten stichomythisch;
sehr oft wird Anaphora und Epiphora verwandt. Der Schluß
der Szene ist gereimt in allen Szenen des 1. und 2. Aktes, in
der ersten Szene des dritten Aktes, in der 4. Szene des 5.
Aktes. Die Unterschiede der Metrik in den einzelnen Akten
sind bezeichnend für die Entstehung des Stückes; in den letzten
Szenen sind die Verse gleichmäßiger gebaut, z. B. in der
1. Szene sind 14 Verse katalektisch, 92 hyperkatalektisch, in
V 3: 26 katalektisch, 30 hyperkatalektisch, dagegen überwiegen
zuletzt die Vierfüßler, während die Zahl der Sechsfüßler
nicht steigt. Wir haben riesige Szenen: III 1 mit 1270, IV 2
mit 824 Versen; und sehr kurze: III 2 mit 89, V 2 mit 83
Versen; zuletzt werden die Szenen kürzer und ebenmäßiger.
Synalophe, Apokope, Silbenverstümmelung ist häufig (dtüd 9
ich's Möcht' eu'r Wahn — ) ; der Hiatus selten. Die vielen En-
jambements wirken oft störend (Cäsur vor der letzten oder
nach der ersten Silbe des Verses) . Charakteristisch sind die
vielen Ausrufe und Interjektionen (oho, weh, hei ho ho hussa,
hu hähä). Die Sprache ist überreich an Antithesen und Para-
doxen. Sehr erfolgreich wird die Litotes angewendet. Die
Bildersprache, mit Tropen und Metaphern überreich geschmückt,
- 85 —
hat wenig ausgeführte Vergleiche. Grabbisch ist oft tönender
Anfang mit verzerrtem Schluß, im Sinne der romantischen
Ironie. Als Gefahr erscheint die Neigung zur Karrikatur,
aber auch Plattheiten und wieder Versandung in allzu abge-
griffenen und abstrakten Bildern.
Der widerspruchsvoll aus epigonenhaften und zukunft-
heischenden Momenten zusammengewürfelte Gothlandsdichter
ist schwer unterzubringen. Unter einer Fülle von Reminiszenzen
regt sich eine originelle, aber auch pathologische Ur kraft.
Menzel sagt im Morgenblatt 1829: „Nach einem goldenen Zeit«
alter kommen Zeiten des Verfalls, die Extreme ausbrüten nach
Form und Stoff u ; besser aber als eine formelle Geschicklichkeit
mit schönen Gefühlen, die nirgend anstoßen, sei immer noch die
darauffolgenden Opposition von einer wilden Formlosigkeit und
Kraft. Und so wird auch Gothland eher verstandlich als Re-
aktion gegen Oberempfindsamkeit. — Formlosigkeit, massen-
hafte Stoffanhäufung, Ausplünderung charakterisieren das aus-
gehende Mittelalter; Gothland erinnert an Fischarts Häufung
von Stoffen und Stilmitteln, Naogeorgs Mischung von Grotes-
kem und Furchtbarem, an die Düsterkeit eines Gryphius, an
schlesischen Schwulst und an die Haupt- und Staatsaktionen.
Ein geläuterter gereifter Kunstgeschmack wird selten ein
Jugendwerk richtig beurteilen können. Und das Grabbesche
Stück will und darf auch nicht vom Standpunkt der modernen
Kunstanschauung gewürdigt werden, sondern als Produkt
seiner Zeit.
Die damalige Kritik aber hat wenige Werke Orabbes so
einmütig als starke Talentprobe anerkannt, wie Gothland. Ein
Beispiel mögen bieten die „literarischen Unterhaltungsblätter"
(September 1828): „Ein Schauspiel wie Gothland ist in der
literarischen Welt noch nicht erschienen; nackteste Wahrheit
neben geflügelter Phantasie; das> ganze Schauspiel ist sehr
konsequent angelegt; was vor sich geht, ist schon I 2 ange-
deutet und verbreitert sich bis zum 5. Akt in einer immer
weiter um sich greifenden Unermeßlichkeit — Mensch, Welt,
— 86 -
Gott, ja das Schauspiel selbst geht unter. Nach Art der Tiger-
katzen führt der Dichter die herrlichsten poetischen Stellen
vor, spielt mit ihnen und zerreißt sie hinterdrein auf einmal.
Daß Gothland ebensoviel Tragkraft, wie Rezeptivität zeigt, ist
mit Fleiß so angelegt; denn eben darin, daß Gothland vermöge
dieser Charakterschwäche am Ende versteinert dasteht, liegt
wohl die Grundtendenz der Dichtung."
Man hat in der Dichtung mehr sehen wollen, als
die letzte großartig - unsinnige Ausgeburt des Sturms und
Drangs (v. d. Brück), man hat ihr eine besondere Stellung
anweisen wollen: Sie bedeutet die Opposition des Genies im
Sinne der unverjährbaren Legitimität der Natur (Duller) ; sie ist
der Abfall von Weimar, ein Vorbote des modernen Naturalismus
(J. Hart — Krack); sie ist die Tragödie des Pessimismus
(Blumenthal). Pustkuchen sah in ihr gar eine christliche
Theodlcee.
Grabbe selbst hat gemeint, an die Matadore reiche er ja
wohl nicht heran, aber er übertreffe seine Zeit. Die beiden
ersten Akte seien weniger bedeutend, erst mit dem dritten
Akte werde die Sache interessant: da stecke der Wolf am
Spieße. Er spottet über den Geschmack, der Gustavs Liebes-
floskeln am meisten lobt. Er verteidigt die Zoten und die
Gotteslästerszene, in der manches groß, manches aber nur
Wut sei. Einzelne Szenen sollen sich bei der verwickelten
Handlung als Probe nicht eignen; dagegen empfiehlt er zur
Veröffentlichung einzelne Stellen aus dem dritten und vierten
Akt (Berdoa — Gothlands Traum — Gothland im Schneefeld) .
c) Scherz — Satire — Ironie und tiefere Bedeutung.
»Überhaupt ist der Deutsche viel zu gebildet und vernünftig, als
daß er eine kecke starke Lustigkeit ertrüge."
m. 1. (Rittengift».
Im Gothland hat Grabbe sich als Dichter legitimiert; dann
folgt nach dem schweren Zusammenraffen aller Kräfte In der
Tragödie das Drama Satyrikon. Auch in der Komödie schied
- 87 —
sich das Bühnenwirksame und das Literarisch - Wertvolle.
Die Götzen des Theaterpublikums waren Kotzebues Erben,
der seicht lüsterne Clauren und die Weißenthurn, die gefällige
Fabrikware massenweise produzierte; dagegen konnte ein echtes
Genieprodukt, wie etwa Kleisfs zerbrochener Krug, nicht in
die Höhe kommen. Brentano und Tieck schrieben mit feinem
Witz Lustspiele, die aber der Bühne spotten; Platen kleidete
Satiren und Märchen in dramatisches Gewand, Immermann
ahmte den komischen Realismus Shakespeares nach. Weiter-
hin wurde der Bedarf der Bühne versorgt durch ausländischen
Import, durch den Franzosen Lebrun, durch die Italiener
Goldoni und Gozzi, durch Holbein. — In eine untere Kategorie
gehören kleinere Lustspiele und Possen, flüchtige Tages-
produkte. Der Alexandriner wird übernommen aus Körners
Liebhaberstücken z. B. von Thienemann, Dorsch, Adam. Ein
Hauptwitz besteht etwa darin, daß eine taube Person auftritt;
bestimmte Redensarten wiederholen sich; alte Liebhaber wer-
den gefoppt; die Namen enthalten einen Teil der Charakte-
ristik: Professor Licht ist der Schöngeist, der alles herum-
trägt, der betrügerische Vormund heißt Fuchs, der Advokat
Pech, der lustige Diener Kugel usw.
„ Zahme Komik, Sentimentalität", — so kennzeichnet
das Morgenblatt 1824 die Lage des Lustspiels. Grabbe
scheint den Theatereindrücken wenig zu verdanken. Kotze-
bue ist da, wo er als Spaßmacher etwa in ergötzlicher
Situationskomik erscheint, keineswegs ohne Eindruck auf
Grabbe geblieben. Ganz unerträglich wird er aber, wo
er tiefere Bedeutung heucheln will. Daß philosophischer
Tiefsinn sich im Narrengewand versteckt, ist urdeutsche Tra-
dition. Grabbe suchte aus dem Volkstümlichen, aus schaurig-
schnurrigen Mären, wie sie oft parodistisch auf Köchys Puppen-
theater aufgeführt wurden, aus derber Kost, wie sie den Alt-
vordern behagte, neue Kräfte zu ziehen. Reminiszenzen an
Sturm und Drang (Lenz) beeinflussen ihn, und die Wir-
kungen der ausgehenden Romantik zeigen sich in der Lite-
— .> ■*■
— 88 —
ratursatire und in der romantischen Ironie. Am 2. September
1822 schreibt Grabbe an die Eltern: „in 14 Tagen bin ich mit
einem Lustspiel fertig, von dem die meisten noch mehr er-
warten, als von meinem Trauerspiel." Eine volkstumliche
Komödie traute man Grabbe in der Tat schon damals von
mancher Seite zu, und einen Eulenspiegel darf man wohl als
das ungeschriebene Meisterwerk des niedersächsischen Dich-
ters ansehen.
Ein Unikum wie der Dichter selbst in der deutschen Lite-
ratur, ist auch die chaotische Komödie „Scherz-Satire, Ironie
und tiefere Bedeutung", ein wichtiges biographisches Dokument,
das endlich auch den kritischen Standpunkt enthüllte, den der
Dichter damals einnahm. •
Auch hier ist Oberfälle: statt einer Handlung haben
wir eigentlich vier und dazu noch allerlei Episoden. Das
Personenverzeichnis steigt vom Adel über den bürgerlichen
Mollfels in die niederen Schichten hinab und enthält als auf-
fallendste Figuren den Teufel mit seiner Großmutter.
Eine Liebesgeschichte bildet ganz nach Herkommen den
nach Ausscheidung alles sprossenden Nebenwerks ziemlich
bedeutungslosen Kern: Liddy hat drei Freier, den oberfläch-
lichen geldgierigen Wernthal, den brutalen Mordax und den
gebildeten aber haßlichen Mollfels, der Dank seiner Tüchtig-
keit trotz dem Teufel zum Ziele kommt. Also das gute Herz,
die Tugend siegt — auch das ist ganz traditionell; wobei man
übrigens an Immermanns „Auge der Liebe" (1824) denken
mag, wo auch die Häßlichkeit die wahre Liebe nicht unter-
drücken kann. Möglicherweise sind die vornehmen Personen
Porträts der Adeligen (Üchtritz?) , mit denen Grabbe in Berlin
verkehrte. Grabbes Karrikaturen — denn als solche sieht er die
Menschen, wenn er komisch wird, — passen aber wieder nicht
mehr in die Posse, sondern sie gehören ins Kasperle-Theater:
Mordax schlägt, die Serviette unter dem Arm, 13 Schneider-
gesellen tot; Mollfels ist so häßlich, daß die alten Weiber in
den Schloßgraben springen, wenn sie ihn sehen. Der Baron
- 89 —
und Liddy sind nur knapp skizziert, beide berühren sympa-
thisch. Liddy ist wie manche Mädchenfigur der Sturmer und
Dränger empfänglich für Literatur und Schöngeisterei; ihr Sinn
steht auf das Neue und Ungewöhnliche. Sie ist etwas nachge-
formt der Prinzessin im gestiefelten Kater mit ihren Nacht-
gedanken; wie auch Mißgeburten, die sich bei Tieck finden,
bei Orabbe noch gröber karrikiert sind. Man vergleiche etwa
die Tieck'sche Charakteristik: „ein pockengrubiges, ver-
zacktes und schief ausgeschnittenes Gesicht, wo die Garten-
schere beim Silhouettieren ausgefahren ist" mit der Selbst-
persiflage in Mollfels Liebeserklärung; oder man wird sich
in Grabbes Komödie an Aussprüche Tiecks erinnern, wie
diese: »die Natur hat ihn so aufs Konzept hingeworfen, er
ist eins von den falschen Worten, die sie auszustreichen
vergaß."
Nur drei Gestalten sind ausgeführt: der Schulmeister, der
Dichter Rattengift, der Teufel, von denen jeder eine Potenz
in der Skala des Witzes und Humors am vernehmlichsten re-
präsentieren mag. Keiner gehört der Haupt handlung an,
jeder ist Held einer Neben handlung und jeder vertritt eine
besondere literarische Meinung. Sie alle besitzen ein paar
lebenswirkliche Züge, ragen mit einem Teil ihres Wesens in
die barockfantastische Welt der Hoffmann'schen Capriccios und
tragen ein Doppel-Ich in der Brust, von denen das eine sich
über das andere lustig macht oder literarisch wird. Ein drei-
köpfiges Monstrum aus einer abenteuerlichen Welt! Der
Schulmeister kann mit seinen lateinischen Zitaten wohl
an den Wenztslaus in Lenzens Hofmeister erinnern, aber
Grabbes Witz ist viel beißender. Auch mag unter den Be-
kannten des alten Grabbe wohl ein solcher Schultyrann aus
einem lippischen Dorf gewesen sein, der alles weiß, überall
seine Nase hineinsteckt und die Schinken seiner Schüler ohne
Gewissensskrupei akzeptiert. Er wirkt wie eine Satire auf
den Landprediger von Wakefield und versinkt in pädagogische
Reverien, indem er mit dem ernsthaften Schelmengesicht
- 90 —
Grabbes erwägt, wie man die Schönheit der Natur in Nütz-
lichkeit umwandelt. Denn was nicht nützt, oder gut schmeckt
— das hat überhaupt keinen Sinn. Man trifft solche Leute
auch in Heines Harzreise und entsinnt sich bei dem Schul-
meister, der den Teufel einfängt, der raisonnierenden Auf-
klärung in Tiecks Zerbino. Hierdurch und indem er Mollfels
über Liddy Bericht erstattet, greift der Schulmeister in die
Haupthandlung ein. Besser zu seiner ursprünglichen Anlage
paßt die durchtriebene Bauernschlauheit und der gesunde
Menschenverstand, mit dem er sich über das romantische
Oenietum und über die Heringsliteratur ebenso moquiert, wie
über die Dummheit seiner Bauern. „Er ist der lustigste Kauz,
der bei aller Torheit recht gut weiß, was er tut", urteilt der
Baron. Aber dem sonst so amüsanten Pfiffikus — hier wird
allerdings die Einheit der realistischen Zeichnung am stärk-
sten durchbrochen — verleiht Orabbe auch in bezeichnender
Weise verächtlich gemeine Züge: er liebt über alles den Schnaps
und erzählt dann schlüpfrige Anekdoten. (Körner im Ge-
wand des jungen Schiller).
Harmlos lustig kann Grabbe nicht werden, aber er for-
ciert sich auch nicht, wenn er seine realistisch-komischen,
naturalistisch-gemeinen Karrikaturzeichnungen hinwirft. Er
ist so. — Auch Rattengift ist aus Komik und Erbärm-
lichkeit zusammengeschweißt. In seinem Monolog erinnert
er an den Wildberg in Tiecks „Gelehrte Gesellschaft": „Wild-
berg saß angekleidet am Tisch, eifrig bemüht seine Feder
zu zerkauen, suchend, ob er etwas neues finde, das er in
seinen Gedichten unterbringen könnte." Grabbes Kritik ist
äußerst bitter. Ein Dichter ist ungeheuer eitel und originali-
tätssüchtig — die Gedanken gibt ihm keineswegs der Genius
ein, sondern er sucht sie mühsam nach Vorbildern z. B. Cal-
deron zusammen. (Man mag hier an ein ironisierendes Selbst-
porträt des Dichters der Nanette und Maria denken) • Er hält
jeden für vortrefflich, der seine Gedichte lobt, und ist da-
bei in ästhetischen Dingen sehr beschränkt. Er berauscht
— 91 -
sich gern, fangt dann an zu zitieren und spukt zuletzt auf
seine Gedichte — wie Orabbe in Berlin und später noch in
Detmold. „Ein Dichter lügt" — heißt es in einer Posse von
Dorsch. Aber er ist auch unsittlich, ehrlos und feige. Gegen
die Vermutung Plochs, Heine sei hier gezeichnet, spricht
der Umstand, daß der Bruch zwischen Heine und Grabbe erst
erfolgte, als das Stück fertig war. Der Name Rattengift hängt
kaum mit Ratcliff zusammen. Die Ratte gehört zu Grabbes
Menagerie. Mit den Gedichten verderben sich die Ratten den
Magen, wie andere erst durch die Heringe salzig werden.
Lenz und Klinger haben die schönen Geister, die in ihren
Stücken herumlaufen, bei weitem nicht so bitter charakterisiert.
In dem Teufel steckt am meisten von Grabbes eigen-
tümlicher Komik; wenn die Figur auch keineswegs so ur-
originell aus dem Nichts heraus erfunden ist. Wenn der Dich-
ter selbst seine Priorität vor Hauff gewahrt wissen will, so
ist daran nicht zu zweifeln. Aber auf Th. Am. Hoffmann
(z. B. Klein Zaches) und Tieck muß wiederum hingewiesen
werden. Im Zerbino muß Hinze in der Gesellschaft spinnen,
wie andere dichten müssen — so fällt auch Grabbes Teufel
aus der Rolle. Der Satan tritt selbst als Dichter auf und
zankt sich mit Jeremias, der religiöse Morgenandachten liest
und Nachahmung mit Natur vergleicht. Diese Motive klingen
an in dem Gespräch zwischen Teufel und Rattengift und in
des Schulmeisters Reverien. Bei Tieck erkundigt man sich
angelegentlich nach Aussehen, Religion und Geschmack des
Satan, wie in der Schlußszene bei Grabbe. Der gestiefelte
Kater wird für einen Freimaurer gehalten — der Teufel gibt
sich als Kanonikus aus. Auch dieser Spott auf die Natur-
wissenschaft — wie hat sich hier der Zeitgeschmack geändert 1
— taucht freilich bei Tieck noch nicht in so grotesker
Form wie bei Grabbe auf, wenn z. B. die Barthaare des
gestiefelten Katers unterm Mikroskop untersucht werden, oder
wenn der Pilze suchende Alfred mit seiner fixen Idee im
Däumchen auftritt. In Th. Am. Hoffmann zürnte der roman-
- 92 —
tische Geist den Naturforschern, die das Heiligtum der Natur
profanieren, die die dunkle Tiefe eines nur von dem Dichter
als höherem Menschen geahnten phantastischen Mysteriums
mit den kleinen Lichtern ihres ärmlich nüchternen Verstandes
aufzuhellen glauben. Lange hat Orabbe überlegt, welche Maske
für den Satan am meisten gegensätzliche Ironie enthalte: er
hat an einen Eremiten gedacht: „die Katholiken anspuken,
heißt manchen gewinnen"; dann an einen Bonzen, einen Der-
wisch; der „Generalsuperintendent" konnte in Detmold miß-
verständlich aufgefaßt werden; schließlich wurde also ein
Kanonikus daraus. Der Witz besteht nun darin, daß der Teufel
als Geistlicher respektiert wird, auch wenn er aus der Rolle
fällt, in Verkehrung und Umdrehung.
Dieses komische Motiv wird ausgemünzt in satirischen
Betrachtungen und allerhand Situationskomik, die an das Volks-
buch erinnert. Der Teufel ist der Intrigant, der die Hand*
lung dadurch in Gang bringt, daß er aus Rache über den
Edelmut des Barons die Heirat zwischen Liddy und Wern-
thal hintertreiben will, indem er die Braut aus Ironie nach
seiner Taxe von Wernthal erhandelt und an Mordax verkauft!
Ein anderer Einfall besteht darin, den Teufel aus der Hölle
auf die Erde zu versetzen, wo er mit 7 Pelzen in der August-
hitze erfriert, um erst in der Glut des Ofens die ihm behag-
liche Temperatur wiederzufinden. Denn der Teufel muß seinem
Wesen nach kalt sein. Wie nun die verschiedensten Potenzen
des Verstandes, des Witzes, der Phantasie, des Humors sich
zu einem grotesken Gesamtbild vereinen, das bedingt die rätsel-
volle, in der Verbindung des Widerspruchsvollsten fast un-
möglich erscheinende Individualität des Dichters. Wenn der
erfrorene Teufel von den Naturforschern wegen der enormen
Häßlichkeit für eine deutsche Schriftstellerin gehalten wird,
so fließt in einen Possenscherz von andersher eine satirische
Auffassung ein, und ein Zug aus dem alten Märchen erhält
eine ganz neue Pointe, wenn der Teufel, der sich das lose
Hufeisen festheften lassen will, die Rolle eines Kanonikus spielt.
- 93 —
Zuletzt ist er aber doch der dumme Teufel, der sich durch
Casanova (ursprünglich war an seiner Stelle erst der Codon,
dann der wohlfeile Scott aufgeführt) in den Käfig des Schul-
meisters locken läßt, bis er von seiner Großmutter erlöst wird,
wobei sich abermals eine neue Gedankenverbindung einschleicht,
insofern der Verstand das romantische Gebilde, das nur in der
Einbildung gläubiger Gemüter lebt, aufhebt. Das paßt aller-
dings schlecht zu dem tieferen Sinn, dem philosophischen
Untergrund dieses Karnevalsulkes, der in der Szene mit
Rattengift — in den Kritiken und von Grabbe selbst als Höhe-
punkt des Stückes bezeichnet — zum Vorschein kommt; der
Teufel tritt als Rezensent auf und erklärt die Welt für ein
mittelmäßiges Lustspiel. Die pessimistische Tendenz von der
Unzulänglichkeit des Höchsten, ist hier in Komik gehüllt; die
Hölle, nach der alles nach wahrem Verdienst im Gegensatz zur
irdischen Gerechtigkeit hergeht, erscheint als vernünftig, und
die gewöhnliche Meinung als oberflächliche Täuschung: Der
Satan erweist sich als gerechtfertigt, den Bonzen der le-
gal» Moral ohne weiteres überlegen. „Der Teufel erfreut
sich seines Daseins wie jedes andere Geschöpf; das Böse ist
ein nicht zu überwältigender Instinkt. Der eigentliche Grabbe
redet hier, dem die Poesie ein Spielzeug ist, in welchem er
zu seinem Vergnügen die Welt als Närrin behandelt (Blätter
für literarische Unterhaltung 1824)."
Es kommt der Gedanke zum Ausdruck, daß der Teufel
noch umgeht auf Erden in der spielerischen überlegenen Macht
des Witzes, in der alles auflösenden Ironie, in der zersetzen-
den Kritik. Mit dieser Höllengabe ist der Dichter, der Höllen-
breughel, ja reich gesegnet. Aber auch unheimlichen Schauer
kann uns der Humor des Satans einflößen. Das verschmitzte
Lächeln, das geschmeichelte Schmunzeln, wenn man ihm seine
Laster vorwirft, ist ein ergötzlich origineller Zug des Satans
und von ur echter Komik; es ist aber eine ganz echte spre-
chende Gebärde des Dichters selbst, er wurzelt leider auch
in dem Teufel Grabbe, in seiner Perversion, in seiner
- 04 -
Freude an der Verkehrung: Der Leipziger Student weidet sich
in renommistisch-spitzbübischer Manier an dem Entsetzen der
Philister, wenn er ihnen einen Einblick in verrufene Stätten
verschafft. In Detmold macht es ihm Freude, naive Gemüter
in Verlegenheit zu setzen, und Kobbe erzählt aus der Düssel-
dorfer Zeit eine grauenhafte Episode: Er machte in Damen-
gesellschaften unzüchtige Bemerkungen, so daß er von Immer-
mann fast drohend zur Ruhe gewiesen wurde; »er lächelte
still darüber wie ein Wahnsinniger, dem irgend ein Schelmen-
streich gelungen ist"
Das Stück ist kein Lustspiel, keine Posse — es ist, wie
der Titel sagt, ein Gemisch von Scherz, Satire, Ironie, tieferer
Bedeutung; aber ein Antiklimax von Fastnachtsulk, Eulen-
spiegeleien, Qownspässen, dummen Augusteinfällen, lose auf-
gereihten Kasperletheaterstreichen, ein Sammelbecken skurriler
Einfälle, an denen Grabbe förmlich hypertrophierte; es ist
eine reiche ungewöhnliche Talentprobe voll ätzender Schärfe,
von grauenhaft grotesker Romantik, voll naturalistisch-
genrehaften Details. Aber die Hemmungen durch die künst-
lerische Zucht sind wieder zu schwach, um nicht zu viel Läp-
pisches, Albernes, Unsinniges, Unflätiges durchzulassen. Des
Stückes Wesen ist heterogene Oberfülle, Häufung — aber auch
Reichtum der Verschwendung: Leuchtkugeln des Witzes, sprü-
hende Laune, faunische Spässe, burleske Einfälle, grelle Far-
benimprovisation, alkoholische Inspiration aus der Künstler-
kneipe und dem Literaturkafg, Fastnachts- und Aschermitt-
wochseinfälle. Der Witz ist Wortwitz, komisches Zitat, Per-
siflage, Travestie, besteht in Übertreibung, unmöglichen Zu-
sammenstellungen, Mißverständnissen, Zoten. Grabbe ist der
geborene Karrikaturist: viele Personen sind körperliche Miß-
geburten. Burleske Clownspasse und Kasperletheaterstreiche,
wie sie den Rahmen der tollsten Posse durchbrechen
und andererseits satirische Feuilletons über das Wesen
des Komischen, die durch den Obergang irgend eines
Zufallswortes mit der Haupthandlung in Zusammenhang
— 95 —
gesetzt werden — bilden die beiden Enden. Vorbildlich
oder verwandt wirken in der literarischen Satire
Tieck, für die Metamorphose Hoffmann, für die ak-
tuellen Anspielungen Heine. Aber zartbesaiteter
und seelischer erscheinen diese Geister vor dem groben unge-
fügen ungebärdigen zerstörerischen Grabbe.
Die technische Form sei in wenigen Sätzen be-
rührt. Im ersten Akt führt nur eine Szene' einen Freier vor, im
zweiten Akt treten Mordax und Mollfels hinzu, im dritten Akt
erfolgt die Lösung. Die Technik ist sehr einfach: gewöhnlich
folgt auf einen Monolog ein Dialog. Wir haben 14 Monologe,
sonst Dialoge, nur 3 kompliziertere Szenen, von denen in
zweien die Fäden sämtlicher Handlungen zusammenlaufen;
aber das gewöhnliche Schema ist ein Nacheinander. In I 3
spielt der Teufel die größte Rolle, Liddy und Wernthal haben
wenig Berührung mit Rattengift, dieser wird durch den Schul-
meister verdrängt. Nacheinander treten in den Vordergrund
der Schulmeister, der Teufel, Liddy, der Schulmeister,
dann wieder der Teufel. Die Haupthandlung wird eingeleitet,
der Teufel treibt seine Scherze und literarische Satire wird
eingeflochten, sei es, daß Gottliebchen an Hogarth erinnert,
womit ein Obergang zu den Malerschauspielen gefunden ist,
sei es, daß das Wort „gemütlich" zu der eleganten Zeitung
überleitet. In III 1 eröffnet Gottliebchens Verkleidung einen
Diskurs über das Komische. (Diese Obergänge klingen an
Tieck an, z. B. Leander muß sich hüten, nicht vor Rührung
in eine schwülstige Hyperbel auszubrechen; oder „warum
wollen Sie einer armen Metapher nicht die Wahrheit gönnen?")
In der Schlußszene treten nacheinander sämtliche Personen
auf: zunächst der Baron, Liddy und Rattengift, dann Mollfels,
darauf der Schulmeister und der Teufel; nach dem Erscheinen
der Teufelsgroßmutter hat noch einmal jede Person das Wort.
Wenn zum Schluß die Teufelsgroßmutter und Grabbe auftreten,
so wird die Form ebenso aufgelöst, wie bei Tieck: im Zer-
bino wird das Publikum apostrophiert, Zerbino will aus dem
— 96 -
Stück heraus, wird aber durch den Verfasser und seine Kri-
tiker daran gehindert. Im Phantasus beruft sich Tieck für die
sich selbst verspottende Bühne auf Aristophanes und Holberg.
In der Qelagszene ist die Führung des Bachanals so verteilt,
daß der Schulmeister 25 mal, Rattengift 12 mal spricht, Moll-
fels, der länger nüchtern bleibt, 19 mal; eine bestimmte Reihen-
folge ist mit Recht vermieden.
Ein Narr, dessen Kleidung aus den buntesten Fetzen zu-
sammengeflickt ist, schwingt die Pritsche. Was Orabbe als
Ideal des Lustspiels andeutet, ist der Versuch, alle Nuancen
des Komischen vom Clownspaß des Dummen August bis zum
überlegenen Welthumor zu erschöpfen. Es ist gleichzeitig ein
Gericht über die zeitgenössische Literatur, wie seinerzeit
Lenz im Pandämonium Oermanicum will er lachend die Wahr-
heit sagen. Schon Schiller hatte in seiner „Schaubühne als
moralische Anstalt betrachtet , gesagt: Die Bühne soll der
Zeit einen Spiegel vorhalten, nicht nur durch Rührung und
Schrecken wirken, sondern durch heilsamen Spott, Scherz und
Satire.
Die Satire trifft das Duell, die griechischen Freiheitskriege
und, wie gesagt, vor allem die Literatur.
Rattengift ist Romantiker milder Observanz. Er
liest viel in den Schriften der neuromantischen Schule und ist
in die Waldhäuschen vernarrt. Er sucht nach originellen Bil-
dern ä la Calderon, der z. B. Tieck im Oktavianus vornehm-
lich begeistert hat. Zuletzt geht ihm die Idee zu einer naiv-
verrückten Ballade auf: Nero putzt des Teufels Reitstiefel.
Seine Heroen sind Schillers Posa und Wallenstein, Müllners
Hugo, Houwalds Spinarosa. Er scheint übrigens nicht allzu
revolutionär: er ist für Korrektheit, für Einheit in Ort und
Zeit. Aber er fällt aus der Rolle und verspottet sich selbst.
„Die Komik darf nicht zu kühn und laut sein, der Deutsche ist
zu vernünftig dazu; die Komik muß so fein sein, daß man
sie nicht sieht." Da wiederholt er nur Ansichten, die bereits im
„gestiefelten Kater u niedergelegt sind: „Meine Landsleute sind
so klug, daß man allen Spaß verbot als gemein, pöbelhaft nieder-
- 97 -
trächtig" — so daß Grabbe also als echter Revolutionär er-
scheinen mußte — , oder im Phantasus: „die Deutschen ver-
stehen wenig Spaß und wollen auch in der Poesie Politik."
Noch weniger mochte Tieck davon erbaut sein, daß Rattengift
mit dem Abendblatt und seinem Mitarbeiterkreis verbündet
wird; schrieb er doch selbst dafür. Der Redakteur Winkler,
der unter dem Pseudonym Hell — nach Orabbes Wortspiel
ein Lucus a non lucendo — schrieb, vergalt übrigens Böses
mit Gutem und beschämte Orabbe später, indem er dessen
Werke lobte. Das Blatt war dem neuen Oeist nicht hold, wie
das Gedicht von Castelli zeigt; Heines Lieder werden als un-
poetische Auswüchse abgelehnt und dieser beschreibt in der
Harzreise eine Szene, in der das Abendblatt als Orakel einiger
aesthetisierender Damen auf dem Brocken angebetet wird.
Methusalem Müller ahmte Scott nach, Döring beschrieb Schil-
lers Leben; Gleich wird auch vom Morgenblatt als matt
redselig und uninteressant charakterisiert.
Der zweite Kritiker ist der Schulmeister, der Ge-
lehrte, Pädagoge, Ethnologe, Vielwisser. Er liest die „elegante
Zeitung." Zu der Häringsliteratur gehören die hochangesehe-
nen Erzähler und Lyriker, denen der Misogyn den Namen
Damenschriftsteller gibt: Th. Hell, Krug von Nidda, Kuhn,
Houwald, Vandervelde, weiter L. Brachmann, die ertrunkene
Sappho; Elise von Hohenhausen geb. Ochs; ja sogar Goethes
Divan und Wanderjahre werden hier genannt; kein wei-
terer Witz wird hier verwandt, als der, daß diesen
Schriftstellern das Salz fehle, und das ist zu wenig für
so viel Obermut. Wie überhaupt die literarische Satire
entweder zu direkt oder durch eine heterogene Gegen-
überstellung wirken soll. Kuhn gab den „Freimütigen"
heraus und besang etwa seine schwermütigen Gefühle
Herbst 1820: „man sieht mit rasendem Beginnen der
Volksverführer kecke Schar, frech auf des Zephirs Führung
sinnen, Gelähmt sind Sitte, Zucht, Altar!" Es ist ungemein be-
zeichnend, daß der „Gesellschafter" allein ganz verschont
Nieten, Chr. D. Qrabbe. 7
— 98 -
bleibt. Ziemlich albern sind die Wortwitze über die Maler-
schauspiele (Oehlenschläger, Correggio) , ein Kind schrieb van
Dycks Landleben und die Leute sind Pinsel. Witziger und
sehr scharf ist seine Kritik der ledernen Kamilla.
Das Schicksalsdrama, das in der Ideen- Assoziation des
trunkenen Schulmeisters sich mit dem marmorharten Tisch
verbindet, wurde 1821 im Morgenblatt gegen die Antifatalisten
verteidigt. „Die Gottheit der Antifatalisten ist die Langeweile",
sagt Mollfells, der auf dem Standpunkt des Morgenblattes
steht. Seine Nase ist so platt, wie eine Erzählung von Karo-
line Pichler, die auf so geschmackvolle Weise mit der Chezy
und Fanny Tarnow eingeführt wird. Mollfells verteidigt Shake-
speare und Orabbes Oothland: ersteren gegen die moderne
Mittelmäßigkeit und Korrektheit, die mit der Aufklärung in
Tiecks „Prinz Zerbino" Shakespeare als tollen, wilden Drauflos-
gänger abtut; letzteren gegen den nassen Dreck der zwar
regelrechten, aber mittelmäßigen flachen Trauerspiele. Übri-
gens ist bei Mollfells' Metamorphosen wie vorher beim Teu-
fel am meisten der Einfluß Hoffmanns zu verspüren.
Scharf und schneidend — wie Orabbe bei Jerrmann —
fast mit der Entrüstung Karl Moors über das tintenklexende
Säkulum — bricht der Baron den Stab über Presse, Litera-
turgezänk, Schauspieler, Dichter, wie man sich überhaupt zu-
weilen an Schillers Räuberszenen erinnert fühlt Eine ent-
schieden antisemitische germanische Tendenz kommt dabei
zum Vorschein. Käuflichkeit, Lobhudelei, Klickenwesen in der
damaligen Presse war evident. 1821 bot ein Beispiel die Auf-
führung von Gerhards Sophronia in Leipzig, die zum Teil
von Studenten' zu Fall gebracht wurde. Kalophilos in der
Abendzeitung trat dafür ein; ganz anders der „Freimütige",
der außerdem behauptete, nicht der gewöhnliche Rezensent
Wendt, sondern der Autor Gerhard selber habe die Kritik
für das Morgenblatt geschrieben.
Der Teufel ist selber Autor: Seine Werke sind die
französische Revolution, aber auch die griechischen Freiheit*-
- 99 -
kämpfe. Die Welt ist ein mittelmäßiges Lustspiel, das ein
gelbschnäbeliger Engel auf Prima geschrieben hat Die deutsche
Literatur ist das Jämmerlichste unter allem Jämmerlichen.
Alles steht auf dem Kopf: Samiel ist im Himmel, MQUner's
Hugo in der Hölle, Posa ist dort Kuppler, Wallenstein Rek-
tor. Hier entfaltet Orabbe glänzende Einfälle und zeigt einen
Rezensenten-Witz, der Heine und Börne so große Erfolge
brachte. Aber er ist wieder zu freigebig und auch Albernes
läuft wieder unter z. B. Horaz heiratet Maria Stuart u. a.
— Das Morgenblatt lobt das feine Urteil neben plumpen Eulen-
spiegeleien; die literarischen Unterhaltungsblätter bewundern
den Witz, der bis zum Himmel hinaufzusprudeln und seine
Umgebung mit Staubregen scheint einfüllen zu wollen. Aber
die Halle'sche Literaturzeitung hört auch das Lachen der
Verzweiflung heraus. Und in der Tat, auch hier im Lust-
spiel enthüllt sich die nihilistische Weltansicht des Dichters.
Zuletzt folgt eine Art Nemesis. Orabbe selbst erscheint
als Mißgeburt: er schimpft auf alles und taugt selber nichts.
Das Stück ist weiter als biographisches Dokument merk-
würdig. Köchys Kasperletheater tritt vor unserem Geist in
Tätigkeit. Die Berliner Genossen erhitzen sich und schimpfen
über die kritischen Journale — - nicht nur beim ästhetischen
Tee, viel mehr noch beim Punsch. Und das Bachanal ist nicht
nur ein Seitenstück zu der Szene im Gothland, sondern leider
auch zu vielen anderen Szenen in Grabbes Leben, z. B. den
Detmolder Rum- und Gloria-Tees. Da verkleidete man sich
mit Laken, soff unmäßig, erzählte sich zweifelhafte Anekdoten
und kannte sich nachher vor Trunkenheit und Dunkelheit nicht
mehr aus. Und so fällt Mollfels vom Tisch, der Schul-
meister knirscht mit den Zähnen,. Rattengift kriegt dicke Augen
und man findet sich am anderen Morgen in den unmöglichsten
Stellungen. — Aber nicht nur die gierige Freude am Punsch-
gelag wird unbarmherzig naturgetreu abconterfeit, die ganze
Furchtbarkeit der niedern Triebe Grabbes wird offenbar. In
ungeschminkter Wahrheit gibt er sich wie er ist mit seinem
7*
*
— 100 —
ehrlichen Bauernzorn seiner sich selbst ironisierenden Eitel-
keit, seiner Mystifikationssucht
Das Lustspiel, das in seiner Totalität so ganz bühnen-
unmöglich erscheint und doch in vielen drastischen Einzel-
heiten nach Verlebendigung auf den Brettern dringt, erlebte
seine Uraufführung nach mehr als 80 Jahren im Münchener
Schauspielhaus, wo am 27. Mai 1907 der Münchener drama-
tischen Gesellschaft das köstliche Experiment mit überraschend
glänzendem Erfolg gelang. Das formlose Durcheinander
schien doch ein Geist sprühender Laune zu beseelen. Im
Mittelpunkt des Interesses stand die Meisterleistung des ge-
nialen Albert Heine in der Darstellung des „entzückend frechen,
schlauen, dummen, sich selbst in allen Spiegelungen der
Volksphantasie ironisierenden Teufels. u Friedrich Basil hatte
das von Max Halbe bearbeitete Spiel inszeniert und er ver-
körperte den Schulmeister mit prächtigstem Gelingen. Der
tragische Humor aber lag darin, daß nach solchem Erfolg,
den niemand für möglich gehalten hatte, Grabbe, der am
Schluß des Stückes ja in persona erscheint, stürmisch vor den
Vorhang gerufen, sich für den glorreichen Abend bedanken
konnte — was ihm zu Zeiten seiner irdischen Laufbahn nie
begegnet war.
d) Nannette und Marie
„Nannette und Marie sind nicht weicher
als Gothland. Leben und Liebe sind darin
wie eine Seifenblase behandelt«
Orabbe an Ketteinbeil.
Am 21. Mai 1823 schrieb Grabbe an seine Eltern: ich habe
nun schon wieder ein drittes Stück fertig. Dieses Stück war
„Nannette und Maria". Grabbe hoffte wohl, mit dieser Arbeit
Tieck zu gefallen, der denn auch das Spiel „allerliebst* 4 fand.
Mit den andern Dramen vereinigt, sollte es die Leser des
„Gothland" versöhnen. In wenig anmutendem Jargon bezeich-
net es der Verfasser gegenüber Kettembeil als Köder an der
- 101 —
Angel oder noch roher als die Hure, mit der er die Leute an-
lockt.
Spielende Mädchen im Arnotal eröffnen die Szene, in lusti-
gem Obermut karikieren sie den alten Dortpfarrer, der es
in Wahrheit nicht verdient — bloße Harmlosigkeit ohne etwas
tragisch-satirisches Gift wäre nicht von Orabbe. Leonardo, der
diese Szene unbeachtet beobachtet hat, ist urplötzlich in Nan-
nette verliebt und nun folgt alsbald auch ein Liebesgespräch,
das hier und da allzu bizarr und dann wieder abstrakt ver-
stiegen, doch aparte und reizvolle Details enthält. In den
schalkhaften Schelmereien steckt immer ein bischen Grausam-
keit und aus den Neckereien lugt die Katzenpfote hervor.
Schon Pichler, der Detmolder Theaterdirektor, dachte bei
der Nannette an Shakespeares Julia, und wie Leonardo davon-
stärzt, das erinnert stark an Goethes Werther, der denn auch
damals neu aufgelegt wurde. Es geht .blitzartig, rapide zu.
Leonardo gibt Maria, der konventionell Verlobten, den Trau-
ring wieder und diese nimmt ihn zurück, zu stolz, ihre Liebe
zu gestehn. — Der 2. Akt enthält 2 ländliche Genrebilder
— eine gelegentliche Anleihe bei den vielgeschmähten Maler-
schauspielen scheint doch erlaubt — : die Verlobung im Hause
bei Pietro, dem Landmann, der alsbald die Trauung im Hause
des Pfarrers folgt, welcher im Naturgenuß und biblischer Fröm-
migkeit die Welt vergißt. Es ist eine Skizze, die an den Land-
prediger von Wäkefield erinnern mag. Wunderlich ist der
platonische Seelenwanderungsgedanke in den Empfindungen
der Maria, und andererseits lugt der Pferdefuß hervor in dem
Schäferidyll, das nicht ohne Pikanterie die ahnungsvollen Ge-
fühle nach der Trauung vor der Brautnacht malt, in dem es
roh und ungefüge z. B. heißt: „die Gipfel trinken wie dur-
stige Zungen den Aether". Inzwischen hat die Spange, die
Maria zur Erinnerung behielt, ihren Bruder Alfredi, den Wei-
berhasser, über den Verrat Leonardos aufgeklärt Noch weiß
Maria von der Vermählung nichts und der Dichter benötigt
eine kurze Szene, in der Maria den Vorsatz faßt, auszugehn,
— 102 —
um Nannetten zu sehn und — sie, die Stolze — sich »wie ein
Würmchen an des Geliebten Fersen zu hängen." Die Schluß-
szene atmet anfangs eitel Glück, dann bricht das jähe Ver-
derben herein — Zufall, Verwechslung, Mißverständnis spielt
eine schlimme Rolle, und die doppelte Tragik besteht darin,
daß Maria in dem Augenblick des schmcrElich-herrlichcn
Triumphs der Selbstüberwindung stirbt und tötet. Etwas von
der sozialen Tendenz seiner Komödie macht sich auch hier
geltend: in die ländlichen friedlichen Kreise bricht das Un-
glück herein, als ein Edelmann in Liebe zu einer Tochter des
Volkes heruntersteigt. Alfredi ^mordet die Jungvermählte,
Leonardo übt Rache an der schuldlosen Maria. Der Schwester-
mörder und der Brautmörder schreiten zum Duell — .doch
das wäre eine äußerlich-konventionelle Lösung — sie ver-
söhnen sich, gleichsam geleitet von dem Geist der teuren Toten
— „Unsre Tat ist sehr verschieden — unser Schmerz ist eins".
Die Schlußszene ist so voll jäher Steigerung, daß das Tra-
gische sich überschlägt, sodaß selbst ein so warmer Anwalt
der Grabbeschen Muse wie Gottschall den Schluß zu burlesk
findet.
Alle Personen sind in das Tragische verflochten. Eine
ziemlich komplizierte Handlung wird in einer kurzen Skizze
erschöpft Eigentümlich ist die Kontrastwirkung: der Dich-
ter findet Zeit zu lyrischen Ruhepunkten und Episoden und
sucht dann die Handlung, den tragischen Gehalt in Epiram-
men zu konzentrieren. Diese gesättigte Knappheit sollte man
bei dem Gothlanddichter kaum vermuten, aber in der Pro-
portion, in den Bizarrerien, in der grausamen Kälte erkennt
man ihn wieder. Grabbe sagt mit Recht: „Nannette und Maria
sind nicht weicher als „Gothland", Leben und Liebe sind darin
wie eine Seifenblase behandelt." Auch in der „Verlieberei",
worin das Talent des überwiegenden Teiles der Belletristen
besteht, bleibt Grabbe eigenartig. Gerade als Skizzen in den
von einem scharfen Verstand ergriffenen Formen — üben die
Mädchengestalten ihren Reiz. Der Kritiker des Morgenblattes
— 103 —
denkt bei Maria an die Donna Urracca im Cid und er nennt
sie die schönste Gestalt, die bisher aus des Dichters Schöp-
ferkraft hervorging. Die literarischen Unterhaltungsblätter
tadeln, daß die allerliebste Nannette stirbt — sie ist in der
Tat das schuldlose Opfer einer fibergroßen tragischen Grau-
samkeit. —
Der Stoff hat etwas Novellistisches. Anlehnung an eine
Tiecksche Novelle habe ich nicht gefunden, man könnte etwa
denken an Sodens „Natalie und Desaide", wo zwei Töchter
benachbarter Edelleute gezeichnet werden, die eine glänzend
— die andere einfach. Sicher aber dürfte Qrabbe angeregt
sein durch Julius Körners nach einem Roman von Lafontaine
gearbeitetes Schauspiel „die beiden Bräute" (1823). Dieses
Stück spielt in Rom und Florenz. Eduard schwankt zwischen
der unschuldsvollen reinen Emma und der stolzen Adelma,
die ihre Nebenbuhlerin schließlich vergiftet. Diesen Stoff hat
Qrabbe umgewandelt. Maria ist eine viel eigenartigere Ge-
stalt als Adelma, und indem Grabbe den Bruder einführt, hat
er eine neue Spannung hereingebracht.
Der wortreiche Goth landdichter wie der lakonische Dichter
des „Nannette und Maria" tun in ihrer Art zuviel. Das ganze
Stück mit seinen 533 Versen wird durch manche Gothland-
szene an Länge übertroffen. Die Akte sind ziemlich propor-
tioniert, ganz unvermittelt setzt nach dem Prosaeingang mit
dem Liebesgespräch der Vers ein. Das erinnert an „Don
Juan und Faust", wo sich Maria in Anna wiederholt. In der
Jungfräulichkeit beider ist etwas von der romantischen Mystik,
wie ihr stolzes Ehrgefühl aus Calderon stammt.
Die Sprache ist pointiert und bilderreich. Schlichtes Ge-
fühl kann Grabbe nicht darstellen. Er schildert, was Verstand
oder malende und formende Phantasie von der Liebe wieder-
geben kann. Betrachten wir uns die Sprache seiner bilder-
reichen Phantasie etwas näher. Die Extreme sind abstrakte
Verstiegenheiten und allzu gewagte Bizarrerien. Die Na-
turvertiefung ist nicht bedeutend, gern nimmt Grabbe
— 104 —
die Vergleiche aus der Tierwelt. Er mischt wie Kleist das
Schreckliche mit dem Lieblichen. Doch ist bei Kleist eine
höhere Stileinheit und eine gesättigtere Plastik. Qrabbes An-
schauung verflüchtigt sich zu oft und in seiner Regellosig-
keit wird er leicht verstiegen oder absurd.
Qrabbe bemäht Blättergesäusel, Blumenduft, Abend- und
Morgenröten, die Requisiten der Neuromantiker — aber man
wird hier den Verdacht der Parodie nie ganz los. Tausend
sonn'ge Abendröten fliegen wie aufgeschwellte Friedenssegel
(Synekdoche) durch die Welt. Als Katachrese muß man es
wohl bezeichnen, wenn Brautrot wie eine neue Morgenröte durch
den Abend von Pietros Leben fährt. Himmelserscheinungen,
Tageszeiten werden gerne herangezogen: die Nacht ist gleich
'nem düstern tränenumperlten Antlitz. Die Erde wird mit
Byrons Manfred einem fremden Sterne verglichen, der ohne
seinen Schmerz zu zeigen im Strahl der Sonne blinkt. Die
Sterne brechen wie ein Blütenregen durch das Abenddunkel.
Gewöhnlich dient das Bild dazu, das Unsichtbare sicht-
bar zu machen, am wenigsten taugt es, abstrakte Dinge durch
andre Abstraktionen Zu vergleichen z. B. Liebe und Früh-
ling. Da Orabbe echte Gefühlslaute nicht finden kann,
schmückt er die Geliebte mit allerlei Bildern, die teils ge-
liehenes Gut sind, teils eigener Erfindung entstammen. Nan-
nettes Mund ist ein purpurnes Siegel» das man mit einem
Kusse aufbricht, die Zähne sind eine zweizeilige Perlenschrift,
Romantisch-orientalische Bilder scheinen vorbildlich. Die ein-
zelnen Teile des Gesichtes werden lebendig: die Augenbrauen
sind zwei Raben im Schnee, die — nun wird Grabbe ganz
ungefüge und bizarr — Leonardos Busen aufhacken wollen, ja
mit Mäusefallen verglichen werden. Das Ohr blickt listig
lauschend aus den Locken, wie auch der Mond voll Neugier
durch den Riß des Apennins blickt. Die Wangen sind im
Lichte der Augen gereifte Früchte, die Stirn gleicht einem Dia-
manten, der Wein durchschimmert purpurn den Hals, ihre
Worte sind Silbertropfen, die in die See fallen — An vielen
— 105 -
abenteuerlichen Einfällen erkennt man Grabbe, am unver-
kennbarsten aber zeichnet ihn das Krokodil, das auch in
„Aschenbrödel" an einer Stelle erscheint, an der gewiß nie-
mand auf solche Begegnung gefaßt ist. Die Brautnachtstim-
mung gleicht dem Haschen nach einem Schmetterling.
In welch grausambizarren Hyperbeln entlädt sich Qrabbes
Zärtlichkeit! — Dieses Verkleinern und Vergrößern im An-
schmachten: Leonardo ist ein Feueranbeter, Nannette möchte
ein Johanniswürmchen sein, das nach der Nacht in selge Asche
zerfällt! Er saugt ihr die Seele aus dem Finger. — Der Ori-
ginalitätssüchtige bringt überall seltsame Schnörkel und Ara-
besken an und sucht ein Kolorit, in dem die verschiedenartig-
sten Farben gemischt werden. Vieles wirkt gekünstelt, und
fällt ihm nichts ein, so muß der Dichter so abgegriffene Wen-
dungen mühsam verhüllt aufnehmen. Trotz mancher Natu-
ralismen und Geschmacklosigkeiten, in denen sich in jeder
Dichtung unerwartet und doch unvermeidlich das Proletarium
des Dichters signalisiert, ist doch das Obscöne gemieden,
die Kontraststimmung ist getroffen. Daneben charakterisiert
den Dichter das Plötzliche — in der Handlung sowohl wie in
dfer Sprache. Kein Wort malt diese hastige und doch starke
Bewegung sp wie das Zeitwort: zucken.
Maria möchte mit dem Zucken ihrer Wimper den Treu-
losen niederblitzen. Die Wangen ihres Antlitzes sind weiße
Rosen, dann flammen sie auf in Opferglut. Ihre Locken glei-
chen dem dunkeln Feuer, das den Todesgöttern lodert, der
Dolch sitzt wie ein Dorn in ihres Nackens Blume, der Nacken
ist ein Fußschemel. Vergleiche werden auseinandergerissen
oder ineinandergeschoben. Maria sagt: „Der Mädchenbusen
ist ein Haus, daran von Anfang an ein Feuerfunke gelegt
worden, die Olut muß wider Willen aufzischen, wennfrostge
Zacken sie durchschneiden" — diese frostigen Zacken sind
Leonardos Blicke! In der „Doppelsonne des Busens" sind 2
Bilder zusammengeschoben.
— 106 -
Immerhin lohnt es, sich die Arbeit dieses Kabinettstück-
chens näher anzusehen und die Verzierungen, die dem Rah-
men dieses seltsam leuchtenden Juwels eingegraben sind, auf
seine Eigenart zu studieren. Mit mannigfacher Art von Tro-
pen und rhetorischen Figuren schmückt Orabbe die Sprache.
Als Beispiele mögen dienen Antithesen: die Welt ist leer — die
Brust ist schwellend voll, unsre Tat war sehr verschieden, unser
Schmerz ist eins. Oder Epizeuxis und Anaphora: die Spange
ist kalt, kalt wie seine Rede. Iteratio und Klimax: mein Blut,
mein heißes Blut. — Auch der Satzbau ist beachtenswert. Ein
Wort wird emphatisch vorangestellt. Inversion ist häufig,
ebenso Ellipsen, Imperativformen, seltener Aposiopese. Neben-
sätze finden sich kaum. Das unpersönliche Fürwort „es"
wird vermieden. — Silbenverstümmelung ist häufig. 85 mal
fällt das „e" aus, 17 mal das „i". Ebenso ist Synalöphe für
Orabbe überhaupt charakteristisch, sie kommt sogar im Dativ
vor (gleich 'nem düstern tränumperlten Angesicht). Von den
533 Versen sind die meisten hyperkatalektisch. Doch finden
sich 72 Vierfüßler gegenüber 21 Sechsfüßlern.
e) Marius und Sulla.
»Es galt, das trockene selbst im Kriege mit
Carthago nach Pandekten riechende Römer-
leben den modernen Spectators intressant zu
machen.
Orabbe an KettembeiL
Das Lehrlingsprobestück künftiger Meistertaten lieferte
Orabbe mit seiner ersten Bearbeitung der Historie in „Marius
und Sulla". Am 11. Juli 1823 vollendete er 3 Akte, die er
Tieck überreichte, der aber — ließ er doch auch Goethes
Götz nicht gelten — keine Freude daran gehabt haben mag.
Im Juli und August hat Grabbe das Stück in Hannover um-
gearbeitet und im besondern die Umrisse des 4. und 5. Aktes
hinzugefügt. Die erste Fassung ist eine Skizze in Jamben,'
unmittelbar nach Plutarch gestaltet, sie weicht von der end-
giltigen erheblich ab. Sie ist weniger durch künstlerischen
— 107 —
Wert bedeutend, denn vielmehr als Zeugnis für die Arbeits-
weise des Dichters. Im ersten Entwurf — das Manuskript
befindet sich auf der Berliner Bibliothek — steht Marius im
Vordergrund, der später durch Sulla zerschmettert wird.
Wie kam Qrabbe auf diesen Stoff? „Ein Charakter wie der
Sullas war noch auf keiner Bühne — er hat etwas von mir."
Auch Oothland möchte einer von den gepriesenen Attilas,
Sullas und Cäsars werden. Bei Goethe sagt Sulla von Cäsar:
„Es ist etwas Verfluchtes, wenn so'n Junge neben einem auf-
wächst, von dem man in allen Gliedern spürt, daß er einem
übern Kopf wachsen wird." In Klingers „neue Arria" wird
Ludovico mit Sulla verglichen.
Kurz vor Grabbe hatte Kestner, der hannoversche Ge-
sandte und Kunstfreund in Rom, eine Tragödie „Sulla" er-
scheinen lassen (Hannover 1822) vielleicht angeregt von Jouys
Napoleon-Tragödie „Sylla" und die Lektüre von Vertots
„histoire des revolutions Romaines". Dieses Drama hört genau
da auf, wo Grabbe fortfährt: mit der Vertreibung durch Sulla
(Plutarch, Sulla Kap. 10, Marius Kap. 35). Sulla ist der Ober-
befehl im mithri datischen Krieg übertragen worden, aber die
Menge schwankt und Marius gewinnt sie für sich, indem er
sich auf seine früheren mit Undank belohnten Verdienste beruft
und die gute alte Zeit mit ihrer Sitteneinfalt als bedroht durch den
Luxus Sullas zeigt. Sulla, der erst im 2. Akt auftritt, verkehrt
in solcher Zeit mit Schauspielern und Poeten, er bestellt ein
Spottgedicht auf den alten Bauer Marius und scheinbar mit
Tändeleien die Zeit hinbringend, überdenkt er alles in seinem
Innern. Seltsam kontrastiert mit seinem Aberglauben seine
Blasiertheit und verächtlich sieht er, der vornehme Mann, auf
das Volk herab, das er wie Würmer zertreten möchte. Me-
tellus als laudator temporum actorum sucht Sulla von einem
Blutbad zurückzuhalten. Tollkühn begibt sich dieser in der
furchtbarsten Gefahr in das Haus des Marius, der aus Furcht
vor den Göttern das Oastrecht nicht zu verletzen wagt, wie
er Tatkraft auch in den parlamentarischen Sitzungen ver*
— 108 —
missen ließ. Der Kampf in Rom dauert noch fort, als Sulla
auszieht Sulla ist im Felde siegreich als Herold einer neuen
Zeit und zwiefach bereit, Marius zu treffen. Kestner hat das
Jahr 88 herausgegriffen, wo auf Messerschneide die Ent-
scheidung stand, wo der Stern des Marius sank und der des
Sulla aufging. Aber das Morgenblatt (Juli 1823) kritisiert:
dieser Kampf zwischen Sulla und Marius, die man beide nicht
groß nennen könne, errege keine Teilnahme. Und der Erfolg
belehrte Kestner, daß Kunstverständnis und produktive Kraft
zweierlei sei. Nun hat er zwar einen fruchtbaren Moment
gefunden, aber seine volle Bedeutung doch nicht erschöpft. Er
hat den historischen Hintergrund festzuhalten gesucht, indem
er in jedem Akt seines Jambendramas das von dem enttäusch-
ten Idealisten Sulpicius aufgewiegelte Volk in Prosaszenen in
grotesk-satirischer Beleuchtung zeigt. Da aber das Historische
allein nicht genügte, hat er das Ganze durch eine erfundene
Familienflragödie zusammengehalten und eingerahmt, die sich
im Hause des Pompejus, des Schwiegersohnes Sullas, abspielt.
Pom pejus geht in dem Konflikt zwischen der Treue zu seinem
Freunde Licinius und der Liebe zu Cornelia zugrunde. Aber
Sulla opfert seinem Ehrgeiz nicht nur den Schwiegersohn,
auch Cornelia, seine Schwiegertochter, irrt wahnsinnig gleich
Ophelien daher und stürzt sich in Sullas Schwert. Erst über
-die Leichen seiner Angehörigen erreicht Sulla sein Ziel. Aber
wenn dies die Grundidee war, so geht sie weniger aus der
Haupthandlung, als aus einer Episode hervor.
Wir haben das Drama ausführlicher besprochen, weil
Grabbe es gekannt und wohl auch benutzt hat, sodann weil
wir hier ein Beispiel haben, wie damals ein antiker Stoff
dramatisiert wurde in einer Behandlung, die in der Mitte steht
zwischen der völligen Verflüchtigung des Historischen (Auf-
fenberg Weichselbaumer) und der getreuen Vergegenwärti-
gung und Ausschöpfung der historischen Zeitverhältnisse und
des geschichtlichen Lokals (Grabbe) . — Collins „Regutus" hatte
das antike Römerdrama wirkungsvoll erneuert. Zu Orabbes
— 109 —
Zeit dichtete Weichselbaumer Römertragödien bes.
z. B. „Pyrrhus und Fabricius", wo zuletzt Pyrrhus von der
Größe Roms überwältigt ausruft: „o Freiheit, Du nur schaffst
die wahre Größe!" — oder „Cindnnutus", „Fabius' Urteil*
„Hannibal und Scipio vor der Schlacht bei Zama". Seine
Werke zeigen edle Römertugenden wie an einem Paradigma,,
aber sie schmecken nicht nach der Quelle und schildern nicht
das historische Milieu. Sonst werden wohl Germanicus, C&sar r
Pompejus, Brutus, Sertorius, Horatius dramatisiert; Uechtritz
dichtete ein Drama „Spartacus". Wir begegnen einem Cyrus v
Mithridates wird von Weidmann und Stever dramatisiert. Von
Griechenhelden erscheinen Aristodemus und Leonidas; Aufren-
berg, der fruchtbare Poet und badische Gardeleutnant, schrieb
sein »Opfer des Themistokles". Auch hier ist kein Lokalkolorit,
nur edle Gesinnung in der Nachahmung Schillerscher Sprache:
Artaxerxes und Themistokles überbieten einander an Edel-
mut. In dem Konflikt, Hero treu zu sein und sein Vaterland
zu verraten, sucht Themistokles seinen Tod: »schön ist das
Leben in des Glückes Armen, Doch schöner ist der Tod des
Vaterland". Iphigenie scheint das Vorbild der Hero zu sein,
Themistokles hofft auf ein Jenseits. Von solchen Schön-
färbereien wußte Grabbe nichts. Es sind nur die Namen^
welche die Antike zeigen; das Stück kann gerade so gut
anderswo spielen.
Immer muß eine Liebesgeschichte dabei sein. Daher war
ein sehr beliebtes Thema „Dido", das z. B. von Gehe und
Weichselbaumer behandelt wurde, und von dem wahren histo-
rischem Geist ahnen wir nur wenig. Mehr Geschichte war
in Kestners „Sulla" — in dem man eine Nachahmung von
Shakespeares „Julius Cäsar" fand — , aber auch hier wird das.
Stück nur durch die Familientragödie gehalten, die sehr frei
poetisch ausgeschmückt wurde. Grabbes Charakteristik ist
realistischer, scharfer, großartiger. Am meisten Grabbe ähn-
lich in den satirisch-realistischen Szenen, in der philosophi-
schen Grundierung sind U echtritz ens „Rom und Spartacus' 4 und
etwa Immermanns Dramen.
— 110 —
Im ganzen also hat Grabbe nur der Historie und Shake-
speare zu danken, wenn er vor allem auf historische Wahr-
heit, Lokalkolorit und Erdgeruch ausgeht, auf die echt reali-
stische scharf umrissen« Charakteristik der Helden, die wieder
erst aus dem allgemeinen Milieu verständlich werden. Vor
allem muß zunächst der. Held hingestellt werden, so wie
er nach der Geschichte leibt und lebt. Historisch hat sich
Kestner nach Plutarch (Marius 35) gerichtet. Auch hier ist
das Zusammentreffen zwischen Marius und Sulla in 2 ver-
schiedenen Versionen berichtet. Der wichtigste, ja der ein-
zige Moment, von dem aus die Idee eines Dramas „Marius
und Sulla" entstehen konnte, war also eigentlich vorweg-
genommen. Pompejua Rufus, Sullas Schwiegersohn, wurde
hingerichtet (Sulla 7. 9) . Cnejus Pompejus, der zwischen den
Parteien schwankte, starb aber erst nach der Rückkehr des
Marius. Daß Marius ein unfähiges Werkzeug des Sulpicius
war, wird von Mommsen bestätigt. Geschichtlich folgt auf die
Ereignisse des Kestnerschen Dramas die abenteuerliche Flucht
des Marius, der zuletzt nach Afrika kommt Und so beginnt
Grabbe unmittelbar da, wo Kestner aufhört
Die ursprüngliche Fassung in 3 Akten enthielt durchweg
5 füßige Jamben. Sulla begegnet nur im 1. Akt und in einer
Szene des 3. Aktes, im übrigen gehört das Stück dem Marius.
Wir haben ein untergehendes und ein aufgehendes Gestirn im
Entscheidungskampf als Grundidee. Nach der Geschichte war
allerdings Marius schon 86 gestorben. Cinna ward 84 er-
schlagen. Sulla aber kam erst nachdem nach Italien. Die
beiden Akte, die Grabbe später hinzufügt, sollten außer dem
Tode des Marius enthalten, wie Sulla siegt und sich Rom zu
Füßen legt. Die größten Abweichungen finden sich im 2.
Akt. Wir werden jetzt das 1. Ms. (A) mit der gedruckten
Fassung (B) vergleichen, und von den Quellen (besonders
Plutarch und Appian) aufsteigend aus der ersten Gestalt das
endgültige Fragment sich entwickeln sehn. Man erkennt, wie
Grabbe entwirft und arbeitet.
1
— 111 —
In 90 Versen zeigt A Marius auf den Trümmern Cartha- i 1.
gos. Carthago kündet von befriedigter Rachsucht, aber es ist
auch ein Zeuge des wechselnden Glückes. Bald schlummert
Marius ein und im Traume erscheint ihm der Oenius-von Car-
thago. Einen römischen Liktoren, der ihn des Landes ver-
weisen will, blitzt Marius zurück, aber in dieser tiefsten Not
verkündigt der freigelassene junge Marius, daß Cinna den
Alten in sein Lager ruft. Bei Plutarch (Marius 40) heißt es:
„in Afrika stand damals Sextilius als Pr&tor, ein Römer, dem
Marius nie etwas zuleide getan hatte und von dem sich also
vermuten ließ, daß er ihm wenigstens aus Mitleid einigen
Beistand leihen werde." Fast wörtlich so drückt sich Marius
bei Orabbe aus und von da an ist die Quelle in allen Einzel-
heiten wiederzuerkennen (z. B. der junge Marius, von Gesicht
schön und wohlgebildet, entkam durch des Königs Beischlä-
ferin) . Einige Vorzeichen oder Bilder des Plutarch hat Grabbe
nicht benutzt oder verwandelt: aus dem Adler wird eine
Schlange. In B erscheinen die Jamben zum Teil wörtlich ge-
nau als Prosa, der Gedankengang ist der gleiche bis auf
einige Zusätze (z. B. die Betrachtung der Götter, das „wild-
freundliche Zahnfleischen" des Genius fehlt zuerst) . Vor allem
aber fällt A zuerst gleich mit der Türe ins Haus, B bringt
als Vorbereitung die Fischerszene, in der einfache Leute ihre
Gedanken über die Lage aussprechen. A verhält sich zu B
wie eine Skizze zu einem ausgeführten Gemälde.
Die 2. Szene ist in A und B ziemlich gleich: Mithridates I %
und Archelaus bereiten den Kampf. Mommsen charakterisiert:
„Mithridates war ungewöhnlich riesig an Kraft und hatte
bei seinen Hoffesten neben Preisen für Esser und Trinker
auch solche für die drolligsten Spaßmacher und die
besten Sänger. — Das experimentelle Studium der Gifte be-
trieb er als einen wichtigen Zweig der Regierungsgeschäfte
und er versuchte seinen Körper an einzelne Gifte zu gewöh-
nen." Grabbe hat nicht verfehlt, den orientalischen Despoten
durch einen Zug von Buffonerie zu charakterisieren.
- 112 —
I a * Die folgenden Szenen schildern Vorbereitung, Verlauf und
Folgen der Schlacht von Chäronea (PK. Sulla 25— 31) • Hier
wird man an die Schlachtszenen in Shakespeares „Coriolan"
erinnert. Sullas Bemerkung über Kaphis entspricht dem, was
Plt. 5 über das Zitherspiel gesagt wird. In der 2. Szene ent-
sprechen A und B einander. Sulla ist in B etwas ausführlicher
geworden, der Brief und das Schlußstück sind in Prosa um-
gewandelt, wie in der 3. Szene das Gespräch zwischen Sulla
und Hortensius, sonst sind die Verse von A übernommen»
A schildert in 32 Versen den Verlauf der Schlacht: Sulla
wird in seinen Siegeshoffnungen durch einen Hauptmann ge-
weckt, Mithridates behauptet das Feld, bis Sulla endgiltig
das Geschick wendet, indem er den römischen Adler in die
Feinde wirft. In B wechselt der Schauplatz dreimal: die
Römer zitternd vor dem Sichelwagen, bis Sullas Beispiel sie
fortreißt; des Mithridates' Heer anfänglich erfolgreich, dann
zurückgeworfen, die Römer wehren einen zweiten Angriff
siegreich ab. Nach Plt. 16, 17 entschied eine Umgehungs-
bewegung Sullas den Sieg. Der Glanz des mithridatischen
Heeres erschreckte anfangs die Römer so sehr, daß selbst
Sulla die Furcht nicht bannen konnte. Die Sichelwagen ver-
sagten, weil sie zu geringe Laufbahn hatten und gleichsam
Pfeile ohne Schnellkraft waren. Während sie in A dem Mith-
ridates freie Bahn schaffen, feuert in B das Beispiel Sullas
die Römer derart an, daß sie die Sicheln anpacken und die
Wagen nehmen. Dann kam das Fußvolk an die Reihe, die
Barbaren hielten ihre Lanzen vor sich und standen fest-
geschlossen und geordnet, die Römer warfen ihre kurzen
Speere fort; griffen zum Schwert und schlugen die Lanzen
weg. Bei Grabbe entscheidet das persönliche Eingreifen des
Feldherrn zweimal. Er hat hier einen historischen Zug aus
der Schlacht von Orchomenos benutzt (Plt. 19) . Dort sprang
Sulla vom Pferde, ergriff eine Fahne und drängte sich mitten
durch die Fliehenden gegen den Feind, indem er schrie: „Für
mich, ihr Römer, ist es rühmlich, hier zu sterben, aber ver-
- 113 -
geßt nicht, denen, die euch fragen, wo ihr euren Feldherrn
verraten habt, zu antworten: bei Orchomenos." Mithridates
war natürlich in Wahrheit nicht zugegen; berechtigt aber ist
das Bemühen des Dichters, alle Personen zur Geltung
zu bringen.
A skizziert nur, wo B ausführlicher wird. Aber 2 kurze
Monologe Sullas sind in B nicht übergegangen. So sagt er:
„S' ist doch schön, ein Feldherr seyn! — Man fühlt
Die Welt, die eigne Kraft, — ein jedes Plätzchen
Ist wichtig, — jegliche Minute kostbar, —
Und unsre Seele spiegelt sich im Tun
Von Tausenden! — o unermeßne Sehnsucht,
Als Herrscher Roms vom Kapitol herab
Den Erdkreis zu regieren, wie ein Baum
Erwächst du im Gemüt
Oder an der Leiche des Quinctius:
Haha, der Quintus! Ein großer Spieß
In seinem Schidel, wie ein quälender
Gedanke! — Holla, fast war* ich vom Pferd
Gefallen!
Geschichtlich erfolgte eine Unterredung Sullas nach der I s.
Schlacht bei Orchomenos mit Archelaus bei Delium, dann mit
Mithridates bei Dardanus in Troas. Bei Grabbe findet die
Unterhandlung bei Qiäronea zwischen Sulla und Mithridates
statt, aber auch Archelaus ist anwesend. Die Bedingungen
entsprechen der ersten Zusammenkunft. Solche Zusammen-
künfte liebt der Dramatiker, dem die Schlachtschilderung zu
große Schwierigkeiten bereitet: 2 widerstreitende Ideen haben
gleichsam Fleisch und Blut gewonnen in Personen, die nun
höchst nachdrücklich hervortreten. Man vergleiche Hannibal
und Scipio bei Zama: beide Feldherrn sehen sich lange stumm
an, bis Hannibal als der ältere die Bedingungen angibt. Als
Scipio nicht mehr erhält, wendet er sich unbehindert zum Ab-
gehn. Bis auf den letzten Punkt spielt Sulla die Rolle Hanni-
bals. Bei Plt. heißt es: „Mithridates ging auf Sulla zu und
Nieten, Chr. D. Orabbe. 6
- 114 -
reichte ihm die Hand, Sulla aber fragte, ob er auf die von
Archelaus eingegangenen Bedingungen den Krieg endigen
wollte. Als Mithridates darauf schwieg, sagte Sulla: dem
Bittenden kommt es zu, zuerst zu reden, Sieger haben das
Recht zu schweigen. Mithridates' Verteidigungsrede wehrte
Sulla entschieden ab." Bei Qrabbe beginnt Sulla zu reden,
nachdem Mithridates stolz geschwiegen hat Aus den 60
Schiffen in A wurden in B richtiger 70. Den Pontus behält
Mithridates, anfangs wollte er auch Paphlagonien und die
Schiffe nicht herausgeben. Wenn bei Qrabbe Mithridates auf
Marius hinweist, so ist das unhistorisch, aber durch den Zu-
sammenhang berechtigt: Marius wirkt durch sein bloßes
Dasein bestimmend. Tatsächlich fiel Sullas Friede so milde
aus, weil er nach 2 Fronten kämpfen mußte. Die humori-
stische Färbung ist Orabbes Eigentum.
Der 1. Akt läßt deutlich die Abhängigkeit von Plt. er-
kennen — am stärksten in der 1. Szene. Die Schlacht ist zum
Teil aus Ereignissen der Kämpfe von Orchomenos und Ghä-
ronea kombiniert, zum Teil freie Erfindung. A ist eine Skizze
in Jamben, in B wechseln Prosa und Vers, oder richtiger:
die Umwandlung vom Vers zur Prosa bleibt unvollständig.
II i« Der 2. Akt versetzt uns unter die Marianer. In der
ersten Szene sind die Plt-Kapitel Marius 36, 40, 41, 42, ver-
arbeitet. Ein Cimber soll Marius töten, dem aber war es,
als wenn die Augen des Marius eine helle Flamme aussprühten
und aus dem dunkeln Winkel die donnernde Stimme hervor-
käme: Kerl, du wagst es, den Marius umzubringen. — Als
Marius sich in Telamon einschiffte, wandte er sich nicht an
Oktavius, sondern an Cinna, der ihm dann gleich die Fasces
und andere Ehrenzeichen des Prokonsuls schickte. Marius
aber erklärte, dieser Schmuck passe nicht zu seiner gegen-
wärtigen Lage und ging immer in schlechter Kleidung, mit
langen Haaren und Bart, den er mit dem ersten Tage seiner
Flucht hatte wachsen lassen, als ein mehr als 70 jähriger
Oreis mit langsamen Schritte einher, um recht mitleidswürdig
- 115 —
zu erscheinen. Allein dieses klägliche Ansehn war mit der
ihr eigenen Miene, worin das Furchtbare hervorstach, ge-
mischt in eine Traurigkeit und verriet nicht sowohl ein nieder-
geschlagenes als durch Unglück verwildertes Gemüt. Als
er den Cinna begrüßt und an die Soldaten eine Rede gehalten
hatte, schritt er gleich zu Werke und gab der Sache in kurzem
eine ganz andre Vendung. Zuerst schnitt er mit seinen Schif-
fen Rom die Zufuhr ab und endlich bekam er auch Ostia in
seine Gewalt. Sertorius warnte ernstlich vor einer allzuengen
Gemeinschaft mit einem Manne, der durch seinen Namen an
der Spitze der Bewegung geführt werden mußte und doch
notorisch ebenso jedes staatsmännischen Handelns unfähig
war, wie von einem wahnsinnigen Rachedurst gepeinigt wurde.
Soweit Plt — Mommsen nennt Cinna einen ganz gemeinen
und auf niedrigstem Egoismus gestellten Gesellen ohne jeden
politischen Blick, dagegen Sertorius einen der talentvollsten
Offiziere und vorzüglichsten Männer, der durch persönliche
Feindschaft ein Gegner Sullas wurde.
Wie nun hat Grabbe die historischen Fakta verwandt?
Cinna und Sertorius weilen in Etrurien, Marius ist zurück-
gekehrt und erzählt seinen Getreuen seine Abenteuer. B hat
einen Eingang und einen Schluß in Prosa hinzugefügt, das
Auftreten des Marius stark vermindert. Wir erfahren, daß
Sertorius dem Cinna abgeneigt ist und durch die Ausführung
dieser Nebenhandlung werden wir von vornherein viel besser
auf den Mißerfolg der Marianer vorbereitet. B ist hier viel
ausführlicher und auch der Ausdruck wird realistischer ge-
staltet (Heißt es in A: „stets bleibt solche Kriegsmacht ein ge-
fährlich Ding", so in B: „dennoch dünkt's mir eklig, solche
Kriegsmacht zu gebrauchen". Aus dem „wilden Roß" wird
ein „störrischer Gaul".) Die grausame Dezimierungsszene
ist beibehalten. Es folgt dann das durch die pannonischen
Krieger vorbereitete Auftreten des Marius. Marius' Kleidung
wird in B zum Nesselgewand, (die Vendung: „wenn die Des-
poten ihrem Volk die Städte niederbrennen und die Nacken
8*
- 116 -
brechen" wird zusammengezogen: „wenn sie ihrem Volk die
Städte aut die krummen Nacken werfen*.) Aus dem 31 Verse
umfassenden Monolog des Marius in A sind 64 Verse ge-
worden. Die Rede des Marius wird mannigfach unterbrochen
durch die Marianer, die zum Teil wie in Schillers Rütliszene
im Chor den Refrain wiederholen, z. T. die Erzählung selbst
übernehmen oder begründen. Auch der Ausklang ist bedeutend
reicher gestaltet. Das Motiv, daß die Patricier neidisch auf
Marius sind (vgl. auch Kestners Sulla), wird vertieft und zu
einem allgemeineren Gegensatz gestaltet; worin übrigens auch
der demokratische Trotz des Bauern Orabbe sich genugtut.
Die Vertreibung, die Flucht, die Szene mit dem Sklaven und
die Landung in Carthago wird in B dreimal ausführlicher ge-
schildert, als in A. In A heißt es:
Er trieb mich denn auch bald von Rom hinweg
Und ließ als Feind des Vaterlands mich ächten;
Ich mußte in den Sümpfen mich verkriechen,
Den grauen Kopf mit Riedgrase bedecken,
Und einem der von mir gefangnen Cimbern
Gebot man, daß er mich enthaupte!
Allein dem rohen Kerl entsank der Degen,
Als er den Mann erblickte, welchen er
Als den Vertilger seines Volkes kannte! —
So floh ich übers Meer nach Afrika,
Fand auf Carthagos Trümmern meinen Sohn
Und steh' nun wieder auf dem Boden,
Der mir so lieb ist und doch so verhaßt!
(Aus „alte Käuze** wird „grimm'ge alte Käuze**, aus »von
Mithridates befrein**: „erlösen"; aus dem „Lorbeer, den ich mit
soviel Schweiß und Blute in Numidiens nacktem Sande mir
erzogen** — den ich „mit dem mühesamsten Schweiße in
Numidiens dürrem Sande mir erzogen** — aus „Kommando
geben** „Kriegsbefehl erteilen** (mit Rücksicht auf das folgende
„geben**) — aus „Sumpf** „Morast**. In der Rede des jungen
Marius werden aus „Zornesfrüchten** „Früchte**.) Ein Hinweis
- 117 —
auf das mögliche Ende des alternden Marius beschließt A,
wo die Stellung zwischen Cinna und Sertoriüs und beider
gegenüber Marius unklar bleibt. Dteses Thema wird am
Schluß von B ausführlicher behandelt.
Orabbe schildert nun die Ereignisse vor der Einnahme II 2. 3.
Roms durch Marius. Hier ist B weit ausführlicher als A, in
den zwei Szenen stark abweichend von A II 2. Bei A ist
der Hergang folgender: drei Bürger erzählen, der Senat sei
in Begriff, einen Diktator zu wählen, da Marius nahe sei; ein
Demagoge führt agitatorische Reden gegen dien reichen Scävola,
den Redner Antonius; aber die Bürger sind selbst wieder un-
eins und mit eigner Schuld belastet. Nach drei Seiten hin
werden Schlaglichter auf das verwesende Rom geworfen« Ok-
tavius naht, abergläubisch auf seine Chaldäer und Augurn
bauend, während die Soldaten schon verräterisch tuscheln.
Der Senat und die Vestalinnen erscheinen, und indem der
sterbende Octavius auf die Bühne taumelt, wird der Wunsch
laut, Frieden zu suchen. Charakteristisch ist, daß wir alles
aus dem Munde des Volkes erfahren, und die wankelmütige,
begehrliche, unselbständige Plebs wird kurz gezeichnet.
Diese Skizze ist in B 3 noch zu erkennen, B 2 ist neu
hinzugefügt: eine römische Senatsitzung im Tempel der Bel-
lona — die Volkstribunen sprechen in Prosa, die Optimaten
in Jamben. Octavius und Merula sind Consuln. Antonius,
der in A erwähnte „süße Redner" trägt vor, die Volks-
tribunen widersprechen. Die Optimaten zeigen sich zu-
nächst in ihrer Torheit, erscheinen in satirischer Beleuch-
tung als bigott und borniert: Octavius verläßt sich auf seine
Augurn, nicht einmal die Kunde, daß Marius mit den Sam-
niten gesiegt habe, läßt die Etikettestolzen die Formver-
letzung des Metellus übersehn. Die Niederlage läßt die Volks-
empörung aufflammen: die Masse strömt in den Saal, will
nicht wegen der Aristokraten hungern, verlangt Obergabe
an ihren Liebling Marius, während Flavius auch den Sulla
in die Handlung hineinzieht, indem er ihn des Hochverrats be-
- 118 —
schuldigt. Da erheben sich die Herrscher Roms noch einmal
in alter Größe, das veto wider die Dictatoren verhallt: die
beiden Consuln sollen darauf achten, daß die Republik nicht
irgend Nachteil erfahre.
Und nun reißt das feige Volk aus, und wehe den Tribunen 1
Orabbe läßt das Volk wie den Adel einmal in seiner Stärke,
dann in satirischer Beleuchtung erscheinen. Lutatius Catulus
erhebt sich in großartiger Weise aber den Parteien und brand-
markt das kraftlose Volk ebenso gut, wie den geldgierigen
Adel. Und während nun die Parteigenossen über den An-
kläger herfallen, sucht Octavius zu vermitteln und zieht hin-
aus in die Verteidigungsschlacht. Die Szene ist meisterhaft
komponiert, an A erinnern nur der süße Redner Antonius,
die Augurn und die Diktatur. Die 3. Szene zeichnet brillant
die entfesselte Masse, die Tribunen verfolgend: Saturninus, der
innerlich den Plebs anspeien möchte — er erinnert an Shake-
speares Coriolan und an K estners Sulpicius — , entkommt und
wird erst später ein Opfer Sullas, während der tief unter ihm
stehende feige Flavius seinen Tod findet, als Crassus die
prahlhansige Menge mit Leichtigkeit vertreibt Ancharius ver-
kündet schreckensbleich die Niederlage des Octavius, während
Antonius berichtet, daß die letzten Reste des Senats sich auf
das Kapitol flüchten. Octavius naht sterbend und mit ihm
geht der alte Crassus unter, eine echte Römergestalt in leuch-
tendem Gegensatz zu dem feigen Ancharius und dem vor-
sichtigen Antonius. Die Bestialität der Massen findet ein
Opfer in Scävola, der seine Muränen mit Sklaven fütterte
(ScäVola wird auch in A erwähnt). Hier ist die Reminiszenz
an die Ermordung Cinnas in Shakespeares Julius Cäsar mit
Händen zu greifen, wie außerdem Coriolan II 2, III 1 zu
vergleichen sind. — Die 1. und 2. Szene empfahl Grabbe als
Proben für die Journale.
Hierzu berichtet Plt. (Mar. 47). „Als Octavius aufgefor-
dert war, die Sklaven freizumachen, sagte er: ich mag nicht
Sklaven die Rechte mitteilen, die ich, um die Gesetze aufrecht
— 119 -
zu erhalten, dem Marius versage", Worte, die etwa in der
Rede des alten Crassus bei Grabbe wiederklingen. Die Sol-
daten wollten den Octavius nicht, sondern den Metellus. Aber
bei Grabbe ist Metellus besiegt. Octavius wurde noch vor
dem Einzug des Marius von den vorangeschickten Soldaten
von der Rednerbühne herabgerissen und ermordet. Das stimmt
besser zu A als zu B. A betont den Aberglauben des Octa-
vius — Mommsen nennt ihn ehrenwert, aber kurzsichtig «— dra-
stischer und plumper als B, wo neben Plt. wohl noch andre
Quellen in Betracht kommen. (Bei Octavius* Tod sagt in A ein
Bürger: „Da sinkt sie unter, die letzte Hoffnung unsres
Reichs, blutig Von Haupt zu Fuße, wie ein roter Stern",
in B Antonius: „gehüllt in seines Blutes rotem Purpurglanz,
der Abendstern der Republik".) Der Senator in A heißt in B
Ancharius, wie überhaupt hier nur Namen angegeben sind,
die aus Plt. oder aus Appian stammen. Übrigens scheint Grabbe
die Ereignisse an dem blutigen Octaviustag, an dem Cinnas
Forderungen erfüllt wurden, mit einem spätem Ereignis zu
verbinden.
B 4 entspricht A 3. Zugrunde liegt Plt. 43: „Cinna als IU.
Konsul empfing die Abgesandten auf einem Stuhl sitzend,
und erteilte ihnen eine freundliche Antwort. Marius, der neben
dem Stuhl stand, sagte zwar nichts, aber seine finstern
Mienen und hämischen Blicke verrieten deutlich genug, daß er
die Stadt sogleich mit Blut überschwemmen werde."
B folgt weniger getreu dem Plt, und die in A ganz kurz
angedeutete Haltung vor der Gesandschaft wird weit ausführ-
licher dargestellt, indem Marius mit dem bekannten „zer-
rissenen Herzen" zurückblickt und überlegt, ob es nicht besser
ist, friedlich seinen Kohl zu bauen, anstatt die Verfolgungen
des Ruhmes auf sich zu nehmen, und indem Sertorius noch
einmal scharf seine Stellung kennzeichnet. Es folgt die Ge-
sandtschaft, die nach Cinnas Antwort abzieht. In B ist Cinna
weniger lakonisch, und ein humoristischer Einfall ist einge-
streut Die Situation ist ähnlich, wie im Coriolan. In A sagt
— 120 —
der Senator: „So erweiche dich denn auch, o Marius, starr
nicht mit deinem Antlitze wie weißgeglühtes Eisen auf uns
ein" (die Wendung wiederhalt sich im Hannibal) , worauf statt
einer Antwort des Marius nur die Marianer in Aufregung ge-
raten; auch in B führt nur der junge Marius das Wort und
damit schließt die Ausführung in B, überhaupt der 2. Akt.
Marius brach geschichtlich zuletzt in die Worte aus: er sei
ein Verbannter und die Gesetze müßten erst geändert werden,
ehe er in die Stadt einziehen könne. Diese Worte spricht er
in A nach, in B vor dem Einzug Cinnas. Historisch ist es
auch, daß Marius vor der Erfüllung seiner Bitte mit seiner
II 5. Leibwache, den Bardiiern, einzog. — B 5 zeigt uns im Ent-
wurf die Haltung des Ancharius, des Saturninus, des Sertorius
vor dem Anrücken der Marianer. Diese Szene ist in A aus-
geführt: Sertorius und Cinna ziehen siegreich ein, zur Ent-
täuschung des Führers des Pöbels ohne Blutvergießen, in-
dessen verkünden fliehende Bürger die Greueltaten der Ma-
rianer. Marius gibt das Signal zum Morden, indem er mit
den Worten: „Fliegt auseinander Krähen," seine Lanze
unter die Senatoren wirft. Ober dieses Morden berichtet
auch Plt.: Ancharius, ein gewesener Prätor, der dem Marius
aufwartete, von ihm aber keines Grußes gewürdigt wurde,
wurde niedergehauen. Man vergleiche die Szene bei Grabbe:
Ancharius: „Sei gegrüßt, mein Marius" — die Soldaten: „der
Feldherr würdigt ihn keiner Antwort. Haut ihn nieder." — Plt
erzählt von der wunderbaren Rettung des Cornutus. Catulus
erstickte sich in seinem Zimmer, Annius hieb mit eigner Hand
dem Antonius den Kopf ab und Marius, der beim Abendessen
saß, klatschte vor Freude in die Hände. Catulus wird in A
erwähnt, ebenso Merula (vgl. Appian 74), dessen Tod in B
eindrucksvoll ausgeführt werden sollte. Vor dem abgeschla-
genen Kopfe des Antonius spricht Marius:
Haha, nun ist die Natterzunge lahm,
Die giftig zischend meinen Kopf
Verschimmelt nannte! Pflanz den ihrigen
- 121 -
Jetzt hoch im Forum auf, und laßt ihn stumm
Verkünden, wer ich bin? — Wenn mir
Der Donner der einsinkenden Gebäude
Nicht so gewaltig an die Ohren schlüge —
Ich wüßte nicht, ob alles dies nicht bloß
Ein wüster Traum sey, wie ich sie so häufig
Auf meiner Flucht gehabt! (geht in eine Straße).
Es heißt dann weiter. — Verschiedene Bürger treten auf.
Erster: Mit Wölfen muß Man heulen.
Zweiter: Laßt uns also auch totschlagen.
Dritter: Man hat's ja frei!
Zweiter: Seht meinen Oheim!
Ein kurzer Stoß verschafft mir seine Güter.
Der Oheim: Erretf mich, Neffe! Meine Sklaven folgen
Befreit und rachedurstig meinen Fersen!
Der Neffe: Du dummer, niederträchtiger Verräter (Er er-
würgt ihn).
Germanische Sklaven (kommen und schwingen statt der
Waffen ihre zerrissenen Ketten): Ho Freiheit, Freiheit, Tod
und Rache für Die Cimbern- und Teutonenschlacht.
Sucht Römer! sucht bis in den Leib der Mutter! (Sie grei-
fen die Bürger und strecken sie zu Boden) — Mehr Römer!
mehr!
(Ein Haufen Marianer überfällt sie) : Hier habt ihr weichet
(Die Sklaven werden in die Flucht gejagt.)
Solche Greuelszenen, die an den Gothland erinnern, hat
der Dichter, vielleicht unter Tiecks Einfluß, bei der Umar-
beitung unterdrückt. — Plt. berichtet, daß Marius die Angst be-
kam, als er von dem Herannahen Sullas hörte. Dieser Ge-
danke liegt A 5 zugrunde, wo Cinna und Marius wie Götter
verehrt werden und wo Sertorius Einspruch gegen das Mor-
den erhebt. Besonders effektvoll sollte der Moment ausge-
staltet werden, in dem Marius den Namen Sulla ausspricht^
der wie ein Echo von der Menge wiederholt wird — eine
- 122 -
«
Parallele zu dem Eindruck, den der Name Marius am Schluß
des 1. Aktes auf Sulla macht.
lU B 7 ist in A 6 ausgeführt. Daß Sullas Gattin Marius
verachtet, ist in B hinzugefügt. Es ist eine erfundene Epi-
sode, die an die Frauen Shakespeares erinnert und stark be-
einflußt erscheint von der Szene zwischen Cornelia und ihrer
Amme am Schluß des 1. Aktes des Kestnerschen Dramas.
Unhistorisch ist es natürlich auch, wenn das Ende des Ma-
rius und die Ankunft Sullas so eng aneinandergerückt wer-
den. Aber wenn der Dichter hier nicht änderte, war doch
das Drama unmöglich.
Im allgemeinen folgt der 2. Akt Plt. A beschränkt sich
auf die nackten Tatsachen, enthält aber doch auch einzelnes
in B Unausgeführte. B steigert, motiviert sorgfältiger, schmückt
aus. Den Höhepunkt des Stückes und «der Orabbeschen Kunst
bildet die Schilderung einer kritischen Stunde in Rom. Welch
ein Auf- und Abwogen in der Senatsszene, wie sich noch ein-
mal an antiker Größe die Welle des Pöbels bricht, diese wan-
kelmütige, feige und doch wieder nicht ungefährliche, bald
mitleidige, bald brutal blutgierige in Extremen schwankende
Menge. Die herrlichsten Römer gehen zugrunde, nur die Halben
und Schlauen bleiben übrig. Diese grauenhafte Komik im
Schrecken, diese humoristischen Schlaglichter 1 Die Kontraste
sind scharf herausgearbeitet, es ist Kunst und Kraft in diesen
Szenen mit dem kühnen Realismus, der grausamen Energie,
dem satirischen Humor. Sulla war im 2. Akte nur ein Name,
auch im 3. Akt gehört ihm nur eine Szene, die aber entspre-
chend der Bedeutung, die er in der zweiten Fassung haben
sollte, bedeutend vertieft ist. Auch hier hat B keine einzige
Szene zu Ende geführt. Um so wertvoller wird A trotz des
skizzenhaften Charakters. A 3 sollte in B geteilt werden, die
III i. Unterstreichungen fehlen in A. Die 1. Szene zeigt uns Sulla
bei Pidentia, B folgt A im Aufbau, doch wird eine Charak-
teristik von Pompejus und Sulla (nach A erweitert) einge-
fügt. A ist in der Form roher als B, wo zweimal ein un-
— 123 —
vollkommner Vers richtig gefüllt wird und wo der Blutbefehl
{ an Catilina ausgefallen ist. In A sagt Sulla, während er die
Augen rollt:
Elende Ameisen, die ringsum wimmeln!
Und auch nicht einmal, sondern Menschen!
Kein Vieh treibt seine Schmach soweit,
Daß es den Metzger, der es schlachtet,
Wie seinen Gott anbetet, und ihm zu
Gefallen, unter sich zu morden anfängt —
Das kann nur einer, der Vernunft hat!
Die Szene zwischen Sulla und dem Weibe — ein Einfall
von echt Grabbeschem Grausamkeitsinstinkt — endet in A:
Sulla: Hahaha (mehreren Soldaten fallen die Schwerter
auf die Erde). Was Ergreift euch? Hauptleute: Wir sind's
nicht gewohnt, Dich so zu sehn Sulla: Ich könnte Rom
totlachen!
Redende Personen sind in beiden Fassungen nur Sulla,
Metella und das Weib. Die Quelle bildet hauptsächlich
Plt. Sulla 6 22, 45 wird die Tötung Licins erwähnt. Sulla
nannte sich schon im jugurthinischen Krieg felix. Man ver-
gleiche Plutarchs Charakteristik: Sulla schwankte zwischen
Härte und Mitleid, von Natur zornig und rachsüchtig, mäßigte
er seine Hitze aus Überlegung und um seines Vorteils willen.
Schuldige und Schuldlose ließ er untergehn (Plt. 9). Sullas
Erhabenheit über die Leidenschaften — durch die romantische
Ironie modernisiert — ist bei Grabbe überhaupt das Zeichen
des Obermenschen (vgl. „Don Juan und Faust* II 1), sein
Verhältnis zu Metella entspricht dem der Hohenstaufen zu
ihren Gattinnen. M e t e 1 1 a, Sullas 5. Frau, deren moralischer
Ruf kein guter war, hatte großen Einfluß auf ihren Mann,,
der z. B. die Athener hart strafte, weil sie sie verspottet
hatten. Sie kam bereits nach der Schlacht von Orchomenos
flüchtig in Sullas Lager. — Die Szene mit dem Weibe ist viel-
leicht einer andern Szene nachgebildet, in der Sulla auch
seinen grausam lakonischen Witz zeigt. Er fragt: (Plt. 26)
— 124 -
„Lebt denn noch einer von den Achäern?" Die Fischer ver-
stummten vor Schrecken, Sulla aber lächelte sie freundlich an."
— Auch die „sonderbaren weißen Flecken" erwähnt Plt. 22,
der sie allerdings nicht so auslegt, wie Orabbe. »Die Ge-
sichtsfarbe gab ihm ein besonders furchtbares Aussehn, sein
ganzes Gesicht war mit roten Pusteln wie besät und da-
zwischen ein weißer Schorf eingestreut. Von dieser Farbe
soll er den Zunamen bekommen haben, und ein Spötter spielt
darauf in den Versen an: Sulla sieht der Maulbeer ähnlich,
der mit Mehl bestreut ist. — Weshalb Grabbe Sulla von Tarent
gleich nach Fidentia führt, ist nicht abzusehn, nach Plt. 27
bis 30 siegte Sulla in Campanien, Lucullus bei Fidentia.
III 2. Plt 45 erzählt von den schlaflosen Nächten, den furchtbaren
Träumen, der Völlerei des Marius, der unter solchen Auf-
regungen starb. Nach Posidonius ahmte Marius zuletzt wie
ein Wahnsinniger unter lautem Geschrei und Juchzen
allerlei Stellungen aus seinen Schlachten nach. (Die Sonnen-
hitze als Verbündeter der Cimbernschlacht wird nach Plt. 26
erwähnt.) A 2 charakterisiert sich Marius selbst nach einer
Auseinandersetzung mit Cinna, B läßt — besser — Cinna und
Sertorius auftreten in einem langen Monolog, der nach einem
Zwiegespräch mit einem Sklaven fortgesetzt wird. B läßt
nach diesem Dialog ein Gelage folgen, an dem auch Sahir-
ninus und der junge Marius teilnahmen. — Die Schlacht bei
Canusium, in welcher der junge Marius von Sulla besiegt wurde,
(Appian 84) fand natürlich nach dem Tode des Marius und
Cinnas statt. (Der Monolog zeigt die eigentümliche metrische
Änderung, daß Grabbe den ersten Fuß eines Verses in den
vorhergehenden übernimmt, obwohl dadurch einmal ein 6-
Füßler entsteht. Aus „Himmel" wird „Äther", aus „hindern"
„Stirn bieten".) Der Monolog hat übrigens Ähnlichkeit mit
dem Solimans in Körners Zriny: beide wären glücklich, wenn
sie nicht einen gewaltigen Nebenbuhler hätten (Körner wird
im „Napoleon" gelobt). Diese halblaute zischende Tonart er-
innert an Gothlands Selbstbekenntnisse, die „Läuse" sind hier
■ — 125 —
„Grillen". Der Sklave ruft in B: ich bin verloren, in A: „er
ist toll" — woran sich folgender mit einem rohen Bild an-
hebender und mit einer echt Orabbeschen Wendung ausklingen-
der Monolog des Marius anschließt:
Du lögst! das Römerreich ist toll!
Es hat den Erdkreis angesteckt,
Der hat die Menschheit inficiert,
Die Menschheit mich, und ich den Sulla,
Und Sulla — Was beginn ich? Geh 9
Ich ihm entgegen, so werd' ich geschlagen,
Und stürze ich mich in mein Schwert, so heißt's,
Ich hätte es aus Furcht vor ihm getan!
Ich wollt*, daß ich bald stürbe, daß
Ein Blitzstrahl oder so etwas mich träfe! (ab).
Diesem innern Erlahmen entspricht das äußere Ver- IH3.4,
derben, das nicht nur von Sulla allein kommt. „Nichts konnte
der Rachsucht und Mordgier der Bardiäer widerstehn, bis
endlich Cinna und Sertorius zusammentraten, sie des Nachts
in ihrem Lager überfielen und alle zusammen niederhauen
ließen" (Plt. 44, Sertorius 51) . B wollte zunächst wieder eine
Milieuszene geben: Lebensweise und Denkungsart der Mari-
aner sollte rasch und scharf individualisiert werden, wobei aber
eine allzugünstige Charakteristik den Entschluß des Sertorius
nicht begreiflich machen würde. Diese Schlußszene von A
sei ganz mitgeteilt, da B nur einen Prosaentwurf enthält.
Bei dem Lager der Marianer. Später Abend. (Sertorius
mit seinen Kriegern im Marsche).
Sertorius:
Hier vor Roms Thoren haltet, und bedenkt
Noch einmal meine Rede!
— Ich mag der Henkersknecht des Marius
Nicht länger seyn, und wie ich hoffe, mögt
Ihr's auch nicht bleiben. Drum
Bin ich entschlossen, nach Hispanien
- 126 -
Zu zieh'n, es mit Gewalt zu unterjochen,
'ne neue bessre Republik zu gründen»
Und dort zu harren, bis es Zeit ist, nach
Italien mächtig heimzukehren, und
Den Sulla oder Marius aus Rom
Zu jagen. Aemter, Ehren, reicher Lohn
Und Siege winken euch — sprecht frei und dreist
Ob ihr mir folgen wollt.
Die Krieger:
Auf, auf, und hin
'ne bessre Republik I
Sertorius :
So kommt! — Und um
Dem Marius die Trennung schmerzlicher
Zu machen, laßt uns im Vorbeigehn die
Achttausend Wütriche in ihren Zelten,
Die Marianer niederhauen I
Die Krieger:
Brav,
Sertorius, bravo.
Sertorius:
St, der Cinnal (China mit mehreren Liktoren).
Cinn a :
Was gibt es? — Wie? — Sertorius? — Was habt Ihr vor?
Sertorius:
Consul, du bist ja auch
Des ewgen Mordens überdrüssig.
C i n n a :
Wenn ich nur 'nen Endzweck dabei sähe,
Es nützt ja nichts. Wir stehen fest genug,
Das Blut kann nur den Boden schlüpfrig machen,
Der Marius ist blind.
Sertorius :
Er thut's aus Eitelkeit.
- 127 —
Ci n na :
Aus Eitelkeit? —
S ertori us :
I freilieb,
Er ahnt es, daß man ihn nieht mehr bewundert,
So soll man ihn doch fürchten.
Cinna :
Halb und halb
Ist etwas wahres dran.
S er tor ius :
Was meinst Du, war's
Nicht klüglich, ihm die Fittiche zu pflücken?
Cinna (auf das Lager der Marianer deutend) : Hm, hm.
Die Federn werden schreien (Er zieht den Sertorius auf
die Seite). Mach'
Nur zu, 's ist mir so vorteilhaft wie Dir,
Wenn Marius geschwächt wird, aber was
Du vorhast, weiß ich nicht. — Nur zu!
Sertorius (zu seinen Soldaten) :
Nur zu!
Alle:
Nur zu! (Sie überfallen das Lager, furchtbares Geschrei
und Gemetzel, kurze bald abgebrochene Hörnerklänge,
tiefe Stille).
Sertorius (mit seinen Leuten zurückkommend) :
Jetzt nach Hispanien. Der Adler ist gerupft. (Indem
Marius aus der Thore stürzt) : Dort flattert er schon her!
(Mit seinen Truppen fort).
Marius:
Was ist geschehen? Wo sind meine Jungen?
Mehrere Stimmen (matt) :
Die Hand — die Hand — zum Abschied.
Feldherr Marius (erblickt die Erschlagenen) :
Jammer Und Greuel! meine Kinder! Die Genossen Von
Aqua Sextiä.
- 128 —
Eine ersterbende Stimme :
Feldherr, das Ist nun gewesen.
(Cinna kommt.)
Marius :
Cinna, Cinna, wer Erschlug mir meine Treuen,
Cinna :
Sicher der Sertorius.
Marius (wild) :
Verfolgt, verfolgt, durchbohret ihn.
Cinna :
Zu spät
Er ist schon auf dem Wege nach
Hispanien, und Sulla's halber dürfen
Wir unser Heer nicht mindern,
's ist kläglich.
Marius:
Wie 'ne Eiche, die im Sturm,
Der sie entlaubt hat, unmutvoll
Zu rauschen sucht, und es nicht kann, weil rings
Am Boden ihre Blätter liegen, sinke
Ich unter meine Marianer t
Charakteristisch ist wieder die Orausamkeit, maskiert
durch den Witz, wie sie dem edlen Charakter des Sertorius
kaum ansteht. Die Darstellung bleibt im ausgeführten Bilde
des Adlerfittichs. Auch in B wird der wankende Cinna durch
Sertorius beherrscht — die Niedermetzlungsszene, das Ster-
ben, sollte noch ausführlicher geschildert werden — der Schluß
ist in B ganz anders, insofern als Marius nicht niedergedrückt
sein Verderben sieht, sondern in Rachezorn noch einmal auf-
flammt zu letzter Siegeshoffnung. So kann Marius denn noch
ein glänzendes Ende in pomphafter Theatralik finden, wenn
er, im Begriff gegen Sulla zu ziehn, inmitten seiner Soldaten
stirbt, während die Sonne wie ein Purpuradler die Welt mit
glühendem Fittich umschimmert (B IV 1). — A 3 und B 3
— 129 —
entsprechen einander. B 3 erweitert in der 1. Szene, fügt
der 2. Anfang und Ende hinzu, die 3. Szene ist eine Einlage,
die 4. motiviert sorgfältiger. Hervorzuheben waren in A 1
ein Monolog Sullas, in A 2 ein Monolog des Marius und die
Schlußszene.
B bringt nun noch 2 Akte, entsprechend Plt. Sulla 27ff.; es B. iv.
sind nur Prosaskizzen, und nur gelegentlich sind einige Verse
von prägnanter Eigentümlichkeit und Bildlichkeit eingestreut.
Solche Einfälle bewahrte sich Orabbe liebevoll auf und brachte
sie eventuell noch später z. B. im Hannibal unter. Hier wuch-
sen die Schwierigkeiten, mit den historischen Tatsachen fertig
zu werden:. Es ist also kein Zufall, wenn Grabbea
erstes Fragment abbricht. — Die Schlacht bei Präneste kom-
biniert bei Orabbe verschiedene Ereignisse: Sullas Sieg über
den jungen Marius bei Sacriportus, seine Einschließung in
Präneste und seinen — in Wirklichkeit bedeutend spätem —
Selbstmord (Plt. 32) • Die Handlung war als hinter der Szene
sich abspielend gedacht und sollte hauptsächlich in Gesprä-
chen, in Dialogen, z. B. zwischen Pompejus und Catilina, in
Monologen Sullas reflektieren. Die Äußerungen Sullas bc-
ruhn zum Teil auf Plt 34, doch treten jetzt auch andre Quel-
len mehr hervor z. B. Appian, Valerius Maximus, Vertot.
Marius und Sulla wirken im ganzen Stück nur durch die
Zauberkraft ihres Namens aufeinander ein, daher wird der
Samnitenfürst Telesinus eingeführt, der als über halbwilde
Bergbewohner herrschender Indianerhäuptling charakterisiert
wird, scheinbar den Marianern treu, in Wahrheit aber hinter-
hältig auf den Tod aller Römer bedacht (also als Nachfolger
des Marius ungeeignet), gleichsam eine Vorstudie für Hanni-
bal oder Hermann. Die 4. Szene sollte ihn in Verhandlung
mit den Marianern, die 5. im Kampf gegen Sulla zeigen.
Wieder ging eine Unterredung voraus — wohl aus bühnen-
technischen Gründen — (vgl. Sulla und Mithridates-Scipio und
Hannibal). Sulla bleibt Sieger, nachdem er Apoll angerufen
Nieten, Chr. D. Orabbe.
— 130 —
(Plt. 29), in der Geschichte ist es Crassus), Telesinus geht
unter.
