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HARVARD COLLEGE LIBRARY
1 SOUTH AMERICAN COLLECTEON
THE GIFT OF ARCHIBALD CABY COOLIDGE, '87
AND CLAttENCE LEONARD HAV, '08
IN REMEMBRANfE OF THE PAN-AMERICAN SCIENTIFIC CONCBESS ,
SANTIACO DE CHILE DECEMDER MDCCCCVill
e
CHUBUT
Im Sattel durch Kordillere und Pampa Mittel -Rata-
goniens (Argentinien)
von
Dr. W. Vallentin
Mit 47 Illustrationen
nach photographischen Original-Aufnahmen
©
BERLIN
Verlag von Hermann Paetel
1906
5/l6iiri3
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<r.tM
T
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Vorwort 1
I. Auf dem Wege nach Norquinco. Allgemeines über das
Territorium Chubut 3
II. Die Indianerkolonie Cushämen 13
III. Am Mait6n. Ritt ins Bolsontal 24
IV. Zum Lago Mercedes . 36
V. Vom Lago Mercedes nach Cholila. Mariläo. Am Rio Percey 43
VI. Die Kolonie «16de Octubre« 55
VII. Rio Corrintos. Im Teckatal 67
VIII. Putrachoique. Quanacos 73
IX. Im Tal des Gennoa. Kolonie »General San Martin« ... 82
X. Die Tehuelchenindianer 91
XI. Von der Kolonie »General San Martin« zum Picotal in den
Kordilleren 97
XII. Das Kordillerental am Picofluß, Friedland 106
XIII. Von Saihu^ue bis Choiquenilahue 130
XIV. Am Rio Senguerr und Rio Mayo 142
. XV. Kolonie Sarmiento 157
XVI. Der Lago Colhuapi. Rada Tilly. Kolonie Escalante ... 166
XVII. Am Chico entlang. Das Heidegrab. Camarones und seine
Pamparegion 176
XVIII. Schneesturm. Das Teufelstal. Von der Laguna Margarita
zum Chubutfluß 184
XIX. Die Ansiedlungen der Galenser am Chubutfluß. Boden-
verhältnisse und Klima 195
XX. Die wirtschaftlichen Verhältnisse im unteren Chubuttal.
Stromregulierung. Eisenbahn 204
XXI. Puerto Madryn. Handel und Verkehr. Trelew. Rawson . . 213
XXII. Schlußbetrachtung . 222
Vorwort.
Von der großen Menge des deutschen Volkes wird Argen-
tinien leider immer noch summarisch betrachtet und behandelt,
trotz der gewaltigen Ausdehnung des Landes, trotz der da-
durch bedingten Verschiedenartigkeit des Klimas, der Boden-
verhältnisse, der Vegetation, nach denen sich Lebensverhält-
nisse und Wirtschaftsbetriebe doch in erster Linie gestalten.
Im allgemeinen entspringt das der Unkenntnis der dortigen
Verhältnisse, und diese Unkenntnis hat es zuwege gebracht,
daß unter anderem der ganze Süden Argentiniens, also Pata-
gonien, stets kurzerhand als wertlos und unwichtig abgetan
worden ist und als ein Schreckbild der Unwirtlichkeit be-
urteilt wird. Es ist noch gar nicht so lange her, daß man bei
einer Gelegenheit das Territorium Chubut, also nur einen
kleinen Teil Patagoniens, der aber in seiner Ausdehnung etwa
der Hälfte des Deutschen Reiches gleichkommt, halb spöttisch,
halb verächtlich, einer sachlichen Besprechung durchaus für
unwert befunden hat.
Und warum ?
Weil die wenigsten wußten, was Chubut ist, was es in
wirtschaftspolitischer Hinsicht bedeutet; weil es allgemein für
die meisten noch eine terra incognita ist.
Das alles bewog mich, auf meiner 2i/2Jährigen Forschungs-
Vallentin: Chubut 1
— 2 —
reise im Innern Südamerikas gerade dem Süden Argentiniens
mehr Beachtung zu schenken, als es bisher geschehen ist; nicht
nur die äußerst fruchtbaren Kordillerentäler Chubuts zu besuchen,
sondern auch durch eine Durchquerung des Landes von einem
Ozean bis zum anderen die Steppen- und Pamparegion kennen
zu lernen. Ich wollte selbst sehen und dann selbst
urteilen!
Die Ergebnisse dieser Expedition habe ich im vorliegenden
Buche zusammengestellt, das natürlich etwas Vollkommenes
noch nicht bieten kann. Es soll auch nur in großen Zügen
einen Überblick über die dortigen Verhältnisse geben und zu-
nächst dazu beitragen, die herrschenden Vorurteile und ver-
kehrten Meinungen zu beseitigen. Vielleicht gelingt es mir
dann, durch diese meine Anregung zur weiteren Erschließung
Chubuts beizutragen, eines Landes, das in wirtschaftspolitischer
Beziehung gerade für das deutsche Volk von großer Bedeu-
tung ist. Angehörige anderer Nationen haben diesen Wert
schon längst erkannt und sind eifrig an der Arbeit, durch An-
lage von Kapitalien, durch Handel, Verkehr, Industrie, durch
Bahnbau und Besiedelung, Viehzucht, Ackerbau usw. dort in
allen Zweigen des Erwerbslebens festen Fuß zu fassen. Wenn
ich daher das deutsche Volk auf die Wichtigkeit Chubuts hin-
weise, genüge ich nur einer Pflicht gegen mein deutsches
Vaterland.
Pr. Friedland, W.-Pr., November 1905.
Dr. W. Vallentin,
Kapitän.
I.
Auf dem Wege nach Norquinco.
Eine felsige, öde Gegend auf beiden Ufern des Fetatomen !
Kahl, kein Baum, kein Strauch; dafür aber desto mehr Sand
und scharfkantiges Geröll auf dem Wege, der im Tal des
Flusses mit oft wunderlichen Krümmungen nach Süden führt.
Steinbedeckte Hügel verlaufen in tiefe Schluchten, in denen
herabgeschleuderte Felsentrümmer inmitten spärlichen Büschel-
grases ihre Ruhestätte gefunden haben. Ein kalter Wind bläst
über die gelbbraune Landschaft, über die dürre, trockene Vege-
tation. Staubwolken wirbeln zum Himmel auf und lassen das
Tagesgestirn in bleichem Lichte erstrahlen. Mühsam reiten
wir weiter in den heulenden Sturm hinein, der uns Sandmassen
und feine, scharfe Steinchen ins Gesicht schleudert, als ob er
uns am Vorwärtskommen hindern wolle. Bergauf und bergab
geht es. Die Pferde atmen schwer, die Lasttiere keuchen.
„Hier sind wir im Territorium Chubut", ruft mir mein
Führer zu, ein Chilene, namens Arregada. Dann drückt er
seinen alten Filzhut mit kräftigem Ruck fester in die Stirn, ver-
steckt Mund und Nase wieder in das um die Schulter ge-
worfene Ende seines Ponchos und knallt mit der Peitsche.
Wir klettern einen Hang hinauf; loses Geröll stürzt hinter den
Hufen der Pferde in die Tiefe ; dann geht's im Trabe über eine
steinige Hochfläche, die etwa 950 m über dem Meeresspiegel
liegt, und bald darauf senkt sich der Pfad langsam einer
breiten Talebene zu, in der weidende Viehherden sichtbar
werden.
Auch hier unten ist der Boden nicht besonders. Sand und
wieder Sand, Steinmassen, Kies und Schutt. Grobes Gras
wechselt ab mit niedrigen, verkrüppelten Dornbüschen, und aus
dem eintönigen, gelb-grau gefärbten Gelände heben sich nur
Auf dem Wege nach Norquinco.
die leuchtenden hellgrünen Flecke der „Lefia de Piedra" ab,
einer Moosart, deren Wurzel ähnlich wie die der Mandjoka
eßbar ist. Eine mächtige Biegung nach Osten um den Fuß
eines weit vorgeschobenen Bergrückens herum bringt uns in
die Nähe einer menschlichen Behausung.
„Norquinco!" brüllt mein Führer mit Aufbietung aller
seiner Lungenkräfte durch den brausenden Sturmwind hindurch.
Schneller traben die Maultiere im gleichmäßigen Tempo weiter;
5 —
die Pferde spitzen die Ohren; sie wittern Ruhe und Futter. In
einer halben Stunde, etwa gegen 3 Uhr nachmittags, halten
wir vor einem kleinen Häuschen; es ist das Kommissariat von
Norquinco und gleichzeitig das Bureau des Friedensrichters.
Nicht weit davon befindet sich ein Geschäftshaus, ein Kauf-
laden verbunden mit einer Boliche, die hier den Namen einer
Heideschenke nicht mit Unrecht verdienen würde. Denn rings
herum im weiten Umkreis erstreckt sich kahles, gelblich-braun
gefärbtes Heideland, das im Osten von blauschimmernden
Bergketten umschlossen ist und nach Westen zu in einzelne
Höhenzüge mit tief eingeschnittenen Tälern übergeht. Auf-
gesetzte Kuppen aus vulkanischem Gestein bilden die Ab-
grenzung gegen den Horizont.
Das ist Norquinco am gleichnamigen Flusse. Der Name
ist indianischen Ursprungs und bedeutet: „Wasser, das gerade-
aus fließt."
Vor der Tür der Schenke stehen drei braunhäutige Indianer
und beäugen mich, während ich absteige, mit neugierigen
Blicken. Vertrauenerweckende Gestalten sind es gerade nicht.
„Wo ist der Polizeikommissar?"
Verständnislos glotzen mich die drei Menschen aus ihren
schwarzen Augen an, murmeln etwas, das ich nicht verstehe,
und drücken sich scheu und langsam um die Hausecke herum.
Von einem Gaucho, der eben schwerfällig, sporenklirrend
aus der Tür tritt, erhalte ich nähere Auskunft und bald bin
ich mit den beiden Vertretern der Regierung in diesem De-
partement bekannt: Don Elias Libelli, Polizeikommissar, und
Don Severiano Britto, Friedensrichter. Der liebenswürdigen
Einladung dieser Herren zu einem stärkenden Imbiß folgend,
erteilte ich nur zu gern den Auftrag zum Absatteln. Denn
auch meine Pferde waren durch den langen, anstrengenden
Ritt, bei dem sie stets gegen den heftigen Wind anzukämpfen
hatten, ermüdet und bedurften dringend der Ruhe.
— 6 —
Ich wurde zu einem niedrigen, langgestreckten Seiten-
gebäude geführt, das, aus Erdziegeln, Adobe, errichtet, nur
mit einer Tür versehen ist. Fenster fehlen. Über eine hohe
Bordschwelle gelange ich in den einzigen halbdunklen Raum.
Der Fußboden besteht aus der festgestampften gewachsenen
Erde; auf schwarzgeräuchertem Qebälk ruht die dunkelbraune
Dacheindeckung aus Schilf und Zinkblech. Die rauhen, krum-
men, teilweis abgebröckelten Wände tragen die Einwirkung
von Rauch und Staub in hohem Grade an sich. In einer
dunkel gähnenden Ecke befindet sich die Feuerstelle mit der
dem Dach zustrebenden Auslaßöffnung für den Rauch. In
den Winkeln liegen Sättel, Zaumzeug, Decken und Ponchos,
während an den Wänden Lassos, Riemen und Peitschen hängen.
Ein langer, grob zusammengefügter Holztisch und zwei ebenso
lange, roh gezimmerte Bänke bilden das Mobiliar dieses Raumes.
Nach einigen Minuten erscheint eine schwarzhaarige In-
dianerin und bringt den Begrüßungstrunk, den „Mate amargo",
den Tee aus Paraguay, ohne den die Leute unglücklich wären.
Er ist das Volksgetränk hierzulande.
Zur Erläuterung will ich hinzufügen, daß Mate oder Yerba-
mate ein Qetränk ist, das aus den Blättern und feineren Zweigen
des Teebaumes (Hex paraguensis) gewonnen wird. Die ge-
trockneten Blätter werden, ähnlich wie die Teeblätter, in eine
kleine Kürbisschale getan; dann wird heißes Wasser auf-
gegossen und dieses mittels einer Silberröhre, Bombilla, durch
die Matefüllung hindurchgesogen. Der Geschmack ist etwas
herb, rauchig, aber angenehm und vor allen Dingen erfrischend,
namentlich auf Märschen, Ritten und bei sonstigen körperlichen
Anstrengungen. Weniger angenehm finde ich die Landessitte,
die da erheischt, bei Besuchen, Einladungen und dergleichen
aus ein und derselben Bombilla den Mate zu trinken oder viel-
mehr zu saugen. Ein dankendes Ablehnen würde einer Be-
leidigung gleichkommen, und doch ist mir oft eine Gänsehaut
über den Rücken gelaufen, wenn ich die Bombilla anstatt aus
— 7 —
frischroten, schwellenden Mädchenlippen aus dem zahnlosen,
tabaktriefenden Munde eines bärtigen Mannes empfing.
Der erste Austausch von Fragen und Antworten über das
Woher und Wohin, verbunden mit den üblichen Höflichkeits-
phrasen nach spanischer Manier, war vorüber.
„Wir sind von Ihrer Ankunft bereits seit Wochen unter-
richtet", meinte der Friedensrichter. /„Die Gouverneure der
benachbarten Territorien Neuquen und Rio Negro haben tele-
graphiert, daß Sie unterwegs sind, und dann hat auch der Herr
Minister des Innern . . ."
„Caramba!" — — Ich tastete nach meiner Brusttasche.
„Da hätte ich ja beinahe vergessen! Ich habe ja selbst ein
Empfehlungsschreiben vom Minister bei mir." Schleunigst holte
ich den Brief hervor und übergab ihn den beiden Herren zum
Lesen. Andächtig wurde er durchstudiert; die strengen Mienen
nahmen einen feierlichen stolzen Ausdruck an; dann folgte
„allgemeines Nicken des Kopfes", und mit Verbeugungen und
unter einem Schwall von Worten und Beteuerungen, daß „man"
zu meiner Verfügung stände, händigte man mir das Schriftstück
wieder aus. Der Bann war gebrochen.
Allgemeines über das Territorium Chubut.
Das Territorium Chubut ist ein Teil von Patagonien. In
der Indianersprache bedeutet Patagonien ungefähr so viel wie
„Hügel" oder „Hügelland", im Gegensätze zur „Pampa", der
„ebenen Fläche". Dieses Hügelland beginnt auf dem rechten,
also südlichen Ufer des Rio Negro und erstreckt sich nach
Süden bis zur Magelhaensstraße. In neuerer Zeit erst wurde
der gewaltige patagonische Landkomplex des argentinischen
Festlandes aus administrativen Gründen in drei Nationalterri-
torien geteilt, und zwar Rio Negro, Chubut und Santa Cruz.
Chubut, früher auch Chupat genannt nach dem gleich-
— 8 —
namigen Fluß — Chubut bedeutet in der Eingeborenensprache :
„Strom mit vielen Krümmungen" oder „gewundener Strom" —
bildet den mittleren Teil und liegt zwischen dem 42^ und 46^
südlicher Breite. Im Osten reicht es bis zum Atlantischen
Ozean, im Westen bis zur chilenischen Grenze (Gesetz vom
16. Oktober 1884). Es besitzt eine Flächenausdehnung von
242 039 Quadratkilometer, ist also fast so groß wie die Hälfte
des Deutschen Reiches. Dagegen ist die Einwohnerzahl noch
sehr gering. Sie beziffert sich schätzungsweise auf 11 bis 12 000
Köpfe. Im Jahre 1903 waren es nur 8755; nach der Zählung
von 1901 nur 4536 und von 1895 sogar nur 3748. Indessen
sind diese Angaben unsicher. Eine genaue Zählung ist zurzeit
ausgeschlossen, da ungefähr 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung
noch Nomaden sind, d. h. keine festen Wohnsitze haben, son-
dern mit ihren Viehherden, namentlich Schafen, herumziehen,
um neue Weideplätze zu suchen. Fest angesiedelt sind in der
Hauptsache nur die Bewohner der Küstenzone und der ein-
zelnen Kolonien im Innern bzws am Fuß der Kordilleren.
Der äußeren Gestaltung der Oberfläche nach wird der
größte Teil des Chubutterritoriums von ausgedehnten vege-
tationsarmen Ebenen, Pampas, und Hochplateaus eingenommen,
die von einigen kleinen 5—600 m hohen Berg- und Hügelreihen
umklammert und hier und da von einzelnen, aufgesetzten Kuppen
gekrönt sind.
Diese sogenannte Pamparegion, die, terrassenförmig an-
steigend, von verschiedenen Flüssen mit tief eingenagtem Bett
durchschnitten wird, reicht vom Atlantischen Ozean bis zum
Fuß der Vorkordilleren. Hier reckt sich das stark hügelige
Gelände schon bis zur mittleren Höhe von mehr als 1200 m
empor und bildet mit seinem Wasserreichtum, den eingeschlos-
senen breiten Talebenen, den meist unbewaldeten tischartigen
Hochflächen, denen ein kräftiger Pflanzenwuchs im allgemeinen
fehlt, den Übergang zu der eigentlichen, die Höhe von 2000 m
überschreitenden Gebirgsregion der Kordillerenkette. Geradezu
— 9 —
verschwenderisch hat die Natur über diese letztere ihre Gaben
ausgestreut, während sie das ganze übrige Gebiet bis zur Ost-
küste hin eigentlich recht kärglich damit bedacht zu haben
scheint.
Aus diesem Umstände ist es herzuleiten, daß Chubut so
lange zu den am wenigsten bekannten Landesteilen Argentiniens
gehört hat. Die ganze Küstenzone in ihrer eintönigen Öde
Kordilleren im iiordweslliehen Chubut.
und Dürre sowie die Bodenbeschaffenheit und die khmatischen
Verhältnisse des Landes weiter westwärts hatten etwas Ab-
schreckende- an sich, so daß ein günstiges Urteil ausgeschlossen
war. Leider aber wurde solch absprechendes Urteil auf das
ganze Territorium übertragen, auch auf den westlichen Teil,
ohne ihn je gesehen zu haben. Selbst der große Darwin hat
hierin gefehlt. Er hat seinerzeit nur den östlichen Küstensaum
durchforscht und spricht ein Verdammungsurteil über ganz Chu-
— 10 —
but aus, dessen natürliche Fruchtbarkeit und schlummernden
Reichtum im Kordillerengebiet er weder gesehen noch ge-
ahnt hat.
So ist es denn gekommen, daß Chubut bis heute noch zum
allergrößten Teil Wildnis, eine terra incognita geblieben ist
und seine Besiedelung so langsam vor sich gehen konnte.
In den herrlichen, tief eingeschnittenen Tälern der Kor-
dilleren findet sich eine natürliche Fruchtbarkeit des Bodens
vor, die ihresgleichen sucht. Durch viele Bergseen, durch
Quellen von Qebirgsbächen und Flüssen ist ein Wasserreich-
tum geschaffen, der sonst auf den Pampas und Mesetas gänzlich
fehlt. Ein wunderbarer Hochwald liefert Nutz- und Brenn-
holz in Hülle und Fülle; die gewaltigen Talsohlen, die Ab-
hänge, der humusreiche Waldboden bieten vorzügliche Weide-
ländereien. Und dahinter am Horizont baut sich in massigen
und doch edlen Formen das Gebirge mit seinen schneebedeckten
Gipfeln und blauschimmernden Gletschern auf, markig in seiner
Kraft, umwallt und umflutet vom zarten Zauberschleier einer
Schönheit, die aus Dunst und Dämmer, aus Licht und Atmo-
sphäre zusammengewebt ist. Zwei ganz verschiedene Welten
scheinen hier am Fuße der Anden aufeinanderzustoßen.
Dem geologischen Aufbau nach liegt die Annahme nicht
zu fern, daß ganz Patagonien sowie Feuerland die Reste eines
in Urzeiten untergegangenen Kontinents sind, der im Kampf der
tobenden Elemente auf einer Seite in den Fluten des Weltmeeres
allmählich versinkend, auf der anderen durch Riesengewalten
emporgerissen, aus Feuerschlünden und Wasserwogen mit
starrer Majestät sich erhebend, eine große Mannigfaltigkeit
in seiner Zusammensetzung zeigt.
Tertiärsedimente, insbesondere Sandstein und Mergel, Ton-
schichten und Konglomerate bilden den größten Teil des Chubut-
bodens von der Ostküste bis in die andine Zone hinein. Be-
deckt sind diese tertiären Bildungen von steinigen Lagen aus
glazialem Geröll, von Schutt- und Trümmermassen früherer
— 12 —
Berge, von Dünen und Sandbänken. Mit elementarer Gewalt
haben vulkanische Gesteine an verschiedenen Stellen, und zwar
nach Westen zu stetig an Häufigkeit und Ausdehnung zu-
nehmend, die Schichten durchbrochen, ragen als mächtige Basalt-
felsen, als Kegel oder wuchtige Bergmassen daraus hervor
oder überlagern sie als vulkanische Konglomerate, in denen
Andesit sowie Porphyre und Zersetzungsprodukte anderen,
an Quarz und Feldspat reichen Eruptivgesteins vorhanden sind.
Weiter nach Westen erscheinen unter dem Tertiär schiefe-
rige Kreideschichten; nach dem Gebirge zu treten Tonschiefer
und quarzitischer Sandstein in grobkörnigem wie auch in ganz
feinem, außerordentlich dichtem Zustande hervor, und an diese
schließt sich dann das Urgestein mit seinen gewaltigen Granit-
massen an.
Das Klima Chubuts allgemein zu behandeln, halte
ich für verfehlt, da es bei der Ausdehnung des Landes und der
völlig verschiedenartigen Formation, Bodenbeschaffenheit und
Vegetation keineswegs auch nur annähernd einheitlich sich ge-
staltet. Nur das eine möge gesagt sein, daß die klimatischen
Verhältnisse überall äußerst gesunde sind. So wurden z. B.
1903 im ganzen Territorium 347 Geburten = 39,6 pro Tausend
der Bevölkerung gezählt, dagegen Sterbefälle nur 93 = 10,6 pro
Tausend; das ergibt einen Überschuß der Geburten über die
Sterbefälle von 29,0 pro Tausend.
Das Klima ist ungefähr dem in Mitteleuropa ähnlich.
II.
Die Indianerkolonie Cushämen.
Etwa 30 km südöstlich von Norquinco liegt die Indianer-
kolonie Cushämen, durchströmt vom Norquincofluß und einem
Seitenarm desselben, dem Arroyo Cushämen d. h. „Felsen-
wasser", „Bach, der über Steine fließt". Hier wohnen auf
einem Flächenraum von 60 Leguas, = 1500 Quadratkilometer,
etwa 1000 Indianer vom Stamme der Araukaner und zur Fa-
milie der Mapuche gehörig unter ihrem Häuptling (Cacique)
Njankuchi Nahuelquir.
Mapuche heißt : „das Volk von weither" (che = Volk, Stamm).
Tatsächlich ist ja auch dies Volk aus den Gebirgsgegenden
nördlich vom See Nahuel Huapi gekommen. Auf seinen Jagd-
und Wanderzügen nach Süden, dem Vordringen der Kultur
immer mehr weichend, ist es hier, der Not gehorchend, nicht
dem eigenen Triebe, seßhaft geworden und beschäftigt sich
jetzt in der Hauptsache mit Viehzucht.
Welche Änderung im Laufe von drei bis vier Jahrzehnten
mit einem ganzen Volksstamm! Welch ungeheurer Wechsel
hinsichtlich seiner Sitten und Gebräuche, seiner Lebensweise
und ganzen Lebensauffassung!
So sind hier z. B. die beweglichen Zelte, Toldos genannt, *
schon ganz verschwunden. Feste Häuser aus Holz oder Adobe
(ungebrannte Erdziegel) mit Dächern aus Schilf oder Zinkblech
— 14 —
bilden heute die Wohnungen. Anstatt der früheren Fell-
bekleidung des halbnackten Körpers tragen die Männer jetzt
Jacken und Beinkleider nach europäischem Muster. Das far-
bige Stirnband, das einst das straffe, tief schwarze Haar zu-
sammenhielt, hat dem Filzhut Platz gemacht, und vielfach ist
an Stelle der alten „Bota de potro" der moderne hohe Leder-
stiefel getreten. Nur die Chiripa, das um die Hüften getragene
Unterkleid, aus einem Poncho oder Stück Tuch bestehend,
hat sich aus vergangenen Zeiten her noch allgemein im Ge-
brauch erhalten. Wie bei den früheren Geschlechtern, so gilt
die Chiripa auch bei dem heutigen als unerläßliches Kleidungs-
stück.
„Bota de potro" heißt „Stiefel vom Pferde". Diese eigen-
artige Fußbekleidung wird aus der Haut der Hinterbeine des
Pferdes hergestellt, und zwar derart, daß man sie vom Knie
über das Sprunggelenk bis zur Fessel — wenn möglich in
einem Stück — herunterzieht. Der untere Teil bis zur Fessel
herab, der vorn mit Lederstreifen geschlossen wird, dient als
eigentliche Bekleidung des Fußes, während der übrige Teil
gleichsam als Stiefelschaft den Unterschenkel des Mannes be-
decken soll. Durch mehrtägiges Tragen nimmt dieser Natur-
stiefel die Gestalt des Fußes an, wird dann vorn an den Zehen
säuberlich zusammengenäht und am Schaft mit farbigen Bän-
dern oder Lederriemen, die zum Befestigen dienen, versehen.
Häufig sind noch silberne Schnallen, Ringe usw. zur Verzierung
angebracht.
Auch die alten, nach Vätersitte angefertigten Sporen sind
noch anzutreffen. Sie bestehen aus zwei 10—15 cm langen
Stäbchen harten Holzes, die durch eine Querverbindung aus
starkem Leder oder Holz zusammengehalten werden. An dem
einen Ende der nahezu parallel laufenden Stäbe befindet sich
je eine scharfe Spitze aus Eisen oder Knochen, während die
anderen Enden mit Lederriemen versehen sind, zum Befestigen
am Fuß bzw. am Stiefel.
15
Frauen und Mädchen haben hier fast durchgehends euro-
päische Kleidertracht angenommen, und nur ganz selten ist noch
das weite, mantelartige Kleidungsstück im Gebrauch, das durch
große Silbernadeln mit Platten und Ketten vorn am Halse und
durch einen breiten, reich verzierten Gürtel oberhalb der Hüften
zusammengehalten wird. Nur bei älteren Frauen habe ich es
hier in Cushämen gesehen, während ich es weiter im Süden
bei den Tehuelchen sowohl wie bei Pampaindianern noch all-
gemein verbreitet vorfand. Daß das weibliche Geschlecht sich
mit allerhand Schmucksachen behängt, wie z. B. Halsbändern,
silbernen Kettchen und Ringen, mit mächtigen Ohrgeschmeiden
von scheibenförmiger, dreieckiger oder viereckiger Gestalt, mit
Glasperlen und sonstigem Tand, braucht wohl nicht erst be-
sonders erwähnt zu werden. Weib bleibt eben Weib; ob in
Europa oder in Afrika oder Amerika, ob im Salon oder im
Urwald — das ändert an der Evanatur nichts.
Hübsche Frauen oder Mädchen indessen habe ich beim
Mapuchevolk nur wenig oder gar nicht gesehen. Auch die
Männer können mit nur wenigen Ausnahmen nicht zu einem
schönen Menschenschlage gerechnet werden. Sie sind zwar
von kräftigem Körperbau, und starke, muskulöse Figuren trifft
man im allgemeinen bei diesen wie auch anderen Araukaner-
stämmen an, die einst wegen ihrer kriegerischen Eigenschaften
bekannt und gefürchtet waren. Die Erzählungen aber von der
Stärke und riesenhaften Größe jenes Araukanergeschlechts sind
übertrieben und gehören ins Reich der Fabel. Auf die Tehu-
elcheindianer würden derartige Beschreibungen eher passen.
Unter den Mapuche sowohl wie auch unter den verwandten
Manzaneros, die ebenfalls zum Araukanerstamm gehören, gibt
es nur wenige Männer, die an Körperlänge das Maß von
1,70 m überschreiten. Die meisten sind von mittlerer Statur.
Die Gesamtzahl der Indianer nimmt seit Jahren leider stän-
dig ab. Die Zivilisation ist eben unbarmherzig blutig, und die
Kultur zerstampft kalt und rücksichtslos alles, was sich auf
16
ihrer Bahn hindernd oder auch nur gleichgültig zeigt. Sie
hat gar eigene Waffen, diese Weltbeglückerin! Mit gleißen-
der Heuchelmiene träufelt sie das Qift verheerender Krankheiten
dem vor Gesundheit strotzenden Volkskörper ein, oder sie be-
glückt den ehrlichen, guten Volkscharakter mit den furchtbaren
demoralisierenden Wirkungen des Alkohols. Stämme und
Völker sind und werden auf diese Weise zugrunde gerichtet.
Das muß man sagen, es liegt System in dieser Heuchelei,
System in dieser Lüge von den sog. höchsten Errungenschaften
der Menschheit, die da Weihrauch streut und wie toll Beifall
klatscht, wenn sich ein Stück solcher menschlichen Tragi-
komödie abspielt. Und das scheint in Südamerika der Fall
zu sein.
Eine ganze Rasse, mit ihren Stämmen und Familien hat
seit Jahrzehnten bereits im dumpfen Gleichmut den langsamen
und düsteren Todesmarsch in das ungeheure Massengrab der
Völker angetreten. Nicht mehr lange — und schaurig und
hohl hallt die Totenklage des letzten Indianers über die weite
Pampa und bricht sich im tausendfach gellenden Echo an den
starren, tränenfeuchten Felswänden der Kordilleren. Und
stummtraurig, mit gramdurchfurchtem Antlitz schauen die
ewigen Bergriesen in ihren Schneemänteln und blaufunkelnden
Eiskappen herab auf den „Letzten seines Stammes", und aus
finsteren, blaudunklen Klüften heult zornig der Sturmwind her-
vor, der Herold des Todes, der urgewaltige Sturm, der dahin-
fährt über jede Kreatur. Wie ein bleiches Gespenst aber, hohl-
äugig, mit schwarzen, unheilschwangeren Fittichen umschwebt
das Schicksal die ächzende Erde.
Es war ein herrlicher Morgen, als wir von Norquinco nach
Cushämen ritten. Über ein mächtiges, mit Büschelgras und
Steingeröll bedecktes Hochplateau ging es, aus dessen erstarrten
Wellen und Wogen wüste, kahle Granitmassen, wildzerrissene
Basaltkegel und zerfetzte Felsklötze herausklettern. Fern im
Westen türmt sich wie ein Riesenwall im bläulich hingehauchten
— 17 —
Nebeldunst das Massiv der Kordilleren auf, und in der klaren
Atmosphäre leuchtet weithin durch das Strahlengeflimmer der
Morgensonne hindurch der weiße, blendende Firnschnee. Die
absolute Höhe dieser Meseta, der tischförmigen Hochebene,
wechselt zwischen 950 und 1000 m. Es ist eine grasige
Steinpampa, zerrissen von jähen Schluchten und steilen Hängen,
die schließlich alle in ein breites, tief eingeschnittenes Tal aus-
münden, offenbar das Bett eines früheren Stromes. Aus den
Seen der Anden hat dieser einst seine Wassermengen geschöpft
und in brausenden, schäumenden Fluten hinabgewälzt in die
Ebene zum offenen Meere hin. Aber während die Wasser sich
mit unersättlicher Qier immer tiefer durch Steine und Felsen
hindurch in den geduldigen Boden hineinnagten, erhob sich
schüttelnd in stolzer Kraft das Urgebirge. Viele Quellen ver-
siegten, und nur einige Rinnsale und trockene Cafions zeugen
heute von der gigantischen Größe verrauschter Jahrhunderte.
Stellenweis wird das aus quarzitischem Sandstein, Qranit
und Porphyrstücken, Diabas usw. bestehende grobe Qeröll
feiner und bedeckt dann als Sand und Kies weite Strecken.
Unter diesen sandigen Lagen aber, die im allgemeinen nicht
sehr stark sind, befindet sich eine Humusschicht, oft von mehr
als 0,5 m Dicke, so daß es den Boden bei richtiger Bearbeitung
und Benutzung an natürlicher Fruchtbarkeit nicht fehlen würde.
Früher soll diese ganze Gegend gut bewaldet gewesen
sein, namentlich in den Tälern, Schluchten und an den Ab-
hängen. Indessen haben die dahinschießenden Wasserfluten
Bäume und Sträucher entwurzelt und mit sich fortgerissen in
das wirbelnde Wellengrab. Was diesem Wüten widerstand,
fiel dann nach und nach der zerstörenden Menschenhand an-
heim. Indianer waren es, die auf ihren Jagden durch ange-
zündete Feuer — um das Wild zusammenzutreiben — den
Baumwuchs vernichtet haben. Heute ist die Gegend, durch
die wir kamen, völlig baumlos ; selbst die niedrigen Dornbüsche,
wie Calafäte (Berberis buxifolia) und Chacäi, treten nur spär-
Vallentin: Chubut 2
— 18 —
lieh auf. Hier und da findet man noch mächtige Wurzeln,
riesige Stümpfe als die letzten Reste jenes Waldbestandes.
Einen abschüssigen Hang ritten wir nach etwa einstün-
digem Trabe hinunter und gelangten in eine sich weit dehnende,
mit gutem Weidegras bewachsene Ebene, durch die der Nor-
quincobach mit dem Cushämen nach Südosten zum Chubut-
fluß sich hinzieht. Ungefähr 850 m liegt die frischgrüne Tal-
sohle über dem Meeresspiegel. Dort, wo sich die hohen
Seitenwände dieses breiten Tales für einen Augenblick näher
zusammenschieben, um später kilometerweit voneinander ab-
zurücken und einer großen, sich spreizenden Ebene Platz zu
machen, wohnt Nahuelquir, der Mapuchehäuptling.
In Begleitung des Polizeikommissars und des Friedens-
richters besuchte ich ihn inmitten seines Volkes; er im dunklen
Anzug mit steifem Filzhut, in schwarzen Kniestiefeln mit silber-
nen Sporen und Sporenketten ; die Leute, von denen die meisten
hoch zu Roß gekommen waren, in einfacher Jacke, in Chiripa
und Potrostiefeln, den Lasso am Sattel, die sicher treffenden
Bolas (Schleuder) um die Hüften, das lange Messer im Oürtel
und die nie fehlende schwere Rebenka (Reitpeitsche) in der
Hand. Wilde, verwitterte Gestalten waren es, mit blitzenden
Augen und langem, pechschwarzem Kopfhaar, das in wirren
Strähnen über Stirn und Nacken fällt.
Njankuchi Nahuelquir ist verheiratet mit einer Frau aus
dem Tehuelchenstamm, namens Tanahuen, mit ihrem Christen-
namen Manuela genannt. Sie ist eine gutmütige, dabei aber
gescheite und energische Ehefrau und hat ihrem Herrn Gemahl
gegenüber manchmal einen schweren Stand. Denn dieser selbst,
im allgemeinen gut und freundlich, soll wie eine Bestie rasen,
wenn er sich etwas intim mit der Rumflasche beschäftigt hat.
Ich lernte ihn als einen ruhigen, verständigen Mann kennen,
von gesunder Intelligenz und vernünftigen Anschauungen. Nur
einige Male kam bei ihm der bitter empfundene Schmerz über
die verloren gegangenen Zeiten zum Ausbruch.
— 19 —
„Das ist nun alles vorbei!" sagte er schwer seufzend.
Dabei schaute er düster auf den Boden, stampfte mit dem
Fuße, daß die Sporen klirrten, und blickte dann sinnend durch
die offenstehende Tür hinaus ins Freie, wo sein ältester Sohn,
Indianer vom Mapuche-Stamm.
ein hübscher, löjähriger Junge, eben mit dem Aufsatteln eines
Pferdes beschäftigt war.
„Ja, das ist nun alles vorbei !" wiederholte er im gedämpf-
ten Ton.
Es schien so etwas wie Gewitterschwüle in der Luft zu
2*
— 20 —
■
liegen. Denn plötzlich sprang er auf, dehnte seinen mächtigen
Brustkasten und befahl seiner Frau, etwas zum Trinken be-
sorgen zu lassen.
Fast alle Mapucheindianer in Cushämen sind Christen,
aber nur — äußerlich. Sie selbst nennen sich zwar so und
haben sich — vielleicht willenlos — taufen lassen und ebenso
ihre Kinder. Indessen gelten ihnen die alten ererbten religiösen
Gebräuche bedeutend mehr, als die Satzungen jenes Christen-
gottes, durch dessen Lehre und diensteifrige Diener ein Stamm
nach dem anderen dem Untergang geweiht wurde.
„Blaßgesichter, Räuberbanden,
Feierliche Priestereide
Schwuren Indianerhetze
Am Altar des Christengottes."
Daß die Eingeborenen einem solchen System nach all den
bitteren Erfahrungen mit Mißtrauen und Haß begegnen mußten,
ist mehr wie selbstverständlich, und das erklärt vieles. So kommt
es denn, daß die Indianer hier heute noch zu gewissen Zeiten
das sog. Camarücofest feiern zu Ehren ihrer Gottheiten, des
„Großen guten Geistes" bzw. zur Versöhnung des „Bösen
Geistes" Gualichu, dem bei dieser Gelegenheit ein Opfer ge-
bracht wird. Jedes dritte Jahr findet diese Feierlichkeit im
großen Maßstabe statt, außerdem gewöhnlich zweimal im Jahre,
immer aber bei Vollmond.
Das Opfer besteht in einem weißen Pferde, gewöhnlich
einer jungen Stute, die von vier jungen Leuten ohne Lasso, nur
mit den Händen eingefangen und zu Boden geworfen werden
muß. Unter mancherlei Zeremonien, Zauberformeln und dgl.
erscheint dann der Zauberer, der Medizinmann. Mit einem
äußerst scharf geschliffenen Messer bringt er dem Opfertier
einen Stich in die Brust bei, greift mit der rechten Hand tief
in die Öffnung der Wunde hinein und reißt mit einem geschick-
ten Ruck das Herz heraus. Dieses lebende, zuckende und
noch rauchende Herz hebt er dann hoch empor und zeigt es
— 21 —
dem in atemloser Spannung wartenden Volk, das nun in Jubel-
rufe und Freudenschreie ausbricht. Unter ganz bestimmten
Beschwörungsformeln wird das Herz hierauf in Bast, Blätter
und Häute gehüllt, so fest wie möglich mit Lederriemen um-
wickelt und unter Gesang und Geschrei der Menge an einem
einsamen, weit abgelegenen Ort, gewöhnlich einem Hügel oder
Berggipfel, vergraben. Auf diesen feierlichen Akt der Zere-
monie folgen dann Gesang und Tanz, verbunden mit Schmause-
reien und Trinkgelagen.
Mit ähnlichen Festlichkeiten und religiösen Gebräuchen
wird bei den jungen Mädchen der Eintritt der Mannbarkeit
gefeiert, die im Durchbohren der Ohrläppchen äußerlich kennt-
lich gemacht wird. Drei Tage vorher wird das junge Mädchen
in einem besonderen Zelt untergebracht und ohne Essen und
Trinken unter strenger Aufsicht gehalten. Darauf erfolgt die
eigentliche Zeremonie unter Beschwörungsformeln bei Sang
und Tanz. Von diesem Augenblick an sind die Mädchen heirats-
fähig bzw. zum Ehestande wählbar.
Auch hinsichtlich des letzteren sind allein die im Stamm
herrschenden Gebräuche geltend und maßgebend, während die
christliche Zeremonie oder die kirchliche Trauung meistens
nur als leere äußere Formsache betrachtet wird.
Cushämen besitzt auch eine Regierungsschule. Unter der
Leitung eines Spaniers, des tüchtigen Don Vincente Herrero
und seiner kleinen Frau werden hier 53 Schüler und 7 Schüle-
rinnen in die Elementarwissenschaft des Lesens und Schrei-
bens, Rechnens usw. eingeweiht. Meist sind es Indianerkinder
aus der Kolonie; indessen nehmen auch Kinder von Weißen
aus der Nachbarschaft am gemeinschaftlichen Unterricht teil.
Geradezu erstaunlich ist es, die natürliche Intelligenz, die leichte
und schnelle Auffassungsgabe dieser kleinen braunhäutigen und
dunkeläugigen Bengels zu sehen. Fast alle kommen zur Schule,
ohne ein Wort Spanisch zu verstehen, und in kaum einem Jahre
sprechen sie es fließend. Mir wurden Schreibhefte vorgelegt
— 22 —
aus den ersten Wochen bzw. Monaten des Schulbesuchs. Ge-
radezu ein schreckliches Tintengekleckse, als ob Hexen auf Besen-
stilen über das geduldige Papier dahingefahren wären! Dann
sah ich Hefte derselben Schüler nach zwei und dreimonatigem
Schulbesuch. Der Fortschritt war nicht zu verkennen. Un-
gleich größer aber war die Entwicklung in den folgenden
Monaten. Da habe ich gestaunt über das, was diese „halb-
wilden" Indianerkinder zu leisten imstande sind, diese Spröß-
linge einer Rasse, die man stets geneigt ist, als minderwertig zu
betrachten und zu behandeln. Auch der Anschauungsunterricht
ist hier, dank der Geschicklichkeit des Lehrers, gut ausgebildet.
Gefreut habe ich mich über die herrschende Disziplin, sowohl im
Schulzimmer wie draußen im Freien. Leibesübungen und
fleißiges Turnen werden nicht vernachlässigt. Auf dem freien
Platze vor dem kleinen Schulgebäude befinden sich die Turn-
geräte, Kletterstangen, Reck und Barren, ganz wie bei uns
daheim.
Ein natürliches Hindernis für den regelmäßigen Schulbesuch
bilden allerdings die großen Entfernungen und die Witterungs-
verhältnisse. Knäblein und Mägdelein aber sind hierzulande
mit Pferden vertraut, kommen sozusagen mit dem Sattel auf
die Welt, und so wird denn bei einigermaßen gutem Willen
der Eltern auch diese Schwierigkeit leicht überwunden. Hier
geht man nicht, sondern man reitet zur Schule, häufig zwei
Männlein oder zwei Weiblein auf einem Sitz.
Das Klima dieser Gegend um Norquinco und Cushämen
herum ist gemäßigt. Die Durchschnittstemperatur des Jahres
1904 betrug 10,09^ C., und zwar zeigte Monat
Januar eine mittlere Temperatur von 19,87^ Celsius
Februar „ „ „ „ 16,62^
März fehlt
April „
Mai „ „ „ „ 7,62« „
Juni „ „ „ „ 5,25"
23 —
Juli eine
mittlere Temperatur
von 2,74' Celsius
August
tt tt
;; 4,06«
September „
n ft
,; 6,85«
Oktober „
ff ff
„ 8,68« „
November „
ff ff
„ 12,25«
Dezember „
ff ff
„ 16,97«
;;
fi
ft
Die Durchschnittsmaxima fielen in die Monate
Dezember mit 30,0° Celsius
Januar „ 35,0° „
Februar „ 32,0° „
w^ährend die Durchschnittsminima in den Monaten
Mai mit — 6,8° Celsius
Juni „ -8,1«
Juli „ -10,6«
August „ — 7,5«
zu verzeichnen waren.
Im allgemeinen ist trockenes Klima vorherrschend. Die
regenreichste Zeit ist wohl im April, Mai, Juni und Juli. In-
dessen erreichen die niedergehenden Regenmengen keine er-
hebliche Höhe. Sie betrugen in den genannten Monaten nur
38.0 mm (April)
57.1 „ (Mai)
79.2 „ Guni)
86,9 „ Ouli)
Schon im folgenden Monat August sank die Regenhöhe
auf 4,6 mm herab, und die Monate November und Dezember
1904 sowie Januar und Februar 1905 waren völlig trocken.
III.
Am Maiten. Ritt ins Bolsontal.
Wie aus großen, verträumten Augen schaute der junge Tag
hinter den dunstigen Bergen hervor, und über den zarten
Nebelflor, unter dem die erwachende Erde sich zu regen schien,
goß die Morgensonne einen Hauch von Gold.
„ Vorvi^ärts, Arregada, vorwärts ; wir wollen die Morgenkühle
benutzen. Zur Mittagszeit wird es heiß werden."
„Jawohl, Patron", bestätigte mein Führer. Dann wirft er
seinen dampfenden Zigarettenstummel fort, schwingt die Re-
benka, und in scharfem Trabe fegt unsere kleine Tropilla, be-
stehend aus zwölf Pferden und drei Maultieren, über die Pampa
dahin, nach Westen zu, dort, wo sich das Andengebirge zum
Himmel auftürmt. Bergauf und bergab steigen wir. Zer-
klüftet und zerrissen ist die Landschaft. Steil aufstrebende Fels-
wände scheinen den Weg zu versperren, weichen dann aber
plötzlich wie in jäher Flucht nach rechts und links auseinander,
zu Hügelreihen und Bergzügen sich gruppierend, die erst am
Horizont im blauen Äther verschwinden. Die Pampa liegt hier
durchschnittlich 1000 m über dem Meeresspiegel, während die
aufgesetzten Kuppen und Bergmassen stellenweis 1500 und
1600 m erreichen. Die Vegetation ist noch schwach, besteht
meistens aus Coiron, sowie anderen der Steppenregion an-
gehörigen Qrassorten und wird nur selten von niedrigem Ge-
sträuch unterbrochen.
25
Allmählich senkt sich der Weg in eine Schlucht hinab, die,
von Wasser und Wind ausgewaschen, in das trockene Bett eines
früheren Baches übergeht. Gewaltige Felsklötze bedecken den
Boden zu beiden Seiten, und Höhlenbildungen in dem zutage
tretenden Gestein sind häufig, namentlich im nördlichen Teil
hoch oben. „Puerta suelo" hei6t dies von der Natur ge-
bildete Tor. Es führt in ein prachtvolles, weitgedehntes Tal
Zwischen Mait^n und Valle
hinab, das durchzogen wird von mehreren Bächen und be-
standen ist mit saftig-grünem Graswuchs wie mit einem dichten
Rasenteppich. Wohlgenährte Rinderherden unter der Aufsicht
von berittenen Hirten suchen dort ihr Futter.
Der größte Teil dieses etwa 650 m hoch gelegenen Tal-
landes gehört einer englischen Gesellschaft, der „Compania de
Tierras Sud-Argentina", die hier Ländereien in einer Ausdeh-
nung von mehr als 2000 Quadratkilometern besitzt und nur Vieh-
~ 26 —
zucht im Großen betreibt. Ungefähr 45 000 Rinder sind ihr
Eigentum. Ursprünglich wurde dieses gute Land mit bester
Weide in Form einer Konzession behufs Kolonisierung jener
Gesellschaft übergeben. Indessen, wie das so gewöhnlich geht,
haperte es mit der Besiedelung. Es war dies, wie man be-
hauptet, auch gar nicht die Absicht jener Engländer, die sofort
damit begonnen hatten, Vieh in Masse dort hinzubringen. Als
die Regierung später drängte, den Verpflichtungen nachzukom-
men und außer dem Vieh auch endlich Menschen jenen frucht-
baren Ebenen zuzuführen, erklärte die Gesellschaft kurz, daß
das Land für Kolonisierungszwecke völlig ungeeignet sei. Auf
irgend eine Weise wußte sie es dann dahin zu bringen, daß
ihr für einen recht geringen Preis der Besitztitel zugestanden
wurde, und — ein neuer Latifundienbesitz war geschaffen.
Wo Tausende von Menschen ihr Heim sich hätten gründen
und auf eigener Scholle ihren Unterhalt hätten finden können,
stehen heute nur einige Ranchos und armselige Hütten, in
denen die notwendigsten Aufseher, Knechte und Viehhirten
ihre Lohnarbeit verrichten.
Während im Norquincotal Schafzucht vorherrscht und an-
geblich etwa 1500 bis 2000 Schafe pro Legua = 25 Quadrat-
kilometer gehalten werden können, ist man weiter im Westen
mehr zur Rindviehzucht übergegangen, was indessen nicht aus-
schließt, daß auch die Schafhaltung bei dem vorzüglichen Futter
gute Resultate liefert.
Nach vierstündigem Ritt ungefähr gelangten wir in das Tal
des Chubutflusses, an dessen Ufer wir unsere Reittiere etwas
verschnaufen ließen. Es war 10 Uhr vormittags. Mein Ther-
mometer zeigte 100 C. Auf 42« 3' südlicher Breite ermittelte
ich nach meinen Barometermessungen dicht am Wasserspiegel
eine Höhenlage von 628,5 m über dem Meere. Das Bett des
Flusses wechselt sehr in seiner Breite. Dort, wo ich mit Pfer-
den und Maultieren durchgeritten bin, mißt es ca. 60 m und
besteht aus durchweg steinigem Grund, der als grobes Geröll
27
zu beiden Seiten gewaltige Flächen bedeckt, derart, daß die
Ufer in einer Gesamtausdehnung von 5 — 600 m oft den Eindruck
eines öden, trostlosen Stein- und Trümmerfeldes hervorrufen.
Unmittelbar hieran aber schließt sich ohne jeden Übergang
das fruchtbare Gras- und Wiesenland, das seinerseits wiederum
von Bergzügen begrenzt wird. Letztere, im allgemeinen von
Norden nach Süden verlaufend, erheben sich zu einer Höhe
von 1000 bis 1100 m. Weiter im Süden, etwa 30 km von hier
entfernt, erreichen einige Kuppen dieser natürlichen Talbegren-
zung sogar 1560 m.
Fast genau auf dem 42. Grad südlicher Breite mündet in den
Chubut ein Nebenfluß, der Malten, dessen Quellgebiet sich in
der weiter westlich gelegenen, mehr als 2100 m hohen Berg-
region befindet. Diesem rauschenden Gebirgsbach entgegen
führte mich der Pfad in ein prächtiges Tal und dann hinauf in
eine düstere, enge Felsenlandschaft. Wildzerklüftet und zer-
fetzt starren die Gesteinmassen und Felshaufen hinab auf den
einsamen Wanderer dort unten am glitzernden Wasser. Tiefes
Schweigen herrscht ringsumher in dieser Öde und ein fast un-
heimliches Gefühl legt sich beklemmend auf die Brust. Aber
eine leichte Dämmerung hat sich zwischen Himmel und Erde
ausgebreitet, und hinter Zacken und Spitzen und Kuppen
schieben sich drohende Wolken langsam hervor und hüllen Berg
und Tal in dunkle Schatten. Wie grauenerregende Gespenster
in wallenden Schleiern ziehen die Regennebel durch die Schluch-
ten. Und da bricht es los ; ein Regensturm der tollsten Art rast
mit ganzer Kraft über das Land dahin und peitscht uns schwere
Tropfen ins Gesicht. Er peitscht die Leiber der armen Tiere,
die geduldig die Köpfe senken und die triefenden Ohren hängen
lassen.
„Vorwärts, vorwärts, Arregada!" Unter verschiedenen
„Carambas" und „Donnerwettern" kämpfen wir mühsam gegen
den Sturmwind an. Irgendwo werden wir ja eine Hütte oder
sonst einen Unterschlupf antreffen ; je eher, desto besser. Diese
— 28 —
verdammten Bogen und Krümmungen des Pfades ! Sie hemmen
das Weiterkommen. Hochauf spritzt der Schlamm unter den
Hufen der Pferde, und von oben gießt es herab zum Gott- \
erbarmen. Roß und Reiter haben sich in dem ekelhaften
Schmutzwetter bis zur Unkenntlichkeit verändert! Und voran
streben wir abwechselnd im Galopp und Trab. Und da, horch!