B. v. Im 4. Akt hat Sulla nacheinander Mithridates und nach-
dem in seiner Abwesenheit der in Erinnerungen lebende Marius
durch innere Parteikämpfe und seine persönliche innerliche
Wut, die ihm wieder die eigenen Anhänger abwendet, ver-
zehrt ist, die Marianer und den Telesinus besiegt. Es bleibt für
dben 5. Akt nur noch der Triumph Sullas übrig, der weit über
seine Genossen aufragt. V 1 ist eine Parallele zu 114: Sulla
vor Rom, wie Marius vor Rom. Wieder zittern Senat und
Volk, es leitet ihn nicht die wilde Blutgier, der persönliche
Rachedurst des Marius, er motiviert die Proskriptionen kalt-
blütig schneidend mit einem Geschichtchen: vom Ackers mann
und vom Ungeziefer (Appian 101 — Plt. 31) . Plt. nennt Sulla 1
sich Diktator, bei Grabbe »Herr der Welt a . Nachdem er das
Höchste in langsamem Aufstieg erreicht hat, legt er sofort die
Herrschaft wieder nieder. Dieser verblüffende Abschluß hat
Grabbe sehr angezogen: entsprach es doch seiner eigenen
Wesenheit, blitzschnell alle Abgründe zu durchmessen und 1
aus der Höhe unvermittelt in die Tiefe hinabzustürzen. Mit
diesem Geniestreich, diesem Musterbeispiel von Ironie und
Blasiertheit wollte Grabbe abschließen und das Ende: Sulla
heiratete nach Metellas Tod die Vaieria und starb wahrschein-
lich an einem gräßlichen Darmkrebs — lag außerhalb des
Stückest. Der Humor der Sache ist, daß das ganze weltge-
schichtliche Ringen mit einem echten Bluff endet, das Ergeb-
nis ist ein Nichts. — Grabbes Sulla ist ein Vorläufer seines
Don Juan. Er hat sich viel gründlicher mit den Quel-
len befaßt und besaß auch einen schärfern historischen Blick
als Kestner. Seine Charakteristik wird bestätigt durch die
Mommsens: Sulla war eine einzige Erscheinung, ein Zug von
Ironie ist ihm eigentümlich. Mommsen nennt ihn einen Don
Juan der Politik ohne planmäßigen Ehrgeiz, keck und ver-
schmitzt, einen verwegenen Spieler, ohne Illusion, mit einer
halben Empfindung von der Nichtigkeit seiner Siege und seiner
- 131 -
Werke — rücksichtslos, cymsch, offen genußsüchtig, einei^
Ehebrecher und Verschwender. Oft straft er hart auch Un-
schuldige und läßt dann wieder vieles durchgehen. In seinem
.Verfassungswerk kann Sulla nicht mit Gracchus und Cäsar
verglichen werden: es war ein in das brandende Meer ge-
worfener Notbau.
Grabbe sagt, es kommt nicht auf Treue in allen histo-
rischen Einzelheiten an, sondern darauf, daß der Dichter
den wahren Geist der Geschichte enträtselt Darin kann
man ihm nur beistimmen. Aber man sieht aus dem
ersten Entwurf doch, daß Grabbe kaum ein Glied in der Kette
der geschichtlichen Ereignisse überschlagen, während er später
viel freier wählt und ordnet Er bringt nicht nur zwei Charak-
tere, sondern die ganze Zeit Zunächst muß man aus den
Quellen schöpfen, um das urechte Leben zu finden. Es ist ein
großer Fortschritt, wenn Grabbe uns das Milieu begreiflich
inacht und dadurch den Helden erklärt, wenn er uns in den
Volksszenen ein Zeitalter des Obergangs, der Verwesung
abbildet. Die Szenen in Rom, die Fischerszene eröffnen eine
fruchtbare Tendenz, die Grabbe dann konsequent ausgebaut
hat Andererseits zeigt sich namentlich in den letzten Szenen,
wie die Hinneigung zum Historisch-Epischen die dramatische
Form auflöst, so daß sich eine dramatisch-epische Zwischenform
voq selbst ergibt —Doch strebt Grabbe schon jetzt das „trockene,
gelbst im Kriege mit Cartbago nach Pandekten riechende
Römerleben, den modernen. Spectators interessant zu machen. 44
In dieser Zeit ist das Volk der „elende kindische Pöbel",
während der Aristokrat Shakespeare die Menge im Coriolan
mit Unrecht so zeichnet, wie Grabbe in der Shakespearo-
manie mit Berufung auf Niebuhr tadelt Wie Goethe mit dem
Götz aus der strikten Shakespearenachahmung sich befreite,
so Grabbe mit seinem „Marius und Sulla". — Aber weiter
ist doch eine Einheit, eine Generalidee zu fordern: zwei große
Gegenspieler in der Qeschichte reizen ja zu dramatischer
Behandlung, aber bei Marius und Sulla lag es sehr ungünstig:
- 132 -
der einzige Moment, in dem sie sich begegnen — den Käst-
ner vorweggenommen hatte — liegt weitab von dem Ende,
in dem sich die geschichtliche Nem'esis enthüllt. Orabbe
sucht das Ende des Marius hinauszuschieben und ihm in Tele-
sinus einen Nachfolger zu geben, aber der Name allein genfigt
nicht und tatsächlich wirkt er auch nicht allein bestimmend,
ebensowenig der Grundgedanke, daß nur Despotie die kranke
glaubenslose Menschheit heilen kann. Auch lassen sich Sulla
und Marius nicht ohne weiteres mit den Parteien identifizieren
(Optimalen und Volk) ; nur das Notwendige aber erklärt, nicht
das Zufällige. Daher hat Grabbe mit Recht in B die Ser-
toriushandlung vertieft, weil dadurch neben der immanenten
Tragik mehr äußere Spannung in die Mariushandlung kommt,
als durch Sulla aliein. — Das Schicksal des rauhen Bauern
Marius, in dem Grabbes eigener Parvenustolz zum Vorschein
kommt, der sich trotz dunklen Ursprungs heraufgearbeitet
hat, und des blasierten Aristokraten Sulla erscheint entgegen-
gesetzt und hat doch auch wieder Verwandtes. Marius be-
ginnt im tiefstem Unglück auf den Trümmern Carthagos.
Dann geht es aufwärts, weil Sulla fort ist. Wir finden ihn
unter seinen alten Käuzen, dann vor dem winselnden Rom
in Rachewollust schwelgend; der Name Sullas II 6, seine
Wiederkehr bringt die Wendung. Marius erkennt seine Unter-
legenheit — der Glanz des unrühmlich vergehenden Alten
wird überstrahlt von dem jungen Rivalen, er berauscht
sich in Erinnerungen, in Wein und Blut, doch läßt ihm der
Dichter noch ein höchst glanzvolles Ende vor der Enttäu-
schung. Marius lebt in der Erinnerung, in der Vergangenheit,
Sulla in der Zukunft. Ihn begleitet der Gedanke an Marius
ins Feld, und Cinnas Verrat und der Name des Marius, der
ihm persönlich widerlich und dumm erscheint — wie Corio~
lan den „stinkenden Pöbel" verachtet — bestimmen ihn doch
auch beim Frieden mit Mithridates. Im 2. Akt unterliegen
die Sullaner und Sulla selbst wird des Hochverrats ange-
klagt, aber Sullas Name erschreckt Marius, und sein Weib er-
— 133 -
zeigt sich seiner würdig. Der 3. Akt zeigt den vorrückenden
Sulla und den weichenden Marius. Hier schließt die erste
Fassung, weil Grabbe sich noch nicht schlüssig war, wie er
das Ende des Marius gestalten sollte. Er entschied sich für
einen echten Soldatentod des Marius und führte dann Sulla zum
Triumph, um hinter die ganze Tragikomödie ein Fragezeichen
zu setzen. Marius und Sulla gegenüberzustellen, konnte den
Dramatiker locken. Wie man des Themas anders Herr wer-
den wollte, als es Kestner tat, der Sulla als Haupthelden Ma-
rius überordnete, oder wie Grabbe es versuchte, ist nicht ab-
zusehn. Hat Grabbe den Stoff in vieler Hinsicht gemeistert,
so sprechen doch außer Äußeren auch innere Gründe mit,
wenn das Stück Fragment blieb. Dennoch dachte Grabbe 1828
daran, das ganze Stück zu vollenden (12. 8. 27.).
Die Jamben der ersten Fassung sind in B gemischt mit
Prosa. Während das Verhältnis zwischen 5-Füßlern und 6-
Füßiern, zwischen katalektischen und hyperkatalektischen
Versen in A ziemlich gleich ist, überwiegen in B wie über-
haupt in allen historischen Dramen Grabbes die hyperkata-
lektischen Verse. Das Personenverzeichnis von B fügt dem
von A 12 neue Namen hinzu. Von Anfang an war die Dich-
tung als Tragödie in 5 Akten geplant.
IV. Kapitel
Der Auditeur
„Mein Malheur besteht einzig darin, daß ich in
keiner größeren Stadt, sondern in einer Gegend ge-
boren bin, wo man einen gebildeten Menschen für
einen verschlechterten Mastochsen hält."
Orabbe an Tieck (29. Vffl. 1828).
Also war Orabbe wieder in Detmold. Ausgeträumt war
der kühne Traum einer poetischen Revolution, deren An-
bruch er hatte verkündigen wollen in einer Tragödie voll wilden
Schmerzes und in einer übermütigen Komödie. Und während
sein Geh im erfüllt ist von ungeheuren Plänen — unvollendet
waren noch „Don Juan und Faust" und „Marius und Sulla 41
— soll er sich in einer westfälischen Kleinstadt begraben,
um ein nützlicher Staatsbürger zu werden. Die Enttäuschung
lastete um so schwerer auf ihm, als er fühlte, daß es nicht
nur ein rein zufälliges Mißgeschick war, das ihn betroffen« So
mußte es immer wiederkehren. Er fühlte sich tief unglück-
lich: die damalige Literatur verlachte er, seinen Gottesglauben
hatte er über Bord geworfen und seine moralischen Ansichten
schwankten; in den eigenen Dichtungen waltet ein verneinender
Geist der Verzweiflung, ein zynischer Obermut, seine Jugend-
kraft war vergeudet und vertan. Die Partie schien verloren, noch
ehe das Spiel begonnen. »War' ich tot, es war 9 mir lieb,
lebt* ich nie, es wäre besser". Nach solchen Anstrengungen
— nichts! Das Schicksal versagte ihm die kleinste Gunst und
verschloß ihm den Weg, auf dem ihm allein das Glück hätte
— 135 —
winken können. Noch macht er einen krampfhaften Durch-
«
bruchsversuch. Tieck soll ihm die geringste Stelle am Theater
verschaffen. Tieck antwortet gar nicht.
Da übermannt Qrabbe die Verzweiflung. Er lebt wüst
und sucht sich zu betäuben. Der Alkohol inspiriert nicht nur,
er tröstet oder vielmehr er betäubt auch. Ein wüster Schlemmer
öder ein einsamer Apathischer — so tritt er uns auch wohl in
seinen Werken entgegen. So mochte Grabbe, innerlich zerrissen
und äußerlich nachlässig, in der Tat den Eindruck eines ver-
pfuschten, schiffbrüchigen Studenten machen. Einsam saß er
zieren. Kaum las er die Briefe, die die Berliner Genossen
im Krug, nur mit einigen Gymnasiasten ging er wohl spa-
äh ihn richteten. Endlich nach 4 Monaten überwand er sich.
Er schien Tiecks Warnung vor der Muse als seiner gebornen
Feindin beherzigen zu wollen. Auch lag es in seiner inner-
sten Wesensart, den Kompromiß zu fliehen und sich für ein
„Alles oder nichts" zu entscheiden. Trotzig wollte er seinen
Schmerz verbeißen und über einem arbeitsamen Amt ganz
die Poesie vergessen. Die Freunde mußten Grabbe die
Testimonia besorgen und er, der wohl nur im ersten Semester
die juristischen Kollegs fleißiger besucht hatte, erledigte am
2. Juni 1824 die Prüfung. Man darf aber einen jungen Mann,
der mit 22V£ Jahren sein Examen besteht, nicht zu den ver-
bummelten Existenzen rechnen. Er wurde zur Advokatur d. i.
zur allgemeinen Staatskarriere zugelassen. Als Advokat be-
kam er bald zu tun und er arbeitete seine juristischen Auf-
gaben mit Fleiß und Sorgfalt aus. Meist lebte er für sich, in
der Gesellschaft verhielt er sich stumm oder er benahm sich
auffallend. Extravaganzen fielen natürlich in der kleinen
Stadt ganz besonders auf, wo jeder gebildete Mensch ange-
sehen wurde wie ein „verschlechterter Mastochse". Weder
die Leute noch der Ort paßten für den Dichter. Die From-
men waren schlecht auf ihn zu sprechen, der denn auch über
den Pietisten Blomberg oder später über die Conventikel
manch kräftig Wörtlein fand, wie insbesondere auch in »Dop
— 136 —
Juan und Faust" zu lesen. Wessenbergs moralische Aesthetik
reizte seinen Widerspruch. Sein früherer Gönner, der General-
superintendent, wollte nichts mehr von ihm hören, nachdem er
ihn in einer Posse als den Gottseibeiuns konterfeit hatte. So
erregte der Dichter manches sicher berechtigte Ärgernis, aber
er fand andrerseits auch wenig Verständnis. Was bot denn
auch Detmold und Westfalen in jener Zeit? Westfalen galt als
etwas zurück in der Kultur. Voltaire vermeinte halbe Bar-
baren zu treffen. Und noch zu Grabbes Zeit taucht diese Gegend
fast wie ein noch unerforschtes Land auf. Gehören Namen
wie „Huckebecke" oder „Holzapfel" noch derselben deutschen
Sprache an, die man in Berlin und Leipzig spricht? fragt da-
mals verwundert ein allzu gebildeter Korrespondent. Erst
unter preußischem Regime, unter dem Oberpräsidenten Vincke,
blühte die Provinz auf. „Gegenden, deren Nennung schon in
früheren Zeiten den Reisenden Grauen erregten, erfreuen sich
jetzt dauerhafter Chausseen, und unsre Schulen, ehemals dumpfe
Hallen, sind jetzt geräumige Schulräume." Osnabrück, die
Geburtsstadt Mosers, blühte langsam empor. Münster mit
seinen 15 000 Einwohnern entwickelte einigen literarischen
Verkehr. Raßmanns rheinisch - westfälischer Musenal-
manach vereinigte einige literarische Namen: z. B. J.-B.
Rousseau, Vogt, Braun, Lappe, Immermann u. a. Die größte
literarische Kapazität, der Mäcen aller jungen Talente in Det-
mold, war Archivrat Clostermeier, dessen lokalgeschichtliche
Werke über den Schauplatz der Hermannsschlacht oder über
die Externsteine von den Detmoldern ungeheuer geschätzt
wurden.
Ihn betrauert voll Gram Teutoburgs Waldgebirg,
Dem er bleibenden Ruhm, ewige Kränze gab:
Dem den Sieg des Cheruskers,
Romas Fall er gerettet.
Also besang ihn der 10 jährige Freiligrath bei seinem
Tode. — Die nächsten großen Theater waren in Hannover und
Braunschweig, wo Köchy und Klingemann mit Grabbe zwar
- 137 -
in Beziehung traten, ohne ihm aber viel nutzen zu können.
Pichler gab Vorstellungen in Münster und Pyrmont und er
zog endlich als Direktor ein in den neuen Kunsttempel zu
Detmold, der 1825 am 8. November mit Mozarts „Titus" er-
öffnet wurde.
Grabbes Muse schweigt zunächst, und der Dichter scheint
seinen Vorsätzen mit eigensinniger Hartnäckigkeit treu
zu sein. Wir haben nur ein Gelegenheitsgedicht zu verzeich-
nen zum 50. Jubiläum Petris — das einzige, das wir von ihm
kennen. Da schien sich ein Mittelweg zu öffnen, den der
Dichter gehen konnte, um wenigstens einigermaßen inneren
und äußeren Beruf zu vereinen: eine Gehülfenstelle am Ar-
chiv wurde frei und Clostermeier befürwortete Grabbes Ge-
such vom 2. September 1826. Aber die Stelle erhielt ein junger
Jurist, der einen höhern Protektor hatte. „Connexion ist viel,
Verstand, Verbrechen, Recht sind gar nichts." „Lieber Verstand
verlieren als die Connexion" sagt Leporello. Für Grabbe war
es ungeheuer viel, was er mit dieser unbedeutenden Stelle ver-
scherzte. Für ihn war es ein schlechter Trost, daß er ein
Commissorium erhielt und Ostern 1826 den erkrankten Audi-
teur Rotberg — übrigens einen Verwandten der Frau Closter-
meier — vertrat, um ihn 1827 zu ersetzen. Merkwürdig ist,
daß er aus persönlicher Schüchternheit sich lieber schriftlich
als persönlich bei dem Regierungsrat v. Meien vorstellt. Äußer-
lich scheint also alles gut: mit 25 Jahren ein Commissorium,
mit 26 Jahren angestellt — was will man mehr, wenn man
nicht Don Juan ist? Aber Grabbe liebte die Octavio nicht.
1827 scheint eine Blütezeit möglich. Grabbe war in Amt
und Würden. Er hatte eine nobel eingerichtete Wohnung und
schien auch die Anerkennung der Vorgesetzten zu besitzen,
die ihm 1829 eine Zulage zubilligten. Warum sollte er nicht
glücklich sein? Er war es nicht; er war krank, und das tiefste
Bedürfnis blieb ungesättigt, so lange er seine Beamtenpflicht
tat. Und für eine doppelte Aufgabe reichte seine Kraft nicht
aus. Grabbe als Beamter — das ist eine Tragikomödie für
— 138 —
sieb. Man denke sich einen preußischen Regierungsrat und
den Berliner Bohemien, der die feierliche Handlung der Eides*
leistung in — Unterhosen und in lippeschem Platt inszeniert
und mit Rum begießt. Ziegler hat uns diese Szene berichtet:
„Als das Lippesche Bataillon nach Luxemburg marschieren
sollte, hatten sich zwei junge Juristen, seine Bekannten, zu Offi-
zieren gemeldet und mußten beeidigt werden. Sie kamen des
morgens gegen elf Uhr auf Grabbes Stube und trafen ihn am
Arbeitstische in der Unterhose und einem kattunenen rotgestreif-
ten Kamisol, ein Glas Rum, seiner Gewohnheit gemäß, neben
sich. Sowie er sie eintreten sah, sprang er auf. „Sui, sui,*
sagte er, verbeugte sich verlegen, und indem er R. die Hand
auf die Schulter legte, fuhr er fort: „Wi jui schweren?"
„Emil, trink' erst einmal, daß du Kourage kriegst," fügte er
hinzu und wandte sich wieder zu seinem Tische. „Dui Dul-
wel is lause, ek kann' er nich vor. Da, wollt ihr ein biß-
chen, tut's mir, es bekommt gut." Dabei machte er ein fin-
steres Gesicht, um zu imponieren und sie zum Trinken zu
zwingen durch die Furcht, ihm zu mißfallen. „No, wenn ihr
nicht wollt, da wollen wir's kurz machen. Ich muß mich aber
erst wohl ein bischen anziehn. Wartet mal, nehmt's nicht
übel," und damit begab er sich in seine Kammer, die neben
seiner Stube gelegen war. Bald kam er wieder zurück, aber
in einem sonderbaren Kostüm. Über seine weiße Unterhose
hatte er nichts anderes angezogen, als ein Paar schwarz-
seidene Strümpfe, die ihm über die Kniee reichten und über
seine rotgestreifte Nachtjacke hatte er einen schwarzen Frack
angetan. Dabei hatte er um den nackten Hals eine schwarze
Krawatte nachlässig umgeschnallt und an den Füßen hatte
er Pantoffeln. Die drei fingen an zu lachen, als Grabbe so
hereintrat, die Kriegsartikel und die Landesverordnung auf-
geschlagen in der Hand, nach denen jene beeidigt werden
sollten. Grabbe schnitt ein ernsthaftes Gesicht: „Der Eid ist
eine feierliche Handlung, denkt an Gott. Emil, denk' an Gott*
m
t>amit stellte er sich an den Tisch, ließ die beiden vortreten
— 139
und fing nun an, die Kriegsartikel vorzulesen mit einer hohen
Imposanten Stimme, wie er alles las. Er blickte indessen
immer über das Buch weg und bemerkte, daß R. noch eine
lächerliche Miene zog. „Emil," unterbrach er sich da im
Lesen, „was lachst du? Ihr müßt nach meinen Unterhosen
nicht sehen oder ich will mich anders stellen." Dabei machte
er sich so klein, daß jene nicht mehr zu sehen waren und
fuhr wieder fort zu lesen und ernsthaft sein Haupt zu er-
heben. Bald aber verlor er alle Geduld. „Ach," brach er
plötzlich ab, „et eis olle dum Tuig! Ihr werdet ja wohl wis-
sen, was darin steht oder ihr könnt's selber lesen. Was soll
ich auch das alles vorpredigen. Nun, nur schnell die Hand
auf, Emil, schwatz' nicht mehr. Ich gelobe und schwöre —
sprecht mir nach. — So, nun seid ihr fertig. Nun müßt ihr
■#
aber erst trinken, eher kommt ihr nicht weg. Der K. ist so
edel, der trinkt keinen Rum. K., nun thun Sie mir den Ge-
fallen, das einzige Mal."
Wie Grabbe sein Amt ausübte, kam es dem rea-
listischen und satirischen Dichter in ihm zugute. Nach-
dem er Bauern verteidigt und sich um Weggerechtig-
keiten gekümmert hat, verfaßt er Suppliken für Wilddiebe und
übt die Gerichtsbarkeit von 1200 Soldaten. Die Soldaten
müssen vor ihm präsentieren, denn er bekleidet den Rang eines
Leutnants. Von 7%— 11% Uhr sind gewiß 20 Soldaten und
Bauern bei ihm, er sitzt unter Bergen von Akten und treibt
nebenbei eine ausgebreitete Lektüre. Darum brauch* er sein
Amt noch nicht vernachlässigt haben, wie sehr auch seine
Führung allen Reglements spottet. Grabbe verhandelte mit
seinen Bauern in lippeschem Platt und diese mögen mit dem
originellen Kauz besser fertig geworden sein, als mit einem
steifen Musterbeamten. Manche Komödie mag sich in seiner
Stube abgespielt haben, und er hat sich dann in der Dichtung
selbst darüber lustig gemacht z. B. in der Gerichtsszene der
.Hermannsschlacht". Die Tonart seiner Umgangssprache mal
••* u
— 140 —
ein Mahnbrief bezeichnen: „Ich bin so enorm grob und bitte
um den verfluchten Gulden. a
Trotzdem Orabbe eine angesehene bürgerliche Stelle inne
hatte und trotzdem die Leute, denen die Augen wie die Pfor-
ten des Himmels bei der Sündflut aufgingen, ihn nach Er-
scheinen seiner Werke unendlich schätzten als großes Genie,
machte er nicht den Eindruck eines glücklichen Menschen. Im
Auftreten war er salopp und cynisch. Zu einem ruhigen Ge-
spräch war er nicht zu haben: er überstürzte sich und zeigte
seinen üppigen, aber ungeordneten Geist. Selbst von seinen
Freunden war sein wunderliches und launenhaftes Wesen
schwer zu ertragen, obwohl Grabbe der Treue und Auf*
Opferung wohl fähig war. Eine krampfhafte Energie bezeich-
net sein Wesen. Mit dem Wahlspruch „zäh und kühn" drängt
er sich vorwärts, wie ein Fisch durch den Morast. Er ist
eben in erster Linie Dichter wie die Romantiker und dann
erst kommt das Leben mit seinen sittlichen Forderungen. Sein
Lebenswandel war ungeregelt.
Grabbes wildleidenschaftliches Naturell assimilierte sich den
Dingen nicht. Das Bild des Lebens verzerrt sich von selbst
vor seiner pathologischen Individualität wie in einem Hohl-
spiegel und unwillkürlich verschieben sich die regelmäßigen
Umrisse und Formen, wie sie der normale Mensch sieht, zu
karikaturischen Gebilden. Ziegler schildert seine Persönlichkeit:
„Er hatte von Natur einen feinen und schwächlichen Körper-
bau oder es war vielmehr Kraft und Schwäche wunderbar
darin gemischt, denn während er auf seinen Schultern einen
Kopf trug, der eine hochgewölbte, an griechische Weltweisen
erinnernde Stirn hatte, unter der ein paar rollende Augen
blitzten, war doch sein' Mund nicht sehr fein geschnitten, in-
dem die Oberlippe über die untere herabhing, wich auch Mund
und Kinn zuviel zurück und fielen die Schultern ab, wie bei
einem Mädchen. Es schien, als ob die untern Teile des Kör-
pers zu den hochfliegenden Gedanken des Kopfes nicht passen
wollten. Aber er hielt sich doch weit nachlässiger, als
— 141 -
dies durch seine natürliche Körperbeschaffenheit bedingt
wurde. Wenn er dahinwanderte, den Rock zurückgeschlagen
und den Daumen der einen Hand in der Tasche über die
Hüfte, in der andern den Regenschirm, zog er seine Schritte
sehr langsam nach, hatte gewöhnlich das Haupt gesenkt und
in seinem Gesichte lag etwas sehr Verdrießliches, die Ober-
lippe preßte die Unterlippe, teils ob er einen widerlichen Ge-
schmack auf der Zunge hätte, teils als ob er einen Schmerz
verbisse."
Die angenehmste Form von Geselligkeit waren für Grabbe
die sogenannten Rum- und Gloriatees, die allerdings mit den
ästhetischen Tees in den Salons nur wenig Ähnlichkeit hatten.
Sie begannen um 4 Uhr mit Kaffee und endigten mit Bacha-
nalen, in denen der Alkohol in Strömen floß.
Preiligrath schrieb beim Tode des Dichters: . „Ach,
es ist was entsetzlich Prosaisches um das, was Kon-
venienz, Etikette — oder mit einem Wort, was die
Gesellschaft aus der schönen Welt und dem Leben darauf
gemacht hat Das hat auch wohl der arme Grabbe gefühlt. 11
Und in der Tat waren Grabbe alle gesellschaftlichen For-
men unerfüllbar oder zuwider — seine Gefühle äußerten sich
oft in so ungewöhnlicher naturalistischer Weise, daß mancher
Besucher den sonderbarsten Eindruck mitnahm. Seine Er-
kenntlichkeit äußerte sich etwa darin, daß er seinem Besucher
in die Backe biß; einen unwillkommenen Besucher komplimen-
tierte er durch maliziöse Reden zur Tür hinaus.
Barocke Szenen gab es auch, als er vor einer geladenen
Gesellschaft seinen „Barbarossa" vorlas. Ziegler erzählt:
Schon nach Lesung einiger Zeilen goß er sich Rum in
den Kaffee, und zwar in solcher Quantität, daß ein älterer
Bekannter ihn warnte. Hierüber entspann sich der
erste Zwischendialog. Dann las er wieder einige Verse und
fand es so schrecklich heiß, daß er um die Erlaubnis bat,
den Rock ausziehen zu dürfen und dann in Hemdärmeln
weiter las. Nach einer Weile ging er fort und holte ein großes
— 142 -
corpus juris aus der Kammer. „Dem will ich den gehörigen
Platz anweisen," sagte er, indem er sich darauf setzte. Mitten
* • * • *
in der Vorlesung fragte er zuweilen: „O, es ist wohl tolles
Zeug! Nein, sagen Sie, langweilt" s Sie auch?" Dann setzte er
• -j «
seine Mütze auf. „Es ist nur des Lichtes wegen!" rief er den
Gästen zu. Als er fertig war und alle ihm dankten und die
«* . ' *
einzelnen Schönheiten der Dichtung rühmten, versetzte er
lachend: „Es ist mir lieb, wenn's Ihnen gefallen hat! Übrigens
den maliziösen Zweck habe ich doch erreicht, ich habe beim
Vorlesen die Fehler korrigiert, welche der Abschreiber ge»
macht hatte." — Ein kindisches Vergnügen macht es ihm,
die Katze mit Tinte befleckt über die weiße Wäsche
seiner Mutter laufen zu lassen. Er kann einem gewis-
sen Grausamkeitskitzel nicht widerstehn, andre zu mysti-
fizieren und zu reizen. - Bei dieser Unruhe ist doch seine
Seele tot. Der Neurastheniker sucht immer wieder das
innere Leid durch verstandesmäßige Reflexion zu beruhigen;
Orabbe gießt nicht nur das Scheidewasser des Verstandes
auf sein Gefühl, auch Rheinwein soll ihm neues Lebensblut
*
schaffen. „Denn der Wein gibt uns alles, was uns fehlt . Er
nennt sich die unruhigste, unseligste Natur und gibt gern zu,
daß er ein armseliges Menschenkind sei. In einer geradezu
fieberhaften Produktion scheint er etwas zu vergessen, sich
selbst entfliehn zu wollen. Dabei ist er bereits in die ewige
Scylla und Charybdis geraten, aus der er niemals heraus*
kommen sollte: der Trunk ist ihm Balsam für der Seele
Schmerz und zugleich das nötige Stimulans zur Arbeit. Er
nimmt zu allen Tageszeiten Spirituosen zu sich, und selbst
m * t
während der Amtstätigkeit hat er ein Qlas Bier neben sich
stehn. Der Rausch versetzt ihn in Fauststimmung und er fühlt
in sich die Kraft zu jedem Talent, zu jedem Vermögen. Dann
aber denkt er katzenjämmerlich-materialistisch: die Menschen
sind Maschinen und Heirat ist ein Spekulationsobjekt — wte
Don Juan. Immermann hat den Dichter 1831 besucht und
seine Eindrücke im Reisejournal mitgeteilt. Er war erstaunt
- 143 -
ein schwächliches Männchen zu sehn, das erst einsilbig und
blöd erschien, bis ihm der Alkohol die Zunge löste und
seinen barocken ungeregelten Qeist frei machte. Dennoch
fühlte Immermann sich angezogen durch eine Natur, die ganz
anders war und ihr eigenes ungekünsteltes Leben fährte.
Nicht nur die politischen Parteikämpfe, auch das lite-
rarische Cliquenwesen verdirbt den Charakter. Orabbe nennt
sich selbst ein „Tigerlein, das erst lauert, ehe es krallt". Er
liebt die Kritik aus Freude am Zerreißen, aber es graut ihn
doch vor den Folgen und er läßt sich belehren. — Er ging
darauf aus, im literarischen Leben eine dominierende Rolle zu
spielen. Seitdem Ende 1829 das neue Theater eröffnet war,
suchte Orabbe Fühlung mit den Schauspielern, besonders be-
freundete er sich mit Brunhofer und mit Albert Lortzing, der
1826 nach Detmold kam. Durch Lortzing kam Orabbe wohl
dazu, Musik zu lernen und er spielte zum Entsetzen seiner
Umgebung stundenlang auf der Orgel. Mit dem, was er /
in Berlin erlebt hat, sucht er renommistisch zu prunken.
Jedenfalls ärgern sich die Schauspieler über seine beißen*
den Kritiken und sie üben Nemesis, indem sie Orabbe in der
Karikatur des Dichters Schulberg auf die Bühne bringen. Nach
diesem Skandal scheint es zu einer gegenseitigen Aussöhnung
gekommen zu sein, die bei Rheinwein und Burgunder gefeiert
wurde. Hatte Orabbe sich in der Abendzeitung in der mali-
ziosesten Weise ausgesprochen, so lautet die Kritik über eine
„Don Juan und Faust"- Aufführung in der ? Iris a ganz anders.
Er hatte Lortzing vorher tief empört, indem er sein Orgap
schwach, seine Gebärden bedeutungslos genannt hatte, jetzt
aber wird seine Gewandtheit und sein Oeist hoch gerühmt.
Hier zeigt sich Qrabbes Obermenschentum von der bedenk-
lichsten Seite.
. Seit 1827 begann Orabbe seine eigenen Werk$ herauszu-
geben. Kettembeil war mit ihm in Briefwechsel getreten —
ein Briefwechsel, der für die Erkenntnis vpn Orabbes Wesen
wichtiger ist, als die Erzählung der Biographen. Alles liegt
- 144 -
darin: die Gottverlassenheitstimmung des Gothland, die Ge-
fühle des Desperados, der sich das Glück erzwingen will, sei
es auch au! hochstaplerisch krummen Intrigantenwegen; so-
dann entfaltet sich das fremdartige Schauspiel dieses barocken
Geistes, der überaus reich und lebendig an Einfällen ist, aber
auch mit den verrücktesten Kombinationen, den abenteuerlich-
sten Ideenassoziationen das Absurdeste und Geschmackloseste
ausspielt. Seine Verhandlungen mit seinem Verleger sind
merkwürdig genug. Seinen Werken steht Grabbe ganz kalt
gegenüber. Sie sind ihm fremd, ja widerlich: er nennt sie
Pasteten oder Tiere; mag man daran streichen, was man will.
Man darf daraus aber keinen Rückschluß auf die Zeit des
Schaffens selbst tun. Hier zeugen die Werke wider den Dich-
ter selbst. Dem Neurastheniker schwinden die Dinge und zwar
gerade die erfreulichsten schnell aus dem Gedächtnis. Für
das Unmoralische steht er ein. Er macht die marktschrei-
erischste Reklame — mehr aus Verachtung und Hohn auf die,
die nicht alle werden, als weil er selbst daran glaubt. Seine
Vorreden sind für das Publikum berechnet und mit mephi-
stophelischer Verschmitztheit legt er sich* die Berichte an die
Redakteure zurecht. Das Mystifizieren und Versteckenspielen
ist ihm Selbstzweck und er denkt dabei kaum an die mög-
lichen Folgen. Aus reiner literarischer Rauflust möchte er
mit Immermann, Uechtritz und Raupach anbinden. Sein Mangel
an Erziehung und feinerem Gefühl zeigt sich in den prah-
lerischen Selbstrezensionen, womit er allerdings nur der Mode
der Zeit folgt. Denn es gilt damals wie heute — wer nicht
schreit, wird nicht gehört. Dabei kann er sich starke Blößen
geben. Die literarischen Blätter verweisen am Schluß einer
ungünstigen Kritik des „Don Juan und Faust" auf eine frühere
Besprechung, in der Grabbe als großer Dichter gepriesen
wurde: „wie konnte der Dichter sich das gefallen lassen?*
Diese Besprechung aber war von Grabbe selbst! Freilich
hatte Grabbe keinen hohen Gönner, der ihn eingeführt hätte.
Er versucht es mit Tieck, der Uechtritz so bereitwillig be-
— 145 —
vorwortete, indem er ihm meldet, daß er jetzt eine feste Stel-
lung bekleide — aber ohne innere Zustimmung. Möglichst
schnell und bald will er durchbrechen. Es mißt die Coterieen
und Cliquen genau ab, ist äußerst betriebsam, fordert jede
Rezension — auch unfrankiert, und lauscht auf die Lobsprüche,
während er sich nach außen gleichgiltig stellt. — Grabbe im
Glück zeigt sehr unangenehme, bedenkliche Charakterzüge.
Er brüskiert durch verletzenden Hohn, bricht sich mit Bauern.
Schlauheit und Jesuitentücke Bahn, gefällt sich in seiner Me-
phistopose. Er will sich vorwärtsdrängen um jeden Preis in
unruhigem Ehrgeiz — er, den soviel unheimliche Mächte her-
unterziehn, will an die Oberfläche. Aber wir verstehn doch
vieles aus seiner notgedrungenen Kampfstellung, aus seiner
Krankheit und aus seiner fehlerhaften Organisation, und mit
bloßer Originalitätssucht erschöpft man ihn, der seine Schwä-
chen sogar nicht zu verhüllen verstand oder zu verhüllen für
nötig hielt, ganz gewiß nicht, der an Gehalt, Tiefe, Fähigkeit
doch so viele erfolgreiche Modeschriftsteller überragte. Alles
liegt daran, ob man hinter diesem komödiantenhaften Ge-
bahren — ihm war das ganze Leben nur eine große Komödie
— ein großes echtes Ringen und eine wirkliche Kraft anerkennt.
Obernahm Grabbe sich in übermenschlicher Vermessenheit,
über seine Kraft hinaus, so hat eine wahrhaft furchtbare Ne-
mesis sich in seinem Leben enthüllt, und er hatte den Stolz,
nicht über Ungerechtigkeit in diesem Gericht zu murren.
Der zuerst so Übermütige ist bald sehr kleinlaut geworden —
sowie auf die bombastischen Rasereien Gothlands zuletzt die
kargen lakonischen Schmerzakzente Hannibals folgen. Dieser
gänzliche Mißerfolg, diese Oberfülle von Unglück fallen
schwer ins Gewicht, wenn ein Urteil gefällt werden soll.
„Alles Verstehen heißt alles verzeihen." Man hat diesen
Grundsatz auf Charaktere angewandt, die moralisch viel
tiefer stehen als Grabbe.
Nieten. Chr. D. Ortbbe 10
V. Kapitel
Don Juan und Faust
Don Juan: Wozu fibermenschlich, Wenn Du
ein Mensch bleibst?
Faust: Wozu Mensch, Wenn Du nach Über-
menschlichem nicht strebst.
ms.
I.
Grabbes Leipziger Unterredung mit Jerrmann endigte
damit, daß der Schauspielaspirant sich als selbsttätigen Dichter
produzierte, der nichts Geringeres plante, als Goethes Faust
und Mozarts Don Juan zu überbieten, durch ein Kunstwerk,
das Faust und Don Juan zusammenfahren sollte; er las dann
u. a. eine Szene, in der der Teufel Ober das Straßenpflaster
von Köln sprengt, wobei das Roß ein Hufeisen verliert
Daß Grabbe auf einen „Faust* 4 verfiel, nimmt nicht wunder
in einer Zeit, wo ungefähr jeder hervorragende Dichter seine
Stellung zu Goethes Faust irgendwie dichterisch zum Ausdruck
brachte. „Neben den Nachahmern Goethes, den Schink, Schöne,
Voß, von Soden erwähnen wir W. Mfiller's Obersetzung des
Marloweschen Faust von 1816, ferner Chamissos Fragment,
Platens Gebet; Tieck schrieb einen Anti-Faust, Heine äußerte
Goethe gegenüber den Plan und führte die Idee aus. War
ja doch der Faust die modernste Prägung des uralten Titanen-
problems I Für Grabbe dürfte am ersten eine Einwirkung
des Klingerschen Romans und des patriotisch verbrämten von
Soden'schen Theaterstücks nachzuweisen sein; auch klingt
— 147 —
die Tendenz der Szenen von Alois Schreiber stark wieder:
„Veh, wer von dem sich loszureißen wagt, woran selbst die
Natur sein Glück gebunden." „Der Mensch ist nicht gemacht
für den Umgang mit höhern Wesen und darf nicht ungestraft
wagen, aus dem Kreise der Menschheit herauszutreten."
Genug: Grabbe beschloß, ebenfalls einen Faust zu schaffen.
Und wenn auch Goethesche Motive verwandt werden und
vielfach in anderer Gestalt auftauchen, so war ihm doch
Goethes Faust viel zu lyrisch und menschlich, viel zu wenig
Titane; vor allem erschien er ihm inkonsequent Vielleicht
hegte Grabbe den vermessenen Wahn, dem 80 jährigen Alt*
meister als Führer einer neuer Generation an die Seite zu
treten. (Prometheischer Trotz sollte sich mit weltschmerz-
licher Zerrissenheit vereinen; die Traditionen des Sturmes
und Drangs sollten wieder aufleben, und gleichzeitig wollte
er anknüpfen an die romantische IronieT? Nachdem er seinen
früheren Götzen Shakespeare zertrümmert hatte, schuf er sich
einen neuen in Lord Byron, dessen Zauber ja — zu Gervi-
nus' (Bd. V. 718) Befremden — selbst ein Goethe verfiel. —
Aber einen Don Juan gab es im deutschen Drama noch
nicht Daher faßt Grabbe, Ungeheures ersinnend, den Plan,
Faust einen Gegenspieler zu geben, der das andere
Extrem der menschlichen Doppelnatur verkörpert, die beiden
Seelen, die sich in Faust* s Brust bekämpfen, zu trennen und
nach außen zu projizieren: Faust und Don Juan in einem
dramatischen Gemälde zu vereinen. Allerdings hatte bereits }
N. Vogt*) früher denselben Einfall gehabt, aber jedenfalls bleibt
es fraglich, ob Grabbe von diesem spielerischen Versuch, der
nur zum kleinen Teile ausgeführt wurde und größtenteils
Skizze blieb, und in dem außerdem die beiden Figuren zu
*) Der Flrberhof oder die Buchdruckerei von Mainz. Frankfurt 1809.
Franz Hörn ist es übrigens, der sich den ersten Entdeckerruhm beimißt;
•»daß Hamlet, Faust und Don Juan zusammengehören und sich gegenseitig
erklären, habe ich bereits zuerst im 2. Jahrgang des Taschenbuchs Luna 1805
angedeutet. Dieser Gedanke ist seitdem Gemeingut geworden."
/
- 148
einer verschmolzen sind, Kenntnis gehabt hat. Da im übrigen
nicht die geringste Ähnlichkeit in den beiden Stücken vor-
liegt, würde die Charakter-Eigentümlichkeit Orabbes Erklä-
rung genug sein. (Vgl. 20. I. 28: er will etwas geben, da*
alles überbietet)
Auch waren sich Faust und Don Juan im Lauf der Jahr-
hunderte näher gekommen: in Tiecks Abdallah haben wir
Don Juan und Faust vereint im orientalischen Kostüm, Wil-
liam Lovell wird verführt durch einen höllischen Geist; so-
gar im Volksstück „Faust bei den Zigeunern" stoßen Ein-
flüsse vom romanischen Süden mit solchen vom germanischen
Norden zusammen. Und während Faust, der sich hier heiß-
blütig in eine schöne Prinzessin verliebt, sich den südlichen
Völkern verständlich macht, erringt sich Don Juan im Nor-
den Heimatrecht in der unsterblichen Musik Mozarts und in
den göttlichen Versen Byrons.
Schon der Leipziger Student konnte sich an den Melodien
Mozarts berauschen und die moderne Deutung Byrons, der
freilich den Boden der Tradition ganz verließ, lesen. Der
Faust war Grabbe aber nicht nur durch Goethe, sondern
durch zwei geringere Schöpfungen erschlossen, aus denen
eine unmittelbare Theaterwirkung zu ihm sprach. Der
theatralische Effekt blendete ihn, Müllner schätzte er so hoch
wie Shakespeare oder Schiller; Klingemann tat es ihm
mehr an, als Goethe, und die Heftigkeit des Liebeswerbens
— aus der dann Grabbe allerdings etwas ganz anderes ge-
macht hat, die Gewalttätigkeit gegenüber dem Fremden,
das Maskenfest finden wir denn auch schon in dem überaus
effektvollen Theaterstück Klingemanns, dessen Poetik einge-
standermaßen auf die Erregung großer Leidenschaften und
nicht auf moralische Wirkung ausging; hierher kommt auch
einer der tollsten Widersprüche bei Grabbe: Die Verheiratung
Faustens. Der Riesenerfolg des „F r e i s c h ü t z a Ende 1821
in Leipzig dürfte mit der virtuosen Theaterkunst Klingemanns
in der Entstehungsgeschichte des „Don Juan und Faust a eine
— 149 —
weitere Rolle spielen, sofern der Sinn für theatralische Wir-
kung, für das Volkstümliche geschärft ward« Von wesent-
licher Bedeutung war es ferner, daß die Don Juansage mit
der Faustischen Oberlieferung ineinander verwoben war in
dem Operntext von Bernard, der der S p o h r sehen Faust-
musik zugrunde lag, von der Qrabbe wenigstens Fragmente
im Konzertsaal vernehmen konnte.
Im August 1823 haben wir vorläufig die letzte Spur des
Stückes; Orabbe las den Shakespeareschen Hamlet in der
Absicht, die Tragödie mit Humor zu durchdringen. (Außer
der Mischung von Tragik und Humor fühlt man sich erinnert
an Hamlets Verhältnis zur Ophelia). Dann ruht die Pro-
duktion längere Zeit, während Grabbes unruhiger Geist sich
nach allen Seiten zu bereichern strebt und krankhafte Ge-
mütstimmung und Blasiertheit ihm treu bleiben.
Erst im Mai 1827 hören wir dann wieder von dem Stück.
Grabbe fährt da fort, wo er aufgehört hat, bei der Liebes-
szene des 2. Aktes, der bald darauf wohl der übrige Teil des
2. Aktes gefolgt ist. Frische Arbeitslust wird über den Dich-
ter gekommen sein, als das Hoftheater unter der Gunst des
Fürsten aufblühte und in ihm den Wunsch weckte, ein thea-
tralisch korrektes Stück zu schreiben. Denn Paul Alexander
ließ ein neues Schauspielhaus erbauen, das am 8. November
1825 mit Mozarts Titas unter der Direktion von August Pich-
ler eröffnet wurde. Grabbe ließ sich Brönners Ausgabe der
Werke Lord Byrons kommen. Die Don Juanszenen waren
bereits Anfang 1828 vollendet. Danach würden die Szenen
zwischen Faust und Donna Anna im Frühjahr 1828 gedichtet
sein. Eine, entscheidende Anregung erhielt Grabbe aus
Byrons Manfred: Die Tötung der Astarte und das Motiv
der Reue. Die Motiven-Reihe abzuschließen, erwähnen wir
noch Calderons wundertätigen Magus, der durch höllischen
Zauber die Christin Justina gewinnen will, und Goethes
Helena-Tragödie (1827), aus der die Anregung für die Burg
auf dem Montblanc genommen sein kann.
— 150 —
Im August 1%28 war die Dichtung fertig und im Januar
1829 erschienen die Ankündigungen. Die erste Auffüh-
rung fand in Detmold am 29. März 1829 statt; Lortzing,
der die Musik dazu geschrieben hatte, spielte selbst den Don
Juan, Frau Lortzing die Donna Anna. Der Theaterzettel
t lautet also:
Don Juan und Faust.
Dramatisches Gedicht in 5 (I) Akten von Qrabbe. Musik
von Lortzing, Mitglied des hiesigen Hoftheaters.
Personen :
Der Gouverneur Don Gusman . . . Herr Greenberg.
Donna Anna, seine Tochter .... Mad. Lortzing.
Don Octavio . , Herr Ottinger.
Don Juan, spanischer Grande .... Herr Lortzing.
Doctor Faust Herr Schmidt.
Ein Ritter Herr Fries.
Signor Rubio, Polizeidirektor .... Herr Schellhorn.
Signor Negro Herr Elzner.
Leporello, Diener des Don Juan . . . Herr Pichler jun.
Gasparo, Diener des Gouverneurs . . Herr Gladbach sen.
Lisette, Magd der Donna Anna . . . Frl. Thorbeck.
Das Stück ward dann trotz des starken Eindrucks vom
Repertoir abgesetzt Die Aufführung fand bei aufgehobenem
Abonnement statt und brachte 95 Taler, 12 Silbergroschen, 7 PL
ein, dreimal soviel als irgend eine andere Aufführung in dem«
selben Monat (Grisebach. Grabbes Selbstrezension der Auffüh-
rung vgl. Grisebach IV 513 ff.) . In Lüneburg fand eine zweite
Aufführung statt. Köln, Frankfurt zeigten Teilnahme, ließen es
t aber nicht zur Tat kommen. Noch zu Lebzeiten Grabbe > s
• kam es in Augsburg 1832 zur Aufführung; 1835 folgte Wien,
1841 Graz. Nach langer Pause regte sich dann auch in Nord-
deutschland das Interesse; 1877 bearbeitete Wolzogen das
Stück für Schwerin, dann folgte Riga, 1896 ward es wie*
der zum Leben erweckt in Nürnberg und Bamberg (mit der
— 151 —
Musik von Alfred Kaiser) , es folgte Meiningen (Moritz Mosz-
kowski), 1894 Berlin, 1901 Karlsruhe.
Ein vollständiges Manuskript ist nicht bekannt; Grise-
bach besitzt ein Folioblatt aus dem IL Akt, I. Szene. Die
erste Ausgabe erschien in Frankfurt a. Main, J. A. Christ.
Hermansche Buchhandlung O. F. Kettembeil 1829, Tragödie
in 4 Akten, in 8° 224 Seiten. Der Preis betrug nach dem
Lippeschen Intelligenzblatt No. 15 vom 16. April 1829 1
Reichstaler 8 ggr. Eine zweite Auflage in 16° erschien eben»
falls in Frankfurt 1862; davon eine neue Titelauflage in Prag,
Tempsky 1870. Die Partitur der Lortzingschen Musik, die
nirgend gedruckt ist, die aber vor einiger Zeit in Berlin noch
einmal zu Gehör gebracht wurde, befindet sich im Privat-
besitz des Musikschriftstellers G. R. Kruse (vgl. dessen „Lort-
zing" in der Sammlung berühmter Musiker, Berlin 1899). Sie
enthält die Ouvertüre und 4 Nummern.
Die Kritik schwankte schon damals zwischen Lob und
Tadel. Menzel (Literaturblatt 73 1830) ist begeistert von
dem „tollschönen Stück, in dem die Gedanken Blitze, die
Worte Donner und die Empfindungen Schläge sind. a Und
auch der Nachruf der „Allgemeinen Zeitung" nennt es das
„gewaltige und in weitesten Kreisen gefeierte Trauerspiel."
Ihm steht nahe Rudolf v. Gottschall, einer der wärmsten Be-
wunderer Grabbes, der das Stück für „eines der großartig-
sten Erzeugnisse der neueren National-Literatur a hält (Aus-
gabe bei Reclam). Aber Grabbes Verleger Kettembeil
— ähnlich wie Immermann — dachte weniger günstig
(13. V. 29). Am schärfsten und boshaftesten kriti-
sierte man in Berlin (Gubitz-Gesellschafter, 77 1829) Dr.
Schiff im Freimütigen 1829 232 nannte die Dichtung ein nie-
derschlagendes Pulver und fand die Fabel einfältig. Sehr
scharf urteilte auch der Rezensent der Blätter für literarische
Unterhaltung in einer übrigens sehr gehaltreichen Kritik (De-
zember 1829).
- 152 —
Besser daohte man in Leipzig und Halle (Allgemeine
Literaturzeitung), während in Jena (Jenaische Allgemeine
Literaturzeitung, Juli 1829) Licht und Schatten verteilt ward.
Erwähnt seien noch die äußerst ablehnende Haltung von Hebbel
(Tagebücher 1846) und das übermäßige Lob von Scherr.
Neuerdings hat sich R. Warkentin näher mit Grabbes Dich-
tung befaßt, aber in ungünstigem Sinne darüber abgeurteilt.
Er weist auf die Obereinstimmung mit Goethe, Klingemann
und Mozart hin, spricht Grabbe die Fähigkeit des Charakteri-
sierens ab, findet in den Faustszenen nur ein unerfreuliches
Phrasengeplätscher und drückt das Stück herab auf die Stufe
eines Ausstattungsstückes mit opernhaften Effekten, ohne für
diese schroffen Behauptungen Beweise zu bringen und ohne
sich um den Sinn des Stückes näher zu bemühen.
Sicherlich ist Grabbes „Don Juan und Faust" kein ausge-
reiftes Meisterwerk, kein stilreines, organisch aus der Wurzel
eines großen Grundgedankens heraus sich gestaltendes, von
einem sicher empfundenen Schönheitsgesetz einheitlich geleitetes
und geregeltes Kunstgebilde. Die epigonenhafte Verwertung und
Ausbildung angedeuteter Motive, die allerdings Gemeingut
sind, erscheint uns noch nicht als schöpferische Tat.
Aber andrerseits haben wir mit großer Verve hingewor-
fene Impressionen, und eine verwegene Konsequenz leuchtet
in der Grundidee der Fausthandlung auf. Hätte Grabbe sich
nur beschränkt auf die ursprüngliche/Xntithese: ein tief und
rein empfindendes Mädchen umworben von zwei bedeutenden
j Menschen; der eine ein Geistesriese, auf Macht und Ruhm
bedacht, aber rücksichtslos, unmoralisch, kalt ohne sinnliche
Wärme, der andere ein echter Lebemann, glänzend, aber ein
zynischer Egoist! Wenn dies der Kern des Don Juan- und
Faustmotivs ist, hätte es dann des Teufelspuks, der Fahrt
durchs Weltall u. a. bedurft? D abei findet der Dichter noch
Zeit^a llerhand Zeitsati n» an7uhringfn und fin Ormfilde jener
unseli gen Übergangsze it miührer Zerrissenheit zu entwerfen,
atsachlich wird die ganze Don Juan und Faustsage ent-
- 153 —
wickelt, während doch ein mehrbändiger Roman das Riesen-
thema kaum zwingen könnte. „Wie zwei nemäische Löwen",
sagt Menzel, stehen sich beide gegenüber, und der eine steht
dem andern im Licht. Man sieht, daß Orabbe die schillernde
Fläche verlockte, daß er von außen kam.
Jedenfalls liegt hier der Ausgangspunkt und wenn nun
von innen her eine schöpferische Kraft auftaucht, so
wachsen Kern und Schale doch nicht zu einem or-
ganischen Ganzen zusammen. Aber das eigene Erleben ist doch
nicht völlig entwichen, vielmehr ist auch das eigene Liebes-
leben darin verdichtet Daher bewundern wir die Szenen
zwischen Faust und Donna Anna als eine Inspiration von
eigentümlicher Größe und hier wie auch an anderen Stellen
der Dichtung üben die Spuren eines kühnen Dichtergeistes,
die Äußerungen einer originellen Natur ihre Anziehungskraft.
II.
In das 16. Jahrhundert führt uns der Dichter, da sich
Mittelalter und Neuzeit wie Licht und Dunkel scheiden. Ob
sich Faust und Don Juan der Zeit nach begegnen können,
darüber hat sich Grabbe keine Bedenken gemacht. Don Juan
Tenorio lebte früher als Faust (um 1350), aber seine Ein-
führung in die Literatur erfolgte später (1634) als die des nord-
deutschen Zauberers. Und es ist wichtig und bezeichnend, daß
diese Einführung hier durch einen protestantischen Theologen,
dort durch einen katholischen Mönch erfolgte. — Die Szene kann
nicht großartiger gedacht werden: Rom und Montblanc. „Don
Juan und Faust! Die Szene des Stückes! Ich habe sie Dir
schon bezeichnet — wo soll ich die beiden Personen anders
vereinigen als im welthistorischen Rom?" So Grabbe an Ket-
tembeil (16. März 1828). Dagegen ist nicht viel einzuwenden.
Auch Molina und Moliere banden sich nicht an Sevilla, {[nach
Deutschland kann er den tollen Romanen nicht gut versetzen.
Er gehört in den sinnenfrohen glühenden Süden, und auch die
Oberlieferung läßt Faust nach Rom kommen} Die Erinnerung
— 154 —
an die Weltstadt Rom soll wie ein Resonanzboden durch das
ganze Stack klingen (16. 1. 1829). Und in der Tat — der
zaubervolle Namen Rom umschließt eine wahre Schatzkammer
von poetischen Motiven, die alle möglichen Stimmungen her*
vorlocken können. Qrabbe sucht sie in seinem Sinne auszu-
münzen. Rom die Herrscherin, der Mittelpunkt der Welt-
Moderner Geist über antiken Trümmern: Papst auf dem Ka-
pital, Efeu von gestern. Rom ein Spiegel — aber ein zer-
brochener Spiegel! Diese Stimmung, die den Weltschmerz in
die Natur hineinträgt, bildet den Grund ton; diese Stimmung,
wie sie bei Byron erklungen war, dessen Manfred die er-
habene Schwärmerei einer Nacht im Kolosseum auskostet,
versunken in Betrachtung der toten Zepterträger, die aus Urnen
noch unsere Geister lenken (Manfred III 4). Wie Childs
Harold Geister selbst aus Trümmern steigen Ußt, so begrüßt
Don Juan die Ruinen, die strahlen wie verklärte Geister. (Vgl.
auch Scherz Satire III 4: Graue Ruinen blicken aus grünen
Gebüschen, laute Tritte tönen durch einsame Straßen.) Trüm-
mer und Ruinen Roms werden immer wieder als Symbole
innerer Zerrissenheit gedeutet; aber den Stimmungszauber
der römischen Landschaft, dem Byron so meisterhaft in Childe
Harold nachempfand, weiß er wenig auszudeuten. Eben-
so wenig ist der zeitliche Hintergrund einheitlich festgehalten:
die Stimmung der Renaissance. Später verstand er es besser,
Erdgeruch und Lokalkolorit wiederzuschaffen. Wir kennen
die Grundstimmung, die das Stück beseelt, lassen die römische
Luft um uns strömen und wenden uns dem Stück und den
Gestalten des Dichters zu.
Voran geht die Ouvertüre von Lortzing. „Sie ist nur zum
kleineren Teil eigene Erfindung, zum größeren aber aus Mo-
zartschen Don Juan- und Spohrschen Faustmotiven zusammen-
gesetzt, eine künstliche Verschlingung, die zum Mindesten sehr
geschickt genannt werden muß. Die Einleitung bringt ein
mysteriös klingendes Largo. Ein allegro moderato führt uns
ins Reich der Gnomen. Verwandt werden noch die Faust-
- 155 -
Arie und Mozarts Zerlincn-Arie (Kruse a. a. O. S. 27)." —
Nicht mit Entführung und Mord wie in der Oper oder bei l^^
Molina beginnt das Grabbesche Stück, vielmehr die erste
Szene erzählt, wie Don Juan durch einen improvisierten
Streit mit Leporello den Vater und den Bräutigam Annas her-
vorlockt. Während diese nun Faust, den Don Juan als Ur-
heber des Streites hingestellt hat, nachspüren, sucht Don Juan
Anna zu entführen. Er findet aber die Türen verschlossen
und es bleibt ihm nur übrig, durch Leporello die Magd aus-
tragen zu lassen, wo Anna morgen zu treffen sei.
Nachdem in einer Antrittsarie (»Das schlafende Rom"),
in der die Grabbesche Dichterklaue schon hervorlugt, Don
Juan die mehr übermütige als stichhaltige Antithese: „Die
arme Herrscherin der Welt — sie hat die Liebe nie gekannt 11
— aufgeworfen hat, macht Leporello dieser mehr durch
historische Reminiszenzen als durch tiefes Naturgefühl ausge-
zeichneten Schwärmerei ein Ende. Man wundert sich einiger-
maßen, daß Don Juan noch nicht weiter ist, trotzdem Lepo-
rello seit 3 Tagen das Haus umschleicht. Viel Kunst — denn
immer überwiegt der Verstand das ursprüngliche unbewußte
Schaffen — ist auf den Dialog verwandt worden, der, nach
4km Vorbild der spanischen Stücke und Shakespeareschen
Lustspiele (vgl. wie in den Edelleuten von Verona der Diener
Kr den Herrn auskundschaftet) voll von Anspielungen und
Beziehungen steckt, und der sich nicht begnügt, der Faden
zu sein, an dem sich die Handlung abspinnt, sondern der sich
zuletzt in einem allgemeinen Gedanken zuspitzt, wie über-
haupt das ganze Stück auf einigen großen Antithesen aufge-
baut ist Unter dem Oberreichtum an philosophischen Poin
ten leidet die Leichtigkeit und Natürlichkeit, ja die Verständ-
lichkeit — wie soll Leporello diesen Don Juan verstehen! —
des Dialogs. Man hat das Gefühl, daß die Antithese oft eher
da ist, als die These. Jedes Dialogstück schließt gewöhnlich
mit einer nicht immer einleuchtenden, dafür aber um so über-
raschenderen Sentenz. Zwischen den einzelnen Teilen aber
:i
— 156 —
ist kein rechter Zusammenhang. Oberhaupt ist die Einheit
der ganzen Szene sehr notdürftig. Es scheint, als habe der
Dichter, wenn ihm nachträglich ein guter Einfall kam, un-
bekümmert Einschübe gemacht. Zu diesen Einschüben dürfte
auch Don Juans glutvolle Hymne auf das Vaterland (o kein
Donner an dem Himmel usw.) gehören, die mit ihrer inni-
gen Gewalt, ihren kraftvollen Vergleichen, ihrem südlichen
Kolorit, wobei die Harmonie der Form durch das Charakteri-
stische nicht gestört wird, zu den glücklichen Inspirationen
des Dichters gehört, der mit den Hohenstaufen, diesen wilden
Kaiserstirnen", das Größte seines Lebens zu geben trachtete.
Aber es ist eins von jenen Paradestücken, lyrischen Ergüssen,
Effektstellen, die E. Devrient als Auswüchse eines falschen
Idealismus, einer äußerlichen Nachahmung Schillers und Calde-
rons tadelt. In der Tat zeigt die bunte Unruhe der nach
vielerlei Stilen gebildeten Szene den „zwischen der Nach-
ahmung des Schillerschen, Shakespeareschen und Calderonschen
Stiles" (Hettner) schwankenden Dichter. {Neben dem spieler-
ischen Witz des Shakespeareschen Lustspiels steht der derbe
Humor des Volksstücks. Scherz, Satire, Ironie sprühen und
leuchten; romantisch würzt der Dichter die Handlung mit
doppelter Komik. Leporello betrügt Lisette, und Don Juan
ironisiert als Echo den ganzen Vorgang. Wie Immermann in
seinen Jugenddramen, ahmt Grabbe die Manier der roman-
tischen Schule nach, ungebundene Rede mit Versen und vers-
artiger Rede abwechseln zu lassenT^fteißt es in TiecKs »ver-
kehrter Welt": Verse sind tollgewordene Prosa, so begründet
Grabbe den Obergang von Versen zu Prosa bizarr genug:
„brauch Vernunft! — Vernunft!; — so muß ich sprechen,
denn Singsang bleibt doch ewig unvernünftig." Und der wun-
derbare Gedanke, die Dienerin in der Nacht ausfragen zu
lassen, wird noch wunderbarer begründet: „Das ist roman-
tisch!" Gleich als ob Don Juan die Prinzipien der roman-
tischen Schule kennte und sie persiflieren wollte. — So knüpft
Grabbe in den ältesten Bestandteilen des Stückes noch an die
— 157
Romantik und an Shakespeare an. Sicher hat er sich
weiter auch vom Melodrama und von der fantastischen Volks-
komödie befruchten lassen; und aus genauerer Theaterpraxis
fing ihm der Sinn für das Dekorative, für Ausstattungseffekte
auf; im Bunde mit Lortzing mochte er an eine Umwandlung
der Oper zu einem rezitierenden Schauspiel denken, wie denn
z. B. die 2. Szene des 4. Aktes ganz melodramatisch gehalten
war.
Für die Inszenesetzung der Gesamthandlung sind am
wichtigsten der Anfang des Dramas und die 2. Szene des
2. Aktes. Als Urheber des Lärmes stellt Don Juan Faust
hin, der Anna entführen wolle. Der Gouverneur geht leicht-
gläubig darauf ein, trotzdem kommt Don Juan nicht dazu,
Anna zu entführen. Die Ausrede nicht mitzukommen, weil seine
Wohnung verschlossen ist, ist ebenso schwach wie der Grund,
der die Entführung hindert Er, der nicht scheut, über Leichen
zu gehn, weicht vor einer verschlossenen Türl Mit Recht hat
man ferner hier Anstoß genommen und einen groben Wider-
spruch aufgezeigt, insofern als Faust ja erst in selbiger Nacht
sich der Magie ergibt und nicht im Traum an Liebeshändel
denkt. Woher und warum dieser Widerspruch? Ich nehme
an, daß Grabbe verschiedene Pläne durcheinander gewirrt
hat, daß es ihm nicht gelang, sie zu einer Einheit zu
verschmelzen und daß er dann die sich ergebenden Discre-
panzen unbekümmert stehn ließ. Entweder ist Don Juan ein
Verleumder oder — er spricht die Wahrheit. Nehmen wir
den letzteren Fall an, so stoßen wir auf den ursprünglichen
Plan, so finden wir uns in Übereinstimmung mit der 2. Szene
des 2. Aktes. Dann würde der Monolog und die Weltallfahrt
des Faust überflüssig sein; wir hätten es in der Exposition
gleich mit dem verliebten Faust zu tun und die Einheit des
Stückes wäre besser gewahrt. Dann stehen wir aber auf dem
Boden von Bernards Operntext zu Spohrs
Faust Hier rühren wir an die wichtigste Quelle für Grab-
bes „Don j uan un d Faust". Die Faust- und Don Juan-
— 158 -
handlung ist der Spohr sehen Oper ein facti
entlehnt. Bei Spohr hat Faust Röschen in der Tat durch
„Zauberei und böses Wesen" entführt, und als die Verfolger
kommen, entflieht er auf dem Zaubermantel. Man vergleiche den
Schluß des 1. Aktes bei Orabbe und man sieht deutlich, wie
unbekümmert und zusammenhanglos hier der Dichter zwei ganz
verschiedene Pläne, zwei zeitlich unbedingt differierende Tat-
sachen verbunden hat Bei Spohr erscheint Faust auf der
Hochzeit; er nähert sich auf dem Ball Kunigunde, Hugos
Braut, und weiß sie zu umstricken. Faust entfährt nun Kuni-
gunde, nachdem er Hugo getötet hat. Mephistopheles aber
spielt die Rolle des Verräters, genau wie auch bei Orabbe dar
Ritter der diabolus ist, der Don Juan Fauats Aulenthalt ver-
rät. Bei Orabbe entführt Faust — seine Verjüngung hat doch
nur Sinn für den Verfolgten! — Anna auf dem Hochzeitsfest,
da sie Octavio vermählt wird. Das Seltsame ist, wie Spohrs
Faust bei Orabbe in zwei Gestalten zerlegt wird: Faust über*
nimmt die Entführung der Braut, Don Juan die Tötung des
Bräutigams. Mit dem Duell zwischen Don Juan und dem
Gouverneur, auf dem ja das Ende der Don Juanhandlung
entscheidend beruht, fügt sich Orabbe dann wieder der tradi-
tionellen Don Juansage ein.
Doch kehren wir zur ersten Szene zurück. Der Gou-
verneur wird zu einer komischen Figur, zu einer Buffo-
rolle. Octavio sagt ebenso nüchtern wie treffend: „Ein bloßer
«^Lärm, Gott weiß, woher entstanden, beteiligt nicht die Ehre
^meiner Braut" • Soll man sich mehr über diese Leichtgläubig-
keit wundern, oder über diese Karrikatur von Ehrgefühl und
Glaubensfanatismus, die ihn sofort den weiten Weg vom spa-
nischen Platz zum Aventin zurücklegen lassen, um den Zau-
berer dem Scheiterhaufen zu übergeben?! Dieser Alte recht*
fertigt nur zu sehr die Kritik Negros: diese Spanier sind Nar-
ren mit ihrer Ehre. Spaniens Kohlhaas Crespo zeigt uns im
„Richter von Zalamea", was dem Spanier die Ehre bedeutet.
»Der Ehrsucht tapfre Toren" hat Ritter Harold in Spanien
— 159 —
getroffen. Danach wollte sich Orabbe richten, und er wollte
spanischen Stolz und spanisches Ehrgefühl — sein Gouver-
neur ist aus diesen beiden, und nur ans diesen Eigenschalten
zusammengesetzt — anschaulich machen, aber zugleich auch
parodieren.
Nach der eigenen Kritik des Dichters gehört der Gou-
verneur zu den „Notnägeln" des Stückes, ebenso Donna Anna(!>
mit ihrem Ernst und ihrer Tugend und Octavio. Octa-
▼ i o s „Gewöhnlichkeit und Zierlichkeif 1 ist nach verschie-
denen Mustern gebildet In der ursprünglichen Vorlage tritt
das Schwächliche nicht so stark hervor, und es fragt sich, ob
es gut für die Liebe Donna Annas ist, wenn Octavio allzu
unbedeutend dargestellt wird. Octavio ist dcjimanierüche
korrekte DynüiachnittsgesdJschaftsmenöch der Renaissance,
der unter dem. Schliff der f einen Sitte se ine S eete-y erloren hat
Er steht zu Don Juan wie konventionelle Unnatur zu ursprüng-
licher Natur. Shakespeare hat wohl solchen Gestalten einen
Zug ins Feinkomische gegeben. Mercutio spottet über die ge-
zierten Eisenfresser, und auch Byrons Don Juan macht sich
Aber die spanische Geziertheit lustig. Bei Grabbe schlägt
dieser Spott in bitteren Hohn um. Er übernimmt nicht nur
die Auffassung E. T. A. Hoffmanns von dem „kalten un-
männlichen ordinären Octavio" — andeuten möchten wir we-
nigstens das im Sturm und Drang beliebte Motiv (Zwillinge,
Julius von Tarent) , wonach die Geliebte nicht dem Kraftvollen,
sondern dem Sanftmütigen zunächst zufällt — , sondern hier
läßt der Dichter persönlichen Groll vernehmen. Nicht nur der
eifersüchtige Don Juan macht den Octavio zu einer so Jäm-
merlichen Figur, Grabbe selbst hatte es genugsam erfahren,
wie sich die feine Gesellschaft von dem Zigeunerhaften seines
Wesens, vor seiner niedrigen Geburt, vor dem Zynismus seines
Benehmens bekreuzigte, tfiit den Romantikern und den Stür-
mern und Drängern protestiert er gegen die verlogene kon-
ventionelle Gesellschaftsmoral, die den Sinn der Worte ins
Gegenteil verkehrtj Er hat Jerrmann sein Herz kraftgenia-
- 160 -
lisch ausgeschüttet. „Da gilt ein graziöser Kratzfuß mehr als
ein geistreicher Gedanke, eine elegante Haltung des Hutes
mehr als eine originelle Idee. Das ist eure Welt, diese bla-
sierte, diese verkümmerte, diese ausgetrocknete Welt, wo der
Mensch schon vor der Geburt zum Affen verschnürt wird und
zum Affen vertanzt." — Für die Ökonomie des ganzen Stückes
stellt dieser verständige Alltagsmensch Octavio zuweilen das
Gleichgewicht wieder her, gegenüber all den tollen Schwär-
mern und seltsamen Phantasten.
Das nächste Vorbild für Don Juan und L e p o r e 1 1 o
fand Grabbe in Mozarts Oper bei Lorenzo da Ponte. Aber
bis dahin hatte der dämonische Kavalier schon mancherlei
Wandlung erfahren. Ursprünglich verkörpert er eine gesunde
Art des Menschlichen; ein vollkommenes Gebilde der
Natur, ungekünstelt, meisterlich geschaffen an überströmenden
Gaben und berückend durch Schönheit und männliche Kraft,
ein Nonplusultra an Lebenskraft* voll unbändiger Bejahung.
Als der gesunde, natürliche Mensch wird er auch von Grabbe
gegen den kranken, naturfernen Faust ausgespielt. Der glän-
zende spanische Ritter, reich an Abenteuern und Liebes-
erfolgen, lebt aber in einer Welt, wo neben sprühender Lebens-
lust die finsterste Strenge mönchischer Religion wohnt. Und
so siegte denn das priesterliche Urteil, als Molina das Leben,
die Taten und das schreckliche Ende Don Juans zuerst auf
die Bühne brachte. Unbekümmert wurde diese theologische
Tendenz aufgenommen von den zahlreichen Nachahmern Mo-
linas in Spanien, Frankreich, Italien, kurz in allen romani-
schen Ländern, wo man in dieser Gestalt ein Symbol fand
für die eigentümliche Lebensform dieser Völker, freilich ohne
daß man eine besondere Vertiefung bemerken kann. Diese
Tiefe und zugleich den bewußten Trotz wider Religion und
Moral erhielt aber Don Juan erst, als germanische Dichter
ihn für sich eroberten.
Byrons „Don Juan" war verschrieen als die „Odyssee der
Immoralitäf , nicht wegen einzelner lasziver Szenen — wie
- 161 -
Elze mit Recht bemerkt — sondern wegen seines weltschmerz-
lichen Nihilismus, der alles in den Schmutz zieht außer dem
Sinnengenuß. Gleichzeitig verkündete Shelley: Selbstliebe
ist die einzige Triebfeder unserer Handlungen; Liebe bedarf ab-
soluter Freiheit, sie verträgt sich nicht mit Gehorsam, Eifer-
sucht und Furcht Die Leichtigkeit, die frivole Grazie, die
skrupellose Sinnlichkeit Byrons konnte Grabbe nicht erreichen.
Byrons Don Juan ist ein reines Sinnenwesen, das von Jeder
Wallung seines unruhigen Geblüts vollauf beherrscht wird;
ein schöner Sünder, den ein elementarer Naturtrieb ausfüllt.
Byron hat sich ganz losgelöst von dem mythologischen Hin-
tergrund — Don Juan ist von keiner Philosophie belastet, die
materialistische Lebensweisheit gibt der Dichter selbst in
seinen Versen. Grabbe aber geht als Schüler Schillers aus
von der Philosophie. Wie Byron hat er die nordische Re-
flexion auf Don Juan übertragen, der aber doch immer der
Träger südlicher Sinnenlust bleiben muß. Das entspricht der
Doppelnatur seines Wesens, seiner Oberbildung einerseits und
seiner realistischen Ungelecktheit andrerseits, dem scharfen
Witz und Verstand und seiner rohen Sinnlichkeit. So hat
Grabbe den Don Juan nach den Merkmalen seiner eigenen
Natur geschaffen. — Byrons Eindruck wird aber gleichzeitig
vertieft durch einen andern.
Um die ursprünglichen Don Juan-Dichtungen hat er sich
kaum gekümmert, noch weniger nachweislich um die Puppen-
komödie. Auch da Pontes Don Juan dürfte ihn nicht un-
mittelbar beeinflußt haben, sondern erst durch das Medium
E. T. A. H o f f m a n n s. Denn den Don Juan hat in Deutsch-
land, inspiriert von der göttlichen Musik Mozarts, zuerst Hoff-
mann in seiner ganzen dämonischen Tiefe verstanden. »Ein
Bonvivant, der Wein und Mädchen über die Maßen liebt, hat
nichts Poetisches." „Casanova ist dumm!* der und Don Juan* 1
sagte Grabbe. Es galt dem Romantiker, die Mysterien dieser
ungewöhnlichen Menschenseele zu ergründen; in ihm wie in
Faust eine herrliche übermenschliche Kraft, beide verstrickt
Nieten, Chr. D. Onbbe. H
- 162 -
in Sünde und Böses. Grabbe hat Don Juan zum bewußten
Träger einer bestimmten Lebensauffassung, eines philosophi-
schen Prinzips herausgebildet; doch ist Hoffmann dämonischer.
Don Juan verkörpert die romantische Zwecklosigkeit, obgleich
sich die Romantik wieder ironisiert, wie sich überhaupt Grab-
bes Stellung zu den Zeitströmungen satirisch gibt. Er ist un-
treu aus Prinzip. Wenn er bei Moliere die Abwechslung ver-
teidigt, wenn sein granadischer Doppelgänger Qomez Arias
bei Calderon neun Gründe zu lieben in einer sehr launigen
Weise aufführt, so ist Gr abbe romantisch - philosophi sch.
jjj»* 1 »* 7 fcl is* T g j" Er ist „kein alberner Pedant, einge-
wurzelt in Systeme."
Aber andrerseits ist mit solch deutsch - philosophischen
Neigungen nicht immer die derbe blutvolle Sinnlichkeit zu
einer Einheit zu verschmelzen. Don Juan ist der König der
Boheme, aber der deutschen. Einmal erscheint er ganz Natur,
roheste Urform; Lust und Selbsterhaltung bilden seine Maxi-
men, wie beim Tier — als ein Stück Natur steht er dem kran-
ken Faust gegenüber; dann ist er aber auch wieder ganz
Reflexion und Oberkultur. Vorläufig ergibt sich folgen-
des Bild: Don Juan ist der glühende Sinnenmensch, unver-
wüstlicher Lebenskraft voll. Sein Freiheitsdrang schweift ins
Unermeßliche. Treue gilt ihm als Sklaverei nicht nur, son-
dern auch als Heuchelei. Nicht Macht ist das Idol, das ihn
blendet, sondern Qenuß. „Gewaltiger Herz- als Welteroberer l"
Wahr ist nur die Natur, die sich in ihm unmittelbar äußert.
Daher ist auch der Preis der Erdscholle in seinem Munde
glaubhaft. Alle Abirrung von der Natur, sei es nun in Form von
schwächlicher Empfindung, Zauberei oder vom Menschen erson-
nener Moral bekämpft er mit Ironie und Skepsis. Diese Ironie
geht dann bei Qrabbe wieder bis zur Zerstörung der eigenen
Wirkung, sodaß man nicht weiß, ob Don Juan nun in Wahr-
heit liebt, ob er wirklich ein Patriot ist. Ohne ans Komische
schweifende groteske Übertreibungen geht er auch hier nicht
ab („o Worte, nur wo Küsse euch ersticken" usw.).
— 163 —
Von Alters her geht Don Juan ein Diener zur Seite.
Bei Molina heißt er Catalinon; er vermittelt, wie Leporello
bei Grabbe, die Bekanntschaft zwischen Don Juan und Tisbea;
zuweilen macht er seinem Herrn — wie Molleres Sganarelle
— Vorwürfe, bekommt aber dafür Ohrfeigen. Besonders in
den italienischen Stücken vertritt der Arlecquino, der aller-
dings bei Qoldoni ganz fehlt, die Moral. Dem widersprechend,
was Jerrmann erzählt, beschreibt Negro Leporello und Don
Juan ganz wie Hoffmann:
Der ausgedörrte magere, der Knecht;
Am wilden Blick und an der Nas'
krumm wie ein Adlerschnabel
spür ich den Don!
Zum Schluß kommt der Dichter dem Publikum, das dem
allzusehr ins Metaphysische gerichteten Don Juan nicht so
leicht folgen konnte, mit einem Stück volkstümlicher Komik
entgegen, und erreicht hier wohl eine unbestreitbare
Wirkung. Leporello, der sonst, wie man auch in Halle an-
merkte, vielfach zu hoch gehalten war, mutet uns da in seiner
derben Komik natürlicher an, während auch Don Juan von
der philosophischen Höhe heruntersteigt und manchmal mehr
roh als witzig in den Jargon des schnodderigen Berliner Stu-
denten verfällt- Der Dichter überschüttet uns mit einer
aus langjähriger Theaterkenntnis gesammelten olla potrida
von drolligen Einfällen und bissigen Ausfällen. Aber Lepo-
rello ist ein Abbild seines Herrn. Er ist kein gutherziger
Schalk, das Harmlose, Gutmütige, Treuherzige des deut-
schen Rüpels ist weit schwächer ausgebildet. Er macht
seinem Herrn keine Vorwürfe — wiewohl er auch zuweilen
als kritischer Gegenspieler in Betracht kommt — wie Cata-
linon oder Sganarelle; er würde es noch schlimmer treiben,
wenn er der Herr wäre. Hoffmanns Charakteristik wird be-
stätigt: „Leporellos Züge mischen sich seltsam zu dem Aus-
druck von Gutherzigkeit, Schelmerei, Lüsternheit und ironi-
sierender Frechheit."
11*
— 164 —
Leporello ist der ungeschlachte Bauer aus dem Volk.
Er berührt etwa wie ein Typus auf den niederländischen Genre-
bildern eines Teniers oder Brouwers. Auch hier sind die
Züge des Grotesken scharf herausgearbeitet: Roheit, Feigheit,
abergläubische Angst, kindisches Wesen, bei Aufblitzen von
Mutterwitz, komischen Einfällen, drolligen Affereien. Ein Zug
von Bosheit und Härte eignet ihm mehr als dumpfes Behagen.
Orabbes Witz behält fast immer etwas Auflösendes, Ne-
gierendes, Umstürzendes. Im übrigen ist Leporello vielleicht
die echteste Figur des Stückes.
Bis dahin scheint uns Grabbe mehr eine phantastische
Komödie geben zu wollen, als eine gewaltige Tragödie. Aber
die Gefühllosigkeit und Grausa mkeit des Helden gibt doch
einen tragische n Einschlag. Die Atmosphäre ist gesättigt von
Zynismus.
III.
Der 1. Akt expliziert Juans Charakter im Dialog und
Fausts im Monolog. Der Monolog ist ein bequemes Mittel der
Selbstcharakterisierung. Er paßt nicht zu den Voraussetzungen,
aber er war nun schon einmal da.
Mit furioser Kraft setzt der Dichter ein. Es sind echt Grabbe-
sche Urtypen: diese renommistische Pose des Sichindiebrust-
werfens, dieser Hohn von oben herab. „Ein Löwe von Unersätt-
lichkeit brüllt aus mir", ruft Maler Müllers Faust,
„der sich in allen Ranken und Sprossen ausblühn will." „Der
Mensch ist eine Bestie" („ein geschminkter Tiger" sagt Goth-
land) schreibt Grabbe 23. IX. 1827, und sein Faust ist ein ge-
reiztes, hungerndes und dürstendes Raubtier, kein sentimen-
taler subtiler Gelehrter, der seine Willenskraft zergrübelt Un-
willkürlich denkt man an Nietzsches blonde Bestie und ihre
Sehnsucht nach der großen Wüste. Man fühlt sich versetzt in
die Sphäre, in der Gothland und Berdoa lebte». Grabbe will
denn auch „keinen Goetheschen in allen Farben der Lyrik
glänzenden und deshalb ungeachtet seiner Charakterschwäche
- 165 -
höchst anziehenden Paust schildern, sondern einen Faust,
welcher in der Tiefe der Gedanken und der Veit zu Hause
ist" In seinem Faust soll schroffer und scharfer charakte-
risiert werden: Wille zur Macht und philosophischer Drang;
diese krankhafte Leidenschaftlichkeit wird dem Maß der Schön-
heit übergeordnet und konsequent festgehalten. Die Sehnsucht
bei Goethe wird hier zu wilder Verzweiflung, das Verlangen
zur Gier; mit seinem tollen Machtdurst, seinem unbändigen
unruhigen Villen trägt Faust das Erkennungsmerkmal
der Grabbeschen Helden an der Stirn; wenn wir geistige
Verwandtschaft suchen, dürften wir am ersten an Z. Wer-
ners „schwärmerische Brutalität und zerreißungssüchtige
Empfindsamkeit* denken« Die ursprüngliche Konzeption ist
mit wilder Energie durchgeführt
Nach dieser Eröffnung in leidenschaftlich überhitztem
Gothlandstil wird eine gedämpftere Tonart angeschlagen. Zu-
nächst bewegt sich der Dichter in gemütvolleren Variationen
des von Goethe angedeuteten Gedankenganges, den wir auch
noch da feststellen können, wo das Zeitgeschicht-
liche und der Zusammenhang mit der Refor-
mation strenger herausgearbeitet wird. Ein zweites Mo -
ntffllJflt dag Pfuscht"™ ttnä H< * R^a h* m q h t n ach
Krieg . Zwar heißt es auch bei Goethe: O selig der,
dem er im Siegesglanz den blutigen Purpur um die Stirne win-
det Daneben aber war vielleicht auch v. So d e n s Volksschau-
spiel, das freilich weit (1787) zurücklag, Grabbe nicht unbe-
kannt (vergl. auch die Erwähnung Tirols), wie nicht nur aus
dieser Stelle erhellt Dort' heißt es z. B.: Doktor Faust
(glühend): Vaterland! Vaterland! Hallunken, entweiht doch
diesen Namen nicht O daß wir eins besäßen! (I 4). Und
im letzten Akt erscheint Faust als Befreier Deutschlands:
„Ihr wollt frei und edel sein. Das ist der unauslöschliche
Charakter der Deutschen."
Ganz unbekfimmer t_um die Einheit der .Stimmung, wirkt
Grabbe nun wieder im-Stefr -der- l it e r a risch e n M od e h öch st per-
i
- 166 -
tonlich, %finn — ^^J^h**-- **- - ^nn* ^ f frtrtvft l lff n F . io lag^ zu
e inem J obpre3a?pden Hep^ fleiitaclien Wpqptiq und., deutschen
Lande s jnacfat «Deutschland, Vaterland, die Trine hängt
mir an der Wimper, wenn ich dein gedenket Reue
und Sehnsucht, die in den Versen vibrieren, erhöhen noch
die Innigkeit dieses Dithyrambus. Mehr Glanz haben Don
Juans Bilder, mehr kraftvolle Schönheit die Faustens.
Wichtiger aber ist die Art, wie die Qual des unzuläng-
lichen menschlichen Erkennens modernisiert wird, nachdem
wir vorher die Begierde sahen. „Deutschland ist Europas Herz»
Ja, Ja zerrissen, wie nur ein Herz es sein
kann l" Dieses Zentraldogma, darin sich der Weltschmerz
für Grabbe wie in einem Symbol krystalüsiert, — dasselbe
Schlagwort, das schon Heine in seinem Buch der Lieder ge-
prägt hat, wiederholt sich im Gothland, Barbarossa kehrt in
den Briefen immer wieder.
Hier nun beschäftigt uns eine besondere Art der Zer-
rissenheit: die Tragik des Erkenntnisdranges.
Philosophischer Hochflug und ernsthafte religiöse Kämpfe kenn-
zeichnen schon den Gothlanddichter. Die spekulativen Schulaus-
drücke, mit denen Faust paradiert, weisen auf die philosophi-
schen Einflüsse, die Grabbe erfahren. Ohne die wissenschaft-
liche Luft, ohne das philosophische Milieu wird uns sein Faust
nicht voll erklärlich. Persönlich kennen lernen konnte Grabbe
nur Hegel, der seit 1818 in Berlin wirkte. Soviel wir aber aus
den wenigen Briefstellen zusammenstellen können, war er
gegen Hegel, „der Schelling, Fichte oder Kant nicht die Füße
lecken kann." Er polemisiert gegen den vernunftgläubigen Ra-
tionalismus eines Paulus, und nach gelegentlichen Äußerun-
gen hält er es mit Schellingschem Pantheismus und Fichte-
schem Autonomismus. ^Seuufgust ..sucht -*adt . einem .Ziel»
einem Zwecke^ der Sicherheit und Ruhe bringt — im Gegen-
« ft *» 7?il. Dem. Juan, der alle Blumen pflückt — , nuclLÄer einen
unverwelklichen blauen Blume der Romantik. Wenn wir ihif
als Philosophen ernst nehmen, ist er Monist, der die plfllo-
— 167 —
sophische Not der Zeit fühlt. Kant hatte die übersinnliche
Welt wenigstens der Erkenntnis gegenüber zerstört. Die
Gegensätze klafften auseinander. Der Dualismus tat sich auf
zwischen Gott und Natur, zwischen Ding an sich und Er-
scheinung, zwischen Gefühl und Verstand. So schwebt auch
Faust zwischen Himmel und Erde, schwankt zwischen Wissen
und Glauben.
Kant aber hatte die der Erkenntnis verschlossene über-
sinnliche Welt wieder gerettet als Postulat des Willens, der
praktischen Vernunft, und diese schöpferische Kraft des Ich
erreichte die höchste Intensität im Fi cht eschen Idealismus. Be-
rauscht von diesen philosophischen Gedanken, aber das wissen-
schaftlich strenge, ethisch reine Ideal des Willensphilosophen
mißverstehend, tranken die Romantiker ein übermenschliches
Selbstbewußtsein. Auch Grabbes Faust, der die philosophischen
Strebungen seiner Zeit wiederzuspiegeln sucht, ist trunken
von Fichteschem Idealismus und er bleibt mit halb verwun-
derlicher, halb imposanter Konsequenz reinster Geistesmensch
und Spiritualist.
Wie Faust den Charakter der menschlichen Erkenntnis
bestimmt, wie ganz negativ Fortschritt und Zerstörung gleich
gesetzt werden, so fühlt es auch ByronsManfred: Wis-
sen ist Schmerz; wer am meisten weiß, fühlt am tiefsten die un-
selige Wahrheit. Das erste Schicksal spricht es aus: Erkennt-
nis ist kein Glück und nichts als ein Austausch von Unwissen-
heit für eine andere Art Unwissenheit Aber die höchste
Friedlosigkdt zieht in Manfreds Brust durch Gewissenschuld.
— Weiter wird der Komplex der Grabbeschen Fauststimmung
charakterisiert durch romantische Anklänge an Hoffmann und
Steffens, das auf Schiller, Byron, Heine zurück-
gehende Trümmermotiv und Schellingsche Ge danke n.
„Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus Ruinen I"
Hier liegt ein Bruch vor zwischen dem Geiste des Sturms N
und Drangs Qeder Mensch hat gleiche Talente und ist zum
Höchsten geboren) und der nihilistischen Tendenz der weit-
- 168 —
schmerzlichen Zerrissenheit Die Blasiertheit ist der Indiffe-
renzpunkt zwischen Titanismus und Weltschmerz.
Goethes Faust sehnt sich danach, „was der ganzen Mensch-
heit zugeteilt ist, im eigenen Selbst zu genießen." Mit fast
wörtlichem Anklang an Goethe läßt auch Grabbe Faust nach
Rom kommen, „um in mir die ganze Menschheit aufzunehmen
und mich in dem Genuß zu sättigen." Aber die Verschmel-
zung eines universalen Motivs von genialer Tiefe mit der
Äußerlichen Notwendigkeit, Fausts Aufenthalt In Rom zu be-
gründen, führt hier zu einer bedenklich verflachenden Wir-
kung. Hier redet wieder ganz deutlich der Historiker und
Archivaspirant Grabbe, der über prächtige Bilder und klin-
gende rhetorische Wendungen verfügt
Also Theologie und Philosophie sind in ihrer Ohnmacht
dargetan, Erkenntnistheorie und Historie versagen. Es ist
schwer, Faust rein durch den Erkenntnistrieb der Hölle
zuzuführen. Aber man muß doch etwas vom Teufel
erwarten, wenn man sich ihm verschreibt, und vor allen
Dingen: man muß an ihn glauben. Der Teufel ist ein u n-
moralisches Wesen, und der mittelalterliche Faust
durfte nicht mehr wissen als die Kirche gab. Er opferte
seine Seele, weil, wie es bei Marlowe heißt, eine Welt
der Wonne, des Genusses, der Macht, der Ehre und der All-
gewalt hier verheißen ist: „ein guter Zauberer ist ein halber
Gott". Im Puppenspiel (Ulm) glaubt Faust doch, er könne
alles sehen und greifen. Aber glaubt dieser aufgeklärte Faust,
der im 19. Jahrhundert Philosophie und Geschichte studiert
hat, daran? Fühlt er, daß er seine Seele preisgeben muß?
Preisgeben, um etwa die Lösung der Doktorfrage zu erfahren,
wie Leib und Seele zusammenhängen?
Faust gehört ins Mittelalter, wo sich das Gedachte an
sinnlich konkrete Symbole anschließt, die allgemein geglaubt
werden, wo man sich vor dem leibhaftigen Teufel fürchtet
Schon bei Goethe macht das Schwierigkeiten; wollte aber
Grabbe etwas Neues geben und die Faustsage auf einen mo-
- 160 -
(lernen, aufgeklärten Gelehrten übertragen, so kann die Hölle
doch nur in seinem Innern wohnen, so kann der Teufel ihn
doch nur in seinen Zweifeln heimsuchen. Wir müssen uns
also damit abfinden, daß überall die traditionellen Motive, die
alten Symbole wieder erscheinen und daß moderne Weisheit
sie erfüllt, ohne daß die verschiedenen Kulturen organisch ver-
bunden sind. Nach einem Monolog hochmoderner Philosophie
gleiten wir gleich ins Zaubermärchen über. Die Beschwö-
rung ist sehr ausführlich, ein Probestück Grabbescher Phan-
tastik, behängt mit dem grellen Flitter des Zaubermärchens,
des phantastischen Volksstücks (Freischütz). Im Volksbuch
gehört zu den ergreifenden Momenten die Warnung des Engels;
hier leuchtet der moralische Grundgedanke auf, wenn Faust
den „Engeln, lieben Kindern** gute Nacht und Adieu (1 1) sagt.
Bei Goethe wird Faust zunächst durch die Erscheinung
des Erdgeistes erschreckt, dann tritt bei der zweiten Beschwö-
rung aus dem nebelhaften Gebilde Mephistopheles mit den
Worten: wozu der Lärm?! Die beiden Szenen sind bei Grabbe
zusammengezogen. Faust sinkt in Ohnmacht, und mit den Wor-
ten: also viel Geschrei und wenig Kühnheit — tritt ein —
nicht Goethes fahrender Scholare, eher sein Junker in gold-
verbrämtem Gewand — „ein Ritter mittleren Alters, bleichen
Gesichts, nach Sitte des 16. Jahrhunderts, jedoch durchaus
schwarz gekleidet." Näher als an K 1 i n g e r und Byron zu
denken, liegt es Klingemanns Fremden, ganz in einen
dunkeln Mantel gehüllt, als Vorbild anzunehmen. Doch schon bei
C a 1 d e r o n erscheint der Geist als Kavalier und ebenso im
Puppenspiel, seit man im katholischen Wien an der Mönchs-
kapuze Anstoß genommen hatte. Jedenfalls ist die schwarze
Tracht hier sehr sinnvoll. Mit Recht führt Goethe Faust
nicht als den Wissenden, sondern als den Fragenden ein; er
umkleidet den Erdgeist mit Majestät und überläßt Mephisto
die Ironie. Bei Grabbe aber, der hier wieder Klingemann
folgt (I 5 als Sklave sollst du zu meinen Füßen zittern. —
II 1 Winde dich im Staub zu meinen Füßen, daß ich dich
- 170 -
trete, wenn mein Grimm entbrennt) herrscht ein gewaltsamer,
feindselig gereizter Ton. Faust aber darf sich keinen Augen-
blick etwas vergeben. Wie kann so ein Verhältnis
zum Satan möglich sein? Es ist nun wieder eine
großartige Verkehrung, wenn Satan Faust einzuraunen weiß,
daß die ewige Nacht und der Haß der Hölle die zuletzt sie-
genden Mächte, die stärksten Gewalten sind. Ein tiefsinniges
Motiv, das bereits im Volksbuch erklingt, das großartig von
Byron verarbeitet ist; Byron aber schwebte wieder Miltons
Satan vor, der selbst einem Karl Moor in Schillers „Räubern"
imponierte. Aber auch Goethes Mephisto hofft auf den Unter-
gang des stolzen Lichtes, das nun der Mutter Nacht den alten
Rang und Raum streitig macht, und er darf das mit vollstem
Recht sagen, denn sein Name ist ja nur eine Umschreibung
dieses Gedankens.
Es folgt nun der Vertrag, bei dem der Ritter als
Diabolus erscheint, dem nicht zu trauen ist — dem Colorit
nach einer der bekannten Zweideutlermonologe. In sämtlichen
Puppenspielen sagt erst Faust seine Wünsche, und dann stellt
Mephisto seine Bedingungen. Er muß z. B. Gott absagen und
allen Menschen feind sein, auch ehelos bleiben. Wiederholte
Warnungen gehen voraus, und alles wird reiflich überlegt. Bei
Grabbe vollzieht sich die Szene rasch und gewaltsam; Faust
stellt die Bedingungen und die Forderungen. Bei Goethes
Faust ist der Fall klar: da ihn der große Geist verschmäht
hat, ekelt ihm vor allem Wissen; da Faust nicht Gott sein
kann, will er ganz Mensch sein. Wie ist es aber bei Grabbe?
Die psychologische Erklärung ist hier bedeutend schwieriger;
denn Faust muß scharf und deutlich mit Don Juan kontra-
stiert werden, J£augt darf, n icht Leben sgenuß- verlangen^ er
fordert Macht und Wissen; er will den Sinn des Lebens zu
erfassen suchen durch die bloße Aufklärung, wie er hätte glück-
lich werden können. Denn das „glücklich werden " gehört z ur
Praxis und die ist Don Juans Element. Dann aber fühlt Faust
dooh noch soweit moralisch, daß er sieht, daß der nicht glück-
- 171 —
lieh werden kann, der sich dem Satan ergibt. Er soll das
später noch tiefer einsehen. Insofern gibt er seine Seele hin.
Aber darin liegt die Tragik des Gelehrtenlebens: in seiner
Ohnmacht gegenüber der Fülle der Wirklichkeit; er hat seine
Kräfte an die unsinnlichen abstrakten Michte hingegeben» und
er Kennt nicht die Wonne starker Naturtriebe: die Liebe. Im
Gegensatz zu Don Juan verachtet er die Sinnlich-
keit. Wir sollen die Tragik des Geistes kennen lernen, der
sich ausschließlich hingibt an die Macht und das Wissen —
— tote, kalte Symbole beides, fern dem Menschlichen und fern
der Natur!
Denn das Menschliche und das Qlück liegt nicht in der
Einseitigkeit und Maßlosigkeit — beide sind verschwistert.
Das deutet der Ritter ganz richtig, der auch den Ton eines
nüchternen Realisten anzuschlagen weiß und der hier die
Weise des Mephistopheles singt; dieses Ganze ist nur für
einen Gott gemacht — du bleibst am Ende was du bistl Aber
die Goetbesche Ironie verzerrt «sich wieder zu Hohn und
Spott. Und Faust, der nie seinen Stolz verliert, sieht hier nur
den Neid und Haß der höllischen Ausgeburt. Das Geifern
der Viper, die Krallen des Drachen sind die echt Grabbe-
schen Stimmungselemente, sie geben das eigentümliche höl-
lische Kolorit. Wieder häuft Grabbe die Motive, statt einen
Grundton voll ausklingen zu lassen. Der Ritter — wie-
wohl als Skizze entworfen — soll den Charakter der biblischen
Schlange zeigen, er ist der blutdürstige Vampyr, er soll mit
dem majestätischen Stolz des Höllensohnes die Ironie des
Goetheschen Mephistopheles verbinden, er soll, wie wir
noch sehen werden, der heulende Abbadonna Klopstocks
sein und er soll die erhabene Schwermut des gefallenen Engels,
die düstere Schönheit des byronischen Dämons atmen. Originell
ist eigentlich wenig an ihm. Am echtesten wirkt er, wenn eine
gewisse drollige Schelmerei, etwa in der Schilderung der
„ersten Liebe", oder eine diabolische Lüsternheit zum Vor-
schein kommt als den Urformen, darin sich Grabbes Psyche
— 172 —
wiederspiegelt. Es entspricht nun ganz dem Gedankengang
der Qoetheschen Hexenküche, wenn die Frage
nach dem Glück zuerst beantwortet wird mit der Mahnung,
sich zu beschränken, sodann positiveren Inhalt gewinnt durch
Donna Anna. Dasselbe Programm aber wiederholt sich
später, Paust lehnt beide Punkte ab: er sieht nicht ein,, daß
er auf die Erkenntnis verzichten muß und noch weniger ist
sein Sinn auf Anna bedacht So muß ihn der Ritter erst durch
die Tat überzeugen, daß er recht hat.
Nach mancherlei Seltsamkeit und Dunkelheit, die nicht zu
überzeugen vermögen, kommt dann erst Schwung in die Szene,
als Faust die Auseinandersetzung abbricht: „Die Welt durch-
gründet. Frei atm' ich in der Olut des Firmamentes !" Hier
wird Goethe fallen gelassen; Orabbes Phantasie, die sich in
fliegenden Kometen und lodernden Sonnen schon seit Qoth-
land auskennt, greift begierig nach der schon im Volksbuch
ausgeführten Fahrt von den Schlünden der Hölle bis zu den
Scheiteln der Himmel, von Soden ebenfalls angenommen,
mit wundervollem Tiefsinn, mit großartiger Pracht gestaltet
in Byrons K a i n. So kontrastiert mit der durchsichtigem
scharfen Luft der Verstandes - Aufklärung das Phantastische,
Mysteriöse, Fabelhafte, Allegorische. Der Zaubermantel
wird ausgebreitet und beide fahren davon. Octavio soll dem
entscheidenden Eindruck wiedergeben: Beinah glaub ich selbst
an Zauberei!
IV.
Der ersten Szene des 2. Aktes geht ein andantino amabile
von Lortzing voraus. Und Liebe ist das Thema, das hier
fünffach variiert wird: die grobe Fleischeslust Leporellos, die
phantastische Schwärmerei Don Juans, die bürgerlich bäng-
liche, sentimentalische Liebe, der konventionelle Herdentrieb
Octavios, Fausts plötzliche Verliebung in einer kritischen
Stunde unter Einwirkung höllischer Zauberkunst, und endlich
die Enthüllung, daß früher der Satan auch geliebt hat.
— 173 -
Der psychologische Begriff Liebe wird in seine Elemente zer-
legt Jeder erhält einen Teil zugemessen. Anna und Don
Juan haben zunächst Gelegenheit, in einem Monologe, wie in
Opernarien, ihre Gefühle sprechen zu lassen« Grabbes Tech-
nik ist höchst primitiv, statt kunstvoller Verwebung eine lose
Mosaik.
Auch hier wirkt eine Reminiszenz an E. T. A. H of f mann.
Zwar erreicht Grabbes Don Juan nicht ganz die extreme philo-
sophische Höhe, zu der er im Capriccio in konsequenter Aus-
deutung seiner dämonischen Eigenschaften in allmählicher
Entwicklung hinaufgeführt wird, daß er „aus lauter sata-
nischer Lust am zerstören, aus bloßer Verachtung und in
frevelndem Hohn jgegen Natur und Schöpfer gerade in der Ver-
führung einer geliebten Braut den höchsten Triumph" sieht.
Seine unedle Verachtung des Weibes ist nicht so tief be-
gründet — doch ist das natürliche Verlangen durch ein meta-
physisches Motiv zersetzt Hier kommt es aufs Frommtun
an und deshalb beginnt Juan mit dem seltsamen Bild, daß
Annas Blick wie ein Todesengel ins Eden geleite. Es ent-
stammt dem Zwiegespräch zwischen Anna und Don Juan,
dem einzigen das beide führen, an dem man überhaupt
studieren kann, wie Grabbes Phantasie Bilder schafft und wie
er sie sucht (vgl. auch Rattengift in Scherz, Satire) . An selt-
samen Einfällen, barocken Fragmenten, kühnen Gedanken-
blitzen fehlt es nicht. Aber als ganzes vermag die gleich
spanischen Koloraturen frostige Bilderjagd dieses Liebes-
gespräches, das ein „Nieliebender, gänzlich Unsentimentaler",
dem „Romeo und Julia" „zu sinnlich" war, verfaßt hat, nicht
zu erwärmen, und doch hat Grabbe selbst es hochgepriesen.
Phantastische Hyperbeln statt warmer Naturlaute. Es ist keine
blutvolle Leidenschaft weder bei Don Juan, bei dem nicht etwa
nur das tiefere Gefühl, sondern auch die Lust der Sinne durch
die Reflexion zerstört wird, noch bei Donna Anna, bei der
der Gegensatz dadurch unfruchtbar und abstrakt wird, daß
sie für Octavio nur eine erzwungene Neigung hegt, so daß
• — 174 —
damit ihrem Ehrgefühl kein vollgiltiges Äquivalent geboten ist.
Der Dichter überträgt hier auf Anna das katholische Keusch-
heitsmotiv der Caldero'ni sehen Justina und er ver-
leiht ihr die erlösende Gewalt reiner Jungfräulichkeit, wie er
sie etwa in der Romantik z. B. bei Fouqu6 finden konnte. Don
Juan schiebt zum zweiten Mal die günstigste Gelegenheit auf
und begnügt sich statt der Taten wiederum mit Worten. Man
fühlt das Konstruierte heraus. Er überironisiert noch die
romantische Ironie, indem er wie Sulla und die übrigen Ober-
menschen Grabbes suveträn mit seinen Empfindungen zu spielen
trachtet, damit aber auch jedes Glücksgefühl mordet. In
dieser Art von Geistigkeit wirkt der Schillersche Impuls für
den Dichter nach. Wie Heine über die Graf in und Hofrätin
spottet, die fein säuberlich von der Liebe reden, so gießt Don
Juan seinen Spott über die Empfindsamkeit, den zahmen
Herdentrieb, die dressierten Gefühle Octavios aus. Es ist zu-
viel Hohn und Zynismus in ihm und das pfiffige Schelmen-
gesicht des Dichters lugt überall hervor. Dazu verfolgt der
Dichter die maliziöse Nebenabsicht, die stereotypen Wendungen
schaler und flacher Operntexte zu parodieren. Dabei wirkt
Octavio als schüchterner Liebhaber gar nicht so unsympa-
thisch und nur zuletzt kommt der Philister zum Vorschein-
Den Bühnenverhältnissen Rechnung tragend, hat Grabbe
Faust und Don Juan wenigstens räumlich zusammengebracht.
Faust hat seine Reise (also in etwa 18 Stunden) vollendet,
jene Reise, die uns weitschweifige Kapitel des Volksbuches
erzählen, die der stürmende Flug der die Größe der Welt
ausmessenden Phantasie Schillers feierte. Unverkennbar wirkt
das Vorbild des Byronschen Kain, bei dem der
naive Realismus am besten zusammenwächst mit dem meta-
physischen Problem, und abermals von Soden. Faust ist nicht
zufrieden; nicht nach der Außenseite, sondern nach Kraft
und Zweck forscht er, wie auch der Sodensche Faust fragt:
warum rollen die Planeten? wozu die Harmonie des
Ganzen? Aber wie Faust bei Chamisso einsehn muß, daß
'r I
— 175 —
der Staubumhüllte nicht erkennen und daß dem Blindgeborenen
kein Licht erscheinen kann, so sieht der Grabbesche Held,
daß romantisches Gefühl und unendliche Sehnsucht, die ihn
gleich Gewitterschauern durchbeben, ungestillt bleiben müssen,
und daß die Sprache wie Marksteine die menschliche Er-
kenntnis abgrenzt Diese Sprachphilosophie, die hier wieder
einem echten Grabbeismus aus der Taufe hilft („so war* die
ganze Menschheit nur Geschwätz") , ist Gemeingut bei Grabbe,
Klinger und Byron, deren Gedankengänge sich überhaupt
vielfach berühren. Grabbe macht F aust zum Romantiker!