— Hundegebell ; Menschen müssen also in der Nähe sein. Aber
Dunst und Nebel und der strömende Regen lassen keine Fern-
sicht zu. Nach und nach löst sich aus dem Grau der Land-
schaft eine dunkle Masse los ; die undeutlichen Umrisse nehmen
bestimmtere Formen an und wir können ein Häuschen mit
kleinem Seitenbau erkennen.
In kurzer Zeit hat sich unsere Tropilla auf einem freien
Platz versammelt; ruhig warten die durchnäßten und kot-
bespritzten Tiere auf ihre Entlassung und schauen teilnahmlos,
wie mit stiller Verachtung auf die fünf schmutzigen Köter un-
definierbarer Rasse, die da mit wütendem Gebell herumspringen.
Da öffnet sich auch schon die Haustür. Ein bärtiges Gesicht
kommt zum Vorschein, beschattet von einem zerknitterten Filz-
hut. Und hinter dem Manne reckt sich neugierig ein dunkler
Frauenkopf hervor und weiter unten tauchen zwei ängstlich
dreinschauende Kindergesichter auf.
„Buenos dias, seiior, entre!"
Wir schütteln uns die Hände, und ich trete ein in den kleinen
Raum, der als Wohnzimmer und gleichzeitig als Küche dient.
Auf dem Lehmboden knistert behaglich ein Feuer. Und wäh-
rend der Mann mir den durchnäßten Poncho und triefenden
Hut abnimmt, hat die Frau eilfertig einen Holzklotz ans Feuer
gerückt und lädt mich zum Sitzen ein. Der unausbleibliche
Mate macht die Runde, und bald prasselt am Bratspieß das
Hinterviertel eines Hammels, ein Asado, dessen Vollendung
wir schwatzend und den aromatischen bitteren Paraguaytee
schlürfend sehnsüchtig abwarten. Draußen aber regt der Sturm
brausend seine Schwingen und rüttelt und wühlt in den Wolken,
— 29 —
daß sie vor Schmerz Tränen weinen, die schwer zur Erde
niederfallen. Und während Mutter Erde sich mit dunklem
Trauerflor umgibt, wandelt langsam die schweigende Nacht
durch das Tal.
Mein freundlicher Gastwirt war ein Baske, Don Anacleto
Salaverry, der mit seiner Familie sich hier seit einigen Jahren
niedergelassen hat. Er treibt etwas Viehzucht und erwirbt
seinen täglichen Unterhalt aus der natürlichen Fruchtbarkeit
des Bodens ohne große Mühe.
Für Viehzucht eignet sich diese ganze Gegend außer-
ordentlich. In den Tälern und an den Hängen gedeihen außer
Coiron die saftigen Mallingräser ; auch liefert die mit kleinen
Ähren versehene Cebadilla ein nahrhaftes Futter. In den
Schluchten haben sich niedrige Dornbüsche eingenistet; der
Chacäistrauch klettert zwischen dem Felsgestein bis zum höch-
sten Kamm hinauf. Wenn nun auch die Vegetation nicht gerade
als kräftig bezeichnet werden kann, so merkt man doch schon
überall den allmählichen Übergang zu der fruchtbareren und
schöneren Gebirgsregion.
Daß der Maitenbach und der Chubutfluß, der Norquinco,
die Bäche des Tals von „Puerto suelo" und die kleineren Zu-
flüsse aus dem Gebirge Gold mit sich führen, daß im Gebirge
selbst Kupferfunde gemacht worden sind, möchte ich noch
nebenbei erwähnen. In den Abhängen des Maitentales werden
augenblicklich zwei kleine Goldminen von Nordamerikanern
bearbeitet. Auf einer anderen Stelle, zwischen Norquinco und
Maiten, hat ein Spanier nur versuchsweise mit Erfolg Gold ge-
waschen und allein im vorigen Jahre 6 kg davon verkauft.
Ich selbst habe das edle Metall in dieser Gegend gesehen.
Es waren Goldplättchen von verschiedener Form, die oft die
Größe eines Fingernagels erreichten.
Taufrisch in Klarheit und Kühle war der Morgen ange-
brochen. Die Sonne lächelte auf die Welt hernieder, als gäbe
es keine Erdennot und keinen Erdenjammer.
— 30 ~
Und höher und höher stiegen wir ins Gebirge hinein, dem
Labyrinth der Kordillerenkette zu, und immer grotesker wird
die Landschaft mit ihren zusammengeballten Felsklumpen und
senkrechten Steinwänden. Mächtige Granitmassen treten zu-
tage, aufgetürmte Basaltklötze ragen trotzig aus regellosem
Geröll hervor und heben sich wie dunkle Silhouetten von dem
lichtdurchstrahlten Himmel ab. Wir winden uns aus dem Tal
einen Hang hinauf; nur schmal ist der Pfad und gerade nicht
bequem für unsere Reit- und Lasttiere. Jetzt starrt uns auf
der rechten Seite eine hohe glatte Felswand entgegen, während
links ein Abgrund schroff zu der im Sonnenglanz schimmernden
Talebene hinstürzt, die sich dort unten weit nach Nordwesten
ausdehnt. Gleichsam auf einem gewaltigen Treppenabsatz
stehen wir hier. Wie von selbst hält mein Roß, und ich schaue
hinab in die weite, blaue Ferne, und über mir rauscht es und
braust es. Zypressenbäume sind es, die sich gegenseitig etwas
zuraunen und ihre dunklen Wipfel ehrfurchtsvoll beugen vor
etwas Geheimnisvollem, Unsichtbarem, und mit grünen Fingern
zu winken scheinen, als ob sie mich bitten wolltien: „Komm
her und sieh!" Ein heimliches Weh scheint die Luft zu durch-
zittem und über die herrliche Ebene dort zu meinen Füßen
hinzueilen bis zu den fernen Bergreihen. Mein Blick fällt auf
die mächtige Steilwand zu meiner Rechten und da — alle
Wetter! was ist das! Da sind ja Zeichen und Figuren in
roter Farbe angebracht; Schriftzeichen der alten Indianer aus
längst vergangenen Zeiten, meist Eh-eiecke, einfache und dop-
pelte, die mit der Spitze zusammenstoßen, Vierecke mit kreis-
förmigen Figuren, geschlängelte Linien und Zickzackstreifen,
alles in roter Farbe, die, Regen und Sonnenschein, Wind und
Wetter trotzend, Jahrhunderte überdauert hat. E^er Felsen ist
inzwischen verwittert; das zeigt ein Sprung, der mitten durch
einzelne jener Zeichen hindurchgeht. Die Menschen, die einst
auf jene Weise von ihrem Dasein Kunde gaben, sind vom
Erdboden verschwunden; das Schicksal hat mit ihnen ohne Er-
— 31 —
barmen gewürfelt. Nur diese einfachen Figuren sind geblieben
und geben in ihrer stummen Sprache Nachricht von dem Unter-
gang eines ganzen Geschlechts. Ein mächtiger Indianerhäupt-
ling vom Tehuelchenstamm hat hier vor mehr als 100 Jahren
seine letzte Ruhestätte gefunden. Glanz, Macht und Reich-
tum — sie sind verrauscht, verschollen. Ein unsagbarer Hauch
von Melancholie schwebt über der menschenverlassenen groß-
artigen Einsamkeit, und die dunklen Zypressen hoch über mir
auf der jähen Felswand rauschen lauter, und der Wind singt
leise sein trauriges Lied von Menschenglück und Menschenweh.
Von hier an tritt in der immer kräftiger werdenden Vege-
tation die Zypresse nicht nur häufiger auf, sondern wird auch
größer und stärker, je weiter man nach Westen gelangt. Ebenso
entwickelt sich der übrige Pflanzenwuchs mehr und mehr. Na-
mentlich ist das in dem tief eingeschnittenen Tal des Quem-
quemtreuflusses der Fall, das wir jetzt durchreiten müssen.
Langsam klettern wir die steilen Hänge auf der anderen
Seite hinan; der Weg biegt nach Norden und führt auf eine
gewaltige, mit Steinen und Geröll besäte Hochebene, die, 1300
Meter über dem Meeresspiegel liegend, von düsteren Basalt-
felsen und emporgequollenen Lavamassen umklammert wird.
Zacken und Zinnen und ausgebuchtete Kämme, Spitzen und
Kuppen von mehr als 2000 m Höhe krönen den Cordon Ser-
rucho, der, von Nord nach Süd verlaufend, die östliche Grenze
dieser Fläche bildet, während im Westen die Ausläufer des
2255 m hohen Cerro Piltriquitrön sich vorlagern. Terrassen-
förmig fallen die beiden Bergrücken zur breiten Talsohle ab,
die sich dort, wo der Bach Repollos in den Quemquemtreu ein-
mündet, beträchtlich erweitert. Gewaltige Geröllmassen sind
nahe dieser Stelle angehäuft; riesige Felsklötze liegen mitten
im Wasser, und abgestürzte Steintrümmer bedecken den Boden
zu beiden Seiten der brausenden und zischenden Gebirgsbäche.
Die fortgerissenen bzw. abgewaschenen Talwände bestehen
hauptsächlich aus Sandmassen, durchzogen von sedimentären
— 32 —
Schichten aus sandigem Lehm und Ton, in die stellenweis
Steingeröll und Felsklumpen von abgerundeter Gestalt ein-
gebettet sind. Insbesondere auf der linken Seite an den Aus-
läufern des Cerro Piltriquifrön kommt diese Zusammensetzung
deutlich zum Vorschein und zwar dort, wo der Quemquemtr^u
nach Aufnahme des Repollosbaches mit Riesengewalt sich durch
Bolsonlal
die Berge Bahn gebrochen und ein breites Durchgangstor mit
fast senkrechten Wänden geschaffen hat.
Nachdem wir das steinige Bett des Flusses durchritten
haben, müssen unsere keuchenden Tiere noch einmal steile Ab-
hänge hinaufklettern. Nur mühsam kommen wir in den Sand-
und Schuttmassen vorwärts. Noch einmal gelangen wir auf eine
Höhe von 1052 m; dann wendet der Pfad jäh nach Süden,
und vor uns tief unten liegt das herrliche Bolsonfal, das sog.
„Valle nuevo". Es ist ein Längstal, von Norden nach Süden
^ 33 ~
ziehend, das sich vom Rio Foyel in einer Länge von 35 — 40 km
fast bis zum Lago Puelo und Epuyen erstreckt. Glatt wie ein
Tisch liegt diese fruchtbare Ebene, die vor langen Zeiten einst
das Bett eines Sees gewesen sein mag, mitten im Gebirge nur
305 m über dem Meeresspiegel, während sie ringsherum von
mehr als 2000 m hohen Bergen umsäumt ist
Wildkühne Formen hat hier die Natur geschaffen. Golden
leuchtet die Sonne auf das herrlich erhabene Bild herab, auf
die frischgrüne, saftige Grasfläche, auf die himmelstürmenden
Höhenzüge, deren gewaltige Basalt- und Granitmassen stolz
auf das grobe Sand- und Steingeröll herniederblicken. Aus
leichtem Nebeldunst glänzen hoch oben weiße Schneefelder,
und stumm und starr in ihrer majestätischen Pracht grüßen
von fern die Eisriesen. Wie dunkle Flecke zeichnen sich von
der Grasebene einzelne Baumgruppen ab, und schattenartig
ziehen sich Büsche und Bäume am Fuß des Gebirges herum
in die Schluchten hinein und höher hinauf bis zu den zerklüf-
teten Kämmen und Gipfeln.
Der Maitenbaum (Maytenus magellanica) ist hier sehr häu-
fig und erreicht eine außerordentliche Größe. Seine Blätter
dienen dem Vieh als Futter, und daher kommt denn auch das
eigentümliche Aussehen des Baumes. In einer Höhe nämlich
von 1,5 bis 2 m über dem Erdboden erscheint häufig die untere
Fläche der Laubkrone wie glatt abgeschnitten und letztere
baut sich darüber wie eine Halbkugel auf. Das Vieh ist es
gewesen, das bis zu einer gewissen erreichbaren Höhe die
Blätter und äünnen Zweige abgefressen hat. Nirresträucher
(Nothofagus antarctica) oft bis zu 4 m hoch, Calafäte (Ber-
beris buxifolia) und Chacäi sind in großer Zahl vertreten.
Die Zypresse sowie einige Buchenarten, darunter Coihus (Notho-
fagus dombeyi), entfalten sich hier in ihrer ganzen Größe und
Schönheit. Der Graswuchs ist kräftig, die weichen nahrhaften
Mallingräser und die unter dem Namen „pasto tierno" bekann-
ten feinen Rasengräser bedecken weite Strecken des Talbodens.
Vallentin: Chubut 3
— 34 ^
Auch das „cardo negro", mit weißen Blüten, das von Pferden
und Rindern gern gefressen wird, wächst hier in Mengen.
Bewohnt wird das Bolsontal von 8 — 9 FamiHen mit zu-
sammen etwa 60 Köpfen. Fast alle sind Chilenen. Die Leute
treiben Viehzucht und etwas Ackerbau!. Alles natürlich nur im
kleinen Maßstabe. Die Zahl der dort gehaltenen Rinder, Schafe
und Pferde ist vorläufig noch gering, und der Ackerbau be-
schränkt sich nur auf Weizen für den Hausbedarf. Indessen
verspricht jene Gegend auf Grund des vorzüglichen Klimas,
der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens, des vorhandenen
Holzreichtums und der günstigen Wasserverhältnisse einst ein
Zentrjum des prosperierenden wirtschaftlichen Lebens zu wer-
den. Durchaus nicht zu vergessen ist hierbei die vorteilhafte
Lage, die es ermöglicht, sowohl zum Tal des Rio Manso im
Norden, wie auch zum Tal des Puelo im Süden in kurzer Zeit
zu gelangen und auf diese Art eine relativ leichte Verbindung
mit Chile herzustellen.
Was hier bei etwas Arbeit, Fleiß und Umsicht geleistet
werden kann, hat ein Deutsch-Chilene, Don Jorge Hube, be-
wiesen. Don Jorge, wie er kurz genannt wird, hat sich mit
seiner zahlreichen Familie in dieser wunderbaren Alpengegend
vor sechs Jahren niedergelassen. In Haus und Wirtschaft
walten dort deutscher Geist, deutsche Sauberkeit und Ordnung.
An das gefällige, aus Brettern und Bohlen erbaute kleine Wohn-
gebäude, dessen Giebeldach aus grünem Laubwerk idyllisch
hervorschaut, schließt sich eine Mühle mit Wasserbetrieb. Rau-
schend und schäumend stürzt ein Gebirgsbach aus dunkler Kluft
herab und setzt eine Turbine in Bewegung, die nicht nur für
die Einrichtung zum Mehlmahlen, sondern auch für eine Ma-
schine zum Reinigen von Getreide die treibende Kraft abgibt.
Etwas weiter entfernt hiervon steht ein großer Schuppen mit
Strohdach zur Aufnahme von Weizen und anderen Landwirt-
schaftserzeugnissen. Der hier angebaute Weizen gedeiht vor-
trefflich. Von einem Sack Aussaat ergibt die Ernte ungefähr
— 35 ^
15 — 16 Sack. Und ebenso wie Weizen geben alle Sorten von
Gemüsen und Früchten gute Resultate. In dem großen Garten,
der hinter dem Hause an die Berghalde sich anlehnt, habe ich
dies gesehen. Da ranken sich zunächst 500 Hopfenpflanzen
auf großer Fläche. empor, die bis jetzt hinsichtlich der Erträge
alle Erwartungen übertroffen haben. Da wachsen Äpfel und
Birnen, Pfirsiche und Kirschen; verschiedene Arten von Nuß-
bäumen sind vorhanden. Da trifft man alle europäischen Ge-
müsesorten an, Bohnen, Kohl, Erbsen, Mohrrüben, Tomaten,
ferner Kartoffeln, Kürbisse usw.
„Es ist hier alles möglich", sagte mir der alte Don Jorge;
„natürlich ohne Arbeit ist es nichts, und die meisten scheitern
daran, daß sie glauben, man könne ohne Fleiß und Mühe,
ohne Ausdauer hier zu etwas kommen. Die Natur gibt eben
nichts umsonst. Aber alles kann hier wachsen und gedeihen.
Was uns fehlt, ist nur eine gute Verbindung, bessere Ver-
kehrsgelegenheit. Das, was ich jetzt an Vieh, Getreide, Ge-
müse und Früchten besitze, könnte ich dann verzehnfachen
und verhundertfachen, weil mir dann der Absatz möglich ge-
macht ist und ich für den Verkauf auf dem Absatzmarkt wirk-
lich produzieren kann."
IV.
Zum Lago Mercedes.
Am nächsten Morgen befand ich mich auf dem Ritt nach
Süden, nach dem sog. „Hoyo^^, d. h. Grube, Loch. Es ist
dies das südHche Ende des Valle nuevo, das hier eine kessel-
artige Vertiefung auf nur 232 m Meereshöhe bildet. Der
Boden des mächtigen Talkessels ist sumpfig, wird vom Rio
Epuyen durchflössen und von fast senkrecht aufsteigenden
rissigen Gebirgswänden umgeben, deren wilde Schluchten und
Kämme guten Baumwuchs tragen. Die Ränder der unteren
Berglehnen dieses Tales sind bewohnt. Chilenen haben sich
hier niedergelassen und treiben Ackerbau und Viehzucht. Hin-
sichtlich des ersteren wird nur Weizen angebaut, der von einem
Sack Aussaat ungefähr 15 — 17 Sack Ernte ergibt. Der schwärz-
liche, tiefgründige Boden ist ausgezeichnet. Wenn einerseits
seine niedrige Lage ihn als Weideland für Viehzucht in erster
Linie geeignet macht, so birgt dies andererseits den großen
Nachteil in sich, daß er größtenteils aus Sumpfländereien be-
steht, die schwer passierbar sind. Im Winter, wenn die Regen-
güsse herniederströmen und die Gebirgsbäche herabrauschen,
befindet sich dieses ganze herrliche und fruchtbare Tal monate-
lang unter Wasser; jeder Verkehr ist dann gehemmt. In der
Winterszeit fällt auch Schnee, oft bis zu 20 cm hoch, bleibt
indessen nur 3—4 Tage liegen, da das Klima im allgemeinen
milde und warm ist. Aber auch im Sommer sind, wie sich
denken läßt, die Verkehrsverhältnisse innerhalb dieses von der
— 37 —
Natur so reichlich ausgestatteten Stückchens Erde gerade nicht
die besten, und die vorhandenen Sümpfe und Moorstrecken
werden dem ahnungslosen Reiter oftmals zum Verderben. Ich
habe das leider selbst am eigenen Leibe erfahren müssen, trotz-
dem ich mir der Sicherheit halber noch einen wegekundigen
Führer, der dort im „Hoyo" wohnte und genau Bescheid wußte,
gemietet hatte. Nur sehr vorsichtig und langsam konnten
wir uns damals mit unserer Tropilla vorwärtsbewegen. Die
aus dichtem Gras und verfilztem Wurzelwerk bestehende Moor-
decke bog sich bedenklich unter dem Gewicht von Roß und
Reiter. Bald brach ein Pferd, bald ein Maultier durch und
blieb im Sumpf stecken. Und dann bei jedem Schritt das Un-
gewisse, Trügerische mit der stillen Frage : Wird dieser weiche,
zitternde Boden, dieses Blendwerk des Teufels auch halten?
O ja, er hielt noch an dieser Stelle und schon an jener, viel-
leicht nur einen Schritt rechts oder links davon lauerte die
bodenlose Tiefe unter grünen Gräsern und Blättern heimtückisch
auf ihr Opfer. Das war kein fröhliches Reiten mehr. Man
hatte das Gefühl, als ob jeden Augenblick etwas Unheimliches
einem in den Nacken springen wolle, und als wir nach etwa
zweistündigem Ritt auf Kreuz- und Querpfaden gleichsam in
Schlangenlinien, die fast in sich selber zurückliefen, auf der an-
deren Seite wieder festen Grund unter den Füßen fühlten,
kam mir das sonst so wunderbare Tal plötzlich wie ein bös-
artiger, grauenhafter Hexenkessel vor. Selbst unsere Tiere
schienen guter Laune zu werden. Mein Grauschimmel hob
den Kopf und wieherte, und wie auf ein verabredetes Zeichen
antwortete der Rotfuchs vorn in der Tropilla und blähte die
Nüstern, legte die Ohren an, schaute links und rechts und
trabte dann nach einigen lustigen Sprüngen mit erhobenem
Schweif den steinigen Abhang in die Höhe. Ihm folgte die
ganze Tropilla, scheinbar froh, heiler Haut, nur mit nassen,
schmutzigen Beinen und Bäuchen dem heimtückischen Moor-
land entronnen zu sein! Hoch oben im Bergland aber, etwa
— 38 —
685 m über dem Meeresspiegel, am Rande einer saftig-grünen
Waldebene, machten wir kurze Rast. Freier und frischer wehte
hier die Luft. Ich rauchte behaglich meine kurze Pfeife;
der Chilene Arregada drehte sich eine Zigarette, und die Tiere
weideten gemächlich im fetten Grase.
Glänzend und klar war die Sonne hochgestiegen. Vor
mir tief unten lag der Talkessel, bedeckt mit einem grauen
Nebelschleier, so daß er aussah wie ein Gebirgssee. Ein
Windstoß fegte über die Hochfläche die Schlucht hinab, und
wie ein Schauer rann es durch die Wipfel der Bäume und über
die zitternden Grashalme; und unten auf dem unheimlichen
Zaubersee wallte und wogte es, und bläulich weiße Wasser-
nebel stiegen aus dem Tale auf und zerteilten sich in feine
Dunstschleier, die im lichtdurchfluteten Äther zu nichts zer-
flatterten.
Über Steinpampas und Grasflächen bin ich dann geritten,
über hohe Felsen und Klippen hinab in jähe Schluchten. Durch
prächtigen Hochwald führte der Pfad hinunter zum breiten
Tal des Epuyenflusses, der seine Fluten wie im Übermut über
Steine und Felsen springen läßt und dann die lärmenden und
tosenden zum Lago Puelo hinabschickt. Die Krümmungen
und Biegungen dieses lustigen Gebirgswassers sind derartig,
daß wir innerhalb einer Stunde sein Bett fünfmal passieren
mußten. Auf dem Ostufer schieben sich die Bergmassen zu
einem 2095 m hohen Gebirgsstock zusammen, während auf
dem westlichen Ufer der Cerro Pirque mit 1870 m sich aus
dem wirren Knäuel von Kuppen und Rücken und Kämmen
emporhebt. Steil geht es hinauf, um jenen vorgenannten Stock
herum, direkt nach Osten, dann wieder mehr und mehr süd-
wärts über einen Sattel hinab in das liebliche Tal des Lago
Mercedes, der, früher Filiquitreu genannt, 618 m über dem
Meeresspiegel gelegen ist.
Von weitem schon blitzen seine Silberwellen durch das
Dunkelgrün der Zypressenwaldungen hindurch. Unten aber
an seinen Ufern unter den schattigen Bäumen an senkrechter
Felswand weht ein Hauch von feierlicher Stiüe; leise, ganz
leise rauschen dazu die Wasser des Sees ihr betörendes Zauber-
lied, zart schwingend in eigenartigen Rhythmen. Und drüben, am
anderen Ufer steht eine einsame Hütte; durch die Tür glänzt
ein Feuerschein, und aus dem Dache kräuselt sich ein leichter
Rauch hinauf zur beginnenden Dämmerung.
Am Lago Mercedes.
In stummer Bewunderung blicke ich von einer Anhöhe hin-
ab auf dieses prachtvolle Bild der Ruhe und des Friedens dort
vor mir. Allmählich zerrinnt das Tageslicht, und
„Schwarze Schatten sinken
Hinab, bis sie
Vom kühlen Wasser trinken."
Ein Junge von 12—13 Jahren, mit einem mächtigen alten
Filzhut auf dem Kopf und Riesensporen an den nach Luft
vhri^rr^ß^nd^n V»<*f<*!n, k/'/mmt herlvn anrf ^uckt mich aeu-
huf-n^^ n^f<hf'^, \f:f.ot/*
Wfr wohnl hier?*^
t>^r t^Umf ftnt^orlf^ etwa^, 30% dem ich so was ähnliches
w»^: ,/vfMil/'' ^Kl^'f iU'f'^U'vMfrn entnehme.
„M;», h;f, w^hrvhfinlich ein Ix-utscher/* denke ich.
^J^iwohl, Äf'nor, aber er ist krank/'
„Nrt, denn vamo<i!''
N;i('h wrni^rn Minuten begrüßte ich den kranken Besitzer
in «i^jnf^m BHt,
Ir M rin l^cutHch« Chilene namens Schultheiß und ver-
hvUiiivi mit einer Chilenin. Vor ungefähr fünf Jahren ist
er hrfiiher^e/ogen, hat erst weiter oben nordöstlich vom See
Aich ftleder^ela.H.Hen und dann vor nicht langer Zeit am Gestade
<lec» I/i^o Mercedes selbst seine Hütte gebaut. Hier sei es
nielll so windig wie dort oben, erzählte er mir; auch sei die
MriMif«»l(litl^un^ des Viehs hier unten nicht so schwierig wie
dort. Selfi Hesit/ erstrecke sich ungefähr auf 1 Legua = 25
(^lutdiatkliottieter Land. Angefangen habe er mit nichts, rein
y«i' iilehls. Jel/.t besitze er schon mehr als 600 Stück Rinder,
ttllllerdefti viele Schafe, Ziegen und mehr als hundert Schweine.
„Ich witrde mir schon alles gut und ordentlich eingerichtet
hrthen,** so fuhr er fort, „aber ich habe noch nicht meinen
He^ll/tltel von der argentinischen Regierung erhalten können
(nul NvelU daher nicht, ob ich hier bleiben darf. Das ist eben
daM \i\'{)lW l'lend für uns Ansiedler, dieses beständige Warten
auf liloilij^jun^ unserer Angelegenheiten, dies ewige Schweben
in Un^owiUheit/*
Wir plauilertcn lange an jenem Abend. In einem becher-
aMi^en Hleeh^efaH befandoi\ sich Stücke von Hammelfett und
da» aus ra^le eine Art IX>cht hervor, fingerdick, zusammen-
— 41 —
gedreht aus irgendwelchen Lappen und mit geschmolzenem
Fett durchtränkt. Diese primitive, auf einer alten Kiste stehende
„Lampe", die ich übrigens in jenen abgelegenen Gegenden
überall angetroffen habe, verbreitete ein trübes, flackerndes
Licht in dem kleinen Schlafraum. Sättel und Zaumzeug, Lassos
und Stricke und Riemen liegen in einer Ecke oder hängen
an den kahlen, niedrigen Wänden. Mitten in dem zweiten,
größeren Raum der Hütte, der als Küche, Wohn- und Eß-
zimmer dient, knistert ein Feuer am Boden.
Der freundliche Gastwirt liegt im Bett und ich sitze lang-
gestiefelt und gespornt auf einem mit Schaffellen bedeckten
alten Sattel und mir gegenüber nahe der „Lampe" hat sich die
Frau des Hauses auf einem Schemel niedergelassen. Pechschwarz
ist ihr Haar und dunkelbraun sind ihre Augen. Die Gesichts-
züge tragen noch heute den unverkennbaren Stempel einstiger
Schönheit. Die Frau spinnt — spinnt mit der einfachen Spindel
die weiche Schafwolle zu feinen Fäden, von denen sie später
Strümpfe und Jacken strickt für ihren Mann und ihren kleinen
Jungen. Denn im Winter sei es kalt und da müsse man sich
warm anziehen, namentlich wenn die wilden Stürme von den
vereisten Kordilleren über das Land daherbrausen. Und dann
erzählte sie von ihren Schafen und Ziegenherden, und wie
jedes Tier sie kenne und auf ihren Zuruf angelaufen käme.
Und wie schönes Gemüse sie hier bauen könnten und daß sie
letzthin sogar in ihrem Garten Kümmel geerntet haben. Und
daß der Weizen hier sehr gut gedeihe. Nur sei die Entfernung
nach der Mühle in Bolson so groß und der Weg sei so schwierig.
Insbesondere im Winter sei das sehr beschwerlich.
Und inzwischen brachte der kleine Junge mit den Riesen-
sporen dienstfertig vom Feuer her den Mate, und immer wieder
erfolgte ein neuer Aufguß. Unermüdlich hüpften die gelb-
rötlichen Lichter vom flackernden Feuer an den Wänden ent-
lang, spielend, sich haschend wie in ausgelassener Freude über
das stille, zufriedene Glück in ärmlicher Hütte hier weit, weit
— 42 —
fort vom großen Weltengetriebe. Wir schwatzten und er-
zählten und plauderten, ohne zu wissen, daß es inzwischen
schon recht spät geworden war. Ich entbot darauf meinen
Wirtsleuten eine „gute Nacht", ging in den Küchenraum und
streckte mich neben dem Feuer auf mein Lager, d. h. ich
wickelte mich in meinen Poncho, legte mich auf ein Schaffell,
das auf der Erde ausgebreitet war und schob den Sattel unter
den Kopf. Allmählich verglimmte das Feuer; knisternd unter
etlichen Funken zersprang ein Ast, und dann wurde es dunkel
und still. Nur draußen rauschte es unablässig in den Wipfeln
der Buchen und Zypressen; zuweilen drang von fern her das
dumpfe Brummen eines Rindes zu mir herüber. Durch die
halboffene Holztür, durch Löcher im Dach und in den Lehm-
wänden schimmerte es hell, und mondlichtbeflutet, märchenblau
verdämmerte die Nacht.
V.
Vom Lago Mercedes nach Cholila.
Mariläo. Am Rio Percey.
Südlich vom Lago Mercedes nimmt die Gegend immer
mehr gebirgigen Charakter an. Eine sattelartige Vertiefung
führt über mehrere Erhebungen an zerrissenen Felswänden
vorbei.
Granit und quarzitischer Sandstein treten hier vielfach zutage,
und zwischen hellschimmernden Steinblöcken und grobem Ge-
röll erheben sich dunkelgrüne Waldflecke, bestehend aus Zy-
pressen und Coihuebäumen. In dunstig blauer Weite leuchtet
der zackige Kamm des Gebirgsrückens mit seinen schneebedeck-
ten Spitzen und Kuppen. Und über der herrlichen, freien,
lichten Landschaft liegt eine erhabene Ruhe, die nichts hören,
nichts merken läßt von den rasenden Pulsschlägen des großen
Lebens, die den Gedanken sorgsam zurückdrängt, daß Kultur
und Zivilisation den Menschen zur intelligentesten, aber auch
zur grausamsten Bestie gemacht haben. —
Mitten in dieser wunderbaren Alpenwelt wohnt ein Indianer
namens Mariläo. An einem Bache, der in den Epuyen mündet,
in ca. 320 m Meereshöhe, hat er seine einfache Hütte auf-
geschlagen und führt hier das idyllische Leben eines Vieh-
züchters und Ackerbauern. Als ich dort unerwartet wie eine
— 44 —
Bombe einfiel, traf ich die ganze Familie, Urahne, Groß-
mutter, Mutter und Kind im wahren Sinne des Wortes,
bei der Arbeit. Es wurde Weizen gereinigt. Auf einem
eingezäunten Platz mit festgestampfter Erde befand sich
ein hoher Haufen jener goldgelben Kömer. Zwei Männer
nahmen abwechselnd davon mit großen Schaufeln ein gewisses
Quantum heraus und warfen es hoch in die Luft. Der Wind
blies dann die leichtere Spreu hinweg, während die schwereren
Körner zu Boden fielen. Hier saßen die Weiber und Kinder
und kehrten den so gereinigten Weizen zu einem andern Haufen
zusammen. Mit Interesse betrachtete ich eine Zeitlang die
Arbeit und Menschen ; dann hatte mich eines der braunen Kinder
erblickt, kroch schreiend hinter eine große, üppig gebaute Frau,
die ein rotes Tuch fest um den Kopf geschlungen hatte, um ihr
schwarzes Haar vor Staub und Spreu zu schützen, und schaute
ängstlich zu mir herüber. Das dunkle Gesicht der Mutter
wandte sich zu mir. Zwei große, blitzende Augen sahen mich
fragend, fast vorwurfsvoll an; dann ging ein Flüstern durch die
kleine Versammlung; scheue Blicke flogen zu mir. Die Arbeit
wurde wie mit einem Schlage abgebrochen. Die Kleinen
drückten sich hinter die Großen und diese drehten mir den
Rücken zu, ließen mich also verachtungsvoll ihre Rücksicht
genießen, die nun keineswegs danach angetan war, mir etwas
des Interessanten zu bieten.
Ich war zerknirscht. Da erschien wie ein rettender Engel
das Familienoberhaupt Mariläo, begrüßte mich freundlich und
lud mich zu einer kurzen Rast in seine bescheidene Hütte ein.
Dort saßen wir auf Fellen und Decken und selbstgefertigten
Ponchos am nie verglimmenden Feuer, dessen Rauch mir die
Augen beizte, daß sie tränten, mir den Atem raubte, daß ich
fortgesetzt husten mußte. Denn Schornsteine gibt es da nicht.
Rauch und Qualm suchen sich ihren Weg nach Belieben durch
das Dach oder eine zufällig vorhandene Öffnung der Seiten-
wände oder bleiben auch gern im Innern der Hütte, wenn Wind
4Ö
und Witterungsverhältnisse einen Abzug nach draußen nicht
gestatten. Bald erschien die Frau des Hauses, eben jene mit
dem roten Kopftuch, unter dem zwei rabenschwarze, lange
Flechten über die Schultern herabfielen. Das bräunliche Oe-
''' '4^^^l
^
r
Indianermädchen. Tochter von Mariläo.
sieht konnte schön genannt werden; Mund und Kinn waren
wohigeformt, und die leicht gebogene Nase äuBerst fein ge-
schnitten. In den Ohren hing Silbergeschmeide von auffallen-
der Größe und in Gestalt viereckiger Platten; das faltenreiche,
weite Gewand war am Halse mit silbernen Ketten und Spangen
— 46 —
zusammengehalten. Was meine Aufmerksamkeit am meisten
fesselte, das waren die tadellos weißen Zähne hinter den
frischen Lippen und die außergewöhnlich kleinen, in der Tat
schön gebildeten Hände. Stolz, erhobenen Hauptes trat dies
dunkle Weib herein; ein forschender Blick aus ihren großen,
schwarzen Augen musterte mich von oben bis unten, dann
senkten sich die schwarzen Wimpern und ein leise gesprochenes
„Buenos dias" tönte zu mir herüber. Darauf reichte sie mir
den Mate, nickte ihrem Manne zu und verließ schweigsam in
stolzer Haltung den Raum.
Mariläo ließ es sich nicht nehmen, mich, der ich des
Weges unkundig war, trotz meines Führers, bis nach Cholila
zu begleiten. Dies war mein nächstes Reiseziel. Es gäbe da
schwierige Stellen und Sümpfe, die sehr gefährlich seien, und
er könne daher nicht dulden, daß ich allein reite; er wolle mit-
kommen — so ungefähr setzte er mir seine Beweggründe aus-
einander. Na, in Gottes Namen! mir konnte das Anerbieten
ja nur angenehm sein.
So stiegen wir denn in den Sattel und schlängelten uns
am linken Ufer des vorerwähnten Baches einen ziemlich steilen
Bergabhang hinauf, bis wir nach vielen und scharfen Windun-
gen zu einem mächtigen Hochplateau gelangten, das 700 bis
730 m über dem Meeresspiegel gelegen ist. Der hochstämmige
Baumwuchs verschwindet allmählich; nur niedriges Gestrüpp
zieht sich am Fuß und an den Hängen der Bergzüge hin, die
eine gewaltige, mit hohem Gras bestandene Pampa einschließen.
Der größte Teil — und zwar der beste — dieses außerordent-
lich fruchtbaren Weidelandes gehört, wie das ja so im all-
gemeinen Gebrauch ist. Nordamerikanern und Engländern. Von
Deutschen, wie gebräuchlich, keine Spur! Mehr als 16 Leguas,
also ungefähr 400 Quadratkilometer befinden sich in Händen
einer englischen Gesellschaft, die hier Rindviehzucht betreibt
und eine große „Estanzia" besitzen soll. Die Herren leben
in London und verzehren dort gemächlich ihr Einkommen aus
— 47 —
jener sog. „großen Estanzia", die in Wirklichkeit aus zwei er-
bärmlichen Hütten besteht und von ganzen drei Personen
(Knecht, Aufseher) bewohnt wird.
Im Trab und Galopp fegen wir mit unserer Tropilla über
die grüne Ebene dahin. Üppiges Gras überall, soweit das Auge
reicht; hier und da einige Rinder; zur Abwechslung dann wieder
ein einzelner, moosbedeckter Granitblock, hinter dem ein dicht
belaubter Strauch hervorgesprossen ist. Einige Geier kreisen
in der klaren Luft; vielleicht liegt dort unter ihnen ein ver-
endetes Kalb. Sonst aber alles leer, unbewohnt. Vergebens
spähe ich nach einem menschlichen Lebewesen auf diesen weiten
Gefilden, die so sonnig und so farbenprächtig zu dem flimmern-
den Himmel hinaufzuträumen scheinen. Fünf Stunden waren
wir geritten. Wir haben noch ein breites, sumpfiges Tiefland
zu passieren und halten dann vor dem Hause des Polizeikommi-
sars Bonanseo, das hart am Rande des lieblichen Cholilatales
auf einer terrassenförmigen Abplattung der jenseitigen Berg-
lehne, ca. 580 m über dem Meeresspiegel liegend, erbaut ist.
Was ich schon früher von Bolson bzw. dem „Valle nuevo"
sagte, gilt auch für Cholila. Auch hier sind die natürlichen Vor-
bedingungen vorhanden, die in nicht langer Zeit auf diesem
fruchtbaren Boden die Erstehung eines wirtschaftlichen Zen-
trums begünstigen werden. Außer Viehzucht wird der Anbau
von Weizen mit Erfolg betrieben. Einer der wenigen Be-
wohner, ein Österreicher namens Zeltmann, hat auch mit Hafer
vorzügliche Resultate erzielt, und die Gemüsezucht in allen
ihren Arten ist allgemein, natürlich auch nur in dem Maße,
wie es der eigene Hausbedarf erfordert. Auch hier besteht die
Bevölkerung aus Chilenen; nur drei Familien machen eine Aus-
nahme, zwei argentinische und die des obengenannten Öster-
reichers. Die einzelnen Wohnungen, die durchweg den Ein-
druck hübscher Bauernhöfe machen, liegen weit auseinander,
meistens am Rande des Talbodens, dort wo er an den felsigen
Fuß des Gebirges stößt und in leichten Wellungen oder Fal-
— 48 —
tungen sich nach aufwärts krümmt. Denn weiter unten, wo
der Cholilafluß mit seinen Bächen nach Südwesten zum Lago
Rivadavia strömt, ist das Land sumpfig und zum größten Teil,
insbesondere im Winter, unpassierbar. Man könnte es dort
mit einer großen, sumpfigen Wiese vergleichen, die mit ihren
saftigen Gräsern, namentlich dem sog. „pasto de maliin" und
den verschiedenen Schilfarten zur Viehzucht wie geschaffen
erscheint. Während man sich bisher um die Verwertung des
Wiesengrases herzlich wenig kümmerte und die Natur schalten
und walten ließ, wie es dem lieben Herrgott gefiel, hat man
jetzt damit begonnen, das hohe, kräftige und saftige Mallingras
zu schneiden und als Heu für die Wintermonate in großen
Schuppen aufzubewahren. Denn wie es scheint, sind die Monate
Mai, Juni, Juli, August und teilweise September sehr regenreich
und auch verhältnismäßig kalt. Im vorigen Jahr (1904) z. B.
betrug der Regenfall
im Mai
90,0
mm
„ Juni
182,5
;;
„ Juli
223,1
tr
„ August
79,4
}t
„ September 113,7
}i
Die Durchschnittstemperatur der einzelnen Monate ergab für
Januar 1904
20,21 « Celsius
Februar
16,28«
tt
März
12,74«
f)
April
9,86«
•
tt
Mai
7,04«
tt
Juni
5,40«
tt
Juli
2,63«
tt
August
4,22«
tt
September
6,23«
tt
Oktober
8,30«
tt
November
11,66«
tt
Dezember
15,39«
tt
— 49 —
Dabei wurde ein Maximum gemessen von:
29,9° Celsius im Dezember
34,8° „ „ Januar
32,6° „ „ Februar
und ein Minimum von:
— 6,9° Celsius im Mai
-7,0° „ „ Juni
-11,5° „ „ Juli
— 5,6° „ „ August
Während meiner Anwesenheit in Cholila, also im Monat
März 1905, betrug die mittlere Monatstemperatur 13,64^ C. mit
einem Maximum von 28,3 und einem Minimum von — 6,0^ C.
Die Regenhöhe war in demselben Monat, d. h. März, 49,0 mm.
Aus allem wird ersichtlich, daß hier ein völlig europäisches
Klima herrscht, nicht mit erschlaffender Hitze, sondern mit einer
mäßig warmen und erträglichen Sommertemperatur und einem
Winter von gesunder, erfrischender Kälte. Auch sonst erinnert
das ganze Aussehen dieser Gegend an ein schönes Hochtal
der Alpen.
Als ich am nächsten Tage hoch oben auf dem ersten
Absatz des östlichen Grenzgebirges stand, etwa 775 m über
dem Meeresspiegel, erschloß sich meinem Blick die herr-
lichste Alpenlandschaft in all ihrer Schönheit. Vor mir
glänzten und glitzerten aus bläulicher Niederung, teilweise ver-
steckt hinter vorgedrängten Hügeln und Bergreihen, die Spiegel
der Laguna Mosquitos und des Lago Lezana, und weiter nach
Westen öffnete sich zwischen aufgetürmten Felsenbergen das
breite Tal zu einer grandiosen Fernsicht auf den Lago Cholila.
Wie ein kurzer, schmaler Silberstreifen erscheint er in dem
feinen, duftigen Nebeldunst, der sich wie ein zarter Zauber-
schleier auf das 530 m hoch liegende Gebirgstal gebreitet
hat; und ringsherum haben sich die gewaltigen Schnee- und
Eisriesen gruppiert, wie die schweigsamen ernsten Hüter eines
verborgenen Kleinods. Von den drei weißen Zacken des 2600
Vallentin: Chubut 4
50
Meter hohen Tres Picos flimmert es herab, und in tausenden
von Lichtpunkten strahlt es hernieder auf diese zitternde, reine
Atmosphäre, mit der die Natur die Werke der Ewigkeit um-
geben hat.
Hinter mir aber steigt in jähen Absätzen ein Gebirge empor;
die Lelejkette, deren einzelne Kuppen sich bis zu 2100 m in die
Höhe recken, und die an ihrer schroffen Ostseite das Quell-
_4
^
felj:'--
^
f
Im ChoHlafa!.
gebiet der vielen Zuflüsse des Chubutstromes birgt. In einem
Bogen von Nordosten nach Südwesten zieht sich das wild zer-
rissene Gebirge bis zum Cerro Rivadavia am gleichnamigen
See, nachdem es drei fast parallel miteinander laufende Höhen-
züge abgezweigt und nach Süden entsandt hat. Große Längs-
täler sind hierdurch gebildet, und hauptsächlich in diesen liegt
die Kolonie „16de Octubre".
— 61 —
Einen schwindelnden Berghang keuchten unsere Tiere hinan,
ehe wir einen zweiten Absatz auf der Westseite der Lelejkette
erreichten. Die Flächenbildungen bei diesem terrassenförmigen
Aufbau des Gebirges sind gewaltig. Überall auf jenen pampa-
ähnlichen Ebenen sprießen die Coiröngräser zwischen dem
gelbbraunen Steingeröll hervor; Nirre (Nothofagus antarctica)
und dornige Calafätebüsche (Berberis buxifolia), Michäi-
sträucher mit langen Dornen und schlehenartigen, schwarzblauen
Früchten kriechen in Schluchten und Senkungen hinein und ver-
lieren sich höher hinauf im Hochwald. Wie einzelne vorge-
schobene Posten erscheinen die Waldflecke bei etwa 800 m
über dem Meeresspiegel. Der Nirrestrauch zeigt hier schon
kräftigeren und höheren Wuchs, und bald wölbt sich über mir
ein grünes Laubdach, und ich reite zwischen hochstämmigen
Bäumen dahin. Hauptsächlich sind es Buchenarten, die hier
wachsen, namentlich sog. Lingue (Nothofagus pumilio), die eine
Höhe von 20 — 30 m erreichen.
Schwieriger wird der Pfad, und höher und immer höher
steigen wir ; die Maultiere vorn, denn sie sind die geschicktesten
Pfadfinder namentlich im Qebirgsterrain, dann die Pferde, eins
hinter dem anderen, vorsichtig tastend an gähnenden Abgründen
vorbei; darauf folgt mein Chilene Arregada und zuletzt ich.
Polternd stürzt ein Felsstück in die Tiefe, das sich unter den
Hufen eines Tieres gelöst hat. Erschreckt spitzt letzteres die
Ohren, schielt aufmerksam zur Seite, schlägt dann wie be-
ruhigt mit dem Schweif seine Flanken und keucht langsam
weiter. Der Boden ist hier streckenweise mit grobkörnigem,
gelbem Sand bedeckt, während weiter oben an den Gipfeln
sandiges Gestein von greller, rötlichgelber Farbe zutage tritt.
Schichten von schiefrigem Ton und Lehm sind darin enthalten,
gemischt mit Konglomeraten, in denen sich eingebettete Quar-
zite und Granitstücke vorfinden.
Wir haben hier eine Höhe von 1105 m erklommen. Eine
schmale, jochartige Vertiefung führt zwischen zwei Kuppen hin-
.t^-'^
— 52 —
durch. Eine Zeitlang geht es abwärts über eine baumlose
Sandfläche, dann aber durch Gestrüpp in den Hochwald hinein
und einen fast kegelförmigen Berg hinauf, der mit Steilabfällen
versehen ist. Tief unten in dunkelblauer Kluft schimmern ge-
spensterhaft bleiche Baumstämme und Steinblöcke, und jen-
seits an den Hängen sind abgestorbene Waldungen wie in
grauweißen Flächen hingebreitet. Des Feuers Macht hat hier
gewütet. Aus duftigen, grünen Wäldern hat es zerstörend
ein ödes, trauriges Totenfeld geschaffen, auf dem tausend und
tausende von halbverkohlten Baumstämmen und Ästen wie
weiße Riesengerippe in der Sonne bleichen.
Nach etwa dreistündigem Ritt haben wir endlich den höch-^
sten Kamm erreicht. Unter schattigem Laubdach wird eine
kurze Rast gemacht. Ich messe hier um 12 Uhr mittags eine
Temperatur von 25® C. und berechne nach dem Barometer
eine Höhe von 1225,0 m über dem Meeresspiegel.
Mit viefer Mühe und Not hatten wir endlich unsere Tiere,,
die sich heute besonders widerwillig zeigten, eingefangen, die
Pferde gesattelt und die Maultiere bepackt, und senkten uns
jetzt langsam auf stark gewundenem Pfade — wenn man über-
haupt von einem solchen sprechen kann — auf der Südostseite
des Gebirgs hinab. In südlicher Richtung ritten wir, bis wir
zum Quellgebiet des Rio Percey gelangten. Das Gelände ist
hier sehr gebrochen; bergauf und bergab geht es im buch-
stäblichen Sinne des Wortes; jetzt in enger Schlucht tief unten
am felsigen Flußbett, dann hoch hinauf über jäh abstürzende
Steinwände an kahlen Bergflanken vorbei. Hier starren nackte
Felsenmauern trostlos ins Weite; dort kauern in Ritzen und
Spalten ängstlich niedrige Dornbüsche; und unten, eingeengt
durch Klippen und Trümmermassen, lärmt und tost das Ge-
birgswasser, und sein Brausen klingt herauf zu mir wie das
dumpfe Stimmengewirr eines zornigen unterirdischen Geister*
heeres.
Die Vegetation wird allmählich schwächer. Zuweilen noch
— 53 —
erscheinen die Abhänge wie mit einem dichtgewebten Teppich
bedeckt, prangend in den verschiedensten Farben, vom tiefen
Dunkelgrün mit allen Abstufungen bis zum hellsten Qelb; da-
zwischen rostbraune Flecke, rote Streifen und Flächen mit
weißen Punkten; und aus dieser natürlichen Farbenharmonie
schaut grünes Moosgestein hindurch auf rötlichgelbem Sand-
grunde. Dann aber nehmen die hellen sandigen Stellen mehr
und mehr an Ausdehnung zu, und bald wird die ganze Gegend
öde, kahl. Wie frisch aufgeschüttete Qräber ohne jeden
Schmuck, so reihen sich jetzt langgestreckte nackte Hügel an-
einander und türmen sich hintereinander auf, unheimlich drohend
in ihrem kalkigen weißlichgrauen Totenkleid. Eine unsagbare
Schwermut liegt auf dieser wildzerklüfteten, aufgewühlten Ein-
öde; alles Leben scheint erstorben und jeder Laut verhallt
wie Traumesflüstern. Ein hoher Steilabfall gebietet plötzlich
Halt. Der Höhenzug endet hier in einem plateauartigen Vor-
sprung mit fast senkrechten Wänden, an deren Fuß der Rio
Percey vorbeieilt und überschäumend vor Freude sich mit einem
wilden, von Osten kommenden Gebirgsbach vereinigt.
Es ist gegen 6 Uhr abends. Wir machen Halt und satteln
ab. Bald loht ein Feuer zum Abendhimmel auf; im kleinen
Kessel brodelt das kochende Wasser für den Mate; am Spieß
brät prasselnd ein Stück Hammelfleisch. Uns mundet das
frugale Mahl nach dem heutigen Ritt vortrefflich. Das lange
Dolchmesser, das einzige Eßinstrument, dessen man sich hier
bedient, wird am Reitstiefel abgewischt und in den Gürtel ge-
steckt; verschiedene Mates werden geschlürft, wobei geschwatzt
und geraucht wird, und dann sehen wir noch einmal nach den
Tieren, die in einer Seitenschlucht ihr spärliches Futter suchen.
Wir begeben uns zur Ruhe. Neben dem Feuer hat Arregada
mein Nachtlager aufgeschlagen. Der Sattel dient als Kopf-
kissen; Satteldecke und ein Schaffell sind die Unterlage, um
nicht direkt mit der Erde in Berührung zu kommen. In meinen
Poncho gewickelt, lege ich mich auf dies pompöse Ruhebett und
54
strecke und recke behaglich meine müden Glieder. Auf der
anderen Seite des verglimmenden Feuers liegt der Chilene be-
reits im tiefen Schlaf. Oben aber am Himmelszelt jagen phan-
tastische Wolkengebilde dahin; in den Schluchten heult der
Wind, und von unten aus den dunkel gähnenden Wassern rauscht
und braust es herauf in die schauerliche Einsamkeit, und lang-
sam und sacht „durch baumlos öde Weiten leisen Fußes geht
die Nacht".
VI.
Die Kolonie „16 de Octubre".
Und wieder waren wir einen Tag lang geritten über kahle
Hochplateaus und Graspampas, durch Moorstrecken und stein-
bedeckte Bergtäler, vorbei an Teichen und Seen, die belebt
sind von hunderten von Wasservögeln, Reihern, Wildenten
und Gänsen. Und links und rechts haben sich die Gebirgsriesen
mit ihren mächtigen Leibern hingelagert und schauen finsteren
Antlitzes hinauf zum blauen Äther. Und da hinten, weit im
Westen, erheben •die Kordilleren stolz ihre eisgekrönten Häupter
mit dem weißwallenden Schneehaar und Greisenbart. Lang?
sam steigen wir hinab ins Tal des Esguel, der, nach Vereini-
gung mit dem Rio Percey nach Süden fließend, in den Rio
Corrintos mündet. Letzterer strömt als Rio Fetaleufü auf chile-
nischer Seite nach einer scharfen Windung nach Nordwest in
den Yelchosee und aus diesem in den Stillen Ozean. Fruchtbar
und grasreich sind die Niederungen sowohl auf der Word-, wie
auf der Südseite des Corrintos bzw. Fetaleufü; zerrissen und
zerfetzt die Gebirgsmassen, die in der Hauptsache von Nord nach
Süd verlaufen und nach Bildung einer Anzahl kleiner Quertäler
sich bis zum Carrenleufu oder Corcovädo hinabschieben, wo
sie, entsprechend dem gebogenen Lauf des Flusses, nach Süd-
west und Südost auseinanderweichen.
Die höchsten Erhebungen auf diesen Höhenzügen sind der
Cerro Nahuelpän mit 2145 m über dem Meeresspiegel, der
Langleyberg mit 1930 m und ihm gegenüber in westlicher Rieh-
— 56 —
tung der Cerro Situacion und Asuncion mit ca, 1800 m; fer-
ner weiter südlich der Cerro Conico mit 2260 m und Cerro
Greda mit 2000 m.
Die zwischen den Bergzügen liegenden Täler sind be-
siedelt, und schon am Esguelbache befinden wir uns in dem
Gebiet der Kolonie mit dem merkwürdigen Namen „16 de
Octubre", Ihre Flächenausdehnung belauft sich auf ca. 50 Le-
Ara Fetaleufii.
guas, d. h. 1250 Quadratkilometer. Bei der Vermessung der
einzelnen Lose, die je eine Legua = 25 Quadratkilometer be-
tragen, ist möglichst der Terraingestaltung Rechnung getragen
worden; man hat hier von dem Unkenntnis und Faulheit ver-
ratenden System Abstand genommen, das nur einfach Quadrate
und Linien auf dem Papier ziehen will, wie das kürzlich noch
bei anderer Gelegenheit ein Herr allen Ernstes in seiner Bureau-
kratenweisheit als einfachste und praktischste Methode durch-
— 57 —
geführt wissen wollte. In der Kolonie „16 de Octubre" sind
somit nur die wirklich brauchbaren Ländereien, also die frucht-
baren Täler, mit Ausschluß der kahlen steinigen Höhen und
Kuppen, für die Besiedelung herangezogen.
Der Boden besteht im allgemeinen aus schwärzlicher
Humuserde, die auf Schichten von Sand und sandigem, tonhal-
tigem Lehm aufgelagert ist. Vielfach liegt auf dem Humus eine
Decke von Geröll, bestehend aus quarzitischem Sandstein, zer-
setztem Feldspat und den Verwitterungsprodukten verschiedener
Eruptivgesteine. Porphyrmassen treten vielfach zutage. Stellen-
weise findet sich auch Lavaasche vor, die indessen, nach ein-
gezogener Erkundigung, erst seit 11 bis 12 Jahren beobachtet
worden ist. Vor 12 Jahren fand in Chile der Ausbruch des
Calbucovulkans statt, der in der Luftlinie nur etwa 200 km
von hier in nordwestlicher Richtung entfernt ist, und da dürfte
es wahrscheinlich sein, daß die Nordwestwinde jene Lava hier-
her geführt haben.
Infolge der günstigen Bodenbeschaffenheit ist diese Kolonie
nicht nur für Viehzucht, sondern auch für Ackerbau geeignet.
Bei den mangelhaften Verkehrsverhältnissen und den fehlenden
Kommunikationsmitteln — die Entfernung bis nach Rawson
an der Ostküste beträgt 650 km — herrscht natürlich Vieh-
zucht vor; Ackerwirtschaft beschränkt sich fast allein auf den
Anbau von Weizen für den eigenen Bedarf. Das gleiche gilt
von der Gemüsezucht.
Früchte, Äpfel, Pfirsiche u. a. gedeihen gut; indessen be-
schäftigen sich die Leute mit derartigen Kulturen aus oben
genanntem Grunde wenig oder gar nicht.
Vor Jahren hatten Indianer vom Tehuelchenstamm, die
mit den Ansiedelungen an der Küste und an der Mündung des
Chubutflusses Tauschhandel trieben, von dem schönen Lande im
Innern am Fuß der Kordilleren, von seinem gesunden Klima
und dem fruchtbaren Boden erzählt. Der damalige Gouverneur
des Territoriums Chubut, Don L. J. Fontana, beschloß, eine
— 58 —
Forschungsexpedition nach jenen noch völlig unbekannten Ge-
genden zu entsenden. Am 13. Oktober 1885 brach er selbst
ins Innere auf mit 30 Mann, darunter drei Deutsche, sonst
meistenteils Galenseransiedler von der Küstengegend, mit 260
Pferden, mit Proviant und Gerätschaften. Nach dreimonatiger
Reise erreichte er das Gebirge und kam in ein weitgedehntes
Längstal, das er „Valle 16 de Octubre" benannte. Im Sep-
tember des darauffolgenden Jahres genehmigte die National-
regierung den Antrag des Gouverneurs, in jenem fruchtbaren
Gebiet eine Ackerbau- und Viehzuchtkolonie zu gründen und
dort 50 Familien anzusiedeln. Damit war der Anfang, der
heutigen Ansiedelung geschaffen.
Schon im Jahre 1895 wurden dort ungefähr 150 Bewohner
gezählt, von denen 104 Galenser, also Engländer waren. Heute
beträgt die Einwohnerzahl etwa 45 bis 50 Familien mit mehr
als 300 Köpfen. Der vorhandene Viehbestand setzt sich zu-
sammen aus:
46 265 Schafen,
28 000 Rindern
und 7 964 Pferden,
während der Wert der Gebäude, Ackerbaugeräte usw. auf nahe-
zu 250 000 Mark zu veranschlagen ist.
Die Wohnungsverhältnisse sind im allgemeinen als gut
zu bezeichnen. Da gibt es keine elenden Hütten und ärmlichen
Unterschlupfe mehr ohne Fenster, ohne Ofen und ohne jede
andere Bequemlichkeit. Das sind hier durchweg solid kon-
struierte Bauernhäuser, in denen die von jenseits des Kanals
mitgebrachte englische Gemütlichkeit, gepaart mit ländlicher
Einfachheit, ihr Heim aufgeschlagen hat. Hier zum ersten-
mal wieder auf meinen Reisen im Innern Argentiniens bzw,
Patagoniens sah ich, daß die Häuser Schornsteine besitzen. Hier
zum erstenmal bemerkte ich, daß Vorkehrungen gegen die
kalte Jahreszeit getroffen waren, daß die Wohnräume Heiz-
vorrichtungen in Gestalt mächtiger Kamine besaßen, deren
— 59 —
knisterndes Feuer im Winter eine behagliche Wärme verbreitet.
Himmel, was habe ich da sonst oft gesehen und leider darunter
ausstehen müssen, namentlich später in den Wintermonaten,
wenn ich in den sogenannten Wohnungen eines Argentiners
oder Chilenen auf feuchtem Erdboden bei zerrissenem Dach
und durchlöcherten, halbzerfallenen Lehm wänden, am arm-
seligen Feuer mitten im einzigen Raum hockend, meinen halb
Im Tal „16 de Odubre'
erfrorenen Körper wärmen wollte! Und während meine
Vorderfront halbwegs warm wurde, blieb der Rücken eisig
kalt. Dann mußte ich mich umdrehen, um nun auch der
werten Rückseite etwas Wärme zukommen zu lassen. Und so
dauerte das fort, und dabei pfiff der kalte Wind durch alle
Fugen und Löcher des „Gebäudes", und wenn es regnete, leckte
das Naß vom Dach herab oder drang unterhalb der Wände
herein und bildete kleine Pfützen und Lachen, die sich nur
— 60 —
zu bald in schlammigen Brei verwandelten. Nichts, rein gar
nichts von dem, was ein Heim angenehm machen könnte. Dieser
Sinn scheint der südamerikanischen Bevölkerung im allgemeinen
zu fehlen; ich habe das sowohl hier in Argentinien, wie auch
in Brasilien und Paraguay beobachtet. Vielleicht liegt diese auf-
fallende Erscheinung in den Eigentümlichkeiten der romanischen
Rasse begründet. Bei Angehörigen der germanischen Rasse,
wie z. B. bei den Bewohnern Südafrikas, den Buren, Hollän-
dern, Engländern und Deutschen, habe ich eine solche ge-
ringe Sorgfalt für die Einrichtung des eigenen Heims niemals
oder doch nur selten angetroffen. Bei den galensischen Kolo-
nisten von „16 de Octubre" war es dasselbe; sie haben hier
treu den alten Sitten und ungeachtet der verschiedengearteten
Umgebung ihr altes „home, sweet home" importiert und nach
aller Möglichkeit beibehalten.
Die Wohnungen sind meistens aus Stein gebaut, indessen
gibt es auch Gebäude aus Holz, aus Bohlen und Brettern,
und, wenn man vom Norden in das Gebiet der Kolonie hinein-
reitet, trifft man rechts am Wege auch einige Blockhäuser
von recht gefälligem Aussehen. Gedielte Fußböden, Fenster
mit Glasscheiben, Kamine und Schornsteine bilden das unter-
scheidende Merkmal gegenüber den Wohnungen anderer Nieder-
lassungen im Innern Chubuts. Viel tragen ja auch die hier
schon geregelten Besitzverhältnisse dazu bei, mehr und mehr
auf die Verbesserung der häuslichen Einrichtungen das Augen-
merk zu richten und vom Unentbehrlichen, Allernotwendigsten
zum Angenehmen und Gefälligen überzugehen. Zum Schönen
bleibt dabei noch immer ein gewaltiger Schritt. Dort aber, wo
diese Besitzverhältnisse aus irgendwelchen Gründen noch un-
sicher sind, oder die Leute nomadisierend umherziehen, genügt
den Bedürfnissen die primitivste Hütte, die ohne große Kosten
und Arbeit schnell errichtet und ohne Verlust und Schaden
ebenso leicht verlassen werden kann.
Das Klima der Kolonie „16 de Octubre" ist gemäßigt.
— 61 —
Die mittlere Jahrestemperatur für 1Q04 z. B. betrug 10,6 ^ C.
und stellte sich für die einzelnen Monate wie folgt:
Januar
19,14«
Celsius
Februar
16,48«
ft
März
13,29«
n
April
11,1P
i;
Mai
8,31«
tf
Juni
5,61«
tt
Juli
3,21«
n
August
5,08«
n
September
6,79«
it
Oktober
9,29«
tf
November
11,66«
ff
Dezember
17,08«
ff
Die wärmsten Monate waren:
Dezember mit 30,0« Celsiu»
Januar „ 36,7
Februar „ 31,4*
März „ 25,6'
;;
ff
,0
ff
Die niedrigste Temperatur zeigten die Monate :
Juni mit — 5,1° Celsius
Juli „ -10,6« „
und August „ — 4,9'
lO
ff
Im Jahre 1902 wurde im Juli sogar eine Minimaltempe-
ratur von — 13,50 C. und im August eine solche von — 12,8 ^
Celsius gemessen.
Die jährlichen Durchschnittsregenmengen für 1904 betrugen
50,1 mm. Die regenreichsten Monate waren:
Mai mit 88,4 mm
Juni „ 137,8 ,;
Juli „ 175,9 V
während Januar und Februar die regenärmsten zu sein scheinen.
62
In der Zeitperiode von 1S97 bis inkl. 1905 zeigte der
Monat Januar in den Jahren 1897, 1901, 1902, 1903 und 1905
sogar vollständige Trockenheit. Februar tat das gleiche 1903
und 1905 dagegen der Monat Dezember im Jahre 1900, 1901
und 1902
Die Höhenlage des großen Längstales wechselt von 400
bis 600 m über dem Meeresspiegel,
Umgebung des Tales „16de Oelubre"
In letzter Zeit haben sich die Ansiedler mehr und mehr
der Viehzucht zugewandt, so daß der Ackerbau, der sich ja
ohnehin eines geringen Umfangs erfreute, sehr zurückgegangen
ist. Schuld daran sind die schlechten Verkehrs Verhältnisse und
der dadurch bedingte Mangel an Absatzgelegenheit. Außerdem
aber haben die Heuschrecken das ihrige dazu beigetragen. Vor
5 Jahren traten nämlich in der Kolonie Heuschrecken auf,
und zwar die ohne Flügel, die sog. „voetgangers" Süd-
— 63 —
afrikas. Anstatt sofort diese Tiere zu vertilgen, was damals
ein leichtes gewesen wäre, legte man der Sache keine Bedeutung
bei, betete fleißig zum lieben Herrgott, damit er Unheil ab-
wenden möge, und lebte sorglos weiter. So haben sich denn
im Laufe der Zeit diese ewig hungrigen, gefräßigen Geradflügler
ins Ungemessene vermehren können und sind heut tatsächlich zu
einer Plage geworden, aber auch nur einzig und allein in diesem
Teil des Chubutterritoriums. Unter solchen Umständen ist es
erklärlich, daß augenblicklich nur noch ein Besitzer, der wegen
seiner Gastfreiheit bekannte Don Martin Underwood sich neben
Viehzucht auch etwas mehr mit Ackerbau beschäftigt und fast
allein soviel Weizen anbaut, wie alle übrigen Ansiedler zu-
sammen.
Im Gegensatz zu den vorerwähnten Mängeln und Schwierig-
keiten in betreff der Landwirtschaft und des Absatzes ihrer
Produkte wird die Viehzucht begünstigt durch die Lage der
Kolonie nahe der chilenischen Grenze, insofern als Chile das
natürliche Absatzgebiet für Vieh bildet und der Transport des
letzteren dorthin sich verhältnismäßig einfach bewerkstelligen
läßt. Solange — und das gilt nicht nur von der Kolonie „16 de
Octubre", sondern allgemein von allen Ansiedelungen am Fuße
des Kordillerengebirges und seiner fruchtbaren Täler — solange
der Bevölkerung im Innern der Zutritt zur Ostküste nicht er-
leichtert wird, muß sie in Handel und Verkehr nach dem an-
grenzenden Nachbar Chile inklinieren. Es ist dies eine Frage
von wirtschaftlich-politischer Wichtigkeit, der man hierzulande
wohl etwas mehr Bedeutung zumessen sollte, als es heute der
Fall ist. Je länger mit einer Verbindung, gleichviel, ob Eisen-
bahn oder sonst etwas, nach der argentinischen Ostküste ge-
zögert wird, desto größer muß sich die Abhängigkeit vom chile-
nischen Kapital gestalten, die schließlich mehr oder weniger
eine gewisse Tributpflicht im Gefolge haben wird.
Mister Underwood hatte in seiner Liebenswürdigkeit noch
am Abend meiner Ankunft einen Boten zum Friedensrichter
— 64 —
und zum stellvertretenden Polizeikommissar gesandt, um diese
beiden Herren von meiner Anwesenheit in Kenntnis zu setzen.
Am folgenden Morgen erschienen in aller Frühe die Gestrengen
in Begleitung zweier Soldaten. Ich hörte gerade einem be-
lehrenden Vortrag meines Gastfreundes über Viehzucht und
Heuschrecken aufmerksam zu, als sich in meiner Nähe die zwei
Polizeisoldaten aufpflanzten und mich scharf beäugten. Zu
gleicher Zeit flüsterten Kommissar und Friedensrichter einige
Worte mit Mister Underwood, wobei sie geheimnisvolle Seiten-
blicke nach mir warfen. Ich verstand so etwas wie „gringo,
Fremder" und dgl., konnte mir aber den ganzen Zusammenhang
nicht recht erklären, bis Underwood in ein so unbändiges Ge-
lächter ausbrach, daß er sich den Bauch halten mußte. Die
beiden anderen Herren lächelten auch, indessen etwas sauer-
süß verlegen, als ob sie auf einer CHimmheit ertappt seien.
„Hören Sie, Doktor, Sie sollten soeben festgenommen wer-
den," lachte mir Underwood zu, während ihm die Heiterkeits-
tränen über die Backen liefen ; er strich sich seinen roten Schnurr-
bart und guckte schalkhaft einmal zu mir, dann zu den anderen
hinüber. „Sie sollten arretiert werden — von diesen beiden
Herren. — Ich werde sie sogleich mit Ihnen bekannt machen —
dann geht es vielleicht besser. So — und nun kommen Sie;
das ist einen Trunk Whisky wert. Kommen Sie herein," rief
er lachend.
Und die gestrengen Herren des Gesetzes mit ihren noch
strengeren Amtsmienen lachten ebenfalls, und ich lachte auch,
trotzdem ich immer noch nicht wußte, um was es sich eigent-
lich handelt. Allmählich erst wurde ich von dem komischen
Zusammenhang der Dinge unterrichtet. Gestern Abend war
der bewußte Bote zum Kommissar geritten und hatte gemeldet,
daß soeben bei Underwood ein Fremder angekommen sei. Da
habe sich denn ungefähr folgendes Gespräch entsponnen:
„Der Mann ist ein Gringo und streift überall im Lande um-
her, schon seit einem Jahre."
— 65 —
„Hast du ihn gesehen?"
„Ja!"
„Wie sieht er aus? Verdächtig?"
„Jawohl, wie ein Landstreicher und Gaucho. Er hat ein
ganz braunes Gesicht und blonden Schnurrbart, er trägt eine
Brille, jedenfalls um nicht erkannt zu werden. Dann trägt er
einen großen, grauen Hut und hat ganz lange Reitstiefel, wie
es scheint, aus rohem Hirschleder,"
„Sieht er bös aus?"
„Ja, Herr, wild und grimmig. Und einen Revolver hat er
umgeschnallt unter seinem Rock. Das habe ich selbst gesehen.
Als ich ihn so beobachtete, muß er das wohl bemerkt haben.
Denn da hat er mich mit einem Male scharf angeschaut, von
oben bis unten, aber auch so, daß es mir heiß über den Rücken
gelaufen ist; und da hab ich's mit der Angst bekommen und
habe mich sacht fortgeschlichen. Ja, noch eins, der Mann hat
auch sofort, als er vom Pferde gestiegen ist, seine Uhr aus der
Tasche gezogen und dann in ein kleines Buch etwas hinein-
geschrieben. Dabei hat er sich nach allen Richtungen hin ge-
dreht und nach den Bergen hinaufgeguckt."
„So, so! Also gefährlich! Hm, hm! Da müssen wir
doch sehr vorsichtig sein, sehr vorsichtig. Warte! Sag doch
dem Gonzalez, daß er sofort ein Pferd satteln soll. Wir wollen
zusammen zum Friedensrichter hinüberreiten."
Nach einigen Minuten galoppierten Polizeikommissar und
Bote querfeldein zum Haus des Friedensrichters.
Dort wurde wichtiger Kriegsrat gehalten und beschlossen,
in Anbetracht der gefährlichen, sehr verdächtigen Person, die
sich momentan bei Don Martin Underwood aufhielt, alle nur
möglichen Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Denn so ein Kerl,
der seit Jahren ziel- und zwecklos im Lande herumstreift und
Revolver und Gott weiß was noch bei sich führt, sei zu allem
fähig; den müsse man unschädlich machen. Mindestens zwei
Polizeisoldaten, in voller Ausrüstung, mit Säbel und Karabiner
Vallentin: Chubut 5
^ 66 —
müßten morgen dorthin geschickt werden und, da die Sache
sehr wichtig sei, — denn sonst hätte Freund Underwood doch
nicht den Eilboten gesandt, — wollten beide, Friedensrichter
und Kommissar als Vertreter der Regierungsgewalt und als
pflichtgetreue Hüter von Gesetz und Ordnung persönlich die
Verhaftung vornehmen.
Und so erschien denn am frühen Morgen die bewaffnete
Macht, gerüstet, diensteifrig, um mich, den Landstreicher und
verdächtigen Gaucho, zu arretieren, infolge der durch den Boten
verkehrt ausgerichteten Bestellung. Das lustige Mißverständ-
nis wurde natürlich bald gelöst. Noch lange plauderten wir.
Draußen standen die Pferde gesattelt, und die Tropilla war be-
reit zum Aufbruch.
„Adios, cabelleros, hasta la vista!"
Wir schüttelten uns die Hände, und ich trabte von dannen
nach Osten zu, das Tal des Corrintosflusses hinauf.
VII.
Rio Corrintos. Im Teckatal.
über sein steiniges Bett braust der Rio Corrintos durch
eine Felsenlandschaft dahin, die durch ihre groteske, wilde
Schönheit das Auge des Wanderers fesselt. Insbesondere dort,
wo die wirbelnden Wassermassen sich ins Gestein des Gebirgs-
zuges hineingenagt und allmählich ein gewaltiges Durchgangs-
tor geschaffen haben, sind malerische Szenerien häufig. Durch
die Öffnung in den zerklüfteten Felsmassen schweift der Blick
weit hinaus über die grüne Talebene, in der die einzelnen
Bauernhöfe, umgeben von dunkelschattigen Sträuchern und
Bäumen, scharf umrissen sich abheben ; weit hinten am Horizont,
wo ein zarter Schleier die Fernsicht gleichsam abschließt, ragt
wie ein tief dunkelblauer Riesenwall das Schneegebirge. Die Be-
leuchtung dieses herrlichen Naturbildes ist eigenartig grell, die
Farbengebung intensiv, markig und feucht wie die einer Alpen-
landschaft nach kräftigem Gewitterregen. Segantini mit seinen
hellen, weißen Wolken auf tiefblauem Himmelsgrund kam mir
unwillkürlich ins Gedächtnis.
Etwa zwei Stunden ostwärts, dort, wo Senor Humphreys
sich seit vielen Jahren niedergelassen hat und auf ca. 4 Leguas
(= 100 Quadratkilometer) Land mit 4000 Rindern und 2000
Schafen Viehzucht betreibt, befindet sich ein zweiter Durchbruch
des Corrintos, ein zweites, sehr enges Tor, kaum 15 m breit
mit senkrecht aufstrebenden, fast überhängenden Felswänden.
Schuttmassen, Geröll und abgestürzte Steintrümmer füllen das
Flußbett an. Die Ufer sind nahezu vegetationslos, nur hier
5*
und da schwanken im Winde einige Halme des langen Büschel-
grases, und niedriges Domgesträuch stredct schüchtern, hilflos
seine dürren Zweige hinter einem Felskiotz hervor.
Schistartige Gebilde treten hier zutage; in der Hauptsache
Durchbruch des Rio Corrintos.
aber herrschen Konglomerate vor, die granitarttges Gestein,
Quarzit usw. in sich schließen. Felsstücke von der Größe einer
Faust bis zu 1 m Durchmesser sind da eingebettet und haben
dort, wo sie vom Wasser ausgewaschen worden sind, mächtige,
hohlenartige Löcher zurückgelassen, so daß das ganze stellen-
— 69 —
weise einem verhärteten Riesenschwamm mit großen Poren
ähnelt. Diese Geröll- und Kieselablagerungen sind charakte-
ristisch für beinahe sämtliche Flußläufe des umliegenden Ge-
bietes. Aus dem Tal des Corrintos, das an dieser Stelle ca. 550
Meter über dem Meeresspiegel liegt, stiegen wir langsam zu
einem großen, mit Steinen und spärlichem Graswuchs bedeckten
Plateau hinauf. Um IO1/2 Uhr vormittags zeigte hier oben
mein Thermometer 20 ^ C, und die Barometermessung ergab
eine Höhenlage von 841 m. Unfreundlich ist der Anblick
dieser von tiefen, schluchtenartigen Senkungen durchfurchten
Pampa, die, erstarrten Meeres wogen gleich, sich bis ins Un-
endliche hinzuziehen scheint. In einsamer Majestät ragt im
Osten der 1420 m hohe Cerro Tecka in die stahlblaue Luft
hinein. Eine silberglänzende Lagune ruht träumend zu seinen
Füßen und lauscht der schmeichlerischen Weise, die der Wind
leise im hohen Schilfrohr singt. Über einen nackten Sattel
winden wir uns hinüber und nun steigen wir, vorbei am Cerro
Caquel, langsam hinab ins grüne Tal des Teckaflusses, eines
von Süden nach Norden und dann Nordosten laufenden Neben-
flusses des Chubut.
Die Gegensätze berühren sich; so trocken und unfruchtbar
es oben aussah, so frisch, farbenprächtig und lieblich ist der
Anblick des Geländes hier unten. Zu beiden Seiten des Flusses
zieht sich eine herrliche Grasebene hin, abgegrenzt von zer-
rissenen Bergzügen, die stellenweis bis auf 1000 m aneinander-
rücken, dann aber mehr und mehr nach Norden zu ausein-
anderlaufen, dabei oft Strecken von 6 — 7 km Breite zwischen
sich lassend, und sich zu einer weiten Femsicht öffnen. Ein
großer Teil dieser Talsohle, die mit fettem Weidegras be-
wachsen ist, zeigt sumpfigen Grund. Oftmals reicht letzterer
hart an die Steilwand des Berghanges heran, so daß nur ein
ganz schmaler Pfad für den Reiter übrigbleibt. Baumwuchs
fehlt gänzlich, abgesehen von dem wenigen Etorngestrüpp, das
die Natur mitleidig auf die Abhänge hingestreut hat.
70
An den Ufern setzt sich der Boden hauptsächlich aus Ton-
schichten zusammen, zwischen denen Sandablagerungen von
dunkler, ins Bräunliche oder Blaue spielender Färbung vorkom-
men. Kalkhaltige Konglomerate treten in den unteren Lagen
mehrfach zutage. An der Stelle, wo der Arroyo Cuche in den
Tecka mündet, und weiter westwärts, nach dem wild zer-
klüfteten Quellgebiet des ersteren zu, enthält der Boden Kalk-
spat. Dort sowohl, wie auch auf dem rechten Ufer des Tecka
sind Eisenkies und Kupferkies reichlich vertreten.
Die Bäche dieser Gegend sind goldhaltig. Aber nicht
nur Waschgold ist vorhanden. Ungefähr 10 km mehr west-
wärts z. B. kommt das Edelmetall in staubförmigem Zustand
fein zerteilt im quarzitischen Gestein vor. Man hat es dort
dadurch gewonnen, daß man jenes Gestein zerkleinerte und
dann in kleineren Gefässen oder Öfen einer hochgradigen Hitze
aussetzte. Das Metall wurde hierdurch einem Schmelzungs-
prozeß unterworfen und in flüssigem Zustande ausgeschieden.
Vor Jahren haben hier einige Galenser zuerst Gold ent-
deckt; unter größter Verschwiegenheit bearbeiteten sie in primi-
tivster Art die Fundstätte. Indessen blieben die günstigen
Resultate aus ; das Betriebskapital war zu gering, und die Leute
waren schließlich froh, das betreffende Land an eine englische
Gesellschaft für einen Spottpreis verkaufen zu können, um
wenigstens etwas von dem hineingesteckten Gelde zu retten.
Heute bearbeitet die genannte Gesellschaft jene Goldmine, aber
auch nur in geringem Umfange, da, wie ich hörte, es vorläufig
noch an Betriebskapital mangeln soll. Wie es mit dem Erz-
reichtum steht, bzw. ob sich eine rationelle Bearbeitung über-
haupt lohnen wird, konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen.
Über solche Dinge pflegt man ja im allgemeinen nicht zu
sprechen aus Angst vor Konkurrenz.
Ackerbau wird in dieser Gegend gar nicht getrieben; die
wenigen Menschen, die sich im Flußtal niedergelassen haben,
— es sind nur drei kleine Haushaltungen — beschäftigen sich
— 72 —
ausschließlich mit Viehzucht, und zwar vorwiegend mit Rindvieh-
haltung. Schafzucht wird weniger betrieben.
Auf einer Legua = 25 Quadratkilometer sollen ungefähr
1500 Rinder gehalten werden. Indessen läßt sich das sehr
schwer bestimmen, sowohl hier, wie auch sonst in anderen
Gebieten des Inneren vom Territorium Chubut, da die Lände-
reien keineswegs abgegrenzt bzw. mit Drahtzäunen umschlossen
sind und das Vieh daher, außer auf dem eigentlichen Besitz,
auch auf fremdem, unbesetztem Terrain sein Futter suchen kann.
Irgendwelche statistischen Angaben dieser Art sind daher mit
Vorsicht aufzunehmen.
Die graue Theorie ist eben anders als die Praxis. Fast
alle Viehzüchter, Besitzer oder sog. „alten Kampleute" des
Binnengebiets haben mich lächelnd über diesen dunklen Punkt
einer papiernen Weisheit aufgeklärt.
„Wenn einstmals mehr Menschen hier wohnen werden,
dann wird so etwas erst möglich sein," sagte mir ein alter
Argentiner. „Und wenn wir dann durch eine Bahn die Mate-
rialien, wie Draht, Klammern usw. leicht hierher transportieren
können, dann werden wir auch unser Land einzäunen. Vor-
läufig ist das nicht nötig. Und zu was auch? Ich weiß ja
gar nicht mal, wo meine Grenzen eigentlich sind, und der dort
drüben" — er zeigte nach einer kleinen Hütte auf dem jen-
seitigen Ufer — „weiß gar nicht, ob ihm der Boden überhaupt
gehört. Aber wenn es ihm nicht mehr paßt, treibt er seine
Rinder und Schafe nach einem anderen Weideplatz, der ihm
ebensowenig gehört, und schlägt dort seinen Räncho auf. Zu
was also einzäunen ? Zu was die unnützen Kosten und Mühen ?
Herrenloses Land ist's, und geschädigt wird ja niemand."
VIII.
Putrachoique. Guanacos.
«
Inzwischen waren einige Veränderungen in meiner nächsten
Umgebung eingetreten. Eines meiner Pferde hatte ich schon
vor einigen Tagen bei einem Hirten zurücklassen müssen, da
es wegen Krankheit und Schwäche nicht mehr marschfähig
war. Als wir gestern über eine Felsenhöhe stiegen, weil das
Passieren des Sumpf lands wegen eines Steilabfalls unmöglich
wurde, stürzte im losen Geröll ein anderes Pferd, ein Rappe,
rollte dabei in die Tiefe und brach ein Bein. Ich mußte das
arme Tier mit einem Revolverschuß töten, um seinen Qualen
ein Ende zu machen. Außerdem war mein Führer Arregada,
dessen Landeskenntnis sich nur bis zur Kolonie „16 de Octubre"
erstreckte, zu seinem Rancho an den Gestaden des Nahuel
Huapi zurückgekehrt, in die Arme seiner braunen Gattin, so
daß ich mir einen anderen „Vaqueano" hatte anwerben müssen.
Nach einigem Suchen hatte ich auch einen solchen gefunden,
und zwar in der Person des Don Benito, eines braunhäutigen
Menschen, dem man die Abstammung von einer Mischrasse
sofort ansehen konnte, dem aber angeblich alle Wege und
Stege im Lande bekannt waren. Leider schrumpfte diese letz-
tere Eigenschaft bzw. Wissenschaft, als sie sich praktisch be-
tätigen sollte, auf ein recht geringes Maß zusammen, und ich
hatte meine liebe Not.
Der Morgen graute; wie ein geheimnisvolles Raunen und
Flüstern zog es über die taunasse Grasebene am Teckaflusse,
— 74 —
und bläuliche, zart hingehauchte Nebelschleier stiegen aus den
Wassern und dämpften leise die Farbenfrische der Natur, die in
dem goldigen Lichtgeflimmer des Tagesgestirns prangte wie
ein verschämtes, rosig- wonniges Mägdelein. Zwischen hohem
Schilf und dunkelbraunem Röhricht glitzerten hell die Fluß-
wellen, und im grasigen Sumpfland blinkten ruhig die Wasser-
spiegel der Bäche und Teiche und Lagunen. Und überall
auf Schilfstengeln und Grashalmen glänzte und strahlte es
von unzähligen Tautröpfchen, wie wenn eine Wasserfee in
übermütiger Laune Millionen von Diamanten und Juwelen dar-
über ausgestreut hätte. Hunderte, ja Tausende von braunen
Wildenten wärmten sich auf der glitzernden Fläche im Strahl
der Morgensonne. Tausende von Wildgänsen, hier Mutarde
genannt, mit schwarzbraunen Flügeln, weißer Brust und weißem
Halse, hatten sich am sumpfigen Rande einer langgestreckten
Lagune niedergelassen oder glitten lautlos zwischen breitblätte-
rigen Wasserpflanzen dahin; Schwärme von Kibitzen flatterten
schreiend von einer morastigen Pfütze empor. Und dazwischen
stelzten langbeinige Reiher, graue und weiße, und Flamingos
im zart rosafarbenen Federkleid. In den Lüften aber kreisten
Geier und Habicht, scharf äugend langsam bis zur Felsenwand
ziehend, um dann plötzlich auf eine ahnungslose Beute hinab-
zustoßen. Ein Gegluckse und Gepiepse, ein Gackern und Ge-
schnatter und Quacken und Flöten erfüllte die neblig kühle
Morgenluft auf diesen Wassern und verkündete das Erwachen
des jungen Tages aus traumhaftem Nachtschlummer zu neuem
Regen und Weben, den Beginn des unerschöpflichen, warm pul-
sierenden Lebens. O, du herrliche Gottesnatur! Wie schön,
wie frei, hier draußen, fern von allem Getriebe der lärmenden,
streitenden und trügerischen Welt!
In einer kleinen Talschlucht auf dem linken Ufer des Tecka
hatten wir am Abend vorher unser einfaches Lager aufgeschlagen
und unter freiem Himmel auf Sattel, Decke und Poncho geruht
wie in Abrahams Schoß. Feierlich in ernster Pracht hatten die
-:- 75 —
Sterne droben herniedergeleuchtet auf unser langsam verglühen-
des Feuer, das jetzt in der dunstigen Morgenkühle bereits
seit dem Frührot wieder lustig knisterte und flackerte. Dann
wurde schnell der unvermeidliche Mate geschlürft, etwas Hart-
brot dazu heruntergekaut und eiligst gesattelt und gepackt.
Eine Viertelstunde später trabte unsere Tropilla wohlgemut
zwischen Moorland und Berghängen nach Süden. Mit Behagen
sog ich die herrliche, würzige Morgenluft ein und erfreute
mich im stillen an dem prächtigen Landschaftsbild, das sich
meinen Blicken darl^ot. Zwei Stunden ungefähr waren wir
geritten. Da kamen wir vor einen hübschen Bauernhof. Das
Haus sah nicht übel aus, sogar ein kleiner Garten war vorhan-
den. Kaum waren wir bemerkt, so trat ein hochgewachsener,
schwarzbärtiger Mann heraus, nur bekleidet mit weißem Hemd
und Hose und bewaffnet mit einem — Kamm. Mir kam dies
schon etwas merkwürdig vor, doch legte ich weiter keinen
Wert darauf, da ich annahm, der Mann, der sich als Spanier aus-
gab, sei eben bei seiner Toilette gestört worden. Höflich,
fast aufdringlich wurde ich gebeten, abzusteigen und ins Haus
zu treten. Ich gab nach. In dem großen, mit mächtigem
Herde versehenen Raum saßen zwei andere männliche Per-
sonen ; der eine, jüngere, mit freundlichem Gesicht und offenem
Blick, der andere, ältere, mit wüsten, verwitterten Zügen, wirrem
Haar und zerzaustem, unordentlichem Bart. Ich mußte mich
neben das Herdfeuer setzen, der Spanier, der Besitzer dieses
Gehöfts, nahm auf einem Schemel Schräg gegenüber Platz und,
wie gewöhnlich, machte der Mat6 die Runde. Da, heiliger
Himmel, — ich sah entsetzt nach der Uhr, es war erst acht —
da holte der Spanier eine mächtige Geneverflasche neben
seinem Sitz hervor und bot sie mir mit zitternden Händen an.
Und dann sah ich, wie nach jedem Schluck Paraguaytee dieses
würdige Menschenexemplar immer einen tiefen Schluck aus
der dickbäuchigen Flasche tat, und wie sein Blick immer un-
stäter wurde und sein gefurchtes Antlitz einen mehr und mehr
— 76 —
bestialischen Ausdruck annahm. Der Mann muß einst schön
gewesen sein; heute bot er das Bild einer arg verwüsteten
Ruine.
Er sei schon 30 Jahre im Lande, erzählte er mir, und
dabei drehte und wand er seine Hände, als ob er irgend
etwas vor den Augen greifen wollte. Auch in Paraguay sei
er gewesen. „Jawohl, das können Sie mir gewiß glauben,"
schloß er seinen umständlichen Bericht. Und wieder griff er
zur Flasche und drückte sie inbrünstig an seine vibrierende
Lippe.
„Kennen Sie Paraguay?"
„Gewiß," antwortete ich, „ich bin dort 5 Monate gewesen.
Von da aus dem Innern bin ich hierher nach Argentinien ge-
kommen." Und harmlos fragte ich, wann er in jenem schönen
Lande gewesen sei.
Ein Wutblitz schoß aus den dunklen Augen zu mir herüber,
dann trank er stumm den Mate und griff zur Flasche.
„Ist mir alles einerlei.
Mit Verlaub ich bin so frei."
Der eine kräftige Zug schien dem Menschen nicht zu ge-
nügen; er schaute mich an, griff wieder zur geliebten, dick-
bauchigen, und — gluck — gluck — gluck — rollte das Feuer-
wasser fast ohne Aufhören hinunter.
Ich saß und staunte. Mir wurde die Situation peinlich.
Plötzlich fuhr er mich an: „Sie glauben wohl nicht, daß ich
Paraguay kenne."
„Aber warum denn nicht! Sicherlich, sonst würden Sie
mir so etwas doch nicht erzählen."
„Ja, Sie können und müssen es glauben." Seine Stimme
wurde erregter. „Ich bin kein Lügner! Caramba, Diablo!"
brüllt er mit einem Male und gebärdet sich wie ein Rasender.
„Aber die Leute, die so etwas nicht glauben, sind Lügner und
Schurken. Und Sie, Sie, Sefior, Caramba . . ." Heiser klang
seine Stimme. Ich wußte nicht, was ich denken sollte.
— 77 —
Plötzlich sprang der Kerl auf. Einen fürchterlichen Fluch
und ein ekles Schimpfwort zwischen den Zähnen hervorstoßend^
hatte er sein langes Dolchmesser aus dem Gürtel gerissen
und stürzte sich wie ein Tier auf mich. Blitzschnell aber warf
sich ihm der junge Mensch entgegen, packte Arm und Hand-
gelenk des Wütenden und drückte ihn mit Hilfe des anderen
Hausgenossen auf einen Schemel nieder.
„Donnerwetter," dachte ich, „da wird man erst höflich her-
eingenötigt und hinterher kommt man kaum mit heiler Haut
wieder hinaus. Das hätte ja schön werden können!"
Ja, der Suff ist ein Laster und kein schönes! Und da saft
nun dieser Mensch, der mich in einem Anfall von Delirium
oder sonst dergleichen morden wollte, zusammengeknickt auf
einem Stuhl und weinte und winselte wie ein kleines Kind.
„Loco ! Er ist verrückt geworden," meinten die beiden an-
deren. Und als ob nichts geschehen wäre, setzten sie sich
ans Feuer und schlürften ruhig ihren Mate. Mir allerdings
wollte es nach dem häßlichen Auftritte nicht mehr so recht
schmecken. Ich verabschiedete mich und verließ die ungast-
liche Stätte. In die erquickende Wärme des fröhlichen Morgens
war ein herber, alles erstarrender Reif gefallen !
Aus dem Tal des Teckaflusses kletterten wir am Rande
einer zerklüfteten Schlucht, eines sog. Caiiadons, entlang, der
mit Schutt und Qeröllmassen ausgefüllt war, hinauf zu einer
weiten Pampa. Hier oben, in einer Höhe von 900 bis 915 m
über dem Meeresspiegel, traten sofort die Gegensätze im
Pflanzenwuchs hervor. Anstatt der saftigen Grasmatten im
tiefen Flußtal gab es auf der leicht gewellten Hochfläche nur
spärliches Büschelgras zwischen den Steinen und Felsklippen;
anstatt des wohltuenden grünen Kolorits dort unten im feuchten
Grunde herrschte hier oben das trockene, dürre Gelbbraun
vor und verlieh dem nach Südwesten verlaufenden Plateau das
Aussehen einer eintönigen Sandwüste. Die Sonne brannte heiß
hernieder, und nirgends fand sich ein Schatten, nirgends ein
78
Tropfen Wasser, um Mann und Roß zu laben. We schweiß-
bedeckten Pferde und Maultiere ließen die Köpfe hängen, auch
Benito schaute ziemlich mißmutig drein. Aber was half's ! Wir
mußten dieses öde QeröUfeld in südöstlicher Richtung durch-
Tehuetchen- Indianerin bei Putrachoique.
<]ueren, um in eine anständigere Gegend zu gelangen. Es war
nachmittags gegen 3 Uhr, als wir am Östlichen Abhänge der
Hochpampa hielten und zu unseren Füßen eine langgezogene
Ebene erblickten, an deren anderer Seife ein Höhenzug stufen-
arfig sich aufbaut. Auf dem wildzerrissenen, von jähen Klüften
— 79 —
und Schluchten zerschnittenen Massiv erheben sich drohende
Gipfel und Kuppen, die über hohe Hänge herab in die dunkle
Tiefe starren. Über alle hinweg ragt düster der 1700 m hohe
Cerro Putrachoique, während ein Fluß gleichen Namens (Arroyo
Putrachoique) unten in der Ebene seine Wellen durch grüne
Wiesen und Qrasflächen nach Süden entsendet. Soeben
schicken wir uns an, von der Pampa in bessere Gefilde hinab-
zusteigen ; da ruft leise Benito und deutet erregt auf einen Fels-
vorsprung zu unserer Linken. Ich schaue aufmerksam hin und
entdecke nicht ohne Mühe eine Menge Tiere, die sich dort
scheinbar sorglos tummeln. Es sind Guanacos.
„Darf ich eins holen?"
„Wenn das Pferd es noch aushält, meinetwegen. Ich werde
hier bleiben."
Eine kurze Rast für meine angestrengten Tiere war mir
gerade recht. Benito hatte sich meinen Karabiner erbeten und
galoppierte nun in großem Bogen über die Pampa dahin, bis
er meinen Blicken entschwand. Pferde und Maultiere standen
in einer Erdsenkung, die den Beginn einer nach Osten verlaufen-
den Schlucht bildete, und waren bereits emsig mit Grasen be-
schäftigt; ich setzte mich auf einen Stein, zog die Pfeife hervor
und rauchte, im stillen auf das Jagdglück meines „Vaqueanos"
neugierig wartend.
Das Guanaco (Auchenia huanaco H. Sm.) kommt in Pata-
gonien zahlreich vor. Halb Schaf, halb Kamel, scheu und
flink wie ein Reh, lebt es meistens herdenweise, selten einzeln
auf der Pampafläche und in den Waldgebirgen. Sein gelblich-
rotes, wolliges und äußerst weiches Fell wird von den Ein-
geborenen zu Kleidungsstücken, Mänteln, Decken usw. ver-
arbeitet, oft mit bewundernswerter Geschicklichkeit in der sym-
metrischen Anordnung der Figurenbildung. Zusammengenähte
Felle dienen zur Herstellung der großen Zelte, Toldos genannt.
Aus den Sehnen wird starker Zwirn gemacht. Das Fleisch des
Tieres ist schmackhaft, ähnlich dem Hammelfleisch, und lieferte
— 80 —
einst den Indianern einen wichtigen Bestandteil ihrer Nahrung,
wie denn überhaupt das Guanaco für die Eingeborenen in jeder
Hinsicht ein nützliches, ja fast unentbehrliches Jagdtier gewesen
ist. Heute freilich hat sich das schon bedeutend geändert.
Die großen Quanacoherden, oft zu mehreren Hunderten,
sind seltener geworden. Die modernen Feuerwaffen haben da
bedenklich aufgeräumt. Und auch die Indianerstämme, die
einst unter mächtigen Häuptlingen als freie Herren diese un-
ermeßlichen Jagdgründe durchstreiften, führen heute, dem
modernen Ausrottungssystem erliegend, ein elendes Dasein.
Verkommen, verdorben, zurückweichend vor der brutalen Hab-
gier der Weißen, sind sie dem Aussterben nahe.
Eine geraume Zeit verging mit Warten. Da hallen kurz
hintereinander zwei Schüsse durch die stille Einöde. Die
Pferde spitzen die Ohren, blicken sich verwundert an und —
grasen ruhig weiter. Ein leichtes Getrappel schlägt an mein
Ohr. In mächtigen Sätzen klimmen die Guanacos schräg den
Abhang hinauf und sausen am Rande der Pampa entlang. Es
mögen etwa 40 — 50 Tiere sein. Jetzt haben sie mich geäugt.
Ein schriller Pfeifenton, der in ein helles Gewieher übergeht,
ertönt; ein einzelnes Tier, ich vermute ein Männchen, bleibt
stehen und wendet den Kopf zu mir. Dann nochmals ein
gellendes Wiehern, wie ein zweites Warnungssignal; und die
ganze Herde fegt mit vorgestreckten langen Hälsen pfeil-
geschwind in großem Bogen über die Pampa, bis ihre roten
Leiber wie kleine Punkte in der Ferne verschwinden.
Bald tauchte auch Don Benito auf. Am Sattel seines
schweißtriefenden Gaules hingen zwei frische Guanacokeulen.
die wir uns am Abend trefflich munden ließen. In der Nähe
eines Indianertoidos im grasreichen Tal des Arroyo Putra-
choique hatten wir Halt gemacht, um dort die Nacht zu ver-
bringen. Es war eine Indianerfamilie vom Stamm der Arau-
kaner, die sich hier niedergelassen hatte und hier seßhaft wer-
den wollte, wenn, wie der Mann sich ganz richtig ausdrückte,.
— 81 —
man sie nicht wieder verjagen würde. Die Leute hatten
durchweg hübsche Gesichtszüge und machten auf mich durch
ihr gemessenes Benehmen einen vorteilhaften Eindruck. Später,
als ich mit ihnen am Feuer saß, rauchend und Mate schlürfend,
erfuhr ich, daß sie einst zum Stamm des mächtigen Häupt-
lings Saihueque gehört hätten und aus dem Norden von der
chilenischen Grenze, dort, wo die wilden Apfelbäume wachsen,
erst bis zum Maitenflusse und dann im Laufe der Jahre all-
mählich weiter bis hierher in dieses Tal gezogen seien. Freund-
lich wurde ich aufgefordert, in dem geräumigen Zelt, das aus
Guanacofellen bestand, und in dem es recht sauber aussah, die
Nacht zu verbringen. Ich lehnte indessen dankend ab und
zog es vor, draußen unter freiem Himmel zu schlafen. Juckende
Erinnerungen an fürchterlich ruhelose Nächte und das peinvolle
Schreckbild jener kleinen braunen Springtierchen, so man Floh
zu nennen pflegt, bewogen mich, so zu handeln.
Vallentin: Chubut
IX.
Im Tal des Gennoa.
Kolonie „General San Martin."
Fast genau auf dem 44. Grad südlicher Breite vereinigt sich
der Putrachoique mit dem von Süden kommenden Cherquefluß
und beide strömen nun als Gennoa durch ein breites, frucht-
bares Tal nach Südosten in den Rio Senguerr. In jenem vor-
genannten weitgedehnten Flußtal Hegt die Nationalkolonie
„General San Martin".
Der Name „Gennoa" kommt vom indianischen Wort
„Genn" her, das bedeutet „Messer". Oer Fluß nämlich tritt oft
so nahe an die steile Bergwand heran, daß nur ein enger
Pfad, schmal wie ein Messerrücken, übrigbleibt. Nach einer
anderen Version, die mir von einem hier ansässigen Indianer
überliefert wurde, soll vor vielen Jahren in jener Ebene am Fuß
eines einsamen Felsens eine schauerliche Bluttat geschehen
sein. Ein Häuptlingssohn ist hier von seinem eigenen Bruder
bei finsterer Nacht überfallen und mit einem Messer ermordet
worden.
Das Wort „Cherque" ist in der Eingeborenensprache die
Bezeichnung für einen kleinen Dornbusch mit rotblauen Beeren,
der im Quellgebiet des betreffenden Baches in großen Mengen
vorkommt.
Das Tal des Gennoa, das oft eine Breite von mehr als
6 — 7 km aufweist, ist zu beiden Seiten längs des Flusses von
■
1
1
fl;,-
— 84 —
felsigen Höhen umschlossen. Meistens setzen sich diese aus
sehr feinkörnigem Granit zusammen, von rötlicher Farbe, der
dort, wo der Verwitterungsprozeß stark vorgeschritten ist, wie
z. B. an einigen Stellen auf der linken Uferseite, ins Blau-
schwärzliche übergeht. Porphyre und Basalte sind häufig,
namentlich weiter im Süden, und eine Decke von grobem Stein-
geröll liegt auf den Hängen. Die Talsohle hat wegen der
angeschwemmten feinkörnigen Verwitterungsprodukte aus den
höher gelegenen Berg- und Pamparegionen einen äußerst
fruchtbaren Boden, der ein vorzügliches Weideland hergibt.
Zwischen den saftigen Mallingräsem kommen strichweise die
feinen Rasengräser, das sog. „pasto blanco" vor. Die gewöhn-
lichen Grassorten, die man hierzulande unter dem Namen Coiron
zusammenzufassen pflegt, gedeihen sehr gut, verlieren aber an
Güte und werden spärlicher nach den Hängen und dem Höhen-
rande zu, sowohl auf der linken wie auch auf der rechten
Seite des Flusses. Infolge dieses, ihres kräftigen, üppigen
Graswuchses ist die gewaltige Talebene für Viehzucht in hohem
Maße geeignet. Zwar ist die Erde etwas salpeterhaltig, aber
auch gerade nur soviel, um das Futter durch die geringen
salzigen Bestandteile dem Vieh schmackhaft zu machen. Auch
sonst ist der Boden nicht schlecht zu nennen. Weizen, Kar-
toffeln, Gemüse und andere Kulturen ergeben keine ungün-
stigen Resultate. Indessen muß hierbei mit einem Faktor ge-
rechnet werden, und das ist die völlig ungeschützte Lage, die
das ganze Gebiet den kalten und heftigen Westwinden preisgibt.
Hierauf ist es auch zurückzuführen, daß in der Kolonie San
Martin bisher fast jeder Baumwuchs fehlt. Etwas mag ja
auch der Salpetergehalt des Bodens dazu beitragen. Immer-
hin aber glaube ich, daß ein Grund wohl auch in einer gewissen
Nachlässigkeit der Bewohner zu suchen sein dürfte, die sich
bisher noch keine ernstliche Mühe mit Versuchen dieser Art
gegeben haben. Die Viehzucht muß eben alles ersetzen. Und
doch, trotz des prächtigen Futters, trotzdem der Rinder „breit-
— 85 —
gestirnte glatte Scharen" den augenscheinlichen Beweis von
der Güte des Weidelandes gieben, existiert in der Kolonie auch
nicht ein einziger Ansiedler, der die Milchergiebigkeit der
Kühe für Butter- und Käsebereitung ausnutzt. Butter wird so-
gar — man höre und staune — von Europa aus in Blech-
büchsen importiert.
Der Winter in dieser Gegend ist kalt. Regen und Schnee-
fälle sind dann häufig, und das ganze Tal steht monatelang
unter Wasser, ein Umstand, mit dem man allerdings mehr
oder weniger in ganz Patagonien zu rechnen hat. Die Schnee-
decke erreicht eine Dicke von 20—30 cm, bleibt aber nur
wenige Tage liegen. Die eigentlich permanent wehenden Winde
lassen in den Wintermonaten etwas nach, werden während
des Sommers erheblich stärker und erreichen im Frühling, in
den Monaten Oktober und November ihren Höhepunkt.