Don Juan wurzelt in der romantischen Iro-/
nie, in Faust lebt das romantische Gefühl
und die unendliche romantische Sehnsucht«!
Wunderlich genug wirkt die Verbrämung mit philosophischen
Theorieen und wir hören wieder im Zaubertheater einen Ver-
treter der neuesten Philosophie, der die Überlegenheit des
Gedankens über Raum und Zeit wie ein moderner Jünger
Kants verficht, ganz ähnlich, wie in den abenteuerlichen
Spekulationen des Gofhland. Fausts Erkenntnisdrang kann
der Ritter nicht zufriedenstellen. Faust ist dem Teufel über-
legen; jener „Schatten" hat ihm die Schranken der Satans-
gewalt gezeigt. Der Geistesmensch Faust denkt noch, wo
der Satan schon zittert. Und der Ritter hatte doch gehofft,
daß Faust sich auf dieser Reise fürchten werdet
Wie dann bei Byron „der Erzpriester des Skeptizismus 44
zuletzt dem Kain aufgibt, Adams Rasse zu vermehren, zu
essen, ZU trinken, ZU schlafen, sn wirfl f a ust von dem Ri tter
zur Beschränkung gewle sen; afihlaf, iß*- trink« Aber dieser
Ratgeber hat ein doppeltes Gesicht: einmal scheint er Faust wie
ein Pädagog von dem Künstlichen und Krankhaften seines
Wesens reinigen zu wollen; aber andererseits würde damit
alles höhere Leben sterben. Der Satan kann nichts Schöpfer-
isches geben. Sein Ideal ist der Gigantengeist, der ewig
kämpft und haßt in Siegeshoffnung, sein Ideal die Autonomie,
\
— 176 -
Hochmut und Stolz des Höllenfürsten, der Geist des Aufruhrs
und der Empörung.
Ein kritischer Augenblick ist gekommen. Es wäre
nun möglich, daß Faust sich fügte und dem Ritter folgte,
daß er in ein banausisches, materialistisches Leben verfiele.
Die Wendung bei Orabbe gibt wohl Eigenes und Tiefes: Faust
erkennt vermöge seiner göttlichen Natur den Betrug und die
Einseitigkeit, die Ohnmacht der Hölle. Haß ist nur die
Ohnmacht, das Rätsel der ewigen Liebe zu
lösen. Ein tiefes Motiv — aber leider in recht trivialen
Wendungen.
Leicht hätte nun Orabbe einen Übergang finden können.
Konnte dem Forscher auf seiner Himmelsreise nicht die
Bedeutung des Gravitationsgesetzes aufgehn, konnte er nicht
auf die Harmonie der Sphären lauschen als auf einen Lob»
gesang der Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält?
Aber hier verwirrt der Dichter absichtlich, damit der Satan
nicht überflüssig wird, durch allerlei tolles Zauberwesen. Der
Ritter übt seine Zauberkünste und hält Faust, dem in einem
Zustand der Haltlosigkeit zwischen Hölle und Himmel Irren-
den, den Zauberspiegel von Der erste Punkt des Programms
ist erledigt. Der in seinem Erkenntnisdrang Getäuschte ist
nun vielleicht bereit für die Lockungen der Liebe.*)
Abermals sind die Gedankengänge aus Goethes
Hexenküche wiederzuerkennen: nach dem vergeb-
lichen Hinweis auf ein Leben in Beschränkung schreitet
Mephisto zum Zaubertrank. Diese Entwicklung ist ganz
natürlich, aber Grabbe muß sich höchst gewaltsam aus
dem Gedränge herausarbeiten. Vor allem findet sich bei
Grabbe der tolle Widerspruch, daß Faust wie bei Klinge-
mann verheiratet ist. Ja er behauptet, der Weiber
satt zu sein, (wie und weil Hamlet keine Lust am
Weibe hat). Merkwürdig genug ist der Versuch, sich aus
*j Aber die Doppelnatur der Liebe ist gleichzeitig sinnlich und geistig,
teuflisch und himmlisch!
— 177 —
diesen Wirrnissen herauszuwinden. Faust hat noch nicht
wirklich geliebt, weil die Erkenntnis der Gottheit ihm wich-
tiger war und die Liebe Nebensache. Jetzt aber verzichtet er
auf das Wissen, um sich ganz der Liebe zu ergeben. Es
tritt also ein Austausch, eine Umkehrung ein.
Orabbes Bizarrerie treibt die wunderlichsten Blüten.
Faust bleibt auch als Verliebter Philosoph, und um die Laute
echten Gefühls zu meiden, stellt er die kältesten Reflexionen
über den Grund seiner Verliebtheit an. Charakteristisch für
Grabbes seltsame Bildersprache sowie für die Paradoxie seines
Denkens ist es, wie Faust von Farbe und Tiefe der Augen
Annas ausgeht, um dann auf Dämmerung und Nacht zu kommen
und mit der Hyperbel zu enden: „des Himmels Gründe —
Sandbänke sind sie gegen dieser Augen Tiefen". Soviel wissen
wir jetzt, daß Faust und Don Juan um dasselbe Ziel ringen;
aber es wird auf eine äußere Machtprobe herauskommen,
und der Teufel ist zu einem Knecht herabgesunken, der sich
nur auf äußere Kunststücke versteht. Mit dieser Degradation
ist aber die Rolle des Teufels eigentlich zu Ende. Andrerseits
ist Faust verzaubert und ganz der Zauberer geworden.
In der folgenden Szene voll grell-bunter glühender Farben
soll die große Szene in der Oper (man vergl. sowohl Mozart
als auch Spohr) und das Maskenfest bei Klingemann noch
überboten werden. Oberall grelle schreiende Farben, tollkühne
Hyperbeln, satirische Streiflichter, philosophische Perspektiven
von zweifelhafter Tiefe. Aber lauter Momentbildchen ohne
innere Verschmelzung.
Die Szene beginnt mit einem komischen Auftakt; da sind der
an den trunkenen Kapulet erinnernde bezechte Polizeidirektor
Rubio (rot) mit seiner stereotypen Redensart: wie man zu
sagen pflegt, und Negro (schwarz), der sich über die spa-
nische Ehre erlustiert. (In der letzten Szene werden übrigens
beide verwechselt.) Don Juan, der der Einladung gefolgt ist,
stellt das Thema auf: erst Wein, dann Tanz, dann Mord. Faust
muß — des Kontrastes wegen — immer wieder das Scheide-
Nieten, Chr. D. Qratbe. 12
178 -
waftser des Verstandes auf sein Gefühl gießen. Jetzt erst
läßt Faust, wie er bei Goethe im 2. Teile dem Lyn-
keus für Helena anbefiehlt, die Burg auf dem Montblanc er-
richten; aber die farbenprächtige Schilderung fällt zuletzt ins
Burleske, wenn er dem Ritter befiehlt, Fixsterne vom Him-
mel herunterzureißen, um das Gewand der Geliebten damit
zu schmücken. Anna, finster, angstvoll, zittert unter Juans
Anblick, der mit einem ganz unmöglichen Vergleich den
Schönheitsblitz Annas mit dem Donner seines Herzschlags
begleitet. Für Don Juan und Leporello richtet sich Grabbe
nach E. T. A. Hoffmann, Faust wird mit der infernalischen
Schwermut der byronischen Helden umkleidet, er wird
wie der Kosar oder Lara mit schwarzen Locken und weißer
Stirn ausgestattet. Von der Erscheinung des totenköpfigen
Kavaliers mit dem funkensprühenden Genossen fällt ein läh-
mender Schrecken auf die ganze Versammlung. Wie in der
vorhergehenden Szene sucht Grabbe die Stimmung des Un-
heimlichen, Grauenerregenden zu steigern; aber wieder fällt
uns der Gespensterhoffmann ein, der virtuos Ent-
setzen und Schauder in dem Leser erweckt, wenn etwa der
unheimliche Gast plötzlich ins Zimmer tritt.
Octavio fällt in dem improvisierten Streit, während gleich-
zeitig ein Hoch auf das Brautpaar ausgebracht wird und der
Polizeidirektor in einen Schlummer verfallen ist, aus dem er
nicht wach zu rütteln ist.*) Der Ritter muß Faust zur Ent-
führung Annas helfen, aber der Kontrakt ist so schlecht ab-
gefaßt, daß er Faust hinterrücks verraten kann, wiewohl
Don Juan späterhin ebensowenig Aussicht hat, wie augen-
blicklich. Wie der Teufel in „Scherz, Satire" die Heirat zu
hintertreiben sucht, so hat er es jetzt fertig gebracht, Don
Juan und Faust aufeinander zu hetzen. — Die Lakonismen
•) So wirkt Grabbe durch den gehäuften Effekt einer mehrfach
parallelen Handlung, durch verdoppelte Kontraste: Die Haupthandlung wird
begleitet durch ein Echo hinter der Bühne, durch ein satirisches Intermezzo
im Vordergrund.
— 179 -
Don Juans haben etwas Monumentales und die Abbreviaturen
atmen Stimmung; dieser Freskenstil liegt der Dichternatur,
die hier die ihr eigentümliche Form gefunden hat. Don
Juan spekuliert, ähnlich wie bei Molina, auf das Ehrgefühl
des Gouverneurs, dessen höchster Schmerz sich grotesk darin
kundgibt, daß sogar das Bild des Königs sich verdunkelt.
Immer kommt der Witzbold zu Vorschein. Der Gouverneur
ist wie ein preußischer Beamter, der nichts Höheres kennt,
als die Meinung seines Vorgesetzten. Er übergibt also Don
Juan nicht den Gerichten, sondern stellt sich zum Duell; mit
Negro schütteln wir den Kopf über solche spanische Manieren,
die aber wiederum recht modern sind. Don Juan, der bis-
her nur ein verunglückter Verführer ist, bleibt unverzagt:
„Denn wir' auch sein der Höllenthron, nicht hauset Faust
in ihrem Busen"! In der Tat stehen die einzelnen Figuren
ohne jeden Zusammenhang nebeneinander. Don Juan und
Anna haben Berührungspunkte; beide empfinden wie Geschöpfe
von Fleisch und Blut, beide haben gesunde natürliche Instinkte.
So stehen sie im Gegensatz zu Faust, der ihnen krank ver-
stiegen unnatürlich verzaubert erscheint. Aber andererseits
ist Anna wieder von einer abstrakten Vorstellung beherrscht,
von der Ehre, und ihr Reinheitsgefühl sträubt sich ebenso
gegen Don Juan wie gegen Faust; denn beide sind moralin-
freie Obermenschen jenseits von gut und böse. Der 1. Akt
stellt Don Juan und Faust nebeneinander, der II. in der
1. Szene ebenso, während die 2. die Fäden verschlingt.
V.
Dauernde ewige Gefühle hat Don Juan mit schärfster
Skepsis zersetzt als Heuchelei oder Unnatur. Er soll seine
eigene Gefühllosigkeit bewähren, und zu diesem Zweck wird
das Duell zwischen Don Juan und dem Gouverneur aus-
geführt, wobei wieder Grabbes satirische Neigung mitschwingt.
In der ganzen Tradition bildet den Schluß der Juanhandlung
die Tötung des Gouverneurs. Bei Molina stirbt der
12»
- 180 -
Gouverneur nicht so fromm, und Don Juan erscheint als
ein feiger Verräter. Die Lästerungen angesichts des Ster-
benden sind ein traditionelles Motiv; bei M o 1 i n a spottet Don
Juan, als der Sterbende ihm vorhält, Gott sei ein gerechter
Richter: „Dann ist ja der liebe Gott ein sehr geduldiger Gläu-
biger"; und auch in der Oper bemerkt Don Juan ziemlich
roh: „der Dummkopf, der Äff ist tot!" Dieser zynische Grund-
ton ist dann bei Grabbe in alle seine Schwingungen zerlegt
und gibt Gelegenheit, den Charakter Don Juans zu entfalten.
Glaube und Atheismus — ein Sterbender und ein Lebens-
überströmender werden kontrastiert Die Materie verhöhnt
den Geist. Der Lebensdrang wirkt zerstörerisch, aber der
Zerstörer lächelt nur darüber — mitleidlos wie Faust Wie
solcher Spott gleichsam überbereit von Juans Lippen springt,
das weist auf die Lösung innerer Spannungen im Dichter selbst
Der starke Lebensbejaher hat kein Mitgefühl, kein Ver-
antwortungsbewußtsein; keine Gewissensstimme antwortet
auf die Anklagen des sterbenden Frommen, der seine eigenen
kleinen Fehler schmerzvoll bereut Und dabei umkleidet er
seine Ansichten mit dem Scheine des Rechts, mit dem so-
phistischen Blendwerk eines philosophischen Materialismus.
Wieder berührt er sich mit der Weisheit des Ritters, sodaß
also Faust ein doppeltes Gegenspiel hat. „Iß, trink und lieb,
denk an anderes wenig, so sprach Sardanapal, der weise
König", heißt es bei B y r o n, und die Botschaft Shelleys hörten
wir schon. »Das Natürlichste ist das Rechte." „Jeder Mensch
W will sich selbst erhalten und jeder will vergnügt sein." So
# lautet die Weisheit der französischen Materialisten und der
englischen Lustphilosophen. Es ist die Leichtigkeit und Selbst-
verständlichkeit, die den Ton färbt. Das metaphysische Prob-
lem schließt hier verhältnismäßig einfach die zufälligen Ver-
teidigungsgründe ab.
Don Juan, der so oft die günstige Gelegenheit verpaßt hat,
bricht auf, um Anna zu suchen, aber nicht um den letzten
Wunsch des sterbenden Gouverneurs zu erfüllen. Mit Lepo-
/
- 181 -
rello treffen wir ihn am Abhang des Montblanc. Welch un-
geheurer Rahmen wieder für tiefe Naturpoesie, welch groß-
artige Szenerie für gewaltigen Gedankenschwung! Aber zu
nächst tritt Leporello in den Vordergrund, dem wir für seine
originellen Bemerkungen mit seinem Herrn gern ein Gold-
stück geben. An eigentümlich Orabbeschem Gehalt, an gro-
tesker barocker Komik, die sich aus der Kontrastwirkung
einer erhabenen Natur und eines ängstlichen Menschen er-
gibt, fehlt es nicht Don Juan wird immer toller und lustiger
Leporello im mer kleiner; ih m fallen seine Sünden ein, gpdaß
er sogar L iaette zIT heir atenj ggrs pricht. Da wird Don Juan
einen Augenblick ernsthaft, und nun folgt wieder ein lyrisches
Glanz stück; anstatt Hohn und Spott — die Don Juanidee positiv
gewendet, das hoheLied von der freienLiebe, wie
es gesungen wurde, seitdem es Dichter gibt; mit wilder Natur-
kraft im Sturm und Drang, mit mehr Ironie in der Romantik. Vor
allem haben wir hier wieder den Ausdruck echten Byronis-
mus'. In Byrons Don Juan heißt es: „die Ehe scheint von
Liebe herzustammen, wie Essig von des edlen Weines Saft";
oder: »glaubt ihr, wenn Laura Petrarcas Frau gewesen, man
würde heute Sonette von ihr lesen." Und ähnlich hatte sich
noch unlängst Immermanns Celinde ausgesprochen.
„Die Dichter fabeln viel von Dolch und Gift, als Feinden zarter
Liebe, sie vergessen die schlimmste Feindin stets, die Heirat,
drüber. Frei will ich sein, nur in der Freiheit fühl ich!"
(Cardenio und Celinde IV 1 1826.) Dieses Lied auf die Frei-
heit beginnt mit einer grotesken Antithese, dann verkündet
Don Juan mit ungewohntem Schwung seine Religion der Liebe
— um mit einer platten Sentenz auf der Erde bei Leporel-
loscher Wirklichkeit zu enden. Echt Grabbel
Gleich darauf kommt es zu der entscheidenden Ausein-
andersetzung zwischen Don Juan und Faust,*) in der die
*) In der Tat konnte Lortzing Ringelhardt in Köln den scherzhaften
Rat geben : »Die Szenen, wo sie zusammenkommen, sind wegzustreichen; als-
dann kann Kramer beide Rollen zusammenspielen. 11 ' (Kruse, Lortzing S. 28).
- 182 -
Grundtendenzen des Stückes, wie wir sie schon kennen, bloß-
gelegt werden. Don Juan, der Vollmensch, trotzt dem Ober-
menschen Faust, dem Schwächling, der zur Hölle floh, weil
er das frische Leben nicht genießen konnte. Der höllische
Zauber ist wie ein äußeres Gewand, d. h. Fausts Wesen bleibt
davon unberührt und so bleibt er ohne Wirkung.
Überraschend ist die Konsequenz, mit der die Souveränität
des menschlichen Ich festgehalten wird. Bereits im Oothland
verkörperte sich die philosophische Oberzeugung von dem
geistigen Kern des menschlichen Wesens. Es gibt keine Macht
in Himmel, Hölle und auf Erden, der sich Don Juan nicht
gewachsen fühlt. So versagt der Zauber auch bei C a 1 d e r o n
vor der Macht des freien Willens. „Nietzsche'sk Ordskifte
i Montblancs Alpenatur" heißt es bei Behrens (S. 153). Auf
Nietzsche führt der Ausdruck Obermensch, den Goethe zu-
erst geprägt hat; auf die Verwandtschaft zwischen Grabbe
und Nietzsche als Verkündiger der Herrenmoral haben wir
anfangs hingewiesen, insbesondere werden wir noch in den
Faustszenen Geistesblitze, Aphorismen, Orakelsprüche treffen,
die wie hypermoderne Offenbarungen Zarathustras anmuten.
Jedenfalls erweist sich Don Juan innerlich dem Über-
menschen Faust überlegen, und dieser hat nur die Macht,
ihn durch die Luft zurückzuschaudern. Von hier an folgt
Grabbe wieder der Oberlieferung, die die Herausforderung
durch den flüchtenden Don Juan in die Kirche verlegte. Ur-
sprünglich reden die Tatsachen ihre eindrucksvolle Sprache.
Der Epigone aber beutet die traditionellen Motive effektvoll
aus. „Eine herrliche Szene, voll Phantasie und Humor; alle
Grausen des Geisterreiches stürmen auf Don Juan ein" rühmt
Grabbe selbst.
Don Juan in der stolzen Höhe eines Ich schüttelt den
Teufelszauber ab. Als geistiges Wesen versteht er die Geister,
aber auch ihnen trotzt er. Der Geist des Lebens ist die ge-
waltigste Macht. Vom imponierenden Obermut bis zum ver-
nichtenden Spott — in allen Farben sprüht sein Hohn.
— 183 —
Die vom Geiste katholischen Priestertums beherrschten
spanischen Zuhörer, in deren Phantasie die Schrecken der
Hölle lebendig waren und die vor dem leibhaftigen Teufel
bebten, überlief ein Grauen bei solchem Frevel. * Vor solchem
frommen Schauder ist Leporello sicher, er hat nur die aber-
gläubische Furcht des ungebildeten kleinen Mannes vor den
Schauern des Friedhofs; sobald er aber aus dem spürbaren
Machtbereich der Geister heraus ist, bekommt er — wie Shake-
speares Falstaff — wieder prahlerischen Mut und verliert
seine natürliche Feigheit. Da hat der Dichter mit ein paar
aus dem Leben schöpfenden Zügen ein realistisches Kabi-
nettsück geschaffen. Don Juan war in der Duellszene mehr
in der Verteidigung, jetzt leuchtet sein Trotz auf; er wird an-
griffslustig, obwohl ihn zunächst niemand herausfordert; auf dem
Hintergrunde der Gräberstätte der Friedhofsruhe tobt tollster
Lebensmut, übersprudelnde Kraft. In der Oper vernimmt man
unerwartet die Stimme des Gouverneurs und hat damit gleich-
sam einen sichern Beweis für die Existenz der Geister; dann
erst muß Leporello wie bei Grabbe die Grabschrift lesen
(vgl. auch die Puppenspiele über Faust, Creizenach 171 ff.)
Diese selbst lautet bei Molina, bei Mozart und bei Grabbe
ziemlich gleich; nur daß sie in unserm Stück unpersönlich
gehalten ist, weil Don Juan den Gouverneur ja nicht eigent-
lich ermordet hat. Bei M o 1 i n a zupft Don Juan die Statue an
dem Bart und ladet sie in sein Gasthaus, um die Rache aus-
zutragen, aber eine Antwort erfolgt nicht. Dort und im Puppen-
spiel erhält Don Juan ein« Gegeneinladung. Aus der Oper
nimmt Grabbe das „Ja" des Gouverneurs und das „seltsam"
Don Juans; jenes ungewöhnliche Erstaunen, das den Moli Pre-
schen Sganarelle kritisieren läßt: voila de mes esprits forts,
qui ne veulent rien croire. Mit Absicht ist das geplante Mahl
schon vorher erwähnt; wie sollte Don Juan sonst dazu kom-
men, da ja der Geist erst nach der Einladung antwortet. Der
große Gegensatz: Geist des Grabbes und Geist des Lebens,
des Weines, Schatten und Fleisch und Blut ist glutvoll feurig
— 184 —
flammend gemalt Auch diese Antithese freilich begreift man
erst in ihrer vollen Bedeutung, wenn man den Dualismus der
katholischen Religion in ursprünglicher Tiefe faßt Verruch-
terer Frevel war nicht denkbar; frecher kann Sinnenlust und
Fleischessünde nicht das Ewige, Göttliche, Unsichtbare ver-
höhnen. Allen Gegenmächten zum Trotz bleibt Don Juan
der er ist, und wächst immer mehr in die Sünde hinein. Die
Steigerung beruht darin: daß er, der vorher an Geister nicht
glaubte, auch jetzt nicht zagt, da sie ihr Dasein bewiesen
haben.
Der Schluß ist eine geistreiche Vertiefung des Operntextes
und man soll alles heraushören, was uns in Mozarts Tönen
erschüttert. Die Satire überw uchert- das tragische Elemept
Die Stimmung eines seltsamen Grauens packt uns an und ein
sprühendes Leben leuchtet, das uns beim ersten Eindruck frap-
piert Grabbe s Begabung *ür j* n » mmQwfiarh» MUrhntifl phan-
tastischer Lau ne, grotesker Kom ik, to ller Kontrast e, l auernde n
Verde rbens, dr ohenden Verhä ngnisses ist nicht abzuleugnen.
In kühner Kombination erscheinen noch einmal alle Gegen-
mächte. Fast könnte man fürchten, daß die Don Juan-Tragödie
mit einer prosaischen Verhaftung abschlösse. Aber wir möchten
die burleske Polizeiszene nicht missen. Auch dieser Einfall hat
übrigens seine Geschichte; schon bei M o 1 i n a fragt Catalinon:
wenn's die Polizei wäre!*; diese erscheint beiMalerMüller
und auch bei Klingemann; Goethes Mephisto
weiß sich trefflich mit der Polizei abzufinden; endlich erinnert
die Art und Weise, wie Don Juan die Sätze Rubios abschneidet
und in anderm Sinne ergänzt, anMoliferes Dimanche. Die
Sache ist bei Grabbe aber nicht ohne tieferen Humor: es fällt
e in satirisch es Streiflicht auf die, irdische Gerechtigkeit, auf
4i(L^eseilsch^ftliche- Sitte; .sicher kommt Grabbe dieses Hohn*
lacken auf die Allmacht der Konnexion von Herzen. Mit gro-
teskem Humor wird das Thema behandelt: das Genie und die
Polizei, Herrenmoral und feige Sklavenmoral, Man versteht
jetzt, wie Don Juan zu seiner Verachtung von Sitte und
- 185 -
Heuchelei gekommen ist Wir haben wieder eine glän-
zend durchgeführte Antithese; Don_J^nMch erlaube mir
a lles, was ich kann , ich bin d er ich hin, ich tue, ws&
mir gefäl lt So der Fr rg»l«t, A"* Rffir mer und Pranger, das.
Genie. Und nun Hif> VprtrPtpr der-Qrdnung: sie sind ohne
Mut und ohne Kraft. Negro kann nur nachsprechen und an-
geben. Rubio unterscheidet zwischen großen und kleinen Ver-
brechern „So 'n kleines Mördchen* (Klingemann: so ein AU-
tagsmord IV 1; der ganze große Gegensatz auch im Gothland:
aus Feigheit fromm I, der mitleidige Pöbel III, Held und
Mörder IV, so auch Byron, z. B. im Corsar: du bist ein
Heuchler, der geheim verspürt, was kühne Geister offen aus*
geführt). Also die irdische Gerechtigkeit wird von Don
Juan bloßgestellt, aber auch die ewige kann ihm nichts an-
haben. Diese Gegenmacht wirkt komisch, aber auch die an-
dern Gegenmächte machen keinen Eindruck. Sittliche Größe
vermag der verneinende Geist nicht zu schildern. Aber die
massive Gewalt aller Sinne wird heraufbeschworen: Geruch,
Gehör, Geschmack, das unsichtbare Grauen vertreibt Don
Juan — wieder ganz nach dem Rezept des byronschen Helden
— mit grob materiellen Mitteln: Wein und Braten; vor ihrer
Realität kommt die Geisterwelt nicht auf; es gilt der Augen-
blick und nicht das was kommt; der Mensch ist, was er ißt
— Don Juan wird ganz Fleisch, ganz Materie. — Das Er-
scheinen Faustens löst nichts Tieferes aus, der ganze Gegen-
satz fällt zur Erde. Don Juan berührt Annas Tod, aber
nicht bis zum Grunde. Er will sich als Ritter rächen, aber
da dieses Verlangen bald gegenstandslos ist, wird er sich
nach einer anderen umsehen. — Weiter werden die Motive
der Oper ausgedeutet und gesteigert, während gleichzeitig die
Musik wieder einsetzt Leporello, dessen Angst mit köst-
licher Realistik gezeichnet ist, wirft alles Eiserne weg, während
Don Juan — immer wilder und toller — auf Donner und Blitz
toastet Das Erscheinen des steinernen Gastes ist in der
Oper viel wirksamer als bei Grabbe: die zurückgewiesene
— 186 —
Elvira taumelt zurück, entsetzt vor dem, der vor ihr steht. Die
realistische Speisekarte Don Juans (20. I. 28) haben gleich-
zeitige Kritiker (in Halle und Leipzig) allzu exzentrisch ge-
funden. Die Furchtlosigkeit Juans bleibt in der Oper und bei
Molina aber nur solange, bis das Gericht sich sichtbarlich
zeigt. Molinas Held greift zum Dolch, als der steinerne Gast
die Hand nicht losläßt wie bei Grabbe, der aber schon vor-
her Don Juan den Stahl hat zücken lassen. Auch die
augenscheinlichen Schrecken der Hölle — und da
liegt doch für einen bloß materiellen Augenblicksmenschen
ein Widerspruch — erwecken ihm kein Reugefühl und keine
Angst, und es ist noch nicht zu spät, als er das höllische
Feuer sieht. Aber statt des „Nein" der Oper: „alles was
ich tat, gefällt mir, ich bleibe was ich bin." Satan im Fest-
gewand breitet seinen Mantel zur Feuersbrunst, die Don Juan
verschlingt. Und auch Leporello, der sonst gewöhnlich mit
dem Schrecken davonkommt, läßt der grausame Dichter dran
glauben. „Ein Allegro setzt triumphierend in D-dur ein, geht
dann nach Moll über und schließt darin kräftig ab."
Von keiner Gegenmacht gebrochen, kein Zeichen von
Schwäche — trotzig fährt Don Juan dahin. Die poetische Ge-
rechtigkeit, welche die Einheit der gestörten Weltharmonie
wieder herstellen soll, mußte bei Molina notwendig wallen
(„denn so verlangt es Gottes Strafgericht, wie eines Menschen
Taten, so sein Lohn") , und dieser ursprüngliche Gedanke hat
sich bis Mozart erhalten. Hier ist zum ersten Mal die Moral
gründlich ausgetrieben. Aber damit steht Don Juan jenseits
des Menschlichen.
Don Juan hat Recht, während es sonst immer umgekehrt
ist. In der Gluthitze des verneinenden Geistes werden die
Potenzen, die die Realität der sittlichen Mächte ausmachen, zu
verkümmerten Resten abgeschmolzen. Moral und Schuld sind
Korrelatbegriffe. Die Hölle hat immer nur einen moralischen
Sinn und sie ist hier eine Vorstellung ohne innere Wahrheit.
Sie ist ein Spott, ein Schemen in der Vorstellung des durch-
- 187 -
aus subjektiven Satirikers. Es ist wohl zuviel, die Don Juan-
handlung als reine Satire aufzufassen, aber streng genommen
hat das Stück keinen Schluß. Der Teufel kann nicht einer-
seits als Ausgeburt des Spottes und wieder als tragische
Macht erscheinen. Aber damit mußte Qrabbe für seine Zeit
als entschiedener Neuerer erscheinen, damit geht er über die
moralisierenden Tendenzen des Sturmes und Dranges heraus;
wieviel dort auch gestürmt wird, Karl Moor beugt sich unter
die Weltordnung. Klingers Faustroman beweist, daß Tugend
und echte Menschlichkeit unzertrennlich zusammengehören
(die Theodicee des Satans S. 378). Orabbes Helden tun zu-
erst bewußt den Flug über Gut und Böse hinaus. Solche
Obermenschen und Herrennaturen begegnen uns durchweg
bei Qrabbe.*)
Wirkt Orabbes Don Juan als tragischer Charakter? Ge-
wiß, imposant sind die Größe seines Geistes, die Stärke
seines Wollens, die unerschütterliche Konsequenz; die furcht-
lose Bejahung seiner Schuld löst starke Erregungen aus; auch
der Verbrecher kann „durch die Konsequenz einer in kühnen
Entwürfen schaffenden Natur" tragisches Interesse erwecken.
Harte, Grausamkeit, Gefühllosigkeit sind Ingredienzien, die
der Tragiker verwenden muß, und hier leistet Grabbe auch
Großes. Aber das ist nur die eine Seite. Die Gegenmächte
wirken nur komisch, aber auch Don Juan fühlt nichts, und
der innere Zwiespalt zerreißt nicht sein Inneres.
Der Kritiker der literarischen Blätter bemerkt: den kühnen
Mann schmilzt ein Blitz nicht um — es bürgt niemand, daß
seine scheinbaren Grundsätze und Oberzeugungen von dem
ersten Strahle der Wahrheit, der anspruchslos in seine
Seele fällt, in Flocken zerfahren, wie der Genius Tetel in
•) Insofern ist das Urteil Gutzkows, der die radikale Herzlosigkeit der
genialisierenden Grabbeschen Produkte verwarf, von Interesse: Grabbe sei
ohne alles Bedürfnis nach anderen gewesen; es habe ihm der Sozietätstrieb
gemangelt, und aus dem entspringe alles Oute und Rechte.
— 188 —
Meister Floh. Wenn er nicht von dieser Seite gewappnet und
unverwundbar erscheint, ist er durchaus kein tragischer Held.*
Man kann die Mitte halten — die Mittelmäßigkeit zu sehr
verteidigen, aber auch wieder das Genie übermäßig erheben.
Der Lebensbejaher wird Lebenszerstörer. Aber wie reimt
sich das mit der Farce vom Satan, wie der Teufel mit der
immanenten Tragik des Helden 1
Leben und Philosophie sind nicht organisch zusammen-
gewachsen. Von außen her hat der Dichter begonnen, von der
Höhe der Gedanken ist er herabgestiegen (vgl. auch Hebbels
Rezension in seinen Tagebüchern). Grabbe hat als Epigone
Don Juan für seine Zeit zu modernisieren gesucht, die natür-
liche Naivetät, die klassische Einfachheit und Klarheit hat er
im Zeitgeschmack mit allerlei philosophischem Raffinement aus-
geschmückt; sein Don Juan ist ein „Decadent neuester Sorte*
und verhält sich zu dem Molinas ungefähr wie ein Don Juan
von Richard Strauß zu Mozarts Musik. Als Versuch der
Umwertung aller Dinge, des Tragischen ins Satirische, als
Kulturdokument übt Grabbes Don Juan-Drama seine Wirkung.
Kein großer Charakter ohne Einseitigkeit und damit ohne
tragische Schuld. Glänzender Geist, feurige Sinnlichkeit, ritter-
licher Mut lassen Don Juan zunächst als ein herrlich begabtes
und darum auch wahrhaft glückliches Geschöpf erscheinen.
Er scheint alles zu erfüllen, was die Natur im Menschen
verheißen hat: er ist ein echter Vollmensch und unerschöpf-
lich ist seine Lebensfreude. Bestechend wirkt sein unver-
wüstlicher Optimismus, imponierend dieses männliche Selbst-
bewußtsein. Aber durch das natürliche Ausleben seiner ge-
nialen Art kommt Don Juan in Konflikt mit der weniger ge-
nial gearteten Menschheit, in der er lebt. Diesen Kampf, diese
Verwicklungen, dieses Wachsen in Schuld hinein wollen wir
miterleben; aus solchen Widersprüchen fließt das Tragische.
Durch den Gegensatz erwacht der Trotz; das Ich überspannt
seine Ansprüche gegenüber der Gesamtheit. Und gleichzeitig
tritt die Selbstentzweiung hervor, die allem Endlichen anhaftet;
— 189 -
die verborgenen Gegensätze, die bei der Doppelnatur des
Menschen in jeder Einseitigkeit liegen, klaffen auf; ein
Zwiespalt zerreißt das Innere des Helden, der sich ent-
weder unter die Umwelt beugen muß oder sich in starrer
Oberhebung verhärtet Der naive Egoismus wird zum
bewußten Zynismus; der natürliche Realist wird zum
Materialisten, der nur die Materie kennt und den Geist
verachtet, der alles Dauernde, alles Ewige verspottet. —
Grabbe, der sicher für die einzelnen psychologischen Mo-
mente, aus denen Don Juans Charakter zusammengesetzt ist,
geistreiche Züge findet, sucht seine Vorgänger durch schein-
bare Konsequenz zu überbieten; aber die Wirklichkeit, das
Leben steckt auch der größten Einseitigkeit eine Grenze. All-
zuviel Reflexion löst die Gestalt auf. So wird aus einem
Menschen, der mit beiden Füßen auf der Erde steht, ein da-
rüber schwebender Phantast. Wenn Faust, der überspannte
Denker, zuletzt doch sich zur echten Menschlichkeit und zu
der Liebe als dem wahrhaft schöpferischen Prinzip, der voll-
kommensten Entfaltung, der schönsten Blüte des Lebens be-
kehrt, können wir bei Don Juan eher den umgekehrten Ent-
wicklungsprozeß feststellen. Aber im Drama selbst ist er
nicht durchgeführt. Er malt sich keineswegs im Selbst-
bewußtsein Don Juans wie bei E. T. A. Hoffmann. Wohl aber
wird dem Leser die Reflexion nahegelegt, die die literarischen
Blätter fordern: der Teufel muß Don Juan in Spekulationen
verstricken und ihm die Grenzen des Genusses zeigen, muß
die Empfindung des Glücklichseins von der des Genießens
trennen, jene nach und nach ganz tilgen und ihn, da immer
wachsende Wünsche zuletzt nur durch Zerstörungen erfüllt
werden können, endlich soweit bringen, daß er zerstört, um
zu zerstören. Dann aber ist er für den Satan reif.
In Jena fand man den Don Juan glänzend und Faust un-
bedeutend; wir schließen uns mehr der Ansicht der Rezen-
senten von Halle und Leipzig an, denen Faust bedeutender
erschien als Don Juan.
— 190 —
VI.
•
Von dem Zyniker Don Juan kommen wir zu dem Ver-
brecher Faust, von der Ichsucht in ihrer selbstgenügsamen
Gleichgiltigkeit zu der Ichsucht in ihrer verletzenden
Gewalttätigkeit. In Faust glüht die unendliche romantische
Sehnsucht, die nichts, aber auch nichts Geschaffenes glücklich
machen kann, während es doch nicht Teufelsweisheit,
sondern Menschenlos ist, daß Kraft und Dauer nur in der
Beschränkung wohnen können. Darüber hinauszukommen,
hat Faust dem Satan seine Seele gegeben zur vollen Ent-
faltung der Macht und des Wissens. Zu spät sieht er die
Schranken der Macht, die Grenzen der menschlichen Erkennt-
nis, den einseitigen Haß der Hölle, ohne sich darin finden
können; zu spät kommt ihm die Erkenntnis, wo die Erlösung
liegt: Liebe ist die einzige schöpferische
Allmacht, Liebe zu der reinen, natürlich fühlenden Jung-
frau Donna Anna.
Diese Liebes Werbung Faustens nun (III 2, IV 3) gehört
zu dem Tollsten und Bizarrsten, aber auch zu dem Elemen-
tarsten, was Grabbe geschrieben hat. Roheit, ja bestialische
Sinnlichkeit verquickte sich im Gothland mit metaphysischer
Phantastik und Verstiegenheit. Wie auch hier ein philoso-
phischer Drang sich mit der explosiven Kraft sinnlicher
Leidenschaft entlädt, das erinnert an den jungen Schiller der
Lauraoden. Ein seltsamerer Freier als Faust ward nie er-
funden. „Ward je in solcher Latin' ein Weib gefreit? I" Faust
ist schwach in seinen Sinnen; das Geführ ist latent und wird
wieder durch die Verstandesmächte zersetzt. Wüste Herrsch-
gier und grenzenloser geistiger Hochmut machen ihn wahn-
betört. Die Voraussetzungen und die Grundelemente, der
Machtdurst und insbesondere der die Geheimnisse des Him-
mels und der Erde enträtselnde philosophische Drang, werden
mit unerschütterlicher Konsequenz auch jetzt festgehalten. In
dieses Chaos sonderbarster Gegensatze und Widersprüche
— 191 -
suchen wir nun einheitlichen Sinn zu bringen. Leuchten wir
zunächst noch einmal in die wunderliche Psyche des Dichters
selbst hinein. Und wir finden ein teilweise erklärendes Motiv
in dem Liebesleben Grabbes, dessen Liebe „Raserei und
kindliche Einfalt, Tyrannei und Hingebung" zugleich war, der
mit der Pistole von Frau Lucie Liöbe heischte (Duller).
Wir rühren nur eben an die Frage, wieweit sich eine patho-
logische Erotik wiederspiegelt in der Vereinigung von Liebes-
qual und Grausamkeit. Nach einem Wort von Jean Paul
verrät sich das „krankhafte Innerste eines Dichters nirgends
mehr als durch seine Helden, welche er immer mit den ge-
heimen Verbrechen seiner Natur wider Willen befleckt."
Trotz dieser eigentümlichen Prägung können wir doch wie-
der ganz deutlich die Vorbilder feststellen. Grabbe überbietet
noch Byron: er baut einen phantastischen Wunderpalast auf
dem Montblanc, während Byron sich mit der Jungfrau begnügt;
Childe Harold fühlt sich wenigstens innerhalb der gewaltigen
Schöpfungswunder wohl, aber dem größenwahnsinnigen Faust
genügt alles nicht. Klingemanns Faust dürstet nach einer
Seele, die ihn versteht; er trachtet Helena, nachdem er sich
zunächst in ihr Porträt verliebt hat, mit all seiner Macht zu
gewinnen, „sie muß mein seint a (auch der gepeinigte Hund
findet eine Parallele bei Grabbe). Aber in Helena ist ein
böses Prinzip verborgnen; sie macht Faust zum Mörder an
seinem Weibe Käte. Hier verläßt Grabbe Klingemanns Spur
und knüpfte an die Beschwörung der edlen Christin Justina
durch den heidnischen Zauberer Cyprian bei C a 1 d e r o n an.
Aus allerlei Steinbrüchen wird das Material herbeigeholt, und
nach Cyclopenart werden die Blöcke — ohne Fügung, die
Risse unausgefüllt — zu einem seltsamen, grotesken Bauwerk
aufgetürmt.
Faust kann alles — nur nicht Anna zur Liebe zwingen.
Er entfaltet seine ganze Macht und gleichzeitig reizt ihn
der Widerstand zum Ausbruch seiner Raubtiernatur. Seine
unerhörte Liebe äußert sich darin, daß er den Himmel stürmt
- 192 -
und den Diabolus, den Verräter, peinigt; darin tobt sich zu-
gleich sein Schmerz aus, daß er, der Hölle verfallen, Heil und
Glück verscherzt hat Wir hören das Geschrei des gemar-
terten Teufels, während Faust wie ein drohender Gott der
Tiefen Liebe heischt und Anna flehend aber standhaft ihn ab-
weist. Die Liebe entzündet den vollen wahnsinnigen Rausch
der Macht: die Liebe des Obermenschen, die in ungeheuren
Bildern — wir kennen allerdings die aufkochenden Meere,
die einstürzenden Welten schon aus dem Gothland III 1 (dort
auch zu vergleichen Cäcilias Versuch, Go. zur Tugend zu
führen; die Geliebte wird lieber getötet, als andern überlassen) ,
gemalt wird. Faust schnaubt nach Liebe wie der Tiger nach
Blut. Dieser grellen, krassen, schreienden Zeichnung gegen-
über erscheint Anna wieder allzu farblos und ohne Leben;
nichts von der Naturfrische, der Naivetät, der lebenswarmen
Sinnlichkeit des Goetheschen Gretchen.
Das Schlicht-Menschliche imponiert dem Verstiegenen
nicht, aber wenn Goethes Faust Gretchen liebt, so ist
das eine Durchgangsepisode, bei Grabbe ist Anna das
entscheidende Erlebnis. — Dem üppig überströmenden Colorit
in Fausts Ausbrüchen stehen wieder die kargen Laconismen
Annas gegenüber.
Der Paroxysmus des Fiebers, philosophische Phan-
tasien, hochfliegende Spekulationen und dann wieder die nüch-
ternste Verstandeszergliederung der Liebe verhalten sich wie
flammende Glut und eisige Wasserstrahlen. Der Schritt vom
Erhabenen zum Lächerlichen oder vielmehr zum Absurden,
Abgeschmackten ist kurz. Im Tollen und Wilden schwelgt die
Laune des Dichters; paradoxe Einfälle häufen sich, dabei wer-
den unerhörte Bühneneffekte entfaltet
Der Geist Goethes hat den Dichter längst völlig verlassen.
Wie der Satan dem Herrn die Herrlichkeit der Welt zeigt,
um ihn zu verführen, so übt hier Faust dem Hoffmann-
schen Magnetiseur ähnlich, seine Zauberkünste; aber
- 193 —
immer ist es ein einfaches, menschlich rührendes Motiv, das
seine Zauberkraft lähmt Die südlichen Länder, Annas Hei-
mat, tauchen auf im Farbenglanz byronischer Schilderung. Er
schüttet sie Anna zu Füßen; ja selbst, und das scheint uns
widerspruchsvoll, seine Tränen (die Tränen haben auch im
Oothland ihre Bedeutung 13, III 2, V 3) ; aber Anna weist auf
das Grab der Mutter — und der unheimliche Spuk ist
vorbei. Vergeblich versucht er sie zu verzaubern, wie er ver-
zaubert ist; so versagt in Fouquds Zauberring die Kraft vor
dem Himmelsblick der reinen Jungfrau. Die Motive des Mo-
nologs klingen, die Einheitlichkeit und Kraft der Grund-Kon-
zeption beweisend, wieder an: der machtberauschte Geistes-
mensch, der deutsche Philosoph und dann Faust, der Prote-
stant, dessen Handeln als Konsequenz der neuen revolutio-
nären Lehre erscheint, der als abtrünniger, ewig verlorener
Ketzer der frommen Papistin besonders Grauen einflößt.
Dieser Gegensatz — auch in Müllners Schuld und Werners
Luther angedeutet — blitzt auf in einem originellen Vergleich,
der Meisterhand verrät. Die graue Stadt des Nor-
dens wird herangezaubert, wo der Zertrümmerer Luther
wohnt, wo Faustens Heimat ist. Aber wie bei G. Hauptmann
Rautendeleins Zauber zerfließt, als die Kinder mit den Tränen-
krügen kommen, so fällt ihn hier das Wörtlein: denk an
dein Weib! Man sieht nun, warum Grabbe auch hier
Klingemann gefolgt ist. Bis jetzt ist Faust nur mehr Gedanken-
sünder gewesen, jetzt sehen wir, wie der Wissenstrieb, sofern
er Moral und Glauben tötet, auch Tatsünden zeugen kaifn.
Bisher war Faust nur der Entführer, und Annas Abscheu er-
schien weniger begreiflich. Ihre Vorwürfe trafen viel eher
Don Juan, jetzt aber wird Faust zum Verbrecher und Mör-
der und wächst sich zum Höllensohn aus. Er winkt und
sein Weib stirbt.
Und doch verbinden sich mit den verbrecherischen Taten
die Wehen einer vita nuova.
Nieten. Chr. D. Grabbe. 13
— 194 —
In Jena meinte man, Faust als überspannter Denker ver-
lange nur aus Ekel an allem übrigen nach der Liebe und es
reize ihm eigentlich nur der Widerstand. Aber es liegt doch
auch tieferer Sinn in dieser Szene, die bei aller grellen Phan-
tastik und bizarren Hyperromantik — trotzdem zwar die Motive
formlos gehäuft werden, ohne daß sie zu einem wahrhaft ein-
heitlichen großen Kunstwerk gestaltet wurden — doch ein
kühner, origineller Geist geschaffen haben muß. Mit unleug-
barer Genialität ist die wilde Stimmung festgehalten; es ist
etwas Mächtiges darin, und tiefe Schwärmerei rauscht gleich
einer Rhapsodie daher. Es sind tiefe Motive freilich nicht ge-
staltet, sondern nur angedeutet. Faust unter dem Teufels-
fluch des Machttriebes hat das Gefühl, daß die Erlösung vor
ihm liegt, und daß doch der der Hölle Verfallene sie nie er-
reichen kann; es ist die Stelle im Volksbuch, wo der Satan
Faust von der Höhe des Ararat aus die Gefilde der Seligen
zeigt Es klingt hindurch ein Sehnsuchtston, ein letztes Echo
aus der Welt reiner Menschlichkeit; aber der Machtverhärtete
will nicht einsehen, daß das Element der Liebe Hingabe ist.
Faust will die ganze volle Befriedigung: Liebe und Macht,
will die Seligkeit, das Glück, das nicht vom Teufel kommt
(s. Monolog) , er will Anna erobern. Sie, die Reine, aber
weicht zurück vor dem, der unter dem Fluch der Hölle steht
und der doch wieder ihretwegen sich dem Teufel entziehen
will. Und anderseits, was hat das lebendige Gefühl für Be-
rührung mit dem toten Wissen und der Macht? Faust fühlt
den Fluch der Hölle, den Wahn der Macht. Unfruchtbar und
tot ist alles, was von der Hölle kommt — Liebe ist die ein-
zige schöpferische Allmacht. Nach viel Theater und Kapell-
meistermusik haben wir hier einen wahrhaft tragischen Ge-
danken; JRousseausche S ehnsucht des Kultun "ft"M ?fr»" «•<*■
Natur; höchste Geisteskultur j«t #rfn ^nrniea F c rz, eioitfichis
ohne Liebe. Die Spannung ist eine ungeheure, die Gegensätze
werdenTus zum letzten Extrem erhitzt und auf die äußerste
Spitze getrieben.
— 195 —
Der Fall ist durch das Doppelmotiv kompliziert. Faust
handelt einerseits unter fremdem Zauberbann: was geschieht
ist nur im Zauberland möglich. Andrerseits aber kommt ein
allgemein menschlicher Gedanke zum Ausdruck. Faust ent-
sagte dem Glück und wollte nur Wahrheit. Da er alles hatte,
lernt er die Liebe kennen.
Anna, die mit dem einen Teil ihres Wesens Don Juan
liebt, dessen Herannahen sie gleichsam spurt, sinkt nieder:
„Dein ist die Macht und unser ist der Schmerz." Faust aber
bricht auf, um Don Juan mit Teufelsmacht zu überwältigen,
die aber an dem freien Geist, dem freien Willen Juans wie
Annas scheitert. Don Juan kann er nur durch äußerliche
Gewalt werfen; die Macht der Geister soll er anders spüren.
Er kann ihn nur vernichten, indem er Anna vernichtet, in
deren Busen Juan wohnt
Bevor er aber dazu kommt, hat der Dichter zum Teil
mit Rücksicht auf die Bühnenwirkung ein melodramatisches
Intermezzo eingeschoben, in dem Faust Zerstreuung in der
Erde sucht und das „zerrissene Herz" durch Schmerztränke
zu betäuben strebt, während die Gnomen mephistophelisch
höhnen: „O selig, wer im engen Kreis zu leben, zu genießen
weiß." Lortzing hat die Szene ganz durch komponiert. „Die
ganze Komposition hat ein sehr charakteristisches Gepräge
und interessiert außerdem als einer der ersten Schritte Lort-
zings auf dem Boden der Romantik." Man denkt im übrigen
zunächst an Goethes Hexenküche, worin außer dem Zauber-
trank, der in der Form aber mehr an das phantastische Volks-
stück (Freischütz, Spohrs Faust) anklingt, auch das Be-
schränkungsmotiv zu finden ist, und an die Walpurgisnacht,
die Faust zerstreuen soll, mit ihrem satirischen Spuk. Vor
allen Dingen stellt sich Grabbe von nun an ganz in den Bann-
kreis Byron s.*) Manfred zitiert im Eingangsmonolog die
*) Das dürfte auch für die chronologische Festsetzung der einzelnen
Szenen wichtig sein; der I. Akt entstand schon 1823. Der II. Akt wurde
im Frühjahr 1827 in Angriff genommen; vermutlich wurden zunächst die
13»
— 196 —
Geister und verlangt Vergessenheit; auch Trank und Schale
haben dort ihre Stelle.
Von nun an nimmt Anna, in der wir zunächst Klinge-
manns Helena, dann Calderons Justina wiedererkennen, eine
dritte Metamorphose an: Calderons Justina und Byrons
Astarte werden zu einer Oestalt. Und der Einfluß von Byrons
Manfred wird nun so stark, daß wir kaum zu viel sagen,
wenn wir Grabbes Faustgedicht hier den ersten Teil von
Byrons Manfred nennen. Was Manfred vergessen will, wird
hier gegenwärtig. „Dieser seltsame, geistreiche Dichter hat
meinen Paust in sich aufgenommen und hypochondrisch die
seltsamste Nahrung daraus gesogen. Freilich leugne ich nicht,
daß uns die düstre Glut einer grenzenlosen Verzweiflung am
Ende lästig wird", sagt Goethe, der selbst den Monolog und
Bannfluch übersetzte. Die Byron-Biographen deuten eine Schuld
des Dichters, vielleicht sogar das Verbrechen des Incestes an.
Jedenfalls ist hier die Achillesferse des Obermenschen: er
kann nicht vergessen. (Anders freilich denkt Nietzsche.) Man-
fred tötet Astarte — um ein Menschenopfer darzubringen? „Ich
liebte die Geliebte und dafür warf ich alle Gaben der Er-
kenntnis hin und sank zur Sterblichkeit hinab." Dieses Wort
Manfreds wendet Grabbes Faust unbekümmert an, obwohl er
doch Kunst und Wissenschaft verworfen hatte, ehe er Anna
kennen lernte. „Ich liebte sie und habe sie zerstört" — und
„hätte ich nie geliebt, das was ich liebte, lebte noch." Die in
diesen Motiven umschriebene Astartetragödie finden wir nun
bei Grabbe wieder. Haben wir ihn damit als Plagiator ent-
larvt oder wie rettet er seine Selbständigkeit, wie vermag er
so fremdes Gut dem eigenen Werk zu amalgamieren, wie ver-
mag er eine solche Fülle schon anderswo vorgefundener Mo-
Don Juanszenen ausgeführt; für die Fausttragödie kamen zunächst wohl
Klingemann und Calderon in Betracht; der entscheidende Einfluß Byrons
bestimmte die letzten Faustszenen, die im Sommer 1828 vollendet wurden.
Vorher war die Schlußszene fertig (vgl. 20. I. 28, in den Briefen wird nur
der Satan allgemein genannt).
- 197 —
tive widerspruchslos zu verwerten, daß die Einheit seiner
eigentümlichen, so überaus komplizierten Faustschöpfung nicht
auseinanderbricht? Daß Grabbe dieses Kunststück, wenn
auch nicht der Form, so doch der Grundidee nach ge-
meistert hat, ist allerdings unsere Ansicht, wie eine Betrach-
tung der letzten Szene des Faustdramas ergibt
Rache und Eifersucht erhöhen noch den stürmischen Tu-
mult des Herzens. Ein 60 Verse umfassender, von dem
Tempo seiner leidenschaftlichen Zerrissenheit beseelter, an ha-
stigen Aposiopesen reicher Monolog entwickelt noch einmal
das Faustproblem. Der irregeleitete schöpferische Drang
wirkt nur Zerstörung. „Was ich wünsche, muß ich haben
oder ich Schlags zu Trümmern I a .Dieselbe Gewalttätigkeit bei
Gothland und Berdoa: gebt mir etwas zu vernichten I Das
Unmögliche soll vereinigt werden: Liebe, Macht, Egoismus.
Vermieden werden soll jeder Schein von Schwäche. Aber die
Kraft ist wieder verzerrt zu einem bestialischen Gelüst, bis
zu unpoetischem Materialismus entstellt ist der Gegensatz zu
der bloßen blassen Sehnsucht. Und dabei kämpft heiße Ver-
liebtheit mit dem beleidigten Stolz, und wieder liegen im Streit
die plötzlich aufflackernde Glut des Gefühls mit der eisigen
Luft verstandesmäßiger Reflexion, in der Faust, der Philo-
soph, gewohnheitsmäßig atmet. Orabbes Bizarrerie, die Kälte
des Geistesfürsten, dem sich mit der Tragik des Königs Mi-
das alles in das Gold der Erkenntnis verwandelt, findet den
schneidendsten Ausdruck, wenn sich Faust, der mit den
Schrecknissen der Unterwelt umgebene Gigant, vergeblich den
Gedanken klar zu machen sucht, warum ihn dunkle Sehnsucht
hintreibt zu einem „Gewächs ohne viel Geist".
Wir werden an die Grenze geführt, wo der subjektive
Geschmack entscheidet, ob er noch tragisch zu genießen ver-
mag oder ob er eine bizarre Kuriosität bewundert. Faust ist
ein Wahnsinniger, dessen Selbstbewußtsein von den wildesten
Widersprüchen zerrissen ist. Grabbe schildert einen Krank-
heitsprozeß; ein gärendes Chaos ist diese Seele, in der die
— 198 —
Finsternis der Hölle ringt mit dem Lichtstrahl reiner Men-
schenliebe. Paust kann nicht lieben; aber er beginnt sein Herz zu
entdecken und das Gefühl fängt an zu erwachen. Die Glut
des Herzens ist noch nicht völlig erloschen, die Hoheit der
reinen Tugend läßt ihn nicht unberührt, er vermag sie aber
nicht in ihrer ganzen Herrlichkeit zu begreifen d. i. mit
seinem Denken zu erfassen.
Der Machtwille und der Verstand sind stärker als das
Gefühl. Zwar muß sich Faust noch mehr von der Nichtigkeit
der höllischen Gewalt überzeugen, die nur die äußern Hem-
mungen beseitigt, aber difc moralische Intoxikation, die er sich
durch den Bund mit dem Satan zuzog, bleibt doch bestehen.
Denn Faust ist einmal der verzauberte Unfreie und das ander-
mal das freie Ich. Aufs höchste in seinem Stolz gereizt, sucht er
durchzubrechen mit dem klaren Bewußtsein seines sündhaften
Frevels: „und wärest du der Engel erster, ich verwerf dich."
Damit ist er ganz schuldig und der Hölle verfallen. Faust
will sich nicht das Geringste abdingen; das Seufzen, die
bebende Lippe scheinen schon einen Abzug zu bedeuten. Donna
Anna bleibt standhaft und stirbt.
Der Opfertod Donna Annas wirft einen Lichtschein in
die verdüsterte Titanenseele. Nun erfolgt eine Krisis, eine
Läuterung in dem Krankheitsprozeß. Der höllische Bann ist
gebrochen: Faust empfindet Reue. Widerstrebt das
einerseits seiner Machtverhärtung, so ist doch schon Fausts Ver-
liebung ohne Gemütsregung nicht zu begreifen. Wie sich im
Gothland zuletzt ein Hauch von Menschlichkeit wie verklären-
des Abendrot ausbreitet: „um so länger man die mensch-
lichen Gefühle niederringt, um so gewaltiger richten sie sich
wieder auf;" so sinkt eine Welt seltsamer Phantastik wie
Gespensterspuk, wie ein wüster Traum zusammen, und wir
sind wieder auf der Erde. „Was ist das Leben ohne Liebe?
Viel war die Welt wert — man kann drin lieben." „Mit den
letzten Worten", heißt es in Grabbes Selbstrezension, „löst
Faust die Dissonanzen des Stückes und macht es aus einem
- 199 -
Fragmente, welches fast alle Tragödien sind, die bis zur
Region dringen, wo Zweifel und Glauben sich bekämpfen, zu
einem Ganzen." Nun ist aller Trotz dahin, und in schwer-
mütiger, reuevoller Klage erklingt vielleicht das tiefste Wort
der Tragödie: „armselig ist der Mensch! Nichts Großes, sey's
Religion, sey's Liebe, kommt unmittelbar zu ihm, er
muß 'ne Wetterleiter haben." Der Gedanke der Ver-
mittlung erzwingt sich nun Anerkennung. Faust wollte alles
zusammen und zugleich haben; er, der Bedingte, das Unbe-
dingte; wie ein Neuplatoniker, der Gott schauen will. Und
doch stand er unter unfreiem Bann, und er fühlt nun auch
die Macht der Hölle: „Wie glücklich könnt ich seyn, wenn
ich nicht Mich an die Hölle damals schon verkaufte, Als ich
dies Weib zuerst erblickte."
Faust genest zum wahren Leben durch die Liebe. Hier
offenbart sich eine allgemeinmenschliche Wahrheit und eine
persönliche Erfahrung. Das liebeheischende Herz, durch
kalten Machtwahn verhärtet und verdunkelt, glüht nun
auf, wie siegreicher Sonnenglanz durch Nebel leuchtet;
die Hölle kann eben nicht lieben. Faust gleicht dem
Ritter, der da suchte und nicht fand. Aber daß die
Sehnsucht nach Liebe blieb, war der letzte Keim des
Guten, des ursprunglich Menschlichen, und den erstickte
er. Und doch — jetzt reut es ihn. Hätte es des ganzen un-
förmlichen Apparates, des Teufelsspukes, der nebelhaften Spe-
kulation, der hohlen Allegorie, der seltsamen Phantastik be-
durft, um solch schlichte Wahrheit schöpferisch zu gestalten?
Der Ritter kann Anna nicht auf erwecken: „Denn das Ge-
storbene ist mein nur, wenn es fällt zur Hölle." Aber gleich-
zeitig, indem in Faust das Gefühl des Menschlichen erwacht,
fühlt er auch seine Göttlichkeit; er ahnt in den edleren Re-
gungen das Dasein Gottes: „Es gab einst einen Gott — der
ward Zerschlagen — wir sind seine Stücke — Sprache und
Wehmut — Lieb und Religion und Schmerz sind Träume nur
von ihm." Allzu genau mag man diese Worte nicht wägen.
- 200 -
Es ist der Geist des romantischen Pantheismus; außer an Schel-
ling, Heine (das Leben, der Traum eines schlafenden Gottes) ,
Steffens, Novaiis weise ich aber wiederum auf den jungen
Schiller, sein Geheimnis der Reminiszenz und seine Melan-
cholie an Laura, von denen Heine sagt: „bei Schiller feiert
der Gedanke seine Orgien, nüchterne Begriffe weinlaubum-
kränzt schwingen den Tyrsus, tanzen wie Bacchanten." Jeden-
falls klingt ein schöner tiefer Gedanke als Grundmotiv wieder
an: die unerfüllte Sehnsucht nach dem Unbedingten, das er-
wachende Gefühl der Göttlichkeit Es gelang dem Satan doch
nicht, Paust vom Urquell abzuziehn. Also kein „Gerichtet",
ein „Gerettet" müßte am Schluß ertönen — ersteres wäre bei
äußerlicher Auffassung nach dem Wortlaut des Kontraktes an
der Stelle, letzteres nach dem Innern Gehalt Denn eine
Handlung von immanenter Tragik und von allgemeinmensch-
lichem Gehalt will nicht recht in der abenteuerlichen Atmo-
sphäre des Zaubermärchens gedeihn. Aber nur in letzterer ist
der Satan möglioh. — War die Konzeption im Geiste des
Sturms und Drangs, so ist die Lösung im romantischen Sinne.
Zuletzt überwindet Faust sogar seinen Haß gegen Don
Juan; er erscheint als Todverkündiger und zugleich als letzter
Warner, wie wir sahen, umsonst Bis zuletzt bleibt Faust
der Philosoph: das Besitzen im Gedanken, die Erinnerung
an Anna wird die Qual der Hölle ertragen lassen. Aber im
übrigen ist er ungebrochen; mit Resignation und Trotz ergibt
er sich dem Ritter: „doch wisse, wenn ich ein ewiges Wesen
bin, so ring' ich mit dir von Ewigkeit zu Ewigkeit." Nicht
anders endet Paust bei Klinger und Klingemann, am meisten
philosophische Tiefe aber enthält diese Abrechnung in Byrons
Manfred, wobei der seltsame Widerspruch auftaucht, daß man
die Hölle nicht entbehren will und doch den Satan verachtet.*)
*) Byron: Du wirst mich nie in deine Macht bekommen — ich hab p
mich selbst zerstört — und will mich selbst zerstören.
Klinger: Erscheine mir unter welcher Gestalt du willst, ich ringe mit dir.
Klingemann: Ich will's — der Faust! — und ewig dich verhöhnen.
- 201 —
Daher spottet ein Rezensent: Faust verfallt alsbald in
Resignation und bietet sich dem Satan an, worüber sich die
höllische Majestät freudig verwundert. Das Trauerspiel spielt
also eigentlich noch infernalisch weiter und ist keineswegs
zu Ende.
Aber der Oeist Klingemanns gewinnt zuletzt doch wieder
Gewalt aber Grabbe, der Geist greller, krasser, theatralischer
Phantastik; wie im wilden Jäger starrt das Antlitz des Er-
drosselten kohlschwarz im Rücken; in Rachewollust will der
Ritter den ölberg (einen Berg aus Öl!) über Pausts Leich-
nam türmen. Der gekrümmte Wurm erhebt sich zum Drachen
voll unheimlicher Majestät. Triumph tönt sein Siegessang;
nur durch List und scheinbare Unterwerfung kann Satan sich
Seelen gewinnen, und nun die schwarze Hülle abstreifend steht
er im roten Gewand mit zornflammendem Antlitz da und
denkt an jene ferne Stunde, wo die Hölle endgültig siegt und
der Teufel den Thron des Höchsten einnimmt. Mit einer
schrillen Dissonanz, einem infernalischen Triumphchor bricht
Grabbe ab.
Hinter dieser Theatralik steht das Bekenntnis zum Pessi-
mismus, daß die Bosheit siegt und daß die Herrlichsten des
Satans Beute werden müssen. Um die poetische Gerechtigkeit
ist es Grabbe nicht zu tun. Wohl aber ist uns Paust zu einem
tragischen Helden geworden. Und daß seine Ausbrüche mit
der Gewalt echten Schmerzes wirken, hat seinen Grund da-
rin, daß sie emporquillen aus den geheimnisvollen Tiefen der
Persönlichkeit des Dichters.
Auch Grabbe hätte sein Obermenschentum gerne dahin-
gegeben für ein schlichtes Menschenglück, und er schrieb aus
seinen Liebes wirren heraus: Kraft ist nichts wert, wenn sie
nicht Glück schafft. (29. 1. 32.) Auch Grabbe suchte in
Spohr: Doch mein Wille ist mein Schutz
Dir, der Hölle biet' ich Trutz.
Prometheus: Sie werden mich doch nicht vernichten!
- 202 —
leidenschaftlicher innerer Zerrissenheit das Höchste zu er-
reichen in fanatischer Einseitigkeit. Und so blieb ihm nur die
Verzweiflung um das Unwiederbringliche und er erkannte in
spater Reue, daß die Leidenschaften des unruhigen Menschen-
herzen ihren harmonischen Ausklang nur finden in der ir-
dischen Wonne der Liebe und in der himmlischen Sehnsucht
der Religion.
VI. Kapitel
Ober die Shakespearomanie — Die Hohenstaufen
Ein Nationalstück wie die Hohen-
staufen sollen die Deutschen noch nicht
gehabt haben.
Am 25. Juni 1827 äußert Grabbe zum ersten Male die
Absicht, über die zur Fashion gewordene Shakespearomanie
zu schreiben, am 26. Juli schickt er Kettembeil den Aufsatz
„heiß wie er aus der Pfanne kommt", d. h. er hat ihn, ohne
ein Buch zu benutzen, gleich niedergeschrieben (2. VII. —
3. VIII. — 12. VIII. - 1. IX. - 26. XII). Dieser merk-
würdige Aufsatz, den Orabbe absichtlich bis 1822 zurück-
datiert, in dem der Mann mit dem Balken auf die Splitter im
Auge des andern weist, ist aus verschiedenen Gründen zu
erklären. Mit der Vordatierung will Grabbe wohl den Glau-
ben erwecken, als ob er seine Ansichten schon vor Tieck,
zu dem er in einem merkwürdig unklaren Verhältnis steht
(vgl. den Brief vom 8. I. 35), gewonnen habe; vielleicht
möchte er auch seinen Kritikern den Wind aus den Segeln
nehmen, indem er sich eine überlegene Miene seinem eigenen
Werk gegenüber gibt. Er liebte Sensation und Widersprach
und wollte sich kritischen Ruf verschaffen, ja am liebsten das
Haupt einer eigenen Schule werden. Damit verbindet sich die
praktische Oberlegimg: man werde zu seiner Schrift greifen,
schon um von Shakespeare Neues zu hören. Doch das sind alles
— 204 —
mehr oder weniger äußere Gründe, die immerhin für Orabbes
praktisch - pfiffige Handlungsweise von Interesse sind. Er
verrät auch hier Großes und Kluges neben Allzumensch-
lichem. Und die vermessensten Wünsche, die er sonst ver-
steckte, lugen hervor.
Shakespeare war der Gott der Stürmer und Dränger,
der Gott des Gothlanddichters. „Don Juan und Faust"
dagegen ist viel mehr beeinflußt von Byrons Manfred
als von Hamlet. „Shakespeare hat euch verdorben" rief
Herder Goethe, dem Dichter des Götz, während dessen
Sturm- und Drangperiode zu; dieser hat sich immer
mehr freigemacht und schrieb zuletzt auch einen Auf-
satz „Goethe und kein Ende". Neuerdings hatte Franz Hörn
Shakespeare kommentiert — wie Grabbe darüber dachte,
wissen wir aus „Scherz, Satire, Ironie". Tieck hatte in „Shake-
speares Vorschule" und in seinen dramaturgischen Blättern
die neuesten Dramatiker Werner, Grillparzer, Müllner, Hou-
wald, Raupach verworfen. »Von seinem Gotte Shakespeare
hat Tieck die olympischen Blitze geborgt", so urteilt Rudolf
von Gottschall, „um die literarischen Pygmäen seiner Zeit zu
zerschmettern; in Wahrheit hatte der große britische Genius
durchaus nicht die Verwandtschaft mit romantischen Bestre-
bungen, wie Tieck will — vergebens suchte er die roman-
tische Ironie bei Shakespeare nachzuweisen." Ganz ähnlich
hat Grabbe geurteilt, der, anfangs ein getreuer Adept Tiecks
als des Führers der romantischen Schule, sich nun von diesem
entfernt und in seiner Absage an die Romantik gleichzeitig
den übermächtigen Eindruck Shakespeares abschütteln will.
Auch vernünftige Männer wie Tieck schützen ihn vor d. i. sie
entschuldigen mit ihm ihre Schwächen, weil sie selbst nicht
so hoch kommen können und in einer von ihm erregten Be-
wunderung sich selbst geschmeichelt fühlen. Indem Grabbe
Tieck durchschaut, will er doch dessen Empfehlung des „Goth-
land" benutzen und hat wohl daher den Aufsatz vordatiert.
Er greift Tieck nicht selbst an, sondern seinen Götzen, zu
- 205 —
dessen Priester er sich aus Mangel aus eigener Kraft mactat.
Es war Mode, ein assekuriertes Geschäft, Shakespeare zu
loben. Übrigens war der Aufsatz zeitgemäß und Orabbe
deutet selbst an, daß ihm einer zuvor kommen könne. In
der Tat spottet in Raupachs Lustspiel „Kritik und Antikritik",
das 1826 in Detmold gespielt wurde, der Shakespeare-Narr
über die Shakespearomanen. Und nicht minder berührt er
sich mit den Angriffen, die Klingemann in seinen drama-
turgischen Blättern „Kunst und Natur" gegen Tieck gerichtet
hatte.
Endlich aber enthält der Aufsatz als positiven Kern zwei
vortreffliche Gedanken: wie ein Originalgenie des Sturmsund
Drangs erhebt Grabbe sich wider Epigonentum und Aus-
länderei. Die Romantik ist unproduktiv und sucht sich daher
ein produktives Genie aus, dem sie fälschlich ihre Tendenzen
unterschiebt. Vor allem aber ist Grabbe aufgebracht über die
verächtliche Art, mit der Schiller von Tieck behandelt wird.
Derselbe Mann, der Ochtritz, Grabbes Nebenbuhler, pries,
richtete sozusagen in Shakespeares Namen den deutschen
Nationaldichter Schiller. Darum hebt Grabbe statt Shakespeare
Schiller auf den Schild: denn nur Schiller lieben die Deutschen
wegen seiner Begeisterung und wegen seines tiefen Gehalts.
Sehr wohltuend berührt die nationale Tendenz und das trotzige
Abwerfen ausländischer Fesseln. Ich bin auch Einer, ein
Originalgenie. Damit hat* Grabbe durchaus recht, aber die
weitere Kritik, die natürlich nicht den Standpunkt des Goth-
landdichters, sondern des Autors der Hohenstaufen wieder-
gibt, ist doch höchst befremdlich.
Ist er lüstern nach den Lorbeeren Lessings, will er etwas
für sich? Shakespeares Form soll nicht originell, seine Kom-
position nicht unübertrefflich sein. Nun soll Moliftres Komödie
höher stehn als Shakespeares Lustspiele, nun soll das Fried-
lich-Versöhnende der Antike nachahmenswerter sein, als die
Tragödie Shakespeares 1 Man steht vor einem psychologischen
Rätsel. Wie kann der Verfasser des „Marius und Sulla" Shake-
— 206 -
speares Cäsar als Renommisten charakterisieren und die
Doppelhandlung tadeln, da Marius bei ihm doch schon in der
Mitte des Stückes ausgespielt hat; wie den aristokratischen
Sinn Shakespeares tadeln, da er doch selbst den Pöbel be-
schimpft als eine Bestie, die um so folgsamer wird, je mehr
man sie prügelt Shakespeare schafft wirkliche Menschen —
aber er, der große Leidenschaftsdichter, soll von berechnen-
dem Verstand sein, kein Gefühl gehabt haben. Einen
größeren Gegensatz zu O. Ludwig kann man sich nicht
denken. Die Kritik der einzelnen Stücke gibt anregende Be-
merkungen, ohne sonderlich in die Tiefe zu gehn.
Der ganze Grabbe steckt in dieser merkwürdigen Abhand-
lung mit seinen Widersprüchen, die sich nicht klären wollen,
seiner alles auf den Kopf stellenden Ironie, mit allen Unter- und
Oberströmungen seiner komplizierten Persönlichkeit. Das
wichtigste Problem ist ja, wie sich Schiller und Shakespeare
bei ihm verbinden, und die Düsseldorfer Kritiken bestätigen
es, daß das nationale Gefühl als positiver Kern seines Wesens
nach jugendlicher Verstiegenheit Grabbes Stellungnahme zu
diesen beiden dichterischen Heroen aufs nachhaltigste be-
stimmt hat Für seine künftigen Schöpfungen will er
nicht als Nachahmer Shakespeares angesehn werden. Zu-
letzt läutert sich wieder ein guter Gedanke heraus: gesunde
Volkstümlichkeit sei das Ziel der neuen Tragödie.
In „Scherz, Satire" ist die Sehnsucht nach einem neuen
Messias ausgesprochen. Was er bringen soll, steht ge-
schrieben am Schluß der Shakespearomanie: „das deutsche
Volk will möglichste Einfachheit und Klarheit in Form und
Handlung, es will ungestörte Begeisterung,- treue und tiefe
Empfindung, ein nationales historisches Schauspiel — es will
eine kräftige Sprache und guten Versbau". Damit kündigt
Grabbe das Nationaldrama an, das er den Deutschen geben
will: seine „Hohenstaufen". „Diese wilden Kaiserstirnen*
sollen das Größte seines Lebens werden.
— 207 -
Die Hohenstaufen
Nachfolger Schillers im geschichtlichen Drama zu werden
in einer Form, die an Shakespeare zwar erinnert, aber nicht
Shakespeares Eigentum ist, eine Kombination von Schillers
nationaler gefühlsbetonter Rhetorik und Shakespeareschem
Realismus zu schaffen, dieses Programm zu verwirklichen be-
ginnt Orabbe in den „Hohenstaufen". Seit dem Tegernseer ludus
haben die Hohenstaufen die dichterische Phantasie gereizt.
Schiller erschien der Konflikt zwischen Heinrich dem Löwen
und Barbarossa voll dramatischer Spannung und die er-
ergreifende Tragik des Knaben Konradin rührte seinen Dichter-
genius wie viele andere nach ihm.
Es liegt ein tieferer Zusammenhang zugrunde und ver-
schiedene Einflüsse strömen zusammen, wenn die Geschichte
in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehr wurde
als ein Magazin für dramatische Motive. Schiller schreitet,
die Flamme deutschen Nationalgefühls entfachend, voran.
Die Romantik weckte frische Empfänglichkeit für deutsche Art
und deutsches Wesen und ließ den Quellborn der Volks-
lieder wiederaufsprudeln. Von märchenhaftem Glanz um-
woben, halb sagenhafte Gebilde, wandeln die Gestalten der
Vorzeit dahin — so berührt uns der große Schatten der
Hohenstaufen in Arnims Kronenwächtern. Traum und Sehn-
sucht schien Erfüllung und Wirklichkeit zu werden in dem
Völkerfrühling von 1813. Die auf das Wirkliche gerichtete
historische Forschung, wie auch die Freude an den Gestalten
und Ereignissen der Geschichte gab der dichterischen Tätig-
keit eine neue Richtung von dem Poetisch-Gedachten auf das
Wirklich-Geschehene. „Man war der Geister und der Ahnun-
gen müde und suchte den Idealismus in den großen Zusammen-
hängen der Geschichte."
Eine wichtige Wirkung auch auf die Geschichte des
Dramas übte Fr. v. Raumers Geschichte der Hohen-
staufen 1824. Auf seiner Bahn schritten Fouqut, Immer-
mann, Uechtritz, Eichendorf, Platen, Raupach, Heyden, Nien-
- 208 —
stedt u. a. Goethe war allerdings ganz anderer Ansicht als
L. Tieck, den nächst der alten Geschichte keine so tief durch-
drang und erschüttert als die der Hohenstaufen. Immer-
mann deutet die Schwierigkeiten, die sich dem Hohenstaufen-
dichter, wenn nicht dem Historiendramatiker überhaupt
bieten, richtig an: die Hohenstaufen schweben in einer un-
glücklichen Mitte zwischen Sage und Geschichte, die Motive
seien nicht allgemeinverständlich und ewig haltbar. Man muß
aber sagen, daß gerade deshalb der Stoff die Romantiker, die
sich so schnell doch nicht von den alten Voraussetzungen
lösen konnten, reizte. Hinzu kommt dann noch das nationale
Pathos. Denn war Barbarossa nicht immer populär — er,
von dem die lieblichen Märchen auf dem Kyffhäuser raunen,
schlugen nicht aller Herzen auch damals der Wiederkehr
Barbarossas entgegen, und war der Gedanke an Deutschlands
Macht und Einigkeit nicht ein Vermächtnis jener Hohenstaufen-
zeit? Es handelt sich aber darum, wieweit der Stoff der Dra-
matisierung entgegenkommt, inwiefern zusammenfassende
dramatische Konflikte oder eine konzentrische Idee darin
aufzufinden ist. Auf zwei großen politischen Ideen beruhn
Staat und Kirche der Germanen: der Idee des Kaisertums
und der Idee des Papsttums. Als Nachkommen der alten
Cäsaren herrscht der Kaiser; andrerseits bindet ihn die Treu-
pflicht gegenüber dem himmlischen Herrn an den Papst.
Diese beiden Grundideen begegnen sich in gewaltigem Kon-
flikt. Daß die Hohenstaufen noch einmal allen Glanz des
deutschen Kaisertums prunkvoll und machtgebietend entfalten,
das umgibt sie mit der romantischen Glorie, die sie umstrahlt.
Daß aber auch der stärkste Wille das vom Papsttum drohende
Verhängnis nicht abwehren konnte, darin liegt die Tragik des
Hohenstaufengeschlechts. Aber es kommt darauf an, ob sich
diese Ereignisse in den regelrechten Bau eines einzigen
Dramas einfügen lassen, sofern das historische Drama etwas
anderes sein will als eine poetisch verzierte Chronik, sodann
auch darauf, ob der Vorwurf, sofern er nicht nur in einzelnen
— 209 -
Personen, sondern in ganzen Strömungen und Bevölkerungs-
schichten zur Erscheinung kommt, nicht mehr episch als dra-
matisch wirkt.
Ist die Gestalt Barbarossas geeignet zum Mittel-
punkt eines tragischen Spiels? Wohl kaum. Den beiden
Gegenmächten — dem Weifen und dem Papst — zeigt er sich
gewachsen, jedenfalls zerbrechen sie ihn nicht im Innersten
und die Substanz seines Wesens bleibt unberührt. Zum Schluß
bleibt ihm nur der Wunsch nach einem schöneren Tod. Tra-
gisch berührt Barbarossa nur als Olied des ganzen Herr-
scherhauses, das eine Reihe ganz ungewöhnlich herrlicher
Menschen hervorbrachte und dessen letzter Sproß den schimpf-
lichsten und durch den unerhörten Kontrast doppelt grau-
samen Tod fand. Nur in der gesammten Generation tritt
eine Generalidee hervor, etwa wie in Zolas Zyklus von den
Rougeon-Macquart. Oder aber man muß wie Raupach das Leben
jedes einzelnen Hohenstaufenkaisers in einzelne Episoden ein-
teilen. Aber auch Raupach hat die Stoffe der Wirklichkeit
nicht restlos verbrauchen können, Raupach, von Friedrich
Wilhelm IV. unterstützt, beherrschte mit seinen nicht talent-
losen, aber ganz ungenialen Stücken die deutsche Bühne. 18
Hohenstaufendramen nehmen sich noch bescheiden aus gegen
die ursprüngliche Absicht, dem deutschen Volke in 70—80
Dramen Geschichtsunterricht zu erteilen.
1824 erschien Raumers Werk über die Hohenstaufen* Aber
schon vorher waren einzelne Poeten an den Stoff herange-
treten z. B. Kruse mit seinem Ezelino oder Wilhelm! mit
seinem letzten Hohenstaufen. Buchner will 1826 mit seinem
Heinrich VI. — dessen Tancredszenen einige Verwandt-
schaft mit Grabbes Drama aufweisen mögen, — der „Asthenie
des Zeitalters mit Ingredienzien aus Ritterroman und Sturm
und Drang zu Hülfe kommen". 40 Jahre früher hatte
Schlenkert, ein Gesinnungsgenosse der Gramer und Vulpius,
roh und formlos buntabenteuerliche Stoffe aus der deutschen
Nieten, Chr. D. Orabbe. 14
— 210 —
Geschichte in dramatische Gestalt eingekleidet: so behandelte
er Heinrich IV. in 4 dicken Bänden voll unzähliger Szenen,
mit „groben Redensarten im Ton des Faustrechts bis zum
Ekel gefüllt". Auch Grabbe hat es an ungeschminktem Rea-
lismus nicht fehlen lassen; er wollte eine Zeit der Schwäche
durch das Bild einer kraftvollen Heldenzeit beleben.
Der Kritiker des Morgenblattes hat gerade mit einem ge-
wissen Schrecken von dem gigantischen Plan eines Jünglings ge-
hört, der die Hohenstaufen in 14 Tragödien behandeln wollte, als
Nienstädt hervortrat, der in einem Zyklus von 7 Dramen die
Schicksale der Hohenstaufen vergleicht mit der Laufbahn der
Sonne, die aufgeht, leuchtet, sich verfinstert und zuletzt im
Abendrot erlischt. Aber viel mehr als eine geschickte Mache
war nicht nachzurühmen, eine ursprüngliche Dichterkraft ward
nicht offenbar: Der kühle Verstand, die Reflexion haben dieses
Gebilde geschaffen und man merkt, daß es ein Protestant ge-
schrieben hat. Eine besondere Schwierigkeit lag aber eben
darin, die vergangene Zeit dem modernen Interesse näher zu
bringen. Und andrerseits wieder vermissen die Kritiker über-
all das tiefere Sichversenken in die Geschichte, Zeit- und
Lokalkolorit, jenen gewissen katholischen, religiösen, mittel-
alterlichen Duft. Bei Grabbe aber war zweifellos mehr
historisches Verständnis und urwüchsige Kraft als bei den
meisten andern Hohenstaufendichtern. — Eine romantische
Liebesepisode enthält die Hohenstauf engeschichte, den Bund
zwischen Agnes und Heinrich. Was Grabbe in satirisch-
pikanter Skizze festhält, das wird von Raupach in breitester
Ausmalung gestaltet und Spontini schreibt eine glänzend instru-
mentierte Musik dazu. — Friedrich II. ward von Immer-
mann gewählt: er war dem Freimütigen zu redselig und das
Morgenblatt fand die historische Bedeutung des Kaisers nicht
erschöpft. Wie Immermann hatte auch v. Heyden, wie
schon früher Caroline Pichler den Konflikt zwischen Fried-
rich und Heinrich behandelnd, das historische Interesse einem
Familienkonflikt nachgestellt in einem Drama, das voll
— 211 —
leidenschaftlichen Lebens immer noch eine packende Lektüre
bildet.
Das eigentümliche Verhältnis einer Dichtung zu einem
festen gegebenen Stoff bedingt eine besondere Art. Schon
Herder unterschied zwischen dem zeitlos antiken und dem
historischen Drama Shakespeares, in dem Ulrici die end-
gültigen Gesetze für das historische Drama wiedererkennen
will. Die Form der Shakespeareschen Historie ist nicht nur
aus bühnentechnischen Gründen allein zu erklären, sofern
sie sich von dessen übrigen Dramen doch wieder unter-
scheidet; es ergibt sich vielmehr ein besonderer Maßstab für
das historische Drama, das dem Epos und seinen Gesetzen
angenähert werden muß. Schiller hat freilich in Maria Stuart
und der Jungfrau von Orleans nach französischem Muster
einheitliche geschichtliche Dramen gebaut, wo er jedoch
mehr Wert auf das Zuständliche legt, im Wallenstein und in
den drei Handlungen des Teil zeigt sich schon eine Durch-
brechung der Form im Sinne des epischen Gesetzes. Grabbe
hatte, wie wir schon im „Marius und Sulla u zeigten, wesent-
lich nur Shakespeare zu danken und seinem eigenen histo-
rischen Gefühl. Er ergänzt die historische Tragödie Schillers
durch lebensvolle historische Details. Was anfangs mehr neben-
sächlich wirkt, wird später mehr und mehr zur Hauptsache.
Es schwebt Ihm, den man selbst des Chaos wunderlichen Sohn
nennen kann, Ahnliches vor, wie Hebbel in der kosmischen
Idee, wenn er eine Zeit der Krisis und des Obergangs sucht,
in der das Individuum seinen Untergang findet durch starres
Festhalten der alten Tradition oder durch kühne Revolution,
in der also der Konflikt zustandekommt durch den Zusammen-
prall großer historischer Mächte, die sich nicht nur in Per-
sonen verkörpern. Grabbe bildet eine heilsame Korrektur
zu der zeitlosen, gef ü hl s zerflossenen Jambenrhetorik der Nach-
ahmer Schillers. Er setzt die Linie von Shakespeares Historien
zu Götz fort und bildet eine wichtige Etappe in der Entwicklung,
die sich für das historische Drama am fruchtbarsten erweist.
14*
- 212 -
Hebbel knüpft an ihn an und dann wieder die Modernen z. B.
Hauptmann. Es ist interessant, bei einem modernen Kritiker
und Dichter festzustellen, wie weit der von Orabbe gepflegte
historische Realismus und Naturalismus siegreich ist vor der
mehr ideellen Auffassung, als deren wichtigste Repräsentanten
man Lessing und Schiller aussprechen mag. v. d. Pfordten
knüpft in seinem Buch »Das historische Drama" zwar
insofern an das zeitlose Drama an, als er zuerst einen
Konflikt oder eine Stimmung sucht, zu der er erst nach-
träglich den geschichtlichen Stoff findet. Weiter aber stellt
er es entschieden als das in Zukunft erstrebenswerte Ideal
hin, statt großer Worte und theatralischer Effekte immer
strengere Natürlichkeit, größere historische Wahrheit und
zeitliches Kolorit anzustreben. Nicht jeder Stoff ist brauch-
bar, die Charaktere müssen interessant und nicht unbedeutend
sein, aber die Wahrheitsforderung erheischt es, daß der Held
nicht übermäßig erhoben wird. Das Charakteristische ist dem-
nach wichtiger als die Idealisierung, und Laster und Felder
dürfen nicht bloß aus Schönfärberei oder anderen unkünst-
lerischen Tendenzen in der Darstellung vermieden werden.
Solchen Kritikern, die etwa Orabbe vorhalten, er habe eine
Form, die durch die Bühnenverhältnisse zur Zeit Shakespeares
geboten war, unberechtigt weitergebraucht, anstatt sich den
szenischen Verhältnissen der modernen Opernbühne anzu-
passen, ist mit v. d. Pfordten entgegenzuhalten, daß die Freude
am historischen Drama immer auf der altgermanischen Schau-
lust an allerlei Gepränge, an Haupt- und Staatsaktionen beruht,
und daß das historische Drama durch freiere Technik und
Unabhängigkeit von tragischen Wirkungen sich von dem
eigentlichen zeitlosen Drama entfernt und einer Mischform
angehört, die man als Zwischengattung von Drama und Epos
bezeichnen kann.
Diese eigentümlich schwierige Stellung des historischen
Dramas muß man sich vergegenwärtigen, um die ver-
schiedenen kritischen Forderungen gerecht abzuwägen.
— 213 —
Man verlangt ein treues Bild der alten Zeit und wünscht doch
wieder Annäherung an modernes Verständnis; dialogisierte
Geschichte gilt für undramatisch, aber die planvoll einheitlich
schaffende künstlerische Phantasie ist doch wieder gebunden an
einen bereits gruppierten Stoff. So wie allgemeinmenschlicher
Oehalt und zeitlich bedingte Form sich nie ganz decken,
werden sich beim historischen Dramas — fast eine contradictio
in adiecto; — die gegensätzlichen Ansichten nie in einer Ein-
heit auflösen lassen. Der Historiker, der Epiker und der
Dramatiker werden sich immer streitend gegenüberstehen!-
Vom November 1827 bis November 1830 verfolgt man in
den Briefen Orabbes die Spuren der allmählichen Entstehung
der ursprunglich auf acht Dramen angelegten Hohenstaufen-
dichtung. Maßlos schweift Orabbe wieder in seinen Vor-
sätzen und in seinem Wollen. Er will ein Nationalstück geben,
wie die Deutschen noch keins gehabt haben. Nicht nur, daß
er Raupachs Dramen als „Gepiepe" abtut, diesen selbst einen
Fabrikarbeiter nennt, neid er glaubt auch Göthes Götz und
seinen großen Lehrmeister Shakespeare hinter sich zu lassen.
Grabbe im Glück hätte es an neidischer Verfolgung seiner
Rivalen ebensowenig fehlen lassen, wie an übermäßiger Un-
dankbarkeit gegenüber großen Vorbildern. »Gegen Shake-
speares bestes historisches Stück gebe ich meinen Barbarossa
nicht her. a Das hätte der Dichter selbst nicht sagen sollen!
1829 wurde Barbarossa fertig, 1830 Heinrich VI., von dem
er schreibt: „sehr gut — äußerst pompös — künstlerisch kühl
— alle andern Gestalten zugleich umfassend." Kettembeil und
Immermann hatten eine weniger günstige Meinung. Fried-
rich II., Philipp von Schwaben und Konradin sollten dem-
nächst ebenfalls für die Bühne erobert werden.
Grabbe freute sich mit den Stürmern und Drängern an
den großen Kerlen, gleichzeitig aber sucht er mit der Liebe
dea geborenen Historikers die versunkene Umwelt wieder her-
aufzubeschwören. Wie diese beiden Grundtendenzen neben-
einanderlaufen, sich vereinen und gegenseitig beeinflussen, ist
— 214 -
ein wichtiges Problem für den Betrachter der Grabbeschen
Dramatik. Das heroische Drama ist zu unterscheiden von
dem historischen. Wie der Dichter beides vereint, sahen wir
in „Marius und Sulla". Den Dichter des Gothland und von
„Don Juan und Faust" wird der große Mann, der Heros
der Geschichte vor allem fesseln.
Raupach zerlegte seine Barbarossadichtung als
eine Trilogie nach den drei Gegenmächten der Lombarden,
des Papstes und der Weifen. Grabbes Drama setzt da ein,
wo Barbarossa im Glück ist — aber der Umschwung
steht dicht vor der Tür. Schwierig und gewaltsam genug
ging es her, den Knoten in den einleitenden Szenen zu schür-
zen. Von drei Seiten her ziehn drohende Wolken heran,
währenddem die Sonne noch am Himmel strahlt. Ein schimmern-
des Bild deutsoher Kaiserherrlichkeit entrollt uns der Dichter:
in pomphaftem Aufzug erscheint Barbarossa auf den ronca-
lischen Feldern inmitten einer glänzenden Schar. Mit einer
gewissen derben Kraft und Gestaltungsfreude sind Fürsten
und Würdenträger umrissen und bald scheidet sich aus dem
Kreise als schärfer individualisiert der Bischof von Mainz mit
urwüchsigem Mutterwitz. Diese Szene scheint uns wohl ge-
lungen, sie enthält den Keim des ganzen Dramas und zeigt
größere Sorgfalt im Aufbau und Verdichten, als sie Grabbe
sonst eigen ist. Der Knoten ist geschürzt, aber freilich haftet
unser Interesse doch hauptsächlich nur auf dem sich an-
bahnenden Konflikt mit dem Löwen, während die Lombarden
weniger unsere Teilnahme fesseln und auch der wichtigste
Gegenspieler, der Vertreter des Papsttums, nur kümmerlich
bedacht ist. Die großzügige Charakteristik des Kaisers beweist
Grabbes starkes Können, sie ist kraftvoll durchgeführt und
das war nötig. Denn in ganzen Strecken des Dramas be-
streitet diese Gestalt allein die Kosten des Interesses. Sicht-
lich hat sich Grabbe bemüht, nicht nur aus histori-
schen Zufälligkeiten, sondern aus Barbarossas innerem
Charakter sein Schicksal zu erklären. Grabbes große Männer
— 215 —
sind prachtvolle Bestien mit wilden Gebärden und elemen-
taren Leidenschaften; andererseits pflegen sie zu philo-
sophieren in überkühnen, metaphysischen Gedankenflügen
oder mit einem gewissen rabulistisch klügelnden Witz.
In Barbarossas ehrgeizigen Augen schimmert's grundlos in
romantischer unendlicher Sehnsucht, zugleich ist Leben
ihm Wille zur Macht. Das Machtsymbol der Krone, die ihm
durch freie Wahl angetragen ist, soll nicht leerer Zierrat und
Schmuck seines Hauptes sein. Aber diesen Machtdurst erfüllt
als positiver Inhalt der Glaube an eine welthistorische Mis-
sion: Italien will er der zukunftsvollen germanischen Rasse
erobern und die entarteten Söhne des Landes verdrängen. Er
rüttelt an dem Bollwerk des Vatikanistnus, der Lombardei,
denn er ist der berufene Schirmherr der geistigen Freiheit in
der Welt Doch auch Raumer hebt die alten Erinnerungen
und den großartigen Ehrgeiz des Kaisers als beseelende Mo-
tive nachdrücklich hervor. Aber Barbarossas Stolz wird bei
Grabbe zu — gelegentlich prahlerischem — Obermut, zur Wild-
heit und barbarisch berührt es, wenn er die lombardischen Ge-
sandten hinschlachten läßt, eine den Charakter des Kaisers
befleckende Gewaltsamkeit, die aber nötig ipt, um den fol-
genden Zusammenhang zu motivieren. Denn der Abfall des
Löwen wie die Schlacht von Legnano müssen in den Zu-
sammenhang verkettet werden. Urwüchsige Leidenschaft und
doch die Fähigkeit „indignationem mentis risu colorare"
rühmt eine alte Oberlieferung von Barbarossa; es ist ein
echter Grabbeismus, wenn er den wortreichen Bannspruch
des Kardinals beantwortet mit einem einzigen kargen Wört-
ehen: „So". — Nun aber keimt aus des Kaisers Schuld das
Unglück: zunächst erfolgt der Abfall des Löwen und dann
der Tag von Legnano. Raupach läßt den Kaiser in sentimen-
taler Betrachtung über das Schlachtfeld irren, Grabbe zeigt
den Kaiser in persönlicher Aktion auf dem Schlachtfeld und
hat die Kühnheit, die Schlacht darstellerisch zu vergegen-
wärtigen. Es gehört zu den Charaktermerkmalen der
- 216 -
Grabbeschen Helden, daß sie im Unglück nicht weich und
demütig werden dürfen, sondern ihre stolze Einheit aufrecht
erhalten, durch eine Gebärde des Trotzes, wiewohl es
zweifellos dramatischer ist, die Gegensätze nicht so ver-
kümmern zu lassen. Es ist merkwürdig, wie Grabbe hier
gleichzeitig einen Obergang gewinnt aus den rasehen, gewalt-
samen Äußerungen des innern Lebens seines planvollen und
doch impulsiven Helden. Gelingt es Barbarossa nicht, »Mai-
lands Pöbel durch einen Zornhauch hinwegzuhauchen", so
versteht er es doch, sich die üble Lage so umzuwerten, daß
er sich nicht dem verachteten Haufen, sondern allein einer
großen Persönlichkeit zu beugen braucht, dem Papst
Alexander. Man kann von einer Art Läuterung sprechen*
die der allzu übermütige Kaiser durch das Leid erfährt Aber
der dramatische Konflikt ist bereits im 3. Akt aufgelöst Im-
merhin ist hier mehr als eine poetisch verzierte Chronik und
mehr Plan, als sich oft in Shakespeares Historiendramen findet.
Der frühere Herr der Welt modifiziert seine Ansprüche und
würde froh sein, die Rolle des Schiedsrichters der Weltge- '
schichte zu übernehmen.
Die gehässige Tendenz gegen das Papsttum haftete fast
allen Hohenstaufendramen an. Das vermeidet Grabbe, wenn
er Kaiser und Papst in einer Unterredung zu Venedig zu-
sammenführt, aber wieder bringt ihn historische Objektivität
um eine dramatische Wirkung. Beide machen Weltgeschichte
und beide dürfen daher sich wohl überindividuell über die
letzten Ziele klar und ohne Heuchelei aussprechen. Der Papste
der allerdings nur in flüchtigem Umriß gestaltet ist, sieht die
Dinge in unerbittlicher Schärfe, der Kaiser mit seinem Idealis-
mus erscheint wahnbetört, und darin liegt die Tragik des
Hohenstaufen geschlossen angedeutet In dieser Romantik, die-
sem aus dunkeln Gemütstiefen auf steigenden edlen Wollen, unter-
scheidet sich Barbarossa am wesentlichsten von Heinrich VI.
Wie Grabbe versucht, ein instinktives Fühlen organisch
zusammenwachsen zu lassen mit einer Reflexion, wie sie
— 217 -
nachtraglich als Extrakt aus jener Zeit gewonnen werden
kann, zeigt sich nicht minder, da Friedrich vor der stär-
keren päpstlichen Macht weicht, als auch bei der
Oberwindung des Löwen, dem zweiten
Thema, das die andere Hälfte des Dramas ausfüllt.
Wenn Nietzsche sagt, daß Obermenschen unter einander
„erfinderisch sind in Zartsinn, Rücksicht, Treue, Selbst-
verleugnung" — so ist die Szene, in der Barbarossa den
Löwen zwingt, ein Exempel auf diese Wahrheit. Das
heroische Pathos des monumentalen historischen Begeb-
nisses wird zugleich erfällt von gewaltiger Gefühls-
erregung groß menschlichen Gehalts. Vernichten, zerstören,
wie Faust zerschmettert, was er in Liebe besitzen möchte, weil
es sich ihm versagt, kann Barbarossa seinen Feind, aber nicht
eigentlich hassen oder verachten, wie gewöhnliche Menschen-
weise ist, die dem Dichter des Qothland oder Don Juan und
Faust für die Zeichnung seiner Helden oder als Äuße-
rung seiner leidenschaftlich schroffen, von keinem mil-
dernden Gefühl überströmten Einseitigkeit nicht genügt. Im
Zweikampf streiten die beiden Gegner — bei jeder Wunde
fragt Barbarossa: schmerzt sie? Und da er den Löwen über-
wunden hat, umarmt er ihn in wilder, hingebender Zärtlich-
keit Großmütig läßt er den Gegner ziehn: „meine Gedanken,
meine Wehmut begleiten dich". Die in den ersten Szenen an-
gegebene Charakterveredlung wirkt hier günstig für den
Löwen, und so war es auch in Wirklichkeit Raumer sagt:
Heinrichs Demut und Friedrichs Wehmut waren durchaus
echt. Die hohe Politik aber wird bei diesen Gefühlsaus-
brüchen nicht vergessen. „Ich bin Herr der Welt" jubelt der
siegreiche Kaiser. —
Barbarossa ist der Sprosse einer wilden Zeit; aber auch
mit edlen menschlichen Zügen schmückt ihn der Dichter.
Hier beseelen ihn wohl Schillersehe Impulse; aber diese
scharfen, feinen Sentenzen sind nicht immer Blüten, die aus
dem Grunde einheitlicher Stimmung, wie sie etwa des
- 218 —
Persönlichkeit erzeugt, aufsprießen; sie sind oft nur lose aufge-
heftet. „Der Mensch ist einsam ohne Freundschaft und Liebe."
Und er, vor dem der Erdkreis bangt, beugt sich vor
der Anmut des Weibes: „wo hohe Zartheit ist, da ist auch
tiefer Geist." Wie aber Beatrice mit scheuer Bewunderung zu
Barbarossas wilder Kraft aufblickt, das ist wieder zu bizarr
dargestellt. Doch findet sie eine schöne Sentenz, die
sich einprägt. „Heldenliebe ist die Bifite des sturmbe-
wegten Baumes, weh die ihr Helden liebt, wir zittern ewig
und sie stürmen immer." Auf dem Mainzer Reichsfest, bei dem
die mosaikartige Fülle der Einzelzüge weniger zu einer
Einheit verschmilzt als bei dem Gegenstück im Welfenlager,
bricht Barbarossa die erste Lanze mit dem Nibelungensinger
Ofterdingen, dem sinnvoll ahnungstief en Seher, der nach Weise
des antiken Chors den Lauf der Ereignisse mit allgemeinen
Betrachtungen verfolgt. Der Kaiser dichtet selbst, wie denn
Grabbe in der Mainzer Reichsfestszene außer mancherlei
germanistischer Weisheit ein Provenzale von ihm anbringt.
Auch wahrhaft fromm wird der Kaiser geschildert, wie sehr
er, der tiefer sieht als seine Zeit und dessen Inneres von dem
Lärm äußerer Politik noch nicht ausgefüllt wird, auch die
Herrschsucht der Kirche bekämpft
Die beiden Gegenmächte haben Barbarossa nicht; ge-
brochen, vielmehr erscheint sein Leben reich und glücklich
und auch das Ende erstrahlt in dieser optimistisch-verklären-
den Beleuchtung. Die Schlußszene ist der Gipfel des Stückes:
der Kaiser blickt zurück auf sein tatenreiches Leben und
fühlt sich am Ziel. Deutschland geeint — der Vasall ge-
brochen — der Flecken Legnano abgewaschen — der Bund
zwischen Heinrich und Constanze eröffnet eine neue ver-
lockende Perspektive: „eng atmest du jetzt, Alexander, zwischen
Neapel und mir." So zieht er aus, den schönsten Tod zu fin-
den, ritterlich, romantisch: als Held auf dem Kreuzzug zu
sterben, das Schwert in der Hand, den Lorbeerkranz in
den Locken. — Der Fortschritt ist hervorzuheben, daß der
— 219 —
Formlose planvoller vorgeht, daß der wilde Stürmer erfolg-
reich nach Mäßigung in harmonischer .Veredelung strebt.
Kolossaler wirkt Heinrich VI., dem die Oberliefe-
rung nachrühmt, daß er Deutschland herrlich machte vor
allen Völkern. Barbarossa ist besser gebaut und in den Er-
eignissen liegt noch Spannung. Bei Heinrich VI. wirken die
historischen Tatsachen viel episodenhafter, aber in der Zeich-
nung dieses Lebens begegnen wir der typischen Tragik des
Obermenschen. „Aller Dinge Furchtbarstes ist der Mensch"
dürfte unsre Empfindung sein gegenüber diesem Kaiser, der
Sulla, Gothland, Faust übertrumpfen soll. Von ihm gilt das
Urteil Hohcnzollerns:
„Er ist vielleicht der Hohenstaufen Größter,
Er hat den Geist, den Stolz, des Strebens Lust
Doch ach, ihm fehlt des Vaters mildere Brust."
Sein Vater hat eine Sehnsucht zum Großen und Ungeheu-
ren in seiner Brust geschürt und Hohenstaufenerziehung liegt
in den Worten beschlossen:
„Sohn, sei du stolz, wie nur ein Gott es sein kann,
Allein dann streb auch unverdrossen, daß
Dein Wort dem Stolze gleich sei, und du wirst
Titanengroß.*
Diese moralische Einschränkung, die mit Schillers Max
Piccolomini an das Edle in der Freiheit glaubt, hat Heinrich
gering geachtet und er ist nur dem Gebot der Größe unbe-
dingt gefolgt Er hat seine Geliebte aufgegeben: „dem großen
Zwecke muß das Herzchen weichen". Schon im ersten Stücke
fiel er uns auf: wie er dem Löwen aufreizt durch seinen
Spott, wie er das Erbleichen Montferrats jämmerlich findet,
wie er den Pöbel verachtet und den Papst höhnt, der für ihn
nur ein herrschsüchtiger Priester ist Der grollende Zu-
schauer hat sein Herz bereits innerlich verhärtet, ehe er zum
Selbsthandeln berufen ist Wieder häuft sich herbeste pessi-
mistische Weisheit bei einem frühreifen Jüngling. Wir hören
wieder Lehren, die aus Berdoas Religion der Hölle zu kommen
f
— 220 —
scheinen und deren philosophische Grundlagen wir in Don
Juan und Faust fanden. Falsch ist der Hochsiim, alle Mittel
sind erlaubt, Gewissen ist Feigheit, Schonung und Rücksicht
ist Torheit und Schwäche.
Gar bald soll dieser Mann, der von solchen Herrscher-
grundsätzen erfüllt ist, seinen ehernen, fast unmenschlichen
Charakter beweisen. Langsam, in düstres Schwarz gehüllt,
naht sich die Barke, die die Leiche Barbarossas birgt, der
Küste Italiens. Da überwältigt ihn der Schmerz nur einen
Moment und gibt sich kund in einem Händezucken und
Niederstürzen gleich dem Blitz. Das Leben ist dem eiskalten
Machtmensohen wie dem Gothland keine Träne wert.
Shakespeareschen Geist atmet die große Reichstagsszene
zu Hagenau, in der die Launen des Kaisers alle technischen
Mittel überflüssig machen und die Hebel und Sprungfedern
der Handlung in der innerlichen Entwicklung dieses unbe-
rechenbaren Charakters, dem gegenüber die äußern Gescheh-
nisse nicht viel zu bedeuten haben, zu suchen sind. Der
Kaiser lernt, beobachtet; er herrscht mit Kraft und berech-
nender Schlauheit nach dem Grundsatz: divide et impera* Er
hört zu und entscheidet kurz und unwiderruflich, er spielt
mit den Parteien und erreicht schließlich was er will. Immer
lugt es wie Raubtierkrallen hervor. Zuweilen kommt noch
ein Anflug von Bonhommie und Schelmerei zum Ausdrucke.
Prophezeiungen sind ein billiges Mittel, aber wenn zuletzt
Heinrich in glänzender Rhetorik die Kaiserwürde um Deutsch*
lands Macht und Ehre willen erblich machen will, so glauben
wir die Sehnsucht eines preußischen Patrioten jener Tage
nach der Einheit in mächtiger Schillerscher Beredsamkeit zu
vernehmen. Übrigens ist alles Politik, Politik auch die
Aussöhnung mit dem Löwen — viel mehr noch wie bei Bar-
barossa. Mitleidig belächelt er den Kinderglauben, der aus
den verwirrten Sinnen des fiebernden Recken zu ihm spricht,
und die maßgebende Empfindung ist diese: der Löwe tot —
frei kann ich nach Neapel.
— 221 —
Gewaltig hält Heinrich die Herrschaft in Händen und da
der Erdkreis zu seinen Füßen liegt, will er den Himmel
stürmen. Er ist so recht ein Beweis für die Wahrheit des
Schlosserschen Wortes: „Größe des Geistes und der Taten
und moralische Verdorbenheit sind bei Menschen leider stets
unzertrennlich". Ein gigantisches Wollen — ungeheure Laster.