Seit ungefähr 4 Jahren existiert die Kolonie General San
Martin; seit 6 Jahren sitzen die ersten Ansiedler in jenem Tal.
Der Flächeninhalt beträgt 50 Leguas, das sind 1250 Quadrat-
kilometer; jedes Los ist 1/4 Legua groß, umfaßt also 625 ha.
Die Nationalregierung hat das Land so vermessen lassen und
an argentinische Bürger oder solche, die es werden wollen,
vergeben, und zwar umsonst. Dafür müssen aber gewisse
vom Gesetz vorgeschriebene Bedingungen erfüllt werden, unter
denen obenan diejenige steht, argentinischer Bürger zu sein
oder innerhalb zweier Jahre zu werden. E>er Ansiedler muß
ferner diesen ihm zugewiesenen Grundbesitz persönlich be-
arbeiten bzw. bewirtschaften und innerhalb einer Frist von
zwei Jahren ein Haus mit den nötigen Nebengebäuden, wie
Schuppen und dergleichen errichten; er muß mindestens 200
Schafe oder für je 5 Schafe eine Kuh einführen, 40 Bäume
gepflanzt und 5 ha Boden kultiviert haben. Nach 5 Jahren
und nach Erfüllung dieser Bedingung wird der Ansiedler end-
gültiger Eigentümer seines Landloses. Der definitive Besitz-
titel wird ihm dann ausgehändigt. Indessen ist es jedem frei-
— 86 —
gestellt, bereits nach 2 Jahren durch Zahlung von 500 Pesos
das Eigentumsrecht zu erwerben.
Bis jetzt sind von den 200 Kolonielosen 89 besetzt. Die
Bewohnerschaft besteht aus 89 Familien mit insgesamt 504
Köpfen und setzt sich zusammen aus Argentinern, Spaniern,
Italienern und Indianern. Auch zwei [>eutsche wohnen dort,
Don H. Faesing und der kleine Maximo Reichelt.
Die Wohnungen sind einfach, fast dürftig, aus Erdziegeln,
Adobe, gebaut und ^it Zinkblech oder Schilf eingedeckt. Alles,
auch die innere Einrichtung, ist sehr anspruchslos. Gedielte
Fußböden sind selten ; es genügt die festgestampfte gewachsene
Erde. Die meiste Sorgfalt ist wohl dem Raum zugewendet,
der die Feuerstelle enthält, da er als Küche und Wohnzimmer
den hauptsächlichsten und im Winter auch den angenehmsten
Aufenthalt gewährt. Immerhin aber ist man hier schon über
das Stadium des primitiven Ranchos (Hütte) längst hinaus.
Daß die hauswirtschaftliche Entwicklung eine geringe ist,
und das, was man ein gemütliches Heim nennt, fehlt, dürfte
seine Begründung wohl in dem Mangel an Hausfrauen finden;
denn die meisten Ansiedler in der Kolonie General San Martin
sind nicht verheiratet.
Bei dem Mangel an Holz wird die Wurzel der Lena de
Piedra zur Feuerung benutzt. Die eng miteinander verfilzten
kleinen Blätter und Wurzeln jener Pflanze bilden nämlich eine
Art Torf, der sich vorzüglich zum Brennen eignet.
Der Viehbestand betrug zur Zeit meiner Anwesenheit:
6155 Stück Rindvieh,
6 360 „ Pferde und
38 750 „ Schafe.
Die Viehhaltung pro Legua läßt sich schwer bestimmen,
da auch hier an eine Umgrenzung oder Umzäunung des ein-
zelnen Besitzes gar nicht gedacht wird. Illusorisch wird die
Sache noch dadurch gemacht, daß die Überschwemmungen
im Winter ganz andere Verhältnisse schaffen, da dann das Vieh
— 87 —
genötigt ist, aus dem Tal herauszugehen und an den Hängen
oder oben auf der Pampafläche sein Futter zu suchen. So hält
u. a. der Friedensrichter, Sefior Crespo, der bereits seit 14
Jahren hier ansässig ist, auf 1 Legua (25 Quadratkilometer)
etwa 4000 Schafe und 1000 Rinder, aber auch nur in den
Sommermonaten. Während der Winterszeit ist diese Zahl natür-
lich bedeutend geringer, kann indessen, wie mir Sefior Crespo
selbst sagte, unmöglich auch nur annähernd angegeben werden.
Innerhalb des Kolonialgebietes befinden sich 5 Geschäfts-
häuser, in denen Bedarfsartikel aller Art käuflich zu haben sind,
Kleider, Gerätschaften, Eßwaren, Getränke usw. Bei der
großen Entfernung von der Ostküste und dem Fehlen ordent-
licher Kommunikationsmittel ist das natürlich ein großer Vor-
teil für die Ansiedler und — in Anbetracht der ziemlich ge-
pfefferten Preise — für die Kaufleute selbst. Von letzteren
haben bis jetzt alle reüssiert, auch wenn sie noch so klein,
vielleicht mit einer ganz erbärmlichen Boliche angefangen
haben.
#
Bei ruhiger Überlegung wird es nur zu klar, daß alles
Geld, das aus dem Boden durch irgend eine Bewirtschaftungs-
form herausgeholt worden ist, schließlich in diesen Kaufläden
und Schnapsschenken hängen bleibt. Namentlich für die ein-
geborene Bevölkerung, für die irgendwelche einschränkende
Bestimmung hinsichtlich des Verkaufs von Spirituosen, wie es
u. a. in Transvaal der Fall war, gar nicht existiert, ist es geradezu
ein Verderben.
Von Rawson, der Hauptstadt des Territoriums an der
Ostküste, ist die Kolonie General San Martin ca. 110 Legua
= 550 km entfernt. Ein breiter Wagenweg führt von dort den
Chubutfluß entlang nach Westen bis zum sog. „Paso de los
Indos". Eine Fähre bewerkstelligt hier den Übergang über
den Strom, und der Weg zieht sich dann weiter nach Westen
bis in das Koloniegebiet hinein. Eine andere Verbindung hat
die Kolonie mit dem weiter südlich gelegenen Hafen Como-
89
doro Rivadavia, auch Rada Tilly genannt, in Gestalt eines
Wagenweges, der in südöstlicher Richtung über die Kolonie
Sarmiento geht, oder, weiter südlich davon dem Laufe des
Senguerrflusses folgend, bis zur Grenze des Territoriums Santa
Cruz läuft, und dann in östlicher Richtung über die sog. Pampa
alta bis zu dem genannten Hafen führt. Diese Wege sind etwa
90 bzw. 110 Legua, also ungefähr 450—550 km lang. San
Martin liegt demnach von dem nordöstlichsten und südlichsten
Hafenplatz, die beide gleichzeitig auch die wichtigsten des
Territoriums Chubut darstellen, fast gleich weit entfernt. Zieht
man femer die Lage in Betracht zu den bereits besiedelten Ge-
bieten, wie z. B. zu der im Norden gelegenen Kolonie „16 de
Octubre", Cushämen, Bolson usw., und auf der anderen
Seite zu denen im Süden und Südosten, Sarmiento und
Escalante, so wird es ersichtlich, daß die Kolonie San
Martin sozusagen im Herzen Chubuts und im Zentrum der
Binnenregion am und im Kordillerengebirge gelegen ist. Die
bereits vorhandenen Verbindungswege nach allen Richtungen
hin, die Gunst der Lage in der Nähe der chilenischen Grenze,
die doch die Möglichkeit eines Verkehrsweges nach dem Stillen
Ozean durch das Gebirge von selbst gibt, werden sicherlich
dazu beitragen, bei zunehmender Bevölkerung und Herstellung
moderner Kommunikationsmittel, wie z. B. einer Eisenbahn,
gerade die Kolonie General San Martin zu einem
Mittelpunkt des wirtschaftlichen Lebens zu
machen. Alles aber — und das betone ich ausdrücklich —
hängt in erster Linie von der Entwicklung der Verkehrsverhält-
nisse ab. Bei den vorhandenen, äußerst günstigen natürlichen
Grundbedingungen fehlen nur noch Bahn- und Wegebauten,
um eine Erschließung des Landes zu bewirken. Mit einem
Bahnbau, gleichviel zu welchem Hafen, wird das
ganze Territorium wie mit einem Zauberschlage ein anderes
Gesicht erhalten. Wer aber — und das ist sicherlich wahr —
das Verkehrswesen in Händen hat, dem wird das
— 90 —
Land selbst gehören, ich meine nicht als Eigentums- oder
Besitzobjekt, sondern in dem Sinne, daß mit der Er-
schließung des Landes durch Bahn- und Wege-
bauten ihm auch der gewaltige Reichtum desselben
durch weitere Ausnutzung zur Verfügung steht.
An das Telegraphennetz des Landes ist die Kolonie
General San Martin bereits angeschlossen. Gerade während
meiner Anwesenheit daselbst waren Ingenieure mit der Ein-
richtung des Telegraphenamts imd mit den damit verbundenen
Arbeiten beschäftigt, so daß nunmehr die Möglichkeit gegeben
ist, nach allen Richtungen innerhalb der Argentinischen Repu-
blik, wie auch nach anderen Ländern und überseeischen Kon-
tinenten telegraphisch Nachrichten zu senden.
X.
Die Tehuelchenindianer.
Auf dem Wege, der mich vom Putrachoique nach General
San Martin in das grüne Tal des Oennoa führte, traf ich mehrere
Indianertoidos (Zelte) an. Die Insassen gehörten zum Tehuel-
chenstamm, der einstmals diese ganze Gegend bewohnt haben
soll. Tehuelche bedeutet das Volk aus dem Süden, (che = Volk,
Tehuel = Süden). Durchweg waren es große, das Mittelmaß
erheblich überschreitende Gestalten von regelmäßigem und
kräftigem Körperbau, oftmals wahre Hünenfiguren, die wie
die letzten Repräsentanten eines kraftvollen Riesengeschlechts
aus vergangenen Zeiten in unsere Tage hineinragen. Im Hause
des Sefior Crespo lebt z. B. noch ein Tehuelchenweib namens
Joqu6n, über deren Scheitel nahezu 100 Winter dahingerauscht
sind. Und doch ist dieser Scheitel noch nicht gelichtet und
zeigt auch noch nicht ein einziges weißes Härchen. Pech-
schwarz wallt das Haar lang herab zu den Schultern, und in
dem pergamentartigen, dunkelfarbigen Gesicht blitzen zwei
Reihen tadelloser weißer Zähne, und die großen Augen fun-
keln noch so lebhaft, als ob sie zu einer Frau in mittleren
Jahren, aber nicht zu einer hundertjährigen Greisin gehörten.
Und diese alte, rüstige Indianerin — das habe ich selbst ge-
sehen — isf noch tätig. Sie versieht die Kinder und holt
Holz zum Feuermachen und hilft in der Hauswirtschaft auf
alle Art. Ihr Sohn, ein hochgewachsener, breitschultriger
Mensch, ist ebenfalls dort beschäftigt.
92
„Und dieser Sohn," sagte mir Sefior Crespo, „sehen Sie
ihn mal an! Der hat so ausgesehen schon damals, als ich vor
etwa 30 Jahren hier gewesen bin. Damals war ich ein ganz
junger Mensch, hatte noch nicht einmal einen Bart. Heute ist
Tehuelchenweib aus dem Oennoatal.
mein Bart grau und mein Kopfhaar ebenfalls, soweit es noch
vorhanden ist. Und er — sehen Sie nur, da kommt er gerade —
er hat noch immer seinen schwarzen Schnurrbart und auf dem
Kopf sein blauschwarzes, starkes Haar. Ja, es sind merkwürdige
Menschen, diese Indianer, ein ganz anderer Schlag, kraftvoll.
— 93 —
widerstandsfähig in jeder Hinsicht. Aber wissen Sie, ich glaube,
das kommt auch von dem einfachen natürlichen Leben, das
diese Leute geführt haben. Heute ist das freilich schon etwas
anders geworden. >Xiie lange wird's dauern, dann sind sie
alle dahin; und was hätte aus diesen starken Menschen, die
in ihrer Brust ein gutes, ehrliches Qemüt bergen, gemacht
werden können! Was für tüchtige Arbeiter, gerade hier in
unserem Patagonien, wo es allerorts an Arbeitskräften
mangelt!"
Senor Crespo hielt inne und sah nachdenklich vor
sich hin.
„Und Sie können mir glauben, Doktor," fuhr er fort, „es
sind tüchtige Arbeiter und treue und ehrliche Menschen, wenn
sie richtig behandelt werden; aber daran fehlt es."
Davon, daß die Indianer fleißig sind, habe ich mich ja
wiederholt selbst überzeugen können, mindestens ebenso fleißig,
wie der gewöhnliche weiße Ansiedler oder Viehzüchter des
Landes, der im allgemeinen die Mutter Natur für alles sorgen
und nach eigenem Gutdünken schalten und walten läßt.
Auch bei den Toldos oder Ranchos, die ich auf meinem
letzten Ritt angetroffen habe, konnte ich bemerken, daß fast
jede Indianerfamilie ein Stückchen Weizenland unter Kultur
hatte, und verschiedentlich habe ich in den Indianerzelten
frischen, selbstzubereiteten Käse gegessen, den ich dort in den
Häusern der Weißen nur selten vorgefunden habe.
Mehr und mehr sind heute die Tehuelchen nach dem
Süden gedrängt. Auch ihr Stamm ist nicht mehr ganz rein, da
sie sich vielfach mit den Pampaindianern vermischt haben, die
augenblicklich in dieser Gegend an Zahl bedeutend vorherrschen.
Daher kommt es auch, daß die durchschnittliche Körpergröße
der Tehuelchen etwas herabgemindert worden ist, sowohl beim
Mann wie bei der Frau. Immerhin ist ihr Wuchs gut propor-
tioniert, mit stark entwickelten Arm- und Brustmuskeln. Die
Hautfarbe spielt ins Rötlichbraune ; trotzdem zeigen die Wangen
94
eine frischrote Farbe, was mir namentlich bei den Frauen und
Mädchen aufgefallen ist. Die Nase hat meistens die fein-
geschnittene Form einer Adlernase. Die lebhaften Augen sind
dunkelbraun, und das dichte, straffe Kopfhaar, das noch ziem-
lich lang bis in den Nacken hinein getragen wird, ist tief dunkel-
schwarz. Bewundert habe ich stets die kleinen, wohlgeformten
Hände und Füße sowohl beim männlichen wie aber insbesondere
beim weiblichen Geschlecht.
Die Kleidung ist ähnlich derjenigen der Mapuche in Cus-
hämen. Nur herrscht das Althergebrachte vor. Schon hier,
und dann weiter und weiter nach dem Süden zu, tritt das
europäische Merkmal immer mehr zurück, und die überlieferten
Stammessitten und Gebräuche überwiegen auch hinsichtlich der
Kleidungsstücke. Die alte Chiripa, der Potrosstiefel, das Stirn-
band, der Mantel aus Guanacofellen sind fast überall zu finden,
während die Weiber sich .weniger in moderne Blusen und
Taillen und Röcke eingezwängt haben, sondern das weite,
hemdartige Gewand und das mantelartige, um die Schultern
geschlungene Tuch vorziehen, das am Halse durch Spange
und Kette und um die Hüfte mit einem Gürtel zusammen-
gehalten wird.
Vereinzelt leben hier die Eingeborenen in ihren Zelten und
Hütten, die sie in weit abgelegenen Gegenden errichtet haben,
oftmals hoch oben in rauhen, wild zerklüfteten Bergen oder in
dem einsamen Tal eines brausenden Bergwassers. Versteckt,
unsichtbar bleiben diese Niederlassungen dem Wanderer, und
nur selten weist ihn eine hinter Felsen aufsteigende Rauchsäule
auf den Gedanken hin, daß in jener öden, verlassenen und
unwirtlichen Gegend Menschen hausen.
Tolderias, d. h. ein aus mehreren Zelten bestehendes Zelt-
lager, sind hier schon selten. Erst weiter im Süden sind sie
anzutreffen, indessen bei weitem nicht mehr so zahlreich, wie
es einst früher der Fall gewesen ist. Die Toldos haben nicht
die kegelförmige Form der bekannten nordamerikanischen Wig-
wams, sondern die Gestalt eines Vierecks mit flachem Dach.
Drei Reihen Pfähle werden in gewissen Abständen, je nach der
beabsichtigten Größe des Zeltes, in die Erde getrieben; die
der ersten Reihe etwa 2,5 bis 3 m hoch, die der zweiten
etwas niedriger und die der dritten, die gleichsam die Hinter-
front bildet, ungefähr 1 m hoch. Über diese Pfähle wird eine
mächtige Guanacodecke gespannt, die oft aus mehr als 50
Ein Zelllager (Tolderia) von Indianern.
Guanacofellen zusammengenäht und deren innere haarlose Seite
zum Schutz gegen Wasser und Feuchtigkeit mit Ockerfarbe
und Fett bestrichen ist. Mit starken Lederriemen wird die
große Decke oben an den Pfählen und unten am Boden be-
festigt. Die vordere Pfahlreihe trägt noch eine zweite Fell-
decke, die nach vorn schräg herabgezogen und ebenfalls an
kurzen Pfählen nahe dem Boden festgebunden wird. Hier be-
findet sich auch der türenartige Eingang. Auf diese Weise is*
— 96 —
ein großer, oben dachartig bedeckter und von allen Seiten
umschlossener Raum hergestellt, den man durch Decken und
Felle, die an der mittleren Stangenreihe angebracht sind, ge-
wöhnlich in zwei große Hälften einteilt. Die rückwärtig ge-
legene enthält die einzelnen Schlafplätze, die wiederum durch
Vorhänge und Decken voneinander abgetrennt sind und in
denen ausgebreitete Häute, Ponchos, Felle, selbstgewebte
Decken und dergleichen die Lagerstätten bezeichnen. Die
Feuerstelle befindet sich im vorderen Räume. Er dient zum
allgemeinen Aufenthalt, ist also sozusagen das Wohnzimmer
der Familie und gleichzeitig die Küche. Das Innere des Zeltes
ist sauber gehalten, wie denn auch im allgemeinen die Hütten,
Ranchos oder kleinen Häuschen, die neuerdings von den In-
dianern an Stelle der Zelte mehr und mehr benutzt werden,
fast durchweg ein wohnliches Aussehen zeigen. Je weiter
man nach dem Süden kommt, desto häufiger wird man auf Tol-
dos stoßen, während im Norden das feste Wohnhaus, wie z. B.
in Cushämen, immer mehr Terrain erobert hat. Mit anderen
Worten: das bewegliche Zelt wird dort von der festgebauten
Wohnung verdrängt; die Eingeborenenbevölkerung hat begon-
nen, seßhaft zu werden und sich zu assimilieren, soweit es
eben den spärlichen Resten der einst so mächtigen Stämme an-
gesichts der Übermacht der Kultur als einer unerbittlichen Not-
wendigkeit noch möglich ist. Das grauenhafte Fatum, dem
die letzten ihres Stammes im natürlichen Selbsterhaltungstriebe
zu entrinnen streben, es drängt sie doch dem Untergang ent-
gegen, und das Leben dieser ganzen stolzen Rasse
„Es gehet den einen
Urewigen Weg,
Es endet im Grabe.*'
XI.
Von der Kolonie „General San Martin" zum
Picotal in den Kordilleren.
Vom Gennoaflusse westwärts — so erzählt uns die Sage —
liegt in einem prachtvollen Gebirgstal der Kordilleren inmitten
herrlicher Wälder mit blauen Seen und rauschenden Bächen eine
verzauberte Stadt, die „Ciudad Encantada". Hohe Mauern
umgeben sie, imd ein einziges Tor führt über einen tiefen
Graben hinein. Und in der Stadt gibt es schöne Häuser aus
Stein mit silbernen Dächern und Marmorsäulen, und die Wände
des Innern sind mit Gold und Silber getäfelt; Stühle und Tische
und alle Gerätschaften sind von Silber. Und in dieser Stadt
und über das ganze Land und alle Wälder und Flüsse und Seen
herrscht ein ehrwürdiger Greis mit langem, weißem Bart und
Haupthaar und großen, mild blickenden Augen; der sitzt auf
einem goldenen Thron. Und alle Leute ehren und lieben ihn.
Denn er ist ein guter und gerechter Mensch. Und sie bringen
ihm von ihren fetten Rindern und Schafen und von den Er-
trägen ihrer Äcker Geschenke als Zeichen ihrer Achtung. Und
innerhalb der Stadt steht ein großer Turm mit einem tiefen Ge-
wölbe, und in diesem unterirdischen Gewölbe liegen die herr-
lichsten Schätze der Welt verborgen, Geschmeide und Kronen
von Gold, Ringe, Ketten und Spangen von Gold und Silber,
und viele Diamanten und Edelsteine, soviel, daß diejenigen, die
zum erstenmal diese Herrlichkeiten zu schauen bekommen, drei
Vallentin: Chubut 7
— 98 —
Tage lang nicht sehen können ; so sind ihnen die Augen von all
dem Glanz, dem Blitzen und Funkeln der Schätze geblendet.
Nur wenigen ist es bisher vergönnt gewesen, den Weg nach
dieser geheimnisvollen Zauberstadt zu finden. Einige Wanderer,
die sich im Gebirge verirrt hatten, haben sie zwar von weitem
gesehen, aber beim Näherkommen hat es geschienen, als ob
die ganze Stadt sich immer mehr entfernt habe, bis sie dann
mit einem Male im Nebel verschwunden ist. Nur sehr wenig
Jägern ist es geglückt, in das Innere hineinzukommen. Sie
seien dann — so wird berichtet — durch eigentümliche Töne
wie von fernem Gesang und Glockengeläut aufmerksam ge-
macht worden; häufig hätten sie auch ein dumpfes Getöse,
ein starkes Rollen und Krachen gehört und seien dann diesem
Geräusche nachgegangen, bis sie mitten im tiefen Wald an einem
dunkelblauen See plötzlich bebaute Felder und Äcker und
Wiesen sowie grasende Viehherden gesehen hätten. Dann
sei von einem kleinen, weißen Hause ein alter Mann gekom-
men, hätte ihnen die Augen verbunden und sie auf sehr ge-
wundenen Pfaden durch ein großes Tor in die reiche Stadt
geführt, wo sie mit einemmal vor dem goldenen Thron eines
ganz alten, weißbärtigen Greises, eines Herrschers, gestanden
hätten. Sie seien dann später ebenso aus dem Ort heraus-
geführt worden, hätten aber niemals mehr die Wege trotz aller
Anstrengungen wiederfinden können.
So die Überlieferung von einem unbekannten Volk oder
von Menschen, die in jenen sagenhaften, noch unerforschten
Gebirgsgegenden der Kordilleren leben sollten.
Für die Bewohner der Ebene und der Küste muß ja die Phan-
tasie angesichts der ungewohnten, total verschiedenen Natur der
Kordillerenregion mit den ungeheuren Felsen und der Einsamkeit,
den Wäldern und den schimmernden herrlichen Seen eine
Vorstellung von etwas Großem und Gewaltigem, von etwas
Unbekanntem, Geheimnisvollem, das man gern ergründen
möchte, aber nicht ergründen kann, ohne Zweifel hervorrufen.
— 99 —
Auch heute noch gibt es viele Eingeborene, die, abergläubisch,
wie sie nun mal sind, fest an das Vorhandensein jener ver-
borgenen „Stadt am See" glauben. Auf was indes die Sage
eigentlich zurückzuführen ist, habe ich nicht in Erfahrung
bringen können. Jedenfalls weist sie auf die große, natürliche
Fruchtbarkeit jener Gebirgsgegend hin und gibt dunkle Kunde
davon, daß dort vor Zeiten schon Menschen in festen Ansiede-
lungen gewohnt und Viehzucht und Ackerbau getrieben haben.
Betrachtet man die Sache näher, so wird man finden,
daß tatsächlich westlich vom Qennoatal das Gebirge außer
anderen Senkungen, ein mächtiges, äußerst fruchtbares Quer-
tal bildet mit Seen und Flüssen und Wäldern, das vom Pico-
fluß durchströmt wird. Nördlich davon liegt der Lago General
Paz und von diesem führt das Tal des Rio Corcovädo zum
„Valle 16 de Octubre". Südlich vom Picotal erstreckt sich
das fruchtbare Tal des Rio Frias, das im Süden durch einen
Höhenzug von einer schönen Ebene, dem Tal des Lago Fontana,
getrennt ist. Wo nun aber in diesen Gegenden, die ja alle
westlich vom Gennoa liegen, die sagenhafte Zauberstadt ver-
borgen sein soll, konnte mir niemand verraten.
In der Kolonie General San Martin hatte ich mein Pferde-
material, soweit es möglich war, aufgefrischt, hatte für Ergän-
zung des Proviants gesorgt und einen des Landes kundigen
Führer gemietet, einen Vollblutindianer namens Jose Gara-
millo. Es war in den ersten Tagen des Monats April, als ich
mit meiner Tropilla aufbrach, um nach Westen in die Kor-
dilleren vorzudringen. Ein kalter Wind pfiff durch das breite
Tal und jagte oben am Himmelszelte trübe Wolkenmassen
hinter den Felsbergen hervor, wo die Halme des langen Grases
sich in Demut beugten und das niedrige Dorngesträuch ängst-
lich am Boden zusammenkauerte. Drohend, fast gespenster-
haft ragte ein einzelner mächtiger Felsenklotz mitten aus der
grünen Fläche zu den Wolken auf; fast senkrecht ohne jeden
Übergang steigt sein dunkles Gestein aus dem Erdboden in
— 100 —
di€ Höhe wie der abgebrochene Sumpf einer Riesensäule, die
finster an ein grauenhaftes Verbrechen gemahnt. — —
Vor einer zerfallenen Hütte standen drei braune Indianer-
kinder, halb nackt, mit verwirrten, schwarzen Haaren. Ängst-
liche Blicke warfen sie zu uns und fingen an, laut zu schreien,
indem sie sich eilends in das dunkle Innere der Behausung zu-
rückzogen. Und dann trat ein altes Weib heraus; wie Perga-
ment erschien ihr runzeliges Antlitz und in dem langen, ver-
wilderten Haupthaar zauste der Wind und zerrte an ihrem
weiten Gewand. Die Augen der Greisin waren halb ver-
schleiert. Sie hob die Arme hoch und machte Zeichen in der
Luft und sprach beständig vor sich hin. Darauf wandte sie
sich nach den vier Himmelsrichtungen und rief laut einige un-
verständliche Worte. Es sah unheimlich aus; dazu brauste
der Wind aus den Schluchten und von oben herab. Und
plötzlich drehte sich das Weib zu mir, heftete einen großen
Blick aus ihren dunklen, jetzt weitgeöffneten Augen auf mich
und brach, beide Arme hoch wie zu einer Beschwörung empor-
haltend, in ein schauerliches Geheul aus.
Mich gruselte, ich gab meinem Pferd die Sporen, um aus
dem Bereich der Hexenmacht zu kommen. Mein Führer, Don
Jose, indessen blickte stumm und gleichmütig vor sich hin. Auch
nachher, als ich mit ihm über das soeben Geschehene sprach,
blieb er wortkarg; nur als ich fragte, ob die alte Frau wohl
vor mir, dem Fremden, Angst gehabt hätte, nickte er.
„Si, Senor, sie hat sich gefürchtet, sehr gefürchtet!"
Das war alles!
Ein braunes Gemenge von Fels- und Steingeröll, vermischt
mit grobem, kieseligem Sand, bedeckt das hügelige Terrain,
das sich westlich vom Tal des Gennoa bis zum Lauf des
Cherque hin erstreckt. Der Graswuchs ist hier nicht gerade
sonderlich; nur stellenweise dort, wo in den tiefer gelegenen
Teilen ein Bach sich langsam dahinschlängelt oder eine sumpfige
Wasseransammlung entstanden ist, fällt die frischgrüne Fär-
— 102 —
bung schon von weitem ins Auge. Hier wächst fettes und saf-
tiges Viehfutter. Einzelne Erhebungen auf dieser Ebene steigen
bis zu 950 m und darüber an; im Südwesten erreicht der
Cerro Cherque zwischen dem gleichnamigen Fluß und dem
Arroyo Omckel sogar die Höhe von 1200 m über dem Meeres-
spiegel. Bald nach Passieren des Cherquebaches biegt der
Weg allmählich nach Südwesten und dann mit einem Male fast
genau nach Süden um. Das Gelände erhebt sich zu einem
langgestreckten Bergrücken mit schwachen Ansätzen zur
Kuppenbildung und schickt zwei seitliche Höhenrücken nach
Nordwesten und Südwesten, den ersten bis zum Lago General
Paz, den letzteren bis zur Loma Baguales. Diese Rücken und
Höhenzüge umgrenzen ein gewaltiges Tal, in dessen Mitte der
Picofluß sein klares Wasser nach dem westlich gelegenen Kor-
dillerengebirge sendet. Sie bilden gleichzeitig die Wasserscheide
für den Pico und seine Nebenflüsse einerseits und für die nach
Osten abfließenden Gewässer anderseits, die meistens Zuflüsse
des Gennoa bzw. des Senguerrstromes sind.
Die Sonne neigte sich zum Untergang, als wir auf dem
. östlichen Hange jener Wasserscheide Halt machten. Die
Gegend ist ziemlich kahl; nur vor uns zur linken Hand dehnt
sich Sumpfland, bestanden mit hohem Schilf und Gras, und da-
hinter glitzert es weiß von dem schwarzen Erdreich herauf. Es
ist eine große Salpeterablagerung, ein sog. Salitral.
Und hier sollten wir bleiben? Windschutz durch den Ab-
hang des Bergrückens war vorhanden. Gras für die Tiere
ebenfalls; auch einige verkrüppelte Sträucher und Wurzeln als
Brennholz. Aber Wasser?
„Ja, Don Jose, hier ist aber kein Wasser! Das dort drüben
ist salpeterhaltig ; das werden unsere Tiere nicht trinken. Was
nun? Es ist schon spät!"
Mein Indianer blickte mich an, ohne ein Wort zu sagen.
Dann nahm er von seinem Sattel einen Becher uild verschwand
— 103 —
damit im hohen Schilf. Nach nur wenigen Minuten war er
wieder da.
„Hier." Dabei reichte er mir den Becher zum Trinken.
Ich kostete; das war ja klares Wasser ohne den bitter-
salzigen Geschmack, den ich schon so oft hatte schmecken
müssen, namentlich in Neuquen. Das hier war ja herrliches
Süßwasser.
Jedenfalls eine merkwürdige Erscheinung; dicht neben dem
Salitral wohlschmeckendes Süßwasser, und zwar in einer kreis-
förmigen, etwa 3 m im Durchmesser großen Lache, deren
Rand ringsherum mit hohem, dichtem Schilf bewachsen war,
so daß sie völlig versteckt dalag. Ich wollte näher zu dieser
„Lagune" heran.
Der Indianer hielt mich zurück.
„Nicht, Herr, das ist gefährlich!"
„Warum?"
„Der Boden ringsherum ist sumpfig. Das Wasser aber
ist keine Lagune, sondern ein tiefe§ Loch mit senkrechten Wän-
den. Wer sich dort hinein verirrt, kommt selten wieder zum
Vorschein."
„Ist denn das ein Brunnen?"
Don Jose zuckte die Achseln.
„Ist dieses Loch von Menschen gegraben worden?"
Mein Indianer hob wieder die Schultern und machte schwei-
gend eine abwehrende Handbewegung. Dann drehte er sich
kurz um und begann die Pferde und Maultiere abzusatteln. —
Der Abend webte seine dunklen Schleier „nebeldurchwirkt
und schattend", und still und ruhig aus den Äthertiefen leuch-
teten die Sterne. Unser kleines Lagerfeuer flackerte unruhig.
Geisterhaft huschten seine roten Lichter über die Grasbüschel,
über die. auf bloßer Erde ausgebreiteten Sättel und Decken.
In einen Poncho gehüllt und bedeckt mit dem sog. „Quillango",
— 104 —
einer Decke aus Guanacofellen, habe ich mich neben dem
Feuer auf mein Lager gestreckt und träume in den Nachthimmel^
hinein^ bis mich der Schlaf übermannt
Beim Erwachen am nächsten Morgen spüre ich et^'as
Schweres auf « meinem Körper; ich hebe die Decke; da knistert
es sacht; ich stecke meinen Kopf aus dem Quillango heraus
und bemerke, daß um mich herum alles weiß ist. Decke,
Felle, Erde, Gräser, Schilf, alles — dick bereift. Ein plötz-
licher Frost war über Nacht hereingebrochen und hatte die
Landschaft mit seinem eisigen Hauche gestreift. Um so besser
mundete uns der heiße Mate.
Und als dann der erste wärmende Sonnenstrahl über die
Berge zitterte, strich ein leiser Schauer über die Talebene, wie
ein Vorbote des erwachenden Tages, und ein weißer, goldig
durchglühter Dunst wallte auf und nieder und zerteilte sich in
feine Streifen, die im Sonnenlicht verschwanden. Wir saßen
bereits im Sattel und trabten wohlgemut von dannen nach
Westen zu. Hinauf ging es zu den steinigen, baumlosen Höhen
westlich vom Salitral. Eine aufgescheuchte Herde Strauße lief
quer vor uns über die Steinpampa und tauchte dann in einer
Senkung hinter Busch und Gras unter. Es ist der patagonische
Strauß (Rhea Darwinii), der hier in großen Mengen vorkommt.
Was für die Eingeborenen das Guanaco unter den Vier-
füßern, das bedeutet der Strauß unter den Vögeln; ein Jagd-
tier von unschätzbarem Wert; früher natürlich mehr wie heute.
Das Fleisch liefert den Indianern ein vorzügliches Nahrungs-
mittel, die Eier bilden während einer gewissen Jahreszeit so-
gar ihre Hauptnahrung. Aus den Sehnen der Beine werden
Schnüre gefertigt für die Schleudern, die sog. Bola, eine der
gefährlichsten Waffen in den Händen der Indianer; die Haut
dient zur Herstellung von schlauchartigen Behältern für Fett
und andere Sachen. Insbesondere wird die Haut des Halses
ausschließlich als Beutel zur Aufbewahrung von Tabak benutzt.
Die Federn sind ein beliebter Handelsartikel, und aus der ganzen
— 105 —
Haut mit Federn wurden dereinst Mäntel für eingeborene
Frauen und Mädchen hergestellt.
Der patagonische Strauß ist bedeutend kleiner als der in
Afrika lebende, ist ihm aber in der Färbung des Gefieders ziem-
lich ähnlich. Das Männchen unterscheidet sich vom Weibchen
durch seine dunklere Farbe. Die Beine sind jaußerordentlich
entwickelt. Ihnen verdankt dieser Rennvogel seine fabelhafte
Schnelligkeit im Laufen, so daß es für Pferde und Windhunde
unmöglich ist, ihn bei einer Verfolgung in gerader Linie ein-
zuholen. Daher ergibt sich bei Straußenjagden die Notwendig-
keit des Umkreisens auf weite Entfernungen hin, wobei Rauch
und Flammen angezündeter Feuer zu Hilfe genommen werden,
bis zum Einschließen und Zusammentreiben auf engem Raum.
XII.
Das Kordillerental am Picofluß, Friedland.
Nach ungefähr einstündigem Ritt in herrlicher Morgenluft
eröffnet sich mir von der Hochebene aus ein wundervolles
Panorama.
Vor mir liegt, bestrahlt vom Tagesgestirn, ein weitgedehntes
Tal mit saftig-grünen Qrasmatten an den allmählich aufsteigen-
den Seitenwänden, bedeckt mit niedrigem Buschwerk, das, erst
inselartig eingestreut, dunkle Flecke im Rasenteppich bildet,
dann weiter nach oben und nach Westen zu immer größere
Dimensionen annimmt und schließlich zum herrlichen Hoch-
wald wird.
Der allmähliche Übergang findet ungefähr dort statt, wo das
erst hügelige Gelände sich zu höheren Erhebungen, Rücken
und Kämmen emporreckt und in die Felsenlandschaft der sich
immer gewaltiger entfaltenden Kordillerenkette übergeht. Ku-
lissenartig mit aufstrebenden Felswänden, mit wuchtig hinein-
gelagerten Massen, mit kühnen Bergspitzen, Zacken, Gipfeln
und Gletschern baut sich am Horizont das stolze Gebirge auf.
In seinen Tälern und Abhängen, beschattet von dunklen, hoch-
stämmigen Waldungen, auf seinen Höhen bedeckt von weiß-
glänzendem Schnee und Eis, reckt es seine Häupter trotzig
wild zum klaren Himmel auf, während es mit seinen riesigen
Seitenarmen das taufrische Picotal zu umklammern versucht.
Eine wunderbare Mannigfaltigkeit, Großartigkeit und Steige-
rung der Eindrücke wird hier erzeugt, die im schroffen Gegen-
— 107 —
salz steht zu dem, was von der einförmigen Hochebene, der
bäum- und vegetationsarmen Steppe, der Pampa und der öden
Küstengegend Chubuts geboten wird. Ein Land des Friedens
im Sinne des Wortes.
Noch immer halte ich zu Pferde und schaue mit Bewun-
derung in die Pracht und Herrlichkeit dieser majestätischen
Gotteswelt hinein.
Mein Indianer mahnt mich zum Aufbruch, und nun steigen
wir allmählich die Talsenkung hinab, überschreiten mehrere
Bäche und gelängen dann zur eigentlichen Talsohle, bei der
Vereinigung des Temenäo- und Mulabaches, die als Rio Pico
nach Westen fließen. Die Höhe der Ebene über dem Meeres-
spiegel beträgt an dieser Stelle 525 m. Das Gelände liegt
also bedeutend tiefer als die Kolonie General San Martin,
ein Umstand, der in klimatischer Hinsicht für. diese Gegend
von sehr günstigem Einfluß ist. Von der Wasserscheide, die
annähernd mit dem 71. Grad westl. Länge (v. Gr.) zusammen-
fällt, zwischen dem Rio Cherque und Rio Gennoa, senkt sich
das Gelände in westlicher Richtung leicht bis zur Seenregion
auf ca. 500 m über dem Meeresspiegel hinab und steigt dann
mit mannigfachen Erhebungen und Talbildungen zu den bewal-
deten, schneegekrönten Gipfeln der Kordilleren hinauf. Es
ist ein mächtiges, fruchtbares Gebirgstal mit vielen Seitentälern,
dessen Grenze im Norden vom Lago General Paz gebildet
wird, im Westen und Südwesten von der Grenzlinie mit Chile,
im Südosten, Osten und Nordosten von der natürlichen Wasser-
scheide.
Das gesamte Picogebiet liegt nur ca. 50 km von der
Kolonie General San Martin entfernt auf dem 44. Grad
südl. Breite. In der Form einer unregelmäßigen Mulde er-
streckt es sich vom 71. Längengrad bis zur chilenischen Grenze
und umfaßt einen Flächeninhalt von etwa 2250 Quadratkilo-
metern, ist also ungefähr so groß wie das Herzogtum Anhalt.
Im allgemeinen besteht der Boden des Picotales aus
108
einer schwärzlichen Humusschicht, die der Hauptsache nach
Verwitteningsprodukte von Quarz, vermischt mit zersetztem
Feldspat und Magneteisen, enthält und, oft 0,5 bis 1 m stark,
auf sandigen Massen, vermengt mit tonhaltigen Bestandteilen,
von 0,5 bis 0,7 m Mächtigkeit aufgelagert ist. Es folgt ein
Sediment von gelblicher Färbung, das zusammengesetzt ist
aus Quarzkörnern, Magneteisen und Feldspat. Während tonige
Quellengebiel des Temenäo im Pico-Tal, Friedland.
Beimengungen die Quarzkörner zu Klumpen zusammenballen,
verleiht das vorhandene Eisenhydroxyd der nahezu 0,3 m starken
Schicht das gelblichbraune Aussehen. Hierdurch bildet sie eine
ziemlich scharfe Abgrenzung von der nun folgenden Sand-
ablagerung, die, in ihrer Mächtigkeit von 0,2 bis 0,75 m wech-
selnd, nach unten zu in feine, tonige Erden von weißlicher
Farbe übergeht. Sie sind vermischt mit Quarzkörnchen und
vielen organischen Substanzen, nehmen nach der Tiefe zu eine
— 109 —
grauschwärzliche Färbung an und zeigen feine Schichtenbildung.
Quarzkörnchen und Feldspatreste, durch tonig-lehmige Bestand-
teile zusammengehalten, sind in derselben vorhanden; Eisen-
lösungen verursachen ihre verschiedenartige Farbe.
Diesen Schichten, die in ihrer Gesamtheit 0,30 bis 0,50 m
stark sind, folgen ähnliche Ablagerungen, aber von größerer
Porosität. Unzählige feine Kanälchen nämlich, entstanden in-
folge der Vermoderung von Pflanzenwurzeln, durchziehen die
ganze Masse. Die Unterlage der letzteren besteht aus einem
schwärzlichen, mit Geröll und kalkigen Gebilden versetzten
Erdreich.
An den Ufern des Rio Pico und Rio Temenäo tritt die
vorerwähnte Zusammensetzung des Talbodens deutlich zutage.
Sie bleibt auch sonst im wesentlichen die gleiche und ändert
sich kaum weiter nach Westen zu, an den Seen oder weiter
aufwärts nach Norden und Süden an den sanft geneigten Ab-
hängen. An den Seen z. B., wo mächtige Porphyrmassen em-
porragen, wo Granit und teilweise konglomeratischer grober
Sandstein zutage treten, besteht der obere Boden hauptsäch-
lich aus den Zersetzungsprodukten des an Quarz und Feldspat
reichen Eruptivgesteines.
Auf dem rechten Ufer des Pico und Temenäo, in Höhe
von 6 — 700 m, kommen stellenweise dichter Quarzit und quar-
zitischer Sandstein vor; im verwitterten Geröll finden sich Por-
phyr und Diabas, letzterer oft in sehr zersetztem Zustande.
Die von dort entnommene Erdprobe zeigt eine schwarze, äußerst
lockere Humusschicht, 0,5 bis 1 m stark, die aus feinkörnigem
Sand besteht, sehr reich an humösen Bestandteilen ist und viel
Magneteisen enthält.
Weiter aufwärts, etwa bei 800 m, wird dieser Sand grob-
körniger. Er zeigt hier ebenfalls viel organische Bestandteile
und Magneteisen.
Unter den Zersetzungsprodukten der verschiedenartigen Ge-
steine sind auch hier Granit und Porphyr vorherrschend. Das
— 110 —
grobe, steinige Geröll aber, das sich sonst einer Urbarmachung
stets so hinderlich in den Weg stellt, fehlt hier fast gänzlich.
Die gleiche oder doch ähnliche Zusammensetzung besitzt der
Boden auf dem linken, südlichen Ufer des Picoflusses, wo in
den Erhebungen und Hügelreihen quarzitischer Sandstein und
sehr dichter Quarzit vertreten sind.
Rechnet man zu den ausgedehnten Qrasflächen des eigent-
lichen Tales und der langsam ansteigenden Abhänge den vor-
handenen fruchtbaren und humusreichen Waldboden in den
höher gelegenen Gebirgsregionen, wo große Täler in die ein-
zelnen Bergzüge hinemgeschnitten sind, dann wird man eine
Vorstellung von der natürlichen Fruchtbarkeit des Picogebietes
erhalten.
Von der Talsohle, die, wie schon erwähnt, nur etwa 525 m
über dem Meeresspiegel liegt und im Durchschnitt 120 m tiefer
gelegen ist als die benachbarte Kolonie General San Martin,
steigt das Gelände nach Norden und Süden in Absätzen mit
großen Flächenbildungen allmählich zu einer Höhe von 900
bis 1100 m empor, erreicht in den beiden Grenzpunkten, dem
Cerro Piedra im Norden 1140 m, in der Loma Baguales im
Süden 1300 m, und schließt sich dann weiter nach Westen zu
in Gestalt eines nach Osten offenen Bogens den Gebirgsmassen
der Kordilleren an. Dort, nahe der Grenze am Lago General
Paz, ragt weit sichtbar der 2062 m hohe Cerro Colorado in
den blauen Himmel hinein. Südlich davon türmt sich u. a.
der Cerro Cono mit 1785 m auf, und hinter ihm, hart auf der
chilenischen Grenze, der 1890 m hohe Cerro Botella. Da-
zwischen und hinter dem mächtigen Gebirgswall erscheinen
andere Kuppen und Gipfel, gehüllt in ihre Schneemäntel und
bedeckt mit bläulichen Eiskappen. Die Südwestecke gipfelt in
den Schneemassen der mehr als 2000 m hohen Sierra Nevada,
dem Pan de Azucar, dem Cerro Cacique Blanco, dem Magda-
lenenberg. Schroffer werden dort nach Westen zu die Über-
gänge. Schluchten und steil abfallende Felswände, moos-
111
bedeckte verwitterte Qranitblöcke, massige Bergrücken,
zwischen denen fruchtbare, grüne Talebenen mit gutem Weide-
gras liegen, brausende Qebirgsbäche und herrlicher Hochwald,
dessen dunkles, frisches Orün im lebhaften Gegensatz zum
Am Arroyo de Mula.
blendenden Weiß der eis- und schneebedeckten Bergriesen
steht, verleihen dem Ganzen ein wildromantisches Gepräge.
Eine wunderbare Alpenwelt entfaltet sich hier in ihrer ganzen
majestätischen Pracht.
Durchströmt wird das Friedland genannte Pico-
— 112 —
gebiet vom schon erwähnten Temenäo, d. h. Tal des Chacäi, und
Arroyo de Mula, dem Maultierbach, die, beide von der öst-
lichen Wasserscheide kommend, sich etwa 20 km westlich vom 71.
Längengrad vereinigen und nun als Picofluß weiter nach Westen
fließen. Mit elementarer Gewalt hat letzterer das Massiv des
Hochgebirges durchbrochen und strömt, in Höhe von nur 300 m
auf chilenischen Boden übertretend, als Rio Figueroa in einen
70 m über dem Meere liegenden See. Ein breiter Ausfluß des-
selben, Rio Claro genannt, vereinigt sich mit dem aus dem Lago
General Paz kommenden Palenafluß und mündet in Form einer
mächtigen Wasserstraße bei der Kolonie Palena in den Stillen
Ozean.
CHe Südseite des vorerwähnten Sees liegt nur ca. 20 km
vom Nordende des sog. Payaguapikanals entfernt, so daß auch
hier eine Verbindung mit dem Stillen Ozean leicht zu er-
möglichen ist.
Von den zahlreichen Nebenflüssen sind die hauptsächlichsten
der Arroyo Pampas auf der nördlichen und Arroyo Campamento
auf der südlichen Seite. Die übrigen haben noch keine Namen.
Die natürliche Bewässerung des ganzen Gebietes ist vor-
züglich, und Wasserkräfte zur wirtschaftlichen Benutzung sind
in Menge vorhanden, u. a. der prächtige Wasserfall, ungefähr
1,5 km vom sog. „Campament" entfernt. Da fast ohne Aus-
nahme alle Bäche und Zuflüsse aus dem Gebirge kommen,
ist ihr Wasser rein und klar wie Kristall und von angenehmem,
erfrischendem Geschmack. In der westlichen Hälfte, teilweis
am Fuße des aufsteigenden Gebirges, befinden sich 5 Seen,
2 davon auf der nördlichen, 3 auf der südlichen Seite des Pico-
flusses. Auch diese Seen, die vorläufig nur mit Zahlen be-
zeichnet sind, führen Süßwasser. I>er größte von ihnen, der
8 — 9 km in seiner Längsrichtung messende Lago No. 1, besitzt
keinen nennenswerten, sichtbaren Zufluß. Das Wasser kommt
hauptsächlich von den Gletschern und Schneemassen des Hoch-
— 113 —
gebirges oder ist, wie vermutet wird, unterirdischen Ursprungs.
Daß hier einst vulkanische Kräfte tätig waren, zeigt die For-
mation der malerischen Seenumgebung, die wegen ihrer wilden
Schönheit und grandiosen Naturpracht wohl zu den herrlichsten
Teilen der Kordilleren gezählt werden kann. Wahrscheinlich
hat Lago No. 2 mit dem See No. 2 einst vor vielen, vielen
Jahren eine einzige, große Wasserfläche gebildet. Heute hängen
beide nur noch durch eine Art Kanal zusammen, dessen Ufer
stark versumpft sind.
Auch dieser zweite See besitzt keinen Abfluß. Aus den am
kieseligen Ufer vom Wasser hinterlassenen Marken geht her-
vor, daß der Spiegel beider Seen bis zu 2 m steigen kann, wenn
die Regenzeit ihr Naß herniedersendet oder die Frühlings-
sonne die Schneemengen im Gebirge zum Schmelzen bringt.
Ähnlich steht es mit den drei übrigen Seen, die mit ihren male-
rischen Felspartien, den zerklüfteten Wänden und Steilstürzen
inmitten der üppigen farbenfrischen Vegetation ein wahrhaft
entzückendes Landschaftsbild abgeben. Es ist eine eigenartige,
aus Klarheit und Lichtgeflimmer zusammengewebte Schönheit,
ein Werk der Natur, das durchzittert wird vom Hauch des All-
gewaltigen.
Das Klima des Picogebiets ist — nach Maßgabe seiner
Lage auf der südlichen Halbkugel — ungefähr das gleiche wie
in Deutschland. Die Monate Dezember, Januar, Februar und
März sind die besten und schönsten; sie bilden die Sommers-
zeit, die über diese ganze Gegend verschwenderisch ihre reichen
Gaben ausstreut.
Mit allmählichem Übergang und mäßiger Kälte beginnt an-
fangs Juni, oft schon Ende Mai der Winter. Regengüsse und
Schneefälle sind dann häufig. Die Bäche schwellen an und
verwandeln das Tal des Picoflusses in eine Anzahl von La-
gunen. Die ganze Talsohle nämlich bildet ein Niederungsgebiet
im wahren Sinne des Wortes, das, ebenso wie z. B. die Niede-
Vallentin: Chubut 8
114
rangen zwischen Nogat und Weichsel, seine außerordentliche
Fruchtbariteit zum größten Teil eben diesen Überschwemmun-
gen zu verdanken hat.
Am Temenäo nehmen letztere geringeren Umfang an,
immerhin aber so, daß dort, wie auch am Arroyo de Mula,
einzelne sumpfige Stellen entstanden sind. Derartige Sümpfe
kommen auch in der Nähe des Lago No. 1 und No. 3 vor,
Am Lago Pico.
ferner ca. 12 km in nördlicher Richtung von ersterem, am Pampa-
fluß, vor Beginn des Hochwaldes.
Im großen und ganzen will es mir aber scheinen, als ob
mit diesen „Überschwemmungen" und „Sümpfen" etwas über-
trieben wird. Denn ich habe viele Male Stellen, die mir als
unzugänglich bezeichnet worden sind, trockenen Fußes passiert.
Und dann: sobald hier Menschen wohnen, wird und kann man
dem rohen Walten der Naturkräfte in geeigneter Weise ent-
— 115 —
gegentreten, um etwaigen Schaden zu vermeiden. Zu was
gibt es denn Gräben und Abzugskanäle?