Grausam und rücksichtslos, um den Papst zu gewinnen, opfert
er die stets kaisertreue Stadt Tusculum. Er glaubt an keine
Ideale, er kennt die Welt, scharf und schonungslos sind seine
Urteile. Gelehrte und Priester sind arme Leute, die vielerlei
sprechen und nur wenig tun. Der Papst ist nur groß, weil
man ihn zu oft einer Antwort gewürdigt hat Die Mönche
und Juden haben den Wert, daß man im Notfall Geld bei
ihnen holen kann. Religion und Sittlichkeit, heilige Binder
kennt er nicht Sparsam und karg ist er mit menschlichen
Zügen ausgestattet. Im Lager zu Rocca d'Arce fühlt er sich
wohl im Kreise seiner treuen Helden: »die ganze Welt ist
mir soviel nicht wert, als der Freunde Treue zu belohnen." Und
sein ganzes Herz hat er dem Sohne geschenkt: „mehr wert
ist's mir, als wäre ich ein Gott." Wie sein Imperium auf
vier Augen gestellt ist und wie er aus höchster Höhe den jähen
Fall tut, worauf die ganze Größe in Nichts zerrinnt, das
ist mit bewußter Absichtlichkeit stark herausgearbeitet, —
weil es nichts ist als ein Pendant zu der Napoleon-Tragödie.
Freilich wohnt Heinrich im Lande des Verrates, über
Blut und Leichen führt der Weg zur Macht Und so ist er
geworden, wie ihn der Dichter im letzten Akt schildert: eine
echte Tyrannenseele, die in grellen gemeinen Zügen ge-
zeichnet wird. Aber die historische Wahrheit, wie sie allzu
patriotische Kritiker gern verwischen möchten, wird keines-
wegs überboten. Wilde Rachsucht triumphiert wieder in aus-
gesuchten Zynismen über die Feinde. Mit den Äußern
Gegenmächten wird der Kaiser bald, nur zu bald fertig.
Aber gibt es für ihn gar keine innere? Die edle Gemah-
lin weist ihn auf den himmlischen Frieden zur Weihnachts-
- 222 -
zeit, auf den Heiland. Aber Heinrich findet sich aus dem
Wirrsal des Daseinejammers nicht zu einem versöhnlichen
Ausblick. „Gott kann verzeihn, wir bedürfen der Spione, der
Henker, um uns zu schützen." Das Christentum ist nichts für
ihn. Der Obermensch kämpft den harten Kampf ums Dasein,
wo Macht vor Recht gilt.
Grabbe schildert die Tragödie des rastlosen
Ehrgeizes. Heinrich ist innerlich erstarrt, er hat der
Größe das Glück geopfert. Er steht fast außerhalb des
menschlichen Gefüges. Der Kaiser fühlt etwas von der inne-
ren Tragik seiner Seele: nur in den Tälern wohnt das Glück,
aber ihn ruft das Schicksal empor zu den Gipfeln — in die
Vereisung. Das Glück erlosch in ihm, weil nur ungeheure
Dinge sein gigantisches Wollen sättigen können. Die Uner-
sättlichkeit seiner Herrschgier peinigt ihn wie mit körper-
lichem Schmerz. Hoch auf den Aetna stellt ihn der Dichter.
Es ist ein großer, fortreißender Schwung trotz aller Bizar-
rerien und Wunderlichkeiten darin, die man allzu kleinlich auf-
gemutzt hat, die Phantasie schweift in wahnsinnigem Rausch,
die Szenerie wirkt hochsymbolisch. Der Orient öffnet seine
Pforten und was da schimmert in der Ferne, das sind die
bläulichen Küsten von Afrika — ein neuer Erdteil. Alles
muß sein werden — da trifft ihn der Schlag. Wir haben eine
starke Empfindung davon: Heinrich ist an dem Punkt, wo
die Erde den Menschen entläßt und er den Sternen verfällt.
Ober die Häupter der Kühnsten schreitet das Schicksal mit
ehernem mächtigem Gang. Den himmelstürmettden Prame-
thiden fällt der rächende Blitz aus zürnenden Wolken. Auf
dunklem Hintergrund leuchten Schlaglichter nach drei Gegen-
den: christliches Ideal — antikes Schicksal — Promethidenlos.
Neben diesen beiden Gestalten steht das glänzende, schöne,
aus der Fülle dichterischer Kraft gewachsene Charakterbild
Heinrichs des Löwen, des gewaltigen Antipoden der
Hohenstaufen. Er mußte dem Niedersachsen Grabbe beson-
ders teuer sein, und ist er uns nicht auch eigentlich verstand-
— 223 -
lieber: er, der Urgermane, der echte Deutsche, der Erreich-
bares wollte und Dauerndes schuf, während doch die Hohen-
staufen sich einem romantischen Wahne geopfert haben?
Heinrichs Persönlichkeit ist getragen von einem starken
Realismus, den aber ein ideales, gemütvolles Element erwärmt,
während in Barbarossa dem Romantiker zuviel Reflexion sich
weniger gut dem kräftigen Grundtypus assimiliert. Wie sich
Romantik und Wirklichkeit begegnen, ist ja das Problem.
Und wie die verstiegene Problematik der Jugenddramen noch
in den Kaisergestalten nachwirkt, so kündigt sich in dem
Löwen der Anfang einer neuen Darstellungsart an, wie sie
am Schluß des Shakespearomanie präzisiert war. Wie wur-
zelt Heinrich der Löwe in den Herzen seiner Landeskinder,
der riesenhaften Sachsensöhne! Wie ist Orabbe hier die
innige Verbindung von Volk und Fürst gelungen! Heinrichs
Miene kann ein Volk entzücken und entsetzen. „Wenn er
lächelt, ist's als bräche die Sonne aus den Wolken, warm
wird es jedem ums Herz und in der Brust quellen Lust und
Freude auf. Aber wenn er zürnt, ist das Gesicht schwarz,
durchwölkt von geschwollenen Adern — die Augen funkelnd
und lechzend wie der isländische Hekla — das Schwert wild
in der Luft, daß sie erklang- a Orabbe kann hier, wo sein
Herz beteiligt ist, wo Schillers feuriger Idealismus und sein
berauschendes Pathos ihren Zauber nicht verloren haben, noch
nicht wie im Hannibal zu einer rein realistischen Charakter-
zeichnung sich entschließen, wie denn etwa Raupach uns nur
einen eigensinnigen, herrschsüchtigen westfälischen Bauern
hinstellt.
Orabbe hat sich große Mühe gegeben den Verrat
des Löwen zu begründen und zu erklären. Er geht hierin
sehr weit Warum fiel der Löwe ab? Er war beleidigt, er
hatte selbstsüchtige Pläne — aber mit voller Entschiedenheit
ist auch das Historisch-Notwendige hervorzuheben: „so hoch
standen die Weifen, daß sie den Hohenstauf en fast das Oleich-
gewicht hielten, aus der Gleichheit der Kräfte entspringt der
— 224 -
Wunsch der Herrschaft, er wollte im Gefühle großer Macht
ein eigentümliches unabhängiges Leben führen und seine
Bahnen sich selbst vorzeichnen." So Raumer. Aber auch
bei der Orabbeschen Charakteristik des Löwen erscheinen die
idealistischen Schillerschen und die realistischen Shakespeare-
schen Impulse nicht ausgeglichen. „Leu und Kaiser sind zu
stark, als daß sie ewig sich vertrügen". Sodann aber hat Bar-
barossa durch unüberlegte Gewalttat den Löwen gereizt und
der Prinz hat ihn beschimpft. So wird der Kaiser schuldig
gemacht und der Löwe entlastet. Aber weiterhin hat denn
doch wieder das objektiv ausgleichende Interesse des Histori-
kers die dramatische Zuspitzung verhindert. Orabbe schildert
— historisch unmöglich — , wie der Löwe mit seinem ganzen
Heer südlich der Alpen steht; in Wahrheit suchte der Kaiser
den Löwen allein in Chiavenna oder Partenkirchen auf.
Das hat seinen Zweck: so wird der ganze Konflikt zwischen
Freundschaft und Herrschsucht wenigstens einigermaßen in
seiner Entwicklung gezeigt. Gerade jetzt, wo die Mög-
lichkeit so nahe gerückt ist, daß wieder deutsches Blut Meßt,
gerade jetzt erfolgt der Bruch. Denn in Deutschland liegt
Deutschlands Kraft. Und was Heinrich weiter dazu getrieben*
das ist das instinktive Fühlen der Völker, das natürliche
Empfinden der Sachsenfürsten, die lieber um ihr eigenes Land
kämpfen wollen, anstatt ihre Völker auf die italienische
Schlachtbank zu führen. Wir folgen dem Sachsenherzog in
sein Land. Voller Heimatspoesie, voll von dem kraftvollen
Duft der Erdscholle ist die Schilderung der Weserschlacht.
Der Harz wird lebendig mit seinen Geiern und Felsen, rot
liegt er im Licht der Fichten, über deren Scheitel Gewitter
dräun. Der an dem Kaiser geübte Verrat rächt sich an ihm:
es herbstet, aber er steht unverwüstlich wie der Harz und
seine Leute glauben an ihn. Nach dem lebensvollen figuren-
reichen Schlachtgemälde schildert der Dichter den verlassenen
Helden im Unglück. Hier offenbart sich neben der rauhen
Stärke das deutsche Gemüt in seiner unbegrenzten Fülle und
— 225 -
unerschöpflichen Tiefe. Der Landesflüchtige steht einsam
am Meer, aber er hat einen Trost: ich ward doch sehr ge-
liebt; der treue Landolf liegt tot zu seinen Füßen: Herzogs-
arme mein Grab. Mathilde besänftigt ihn, der schon wieder
in Phantasien künftiger Größe schwelgt; das Auge voll von
machtigen Flotten und weißen Segeln. Auch der Löwe wird
nun immer mehr ein fiebernder Phantast. Eine schöne und
ergreifende Episode ist es, wie sich Volk und Fürst
wieder finden. Sehnsüchtig erwartet ihn das Volk, wie den
von Elba wiederkehrenden Napoleon: der Herzog fehlt I Der
alte weißhaarige Löwe gleicht dem Rächer Marius und an*
dererseits wird er wieder zum Philosophen, der Sentenzen
prägt, die Grabbe wieder über den Lebensrätseln brütend
zeigen. Noch einmal bricht die Wildheit des Löwen heraus,
als er sich an den Krämern von Bardewiek rächt. Jahrmarkt
ist's und der Löwe will als der billigste Verkäufer erschei-
nen. Sie sollen sie fühlen — vestigia leonis, sein regendurch-
näßtes Volk soll sich wärmen an dem Feuer von Bardewiek,
und ihm selbst bekommt der Rausch seines Zornes wohl, die
Flammen wärmen sein altes Blut. Ganz Marius. Aber der
Dichter strebt danach, des Löwen Laufbahn würdig abzu-
schließen. Friedvoll klingt der alte Zwist zwischen Weif und
Waibling aus. Die letzte Weisheit des sterbenden Löwen ist
ein resignierter Pessimismus. Der wilde Zynismus klingt
diesmal in gedämpfteren Akkorden aas. Während das große
Leben versiecht, entwirren sich ganz anders wie bei dem kal-
ten Machtmenschen Heinrich die letzten Rätsel in religiöse
Wahrheiten: wie auch der Mensch drauflos stürmt, nie er-
reicht er sein Ziel, führt Gott es ihm nicht zu. „Auf Erden
ist Streit und Weh selbst unter Freunden — Ruhe ist nur im
Grabe — Wie hold ist doch das Grab!"
Man hat Grabbes Weitschweifigkeit und undramatische
Formlosigkeit auch hier noch, wo er sich entschieden
mäßigt, getadelt. Andererseits wieder erkennt das Morgen-
blatt an, daß er mit kraftvoller Hand den historischen Wald
Nieten» Chr. D. Grabbe. 15
— 226 —
gelichtet und die Fülle der Gestalten und Begebenheiten be-
wältigt, alle historischen Lichtpunkte auf einen Focus gebracht
habe. Einen rechten Begriff davon, wie Orabbe den Stoff
zusammendrängt, erhält man, wenn man etwa Raupachs
Stücke mit den Dramen Orabbes zusammenstellt Die Kriege
mit Mailand sind das Thema des ersten Raupachschen Dra-
mas — Orabbe verwendet darauf eine Szene. Raupachs zwei-
tes Stück führt uns über Legnano nach Venedig, es enthält
die Verhandlungen mit dem Papst — wir erleben dasselbe bei
Qrabbe in zwei Szenen. Hier wird zweifellos das Interesse
zusehr zersplittert; wir werden beunruhigt und vermögen
nicht mit nötiger Sammlung zu folgen. Andererseits aber
schildert Orabbe die Abrechnung mit den Weifen, für die Rau-
pach ein fünfaktiges Stück benötigt, in drei ungleich gewalti-
geren eindrucksvollen Auftritten. Die Schlußszene des Bar-
barossa drängt zusammen, was Raupach in 4 Akten erzählt.
— Noch mehr treten bei Heinrich VI. auseinander Geschichte
Raupach und Orabbe. Der 2., 3. und 5. Akt entsprechen je
einem ganzen Raupachschen Trauerspiel. Trotzdem sind bei
Qrabbe breit ausgesponnene Episoden: Richard Löwenherz,
die Landung des Löwen und die Zerstörung von Bardewiek t
endlich die Kämpfe um Rocca d'Arce. Raupach hält sich
auf das engste an die Geschichte, es läßt sich seitenweise ver-
folgen, wie Raumer von dem erfolgreichsten Hohenstaufen-
dramatiker geradezu ausgeschrieben ist — man vergleiche den
1. Akt des zweiten Teiles mit Raumer 210—216 oder den 2.
Akt mit Raumer 214 f., und man sieht Orabbes Überlegenheit.
Er hatte es damals noch nicht nötig, wie später an dem
Gängelband Clostermeiers seine Hermannsschlacht aufzubauen.
Wie weit hat sich das Drama der Geschichte an-
zuschließen, sich ihr zu unterwerfen? Es hat Kritiker gegeben,
die aus Shakespeares historischen Dramen mehr Geschichte
haben lernen wollen, als aus den Werken der Wissenschaft.
Lessing fand in der Poetik des Aristoteles für diese Frage
— 227 -
keine Richtlinien — denn Aristoteles kannte die historische
Tragödie nicht. In der Hamburgischen Dramaturgie herrscht
der Geist der Aufklärung: die Historie ist nur ein Repertoir
von Namen, die Fakta sind zufällig, der geschichtliche Hinter-
grund ist nichts, aber die Charaktere sind notwendig. In der
Hauptsache aber läuft es darauf heraus, den Vernunftkern zur
Darstellung zu bringen. Theoretisch haben sich Schiller und
Goethe aber ihre Abhängigkeit von der Geschichte freier aus-
gesprochen als man nach ihren Dramen annehmen sollte.
Schiller erwies sich als der Idealist, Goethe mehr als der
Realist Unbedingten Respekt vor der Geschichte dagegen for-
derten Tieck und Raumer, anfangs auch Immermann, bis bei
Ausübung der dichterischen Tätigkeit die Phantasie ihre Rechte
geltend machte. Die damaligen Kritiker vermissen gerade bei
den Hohenstaufendramen das Eingehn in den mittelalterlichen
Geist und sie tadeln das Vorherrschen modern-protestantischer
Tendenzen. Grabbe hat auch an eine einfache Wiederholung der
Geschichte nicht gedacht: „Der Dichter ist kein Historiker.
Die Weltgeschichte liefert nur das Material seiner Produktion
und sein Geist setzt hinzu, was ihm zur Vollendung seines
Werkes notwendig dünkt. Ein nach fremden Maßstäben rich-
tender Kunstrichter ist ein verdorbener Tischlergesell." Aber
Grabbes Größe beruht doch auf dem angebornen historischen
Sinn. Marius und Sulla war ganz aus den Quellen getränkt
Grabbe springt zwar auch mit den historischen Daten immer
freier um — man vergleiche die Hohenstaufen und Hannibal
— aber sie besitzen bei ihm doch eine ganz andere Bedeutung
als in Leasings Theorie!
Raumer ist auch für Grabbe die Hauptquelle. Sehr frei
aber hat er die geschichtlichen Umstände verwandt Er hat
nicht nur verschiedene Ereignisse zusammengezogen, sondern
auch Jahre umgestellt — Im 1. Akt haben wir den Reichstag
zu Besan9on und den auf den roncalischen Feldern in freier
Kombination; dazu kommt allerlei Beiwerk, das auch wieder
aus verschiedenen historischen Details zusammengestellt ist.
15*
&
»j
— 228 —
Das Auftreten des Kardinals, der Fehdehandschuh des Kaisers
gehören nach Besauen, das Lokal sowie Christians Stellung
vor Ancona erinnert an den Reichstag zu Pavia (1174). An
Raumer schließt sich Grabbe an, wo der Papst als erster
Bischof, die freie Kaiserwahl (R. 80—113), die entarteten
Römer (44) in Rede stehn. Hadrian und Alezander werden
vertauscht. Frei erfundene Einzelheiten sind etwa das Fehlen
Zähringens und die Hinrichtung der Gesandten, wie die Für-
bitte des Löwen zur Motivierung des Abfalls. Das wird er-
möglicht durch die lose Technik, die nacheinander die einzel-
nen Geschehnisse zu einem bunten Mosaik zusammenfügt,
dadurch daß ähnliche Ereignisse sich wiederholen und
durch die sprunghafte Charakteristik der Helden, deren
despotisches Wesen immer voll Willkür ist. — Die Aussprache
zwischen dem Kaiser und dem Löwen findet bei Grabbe auf
einem selbstgewählten Ort statt, dagegen sind die Raumer
250 fiberlieferten historischen Worte fast genau benutzt wie
[ auch die Charakteristik von Mainz fibereinstimmt. Die Schlacht
1 bei Legnano war für Grabbe nicht so leicht unterzubringen.
Dennoch ist auch hier für Eingang und Schluß das Vorbild
Raumers 254 ff.) wiederzuerkennen. Die Zusammenkunft
zu Venedig fand 1177 statt (Raumer 255 ff.). Wie hier Kreuz-
zugsidee und Heiratsplan Heinrichs hinzugefügt werden, ohne
daß grobe Widersprüche auffallen, beweist wieder Grabbes
findige Kombinationstechnik und seine originelle Mischungs-
kunst Das Wiedersehn zwischen Beatrice und Barbarossa
verlegt Raupach ganz wie Raumer nach Pavia, Grabbe läßt
den Totgeglaubten auf Schwabens Auen wieder erscheinen,
weil der Sohauplatz jetzt Oberhaupt wechselt und weil die
Ökonomie des Dramas sowohl einen lyrischen Ruhepunkt wie
Obergang zu den deutschen Ereignissen fordert. Unhistorisch
ist weiter, daß die Achtung und Unterwerfung des Löwen, die
schon vorher in Gelnhausen erfolgte, auf das Mainzer Reichs-
fest verlegt wird. Raumer (292 f.) sagt: Leicht konnte der
Dichter der Nibelungen und Wolfram von Eschenbach zugegen
— 229 —
sein. Viel lyrischer ist die Szene bei Raupach, der Heinrich
als Sänger auftreten läßt, als die lebhaft bewegte Schilderung
bei Orabbe. Die folgenden Ereignisse fallen in Wahrheit frü-
her: die Weserschlacht (181 : 42) 1180. Die Schlußszene dringt
Ereignisse der Jahre 1185—89 zusammen.
Orabbe findet die Zeitpunkte heraus, wo die Geschichte
selbst theatralisch wird. Er bringt höchst prunkvolle Bühnen-
bilder: Umzüge, einen Reichstag, das Reichsfest, zwei große
Schlachten. Diese Tableaux, die besonders in der zweiten
Hälfte bei nachlassender dramatischer Spannung sich mehren,
erscheinen im ganzen als Selbstzweck, obwohl Orabbe nie
vergißt, die Fäden der Handlung fortzufuhren und immer
noch Raum findet, seine hauptsächlichsten Intentionen her-
vorzuheben und die Einheit eben festzuhalten. Er sucht
gerade, was sonst vom Dichter gemieden wird, weil das
historische Interesse an der Umwelt die Intentionen des Dra-
matikers in den Hintergrund drängt. Die dramatische Ent-
wicklung macht er allzu rapide, fast mit ein paar lakonischen
Schlagworten epigrammatisch ab; die historische Umwelt
nachzuschaffen, erscheint immer mehr als das Zukunftsvolle.
Aber er gibt doch mehr als bloß lebende Bilder epische Schil-
derungen, voll von glühendem Kolorit, mit breitem Pinsel-
strich hingeworfen, er geht auch auf psychologische Ver-
tiefung bei den Helden aus. Die Abbreviatur dieser Charakte-
ristik liegt in Sentenzen, die den Geist des Dramas aus-
sprechen.
Der Aufbau des Dramas ist folgender: im 1. Akt erscheinen
Barbarossas Gegenmächte, der Löwe und die Lombarden; der
2. Akt bringt den Abfall des Löwen und die Niederlage bei Lcg-
nano. Dann geht es wieder langsam aufwärts : Friedrich ver-
söhnt sich mit dem Papst (3. Akt) , feiert das Reichsfest <4. Akt)
und zwingt den Löwen (5. Akt) . Im 3. Akt wechselt nach einem
lyrischen Ruhepunkt der Schauplatz und wir können vier Haupt-
träger unterscheiden: den Kaiser — die Lombarden — den
Papst — den Löwen. Dazu kommen noch als Träger einer
- 230 -
Nebenhandlung der junge Heinrich und Montferrat. Eine Ein-
heit wird in das Ganze gebracht durch den Löwen, nur durch
ihn wird ein stärkeres Interesse erregt. Orabbe hat das selbst
also ausgedrückt: „der Zorn des Kaisers, der auf Roncaglias
Gefilden entsprungen, endet an der Nordmeerküste Deutsch-
lands."
Raupach teilt die siebenjährige Regierungszeit Hein-
richs VI. wieder ganz am Gärfgelband Raumers in zwei
Teile: der erste behandelt die Aussöhnung zwischen Stauten und
Weif, der zweite die Ereignisse in Sizilien. Grabbe gibt in einem
Drama mehr als Raupach und hat dabei Zeit zu Episoden,
die allerdings die Form noch mehr auseinanderreißen als im
Barbarossa. Bei Grabbe spielen der 2. und 3. Akt in Deutsch-
land, die übrigen in Italien. — Der 1. Akt exponiert ähnlich
wie im Barbarossa, wo auch die Gegenmächte klagend auttreten
und gleichzeitig eine Schilderung der italienischen Landschah
gegeben wird. Grabbe schaltet frei mit den historischen Um-
ständen. Heinrich konnte während der Abwesenheit seines
Vaters Deutschland nicht verlassen, und er empfing die Kunde
vom Tode seines Vaters 1190 in Thüringen; Tancred ward
1100 zu Palermo gekrönt. Ebenso wird in der 2. Szene, die
am Eingang eine effektvolle Erfindung enthält, die Geschichte
insofern korrigiert als Ereignisse, die allerdings nur um ein
Jahr differieren, zusammengedrängt werden: die Opferung
Tuskulums, die Treue Salernos, die Ankunft des Löwenherz
und die Landung des Löwen, die schon zu Lebzeiten Barba-
rossas erfolgte; der Sohn, den der Kaiser auf die Arme nimmt
— am versiegenden Strom die Quelle eines neuen Lebens —
wurde erst 1194 geboren. Wieder ist der Knoten sehr bald
geschürzt, aber die einzelnen Fäden des Gespinstes werden
nicht mit ruhiger Sorgfalt fortgewoben, brechen gewaltsam ab
oder es geht sprunghaft ruckweise vorwärts. Wie in Rau-
pachs Vorspiel wirkt historisch richtig der Aufstand der Wei-
fen entscheidend, diese Berührung mit Raupach erstreckt sich
auch auf II. 1. Die Szenen, die nun ganz vom Thema
- 231 —
abfahren, deren Held Löwenherz ist, folgen sehr genau dem
Bericht Raumer» (509 f): die Gefangennahme fiel 1192, die
Blondetezene, die Raumer gegen Funk festhielt — hier Ist
auch der Oretrysche Operntext zu vergleichen — 1193.
Ein Muster für Orabbes höchst gewagte, aber auch kraftvolle
Konzentration ist die Reichstagsszene von Hagenau (1193),
in der frühere und spätere Ereignisse aufs kühnste kombiniert
werden. Das historische Ereignis bildet die echt königlich
minnliche Verteidigung von Richard Löwenherz, die bei
Orabbe ebenso wie bei Raupach mit Recht aus der Quelle
schöpft (Raumer 562 — man vergleiche für die oft fast wört-
liche Herübernahme etwa die Weisung an Blondel). Die
erschreckende Habgier Heinrichs zu beleuchten, enthalt uns
Raupach auch den historischen Kronenraub in der Gruft zu
Palermo nicht vor. Von früheren Ereignissen werden
hereingezogen die Lütticher Bischofswahl, die 1192 zu
Worms erfolgte (Raumer 548 f. — Raupach), und die Ge-
fangennahme der Konstanze. Von spateren Ereignissen wer-
den zurückdatiert die Kreuzzugsidee und die Verhandlungen
über die Erblichkeit der Kaiserwürde (Raumer 582 ff. — Rau-
pach 44), die erst nach den italienischen Siegen 1135
fielen. Ereignisse, die im Verhältnis von Grund und Folge
stehn, die Raupach mit pedantischer Nachschreiberei in vier
Akten entwickelt, sind hier in eine Szene gebannt. Manche
Geschehnisse sind nur schwach betont und sie sind nur dazu
da, um eine Charaktereigentümlichkeit Heinrichs hervorzu-
locken, andre sind gewaltsam zusammengeschoben und ver-
bunden; das Grundprinzip, darauf alles bezogen ist, bildet
der Gegensatz zu den Weifen. Der Weife hat eben Heinrich
aufs schwerste gereizt durch die Zerstörung Bardewieks und
doch muß noch am Schluß der Szene eine Aussöhnung er-
folgen. Aber Tyrannen haben ihre Launen, und in tollkühnster
Bizarrerie verwendet Grabbe hier das Kapulet-Montecchi-
motiv von der Liebe der Staufin Agnes und des Weifen
Heinrich, die er sich mit dem Ruf begegnen läßt: hie Weif —
- 232 —
hie Waiblingen. Es ist ein echt Orabbescher pittoresker Ein-
fall, wenn er den Humor der Weltgeschichte darin sucht, daß
das Schicksal von Weif und Waiblingen, des ganzen Weltfrie-
dens durch eine pikante Situation, durch ein geflüstertes Wört-
chen gewendet wird. Immer wieder wird Orabbe des trocke-
nen Chronikenstils satt und läßt seinem tollsten Obermut die
Zügel schießen. Der 4. Akt, der in Neapel und Rocca d'Arce
spielt, bringt Ereignisse aus den Jahren 1191—1194 zusammen
(Raumer 546—566 ff.) . Der 5. Akt behandelt den Inhalt eines
ganzen Raupachs chen Stückes: die sicilianische Verschwörung;
Heinrichs Grausamkeit überbietet hier keineswegs die ge-
schichtliche Wahrheit, der Streit der Flotten vor Pisa und
Genua ist historisch (Raumer 571). Grabbe laßt die
letzte Szene Weihnachten spielen, wobei der historische Um-
stand nachwirkt, daß Friedrich Weihnachten 1194 geboren
wurde (Raumert 574 L). Bei Raupach entwickelt sich der
Konflikt zwischen Heinrich und Konstanze, wie in Buchners
Drama stirbt er im Augenblick der Ausfahrt an Gift In
Wahrheit starb Heinrich VI. durch einen Trunk Wassers auf
der Jagd (Raumer 592, 595).
Die Idee des Dramas liegt in den Szenen, wo sich der
Kaiser mit dem Papst oder dem Leuen begegnet. Der Papst
ist der große Staatsmann, der Kardinal der intrigante Pfaffe.
Dem Verhältnis zum Papst sucht Grabbe dadurch allgemeine-
ren Inhalt zu geben, daß er den Kaiser modernisierend
zum weltbeglückenden Träger der Gedankenfreiheit macht.
Aber das Thema ist zu flüchtig behandelt. Die zufällige
historische Situation erhält einen wärmeren Unterton durch
die allgemein menschlichen Freundschaftsgefühle zwischen Leu
und Kaiser. Das geschichtliche Fatum wartet unbarmherzig,
es wirkt sich aus in dem mächtigen Einzelwillen und über-
windet ihn doch wieder nach einem verborgenen Plan. Hein-
rich bildet am vollkommensten die isolierte starke Persönlich-
keit wieder. Hier geht die Verbindungslinie von Gothiand über
Sulla und Don Juan und Faust. Hier erreicht eine Grund-
- 233 -
teodenz ihren Kulminationspunkt. Für Grabbes dramatische
Kunst lag hier ein Thema probandum Kax' Igoztfv, während
die andern Dichter mehr gelegentlich und durch den
Stoff entzündet wurden. Wer am sinnfälligsten wiederzu-
geben, am plastischsten zu gestalten verstand, der mußte
den Preis greifen. Wir erlebten den Machtmenschen bei
Z. Werner; Immermanns Kaiser Friedrich bekennt
von sich: „ich bin den Wolken nahe gezeugt", oder: „der wahre
Kaiser stirbt nicht." Und welche Sprache führt Heinrich bei
H e y d e n : „nur einmal sich berauschen, würde man auch
drob zu Flammen". Hermann von Salza sagt von ihm
„die gütige Natur gewann nicht Zeit, des Herzens weichere
Seiten auszubilden" — und zum Schluß: »Niemand auf Erden
darf ein Gott sein — Weih' der Menschheit menschliches
Gefühl" — darauf Friedrich: „ich will". So wird auch für
Grabbe zu einer entscheidenden Wendung, die Einsicht,
daß Eigennutz und Größe nicht identisch sind, daß Kraft
nichts ist, wo sie nicht Glück schafft, daß Napoleon nicht
eigentlich groß war, sondern es erst wurde durch seine Zeit
als Vollstrecker der Revolution.
Es ist Kraft, Reichtum, und endlich Schönheit in
diesen Dramen. Sie tragen das Gepräge einer unruhigen Ener-
gie, einer wilden Großheit. Reichtum, Leichtigkeit der Produk-
tion, Keckheit der Erfindung zeigen den Dichter auf der Höhe.
Aber darum sind die Hohenstaufen doch noch nicht das eigen-
tümlichste von Grabbes dichterischen Erzeugnissen. Man wird
sie am besten als dramatische Biographien ansehen, deren
Form in der Mitte stecken geblieben ist auf dem Weg zu
etwas Neuem, Originellem, das ihm noch nicht klar genug vor
der Seele steht Das Werk ist nicht aus einem Guß, kein aus-
gesprochenes, selbständiges Milieudrama. Der Dichter schildert
die Umgebung, läßt die verschiedenen Strömungen hervor-
treten, aber sie erklären den Helden nicht gleichsam wie eine
Atmosphäre, die ihn umgibt. Eine organische Einheit zwischen
- 234 —
den Taten der Helden und dem Treiben der Massen ist nur bei
den Szenen des Löwen erreicht. — Neben prachtvoll geprägten
Bildern von zündender Schlagkraft, neben den funkelnden Ru-
binen und Feuerblumen einer prunkenden Rhetorik stoßen wir
auf leere Stellen, die deutlich Vorbilder kopieren, auf ver-
nachlässigte Satzbildung oder dunkle vage Bilder. Aber wenn
man mit Neumann, der die Fehler des Grabbeschen Werkes
sehr scharfsinnig aufgedeckt hat, tadelt, „es sei wie nach einer
Nacht voll wirrer Träume, das Ganze sei ohne Maß und
Harmonie, wild überspannt nachlässig", so läßt man doch
alles Positive aus und zeigt wenig Verständnis für die Natur-
kraft, die hier schöpferisch tätig ist, für die in kecken Im-
provisationen sich äußernde, übermütige künstlerische Laune.
Das Besondere, Eigenartige, Wunderliche suchen wir in
einzelnen Zügen festzuhalten. Bestimmte Urtypen sind immer
zu erkennen, die teilweise zur Mitgift des tragischen Dichters
gehören, die aber in ihrer Übertreibung sich psychologisch
aus der Natur eines Dekadenten erklären lassen, der sich
an dem Schicksal rächen will: die Grausamkeitswollust,
die Schadenfreude. Wieder treffen wir die Kanaille, die grin-
send das winselnde Opfer kitzelt, ehe sie mordet, — sei es
nun daß Landolf, bei dem wir übrigens dergleichen nicht
erwarten, den roten Doktor mit Mixturen nach Art der
bestialischen Streiche der Schillerschen Räuber kuriert, sei es
daß Ophamilla wimmert. Der Löwe will sich wärmen am
Feuer von Bardewiek, der Bischof zerschmettert dem jungen
Lombarden den Kopf mit den Worten: wie wird dein Bräut-
chen greinen. Dabei kommt wohl in den Opfern noch eine
bestialische Wildheit zum Vorschein und der Richter begleitet
die Handlung mit einem grausamen Scherz.
Die Bildersprache stellt das Ungeheure neben das Win-
zige, macht aus dem Elefanten eine Mücke. Ungeheure Um-
risse schrumpfen plötzlich zusammen, wie ein Epileptiker
nach seinen Rasereien zusammenbricht. Nach hyperbolischen
Flügen gelangt die Phantasie zu kleinen Gestalten nach Art
- 235 —
von grotesk geformten Tiergestalten — Beatrice vergleicht
sich mit einer Mücke. Bizarre Züge und Realismen erinnern
an Shakespeare und wieder an die Neuromantiker etwa der
Franzosen. So eigenartig die Sprache vielfach modelliert ist,
und wieviel individuelle Züge sie im einzelnen auch aufweist,
ein sprachschöpferisches Talent von durchgehend selbst-
sicherem persönlichen Rhythmus ist Orabbe nicht Charakte-
ristisch ist, wie er plötzlich den Ton wechseln kann. Schreitet
die Sprache in dem geregelten Gang eines kräftigen Chro-
nikenstils, so werden urplötzlich sonderbare Formen, moder-
ner Aufputz angebracht. Barbarisch rohe Auswüchse muten
an wie atavistische Rückfälle in die Oothlandsperiode.
Heinrich VI. kann sich vernehmen lassen: „Neapel lechzend
wie eine Zunge — Dummheit schleckt es nicht den Trank
und Fraß." Andre Stellen wirken ganz konventionell oder ent-
halten unverarbeitete Reflexion. Frau Beatricens Liebesklage
hebt sich zunächst wenig von einem Opernlibretto ab, daran
Orabbe ja auch bei den Blondelszenen sich anlehnt, — ein Bild
verrät dann aber wieder Grabbes Urheberschaft, „das nimmer-
satte Grab treibt hohnlachend auf geweinte Tränen die Blumen
hervor." Oft aber zuckt und schmettert es in der Sprache.
Die Wetterwolke, der blitzende Adler sind die Symbole. Die
Veit der Gestirne und Meteore sucht die bilderformende Phan-
tasie immer wieder auf. Gewisse Wendungen kehren wieder,
man denkt z. B. an Gothland und Marius, wenn die Milch-
straße mit einer grauen Locke verglichen wird, oder wenn
es heißt: du lebst, entschuldige dein Dasein. — Heinrich kühlt
seinen Fieberdurst mit Eis vom Aetna. Er vergleicht die Berge
mit kahlen Glatzen oder mit schwarzumblätterten Negerhäup-
tern. Man fühlt sich an den Gothlanddichter erinnert, be-
sonders auch da, wo ein absichtlicher Abfall aus dem Hohen
ins Niedrige stattfindet, wo er ein großes Bild mit einer Platt-
heit zusammenbringt: die Sonne wärmt die Füße, die Kaiser-
krone wird mit einer Sternschnuppe verglichen. Epigram-
matische Worte fallen auf, Lakonismen: etwa das „so" als
- 236 —
Antwort auf den Bannspruch. Es fehlt nicht an Anachro-
nismen: die Sachsen sprechen von Walhalla. Heinrich bringt
gar einen Trinkspruch auf Homer aus, dessen Verse über
Sicilien Orabbe in seiner Manier zugrunde gelegt hat Mo-
derne Vorbilder klingen an und allerlei Satire, z. B. auf
deutsche Kleinstaaterei wird hereingebracht.
Die realistischen Volksszenen bei Shakespeare und im
Götz waren vielfach nachgeahmt worden. Mehr Ooethisch
mutet der Humor in Eichendorfs Enzio an, mehr
Wirkung Shakespeares ist bei I m m e r m a n n u. a. zu ver-
spüren. Die Volksszenen gehören mit ihrem kecken Realismus,
ihrer derben Fälle und erquickenden Frische zu den erfreu-
lichsten und gesundesten Partien in Orabbes Dramen. Meyen
hält hier Raupach und Orabbe nebeneinander in folgendem
Urteil: „Nichts ist lächerlicher als Raupachs Volksszenen,
hier herrscht durchweg die ganz abstrakte Manier, daß das
Volk zu gleicher Zeit das ganz Entgegengesetzte will
und dadurch in seiner ganzen Nichtigkeit erscheine und
nebenbei komisch wirken soll. Wie anders hat Orabbe
die sich gegenüberstehenden Massen der Italiener und
Deutschen zu charakterisieren gewußt! Eine solche Individu-
alisierung ist oft mehr wert, als eine ganze Raupachsche Tra-
gödie." Das Grob- Animalische drängt sich vor: Schweine-
braten und Bier werden nach heimischer Beobachtung heran-
gezogen, um Charaktereigenschaften zu erklären. Der Schöpfer
der Leporellofigur hat hier manchen originellen Vergleich ge-
funden: die Italiener stehen in Parallele mit den Juden, der
Vesuv mit einem Topf voll heißen Wassers, der Kaiser mit
dem gestrengen Bärgermeister und sein Lächeln mit den Fun-
ken, die in einen Topf voll heißen Wassers fallen — skurrile
Einfälle, wie sie in der Kneiplaune kommen mochten.
Der Romantiker zeigt seine Vorliebe für das Pittoreske,
Grauenhaft-Groteske. Die Charakteristik neigt zur Karrika-
tur. Er sieht unter den Individuen mit Vorliebe Mißgeburten
und Krüppel. Andrerseits aber haben wir auch als den Gegen-
- 237 —
satz dazu durchaus edle Charaktere wie Tancred. Die An-
lehnung an die Romantik erscheint auch in den Requisiten,
die zur Schilderung des Volkstümlichen verwandt werden,
z. B. in dem schreienden Käuzlein, der wilden Jagd. Die
übernatürliche Welt dringt ins wirkliche Leben, der Schleier
der Zukunft lüftet sich. Aber viel Glück hat Orabbe nicht,
wenn er dämmernde Gefühlswelten heben will. Dazu ist
er zu klar und zu schroff. Das Erscheinen der weißen Dame
— Boieldieus Oper ging gerade mit großer Wirkung über die
Bretter — ist ziemlich sinnlos: über das Jenseits weiß sie
nichts Rechtes zu sagen und ihre Prophezeiung ist teils be-
kannt, teils verdirbt sie die Wirkung. Prophezeiungen post
eventum sind ein minderwertiges Mittel, aber Orabbe hat es
keineswegs verschmäht. Wie bei Caroline Pichler der
Kaiser von der Zukunft Habsburgs träumt, wenn Hohen-
staufen zerfällt, so erhofft Orabbe eine aktuelle Wirkung,
wenn er den Aufgang des Hohenzollernhauses vorhersagen
läßt.
Das Milieu reizte den Historiker, der in epischer Schil-
derung ein Zeitbild entwirft. Gerade diese Vermischung der
verschiedensten Kulturen, dieses Auftauchen neuer Welten und
das Absterben alternder Völker war für den Dichter schon
im Marius und Sulla verlockend, der von jeglicher Literatur-
gattang in seiner reichen Belesenheit Früchte abborgt Er
sucht den Reiz eines ebenso schönen wie verräterischen Landes,
wo die Schlangen hinter den Blumen lauern, zu versinnbild-
lichen, er kennt die neuaufblühende orientalische Poesie und
weckt sie mit ihrem fremdartigen Duft, ihren exotischen
Weisen. Am meisten Eigenes aber gibt er, wenn uns wieder
die Poesie der Sachsenerde und der heimatlichen Scholle wür-
zige Kraft umhaucht. Es ist eine von den großen Antithesen,
die an die in „Don Juan und Faust* 4 anklingt. Malerische
Wirkungen und Impressionen fließen Grabbe zu und aus ihnen
keimt oft eine ganze Szene.
— 238 -
Selten kommen mehr als zwei Parteien zu Wort. Am
meisten Monologe, die übrigens poetisch und formell mit die
am besten gearbeiteten Stücke sind, werden dem Löwen zu-
geteilt, der dreimal seinen Verrat rechtfertigt. Aber auch die
Kaiser lassen sich oft in ihren Gedankengängen durch keine
Einwürfe stören. Lieder sind eingestreut. Merkwürdig ist,
wie die verschiedenen kontrastierenden Gruppen zusammen-
geschoben und verbunden werden. Zweimal hat Grabbe die
S c h 1 a c h t für die Bühne zu gewinnen gesucht. Einmal die
Schlacht von Legnano: der Schauplatz wechselt und wir sind
einmal im Lager der Kaiserlichen, sodann bei den Lombarden
— die eigentliche Schlacht wickelt sich hinter der Szene ab;
wir sehn nacheinander verschiedene Truppen anrücken.
In der Weserschlacht haben wir zuerst das kaiserliche Heer
vor uns: ein kurzer Dialog — Kämpfe hinter der Szene — ein
Einzelkampf als Beispiel — verschiedene Truppenteile rücken
vor, wie in der ersten Schlachtschilderung. Wieder werden
wir dann in ein andres Lager versetzt: als beliebte Eröffnung
dient ein Dialog zwischen Landolf und dem Löwen. Während
nun das Heer hinter der Szene kämpft, haben wir nicht nur
persönliches Eingreifen der Führer wie in Marius und Sulla,
sondern als ein neues Kunstmittel und zwar mehrfach den
Zweikampf verwandt. Heinrich fällt nacheinander Österreich,
Polen und Böhmen, bis er in Barbarossa seinen Meister findet.
Diese Zweikämpfe erinnern mehr an Homer, als daß sie der
mittelalterlichen Historie entsprächen. Sie sind für den Drama-
tiker ein beliebtes und willkommenes Mittel als sichtbarster und
sinnfälligster Ausdruck der sich messenden feindlichen Kräfte,
und offenbar spielt die Rücksicht auf die Bühne hier eine
Rolle. — Merkwürdig ist der Wechsel von Poesie und Prosa.
Mehr System als in Barbarossa ist in Heinrich, aber die Konse-
quenz grenzt hier doch zuweilen ans Wunderliche. Die höhe-
ren Personen reden in Jamben, die niedern in Prosa — Löwen-
herz redet allein Verse, während alle übrigen Personen in
derselben Szene sich in Prosa ausdrücken. — Der deutsche
5
Hauptmann flacht Prosa, wahrend der Saracaie in Reimen
sich ergießt.
Die Szenen entwickeln sich gewöhnlich so, daß zu-
siehst zwei Personen sich unterhalten. Es tritt eine neue
hinzu und dann noch eine, das anfängliche Thema wird
in ein neues übergeführt und versiegt Gern wendet
der Dichter vorbereitende Charakteristik an. Ehe der
Kaiser auf dem Hagenauer Reichstag erscheint, wird er von
Thüringen und Mainz geschildert Vor der Ankunft des
Löwen reden zunächst Männer aus dem Volk von ihm, wo-
bei Christoph die Oberstimme hat, dann erscheinen die Her-
zoge Borgholt und Borvin, der Löwe tritt im Gespräch mit
seinem Sohn auf, Volk und Herzog kommen in Kontakt und die
Menge drückt ihre Empfindungen im Chor aus, der überhaupt
gern in Volksszenen angewendet wird.
Die Schwierigkeiten, die einer Aufführung der Hohen-
staufen entgegenstehen, haben sich keineswegs als unüberwind-
lich gezeigt Schwerin hat sich um die Aufführung beider
Dramen verdient gemacht Barbarossa, der auch ins Schwedische
übertragen worden ist, erlebte zu Stuttgart und nament-
lich auch in Berlin erfolgreiche Aufführungen. Heinrich VI.
ward in Mannheim und neuerdings auch in Leipzig
zur Darstellung gebracht Gadebusch schrieb damals
(August 1904) in den Leipziger Neuesten Nachrichten: „Allent-
halben empfindet man, daß Grabbe, und zwar ganz besonders
in der Charakterzeichnung, nach Wahrheit sucht und dieses
Streben ist es wohl vor allem gewesen, das ihn die Geschlossen-
heit der dramatischen Handlung vernachlässigen ließ. . . . Hat
sich der Vorhang gesenkt, so fühlt man sich eingelebt in Kaiser
Heinrichs Zeit und man hat den seltsamen Mann verstehen
gelernt . . . Der große Erfolg der Aufführung und der ein-
hellige Beifall zeigten am besten, daß die Bearbeitung (von
Karl Siegen) in den besten Händen gewesen war."
VII. Kapitel
Orabbes politische Ansichten — Napoleon —
Kosciuszko
„Außer eigennützigen Zwecken hat Napoleon schon als
Korse, ab Halbfranzose nie geahnt, wohin er eigentlich strebte.
— Er ist kleiner als die Revolution, und im Gründe ist er nur
das Fähnlein an deren Mäste — , nicht Er, die Revolution lebt
noch in Europa."
Orabbe an KettembeÜ. 14. VH. 1830.
„Übrigens ist auch das Drama nicht an die Bretter ge-
bunden, — der geniale Schauspieler wirkt durch etwas ganz
Anderes als der Dichter, und das rechte Theater des Dichters ist
doch — die Phantasie des Lesen."
Orabbe an Wolfgang Menzel. 15. L 1836.
Man hat Grabbes Hohenstaufen einen reckenhaften Protest
wider das faule Stilleben der Restauration genannt. Das Zeit-
alter der Restauration beginnt 1814 und schließt 1830. Mit
Wolf gang Menzel charakterisieren wir noch einmal kurz: Der
Friede belebte die Kunst nicht zu neuer Blüte, vielmehr er-
kennt man aus Roheit und Unselbständigkeit die Symptome
der Decadence, die urdeutsche Stimmung wird fiberschattet
von englischen und französischen Einflüssen, aber als wich-
tigste Errungenschaft darf doch gelten, daß ein höherer Ge-
meinsinn die Schranken eines engherzigen Spießbürgertums
durchbrach, und ein großer Stoff ward zugeführt durch die
Historie. Die Wirkung war eine doppelte: der Menschheit
hohe Gegenstände lösten den Sinn aus seiner Befangenheit in
Familieninteressen, und andererseits verflüchtigte sich schön-
— 241 —
geistige Phantasterei mit dem Gefühl für Erfahrung und Wirk-
lichkeit.
Orabbe hat die Zeichen seiner Zeit sicher richtig gedeutet.
Er hat die Hohenstaufen aufgegeben, als die Wirklichkeit wie-
der dramatisch wurde und damals die Romantik erst völlig
fiberwunden. Freilich fand er die Zeit mehr toll als groß,
die konstitutionellen Schranken imponieren ihm auch nicht,
er sehnte sich nach Krieg und nach Kraft. Heine schaute zu
Napoleon auf: jeder Zoll ein Gott Er sang anfangs 1830:
„O laßt mich nicht ersticken hier, in dieser engen Krämerwelt
— o daß ich große Laster sah', Verbrechen blutig kolossal,
nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral."
Von neuem wandte sich der Blick auf Frankreich, den
Herd der Freiheit: die Kapuzen verschwanden, der hoch-
fahrende Adel zog sich zurück, das Bürgertum bemächtigte
sich des Staates*. Seit 1824 regierte der frömmelnde Karl X.
in Frankreich, 1829 trat Fürst Polignac an die Spitze eines
gegen die Revolution gerichteten Ministeriums, im Mai wurde
die Kammer aufgelöst, aber auch die Neuwahlen brachten der
Regierung keine Mehrheit. Karl X. gab seine Ordonnanzen.
Sie übten eine merkwürdige Wirkung auf Orabbe aus:
selbigen Tages fuhr ihm die Oicht aus dem Gebein.
Dann kamen die Weltereignisse gleich „geschmolzenen
Oletschern". Karl X. ward gestürzt, und als ob sich
Orabbes Prophezeiung im Napoleon erfüllen sollte, Or-
leans ward König. Die Wellen der Revolution wirkten nach
außen. Belgien wurde frei. In den deutschen Kleinstaaten
regte sich der revolutionäre Oeist in Verfassungskämpfen; so
brach in Braunschweig eine Revolution aus. Der Auditeur
hatte alle Hände voll zu tun, als das Lippesche Bataillon mobil
gemacht wurde, um nach Luxemburg zu marschieren. War
nun das ersehnte große Ereignis für Orabbe eingetreten? Er
sucht sich einen eigenartigen objektiven und individualistischen
Standpunkt zu wahren, ohne aber über zwei in seiner Brust
sich bekämpfende Prinzipien zu einer dauernden Synthese zu
Nieten. Chr. D. Orabbe. 16
I - 242 —
( gelangen. „Freiheit, gut — Verlockend schön — Die Völker
erheben sich — Doch nie sind Gott und Mensch und Welt des
Glückes wert, — Solange keiner sich selbst bekehrt" — „besser
tot als erwachen, Solang ich selbst nicht besser bin Als Bar-
barossa." So Barbarossa im Kyffhäuser und so
Grabbe in seinen Briefen. „Ich liebe Despotie eines einzelnen,
nicht vieler." Soviel behält er also von seinem übermenschlichen
Individualismus, daß er Freiheit nur dem Einzelnen zugestehen
will. Er spottet über die Revolutionsraserei, die Heine und
Börne billige publizistische Erfolge einbringen. Das Harn-
bacher Fest findet er albern und Rotteck jammervoll. Die
großen Staatsrevolutionen helfen nichts — jeder soll sich selbst
reformieren — das ist Tugend und Genie. Also spricht Grabbe*
der Eigenmensch und Historiograph der Revolutionen. Das
klingt merkwürdig abgeklärt, als ob er die Tollheiten der
Jugend überwunden hätte. So dachte in der Wendezeit seines
Lebens der Dichter des „Napoleon".
Man kann Napoleon vielleicht als einen Mitschöpfer der
Schicksalstragödie bezeichnen. Werners Attila, Müllners Yn-
gurd, Kestners Sulla wären ohne ihn wohl nicht vorhanden.
Lieder von Heine, Qaudy, Zedlitz tönten seine Größe. Im
deutschen Drama großen Stils war Grabbe der erste; die
wenigen Vorläufer beeinträchtigen seine Selbständigkeit nicht.
Gäthgens zu Ysentorff zählt 45 Dramen über Napo-
leon auf und zwar nach 5 Abteilungen: Spott- und Tendenz-
dramen, — Liebesdramen, r— St. Helenadramen — dramatisierte
Geschichte (der größte Wurf ist Grabbes Drama) — Episoden-
dramen. Zwar fand Grabbe schon eine riesenhafte Litteratur
über Napoleon vor. Kotzebues Satiren haben ihn nicht weiter
beeinflußt, ebensowenig Rückerts Allegorien (Napoleon und
der Drache — Napoleon und Fortuna). Chamisso dichtete
nach Manzoni eine Szene „Napoleons Tod". . „Der schöne
Bund" ist der Titel eines Dramas von Coßmann; eine Episode
„der kleine Korporal" erzählt: Napoleon besucht Brienne, wo
er einer guten Pächtersfrau ein Paar Sous schuldig blieb, be-
- 243 -
glückt eine liebende Braut und einen alten ägyptischen Inva-
liden. — 1830 beherrschte Napoleon alle Theater von Paris.
Jeden Abend konnte man im cirque olympique oder im Vaude-
ville Napoleon auf der Bühne sehn: „der graue Überrock",
„der Artillerieunterleutnant", „der kleine Korporal", „Schön-
brunn", „St. Helena" — in solchen Dramen erschien Napo-
leon in sentimentaler Beleuchtung als Verratener. Auch in
London wurden 1830 fünf Napoleondramen aufgeführt.
Am wichtigsten ist ein Vergleich mit dem Napoleon-
drama von Dumas, das 1831 auch durch eine deutsche Ober-
setzung von Haupt bekannt wurde. Dumas baute sein Drama
in 6 Abteilungen und in 19 losen künstlich dialogisierten Bildern
auf: Napoleon in Toulon — Napoleon als Kaiser — Sieges-
zug von Dresden nach Moskau und bis zur Beresina —
Kämpfe in Frankreich bis zur Abdankung in Fontainebleau
— die Ereignisse des Jahres 1815, die damit schließen, daß
Napoleon in den Tuileriecn eintritt: die 5 Szenen spielen im
Kriegsministerium, auf Elba, im Salon des Faubourg St. Ger-
main, auf dem Schiffsverdeck (Napoleon im Gespräch mit
Bertrand und dem Lothringer) , endlich in den Tuilerieen. Der
sechste und letzte Teil zeigt Napoleon auf St Helena und sein
Ende in 2 Bildern. Einige von diesen Szenen finden wir im
Guckkasten am Anfang des Napoleon wieder, der an Figuren-
reichtum den Jahrmarkt von St Cloud übertrifft. Ober 130
Personen hat Grabbe, hier Dumas nachahmend, auf die Bühne
gestellt. Grabbe dringt in die Tiefe zu den treibenden Kräften,
aber Dumas gibt nur malerische Augenweide. — Ungeheuer
ausgebreitet war auch die Prosaliteratur über Napoleon, die
literarischen Blätter bringen Hinweise und Auszüge: wir
nennen nur Lascasa, Autommarchi; sogar das Leibroß
Vezir erzählt seine Erinnerungen, Segur beschrieb das Jahr
1813. Besonders der 3. Akt und die Schlachtenschilderungen
zeigen Spuren der Lektüre der Erinnerungen des Sekretärs
Chaboulon und von Venturinis Chronik. Lux hatte die Me-
moiren Robespierres herausgegeben und seinen Helden in
16*
— 244 -
einem milderen Lichte gezeigt, das bei Grabbe nachstrahlt.
Ober 130 Personen hat Grabbe, hier Dumas nachahmend,
auf die Bühne gestellt
In den Jahren 1827—1830 ist Grabbe in fieberhafter Tätig-
keit August 1828 ist „Don Juaq und Faust fertig. Von den
Hohenstaufen, November 1827 begonnen, wird Barbarossa im
April, Heinrich VI. im Dezember 1829 vollendet Unterdessen
arbeitet er bereits an Napoleon, der „mitten unter Alimentations-
klagen, Schusterforderungen an Soldaten, Beerdigungen, Unter-
suchungen, Wein und Tee mit Rum, und zwar teilweise
auf in Eile von Aktenstücken abgerissenen unbeschrie-
benen Fetzen niedergeschrieben wird". (11. II. 1835.) Es ist
besonders beim Napoleon zu bedauern, daß wir nicht näher
über die allmähliche Entfaltung des Planes, über die ursprüng-
liche Anlage, aber die verschiedenen Umarbeitungen und Um-
wälzungen in des Dichters Oeist unterrichtet sind. Von An-
fang an waren die 100 Tage und Schlachtszenen vorgenommen,
seine Schätzung Napoleons schwankt. Die Ideen über die
Revolution kamen ihm später und besonders noch nach der
Julirevolution, und so tritt eine derartige Umwandlung auf, daß
Grabbe zuletzt schreibt: Napoleon bindet sich als Drama an
nichts. Wir bringen die wichtigsten Daten nach den Briefen.
Dezember 1829 leiht er sich Fleury de Chaboulon und Ven-
turinis Chronik, dann bringt der Armbruch im Januar eine
Unterbrechung, Februar ist er bei den Schlachtszenen, alle
seine Ideen über die Revolution will er hineinbringen — und bis
Juli gedenkt er fertig zu sein. Wie Schiller im „Wallenstein"
will er Prosa und zwar eine lutherische, kräftig bib-
lische. Denn der Jambus paßt nicht für die Artillerietrains,
die kongrevischen Raketen u. a. Dann bricht die Revolution aus.
Im Abschreiben schwillt der Stoff auf, das Stück wird er-
weitert z. B. durch die Szene der freiwilligen Jäger und die
Schlacht bei Ligny. Dabei taucht schon der Plan eines Robes-
pierre auf. Merkwürdige Schwierigkeiten lagen darin, daß
Rücksichten auf Österreich genommen werden mußten (österrei-
- 245 -
chische Mätresse) , und daß Preußen die Inserierung verbot. Am
29. Januar betont Orabbe in seiner Vorrede, daß er bereits
vor der Julirevolution fertig geworden sei und März 1831 er-
scheint die Ankündigung des Verlegers.
Daß Orabbe gerade das Abenteuer der 100 Tage wählte,
ist unbedingt bedeutungsvoll. In jener Episode erlosch der
Stern des sinkenden Imperators, es ist also der tragischste Mo-
ment, und sodann erscheint die Zeit fast wie eine von der
Wirklichkeit losgelöste Phantasmagorie, die durch einen echt
romantischen Gegensatz wirkt: wie „ein Oespensterzug am
hellen Mittag" zieht die große Armee vorüber.
Das Drama zerbricht in zwei Teile. Das Volk ist mit
sieben Szenen der Held der ersten drei Akte, in denen dem
königlichen Hof nur drei und Napoleon nur zwei Szenen
zufallen. Es folgen zwei retardierende Szenen und sodann
das Schlachtendrama von Ligny und Waterloo.
Daß der 1. Teil mannigfacher Umarbeitung erlag, können
wir mit Gewißheit vermuten. Auf breite Unterlage stellt
Grabbe die beiden Gegenspieler: den König und den ent-
thronten Kaiser. Er hält sich keineswegs an die Episode der
100 Tage, sondern er setzt sich mit phantastischen Sprüngen
über die Wirklichkeit, deren Sinn er doch ausdeutet, hinweg.
In kühner Konzeption macht Grabbe von der poetischen Lizenz
so weitgehenden Gebrauch, daß er Reflexe der ganzen großen
Zeit, der großen Revolution und der Juliereignisse hereinbringt.
Raum und Zeit setzen keine Grenzen, und so komponiert er
eine welthistorische Symphonie, in der, was sich nie und nir-
gends begeben, verschmolzen wird mit wirklichen Gescheh-
nissen, die zeitlich ganz auseinanderliegen. Die Revolution ist
Mutterschoß und Urgrund — das ist das Leitmotiv.
Grabbe greift keck hinein ins volle Menschenleben; er
führt uns unter die Arkaden des Palais Royal, vor die Tuile-
rieen, auf den Grfcveplatz, auf das Marsfeld, in den Jardin
des plantes. Mit derben realistischen Zügen erscheinen die
beiden Grenadiere aus Heines Ballade wieder, V i t r y und
— 246 -
Chassecaur, und als ihr Gegenbild zwei alte Emigranten
und Royalisten. Am Anfang des Stückes baut sich die Schil-
derung auf Antithesen und Parallelen auf. Im Palais wird
gespielt — damit ist die Anknüpfung an den großen Spieler
Napoleon gegeben. Wenn der Menageriebesitzer den Ausrufer
des Wachsfigurenkabinetts satirisch ergänzt, so ist uns dieses
Kontrastmittel bekannt aus den Unterredungen Don Juans mit
Leporello oder mit der Polizei. Ein äußeres Requisit, ein
Tisch, bildet einen guten Behelf, die äußere Handlung in Ab-
lauf zu bringen: hier stand Camille Desmoulins in der Geburts-
stunde der Revolution und hier wird die neueste reaktionäre
Maßregel verkündet. Bei schärferer Prüfung macht man die
Entdeckung, daß hier eine Szene aus dem geplanten Revolu-
tionsdrama zugrunde liegt, und unter der Übermalung erkennt
man die Darstellung des Baatillesturmes, wobei verwunderlich
wirkt, wie der Dichter parallele Züge zu verwenden weiß. Diese
Zusammenschiebung ist eins der charakteristischsten Merkmale
in Grabbes Technik. Grabbe verlegt aber nicht nur in diesen
Moment Ereignisse kurz vor der Julirevolution, er sieht sogar
voraus, was noch nicht eingetreten war: er führt den Sohn Phi-
lippe E g a 1 i 1 6 s als Friedensstifter ein und läßt ihn als
künftigen König von Frankreich begrüßen. Allerdings trug der
spätere König Louis Philippe immer den Titel Königliche
Hoheit, und wieder muß man die Ereignisse beim Bastille-
sturm zum Vergleich heranziehen, um Grabbes Propheten-
gabe zu würdigen. — Ein beißendes Pasquill zeigt in der fol-
genden Szene das Bild des Königs im Spiegel byzantinisch
verzückter Royalisten und gesund abwägender Bourgeois. Üb-
rigens trifft diese Momentaufnahme richtiger Karl X. als Lud-
wig XVIII. Derartige Skizzen begegnen jetzt häufiger in
der Technik des Dichters, meist auf Kontrastwirkung be-
ruhend. So durchblitzt er ein Genrebild mit welthistorischen
Reflexen in der Liebesszene zwischen dem bonapartistischem
Geliebten und der royalistischen Gärtnersnichte. Ein Geist
der Unruhe herrscht, der Angst vor dem Ausbruch eines Vul-
— 247 —
kans vergleichbar — gerade dann aber wird der Franzose
erat recht leichtsinnig und frivol.
Höchst eigenmächtig springt Orabbe mit den historischen
Tataachen um, außerordentlich kühn ist seine Kombination:
die keimende Sehnsucht nach Napoleon und die schwule Stim-
mung vor dem ausbrechenden Revolutionsgewitter fließen in
einander über. Napoleon gebändigt durch die Konstitution,
den Volkswillen, also die gemäßigte Revolution — das ist das
Programm Carnots und Fouch6s; darin birgt sich nicht
nur eine historische Einsicht des Dichters, sondern eine noch
viel eingreifendere Änderung in seinen Lebensanschauungen.
Dieser Konflikt umschließt als der umfas-
sendere den untergeordneten, den zwischen
dem Korsen und dem schwachen Bourbonen.
Nur so ist das Auftreten des echten, brutalen Revo-
lutionsmannes Jouve motiviert, der sonst wie die ganze
Revolutionsszene in das geplante Drama „Robespierre" hinein-
gehört. Zwei brillante Figuren sind hier Orabbe gelungen. Da
i$t die pittoreske Figur des Schneiders, bei der man an V. Hugo
denken möchte, der listig-kurzsichtig die Welt nach den Schnei-
dermoden beurteilt Zuletzt winselt der konvulsivische Wurm
um sein Leben. Die nie fehlende teuflische Grausamkeit als
Urinstinkt der Menschheit im Naturzustand erfüllt diesmal
die Revolutionsszene. Jouve, der furchtbare Tribun der
Gassen (man denkt an Büchners Danton) , beherrscht mit seiner
Bestie von Pöbel die Situation, bis Napoleon kommt Aber ihm
imponiert auch der gewaltige Korse nicht: dauernd ist nur die
Masse, Napoleon ist ein Komödiant, der ein Weilchen unter-
hält und dann verschwindet Wenn wir Jouves Wort: „was
sollte ein elendes, der Verwesung entgegentaumelndes Ge-
wimmel wie dieser Haufen Erdentiefen oder Sternenhöhen cm*
pören" neben die letzten Worte Napoleons stellen, dann hat
man Grabbes letzte nihilistische Weisheit und man vernimmt
den verneinenden Geist aus der Tiefe. Es klingt wie eine
Prophezeiung auf die Anarchisten, die stärker sind als die
— 248 — •
Despoten, wie die zerstörenden Mächte über die aufbauenden
triumphieren. Einen .Vertreter derartiger chaotischer An-
sichten vermag Orabbe in einer Art Kongenialität nachzu-
schauen. Der Kritiker der literarischen Blätter, der Orabbes
Heinrich VI. mit seinen Tintenstichen tötete, sagt von Jouve:
wir kennen seit Mephistopheles humoristischen Angedenkens
nichts Ahnliches von objektivem Humor. Diese Revolutions-
szene, die übrigens ein Gegenstück in Marius und Sulla findet,
soll durch den allgemeinen Gedanken der Zeitstimmung an-
nehmbar gemacht werden. Pöbel — Konstitution — oder Despot
sind die drei Tendenzen. Die wirkenden und treibenden histori-
schen Kräfte ringen widereinander. Die Revolution als chao-
tische Anarchie und als in der Vernunft der Verfassung ge-
bändigte Freiheit treten in Erscheinung, und man fragt sich,
wie ein starker Einzelmensoh wie Napoleon hier eingeordnet
werden kann. — Es fehlt nicht an Anachronismen, über die
der unmittelbare Eindruck indeß häufig hinwegtäuscht Die
konstitutionelle Verfassung erinnert mehr an die Charte Lud-
wigs XVIII. als an Napoleon, die Jesuitenherrschaft wird in
der 3. Szene verlangt und ist in der vorhergehenden doch
schon vorhanden.
Die geschichtliche Quelle ist öfters nicht zu verkennen.
Venturini sagt: mit der neuen Ordnung der Dinge waren höch-
stens einige Tausend alte Adlige, Mönche und Pfaffen zufrie-
den. — Der König floh in der Nacht 19.— 20. März, weil er
wußte, daß nicht ein einziges Regiment für ihn fechten würde.
„Die Schneiderfinger als Zigarren der Nation" sollen historisch
sein, mit einer Äußerung Vitrys vergleiche man die Worte
bei Venturini: „das ist also das Veilchen, das endlich gekommen
ist" — In dem König fließen historische Züge aus Lud-
wig XVIII. und Karl X. zusammen. Karl X. war bigott und
alt, als er auf den Thron kam, Ludwig war freigeistig ge-
mäßigt. Er ist bei Grabbe persönlich wohlmeinend, aber
ganz in der Gewalt seiner Hofschranzen, denen nur die Eti-
kette heilig ist. Monsieur ist in der entscheidenden Stunde
— 249 -
auf der Jagd. Das Verlangen nach Jesuiten kommt von der
aus geschichtlichen Memoiren heraus urbildlich gestalteten
Angouleme, der einzigen starken Seele dieses Kreises; „sie
ist die einzige Bourbonin, die verdiente Hosen anzuhaben,"
sagt Orabbe von ihr. Mächtig hallen die Erinnerungen der
Revolution in ihr nach, in der sie ihre Zuflucht in der Frömmig-
keit fand; sie findet hier einen feinen und tiefen Ausdruck
für das schlechtsinnige Abhängigkeitgefühl; da sie gelernt
hat, „auf Gott zu vertrauen, als die letzten Sterne sanken,
als im unermeßlichen Dunkel nichts mehr zu fahlen war, als
das Zittern des eignen kleinen Herzens". Sie haßt sogar
die neue Zeit in der Poesie. Sie durchschaut den Korsen in
seiner Gemeinheit, aber auch in seiner Furchtbarkeit In ihr
ist etwas von dem Geist einer Lady Macbeth und einer
Gräfin Terzky. Und einer Kassandra gleich ertönt ihre Stimme
gewaltig: Waffen — Waffen I — So ist die Stimmung: der
König übersetzt den Horaz, Monsieur geht auf die Jagd, die
Angouleme betet, Berry liebt die Damen und das Volk ärgert
sieh, daß Pfaffen, Betschwestern und emigrierte Edelleute es
beherrschen sollen — und denkt an Napoleon.
Napoleon auf Elba — Napoleon in den Tuilerieen — Na-
poleon in Wahrheit überall: in der glühenden Liebe Vitrys
und Chassecoeurs — sein Riesenschatten die Folie, auf der
Ludwig mit seinem Podagra so lächerlich erscheint, Napoleon
im Gesicht der Frommen, als Ehestifter, förmlich durch die
Kraft der Sehnsucht herbeigezaubert. Wahre Ebenbürtigkeit
bietet sich nur in der Idee der Freiheit, der Revolution, wie sie
verkörpert ist in der Angouleme, in Jouve, in Fouche und Car-
not Diese Vorbereitung ist vortrefflich, aber der erste Teil ist
doppeldeutig. Angeblich wird ein Querschnitt gemacht durch
die Zeitströmungen während der Verbannung Napoleons, in
Wahrheit aber wird viel eher die Stimmung getroffen, die in
Frankreich herrschte, als Napoleon in Ägypten seine Unent-
behrlichkdt bewies, als er nach seiner Rückkehr die unfähigen
Direktoren beiseite drängte und das Chaos der Revolution zu
— 250 -
einem Organismus gestaltete, und diese Entwicklung der Re-
volution ist von dem Bastillesturm über die Rasereien des
souveränen Volkes fast stufenweise geschildert
Die dichterische Darstellung ist nun, da Napoleon selbst
auftritt, weniger glücklich. Es wird vornehmlich das Mittel
des selbstcharakterisierenden Monologes angewandt Wider-
sprüche treten auf. Aber doch läßt uns der Dichter Tief-
blicke tun in die Tragik der Seele Napoleons.
Napoleon erscheint auf Elba wie bei Dumas: der Loth-
ringer ist der Zeltsympathie entsprechend ein Pole gewor-
den. Ein stimmungsvoller malerischer Moment und eine gute
Anknüpfung werden als Ausgang benutzt: das Meer brandet
zu seinen Füßen und mit dem Polen schweifen seine Gedanken
zur Heimat Die ganze Situation und Ideenwelt paßt besser
zu St Helena und man glaubt ein Kapitel aus Lascasa zu
lesen, wenn Napoleon sich rechtfertigt, aber andrerseits paßt
es wieder nur auf eine frühere Zeit, wenn Napoleon Europa, den
kindischgewordenen Greis, züchtigen will. In übermenschlichem
Selbstbewußtsein fühlt er sich als Boten der Vorsehung. Aber
größenwahnsinnige Ideen verwirren sich mit der klaren Ver-
nunft Wie der Obermensch im „Sklavenaufstand in der Moral",
so schiebt er seinen Sturz auf die Gewalt der Elenden und Seihwa-
chen. Dann aber soll ihn wieder nur das Schicksal gefällt haben.
Das große allgemeine Schicksal und Napoleons persönliches
Schicksal wollen sich doch nicht ganz decken. Der Wider-
spruch beruht auf der veränderten Auffassung des Dichters. Auf
Messersschneide schwankt die Entscheidung zwischen Freiheit
und Notwendigkeit, Heroenkultus und Revolutionsgeist, Natio-
nalgefühl und Napoleon-Verehrung. Napoleon hat die Revo-
lution gebändigt, aber die Welt, das elende und schlechte Scheu-
sal, will das nicht anerkennen. Er klagt über die Undank-
barkeit nicht etwa nur Augereaus und Marmonts — son-
dern Preußens und Österreichs. Einige Stilproben seiner an
Zynismen und Hyperbeln reichen Rede mögen Grabbes Dar-
stellungsweise charakterisieren: Elba ist ein bischen Dreck
— 25! -
(eine für das ganze Drama charakteristische Wendung). —
Österreich zuckte wie ein Wurm in seiner Hand — die Fürsten
sind Amphibien — Murat und Bernadotte sind unadlige, von
seiner Größe ausgebrütete Fliegen — aber er, er ist die
Geißel des Schicksals — Prometheus auf dem Felsen — ja
er ist Christus am Kreuz, dessen Mantel verlost wird (auf
dem Wiener Kongreß). Hier ist die Vergötterung fanatisch-
ster Apostel in eigenen Cäsarenwahnsinn umgesetzt. Napo-
leon erinnert an Heinrich .VI., zumal wenn er Amphitrite
seine Geliebte nennt Napoleons Charakteristik wird eigent-
lich erschöpft in Monologen und der Spion, der freilich kaum
motivieren kann, daß der bereite Napoleon gerade jetzt auf-
bricht, hat in erster Reihe die Bedeutung, Napoleon zum Reden
zu bringen. — Auch in den Tuilerien kann die kurze Frage
nach Bertrands Frau uns keinen Dialog vortäuschen. Vorher
war ein Tisch das historische Requisit, jetzt bieten Bücher
und Rollstuhl Anknüpfungspunkte; Telegramme, in denen die
Ereignisse ungeheuer zusammengedrängt werden, sollen seine
rasche Energie und seinen Scharfblick beweisen. Die legitimen
Mächte hat er vorher des Undanks geziehn. Jetzt, da sie ihn
ächten, beschuldigt er sie, die Teiler Polens, der Heuchelei,
die dem Starken schlimmer däucht als Gewalttat. Bisher hat
er sich als Bändiger und Sohn der Revolution gefühlt — das
war die schicksalsmäßige Idee und Aufgabe. Aber was hat
sein erneutes Auftauchen für einen Zweck? Welche Rolle hat
ihm das Schicksal nun noch zugewiesen? Hier ist der Bruch:
steht er wirklich im Dienste des Fortschrittes der Zivilisation
oder ist die Despotie das Höchste? Ist es Wahn oder Inkon-
sequenz? Er behauptet zwar, sein Stern solle jetzt freundlicher
leuchten als der Komet des Erderoberers, aber er kommt
nur ungern Foucht und Carnot, den Repräsentanten der über
Napoleon hinwegschreitenden Zeitidee, entgegen durch eine
liberale Verfassung mit Beseitigung von Feudalismus und
Pfaffentum, und er hat keine Lust, das „Fiasko des wohlmeinen-
den Advokaten von Arras" zu erleben. Andererseits durch-
— 252 —
schaut Hortense ihn und seine persönliche Eitelkeit, wie sich
Selbstbetrug und böser Wille verketten, besser. Übrigens hat
Grabbe den Gedanken, Napoleon der liberalen Idee unter-
zuordnen, nicht weiter ausgeführt und Foucht und Carnot
verschwinden spurlos. Die Frage bleibt in der Schwebe, ob Na-
poleon darin gehindert wird, der Menscheit das Heil zu brin-
gen, ob er das tragische Schicksal erlebt, gerade jetzt gefällt
zu werden, da er nach dem negativen Teil seiner Aufgabe zum
positiven Aufbau schreiten will. Es ist ein gewaltiger Konflikt
von tiefster tragischer Wirkung, der aber doch über dem.
innern Selbstbewußtsein des Korsen nicht zur äußern Er-
scheinung und damit zu dramatischer Gestaltung gelangt Da-
für setzt eine neue Gedankenverbindung ein: Napoleon muß wie
Wallenstein handeln und wirken, er kann sich nicht ver-
bergen, Europa muß ihm liebend oder zürnend nachstürzen.
Er oder die Welt! Aber er hat seine Rolle erfüllt, — keine
positive Idee kommt mehr in ihm zur Erscheinung. Dßß
Schicksal schreitet auch über ihn hinweg; aber man weiß
nicht, ob die Worte, mit denen Napoleon von der Bühne ab-
tritt, Grabbes Grundansicht darstellen, oder nur Napoleons
Enttäuschung ausdrücken. Dummheit und Verräterei haben
ihn besiegt und doch: er wird wiederkehren. Dieser Pessi-
mismus ist die Nacht, in der die Sterne des Liberalismus
untergehn.
Dem 1. Teil schien zugrunde zu liegen, daß Napoleon,
auch nur ein zeitweilig notwendiges Phänomen sei, daß sich
entweder im Dienste der liberalen Idee läutern müsse oder
untergehn. Oder es sollte gezeigt werden, dass nur der Des-
pot regieren kann; denn sonst herrscht die Masse, ein erbärm-
liches Scheinkönigtum oder ein schwacher Liberalismus. Wir
hatten bisher ein äußerst lebensvolles Milieudrama — aber
die Grundidee schwindet in dem zweiten Teile, des»
Schlachtendrama. Dazwischen liegen einzelne retardierende
Episoden, die den Kaiser von einer menschlicheren Seite
zeigen. Kein großer Mann vor seinem Kammerdiener: von
I
I
— 253 —
Napoleons Piqueuren erfahren wir, daß der Kaiser zwar
schnell aber schlecht reitet. In der Szene mit Hortense zeigt
sich, welche Macht die feinfühlende Frauenseele, die die durch-
dringendsten Tiefblicke tut, auf den Imperator ausübt. Etwas ge-
waltsam wird hierbei Josefinens Erwähnung getan und zwar
mit Worten, die deutlich anklingen an Oaudys Kaiserballade:
gewichen ist mit ihr des Glückes Stern.
Und nun erhebt sich Qrabbes Nationalgefühl im Kampf
gegen seine Obermenschenbewunderung. Dazu gehörte ein
großes Können, hier ein objektives Oleichgewicht herzustellen,
ohne in Widersprüche zu verfallen, eine Objektivität freilich,
die dem Historiker besser ansteht als dem Dramatiker. Das
ist dem Dichter u. E. in höherer Stileinheit gelungen in dem
Realismus der Hermannsschlacht. In Vitry und Chassecoeur
pulsiert ein stärkeres Leben als in den namenlosen preußi-
schen Soldatentypen; fehlt das Salz der Satire, so ist die Nei-
gung zum Gemachten und Trivialen nicht zu verkennen. Da
Ist der kurzangebundene Feldwebel, der gutmütig beschränkte,
aber entschlossene Schlesier. Dann hat der Dichter sich den
Berliner Einjährigen vorgenommen: er verwechselt
zwar mir und mich, ist aber höchst gebildet und aufgeklärt; er
kennt allerdings nur Berlin und seine Dichter, wie Schlegel,
Ilfland, die jedoch zweifellos alle Konkurrenz hinter sich lassen,
Wie das Wisotzkysche Weißbier. Die guten Seiten seiner In-
telligenz muß Blücher anerkennen, aber unbarmherzig wird
sein Witz, wo Ephraim, der Jude, herhalten muß; der Jude
mit seinem Gebärdenspiel, seit Lenz eine stehende Figur, hat
die Satire des Charakteristikers immer herausgefordert (vgl.
Kosciuszko-Aschenbrödel) . Ephraim muß viel aushalten, end-
lieh holt er zu einer Ohrfeige aus — da reißt ihm eine Kanonen-
kugel den Kopf ab. — „W allensteins Lager" des herr-
lichen wetterleuchtenden Schiller hat den Dichter zu einer
seiner frischesten Szenen begeistert, in der Lützows Jäger
der Schlacht entgegenjauchzen. „Wir müssen die Kühnheit
ehren", sagen die literarischen Blätter, „womit der Dichter
- 254 —
in diesem großen Augenblick, eben da, wo von allen Seiten
wieder das Vaterlandsgefühl zu Worte kommt, aber nichts-
destoweniger seine Prediger gefährdet, jene ehrenwerte Er-
innerung des Volkes wiederzuerwecken wußte." Einige sati-
rische Eigenheiten und moderne Tendenzen hingen freilich
auch dieser Szene an. Die Zeichnung Blüchers — wohl nach
einer biographischen Schilderung entworfen — ist von gesun-
der Derbheit und hält sich frei von martialischer Karri-
kierung; seine Tabakspfeife spielt eine große Rolle; einer
Episode aus den fridricianischen Kriegen ist es wohl nach-
gebildet, wenn er den französischen Spion ablaufen läßt mit
den Worten: „Französische Entdeckungen mag ich nicht.
Kennen Sie Deutschland?" —
Dem draufgängerischen Feuerkopf Blücher steht der kühl
überlegene Gentleman Wellington gegenüber, den preußischen
Soldatentypen etwa der Scharfschütze, und die Schotten haben
ihr Clan-Douglaslied wie die Lützowschen Jäger ihfe »wilde
Jagd". Venturini erzählt: Der Herzog von Braunschweig
wollte eben auf einen Ball fahren zu dem Herzog von Rich-
mond, wo auch Wellington war — als die Ankunft Napo-
leons verkündet ward. Das hat Grabbe für die Zwecke seines
Dramas umgemodelt Man entsinnt sich der Ballszene in »Don
Juan und Faust", wo auch die Stimmung ein Tanzen auf
einem Vulkan ist. Auch jetzt haben wir zunächst einen Auf-
takt: der den Tod ahnende Herzog von Braunschweig gibt
dem schwarzen Becker seinen letzten Willen kund. Übrigens
erregte diese Stelle des Dramas in Braunschweig, wo damals
die Revolution ausbrach, allgemeines Aufsehn. Der drama-
tischen Steigerung in der Don Juan- und Faustszene ent-
spricht der weitere Verlauf auf diesem Ballfest Es ist sehr
wirkungsvoll, wie die Donner der Geschütze in die Ballmusik
tönen, Tod den Lebensfrohen kündend, wie pulvergeschwärzte
Adjutanten den Satanas melden, wie der Riesenschatten Napo-
leons plötzlich aufragt: er ist wie ein neuer, unerforschter, ur-
plötzlich aufgetauchter Erdteil 1 Dazwischen spielen die Kon-
- 255 —
traste: auf diesem Vulkan blüht die Blume der Liebe, die
aus eigener Herzensnot sich nährt. Sie durchbebt den
Busen der Gärtnersnichte, gibt dem Lied von der Sultanin
eine persönliche Note, denn hier wie in Adeline ist nach
Orabbes eigenen Worten die erste Geliebte porträtiert. Der
englische Artillerieoberst zittert um einen unsichern Besitz
wie Orabbe, der auch ins Feld zu ziehn gedachte. Das
Liebesgetändel erinnert an die Bizarrerien in „Nanette und
Marius". „An keine Dame Europas hab' ich gedacht im Ge-
tümmel, aber an dein Auge gewiß, an die Spitze deines kleinen
Fingers."
Zu den kühnsten, meist umstrittenen Neuerungen Orabbes ge-
hören die Schlachtenschilderungen. Sie sind mehr
als eine Marotte. Napoleon kann nicht anders charakterisiert
werden, als durch ein „Gewitter von Taten" (Hebbel) . L i g n y
soll in einer Szene auf der Bühne dargestellt werden. Der Dich-
ter richtet sich in einigen Zügen nach Fleury de Chaboulon
(S. 160 ff.), der aber mehr für die persönliche Charak-
ristik Napoleons inbetracht kommt, und nach Venturini 389ff ,
aus dem z. B. die Proklamation, die der Kaisergardist liest,
fast wörtlich entnommen ist. Die Schlacht bei Ligny dauerte
von 12 Uhr mittags bis 7 Uhr abends. Napoleon richtete alle
Kraft darauf, das Zentrum in Ligny zu durchstoßen, während
Blücher den linken französischen Flügel angriff. — Grabbes
Napoleon schläft vor der Schlacht auf der Lafette einer Ka-
none (wie bei Wagram) ; der Dichter erreicht dadurch, Napo-
leon zu charakterisieren und gleichzeitig seine Umgebung
redend die anfänglichen Tendenzen fortführen zu lassen. Sobald
Napoleon aufwacht, hat er den Kern erfaßt, obwohl der Feind
ihn täuscht. Ein großer Gedanke unverrückbar festgehalten,
auf einen Punkt alle Kräfte konzentriert, das ist ja das Ge-
heimnis der Napoleonschen Strategie. Das will Grabbe recht
markant herausarbeiten. Ligny ist alles. Daran hält Napoleon
fest, trotzdem Vandamme bei St. Amand zurückweicht und die
Engländer bei Quatrebas angreifen. Vor der Kraft Blüchers
- 256 —
versagt zunächst Drouots Artillerie und Milhauds Cavallerie
und erst Oirards westlicher Angriff auf Ligny wirkt ent-
scheidend. Als Schlußeffekt fahrt Cambronne die Garde
heran und der Imperator, der unerschütterlich geblieben
ist, verlangt sein Pferd und setzt sieh an die Spitze. So
ist der historische Verlauf der dramatischen Steigerung an-
gepaßt. Was nun geht auf der Bühne vor? Adjutanten fliegen
hin und her und in Napoleons Kommandos, gleichsam
schöpferischen Gedanken, wird die Schlacht lebendig. Sie be-
zeugen die gestaltende Phantasie des Verfassers Grabbe-
Napoleon; aber, wo diese fehlt, was hat der Zuschauer von
diesen kurzen Befehlen? Wir hören Musik, Kugeln schlagen
ein, ein Fußgardist wird getötet, Heeresteile rücken vor und
kommen zurück, im Prospekt brennen Dörfer. An die
Bühnenmöglichkeit hat der Dichter wohl gedacht, aber
unmöglich ist es, auf diese Weise Illusion zu zeugen. Man
möge nur an die Zeit denken! Der Dichter überschätzt die
suggestive Kraft deiner allzukargen Andeutungen und dem
szenischen Bild, der selbsttätigen Phantasie wird zuviel über-
lassen.
Grabbe hat verschiedene Mittel angewandt, um die Schlacht
für die Bühne oder das Drama zu erobern. Als Vorbild
kommt nur Shakespeare in Betracht, andere Dichter suchen
die Schlachtendarstellung zu umgehen. Bei Schiller wird höch-
stens eine mit der Haupthandlung in Verbindung stehende Epi-
sode dargestellt. Der „Götz" ahmt Shakespeare nach; d. h. aus
mehreren einzelnen Momentbildern wird ein Schlachtgemalde zu-
sammengesetzt. In „Marius und Sulla" werden uns in einer
Szene die beiden verschiedenen Parteien vorgeführt — nach
dem Vorbild von Shakespeares „Coriolan". In den „Hohen-
staufen" spielt sich die Schlacht ebenfalls innerhalb einer
Szene ab: die eine Partei dringt vor, flieht vor der andern,
bis endlich die siegreiche Partei den Platz behauptet; durch
Rufe wird das Schlachtgetümmel hinter der Bühne markiert,
die Entscheidung konzentriert sich auf der Bühne in höchst
— 257 —
gewagter Weise in Zweikämpfen. Dafür lassen sich aller-
dings Analogien z. B. auch bei Schiller finden. Jetzt soll sich
der ganze Verlauf einer mehrstündigen Schlacht in einer
S2ene abspielen, sie verläuft in den Befehlen Napoleons des
eigentlichen Schöpfers der Schlacht. Das würde natürlich,
wenn hier die Bühnentechnik folgen könnte, einen Fortschritt
gegenüber der Zerspaltung in einzelnen Szenen bedeuten. Es
ist schwer, diese Form richtig zu bezeichnen. Es ist Epik
mit dramatischer Konzentrierung und Epigrammatik.
Waterloo wird in fünf szenische Tableaux zerlegt — ein
Drama für sich« Die Exposition wird gebildet durch den Vor-
marsch des englischen Heeres im Hohlweg zu Soigneux. Der
Angriff des französischen Heeres ist szenisch noch zu den*
ken, schwieriger als im „Hannibal" läßt sich hier das Mittel
der Teichoskopie als möglich vorstellen: der Oberst beschreibt
die wogende Schlacht, Hougomont und la Haye sainte stehn
in Flammen. (Venturini 405 f.) Dann macht Orabbe den Ver-
such, in zwei Szenen ungefähr dieselben Schlachtereignisse dar-
zustellen. Dialoge leiten die Szene ein und schließen sie.
Wellington auf der Höhe von St. Jean, Milhaud macht seine
Reiterangriffe, ein Kürassier erobert die Fahne, einem zwei-
ten wird der Fuß abgeschossen, um %4 Uhr ist Belle- Alliance
von den Franzosen genommen, ebenso Hougomont — was aller-
dings chronologisch schwer mit der vorhergehenden und folgen-
den Szene zu vereinen ist. Jedenfalls ist der kritische Augen-
blick für Alt-England gekommen. Die folgende Szene — man
darf auch hier nicht zu genau prüfen — fährt fort mit dem
dritten Reiterangriff Milhauds, der Napoleon, der nicht in Belle-
Alliance, sondern in Caillou steht, den Sieg bringen soll. Die
Garde ist zum letzten Vorstoß bereit. Da erfolgt die große
Wendung durch die Preußen. Lobau und Erlon geraten durch
Orouchys Schuld ins Feuer der Preußen. Die Engländer be-
drängen Milhaud und Ney. Napoleon stellt sich an die Spitze
der Oranitkolonne von Marengo. Nun fällt die Handlung: die
folgende Szene zeigt die unter Ziethen und Bülow vorrücken-
Nieten. Chr. D. Onbbe. *7
— 258 —
den Preußen und die fliehenden Franzosen. Das Schlußbild
zeigt den besiegten Napoleon und den untergehenden Cam-
bronne, der dem Imperator das prachtvolle Wort widmet: „Er
ist fort —Was will der andere Dreck, den man Erde, Stern
oder Sonne nennt, noch bedeuten?" Blücher und Wellington ver-
eint bei Belle-Allianze, bildet die Schlußapotheose.
Es liegt ein welthistorisches Trauerspiel in diesen
fünf Szenen; die Tatsachen an und für sich wirken er-
schütternd. Es kam darauf an, sie zu ordnen und in
Hauptzügen herauszuarbeiten: eine einleitende Szene —
dann die kritische Stunde der Engländer — Napoleon
ganz nahe am Ziel — und nun die Peripetie durch die
Preußen. Qrabbe scheint sich nicht ganz von der Bühne
emanzipiert zu haben und viele Schwierigkeiten ließen
sich wohl beheben. Aber in Einzelheiten vergißt er doch völlig
die realen Maße. Somerset ist nach fünf Zeilen von seiner
Verfolgung zurück. Lobau gibt den Befehl: Feuer, und Bülow
sagt: gleichfalls. In der Hermannsschlacht erst hat der Dich-
ter alle möglichen Formen gesprengt Für eine Inszenierung
ließe sich wohl mit Hallgarten von einer Verwandlung
des Prospekts mancherlei erwarten. Denken wir uns die
Bühne in unserer Phantasie, oder lesen wir Orabbes
Szenen etwa in einem Panorama von Waterloo, so ist es
unmöglich, dieses monumentale Ereignis intensiver nachzuer-
leben. Immermann nennt Qrabbe einen Blücher der Poesie.
Hebbel — dieses Mißverstehn bei geistig verwandten Män-
nern ist psychologisch merkwürdig, findet sich aber häufiger —
vergleicht Orabbes Napoleon mit einem Unteroffizier. Im Gründe
haben wir nur Dialoge und Monologe der Hauptpersonen, unter-
brochen von einigen Episoden, das Heer ist nicht der Träger.
Aber es zeigt sich doch gestaltende Kraft in der Gruppierung
riesiger Massen, und in den kurzen, schlagenden, schmettern-
den Epigrammen erscheinen gleichsam die Tatgedanken schöp-
ferischer Schlachtendenkergehirne in plastischer Realität Da-
gegen hat er nicht etwa die Greuel naturalistisch ausgebeutet.
- 250 -
Die Einheit des Dramas ist von den literarischen Blättern
gut bezeichnet worden: ein dramatisches Epos, in welchem
man den französischen Liberalismus (Foucht, Carnot, Labe-
doyere), den englischen Nationalhaß und das junge deutsche
Volksgefühl die drei Gottheiten nennen könnte, welche zu Napo-
leons Individualität in Beziehung tretend den Knoten schärzen
und lösen. — In den ersten Akten haben wir ein vorzüglich
gelungenes Milieudrama; aber die Absicht ist eine doppelte:
Napoleon wird gegen Ludwig ausgespielt, und wieder könnte
man fast glauben, es würde Qrabbe gelingen, Napoleon als
Getragenen und Geschobenen zu zeigen, als Fähnlein am
Mäste der Revolution, während er wahnbelangen sich als ab-
soluten Gipfel fühlt. Aber obwohl die Idee des Liberalismus
noch in den letzten Akten auftaucht, so fällt Napoleon doch
nur durch eine verlorene Schlacht, nicht aus Zeitnotwendigkeit.
Vortrefflich gelungen ist es Grabbe, den Schatten Napoleons zu
zeigen, wie er alle Verhältnisse durchdringt und beherrscht.
Sodann charakterisiert sich Napoleon selbst in Monologen,
die die Tragik seines Schicksals enthüllen, und zuletzt er-
scheint er als Gott der Sohlachten; aber gerade wo er das
schimmernde Gebäude seines Ruhmes errichtet, auf der Wahl-
statt, tut er den jähesten Fall. Aber die eigentliche Aufgabe
im Zusammenhang des Ganzen, das Schicksalsnotwendige des
Helden nacherleben zu lassen, ist nicht in voller Klarheit ge-
stattet Wozu aber hätte er sonst gerade die 100 Tage gewählt?
Sie sind doch sonst nur ein Abenteuer, dessen Ausgang nicht
ungewiß ist« So verpufft wieder eine fruchtbare Idee und wir
haben dafür einen Knalleffekt, wie in Heinrich VI. Schon
Faust kam zu einem negativen Resultat, als er nach dem Sinn
der Geschichte suchte. Hier aber hilft sich Grabbe, dessen
Sympathie geteilt ist zwischen dem früher vergötterten Kor-
sen und der nationalen Freiheitsliebe, dadurch, daß er den
Weltlauf als von zweideutigem Wert hinstellt Stellt der
hämische Weltgeist Napoleon ein Bein in dem Augenblick,
wo er sich zu Ende ausleben könnte? Soll die Julirevolution
17*
- 260 —
nur durch Waterloo herausgeschoben erscheinen? So bleiben
die letzten Absichten in einer nicht unbeabsichtigten Un-
gewißheit Qrabbe hat wieder außerordentlich viel gewollt und
tolle Kombinationen gewagt In die kurze Spanne der 100
Tage werden hineingedrängt Ereignisse von 1789— 1831. Die
Journalisten spielten z. B. zur Zeit Napoleons bei weitem
nicht die Rolle, wie es Foucht glauben machen will, und die
letzten Worte Napoleons deuten zurück auf den doch bereits
tagenden Wiener Kongreß und wieder prophetisch auf die
Julirevolution.
Qrabbes Napoleon ist reich an großartigen Zügen und
glänzenden Charakteristiken. Der Gestaltungskraft und dem
historischen Tiefblick zollen wir hohe Bewunderung. Momente
von gewaltiger Tragik klingen an. Ist Qrabbe auch hier zu
einer endgiltigen Klarheit und Harmonie nicht gelangt, so ist
das Schauspiel einer riesenhaft gärenden Seele doch immer
imposant Qroß ist der Plan, nach dem Qrabbe geschaffen
hat, aber die einzelnen Teile zeigen eine zu große Selbständig-
keit und man kann sie nur gewaltsam verbinden. Ansätze
bleiben unausgebildet, Ideen, die groß und wichtig schienen,
schwinden wieder oder lassen sich mit neuen Intentionen
schlecht verschmelzen. Von der Bewertung dieser Schwächen
wird das Urteil über die Dichtung wesentlich abhängen. Zu-
nächst zeigt er ein schwaches Königtum, einen wohlmeinen-
den Liberalismus und die entfesselte Revolution des souveränen
Pöbels. Die Zeit kamt mir gerettet werden durch die Despotie
des einzelnen Starken. Was Qrabbe hier schildert, paßt nur
auf den Napoleon der ägyptischen Expedi-
tion, der seine Unentbehrlichkeit für Prankreich bewiesen
hat. Der zweite Teil zeigt Napoleon den Gebannten mit den
Gedanken, die er auf St Helena ausgesprochen hat, der
der Menschheit das Heil gebracht hätte, wenn die Welt nicht
zu klein gedacht hätte. Die gewaltige Seele des großen Korsen
enthüllte sich in ihrer großartigen Tragik. Aber der Zweifel
schleicht sich in das übermenschliche Selbstgefühl, ob die
— 261 —
Rolle, die ihm das Schicksal angewiesen, nicht doch erfüllt
ad. Und auch der Dichter kann sich nicht für eine bestimmte
Ansicht entscheiden. Er hat Napoleon kleiner genannt als die
Revolution und er hat einen völkerbeglückenden Liberalismus
ausgespielt gegen die Despotie. Er will Napoleons Unter-
gang als scbicksalsnotwendig hinstellen, aber er entschließt
sich doch nicht, den Lauf des Schicksals als vernünftig zu be-
zeichnen. Sein starkes nationales Empfinden aber hindert ihn
auch wiedtr, sich in farblosem Kosmopolitismus rückhaltlos
zu Napoleon zu bekennen. Ob nicht der Historiker dem Dich-
ter das Konzept etwas verdorben hat? Der Historiker strebt
nach Objektivität, die für die verzehrende Leidenschaftlichkeit
Orabbes so sänftfgend wirken konnte, und sucht allen Parteien
gerecht zu werden, der Dramatiker aber bedarf des Kon-
fliktes, er wird der Gegenmacht nicht gleiches Recht zu-
gestehn. Andrerseits brauchte Qrabbe zur Erfüllung der Tra-
gödie den Untergang Napoleons. Darum wählte er die
100 Tage. So hatte er die Kühnheit, den ganzen Napo-
leon, in dem ein ewiges historisches Gesetz Fleisch geworden,
im Rahmen einer ganzen weltgeschichtlichen Epoche vor uns
dramatische Gestalt gewinnen zu lassen. Und damit nicht
genug: Sein Geist, seine eignen Ansichten müssen soviel wie
möglich hinein. — Übrigens» symbolisiert sich im Napoleon etwas
von Orabbes eigener Dichtertragik: er schildert das Chaos
und die bändigende Kraft, die aber scheitert ehe sie sich ent-
falten kann an einer immanenten Tragik, durch Tücke des
Schicksals, oder infolge der Kleinlichkeit der Menschen.
Wie wir zeigten, hat die Rücksicht auf die Bühne Einzel-
heiten in Orabbes Drama beeinflußt. Des Dichters über-
wiegende Ansicht aber kommt in einer Äußerung wie dieser
zum Vorschein: „AU Drama der Form nach, habe ich mich
nach nichts geniert. Die jetzige Bühne verdienf s nicht.
Lumpenhunde sind ihr willkommen, dafür soll sie aber zu
den Dichtern kommen, so gewiß ich wieder gesund bin." Das
Stück ist denn auch zu Grabbes Lebzeiten nicht über
— 262 —
die Bühne gegangen; obwohl Immermann die Absicht
hegte, den Napoleon in Düsseldorf in Form von leben-
den Bildern oder Phantasmagorieen über die Bretter ziehen
zu lassen. Erst 1895 erlebte das Stück seine Wiederauferstehung
auf den Brettern. Adolf Stoltze bearbeitete in diesem
Jahre das Drama für Prankfurt a. M. Die einzige im
Druck erschienene Einrichtung ist die von E. O. Flüggen,
die in Wien (1900) und Berlin (1898), wo im Belle-alliance-
theater 70 Aufführungen stattfanden, zur Darstellung gelangten.
Zu erwähnen sind noch die Versuche von Ackermann (Straß-
burg 1898) und von Hagemann (Essen 1900) Qrabbes Napo-
leondrama für die Bühne zu retten.
Mit „Napoleon 4 * war Qrabbes Gestaltungskraft noch keines-
wegs erschöpft. Er suchte nach einem Sammelbassin für alle
möglichen Ideen, die ihm zuströmten. Wieder sollte es ein
aktuelles politisches Thema sein. Kettembeil brachte ihn auf
einen „Kosciuszko". Erhalten sind von diesem nie ganzvollen-
deten Werk nur 2 Szenen, die D r. H a 1 1 g a r t e n neuerdings
im Nachlaß des Schriftstellers Hartenfels entdeckt hat. Ober die
wunderliche Art des Schaffens und über Qrabbes Absichten,
die teils innerlich in seinen politischen Ansichten und Lebens-
anschauungen wurzeln, teils äußerlich aus Sensationslust her-
vorgehen, können wir uns aber nach den Briefen ein Bild
machen.
Orabbe ergreift ein Thema, nicht weil er dafür begeistert
ist, sondern mit kritischer Tendenz, weil es aktuell ist. So
hat Qrabbe die herrschende Polenbegeisterung, die eine reiche
Literatur auslöste, nicht mitgemacht. Man schwärmte in Lied
und Prosa für sie, wie ehemals für die Hellenen. Herloßsohn
sang: „Wirst du jetzt nicht, wirst du niemals frei. In der
Weltgeschichte steht die Präge: Ob ein Polen sei, ob keines
sei". Qrabbe ist wieder ernüchtert, blasiert, satirisch, ohne
Glauben an Größe, Kosciuszko nennt er einen bornierten
Kopf und die Polen, diese Juden Europas, eine verrottete
— 263 —
Gesellschaft. Sodann will er den Plan seines Revolutions-
dramas damit verbinden: auch Robespierre und Danton will er
hineinbringen, persönliche und literarische Satire und was nicht
alles sonst. Er selbst will als Dichter in brillanten Prologen
auftreten. Er überschlägt sich vor Obermut und seine Rc-
nommage wird immer üppiger. Seine Schöpferkraft sei im
Wachsen begriffen und er müsse sich von einer Innern Überfülle
entladen und befreien. Ein bestimmter Konflikt, ein begrenztes
Thema ist also gar nicht Qrabbes Sache. Es kommt darauf
an, möglichst viel unterzubringen, und immer wieder ver-
schiebt sich Plan und Umriß. Er hat das fast vollendete Werk
dann liegen lassen. Er gibt Immermann die Oründe dafür
an (13. 35.) und zwar behauptet er, daß seine monarchische
Gesinnung zu wenig zu dem herrschenden Liberalismus
stimme. Dies ist für den Dichter des Napoleon recht Charakte-
ristisch. Aber wir sahen auch, wie ein solcher innerlicher
Grund Grabbe von der Portsetzung der Hohenstaufen absehn
ließ. Doch kommt auch hinzu,, daß ihm die Form zu eng
wurde und daß er kein Maß und Ziel kannte. „Es soll alles
darin seyn, was in Wissenschaft, Kunst und Leben bis dato
passiert ist — essoll besserwerden als Goethes
Faust." Weich unermeßlicher Abstand zwischen dem in hei-
liger Schöpferstimmung schaffenden, zur Harmonie gelangten
Weimarer Olympier und dem wilden Ehrgeiz des vielbegabten,
aber auch von so niedrig-irdischen Trieben beherrschten Prome-
thiden! In . solchen Äußerungen verrät sich die Schranke des
Menschen und Dichters Grabbe auf das Empfindlichste. Das ist
eines der kuriosesten Zeugnisse von Grabbes vermessenem
Wahn, etwas schon äußerlich Monumentales, Riesiges, Alles-
überbietendes zu leisten. Dennoch läßt der Dichter es bei
dem Schaffen selbst an künstlerischer Gewissenhaftigkeit nicht
fehlen.
Die beiden erhaltenen Szenen lassen bedauern, daß nicht
das Ganze erhalten ist, von dem auch das Szenarium, das
von Hartenfels niedergeschrieben wurde, nur so viel verrät,
— 264 —
daß Schlachten, das Leben der Straße und das Treiben am
Hof den Charakter des Stackes bestimmen sollten. Wir
können den Kontrast an zwei Szenen ermessen,, von denen die
eine das Interieur des Hofes schildert, während die andere
eine Probe der realistischen Massenszenen bietet — Ance-
lots Katharina II. dürfte dem Dichter in der 1. Szene vor-
geschwebt haben, in der die Dolgoruki die um den Garde
leutnant Lanskoi trauernde Herrscherin tröstet* Sie lenkt ihre
Gedanken auf den Taurier, dessen Charakter durch ein ge-
schicktes technisches Mittel expliziert wird, indem jedesmal
auf ein tadelndes Wort der Kaiserin die Fürstin mit einem
Lob reagiert. Der Taurier erscheint und zeigt im ersten
Moment die Gewalt seiner Persönlichkeit, Die Lage wird er-
örtert, die französische Revolution erwähnt, in einem an
Gothland anklingenden Schlachtbericht die Erstürmung Ocza-
kows geschildert. Die ungefüge dick aufgetragene Satire, die
Buffonerie, die absichtlich robe barbarische Gewaltsprache, die
trotzdem mit allerlei Pikanterien angefüllt ist, zeigt die Ent-
wicklung des Grabbeschen Stils sich allmählich der Eigenart
des Hannibal nähernd. Es ist Grabbes Freskoschrift, wenn
Österreich und Preußen russische Schilderhäuschen werden
sollen, seine individuelle Prägung,, wie Katharina sich in
Positur stellt, wie Potemkin die in Rücksicht auf die Öffent-
lichkeit geübte Herabsetzung Katharinas abwehrt, wie die
Kaiserin Cercle hält; teils übersehend, teils herablassend,, teils
drohend. Katharina ist die Kaiserin, aber Potemkin ist mäch-
tiger. Das Bruchstück liest sich wie ausgegrabene Fragmente
eines seltsamen Barbarenvolkes, das bei aller Roheit und Grau-
samkeit einen Zug von sardonischem Witz und von parodistisch-
groteskem Humor zeigt. Die 2. Szene zeigt eine polnische
Judenschenke: Bauern, die nicht bezahlen, zerlumpte aber
stolze Edelleute, die sich gegenseitig mit Gläsern bewerfen,
im Feld aber sich ganz anders zeigen, ein russischer Soldat,
der sich durch eine Ohrfeige imponieren läßt; die Juden
denken an ihre verlassenen Himmel, wie die Polen die Heimat
lassen müssen.
VIII. Kapitel
Liebesleben und Ehe — Flucht aus Detmold
Was ist die Welt? — Viel ist — viel war Sie wert — man
kann d'rin lieben!
Don Juan und Faust IV. 3.
»Wie kann ich existieren, wenn das, was mir über alles lieb
war, schofel ist?
Oribot an Petri 201 Novbr. 1881.
Kraft ist nichts, wenn sie nicht Qlück schafft Ich kämpfe
um inneres Qlück mit aller Kraft.
Orabbe an Kettombell 29. L 1882.