Schon Ende August und im September, also bedeutend
früher als in anderen bewohnten Teilen Chubuts, wie z. B.
am Gennoa, in der Kolonie General San Martin, am Senguerr,
in Choiquenilahue, in Sarmiento, beginnt das Wasser abzu-
fließen; eine wärmere Temperatur setzt ein; in den Gletschern
donnert es; die Tage werden länger, und aus Dunst und Dämmer,
durchdrungen vom wärmenden Sonnenstrahl, erwacht taufrisch
die neue Jahreszeit, der Frühling. Klarer wölbt sich dann der
blaue Himmel, heller flimmert der Firnschnee hoch oben; es
blinken die Gletscher der gewaltigen Eisriesen und unten, tief
zwischen trotzigen Felsen im dunkelschattigen Bergwald
blitzen und glitzern die Wasser der blauen Seen, rauschen und
raunen geheimnisvoll die Gebirgsbäche ; ein Märchen, ein
Säuseln und Flüstern vom großen Waldesschweigen.
Das Klima des Picogebietes ist außerordentlich gesund.
Die Luft ist rein und würzig, wahre Berg- und Waldluft. Krank-
heiten unter Menschen und Vieh sind bisher unbekannt. Die
Winde, die meistenteils von Westen und Nordwesten kommen
und im Sommer stärker wehen als im Winter, werden in ihrer
Heftigkeit hier nicht so empfunden wie z. B. in der Kolonie
General San Martin oder sonst weiter im ungeschützten Osten
des Chubutterritoriums, da die vorgelagerten Höhen und Ge-
birgsmassen gleichsam einen Schutzwall bilden. Daher kommt
es auch, daß die Temperatur sich hier etwas wärmer gestaltet
als in den weiter östlich gelegenen, teilweise schon besiedelten
Teilen Chubuts, u. a. im Tal des Gennoa, am Cherque, in
der Kolonie Sarmiento. So ergaben meine täglichen Beob-
achtungen mit einem vorher regulierten Thermometer, daß die
Tagestemperaturen am Picogebiet um 2 — 3^ C. höher waren
als diejenigen, die zu derselben Zeit das Telegraphenamt
in Sarmiento gemessen hatte. Die großen Waldungen und
schützenden Höhenzüge verursachen dies, indem sie die Wir-
8*
116 —
kung der kalten West- und Nordwestwinde abschwächen der-
art, daß der Winter im allgemeinen milder ist, als z. B. am Rio
Frias oder auf der sog. Pampa Chubuts.
Die von mir angestellten täglichen Beobachtungen um 8 Uhr
morgens, 1 Uhr mittags und 6 Uhr nachmittags zeigten eine
mittlere Tagestemperatur von:
17,0" C. am 11. April 1905
16,0» „ „ 12. „ „
15,6« „ „ 13. „
15,6« „ „ 14. „ „
16,0» „ „ 15. „ „
17,0« „ „ 16. „
14,6« „ „ 17. „ „
14,0» „ „ 18. „
10,0» „ „ 19. „
9,0« „ „ 20. „
10,3« „ „ 21. „ „
14,60 ^^ ^^ 23. ff
13,00 „ „ 24. „
Hiernach stellt sich die durchschnittliche Tagestemperatur
jener kurzen Periode auf 14,04^ C, während in Chubut an
der Küste im Monat April eine mittlere Temperatur von 11,47<^
beobachtet wird. Die Durchschnittstemperatur in den drei
Monaten März, April und Mai, also Herbstzeit, beträgt für
das Territorium 12,38^, und zwar:
7,970 ^^ 7 ujij. a ni gemessen
18,72« „ 2 „ p.m.
10,440 ^^ 9 ^^ p in.
Erläuternd muß indessen bemerkt werden, daß im ganzen
Süden der Argentinischen Republik in diesem Jahre der Winter
außerordentlich früh eingesetzt hat, daß Kälte und Schneefall
ganz ungewöhnlich früh gekommen sind. Selbstverständlich
war dies auch im Picogebiet der Fall, so daß sich dort im all-
gemeinen höhere Ziffern ergeben werden als die von mir an-
>»
;»
117
geführten, abgesehen davon, daß die bezüglichen Messungen
sich nur auf einen kurzen Zeitraum von 14 Tagen beziehen und
in einer nicht gerade günstigen Übergangsperiode gemacht
worden sind.
Das ganze Talgebiet ist ein äußerst fruchtbares
Weideland. Auf dem lockeren, humusreichen Boden, der
nur wenig Geröll und Steine zeigt, wachsen die verschieden-
Im Kordillerental am Picoflufl, Friedland.
artigsten Gräser. Die der Steppenregion angehörigen unter
dem Namen Coirön bekannten Grassorten (Festuca gracillima,
Festuca ovina usw.) sind überall vorhanden, sowohl in denNiede-
rungen wie auf den Höhen.
In den Niederungen, in den Tälern und im Seengebiet ge-
deihen neben Mallin, niedrigem Schilf und binsenartigen Ge-
wächsen die zarten Rasengräser, die unter dem Namen „pasto
fino" und „pasto tlerno" bekannt sind. Ein feines, heiles
— 118 —
Gras, „pasto blanco" genannt, traf ich dort in großen
Strecken, und zwar allein oder vermischt mit anderen Gräsern.
Die fetten, weichen, äußerst nahrhaften Mallingräser, die oft
ausgedehnte Flächen bedecken, standen stellenweise so hoch,
daß unsere Pferde bis über den Sattelgurt darin verschwanden.
Freilich wird ja wohl während der paar Wintermonate ein
großer Teil dieser herrlichen Weiden unter Wasser gesetzt
werden, ähnlich wie es in EXeutschland mit den Wiesen- und
Weideländereien der Fall ist. Dafür stellt sich aber die Güte
und Brauchbarkeit des Grases als nahrhaftes Viehfutter um so
besser. Selbst auf den höher gelegenen Teilen ist sog. „pasto
tierno" vorhanden, also kein trockenes Futter, und überall auf
dem Waldboden sprießen die saftigen feinen Rasengräser (pasto
fino) hervor. Das gleiche gilt von den vielen Seiten- und Quer-
tälem. Hier wie in der Niederung und in der Seenregion
kommt die schilfartige Cortadera vor. Junco und Junquillo,
beide zur Juncusart gehörig, vielleicht Juncus actus und balti-
cus, außerdem Cebadilla, Bromus unioloides H. B. K. wachsen
dort, während an den Hängen und auf den pampaartigen
Flächen Yerba negra, hier Neneo genannt, dessen Blüten den
Schafen als Nahrungsmittel dienen, zwischen den Grasbüscheln
des Coiron auftritt.
Außer der tiefer gelegenen Zone bieten die oberen pampa-
ähnlichen Strecken, die sich nahe der nördlichen und südlichen
Grenzlinie nach Westen zur Waldregion der Kordilleren hin
erstrecken, vorzügliches Weideland. Und das ist von un-
berechenbarem Wert; denn hier finden Rinder, Schafe, Pferde
ihre Nahrung, wenn sie in den Wintermonaten das Niederungs-
gebiet verlassen und weiter oben ihr Futter suchen oder in den
mit Wald und Busch bestandenen Partien vor den kalten Winden
sich schützen wollen. In allen anderen schon besiedelten
Teilen des Chubutterritoriums, wie z. B. am Gennoa, in Choique-
nilahue, am Appeleg und Omckel, im Senguerrtal, am Rio
Chico, in Sarmiento usw., ist dies nicht möglich, da jene
— 119 —
Höhen bzw. höher gelegenen Ebenen nur recht dürftigen Gras-
wuchs und keinen Baum- oder Buschbestand aufweisen.
Im allgemeinen ergibt sich aus der natürlichen Beschaffen-
heit die Tatsache, daß das Picogebiet für Viehzucht äußerst
geeignet ist.
Das niedrige Buschwerk, das in den Seitentälern hinauf-
kriecht, allmählich die Abhänge bedeckt und weiter oben auf
den Pampaflächen sich bis zu den ersten Waldflecken des Ge-
birges hinzieht, besteht meistens aus Chacäi und Nirre (Notho-
fagus antarctica). Die hellbraunen kleinen Früchte von Nirre
sind eßbar und haben einen brotteigartigen Geschmack. Ein
anderer, niedriger Strauch, Chapel genannt, mit kleinen, ge-
zähnten Blättern und weißrötlicher, fünfblätteriger Blüte, ist
sehr verbreitet. Von den vielen Mimosenarten ist der Calafäte-
strauch, Berberis buxifolia, und Michäi mit langen Dornen
und schwarzblauen Früchten in Masse vertreten. An den Seen
wächst der frischgrüne Maitenbaum (Maytenus magellanica)
mit rundlich gewölbter Laubkrone, und der Lauro, der Lor-
beerstrauch (Laurelia aromatica). Die Nirresträucher erreichen
hier schon eine Höhe von 3 — 6 Metern, mischen sich weiter
westlich, wie auch im Norden und Süden der Talsohle mit der
sog. Lingue, einer Buchenart, und verschwinden dann im präch-
tigen Hochwald.
Außer in den Flußläufen und' geschützten Talsenkungen
beginnt der niedrige Buschbestand bei etwa 700 m über dem
Meeresspiegel auf der nördlichen, bei ca. 800 bis 850 m auf der
südlichen Seite des Picoflusses. Der Hochwald nimmt seinen
Anfang auf dem Nordufer schon in einer Höhe von etwas
mehr als 900 m, dagegen auf dem Südufer erst bei ca. 950 m.
Überhaupt ist, allgemein gesprochen, auf den Hängen und
Flächen der Nord- und Westseite Wald- und Buschbestand
größer als sonstwo im ganzen Gebiet, namentlich als auf der
Südseite ; eine Folge des natürlichen, durch die Berge gebotenen
Schutzes gegen die kalten West- und Nordwestwinde.
— 120 —
CHe in diesen Waldungen vorkommenden Bäume sind haupt-
sächlich Buchenarten, Lingue (Nothofagus pumilio) und Coihue
(Nothofagus dombeyi), letztere mehr im Oebirge selbst. Herr-
liche Stämme, oft 20 — 30 m hoch, ragen in diesem Waldesdom
säulenartig, schlank und gerade in die Höhe und stützen das
weitverzweigte Blätterdach. An gutem Bau- und Nutzholz ist
hier kein Mangel.
Die schwankende Quila (Chusquea quila), ein bambus-
artiges, hellblätteriges Rohr, mischt sich in das Unterholz; be-
scheiden zeigt der Myrtenstrauch seine johannisbeerähnlichen,
blau-violetten Früchte im Dunkelgrün des Blattlaubes, und
Raräl, dessen Blätter als Medizin gegen Brustschmerzen und
Rheumatismus gebraucht werden, schaut verstohlen hinter be-
moosten Stämmen hervor. Noch ein anderer Strauch, Pillo-
pillo genannt, tritt hier in Menge auf. Seine Rinde, getrocknet
und zerkleinert, gilt bei den Eingeborenen als vorzügliches
Heilmittel. Im übrigen wachsen sowohl hier oben im Waldes-
schatten wie auch unten in der Niederung zwei Arten Salsa-
parilla, eine groß- und eine kleinblätterige ; ferner Chaura, dessen
rosafarbene Beeren eßbar sind, Apia (Apium graveoleus L.),
eine Petersilien- oder Eppichart. CHe breitzackigen Blätter
dieser Pflanze werden getrocknet, dann zu Pulver verrieben
und geschnupft; sie gelten als Medizin bei Erkältungen gegen
Hals- und Nasenleiden. An den Gestaden der Seen wächst die
ebenfalls als Heilmittel benutzte Doradilla. Fuchsia magellanica
ist dort vertreten. Die Wilde Erdbeere (Frutilla) kommt überall
vor und bedeckt oft ausgedehnte Flächen, die fast einem wirk-
lichen Erdbeerfelde vergleichbar sind. Auch gibt es hier die
sog. Quinoa. Aus ihren mohnartigen Körnern machen die Ein-
geborenen Mehl und mengen dies in den gewöhnlichen Brot-
teig, oder sie verwenden sie zur Herstellung einer schmack-
haften Suppe. Damit komme ich zu den eigentlichen Nutz-
pflanzen, die im Haushalte der Menschen eine so große Rolle
spielen.
— 121 —
Leinsamen (linaga) gedeiht im Picotal vorzüglich; eben-
so Knoblauch, Zwiebel und jede Sorte von Kohl. Bei der
Hütte eines Indianers sah ich Rüben und Erbsen. Für den
Anbau von Weizen und Gerste sind Boden und Klima äußerst
günstig. Von einem Korn Aussaat soll die letzte Ernte 60
bis 80 Ähren ergeben haben, und auf einem kleinen Weizenfeld
am Nordufer des Pico zählte ich selbst an drei beliebigen
Stellen an einer Wurzel 63, 74 und 76 Halme mit Ähren.
Auch im Stroh sind Weizen sowohl wie Gerste vorzüglich. Die
Halme erreichen 1,20 bis 1,70 m, also etwa Mannshöhe. Zeit
zum Säen ist April und Mai, außerdem zum zweitenmal Sep-
tember. Die Ernte der ersten Aussaat fällt in die Monate
Februar und März, die der zweiten etwas später, etwa auf Ende
März und Anfang April.
Wie diese Getreidesorten, so liefert auch die Kartoffel
gute Erträge. Die Knollen erreichen Faustgröße, sind zart
und mehlig und sehr wohlschmeckend. An einer Staude 10
bis 20 Knollen zu finden, ist keine Seltenheit.
Über das Gedeihen von Mais konnte ich nichts Genaues
erfahren. Ein Chilene will zwar Versuche mit guten Resul-
taten gemacht haben. Indessen habe ich mich nicht selbst da-
von überzeugen können. Dagegen kann als sicher angenom-
men werden, daß für den Anbau von Hopfen, der z. B. im
Bolsontale gut gedeiht, sich hier ein geeignetes Feld bietet.
Alles in allem genommen, ergibt sich die Tatsache, daß
das Picogebiet alle natürlichen Grundbedingungen nicht allein
für Viehzucht, sondern auch für Ackerbau in hohem Maße
besitzt.
Über die Tierwelt ist verhältnismäßig wenig zu sagen.
Der Puma, der südamerikanische Löwe ohne Mähne (Felis con-
color L.) wird noch angetroffen, und zwar in seinen bekannten
drei Spielarten: die eine mit gelbem Fell, die zweite von
silbergrauer Färbung und die dritte mit braunem Rücken und
weißlich-gelbem Bauch. Dem Menschen gefährlich ist dieses
12-2
große Katzentier nun gerade nicht, wohl aber den Haustieren,
den Schaf- und Rinderherden, unter denen es zeitweise große
Verheerungen anrichten kann. Immerhin hält der Puma keinen
Vergleich mit dem afrikanischen Wüstenkönig aus.
Neben dem Löwen ist wohl der Fuchs (zorro) das am
eifrigsten gejagte Raubtier. Auch vom südamerikanischen
Meister Reineke gibt es zwei Sorten, eine graugelbe (zorro
Bauernhof im Kordillerental, Friedland.
blanco) und eine größere mit dunklerem rötlichen Fell (zorro
Colorado), Culpeo genannt. Die Vertreter der letzteren werden
als nicht ganz so harmlos betrachtet, da es vorgekommen ist,
daß sie große Hunde angegriffen haben.
Der Huemül, der patagonische Hirsch, lebt in den Wäldern
der Anden und wird seines guten Felles und des eßbaren
Fleisches wegen gejagt.
Zahlreich ist das Guanaco (Auchenia huanaco H. Sm.)
— 123 —
vertreten. Erwähnenswert ist noch das Stinktier oder Skunk
(mephitis), hier unter dem Namen Zorrino bekannt; ebenso
Pichi, eine Art Erdratte, die sich durch Aufwühlen dies Bodens
oft unangenehm bemerkbar macht.
Unter den Vögeln nimmt der schnellfüßige Strauß (Rhea
Darwinii) die erste Rolle ein. Auch an anderen Vogelarten
ist das Gebiet nicht arm. Hoch oben in den Kordilleren zieht
der Kondor seine Kreise, und unten an den Seen tummeln sich
zahllose wilde Enten und Qänse. Die Hochlandsgans, Mu-
tarde genannt, ist in großen Scharen vertreten. Der Buitre,
eine Qeierart, sitzt äugend auf einsamer Felsenklippe. Graue
Wildtauben flattern zu Hunderten aus dem Waldesschatten über
die sonnbestrahlte Weidefläche. Der Specht, Carpintero, im
schwarz-weiß-roten Federkleid und mit dem Zimmermanns-
käppchen auf dem Kopf, hämmert und klopft hier an den
Bäumen ebenso herum wie in EXeutschlands Forsten.
Von den kleinen Vogelarten, die sich im Grase oder nied-
rigen Gebüsch veAorgen halten oder im Dornbusch ihre kunst-
gerechten Nester zusammenflechten, soll nur noch die Calän-
dria erwähnt werden, die, etwas größer als ein Spatz, in ihrem
unscheinbaren grauen Gefieder mit schwarz und weißen Flügel-
spitzen kaum auffallen würde. Indessen macht sie sich
durch ihre große Zutraulichkeit bemerkbar, kommt z. B. dicht
ans Lagerfeuer heran, um einige Brocken Fleisch zu erhaschen,
und — ist der einzige Singvogel im ganzen Territorium Chubut.
Was die Haustiere betrifft, so haben die wenigen hier
lebenden Indianer dieselben, die auch in Europa bzw. Deutsch-
land gehalten werden, sowohl Vierfüßer : Pferde, Rinder, Schafe,
Ziegen usw. wie auch Federvieh: Gänse, Enten, Hühner.
In dem Picogebiet (Friedland) wohnen bis jetzt nur
fünf Familien. Davon bestehen vier aus Indianern vom
Manzanerostamm, die fünfte ist chilenischen Ursprungs. Die
Leute sitzen dort, ohne Eigentümer von Grund und Boden zu
— 124 —
sein, fast als unbeschränkte Herren und leben von Viehzucht
und Ackerbau. Der Chilene namens Orellano hat sich und
seiner neun Köpfe zählenden Familie ein hübsches Häuschen
gebaut, die Wände aus Adobe (Erdziegel), das Dach mit Stroh
eingedeckt. Daneben steht ein kleinerer Holzbau, der als Küche
benützt wird. Freilich ist ja die ganze Einrichtung primitiv,
bedeutet aber doch in Anbetracht der vorhandenen Mittel und
der dortigen Verhältnisse eine anerkennenswerte Leistung. In
der Nähe des Flusses hat er einen Gemüsegarten angelegt
mit Kohl, Erbsen, Rüben, Zwiebeln, Schwarzwurzeln u. dgl.,
während weiter oben ein Kartoffelfeld sich befindet, an das,
abgegrenzt durch stehengebliebenen Buschbestand, ein präch-
tiges Gersten- und Weizenfeld sich anschließt. Zu bedauern
ist nur die rücksichtslose Vernichtung der Sträucher und nied-
rigen Bäume auf weite Strecken hin durch Abbrennen. Zu
dem Besitz dieses Chilenen gehören 120 Rinder und 30 Pferde,
21 Gänse und viele Enten und Hühner. Orellano wohnt seit
einem Jahre dort und ist nach seiner eigenen Mitteilung
äußerst zufrieden.
Ein Indianer, namens Amui Nahuel, d. h. „der Tiger flieht"
(zu ergänzen: bei seinem Anblick) ist bereits seit sechs Jahren
hier ansässig. Seine Familie zählt sechs Köpfe und wohnt in
einem kleinen, aus Holz, Lehm und Strauchwerk erbauten, mit
Strohdach versehenen Häuschen am linken Ufer des Arroyo
Mula, ungefähr dort, wo ein südlicher Nebenarm einmündet.
Auf der anderen, höher gelegenen Seite dieses Baches befindet
sich ein großer Viehkral, aus Stämmen und Planken sauber
hergerichtet. Am Ufer, zwischen Bäumen und Buschwerk,
breitet sich ein Gemüsegarten aus, während an den sanft an-
steigenden Talwänden ein Gersten- und Weizenfeld die dunkle
Farbe des Geländes unterbrechen. Die Erträge dieser Kom-
früchte sind reichlich, trotzdem die Bebauung des Bodens wie
auch der ganze Wirtschaftsbetrieb recht primitiv sind. Ge-
pflügt wird z. B. mit dem einfachen, hakenartigen Holzpflug
125
aus vergangenen Zeiten; anstatt des Mähens mit Sichel und
Sense wird das Getreide mit dem Messer geschnitten; das
„Dreschen" geschieht mit einem einfachen Stock usw.
Wie mir Amui Nahuel erzählte, will er späterhin nur noch
Gerste anbauen, da der Weizen im letzten Jahre durch Nacht-
frost gelitten hat, die Gerste dagegen intakt geblieben ist.
Ein Teil der Ernte wird nach der nächsten Kolonie General
Niederlassung des Indianers Amui Nahuel in Friedland.
San Martin und an die Ansiedler am Gennoafluß verkauft. Viel
ist es ja nicht, und der ganze Ackerbau überhaupt beschränkt
sich vorläufig auf den eigenen Hausbedarf, da Kommunikations-
mittel noch fehlen und die Bevölkerungszahl des Chubutterri-
toriums noch recht gering ist.
In größerem Maße wird die Viehzucht betrieben. Amui
Nahuel besitzt 200 Rinder, 1100 Schafe, (Criollo-Pamparasse)
— 126 —
und 50 Pferde. Alle Tiere sind der vorzüglichen Weide wegen
in einem ausgezeichneten Zustand.
Im allgemeinen muß ich hervorheben, daß ich bei diesen
„Halbwilden", in dieser kleinen, einfachen Indianerhütte einen
Fleiß, eine Ordnung und Sauberkeit angetroffen habe, die ihres-
gleichen suchen dürften.
Die Frauen hantieren mit der Spindel, weben aus der her-
gestellten Schaf- oder Quanacowolle Decken, Qürtel, Ponchos,
Bänder von erstaunlicher Feinheit und Kunstfertigkeit ; besorgen
dabei den Haushalt, die Küche, bereiten aus der Milch wohl-
schmeckende Butter und Käse und helfen außerdem den
Männern bei der Arbeit im Viehkral oder auf dem Felde. Und
das alles mit einer gewissen Ruhe und Heiterkeit, die angenehm
berühren.
Von diesem kleinen, hübschen Anwesen aus, das ca. 50 m
höher liegt als der Picofluß, ist nach Nordwesten hin eine andere
Niederlassung sichtbar. Sie gehört dem Indianer Gamarillo,
der dort in einem tief eingeschnittenen, dichtbelaubten Seiten-
tal seine einfache, anspruchslose Wohnung erbaut hat. Auch
er nennt mehr als 1000 Schafe, 150 Rinder und 40 Pferde
sein eigen.
Weiter östlich sitzt ein Manzaneroindianer mit etwa 100
Kühen und 1000 Schafen, und nahe der östlichen Grenze wohnt
in seiner etwas baufälligen Hütte am Temenäo der alte Ramirez
Kalfule (d. h. der Blaue), der T3rpus einer echten Rothaut mit
kolbenförmiger Hakennase, etwas breiten Backenknochen und
pechschwarzem Haupthaar. Er zählt in seinem hübschen, dicht-
umzäunten Kral 400 fette Schafe und besitzt außerdem ca. 100
Kühe und 15 Pferde. Wie alle anderen, so baut er auch Weizen,
Gerste und die im Haushalt erforderlichen Gemüse.
Von allen diesen Leuten, die seit Jahren dort ansässig sind,
hörte ich nur eine Meinung, und zwar: „Die paar Wintermonate
im Picogebiet sind unangenehm ; aber sonst gibt es wohl kaum
— 127 —
ein schöneres und besseres Weideland." Dabei muß man in Be-
tracht ziehen, daß diese Menschen in steter Besorgnis, ihre
Plätze verlassen zu müssen, nicht gerade die besten Auskünfte
erteilen.
Was den Verkehr betrifft, so erwähnte ich schon, daß
Weizen, Gerste usw. nach der benachbarten Kolonie Qeneral
San Martin zum Verkauf gebracht werden. Ein breiter Karren-
weg führt aus der Mitte des Picogebiets direkt nach genannter
Kolonie, während verschiedene Seitenpfade den Zugang zu den
einzelnen kleinen Niederlassungen ermöglichen. In den ver-
schiedenen Geschäftshäusern und „Bolichen" San Martins
können allerhand Waren und Gebrauchsgegenstände, vom
Hosenknopf bis zum Anzug und vom einfachen Nagel bis zur
Holzsäge, erhandelt werden. Dort gibt es auch Salz, Reis,
Kaffee, Tabak, Zucker, Decken, Ponchos usw.; alles indessen
für gerade nicht billige Preise; denn der Transport von der
Ostküste bis hierher dauert lange und kostet Geld.
Bahnen existieren im ganzen Territorium Chubut bis jetzt
mit Ausnahme der 70 Kilometer langen Strecke Puerto Madryn —
Trelew leider noch nicht, und so wird denn jeder Transport
auf dem Landwege mittels Karre oder Lasttier bewerkstelligt.
Da die argentinische Regierung dieses herrliche Kordillerental,
„Friedland" genannt, in einer Ausdehnung von ca. 2250 Quadrat-
kilometern für die Besiedelung mit deutschen bzw. germanischen
Elementen reserviert hat (Dekret vom 29. November 1904), ist
auf Anregung des Verfassers und des rührigen Herrn Adalberto
Schmied in Buenos Aires, Galle Bartolome Mitre 556, neuer-
dings ein Automobildienst eingerichtet worden, und zwar von
der Ostküste, Puerto Madryn resp. Trelew bis zum Siedelungs-
gebiet Friedland am Picofluß. Es werden Personen- und Fracht-
automobile in Dienst gestellt, die jene Strecke in ungefähr
25 Fahrstunden zurücklegen. Auf diese Weise ist — bei dem
Mangel einer Bahnverbindung — nicht nur Gelegenheit gegeben
zum schnellen und bequemen Transport der Landesprodukte
— 128 —
ziini Absatzmarkt, sondern es ist auch ein Mittel geschaffen
worden, das zur weiteren Erschließung des Landes erheblich
beitragen wird.
Alles in allem genommen unterUegt es gar keinem Zweifel,
daß das in Rede stehende Gebiet am Picofluß in kolonisato-
rischer Hinsicht von großer Wichtigkeit ist. Ganz besonders
bietet sich gerade hier wegen des gesunden, völlig europäischen
Klimas mit Sommer und Winter, wegen der großen Fruchtbarkeit
des Bodens, der Schönheit der Natur ein Landkomplex dar, der,
wie vielleicht kein zweiter, zur Besiedelung mit germanischen
Elementen geeignet ist.
Zunächst würde es sich um Viehzucht handeln, um Acker-
bau nur, soweit der eigene Bedarf es notwendig macht. Später
bei Besserung der Verkehrsverhältnisse und Zunahme der Be-
völkerung käme Ackerbau in größerem Maßstabe in Betracht.
EHe günstigen Wasserverhältnisse ermöglichen die Ein-
richtung industrieller Anlagen, unter anderem solcher mit elek-
trischem Betriebe, wie z. B. Sägemühlen zur Verwertung des
vorhandenen Holzbestandes, Mahlmühlen für Getreide, ferner
Milchereien und Käsereien, dann Gerbereien und dergleichen
mehr. Der Bau einer Bahn indessen und zwar einer
elektrischen, weil billige Wasserkräfte vorhanden sind, wäre
das wichtigste, und erst mit einem solchen Verkehrsmittel,
das die Ostküste mit den Kordillerentälern verbindet, wird die
eigentliche Erschließung dieses so fruchtbaren Landes mit
Riesenschritten vor sich gehen. Solange solche Bahn, deren
Bau ja nicht mehr in zu weiter Ferne liegen kann, nicht exi-
stiert, wird die Besiedelung weniger schnell prosperieren.
Immerhin aber braucht dort niemand Not zu leiden, und einem
jeden ist die Möglichkeit gegeben, anstatt durch irgendwelche
Lohnarbeit abhängig sein Leben zu fristen, hier in einigen Jahren
selbständig zu werden und seine eigene Scholle Land zu be-
sitzen.
— 129 —
Das ist ja schließlich die erste und letzte Hoffnung der
meisten Menschen, das Endziel aller Arbeit.
Liegen nun auch die Grundbedingungen zur Erreichung
eines solchen erstrebenswerten Zieles hier äußerst günstig, so
soll man sich doch keinen zu großen Illusionen hingeben.
Manche Schwierigkeiten sind zu überwinden, und wie in aller
Welt, so sind Arbeit und Ausdauer auch hier erforderlich,
namentlich in den ersten Jahren. Ohne Arbeit und Fleiß ist
es eben nichts!
Vallentin: Chubut 9
XIII.
Von Saihueque bis Choiquenilahue.
An den Süden der Kolonie General San Martin angrenzend,
liegt ein etwa 250 Quadratkilometer großes Gebiet, das von
der Regierung als Besiedelungsland einigen Indianerfamilien
überwiesen ist. Der Boden ist sehr salpeterhaltig, namentlich
in den Niederungen des Gennoa und im südwestlichen Teil,
der in den ausgedehnten Sümpfen des Shamen endigt, d. h.
in der vielverzweigten, mit Lachen und Sumpfbildung ver-
sehenen Fortsetzung des Arroyo Omckel, dessen schon bei
anderer Gelegenheit Erwähnung getan wurde. Steinig und
felsig ist die Gegend, so daß eigentlich nur die Schluchten
und Talebenen guten Graswuchs besitzen. Granit und Basalt
sind vorherrschend, namentlich in der Umgebung des „Piedra
Sottel", des Sottelfelsens, der einst, von unterirdischer Gewalt
emporgetrieben, mitten im Tal hervorquoll und zu mächtigen
Klumpen und nackten Wänden erstarrte.
Die wenigen Indianer, die hier sitzen, treiben ausschließ-
lich Viehzucht. Sie sind teils Tehuelchen, teils Pampas; auch
Manzaneros vom Araucanerstamm leben hier. Vielfach schon
haben sie sich durch Ehen miteinander gemischt, so daß ein
reiner Stamm nicht mehr existiert. Als Wohnung dient diesen
Eingeborenen das Zelt, indessen erscheint mehr und mehr die
festgebaute Hütte, das Haus aus ungebrannten Ziegeln (Adobe)
mit Schilfdach. Das Erdreich ist übrigens hier sehr gut für
Ziegelbereitung, d. h. zur Herstellung gebrannter roter Ziegel
geeignet. Ich habe dieselbe auf dem Besitze des Herrn Niebuhr
131
(Firma Femandez, Bertinat & Niebuhr) gesehen und ebenso
auch später am Senguerrfluß, wo ein Österreicher mir die Pro-
dukte seiner ersten Versuche zeigte.
In der breiten, grünen Talebene nördlich vom Sottelfelsen
Indianerin von Saihueqtie.
lebte und starb der große Saihueque, ein berühmter Indianer-
häuptling, dessen Macht einst sprichwörtlich gewesen ist und
der sich einer Ehrfurcht und eines Gehorsams sondergleichen
erfreute. Über Tausende hatte er einst geboten. Sein Macht-
bereich erstreckte sich weit nach Norden bis über Mendoza
— 132 —
hinaus. Ein großer Teil seiner Indianer besaß damals sdion
feste Wohnsitze, und im Gegensatz zu den nomadisierenden
Patagoniem haben jene Araucaner schon so etwas von einer
Hatbzivilisation angenommen. Die Fruchtbarkeit der von ihnen
später bewohnten Gebirgstäler veranlaßte sie zum Weizenbau
und zur Viehhaltung. Aus den wild wachsenden Äpfeln jener
Gegend machten sie einen starken Obstwein, den sie gegen
irgendwelche Bedarfsartikel eintauschten. Ebenso ernteten sie
die Früchte der sogenannten Araukaria, die „pinones'^ aus
denen sie ein angenehmes, erfrischendes Getränk herzustellen
verstanden. Der Reichtum des Häuptiings Saihueque war sehr
groß. Außer seinen zahlreichen Schaf- und Rinderherden be-
saß er viel Silberzeug usw., so daß eines seiner Zelte gleichsam
als Schatzkammer benutzt wurde.
Und heute ? — Der große, reiche Häuptling ist vor wenigen
Jahren gestorben. Er selbst und seine Familie sind verarmt,
ruiniert von seinen Söhnen und Töchtern, die der liebevollen
Umarmung der europäischen Kultur willenlos erlagen und an
Vergnügungssucht, Trunk und Spielwut zugrunde gingen.
Abgelegen vom Hauptwege, in einer großen, plateau-
förmigen Einsenkung zwischen zwei Felskuppen wohnt der
alte Tehuelchenindianer Kintruai mit seiner Frau und zwei Töch-
tern. Neben dem geräumigen Zelt aus Guanacofellen hat er
sich ein kleines Haus von Erdziegeln gebaut, mit Holztüren
und Fensteröffnungen, die mit hölzernen Läden verschließbar
sind. Rein und sauber ist hier alles, die Wohnung, die Gerät-
schaften, das Kochgeschirr, und auch die Leute selbst machen
einen äußerst reinlichen Eindruck, sowohl das alte Ehepaar wie
besonders die beiden Töchter mit den schwarzen, schlicht ge-
scheitelten Haaren, die in langen Flechten über die Schultern
fallen, den frischen, rotwangigen Gesichtern und der einfachen,
aber peinlich sauber gehaltenen Kleidung. Kintruai besitzt
30 Stück Rindvieh und etwa 1000 Schafe. Ob ihm dieser Vieh-
bestand und sein Grundbesitz von ungefähr 625 ha Fläche auch
133
noch nach einigen Jahren gehören werden? Wie mir erzählt
wurde, steckt der Mann trotz seiner Arbeitsamkeit und Nüchtern-
heit jetzt schon in den Krallen der Spekulanten und Bolicheros,
die gewissenlos die kleinste menschliche Schwäche ausbeuten,
um ihrer Habsucht zu frönen. Langsam aber sicher und : „Tu ich
es nicht, dann tut es ein anderer", das ist hier das System eines
Geschäfts. Wie es einst dem Häuptling Saihueque ergangen
ist, so wird es auch mit Kintruai enden, und ebenso werden
sie alle enden, verdorben — gestorben. Ich finde — vielleicht
ist es Einbildung — daß bei allen Indianern, insbesondere bei
den älteren Leuten so etwas wie eine stumpfe Resignation zur
Geltung kommt, eine stillschweigende Ergebung in das unver-
meidliche Schicksal. Auch als ich dort bei Kintruai in seinem
Zelt neben dem knisternden Feuer saß und den Mate schlürfte
und die Pfeife rauchte, fiel mir dieses auf. Die Leute waren
freundlich und gastfrei; wir erzählten und plauderten und lach-
ten auch zuweilen, und ich freute mich, wenn ich in den dunklen,
rotwangigen Gesichtern der Töchter die großen, schwarzen
Augen und hinter den frischen Lippen die herrlich weißen
Zähne sah. Und doch war es immer, als ob ein trüber Schatten
zuweilen über alles dahinhuschte, als ob das graue Gespenst
der Sorge mit unheimlich drohenden Blicken am Feuer kauerte
und den Zeltgenossen schwere Seufzer erpreßte. Und wie
hier, so war es mit wenigen Ausnahmen fast überall, wo ich
mit Indianern zusammengekommen bin; überall diese traurige,
aber stumme Klage gegen ein herbes Geschick.
EHe nächsten Tage brachten schlechtes Wetter. Müde und
sonnenarm trauerte der herbstliche Himmel, und trostlos blickten
die grauen Wolken herab auf die Erde, deren Gräser und Blätter
vor dem frostigen Atem des brausenden Windes sich ent-
färbten. Der Wind, der Wind — hier ist er kein himmlisches
Kind, vielmehr ein wilder, störrischer Geselle, der von dort
herzukommen scheint, wo der liebe Gott und die lichten, schönen
Englein nicht zu Hause sind.
— 134 —
Ich habe ihn manchmal zum Teufel gewünscht — ich
meine natürlich den Wind — und auch heute, als ich mit
meiner Tropilla über die „Pampa de Qennoa" ritt und zwischen
diesem Fluß und dem Rio Appeleg nur langsam vorankam,
äußerte ich jenen Wunsch in gerade nicht gewählten Aus-
drücken wohl schon zum zehntenmal. Aber was halfs! Die
Regenströme rauschten, und der Wind blies weiter und fuhr
ungehindert auf seinen dunklen Schwingen über die kahle, öde
Fläche. Kein Baum, kein Gehölz ist hier vorhanden, ihm
auch nur den geringsten Widerstand zu bieten. Nur niedriges,
ganz verkrüppeltes Dorngestrüpp duckt sich ängstlich zwischen
Steinen und felsigen Qeröllmassen und kriecht zwischen
mancherlei Unkraut wie eingeschüchtert am Boden dahin. Auch
sonst sieht diese Gegend nicht sehr einladend aus.
Weidegras ist nur von mittelmäßiger Beschaffenheit und in
verhältnismäßig geringen Mengen vorhanden; der Boden ent-
hält Salpeter, insbesondere auf den niedriger gelegenen Strecken.
Indessen kann Trinkwasser durch Grabungen oder Bohrungen
schon in unerheblicher Tiefe erlangt werden. Bei der Tele-
graphenstation Nueva Lubeca z. B. gibt ein Brunnen bereits
bei etwa 2,5 m Tiefe genügend Wasser.
Westlich von hier, also auf dem rechten Ufer des Baches
Omckel, erstreckt sich dieselbe einförmige Hochfläche bis zu
den Kordilleren hin, wo sie, allmählich ansteigend, mit einzelnen
Kuppen und Rücken bis zur Höhe von 1000 und 1100 m empor-
klimmt und dann nach Westen zum Tal des Rio Frias wieder
bis auf 740 m über dem Meeresspiegel abfällt. Auch auf
dieser nackten Steinpampa zwischen Omckel und Appeleg ist
der Graswuchs nur dürftig; Bäume fehlen gänzlich, und auf
der von einem Deutschen angelegten Estanzia ist es nur mit
vieler Mühe gelungen, in einer Reihe von Jahren einige schwäch-
liche Baumexemplare zu züchten und am Leben zu erhalten.
Daß man auf einem so beschaffenen Terrain, das außerhalb
der Kordilleren liegt und daher nicht mehr die günstigen Eigen-
136
schatten und natürlichen Qrundbedingungen der fruchtbaren
Gebirgstäler aufweist, bisher bloß Viehzucht zu betreiben ver-
mochte, dürfte erklärlich sein. Dabei ist die Schafhaltung be-
deutender als die Rindviehzucht.
Nach Süden fällt die mit steinigem Geröll bedeckte Pampa
in ziemlich steilen Hängen zum Appeleg ab und bildet dort ein
breites Tal, dessen Sohle auf ca. 7 — 800 m Höhe über dem
Meere liegt. Das ganze gleicht auf beiden Ufern, sowohl des
Appeleg wie des Qennoa, einer gewaltigen, tischartigen
Fläche, einer Meseta, in welche die Flüsse und Bäche ihr
steilwandiges und breites Bett tief hineingeschnitten haben, ohne
viel Variation, mit derselben Eintönigkeit, die von der öden
Oberfläche der Meseta zur Schau getragen wird. Nach Osten zu
werden kleine Erhebungen sichtbar mit Steilabfällen, die wie
hohe, abgewaschene Flußufer aussehen; dahinter recken sich
blaue Kegel auf, und langgestreckte, tafelartige Wälle schieben
sich fem am Horizont zu einer hellschimmernden Dunstmauer
zusammen. Alles aber ist kahl, und schon kommt ringsumher
der flächenartige Charakter der Landschaft anstatt des gewellten
Berg- und Hügellandes durchweg zum Ausdruck, namentlich
nach Süden zu, wo die weite Ebene ohne Unterbrechung bis
zum Horizont reicht. Der Boden ist salpeterhaltig, und das
Weidegras wohl infolgedessen nicht das beste. Es soll sich
hier auch mehr als Futter für Schafe, weniger für Kühe eignen.
Der Sturm war mittlerweile zum wahren Orkan geworden,
der wutschnaubend über die Hochebene dahinfegte. Er raubte
uns den Atem und hinderte die armen Tiere am Vorwärts-
kommen. Es war, als ob er sich uns mit Riesenarmen ent-
gegenstemmte und, wenn dies nicht gelang, aus Zorn einen
Regenschauer, vermengt mit scharfen Hagelkörnchen auf uns
herniederprasseln ließ. Dann blieben wohl einige Pferde nach-
denklich stehen und drehten ihm verächtlich ihre Hinterhälfte
zu, und ein Maultier schüttelte unwillig den langgeohrten Kopf,
tat einen energischen Sprung und raste davon.
— 137 —
Wir hatten unsere liebe Not, und selbst mein Indianer,
dessen Ruhe und stoischen Gleichmut ich sonst bewunderte,
spuckte ein paarmal kräftig aus und stieß zwischen den knir-
schenden Zähnen einen fürchterlichen Fluch hervor. Wen er
damit gemeint hat, weiß ich nicht, vielleicht seinen Gualichu,
den bösen Geist. So kamen wir denn allmählich die steile
Barranka hinunter zum Tal, wo der schneidende Wind nicht
mehr in seiner ganzen Heftigkeit empfunden wurde. Hier —
es waren ca. 35 — 40 km von der vorgenannten Telegraphen-
station — erhebt sich zur linken Hand ein Felsklotz, auf dessen
glatter Wand Figuren und Zeichen in braunroter Farbe an-
gebracht sind. Wiederum ein stummer Zeuge, ein beredtes
Denkmal aus längst vergangenen Zeiten von einem unter-
gegangenen Volk. Bei dem schlechten Wetter ließen sich die
einzelnen Schriftzeichen nicht gut erkennen. An einzelnen
Stellen waren auch Felsstücke herausgebröckelt und Farbe da-
mit verschwunden. Immerhin konnte ich bemerken, daß unter
den Figuren die Dreieckform vorherrschte, ähnlich wie auf dem
Grabstein zwischen Norquinco und Maiten.
Noch immer heulte der Sturm und strömte der Regen.
Der Boden war aufgeweicht. Jetzt mußten wir über einen
hoch angeschwollenen Bach, dessen Wasser in beträchtlicher
Breite hinabschoß; wie es schien, war die Furt gut. Zwei
Pferde und ein Maultier hatten schon vorsichtig tastend das
andere Ufer erreicht. Don Jose, mein Indianer, folgte, dann
kamen die anderen Tiere und ich machte den Schluß. Gerade
hatten wir die Mitte erreicht, da stolperte eines der Pferde,
stieß dabei ein zweites zur Seite und dieses drängte das eben
vorbeischreitende Lasttier nach rechts, das nun plötzlich bis
zum Halse untersank und sich vergeblich anstrengte, wieder
hochzukommen. Uns selbst reichte das Wasser bis über die
Sattelgurte. Umsonst versuchten wir, durch Zuruf und
Peitschenhiebe das arme Tier vorwärts zu bringen; es sank
immer tiefer, und schließlich hielt es nur noch den Kopf über
138
Wasser. Von meinen Gepäckstücken Waren nur die oberen
noch sichtbar. Ob sich im Wasser nun eine abschüssige,
schlammige Stelle befunden hat, ob dort Schlinggewächse vor-
handen gewesen sind, in denen sich die Beine des Tieres ver-
wickelt haben mögen, oder ob es zwischen Steinen stecken ge-
blieben ist: ich weiß es nicht. Jedenfalls blieben alle unsere
Anstrengungen ohne Resultat; das arme Vieh saß fest im
Wasser, und um uns herum toste der Sturm, und die Regen-
tropfen klatschten rasselnd hernieder auf die dunkle Flut.
Alle Wetter, und mein Qepäck, meine Bücher, meine Auf-
zeichnungen und Skizzen, Films und Photographien! Alles
vielleicht schon verdorben. Da kam mein Indianer auf einen
Einfall. Er löste vom Sattel seinen Lasso und warf ihn mit
Geschick um den Hals des erbarmungswürdigen Maultieres.
Dann versuchten wir beide mit vereinten Kräften das Tier
herauszuziehen. Es half nichts. Wieder fluchte Don Jose und
guckte mich ärgerlich an. Darauf befestigte er ohne ein Wort
zu verlieren schnell das andere Ende des Lassos am großen
Sattelring seines Gauls, sprang auf den Rücken des Pferdes
und trieb es mit Schenkeldruck und Peitschenhieb zum kräf-
tigen Anziehen an. Erst nach mehreren Versuchen gab das
Hindernis nach und das gerettete Maultier wurde ans Land
gezerrt, aber — tot! mausetot!
Der Indianer stand sprachlos daneben, tastete und klopfte
an Kopf und Leib und Schwanz herum, aber das Tier blieb
tot, und Don Jose sprach so etwas von „schade*' und „er-
trunken", wobei er ein gar mitleidiges Gesicht aufsetzte, und
dann murmelte er einige unverständliche Worte vor sich hin,
vielleicht ein Stoßgebet für die entflohene Seele des armen
Tieres, die er in die Jagdgründe seiner Väter zu befördern ge-
holfen hatte. Auf alle Fälle machte er einen sehr geknickten
Eindruck, wohl im bedrückenden Gefühl seiner Schuld und in
Erwartung böser Dinge, die da kommen sollten. Aber es kam
gar nichts. Ich war ja froh, daß ich mein Gepäck wieder
— 139 —
4
hatte, und befahl dann, die ganze Last dem anderen Maultier
aufzubürden. Das geschah, wenn auch bei dem miserablen
Wetter mit allen nur erdenklichen Hindernissen. Durchnäßt
von oben bis unten und bis auf die Haut im buchstäblichen
Sinne trabten wir dann auf dem schlüpfrigen Wege weiter, und
der braune Don Jose rief ein über das andere Mal „Caramba" !
und „Diablo"!; dabei spuckte er aus, weit über den Hals
seines Tieres weg und schüttelte sein triefendes Haupt und
schielte scheu zu mir herüber. Der frevelhafte Mord des guten
Maultieres schien schwer auf ihm zu lasten. Ich saß „gedrückt"
im nassen Sattel, denn meine Kleider und der Poncho waren
von Wasser vollgesogen wie ein Schwamm und zogen mich
mit ihrem Gewicht abwärts. Innerlich aber war ich froh,
daß meine Notizen und Aufzeichnungen, Skizzen usw. gerettet
waren und daß ich nur einige Gepäckstücke, die etwas Pro-
viant und einige Kleidungsstücke enthielten, in den morastigen
Fluten verloren hatte. Das war leicht zu verschmerzen.
Drüben im Westen aber schaute ein neugieriger Sonnen-
strahl hinter den schwarzen Wolkenmauern hervor und be-
leuchtete für einen Augenblick die nasse, feuchte Ebene vor
uns. Und da glitzerten hell die Wellen des Rio Appeleg und
am jenseitigen Ufer — gottlob — da stand ja ein Gehöft.
Zwar war es noch weit, aber es war doch da, und wenn es
auch nur eine elende Hütte gewesen wäre ; wir brauchten dann
die abscheuliche Nacht doch nicht wieder unter freiem Himmel
auf durchweichtem Boden zuzubringen. Ich atmete erleichtert
auf, vielleicht hörbar, denn Don Jose schaute mich fragend an,
lächelte heute zum erstenmal und zeigte nach der Ansiedlung.
Ich nickte zustimmend.
Wir passierten den breiten, vom Sturm aufgewühlten
Appeleg und erreichten diesmal ohne Unfall das andere Ufer.
Nach einer Stunde etwa hielten wir vor der Tür des Hauses,
wo mir der Besitzer, unter allen Ausrufen und Zeichen des
Schreckens und der Verwunderung, schon entgegenkam, und
— 140
mich zum Eintreten nötigte. Wir trieften, und in meinen langen
Reitstiefeln gluckste es verdächtig, und wo wir standen, bildeten
sich Lachen und der festgestampfte Boden verwandelte sich
dort in kurzer Zeit in einen schlammigen Brei. Das hinderte
aber nicht, daß wir erst verschiedene ganz heiße Matäs in un-
seren Leib hineinschlürften; erst dann, als wir den inneren
JMenschen erwärmt hatten, stiegen wir aus unseren nassen,
Botellos Besitz in Choiquenilahi
beschmutzten Kleidern und schlüpften in trockenes Zeug, das
der menschenfreundliche Wirt uns herbeibrachte. Es paßte zwar
nicht ganz, und ich mag wohl wunderlich darin ausgesehen
haben ; aber es wärmte. Und das war zunächst das wichtigste.
Der Besitzer dieser Estanzia ist ein Argentiner aus der
Provinz Corrientes, namens Botello, der älteste Ansiedler in
dieser Gegend am Gennoa, Appeleg, und Sengu^rr, die den
Namen „Choiquenilahue" führt, das heißt „der Straußenpaß".
— 141 —
Sefior Botello ist mit einer Vollblutindianerin aus dem Te-
huelchenstamm verheiratet. Seine Besitzung hat eine Aus-
dehnung von 4 Legua, d. h. 100 Quadratkilometer. Der Oras-
wuchs ist im allgemeinen gut, und Viehzucht kann daher mit
gutem Erfolg getrieben werden. Namentlich ist die Milch-
ergiebigkeit der Kühe vorzüglich. Der Fettgehalt der Milch
ist groß, und Butter- und Käsebereitung können infolgedessen
gute Erträge abwerfen. Auf der gesamten Fläche hält Sefior
Botello etwas mehr als 10000 Stück Vieh, d. h. Rinder und
Schafe zusammen, indessen auch nur während des Sommers,
also etwa 5 Monate lang. Im Winter setzen die Überschwem-
mungen das Talgebiet unter Wasser, und die ganze Ebene
gleicht dann einem mächtigen See. Die Tiere sind in jener
Zeit genötigt, hinauf zur sog. Meseta zu gehen, zur weit-
gedehnten Pampafläche, wo sie hinreichend Futter finden und
in den niedrigen Dornbüschen einigermaßen Schutz suchen
können. Denn die Stürme hausen hier mit gewaltiger Kraft.
Ackerbau ist aus diesem Grunde bisher nicht möglich gewesen.
XIV.
Am Rio Senguerr und Rio Mayo.
Von Choiquenilahue, das 490 m über dem Meeresspiegel
liegt, erstreckt sich westwärts eine tischförmige Pampa zu
beiden Seiten des Rio Senguerr, der, aus dem Lago Fontana
in den Kordilleren kommend, von Westen nach Osten fließt,
hier in der Nähe der Estanzia Botellos im rechten Winkel
nach Süden abbiegt und in südöstlicher Richtung bis fast zum
46. Grad südlicher Breite, zur Grenze vom Territorium Santa
Cruz läuft. Oort macht er wieder eine rechtwinklige Biegung
und strömt nach Nordosten zum Lago Musters.
Der Boden jener Meseta ist zumeist sandig und von einer
Decke aus Geröll und Steinen überlagert, auf der nur eine
dürftige Vegetation zum Vorschein kommt.
Die Steppengräser, hier allgemein Coiron genannt, gedeihen
aber gut. Sie sind es, die während der Winterszeit dem Vieh
als Futter dienen. In einzelnen Tälern gibt es besseren Boden,
da sich dort die herabgeschwemmten Verwitterungsprodukte
des Gesteins angesammelt und eine fruchtbare Humusschicht
gebildet haben.
Fließendes Wasser fehlt; dafür sind genügend Wasser-
ansammlungen vorhanden, stehende Gewässer, die sog. Manan-
tiales. Brunnenanlagen sind außerdem mit verhältnismäßig ge-
ringer Mühe zu ermöglichen, so daß eine Bewässerung dieses
Gebietes kaum auf Schwierigkeiten stoßen würde.
Ein tief eingeschnittenes Tal mit hohen, steilen Seiten-
wänden zieht sich zu beiden Seiten des Rio Senguerr hin, von
seinem ersten Knie bei der Estanzia Botello südwärts bis zur
143
Einmündung des Rio Mayo. Stellenweis erreicht diese Ebene
eine Breite von 6—7 km und ist mit saftigen Gräsern bestanden,
die ein vorzügliches Viehfutter abgeben. Baumwuchs fehlt;
selbst das dürftige Dorngestrüpp an den Abhängen verschwindet
oben auf der Meseta, die flach, steinig und sandig einen öden,
trostlosen Anblick gewährt. Weiter im Westen baut sich auf
dieser ungeheuren Fläche eine zweite auf, und diese wieder
wird überragt von einer dritten, die sich bis zu dem Fuße
der Ausläufer der Anden erstreckt. Auf dem östlichen Ufer
des Senguerr ist die Pampa anfangs leicht gewellt und geht
dann mit schroffen Rändern und Kuppen in jenen Höhenzug
über, der sich vom südlichen U-förmigen Bogen des Flusses
zwischen diesem und dem Lago Musters nach Norden zieht
und sich an einigen Stellen zur Höhe von 1200 und 1300 m
und mehr erhebt. Die Talsohle des Senguerr liegt etwa 450 m
über dem Meeresspiegel, während der obere Rand bzw. der
Beginn der kahlen Steinpampa auf 550 — 600 m hoch gelegen
ist. Die äußere Form dieser Meseta auf dem östlichen Ufer
erinnert sehr an die sog. Kranzbildung in Südafrika. Die Ge-
steinsmasse besteht hauptsächlich aus Basalt von schwarzer
oder brauner Farbe. Dazwischen finden sich Basaltschlacken
von hellbrauner bis gelblicher Färbung und kalkige Gebilde,
Knollen von kohlensaurem Kalk, die sich wie weiße Flecke
aus dem im allgemeinen dunklen Kolorit der wüsten Landschaft
hervorheben. Auf den oben zutage tretenden Basaltfelsen
lagert eine Schicht von grobem Geröll und Sand, dem Ver-
witterungsprodukt von Porphyr- und Granitsteinen.
Nur eine kümmerliche Vegetation kann in solcher un-
fruchtbaren Öde gedeihen. Außer den spärlichen Coirön-
gräsern wächst dort zwischen dem scharfkantigen harten Stein-
geröll nur verkrüppeltes Dorngestrüpp. Hier und da steht
verlassen eine kleine Sampastaude mit ihren graugrünen
Blättern; auch Neneo ist anzutreffen neben niedrigen, trocken
aussehenden Moosen und stacheligem Unkraut.
— 1 45 -
Das Talgebiet, durch das sich der Senguerr in tausend-
fachen Krümmungen hinschlängelt, hier verschiedene Arme
bildend, dort gewaltige Schneckenwindungen machend, so daß
es oft aussieht, als wolle er in seinem eigenen Laufe um-
kehren, ist bewohnt. Die Regierung hat hier das Land ver-
messen und zu Losen von je einer viertel Legua = 625 ha ab-
teilen lassen zwecks Besiedelung. Die Bedingungen sind die-
selben wie in der Kolonie General San Martin. Meistens
sind es Indianer, die sich hier niedergelassen haben, und zwar
Tehuelchen unter dem Häuptling Canquel. Sie treiben aus-
schließlich Viehzucht und wohnen teils in Zelten, teils in festen
Hütten aus Adobe. Ich traf diese Eingeborenen gerade beim
Einfangen der jungen Rinder zum Markieren. Vier oder fünf
Leute zu Pferde jagen in gestrecktem Galopp wild hinter dem
Tiere her; im geeigneten Augenblick saust der Lasso durch die
Luft und legt sich als Schlinge dem Rind um Hals oder Hörner
oder Beine. Brüllend vor Wut zerrt dieses daran und sucht zu
entkommen, wobei nun das gelehrige Pferd, an dessen Sattel-
ring der Lasso befestigt ist, die Füße vorwärts bzw. seitwärts
stemmend, das Tier zum Stehen bringt. Mit Hilfe der anderen
Leute wird es dann in die Nähe des Feuers gebracht, wo die
Eisen mit der Marke des Eigentümers glühend gehalten werden ;
dann wird es zu Boden geworfen, und jene Prozedur des
„Stempeins" geht vor sich, der sich die gefangenen Engländer im
Transvaalkriege einstmals ganz gegen ihren Willen unterzogen
haben sollen. Da zu einem solchen „Familienfest" die
nächsten Nachbarn und Freunde erscheinen, um hilfreich Hand
zu leisten, brodelt an dem Feuer auch ein großer Wasserkessel
für den Paraguaytee, und der Mate macht unzählige Male
seine Runde.
Wiederholt habe ich Gelegenheit gehabt, Indianer reiten
zu sehen, nicht nur beim Einfangen und Lassieren von Vieh,
sondern unter anderem auch beim Bändigen von Pferden usw.,
und stets mußte ich ihnen Bewunderung zollen ob ihrer großen
Vallentin: Chubut 10
— 146 —
Geschicklichkeit und Kraftentfaltung bei Ausübung dieser Kunst.
Es ist erstaunenswert, wie ein Volk, dem früher das Pferd ein
unbekanntes Tier gewesen ist, sich im Laufe der Zeit zu einem
vorzüglichen Reitervolk ausgebildet hat Auch hinsichtlich der
Behandlung der Tiere habe ich beobachtet, daß der „wilde"
Indianer im allgemeinen humaner ist, als der Weiße der roman-
nischen Rasse, daß namentlich beim Zähmen der Pferde der
„grausame" Indianer nicht mit jener schrecklichen Brutalität
verfährt, die der romanische Argentiner anwendet, um dem
Tiere ein für allemal die Willenskraft in rohester Weise zu
brechen. Häufig schon am ersten Tage solcher Behandlung
ist das Pferd tatsächlich gebrochen, ein willenloses, halbblödes
Geschöpf, das nie mehr eine Zuneigung zu seinem Herrn und
Reiter fassen wird. Diese ist ihm gründlich ausgetrieben worden,
und nur die Abneigung und Furcht vor seinem Bändiger ist
geblieben.
Es war ungefähr gegen Mittag, als ich, an den Toldos jener
Tehuelchen vorüberreitend, das wilde Jagen hinter einem Bullen
und das Lassieren desselben beobachtete. Ich hielt für kurze
Zeit, um das interessante Schauspiel besser betrachten zu
können. Schnaubend und fauchend, mit blutunterlaufenen
Augen und hochgehobenem Schwanz stürmte das gehetzte Tier
auf der weiten Fläche vorwärts; hinter ihm im gestreckten
Galopp drei braunhäutige Burschen, den Lasso hoch in der
Luft schwingend. [>er Bulle hatte seinen Weg zu mir und
meiner Tropilla genommen. Immer näher kam er, schon hörte
ich das Keuchen und Brummen, und mein Pferd wurde un-
ruhig. Da sauste es durch die Luft; ein Lasso senkte sich
hernieder und legte sich um den Hals des Rindes, das nun
verzweifelt zerrte und schüttelte und zog, in ohnmächtiger Wut
den Boden zerstampfte und dabei ein klägliches Geheul aus-
stieß. Wie in Erz gegossen saß der Reiter; sein Pferd parierte
durch Gegenstemmen den Ruck am Lasso. Dann wurde mit
Hilfe der übrigen zwei Indianer der eingefangene Bulle zum
— 147 —
Feuerplatz getrieben. Das sich wie rasend gebärdende Tier
versuchte sich auf einen der Reiter zu stürzen, namentlich auf
den, der es am Lasso gebunden hielt. Ich wartete und besah
mir die Sache. Da trat ein alter, hochgewachsener Mann zu
mir. Seine Kleidung bestand in einem mantelartigen Überwurf
aus zusammengenähten Ouanacofellen, deren innere haarlose
Seite Bemalung zeigte. Figuren und Linien, Quadrate und Drei-
ecke waren dort in symmetrischer Anordnung zusammengefügt,
derart, daß das ganze ein mosaikartiges Aussehen erhielt, und
nicht etwa regellos; vielmehr bildeten die kleinen, etwa 1 qcm
großen Figuren wieder größere, die ihrerseits die ganze Fläche,
also etwa 2 m im Quadrat, in einer wunderbaren Symmetrie
bedeckten. Die Farben waren hauptsächlich braun (wahrschein-
lich gebrannte Ockererde), schwarz und weiß. Außer als
Schmuck soll diese Bemalung auch als Schutzmittel gegen
Nässe dienen, da die Farbe infolge ihrer Zusammensetzung
die Eigenschaft besitzt, die unbehaarte Fellseite undurchlässig
zu machen. Der alte Indianer bat mich, abzusteigen und in
sein Zelt zu kommen. Ich willfahrte, da es ohnehin Mittags-
zeit war und eine kleine Rast für Mensch und Tier ganz an-
gebracht erschien. Bald saßen wir im geräumigen Toldo am
Feuer. Der Mate kreiste, während am mächtigen Bratspieß
ein Rippenstück von ansehnlichem Umfang geröstet wurde.
Sorgfältig wendete und drehte ein Indianerweib den duftenden
Braten, um ihn gleichmäßig der Einwirkung des Feuers aus-
zusetzen. Prasselnd und zischend tropfte das Fett hinunter
in die Flammen, die dann jedesmal erschreckt emporflackerten.
Der Spieß mit dem braun gerösteten Rippenstück wurde jetzt
vom Feuer genommen, mit Längs- und Querschnitten versehen
und mit Salzwasser begossen, dann noch einmal nur für einen
Moment ans Feuer gestellt, 2 — 3 mal gewendet, und — der
„Asado" d. h. Spießbraten war fertig. Ohne weitere Zere-
monien zog nun ein jeder sein langes, scharfes Dolchmesser
aus dem Gürtel und schnitt sich ein beliebiges Stück vom
10*
Brattn ab, das er unter Zuhilfenahme der Finger und eben
jenes Messers mit Appetit verspeiste. Ich tat natürlich dasselbe,
und als ich fertig; war und mit einem herzlichen „gracias"
mein Messer am Stiefelschaft abzog und dann in meinen Leder-
;;urt steckte, fühlte ich doch ein wohliges Behagen in meinem
Innern, und ich muß wohl schmunzelnd meinen Mund mit
dem Taschentuch gewischt haben, denn die braunhäutigen Zelt-
Tehuelchen- Indianer vor ihrem Zell,
};(.'nössen freuten sich ebenfalls und grinsten und lachten und
schienen befriedigt und vergnügt zu sein. Als dann eine Pfeife
Tabak geraucht wurde und der Mate wieder in seine Rechte
trat, fragte mich mein liebenswürdiger Wirt, ob es mir ge-
schmeckt habe, ob ich vielleicht noch etwas wünsche.
„Nein, ich danke, ich habe vollauf genug und das Fletsch
war ja vorzüglich. Es hat mir selten so gut geschmeckt wie
heute."
— 149 —
„Ei ja, das will ich glauben/' nickte die alte Rothaut, und
dabei lächelte der Mann zufrieden vor sich hin. „Aber es
hat sich gut getroffen. Mein Bruder ist hier zu Besuch und
einige Nachbarn sind auch gekommen, um uns bei der Arbeit
da draußen zu helfen. Da haben wir denn heute Morgen ein
gutes Pferd geschlachtet; Herr, es war auch unser bestes
Stutenfohlen, und das Fleisch war wirklich gut. Nicht wahr?"
Ich wußte erst nicht, wie mir geschah. In meinem Leibe
fing das verspeiste Pferdefleisch an, sich zu bewegen. In-
dessen ich bezwang mich und antwortete recht lebhaft:
„Si Senor, muy rico; es war wirklich vorzüglich." Dann
eilte ich spornstreichs hinaus ins Freie . . .
Ich habe später noch viele Male Pferdefleisch gegessen,
sogar schon am folgenden Tage, ut^d habe mich daran gewöhnt.
Offen muß ich bekennen: es schmeckt sehr gut, und unsere
Abneigung davor ist nur etwas Überliefertes, Anerzogenes,
Angewöhntes. Allerdings nehmen die Indianer zu ihrem Essen
nicht alte, abgetriebene Klepper und kranke Gäule, sondern
junge, völlig gesunde Tiere. Und darin liegt wohl der große
Unterschied zwischen dem Verspeisen von Roßfleisch bei dem
Indianer hier und bei den weißen Menschen im alten Europa.
Etwa 60 km südlich von Choiquenilahue rücken die Tal-
wände eng zusammen und bilden eine Art steilwandiges Tor
von kaum 150 m Breite, dessen oberer Rand, aus völlig zer-
setzten vulkanischen Gesteinen bestehend, ein wildzerborstenes
Aussehen hat und unmittelbar in die mit Geröll und Sandstein-
massen bedeckte pampaähnliche Hochebene übergeht. Der
Boden ist hier stellenweis kalkhaltig; Gips kommt in faserigen
Gebilden vielfach vor. Ebenso sind Salzablagerungen an meh-
reren Plätzen zu finden, z. B. 30 km nordwestlich von hier,
außerdem in einer Entfernung von 13 bis 15 km südwestlich
von dem soeben erwähnten Tor. Das dort vorhandene Salz
ist von guter Beschaffenheit, relativ feinkörnig und wird von
den Leuten als Speisezusatz benutzt.
— 150 —
EJer Talboden selbst zeigt hauptsächlich sandige Bestand-
teile, bis auf 1,8 m Tiefe. Unter dieser Sandschicht, die von
tonhaltigen Sedimenten, vermengt mit Mergel und Kalk, durch-
zogen ist, befindet sich ein ca. 0,5 m starkes Konglomerat, das
Steine und rundliche Kiesel bis zur Faustgröße enthält. Nach
unten folgen wieder ton- und lehmhaltige Sandablagerungen.
' Die ganze Gegend macht im allgemeinen einen öden Ein-
druck, der durch das Fehlen einer kräftigen Vegetation nur noch
erhöht wird.
Je weiter man nach Süden kommt, desto mehr treten
an den Abhängen sandige Flächen hervor; das linke Ufer
erscheint beinahe wie ein Riesenbau von Schanzen und Bastio-
nen; so türmen sich dort Sand- und Lehmwände aufeinander.
Hinauf und hinunter windet» sich der schmale Pfad, wenn über-
haupt von einem solchen gesprochen werden kann. Denn
nur zu häufig hört er völlig auf, und oftmals stand ich entweder
eingeengt zwischen Wasser und steilragender Uferwand oder
inmitten einer schauerlichen Schlucht, in der es aussah, als ob
dämonische Gewalten im wütenden Kampf gegeneinander ge-
tobt hätten. Noch einmal, etwa 17 km südlich von dem oben
genannten Tor rücken die Ufer des Senguerr nahe zusammen
und bilden eine zweite Verengung mit senkrechten Felswänden,
die zumeist aus völlig verwitterten, vulkanischen Gesteins-
massen bestehen. Die äußere Formation zeigt ausgesprochene
Kranzbildung auf beiden Seiten des Stromes. Drohend wie
halbverfallene Türme einer Ruine oder wie zerschossenes
Schanzenmauerwerk, so ragt aus den Schutt- und Trümmer-
massen das Felsgestein hervor, zerrissen, zerfetzt, hier wie
auseinandergeschleudert von zorniger Hand, dort aufeinander-
getürmt oder zusammengeworfen zu regellosen Haufen. Etwas
Unheimliches liegt auf dieser Landschaft, und fast unheimlich
tönt der Hufschlag unserer Reittiere in der menschenverlassenen
Einsamkeit.
„Da ist Rauch," bemerkt mein Begleiter.
— 151 —
„Out, also vorwärts!"
In 15 Minuten etwa halten wir vor zwei Indianerzelten; es
waren Tehuelchen, die sich in dieser gottverlassenen Wüstenei
niedergelassen hatten. Neugierig laufen die Insassen zusammen,
Männer, Weiber, Kinder, und mit erstaunten Blicken betrachten
sie mich.
„Wo geht hier der Weg zum Rio Mayo?" frage ich einen
kräftigen, hünenhaft gebauten jungen Mann, der mir am
nächsten steht.
Er zuckt die Achseln und schüttelt mit dem Kopf. Mein
Begleiter wiederholt die Frage und spricht mit dem Indianer
in der Eingeborenensprache. Nach langem Hin und Her er-
m
fahre ich das Resultat: Hier gibt es keinen Weg mehr; unten
ist unpassierbares Sumpfland und der Fluß, und sonst rings
herum nur eine tief eingeschnittene Schlucht mit steil aufstreben-
den Hängen. Wenn wir nicht vorziehen, umzukehren, müssen
wir dort hinauf. E>er Indianer zeigte nach der betreffenden
Höhe.
Heiliger Himmel, also da hinauf!? Ich betrachtete mir die
Sache da vor uns etwas und überlegte. Jedenfalls war das
schwierige Vorwärts besser als das bequemere Zurück.
„Also einen Pfad gibt es nicht," vergewisserte ich mich.
„Nein, Herr!"
„Nun, dann das Maultier nach vorn; es findet stets den
besten Weg; darauf vorsichtig die Pferde hintereinander.
Vämos!"
Mein Führer trieb an und ich folgte. Donner, das war eine
Kletterei. Noch heute überläuft mich ein leichter Rieselschauer,
wenn ich daran zurückdenke. Und dazu diese Einöde in ihrer
elenden Nacktheit, mit ihren gigantischen Lehmmauern und
kalkigen Tonwänden, die von Höllengeistern zu Riesen-
schanzen aufgetürmt und dann ins Fratzenhafte verzerrt zu sein
scheinen. Alles ist hier Sediment, vom Flußufer bis hinauf
zum letzten Rande, und die ganze Masse ist durchzogen von
— 15-2 —
horizontalen Ablagerungen aus festerem Material, so daß diese
Naturmauern das Aussehen haben, als ob sie bei ihrem lanjr-
samen Aufbau gewaltsame Unterbrechung oder überhastete
Änderungen erduldet hätten, die in mehreren Absätzen zum Aus-
druck kommen. Oftmals sind acht solcher Absätze aufein-
ander geschichtet. Die sanft geneigte Ebene bis zum Fluß-
ufer hin besteht aus lehmigem Kalk und Ton, ist an der Ober-
Indianer vom Pampasti
fläche trocken und hart, darunter aber naß und moderig. Nur'
Dorngestrüpp, Calafäfe und Chapel fristen hier in greller Sonne
ihr Dasein, die den Boden mit ihren Strahlen ausgedörrt hat,
daß er geborsten und zerrissen ist. Lange Spalten ziehen sich
von den Schluchten der Talwände hinab bis zum Flusse. Eine
Menge von Lachen und Tümpeln, Ansammlungen von Regen-
wasser, deren Umgebung meistens einen dunklen Morast bildet,
zwingen den Reifer zur Vorsicht. Und nur behutsam schreitet
— 1 58 —
das Roß auf dieser das Auge blendenden, hart und fest er-
scheinenden kahlen Fläche, die nur hin und wieder von dürftigem
Gras und niedrigem Strauchwerk unterbrochen wird. Nahe am
Flusse wächst hochhalmiges, grünes Schilf. Geröll und festes
Gestein kommen hier wenig vor. Nirgends, weit und breit, so-
weit das Auge reicht, ein Lebewesen. Keine menschliche Be-
hausung, keine Hütte, nichts; eine unheimliche Stille, in der
jeder Laut verhallt wie in Todesschweigen. Und immer wilder
wird die Umgebung, immer öder, leerer. Geisterhaft bleich
stieren die weißlichen Sandmassen den einsamen Wanderer an;
gespenstisch heben sich die zerwühlten Klumpen und Haufen
vom stahlblauen Himmel ab. Allmählich geht die helle, weiße
Farbe der Uferwände ins Gelbe über; mehr und mehr treten
braune und rötliche Flecken auf, und plötzlich — es war A\'> Uhr
nachmittags — erscheint das ganze linke Ufer feuerrot. Alles
ist dort in Rot getaucht, Übergossen wie mit Blut, durchglüht
von Feuer, wie lodernde Flammen beim Weltenbrande. Und
in den Wellen des Senguerr das gleiche Spiegelbild, glänzend,
zitternd, wie eine riesenhafte Blutlache. Und hinter jenen in
Feuersglut erstarrten Ruinen erheben sich farblos und blaß
gleich weißen Leichenhügeln andere langgestreckte Bergrücken,
flimmernd im Strahl der sinkenden Sonne. Fast atemlos blickte
ich in diese schaurige und gewaltige Landschaft hinein, die aus
dem flammenden Höllengrund zu stammen schien und mir
vorkam wie eine Welt dämonischer Willkür und finsteren
Trotzes, eine Welt des Aufruhrs wilder Elemente, denen erst
ein allmächtiger Schöpfergedanke Rühe gebot. Und Ruhe, ja
die Ruhe des Todes scheint seither in diesem großen Höllental
zu herrschen, aus dem der Modergeruch einer längst verwesten
Vergangenheit aufsteigt; alles Leben verschüttet, verschollen,
wie wenn ein steinernes Entsetzen sich der Natur beim An-
blick von etwas Schrecklichem bemächtigt hätte.
Weiter flußabwärts kommen diese roten Schichten auch
auf dem rechten Ufer vor; sie fallen im allgemeinen nach Süd-
— 154 -^
Westen ein. Immer aber sind sie durchsetzt von helleren,
weißlichgrauen, oft ins gelbliche spielenden Sedimenten, wäh-
rend sie ganz oben von einer dunkelbraunen Decke überlagert
werden, die spärliches Büschelgras und Gestrüpp hervor-
sprießen läßt.
Schier endlos dehnte sich diese tote Gegend mit den baum-
losen Wänden, endlos und gleichförmig und dabei ermüdend,
abspannend, geradezu marternd, als wenn tausend unsichtbare
Spukgestalten hier ihr Unwesen trieben. Phantastische Wolken
zogen am Himmel vorüber. Ihre dunklen Schatten huschten
über das Wasser, an den Hängen entlang, bis sie in die Schluch-
ten hineinkrochen, um weiter oben nahe am Steilrand in fratzen-
haftem Teufelstanz vorbeizugleiten und dann zu ver-
schwinden.
Und immer weiter ritten wir, still und stumm ob des Ge-
schauten ; und immer noch wollten diese vegetationslosen Schan-
zen und Mauern kein Ende nehmen. Eine Biegung folgte der
anderen. Das Tagesgestim war bereits hinter den Höhen ver-
sunken. Da scheint das Gelände mit einem Male im Süden von
einem vorgeschobenen Bergzug wie von einem Querriegel ver-
schlossen; gurgelnde Töne, vermischt mit einem gleichmäßigen
Rauschen dringen von dort zu mir herüber. Nach kurzer Zeit
stoßen wir auf eine halbinselartige Anhäufung von Felsklötzen
und Steinklumpen. Es ist die Stelle, wo der von Westen nach
Osten fließende Rio Mayo in den Senguerr einmündet. Nun
ging es das nördliche Ufer des Mayo auh^'ärts, soweit es noch
möglich war, Mittlen^'eile war es dunkel geworden. Tiefer
sank das Grau der Dämmerung, und von den finsteren Berg-
hängen kamen die Schatten der Nacht und lagerten sich auf
die einsame Niederung. Hier ruhten die schwarzen Berg-
massen wie schlafende Ungeheuer mit ausgestreckten Leibern
und gesenkten Köpfen. Geisterhaft, drohend reckten einige
Büsche ihre verkrüppelten Zweige in den Nachthimmel hinein,
cessen Horizont in gelber Glut zu leuchten schien. Eine dichte
— 155 —
Finsternis war hereingebrochen und brütete über dem Tal. Weg
und Steg waren nicht vorhanden. Wir mußten Halt machen und
hier die Nacht verbringen.
Nahe dem Ufer des Rio Mayo, nur etwa 20 m von ihm
entfernt, hatten wir das Lagerfeuer angezündet aus dürrem
Wurzelwerk, Orasbüscheln und einigen trockenen Dornzweigen.
Viel war ja nicht nötig, nur etwas, um heißes Wasser für den
Mate bereiten zu können. Denn der leere Magen verlangte
nach einem mühsamen Ritte wie dem heutigen irgend eine
Stärkung. Mein Führer und ich schlürften unseren Paraguay-
tee, das einzige, was wir bei uns führten; abseits weideten die
Tiere. In weiter Runde herrschte eine schweigende, er-
schreckende Einsamkeit, die wie ein Alpdruck auf der Natur
zu lasten schien und erst das Unheimliche verlor, als am Firma-
ment die blinkenden Sterne emporstiegen und das bleiche Licht
der Mondsichel auf den schwarzen Nachtflor herniederfloß.
Da zog es wie ein bläulicher Dämmerschein über die schlum-
mernde Erde, über die blitzenden Wellen des Flusses, über
Qräser, über Sträucher und über die spukhaften Gestalten der
schlafenden Ungetüme an den Schluchten der Bergzüge.
Unser Feuer war erloschen; von den verglimmenden
Aschenresten kräuselte langsam ein weißlicher Rauchstreifen
nach oben. Ich hatte mich in meinen Poncho gewickelt und
auf mein „Prachtbett" neben einem Strauch, der mir gegen
den kühlen Nachtwind Schutz geben sollte, ausgestreckt. Eine
Decke hatte ich mir über den Kopf gezogen und war ein-
geschlafen. Noch hörte ich das leise Rauschen des Flusses;
noch weilte ich in Gedanken bei unseren Pferden, die in der
Niederung da unten grasten, und ich glaubte deutlich das takt-
mäßig knirschende Geräusch beim Zerkauen des Futters zu
vernehmen. Und da hob plötzlich mein treuer Schecke, den
ich für gewöhnlich ritt, den Kopf und blähte seine rosaweißen
Nüstern, als lausche er auf irgend etwas Außerordentliches, und
ein Getrappel von unruhigen Pferdehufen drang zu mir herüber.
— 156 —
Ich weiß nicht, schlief ich oder träumte ich im Halbschlaf.
Mir war es mit einem Male, als ob mein Reitpferd an meinem
Lager stände und mich beschnupperte und dann ganz sachte,
vorsichtig tastend über mich hinwegschritt. Ich weiß nur noch,
daß ich den rechten Arm schützend vor mein Gesicht legte
und aufmerksam horchte. Und jetzt — ich war völlig erwacht
— höre ich deutlich ein Geräusch in meiner Nähe, ein leises
Brummen und Knurren. Mit einem Ruck schnelle ich empor
und mein Blick trifft auf ein Etwas, das mir vor Entsetzen
das Blut in den Adern erstarren macht. Zu meinen Füßen
steht ein mächtiges, katzenartiges Tier, das mich mit funkeln-
den Augen anstiert und seinen langen Schweif schlangenartig
hin und her bewegt. Es ist ein Löwe, ein Puma. Was ich in
diesem Augenblick gedacht habe, ist mir nicht bewußt; nur
erinnere ich mich, daß mich das Bewußtsein einer augenblick-
lichen Wehrlosigkeit überkam und daß der Gedanke an meinen
Revolver, der ja neben meinem Sattel liegen mußte, mir wie ein
Blitz durch das Gehirn zuckte. Ich konnte mich nicht rühren.
Wir schauten uns gegenseitig an, das Biest und ich, der eine
jedenfalls nicht minder erschrocken wie der andere. Ob sich
uns beiden auch die Haare vor Entsetzen gesträubt haben,
vermag ich nicht anzugeben, vielleicht dem Puma mehr als
mir. Denn ich hörte nur ein dumpfes Knurren und Fauchen —
und mit einem gewaltigen Sprung setzte das Katzenvieh über
das Gestrüpp und war im hohen Grase verschwunden. Ich
werde diese Nacht nie vergessen. Am nächsten Morgen zeigte
mir mein Führer die Spuren, und wir fanden im Dornbusch,
neben dem ich geschlafen hatte, einige hängen gebliebene gelb-
braune Haarflocken des Raubtieres. Unsere Pferde aber waren
auseinander geraten; es kostete viel Mühe, die geängstigten
Tiere wieder zusammenzutreiben und einzufangen.
XV.
Kolonie Sarmiento.
An diesem Tage zogen wir auf dem rechten Ufer des Rio
Mayo eine ziemliche Strecke hinauf, bis wir eine geeignete
Furt fanden, wo wir den Übergang bewerkstelligten. Die
Szenerie ist hier etwa die gleiche wie am Senguerr. Dieselben
hochragenden Steilwände aus Sand- und Tonmassen und oben
die weitgedehnte, tischförmige Pampa ; dieselben tiefeingeschnit-
tenen Schluchten, Canadons genannt, die sich oft 15 km und
weiter hineinziehen; dieselbe Vegetation in der Niederung,
saftige Mallin- und Coiröngräser und Schilf in der Nähe der
Ufer und oben zwischen Sand und Geröll spärlicher Oraswuchs,
der mit Unkraut vermischt ist.
in und bei einem solchen „Cafiadon'' traf ich große Vieh-
herden auf gutem Weideland. Im allgemeinen ist die Gegend
baumlos; der lehm- und tonhaltige Boden zeigt viel Salpeter-
ausscheidungen, und Sumpfbildungen sind sehr häufig.
Nach einem scharfen Ritt in südöstlicher Richtung über
die Pampa, die auch hier in Öde und Einsamkeit glänzt, und
deren Höhe über dem Meeresspiegel durchschnittlich 350 m
beträgt, gelangten wir durch eine tiefe Einsenkung wieder zum
Südufer des Senguerr. Endlos erscheinen hier die Uferwände,
unzählig die Biegungen des Flusses, die in ihrer ewigen Wieder-
holung einen fast zur Verzweiflung treiben können. Denn kaum
hofft man, einigermaßen einen Abschluß erreicht zu haben.
— 158 —
und wenn es auch nur zu dem Zwecke wäre, für einen Moment
aus diesem Labyrinth herauszukommen, oder um sich durch
einen Überblick zu orientieren, dann türmen sich sofort neue
Wälle auf, neue Querriegel verschließen die Femsicht, und das,
was wie ein sich öffnendes Tor aussah, ist weiter nichts wie eine
vorgeschobene Wand, hinter welcher der Fluß einen neuen
großen Bogen macht.
Endlich, etwa gegen 5 Uhr nachmittags, kamen wir in die
Nähe der südlichsten Flußbiegung, ungefähr 4 km von der
Grenze des Territoriums Santa Cruz entfernt.
Das Niederungsgebiet dieser Gegend eignet sich als vor-
zügliches Weideland für Viehzucht. Im Winter ist es, wie
überall in Patagonien, den Überschwemmungen stark aus-
gesetzt, so daß die Tiere dann oben auf der Pampa ihr Futter
suchen müssen. Der Rand und die eingeschnittenen Talebenen
dieses Plateaus sind völlig kahl. Nur Steinmassen, wildes
Geröll und grobkörniger Sand bedecken die weitgedehnte Fläche.
Erst 3 — 4 km vom Rande entfernt zeigt sich Gras, sogen,
„pasto fuerte", das im Wmter dem Vieh als Nahrung dient.
Die dort vorkommenden Gräser gehören fast ausschließlich
den Coirönarten an.
Der Salpetergehalt des Bodens soll hier recht günstig auf
die Ernährung der Schafe einwirken, soll u. a. den Fettansatz
befördern und Krankheit verhindern.
Auch Wasseransammlungen, Manantiales, sind vorhanden,
so daß eine Bewässerung möglich gemacht werden kann. Wegen
der herrschenden starken Winde fehlt Baumwuchs hier oben
ganz, ebenso unten ün Tal, wo indessen Kartoffeln, Zwiebeln
und andere Gemüsesorten gut gedeihen.
Drei, allerdings recht weit voneinander gelegene, Ansiede-
lungen befinden sich an der südlichen Krümmung des Stromes.
Unter anderen hat sich ein Chilene, namens Thomas Torres,
da niedergelassen, der Viehzucht treibt und auf 3 Leguas Land
ungefähr 3000 Schafe, 400 Rinder und 150 Pferde hält.
-^ 159 —
Dort, wo der Senguerr in rechtem Winkel sich nach Nord-
osten wendet, fallen die lehmijg^en und tonigen Sediment-
schichten des Geländes im allgemeinen nach Südosten ein, und
zwar auf dem rechten Ufer unter einem Winkel von 20 bis
25 Orad, während auf dem linken Ufer durch Verwerfung
und Zusammenschieben eine regellose Lagerung verursacht
worden ist Dort trifft man die gelbbraune Ablagerung an,
aufgerichtet bis zu 45 Orad, darunter auch die Schichten von
jener feuerroten Färbung, die ich auf demselben Ufer des Sen-
guerr nördlich von der Einmündung des Rio Mayo gesehen habe.
Weiter nordwärts herrschten in der Formation die gelblich-
grauen Mergelbildungen vor, in denen Oranitsteine von ab-
gerundeter Form eingebettet sind. Das Tal ist stellenweise
3 — 4 km breit und besitzt vorzügliche Weide. Der Fluß selbst
bildet verschiedene Arme; Sümpfe, Lachen und Tümpel sind
häufig. In dem hohen Schilfgras der Ufer tummeln sich
Tausende von Wildenten und Oänsen. Und jetzt fliegt zwit-
schernd, halb schnatternd und pfeifend ein Schwärm von
Codornis vögeln über die baumlose Fläche. Sie ähneln unserem
Rebhuhn in Farbe und Gestalt und gelten als Verkünder
schlechten Wetters.
„Sie kommen aus den Kordilleren, Herr,'* erzählte mein
Begleiter; „dort ist jetzt sicherlich Unwetter, viel Regen und
vielleicht schon Schnee und dann fürchten sie den Donner in
den Eisbergen. Das kommt von dem Geist, der in einer unter-
irdischen Höhle mitten im Gebirge wohnt und zornig an den
Felsen rüttelt. Dann kracht und donnert es ringsum, und Feuer
und Eis und Felsen stürzen von oben herunter und zerstören
alle Bäume und Felder, Tiere und Menschen; ja" — fügte er
hinzu — „das ist dann eine sehr böse Zeit."
Allmählich treten die Berge auf beiden Seiten des Senguerr
mehr zurück; auf dem rechten Ufer erscheint weithin sichtbar
noch einmal die feuerrote Erdmasse, gleichsam als Fortsetzung
der gleichartigen Ablagerung auf dem linken Ufer, die dem-
gemäß in der Hauptsache von Nordwesten nach Südosten zu
streichen scheint. Die Canadonbildung mit fürchterlichen Steil-
wänden und von gewaltiger Längenausdehnung häuft sich.
Dann schieben sich die Berge, einen großen Bogen bildend,
Indianerfrauen aus dem Sfldweslen Chubuts.
weit auseinander und lassen eine Ebene frei, die wohl 10— ]2kni
in der Breite messen dürfte. NamentMch östhch vom Flußlauf
ist dieses nur von einzelnen Terrainwellen durchzogene Niede-
rungsgebiet charakteristisch ausgebildet. Weidegras, Maliin-
und die Steppengräser gedeihen hier in guter Qualität; dagegen
161
mangelt es an Bäumen, und auch die niedrigen Dornsträucher
sind nur spärlich vertreten. Die mächtige Talebene zieht sich
auf dem rechten Ufer des Senguerr entlang, erreicht stellen-
weise eine Breite von mehr als 30 km und erstreckt sich zu
den beiden großen Seen Lago Musters und Lago Colhuapi. Sie
bildet im großen und ganzen die Grundfläche der Kolonie S a r -
m i e n t o , die seit ca. 4 Jahren existiert. Die ersten Ansiedler
M^ohnen hier schon seit 1897, und heute beläuft sich die Zahl
der Bewohner schon auf ca. 500 Köpfe. Meistens sind es
Argehtiner und Italiener. Indessen haben sich dort auch einige
Galenser und Angehörige anderer Nationen niedergelassen. Die
Gesamtausdehnung der Kolonie beträgt 50 Leguas, d. h. 1250
Quadratkilometer. Behufs Besiedelung ist diese Fläche ver-
messen und in Lose zu ca. 625 ha. = 1/4 Legua eingeteilt, die
unter gleichen Bedingungen, wie sie für die Kolonie General San
Martin gültig sind, vergeben werden. Etwa 120 Lose sind bisher
besetzt. Die Beschaffenheit des Bodens ist sehr verschiedenartig.
Schwarze, tiefgründige Erde wechselt ab mit steinigen, ton-
haltigen Strecken; dazwischen dehnen sich sandige Flächen
und dünenartige Erhebungen. Auf ungefähr 1 m Tiefe kommen
Geröllmassen, kalkige Gebilde und Kieselschichten zum Vor-
schein. Die Wasserverhältnisse sind relativ gut; die vorhan-
denen Brunnen geben ein vortreffliches Trinkwasser bereits in
einer Tiefe von 1 bis 1,5 m.
Hinsichtlich des Klimas ist Sarmiento zu den Gebieten
zu zählen, die unter den heftigen Winden zu leiden haben, ähn-
lich wie Norquinco und General San Martin, ja wie eigent-
lich das ganze Territorium und ganz Patagonien, soweit es
nicht in oder nahe bei der Kordillerenzone gelegen ist. Bäume
können daher nicht gut gedeihen ; Versuche, die man mit Weiden
angestellt hat, haben keine günstigen Resultate ergeben. Die
jungen Bäumchen kamen bis zur Höhe von 1 m, dann knickte
sie der Sturm. Die mittlere Jahrestemperatur für 1904 betrug
11,70 C, und zwar für den Monat:
Vallentin: Chubut 11
1()2
Januar 1904 22,16" C
Februar w 18,68" »
März n 15,16« «
April ,; 12,08" u
Mai „ 7,25^ ,,
Juni u 5,9P „
Juli u 1,30" rf
August ,f 5,67" ,;
September „ 8,68" „
Oktober „ 11,47" „
November ,; 13,31" «
Dezember „ 18,42" „
Die wärmste Zeit fiel in die Monate Dezember, Januar,
Februar und März, mit einer Maximaltemperatur von 32,2,
37,0, 35,5 bzw. 31, 0^ C, während Mai, Juni und Juli mit einer
Minimaltemperatur von — 5,0 bzw. — 9,0 bzw. — 6,0 ^ C. den käl-
testen Zeitabschnitt darstellen. Die durchschnittliche Regenmenge
betrug für das Jahr 1904 nur 19,9 mm, so daß sich durch diesen
geringen Regenfall der Übergang von den vegetationsreichen
Gebirgstälern im Westen zur trockenen, kahlen Pampa im Osten,
bereits bemerkbar macht. Überschwemmungen stellen sich jedes
Jahr während der Wintermonate ein; namentlich haben die am
Flusse und in der Nähe des Sees Colhuapi gelegenen Teile der
Kolonie sehr darunter zu leiden. Jeder Verkehr ist dann unter-
bunden, und die einzelnen Häuser oder Wohnungen, die meist
auf kleinen Qeländeerhöhungen gebaut sind, befinden sich
rings von Wasser umgeben.
Die Vegetation ist im allgemeinen spärlich; fettes, saftiges
Weidegras kommt nur streckenweise vor, dafür aber wächst
überall das Büschelgras, „pasto fuerte", und dazwischen allerlei
Unkraut und Dorngestrüpp. Ein Strauch, „Mata laguna*' ge-
nannt, tritt in Menge auf. Er sieht äußerlich trocken und dürr
aus und besitzt an seinen knorrigen, dicken Zweigen, die in
langen Dornen auslaufen, winzige Blätter. Seines inneren
163
Feuchtigkeitsgehaltes wegen wird er von den Eingeborenen
sehr geschätzt, die durch Kauen aus seinen holzigen Bestand-
teilen eine süßlich schmeckende Flüssigkeit herausbringen. Auch
der Calafätestrauch, die Beberitze und die Sampa sind hier
vorhanden.
Mit Ackerbau hat man bis jetzt wenig erzielt, trotzdem
Weizen an einzelnen Stellen vorzüglich gedeiht und ebenso
einige Gemüsearten, wie Bohnen, Kartoffeln usw., gute Erträge
geliefert haben. Indessen steckt die sogenannte Chacrawirt-
schaft hier noch sehr in ihren Anfängen, ja fehlt gänzlich, trotz-
dem der Boden bei richtiger Behandlung und Bearbeitung,
namentlich bei sachgemäßer Bewässerung, sicherlich dazu ge-
eignet ist. Aber bis jet^t hat es noch niemand so recht ver-
sucht, weil es eben etwas mehr Arbeit und Umsicht erfordert,
und Arbeit — nun, die ist hier wenig beliebt, wird darum auch
wenig geübt, und da ist es denn viel besser, den lieben Herr-
gott für alles sorgen zu lassen, ohne selbst viel Mühe aufzu-
wenden. Die Ansiedler von Sarmiento beschäftigen sich aus-
schließlich mit Viehzucht, in der Hauptsache Schafzucht. Zur
Zeit meiner Anwesenheit in der Kolonie betrug der Gesamt-
viehbestand :
ca. 75000 Schafe
„ 10000 Rinder und
„ 10000 Pferde.
Viele der Bewohner haben nur Schafhaltung, wie z. B. die
beiden fleißigen Brüder Guerrero, die auf 1 Legua 2000 Schafe
besitzen ; wenige dagegen treiben Rindviehzucht allein, und zwar
ohne irgend welches System hinsichtlich der Verbesserung der
Rasse. Sie züchten — von einigen Fällen abgesehen — nur
das eingeborene Rind der sog. Criollorasse.
Was die Schafzucht anbetrifft, so eignet sich nicht nur für
Sarmiento, sondern für das ganze Territorium Chubut das
Rambouilletschaf mit der seidenartigen, aber kurzen und feinen
Wolle am besten. Insbesondere fällt bei ihm ein Umstand
11*
1G4
schwer ins Gewicht. Die Tiere bleiben in der Herde, laufen
nicht einzeln fort, wie z. B. die Lincolnschafe und ersparen dem
Besitzer auf diese Weise nicht nur eine Menge Arbeit, sondern
auch die kostspielige Drahteinzäunung der Ländereien. Aus
Pampa-Indianer von Senguerr,
diesem Urunde hat man denn auch die Rambouilietzucht überall,
wo CS angängiji war, bevorzugt, trotzdem das Lincolnschaf die
lanjic, weiche Wolle liefert und für das Klima besser paßt, im
Norden und bei den Indianern in dem südwestlichen Teile
Chuhuts kommt noch das Pampacriolloschaf mit grober Wolle
— 165 —
vor. Indessen lohnt sich diese Zucht wenig, da bei der stets
fortschreitenden Verbesserung in der Schafzucht die Wolle der
Criollorasse die Konkurrenz der besseren Sorten nicht mehr
ertragen kann.
Die Wohnungsverhältnisse sind hier die nämlichen wie in
der Kolonie General San Martin: einfach, ja dürftig und bar
jeder Annehmlichkeit. Im Gegensatz aber zu soeben genannter
Kolonie besitzt Sarmiento einen Zentralpunkt, ein „Pueblo",
etwa vergleichbar einem Marktplatz, um den sich jetzt schon
das Post- und Telegraphenamt, die Wohnung und das Bureau
des Polizeichefs und das des Friedensrichters, einige Geschäfts-
häuser und dergleichen gruppieren, und wo demnächst auch
das Schulgebäude errichtet werden soll. So hat die Sache
Hand und Fuß, während in San Martin eine systemlose De-
zentralisation trotz des abgemessenen Marktfleckens eingerissen
ist, was natürlich bei den großen Entfernungen und den oft
schwer passierbaren Wegen in amtlicher und geschäftlicher
Hinsicht nur nachteilig auf die Gesamtentwicklung der Kolonie
wirken muß.
XVI.
Der Lago Colhuapi. Rada Tilly.
Kolonie Escalante.
Während auf der linken Seite des Senguerrflusses das Ge-
lände unmittelbar zu einem kräftig entwickelten Mittelgebirge
ansteigt, unter dessen Kuppen der Cerro Bernardo sich am
höchsten emporreckt; während die Ufer des 270 m über dem
Meeresspiegel liegenden Lago Musters von steilragenden Basalt-
felsen und Steinwänden umklammert werden, trägt das Land
zwischen Senguerr und dem Lago Colhuapi vollkommen den
Charakter der Ebene an sich. Der nackte, lehmige Boden ist
aufgerissen, oben hart, unter dieser dünnen Decke aber feucht
und schlammig. Öde, eintönig erscheint das Ganze, das von
einigen kahlen Bergen und Sandhügeln im Osten umgeben ist.
In ihrer Mitte türmen sich die ruinenhaften Formen des Cerro
Negro auf, zerrissen, zerbrochen, düsteren Blickes in diese
armselige Landschaft hineinstarrend. Weiter im Nordosten ragt
der blaue Cerro Onetto in den klaren Himmel hinein, und da-
hinter am Lago Colhuapi reihen sich turmartige Spitzen, ab-
gebrochene Kegel, Tafelberge in kleiner Form, aneinander, bis
sie im feinen, bläulichen Dunst des Horizonts untertauchen.
Sonst ist alles Sumpf und Morast rings herum, Sumpfland, das
von Wildenten und Gänsen und Scharen von Reihern belebt wird.
Der See Colhuapi, der in seiner Längsrichtung etwa 50,
und in seiner Breite mehr als 20 km mißt, soll in früheren Zeiten
ganz trocken gewesen sein. Auch heute noch ist er sehr flach
1G7
im Gegensatz zu seinem westlichen Nachbar, dem Lago Musters.
Alte Indianer haben dem schon erwähnten Senor Botello be-
richtet, daß vor mehr als hundert Jahren jener Colhuapisee
gar nicht existiert habe. Der Name ist indianischen Ursprungs
und bedeutet „Land — oder Insel — des Storches'*. Das
könnte darauf hinweisen, daß damals jener Landkomplex schon
Sumpf gewesen ist, also vielleicht im Begriffe stand, eine
Lagune zu werden.
Die Sage erzählt, daß an dieser Stelle einst eine große
Schlacht zwischen Tehuelchenstämmen und einem anderen
mächtigen Indianervolk geschlagen worden sei. Die Tehuel-
chen vernichteten den Feind vollständig und schonten weder
Weib noch Kind, so daß nur wenige entkamen, die die Trauer-
botschaft an einen zurückgebliebenen Haufen kranker Männer
und Frauen überbringen konnten. Letztere stimmten nun ein
schauriges Totenlied an, und das Klagegeheul wurde vom Winde
hinübergetragen zu den Tehuelchen, die in der Nähe des
Schlachtfeldes die Nacht verbrachten. Diese, zu Tode ermattet
von dem Kampf, halb siegestrunken, erhitzt und berauscht
vom Geruch des dampfenden Blutes, wähnten plötzlich die
Stimmen der erschlagenen Feinde zu hören und glaubten, daß
die Toten lebendig würden, um die Niederlage zu rächen. Die
Tehuelchen aber hatten auch viele Verluste zu beklagen und
waren ihrer Ansicht nach jetzt an Zahl erheblich unterlegen.
Daher beschlossen sie, den Platz zu verlassen und sofort weiter-
zuziehen. Alle Beute ließen sie in der Eile zurück. Bei Tages-
anbruch kam nun das Häuflein der übriggebliebenen Männer,
Frauien und Kinder, und wieder erhob sich ein schreckliches
Jammern und Schreien beim Anblick der Toten; der ganze
Stamm lag dort erschlagen; Väter, Männer und Söhne. Weit-
hin erschallte die Totenklage. Darauf wollte man die Leichen
begraben. Aber es waren ihrer so viele, daß es für die Übrig-
gebliebenen unmöglich war, zumal da fast alle in der Wut des
Kampfes, im Ringen Mann gegen Mann, sich mit dem Gegner
— 168 —
zusammengekrallt und ineinander verbissen hatten, so daß un-
lösbare Knäuel und Haufen von Menschenleibern den Boden
bedeckten. Da wurde der Entschluß gefaßt, aus dem Lago
Musfers Wasser in dieses tiefgelegene Totenfeld zu leiten. Und
so gruben denn die Reste des besiegten Stammes von der tiefsten
Stelle des Kampfplatzes bis dorthin, wo der Senguerr in den
Musters einmundet, eine lange Wasserrinne, und als sie nahe
Am Lago Colhuapi.
am Ziel waren, durchbrachen die Wellen des Flusses das letzte
Hindernis und rauschten wild hinab in das niedrige Land und
überfluteten die Leichen und die Waffen und die Beutestücke.
Und als alles vom Wasser bedeckt war, zog die kleine Schar
der Überlebenden wieder zurück nach dem Süden, wo sie einen
neuen Stamm gründeten. So die Sage von der Entstehung des
Colhuapi-Sees.
Tatsache ist, daß dieser See von Zeit zu Zeit an großer
— 169 —
Trockenheit leidet und daß dann das zurücktretende Wasiser
einen sehr beträchtlichen Teil seines Bodens bloßlegt. Dort hat
man denn auch, wie z. B. das letzte Mal im Jahre 1893, eine
ungeheure Menge von Waffen, wie Speere, Pfeile, Bogen,
Bolas, Messer u. dgl., menschliche Knochen und Schädel, so-
wie Gerätschaften und Werkzeuge aller Art gefunden, so daß
es wirklich den Anschein gewinnt, als ob an dieser Stelle einst-
mals ein ganzes Volk seinen Untergang gefunden habe.
Andererseits aber kann auch mit Sicherheit angenommen
werden, daß der See früher im Südosten bedeutend weiter ge-
reicht hat, etwa 15 km weit. Das sieht man an den fast senk-
recht abgewaschenen Wänden des dortigen Höhenzuges mit
den zutage tretenden Sedimenten von Sand, Lehm und Ton.
Durch diesen früheren, jetzt ausgetrockneten Teil des Lago
Colhuapi fließt gleichsam als eine Entwässerung des Sees bzw.
als eine Fortsetzung des Senguerr der Rio Chico zunächst nach
Osten, im teilweise trockenen Bette, dann nach* Nordosten,
bis er ungefähr 15 km vom 44. Orad südl. Breite in den Chubut-
fluß einmündet.
In Sarmiento war ich gezwungen, mich nach einem neuen
Führer umzusehen, da die Wissenschaft meines bisherigen
braunen Begleiters hier zu Ende ging und er selbst heimkehren
wollte. Aber wie das gewöhnlich zu gehen pflegt, das, was
man notwendig braucht, ist selten oder gar nicht vorhanden.
Das passierte auch mir in diesem Falle. Trotz aller meiner
Bemühungen gelang es mir nicht, eine geeignete Person auf-
zutreiben. Der einzige Mann, der angeblich Bescheid wußte,
war vom Polizeikommissar für einen Transport nach Rawson,
der in den nächsten Tagen abgehen sollte, gemietet. Und so
blieb mir denn, um nicht übermäßig Zeit zu verlieren, nichts
anderes übrig, als mich diesem Kranken- und Gefangenen-
transport anzuschließen. Angenehm war es mir nicht. Aber
was half's. Der Bien' muß!
Am Senguerr, südwestlich von der Kolonie Sarmiento, lebte
— 170 ~
auf seiner Estanzia ein Argentiner mit seiner schönen Frau
glücklich und zufrieden. Ein Jahr etwa waren sie verheiratet.
Da kam das erste Kind, ein Knäblein, und mit ihm das Un-
glück. Im Kindbettfieber wurde die Frau wahnsinnig, und in
einem unbewachten Augenblick eilte sie mit dem 8 Tage alten
Knäblein hinaus und warf es in den Fluß. Wegen dieses in
Geistesumnachtung begangenen Kindsmords sollte die körper-
lich und geistig kranke Frau vor die Behörde nach der Haupt-
stadt Rawson gebracht werden, sowohl vor den Richter wie
vor den Arzt, bzw. in ein Hospital. Ihr Mann und ihr Bruder
begleiteten sie, und der für diesen Transport gemietete wege-
und landeskundige Führer fungierte gleichzeitig als Polizei-
beamter. Notgedrungen mußte ich mich, wie oben gesagt,
da kein anderer „Vaqueano** aufzutreiben war, mit meiner
Tropilla und einem neuen Diener, der mir seine Dienste an-
geboten hatte, dieser Karawane anschließen.