Nie ist Orabbe glücklich gewesen. In ihm wohnte der
Dämon. Die äußeren Verhältnisse lassen sich gar nicht so
ungünstig an: er macht rasche Karriere, die Eltern stehen
ihm in teilnahmvoller Treue zur Seite, der Erfolg der ersten
Dramen scheint wenigstens eine verheißungsvolle Perspektive
zu eröffnen. Der unbändig unruhige Geist fand in alledem
nicht Frieden und Lebenserhöhung. Fünf Jahre lang brannte
es wie ein Feuer in seiner Seele, in der, seufzend nach Er-
lösung, die Zweifel rangen um die Lösung eines wichtigsten
Lebensproblems. Würde die Liebe ihn freimachen aus innerer
Zerrissenheit oder gehörte er zu den Verfluchten und Ver-
dorrten, die abseits vom Lebensquell dahin siechen. In „Don
Juan und Faust" hatte er das Mysterium der Liebe zu ent-
rätseln gesucht und elementare Olut erwärmte selbst die kalt
bizarren pardoxen Schlußszenen. Aber wo war da die wahr-
haft beglückende Liebe enthüllt? Für Don Juan war das Weib
— 266 —
nur das Gefäß der Sinnenlust, Paust vermochte es nicht vor
seinem Verstand zu rechtfertigen, warum ihn dunkler Drang
und namenlose Sehnsucht hintrieb zu einem „hübschen Ge-
wächs ohne viel Geist**. Was sich in dieser Dichtung ab-
spielt, ist ein Wiederschein von jener ersten Verliebung»
welche die Jahre 1828-27 erfüllte. Der Gegenstand dieser
Neigung war Lucie, die Tochter seines Gönners, des Archiv-
rats Clostermeier, der 1829 starb. Vielfach betrauert,
wie es in einer Ode Freiligraths zum Ausdruck kommt:
Ihn betrauert das Land, dem er die Manneskraft,
Treu des Herrschers Geschlecht, bieder und gut geweiht.
Ach, wie Lippias Rose
Ernst den Purpur der Blätter senkt 1
Ihn betrauert, beweint würdiger Männer Schar,
Deutschland trauert um ihn; weinend des Ruhmes Kranz,
Für die Schläfe des Greises
Flicht die trauernde Wissenschaft*
Mit dessen Nachlaß beschäftigt, drang Grabbe in Lucie und eine
gewisse freundschaftliche Achtung und geistige Gemeinschaft
war ja auch vorhanden. Auch auf schriftlichem Wege tausch-
ten beide ihre Gedanken aus, z. B. schenkt Grabbe ihr seinen
Barbarossa, worauf Lucie sich im Juli in einem affektierten
Billet bedankt. Als er aber im September anfragte, lehnte die
Archivrätin für ihre Tochter ab — war es nun einfältiger
Stolz, der die Verbindung mit der Familie des Zuchthaus-
verwalters als unfein ablehnte, oder war es die tiefste Ein-
sicht? War die Exzentrizität Grabbes daran schuld, dessen
fürchterliche Aufgeregtheit dreimal in gewaltsamer Drohung
explodierte, der mit der geladenen Pistole Liebe heischte, der
sich von heimlichen Feinden verleumdet und verfolgt sah?
Nach solcher Exaltation folgt der jähe Absturz in ein
abgründiges Gefühl von Armseligkeit und mitleidswürdigem
Elend, worauf der Dichter dann wieder in einem tollen Leben
Zerstreuung sucht oder dem Roß die Sporen gibt, um ins Weite
zu fliehn.
— 267 —
Kaum hat Grabbe diese Enttäuschung überwunden, so
kämpft er mit schweren körperlichen Leiden, die ihn an eine
Kur in Wiesbaden denken ließen. Ende 1829 brach er beim
Schlittenfahren den Arm und mußte bis Ende Januar 1830
liegen; zu diesem Ungemach kam noch der Biß eines tollen
Hundes, dessen giftige Wirkung aber Grabbe durch seine
eigene innere Giftigkeit und Tollheit zu paralysieren glaubt.
Sein Magen ist krank, er leidet an Gicht und Podagra; dazu
treffen ihn alle vier Wochen Nervenschläge mit schauderhafter
Kraft. Er bringt Wochen im Bett zu und erledigt seine Korre-
spondenz durch Diktat Der Kranke macht eine Erholungsreise
an den Rhein, nach Mainz, Straßburg, vielleicht bis Paris. Ein-
mal hängt sein Leben nur an einer Viertelstunde Apotheker-
geschwindigkeit. Sein Arzt, der Hofrat Piderit sucht ihn vor
allem von seiner Trunkfälligkeit zu heilen; er verordnet
Diät und Grabbe begnügt sich denn auch morgens mit einem
Glase Wasser. Sehr wohl aber sah auch der Arzt ein, daß
Grabbe keineswegs nur mit Medikamenten zu heilen sei, son-
dern wie all dieses Kranksein des Dichters zusammenhing
mit dessen unruhvoller innerer Natur, also auf psychisch-ner-
vöser Grundlage beruhte. Der originelle Patient erfordert
eine originelle Heilmethode. Er muß Entladung und Ab-
lenkung haben durch eine kriegerische Campagne oder — er
soll heiraten! Daß Grabbes Kräfte so durch Siechtum
unterwühlt wurden, darf man aber nicht allein durch Un-
regelmäßigkeiten und Ausschweifungen begründen, vielmehr
wirkt auch eine fieberhafte Produktivität dabei mit.
Das »ewige Sitzen und Arbeiten an dem Ungetüm Napoleon"
hat ihm Blutbrechen zugezogen. Im Frühjahr 1830 gibt Grabbe
zwar der Literatur wegen seine Advokatur dran; er arran-
giert deshalb sein ganzes Vermögen, sodaß er gelegentlich
in Geldnot kommt, zum Teil weil er allzu bereitwillig borgt.
Aber auch die Beschränkung auf rein militärische Angelegen-
heiten scheint noch viel Zeit und Anstrengung gefordert zu
haben. Besonders häuft sich die Arbeitslast Anfang 1831, als
— 268 —
das Lippesche Bataillon ausrückt; da muß er von morgens
7 Uhr bis abends 6 Uhr mit einer viertelstundigen Mittagspause
arbeiten. Die Art dieser Tätigkeit war sicherlich wenig ge-
eignet, den Geist der Poesie zu entzünden und aufs Erhabene
zu richten, sie befruchtete aber das komisch-realistische Ele-
ment in seinem poetischen Werk. Da handelt es sich „um
Soldateneinro liieren, um Bräche, Ausfall von Mastdarm und
daraus resultierender Dienstuntauglichkeit, um Stellvertretung
und Versierung der Pässe".
Dazwischen ringt des Dichters Phantasie nach plastischer
Gestaltung. Immer wieder rafft er sich auf mit krampfhafter
Entschlossenheit, allen Gewalten Trotz bietend, und man ver-
steht das Gepräge dieses lapidaren aphoristisch-epigramma-
tischen Stils, in dem dieser gehetzte explosive Geist sich ent-
lädt. Dabei reflektieren alle geschichtlichen und literarischen
Ereignisse. Und auch hier bekämpfen sich die verschiedenen
Seelen seines krankhaft-überreizten Innern in tollem Wider-
spruch. Der Enttäuschte schiebt die Schuld seiner Mißerfolge
auf Verleumder und Neider oder auch auf die herrschende
Uterarische Übersättigung. Er selbst hat es an Ausposaunen
und marktschreierischer Reklame nicht fehlen lassen. Aber
unverholen spricht sich sein Neid aus über Börne und Heine,
die durch geniale Flugblätter sich eine rasche und leichte
Popularität erringen; er überhäuft mit Schmähungen seinen
erfolgreichen Nebenbuhler Raupach. Seine Sympathie für
Schiller nährt sich z. T. auch aus den trüben Lebensschick-
salen dieses Dichters, um so heftiger aber greift er den Olym-
pier Goethe an, für den er einst „unbegrenzte Verehrung* ge-
heuchelt hatte, und nirgend enthüllt sich schroffer die
Schranke seines Geistes, der nur die dramatische Exal-
tation als Gipfel der Kunst erkennt und dem trotz der
realistischen Neigungen die schlichte Naivität einer edlen
Lyrik ein verschlossenes Geheimnis blieb. Jetzt aber
nennt er den Weimarer Altmeister einen „eitlen alten Narren"
und bei der Veröffentlichung des Briefwechsels mit Schiller
— 269 —
verspottet er diese „Hemdausziehereien". Er selbst fühlt seine
Isolierung und sucht, doch vergebens, Anschluß: bei Herloß-
sohn, dem Herausgeber des „Cometen", oder bei Wolfgang
Menzel, mit dessen Ansichten er aber keineswegs völlig fiber-
einstimmt Er sucht aktuelle zeitgemäße Stoffe und ist doch
der Oberzeugung, daß die wahre Bühne nur in der Phan-
tasie existiert Er verschärft die Spannung mit dem feind-
lichen Leben in einem kapriziösen Eigensinn, einer bizarren
Originalitätssucht. Es ist wie ein wilder, toller Wirbelwind
in all seinen Ansichten, in seinen brieflichen Äußerungen be-
kunden sich ätzender, schneidender Hohn und sonderbare
Eingebungen: wenn er z. B. über die Beseeltheit der Erde
phantasiert, Tiefsinn in das Gewand roh naiver Verrücktheit
hüllend. Was ihn aber verzehrt und innerlich verbittert, dann
aber wieder in Gleichgültigkeit und Apathie hinabstürzt, das
ist einerseits eine furchtbare Enttäuschung, da sich seine ver-
messenen Wünsche so gar nicht erfüllen, andererseits aber
auch eine unglückliche Liebe.
Im Frühjahr 1830 hatte Grabbe im Hause des Kaufmanns
Husemann Henriette Meyer kennen gelernt Henriette
war wenig gebildet, aber schön, jung, sittsam. Im April schreibt
Grabbe: „Ich bin kräftig, tätig, sogar etwas verliebt**. Ein
einfaches Mädchen aus dem Volk, ein schlichtes Glück, daran
der Dichter gesunden wollte. Ein ganz gewöhnliches Men-
schenglück wollte er und konnte es doch nicht festhalten und
konnte doch wieder auch nicht sagen, daß es ohne seine
Schuld so kommen mußte. Zwischen unglaublicher Zaghaftig-
keit und übertriebener Leidenschaftlichkeit schwankte seine
Werbung, die einen Widerhall im Napoleon gefunden hat. Der
Mantel, den Henriette getragen, um als Marketenderin mit
ihm zu ziehn, bildet ein Reliquie in seinen Liebeserinnerungen.
Frühling 1831 kam es zur öffentlichen Verlobung. Nur zögernd
hatte sich Henriette dazu verstanden. Sie erschrak vor den
Exzentrizitäten und seltsamen Launen ihres Bräutigams. Der
bestand auf der Erfüllung irgend einer eigensinnigen Grille:
— 270 —
so mußte sie zu bestimmten Zeiten ein bestimmtes Tuch von
ihm tragen. Oder er quälte sie auf einen Spaziergang mit
der Vorstellung, er werde gleich in den Graben springen.
Auch in seinen Aufmerksamkeiten war er keineswegs gleich-
mäßig, er vernachlässigte die Braut gröblich und bat dann
leidenschaftlich um Verzeihung. Aber Grabbes Briefe lassen
die Tiefe seines Gefühls ermessen. Henriette hob endlich das
Verlöbnis auf und zog einen Blaufärber vor, einen Philister,
den sie besser verstand. Grabbe aber forderte den glück-
licheren Rivalen vor die Pistole. Daß sich ihm dieses ein-
fache Mädchen versagte, bedeutete viel für Grabbe. Er verlor
die Möglichkeit, sich anzupassen und einzufügen, sich aufzu-
raffen aus dem Tumult niedrigen Kneipenlebens und von dem
Fieberrausch verstiegener Phantastik zu großem und echtem
Leben, ein schlichter, glücklicher Mensch zu werden. Einige
Äußerungen mögen zeigen, wie tief doch Grabbes Schmerz
ging. „Vor V/ 2 Jahren war es, daß ich um meine Einkünfte
jeder Art, um meine Geisteskräfte, um alles gekommen und
ein Baum geworden bin, von dem ein Blatt nach dem andern
fällt" (14. 1. 32) . „Ach die Jette laß ich nie, Sie alle scheinen
hart und kalt wie ich, sonderbar und schroff. Es bricht doch
einmal im Herzen los." — „Es ist dumm und schlecht, auf
so elende Manier treubrüchig und flüchtig zu werden. Was
Erhabenes vermutete ich in der Henriet nicht, aber ehrlich
und sicher wie Gold hielt ich sie." (8. 11. 31.) - „Wie kann
ich existieren, wenn das, was mir über alles lieb war, schofel
ist?" Ein Memoire schildert den Seelenzustand : es ist das
merkwürdige Dokument einer an sich innegewordenen Men-
schenseele, das halb Mitleid, halb Grauen erweckt.
Petri suchte noch einmal durch Husemann zu vermitteln.
Grabbe scheint sich noch einmal der Geliebten genähert zu haben.
Das Faustmotiv klingt an: „Sie flieht vor meiner Geistesgröße
und ich bin doch wie ein Kind." Wenige Jahre später starb
die Jugendgeliebte. Grabbe schrieb: ich bin ganz ruhig —
ein Stern über ihrem Grabe.
— 271 —
Tief zerrüttete Orabbe diese unglückliche Liebesepisode.
Er hat das Glück gesehn, aber es nicht erreicht. Aber nun
suchte Lucie ihn und die Umstände machten Orabbe geneigter.
Luise Christiane Clostermeier (geb. 15. Aug.
1791, gest. 17. Okt. 1848) war jedenfalls als einziges Kind gut
situierter Eltern sorgfältig erzogen. Sie war ein altes Mädchen
geworden und füllte ihre Mußestunden mit eifrigem Lesen
aus. Er scheint aber nicht, daß ihre Interessen im übrigen
weiter gingen, als die anderer alteingesessener Detmolder alter
Jungfern» die in alle Familiengeschichten eingeweiht, doch selten
über die Mauern ihres Städtchens hinausgekommen sind.
Duller, der in ihrem Sinne bestellte Arbeit lieferte, rühmt
ihre ebenmäßige Ruhe. Zum Ausreifen hatte sie ja allerdings
Zeit gehabt und das Jugendfeuer war sicherlich längst ver-
flogen. Ziegler beschreibt sie als ein Mannweib, die etwas
Hartes, Hastiges in ihrem Wesen hatte. Während Ziegler aber
ihre blendenden körperlichen Vorzüge, schöne Augen und
üppigen Wuchs, hervorhebt, erscheint sie Freiligrath, der mit
zärtlicher Dankbarkeit an seiner „lieben Mamsell Closter-
meier" hing, und Levin Schücking, die sie 1839 besuchten, als
eine kleine wohlgenährte überaus lebhafte Frau mit klein-
städtischen Manieren ohne besonder« großen Horizont So-
lange die Briefe, die sie an Freiligrath, der in dieser Ver-
bindung als wichtiger Zeuge erscheint, schrieb, nicht ver-
öffentlicht sind, bleibt noch ein letztes Wort der Verteidigung
für Frau Lucie möglich. Nach dem Vorliegenden kann sie
auf Sympathien nicht rechnen. Die Beziehungen, die Orabbe
und Lucie zusammenbrachten, sind verschiedener Art: dienst-
liche, literarische, von altersher freundschaftliche. Einige Billete
bezeugen den literarischen Meinungsaustausch. Sie protegiert
den jungen Freiligrath, Orabbe soll dessen Gedichte für das
Morgenblatt anempfehlen. Dieser korrigiert darauf etwa dessen
jugendlich idealisierende Auffassung von Barbarossa. Sie
schickt Grabbe das Werk eines Dichters aus der Nachbar-
schaft, Klemms Herfest, oder sie fordert ein Urteil über des
— 272 -
Vaters archivalische Lokalforschungen. Der Audlteur ver-
galt die Wohltaten und Anregungen, die ihm aus dem Closter-
meierschen Hause zukamen, indem er sich z. B. bei der Ein-
quartierung gefällig erwies. Von den Aufforderungen zu per-
sönlichen Besuchen scheint Orabbe weniger Oebrauch ge-
macht zu haben. Er litt unter der Empfindung, mit seinem
Auftreten wenig Eindruck zu machen, die Rolle des deutschen
Michel zu spielen. Er drückt sich gern, entschuldigt sich mit
seiner Vielbeschäftigtheit oder seiner üblen Laune. Auch das
Verhältnis zu Henriette hielt ihn zurück. Bis zur Entlobung
sind 7 Briefe an Lude erhalten. Der „dumpfe Gast", der
„zerrüttete Teufel* hat sich meist entschuldigt, endlich kommt
er am Tage des BastUlensturmes. Sein Ton wird wärmer:
„Sie herrlichen, obgleich oft eigenwilligen, aber so guten zu
bewundernden Menschen." Am 28. Juli 1831 starb die Archiv-
rätin Clostermeier, am 15. Dezember schied der alte Orabbe
aus dem Leben. Er starb zu rechter Zeit, da die Freude über
die Berühmtheit des Sohnes noch nicht zerstört wurde durch
den Schmerz über das tragische Ende. Orabbe dachte des
schlichten Mannes in wehmütiger Erinnerung und der Geist
des guten Alten erschien ihm in irgend einer sprechenden
Situation und Gebärde noch öfters. Schon vorher aber führte
das Unglück die beiden zusammen: die Verwaiste und den in
seiner ersten Liebe Betrogenen. „Das einzige Glück, welches
ich auf Erden habe, ist die Erlaubnis, Sie besuchen zu dürfen.
Aber ich bin für das Glück eigentlich zu verdorben." Grabbe
läßt sich einen netten Ring besorgen und berichtet an Kettem-
beil: „ich habe eine neue Braut, eine gute, gesetzte Person".
Am 4. Februar schreibt er: „Sollte man glauben, daß mich,
der ich mich und die Menschen verachte, noch Leute lieb
haben?"
Am 6. März 1833 wurde Grabbe und Lucie Clostermeier
getraut. Grabbe scheint nichts gegen das kirchliche Amt ge-
habt zu haben. „So, da haben wir nun das Unglück", rief der
glückliche Bräutigam ahnungsvoll auf der Schwelle der Vita
— 273 —
nuova in seinem verzweifelten Humor. Und ein Kundiger,
wie Freiligrath, schüttelte ernstlich den Kopf, als er von der
Verbindung dieser beiden, schon durch ihr Lebensalter so
verschiedenen Menschen hörte. Man versteht allerdings kaum,
warum diese ganz unglückliche unsinnige Ehe nicht unter-
blieben ist. Lucie kannte Grabbes Charakter sehr genau
schon vor der Ehe, aber sie lockte der literarische Ruhm des
Mannes, ohne daß sie aber eine Spur von Kongenialität be-
saß, und Orabbe hoffte wohl sicher auf ein tieferes Verständ-
nis für sein Streben. Keine leidenschaftliche Liebe, kein sinn-
liches Entbrennen führte die beiden zusammen. Man sehnte
sich beiderseits nach einem Heim, nach einem häuslichen
Herd. Eine sogenannte Vernunftehe! Immer ist die Ehe ein
Experiment und eine völlig glückliche ein Wunder. Ein Zauber-
kraft muß wirksam sein, damit sich zwei Menschen trotz
aller Gegensätze in einander verlieren. Hier fehlt die alles
überwindende Liebe und doch müssen diese verschiedenen
Menschen, der reizbare Mann und dieses im äußern Schein
befangene Weib, aneinandergekettet denselben Weg ziehn.
Was bei der Leidensgeschichte dieser Ehe auffällt, ist der gänz-
liche Mangel an Liebe und feinerem Taktgefühl. Immer spricht
nur die Vernunft und der Geschäftsstandpunkt kommt zur
Geltung.
Es liegt eine besondere Tragik darin, daß diese Ehe zwei
1>is dahin ehrenwerte Namen für alle Zeiten in eine lächer-
lich verunstaltende Beleuchtung gerückt hat. Wie anders
stünde Lucie Clostermeier da, wenn sie nicht Grabbes Frau
geworden wäre. Nun lebt sie fort als Xanthippe. Was sonst
als freier Bund der Herzen andern Menschen wie höchstes
Glück erscheint, was alle Wirren in schönste Harmonie aufzu-
lösen, zwei langbefreundete Familien zu ewiger Verbindung
aneinander zu schließen, ja die soziale Erhebung Grabbes in
gelungenster Weise zu symbolisieren scheint, gerade das läßt
die Geschichte zweier Geschlechter in schriller Dissonanz
Nieten, Chr. D. Qrabbe. 18
— 274 -
aufklingen, Fluch verfolgt nicht nur den unseligen Grabbe, son-
dern auch die mit ihm in Verbindung Tretenden. Man soll das
nicht rein äußerlich auffassen, vielmehr wird man wohl sagen
können: an dieser innerlichen Erfahrung ist Grabbe zu-
grunde gegangen. Dieser letzte schneidendsteBeweis eines feind-
lichen Geschicks, wie schwer auch der Anteil seiner eigenen
Charakterschwäche wiegen mag, hat ihn ganz zerbrochen. Nahe
winkte dem Ringenden der Oipfel der Vollendung, die Har-
monie, das Glück — da lassen ihn tückische Geister der
Finsternis straucheln und nun folgt bald der Absturz in die
jähe Tiefe.
Anfänglich scheint die Ehe einen günstigen Eiüfluß zu
üben. Grabbe benimmt sich mehr wie die andern Menschen,
er wird häuslich und vernachlässigt sich weniger. Das hält
aber nicht lange an, die Natur kehrt zurück. Die Gründe
für diese Rückfälle mögen in die Interiora der eheliehen Kam-
mer führen. Lucie als herrschsüchtiges Mannweib war ent-
täuscht von der Manneskraft ihres Gatten. Die Genialität des
Mannes hätte eine Aequivalent sein sollen für das Vermögen
der Frau. Grabbe hoffte, Lude würde mit ihm wegziehn in
eine größere Stadt mit reicherer Kunstanregung. „Sey gut,
sey edel, zieh mit mir weg nach Frankfurt." Sie kam aber
nicht entfernt auf diesen Gedanken. Ein andres kam hinzu.
Grabbe hatte eine reiche Frau und eine arme Mutter. Das
hat er zu fühlen bekommen. — Nun war auch Grabbe in
seinen Eigentümlichkeiten und Unarten so festgefahren, daß
er die Fähigkeit der Anpassung verloren hatte. Und es läßt
sich nicht leugnen, daß die alkoholische Betäubung sein, des
Selbstherrlichen, immer schwach entwickeltes Gefühl für mora-
lische Pflichten, für die ethischen Werte der Ehe immer mehr
erschütterte. Ein solcher Mensch sollte nicht heiraten. Er ließ
es an Diskretion und Takt nach außen ganz fehlen und er
ließ sich die empörendste Selbstpersiflage und die zynischste
Bloßstellung der internsten Dinge zu Schulden kommen. Wie
die beiden sich zanken, das hat etwas Kindisches 1 . Grabbe
- 275 —
vergaß sogar den Geburtstag seiner Frau und diese ließ ihn
nachts vor der Türe warten.
Die gegenseitige Enttäuschung und Verstimmung macht
sich in einigen Billeten Luft. Orabbe reimte:
Ach Lucie
Vor der Eh*
Da waren schöne Träume.
Nun blühn die Bäume,
Denkst Geld,
Mein Herz ist eine Welt,
Woraus es ist zu pressen —
Durch dich verdirbt das Essen.
Sieh die Natur,
Sieh Menschenseelen,
Und nimmer, nimmer sollst du dich verfehlen.
Oder:
O Lucie
Es war eine bessere Zeit,
Als du dich freutest, mich zu erfreuen,
Ich wegwarf das Gesicht des Leuen,
Jetzt Habsucht, kein Hoffen,
Das Grab allein, das steht mir ollen.
Lucie replizierte in „goldenen Regeln für Männer und
Weiber — insbesondre aber für meinen gestrengen Herrn Ge-
mahl von seiner demütigen Lucie".
Jetzt lieber Mann, jetzt spricht ade,
Dir die getreutf Lucie.
Christian!
Lieber Mann,
Brumme Bär,
Komm zu mir her,
Christian,
Denke dran,
Wie ich schmollte,
Die nicht wollte,
18«
— 276 -
Jetzt ach Christian,
Bist du doch mein Mann.
Und ach, ach Herr Christian
Nur zu oft ein Wehemann.
Christian!
Bist ein Mann,
Von zwei Naturen.
Siehe die Fluren,
Jetzt grün geschmückt.
Wie war' ich beglückt,
Wärst stets du der eine.
Der welchen ich meine,
Du, den ich allein kannte,
Als er sprach Amen,
In Gottes Namen.
Leider kräuseln sich hier nicht nur flüchtige Launen auf
der Oberfläche, sondern solche Äußerungen brechen hervor
aus sehr ernsthaftem Untergrund.
Den Angelpunkt aller Streitigkeiten aber bildete das Oeld.
Als die Ehe eingegangen wurde, wurde die Gütergemein-
schaft nicht ausgeschlossen. Hatte Lucie aber hierin gewilligt,
so konnte sie nur mit Orabbes Zustimmung anders be-
schließen. Das ließ sich Grabbe aber nicht abtrotzen, dem
man den Vorwurf üppiger Verschwendung wahrlich nicht
machen kann und der weit entfernt war, das Vermögen seiher
Frau zu vergeuden. Lucie brachte u. a. außer dem elter-
lichen Vermögen das Clostermeiersche Wohnhaus mit, das sie
dann später dem sterbenden Gatten bis in die letzten Tage
verwehrte. Grabbe besaß außer dem Gehalt 863 Taler
Ersparnisse und seinen Anteil aus dem ihm und seiner Mutter
gemeinsam gehörigen O arten; er suchte der alten Mutter noch
manche Zuwendung zu machen. Betrachtet man die Ehe nur als
Geschäft, so war Lucie die Benachteiligte. Um den Geldpunkt
drehn sich die vielfach kleinlichen, oft kindischen Streitigkeiten
und zwar schon vor dem Bruch. „Meine Frau ist von
— 277 -
Herzen gut, aber sehr eigen und nimmt alles in übertriebenem
Maßstab; sie glaubt, was sie denkt und versteht wie ein kleiner
Napoleon alles eroberte Terrain zu benutzen." Um einen kleinen
Siegelring konnte sie lange Schimpfkonzerte aufführen. Ja als der
Dichter fieberkrank in einer schwülen Gewitternacht im Bett lag,
hat sie ihn heimlich abgezogen und dann hohnlachend trium-
phiert. Diese Katzbalgereien, dieses gegenseitige Komödien«»
spiel — es sind lächerlich beschämende Szenen. Zwei größere
Dinge haben dann diese Ehe vollständig vernichtet: Lucie
konnte wegen der zerrütteten Gesundheit ihres Gatten sich
nicht in die Gothaer Witwenkasse einkaufen, das andre war
Orabbes Pensionierung. Diese zwei schwerwiegenden Kala-
mitäten griffen an die Wurzel von Luciens Existenz. Aber
sie hat den Kampf geführt ohne Gefühl für die höhere Natur
ihres Mannes mit steigender Härte, die zartere Regungen bald
erstickt; wie besonders in der gehässigen Behandlung der alten
Mutter Orabbes und in der untilgbaren Schmach der letzten
Szenen vor Orabbes Tod unzweideutig hervortritt. Hätte Grabbe
dieses Gefühl nicht gehabt, so würde er wohl in die Aus-
schließung der Gütergemeinschaft eingewilligt haben. Lucie
deponierte die 300 Taler, mit denen sie sich in die Gothaer
Witwenkasse einkaufen wollte, bei dem Mann ihrer Freundin,
dem Forstsekretär Kestner. Grabbe war hierüber ganz mit
Grund aufgebracht. Dem Regierungsrat von Meien hat er
schriftlich seinen Standpunkt vernünftig motiviert. Aber wie
er nun den Postsekretär fordert und wie Hamlet nach Polo-
nius nach dem vermeintlichen Gegner herumsticht und das
Haus durchstöbert, das hat etwas Komödienhaftes, Krampf-
haftes, Groteskes. Der Eifersuchtswahn der Säufer, wie wir
mit Piper glauben müssen, vergrößert noch die an und für sich
schon hinreichend unerquickliche Romantik der Wirklichkeit.
Mit dieser Ehe, die niemals hätte geschlossen werden
sollen, kam ein neuer zersetzender Einfluß zu den übrigen
hinzu. Der Krankheitsprozeß mit den fast noch schreck-
licheren Folgeerscheinungen schreitet vorwärts. Das Amt
- 278 -
wuchs Orabbe nun über den Kopf: er ließ die Papiere frei
herumliegen, gebrauchte Aktenfetzen als Fidibus und mischte
private Gelder mit den öffentlichen, sodaß ihn die vor-
gesetzte Behörde vermahnen mußte. Selten erwies ein Dichter
sich als guten Beamten. Man darf aber bei Orabbe ebenso-
wenig wie bei dem Amtmann Bürger vergessen, daß der künst-
lerische Drang immer einen großen Teil der Lebenskraft ver-
zehrt und daß gesetzmäßig den Forderungen des Lebens nicht
vollkommen gewachsen zu sein pflegt, wer im Dienste der
Kunst in eine andere Richtung fortgerissen wird. Bei Orabbe
ist freilich der Fall besonders kompliziert. Er besaß so
wenig inneres Verhältnis zu der Würde seines Berufes, daß
ihm auch sein Richteramt zum Komödienspiel wurde, indem
er bald als Tyrann auftrat, bald zu nachsichtig zeigte. Aber
er litt doch sehr unter den Ungereimtheiten dieses widerspruchs-
vollen Daseins. Er schrieb an Meien: er wolle den ver-
wickelten Posten eines Auditeurs makellos abliefern, „aber
meine Geisteskraft wird ruiniert, laß ich jeden Tag SO Bauern
und andern Arger hineinlaufen." Krank, in seinem Stolz ver-
letzt, in einer Fülle von Widerwärtigkeiten und Schwierig-
keiten suchte er nach einem Ausweg. Von seiner Frau war
nichts zu erwarten. Er hatte einmal bei Schiller gelesen:
Es soll der Sänger mit dem König gehn,
Denn beide wohnen auf der Menschheit Höh'n.
Es klingt fast wie eine — diesmal grausam unbewußte — Pa-
rodie auf dieses Dichterswort, wenn er seine Stimme zum
zweiten Male zu dem Fürsten erhebt: die Dichter seien die
sichersten Stützen des Thrones, sie müßten aber verkümmern,
wenn nicht ein freundlicher Blick von oben auf sie herabfalle.
Mit solchen Worten begründet Orabbe sein Oesuch, ihn der
Auditeurstelle zu entheben und ihm eine Offizierstelle zu über-
tragen. Das muß dem nüchternen Betrachter allerdings als
baare Unmöglichkeit erscheinen. Es ist ein höchst charakte-
ristisches Quidproquo, eine Vermischung von Phantasie und
- 279 -
Wirklichkeit. In seiner Phantasie ist Orabbe der Dichter der
Schlachtgemälde in Marius und Sulla, den Hohenstaufen, Napo-
leon, in Wirklichkeit ein total zerrütteter Mensch, dessen Seele
das Leid verwüstet, dessen Körper von Gicht, Blutbrechen, Ner-
venschlägen, Alkohol zerstört ist. Aber trotz allem hatte der
Dichter eine große Kraft einzusetzen und er hat sich nicht
so leicht unterkriegen lassen. Er zieht die Bilanz in folgen-
den Worten: „Noch bin ich frisch, noch lebenskräftig, noch
voll Poesie und Wissenschaft Soll ich dabei untergehn in
Sorgen und Beschwernissen? Nein, weg damit. In mir würde
viel gerettet: Glanz, Liebe, Ehre und Ruhm, leider aber nur
durch Poesie, die wir alle haben, aber auch alle bedürfen."
Das moralische Recht, mit dem der Dichter nach einer ihm
passenden Stelle strebte, ist klar und wird auch nicht ver-
schüttet, wenn die» Verlangen sich mit der eigenen Schuld des
Dichters verkettet. Dieses Gesuch um eine Anstellung als
Offizier ist nur das letzte verzweifelte Mittel, nachdem die
übrigen fehlgeschlagen: nachdem Grabbe eine Stellung am
Theater ebensowenig erlangt hatte, wie einen beherrschenden
Einfluß auf das literarische Leben seiner Vaterstadt, nach-
dem sich die Archivkarriere ihm verschlossen hatte. War
ihm eine seinen Talenten angemessene sichere Stellung ver-
sagt, so war der Sprung ins Dunkle vielleicht noch zu hin-
dern oder zu mildern durch seine Pensionierung. Am 21.
Februar 1834 erhielt Grabbe auf sein Gesuch eine abschlä-
gige Antwort; außerdem aber auch noch einen Verweis
wegen seiner nachlässigen Dienstführung. Nun war Grabbe
fest entschlossen, abzubrechen und zu gehn. Aber Petri sprang
rettend ein und veranlaßte den Dichter auf Grund seiner er-
schütterten Gesundheit einen Urlaub von sechs Monaten nachzu-
suchen, der denn auch bewilligt wurde. Die Amtsgeschäfte
waren derart in Verworrenheit geraten, daß ein junger An-
fänger nicht fertig wurde und ein älterer Beamter, ein Neffe
des Regierungsrates v. Meien, nur durch öffentliche Aufrufe
Ordnung schaffen konnte.
— 280 —
1 Die sechs Urlaubsmonate brachte Orabbe in Detmold zu und
die Perspektive ward verdüstert nicht nur durch die Hoff-
nungslosigkeit seines Lebens, sondern auch durch die häus-
lichen Verhältnisse. Die Poesie war sein einziger Trost. Die
Oberfülle von Ungemach hat Qrabbe mit stummem, stolzem
Schmerze getragen. Mit einem invaliden Hauptmann däm-
mert er schweigend in der Ressource, wie später in Düssel-
dorf mit Burgmüller — schweigend, denn die Rede der Menschen
ist doch meist Lästerung und Verleumdung. An den lustigen
Ausflügen der lebensfrohen jungen Welt konnte Qrabbe nicht
teilnehmen, seine Beine trugen ihn nicht und so war auch die
Flucht an den Busen der Natur erschwert. Die Kleingeister
spotteten über ihn, da sein literarischer Ruhm sich nicht als
treu erwies. Dabei ist er mit seiner Hast und Unruhe, seiner
Verstellung und Spottsucht auch für seine Freunde ungenieß-
bar. Weiche Stimmungen kommen über ihn und dawider
panzert sich sein Stolz mit zynischem Hohn. Der Anblick
dieser zerstörten Menschengestalt flößt Mitleid, aber da wo
sich mit der Verzweiflung auch der Wahnsinn verschwistert,
auch ein tiefes Grauen ein. Eine schauerliche Anekdote er-
zählt von seiner Perversion. Er sieht auf einem Spaziergang
in der Dämmerung Ratten über den Boden schleichen, infolge
einer Wette stellt er sich selbst auf alle Viere und in seiner
Einbildung als Kater geht er derartig in seiner Rolle auf,
das er die Ratten in den Mund nimmt und anfrißt. Was alles
sonst der Klatsch über ihn und sein eheliches Leben zu be-
richten wußte, »die Details bleiben in der Feder stecken* 4 .
Irgend ein spottsüehtiger skurriler Zufall, irgend eine
Schicksalstücke treibt ihn tiefer und tiefer in das Elend, zu
dem er prädestiniert ist. Dornen und Nesseln stechen über-
all. Das Leben wird zur Hölle. Orabbe nennt sich gern
einen Teufel oder er stellt Personen dar, die in höllisch-teuf-
lischem Bann befangen sind. Er selbst ist ein zerrütteter
Teufel, der im Aschpfuhl des Elends sitzt, der aber auch
nach Pech und Schwefel stinkt Man kann sagen, daß Qrabbe
- 281 -
die Beute verschiedener Teufel war: der Armut, des Alkohols,
des Siechtums. Aber alle Schauder der Hölle verblassen vor
dem Oefühl des Glucklosen, Gottverlassenen, der in dieser
liebelosen Ehe da Steine findet, wo er Brot des Lebens be-
gehrt, der nun endgilrig überzeugt wird, daß was noch heilig,
schön und edel gilt in der Meinung der Menschen, in Wahr-
heit für ihn eitel, schofel, Dreck ist. Krankheit nagte an ihm,
Enttäuschung und Neid zerfraß den Kern seines Wesens. Ein
Mann von ungewöhnlichem Talent, ohne eigentlich schlechte
Eigenschaften, und doch das unseligste Dasein, während doch
so mancher Unwürdige im Leben obenaufkommt Grabbe schuf,
krank und von Arbeiten überhäuft, seine Hohenstaufen und
seinen Napoleon in einer Zeit, in der doch nichts Dauerndes aus
der Massenproduktion aufragte, in der man in Dresden klagte:
man sieht nur abgestandene Stücke, am besten könnte dem
Mangel der wahrhaft geniale Grabbe abhelfen. Aus Berlin
weiß eine Theaterkorrespondenz nur von Raupach oder von
Armseligkeiten der Weißenthurn, von Töpfer, Holbein u. a.
zu berichten. Als Michael Beer starb, schrieb ein Literat:
die Bühne kümmert sich um die Dichter erst, wenn sie tot
sind. Grabbe stand ganz isoliert und unbeachtet da oder die
Kritik verwarf ihn wegen seiner Sonderbarkeiten. Zwar wird
er in Immermanns Reisejournal oder in Steinmanns Taschen-
buch der deutschen Literatur erwähnt, aber in Detmold spielte
er keine führende Rolle und mit seinen Gönnern verlor er die
Fühlung. Wir hören z. B. nichts davon, daß Grabbe sich
an dem 60. Geburtstag von Tieck, der 1833 in Berlin mit
Glanz gefeiert wurde, irgendwie beteiligte. Dabei stand
er keineswegs außerhalb, wenn es auch sonderbar ist, daß
Grabbe zuerst nach vorhandenen Vorbildern schafft, sich dann
aber, wenn diese von ihm eingeschlagene Richtung Mode
wird, abwendet und etwas Neues sucht. So blühte die Neu-
romantik durch V. Hugo in Frankreich und der Byronismus
erlebte dort seine Wiederauferstehung. Don Juan wird in
einer dramatischen Phantasie bearbeitet. Fausts zweiter Teil
— 282 -
erschien, Bechstein und Hoffmann traten in Goethes Fuß-
stapfen. Die Hohenstaufen Raupachs — sie wurden in fest-
licher Vorstellung bei Besuch des rassischen Kaisers Niko-
laus aufgeführt — klangen 1834 mit dem Konradin aus.
Niemand glaubte an eine Morgenröte nach Goethes Tod,
Grabbe sank dem Grabe entgegen. Man bricht über Grabbes
Liederlichkeit, seine vernachlässigte Amtsführung, seinen
Alkoholismus den Stab — aber zwei Jahre später ist er tot.
Die sechs Monate Urlaub gingen herum und eine Ver-
längerung wurde abgeschlagen. Die Loslösung erfolgt unter
ganz eigenartigen Umständen. Ein Bluff, ein Witzwort, eine
Verstellung. Der Regierungsrat sagt ihm: so ein Mann wie
Sie könnte doch von seinen schriftstellerischen Arbeiten leben.
Ein solches Wort Hei wie Zunder ins Pulverfaß, es weckte
die schlummernden Wünsche. Grabbe ging darauf ein und
ward entlassen. Die nüchterne Vernunft urteilt wie Frau
Lucie: Eitelkeit und Berufsüberdruß übertöne die Stimme der
Pflicht. Aber warum konnte man nicht einmal bei Grabbe
einen großherzigen Standpunkt einnehmen. Grabbe flüchtete
wie ein gehetztes Wild, von Innern und äußern Qualen ge-
peinigt, aus seines Daseins Hölle und vielleicht (sicher glaubte
er wohl selbst nicht daran), warum sollte er in einer großen
Stadt mit seinem Genie nicht aufkommen? Ein andrer gewiß
— aber Grabbe? Er hatte noch einen Sparpfennig, außerdem
erhielt er sein Gehalt bis zum Ende des Jahres. Die kaum
noch latente Krisis kam nun zum offenen Ausbruch. Frau
Lucie verharrte auf ihrem engen Rechtsstandpunkt. Die ganze
Kleinlichkeit ihres Charakters wird offenkundig, aber auch
Grabbe selbst war ohne Kraft und Vertrauen. Grabbe floh
das „Genie, dessen Glorie er am besten aus der Ferne be-
obachten konnte". Nur brieflich hat er noch mit Lucie ver-
kehrt. Aber die hier gewählte Tonart ist keineswegs so herb
und scharf und zynisch, wie man nach Grabbes mündlichen
Äußerungen erwarten sollte. Vielmehr bricht ein Verlangen
nach Ruhe und Versöhnung öfters hervor.
- 283 -
Wir besitzen noch «cht Briefe, die Orabbe an seine Frau
schrieb; zwei aus Frankfurt, vier aus Düsseldorf und zwei aus
den letzten Detmolder Tagen. Die verschiedene Schattierung ist
in der Anrede leicht angedeutet: Liebe — Frau — Liebe —
Lucie — Liebe Lucie — Liebe Frau — Frau — Frau. Der
erste Brief nach der Trennung klingt versöhnlich. Vielleicht
hofft er doch noch, daß Lude ihm folgen werde. Sie dagegen
bietet alle Mittel der Beredsamkeit auf, die Aufhebung der
Gütergemeinschaft zu erreichen. Es ist merkwürdig, wie sie
bei dieser einzigen Sorge doch noch ein Interesse für Literatur
heuchelt; so schickt sie ein Gedicht auf den Tod des
guten Blume. Dann aber fordert sie, »die alle Sachen hat,
kleine Obligationen, sogar eine elende Uhr und will Arrest
darauf legen". Besonders aufgebracht ist Frau Lucie, daß
Grabbe noch seiner Mutter Zuwendungen macht, der ver-
haßten Frau, von ihrem Gelde mitgibt! Aus Düsseldorf schreibt
Gnabbe: „Laß meine Mutter, die soviel für mich getan hat, in
Ehren; zeig ein gutes Herz, indem du den Prozeß mit der
armen Wallbaum, die so oft für dich lief, edel beschließest,
mach mir keine Speranzien mit Quittungen und Obligationen,
denke, daß ich dir doch alle Sachen, die ich bedurfte, ins Haus
gebracht, und nur kümmerliche sechs Hemden pp., eine tom-
backene Uhr zum Staat, eine übersilberte für die Post zur
Reise erwählt und alles liegen und stehen gelassen habe, wie
ich's fand oder gebracht. Wärst du gut, wie vor der Ehe,
könnte manches anders sein. Du hast nie eingesehn, daß ich
nur aus Furcht vor mir, nicht vor Dir und Deinem aufreizen-
den pp. (sey's gut) etwas Ruhe suchte." Er will die Hälfte
des Honorars der Hermannsschlacht mit ihr teilen. „Sey gut.
Lies die Bücher. Du wirst sehn, .wir könnten glücklich seyn."*)
•) Duller sagt (S. 56) : immerwährend krank, durch jenen Schlag des
Schicksals gebeugt und gegen jedermann mißtrauisch gemacht, hing er starr
an dem Wahne, seine Gattin habe kein Vertrauen mehr zu ihm und gebe
ihn auf, und so sah er in jenem Vorschlag (der Gütertrennung) eine Be-
leidigung, eine Verfolgung. Und weiter: Grabbes Leben, von seinem Auf ent-
- 284 —
Lude aber beharrt auf ihren Bedingungen, wendet sich
an Immermann, der aber Orabbe bereits aufgegeben hat und
stellt ein Ultimatum in einem Brief vom Februar 1836.
Es ist der letzte der erhaltenen Briefe (einer ist verloren) .
Zuerst schlägt sie sehr starke Gefühlstöne an, die aber nur
zu sonderbar contrastieren mit der Aufforderung, eines der
gesandten Dokumente zu unterschreiben. Da heißt es in dem
Schreiben 4. März 1835: „Mit der Erinnerung an die Ver-
gangenheit, wie Du lieber Orabbe einst nach dem Hinschei-
den meiner englischen Mutter, mit der ich das letzte Erden-
glück verloren, in tiefster Bewegung oft wiederholt vor mir
standest und sprachst: „Ach, Sie reines Oold seyn Sie gut,
seyn Sie edel, machen Sie aus einem Unglücklichen einen
Glücklichen. — Ach du Oute, Liebe. Die Ehe ist das ein-
zige Olück, die einzige Wonne des Lebens. Wir sind beide
unglücklich, lassen wir uns, uns Unglückliche vereinigen,
seyn Sie Oute eins und fest mit mir verbunden für das Erden*
leben" pp. pp. Bitte ich dich mit heißen Trinen, die wie
Blutstropfen mir vom Herzen durch die Augen dringen, laß
doch ein besseres Verhältnis zwischen uns eintreten, unter-
zeichne eine von den beiden Einlagen hier, welche du willst
und sende mir dieselbe unterschrieben zurück." Der Anfang
klingt lustig aber zuletzt schaut doch der Pferdefuß hervor.
Immer härter und starrer ist Lude dann geworden gegen
Orabbe, dem sie vorwirft, daß er gegen seine Mutter schwach,
gegen seine Frau grausam bis zu unversöhnlichem Haß sich
erweise.
Der Brief vom 24. Februar 1836 sei hier erstmalig
publiziert. Lüde möge damit das Wort zu ihrer Verteidigung
halt in Frankfurt an, war eine Maske, um sein Unglück zu verbergen. —
kann Lude da von gewissenloser Verschwendung reden, wo im schlimmsten
Fall ein Mißverständnis Grabbes vorlag.
Wird sich das Urteil immer nach den Persönlichkeiten richten, so wird
man für Grabbes subjektive Oberzeugung das künstlerische Temperament,
freilich auch seine krankhafte Reizbarkeit anführen müssen.
— 285 -
und zugleich sehn wir, wie sich niedrige Neugier und
Skandalsucht, kleinstadtischer Philisterseelen in diese Ehe-
affäre eindrängte.
Lieber Orabbei
Du wirst nach Deinem Schreiben vom 8. April auf das
-meinige vom 28. März d. J. keine fernere Zuschrift mehr von
mir erwartet haben.
Aber ich erhebe mich über den Schmerz Deiner Grau-
samkeit und bevor ich jetzt meine gerechten Beschwerden
gegen Dich der Obrigkeit überreiche, biete ich Dir noch ein-
mal aber zum letztenmal die Hand zur Versöhnung.
Erhalte ich von Dir nach Ablauf von zwei Wochen, be-
gleitet von einem freundlichen Schreiben eins von den beiden
verlangten Dokumenten, so sehe ich alle dem verzweifelten
Herzeleid nach und bleibe die deine.
Willst Du Dich aber in der Oüte auch jetzt noch nicht
dazu verstehn, so schreibe ich nunmehr sofort zur Obrigkeit
und so magst Du denn in Gottes Namen mit Deiner Weige-
rung das Eheband zerreißen, von dem ich einst wähnte der
Himmel habe es um uns geschlungen.
Ich wiederhole, daß wenn Du die Gütergemeinschaft
durch wechselseitige Zurücknahme des Einzelrechtes durch-
aus nicht ausschließen willst, so mußt Du mir die Dis-
position über mein Vermögen gerichtlich festsetzen lassen und
zwar durch Verzichtleistung auf das Vorrecht der Admini-
stration des Gemeinguts. Und die von Dir hierüber aus-
zustellende Urkunde muß so lauten:
„Ich übertrage meiner Ehefrau die Disposition über das
gemeinsame Vermögen und leiste auf das mir nach dem §9
der Verordnung wegen der Gütergemeinschaft unter Ehe-
leuten zustehende Vorrecht der Administration des Gemein-
guts hierauf? Verzicht."
Besitze ich am 6. März, unserm einstigen Hochzeitstag,
oder in den nächsten Tagen darauf das Dokument, so bin ich
- 286 -
mit Dir ausgesöhnt, ist mir aber bis dahin dasselbe nicht ge-
worden, so sage ich Dir mit diesen Zeilen zum letzenmal auf
ewig Lebewohl.
L. Orabbe.
Wenn Du mir das Dokument sendest, so bitte ich Dich
dringend, Dein Schreiben mit Oblate auf das sorgfältigste an
den Seiten zu verkleben. Denn jedes Schreiben, was ich bis-
her von der Post erhalten, trägt entweder die Spuren der ge-
glückten Eröffnung, oder doch wenigstens die Spuren zu dem
gemachten Versuch einer solchen. Ich habe Dir schon davon
geschrieben.
Denke Du einmal. Ein Bekannter von Dir, der kürzlich
irrtümlich gemeint, ich habe einen Brief von Dir bekommen,
hat meinem Mädchen zugemutet, sie möchte diesen heimlich
in meinen Sachen aufsuchen und ihn dann damit bekannt
machen.
Dieser Herr weiß selbst um das Eröffnen meines Briefes
auf der Post, ebenso wie mein Briefträger, Bescheid.
Willst Du mir das Dokument nicht schicken, so bitte ich
•Dich, mir gar nicht zu schreiben. Inständigst aber ersuche
ich Dich um baldige Rücksendung der drei geliehenen Bücher,
die ich nicht entbehren kann und welche Du mir längst schon
wiederschicken wolltest Endet unsre Sache in der Güte, so
sende denn diese Bücher mit den Dokumenten, aber ja etbt
versiegelt (mit Oblaten).
Bedenke Orabbe, Du hast außer mir nichts mehr zu ver-
lieren. Oberwinde Dein hartes Herz, sei endlich einmal trie
andere Leute.
Bedenke Orabbe, es bittet Dich zum letztenmal
die schutzlose Frau
Adieu
L. Orabbe.
Kühle Besonnenheit mag dem Oatten gleiche Schuld bei-
messen, wie Frau Luden, aber wer kann die Schmach der
letzten Auftritte von ihr nehmen?
- 2S7 -
Lucic hat ja Recht, wenn- sie schreibt: „durch Deine
Schritte: Dienstniederlegung, Entfernung von hier, vorent-
haltene Auskunft aber in Gemeinschaft gebrachten 163 Taler,
die Forderung des Militärgerichts von 130 Talern gibst du
die größte Veranlassung zu Besorgnissen." Aber daß dies
von Anfang an die einzige Bedingung der Versöhnung war,
mußte Orabbe gegen die tieferen Gefühle seiner Frau miß-
trauisch machen. Er mußte eine Empfindung dafür haben,
daß seine ganze Selbständigkeit auf dem Spiel stand, wenn
er seine letzten Rechte fahren ließ. Und erscheinen derartige
Zweifel unbegründet, wenn man Luciens Haltung in der Ehe
vor Grabbes Flucht und in den späteren Detmolder Tagen
ansieht?! (vgl. Grabbe an Immermann 14. XII. 1834). Da
er Lucien den Gebieter nicht hatte zeigen können, vertrotzte
er sich in starrsinnigem Eigensinn. Allerlei phantastische
Einbildungen ließen ihn die Sachlage wohl überhaupt nicht in
nüchterner Klarheit übersehn. Sodann aber trüben uns» die
zu Verläumdungen verführenden Antipathien Frau Luciens
den objektiven Blick dafür, ob Grabbe sich in seinen Zu-
wendungen an die Mutter allzusehr durch ihre Betteleien hat
drängen lassen (2. XI. 1834), oder ob er der Oberzeugung
war, die alte Frau vor Not schützen zu müssen. Jedenfalls
hing Grabbe an seiner Art, indem er seine Mutter über seine
Frau stellte, während es zu den sympathischen Zügen der
Frau Lucie gehört, wie sie das Andenken ihrer „englischen"
Mutter hochhielt und das Erbe ihres Vaters auch in litera-
rischer Hinsicht sorglichst hütete. Fast scheint es, daß Lucie
und Frau Grabbe die eigentlichen Gegner waren and Grabbe
das Opfer eines unlösbaren Konflikt».
IX. Kapitel
Die Frankfurter Episode
•Ich glaube nämlich, ich und eine
alte Mutter sind verloren, wenn Sie mir
nicht zu helfen suchen.«
Qrabbe an Immennann. 18. XL MM.
Am 10. September verabschiedete sich Grabbe brieflich
von dem Reglerungsrat v. Meien. Er bedankt sich für das
ihm noch zugebilligte Qehalt Zuletzt heißt es: „ich werde
meine Frau ehren und geehrt wissen, doch das Hierbleiben
geht dermalen nicht." Ganz anders hatte sich Grabbe freilich
gegenüber Ziegler ausgesprochen, dem er am 3. Oktober
seinen Roman Ranuder vorlas, darin er sich gemäß seinem
unselig bedenklichen Schaffensprinzip über alles auslassen
will, was er fühlt und denkt, was pikant und zeitgemäß ist.
Am 4. Oktober reiste Grabbe ab, ohne von seiner Frau Abschied
zu nehmen: „Was — von dem Weibe! Der wollt 9 ich lieber!
Dagegen schied er wehmütig von seiner Mutter, die er bald
nachzuholen gedachte. So ergreift Grabbe, ohne ein klares
Motiv zu haben, im eigentlichsten Sinne die Flucht.
Den Hannibal im Koffer, reiste Grabbe nach Frankfurt,
wo sein Freund und Verleger Kettembeil wohnte. Baute er
auf dieses Freundschaftsverhältnis, so erwies sich diese Hoff-
nung wieder als trügerisch. Für die Frankfurter Wochen
fließt die beste Quelle in Dullers Buch. Außerdem hat uns
Graf Schack erzählt, wie er Grabbe an Dullers Seite in der
— 280 —
Mainlust traf und aus seinem Mund ein hohes Lob auf Müll-
ners „Schuld", dagegen bittere, ja zynische Bemerkungen über
Heine und Platen vernahm. In den Frankfurter Briefen
reflektiert sich ein typisches Gesetz: erst ist Orabbe immer
voll von Hoffnungen, dann folgen allerlei Reibungen, und der
Schluß ist Bruch und Niedergeschlagenheit. Anfangs schwillt
er in Obermut empor, dann aber heißt es: soll ich jedem die
Pfote drücken, der mich begrüßt? Und zuletzt wendet er sich
demutsvoll und flehend an Menzel und Immermann. Ausschlag-
gebend aber war, daß die Verbindung mit Kettembeil
sich grade jetzt zerschlug. „Ich sollte sein Hund werden,
bald hier, bald da, nach seinem Willen korrigieren, damit das
Zeugs dem oder jenem Blatt anpaßte, und er begriff nicht,
daß fremde Korrekturen schlimmer sind als Originalfehler."
Zuletzt folgt ein echt Grabbescher, aus persönlichen Erfahrungen
entsprungener Sarkasmus: „Ich verzeih's ihm, er will heiraten."
Bisher hatte sich Grabbe eine ziemliche Diktatur seitens seines
Verlegers gefallen lassen. Kettembeil machte vielfach Ein-
wendungen und äußerte Wünsche bei der Stoffwahl. „Don Juan
und Faust" und „Heinrich VI." hat Kettembeil nur ungern und
nach langem Zögern verlegt. Am 15. August 1822 war der
keineswegs günstige Kontrakt abgeschlossen worden. Kettem-
beil hielt sich darin das Recht vor, zu refüsieren. Grabbe
verpflichtete sich, jedes Jahr 3 Stücke im Umfang von »Don
Juan und Faust" zu liefern. Nur unter dieser Bedingung er-
hielt Grabbe monatlich 24 Taler. Grabbe aber erhielt diesen
Kontrakt nicht ein. Schon im April 1839 wurden Grabbes
Verpflichtungen, aber auch sein Salär gemindert. „Früher
mahntest du zur Ruhe, jetzt zur Eile" (2. 10. 30.) . Kettembeil
muß ihm Bücher besorgen, für ihn nachschlagen. Später
treten kleine Differenzen hervor. Die Vorrede zu Napoleon
ließ Kettembeil nicht drucken, auch kam er nicht nach Det-
mold, worum Grabbe bat. Er drängt den Dichter dann wieder
beim Kosziuszko, für den er monatlich 15 Taler bietet (20.
2. 32), und ist unzufrieden, daß Grabbe nicht bühnengerecht
Nieten, Chr. D. Orabbe. 19
- 290 —
schreibt wie Raupach, den er doch „nicht so übel" findet. Er
gibt seinem Unmut Ausdruck, weil Grabbe nach dem ersten
Hervortreten allzusehr nachlasse und er hat ja nicht Unrecht.
Als Grabbes Werke nicht den erhofften Erfolg haben, tritt
Kettembeil umsomehr mit seinen Wünschen hervor, während
Grabbe alle möglichen Gründe für den Mißerfolg anführt.
Der letzte Brief datiert vom 9. Juli 1832.
Eine gewisse Spannung zwischen Autor und Verleger
scheint schon vor Frankfurt bestanden zu haben. Der per-
sönliche Verkehr mit dem krankhaft reizbaren Grabbe scheint
dann noch ungünstiger gewirkt zu haben als der schriftliche.
Man stritt sich über einzelne Szenen des Hannibal: Grabbe
wollte z. B. durch eine nicht wiederzugebende Pantomime Han-
nibals Empfindungen bei seinem Abschied aus Italien charak-
terisieren. Durch Kettembeil wollte er sich nicht beeinflussen
lassen, aber gegen Immermann hat er sich doch sehr gefügig
gezeigt. Es ist offenbar, daß Kettembeil größere Buchhändler-
erfolge erhofft hatte und daß er Grabbe zur Anpassung
zwingen wollte. Der aber wehrte sich und dieser Widerstand
wurzelt ebenso in einer gewissen Unfähigkeit oder Einseitig-
keit, wie in seiner ausgeprägten Originalität, die er
nicht preisgeben durfte. So ist Schuld und Recht wieder merk-
würdig gemischt. Kettembeil hatte vielleicht nach seinem Ver-
stände nicht so unrecht. Aber wieder bedauern wir, daß
Grabbe auch diesmal nur auf kleinherzige Gesinnung stieß,
daß diesem Mann in seinem ganzen Leben niemals mehr zu-
teil wurde, als ihm nach dürftigstem Rechtsstandpunkt zu-
gemessen werden mußte.
Was aber sollte aus Grabbe werden, wenn er nicht einmal
für den Hannibal einen Verleger fand? Außer Kettembeil
hatte er doch vorläufig niemanden, wie er denn natürlich un-
fähig war, in dem gesellschaftlichen Leben der reichen Kauf-
mannsstadt irgendwie festen Fuß zu fassen. Er begann wieder
mit einem rechten Affenstreich, einem rechten gesellschaftlichen
faux-pas, indem er in eine Gesellschaft des Professors Hert-
— 291 —
ling unangemeldet hineinschneite und sogleich die ganze
Trödelbude seines häuslichen Elends vor den verblüfften An-
wesenden auspackte.
Unter den Frankfurter Schriftstellern scheint so recht kein
Zusammenhang bestanden zu haben. Außer den merkantilen
überwogen die naturwissenschaftlichen Interessen die ästhe-
tischen. Qrabbe ging wohl ins Theater und sah sich eine Vor-
stellung von Goethes Götz und Shakespeares
Julius Cäsar an. Er fand den Götz ganz verhunzt:
in Goethes Vaterstadt schuf Becker aus der Eisenfaust
eine „feuchtsentimentalgrobe Bierbrau er patsche", nur die
Lindner errang seine bewundernde Anerkennung. Grabbes
Urteil findet Bestätigung durch die Korrespondenzen des
Morgenblattes (August 1835, Mai 1836), in denen es
etwa heißt: das Theater unter Greiners Intendantur liegt
im Argen, außer Weidner, Merk und der Lindner sind
nur Mittelmäßige und Invaliden tätig, die neuere drama-
tische Literatur existiert nur als Tradition. Auch im Morgen-
blatt steht zu lesen, daß die Schriftsteller in Frankfurt sich
wenig umeinander kümmerten. (Cretzschmar, Friedrichs, Hönig-
hausen, Berberich.) Mit Hofrat Rousseau scheint Grabbe keine
Beziehungen angeknüpft zu haben. Naturgemäß aber mußte
er mit den literarischen Revuen Fühlung suchen. Da er-
schien die D i d a s c a 1 i a, für die Führer der Jungdeutschen,
wie Gutzkow, Wienbarg korrespondierten. Sodann der „P h ö-
n i x", den der Schriftsteller Eduard Duller herausgab.
Duller, der Novellen und Romane (Loyola) in einer dunkeln, my-
stisch überspannten Schreibweise verfaßte, oder seine ästhe-
tischen Ansichten in Theaterarabesken niederlegte, wurde der
einzige treue und aufrichtige Gefährte des untergehenden
Mannes. Einen hat das Schicksal ihm wenigstens noch immer
gesandt, der in überwiegender Teilnahme und Liebe die bessern
und edleren Kegungen in ihm hervorlockte.
Grabbe aber führte nun ganz das Leben eines verkomme-
nen Genies. Er bewohnte ein einfaches, fast dürftig möbliertes
19*
}
— 292 -
Zimmer in der Bockenheimer Oasse 108"*. Die Dürftigkeit
ging bis zur Unsauberkeit: der sich vor den Wanzen in den
Schrank flüchtende Qrabbe gehört zu den Erinnerungen, die
unter den Frankfurtern fortleben. Den Gedanken der Ver-
antwortung konnte er kaum noch tragen» Leben und Phantasie
rannen völlig untrennbar ineinander. Es sind urorigiaelle
Züge, die diese tragikomische Figur noch einmal scharf her-
vortreten lassen, an denen die Frankfurter Wochen reich sind.
Mit seinen Hospitas hat Qrabbe gern seinen Spott getrieben : die
Berliner Witwe Putschet, die Kaffee kochende Dresdener
Bürgersfrau mit der „grünen Perücke" erscheinen in den
an Komödienmotiven reichen Briefen Orabbes in höchst
drolliger Aufmachung. Er ist der Schrecken seiner Frank-
furter Wirtin, wenn er hinter ihr abschließt und sie dann mit
der Pistole zwingt, ihr aus Bibel und Gesangbuch vorzulesen,
wobei er mit ernsthaftem Schelmengesicht die gottlosesten
Fragen an die zum Tode erschrockene richtet Auch in
dieser Groteske steckt ein tieftragisches Element. Er, der die
Frage nach dem Leid in der Welt seit dem Erwachen des
dichterischen Triebes leidenschaftlich diskutierte» flüchtet sich
immer wieder zu dem Trostbuch seiner alten Mutter! — Auf
der Straße erregt er Aufsehn durch seine grüne Auditeurs-
uniform, durch die er, der Komödiant des Lebens, sich Re-
spekt verschaffen will. Typische Situationen wiederholen sich:
er schüft bis in den Mittag oder er sitzt schon morgens um
10 Uhr einsam hinterm Glas Wein im Schwan. Abends hat
er wohl Genossen, die er mystifiziert, durch tolle Behaup-
tungen frappiert, und denen er zynisch gemein, dann wieder
welch gerührt von der Komödie seiner Ehe erzählt. Widerlich
genug berührt die Posse, die er mit seinem Ehering vor-
spielte. Alles wird Spiel seiner von Bitternissen erfüllten zer-
störerischen Phantasie, ein schlechter Witz, Hohn und Selbst-
persiflage. Grabbe mochte denken wie Claus der Narr in
Tiecks Ritter Blaubart: „Bin ich nicht so gezeichnet, daß
jeder Mensch von mir sagen wird: wenn der Kerl nicht zum
- 2*3 —
Narren oder zum Taugenichts zu gebrauchen ist, so ist er
völlig in der Welt überflüssig, kein Mädchen wird so wahn-
sinnig sein, sich in mich zu verlieben. — Wohlwollen, Freund-
schaft, Ehre, Ruhm, alles ist für diese arme verkrüppelte Ge-
stalt gar nicht in der Welt, ich bin nicht fröhlicher, als wenn
ich vergesse, wer ich bin, ich diene dazu, andre zum Lachen
zu bringen und zwinge mich selbst zum Lachen; aus welcher
Ursache sollte ich wohl das Leben lieben? was ist das Leben?
Eine bestandige Furcht vor dem Tode, wenn man an ihn denkt,
ein leerer nüchterner genußloser Rausch, wenn man ihn
vergißt."
Die Frankfurter Wochen sind ganz wie ein Rück-
fall in die Studentenjahre, eine Wiederholung der Ber-
liner Bohimezeitl Die dazwischen liegenden Jahre sind
wie ohne Spur ausgelöscht und versunken. Oft ver-
brachte Qrabbe auch den Morgen im Bette. Nachmittags zwi-
schen 2 und 3 Uhr kam dann wohl Eduard Duller. Dann
mußten vor allem die nötigen Requisiten besorgt werden:
Kaffe oder Rüdesheimer, Zigarren, Licht, Manuskripte. Abends
ging Orabbe öfters mit Duller durch die mit Walzer-
klängen und fröhlichen Menschen erfüllten Alleen. Da
mochte er sich wohl recht deplaziert vorkommen und ihm die
„Mainlust" wie eine „Maintrauer" erscheinen. In jenen
Nachmittagsstunden konzentrierte sich noch einmal das ganze
Streben des Dichters, der wertvollste Inhalt seines Lebens.
In solchen Stunden denkt — Ironie des Schicksals! — der
totsieche Mann an eine Regeneration der Bühne durch das
Lustspiel und wieder steht die Figur des Erzschalks Eulen-
Spiegel vor ihm. Hilflos wie ein Kind, ein vollendeter Zyni-
ker, hat ihm doch immer noch das Licht der Poesie geleuchtet,
als das Letzte und Größte, das man ihm erst mit dem Leben
entreißen sollte. In die Poesie konnte er all sein Weh bannen,
und der adäquate Ausdruck für die innere Seelenverfassung
prägte sich in seinen eigentümlichen Lakonismen aus. Er
sucht sich in krampfhaftem Stolz aufrechtzuerhalten, wäh-
— 294 —
rend doch seine sinkende Kraft das Bedürfnis sich an-
zuschmiegen in Wahrheit mehrt und vergrößert. Er findet
eine ureigene Form, gerade jetzt zuletzt einen konse-
quenten, unerbittlichen Naturalismus, aber getränkt von einer
bittern, zugleich wortkargen Schmerzensstimmung, darin sich
aber noch die letzten Reste einer romantischen Stimmung ver-
flüchtigen. Gerade als Verfallender in einer Zeit des Nieder-
gangs, in konsequenter Entwicklung früherer Tendenzen und
doch wieder durch persönliche leidvolle Erfahrungen in die
Tiefe getrieben, wird er der Prophet einer neuen Zeit. Die
Eigenart der Behandlung war möglich, obwohl Grabbe in der
Auffindung seiner Stoffe eigentlich selten sich als sonderlich
originell erwies. Napoleon und die Hohenstaufen waren aktuelle
Stoffe, Kettembeii brachte ihn auf den Kosziuszko. Jetzt kommt
er durch die eigene Not, durch innere Einsicht, vielleicht aber
auch unter der Anregung Kettembeiis, zu dem Plan, sich durch
einen Genossen zu ergänzen. Er will die Ideen geben
und Duller soll sie leicht und gefällig einkleiden. An Ein-
fällen, Witzen, großen Konzeptionen fehlte es Grabbe ja nicht
Aber es ist doch ein merkwürdiger Kompromiß für den auf
seine Originalität Stolzen! In diesem Stolze hätte er sich auch
nicht an Immermann gewandt. Denn Immermann hatte ihn
im Reisejournal etwas von oben herab behandelt, und Grabbe
hegte in glücklicheren Tagen den hoffärtigen Plan, mit Immer-
mann in bissiger Kritik anzubinden. Aber nun klammert er
sich an alle und jede Beziehung, die er nur je geknüpft hat.
Er sucht nach einem starken Führer, denn er fühlt sein Elend,
seine Hilflosigkeit, seine qualvolle Besessenheit. Und nun zer-
fließt der Obermut des krampfhaften Stürmers und Drängers
und ein armseliger Mensch, ein hilfloses Kind fleht: „ich glaube
nämlich, ich und eine alte Mutter sind verloren, wenn Sie
mir nicht zu helfen suchen." Selbstbewußter schreibt Grabbe an
Menzel, demütiger und eindringlicher an Immermann.
Der Gedankengang ist bei beiden Briefen ziemlich derselbe: zu-
nächst erscheint Frau Lucie in schonungslos satirischer Be-
— 295 —
leuchtung am Pranger, und andre Gründe werden mit einer ge-
wissen Verschmitztheit unterdrückt Dann heißt es, er suche
einen Verleger, da der jetzige sparsam sei und Änderungen
verlange. Er will Cotta für 18 Ngr. des Tags und freie
Miete alle 6 Monate 2 Stück liefern. Und dann wieder höchst
demütiglich: im äußersten Falle ist er auch mit einer Ab-
schreiberolle und einem Stäbchen zufrieden. Er steht wieder
da, wo er vor 10 Jahren stand. Doch das sinkende Schiff
fand noch einmal einen schirmenden Hafen. Orabbe konnte
Duller melden, daß Immermann ihm seine rettende Hand
entgegenstrecke, und im Rüdesheimer einen Abschiedstrunk
tun mit dem treuesten Genossen dieser trüben Wochen.
X. Kapitel
Düsseldorf — Grabbe und Immer mann
Grabbe gehört zu den Verschrieenen, und Männlein
und Weiblein meinen, wenn er nur gewollt hätte, er
hätte schon anders sein können. Ich aber sage: er
konnte gar nicht anders sein, als er war, und dafür,
daß er so war, hat er genug gelitten. Die Pflicht
der Lebenden aber ist es, die Toten über der alles
nivellierenden Flut des mittelmäßigen Redens und
Meinens empor zu halten.
Immermann In den Memorabilien.
Am 28. November 1834 schrieb Grabbe an Immermann:
„Meine Menschenkenntnis betrog mich nicht. Ich hielt Sie für
ernst, fest und treu. Mit dem Stäbchen und 6—7 Thalem
monatlich bin ich einverstanden, der Buchhändler Schreiner
wird wohl mit meinem „Hannibal" zufrieden sein". Von hei-
term Wetter begünstigt trat er die Reise an. Der Rhein ging
ihm mit seinen Sagen und Geschichte wie ein alter Bekannter
zur Seite. So kam er nach Düsseldorf, wo er von dem hier
breiten, noch unzerteilten, kräftigen deutschen Strom mit seiner
frischen Luft neuen Lebensodem zu empfangen hoffte. Am
5. Dezember meldete er Immermann sein Absteigequartier im
„Römischen Kaiser" in Düsseldorf. „Achten Sie mich." Dieses
erste Zusammentreffen, mit dem die Düsseldorfer Episode be-
ginnt, muß man bei Immermann nachlesen. Ober diesen Zeit-
raum mit seinen groteskkomischen, aber auch tieftragischen
Szenen sind wir sehr genau unterrichtet. Außer Immermann
— 297 -
hat eine Reihe von Zeitgenossen darüber berichtet, und vor
allem fließt eine wichtige Quelle in den etwa 130 Briefen
Grabbes, die vom 5. Dezember 1834 bis 29. April 1836 reichen.
Qrabbe wohnte zuerst in der Ritterstraße bei der Witwe An-
dries, dann Neubrückstraße 171 bei einem Ehepaar Bauer.
Das Düsseldorfer Drama hat den typischen Verlauf, der
sich aus den einzelnen Lebensabschnitten immer wieder von
selbst ergibt. Zuerst ein Anlauf emporzukommen: fast in-
brünstig klammert sich der Sinkende an Immermanns starke
Persönlichkeit an; dann folgt der Abfall: es zieht ihn zurück
in das Milieu der Kneipe, in die kleinbürgerlich realistische
Sphäre, aus der er hervorgegangen; endlich der Bruch: das
Element stößt ihn von sich und die Welle wirft ihn an den
Strand des Todes.
Rührend und ergreifend ist es zunächst, wie Orabbe an.
Immermanns starker Hand sich aufrichten will, um einem
neuen Leben entgegenzugehn. Immermann nimmt er zunächst
willig als seinen Vormund an. Auf seinen Wunsch speist
Orabbe mit seiner Wirtin. „Immermann behandelt mich ehren-
voll und sorgsam." Seine Dankbarkeit kennt keine Grenzen.
Daß Immermann bei ihm ist, ist sein schönstes Geburtstags-
geschenk. Immermann und Petri sind ja seine „einzigen
Freunde auf der weiten, kalten Erde". Immermann schüttet
er sein ganzes Herz aus und weiht ihn in seinem ganzen
Ehejammer ein. Zunächst übt das Gefühl der Dankbarkeit
die wohltätigste Wirkung. Grabbe gibt sogar den Morgen-
rum auf und beschränkt seine Trinkbedürfnisse überhaupt auf
den leichteren Bierstoff oder auf ein mäßiges Glas Punsch
beim Lesen der Journale. „Ich werde von den vornehmsten
Ständen geschätzt und wegen meiner albernen Launen, die aus
meiner früheren Erziehung und Stellung entspringen, mit Nach-
sicht behandelt, sodaß ich mich schäme und bessere." Die
weichen edleren Regungen seiner Seele treten noch einmal
hervor. Die Achtung, die ihm Immermann schenkt, der
Strahl einer echten Freundschaft mit Burgmüller, der für
- 298 -
ihn in den Tod ging, erhellt noch einmal diese ver-
düsterte Seele, so daß sie wieder glauben kann. Immermanns
Verstimmungen betrüben ihn, ja er will die Menschenverach-
tung aus Immermanns Herzen reißen; „bei dem Göttlichen,
das fiberall waltet, das Gute überwiegt, und das Schlechte er-
klärt sich aus Not und Eigennutz. u Als allerhand Klatschereien
das Verhältnis trübten, schreibt Grabbe an Immermann: „Wie
hoch ich Sie achte, wissen Sie; mit meinem Lebensblut kann
ich besiegeln, wie gut ich Ihnen bin. Ein Mann wie Sie kann
sich ärgern, ist aber gewiß edel, gut und stolz." Es ist be-
merkenswert, wie gleichzeitig noch allerlei menschliche Sehn-
suchten in ihm wach werden: nach der Scholle, wo sein
Vater grub, nach der Mutter mit ihrem einfältigen Gemüt,
religiöse Stimmungen von mystisch-pantheistischer Färbung tau-
chen empor. Man darf das nicht nur physiologisch als die flüch-
tige Rührung des Alkoholikers deuten. Freilich, die Schwäche
übermannt ihn oft: der Schlaf stürzt über den Ermatteten „wie
ein Mondschein". Er kann nur unter ungeheuren Anstren-
gungen schaffen, aber er gibt die letzte Lebenskraft dafür hin;
insofern war er ein echter Dichter. Seine innern Empfindungen
malen noch andere Brief stellen : »nach dem harten Leben
ist er heiter," ein „Strom in ihm läßt ihn nicht zur Ruhe
kommen", das „Tüchtige ist der Fels, der sich selbst macht
und dem die Esel ausweichen". Beim Tode seiner frühern
Braut: „ich bin ganz heiter, sie ist mein, makellos, ein Stern
über ihrem Grab."
In groteskem Gegensatz zu den weichen Regungen eines
Sterbenden stehn nun wieder die äußern Lebensverhältnisse.
Er ist ganz baufällig geworden. Sein Hauswirt zeichnet
Grabbe seinen Plan auf, nach dem er sich orientieren sollte,
aber er bedarf doch der führenden Magd, die ob dieser
Dienste schamhaft ihr Gesicht verhüllt, während Grabbe mit
ernsthaftem Gesicht ihr folgt. Das war nicht nur die Folge
der Krankheit, gegen die er sich selbst kuriert mit einem oft
erprobten Hausmittel, einem niederschlagenden Pulver, be-
i
J
- 299 —
stehend in einem Hering mit Essig. Auch ziehen die andern
Arzneien nicht mehr: schreiben, lesen, etwas Grünes vor sich
haben, die Füße warm halten. Sein Körper ist ihm gleich-
gültig und an die Arzte glaubt er nicht. Er hält einen feurigen
Trank immer für ein treffliches Mittel und mögen ihn die
Arzte tausendmal verbieten. Dabei breitet sich die Rücken-
markschwindsucht immer weiter aus; Schwächeanfalle, Fieber-
schauer, Augenentzündungen bringen ihn immer mehr zu-
rück und führen ihn der Auflösung entgegen. Nun ist der tot-
sieche Mann auch noch von den größten Widerwärtigkeiten
bedrängt. Hinterträgereien erschüttern sein Verhältnis zu
Immermann, und als dieser im Juli auf längere Zeit verreist,
ward ihm der wichtigste innere Halt entrissen. Er hatte
Ärgerlichkeiten mit der Magd, seinem „Columbus" . Seine wirt-
schaftliche Existenz ist unsicher und damit die seiner alten
Mutter. Frau Lüde verlangt andauernd Orabbes Verzicht
auf die Gütergemeinschaft. Man kann wohl sagen, das Leben
kann so entsetzlich werden, daß man es wegwerfen muß, oder
es allein durch Anwendung von Palliativmitteln, die das Ge-
dächtnis lähmen, ertragen kann. Wie der Arzt die höchsten
Schmerzen durch Morphium mildert, so hat Grabbe aus
lauter Verzweiflung sich mit Alkohol betäubt, um die ent-
setzliche Wirklichkeit nicht mehr zu sehn und den eigenen
Geist, „das böse Spirituosum", zu beruhigen, den hungrigen
Wolf seines Grames zum Schweigen zu bringen.
Jedenfalls geht die letzte glückliche Periode seines Lebens
mit dem Sommer 1835 zu Ende. Immermann zog ihn noch in
die bessern Kreise und er erzählt, daß der Eindruck von
Grabbes merkwürdiger Persönlichkeit überall ein bedeuten-
der war, man hörte ihm interessiert zu, wenn man auch
ein leises Grauen empfand und sich wieder abgestoßen
fühlte. Besonders die Gräfin Ahlefeldt, die „wilde Jagd tf ,
die Freundin Immermanns lud ihn oft zum Austausch der
Gedanken zu sich. Er begleitete sie auf Ausflügen. Dann
improvisierte Grabbe herrliche Verse, bis der Teufel
- 300 —
ihn ritt und der zynische Geist wieder über ihn kam. Er
machte der Gräfin eine Liebeserklärung und biß ihr als Aus-
druck seiner Zärtlichkeit in die Hand. Die Gräfin urteilt Ober
ihn: „er war wie ein Kind, so gut, so unartig, so lenk-
sam, aber auch so schmutzig." Als Immermann im Herbst
zurückkehrte, lockerte sich das Verhältnis bedeutend, wie aus
Grabbes Brief an Menzel hervorgeht: „bald Spannung, bald
Friede" (22. November) . Immermann fand Grabbe sehr ver-
ändert. Der tägliche Meinungsaustausch, in dem Grabbe
sicherlich mindestens so viel gab wie Immermann, wurde
seltener. Die Scheu, das Oberempfindliche, das Diversive
dieses Geistes hatte noch zugenommen. Der Kreis seiner
Interessen war immer mehr zusammengeschmolzen. Er konzen-
trierte seine Gedanken auf die Kunst, für alles andre schien er
albgestorben. Immermann hat später ein feines Verständnis für
die Eigenart Grabbes gezeigt, und seine Urteile gehören zu
den schönsten und maßvollsten, die über Grabbe gefällt sind.
Er hat Grabbe eine ernste, tiefe Natur, eine Natur in Trüm-
mern genannt. „Er war der westfälische Bauer par ezcellence,
scharfsinnig, einfach, urgermanisch, geradezu auf das Rechte
losgehend, aber auch sehr roh, vielleicht sogar undankbar."
Er hat später mit Bezug auf das traurige Düsseldorfer Leben
gesagt: „das alles wird durchaus entschuldigt durch seine
Krankheit und seinen frühen Tod." „Grabbe gehört zu den
Verschrieenen, und Männlein und Weiblein meinen, er hätte
auch anders sein können, wenn er nur gewollt hätte. Ich
aber sage euch, Grabbe konnte gar nicht anders sein und da-
für, daß er so war, hat er genug gelitten". Leider aber hat
er nicht nach diesen Worten gehandelt. Grabbes Frau ging
ihn um seine Vermittlung an, aber er mußte es ablehnen, in
ihrem Sinne auf Grabbe einzuwirken und bald darauf im
Februar 1836 hat er auch an Grabbe den Abschiedsbrief ge-
richtet.
Mit zwei Gründen hat Immermann den Bruch begründet:
einmal mit dem Benehmen und Auftreten Grabbes, — dieser
- 301 -
Vorwurf war sicher berechtigt — , sodann mit der Behauptung,
Orabbe schädige sein Unternehmen durch gehässige Kritiken.
Wie wir noch sehn werden, war nach den vorliegenden Re-
zensionen letztere Behauptung ungerecht. Immermann scheint
allzu überempfindlich auf Klatsch und Hinterträgereien rea-
giert zu haben.
Jedenfalls taumelte Orabbe, des starken Führers beraubt,
wie ein hilfloses Kind unsicher in den Sumpf. Er verliert
jede Fühlung mit der großen Welt und verkehrt nur noch in
Kreisen, in denen auch der Boh6mien respektiert wird. Er
schloß sich an Dr. Runkel an, für dessen „Hermann" er März
bis Mai und dann wieder vom Dezember ab Rezensionen schrieb,
seit Juni gewann auch das Verhältnis zu seinem Verleger Schrei-
ner an Intimitat. Die Reserven, die Orabbe sich in seinen Brie-
fen an Immermann immer noch auferlegte, fallen ganz fort im
schriftlichen Verkehr mit Schreiner. Da haben wir den ganzen
Orabbe mit seinem agilen Qeist: ein Feuerrad sprühender
Einfälle, die seltsamen Träume des in Selbstverbrennung
sich Auflösenden, sehr zarte Gefühlsäußerungen eines zum
Tode Resignierten, dann aber wieder eine Orauen und
Abscheu erregende Verfallerscheinung: ein Teufel mit un-
flätigem, boshaften Witz, der mit mephistophelischem Grinsen
mit seinen Klauen zerreißt, was außer ihm geistig vorwärts
strebt und dem Kult des Schönen huldigt. Gerade das Bild
des untergehenden Grabbe ist mit mancher phantastischer
Zutat oft ausgemalt worden. Man mag die einzelnen Berichte
von Ziegler, Kühne, Kobbe u. a. (z. T. ausführlich bei A.
P 1 o c h) nachlesen. Am wichtigsten sind uns natürlich die Be-
richte von Augenzeugen. Sie berichten von dem letzten un-
ruhigem Aufflackern dieses ausgebrannten Kraters, wie aus
dem Aschpfuhl nur selten noch ein leuchtender Funke zum
Himmel aufblitzt. Drei Bilder stammen aus jener Zeit: von
Hildebrandt, Pero und L. Heine. Der Zynismus lauert um
die Mundwinkel, und man liest in den zerstörten Zügen eines
Besessenen. Tagsüber lag er meist auf dem Bett, abends saß
— 302 -
er im Wirtshaus hinterm Wein — dabei waren seine wachen
Gedanken immer bei seiner Kunst Leutnant Neumann be-
suchte ihn: er fand einen Trottel, der sich dennoch erhob zu
schönheitsvollen Gedanken über „Alexander" und „Christus".
Sein Leben war der Abdruck einer seiner verzerrten Gro-
tesken geworden. Er sank mit seinen Füßen immer tiefer in
den Kot» wahrend man von dem Flügelrauschen des Aars
in seinem Haupt nur selten vernahm.
Es scheint, daß Grabbe sich das „mihi est propositum in
taberna mori" zum Leitmotiv setzte. In Stanges Wirtshaus
„zum Drachenfels" war er allabendlich zu treffen. Da saß
er allein mit seinem „Ganymed" oder er war umringt von
Spießern, Malern und Schauspielern, die sich für ein ver-
kommenes Genie interessierten und die barocken Einfälle dieses
abenteuerlichen Geistes miterleben wollten. Einer dieser Schau-
spieler, Karl Ellmenreich, hat in seinen Erinnerungen
davon erzählt. Da saß Grabbe gespenstisch hohl und ausge-
mergelt, in altmodischem braunen Frack mit schwarzer Roß-
haarkravatte, ohne Wäsche. Vor ihm stand ein Glas Wein oder
ein Glas Grog. Seine Unterhaltung war voll von rohen Scher-
zen und Zoten, zynisch, trocken, exzentrisch. Es wirkt wie
ein Satirdrama auf die Orgien, die E. T. A. Hoff mann in tollem
Oberschwang mit Devrient gefeiert. Eine verzerrte Kam'
katur neben einem Gemälde von berauschender Farbenglut.
Auf der Höhe stehende Menschen in dionysischem Rausch, zu
intensivstem künstlerischen Genießen beschwingt und in einer
Winkelkneipe produziert sich Grabbe einer unedlen Neugier.
Er tötet sich ab und vergütet sich geflissentlich, um nicht
aus dumpfer Betäubung zu erwachen. „Aus dem Feuerquell
des Weines sprudelt Schönes und Gemeines." — Zuweilen
sang man seine Lieblingslieder, „Prinz Eugen" oder Arien
aus „Don Juan**. Spielte einer eine Weise von Burgmüller, so
weinte er. Diese Tränen galten seinem besten frühverstorbenen
Freunde. Norbert Burgmüller war ein Schüler Spohrs,
ein langschmächtiger stiller Mensch mit vielem Talent, dessen
— 303 -
Charaktereigenschaften allgemein geachtet wurden. Ein instink-
tives Gefühl für die Zusammenhänge, die aus einem von
Hause aus nicht unedlen Menschen ein trauriges Mißgebilde
geschaffen hatten, hatten ihn in merkwürdiger Intimität, die
keiner wortreichen Erklärungen bedurfte, mit Qrabbe ver-
bunden. Für ihn schrieb Grabbe einen karriki er enden Opern-
text „C i d", den wir wenig goutieren können, auch wenn wir
ihn nur als einen Bierzeitungsulk ansehn. Es ist ein tolles
Gemisch: in der Form wie eine Tiecksche Literaturkomödie;
außer den Akteurs spielen Publikum und Rezensenten mit.
Die Elemente der Komik sind uns aus „Scherz Satire" be-
kannt: ein Hauptwitz ist das Ausderrollefallen; es tritt auf
ein Maikäfer, der die dramatische Poesie verachtet, ein
Schaf frißt die neueren Dichter, nachdem ein Chor dieser
Tiere die Musik durch Bähgeblök naturalisiert hat — die
literarische Satire bezieht sich auf den Rellstab-Spontinischen
Konflikt; auch Grabbes Gegner, z. B. Dr. Schiff, bekommen ihr
Teil; Dezenz ist Nebensache. Manchmal aber trifft er den
Nagel auf den Kopf wie im Fall Stieglitz : „Hättst du
der Frau ein Kind gemacht, sie hätte sich nicht umgebracht."
Burgmüller starb anfangs Mai* auf einer Badereise in
Aachen. Grabbe widmete ihm in der Düsseldorfer Zeitung
einen wehmütigen Nachruf, in den subjektive Stimmungen
hineinfließen, die Schwermut des verkannten Genies: „Von
.manchem im Pöbel wardst du verkannt, nur — weil du zu be-
scheiden wardst. — Hätten die Tadler (seiner Faulheit) einen
reizbaren, leicht durch Alltäglichkeiten gestörten, behinderten
Genius zu schätzen gewußt, epileptische Anfälle und drückende
Verhältnisse erwogen, so würden sie gestehen müssen: Nor-
bert tat, was er unter den Umständen könnte." Das ist ganz
po domo gesagt. Und Grabbe schließt mit dem schmerzlichen
Stoßseufzer: „Es vergeht, es stirbt so manches Treffliche,
man könnte bisweilen wünschen, auch in der Gesellschaft zu
seyn, beizu auch deshalb, weil die Toten stumm sind und
nicht klatschen und verleumden."
- 304 -
Der zerbrochene, dem Tode geweihte Mann, hatte immer
noch eine Domäne, dahin sein besseres Ich sich flüchten
und daraus er Trost schöpfen konnte. Das war ihm
Kunst, Poesie, Theater. Dort fühlte er sich auf einer Insel,
die aber von andrängender Flut immer mehr zerbrochen und
zerstückelt wurde. Keineswegs nur aus bloßem Mitleid hatte
Immermann Orabbe nach Düsseldorf gerufen, er verlangte
einen Gegendienst und willig hat ihn Orabbe geleistet Eig-
nete Orabbe sich nicht zum Schauspieler oder zum Drama-
turgen, so befähigte ein scharfer Kunstverstand ihn doch
sicherlich zum Kritiker. Von Zeit zu Zeit steht ein starker
Helfer auf, der dem Verfall der gewohnheitsmäßigen Theater-
betriebs wehren will. Was Lessing in Hamburg, Goethe und
Schiller in Weimar erstrebten, nur dem Bayreuther Meister
scheint es dauernd gelungen zu sein. Seit Oktober 1834 suchte
Immermann in Düsseldorf eine Musterbühne zu errichten. Er
flößte den Schauspielern, denen er als imponierender Tyrann
erschien, gewaltigen Respekt ein. Die meisten Bühnen sind
und waren Geschäftsunternehmen, hier sollte die Kunst zu
Ehren kommen. An der Spitze stand ein Verwaltungsrat,
bestehend aus Bürgermeister, vier Aktionären, zwei Stadt-
räten, dem Intendanten und dem Musikdirektor. Musik-
direktor war Mendelssohn-Bartholdy, Inten-
dant Immermann. Immermann behielt die guten Schau-
spieler und ersetzte die schlechten durch eine sorgfältige
Auswahl von andern, die er auf seinen Reisen in Deutsch-
land getroffen. Mit Ernst und Wohlwollen, durch un-
verdrossene Mühe, durch Leseproben und sorgfältiges Ein-
studieren, indem er die Seele für die Poesie empfänglich
stimmte, erreichte Immermann seinen Zweck: das Kunstwerk
so dargestellt zu sehn, wie es gedichtet ist. Orabbe bewun-
dert den Oeist und die Kraft, die das schwierige Werk ver-
wirklicht haben. Die Schauspieler, denen kein Souffleur hilf-
reich zur Seite steht, müssen sich dem einheitlichen Zweck
des . Kunstwerks unterordnen, niemand darf sich vordräng«,
- 305 —
und aus minderwertigen Rollen schafft der Schauspieler echte
Menschen. Um alles einseitige Virtuosentum zu meiden, soll
der Schauspieler sich in den verschiedensten Rollen betätigen.
Orabbe bewundert die Fülle und Großartigkeit des Reper-
toires, das etwa noch durch die Dramen der Antike oder Sa-
kuntala vermehrt werden könnte, während andre über Mangel
an Abwechslung klagen. Er lobt die Künste der Inszenie-
rung wie den astrologischen Turm in „Wallenstein", oder
feine Einzelheiten: Macbeth spielt im milden Sommer Schott-
lands, das Theater im Hamlet findet sich nicht im Hintergrund,
sondern an der Seite; die Inszenierung der Wolfsschlucht hat
er noch nicht einfacher und wirkungsvoller gesehn. Er kriti-
siert die Sprechweise der Schauspieler und verlangt, daß beim
Vers jede Silbe beachtet und durch eigene Modulation, statt
durch eintöniges Geschrei, charakterisiert werde. Man sieht,
Grabbes Theorien waren ganz vernünftig, sein scharfer Kunst-
verstand trifft mit sicherem Instinkt das Echte und Richtige,
wo die meisten irrten, aber man darf dabei nur nicht an seine
eigene frühere Praxis denken. — Die Schauspieler werden
meistens günstig charakterisiert: die Gediegenheit Schenks
als Sigismund oder Hamlet, der charakteristische Macbeth
Reußlers, Seligers Max werden durchaus nach ihrem Wert
.gewürdigt Daß er zu den Fetisch anbetenden Kritikern
gehört, wenn er die Leistungen der Damen zu bespre-
chen hat, das braucht man bei dem Misogyn nicht zu
fürchten. Man darf es ihm glauben, daß Mme. Lim-
bach wirklich eine ebenso graziöse, als wahre Lady Macbeth
gewesen ist. Sein ganzes Entzücken ist die Lauber-Versing als
Rosaura, Thekla, Ophelia, Agnes. Auch das gehört zu den
merkwürdigen Kontrasten, an denen Grabbes Leben so
reich ist, daß die höchste Forderung des Hinsiechenden
auf Natürlichkeit und Lebensfrische geht, und daß er nichts
so sehr haßt als das Gekünstelte und Gemachte.
Das „Theater in Düsseldorf" ist ein hohes Lied
auf Immermann, dem zu Liebe er viel geändert und gemildert
Nieten, Chr. D. Orabbe. 20
- 306 —
hat (3. IV. 1835), und es ist auch aus den 35 Rezensionen des
„Düsseldorfer Tageblattes", die nach Elmenreichs Urteil auf die
Schauspieler einen weit bedeutenderen Eindruck machten, als
die Kritiken Schleiermachers in der „Düsseldorfer Zeitung 4 *,
schwer einzusehn, wodurch Immermann so gereizt wurde.
Ebenso wenig aus den Briefen. Allerdings wird in den De-
zemberkritiken der Ton zuweilen bissiger und moquanter,
die Ausdrucksweise salopper und zynischer. Schenk und Henkel
kommen schlechter davon als Stein. Schenks Belisar wurde
einmal mit einer halbstündigen Verspätung aufgeführt. Aber
sonst trifft sein Tadel doch mehr die Stücke, Raupacbs
Enzio zerreißt er förmlich in einer neidischen Regung und
ganz merkwürdig offenbart sich wieder der Gegensatz des
kritisierenden und schaffenden Dichters in der schroffen Ab-
lehnung der französischen Neuromantik mit der er doch wenig-
atens in seinen früheren Schöpfungen so viel Ähnlichkeit hatte.
Aber mit Achtung ist es festzustellen: sein zusammenhängen-
des Schlußurteil bei Gelegenheit der Aufführung des Tieck-
schen Blaubarts ist von hoher Anerkennung getragen.
Daß Grabbe, der das Heiligste nicht verschonte und am
wenigsten sich selbst, in seiner Kneipe oder im privaten Ge-
spräch über Immermanns Schwächen maliziöse Bemerkungen
machte, ist durchaus wahrscheinlich. Aber Immermann hätte
bei Grabbes krankhaftem Zustand wohl darüber hinwegsehn
können. Das war der Fehler Immermanns wie vorher Tiecks>
daß sie für ihre Wohltaten allzuviel Erkenntlichkeit erwarteten,
und daß ihr gesellschaftliches Obergewicht sie die eigentüm-
liche Persönlichkeit Grabbes zu wenig respektieren ließen.
Hieronymus Lorm sagt, Immermann und Grabbe hätten ebenso
wenig gleichen Schritt halten können, wie Genie und Taleat.
Sicher zeigte sich hier Immermann in verhängnisvoller Weise
befangen. Grabbe hat dem Unternehmen Immermanns mit
redlicher Kraft gedient und dieser Dienst war groß.
Wie bescheiden ist Grabbe doch geworden! Anfangs will
er, der geborne Revolutionär, die Rolle des Reformators spie-
- 307 —
lern, er sehnt sich nach dem massiven Genuß des Ruhmes als
Darsteller eigener Rollen. Er will auf die Bühne, man weist
ihn zurück. Nie sah er auf dem Theater die eigenen Träume
zu heißem, packendem Leben gerinnen. Aber fremden Ruhm
verkündigt er willig, bis man ihm zuviel zumutet und er zum
Stolz erwacht. Seine Existenz fristen als Reklamemacher oder
untergehn. Grabbe wählte das letztere. Und das ehrt ihn.
Daß Immermann Grabbe Rollen aus Töpfers Lustspiel ab-
schreiben ließ, ist ihm nicht zu verargen. Grabbes Geist,
der sich in eigenen Gluten verzehrte, verlangte ein harmloses
Ablenkungsmittel sozusagen zu seiner Diätetik. Aber Immer-
mann hätte den Versuch machen sollen, Grabbes Werke für
die Bühne zu gewinnen. Auf diese Weise hätte er Grabbe
auch finanziell helfen können. Freilich schätzte er gerade die
am ehesten aufführbaren Stücke, in merkwürdiger Überein-
stimmung mit Kettembeil, am wenigsten: Don Juan und Paust
oder Heinrich VI.
Es wäre in jedem Betracht weit wünscheswerter gewesen,
Immermann hätte Grabbes Barbarossa zur Darstellung gebracht
als den Tieckschen Blaubart Tieck war freilich ein hochmögen-
der Mann und Grabbe ? Ja, wer war denn in Wahrheit
der größere Dramatiker: Immermann oder Tieck oder Grabbe?
Grabbe war zu stolz zu bitten. Ohne merkbare Bitterkeit be-
merkt er zu der Aufführung des Blaubart: „Es hat mich über-
zeugt, daß man alles vollenden kann, ist man nur so kühn,
sich die Ausführung möglich zu denken, und so fleißig, alle
Kräfte daran zu setzen." Grabbe hat Immermann dankbare
Treue bewahrt. Diesem aber mußte es wie ein Stachel durch
die Seele gehn, daß er den Dichter wenige Monate vor dem
Tode abwies. Er hat es gut zu machen gesucht, indem er
dem Toten ein würdiges Monument gesetzt hat.
Lassen sich feste Kunstprinzipien in Grabbes Rezensio-
nen erkennen? Für seine eigentümliche Kunst hat er keine
neue Aesthetik geschrieben. Wir finden unter Auslassungen,
die vielfach nur pathologisch zu erklären sind, noch manches
20*
— 308 —
gute und tiefere Wort. „Die Aufgabe der Dichtung ist, den
Geist rein zu machen, Himmel, Erde und Unendlichkeit an-
zudeuten und fest in sich zu bleiben." Das wichtigste Problem
bleibt aber noch immer, wie er seine Stellung zu Shakespeare
oder zu Schiller präzisiert hat. Alle andern Dichter ver-
schwinden gegenüber diesen beiden Heroen. Die ästhetischen
Urteile, die sich in Rezensionen und Briefen oft im Wortlaut be-
rühren, erhalten ihre beste Illustration durch den Hinblick auf
das eigentümliche dramatische Schaffen Orabbes. Mit einer Ober-
setzung des Hamlet hat er jedenfalls begonnen. Der Dichter
des Hannibal, des Hermann legt vor allem Wert auf die Verstel-
lungskünste Hamlets: er muß sein Gefühl nicht offen zeigen,
sondern hinter einer leichten Konversation verbergen; wie er
mit Ironie, Witz, Bitterkeit Ophelia zernichtet, das erinnert an
das Verhältnis des Grabbeschen Faust zu Anna. Ophelia
darf ihr Haar nicht zerraufen, sie muß es im Wahnsinn viel-
mehr künstlich schmücken. Bei dem Urteil über König
Johann, den „etwas lauttönenden aber wohlberechneten
Prolog" zu seinem Dramenzyklus, wird man immer wieder
an Grabbe selbst denken. Shakespeare gibt fast immer die
reine Natur, ihr Großes, ihr Kleines, ja selbst ihr Kleinstes
nicht ausgenommen, und fügt oft Dornen und seine besondern
Grillen und Eigentümlichkeiten hinzu. Johann ist kurz, der
Bastard wortreich, in dem Bastard macht Shakespeare sich
Luft, indem er durch ihn die übrigen Personen ironisiert und
kritisiert. Mit alldem könnte man Grabbe selbst charakteri-
sieren, der hier einen bessern Ausgleich gefunden hat als in
der „Shakespearomanie". Die Sterbeszene, in der der ver-
giftete, innen versengte Mann sich nach Eis sehne, scheine zu
beweisen, daß Shakespeare den Durst und die Einbildung des
Cholerakranken gekannt habe. Sollte hier ein Vorbild für
Heinrich zu finden sein? Die Exposition des Lear tadelte schon
Goethe und auch Grabbe findet es marionettenhaft, wie der König
unter hohlen Worten an seine Kinder seine Krone vergibt, als
wäre sie ein zerbrochener Zuckerkuchen. Macbeth nennt er
— 309 -
eine zitternde Eisenwand. Lady Macbeth darf nicht als bösartige
Person, als alte tränierende Wetterhexe erscheinen, sie will
vor allem ihren geliebten Gemahl glücklich machen. Auch die
Schiilersche Gräfin Terzky darf nicht ohne Anmut geschildert
werden. Das sind persönliche Urteile, die ucfe bei dem Mi-
sogyn besonders auffallen müssen. Sehr merkwürdig und sehr
bezeichnend aber ist es, daß er im Gegensatz zu Tieck
„Romeo und Julia" tadelt als eine Jugendarbeit voll
von Witzeleien und Phrasen, statt voll von echtem Gefühl.
Otto Ludwig hat gerade die Julia hoch über Schillers Thekla
gestellt, aber Grabbe der Zyniker sucht in der echten Liebe
mehr als Sinnlichkeit; hier hat er sich etwas Mystisches, eine
Spur romantischen Idealismus bewahrt. Shakespeare ist nur
sinnlich ohne Gefühl. Julia ist ein Straßenmädchen,. Romeo
ein Narr. Er wagt Shakespeare zu belehren, wie der Pro-
zeß der Liebe verläuft: sie ist ein stilles schleichendes Gift,
Blicke, heimliches Einverständnis, Händedrucke sind ihre
Äußerungen. Kleists Käthchen zeigt, wie Liebe entsteht:
ohne äußere Motive, wie ein Naturereignis. Ist das nur
bizarre Originalitätssucht oder stoßen wir hier auf eine ver-
borgene Gefühlstiefe? Es ist die alte Liebe zu Schiller,
die uns viel erklärt Indem er von Shakespeare den Realis-
mus und mannigfache Bizarrerien übernimmt, vermißt er
doch einen nationalen Wert bei ihm und das ist das
deutsche Gemüt, das in wunderlicher Form aus
seinen letzten Dramen herausschaut, und die deutsche
Begeisterung. „Sollen wir Deutsche aber Shake-
speares oft fehlgeschlagene Berechnerei immer über Schil-
lers flammende Begeisterung stellen?" In Schillers Album
schrieb er: „Was du gedichtet im Herzen, es geschah,
Und du bist ewig deutschen Seelen nah." „Nicht Shake-
speare, nicht Goethe — Schillers Feuer machte mich zum
Dichter." Was ihm vorschwebt, ist statt der Ludwigschen
Antithese eine Synthese zwischen Shakespeare und Schiller,
wobei des letzteren Einfluß prävalieren soll. Realistischer als
'— 310 —
Schiller, aber auch so begeistert und begeisternd, mehr an die
Bruststimme der Oallerie appellierend, als an die Kopfstimme
des Parterre: ein volkstümlicher Schiller, das ist etwa das
Zukunftsprogramm Qrabbes. Er würde z. B. Maria Stuart
auf Grund der Geschichte noch realistischer darstellen. Mit Recht
hat Schiller in der Eifersuchtsszene der Königinnen seine oft
allzu begeisterte Auffassung von Menschen und Verhältnissen
mit Wahrheit und Natur versetzt und in einen engen Kreis
kleinlicher Intriguen gebannt Welch ein Sarkasmus steckt
wieder in Grabbes Anmerkung, daß Schiller die weibliche
Natur nie besser erkannt haben soll als in dem Zank-
dialog der beiden Königinnen! Dieses Beispiel ist sehr in-
struktiv: Schiller wird von Sentimentalität und Rhetorik befreit,
seine allzu idealistische Geschichtsauffassung der realistischen
Wirklichkeit mehr angenähert. Aber fehlen darf auch nicht
die hinreißende Begeisterung des Lieblingsdichters der Na-
tion: „kein Dichter hat so wie Schiller im Wallenstein die
fernsten Sterne zur Erde gezogen, so die Sehnsucht nach dem
Unerfaßbaren verherrlichet — Wallenstein blickt noch einmal
zu seinem Stern, dem Jupiter und verwechselt ihn plötzlich,
unwillkürlich, mit seinem dahingesunkenen Max. Andere Dich-
ter haben in Sachen anderer Art Größeres geleistet, aber
solch einen Blitz zwischen Himmel und Erde schuf nur
Schiller. Der Pöbel merkt's freilich nicht, das Erhabene heißt:
ihm die Hand vor die Augen zu halten." Es ist ein großer
positiver Gedanke: der deutsche Idealismus, die romantische
Sehnsucht, herübergerettet in die anbrechende Zeit einer
materialistisch-naturalistischen Lebensauffassung. Jene Hyper-
romantik, jene barocken Schnörkel und bizarren Effekte sind
nicht das Letzte, und wir erkennen hier zugleich Grabbes
Tragik wie seine Tiefen. Von hier aus wird man auch Grab-
bes letzte Versuche mit besserem Verständnis bewerten müssen.
Nach diesem Dioskurenpaar schaut Grabbe sehnsüchtig
aus, keine andere poetische Erscheinung kann ihm imponieren.
Zynisch u&d prahlerisch hat er über alles andere
— 311 —
verächtlich abgeurteilt Goethes Paust ist nur eine Bagatelle,
aber auch der eigene »Don Juan und Faust" eine lumpige
Vorarbeit Erst die beiden Urteile nebeneinander charakte-
risieren den wieder aus Rand und Band geratenen Grabbe.
Übrigens durfte Grabbe wohl auch eine Wirkung seiner Dich-
tung darin sehn, wenn gerade damals Lenau seinen Faust und
Dumas, seinen Don Juan schrieb. „Faust und kein Ende"
ruft ein Rezensent aus im Hinblick auf die sich immer noch
mehrende Menge der Faustdichtungen und Kommentare, die
das Vermächtnis des Altmeisters begleiteten. — Ein Besucher
schildert Grabbe als Rezensenten: er liegt auf dem Sofa, auf
einem Tisch neben ihm ein Haufen Bücher, er blättert sie
durch, spukt darauf und schleudert sie dann von sich. So
hat er die damalige Literatur in verächtlichster Weise her-
untergerissen. In saloppstem Neglig6 erscheint er in den
Briefen an Schreiner, in denen er Revue über die Journale
abnimmt Kleist scheint er von neuem gelesen zu haben, er
nennt ihn keck, kühn, wahr und lebensfrisch. Die kleine No-
velle „Konrad", in der der Sohn einer armen Witwe den be-
trügerischen Banquier totschlägt, um dann in die Fremde zu
gehn, erinnert etwas an die knappen Erzählungen von Kleist.
Lassen wir noch einige seiner absprechenden Urteile Revue
passieren:
Freiligraths Poesie ist Farbenmalerei. Heine versteht
nichts von Poesie, Rückert ist ein Versehengst, Gutz-
kows Wally und das junge Deutschland nennt er talent-
los. Dagegen werden Brentano und Arnim hochgepriesen.
Hinter der Mode, Briefwechsel izu veröffentlichen, sieht
er gewöhnlich Eitelkeitsmotive. Im April 1836 bot er
eine von ihm und Hartenfels gemeinsam geschriebene kri-
tische Abhandlung Duller an, der sie aber aus Schicklich-
keitsgründen ablehnte. Sie bezog sich auf Bettinas Veröffent-
lichung: „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde", und ist voll
beißenden Spottes, den ihm vielleicht seine schroffe Ehrlichkeit
eingegeben hat, aber auch teilweise Haß und Neid, mit denen
» ».
— 312 —
er zeitlebens den auf der Sonnenhöhe des Glückes wandeln-
den Goethe verfolgt hat, der sich im Umschmeicheltwerden
gefalle und der sich gern die Hände lecken lasse von eitlen
verliebten Weibern, wie der Misogyn Bettina benamset. —
Nach Vollendung des „Hannibal" haben den Dichter noch
die verschiedensten Pläne beschäftigt. Viele seiner Gedanken-
späne sind als Fidibus in Rauch und Feuer aufgegangen. Einige
solcher Fidibusse sind erhalten: da ist der Eingang einer Skizze
„der Student tritt ins Philistertum", außerdem kurze Szenen aus
„Alexander" und „Christus". Friedrich der Große und der
Malier Arnold war ein anderer Plan. Und voll großer An-
schauung ist eine der Impressionen, aus denen das Drama
aufkeimte: Abend ziemlich im Dunkel, nur ein Licht und seine
zornfunkelnden Augen. Im Vorzimmer die räudige Herde von
Räten, welche in Arnolds Sache entscheiden, wartend und
zitternd vor der berühmten Krücke.
In der letzten Düsseldorfer Zeit lebte Grabbe eigentlich
nur von einem Vorschuß, den ihm der Verleger für seine
„Hermannsschlacht" gegeben; die Hypothekenobligationen waren
aufgezehrt. Seit dem Bruch mit Immermann war sein Aufent-
halt in Düsseldorf zwecklos geworden. So beschloß der tot-
sieche Mann, nach seiner zwecklosen Irrfahrt, zu der ihn
der krankhafte Impuls seiner Ruhelosigkeit genötigt, über
Frankfurt und Düsseldorf wieder nach der Heimat zurückzu-
kehren. Petri muß ihm die Mittel zu seiner Heimreise
schicken, die früheren Kollegen sollen ihm soviel zum Ab-
schreiben und Ausarbeiten geben, das er täglich etwa fünf-
zehn Silbergroschen verdient. „Demnach kann ich nicht an-
ders als das Urteil über mein hartes Los, in welchem ich
denn doch immer noch meine Mutter unterstützte, Dir und
der Welt zu überlassen und es darauf wagen, nach Detmold
zurückzukehren, was immer besser ist, als ein wohlfeiler
Sturz in den Rhein, wofür ich mich noch zu teuer halte."
(29. April 1836). Er instruiert Schreiner, seine Briefe an-
zunehmen, unter denen auch ein Antwortschreiben betr. die
— 313 —
Novelle Grupello sein kann, die er mit Hartenfels abfaßte
und an Brockhaus absandte. Dann gibt er noch einige An-
weisungen für Lisette und verläßt Düsseldorf mit einer Schul-
denlast von 6 Talern für Essen und für den Barbier. Er kam
nicht gleich bis Detmold, 2 Tage mußte er in Hagen liegen
bleiben.
XL Kapitel
Hannibal — Aschenbrödel
Hole der Oder die Schlegel und nicht auch dichtenden
Kritiker mit ihrer Meinung «der Poet schreibe alles so kalt hin."
Grade das, was am objektivsten scheint, ist oft das Subjektivste."
16. L 1835.
Käme die Grazie und küßte diese hohe gefurchte Stirn, so
blickte uns ein wahrhafter Dichter tief bedeutsam aus diesen Mienen
entgegen. Kühne.
Grabbes Muse hat ein unsterbliches Recht zu zürnen, wenn
sich nicht das öffentliche Interesse ihr mit aller Teilnahme hingibt.
Outxkow.
Nach dem Aufschwung der Kraft im Napoleon folgt ein ge-
wisses Nachlassen und eine unfruchtbare Zeit. Kosciuszko,
der „allen Feuerglanz des Nordlichts bekommen hätte, wenn
seine I u n o ihm nicht fortgelaufen" wäre, wurde nicht fertig. In
den Anfängen stecken blieb ein Roman Ranuder — nach
Plochs Vermutung ist der Name ein Anagramm (O du Narr) ,
zusammenhängend mit der Holbeinschen Komödie Don Ra-
nudo di Colibrados, in der der Hochmut des mittellosen Adels ge-
geißelt wird. Das Eheleben bedrückte Grabbes Psyche, an-
statt sie mit neuer Lebensglut zu füllen. Bisher ließ sich die
Wahl des Themas leicht erklären. Qrabbe überbietet die herr-
schende Mode, der Stoff reizt schon durch seine Ungeheuer-
lichkeit, er muß aktuell sein, und unter mannigfachen Neben-
buhlern gilt es nach dem Preis zu greifen. Bei Hannibal ist
das anders. Hier ist keine dramatische Konkurrenz anzuführen,
— 315 —
es wäre denn etwa Uechtritz oder Schenks Belisar oder die
Vorliebe für die karthagische Dido. Bezeichnend ist, daß der
Dichter übermenschlicher hochstrebender Kraftgestalten nun
eine Vorliebe für sinkende Helden faßt. Ein eoht tragisches
Element des Schmerzes dringt ein und ein von allen weichlich
rührenden Bestandteilen freies Mitleid packt uns an. Nach
Napoleon, dem hochmodernen Stoff, kommt er wieder auf das
Altertum; aber er will nach den Römertypen der weltbeherr-
schenden Urbs, nach Marina und Sulla, dien machtigen, aber
unglücklichen Gegner des allzuglücklichen Römervolks zeich-
nen. Durch Verrat fällt Napoleon; Hannibal ist der höchst-
verdiente Mann, der von seinen eigenen Landsleuten im Stich
gelassen wird. Den ganzen Schmerz seiner Seele konnte
Orabbe darein gießen.
Hat Orabbe früher sehr schnell geschaffen, so ist er unter
der Einwirkung der Kritik, aber auch der sinkenden physi-
schen Kraft dreimal und noch öfter an der Hannibal heran-
getreten. Die erste Erwähnung tut der Brief vom 12. IV.
1834: „Ich hoffe, es sind Nebensteige darin, die nicht an Napo-
leon erinnern. Nichts schändlicher als Manier." „Vieles, vieles
habe ich dabei vom Wesen der dramatischen Kunst gelernt"
11. XII. 34. Während der sechs Urlaubsmonate hat Orabbe
daran gearbeitet und seine ganze Zukunft beruhte ja darauf,
daß er Hannibal bei einem Verleger unterbrachte. In Frank-
furt wurden ihm zwei Szenen daraus gestohlen; als er
nach Düsseldorf kommt, ist er fast fertig. Von dieser ersten
Bearbeitung ist nur noch vorhanden eine im Frankfurter
Phönix No. 3 erschienene Szene: Vor Rom, deren Jamben
aber denen der späteren Fassung nicht völlig gleich sind. —
Immermann bewog Orabbe zu einer neuen Formung, in der
die Prosa die Jamben noch mehr zurückdrängt, die aber auch
jetzt noch nicht völlig verschwunden sind. Besonders inter-
essante Aufschlüsse über den Obergang zur Prosa bieten die
Briefe vom 17. und 18. Dezember 1834. Schon in Heinrich VI.
wechselt Vers und Prosa wie Hochdeutsch und Plattdeutsch;
- 316 -
im Napoleon ging dem Dichter an dem Realismus der
Schlachtszenen, an der Unmöglichkeit Artillerie, Trains, Kon-
greven etc. in Verse zu bannen, die Unmöglichkeit der Veri-
fizierung auf. Er, der Neuerungssüchtige, hält in merkwür-
dig verspäteter Erkenntnis den Vers für etwas Veraltetes,
mit Unrecht dem Altertum Zugeschriebenes. „Soll man ewig
die alten Hosen tragen?" Es kommt vielmehr auf den inneren
Rythmus an, wie denn z. B. die Bibel nur einen Parallelis
mus der Olieder kenne. Er sagt wie Zacharias Werner: der
Gedanke macht den Vers und nicht der Vers den Gedanken,
und er macht die richtige metrische Beobachtung, daß Schillers
Jamben im Teil anders gebaut sind, wie in den früheren
Stücken, wie er auch den Unterschied der Quantitierung der
deutschen Metrik im Vergleich zu den romanischen Versen
sehr wohl kannte. „Der Franzose braucht ja nur zu akzen-
tuieren, der Engländer nur zu verschlucken." Doch hat er
in seiner Hamletübersetzung die Verse auch da zu behalten
gesucht, wo andere sich der Prosa bedienten (1. I. 1835). —
Orabbe empfindet den Vers für seine Dichtungen als Zwang,
aber auch als Unnatur. Zögernd gibt er, den in seiner Jugend
das glänzend schimmernde Prachtgewand Schillerscher Pa»
thetik berauscht hat, das Pompöse des Verses auf, aber er
glaubt, durch die Prosa Hannibal, der doch in der Geschichte
nur wie eine kalte Mythe erscheine, den Herzen näher zu
bringen. Der Vers entfernt also von der gemütvolleren Wirk-
lichkeit. Es ist bemerkenswert, daß die Gefühlswirkung nicht
vom Realismus entfernt, sondern im Gegenteil dazu hintreibt.
Je schlichter man etwas sagt, um so echter wirkt's. Immer-
manns äußerer Anstoß beschleunigt den inneren Prozeß. In-
dem Grabbe sich zum konsequenten Realismus bekehrt, gibt
er den Vers als äußeres Effektmittel auf. „Der Vers ist ein
Zwitter, ich zerschlage ihn wie neue rauhe Chausseestehle
und verwandle ihn in Prosa". „Mein Hannibal fluthet präch-
tig; sie zerrissen warnend die verselnden Ketten."
— 317 —
Indem aber Orabbe den Vers aufgibt, hat er gleichzeitig
alles Theatralische, künstlich Gemachte von sich zu schütteln
gesucht. Aber andrerseits ist mit dem letzten Zwang des
Verses auch der romantischen Anarchie der Formlosigkeit
eine zusammenhaltende Tendenz genommen.
Die Arbeit, die in den ersten Düsseldorfer Wochen von
neuem anhebt, ist Orabbe peinvolle Lust. Er muß „Hannibal
in Ordnung halten, damit er nicht bei mir einhaut"; er frißt
„wie ein Wurm an seinem Herzen", die letzten Szenen greifen
ihn an und reißen an ihm: „Ich muß mich flüchten — wie
ein Kind", aber er ist »ein Trost im Unglück", Wir können
die allmählichen Fortschritte verfolgen: Am 16. I. ist er bei
den kampanischen Ruhebanken; am 27. I. liegt Zama hinter
ihm; er kommt in Uechtritz'sche Gegend nach Bithynien, wo
Hannibal „das kleine Ende im unermeßlichen Chaos des Ge-
meinen" findet Am 4. Februar nachmittags zwischen 4 und
5 Uhr ist er fertig; am 10. Februar abends 11% Uhr hat er
das Stück abgeschrieben und am 12. Februar kann er Immer-
mann „das Genie" präsentieren.
Diese Fassung ist nun zum großen Teil erhalten und bildet
ein kostbares Besitzstück des Herrn Dr. Hallgarten in
München. Die Abweichungen von der gedruckten Form sind
beträchtlich; auch hier gibt es noch im ersten und zweiten
Teil Jamben, die dann öfters unverändert in die Prosa über-
nommen worden sind. Das Manuskript auf großen losen in
der Mitte gebrochenen Quartbogen, ist in deutscher Schrift,
wie Grabbe überhaupt die gothischen Schriftzüge für dem
Auge vorteilhafter hielt und fast niemals lateinisch schrieb;
am Rand finden sich Verbesserungen, außerdem Bleistift-
bemerkungen, selten lateinische Anmerkungen. Gelegentlich
eine Glosse: de mortuis nil nisi gebene; das ist besonders be-
achtenswert bei den Prusiasszenen: Ob er's bemerkt? u. a. —
Die Seiten mit den Anfängen und Abschlüssen der einzelnen
Teile, die ja erst auf Immermanns Rat beigefügt wurden,
fehlen. Einleitung und Plan scheint von vornherein festge-
- 318 -
standen zu haben, aber geändert und durchgefeilt hat Grabbe
noch überall. Maßgebend war der Brief Immermanns vom
20. Februar. Dieser Brief, der zeigt, wie Orabbe sich von
einem als Dramatiker sicher nicht überlegenen Qeist behandeln
ließ, nach dem ferner das Verdienst Immermanns für tit
Formierung des Hannibal abzugrenzen ist, lautet: „Hiebet
Hannibal zurück. Meine Korrekturen beziehen sich, wie Sie
sehen werden, nur auf die größten Kleinigkeiten — Weg-
streichen der modernen Fremdwörter, wo es ging, der nach-
lässigen Apostrophierungen, Elisionen, Tilgen der überflüssigen
Gedankenstriche (es braucht deren nicht, da Gedanken genug
darin sind)".
Was die modernen Fremdwörter angeht, so stand z. B
instruiert statt eingelernt (II 2), Repräsentant statt V er treter
(II 3), Reverenz statt Bückling, Kourage statt Mut (III 6),
Intriguen statt Listen (IV 5), Rudel statt Rasse (IV 6) Spek-
takel statt Höllenlärm.
„Sie haben die Sitte, in parenthesi die Stimmung oder den
Ausdruck häufig anzugeben. Das gefällt mir nicht, da alles
im Wort liegen muß; erinnert an Kramer und Spieß und ist
altfränkisch. Ebenso taugt das Unterstreichen nichts; der
Leser mag sich selbst das Bedeutende aussuchen. In beider
Hinsicht habe ich Bleistift und Feder walten lassen."
Ganz sind diese szenischen Bemerkungen doch nicht ge-
strichen, aber doch öfters z. B. III 1 Hannibal setzt sich auf
einen Steinblock — stampft auf die Erde — steht nachdenkend
da — will auffahren. Als Turnu in der letzten Szene er-
scheint, hieß es: Glanz durch die Stube. — Das Unterstreichen
besonders effektvoller Wendungen wurde besonders in den
Jugenddramen oft geübt; es war übrigens auch eine Gepflogen-
heit Müllners. „Einmal bei Hasdrubals Kopf habe ich ge-
strichen. Wer mir das Haupt des Bruders vor die Füße
wirft, den töte ich nicht; dies ist für Geringeres." Hier hieß
es ursprünglich (III 2), nachdem der Römer gesagt hat: „ich
sah den Totfeind weinen" und wo jetzt die Worte folgen: „Du
— 319 -
sahst es", — also: Hannibal (wirft ihm den Dolch tief in die
Brust) : Verblute! (der Römer sinkt hin) — o ich hätt' ihn erst
martern sollen! der Römer: Du kommst zu spät (er stirbt).
Grabbe bekennt demütig (20. II): »Ich wollte, ich hätte so
gut geschrieben, wie Sie da gestrichen haben." Auffallend ist,
daß Immermann sich gar keine Mühe gibt, Grabbe zu einer
Bühneneinrichtung zu bewegen.
Das Hallgarten'sche Fragment ist im ersten Teil sehr
lückenhaft, von den übrigen Teilen fehlen fast nur die Ein-
gänge und die Abschlüsse. Bis II 1 herrschen Jamben vor,
allerdings ist ihre Zahl und Anwendimg verschieden wie im
Hamlet. Von den übrigen Änderungen seien die wichtigsten
hervorgehoben. In II 1 ist der Befehl zum Aufhängen viel
ausführlicher. — Die Sklavenszene im 3. Teil lautet ursprüng-
lich, nachdem der Despot in die Kiste geworfen ist, also:
Erster Sklave: „Winsele nur, Freund'chen — liegst bald
lebendig in der Gruft und quälst Dich einige Tage ab mit
Deinem Leben tiefgebettet, daß man Dich nicht hört und
schreist Dich matt zum zerbersten, verstehst (o) Du Motte
im Kasten? (singend) „der Sklave liebt den Herrn gar sehr.
Wenn er ihn nicht kann prügeln mehr" — Chorus der Sklaven
wiederholte — . »Werft nun den Mann in die Grube am Salz-
teiche, und möge er darin noch manchen Tag an seinem Leben
sich abquälen (daran verzappeln). — Er selbst lockt durch
seine Falschheit und Bosheit". Die Szene ist gemildert und
beweist, wie Grabbe kritische Selbstzucht übte.
In der fünften Abteilung trat in der ersten Szene ein
Diener auf, der die Briefe Hannibals holen mußte. Das ist in
der jetzigen Fassung überflüssig gemacht. — Die Unterredung
vor Zama war ursprünglich ausführlicher. In der Beschrei-
bung der Schlacht ist dagegen die Schilderung nach dem Aus-
ruf des Knaben »die Römer brachen durch" bis zur Schil-
derung der Unsterblichen erst später hinzugefügt; am Schlüsse
ist der Ausdruck mehr konzentriert. —
- 320 —
In der Molochszene stand vor dem Erscheinen der drei
Männer noch ein kurzes Gespräch. Einer aus dem Volke:
„Moloch hat selten so viel Kindesopfer erhalten, als heute."
Zweiter: „daß keine Musikanten dabei sind, wie sonst". —
Erster: „die fielen bei Zama" — - Dritter: „daß sie so wenig
Holz unterlegen, — die Kinder werden abscheulich langsam
hingemartert." Erster: „das Holz ist kostbar in einer be-
lagerten Stadt, und jemehr die Opfer gequält werden, je eher
wird Moloch gerührt." — Auch in der Unterhaltung der drei
Männer und in der Unterhaltung mit dem Gesandten finden
sich Änderungen.
Die Rolle des Prusias war ausführlicher. Prusias sagt
z. B. zuletzt: „Dank den Göttern (der Diana zu Ephesus),
so werd' ich zweier Lasten quitt, des Hannibals und der
Römer." Und Hannibal äußert etwa in der folgenden Szene,
in der wohl etwas satirische Betrachtung der Malerstadt
Düsseldorf nachklingt: „Doch ich muß erst Byzanthinischer
Maler werden; vielleicht bringe ich ihm dann bare Wahrheit
allegorisch bei! — Ach in seinem kleinen Bithynien steckt
ebensoviel Dummheit als im großen Karthago." Da steht jetzt
eine Apostrophe an Karthago. — Die beiden letzten Szenen
waren ursprünglich zu einer zusammengezogen; nach dem
Tadel des Flamininus endigt das Stück mit der Verblüffung
des Prusias: „was —?" — Daß der philosophische Seelen-
wanderungsgedanke dem Hannibal in den Mund gelegt wird,
während ursprünglich es der Fetisch dem Turnu sagte, darf
man wohl als Verbesserung bezeichnen. Die Sterbenden
schildern die Wirkung des Giftes ausführlicher. Hannibal
fährt z. B. fort: „Ich muß mit dem Schwert nachschüren —
ah, da brennts Feuer schon von selbst. Turnu hatte Recht, es tut
weh, (er sinkt nieder) die Fledermäuse, die Welten — dort
— dort prangen ja Karthago, die Atlantis, in Farben und
Tönen, himmlisch wie ich sie nie gekannt (sich noch einmal
aufrichtend) doch daß ichs nicht vergesse, Fluch Dir Rom
(er stirbt)." Charakteristisch ist das Streben nach möglichst
- 321 -
originellen, vielsagenden Wendungen; Übertreibungen werden
gemildert z. B. in den Zahlenangaben. Der Dichter strebt
nach immer lakonischerer Kürze und Konzentrierung.
Die Quellen bilden die Geschichtswerke von Rollin,
Schlosser, Guthrie und Gray. Besonders aber .hat Grabbe ge-
schöpft aus Livius, Polybius und Plutarch (Flaminimis —
Scipionen; merkwürdigerweise war er der Ansicht, daß
Plutarch das Leben Hannibals beschrieben habe) . Auch Dö-
rings Anleitung zum lateinischen Stil ließ er sich kommen;
wohl weil er die Reden Catos und Scipios lateinisch stilisieren
wollte. Aber hinter der Patina der Romerszenen verbirgt sich
der moderne Barockstil romantischer Art.
Wie verhält sich die Dichtung zu den Quellen und "zur
Geschichte? Was stellt das Stück äußerlich dar?
Hannibals Abstieg von der Höhe und Scipios Aufstieg —
wie in Marius und Sulla. Unmittelbar nach Cannä setzt die
Handlung ein; Gasilinum, Capua und Zama werden heraus-
gegriffen; das Ende Hannibals und der Untergang Karthagos
werden gegen alle geschichtliche Möglichkeit damit verbunden.
Ungeheuer wird der Stoff zusammengedrängt Im Fluge
werden wir über -einen Zeitraum von über 80 Jahren geführt;
Cannä war 216, Hannibal starb 188, Carthago wurde 146 und
gar Numantia erst 133 zerstört. Im einzelnen führen wir
noch folgendes an: Grabbe übertreibt das gänzliche Versagen
der Karthager aus dem Grundmotiv der ganzen Dichtung her-
aus; denn es wurden doch .trotz der Rede Hannos 24 000. Fuß-
soldaten und 4000 Numidier zur Hülfe geschickt (Livius XXIII 11
bis 13) . Die römische Senatsszene lehnt sich wenig an Livius
XXII 53ff. an; das Ceterum censeo Catos wurde natürlich in viel
späterer Zeit ausgesprochen; Grabbe aber, ließ nach der nun
genugsam bekannten Technik des Zusammenlegens weit aus-
einander gesprengter Dinge und Ereignisse, 4er gewaltsamen
Aneinanderkoppelung des Widerspruchsvollen und Widerstre-
benden sich den ungeheuren Kontrast .nicht entgehen, das
katonische Wort in die Zeit des tiefsten Falles zu legen.
Nieten, Chr. D. Grabbe. 21
~~l
J
- 322 —
Scipi feuerte nach der Cannensischen Niederlage zu mutiger
Abwehr auf; 211 fielen die beiden Scipionen in Spanien, ihnen
folgte der junge Scipio, der 209 Neu - Karthago eroberte*
Daraus hat Orabbe mit einer Reminiszenz an Cervantes Nu-
mantia gemacht. Spielmann, der Orabbes Stück für die Buhne
bearbeitete, hat mit Recht Neu-Karthago wieder hergestellt —
Die Episode mit Allochin oder Allucius findet man Li-
vius XXVI, aber was ursprünglich wie Edelmut wirkt, wird
unter der Auffassimg des Realisten zu schlauer Berechnung,
worüber sich der Rezensent des Morgenblatts schon geärgert
hat. — Hier kommt wieder wie fast bei allen Helden Orabbes
der tückische Grundzug zum Vorschein. Bezeichnend in ähn-
licher Hinsicht ist auch die folgende Änderung: Casilinum
wird umgestellt (XXII 16-17): Hannibal floh in Wirklichkeit
nicht hinter den Ochsen her; auch bedurfte es der Schwämme,
in den Hintern der Tiere gesteckt, nicht; das ist natu-
ralistisch derbe Zutat. — Die Verhältnisse in Capua
sind bei Livius XXIII, XXVI 6 geschildert; hierher kommt auch
der Tyrann Sappius Lesius, aus niederer Sippe stammend, der in
Orabbes Despoten abkonterfeit sein mag. — Frei im Anschluß
an Livius umgestaltet sind die Szenen, in denen Hannibal den
Kopf Hasdrubals empfängt (XXVII 51) und in der er Ab-
schied von Italien nimmt (XXX 9, 20) . Auch hier hat Orabbe
für neue Kontrastwirkung gesorgt, die ihm die Quellen nicht
geliefert haben. — Die Schlacht bei Zama erleben wir in den
Eindrücken eines Knaben, des Pförtnersohnes; das ist ganz
im Sinn unserer Naturalisten, wenn z. B. die Lanzen mit
den sich sträubenden Haaren der Großmutter verglichen
werden. Orabbe bedient sich des Mittels der Teichokopsie, was
er selbst so rechtfertigt: „Ich habe jetzt aus den Schlachtszenen
von Zama gemacht, was da ging. Freilich wird sie nur beschrie-
ben, das tun die Alten aber auch. Ich habe schon manche
Schlachtszenen beschrieben und fürchtete Einton, wenn ich wie-
der die Bataille unmittelbar vorrückte". Der Unterredung vor
Zama liegt Livius XXX 30-31 zu Grunde. Orabbe hat nur die
- 323 —
Hauptsätze der historischen Reden — und diese zum Teil
wörtlich — im Drama wiederholt. Die Färbung der Unter-
redung wird natürlich dadurch intensiver, daß es sich um
Sein oder Nichtsein von Karthago handelt: Scipio verlangt
Unterwerfung auf Onade oder Ungnade. Orabbe hat sich diese
Szene noch einmal daraufhin angesehn, ob noch etwas zu
streichen wäre (16. III. 35). Nun hat Reichl Grabbe auf Kosten
Orillparzers herabgesetzt; nach seinem magern Beweisgrund —
Grillparzer nimmt Anstoß, daß Brasidas Alitta auf den Busen
küßt — soll Grillparzer seine Szene geschrieben haben,
um Grabbe zu korrigieren; Scipio erscheint auch bei Grill-
parzer stolz, aber nicht so stolz wie bei Grabbe; er läßt
Hannibal auch warten, aber er würde persönlich Hannibal
folgen; die Pointe liegt darin: „wenn Hannibal erliegt, erliegt
Karthago — wenn Scipio fällt, doch triumphieret Rom!" Auch
in der Weichselbaumer sehen Szene scheiden beide als
Freunde; Karthago und Rom können zusammen nicht bestehen,
das sieht Scipio noch klarer als Hannibal. Reichl findet bei Grill-
parzer blühendes Leben und bei Grabbe bettelhafte Armut
Aber einerseits war die Szene ursprünglich ausführlicher,
andererseits ist Art und Absicht Grabbes grundverschieden:
Grabbes Grundprinzip sind zwei gleichmächtige Gegenspieler,
wie er sich in dem überhaupt sehr wichtigen Brief vom 17. XII.
1834 geäußert hat: „nichts mir fataler als Schauspiele, wo
„alles sich um Einen Götzen dreht". Hannibal tritt als Bitt-
flehender vor Scipio; dieser bewahrt selbst einem solchen
Helden gegenüber seinen kalten Stolz! Die anderen machen
ein Symbol aus der Unterredung, Grabbe aber will nichts
in den geschichtlichen Sachverhalt hineinlegen, die nackten
Tatsachen reden für sich ihre eindrucksvolle Sprache;
er geht von Plutarch aus und nicht von der Gegenwart und
tut hier wenigstens alle moderne Reflexion ab. — Schwierig
war es, die freiwillige Verbannung Hannibals zu ver-
binden mit der edlen patriotischen Haltung Gisgons; in der
Geschichte holte Hannibal den Gisgon von der Rednerbühne
21*
- 324 -
herunter, als er gegen den Frieden redete. Hannibals Ab-
schied wirkt höchst malerisch: Als er die drei Männer auf
der Mauerzinne erblickt, reckt er die Hand aus und jagt dann
abwärts pfeilschnell zur Küste.
Das Ende Hannibals hatte Huschberg 1820 In fünffüßigen
gereimten Jamben dramatisiert. Hannibal ist zu Antiochos
geflüchtet. Der Großmutskonflikt beider Männer erinnert an
Auffenbergs »Opfer des Themistoki es 4 *. Ist Antiochus zu
edel, Hannibal auszuliefern, so verschmäht dieser die Rettung
durch Scipio. Nach der Niederlage des Antiochus fühlt Hanni-
bal sich gedrückt und enteilt zu Prusias. Da dieser ihn preis-
gibt, spricht der Greis mit den weißen Locken, der mit Vor-
liebe lange Monologe hält, die folgenden /herrlichen Verse, die
die Höhe dieser Poesie drastisch illustrieren:
„Oh geh und brüste Dich mit Menschenliebe,
Du König kennest sie ja dennoch nicht,
Denn alles was Dein Mund nur immer spricht,
Das scheint mir Hohn auf alle edlen Triebe."
Während er sich vergiftet, erscheint Hasdrubals Oeist und
er stirbt unter dem Rollen des Donners.
Turmhoch über dieser sentimentalen Theatralik erhebt
sich Grabbes eigenwüchsige Kunst. Bei seinem Prusias hat
er nicht an die Geschichte gedacht, sondern er hat ihn ge-
bildet nach einem Individuum aus dem Leben mit seinem Geist
und seiner Abnormität. Das Modell zum Prusias ist Uech-
t r i t z „tnit den ausgetrockneten Haaren" (4. 5. 27) . Die'Pfelle
seiner Satire treffen mittelbar auch Tieck, der U echtritz'
„Alexander und Darius" ein warmes Geleitwort auf den Weg
gegeben hat. An dieses Stück erinnert aber sowohl der Schluß
von Grabbes Hannibal, wie auch ein Alexander-Fragment:
Alexander und Thais. Weitere Obereinstimmungen lassen sich
aufdecken zwischen Hannibal und Uechtritz' „Spartacus", über
dessen Herkunft Grabbe sich brieflich (14. 1. 35) äußert. Die
Grabbe'schen Sklavenszenen berühren steh sehr stark mit den
humoristisch-realistisch gezeichneten Sklaven im Spartacus,
— 325 -
die sich auch zuletzt an dem betrunkenen Sklavenhändler Batia-
tus in Capua rächen wollen. Ohne dieses Vorbild wäre
Orabbe wohl gar nicht auf diese Szene verfallen, die im Zu-
sammenhang leicht entbehrt werden konnte. Aber man weiß
ja, was den Dichter leider reizte. Weitere Parallelen für die
gegenseitige Anlehnung bieten eine Vergleichung von Uech-
tritz' „Spartacus" und den Grabbeschen Dramen Marius und
Sulla und Hannibal. Die Dezimierung, der ausgeführte Vergleich
der Adler mit Raubvögeln, Spartacus, der lieber wieder Bauer
am Hämus wäre, — ähnliche Gedanken finden wir in „Marius
und Sulla*. Scipio in Numantia findet sich in gleicher Situation
wie Marius auf den Trümmern Karthagos; der Vergleich „Rom
als Geschwür" ist aus der ersten Fassung des Marius und Sulla
in den Hannibal übernommen. Literarische Satire ist auch in
den Hannibal übergegangen. Hannibal-Grabbe ist das Genie,
das sich beugen muß vor dem erfolgreichen Talent Uechtritz-
Prusias, der sich an die größten Gestalten des Altertums her-
anwagte. Gleichzeitig während Grabbe von dem salbadernden
Rationalisten Paulus spricht (16. 1. 35), erfindet er den Namen
Pantisalbaderthilphichides (ursprünglich Pantibalhilanthilphi-
ehides). Viel Persönliches ist in Hannibal verborgen, ja
die Geschichte ist hier nach einem starken Temperament ge-
färbt, auch in der A 1 i 1 1 a sind Züge aus dem Leben. „Kar-
thagos Mädchen waren berüchtigt wegen ihrer Schönheit, sie
waren die ersten, welche die ungeheure Stadt anzündeten;
deshalb durfte ich mit Alitta anfangen." Offenbar schließt sich
der folgende Satz an frühere den Mangel an Entwicklung
bemängelnde Kritiken an: „Sie wird, wie fast alle Charaktere,
im Verlaufe des Stückes wachsen." (07. 12. 34.) Alitta ist eine
Waise wie Lucie Clostermeier und desselben männlichen
Geistes; der ausziehende Krieger ruft uns den englischen
Offizier im Napoleon wieder in die Erinnerung. Die gleichen
Situationen kehren wieder.
Durch Alitta's Bräutigam B r a s i d a s wird eine Verbin-
dung hergestellt zwischen Hannibal und den edlen Kar-
/
- 326 —
thagern, den Bareiden, in denen sich die Hannibal-Handlung
im vierten Teil weiter entwickelt. Sonst sind außer den
Hauptrollen: Hannibal, die Scipionen, die Dreimänner, Türmt,
Prusias höchstens noch Cato, Terenz, Allochin, Plaminius zu
nennen, und doch werden im ganzen an 60 Personen aufge-
bracht. Allen scharfe Züge zu geben, hält Orabbe für
unkünstlerisch. Es müssen auch Unterlagen da sein, worauf
die Hauptpersonen stehen.
Wir haben eigentlich nur den zweiten Teil der Tragödie,
die fallende Handlung: Hannibal auf dem Höhepunkt — das
ist der Anfang, dann sinkt er seinem Untergang entgegen.
Dann noch ein zweites Thema: Der Untergang Karthagos;
der aber erweckt doch nur unsere Teilnahme, soweit Kar-
thago hannibalisch denkt. Monumentale historische Momente
glühend koloriert, malerische Effekte, große Impressionen
bilden die Permente.
Die Einheit des Stückes bildet Hannibal, seine Gegen-
mächte sind Rom und Karthago. Ein hochverdienter betroge-
ner Mann, dessen Inneres von Qram zerfressen ist, der
j \ charaktervoll, würdig und hoheitsvoll bleibt, — aber jedes
MI J Pathos hat der Nat uralis t verbannt. Hannibal zeigt es höchstens
* da, wo er, wie*Napoleon, Italia apostrophiert: „Firmament Du
geschmückt mit Helden" u. s. w. Das ist der tragischste Zug,
daß er, der Feind Roms, der große Patriot, Karthago ver-
/ achten und Rom verehren muß. Hannibal ist die ergreifendste
7 Gestalt des Dichters, voll persönlichen Schmerzes, voll Selbst-
I ironie; dabei sind doch die ingentia vitia keineswegs über-
sehn. Er rührt uns wirklich, weil er auch unschuldig leidet
Und Alitta hat Recht: Große Gedanken wurzeln tiefer als hinter
der Stirn — in dem rauhen Westfalengemüt, das unverwüst-
lich und unerschöpflich sich hinter eisigen Sarkasmen als der
fürchterlichsten Schmerzgebärde verbirgt. Verachtung trieft
von Hannibals Lippen, dessen stahlscharfer Verstand die Dinge
in unbarmherzig nackter Tatsächlichkeit ohne Illusion und
Sentimentalität vor sich hinstellt. Dieser im Daseinskampf
— 327 —
notwendig erzeugte Realismus erklärt seine fühllose Grau-
samkeit Schneidender Hohn und ätzender Witz liegt in seinen
Worten. Die Grabbesche Buffonnerie gibt ihm allerhand mar-
tialische Lüge; er hat Freude an kuriosen Streichen und wilden
Soldatenspässen. Aus wunderlichster Laune herausgeboren
sind manche der Einfälle des Dichters. Hannibal herrscht
den Boten an: „Du bist ein doppelter Kerl!" Bei Zama muß er
vor dem Stahlschild des Römers „gar etwas blinzeln" (17. XII.
34) • Er ist ein unheimlicher Kerl, dieser Hannibal mit seinem
einen Auge, dem durchgrämten wütenden Gesicht, der sturm-
erstarrten Stirn, dem weißgeglühten Haar. So hat ihn Grabbe
sich vorgestellt in seiner hocherregten Phantasie, wie er leibt
und lebt — mit einem wilden Naturalismus, der auch vor dem
Schmutz nicht Halt macht. In Hannibal ist westfälische Eigen-
art mit historisch überlieferten Zügen zu einer glaubhaften
Einheit verschmolzen: Die punische Silbenstecher ei; vor allem
die lakonische Grausamkeit: bei dem zu spät gekommenen
Admiral, den irrenden Wegweisern, den Gesandten, die ihn
nach Karthago abberufen. Die Leute zittern vor ihm, aber
sie hängen andererseits wieder mit hündischer Zärtlichkeit
an ihm, wie Grabbe an Immermann. Hannibals Rauheit liebt
eine derbknochige Diktion und steingrob ist das harte Korn
seiner Rede. Wieder nähert sich das Extrem dem Burlesken.
Wieder erreicht Grabbe durch Dissonanz und Antithese die
stärksten Wirkungen. Wie in Nannette und Marie das Ver-
derben in den Frieden einfacher Leute einbricht, so stürzt
sich das geahnte Verhängnis in ein ländliches Idyll. Ironie
und Kontrastwirkung ist in den Szenen auf dem Schiffsverdeck:
Rausch und Katzenjammer, wie bei Don Juan und Leporello.
Verhaltener, verbissener Schmerz, der sich hinter Hohn und
Zynismus verschanzt — das kommt aus Grabbes Innersten:
starres Leid, stummer Gram. Nur selten löst sich die bis
zor unerträglichen Spannung getriebene innere Überhitztheit
bei äußerer Kälte in einem freieren Ausströmen, nur selten
durchbrechen die Flammen das Eis, glühend aufzischend. Zu-
s
— 328 -
weilen ergreift und eine besondere Art verhaltener Lyrik. So
haben wir in der ergreifenden Tragik der Abschiedszenen —
die Orabbe beziehungsvoll im Lippeschen Magazin erscheine»
lassen wollte (10. 3. 35) — ein volleres Ergießen. Leicht aber
kann es, gerade wo eine mächtige Gefühlserregtmg anzu-
schwellen scheint, nach einem schonen Ausspruch von Lee
Berg, geschehen, daß der Dichter das passende Wort vergißt
und stumm von dannen zieht
Man sieht Hannibal in kurzem ehrfurchtsvollem Besuch
bei seinem Vater. Dann muß er sich beugen zu einer Unter-
redung: Er muß bitten und darf sich doch nichts vergeben;
ja er hört schweigend die Schulmeisteren des Prusias, dieses
impotenten Affen großer Männer, an. Es ist Mark durch-
schneidendes Weh in den wenigen Sätzen und den historisch
anklingenden Worten in der Todesszene. Aber statt des er-
greifenden Ausklangs erstarrender Nihilismus und darnach
noch zum Schluß literarische Satire. Die Paradoade des Dich-
ters verwebt erschütternde Tragik in ein parodistisches Possen-
spiel. Das Schicksal Hannibala ist typisch: So verfährt die
Welt mit dem Genie, wie Prusias mit Hannibal. Prusias
schwört auf das „System", das schon ein Don Juan mit dem
Stürmern und Drängern verhöhnte. Der Schluß ist schnei-
dende Ironie.
Dennoch fehlt es nicht an echt menschlichen Zügen.
Hannibal erstarrt wie Oothland vor Schmerz; aber der Held
der Jugendtragödie wirft den anhänglichen Diener Erik in die
Flut, in sinnlosem Wahnsinn erfrierend, hier dagegen strömt
erwärmende Glut aus von schlicht treuen, wenn auch nied-
rigen Menschen, wie sie auch den sinkenden Dichter als letzte
Gabe erquickte.
„Herr laß mich abtrocknen — Ihr bekommt da ein Tierchen."
Dieser T u r n u ist eine Art Just; aber seine afrikanische Her-
kunft und seine Verwandschaft mit Berdoa gibt sich kund in
dem grotesk exzentrischen Humor und in der abenteuerlichen
Fantasie. Die Schilderung vom Untergang Karthagos ist praefct-
- 329 -
voll in der Steigerung, die die Pointe bis zuletzt verhüllt; mit wil-
dem oft unzuchtigem Witz, mit glühenden Bildern, kühnem exo-
tischem Kolorit, orientalisch und der Sprache der Bibel abge-
lauscht. Der Tod löst den philosophischen Gedanken der Seelen-
Wanderung aus, den wir schon in Nanette und Marie trafen.
Das Saitenspiel dieser leidzerwühlten Dichterseele verfügt,
schon zerrissen, noch über einige Töne von tiefeindrin-
gender, herzerschütternder Gewalt Schneidend und un-
barmherzig liegt das Leid der Welt vor uns gebreitet Schlag-
lichter eines grandiosen Humors beleuchten grell das Possen*
spiel des Lebens, ein aus Verzweiflung geborener Hohn
wetterleuchtet!
Aus dem Chaos leuchtet hohe vornehme Gesinnung, innerer
Adel, aber auch ungebindigte Wildheit tritt erschreckend her-
vor und fürchterlich ungeschminkt gibt sich die innere Zer-
störtheit und Wüstheit kund.
Der italische Boden wird mit ähnlichen Reizen geschmückt,
wie in Don Juan und Paust. Das Fremdartige, Barbarische
Karthagos wird gemalt in dem unheimlichen, aus dem Ur-
instinkt der Grausamkeit hervorgehenden Molochdienst, in den
^schauerlichen Geheimnissen der Wüste und dem so locken-
den wie abstoßenden Meereselement — Gift und Geifer kocht
in dem dreiköpfigen Ungeheuer, diesen Krämerseelen, die den
Staat leiten sollen und die sich voll inneren Mißtrauens und
gegenseitigen Argwohns belauern— wie drei Kreuzspinnen. Züge
voll tückischer Grausamkeit prägen diese echten Gauner-Physio-
gnomien. Die heimlichen Sprungfedern und verborgenen Türen
stammen aus dem Kriminalroman oder aus der französischen
Romantik. Gisgon wächst und ein Schauer liegt über den
Untergangsvisionen des Todgeweihten. — Nur in Hannibal
ist ein tiefmenschlicher Gehalt; sonst überwuchert das paro-
distische Element Unvermutet wandeln sich die Menschen unter
des Dichters Händen in Narren, in Karrikaturtfb mit unheim-
lich verzerrten Zügen. Vielleicht ist das ein Grund mehr
dafür, daß Grabbe die dramatische Entwicklung mehr in die
— 330 —
Verhältnisse als in die Charaktere hineingelegt, was Mundt als
Fehler rügt. Neben dem Schmerzgefühl bricht überall der
fressende Spott aus, das tötliche Gift, das des kranken Dich-
ters Seele verzehrt; einer verhöhnt den andern voll ver-
borgener Tücke — z. B. im römischen Senat, der Abbre-
viatur der Szene aus Marius und Sulla, gilt Cato als bornierter
Kopf. Scipio wiederholt Sulla und ein geheimer Witz des
Dichter liegt wieder darin, daß er ihn öfters reden läßt wie
einen preußischen Gardeleutnant, überhaupt darin, in archa-
istischen Gefäßen die Einfälle der neuesten Mode zu konser-
vieren. — Besonders läßt sich das zeigen in den Szenen mit
Terenz, die des Dichters Loos wehmütig und satirisch paro-
dieren.
Die zerbröckelnde Form ist doch nur zum geringsten Teil
als Ruine eines zerfallenden Geistes zu deuten; im Grunde ist
Grabbe eher stehen geblieben und hat sich vereinfacht, ver-
innerlicht Die ungeheure Subjektivität erfüllt das Ganze mit
einer verborgenen geheimen Einheitlichkeit. Der Dichter, der
nach einem Abdruck der Wirklichkeit ringt, sucht das höhere
Gesetz des Lebens zu erfüllen, statt einer ästhetischen Theorie
zu genügen. Die Muse Grabbes sucht sich die ihr gemäße
Form und das ist die naturalistisch - impressionistische
Skizze. Szenisch zerflattert das Ganze in 29 Skizzen; Hanni-
bals Abschied allein bedarf dreier Verwandlungen. Hier hat
Grabbe, der in früheren Tagen an den Pforten des Tempels
der Thalia angeklopft hatte, aber immer wieder ausgewiesen
ward, vielleicht auch mit eigensinniger Laune und in einem
gewissen Trotzgefühl die Möglichkeitsbedingungen der Auf-
führung noch mehr als früher außer Acht gelassen, und doch
war eine Bearbeitung für die Bühne keineswegs ganz unmög-
lich. Spielmann hat die Verwandlungen auf 14 beschränkt,
indem er im ersten Akt 1—3, im zweiten die beiden Szenen
in Capua zusammenzog, Casilinum noch dem zweiten Akt hin-
zufügte. Im dritten gibt es zwei Verwandlungen: .Cajeta,
dann die Szenenreihe bis zu Hannibals Abschied, sehr kühn zu-
— 331 —
sammengezogen; die drei ersten Szenen des vierten Aktes ent-
sprechen bei Spielmann der dritten Szene des dritten Aktes.
Diese Zerreißung ist weniger zu billigen. Der vierte und
fünfte Akt bei Spielmann haben drei Szenen. V 2 ist um-
gestellt
Jeder einzelne Auftritt ist wieder ein Mosaik von kleinen
Einzelszenen, während sonst intensiv eine Handlung von einem
Mittelpunkt aus in einer Szene erschöpft wird. Was hat der
Dichter nicht in eine solche Szene nacheinander zusammen-
gepreßt? Z. B. in IV 2 Hannibals Enthaltsamkeit, Karthagos
Haltung, Alpen üb er gang, Charakteristik des Maximas. Ein
Grundmangel wird damit berührt, daß die Dialoge oft nur
scheinbare sind. Hannibal wird durch einen Boten, einen Brief
zur Äußerung veranlaßt, nicht anders wie Napoleon. Drei-
mal haben wir unzweifelhaft Monologe (Barkas, Terenz, Hanni-
bal). Am meisten Schwierigkeit machten die scharf beobach-
teten Oespriche der Dreimänner, wo mit viel Kunst die drei
Parteien in Worten voll verborgenen Sinnes sich begegnen.
Oft ist wieder das Volk Träger der Handlung; es wird ein-
geführt wie eine Chorstimme, oder verschiedene Gruppen lösen
sich ab, aber einen zusammenhaltenden Gedanken vom An-
fang bis zum Schluß finden wir nicht. Der Auditeur kennt
seine Leute. Neben erschütternden Naturlauten voll echten
Schmerzes haben wir Realismen von wilder Kühnheit, aber
auch eine Fülle von zynischer Gemeinheit, ausartend ins
Schmutzige. Durch den Kot der Gasse schleppt uns der
Dichter fort, die Dünste des Rinnsteins läßt er uns atmen, mit
wollüstigem Behagen wühlt er im Grausamen. Scipio läßt
geißeln und vergleicht die bundesgenössischen Truppen
mit schnatternden Enten; Sklaven sind wie entfesselte Bestien,
die sich in Rachebrunst berauschen. Den Unflat des kartha-
gischen Hökermarktes schildern Milieuszenen. Karthago, '
Capua, Bithynien in lapidaren Skizzen. Lakonismen, die man
nicht vergißt: das „nur" der römischen Gesandten 1 Schnei-
dende Gegensätze: In die Senatssitzung dringt das Gequieke
1
r.
- 332 -
der Weiber u. a. Ein Charakterbild, malerische Effekte. Als
Einheit: Hannibal und die Welt — es ist so und muß so sein.
Die Sprache ist ein non plus ultra von Konzentriertbeit.
Man will in der Kargheit das vertrocknende Hirn erkennen»
das nur die alten Gedanken in sonderbar dürftiger Gestalt
aus seinen Falten preßt; statt natürlichen Ausdrucks eines
Gesunden erscheine die Grimmasse eines Pathologischen. Aber
richtig ist nur, daß Grabbe, wenn auch mit unsäglicher Mühe,
doch etwas ganz Eigentümliches hervorgebracht hat, und daß
sich die vergehende Kraft gelegentlich in Auslassungen oder
im Ausfall zeigen läßt. Man hat gesagt, die Diktion
besteht nur aus Knochen, ohne Bänder und Gelenke. Man
hat freilich nur das Gerippe der Skizze, die aber bei
näherer Ausführung ihre eigentümliche Schönheit einbüßen
würde und die nach eigenem Gesetz bewertet sein will. Es
fehlt alle Grazie, aller Schmuck. Grabbe gibt, was er
hat, und in trotziger Resignation will er niemand etwas
vortäuschen, noch von anderen etwas annehmen. Man findet
die alten Regungen wieder, aber doch nicht so herausge-
schrieen, in absichtlich grelle Beleuchtung gerückt, vielmehr ver-
tieft eingegraben in granitne Runen die Urinstinkte: den Grau-
samkeitskitzel, den fressenden Gram, die Zote, den Hohn auf
alles Menschliche. Aber das Stück ist durch und durch eigen-
tümlich; alle die Krankheitsstoffe freilich, die nicht ausge-
schieden werden konnten, haben das poetische Gebilde in*
taxiert. Doch ist alles Fremde ganz abgestoßen. Grabbe hat
immer mehr zusammengestrichen; alles Oberschwängliche hat
er gemieden, indem er auf den Schmuck des Verses ver-
zichtete und das Gemüt durch die Prosa des Lebens zu rühren
suchte. Und doch tragen die rohen unbehauenen Blöcke seiner
Sprache ein eigentümliches individualistisches Gepräge unfl
'allerhand seltsame Zeichen, schwer zu deuten und nachzu-
ahmen. Die Konsequenz dieser Wortkargheit, die oft nur
einige andeutende Noten der Charakteristik gibt, würde eine
Wiedergabe der Empfindungen in bloßen Naturlauten, Intcr-
- 333 —
jefktionen, einem unartikulierten Stammeln sein. In den Ab-
breviaturen, Lakonismen, Epigrammen erkennt man trotzdem
den früheren Orabbe wieder. Darin zeigt sich weniger ein
Abnehmen der Kraft als die Absicht, nach einem künstlerischen
Gesetz die üppig verschwenderische Farbenpracht zu kon-
densieren und zu konzentrieren. III 3 heißt es: „und der Schurke
liebelt?« — „mein Wunsch ist erfüllt, ich sah den Todfeind
weinen. 44 Wer denkt da nicht an Berdoa, dessen Schurken-
Physiognomie uns überhaupt oft entgegenbleckt, dessen Geil-
heit und Blutdurst in den Sklaven spukt, dessen wilde, afrische
Phantasie die Bildersprache Turnus und des Celtiberiers
färbt, der Karthago mit einer gefleckten Kröte vergleicht.
Berühmt sind die kurzen Milieuszenen, in denen sich ein
furchtbares neues, schöpferisches Kunstprinzip ausspricht. Wie
verschmilzt hier Held und Umgebung zu einer Einheit, wie
fügt sich die ganze Handlung in den Rahmen der Zeitver-
hältnisse und des Bodens! Sphäre und Zeitpunkt weiß Grabbe
zu schildern, das Rassenproblem wird im Gothland ange-
rührt, aber die Frage der Vererbung hat ihm nicht nahe ge-
legen. Die Atmosphäre der karthagischen Niedertracht lastet
erdrückend — sie ist der Partner, die Gegenmacht; das Milieu
zeigt, warum Hannibal leidet, aber nicht warum er so ist, es
ist nicht der Mütterschoß seiner Taten. Wir haben wieder
den ungeschltchteten Streit zwischen dem Wahrheitsmteresse
des Historikers und dem Gesetz des dramatischen Kunst-
werks, aber auch den untergeordneteren Konflikt zwischen
dem, was dramatisch und dem, was bühnenrecht ist. Volk und
Stadt pflegen Träger des Epos zu sein, dramatisch wirken
Personen im Kampf und der innerliche Seelenprozeß. Das
ist die gewöhnliche Regel. Aber Grabbes Originalität besteht
eben darin, daß er das Volk in eine dramatisch bewegte Masse
verwandelt und dadurch eine vergangene Zeit mit höchster
Lebendigkeit wie eine gegenwärtige vor uns hinstellt. „Wenn
Shakespeare Pöbel zeichnet, nimmt er noch immer einzelne
Vertreter. Grabbe will mehr tun: Er will den Pöbel als
— 334 —
Masse geben, nimmt 10—15 Figuren hintereinander aus dem
Volke heraus und schildert besser das Zuständliche, Typische
als das Individuelle." (Kühne.) Die Volkstypen werden nicht
als Episodenfiguren für die Haupthandlung verwandt, sie
stehen für sich als Selbstzweck, bringen die Grundtendenz
zum Ausdruck.
Vermißt man die Idee und die Einheit in den historischen
Dramen, so dürfte hier eine und zwar dazu noch eine ganz
neue zu finden sein. Was in den Hohenstaufen noch als zu-
fälliges Nebenwerk gelten kann, das tritt in seiner prinzipiellen
Bedeutung seit Napoleon immer stärker hervor.
Zu dieser Anerkennung des Volkes, des Zuständlichen vor
dem willkürlichen Handeln einzelner, ist Orabbe wohl weniger
durch den Einblick in die sozialen Mächte seiner Zeit als
durch historischen Tiefblick gekommen.
Hannibal war das Entzücken der jungdeutschen Schule,
Gutzkow und T h. Mundt waren begeistert Im-
mermann spürte . den hinreißenden Atem echter Größe.
Margraff nannte Grabbe wegen der kühnen großen
Plastik seiner Gestalten den Buonarotti der Tragödie
und Kühne sprach in der „eleganten Zeitung" das
schöne Wort: „Käme die Grazie und küßte diese, hohe
gefurchte Stirn, so blickte uns ein wahrhafter Dichter
tief bedeutsam aus diesen Mienen entgegen. Wehe der deut-
schen Bühne, die ein solches Talent sich nicht gewann und
nicht erzog." — Das Morgenblatt kritisiert hauptsächlich den
wunderbaren antikisierenden und doch wieder hoch modernen
doppelgründigen Stil, in dem die alten Römer die Gefäße für
alle brillanten Einfälle bilden: „die Römer sitzen 2000 Jahre
später an Grabbe's Tisch und machen ihre Witze über die
Bagatelle." Die alte romantische Form — denn zugrunde liegt
immer noch die technische Form der Rahmenerzählung —
ist noch nicht gefallen, während ein neuer Geist sich zukunfts-
voll ankündigt
— 335 —
Die Blätter für literarische Unterhaltung leiten ihre
von hoher Achtung durchdrungene Kritik mit folgender Be-
trachtung ein (Mai 1836) . Nachdem sie den Verfall der Bühne
beklagt haben, heißt es: „was Schillers Nachfolger, die ihn
bis zur gedankenleersten Form verdünnten und breitschlugen,,
gesündigt, was Grillparzer, Müllner, Houwald und das reiche,
sich zerblätternde und zerfasernde Talent Raupachs, der es
auf den Brettern sich häuslich bequem gemacht und im Schlaf-
rock zwischen den Kulissen sich sorglos niedergelassen hat»
verfehlt haben, das möge ihnen der Himmel verzeihen. Der
Verfall beginnt seit Müllner und Grillparzer und schreitet in
Raupach unaufhaltsam vor. Die echte Tragödie lebt nur im
Buchhandel, nicht auf der Bühne. — Diese Urtat, diese Ur kraft
der dramatischen Poesie ist sieghaft in Grabbes Hannibal.*
Das ist ein Wort, da% man denen, die sich namentlich von
dem späteren verkommenen Grabbe mit Abscheu und Wider*
willen abwenden, ins Stammbuch schreiben sollte.
Aschenbrödel
Zu den schönsten Verdiensten der Romantiker gehört es,
das deutsche Märchen wiederbelebt zu haben. Man erzählte
sie in ihrer taufrischen Schlichtheit wieder, oder es reizte ge-
rade der Kontrast, den Alltag und die Gegenwart wie ein
grelles Licht in die wunderbare mondbeglänzte Zaubernacht
eindringen zu lassen. Nach verschiedenen Nuanzen bleibt der
poetische Kern unberührt oder wird mehr oder weniger von
satirischem Hauche verzehrt. E. T. A. H o f f m a n n führte den
Berliner Philister unvermittelt ins Reich des Wunderbaren
und Unheimlichen, T i e c k war es mehr um allerlei literarische
Satire zu tun. Er hatte „Däumchen", „Blaubart", den „ge-
stiefelten Kater" dramatisiert. Menzel suchte für sich den
schlesischen Berggeist „Rübezahl" aus. Grabbe war wie präde-
stiniert für den niedersächsischen Philisterspott Eulenspiegel.
Wohl schon in der Leipziger Zeit tauchte bei Grabbe die Idee •
auf, das Märchen von Aschenbrödel in Tiecks Manier zu
dramatisieren. Die glanzvoll ausgestattete Oper gehörte in
— 336 -
Leipzig zu den zugkräftigsten Repertoirstücken. Sodann muß
der Stoff einen eigenen Reiz auf Orabbe ausgeübt haben. -Er
sagt im „Theater zu Düsseldorf" : „Napoleon soll die Hebliche
Oper „Aschenbrödel" von Nicolo 90 Abende hintereinander
geaehn haben." Von Frühjahr bis Sommer 1829 während der
Arbeit an den Hohenstaufen ist das Stück abgefaßt und auch
abgeschickt worden. „Mein Aschenbrödel wird tollkomisch".
Als Kettembeil ablehnte (April 1830), hat Grabbe die Fem-
szenen im 2. Akt in Steinmanns Unterhattungsblättern und
im Morgenblatt untergebracht. Einige kleine Änderungen fin-
den sich, z. B.: „Ich Böse, Ich denke immer an das Fest und
sollte Doch immer des Unheils denken, welches uns Bedräut**
statt „Ich denk an Spiel und Tanz und es steht doch So
schlecht mit meines Vaters Grabgut"; hinter „Den Bächen
gebiet ich Um Kiesel zu tönen" * ist jetzt mit Unrecht
ausgelassen: den Blättern befehl ich u. s. w." — Im April
1834 hat Grabbe die „Aschenbrödel" beim Umräumen ver-
loren, in Düsseldorf aber scheint er sie wieder gefunden zu
haben. Im Januar trat „Hannibal" in den Vordergrund, dann
aber geht er wieder an das Lustspiel heran, das er in der Um-
arbeitung im Juni an Wtri und Menzel schickt. Er hat stark
gekürzt, aber auch einiges hinzugefügt, wie die Anspielungen
auf Rotteck, die Juliwoche oder die St. Simonisten. Aus Alastor
— der von Shelley herrührt — ist Mahan geworden, die eine
Tochter ist nicht mehr nach Shakespeare Thisbe getauft, son-
dern heißt jetzt Louison, der Name Olympia stammt aus
Spontinis Oper. Im Operntext sind die Namen andere, natür-
lich aber tauscht auch dort dem Sinn des Stückes entsprechend
der Prinz die Rolle. Außer Tieck muß für die Feenszenen
Ca Ideron als Vorbild beansprucht werden.
Die erste Szene führt uns in die Familie des Barons
in realistisch-satirischer Zeichnung. Manche Gedanken sind für
den auf Freierfüßen wandelnden Dichter charakteristisch.
Der Baron, ein Hamlet an Taten, aber ein verschuldeter Pan-
toffelheld, sitzt bis über die Ohren in Schulden. Dieses Motiv
- 337 —
benutzte Grabbe, eine sehr wirksame Episodenfigur einzuführen,
den Juden I s a a k. Er hatte die Manichäer in Berlin kennen
gelernt, die Juden sind dem Satiriker die verächtliche, ge-
tretene, mit einer bestimmten Art Schelmerei ausgestatteten
Menschenrasse; er denkt an den schmierigen polnischen Juden
oder an den Typus des commis voyageur, der kriechend
unterwürfig überall anklopft, überall herausgeworfen wird und
doch immer wiederkommt. Die Miene und Gebärde hat den
Charakteristiker immer gereizt. Isaak wird zum Fenster
herausgeworfen, das schadet an und für sich nichts, wohl aber
daß er zu wenig verletzt ist, um den Baron zu verklagen
und seine Wunden in Geld umwandeln zu können. Er kommt
durch die Esse zurück und maust, was er findet, indem er
einzelnes in Haar und Mund verbirgt. Die Baronin hat unter-
dessen ihre Töchter in einer Weise auf die Finessen des
Männerfangs dressiert, die zu einem interessanten Vergleich
mit Sudermanns Schmetterlingsschlacht herausfordert. Die
Töchter dürfen keinen Bürgerlichen heiraten — trotz der Juli-
revolution, die dem Dichter nachträglich dazwischen kam. —
Die zweite Szene führt in phantastischer Satire in das Hof-
lager. Der König sehnt sich siegreich heimkehrend nach echter
Liebe und tauscht auf Mahans Rat nicht nur etwa mit dem
Schloßvogt, sondern — man sieht wieder die Zuspitzung zur
Karrikatur — mit dem Narren Rüpel. Durch diese Änderung
wird aber erst die groteske Ankleideszene möglich, in der
der Poet sein Teil bekommt, der lieber schlecht als albern
(Max. Harden hat einmal gesagt: Schweinehund, meinetwegen;
aber Dummkopf . .?!) genannt sein will, in der der Schneider
Bock - Meck aus dem „Napoleon" noch einmal wieder-
kehrt. Weil er Geld braucht, wird der Jude zitiert und in-
4
dem dieser Olympias Namen nennt, hat er die Bedeutung, die
Handlung ins Rollen zu bringen. — Der zweite Akt ent-
faltet nach dem Aufbruch der Schwestern mit dem eigentlichen
Aschenbrödelmotiv das poetische Element. Diese lyrische
Feenpoesie ist eine Seltenheit bei Grabbe und sie charakteri-
Nieten, Chr. D. Grabbe. 22
- 338 -
siert sich als geschickt nachempfundene Imitation von Cal-
deron und Shakespeares Sommernachtstraum, wie wir sie
schon in Immermanns „Augen der Liebe", wo übfigens auch
das Aschenbrödelmotiv auftaucht, antreffen. Glücklicher ist
Qrabbe aber in Kalibangestalten aus der Erdentiefe, als in
den luftigen Geschöpfen des Himmels. Ober E. T. A. Hoff-
mann und Scherz-Satire kommen wir zu dem Einfall, der
zwei feindliche Tiere wie Ratte und Katze in Zofe und Kut-
scher verwandelt. Die Grabbesche Originalkomik beruht auf
diesen Umkehrungen und Verwechslungen, allerhand Blas-
phemien und Teufeleien klingen an „Scherz Satire" an, der
sich in „eine Parabase von Platen" verwandelnde Kutscher
verschmilzt ffoffmannsche Metamorphose mit Tieckscher
Satire. — Der 3. A k t fährt die beiden Parteien zusammen.
Mit der Herausarbeitung der Talismanidee ist übrigens das
Schuhmotiv in der ursprünglichen Pointe vernichtet und Grabbe
hat dem abzuhelfen gesucht. Der verkleidete König wird
übersehn und der Rüpel genießt alle Ehren. Vor dem Zu-
sammentreffen mit Olympia steht ein längeres satirisches Ge-
spräch, das die Literatur unter die Lupe nimmt. Hier finden
sich gegenüber der ersten Passung Anspielungen auf Orabbes
eigene Dramen: (Gothland ist ein idealisiertes Vieh und Don
Juan und Faust und Barbarossa werden nicht viel schmeichel-
hafter beurteilt. Die Ausländerei konnte erst in der späteren
Fassung kritisiert werden. Immermann durfte zuletzt nicht in
satirischer Beleuchtung erscheinen.) Das „Tollkomische" beruht
auf der Mischung: die Menschen reden satirisch über die Lite-
ratur, die Ratte erzählt von ihrer ersten Liebe, der Gnom treibt
allerlei Unfug, indem er Gläser austrinkt, Zigarren wegnimmt,
Ohrfeigen austeilt. Manche Erinnerung an „Scherz Satire**
weckt die Ratte. Der Dichter will uns vor lauter Überraschun-
gen nicht zu Atem kommen lassen, er versucht die ver-
schiedenen Arten des Komischen zu kombinieren, z. B. wenn
die Tiere literarisch werden, oder die Ratte den Engländern
— 339 —
vergleichbar erscheint. Bei diesem phantastischen Chaos mag
freilich manchem mit dem Atem auch der Genuß entweichen.
Isaak hat unterdessen einen großen Plan, „zu machen
nach alttestamentlichem Vorbild einen Staatsbankrott und zu er-
richten ein Monopol." Als er den Schuldschein ausstellt, frißt ihn
die Ratte auf. Hier haben wir ein hübsches Beispiel für die Wan-
derung eines Motivs durch die Literaturen und Zeitalter,
und zugleich in Kürze den Ausdruck dafür, wie Grabbe Re-
miniszenzen aufnimmt und zugleich Anregungen ausgibt
Solcher Einfall weist zurück auf Shylock und andrerseits in
die Zukunft auf Hebbels Diamant — Das Liebesgespräch zwi-
schen Olympia, deren plötzlich auftretende Leidenschaftlichkeit
Grabbe ausführlicher begründet hat (26. VIII. 35.), und dem
verkappten König ist insofern eigenartig, als die Interjek-
tionen der Liebenden gleichsam auf dem Untergrund von
Feenmusik, die sie magisch beeinflußt, gemalt sind. In
Olympia zitterndes Grauen, in dem König Tatendrang und
Weltvergessen. — Der Schuhrat geht um und nach realistisch-
komischen, literarisch-satirischen Szenen führt uns der Dichter
zum Schluß, der in dem gereimten Segen der Fee und einem
kurzen Liebesduett gipfelt.
Während die „literarischen Blätter" das Lustspiel, das nun
einmal der Grazie nicht entbehren könne, tief unter den Hanni-
bal stellen, meint das Morgenblatt: Grabbe könne der erste
Lustspieldichter sein, wenn er bühnenmäßiger wäre. Aller-
dings fällt der Zwischenvorhang nur dreimal, aber nur wenige
Rollen sind über das Skizzenhafte ausgeführt; der Feenzauber
würde ebensolche Schwierigkeiten machen, wie die bunt-
scheckige Komik der Ballszene; endlich wirkt die satirische
Tendenz nur für die Zeit, in der sie aktuell ist. Zusammen-
hang und Bau ist sonst regulärer, als anderswo bei Grabbe
Wie in dem gleichzeitigen „Heinrich VI." reden die Lieben-
den in Versen, während sonst durchgängig Prosa gesprochen
wird.
22*
XII. Kapitel
r
Die Hermannsschlacht
»Die Studien zu diesem Nationaldrama haben midi tief
erschüttert. Ihretwegen war ich so krank, mocht's aber nicht
sagen.«
»Indeß, sei es wie es sei, ein Koloß auf neuen Wegen
vorschreitend ist das Stück.«
Die letzte Kraft zog Orabbe aus der Muttererde, aus der
heimatlichen Erdscholle. Hier war für Qrabbes Kunst noch
Neuland, hier schlummerte noch unverbrauchte Kraft. Heim-
weh beschleicht ihn und das Gefühl, daß die nationale Kraft
auch in ihm noch mächtig ist, stärkt ihn. Gleich nach Vollen-
dung des Hannibal geht er an die Hermannsschlacht, den lang-
gehegten Plan des Eulenspiegel zurückdrängend. Er über-
windet sich sogar, seine Frau zu bitten, ihm Clostermeiers
Buch, „wo Hermann den Varus schlug", und zugleich Ludens
deutsche Geschichte, sowie Donops Beschreibung des lippe-
schen Landes zuzuschicken (8. I. 35), und an Petri schreibt
er 12. 1. 35: „die Hermannsschlacht soll frisch sein wie Lippe's
Wald. Unser Querweg von Hartröhren zum Kreuzkrug keimt
U auch darin." Heimatliche Beziehungen knüpft er an. Dann regt
sich gleich der Schalk in dem Brief an Immermann, 18. 2. 35:
„auch Runkel soll hinein, und ein Chor altdeutscher Burschen
soll als närrische Folie auf der Gothenburg erscheinen." War
es ihm doch in den Sinn gekommen, gleich nach der Hannibal-
tragödie etwas Lustiges zu schreiben und zwar war es der
Plan, den Obergang seiner Studienzeit zum praktischen Leben
zu schildern, angeregt durch Immermann, der einen der „mir
— 341 —
wohlbekannten Jünglinge aus dem Mittelalter mit Sporen zu
Fuß, schwarz-rot-gold um die Brust, einen schwarzen un-
gesäuerten Pfannkuchen auf dem Kopf, Liebe und Vaterland im
Maul", darstellen ließ. Vir können die Entstehung genauer
verfolgen. Am 10. März schreibt er an Petri, binnen einiger
Wochen denke er fertig zu werden, am Ende des Monats hat
er alle Vorstudien beendigt und am Anfang April sind
die ersten Szenen niedergeschrieben. Er liest ungeheuer
viel. Im Juni scheint er nach einem Brief an Schreiner wie-
der ungefähr fertig zu sein, er beschreibt Immermann den
Schluß des Stückes; aber mit Ablauf des Monats hat er doch
seine Vorsätze nicht vollhalten können. Am 26. August meldet
er Petri: „Hermann ist vollendet und wird für den Druck
kopiert." Dann tritt eine unvermutete Pause ein, zum Teil
durch Krankheit herbeigeführt. Im April 1836 heißt es in
einem Brief an Duller: „Hermann ist fertig", während er sich
Petri gegenüber vorsichtiger ausdruckt: „Hermann ist im ganzen
vollendet — bis auf den letzten Umguß." Im Juli schreibt er
an seinen Verleger, 350 Seiten seien ins Reine gebracht; seit
15 Monaten sei das Stück fünfmal umgearbeitet worden. Er
schickt das Manuskript immer noch mit Vorbehalt an Petri
zurück. Aber ehe es zu einer Abschrift kam, ist der Dichter
gestorben. Orabbes Witwe hat dann das Manuskript zum
Druck befördert mit allerlei eigenen Verbesserungen. Eine
kleine Bosheit hat Grisebach aufgedeckt: der Name von
Orabbes verhaßter Mutter Qrüttemeier war von Frau Lucie
in Rosenmeier umgewandelt.
Grabbe will das Stück fünf- bis sechsmal umgearbeitet
haben. Genauer festzustellen ist eine dreifache Änderung:
zunächst bis Juli 1835, zweitens bis April 1836, endlich bis Juli
1836. Von diesen verschiedenen Passungen besitzen wir gedruckt
im Phönix 1835, 1836 (294), 1837 (1) : 1. Eßszene, Lager des Va-
rus. 2. erster. Tag, Varus' Tod. 3. das Ende des Augustus.
Bemerkenswert ist die Nennung Armins, die Grabbe zuerst an-
wandte. „Armin ist der ehrliche echte Name". Tatsächlich
— 342 -
würde Hermann einem Chariamannus entsprechen; auch
Kleist zieht den Namen Armin vor. — Im „Rheinischen Odeon*
1838 ist gedruckt: erste Schlacht (Dörenschlucht) . Die Ber-
liner Nationalzeitung (IL 12. 1901) enthält: erster Tag (aus
dem Besitz des Dr. Weißstein).
Fragmente befinden sich in Detmold und Berlin und
drei Blätter in München: Eingang (Hermann), erste Nacht
(Armin). (Dort befindet sich auch eine Locke von Orabbes
Haupthaar, die Ignatz Hub pietätvoll aufbewahrt hat) Außer-
dem besitzt Dr. Hallgarten in München sieben Fragmente,
von denen das erste den Eingang fast vollständig enthält, aber
auch alle übrigen bringen Bruchteile des Eingangs, während
die Fragmente des eigentlichen Stückes spärlicher sind. Für
das Alter dieser wichtigen Bruchteile kann man drei Stufen
unterscheiden. Armin steht in den ältesten Fassungen; so-
dann folgt eine Schicht, in der Armin durchstrichen und Her-
mann dafür eingesetzt ist; endgültig ist der Name Hermann.
Aus der ältesten Fassung stammen z. B. Teile aus der
zweiten und fünften Szene des Eingangs. Welches Interesse
Orabbe der Gerichtsszene zuwandte, beweist, daß sie in fünf
Fassungen vorhanden ist Einige kleine Stücke mögen dienen als
Beispiel der Änderungen. Aus der ersten Szene Fragment
VII: der Cherusker: Der Fahraus t der wohnt hoch am Teut
in dem mit Wimpern von Buchen und Eichen ins Land schau-
enden Hünenringen, er ist wohl bei Euch. —
Drucke: Fragmente:
So 'viel ich weiß, a) Nein, der Lan- b) Er ist noch ab-
ist er noch abwe- desherr ist abwe- wesend als Legat
send, als unser send in Geschäften, so viel ich weiß.
Agent im Norden, als Legat des Ca- c) Er wird noch
sar Augustus. abwesend sein» als
unser Agent im
Norden.
In VII beginnt die Visitation des Varus:
- 343 —
Druck:
Varus: Dein Schwert!
Legionär: hierl
Varus: die Klinge hat Rost!
Legionär: eingefressenes Blut
Druck:
Varus: Du zögertest lange, —
Hermann: ich grüßte erst mit
ein paar Worten zu Hause.
Dann machte ich noch diese
Wegekarte nach dem Harz,
schickte weitumher nach Hülle,
selbst bis zu den auf ihren im
Meer lebenden Lindern woh-
nenden Chauken. Meine Nach-
barn: die Marser und Brückte-
rer sind natürlich nicht die
letzten, die ich einlud. Varus:
Dein Eifer für die gute Sache
verdient alles Lob.
Fragment:
Die (Röcke) Panzer gut ge-
putzt — Dein Schwert — nicht
geputzt? gegen Germanen —
die Un vorsieht — Soldat:
Herr -?
Meine 18te! Ha! (die 18te
Legion von der Sonne beschie-
nen im Waffenglanz). Du
Schönste, die der Kaiser hat.
In aller Welt, in Asien, Af-
rika, Europa — keine gleiche!
Die 19te!
Fragmente:
Varus: Fürst? — Armin: ich
bin ganz Dein. — Hier die
Pläne, die Charten —ich führe
Dich und wir besiegen die auf-
rührerischen Harzer. — Va-
rus: Augustus Ruhm und
Qnade und ewiger Ruhm loh-
nen Deine Treue! — Die sechs
gestern angekommenen Co-
horten und 3 Geschwader
bleiben hier und halten den
Hünenring besetzt — Armin
für sich: mir nicht lieb. —
Thusnelda muß sorgen, daß
sie vernichtet werden — (er
blickt um sich) kein Bote da-
hin.
Ein Cherusker hält sechs
Finger in die Höhe, dann drei,
ballt die Hand, erhebt sie wie-
der und blickt Armin fragend
— 344 -
r
/
an — flüstert (hinter den
Ohren) : Fürst? — Armin (als
hätte er das alles nicht ge-
sehen, läßt beiseite die Worte
fallen) besorgs — (Tod dem
fremden Volk) — Gruß der
Thusnelda.
Varus: was ist? Hermann:
nichts. Mein Bursch brummte,
weil mein Handpferd hinten
ausschlug und ihn traf. Varus:,
schone er künftig seine unge-
heuere Lunge mehr, in Erwä-
gung daß man störendes Un-
geziefer, Brummfliegen einge-
rechnet, leicht zerdrückt —
Auf und vorl Hermann: diese
blitzenden Goldkäfer! (Er stürzt
zu Boden) : Meine Erde, meine
große Mutter . Cherusker :
Herr, wirst Du krank?
Die Buffonnerie fällt also hier von Varus auf die Ger-
manen.
Die ganze Liebe zur Heimat wollte Grabbe wie ein Plui-
dum durch sein Stück strömen lassen. Er hat als Lippescher
Lokalpatriot für die Verschönerung der Stadt journalistisch
einzutreten für der Mühe wert gehalten und sich bei dem
Streit mit Bückeburg um Schieder — in heutigen Tagen
wieder erneut — als echter Detmolder gefühlt Früher war
ihm der Rahmen gleichgültig, jetzt drängt ihn die Tendenz
nach Einheit nach einer urmächtigen, wurzelechten Grund-
lage. Ausgangspunkt ist der Heimatboden, darauf als das
eigentlich dramatische Ereignis eine Bataille, eine Waldschlacht;
Milieu und malerische Impression; dann aber als Würze alier-
Oder:
Römische Soldaten: Don-
nerts? Hermann: Nein. Mein
Stallknecht brummt, weil er
einen Verweis bekommen hatte,
daß er den Sattelriemen nach-
lässig zuknöpfte. Varus: scho-
ne er künftig seine ungeheure
Lunge. Brummfliegen tötet
man leicht unversehens. Vor-
wärts marsch. Hermann: Die
gleißenden Schurken!*
— 345 —
hand Pikanterien und moderne Einfälle. „Hermann soll frisch
sein, wie Lippe's Wald. Mein Herz ist grün vor Wald. Ich
kenne aus meiner Kindheit ja jeden Baum, jeden Steg dazu.*
Er hat das Stuck vollendet unter den Bergen und Wäldern
seines Vaterlandes. Damit hat er sich in Düsseldorf ge-
tröstet Aber es hat ihm ungeheure Mühe gemacht, Abwechs-
lungen und allgemeines Interesse hereinzubringen in Verfol-
gung romantischer Tradition. „Nie schmiere ich wieder ein
Genre- und Bataillestück. Was habe ich nicht an Witzen,
Naturschilderungen, Sentimentalitäten pp. einflicken müssen,
um das Stück möglichst lesbar zu machen. — Indeß, sei es
wie es sei, ein Koloß auf neuen Wegen vorschreitend ist das
Stück."
Hermann war frühe von patriotischen Dichtern auf den
Schild erhoben worden und die Germania des Tacitus war
nationalfühlenden Männern immer ein Quell der Erquickung.
Hütten dichtete einen Arminius, Lohenstein einen „Hermann
und Thusnelda 44 . Arminius und Heinrich der Vogler ge-
hörten zu den populären Gestalten aus der Vergangenheit im
Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Schönaich und Wie-
land dichteten ihre Epen, Schlegel sein Drama, Klopstock
seine Bardite. Und mit seiner Ode „Hermann und Thusnelda**
„leitete Klopstock eine ältere Strömung von den Leipziger Stu-
diengenossen auf die Poeten der Freiheitskriege". Dann kam
Kleist mit seinem großdeutschen Tendenzstück. Grabbe
schreibt 30. 3. 35 an Immermann: „Kleists Hermann schicke
ich anbei mit Dank zurück. Was ich daraus benutzen konnte,
habe ich mir gemerkt. Mein Armin wird aber ganz anders.
Ob besser, weiß ich nicht urtheln. Hoffs aber ziemlich stolz,
verzeih mirs Gott." Man wird in der Tat nur selten — etwa
in der Eingangsszene — an Kleist erinnert
Römer und Germanen schritten nicht selten über die« Bühne.
Aus verwandtem Stoffkreis heben wir heraus etwa den Germa-
nicus von Riesch 1818 (nach Arnault) oder von Wustenberger
— 346 —
1822; Wetzet dramatisierte 1818 den Thüringer Hermannfried»
den Brudermörder, der Qodwig zur Hülfe ruft, dann aber durch
seinen Verrat zu Grunde geht. Lucie Qostermeier hatte
Grabbe Klemm's Heerfest (d. i. Ariovistus) zugeschickt,
(Zerbst 1829): eine epische Dichtung in sechs Gesängen
(Fahrt — Gastmahl — Nacht — Zusammenkunft — Schlacht
— Flucht) und in Hexametern. Juni 1833 wird in den „lite-
rarischen Blättern" ein Arnim gen. Hermann der Cherusker
von dem Mecklenburger Schütz angezeigt (Hamburg 1833).
Der Kritiker macht die beachtenswerte Bemerkung: „Von
mindestens 20 Tragödien dieses Namens hat keine nachhaltig
gewirkt. Der Stoff ist zu mager. Hermann ist ein Name,
weiter nichts, nicht einmal das Feld seiner Taten wissen wir
genau zu bestimmen; er ist ein deutscher Römer oder ein
römischer Deutscher. Er siegte durch List und Verrat und
nach „zehn Jahren herrschten auf seinem nur wenig nachhaltigen
Siegesschauplatz die Römer." Aber ein patriotischer Gedanke
und ein poetisches Gefühlselement hat die Dichter doch ge-
lockt. — Das Verhältnis zwischen Hermann und Thusnelda
und andererseits die Beziehungen zu den Freiheitskriegen
ließen den Stoff immer dankbar erscheinen.
Grabbe aber lockte nach einem endlich gefundenen eigenes
Kunstprinzip der heimatliche Boden, die Schlacht. In dem
rethorischen modernisierenden Stück von Schütz stirbt
Hermann durch Gift, nachdem Thusnelda und Siegmund ge-
fallen sind. Als ein zweites Beispiel des variabeln Stoffes diene
Mätzners Hermann und Thusnelda (Greifswald 1822), in dem
Wahrheit und Dichtung bunt gemischt sind. Der durch Sogest
verratene Hermann läßt sich gefangen nehmen, nachdem er
die Fürsten zur Zerstörung Alisos entflammt hat. Als aber
ein Eggius — er wiederholt Kleists Ventidius und erscheint
bei Grabbe als Feldherr des Varus — um Thusnelda wirbt,
läßt das Mißverständnis, daß Thusnelda von Eggius ermordet
sei, Hermann von neuem aufflammen und so soll die wahre
Veranlassung zur Befreiungsschlacht gegeben sein. Segest
- 347 -
bekehrt sich von dem geplanten Meuchelmord. Außer dem
Namen Eggius läßt die Gegenüberstellung des schicksalsgläu-
bigen Hermann und des nur dem eigenen Gott im Busen trau-
enden Varus vielleicht eine leichte Spur bei Grabbe erkennen.
— Zwei Westfalen seien noch als Grabbes Vorläufer genannt,
die aber seine Originalität sicher nicht im mindesten beein-
trächtigen. Wahl er t ließ 1816 bei Mallinckrodt in Dort-
mund ein Schauspiel in fünffüßigen Jamben »Hermann oder
die Befreiung Deutschlands" erscheinen, das wie Kleists
Drama ein Tendenzstück und unter dem Eindruck der Frei-
heitskriege geschrieben war; wie es denn Blücher gewidmet
ist Dagobert, der Bardenchor, Gelperts Weib erinnern an
Kleist, obwohl doch eine Abhängigkeit undenkbar ist. Die
Vorgänge bis zur Schlacht werden geschildert: Varus läßt
sich auch durch Flavius und Segest, die er für eifersüchtig
hält, nicht warnen. Hermann eröffnet das Stück mit einer
langen Rede zur Befreiung Deutschlands, die ganz auf Napo-
leon paßt. Zuletzt prophezeit die Sängerin Aurinia alle Er-
eignisse bis 1815. „Ein Eiland fern im Mittelmeer Wirft schlau
ein Glückskind an den Gallischen Strand. Der Brenne —
Blücher aber siegt." Wie anders wirkt da doch Grabbes
Schluß Perspektive auf uns ein! — Den Gegensatz zwischen
Römern und Germanen arbeitet Wahlert mit einem Realismus
heraus, der oft unfreiwillig komisch wirkt.
„Ihr wollt es leiden, daß der Räuberschwarm
Ein fettes Fleisch in Euren Töpfen kocht \
Und nichts Euch als die Knochen läßt."
Es gilt sich zu befreien „von diesen Igeln, die sich an
unserem Herzblut vollgesogen." Varus nennt die Deutschen
plumpe Tiere:
„So wie der Elefant vom Kinde,
Regiert wird blos durch einen dünnen Stock."
Varus ist ein Trunkenbold. Am wichtigsten für die Ver-
gleiche mit Grabbe aber ist außer dem mißglückten Realis-
mus die Szene, in der Varus über die dummen und gedul-
— 348 —
digen Deutschen Recht spricht und in der Zank,
Unkeuschheit, Beleidigung durch Gewalttat und Grausamkeit
gesühnt werden. — - Garnichts mit Grabbe gemein hat die
romantische Geschichte, die die Jamben des Trauerspiels
„Hermanns Tod" (Hamm 1824) von Wilhelm Freiherr von
B 1 o m b e r g erzählen. Hermann will nach der Varusschlacht
Alruna verschmähend Thusnelda aus der Gefangenschaft der
Römer befreien; er wird in Ingomars Burg gelockt und fällt
im Kampf.
Einen ganz selbständigen Weg ist Grabbe in seiner Dich-
tung gegangen. Kleist und Wahlert können einzelne An-
regungen gegeben haben; Tacitus hat er nach eigener An-
schauung verbessert; dagegen hat er Diocassius LVI 18—24,
Vellejus Paterculus II 117 Florus IV 12 kaum benutzt. Er schil-
dert den Boden, die Waldschlacht — hier liegt der Ausgangs-
punkt. So selbständig gegenüber seinen dichterischen Vor-
gängern, hat Grabbe doch sich einer andersartigen Führung
anheimgegeben. In der letzten Dichtung ist der Geist des
seligen Clostermeier umgegangen. Der Archivrat glaubt in
seiner Schrift „Wo Hermann den Varus schlug" (Lemgo 1822)
ein entscheidendes Wort in einer Frage zu sprechen, die auch
heute noch nicht sicher gelöst ist. In drei Aufsätzen wendet
er sich gegen Tappe, Freiherrn v. Hammerstein und Geheim-
rat von Hohenhausen. Sein Buch hat eine entschieden lokal-
patriotische Tendenz: er will das Fürstentum Lippe in den
ausschließlichen Besitz des Teutoburger Waldes und somit auch
des klassischen Bodens der Hermannschlacht setzen. „Dro-
hend erhoben sich Teutoburgs Steinwälle gegen die Römer-
feste Aliso und sie ist vertilgt von der Erde bis auf die letzte
erkennbare Spur; aber jene stehen noch fest als unvergäng-
liche Zeugen des alten deutschen Heldentums und selbst der
nagende Zahn der Zeit schadet ihnen nichts". „Ich flehe den
Genius des deutschen Altertums an, daß er seine Flügel aus-
breite über Hermanns wahrer Burg und jede Entweihung von
ihren kostbaren Trümmern schützend abwende". — Also
— 349 -
schwungvoll beschließt Grabbes Schwiegervater seine Unter-
suchung. Und man kommt auf den Gedanken, ob nicht Grabbe
bei seiner Dichtung ein wenig spekulierte auf das Wohlwollen
der Lipper, die er nötig hatte, und ob nicht eine Nebenabsicht
auf eine Versöhnung mit der Frau Lucie hinausging. Sind
doeh die Motive seines Dichtens oft heterogen und paradox
genug aus allzu Menschlichem und Obermenschlichem abzu-
leiten.
Wichtiger als Geschichte und Zeit ist für Grabbe der Ort.
Man schlage nur Clostermeiers Buch auf und man findet es
bei Grabbe dramatisiert, dessen Stück parallell mit diesen
Schilderungen fortschreitet. Clostermeier berichtet (20 ff.):
Drusus legte Aliso an, wo die Alme in die Lippe fließt, in
der Senne. Die Straße ging von Aliso durch die Lipper Berge
über Herford nach der Weser. „Varus weilte in den Sommer-
tagen zu Minden an der Weser; die Chatten fielen ab und
Varus wollte nach Aliso, um von dort den Peldzug gegen sie
vorzubereiten". I 1 führt Grabbe die Römer im Zickzack über
die Berlebecke zur Grotenburg. Die Grotenburg — die große
im Vergleich zur kleinen Spreckenburg — hieß noch im 16.
Jahrhundert Teut. Bei Kleist geht der Zug gegen dieSueven,
bei Grabbe zum Harz hin, den Hermann ausspart. — Closter-
meier fährt fort (Seite 34): „die Verbündeten gegen Varus
waren Cherusker, Marsen, Brukterer und Chatten; letztere
das entfernteste Volk, das gegen die Römer aufstand." — Wegen
des Tauwetters will Varus bei Grabbe nach Cheruska zurück
und den Angriff auf den Sommer verschieben. Inzwischen
verkündet der Chatte dem Hermann, daß alles bereit ist. Der
Eingang endigt also da, wo Varus den Rückmarsch antritt.
Bei Kleist verhält es sich umgekehrt: Varus soll im Teuto-
burger Wald von den Sueven und von hinten her von Her-
mann angegriffen werden, ehe er noch die Weser erreicht.
Außer Genrebildern und kulturhistorischen Skizzen gibt uns
die Einleitung nicht nur die Vorbereitung der Schlacht, son-
dern auch in kurzen markanten Zügen das Drama der Fa-
JS
■kj
— 350 —
milie Hermanns, das bisher fast ausschließlich den Inhalt
der früheren Dramen ausmachte.
Nun kommt die dreitägige Schlacht. Varus gelangt mit
seinen Legionen über die Weser. Clostermeier verlegt den
Zusammenprall zwischen Weser und Herford nach . Salzuflen.
Varus zog durch unwegsame Wälder über rauhe, von vielen
Talgründen durchschnittene Berge (Dio — Tacitus). Bei
Orabbe erfolgt der Abfall Hermanns in der Dörenschlucht —
übrigens entsinnt man sich hier unwillkürlich der Szene, in
der Teil aus Qeßlers Boot springt und die Befreiung der
Schweizer verkündet — Marsen, Cherusker, Tenkterer sind
da, nur Marbod fehlt. Hier hält Orabbe sich strenger an die
Geschichte als Kleist, aber Marbod spielt bei ihm überhaupt
keine Rolle. Es heißt, die Römer abzuwehren von der sieben-
türmigen Veste Aliso. Die Marsen hindern die 19. Legion
am Obergang über die Werra; dieser römische Angriff bildet
den Höhepunkt der Szene; dann folgt fallende Handlung: die
18. Legion deckt den Rückzug und die 19. und 20. werden
gegen die Harzer geschickt Man hat sich eine riesige Bühne
zu denken: Oben die Höhe, unten das Tal; Schlachtreden
werden geführt auf beiden Seiten; Schlagwörter sind: Deutsch*
land — Rom — der Kaiser 1 Die Germanen treten stärker
hervor als die Römer: einige Schlaglichter fallen auf die ver-
schiedenen Völkerstämme, Thusnelda erscheint als Walküre,
nachts raubt Hermann einen römischen Adler — eine Episode
die sich bei Orabbe wiederholt — und die deutsche Spielwut
wird exemplifiziert. „Die Höhe bei der Dörenschlucht" ist
bei Clostermeier ein Berg bei Salzuflen.
Der eigentliche Angriff der Germanen erfolgte nach
Clostermeier erst am zweiten Tag und für die dramatische
Ökonomie wäre es vielleicht wirksamer gewesen, wenn
Orabbe dies strenger beachtet hätte. Varus zog nicht durch
die von Germanen besetzte Dörenschlucht, sondern über die
Werra in das Tal der Berlebecke unterhalb der Teutoburg;
dort bei der Retlager Mühle stürzten die Germanen über die
- 351 —
Römer her. Die Nacht verbrachten sie unter Sturm und Regen
auf dem Winfeld. — - In Grabbe's Dichtung beginnt die 18.
Legion den Rückmarsch nach Süden, Varus erzwingt den
Obergang über die Retlage; Eggius fällt, man gelangt im
Handgemenge bis zum Detmolder Bruch, der abgebrannt wird,
und man lagert endlich bei einem Flußchen. — War das Lokal
vorher Tal und Höhe, so findet der Kampf jetzt statt bei
Quellen und Bächen. Die Römer treten mehr in den Vorder-
grund; eine satirische Episode liegt dazwischen: ein Schreiber
verfolgt Varus, selbst noch in der furchtbaren Nacht bettelt
er um die Unterschrift, während Orabbe gleichzeitig ein
Momentbild von der deutschen Uneinigkeit bringt, das an den
Eingang des Kleist'schen Dramas erinnert. — Nach der Nacht
zieht Varus südwestlich durch eine Bergschlucht an die Berle-
becke. Der Weg wird steil, die Chatten erscheinen (wie bei
Clostermeier) ; im Westen durch Hermann, im Osten durch
die Bundesgenossen von Weser und Elbe bedrängt, will Varus
auf die breite Kuppel des Winfelds; aber er kommt nicht hin-
auf; die Umgehungsbewegung der 20. Legion wird durch
Ingomar vereitelt. Varus fällt. Hermann ladet die Ger-
manen, die für einen Vernichtungskrieg doch nicht zu haben
sind, zu einem Schmause auf das Winfeld. Winfeld leitet
Hermann (Orabbe) von gewinnen, Clostermeier dagegen von
Wind ab; Orabbe tauft die Berlebecke, Clostermeier den Rother-
bach Knochenbach. Die Vernichtung erfolgt nach Clostermeier
beim Ausgang des Gebirges in die Senne zwischen österholz
und Schlangen — Hastenbeck. Es ist ein Auf- und Abwogen
bis in die Nacht hinein; einige lichtere Momente für die Römer
bringen die nötige Abwechslung: Hermann wird verwundet.
Segest fällt; auch hier sind noch Episoden eingeschoben.
Bisher hat Orabbe verschiedene technische Kunstgriffe an-
gewendet, um die Schlacht zu schildern. Anfangs dachte er
an die Bühne: Die Schlacht tobt hinter den Kulissen, auf der
Szene finden Zweikämpfe statt. Bei Napoleon flieget die Ad-
jutanten gleichsam als beflügelte Gedanken des Schlachten-
- 352 —
schöpfers hin und her. Die Szene wechselt mit den Parteien,
oder beide stehen sich in einer Szene gegenüber. Jetzt sind
wir in einem Wandelpanorama: der Schauplatz wechselt wieder-
holt, aber in kontinuierlichem Zusammenhang, innerhalb einer
Szene; dazwischen sind die mannigfachsten Episoden einge-
streut: Fürsten, Soldaten, Hermann und seine Verwandten
— lauter kleine, in sich abgeschlossene oder sich fortsetzende
Dramenfragmente.
Das Gefüge der Schlacht in einem kühnen Freskogemälde
festzuhalten, ist des Dichters Ehrgeiz, der an die szenische
Darstellung nicht entfernt mehr denkt und den man nun auch
nicht mehr mit dem Maß, mit dem man das Bühnen-Drama
mißt, bewerten soll. Aber ist es in Wirklichkeit so gewesen,
wie Orabbe schildert, ist die Schlacht ein dramatischer
Vorwurf? Sicherlich gibt es nichts, in dem mehr dramatisches
Leben steckte; aber andererseits sind die Darstellungsmittel
des Dramatikers — auch wenn er sich von der Bühne eman-
zipiert — zu beschränkt. Darin liegt Grabbes Eigenart und
zugleich vielleicht sein ganzer Irrtum. Die einzig mögliche
Darstellung hat etwa Bleibtreu in seinen Schlachtenbildern ge-
funden, in denen der dramatische Dialog durch epische Schil-
derungen ergänzt wird.
Hauptpersonen sind eigentlich nur Hermann, Thusnelda,
Segest — Varus; etwa noch Ingomar und Eggius, der ur-
sprünglich Cäcina hieß. Das Schlußdrama steht für sich.
Menschen, die anders scheinen als sie sind, die ihr Inneres
nur in Andeutungen verraten, die den köstlichen Kern ihres
Wesens unter rauher Schale und barocker Form verschließen,
solche Familienähnlichkeit haben namentlich die letzten Gestalten
des hier nach seinem Ebenbild formenden Dichters: So einer
ist auch der Cheruskerheld. Hermann muß anfangs mehr
noch als bei Kleist Verstellung in den schwierigsten Lagen
üben — sogar Thusnelda verkennt ihn zunächst. Er besitzt
nicht die List des glatten Höflings, der keine große Sache
kennt. Sein versteckter Groll verhüllt sich hinter gleichgül-
- 353 -
tigen Redensarten, die aus seiner rauhen Westfalenbrust her-
vorgrollen. „Das Wetter ist launisch hier zu Lande" — „bin ich
Charon?" Wenn Varus ihm dann noch z. B. für den Ver-
gleich mit dem Hühnerhund die Lektion erteilt, er habe den
Horaz nicht genügend studiert, so ist das ein Meisterzug von
Ironie. In Wahrheit kennt der verschmitzte Westfale Varus'
Schwächen so gut, daß er ihn eigentlich lenkt. Auf jeden
Stich antwortet er mit einem doppelsinnigen Wort, das Varus
unbedenklich, dem Hörer aber furchtbar klingt. Er ist so
lakonisch und doppelgründig wie Hannibal. Es hat etwas
Unheimliches, Beklemmendes, aus seinen Worten gleichsam
das Grollen eines verborgenen Gewitters herauszuhören. Herr-
lich ist es dann, wie sein wildes Freiheitsgefühl aufflammt;
er wirft die Waffen fort, das Tyranneneis, den Skorpionsstachel
und steht neu gegürtet da, Thusnelda und Ingomar an seiner
Seite. Kein Joch außer dem Himmelsbogen soll auf den freien
Germanen lasten — die deutschen Ströme werden zu blitzenden
Schwertern. In Hermanns Freiheitspoesie sind Momente von
wilder eigentümlicher Schönheit, aber seine längere Rede mit
ihren historischen Erinnerungen und dem modern wirkenden
Appell an die Einheit wirkt weit weniger eigenartig. Wo
Grabbe schlicht natürlich werden soll, wird er leicht trivial.
Sein Gesicht ist auf eine bestimmte Miene eingestellt, und wie
krankhafte und alkoholische Einflüsse sein Selbst zersetzt
hatten, so- ist der unter ewigem Bann und Druck Stehende
unfähig, normale Empfindungen nachzuspüren und nachzu-
bilden. Origineller gestaltet er die Wunderlichkeiten, die Kan-
ten und Knubben. Hermann behält kaltes Blut in der Schlacht
und verweist seinem Oheim die Tollheit, obwohl er dadurch
Streit mitten in der Schlacht erregt — der bekannte Zank-
dialog mitten im Kampfgewühl. In der Schlacht scherzt er die
Gefahr mit Lakonismen hinweg: „man wird ganz naß" — „Wun-
den gehören zur Schlacht". Hier steht die kleine Szene al fresco:
„da fiel was großes, was ists?" — „Segest, Dein Schwiegervater
— schweig davon." Hermann weiß, wie er seine Deutschen, be-
Nietei, Chr. D. Qrabbe. 23
— 354 —
sonders seine Westfalen anpacken muß: Nicht mit hohen Ideen»
Wo liegt, was ist Deutschland? (Man erinnert sich an Kleistens
Definition bei dieser Frage: „Ob in dem Mond, ob zu der
Riesen Zeiten?") Nein, von Linsen und Kohl redet Hermann oder
von der schwarzen Kuh. Manch einem verdirbt dieser natu-
ralistische Appell an die niedersten animalischen Leidenschaften
den Geschmack. Wo bleibt da die Poesie? Aber Orabbe hat
nicht wie Tacitus seinen verdorbenen Römern ein Ideal zu
malen und derartige Folgerungen ergeben sich aus seinem
neuartigen Kunstprinzip. Eigensinnige streitsüchtige Westfalen-
bauern waren ihm als Auditeur sattsam in die Stube gelaufen.
Wem Hermann oft allzu roh und grob erscheint, den sollte seine
rauhe Freiheitskraft versöhnen oder jene Mitternacht, in der
Hermann in der methberauschten Menge seine Verantwortung
fühlt, oder jener Morgen, da er unter deutscher Eiche träumend
erwacht. Aber nach dem Erfolg haben wir wieder den nihi-
listischen bitter resignierten Zug, den wir bei Orabbe» Helden
kennen; was kommt heraus? Ein Gelage.
Schon Kleist hatte der Idealfigur Thusneldens realistische
Züge geliehen. Orabbe, der Thusnelda wesentlich im
Eingang auftreten läßt, hat sie nach einem Vorbild aus dem
Leben geschaffen: nach der Meierfrau von Sültehofe. Sie tot
karg und mild — das eine durch die karge Natur, das andere
durch ihr Herz. Ganz urwüchsig und selbstverständlich ist
ihre Freiheitsliebe. Vor allem aber hat Orabbe ihre Charak-
teristik herausgearbeitet auf die deutsche Hausfrau,
die auf Sitte und Zucht hält und die ihrem Qesinde imponiert.
Daß sie vor ihrem Vater heucheln muß, raubt ihr für einen
Augenblick die Fassung derart, daß sie ihre hausfraulichen
Pflichten vergißt und diese sind ihr doch so in Fleisch und
Blut übergegangen, daß sie am Schlüsse der Hermannsschlacht
sich um nichts kümmert, als um die Bewirtung der Helden.
Sie ist nicht züchtig sittsam, sondern herb und stolz. Sie er-
liegt nicht den Schmeicheleien des Varus, wie das Kleistsche
Weibchen den Künsten des römischen Galans Ventidius. Sie
- 355 —
würde in der Niederlage die Haltung der Pilotyschen Thus-
nelda bewahren, wie wenig sie sonst ihr ähnelt. Fast scheint
sie Hermann an männlicher Energie überlegen — und ihr
Liebesgespräch erinnert wieder an Alitta und Brasidas. Man
kann sich eines Lächelns nicht erwehren bei dieser fossilen
Lyrik und den bizarren Zügen, die Qrabbe vielleicht in seiner
Lucie angelegt sah. Man ermesse die Grabbesche Eigenart,
wenn man Werthers Lotte vergleicht mit Thusnelda, wie sie
ihrem Sohn das Butterbrot schneidet; oder man stelle gegen-
über Klopstock9 Wald- und Mondscheinpoesie, die offenbar
von den Barditen her nachwirkt, mit Thusneldas Erinnerungen
an die erste Liebe im deutschen Eichenwalde. Welche Wand-
lung dieses Gefühls vom ersten Erwachen in einem primitiven
Naturmenschen bis zu dieser Verkörperung bei Grabbe, der
sich vor der beizenden Lauge seiner sarkastischen Grund-
stimmung noch einen Rest schlichter Empfindsamkeit be-
wahrt, wie ein Baum, in dem im blätterraubenden Herbst es
noch aufquillt wie eine Regung frühlingsvoller Triebet Der
Zartsinn will sich ins Ungeschlachte verirren. In der
Schlacht erscheint Thusnelda als Walküre oder — als
Marketenderin. Es ist wieder ein Einfall, wie ihn nur Grabbe
haben kann, wunderlich und doch sinnvoll, burlesk und doch
eigentümlich naturwahr: In der Schlacht schließt sie die
Augen, um Mut zu zeigen und zu zeugen. Nach der Schlacht
aber hat sie kein lobendes Wort; denn Männermut ist etwas
Selbstverständliches. Sie ist von einem wunderlichen, oft un-
angenehmen Eigensinn, dem sich auch der Sieger in der
Varusschlacht fügen muß. Es ist ein Holzschnitt mit aller-
hand bizarren Zügen und kuriosen Pikanterien, der eine haus-
backene ja rohe, aber auch kraftvolle Frauengestalt wieder-
geben soll, die jedenfalls origineller und interessanter ist, als
ihre zahlreichen dramatischen Nebenbuhlerinnen.
Segest, der eifersüchtig und römerfreundlich in Her-
mann nur den Räuber seiner Tochter sieht, hat nur zwei
Szenen. Er will einmal Thusnelda ausholen und warnt sie
23»
— 356 —
wie ein ängstlicher Alter vor Zug. Ihm versagt sich das
Gesinde, das einem Wink Thusneldens folgt. Auch sein Ende
ist voll Ironie: Varus schlägt den kraftlosen Greis,, den
Schwächling und Heuchler als Verräter nieder. In grollen-
dem deutschen Männerzorn tut Grabbe Segest ab, dessen
Charakter sonst weitläufig entwickelt wird. Auch Ingo-
m a r tut seine Pflicht im Kampf; er ist ein Draufgänger, aber
Beleidigungen vergißt er nicht. Die Fürsten sind selbst wäh-
rend des Schlachtens und Siegens zwieträchtig, eifersüchtig,
kurzsichtig — das tragische Element der Hermannsschlacht.
Die eigentümlichsten Wirkungen der Grabbeschen Drama-
tik beruhen auf dem Verblendungsmotiv. Varus ist von
raffinierter Oberkultur. Den Kaiser kann er überlisten und
sich heimlich bereichern. Aber trotz aller abgefeimter Ränke
wird er von den deutschen Tölpeln bis zum letzten Augen-
blick zum Narren gehalten. Das ist die Ironie. Machen seine
römischen Galanterien auch unerwartet geringen Eindruck, so
glaubt er sich doch ihres Blondkopfes sicher — ebenso Her-
manns. Bei Kleist heißt es: „in einem Hämling ist, der in der
Tiber graset, mehr Lug und Trug als in der Deutschen
Munde." Der Prätor bei Grabbe behauptet: „der Germane hat
noch nicht so viel Vorsicht und Erfahrung, als das Wildpret
in seinen Wäldern." Diese Verblendung dauert bis zum aller-
letzten Moment, so daß der Wechsel von starker dramatischer
Wirkung ist. Vorher hat Varus den fiebernden Hermann noch
durch einen Arzt kurieren lassen wollen. Diese vibrierende Auf-
regung bei den rauhen Menschen im Einklang mit wilder Natur
und schlimmem Wetter ist eines der mächtigsten Stimmungsmo-
mente der Dichtung. Varus schätzt einen römischen Schreiber
höher als den urwüchsigen Sohn der germanischen Wälder,
vergleicht die Weser mit der Tiber, denkt bei Hermanns an-
spielungsreichen Scherzen an Theokrit und Vergil — und
sieht den Abgrund nicht. Aber der geckenhaft Oberbildete
zeigt sich auch als Weltgewandter und bewährt sich nicht ohne
Größe in der Not. Dann aber wird er Stoiker und zeigt die
— 357 —
philosophische Fassung des Gebildeten, der an nichts mehr
glaubt „Syrien ist doch ein schönes Land" — „Zeus, wo
soll man bleiben?" — „Leben und Tod sind Firlefanz, die Oötter
Fabelwesen". Er läßt lustige Musik spielen und stürzt sich
in sein Schwert und doch erlebt er ein Schicksal, das für ihn
das tragischste ist: in der Meinung der Menschen verunehrt
zu sein für alle Zeiten. Die tollen Anachronismen, die sich
Orabbe bei dieser Zeichnung erlaubt, erscheinen auch beson-
ders bei seiner Strategie. Varus? weiß die Schlacht zu leiten.
Aber altrömische Züge werden wieder modern umgeprägt,
etwa in der Musterungsszene, in der Reminiszenzen des
Auditeurs mit Erinnerungen an Napoleon zusammenfließen.
Als possenhafter Schlagschatten fällt in die Tragödie der
Schreiber, dem die Unterschrift mehr wert ist, als die Ehre
und der Untergang Roms. — E g g i u s ist alt und verbittert,
seine Philosophie Resignation.
Es gehört eine ungeheure Kraft dazu, die ganze Handlung
auf einen Grundton zu stimmen. Indem Orabbe sein schöpfe-
risches Vermögen bis auf die letzten Reserven verzehrt, ist
ihm das eine Große gelungen: in einer genialen Skizze kon-
zentrierte Einheit. In jeder Wendung der Sprache sollte sich
der ganze Orabbe mit allen eigentümlichen Gebärden enthüllen.
Die eigentumlich karge und doch reizvoll modellierte
Sprache charakterisieren das Stück, wie auch die Technik,
in der Grabbe alle Formen und Gesetze sprengend in einer
Szene einen ganzen Marsch mit verändertem Lokal schildert.
Jede Szene ist ein Drama für sich, jedes Epigramm eine Szene.