Die Cordonisvögel hatten recht behalten. Schlechtes Wetter
war eingetreten. Schwerfällige Wolkenmassen jagten am grauen
Himmel dahin, und der Sturm heulte Tag und Nacht. Dann
kam der Regen, mit seinen trüben, schwermutsvollen Tränen
die Erde netzend. Der Boden war durchnäßt; feuchte Nebel
lagerten sich auf den Niederungen und hüllten alles in ein
bleiernes Grau, und schließlich verschwanden Himmel und
Wolken und See. Nur Nebel, unendlicher, regloser Nebel, wie
ein Gespenst der Melancholie in triefenden Gewändern, glitt
schwerfällig über das Gefilde.
Eines Morgens endlich erschien wehleidig und verschämt
lächelnd Frau Sonne und bewog uns zum Aufbruch. Wir alle
beritten, die Kranke, auf einem Feldbett liegend, in einem vier-
räderigen, von vier Pferden gezogenen Wagen, so verließen
wir nach mehrtägigem Warten die Kolonie Sarmiento, um einen
Weg zu gewinnen, der sich am Ufer des Rio Chico entlang
zieht und mannigfache Vorteile gewähren sollte: Wasser, Gras,
Holz und Schutz gegen die kalten Winde. Denn die Jahres-
— 171 —
zeit war bereits vorgerückt; wir befanden uns im Monat Mai,
also im Beginn des Winters, und da war Vorsicht sehr am
Platze in Anbetracht der sehr wahrscheinlichen Möglichkeiten,
als da sind: Frost, Schnee, Regen, Überschwemmungen und
andere freudige Genüsse hierzulande.
Drei Tage lang waren wir bereits bei dem denkbar schlech-
testen Wetter auf völlig durchweichten Pfaden einhergezogen,
als wir den Chicofluß erreichten, der in einem tief eingeschnit-
tenen Tal zwischen Steilwänden dahinfließt. Letztere bestehen
vorwiegend aus Sandmassen, gelblich-weißen Lehm- und Ton-
schichten, die von roten und bläulichen Ablagerungen durch-
zogen sind. Zwischen diesen langgestreckten Wänden sind
durch Auswaschen oder Fortschwemmen einzelne Hügel von
kegelförmiger, oft auch von halbkugelförmiger Gestalt stehen
geblieben, welche die gleiche Zusammensetzung in der Schich-
tung aufweisen. Völlig verwitterter Sandstein tritt zuweilen
zutage, und herabgestürzte große Blöcke aus zersetzter, sandiger
Oesteinsmasse bedecken die Talsohle. Die Breite der letzteren
ist sehr verschieden; bald eng, so daß kaum ein Wagen
zwischen Wasser und Abhang passieren kann, bald bis zu 3 km
sich weitend. Jedenfalls wurde mir nur zu klar, daß diese
schmale Niederung bei dem üblichen Regenwetter in der
Winterszeit für Transporte usw. völlig unbrauchbar ist. Die
Vegetation im allgemeinen und der Graswuchs im besonderen
sind spärlich. Nur nahe den Ufern, wo Sumpf und Moor be-
ginnen, steht hohes Schilf und Röhricht, während am Fuße und
in den Schluchten der Abhänge neben Dornsträuchern auch
Kakteen, von der Form einer stacheligen Wurst, und einige
Distelarten gedeihen. Sonst ist alles Sand und scharfkantiges
Geröll. Das linke Ufer erhebt sich ebenfalls jäh und steil, ist
indessen bedeutend mehr zerrissen und zerklüftet, und an Stelle
der weichen, lehmigen Tonschichten erscheinen dort harte, nackte
Felsen, zackige Gesteinsmassen, aus denen wild, wie ein wüster
Trümmerhaufen der Cerro chorreado sich aufreckt.
— 172 —
Bis nahe zur Küste des Atlantischen Ozeans erstreckt sich
so die steinige Pampa hoch und flach, kahl, ohne Holz, ohne
Wasser. Nur in Pfützen und Lachen ist angesammeltes Regen-
wasser vorhanden. Im Winter fällt dort viel Schnee, der 1 bis
1,5 m hoch monatelang liegen bleibt und jeden Verkehr un-
möglich macht. Stellenweise erreicht diese Pampa eine Höhe
von durchschnittlich 700 m über dem Meeresspiegel, so z. B.
bei der Telegraphenstation Holdich 780 m, bei Canadon Castillo
in der Nähe der Grenze von Santa Cruz 690 m. Von der
Küste aus ziehen sich talähnliche Einschnitte tief in die Hoch-
fläche hinein, die mit Orasweiden und Busch bedeckt sind und
Quellen bzw. fließendes Wasser besitzen. Hier sind die für
die Schafzucht geeigneten Plätze, an denen die Tiere haupt-
sächlich Schutz vor den heftigen Winden und gutes Futter
finden können.
Der wichtigste Ort an der Küste, der als Hafen für das
Hinterland in Betracht kommt, ist R a d a T i 1 1 y oder C o m o -
doro Rivadavia. Eigentlich nur eine offene Reede ohne
jede Verbesserung, nur im Zustand der Natur, bildet es den
natürlichen Ausgangspunkt für den Import- und Exporthandel
mit den besiedelten Gegenden des Landes westwärts bis zu
den Kordilleren. Irgendwelche Bauten, wie unter anderem Lan-
dungsbrücken, Molen und dergleichen, um die vorhandenen
Schwierigkeiten zu beseitigen, die sich heut schon beim stets
wachsenden Verkehr von Waren und Personen ergeben, würden
aber gerade für Rivadavia sehr erhebliche Kosten verursachen,
mehr z. B. als für die anderen beiden Häfen Camarones und
Puerto Madryn. So leidet, um nur eins anzuführen, Como-
doro Rivadavia an beständigem Wassermangel ; Wasser ist dort
oft ein wahrer Luxusartikel, der mit klingender Münze bezahlt
werden muß. Die bisher angestellten Bohrversuche sind ohne
jedes Resultat geblieben, und man ist heute allgemein zur Ansicht
gelangt, daß es rentabler sein würde, das Wasser 15 km weit her-
zubringen, als jene recht kostspieligen Bohrungen fortzusetzen.
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174
Trotz dieser Ungunst und trotz anderer natürlicher Hinder-
nisse hat sich Comodoro Rivadavia in wenigen Jahren gut
entwickelt. Es exportierte im verflossenen Jahre an Landes-
produkten 413 800 kg, an verschiedenen anderen Waren etwa
84 500 kg, und hatte in derselben Zeit eine Einfuhr von 2 100 000
Kilogramm zu verzeichnen.
Nördlich von diesem Hafenplatz liegt die neue Kolonie
Escalante. In einer Flächenausdehnung von ca. 60 Leguas
= 1500 Quadratkilometer erstreckt sie sich von der Küste des
Atlantischen Ozeans bis beinahe zum Rio Chico, der ungefähr
in jener Gegend seinen Bogen nach Nordosten macht. Das
Land ist für Schafzucht geeignet. Unter außerordentlich gün-
stigen Bedingungen hat die Regierung diesen Komplex für die
Besiedelung mit Buren aus Südafrika reserviert, die sich dann
auch hier niedergelassen haben, allerdings in verhältnismäßig
geringer Zahl. Auch Deutsche und Holländer haben dort ihr
neues Heim aufgeschlagen. Wie mir einige Buren selbst mit-
teilten, sind die Leute mit ihrem Lose recht zufrieden. Jede
Familie hat von der Regierung eine viertel Legua = 650 ha um-
sonst bekommen, mit der Maßgabe, 34 Legua für eine ganz
geringe Summe bei Teilzahlungen käuflich zu erwerben und so
den Besitz auf eine Legua = 25 Quadratkilometer abzurunden.
Wenn auch der Boden dieser Kolonie streckenweise gerade
nicht zur besten Sorte gehört, wie z. B. in der Nähe des Rio
Chico, wo er unfruchtbar, kahl und steinig ist und wo lehmiger
Untergrund mit Felsblöcken und grobem Geröll abwechselt,
so wird solcher Nachteil doch bedeutend aufgewogen durch
die günstige Lage am Meer, die einen direkten Handel und
Verkehr ohne die immensen Kosten für den Landtransport er-
möglicht.
XVII.
Am Chico entlang. Das Heidegrab.
Camarones und seine Pamparegion.
Der Weg auf dem rechten Ufer des Rio Chico ist herzlich
schlecht und kaum für Pferde, geschweige denn für Wagen
leicht zu passieren. Steinblöcke und Felsen liegen oft wie
eine Sperre mitten im Fahrweg; Senkungen, tiefe Löcher, ja
schluchtenartige Vertiefungen, die unter Wasser stehen, bilden
ein anderes Hindernis; an Brücken und sonstige Übergänge
ist gar nicht zu denken; kurz, jede Nachhilfe von Menschen-
hand scheint hier, wo nur rohe Kräfte sinnlos walten, ver-
schmäht worden zu sein. Dazu der Regen, der tagelang her-
niederströmte und die Erde in einen breiigen Schlamm ver-
wandelte. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, daß wir
nur langsam vorwärts kamen.
Der Fluß selbst zeigt nördlich von Escalante kleine Insel-
bildungen, ist aber sonst durchweg von Ufer zu Ufer mit hohem
Schilf bewachsen. Sanft gewellte Hügelreihen ziehen sich auf
beiden Seiten hin, so daß an dieser Stelle der wilde, öde Cha-
rakter der Landschaft etwas gemildert ist. Indessen auch nur
wenig. Denn die Vegetation zeigt sich schwach entwickelt.
Gras wächst nur spärlich auf dem mageren Boden; dafür um
so mehr Sampa und Berberitze. Auch der „Mata laguna" ge-
nannte Strauch und Algarobe mit der blutegelartig braunen
Frucht, ähnlich dem Johannisbrot, kommen vielfach vor. Belebt
177
ist der Fluß von einer Menge Wasservögel, von wilden Enten
und Gänsen. Der wilde Schwan mit schneeweißem Gefieder
und schwarzem Halse schaukelt sich majestätisch auf der
glitzernden Flut. Auf den Berghöhen grasen Guanacoherden ;
eine auf dem lehmigen Boden frisch abgedrückte Löwenspur
führt aus dem dichten, hohen Schilf heraus nach jener Anhöhe
hin. Strauße sind in dieser Gegend ebenfalls vorhanden.
Der heutige Vormittag war ausnahmsweise trocken ge-
blieben; wir hatten unterwegs drei Gürteltiere erlegt, in ihrem
eigenen Panzer am Lagerfeuer gebraten und mit Appetit ver-
zehrt. Nach kurzer Rast zogen wir weiter. Aber da brach
es los. Der Regen goß in Strömen und es stürmte heftig,
und wieder waren wir völlig durchnäßt, wie vorher fast jeden
Tag. Man kam wenigstens nicht aus der Gewohnheit. Auf
dem durchgeweichten Wege stapften schwerfällig die Pferde,
stieß und schüttelte der Wagen, und in ihm, zugedeckt mit
einer Zeltleinwand, wimmerte und schrie, heulte und lachte
das arme, wahnsinnige Weib. Schwer und feucht hingen die
dichten Wolken vom Himmel herab. Der Abend kam, und
mit ihm senkte sich der Nachtflor auf die durchtränkte Erde.
An einer geeigneten Stelle machten wir Halt. Der Nacht-
wind verstärkte sich und rauschte naß und kühl mit heulendem
Ungestüm über das Flußtal. Kaum konnten wir das kleine
Lagerfeuer unterhalten, um das wir durchnäßt bis auf die
Knochen, triefend und fröstelnd herumkauerten. Der Boden
ringsherum war zu einem Morast geworden; eine trockene
Stelle gab es nicht, und der einzige trockene Platz in der ganzen
Umgebung war in der Tat mein Sattel, den ich auf einen
Stein gelegt hatte und als Sitzgelegenheit benutzte. An
Schlafen war natürlich nicht zu denken. Stumpfsinnig schweig-
sam rauchten wir die Pfeife, gaben sorgfältig Obacht auf das
Feuer und erwarteten sehnsüchtig den Morgen. Es war wahr-
haftig eine fürchterliche Nacht, von der sich allerdings der
kommende Tag kaum merkbar unterschied. Denn auch er
Vallentin: Chubut 12
178
brachte Regen und Sturm. Ich hatte mit meinem Thermometer
am Morgen um 7 Uhr —6" C, gemessen; am Mittag +12'>.
Nachmittags schien sich das Wetter zu bessern, und später am
Abend um 6 Uhr zeigte das Thermometer wieder + 16* Wärme.
Wir befanden uns ungefähr in der Höhe des Puerto Malaspina.
Die Landschaft zeigt dieselbe Eintönigkeit wie vorher. Die
Bergzüge treten mehr und mehr zurück und werden niedriger.
Am Rio Chi
Die Flußufer verflachen sich zusehends, und das ganze Gelände
nimmt allmählich den Charakter einer von leichten Terrainfalten
durchzogenen Ebene an, die hauptsächlich aus Sand und Sumpf-
land besteht. Erst in gewisser Entfernung vom Flußbett tritt
Steingeröll in großen Mengen auf.
Blutigrot versank die Sonne hinter blauen Bergreihen.
Sternenklar wölbte sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder
ein reiner Himmel über die unermeßliche Pampa. Unter dem
— 179 ~
Wagen lag, gebettet auf weichen Decken und gegen Wind und
Wetter geschützt durch vorhangartig aufgehängte Zelttücher,
die kranke Frau, im Fieberwahnsinn winselnd und lachend. Oben
flimmerten die Sterne, und unten in der Niederung schlichen die
Herbstnebel wie ' grauenerregende Gespenster in weißem
Leichenflor um uns herum. In den Klippen von weither bellte
ein Fuchs; eine Eule schrie im benachbarten I>orngestrüpp.
Und dann wehte der Nachtwind herbsteskalt durch die Grabes-
stille und streifte mit seinem frostigen Atem die Erde. Während
der Nacht senkte sich ein Rauhreif hernieder. Die Pampa
schimmerte weiß und hauchte eine eisige Luft aus, in der alles
Leben zu erstarren schien. Und auf dem Krankenlager dort
unter dem Wagen wurde es stiller; auch dort war ein blühen-
des Leben dem Erlöschen nahe. Nicht lange dauerte es mehr;
der Tod schritt an uns vorüber; erbarmungsvoll und mit-
leidig erlöste er das unglückselige Weib von allem Leid
und Elend.
Ein herrlicher Sonntagsmorgen schaute darauf ins Land
hinein, taufrisch und hell und klar. Die Sonne lächelte her-
nieder auf die weite Fläche und die rötlichblauen, dunstigen
Höhenzüge in der Ferne. Und doch erschien alles so traurig, so
düster. Grollend wälzte der Rio Chico seine gelblichgraue Flut
durch die Ebene ; grollend über Menschengeschick und Menschen-
elend. Im säuselnden Schilf schrien die Wildschwäne, und ein
Schwärm wilder Gänse rauschte lärmend durch die Luft. Dann
war alles ruhig, und nur ein sachtes, fernes Brausen ertönte, wie
wenn ein heimliches Weh über ein Totenfeld dahinzittert. —
Um zwei Uhr nachmittags haben wir das Grab geschaufelt;
dort auf weiter, weltvergessener Heide, umgeben von öder
Wildnis, haben wir sie begraben, schön, eine echt germanische
Erscheinung, und jung, kaum neunzehn Jahre alt. Ein ein-
faches Holzkreuz bezeichnet die letzte Ruhestätte. Dort habe
ich Männer weinen gesehen, im stummen Schmerz, Männer,
rauh und hart, und doch so weich!
12*
— 180 —
„Denn über eines Menschenglückes Grab
„Spricht keiner Zukunft Schöpfungsmund das „Werde".
Schweigsam zogen wir am folgenden Morgen weiter, nach-
dem der Wagen mit den überflüssigen Gepäckstücken abseits
in eine Senkung gebracht worden war, da wir seiner nicht mehr
bedurften.
Nördlich vom 45. Breitengrad, ungefähr in Höhe von
Camarones, treten in der Geländeformation braunes Granit-
gestein und Basaltmassen zutage, oft wie willkürlich aufgesetzte
Felsenklötze von phantastischen Formen, vielfach mit Höhlen-
bildungen versehen. Zu der bisherigen Vegetation gesellen
sich in der Talebene bzw. am Ufer des Chico Weidenbäume,-
allerdings von etwas dürftigem und schwächlichem Aussehen.
Fast alle stehen geneigt und nach einer Seite gebogen von
den heftig wehenden Stürmen. Auch ein anderer Strauch,
„Jume" genannt, wächst hier. Er trägt kleine, rundliche Blätter
von graugrüner Farbe, die einen Saft von salzigem Geschmack
enthalten und deswegen vom Vieh, namentlich von Pferden,
gern gefressen werden.
, Das soeben erwähnte Camarones ist der natürliche
Hafenplatz für dieses große Hinterland, das mit seinen aus-
gedehnten, tief eingeschnittenen, gras- und wasserreichen Cana-
dones für Viehzucht, namentlich Schafzucht in hohem Grade
geeignet ist. Wie Commodoro Rivadavia, so befindet sich
auch der Hafen von Camarones völlig in seinem natürlichen
Zustand; auch er besitzt noch keine künstlichen Anlagen, um
die einzig von der Natur gebotenen Vorteile besser ausnutzen
zu können. Die leidige Wasserfrage spielt hier ebenfalls eine
große Rolle. Die ausgedehnte Pamparegion westlich dieser
Küste, etwa zwischen dem 47. und 45. Grad südl. Breite ge-
legen und bis zum Rio Chico, teilweise sogar darüber hinaus-
reichend, gehört zu den vielversprechenden Gegenden des
Territoriums. Dort befinden sich die großen Schafzüchtereien,
die Riesenestanzien von 1000 und mehr Quadratkilometer
— 181 —
Größe, die ihren Besitzern, meistens kapitalkräftigen Eng-
ländern oder englischen Gesellschaften, im Laufe der Zeit ein
Vermögen abgeworfen haben. Die „Lochiel Sheep Farming
Company" z. B. hält dort auf 41 Leguas = 1025 Quadratkilo-
meter ca. 90000 Schafe, 3000 Rinder und 6000 Pferde. Auch
einige Deutsche haben sich, in rechtzeitiger Erkenntnis der
Sachlage, dort niedergelassen und treiben Schafzucht im großen,
unter anderen die Herren Fischer, Schelkly und Tschudi. Wo
früher eine öde Wüstenei sich ausdehnte, auf der jedes Leben
erstorben schien, herrscht heute reges Treiben. Schöne Häuser,
nach europäischem Geschmack erbaut und mit allem heimischen
Komfort ausgestattet, sind erstanden; hübsche Gartenanlagen
unterbrechen wohltuend die Eintönigkeit der Landschaft;
draußen im Kamp bei den Viehherden tummeln sich geschäftig
Hirten und Arbeiter. Das ganze Land hat durch die Rentabilität
der Viehzucht, insbesondere durch die äußerst günstigen Re-
sultate, die man hier mit der Schafzucht erzielt hat, ein anderes
Gepräge erhalten.
Ein schwer ins Gewicht fallender Faktor zugunsten der
Schafzucht ist das gesunde, trockene Klima. Krankheiten der
Tiere, wie z. B. Klauenseuche, Wurmkrankheiten und dergl.
sind infolgedessen unbekannt; nur die Krätze tritt auf, soll aber
bei einiger Sorgfalt leicht zu vertreiben sein. Außer den vor-
genannten fruchtbaren Talschluchten, Canadones, ist das übrige
Land dieser Region eine öde Meseta, eine tischförmige Hoch-
ebene mit unfruchtbarem, steinbesätem, fast vegetationslosem
Kiesboden, nach welchem man ein Urteil über das ganze Land
Chubut ebensowenig fällen darf, wie nach dem traurigen, arm-
seligen Küstenstreifen am Atlantischen Ozean. Wild und zer-
rissen sieht diese Meseta am Rio Chico aus, wo, etwa in Höhe
von Cabo Raso, Felsen und Felsentrümmer die sandige Lehm-
resp. Tonformation mehr und mehr verdrängen.
Einige Schafhirten haben sich dort in den Talsenkungen
niedergelassen. Das Land ist zwar nicht ihr Eigentum; aber
— 183 ~
das schadet nichts. Die meisten der Viehzüchter Chubuts sind
eben noch Nomaden und kümmern sich herzlich wenig darum,
ob das Land, auf dem sie ihr Dasein fristen, Privateigentum ist
oder der Regierung gehört. Und werden ihnen Schwierigkeiten
gemacht, oder werden sie vertrieben, nun, dann ziehen sie
eben weiter mit ihrer Schafherde und hinterlassen dem recht-
mäßigen Eigentümer die Reste eines Ranchos und einige Lappen,
Knochen und alte Felle zum Andenken. Bald ist ein neuer
Weideplatz gefunden, und so geht es fort, bis sich die Schafe
nach ein paar Jahren bis auf einige Tausende vermehrt haben,
und die Leute instand gesetzt sind, nun etwas Miete resp.
Pacht oder auch Kaufgeld zu zahlen. Dann hat damit das
nomadenhafte Dasein ein Ende; der herumziehende Viehzüchter
bzw. Schafhirt, der in der menschenleeren Einöde, abgeschlossen
von der Außenwelt, preisgegeben den Unbilden der rauhen,
kalten Witterung, die schwersten Entbehrungen ertragen hat,
der aber gleichzeitig, zwar ohne seine Absicht, zum wahren
Pionier des Landes geworden ist, er macht sich endlich seßhaft.
Auch hier am Chico saß so ein Mann auf seinem „un-
rechtmäßigen" Eigentum. Mein Gott, wer kommt mal dorthin
in jene Einöde! Wer will nachweisen, daß hier oder da die
Grenze von dem Nachbarbesitz läuft? Wer kann dort die Ver-
hältnisse kontrollieren! Der Himmel ist hoch und der Zar ist
weit! In Gottes Namen soll man die Leute dort ruhig sitzen
lassen. Sie sind besser als gar keine, und jeder von ihnen
trägt doch immer etwas, und wenn es auch nur ein kleines
Scherflein ist, zur Erschließung des gesamten Territoriums bei.
XVIII.
Schneesturm. Das Teufelstal.
Von der Laguna Margarita zum Chubutfluß.
Ein undurchsichtiger Nebel lag eines Morgens auf der
Meseta und griff mit seinen grauen Fingern tief hinab in die
Felsschluchten; und im Tal des Rio Chico brodelte und
wallte es, und weißliche Schwaden quollen hinauf zur feuchten
Luft. Die einzelnen Wasserlachen zeigten eine dünne Eis-
kruste, und die Erde schien vom Frühreif gebleicht, während das
schattenhafte Grau der Steilwände den Horizont begrenzte.
Und da erklärte unser landes- und wegekundiger „Vaque-
ano", er wisse hier nicht mehr Bescheid. Schon vorher hatte
er zu wiederholtenmalen bewiesen, daß er in jeder Hinsicht
unwissend war und dabei sehr von einem Übel geplagt wurde^
so man gemeinhin mit Faulheit zu bezeichnen pflegt. Selbst-
verständlich gesellte sich zu diesen beiden netten Eigenschaften :
dumm und faul, noch die dritte: gefräßig, um das Maß voll zu
machen. Jedenfalls war Don Elisario — so hieß der Edle —
für mich ein großer Reinfall, und hinsichtlich meines Dieners,
den ich auf seine Bitte eigentlich nur aus Gutmütigkeit mit-
genommen hatte, .war es das gleiche. Selten habe ich zwei so
faule und schmutzige Kerle gesehen. Ich weiß nicht, wie sich
in dieser verlassenen, einsamen Gegend die Dinge gestaltet
hätten, wenn nicht Mann und Bruder der unterwegs verstor-
~ 185 —
benen Frau, ein gewisser Herr Truog und Eylenstein, da-
gewesen wären. Namentlich der junge L. Eylenstein bewährte
sich als ein erfahrener und geschickter Kampmann, als Reiter
und Treiber, als Jäger und Koch, als Handwerker und Arbeiter,
kurz in jeder Beziehung. Daß die Sache schließlich nicht
tragisch geendet hat, verdanke ich diesen beiden.
Denn unser Proviant war so ziemlich zu Ende. Brot,
Gemüse oder überhaupt Mehlspeise waren uns bereits seit
Wochen unbekannte Genüsse. Unsere Nahrung bestand nur
aus Fleisch, entweder am Spieß gebraten oder gekocht; dazu
tranken wir nur den Paraguaytee. Der Alkoholika, wie Wein,
Kognak und dergleichen hatten wir uns schon längst völlig
entwöhnt. Und unser Tabak ging auch zur Neige. Bei dieser
Gelegenheit habe ich den Wert des Paraguaytees, des Mate,
kennen gelernt, und ich darf wohl behaupten, daß ohne diesen
Mate, den man sonst achselzuckend zu belächeln pflegt, dessen
Genuß aber fördernd auf die Verdauung, belebend auf den
ganzen Organismus wirkt, ohne die Nerven anzugreifen, das
harte Leben im Kamp mit all seinen Strapazen bei ausschließ-
licher Fleischnahrung gar nicht zu ertragen sein würde.
Um nicht unnütz Zeit zu verlieren, brachen wir dann ohne
jene beiden Faulenzer auf, die indessen, als sie sahen, daß ich
Ernst machte, wie zwei unartige, bestrafte Hunde von selbst
folgten. Vier Stunden etwa waren wir geritten. Nichts wie
eine große, schweigende Einsamkeit und die weißlichgraue
Nebelwand um uns herum. Und da löst sich mit einemmal
die Winterdämmerung in ein Gemisch von Hagel und Schnee-
flocken auf, und zusammen mit kleinen Eiskörnchen rieselt in
schrägen Streifen ein feiner Regen hernieder. Bald ist alles
ein wirbelndes, tanzendes Geflocke. Lautlos senkt sich die
unendliche Schneemasse herab auf die Erde, auf Felsen und
Gräser und Sträucher. Still und rein, wie in einem wunder-
baren Märchenland liegt vor mir die gewaltige Natur. Weg
und Steg, soweit sie überhaupt vorhanden, waren nun ver-
— 186 ~
schneit; schwierige Stellen des Geländes, wie Sümpfe, Löcher
usw. hatten sich unsichtbar gemacht. Was tun? Wohin jetzt?
Absatteln? Halt machen? Vielleicht bleibt die Schneedecke
nicht lange liegen, und dann haben wir wieder freien Blick zur
Orientierung !
Wir blieben dort, wo wir gerade waren, am Eingang einer
großen Talschlucht, die sich in die höher gelegene, von Granit
und Basalt durchbrochene Stein- und Kiespampa hineinzieht.
Mit Mühe wurde ein Feuer angezündet; fröstelnd standen wir
da herum und warteten auf das heiße Wasser, um den Mate
zu bereiten, mit dem wir unseren Körper erwärmen wollten.
Und um uns herum rieselt es lautlos, unaufhörlich; ein
dichter, weißflockiger Schleier scheint hoch oben in der Luft
zu hängen, wie von unsichtbaren Geisterhänden endlos herab-
gezogen und sich unbarmherzig senkend auf alle Gegenstände
der leise atmenden Natur hier unten. Und höher und höher
wächst die Schneedecke. An ein Weiterziehen ist unter solchen
Verhältnissen gar nicht zu denken. Wie wird das über Nacht
werden ?
Um uns einigermaßen zu schützen, werfen wir ausgerissene
oder abgehauene Ek)mbüsche und Sträucher aller Art zusammen
und bauen uns darin einen Unterschlupf. Was von unseren
Decken und Ponchos und sonstigem Gepäck da noch Platz
hat, wird schleunigst darin untergebracht. Und kaum sind
wir mit dieser Arbeit fertig, da saust es unheimlich über uns;
ein starker Windstoß fegt pfeifend durch die Schlucht; dann
noch einer. Und nun beginnt ein Sausen und Brausen in der
Luft, erst ein unbestimmtes Hin und Her, so daß die fallenden
Schneemassen wie zerrissene Leinenfetzen umherflattern, darauf
ein Treiben und Jagen in einer Richtung. In ein dickes Grau-
gelb ist alles gehüllt, und darin stürmt vorwärts, zu weißen
Wolken zusammengeballt, das wilde Heer der Flocken, getragen
von den urgewaltigen Schwingen des Sturmwindes, dem
„heulenden Boten des Unterganges". Ein wütender Orkan mit
— 187 —
all seinen Schrecken fegte über das Land und schien alles Leben
unter Schneemassen begraben zu wollen.
Erst gegen Abend ließ dieser schreckliche Schneesturm
nach, und wir hatten Zeit, am* angefachten Feuer unseren
durchnäßten und halb erstarrten Leichnam zu erwärmen. Um
10 Uhr nachts begann es ruhiger zu werden, und anstatt des
furchtbaren Sturmgeheuls vernahmen wir jetzt nichts als das
sachte Rauschen des wehenden Schnees. Nach schlaflos ver-
brachter Nacht in dem dürftigen Obdach aus I>orngestrüpp
konnten wir erst gegen 1 1 Uhr vormittags unseren Weg weiter
fortsetzen. Im Laufe des Tages aber schmolz die Schnee-
decke unter den Strahlen der Sonne allmählich hinweg, und nur
unsere nassen, schmutzigen Kleider und Gepäckstücke, sowie die
traurig dreinschauenden Pferde erinnerten an das schauderhafte
Unwetter. Indessen war doch ein Umschlag in der Witterung
eingetreten. Am Tage vorher zeigte mein Thermometer schon
um 12 Uhr mittags nur +5^ C. Heute früh etwa um 7 Uhr
stand die Quecksilbersäule bereits auf 3^ unter dem Gefrier-
punkt; ein klarer Frost hatte seinen Einzug gehalten.
Je weiter nordwärts, desto zerklüfteter wird die Gegend,
desto felsiger gestalten sich die Ufer des Chicoflusses. Rot-
braune Granitmassen starren hier dem Wanderer entgegen;
in bizarren Formen ragen Felssäulen jäh zum Himmel.
Und überall in den einzelnen Blöcken, in den steil empor-
strebenden zerrissenen Wänden gähnen schwarze Höhlen und
Löcher. Mehr als 1 50 m senken wir uns nun auf gewundenem,
beschwerlichem Pfade hinab in das Tal, das, eng und sumpfig,
zu beiden Seiten von diesen nackten Felsmassen abgeschlossen
ist. Man empfindet hier unten den lähmenden Druck der
schreckhaften Einöde; eine ungebundene Wildheit scheint da
ehemals geherrscht zu haben, bevor die tobenden Elemente
zur Ruhe kamen und die feuerglühenden Massen langsam zu
gespenstischen Figuren erstarrten. Während oben auf der
Pampa nur einiges Gras kümmerlich im Kiesgeröll sein Dasein
188
fristet, gedeihen Coirön und Mailin unten am Fluß besser.
Immerhin aber ist die gesamte Vegetation dürftig. Außer
Dornbüschen und schwächlichen Weidenbäumen, die vom Winde
krummgebogen sind, außer • Jume und Schilf am Uferrand,
bietet der Pflanzenwuchs wenig, fast gar nichts, wie denn
überhaupt das ganze den Eindruck einer schauerlichen Wild-
nis macht. Hier haust in unzugänglichen Felsklüften der Löwe
(Puma), und oben zwischen Steinklippen und Felszacken nisten
Geier und Adler. Sonst erscheint die Gegend wie erstorben.
Ein beängstigendes Gefühl beschleicht langsam die Seele beim
Anblick dieses „Teufelstales".
Und als wir uns dort abends auf einer mächtigen Stein-
platte zwischen Wasser und Steilwand am Feuer gelagert hatten
und die rötlichen Flammen gespenstisch über Grashalme, Büsche
und Blöcke huschten, zum Wasser hüpften und dann zu den
Felsriesen hinübersprangen, da war es mir, als ob die mäch-
tigen rotbraunen Granitmassen, all die Klötze und Säulen und
Wände Leben bekamen und sich regten und reckten und
streckten, und als ob aus den Tausenden von Höhlen und
Löchern eine tückische Schar von Spuk- und Höllengeistern
herniederglotzte. Fürwahr, es war ein Teufelstal. Und als
später im Zwielicht blasser Mondesstrahlen die Wellen des
Chico hinunterrauschten und die ganze phantastische Felsland-
schaft mit ihren düsteren aufstrebenden Wänden, mit all ihren
Spitzen und Türmen zauberhaft vom Mondesglanz umflossen
zu ruhen schien, da hatte man das Empfinden, als ob nach
einem finsteren Höllenwege eine lichte Landschaft sich geöffnet
hätte, durch die lautlos und stumm die Geister der Ab-
geschiedenen dahinsch webten.
In der Nacht war starker Frost gekommen. Das Wasser
des Flusses hatte sich mit einer ca. 1 cm starken Eisschicht be-
deckt, und am Morgen des 19. Mai zeigte mein Thermometer
— 70 Celsius.
Ein Vordringen hier im engen Tal war wegen des sump-
189
figen Bodens nicht ratsam. Wir mußten daher hinauf z
wobei wir uns mehr und mehr vom Flusse entfernten.
Durch enge Schluchten kletterten wir über Steintrümmer
und Felsenklöfze höher und höher, bis sich endhch eine weite,
Indianisches Ehepaar.
traurige Heide vor unserem Blick auftat. Der geologische Auf-
bau des Landes hier wurde bei diesem Aufstieg deutlich sicht-
bar. Auf dem Qranifgestein ist die mächtige Pampaschicht
aufgelagert, hier und da durchbrochen von Basalt. Eine sehr
zersetzte, kalkhaltige Oesteinsmasse, eine Art Tuff, von weiß-
— 190 —
lichgrauer Färbung und in einer Mächtigkeit von 10 — 20 Metern
bildet den Übergang zu den gelblichen Mergelschichten, auf
denen sandige Ton- und Lehmablagerungen von verschiedener
Stärke ruhen. Eine Decke von Sand- und Kiesgeröll bildet die
Oberfläche, die nur einen schwach entwickelten Pflanzenwuchs
zu ernähren imstande ist. Gras gibt es hier fast gar nicht,
dagegen viel Unkraut und niedriges, verkümmertes Gesträuch.
Tiefe Talschluchten, die bekannten Caiiadones, sind in diese
talförmige Hochebene eingeschnitten und ziehen sich weit in
das Massiv hinein. Schier bis ins Ungemessene wähnt man
von hier oben zu schauen; in weiter Ferne schimmert weiß die
schneebedeckte Pampa des Südostens, ungefähr in der Richtung
nach Cabo Raso zu, die indessen nicht mehr so gut ist, als die
mehr südlich gelegene „Pampa alta", die sog. „hohe Pampa".
Erstere besitzt mehr Steine und grobes Geröll anstatt des Sandes
der letzteren, weniger und minderwertiges Gras, dafür aber mehr
Unkraut und Gestrüpp. Dagegen ist die „Pampa alta" wegen
ihrer höheren Lage etwas kälter und im allgemeinen auf ihrer
ungeschützten Hochfläche — nicht in den fruchtbaren Cafia-
dones — den Wirkungen der stürmischen Winde mehr aus-
gesetzt.
Und schon dort oben, wo wir uns jetzt befanden, war es
empfindlich kalt. Eines Abends, ehe ich mich unter sternen-
klarem Himmel neben dem Lagerfeuer auf mein „Prunkbett"
streckte, bestehend aus Sattel und Decken, die einfach auf
bloßer Erde ausgebreitet waren, und mich in Poncho und Quil-
lango eingewickelt hatte, zeigte mein Thermometer — 8^ C,
und am nächsten Morgen um 7 Uhr, als ich halb steif mich
vom Lager erhob, hatten wir eine Kälte von — 12^0. Das
war am 22. Mai 1905.
Am 23. erreichten wir die „Laguna Margarita", etwa 25 km
nordöstlich von der Stelle entfernt, wo der Rio Chico in den
Chubutfluß einmündet. Hoch poetisch klingt der Name und
doch — ach, wie prosaisch war hier das Leben! Nach einigen
— 191 —
trockenen, klaren Tagen hatte wieder das übliche Hundewetter
eingesetzt mit Regen und Wind. „Hops, heisa, bei Regen
und Wind,'* wie der selige Fallstaff singt. „Denn der Regen,
der regnet jeglichen Tag.'' Und dann ruft er seine braune
Hanne: „Lösch' mir der Kehle Brand, Trinken ist keine Schand!"
Hier aber an der „Laguna Margarita'* war weder eine
braune, dralle Hanne, noch ein blondgezopftes Margaretchen
oder eine dunkeläugige, schwarzhaarige Margarita. Nur wilde
Rinder, Baguales genannt, trieben sich in den mit Dornbüschen
bewachsenen Talmulden umher; eine ganze Herde von etwa
50 Stück, meist von weißer Farbe. Unser Magen knurrte,
die Satteltaschen waren leer; also was tun? Es glückte uns,
trotz des häßlichen, trüben Wetters, trotz des Regens, einen
jungen Stier zu erlegen. Wir hatten damit frisches Fleisch für
die nächsten Tage, das uns auch ohne Brot und ohne Gemüse
und sonstige Zutaten vortrefflich mundete. Die Verdauung be-
sorgte dann schon die bekannte Yerba mate, von der wir noch
Gott sei Dank zur Genüge besaßen.
Von der Laguna nordostwärts breitet sich ein sehr zerschnit-
tenes Terrain aus. Mächtige Lehm- und Sandflächen wechseln
ab mit Hügel- und Bergrücken und Kegeln, die in ihrer Zu-
sammensetzung die verschiedenartigsten tonhaltigen Schichten
erkennen lassen. Meistenteils ist die Reihenfolge derart, daß zu
Oberst eine dunkelbraune Schicht gelagert ist, welcher nach
unten zu gelbe und weiße folgen. Diese gehen wieder in ein
dunkelbraunes bis schwarzes Sediment über, das sich weiter
unten mit roten, rotbraunen, rosa und oft feuerfarbenen Erd-
massen mischt. Auch blauer Ton, mit all seinen Abstufungen
nach gelb und grün tritt zutage. Wie breite, bunte Bänder ziehen
sich diese Schichten an den Hängen und Wänden entlang,
so daß der Landschaft durch die Farbenunterschiede ein eigen-
artiges Gepräge aufgedrückt wird. Aber sie ist öde, kahl, diese
Landschaft. Kein Baum, kein Gras; nur ab und zu ein Jarilla-
strauch, hier und da „Mata sebo" und niedrige Dornen. Sonst
— 193 —
alles Sand, Lehm, Ton. In trockenen Zeiten gleicht diese ganze
Gegend einer fürchterlichen Wüste. Dann glüht der nackte
Erdboden in der Sonnenhitze und reißt auf und spaltet sich. Die
Luft flimmert, und feiner, von Winden aufgewirbelter Staub
dringt überall hinein und belästigt Roß und Reiter. Heute
allerdings war das Gegenteil der Fall. Durch den andauernden
Regen war der lehmige Erdboden aufgeweicht und bildete
eine schlammige Masse. Kleine Bäche und Rinnsale waren zu
brausenden Strömen angeschwollen; aus winzigen Wasser-
ansammlungen waren große Seen geworden. Nur langsam
kamen wir voran, da unsere Pferde buchstäblich knietief in
diesem Riesenmorast waten mußten.
Allmählich senkten wir uns von der Hochfläche hinab in
ein breites Tal, das von einem Strom durchflössen wird. Es
ist der Chubutifluß. Sumpfiger, teils sandiger Boden herrscht
hier vor. Die anfangs zutage tretenden Felsen und Gesteins-
massen, zum größten Teil brauner Granit, werden seltener,
und bald sieht man ringsherum nur noch welliges Gelände,
niedrige, langgestreckte Hügelreihen, die sich durch eine merk-
würdige Vegetationsarmut auszeichnen. Dagegen entrollt sich
in der tiefen, oft 10 — 15 km breiten Talebene ein angeneh-
meres Bild. Der Weg wird endlich tatsächlich zu einem Weg,
und zu seinen beiden Seiten tauchen im dunklen Kolorit der
Landschaft helle, saubere Wohnungen auf, freundliche Bauern-
häuschen, umgeben von grünen Baumgruppen, von Pappeln
und Weiden. Glatte Rinderherden weiden im saftigen Grase, und
— das ist die Hauptsache — es erscheinen endlich menschliche
Lebewesen. Männer mit rötlichblondem Haar und Bart; Frauen
und Mädchen von schlanker Gestalt, vielfach hoch aufgeschossen
und formlos dürr, sind im Garten vor dem Hause oder auf
dem Felde beschäftigt. Dort kommt uns eine ältere „Dame"
auf einem einspännigen Wägelchen entgegen, und da reitet
auf mächtigem Ackergaul quer übers Feld ein kleiner, flachs-
haariger Bengel und schaut uns neugierig an. Wir befinden
Vallcntin: Chubut ^^
— UM —
un% ;aini H*:i('mn der Oalenser AnsiedeiUn^ am Chubutfluß, die,
Jkdt I^>5 bestehend, heute schon drei Ortschaften aufweist,
und /war Oaiman, Trelew und Rawson. Letztere, nahe der
<^Mtk liste ^clej;(en, ist gleichzeitig Hauptstadt des Territoriums
und Sitz des Cjouverneurs \'on Chubut
Mit diesen Oalenserkolonien nahm einst die eigentliche
ßcsiedelung des Chubutterritoriums ihren Anfang.
XIX.
Die Ansiedlungen der Galenser am Chubutfluß.
Bodenverhältnisse und Klima.
Bereits 1862 hatte eine englische Auswanderungsgesellschaft
zwei Agenten nach Patagonien gesandt, um dort Ländereien
zu besichtigen bzw. auszusuchen. Die beiden Beauftragten
fanden geeignete Landstriche im Tal des Chubut und nördlich
davon am Golfo Nuevo, worauf die argentinische Regierung,
infolge des an sie ergangenen Gesuchs, sich bereit erklärte,
jeder Einwandererfamilie ein Stück Land von 25 Quadratcuadras
=^ etwa 250 ha als Geschenk zu überweisen. Am 28. Juli
1865 trafen die ersten Leute mit einem Schiff aus Liverpool
in der Mündung des Chubutflusses ein. Es waren Auswan-
derer aus Wales, 153 an der Zahl, Walenser oder Galenser
genannt, blutarm, ohne Lebensmittel und Gerätschaften, Men-
schen, denen es an allem mangelte, und bei denen sich denn
auch sehr bald das Unausbleibliche einstellte: großes Elend
und bitterste Not, das, was in fremden, unbekannten Gegenden
bei ungenügender Vorbereitung meistens eintreten muß. Zwar
half die argentinische Regierung wo und wie sie nur konnte.
Immerhin aber gilt es heute für sehr wahrscheinlich, daß die
armen Ansiedler — verhungert wären, wenn nicht die Te-
huelchenindianer gewesen wären, die in jener Zeit im Gegen-
satz zu heute noch zahlreich das Land bevölkerten. Mit diesen
traten sie in Verbindung, fingen an, Tauschhandel zu treiben,
13*
— 196 —
konnten sich Lebensmittel und dergleichen beschaffen und sich
auf diese Weise über eine traurige Zeitperiode hinweghelfen.
Indessen schon nach wenigen Jahren mußten die neuen
Kolonisten einsehen, daß hier Ackerbau ohne Bewässerung
ein Unding sei; denn die Ernten waren infolge von Regen-
mangel und eintretender Dürre gleich Null, so daß die Un-
glücklichen abermals in Verzweiflung gerieten. Da fingen sie
an, Gräben vom Fluß aus zu ziehen und das Wasser auf das
Ackerland zu leiten; Kanäle wurden gegraben, Bodenhinder-
nisse zu diesem Zweck beseitigt. Auf diese Weise kamen die
Leute von selbst nach und nach zu einem regulären Bewässe-
rungssystem. Die Erfolge konnten nun nicht mehr ausbleiben.
Der ausgesäte Weizen gedieh vortrefflich, und schon die erste
Ernte übertraf alle Erwartungen. Als dann später die Ver-
bindung mit der Außenwelt sich besser gestaltete und einer der
Ansiedler seinen Weizen nach Buenos Aires zum Verkauf
sandte, war alle Welt überrascht. Chubutweizen war plötz-
lich ein gesuchter Artikel geworden und erzielte auf dem Markt
hohe Preise. Im Jahre 1874 und 1875 erfuhr die Kolonie
einen Zuwachs aus der alten Heimat; ungefähr 200 Galenser
Familien waren eingetroffen und ließen sich in dem Chubuttal
nieder.
Bemerkenswert ist bei diesen einfachen Männern von
Wales das feste Zusammenhalten und ihr Organisationstalent.
Da die Kolonie ganz auf sich selbst angewiesen war, ander-
seits aber das Zusammenleben verschiedener Familien immer
eine gewisse Ordnung erfordert, um die wirtschaftliche und ge-
sellschaftliche Entwicklung nicht zu hindern, organisierten die
Galenser aus freien Stücken eine Art Selbstregierung, deren Be-
stimmungen sie sich freiwillig unterwarfen. Sie schufen einen
Gemeinderat, bestehend aus 12 Mitgliedern, die in freier Ab-
stimmung gewählt wurden und die wieder ihren eigenen Präsi-
denten wählten. Aufgabe dieses Rates war, die gemeinsamen
Angelegenheiten zu regeln und Streitigkeiten zu schlichten.
— 197 —
Später wurde noch ein besonderer Richter ernannt. Diesem
gegenüber bildete der Qemeinderat eine Art höherer Instanz,
insofern, als die Urteile des Richters dem Rat zur endgültigen
Entscheidung vorgelegt werden konnten.
Im Jahre 1875 schenkte die argentinische Regierung einem
jeden der Ansiedler außer den ursprünglichen Landlosen noch
je 100 ha und stellte dieselbe Fläche umsonst allen zur Ver-
fügung, die bis zum Jahre 1885 sich dort niederlassen würden.
So entwickelte sich denn die sog. Chubutkolonie recht
gut. Anfangs der achtziger Jahre zählte sie schon mehr als
1000 Köpfe.
Aber mit der Verbesserung der eigenen Sachlage kam auch
die Unzufriedenheit. Trotzdem die Qalenser auf keinen Fall
als Engländer gelten wollen, trotzdem sie krampfhaft nur ihre
eigene keltische Sprache reden und englisch nicht verstehen
mögen, kam man im Laufe der Zeit doch geheimen Um-
trieben auf die Spur, die gegen die argentinische Regierung
gerichtet waren und vielleicht von politischer Bedeutung hätten
werden können. Es entpuppte sich das „perfide Albion" wieder
in seiner ganzen Größe und Niedertracht. Man erfuhr, daß
diese frommen Qalenser bereits in Verbindung mit einfluß-
reichen Personen in England standen und daß die Absicht vor-
lag, hier in Chubut eine eigene Regierung unter englischem
Protektorat zu errichten. Was aber ein englisches Protektorat
bedeutet, das weiß alle Welt; Afrikas Boden ist nur deswegen
mit Blut und Tränen gedüngt worden.
Mittlerweile hatte die argentinische Regierung zum großen
Leidwesen der Qalenser einen Kommissar als Vertreter und
höchsten Verwaltungsbeamten in Chubut eingesetzt, und da
ließ denn die Explosion nicht mehr lange auf sich warten. Aus
irgend einem Anlaß kam es zur offenen Empörung. Die argen-
tinische Flagge wurde vom Mast gerissen und in den Schmutz
getreten; bewaffnet zogen die Qalenser zum Kommissariats-
gebäude. Dem besonnenen und energischen Auftreten des
— 198 —
Kommissars gelang es, Ruhe zu schaffen. Dieser, ein Senor
Finoquetto, hatte zwei der Rädelsführer verhaften lassen, einen
gewissen Jones und Berwyn, und als die fanatische Menge
gewaltsam die Befreiung der beiden Gefangenen verlangte,
trat er selbst vor die Aufrührer hin.
„Ich habe keine Truppen, keine bewaffnete Macht, sonst
würde ich euch samt und sonders zum Teufel jagen. Aber
seht her, dort weht unsere Nationalflagge; der Weg zu ihr
geht über meinen Leichnam. Ja, schaut nur, dort weht sie, das
Sinnbild unseres Vaterlandes!"
Die Leute guckten erstaunt. Richtig, da war die argen-
tinische Flagge inzwischen gehißt worden und flatterte lustig
im Winde und schien spöttisch und hämisch herabzuwinken.
Eingeschüchtert, stumm schaut einer den andern an. Dar-
auf ließen sie die Köpfe hängen und schlichen beschämt einer
nach dem andern davon.
So endete die Revolutionskomödie der Oalenser in Chubut.
Seit jener Zeit herrscht Frieden im Staate. Aber heute
noch fühlen sich die Oalenser und sogar die in Chubut ge-
borenen nicht als Söhne des argentinischen Landes ; heute noch
verabscheuen sie die spanische Sprache, und wenige gibt es,
die wirklich spanisch reden können. Und selbst wenn sie vor-
geben, daß sie die Engländer bitter hassen, daß sie englisch
nicht verstehen, sondern nur ihr welsches Idiom sprechen kön-
nen, so fühlen sie sich doch, im Grunde genommen, heute noch
immer als die „british subjects", britische Untertanen, die schon
so manches politische oder private Ärgernis verursacht haben.
Sie werden und können auch heute noch nicht mit den Beamten
der argentinischen Regierung sympathisieren und bereiten allen
— vom Gouverneur herab bis zum letzten Polizisten — die er-
denklichsten Schwierigkeiten; denn mit geheimem Ingrimm
denken sie daran zurück, daß es ihnen einst unmöglich gemacht
worden ist, „ihre eigene patriarchalische Regierung weiter fort-
zusetzen, bis zur Gründung einer gekrönten Dynastie."
199
Ich habe Gelegenheit gehabt, die beiden Hauptführer von
damals zu sehen; der eine, Mr. Jofies, ein kleines, dürres Männ-
chen, der zukünftige „König von Chubut", wie er spottweise
genannt wird; der andere, Mr. Berwyn, den ich persönlich
kennen lernte, ein schwatzhafter, alter Mann von widerlicher
Freundlichkeit, die an Kriecherei und Heuchelei erinnert. Die
Gerüchte erzählen heule noch vieles aus jener Zeit, viele possier-
Bewohner der Pampa.
liehe Dinge, manche heiteren Episoden, vom geschnitzten Präsi-
dentenstuhl und reichverzierten Königsthron und dergleichen
mehr, von Handlungen, die ans Lächerliche streifen, die aber
von jenen Männern mit vollem Ernst vollzogen worden sind,
weil sie, die aus den untersten Volksschichten stammten, arm,
ohne Hab und Out hier ankamen, zu Besitz gelangt waren
und Erfolge erzielt hatten, die ihnen zu Kopfe stiegen. Sie be-
trachteten sich infolgedessen bei ihrem systematischen Ab-
— 200 —
schließen und bei ihrer Unkenntnis der Außenwelt hier auf
dem kleinen Fleckchen Erde als große Männer, als Helden,
kluge Leute. Dazu kam der religiöse Fanatismus, in dem die
Oalenser schon damals befangen waren und der sie wähnen
machte, gleichsam als auserwähltes Volk eine gewisse Mission
erfüllen zu müssen.
Ein gewisser Sektiererwahn besteht noch jetzt; einfache
Frömmigkeit ist damit zur Bigotterie geworden. Indessen ist
es hier nicht am Platz, darüber zu rechten. Jeder Mensch muß
eben nach eigener Fasson selig werden und hat das „Wie"
mit sich selbst ganz allein abzumachen. Das eine nur ist sicher,
daß heute in wirtschaftlicher Beziehung im Chubuttal vieles
besser sein könnte, wenn die „frommen" Oalenser sich mehr
auf sich selbst als auf den lieben Herrgott verlassen hätten.