Freilich sind auch die Verfallssymptome nicht zu leugnen. Sie
verraten sich in der doch auch pathologisch übertriebenen
Kargheit der Sprache, in dem Oberwuchern des satirischen
Elements, das den eigentlichen reellen Kern immer mehr zer-
frißt, in der Umrankung durch immer mehr sich ausbreitende
parodistisch burleske Zutaten. In dem Gewirr epigramma-
tischer Improvisationen zeigt wohl auch die Impressionsfähig-
keit, Grabbes höchstes Glück und höchste Gabe, ein Nachlassen
— 358 -
weniger in der Stärke und Tiefe als in der Dauer, und wir
haben oft <fen Eindruck plötzlich aufleuchtender, jählings
verlöschender Flammen von kurzer Hackender Leucht- und
Wärmekraft Und dieser, eiskalte Nihilismus 1
Aber doch hat Orabbe an Dichterkraft nur den einen Kon-
kurrenten: Heinrich von Kleist. An Kleist erinnert
der Eingang: die erste Szene mit der Alraune, die Schändung
der Hally und die Gerichtsszene, die Gespräche mit Thusnelda,
die Kleist Thuschen, Grabbe Neidchen nennt Die Schlacht
interessierte Kleist nicht weiter. Am interessantesten ist die
Beobachtung der Tendenz; bei Kleist die dämonische Poesie
des Nationalhasses, die bewußte Einseitigkeit der Leidenschaft
Durch das Mittel der hier fruchtbar positiven Ironie gelingt
es Grabbe, zwischen den Parteien abzuwägen und die
Objektivität herzustellen. Kleist ist Realist, Grabbe Natura-
list bis in äußerste Konsequenzen. Man entsinnt sich der
wunderbaren Stelle bei Kleist, in der Hermann entzückt der
„süßen alten Barden herzerhebendem Gesang" lauscht Was
macht Grabbe daraus? Varus sagt in der zweiten Nacht: „wie
sie auf den Bergen brüllen!" Eggius: unsere Geschichtsschreiber
und Dichter nennen dasBardite!" Das hätte Kleist nicht übers
Herz gebracht. — Grabbe schildert realistisch mit satirischen
Zügen und er verbirgt überall Pointen und Anspielungen.
Er versenkt sich in die Dinge, aber er durchtränkt sie mit
seiner satirisch caustischen Subjektivität Grabbe's Muse hatte
hohen Flug versucht; aber er sank zurück in die niedere
Sphäre, aus der er hervorgegangen. Aber aus dieser Tiefe
erwuchs ihm eigentümliche schöpferische Kraft in einer Zeit,
als es schon zu spät für ihn wurde. Grabbe fand sich selbst
erst, als die innere Zerstörung auch die letzte geistige Kraft
angriff und der Auflösungsprozeß nicht mehr aufzuhalten war.
Der Dichter strebt gleichzeitig eine doppelte Aufgabe zu
erfüllen: das Gewoge der Waldschlacht und zugleich zwei
Völker in typischer Gegensätzlichkeit zu verkörpern. Reicher
als die Römer, denen der unwegsame dichte Germanenwald
— 359 —
Schauder einflößt, und bei denen die straffe Manneszucht durch
verschiedene Beispiele illustriert wird, sind naturgemäß die
Germanen ausgestaltet. Es sind rauhe westfälische Bauern;
mit modernisierenden Zügen, realistischen Details, weniger
mit taciteischen Erinnerungen. Im allgemeinen strebt Orabbe
nach einer herben unerbittlichen Wahrhaftigkeit, die ihm so
bittre Sarkasmen eingibt, so heißt es einmal: „Was ist das
Edle? — Es besteht meistens doch nur aus allerlei Kniffen.* 4
Aber die Schilderung der Germanen ist ihm doch viel-
fach zu einem hohen Lied auf deutsche Ehr-
lichkeit, Wahrheit und Freiheitslieb«
geworden. Mit Tacitus' aristokratischer Gesinnung sym-
pathisiert Grabbe nicht, aber er schätzt ihn als hohen
Geist voll Schärfe und Konsequenz. Immer verbergen
sich hinter einer rauhen äußern Hülle versteckte Fuß-
angeln. Wir haben scharf gezeichnete Typen: der Alte
sieht mit echt deutscher Bedenklichkeit, wie Hermann den
Römern untreu werden will. Auch die beiden Cherusker —
geheimnisvoll, verschlagen, abergläubisch — nehmen es genau
mit ihrer Ehrlichkeit: sie haben für das Geld die Pflicht der
Führung, aber beim schwierigsten Teil versagt der Kontrakt;
man vergleiche hierzu die Kleist'sche Motivierung. Der Chatte,
dessen sicherster Kerbstock das ehrliche Gesicht ist, gehorcht,
bis ihn Ehrsucht und Eifersucht aus der Bahn werfen. Ein paro-
distisches Element freilich scheint in all diesen Übertreibungen
zu stecken. Ein leiser Tadel treibt den Maserhäuptling in den
Tod; die Tenkterer begeistert der Rhein. Kennen sie auch
kein Deutschland, so hängen sie doch an ihrer engeren Hei-
mat. Wir haben hier ein schönes Wort. Hermann: „Meine
Kerls haben Heimweh I" Varus: „An der Schwäche leidet ihr
noch?" — Hermann: „Wir haben noch nicht die Welt erobert,
um überall heimisch zu sein, wie ihr." — Die Wurzel ihrer
Freiheitsliebe, ein Gefühl eng umgrenzt und doch stark und
intensiv, wird uns denn auch ganz deutlich als Liebe zur heimat-
lichen Scholle. Grabbe zeigt uns — das ist wieder als
- 360 -
Folgerung des naturalistischen Kunstprinzips interessant
— alle Knorren und Knubben. Und mit diesem Naturallsmus
verschmilzt die satirische Karikatur. Die Brukterer sind ab-
gefeimte Wilddiebe. Ein Oermane glaubt sich im Traum an
der Seite seiner alten Vettel. Nach der Schlacht wird gesoffen
und Leib und Leben verspielt. Für einen Schweineschinken
verkauft der vierschrötige Bartold seinen Vorderplatz an den
Leinenweber Fritze, wobei man sich übrigens einer parallelen
Szene im Napoleon erinnern mag.
Unter allerlei kleinen Genrebildchen und Idyllen seien
noch zwei Kulturbilder in der rauhen spröden Zeichnung
Orabbes hervorgehoben.
Da ist einmal die grobumrissene Mahlzeit. Die anima-
lische Begierde differenziert — das ist echt naturalistisch ge-
dacht. Der Mensch ist, was er ißt. Eggius hält eine vegetarisch-
karnivorische Rede, Varus verwöhntem Gaumen behagen die
westfälisch derben Gerichte nicht. Daß der Schweinejunge
betet, ist ebenso befremdlich wie die Begründung. Der wenig
appetitliche Realismus ging ursprünglich noch weiter. Haus-
hofmeister: „Herrin, der Pförtner harrt**. — Thusnelda: (Fas-
sung gewinnend) „Halte Du künftig besser auf Ordnung, da-
mit ich nicht abermals zu zürnen habe. Da neben Dir befleckt
man Tisch und Tischzeug, als regnete es Fett." — Haushof-
meister: „Schurken, schadet euch selbst nicht, schluckt die
Gottesgabe hinunter, und laßt sie nicht beim Maul vorbei-
fallen. " Thusnelda (für sich): „Varus hat warten müssen.
Tut nichts. Eine kleine Unannehmlichkeit lasse er sich ge-
fallen für das namenlose Weh, welches er über uns brachte."
Ganz besonders aber hat sich Grabbe bemüht um die G e-
richtsszene im Bruch bei Detmold (d. i. einer Volks-
gerichtsstätte) . Hier stößt germanisches und romanisches
Empfinden am stärksten zusammen. Denn der Westfale hat
ein starkes, wenn auch eigensinniges Rechtsgefühl. Nebenbei
konnte Grabbe auch noch allerlei persönliche Malicen an-
bringen.
— 361 —
Schon das Wahlert sehe Drama enthielt im zweiten Akt
eine Gerichtsszene. Varus selbst spricht Recht und behandelt
die dummen und geduldigen Deutschen wie Tiere. Es ist viel
Sinnloses in dieser Szene. Die Deutschen haben keinen Namen
wie bei Orabbe. Einer hat den anderen in der Trunkenheit
einen Hasen genannt — er muß das zurücknehmen. Zwei
zanken sich, wer ein Reh zuerst getroffen hat — Varus läßt
das Tier in seine Küche tragen. Einer hat der Frau eines
anderen in die roten Backen gekniffen; — aber für Verführung
zur Unkeuschheit gibt's kein Gesetz: dulden's doch auch die
römischen Senatoren. Das derlei Bagatellsachen rechthaberi-
schen Bauern gegenüber der Grundsatz angewendet wird:
Minima prätor non curat, versteht sich von selbst. Die Pointe
liegt darin, daß (Ter Römer als höheres Wesen gewertet wird.
Beklagt sich einer über einen römischen Soldaten, so bekommt
er Rutenstreiche; schlug er nach dem Römer, der sein Weib
verführen wollte, so wird ihm der Finger abgehauen; ver-
weigert er den Tribut und schimpft auf den Kaiser, so wird
ihm die Zunge herausgerissen und der Kopf abgeschlagen.
Das ist alles grasse oft sinnlose Willkür. Bei Grabbe liegt
gerade die Satire darin, daß jedes Urteil durch den Buch-
staben des Gesetzes gedeckt wird. Der Prätor richtet über
das germanische Vieh. Drei Termine finden statt. Erstens
Ernestine Klopp c. Katermeier (Catomajor) — Alimente.
Zweitens Dietrich c. Ramshagel — Spielschulden. Drittens
Amelungen c. seine Frau — Ehebruch. Handelt es sich um
eine Charakteristik der damaligen Germanen, so stört der
Gegensatz zwischen dem ersten und dritten Fall; dagegen
ist der Anachronismus doch nicht so arg. Grabbe verfolgt
einen Doppelzweck. Er will in der Alimentenklage das
römische Recht verspotten. Er benutzt einen Fall aus seiner
Auditeurpraxis (auch das Verhältnis zwischen Leporello und
Lisette gab ihm eine Alimentenklage ein) zu einem echt
modernen Ausfall. Andererseits aber gab es auch bei den
keuschen Germanen käufliche Weiber und intimer Verkehr
- 362 —
ging der ehelichen Gemeinschaft voraus, wie das noch heute
als bäuerliche Gepflogenheit hie und da gefunden werden mag.
Die Klopp klagt: Katermeier machte mir vier Kinder und
gab mir keinen Heller. Urteil nach dem Jus quafuor liberorum:
Katermeier bekommt 5000 Sestertien, die Kinder bekommt
der Staat. Recht wird Unsinn ! — Auch Katermeier verachtet
die Richter und verzichtet auf seine Sestertien, weil ihm wahr-
scheinlich doch mehr an Gebühren spezifikatzt wird.
Die Klopp hat ihr Maul am rechten Fleck: Ihr Spitzbuben,
Landesverläufer, Katzenverkäufer, Links- und Rechtsver-
dreher, wer bezahlt meine Unschuld? Sie wird dafür ge-
peitscht, aber nach dem Sieg kann sie megärenhafte Ver-
geltung üben. Ohne befriedigte Rachebrunst gibt es kein
Grabbesches Drama. Man vergleiche hier wieder den Realis-
mus der Kleistscben Hallyszene mit dem rohen Naturalismus
der wilden Satire Grabbes, der die Wirklichkeit mit
erschreckend unbarmherziger Konsequenz abkonterfeit. — Auch
Ramshagel und Dietrich versöhnen sich lieber, als daß sie ihr
Recht sich vom Gericht bestimmen lassen. Spielschulden sind
keine Ehrenschulden. Und Ehebruch verjährt. Damit stehen
wir in dem Taciteischen Germanien. Das Rechtsgefühl und
die Keuschheit der Germanen wird verhöhnt und gerade die
Schuldigen bekommen Recht — wie im Gothland. An-
dererseits spottet der Auditeur seiner selbst und verhöhnt den
Mißklang zwischen seiner Advokatenpraxis und dem naiven
Volksempfinden. Die echt westfälischen Namen sind wohl aus
seiner Praxis hergeholt. — Man darf nicht glauben, daß Grabbe
in Eile eine solche Satirszene improvisierte, vielmehr hat er
sie mit unendlicher Mühe immer wieder umgearbeitet, ein
Beweis, daß er auch künstlerische Intentionen eines neu natu-
ralistischen Stiles verwirklichen wollte. Als Probe sei die-
selbe Stelle nach drei verschiedenen Fassungen angeführt:
a) Schreiber: der b) Schreiber: die c) Schreiber: Si-
Ehebruch. Volk: Ehebruchsache. lentium. Amelung:
Schrecken, wo die Volk: schrecklich! Jenes Weib ist seit
— 633 -
Geschworenen?
Schreiber : Eorum
haud necessitas.
Einer: was schreit
der Dohlenschna-
bel. — Zweiter :
wir verständen es,
war es gutes. —
Tongeroll durch die
Menge: Fürst :
Hermann! oh hätt'
es einen lenkenden
Hauch, dieses Saat-
feld mit Körnern
erbitterter Herzen
bestellt!
wo die Geschwore-
nen? Schreiber: Eo-
rum haud necessi-
tas. Volk: was
krächzt die Spitz-
nase, war's gutes
— wir verständen
es. Tongeroll: Fürst
Hermann, warum
fern! komm —lenk
unsere Waffen ,
Äxte, Sensen, Spee-
re, Schwerter, Pfei-
le
10 bis 11 Jahren
meine Frau. Heute
erfahr ich und kann
leider beweisen, sie
brach im ersten
Monat unserer Hei-
rat die Ehe. Prä-
tor: Alberne Klage.
Ehebruch verjährt
nach 5 Jahren, rech-
ne dem Kläger die
Kosten an, Scriba.
Volk : Ehebruch
verjährt?, was wird
alt?
Nun hat Orabbe einen vortrefflichen Kontrast gefunden.
Gerade jetzt wie ein ersehnter Messias erscheint Hermann.
Es ist für ihn wohl die schwierigste Lage. Denn auch jetzt
muß er sich noch verstellen. Auch hier vergleiche man An-
fang, Mitte und Ende der Arbeit Grabbes.
a) Schreiber: Prä-
tor, fürchte dich
nicht, dort hinten
stehen genug Lic-
toren. Armin
(kommt) . Volk:
er, der alles könn-
te, wenn er wollte!
(es beugt die Knie
vor ihm). Armin:
Hübsch.Statt uralten
Handschlags schon
b) Volk: „Her-
mann Er! unser
alles, unser Retter,
wollt er! (es beugt
vor ihm die Knie).
(Armin)H ermann:
Hübsch. Statt Hand-
schläge schon Knie-
beugung. Ich sagte
stets, der Deutsche
ist gelehrig, Wetter
und Hölle, steht
c) Hermann
( kommt ) . Volk
(stürzt ihm zu
Füßen) : Herrscher!
Dich wieder! —
Hermann: der
Deutsche ist geleh-
rig. Schon Knie-
beugen ? Wetter ,
steht auf, oder ich
geb euch Fußtritte.
Ein Häuptling krie-
— 364 —
Kniebeugung. Ich auf! Mein Volk chender Sklaven
sagte immer, der kriechendes Gesin- mag ich nicht sein.
Deutsche ist geleh- de! Man wird fast
rig. Alle Hölle, versucht, darauf zu
steht auf! treten!
Die Ironie liegt wieder darin, daß der Prätor sich von
Hermann überlisten läßt, während er die dummen Tiere ver-
spottet. Die wilden Greuel der Hallyszenen bei. Kleist wie-
derholen sich in dem verunzierendem Schluß der Hermanns-
schlacht. Bei Orabbe ist selten heißes Aufflammen, vielmehr
kalte Leidenschaft, verhaltener Groll, ungefüger, an Rabelais
erinnernder Humor. In diesem Spiel der Kontraste, dieser
doppelgründigen Rede hat Orabbe eine Meisterschaft erreicht,
in der er ganz eigentümlich dasteht. — Soll das Stück auch
wieder in ein nihilistisches Ergebnis auslaufen, oder welches ist
der welthistorische Sinn der Hermannsschlacht? Die Schluß-
szene bildet die Spitze der Pyramide — die Windfahne,
den Haarbeutel (an Petri, Juli 1836). Augustus starb fünf
Jahre nach der Hermannsschlacht und Christus war damals
noch nicht bekannt. Merkwürdiger ist, daß Augustus, der
sterbend seinen Nachfolgern ein Paktieren mit dem Pöbel
empfiehlt, während diese bereits sein Erbe verteilt haben, zwei
historische Worte aussprechen muß: das „applaudite" steht
an erster Stelle, denn es paßt nicht zu dem folgenden „Varus,
gib mir meine Legionen wieder". Ein letztes Aufblitzen eines
ahnungstiefen Geistes — allerdings im Widerspruch zu der
Historie und dem Naturalismus der übrigen Dichtung: An
zwei Dingen nur kann die alternde Welt genesen: das ist ein-
mal die gesunde Kraft der gleich Eichen im Boden wurzeln-
den freien Germanen und sodann der Glaube Jesu Christi
(vgl. den Schluß von Hebbels „Herodes und Martamne").
Zwei malerische Szenen aus dem „Christus" sind erhalten:
„unterm Kreuz", Gethsemane und Golgatha tauchen schon im
Faustmonolog auf.
- 365 -
In zwei Völkern ringen zwei verschiedene Weltanschau-
ungen: römische Verlogenheit und germanische Ehrlichkeit.
Aber vor allem will Orabbe ein Westfalenstück schreiben —
eine Waldschlacht. Er rühmt in Tiecks Blaubart die Ver-
menschlichung der Baumstümpfe. Der Teutoburger Wald wird
lebendig und die Germanen werden als Gewächse des Bodens
begreiflich. Ein düstrer Stimmungszauber liegt in der Natur. Im
Gesträuch Wölfe, Dohlen, gespensterhafte Erscheinungen, alte
Hexen, fallholzsuchende Germanen, Wilddiebe. Wetter und
Klima erhöhen die Schauer des Waldes: Baumgeschling und
Windbrüche, Nebelstreif und Frost, schwellende Bäche, klebriger
Sand, regentriefende Wälder, morastige Wiesen, Hohlwege,
heulender Sturm, jagende Wolken.
Die knappe grollende Sprache kommt aus rauher, ver-
schlossener Westfalenbrust Grabbe hat sich ganz in sich zu-
rückgezogen; der frühere Obermut ist in den Hintergrund
verzogen oind gibt die kaustisch-sarkastische Färbung. Vieles
mutet burlesk, einiges auch geschmacklos an, z. B. wenn
Hermann, der allerdings heucheln muß, zu seinen Germanen
sagt: „Steht auf: oder es setzt Fußtritte!" Den Einfall, daß
Hermann in der Szene mit Thusnelda nach einem Zahnstocher
verlangt, hat Grabbe glücklicherweise unter den Tisch fallen
lassen. Wie mühsam auch die Gedanken aus ermattendem
Gehirn herausgepreßt sein mögen, wie sehr man alle Grazie
vermissen mag, wir sehn vor uns Blöcke von eigener Model-
lierung, als Ausdruck einer gewaltigen Kraft. Man hat markige,
ungeschwächte Urkraft in dem Stück gefunden, Urgestein. — Die
Satzbildung Zeigt merkwürdige Inversionen, äußerst viel Ellip-
sen und Imperative, sehr wenig Nebensätze; häufig besteht
die Rede aus einem einzigen Wort. (Unter den 109
Sätzen, die Hermann in der Einleitung spricht, sind nur 17
Nebensätze, 21 Imperativsätze, 14 Fragen!)
Mit der letzten Kraft hat sich Grabbe aufgerafft. Wir
haben ergreifende Bekenntnisse, Aussprüche, die etwas Weihe-
volles, Extatisches haben, wie sie den letzten Träumen vor
— 366 —
der Auflösung eigen sind. Seine Kunst blieb dem Dichter
etwas Heiliges. „Gegen die Hermannsschlacht ist Hannibal
nur ein Kind". Aber immer hielt Orabbe sein letztes Stück
für sein bestes. — „Die Studien zu diesem Nationaldrama
haben mich tief erschüttert. Ihretwegen ward ich so krank,
mocht's aber nicht sagen" (3. 35). — „Der Hermannsschlacht
unterlieg ich fast. Wer kann das Ungeheure, jeden Nerv Auf-
regende vollenden, ohne zu sterben? — Wir 9 ich tot — Im Leben
ahnt man das Große und hat's nicht. Mich trösten die Sterne.
Man hat sie auch nicht, so arg sie glänzen" (6. 35) •" — „Die Her-
mannsschlacht ist gegen Hannibal ein Koloß. Sie ist fertig.
Ich feile nur noch, sinke auch wohl an ihr nieder, wenn sie
vollendet ist, auf ewig" (25. 9. 35. an die Gräfin Ahlefeldt).
„Die Hermannsschlacht ist in und über mir, wie ein Sternen-
meer, wohl mein letzter Trost" (10. 35. — an Schreiner.)
Es war sein letzter! —
XIII. Kapitel
Lebensausgang in Detmold
Du loderndes Oehirn — so sind nun Asche deine Brande
Ferdinand FreiUgnth.
Am 26. Mai 1836 beginnt der Schlußakt der Tragödie.
Orabbe geht nicht zu seiner Frau, sondern in den Gasthof zur
Stadt Prankfurt. „Gleich im Anfang mag ich mich in meinem
Hause nicht totärgern." Am 29. Mai erbittet er von seiner Frau:
zwei Hemden, zwei Schnupftücher, zwei Paar Strümpfe. Das
Billet ist unterzeichnet: „Sonst Dein Grabbe — wegen Krank-
heit auf einige Tage bei Herrn Gastwirt Meier vorläufig ab-
gestiegen." Sein erster Ausgang galt der Mutter und sicher-
lich gestaltete sich dieses Wiedersehn zu einer ergreifenden
Szene.
Traurig rinnt Grabbes kummervolles Leben weiter. Oft
liegt er im Bett so krank, daß er nicht einmal schreiben kann.
Oder er verdämmert die Zeit einsam im Wirtshaus. Er
konnte kaum noch feste Nahrung zu sich nehmen, aber er
trank auch nur wenig. Dingelstedt sah in der Passagierstube
des Posthofs den Lehnstuhl in der dunkeln Ecke am Ofen,
in den der Dichter in trübem Sinnen sich zurückzog. Gesell-
schaft war ihm meist lästig. In dem Hauptmann Runenberg
fand er noch einen teilnehmenden Genossen, der mit dem fast
ganz schweigsamen Dichter die seltsamen Collegia mitmachte,
die eigentlich nur durch die Erinnerung noch einigen Reiz
ausübten. Petri machte wohl Ausfahrten mit ihm. Grabbe war
eine Ruine, sein Haupt kahl, seine Gestalt verfallen. Alle Ge-
— 368 —
danken seines todmüden Gehirns gelten seiner „Hermanns-
schlacht" und die Philosophie des sterbenden Augustus und
Varus wird die seine, das versiegende Mark in den Her-
mannshelden und die Verzweiflung in den untergehenden
Römern. Er erlebte die letzte große Enttäuschung mit dieser
Dichtung, die den Fürsten bewegen sollte, den größten Dichter
seines Ländchens nicht dem Hungertode preiszugeben. Und
die er damit rühren, deren Achtung er sich erkaufen wollte,
die Detmolder Notabein, die lachten ihn aus, als er freilich
zur unzeitigen Stunde sich Gehör verschaffen wollte. Ziegler
hat uns diesen Auftritt in der Detmolder Ressource erzählt.
Eine heitre lebensfrohe Gesellschaft kehrt von einem Ausflug
zurück, einer kommt auf die unglückliche Idee den verdüster-
ten Grabbe aufzufordern, sein letztes Drama vorzulesen. End-
lich ist Grabbe bereit, aber bald ist den trinkenden und spie-
lenden- Zuhörern diese Unterbrechung lästig und niemand
hört mehr auf das „dumme Zeug". In herzzerschneidendem
Jammer flüchtet sich der Dichter auf sein Zimmer, der Schmerz
seines ganzen verlorenen Lebens bricht in wilden Rasereien
hervor, endlich wirft er die Pistole fort — fehlt ihm der Mut
oder denkt er an sein unvollendetes Werk? — und er bricht mit
hellem Weinen auf seinem Bett zusammen. Sonst war aber
Grabbes Stimmung, wie Ziegler berichtet, mehr eine weiche,
versöhnliche. „Es war immer in ihm ein schöner und edler
Sinn, der nach freundlichen edlen Lebensverhältnissen das
heißeste Verlangen trug."
Es wurde Mitte Juli und Grabbe hatte immer noch das
Hotel nicht verlassen, er war dabei ganz mittellos und wurde
immer schwächer, so daß er schon nachmittags vor Er-
müdung einschlief. Ein Schlossergeselle sollte ihm gewaltsam
das nötige Geld aus seiner Wohnung holen. Frau Lucie reizte
das natürlich noch mehr, obwohl sie sich hätte sagen können,
daß Grabbe ein Sterbender war und daß er ohne Geld auch
die kürzeste Lebensspanne nicht mehr dauern werde. Es
gab die ärgerlichsten Skandalauftritte und es bedurfte polizei-
— 369 -
lieber Vermittlung, ehe Grabbe unter sein Dach kam. Man
kann über die Rechtsfrage verschieden denken. Ist es aber
menschlich, sich jedes Leidenden und Sterbenden anzunehmen,
so hat Frau Lucie unmenschlicher gehandelt, als jene Fremd-
linge aus dem Samaritergleichnis, die den unter die Räuber
Gefallenen achtlos liegen ließen. — Am 24. Juli schrieb Qrabbe:
„Frau! Obermorgen früh, Schlag 9 Uhr zieh' ich in mein
Haus. Vorerst denk 9 ich mein altes Zimmer nebst Schlaf-
kammer, beide parterre zu wählen»" Um 3 Uhr nachmittags
kam Qrabbe in sein Haus, nur eine Magd empfing ihn. Als
er hinaufging, ließ die Frau lange auf sich warten. Dann
folgte eine peinliche Wiedersebnsszene. — Da lag der Dichter
nun in seiner Matratzengruft: ein einsamer Kranker, ein
Klfimpchen Elend in die Kassen gedrückt. Er bleibt das eigen-
tümliche Individuum, das er immer war, bis zum letzten Augen-
blick. Auch jetzt kann er die Alkoholika nicht entbehren,
obwohl er sie nicht mehr bei sich behalten kann. Was noch
an Lebenskraft und Hoffnung in ihm war, das konzentrierte
sich in seinen dichterischen Plänen. Und es ist sonderbar
genug, daß sein letztes Gedenken einem „Eulenspiegel" galt —
als komisches Nachspiel zu dem letzten großen Drama. Schon
früh war dieser Plan aufgetaucht. Schon 1831 schreibt der
Unordentliche an Kettembeil, er könne die Szenen nicht mehr
finden — eine Szene schildert Eulenspiegel vor den Bildern —
Juni 1835 wird das „tollkomische Tier" wieder erwähnt. Qrabbe
dachte sich Eulenspiegel nicht als Mephistopheles, sondern
als losen niederdeutschen Bauernschalk und er urteilt über
das Rambachsche Buch: „Die Nebenpersonen sind oft sehr
gut gezeichnet, Eulenspiegel hat überall etwas zu viel
vom Harlequin. Das soll nicht sein, denn er ist kein
bloßer Spaßmacher, sondern repräsentiert die aus dem
tiefsten Ernst entstandene deutsche Weltironie." — Fast meint
man, das tolle Gaukelspiel der eigenen Poesie schwebte
wie Vision um Orabbes Sterbelager. Da ist der närrische
Schneider aus Paris, der jeden Satz mit einem „parole d'hon-
Nleten, Chr. D. Qrabbe. 24
— 370 -
neur" beendigt und der ihm den „Prinz Eugen" vorsingen
muß.
In „Don Juan und Faust" hieß es: „Wo nichts mehr
helfen kann, ruft man den Pfaffen, denn niemand hilft
so wenig als ein Pfaffe." So erwies sich denn auch der
Sterbende keineswegs als ein reuiger, weicher Sander,
sondern sprach von den sonderbarsten Dingen, wie es
ihm wohl teilweise seine fieberische Phantasie eingab.
„Ob wohl die Ochsen, Esel und Kamele auch in den
Himmel kommen? — Ich glaube wohl, sie haben ja auch
Seelen. Das wird einmal ein Leben im Himmel sein, welch
ein Qekrauch und Oekrabbel, wenn sich das alles durchein-
ander kratzt und beißt und stößt und schlägt." Wie Orabbe übri-
gens ernsthaft zu dem religiösen Fragen stand, das hat er in
dem Artikel über „Konventikel" im Juni im „Lippeschen Ma-
gazin" ausgesprochen: „Christus predigte nicht in heimlichen
Zusammenkünften, einmal war ja ein Berg die Kanzel des
Gottessohnes und die herrlichsten wahrsten Worte tönten von
ihm wieder durch die Welt . . . Hoch und frei wölbt sich der
Himmel, offen liegt die Bibel vor uns, seitdem Luther sie
aufgeschlagen". Konvikte fuhren zu Abwegen, zu Liederlichkeit
undVöllerei. Die Form und die belehrende Pose ist für den
damaligen Qrabbe wunderlich, aber Sehnsucht und ehrlicher
Haß gegen jede Form von Heuchelei war immer in dem
Dichter des „Don Juan und Faust".
Im September erfolgte die Auflösung, ein Leben voller
Leiden ging zu Ende. Krank war Orabbe eigentlich immer:
als Student klagt Orabbe über böse Laune; — Gothland wird
unter Schmerzen geschrieben; — der Alkohol wird seit
der Studentenzeit eine zerstörende Macht und damit greift
eine sich immer tiefer einwurzelnde Neurasthenie um sich,
über deren Gefahr ihn kein Arzt aufgeklärt zu haben scheint.
Der Auditeur bricht den Arm, wird von einem tollen Hund
gebissen, muß die Heilkraft der Wiesbadener Bäder anwenden
gegen Blutbrechen und Podagra. — 1834 wird ein sechs-
- 371 -
monatlicher Urlaub nötig; Kobbe erzählt von einem Typhus-
anfall in Düsseldorf. Es war nicht die Säuferkrankheit, Magen-
schwindsucht, die seine letzten Kräfte verzehrte, sondern, wie
es nach Duller und Ziegler Grisebach und neuerdings Ebstein
festgestellt haben, die Rückenmarkschwindsucht, bei der die
letzten geistigen Kräfte erst ganz zuletzt erlöschen. — Bis zum
bittern Ende noch mußte Orabbe seinen Frieden schwer er-
kaufen. Die unsägliche Häßlichkeit in Orabbes Leben trium-
phierte bis zuletzt. Daß die elegante Zeitung gehässig über
die Düsseldorfer Zeit des Dichters berichtete, war angesichts
des nahen Todes eine unbegreifliche Taktlosigkeit. Doch was
ging den Sterbenden noch die Öffentlichkeit an? Aber in sein
Sterbezimmer hinein schallte das Keifkonzert zweier Weiber,
stimmen. Seine Frau und seine Mutter standen wie Katz und
Hund. Die alte Frau war Lucie zu gewöhnlich, auch lebte sie
nach ihrer Ansicht auf ihre Kosten. Die Mutter schleuderte
der Schwiegertochter darauf die Behauptung entgegen, sie
habe ihren Sohn nur geheiratet, um nicht alte Jungfer zu
bleiben. Allerdings hatte diese Ehe nicht die entfernteste Ähn-
lichkeit mit einem Bund der Liebe. Duller hat sich zwar von
Frau Lucie suggerieren lassen, sie habe ihren Gatten mit Hin-
gebung gepflegt, aber Ziegler, der später die Pflegerin Orabbes
geheiratet hat, widerspricht dem in entschiedenster Form. —
Am 7. September war Orabbe vorübergehend geistesabwesend,
am 9. sang er noch eine Arie aus „Don Juan" und die Mar-
seillaise. Von den widerwärtigen Auftritten der letzten Tage
haben Wir genauen authentischen Bericht. Am 10. September
suchte die Mutter sich mit Hofrat Piderit Zugang zu dem
Lager ihres Sohnes zu erzwingen. Frau Lucie aber als
keifende Furie überschüttete die Mutter mit einer solchen Flut
von Schmähworten, daß Piderit es vorzog; sich mit der alten
Frau zu entfernen. Am folgenden Tag wurde der Versuch
wiederholt und dieselbe Szene erneute sich, während Orabbe
sich in seinem Bett erhob und ängstlich mit den Händen von
sich abwehrte. Ziegler traf Petri nachts in der Ressource,
24*
— 372 -
der tief erregt in die Worte ausbrach: „o, es ist fürchterlich,
das Weib ist eine Furie und Orabbe liegt im Sterben." Am
12. September starb Orabbe. Um 9 Uhr nahm er Abschied
von seiner Gattin, um 10 Uhr kam die Mutter und wenigstens
in ihren Armen durfte der Dichter seine schmerzensreiche
Seele aushauchen. „Sui Christian, Dui bist ja muin leuve leuve
Christian, si man getraust, Diu krigst et ja niu baule wuit
bedder, sui, Diu kämmst ja niu tom Vaddern, muin leuve,
leuve Christian." Um 3 Uhr nachmittags trat der Tod ein.
Frau Lucie soll (es ist ja nicht auszumachen, wieweit auch
Ziegler allzusehr auf Klatsch gehört hat) in die Worte aus-
gebrochen sein: „Topp, das ist gut, daß der Unhold tot ist"
Damit würde denn in schneidender Ironie auch die Lebens-
tragödie des Dichters ausklingen. Da Luciens Vermögen nun ge-
rettet war, war es billig, sich den Schein einer trauern-
den Verehrerin der dichterischen Muse zu geben. Sie legte
dem Verschiedenen, dessen Züge der Tod zu denen eines
friedlich Schlummernden verklärt hatte, einen Lorbeerkranz
aufs Haupt und in die Hände drei Zentifolien, umwunden mit
einer Flechte von ihren Haaren. Orabbe hatte den Wunsch
geäußert, sein Herz solle in einer Kapsel aufbewahrt werden.
«
Wir wollen Frau Lucie nicht zürnen, daß sie es der Ruhe
übergab: Orabbes unruhvolles, zerrissenes Herz!
Nur 15—20 Männer unter Vorantritt des lutherischen
Pastors geleiteten am Freitag, den 16. September 1836 nach 8
Uhr Orabbe zur letzten Ruhe. Keiner von den Notabein folgte
dem Sarg. Nicht einmal der Tod ließ vergessen, daß hier nicht
nur ein formloser, absonderlicher Mensch bestattet wurde,
sondern auch ein Oenie, ein deutscher Dichter.
Ferdinand Freiligrath sang, als ihm im Feldlager ein Det-
molder den Tod des „unnützen Phantasten" Orabbe mitteilte,
bei Orabbes Tod (Oktober im Morgenblatt):
Du loderndes Gehirn, so sind nun Asche deine Brände,
Wachtfeuer du, an deren sprühnder Qlut
Der Hohenstaufen Heeresvolk geruht,
— 373 —
Des Corsen Volk und der Carthager.
Der Dichtung Flamm' ist allezeit ein Fluch!
Wer als ein Leuchter, durch die Welt sie trug,
Wohl läßt sie hehr den durch die Zeiten brennen;
Die Tausende, die unterm Leinen hier
In Waffen ruhn — was sind sie neben dir?
Wird ihrer einen, so wie dich, man nennen?
Doch sie verzehrt; — ich Sprech 9 es aus mit Graun!
Ich habe dich gekannt als Jüngling; braun
Und kräftig gingst dem Knaben du vorüber.
Nach Jahren drauf erschaut' ich dich als Mann;
Da warst du bleich, die hohe Stirne sann,
Und deine Schläfen pochten, wie im Fieber.
Und Male brennt sie; — durch die Mitwelt
geht,
Einsam mit flammender Stirne der Poet;
Das Mal der Dichtung ist ein Kain s Stempel
Es flieht und richtet nüchtern Ihn die Welt!" —
Und ich entschlief zuletzt; in einem Zelt,
Träumf ich von einem eingestürzten Tempel.
XIV. Kapitel
Zusammenfassender Rückblick —
Einige Bemerkungen Ober Grabbes Sprache,
Technik und Metrik.
In Orabbe lebt, wenn auch in unausgegorener Gestalt, ein
echter dichterischer Genius, und fast alle seine Werke, so künst-
lerisch unfertig sie im ganzen auch sein mögen, enthalten im Ein-
zelnen unvergängliche Schönheiten ersten Ranges und zwar Schön-
heiten im Stil der echten großen Dichtung, welche in einem zum
Genrehaften sich neigenden Zeitalter den Sinn für den erhabenen
Schwung, den großen Wurf der Dichtwerke nicht minder zu
wecken zu vermögen, als die Werke unserer Klassiker.
Rudolf von GottschtlL
I.
Der Eindruck, den Grabbes Leben erregt, ist je nachdem
Schauder, Entrüstung, Mitleid. Mit wehevoller Erschütterung
stehen wir vor solch dunklen, rätselvollen Zusammenhängen,
die wir Schicksal nennen. Viele haben Grabbe überhaupt
verworfen und zureichende Gründe dafür gefunden. Aber ein-
mal sollte man bei dem Dichter zunächst nach den ästhetischen
Werten in seinem Schaffen, anstatt nach der Moral in seinem
Lebenswandel fragen, sodann sollte man tiefer erforschen,
wieweit sich Grabbes Charakterbild aus dem furchtbar harten
Daseinskampf erklärt. Anstatt sich von dem moralischen Wert-
urteil allzu durchschlagend bestimmen zu lassen, sollen solche
Kritiker den Nachruf im Gothland beherzigen: „wir
können ihn nicht lieben, also wollen wir ihn vergessen * —
und sich an seine Werke halten.
Wir wissen, daß Schiller aus Burgers Gedichten die Un-
reife des Menschen ablas, aber diese Kritik ist einseitig und
i
- 375 -
ungerecht und der Lyriker steht anders da, als der Drama-
tiker. V i s c h e r nannte den Dichter schlechtweg einen „Schnaps*
lumpen" und neuerdings hat P i p e r auf psychiatrischer
Grundlage ein ärgerliches Zerrbild des Unglücklichen ent-
worfen. Den Wert von Orabbes Dramatik hat O e r v i n u s
sehr gering angeschlagen und das Urteil seines Schülers
Scherer in dessen Literaturgeschichte ist das härteste, das
sich in dem Meisterbuch des freilich bei aller Größe einsei-
tigen Goetheforschers findet.
Aber schon damals war der Name Grabbes ein Zeichen
des Widerspruchs, der die Kritiker in zwei Lager trennte.
Wir führen dafür zwei Beispiele an.
Einerseits protestiert ein Nachruf im Namen Apollos da-
gegen, solche in selbst geschaffenem Elend mehr verächtlich
als bedauernswert zu gründe Gegangenen mit dem Ehrennamen
Dichter zu benennen. Aber andrerseits hat ein vornehmer
Mann wie Immermann die maßvollste und edelste Wür-
digung dieser merkwürdigen Erscheinung geschrieben und
damit einen Teil seines Unrechts zugedeckt.
Man muß verschiedene Momente zusammenhalten. Die
Arzte nennen Grabbes physisch-psychische Organisation von
vorneherein fehlerhaft, eine Unausgeglichenheit in den seeli-
schen Kräften war angeboren. Was Grabbe belastete, war
nicht frühzeitige Gewöhnung an Alkohol, das war das Erbe
der leidenschaftlichen starrsinnigen Mutter, der die schwäch-
liche Charakteranlage väterlicherseits nicht gewachsen war.
Was in Grabbe rumorte, war das wilde Blut seiner Vorfahren;
ein unbändiger Drang scheint seit Generationen die Grabbes
in die freie Natur hinausgetrieben zu haben. Die Sehnsucht
des Proletariers nach der Landstraße sucht bei dem
körperlich schwächlichen, kränkelnden Dichter einen Ausweg
in der schrankenlos schweifenden Phantasie. Ihm war das
Leben von vornherein nichts wert ohne den* Inhalt der Poesie.
In ihr suchte er dem Druck des Daseins zu entrinnen
- 376 —
und sein Ringen nach einem großen Lebensinhalt barg er
darin.
Sodann vereinigt sich eine seltene Fülle von Unglück.
Von allem, was das Leben birgt an innerlichen oder äußer-
lichen Lebenswerten, ist ihm fast nichts zuteil geworden.
Nicht nur daß ihm der Ruhmeskelch, nach dem er gierte, zu
karg gemessen war, geringere Talente wandelten im Licht
Um Orabbe richtig zu beurteilen, muß man unterscheiden
zwischen Schicksal und Anteil, zwischen äußerer Moral und
innerlichem Charakter, zwischen der Maske, die er im Ver-
kehr vornimmt, und seinem persönlichsten Wollen. Denn
unter dem bunt bewegten Spiel der Oberfläche, die in
allen Farben schillert, vernimmt der zum Grunde Dringende
eine tiefe und starke Unterströmung.
Voll von feindlichen Spannungen ist das Leben dieses
Unerlösten! Das Titanische von Orabbes Dichtung war toller
Kontrast zu dem wirklichen Leben. In Wahrheit war Orabbe
bedürfnislos, lebte immer in einfachen kleinbürgerlichen Ver-
hältnissen, fühlte sich dem Leben gegenüber armselig und
hilflos wie ein Kind, und schilderte Helden, die alle Abgründe
der Schuld ausmessen, die in alle Tiefen des Wissens ein-
tauchen, die alle Genüsse des Lebens gekostet, die die Welt
sich zu Füßen legen, die aber doch ohne festen Grund dahin-
getrieben, blasiert und von Ekel erfüllt werden ob der Eitel-
keit aller Dinge. Dann sah er wieder ernüchtert, daß solche
Gestalten nur Gebilde seiner Einbildungskraft waren, denen
in der Wirklichkeit nichts entsprach, und er empfand diesen
Widerspruch mit schneidendster Schärfe. Und am eigenen
Leibe mußte er immer wieder spüren, wie unnütz der Phan-
tast in der Welt sei und wie überflüssig, ja gefährlich all
seine Gaben.
Orabbe hat das Schicksal des Dichters getragen: intensiv
kostet er große Gefühle aus, höchster Lebenszustand ist der
Rausch. Die Kluft zwischen Lebenswirklichkeit und Phan-
tasiewelt hat er zuerst absichtlich erweitert, dann vergeblich
- 377 —
zu überbrücken gesucht Er hat sich zerrieben in dem Zwie-
spalt zwischen Können und Wollen, dem grundlosen Wollen,
das aus den Augen seiner Helden leuchtet Seine Lebenskraft
verzehrte er in seinen dichterischen Schöpfungen und jede
Rucksicht auf sein körperliches Wohl setzte der ewig Lei-
dende daran, wenn es die Hingabe an seinen innern Beruf
erheischte. Den äußern Lebensanforderungen wurde er bei
allem Talent nicht gerecht und die göttliche Kraft in ihm er-
fällte ihn mit verzehrender Unrast, anstatt seine Seele mit
köstlichem Balsam des Friedens zu sättigen und zu erquicken.
Qrabbe war eine problematische Natur, ein genie mal logt.
Orabbes innere Position gründet sich darin, teils mit eiskalter
Ironie, teils mit einer an Verzweiflung grenzenden Resignation
der „Tücke des Objekts" zu begegnen. Er hat selbst mit unbarm-
herziger Dialektik, mit grausam zersetzender Psychologie die
Wurzel seines Wesens bloßgelegt. Nichts läßt so in die inner-
sten Tiefen von Orabbes Seele blicken wie jenes Selbst-
bekenntnis an Kettembeil (4. Mai 1827) : „Ich stehe erträglich
und verdiene auch erträglich, aber ich bin nicht glücklich,
werde es auch wohl nie wieder. Ich glaube, hoffe, wünsche,
liebe, achte, hasse nichts, sondern verachte nur noch immer
das Gemeine, ich bin mir selbst so gleichgültig, wie es mir
ein Dritter ist, ich lese tausend Bücher, aber keines zieht
mich an. Ruhm und Ehre sind Sterne, derenthalben ich nicht
einmal aufblicke, ich bin überzeugt, alles zu können, was
ich will, aber auch der Wille erscheint mir so erbärmlich,
daß ich ihn nicht bemühe — ich glaube, ich habe so ziemlich
die Tiefen des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst ge-
nossen, ich bin satt von dem Hefen, nur Musik wirkt noch
magisch auf mich, weil — ich sie nicht genug verstehe. Meine
jahrelange Operation, den Verstand als Scheidewasser auf
mein Gefühl zu gießen, scheint ihrem Ende zu nahen: der
Verstand ist ausgegossen und das Gefühl zertrümmert. Dies
dir mitzuteilen, Freund, ist mir eine Art Erleichterung, Du
siehst, daß Du noch immer meinen Gedanken nahestehst, ein
- 378 -
Detmolder würde mich Geschäftsmann und mich Witzbold nun
und nie für das halten, was ich infolge des Dir Gesagten
bin. Der Mensch ist in facto nichts, er ist nur Erinnerung
oder Hoffnung, was man Gegenwart nennt, ist ein häßliches
Ding und kaum kann man es bemerken. Meine Seele ist todt,
was jetzt noch unter meinem Namen auf der Erde sich hin-
schleift, ist ein Grabstein, an welchem Tag für Tag weiter
an der Grabschrift gehauen wird, Dein Brief kommt auch da-
rauf. Und bei all dem, Kettembeil, sind Wir im Benehmen
noch immer ganz der Alte, ja Wir hoffen zwar nicht, aber
erwarten doch ruhig, ob nicht die geistige Harmonie einmal
bei Uns möglich werden könne. Wir ertragen gnädigst Uns
(den Mr. Christian) selbst."
Die typische Tragik des Genies oder doch des Phantasten,
die sich in Grabbes Schicksal kundgibt, seine psychopathische
Anlage lassen vermuten, daß der Dichter zu jeder Zeit einem
gleichen Geschick anheimgefallen wäre. Aber man hat doch
schon bald d i e Z e i t verantwortlich gemacht In den Blättern
für literarische Unterhaltung heißt es: „In Grabbe war viel
Talent, aber er wußte die Masse, den rohen Stoff nicht zu
formen und zu begrenzen. — Dieses Leben ward weniger
durch niedrige Ausschweifung, durch soziale Vergehungen,
Hohnsprechen der Sitte, Zucht und Ordnung, als vielmehr
durch ein gänzliches Nichtwissen von allem was Form, ruhiger
Fortgang und besonnene Bewegung ist, bezeichnet. Grabbe
war ein tiefer Mensch, auch ein unschuldiger Mensch, wenig-
stens von Hause aus, aber in seiner Tiefe war es dunkel.
Es wird dann weiter die Ansicht ausgesprochen, Grabbe wäre
nicht untergegangen, wenn gütig prädestinierende Götter die
Stunde seiner Geburt um 20 Jahre verlegt hätten. Es ist die
Zeit, in der K 1 e i s t und P 1 a t e n unglücklich wurden, in der
Hölderlin in Einsamkeit und Wahnsinn ein vielen Begabten
eigentümliches Los wie ein finsteres Symbol repräsentierte.
Auch Marggraf behauptete damals: „In einer gesunden Zeit
wäre Grabbe ein gesunder Heros von Bedeutung geworden,
— 379 —
seine kolossale Natur zerrieb sich in den kleinlichen Verhält-
nissen der Jetztzeit. Als dramatischer Einsiedler in einer
unkräftigen Zeit mußte das Gesunde und Kernhafte zu Knoten
und Knorren verwachsen." Der Mangel an Ablenkung trug
zweifellos bei zu dem fortschreitendem Leiden eines so un-
ruhigen Geistes. Nicht Grabbe allein, eine große Zahl von
Leidensgenossen erklären das Preiligrathsche Verdikt, in
einer Zeit der problematischen Naturen, wie sie Möller v.
d. Brück im Gegensatz zu den energetischen nennt. Ein merk-
würdiger Philosoph namens Pitschaft, der sokratische
Lebensweisheit verkündigte und der die Lebensweise der zyni-
schen Philosophen Griechenlands soweit nachahmte, daß er in
Ställen schlief, tauchte in Leipzig zu Grabbes Studentenzeit
auf. 1819 starb zu Sondershausen einsam und verlassen der
Dichter K. W e t z e 1, ein bizarrer Kauz, voll ungemessenen
Selbstbewußtseins, der sich vorwiegend von Branntwein nährte.
In Berlin gingen in selben Zeitläuften zwei Originale zu-
grunde: in der Charit^ starb Orion, der Aufsehen erregte,
als er pomphaft seine Abreise zu den Griechen verkündete
und in Leichenwagen übernachtete. 1836 verschied dort im
Spital, vielleicht durch Selbsttäuschung gebrochen, Arendt,
da er trotz mittelmäßigen Talents sich zum großen Lustspiel-
dichter forcieren wollte. L e ß m a n n endigte durch Selbst-
mord und Charlotte Stieglitz stieß sich den Dolch
ins Herz, um ihren Gatten aufzustacheln. Elias Niber-
g a 1 1 starb im jungen Alter und man fand im Stroh seines
Bettes versteckt die unvermeidlichen Spirituosen. H o 1 1 e i
stellte 1833 in „Lorbeerbaum und Bettelstab" Dichterloos dar.
Byronische Zerrissenheit lebte wieder auf in der neufranzö-
sischen Romantik. ,
Ja, die ZeitI Es ist das Unglück der Obergangsmenschen,
der Epigonen, in der vergangenen Epoche zu wurzeln und
mit ihrer Sehnsucht die Zukunft zu suchen. Grabbe gehörte
in die Sturm- und Drangperiode, in die Zeit Schillers, in die
Periode eines aufblühenden Naturalismus, nur nicht in das
— 380 —
öde dritte Jahrzehnt der Restauration. Die Romantik war ver-
blüht, beschenkte ihn nur mit der unseligsten Gabe, der Ironie,
der widerspruchsvollen Zerrissenheit, dem Spiel der Kon-
traste.
Von den Romantikern hat Grabbe Arnim und Bren-
tano von ferne verehrt, T i e c k schied sich äußerlich und
innerlich von ihm, leider auch Immermann. Das junge
Deutschland hat er von sich gewiesen. So stand er ganz
isoliert. Oberall, wo er Anschluß suchte, als freundschata-
und liebesuchender Mensch, oder in den Gemeinschaftskreisea
der Literatur, war er schwer zu ertragen. Es war Schuld
und Fluch zugleich. Ein Freund fürs ganze Leben war ihm
nur P e t r i, von den Kritikern hat Menzel das meiste für
ihn getan. Er selbst versuchte, in der Shakespearomanie das
Haupt einer neuen Schule zu werden. An wen sollte er sich
auch anschließen? Der letzte große Dramatiker war ihm
Schiller, in ziemlichem Abstand davon folgten Kleist
und Werner. Müllner schätzte er hoch, demnächst
auch Immermann. Platen verehrte er nicht. R a u •
p a c h verfolgte er mit Neid und Verachtung. Schillers
heroisches Pathos, der berauschende Schwung seiner hohen
Gedanken und wiederum die wie ein unheimliches Naturereig-
nis hervorbrechende dämonische Leidenschaftlichkeit Shake-
speares blieben die höchsten Muster. Wie Grabbe aber
Tierisches und Göttliches in unheimlichen Kontrasten mischt,
wie er neben dem Himmel die Pfütze malt, so ergibt sich aus
dem Zusammenprall zweier in sich vollendeter Genien ein
Geist des Widerspruchs, der das Zeichen der Romantik ist.
Aber er hat das zwitterhafte Kunstideal der Spätromantik
nicht als ein endgültiges angesehn. Auch die französische
Neuromantik liebte er nicht, weil Victor Hugo auf un-
wirkliche Theatereffekte ausgehe.
Und Grabbe empfand es mit schmerzlicher Klarheit, daß
all dieses Neue in seiner Üppigkeit nicht heranreiche an die
Größe der Natur, für deren Wesen und Wirksamkeit er te
- 381 —
starker Unterströmung das tiefste Gefühl, den sichersten In-
stinkt besaß.
Aber überall ist diese lähmende Zwiespältigkeit aufzu-
zeigen, die Orabbe nicht emporkommen ließ, die sein fast
einzigartiges Mißgeschick begründet hat. Dieselben Kri-
tiker, die Orabbes Dramen rein nach ihrer Theatermäßigkeit
bemessen, fanden es töricht, wenn Grabbe sich einen Platz
im Bühnen wesen erringen wollte. Die Theater aber, ver-
schlossen sich ihm, obgleich sich ^Don Juan und Faust 44
bühnenrecht erwies und wiewohl er sich in den Hohens taufen
entgegenkommend zeigte. Und richtig ist doch, daß diese
abweisende Haltung der damaligen Bühnenleiter nun erst den
Dichter veranlaßten, sich ausschließlich an die Phantasie der
Leser zu wenden. Und doch ist wohl kein Zweifel, daß Grabbe
in der Zeit zwischen Kleist und Hebbel das stärkste dra-
matische Talent war. Aber auch hier regt sich wieder ein
Widerspruch, der die Lösung des Problems Grabbe so schwie-
rig macht: sein Stil ist dramatisch und lebendig, voll Be-
wegung und energischer Schlagkraft, sich in witziger Pointe
zuspitzend. Aber das eigentliche Dramatische, die Charakter-
entwicklung, wird sehr schnell, nicht oberflächlich, aber kon-
zentriert epigrammatisch erledigt. Indem Grabbe eine Situation
voll ausschöpft, denkt er nicht an die Vermittlung mit den andern
und an den Zusammenhang des Ganzen. Der Generalbegriff
ist zu umfassend, die Phantasie zu expansiv. Zwar läßt sich
mit einiger Mühe wohl ein zusammenhaltendes Band für die
verschiedenen Tableaux finden, aber das geschlossene Drama
geht aus von einem bestimmten Konflikt, erwächst aus einem
Keim, der die ganze Handlung in sich schließt und aus dem
das Ganze sich organisch entwickelt. Warum wurde Grabbe
denn nicht Epiker? Hätte er Epen geschrieben, würde man
Ihn auf das Drama verweisen. Ruhe und Sachlichkeit sind
Eigenschaften des Epikers, aber es sind Grabbes letzte Tugen-
den, er durchtränkt alle seine Gestalten mit seiner subjektiven
Ironie.
- 382 —
Er sucht mit Vorliebe die Schlacht, das große drama
tische Erlebnis seiner Jugend, das einzige, wahrhaft groß-
artige politische Ereignis seiner Zeit. Nichts ist für den
Dichter charakteristischer, als wie ihn dieses äußerlich monu-
mentale Naturereignis voll malerischer Stimmungen, voll un-
geheurer Spannungen und wilden dramatischem Leben immer
gelockt hat. Und doch ist die Schlacht für den Künstler eine
Sphinx, deren Rätsel weder der Epiker noch der Drama-
tiker bezwungen hat. Der Dichter selbst mag Feste der Ein-
bildungskraft genießen, aber der Zuschauer solcher Phan-
tasieorgieen geht doch oft mehr stark angeregt als gesattigt
davon. Das denkbar glänzendste Bühnenschaustück vermag
sich in die äußeren Bedingungen des Theaters nicht einzu-
fügen.
Drei schöne Dinge nur gibf s: Frühling, erste Liebe, Krieg,
(der Ausspruch klingt übrigens ganz Kleistisch). Krieg um
sich auszutoben oder aus Todessehnsucht. „Gäb's doch Krieg".
Was konnte Orabbe, der literarisch ohne festgefügte Gemein-
schaft isoliert dastand, der, nachdem ihn sein Jugenddrang
nach Leipzig, der Völkerschlachtstätte, und in die preußische
Hauptstadt geführt hatte, in kleinstaatliche Verhältnisse, in
die Misere einer „kleinen Garnison" gebannt blieb, in den
Zeitverhältnissen befriedigen? Seine Jugend war erfüllt von
dem gewaltigen Drama Napoleon und nun kam wie vor dem
Anbruch der 100 Tage eine matte Zeit der Enttäuschung, die
Restaurationszeit: ein Herumflicken und Herumstumpern
statt großzügiger Reformationstätigkeit. So mußte selbst das
Chaos der Revolution kühne und wilde Naturen wie ein gran-
dioses Schauspiel voll dämonisch faszinierender Wirkung be-
rücken. Fast im Stil von Grabbes Napoleontragödie sagt
Heinrich von Treitschke vom Wiener Kongreß:
„Der große Plebejer war gefallen, der einmal doch den Hochge-
bornen bewiesen hatte, was eines Mannes ungezähmte Kraft
selbst in einer alten Welt vermag, die Helden des Schwertes
verschwanden vom Schauplatz, mit ihnen die große Leidenschaft
— 383 —
die unerbittliche Wahrhaftigkeit des Krieges. Wie Wurmer nach
dem Regen krochen die kleinen Talente des Boudoirs und der
Antichambre aus ihrem Versteck hervor und reckten sich be-
haglich aus." Was sollte ein so rücksichtslos gerader
Charakter halten von der mit christlichem öl gesalbten hei-
ligen Allianz, von dem Oottesgnadentum dieser Monarchen,
deren Kleinheit so grell im Licht des Tages gelegen hatte,
wie sollte ein von der Scholle kommender Demokrat glauben
an diese Volksbeglücker, denen der Schrecken der Revolution
derartig in den Gliedern lag, daß sie alle freiheitlichen
Bestrebungen alsbald verketzerten und verfolgten? Freilich
regte sich alsbald der Widerstand. Aber Orabbe erschien
das als Possenspiel, der große Gedanke der Revolution
schien sich in komödienhafte Draperien verhüllen zu wollen.
Die Demagogenriecherei widerte ihn ebenso an, wie die
burschenschaftlichen Ideale ihm lächerlich erschienen; dann
kam die Julirevolution. Wie hätte er aufgeatmet bei groß-
zügigen Ereignissen, bei einem die Luft reinigenden Kriegs-
donnerwetter, in einer bismarckisch gesinnten Zeit. So wäre
am ersten der gesunde Kern seines Wesens in national-volks-
tümlichen Werken offenbar geworden. Das Nationale !
Grabbe hing an seiner Erdscholle, an dem Mutterboden seiner
niedersächsischen Heimat, wie denn die einfachen natürlichen
Gefühle nie erstickt wurden, nicht durch Unglück oder Aus-
schweifungen. Die Phantastik seiner Dichtung und der Rea-
lismus seines Lebens hätten zu einer harmonischen Einheit
verschmelzen können, wenn er Kontakt mit seiner Nation ge-
habt hätte. Er hätte die Historie beseelt, neben den Kaiser-
dramen hätte er nicht nur die deutschen Märchen, sondern
auch die deutschen Volksbücher (Faust), besonders auch den
Ausbund niedersächsischer Schelmerei im Eulenspiegel leben-
dig gemacht.
„Wo gibt es noch Lebensfrische — Geldjuden überall" wie
echt ist dieser Stoßseufzer aus der Not der Zeit heraus
empfunden.
— — OQrf —
IL
Eine Pilgerfahrt ist Grabbes künstlerisches Erdenwallen,
ein ewiges Dürsten nach Größe, ein dämonisches Umherge-
triebensein, ein Seufzen nach Erlösung aus der Zuchthaus-
arbeit des Wollens.
Qrabbe hat zuerst das Lebensproblem, das wie ein dunk-
les, drückendes Rätsel vor ihm stand, zu lösen versucht
Aber es ist, als ob zwei Feinde sich zu gegenseitiger Selbst-
zerfleischung übereinander herwerfen. Schillers ideale Be-
geisterung für die Freiheit, sein Menschheitsglaube wird
durch die Schopenhauerisch - pessimistische Ansicht von der
Sinnlosigkeit des Lebens erstickt Schicksalsmäßig gesandtes
Unglück, das einen schwachen, innerlich guten Menschen heim-
sucht, der aber leicht den Lockungen des Bösen unterliegt,
die Verkehrung eines in allen Fugen erschütterten Rechtsgefühls
— das hat er im „G o t h 1 a n d" zeigen wollen. Die Qual seiner
Seele flutet dahiq, aber auch zugleich die trotzige Energie,
die sich schmerzgestachelt im Zerstörungsdrang entladet Er
pocht trotzig an den Festen des Himmels, hinter denen die
göttlichen Geheimnisse verborgen liegen, und wühlt mit un-
heimlicher Neugier in den Geheimnissen der Zeugung und der
Fortpflanzung. Er grübelt über die Wollust und über den
Tod. Das Evangelium der Liebe ist wie die Religion nichts
ohne die Kraft des Glaubens. Grabbe aber sah sich in seinem
Glauben bald erschüttert, er durchlebte die fürchterlichsten
Gewissensqualen und eine wahre Todesangst durchschauerte
den in enger naiver Frömmigkeit von Hause aus Wurzelnden.
Seine Seele schwebt im Kampf der finstern und lichten
Mächte. Aber er hat seine Inspirationen mehr aus der Hölle
als aus dem Himmel, er ist der Dichter des gefallenen Engels.
Die Bosheit triumphiert hohnlachend, Wahnsinn und Ver-
zweiflung verzerren das Weltbild. Grabbe versenkt sich in
das Leiden der Welt, und wer diese Abgründe ausmißt oder
mit seinem Verstände zu erschöpfen versucht hat, der wird
wahnsinnig oder er kommt dazu, Geist und Herz zu be-
- 385 -
tiuben und sich dem höllischen Qeist der Lüge zu verschrei-
ben, oder in starrem Trotz zu versteinern. Aus Shakespeare
und Schiller sind die wichtigsten Bestandteile, die sich aus
einer Analyse des „Gothland" ergeben. Doppelheldentum liebt
auch Schiller, aber die Art, wie hier zwei Todfeinde anein-
ander gebunden werden, sodaß der eine gar den andern für
seinen Freund halten kann, ist das Grundmotiv des „Othello".
Die Monologe Oothlands, das in edlen Gefühlen schwelgende
lyrische Pathos erinnern an Schiller, der leidenschaftliche
Naturalismus, die Charakterentwicklung vor einer geordneten
Intrigue an Shakespeare. Piper tadelt die unorganische Ver-
bindung zwischen primitiver Natur und hoher Kultur im
„Gothland". Das ist das wichtigste Problem: Shakespeare
und Schiller sind nicht einheitlich verbunden. Es ist der
Gegensatz von naiv und sentimental. Bei Schiller herrscht
Gedanke, Reflexion, er geht von einer bestimmten moralischen
Ansicht aus, verkörpert oft Standpunkte. Shakespeare schreibt
die Naturgeschichte des Menschen; die Leidenschaft, die dunkle
Tiefe des Charakters ist das Prinzip der Handlung.
Im allgemeinen gilt: Glühendes, farbenprächtiges Pathos
lockte bei Schiller, scharfe Charakterzeichnung bei Shake-
speare. Zuerst herrscht Shakespeare vor (Gothland), dann
Schiller (Hohenstaufen) , bis Grabbe seinen eigenen Stil findet,
in dem die Form noch an den Briten, die Gesinnung aber
stärker an den deutschen Dichter erinnern mag. —
Gleichzeitig mit dem Gothland schrieb Grabbe seine Lite-
raturkomödie, ein Autodafe. Er ergötzte die an fade senti-
mentale Kost gewöhnten Zeitgenossen mit einer kecken starken
Lustigkeit als ein derber Pritschenmeister, dessen übermütige
Laune unerschöpflich zu sein scheint. Alle öffentlichen
und literarischen Zustände seiner Zeit bekämpft er mit den
Pfeilen seiner Satire, und das muß der echte Lustspieldichter.
Und die Schwächen, die dem Dichterberuf typisch sind und
die sich immer wieder mit jedem literarischem Verkehr ver-
knüpfen, hat er schonungslos und auch mit sittlicher Ent-
Nieten, Chr. D. Grabbe. 25
— 386 -
rüstung aufgedeckt in immer gültigen Aussprüchen, die noch
heute angewandt werden, weil sie nicht unübertrefflicher und
witziger gesagt werden können. Der Zeitgeist spiegelte sich
in der Formlosigkeit wieder, in der spielerischen, in den ex-
tremsten Kombinationen sich gefallenden Ironie.
Die Personen vermummen sich, nehmen Masken an, be-
ständig verändern sich die Züge ihres Gesichts, kaleidosko-
pisch, zerfließend. Der Satan erscheint als Heiratsvermittler,
in allerlei Gaunerstreichen beweist er noch sein Dasein, in
einer aufgeklärten Welt ist er eine naturwissenschaftliche Ab-
normität
Hinter dem tollen Possenspiel barg sich doch auch tie-
fere Bedeutung: die ist z. B. zu erkennen, wenn der
Satan, davon sich Grabbe selbst ein Teil fühlte, im Feuer des
Ofens sich gemütlich -zu fühlen anfängt; denn hier ist, in einen
Possenscherz drapiert, die an sich furchtbare und grauenvolle
Wahrheit zu erkennen, daß des Teufels Wesen eisige Kälte
ist. Oft scheint das scharfe Schwert des Witzes nichts übrig
zu lassen. Auch die Schwächen des großen Schiller bleiben
nicht verborgen. Aber stellt einerseits der Teufel alles auf
den Kopf, sodaß auch das Vortrefflichste nichts wert ist, so
schwebt doch aus dem Chaos ein schöpferischer Geist in der
Sehnsucht nach einem Messias.
Schon im Gothland schlug das Tragische in seiner Karri-
katur oft ins Burleske über und das Grauenhafte ins Gro-
teske und andrerseits suchte der in konvulsivischen Zuckungen
der Verzweiflung gemarterte Geist gleichsam Erholung in
einer ausschweifenden Lustigkeit. Der als Tragiker immer
wieder Kraft, Vermessenheit, Oberhebung als die Gipfel
menschlichen Strebens verherrlicht hat, bewährt seine eigen-
tümliche komische Kraft in der Darstellung schimpflicher
Feigheit, lächerlicher Ohnmacht. Rattengift der Dichter ist in
Wirklichkeit eine zitternde und bebende Memme. Oder Grabbe
spottet seiner selbst, wenn er wie im Kindermärchen den bru-
talen Mordäx grausige Mordtat begehn läßt an
— 387 —
gesellen, die der Wind einer Serviette umwirft Mit schärfster
Selbstpersiflage hat er da den innerlich weichen, stark tuen-
den Renommisten gebrandmarkt. Auf die literarische Ver-
wandtschaft des Grabbeschen Witzes haben wir hingewiesen,
doch das an Rabelais erinnernde Grobe, Ungefüge charakte-
risiert sein Eigentümliches. Er begnügt sich nicht mit einem
Witz, sondern er will zugleich zart und derb, geschmackvoll
und roh sein. Oft leuchtet es wie ein Sprühregen des Geistes,
oft aber fühlen wir uns auch von einem disproportionierten
Gebilde abgestoßen. — Dieser ironisierende Witz ist aber
überall lebendig. Bei einer überlieferten Gestalt wird das
sonst angemessene Gewand zu einer Maskerade und eine
besondere Wirkung ergibt sich daraus, daß eine würdevolle
Physiognomie sich in eine Karrikatur verwandelt, daß aus
dem Mienenspiel etwa einer antiken Gestalt ein höchst moder-
ner Bekannter Grabbes von recht zweifelhaftem Wert heraus-
schaut.
Mit einer wilden Tragödie größten Stils und einer Komö-
die voll der allerkühnsten Intentionen mochte der Vermessene
den ungeheuren Plan einer literarischen Reformation zur Aus-
führung bringen wollen. Aber reichte es nicht zum großen
Reformator, so hatte er doch das Zeug zum kühnsten Revo-
lutionär. Und deshalb verstand er es zwar nicht, den Gipfel
der Vollendung zu erklimmen, wohl aber das ungeheure Wol-
len, riesenhafte Gärung, Ringen und Sehnsucht zu zeigen. So
bannte er den Gehalt jener unruhvoll zerrissenen Obergangs-
zeit in die zweite seiner Tragödien, den „Schlußstein seines
Ideenkreises." Die unruhigen Grübeleien, die innern Nöte des
Gothlanddichters sind auch der Mutterschoß dieser Tragödie;
und auch der närrische Tiefsinn der Berliner Komödie hat
die Form bestimmt, die mehr noch als beim Gothland die
Einwirkungen der Romantik verrät. Da hat Grabbe in einer
paradoxen Mischung von Altüberliefertem und moderner Spe-
kulation, in einer unter der blendenden Hülle gehäufter äuße-
rer Effekte gebildeten Vereinigung von Puppenkomödienmotiven
26*
- 388 -
und ewig menschlichen Werten einen Barockbau getürmt, der
sicherlich interessant und merkwürdig, aber nicht eigentlich
groß genannt werden kann, hat er eine Bastardbildung ge-
zeugt, die aus der Vermählung zwischen der tragischen Muse
und dem satirischen Erdgeist entsproß. Am meisten unter
diesem Zwitterwesen hatte der Teufel zu leiden, der aus
blutroter greller Lohe mit Klauen und Hörnern wie der Spring-
teufel auf dem Jahrmarkt, oder wie er im naivsten
Volksaberglauben lebt, überraschend auftaucht, der als Ver-
körperung ohnmächtigen Neides so tiefe Wurzeln in des Dich-
ters Seele findet und der endlich ein Inventar alles düster-
dämonischen Tiefsinns sein soll, den nur Goethe oder Byron
ausgesprochen haben. Die größte Schwierigkeit aber lag
darin, daß ein übergeordnetes oder auch nur beigeordnetes
Verhältnis zwischen dem Satan und seinem Opfer nicht ge-
plant und auch nicht möglich war. Das widersprach dem
Darsteller übermenschlichen Herrentums durchaus, seinen
Heroen in den Vertretern der Geisterwelt eine gleichwertige
Gegenmacht an die Seite zu stellen.*) Damit aber büßte das
Stück die Glaubwürdigkeit ein; eine immanente Tragödie
*) Man vergleiche hierzu die Vortragsszene! Dieser Kontrakt ist von
ausgeklügelter Spitzfindigkeit Daß Grabbes Faust ganz anders wie in der
Puppenkomödie oder in andern Stücken rasch und unverzüglich sowohl die
Bedingungen wie die Forderungen angibt, zeigt die Selbständigkeit an, die
er dem Satan gegenüber bis ans Ende behält. Sodann ist es in der Tat das
äußerste Extrem des reinen eiskalten Wissenstriebes, wenn Faust statt »glück-
lich werden zu wollen« schon mit der bloßen Erkenntnis, wie er hätte glück-
lich werden können, zufrieden sein will, womit nun wieder der tragische
Konflikt angedeutet wird, der in den letzten Szenen Fausts Brust zerreißt,
der nun doch gern glücklich werden möchte. Diese Selbsttäuschung wird
erklärt durch die Natur dieses Erkenntnisdrangs als unendlicher roman-
tischer Sehnsucht, in der eben in unbewußter Tiefe ein Dürsten nach Er-
lösung durch die Liebe schlummert. Faust ist wie ein Forscher, der, von
der Aufklärungsphilosophie angeekelt, erst in der romantischen Gefühlsreligion
tiefste ungeahnte Sättigung entdeckt.
Sonderbar und widerspruchsvoll ist es auch, wie der Ritter, indem er
den Kontrakt formell zu erfüllen strebt, auch materiell „die Geschäfte der
- 389 —
vermochte Orabbe auch nicht zu geben. Diese Halbheit, dieses
Schwanken, der widerspruchsvollen Natur des Dichters ent-
sprechend, ist der Grundmangel. Diese Mischung von Ro-
mantik und Naturalismus blieb unklar. Irgend ein Glaube
muß da sein, der reine Skeptizismus ist nicht das Fundament
für eine Weltanschauungstragödie.
Es war ein ungeheurer Plan: die graue Schatten-
gestalt des geistigen Titanen und den blutvollen skrupel-
losen Lebensgenießer zu kontrastieren in Bildern von
intensiver Farbenpracht. Aber es ist eine Phantasmagorie
geworden, ein Streit zwischen Geist und Materie, keine dra-
matische Entfaltung zweier Charaktere, die in gegenseitiger
Reibung sich umbilden, läutern oder zerschmettern. Statt
dessen muß die Selbstcharakteristik herhalten und da der Dich-
ter Faust und Don Juan nicht außerhalb ihrer histo-
rischen Umgebung als solche zeichnen konnte, hat er in zwei
parallelen Handlungen die Vorlage nur ausgeschmückt. Einen
gemeinsamen Boden für beide Sagen finden wir da, wo Faust
und Don Juan sich in der Liebe nähern.
Dieser Don Juan nun ist keineswegs der leichtblütige
Kavalier, der im Zaubergarten der Wollust lustwandelt, er
soll vielmehr nach romantischer Art in unheimlich dämo-
nischer Beleuchtung erscheinen. Alle Genüsse sind er-
schöpft; er ist blasiert und das Zerstörerische steht im Vor-
dergrund. Er hat sein historisches Menschentum abgestreift
und ist dafür Dämon oder Philosoph geworden.
Hölle besorgt. Denn Faust muß doch Höllenwürdiges begehn und außer
der ergebnislosen Weltallsfahrt, die für Faust doch nur die schon vorher
feststehende Schranke des menschlichen Erkenntnisvermögens bestätigt, steht
der Ritter doch nur im Verhältnis eines bloßen Werkzeugs und äußern
Machtmittels, während von einer innern Beeinflussung doch nur wenig und
mit Mühe etwas zu bemerken ist. Überraschend und paradox ist endlich
auch die Lösung, die dem Wortlaut des Kontraktes entspricht und die das
Unmögliche fertig bringt, zugleich Faust und den Ritter zu ihrem Rechte zu
verhelfen. — Vgl. übrigens den oben angeführten Brief an Kettembeil:
Grabbes vergebliches Bemühn »das Scheidewasser des Verstandes auf sein
Oefühl zu gießen M macht auch die ganze Tragik seines Faust aus!
- 390 —
Paust l&ßt alle Organe verkümmern, um reiner eis-
kalter Wissenstrieb zu sein. Die ganze Welt wird sein
Machtbereich bis auf Annas Herz, das „Fleckchen*.
Faust sieht, daß rein menschliches Glück mehr ist als
Wissen und Macht, er genest zur Liebe. Wir haben also drei
Lösungen der letzten Rätsel: der Obermensch, wider das
Schicksal angehend, zwar nicht gebeugt und zerbrochen, aber
in sich verwesend, in dialektischer Selbstzersetzung zer-
bröckelnd und sich auflösend, in Schuld erstarrt, oder in zyni-
schem Obermut, endlich zu Liebe und Menschlichkeit genesend.
Der Obermenschengedanke bildet eine zentrale Stellung in
Orabbes Ideenkreis und bildet eines der in die Zukunft weisen-
den Momente. Die Wurzeln liegen in der „riesenhaften Wider-
spenstigkeit" seines Ich, weiter in dem romantisch verstan-
denen suverinen Pichtianismus. Aber auch Schiller hat die
Kraft verherrlicht, schon als Kantianer. Im „Wallenstein 44
hat er sich das Problem klarzumachen gesucht: der Gräfin
Terzky ist Wallenstein der Riesengeist, der nur sich zu ge-
horchen hat. Auch Max verteidigt das Genie, das man falsch
beurteilt, . weil man es nicht versteht, aber er glaubt an das
Edle in der Freiheit Das ist der wahre Schiller. Grabbe geht
darüber hinaus und die Berührungen mit Nietzsche sind
auffallend und groß. Wille zur Macht, Preis des Heroischen
und Starken in den Hohenstaufen, die Macht der Instinkte in
Don Juan, wie Nietzsches trunkenes Lied den Triumph des
Lebens trotz allen Wehs singt. In Nietzsche feierte ein Kran-
ker dionysisches Leben. Grabbes Wahlspruch war „zäh und
kühn", und ein Lieblingswort des Totkranken war „Lebens-
frische". Nietzsche sieht in dem schlechten Gewissen eine
schwere Erkrankung, Berdoa findet das Wort „aus Feigheit
fromm". Für Heinrich VI. ist das Gewissen höchstens eine
Zier für den Nürnberger Spießbürger. Nietzsche hat die as-
ketischen Ideale der Priester „aus dem Schutz- und Heil-
instinkt eines degenerierenden Lebens" erklärt, man vergleiche
dazu die Antithesen in Don Juan: der Priester, der Gelehrte
— 391 —
und das Leben. Nietzsche haßt die Schopenhauersche Mit-
leidsmoral als sklavisch. Orabbes Held ist gefühllos und kalt,
menschlichem Empfinden so fern, daß keine Träne die Starr-
heit lindern darf. Orabbes Faust sagt: „Dein Mitleid spar' —
ich mag's nicht, hab ich Leid, so soll's mein eignes sein —
ein fremdes würd es nur verdoppeln I" Und Sulla fragt das um
Mitleid flehende Weib: „Warum?* Das fahrt zu Grausamkeit,
aber auch zu heroischer Glückverachtung; beides eminent tra-
gisch. „Der freie Krieger tritt auf sein Glück", sagt Nietzsche,
der auch den Krieg für kulturfördernd hielt, und Grabbes
Heinrich weiß, daß Menschengröße auf der eisigen Höhe, das
Glück hingegen im Tale wohnt Der Starke bindet das Schick-
sal an seinen Willen, wie das Eisen den Blitz anzieht. „Wer-
det hart* ist ein Imperativ Grabbes wie Nietzsches. Zara-
thustras des Gottlosen. Das vergöttlichte Tier in der Renais-
sance ist das Ideal und Napoleon der wahre Glücksfall. An
Nietzsches Assassinenspruch „Nichts ist wahr, alles ist er-
laubt" klingt an das Wort des Ritters: „Nichts ist das Recht,
wer da siegt, hat Recht* 4 . —
Die Größe, die Grabbe im privaten und öffentlichen Leben
nicht fand und die ihm auch als philosophisches Problem nicht
genügte, suchte er zu finden in der Geschichte, wie sie sich
in den Heroen konzentriert
Auch hier liegt die Sehnsucht nach Lebenserhöhung zu-
grunde: Grabbe suchte sie zunächst in reinem Phantasie-
gebilden und Träumen und darauf in einer Welt, die nur zur
Hälfte Schein und doch wieder Wirklichkeit, gewesene Wirk-
lichkeit ist, in der Historie, im Nationalen, nachdem ihm Seelen-
frieden und religiöse Erhebung ebenso in Scherben lag, wie
das Sinnenglück und die höchste Erdenwonne der Liebe.
Die zeitlose Tragödie ist zu unterscheiden von der histo-
rischen und hier ist wieder zu unterscheiden, ob der Träger
der Handlung der Heros ist oder das Volk, oder ob ein
Familienidyll als Paradigma eine Zwischenform bildet. Grabbe
schreibt dramatische Biographieen oder Epen, verbindet Zeit-
- 392 -
räume von Jahren, ja von Dezennien, in der Form an Shake-
speare erinnernd, im Gehalt deutsch, national, westfälisch. Er
glaubt seinem Volk etwas sein zu können und der Erfolg
würde das Gesunde und Kräftige in ihm zur Blüte gebracht
haben.
Zunächst wird die Zeit so geschildert wie sie ist Dann
sucht er moderne Tendenzen hereinzubringen bis zu jenen
pikanten Wirkungen der letzten Skizzen. Kräftig aber
schlägt überall hindurch das nationale Pathos und mit Be-
wußtsein erwägt er das Problem, wie sich Ich und Umwelt,
Freiheit und Notwendigkeit beeinflussen. Den Sinn der Ge-
schichte sucht er" zu deuten durch Versenkung in das innere
Leben ihrer aufragendsten Gestalten.
Barbarossa .erschien noch veredelt und gemildert» Aber
Heinrich VI. ist von unbarmherziger Großheit, ein Kolos-
salbild — aller Dinge furchtbarstes ist der Mensch. Aber was ist
die Macht, die grenzenlose? — Ein Schlaganfall stürzt ihn hin.
Sulla, der blasierte Intellektualist, ist dem rauhen schwer-
fälligem M a r i u s, verwandt dem Löwen und Hanni-
b a 1, überlegen, aber da er alles hat, endigt er sein Laufbahn mit
einem Bluff. Auch hier ist kein sicheres Ausruhn. Und es
scheint eine Wendung einzutreten. Zweierlei bringt Grabbe von
seinem Heroenkultus ab. „Kraft ist nichts, wenn sie nicht
Glück schafft", sagt Faust und der liebende Dichter. Sodann:
das Heroentum sieht bei schärferer Kritik anders aus. Napo-
leon war in Wahrheit gar nicht so groß, er entsproß dem
Schoß der Revolution. Milieu, Volk, Zeitumstände sind die
Hauptsache. Statt Freiheit Notwendigkeit. Die Großen sind
nicht groß oder sie finden Undank, sie scheitern an der
schlechtem Welt. In „N a p o 1 e o n" ist die pessimistische Ten-
denz nicht so stark wie im „H a n n i b a 1". Der Schicksalsge-
danke wird umgebildet. Worin äußert sich das Schicksal? In dem
Widerstand der Masse und den undankbaren Gegenmächten.
Grabbe erreicht nun eine besondre Größe in der realistischen
Darstellung des Volkes. Er schildert die Masse nach seinem
— 393 -
eigenen Stil, indem er sie immer mehr als das ausschlag-
gebende Moment der Geschichte betrachtet, anders als Shake-
speare, der die Masse nicht so in ihrem Wert schätzt und
individualisiert, anders als der pathetische Schiller etwa in
„Wallensteins Lager". Der gesunde kräftige Realismus, der aber
nie etwas von Goethes „gutmütiger, ins Reale verliebter Be-
schränkung" hat, wird leider zersetzt durch ein auflösendes Ele-
ment: Zynismus und Verzweiflung. Grabbe selbst hatte nichts
erreicht bei guten und großen Bestrebungen, gewiß nicht ohne
eigene Schuld, aber er war doch ein Mensch, an dem man
mehr gesündigt, als er sündigte. So ist H a n n i b a 1 mit Bitter-
keit getränkt, trotz großer Verdienste verlassen, nicht über-
wunden in der Schlacht, wie Grabbe nicht in der Dichtkunst,
sondern durch häßliche Tücken, Neid, Kleinlichkeit, Haß,
wo er doch Liebe hätte finden sollen, wie es Grabbe in der
Ehe und bei den Detmoldern zu finden hoffte. Wie zuletzt
Hannibal — Grabbe seinen lang verhaltenen Schmerz lüftet,
indem er sich auf die Erde stürzt und sie mit beiden Händen
faßt, — (diese Szene sollte ins Lippesche Journal) , — so hat
er aus der Heimaterde noch einmal letzte Kraft gesogen und
mit unendlicher Mühe noch ein ganz Eigentümliches und
darum nur denen, die den Dichter lieben, Verständliches,
andern aber Fremdes geschaffen: die Hermanns-
schlacht.
Das hat der Dichter gewollt, wenn wir Torso und Frag-
ment zu einem Ganzen ausgestalten. Das war seine Lebens-
aufgabe. Aber die reine Wirkung hat er sich selbst verdor-
ben durch allerlei Anspielungen, durch Mystifikationen, indem
er sich selbst auf den Kopf stellt und ironisiert, der sich nicht
vergessen kann und doch so glücklich wäre, wenn er es
könnte. Hemmende Gewalten lassen es zur stillen Konzen-
tration und damit zu gesegnetem Schaffen nicht kommen:
Schwäche, Zerrissenheit, atavistische Roheit beherrschen ihn,
die Zügel entfallen ihm und er wird von einer Art Besessen-
heit und trunkener Willenlosigkeit dahingerissen.
— 394 -
Zuerst ist Orabbe ganz auf Vorbilder angewiesen: in
Gothland sind wiederzuerkennen Kohlhaas, Karl Moor, Othello,
Richard III. u. a. Allmählich aber gewinnt er größere
Selbständigkeit. Das fundamentale Verhältnis sind zwei Gegen-
spieler: Gothland und Berdoa, Don Juan und Paust, Marius
und Sulla, die Hohenstaufen und der Löwe, Napoleon gegen
Blücher und Wellington, sodann tritt das Milieu an die Stelle
des einen Gegners. Jede Hauptperson hat ein größeres Ge-
folge von mehr oder weniger skizzierten Nebenpersonen, ver-
räterische Mittelpersonen stellen die Verbindung zwischen den
beiden Parteien her: z. B. Rolf, der Ritter. Gothland wie-
derholt sich etwas in Paust, Berdoas Teufeleien im Ritter,
sein Realismus in der Lebensfreude Don Juans. Eine Ge-
stalt soll immer die andre übertreffen z. B. Sulla soll wieder-
kehren in Heinrich VI. In allen Figuren aber ist Grabbe
selbst potenziert. Er versucht die gewöhnlichen Lösungen zu
umgehn. Die poetische Gerechtigkeit wird nicht wiederher-
gestellt, der Held erstarrt oder er fühlt nichts, der Endeffekt
ist ein Bluff, ein zynischer Witz, eine pessimistische Weis-
heit: nihil est, alles ist eitel. In Heinrich VI. ist die Tragik
eine rein immanente, er leidet nicht und fühlt objektiv nichts.
Nicht daß ein Böser mit dem Guten kämpfte und mit Recht
unterliegt, sondern der höhere Mensch geht unter durch Nieder-
tracht und Verrat. Grabbes Thema ist hauptsächlich die Tragik
der Herrschsucht, der Verblendung. Bei solchen Helden
ist unsere Furcht größer als das Mitleid, das wir fast nur
Hannibal entgegenbringen. Fehlt die eigentlich moralische Be-
friedigung, die stets ein harmonischer Ausklang ist, so haben
wir doch die Empfindung des erbarmungslosen Schicksals: so
ist die Welt' Eine Stufenfolge ist zu erkennen: der tragische
Schmerz rast in der „bacchantischen Redseligkeit" des „Goth-
land", erstarrt in der tränenlosen Herzenshärte Heinrichs VI.
und resigniert zu stummem Gram in Hannibal. Hannibal und
die Hermannsschlacht stehn als Epen für sich. Tragödien von
dieser Art haben ihre besondere Wirkung und ihren besondern
— 395 —
Aufbau. Starke Erregungen .werden ausgelöst und erhöhen
das Lebensgefühl, aber die Dissonanzen klingen nicht aus,
sondern brechen schrill ab.
Abnorm ist die Proportion: ein Gebilde mit kolossalen Glied-
maßen erweist sich in einzelnen Teilen wieder ganz verkümmert.
Ein Held von riesenhafter Einseitigkeit kämpft gegen gering-
lügige Gegenmächte, eine ungeheure Steigerung bricht jäh ab.
Was für Resultate ergibt nun eine kritische Stellungnahme zu
solchen Grundsätzen? Das Leben des Dramas ist Kampf und
Konflikt, dreht sich um Werden und Entwicklung. Es zeigt
sich aber, daß der Obermensch, der bereits in sich starr und
unerschütterlich jenseits von gut und böse angelangt ist, zur
Erregung dramatischer Wirkungen eigentlich ungeeignet ist. Es
widerstreitet aber auch der dramatischen Wirkung, wenn das
Verhältnis zwischen Spieler und Gegenspieler ein rein beigeord-
netes bleibt, oder wenn die Unterordnung zu groß ist. Diese
Helden, die sich gegenseitig selbst zerfleischen oder sich nur
äußerlich berühren ohne innere Veränderung und Beeinflus-
sung, entsprechen der Doppelseele in Grabbes zwiespältigem
Ich, in dem über ewigem inneren Hader es nie zu einer har-
monischen Einheit kommt, in der wir ein Schwanken beobach-
ten zwischen einer ruhelosen leidenschaftlichen Exaltation, die
selbst für den Dramatiker zuviel Explosivstoffe häuft, und
zwischen einer undramatischen Objektivität, wie sie wiederum
nur dem Historiker zur Zierde gereicht. — Die Fragen, die
durch Grabbe neu aufgeworfen sind, lassen sich etwa dahin
formulieren: welche Probleme bieten der Ober-
mensch und die Geschichte dem dramati-
schen Genie? Wir werden an die Grenzen der drama-
tischen Schaffensmöglichkeit geführt, aber auch neue Perspek-
tiven tun sich auf.
Aus seinen Gestalten ist Grabbe selbst wiederzuerkennen,
wie er leibt und lebt In Wirklichkeit der Sproß eines klein-
bürgerlichen Milieus, aber in seiner trunkenen Phantasie sich
an Einbildungen der Größe berauschend. Eine ungebundene
— 396 -
Natur, hochfahrend stürmend, zynisch verachtend, eine pos-
sierlich-boshafte Kreatur mit Krallen und Hyänenwitz, aber
im Gründe der Seele auch Regungen der Sehnsucht. Sie ver-
klären den Schluß des Oothland, läutern die Starrheit Fau-
stens, schmücken den Heldengeist Barbarossas, erklingen in
den Weihnachtsgedanken in Heinrich VI., erfüllen manche seiner
Frauengestalten mit zartem Leben und derbe Männer mit treu-
herziger Wärme, flammen empor in dem nationalen Pathos
Fauste, in Napoleon oder der Hermannsschlacht. Ein hin-
reißender Odenschwung herrscht noch im Oothland, eine an
Gedanken der Größe sich berauschende und entzündende Phan-
tasie und ein lyrischer Schmelz von meist elegischer Fär-
bung. — Was Grabbe besonders in seinen Gestalten nach dem
Leben nachgebildet hat, ist der Typus des pfiffig-verschmitzten
Westfalenbauern, des verschlossenen düstertrotzigen
Sachsen. Schon in der Berdoabestie ist Schelmerei und
keit, aus dem Leben gegriffen sind Leporello, der Schulmeister
in „Scherz, Satire, Ironie", Landolf und Wilhelm, Turnu,
die Westfalen der „Hermannsschlacht".
Den Charakteristiker reizen in der Menschendarstellung
besonders die auffallenden, von der Norm abweichenden Ge-
stalten, die Krüppel, Mißgebornen, Sonderlinge, insbesondere
der Jude mit seinem Gebärdenspiel; sodann sei noch
hervorgehoben, welchen bedeutenden Raum die Psycho-
logie des Greises spielt: diese verhutzelten gefalteten Antlitze,
das degenerierende Triebleben, das unheimlich abnorme For-
men annimmt (hier liegt ein grauenvoller Reiz), dieses letzte
Aufflackern einer absterbenden Wildheit, dieses Haßgefühl,
das als letzter Bodensatz bleibt in der Ruine ihrer Seele.
Der Realismus zeigt sich geneigt zu satirischer Betrach-
tung, der Naturalismus geht noch weiter, er sieht den Schmutz
auf den Dingen. So wird Grabbes Witz fast immer feindlich-
zynisch. Echte Galgenphysiognomien tauchen immer wieder
auf,, Schurken aus Zuchthaus und Galeere wie Berdoa und Tocke;
Spitzbübisches in Leporello, der auch verächtlich und feige
— 397 —
ist, und in dem Ritter. Kriminalistisches etwa in den
Italienern, den Bischöfen der Hohenstaufen oder in dem drei-
köpfigen Ungeheuer des Hannibal. Kräftige und zornige Sa-
tire wider Heuchelei und Unnatur in Don Juan, humorvolles
Behagen im Bischof von Mainz, in Blücher u. a.; die Ber-
liner Ironie in dem Freiwilligen, Karrikatur, Übertreibung,
Verwandlung, Metamorphose in den Lustspielen. Zynisch
wird er gern, wenn er Juden zu charakterisieren hat (Napo-
leon, Aschenbrödel).
Das Zynische nimmt aber keineswegs in seinen Darstel-
lungen der Liebe einen zu breiten Raum ein. Berdoas
Bockgestank ist zwar überall zu wittern, wo Pöbel geschildert
wird. Aber Grabbe hat mit Recht behaupten können: Meine Wei-
ber enden bis jetzt immer edel, unbefleckt, kleinere Rollen
ausgenommen (26. VIII. 35 an Petri).
In Oothland erscheint die Liebe als tierisch-bestialischer
Trieb und andrerseits als phantastische Verstiegenheit Shake-
speares Julia ist Orabbe zu einfach und sinnlich und Goethes
Gretchen versteht er nicht. Da erinnert er an den Schiller der
Lauraoden. Merkwürdig verschieden wertet Grabbe das
Verhältnis zwischen Mann und Weib. Die Hohenstaufen-
kaiserinnen schwinden dahin vor ihren übermenschlichen
Gatten; das mag ein Shakespearescher Zug sein. Grabbe
läßt sie in zarten Epigrammen reden oder er findet
einen Ausweg in der Bildersprache, in der sich Ver-
stand und Phantasie vermählen. Sinnlich aufloderndes Ge-
fühl schildert er nicht, aber es reizt ihn Liebesspiel und Ge-
tändel, und das ist ganz eigentümlich, wie auch hier der Ur-
instinkt der Grausamkeit zum Vorschein kommt und wie in
der Zärtlichkeit ein bischen Beißen urid Kratzen ist gleich
einem Katz- und Mausspiel. Erscheinen Grabbes Frauen zu-
erst den Männern untergeordnet, so haben wir doch auch
Liebhaber, die um die Gunst der Geliebten flehn (Nannette
und Marie, Aschenbrödel). Die letzten Frauengestalten
haben dagegen etwas Herbes, Energisches, gleich Frau Luden,
— 396 —
sfe sind voll ernsten patriotischen Sinnes und treiben die Män-
ner vorwärts (Agnes, Adeline, Alitta, Thusnelda). Keines-
wegs sind die Frauen nur Nebenfiguren in konventionellen
Liebesepisoden. Das Wesen des Weibes als das Thema der
eigentlichen Frauentragödie (Hebbel) versucht der Dichter in
„Don Juan und Faust" zu erschließen oder es soll sich offen*
baren in Sprüchen wie diesen: „Das Weib sieht tief, der Mann
sieht weit, Euch ist die Welt das Herz, Uns ist das Herz die
Welt" (Agnes). Verstand, Geist, Hingebung, Herzenstakt hat
Orabbe am Weibe höher geschätzt, als Schönheit und Sinn-
lichkeit. Sie haben den Frieden.
Freundschaft und Liebe haben dem Dichter manch zartes
und inniges Wort entlockt und sein scharfer Verstand hat
manche feine Wendung geprägt, in der der metaphysische
Hintergrund seines Dichtens erscheint. Seit Oothland macht
er sich Gedanken über den Tod (Heinrich, Hannibal, Varus)
und der Seelenwanderungsgedanke taucht nicht nur in „Na-
nette und Marie" sondern auch in „Hannibal" auf. Man sollte
den Dichter nicht nur in seiner bestialischen Wildheit und in
seinen wüsten Roheiten völlig charakterisiert glauben. Freilich
ein rücksichtsloser Wahrheitssinn stachelt ihn wider Schein und
Heuchelei, er selbst gibt sich auch ganz ungeschminkt mit
allen seinen Unarten, ja er zeigt geflissentlich seine ordinären
Manieren, weil er selbst die Verstellungskünste, die jeder aus
Klugheit oder aus gesellschaftlichem Taktgefühl übt, absicht-
lich verschmäht. Für seine Zeit ging er im rücksichtslosen
Naturalismus wohl am weitesten, besonders in den Volkstypen,
die er nach ihren animalischen Trieben (Ernährungs- und
Fortpflanzungstrieb) differenziert, aber ein konsequenter Na-
turalist war er nicht, dazu war sein Temperament zu stark.
Er macht sich über seine eigenen Figuren lustig, um den Kri-
tikern zuvorzukommen, kann Anspielungen und Einfälle nicht
unterdrücken, gießt moderne Schlaglichter aus. Häufung viel
unverarbeiteten Stoffes, Kapriciöses sind die Angriffspunkte
seiner Kritiker.
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- 399 -
HL
Betrachtet man den Bau eines Grabbeschen Dramas, so
wird man finden, daß er kurz abtut, wobei sonst der Dramatiker
am längsten verweilt und daß er eingehend behandelt, was
sonst als Nebensache gilt Das einheitliche Interesse wird
zersplittert. Was ist ihm die Handlung, was eine geordnete
Intrigue? Das äußere Gerüst baut er eilfertig aus von fiber-
all hergetragenem Material. Da ist nichts Eigenes, nichts
Selbständiges, nichts das auch nur interessierte.
Es ist eben die Technik des romantischen Dramas, die
Rahmenerzählung, die der Dichter nicht zu seinem Heile vor-
fand und die ihn in seiner Neigung noch bestärkte, die Per-
sonen seiner Dramen zu Organen seiner persönlichen Stim-
mungen, zu Gefäßen seiner Einfälle zu machen. So ist z. B.
der Dialog zwischen Don Juan und Leporello angefüllt mit
Reminiszenzen an Shelley oder Byron und auch Faust fällt
öfters aus der Rolle, wenn er zu philosophieren beginnt.
Anfangs sind diese Anspielungen im Geiste der Romantik lite-
rarischer Art, dann spielen im Sinne der jungdeutschen Schule
politische Tendenzen hinein. Der Aufbau der Szenen erweist
sich z. T. als äußerst einfach und primitiv, ein bloßes An-
einanderreihn einzelner Tatsachen, andrerseits aber kommt es
wieder zu außerordentlichen Häufungen: Grabbe wiederholt die
Haupthandlung durch ein Schattenspiel im Hintergrund, hält
hinter die tragischen Figuren den Hohlspiegel der Satire oder
legt vornehm ein komisches Intermezzo (vgl. Don Juan und
Faust) .
Grabbe schiebt die entlegensten Dinge zusammen und kom-
biniert die wildesten Gegensätze. Böse Kritiker sprechen hier
wohl von Grabbes Taschenspielerkünsten. Neben einfacher
thematischer Verwebung kombiniert Grabbe auch riesige kom-
plizierte kontrapunktische Gebilde. Ober einer mächtigen Do-
minante schwebt ein Reigen von Melodien voll greller Ober-
gänge und mit schrillen Dissonanzen.
— 400 —
Im einzelnen seien folgende Beobachtungen vermerkt« Eine
große Rolle spielt der Monolog und zwar als direkte Cha-
rakteristik. Technisch kann die Schwäche der dramatischen
Entwicklung nicht schlagender gekennzeichnet werden. Den
Idealisten in Gothland kann Orabbe nur durch dieses Mittel
zeichnen, in den Hohenstaufen war für Heinrich den Löwen nur
durch Monologe Raum zu schaffen. Don Juan und Paust treffen
kaum zusammen, jeder erhält drei Monologe zugewiesen: der
große Faustmonolog ist ein Auf- und Niederwogen von Gründen;
bestimmter ist der letzte Faustmonolog in These, Gegen-
gründe und Entschluß zu gliedern. In den letzten Dramen wiegen
die kurzen Apostrophen vor. Das Beiseitesprechen ist ein
bequemer Notbehelf, den Grabbe aber gerade in den letzten
Dramen durchaus nicht verschmäht. Die Szene beginnt mit
dem Monolog oder dem Dialog häufig als Auftakt oder sie
schließt auch wohl so ab.
Nur maskierte Monologe sind aber auch eine Reihe von
Dialogen, in der subordinierte nebensächliche Personen der
Hauptfigur den Anstoß geben sich zu äußern: hierhin etwa
gehören die Depeschen und Adjutanten im Napoleon, die Boten-
szenen in „Marius und Sulla" und namentlich in „Hannibal" .
Selten ist eine ruhige Entwicklung, eine organische Kontinui-
tät. Es ist ein Nacheinander von verschiedenen Momenten mit
oft merkwürdigen Obergängen. Oft zerreißt ein Gefühlserguß
Zusammenhang und objektive Form, eine Zwischenfrage gibt
ein neues Moment, der Fragende sieht etwas und an diesen
Gegenstand knüpft sich eine neue Wendung (Napoleon-Hanni-
bal). Worte werden aufgegriffen und schärfer pointiert, einer
fängt die Worte des andern auf und ergänzt sie in seinem
Sinne. Kontrast, Antithese, Doppelsinn in verdoppelter und
verdreifachter Form ist überhaupt ein Charakteristikum Grab-
bes, besonders häufig ist dementsprechend der Zankdia-
1 o g, doch beachte man, wie sich auch hier das Tempo lin-
dert: Berdoa und Holm, Don Juan und Faust, Hannibal und
Scipio. Selten ist der modifizierende Dialog, z. B. Constanze
- 401 —
sucht vergeblich den starren Sinn Heinrichs zu lindern. Duelle
und Zweikämpfe bedingen eine besondere Figur des Dialogs.
Die nicht sehr häufigen Ensembleszenen (in Oothland vier, in
Don Juan und Paust drei) enthalten häufig Aneinanderreihun-
gen, doch hat Orabbe auch eine Reihe von Szenen gebaut, in
denen die Parteien kunstvoll gegenübergestellt werden, in
denen eine mächtige Steigerung zu erkennen und eine wenn
auch nicht äußerliche Einheit zu bewundern.*) (Reichstags-
szenen — Senatsszenen) . Wir haben Gerichtsszenen (Oothland —
Hermann), Gastmähler, Gelage (Don Juan und Faust, Scherz,
Satire) , (das Saufen spielt in allen Dramen seine Rolle) , Ball-
feste (Don Juan und Faust — Napoleon), Umzüge, Reichs-
tage, Volksszenen, Schlachten.
Manche technische Besonderheiten sind die äußere Aus-
prägung, innerer Eigentümlichkeiten des Dichters. So gibt sich
die tief im Charakter des Dichters wurzelnde Tücke kund in
heimlichem Beiseitesprechen (Hermannsschlacht), in den den
Sinn der Worte verändernden Echos (Don Juan) , in den Hetz-
reden Berdoas. Wie ein Meuchelmörder mit Triumphgeheul
über den Ahnungslosen aus dem Versteck heraus herstürzt,
so wiegt der Mohr mit einem beruhigenden: er ward nicht ge-
tutet, Oothland ein, um sodann schadenfroh zu frohlocken: er
ward geschlachtet.
*) Vortrefflich gebaut ist z. B. in den Hohenstaufen diejenige Szene,
die den Abfall des Löwen schildert: in mächtiger Sehnsucht erwartet der
Kaiser seinen Freund; da trifft den ganz Unvorbereiteten die mit schroffer
Ehrlichkeit vorgebrachte Absage des Löwen. Der Kaiser muß zunächst das
Ungeheure zu fassen suchen« Dann aber flammt es aus innerstem Grunde
auf wie urgeborne Glut der Entrüstung und der nach starken äußeren Aus-
druck ringende Dichter läßt die leidenschaftliche Erregung hinübergreifen
auf des Kaisers Umgebung wie eine riesenhaft umsichgreifende alles ver-
zehrende Feuersbrunst Nach diesem ebenso jähen wie ungeheuren An-
schwellen, das so überaus charakteristisch für die Grabbesche Kunst ist, nach
diesem entfesselten Orkan und Tumult der Leidenschaften ertönt nun be-
sänftigend und lösend eine Stimme des Himmels, senkt sich wie eine Frie-
denstaube das versöhnende Wort der Beatrice. Die rauhen Helden beschwich-
tigt ein zartes Weib.
Nieten, Chr. D. Onbbe. 26
— 402 -
Eigentümlich für die Form sind noch eingestreute Lieder,.
Parallelszenen, schroffe Obergange, Kontraste, wenn z. B. nach,
dem Bannspruch Beatrice erscheint, wenn Hannibal auf einem,
ländlichen Fest den Tod des Bruders erfährt, (vgl. die
Senatsszenen und Reichstage). — Immer sind natürlich nur
einzelne Figuren ausgeführt: zuweilen besteht eine Rolle nur
aus ganz wenig Worten oder sie fällt ganz unter den Tisch,
(Beatrice in Heinrich VI). In den ersten Stücken ist der
Bau regulärer als in den späteren. Charakteristisch ist, daß.
der Dichter überall die Zahl der Handlungen möglichst zu
vermehren sucht, unter drei, vier Handlungen tut er's nicht.
Die Exposition und die verschiedenen Schichten im Goth-
land betrachteten wir früher. Der vierte Akt retardiert, in
„Don Juan und Faust" liegt der Höhepunkt im dritten Akt.
Eigentümlicher dem epischen Charakter entsprechend ist der
Bau der historischen Dramen. Die Gegenmacht beginnt ge-
wöhnlich das Spiel. Barbarossa wird in den beiden ersten
Dramen im Unglück geschildert, im dritten kommt es zur
Versöhnung, der vierte Akt retardiert und im fünften steht
der Kaiser nach Niederwerfung des Löwen auf der Höhe.
Heinrich VI. exponiert ähnlich wie Barbarossa, der Kaiser ist
von Schwierigkeiten umringt, der zweite und dritte Akt sind
ganz episodenhaft, der Höhepunkt fällt dicht vor den Schluß
des Stückes. Hannibal beginnt mit der Spitze und fällt von
da an, dabei verschlingen sich verschiedene Handlungen. Was
gewöhnlich in den Hermannsdramen den Hauptinhalt aus-
macht, verlegt Qrabbe in die Einleitung, in den einzelnen Tagen
lassen sich aus dem Hin und Her einige Steigerungen wohl
herauserkennen. Das historische Drama als Atmosphäre des
Heros und rein zufälliges Tatsachenmaterial sind sich zu-
nächst gegenübergestellt, aus der Verschmelzung von Cha-
rakterentwicklung und scheinbar zufälligen äußern Bedin-
gungen aber ergibt sich ein Orabbe eigentümliches Prinzip
für das historische Drama.
— 403 -
Hat der historische Wirkllchkeits- und Wahrheitsshm
Grabbe die beschränkte Form des an die Bühne gebundenen
Dramas durchbrechen lassen, so bildet sich doch gegenüber
der früheren Formlosigkeit ein neues Prinzip der Einheit
immer mehr aus, sofern der Held in das Milieu eingeordnet
wird, das erst mehr als nebensächliche Staffage, nach und
nach immer mehr als beherrschender Untergrund, als geisti-
ges Klima hervortritt. Zugleich hat Orabbe in der konzen-
trierten Skizze eine ihm gemäße Stilform gefunden (ungefähr
gleichzeitig mit ihrer Einführung im Russischen durch Gogol
und Turgeniew).