Aber auch sonst hätte die einzelne Persönlichkeit sich mehr
entfalten können, wenn im Laufe der Jahre durch ein über-
triebenes Abschließen von der Außenwelt, durch ein ängst-
liches Fernhalten von allem Fremden nicht so etwas wie Inzucht
mit ihren üblen Folgen entstanden wäre. Ich habe wiederholt
die Empfindung gehabt, daß jene Einwirkungen gerade beim
jüngeren Geschlecht bereits ziemlich stark zutage treten.
Indessen, mag dem nun sein, wie ihm wolle, bei allen
Fehlern und Untugenden kann diesen galensischen Ansiedlern
niemals das Verdienst abgesprochen werden, trotz aller Wider-
wärtigkeiten hier im Tal des Chubutflusses durch Ausdauer und
festes Zusammenhalten aus dem Nichts heraus etwas geschaffen
zu haben. Und das verdient alle Anerkennung!
Von Rawson, das im September 1865, gleich nach dem
Eintreffen der ersten Oalenser als künftiger Stadtplatz be-
zeichnet und nach dem damaligen argentinischen Minister be-
nannt wurde, schritt die Besiedelung zu beiden Seiten des
Chubutflusses mit Zunahme der Kopfzahl langsam talaufwärts
vor, bis dann nach und nach zwei andere Stadtplätze oder
Zentren der Kolonie geschaffen wurden: Trelew und Qaiman.
— 201 —
Der Name Trelew ist galensisch und bedeutet: Ort des Luis;
ungefähr also Ludwigsort, nach jenem schon genannten Luis
(Lewis) Jones. Qaiman dagegen kommt aus der Tehuelchen-
sprache; es heißt etwa soviel wie „Steinspitze". Der Boden
des ganzen großen Chubuttales, das als Siedelungsgebiet sich
mehr als 75 km von der östlichen Meeresküste nach Westen
hin erstreckt, besteht zumeist aus lehmiger, kalk- und tonhaltiger,
mit Sand vermischter Erde von grauweißlichem, stellenweise
sogar ganz weißem Aussehen. Sie ist hauptsächlich aus den
abgeschwemmten, feinzersetzten Toscamassen der Ufer-
umgebung zusammengesetzt. Diese Tosca tritt überall an den
Ufern in großer Mächtigkeit zutage, in Steilwänden und Schich-
ten von oft mehr als 30 m Stärke, die vielfach Gips als Faser-
und Knollengips enthalten.
Im trockenen Zustande ist dieser Boden ziemlich hart und
für Wasser undurchlässig. Erst bei erfolgter Bearbeitung und
Auflockerung kann Wasser durchdringen, so daß nun eine
wunderbare Fruchtbarkeit der bewässerten Erde zum Vorschein
kommt. Insbesondere gedeiht Weizen hier vortrefflich.
Ähnlichen Boden habe ich vielfach an den Ufern des Rio
Chico getroffen, namentlich dort, wo das Tal nicht zu eng ist
und wenig Felsen- oder Gesteinsmassen auftreten; ferner am
See Colhuapi und in der Kolonie Sarmiento. Aber, wie gesagt,
ohne Bewässerung ist er beinahe wertlos. Bei rationeller Be-
wässerung dagegen würden z. B. in Sarmiento von jedem
Kolonielose, also 625 ha, durchschnittlich 50—100 ha für Acker-
bau resp. für Weizen und Alfalfa ausgenutzt werden können.
Mehr oder weniger der gleiche Boden kommt außerdem strecken-
weise vor an den Ufern des Rio Senguerr. Er ist vorhanden
am Gennoa, also in der Kolonie General San Martin, und
schließlich in der Kolonie „16 de Octubre". In letzterer wird
ja auch tatsächlich Weizen mit gutem Erfolg angebaut. Für
alle diese im Innern Chubuts gelegenen Teile aber fällt der
Umstand schwer ins Gewicht, daß sie vorläufig für Acker-
202
bau kaum in Betracht gezogen werden können, da ihre Ver-
bindung mit dem Absatzmarkt noch zu schwierig ist. Ein
Bahnbau, gleichviel welcher, bedingt hier eigentlich alles. Ohne
Eisenbahn oder sonstige Verkehrseinrichtungen nach der Küste
hin bleibt das Innere Chubuts für den allgemeinen Handel und
Wandel gleichsam noch verschlossen. Wer aber die Bahn hat
- - und das kann nicht genug wiederholt werden — , der hat
auch die natürlichen Reichtümer des Landes für sich.
Das Klima im unteren Chubuttal ist gemäßigt und für den
Europäer gut erträglich. Die in Rawson an der Küste (65 ^ 5 '
westl. Länge und 43^17' südl. Breite) angestellten Beob-
achtungen haben ein recht günstiges Resultat geliefert. Die
dort gemessene mittlere Temperatur, berechnet aus dem Durch-
schnitt der Jahre 1880—88 und 1898—1900, betrug für:
Januar 21,04« C.
Februar 20,11° „
März 17,48° .
April 12,28° „
Mai 8,74° .
Juni 5,25° .
Juli 6,10° „
August 6,90° ,;
September 10,58o »
Oktober 14,13° „
November 17,12° „
Dezember 19,46° „
so daß sich für d e n O r t — nicht für das ganze Territorium
Chubut, wie es meistens fälschlich aus Unkenntnis der Verhält-
nisse geschieht — eine durchschnittliche Mitteltemperatur von
13,260 C. ergibt.
Die Maximaltemperaturen innerhalb jenes Zeitabschnitts
fielen auf die Monate:
November 38,0° C.
Dezember 36,2° „
203 —
n
»
c.
n
II
II
Januar 39,0° C.
Februar 38,0°
März 35,0°
während die Minima auf die Monate:
Mai mit — 6,0°
Juni V — 9,0°
Juli ,; —10,2°
August „ — 9,0°
trafen.
Der Durchschnitt der höchsten Temperatur der vorgenann-
ten Jahre belief sich auf 39 ^ C, der niedrigsten auf — 10,2^ C.
Die mittlere Regenmenge im Durchschnitt der Jahre 1880
bis 1888 und 1896 bis 1900 betrug im:
Januar 12,6 mm
Februar 15,6
März 27,9
April 14,7
Mai 25,0
Juni 33,8
Juli 11,7
August 28,1
September 18,1
Oktober 9,9
November 21,2
Dezember 21,5
XX.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse im unteren
Chubuttale. Stromregulierung. Eisenbahn.
Die Bewohner des Chubuttales beschäftigen sich mit Vieh-
zucht und Ackerbau. Früher war die Weizenkultur die Haupt-
sache. In den letzten Jahren, namentlich seit den großen
Überschwemmungen von 1900 und 1901 ist man mehr und
mehr zur Alfalfa (Luzerne) übergegangen, und während früher
die Ausfuhr von Weizen nach Buenos Aires und Bahia Bianca
stets im Steigen begriffen war, derart, daß die kleine Bahn von
Trelew nach dem Haf^n Madryn den Verkehr kaum zu be-
wältigen vermochte, hat in den beiden letzten Jahren die Aus-
fuhr erheblich abgenommen. Die Produktion hat die Neigung,
sich auf das Territorium bzw. das Ansiedlungsgebiet selbst zu
beschränken, zumal bereits eine Mühle errichtet worden ist,
in der das Korn zu Mehl umgearbeitet werden kann.
So besaß z. B. vor fünf Jahren eine große Strecke der Tal-
ebene auf dem südlichen Ufer des Chubutflusses eine stattliche
Anzahl von kleinen Bauernhöfen, auf denen ausschließlich
Weizenbau getrieben wurde. Da kamen die Überschwemmun-
gen und zerstörten alles. Heute sitzen da nur wenige An-
siedler, die sich aber nur mit Viehzucht und Alfaifakultur be-
fassen. Letztere rentiert sich besser. Wasser, dessen diese
Pflanze ja vor allen Dingen bedarf, ist genügend vorhanden;
dann aber ist Alfalfa nicht so empfindlich gegen eintretende
Überschwemmungen, gegen Winde und Frost wie Weizen.
Die Ausfuhrstatistik gibt von dieser Wendung der Dinge einiger"
— 205 —
maßen ein Bild, das, wenn auch nicht ganz zutreffend, so
doch ungefähr die Sachlage erkennen läßt. Hiernach betrug
die Ausfuhr
von Weizen 1894 4678 Tonnen
von Alfalfa-Samen 1894 nur 17 „
dagegen wurden 1904 über Puerto Madryn
an Weizen nur 355 „
an Alfalfa-Samen aber 101 „
und an getrocknetem Futter, also Alfalfa allein . . . 890 „
verschifft.
Durch die schon vorher erwähnten Bewässerungsanlagen,
die nur der gemeinsamen Arbeit der Qalenser ihre Entstehung
verdanken, ist das Kulturland des Chubuttales bedeutend er-
weitert worden. Drei große Hauptkanäle durchziehen heute
das Niederungsgebiet. Davon haben zwei je 40, einer etwa
80 km Länge und 5 m Breite. Die Kolonisten gründeten zu
diesem Zwecke drei Gesellschaften, welche den Bau seinerzeit
zu übernehmen und weiterzuführen hatten. Außer den Haupt-
kanälen sind überall größere und kleinere Seitengräben, Stau-
anlagen und dergleichen angelegt, so daß die Äcker, die durch
niedrige Erdwälle in Abteilungen eingeteilt sind, durch eben
jene Leitungsgräben bewässert werden können, und zwar der-
art, daß das Wasser von einem Abteil je nach Bedarf in das
nächste abfließen kann.
An Baumarten gedeihen im Chubuttal hauptsächlich Weiden
und Pappeln. Das haben einzelne Versuche zur Genüge be-
wiesen. Leider wird gerade auf die Anpflanzung von Bäumen
von den dortigen Bewohnern viel zu wenig Wert gelegt, trotz-
dem bereits jetzt die Holzfrage anfängt, etwas kritisch zu
werden. Von immer weiter her müssen aus der Umgebung
jetzt schon die niedrigen Sträucher und Wurzeln des Gebüsches
geholt werden, um das notwendigste Brennmaterial zu be-
schaffen, das infolgedessen natürlich immer teurer wird. Vor
einem Jahre noch kostete eine Karre voll, etwa 7 — 800 kg,
— 2rjG —
5 Pesos (ca. 10 Mark); heute ist der Preis für dieselbe Menge,
aber von schlechterer Qualität, schon auf 8 — 10 Pesos (ca. 16
bis 20 Maiic) gestiegen. Kohlen zur Feuerung sind schwer zj
bekommen, und dabei denkt kein Mensch an Anpflanzen von
Pappeln, Weiden oder anderen Baumsorten, die in diesem
Klima gut gedeihen würden, wie z. B. Eschen, Tamarisken
und Akazien. In wenigen Jahren könnten einige 100 Bäume,
deren Anpflanzung und Pflege ja nur geringe Mühe verur-
sachen würden, auf jeder Besitzung ein Vermögen repräsen-
tieren. Das Holz, eben weil es in diesem baumlosen Lande
notwendig ist, würde sicherlich guten Absatz finden und preis-
wert verkauft werden. Dann aber würde auch, abgesehen von
der Verschönerung der Landschaft, eine allmähliche Verbesse-
rung von Klima und Boden, dazu ein natürlicher Schutz gegen
die starken Westwinde, die einigen Kulturen und Pflanzungen
in Gärten und Gemüseanlagen großen Abbruch tun, herbei-
geführt werden.
Eine andere Frage, die für die wirtschaftliche Entwicklung
der ganzen Kolonie, namentlich aber für die an der Flußmün-
dung gelegene Hauptstadt Rawson außerordentliche Bedeutung
erhält, ist die S t r o m r e g u 1 i e r u n g. Wenn während der
Winterszeit die großen Regengüsse kommen, schwellen Flüsse
und Bäche in Patagonien beträchtlich an, treten über die Ufer
und wälzen ihre Wassermassen hinunter zum Meer. So ist
es auch mit dem Rio Chubut und seinem Nebenfluß, dem Rio
Chico, bestellt. Das ganze untere Talgebiet des Chubutflusses
ist dann unter Wasser gesetzt; der Verkehr ist unterbunden,
und der Schaden, den diese Überschwemmungen anrichten,
ist sehr erheblich. Andrerseits führen während der heißen
Sommermonate diese Flüsse wenig Wasser mit sich, ja trocknen
sogar gänzlich aus, wie u. a. der Rio Chico. Dann ist natür-
lich ebenfalls der Verkehr erschwert, namentlich der Schiffs-
verkehr sehr unregelmäßig oder häufig ganz lahm gelegt. Eine
rationelle Abhilfe gegen solche Mißstände ist bis jetzt noch
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— 208 —
nicht geschaffen worden, und so stießen denn die Kolonien
beim Transport ihrer Landesprodukte auf große Schwierig-
keiten. Dazu kam, daß trotz vielfacher Anregungen seitens
der Gouverneure und der Bevölkerung die notwendige Schiff-
barmachung der Chubutmündung immer wieder hinaus-
geschoben und damit der natürliche Verkehrsweg von den An-
siedelungen nach Rawson bzw. der Küste nicht zugänglich ge-
macht wurde.
Man predigte tauben Ohren; in Buenos Aires schien man
kein Verständnis für diese so wichtige Angelegenheit zu haben.
Heute noch ist eine Schiffahrt auf dem Chubutstrom innerhalb
des Siedelungsgebietes so gut wie gar nicht vorhanden. Für
Rawson, dem Regierungssitz, rächte sich diese Unterlassungs-
sünde sehr; für Trelew, dem Zentrum der galensischen Be-
völkerung, trug sie Früchte. Denn nur bewogen durch die Miß-
stände in der Schiffahrt und durch die damit zusammen-
hängenden wirtschaftlichen Schädigungen und Verluste nahmen
die Kolonisten das Anerbieten einer englischen Gesellschaft an,
eine Schmalspurbahn von Trelew nach dem Golfo Nuevo, und
zwar nach Puerto Madryn zu bauen. Dank den gemeinsamen
Bestrebungen der Galenser wurde der englischen Bahngesell-
schaft von der argentinischen Regierung längs der Eisenbahn-
linie je 5 km Land überwiesen, und schon am 1. Juni 1889
konnte die Eröffnung des Betriebes der neuen Bahn, die 70 km
lang ist, stattfinden. Nun war den Ansiedlern die Möglichkeit
gegeben, ihre Produkte, namentlich Weizen, ohne Zeitverlust
zum Absatzmarkt zu liefern, und die früheren, durch oft monate-
lange Verzögerungen entstandenen Verluste zu vermeiden. Da-
mit aber ging der ohnehin geringe Schiffsverkehr völlig zurück,
und Rawson, die Residenz des Territoriums, die älteste Nieder-
lassung der Chubutkolonie, wurde mehr und mehr isoliert,
sein Aufschwung, der unfehlbar schnell gekommen wäre, war
und ist hierdurch für absehbare Zeiten gehemmt. Die so her-
vorgerufene Rivalität zwischen Trelew, das nun natürlich das
— 209 —
Hinterland, Oaiman usw. beherrscht, und Rawson spitzte sich
noch mehr zu infolge der Verschiedenartigkeit der Bevölkerungs-
elemente: dort, in Trelew und Qaiman überwiegend die rein
galensische Bewohnerschaft mit all ihren Eigenarten; hier in
Rawson dagegen, der Sitz der argentinischen Territorial-
behörden, mit argentinischen, italienischen und spanischen Be-
wohnern und nur sehr wenigen Galensern. Wie zwei eifer-
süchtige, feindliche Schwestern stehen sich heute die beiden Ort-
schaften gegenüber. Man darf allerdings nicht vergessen, daß
es sich hier um eine ernste Existenzfrage handelt, die von
vornherein vermieden worden wäre, wenn der Verkehr, wie
es, eigentlich natürlich war, durch Stromregulierung, durch
Dammbauten und irgendwelche Hafenanlagen nach Rawson
geleitet resp. wenn der Schiffahrt auf dem Chubut die ent-
sprechende Aufmerksamkeit rechtzeitig geschenkt worden wäre.
Wird in dieser Hinsicht nichts getan, bleibt also alles beim
alten, dann wird die Residenz Rawson weiter ihr problema-
tisches Dasein fristen; wird die Schiffahrt an der Chubutmün-
dung auf irgendwelche Weise gefördert, so bedeutet das den
Ruin der Bahn, die auch jetzt schon künstlicher Stützen be-
darf, und den Rückgang Trelews. In Anbetracht der schon
aufgewendeten Kosten ist das eine Übel ebenso schlimm, wie
das andere. Erst nrit der Steigerung des Verkehrs, das will
sagen, mit der Vermehrung der Bevölkerung und Zunahme
der Kolonisierung, der Kultivierung des Bodens und Steigerung
der Produktion, erst dann, wenn hierdurch die Bahntarife mit
den Schiffsfrachten leichter konkurrieren können, werden sich
diese Gegensätze von selbst ausgleichen. Um das zu erreichen,
müßten jedoch zunächst bedeutend größere Strecken als bisher
von den wasserarmen Kamps zu beiden Seiten des Chubutflusses
durch Bewässerung für Ackerbau und Viehzucht geeignet ge-
macht werden. Andrerseits müßten die durch Überschwem-
mung verursachten Schädigungen vermindert oder ganz ver-
mieden werden. Das alles aber ist nur möglich durch Kon-
Vallentin: Chubut 14
-No/;^rt <v-,4, ♦•^^z* iV*- 2r/> irm /^n -t«- '^s-kisre -irnferüt-
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tfftfti//'ff fftri (Um H'4U f'm^f fUkXr wehen bahn von Raw5on in
v<// :^H^/ ff* f U}f Ufurt'tC uu'//'iffhr ö^n Chubutfluß entlang bis
/Mf yoiotfff' htftf'f}§i >ffn M^ritn und weiter bis in die Kordil-
Ut^'ftUiU't httuuif wo Wfi'^^crkfHhi: ja In Menj^e vorhanden
^}tui thfti Ufftiftitn W/i«j«irrf;ill<% wie z, B. jener im Picoial, nur
Ol V> k^M w^'^fli/fi von der Kolonie (icntrsA San Martin, zur
iii'f^U'Wuhif *'li'klri«»rhi'r Kraft vorzüf(lich verwandt werden,
uU'UU/^'\i\if tiUvr nuvU au anderen Betrieben und industriellen
Aiil/i)/f'n Ui'iiui/MU^i iUuivh. Denn jferade dort weist die natür-
Ihlic Mi't9< liMffcnlirli ikn Moden» nicht nur auf rentable Vieh-
/(mIH Hill Ackrib^ni hin, deren Produkte in Anlagen mit elek-
llhdii'ltt hrlilrh vriMrheltet werden könnten, wie z. B. Käse-
Mliii, Mllclu'irlrn, (hM'berelen usw., sondern der vorhandene
lli'iillrho lliK'hwnId ntit Meinem Imtticnsen Holzreichtum bietet
ilh« nMindtuMlin^iHtuon für ntnunlKfachc wirtschaftliche Betriebe
iuuUmoi ah, wlo #. H. Hol/sii^aMnÜhlen, Werkstätten zur Be-
rti lulliiuy von Nu(/IW^I/orn, Tivschlercicn und dergleichen. (Siehe
Nriiv nurr.)
lono hrthu Ulli cloktrlschcm Botriobc würde zudem billiger
«*» \\\ rtU \'\\\\> ^vw^^hnllcho I iscnbnhn, da schon Unterbau,
Sl\i\M\OH <\^\v, wvui^or stArk /u sein br»iuchten. Da sie bereits
bwh \loM\^>< l .nut duivhlÄuft und die Verbindung mit dem
lnuhtb,^^xton «<hI NVhonstxMi ToU do^ l^hubuttorritoriums her-
xh )h, xU wou U\vU sohhimmcrudc Reichtümer dann mit einem
S^'a^^' ^vhx^bou wüu^on, o^-sohoint ihre Rentabilität so gut \iie
211
Daß eine solche große und wichtige Verkehrslinie, die,
auf elektrischen Kräften basierend, gleichzeitig die Stromregu-
lierung besorgt und in der wirtschaftlich fruchtbarsten und
reichsten Zone des L^tndes an und in den Kordilleren die in-
Wasserfall in den Vor kordil leren.
dustrielle Ausnutzung von Viehzucht, Ackerbau und Waldwirt-
schaft auf billigste Weise ermöglicht, die nicht nur den raschen
Absatz der mannigfachsten Produkte aus den einzelnen Wirt-
schaftsbefrieben in den Gebirgstälern zur Küste hin vermittelt,
sondern auch den Personenverkehr nach jenen wunderbaren.
— 212 —
gesunden Regionen der Kordilleren, zu deren schönsten un-
zweifelhaft das Tal am Picofluß gezählt werden kann, ungemein
steigert, die Besiedelung und damit die ganze Erschließung des
Landes fördert; daß, sage ich, eine solche wichtige Verkehrs-
linie einst gebaut werden wird, davon bin ich heute schon fest
überzeugt. Ob es aber Deutsche sein werden, die sich nicht
bloß das Verdienst um diese wirtschaftliche Erschließung des
Landes, sondern auch vor allen Dingen den absolut sicheren
materiellen Verdienst in klingender Münze erwerben wollen,
das möchte ich heute nach allem, was ich bisher erfahren habe,
fast bezweifeln. Von Herzen wünsche ich nur, daß ich mich
hierin, und ganz besonders in diesem Falle, gründlich täusche,
zugunsten meines deutschen Vaterlandes.
Die 70 km lange Schmalspurbahn von Trelew bis Puerto
Madryn, wenn sie auch faktisch nur eine jener Sekundärbahnen
ist, über deren „Dienstbetrieb, Exaktheit und Schnelligkeit"
die „Fliegenden Blätter" so ergötzliche Abhandlungen in Wort
und Bild zu bringen pflegen, hat hier nun doch das Monopol
gleichsam gepachtet. Einmal ist sie in englischen Händen,
zweitens fehlt jede Konkurrenz, folglich macht die englische
Leitung, was sie lustig ist, und übt denn auch dementsprechend
einen willkürlichen Terrorismus aus,' zur eigenen Bequemlich-
keit, zu eigenem Nutz und Frommen ohne jede Rücksicht auf
Passagiere und Waren.
Andererseits aber auch da — alle Achtung!
Die Bahn ist das Projekt englischen Wagemutes und Zu-
sammenhaltens, sowie englischer Beharrlichkeit auf wirtschaft-
lichem Gebiet. Drei unschätzbare Eigenschaften, die unseren
lieben Deutschen leider nur zu häufig fehlen, wenn es sich um
die Erfüllung großer nationalwirtschaftlicher Aufgaben handelt i
XXL
Puerto Madryn. Handel und Verkehr.
Trelew. Rawson.
über eine öde Steppe, ein dürres Heideland mit spärlichem
Oraswuchs führt die Bahn hinunter nach Madryn. Keine Halte-
station auf der ganzen Strecke, kein grüner Baumwuchs in der
Einöde, kein menschliches Wesen in der ganzen Umgebung.
Nur trostloser Sand, lehmfarbige Lachen, nackte Flächen, EKinen
usw. bis zur Meeresküste. Und Puerto Madryn! Daß Qott
erbarm! Einige Wellblechhütten, Kneipen und Schuppen am
kahlen Strande; das ist alles.
Die Wasserverhältnisse von Madryn sind sehr schlecht.
Trinkwasser wird ca. 80 km weit aus der Gegend von Trelew
dort hingebracht. Es ist hier ähnlich wie in Camarones und
Comodoro Rivadavia. Wie diese beiden Häfen, so befindet
sich auch der von Madryn eigentlich noch im Naturzustande.
Die wenigen Verbesserungen, die dort gemacht worden sind,
I
genügen bei weitem nicht, und die vorhandene Landungsbrücke
ist völlig unzureichend für den bestehenden Verkehr. Vor allen
Dingen aber mangelt es an einer guten Organisation nicht nur
hinsichtlich der Bahnverbindung, sondern auch des Schiffsver-
kehrs an der Küste. Da liegt noch vieles, sehr vieles im argen.
Es wäre wünschenswert, daß gerade die deutschen Dampfer-
linien beizeiten bessernd eingreifen würden, um anderen zuvor-
zukommen, da, wie es ganz natürlich ist, die galensisch-eng-
lische Bevölkerung mehr und mehr mit dem Bestreben her-
— 214 —
vortritt, deutsche Schiffe zu boykottieren und dafür englische,
wie z. B. die der „Pacific Line" zu bevorzugen. Bei solcher
einseitigen Begünstigung kann selbstredend die englische Bahn-
gesellschaft infolge ihrer eigenartigen Monopolstellung ein ge-
wichtiges Wort mitreden. Bei Beurteilung der ganzen Sach-
lage indessen darf vor allem der Umstand nicht vergessen
werden, daß Puerto Madryn für die Handelsinteressen des
halben Territoriums in Betracht kommt, und zwar von der
Küste des Atlantischen Ozeans bis zum Corcovado und Pico-
gebiet in den Kordilleren, vom Rio Senguerr und Lago Fontana
bis hinauf nach Norquinco; also gerade für den fruchtbarsten,
schönsten Teile in ganz Chubut. Jeder Export von dort und
jeder Import dorthin wird am leichtesten und bequemsten über
Madryn geleitet werden können. Daß aber die Produktions-
fähigkeit und die wirtschaftliche Entwicklung gerade jener Kor-
dillerengegend unerwartete Dimensionen annehmen werden,
steht außer allem Zweifel. Die Natur hat eben in jeder Hin-
sicht alle Vorbedingungen hierfür geschaffen. Ich habe darauf
im Vorstehenden bereits wiederholt hingewiesen.
Welche Änderungen das Wirtschaftsleben des Hinterlandes
von Puerto Madryn in den letzten Jahren erfahren hat, geht
einigermaßen aus den Angaben der Ausfuhrstatistik hervor. So
wurde z. B. im Jahre 18Q4 über genannten Hafen exportiert:
Weizen rund 4678,2 Tonnen
Alfalfasamen „ 17,0 „
Wolle ,, 23,0
Schaffelle „ 3,8
Straußenfedern ... ,, 12,9 „
Roßhaare „ 10,4 „
außerdem :
Gerste 169,6 Tonnen
Rindshäute 711 Stück
Quillangos 1872 „
Verschiedene Felle u. Häute 910 „
— 215 —
Dagegen stellte sich 10 Jahre später, also 1904, die Aus-
fuhr wie folgt:
Weizen 355 Tonnen
Alfalfasamen 101
Wolle 751
Schaffelle 82
Federn 3
Roßhaare 11
außerdem :
Gerste Tonnen
Rindshäute 32 „
Quillangos 7 „
Verschiedenes 114 „
Hinzugekommen ist ein neuer Artikel der Landwirtschaft,
nämlich „pasto secco", getrocknetes Futter, also in der Haupt-
sache Alfalfa. Davon allein wurden 1904 mehr als 890 Tonnen
exportiert ; ein Beweis für den schon vorher erwähnten Umschlag
im Ackerbaubetrieb, den Übergang vom Weizenbau zur Al-
falfakultur im Chubuttal. Denn vor zehn Jahren hat an eine
Ausfuhr von Alfalfa noch niemand gedacht.
Die Mengen und Arten der über Puerto Madryn ein-
geführten Waren im Jahre 1904 waren folgende:
Mais 28 Tonnen
Kartoffeln 76
Mehl 135
Steinkohle 204
Petroleum 54 „
Salz 10
Holz 351
Kalk 24
Fahrzeuge 71 „
Draht 60
Zement 14
;;
Verschiedenes 2950 „
— 216 —
Außerdem wurden über den Hafen von Rawson im
gleichen Jahre noch
300 Tonnen Wolle und ca.
80 „ Rindshäute und Schaffelle
ausgeführt.
Wenn man nun in Rechnung zieht, daß auch noch die
anderen Häfen, wie z. B. Camarones und Comodoro Riva-
davia (Rada Tilly), Cabo Raso, Santa Elena usw. in den
letzten Jahren ebenfalls relativ hohe Exportziffern aufzuweisen
haben, dann wird man sich hieraus ganz allein ungefähr eine
Vorstellung von der steigenden Produktivität des Landes
machen können, eines Landes, das heute noch zum größten
Teil Wildnis ist, bei dem die Besiedelung des Innern vor kaum
einem Jahrzehnt begonnen hat.
Von der kleinen Ortschaft G a i m a n , die übrigens mit
ihren Ziegel- und Steinhäusern einen recht freundlichen Eindruck
macht, führt der breite, etwa 20 km lange Weg am Ufer
des Chubutflusses entlang nach T r e 1 e w.
Auch hier in Trelew sind in der Mehrzahl Steinhäuser vor-
handen. Das vorzügliche Baumaterial kommt aus einem Stein-
bruch, der etwa 8 km von der Stadt entfernt liegt. Die Straßen,
die alle rechtwinklig zueinander laufen, sind breit, ungepflastert
und nur zum geringsten Teil mit Bürgersteigen versehen. Bei
trodcenem Wetter genügen sie dem Verkehr in ausgiebiger
Weise, aber wehe, wenn der Himmel mal seine Schleusen
öffnet! Dann stehen Straßen und Plätze tatsächlich unter
Wasser und das bisher feste Erdreich löst sich auf in Schlamm
und Morast, der ein Passieren zu Fuß fast unmöglich macht
Irgendwekhe Vegetation fehlt Oberhaupt macht Trelew trotz
seiner sauberen Wohnungen, trotz des Bahnhofsgebäudes, der
Kapelle und der freundlichen „Commissaria'' und des Schul-
hauses im allgemeinen einen kahlen Eindruck, namentlich im
Winter, Man friert, wenn man es ansieht Zudem entbehren
fast alle Häuser der Heizx^orrichtungen und, wenn letztere
— 217 —
vorhanden sind, fehlt es am nötigen Brennmaterial. Da sieht
man denn die Leute mit dicken Tüchern und Mänteln und
Ponchos, mit Pelzmütze und Handschuhen und rotgefrorenen
Nasen in den kalten Zimmern hocken. Frierend und stampfend
und händereibend kriechen dann die Menschen umher; in
Mantel, Poncho, Mütze werden sogar die einzelnen Mahlzeiten
eingenommen.
Gast- und Geschäftshäuser, kleinere und größere Kram-
läden bilden den Hauptbestandteil der Gebäude. Das größte
kaufmännische Unternehmen ist die „Compania Mercantil Chu-
but", eine Art Konsumverein, verbunden mit einer landwirt-
schaftlichen Genossenschaft. Man muß staunen, wenn man be-
denkt, daß die Galenser aus nichts heraus diese bedeutenden
gemeinnützigen Unternehmen geschaffen haben, allein durch
ihr festes Zusammenhalten, ihr Organisationstalent und das
Streben nach demselben gemeinsamen Ziele hin. Fast sämt-
liche Galenser des ganzen Chubuttales gehören dieser Ge-
nossenschaft an, die auch den Verkauf von Weizen und son-
stigen Landesprodukten übernimmt und durch Vertrauensmänner
in Buenos Aires, Bahia Bianca usw. besorgen läßt. Den An-
siedlern sind dadurch nicht nur viele Unkosten, sondern auch
ein gewisses Risiko erspart, das entstehen müßte, wenn ein
jeder auf eigene Hand verkaufen würde.
Andererseits liefert dieser Konsumverein den Bewohnern
Waren jeder Art für nicht zu hohe Preise. Che Leitung ist in
guten Händen, und so ist es natürlich, daß die Gesellschaft
immer mehr festen Fuß faßt und ihre Bilanzen, die sich in
Hunderttausenden bewegen, stets sehr günstig abschließen.
Unsere deutschen Landsleute daheim wie draußen könnten sich
an dieser zielbewußten Einigkeit in fremden Landen ein Bei-
spiel nehmen.
Die überwiegende Mehrzahl der Bewohner von Trelew
besteht aus Galensern, der Rest setzt sich zusammen aus Ar-
219
gentinern, Italienern und Spaniern. Auch drei deutsche Fa-
milien sind dort ansässig, die, obgleich sie seinerzeit mit wenigen
oder gar keinen Mitteln ankamen, in wenigen Jahren ein kleines
Vermögen erwarben und eine gesicherte Existenz gegründet
haben. Trelew und das ganze Land streben mächtig empor,
und gerade dort gilt noch das alte Sprichwort: „Handwerk
hat einen goldenen Boden." Dasselbe gilt auch für das ganze
Territorium Chubut, wo bei der Zunahme der landwirtschaft-
lichen Bevölkerung die Nachfrage nach Arbeitern und Hand-
werkern mehr und mehr in den Vordergrund tritt. Namentlich
solche, deren Tätigkeit in den Beruf des Landwirtes, des Vieh-
züchters und Ackerbauers hineingreift, wie z. B. Schmiede,
Wagenbauer, Zimmerer u. dgl. finden dort Gelegenheit, nicht
nur mit guten Erfolgen ihr Handwerk auszuüben, sondern
gleichzeitig ihre eigene Scholle Land zu erwerben und dort als
freier Bauer ein gesundes Leben zu führen.
Etwa 18 km von Trelew östlich liegt das schon mehrfach ge-
nannte Rawson, die Hauptstadt des Territoriums Chubut. Im
Gegensatz zu den beiden anderen Ortschaften ist Rawson zu
beiden Seiten des Chubutflusses gelegen, über den eine statt-
liche Brücke führt. Mit wenigen Ausnahmen sind die ein-
fachen, niedrigen Häuser alle aus Stein, teils Ziegeln, teils Feld-
stein aufgebaut. Geschmackvoll und sauber nimmt sich das
Regierungsgebäude in seiner villenartigen Konstruktion aus,
während die verhältnismäßig • große Kirche in ihrem hellen
Anstrich die Aufmerksamkeit des Wanderers schon von fern
fesselt. Brüder vom Salesianerorden halten dort Gottesdienst
und leiten daneben eine Erziehungsanstalt für Mädchen und
Knaben. Die Galenser Bevölkerung tritt hier in Rawson gegen-
über den Bewohnern anderer Nationalität, wie Argentinern,
Spaniern, Italienern, sehr zurück. Deutschland ist hier nur in
einer einzigen Person vertreten.
Die Umgebung der Stadt erscheint kahl und unfreundlich,
weil Baumwuchs und sonstige Vegetation fehlen und die
— 220 —
sandige, kiesbedeckte Ebene in ihrer Nacktheit unverhüllt
hervortreten lassen.
Der gegenwärtige Gouverneur von Chubut ist Herr
Dr. Julio Lezana, ein Mann von umfassendem Wissen, der
seinen Beruf sefir ernst nimmt und es sich tatsächlich um das
Wohl und Wehe seines Territoriums angelegen sein läßt. Wie
gewöhnlich bereitet auch ihm nur die Oalenser Bevölkerung
Schwierigkeiten.
Als ich dem Gouverneur meine Aufwartung machte, fand
ich dort sehr liebenswürdige Aufnahme und überhaupt ein Ent-
gegenkommen, wie ich es selten angetroffen habe. Und das
alles in natürlich-menschlicher Weise, ungezwungen, ohne jede
steife Form und übertünchte Höflichkeit, die u. a. in gewissen
Kreisen von Buenos Aires Mode geworden ist und absichtlich
hervorgekehrt wird, vielleicht um innere Hohlheit zu verbergen.
Einer Einladung des Gouverneurs folgend, unternahm ich an
einem der nächsten Tage zusammen mit ihm, seinem Privat-
sekretär, Dr. Maciel, und dem Polizeichef, Sefior Fougiere,
einen Spazierritt nach dem Meeresstrand zur Mündung des
Chubutflusses, die ca. 5 km von Rawson entfernt liegt. Nach
langer Zeit sah ich da wieder den rauschenden Ozean, der
unaufhörlich seine blaugrünen Wogen schäumend über den
sandigen Strand rollt. In den Dünen liegen angeschwemmte
Muscheln und Schwämme. Eine kleine Art der Pinguingänse
kommt hier vor. Auch Seehunde sind an der ganzen Küste
in zwei verschiedenen Gattungen zahlreich vertreten. Die Jagd
auf diese Tiere ist von der Regierung verboten, die indessen
besondere Erlaubnis dazu in Form einer Konzession unter
bestimmten Bedingungen erteilt hat.
Zwei Tage weilte ich in Rawson. Dann mußte ich zurück
nach Trelew. Der schon seit sechs Wochen ersehnte Dampfer
sollte endlich eintreffen, mit dem ich die Rückreise nach Buenos
Aires antreten wollte. Sage und schreibe sechs Wochen und
länger warteten in Trelew mehr als 100 Passagiere auf das
— 221 —
Dampfschiff und verzehrten in den teuren Gasthäusern und Wirt-
schaften ihre Gelder. Daß hier der Schiffsverkehr in bezug
sowohl auf Beförderung von Personen als auch Frachten einer
dringenden Remedur bedarf, liegt, wie ich es schon an anderer
Stelle angedeutet habe, außer allem Zweifel.
Endlich hatte auch für mich die achttägige Warterei auf-
gehört ; die Stunde der Erlösung schlug. Aus überfülltem Gast-
haus siedelte ich über zu dem noch mehr überfüllten Dampfer
in Puerto Madryn. Und dann ging's hinaus in die wild
rauschende See nach Norden zu.
Adieu, Chubut! Adieu, ihr herrlichen Kordilleren!
XXII.
Schlußbetrachtung.
Von meiner Forschungs- und Studienreise durch Süd-
amerika, die zwei und ein halbes Jahr in Anspruch nahm, ver-
wendete ich allein 18 Monate auf die Argentinische Republik. Ich
habe während dieser Zeit das Innere des Landes kreuz und
quer bereist von Ost nach West, von Nord nach Süd. Ich
habe dabei die wirtschaftspolitische Bedeutung Argentiniens,
das bei einer Ausdehnung von 2 952 551 Quadratkilometer nur
5,5 Millionen Einwohner besitzt, kennen gelernt und gesehen,
welchen immensen Aufschwung alle Zweige des Erwerbs-
lebens, Viehzucht, Ackerbau, Handel, Verkehr, Industrie, Ge-
werbe usw. in den letzten Jahren genommen haben.
Alles regt sich hier gewaltig und erprobt die jugendlichen
Kräfte im Wettkampf mit dem alten Europa auf allen Feldern
des wirtschaftlichen Gebiets. Man muß selbst hier gewesen
sein und es selbst gesehen haben, um sich dann ein einiger-
maßen richtiges Urteil zu bilden. Dann aber fallen auch wie
mit einem Schlage viele Vorurteile und Anschauungen, die bis
dahin die Gemüter daheim befangen hielten, fort. Man ver-
gißt nur zu leicht die räumliche Trennung, die mächtigen Aus-
dehnungen, die oft riesigen Entfernungen im Vergleich zu
imserem so kleinen — Deutschland.
Gewiß bleibt ja in der inneren Entwicklung und Festigung
Argentiniens noch manches zu wünschen übrig. Aber der
Staat, wie alle südamerikanischen Republiken, ist noch jung.
— 223 —
Trotzdem ist nicht abzuleugnen, daß das Land in den letzten
Jahren gewaltige Fortschritte gemacht hat und daß gerade
hier für deutsche Arbeit, für deutsche Unternehmungen und
für deutsche Kapitalien sich ein ergiebiges Feld der Betätigung
bietet. Es bleibt geradezu unverständlich, daß bei den zu-
tage tretenden Chancen von deutscher Seite so wenig getan
worden ist. Unsere wirtschaftliche Zukunft liegt „auf dem*
Wasser", d. h. über See, und da vor allem in Süd-
amerika.
Es wäre daher wirklich wünschenswert, wenn sich in Er-
kenntnis dieser Tatsache endlich mal deutsches Kapital herbei-
ließe, sich an industriellen oder agrikultureilen Unternehmungen
auf argentinischem Boden in größerem Umfange zu beteiligen.
Bahnbauten, Straßenanlagen, industrielle Unternehmungen,
die sich die Verwertung der natürlichen Bodenprodukte zur Auf-
gabe gestellt haben, Ackerbau, Viehzucht, insbesondere aber
die Kolonisierung, die, sobald sie mit deutschen Ele-
menten angefangen wird, dem Argentiner vorwiegend sym-
pathisch ist — sie alle bieten Gelegenheit genug, unseren Ex-
port zu vergrößern und damit unserem Handel, unserem Ge-
w^erbe, unserer Industrie, kurz unserem ganzen, jetzt etwas
eingezwängten und kleinlichen Wirtschaftsleben einen mäch-
tigen Aufschwung zu geben. Wer nicht wagt, nicht gewinnt!
Indessen bleibt es doch immer eine recht merkwürdige Tatsache,
daß wir daheim vor lauter Bedenken und Angstmeierei nie der-
artige Schritte unternehmen — wenigstens nicht beizeiten; und
wenn wir mal wirklich zur Ausführung einer großen, wirtschafts-
politischen Tat geneigt sind, uns durch John und Jonathan und
weiß der Himmel noch durch wen davon abschrecken lassen.
Und dabei — das ist das eigenartigste von allem — blühen
gerade die Unternehmungen jener „wohlmeinenden", warnen-
den Leute, der Engländer und Nordamerikaner, aufs allerbeste
und werfen jährlich Gewinne und Dividenden ab, die daheim
in den wenigsten Fällen erzielt werden würden. Der kleine,
— 224 —
bescheidene Michel aber — er „gläubete" und bedankt sich viel-
mals für die guten Ratschläge und zieht sich seine Zipfelmütze
zurecht und geht heim und — wurstelt pflichtgetreu weiter.
Wann wird das anders werden? Es ist ein allbekanntes Fak-
tum, das eigentlich kaum mehr hervorgehoben zu werden
braucht, daß in Argentinien bisher alle, fast ausschließlich mit
fremden, insbesondere englischen Kapitalien ausgeführten Unter-
nehmungen äußerst günstige Resultate erzielt haben. So zahlte
z. B. die „River Plate Fresh Meat Company**, die mit einem
Kapital von ca. 5 Millionen Mark arbeitet, im Jahre 1896/97
noch keine Dividenden, 1897/98 bereits 6o/o, von 1898/1900
aber 7 o/o. Im folgenden Jahr konnte sie 10 o/o Dividende und
außerdem einen Bonus von 2o/o und 1901/02 wieder lOo/o Divi-
dende mit einem Bonus von 4 o/o geben.
Die „South American Land Co. Ltd.**; die mit einem Kapi-
tal von 2,5 Millionen Mark arbeitet und mehr als 100 Quadrat-
meilen Land besitzt, hat in den letzten Jahren durchschnittlich
5— 6 o/o Dividenden zahlen können. Eine andere, die „Mort-
gage Company of the River Plate**, gab während der letzten
fünf Jahre eine Dividende von 10 o/o jährlich und verzeichnet z. B.
1902 einen Reingewinn von mehr als 1 Million Mark. Die
„United River Plate Telephone Company**, die 1895/96 noch
mit 4 o/o Dividende abschloß, hatte diese im Zeitraum 1899/1902
auf 7 o/o erhöht.
Es würde zu weit führen, aus der großen Menge derartiger
Unternehmungen noch mehr Beispiele zu erwähnen. Ein Hin-
weis auf die Rentabilität der Gesellschaften, die sich mit dem
Bau und Betrieb von elektrischen Bahnen und Straßenbahnen
befassen, dürfte genügen, und was die großen Eisenbahn-
gesellschaften in Argentinien anbetrifft, so sind sie heute bereits
derart gediehen und erstarkt, daß sie quasi ein Monopol inner-
halb des Staates ausüben. Alle diese Eisenbahnen sind in
englischen Händen, mit Ausnahme einer einzigen, die fran-
zösisch ist. Deutsches Kapital war für derartige Anlagen
— 225 —
leider nicht zu haben, und zwar bei den günstigsten Angeboten,
unter letzteren z. B. Befreiung von allen Munizipal- und Pro-
vinzialabgaben auf 25, 30 und noch mehr Jahre, zollfreie Einfuhr
des gesamten Materials und noch andere Vergünstigungen. Da
ja alles Material, ich möchte sagen, bis auf den kleinsten Nagel,
aus England selbst bezogen worden ist und noch bezogen wird,
kann man sich ungefähr eine Vorstellung von den Summen
machen, die jährlich ins britische Heimatland fließen und der
englischen Industrie zugute kommen, Summen, die im Sinne
des Wortes aus dem Lande Argentinien herausgeholt werden.
Das nennt man mit Recht: Förderung des Exports, Arbeiten im
nationalen Sinne!
Was im allgemeinen Argentiniens Handel mit Deutschland
betrifft, so möchte ich nur kurz erwähnen, daß dieser sein
Gesamthandel im Jahre 1897 ca. 145 Millionen Mark betrug,
dagegen 1904 bis auf mehr als 439 Millionen gestiegen ist.
Die Gesamteinfuhr Argentiniens nach Deutschland bezifferte
sich 1897 auf 109,3 Millionen Mark, erreichte 1901 schon 200,8
und 1904 sogar 336,5 Millionen Mark. Das Deutsche Reich
dagegen lieferte nach Argentinien im Jahre 1897 Waren im
Werte von nur 35,8 Millionen Mark. Diese Summe erhöhte sich
1901 auf 54,2 Millionen und hat sich im Jahre 1904 fast ver-
dreifacht; sie betrug nämlich 102,7 Millionen Mark. Das sind
Zahlen, die eine beredte Sprache führen.
Auch im Territorium Chubut, das, wie schon erwähnt, heute
auf einem Flächenraum von 242 039 Quadratkilometer — also
fast die Hälfte vom Deutschen Reich — kaum 11 000 Bewohner
zählt, macht sich in letzter Zeit eine große wirtschaftliche
Bewegung bemerkbar.
Von der genannten Oberfläche sind zwar nur 32,10 Quadrat-
kilometer — nach der Statistik von 1903 — bebaut, und zwar
in der Hauptsache
16,5 Quadratkilometer mit Weizen,
12,0 „ „ Alfalfa,
Vallentin: Chubut 15
— 226 —
der Rest mit anderen Kulturen wie Kartoffeln usw.; also wirk-
lich ein ganz verschwindender Bruchteil. Trotzdem steigen
jetzt schon die Landpreise gewaltig, und englisches sowie
chilenisches Kapital entwickeln eine erstaunliche Rührigkeit.
Im Norden des Territoriums z. B. kauft eine chilenische Ge-
sellschaft große Strecken Landes auf. Eine Legua (25 Quadrat-
kilometer), die vor drei Jahren Pesos 3000— 4000= ca. 6— 8000 M.
gegolten hat, ist jetzt mit Pesos 16—18000 = 32—36000 M. be-
zahlt worden. In Sarmiento, wo kein Baum, kein Strauch
wächst und nur Schafzucht getrieben wird, verkaufen die Leute
ihr Kolonielos von 625 ha (= 1/4 Legua) nicht mehr unter 5000
Pesos = ca. 10000 M. In der Kolonie General San Martin
wird die Legua schon auf 12—15 000 Pesos = 24— 30 000 M. be-
wertet, und das dort, wo man nur Schafzucht betreiben kann
und wo die heftigen Winde irgendwelche Anpflanzungen noch
nicht ermöglicht haben. Im Süden der Chubutkordilleren, im
Tal des Rio Frias, arbeitet eifrig eine anglo-chilenische Kom-
pagnie; eine englische Gesellschaft ist am Lago Fontana tätig.
Noch weiter im Süden, am Rio Aisen, wohlverstanden immer
noch im Territorium Chubut, ist seit längerer Zeit eine andere
Kapitalistengruppe mit Landerwerb, Kolonisierung, Wegebau
usw. beschäftigt. Eine englische Landkompagnie im Norden des
Territoriums, östlich der Kordilleren nach der Ebene zu, hat
weite Strecken Landes in ihren Besitz gebracht. Und so geht
es weiter. Ich greife diese wenigen Beispiele nur aus der
großen Menge heraus. Der Wert des Bodens und die Bedeutung
des Landes werden mehr und mehr erkannt, und wo man hin-
kommt, immer dasselbe Bild: der Engländer und Nordameri-
kaner, stets zielbewußt, wagemutig voran ; der Deutsche zagend
hinterdrein, zaudernd so lange, bis es zu spät ist! Oder steht
er mal im Vordergrunde, dann ist er allein und arbeitet infolge-
dessen meistens für andere, für unsere Konkurrenten auf wirt-
schaftlichem Gebiet. Wenn man so im Sattel das Land durch-
quert, wie ich es getan habe, hat man Gelegenheit genug ge-
— 227 —
habt, das zu sehen. Nur zu häufig habe ich auf meine Fragen :
„Wem gehört dieser prächtige Kamp?" „Wer ist Besitzer jenes
fruchtbaren Landes?" „Wer ist Eigentümer jener großen Vieh-
herden?" die Antwort erhalten: „Ein Engländer!" oder „Eine
'.m Quellengebiet des Rio Frias.
englische Gesellschaft!" Das muß man lassen, diese eng-
lischen Leute betätigen sich wirklich im Sinne des Wortes.
Nur zu wahrscheinlich ist es, daß auch das gesamte Ver-
kehrswesen demnächst in ihre Hände übergeht, und damit ge-
hört ihnen das Land selbst, d. h. mit der Erschließung des
— 228 —
Landes durch Bahn- und Wegebauten haben sie auch die ge-
waltigen Reichtümer desselben zu ihrer Verfügung und Aus-
nutzung.
Teilnahmlos, ja mehr wie gleichgültig stehen die maß-
gebenden deutschen Kreise, die Kapitalisten, die Presse, die
Kolonialgesellschaften, diesem Werdegang gegenüber. Im alt-
gewohnten, kleinen Maßstabe wursteln sie weiter, anstatt auf
kolonisatorischem Gebiet gerade an den geeigneten Stellen
Südamerikas sich reichlichen und unbedingt höheren Gewinn
zu holen. Da wird es höchste Zeit, Wandlung zu schaffen und
endlich mal von der grauen Theorie zur wirklichen Praxis über-
zugehen. Worte, Reden und flaue Resolutionen
haben wenig Wert. Taten, nur Taten allein führen
zum Ziel!
Im gleichen Verlage erschienen ferner:
Die Geschichte der
Südafrilcanischen
Republil^ Transvaal.
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Skizzen von Dr. W. Vallentin.
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Südafrikanischen Republik F. W. Rcitz zur Verfügung gestellten Materials
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Berlin 1902. Mit io Porträts. Preis Mk. 1.50
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Berlin 1899. Kapitän (Pretoria). Preis 1 Mark.
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WESTPREUSSEN.
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dieser Provinz und ihren einzelnen Teilen.
Von Dr. W. Vallentin.
Tübingen 1893.
Diese wissenschaftliche Abhandlung bildet Band IV von Prof. Fr. J. Neumanns
»Beiträgen zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland."
^cv 0tircnKrlc9«
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Außerdem sind von demselben Verfasser erschienen und durch
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Hunnen in Südafrika.
Betrachtungen über englische Politik und Kriegsführung
von Kapitän Dr. W. Vallentin.
Berlin 1902. Drittes Tausend. Preis Mark 1.50.
ei!)e |£rie|5ei«kbf)i55e
bei det) Jlai^ei)
Erinnerungen und Skizzen aus dem südafrikanischen Kriege 1899/1900.
Von Dr. Wilh. Vallentin, Kapitän (Pretoria).
Mit ja Ulustrationen.
Berlin 1900. Preis brosch. 3 Mark, geb. 4 Mark.
Die Buren und ihre Heimat
Von Dr. Wilh. Vallentin, Kapitän (Pretoria).
Berlin 1900. Mit 32 lllustratioiien. Preis 3 Mark.
inenwesen und Goldindustrie
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Berlin 1900. Mit 17 Illustrationen. Preis 1 Mark.
Der Freiheitskampf der Buren
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Berlin 1899. ^'- ^"•'- ^«"*"*'" P«is 1 Mark.
Kapitän (Pretoria.)
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