Wie Grabbe dazu kam, lehrt die Betrachtung, daß male-
rische Impressionen vielfach die Ausgangspunkte sind. Er
sieht seine Gestalten in einer sprechenden Gebärde von einem
stimmungsvollen Hintergrund sich abhebend: man vergleiche
Gothland in der Gruft, Napoleon am Gestade von Elba, Hanni-
bal auf der Flucht und Abschied nehmend, Hermanns Traum
im Teutoburger Walde. Oder man beachte die brieflichen
Bekenntnisse: ich schwebe wie ein Geier über der Peters-
kuppe, die See braust wie eines Löwen Mähne, mein Herz
ist grün vor Wald, das brennende Carthago spiegelt sich in
Scipios Brustharnisch u. a. Ein solches höchst malerisches
Motiv enthält oft den Keim zu einem ganzen Drama.
Diese genialen Tiefblicke gehören zweifellos zu den größten
Momenten der Kunst Grabbes. In den Augen seiner Helden
leuchtet's grundlos wie von wundervollen Visionen. Man ver-
gleiche die plötzlich aufzuckenden Inspirationen bei den Hohen-
staufenkaisern: ganz impulsiv taucht aus der Tiefe der Ge-
danke an die Heirat mit der Constanze (in Wahrheit ein Ge-
danke so betrügerisch wie auch in seinen Konsequenzen ein
tragisches Trugbild). Ein mächtig geschauter Tyrannentypus
liegt der Hagenauer Reichstagsszene zugrunde, in den Augen
des besiegten Löwen spiegelt sich ein großartiges Zukunfts-
bild von siegreich das Meer erfüllenden Flotten. Alle diese
Helden haben das Glück der Phantasten, in großen vorahnen-
26*
— 404 —
den Momenten ihre Seele erglühen zu fühlen von einem trun-
kenen Rausch, einer heiligen Begeisterung. Freilich verführt
diese Kraft genialer durchdringender Intuition, wie sie dem
Dichter in begnadeten Augenblicken aufleuchtete, auch wieder
zu unstatthaften Anteoipierungen wie wir dies beim Goth-
land und in „Don Juan und Faust" aufzeigten.
Diese große Anschauung, diese Impressionsfähigkeit ist
vielleicht Orabbes höchstes Glück, die Gabe, die des Dichters
Genialität am unverkennbarsten zeichnet. Aber freilich nicht
immer löst es sich aus stärkster und mächtigster Spannung
mit höchster Notwendigkeit, wie der Blitz aus Gewitterwolken
(Heine schien Grabbe wegen dieser Plötzlichkeiten, dieser
Naturlaute nur mit Shakespeare zu vergleichen). Zuweilen ist
es auch nur wie ein Wetterleuchten: „ein Blitzen ferner großer
Vorstellung, aber die zitternden Hände greifen vergebens da-
nach."*) Und dann kommt es auch wohl vor, daß dem
wilden Wunsch keine Wirklichkeit mehr entspricht, dann wird
die äußere Begleitform dennoch nachgeahmt: die großspurige
Gebärde, die renommistische Pose der Kraft, die Grimasse.
Oder bis zum formenden Wort geht zuviel von dem Ursprung-
liehen Eindruck verloren. Und dann fehlt die Lust, nach so
festtäglichen Erlebnissen die Arbeit des Alltags zu verrichten,
nach kurzem dionysischen Rausch an die nüchtern stäüge
Tätigkeit planvollen Au9gestaltens heranzutreten. So findet man
massenhaft unverarbeiteten Stoff und so haben wir unmittel-
bar nach einer übermächtigen genialen Offenbarung den Ein-
druck von Ohnmacht und Schwäche. Diese Grenze ist an-
gedeutet in den Worten Gutzkows: „das sind die alten groß-
artigen Bilder, von denen zwei Drittel immer so originell
sind, und das letzte Drittel immer so steif irdisch und un-
gelenk."
*) Von hier aus erklärt sich Orabbes Alkoholismus am eisten.
— 405 —
IV.
Der „Wildgeruch", eine wahnwitzig ausschweifende Ein-
bildungskraft und als disharmonischer Ausklang eines unge-
lösten Konfliktes das Bizarre, Burleske, Groteske bezeichnen
nach dreifacher Hinsicht die Eigenart der Bildersprache schon
des Oothlanddichters.
Grabbes aufgeregte Phantasie wird bedringt von Bestien
und Menschenfratzen. Die Wildheit Grabbes charakterisiert sich
am besten durch die Menagerie grotesker Tiergestalten,
aus der seine Bildersprache hervorgegangen.*) Der Mensch
ist eine Bestie. In Gothlands Brust sind Tiger eingebettet,
Berdoa ist ein Hyäne, Faust ist ein Raubtier, er schnaubt
nach Liebe wie ein Tiger nach Blut. In dem Monolog des
vierten Aktes heißt es in bekanntem Umschlag der Stimmung
abscheulich und geschmacklos: „Muß man denn zerreißen, Um
zu genießen? Glaub's fast, wegen der Verdauung. Ganze
Stücke schmecken schlecht, Mir sagen's Seer und Magen. 44
Wenn Grabbe Heinrich den Löwen schildert: die Augen
funkelnd und lechzend, die Adern geschwollen, so sieht er einen
wirklichen Löwen in natura vor sich. Die geschwollenen Adern
und Stirnfalten schildert Grabbe überhaupt öfters (Gothland,
Hannibal). Die Hyäne erscheint in Gothland und Hannibal;
der Teutoburgerwald gleicht dem Au erstier; Rom ist eine
Wölfin; Bär und Dachs gehören der Bildniswelt Leporellos
an. Von weiteren Tierbildern sind vorherrschend: die Katze
(Don Juan und Faust, Gothland) ; Hund (Briefe — Don Juan
und Faust — Heinrich, Hannibal, Thusnelda: Nachkläffer im
Busen) — die Ratte (fehlt kaum in irgend einem Drama) —
weiter Pavian, Frosch, Stacheligel — sehr bezeichnend das
*) Ich möchte zu diesen Tierbildern zwei Analogien anführen: einmal
verweise ich auf die ungefügen riesenhaften Bestien der germanischen My-
thologie oder auf die grotesken Tiergebilde, etwa den Frosch oder die Kröte,
im deutschen Märchen. — Sodann ist es von Henrik Ibsen bekannt, daß er
sich durch eigentümlich verschnörkelte Tiergestalten auf seinem Schreibtisch
inspiriert fühlte. Sein Bildhauer Rubek wittert überall hinter den Menschen-
gestalten] unheimliche Tierfratzen.
- 406 -
Krokodil in „Nannette und Marie" und „Aschenbrödel". Goth-
Iand und Berdoa kämpfen wie Tiger und Schlange. Und jenem
Bereich a giftgesch wollenen schleichenden Gewänne gehören fer-
ner an Viper, Natter, Hydra, Drache (Anna als Abgottschlange,
die Hydra des Zweifels, im Hannibal die afrikanische Natter
mit tausend Schweifen, das Gift ein wimmelndes Schlangen-
nest). Neben der Gestaltung riesiger Raubtierbestien gefällt
sich Grabbes seltsame, pathologisch wirkende Phantasie in der
Darstellung winziger grotesker Tierfiguren: Wurm, Würm-
chen, Milbe, Cicade, Mücke (Beatrice), Fliege (Leporello im
Gletscher; im Hannibal beschmutzten die Stutzer die Gassen
wie die Fliegen die Teller und der Despot wird mit einer
Schnecke verglichen, einer der Dreimänner mit einer meckern-
den Ziege) , Schmetterlinge — Walfische« — Aus der geflügelten
Welt ist allbeherrschend der Aar, der Adler, der sich maje-
stätisch im Äther wiegt, dem Adlerfittich gleicht die schim-
mernde Abendröte; drei Riesenadlern gleich durchzucken die
Empfindungen die Menge der Lombarden, es wiederholt sich das
Wortspiel von dem gerupften Gefieder bei den Römerdramen. Wir
treffen noch Sperber, Habicht, wilde Hühner. — »Der Mensch
trägt Adler in dem Haupt und steckt mit seinen Füßen in dem
Kote." Der Mensch ist eine Bestie, ein Klumpen Dreck,
ein Gebild aus Materie, und andrerseits ist er Geist mit einer
Seele aus der Sternenwelt. Der Naturalist hat den Roman-
tiker nicht ertöten können; in diesem persönlichen und histo-
rischem Zwiespalt liegt Grabbes Tragik. So schaut er sehn-
süchtig nach den Sternen; das Firmament mit seinem
leuchtenden Schmuck prunkt in seiner Bildersprache, insbeson-
dere aber reizen ihn in bizarrer Mystik die wunderlichen For-
men, die grellfarbigen Bilder jener Region, die er wie ein Natur-
mensch mit abergläubischem Schauer atavistisch betrachtet.
Die Dioskuren als Freundschaftssymbol erscheinen in Goth-
land, Hohenstaufen, Hannibal, die Geliebte ist ein Stern, der
Himmel ist ein umgestürzter Becher, ein dunkles Auge, der
Aether eine Kuppe. Neben Regen- und Himmelsbogen er-
— 407 —
scheinen mit Vorliebe Kometen und Meteore (Anna, Hohen-
stauten). Ins unendliche All einzutauchen ist berauschende Lust!
Hier haben wir Kardinalfälle für die Orabbesche Bizar-
rerie, die in einer Art geistiger Herrschgier die fernsten Ex-
treme, das Erhabene und Gemeine, in einer Wendung zu be-
wältigen trachtet. Die Sphärenkreise werden zu ringelnden
Würmern; des Zertrümmerers Luther Feder wird mit einem
Kometenschweif verglichen, bei der Milchstraße denken Marius
und Tancred an eine graue Locke, der Ritter weiß noch einen
realistischeren Vergleich. Das Himmelsgewölbe ist eine rie-
sige Schädelhöhle: die Menschen wie zirpende Grillen darin;
wie Läuse darauf. Hannibal sagt: sie schneidern den Himmel
zu einem Kleid, daß die Sterne darin ersticken und die Don-
ner engbrüstig werden; er zaust die Alpen an dem Schnee-
haar, daß die Flocken stieben. — Ebenso charakteristisch sind
die Wetterbilder: wie oft läßt der Schmetterer es gewittern
in Blitzen und Donnern, wie oft sendet er den Wetterstrahl
aus der Wetterwolke.
Dreierlei soll damit gleichzeitig charakterisiert werden:
das einer Naturgewalt gleich Großartige, der schneidendste
Kontrast, sowie auch das* Unerhört-Plötzliche, das Verblüffend-
Unvermutete.
Mit lyrischer Gefühlsinbrunst sich in die N a t u r zu ver-
senken, war dem Dichter besonders in den ersten Dramen nicht
gegeben. Wir finden die Berge seiner Heimat wieder; dann
sucht er das Kolossale auf: die Erdtitanen der Alpen, einstür-
zende Welten, aufkochende Meere. In „Don Juan und Faust"
flammt der Eichwald, Faust gleicht der innerlich glühenden
Tanne; der aufrauschende Baum im Frühling ist Sinnbild der
erwachenden Liebe. Der Teutoburger Wald rauscht in dem
letzten Drama mit knorrig eigentümlichen Bildern, die Römer
fassen die Berge an den Schöpfen, wie die Bewohner an
den Haarbüschen. Wie denn in den letzten Dramen öfters an
die Umgebung angeknüpft wird: Napoleon auf Elba vergleicht
die Muscheln mit den Thronen.
— 408 —
•
Die Größe und Wildheit der Phantasie Grabbes zeichnet
sich in seinen Bildern ab. Die Kühnheit seiner Einfälle, die
Originalität seiner Ideenassociationen erhebt ihn zu einem
einzigartigen Phänomen der deutschen Literatur. Aber gar
zu leicht entartet diese ausschweifende Einbildungskraft in das
Seltsame, Bizarre, Barocke, zu Gebilden, in denen eine dem
Zügel der Urteilskraft entflohene Willkür ihr launenhaftes
Spiel treibt. Diese Vermischung heterogenster Dinge, dieses
Beieinander des Auseinanderliegenden erinnert an Traum-
erlebnisse, aber hier sind es noch die Träume im Fieberrausch
bis zu alkoholischen Delirien. Auch die grandioseste Phan-
tasie muß durch ein inneres Gesetz, durch Formen, die wir
noch so frei auffassen mögen, gebändigt werden. Bei Grabbe
aber ist das Gefühl nicht ruhig genug, die Anschauung nicht
immer gesättigt, um Bilder von sinnlicher Leuchtkraft und
von plastischer Fülle zeugen zu können. Der schöpferische
Prozeß in seiner Originalität, aber auch in seinen Mängeln,
wird uns offenbar: die fieberhafte Unruhe im Tempo, das
Unregelmäßige in der Färbung, das Paradoxe. Man hat auf
die innere Kälte bei allem Feuer der Einbildungskraft auf-
merksam gemacht, man vermißt das Naive und fühlt selbst
in der Extase das Bewußte heraus. So findet man bei einer
Analyse der Bildersprache viel Ergrübeltes, das von der glühen-
den Phantasie nicht restlos verzehrt wird, Reflektiertes, das
die Anschauung tötet oder lähmt, Neigung zu verstandes-
mäßiger Allegorie. Hier liegt ein Fehler in der geistigen
Organisation.
Der Vergleich findet das Gemeinsame, der Witz sucht das
Verschiedene. Letztere psychische Kraft überwiegt bei weitem.
Im Gothland mit seiner tropischen Bilderfülle haben wir noch
ausgeführte Vergleiche. In „Don Juan und Faust" ist es
mehr wie ein blitzartiges Aufleuchten, ein elektrisches Auf-
glühn. Wenn anfangs die Vergleiche weit hergeholt werden,
wenn Fremdartiges, Fernabliegendes bevorzugt wird, so ist
später mehr das Bemühn erkennbar, aus der Umgebung und
— 409 —
der persönlichen Sphäre Bilder zu schöpfen. Im Hannibal
werden die Bilder konziser und diese Kondensierung, sofern
sich Mäßigung und Kraft hier paaren, darf sicher als Vorzug
oder Fortschritt gelten, dagegen ist die Hermannsschlacht noch
karger. Kontrast und Paradoxie ist Grundtypus auch in der
Bildersprache. Man findet die unmöglichsten Zusammenstel-
lungen: Milchstraße und Katze im Regenwetter, Stecknadel
und Riegel des Alls, Sandbänke und der Augen Tiefen, star-
rende Lanzen und sich sträubende Haare der Großmutter.
Die Bildersprache strotzt von Hyperbeln (tausend Sonnen,
tausend Abendröten, zehntausend Tiger) , Lakonismen und
Zynismen: Halsweh, Kinderlehre (Berdoa) — Andenken
(im Sinne von kleinen Punier); Sulla und Hannibal verstehn
sich darauf vor allem. Sehr originelle Vergleiche finden die
Landsknechte: der Vesuv ist ein Topf voll heißen Wassers;
des Kaisers Lächeln ist wie ein Funke, der ins Wasser fällt.
— Streben nach Originalität verrät sich auch in der Art, die
Vergleiche auszugestalten, indem Grabbe ein Motiv in einer
Reihe von Bildern entfaltet und fortsetzt oder mehrere Bilder
zusammenschiebt oder eine Kette von Mittelgliedern ausläßt.
(Alitta stickt mit ihren Tränen.) Ein andres Charakteristikum
ist die weitgehende Beseelung, sozusagen die Anthro-
pomorphisierung der Dinge. Unheimliche
Physiognomien, Fratzen, Grimassen bedrängen Grabbes
von Grauen und Entsetzen erfülltes Gemüt: im Gothland ist
der Himmel ein zähnefletschendes Tier, der Satan bäumt sich
auf und wirft seinen Schatten durch die Nacht und heult im
Sturm; die Jahreszeiten sind wie ein Fratzenschneiden. Europa
ist ein kindisch gewordener Greis; das Schwert schämt sich
der Nacktheit. Wälder sind Wimpern eines Gottes. Eine
Schlucht ist wie ein steingrobes Leichenhemd. Hannibals Ant-
litz ist eine arbeitende Waffenschmiede; auch Fausts Herz ist
eine Schmiede; und andrerseits wird in einem großartigen
Bild die sturmzerfetzte Flotte verglichen mit einem durch-
grämten wütenden Gesicht. — Grabbes Menschen schreien
- 410 —
oder sie flüstern mit heiserer Stimme, sie grinsen, winseln.
Unter den mimischen Gebärden haben wir rasche,
plötzliche Bewegungen: ein Sichzusammenrollen, -krümmen,
-ringeln. Kein Tätigkeitsausdrnck ist hier so bezeichnend als:
zucken.*)
Von den rhetorischen Figuren werden am
wirksamsten Ironie und Kontrast entsprechend verwendet:
Litotes (nicht getötet, geschlachtet) und Paradoxen mit Kli-
max (Todschlag und freie Liebe) Antithese, Interrogatio, Ite-
ratio. Weiter Anaphora (vorlaßt die Schiffe, wie sie euch
verlassen) öfters Parallelismus, seltener Stichomythie.
V.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten und Widersprüchen
in Grabbes Schicksal, daß er erst in der letzten Zeit der
Dicadence seinen eigenen Stil fand. Reminiszenzen und ab-
strakt abgegriffene Wendungen überwuchern zunächst das Eigene
in sprachlicher Hinsicht, neben aparten Wendungen
papierne Phrasen. „Wie dort am Strande die Muscheln wären
all die morschen Throne, samt den Amphibien, die darin vege-
tieren, hinweggeschwemmf — so beginnt Napoleon auf Elba,
dann aber fährt er fort „und schöner als jenes Abendrot be-
grüßten wir vielleicht die Aurora einer jungen Zeit" A n -
t i k e s Vorbild ist teilweise im Gothland zu erkennen, <z. B. im
Eingang in den zusammengesetzten Adjektiven wie sturmge-
schlagen, sturmzerfetzt, knochenbrechend ; lateinischen Stil
sucht er in den Rö mertragödien zu treffen. Die biblische
Sprache regt ihn an in ihrer Kraft, aber auch in Symmetrie
*) Diese mimischen Äußerungen scheinen mir besonders wichtig für
die Beurteilung von Grabbes Schauspielerplänen. Erklärt sich z. B. jenes
Zurücksinken in Apathie und Oleichgiltigkeit nach der Raserei leidenschaft-
licher Ausbrüche nur aus Grabbes nervösem Temperament oder nicht aus
dem Eindruck, den große Schauspieler in Berlin oder Leipzig auf den jungen
Schauspieleraspiranten machten? Ist z. B. für den Gothland eine bestimmte
Richtung der damaligen Schauspielkunst maßgebend? Hier liegt ein Problem,
dem noch nachzugehen wäre.
- 411 —
und Parallelismus des Satzbaus. Grundform ist Nebeneinander-
stellung von Hauptsätzen ohne Verbindungsworte. Indem
auch eine äußerlich erscheinende Statistik ein inneres Sprach-
gesetz wiederspiegelt, suchen wir in einigen Einzelheiten Cha-
rakteristisches zu treffen. Ein umfangreiches Satzgefüge mit
vielen Nebensätzen ist selten: in der 1. Szene des Gothland
finden wir z. B. drei Relativsätze, abhängig von einem Neben-
satz, wovon wieder andre abhängig sind. Sonst werden
Nebensätze schon in Don Juan und Faust und Hohenstaufen
selten — es findet sich kaum ein Bedingungssatz mit „wenn".
Eine gewisse Gliederung, eine Art Parallelismus der Form
ist angedeutet durch Wiederholung derselben Wendungen. In«
Version ist häufig. Das Tempo wird charakterisiert durch
häufige Interjektionen, am Anfang der Rede; massenhaft sind
die Ausrufimgszeichen und auch die Fragezeichen z. B. in
Don Juan und Faust in der 1. Szene über 150 ! und etwa
40 ? und erst in „Napoleon" und „Hannibal" und „Hermann"!
Laconismen und Abbreviaturen finden sich schon in den ersten
Dramen verstreut, seit Napoleon werden sie herrschend. Schon
die Faustmonologe sind voll von Aposiopesen, in Napoleon
(z. B. in den Schlachtenszenen) fällt öfters nicht nur das Ver-
bum, sondern auch das Fragewort aus. Nicht nur die Neben-
sätze werden in den spätem Dramen möglichst verdrängt,
sondern auch in den Hauptsätzen wird gespart, z. B. an
Partikeln, ja an Adjektiven. Dagegen hegt Grabbe besonders
später eine Vorliebe für mehrfach aneinandergereihte ParÜ-
zipialformen. Massenhafte Ellipsen finden sich seit Hannibal,
Imperativformen treten stark hervor. Das pronominale Sub-
jekt fehlt häufig (vgl. Alitta und Brasidas). Manchmal steht
an Stelle eines ganzen Satzes nur ein Substantivum, das über-
haupt auch in der Bildersprache den Vorrang vor dem Ver-
bum hat. — Was den Wortschatz angeht, so liefern die spätem
Dramen mehr Eigentümliches als die erstem. Es sind meist
naturalistische Ausdrücke aus einer niedern Schicht, Realis-
men aus der Umgangssprache, Provinzialismen, die uns hier
- 412 —
angehn, auch einige Fremdworte z. B. caressieren, Renommist;
solche finden sich massenhaft z. T. wenigstens mit Ab*
sieht verwandt in Napoleon. Am französischen Hof ist das
apropos so geläufig, wie das „halter" in der östreichischea
Schenkszene. Aus einer Reihe von Anreden oder Personen-
bezeichnungen, die oft einem Schimpfwörterkatalog entnommen
zu sein scheinen, möge zunächst der derbe Realismus Grabbes
hervorleuchten: Schurke, Maulheld, Patron, Knirps, Schnauz-
bart, Kerl, Geschmeiß, Gelbschnabel, Bockgesicht, Kröte,
Suppenschluckervolk, Maulaffe, Blasebalg, Fettwanst, Bär-
gersubjekt (anachronistisch im Hannibal), Speichellecker,
Landesvertftufer, Katzdnverttufer, Rechtsverdreher, Federfuch-
ser, Pfuscher, Leutebetrüger, Fasler, Phrasenmacher, Calum-
niatoren, Schmachtlappen, Hemdsfad eh, Harzkerle. Die letzten
Ausdrücke stammen aus der Hermannsschlacht, in welcher
der Dichter längst auf Ästhetische Schönheit der Diktion ver-
zichtet hat und nur die westfälische Natur reden lassen will;
dergestalt sind auch die Wendungen: Kotten, Blink, Fallholz,
Grütze, Wehrmann, Werwolf, Gerichtsmark, Stapelage, Ver-
backe, Kerbstock, Krippenreiter, Schnappsack, Blachfeld, fuß-
lange Zasern, Verba wie schnuppen, spetzifikatzen, ver-
quackeln; dazwischen lateinische Ausdrücke; bemerkenswert
sind die Wortzusammensetzungen (zur Ersparung von Ad-
jektiven), z. B. Essenszeit, Schlüsselgeklirr, Laubgegitter. Zeit-
weilige Lieblingsausdrücke kehren gleichzeitig in Briefen und
Stücken wieder: z. B. Dreck, toll im Napoleon. Noch einige
auffallendere Wendungen: kalmüsern, knuspern, schnattern,
krepieren, scharmutzieren, verzappeln, nachplappern, kalfatern,
Gose, Kelleresel, Spektakel, Irrwisch, Geschmeiß, Buckel,
Hemdschlapp. — Wir haben schon früher hingewiesen auf die
Anachronismen namentlich in den späteren Stücken. Am bun-
testen ist wohl die Sprache in Napoleon: französische Wen*
düngen, militärische Phrasen, jüdischer und Berliner Dialekt.
Die Neigung zu Fremdwörtern und die Manier, zu unter-
streichen (wie es übrigens auch Müllner liebte) hat ihm Im-
mermann abgewöhnt.
— 413 —
VI.
Von den elf großen Stücken Orabbes sind vier ganz in
Prosa geschrieben, von den sieben übrigen Stücken ist außer
der ersten Fassung des „Marius und Sulla" nur der Ootbland
frei von Prosa. Don Juan und Faust, Barbarossa, Nannette
und Marie enthalten nur ein- oder zweimal Prosa, die aber
größeren Um/ang einnimmt in „Marius und Sulla", in Hein-
rich VI., wo unter 15 Szenen 9 ungebundene Rede enthalten;
endlich ist in „Aschenbrödel" die Mischung derartig, daß
die Prosa nur da von der Poesie abgelöst wird, wo der Dich-
ter uns ins Feenland der Liebe führt Die ursprünglichen
Jamben des Hannibal verschwanden zuletzt ganz, teils auf den
äußern Anstoß Immermanns hin, teils weil die Fortbildung
des eigenen Stils innerlich dazu nötigte. — Merkwürdig ist
es, wie sich der hyperkatalektische Vers immer mehr durch-
setzt: man vergleiche „Gothland" und „Hohenstaufen" oder
die erste und die zweite Fassung von „Marius und Sulla".
Reime finden sich zahlreich, besonders? in den vier ersten
Akten des „Gothland", auch in „Heinrich VI.", weniger in „Bar-
barossa"; in „Don Juan und Faust" nur in den Gnomenszenen,
Ähnlich wie in den Feenszenen des „Aschenbrödel", in denen
Jamben und Trochäen mit Daktylen wechseln. Trochäen sind
sehr selten. Anapäste finden sich mit Vorliebe in den letzten
Füßen. — Daß die dejtsche Sprache sozusagen von selbst
jambt, dafür bieten die verschiedenen Fassungen charakte-
ristische Belege. Einige Beispiele:
Granius sagt in der ersten Fassung von Marius und Sulla
und in der zweiten:
Ach, auch ich genösse gern Ach, wie gerne genösse auch
ich
Der süßen Wohltat, aber der süßen Wohlthat, aber
Mein junges Haupt ist viel zu mein junges, der Gefahren un-
ängstlich, gewohntes Haupt ist viel zu
ängstlich.
— 414 -
Oder aus Hannibal:
Bote: Feldherr, küssen will
ich sie.
Hannibal: Nein,
Sie werden leicht schmutzig.
Oder: Phönix:
Wahr, Turnu, wahr
Gift ist ein letzter
Trost,
Ich will ihn dir und
mir verwahren
Negerhäuptling:
Dann
O dann ist es in
guten Händen.
Manuskript:
Wahr, Mohr,
Gift ist ein letzter
Trost,
Und darum will ich
sicherer als du
Vermagst, es Dir
und mir verwahren.
Und -
Turnu: Du? O, da
isfs in den besten
Händen.
Und wie,
Herr, ich küsse die Füße,
Nein, sie werden leicht
schmutzig.
Druck:
Wahr, Mohr,
Gift ist ein letzter
Trost
Merkwürdig ist, daß Grabbe, gerade am Anfang der Mode
folgend, weil Shakespeare und Schiller, danach Müllner ihn
bestimmte, Gesetz und Form der gebundenen Rede anerkannte,
während eine wilderregte fessellose Prosa viel eher der adä-
quate Ausdruck für den Sturm und Drang seiner Seele ge-
wesen wäre. Vielfach gibt der Dichter nur abgehackte Prosa,
und das Streben nach charakteristischer Ausdrucksform über-
wiegt den Sinn für Melos und Musik, für Harmonie und
Symmetrie. Wo er schwungvoller wird, bei gereimten Stellen,
wird auch der Bau sorgfältiger. Hiatus ist selten. Versetzte
Betonung ist bei ihm wie bei andern Jambendichtern nament-
lich anfangs des Verses häufig. Unbetontes e steht in der He-
bung, z. B. Gothland III 1 unter 1200 Versen etwa 20 mal
(lebendiges Bltndwerkfe, Oder). In Waiblingen ist die zweite
Silbe betont und unbetont. Apokopen, Synkopen, Syna-
löphe verunzierten die Sprache oft. Grabbe skandiert Bestie und
— 415 -
Bestie, Italien und Italien. Gewöhnlich behält das i in Octa-
vio seine Selbständigkeit wie auch bei Marius, doch kommt
auch vor „Octävlö irrt sich 44 . Stärker fallen Unregelmäßig-
keiten bei den Enjambements und Verseinschnitten auf. Nir-
gends ist die Form so zerrissen, wie im Gothland, wo den
abgeschlossenen Versen zahlreiche derartige gegenüberstehn,
in denen mit Durchbrechung des Taktteiles vor der letzten
oder nach der ersten Silbe sich Verseinschnitt befindet. Man
darf Grabbes Verse mit denen Lessings vergleichen, nicht
mit denen Schillers oder Goethes. Die Schicksalsdramatiker
hatten eine Vorliebe für den Trochäus, ihre Metrik war weit
bunter und mannigfaltiger als die Grabbes. Gerade im Goth-
land hat er ihre Künste noch am meisten nachgeahmt, z. B.
in den gereimten Parallelstrophen. Stichomythien nach antikem
Muster sind selten. Schon der auseinandergerissene Dialog
trieb zur Prosa hin. Bemerkenswert ist, daß Grabbe in den
Hamletszenen den Vers auch da beibehielt, wo andre Ober-
setzer Prosa anwandten. Aber mit der Prosa sprengte der
unruhige Geist die letzten Banden, wiewohl auch in der un-
gebundenen Rede der letzten Dramen ein eigener Rhythmus
vernommen werden mag.
Anhang
(Literaturnachweise und Nachlese)
L Kapitel
Aus J. H. Schickedanz: das Fürstentum
Lippe-Detmold 1830. Detmold hatte 15 470 Seelen.
„Der Bauer ist arbeitsam, bieder und treu, sehr mildtätig,
etwas verschlossen, heftig im Zorn, ehrbegierig, freiheit-
liebend, ziemlich abergläubig und vergnügungssüchtig. Bier und
Branntewein dürfen ihm nicht fehlen, besonders bei den so-
genannten Döhnten d. i. Gastereien, bei welcher jeder Gast
dem Gastgeber ein Geschenk machen muß." —
Die geistreiche, ungemein tätige Fürstin Pauline muß
nach Schickedanz in der Tat eine vortreffliche Herrscherin
gewesen sein. Ihre Gesinnung erhellt aus der Rede, mit
der sie am 3. Juli 1820 die Regierung in die Hände ihres
Sohnes niederlegte. 1807 reiste sie zum Heile ihres Landes
nach Paris, wo sie durch ihre Einsicht und Geistesgegen-
wart dem Kaiser Achtung einflößte und die Freundschaft
Josefinens gewann.
1808 nahm Lippe teil an dem Kriege, den Bonaparte mit
Österreich führte, auch mußte es 1812 Kontingente stellen zu
dem Zug nach Rußland; nach der Leipziger Schlacht halfen
auch die Lipper den Usurpator in Frankreich niederwerfen,
doch waren sie bei Leipzig und Waterloo nicht dabei. So
mag Grabbe von seinen Klienten manche Kriegserinnerungen
erfahren haben.
Die Biographie von Ziegler (Hamburg 1855)
ist zwar später abgefaßt als die D u 1 1 e r s (1838) , aber sie ist
letzterer doch unbedingt vorzuziehn, weil Ziegler die Detmolder
Verhältnisse und Grabbe persönlich kannte. Ziegler vermittelt
. 27*
- 420 -
die lebendigste Anschauung: man erkennt gerade aus den
Anekdaten Grabbe, wie er leibt und lebt, den Tonfall seiner
Stimme, Bewegung und Gebärde. Ohne Kritik ist aber auch
diese Quelle nicht zu verwenden: Ziegler ist der Advokat der
Familie Grabbe, doch nicht mit so aufdringlicher Tendenz
wie Duller als Anwalt die Sache der Frau Lucie Grabbe
führt. Doch hat Duller in dem Jugendkapitel sehr gut den
Eigensinn Grabbes charakterisiert. Darin liegt in der
Tat der ganze Grabbe: seine innere Selbständigkeit, die tiefe
Unterströmung, wie auch die Eigenbrödeld und eiskalte Bi-
zarrerie, die abnorme Verkehrung und Perversion.
Ober dieFamilieOrabbe hatGrisebach nach Detmol-
der Nachrichten Ziegler ergänzt und Artur Ploch hat aus den
Lippeschen Intelligenzblättern und nach dem historisch-geo-
graphischen Handbuch des Fürstentums Lippe von v. Coelln
(1829) noch einige Feststellungen hinzugefügt.
Geschmack und Lebensrichtung des altenOrabbe läßt
sich nach einigen Briefen (s. Detmolder Landesbibliothek), die
zum Teil hier erstmalig benutzt werden, mehr aber noch aus
dem brieflichen Verkehr des Sohnes feststellen: er wird den
empfänglichen Sohn eingeführt haben in die oft merkwürdigen
Schicksale der Zuchthausinsassen und in die politischen Zeit-
läufe. Das Empire umfaßte die ganze Nordküste Deutsch-
lands, um die Kontinentalsperre durchzuführen. Doch war
das Napoleonische Drama schon ausgespielt, ehe Grabbe zu
bewußterem Leben reifte.
Zu dem zeitgeschichtlichen Hintergrund
vgl. auch Treitschkes Deutsche Geschichte. Zu dem „myste-
riösen Gerede" von Grabbes unehelicher Geburt
zitiere ich Treitschke S. 155, 195: Prinz Louis Ferdinand
vergeudete in wildem Genuß und in tollen Abenteuern seine
Kraft — wie oft ist Prinz Louis Ferdinand früh morgens
nach durchschwärmter Nacht aus seiner westfälischen Gar-
nison nach Detmold herübergeritten, um mit seinem alten
Lehrer den Sophokles zu lesen.
— 421 -
Grabbevon Geburt aus pathologisch: vgl.
die Studie von Carl Anton Piper (München 1898. Munckers
Forschungen Bd. VIII), wo aber das positive Moment ganz
ausgelassen wird, sodaß ein ärgerliches Zerrbild herauskommt.
Und doch sollte gerade der Arzt viel eher entschuldigen, denn
als Moralist verurteilen. — Viel mehr Achtung vor Grabbes
Persönlichkeit beweist Ebstein, der Grabbes Krankheits-
geschichte beschrieb (1906) : Grabbe war ein Psychopath d. h.
er gehört zu denjenigen, deren Erkrankung eine endogene ist,
die von Geburt eine fehlerhafte Anlage des Nervensystems
aufweisen. Was ihm als moralischer Defekt, als Charakter-
schwäche, als romantische Grille usw. ausgelegt wird, ist in
Wirklichkeit zurückzuführen auf die hereditäre Belastung seines
Nerven- und Seelenlebens. Auf dieser psychologischen Basis
entwickelte sich bei Grabbe ein chronischer Alkoholismus;
es ist in der Folge oft schwer, die krankhaften Züge des
Hereditariers und des Alkoholikers auseinanderzuhalten.
Eine „unheimliohe Gewalt" drang in den Ent-
wicklungsjahren zerstörend ein. Diese Selbstzerstörung raubte
Grabbe nicht nur die Möglichkeit, ein glücklicher Mensch zu
werden, worüber er später die bitterste Reue um das Un-
wiederbringliche empfand (vgl. Don Juan und Faust) ; sie be-
deutet auch viel für die äußere Art und Erscheinung seiner
Poesie, in der sich das Unfruchtbare einer zerstörten Natur,
die einsame Abgeschlossenheit, die bizarre Kälte, das ge-
ringe Erleben abdrückt. Zu früh dringt in die dämmernden
Tiefen des Unterbewußtseins das grelle Licht der Aufklärung,
ein scharfer Verstand tötet das instinktive Gefühlsleben. Da-
her sieht Grabbe in der Liebe nur das Gemeine, oder er ver-
steigt sich in phantastischen Ausschweifungen (Gothland);
daher der greisenhafte Zug, das Apathische, das schon Gott-
schall feststellte und das neuerdings von P. Friedrich wieder
so stark betont ist. —
Die Briefe des jungen Grabbe zeigen, wie
wucherndes Rankenwerk den echten Kern einer unge-
— 422 —
heitren Sehnsucht umschlingt oder sich von ihm nährt Was
die innera Stürme der Entwicklungsjahre angeht, so ist es
zu bedauern, daß die Biographen wohl von den hierher sich
erklärenden Abnormitäten (Vorliebe für unreifes Obst u. a.)
viel zu reden wissen, aber nicht von den heftigen religiösen
Kämpfen und Erschütterunigen. Und doch gehört es zu den
Merkmalen der Pubertätsperiode, daß mit der Pein des er-
wachenden Sinnesdranges Gewissensnot und tiefbohrende
Grübeleien sich regen. Die religiösen Ängste des Sohnes
einer streng und engbtbelgläubigen Mutter, wie der Zynismus
Berdoas erfüllen den Gothland als Ausdruck von Grabbes
Entwicklungsjahren.
Grabbes Konfirmationsspruch (26. Mai 1816)
lautet (vgl. E. Ebstein):
Erfülle mich mit wahrer Reu
Wenn ich dich Gott betrübe.
Gib, daß ich alles Böse scheu,
Und stets das Gute liebe.
Laß mich doch nicht, Herr, meine Pflicht
Mit Vorschrift je verletzen.
Der Seele Heil, mein bestes Teil,
Laß mich mit Würden schätzen.
Ober Grabbes Lehrer, insbesondere Falkmann
vgl. Ludwig Merckel in seinen Memorabilien aus Freiiigraths
Jugendzeit: „Aus der Küsterschule des lieben Herrn Bege-
mann traten wir beide in das Gymnasium, welches sich in
dem ehemaligen, nun längst abgebrochenen Kloster der grauen
Schwestern auf der Schülerstraße befand. Falkmann war ein
ausgezeichneter Lehrer. Mit den Aufsätzen nahm er es in
jeder Hinsicht äußerst genau, suchte uns zugleich durch ge-
naue Anweisungen und strenge Anforderungen an die größte
Ordnung und Sauberkeit zu gewöhnen. Ein „gut", „fleißig",
„löblich" galt als eine hohe Ehre." — Zeugnisse Grabbes
teilt Grisebach mit. Falkmann war auch der Erzieher der
— 423 —
Fürstensöhne, die die Göttinger Universität besuchten (Schicke-
danz) .
S. 11: Diese physischen Berauschungen wachsen her-
aus, sind nur eine Steigerung eines übermächtigen Dranges
nach einer mehr seelischen oder geistigen Trunkenheit
Worin wird die Privatlektüre des jungen
G r a b b e bestanden haben? (vgl. auch seine Briefe) Er las
geschichtliche Werke: Sueton und namentlich Plutarch als
Quelle für Marius und Sulla, wohl auch altnordische Ge-
schichte (die „Heimskringla" regte den Gothland an), Nie-
buhrs römische Geschichte erschien damals und das große
Werk Johannes v. Müllers. Tasso las er in der Ursprache,
auch geographische Schilderungen (Blumenthal, Beiträge zur
Kenntnis Grabbes 1875 S. 17) • Zeitschriften, Romane, Dramen,
alles zog er ohne Auswahl in den Kreis seines Interesses.
Also etwa: Tiecks Phantasus, Grimms Märchen, E. T. A. Hoff-
manns Spukgeschichten, Lieder von Arndt, Körner, Rückert,
von dramatischen Werken die Stürmer und Dränger, Kleist,
den Faust von Goethe (1809), Klingemann (1815), Marlowe
(1818), Z. Werners 24. Februar, Müllners Schuld, Oehlen-
schlägers Correggio, Grillparzers Ahnfrau u. a.
IL Kapitel
Ostern 1820 bezog Grabbe die Universität Leipzig. Ein
Nekrolog läßt ihn zwar schon vorher als braunlockigen kräf-
tigen Jüngling („Ich habe dich gekannt als Jüngling, braun
und kräftig gingst dem Knaben du vorüber" sang Freilig-
rath) die Universität Göttingen besuchen. Aber diese Be-
hauptung wird widerlegt durch die Briefe des alten Grabbe
betr. Timon und Perikles von Shakespeare, datiert vom 7. Mai
1819. Auch Duller und Ziegler wissen nichts von Göttingen,
und Grabbe schreibt einmal: in Leipzig soll es wohlfeiler
sein als in Göttingen.
— 424 -
Leipzig, Oktober 1820 wurde der Sieger der Leip-
ziger Schlacht, Fürst Schwarzenberg beerdigt (Morgenblatt,
November) .
Grabbes Briefe wimmeln von Komödienmotiven
und parodistischen Elementen, die Briefe an die Eltern sind
von Piper, P. Friedrich überscharf kritisiert, obwohl Orabbe
auch an seine Freunde in derselben Art schreibt (vgl. die neu
aufgefundenen Briefe an Oustorff oder Orabbes Bemerkungen
in seinen Briefen an Kettembeil, an Immermann 10. XII.
1834.)
„Trinke Kaffee Mutter", das scheint eine Erin-
nerung an die Kontinentalsperre zu sein, die die armen Leute
um die einfachsten Gemißmittel brachte. Ob dafür die Rumflasche
nicht öfters Ersatz bringen mußte? — doch verweise ich auch
auf Schickedanz S. 139, wo es von den vielfach lächerlichen
Reglementierungen der vormundschaftlichen Regierung während
der Jugend Friedrich Wilhelm Leopolds heißt: Sie untersagte
den Unterthanen auf dem Lande das Kaffeetrinken
Grabbe und die Burschenschaft: Es zeigt
sich hier freilich neben dem Eigensinn auch der eigene Sinn,
der nach den echten Realitäten sucht. Übrigens mag ihn auch
nicht zum wenigsten die Keuschheitsverpflichtung von der
burschenschäftlichen Bewegung fortgeführt haben, vgl. auch die
parodistischen Bemerkungen in der Entstehungsgeschichte der
Hermannsschlacht: ein paar altdeutsche Jünglinge als Folie
mit der Grotenburg im Hintergrund, einen ungesäuerten Pfann-
küchen auf dem Kopf, oder der Entwurf „ein „Jüngling tritt
ins Leben" (Grisebach IV, XLVIII: ein Jüngling, schwarz
rot gold um die Brust, einen schwarzen ungesäuerten Pfann-
kuchen auf dem Kopf, Liebe und Vaterland im Maul), ein
ganz ähnliches Thema wurde von Nibergall aufgenommen. —
Grabbes Erleben ist ziemlich gering und beschränkt sich auf
Kneipe und Volksfest und andrerseits auf die Theatereindrücke
massiver Art, in denen seine innern Träume zu heißem far-
bigen Leben gerinnen, (vgl. Morgenblatt Oktober 1826, Jerr-
- 425 -
manns Engagement, Gerhards Olynth und Sophronia, vgL
auch Scherz, Satire, Ironie).
Vielleicht war die Einsamkeit gewählt als Inkubations-
zeit des Genies, denn wer etwas leisten will, muß sich iso-
lieren. War der Genosse der Leipziger Zeit Kettemi) eil?
Philosoph Pittschaft der „Unaufhaltsame", Morgenblatt
Mai 1823.
Berlin : Das literarische Milieu: Morgenblatt (z. B.
Juni 1823), Freimütiger, Gesellschafter, Abendzeitung, — der
Freimütige bekämpfte die Höllenbreughelei im Drama, vgl.
1823, Juni (über Heines Almansor).
Grabbes Leben: vgl. besonders die Briefe an Kettembeil.
Laubes Charakteristiken 1835 — das Schreiben an den
Kronprinzen abgedruckt bei Grisebach, der auch über Grab-
bes Genossen, die Stätte ihres Verkehrs manches berichtigt
und ergänzt hat; von KOchy hat es Grisebach, der es dann
Ebstein erzählt hat, daß Grabbe sich damals eine geschlecht-
liche Infektion holte, die dten Keim zu dauerndem Siechtum
legte; in dieser Beziehung ist ein Brief Roberts bemerkens-
wert, aus dem auch hervorgeht, daß Grabbe damals schon
als Nihilist galt: „Vielleicht haben Sie die Ansicht der Nihi-
lität jeder Anstrengung, die ich in abstracto für die einzig
richtige halte, aufgegeben. Leider zeigt uns aber die tägliche
Erfahrung, wie wir hier weder in noch von abstractis leben
und wie selbst das V — bei der Müller notwendig zur Exi-
stenz gehört."
Die Berliner Genossen; vgl. auch A. Ploch
21 ff.; auch seinen Aufsatz in der Nationalzeitung, 1. Novbr.
1903, insbesondere Grabbe und sein Verhältnis zu Gubitz be-
treffend. Gubitz Erinnerungen 2. Bd. 253 ff. — Heine: de
l'AUemagne Memoiren. U echtritz: Briefe. Köchy: Briefe
auf der Detmolder Landesbibliothek. Sehr interessante Briefe
zwischen Grabbe und dem witzig burschikosen Gustorff hat
Dr. Perger in der Zeitschrift für Bücherfreunde 1907 ver-
öffentlicht. — Gustorff warnt den Dichter, sich seinem „mise-
- 426 -
rabeln Argwohn" hinzugeben. Auch hat Perger eine Zeich-
nung des Dachkammer poeten von Herbert Konig (auf Grund
von Erzählungen Köchys später entworfen) veröffentlicht: das
ist das Milieu, das uns Qrabbes Bittschrift an den Kronprin-
zen erklärt. — Der Volkswitz läßt das sittliche Leben der
Sohauspieler in bedenklichem Lichte erscheinen (Morgenblatt
März 1823).
Besuch bei Jerrmann : Prutz' deutsches Museum
1852 S. 188 f. Jerrmanns Gastspiel in Leipzig, vgl. Morgen-
blatt Oktober 1821.
Meine Datierung folgt Orisebach. Den braunen Rock trug
Orabbe allerdings schon als Leipziger Student und auch die
Einführung in die ästhetischen Zirkel würde dazu passen.
Aber dagegen spricht der Tiecksohe Empfehlungsbrief und
vor Beendigung des Oothland hat Orabbe wohl kaum an »Don
Juan und Faust" gedacht. Auch hier drängt Orabbe zu den
Realitäten und die tiefe Unterströmung, das echte Suchen,
wird offenbar.
Charakteristisch ist der Brief an Tieck: was Orabbe nach-
zuerleben und nachzudichten vermag, das glaubt er auch dar-
stellen zu können. Für Tieck vgl. Köpke: L. Tieck, Er-
innerungen aus dem Leben des Dichters 1855, II, 4, 22 f.
Über Tieck urteilt E. Devrient in der Geschichte der
Schauspielkunst: Tieok war berühmt als dramatischer Vor-
leser durch seinen charakteristischen Ausdruck, aber nicht ge-
macht, in die Bühnenpraxis selber einzugreifen — übrigens
klafft bei Tieck die Praxis seiner Dramen und die Theorie
auseinander und in der Form hat er Orabbe nicht zu dessen
Heil bestimmt.
III. Kapitel
Ober das Schicksalsdrama vgl. Jakob Minor (Wer-
ner, Müllner, Houwald), besonders auch die Ergänzung im
Grillparzer Jahrbuch. Zur Entstehung ist noch zu bemerken: nach
— 427 -
dem Rationalismus erwachte in der Romantik die tiefe dunkle
geheimnisvolle Macht des Gefühls, dessen Korrelat nicht etwas
Verstandesmäßig-abgeschlossenes, Begrenztes ist, sondern das
grenzenlose AU und Universum. Religion ist das Gefühl un-
bedingter Abhängigkeit. Daraus kann erwachsen mystische
Versenkung, aber auch ein fatalistischer Schicksalsglaube.
Dieses Schicksal gewinnt drückende Gestalt in der Erschei-
nung Napoleons. Als die Kraft ursprünglichen Erlebens wich,
flüchtete man sich in den Katholizismus. Furcht und Angst
spielten sicher in der Frömmigkeit der Mutter Qrabbes ihre
Rolle.
Tiecks Abneigung gegen das Schicksalsdrama erhellte aus
dessen „dramaturgischen Blättern". Im Morgenblatt heißt es
(Februar 1825) von Tiecks Stellung: auch mit Schiller wird
es Not haben.
Vgl. Briefe: Herzog Theodor von Oothland:
4. V. 1827. - 1. VI. 1827. - 25. VI. 1827. - 12. VII. 1827. -
3. VIII. 1827. - 12. VIII. 1827. - 1. IX. 1827. - 23. IX.
1827. - 28. XII. 1827. — 5. I. 1828.
Karl Anton Piper, Grabbes Theodor
von Oothland (Munckers Forschungen Bd. VIII. Mün-
chen 1888) deckt zahlreiche Reminiszenzen auf, den Kern
trifft der Ausspruch: „die starke Persönlichkeit kann keine noch
so große Schuld untergraben, sie hat die Berechtigung zu exi-
stieren, solange sie Raum hat sich zu betätigen" (rec. von Köthe
in der dtsch. Literaturztg. 1901 No. 4) . Hier möchte ich zum
Vergleich den Ausspruch von Nietzsche heranziehn: ein Ver-
brecher, der mit einem gewissen düstern Ernst sein Schick-
sal festhält und nicht seine Tat hinterdrein verleumdet, hat
mehr Gesundheit der Seele. A. Ploch S. 108—122 fugt viele
Parallelen hinzu besonders aus der Sturm- und Drangperiode.
In der Anzeige im Gesellschafter, Dezem-
ber 1827, wird die Phantastik in Grabbes Gothland verglichen
mit der tropischen Üppigkeit in den Urwäldern Südamerikas. In
der Tat sind nicht nur die Tragödien Schillers und Shakespeares
— 428 —
oder das Schicksalsdrama heranzuziehn, sondern sicher ist Grab-
bes Einbildungskraft entzündet durch Indianergeschichten und
Reisebeschreibungen; in dem Proletarierkind ist selbst etwas
von dem Naturmenschen mit seinen wilden Instinkten und
seinen abergläubischen Ängsten. Der Gothland würde
wahrscheinlich Analogien finden in der Literatur halbroher
Völker eines fremden Erdteils.
Warmherzige ästhetische Würdigungen bringt Blumenthal
in seiner Ausgabe.
Scherz, Satire, Ironie, tiefere Bedeutung
Briefe: 16. XII. 1822. - 18. III. 1822. - 4. V. 1827. —
1. VI. 1827. - 25. VI. 1827. - 12. VII. 1827. - 3. VIII.
1827. - 12. VIII. 1827. - 2. XII. 1827.
P 1 o c h S. 150—163 (hebt besonders die Anklänge
an Heine hervor) , vgl. Heines Elementargeister, Shake-
speares Mädchen und Frauen, und vornehmlich Atta Troll.
Kritiken: Blätter für literarische Unterhaltung 1828—
Morgenblatt 1829 — Hallesche Literaturzeitung 1828.
Morgenblatt Novbr. 1823 charakterisiert: augenblickliche
Unterhaltung, oft nur leerer Zeitvertreib, Überraschung durch
gehäufte Mannigfaltigkeit sind die Götzen, denen das Tiefe
und Erhabene weichen muß.
Einzelnes: Luise Brachmann: Morgenblatt Okto-
ber, Freimütiger. Nigels Schicksale von Scott, Morgenblatt
1822. Döring, Morgenblatt 1820 (humoristische Gedichte),
Methusalem Müller (Freimütiger, Februar 1821) —
Gleich (Morgenblatt, Januar 1821) . Gehe (Gustav Adolf
Morgenblatt Novbr. 1820 — Dido Septbr. 1820) . Krug;
von Nid da: Morgenbl. Mai 1821. — Kuhns Gedicht
(Freimütiger Oktbr. 1820) . Franz Hörn: vgl. Mai Mor-
genbl. 1823, wo Shakespeares nicht einmal Voltaires Tadel,
sondern auch Franz Horns Lobpreis überlebt hat — ähnlich
urteilte auch Heine. Schicksalstragödie Morgenbl.
März 1821 — Klopstocks Messias ist eine Reminiszenz
— 429 —
an Professor Herling. Gerhards Sophronia vgl. Freimü-
tiger Mai und Juni 1821 — Morgenblatt März 1821. E. De-
vrient: dfes Charakterlustspiel war zurückgedrängt — statt
dessen findet sich überraschende Verknüpfung, der Reiz der
Situation, witzige Konversation, kein Leben. — Und Leben
will Orabbe bringen statt papierener Literatur.
Nannette und Marie
Briefe: 4. V. 1827. — 1. VI. 1827. — 26. VI. 1827.
23. IX. 1827. - 28. XII. 1827. -
Tieck fand das Stück „allerliebst", vg. den Brief an Gu-
storff (J. Perger in der Zeitschrift für Bücherfreunde 1907.
Juli) .
Marlus und Sulla
Briefe: 29. VIII. 1823. - 1. VI. 1827. — 25. VI. 1827.
— 12. VII. 1827. — 3. VIII. 1827. - 12. VIII. 1827. —
1. IX. 1827. — 31. IX. 1827.
Die erste Fassung befindet sich auf der Berliner
Bibliothek; sie war während der Abfassung des Kapitels noch
nirgends gedruckt, sodaß ich also aus dem Manuskript schöpfte;
inzwischen ist das Fragment nicht nur von P. Friedrich her-
ausgegeben, sondern im Sinne von Orabbes großer Anschauung
vervollständigt worden.
IV. Kapitel
In Detmold — Der Audlteur
Briefe (der Orisebachschen Ausgabe sind noch hinzuzu-
fügen ein Brief an Goethe 26. 19. 27, zwei an Gubitz, einer
an Kobbe) (in meiner Ausgabe bei Hesse abgedruckt).
Grisebach teilt die Testimonia mit, aus Grabbes
Amtstätigkeit teilt Ploch S. 193, 194 einige Notizen mit.
Ober Westfalen findet sich gelegentlich eine Korrespon-
denz in den Blättern z. B. Morgenblatt Juli 1829, August
1830, November 1832, Abendzeitung Juni 1832.
— 430 —
Freiligrath widmete den Mtinen Christian Qottlieb
Ciostermeiers 1829 eine Ode (vgl. die nette Freiligrafhaus-
gabe von Schröder bei Hesse).
Grabbes Kritiken: Abendzeitung 1828» 99*- 102,
24—28. April (abgedruckt bei Ploeh), Frankfurter Iris 10.
Mai 1829 (abgedruckt bei Grisebach) (beide in meiner Aus-
gabe bei Hesse).
Grabbe und Immermann: Reisejournal S. 33»
Ober das Militär sagt Schickedanz: Es besteht aus
einem Bataillon von 300 Mann, mit einem Oberstlieutenant, vier
Hauptmännern, vier Premierlieutenants und fünf Sekonde-
lieutenants. Auch sind dabei angestellt ein Auditeur, ein
Kriegszahlmeister und ein Chirurg, doch werden davon nur
150 Mann im Dienst behalten; der Landsturm, welcher jetzt
aufgehört hat, bestand 1814 aus 11 677 Mann zu Fuß, von
denen der zehnte Mann ein Feuergewfehr haffte. — Lippe»
Detmold stellte als Bundeskontingent 691 Mann zum zehnten-
Heerhaufen.
V. Kapitel
Don Juan und Faust
Mein Programm Ostern 1906 habe ich gekürzt und auch
umgearbeitet.
Briefe: 29. VIII. 1823. — 4. V. 1827. — 16. V. 1827. —
1. VI. 1827. - 28. VI. 1827. — 12; VII. 1827. — 3. VIII.
1827. — 1. IX. 1827. — 23. IX. 1827. - 28. XI. 1827. —
20. I. 1828. — 16. III. 1828. Ploch teilt noch einen Brief
vom 7. III. 28 an Grabitz mit: Auf Mittensommer hoffe ich
die Tragödie Don Juan und Faust in 5 Akten zu vollenden;
sie ist der Schlußstein unseres Ideenkreises und wird bühnen-
recht.
Detaillierteres über die Entstehung noch in meiner Grabbe-
Studie „Don Juan und Faust und Gothland", die für Max Kochs
— 431 —
Vierteljahrszeitschrift angenommen, aber noch nicht ge-
druckt ist
Die Selbstrezension Grabbes wird mitgeteilt bei
Grisebach, vgl. noch A. Ploch a. a. O. S. 125 ff. verweist
namentlich auf Maler Müllers Faust, von dem der Spohr -
Bernardsche Operntext möglicherweise abhängig ist, ferner
Roderich Warkenthin in Munckers Forschungen
Bd. VIII. München 1898. Höher steht der feinsinnige Auf-
satz von Ferdinand Josef Schneider in der Vos-
sischen Zeitung 1006, Beilage 26 ff. (die Don Juansatire steht /
neben der Fausthandlung voll immanenter Tragik, die Szenen,
in denen Faust um Annas Liebe fleht, gehören zu den ele-
mentarsten, die Grabbe geschrieben hat).
Hier möchte ich ein besonders krasses Beispiel anführen
über die verschiedene Wertung, die Grabbe an derselben Stelle
erfährt. F. J. Schneider und P. Friedrich sind beides Be-
urteiler, die Grabbe nicht ohne Kritik, aber mit hohem Inte-
resse betrachten. Aber F. J. Schneider nennt denselben Faust-
monolog ein prahlerisches Marktgeschrei, von dem P. Fried-
rich in „Bühne und Welt" sagt: der Monolog auf dem Aven-
tin ist eine so ungeheure Leistung, daß durch sie allein Grabbe
für alle Zeit fortzuleben verdiente.
A. Ploch vergleicht den Ritter mit dem schwarzen Ritter
in Schillers „Jungfrau von Orleans". Dieser Reminis-
zenz nachgehend möchte ich eine Einwirkung dieses Dramas, die
ja für die gleichzeitig entstehenden H oh ens taufen ganz zweifel-
los ist, auch für „Don Juan und Faust" für sehr möglich
halten: ich verweise auf die Warnungen des schwarzen Rit-
ters, auf das Opernhafte beider Stücke, ganz besonders aber
auch auf die Verquickung phantastischer Motive mit echt
menschlichen Werten: man vergleiche z. B. Johannas Gelübde-
bruch inbezug auf den Wortlaut des Vertrages und hinsicht-
lich seines allgemeinmenschlichen Gehalts, und man wird ähn-
liche Unstimmigkeiten finden, wenn man die Lösung der
Grabbeschen Fausttragödie betrachtet.
— 432 —
Die Puppenkomödien sind von mir durchforscht
worden, doch war die Ausbeute, was direkte Abhängigkeit in
Einzelheiten angeht, verhältnismäßig gering. Etwas anderes
ist es jedoch mit dem innerlichen Abhängigkeitsverhältnis.
(Scheibles Kloster.)
Ober Orabbes philosophische Ansichten sind
folgende Briefe zu vergleichen: 6. V. 29. — 3. VIII. 1830.
- 16. I. 1835. - 3. V. 1835. - X. 35. - 2. VI. 1836.
Das musikalische Pendant zur Fausttragödie kann man
etwa in der Symphonie fantastique von B e r 1 i o z (1830)
finden, in der der Opiumrausch eines liebestollen Musikers
geschildert wird.
VI. Kapitel
Shakespearotnanie
Briefe: s. Text.
Noch mache, ich darauf aufmerksam, daß bei der Zu-
rückdatierung der Schein einer Gegnerschaft gegen Tieck ver-
hallt sein kann. Denn Tieck urteilt 1823 über Schiller weit
günstiger, vgl. Abendzeitung. Dort heißt es von Wallen-
stein: Seitdem ist Schiller immer mehr der Dichter der Nation
geworden, unser Volk verlangt in der Poesie einen gewissen
Ernst, Erhebung und Belehrung, Wiederkehr großer Gedanken
und feierliche Situationen; die jungen Dichter ahmen Schiller
nach, aber ohne seinen tiefen ernsten Geist; ihre Nachahmung
besteht darin, links und rechts wie der Sämann mit vollen
Händen Reflexionen und Sentenzen auszustreuen, späterhin
haben sie diese kalte Redseligkeit mit dem Allegorienspiel des
Calderon verbinden können, ohne dessen Begeisterung zu
fühlen (hier kann man wohl „Don Juan und Faust" heran-
ziehn) — seitdem haben Spuk, Laster und Bosheit verklärte
Gespenster und Blutschuld und Schande in allen möglichen
und unmöglichen Versarten dithyrambisch ihr wildes Wesen
getrieben und das Haupt des edlen Volkssängers auf eine
- 433 —
Zeitlang mit dicken Nebeln und Irateentaiten WolXenbildem
dicht verhüllt.* — Vgl. Brackmann, Grahbes Verhältnis zu
Shakespeare.
Die Hohenstairfen
Briefe: 28. XI. 1827. - 20. I. 1828. - 31. VI«. 1828.
— 16. I. 1829. - 18. IV. 1829. - 26. IV. 1829. - 13. V.
1829. - 20. VIII. 1829. - 28. XL 1829. - 6. XII. 1829. —
1. Tl. 1830. - 8. IV. 1830. — 5. V. 1830. - 14. VII. 1830.
— 14. VIII. 1830. - 12. IX. 1830. - 2. X. 1830. - 8. XI.
1830. — 24. III. 1831. — Barbarossas Erwacten.
17. VII. 1831.
Anzeige in den Lippeschen Intelligenzblättern Nr. 32 vom
8. August 1829 (Barbarossa) — Literaturblatt zum Morgen-
hlatt 1830 No. 74 — 1832 No. 47 (eine Welt zusammenge-
drängt — in dem kleinen Bilde erkennen wir alle großen
Zage der Geschichte wieder, unverstellt, voll Mark und Leben,
aber der Stoff zu groß und unförmlich, das Interesse zu sehr ver-
teilt, Heinrich der Löwe ist zu günstig dargestellt, sein Ver-
rat ist ein schlechter Streich).
Abendzeitung Nr. 79. 3. Oktober 1829 vgl. auch Grise-
bach. Blätter für literarische Unterhaltung.
Die Kritik über Barbarossa Mai 1831 ist von ,N cu*
mann, in dessen Schriften (1835) diese Rezension wiederum ttf>-
gedruckt wurde. Sie enthält sehr scharfe Bemerkungen: <Ue
Phantasie treibe ihr einseitiges Spiel, während Vernunft und
WiUeqskraft in Fesseln liegen, — der Löwe und der Kaiser sind
£um Verwechseln ähnlich, — das Äußerliche muß zurücktreten
yor dem Innern geistigen Kern).
Ober Kaiser Heinrich VI. lautet die Kritik noch
schärfer, mit Vorliebe das Wunderliche hervorhebend: das
Gänse mehr eine humoristische Don-Quixoterie. >H einriebt VI.
wird sogar «ine ekelhafte .Mißgeburt genannt.
Ganz anders R. v. Gottschall: „hier pulsiert das echt
deutsche Gemüt mit seinen oft unerklärlichen Rätseln und
Nieten, Chr. D. Orabbe. 28
— 434 -
Widersprüchen, mit seiner durch alle Gewalttätigkeit und
Wildheit hindurchbrechenden Liebe und Zartheit"
Dr. Meyen kommt in der literarischen Zeitung 1837 Nr. 11
bei Gelegenheit von Raupachs Hohenstaufen au! Orabbe zu-
rück, dessen Volksszenen z. B. beweisen, wie hoch Grabbe
über Raupach zu stellen ist: „Grabbe ist überhaupt das Ta-
lent, das am bedeutendsten für die neueste Fortbildung des
deutschen Dramas dasteht, er trug alle Anlagen zu einem
deutschen Shakespeare in sich, aus seiner Naturkraft hätte uns
ein echt nationales Drama erwachsen können, aber man hat
ihm keine Pflege angedeihen lassen, man hat ihn von sich
gestoßen, hat ihn ins Grab sinken lassen, während Raupach
sich Güter erschrieben hat. Das ist deutsche Anerkennung",
vgl. auch Morgenblatt 1830 Dezember (Correspondenz aus Dres-
den) . „Unter zehn aspirierenden Dichtern dramatisierten wenig-
stens sieben den Untergang der letzten Hohenstaufen" — über
Nienstedt, vgl. Morgenblatt 1827 No. 19, „ohne Wärme".
„Barbarossa redet wie ein verliebter Schneider". — Blätter für
literarische Unterhaltung Mai 1828, vgl. Gabriel, wo die
Literatur der Hohenstaufendramen angeführt ist, ebenso bei
W. Deetjen, Immermanns Friedrich IL
Ober Raupach z. B. Morgenblatt 1830 März-Mai mit
näherer Ausführung über die historische Tragödie — beach-
tenswert auch Morgenblatt Mai 1832. Blumenthal in seiner
Ausgabe hebt die Schönheiten sehr beredt hervor.
Ober die historische Tragödie sagte T i e c k
in der Abendzeitung 1823: die historische Tragödie kann keinen
edleren und poetischeren Anhalt finden als das eigene Vater-
land der große Moment in der Geschichte ist eine Er-
scheinung, die sich nur dem Seherblick erschließt; geht in
einem Dichter die Gesamtheit einer großen Geschichtsbegeben-
heit auf, so wird er um so poetischer und um so größer
sein, je näher er sich der Wahrheit hält. Schiller hätte den
ganzen 30 jährigen Krieg bearbeiten sollen, wie Shakespeare.
Ploch S. 148 bringt einige Anklänge an Schiller.
— 435 —
VII. Kapitel
Napoleon
Zu Grabbes politischen und ethischen Ansichten möchte ich
zum Vergleich hinweisen auf Schiller, der in seinen
„Briefen über die ästhetische Erziehung" an den Herzog Fried-
rich Christian im Anschluß an die französische Revolution
schreibt: „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und
ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstren-
gungen und das große Zentrum aller Kultur, aber man wird
diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grunde eines ver-
edelten Charakters aufführen und man wird damit anfangen
müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man
den Bürgern eine Verfassung geben kann — ".
Ober die Restaurationsliteratur, vgl. Literaturblatt zum
Morgenblatt 1831. — 6. XII. 1829. — 31. 1. 1830. -8. IV. 1830.
— 5. V. 1830. — 14. VII. 1830. - 4. VIII. 1830. — 12. IX.
1830. — 2. X. 1830. — 10. XL 1830. — 12. I. 1831. — 15.
I. 1831. — 26. L 1831. — 4. IL 1831. — 25. IL 1831. —
24. III. 1831. — 11. IV. 1831. - 8. V. 1831. - 20. VII.
1831.
Kritik:
Vg. auch Ploch a. a. O. 167 f. (vergleicht das Stück mit
Dantons Tod). S. 210 Ankündigung.
Ober die ungeheuer ausgedehnte Napoleonlitera-
tur geben alle Jahrgänge der Blätter Auskunft (z. B. Leben
Napoleons von Scott; zu moralisierend — Aufführungen in
Paris und London, Morgenblatt 1830, Januar, April, Juni
1831).
Lux Robespierre Morgenblatt Juli 1830. Robe-
spierre von Anicet lit. Bl. Juni 1833.
Treitschke über Napoleons Charakter, der in der dich-
terischen Phantasie Grabbes Analogien aufweist. „Sein Geist
gemahnt an die tropische Natur. Wie diese mit unendlicher
28*
- 436 —
Schöpferkraft alltäglich andere riesenhafte Wunderbildungen
hervortreibt, um sie plötzlich in ungeheuren Orkanen und
Erdbeben zu vernichten, so er, gewaltig im Schaffen, schreck-
licher im Zerstören des kaum Begründeten."
Treitschke sagt über das letzte krie-
gerische Ringen: die kurzen sechs Tage des bel-
gischen Peldzugs erwecken nicht nur die höchste • poli-
tische und menschliche Teilnahm« durch den rastlosen
mächtig aufsteigenden dramatischen Gang der Ereignisse,
durch die Oberfälle grandioser Kämpfe, Leidenschalten
und Schicksalswechsel, die sich in wenigen Stunden zu-
sammendrängte, sie gewähren auch einen tiefen Einblick in
die wunderbar vielgestaltige und ungleichmäßige Entwicklung
der abendländischen Völker, denn drei grundverschiedene
Epochen der europäischen Kriegsgeschichte traten in den
Ebenen von Brabant gleichzeitig auf den Kampfplatz. Hier
das 18. Jahrhundert, das Söldnerheer Altengtends, tlort
das Zeitalter der Revolution, das Berufssoldatentum der -de-
mokratischen Tyrannis, da endlich die neueste Zeit, das
preußische Volk in Waffen
S. 748: Der Kampf verlief wie eine planvoll gebaute Tra-
gödie: zu Anfang eine einfache Verwicklung, dann gewaltige
Spannung und Steigerung, zuletzt das Hereinbrechen des alles
zermalmenden Schicksals; unter allen Schlachten der moder-
nen Geschichte zeigt wohl nur die von Königgrätz in glei-
chem Maße den Charakter eines vollendeten Kunstwerkes.
Der letzte Ausgang hinterließ in der Welt darum den Bin-
druck eines überzeugenden unabwendbaren Notwendigkeit
Nie war Qrabbe der Vollendung näher (bei aller Tollheit
ein gereifter Mann), da zerbrach ihn die Krankheit und die
Ehe.
Kosciuszko
Briefe: 20. VII 1831. - 14. VIII. 1831. — 28. XII. 1831.
- 20. II. 1832. - 9. VII. 1832. - 13. I. 1835. —
- 437 —
Ober die zahlreiche Polen- und Kosciuszko-
literatur, vgl. die Blätter in diesen Jahren, Ut* Bl. Mai,
Juni 1831.
Ober Katharina IL vgl. Ancefait, Morgenbl. Novbr.
1831.
VIIL Kapitel
Detmolder Aufenthalt
( Tod Clostermeiers, vgl. die Ode von Freilig-
rath.
Zeitschrift für die elegante Veit 1830: Daa vorige Jahr
starb zu Detmold der lippesche Archivrat Qostermeier (geb.
zu Regensburg 17. Juni 1752), der sich um die ältere Ge-
schichte und Geographie unsterbliche Verdienste erworben
hat und u. a. viel zur Aufklärung des schwieriges Punktes,
wo Hermann den Varus geschlagen, beigetragen hat
Die Todesanzeige der Frau lautet: Am 28.
Julius vollendete meine Mutter, die Archivrätin Qostermeier,
ihr irdisches Daseyn. Gönnern und Freunden ist diese An-
zeige gewidmet.
Detmold, den 3ten August 1831.
Louise Qostermeier.
Grisebach bringt eine Reihe von Glossen, wie sie
Grabbe gelegentlich hinwarf, einige dieser Reimereien
hat er nicht gebracht.
Um meine Schläfen schließt ein Kriegshut,
Sich mit wunderbarem Heldenmut,
Groß sind die Türken in der Schlacht,
Was aber gegen Qrabb' in seiner Pracht.
Hoch schwillt mein Herz voll Ehrbegier,
Schon weiß ich zwei mal zwei ist vier,
Und Theure ich versichre Dir
Schon unterscheid ich mich und mir.
- 433 -
Hühneraugen,
Wenig taugen,
Doch Herr Blum spricht,
Ei genieren Sie sich nicht.
Wer nicht Zoten reißen kann
Ist fürwahr kein Ehrenmann.
Für'n Heller spielt die Heller gut,
Fürn Qroßohm sie sich nicht ausgeben tu.
War' ich nur ein Bolze,
O ich wollt 9 se.
Dem Kaiser wird das Geld geschickt,
Der Mensch wird mehr und mehr verrückt
Mein Magen kann keinen Käs vertragen
Drum ist es in propont So ungesond (nicht entzifferbar!)
Wenn die Vögel heiraten wollen
So sollen sie Consense holen.
Ein Nennwort ist ein Adjektiv,
Das sage ich als Subjektiv.
Mein Spukkasten ist zerbrochen,
So wird Freveltat gerochen.
Lag ich doch in Erdenkühle,
Fühlt ich nicht des Lebens Schwüle.
Gott ist groß,
Aber der Teufel ist los.
Uns verzehrt Krankheit und Vieh und Tod,
Wir aber gehen auf im Morgenrot.
Ne Ente ist ein glücklich Tier,
Sie schnattert sehr und zählt nicht vier.
Prächtig der große Turm,
Unten kriecht der kleine Wurm.
Absalom, Absalom, was tust du mir weh,
Da ich dich ohne die Haarbeutel seh'.
- 439 —
Zahnweh ist gut,
Noch besser der Mut
Mit dem man's bekämpft,
Und die Schmerzen dämpft
O war' ich ein Hund,
Was hätt' ich für*n Schlund.
Nur tüchtig Bauch reißen,
So kann ich stark scheißen.
Simon und Judas sie gingen spazieren,
Zwei haben so lange an einem geschwappt
Bis voll war der Beutel,
Und das Herze sehr eitel.
Gratuliere, gratuliere,
Wie die wilden Tiere.
Und hast du viel Tücher,
Hab ich viel Flüche.
Brasilien, Brasilien,
O Israel, Israelien.
Willo ging Mit ihm Alwine Um sie blühte Strauch und
Baum, Schmetterlinge flogen kosend, Um die zarten Schlüssel-
blumen, Bienen sammelten sehr emsig Auf Maiglöckchen
Honig ein Und die Sonnenstrahlen schlugen weiß und heiß
wie Liebesarme Sich um dieses schöne Paar.
Ober die Theaternot klagen die Blätter allgemein,
vgl. Morgenblatt 1830 ff.
Tieckjubiläum, Morgenblatt Juli 1833.
Dezember wird von der Reise des Kronprinzen
durch Rheinland und Westfalen berichtet.
Faustianu und Don Juan* Literaturblatt zum
Morgenblatt 1833 Nr. 47 f., 123 f.
— 440 —
IX. Kapitel
Die Frankfurter £pisftdcf
Briefe: vgl. Grisebach 122^-129.
Der Besuch des Oralen Sehack! ein halbes
Jahrhundert, Frankfurt 1889. Ober die literarischen
Verhaltnisse vgl. MorganMatt z. B. 1829. Februar,
Oktober, 1835 August, 1836 Mai.
X. Kapitel
Dflsseidorf
Briefe: 130-257.
Morgenblatt 1835 April. Zeitschrift für die elegante Welt
1835.
Literarische Zeitung 1839 49.
Uechtritz „Blicke in das Kunst* und Künstlerleben". AI.
Jung „Vorlesungen" 1842. Kühne, Porträts und Silhouetten
II. 1843, Gutzkow, Beiträge.
F. v. Koppen aus Neumanns Tagebuch. Ludm. Assing
„Elise v. Ahlefeldt". Putlitz: Immermanfibuch.
Burgmüller: neue Zeitschrift für Musik 1840-
A. P 1 o e h hat das gesamte Material für die Beurteilung
des Verhältnisses zwischen Orabbe uiid Immermann zusan»*
mengestellt; wenn leb zu anderem Resultat komme, so liegt
das daran, daß ich Orabbes Persönlichkeit höher einschätze.
Auf der Detmolder Bibliothek finden sich drei
Briefe von Lucie Orabbe an ihren Mann, sowie eine
Neujahrskarte 1832, auch Briefe an den Kanzleirat Petri, die
sich z. T. auf den Nachlaß ihres Vaters, z. T. aber auch
auf den Ehestreit und die Frage der Ausschließung der Güter-
gemeinschaft beziehn.
Die drei Briefe der Frau Lucie an Grabbe sind von fol-
gender Bemerkung begleitet: Correspondenz mit meinem
Mann nach Düsseldorf. NB. Nach dem Ableben meines Man-
- 441 -
nes sind mir meine an Hui geschriebenen Briefe wieder zur
gekommen bis auf den ersten Tom 23. November 1834, wel-
chen ich nach Frankfurt gesandt hatte« Und da* war gerade
der beste v*n allen. — Zu Luciens Beschwerde Ober Grab-
bes Mutter vgl. Grabbös Brief 2. XL 1834.
XL Kapitel
Hannlbal
Briete: 1834: 12. IV. - 2. XL — 15. XL - 18. XI. —
28. XL - 10. XIL - 11. XII. — 14. XII. - 17. XII. —
18. XIL - 22. XII.
1835: 4. I. — 8. I. - 12. I - 14. I. — 16. I. — 22. I.
27. I. — 31. 1. — 3. IL — 5. IL — 10. IL - 11. IL —
17. II. - 20. IL - 20. IL — 0. 10. III. - 16. III. - 18.
III. - 15. IV. - 3. V. - 8. V. - 13. V. - 13. VI.
Kritiken: Kühne in der Zeitung für die elegante
Welt 1836 Nr. 08, 00: Orabbes Hannibal ist ein großartiges
Werk, es fehlt nicht viel, daß es ein ebenso schönes wie
großartiges geworden war jetzt da sich mit den Hanni-
bal seine Geburten einfacher und ruhiger zu gliedern be-
ginnen, drängt sich uns sein großes Talent mit seinen Fort-
schritten von neuem als eine seltene Erscheinung auf die
ganze Tragödie fährt uns wie ein zuckender Schmerz durch
die Seele." Was die Schilderung der Volksszenen angeht, so
bemerkt Kühne: »geht das Individuelle verloren, so hebt sich das
Zuständliche umsomehr im Volksgewirr heraus diese Hin-
blicke auf die drei Welten, Afrika, Italien und Asien, sind
in ihren Reflexen trefflich gehalten, nur glaub ich wiederstrebt
diese Schilderung des Zuständlichen der Bühnendarstellung".
Einen ähnlichen Einwandt erhebt Theodor Mundt in
der Geschichte der alten und neuen Litaratur: »die dramatische
Entwicklung leidet an dem Fehler, daß sie nur in die Ver-
— 442 —
hältnisse und nicht in die Charaktere hinein verlegt ist; u — aber
hierzu machen wir die Einwendung, daß das Milieu dem hi-
storischen Drama gerade die einzig mögliche Einheit verleiht,
die durch zerstreute .Kulturschilderungen gerade zerstört
wurde . „Die Zeichnung Hannibals bietet nur geniale Noten
für den Schauspieler dar", ganz im Sinne moderner naturalistisch-
impressionistischer Technik. Marggraff nennt Grabbe
in der literarischen Zeitung 1835 Nr. 37 den Buonarotti der
Tragödie; in der lakonischen Kürze, in den abgesonderten
Tableaux liege etwas ungemein Großes , neuerdings hat
P. Friedrich dieses Urteil korrigieren wollen, indem er
Grabbe statt mit Michelangelo mit dem größenwahnsinnigen
Belgier Wiertz, oder in seinen großen Momenten mit dem
Historienmaler Rethel verglich.
Die Kritik im Morgenblatt 1836 Nr. 51—52
zitierten wir schon: das Undramatische wird hervorgehoben,
das darin besteht, daß die Form immer epischer wird; in
der Ironie, endlich darin daß die Personen wie Gefäße von
Grabbes Einfällen sind.
Blätter für literarische Unterhaltung
1836 Mai 146—148: Hannibal ist ein erhabener Mensch vom
reinstem Seelenadel, — die Figuren haben Glieder, die ko-
lossal sind, aber oft der Bänder und Gelenke entbehren
— — . Auch hier wird betont, daß Grabbe zu sehr die
bloße Tatsache gibt, anstatt Gesinnung und Raisonnement
, fast könnte man den Verfasser erkennen in Gutz-
kow, der ähnlich in seinen Beiträgen kritisiert: auch
hier wird vermißt das Steigen und Anschwellen des Stoffes,
das blähende Fleisch, die Malerei der Motive, dann heißt es:
„die Menschen sind nicht so, wie Grabbe sie schildert, selbst
in den verzweifeltsten äußersten Lagen sind sie anders, sie
sind immer noch etwas neben und außer der Tat." Daraus
nun macht Artur Ploch in einer wahren Manie alle möglichen
ungunstigen Äußerungen über Grabbe zusammenzutragen,
etwas was Gutzkow sicher nicht gemeint hat, wenn er hinter
- 443 —
den Satz: die Menschen sind nicht so wie Orabbe sie schil-
dert, einen abschließenden Punkt setzt Bei dieser Gelegen-
heit sei auch der hauptsächlichste Vorwurf beleuchtet, den
Ploch immerfort gegen Grabbe richtet: der Unwert der
Grabbeschen Dramatik zeige sich schon darin, daß keines
seiner Stücke sich den Bühnenverhältnissen anpasse. Dieser
Maßstab ist aber nicht nur damals, sondern überhaupt für alle
Zeiten ganz unzureichend , das Morgenblatt bemerkt 1830
Januar: unter 20 dramatischen Werken in Deutschland ist nur
eines darstellbar. Aber von Grabbes persönlichem Dichter-
schicksal abgesehn, — wie haben andre Dichter und Kritiker
damals über das Theater geurteilt? Die Klage über den
Verfall des Theaters ist ganz allgemein, fragen wir nunTieck
oder Köohy, oder die Blätter (z. B. Freimütiger 1827 Sep-
tember) .
Immermann läßt sich in einem Brief, (14. 6. 28) ver-
nehmen: „Wie ist es möglich, daß uns eine nach dem Urteil
aller Stimmfähigen ganz depravierte Anstalt über das Wesent-
liche in der Kunst aufklären möchte? Nein, es ist wahrhaftig
nicht die Zeit, daß die Dichter von der Bühne lernen, son-
dern die Bühne soll wieder vom Dichter lernen." Immer-
mann tröstet sich zuletzt mit dem Trost des Aristoteles, daß
die Kraft der Tragödie bestehn bleibe auch ohne die Mittel
der äußern Darstellung. Natürlich erhellt daraus nicht die
durchgängige Richtigkeit von Grabbes Verhalten, in dem wie-
der ein gutes Teil „barocker Starrsinn" ist.
Immermanns Brief mitgeteilt von W. D e e t j e n in der
Vossischen Zeitung. (Juni 1902.)
Schierenberg im lippeschen Magazin 1835 hat die
Anachronismen zusammengestellt, er sagt bez. Hannibals Tod:
nach der Zerstörung Carthagos war Hannibal kein gefähr-
licher Gegner mehr.
Neuerdings ist besonders von R. M. Meyer der Wert der
letzten Skizzen betont (Literaturgeschichte — Nation).
— 444 —
Aschenbrödel
Briefe: 18. IV. 1829. - 20. IV. 1829. - 13. V. 1829. —
1830. - 8. X. 1830. - 5. V. 1830. — 14. VII. 1830. 12.
IX. 1830. - 2. X. 1830. - 15. I. 1831. - 30. IV. 1831. —
12. IV. 1834. - 10. XII. 1834. - 22. XII. 1834. — 1& XII.
1834. - 1. I. 1835. - 8. I. 1835. - 12. I. 1835. - 14. I.
1835. - 31. I. 1835. - 5. II. 1835. - 20. II. 1835. — 23. IL
1835. - 10. III. 1835. - 18. III. 1835. - 21. IV. 1835. —
3. V. 1835. - 7. V. 1835. - 13. VI. 1835. - 19. VI. 1835.
- 22. VI. 1835. - 26. VIII. 1835.
Kritiken: Butter für literarische Unterhaltung 1836
Mai 146—148 (es fefal't das lyrische Element, eine phantastische
Welt, die Orabbe nicht lebendig machen konnte, und nackte
Wirklichkeit heben sich in liebend gehässiger Umarmung auf
— Isaak vortrefflich — tolle übermütige Spässe z. T. auch
kompakt und unzart).
Morgenblatt 1826 51, 52: Orabbe könnte unser erster
Lustspieldichter sein, wenn er bühnenrecht wäre, wenn er
seine phantastischen Ausschweifungen mit theatralischem Hu-
mor vertauschte.
Neuerdings hat Dr. Perger in der Zeitschrift für Bucher*
freunde Juli 1907 eine genaue Vergleichung mit dem Opern-
text durchgeführt. Die Handlung, insbesondere das Motiv des
falschen Königs gehe auf Isouards Cendrillon (Paris
1810), die eigentlichen Aschenbrödelszenen auf Perraulst zu-
rück. Die ursprüngliche Fassung hat Orisebach z. T. mit-
geteilt. Dr. Perger gibt a. a. O. eine ausführliche und sorg-
same Zusammentellung der Unterschiede beider Fassungen.
XII. Kapitel
Hermannsschlacht
Briefe 1835: 8. I. — 18. II. - 9. 10. III. - 30. III. —
3. IV — 2 mal — 3. IV. — 5. I.V. — 3. V. — 14. ,V. -
3. V. (IV.) - 6. VI. - 10. VI. - 13. VI. VI. -
— 445 —
26. VIII. - 25. IX. - X. — 22. XI. - 27. XI. 1836: 2. I.
— 11. V. - 28. IL - 21. IV. — 24. IV. _ V. — 1. VII.
— 3 mal - 20. VII. - 21. VII.
L. Clostermeier schrieb am 28. III. 1835: Varus war ein
edler unglücklicher Mann. — Hermann hingegen schlau, listig,
verschlagen, kühn und unedel . . .
Vg. auch literarische Blätter 1831 Januar (Herfest v.
Klemm), Juni 1833 (Armin v. Schütz), B. Auerbach in Le-
waids Europa 1838. — Kleist ist unübertrefflich in der ge-
nialen Charakteristik Hermanns und seine dämonische Poesie
entzündete sich unmittelbar an einem wirklichen Haß. Da
kann Orabbe nicht konkurrieren, aber sein Stück hat dafür
andre Vorzüge. — Ist in den 100 Tagen Napoleon der Schöpfer
der Schlacht, so in der Hermannsschlacht die Völker der
Römer und Germanen.
XIII. Kapitel
Detmold — Lebensattsgang
Briefe: Orisebach 258—270.
Dingdstedts Besuch „eine Mitternacht in Detmold" in
LewÄlds „Europa" 1838 — worauf L. Merkel im April 1838
in Nr. 3 und 4 des Lippischen Magazins eine Beleuchtung
der Dingelstedtschen Mitternacht als Antwort erscheinen ließ.
Im Detmolder Archiv befinden sich noch Akten eines
Beleidigungsprozesses, den Lucie Orabbe wegen der letzten
Vorgänge zu führen hatte.
Albert Moser glorifizierte Grabbe in folgendem Gedicht
„Orabbe":
Ein Riesenspätling vom Titanenstamme,
Entstürzt des Aethers Höhn im Fall, im jähen,
Ein Urweltsmensch, aufragend aus Pygmäen,
Ein Halbgott, strauchelnd in des Erdballs Schlamme.
Umzäumt von schaalen Weltgewimmels Damme,
Wo Stumpfsinn stets und Unverstand sich blähen,
- 446 -
Zu groß den Vielen, die als Irrlicht schmähen,
Die in dir glomm, die heil'ge Gottesflamme.
Vom Weib um Liebe grenzenlos betrogen,
Mit Inbrunst werbend um der Dichtung Krone —
So zogst du hin, fremd, siech, mit dfistern Sinnen.
Ein Stern nur blieb, des Glanz dich nicht belogen:
Der Mutter Herz schlug treugeneigt dem Sohne,
Bis dich der Tod erlösend rief von hinnen.
XIV. Kapitel
Ober einige sonderbare Genies und Originale vgl. Mor-
genblatt 1835 August und 1836 Juli. Orion: „mit finsterem
Mulattengesicht, als Original verhätschelt, impertinent im
Pumpen" (der Bettler der wahre König) — Arendt (selten
sind so viele Talente untergegangen, wie jetzt — abgesehn
von Kleist und Hölderlin sind es nur halbe Talente).
„Eine Unausgeglichenheit in den psychischen Kräften":
das sei zum Schluß noch etwas bestimmter präzisiert. Das
psychologische Drama voll von ungelösten Konflikten,, das
sich in Grabbes Innerem abgespielt hat (das besonders in
des Dichters Briden und in dessen Drama Don Juan und
Faust reflektiert), läßt sich etwa so formulieren: ein stahl-
scharfer Verstand, eine bis zur Verwilderung üppige Ein-
bildungskraft und eine verborgene, keusch verschlossene Ge-
mütstiefe bilden scheinbar jedes für sich eine hohe Gabe, die
aber wieder nur als harmonischer Dreiklang beglücken. Aber
bei Grabbe stoßen sich diese seelischen Grundkräfte ab und
fliehen centrifugal auseinander. Vor einem grausam zer-
setzenden schonungslos auflösendem Verstand sinken alle
Ideale dahin, zerfließt der holde Schein, der die Wirklichkeit
illusionistisch umschwebt. Aber niemals das Leben, nur das
Bild des Lebens ist schön — hat Schopenhauer einmal gesagt.
Und andrerseits nun flüchtet sich Grabbes hungernde geäng-
stigte Seele in eine Phantasiewelt ohne Grund, ohne Grenzen
— 447 —
und ohne Ende. Diese Phantasie stellt teils die Dinge in
unheimlicher Nähe vergrößernd und verzerrend, mit packender
Gegenständlichkeit vor sich hin, teils verflüchtigt sie sich, das
ganze All ausmessend (oder gierig ausschlürfend), sich an
der unendlichen Größe des Universums berauschend, ins
Grenzenlose und Wesenlose. Weder die nackte Wirklichkeit
des Verstandes beglückt, noch dieses Extrem des Phantasie-
rausches,*) dem nun der Dichter angstvoll vor dem
ernüchternden Erwachen bangend, durch Feuerwasser
und Spirituosen Dauer zu leihen sucht. Daher Grabbes
Alkoholismus 1 Nur selten schenkten ihm die Götter eine
ganz reine Wirkung. Das geschieht dann, wenn eine
verborgene Gefühlstiefe sich öffnet und das deutsche Ge-
müt sich regt in wenigen gedrängten Klingen voll wunder-
voller Sehnsuchtsstimmung. Und aus dieser Sehnsucht heraus,,
aus diesem Instinkt des Kranken für das Gesunde erklärt
sich auch schließlich Grabbes Stellung zu Shakespeare und
zu Schiller. Auch Grabbe schöpfte aus jener Fülle von Kräften
eines scharten Verstandes und eines geistreichen Witzes, in
denen sich insbesondre für die Romantik die Größe
Shakespeares offenbarte (vgl. die Shakespearomanie) , auch
Grabbe besaß wie der große Brite, eine glühende Phantasie,
die aber mehr leuchtet als erwärmt; aber während Shake-
speare suverän mit seinem Reichtum schaltet, gleicht der tolle
Fieberphantast Grabbe einem Besessenen, der in einem phy-
sisch-psyischem Rauschzustand, einer seelischen Trunkenheit
willenlos befangen bleibt. Glücklos fühlte sich Grabbe bei
allen seinen Gaben. Wie hat er anfangs sein Herz zu ver-
härten gesucht, um sich im Kampf des Lebens aufrecht zu
halten, wie hat er tötlichen Spott an den Empfindsamen ge-
übt. Und doch schien ihm zuletzt nur die Rettung zu winken
in dem deutschen Gemüt. Hier erschien ihm, indem sich
•) In diesem Zusammenhang ist auch eine Antithese bemerkenswert,
die fast allen Dramen Grabbes zugrundeliegt: die zwischen dem kühlen
verstandesklaren Norden und dem sinnenfrohen phantastisch bunten Süden !
— 448 —
Kraft mit Sehnsucht vermählte, ein harmonischer Aüsklaag
4er inneren Fehde möglich. Und dieses höchste Gut schien
Grabbe erfüllt und gestaltet in dem hochfliegenden und doch
kraftvoll gesunden Idealismus Schillers, des tieWingsdichters
der Nation, der aus den Tiefen des Volkes aufsteigend sich
aus Roheit, Armut und Sieohtum emporgerungen hatte zur
Vollendung! (Man vergleiche übrigens die sehr ähnliche, auch
durch das Spiel psychischer Kontraste so reizvolle geistige
Eigenart eines Heinrich v. Kleist, der Grabbe so verwandt
ist, bei dem aber doch der Eindruck der Kraft und Harmonie
«das Zerrissene weh mehr überwiegt)
Register der wichtigsten Namen
(Moderne Autoren sind mit einem * bezeichnet)
Ackermann 262
Adam 87
Ahlefeldt (Gräfin) 299, 366, 440
Ancelot 423
Anicet 435
Appian 129
Arendt 379, 446
Aristoteles 227
Arnim 207, 311, 380
Arndt 423
Assing (L) 440
Auerbach 445
Auffenberg 52, 108, 109
Autommarchi 243
Beer 281
Berberich 291
Bernard 149
Bettina von Arnim 311
Blomberg 135
•Bleibtreu 352
•Blumenthal 423
Blümner 121
Borch 32
Boieldieu 237
Börne 99, 242, 268
Brachmann (Luise) 97, 428
•Brackmann 433
Braun 136
Brentano 87, 311, 380
*v. d. Brück 86, 379
Brunnhofer 143
Nieten, Chr. D. Orabbe.
Buchner 209
Burgmüller 297, 302, 303, 440
Bürger 374
Byron 27, 147, 148, 149, 153, 158,
160, 167, 169, 170, 171, 174,
175, 178, 180, 181, 185, 190,
195, 200, 204, 388, 399
Calderon 90, 96, 149, 158, 162, 169,
174, 182, 190, 336
Dio Cassius 348
Castelli 97
Cäsar 130
Chaboulon 243, 244, 255
Chamisso 146, 242
Clauren 27, 87
Chezy 98
Clostermeier 4, 11, 17, 136, 226, 266,
271, 272, 340, 345, 348, 349,
350, 430, 437
v. Colin 420
Collin 108
Coßmann 242
Cramer 209
Cretzschmar 294
•Deetjen 434, 443
E. Devrient 156, 426, 429
L. Devrient 33
Dingclstedt 367, 445
Donop 340
Döring 97, 321, 428
29
— 450 —
Dorsch 87
Duller 86, 271, 283, 288, 293, 295,
296, 311, 371, 419, 423
Dumas 243
v. Dyck 98
•Ebstein 371, 421
Eichendorf 207, 236
Ellmenreich 302, 306
Falkmann 10, 422
Fischart 85
Fichte 166, 167
Florus 348
•Flüggen 262
Fouquet 27, 174, 193, 207
Freiligrath 136, 141, 271, 273, 311,
372, 423, 430
•P. Friedrich 291, 421, 424, 429, 431,
442
Funk 231
Gaudy 242, 253
Gehe 428
Gerhard 98, 425, 429
Gervinus 375
Gleich 97, 428
Gogol 403
Goldoni 37, 163
Goldsmith 89
Goethe 97, 107, 149, 164, 165, 169,
170, 176, 195, 204, 208, 211,
212, 227, 236, 263, 268, 291,
304, 311, 355, 388, 415, 423
•Gottschall 102, 151, 204, 421, 433
Gozzi 87
Gray 321
Greiner 291
Gretry 231, 235
Grillparzer 204, 323, 423
•Grisebach 342, 371, 420, 422, 425,
429, 437
Gubitz 26, 27, 35, 425, 430
Gustorff 32, 37, 424, 425, 429
Guthrie 321
Gutzkow 291, 311, 334, 404, 440, 442
•Hagemann 262
•Hallgarten 262, 317, 342
Hammerstein 348
•Hart 86
Hartenfels 262, 311, 313
Hauff 91
Haupt 243
•Hauptmann 193, 212
Hebbel 152, 211, 339, 381
Heimskringla 52, 423
Heine 32, 33, 90,^95, 97,~99, 146,
167, 174, 200, 241, 242, 245,
268, 289, 301 , 31 1 , 404, 425, 428
Hell 97
Herder 204
Herling 290, 428
Heyden 207, 210, 233
Herloßsohn 262, 269
Hildebrandt 301
E. T. A. Hoffmann 27, 33, 91, r 95 f
98, 159, 161, 163, 167, 173,
178, 189, 192, 282, 302, 335,
338, 423
Hohenhausen 97, 348
Holbein 87, 280
Hölderlin 378, 446
Holtei 379
Homer 236, 238
Hönighausen 291
Hörn (Frz.) 27, 147, 204, 428
Houwald 24, 51, 84, 96, 97, 204,
335, 426
Hub 342
V. Hugo 380, 381
Huschberg 324
Hütten 345
•Ibsen 405
Immermann 27, 79, 87, 88, 109, 136,
144, 151, 181, 206, 207, 210,
227, 233, 236, 262, 263, 281,
287, 289, 290, 294; 295,« 296,
304, 306, 318, 338, 340, [341,
345, 375, 380, 430, 440, 443
— 451 —
Jerrmann 39, 146, 159, 163, 425, 426
Jung 440
Kant 166, 167
Kestner 107, 242, 277
Kettembeil 37, 100, 151, 203, 240,
272, 288, 289, 294, 307, 336,
368, 377, 424, 425
Kleist 47, 309, 311, 341, 345, 349,
354, 356, 378, 380, 381, 423, 447
Klemm 271, 346, 445
Klingemann 23, 148, 169, 175, 177,
184, 185, 190, 200, 201, 205, 423
Klinger 107, 146, 169, 187, 200, 242
Klopstock 171, 345, 355, 428
Kobbe 94, 301, 371
Köchy 32, 36, 425, 443
Koppen 440
J. Körner 103
•Krack 86
Kramer 57, 318
Krug v. Nidda 97, 428
Kruse 209
Kuhn 26, 97, 301, 334, 428
Kühne 440, 441
Lappe 136
Lascasa 243, 250
Laube 32, 425
Lauber-Versing 305
Lebrun 87
Lenau 311
Lenz 87, 89, 96, 253
Lessing 227, 304, 415
Leßmann 379
Lewald 445
Lindner 291
Livius 321 f.
Lohenstein 345
Lorm (Hier.) 306
Lortzing 143, 150, 153, 181, 195
Luden 340
Otto Ludwig 206, 309
Luther 244
Lux 243, 435
Marggraff 334, 378, 442
Mario we 168, 423
Meien 137, 277, 278, 279, 288, 366
Mendelssohn-Bartholdy 304
Menzel 85, 151, 240, 269, 289, 294,
300, 335, 336, 380
Meyen 236, 434
Henriette Meyer 269
•R. M. Meyer 443
Merk 291
Merkel 445
•Minor 50, 416
Moser 136, 445
Molina 180, 183, 184
Moliere 162, 163, 183, 184, 205
•Mommsen 111, 115, 130
Mozart 148, 188
Methusalem Müller 97, 428
W. Müller 20, 146
Maler Müller 164, 184, 431
Müllner 24, 49, 50, 51, 57, 67, 96,
148, 204, 242, 289, 318, 335,
380, 414, 423, 426
Mundt 330, 334, 441
Naogeorg 85
Neumann 309, 433, 440
Niebergall 7, 379, 424
Nicolo 336
Krug v. Nidda 97
Nienstedt 207, 210, 434
•Nietzsche 164, 182, 217, 390, 427
Novalis 200
Oehlenschläger 52, 423
Orion 379, 446
Ossian 52
Jean Paul 190
Fürstin Paulin« 2, 419
Paulus 166, 325
Vcllejus Paterculus 348
Petri 137, 270, 279, 297, 312, 336,
340,341, 364,366, 371, 380, 397,
440
29*
- 452 -
•Perger 429, 444
V d. Pfordten 212
C Pichler 210, 237
Pichler 101
Piderit 267, 371
•K. A. Piper 421, 424, 427
Pittschaft 379, 425
Platen 146, 207, 289, 338, 378, 380
•Ploch 55, 91, 301, 420, 427, 431,
434, 435, 442
Plutarch 11, 110 ff, 321, 423
da Ponte 160
Putlitz 440
Rabelais 387
Rambach 369
Raßmann 136
Raumer 29, 207, 209, 215, 217, 223,
226, 227, 228, 231 f.
Raupach 144, 204, 205, 207, 209,
210, 213, 226, 229ff, 236, 268,
281, 282, 290, 306, 335, 367,
380, 434
•Reichl 323
Rellstab 303
Reußler 305
Riesch 345
Robert 32, 37, 425
Rollin 321
Rousseau 136, 291
Runenberg 367
Runkel 301
Rückert 242, 311, 423
Savigny 29
Scott 27, 52, 93, 428, 435
Graf Schack 288, 440
Schelling 167, 180
Schenk 305, 306, 314
Scherer 375
Schickedanz 419, 424, 430
Schierenberg 443
Schiff 151, 303
Schiller 12, 45, 67, 96, 111, 167, 187,
200, 205 ff, 211,217, 219, 227,
244, 253, 308, 309, 316, 349,
374, 380, 385, 390, 414, 415,
427, 432, 434, 435
Schink 146
Schleiermacher 306
Schlenkert 129, 209
Schlosser 220, 321
•F. J. Schneider 431
Schreiber 147
Schreiner 301, 312, 366
L Schücking 87, 271
Schütz 346, 445
Segur 243
Seliger 305
Shakespeare 11, 98, 130, 156, 175, 203,
204, 206, 211, 212, 216, 219,
220, 236, 256, 291, 305, 308,
339, 380, 385, 414, 434
Shelley 161, 166, 399
Soden 146, 165, 174
Sueton 423
•Spielmann 322, 330
Spieß 57, 318
Spontini 210, 303, 336
Spohr 149, 157, 195, 200, 431
Stange 302
Steffens 167, 200
Stein 306
Steinmann 281, 336
Ch. Stieglitz 303, 379
Stoltze 262
Tappe 348
Tacitus 345, 348, 349, 359
F. Tarnow 94
Tasso 423
Thienemann 87
Tieck 41 ff, 79, 87, 89, 90, 91, 95, 98,
106, 146, 148, 156, 203, 204,
205, 208, 227, 281, 292, 303,
307, 324, 333, 338, 365, 380,
423, 426, 427, 429, 432, 434, 443
Töpfer 281, 307
•Treitschke 382, 420, 435
Turgenjew 403
- 453 —
Ucchtritz 27, 32, 33, 36, 88, 109,
144, 205, 207,315, 324, 325,425,
440
Valerius Maximus 129
v. d Velde 97
Venturini 243, 244, 248, 254, 255, 257
Vertot 107, 129
N. Vogt 147
Voß 146
Vulpius 209
Wagner 304
Wahlcrt 347
♦Warkenthin 152, 431
IC AI Weber (Freischütz) 24, 148, 195
Weichsclbaumer 108, 323
Weidner 291
•Weißstein 342
Weißenthurn 87, 281
Z Werner 47, 84, 204, 233, 242, 316,
380, 423, 425
Wessenberg 136
Wetzel 379
Wieland 345
Wienbarg 291
Winkler 97
•Wolzogen 151
Wustenberger 345
•Gäthgens zu Ysentorff 242
Zedlitz 242
Ziegler 271, 301, 367,
419, 423
•Zola 209
371, 372,
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Druckfehlerverzeichnis
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99
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99
99
Seite 17, Zeile 6 von unten, lies: windet statt wendet.
18, „ 13 von oben, lies: 4—6- statt 32-mal.
27, „ 8 von unten, lies: Müllner statt Müller.
28, „ 3 von oben, lies: konnte statt könnte.
35, „ 9 von oben, lies: den Manneswert statt an
Manneswert.
38, „ 4 von oben, lies: eine Anstellung statt einer
Anstellung.
49, „ 13 von unten, lies: ins Netz statt ins Herz.
58, „ 1 von unten, lies: Andronicus statt Adronicus.
59, „ 10 von oben, lies: so schnell gehört auf diese
Zeile: „So schnell und
kläglich u. s. w.
65, „ 7 von unten, lies: Rechtsgefühl statt Recht-
gefühl.
76, „ 19 von oben, lies: ausschöpfende Szene.
83, „ 9 von unten, lies: Parteien statt Partien.
93, „ 15 von oben, lies: in der statt nach der.
„ 109, „ 4 von oben, lies: Cincinnatus.
„ 115, „ 2 von unten», lies: Nessusgewand statt Nessel-
gewand.
„ 124, „ 10 von oben, lies: die statt der.
„ 130, „ 14 von oben, lies: Bei Plt. statt Plt.
„ 135, „ 11 und 12 von oben sind umzustellen.
„ 138, „ 17 von oben, lies: tut's mir zu lieb.
„ 143, „ 12 von oben, lies: 1826 statt 1829.
„ 154, „ 14 von unten, lies: weniger statt wenig.
„ 191, „ 12 von oben, lies: Gebrechen statt Verbrechen.
„ 208, „ 13 von unten ist ihn zu streichen.
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99
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— 455 —
Seite 211, Zeile 5 von unten, lies: bildet ferner statt bildet.
„ 212, „ 6 von oben, lies: ansprechen st. aussprechen.
„ 219, „ 15 von unten, lies: Wert statt Wort.
„ 228, „ 4 von unten, lies: Ächtung statt Achtung.
„ 232, „ 6 von unten, lies: waltet statt wartet.
„ 244, „ 2 und 3 von oben sind zu streichen.
„ 249, „ 8 von oben, lies: sohlechthinnige statt
schlechtsinnige.
„ 256, „ 18 von unten, lies: seiner statt deiner.
273, „ 14 von oben, lies: Eine statt Ein.
277, „ 6 von oben, lies: den Ring statt ihn.
278, „ 14 von oben, lies: bald sich statt bald.
287, „ 3 von oben, lies: 863 statt 163.
289, „ 9 von unten, lies: 1829 statt 1839.
290, „ 1 von unten, lies: Herling statt Hertling.
298, „ 18 von oben, lies: Mondstein st. Mondschein.
327, „ 4 von oben, lies: Züge statt Lüge.
328, „ 5 von unten, lies: füge hinzu: ein Tierchen
ins Auge.
333, „ 8 von unten, lies: Staat statt Stadt.
346, „ der erste Satz des zweiten Absatzes ist noch
zu dem ersten Abschnitt hinzuzuziehen.
353, „ 1 von unten, lies: „schweig statt schweig.
356, „ 17 von oben, lies: hinter Galanterien auch —
auf Thusnelda.
376, „ 5 von oben, lies : Glückswerten statt Lebens-
werten.
378, „ 1 von unten, lies: Marggraff statt Marggraf.
379, „ 10 von oben, ltes: Pittschaft st. Pitschaft.
379, „ 11 von untem, lies: Nieb ergall statt Nibergall
(s. auch 424).
388, Anm. Zeile 1, lies: Vertragsszene statt Vortrags-
szene.
400, „ 18 von oben, lies: in denen statt in der.
— 456 -
(Nach erneuter nachträglicher Vergleichung meiner Ex-
cerpte mit den Briefen an Orabbe stelle ich noch zwei Ver-
sehen richtig: S. 17: Der alte Grabbe schickte dem Sohne die
Pistole» die ihm von Clostermeier übergeben wurde. — S. 37:
Köchy hatte selbst den Plan Heinrich den Löwen zu drama-
tisieren; aus dem Briefe wird klar, wie hoch Köchy Grabbe
geschätzt hat.)
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J •
CHR. D. GRABBE
VON
OTTO NIETEN
SCHRIFTEN DER LITERARHISTORISCHEN GESELLSCHAFT BONN
HERAUSOEQEBEN VON BERTHOLD LITZMANN
IV
►.
I ■ •■» ■
DORTMUND
DRUCK UND VERLAG VON FR WILH. RUHFUS
1908